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ANLEITUNG
ZUR DEUTSCHEN
BEARBKITET VON
A. Penck, G. Becker, M. Eschenhagen« R. Assmann,
O. Drude, W, Marshall, 0. Zacharias, J. Ranke, F. Kanffmann,
ü. Jahn, A. Meitzen, W. Götz.
X 33C1 .i^ la. £ -t 2? a. g e
der Gentralkommission fär wissenschaftliche Landeskunde Yon
Deutschland
lierausge gehen von
ALFRED KIRCHHOPF.
Mit einei' KaHe und 58 Abbildungen im Text.
STUTTGART.
VERLAG VON J. ENGELHORN.
1889.
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Das Recht der Uehersetzüng in fremde Sprachen wird vorbehalten^
Druck von (tebnider Kröner in Stuttgart.
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Vorwort.
Das vorliegende Werk gehört in den Kreis derjenigen
Unternehmungen, durch welche die vom Deutschen Geo-
graphentage eingesetzte Kommission für wissenschaft-
liche Landeskunde von Deutschland die Forschung über
deutsches Land und Volk von neuem anzuregen, sie
nach Maßgabe des derzeitigen Standes der Wissenschaft
systematisch zu gestalten, ihr neue Mitarbeiter zu er-
werben sucht.
Wer auf irgend einem Forschungsgebiete mit Erfolg
thätig sein will, muß wissen, auf welche Fragen er eine
Antwort suchen soll, welche Mittel am besten zu diesem
Ziele führen, und inwieweit er bei seiner Arbeit an be-
reits vorliegende Ergebnisse von Vorgängern anschließen
kann.
Neumayers ausgezeichnete „Anleitung zu wissen-
schaftlichen Beobachtungen auf Reisen* beweist durch
die nach verhältnismäßig kurzer Frist nötig gewordene
zweite Auflage, wie sehr ein solcher Nachweis leitender
Gesichtspunkte und zweckmäßiger Methoden gerade auf
1 T'll 7 4 f Digitized by GoOglC
IV Vorwort.
naturwissenschaftlichem, erd- und völkerkundlichem Ge-
biete einem Bedürfnis unserer Zeit entgegenkommt; ähn-
lich Kaltbrunners „Beobachter** in seiner volkstüm-
licheren, auf ,.Land und Leute '' sich beschränkenden
Fassung und bezüglich der geologisch - geographischen
Forschung von Richthofens kla>sischer „Führer für
Forschungsreisende ".
Neben diesen, die ganze Erde ins Auge fassenden
Werken fehlte es jedoch bisher au einer derartigen An-
leitung zur Lösung landes- und volkskundlicher Aufgaben,
wie sie gemäß seiner Eigenart unser Vaterland im be-
sonderen stellt. Diese Lücke auszufüllen sollte hiermit
versucht werden. Allen Mitarbeitern an dieser neuen
., Anleitung" wird man die Anerkennung zollen müssen,
dal3 sie mit voller Beherrschung des von ihnen dabei
vertretenen Faches wissenschaftliche Gründlichkeit ver-
knüpft haben mit einer für jeden Gebildeten verständ-
lichen Form; denn es galt uns, jeden Vaterlandsfreund,
nicht bloß den auf seinem besonderen Arbeitsfelde hei-
mischen Gelehrten dadurch zu wirksamer Anteilschaft an
dem Ausbau deutscher Landes- und Volkskunde zu ge-
winnen, claß ihm gezeigt werde, wieviel hier trotz aller
schon geleisteten Arbeit noch zu thun übrig ist, und auf
welchem Wege treuer Sammlerfleiß, sorgfältige Beob-
achtung jedes einzelnen auch im entlegensten Winkel
von Deutschland brauchbare Bausteine liefern könne zur
immer vollkommeneren Erkenntnis deutscher Landes- und
Volksart.
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Vorwort. V
Für unseren hochgebirgigen Süden besitzen wir schon
seit Jahren die schöne „Anleitung zu wissenschaftlichen
Beobachtungen auf Alpenreisen**. Dieser günstige Um-
stand gestattete uns von einer Berücksichtigung der Alpen-
kunde im einzelnen hier abzusehen, während sonst der
Begriff „Deutschland" nicht im engeren staatlichen Um-
fange von dieser „Anleitung" verstanden wird. In einer
Beziehung müssen wir sogar auf das eben genannte Werk
zur Ausfüllung einer Lücke verweisen. Die anfangs be-
absichtigte Zufügung eines Abschnittes über prähistorische
Forschung konnte nämlich in der hier dargeboteneu An-
leitung aus äußeren Gründen nicht erfolgen, gerade dieser
Gegenstand aber findet sich in jener alpinen Anleitung
so eingehend und in einer so wesentlich die Anwendung
auch auf das außeralpine Deutschland gestattenden Weise
von Johannes Ranke behandelt, daß die hier gelassene
Lücke minder fühlbar erscheint. Außerdem hilft zu ihrer
Ausfüllung das seitens des preußischen Unterrichtsmini-
steriums herausgegebene kleine „Merkbuch, Altertümer
aufzugraben und aufzubewahren" (Berlin 1888).
Daß der Abschnitt über die Gewässerkunde nicht an
der ihm inhaltlich gebührenden zweiten Stelle, sondern
am Schlüsse des Ganzen abgedruckt wurde, wolle man
mit der unvermeidlich gewesenen erst späteren Einliefe-
rung der betreflfenden Niederschrift entschuldigen.
Sollte die hiermit der Oeffentlichkeit übergebene An-
leitung das Glück haben, ihrer Bestimmung gerecht zu
werden, so dürfte man nicht vergessen, daß das Verdienst,
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VI Vorwort.
sie ins Leben gerufen zu haben, dem früheren Vorsitzen-
den unserer landeskundlichen Centralkomniission zusteht,
Herrn Professor Richard Lehmann in Münster.
Halle, im März 1889.
Der Herausgeber.
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Inhalt
Seite
I. Oberflächenbau. Von Professor Dr. Albrecht Penck . 1
I.Beobachtungen zur Fixierung der Ober-
flächengestaltung 3
1. Geographische Ortsbestimmung und Kartierung 3
2. Höhenbestimmung 6
3. Tiefenmessung 13
4. Aufnahme von Höhlen 17
II. Beobachtungen über Veränderungen der
Landoberfläche 19
1. Beobachtungen an Küsten 20
2. Beobachtungen an den Flüssen 28
3. Beobachtungen über Seeen 32
4. Beobachtungen Über Veränderungen der Ober-
fiächengestalt 36
a) Massentransporte durch den Wind .... 37
b) Verwaschungen durch den Regen .... 40
c) Bergstürze, Erdrutsche und Erdfälle ... 41
d) Allmähliche Höhenänderungen 43
e) Erdbeben 47
HI. Beobachtungen über die Entstehung der
Landoberfläche «... 52
1. Allgemeinste Beobachtungen über den Bau der
Landoberfiäche 62
2. Beobachtungen über die ehemalige Vergletsche-
rung des Landes 57
3. Beobachtungen über Thalbildung 62
II. Gewäeeerkunde. Von Reg.-Baumeistcr Gustav Becker 629
I. Einleitung 631
II. Wasserversorgung der Gewässer 635
1. Niederschläge im allgemeinen 635
2. Mes-sung der Niederschläge 638
3. Verdunstung und Versickerung der Niederschläge 642
4. Abfluß der Niederschläge 643
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VIII Inhalt.
Seite
III. Wasserstandsbeobachtungen 647
IV. Geschwindigkeit des Wassers 65JJ
V. Die Wassermenge 661
1. Ermittelungen aus Geschwindigkeitemessungen . 661
2. Ermittelung durch Rechnung 663^
3. Ermittelung durch unmittelbare Messung . . . 667
VI. Die allgemeinenEigenschaften der Gewässer 669
VII. Die Verwaltung der Gewässer 677
Die Wassergesetzgebung 679
Litteratur 680
III. Erdmagnetismus. Von Dr. MaxEschenhagen . . . 67
I. Allgemeines, Grundbegriffe 69
II. Oertliche und zeitliche Verschiedenheiten
des Erdmagnetismus 75
III. Allgemeine Beobachtungsvorschriften . . 84
IV. Beobachtungsmethoden 89
Deklination 89
1. Beobachtung des Polstems 92
2. Beobachtung der Sonne 95
3. Beobachtung terrestrischer Gegenstände . . 98
Horizontalintensität 100
Inklination 107
V. Instrumente 110
1. Der Azimutalkonipaß llO
2. Der Lamontsche magnetische Reisetheodolit . . 118
VI. Verwertung der Beobachtungen 126
IV^ Klima. Von Dr. Richard Assmann 129
Einleitung 131
I. Temperatur 135
1. Strahl ungstemperatur .135
2. Lufttemperatur 143
3. Bodentemperatur 156
4. Temperatur des Wassers 159
II. Luftdruck 162
III. Wind 165
IV. Wasserdampfgehalt der Luft 174
V. Hjdrometeore 177
VI. Außergewöhnliche Vojkommnisse .... 187
V. Pflanzenverbreltung. Von Professor Dr. Oscar Drude . 197
Einleitung 199
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Inhalt. IX
Seite
Die Gliederung der deutschen Flora .... 205
Gaueinteilung der deutschen Flora 212
Die Forschungsrichtungen 221
1. Geschichte der Flora 221
Torfmoore 222
2. Pflanzenvorkommen 225
3. Pflanzeuleben 236
Litteratur als Hilfsmittel zu Studien in der
deutschen Flora 239
A. Einige kurze Bestimmungsanleitungen und die
durch Abbildungen erläuterten fundamentalen
Quellenwerke über das ganze Gebiet, mit Be-
merkungen über ihren Umfang und Inhalt . . 239
Sporenpflanzen 239
Blütenpflanzen 240
B. Auswahl aus der zu den einzelnen Gauen ge-
hörigen floristischen Litteratur 243
1. Die Gaue der norddeutschen Niederung 243
II. Hercynisches Bergland und Niederrheingau.
Belgien 24C
III. Die karpathischen und süddeutschen Gaue
bis zu den Alpen 249
VI. Tierverbreitung. Von Professor Dr. William Mars hall 253
Einleitung 255
Gaueinteilung der deutschen Fauna 255
Entstehung der Fauna 258
Bestandteile 265
Säugetiere 266
Vögel 2()8
Reptilien 272
Amphibien 272
Fische 273
Mollusken 275
Insekten 278
Schmetterlinge 279
Käfer 283
Hymenopteren 286
Fliegen 287
Orthopteren 287
Pseudoneuroptcren 288
Neuropteren 288
Hemipteren 289
Myriopoden 290
Arachnoiden 290
Krustentiere . 291
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X Inhalt.
Seite
Würmer 29*2
Coelenteraten 294
Protozoen 295
Schlußwort 295
Litteratur 29
VII. Ueber das Einsammeln von zoologischem Material in Flüssen
und Seeen. Von Dr. Otto Zacharias 299
I. Allgemeines über das Tierleben in größeren
Wasserbecken :305
11. Die Fauna des üferwassers 307
1. Litterarische Hilfsmittel zur Speziesbestimmung ;U0
2. Fangapparate (Handnetz aus Seidengaze etc.) . 311
III. Die pelagische Süßwasserfauna 313
1. Erbeutung derselben mittelst des Schwebnetzes 314
2. Aufzählung ihrer Hauptvertreter 315
IV. Fauna der Tiefenregion 320
Das Arbeiten mit dem Schleppnetz 322
V. Zoologische Stationen 325
VI. Konservierungsmethoden 320
VIII. Somatlsch-anthropologische Beobachtungen. Von Professor
Dr. Johannes Ranke 329
I. Anthropologische Besichtigungen .... 331
1. Die Farbe der Haut, der Haare und der Augen 332
2. Die Form der Haare und die Stärke der Be-
haarung 340
3. Augenfarben, Augenformen und Augenstellung . 341
4. Die Nasenformen und Gesichtsprofilierung . . 344
5. Die Bildung der Mundteile 347
6. Bildung der Ohrmuschel 352
7. Die Bildung der Hände und Füße 354
IL Anthropologische Messungen 358
1. Die Körpergröße 35^*
2. Die Körperproportionen 367
3. Die Kopfniessung an Lebenden 371
a) Der Himschädel 371
b) Der Gesichtsschädel 377
IX. Dialektforschung. Von Dr. Friedrich Kau ff mann . 381
A. Einleitung 3S3
B. Grundbegriflfe 384
I. Konstitutive Faktoren der Sprechthätigkeit 380
IL Mundart und Schriftdeutsch 388
C. Materialsammlung und Orthogiaphie .... 390
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Inhalt. XI
Seite
I. Phonetische Analyse der Mundart .... 396
1. Die Druckverhällnißsc der Exspiration .... 1^98
2. Quantität 898
8. Die Tonbewegung der Stimme 400
4. Die Einzellaute 401
a) Die Artikulationen der Vokale 402
b) Die Artikulationen der Konsonanten . . . 404
5. Ein- und Absatz der Laute 407
a) Bei den Vokalen 408
b) Bei den Konsonanten 408
6. Die Silbenbildung 409
II. Grammatikalische Statistik 410
1. Lautlehre 411
2. Flexionslehre 412
8. Wortbildungslehre 412
4. Syntax 413
5. Textproben '. 414
III. Die historisch entwickelte Forschung . . . 415
IV. Die zusammenfassende Darstellung .... 421
V. Litteratur 424
Allgemeines 424
Oberdeutschland 424
A. Bayrisch- österreichische Mundarten . . . 424
B. Alemannische Mundarten 425
Mitteldeutschland 427
A. Die Stammlande 427
B. Das mitteldeutsche Kolonisationsgebiet . . 428
Niederdeutschland 429
A. Die Stammlande 429
B. Der kolonisierte Osten 481
Niederlande und Belgien 481
X. VoliiBtOiniiches in Glaube und Brauch, Sage und Märchen.
Von Dr. Ulrich Jahn 488
A. Definition, Verwertung und Sammlung dos Volkstüm-
lichen 485
I. Definition des Volkstümlichen 485
1. Volksglaube (Aberglaube) 485
2. Sage 485
a) Mythus 485
b) Legende 48(;
c) Historische Sage 48(3
d) Lokal- und Namensagc 487
8. Brauch, Sitte, Gewohnheit 48^
4. Märchen und Lied 48H
II. Verwertung des Volkstümlichen 480
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XII Inhalt.
Seite
III. Sammlung des Volkstümlichen 439
1. Objektivität des Sammlers 439
2. Historisches 440
3. Fragebogen 441
4. Kenntnis der Litteratur des Volkstümlichen . . 442
5. Sammlungsmethoden 442
(j. Verkehr mit dem Volke 443
7. Anlage der Sammlung 44'i
8. Ethnologisch-mythologische Uebersichtskarten . 445
9. Ueber die Litteratur des Volkstümlichen . . . 445
B. Litteratur des Volsktümlicheii 447
I. Allgemein deutsche Sammlungen 447
1. Sagen 447
2. Märchen 447
3. Sagen und Märchen 447
4. Volksglaube, Brauch und Sitte 448
5. Zeitschriften 448
II. Norddeutschland 449
1. Allgemeines 449
2. Niederlande (Holland und Belgien) 449
3. Luxemburg 450
4. Rheinlande 450
5. Westfalen, Niedersachsen 451
6. Oldenburg, Ostfriesland 454
7. Schleswig, Holstein, Lauenburg 455
8. Lübeck 455
9. Altmark, Magdeburger Land, Provinz Branden-
burg 455
10. Mecklenburg 450
11. Pommern und Rügen 457
12. West- und Ostpreußen 458
13. Russische Ostseeprovinzen 400
III. Mitteldeutschland 400
1. Rheinpfalz 400
2. Hessen 460
3. Waldeck 402
4. Franken 402
5. Thüringen und Sachsen 403
I). Lausitz 400
7. Schlesien (Preuß. und Oesterr.) 407
8. Posen 407
IV. Süddeutschland 407
1. Elsaß-Lothringen 407
2. Baden 408
3. Hohenzollern 409
4. Schwaben 409
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Inhalt. XIII
Seite
5. Ober und Niederbayern 470
iS. Oberpfalz ..." 470
7. Königreich Bayern 470
8. Böhmen und Mähren 471
9. Ungarn 472
10. Siebenbürgen 472
V. Alpenländer 473
1. Allgemeines 47:J
2. Schweiz 474
8. Vorarlberg 47«>
4. Tirol 47«{
0. Salzburg 477
♦». Kärnten 478
7. Steiermark 478
8. Oberösterreich 479
9. Niederösterroich 479
10. Kaiserreich Oesterrelch 480
XI. Beobachtungen über Besiedelung, Hausbau und landwirt-
schaftliche Kultur. Von Geh. Regierungsrat Professor Br.
August Meitzen 481
I. Zur Kunde von Stadt und Land 48:>
1. Allgemeine Gesichtspunkte 483
2. Verfahren und Hilfsmittel in Städten .... 487
:^. Verfahren und Hilfsmittel auf dem Lande . . 489
II. Charakter der Ansiedelungen und des Agrar-
wesens in den verschiedenen Landschaften
Deutschlands 494
1. Die altgermanisclien Vorgebiete 494
2. Die keltische Besiedelung in Deut.schland . . . 502
3. Römische Siedelungen in Deutschland . . . . 510
4. Slawische Siedelungen in Deutschland .... 511
5. Siedelung und Agrarwesen in Süddeutschland
und am Mittel rhein 515
<». Die deutsche Kolonisation des slawischen Ostens 525
7. Behandlung des Beweismaterials 537
III. Ermittelungen zur Landeskunde innerhalb
der einzelnen ländlichen Ortschaft .... 540
1. Geschichtliche Grundlagen und praktische Zwecke 540
2. Beobachtungen an Kirchen 542
'X Ermittelungen über das bäuerliche Haus . . . 550
4. Beobachtungen über Tracht und Hausrat . . . 5()7
5. Einsicht in den Wirtschaftsbetrieb und Anregung
zu Verbesseningen 509
XII. Wirtschaftsgeographie. Von Dr. Wilhelm Götz. . . 573
Einleitung 575
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XIV Inhalt.
Seite
L Süddeutschland ' 578
1. Die Grenze 578
2. Die Bodengestalt 580
8. Die geognostische Bildung der sichtbaren Erd-
rinde 582
4. Die Bodennatur 585
5. Atmosphärische Einflüsse 588
(3. Die Produktion 590
a) Die Urproduktion 591
b) Die Naturproduktion 594
a) Forstliche Produktion 594
?) Viehzucht 595
Y) Bodenanbau 596
5) Landwirtschaftliche Industrie .... 597
c) Industrie 697
7. Handel 000
a) Städte . . . r 600
b) Verkehrswege 601
II. Rheinlande 602
1. Grenze 602
2. Bodengestalt 602
3. Geognostische Bildung 608
4. Produktion 608
a) Die Urproduktion 608
b) Die Bodenproduktion 605
c) Industrie 607
5. Klimatische Verhältnisse 606
(). Verkehrszentren und -wege 607
7. Verkehrswege und -mittel 607
III. Mitteldeutschland 608
1. Grenze 608
2. Bodengestalt 609
8. Geognostische Bildung 609
4. Bodennatur ^ 610
5. Klimatische Verhältnisse 611
6. Produktion 612
a) Urproduktion 612
b) Naturproduktion 618
c) Industrie 614
7. Sammelplätze und Verkehrswege 615
IV. Schlesien 616
1. Grenze 616
2. Bodengestalt 616
8. Geognostische Bildung 617
4. Urproduktion 617
5. Klima 617
6. Produktion 618
7. Hauptplätze und Verkehr 618
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Inhalt. XV
Seite
V. Nordostdeutschland 618
1. Grenze 619
2. Bodengestalt 619
3. Klima >. 620
4. Bodennatur 620
5. Produktion 622
a) Naturproduktion . ; 622
b) Gewerbliche Produktion 622
6. Sammelplätze und Verkehi-swege 628
Yl. Nordwestdeutschland 624
1. Grenze 624
2. Bodengestalt 624
3. Geognostischo Bildung 624
4. Klima 625
5. Naturproduktion 625
6. Verkehrsplätze und -wege 626
Schlußwort 627
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Berichtigungen.
S. 87, Z. 10 von oben ist hinter „tränkt** einzufügen: ,zu
geschehen hat*.
S. 96, Z. 21 von oben ist statt „frühere" zu lesen: , spätere".
Auf S. 275 in der Tabelle muß es so heißen:
im Südostgau
im Nordostgau .
im Nordwestgau .
3
1
2ö
1
2
38
3
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Oberflächenbau.
Von
Dr. Albrecht Penck,
Professor an der Universität in Wien.
Anleitang zar deutochea Landes- und Volksforschung.
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I. Beobachtangen zur Fixierung der Oberflächen-
gestaltnng.
1. Oeographisolie Ortsbestimmung und Eartierung.
In einem Lande, welches wie Mitteleuropa seit meh-
reren Jahrhunderten nach allen Richtungen hin geogra-
phisch erforscht ist, giebt es über die Oberflächengestal-
tung keine Entdeckungen von großer Tragweite mehr zu
machen. In dieser wie in anderer Beziehung sind hier
die gegenwärtigen Forscher auf eine mehr oder weniger
mühsame Nachlese angewiesen, welche ihnen frühere
Untersuchungen gelassen haben, und daraus erwächst fUr
einen jeden, welcher nunmehr sein Scherflein zum wei-
teren Ausbau unserer Kenntnis des Landes beitragen will,
zunächst die Aufgabe, sich über die bisherigen Leistungen
zu unterrichten. Der bei weitem größte Teil der be-
reits gewonnenen Ergebnisse betreffs des Reliefs des
Landes ist in Kartenwerken niedergelegt, an welchen
drei Jahrhunderte gearbeitet haben. Zunächst haben
Private mit Vermessungen begonnen, dann wurden na-
mentlich im Süden schon im 17. Jahrhunderte einzelne
Personen mit Landesaufnahmen beauftragt, und schließ-
lich wurden seit Ende des vorigen Jahrhunderts nahezu
allenthalben staatlich organisierte Mappierungen ins Leben
gerufen, welche einerseits Karten für militärische Zwecke,
andererseits Katastralvermessungen zu liefern hatten. Zahl-
reiche geographische Ortsbestimmungen sind zu dem Ende
allenthalben in Mitteleuropa ausgeführt worden, Triangu-
lationen sind netzförmig über das Land gebreitet, und es
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4 Albrecht Penck,
giebt wohl kaum noch eine Gemeindeflur, welche nicht
an diese großen Vermessungen angeschlossen wäre. Der
wichtigste Teil der geographischen Untersuchung, die
Ortsbestimmung, kann in Mitteleuropa im wesentlichen
als vollendet gelten; das Ziel, welches im vorigen Jahr-
hunderte geographische Gesellschaften ins Leben rief, ist
erreicht.
Nur möge man deshalb nicht meinen, daß damit
jedwede Aussicht auf Verbesserungen genommen sei.
Man vergegenwärtige sich immer, daß nur die astrono-
misch ermittelten Positionen als ganz verläßlich zu gelten
haben, daß ferner jede trigonometrisch bestimmte Orts-
lage um so unsicherer ist, je weiter dieselbe von astro-
nomischen Positionen entfernt ist, je mehr einzelne Ope-
rationen behufs ihrer Ermittelung aneinander geschlossen
sind, daß endlich auch die besten Triangulationen an der
Unsicherheit unserer Kenntnis von der Brdgestalt teil-
nehmen. Es ist daher selbstverständlich, daß selbst in
Mitteleuropa die geographischen Positionen durchschnitt-
lich einen gewissen Grad von Genauigkeit nicht tiber-
schreiten. Derselbe dürfte etwa den Wert von 15 — 20"
haben, wenigstens zeigen sich beim Vergleiche der neuen
Karte des Deutschen Reiches und den Blättern der nach
denselben Gesichtspunkten konstruierten Generalstabskarte
von Oesterreich-Ungarn fast allenthalben Abweichungen
im Verlaufe der Grenze, welche sich durchschnittlich
auf 15 — 20" belaufen, gelegentlich aber sogar bis auf
30" und darüber anschwellen. Auch zwischen den preußi-
schen und sächsischen Meßtischblättern begegnet man
Unterschieden in den Längen von fast V*' ^^^ selbst
solchen in der Breite. Obgleich beide Kartenwerke nach
derselben Projektion entworfen sind und die entsprechen-
den Blätter genau dieselben Areale zur Darstellung bringen
sollten, ist dies in Wirklichkeit nicht der Fall; die säch-
sischen Blätter umfassen ein etwas ostnordöstlicher ge-
legenes Gebiet als die preußischen.
Man wird sich daher nicht wundern dürfen, wenn
die geographische Ortsbestimmung selbst in Mitteleuropa
gelegentlich noch zu Berichtigungen der Lage einzelner
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Oberflächeabau. 5
Stellen führt. Aber es erhellt aus dem Dargelegten, daß
nur sehr genaue Operationen, welche die Länge und
Breite bis zur Genauigkeit von einer Sekunde liefern, zu
wirklichen Verbesserungen führen können. Derartig genaue
Ortsbestimmungen aber lassen sich nicht ohne weiteres
anstellen, sie erfordern bereits feste Stationen und dürften
nur von einem astronomisch vorgebildeten Beobachter
erfolgreich durchführbar sein^).
In den meisten Fällen wird es sich in Mitteleuropa
für den einzelnen Beobachter nicht darum handeln, völhg
neue Karten aufzunehmen, sondern die Aufgabe wird in
der Ergänzung eines bereits bestehenden Eartenbildes
bestehen. Man wird sich dabei meist des besonders von
militärischer Seite vielfach geübten „Krokierens" bedienen
können, d. h. man lehnt sich an die bereits vorhandene
Situation an und bestimmt die Entfernung des aufzu-
nehmenden Gegenstandes, eines Flußufers, eines Steil-
randes, einer Düne durch Auszählen der Schritte von den
bekannten Fixpunkten, nämlich von Wegkreuzung, Weg-
biegungen, Flußvereinigungen, Felsen, eventuell einzelnen
Bäumen, indem man zugleich die eingeschlagene Richtung
mit dem Kompaß ermittelt. Auf ähnliche Weise verfährt
man auch bei Aufnahmen in besonders großem Maßstabe.
Man entnimmt aus einer vorliegenden Karte das Wegnetz
und besonders auffällige Punkte und überträgt dieselben
auf den gewünschten Maßstab. Dann zeichnet man die
abgegangenen Strecken ein und ergänzt schließlich, nach-
dem man genug Stellen begangen hat, die Zeichnung aus
freier Hand. Des Kompasses kann man hierbei ganz ent-
raten, wenn aus dem aufzunehmenden Gebiete Fixpunkte
genug bekannt sind, welche sich gut überblicken lassen,
so daß man das Abschreiten in der Richtung immer
zwischen je zwei Fixpunkten ausführen kann. Anderer-
seits kann man wiederum durch bloßes Visieren von ver-
schiedenen Fixpunkten aus und Uebertragung der Visier-
*) Vergl. hierzu: Jordan-Steppes, Das deutsche Vermes-
suDgswesen, Stuttgart 1882, sowie verschiedene Aufsätze in den
Mitteilungen des k. k. miütär.-geogr. Institutes in Wien.
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6 Albrecht Penck,
linien in den Kartenentwurf die Lage eines bestimmten
Ortes ohne das ermüdende Schrittzählen ausführen.
Es werden in folgendem verschiedene Winke für die
Anwendung dieses Verfahrens gegeben werden^). (S. 10,
21, 29, 34, 38.)
2. Hohenbestimmungen.
Viel später als die Festlegung der beiden geographi-
schen Hauptkoordinaten, nämlich der geographischen
Länge und Breite, erfolgte die Bestimmung der dritten,
der Meereshöhe, welch letztere für eine genaue Charak-
teristik der Oberflächengliederung eines Landes notwendig
ist. Im Laufe unseres Jahrhundert« waren es durch ganze
Jahrzehnte ausschließlich Private, welche sich dieses von
den offiziellen Landesvermessungen gänzlich vernachlässig-
ten Gegenstandes annahmen und mit Hilfe des Barometers
Tausende von Höhenzahlen ermittelten. Allein nachdem
die kurhessische Landesaufnahme mit dem bis dahin in
Mitteleuropa üblich gewesenen Verfahren, das Relief des
Landes ausschließlich durch die Böschungswinkel des
Bodens zu charakterisieren (klinometrische Methode),
gründlich gebrochen -und gezeigt hat, daß nur durch Er-
mittelung von Meereshöhen möglichst zahlreicher Punkte
das Relief zu bestimmen sei (hypsometrisches Verfahren),
haben die neueren Landesvermessungen mit um so größe-
rem Eifer das früher Versäumte nachgeholt, und man ist
gegenwärtig, soweit neue Vermessungen reichen, über die
Höhen Verhältnisse Mitteleuropas ausgezeichnet unterrichtet.
Es kommen hierbei weniger die offiziellen General-
stabskarten, welche gewöhnlich das Terrain in Schrafifen
darstellen, in Betracht, als die Karten größeren Maßstabes,
die Meßtischblätter von Preußeu, Sachsen und die schönen
von Baden, die Positionsblätter von Bayern, die photo-
graphischen Reproduktionen der österreichischen Original-
aufnahmen, welche samt und sonders im Maßstabe
^) Hatto von Hiltor, Kurze praktische Anleitung zum
feldmäßigen Darstellen des Terrains (Krokieren). Berlin 1872.
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Oberflächenbau, 7
1 : 25000 gehalten sind und Höhenkurven von 10 zu 10 ni,
im Flachlande sogar in geringeren Intervallen aufweisen.
Dazu gesellen sich die belgischen Karten 1 : 20 000 , mit
Höhenlinien von 5 zu 5 m im Gebirge und von Meter zu
Meter im Flachlande. Durch diese Werke ist es mög-
lich, die Meereshöhe eines jeden Punktes des dargestell-
ten Gebietes bis zu einer Genauigkeit von 1 — 3 m ohne
weiteres aus der Karte zu entnehmen, und nur Messungen,
welche bis auf diese Beträge genau sind, vermögen in
den eingehend mappierten Gebieten Mitteleuropas wirk-
lich noch eine Bereicherung der Kenntnisse des Landes
zu* bieten. Solche aber erfordern nicht geringe Vorkeh-
rungen, und namentlich ist im Auge zu behalten, daß
dieselbe durch jenes Verfahren, welches einst so wichtige
Ergebnisse über die Höhenverhältnisse der Länder ge-
währte, nämlich das barometrische, ohne weiteres nicht
erreicht wird.
Die barometrische Höhenmessung ist gegenwärtig in
hohem Maße populär, und seitdem die kleinen, zum Teil
ausgezeichneten Aneroide (Holost^riques) so billig geworden
sind, hat sich vielfach ein gewisser Sport der Höhen-
bestimmung entwickelt, wobei vielfach ganz in Vergessen-
heit geraten ist, dalä die Aneroide vermöge ihrer Kon-
struktion bei weitem nicht so sicher fungieren, wie die
allerdings etwas unbeholfenen und nur mit großer Vor-
sicht zu handhabenden Quecksilberbarometer. Aber selbst
diese letzteren sind im allgemeinen nicht geeignet, Er-
gebnisse von solcher Genauigkeit, wie oben verlangt, zu
geben. Es möge eben nie vergessen werden, daß das
Barometer gestattet, aus Luftdruckverschiedenheiten
auf Höhenunterschiede zu schließen. Das Luftmeer
ist aber namentlich über dem nördlichen Mitteleuropa in
steter Bewegung begriffen, mit großer Schnelligkeit
streichen aufsteigende Luftwirbel, die sogenannten Minima,
über das Land, und bei einigermaßen unsicherer Witte-
rung ändert sich binnen wenig Stunden der Luftdruck
an einem Orte um mehrere Millimeter. Ist nun aber
jene Zeit gerade verstrichen zwischen den zum Behufe
der Höhenmessung an zwei verschiedenen Orten vorge-
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8 Albrecht Penck,
nommenen Barometerablesungen, so wird die stattgehabte
allgemeine Aenderung des Luftdruckes in der örtlich
zwischen beiden Orten infolge des Höhenunterschiedes
stattfindenden Druckdifferenz versteckt bleiben, und diese
wird um ebensoviel Millimeter zu hoch oder zu niedrig
erscheinen, als der Luftdruck inzwischen gestiegen oder
gesunken ist. Einem Druckunterschiede von 1 mm aber
entspricht eine Höhendifferenz von mindestens 10,6 m; baro-
metrische Höhenmessungen, welche nicht absolut gleich-
zeitig stattfinden, werden also leicht Irrtümer im Betrage
von 10 — 20 und mehr Meter ergeben, ja bei unruhiger
Atmosphäre selbst solche von 50 m.
Auch absolut gleichzeitige Barometerablesungen geben
nicht unter allen Umständen ein zur exakten Höhen-
bestimmung brauchbares Resultat. Sind die beiden Orte^
deren Höhenunterschied durch gleichzeitige Luftdruck-
beobachtung ermittelt werden soll, ziemlich weit voneinander
entfernt, so kann zwischen beiden ein Luftdruckunterschied
obwalten, der sich im Ergebnis versteckt. Selbst dann
endlich, wenn die Orte, deren Höhenunterachied durch
gleichzeitige Beobachtung festgestellt werden soll, ganz
benachbart sind, kann auf Grund einer einmaligen, noch
so subtil angestellten Messung immer noch nicht für die
Richtigkeit des Ergebnisses gebürgt werden. Die Unter-
suchungen von Rühlmann, Bauernfeind und die Dar-
legungen von Sprung haben gezeigt, dala die Höhen-
unterschiede benachbarter Orte sehr verschieden ausfallen^
je nach der Stunde, zu welcher die Beobachtungen an-
gestellt werden, daß im allgemeinen die Höhen bei Tage
größer ausfallen als bei Nacht, im Sommer größer als
im Winter. Die zu verschiedenen Tagesstunden ermittel-
ten Werte zeigen Abweichungen von über 1 ®/o vom MitteL
Es hat dies seinen Grund darin, daß die Temperatur-
abnahme in der Luft, welche bei der barometrischen
Messung als gleichmäßig angenommen wird, zu den ver-
schiedenen Tagesstunden in verschiedenem Grade erfolgt,
welches Verhältnis sich aus den Rechnungen nicht ent-
fernen läßt.
Unter solchen Verhältnissen kann eine einmalige
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Oberflächenbau. 9
barometrische Höhenmessung nur dann zur Ermittelung
des Höhenunterschiedes zweier Orte dienen, wenn die-
selben nicht bloß benachbart sind, sondern auch wenig
verschiedene Höhe aufweisen. Unter der Voraussetzung,
daß infolge des täglichen Temperaturganges Abweichungen
von etwa 1 ^/o von dem wirklichen Höhenunterschiede zu
erwarten sind, dürfte höchstens ein Höhenintervall von
200 — 300 m mit der erforderlichen Genauigkeit von 2 bis
3 m zu ermitteln sein. Hierbei aber ist immer noch zu
berücksichtigen, daß dadurch nur eine relative, nicht aber
eine absolute Höhe bestimmt ist, und daia die letztere
erst durch den Anschluß an einen bereits gemessenen
Ort gewonnen wird. Der einzelne Beobachter ist daher
meist auf gewisse bereits vorliegende Höhenmessungen
angewiesen, und er kann, indem er von den Fixpunkten
der Nivellements oder von den trigonometrischen Punkten
erster Ordnung ausgeht, unter Umständen in genauer
kartierten Gebieten recht erkleckliche Arbeit leisten.
Ueberdies bietet aber das Barometer, wie Hann kürzlich
zeigte, ein Hilfsmittel, um selbst absolute Meereshöhen
mit sehr großer Genauigkeit zu bestimmen ^), wenn längere
Beobachtungen vorliegen und durch Vergleich mit Nach-
barstationen ermittelt wird, um wie viel der beobachtete
Barometerstand von einem Normalmittel abweicht. Mit
Hilfe dieser Abweichung aber kann der beobachtete Luft-
druck auf eine Normalperiode reduziert werden, für welche
der Luftdruck im Meeresniveau bekannt ist. Die Diffe-
renz zwischen dem reduzierten beobachteten und dem für
das Meeresniveau angenommenen Barometerstand ergiebt
nach den gewöhnlichen Formeln eine äußerst genaue
Meereshöhe des Beobachtungsortes, welche den durch die
Nivellements gefundenen Werten kaum nachsteht. Es ist
ein großes Verdienst von J. Hann, daß er in der an-
geführten Schrift durch Konstruktion von Isobaren im
Meeresniveau einzelnen Beobachtern Gelegenheit geboten
hat, sich im Binnenlande Mitteleuropas Höhenfixpunkte
*) Die Verteilung des Luftdruckes über Mittel- und Südeuropa.
Wien 1887. Geogr. Abh. II. 2. S. 95.
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10 Albrecht Penck,
ZU schaflfen, unabhängig von bereits vorhandenen Ver-
messungen, und dadurch dem Barometer eine neue Be-
deutung als Höhenmesser gegeben zu haben.
Für denjenigen, welcher die Höhenmessungen der
großen Kartenwerke Mitteleuropas durch eigene Beob-
achtungen zu kontrollieren wünscht, ist überdies zu be-
merken, daß er der verschiedenen Niveaus eingedenk
sein möchte, welche in den einzelnen Staaten als Basis
dienen. Der Meeresspiegel steht an den verschiedenen
Teilen der mitteleuropäischen Küsten nicht gleich hoch,
und je nachdem man die Höhen auf diesen oder jenen
Pegel bezieht, wird man verschiedene Werte erhalten,
üeberdies haben die Binnenstaaten ihre Höhenmessungen
auf willkürliche Fixpunkte bezogen, deren Meereshöhe
nachträglich sich vielfach als ungenau erwiesen hat. Es
sind in Mitteleuropa verschiedene Meeresspiegel in Ge-
brauch und es müssen die offiziellen Höhenangaben stets,
bevor sie miteinander verglichen werden können, auf einen
einheitlichen Nullpunkt bezogen werden. Als solcher gilt
Normalnull zu Berlin, welches beinahe mit dem Meeres-
spiegel an Swinemünde und dem Amsterdamer Pegel zu-
sammenfällt, dagegen etwas höher liegt als der Spiegel
der Adria zu Triest. In folgender Tabelle sind die Null-
punkte der verschiedenen Kartenwerke Mitteleuropas zu-
sammengestellt :
Karte d. Deutschen Reiches. Normalnull 0,00 M.
Karte von Sachsen. Ostsee bei Swine-
münde 0,06 m unter Normalnull ^).
Karten von Rheinpreußen, Kurhessen,
vom Königreich der Niederlande.
Amsterdamer Pegel 0,18 „ über „ *).
Karten von Belgien. Mittlerer tiefster
Wasserstand zu Ostende .... 2,15 „ unter „ ').
Karten von Baden und Württemberg.
Supponiertes Meeresniveau unter dem
Straßburger Münster 2,02 r. r ^ ').
*) Hann, Verteilung des Luftdruckes. 1887. S. 11.
^) Ad an, Note sur les nivellements beiges. Annuaire de
l'observ. de Bruxelles. 1878. p. 177.
^) Neu mann, Orometrie des Schwarzwaldes. Geogr. Abh.
I. 2. S. 193.
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Oberflächenbau. H
Karten von Bayern. Supponiert. Meeres-
niveau unter der Frauenkirche zu
München 1,78 m unter Normalnull *).
Karten von Oesterreich-Üngam. Adria
bei Triest 0,46 ^ „ ^ ^j
Karten der Schweiz. Supponiert. Meeres-
spiegel unter Pierre du Niten im
Genfer See 3,51 , , , ').
Diese Daten lassen deutlichst erkennen, daß die für
Belgien und Süddeutschland angegebenen Höhenzahlen
durchschnittlich um 2 m, in der Schweiz sogar um 3,5 m
zu hoch gegenüber den Normalzahlen erscheinen, und
hieraus erklärt sich teilweise die Thatsache, daß die
nämlichen Orte auf verschiedenen Karten verschiedene
Höhen haben. Allein vielfach finden sich noch größere
unterschiede. Es hat der Bodensee auf schweizer Karten
eine Höhe von 398 m, auf den neuen österreichischen hat
ein Uferpunkt nur 392 m. Aehnliches wiederholt sich
sehr häufig. Es haben die beiden höchsten Punkte des
sächsischen Erzgebirges, der Fichtelberg und Keilberg,
auf der Karte des Deutschen Reiches eine Höhe von
1204 und 1238 m, während die österreichische Karte 1213
und 1244 m verzeichnet. Für den westlich gelegenen
Hohenstein lauten hingegen die entsprechenden Ziffern
771 und 772 m. Für die Schneekoppe ergiebt die
preußische Messung 1605 m, die österreichische nur
1603 m, für den Spieglitzer Schneeberg bei Glatz hat die
deutsche Karte 1424 m, die österreichische nur 1422 m,
obwohl der österreichische Meeresspiegel fast ^/g m tiefer
als Normalnull liegt. Noch viel größere Unterschiede
ergeben sich im Hochgebirge, an der Grenze zwischen
Tirol einerseits und der Schweiz und Italien andererseits.
Hier werden solche von 20 — 30 m häufig, solche von
50 m gelegentlich angetrofi^en.
Diese Thatsachen bekunden, daß nicht bloß die Ver-
schiedenheiten der zu Grunde gelegten Niveaus, sondern
') y. Orff, Aufgaben und Thätigkeit des topograph. Bureaus.
Jahreaber. geogr. Gesellsch. München VIII. S. 227. — Jordan-
Steppes, Bd. I. S. 240.
'f,
Hann, Verteilung des Luftdruckes. 1887. vS. 11.
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12 Albrecht Penck,
auch noch anderweitige Ursachen die Differenz der Höhen-
zahlen bedingen. In der That kann nicht geleugnet
werden, daß die Höhenangaben selbst der großen Karten
vielfach nur als relative aufzufassen sind, indem sie mit
Zuverläßlichkeit die Höhenunterschiede benachbarter Orte
zu ermitteln ermöglichen, während sie insgesamt gelegent-
lich nicht unbeträchtliche Verbesserungen erheischen, also
nicht die absoluten Erhebungen wirklich angeben. Ueber-
dies ist zu erwägen, daß die Höhenpunkte dritter und
vierter Ordnung nur bis auf etwa 1 % genau sind und
daß selbst die beste Karte nicht frei von Irrtümern und
Schreibfehlern ist. Es kann daher ein einzelner Beob-
achter mit Hilfe des Barometers noch mancherlei zur
Kontrolle offizieller Messungen beitragen, nur möchte er
dabei beachten:
1. daß er völlig vertraut mit der Methode der Be-
obachtung und mit seinem Instrumente ist*);
2. daß er nur gleichzeitige Beobachtungen seinen
Berechnungen zu Grunde legt;
3. daß der zu ermittelnde Höhenunterschied von der
Normalstation aus bei einmaliger Messung nicht über
200—300 m beträgt und daß flir größere Höhen zahl-
reiche Beobachtungen zu Grunde gelegt werden;
4. daß die Normalstation ein Fixpunkt eines Nivelle-
ments oder die korrigierte Höhe eines trigonometrischen
Signales 1. Ordn., oder endlich eine Barometerstation ist,
an welcher regelmäßige Beobachtungen angestellt werden.
Daß durch die beiden anderen Verfahren der Höhen-
messung, daß durch Triangulierungen und Nivellements
sowohl eine erfolgreiche Kontrolle bereits vermessener
Gebiete als auch eine wissenschaftlich brauchbare Auf-
nahme jener Striche gewälirt werden kann, welche noch
nicht neu mappiert sind, liegt auf der Hand. Jedoch
verlangen die genannten Verfahren umfassendere Vor-
kehrungen als barometrische, und werden im allgemeinen
nur in der Hand technisch gebildeter Beobachter erfolg-
^) Hartl, Praktische Anleitung zum Höhenmessen mit Queck-
silberbarometern und Aneroiden. Wien 1884.
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Oberflachenbau. 13
reich sein. Es muß daher an dieser Stelle davon ab-
gesehen werden, dieselben zu schildern ^).
3. Tiefenmessungen.
Viel dürftiger als mit der Kenntnis der Höhen steht
es in Mitteleuropa mit der Kenntnis der Tiefen der Ge-
wässer, namentlich der Seeen. Zwar ist der größte deutsche
See (abgesehen von den Haffen an der Ostseektiste), der
Bodensee, bereits 1826 durch Gasser*) genau abgelotet
worden, aber die übrigen deutschen Alpenseeen sind erst
durch die verdienstvollen Arbeiten von A. Qeistbeck^)
hinsichtlich ihrer Tiefenverhältnisse näher bekannt ge-
worden, während die österreichischen schon früher durch
Simony abgelotet wurden. Von den zahllosen Seeen der
norddeutschen Seeenplatte sind erst wenige durchgelotet
worden, unbekannt sind selbst die Tiefenverhältnisse der
Seeen in der Nachbarschaft Berlins. Eingehende Lotungen
der deutschen Binnenseeen anzustellen bildet daher immer
noch eine wichtige Aufgabe, welche mit verhältnismäßig
geringem Aufwände von seiten einzelner Naturfreunde ge-
löst werden kann.
Drei Momente sind es, welche bei solchen Lotungen
besonders zu berücksichtigen sind:
a) die genaue Ermittelung der Tiefe am Orte der
Lotung,
b) die genaue Ermittelung des Ortes der Lotung,
c) die Ermittelung des Seestandes zur Zeit der Lotung.
a) Die Lotung erfolgt gemeinhin mit dem Lote, einem
Gewichte, das an einer festen, weder zu schwachen, noch
zu starken Schnur in die Tiefe gelassen wird. Im Augen-
blicke, wo das Lot am Seegrunde aufstößt und das Ab-
rollen der Leine innehält, wird notiert, wie viel Meter
^) Nähere Orientierung bietet die treffliche Schrift von Hartl,
Praktische Anleitung zum trigonometrischen Höhenmeesen. 2. Aufl.
Wien 1884.
2) Württ. Jahrb. 1826. I. S. 107.
') Die Seeen der deutschen Alpen. Mitteil. d. Vereins f. Erd-
kunde zu Leipzig. Leipzig 1884. S. 203.
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14 Albrecht Penck,
der Leine abgewickelt sind. Hierbei ist jedoch zu be-
achten, daß dann, wenn das Lot nicht sehr schwer und
die zu messende Tiefe groß ist, das Gewicht der bereits
abgelaufenen Leine ein weiteres Abrollen derselben be-
dingen kann, daß femer, indem das Boot auf dem See-
spiegel vom Winde etwas getrieben wird, die abgelaufene
Leine nicht senkrecht, sondern unter einem spitzen
Winkel zur Tiefe führt, daß endlich die gewöhnlichen
und selbst befetteten Leinen beim Durchfeuchten eine
Zusammenziehung von etwa 10 ®/o ihrer Länge erfahren,
daß also die trockene Leine, deren Länge gewöhnlich
allein berücksichtigt wird, länger ist als die feuchte,
welche die Messung wirklich ausführt. Alle diese ein-
zelnen Umstände bewirken, daß die an der abgerollten
Leine abgelesenen Tiefen vielfach zu groß ausfallen, und
zwar meist um über 10 ^o, weswegen inmier zu beachten
ist, daß Lot und Leine in entsprechendem Verhältnis
zu einander stehen, daß nämlich das Gewicht des. Lotes
immer 4— 5mal größer ist als das der abgelaufenen Leine,
daß wahrend des Lötens der Beobachter seinen Ort nicht
verändert, daß er endlich nur die Länge der feuchten
Schnur berücksichtigt.
b) Unerläßlich ist femer bei jeder Lotung eines Sees,
daß der Ort der jedesmaligen Tiefenbestimmung sehr ge-
nau ermittelt werde. Dies ist aber insofem schwierig,
als sich der Beobachter auf einer Fläche befindet, welche
keinen unmittelbaren Anhaltspunkt zur Orientiemng bietet
und auch nicht, wie auf dem festen Lande, die Anwen-
dung der einfachen Methoden des Krokierens gestattet.
Bei kleineren Wasserbecken sowie bei nicht sehr genauen
Messungen wird man den Ort der Lotung aus dem Kurse
des Bootes und der Anzahl der Ruderschläge hinreichend
genau bestimmen können, welche man bis zum Erreichen
der Lotungsstelle gebraucht hat, nachdem man durch Ab-
rudem einer bekannten Strecke die mittlere Wirkung
eines Ruderschlages ermittelt hat. Bei größeren Flächen
aber, sowie bei sehr genauen Untersuchungen ist man
auf Peilungen angewiesen. Am bequemsten wird dann
immer sein, zwischen zwei bekannten Punkten des See*
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Oberflächenbau.
15
gestades einen bestimmten Kurs einzuhalten und durch
Anvisieren eines dritten Punktes den Ort der Lotung zu
bestimmen.
Man rudere von A nach B (Fig. 1). Den Ort C der Lotung
bestimmt man, indem man von hier aus nach D visiert und den
Winkel BCD oder ACD bestimmt. Da nun die Punkte A, B und
D bekannt sind und somit AD und BD, femer die Winkel DBA
und BAD gegeben sind, so läßt sich auch AC bez. BC leicht be-
rechnen. Meist wird ein graphisches Verfahren genügen, indem
man in D B,n AD den Winkel CDA anfügt, welcher ist gleich
180 <» — « DAC + < DÜA), ■ oder an DB den Winkel BDC = 180^
- « DBC + < BCD),
Fig. 1.
Sehr bequem, aber mehrere Beobachter erfordernd,
ist das bei Küstenvermessungen vielfach geübte Verfahren,
da& der Ort des Bootes vom Lande aus in zwei Stationen
bestimmt wird.
Es wird von B und D nach C während der Lotung, deren
Vornahme durch ein Signal angezeigt wird, visiert, wobei sich die
Winkel BDC und DBC ergeben. Etwas umständliche Rechnungen
erfordert die Methode, nach welcher der Ort der Lotung durch
Visieren nach drei bekannten Punkten ermittelt wird. Man be-
stimmt in C die Winkel DCE und ECB und erhält dann, da D,
E and B gegeben sind, die Lage von C durch Anwendung der
Pothenotechen Aufgabe.
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16 . Albrecht Penck,
Alle diese Operationen aber lassen sich vermeiden,
wenn die Lotung zur Zeit der Eisbedeckung ausgeführt
wird. Dann kann der Ort durch Abzählen der in einer
bestimmten Richtung gemachten Schritte genau bestimmt
werden (Krokieren, vergl. S. 5), und es können dann ganz
systematisch Lotungen ausgeführt werden. Ueberdies ist
dann auch der sehr störende Umstand beseitigt, daß das
Boot während des Lötens aus seinem Kurse getrieben
wird. Es kann daher nicht genug empfohlen werden, See-
lotungen im Winter vorzunehmen.
c) Sehr wesentlich kommt bei den Lotungen die
Notierung des jeweiligen Standes des Seespiegels in Be-
tracht.
Die Seestände sind in den einzelnen Abschnitten des
Jahres sehr verschieden ; der Bödensee schwankt jährlich
in Beträgen von 2 m und manche kleinere Alpenseeen
schwellen sogar um 10 — 12 m regelmäfsig an. Größere
Seeen zeigen überdies die Schwankungen der „seiches**
(vergl. S. 34), welche unter Umständen Werte von 2 m
erreichen können. Der Betrag aller dieser Schwankungen
übersteigt bei weitem den der von einer guten Lotung
zu verlangenden Genauigkeit. Im allgemeinen muß als
erstrebenswert bezeichnet werden, daß die gewonnenen
Tiefen bis auf 1 m sicher sind, während für den Fall,
wo es sich um Konstatierung besonderer Unregelmäßig-
keiten am Seegrunde oder um Veränderungen desselben
handelt, es auf die Zuverläßlichkeit der Dezimeter an-
kommt, wie sich bei der Seegrundvermessung nach der
Katastrophe von Zug herausstellte ^).
Ein bisher in Mitteleuropa noch viel zu wenig ge-
würdigter Gegenstand ist ferner die Auslotung der
Flüsse. In den bei weitem meisten Fällen wird dieselbe
mit einer Meßstange durchführbar sein, welche senkrecht
(oder sonst unter Beobachtung des Neigungswinkels) zum
Grunde herabgestoßen wird. Für Ermittelung isolierter
und oft bedeutender Tiefen, welche gelegentlich im Strom-
bette entgegentreten, und z. B. in der Donau bei Wien
') Die Katastrophe von Zug 5. Juli 1887. Zürich 1888. S. 25.
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Oberflächenbau. 1 7
sich um 20 m herabsenken, reichen die gewöhnlichen
Meßstangen nicht aus, und es müssen sehr schwere
Gewichte angewendet werden, um beim Loten den Ein-
fluß der Strömimg zu beseitigen. Zuverlässige und öfter
wiederholte Stromtiefenmessungen können einen lehrreichen
Einblick in die stetigen Veränderungen der Strombetten
gewähren *).
4. Aufnahme von Höhlen.
Ein im allgemeinen noch recht dankbares Gebiet ist
die Erforschung der Höhlen, welche zumeist die Kalk-
gebirge Mitteleuropas auszeichnen. Obwohl namentlich in
neuester Zeit in dieser Hinsicht manche schätzenswerte
Untersuchungen angestellt sind, so herrschen in weiteren
Kreisen noch äußerst unbestimmte und gewöhnlich sehr
übertriebene Vorstellungen über die Ausdehnung und Er-
streckung dieser unterirdischen Räume. Eine genaue
Au&ahme derselben, welche recht wünschenswert ist,
wird am besten zwar wohl von geschulten Ingenieuren
nach den Regeln der Markscheidekunst auszuführen sein,
jedoch ist auch hier keineswegs ausgeschlossen, daß ein
auftnerksamer Beobachter ohne besondere technische Vor-
bildung etwas recht Nützliches leisten kann. Mit einem
Bergkompaß (über den Gebrauch desselben siehe S. 54)
und einer die Meßkette ersetzenden Schnur wird man
vielfach den Grundriß der Höhle samt ihren Verzweigungen
aufnehmen können. Man mißt nämlich mit der ausge-
spannten Schnur möglichst lange, aufeinanderfolgende,
geradlinige Strecken, bestimmt mit Hilfe des Kompasses
deren Richtung (Streichen) und mit dem am Kompaß an-
gebrachten Klinometer deren Neigung, das Fallen. Außer-
dem mißt man an möglichst zahlreichen Stellen den Ab-
') Zu diesem Abschnitt vergl. Simony, üeber die Tiefen-
Verhältnisse und Becken gestaltung der Seen des Traungebietes.
Der Tourist. Wien 1882. — Mayer, Tiefenmessungen. Ein Bei-
trag zur Geodäsie. Wien 1871.
Anleitnng znr deutschen Landes- und Yolksforschung. 2
ÜNlVtr-4« 1 Y DigitizedbyCiOOglC
Of J
\* .>^
18 Albrecht Penck,
etand der Höhlenwandungen von der Schnur, und zwar
sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen.
Hierauf kann man leicht einen Grundriß entwerfen, in-
dem man nacheinander die abgemessenen Strecken, multi-
pliziert mit dem Kosinus ihres Neigungswinkels, in ihrer
Richtung aufzeichnet und dann die gemessenen Horizontal-
abstände der Höhlenwandungen anträgt. Die Höhe der
Höhle läßt sich in niedrigen Gängen meist durch eine
Meßlatte feststellen; in größeren Grotten (z. B. St. Canzian
bei Triest) haben Versuche, die Höhenverhältnisse durch
das Aufsteigen kleiner Luftballons zu ermitteln, keine
günstigen Ergebnisse geliefert, und man mußte sich darauf
beschränken Raketen steigen zu lassen, wodurch man
nur annähernd richtige Maße erhielt.
Einer solchen Aufnahme einer Höhle muß die Er-
forschung derselben vorausgehen, was mancherlei Vor-
sicht verlangt. Man gehe nie allein und versäume
nicht sich wie bei Hochgebirgspartieen anzuseilen. Vor-
kommende Abgründe sondiere man erst durch das Herab-
werfen von Steinen oder Herablassen eines Lotes, ehe
man sich in dieselben herabbegiebt. Auch versäume man
nicht, den zurückgelegten Weg für die Rückkehr durch
Markierung kenntlich zu machen. Bei der Untersuchung-
selbst wolle man stets beachten, daß die unschein-
barste EJuft zu mächtigen Hallen und Gewölben führen
kann*), und daß an der Decke von manchen Gängen
sich andere öffnen, die häufig nur durch eine Leiter zu-
gänglicli sind, weswegen man eine solche womöglich mit-
nehme.
Eine Höhlenerforschung pflegt gewöhnlich sehr lang-
sam vorzuschreiten, angezeigt ist es daher, einen ge-
nügenden Vorrat an Beleuchtungsmitteln und Proviant
mitzunehmen. Nur lasse man sich durch die Länge der
in der Tiefe verbrachten Zeit nicht täuschen und schließe
aus derselben nicht auf den zurückgelegten Weg, derselbe
pflegt in der Regel recht gering zu sein und kanii nur
*) Schauer, Zur Auffindung verdeckter Höhlen. Mitteil, der
Sektion f. Höhlenkunde. Wien 1883. Nr. 4.
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Oberflächenbau. 19
durch eine Au&ahme sicher festgestellt werden. Recht
wichtig sind Temperaturbeobachtungen in den Höhlen,
indem die einen die mittlere Erdwärme ihrer Umgebung
zeigen, also etwas mehr als die mittlere Jahrestemperatur
ihres Einganges, während die anderen bedeutend kälter
sind und Eisreste bergen (Eishöhlen).
II. Beobachtungen Aber Yeränderungen der Land-
oberfläehe.
Wenn auch dank einer mehrhundertjährigen Arbeit
das Relief Mitteleuropas recht genau bekannt ist und nur
durch mühsame Nachlese eine Ergänzung des bereits Be-
kannten zu erzielen ist, so sind deswegen doch keines-
wegs Beobachtungen über die Landoberfläche zu vernach-
lässigen. Vielmehr eröflnet sich gerade in einem geogra-
phisch bereits gut durchforschten Gebiete eine Fülle neuer
und ungemein anregender Aufgaben, nämlich die Verände-
rungen festzustellen, welche die Landoberfläche
in historischen Zeiten, teils unter den Augen des Beob-
achters, teils seit ihrer Mappierung, erlitten hat. Bei
dem fortwährenden Wechsel, welchen die Gestalt der Erd-
oberfläche erfährt, ist eine jede kartographische Auftiahme
nur die Aufzeichnung eines jemaligen Zustandes, und sie
wird dadurch zu einem wichtigen Anhaltspunkte für die
Ermittelung stattgehabter Veränderungen. Nicht jede Ab-
weichung, welche ein Beobachter im Kartenbilde von der
Natur bemerkt, bezeichnet einen Fehler des ersteren, son-
dern in sehr vielen Fällen handelt es sich um Verände-
rungen, welche das Land selbst betroffen haben; die-
selben zu registrieren ist äußerst wichtig.
Die Veränderungen der Landoberfläche erfolgen teils
ganz allmählich durch die hier stetig wirkenden Kräfte,
teils vollziehen sie sich rascher in Gestalt kleiner Kata-
strophen. Die letzteren pflegen gewöhnlich die Aufmerk-
samkeit der Umwohner und schlielalich auch wissenschaft-
lipher Kreise zu erwecken, allein eine Untersuchung der-
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20 Albrecht Penck,
selben liefert vielfach ungenügende Ergebnisse deswegen,
weil der Zustand vor der Katastrophe nicht hinreichend
bekannt ist und gewöhnlich aus älteren kartographischen
Darstellungen entnommen wird. Aber seit deren An-
fertigung haben oft allmählich wirkende Kräfte vor der
Katastrophe bereits namhafte Veränderungen hervor-
gebracht, welche nunmehr ausschließlich als das Werk
derselben angesehen werden. Es erwächst hieraus für
den Einzelbeobachter die wichtige Aufgabe, besonders zu
Veränderungen neigende Stellen wiederholt und oft zu
besuchen, um den jeweiligen Zustand derselben zu er-
mitteln.
1. Beobachtungen an den Küsten.
Sehr namhafte Veränderungen pflegt die Grenze zwischen
Wasser und Land zu erleiden, imd zwar sind die mitteleuro-
päischen Gestade ganz besonders den Umbildungen ausge-
setzt. Dieselben bestehen größtenteils in Wegwaschungen
und Anschwemmungen. Die We gwaschungen pflegen be-
sonders an den Vorsprüngen der Steilküsten zu wirken, und
letztere sind daher im Rückwärtswandem begriffen, wel-
ches ununterbrochen, aber zeitweilig mit größerer Inten-
sität geschieht. Die abenteuerlichsten Vorstellungen sind
über diesen Vorgang ziemlich verbreitet, man spricht oft
von ganzen breiten Landstreifen, welche fortgespült sein
sollen. Selbst in Lehrbüchern begegnet man einschlägigen
Darstellungen, dieselben knüpfen meist an eine alte Karte
von Helgoland an, welche die Insel vielmal größer als
heute zeigen ^). Diese Karte ist aber nur ein Phantasie-
gebilde, welches gänzlich der Wahrhaftigkeit entbehrt.
Man wende daher den Vorsprüngen der Steilküsten, den
Kliffs, besondere Aufmerksamkeit zu, man stelle die
Lage des Steilabfalles oftmals fest, indem man dessen Ent-
fernung von bekannten Gegenständen, von Gebäuden, Weg-
kreuzungen u. ä. mißt. Letzteres geschieht im allgemei-
*) Z. B. in Hann, Hochstetter und Pokorny, Allgemeine
Erdkunde. 3. Aufl. 1881. S. 357.
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Oberflächenbau. 21
nen mit hinreichender Genauigkeit durch Abzählen der
Schritte, nur wolle man beachten, dass eine Angabe der
Entfernung in Schritten durchaus unzureichend ist. . Der
Schritt ist ein individuelles Maß; jeder Beobachter ist
verpflichtet, die Größe desselben festzustellen und die Er-
gebnisse seiner Messung umgerechnet im Metermaße mit-
zuteilen, v^renn er wünscht, dass seine Beobachtung Ver-
wendung findet. Außerdem ist nötig, daß die verwand-
ten Fixpunkte recht eingehend geschildert werden, damit
sie später wieder aufgefunden werden. Nützlich ist auch
die Richtung anzugeben, in welcher gemessen wurde, wie
dies von Paul Lehmann in einer recht trefflichen Arbeit ^
mehrfach gethan wird. („So maß ich auf dem Wege,
der vom Gehöft des Schulz Zuehlke zu der vom Meere
verschlungenen Hofstelle des alten Schulzenhofes führte,
83 m und weiter nach Westen vor dem Boldt senior be-
zeichneten Grundstück 79 m, den Hauptweg beide Male
nicht mitgerechnet.") Solche Messungen wiederhole man
von Zeit zu Zeit und besonders nach Sturmfluten. Ein
einziges Messungsergebnis ist an und für sich schon
manchmal interessant durch den Vergleich mit älteren,
die aus genauen Karten zu entnehmen sind.
Andere Stellen der Küste neigen zu Versandungen,
an manche Vorsprünge wird eine schmale Landzunge, ein
„Haken'', angewaschen, welcher ziemlich regelmäßig
wächst, manchmal aber auch seine Lage verändert. Ein
wiederholtes Ausmessen solcher Haken und Feststellung
ihrer Richtung ist wünschenswert^).
Viel umfangreicher als die Zerstörungen der Steilküsten
ist die der flachen Gestade, wie Mitteleuropa solche an seiner
Marschenküste besitzt. Hier liegt das Land im mittleren
Meeresniveau und selbst unter dem Bereiche der Fluten,
gegen welche es durch Deiche geschützt ist. Der Bestand
des Landes knüpft sich an den der letzteren, und die
^) Das Küstengebiet von Hinterpommern. Zeitschr. d. Gesellsch.
f. Erdkunde. Berlin 1882. S. 332 fF.
^ Vergl. hierzu; Bornhöft, Der Greifswalder Bodden. II.
Jahresber. d. geogr. Gesellsch. Greifswald. 1885. S. 54.
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I
22 Albrecht Penck,
Deichbrüche werden für große Strecken verderblich. Dank
einer vorsichtigen und sorgfältigen Ueberwachung werden
dieselben seltener und seltener, und wünschenswert wäre
nur, daß sich keine Gelegenheit bieten möchte, über sie
Beobachtungen anzustellen. Wo ein Deich bricht, pflegt
das außen hoch angeschwollene Wasser ungestüm in das
innen gelegene Land einzudringen und wäscht hier ge-
wöhnlich einen tiefen Kolk aus, welcher noch lange, nach-
dem der Schaden ausgebessert ist, als Teich fortbesteht.
Messungen über die Tiefe dieser Kolke (man schreibt
manchen derselben eine solche von 30 m zu) können ein
anschauliches Maß für die Wasserkraft und bei späteren
Wiederholungen eine Vorstellung von dem allmählichen
Zuwachsen geben.
Es zeigt die Geschichte der mitteleuropäischen Nord-
seeküsten einen fortwährenden Kampf des Menschen gegen
die Fluten, welcher anfänglich große Landverluste, später
einen Landgewinn brachte. Zahlreiche schöne Arbeiten
haben bereits gezeigt, zu welch wichtigen Ergebnissen
das Studium alter Karten und von Archiven über den
vormaligen Zustand des Landes und die seither erfolgten
Veränderungen desselben führen kann ^), und das Thema
ist noch bei weitem nicht erschöpft. Die historische Erd-
kunde wird hier der physischen in hohem Maße dienstbar.
Es kommt daher bei einschlägigen Untersuchungen sehr
darauf an, daß nach beiden Seiten hin Kritik geübt wird.
Es gehört zu denselben völlige Vertrautheit mit den
Methoden historischer Untersuchung und mit den örtlichen
Verhältnissen.
Außer durch die unterwaschende und anschwemmende
Thätigkeit der Fluten wird der Verlauf der Küsten be-
sonders auch durch die Verschiebungen der Grenzen zwi-
schen Wasser und Land, sei es durch Bewegungen des
letzteren, sei es durch Schwankungen des Meeresspiegels,
*) Arends, Physische Geschichte der Nordseeküsten und deren
Veränderungen seit der cymbrischen Flut. Emden 1823. — Beek-
man, De strijd om het bestaan. Zutphen 1887. — Geerz, Hi-
storische Karte von Dithmarschen, Eiderstedt etc. Berlin 1886. —
Meyn, Die Insel Sylt.
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Oberflächenbau. 23
beeinflußt. Aus der Erscheinung lägt sich unmittelbar
nicht entnehmen, welcher von beiden Vorgängen im ein-
zelnen Falle wirklich stattfand. Man hat daher eine
neutrale Ausdrucksweise gewählt und spricht von einer
positiven Bewegung der Strandlinie, wenn das Meer
auf Kosten des Landes wächst und von einer negativen
Bewegung im entgegengesetzten Falle. Diese Erschei-
nungen selbst festzustellen ist die nächstliegende Aufgabe,
und erst wenn diese in unbefangener Weise gelöst ist,
lassen sich Folgerungen herleiten. Erst kürzlich hat
Eduard Sueß^) gezeigt, daß man im großen und
ganzen mit den Erscheinungen selbst noch sehr wenig
vertraut ist, und damit ist eine Anregung gegeben den-
selben von neuem volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Bisher hat • man im allgemeinen von Senkungs-
erscheinungen der deutschen Gestade, also von einer po-
sitiven Bewegung der Strandlinie gesprochen. Diese An-
sicht erheischt eine sorgfältige Prüfung, und jedes ein-
schlägige Phänomen sollte gewissenhaft untersucht werden.
Man hat längs der Nord- und Ostseeküsten namentlich
aus dem Vorkommen submariner Torflager auf eine
Senkung des Landes geschlossen. In der That ist wahr,
daß sich jener Torf nur auf dem Lande oder in süßem
Wasser gebildet haben kann. Allein bevor man aus
diesem Befunde auf eine stattgehabte Niveauveränderung
schließt, erwäge man, daß unmittelbar neben dem Strande,
von demselben nur durch einen Dünenstreifen getrennt,
Haffe liegen, in welchen heute noch die TorfbUdung in
und unter dem Meeresniveau stattfindet. Wird über den
hier entstandenen Torf die Düne hinweggeweht, so wird
ersterer zusammengepreßt und in noch tieferes Niveau
hinabgedrückt. Schreitet dann die Düne weiter landein-
wärts vor, so kommt an ihrem Außenrande der zusammen-
gedrückte Torf wieder zum Vorschein und ist nun ein
submarines Lager, ohne daß jedoch eine Niveauveränderung
des Strandes stattgefunden hätte.
Vielfach hat man auch aus dem Umstände, daß
1) AntHtz der Erde. Bd. II, Abschn. 9—13.
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24 Albrecht Penck,
Reste von Gebäuden, Straßenpflaster u. s. w.
unter dem Meeresspiegel angetroffen werden, auf
stattgehabte Niveauveränderungen geschlossen. Es ist
hierzu jedoch zu bemerken, daß große Strecken Lande»
am heutigen Nordseegestade unter dem Meeresspiegel
liegen und bewohnt und bebaut sind. Es liegt in Hol-
land manche gepflasterte Straße 4 — 5 m unter dem
Meeresspiegel und manches Haus ist in gleicher Tiefe
fundiert. Durch einen großen Deichbruch könnten diese
Gebiete überflutet werden und es würden alle diese
Zeugen menschlicher Thätigkeit tief unter den Wassern
begraben sein — scheinbar Zeugen einer Senkung,
üeberdies ist zu beachten, daß der weiche Marschenboden
bei Belastung zusammensinkt. Werden Dämme auf ihm
aufgeworfen, so wird er von denselben ausgequetscht, und
durch nachträgliche Straßenaufschüttung kann ein ur-
sprüngliches Pflaster tiefer und tiefer hinabgedrückt werden,
während sich daneben der Marschenboden aufpreßt. Dies
ließ sich namentlich in den alten Vierteln von Hamburg
gelegentlich der Anlage des Freihafeugebietes wahrnehmen.
Endlich aber ist der Marschenboden selbst in einem „Zu-
sammensetzen" begriffen und seine Oberfläche sinkt daher
allmählich ein, so daß es eine Menge von Möglichkeiten
giebt, welche bewirken können, daß Bauwerke und Straßen
unter dem Meeresniveau entgegentreten, ohne daß auf
stattgehabte Veränderungen desselben geschlossen werden
dürfe.
Auch die Thatsache, daß gelegentlich bei Grabungen
tief unter dem Meeresniveau Süßwasserschichten ange-
troffen werden, läßt nicht ohne weiteres Schlüsse auf
stattgehabte Niveauveränderungen zu. Es kommen hier
wieder die Haffe in Betracht, deren Boden oft meh-
rere Meter unter den Meeresspiegel hinabreicht, und in
welchen zahlreiche Süßwassermuscheln und Schnecken
leben, deren Gehäuse von vom herein unter dem Meeres-
niveau abgelagert werden. Bricht die Nehrung eines
solchen Haffs, so dringt die salzige Flut in dasselbe
ein und es kommen nunmehr marine Schichten über Süß-
wassergebilden zur Ablagerung, ohne daß zugleich ein
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Oberflächenbaa. 25
»Senkungsprozeß** stattfindet. Entsprechend wird es sich
unter umständen mit den oben erwähnten Kolken verhalten.
Kurz, es ist die allergrößte Vorsicht bei den Be-
obachtungen über »Senkungserscheinungen** geboten. Nicht
alle Dinge, die nur auf dem Lande gebildet sein können
und nunmehr miter den Fluten entgegentreten, sind in
dieser Hinsicht beweiskräftig. Es möge immer bei jedem
einzelnen zur Beobachtung gelangenden Falle erwogen
werden, ob nicht Sachen vorliegen, die von vornherein
im oder gar unter dem Meeresspiegel sich befunden haben
können, oder durch »Setzen** ihrer Unterlage unter das-
selbe geraten sind. Der Umstand, daß die gesamten
Küsten Mitteleuropas von Landstrecken begleitet werden,
die teils unter, teils im Niveau des benachbarten Meeres
gelegen sind, welche femer aus sehr losem Material be-
stehen, das sich noch nicht verfestigt hat, macht in hohem
Grade wahrscheinlich, daß die meisten „Senkungserschei-
nungen** nichts mit einer Niveau Veränderung zu thun
haben.
Es sind überhaupt die Verschiebungen der Strand-
linie schwer festzustellen, auch eine negative Ver-
änderung derselben, eine Hebungserscheinung, ist
schwer zu ermitteln. Wohl ist im allgemeinen wahr, daß
das Vorkommen von Meeresschichten über dem Meeres-
spiegel auf eine solche weist, allein auch hier giebt es
Umstände, welche täuschend wirken können, imd die-
selben kommen namentlich an den mitteleuropäischen
Gestaden vor. Es läßt sich hier an unzähligen Stellen
beobachten, wie heftige Seebrisen die Schalen von Meeres-
muscheln auf die benachbarten Dünen hinaufwehen, und
hier findet man oft 20, 30, ja 50 m über dem Meere ein
ganzes Muschelhaufwerk. Nun würde niemand bei einem
solchen Falle schließen, daß die See selbst einst so hoch
gestanden hätte wie die Gehäuse ihrer Bewohner ver-
schleppt sind, aber schwieriger wird der Fall dort, wo
über einem solchen Lager verwehter Muscheln Sand ab-
gelagert ist, wodurch der Anschein geweckt wird, als ob
hier keine marine Schicht vorläge. Des ferneren ist zu
beachten, daß der Mensch selbst die Meeresmuscheln ver-
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26 Albrecht Penck,
schleppt, dieselben werden als Düngemittel oft weit ver-
frachtet und erscheinen dann in erheblicher Höhe über
dem Meere auf den Aeckern ; in der Umgebung der Groß-
städte sieht man allenthalben Austernschalen auf den
Feldern, und endlich haben frühere Küstenbewohner sich
in reichlichem Maße von Muscheln genährt, deren Schalen
nunmehr in Abfallhaufen („Kjökenmöddinger") nicht sel-
ten ziemlich hoch über der Küste erscheinen. Sobald
man also Meeresmuscheln abseits des Strandes antrifft,
untersuche man genau, ob dieselben nicht etwa nur ober-
flächlich über das Land verstreut sind, oder in Kjöken-
möddinger angesammelt sind, oder endlich, ob die Schicht,
welche sie birgt, nicht bloß eine oberflächliche ist. Sollte
nach allen solchen Erwägungen es aber zweifellos bleiben,
daß die Ablagerung, wie z. B. bei Blankenese, wirklich
eine marine Bildung ist, so untersuche man weiter, ob
nicht gedachte Ablagerung, wie es im berührten Beispiel
der Fall ist, einer '^teren Periode der Erdgeschichte an-
gehört, mithin nicht als Beweismittel für eine rezente
Niveauveränderung gelten kann.
Bisher hat man auf der Geest an den deutschen
Küsten noch nirgends eine echte Strandlinie gefunden,
und es dürfte wohl auch im allgemeinen vergeblich sein,
nach solchen zu suchen. Dagegen möchte die Aufmerk-
samkeit auf die Zusammensetzung der Flußmarschen nahe
der Mündung gelenkt werden. Dieselben erfüllen gewöhn-
lich alte Thäler, und durch Feststellung der Mächtigkeit
der Marschen (durch Bohrungen) kann, wie E. Geinitz^)
praktisch durchgeführt hat, die Sohle jener alten Thäler
ermittelt werden. Liegt dieselbe unter dem Meeresniveau,
so ist nicht unwahrscheinlich, daß seit Bildung des
Thaies eine positive Verschiebung der Küstenlinien statt-
gefunden hat. Dabei ist aber zu beachten, daß gelegent-
lich unter den Flußmarschen, wie z. B. bei Hamburg*),
*) X. Beitrag zur Geologie Mecklenburgs mit einer Tiefenkarte
des Warnowthales bei Rostock. 1888.
^) Vergl. Wichmann, Zeitschr. der Deutschen geolog. Ge-
sellßch, 1886. S. 460.
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Oberflächenbau. 27
marine Schichten versteckt sind, welche eine ziemlich
weite frühere Ausdehnung des Meeres verraten. Nur
möge man daraus nicht ohne weiteres auf eine sftatt-
gehabte negative Niveau Veränderung schließen, sondern
man untersuche zunächst genau die Höhe der Ab-
lagerung; wenn jene nicht um mehrere Meter vom
Meeresspiegel differiert (die Schichten von Hamburg liegen
sogar im Meeresniveau), wird man immer zunächst zu
berücksichtigen haben, daß im Bereiche der Flußmün-
dungen durch den Wechsel der Gezeiten Meeresbewohner
um 2 — 3 m über das Meeresniveau gebracht werden
können, ja daß bei Sturmfluten noch viel beträchtlichere
Verschwemmungen eintreten können.
Man sieht, die Beobachtungen über noch von statten
gehende Niveauveränderungen der Küsten Mitteleuropas
sind ungemein schwierig anzustellen. Auch bietet sich
hier nirgends Gelegenheit, wie z. B. an den felsigen
Küsten Schwedens, Höhenmarken anzubringen, die ab
und zu kontrolliert werden könnten. Allein selbst filr
den Fall, daß solche Marken existierten, würde deren
Beobachtung nicht unter allen Umständen sichere Ergeb-
nisse gewähren. Es ist die Nordsee von Fluten bewegt,
und der Wind staut das Wasser gelegentlich bedeutend
auf. So war z. B. am 18. Mai 1860 der Spiegel der
Zuidersee von einem Sturme derart schräg gestellt, daß
er am Ostufer um 5 m höher war als am Westufer.
Auch die Ostsee wird durch Stürme manchmal an einem
Ufer hoch aufgestaut, und überdies zeigt sie ziemlich
regelmäßige, jährliche Schwankungen wie ein Binnen-
see, welcher die Hochwasserperiode seiner Zuflüsse ver-
rät ^). Vermöge aller dieser Verhältnisse kann es sich
sehr leicht ereignen, daß ein erster Besuch der Höhen-
marke gerade bei niedrigem Wasserstande, ein zweiter
bei höherem erfolgt, so daß man eine Niveauverände-
rung wahrzunehmen scheint, während thatsächlich nur
eine gelegentliche Schwankung beobachtet wird. Die Er-
scheinungen, welche vielfach zum Beweise einer Hebung
') Brückner, Annalen der- Hydrographie. 1888. Febr.-Heft.
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28 Albrecht Penck,
des nördlichen Schwedens angeführt worden sind, werden
von E. Sueß aus den dargelegten Gründen als nicht
beweiskräftig angesehen ^). Nur fortgesetzte Pegelbeob-
achtungen vermögen ganz sicheres Material zur Entschei-
dung der Frage nach etwa stattfindenden Niveauverände-
rungen beizubringen, vorausgesetzt, daß die Pegel sich
auf festem Boden befinden. . Die Geestvorsprünge der
mitteleuropäischen Küsten sind allein für Pegelstationen
geeignet, während im Bereiche der Marschen und auf
den Dünen, die sich auf das Marschland auflagern, es sich
bei längeren Beobachtungsserien immer noch fragen muss,
ob nicht während derselben der Pegel, seiner sich „setzen-
den" Unterlage folgend, etwas gesunken ist.
Bisher haben die Pegelbeobachtungen der deutschen
Ostsee kein Anzeichen stattgehabter Niveauveränderung
gewährt.
2. BeobaciLtimgen an den Flüssen.
Mannigfache Anregungen für Untersuchungen über
Veränderungen in der Landoberfläche bieten die Flüsse.
Nur die wenigsten rinnen in engem felsigen Bette, un-
fähig, dasselbe zu verschieben, dahin, die meisten ergießen
sich durch breite Thalauen, in mehr oder weniger zahl-
reichen Windungen. Die Lage der letzteren ist keine
feste. An den konvexen Stellen seiner Biegungen unter-
wäscht der Fluß seine Ufer, an den konkaven schwemmt
er Gerolle an, das Bestreben entvnckelnd, seine Win-
dungen mehr und mehr auszudehnen. Dabei ereignet es
sich leicht, daß zwei Windungen sich mehr und mehr
nähern, bis sie sich trefifen; der Fluß benutzt nunmehr
den neuen abgekürzten Weg und giebt die durch den-
selben abgekürzte Windung auf, welche darauf als tote
Flußstrecke allmählich versandet und verschlammt.
Es ' sind dies alles ganz bekannte Erscheinungen,
allein nur für die wenigsten Flüsse ist festgestellt, in
welcher Zeit sich dieselben abspielen. Es ist daher
wünschenswert, daß diese Prozesse in ihren Einzelheiten
') Sueß, Antlitz der Erde. Bd. IL S. 300.
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Oberflächenbau. 29
genauer verfolgt würden, daß ein Beobachter die kon-
kaven und konvexen Stellen eines Flußlaufes wiederholt
feststeUt, was durch Krokieren geschehen kann (S. 5,
siehe auch S. 21). Fortgesetzte Beobachtungen werden
dann erkennen lassen, wie viel der stattgehabten Ver-
änderungen unter gewöhnlichen Verhältnissen und wie
viel bei Hochwasser stattfanden. Lohnend wird auch
immer der Vergleich der Veränderungen von Flußläufen
sein, welche sich aus dem Studium verschiedener Karten-
aufnahmen ergeben, beziehentlich durch Begehungen seit
einer letzten Mappierung herausstellen, wobei namentlich
die Aufmerksamkeit auf die Menge des von den Ufern
abgewaschenen Materials zu lenken wäre. Einige wenige
einschlägige Untersuchungen haben in dieser Hinsicht
schätzenswerte Ergebnisse geliefert^).
Die größten Veränderungen zeigen die Flüsse im
verwilderten Zustande, d. h. dort, wo sie sich in zahl-
reiche Arme zerteilen und förmlich in einzelne Adern
auflösen, was überall da eintritt, wo ein Strom aus dem
Gebirge unmittelbar in die Ebene tritt. Es ist der Rhein
verwildert beim Betreten der oberrheinischen Tiefebene,
die Bode ist es am Nordfuße des Harzes, der Inn beim
Verlassen der Alpen. An solchen Strecken pflegt kaum
ein Jahr zu vergehen, ohne daß dieser oder jener Arm
außer Gebrauch gesetzt wird, während sich andere Ver-
zweigungen bilden. Aufeinanderfolgende Mappierungen
Hefern daher recht verschiedene Bilder des Stromes; es
bietet sich hier für aufmerksame Beobachter Gelegenheit
den Vorgang in seinen Einzelheiten zu verfolgen.
Die Flüsse verändern aber nicht nur ihre Betten in
der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen. Manche
füllen ihre Betten nach und nach mit GeröUe auf,
was gewöhnlich im verwilderten Zustande geschieht, die
andern vertiefen dasselbe. Die aufschüttenden Flüsse
erhöhen ihr Bett mehr und mehr, bis sie schließlich im
Niveau des umgebenden Landes fließen, wobei letzteres
^) Wagner, Hydrologische Untersuchungen an deutschen
Flüssen. Braunschweig 1887.
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30 Albrecht Penck,
ihren Angriffen preisgegeben ist. GewöhnKch werden
dann Dämme errichtet, zwischen welchen die Aufschüttung
weiter fortschreitet, so daß der Fluß mehr und mehr über
seine Umgebung kommt. Dies ist namentlich in den
Niederlanden (Rhein), sowie auf manchen Strecken des
Alpenvorlandes der Fall. Es wäxe wünschenswert das
Maß ihrer Betterhöhimg festzustellen. Dies wird einer-
seits durch Wasserstandsbeobachtungen geschehen können,
andererseits durch Ermittelung der Zeiten, in welchen,
und der Beträge, um welche die Uferdämme erhöht worden
sind. Angaben hierüber liegen noch nicht vor.
Wohl die meisten Flüsse schneiden ihr Bett ein,
aber dies geschieht im allgemeinen sehr langsam und
entzieht sich der Beobachtung fast gänzlich. Immerhin
würde ein Versuch hierüber Material zu sammeln zu
empfehlen sein. Man wird vielleicht aus der Geschichte
der wichtigeren Strombrücken einschlägige Beobachtungen
entnehmen können. Im wesentlichen wird es sich dabei
darum handeln, das Alter der Brücke zu ermitteln; je
höher dasselbe ist, desto unwahrscheinlicher dürften Ver-
tiefungen des Flusses sein. Wird hingegen berichtet,
daß die Brücke wegen Unterwaschung mehrfach verlegt
wurde, oder daß besondere Sicherheitsmaßregeln für die
Pfeiler ergriffen win-den, wie z. B. an der Lechbrücke
bei Augsburg (siehe unten), so ist eine Vertiefung des
Flußbettes sehr wahrscheinlich.
Dort, wo der Mensch in die Arbeit der Ströme
künstlich eingreift, vermag er deren Thätigkeit sehr zu
verändern. Namentlich haben Flußregulierungen in dieser
Hinsicht oft einen bedenklichen Erfolg. Dieselben be-
zwecken meist eine Geradlegung des Bettes, der Weg
des Flusses wird abgekürzt, sein Gefälle gesteigert. Da-
durch gewinnt er Kraft, er putzt das neue Bett 'förmlich
aus und gräbt sich eine tiefe Rinne ein. Solches geschah
mit dem Lech bei Augsburg nach seiner Regulierung,
seine Vertiefung erfolgte dermaßen schnell, daß die alte
berühmte Lechbrücke bei Hochzoll unterwaschen wurde,
sie wurde abgebrochen und ihi-e Widerlager liegen heute
mehrere Meter über der neuen Brücke. Auch die seit kaum
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0 berflächenbau. 3 1
50 Jahren bestehende Eisenbahnbrücke ist bedroht worden;
ihre Pfeiler mußten besonders durch ümmauerung ge-
schützt werden und erheben sich heute nicht mehr aus
dem Flusse, sondern auf einer künstlich geschaffenen
kleinen Insel. Die Vertiefung des Bettes hat sich strom-
aufwärts bis zu jenem Wehre fortgesetzt, welches einen
Teil des Lechwassers nach Augsburg wirft. Dasselbe
war ursprünglich kaum 1 — 2 ra hoch und bestand aus
einer einzigen Reihe von Bohlen. Indem sich nun der
Fluß vertiefte, mußte das Wehr tiefer und tiefer herab-
gebaut werden, jetzt sieht man drei Reihen von je 5 m
langen Bohlen übereinander, und die Höhe des Wehres
beträgt über (J m. Alles dies erfolgte in 25 Jahren.
Aehnliche Verhältnisse kehren an der Isar wieder, welche
ihr Bett seit der Regulierung um 2 m vertiefte, wodurch
besondere Schutzmaßregeln für die Maximiliansbrücke in
München nötig wurden. Auch die Stubenbrücke in Wien
mußte durch Anlage eines Betons und eines unterhalb
gelegenen Wehres vor ünterwaschung geschützt werden.
Solche Angaben weiter zu sammeln und genau historisch
zu belegen, wäre äußerst verdienstvoll. Daneben wäre
aber auch wichtig die Tiefen der im Einschneiden be-
griffenen Geäder wiederholt festzustellen. Ueberhaupt
möge sich die Aufinerksamkeit künstlichen Gerinnen zu-
wenden, also Mühlgräben, Entwässerungsgräben u. s. w.,
welche vielfach eine rasche Vertiefung in kurzer Zeit er-
fahren. So wurden z. B. im Bette eines Mühlgrabens
am Trollhättafalle in Schweden binnen 20 Jahren mehrere
0,5 m tiefe Riesentöpfe ausgewaschen, und in noch viel
kürzerer Zeit entstanden solche in dem Kanäle, durch
welchen 1878 die Aare teilweise zum Bieler See abgeleitet
wurde *). Einen sehr merkwürdigen einschlägigen Fall
beobachtete ich bei Meran. Hier ist das Bett des vom
Schlosse Tirol kommenden Wildbaches mit großen Steinen
gepflastert, über welche für gewöhnlich nur ein schmales,
kaum 1 dm breites Rinnsal herabläuft. Letzteres hat
^) Baltzer, Ueber einen Fall rascher Strudel lochbildung.
Mitteil. d. natnrf. Gesellsch. Bern 1884.
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32 Albrecht Penck,
nun in die aus festem Tonalit bestehenden Blöcke eine
schmale, 1 — 2 dm tiefe Furche eingeschnitten. Leider
konnte ich die Zeit der Anlage des Pflasters nicht er-
mitteln, und somit mu& offen bleiben, wie lange das Rinn-
sal brauchte, um die Furchen auszuwaschen.
Das durch Lyell besonders bekannt gewordene Bei-
spiel des Rückwäiiisschreitens der Niagarafälle möge an-
regen, auch die viel weniger bedeutenden Wasserfälle
Mitteleuropas einer fortlaufenden Ueberwachung zu unter-
werfen, indem ron Zeit zu Zeit festgestellt werden möchte,
um wie viel die obere Kante des Falles abgenutzt wird.
Hierbei kann es sich aber um ganz genaue Messungen
mit Hilfe eines Maßstabes handeln, und es möge dabei
von leicht kenntlichen, am besten markierten Stellen
ausgegangen werden, damit sp9.tere Beobachtungen mit
voller Sicherheit sich auf dem Boden der früheren be-
wegen. Den Umwohnern größerer Wasserfälle ist meist
das Datum bekannt, an welchem diese oder jene Klippe
einbrach; es möchten solche Angaben gesammelt werden,
um auch hier den Qang der Zerstörung in seinen Einzel-
heiten festzustellen. Eine Zusammenstellung naturge-
treuer, verschieden alter Abbildungen eines Wasserfalles
dürfte in mancher Hinsicht zu ähnlich wichtigen Folge-
rungen führen wie der Vergleich verschiedener karto-
graphischer Aufnahmen einer Gegend (vergl. S. 66).
3. Beobaclitungen über Seeen.
Die Seeen Mitteleuropas sind, geologisch gesprochen,
vorübergehende Erscheinungen. Ihre Zuflüsse arbeiten
an ihrer Zuschüttung, ihr Abfluß an Tieferlegung ihres
Spiegels, beide zusammen an ihrem Erlöschen. Verhält-
nismäßig rasch vollziehen sich hier Veränderungen, welche
leicht verfolgt werden können.
Alle Flüsse, welche in Binnenseeen münden, bauen Del-
tas in dieselben hinein, und das Wachstum der letzteren ist
bereits in kurzen Zeiträumen ein sichtbares. Aeltere und
neuere Karten lassen oft recht beträchtliche Verschieden-
heiten der Uferlinie erkennen. Man ermittle dieselben und
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Oberflächenbau. 33
berechne die Landvergrößerung. Nur wolle man ja nicht
6twa mit Hilfe der so gewonnenen Daten ohne weiteres
feststellen, wie lange der See noch bestehen kann. Zu
dem Ende ist es notwendig, nicht bloß die Verminderung
des Seeareals, sondern auch die des Seevolums zu
kennen. In letzterer Hinsicht bleibt noch sehr viel zu
thun. Es gilt hier nachzuweisen, in welcher Tiefenzone
der Landzuwachs erfolgte, und ob ferner vor demselben
die Seetiefen sich durch Ablagerung von zugeflihrtem
Schlamm gemindert haben. Nur durch zeitweise Wieder-
holung sehr genauer Tiefenmessungen (siehe S. 13) wird
sich dies alles feststellen lassen; Seeauslotungen werden
daher um so verdienstlicher sein, je genauer sie die
Deltaregion berücksichtigen; namentlich möchten dieselben
auch der unter dem Wasser befindlichen Rinne in der
Portsetzung des Flusses nachgehen.
Die Tieferlegung des Seeabflusses erfolgt weniger
regelmäßig als das Anwachsen des Deltas an den Zu-
flüssen, ja sie kann gelegentlich sogar gänzlich stillstehen
und sich in das Gegenteil verwandeln. So scheint der
Bodensee durch Aufwachsen von Kalkablagerungen und
durch Vergrößerung des Schuttkegels vom Eschenzer
Bache in seiner Abflußregion im Laufe der Zeiten eher
«ine Aufstauung als eine Senkung seines Spiegels erfahren
zu haben, während an anderen Seen (Züricher See, Gmun-
dener See) Wehranlagen am unteren Ende davon zeugen,
daß der Abfluß in bedrohlicher Weise den Seespiegel
tiefer zu legen sich bestrebte. Es werden daher am See-
abflusse Beobachtungen mit Erfolg vorzunehmen sein;
dieselben werden erkennen lassen, ob der Seespiegel eine
Tendenz zum Steigen oder Fallen bekundet. Namentlich
muß es als nützlich bezeichnet werden historische Unter-
suchungen über die Zeit der ersten Anlage und des wei-
teren Ausbaues der stauenden Wehre anzustellen. Sonst
wird man, sofern nicht anhaltende Pegelbeobachtungen
vorliegen, im allgemeinen aus der Bewegung der üfer-
linie auf Veränderungen des Seespiegels schließen können.
Man konstatiere daher, sei es durch Aussagen von Um-
wohnern, sei es durch das Studium älterer Karten, sei
Anleitnng zur deutschen LandeB- und Volksforachung. 3
Digitized by VjOOQ IC
34 Albrecht Penck,
es endlich durch Vergleich neuerer Karten mit der
Natur, ob und in welcher Richtung sich das Ufer ver-
legt hat, nur beachte man hierbei, daß der Seespiegel
neben einer wohl denkbaren allgemeinen auch zeitweilige
Schwankungen aufweist.
Es ist bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die
Binnenseeen die Schwellperioden ihrer Zuflüsse, wenn auch
in abgetönter Weise, wiederholen. Man vergewissere sich
daher, ob nicht etwa ein scheinbares Sinken des Sees
sich nicht ohne weiteres daraus erklärt, daß eine frühere
Beobachtung bei Hochwasser, die spätere aber bei Nieder-
wasser vorgenommen ist. Weniger dürfte das Phänomen
der „Seiches", am Bodensee Ruhß genannt, die Beobach-
tung beeinflussen. Dasselbe besteht in einem Auf- und
Abschwanken des Seespiegels, und wenn es auch gelegent-
lich ein Sinken und Heben des Wassers im Betrage von
mehr als 1 m verursacht, so spielt es sich in so kurzen
Zeiten (20 Minuten bis * 2 Stunde) ab, daß es wohl kaum
unbeachtet bleibt. Viel wichtiger ist es die Aufmerk-
samkeit auf die größeren Perioden der Seestände zu
lenken. Erst kürzlich hat sich herausgestellt, daß die
größeren Binnengewässer den Wechsel feuchter und trocke-
ner Jahre spiegeln ^), und in niederschlagsreichen Perioden
nicht unbeträchtlich höher stehen als in trockenen. Es
ist daher unter Umständen wohl möglich, daß ein Ver-
gleich der Seeufer verschiedener Zeiten Schwankungs-
perioden, bedingt durch klimatische Verhältnisse, erkennen
läßt, wie dies namentlich für den Neusiedler See^) gilt.
So kann denn ein Vergleich verschiedener Seekon-
turen, nach verschiedenen Richtungen hin schätzbares
Material liefern. Daß es sich hierbei namentlich um den
jemaligen Verlauf der flachen Uferstellen handelt, liegt
auf der Hand, ebenso wie daß die im Flachlande liegen-
^) Brückner, Annaler. der Hydrographie. 1888. Febr.-Heft. —
Sieger, Jahresbericht des Vereins der Geographen an der Uni-
versität Wien 1887. Mitteilungen d. k. k. geograph. Gesellschaft.
Wien 1888.
-) Swarowsky. Jahresbericht des Vereins der Geographen,
an der Universität Wien 1886.
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Oberflächenbau. 35
den Seeen weit besseres Material liefern als die von felsi-
gen üfem eingeschlossenen. Dafür aber bieten die 6e-
birgsseeen wiederum Anregungen nach anderer Richtung,
indem nämlich an ihren Ufern vielfach frühere besonders
hohe oder besonders tiefe Stände verzeichnet sind. Solche
Angaben möchten thunlichst gesammelt werden. Ferner
kommt es nicht selten vor, daß manche Klippen bei
hohem Stande verschwinden und andere bei tieferem her-
vortreten; Angaben über das Auftreten oder Verschwin-
den von Felsen oder gar von Inseln können oft die Ge-
schichte eines Wasserspiegels in recht vollständiger Weise
liefern. So haben Beobachtungen über 5 Klippen im
Hafen von Baku die Geschichte des kaspischen Seespiegels
enthüllt ^), und Berichte über die bald insulare, bald pen-
insulare Lage der Stadt Ardisch am Wansee haben die
Schwankungsperioden des letzteren oflfenbart *). Ein-
schlägige Beobachtungen können daher nicht genug em-
pfohlen werden, nur möge beachtet werden, daß als Be-
obachtungsmarke eine feste Felsklippe diene und nicht
etwa ein bloßer Block. Ein solcher pflegt den Verschie-
bungen seitens der Eisdecke ausgesetzt zu sein, und seine
Lage kann nicht als stabil gelten.
Die großen und tiefen Seeen sind beständiger als
die kleinen und seichten. Veränderungen ihrer Konturen
werden im allgemeinen eher mit klimatischen Schwan-
kungen als mit einer Tieferlegung ihres Spiegels zu thun
haben. Die kleineren Seeen hingegen trocknen rasch aus.
So hatte der Federsee im südlichen Württeraberg 1787
noch 10,95 qkm, während er jetzt nur noch deren 2,5
zählt. Eine Menge von Seeen ist in historischen Zeiten
verschwunden. Im Laufe dieses Jahrhunderts ist etwa
^3 der Seeen des Inngletschergebietes, der Zahl nach 100,
verschwunden, und in Tirol zählte A. Böhm^) auf der
Anichschen Karte von Tirol 118 Seeen, die jetzt nicht
^) Brückner a. a. 0.
*) Sieger, Mitteil. d. k. k. geogr. Gesellsch. Wien 1888.
•) Die Hochseen der Ostalpen. Mitteil. d. k. k. geogr. Gesell-
schaft. Wien 1886.
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36 Albrecht Penck,
mehr existieren. Diese Daten mögen zu weiteren ein-
schlägigen Untersuchungen anregen. Der Vergleich alter
Karten mit dem gegenwärtigen Zustande sowie archiva-
lische Studien dürften allenthalben eine beträchtliche Ver-
minderung der Zahl stehender Gewässer ergeben. Die
ehemaligen Konturen derselben dürften meist noch kennt-
lich sein, so daß die früher vom Wasser bedeckten Areale
bestimmbar sind. Die Ermittelung derselben wird nicht
bloß unsere Kenntnis des Seephänomens mehren, sondern
auch möglicherweise einen Anhaltspunkt für etwaige Klima-
änderungen bieten. Wenigstens ist nicht unwahrschein-
lich, daß ein ehedem bedeutend größerer Reichtum an
Binnengewässern die atmosphärische Feuchtigkeit beein-
flussen konnte.
4. Beobachtungen über Veränderungen der Oberflächen-
Die Veränderungen im Verlaufe der Küsten, Fluß-
und Seeufer bilden nur einen kleinen Teil der zahllosen
Veränderungen, welche die Landoberfläche stetig erleidet,
aber sie sind der auffälligere Teil der Erscheinungen, weil
sie größtenteils in der Horizontalen erfolgen und durch ein-
fache Messungen, durch Krokieren, leicht festgestellt wer-
den können. Anders verhält es sich mit den Prozessen,
welche das Relief des Landes umgestalten, mit der Abtragung
desselben durch die Denudation, mit allmählichen Ver-
schiebungen ganzer Teile durch Verwerfungen (Disloka-
tionen). Hier handelt es sich um Aenderungen von Höheu-
verhältnissen , für welche man im allgemeinen ziemlich
wenig empfindlich ist. Die bisher empfohlene Methode,
durch Vergleich älterer und jüngerer kartographischer
Darstellungen Rückschlüsse auf stattgehabte Veränderungen
zu machen, ist für den folgenden Kreis von Erscheinungen
nicht anwendbar, da erst aus jüngster Zeit wirklich ver-
trauenswerte Höhenmessungen vorliegen. Auch möge man
sich nicht der Illusion hingeben, als ob man durch wieder-
holte Höhenmessungen gewöhnlicher Art den Betrag
stattgehabter Erhebungen oder Abtragungen eines Punktes
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Oberflächenbau. 37
numerisch feststellen könnte, wie dies z. B. für die süd-
amerikanischen Anden vorgeschlagen ist ^). Man berück-
sichtige vielmehr immer, daß es sich um geringfügige
Aenderungen handelt, welche meist in den Fehlergrenzen
der barometrischen oder trigonometrischen Höhenmessung
liegen, und nur durch sehr exakte und daher äußerst kost-
spielige Nivellements ermittelbar sind. Man wird daher
im allgemeinen bloß auf Umwegen wirkliche Aenderungen
im Relief des Landes feststellen können. Die allmählich
erfolgenden Prozesse werden sich der Beobachtung meist
entziehen und nur der plötzlich geschehenden wird man
gewahr werden. Am auffälligsten werden im allgemeinen die
auf der Landoberfläche erfolgenden* Massentransporte sein.
a) Massentransporte durch den Wind.
Recht eindringlich machen sich namentlich Ver-
wehungen durch den Wind geltend. Das Wandern der
Dünen ist von alters her an den Küsten beobachtet und
wird im allgemeinen als ein Glied jener Veränderungen be-
trachtet, welche am Gestade erfolgen. Allein Flugsand-
bildungen knüpfen sich nicht bloß an die Küste. Es liegt
zwar auf der Hand, daß sie am leichtesten dort ent-
stehen, wo ein sandiger Strand vorliegt, aber man be-
gegnet ihnen auch allenthalben im Binnenlande, wo immer
Sandlager auftreten. Sie zeichnen die sandigen Flächen
des norddeutschen Tieflandes aus, sie begleiten die san-
digen Striche der oberrheinischen Tiefebene und längs
der Elbe in Böhmen; sie kehren in der Gegend von Nürn-
berg im Reichsforste und unweit Schrobenhausen in Ober-
bayem wieder. Allerdings sind alle diese binnenländischen
Dünen meist befestigt, mit Gestrüpp oder Wald bestanden,
während die Küstendünen vermöge ihrer Kahlheit den
Einwirkungen des Windes sehr ausgesetzt sind. Sie auch
sind es daher, deren Wanderung am längsten beobachtet
?rird, und in der That liegen über das Vorwäi^tsschreiten
*) Vergl. hierüber die lehrreichen Ausführungen von Reiß:
Sinken die Anden? Verh. d. Geeellsch. f. Erdk. Berlin 1880. S.45.
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38 Albrecht Penck,
der Nordseedünen recht ausführliche Angaben vor. Dies
möge nicht hindern, neue Beobachtungen anzustellen. Man
messe von Zeit zu Zeit den inneren Dünenrand von ge-
wissen Fixpunkten unter Beachtung der auf Seite 5 und
21 gegebenen Regeln, man ermittle aus zuverlässigen
Karten oder aus Akten den früheren Stand. Nur ver-
wende man nicht, wie es bisher oft geschehen, die verschie-
densten Beobachtungen zur Bildung eines Mittels, sondern
beschränke sich in diesem Falle wie sonst auch darauf
festzustellen, wieviel in bestimmten Zeiten die Verände-
rungen betragen haben. Denn es ist nicht vorauszusetzen,
daß das Wandern der Dünen immer gleichmäßig erfolge;
auch hier werden sich, wie bei anderen Erscheinungen,
Perioden größerer oder geringerer Intensität geltend
machen, um deren Feststellung es sich eben handelt.
Die binnenländischen bewachsenen Dünen dürften im
allgemeinen als stabil gelten. Da jedoch nicht selten
vorkommt, daß die schützende Bewaldung abgeholzt wird,
so beginnt das Wandern von neuem ; es wäre wünschens-
wert über dessen Schnelligkeit etwas zu erfahren, wie
denn überhaupt es wichtig wäre die Verteilung und Größe
dieser Binnendünen einmal eingehend zu untersuchen. Für
die gewöhnlichen Landkarten sind dieselben meist zu ge-
ringfügige Gegenstände und ihre Aufnahme durch Kro-
kieren im Maßstabe einer Spezialaufnahme 1 : 25000 wäre
lohnend.
Der Umstand, daß sich Dünen an jedwedes Sand-
lager knüpfen, deutet an, wie universell die Wirkungen
des Windes sind, und in der That begegnet man dessen
Spuren auch sonst vielfach. In der Nachbarschaft von
sandigen Bezirken zeigen Felsen eine eigentümliche Ab-
schleifung, indem sie wie mit einem Firniß überzogen
sind und dabei flache Einkerbungen zeigen, die sich an
die weicheren Gesteinspartieen knüpfen, während alle här-
teren Partikel kleine Hervorragungen bilden. Solche
Windschliffe sind aus der libyschen Wüste, aus den
trockenen Gebieten Nordamerikas und Indiens zuerst be-
kannt geworden, auf mitteleuropäischem Boden sind sie
auf den Hohburger Bergen unweit Würzen in Sachsen
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Oberflächenbau. 39
beobachtet; es wäre wünschenswert ihre weitere Ver-
breitung festzustellen.
Auch einzelne Blöcke werden durch den sandbeladenen
Wind abgeschliffen und nehmen dabei eine höchst auf-
fällige Gestalt an. Es werden nämlich Facetten ange-
schliffen, und der Block erhält durch dieselben eine pyra-
midale Form, er wirdgewöhnlich als Pyramidalgeschiebe
bezeichnet, oder auch nach der Kantenzahl der von ihm
gebildeten Pyramide: Dreikanter, Vier- oder Fünf-
kanter. Man hat diese Pyramidalgeschiebe zuerst im
norddeutschen Flachlande bemerkt und ihre Entstehung
mit der Vergletscherung in Beziehung gebracht. Nach-
dem man aber ihre Verbreitung in Wüstengebieten ^) und
ihren Mangel im Bereiche der alpinen Vergletscherung
erkannt hat ^), kann es wohl keinem Zweifel unterliegen,
dalä sie Produkte des Windes sind. Erfreulich wäre daJber,
wenn ihre Verbreitung auch in den süddeutschen Flug-
sandgebieten nachgewiesen werden würde.
Neben dem Sande wird natürlich der Staub in
hervorragender Weise eine Beute des Windes, und es
findet allenthalben ein fortwährendes Verwehen desselben
statt. Man wird sich dessen oft genug im Sommer inne,
wenn namentlich vor einem Gewitter der W^ind in heftigen
Stößen Staub aufwirbelt; man sieht im Winter auf der
Schneedecke häufig Staub aus großer Ferne angeweht
und nimmt bei Schneetreiben wahr, daß von entblößten
Strecken Landes Partikel auf die benachbarten Schnee-
felder geblasen sind. Alle diese Verhältnisse bekunden,
daß die oberflächliche lockere Bodenkrume, sofern sie
nicht durch eine perennierende Vegetationsdecke festge-
halten ist, in steter Wanderung begriffen ist, ohne daß
gerade ein Steppenklima zu herrschen braucht, und es
liegt auf der Hand, daß von gewissen ausgesetzten Stellen
der Staub auf geschütztere Orte unablässig verfrachtet
*) Walther, Die Entstehung von Kantengeröllen in der
Galalawtiste. Berichte der math.-phys. Klasse der k. sächs. Gesell-
schaft der Wissensch. 1887. 14. Nov.
*) Heim, üeber Kantengeschiebe aus dem norddeutschen
Diluvium. Vierteljahrsschr. d. Zürcher naturf. Gesellsch. 1888.
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40 Albrecht Penck,
wird, nur fehlen hierüber in Mitteleuropa alle Beobach-
tungen, wohl deswegen, weil anderweitige Prozesse, von
denen unten die Rede sein wird, den Gang der Erschei-
nung verschleiern. Möglicherweise lässt sich aber hier
und da auf experimentellem Wege die Staubablagerung
messen, vielleicht dadurch, daß man auf ebener Erde sehr
flache Metallkästen aufstellt, deren Boden dicht neben-
einander befindliche Nadeln aufweist. In regelmäßigen
Zeiträumen möchte dann der Kasten, der natürlich vor
seitlichem Zufluss geschützt sein muß, ausgespült werden,
worauf aus dem Spülwasser der Staub ausgeschieden wird.
Durch derartige Versuche ließe sich wahrscheinlich fest-
stellen, daß der atmosphärische Staub sich in wesentlichen
Mengen der Ackerkrume zugesellt, und nicht undenkbar
ist, daß an manchen Orten die zusammengewehten Par-
tikel zu nennenswerten Ablagerungen sich anhäufen können.
Es würde dies eine Fortdauer der Lößbildung im Sinne
der Theorie von Richthofens ^) bezeichnen.
b) Verwaschungen durch den Regen.
Nach heftigen Gewittergüssen sieht man häufig am
Fuße von Gehängen mächtige Zusammenschwemmungen
von Erdreich, hervorgebracht durch die am Gehänge herab-
gelaufenen Wassermassen. Ich habe manchmal 1 — 3 dm
mächtige, so entstandene Ablagerungen begegnet; es
wäre wichtig durch öftere Messungen festzustellen, ob
sich derartige Erscheinungen an bestimmten Orten wieder-
holen, welche Erhöhung des Landes sie bewirken und
welche Abwaschung an anderen Stellen sie zur Voraus-
setzung haben. Möglicherweise kann man durch Ein-
grabung von Meßstangen an geeigneten Orten sich Pegel
flir die Erhöhung und Abtragung des Landes schaffen.
Besondere Beobachtung verdienen auch die Vorgänge,
welche sich an die Schneeschmelze knüpfen. Oft sind die
oberen Partieen der Gehänge schon „ausgeapert**, während
ihren Fuss noch eine mächtige Schneedecke verhüllt. Der
^) China. Bd. I.
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Oberflächenbau. 41
winterliche Frost hat oben Felsen gelockert, dieselben
stürzen herab und finden auf der unten gelegenen Schnee-
decke eine ausgezeichnete Gleitbahn, auf welcher sie weiter
thalwärts rollen können als sonst möglich wäre. Auch
wäre zu untersuchen, ob nicht vielleicht manche groise
isolierte Felsblöcke der Granitgebiete während des
Winters ihre Lage etwas verändert haben. Denkbar ist
wenigstens, daß ihre Unterlage, nachdem sie sich mit
Wasser vollgesogen, beim Gefrieren desselben sich etwas
ausdehnt und dadurch an der Position des Blockes rüt-
telt. Möglich ist femer, daß die des Frühjahrs an den
Hängen herabrinnenden Wasser manchmal den Sockel des
Blockes unterminieren, so daß dieser etwas ins Rutschen
kommt. Kurz, es wären Beobachtungen über die gegen-
seitige Lage jener großen losen Granitblöcke, die über
den Böhmerwald, das Erz- und Fichtelgebirge sowie über
den Brocken förmlich ausgestreut sind, recht wünschens-
wert, denn es unterliegt in sehr vielen Fällen keinem
Zweifel, daß solche Blöcke nicht an der Stelle gebildet
sein können, an welcher sie sich gegenwärtig befinden,
indem sie manchmal auf fremden Gesteinen auflagern,
oder auf mächtigem verschwemmten Materiale ruhen,
weswegen sie entschieden gewandert sein müssen, ohne
damit „erratisch" zu sein.
c) Bergstürze, Erdrutsche und Erdfälle
gehören zu den auffälligeren jener Erscheinungen, welche
die Landoberfläche umgestalten, und sie erregen gewöhn-
lich die Aufmerksamkeit weiter Kreise, erfahren aber nicht
immer die entsprechende wissenschaftliche Würdigung.
Die Bergstürze und Erdrutsche knüpfen sich an steile
Gehänge, also meist an Thäler. Sie beruhen entweder
auf dem Losbrechen gelockerter Felspartieen, sind also
echte Felsstürze, oder auf einem Ausgleiten von Schichten
auf einer glitscherig gewordenen Unterlage, was gern dort
eintritt, wo die Gehänge steiler geneigt sind als die gleich-
sinnig fallenden Schichten. Das sind Felsrutschungen
oder Felsschlipfe. Erdrutschungen endlich treten dort ein.
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42 Albrecht Penck,
wo loses, an einem Gehänge gleichsam klebendes Erd-
reich ins Rutschen kommt. Alle diese verschiedenen
Kategorieen von Erdbewegungen pflegen durch geraume
Zeit vorbereitet zu werden; lange arbeitet der Frost an
den Klüften, bevor ein Block völUg losgesprengt ist, lange
muß das Wasser die Unterlage abrutschender Felsen und
des Erdreichs durchfeuchten, ehe sich dieselben in Be-
wegung setzen. Man hat diese lange wirkenden Ursachen
der Stürze von den schließlichen Veranlassungen derselben
wohl zu trennen, was bei einer Untersuchung wohl im
Auge zu behalten ist.
An einem Bergsturz oder Erdrutsch kann man ge-
wöhnlich die Abbruch- oder Abrutschstelle, die Rutsch-
bahn und. das Trümmerfeld unterscheiden. Die Erschei-
nung selbst pflegt im allgemeinen in der Art von statten
zu gehen, daß die losbrechenden Felsen beim Herabfallen
zertrümmern, worauf ihre Fragmente zusammen neben-
einander fortrollen, bis sie endlich, unter Umständen recht
weit von der Abbruchstelle, liegen bleiben; die abrutschen-
den Massen fließen gleichsam abwärts und werden unten
stromartig verbreitet. In beiden Fällen erfolgt die Schutt-
bewegung dicht an der Erdoberfläche, was aber bisher
nur selten (wegen des Schreckens, welchen die Erschei-
nung verbreitet) wahrgenommen wurde und worauf die
Beobachter die Aufmerksamkeit lenken möchten ; zugleich
aber mögen begleitende Erscheinungen, Lichtphänomene
und Luftbewegung, nicht unbeachtet bleiben ^).
Er d fälle entstehen vielfach durch Einbruch unter-
irdischer Hohlräume, durch Einstürzen des Daches von
Höhlen. Da sich solches bisher nur selten unter den
Augen von Beobachtern vollzogen hat, so ist es wichtig,
die einzelnen Begleiterscheinungen zu erfragen: etwaiges
Aufleuchten, das Getöse, vielleicht spürbare Erderschüt-
terungen, ganz ebenso wie bei Bergstürzen. Dabei aber
möge auch hier wiederum zwischen der langanhaltenden
Ursache und der endlichen Veranlassung geschieden werden.
*) Vergl. Heim, Ueber Bergstürze. Neujahrsblatt d. Zürch.
naturf. Gesellsch. 1882.
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Oberflächenbau. 43
und die letztere, die in besonderen meteorologischen Um-
ständen, einem Unwetter oder gar einem Erdbeben (vergL
S. 47) bestehen kann, möge umsichtig festgestellt werden.
Es ist von manchen Gegenden, namentlich dem kroatischen
Karste, behauptet worden, daß binnen sehr kurzer Zeit
sich deren Oberfläche durch zahllose Einstürze gänzlich
verändert habe, was nach sonstigen Erfahrungen als nicht
recht glaublich erscheint. Man forsche daher über das
Alter der Erdfälle nach, fasse aber ins Auge, dais nicht
ein jeder Erdtrichter das Erzeugnis eines Einsturzes sein
muß. Man ist geneigt die Erdtrichter, die Solle und Pfühle
Norddeutschlands als Strudellöcher, ausgewaschen durch
die Schmelzwässer der Vergletscherung, anzusehen, und
es muß als in hohem Grade wahrscheinlich gelten, daß
viele Erdtrichter (Dolinen) der Karstgebiete durch Ver-
witterung entstanden sind, indem das im porösen Gesteine
einsickernde Wasser sich allmählich breite Kanäle ausfraß.
d) Allmähliche Höhenänderungen.
Bereits im vorigen Jahrhundert erregten einige Er-
scheinungen, welche die Höhenänderung mancher Strecken
Landes erweisen, die Aufmerksamkeit der Geographen.
Es wurde bekannt, daß ein Kirchturm in Derbyshire von
einer gewissen Stelle zwischen Hopton und Wirkworth
nicht gesehen werden konnte, dann aber sichtbar wurde ^y,
Aehnliche Daten werden aus den verschiedensten Teilen
Mitteleuropas erzählt, aus Schwaben, Franken, Thüringen
und Sachsen. So war z. B. das Dorf Kaditzsch, un-
weit Grimma in Sachsen, früher von der Chaussee, die
von letzterer Stadt nach Mutzschen führt, nicht zu sehen
und seit etwa 20 Jahren ist es sichtbar geworden. Von
anderen Punkten wird wiederum mitgeteilt, daß sie früher
den Ausblick auf bestimmte Stellen gestatteten, was nun
nicht mehr möglich ist.
*) Torbern Bergmann, Physikalische Beschreibung der
Erdkugel. 3. Aufl. 1791. Bd. II. S. 143.
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44 Albrecht Penck,
Kahle hat den verdienstvollen Versuch gemacht,
von einer bestimmten Gegend die entsprechenden Daten
zu sammeln^), und das von ihm zusammengestellte, sich
vielfach kontrollierende Material lälat keinen Zweifel dar-
über zu, daß rings um Jena die Höhen Verhältnisse in
den letzten 20 — 30 Jahren Veränderungen erlitten haben,
und es wäre sehr wünschenswert, wenn ähnliche Zusammen-
stellungen für weitere Gebiete Mitteleuropas vorgenommen
würden. Natürlich müssen dieselben in durchaus kriti-
scher Weise geschehen. Man entnehme, die Daten nicht
aus bloüem Hörensagen, sondern suche dieselben un-
mittelbar von mehreren unbefangenen Zeugen zu erlangen
und notiere sich möglichst genau jede einzelne Aussage.
Man lasse sich femer die Punkte genau bezeichnen, von
welchen aus bestimmte Gegenstände sichtbar oder un-
sichtbar geworden sind. Man begebe sich dahin und stelle
den Thatbestand selbst fest. Dann vergewissere man sich,
ob nicht etwa in der Sehlinie Entholzungen, Bauten, Gra-
bungen u. s. w. vorgenommen sind, ob unter derselben
nicht etwa ein Bergbau umgeht, der ein langsames Nach-
sinken der Erdoberfläche verursacht hat, wie dies z. B.
in dem erwähnten Beispiele von Kaditzsch in Sachsen der
Fall ist. Weiter suche man zu ermitteln, in welcher Zeit
sich die Aussicht verändert hat, und ob dies nach einem
Erdrutsche oder Einstürze oder Erdbeben (vergl. S. 47) ge-
schehen ist, wobei jedoch immer die Thatsache im Auge
zu behalten ist, daß die Bevölkerung gern geneigt ist,
großen Naturerscheinungen alle möglichen bereits langsam
geschehenen Veränderungen zuzuschreiben. Endlich er-
mittle man die Höhenlage und gegenseitige Entfernung
aller in Frage kommenden Punkte (siehe unten).
Eine einzelne Beobachtung genügt natürlich nicht,
um das Wesen der Erscheinung festzustellen. Ist z. B.
ein Dorf von einem anderen aus sichtbar geworden, so
kann dies, geschehen sein, indem das eine oder das andere
*) Höhenänderungen in der Umgegend von Jena infolge
Hebung oder Senkung des Bodens. Mitteil, der geogr. Gesellscb.
Jena. Bd. V u. VI.
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Oberflächenbau. 45
sich gehoben hat, oder auch, indem der zwischen beiden
befindliche Rücken niedriger geworden ist. Ist hingegen
ein Ort vom anderen unsichtbar geworden, so kann dies
durch eine Senkung des einen oder anderen derselben,
oder durch eine Hebung des zwischengelegenen Rückens
erklärt werden. Man suche daher möglichst viel Material
zu sammeln, erst dann, wenn für einen bestimmten Ort
von verschiedenen Seiten aus sich übereinstimmend die
Möglichkeit ergiebt, daß gerade er eine Niveau Veränderung
erlitten hat, kann diese letztere als wahrscheinlich gelten,
während dann, wenn nur von einer Seite her sich die
Aussicht verringert oder vermehrt hat, es das Wahrschein-
lichste ist, daß dies durch Niveauveränderungen eines in
dieser Richtung befindlichen Rückens zu erklären ist.
Fig. 2.
c
dz."" u
Als recht nützlich erweisen sich bei solchen Erörterungen
genaue Angaben über die Höhenlage und Entfernung aller in Be-
tracht kommenden Punkte. Es sei von A (Fig. 2) aus über dem
Bücken B früher gerade die Spitze C eines Kirchturms sichtbar
gewesen, jetzt sehe man den ganzen Turm mit der Höhe H. Sind
nun Äj, hl und h^ die Meereshöhen von -4, B und C, und seifen die
Strecken AB = A und BC = ^2 bekannt, so werden sich folgende
Fälle ergeben. Es ist denkbar, daß die Kirche von C dadurch
sichtbar wurde, daß A gehoben wurde bis A\\ dann wird die
Proportion
AA^\AB = Il\BC
gelten, und
Es kann aber auch sein, daß C sich gehoben hat: der Betrag
der Hebung ist dann gleich H, Schließlich ist denkbar, daß B
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46 Albrecht Penck,
bis B\ erniedrigt wurde, so daß C von A über Bi zu erblicken
war. Dann gilt
BB^iAB = HiAC
und _ ^{H
Finden sich nun für eine mutmaßliche Erhebung für A Öfters
J TT
Werte = — ^ — , so ist wahrscheinlich, daß A wirklich gehoben ist.
«2
Entsprechend ergiebt sich die Wahrscheinlichkeit einer Senkung
von ß, oder einer Hebung von C. Da es sich gewöhnlich um sehr
große Entfernungen und geringe Höhenänderungen handelt, so
können AB und AiB als gleich angesehen werden, wie denn auch
die Krümmung der Erdoberflache vernachlässigt werden darf.
Erst wenn das Wesen der Erscheinung festgestellt
ist, kann daran gegangen werden, die letztere zu erklären,
und da bietet sich wieder eine Fülle von Möglichkeiten
dar. Ist die Höhenabnahme eines Rückens zwischen zwei
verschiedenen Punkten festgestellt, so kann diese durch
eine hier allmählich stattgefundene Abtragung erklärt
werden, ferner durch eine Senkung infolge des Setzens
des Erdreiches, infolge des Einbruches von Hohlräumen,
endlich durch Schichtstörungen. Die wahrscheinliche He-
bung eines Rückens wird schwerlich mit einer statt-
gehabten Denudation in Verbindung zu setzen sein; sie
kann erklärt werden durch eine wirkliche Hebung z. B.
infolge des Aufquellens mancher Gesteine, z. B. der Um-
wandlung von Anhydrit in Gips, oder durch eine ent-
sprechende Schichtstörung, endlich aber kann sie eine
scheinbare sein, indem der Rücken hinter dem allgemeinen
Sinken seiner Umgebung zurückblieb. Aus der Menge
dieser recht verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten die
wahrscheinlichste auszuwählen dürfte nur einem genauen
Kenner der geologischen Verhältnisse des betreflFenden
Gebietes möglich sein.
Jedenfalls ist aber auszusprechen, daß dort, wo Höhen-
änderungen durch Veränderungen der Aussichtsweite
nachweisbar sind, wiederholte Höhenmessungen eventuell
den ziffermäßigen Betrag der Aenderung erkennen lassen
werden. Nur vergewissere man sich, daß diese Mes-
sungen wirklich so genau sind, daß sie geringfügige Ab-
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Oberflächenbau. 47
weichungen mit Sicherheit erkennen lassen. Gerade hier
heifit es der üngenauigkeit der barometrischen Methode
recht bewußt bleiben ; hier kommen die störenden Wirkun-
gen der Refraktion, welche die trigonometrische Höhenmes-
sung beeinflussen, besonders ins Gewicht. Nur wiederholte
genaue Nivellements können wirkliche Höhenveränderungen
nachweisen, und angesichts der ziemlich zahlreichen Fälle
von Aussichtsänderungen in Mitteleuropa dürfte es an-
gezeigt sein die Verschiedenheiten in den Ergebnissen
älterer und neuerer Nivellements nicht bloß durch Foii-
schritte in der Methode zu erklären, wie denn überhaupt
bei geodätischen Operationen mehr als bisher geschehen,
die Veränderlichkeit der Erdkruste in Berücksichtigung
gezogen werden sollte. Es ist aber nicht bloß Ver-
änderlichkeit in den Höhen, sondern eine solche in den
Entfernungen theoretisch genommen denkbar und A. Heim
ist geneigt Differenzen zwischen älteren und jüngeren
Vermessungen der Schweiz nicht auf bloße Messungsfehler
zurückzuführen^). Hier an dieser Stelle möge auch der
minimalen Differenzen gedacht werden, welche sehr ge-
naue Ortsbestimmungen großer Sternwarten lieferten*).
Dieselben regen an, die Positionen selbst der best-
gekannten Stellen Mitteleuropas immer von neuem wieder
zu ermitteln.
e) Erdbeben.
Zu denjenigen Erscheinungen, welche nachweislich
die Oberflächengestaltung eines Landes verändern, ge-
hören auch die Erdbeben, wenngleich es im allgemeinen
dürftige Nachrichten sind, welche dies zweifellos bezeugen.
Um so schätzenswerter werden daher Beobachtungen sein,
welche einschlägiges Material beizubringen vermögen.
Freilich ist Mitteleuropa hierfür im allgemeinen kein ge-
^) Kirchhoffs Länderkunde von Europa. Bd. I. 2. S. 355.
^) Vergl. hierzu: Helmert, Wahrnehmungen über die Ver-
änderlichkeit des Erdkörpers. Die math. und phys. Theorien der
höheren Geodäsie. Bd. II. 1884. S. 445.
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48 Albrecht Penck,
eigneter Boden, es ist glücklicherweise verhäUnismäüig
selten von Erschütterungen heimgesucht. Gerade aber
diesem Umstände ist zuzuschreiben, daü man über die
einzelnen Beben trotz der dichten Bevölkerung und trotz
einer großen Anzahl von Gebildeten oft nicht ausgiebige
Nachrichten zu sammeln imstande ist; denn es pflegt
einen jeden die Erschütterung zu überraschen, so daß
eine gewisse Zeit verstreicht, bis der wahre Charakter
der Erscheinung festgestellt ist; dann aber tritt zu leicht
eine übergroße Aufregung ein, der sich nur wenige zu
entziehen vermögen, und so entschwinden die für die
Beobachtung wichtigsten Augenblicke. Man suche daher
vor allem die Geistesgegenwart zu wahren; im Momente,
wo eine Erschütterung des Bodens eintritt, blicke man
zur Uhr und stelle die Zeit fest, dann aber richte man
das Auge auf schwebende Gegenstände, Hängelampen,
Ampeln etc., und beobachte deren Schwingungen nach
Größe und Richtung in Bezug auf benachbarte Gegen-
stände. Unterdessen zähle man langsam, etwa im Se-
kundentempo, und merke sich, bei welchen ZifiFern neue
Erschütterungen vorkommen. Alles dies, was meist im
Zeiträume von Bruchteilen einer Minute zu geschehen hat,
notiere man sofort, ohne sich von dem kommenden Ge-
fühle der Bangigkeit und Unruhe packen zu lassen — er-
fahrungsgemäß sind die Erdbeben Mitteleuropas unge-
fährliche Erscheinungen, welche wenigstens in diesem
Jahrhundert keine Menschenleben forderten. Später ver-
gleiche man die Uhrzeit mit der Zeit eines benachbarten
Telegraphenamtes und reduziere die beobachtete Uhrzeit,
welche gemeinhin nicht richtig ist, auf die Normalzeit des
Ortes, femer stelle man mit dem Kompaß die beobach-
tete, nur auf benachbarte Objekte bezogene Schwingungs-
richtung von hängenden Gegenständen genau fest (vergl.
S. 54). Alles dies Material, welches für die Berechnung
der Verbreitung und des Herdes eines Erdbebens von
der größten Wichtigkeit ist, überantworte man Tages-
blättern oder dem Fachmanne, welcher hierzu einladet.
Die Erdbeben werden gegenwärtig fast allgemein auf
Verschiebungen innerhalb der Erdkruste zurückgeführt.
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Oberfläclienbau. 49
auf die Bildung von Sprüngen und Verrückungen längs
derselben, mag nun die Ursache im Zusammenbrechen
der Decken von Hohlräumen (Einsturzbeben), in Dislo-
kationen (tektonische Erdbeben) oder in vulkanischen
Erscheinungen (vulkanische Erdbeben) bestehen. In allen
Fällen wird man einen besonderen Erdbebenherd unter-
scheiden können, von welchem die Bewegung ausgeht,
und die umgrenzenden Schüttergebiete. In den letz-
teren zittert die Erde so etwa wie die Scherben einer
zerberstenden Glasplatte, und hier stellen sich gelegent-
lich Veränderungen der Oberflächeugestaltung ein, welche
durch die Erschütterung hervorgerufen sind, wie z. B.
Bergstürze und Einbrüche, welch letztere von einer ört-
lichen Höhenänderung begleitet sein können (vergl. oben
S. 41 — 47); hier auch kommt es gelegentlich selbst zur
Bildung von Spalten auf lehmigem Boden, aus welchen
vom Grundwasser durchfeuchtete schlammige Massen wie
aus Schlammvulkanen hervorbrechen können. Besondere
Aufmerksamkeit endlich verdienen die Ufer stehender Ge-
wässer, von großen Teichen, von Binnenseeen, wie endlich
des Meeres. Es fragt sich, ob ihr Spiegel durch die Er-
schütterung ins Schwanken gerät, ob die Wasser zurück-
treten, wiederkommen und von neuem weichen. Es wäre
wünschenswert, wenn das Auftreten derartiger Erschei-
nungen, die den Ursprung der verheerenden Erdbeben-
flutwellen der Küsten des Stillen Ozeans aufhellen würden,
an den mitteleuropäischen Binnengewässern festgestellt
werden könnten. Umwohner von Binnenseeen sollten da-
her während eines Erdbebens ihren Blick dem Seegestade
zuwenden, um allenfallsige Schwankungen zu beobachten,
deren zeitlicher Verlauf zu notieren ist. Vielfach endlich
werden Quellgänge von den Erschütterungen verändert,
manche Borne versiegen und geben erst nach einer Weile
wieder Wasser. Einschlägige Fälle möchten wie die übri-
gen Gefolgserscheinungen von Erschütterungen kritisch
und umsichtig festgestellt werden, denn nur zu oft wird
gedankenlos irgend ein Phänomen, welches unbeachtet
längst bestand, auf einmal einem Erdbeben zugeschrieben
(vergl. S. 43 u. 44). Es ist daher unbedingt notwendig,
AnleituDg zur dentschen Landes* und Volksforschung. 4
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50 Albrecht Penck,
daß eine völlige zeitliche Uebereinstimmung zwischen
beiden nachgewiesen werde.
Besondere Erscheinungen knüpfen sich an den Ort
über dem eigentlichen Erdbebenherd (Epizentrum), wel-
cher nicht bloß in einem Punkte, sondern vielfach in
einer längeren Strecke bestehen kann. Wird nämlich die
Ursache der Erschütterung in einer V erschiebung in der
Erdkruste gesucht, so wird dieselbe auch an der Erd-
oberfläche ihre Spuren zeigen können. Hier sind wirk-
liche Verrückungen zu erwarten, welche sich in der Bil-
dung kleiner stufenförmiger Absätze, in der Abdämmung
kleiner Rinnsale äußern werden, und in der That sind
derartige Erscheinungen im Herde großer Beben mehr-
fach festgestellt worden. Für Mitteleuropa liegen ent-
sprechende Beobachtungen nicht vor, und dürften auch
in Anbetracht der Geringfügigkeit dortiger Erdbeben
nicht leicht zu machen sein. Aber immerhin dürfte es
von Nutzen sein, wenn die Umwohner eines Erdbeben-
herdes sich nach jeder Erschütterung vergewissem woll-
ten, ob nicht etwa Höhenänderungen (S. 48) eingetreten
sind; auch dürfte der Versuch einmal zu wagen sein, daß
Nivellements, welche durch Erdbebenherde gehen, ge-
legentlich, am besten unmittelbar nach dem Erdbeben,
wiederholt würden. In dieser Hinsicht verdiente das
Nordende der oberrheinischen Tiefebene, wo das fast
ständig erschütterte Großgerau gelegen ist, der Westrand
der niederrheinischen Tiefebene in der Gegend von Her-
zogenrat und der Ostabfall der Alpen bei Wien besondere
Aufmerksamkeit der Landesvermessungen. Aber auch die
ganze Flucht der mitteldeutschen Gebirgsschwelle vom
Gesenke bis zu den Ardennen wird nicht allzuselten von
Beben heimgesucht, während die norddeutsche Tiefebene
und das schwäbisch -bayrische Alpenvorland für ein-
schlägige Beobachtungen ein recht unergiebiges Feld sind.
Viel eindringlicher als durch Veränderungen der Land-
oberfläche machen sich die Erdbeben durch solche von
Gebäuden geltend. Häuser erhalten Sprünge, Kamine
bersten, Schornsteine fallen um. Jede dieser Erschei-
nungen verdient Beachtung, und man kann durch genaue
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Oberflächenbau. 51
Ermittelung der Richtung entstandener Risse, durch Fest-
stellung der Seite, nach welcher ein Kamin herabgestürzt
ist, recht erheblichen Nutzen stiften *). Es genüge hier
die Aufmerksamkeit auf diese Erscheinungen gelenkt zu
haben, deren nähere Erörterung bereits außerhalb des
Rahmens dieser Anleitung liegen würde. Zum Schlüsse
sei nochmals betont, daß vor allem eine gewisse Geistes-
gegenwart zur Beobachtung von Erdbeben gehört, da
dieselben unerwartet kommen und überraschen. Sie
halten sict eben an keine bestimmten Termine, und wenn
in Tagesblättem gegenwärtig viel von „kritischen Erd-
bebentagen** (Falb) die Rede ist, so möge man darum
nicht glauben, daß an denselben die Wahrscheinlichkeit
des Eintrittes einer Erschütterung größer sei als an ande-
ren Tagen. Das gegenwärtige Beobachtungsmaterial reicht
eben noch nicht aus, um irgend welche Periode der Erd-
beben festzustellen. Erst muß über die Erdoberfläche
ein ganzes Netz von Erdbebenstatiouen verbreitet sein,
welche mit empfindlichen Apparaten (Seismographen) jede
feinste Erschütterung aufzeichnen, bis eine Erdbeben-
statistik sich auf wissenschaftlicher Basis erheben wird.
Gegenwärtig befindet sich die Lehre von den Erdbeben
etwa in demselben Stadium wie die Meteorologie als nur
verheerende Unwetter aufgezeichnet wurden und der Gang
von Niederschlag und Temperatur noch unbekannt war.
*) Näheres enthalten die Fragebogen über Erdbebenerschei-
nungen, wie solche z. B. von Pilar, GrandzQge der Abyssodyna-
mik, 1881, S. 151 und Eck, Jahreshefte des Vereins für vaterl.
Naturkunde in Württemberg, 1887, S. 359 mitgeteilt werden. Ein
gutes Werk über Erdbeben veröffentlichte J. Milne im 56. Bande
der internationalen wissenschaftlichen Bibliothek. Folgende lebende
deutsche Gelehrte beschäftigen sich besonders mit der Sammlung
von Nachrichten über Erdbeben: Prof. E. Sueß und Prof. R eye r,
Wien,- Universität (östlicher und nördlicher Alpenrand); Prof. Eck,
Stuttgart, Polytechnikum (Württemberg); Prof. A. Heim, Zürich
(Schweiz); Prof. Lepsius, Darmstadt (oberrheinische Tiefebene);
Oberbergrat Herrn. Credner, geologische Landesanstalt, Leipzig
(Sachsen); Prof. Laube, Prag, deutsche Universität (Böhmen);
Wirkl. Geheimrat von Dechen, Bonn (Rheinlande).
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52 Albrecht Penck,
in. Beobachtungen über die Entstehung der Land-
oberfläche.
Beobachtungen über jene Vorgänge, welche die Erd-
oberfläche umbilden, leiten naturgemäß zu solchen über
die Entstehung der letzteren selbst. In der That haben
alle jene zahlreichen Kräfte, welche gegenwärtig am Re-
lief eines Landes arbeiten, dasselbe nach und nach heraus-
gebildet; nicht gewaltige Katastrophen schufen den Formen-
schatz der Erdoberfläche, diese ist das Werk allmählich
sich vollziehender Umwandlungen, welche sich etwa so
langsam abgespielt haben mögen wie jetzt die Thätig-
keit der Flüsse, die Veränderungen der Küste und die
der Höhenverhältnisse. Aber man darf daraus nicht
schließen, daß es genüge die jetzt geschehenden Vor-
gänge in ihrem Wechselspiel zu verfolgen, um daraus die
Bildungsgeschichte des Landes zu entnehmen, vielmehr
ist stets im Auge zu behalten, daß im Laufe der Zeiten
die Intensität der gegeneinander \^irkenden Kräfte er-
hebliche Aenderungen erlitten haben kann, daß manche
zeitweilig ausgesetzt haben mögen. Man muß sich in die
Erdgeschichte selbst vertiefen, um helles Licht über den
gegenwärtigen Zustand der Erdoberfläche zu erhalten.
Die genetische Morphologie der Erdoberfläche beruht auf
geologischer Basis. Dabei bleibt jedoch in der Auf-
fassung der Probleme immer eine gewisse Verschieden-
heit zwischen beiden Wissenschaften. Die Geologie unter-
sucht die Ablagerungen früherer Perioden, um aus den-
selben die Geschichte der letzteren zu entziffern, die
Morphologie der Erdoberfläche betrachtet eben dieselben
Schichten als Bausteine und sucht die Rolle festzustellen,
welche diese in dem Relief des Landes spielen.
1. Allgemeinste Beobaclitungen über den Bau der Land-
Oberfläche.
Beobachtungen über den Schichtenbau des Landes
bilden den Ausgangspunkt für eine genetische Morpho-
logie der Erdoberfläche. Dieselben erheischen eine völlige
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Oberfl&chenbau. 53
Vertrautheit mit der Methodik der Geologie, mit der
Gesteinslehre, mit der Altersbestimmung der Gesteine, mit
der Aufiiahme der Lagerungsverhältnisse. Eine Anleitung
für derartige Beobachtungen zu geben liegt nicht im
Zwecke dieser Zeilen, und es seien hier nur einige Winke
zur Orientierung eingestreut *).
Die Gesteinslehre unterscheidet zwei Typen von Fels-
arten, 1) Massengesteine, nämlich solche, welche nach
allen Richtungen hin gleichmäßig struiert sind, und
2) Schichtgesteine, welche sich deutlich in bestimmte paral-
lele Lagen sondern, innerhalb derer wiederum die Zu-
sammensetzung aus weiteren parallelen Lagen herrortritt.
Beide Hauptgruppen von Gesteinen sind hinsichtlich ihrer
Beschaffenheit und ihres Auftretens durchaus verschieden.
Die Massengesteine (Granit, Porphyr, Basalt, Klingstein
u. a. m.) bestehen meist aus einzelnen, oft wohl unter-
scheidbaren Mineralien, seltener aus einer glasigen Masse
mit eingestreuten Krystallen, nur ein Teil der Schicht-
gesteine stellt ein Mineralgemenge dar, es sind dies die
krystallinischen Schiefer (Gneis, Glimmerschiefer), meist
setzen sie sich aus Trümmern anderer Gesteine zusammen
(Konglomerate, aus Gerollen anderer Gesteine bestehend,
Sandsteine, Thonschiefer), oder sie sind Anhäufungen von
organischer Materie (Kohlen) bez. Ausscheidungen von
Tieren und Pflanzen (Kalksteine). Die verschiedenen
Glieder der Schichtgesteine liegen regelmäßig, Schicht ftlr
Schicht übereinander, die Massengesteine setzen quer
durch Schichtgesteine oder durcheinander, sie treten in
Gängen und Stöcken auf oder schalten sich gelegentlich
als Decken zwischen die Schichtgesteine ein. Die Schicht-
gesteine sind die Absätze früherer Meere, die Massen-
gesteine die Ergüsse vorzeitlicher vulkanischer Ergüsse.
Die geologische Altersbestimmung der Gesteine be-
ruht auf dem Grundsatze, daß bei ungestört lagernden
') Als Lehrbücher der Geologie seien besonders empfohlen:
M. Neumayr, Erdgeschichte, 2 Bde. Leipzig 1886 und 1887. —
Herrn. Credner, Elemente der Geologie. Leipzig. 6. Aufl. 1887. —
K. V. Fritsch, Allgemeine Geologie, Stuttgart 1888, giebt S. 55
bis 76 eine eingehende Anweisung für geologische Aufnahmen.
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54 Albrecht Penck,
Schichtgesteinen das untere immer älter ist als das obere,
daß ferner ein Massengestein stets jünger als die von ihm
durchbrochene Schicht ist. Nun aber lagern die Schichten
selten noch in ihrer ursprünglichen Horizontalität, und
gelegentlich sind sie sogar umgekippt worden, d. h. die
ältere Schicht lagert zu oberst, die jüngere zu unterst.
In solchem Falle bedarf man ein anderes Hilfsmittel, um
die Altersverhältnisse zu ergründen, welches auch dann
angewandt wird, wenn es sich um den Vergleich sehr
weit voneinander entfernt liegender Schichten handelt.
Es hat sich nämlich herausgestellt, daß gleich alte Schichten
im allgemeinen dieselben versteinerten Tier- und Pflanzen-
reste aufweisen. Auf Grund dieser Erfahrung paralleli-
siert man heute meist die Schichten nach ihren Versteine-
rungen, und nachdem man von der ganzen geologischen
Schichtfolge nach und nach die Versteinerungen (Fossilien)
kennen gelernt hat, ist man in der Lage auf Grund der
Funde bestimmter, leicht kenntlicher Versteinerungen das
Alter jedwelcher Schicht bestimmen zu können. Das
Sammeln von Versteinerungen bildet somit einen wich-
tigen Teil der geologischen Beobachtung, und es kann
einzelnen Naturfreunden nicht warm genug ans Herz ge-
legt werden, in ihrer Umgebung eifrig Fossilien zu sam-
meln, wobei vor allem das eine zu beachten ist, daß von
jeder einzelnen Versteinerung der Fundpunkt genau an-
gegeben werde (z. B. gefunden im Mayr'schen Stein-
bruche, untere Lage, bei Hötting). so daß von einem
jeden Stücke die Herkunft festgestellt werden kann.
Die Schichtgesteine sind (bis auf wenige Ausnahmen)
ursprünglich horizontal gelagert gewesen, meist aber sind
sie dies nicht mehr, sie haben im Laufe der Zeiten
Schichtstörungen erlitten, sie sind disloziert worden.
Sie sind nunmehr nach einer bestimmten Richtung ge-
neigt. Diese Neigung heißt das Fallen. In der Richtung
desselben tauchen sie meist in die Tiefe, während sie
senkrecht dazu weiter verfolgbar sind. Diese letztere
Richtung heißt das Streichen.
Streichen und Fallen mißt man mit dem Bergkompaß.
Derselbe besteht aus einem gewöhnlichen Kompaß, welcher auf
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Oberflächenbau. 55
einem viereckigen Brettchen befestigt ist, dessen eines Kantenpia^ar
parallel der Nordsödlinie der Kompaßeinteilung läuft. Die eine
dieser Kanten legt man, den Kompaß wagvecht haltend, an die
Schicht, deren Lage bestimmt werden soll, und liest den Winkel
ab, welchen die Magnetnadel mit der Nordsüdlinie der Einteilung
bildet. Dieser Winkel giebt, in entsprechender Weise an die wirk-
liche Nordsödlinie angetragen, das Streichen. Die Richtung des
Fallens ist senkrecht dazu, und es braucht nur noch angegeben zu
werden, nach welcher Seite hin letzteres erfolgt und wie groß es
ist. Zu letzterem Behufe legt man wieder den Bergkompaß an
die Schicht an, aber in der Richtung des Fallens. Ein kleines in
ihm angebrachtes Lot läßt dann ohne weiteres den Fallwinkel
erkennen. Die ermittelten Werte notiert man in folgender Weise :
Streichen y^b^O; Fallen 10^ NW, d. h. die Streichrichtung bildet
mit der Nordlinie einen Winkel von 45 ^ welcher nach Osten an-
zutragen ist, es herrscht also ein Streichen von Südwest nach Nord-
ost, dabei fallen die Schichten unter 70 ^ nach Nordwest. Die De-
klination der Magnetnadel ist bei Angabe solcher Daten entsprechend
zu berücksichtigen.
Erst wenn in einer Gegend die Schichtfolge in ihren
Lagerungs- und Altersverhältnissen durchaus festgestellt
ist, kann man daran gehen das Relief des Landes zu er-
klären. Hierbei kommt es im wesentlichen auf einen
Vergleich zwischen der Oberflächengestalt und dem Schicht-
bau an^). Manchmal spiegelt das Land alle die Wel-
lungen der Schichten, es steigt dort auf, wo sich die
letzteren heben, es senkt sich da, wo jene sinken, der
geologische Bau bedingt den der Oberfläche. Gewöhnlich
aber, und dies ist im südlichen und mittleren Zentral-
europa der Fall, zeigt sich ein durchaus anderes Ver-
hältnis. Die obersten Schichten nämlich steigen kaum zu
größeren Meereshöhen an, als die unteren, und öfters
zeigt die Erdoberfläche dort Vertiefungen, wo sich die
ältesten Schichten aufwölben, während Erhabenheiten dort
entgegentreten, wo jüngere Schichten tief eingesunken
sind. Der geologische Bau liefert in diesem Falle keinen
Schlüssel zum unmittelbaren Verständnis der Oberfläche,
er ist durch gewaltige stattgehabte Abtragungen (Denu-
dation) zerstört worden, das Land ist einer Ruine ver-
gleichbar und seine Erhebungen werden von dem Gesetze
*) Vergl. Näheres in F. v. Richthofens ausgezeichnetem
Führer für Forschungsreisende. Berlin 1886.
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56 Albrecht Penck,
beherrscht, daß sie überall dort entgegentreten, wo der
Schieb tbau härtere Glieder aufweist, mögen dieselben
älter oder jünger sein, während sich Vertiefungen der
Oberfläche an weichere Gesteine ohne Rücksicht auf das
Alter derselben knüpfen. Man kann solch eine Land--
Schaft als Abtragungsrückstand (Denudations- 1
land Schaft) bezeichnen. Endlich findet sich manchmal |
dai3 der geologische Aufbau einer Gegend gänzlich ver- i
schieiert ist durch eine Oberflächenschicht, welche sich
allen Unebenheiten des Landes getreulich anschmiegt,
mit demselben ganz regelmäßig auf- und abwogend. Es j
hat hier nach Schafiung des Reliefs eine allgemeine lieber-
schüttung mit jüngeren Schichten stattgefunden, indem
die letzten geologischen Ereignisse ungefähr auf dem
heutigen Boden stattgefunden haben. Ganz Norddeutsch-
land sowie ein Teil des Alpenvorlandes sind in der ge-
dachten Art mit jüngeren Gebilden verhüllt und treten als
formliche üeberschüttungslandschaften entgegen^).
Die obei'flächliche Hülle solcher Gebiete hat seitens
der Geologen bis vor kurzem keine eingehendere Behand-
lung erfahren, da sie eher geeignet schien, den inneren
geologischen Aufbau einer Gegend zu verschleiern, als zu
offenbaren. In der That knüpft sich ihr Auftreten durch-
aus nicht an die sonst gültigen Regeln über das Schicht-
gefüge, es kann dasselbe nur durch stete Vergegen-
wärtigung der Oberflächengestalt verfolgt und erklärt
werden. Es ist unter solchen Umständen wohl begreiflich,
daß die Erforschung dieser Gebilde eine eigene Disziplin
ins Leben gerufen hat, die sogenannte Oberflächen-
geologie (surface geology), welche vielfach weniger von
Fachgeologen als von Geographen und namentlich von
einer großen Zahl von Naturfreunden betrieben worden
ist. Sich mit einem Gebilde der Landoberfläche beschäf-
tigend, hat die Oberflächengeologie schon viele Beiträge
zum Verständnis der ersteren geliefert, und auf sie sei
*) Eine Darlegung über die mutmaßliche Entstehung der
Oberfläche Mitteleuropas habe ich in dem Abschnitte: Das Deutsche
Reich von Kirchhof fs Länderkunde von Europa — auch einzeln
erschienen: Leipzig, Prag und Wien 1887 — zu geben versucht.
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. Oberflächenbau. 57
besonders hingewiesen, wenn es sich um Beobachtungen
über die Entstehung des Bodenreliefs handelt.
2. Beobachtungen über die ehemalige Vei^letsoherong des
Landes.
Mitteleuropa bietet deswegen für das Studium der Ober-
flächengeologie ein yerhältnismäiaig reiches Forschungs-
gebiet, weil es in ausgiebigem Maße von der Gletscher-
entwickelung der Eiszeit betroffen wurde, welche sich
im groiaen und ganzen auf dem heutigen Boden abspielte.
Im Süden wuchsen die Gletscher der Alpen weit in das
AlpenTorland hinaus, bauten hier ihre Moränen auf, und
die von ihnen entströmenden Gewässer lagerten mächtige
Geröllmassen ab ^). Im Norden aber erstreckte sich eine
gewaltige Eismasse, dem Inlandeise Grönlands vergleich-
bar, von Skandinavien ausgehend über die Ost- und Nord-
see, verbreitete sich über das ganze norddeutsche Tief-
land ^ und erklomm selbst den Nordabfall des deutschen
Mittelgebirgsgürtels. Auf letzterem selber endlich, sowie
auf dem Böhmerwalde und Schwarzwalde waren kleinere
Eisströme entwickelt*).
Die Gebilde dieser alten Gletscher sind kenntlich:
a) durch Gletscherschliflfe,
b) durch Grundmoränen mit gekritzten Geschieben,
c) durch das Auftreten erratischer Blöcke,
d) durch das Vorkommen von Riesenkesseln,
e) durch das Auftreten zahlreicher Seeen und be-
sonderer Oberflächenformen (Moränenlandschaft).
a) Dort wo ein Gletscher über festen Fels hinweg-
geht, schleift er denselben mit Hilfe der in seiner unter-
sten Lage eingefrorenen Steine ab. Letztere ritzen hier-
') Penck, Die Vergletscherung der Deutschen Alpen. Leipzig
1882. — Brückner, Die Vergletocherung des Salzachgebietes.
Geogr. Abhdlgn. Bd. I. 1. Wien 1886.
^ Dame 8, Die Glacialbildungen der norddeutschen Tiefebene.
Heft 479 der Sammlung gemeinverstUndlicher wissenschaftlicher
Vortrage von Virchow und HoltzendorflF. Berlin 1886.
•) Part seh: Die Gletscher der Vorzeit in den Karpathen
und Mittelgebirgen Deutschlands. Breslau 1882.
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58 Albrecht Penck, •
bei Linien, Schrammen oder Furchen ein, welche den
Marsch des Eises verraten. Diese Schrammung ist nur
oberflächUch, sie setzt sich nirgends in das Innere des
Gesteins fort, was bei Rutschflächen der Fall ist, sie
besteht in einer mehr oder minder feinen, sich weit er-
streckenden, vielfach sich kreuzenden Eannelierung, die
bei Abwaschformen des Wassers fehlt, verbunden mit
Glättimg, die den Verwitterungsformen mangelt. Etwaige
Strukturverschiedenheiten des Gesteins werden gänzlich
abgenutzt, festere Partieen treten nicht als Aufragungen,
weichere nicht als Vertiefungen entgegen wie bei den
Windschliflfen. Künstlich sieht man ähnliche Gebilde ge-
legentlich an Ecksteinen durch den Anprall von Wagen-
rädern sowie auf steinigen Wegen erzeugt, auf welchen
Holz herabgeschleift ist.
b) Indem die in der untersten, manchmal mehrere
Meter mächtigen Schicht des Gletschers eingefrorenen
Steine bei der Bewegung des letzteren vielfach neben-
einander verschoben werden, nutzen sie sich gegenseitig
ab. Das eine schrammt mit einer scharfen Spitze ein
anderes und dabei wird die Spitze abgeschliffen. Schließ-
lich durch unablässige Wiederholung dieser Vorgänge
werden alle eingefrorenen Steine gerundet, jedoch nicht
in so regelmäßiger Weise wie die Gerolle eines Flusses,
und werden über und über mit einem Netzwerke sich
kreuzender Schrammen, Linien und Furchen bedeckt. Der
durch ihre Abschleifung entstandene Schlamm imprägniert
das Eis und giebt demselben das Aussehen eines grauen,
quarzitischen Gesteins. Schmilzt nun der Gletscher, so
tauen die Geschiebe und der Schlamm aus und ver-
backen miteinander zu einer zähen, ungeschichteten
Ablagerung, die im wesentlichen aus einer lehmigen Grund-
masse mit unregelmäßig eingestreuten Geschieben besteht.
Es ist dies der Geschiebe- oder Blocklehm, dessen
einzelne Geschiebe in der obengedachten Weise gerundet
und geschrammt sind. Da nun aber beim Abschmelzen
des Gletschers Wasser frei wird, so verschwemmt dieses
gelegentlich die anstauenden Materialien und lagert diese
schichtweise ab. Es finden sich daher ganz regelmäßig
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Oberflächenbau. 59
im Geschiebelehme geschichtete Partieen. EndUch fallen
am Gletscherende, wo die Grundmoräne zur Ablagerung
gelangt, oft eckige Felsblöcke von der Gletscheroberfläche
in die Grundmoräne, weswegen sich auch eckige Bruch-
stücke in letzterer nicht selten finden. Keine andere
Kraft als die eines Gletschers vermag eine normale Grund-
moräne zu erzeugen.
c) Der Gletscher verfrachtet nicht bloß an seiner
Sohle, sondern auch auf seinem Rücken mächtige Gesteins-
blöcke. Dieselben liegen ruhig auf ihm und erfahren keine
gegenseitigen Reibungen, sie behalten daher ihre eckigen
Konturen und ihre ursprüngliche Gestalt. Schmilzt der
Gletscher, der sie trägt, ab, so fallen sie zu Boden und
bleiben gelegentlich in recht unsicherer Lage liegen,
manchmal weit entfernt von ihrem Ursprungsorte. Man
nennt sie daher wohl auch Irrblöcke oder erratische
Blöcke. Solche Findlinge sind zu groß und zu schwer,
als daß man ihren Transport durch Wasser erklären kann,
und man kann daher ihr Vorhandensein wohl auf die
Thätigkeit alter Gletscher zurückführen. Nur möge man
nicht einen jeden Gesteinsblock, der auf fremder Unterlage
ruht, sofort für einen Gletscherl3lock halten. Man erinnere
sich der S. 41 gegebenen Hinweise sowie der Thatsache,
daß gelegentlich bei der Verwitterung mächtiger Schichten
nur einzelne Blöcke übrig bleiben, daß ferner aus noch
nicht aufgeklärten Ursachen manchmal große Gesteins-
blöcke in fremden Ablagerungen entgegentreten, die dann
auswittern und wie Irrlinge umherliegen, was am Wasch-
berge bei Stockerau unweit Wien der Fall ist.
d) Ein Abschmelzen der Gletscher giebt beträchtlichen
Wassermassen Ursprung, die an Stellen in Wirksamkeit
treten können, zu welchen sonst das Wasser nicht hin-
gelangen kann. Es waschen jene Wassermassen bis-
weilen Riesentöpfe aus, indem sie entweder in einem
Strahle auf den Boden fallen, hier einen Felsblock er-
greifen und mit diesem ein Loch aushöhlen, oder indem
sie einen Wirbel bilden, der in entsprechender Weise
wirksam wird. Riesenkessel an Punkten, zu welchen jetzt
das Wasser nicht mehr gelangen kann, können daher
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60 Albrecht Penck,
wohl durch die Schmelzwasser eines Gletschers ausge-
strudelt sein, und man wird zu dieser Annahme dort
greifen, wo anderweitige Anzeichen früherer Gletscher-
thätigkeit vorliegen. Aus einem einzigen Riesentopfe aber
auf die vormalige Existenz von Gletschern zu schließen
wäre sehr voreilig, da es sich hier um Gebilde handelt,
die sich nur mittelbar an Gletscher knüpfen. Auch wolle
man nicht jede cylindrische Vertiefung im Boden als
Strudelloch auffassen. Die Verwitterung erzeugt in kal-
kigen Gesteinen oder Gips Schlote ganz ähnlicher Art,
die sogenannten geologischen Orgeln, welche recht oft
mit Riesentöpfen verwechselt werden. Als Unterscheidungs-
merkmale möchten folgende dienen: der Riesentopf als
Strudelloch schließt nach unten mit einem flachen, napf-
ähnlichen Boden ab , auf welchem die Reibsteine liegen,
die das Loch einwirbelten; die geologische Orgel zieht
sich nach unten meist spitz in eine Kluft aus und ist
mit zähem Lehm erfüllt, dem Reibsteine fehlen. Frische
Riesentöpfe haben glatt abgewaschene, oft spiralig ge-
drehte Wandungen, die geologischen Orgeln haben zer-
fressene Wandungen; sie pflegen meist in sehr großer
Zahl dicht nebeneinander aufzutreten. Es sind aber nicht
bloß enge cylindrische Höhlungen, welche durch die
Gletscherwasser ausgewirbelt werden, sondern letzteren
wird in Norddeutschland die Ausstrudelung von form-
lichen Erdtrichtern, der Solle oder Pfühle (vergl. S. 43),
zugeschrieben. Die Wirksamkeit dieser Schmelzwasser
äußert sich femer in unvermutet beginnenden Thälem,
welche heute wasserarm sind und in welchen frühere
mächtige Ströme wahre Kolke (vergl. S. 22) eingerissen
haben, die nunmehr, von stehendem Wasser erfüllt, als
langgedehnte Seeen erscheinen ^). Das ganze Thalnetz von
Norddeutschland hängt mit der Abschmelzung der ehe-
maligen Eisbedeckung zusammen*).
^) E. Geinitz, Die Seen, Moore und Flußläufe Mecklenburgs.
Güstrow 1886.
*) G. Berendt, Jahrb. d. kgl. preuß. geolog. Landesanstali
Berlin 1881. S. 482.
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Oberflächenbau. 61
e) Die unregelmä&igeu, abtragenden und aufbauenden
Prozesse, welche sich an einen Gletscher knüpfen, schaffen
gern isolierte Bodenvertiefungen, die, mit Wasser gefüllt,
als Seeen entgegentreten. Kleine, in Bergnischen oder ain
Thalursprunge gelegene, durch Wälle abgedämmte Seeen
leiten in ihrer Umgebung oft mit Erfolg zur Auffindung
Yon Gletscherspuren, namentlich ist der Damm, der sie
absperrt, daraufhin zu untersuchen, ob er nicht gekritzte
Geschiebe birgt, während an ihren Ufern nach Gletscher-
schliffen zu suchen ist. Dort femer, wo ein Gletscher
längere Zeit stillgestanden hat, sind mächtige Moränen
zur Ablagerung gelangt, die als hohe Wälle erscheinen.
Letztere verlaufen sehr unregelmäßig, setzen manch-
mal aus, gabeln sich und vereinigen sich von neuem.
Zwischen ihnen erstrecken sich Senken, mit Tümpeln,
Seeen oder Mooren erfüllt. Wo eine derartige Landschaft
auftritt, wird man gleichfalls meist mit Erfolg nach
zweifellosen Gletscherspuren suchen können, deren Auf-
findung dann das Ganze als Moränenlandschaft er-
scheinen läßt, während in anderen Fällen es sich manch-
mal um das unregelmäßig gestaltete Ablagerungsgebiet
eines Bergsturzes handelt, welches hinter sich oft wie die
echte Moränenlandschaft einen See aufstaut. Man schließe
daher nie aus der bloßen Oberflächengestalt oder dem
Seeenreichtum einer Gegend auf das Dasein vormaliger
Gletscher, sondern betrachte derartige Terraineigentüm-
lichkeiten lediglich als Winke, um nach Gletscherspuren
zu suchen. Hinsichtlich der letzteren aber beherzige man,
daß verschiedene Prozesse oft zum gleichen Ziele führen,
daß es einen ganzen Kreis pseudoglacialer Erscheinungen
giebt, welche bisweilen in ganz täuschender Weise echten
Gletscherspuren ^) ähneln. Man halte daher die vormalige
Existenz eines Gletschers in einer Gegend nicht eher für
erwiesen als bis der ganze Kreis der hier erwähnten
Erscheinungen (mit Ausnahme vielleicht der ziemlich sel-
tenen Riesentöpfe) nachgewiesen ist.
*) Penck, Pseudoglaciale Erscheinungen. Ausland 1884.
Nr. 33. — Heim, GletBcherkunde. S. 402.
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02 Albrecht. Penck,
3. Beobaditimgen über Thalbildimg.
Die oft, namentlich in Mitteleuropa, hervortretende
Unabhängigkeit des Verlaufes der Thäler von der geolo-
gischen Struktur des Landes bildet einen wichtigen Finger-
zeig dafür, daß die Thalbildung in sehr vielen FäUen
wrenigstens nicht durch den Schichtbau des Landes be-
dingt ist, während andererseits die innige Verknüpfung
von Thälern und Flüssen von alters her zu der Anschau-
ung führte, daß die Thäler Auswaschungen des rinnenden
Wassers seien. In der That ist man auch mehr und
mehr von der Anschauung abgekommen, welche in den
Thälern die Werke von Zerreißungen und Zerberstungen
der Erdkruste erblickt, und man ist zu der alten Ansicht
zurückgekehrt, daß der Fluß sein Thal nach denselben
Regeln ausgegraben hat, nach welchen er sein Bett ver-
tieft. Eng verknüpft ist die Bildung der Thäler mit der
Entwickelung des Stromnetzes. Das letztere wurde in
dem Augenblicke angelegt, in welchem das Land dem
Meere entstieg, zu einer Zeit, als die gegenwärtigen
Höhenverhältnisse oft noch nicht gegeben waren, und es
hat bisweilen die mannigfachen Schicksale der Land-
oberfläche, örtliche Hebungen und Senkungen sowie die
Abtragung durch die Denudation überstehen können. Wie
eine Säge arbeiten die Flüsse, sobald sie nicht ihre Betten
aufschütten; hartnäckig halten sie den einmal eingeschla-
genen Lauf inne, entgegentretende Hindernisse siegreich
überwindend. Den einzelnen Phasen dieser Entwicklung
nachzuspüren, ist ein wesentlicher Zweig der Oberflächen-
geologie, denn es handelt sich hierbei meist um Ab-
lagerungen, welche, unabhängig vom Schichtbau, sich an
den Gehängen der Thäler entlang erstrecken, sichtlich der
Konfiguration des Landes folgend.
Man begegnet an den Thalflanken sehr häufig wenig
mächtigen Geröllbildungen. Dieselben wurden vom Flusse
abgelagert, als er noch im betrefl^enden Niveau floß und
das heutige Thal noch nicht geschafifen hatte. Denselben
ist eifrig naclizuspüren, ihre Höhe über dem angrenzenden
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Oberflächenbau. (j3
Flusse, welche angiebt, um wieviel letzterer eingeschnitten
ist, möchte genau bestimmt werden. Zugleich aber richte
sich die Aufmerksamkeit auf die Bestandteile der Ab-
lagerung, man vergewissere sich über die Herkunft eines
jeden Gerölles und untersuche, ob alle Gesteine aus dem
Einzugsgebiete der betreffenden Stelle vertreten sind, oder
ob gewisse fehlen, oder endlich, ob andere vorhanden
sind. In beiden letzteren Fällen ist es nicht unwahr-
scheinlich, daß Veränderungen im Stromsysteme statt-
gefunden haben, daß das Einzugsgebiet sich vergrößert
oder verkleinert hat. Man stelle durch häufige Unter-
suchung die eine oder andere Möglichkeit fest und be-
zeichne genau den Umfang der stattgehabten Veränderungen.
Ferner suche man nach Fossilien, nach Knochen vor-
weltlicher Tiere, die im Schotter entgegentreten, und
mustere lehmige Nester, ob dieselben etwa Schnecken-
häuser bergen. Große Blöcke, die gelegentlich ange-
troffen werden, und die möglicherweise durch Eisschollen
transportiert wurden, prüfe man in Erwägung einer mög-
lichen Schrammung.
Die Untersuchung der GeröUe einer alten Fluss-
ablagerung erheischt eine genaue Kenntnis aller im be-
treffenden Flußgebiete und dessen Nachbarschaft vor-
kommenden Gesteine. Im großen und. ganzen mag die-
selbe wohl manchmal aus einer geologischen Karte oder
einem Werke ^) zu entnehmen sein, meist jedoch kann
dieselbe erst durch ausgedehnte Wanderungen erworben
werden. Der Einzelbeobachter, der oft nicht in der Lage
sein dürfte die verlangten Kenntnisse sich zu erwerben,
wird daher gut thun die GeröUe der verschiedenen Ab-
lagerungen systematisch zu sammeln, wobei er, sobald es
sich um Rollstücke von Schichtgesteinen handelt, sein
Augenmerk namentlich auf die Gewinnung von Verstei-
nerungen richten möge. Die Geologen, welche mit der
Beschaffenheit einzelner Teile Mitteleuropas vertraut sind,
werden derartige Sammlungen leicht und gern bestim-
men; die Adressen solcher Forscher sind aus Richters
*) Lepsius, Geologie von Deutschland. Stuttgart 1887.
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64 Albrecht Penck,
Verzeichnis von Forschern in wissenschaftlicher Landes-
und Volkskunde Mitteleuropas (im Auftrage der Zentral-
kommission für wissenschaftliche Landeskunde von
Deutschland herausgegeben. Dresden 1886) zu ent-
nehmen.
Die alten Flußschotter der Thalflanken ziehen sich
in dünnen Schichten manchmal an sanft geneigten
Flächen in den Fluläkonkaven ununterbrochen bis zur
Thalsohle. Dies deutet darauf, daß der Fluß durch
stetige Arbeit das Thal vertiefte. Nicht selten aber auch
beschränken sich derartige auf Abstufungen der. felsi-
gen Gehänge, auf seitliche Felsterrassen des Thaies.
In diesem Falle war die Arbeit des Flusses keine
ununterbrochene, und es zeigt die am Gehänge be-
findliche Ablagerung ein Flußbett an, welches durch
längere Zeit benutzt wurde; es bezeichnet eine bestimmte
Phase in der Thalbildung. Bei weiterer Verfolgung läßt
sich dann bald erkennen, daß diese Phase auf große
Strecken durch regelmäßige Felsterrassen markiert ist,
welchen manchmal die Geröllablagerungen fehlen, die
aber auf den ersten Blick den höher gelegenen Thalboden
einer früheren Periode verraten. Man verfolge derartige
Felsterrassen durch das ganze Thalgebiet und ermittle
allenthalben deren Höhe über dem Flusse. Dabei zeigt
sich entweder, daß die Höhe der Terrassen thalaufwärts
regelmäßig abnimmt, bis sie sich schließlich in den Thal-
boden verflachen. Man hat dann eine alte Thalsohle vor
sich, in die in regelmäßiger Weise eine neue dermaßen
eingeschnitten ist, daß die Vertiefung thalaufwärts fort-
schritt. Oder es stellt sich heraus, daß ein Terrassenzug
wechselnden Abstand vom Flusse besitzt. Dann ist na-
mentlich darauf zu achten, ob er sich nicht etwa thalabwärts
hebt anstatt sich zu senken. In diesem Falle ist nicht
daran zu zweifeln, daß während der Thalbildung Aende-
rungen in den Niveauverhältnissen stattgefunden haben.
Ein solches Ansteigen alter Thalsohlen entgegen dem
Flußgefälle ist bisher namentlich an den Durchbruch-
thälern des Rheins, der Lahn und der Mosel wahrgenom-
men worden. Es erweist, daß jene Durchbruchthäler
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Oberflächenbau. 65
dadurch entstanden, da& die Flüsse ihr Bett in einer
hebenden Scholle einschnitten. Es wird daher besonders
in Durchbruchthälern die Aufmerksamkeit auf die ge-
dachten Verhältnisse zu lenken sein.
An sehr vielen Flüssen Mitteleuropas beobachtet man
ziemlich ausgedehnte Terrassen, welche ausschließlich bis
zur Thalsohle herab aus sehr mächtigem Flußgeröll be-
stehen. Dieselben kamen dadurch zustande, daß der
Fluß einst sein Bett aufschüttete, so hoch, bis er auf der
Höhe der Terrasse floß; dann vertiefte er sein Bett wie-
der, und seine ehemalige Aufschüttung erscheint nunmehr
neben ihm als Schotterterrasse, zu unterscheiden von
den oben erwähnten, im Gesteine der Thalflanke entgegen-
tretenden Felsterrassen. Solche Schotterterrassen verraten,
daß die Thalbildung gelegentlich durch Zeiten der Thal-
verschüttung unterbrochen war; dieselben können verur-
sacht gewesen sein durch örtliche Verhältnisse, welche
eine zeitweilige Rückstauung des Flusses bewirkten, wie
z. B. eine Hebung im Unterlaufe, hier stattfindende
Dammbildungen durch Bergstürze oder Schuttkegel. Die
große Regelmäßigkeit im Auftreten solcher Schotterter-
rassen in Mitteleuropa läßt eine allgemein verbreitete
Ursache mutmaßen. Man kann dieselbe wohl darin er-
blicken, daß während der Eiszeit die Flüsse verwilderten,
indem sie nicht mehr in der Lage waren die Menge von
Trümmern, die ihnen zugeführt wurde, fortzuschaffen.
Man kann im Vorlande der Alpen drei verschiedene
solcher Schotterterrassen übereinander liegend verfolgen,
und es ist wohl wahrscheinlich, daß man dies an anderen
Stellen gleichfalls können wird. Nur sei man äußerst
vorsichtig bei der Sonderung verschiedener Schotterter-
rassen; man erwäge, daß nicht eine jede aus Schotter
bestehende Terrasse eine echte Aufschüttungsterrasse ist,
sondern daß sie manchmal in einer Aufschüttungsterrasse
dieselbe Rolle spielt wie ein Thalgehänge, indem ver-
schiedene jüngere Thalböden an ihr angeschnitten sein
können, welche den Anschein erwecken, als ob ebenso
viele verschiedene Schotterterrassen vorhanden wären als
Abstufungen einer einzigen zu beobachten sind.
Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung. 5
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66 Albrecht Penck.
Wenn ein Fluß sein Bett beträchtlich aufschüttet»
so kann es schließlich kommen, daß er in der Höhe einer
niedrigen Wasserscheide fließt und über dieselbe eine neue
Richtung wälüt. Gerade in Aufschüttungsterrassen wird
man daher manchmal GeröUe gewahren, deren Weg nach
den jetzigen hydrographischen Verhältnissen nicht erklärt
werden kann, und dadurch Veränderungen der Strom-
gebiete bezeugt sehen. Es liegt auf der Hand, daß in
der Nähe niedriger Wasserscheiden die Wahrscheinlich-
keit am größten ist derartige Erscheinungen festzustellen.
Nur wolle man nicht etwa aus bloßen orographiscben Er-
scheinungen, aus dem Auftreten von Landsenken zwischen
Thälern, ohne weiteres schließen, daß vordem andere
hydrographische Verhältnisse herrschten; man betrachte
hier, wie auch sonst, die Oberflächengestalt nur als eine
Anregung zu bestimmten Untersuchungen.
Die Beobachtungen über die Oberflächengestalt eines
Landes lassen sich in Wort und Bild niederlegen. la
den Landkarten besitzt die Geographie ein wirksame»
Mittel graphischer Wiedergabe. Daneben aber kommen
anderweitige bildliche Darstellungen sehr in Betraclit.
Gute Landschaftszeichnungen — ohne künstlerische Effekte
bloß die strenge Naturtreue erstrebend — und Land-
schaftsphotographieen sind für manche wissenschaftliche
Zwecke nicht zu entbehren. Aber wie viele Illustrationen
jährlich veröffentlicht werden und wie viele Photographieen
der gebirgigen Partieen Mitteleuropas existieren — noch
fehlt es an einer Sammlung charakteristischer Landschafts-
typen, und in dieser Richtung können zeichengeübte Natur-
freunde und Amateurphotographen noch eine schöne Arbeit
leisten ^).
*) Simony, Die Bedeutung landschaftlicher Darstellungen itt
den Naturwissenschaften. Sitzungsber. d. math.-naturw. Klasse d.
k. Akad. Wien 1852. IX. S. 200.
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Erdmagnetismus.
Von
Dr. Max Eschenhagen
in Wilhelmshaven.
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I. Allgemeines, Onmdbegrlffe.
Nur wenige Fragen der Physik der Erde vermögen
den menschlichen Geist so andauernd zu beschäftigen wie
die Erforschung des Wesens des Erdmagnetismus, kaum
aber giebt es eine andere — müssen wir hinzusetzen —
die, trotz der vielfältigsten Erfolge im einzelnen, ihre
endgültige Lösung uns so hartnäckig verweigert. Noch
immer ist, trotz der Bemühungen der namhaftesten
deutschen wie ausländischen Gelehrten, von deren erste-
ren nur Humboldt, Gauß, Weber, Lamont ge-
nannt sein mögen, keine genügende Erkenntnis jener
rätselhaften Erscheinungen möglich, welche die bei
uns annähernd nach Nofden weisende Magnetnadel dem
Auge des Forschers darbietet. Wenn auch die Be-
mühungen gerade in dem letzten Jahrzehnt sehr be-
deutende waren, und wenn wir uns auch eines nicht un-
wesentlichen Fortschritts in Bezug auf die erdmagnetischen
Beobachtungs- und Meßmethoden rühmen können — in
der Erkenntnis des Wesens aller jener Erscheinungen sind
wir kaum einen Schritt weiter gekommen als die oben
genannten, in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
wirkenden Männer. Dieser Zustand würde ein entmuti-
gender genannt werden können, wenn nicht der bereits
erwähnte Erfolg in der Verbesserung der Hilfsmittel der
wissenschaftlichen Beobachtung ein so beachtenswerter
Fortschritt wäre, der — zugleich mit der Entdeckung
verwandter Erscheinungen, wozu die Erdstrombeobach-
tungen gerechnet werden müssen — uns die Aussicht
giebt, vielleicht in nicht allzu femer Zeit einen wesentlichen
Schritt vorwärts zu thun. Freilich vermag der einzelne
nur wenig zu wirken, eine Anspannung vieler Kräfte ist
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70 Max Eschenhagen,
notwendig, um das gewaltige Material, das aus vergange-
nen Zeiten aufgespeichert liegt und das durch neueres
eine bedeutende Vermehrung erfahren hat und noch er-
fahren muß, zu bewältigen. Denn als man erkannte, daß
die Arbeit eines einzelnen zur Beobachtung der erdmag-
netischen Erscheinungen nicht hinreichend sei, da ver-
einigten sich unter Führung von Gauß und Weber eine
Zahl der hervorragendsten Gelehrten verschiedener Natio-
nalität zum erstenmal im dritten Jahrzehnt dieses Jahr-
hunderts zu gemeinsamem Wirken, das unter thatkräfti-
ger Unterstützung der englischen und russischen Regierung
in der Gründung zahlreicher außereuropäischer Observa-
torien einen lange nachwirkenden Wiederhall fand.
Zum zweitenmal vereinigte das gleiche Streben im
Jahre 1882 die gesamten gebildeten Nationen zum fried-
lichen Wettbewerb: als in jenem Jahre nach internatio-
naler Vereinbarung ein Netz von Stationen die Pole der
Erde umschloß, da wurde der Anstellung erdmagnetischer
Beobachtungen der hervorragendste Teil der Ausrüstung
an Instrumenten wie des Beobachtungsprogramms ge-
widmet. •
Gegenüber diesen gewaltigen Anstrengungen, deren
Bedeutung, wenngleich in der Flut der Tagesereignisse
fast untergegangen, in der Geschichte der Wissenschaft
ein inhaltreiches Blatt füllen wird, gegenüber dem that-
kräftigen Eingreifen so vieler bedeutenden Männer der
Wissenschaft wird sich der einzelne, der anfängt, sich
mit den Erscheinungen und Beobachtungsmethoden des
Erdmagnetismus vertraut zu machen, anscheinend mit
Recht fragen, wie da noch die Arbeit eines Mannes ins
Gewicht fallen kann! Und doch, müssen wir sagen, sind
in dem Gebäude, zu dessen Krönung die Arbeit vieler
erforderlich ist, eine nicht kleine Zahl von Lücken vor-
handen, die durch die stille Arbeit einzelner ausgefüllt
werden können. Ja, in unserem deutschen Vaterlande,
das wir mit Stolz die Wiege jener gewaltigen Unter-
nehmimgen nennen dürfen, sind wir noch in der mag-
netischen Durchforschung desselben hinter anderen
Nationen im Rückstande.
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Erdmagnetismus. 7 1
Bevor wir dazu übergehen, Näheres über die Mittel
und Wege, die zur Lösung jener Aufgabe benutzt werden
müssen, darzulegen, ist es notwendig, in Kürze die Er-
scheinungen des Erdmagnetismus — das Historische ^)
gänzlich vermeidend — auseinanderzusetzen.
Eine frei um ihren Schwerpunkt allseitig drehbare
Magnetnadel nimmt an jedem Punkte der Erde eine be-
stimmte Richtung an, welche sie, wenn aus derselben
entfernt, mit einer gewissen Kraft wieder zu erreichen
strebt. Die Ursache dieser Erscheinung schreibt man
dem Magnetismus der Erde zu, der jene Nadel mit
jener Kraft in einer gewissen Richtung festhält. Diese
beiden Bestimmungsstücke — Richtung und Kraft — sind
verschieden an verschiedenen Punkten der Erdober-
fläche, ja sie ändern ihre Größe an demselben Punkte
mit der Zeit. Hiermit sind die Hauptaufgaben, welche
zur Erforschung des Erdmagnetismus wesentlich sind,
bereits bezeichnet: das Studium der räumlichen wie
zeitlichen Veränderungen.
Wollen wir die Richtung einer solchen Nadel ge-
nauer kennen lernen, so messen wir erstens den Winkel,
um welchen sie gegen die Horizontalebene geneigt ist,
zweitens den Winkel, welchen die durch die Nadel ge-
legte Vertikalebene mit einer gewissen Anfangsebene, zu
welcher wir die Ebene des astronomischen Meridians
wählen, bildet. Ersterer Winkel, die magnetische Nei-
gung oder Inklination genannt, beträgt zur Zeit im
Herzen von Deutschland etwa 66 ^, wächst nach der Nord-
see bis etwa 68®, nach dem Süden zu nimmt er ab bis
circa 63®; der zweite Winkel, die magnetische Dekli-
nation, von den Seefahrern Mißweisung genannt, wird
in der Horizontalebene vorgestellt als Winkel (Azimut)
zwischen einer durch entsprechende Belastung horizontal
schwebenden Magnetnadel und der astronomischen Nord-
richtung, er beträgt im östlichen Deutschland jetzt circa
8®, im westlichen hingegen 14®. Zur Bestimmung der
Richtung der „erdmagnetischen Kraft" sind also zwei
^) Siehe darüber: Humboldt, Kosmos Bd. IV.
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72 Max Eschenhagen,
Winkel zu messen, zu diesen kommt als drittes Bestim-
mungsstück die „Kraft** oder Stärke des Erdmagnetismus
hinzu. Die Gesamtheit der drei Stücke' pflegt man als
„erdmagnetische Elemente** zu bezeichnen. Auch
die Kraft ist innerhalb Deutschlands sehr verschieden.
Man kann dieselbe „relativ** bestimmen, wenn man bei-
spielsweise ihre Größe an einem Punkte, z. B. Berlin als
Maßeinheit nimmt und das Verhältnis bestimmt, in wel-
chem die Größe an einem anderen Punkte zu dem erste-
ren Werte steht, oder aber man mißt die Kraft an jedem
Punkte in „absolutem** Maß. Zur Erläuterung dieses
Begriffs diene ein Vergleich mit der Schwerkraft, der
uns nahe gelegt wird durch folgende Betrachtung. Ein
einfaches Pendel, die am Faden aufgehängte Bleikugel,
spannt den Faden in einer Richtung, die wir „vertikal**
nennen; bringen wir die Kugel durch seitliches Anstoßen
aus ihrer Lage, so strebt sie mit einer gewissen Kraft
wieder in jene Lage zurückzukehren; das Pendel macht,
bevor es zur Ruhe kommt, Schwingungen um jene erste
Ruhelage. Aehnlich verhält sich die Magnetnadel; jede
Kompaßnadel, die aus ihrer beharrlichen Richtung ab-
geleixkt wird, kommt nach Ausführung einer Anzahl ähn-
licher Schwingimgen in die Anfangsrichtung zurück. Die
Ursache ist im ersten Falle die Schwerkraft, im zweiten
der Erdmagnetismus.
Diese Aehnlichkeit , welcher gleiche mathematische
Gesetze zu Grunde gelegt werden können, erstreckt sich
jedoch nicht auf die gesamte Wirkungsweise beider Kraft e.
Während alle materiellen Körper den Gesetzen der Schwer-
kraft unterworfen sind, wirkt der Erdmagnetismus nur
auf diejenigen, die gleich der Erde mit Magnetismus be-
haftet sind. Dies ist aber notwendig bei keinem Körper
der Fall, wenigstens können wir nicht sagen, daß der
Magnetismus zum Wiesen eines Körpers gehöre.
Es ist hier nicht der Ort, auf die Hypothesen ein-
zugehen, die zur Erklärung dieser Erscheinungsweise auf-
gestellt werden können; es genügt anzunehmen, daß der
Magnetismus in der Gestalt eines unwägbaren Fluidums
den Körpern, in erster Linie dem Eisen, anhaften kann,
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ErdmagneiismuB. 73
und zwar tritt derselbe stets in zwei verschiedenen For-
men, die sich wie positiv und negativ einander gegenüber-
stehen, auf, nämlich als Nord- und Südmagnetismus.
Wie die Erde, so besitzt bekanntlich jeder Magnet Po-
larität, und die Wirkung eines Magneten auf einen
anderen ist stets eine anziehende und abstoßende zugleich,
nach dem Gesetze, daß zwei Körper mit gleichem Mag-
netismus sich abstoßen und mit ungleichem sich anziehen.
Die Größe der Abstoßung oder Anziehung ist dem
Produkte der Magnetismen direkt, dem Quadrate
der Entfernung der Körper umgekehrt proportio-
nal. Als Einheit einer Kraft überhaupt wird in der Mecha-
nik diejenige Kraft bezeichnet, welche der Masseneinheit
(Gramm) in der Zeiteinheit (Sekunde) die Geschwindigkeit
„Eins** mitteilt, vermöge deren dieselbe in jeder Sekunde
die Einheit des Weges (Centimeter) zurücklegen würde. Also
nach Verlauf der ersten Sekunde würde der Körper imstande
sein, einen Weg von 1 cm zurückzulegen, in der zweiten
wirkt aber die Kraft aufs neue, so daß jene Masse einen
neuen Impuls von der Stärke des ersten erfährt, vermöge
dessen außer der von der ersten Sekunde mitgebrachten
Geschwindigkeit noch die gleiche dazu kommt, so daß der
Körper am Ende der zweiten Sekunde die Geschwindigkeit
„Zwei'' hat, das heißt, wenn am Ende der zweiten Sekunde
die Kraft aufhörte zu wirken, würde er jede Sekunde
2 cm zurücklegen können. Wir sagen, es kommt jede Se-
kunde die „Beschleunigung Eins** hinzu. In dieser Weise
wirkt die Schwerkraft auf den fallenden Körper, dieselbe
teilt ihm jede Sekunde eine Beschleunigung von 981 cm
mit, die wir mit g zu bezeichnen pflegen. Nach t Se-
kunden hat ein der Schwerkraft folgender Körper die
Geschwindigkeit gt^ das heißt, wenn die Schwerkraft nach
t Sekunden aufhörte zu wirken, würde er in jeder nun
folgenden Sekunde gt Meter zurücklegen, bei einem fallen-
den Körper wirkt aber die Schwerkraft fort, die Ge-
schwindigkeit steigert sich also. In ähnlicher Weise ist
auch die magnetische Anziehung (resp. Abstoßung) zu
denken; ein mit einer Quantität Magnetismus behafteter
Körper wird auf einen zweiten in entsprechender Weise
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74 Mäx Eschenhageu,
einwirken. Wir bezeichnen als Einheit des Magnetismus
diejenige Quantität Magnetismus, welche auf die gleiche
in der Einheit der Entfernung befindliche Menge die Ein-
heit der Kraft, wie sie oben erklärt ist, ausübt. Das
heißt also, wenn der metallische Körper, welcher jene
Quantität Magnetismus besitzt, 1 g wiegt, so würde er
die Beschleunigung „Eins" erfahren, vermöge deren er sich
mit einer Geschwindigkeit bewegt, die bei unverändert
wirkender Kraft alle Sekunden um 1 cm wächst. Die
Kraft, welche in diesem Falle auf den 1 g schweren, mit
der Einheit des Magnetismus begabten Körper ausgeübt
wird, müssen wir folgerichtig als Einheit der magne-
tischen Kraft bezeichnen, die, wenn wir sie mit der
Schwerkraft vergleichen wollen, nur den 981. Teil der-
selben ausmacht.
Wegen des bereits erwähnten Unterschiedes der
Schwerkraft von der magnetischen Ejraft der Erde, welcher
darin bestand, daß bei letzterer stets anziehende und ab-
stoßende Kräfte gleichzeitig auftreten, und dementsprechend
auch jeder magnetische Körper beide Arten von Magne-
tismus zeigt, äußert sich der Erdmagnetismus nicht gleich
der Schwere als anziehende Kraft, sondern als Richt-
kraft, eben jene Kraft, welche die frei um ihren Schwer-
punkt drehbare Nadel immer wieder in jene bestimmte
Richtung führte.
Wir sind nunmehr imstande, diese erdmagnetische
Richtkraft absolut zu messen, das heißt, wir können ihre
Wirkung, wie oben auseinandergesetzt, auf gewisse Grund-
einheiten der Länge, der Masse und der Zeit zurück-
führen. Als solche sind, wie erwähnt, Centimeter, Gramm
und Sekunde gewählt, hiernach nennt man die diesem
Maßsystem zu Grunde liegende Krafteinheit abgekürzt
C.G.S.-Einheit. Die Richtkraft des Erdmagnetismus be-
trägt in Deutschland auf die frei sich in der Richtung
der „totalen'* Kraft einstellende Nadel etwa 0,4—0,5 dieser
Einheiten. Die praktische Beobachtung befaßt sich im
allgemeinen nur mit dem Teile dieser Gesamtkraft, welche
in der horizontalen Ebene, also auf die wagrecht auf-
gehängte und nur horizontal sich bewegende Magnetnadel
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Erdmagnetismus. 75
wirkt und die wir Horizontalkraft oder Horizontal-
intensität nennen, zum Unterschied von der Total-
kraft oder Totalintensität. Die Größe der Horizontal-
komponente beträgt für Deutschland etwa 0,« C.G.S. Mit
dem gleichen Rechte würde man auch den vertikal wirken-
den Teil der Totalkraft betrachten können, der folgerichtig
Vertikalkraft oder Vertikalintensität heißt. Beide,
Vertikal- und Horizontalintensität, sind die Komponenten
der erdmagnetischen Kraft, wenn wir dieselbe in der Ebene
der Deklination und Inklination nach dem Parallelogramm der
Kräfte zerlegen, sie lassen sich umgekehrt
wieder zur Totalkraft vereinigen, wie die
Fig. 1 zeigt. Horizontalkraft und Total-
kraft schließen den Winkel ein, den wir
Inklination nannten; die Trigonometrie
lehrt, daß wenn von den vier Stücken In-
klination , Horizontalintensität , Vertikal-
intensität und Totalintensität zwei bekannt
sind, jedesmal die beiden anderen gefunden
werden können. Es ist also gleichgültig,
welche zwei uns gegeben sind; wie wir
wissen, gehören aber drei Stücke zur voll-
ständigen Bestimmung des Erdmagnetismus, zu den zwei
muß stets die Deklination hinzukommen, also der Winkel,
welchen jene Ebene, in der wir die Totalkraft zerlegten,
mit der Ebene des astronomischen Meridians bildet. In
der Folge soll stets die Deklination mit d, die Inklination
mit i, die Totalkraft mit T, die Horizontalkraft mit H,
die Vertikalkraft mit V bezeichnet werden.
n. Oertliehe und zeitliche Verschiedenheiten des
Erdmagnetismus.
Es war im vorhergehenden Abschnitt darauf auf-
merksam gemacht worden, daß die erdmagnetischen Ele-
mente nicht an allen Punkten der Erdoberfläche dieselbe
Größe haben. Es wird notwendig sein, auf diesen Punkt,
auf die räumliche Verschiedenheit des Erdmagnetis-
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7C ^^^ Eschenhagen,
mus, etwas naher einzugehen und gleichzeitig auch die
zeitlichen Veränderungen einer genaueren Betrach-
tung zu unterwerfen. Beide Umstände sind die Ursachen,
weshalb wir fortgesetzte magnetische Beobachtungen nicht
entbehren können, sie sind die Ursache, weshalb die ein-
zelne Beobachtung, selbst wenn sie zur Zeit unbedeutend
und nicht verwertbar erscheinen mag, mit der Zeit an
Wert gewinnt, je älter sie wird. Das Folgende wird die
Richtigkeit dieser Behauptung erweisen.
Als der Entdecker Amerikas auf seiner Fahrt nach
Westen die Richtung der Kompaßnadel mit der astrono-
mischen Nordrichtung verglich, fand er, daß mit der Ent-
fernung von den Küsten Spaniens der Winkel jener beiden
Richtungen immer kleiner wurde, ja er erreichte ein Ge-
biet im Atlantischen Ozean, wo beide Richtungen zu-
sammenfielen, bis weiterhin die Nadel, deren Richtung in
Spanien nach Osten vom astronomischen Norden abwich,
sich nach Westen von dieser Linie entfernte. Die weitere
Durchforschung der Erdoberfläche, zu der allerdings Jahr-
hunderte erforderlich waren, lieferten das Material, um
ein ganzes System von Linien gleicher Deklination (Iso-
gonen), gleicher Inklination (Isoklinen) und gleicher
Ejraft (Isodynamen) zu konstruieren.
Es zeigte sich, daß einzelne Linien vorhanden waren,
auf denen die Nadel keine Abweichung von der wahren
Nordrichtung besaß und welche jedesmal ein Gebiet öst-
licher Abweichung von einem mit westlicher trennten, es
stellte sich heraus, daß auf der Südhälfte der Erde ganz ähn-
liche Gesetze für das Südende der Nadel existierten, wie
auf der Nordhemisphäre für das nördliche. Beide Hemi-
sphären wurden durch eine Linie von einander getrennt,
auf welcher die Inklinationsnadel keine Neigung anzeigte,
durch den sog. magnetischen Aequator, der in einiger
Entfernung von dem geographischen Aequator, bald nörd-
lich, bald südlich von demselben um die Erde herumläuft.
Dahingegen konnten zwei Punkte ermittelt werden, wo
die Inklinationsnadel eine vertikale Richtung annimmt, die
sog. magnetischen Pole der Erde. Die Linien gleicher
Kraft wiesen auf jeder Halbkugel zwei Stellen auf, wo die
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Erdmagnetismus. 77
Kraft einen größten Wert erreichte, die sog. Sammel-
punkte der erdmagnetischen Kraft. Die nähere Beschrei-
bung dieser Liniensysteme ist hier nicht am Platze, man
ersieht ihren Verlauf am besten aus den erdmagnetischen
Karten, die z. B. in „Berghaus' physikalischem Atlas" zu
finden sind.
Die Wichtigkeit, an möglichst vielen Punkten der
Erdoberfläche magnetische Beobachtungen anzustellen, er-
hellt sofort, wenn wir uns vergegenwärtigen, welch eine
Rolle der Kompaß auf Seereisen spielt. Aber auch
für die Erkenntnis des Erdmagnetismus ist die magne-
tische Durchforschung der Erdoberfläche von größter Be-
deutung. Der Verlauf der genannten Liniensysteme ist,
wie bereits angedeutet, kein so regelmäßiger, wie das
Netz der Breiten- und Längengrade, in einer Weise, wie
man es anfänglich erhofft hatte ; ehe jene Linien, die wir
auf den magnetischen Karten erblicken, gezeichnet werden
konnten, mußten zahlreiche Beobachtungen angestellt und
verglichen werden; an vielen Stellen sind dieselben noch
äußerst lückenhaft, der Verlauf der Linien daher sehr
unsicher; an einzelnen anderen Stellen haben sich Un-
regelmäßigkeiten ergeben: die Werte der erdmagnetischen
Elemente standen nicht in Einklang mit denen der um-
liegenden Punkte, und es bHeb nichts übrig, als derartige
Beobachtungen auszuschließen und den Verlauf der Linien
regelmäßiger zu gestalten. Dies Verfahren hat natürlich
nur Berechtigung, wenn es sich um eine genäherte Dar-
stellung handelt, die weitere Aufgabe erheischt eine ge-
nauere Untersuchung solcher Unregelmäßigkeiten, um die
Ursachen derselben zu erforschen, und gerade dieses Ge-
biet ist es, auf dem der einzelne Beobachter seine Wirk-
samkeit entfalten kann.
Es ist ersichtlich, daß derartige Beobachtungen einen
nicht unerheblichen Grad der Genauigkeit erfordern, der
nur geleistet werden kann einerseits durch Einübung der
Beobachter und passende Auswahl des Instrumentes, an-
dererseits durch Berücksichtigung aller Umstände, welche
zu einer Vergleichbarkeit der Beobachtungen beitragen
können. Dazu gehört aber vor allem eine Kenntnis der
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78 Max Eschenhagen,
zeitlichen Aenderungen der erdmagnetischen Ele-
mente.
Als ein päpstliches Dekret jene Linie ohne Ab-
weichung (NuU-Isogone), die von Columbus aufgefunden
wurde, zur politischen Grenzlinie (Demarkationslinie) er-
hob, welche die Ländererwerbungen der Kronen Spanien
und Portugal trennen sollte, da ahnte der Urheber des-
selben nicht, daß diese Linie allmählich sich verschieben
würde über den europäischen Kontinent hinweg bis nach
Rußland hinein, und daß eine Umkehr dieser Wanderung
mit Beginn dieses Jahrhunderts erfolgen würde. Es trat
nämlich eine Verschiebung des ganzen Systems der Iso-
gonen in der Weise ein, daß an Orten wie z. B. London
oder Clausthal im Harz die Deklination im Laufe der Jahr-
hunderte folgende Werte annahm:
L
ondon
Gl
austhal
1580
11 »15' Ost
1652
1« 14' Ost
1622
6 0 ,
1672
0 6 West
1634
6 6 ,
1680
2 0 ,
1657
0 0 ,
1695
7 10 .
1692
6 0 West
1715
10 7 ,
1723
14 17 ,
1740
14 21 ,
1773
21 9 ,
1770
17 1 ,
1805
24 8 ,
1800
19 47 ,
1810
19 8 ,
1840
18 3 ,
Die Linie ohne Abweichung passierte um das Jahr 1657
London, um 1660 Clausthal; seit Anfang dieses Jahr-
hunderts ist die westliche Deklination wieder im Ab-
nehmen begriffen. Die Wichtigkeit, diese Beobachtungen
so weit zurück zu verfolgen wie möglich, ist klar, wenn
es sich darum handelt, die Gesetzmäßigkeit der Er-
scheinungen zu erweisen.
In dieser Beziehung sind wegen des frühzeitigen Ge-
brauches des Kompasses im Bergwerk die alten Gruben-
risse der Markscheider eine wertvolle Fundgrube geworden,
wie die (im Auszuge mitgeteilte) Reihe von Clausthal und
eine ähnliche von Freiberg beweisen.
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Erdmagnetismus. 79
Aehnlicl^e Schwankungen, sog. säkulare Aende-
rungen, zeigen die beiden anderen Elemente, die In-
klination und Intensität, ebenfalls ; während die westliche
Deklination, wie erwähnt, in Deutschland zur Zeit im
Abnehmen begriffen ist, wächst die Intensität, die In-
klination hingegen scheint, wie neuere Beobachtungen
am erdmagnetischen Observatorium in Wilhelmshaven an-
deuten, auf einem Umkehrpunkte angelangt zu sein, wo
sie vom Abnehmen zum Wachsen übergeht. Da der auf
ein Jahr entfallende Betrag der Säkularänderung in sol-
chem Falle nur ein sehr kleiner ist (nur Bruchteile einer
Bogenminute beträgt), andererseits die Unsicherheiten in
der Bestimmung dieses Elements noch große sind, so läiät
sich das Jahr, in welchem der Umkehrpunkt liegt, noch
nicht mit Sicherheit angeben.
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, da£ magnetische
Karten nur dann einen Wert haben, wenn vermerkt ist,
für welches Jahr dieselben gelten. Die nachstehend ge-
gebene Karte von Deutschland giebt eine Uebersicht der
magnetischen Linien, wie dieselben im Jahre 1885 sich
gestalteten; sie ist entworfen von dem Direktor der
Deutschen Seewarte, Dr. Neumeyer, der mit sachkun-
diger Hand die Beobachtungen zusammengestellt hat.
Kennt man den Betrag der jährlichen Aenderung eines
erdmagnetischen Elements, wie es fdr Deutschland auf
der Karte bemerkt ist, so ist man imstande, den Wert
desselben auch für einen späteren oder früheren Zeitpunkt
zu berechnen, andererseits kann man Beobachtungen aus
verschiedenen Jahren auf eine Epoche reduzieren und sie
auf diese Weise vergleichbar machen und zum Entwerfen
einer Karte benutzen. Die Ermittelung der säkularen
Variation ist sonach von der größten Wichtigkeit, durch
sie und für- sie behalten ältere sowohl wie vereinzelte
Beobachtungen ihren Wert.
Es war erwähnt worden, daß man den magnetischen
Karten eine bestimmte Epoche zu Grunde legen müsse,
da die erdmagnetischen Linien nur für ein bestimmtes
Jahr Geltung haben. Diese Behauptung ist indes nur
richtig, wenn man von einem jährlichen Mittelwerte
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80 Max Eschenhagen,
spricht, der fUr das betreffende Jahr gültig ist. Die
Beobachtungsinstrumente, welche den Wert der erdmag-
netischen Elemente jederzeit erkennen lassen, zeigen uns
aber, daß die Größe derselben fortlaufenden Aenderungen
(Variationen) unterworfen' ist, die teils innerhalb gewisser
Zeiträume wiederkehren, also Perioden zeigen, teils aber
vollkommen regellos als sog. „ Störung*^ erscheinen.
Die hervorragendste periodische Erscheinung ist die
tägliche Periode, die wir einer näheren Betrachtung
unterwerfen wollen.
Jener Winkel, den die horizontal aufgehängte Magnet-
nadel mit der wahren Nordrichtung einschließt, nimmt
im Laufe eines Tages andere Werte an, die in Deutsch-
land um etwa 12 — 15 Bogenminuten auseinanderliegen
können. Die westliche Abweichung, die im mittleren
Deutschland etwa 12® erreicht, fängt in den späten Vor-
mittaffsstunden an größer zu werden und erreicht etwa
um P mittags einen Höchstbetrag, sodann wird die De-
klination kleiner und erreicht in den Abendstunden einen
niedrigsten Wert, von da an wächst sie aufs neue, erreicht
einen zweiten höchsten Wert einige Stunden nach Mitter-
nacht und sinkt dann zu dem tiefsten Wert herab, der
gegen 8*^ morgens eintritt, um dann von neuem, wie an-
fangs geschildert , anzusteigen. Die Werte um 1^ nach-
mittags (p. m. = post meridiem) und um 8^ vormittags
(a. m. = ante meridiem) stellen das üauptmaximum bez.
das Hauptminimum der täglichen periodischen Erschei-
nung vor, während nach Mittemacht — - die Stunde ist
nicht sicher ausgeprägt — ein Nebenmaximum und in
den Abendstunden ein Nebenminimum eintritt. Der Unter-
schied vom Hauptmaximum zum Hauptminimum, die
Amplitude der Periode, ist im Sommer größer als im
Winter, die einzelnen Monate stellen üebergangsformen
dar. Entsprechende Erscheinungen zeigen die beiden
anderen Elemente, die Horizontalintensität und die In-
klination. Man findet den Verlauf derselben nebst dem
der Deklination in der nachstehenden Fig. 2, wie er
im erdmagnetischen Observatorium zu Wilhelmshaven im
Jahre 1883 den Aufzeichnungen der selbstregistrierenden
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Erdmagnetismus.
Flg. 2.
81
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Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung.
6
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82 Max Eschenhagen,
Instrumente entnommen worden ist. Wie ersichtlich sind
die Schwankungen der Inklination ziemlich gering, hin-
gegen sind die der Horizontalkomponente bedeutender^
zumal ist ein Hauptminimum gegen 10^ morgens stark
ausgeprägt. Die Zeichnungen stellen den Verlauf jener
Schwankungen im Sommerhalbjahr, im Winterhalbjahr
und im ganzen Jahr (die Inklination nur im Jahresmittel)
dar, die Ordinaten (von der in der Mitte jeder Kurve
gezogenen stärkeren Linie aus gerechnet) lassen die
Größen derselben in dem bezüglichen Maß (Bogenminuten
in Deklination und Inklination, Bruchteile von C.G.S.-
Einheiten in Intensität) erkennen. An anderen Punkten
Deutschlands wird die tägliche Periode der drei Elemente
einen nur unbeträchtlich abweichenden Verlauf haben, so
daß die hier gegebenen Kurven eine ziemlich genaue
Darstellung jener Erscheinung für Deutschland geben. An
entfernteren, namentlich weiter nördlichen Punkten ist der
Verlauf der Periode etwas verschoben in Bezug auf die
Zeitpunkte der Maxima und Minima, außerdem ist die
Amplitude eine größere nach dem magnetischen Pol, eine
kleinere nach dem Aequator zu. Schließlich muß erwähnt
werden, daß die Amplitude in verschiedenen Jahren nicht
gleich groß bleibt, sie zeigt eine ziemlich regelmäßige
Schwankung von kleineren zu größeren Werten und um-
gekehrt, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.
Alle Bemerkungen über die tägliche Periode bezogen
sich auf eine Darstellung derselben, wie sie erhalten wird,
wenn man beispielsweise mit Hilfe der dazu geeigneten
Instrumente die Größe der erdmagnetischen Elemente um
jede Stunde ermittelt, wodurch man z. B. für jeden Tag
eines Monats 24 Werte erhält. Bildet man nun aus den
30 Monatswerten für jede Stunde das Mittel, so giebt der
Verlauf der 24 stündlichen Mittelwerte ein Bild einer mitt-
leren täglichen Periode, wie sie sich in dem betreffenden
Monate darstellt. Dieselbe erscheint an einem einzelnen
Tage nur in seltenen Fällen in diesem regelmäßigen Ver-
lauf, gewöhnlich ist die Periode durch allerlei kleinere
und größere Unregelmäßigkeiten getrübt, die bei der
Mittelbildung sich ungefähr gegenseitig ausgleichen.
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Erdmagnetismus.
83
Diese Unregelmäßigkeiten, die meist in unbedeuten-
den Ausbuchtungen der den täglichen Verlauf darstellen-
den Kurven bestehen, beginnen zuweilen plötzlich sehr
großen umfang anzunehmen, es herrscht eine „magne-
tische Störung**. Diese Erscheinung, bei der die Mag-
Fig. 8.
Götti-nger Zeit.
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Verlauf der östlicIienDelclinaüam sWort1la.e (Gr. Skiaven-See)
ain U. November 1682.
Cliajgnetisrh» Störunge
netnadel eine große Unruhe zeigt und oft über ganze
Grade in wenigen Zeitminuten sich bewegt, tritt an vielen
Orten gleichzeitig auf, nicht selten erscheint zur selben
Zeit ein Nordlicht am Himmel. Bis jetzt ist es aber
nicht gelungen, den genauen Zusammenhang beider Er-
scheinungen nachzuweisen.
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84 ^^'X Eschenhagen,
Es ist begreiflich, daiä beim Eintreten dieser »mag-
netischen Gewitter", wie sie von Humboldt genannt
wurden, die Beobachtung der in schneller Bewegung be-
findlichen Magnetnadel eine sehr schwierige ist; nur ein
selbstthätig aufzeichnendes Verfahren hat hier guten Er-
folg. Die Kurve (Fig. 3) stellt die von 5 zu 5 Minuten
aufgezeichnete Schwankung der Deklinationsnadel zu Fort
Rae am 15. November 1882 vor; der Abstand eines
Punktes der Kurve von einer horizontalen Linie dient
zur Berechnung des jeweiligen Wertes der Deklination.
In der Figur hat 1 mm dieses Abstandes den Wert von
4,6 Bogenminuten.
Ueber das Wesen dieser Störungen ist so gut wie
nichts bekannt, wir beschränken uns auf die gegebene
kurze Darstellung derselben, obgleich sie für das nach-
folgende nicht ohne Bedeutung sind: es ist von Wichtig-
keit, daß ein mit magnetischen Messungen beschäftigter
Beobachter die eintretende Störung an der Unruhe der
Magnetnadel erkennt und die Beobachtung abbricht, da
bei derartigen Bewegungen der Nadel keine genauen Re-
sultate zu erhalten sind.
Es war notwendig, bei einer allgemeinen Darstellung
der erdmagnetischen Erscheinungen etwas länger zu ver-
weilen, weil die Kenntnis derselben für die nun zu er-
örternden Beobachtungsmethoden von der gröMen Be-
deutung ist. Mit dem hier Gebotenen ist freilich der
Gegenstand bei weitem nicht erschöpft, da alles, was
nicht zu Beobachtungszwecken in Beziehung steht, von
der obigen Darstellung ausgeschlossen wurde.
in. Allgemeine BeobachtungsTorHchriften.
Bei der Anstellung magnetischer Beobachtungen kann
der Zweck ein mehrfacher sein: entweder handelt es sich
um fortlaufende Aufzeichnungen der Gröiae der erdmag-
netischen Elemente an einem oder mehreren Orten, die
alsdann als erdmagnetische Stationen oder Observatorien
bezeichnet werden, oder aber es handelt sich um ge-
Digitized by VjOOQ IC
Erdmagnetismus. 85
legentliche Ermittelungen jener Werte, wie solche bei-
spielsweise auf Reisen an möglichst vielen Punkten eines
Landes vorgenommen werden können. Dieser letztere
Zweck, die magnetische Reisebeobachtung, ist für
den Inhalt dieses Abrisses das Wesentliche, da die erstere
Art der Beobachtung ein wohleingerichtetes Observato-
rium erfordert. Da aber der Reisebeobachter, wenn irgend
möglich, im Anschluß an ein benachbartes Observatorium
arbeiten soll, so wird im Schlußabschnitt die geeignete
Verwertung der Beobachtungen noch erläutert werden.
Je nach dem Grade der Genauigkeit, welche bei
magnetischen Reisebeobachtungen erreicht werden
soll, ist die Auswahl der zu benutzenden Instrumente
zu treffen. Handelt es sich um eine nur rohe Ermitte-
lung der Größe der erdmagnetischen Elemente, sei es
nur, um ihre Größe für den betreffenden Ort mit unge-
fährer Genauigkeit zu kennen, oder sei es, um beispiels-
weise die Abweichung der magnetischen Nordrichtung von
der wahren Nordrichtung zur genäherten Auffindung der
letzteren zu benutzen, so wird ein einfacheres Instrument
diesen Anforderungen genügen. Der Grad der zu fordernden
Genauigkeit wird in diesem Falle durch die Betrachtung
bestimmt, daß ein solcher Beobachter keine Rücksicht
auf die täglichen Schwankungen der erdmagnetischen Ele-
mente nimmt, es kann also der zu duldende Beobach-
tungsfehler die halbe Größe des Betrages jener Aende-
rungen erreichen. Handelt es sich hingegen um größere
Genauigkeit, so wird man feinere Messungen mit voll-
kommeneren Instrumenten anzustellen, die Resultate der-
selben aber von dem Einfluß jener Schwankungen zu
befireien haben. Hierzu ist der oben erwähnte Anschluß
an ein festes Observatorium erwünscht. Im nachfolgen-
den werden Instrumente beschrieben werden, die sowohl
den ersteren, wie den letzteren Anforderungen Genüge
leisten.
Zuvor mögen noch einige allgemeinere Vorschriften
für die Auswahl des Beobachtungspunktes, sowie für die
Behandlung der Instrumente bei den Beobachtungen Platz
finden.
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8G ^aoc Eschenhagen,
um die wirkliche Größe der erdmagnetischen Ele-
mente eines Punktes kennen zu lernen, muß bei der
Auswahl eines Platzes für Aufstellung eines Instru-
ments darauf geachtet werden, daß keinerlei in der Nach-
barschaft befindliche Eisenmassen, eisenhaltige Gesteine
u. dei^l. jene Werte ändern können, der Punkt muß also
in erster Linie frei von sog. Lokaleinflüssen sein. Wie
weit man von derartigen störenden Gegenständen entfernt
bleiben muß, ist je nach der Größe derselben verschie-
den; kleinere Einflüsse, wie z. B. Baulichkeiten mit nur
wenig Eisenteilen, verlieren ihre Wirksamkeit oft schon
bei 10 m Entfernung, während bei größeren unter Um-
ständen 50 m hierzu nicht hinreichend sind. Vollständige
Sicherheit, daß keinerlei Lokaleinfluß an der Beobach-
tungsstelle vorhanden, kann nur dann gewonnen werden,
wenn man an mehreren Punkten im Umkreis die gleichen
Resultate erhält. Eine solche Untersuchung ist unent-
behrlich, wenn man dauernd an dem gleichen Orte Be-
obachtungen anstellen will. Bei nur vorübergehenden
Beobachtungen muß der Beobachter den Platz nach seinem
Ermessen auswählen, indem er sich von allem fernhält,
was verdächtig erscheint. Hierher sind mancherlei Ge-
steinsarten, namentlich Basalte und andere eruptive Ge-
steine zu rechnen; Sandstein, der kein Eisen enthält
(nicht rötlich gefärbt ist), namentlich aber Kalkstein ist
am wenigsten zu fürchten. Gewöhnlich setzt man das
Instrument nicht auf einen steinernen Pfeiler, sondern
auf ein besonderes dreibeiniges und leicht transportables
(eisenfreies) Stativ, das nicht zu hoch sein darf, um Er-
schütterungen durch den Wind zu vermeiden. Nötigen-
falls helfe, wenn nur geringere Hilfsmittel zu Verfügung
stehen, man sich durch einen eingeschlagenen starken
Pfahl, dessen obere Fläche ein möglichst wagrechtes, mit
Messingschrauben befestigtes Brettchen bildet. Das ein-
mal aufgestellte Instrument, wie das Stativ sind vor allen
unsanfteren Berührungen zu schützen. Der Beobachter
hat alle eisenhaltigen Gegenstände abzulegen und darauf
zu achten, daß auch der Anzug keinerlei eisenhaltige
Teile — Schnallen, Knöpfe etc. — enthält.
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Erdmagnetismas. 87
Bei allen Beobachtungen im Freien — ein besonders
hergerichtetes Beobachtungszelt wird nur selten zur Ver-
fügung stehen — wird der Fall eintreten, daß das auf-
gestellte Instrument den Unbilden der Witterung (Regen,
Staub u. s. w.) ausgesetzt wird; es ist deshalb ein be-
sonderes Augenmerk auf die Reinigung des Instruments
zu verwenden, welche möglichst bald nach jeder Beob-
achtung durch Abwischen mit einem weichen Tuch, wel-
ches man hin und wieder mit etwas feinem (Knochen-)
Oel tränkt. Auf eine sichere Verpackung durch festes
Anziehen aller die Beweglichkeit hindernden Schrauben,
sowie auf einen behutsamen Transport — Tragen in der
fiand oder auf dem Rücken — ist gleichfalls zu achten.
Es mag vielleicht überflüssig erscheinen, diese kleinen,
fast selbstverständlichen Vorschriften hier anzuführen, in-
des zieht die Vernachlässigung einer derselben nur zu häufig
die Unbrauchbarkeit des Instruments nach sich, und der
noch ungeübte Beobachter wird zum Schaden seiner Beob-
achtungen wie seines Instruments Lehrgeld zu zahlen haben.
Endlich ist noch zu erwähnen, daß jeder Beobachter ein
sorgfältiges Protokoll der Beobachtung in einem Taschen-
buch zu führen hat, welches, nach dem Muster der weiter
unten folgenden, an der Spitze das Datum, die Art der
Beobachtung und das benutzte Instrument zu tragen, sowie
eine Beschreibung des Beobachtungspunktes, nötigenfalls
mit einem die Wiederauffindung ermöglichenden Situations-
plan, zu geben hat. Bei jeder einzelnen zur Beobachtung
gehörigen Einstellung ist die Zeit — in Stunden und
Minuten — zu notieren, auch ist der Beobachter namhaft
zu machen. Nach Rückkehr von der Beobachtung ist die
Beobachtung aus dem Taschenbuch in ein besonderes
Berechnungsbuch zu kopieren, welches am praktischsten
auf einer Seite die Beobaclitungen wiedergiebt, während
auf der daneben befindlichen die weitere Rechnung aus-
geführt wird. Es muß der Art der Protokollführung wie
der Berechnung stets der Gedanke zu Orunde gelegt
werden, daß man gewissermaßen für einen anderen, nicht
anwesenden arbeitet, der nachher aber imstande sein
soll, Beobachtung wie Rechnung bis ins kleinste zu kon-
Digitized by VjOOQ IC
88 Max Eschenhagen,
trollieren. Viele Beobachtungen von Reisenden, die kein
strenges Beobachtungsschema führten, nachher aber an
der Berechnung verhindert waren, müssen als wertlos zur
Seite gelegt werden, und die Mühe, die auf dieselben
verwendet wurde, ist verloren. Was jede Beobachtung
wertlos macht, ist das Fehlen des Datums und eventuell
auch der Stunde, zu welcher beobachtet wurde. Um die
häufig vorkommenden Irrtümer bei den Ablesungen zu
vermeiden, gewöhne man sich daran, nach dem Nieder-
schreiben einer Beobachtung sich stets nochmals von der
Richtigkeit der Ablesung zu überzeugen.
Eines Umstandes, der leicht die Richtigkeit der Be-
obachtungsresultate beeinflussen kann, muß noch erwähnt
werden, nämlich der etwaige Eisengehalt der Metallteile
des Beobachtungsinstruments. Im allgemeinen enthält
das käufliche Kupfer und Messing einen zwar sehr ge-
ringen Eisengehalt, der aber doch beträchtlich genug sein
kann, eine Ablenkung der in ihrer Nachbarschaft befind-
lichen Magnetnadel hervorzubringen. Andererseits bietet
die elektrolytische Darstellung des Kupfers genügende
Garantie für die Reinheit desselben, so daß ein vorsich-
tiger Mechaniker wohl in der Lage ist, in der genannten
Hinsicht die nötige Sicherheit zu bieten. Eine sorgfältige
und genaue Prüfung eines verdächtigen Instruments er-
fordert eine eingehende Untersuchung, die am besten an
einem erdmagnetischen Observatorium ausgeführt wird;
eine rohe Untersuchung kann in der Weise vorgenommen
werden, daß einzelne Teile oder das ganze Instrument sehr
vorsichtig einer frei schwebenden Magnetnadel genähert
werden; eine eintretende Anziehung oder Abstoßung, die
nicht auf Erschütterungen beruht oder durch Luftströme
(die Magnetnadel befindet sich deshalb zweckmäßig hinter
Glas) hervorgerufen wird, giebt zu ernsten Bedenken Anlaß.
Im folgenden mögen nun die erdmagnetischen Be-
obachtungsmethoden, und zwar in erster Linie diejenigen,
welche die absoluten Größen der drei Elemente stets mit
Beziehung auf unsere deutschen Verhältnisse liefern, einer
Darstellung unterzogen werden, während auf die sog. Varia-
tionsbeobachtungen nicht näher eingegangen werden kann.
Digitized by VjOOQ IC
V Erdmagnetismus. 89
Wenngleich die Instrumente, die unseren Zwecken
dienen, gerade in jüngster Zeit mannigfaltige Verbesse-
rungen und Vervollkommnungen erfahren haben, so sind
wir doch weit davon entfernt, bereits die endgültige,
beste Form für dieselben zu besitzen. Bei diesem steten
Wechsel muß es zweckmäßig erscheinen, hier in erster
Linie die Punkte darzustellen, auf welche bei den Beob-
achtungen — gleichviel mit welchem Instrumente —
immer zu achten ist, und aus denen jeder, auch wenn er
mit anderen, in der Folge nicht beschriebenen Instru-
menten arbeitet, ersehen kann, worauf es ihm ankommen
muß. Neben dieser Darlegung der Methode mögen
dann einige Instrumente, teils einfacherer, teils vollstän-
digerer, genauerer Konstruktion beschrieben werden. Von
einer theoretischen Begründung kann bei dem beschränk-
ten Umfange dieser Darstellung abgesehen werden; nähe-
res darüber findet sich in folgenden Werken:
Gauss und Weber, Resultate des magnetischen Ver-
eins. Vergriffen.
Lamont, Handbuch des Erdmagnetismus. Vergriffen.
Günther, Geophysik. Stuttgart bei Enke 1885. Be-
sonders schätzbar wegen des umfangreichen Litte-
ratumachweises.
Ereil, Anleitung zu magnetischen Betrachtungen.
Wien bei Gerold 1858. (Anhang zu den Sitzungs-
berichten der Wiener Akademie Bd. XXXII.)
Liznar, Anleitung zur Messung und Berechnung der
Elemente des Erdmagnetismus. Wien bei Gerold 1883.
Letzteres verdient als neueres Werk von zwar nicht
erschöpfender, aber doch eingehender Darstellung bei ge-
ringem Umfange Beachtung.
IT. Beobachtungsmethoden.
Deklination.
Die Aufgabe der Deklinationsbestimmung ist eine
doppelte: erstens muß die Richtung des magnetischen
Digitized by VjOOQ IC
90 ^^^ Eschenhagen,
Meridians, zweitens die des astronomischen bestimmt
werden. Wir hatten gesehen, daß eine horizontal auf-
gehängte Magnetnadel sich mit ihrer „magnetischen Achse"
in die Richtung des ersteren einstellt. Diese magnetische
Achse ist aber äuüerlich nicht erkennbar, sie fällt im
allgemeinen nicht mit der geometrischen Achse der Nadel
zusammen, ja man kann nicht einmal sagen, daß sie ge-
radlinig verläuft. Man hat nun das Beobachtungsverfahren
derart eingerichtet, daß man die Lage der erkennbaren
geometrischen Achse der Nadel (bei zugespitzter Nadel
die Verbindungslinie der beiden Spitzen) oder eine andere
feste Richtung, z. B. die Normale auf einen mit der
Nadel fest verbundenen Spiegel, bestimmt und die Ab-
weichung der magnetischen Achse von derselben durch
Umlegen der Nadel (Vertauschen von oben und unten)
Flg. 4.
1.
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eliminiert. Sei z. B. AB (Fig. 4) die geometrische Achse
einer Magnetnadel, deren Stellung über einer Kreisteilung
an der Spitze abgelesen werden kann, DE sei die magne-
tische Achse, die sich, wenn die Nadel frei beweglich ist,
in den magnetischen Meridian einstellt. Enthält Spitze A
Nordmagnetismus, so muß in der ersten Lage der Nadel
A zu weit nach Osten zeigen, und zwar genau um den
Winkel, den magnetische Achse und geometrische Achse
miteinander bilden, in der zweiten Lage der Nadel nach
dem Umlegen wird Spitze A um denselben Winkel zu
weit nach Westen vom magnetischen Meridian zeigen,
das Mittel der beiden Ablesungen wird die richtige Lage
des magnetischen Meridians angeben. Im allgemeinen
wird bei einer Nadel mit zugespitzten Enden der Winkel
zwischen beiden Achsen ein sehr kleiner sein, so daß er
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Erdmagnetismus. 91
sich meist bei der nicht erhebliche Genauigkeit gewähren-
den Ablesung der Stellung einer Spitze über einer Kreis-
teilung der Beobachtung entzieht.
Bei Beobachtungen, die einen höheren Grad von Ge-
nauigkeit erfordern, wählt man deshalb andere Verfahren,
von denen hier das der Spiegeleinstellung genannt sei.
Man verbindet einen kleinen Spiegel S8 fest mit der
Magnetnadel (in der Fig. 5 von oben gesehen gezeichnet),
die Spiegelnormale soll, wie in der Zeichnung angedeutet,
ungefähr mit der Längsrichtung des Magneten AB zu-
sammenfallen, während die magnetische Achse die Rich-
tung DE haben soll. Richtet man nun ein Fernrohr jFO,
dessen Stellung auf einem horizontalen, mit Gradteilung
versehenen Kreise abgelesen werden kann und welches
im Brennpunkte des Okulars einen vertikalen Faden nebst
einem dicht davor in die Okularröhre eingelassenen kleinen
Fig. 5.
Beleuchtungsprisma enthält, auf den Spiegel, so wird
man in demselben den Faden gespiegelt in einem hellen
Felde erblicken, außerdem sieht man den Faden, der im
Brennpunkt des Okulars sich befindet, direkt, und die
Aufgabe ist es, durch Drehung des Fernrohrs den direkt
gesehenen Faden mit seinem Spiegelbilde zur Deckung
zu bringen, alsdann befindet sich die optische Achse des
Femrohrs genau in der Richtung der Spiegelnormale.
Durch Umlegen des Magnets und neue Einstellung der
Fäden wird auch hier als Mittel der beiden Einstellungen
des Femrohrs die Lage desselben erhalten, in welcher es
sich genau in der Richtung des magnetischen Meridians
befindet.
Die Magnete pflegt man entweder an einem kleinen
Häkchen mittelst eines Kokonfadens aufzuhängen, oder
aber man lälät ihn vermittelst eines kleinen Achathütchens
auf einer Spitze (Pinne) balancieren. Beide Arten haben
ihre Mängel: bei der ersten ist die Torsion des Fadens,
Digitized by VjOOQ IC
92 Max Eschenhagen,
welche den Magneten aus dem Meridian um einen kleinen
Betrag herausdreht, störend, bei der letzteren die Reibung
auf der Pinne. Für Beobachtungen im Freien kommt
bei Fadenaufhängimg der Einfluß des Windes hinzu, so
daß man hier am zweckmäßigsten die Spitzenaufstellung
wählen wird. Die Fehler, welche durch Reibung auf der
Pinne entstehen, lassen sich vermindern, indem man alle
Einstellungen der Magnetnadel unter kleinen Erschütte-
rungen vornimmt. Es genügt, an der Klemmschraube
des Instruments mit dem Fingernagel zu kratzen, wenn
dem Instrument kein besonderer Reiber beigegeben ist,
der auf einen Knopf des Magnetkastens angewandt wird.
Vor allem hat man sich vor Beschädigungen der Pinne
beim Auf- und Abnehmen des Magneten zu hüten; die
Spitze muß, durch eine Lupe betrachtet, tadellos scharf
aussehen, nur dann sind sichere Einstellungen und zwar
selbst bei der feineren Beobachtungsmethode mit dem
Femrohr zu erzielen. Um die hin und her schwingende
Nadel schnell zu beruhigen, gebraucht man einen zweiten
schwachen Magnet, den Beruhigungsstab, den man mit
einem Pole dem gleichnamigen Pole der Nadel nähert,
wenn dieser herankommt, beim Zurückschwingen dreht
man den Beruhigungsmagnet um und hemmt mit dem un-
gleichnamigen Pol die Bewegung der Nadel.
Die zweite Aufgabe der Deklinationsbestimmung be-
steht in dem Auffinden des astronomischen Meridians.
Die gewöhnlich hierzu benutzten Methoden stützen sich
auf astronomische Beobachtungen (des Polstems oder der
Sonne) und terrestrische Beobachtungen im Anschluß an
die Landesvermessung. Nur der wichtigste Teil dieser
Aufgaben kann hier hervorgehoben werden, das weitere
muß eingehenderem Studium überlassen werden.
1. Beobachtung des Polsterns.
Bei der scheinbaren Drehung des Himmelsgewölbes
um die Erde beschreiben sämtliche Fixsterne Kreise, die
am größten für Sterne im Himmelsäquator, am kleinsten
für Sterne in der Nähe des Pols, um welchen die schein-
Digitized by VjOOQ IC
Erdmagnetismus. 93
bare Drehung stattfindet, sind. Die Höhe des letzteren
über dem Horizont ist an jedem Orte gleich der geo-
graphischen Breite; eine Anzahl von Sternen, deren Ab-
stand Tom Pol nicht größer als die geographische Breite
ist, können daher auf ihrer Wanderung von uns verfolgt
werden; sie passieren bei .einer Umdrehung den Meridian
des Beobachtungsprtes — die durch den Pol und den
Beobachtungsort gelegte senkrechte Ebene zweimal (un-
tere und obere Kulmination). Die Zeit von einer oberen
Kulmination bis zur anderen heißt ein Stemtag. Würden
wir einen Stern in dem Augenblick, wo er den Meridian
passiert (kulminiert), mit einem Fernrohr einstellen, so
würde dasselbe die Meridianrichtung angeben. Dies direkte
Verfahren ist im allgemeinen aus verschiedenen Gründen
in der Praxis nicht anwendbar, zumal dazu eine genaue
Kenntnis der Zeit und vorzügliche Instrumente gehören.
Wollen wir mit einfachen Hilfsmitteln arbeiten, so wählen
wir einen hellen Stern, der in der Nähe des Poles steht
und der, weil sein Kreis ein sehr klei-
ner ist, sich nur sehr langsam bewegt. ^**' -^^^^^^^
Hierfür bietet sich uns Bewohnern der ^^
nördlichen Hemisphäre der bekannte /
helle Stern im Sternbilde des Kleinen /
Bären, der gewöhnlich als Polstern be- /
zeichnet wird und den man sehr bald in /
der Verlängerung der Verbindungslinie
der beiden Sterne a und ß des Großen / •*
Bären auffindet (Fig. 6). Der Polstern ^ ^ ^ .ß
hat einen Abstand von P 17' vom Pol, f •
der sich fast genau in der Richtung nach
dem Stern C (Mizar) des Großen Bären befindet. Er ist also
in oberer Kulmination, wenn der letztere in unterer ist
und umgekehrt. Man wird, wenn man beide Sterne gleich-
zeitig mit dem vertikalen Faden eines Diopters (siehe Be-
schreibung des Azimutalkompasses) zur Deckung bringen
kann, die Visierlinie so genau, wie es dies Hilfsmittel
erlaubt, in den astronomischen Meridian gebracht haben.
Da dies mühsam und auch nur näherungsweise der Fall ist,
so wählt man zur Beobachtung den Zeitmoment, wo der
Digitized by VjOOQ IC
94 Max Eschenhagen,
Polstern in größter östlicher oder westlicher Entfernung
vom Meridian steht, was man wiederum an der Stellung
von Mizar (westlich oder östlich vom Polstern) erkennen
kann. Richtet man dann ein Diopter oder ein feststehendes
Femrohr mit Fadenkreuz im Okular auf ihn, so wird man
finden, daß er sich sehr langsam horizontal, oder wie
man sich ausdrückt, in Azimut bewegt, schnell dagegen
in Höhe. Man ist nun in der Lage, den Zeitpunkt der
größten Entfernung vom Meridian (Digression) abzuwarten,
indem man aus der östlichen oder westlichen Stellung
des Sterns Mizar ungefähr auf die Stellung des Polstems
schließt, denselben mit dem Femrohr oder der Visier-
vorrichtung (Diopter) eines Kompasses einstellt und nun
abwartet, bis die Entfernung vom Meridian ein Maximum
ist. Der Faden des Femrohrs resp. des Diopters wird
dann mit dem Stern zur Deckung gebracht, und man er-
hält nun, ohne die Ortszeit zu kennen, die Richtung
des astronomischen Meridians, wenn die scheinbare Ent-
fernung, das Azimut des Polsterns, in Rechnung gezogen
wird. Dieselbe ist außer von der Poldistanz des Sterns
auch von der geographischen Breite des Beobachtungsorts
abhängig. Die folgende Tafel giebt für die geographi-
schen Breiten Deutschlands das Azimut des Polstems zur
Zeit der größten Digression.
Breite :
Azimut des Polstems:
48»
1«
55'
49
1
57
50
2
0
51
2
2
52
2
5
53
2
8
54
2
11
55
2
14
Für die dazwischen liegenden Breiten entnimmt man
die Werte durch Interpolation. Bei östlicher Stellung des
Sterns Mizar war der Polstern westlich vom Meridian
und umgekehrt, danach ist das Azimut in Rechnung zu
ziehen.
Digitized by VjOOQ IC
Erdmagnetismus. 95
Was diese Methode, so einfach sie ist, doch unsicher
macht, ist der umstand, daß bei der Höhe des Polsterns
das auf ihn gerichtete Femrohr sehr stark geneigt sein muß^
was eine nicht unerhebliche Fehlerquelle bedingt, wenn
die Lage des Fernrohrs auf der horizontalen Ebene be-
stimmt werden soll. Das Visieren mit Diopter ist zudem
sehr mühsam; auch bei Benutzung eines Fernrohrs ist es
schwierig, den Faden in demselben zu erkennen, man
muß durch eine kurze Zeit vor das Objektiv gehaltene
Lampe sich zu orientieren versuchen. Es wird wegen
dieser Schwierigkeiten hier davon Abstand genommen,
die Methode genauer darzulegen und auf den Fall auszu-
dehnen, daß der Polstern zu einer beliebigen anderen
Zeit beobachtet wurde.
2. Beobachtung der Sonne.
Die Bestimmung des astronomischen Meridians durch
Sonnenbeobachtungen gehört insofern zu den bequemsten,
als das zu beobachtende Objekt, die Sonne, leicht einzu-
stellen ist und wenigstens in der günstigen Jahreszeit
auch häufig genug unseren Blicken dargeboten wird.
Handelt es sich nur .um eine rohe Aufzeichnung des
Meridians, beispielsweise auf dem Fußboden einer Stube,
so zeichnet man auf die tagsüber von der Sonne be-
schienene Diele etwa 5 — 6 konzentrische Kreise, jeden in
etwa 1 dm Entfernung vom anderen, und errichtet in der
Mitte derselben möglichst genau senkrecht einen Stab.
Derselbe habe eine solche Länge, daß die Spitze seines
Schattens beispielsweise um 9 Uhr vormittags den äuße-
ren Kreis in einem Punkte berührt; mit dem höheren
Stande der Sonne wird der Schatten kürzer und seine
Spitze berührt nach und nach die inneren Kreise. Nach-
mittags wiederholt sich der Vorgang in umgekehrter
Reihenfolge. Hat man stets die Berührungspunkte be-
zeichnet und halbiert die Bogen, welche zwischen zwei
auf demselben Kreise liegenden Berührungspunkten liegen,
so geben diese Halbierungspunkte mit dem Zentrum der
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96 ^<^ Escbenhagen,
Kreise die Richtung ^) des astronomischen Meridians.
Eine über dem Zentrum der Kreise aufgehängte Magnet-
nadel wird sofort eine rohe Darstellung der magnetischen
Deklination zu geben vermögen.
Zu allen feineren Sonnenbeobachtungen ist eine ziem-
lich genaue Kenntnis der Ortszeit, also zunächst eine
gute, Sekunden zeigende ühr unentbehrlich. Es kann
hier in diesem kurzen Abriß nicht gelehrt werden, wie
die richtige Ortszeit durch astronomische Beobachtungen,
z. B. mit einem Sextanten, ermittelt werden kann, am
einfachsten, wenn auch nicht immer am sichersten, wird
man von den Telegraphenanstalten die Berliner Zeit er-
halten können, denen dieselbe täglich übermittelt wird.
Man hat dann nur nötig, die geographische Länge des
Beobachtungspunktes einer genauen Karte (den Meßtisch-
blättern der Landesvermessung) zu entnehmen, die DiflFe-
renz gegen Berlin, welches 31 ® 3' 25'' östlich von Ferro
liegt, durch 15 zu dividieren, um sie in Stunden, Zeit-
minuten und Sekunden zu verwandeln und dieselbe an die
erhaltene Berliner Zeit anzubringen, wobei zu beachten ist,
daß östlich von Berlin gelegene Orte frühere Zeit haben,
die ZeitdiflFerenz daher zu addieren ist, bei westlichen
ist sie zu subtrahieren, um auf die gesuchte Ortszeit zu
kommen. Erfährt man also beispielsweise zu Halle (geo-
graphische Länge 29 ^ 37' 43" östlich von Ferro), daß es zu
Berlin genau 9^ 0" 0* vormittags ist, während die Taschen-
uhr 9^2™ 80* zeigte, so bildet man zunächst die Längen-
diflferenz beider Orte = 1 ® 25' 42", um welche Halle
westlich von Berlin liegt; in Zeit verwandelt beträgt die-
selbe 5°^ 43% während es also in Berlin O^O^^O^ist, hat
eine richtige Uhr in Halle 8*^54™ 17* zu zeigen, die Zeit-
angaben der obigen Taschenuhr hatten mithin eine Kor-
rektion von — 8°* 13* zu erfahren, um richtige (mittlere)
hallische Zeit zu geben. Die Sonne passiert den Meri-
dian um die Zeit, die wir „wahren Mittag** nennen, der
*) Man sehe hierüber: Koppe, Mathematische Geographie,
und Grunert, Stereometrie. Am genauesten ist dies Verfahren
zur Zeit der Sonnenwenden.
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Erdmagnetismus. 97
gewöhnlich um einige Minuten von dem mittleren Mittag
abweicht. Die Differenz vom mittleren und wahren Mit-
tag heißt die Zeitgleichung, mittelst derer wir aus unserer
mittleren Uhrzeit die »wahre Sonnenzeit** erhalten können ').
Die Sonne beschreibt bei ihrer scheinbaren Bewegung
am Himmel Bahnen, deren uns sichtbarer Teil, der Tage-
bogen, im Sommer größer als im Winter ist; die Ursache
hiervon ist im Abstand der Sonne vom Himmelsäquator,
Deklination genannt, zu suchen, welcher vom 21. März
bis 23. September nördlich (-}-), in dem anderen Teil des
Jahres südlich ( — ) ist, und nach der sich ihre Erhebung
über den Horizont richtet. Legt man durch die Welt-
achse und durch die Sonne bei beliebigem Stande eine
Ebene, so schneidet dieselbe in dem scheinbaren Himmels-
gewölbe einen Kreis aus, den Stundenkreis der Sonne,
dessen Ebene mit der Meridianebene des Ortes (durch
Weltachse und Zenit gelegt) den Stundenwinkel bildet.
Man mißt den Stündenwinkel auf dem Aequator und zählt
ihn von 0 — 360® von Süd über West herum. Der Stunden-
winkel ist 0, wenn die Sonne im Meridian, 180 ^ wenn
sie genau im Norden steht u. s. f. Der Stundenwinkel ist
also gleich der wahren Zeit, durch Multiplikation mit 15 in
Oraden ausgedrückt, da 300^ = 24^ sind. Richtet man
das Fadenkreuz eines mit Blendglas versehenen Fem-
rohrs auf die Sonne und notiert Datum und Uhrzeit, so
kann man den Winkel berechnen, um welchen man das
Femrohr hätte drehen müssen, damit es genau nach dem
astronomischen Süden gerichtet ist, und den wir, auf den
Horizont reduziert, als Azimut der Sonne bezeichnen.
Er ist der Winkel, den eine durch das Zenit und die
Sonne gelegte vertikale Ebene mit der Meridianebene
bildet. Nennen wir U die beobachtete mittlere ührzeit,
C die Uhrkorrektion, Z die Zeitgleichung, so giebt
die wahre Zeit der Beobachtung, wobei die Stunden von
*) Näheres hierüber siehe in Kopp es mathematischer Geo-
graphie, auch Kohlrauschs Leitfaden der praktischen Physik,
wo auch eine Tabelle der Zeitgleichung zu finden ist.
Aaleltnng zur deutschen Landes- und Volksforschuug. 7
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98 ^<^ Eschenhagen,
0 — 24 durchgezählt werden müssen. Der durch Multipli-
kation von Tmit 15 abgeleitete westliche Stunden winkel der
Sonne heiße t^ bezeichnet dann noch f die geographische
Breite des Beobachtungsortes (aus der Karte zu entnehmen)»
8 die Deklination der Sonne (diese wie die Zeitgleichung
für Beobachtungstag und Stunde erfährt man am einfach-
sten von einer Sternwarte, wenn man kein astronomisches
Ealendarium besitzt), so berechnet man das Azimut a
der Sonne nach der Formel:
sin t
taa = ■ — 5 : -.
° cos f tg 0 — sm f cos t
Man erhält den Winkel, welchen die durch Sonne und
Zenit des Beobachtungsortes gelegte vertikale Ebene mit
der astronomischen Nordrichtung bildet, durch Subtraktion
von 360^ also das von Nord über Ost gezählte Azimut
der Sonne.
Es ist begreiflich, dais zu derartigen Beobachtungen
ein nicht unbedeutendes Maß von Genauigkeit sowohl
hinsichtlich der Beobachtungsmethoden als der zu be-
nutzenden Instrumente gehört, im Fall eine grol3e Ge-
nauigkeit im Resultat erzielt werden soll. Auch hier
spielen größere oder geringere Instrumentalfehler keine
unwichtige Rolle. Für die vorliegenden Zwecke, für welche
nur einfachere Hilfsmittel als zur Verfügung stehend ge-
dacht werden, müssen wir uns auf das hiermit erreichbare
beschränken. Als günstigste Beobachtungszeit empfiehlt
es sich, eine Tageszeit zu benutzen, zu der die Sonne
möglichst im Osten oder Westen oder doch möglichst niedrig
über dem Horizont steht, alsdann haben sowohl ein Fehler
in der notierten ührzeit wie auch etwaige Instrumental-
fehler den geringsten Einfluß. Man wird sich, um die
Genauigkeit zu erhöhen, niemals mit einer Beobachtung
begnügen, sondern dieselbe mehrfach wiederholen müssen.
3. Beobachtung terrestrischer Gegenstände.
Die Verbindungslinie je zweier Punkte der Erdober-
fläche, die der Lage nach gegeben sind, ist damit in ihrer
Richtung zum astronomischen Meridian bestimmt, der
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£rdinagnetifimu8. 99
durch einen ihrer Endpunkte geht; zu derartigen fest be*
stimmten Punkten werden bei der Landesvermessung
namentlich Kirchtürme gewählt, deren geographische Lage
durch Länge und Breite, oder deren Abstände, Koordi-
naten genannt, Ton zwei festen, von einem Anfangspunkte .
ausgehenden Achsen genau ermittelt werden. Derartige
Messungen sind, wie in allen zivilisierten Ländern, so
auch in Deutschland ausgeführt, wenn auch noch nicht
abgeschlossen. Kennt man die Lage von drei festgelegten
Punkten, so kann (im allgemeinen) die Lage eines jeden
vierten Punktes durch Rechnung ermittelt werden, wenn
man die Winkel mi&t, welche die Richtungslinien, die
vom vierten Punkte nach den drei ersteren gezogen wer-
den, einschließen; außerdem ergiebt die weitere Rechnung
das Azimut dieser Richtungslinien gegen den astronomi-
schen Meridian, der durch den vierten Punkt geht, das
heißt die Winkel, welche dieser Meridian mit den drei
Richtungslinien bildet. Näheres über diese Rechnungen
findet man in „Jordans Taschenbuch der praktischen Geo-
metrie'^, die Koordinaten erhält man von dem Bureau der
bezüglichen Landesaufnahme. Es erfordert das Verfahren
keinerlei astronomische Beobachtungen, und es können
die erforderlichen drei Winkel — bei entsprechender Ge-
nauigkeit — auch mit verhältnismäßig einfachen Mitteln
gemessen werden. Die Rechnung (Pothenotsche Aufgabe)
ist indes etwas umständlicher als die bei den beschriebenen
anderen Methoden. Sicherer als andere Methoden ist die-
selbe, wenn alle eingestellten (gepeilten) Objekte ungefähr
in gleicher Höhe oder sehr weit entfernt liegen. Hat man
die Absiqht, einen festen Beobachtungspunkt beizubehal-
ten, so ist die Einstellung terrestrischer Gegenstände, die
als Miren dienen, besonders bequem. Die Azimute dieser
Miren, deren man womöglich drei gleichmäßig im Um-
kreis verteilte wählen kann, werden ein für allemal be-
stimmt — entweder durch Rechnung, wie angedeutet,
oder auch durch astronomische Beobachtungen nach 1.
und 2. Alsdann ist man in der Lage, nur durch die
Einstellung jener Objekte, zu denen man möglichst ent-
fernte Kirchturmspitzen wählt, eine schnelle Bestimmung
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100 ^^^ Eschenhagen,
des astronomischen Meridians zu erhalten. Man ist aller-
dings dabei auf den bestimmten — möglichst genau stets
wieder zu wählenden — Beobachtungsplatz angewiesen,
für welchen die Azimute der Richtungswinkel einmal be-
rechnet sind.
Nach den vorstehenden Erörterungen über die Auf-
findung des magnetischen wie des astronomischen Meri-
dians ist man nunmehr imstande, als Differenz beider
Richtungen die Deklination oder Mißweisung der Magnet-
nadel zu ermitteln. Um hierbei Rechenfehler zu ver-
meiden, muß man sich an eine bestimmte Zählung der
astronomischen Azimute gewöhnen. Unter solchen ver-
steht man die Winkel, die irgend welche, von einem
Orte ausgehenden Richtungslinien mit dem astronomischen
Meridian dieses Ortes bilden, sämtlich gemessen in der
Horizontalebene. Man zählt sie bei Deklinationsbestim-
mungen zweckmäßig von der Nordrichtung ausgehend im
Kreis herum über Ost nach Süd und West, von 0 bis
360^. Folgerichtig würde man daher auch den Dekli-
nationswinkel in dieser Weise zählen müssen, also eine
östliche Deklination von 350^ statt einer westlichen von
10® in Deutschland erhalten, doch hat man hier der
Einfachheit wegen den kleineren Winkel vorgezogen.
Horizontalintensität.
Vollständige Bestimmungen der Horizontalintensität
nach absolutem Maß erfordern nicht allein sehr genaue
Instrumente, sondern mehr noch geübte . Beobachter;
handelt es sich dagegen um Reisebeobach.tungen,
so können schon mit einfacheren Hilfsmitteln ganz brauch-
bare Resultate erzielt werden, wenn man sich nämlich
mit relativen Bestimmungen (siehe Einleitung) begnügt.
Man beschränkt sich in diesem Falle darauf, nur die
Größe der Horizontalkomponente in ihrem Verhältnis zu
einem bestimmten (Ausgangs-) Orte zu beobachten, für
welchen dieselbe durch genauere Meßinstrumente ermittelt
ist. Die Mittel hierzu werden wir im folgenden näher
kennen lernen.
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Erdmagnetismus. 101
Es war darauf aufmerksam gemacht worden, daß
eine horizontal schwingende Magnetnadel gleich einem
Pendel um ihre Ruhelage Schwingungen ausführte; die
Kraft, welche sie in dieselbe zurückzuführen strebte, ist
die Horizontalintensität; je größer dieselbe ist, desto
schneller werden die Schwingungen einander folgen, desto
kürzer ist die Dauer eines Hin- und Herganges der Nadel.
Aehnliches findet statt, wenn die Nadel ein größeres oder
kleineres magnetisches Moment besitzt. Hierunter
versteht man das für die Femwirkung des Magneten
wesentliche Produkt aus dem Magnetismus eines Stabes
in die halbe Länge desselben. Man bezeichnet es ge-
wöhnlich mit M. Es ist veränderlich mit der Tempera-
tur und auch mit der Zeit; kein Magnet behält notwendig
sein magnetisches Moment in dauernd gleicher Größe.
Bezeichnet man mit T die Schwingungsdauer der Nadel,
das heißt die Dauer von einem Durchgange derselben durch
die Mittellage bis zum nächsten darauffolgenden (also
eigentlich einer halben Schwingung), ferner K das Träg-
heitsmoment der Nadel, eine Größe, die wesentlich von
den Dimensionen wie dem Gewicht derselben abhängt,
und 7c die bekannte Zahl 3,i4irt, so gilt für kleine
Schwingungen die Formel:
aus der die Horizontalkomponente H gefunden werden
kann, wenn bei bekannten K und M die Größe von T
bestimmt wird. Nimmt man an, daß sich K und M
nicht ändern, wenn man von einem Ort zum anderen
übergeht, und beobachtet am letzteren eine Schwingungs-
dauer Tj, so ergiebt sich die zugehörige Horizontalinten-
sität wiederum nach der Formel:
Es ist ersichtlich, daß die Kenntnis von M und K nicht
erforderlich ist, um aus der Schwingungsdauer T an einem
Orte von bekannter Horizontalintensität H die Inten-
sität an einem anderen Orte zu ermitteln; man erhält
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102 Max Eschenhagen,
nach Bestimmung der Schwingungsdauer T^ an dem zu
untersuchenden Orte die dortige Horizontalintensität H^
nach der Formel:
rr IT -^
-"l — -" • JT 2'
welche durch Division der beiden obigen Gleichungen
abzuleiten ist.
Streng genommen ändern sich aber jene beiden Größen
K und il/, auch wenn Beschädigungen der Nadel und
Berührung mit Eisen ausgeschlossen sind, etwas mit der
Temperatur, doch sind diese Aenderungen nur von Be-
tracht, wenn feinere Instrumente zur Verfügung stehen,
sie können daher hier außer Betracht gelassen werden *).
Um nun die Dauer eines Hin- und Herganges einer
Magnetnadel zu bestimmen, wird dieselbe horizontal an
einem Kokonfaden aufgehängt, am besten in einem höl-
zernen Kasten, der sie vor Luftzug schützt und der am
Boden unterhalb der Spitze eine Grad- oder auch nur
eine Millimeterteilung besitzt. Oben ist er mit einer
Glasplatte bedeckt, die eine vertikale Röhre, die Sus-
pensionsröhre, trägt, in deren oberem Ende der Faden
an einem Haken befestigt ist. Nachdem man den Mag-
net, der am besten einen kleinen Haken in der Mitte
besitzt, eingehängt hat, läßt man ihn ganz zur Ruhe
kommen, so daß eines seiner spitzen Enden auf einen
bestimmten mittleren Teilstrich zeigt. Lenkt man nun
den Magnet durch Annäherung eines eisernen, sogleich
wieder zu entfernenden Gegenstandes bis zu einem
bestimmten Teilstriche (ungefähr 20®) ab, so beginnt er
hin und her zu schwingen, bis er endlich nach circa
15 Minuten wieder zur Ruhe konmit. Diese Zeit benutzt
man, um die Dauer einer größeren Anzahl von Schwin-
gungen, z. B. 50 oder 100, zu bestimmen, indem man
z. B. am einfachsten einem zweiten die Uhrzeit möglichst
genau notierenden Beobachter ein Zeichen giebt, zuerst
bei Beginn des als 0 anzunehmenden Durchgangs durch
') Siehe darüber: Liznars Anleitung.
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Erdmagnetismus . 103
die Mittellage, zählt dann die Durchgänge fortlaufend
und giebt beim hundertsten abermals einen Zuruf, worauf
der zweite Beobachter wiederum die Zeit notiert. Man
wiederholt diese Bestimmung womöglich mehrmals, um
desto sicherer den Wert einer Schwingung zu erhalten, muß
aber jedesmal die Nadel wieder um den gleichen Winkel
aus der Ruhelage ablenken. Beobachtet man in derselben
Weise und mit genau gleichen Hilfsmitteln an einem an-
deren Orte die Schwingungsdauer, so kann man unter der
Voraussetzung, daß der Magnet seinen Magnetismus nicht
geändert hat, das Verhältnis der Horizontalintensitäten
beider Orte nach der oben angegebenen Formel finden.
Will man größere Genauigkeit erzielen, wozu in erster
Linie eine gute Uhr mit deutlich hörbaren Schlägen, also
womöglich ein Chronometer, welches halbe Sekunden
schlägt, gehört, so zählt man die Sekunden stets mit und
notiert die Zeit einer Reihe von Durchgängen durch die
Mittellage, und nachdem 100 Schwingungen vorüber, eine
gleiche Reihe. Da dies Verfahren schon größere Uebung
erfordert, so mag es bei dieser Andeutung sein Bewenden
haben. Man kann natürlich auch die Schwingungen einer
auf einer Spitze schwingenden Nadel beobachten, da hier
aber wegen der Reibung die Nadel eher zur Ruhe kommt,
ist die Beobachtung meist nicht sehr zuverlässig.
Es mag noch erwähnt sein, daß durch Schwingungs-
beobachtungen, wie die hier geschilderten in der Zeit,
wo man anfing, den Erscheinimgen des Erdmagnetismus
größeres Interesse zuzuwenden (Anfang dieses Jahrhun-
derts), ausschließlich die Intensitätsmessungen vorgenom-
men wurden. Jetzt verwendet man neben jener eine
zweite Art, nämlich die Methode der Ablenkungen.
Beide Beobachtungsarten zusammen sind zu einer abso-
luten Messung erforderlich, jede für sich kann dazu dienen,
relative Werte zu erhalten.
Wird eine horizontal drehbare Nadel ns (Fig. 7) um
einen Winkel, den wir mit dem Buchstaben (p bezeichnen
woUen, aus dem magnetischen Meridian abgelenkt, so be-
strebt sich die Kraft der Horizontalkomponente jÖ, die
Nadel wieder in den Meridian zurückzuziehen; zerlegen
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104
Max Eschenhagen,
Flg. 7.
I
wir diese Kraft in zwei Komponenten in der Richtung
der Nadel und senkrecht dazu, so kommt nur die letztere
zur Geltung, die, wie aus der Figur ersichtlich, die Größe
// sin ^ besitzt. Derartige Ablenkungen
bringt man durch einen zweiten Magnet
hervor, der in einer bestimmten Ent-
fernung niedergelegt wird. Man unter-
scheidet hierbei vier sog. Hauptlagen, von
denen die beiden ersten von Gauß, die
beiden letzten von dem Münchener Astro-
nomen Lamont eingeführt sind. Nach
Gauß legt man den Magneten (so wollen
wir hinfort stets die Ablenkungsmagneten
nennen, während unter „Nadel* immer die
abgelenkte Nadel verstanden werden soll)
östlich oder westlich von der Nadel, in ost-
westlicher Richtung, also senkrecht auf
dem magnetischen Meridian, nieder, so
daß seine Verlängerung durch das Zentrum
der Nadel geht (I. Hauptlage siehe Fig. 8a),
oder aber der Magnet befindet sich gleich-
falls in ostwestlicher Richtung, aber nördlich oder süd-
lich von der Nadel, mit seinem Zentrum im Meridian
(II. Hauptlage Fig. 8 b).
Nach Lamont liegt der Magnet östlich oder west-
lich von der Nadel, aber er bildet mit derselben stets
einen rechten Winkel, seine Verlängerung geht durch das
Zentrum der Nadel (III. Hauptlage Fig. 8 c), endlich liegt
er nördlich oder südlich von der Nadel, deren Verlängerung
durch sein Zentrum geht, beider Richtungen stehen
rechtwinklig aufeinander (IV. Hauptlage Fig. 8d).
Für die Praxis ist am zweckmäßigsten die Lage UI,
die allen anderen vorzuziehen ist, weil bei ihr, ohne die
theoretische Behandlung zu erschweren, die größten Ab-
lenkungswinkel (und damit größere Genauigkeit) erzielt
werden können. Wir werden uns im weiteren nur mit
dieser beschäftigen.
Der ablenkende Magnet dreht die Nadel aus dem
Meridian, wir sagen, er übt ein Drehungsmoment aus,
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Erdmagnetismus.
105
dessen Größe teils von seinem eigenen magnetischen Mo-
ment abhängt, teils aber •von seiner Entfernung. Die
Wirkung ist schwächer bei kleinem Moment und großer
Entfernung, stärker bei großem Moment und kleiner Ent-
fernung. Nennen wir letztere e, das magnetische Moment
Fig. 8.
b.
^
d.
W
\
A/, so gilt als Bedingung des Gleichgewichts zwischen
ablenkender Kraft und der entgegenwirkenden Anziehungs-
kraft des Erdmagnetismus die Gleichung:
M \_ e^ sin^
H~2 k '
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106 ^äx Eschenhagen,
worin k eine Oröße ist, die hauptsächlich von den Längen
des Magnets und der Nadel abhängt und die wesent-
lich als konstant angenommen werden kann. Es ist er-
sichtlich, daß obige Formel genügt, H zu finden, wenn
außer k noch e und M bekannt sind; ^ dagegen beob-
2Mk
achtet wird. Setzen wir — 5— = C, so ergiebt sich:
n
H =
sm f
Beobachtet man also an einem Orte mit bekannter Hori-
zontalintensität IIq den Ablenkungswinkel ^q, so ist man
imstande, an jedem anderen Orte, wenn man genau in
gleicher Weise einen Winkel <Pi beobachtet, die zuge-
hörige Intensität iT^ abzuleiten, man erhält offenbar, da
C'= Uq sin fo gesetzt werden kann:
^' ^' sin 9i •
Eine wesentliche Voraussetzung ist hier wiederum,
daß das magnetische Moment stets ungeändert
bleibt; hiervon hat man sich durch Beobachtungen vor
Ausgang und nach der Rückkehr an der Basisstation zu
überzeugen, um sich von dieser Bedingung zu befreien,
die auch bei großer Vorsicht meist nicht vollständig zu
erfüllen ist, ist man nach Gauß' Vorgang dahin gekom-
men, Ablenkungen und Schwingungsbeobachtungen zu
kombinieren und damit das magnetische Moment ganz aus
der Formel zur Berechnung der Horizontalintensität zu
eliminieren. Es wird der Magnet, der als ablenkender
Magnet gedient hat, aufgehangen und seine Schwingungs-
dauer bestimmt; aus den beiden Formeln: MH = -^
und jY = e^ — jT-^ folgt durch Division und Wurzelaus-
ziehen :
//=,^i
2Kk
T\ sin ^
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Erdmagnetismus. 107
Die erste Gröüe pflegt man für ein bestimmtes Be-
obachtungsinstrument ein für allemal zu bestimmen und
nennt sie die Konstante des Instruments. Sie er-
fordert jedoch eine Kontrolle in größeren Zwischenräumen,
was bei kleineren Instrumenten am zweckmäßigsten in
einem größeren erdmagnetischen Observatorium durch Ver-
gleich mit den dortigen Instrumenten geschieht. Näher
auf diese Bestimmungen einzugehen, erlaubt der knapp
bemessene Raum nicht. (Man sehe Liznars Anleitung
zur Bestimmung der erdmagnetischen Elemente.)
Inklination.
Die Beobachtungen der Inklination geschehen am
einfachsten mit Hilfe einer in einer vertikalen Ebene
schwingenden Inklinationsnadel, die mit einer durch ihren
Schwerpunkt gehenden Achse auf zwei glatten, mög-
lichst wenig Reibung darbietenden, horizontalen Achat-
lagern aufliegt und deren zugespitzte Enden dicht vor
einer vertikal stehenden Kreisteilung sich befinden.
Eine solche Nadel würde sich genau in die Richtung
der Inklination stellen, wenn ihr Schwerpunkt genau
in der Drehachse läge und wenn ihre magnetische
Achse durch den Schwerpunkt und die spitzen Enden
ginge. Endlich wird vorausgesetzt, daß die magnetische
Achse bei der Drehung im magnetischen Meridian bleibt,
und daß die Reibung der Achse auf den Lagern keine
Störung verursacht. Für die Ablesung der Größe der
Neigung an dem geteilten Kreise ist es weiterhin wesent-
lich, daß jener Kreis gleichfalls im magnetischen Meri-
dian sich befindet, daß die Drehachse der Nadel genau
im Zentrum sei, daß die Verbindungslinie des obersten
und untersten Teilstriches, die beide mit 90^ bezeichnet
werden, genau senkrecht stehe. (Der Teilstrich 0 befindet
sich beiderseits in horizontaler Linie.) Alle diese Be-
dingungen sind nur genähert zu erftillen; die wesentlichen,
durch Nichterfüllung derselben entstehenden Fehler wer-
den durch das Beobachtungsverfahren bis zu einem ge-
wissen Grade ausgeglichen. Dasselbe ist aus dem bei
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108 Max Eschenhagen,
der unten folgenden Beschreibung des Instruments ge-
gebenen Beobachtungsschema ersichtlich. Die Reibung
der Achsen auf den Lagern kaon auch durch die pein-
lichste Säuberung nicht vermieden werden, man nimmt
deshalb mehrere Ablesungen der Stellung der Nadel an
dem dahinter liegenden Kreise vor, zwischen welchen man
das Instrument ganz leise erschüttert oder die Nadel
durch Aufheben in leicht schwingende Bewegung setzt.
Bei allen derartigen Ablesungen der Stellung einer
Magnetnadelspitze vor oder über einem Kreise kommt es,
da die Nadel immer etwas entfernt vom Kreise bleiben
muß, darauf an, mit dem Auge senkrecht gegen die Kreis-
teilung über die Spitze zu visieren; man erreicht dies,
wenn entweder die Teilung selbst auf Spiegelglas ist oder
doch davor sich befindet. Man erblickt dann die Pupille
seines Auges gespiegelt, und muß dann so visieren, daß
dieselbe von der Nadelspitze halbiert wird. Nötigenfalls
kann man hierzu auch das Deckglas vor der Nadel ver-
wenden.
Die Schwierigkeiten, in der beschriebenen Weise gute
Resultate zu erhalten, sind nicht unbeträchtlich; sie waren
Veranlassung, daß ein indirektes Verfahren eingeschlagen
wurde, um die Größe der Vertikalkraft; des Erdinagnetis-
mus zu bestimmen.
Hält man einen Stab von unmagnetischem, sog«
weichem Eisen in die Richtung der erdmagnetischen In-
klination, so wird derselbe zu einem Magneten, dessen
Nordpol unten, dessen Südpol oben ist; man sagt, der
Erdmagnetismus induziert in ihm einen Magneten. Die
Stärke oder das magnetische Moment desselben ist in
obigem Falle proportional der Totalkraft, die in der Rich-
tung der Inklination wirkt. Hält man den Stab vertikal,
so induziert die Vertikalkraft. Lenkt man mit dem Stabe
irgend eine Magnetnadel ab, so giebt die Größe der Ab-
lenkung ein Maß für die Stärke des Stabes und mithin
für die Stärke der induzierenden Kraft. Genauer gestaltet
sich die Sache folgendermaßen.
Das magnetische Moment des vertikalen Stabes ist
proportional der Vertikalintensität F, es sei a . F, mit diesem
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Erdmagnetismus. 109
lenkt er die Nadel um einen Winkel ^ ab, dem entgegen
wirkt die Kraft H sin ^ der horizontalen Komponente.
Wir setzen folglich:
a. F= //.sin t|)
V
und erhalten, da -yj- = tg i, die Inklination i nach der
Formel :
ig i = — sin ^ = -4 sin ([>.
Die konstante Größe A = — ist theoretisch schwierig
bestimmbar, praktisch benutzt man zur Berechnung die
anderweit bekannte Inklination einer festen Station ; die-
selbe sei iß, der entsprechende Ablenkungswinkel sei ^^^
tcr i ,
so ist A = -. -r, und wir erhalten dann die Inklination
sm^^o
an einem Orte, wo mit dem gleichen Apparate in der
gleichen Weise der Winkel <]>i beobachtet wird, die zu-
gehörige Inklination i^ nach der Formel:
® ^ sm ^0
Wiewohl das Verfahren einige theoretische Bedenken
gegen sich hat, so sind doch die Resultate, die auf Reisen
von namhaften Gelehrten erhalten wurden, so günstige
und dabei ist das Beobachtungsverfahren ein so bequemes,
daß dasselbe nicht ohne zwingende Gründe verlassen
werden kann.
Da die Induktion des Magnetismus im Eisen Zeit
gebraucht, so muß man, sobald man den Stab in die
vertikale Lage gebracht hat, stets eine gewisse gleiche
Zeit, etwa 5 Minuten, warten, ehe man die Ablenkung
der Nadel abliest. Auch die Temperatur ist nicht ohne
Einfluß. Näheres über das Instrument findet man in der
erwähnten Kr eil sehen Abhandlung.
Wir verlassen nun die allgemeine Darstellung der
Beobachtungsmethoden und wenden uns der Beschreibung
einiger Instrumente zu, bei deren Auswahl nicht der
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110 Max £8cheiihageii,
Gesichtspunkt maßgebend wax, etwas Vollständiges zu
bieten, sondern in dem beschränkten Rahmen dieser An-
leitung ein möglichst einfaches und doch brauchbares und
dabei billiges Instrument zu beschreiben, dessen Hand-
habung leicht zu erlernen ist und das beispielsweise ohne
Schwierigkeit fOr das physikalische Kabinett einer Schule
beschafft werden kann; praktische Beobachtungsbeispiele
sollen der Beschreibung als Ergänzung dienen. Weiter-
hin wird eines komplizierten Reiseinstruments Erwähnung
gethan, das nach den Angaben des Direktors der deutschen
Seewarte, Dr. Neumayer, gefertigt worden ist.
Ya Instrumente.
1. Der Azimntalkompaß.
(Mit Abbildung Fig. 9.)
Dies Instrument, welches in erster Linie zur Beob-
achtung der Deklination bestimmt ist, besteht in der ein-
fachsten Gestalt aus folgenden Teilen: Eine von drei Puß-
schrauben {F) getragene Messingplatte ist in der Mitte
durchbohrt zur Aufaahme eines Zapfens, der unten an einem
runden, mit einer Glasplatte bedeckten Messingkasten {GG)
sitzt und mittelst dessen sich derselbe auf der unteren Platte
drehen kann. In der Mitte des Kastens sitzt auf der Pinne
mittelst eines Hütchens die an beiden Enden zugespitzte
Magnetnadel, die durch einen von außen wirkenden Hebel
(//) zur Schonung der Spitze aufgehoben und gegen die
Glasplatte gedrückt werden kann. Die Spitzen der Nadel
bewegen sich ziemlich dicht über einer Kreisteilung, so
daß ihre Stellung von oben her mit freiem Auge abge-
lesen werden kann. Um gut zu visieren, hält man das
Auge möglichst senkrecht über der Nadelspitze, so daß
die im oberen Deckglas gespiegelte Pupille des Auges
von der Nadel halbiert wird. An zwei genau gegenüber-
liegenden Stellen des Gehäuses GG ist das Diopter, be-
stehend aus der Platte D mit einem engen vertikalen
Spalt und dem Rahmen D', der in der Mitte einen ver-
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Erdmagnetismus.
lll
tikalen Faden trägt. Die Visierebene, die durch Spalt
und Faden gebildet wird, soll vertikal sein und durch die
Mitte des Kreises gehen, die wieder mit der Pinne zu-
Flg. 9.
A zimutalkompaß.
(2/3 der natürlichen Qrdfse.)
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112 Max Eschenhagen,
sammenfallen soll. Au&erdem soll die Yerbinduugslinie
der beiden Punkte 0 und 180^ der Kreisteilung in diese
Ebene fallen. Eine verschiebbare Hülse B mit Blendglas
an der Visierplatte ist bei Sonnenbeobachtungen vorzu-
schieben. Der Faden ist so hoch geführt, daß bei etwas
schräg nach innen geklapptem Rahmen noch der Polstern
bei 55^ Höhe beobachtet werden kann. Das drehbare
Gehäuse kann durch Anziehen der Schraube der Klemme
K an der Fußplatte festgestellt werden. Die Visiere
werden beim Verpacken nach innen geklappt.
Das Instrument wird zur Beobachtung genau hori-
zontal gestellt durch Drehen der Fußschrauben, bis eine
in die Mitte der Glasplatte gesetzte Dosenlibelle auch
beim Drehen des Gehäuses einspielt. Die Vertikalstellung
der Visierebene kann auch kontrolliert werden durch
Visieren nach einem in genügender Entfernung frei auf-
gehängten Senkel, dessen Faden sich mit dem Faden im
Rahmen zur Deckung bringen lassen muß.
Ein geschickter Mechaniker, der auf Kompaßher-
stellung geübt ist, vermag diese Vertikalstellung, wie die
anderen obigen Bedingungen ziemlich genau zu erfüllen.
Trotzdem wird es immer erforderlich sein, zur Kontrolle
die mit dem Instrument erhaltenen Werte mit solchen
eines anderen Instrumentes zu vergleichen; zu dem Zwecke
wird es am besten einem erdmagnetischen Observatorium
übersandt, welches derartige Verifikationen ausführt in
der Weise, wie z. B. meteorologische und nautische In-
strumente (Thermometer, Sextanten) von der Deutschen
Seewarte geprüft werden. Bei einer solchen Prüfung
muß konstatiert werden, ob der Nullpunkt der Teilimg,
wie oben erläutert, in die Visierebene fällt und ob die
Nadel frei von einem KoUimationsfehler ist, das heißt ob
die magnetische Achse der Nadel in die Verbindungslinie
der beiden Spitzen fällt.
Die hier beschriebene Einrichtung des Kompasses ist
die für besagte Zwecke denkbar einfachste; das Instru-
ment wird einschließlich der noch zu besehreibenden Ab-
lenkungsschiene von G. Hechelmann zu Hamburg in
solider und guter Ausführung zum Preise von 70 Mark
Digitized by VjOOQ IC
Erdmagnetismus. 113
geliefert. Eine größere VoUkommenheit erlangt dasselbe,
wenn statt des Diopters ein Fernrohr vorhanden ist, ferner
wenn die Ereisteilung außen am Gehäuse angebracht und die
Stellung desselben an festen Nonien abgelesen werden kann.
Die erwähnte Ablenkungsschiene ist eine Messing-
rohre, die an einem Ende ein Schraubengewinde, am
anderen (eingeschlossen) einen Magneten trägt. Man kann
dieselbe bei S an das Oehäuse fest anschrauben, wodurch
die Nadel abgelenkt wird.
Zur Beobachtung der Deklination wird das Instru-
ment auf ein Stativ, Holz- oder Steinsockel gestellt, die
Diopter aufgeklappt, die Dosenlibelle mitten auf die Glas-
platte gesetzt und durch Drehen zweier Fußschrauben die
Blase der Libelle zunächst zwischen die beiden Schrauben
gebracht, sodann dreht man die dritte Fußschraube, bis
die Blase in die Mitte läuft. Jetzt löst man die Klemme
K und kontrolliert, ob bei Drehungen des Gehäuses die
Blase in der Mitte verbleibt; nötigenfalls muß man eine
genäherte Lage herstellen oder die Stellung der Glasplatte
korrigieren. Die Nadel hat man bereits durch Drehen
des Hebels H frei gemacht, so daß sie inzwischen zur
Ruhe gekommen ist. Jetzt visiert, oder wie der Seefahrer
sagt, peilt man mittelst des Diopters (durch Drehen des
Gehäuses) nach dem Objekt, welches beobachtet werden
soll, dem Polstern, der Sonne oder entfernten Kirchtürmen,
wie oben beschrieben wurde, und notiert die Zeit, bei
Sonnenbeobachtungen auf Sekunden, sonst aber immer
auf ganze Minuten. Das gepeilte Objekt, z. B. die Sonne,
muß durch den Faden des Diopters halbiert werden.
Nunmehr wird die Stellung der Nadel an beiden Spitzen
auf Zehntel Grade genau abgelesen, nachdem man sich
vorher überzeugt hat, daß die Nadel bei kleinen Er-
schütterungen (wie Kratzen mit dem Fingernagel an der
IQemmschraube) ihre Stellung beibehält. Sodann wieder-
holt man die Peilungen mehrmals, ebenso die Ablesungen
der zuvor in Bewegung gesetzten und von neuem zur
Ruhe gekommenen Nadel, und notiert alles wie in dem
unten folgenden Beispiele, welches auch die Anordnung
der weiteren Rechnung zeigt.
Anleltang zur dentschen Landes- und VolkBforachnng. 8
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114 Max Eschenhagen,
Um eine relative Intensitätsbestimmung vor-
zunehmen, schraubt man die Schiene bei S an und dreht
nun das Gehäuse, bis die Nadel mit den Spitzen auf 0**
resp. 180^ steht. Dann zieht man die Klemmschraube
an, schraubt die Schiene wieder ab und entfernt sie.
Jetzt kehrt die Nadel in den Meridian zurück; nachdem
sie zur Ruhe gekommen, liest man die Stellung der
Spitzen ab, wodurch man direkt' den Ablenkungswinkel
erhält. Man dreht dann das Gehäuse um etwa 180 ^
schraubt die Schiene von neuem an, die nunmehr die
Nadel nach der anderen Seite ablenkt. Man dreht wie-
der das Gehäuse nach, bis die Spitzen auf 0^ resp. 180^
stehen und verfährt wie vorhin. Man kann das Verfahren
in jeder Stellung, also Schiene Ost bezw. West von der
Nadel zweimal wiederholen und nimmt aus den vier Wer-
ten des Ablenkungswinkels das Mittel (siehe Beispiel).
Will man den Kompaß zu einer relativen Inkli-
nationsbestimmung benutzen, so würde man statt
der Schiene am besten beiderseits zwei gleich große Eisen-
stäbe (s. Fig. 12) in vertikaler — durch ein Senkel kon-
trollierter — Stellung vermittelst besonderer Hülsen (die
in der Zeichnung nicht vorhanden) zu befestigen haben.
Man ninmit an, daß die im Stabe entstehenden Pole
etwa V^s der Gesamtlänge des Stabes von den Enden
entfernt sind, muß also dafür sorgen, daß diese mar-
kierte Stelle stets auf eine Höhe mit der abgelenkten
Nadel kommt. Ein Eisenstab wirkt mit dem unteren
(Nord-), der andere mit dem oberen (Süd-) Ende. Da
jeder Eisenstab etwas permanenten Magnetismus enthält,
der den induzierten Magnetismus verstärken oder schwächen
kann, je nachdem das eine oder das andere Ende des
Stabes nach unten gehalten wird, so muß dessen Wirkung
eliminiert werden. Man mißt also die entstehende Ab-
lenkung in ähnlicher Weise wie oben mit der Schiene ein-
mal, wenn die z. B. mit A bezeichneten Enden der Stäbe
unten sind, also zum Nordpol werden, während die anderen
Enden B (Südpol) auf der Höhe der Nadel sich befinden.
Jetzt bringt man B an Stelle von A und B nach unten;
in der Sunmie beider Wirkungen fällt dieser Einfluß des
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Erdmagnetismus. 115
permanenten Magnetismus heraus. Man mißt den Ab-
lenkungswinkel im übrigen wie bei Ablenkungen mit der
Schiene, kann aber die Einstellungen dadurch vervielfälti-
gen, daß man beispielsweise den unteren Pol A auf die
Höhe der Nadel bringt und schließlich auch ähnlich wie
bei der Schiene die Stäbe auf die andere Seite des Meri-
dians bringt, im ganzen also acht Einstellungen vornimmt ;
jedesmal hat man aber darauf zu achten, daß der Stab
5 Minuten in seiner Stellung war, ehe man die Stellung
der Nadel abliest. Die Schwierigkeit des ganzen Verfahrens
beruht darin, den Einfluß der Induktionskraft theoretisch
sicher in Rechnung zu ziehen; man hat deshalb statt
dieser Methode die Inklinationsbestimmung mittelst Nadel-
inklinatoriums (siehe unten) meist vorgezogen.
Beispiel.
Bestlmniiing der Deklination nndHorlzontallntensItftt
mit einem Hechelmann sehen Azimutalkompaß.
Wilhelmshaven, 1888 Januar 28.
Beobachtungspunkt: Benutzte Uhr: Beobachter:
Pfeiler im westlichen Turm Chronometer fischenhagen.
des Observatoriums. Knoblich 1839.
I. DeUinationsbestiminiing.
1. Sonnenpeilungen (es wurde der Faden des Diopters auf
die Sonnenmitte eingestellt, was durch das Zeichen 0 dar-
gestellt wird).
Beob. Uhrzeit: Stellung der Nadel:
Nordspitze Södspitze
© 3^ Qxn 2» p.m. 118,6 0 298,4«
0 3 10 40 118,2 298,0
0 3 12 9 118,0 297,75
0 3 13 30 117,7 297,5
2. Peilungen terrestrischer Objekte (Kirchtürme, durch i
bezeichnet).
Wilhelmshaven S 119,6« 299,2« 3i» 15™ p. m.
Sengwarden ?; 30,o 209,8 3 17
Neuende Ts lh,x 254,» 3 29
Sengwarden t 29,9 209,7 3 30
Wühelmshaven S 119,7 299,3 3 37
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116
Max Escbenhagen,
3. Sonnenpeilungen.
Beob. ührzeit:
0 3i»31«a30«
C) 3 32 55
O 3 34 15
0 3 36 0
Stellung der Nadel:
Nordspitze Südspltze
114,0^
113,6
113,4
113,0
293,5 ^
293,1
293,0
292,6
Berechnung:
a) Sonnenpeilungen.
Die beobachteten Uhrzeiten unter 1 und 2 werden gemittelt,
desgleichen die zugehörigen Einstellungen der Magnetnadel. Von
denen der Südspitze werden 180^ subtrahiert, die erhaltene Zahl
mit der Ablesung der Nordfpitze zum Mittel kombiniert. Man
erhält dann die für die Nordspitze gültige Einstellung.
Die Uhrkorrektion betrug zur Beobachtungszeit . 4-28°^ 6»
Dem nautischen Jahrbuch entnimmt man die Zeit-
gleichung — l^nlO«')
Gesamt . . +14« 56«
Die erhaltene Gesamtkorrektion von 14^^56« muß den beob-
achteten Uhrzeiten zugelegt werden, um wahre Sonnenzeit zu er-
halten. Durch Multiplikation mit 15 erhält man den Stundenwinke]
der Sonne von Süd nach West gerechnet. Die Azimutberechnung
nach der Formel ftlhrt man dann mit fünfstelligen Logarithmen-
tafeln aus. Man erhält:
i»*«K TTh..««i4.. Tr.K.^ •/«*♦ Stunden- Berechn. Azimut Ablesung
Beob. Uhrzelt: Wahre Zelt: ^j^keld.©: der©: d. Nordipltze :
I.Reihe: 3iill°»208 3h26"al68 51*34' iV'228^28'0 118*^ 1'
2. Reihe: 3 33 40 3 48 36 57 9 233 3 113 16
Flg. 10.
Wie aus der beistehenden Fig. 10 ersichtlich, ergiebt sich die
magnetische Deklination, also die Abweichung der Nordspitze der
^) Für die Beobachtungsstunde interpoliert.
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Erdmagnetismus. 117
Nadel vom wahren Norden nach Westen, indem man die Ergänzung
der Summe der beiden Winkel: des Azimuts der Sonne plus Ab-
lesung der Nordspitze zu 360° bildet
360 — (228<>28' + 118<> 1') = 360 ° - 346 <> 29' = 13^31'
360 — (233 3+113 16) = 360 -346 19 = 13 41
Westliche Deklination im Mittel = 13 °"36' um
gh 50m nachmittags (Ortszeit).
b) Terrestrisch« Peilungen.
Die oben bei Einstellungen der Kirchtürme abgelesenen Stel-
lungen der Nadel werden aui' die Nordspitze reduziert und geben
dann den Winkel, den die Richtungslinie nach dem gepeilten Ob-
jekt mit dem magnetischen Meridian einschließt, von ersterer im
Sinne der Kreisteüung (im Sinne des Uhrzeigers) gerechnet. Die
daneben angegebenen anderweit bekannten Azimute dieser Rich-
tungslinien sind die Winkel, welche der astronomische Meridian
über Osten gezählt mit der betreffenden Richtungslinie einschließt.
Die Summe beider Winkel von 360 ** subtrahiert, giebt wiederum die
magnetische westliche Deklination:
Nordspitze: Azimut d. S : p^f^^^^^^^^^^^
Wilhelmshaven J 119<»27' 226^60' 13 U3'
Sengwarden ?> 29 52 316 22 13 46
Neuende i 75 0 271 23 13 37
Mittel 13 U2' für
3*» 53™ mittlere Ortszeit gültig.
Im Mittel aus beiden Beobachtungsmethoden ergiebi sich der
Wert der Deklination zu Wilhelmshaven (auf jenem Beobachtungs-
pfeiler) zu 13 ** 38', welche für das Mittel aller Beobachtungszeiten
3h 52™ gültig anzunehmen ist.
Der Wert gilt unter der Voraussetzung, daß 1) die Visierlinie
durch den Nullpunkt der Teilung geht, was bei einem guten
Kompaß innerhalb enger Grenzen hergestellt werden kann, daß
2) die magnetische Achse der Nadel in die Verbindungslinie der
Spitzen fällt. Die Uebereinstimmunff des obigen Wertes mit dem
durch genauere Instrumente des Observatoriums (13^36') zeigt,
daß jene Fehlerquellen bei dem benutzten Instrument vernach-
lässigt werden können, da bei den Beobachtungen mit dem Kom-
paß eine Sicherheit von 3 — 4' nicht immer verbürgt worden kann,
größer ist aber der Einfluß jener Fehler hier nicht anzunehmen.
Hat man für die genannten Fehler einen größeren Betrag ermittelt,
so ist derselbe noch als Korrektion anzubringen.
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118 Max Eschenbagen,
n. Bestimmung der lEtensität durch AblenknngeiL
1888 Januar 27.
Beobachtungsort: Garten des Observatoriums. Kompaß auf Stativ.
Beobachter: wie oben.
Einstellung der
Nordspitze: Südspitze:
Schiene:
östlich .
. . 0.0 180,0
3»» 30" p. m
Schiene:
entfernt .
. . 89,1 219,1
3 32
Schiene:
westlich .
. . 0,0 180,0
3 34
Schiene:
entfernt .
. . 820,9 141,0
3 36
Es ergiebt sich als Ablenkungswinkel: 39,o8° = 39^5'.
Aus anderweiten Beobachtungen wurde die zur Berechnung
der Intensität erforderliche Konstante C bestimmt zu U240. Hier-
nach erhält man die Horizontalintensität durch die Berechnung:
log H = log 1,1-240 — log sin 39*» 5'. Es ergiebt sich:
H = 0,1783 um 3^ 33"» p. m.
Die Angabe von vier Dezimalstellen genügt bei diesem nur
auf einige Minuten sicheren Ablenkungswinkel.
Temperaturkorrektionen sind vernachlässigt. Die Konstante
C muß bei größeren Beobachtungsreihen vor Abreise und nach der
Rückkehr an der Basisstation bestimmt werden.
2. Der Lamontselie magnetische Bdsetheodolit
nach Dr. Neumayers Angaben gefertigt von Hechel-
mann in Hamburg.
(Mit 2 Abbildungen.)
Zu genaueren Beobachtungen ist vor allem eine ge-
nauere Ablesung der Stellung einer Magnetnadel notwendig,
als man sie von der über der Kreisteilung befindlichen Nadel-
spitze erhält. Bei dem vorliegenden Instrumente ist die
bereits beschriebene Spiegeleinstellung mittelst eines Fem-
rohrs benutzt, das andererseits auch wieder zur Einstel-
lung terrestrischer Objekte, der Sonne u. s. w. dienen kann.
Fig. 11 zeigt das gesamte Instrument, das mittelst
dreier Fufischrauben F auf dem Stativkopf HH ruht.
Diese Schrauben sitzen in einem soliden kreisförmigen
Messingstück SS^ mit demselben ist fest verbunden der
oberhalb befindliche Teller LL mit der verdeckten Kreis-
teilung (in Silber). Der über diesem Kreise befindliche
Teil des Instruments ist vermöge eines in das untere
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Erdmagnetismus.
Fig. 11.
119
Lamonts magnetischer Reiseapparat, für die Beobg-chtung
der Nadel auf Spitzen umgeändert nach Dr. Neumayer.
(3/,Q der natürlichen Gröfse.)
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120 Max Eechenhagen,
Stück hineinragenden konischen Zapfens drehbar, er trägt
in der Mitte den Magnetkasten, dessen oberster Teil bei
K sichtbar ist. Dieser Kasten besitzt (hier fast verdeckt)
in der Richtung des Femrohrs beiderseits Glashülsen,
welche zur Aufnahme des Magnets dienen und beim Ein-
legen und Herausnehmen desselben abgeschraubt werden
müssen. Im Boden des Kastens befindet sich in der Mitte
die Pinne, auf welcher die Nadel mittelst ihres Achat-
hütchens ruht. Dieselbe besteht aus zwei starken Stahl-
lamellen, die fest miteinander verbunden und in der Mitte
durchbohrt sind zur Aufnahme des Hütchens. Damit der
Magnet umgelegt werden kann, kann das Hütchen von
beiden Seiten gebraucht werden; es schiebt sich beim
Auflegen des Magneten in einer Hülse von selbst nach
der oberen Seite. Das eine Ende des Magneten trägt
den vertikalen Spiegel, der mit dem Femrohr eingestellt
werden kann. Letzteres ruht mittelst einer horizontalen
Achse in zwei Lagern MM und kann durch die Schraube
V in Höhe etwas verstellt werden. Die Lager MM sind
durch einen Arm fest mit der mittleren drehbaren Achse
verbunden, so daß Fernrohr und Magnetgehäuse immer
in derselben Lage zu einander bleiben. Der Arm ist der
Fortsatz eines Tellers TT, der beim Drehen des oberen
Teils auf dem unteren Teller LL hingleitet; vermittelst
der am Rande des oberen befindlichen beiderseitigen
Nonien kann durch Lupen U die Stellung des oberen
Teiles, also auch des Femrohrs, auf dem unteren Teil-
kreise abgelesen werden. Festgehalten wird derselbe
durch Anziehen der Schraube P, welche einen Arm GG
am unteren Gestell festklemmt, in den der das Femrohr
tragende Arm vermittelst eines Zapfens Z eingreift. Ver-
mittelst der Schraube TF, die am Zapfen Z angreift, kann
noch eine feine Bewegung hergestellt werden, wobei eine
Feder von G Gegendruck leistet. Das Femrohr 0 hat
hinter dem Okular das Beleuchtungsprisma J9, welches das
von oben einfallende Licht an dem im Brennpunkt des
Okulars befindlichen Faden vorüber nach dem Magnet-
spiegel und von da zurück in das Okular schickt, in dem
dann ein Bild des Fadens <?esehen wird.
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Erdmagnetisinns. 121
Der bisher beschriebene Teil des Instruments ist er-
forderlich zur Bestimmung der absoluten Deklination.
Hierzu wird der Magnetkasten von der Platte, auf deren
einer Seite (also exzentrisch) sich die Femrohrlager befinden,
abgenommen und das Femrohr zunächst zur Bestimmung
des astronomischen Meridians wie beschrieben benutzt.
Man stellt dabei, um zu kontrollieren, daß das Instrument
keine Verschiebungen erleidet, irgend einen entfernten
Gegenstand (Mire) ein, was man zum Schluß wiederholt.
Sodann wird das Magnetgehäuse wieder aufgesetzt und
der Magnet (mittelst Hebelvorrichtung) auf die Spitze ge-
legt, so daß eine z. B. mit A bezeichnete Seite nach oben
kommt, darauf wird die oben beschriebene Einstellung
mittelst Fernrohr vorgenommen; die Magnetnadel wird
nun wieder aufgehoben, umgelegt, so daß Seite Ä nach
unten kommt, und von neuem eingestellt. Das Umlegen
wiederholt man einigemal. Man wird bei einiger Uebung
bald die nötige Sicherheit im Umlegen und Einstellen
erwerben. Bei jeder Einstellung wird die Ablesung der
Nonien notiert, daneben die Uhrzeit (auf Minuten); das
Mittel aus einer gleichen Anzahl von Einstellungen bei A
oben und A unten giebt die Stellung des Femrohrs, in
der seine Achse im magnetischen Meridian liegt. Der
Umstand, daß die Magnetnadel bei diesem Instrument
statt an einem Faden zu hängen, auf einer Spitze mht,
und damit eine Fehlerquelle (Torsion des Fadens), sowie
die Erschütterungen durch Wind bei Beobachtungen auf
Reisen vermieden sind, ist eine wesentliche Verbesserung,
die dasselbe gegenüber der älteren Lamontschen Einrich-
tung als Reiseinstrument besonders brauchbar macht. An
die Deklinationsbestimmung schließt man in der Regel
eine Intensitätsbeobachtung an, indem man die Nadel
im Gehäuse zunächst ablenkt. Hierzu wird auf dem Ge-
häuse eine Schiene aa (Fig. 12) befestigt, auf welche an
den Enden Magnete NN aufgelegt werden können. Derr
artige Magnete sind zwei vorhanden, die beim Transport
in die Kästchen NN Fig. 12 verpackt werden. Man legt
jedesmal einen Magneten auf die am Ende der Schiene
befindliche Befestigungsvorrichtung nacheinander auf beide
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122
Max Eschenhagen,
Flg. 12.
Lamonts magnetischer Reiseapparat, für die Beobachtung
der Nadel auf Spitzen umgeändert nach Dr. Neumajer.
(1,5 der natärlichen Gröfae.)
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Erdmagnetismus. 123
Enden, und ^war je in zwei Lagen, einmal das Nord-
ende, einmal das Südende der freien Nadel zugekehrt.
Bei diesen vier Ablenkungen, von denen zwei die Nadel
östlich, zwei westlich ablenken, wird die Nadel mit
dem Femrohr eingestellt und die Stellung der Nonien
notiert. Aus der Differenz der östlichen und westlichen
Ablenkungen erhält man den doppelten Winkel, um
welchen die Nadel aus dem Meridian abgelenkt wird.
Gewöhnlich stellt man diese Beobachtungen mit zwei
Magneten an und kann damit zugleich eine Deklinations-
bestimmung in der Weise verbinden, daß man nach der Ein-
stellung der Miren etc. folgende Beobachtungsreihe anstellt:
1. Nadel im Meridian: A oben.
2. , , „ A unten.
3. Ablenkungsmgt.I-W^8t; Nordende-Ost j ^^^j Ablenkung.
6. : .. wei : ÄV-*^-^^^«-^-»-
7. Nadel im Meridian: A unten.
8. „ „ n A oben.
9. « ^ „ A oben.
10. ,1 , , A unten.
11. Ablenkungsmgt.II-We8t; Nordende- West j^^^^l^^l^^j^^^
U. ' : . Welt; : ot ) ö«^^- ^^1^°^-^-
15. Nadel im Meridian: A unten.
16. , „ ,. A oben.
Die Mittel der Ablesungen 1—2, 7—10 und 15—16
geben den magnetischen Meridian, während die Ablenkungs-
winkel sich durch Bildung von — — — j bezüglich
13 + 14-11-12 ^^^^^^^ ^.^ ^^^^^^^^ ^^ ^^.
den Ablenkungen jedesmal notiert. Während der Meridian-
ablesungen müssen natürlich die Ablenkungsmagnete ge-
nügend weit entfernt werden.
An diese Ablenkungsbeobachtungen schließen sich
die Schwingungsbeobachtungen, zu welchen der Magnet-
kasten abgenommen und durch den hölzernen Schwingungs-
kasten SS (Fig. 12) ersetzt wird. Der zuletzt zu Ab-
Digitized by VjOOQ IC
}24 Max Eschenhagen,
lenkungen benutzte Magnet II wird an seinem Häkchen
aufgehängt (der Faden muß vorher durch Einhängen
eines gleichen Messinggewichtes austordiert sein) und
man beobachtet die Schwingungen mittelst einer Uhr, wie
bereits oben beschrieben wurde. Hierbei muß die Tem-
peratur und die Größe des Schwingungsbogens notiert
werden, üeber die weitere Berechnung der hiermit voll-
endeten Intensitätsbestimmung, sowie einige größere Ge-
nauigkeit bedingende Methoden muß eine ausführliche
Anleitung nachgesehen werden.
In Fig. 11 ist der Theodolit mit einer Vorrichtung
versehen zur Bestimmung der Inklination durch Ab-
lenkungen vermittelst weicher Eisenstäbe EE, Dieselben
sind an einem Ring BB befestigt (der hintere Stab ist bei
der rechten Fußschraube sichtbar), der auf ein besonderes
am Magnetgehäuse befestigtes Gestell gelegt und dessen
wagrechte Stellung durch eine Libelle iV kontrolliert wer-
den kann. Beide Eisenstäbe mit verschiedenen Polen auf
beiden Seiten der Nadel wirkend, summieren ihre Wirkung,
durch Umlegen derselben mit dem Ring erzielt man eine
Ablenkung der Nadel nach der entgegengesetzten Seite,
und durch gewisse Kombinationen (im ganzen acht) in der
Stellung der Stäbe bestimmt man die Ablenkung, welche
der Größe der induzierenden Wirkung der Vertiktdkompo-
nente proportional ist und aus welcher der Wert der In-
klination, wie bereits gezeigt, berechnet werden kann.
Eine ausführlichere Darlegung aller in Frage kommenden
Verhältnisse ist in Kreils Anleitung gegeben.
Das Ne um ay ersehe Instrument enthält zur Bestim-
mung der Inklination noch ein vollständiges Nadelinkli-
natorium, das an Stelle des Magnetkastens auf den
Theodoliten gesetzt werden kann, dasselbe ist in Fig. 12
JJ zu erkennen; eine der beiden im besonderen Käst-
chen n zu verpackenden Inklinationsnadeln tis zeigt unge-
fähr die Richtung der Inklination an. Außerdem sind zwei
zusammengelegte Streichmagnete S nebst einem Bock bb
zum Auflegen der Nadel beim ümmagnetisieren vorhanden.
Die erste Aufgabe bei einer Inklinationsbestim-
mung mittelst des Nadelinklinatoriums besteht
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Erdmagnetismus. 125
darin, nachdem die Achsen und Spitzen der Nadel durch
Einstecken in HoUundermark vor dem Einlegen, sowie
die Lager mit einem Haarpinsel gesäubert sind, den mag-
netischen Meridian genähert aufzufinden. Man dreht hierzu
das Inklinatorium so lange, bis die Nadel senkrecht (auf
den Teilstrich 90^) sich einstellt, hebt dieselbe durch
Drehen der Schraube f auf, läßt sie wieder herab und
wiederholt die Einstellung, liest dabei die Nonien des
Horizontalkreises ab. Jetzt, hebt man die Nadel wieder
auf, dreht das Inklinatorium um 180^, läßt die Nadel
wieder auf die Lager und sucht wieder die Ablesung des
Horizontalkreises, bei der Stellung der Nadel auf 90^.
Das Mittel aus den beiden Ablesungen giebt die Stellung
des Liklinatoriums, bei welcher die Drehungsachse der
Nadel im mi^etischen Meridian ist. Dreht man nun
um 90^, so befindet sich die Nadel im magnetischen
Meridian, und sie stellt sich beim Herablassen auf die
Lager in die Richtung der Inklination.
Um nun die bereits erwähnten Fehlerquellen unschäd-
lich zu machen, hat man 1) die Nadel in ihrer Stellung
gegen den Kreis (Lagen a und ß), 2) den Kreis in seiner
Lage (östlich oder westlich) zu vertauschen, 3) die Mag-
netnadel umzumagnetisieren (Ende A- resp. J?-Nordpol),
wobei sie ungefähr gleichen Magnetismus wie zuvor er-
halten soll. Hierdurch ergeben sich acht Lagen der Nadel,
in denen stets die Stellung beider Spitzen, und zwar mehr-
mals nach vorhergehendem Aufheben der Nadel und vor-
sichtigem Tupfen oder Kratzen am Gehäuse, abgelesen
werden muß. Die beiden Enden der Nadel sind auf einer
Seite mit den Buchstaben A und B bezeichnet. Hiemach
bezeichnet man die acht Stellungen folgendermaßen: .
A Nordpol. B Nordpol.
OL, Bezeichnete Seite außen
(d. h. vom Kreis abgewendet).
1. Kreis Ost. 5. Kreis Ost.
2. Kreis West. 6. Kreis West.
ß. Bezeichnete Seite innen
(dem Kreis zugewendet).
3. Kreis West. 7. Kreis West.
4. Kreis Ost, 8. Kreis Ost.
Digitized by VjOOQ IC
126 Max Escbenhagen,
Das Mittel aus diesen acht Einstellungen, deren jede
das Resultat aus mehreren Einzelablesungen beider Spitzen
ist, ergiebt die Inklination. Mit der zweiten Nadel
wiederholt man die ganze Beobachtung. Die erhaltenen
Werte fallen nur befriedigend aus, wenn die Nadeln mit
größter Sorgfalt beim Einlegen, Ummagnetisieren u. s. w.
behandelt werden, außerdem müssen sie, sowie die Lager
vor Niederschlag von Feuchtigkeit bewahrt werden. Die
üebereinstimmung der mit mehreren Nadeln erhaltenen
Werte giebt ein Urteil über ihre Zuverlässigkeit ab.
Das in den beiden Figuren 11 und 12 dargestellte
vollständige Instrument wiegt mit dem zur festen Ver-
packung erforderlichen Kasten nebst dem zusammenleg-
baren Stativ 22 kg und wird von dem Verfertiger Hechel-
mann in Hamburg zu dem Preise von 950 Mark inklusive
Stativ geliefert. Wird nur ein Nadelinklinatorium ge-
wünscht, so stellt sich der Preis entsprechend billiger.
VI. Verwertung der Beobachtungen.
Aus der Einleitung ist zu entnehmen, in welcher
Weise magnetische Beobachtungen sowohl der magneti-
schen Landesauihahme als der Erkenntnis der erdmagne-
tischen Erscheinungen zum Nutzen gereichen. Den Be-
merkungen über die zeitlichen Aenderungen derselben
zufolge muß ein Wert der erdmagnetischen Elemente,
der zu einer bestimmten Tageszeit, z. B. um Mittag, be-
obachtet wird, auch nur für diese Zeit und den betreffen-
den Tag gelten. Um denselben gewissermaßen allgemein
gültig zu machen, muß er auf den Mittelwert einer be-
stimmten Epoche, der an der Hand einer längeren Be-
obachtungsreihe an einem erdmagnetischen Observatorium
abgeleitet wird, reduziert werden. Am zweckmäßigsten
ist es daher immer für den Reisebeobachter, zu einem
solchen Observatorium in Beziehung zu stehen, damit
durch gleichzeitige Ablesung der Variationsinstrumente
während seiner Beobachtung der dortige Wert der erd-
magnetischen Elemente ermittelt wird. Derartige Va-
Digitized by VjOOQ IC
Erdmagnetismus. 127
riationsbeobachtungen werden an besonderen Instrumenten
und in einem besonderen Variationsobservatorium ange-
stellt, deren Beschreibung hier zu weit führen würde.
Man hat diese Instrumente mittelst eines photographischen
Verfahrens selbstregistrierend gemacht; bis jetzt ist in
Deutschland nur das zur Kaiserlichen Marine gehörige
Observatorium zu Wilhelmshaven mit selbstregistrierenden
Instrumenten ausgerüstet, für ein in Potsdam vom Preußi-
schen meteorologischen Zentralinstitut neu zu gründendes
Observatorium ist die Beschaffung derselben in Aussicht
genommen.
Will man Beobachtungen, ohne im Besitz von Va-
riationsbeobachtungen zu sein, mit einer gewissen Ge-
nauigkeit wegen der täglichen Schwankung korrigieren,
80 muß man die erhaltenen Werte auf das Tagesmittel
reduzieren, wofern man nicht vorzieht, zu solchen Stunden
zu beobachten, in denen das zu messende Element gerade
das Tagesmittel erreicht. Zur Reduktion werden die
in Fig. 2 dargestellten Kurven des täglichen Ganges
folgendermaßen benutzt. Beobachtet man z. B. die De-
klination um 12 Uhr mittags (Ortszeit), so entnimmt man
der Kurve der Deklination direkt den Wert der Ab-
weichung vom Tagesmittel, nämlich die Länge der Ordi-
nate um 12 Uhr, und bringt dieselbe (in Minuten aus-
gedrückt) mit entgegengesetztem Vorzeichen als Korrektion
an dem beobachteten Wert an. Natürlich ist die dem
Beobachtungshalbjahr entsprechende Kurve zu wählen.
Erhält man z. B. im April zu Halle den Wert der De-
klination von 11 ® 50' um 12 Uhr mittags, so findet man
in jener Kurve eine Ordinate um 12 Uhr von 6 Teilstrichen
= 6', um welche die Deklination zur Beobachtungszeit
größer war als das Tagesmittel, diese 6' sind also zu
subtrahieren, und man erhält als Deklination, die von der
regelmäßigen täglichen Schwankung befreit ist, den Wert
von 11^ 44'. In ähnlicher Weise erhält man den Betrag
der Reduktion für andere Zeiten und entsprechend für
die Horizontalintensität. Für die Inklination ist wegen
der geringen Größe der täglichen Schwankung keine Re-
duktion erforderlich.
Digitized by VjOOQ IC
•iclier
128 Max Eschenhagen. JbHORI
Derartige Reduktionen können dazu dienen, ein Urteil iinia;rer
über die Genauigkeit der mit einem bestimmten Beobach- — t«.
tungsinstrument erhaltenen Resultate zu büden, und zwar
besser als man es durch theoretische Betrachtungen kann.
Beobachtet man beispielsweise die Deklination morgens um
8*^ und mittags um 1**, so muß letzterer Wert um den
vollen Betrag der Amplitude der täglichen Periode vom
ersteren abweichen; reduziert man also beide Werte auf das
Tagesmittel (am genauesten natürlich nach den Ablesungen i\ '
der Variationsinstrumente), so giebt die Uebereinstimmung "^ö
beider Werte das Urteil über ihre Genauigkeit.
Während größere, mit vollkommeneren Instrumenten
ausgeführte, magnetische Landesvermessungen also immer
im Anschluß an ein Observatorium erfolgen müssen,
kann doch in der bezeichneten einfacheren Weise eine i"
Reihe von recht schätzbaren Werten gewonnen werden,
wenn z. B. für die physikalischen Kabinette höherer
Schulen das beschriebene einfachere Instrument statt der
daselbst häufig befindlichen, kaum den Anforderungen
der Demonstration genügenden, ungenauen Apparate be-
schafft und es als Erfordernis des physikalischen Unter- fe
richts erachtet würde, alljährlich einige Messungen der
erdmagnetischen Elemente in dBr Nachbarschaft der Stadt
oder doch an einem bestimmten Punkte vorzunehmen, die
dann, womöglich ausführlich, in dem Schulprogramm 1^^^
zum Abdruck kommen müßten. Stehen dem physikali- Ä^_
sehen Unterricht größere Mittel zu Gebote, so wird man ?L^-
statt des einfacheren Instrumentes ein etwas vollkomme- •
neres verwenden können, welches statt des Diopters ein
Fernrohr, eventuell ein besonderes Nadelinklinatorium be-
sitzt. Derartige Instrumente sind in der Kaiserlichen Marine
unter dem Namen „ Deviationsmagnetometer ^ im Gebrauch.
Der Preis eines solchen Instrumentes würde je nach der
Vollständigkeit bis zu 450 Mark betragen. Außer der ge-
nannten Firma von Hechelmann in Hamburg beschäftigen
sich besonders mit der Herstellung erdmagnetischer Instru-
mente: C. Bamberg in Berlin, Edelmann in München
xind Hartmann in Bockenheim bei Frankfurt a. M. ''y\
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E 1 i m a.
Von
Dr. Richard Assmann,
Oberbeamter im Preuß. Meteorol. Institut und Privatdozent an der
Universität in Berlin.
Anleitnng zur deutschen Landes- und Yolksforschung.
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Die klimatischen Verhältnisse Mitteleuropas, somit auch
diejenigen des Deutschen Reichs, dürfen im allgemeinen
als ausreichend bekannt angesehen werden. Sämtliche das
Deutsche Reich zusammensetzende Staaten haben seit Jahr-
zehnten Netze von mehr oder weniger zahlreichen stän-
digen meteorologischen Stationen errichtet, welche zuver-
lässiges, nach erprobten Methoden gewonnenes Material
liefern, ausreichend, um ein wahrheitsgetreues Bild des
Klimas in gröberen Umrissen zu geben.
Aber das laufende Jahrzehnt stellt höhere Anforde-
rungen an die Klimakunde. Es genügt nicht mehr, die
Mittelwerte der klimatischen Faktoren für die hauptsäch-
lichsten geographischen Bezirke unseres Vaterlandes zu
kennen; man kann sich der Notwendigkeit nicht mehr
verschließen, enger umgrenzte Forschungsgebiete in An-
griflf zu nehmen.
So sehen wir besonders in der preußischen Monarchie
in der neuesten Zeit eine intensive Verdichtung des Stations-
netzes in der Ausführung begriffen, welches ein Studium
der engeren örtlichen Erscheinungen zu ermöglichen be-
stimmt ist.
Nach Vollendung dieser Neuorganisation wird das
Königreich Preußen gegen 2000 meteorologische Stationen
zur Beobachtung der Niederschlags- und Gewittererschei-
nungen, also eine auf je 175 qkm besitzen, eine Dichte
des Stationsnetzes, welche von der in den übrigen deut-
schen Staaten vorhandenen nur wenig abweicht.
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132 Richard Assmann,
Auf den ersten Blick will es erscheinen, als müsse
eine derartig intensive und dichte Beobachtung mehr als
genügen, um auch das feinere klimatische Detail in allen
Fällen deutlich erkennen zu lassen. Vergegenwärtigen
wir uns aber, daß z. B. in einem Gebirge der Flächen-
raum von 175 qkm Gipfel, Abhänge, Plateaus, Thäler
und Schluchten, Sonnen- und Schattenseiten, Luv- und
Leeseiten, kahles Felsgestein, Hochmoore und Wälder,
hellfarbigen und dunkelfarbigen, feuchten und trockenen
Erdboden enthalten kann und thatsächlich auch vielfach
enthält, so werden wir erkennen, daß von einer Kenntnis
der örtlichen Erscheinungen auf Grund der einen auf
diesem Flächenraum befindlichen meteorologischen Station
durchaus nicht die Rede sein kann. Will man diese er-
forschen, so würde eine Verzehnfachung der Stationen
noch nicht überall zum Ziele führen, vielmehr müßten
alle diese engsten klimatischen Bezirke mit eigenen Be-
obachtungsstationen ausgerüstet werden.
Man sieht aber leicht, daß eine derartige Organi-
sation nicht nur für absehbare, sondern wohl für alle
Zeiten unausführbar sein müsse.
Und selbst den Fall angenommen, es fänden sich in
der That die Personen und Mittel zur Errichtung eines
derartig dichten Netzes von Beobachtungsstationen, so
bliebe doch die Schwierigkeit der Kontrolle dieser Statio-
nen, der Sammlung, Sichtung, Verarbeitung und Aus-
nutzung der Beobachtungen bestehen. Welches meteoro-
logische Zentralinstitut würde imstande sein, diese Riesen-
arbeit in fruchtbarer Weise zu bewältigen? Und wenn
auch zuzugeben ist, daß unter anderen geographischen
Bedingungen, z. B. im Flachlande, die Zahl der zu Detail-
studien nötigen Stationen erheblich geringer sein darf,
so ist doch nicht zu vergessen, daß jeder Wald und jedes
Feld, jeder Hügel und jede Mulde, jede Bodenart, jeder
See und jeder Wasserlauf seine eigenartige, von der
andersgestalteten Umgebung abweichende Meteoration hat.
Es ist daher nicht zu bezweifeln, daß jedes allge-
meine, über ein größeres Gebiet ausgedehnte klimatolo-
gische Lokalstudium ein unmögliches Ding sei.
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Klima. 133
So bleiben als Auswege nur zwei Möglichkeiten:
entweder man verzichtet auf allgemeine eng örtliche Lokal-
forschungen und konzentriert dieselben auf einzelne be-
sonders wichtige und komplizierte Gebiete, oder man trifft
die Einrichtung „ fliegender*" Beobachtungsnetze, welche,
zu besonderen Zwecken an ausgewählten Punkten mit
möglichster Intensität organisiert, nur eine kürzere Reihe
von Jahren thätig sind, dann bis auf einige Hauptstationen
aufgelöst und an anderer Stelle wieder eingerichtet werden.
In dieser Weise entstehen Versuchsfelder, welche bei rich-
tiger Auswahl erheblichen Nutzen zu gewähren vermögen.
Für die Zwecke systematischer Forschung kann die
noch femer zu erwähnende Methode der gelegentlichen
Keisebeobachtungen im außeralpinen Deutschland nur in-
sofern in Frage kommen, als einzelne seltener besuchte
oder schwerer zugängliche Gegenden als Untersuchungs-
objekte gewählt werden. Eishöhlen, Spuren alter Gletscher,
interessante Yerwitterungserscheinungen können sehr wohl
gelegentlich einer Reise ebensogut untersucht werden,
wie man Beobachtungen über Niederschlags- und Be-
wölkungsverhältnisse, Rauhreifbildungen, optische Erschei-
nungen, über abnorme Temperaturverteilung und anderes
mehr hierbei ausführen kann. Ganz besonders werden
indes außergewöhnliche Phänomene wie Gewitter, Wind-
hosen, Föhnerscheinungen u. s. w. in fruchtbringender
Weise als Objekte touristischer Beobachtung zu dienen
imstande sein.
Wir gelangen hiermit zu einer Zweiteilung unserer
Anleitung zur Anstellung klimatologischer Beobachtungen:
systematische, kürzere oder längere Zeit hindurch zu einem
bestimmten Zweck fortgesetzte Beobachtungen und ge-
legentliche Reisewahmehmungen.
Bei der ersteren Kategorie schließen wir die ständi-
gen meteorologischen Stationen aus dem Grunde aus, weil
eine Anleitung zu Beobachtungen an denselben nichts
anderes als eine Wiederholung einer der zahlreichen In-
struktionen wiedergeben müßte, welche von den meteoro-
logischen Zentralinstituten der deutschen Staaten in mehr
oder weniger ausführlicher Fassung erlassen worden sind.
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134 Richard Assmann,
Wir können aber auch die klimatologische Forschung
in einer anderen Weise, nämlich nach den mittelst der-
selben beabsichtigten Zwecken zerlegen, und zwar in
Beobachtungen, welche wissenschaftliche Ziele zur Er-
grUndung oder schärferen Umgrenzung von Gesetzen oder
Hypothesen verfolgen, und in solche, welche bestimmt
sind, einem praktischen Zwecke zu dienen.
Unter den letzteren kommen mannigfache Einzel-
fragen aus Handel und Industrie, aber auch aus solchen
Wissenschaften in Betracht, welche aus der Kenntnis
klimatischer Verhältnisse Vorteile zu ziehen in der Lage
sind. Die medizinische Wissenschaft hat z. B. ein natür-
liches und sehr beträchtliches Interesse an der klimato-
logischen Erforschung ihrer klimatischen Kurorte. Die
Wasserbautechnik muß die Niederschlagsverhältnisse in
den Einzugsgebieten der Wasserläufe zum Zwecke von
Flu&korrektionen oder Kanalisationsanlagen sorgfältigst
berücksichtigen. Das Versicherungswesen muß die lokalen
Blitzschlags- und Hagelgefahren sorgfältigst in seine Be-
rechnungen einziehen. Die Land- und Forstwirtschaft
muß die Niederschlags- und Temperaturverhältnisse zum
Zwecke von Anbauversuchen bisher nicht kultivierter Feld-
oder Gartenfrüchte, zu Meliorationen, Aufforstungen, Ur-
barmachungen, Drainierungen, Berieselungen, Moorkulturen
u. a. m. genau studieren ; die Industrie bedarf nicht selten
der Kenntnis der Wind- und Wasserverhältnisse zur An-
legung von Motoren. Alle diese Gewerbe sind in ihren
Erfolgen mehr oder weniger auf die richtige Ausnutzung
gegebener, aber nicht überall ausreichend gekannter kli-
matischer Bedingungen angewiesen, so daß das sorg-
fältige Studium derselben an der Hand der Beobachtung
zu einer unerläßlichen Aufgabe derselben wird. Es kann
nicht der Zweck der vorliegenden Anleitung sein, für alle
die genannten und mehrere andere Wissenschaften und
Gewerbe spezielle Instruktionen zu geben, doch soll überall
in unseren Erörterungen thunlichste Rücksicht auf die
wichtigsten derselben genommen werden.
Im folgenden sollen nun alle in Frage kommenden
Jtlimatischen Faktoren in der Weise durchmustert werden,
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Klima. 135
daß denjenigen derselben, welchen ihrer Natur nach zwar
eine erhebliche Wichtigkeit in wissenschaftlicher oder ge-
werblicher Beziehung innewohnt, welche aber aus irgend
welchen Gründen an ständigen meteorologischen Stationen
nicht ausreichend erforscht zu werden pflegen, ein größerer
Raum zuerteilt wird, als den der allgemeinen Beobachtung
regelmäßig unterworfenen Faktoren.
Hierbei soll, soweit als thunlich, Rücksicht auf die
Anstellung der Beobachtungen auf Reisen genommen und
das nötige Instrumentarium kurz erläutert werden.
Von der Anleitung zur Anstellung der gewöhnlichen
an meteorologischen Stationen tiberall gebräuchlichen Be-
obachtungen ist Abstand genommen worden und wird in
dieser Beziehung auf die Instruktionen der meteorologi-
schen Zentralinstitute verwiesen^).
Die klimatischen Faktoren sollen in der Reihenfolge :
Temperatur, Luftdruck, Winde, Wasserdampfgehalt der
Luft, Hydrometeore, außergewöhnliche Vorkommnisse und
Beimengungen der Luft zur Betrachtung kommen.
I. Temperatur.
Wir haben hierbei zu unterscheiden: 1. Strahlungs-
temperatur, 2. Lufttemperatur, 3. Boden temperatur, 4.
Wassertemperatur.
1. Strahlungstemperatur.
Da die Strahlungsbeobachtungen zur Zeit noch nicht
zu dem Programm der meteorologischen Stationen gehören,
andererseits ohne komplizierte Apparate überall leicht
auszuführen sind und auch schon bei kürzeren Beobach-
tungsreihen wertvolle Resultate zu ergeben geeignet sind.
') Besonders empfehlenswert ist Jelineks Anleitung zur Aus-
führung meteorologischer Beobachtungen nebst einer Sammlung
von Hilfstafeln, neu herausgegeben und umgearbeitet von J. Hann.
Wien 1884. — Im August 1888 erscheint auch die neue ausführliche
Anleitung des königlich preußischen meteorologischen Instituts.
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136 Richard Assmann,
soll denselben vorweg eine ausführlichere Betrachtung zu
teil werden.
Die Verhältnisse der bei der Einstrahlung unter dem
Einflüsse der Sonnenwärme und bei der Ausstrahlung in
den kalten Weltenraum stattfindenden Temperaturen stellen
einen wichtigeren klimatischen Faktor dar, als man ge-
meinhin anzunehmen geneigt ist.
Die Intensität der Sonnenstrahlung ist abhängig von
dem Einfallswinkel der Strahlen auf das bestrahlte Objekt
und von der Diurchlässigkeit derjenigen Medien, welche
die Wärmestrahlen zu durchdringen haben, ehe sie ein
Objekt treflfen.
Der Einfluß des Einfallswinkels läßt sich am kürze-
sten dadurch ausdrücken, daß man sagt, die Intensität
der Sonnenstrahlung ändere sich im Verhältnis des Sinus
der Sonnenhöhe. Ist der Sinus = 0, fällt also die Rich-
tung der Sonnenstrahlen in die Ebene des bestrahlten
Objektes , so ist die Strahlungsintensität gleichfalls = 0,
ist derselbe = 1, wenn die Strahlenrichtuag einen rechten
Winkel mit der Fläche des Objektes bildet, dann erreicht
die Strahlung ihre größtmögliche Intensität. Demnach
müssen alle Objekte der Erdoberfläche zwei nach der
Jahres- und Tageszeit regelmäßig wechselnde Perioden
der Bestrahlung zeigen, entsprechend den wechselnden
Höhen des Sonnenstandes. Weiterhin aber unterscheiden
wir an allen denjenigen Gegenständen, welche nicht in
einer horizontalen Ebene liegen, eine stärker und eine
schwächer oder gar nicht bestrahlte Seite, entsprechend
dem auf unserer nördlichen Halbkugel von der Sonne
beschriebenen scheinbaren Tagesbogen von Ost durch Süd
nach West. Die Nordseite wird daher überall die am
wenigsten bestrahlte Seite der Objekte sein.
Die Durchlässigkeit des von den Sonnenstrahlen zu
durchschreitenden Mediums, der Luft oder des Wassers,
hängt aber teils von der Dicke der zu durchmessenden
Schicht, teils von der Beimengung solcher Substanzen ab,
welche den Sonnenstrahlen den Durchgang verwehren, sie
daher zurückhalten und zur eigenen Temperaturerhöhung
benutzen.
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Klima. 137
Es erhellt, daß ein in der Richtung der Tangente
die Erdoberfläche berührender Sonnenstrahl den längsten
aller möglichen Wege bei geradlinigem Verlauf durch die
Atmosphäre zurücklegt, während er bei senkrechtem Ein-
fallen dem kürzesten Wege folgt. Die Absorption der
Sonnenstrahlen durch die Atmosphäre wird demnach im
ersteren Falle eine beträchtlich größere sein als im letz-
teren. Hierzu kommt aber noch, daß aus natürlichen
Oründen die untersten Schichten der Atmosphäre die
dichtesten sind und den größten Reichtum an solchen
Körpern besitzen, welche, vorwiegend von der Erdoberfläche
stammend, eine Verunreinigung der Atmosphäre darstellen.
Ueber die Größe der durch den Wasserdampf bewirkten
Wärmeabsorption sind die Akten trotz zahlreicher Arbeiten
auf diesem Gebiete noch nicht endgültig geschlossen, doch
darf die Thatsache der Wärmeabsorption durch den
Wasserdampf überhaupt nicht mehr bezweifelt werden.
Die übrigen Verunreinigungen der untersten Atmosphären-
schichten durch Staubpartikel aller Art bedingen unter
allen Umständen einen großen Wärmeverlust der Sonnen-
strahlung, so daß nach Langleys Untersuchungen die
mittlere Absorption der ganzen Atmosphäre nicht mehr,
wie früher angenommen, zu 20 %, sondern zu mindestens
40 ®/o zu bewerten ist.
Für Untersuchungen der Intensität der Sonnenstrah-
lung kommt für unsere Zwecke als Meßinstrument aus-
schließlich das sogenannte Schwarzkugelthermometer im
Vakuum, auch Insolations- oder Radiationsthermometer
genannt, in Frage (s. Fig. 1). Ein mit Lampenruß ge-
schwärztes Thermometer befindet sich in einer kugelförmig
aufgeblasenen Glashülle, welche unter der Luftpumpe mög-
Uchst .evakuiert worden ist. Die durch die durchsichtige
Glaswand mit wenig geschwächter Energie hindurchdringen-,
den Sonnenstrahlen werden von dem Rußüberzuge des
Thermometergefäßes fast vollkommen absorbiert, so daß
die Angaben des Thermometers ein angenähertes Maß für
die Strahlungsintensität selbst darstellen, zumal die um-
gebende luftleere Hülle störende Nebeneinflüsse, die dunkle
Wärmestrahlung fast vollständig und die Wärmeentziehung
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138 Richard Assmann,
durch bewegte Luft gänzlich abhält. Doch lassen sich
mit diesem Apparate absolute Werte nicht gewinnen, da
der Durchgängigkeitszustand des Glases und
Flg. 1. der Betrag der Luftverdtinnung nicht ohne
Einfluß auf den Betrag der zur Messung
kommenden Strahlung sind. Wohl aber
kann ein und dasselbe Instrument Werte
liefern, welche untereinander wohl ver-
gleichbar sind ; sachgemäße Prüfungen durch
Vergleichungen mit Instrumenten, welche
absolute Messungen von wärmereflektieren-
den Gegenständen gestatten, können indes
bis jetzt nur an wenigen Zentralinstituten
ausgeführt werden. Das Schwarzkugelther-
mometer wird an einer der Sonnenstrahlung
ununterbrochen ausgesetzten Stelle an einem
kleinen Stativ oder Stabe in der Höhe von
etwa 1,5 m über dem Erdboden, am besten
über ßasengrund, derartig aufgestellt, daß
das Thermometergefäß nach Süd gerichtet
ist. Ist das Instrument nicht, wie meistens,
ein Maximumthermometer, so kann es auch
senkrecht, am besten mit dem Gefäße nach
oben, aufgestaut werden. Die am Thermo-
meter abgelesenen Werte stellen nun also
denjenigen Erwärmungsgrad dar, welchen
ein schwarzer, ebensowenig Wärme wie der
Ruß reflektierender Körper unter der Ab-
wesenheit störender Nebeneinflüsse anneh-
men würde. Den Betrag der Strahlung
erhält man dadurch, daß man ein zur Be-
. Stimmung der wahren Lufttemperatur ge-
i ^ j} eignetes Thermometer, am besten ein Aspi-
\ ,f rationsthermometer (s. unter Lufttempera-
tur), in der Nähe beobachtet; die Differenz
beider Instrumente ist der Strahlungsbetrag
in relativem Maße.
Es muß darauf hingewiesen werden, daß man die
so oft als „Temperatur in der Sonne* bezeichneten An-
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Klima. 139
gaben eines gewöhnlichen^ den Sonnenstrahlen ausgesetz-
ten Thermometers nicht mit denen nach oben angegebener
Methode vergleichen kann. Derartige Beobachtungen sind
als völlig wertlos anzusehen, daher besser gänzlich zu
unterlassen.
Die Wichtigkeit von Messungen der Strahlungsinten-
sität geht aus folgendem hervor. Mit der Verringerung
der die Sonnenstrahlung absorbierenden Schichten nimmt
die Intensität der ersteren zu. Hieraus folgt, daß die-
selbe mit der Erhebung über den Erdboden wächst.
Durch gleichzeitige Beobachtungen zweier oder mehrerer
sorgfältig verglichener Schwarzkugelthermometer in ver-
schiedenen Höhen eines Gebirges ist man daher imstande,
wertvolle Beiträge zur Frage der atmosphärischen Wärme-
absorption zu liefern, wenn man neben denselben die
wahre Lufttemperatur bestimmt und wolkenreine Tage
zur Beobachtung verwendet. Aber auch ein einzelnes
Instrument, in Verbindung mit einem solchen für Er-
mittelung der Lufttemperatur beobachtet, kann wichtige
und interessante Aufschlüsse geben. Wenn auch die ge-
waltigen Differenzen, wie sie Cayley in Leh in Tibet in
einer Meereshöhe von 3500 m fand, wo er das Schwarz-
kugelthermometer auf 101^, d. h. 13^ über den in
dieser Höhe nur 88 ^ C. betragenden Siedepunkt des
Wassers, steigen sah, während die Lufttemperatur gleich-
zeitig nur 23,9 ^, die Differenz also 77,i ® erreichte, im
außeralpinen Deutschland wegen mangelnder Höhe der
Gebirge nicht beobachtet werden können, so ist doch an-
zunehmen, daß in den höheren Bergländern des Riesen-
gebirges, Schwarzwaldes, Wasgaues u. s. w. die ünter-^
schiede gegen 40 ® und mehr betragen werden. Wie auch
schon in den untersten Schichten der Atmosphäre bei
geringen Höhendifferenzen die Zunahme der Strahlungs-
intensität bemerkbar wird, geht z. B. aus den Beobachtungen
in Magdeburg hervor. Im Mittel von 20 wolkenlosen
Tagen des Juni und Juli 1884 betrug der Unterschied
eines Schwarzkugelthermometers und der Lufttemperatur
in 1,5 m Höhe über dem Erdboden 20,o ^, gleichzeitig
aber in 31 m Höhe auf dem Turme der Wetterwarte
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140 Richard Assmann,
24,4 ^, die Zunahme also 4,4 ^. Das in demselben Zeit-
räume und 31 m Höhe am Schwarzkugelthermomefcer er-
reichte Maximum betrug 56,7 ®, in 1,5 m Höhe 52,« ^
der Unterschied 4,5 ^.
Da Beobachtungen in größeren Höhen aber noch so
gut wie ganz fehlen, ist über den Gang der fntensitats-
zunahme mit der Höhe aus Deutschland noch fast nichts
bekannt.
Es würde daher ohne Zweifel einer wichtigen wissen-
schaftlichen Frage ein großer Dienst geleistet werden
durch methodische, wenn auch nur über kürzere Zeit-
räume ausgedehnte, auf wolkenfreie Tage beschränkte,
korrespondierende Beobachtungen auf Berggipfeln und am
Fuße derselben, wenn thunlich auch noch an mehreren
dazwischen liegenden Punkten.
Das Gleiche gilt von Beobachtungen über die nächt-
liche Ausstrahlung in den Weltenraum. Auch hier fehlen
so gut wie alle methodischen Untersuchungen nicht nur
in verschiedener Höhenlage, sondern auch in demselben
Niveau. Erst in neuerer Zeit hat man begonnen, dieser
Frage etwas mehr Beachtung zuzuwenden, nachdem im
Beobachtungsgebiete des früheren Vereines für landwirt-
schaftliche Wetterkunde in Mitteldeutschland eine größere
Anzahl von Minimumthermometem auf 5 cm hohen Holz-
stützen über dem Erdboden in regelmäßige Beobachtung
genommen worden ist. Vom königlich preußischen meteo-
rologischen Institut werden an einigen Stationen diese
Untersuchungen jetzt fortgesetzt.
Außer der unmittelbaren Ein- und Ausstrahlung der
Wärme eignet sich noch femer die Ermittelung des Betrages
reflektierter Wärme für die methodische Untersuchung. Alle
von direkten Sonnenstrahlen getroffenen Körper werfen
denjenigen Teil derselben zurück, welchen sie nicht ab-
sorbieren: spiegelnde und hellgefärbte Oberflächen mehr
als stumpfe und dunkle. Die reflektierte Wärme ist
gleichfalls als ein wichtiger klimatischer Faktor zu be-
zeichnen, welcher der Untersuchung noch dringend be-
darf. Zur Ausführung derselben verwendet man am besten
gewöhnliche Thermometer, deren Gefäße mit Lampenruß
Digitized by VjOOQ IC
Klima. Ul
überzogen sind. Die Verwendung der Insolationsthermo-
meter verbietet sich aus dem Grunde, weil deren Glas-
umhüllung für reflektierte sogenannte dunkle Wärme-
strahlen nahezu undurchgängig ist. Exponiert inan an einem
heiteren, möglichst windstillen Tage zwei derartige Thermo-
meter in der Weise, daß man das eine allein der Sonnen-
strahlung, das andere aber dieser und der von einer weißen
Wand reflektierten Strahlung in einigen Metern Entfernung
aussetzt, so erhält man an dem letzteren Instrument nicht
unbeträchtlich höhere Temperaturen als an dem ersteren,
welches man durch einen dazwischen gesetzten Schirm
vor der reflektierten Strahlung schützt. Frankland fand
z. B. in Pontresina unter diesen Verhältnissen einen Unter-
schied von 10^. Von großem Einfluß ist femer die von
einer Wasseroberfläche reflektierte Strahlung, welche be-
sonders den nach Süden offenen Abhängen am Nordrande
von Wasserbecken erhebliche thermische Begünstigungen
zu teil werden läßt. Beobachtet man gleichzeitig noch
die wahre Lufttemperatur, so erhält man einen Ausdruck
für den Betrag dieser Wärmereflexion in Bezug auf erstere.
Eine Schneeoberfläche im Winter, ja auch die Wolken-
oberfläche wirken in derselben Weise auf ihre der re-
flektierten Strahlung ausgesetzte Umgebung günstig ein.
Von welcher Wichtigkeit aber Untersuchungen der
strahlenden Wärme in klimatischer Beziehung sind, er-
hellt aus folgendem. Das gesamte organische Leben auf
der Erdoberfläche wird von der direkten Sonnenstrahlung
fast in größerem Maße beeinflußt als von der Lufttempe-
ratur; die Bewohnbarkeit, die Vegetationsverhältnisse und
das Tierleben der Gebirge sind von derselben ohne Zweifel
außerordentlich abhängig. Wie wir bei der Betrachtung
der Bodentemperatur sehen werden, ist die Auslage (Ex-
position) des Erdbodens gegenüber der Sonnenstrahlung
von prinzipieller Bedeutung für dessen Temperatur.
In erster Linie aber zieht die Heilkunde Vorteil aus
der Zunahme der Strahlungsintensität mit der Höhe, in-
dem durch letztere die Möglichkeit geschaffen wird, Kranke
selbst in bedeutenden Höhen auch bei niedrigen Luft-
temperaturen während des Winters der Vorzüge einer
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142 Richard Assmann,
reinen und heilsamen Gebirgsluft teilhaftig werden zu
lassen. In windstillen sonnigen Hochthälem sinkt in der
That die Lufttemperatur gegenüber der Strahlungswärme
zu einem klimatischen Faktor untergeordneter Bedeutung
herab, indem der Kranke während der Nacht und bei
fehlendem Sonnenschein im Hause verweilt, sonst aber
trotz — 10^ Lufttemperatur mit Vorteil für seine Gesund-
heit im Freien verweilen kann.
Ebenso wirkt hier die Erhöhung der Temperatur
durch die reflektierte Strahlung in demselben Sinne. „Da
das Gefühl der Wärme und der Annehmlichkeit beim
Aufenthalt in freier Luft von dem Gesamteffekt der direk-
ten und reflektierten Strahlung abhängt,'' sagt Hann in
seinem Handbuch der Klimatologie S. 31, „so ergiebt sich
daraus der beträchtliche Einfluß der Umgebung eines
Wohnortes auf das, was man die , klimatische Temperatur'
nennen könnte.**
Deshalb sollten die Beobachtungen der Strahlungs-
wärme in allen klimatischen Kurorten geradezu in erster
Linie stehen.
Es bedarf keiner besonderen Begründung, um ein-
zusehen, daß die Land- und Forstwirtschaft, der Weinbau
und die Gärtnerei von der direkten und der reflektierten
Wärmestrahlung, ebenso aber auch von der nächtlichen
Ausstrahlung in hohem Maße abhängig sind, so daß eine
methodische Untersuchung derselben für diese Gewerbe
von erheblichem Interesse sein müßte.
Es kann nicht der Zweck dieser Arbeit sein, An-
leitungen für solche kompliziertere Untersuchungsmetho-
den zu geben, welche, wie die Erforschung der chemischen
Strahlungsenergie oder die Beobachtung der diffusen
Wärmestrahlung der Atmosphäre, in wünschenswerter
Genauigkeit nur von größeren Zentralinstituten oder Fach-
männern in Angriff genommen werden können. Vielmehr
erscheint es uns als unsere Aufgabe, überall nur das ohne
besondere instrumenteile Schwierigkeiten Erreichbare zur
Inangriffnahme zu empfehlen.
Auch der Tourist kann mittelst eines (neuerdings für
Reisezwecke handlich konstruierten) Schwarzkugelthermo-
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 143
meters, eines oder einiger Minimumthermomefcer und eines
Aspirationsthermometers auf dem Gebiete der Strahlungs-
forschung manches wertvolle Ergebnis erzielen. Vereini-
gen sich aber mehrere Touristen zu gemeinsamer ziel-
bewußter Beobachtung mit gleichen oder doch verglichenen
Instrumenten, so läßt sich durch gleichzeitige Vornahme
derselben an verschiedenen zweckentsprechend ausgewähl-
ten Orten manche noch nicht genügend gestützte An-
schauung erhärten oder modifizieren.
2. Lufttemperatur.
Während wir die bisher vernachlässigten Beobach-
tungen der Strahlungstemperaturen als ein verdienst-
liches Werk empfehlen konnten, müssen wir in Bezug
auf die Lufttemperatur feststellen, daß kein anderer
klimatischer Faktor einer auch nur ähnlich sorgfältigen
und regelmäßigen Untersuchung von einem Heere wohl-
geschulter Beobachter unterzogen wird als diese. Alle
meteorologischen Stationen II. und III. Ordnung in Deutsch-
land beobachten mindestens dreimal täglich an festen
Terminen, welche entweder auf 7 Uhr morgens, 2 Uhr
mittags und 9 Uhr abends oder auf 8, 2, 8 fallen, die
Lufttemperatur unter allen Vorsichtsmaßregeln, welche
die Wissenschaft für nötig hält. Eine Anleitung zur
Beobachtung derselben könnte daher als der überflüssigste
Teil unseres ganzen Aufsatzes erscheinen. Und dennoch
thut vielleicht in keinem Teile der Klimatologie eine Re-
form so sehr not wie gerade in dem der Lufttemperatur-
beobachtung.
Zum Beweise dieser Behauptung ist es nötig, etwas
weiter auszuholen.
Wir verstehen unter der Lufttemperatur diejenige
Temperatur, welche ein allein von seinen natürlichen
Verhältnissen abhängiges Luftquantura an beliebiger Stelle
der Atmosphäre wirklich besitzt. Als die natürlichen
Verhältnisse desselben haben wir aber erstens die Wärme-
absorption der freien Atmosphäre unter dem Einflüsse der
Sonnenstrahlung zu verstehen, mag die letztere das zu
untersuchende Luftquantum selbst treffen oder, bei be-
Digitized by VjOOQ IC
144 Richard Assmann,
wölktem Himmel, auf dasselbe nur als diflFiise Wärme-
strahlung wirken; zweitens gehört hierzu die natürliche
Wärmeausstrahlung der Atmosphäre und drittens der
thermische Effekt, welcher von dem durch direkte oder
diffuse Bestrahlung erwärmten Erdboden in Verbindung
mit der Ausstrahlung auf dem Wege der Zuführung
auf das fragliche Luftquantum ausgeübt wird. Mit an-
deren Worten: Herrscht zur Zeit unserer Untersuchung
Sonnenschein, so wollen wir die Temperatur eines sonnen-
durchstrahlten und vom besonnten Erdboden aus er-
wärmten* Luftteiles ermitteln ; ist die direkte Bestrahlung
durch Bewölkung ausgeschlossen, so wollen wir wissen,
welche Temperatur ein allein durch diffuse Strahlung und
von der nicht besonnten Erdoberfläche aus erwärmtes
Luftquantum angenommen hat, während in beiden Fällen
die Wärmeausstrahlung der Luft und des Erdbodens den
augenblicklich herrschenden Bedingungen entsprechend in
Thätigkeit ist.
Wird nun aber in der That diese wahre Lufttempe-
ratur durch die gebräuchlichen Methoden der Thermo-
meteraufstellungen gemessen? Es ist unmöglich, diese
Frage anders als mit „Nein" zu beantworten.
Die erste Bedingung für eine „normale" Thermo-
meteraufstellung ist Ausschluß aller direkten und reflek-
tierten Strahlung von den Thermometern, und dieselbe
ist auch in der That bei der Verwendung von Körpern,
welche sich gegen Ein- und Ausstrahlung anders ver-
halten als die atmosphärische Luft, unerläßlich. Würde
man bei völlig ruhender Luft ein Quecksilber- und ein
Weingeistthermometer nebeneinander der direkten Sonnen-
strahlung, reflektierter Wärme und Ausstrahlung aus-
setzen, so würden dieselben sich nicht nur in ihren An-
gaben von der wirklichen Temperatur der nächst benach-
barten Luft ganz erheblich unterscheiden, sondern auch
voneinander beträchtlich differieren, da außer der Dicke
und Art der Glasumhüllung noch die verschiedene Ab-
sorptionsfähigkeit von Quecksilber und Weingeist, femer
auch die Farbe des letzteren, ihre Leitungsfähigkeit und
ihr Wärmeemissionsvermögen in Frage kommen.
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 145
Man muß deshalb die Instrumente entweder in ein
Oehäuse einschließen, oder doch in den Schatten eines
Hauses oder einer Wand bringen.
Im ersteren Falle wird das Gehäuse den ganzen
Strahlungseffekt auffangen und hierdurch, seinen eigen-
tümlichen Bedingungen entsprechend, selbst erwärmt
werden. Die Wände desselben werden aber nicht nur nach
außen, sondern auch nach innen gegen das Thermometer
hin einen Teil ihrer Wärme durch Strahlung verlieren,
daher ihrerseits, wenn auch in geringerem Maße, die An-
gaben des Thermometers von den der wahren Lufttempe-
ratur entsprechenden entfernen. Befindet sich dann aber
die in dem Oehäuse eingeschlossene Luft noch unter den
normalen Bedingungen der freien Atmosphäre? Zwar
wird bei bewegter Luft die „ normal" erwärmte Luft der
näheren Umgebung auch in und durch das Gehäuse treten
und das Thermometergefäß umspülen, aber nicht ohne
beim Vorbeistreichen an den höher erwärmten Gehäuse-
wänden ihre eigene Temperatur zu erhöhen. Und bei
windstillem Wetter fällt auch diese Luftzufuhr aus der
Nachbarschaft ganz oder fast ganz fort!
Man hat deshalb wohl oder übel zu einer weiteren
Beschützung auch des Gehäuses gegen Strahlung schreiten
müssen, indem man dasselbe in den Schatten einer höl-
zernen, möglichst luftdurchlässigen Hülle oder in den
eines Hauses brachte. Durch den ersteren Ausweg wird
nun allerdings der Strahlungseinfiuß, wie sorgfältige Un-
tersuchungen gezeigt haben, unter mittleren Verhältnissen
fast ganz aufgehoben, dafür aber die Gefahr der Wärme-
zufuhr von der Umhüllung wegen deren großer Masse
vergrößert oder, will man diese Zufuhr erschweren, die
Luftemeuerung in dem Gehäuse erheblich verringert.
Im Schatten eines Hauses aber treten die eigenartigen
thermischen Verhältnisse des Hauses selbst, seine Träg-
heit gegenüber dem Wechsel der Besonnungs- und Aus-
strahlungswirkung, femer noch die von den normalen
Bedingungen abweichenden Temperaturen des dauernd im
Schatten befindlichen Erdbodens in Wirkung, abgesehen
Anleitung zur dentochen Landet- und Volksforschung. \Q
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146 Richard Assmann,
von der auch unter diesen Verhältnissen nicht unbeträcht-
lichen Verminderung der Luftemeuerung.
Bringt man aber ein ungeschütztes Thermometer in
den Schatten eines Hauses, so ist es mindestens der reflek-
tierten Strahlung der Umgebung, besonders aber in noch
höherem Grade der Ausstrahlung des unbesonnten Erd-
bodens ausgesetzt. Von welchem Einflüsse aber letztere
Thatsache werden kann, ersieht man aus der überall an-
zustellenden Beobachtung, daß im Winter nach Eintritt
von Tauwetter oder am Ende des Winters im Schatten
eines größeren Hauses der Schnee noch wochenlang länger
liegen oder der Erdboden gefroren bleibt als überall dort,
wo die Sonnenwärme ihre Wirkung entfalten könnt«.
Wir messen also in diesem Falle die Lufttemperatur eines
unter völlig abnormen Bedingungen befindlichen Ortes,
nicht die wahre Temperatur der freien Atmosphäre.
Außerdem ist das Instrument aber noch der Benetzung
durch Niederschläge ausgesetzt.
Eine bessere Methode, zugleich die für Reisebeob-
achtungen bisher einzig verwendbare, ist durch Benutzung
des Schleuderthermometers gegeben, welches entweder
unter völlig normalen Bedingungen der Ein- und Aus-
strahlung frei ausgesetzt, oder in dem Schatten eines
Körpers von geringer Masse und Dimension an einer 0,4
bis 0,5 m langen Schnur schnell im Kreise herumge-
schwungen wird. Zwar erhöht auch hier die Sonnen-
strahlung und reflektierte Strahlung den Stand des Queck-
silbers, aber der Wärmeverlust desselben wird durch die
fortwährende Berührung mit normal temperierten Luft-
massen so groß, daß die Abweichung von der wahren
Lufttemperatur nur Zehntelgrade beträgt. Der Verwen-
dung des Schleuderthermometers im Schatten steht aber
der nicht zu vernachlässigende Umstand entgegen, daß
durch Beschattung der zu untersuchenden Luft und des
Erdbodens Bedingungen geschafien werden, welche von
den normalen abweichen, so daß das Thermometer unter
deren Einfluß ebensoviel zu niedrig stehen wird, wie es
im Sonnenschein zu hoch ist. Die Benetzung desselben
durch Niederschläge ist nur durch die umständliche und
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Klima. 147
unsichere Verwendung eines Regenschirmes zu ver-
hindern.
Auch die in neuerer Zeit von A. Hazen angegebene
Modifikation des Schleuderthermometers, welche aus der
gleichzeitigen Bewegung zweier Thermometer mit ver-
schiedenen Strahlungskoeffizienten — Ruß und poliertem
Golde — besteht, ist nach Wilds Untersuchungen nicht
als einwurfsfrei anzusehen.
Wenn auch zuzugeben ist, daß die bei den obigen
Beobachtungsmethoden sich ergebenden Fehler aus länge-
ren Reihen in den Mitteln zum großen Teile wieder zu
verschwinden pflegen, da die Fehler unter dem wechseln-
den üeberwiegen von Einstrahlung und Ausstrahlung meist
nach entgegengesetzten Richtungen hin verlaufen, so ist
doch das Verlangen nach der Korrektheit auch der Einzel-
beobachtung ein zu berechtigtes, um nicht nach einer
Methode zu suchen, welche dieses zu erfüllen im-
stande ist.
Selbst auf die Gefahr des Vorwurfes hin, mit dem
folgenden pro domo zu sprechen, kann es der Verfasser
nicht unterlassen, an dieser Stelle der Verwendung des
von ihm in neuester Zeit konstruierten Aspiration sthermo-
meters das Wort zu reden. Die zahlreichen mit diesem
Apparat vorgenommenen Untersuchungen anerkannter
Fachmänner haben den Beweis geliefert, daß dasselbe,
unter den oben als „normal" gekennzeichneten Bedingun-
gen, also in freier Atmosphäre exponiert, Angaben liefert,
welche der „wahren** Lufttemperatur näher kommen als
irgend eine andere Methode. Als Beweis hierfür ist
die Thatsache anzusehen, daß dasselbe seinen Stand nicht
um ein Zehntel eines Grades ändert, wenn es abwechselnd
besonnt oder mit einem kleinen Körper von ganz geringer
Masse aus einer solchen Entfernung beschattet wird, daß
ein thermischer Einfluß des Körpers selbst völlig aus-
geschlossen ist. Wählt man den schattengebenden Körper
möglichst klein, z. B. nur handgroß, so ist auch dessen
Einfluß auf die Wärmeabsorption der beschatteten Luft-
menge und des Erdbodens gleich Null, da die im Freien
stets vorhandene Bewegung der Luft ein abweichendes
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148 Richard Assmann,
thermisches Verhalten dieser minimalen Luftmenge gegen*
über der Umgebung sicher verhindert.
Der Apparat, am 17. November 1887 durch Herrn
Professor vonBezold, Direktor des königlich preußischen
meteorologischen Instituts, der königlichen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin vorgelegt, ist beschrieben in
den Sitzungsberichten derselben Akademie, ausführlicher
in der meteorologischen Monatsschrift «Das Wetter" (1887
Heft 12 und 1888 Heft 1, Verlag von Salle in Braun-
schweig). Derselbe beruht, ähnlich dem Schleuderthermo-
meter, auf dem Prinzip der massenhaften und ununter-
brochenen Luftzuführung unter Bedingungen, welche von
denen der freien Atmosphäre möglichst wenig abweichen.
Ein Quecksilberthermometer mit möglichst kleinem zylin-
drischen Gefäße ist in eine vernickelte, durch Hochpolitur
vollkommen spiegelnde, dünnwandige Messingröhre von
geringer Masse eingeschlossen, welche, nach unten völlig
offen, einen durch einen einfachen Saugebalgaspirator er-
zeugten kräftigen Luftstroin an dem Thermometergefaße
kontinuierlich vorüberführt (Fig. 2, 3 u, 4). Da diese Luft
ß,us der freien Atmosphäre unmittelbar unter der Oefinung
des Hüllrohrs durch Aspiration entnommen wird, das Hüll-
rohr selbst infolge seiner spiegelnden Oberfläche einen
Teil der auffallenden Strahlung, direkter und reflektierter,
zurückwirft, also selbst nur sehr wenig erwärmt wird,
kommt die eintretende Luft allein mit der inneren Ober-
fläche des nur wenige Centimeter langen, 1 cm im Durch-
messer haltenden unteren Stückes des Hüllrohres vor ihrem
Herantritt an das Thermometergefäß auf sehr kurze Zeit
(etwa 0,0 5 Sekunde) in Berührung, vermag aber dort wegen
der geringfügigen Temperaturdifferenz und ihrer fort-
währenden schnellen Erneuerung nicht, Wärme von dem
Betrage aufzunehmen, um einen Einfluß von 0,i ^ auf
das Thermometer auszuüben.
Der Apparat ist durch zwei nebeneinander gestellte,
je mit besonderer Umhüllung versehene, aber von dem-
selben Aspirator versorgte Thermometer, dessen eines
durch Musselinumwickelung seines Gefäßes zu einem
»feuchten* umgewandelt wird, als Aspirationspsychro-
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Klima.
149
meter in einer sehr handlichen, für Reisen durchaus be-
quemen Form hergerichtet worden. Eine feste Leder-
tasche birgt außer demselben noch den zusammengelegten,
nur 25 cm langen, 15 cm breiten und 5 cm hohen Sauge-
balg nebst Gummischlauch. Zur Beobachtimg wird der
Thermometerapparat an einen Stock oder vorstehenden
Flg. 3.
Fi*?. 2.
u
II
Flg. 4.
r
i'i
JV
Baumzweig von möglichst geringer Masse in Augenhöhe,
oder jeder beliebigen anderen, angehängt, der Gurami-
schlauch mittelst eines eingeschliffenen Mundstückes ein-
gesetzt, der Saugebalg, ohne aus der umgehängten Tasche
genommen zu werden, geöffnet und durch leichten Druck
mit der Hand komprimiert; eine Spiralfeder im Innern
desselben bewirkt dann selbstthätig dessen Expansion und
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150 Richard Assmann,
leitet die Aspiration der Luft durch den Apparat ein *).
Zur Beobachtung während des Regens oder Schneefalles
erhält das Instrument noch einen ebenfalls spiegelnden
„Mantel", wie Fig. 4 zeigt.
Die erheblichen Vorzüge des Apparates sowohl ftlr
die fortgesetzte, als auch für die gelegentliche Reise-
beobachtung liegen auf der Hand. Derselbe ist von der
Strahlung in jeder Form ebenso unabhängig wie von der
Benetzung durch Niederschläge, ist daher überall und
unter allen Verhältnissen ohne weiteres zur Ermittelung
richtiger Werte der Lufttemperatur (und Luftfeuchtigkeit),
wie wir später sehen werden, verwendbar. Zugleich ist
seine Empfindlichkeit um das vier- bis fünffache gegen-
über dem gewöhnlichen Thermometer erhöht, so daß er
imstande ist, selbst den kürzesten Temperatursprüngen
zu folgen. Hieraus folgt auch sein hoher Wert für die
Temperaturbeobachtungen im Luftballon.
Die über den Rahmen vorliegender Anleitimg etwas
hinausgehende Ausführlichkeit obiger Erörterungen über
die Methoden, die Temperatur der Luft zu messen, er-
schien uns doch unerläßlich, um zu zeigen, dass der
heutige Standpunkt der diesbezüglichen Beobachtungen
die Anstellung exakter Messungen noch nicht als über-
flüssig erscheinen lasse. Wir geben daher im folgenden
einige Anleitungen zur Ausführung wichtiger Unter-
suchungen auf diesem Gebiete,
Ueberall, wo es sich um die Anstellung regelmäßiger
Beobachtungen über einen längeren Zeitraum hin handelt,
sei man vor allen Dingen bestrebt, die in der betreflfenden
Gegend offiziell üblichen Beobachtungszeiten innezuhalten.
Im Königreiche Preußen und den in meteorologischer
Beziehung angeschlossenen Nachbarstaaten Mecklenburg,
') Es darf nicht unterlassen werden, darauf hinzuweisen, daß
die zu erlangenden Ergebnisse nicht unwesentlich von der Kon-
struktion und den zur Verwendung gelangenden Maßen abhängig
sind. Der Autor erklärt daher ausdrücklich, daß er eine Verant-
wortlichkeit für derartige Apparate nicht übernimmt, welche nicht
probemäßig in der Werkstatt von R. Fueß in Berlin SW, Alte
Jakobstraße 108, angefertigt worden sind.
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Klima. 151
Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, den thüringischen
Staaten und Hessen sind die Beobachtungstermine 7 Uhr
morgens, 2 Uhr mittags und 9 Uhr abends, ebenso in
Oesterreich, Württemberg und Baden. An den Stationen
der deutschen Seewarte, in den Königreichen Sachsen und
Bayern wird um 8, 2, 8 Uhr beobachtet. Man gewinnt
durch diese Angliederung den großen Vorteil der korre-
spondierenden Beobachtungen und vermag hierdurch das
Wesentliche der ermittelten Ergebnisse erst voll zu er-
kennen und die besonderen Eigentümlichkeiten des eigenen
Beobachtungsortes zu ermitteln.
Will man aus diesen regelmäßigen Beobachtungen,
wie üblich, die mittlere Tagestemperatur ableiten, so ver-
fahre man für die Termine 7*, 2p, 9p nach der Formel
7* -J- 2p -I- 9P -4- 9p
— -^ -^ — — ; für 8», 2P, 8p muß man eine Tren-
nung in Sommer und Winter vornehmen und für ersteren noch
die Angaben von Extremthermometern heranziehen. Für
die Zeit von Mai bis einschließlich September verwendet man
die Fomel V» (8^ + 8^) + V> (Max. + Mi..) ^ ^ ^^_
tober bis einschließlich April aber folgende:
^2 (8^ + 8p) 4- ^'a (8^ + 2P + 8p)
2
Ist man nur in der Lage, das Maximum- und das
Minimumthermometer, welche abends 9 Uhr abgelesen
werden sollen, zu beobachten, so erhält man auch aus-
diesen mittelst der Formel —^ ' ein leidliches
Tagesmittel.
Handelt es sich aber nicht um die methodische fort-
gesetzte Beobachtung für längere Zeit, sondern wird nur
beabsichtigt, etwa während einiger Wochen an einem
klimatisch interessanten Punkte Ermittelungen über die
Temperaturverhältnisse anzustellen, oder auf einer Ge-
birgsreise speziellere Aufgaben dieser Art zu lösen, so
wird man andere Gesichtspunkte ins Auge fassen müssen.
Als Objekt besonderer Untersuchungen im Gebiete
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152 Richard Assmann,
der Lufttemperatur kommt zunächst in Frage die verti-
kale Verteilung der Temperatur unter verschiedenen Ver-
hältnissen. Bekanntlich nimmt unter gewöhnlichen Be-
dingungen die Lufttemperatur mit der Höhe ab und zwar
durchschnittlich im Winter um 0,45 ® , im Frühling um
0,67®, im Sommer um 0,7o®, im Herbst um 0,53", im
ganzen Jahre um 0,59® C, oder, anders ausgedrückt, man
muß im Winter 222, im Frühling 149, im Sommer 143,
im Herbst 188, im Jahresmittel um 170 m in die Höhe
steigen, ^um die Lufttemperatur um 1® sinken zu sehen.
Dieses im allgemeinen gültige Gesetz erleidet nun aber
örtlich und unter besonderen Bedingungen nicht un-
beträchtliche Ausnahmen. Von örtlichen Abweichungen
ist der Unterschied der Temperaturabnahme an der dem
vorherrschenden Winde zugekehrten (Luv-) und der ab-
gewendeten (Lee-) Seite eines Gebirges zu nennen; auf
ersterer erreicht sie gewöhnlich einen kleineren Wert, als
auf der letzteren. Ferner zeigt sich dieselbe größer auf
Berggipfeln und deren Abhängen als auf größeren Massen-
erhebungen oder Plateaus. Bei windstillem und klarem
Wetter dagegen findet nicht selten im Winter statt einer
Abnahme mit der Höhe eine Zunahme der Temperatur
statt. Diese Erscheinung beruht auf dem Vorgange, daß
der Erdboden der Niederungen oder Thäler wegen früheren
Auf hörens der Besonnung schon eher durch Ausstrahlung
erkaltet als der noch besonnter Höhen. Die hierdurch
eintretende Verdichtung der Niederungsluft bewirkt aber
eine Erniedrigung der Flächen gleichen Luftdruckes über
den Thälern und hierdurch die Entstehung eines Gefälles
von den Abhängen nach dem Thale zu. Diesem Gefälle
folgend fließt nun die an den Bergabhängen durch Aus-
strahlung erkaltete Luft abwärts und sammelt sich über
der Niederung in Gestalt eines Sees kalter Luft an,
während die Höhenluft wegen des späteren Ausstrahlungs-
beginnes sowohl, als auch besonders wegen der nach oben
abnehmenden Größe der ausstrahlenden Oberfläche weniger
an Wärme verliert. Der Gipfel eines Berges wird dem-
nach am wenigsten erkalten, da seine Bodenfläche die
kleinstmögliche ist; die von ihm thalwärts abfließende
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Klima. 153
Luft kommt bei diesem Wege mit fortgesetzt an Größe
zunehmenden Flächen in Berührung, wird also durch
deren wachsenden Ausstrahlungsbetrag mehr und mehr
abgekühlt.
Dieser in Gebirgsländem in ruhigen Nächten zu
allen Jahreszeiten zu beobachtende Vorgang, welchem,
wie wir unter dem Kapitel „Wind" sehen werden, der
nächtliche „ Bergwind '^ seine Entstehung verdankt, wird
im Winter nicht selten so bedeutend verstärkt, daß ganz
beträchtliche Temperaturunterschiede zwischen Gipfel und
Thal eintreten, welche auch in den Gebirgen des außer-
alpinen Deutschlands gelegentlich 20® und mehr erreichen
und überschreiten können. So wurde z. B. am 21. Januar
1885 auf dem 916 m hohen Inselberge im Thüringer-
walde eine Minimaltemperatur von — 5,5 ®, in Erfurt aber,
in 196 m Höhe, gleichzeitig eine solche von — 23,3®
beobachtet , so daß die um 720 m höhere Station um
17,8® wärmer war als die untere. Derartige Erschei-
nungen finden sich in jedem Winter wiederholt in unseren
Gebirgen. Zur vollen Ausbildung derselben ist die Nähe
eines barometrischen Maximums mit seiner charakteristi-
schen Eigenschaft eines niedersinkenden, trockenen Luft-
stroms erforderlich, begünstigt durch das Vorhandensein
einer weit ausgebreiteten Schneedecke. In den untersten
Luftschichten ist diese Temperaturzunahme mit der Höhe
am beträchtlichsten.
Die Erhebung über das Meeresniveau spielt bei dem
Zustandekommen dieser Erscheinung keine Rolle, denn
dieselbe tritt in jedem günstig gestalteten Hochthal in
derselben Weise auf. So betrug in dem genannten Bei-
spiele das Temperaturminimum in dem nur 100 m tiefer
in einer Hochmulde nahe dem Kamme des Gebirges ge-
legenen Oberhof (808 m) — 8,o ®, war also um 2,5 ® nied-
riger als auf dem Inselberge.
Im Zusammenhang mit dieser Erscheinung findet sich
zuweilen Gelegenheit, äußerst schnelle Temperaturver-
änderungen (auch solche der relativen Feuchtigkeit, s.
unten) auf Bergen zu beobachten, welche darin ihre Er-
klärung finden, daß ein gegen das Gebirge anwehender
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154 Richard Assiuann,
Luftstrom die eiskalte Luft der Niederung an demselben
in die Höhe schiebt und so den Gipfel auf kürzere oder
längere Zeit überflutet.
Der tägliche Gang der Lufttemperatur ist im Ge-
birge von verschiedenen Umständen abhängig, unter
welchen die Auslage gegenüber der Besonnung und
den häufigsten Winden und die Herrschaft lokaler Luft-
strömungen, der Tag- und Nachtwinde, besonders ein-
flußreich sind. Im allgemeinen nimmt die tägliche Wärme-
schwankung an isolierten Bergen mit der Höhe nicht
unbeträchtlich bis zu einer bestimmten Grenze ab, ebenso
tritt das Maximum der Temperatur früher ein als in der
Niederung. Erstere Erscheinung hat ihren Grund in dem
größeren Luftwechsel und der geringeren Ausdehnung
der Gipfelfläche, welche die Einstrahlungs- und Aus-
strahlungseflfekte vermindert, während letztere auf der
zunehmenden Bewölkung in den ersten Nachmittagsstunden
auf Berggipfeln beruht.
Die Untersuchungen der Temperaturunterschiede zwi-
schen Wald und Feld, welche, um die Mitwirkung anderer
störender Ursachen auszuschließen, in der Ebene anzu-
stellen sein würden, dürften schwerlich zu neuen Ergebnissen
führen, zumal dieselben von einer Anzahl forstlich-meteo-
rologischer Stationen unter Beachtung aller Vorsichtsmaß-
regeln fortgesetzt ausgeführt werden. Wir glauben daher
die Erörterung derselben hier übergehen zu können.
Wohl aber dürfte es durchaus der Mühe lohnen
durch methodische, für eine längere Zeit berechnete sorg-
fältige Beobachtungen den Einfluß zu untersuchen, welchen
ein größeres Wasserbecken der Ebene, ein größerer See,
wie wir deren auch im außeralpinen Deutschland zahl«
reiche besitzen, auf die Temperaturverhältnisse der näJieren
und weiteren Umgebung ausübt.
Dieses Objekt würde vor allen anderen zur Errichtung
eines „fliegenden Stationsnetzes**, auf einige Jahre Dauer
berechnet, geeignet sein, da bei der Unveränderlichkeit der
gegebenen geographischen Bedingungen in einem der-
artigen Zeiträume schon alle überhaupt zu erreichenden
Ergebnisse erlangt werden könnten. Zu diesem Zwecke
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 155
suche man rings um den See herum und in der Richtung
des vorherrschenden Windes auch noch in einigen Kilo-
metern Entfernung vor und hinter dem See eine Anzahl
von Stationen zu errichten, an welchen womöglich mit
völlig gleichartigen, sorgfältig verglichenen Instrumenten
nach einheitlicher Methode beobachtet wird. In besonders
wichtigen Perioden, z. B. denen der Spät- und Frühfröste,
würden zweistündliche, Tag und Nacht fortgesetzte Ab-
lesungen der Instrumente, oder die Zuhilfenahme von
registrierenden Thermometern zu empfehlen sein. Zu
letzterem Zweck sind die von Richard Fr^res in Paris
gelieferten Thermographen am besten zu verwenden. Be-
sondere Aufmerksamkeit würde dann auch den Temperatur-
verhältnissen zu widmen sein, welche mit dem Zufrieren
und Wiederauftauen des Wasserbeckens verknüpft sind.
Erhebungen dieser Art fehlen, wenigstens in methodischer
Ausführung, im außeralpinen Deutschland noch fast voll-
ständig, daher denn hier ausdrücklich auf deren erwünschte
Inangriffnahme hingewiesen werden soll.
Desgleichen verlohnt es sich durchaus der Mühe, den
Temperaturunterschied zwischen Stadt und Land gelegent-
lichen längeren Untersuchungen zu unterwerfen. Die
meisten meteorologischen Stationen liegen aus leicht be-
greiflichen Gründen in Städten, liefern daher Angaben,
welche nicht den Verhältnissen des betreffenden Erden-
ortes, sondern den künstlich modifizierten der dort befind-
lichen Stadt entsprechen. Für größere enggebaute Städte
kann aber der hieraus hervorgehende Fehler nicht nur in
den Einzelwerten, sondern auch im Durchschnitt längerer
Zeiträume eine nicht mehr zu vernachlässigende Höhe er-
reichen. In solchen Fällen würde die zeitweilige Er-
richtung einer zwar in der Nähe, aber außerhalb des
Wirkungskreises der Stadt liegenden Kontrollstation von
bedeutendem klimatologischen Werte sein, falls sich der
Beobachter in der Art der Aufstellung der Instrumente
und der Beobachtung streng an die Normen der Innen-
station anschließt.
Beobachtungsreihen der beiden letztgenannten Arten
werden auch ohne Zweifel von allen meteorologischen
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156 Richard Assmann,
Zentralinstituten gern angenommen und im klimatologischen
Interesse verarbeitet werden. Es liegt außerdem auf der
Hand, welche Wichtigkeit diese Forschungen für alle vom
Klima abhängigen Gewerbe der betreffenden Gegend selbst
haben müssen.
3. Bodentemperatur.
Beobachtungen über die Bodentemperatur werden nur
an wenigen größeren meteorologischen Stationen metho-
disch angestellt, verdienen aber als ein wichtiges klima-
tisches Element eine größere Beachtung. Die Vegetations-
verhältnisse in Gebirgsländem können z. B. nur unter
Zuhilfenahme derartiger Beobachtungsergebnisse richtig
gedeutet werden.
Bei dem Kapitel über Strahlungswärme fanden wir
schon als Ergebnis den mächtigen Einfluß der Strahlung
auf den Erdboden. Der Winkel, unter welchem der Erd-
boden von den Sonnenstrahlen getroffen wird, beherrscht
den Erwärmungseffekt im höchsten Maße. Da die Luft-
temperatur zu einem großen Teile von der Erwärmung
des Erdbodens abhängig ist, wird dessen Temperatur von
prinzipieller Bedeutung sein müssen. Außer dem Ein-
flüsse der Auslage ist aber auch die Wärmeabsorptions-
fähigkeit des Erdbodens von erheblicher Wirkung. So
wird sich dunkelfarbiger, trockener Erdboden beträchtlich
höher unter der Bestrahlung erwärmen als hellfarbiger
feuchter Grund, zumal hierbei noch ein nicht geringer
Teil der zugestrahlten Wärme zur Verdunstung des Wassers
verbraucht wird.
Die Vegetation befindet sich aber mit einem ihrer
wichtigsten Teile, den Wurzeln, innerhalb des Erdbodens,
wird daher durch dessen Temperatur unmittelbar beein-
flußt. Hieraus erhellt die Notwendigkeit, den Boden-
temperaturverhältnissen eine größere Aufmerksamkeit als
bisher geschehen zuzuwenden.
Die in neuerer Zeit in verschiedenen Gegenden Mittel-
deutschlands angestellten derartigen Untersuchungen haben
zunächst das ganz unerwartete Ergebnis zu Tage gefordert,
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 157
daß ein schwarzerdiger, trockener Boden auch in unseren
Breiten Temperaturen von mehr als 60^ annimmt; in der
Goldenen Aue z. B. und den schwarzgründigen Niederungen
des Thüringer Beckens wurden wiederholt 65 ^, in einzelnen
Fällen sogar 67® an einem auf dem Boden liegenden,
an seinem Gefä&e dünn mit IBrde überdeckten Maximum-
thermometer abgelesen. Daiä derartige hohe Temperaturen,
welche man früher allein den Wüstenklimaten zuerteilte,
unerwartet waren, ging aus dem Umstände hervor, daß
der größere Teil der zu diesem Zwecke beschafften, nur
bis 60® ausreichenden Maximumthermometer infolge der
hierüber hinausgehenden Temperaturen im ersten Sommer
zersprang.
Obwohl sich nicht verkennen läßt, daß die zu ge-
winnenden Resultate nur eine eng örtlich umgrenzte Be-
deutung haben können, außerdem von der Dicke der über
das Gefäß des Thermometers ausgebreiteten Erdschicht ab-
hängig sind, erhellt doch deren Bedeutung für die Kennt-
nis örtlicher klimatischer Erscheinungen sowohl, als auch
für diejenigen Gewerbe, welcher der Erforschung aller
ihrer Bodenverhältnisse naturgemäß Aufmerksamkeit zu-
zuwenden genötigt sind.
Aus der Thatsache der bedeutenden Wärmeabsorption
dunkler Böden geht aber auch die Notwendigkeit stärkeren
nächtlichen Wärmeverlustes derselben durch Ausstrahlung
hervor. Das Auftreten von Nachtfrösten wird daher in
solchen Gegenden in hohem Grade befördert erscheinen,
ein Ergebnis, welches für die Vegetationsverhältnisse von
einschneidendster Bedeutung ist. Versuche in größerem
Maßstabe, welche in schwarzerdigen Niederungen Nord-
deutschlands, z. B. im Drömling, dem großen Bruche im
Quellgebiet der Aller und Ohre, angestellt wurden, brach-
ten das interessante Ergebnis, daß in klaren Nächten auf
unbedecktem schwarzen Moorboden die nächtlichen Mini-
maltemperaturen um mehrere Grade niedriger waren als
an nahe benachbarten Stellen mit anderem Bodencharakter.
Bedeckte man aber, wie es zum Zwecke der sog. Moor-
dammkultur, von Rimpau in Cunran inauguriert, ge-
schieht, den Moorboden mit einer 10 cm hohen Sand-
Digitized by VjOOQ IC
158 Richard Assmann,
schiebt, so verschwand sofort der Unterschied in der
Strahlungserkaltung, so daß hierdurch der Vegetation eine
der drohendsten Gefahren ihrer Existenz um ein Beträcht-
liches verkleinert vrerden konnte. Hier zeigte sich also
auch die praktische Wichtigkeit wissenschaftlicher Unter-
suchungen in glänzendster Weise.
Die Messung der Bodenausstrahlung geschieht am
besten in analoger Weise wie die der Einstrahlungs-
wärme durch ein auf den Boden gelegtes Minimum-
thermometer mit leicht erdbedecktem Gefäße.
Im Winter erweisen sich bei vorhandener Schnee-
decke Beobachtungen der Temperatur am Erdboden unter
und über dem Schnee von hohem Interesse, indem sie
zeigen, wie außerordentlich beträchtlich der Schutz ist,
welcher eine Schneedecke dem Erdboden und den in ihr
befindlichen Wintersaaten gewährt. Man findet hierbei,
besonders in muldenförmigen Niederungen, nicht selten
ganz erstaunliche Unterschiede, welche bei starker Schnee-
decke 20^ und mehr betragen können.
Temperaturbeobachtungen in größeren Tiefen des
Erdbodens haben einen praktischen Wert nur für die
obersten, bis etwa 20 cm hinabreichenden Bodenschichten,
also bis zu einer Tiefe, in welche der größere Teil unserer
Kulturgewächse seine Wurzeln zu treiben pflegt. Man
benutzt zu diesem Zwecke solche Thermometer, deren
Gefäß um diesen Betrag unter dem unteren Ende der
Skala liegt. Für größere Tiefen verwendet man am
besten eingegrabene Lamonische Holzkästen von ver-
schiedener Länge, in welche das an einen viereckigen
Holzstab befestigte Thermometer bis zur gewünschten
Tiefe eingesenkt und mit dem Boden in Berührung ge-
bracht werden kann. Im Winter muß man bei niederer
Lufttemperatur während des Ablesens die Oeffhung des
Schachtes verdecken, um nicht die warme Luft der
größeren Bodentiefen entweichen und kalte Außenluft
deren Stelle einnehmen zu lassen.
Die Temperaturverhältnisse in größeren Tiefen des
Erdbodens, z. B. in Bergwerksschachten, Bohrlöchern oder
Tunnels erfordern zur sachgemäßen Beobachtung mannig-
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 159
fache Vorsichtsmaßregeln und kompliziertere Instrumente,
so daß eine selbständige Inangriffnahme solcher Unter-
suchungen hier nicht angeregt werden kann.
Im Gebirge kann man die beträchtlichen thermischen
Unterschiede der verschiedenen Seiten eines isolierten
Berges nach dem Vorgange von v. Kern er in der Weise
imtersuchen, daß man rings um denselben in gleicher
Höhe Bodenthermometer bis zu 5 cm Tiefe einsenkt und
regelmäßig 3 mal täglich abliest. Fügt man zu diesen
noch Maximumthermometer hinzu, so erhält man ein
interessantes Bild über die Temperaturen des Erdbodens
je nach seiner Auslage auch in der täglichen Periode.
V. Kern er s Versuche, welche aber eine 80 cm tiefe
Bodenschicht betrafen, ergaben im Jahresmittel den nörd-
lichen Abhang um 3,8 " kälter als die übrigen, fast gleich-
warmen Seiten des Berges, Im Sommer aber erwies sich
die südöstliche Auslage wärmer als die südwestliche und
südliche, was wohl mit der in den Mittags- und ersten
Nachmittagsstunden eintretenden Bewölkungszunahme zu-
sammenhängt. Die Nordseite blieb im Sommer um volle
5 ^ hinter der Südseite zurück, ein Ergebnis, welches auf
die Vegetationsverhältnisse der verschiedenen Abhänge
sicherlich nicht ohne Einfluß bleiben kann. Eine Wieder-
holung dieser recht wichtigen Untersuchungen an anderen,
günstig gewählten Orten entbehrt nicht eines erheblichen
Interesses, kann daher nur empfohlen werden.
4. Temperatur des Wassers.
Messungen der Temperatur von Quellen und Flüssen
oder stehenden Wasserbecken können gelegentlich auf
Reisen von erheblichem Interesse sein, wo es sich um die
Ermittelung von Gründen für außergewöhnliche Verhält-
nisse, warmer oder besonders kalter Quellen, Abnormitäten
in der winterlichen Eisbedeckung, Reichtum an Salzen,
welche den Gefrierpunkt erniedrigen, z. B. Soolquellen,
handelt.
Beobachtungen über das Gefrieren und Wiederauf-
tauen der stehenden Gewässer in bezug auf Eintrittszeiten
Digitized by VjOOQ IC
160 Richard Assmann,
und Dauer, Messungen der Temperatur und Dicke des
Eises unter Berücksichtigung der Lufttemperatur werden
bisher noch äußerst selten angestellt, entbehren aber nicht
eines erheblichen klimatologischen Interesses. Auch er-
scheint es bei der noch herrschenden Unsicherheit über
die Vorgänge bei der Bildung des sog. „Grundeises^
durchaus erforderlich, daß diesen sorgfaltige Beobach-
tungen gewidmet werden. Dieses bildet sich allwinterlich
in Seeen und Flüssen an flachen Stellen des Grundes, oft
in großen Mengen, und taucht nicht selten, mit Kies und
Steinen beladen, empor. Ob die Eisbildung am Boden
selbst vor sich gehe, oder von untergetauchten Eisschollen
der Oberfläche stamme, ist noch ebenso unaufgeklärt, als
die Frage, ob eine unter flacher Wasserbedeckung be-
findliche Bodenoberfiäche infolge von Wärmeausstrahlung
unter die Temperatur des anliegenden Wassers erkalten
könne. Es erscheint aber auch nicht unmöglich, daß
sich bei starker Winterkälte der Erdboden in der Um-
gebung eines Sees derartig abkühlen könne, daß auch
der Grund desselben an flacheren ufemahen Stellen durch
Fortleitung seiner Wärme unter den Gefrierpunkt erkalten
könne. Das Grundeis würde hierdurch zu einer Art
„Glatteis" werden, welches bei Berührung flüssigen Wassers
mit unter 0 ^ erkaltetem Erdboden entsteht. Zur metho-
dischen Untersuchung dürfte sich folgendes Verfahren
empfehlen. Man setze an solchen Stellen, welche er-
fahrungsgemäß zur Bildung von Grundeis disponieren,
zwei entsprechend lange Röhren von starkem Zinkblech
und etwa 5 cm Durchmesser in das Wasser ein, indem
man sie an je einem fest eingerammten Holzpfahle be-
festigt. Eines der unten dicht verschlossenen, oben offenen
Rohre reiche bis auf den Grund, das andere sei ungefähr
10 cm tief in denselben eingetrieben; oben reichen dieselben
einige Centimeter weit über den höchsten Wasserstand
hinaus. Bei Beginn des Winters füllt man dieselben mit
einer nicht gefrierenden Flüssigkeit, z. B. einer wässerigen
Ghlorkalciumlösung an und senkt ein Quellenthermoraeter
bis auf den Boden in dieselbe ein. Die obere Oeffhung
bedeckt man mit einer Metallkappe, welche, zur Hälfte mit
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Klima. 161
Talg vollgefüllt, dieselbe genügend dicht abschließt. Man
wird in dieser Weise durch einmalige Tagesablesungen
der beiden Thermometer, welche man mit einem Teile
der Bodenflüssigkeit schnell emporzieht, die Temperaturen
der untersten Wasser- und obersten Grundschicht ermitteln
und hieraus Anhaltspunkte für die weitere Aufklärung
der Grundeisbildung erlangen.
Hieran schließen sich Untersuchungen über inter-
essante Eisbildungen, wie sie nicht selten an Gebirgs-
bächen mit starkem Gefälle eintreten. Die Erkaltung des
Wassers erfolgt bei solchen, welche in verhältnismäßig
dünnen Schichten über größere freistehende Felsmassen
stürzen, nicht allein von der Oberfläche aus, sondern auch
von Seiten der Felsblöcke, welche sich mit einer Art an
Stärke stetig wachsenden Grundeises überziehen. Die
starke Strömung reißt lockere Teile desselben ab, während
die an Sprüngen und Rauhigkeiten haftenden widerstehen.
Allmählich wird so der Felsblock mit einer schwamm-
artigen, von Kanälen durchzogenen Eishaube überzogen,
durch welchen das Wasser nur noch hindurchsickert.
Schneeauflagerungen verstärken von außen dieses Eis und
lassen schließlich vollständige Brücken und Grotten ent-
stehen, unter welchen das übrig bleibende, wegen seines
starken Gefälles nicht zum Einfrieren kommende Wasser
hindurchsickert. Treten dann infolge gelegentlicher Tau-
ungen oder üeberflutungen stalagmitenartige Eiszapfen
von oft riesigen Dimensionen vor den Ausgang der Grotte,
ßo entstehen äußerst seltsame und interessante Gestalten,
welche zwar klimatisch unwichtig, aber für den Forscher
sehr lehrreich sind, weshalb auf deren gelegentliche Beob-
achtung bei winterlichen Gebirgsreisen hier hingewiesen
werden soll.
Das zur Beobachtung von Wassertemperaturen ge-
eignetste Instrument ist das sog. „Quellenthermometer",
dessen Gefäß von einem kleinen gläsernen Eimer umgeben
ist, in welchem man, nachdem das Instrument einige
Minuten lang, an einer Schnur versenkt, im Wasser ge-
hängt hat, eine kleine Menge des Wassers mit herauf-
bringt. Da dieses von der Temperatur der Luft nur sehr
Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung. \\
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162 Richard AssmanD,
langsam beeinflußt wird, kann man die Ablesungen be-
quemer ausführen. Man kann sich auch ein solches leicht
selbst herstellen, indem man ein kleines Medizinfläschchen
von 30 — 50 g Inhalt mittelst eines Fadens an das untere
Ende eines Thermometers derartig befestigt, daß das
Gefäß des letzteren ungefähr in der Mitte der Flasche
sich befindet. Der Hals des Fläschchens muß aber den
mehr als doppelten Querschnitt des Thermometergefäßes
haben.
Hierher gehört auch noch der Hinweis über die
Untersuchung der Temperaturverhältiiisse von Luft und
Wasser in den mehrfach in Deutschland anzutreffenden
Eishöhlen oder Eisgrotten, welche auch während eines
größeren Teiles oder während der ganzen wärmeren
Jahreszeit Eisbildungen bergen. Hier ist das abtropfende
Schmelz- oder Sickerwasser wiederholten Temperatur-
messungen zu unterwerfen, wenn möglich auch ein
Thermometer zwischen vorhandenen Eismassen einzu-
senken und längere Zeit abzulesen.
Beobachtungen der Temperg-tur (und Feuchtigkeit)
der Luft in mehreren Höhen der Höhle, besonders aber
in den untersten Schichten sind hierbei von Wichtigkeit ^).
n. Laftdrnck.
Die Messung des Luftdrucks zu allgemein klimato-
logischen Zwecken wird ohne Zweifel von den ständigen
') Nach Schwalbes ^üebersichtlicher Zusammenstellung lit-
terarischer Notizen über Eishöhlen und Eislöcher* in den Mit-
teilungen der Sektion für Höhlenkunde des österr. Touristenklubs
1887. 2 u. 3 sind im anßeralpinen Zentraleuropa folgende Eishöhlen
bekannt: 1. In der Eifel bei Roth. 2. Im Bergwerk bei Eisenberg
(bei Blankenburg i. Th.). 3. Bei Dürrberg (bei Böhmisch-Zwickau).
4. Bei Rosendorf in Böhmen. 5. Eisbildungen im Sauberge bei
Ehrentwiedersdorf (bei Sachsa). 6. Das Ziegenloch bei Questenberg.
7. Ein Basaltberg bei Kaltennordheim in der Vorderrhön. 8. Eis-
pinge bei Platten (im Erzgebirge). — Eisbildungen kommen vor:
1. An der Domburg (Westerwald bei Frickhofen). 2. An der Ring-
mauer auf dem Tagstein (Rhön). 3. Bei Burgk a. Saale (bei Eichicht).
4. Im Schwedenloch in der Sächsischen Schweiz.
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Klima. 163
meteorologischen Stationen Deutschlands in einer völlig
ausreichenden Weise vorgenommen, so dais einer Ver-
mehrung dieser Beobachtungen durchaus nicht das Wort
geredet werden kann. Auch die barometrische Höhen-
bestimmung liegt eigentlich außerhalb des Rahmens des
vorliegenden Aufsatzes. Für Gebirgsreisen kann nichts-
destoweniger die letztere recht erwünscht werden, so daß
die kurze Angabe des Verfahrens in seinen Hauptzügen
gerechtfertigt erscheint.
Luftdruckmessungen, welche eine größere Genauig-
keit erreichen sollen, müssen mittelst des Quecksilber-
barometers ausgeführt werden. Aneroidbarometer können
nur genäherte Luftdruckwerte geben, da sie manchen
Instrumentalfehlern unterworfen sind, welche nur durch
sorgfältigste Vergleichungen mit Normalinstrumenten er-
mittelt werden können.
Für die Höhenmessung ist es besonders wichtig, die-
jenigen Zeiten zu Beobachtungen des Barometers zu be-
nutzen, welche den Ablesungsterminen der ständigen
meteorologischen Stationen der betreffenden Gegend ent-
sprechen. Hierdurch wird man für die nachträgliche
Berechnung der Luftdruckwerte von den allgemeinen
Aenderungen derselben ziemlich unabhängig. Man wählt
zur Vergleichung selbstverständlich die nächstgelegenen
Stationen, deren Meereshöhe genau bekannt ist, aus
und ermittelt aus den gleichzeitig beobachteten Druck-
unterschieden den Höhenunterschied nach einer der be-
kannten Höhenmessungsformeln. Für den praktischen
Reisegebrauch sind hierzu die „Graphischen Barometer-
tafeln zur Bestimmung von Höhenunterschieden durch
eine bloße Subtraktion*, nach Dr. Vogler, entworfen von
H. Feld (bei Vieweg & Sohn in Braunschweig) sehr be-
quem und geben eine ausreichende Genauigkeit. Man hat
außer dem Barometerstande, welcher bis l,o mm genau
abzulesen ist, noch die Temperatur des am Barometer
befestigten Thermometers und die Lufttemperatur ab-
zulesen.
J. Hann giebt in seiner „Einführung in die Meteoro-
logie der Alpen •* (Anleitung zu wissenschaftlichen Beob-
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164 Richard ÄBsmann,
achtungen auf Alpenreisen) folgende einfache Regel, um
auf der Reise olme Tafeln kleinere Höhenunterschiede
berechnen zu können.
1. Man dividiere die Zahl 8000 durch den Barometer-
stand der unteren und oberen Station und nehme das
Mittel aus diesen Quotienten (bis auf 2 Decimalen).
2. Man vergrößere diesen Mittelwert um so viele
Tausendteile seiner selbst (oder Zehntelprozente), als die
doppelte Temperatursumme der oben und unten abge-
lesenen Temperatur beträgt.
3. Man multipliziere mit dieser so vergrößerten Zahl
(welche die Seehöhe in Metern angiebt, um die man bei
der herrschenden mittleren Lufttemperatur steigen muß,
damit das Barometer um 1 mm sinke) die Differenz B — b
der unten und oben abgelesenen Barometerstande.
Nur unter besonderen außergewöhnlichen Verhält-
nissen kann eine gelegentliche Luftdruckbestimmung von
Wert werden. VVie wir weiter unten sehen werden,
kommen Föhnerscheinungen auch in den Gebirgen des
außeralpinen Deutschlands nicht selten vor. Sorgfältige
Luffcdruckbeobachtungen in den betroffenen Gegenden er-
halten in solchen Fällen eine gewisse Bedeutung, da man
aus ihnen und den gleichzeitigen benachbarten Stationen
den Druckunterschied (Gradienten), welcher den Föhn er-
zeugte, ermitteln kann. Ebenso kann die in ganz kurzen
Pausen, z. B. von Minute zu Minute fortgesetzte Beob-
achtung des Barometers bei schweren Gewittern oder
Gewittersttirmen, besonders aber bei Gelegenheit von
tomado- oder trombenartigen Phänomenen (Windhosen)
von bedeutendem Werte fSr die Erforschung dieser Er-
scheinungen werden. Bei diesen kommen zuweilen ganz
beträchtliche kurze Druckschwankungen vor, deren Kennt-
nis für die Untersuchung des Phänomens große Wichtig-
keit erlangen kann.
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Klima.
165
in. Wind.
Die vorhandenen meteorologischen Stationen Deutsch-
lands geben einen vollauf genügenden Aufschluß über
die großen allgemeinen Luftströmungen in diesem Ge-
biete; eine Vermehrung der diesbezüglichen Beobachtungen
ist daher als zwecklos zu bezeichnen.
Um so wichtiger aber sind Untersuchungen über ört-
liche Luftströmungen, welche, besonders in den Gebirgen,
eine fast ebenso reiche Mannigfaltigkeit aufweisen wie
die Temperaturverhältnisse.
Als hauptsächlichste Repräsentanten örtlicher Winde
sind die Berg- und Thalwinde der Gebirge und die Land-
und Seewinde der Küsten zu bezeichnen. Beide sind die
Folgeerscheinungen von Temperaturunterschieden zwischen
Tag und Nacht.
Die Entstehung der Gebirgswinde erhellt aus folgen-
dem (s. Hann, Handbuch der Elimatologie S. 201). In
nachstehender Figur stelle AB einen Bergabhang dar.
.^LA.
Fig. 5.
fe&
c
B*
l^n
^^^^>^,T>^,^^
t
o'
K" _B
^^
^^m
a
^^^'"^^^Tf-rir
^■i^.-^^.i-.--^^^m
^.
Wenn größere atmosphärische Störungen nicht vorhanden
sind und die Abnahme der Lufttemperatur mit der Höhe
die normale ist, so ist der Luftdruck in allen horizon-
talen Flächen, hier durch die parallelen Linien hh dar-
gestellt, der gleiche, mithin kein Grund zum Auftreten
einer Luftströmung vorhanden. Durch die Wirkung der
Sonnenwärme auf das Thal und den Bergabhang wird die
über denselben befindliche Luft erwärmt und über ihr
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166 Richard Assmann,
früheres Volumen ausgedehnt. So wird die Luftsäule
aal über ihre bisherige obere Grenzfläche ausgedehnt, so
daß der Luftdruck in dieser um den Betrag der über die-
selbe erhobenen Luftmenge vermehrt wird. An der Stelle
i, wo die obere Fläche der Luftsäule aa' den Bergabhang
berührt, erfolgt jedoch keine Druckveränderung, da die
Lufbsäule a a' hier keine Höhe hat. Die vorher horizontale
Fläche gleichen Drucks hat hierdurch eine Neigung gegen
den Bergabhang erhalten, deren Folge das Auftreten einer
entsprechenden, dem Gefälle folgenden Luftströmung gegen
den Abhang hin ist. In den übrigen Luftsäulen hh\
cd findet derselbe Vorgang statt, so daß die ganze über
dem Thale und dem Abhänge liegende Luftmasse dem
Berge zuströmt.
Zugleich wird aber der Abhang selbst durch die
Sonnenstrahlen erwärmt und hierdurch die ihm anlie-
gende Luft ausgedehnt. Das Bestreben derselben in die
Höhe zu steigen setzt sich nun mit der gegen den Ab-
hang gerichteten Strömung zu einer resultierenden Be-
wegung zusammen, welche an dem Bergabhange aufwärts
gerichtet ist und als Thalwind, Tagwind, auch wohl
Unterwind bezeichnet wird. So entsteht die Erscheinung
einer saugenden Wirkung der Gebirge auf die Luft der
Umgebung.
Das Umgekehrte findet während der Nacht statt.
Nach Sonnenuntergang erkaltet die Luft und der Erd-
boden durch Ausstrahlung, wodurch eine Zusammenziehuug
und Höhenverminderung der Luftsäulen aa\ hh\ cc' ein-
tritt. Diese führt zu einer allmählichen Umkehrung des
Gefälles, welche einen vom Bergabhange abwärts wehen-
den Luftstrom erzeugt. Die Wärmeausstrahlung des Erd-
bodens ist aber außerordentlich viel größer als die der
freien Atmosphäre; deshalb wird sich die den Bergabhang
berührende Luft stärker abkühlen als die Luft über dem
Thale; sie wird sonach vermöge ihrer größeren Schwere,
ähnlich einem bergablaufenden Wasser, längs des Ab-
hanges nach dem Thale und weiterhin im Thale abwärts
strömen. Diese Luftströmung ist der kühle Bergwind,
auch Nacht- oder Oberwind genannt.
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Klima. 167
Die große Bedeutung dieses örtlichen Windregimes in
klimatischer Beziehung besteht hauptsächlich darin, daß
der Thalwind am Tage den Wasserdampf der Niederungen
an den Gebirgen in die Höhe führt, welche hiermit zu
Sammelapparaten desselben für ihre Umgebung werden.
Die relative Feuchtigkeit, die Bewölkung und die Nieder-
schläge nehmen daher in den Gebirgen am Tage zu,
während sie in den Niederungen gleichzeitig abnehmen.
In der Nacht findet das Umgekehrte statt. Ganz be-
sonders wichtig aber ist der örtliche Zirkulationsvorgang
für die hygienischen Verhältnisse solcher Thäler und
Niederungen, welche durch Gebirgsschutz dem Eindringen
der allgemeinen Luftbewegungen fast ganz entzogen sind.
In ihnen erfolgt die für die Gesundheit der Bewohner so
nötige Ventilation fast allein durch die Gebirgswinde,
welche die feuchte, mit Staub und Miasmen geschwängerte
Thalluft in die Höhe führen, wo Kondensations Vorgänge
durch Bildung von Wolken und Niederschlägen die staub-
förmigen und auch die gasigen Beimengungen aus der
Atmosphäre herausfällen und erstere zum großen Teile
hierdurch unschädlich machen. In der Nacht aber wird
die reinere und trockene Höhenluft der Niederung zu-
geleitet. Die Gebirge werden durch diese Vorgänge zu
wahren Reinigungsapparaten der Niederungsluft.
Die Beobachtung und das Studium dieser Erschei-
nung erscheint daher als eine der wichtigsten Aufgaben
klimatischer Kurorte, welche in Thäleni gelegen sind,
deren Ventilation ein mächtigerer Heilfaktor ist als der
vielgerühmte, aber noch ziemlich ungekannte „ Ozonreich-
tum".
Fast tiberall jedoch, wo an klimatischen Kurorten
meteorologische Beobachtungen angestellt werden, er-
scheint es als die vornehmste Sorge des Beobachters,
eine Windfahne auf einem möglichst hohen, das Thal
weit überragenden Berge aufzustellen, um nicht die örtlich
abgelenkten Luftströmungen des Thaies, deren Vorhan-
densein nur als eine die Beobachtung störende Erschei-
nung ohne jeglichen klimatischen Wert zu betrachten ist,
sondern die der freien Atmosphäre beobachten zu können.
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168 Richard Assmann,
Dieses Verfahren, für eine allgemeinen meteorologischen
Zwecken dienende Station das richtige, ist für die Kennt-
nis der klimatischen Verhältnisse eines Kurortes durch-
aus widersinnig. Hier bringe man eine empfindliche
Windfahne gerade mitten in dem Bette der örtlichen Luft-
strömungen an und beobachte deren Richtungsänderungen
an den verschiedenen Tageszeiten. Man kann ohne
weiteres einem der allgemeinen Luftbewegung entzogenen
Kurorte, welcher durch keine lokalen Winde ventiliert
wird, die notwendigen Eigenschaften eines klimatischen
Kurortes absprechen, da derselbe durch Anhäufung der
vielerlei Schädlichkeiten, welche sowohl aus der Besiede-
lung als auch aus dem Zusammenleben vieler Kranker
hervorgehen, nur eine Gefährdung der Bewohner be-
wirken wird.
um den Betrag der Ventilation beurteilen zu können,
ist die Beobachtung der Windstärke empfehlenswert,
welche man aber für diesen Zweck ebenfalls nicht auf
einer außerhalb des Thaies gelegenen Höhe, sondern in-
mitten der von den Patienten bewohnten Gebäude vor-
zunehmen hat.
Will man deren tägliche Periode ermitteln, so bedarf
man registrierender Apparate, welche am besten in einem
kleineren Robinsonschen Schalenkreuz-Anemometer mit
einer einfachen Vorrichtung zur selbstthätigen Notierung
von Richtung und Geschwindigkeit, letztere in Metern
pro Sekimde ausgedrückt, besteht (s. Fig. 6).
Die Aufzeichnung der Windrichtung erfolgt am ein-
fachsten durch eine durch das Dach eines Hauses hindurch-
gehende Windfahne, an deren unterem Ende ein mit Papier
bespannter Cylinder ^angebracht ist, welcher sich mit der
Fahne dreht ^). Ein das Papier berührender Schreibstift,
welcher an einer metallenen Zahnstange befestigt ist, wird
^) Derartige Vorrichtungen sind indes nur auf solchen Häusern
anzubringen, welche einen rationell konstruierten Blitzableiter haben,
da unzweifelhaft eine Vermehrung der Blitzgefahr ohne letzteren
bewirkt wird. Die Windfahnenstange ist mittelst eines 6 mm starken
Kupfer- oder 1 cm starken verzinkten Eisendrahtes an den Blitz-
ableiter metallisch anzuschließen.
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Klima.
169
durch eine einfache Uhr, deren treibendes Gewicht er dar-
stellen kann, gleichmäisig innerhalb eines bestimmten Zeit-
raumes (24 Stunden oder mehr) abwärts bewegt. Die
Registrierung der Windgeschwindigkeit kann durch einen
Flg. 6.
zweiten Stift von anderer Farbe auf dem Papiercyhnder in
der Weise erfolgen, daß derselbe durch einen galvanischen
Kontakt bei der fünfhundertsten (oder einer anderen) Um-
drehung des Schalenkreuzes gegen das Papier auf kurze
Zeit angepreßt wird.
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170 Richard Assmann,
Wo derartige, immerhin etwas kostspielige Apparate
nicht zur Verfügung stehen, muü man sich mit der mehr-
maligen täglichen Schätzung der Windstärke begnügen,
welche am besten nach der fast allgemein gebräuchlichen
12teiligen (Be auf ort-) Skala erfolgt. Dieselbe bezeichnet
Windstille mit 0, einen leisen Zug mit 1, leichten Wind
mit 2, schwachen Wind mit 3, mäßigen mit 4, frischen
mit 5, starken mit 6, steifen mit 7, stürmischen mit 8,
Sturm mit 9, starken Sturm mit 10, schweren Sturm mit
11 und Orkan mit 12.
Außer den genannten, bei ruhigem Wetter, besonders
während des Sommers in jedem Gebirgslande vorkommen-
den örtlichen Winden finden sich aber auch noch solche,
welche einzelnen Gegenden speziell eigentümlich sind und
ihren Grund in besonderen Gestaltungsverhältnissen von
Thälern haben. Der kalte, das langgewundene und
schluchtenreiche Thal der Wisp abwärts wehende Wisper-
wind, welcher bei seinem Eintritt in das wärmere Rhein-
thal häufig Nebel erzeugt, ist ein Beispiel derartiger
LokaJwinde. Derartige Erscheinungen mögen in den
meisten Gebirgsländern Deutschlands noch existieren,
ohne jedoch bisher besonderer Aufmerksamkeit gewürdigt
worden zu sein, weshalb es sich empfiehlt, denselben bei
Gelegenheit von Gebirgsaufenthalten nachzuspüren und sie
der Beobachtung zu unterwerfen. Hierbei ist deren
Temperatur und Feuchtigkeit in die Untersuchung hinein-
zuziehen.
Wir erwähnten schon auf S. 133, daß der Föhn,
welcher längst als eine vielen Bergländern eigentümliche,
durch hohe Temperatur und Lufttrockenheit ausgezeich-
nete, meist in stürmischer Stärke auftretende Luftströmung
erkannt worden ist, auch den Gebirgen des außeralpinen
Deutschlands nicht fehle. Zwar wird derselbe bei den
geringeren Höhen dieser Gebirge meistenteils seiner
Sturmesstärke sowie seiner extremen Wärme und Trocken-
heit entkleidet auftreten, doch bleibt er in vielen Fällen
durch die beiden letzteren Eigentümlichkeiten wohl er-
kennbar. Im Thüringerwalde und Harze sowohl als auch
im Riesengebirge ist derselbe wiederholt konstatirt worden.
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Klima. 171
Derselbe kommt unter denselben Bedingungen und
oft gleichzeitig ipit den Föhnen der nördlichen Alpen-
thaler dann zu stände, wenn eine barometrische Depres-
sion den Kanal oder die südliche Nordsee — für das
Riesengebirge kommt auch die Ostsee in Frage — kreuzt,
imter deren Einfluß die Luft aus den dieser Depression
zugekehrten Gebirgsthalem schneller abfließt als die auf
der anderen Seite lagernde Luft über das Gebirge her-
über zum Ersatz nachfolgen kann. Hierdurch entsteht
eine kleine örtliche Luftdruckverminderung, in welche nun
die Luft der Höhen mit mehr oder weniger großer Ge-
schwindigkeit hinabströmt. Da auf der dem Winde zu-
gekehrten Seite des Gebirges die Luft zum Aufsteigen
und hierdurch zur Verdichtung ihres Wasserdanipfes zu
Wolken und Niederschlägen gezwungen wird, hat die-
selbe nach Ueberschreitung des Gebirges einen Teil ihres
Wasserdampfes eingebüßt und sinkt nun an der Leesejii^
relativ trocken herab. Feuchte Luft, in welcher Konden-
sationen stattfinden, kühlt sich aber beim Aufstetgen um
100 m um etwa 0,5® ab, während trockene Luft ihre
Temperatur um l,o <^ für dieselbe Höhenstufe verändert.
Die auf der Luvseite aufsteigende Luft verliert also auf
diesem Wege um sehr viel weniger an Wärme, und zwar
um 0,5 ® flir 100 m weniger als die niedersinkende der
Leeseite zunimmt, so daß ein z. B. den Kamm des Riesen-
gebirges, dessen mittlere Höhe 1400 m beträgt, über-
schreitender Luftstrom, welcher in 200 m Höhe auf der
böhmischen Seite eine Temperatur von 5 ® hatte, auf dem
Kamme mit — l^ im,Hirschberger Thale aber mit 11^
Temperatur ankommen wird. Zugleich wird derselbe, an
sich schon relativ wasserdampfarm vom Gebirgskamme
kommend, durch die stattfindende Kompressionserwärmung
beim Niedersinken sich mehr und mehr von dem Sätti-
gungspunkte seines Wasserdampfes entfernen, also ver-
hältnismäßig trocken im Thale anlangen. Deshalb ist
auch heiterer Himmel im Thale charakteristisch für diese
Erscheinung, während der Gebirgskamm in schwere Wolken
gehüllt ist.
Im Riesengebirge scheinen übrigens auch die sturm-
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172 Richard Assmann,
artigen Böen des Föhns gelegentlich in heträchÜicher
Stärke aufzutreten.
Wenn auch der ausgesprochene Föhn im aufieralpinen
Deutschland unter die selteneren Vorkommnisse zu zählen
ist, so gehört doch das «föhnartige'* Niedersinken abge-
trockneter Luftmassen im Lee gewissermal^en zu den
normalen Vorgängen an denjenigen Gebirgen, welche sich
dem wasserdampfreichen Südwest- bis Westwinde quer
in den Weg stellen. Die höhere Temperatur, geringere
Feuchtigkeit und Bewölkung sowie die geringere Nieder-
schlagsmenge der Leeseite erscheint im wesentlichen als
auf diesem Vorgange des „ Niedersinkens ** der Luft be-
ruhend.
Als ein Analogon des regelmäßigen Windwechsels
zwischen Tag und Nacht, wie ihn die Gebirge aufweisen,
kann das Auftreten von Land- und Seewinden an den
Meeresküsten, aber auch an den Küsten größerer Binnen-
seeen angesehen werden.
Dieser Vorgang beruht auf der Erscheinung, daß im
Laufe des Tages bei steigender Besonnung die Luft über
dem Festlande oder in der Umgebung eines größeren
Binnensees aufgelockert wird und in derselben Weise wie
bei den Thalwinden zu einer Erhebung der Flächen
gleichen Luftdrucks Veranlassung giebt. Hieraus geht ein
Gefälle und ein Lufttransport nach dem kühleren Meere
hervor, so daß oberhalb desselben der Luftdruck um das
Gewicht der hinzugekommenen Luftmenge steigen, über
dem Lande aber um den Betrag der fortgenommenen
Luftmenge fallen muß. So entstehen Druckunterschiede
an der Erdoberfläche, die eine Ausgleichsströmung in
Gestalt des „Seewindes** hervorrufen, welche während des
Tages vom Wasser gegen die Küste gerichtet ist. Während
der Nacht erfahren umgekehrt die Flächen gleichen Drucks
eine Neigung vom Meere nach dem Lande zu, ent-
sprechend der durch Strahlungserkaltung bewirkten Ver-
dichtung und Zusammenziehung der FesÜandsluft, so daß
in der Höhe ein vom Wasser zum Lande, in der Tiefe
ein vom Lande zum Wasser gerichteter Luftstrom zur
Entwicklung gelangt.
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 173
Ebenso wie die Gebirgswinde werden diese Land-
und Seewinde ihre typischen Erscheinungen nur dann
erkennen lassen, wenn keine allgemeinen gröiaeren Strö-
mungen der Atmosphäre vorhanden und wenn die Be-
dingungen der kräftig wirkenden Ein- und Ausstrahlung
erfüllt sind.
In Deutschland, dessen Meeresküsten diese Be-
dingungen nur verhältnismäßig selten erfüllen, ist diese
Erscheinung in ihrer vollen Ausbildung, wie sie Regionen
niederer Breiten eigentümlich ist, nicht gerade häufig
und ist als klimatischer Faktor kaum zu bezeichnen.
An größeren Binnenseeen jedoch kann man dieselbe nicht
selten in voller Deutlichkeit nachweisen. Verbinden sich
infolge einer gebirgigen Umgebung die Erscheinungen
der Berg- und Thalwinde mit denen der Land- und See-
winde, so wird, da dieselben stets in demselben Richtungs-
sinne wirken — bei Tage vom Wasser gegen das Land
und vom Thale gegen den Berg, bei Nacht vom Lande
gegen das Wasser und vom Berge gegen das Thal — ,
deren Auftreten deutlicher und deren Wirkung merklicher
werden. Der unter dem Namen la Bise bekannte Lokal-
wind des Genfer Sees beruht z. B. auf dieser Kombina-
tion, dürfte aber auch an anderen größeren Wasserbecken
annoch unbekannte Analoga bei genauerem Nachforschen
finden.
Außer dem Studium dieses Windwechsels selbst ver-
dienen Untersuchungen über die Höhe der betreffenden
Luftströmungen Aufmerksamkeit, da einzelne Beobach-
tungen auf eine geringe Vertikaldimension derselben
schließen lassen. Höhere Türme (Leuchttürme) in der
Nähe von Küsten oder größeren Binnenseeen dürften da-
her sehr geeignet sein, als Beobachtungsstationen zu
dienen. Eine nach den oben auf S. 168 angegebenen
Vorschlägen konstruierte registrierende Windfahne würde
diesem Zwecke am besten dienen. Andernfalls sind
mehrmalige Beobachtungen zu solchen Zeiten, welche
nicht mit dem Wechsel der Windrichtungen zusammen-
fallen, ausreichend.
Beobachtungen über Windrichtung und Windstärke
Digitized by VjOOQ IC
174 Richard Asemano,
auf Reisen, besonders Gebirgsreisen, sind verhältnismäßig
leicht ausführbar und nicht selten von weitergehendem
Interesse, wo es sich um die Ermittelung örtlicher Eigen-
tümlichkeiten handelt. Ein kleines Taschenanemometer
mit Zählvorrichtung (s. Fig. 6 auf S. 169) erleichtert die
Gewinnung korrekterer Werte erheblich, sollte daher in
der Reiseausrtistung solcher Personen nicht fehlen, welche
klimatische Untersuchungen auf Reisen beabsichtigen.
IT. Wasserdampfgehalt der Luft.
Man ermittelt den Wasserdampfgehalt der Luft in
den der Erdoberfläche nächsten Schichten entweder durch
wirkliche Wägung des in Dampfform vorhandenen Wassers,
indem man dieses von einem hierzu geeigneten Körper
absorbieren läßt (Schwefelsäure, Chlorkalcium), oder indem
man eine erheblich unter die Lufttemperatur abgekühlte
Körperoberfläche mit der zu untersuchenden Luft in Be-
rührung bringt. Bei der dem «Taupunkt* der Luft
entsprechenden Temperatur der abgekühlten Oberfläche
erfolgt Verdichtung des Wasserdampfes in Gestalt eines
Taubeschlages. Trotz der mit genannten beiden Methoden
zu erlangenden Sicherheit der Ergebnisse bedient man sich
wegen der mit ihnen verbundenen umständlicheren Mani-
pulationen an den meteorologischen Stationen ausschließlich
eines anderen Verfahrens, welches auf der Ermittelung des
dem Wasserdampfgehalte der Luft entsprechenden Wärme-
verbrauches zur Verdunstung flüssigen (oder festen) Wassers
beruht. Das Gefäß eines von zwei gleichkonstruierten
sorgfältig verglichenen Thermometern wird mit einer
einfachen Lage weichen Musselins fest anliegend über-
zogen, welches durch Benetzung mit reinem, am besten
destilliertem oder Regenwasser, als Wasserdampfquelle
dient. Die zur Verdunstung dieses Wassers dienende
Wärmemenge wird hauptsächlich dem Thermometer-
gefässe selbst entzogen, so dass aus der Differenz zwi-
schen den Ständen der beiden benachbarten Thermometer
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Klima. 175
ein Rückschluß auf die Fähigkeit der umgebenden Luft,
Wasserdampf aufzunehmen, gemacht werden kann. Dieses
sog. Au gu st sehe Psychrometer, dessen Angaben auf Grund
einer empirischen Formel von Regnault sowohl für die
Spannkraft des Wasserdampfes (Dunstspannung) als auch
für das Verhältnis zwischen der wirklich vorhandenen und
der bei derselben Temperatur möglichen Wasserdampf menge
der Luft (relative Feuchtigkeit) verwertet werden, ist das
gebräuchlichste, weil bequemste Instrument zur Messung
der „Luftfeuchtigkeit". Doch bietet dasselbe in seiner
korrekten Behandlung sowohl als auch in der Auswertung
seiner Angaben so viele Schwierigkeiten und Unsicher-
heiten dar, daß von einer strengen Vergleichbarkeit der
mittelst desselben ermittelten Werte zur Zeit nicht die
Rede sein kann. Die Regnaultsche Formel gilt näm-
lich nur für eine mäßige Luftbewegung mit voller Schärfe,
wird daher in den vielen Fällen von geringerer oder
stärkerer Bewegung abweichende Ergebnisse liefern. Bei
niederen Temperaturen, wo die Verdunstung von Eis die
betreffenden Werte zu liefern hat, und schwacher oder
gänzlich fehlender Luftbewegung bedarf das Instrument
einer derartig langen Zeit zur Erreichung der größt-
mögUchen StanddiflFerenz der beiden Thermometer, daß
die richtige Behandlung derselben zu einer äußerst schwie-
rigen und zeitraubenden Aufgabe wird. Die Verein-
fachung und Verbesserung der Beobachtungsmethode er-
scheint daher als eine höchst wichtige Aufgabe.
Das oben auf S. 14(5 erwähnte Aspirationspsychro-
meter scheint nun geeignet zu sein, diesen Forderungen
gerecht zu werden, indem es an Stelle der zwischen
voller Windstille und stürmischer Stärke wechselnden
Luftbewegung eine nahezu unveränderliche Geschwindig-
keit der Luftzufuhr setzt, ferner aber auch die Ver-
dunstungsgeschwindigkeit durch fortgesetzte vollständige
AbfUhrtmg des verdampften Wassers um einen bedeu-
tenden Betrag erhöht, die zur Beobachtung nötige Zeit
daher erheblich abkürzt. Die Notwendigkeit, der von
den Regnault sehen Voraussetzungen abweichenden, aber
konstanten Luftbewegung eine modifizirte Formel anzu-
Digitized by VjOOQ IC
176 Richard Assmann,
passen, kann gegenüber den genannten Vorzügen nicht
in das Oewicht fallen. Eingehende Untersuchungen dieser
Frage befinden sich zur Zeit im Gange.
Eine fernere, wegen der Unsicherheit der winter-
lichen Psychrometermessungen hauptsächlich zur Inter-
polation benutzte Methode beruht auf der Eigenschaft
entfetteten Menschenhaares, Wasser aus der Luft aufeu-
nehmen und hierdurch Veränderungen seiner Länge zu
erfahren . Das Saussure sehe Haarhygrometer, von Koppe
in eine bequemere Form gebracht, beruht auf diesem
Prinzip, ist aber nur imstande, bei häufiger Vergleichung
mit einem Psychrometer und Justierung seines der vollen
Dampfsättigung entsprechenden Standes einigermaßen ver-
läßliche Ergebnisse zu fördern.
Methodische Beobachtungen des Wasserdampfgehaltes
der Luft werden, wie aus diesen Erörterungen hervor-
geht, am besten den ständigen meteorologischen Stationen
vorbehalten bleiben. Doch wird es auch durch kürzere
oder gel^entliche Beobachtungen gelingen können , kli-
matisch wichtiges Material zu gewinnen, falls man sich
des die meisten Vorteile bietenden Aspirationspsychro-
meters bedient. Als derartige üntersuchungsobjekte können
wir folgende ins Auge fassen.
Zur Zeit von winterlichen ümkehrungen der verti-
kalen Temperaturverteilung sind Ermittelungen der ent-
sprechenden Wasserdampfverhältnisse in verschiedenen
Höhen an einem Gebirge von großem Interesse, zumal
wenn die in der Niederung angesammelte kalte und
feuchte Luft durch einen Thalwind vorübergehend an
den Abhängen heraufgeschoben wird und die benach-
barten Höhen überflutet. Hierbei kommen interessante
imd prinzipiell wichtige Sprünge in den Verhältnissen der
relativen Feuchtigkeit vor. Desgleichen bietet die Unter-
suchung der relativen Feuchtigkeit bei Gelegenheit von
Föhnen erhebliches Interesse dar, zumal wenn es möglich
ist, die ermittelten Werte mit solchen zu vergleichen,
welche gleichzeitig auf der Höhe des Gebirges und auf
der Luvseite desselben angestellt wurden. Auf höheren
Bergen kommen nicht selten ganz außergewöhnlich niedrige
Digitized by VjOOQ IC
Klima. 177
Werte der relativen Feuchtigkeit zur Beobachtung, so
daß die Anstellung derartiger sicherer Aufzeichnungen als
wünschenswert zu bezeichnen ist. Zweckmäßig wird man
dieselben in kürzeren Intervallen, z. B. von einer Stunde,
wenn möglich gelegentlich über Tag und Nacht aus-
gedehnt, vornehmen können.
Hieran reihen sich Untersuchungen, welche weniger
einen klimatologischen als einen rein meteorologischen
Wert im engeren Sinne beanspruchen, z. B. die Unter-
suchung der relativen Feuchtigkeit in den verschiedenen
Schichten von Wolken, wie dies nicht selten auf höheren
Bergen bequem ausführbar ist. In größeren Höhlen, be-
sonders aber in Eishöhlen, wo die Verdunstungsverhält-
nisse prinzipieDe Wichtigkeit erlangen können, dürfte sich
gleichfaUs die Anstellung derartiger Beobachtungen em-
pfehlen.
Vor Gewittern kommen nicht selten ungewöhnliche
Erniedrigungen der relativen Feuchtigkeit vor, welche
volle Beachtung verdienen, ebenso ist diesem Faktor bei
Gelegenheit der seltenen trombenartigen Phänomene mög-
lichste Aufmerksamkeit zu widmen.
Die Beobachtungen über die Verdunstung leiden
bisher an einer so bedeutenden Unsicherheit infolge der
Unmöglichkeit, die natürlichen Verhältnisse zur Messung
zu benutzen, daß dieselben als empfehlenswert nicht be-
zeichnet werden können, obwohl aus denselben manches
Interessante, besonders in Gebirgen, ermittelt werden
könnte. Mit der Höhe nimmt die Verdunstung bedeu-
tend zu.
«
V. Hydrometeore.
Unter dem Namen „Hydrometeore** faßt man aUe die-
jenigen Erscheinungsformen des atmosphärischen Wassers
zusammen, welche nicht dem gasförmigen Aggregatzu-
stande angehören: Nebel, Wolken, Regen, Schnee, Graupeln,
Hagel, Tau, Reif, Rauhreif und Glatteis.
Nebel und Wolken stellen die erste Verdichtungs-
stufe des Wasserdampfes dar; beide bestehen meist aus
AnleltuDg zur dentsohen Landes- und Volksforschuug. 12
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178 Richard Assmann,
kleinen, zwischen 0,oo6 und 0,oi7 {^jno bis ^eo mm) im
Durchmesser haltenden Wassertröpfchen, welche wegen
ihres geringen Gewichtes nur langsam abwärts sinken, oder
durch die Bewegungen der Atmosphäre schwebend erhal-
ten werden. Die Annahme, daß die Wolkenelemente aus
Bläschen und nicht aus vollen Tropfen beständen, hat sich
trotz ihrer inneren Unwahrscheinlichkeit mit großer Zähig-
keit noch immer erhalten und ist sogar aus neueren Lehr-
büchern noch nicht endgültig verschwunden. Es ist hier
nicht der Ort beide Auffassungen gegeneinander abzu-
wägen, weshalb nur festgestellt werden möge, daß die
direkte Beobachtung mit dem Mikroskop ausnahmslos
volle Tropfen ergeben hat und daß die Bläschenform
nach Obermayer eine physikalische Unmöglichkeit ist^).
Zur Beobachtung der Wolkenelemente, welche als
durchaus wünschenswert bezeichnet werden muß, kann
man am bequemsten die der Erdoberfläche selbst auf-
liegende Wolke, den Nebel benutzen. Unter einem im
Freien aufgestellten, mit einem gewöhnlichen gläsernen
Objektträger versehenen Mikroskope bemerkt man bei
2 — 300f acher Linearvergrößerung die Wolkenelemente in
Gestalt von kleinen Regentropfen auf den Objektträger
auffaUen. Messungen derselben stellt man mittelst des
gewöhnlichen Okularmikrometers ohne Schwierigkeit an.
Wichtiger werden solche Beobachtungen auf höheren
Bergen zumal dann, wenn, wie im Winter nicht selten,
deren Gipfel mit der oberen Wolkengrenze zusammen-
fällt. Durch Hinabsteigen kann man dort die Größen-
verhältnisse der Tröpfchen in den verschiedenen Schichten
der Wolke untersuchen.
Von prinzipieller Wichtigkeit aber ist die Unter-
suchung der Wolkenelemente bei Temperaturen unter
0^, da die gewöhnliche Annahme, daß in diesem Falle
an SteDe der Tröpfchen Eiskrystalle die Wolke zusammen-
setzen, durch die bisherigen Beobachtungen nicht bestätigt
worden ist. Auf dem Brocken fand z. B. der Verfasser
bei einer Temperatur von — 10^, ja von — 13^ die Wolken-
*) Einen ferneren Beweis hat auch Kießling geliefert
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Klima.
179
elemente ohne Ausnahme in flüssigem Zustande vor; doch
zeigten dieselben die Zeichen der „Ueberkaltung", indem
sie bei der Berührung eines festen Gegenstandes fast
unmittelbar zu einem entsprechend großen amorphen Eis-
körnchen erstarrten. In dieser Form bildeten sie die-
jenige Niederschlagsform, welche als Rauhreif, Anraum
oder Duftanhang bezeichnet wird. In den Gebirgen nimmt
dieselbe ganz kollossale Ausmaße an, so daß z. B. ein
auf dem Brocken stehender Telegraphenpfahl einen Durch-
messer von 2,90 m durch Rauhreifansatz erhalten hatte ^).
Fig. 7.
Alle Gegenstände, welche dem Winde ausgesetzt sind,
werden von dem Rauhreif überzogen, welcher sich in der
Richtung gegen den Wind in Gestalt der zierlichsten
Feder- und Blumengebilde an sie ansetzt, oft die Ge-
*) Um unseren Lesern einen Begriff von der Massenhaftigkeit
des Rauhreifes auf Berggipfeln zu verschaffen, seien hier einige vom
Verfasser auf dem Brockengipfel aufgenommene Photographieen
reproduziert. Fig. 7 stellt den oben erwähnten Telegraphenpfahl
von 2,90 m Durchmesser dar, Fig. 8 u. 9 geben Bilder von ver-
eisten Fichten unterhalb des Brockengipfels.
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180
Richard Assmann,
stalten dieser Gegenstände in der wunderlichsten Weise
verändernd.
Der Untersuchung bedürftig ist besonders in dieser
Beziehung die unerwartete Thatsache, daß Ueberkaltungen
des Wassers bei den ununterbrochen bewegten Wolken-
tröpfchen vorkommen können, ebenso das Fehlen aller
krystallinischen Eisgebilde bei niederen Temperaturen.
Desgleichen fehlen Beobachtungen über die Ent-
stehung des Schnees in der Atmosphäre noch vollständig,
da die Möglichkeit vorhanden ist, dass der Wasserdampf
Fig. 8.
unmittelbar ohne die Zwischenstufe des flüssigen Tröpf-
chens in Gestalt eines Eiskrystalles verdichtet werde.
Beobachtungen im Luftballon und auf Höhenstationen
haben nicht selten das Vorhandensein eines äußerst feinen
Krystallstaubes (als Diamantstaub gelegentlich bezeichnet)
in der Atmosphäre ergeben, welchen man als die erste
Bildungsstufe des Schnees anzusehen hat; niemand aber
hat noch beobachtet, daß aus einem flüssigen Wolken-
tröpfchen ein sechsseitiges Eissäulchen geworden ist, wie
man dies a priori hätte erwarten sollen.
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Klima.
181
Daß • in der That die höheren , unter dem Namen
der Federwolken oder Girren bekannten Wolken aus Eis-
kry stallen in Form von sechsseitigen Säulchen bestehen
müssen, hat die optische Untersuchung der Sonnen- und
Mondringe, welche in diesen Wolken durch Lichtbrechung
und Reflexion entstehen, streng bewiesen.
Wie man sieht, ist auf diesem Gebiete noch ein
weites und für unser Verständnis der wichtigsten meteo-
rologischen Vorgänge belangreiches Forschungsfeld oflfen,
Fig. 9.
weshalb wir nicht anstehen, zur vielseitigen Inangriflf-
nahme dieses Problemes hierdurch anzuregen.
Das Gleiche gilt von der Sammlung direkter Be-
obachtungsbeweise für die Richtigkeit der Aitkenschen
Hypothese, nach welcher der atmosphärische Staub die
unerläßliche Vorbedingung zum Eintreten der Verdichtung
des Wasserdampfes überhaupt darstellen solle. Es ist
unzweifelhaft, daß diese „ Kondensationskeime ** unter einem
guten Mikroskop wahrgenommen werden können, indem
man die ziemlich schnell eintretende Verdunstung der
Wolkentröpfchen unter dem Mikroskop sorgsam verfolgt.
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182 Richard Assmann,
Vermutlich wird man aber hierzu starke Vergrößerungen,
800 — lOOOfache, nötig haben, da mit einer 400fachen
kein Ergebnis gewonnen werden konnte *).
Die Entstehung der Graupeln, jener Konglomerate
von Eiskrystallen , mehr aber noch die des Hagels, ist
noch nicht im entferntesten sicher bekannt, bedarf daher
der sorgfältigsten Untersuchung unter günstigen Bedin-
gungen. Da gerade auf diesem Gebiete gelegentliche
touristische Ermittelungen wertvoll werden können, auch
besondere instrumentelle Vorbereitungen kaum erforderlich
sind — mit einer starken Lupe wird man schon manches
Interessante zu Tage fördern können — , so sei auch
hierauf besonders hingewiesen.
Kommt man bei Gebirgsreisen in die Wolkenregion,
so versäume man niemals, die Temperatur und die Feuch-
tigkeit der Luft innerhalb derselben, am besten durch das
Aspirationspsychrometer, festzusteUen und mittelst einer
starken Lupe, besser mittelst eines Taschenmikroskopes von
etwa 200maliger Linearvergrößerung die Gestalt und den
Aggregat'zustand der Wolkenelemente zu ermitteln, was man
unschwer auf einem frei exponierten Glasplättchen vorneh-
men kann. Finden sich Krystallformen vor, so versuche
man, eine Anzahl derselben zu zeichnen, achte auch darauf,
daß (nach Norde nskiöld) der Schnee in zwei verschie-
denen Formen, der sechsseitigen Säule und dem rechtwink-
ligen Parallelepipedon, krystallisieren soll. Die allgemeinen
Witterungsverhältnisse, Windrichtung und Stärke, Dicke
der Wolke, etwaige elektrische Erscheinungen in derselben
oder in der Nähe beachte und notiere man sorgfältig.
Nur auf dem Wege der direkten Beobachtung kann
es allem Anschein nach gelingen, endlich Licht in die
noch der gewagtesten Hypothesenfabrikation ausgesetzten
Kondensationsvorgänge in den höheren Schichten der
Atmosphäre zu bringen.
^) Näheres findet sich in den Aufsätzen des Verfassers : Mikro-
skopische Beobachtung der Wolkenelemente auf dem Brocken im
2. Jahrgang der Meteorologischen Zeitschrift S. 41, ebenso in „Vom
Brocken' im 2. Jahrgang der meteorologischen Monatsschrift «Das
Wetter" S. 25.
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Klima. . 183
Aber auch die unserer Beobachtung unmittelbar zu-
gänglichen Kondensationserscheinungen, wie der Tau und
der Reif, bedürfen noch durchaus der fortgesetzten For-
schung, wie aus der neuerdings von Aitken aufgestellten
Behauptung hervorgeht, dass der Tau zum größeren Teile
nicht dem Wasserdampfe der Luft, sondern dem Wasser
der Erdoberfläche und Pflanzen entstamme.
Hierauf abzielende Untersuchungen werden sich im
wesentlichen auf Bedeckungen von bewachsenen und un-
bewachsenen sowie von wasserreichen und trockenen
Stellen des Bodens mit flachen Glasschalen und Beobach-
tungen der Taumengen an den verschiedenen Objekten
sowie auf Temperatur- und Feuchtigkeitsbestimmungen
in der untersten Luftschicht erstrecken müssen. Des-
gleichen fehlen noch die Beobachtungsnachweise darüber,
ob der Reif aus Eiskrystallen oder aus amorphen Eis-
klümpchen, wie der Rauhreif, besteht und, wenn ersteres
der Fall ist, welche Krystallform derselbe aufweist. Ebenso
ist nachzuweisen, ob derselbe aus einem schon vorhande-
nen Tautropfen durch Gefrieren entsteht, oder ob eine un-
mittelbare Kondensation des Wasserdampfes zu Eis vorgeht.
Außer diesen in meteorologischer Beziehung wichti-
gen, der Erledigung harrenden Fragen subtilerer Natur
ist über Beobachtung der Hydrometeore noch folgendes
zu erwähnen.
Die Bewölkung wird in der Weise beobachtet, daß
man eine Schätzung der vorhandenen Wolken vornimmt,
indem man sich dieselben bis zur Berührung ihrer Rän-
der zusammengeschoben denkt und nun zu ermitteln
sucht, wie viele Zehntel des ganzen Himmels von diesen
bedeckt sein würden. Bei dem großen Einfluß, welchen
die Bewölkung auf die Ein- und Ausstrahlungsverhält-
nisse ausübt, würde die Konstruktion eines entsprechen-
den Registrierapparates, besonders für die Nachtzeit, einen
erheblichen Wert haben müssen. Leider sind alle bisher
angestellten Versuche erfolglos geblieben, da die Zeit und
Dauer des Sonnenscheins registrierende Apparate, der
Campbell-Stokesche, sowie der Maurersche, keinen
Schluß auf die allgemeine Himmelsbedeckung gestatten,
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184 Richard Assmann,
vielmehr nur angeben, ob und wann der Ort der Sonne
am Himmel bewölkt oder unbewölkt gewesen ist.
Lokalen Eigentümlichkeiten in der Bewölkung ein-
zelner Gegenden, besonders an den Luv- und Leeseiten
von Gebirgen oder an dominierenden Ber^ipfeln, Schätzun-
gen der unteren oder oberen Wolkengrenzen nach be-
kannten Höhen der Gebirgsprofile ist gleichfalls Aufmerk-
samkeit zuzuwenden; ebenso sind Angaben über Fem-
sichtsverhältnisse gelegentlich wichtig.
Die neuere Zeit hat der Höhenbestimmung der Wolken
eine grössere Aufmerksamkeit zugewendet, wodurch nach
dem Vorgange von Vettin, Hildebrandson, Ekholm
und Hagström wichtige Aufschlüsse über die Luft-
strömungen in verschiedenen Schichten der Atmosphäre
gewonnen wurden. Die Anstellung solcher Beobachtungen
erfordert jedoch einen großen Aufwand von Geduld und
Erfahrung oder die Anwendung komplizierter Methoden
und Apparate, z. B. der photogrammetrischen, so daß von
einer Darstellung derselben hier abgesehen werden muß ^).
Unter den verschiedenen Wolkenformen, deren Haupt-
typen durch die Haufwolke (cumulus), die Schichtwolke
(stratus) und die Federwolke (cirrus) bezeichnet werden,
verdienen besonders die letzteren, die Girren, eine ein-
gehendere Beobachtung. Ihre Bewegung erscheint meist
wegen der großen Höhe derselben — 6 — 8000 m und
mehr — als eine kaum wahrnehmbare, weshalb deren
Ermittelung oft viel Geduld und Aufmerksamkeit erfordert.
Außer ihrer Bewegung ist die Erstreckungsrichtung der-
selben besonders dann zu beachten, wenn sie in Gestalt
langer Bänder oder Streifen von einer Himmelsgegend
über den ganzen Himmel hinüber bis zu der gegenüber-
liegenden reichen (Polarbanden). Querstreifungen und
Kämmungen derselben sind ebenfalls mit ihrer Erstreckung
zu notieren. Man hüte sich aber wohl, tieferliegende,
ähnlich gestaltete Wolkengebilde als Girren anzusehen,
^) Näheres findet man in der Meteorologischen Zeitschrift an
vielen Stellen, z. B. UI. S. 41, 189, 279, 19, 231, 279, 40; IV. S.73,
214, 424 u. a. m.
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Klima. 185
versuche vielmehr stets vorher eine angenäherte Höhen-
schätzung derselben. Den die Gewitterwolken regelmäßig
begleitenden, oft aber hinter den niederen Wolken ver-
steckten Cirrusschirmen ist ebenfalls Aufmerksamkeit zu-
zuwenden. Näheres siehe unter Gewitter auf S. 189.
üeber die Messung der Niederschläge in ihren ver-
schiedenen Formen geben alle Instruktionen für meteoro-
logische Stationen ausreichende Belehrung; auch haben
dieselben nur dann einen Wert, wenn sie ohne Unter-
brechungen Jahre hindurch fortgesetzt werden. Nur bei
außergewöhnlichen Vorkommnissen, z. B. Wolkenbrüchen
oder gewaltigen Schneefällen, können kürzere Beobach-
tungsreihen gelegentlich von Wert werden. Andererseits
sind es gerade die Niederschlagsmengen und Niederschlags-
dichten, welche eine wichtige Rolle in der auf die Tech-
nik und Bodenkultur angewandten Klimatologie spielen.
Aber auch für diese Zwecke ist die Gewinnung langer
Reihen ein unbedingtes Erfordernis, zumal kaum eines der
übrigen klimatischen Elemente ähnlich großen Schwan-
kungen unterworfen ist. Auf Reisen wird die Nieder-
schlagsmessung in den meisten Fällen unausführbar sein,
obwohl man bei extremen Ereignissen, bei welchen es
sich weniger um streng korrekte Messungen als um eine
möglichst richtige Abschätzung der Mengen handelt, selbst
mit primitiven Hilfsmitteln wertvolles Material gewinnen
kann. Ein Litermaß, ein größerer Trinkbecher kann in
solchen Fällen wohl als Regenmesser dienen, falls man
dessen Oeffnungsquerschnitt und das Gewicht oder Vo-
lumen des in ihm angesammelten Wassers einigermaßen
genau anzugeben vermag. Bei Schneefällen bestimme man
die Höhe der Schneedecke mittelst eines Centimeterstabes,
wobei man sucht, solche Stellen zur Messung zu wählen,
an welchen der Schnee gleichmäßig gefallen ist.
Für klimatologische Untersuchungen im engeren Sinne
kommen noch Beobachtungen über die bei stärkeren oder
länger anhaltenden Niederschlägen herrschenden Winde,
besonders an Gebirgsrändern, in Frage; ebenso die Unter-
suchungen über die vertikale Verteilung der Niederschläge
an Gebirgen in verschiedenen Jahreszeiten.
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186 Richard Assmann,
Hierher gehören auch die Beobachtungen über die
Höhe und den Verlauf der Schneegrenzen an den Ge-
birgen in den verschiedenen Jahreszeiten, besonders auch
die Eonstatierung übersommemder Schneemengen, ebenso
Messungen über die Höhe der Schneedecke sowie über
das Datum ihres Eintrittes und Verschwindens. Hieraus
werden sich manche für die Forstkultur sowohl als auch
für die Wasserverhältnisse des Bodens wichtige Schlüsse
ziehen lassen.
Wo die örtlichen Verhältnisse es gestatten, richte man
auch seine Aufmerksamkeit auf die Ermittelung der Tiefe
des Eindringens der Niederschläge in den Erdboden und
auf die Veränderungen des Grundwasserstandes. Ersteres
ermittelt man in roherer Weise durch Aufgraben des Erd-
bodens nach stärkeren Regenfällen oder im Frühjahr
nach der Schneeschmelze und Feststellen der Tiefe der
durchfeuchteten Schicht. Subtilere Bestimmungen würde
folgende Methode ergeben können. Man versenke neben-
einander eine Anzahl dicht verlöteter, 1 — 2 cm im Durch-
messer haltenden Zinkröhren von verschiedener Länge,
welche an ihrem unteren Ende ebenfalls dicht verschlossen,
in der Höhe von 1 cm über ihrem Boden aber ringsum
mit Löchern von etwa 2 mm Durchmesser versehen sind.
Ihr oberes Ende ist offen, aber durch einen überfassenden
Deckel gegen eindringenden Regen verschließbar. In jede
Röhre wird ein mit einem starken Faden umbundener
kleiner Wattebausch mittelst eines Stabes bis zum Boden
hinabgestoßen, der Faden aber an einem im Deckel des
Rohres innen angebrachten Haken locker hängend be-
festigt. Auf den Wattebausch schüttet man unter Ver-
meidung jeder Feuchtigkeit zuerst einen Fingerhut voll
pulverisierten Blutlaugensalzes und auf dieses ein gleiches
Quantum von Eisenvitriol. Man kann diese beiden Salze
auch, trocken gemischt, in eine kleine Patrone von Fließ-
papier füllen und mittelst des Stabes vorsichtig hinab-
schieben. Im trockenen Zustande reagieren diese beiden
Substanzen durchaus nicht aufeinander, jeder hinzutretende
Wassertropfen aber färbt dieselben und mit ihnen den
Wattebausch blutrot, so daß aus dem Vorhandensein
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Klima. 187
dieser Färbung mit Sicherheit auf das seitliche Eindringen
flüssigen Wassers durch die Löcher des Rohres geschlossen
werden kann. Hat man nun Röhren von 2, 4, 6, 8, 10,
15, 20 u. s. w. Centimeter Länge nebeneinander in den
Boden eingesenkt, dieselben oben sicher verschlossen und
sämtliche mit einem Brett tiberdeckt, um das Eindringen
Jes Regens an dem äußeren Umfange der Röhren zu ver-
hindern, so kann man durch Herausziehen der Watte-
bäusche mittelst der Fäden nach jedem stärkeren Regen
oder im Frühjahr nach der Schneeschmelze feststellen,
bis zu welcher Tiefe das Gemisch von seitwärts einge-
drungenem Wässer gerötet worden ist.
Diese allerdings etwas umständliche Untersuchung
hat den wichtigen Zweck, festzustellen, ob, wie man fast
allgemein annimmt, das Grundwasser aus dem einge-
drungenen Niederschlagswasser entsteht oder nicht. Letz-
teres wird von Volger und anderen mit aller Bestimmt-
heit behauptet, da in der That die Beweise für das
Eindringen des Regenwassers bis in diejenigen Tiefen
fehlen, in welchen das Grundwasser sich befindet^).
Den Grundwasserstand kann man in einem unbenutz-
ten Brunnen oder besser in einer zu diesem Zweck ein-
gesetzten, unten offenen Röhre entweder durch einen
Schwimmer oder durch einen eingesenkten Maßstab be-
stimmen, indem man die Entfernung des Grundwasser-
spiegels bis zur Erdoberfläche mißt.
YI. Außergewöhnliche Yorkommnisse.
Unter den als „außergewöhnlich" zu bezeichnenden
atmosphärischen Vorkommnissen sind an erster Stelle die
elektrischen Erscheinungen zu nennen. Die Beob-
achtung der Gewitter ist neuerdings im größeren Teile
Deutschlands in systematischer Weise energisch in An-
griff genommen worden, so daß es überflüssig erscheinen
könnte, zu einer weiteren Vermehrung der Beobachtungen
*) Näheres siehe Meteorologische Zeitschrift IV. S. 388.
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188 Richard Assmann,
anzuregen. Erwägt man aber, daß die Gewitter nicht
selten eine äußerst lokale Begrenzung, besonders in Ge-
birgen, haben, so wird auch der nach Vollendung der
Organisation eines Beobachtungsnetzes von 2000 Stationen
für die preußische Monarchie auf eine Station entfallende
Beobachtungsradius von 8 km vielerorts noch als erheb-
lich zu groß bezeichnet werden müssen, um über all'e
Gewittererscheinungen Berichte erhalten zu können. Da
aber eine Verwertung der Gewitterbeobachtungen nur
durch Zusammenfassung derselben zu erreichen ist, möge
sich ein jeder, welcher beabsichtigt diesen Erscheinungen
seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, an das meteorologische
Zentralinstitut seines Landes wenden und sich, wenn dies
wünschenswert erscheint, in das allgemeine Beobachtungs-
netz mit einreihen lassen. Da eine ausführliche In-
struktion in diesem Falle von dem Zentralinstitute dem
Beobachter erteilt wird, beschränken wir uns hier auf
das Wesentlichste.
Man beobachte bei einem aus der Ferne heran-
ziehenden Gewitter zunächst seine Bewegungsrichtung,
indem man diejenige Himmelsgegend, in welcher es zu-
erst bemerkt wurde, notiert und weiter zu ermitteln sucht,
ob dasselbe über den Beobachtungsort selbst hinweg
oder seitwärts desselben vorüberzieht. Im letzteren Falle
ist diejenige Himmelsgegend anzugeben, in welcher es
wieder am Horizont verschwunden ist.
Den vielen Gewittern vorhergehenden stürmischen
Böen, welche oft große Staubmassen in die Höhe treiben
oder Zerstörungen anrichten, ist eine besondere Aufmerk-
samkeit zuzuwenden, indem man ihre Richtung, Zeit des
ersten Sturm stoßes und dessen Stärke notiert.
Als Anfang eines Gewitters wird der erste für den
Beobachter hörbare Donner angesehen, da derselbe als
ein scharf markiertes, sinnenfälliges Ereignis am ehesten
vom Beobachter wahrgenommen werden kann. Zwar
werden auch hierbei Täuschungen nicht ausgeschlossen
sein, indem durch lautes Geräusch, wie in größeren
Städten, oder behindernde Thätigkeit des Beobachters
dessen Wahrnehmung beeinträchtigt werden kann. Doch
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Klima. ] 89
bieten die in anderen Ländern üblichen abweichenden
Bestimmungen eine noch geringere Sicherheit, wie z. B.
die Zeit des beginnenden Regens in Nordamerika oder
die Zeit der größten Entwickelung der Gewittererschei-
nungen in Italien. Die Beobachtung des letzten Donners,
als Ende des Gewitters, macht deshalb beträchtliche
Schwierigkeiten, weil man häufig wiederholt einen im
Endstadium eines Gewitters wahrnehmbaren Donner für
den letzten halten kann, während in längeren Zwischen-
räumen deren noch mehrere nachfolgen. Man thut daher
besser, das Ende des Gewitters nur schätzungsweise an-
zugeben.
Recht wichtig ist es, dem Aussehen der herankom-
menden Gewitterwolke Aufmerksamkeit zu widmen, be-
sonders in den Fällen, in welchen abnorme Erscheinungen,
wie trombenartige Bildungen, an derselben wahrzunehmen
sind. Dem Gewitter fehlt niemals ein dichter Schirm von
derb verfilzten Girren, welcher mit demselben sich fort-
bewegt. Am Vorderrande ragen dieselben meist wenig
über die unteren Wolken über, haben jedoch an den
Seiten und besonders am hinteren Rande eine größere
Ausdehnung. Wahrscheinlich besteht dieser Schirm aus
„falschen** Girren, da optische Erscheinungen, wie sie in
Eiswolken stattfinden müßten, mit Sicherheit in ihnen
nicht konstatiert worden sind. Sorgfältige Beobach-
tungen dieser Verhältnisse würden sehr erwünscht sein.
Der Vorderrand einer Gewitterwolke ist durch einen
meist äußerst drohend erscheinenden dunkeln, zuweilen
fast schwarzen Bogenwulst charakterisiert, welcher mit
Sturmeseile vom Horizont heraufzieht. An diesem „ Wolken-
vorhang" oder „Wolkenkragen" treten nicht selten zackige,
weit nach unten hängende Wolkenfetzen auf, welche gegen
den mehr lichtgrauen, helleren Hintergrund scharf ab-
stechen. Hat der Bogen das Zenit passiert, so beginnt
meist sparsamer großtropfiger Regen, während starke
Niederschläge, besonders auch Hagelfälle erst aus dem
helleren Wolkensegment erfolgen. Der Wolkenkragen
verdankt der vor dem Gewitter in rapidem Aufsteigen
begrifiFenen warmen und feuchten Luft und der hierdurch
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190 Richard Assmann,
hervorgerufenen energischen Wasserdampfkondensation zu
dichten Wolken sein Aussehen, während im Gebiete des
herabstürzenden Niederschlages Luft aus der Höhe mit
herabgerissen wird, welche hierdurch dynamisch erwärmt,
deshalb zur Wolkenbildung ungeeignet und aus diesem
Grunde trotz des fallenden Regens durchsichtig ist. So
stellt ein Gewitter bis zu einem gewissen Grade- eine
Walze mit horizontaler, zur Fortpflanzungsrichtung recht-
winkliger Achse dar; doch ist der Drehungssinn, derselben
dem einer rollenden Walze entgegengesetzt, indem auf
der Vorderseite derselben aufwärts, auf der Rückseite
abwärts gerichtete Bewegung herrscht. Unter günstigen
Umständen, z. B. auf höheren Bergen, welche nicht selten
das Schauspiel vorbeiziehender Gewitter gewähren, lassen
sich manche der vorstehend angegebenen Vorgänge that-
sächlich beobachten, weshalb die Aufmerksamkeit hierauf
gelenkt werden soll. Hierbei sei die Bemerkung ein-
geschaltet, daß die oft von Touristen aufgestellte Be-
hauptung, sich über einem im Thale tobenden Gewitter
im Sonnenschein befunden zu haben, meist auf Selbst-
täuschung beruht, da man seitwärts vor den Augen des
Beobachters sich abspielende Vorgänge erfahrungsgemäß
für unterhalb vorhandene anzusehen pflegt. Jedenfalls
darf behauptet werden, daß ein Gewitter, dessen obere
Grenze mit dem dazugehörigen Cirrusschirm niedriger als
1200 — 1400 m gelegen habe, noch nirgends sicher fest-
gestellt worden ist.
Von außergewöhnlichen Vorgängen bei Gewittern
sind noch abnorme Blitzformen zu erwähnen. Nicht
selten treten, besonders bei schwereren Gewittern, starke
Teilungen und Verzweigungen der Blitze in einer auch
dem Auge deutlich sichtbaren Weise auf, welche der
Beobachter unmittelbar nach ihrer Wahrnehmung nach
dem im Auge zurückbleibenden Nachbilde zu zeichnen
versuchen sollte. Die Blitzphotographieen der Neuzeit
haben gezeigt, daß die meisten Blitze aus einem Bün-
del verzweigter Strahlen bestehen, welche dem Auge
als ein Strahl erscheinen. Rosenkranzförmige Blitze, aus
stark glänzenden Knoten bestehend, welche durch einen
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Klima. 191
schwächeren Strahl miteinander verbunden sind, femer
stabreihenförmige Blitze, aus einer Reihe scheinbar voll-
kommen voneinander getrennter, zugespitzter Säulen be-
stehend, und die seltenen, aber nicht mehr in den Be-
reich der Fabel zu verweisenden Kugelblitze verdienen
die besondere Aufmerksamkeit des Beobachters. Letztere
zeichnen sich durch eine langsame Bewegung und plötzliche
mächtige Enddetonationen aus. In höheren Gebirgslagen
bietet sich zuweilen Gelegenheit, Material zur Beantwor-
tung der wichtigen Frage zu sammeln, ob es Entladungen
giebt, welche von der tieferen, eigentlichen Gewitter-
wolke nach dem darüberliegenden Cirrusschirm erfolgen.
Neuerdings hat man auch die Aufmerksamkeit auf
die Farben der Blitze gerichtet, welche sich im wesent-
lichen um blauweiß und rot zu gruppieren scheinen. Die
Bedingungen, unter welchen nicht selten sämtliche Blitze
die eine oder die andere Farbe zeigen, sind noch un-
bekannt, bedürfen aber dringend der Untersuchung, zu-
mal es den Anschein hat, als ob dieselben mit der zün-
denden oder nicht zündenden Wirkung der Blitze im
Zusammenhange ständen.
Ein fruchtbares und interessantes Feld der Beob-
achtung bietet die Untersuchung der Blitzschläge, wes-
halb man niemals versäumen sollte, den Weg des Blitzes
und die denselben bestimmenden Ursachen womöglich
unmittelbar nach dem Vorfalle sorgfältig zu untersuchen.
Hierbei ist auf den Grundwasserstand, dessen Höhe
man nach benachbarten Brunnen ermitteln kann, die Art
und Beschaflfenheit des Untergrundes, Nähe von höheren
Bäumen oder überragenden Gebäuden, ferner auf das
Vorhandensein etwaiger blitzanziehender Gegenstände wie
Windfahnen, eiserne Schom steinkappen u. a. m. zu achten.
Vorhandene Wasser- und Gasleitungen sind stets auf
Spuren des Blitzes zu untersuchen.
Hatte das vom BUtz getroffene Gebäude aber einen
Blitzableiter, so ist sorgfältig nach den unzweifelhaft
vorhandenen Fehlern in der Anlage desselben zu suchen;
meistens sind dieselben in den Erdableitungen zu finden,
da von gewissenlosen Fabrikanten dieser der unmittelbaren
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192 Richard Assmann,
Betrachtung entzogene, aber wichtigste Teil der Anlage
häufig völlig ungenügend konstruirt wird. Im Interesse
der Beseitigung der leider noch immer herrschenden Vor-
urteile gegen die Blitzableiter erscheint es eine dringende
Pflicht, jedem derartigen Falle, welcher imstande ist diese
Vorurteile zu nähren, mit größter Sorgfalt auf die Spur
zu kommen, dem zugehörigen meteorologischen Zentral-
institute aber genauen Bericht über denselben zu er-
statten.
Nicht so selten, als man gemeinhin annimmt, findet
sich auch Gelegenheit, die unter dem Niunen des St. Elms-
feuers bekannte Erscheinung der unter Lichtentwickelung
ruhig aus Spitzen ausströmenden Elektricität zu beob-
achten. Man bemerke sich außer dem Phänomen selbst
in seinen Einzelheiten noch den allgemeinen Witterungs-
zustand so gut als möglich.
Auch die allerdings sehr seltene Erscheinung des
nächtlichen, schattenlosen Leuchtens der Gegenstände bei
Abwesenheit aller anderen Lichtquellen sowie das Phäno-
men der selbstleuchtenden Wolken verdient volle Beob-
achtung. Man suche hierbei die Helligkeit des beob-
achteten Lichtes zu ermitteln, z. B. durch den Versuch
das Zifferblatt der Uhr zu erkennen, schätze die Ent-
fernung der äußersten sichtbaren Gegenstände ab und
notiere genau die Zeit und alle wichtigen Nebenum-
stände.
Untersuchungen über die atmosphärische Elektricität
anzustellen ist trotz der so wesentlich vereinfachten
Exn ersehen Methode doch ohne Fach Vorkenntnisse nicht
ratsam, weshalb auch hierüber keine weiteren Anleitungen
gegeben werden sollen.
Der Beobachtung zugänglich und durchaus benötigt
sind dagegen jene in ihrer gewaltigsten Entwickelung glück-
licherweise höchst seltenen Phänomene, welche unter dem
Namen von Tornados, Tromben, Windhosen, auch
wohl als Cyklone oder Wirbelstürme bezeichnet, Zerstörun-
gen im größten Maßstabe anrichten. Der Tornado von
Krossen a. 0. am 14. Mai 1886 stellte ein derartiges
Phänomen in voller Entwickelung dar, während die Wind-
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Klima. 193
hose von Wetzlar am 23. Mai desselben Jahres als Bei-
spiel einer Trombe mit nicht minder schweren, aber viel
enger begrenzten Zerstörungen dienen kann. Kleinere ähn-
liche Erscheinungen kommen erheblich häufiger vor als
man gewöhnlich glaubt.
Bei der Wichtigkeit, welche derartige Vorkommnisse
auch in theoretischer Beziehung besitzen — steht doch
der Streit über auf- oder absteigende Richtung der Luft-
bewegung in den Tromben zur Zeit in schönster Blüte —
ist es durchaus erforderlich, bei der gelegentlichen Beob-
achtung derselben sowie bei der nachträglichen Unter-
suchung ihrer Wirkuiigen nach einheitlichem Plane zu
verfahren, weshalb hier eine das Wesentlichste umfassende
Anleitung folgen soll.
Für Beobachtungen des Phänomenes selbst gelten
folgende Gesichtspunkte: 1. Erscheinungen bei der Ent-
wickelung: Himmelsgegend des ersten Auftretens, Form,
Zugrichtung, Geschwindigkeit, etwaige wirbelnde Be-
w^ungen der Sturmwolke unier Angabe des Richtungs-
sinnes; Beobachtung (und Notierung) eines Barometers
(auch eines Aneroides), Thermometers, besser noch Psy-
chrometers (oder Hygrometers) und der herrschenden
Windrichtung imd Stärke. 2. Bei der Annäherung: wenn
irgend mögUch Zeichnung der Sturm wölke, Notierung
sichtbarer Wirkungen derselben, wie Staubwolken, Wasser-
bewegungen, Bewegungsrichtung der mitgeflihrten Gegen-
stände; Barometer, Thermometer, Wind, wenn thunlich
auch bei der größten Annäherung aufzuzeichnen. Zeit-
angaben sind mit möglichster Genauigkeit nach Ortszeit
zu machen, elektrische Phänomene, Hagel und Regenfälle
sind gleichfalls zu beachten. 3. Nach dem Yorübergange:
Ablesung der Instrumente und Ermittelung der Wind-
richtung und Stärke, darauf genaue Aufnahme der Zer-
störungsspuren nach folgender Vorschrift: a) Angabe der
zerstörten Gegenstände, Schätzung des Gewichtes derselben,
b) Angabe der Richtung, in welcher die zerstörende Kraft
bei den einzelnen Gegenständen gewirkt hat, nach einem
guten Kompaß unter Berücksichtigung der Mißweisung
Anleitung zur dentschen Landes- and Yolksforschang. \^
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194 Riebard Assmann,
(magnetischen Deklination) und Vermeidung störender
Einflüsse, wie Eisenmassen, c) Peststellung der Lagerung
der Zerstörungsobjekte übereinander in Beziehung auf
deren Streckungsrichtung. Besonders an diesen Teil der
Untersuchung gehe man ohne jede vorgefasste Meinung
über die Natur des Phänomens streng nach den objek-
tiven Befunden, d) Seitliche Abgrenzung und Ermittelung
des vorhergehenden und des weiteren Weges der Er-
scheinung.
Berichte dieser Art, durch Einzelbeobachtungen zu-
verlässiger Personen vervollständigt, säume man nicht,
dem zuständigen meteorologischen Zentralinstitut zu wei-
terer Auswertung und wissenschaftlicher Verarbeitung
unverzüglich zu übersenden.
Der Beobachtungen über die Bildung von Hagel auf
hohen Bergen haben wir oben schon Erwähnung gethan;
hier erübrigt nur noch darauf hinzuweisen, daß der Form,
welche durch Zeichnungen zu fixieren wäre, dem inneren
Bau, dem Gewichte einzelner Stücke, der Menge und auch
der Temperatur des Hagels unmittelbar nach seinem
Fallen Aufmerksamkeit zuzuwenden ist. Genauere Ver-
folgung und Abgrenzung der Zerstörungsspuren sind von
großem Werte für das Studium der Erscheinung.
Den in Gebirgen nicht allzu seltenen optischen
Phänomenen, besonders der unter dem Namen des
«Brockengespenstes'' bekannten Erscheinung eines
den Schatten des Beobachters auf einer nahen Wolken-
wand umgebenden farbigen Ringes, einer Art Regenbogen,
ist gleichfalls eine systematische Beobachtung zuzuwen-
den. Man richte hierbei seine Aufmerksamkeit auf fol-
gende Punkte. 1. Angabe der Tageszeit, der Bewölkungs-
verteilung und Schätzung der Entfernung der das Phäno-
men zeigenden Wolke. 2. Sorgfältige Schätzung der
Dimension des Schattens im Vergleich zur eigenen Größe
des Beobachters, um die Frage endgültig zu erledigen,
ob der Schatten, wie noch immer angegeben wird, „riesen-
hafte'' Dimensionen gehabt habe, was physikalisch un-
möglich erscheinen muß. 3. Angenäherte Messung des
Ringdurchmessers. Hierfür giebt Sharpe (im Quarterly
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Klima. 195
Journal of the Royal Meteorological Society, Vol. XIII,
No. 64, Oktober 1887) folgende Vorschrift: Man schließe
ein Auge, halte das Taschentuch in Armlänge wagerecht
ausgespannt, bedecke mit dem einen Ende desselben den
Bing an einer Seite und bemerke sich mit der anderen
Hand die Stelle des Tuches, welche den gegenüberstehen-
den Bogenrand deckt, markiere sich dann diese Stelle
durch einen Knoten. Nun kontrolliere man durch Wieder-
holung des Verfahrens, ob der Knoten an der richtigen
Stelle sitzt. Durch spätere Messung der Länge des
Taschentuchendes und der Entfernung desselben bis zum
Auge bei ausgestreckten Armen kann leicht der Winkel
ermittelt werden, welcher vom Auge beiderseits nach dem
Bogen vorhanden gewesen ist. Um die Breite des Farben-
kreises selbst zu bestinmien, kann man einen kleineren
Gegenstand, z. B. ein Taschenmesser, in derselben Ent-
fernung zur Deckung mit demselben zu bringen suchen.
4. Bestimmung der Reihenfolge der Farben.
Da über die Natur dieser Erscheinung noch immer
Meinungsverschiedenheiten vorhanden sind, indem einige
sie für eine Wirkung der Beugung des Lichtes, andere Ar
einen wirklichen Regenbogen (unter letzteren Sharp e) er-
klären, ist die genauere Beobachtung recht wünschenswert.
Für hygienische Zwecke erscheint noch die neuer-
dings in Aufnahme kommende Untersuchung der atmo-
sphärischen Luft in bezug auf Beimengungen empfehlens-
wert. Man gewinnt den atmosphärischen Staub am
einfachsten in der Weise, daß man mittelst eines Wasser-
aspirators von nicht zu kleinen Dimensionen, ungefähr 0,2 bis
0,5 cbm Inhalt, atmosphärische Lufb durch eine mit sorg-
föltig rein gehaltenem, vorher schon an Proben auf seinen
Rückstand geprüften destillierten Wasser gefüllte kleine
Waschflasche in kleinen Blasen aufsteigen läßt, den ge-
fangenen Staub dann durch Abdampfen des Wassers im
Wasserbade gewinnt und mit größter Sorgfalt wägt.
Ueber die Natur des Staubes geben mikroskopische und
mikrochemische Untersuchungen Aufschluß, auf welche
wir hier nicht eingehen, da sie ohne fachmännische Vor-
bildung ergebnislos bleiben müssen.
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196 Richard Assmann.
Will man der Untersuchung des Ozongehaltes der
Luf}; Aufmerksamkeit zuwenden, so benutze man an Stelle
des wenig empfindlichen Jodkaliumpapiers das neuerdings
von Wurster mit Vorteil verwandte Tetramethylpara-
phenylendiaminpapier, welches man befeuchtet und in
einer Flasche mit aspirierter Luft in Berührung bringt.
Die vorstehende Anleitung, welche den Zweck ver-
folgte, weniger die allgemein geübten und in jeder In-
struktion für meteorologische Stationen ausführlich be-
handelten klimatologischen und meteorologischen Beob-
achtungen zu erörtern als den bisher beiseite gelassenen
oder selteneren Erscheinungen Aufmerksamkeit zuzuwen-
den, hat gezeigt, an wie vielen Punkten noch die Er-
forschung der einschlägigen Verhältnisse auch in Deutsch-
land lohnenden Erfolg verspricht.
Möge sie an ihrem Teile zur Beschleunigung unseres
Fortschreitens auf dieser Bahn beitragen!
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Pflanzenverbreitung.
Von
Prof. Dr. Oscar Drude
in Dresden.
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Alljährlich ziehen Tausende deutscher Vaterlands-
genossen von jeglichem Alter und Beruf hinaus in Wald
und Aue, um in ernster oder spielend-heiterer Beschäf-
tigung mit den lieblichen Kindern der Flora die Einzel-
züge des Landschaftsbildes kennen zu lernen, welches
unserer Heimat ihr Gepräge verliehen hat und zusammen
mit dem Aufbau der zum Meere nordwärts sich ab-
senkenden Berglandschaften und Thalzüge, zusammen mit
der im Jahreszeitenwechsel schwankend und launisch, bald
früher bald später die Lebenserscheinungen der Pflanzen
umgestaltenden Witterung, zusammen endlich mit der auf
deren Gegenwart angewiesenen Tierwelt die wesentlich-
sten Eigenschaften des deutschen Natur- und Kulturlebens
enthält.
Seitdem durch die klaren Begriffs- und Namen-
gebungsbestimmungen des unsterblichen Linn^, welcher
in seiner „Flora lapponica* (1737) ein erstes und vortreff-
liches Muster wissenschaftlicher Floristik schuf, die letz-
tere aus dem Rahmen der schwerfällig sich weiter-
bewegenden klassifizierenden Systematik herausgehoben
und gewissermaßen zum Gemeingut derer umgestaltet
wurde, die in Beschränkung ihrer Ziele und Wünsche
wenigstens in dem um sie herum grünenden Garten der
Natur sich zu Hause fühlen, in diesem das Zusammen-
wirken des Teppichs verstehen wollen, seit dieser Zeit
ist eine fast ungezählte, von Jahr zu Jahr sich mehrende
Menge von Hilfsbüchern zu dieser Art des Studiums, zu-
meist unter dem Titel „Exkursionsfloren'', in Deutschland
wie in den benachbarten mit Deutschland sich in das
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200 Oscar Drude,
rührigste Streben auf wissenschaftlichem Gebiete teilenden
Ländern erschienen. Bei uns wurde in der ersten Hälfte
•dieses Jahrhunderts, neben Reichenbachs „Flora ger-
manica excursoria* und umfangreicher Ikonographie, be-
sonders durch die hochstehenden Leistungen von W. D. J.
Koch eine erweiterte Grundlage geschaffen, welcher be-
rühmte Florist als Arzt in Kaiserslautern zusammen mit
F. C. Hertens in Bremen im Jahre 1823 den ersten Band
einer veränderten Ausgabe von Rohlings „Deutschlands
Flora" verfaßte, aber noch vor deren Vollendung (sie
wurde mit Band V, Klasse XVIII des Linnäschen Sy-
stems, abgeschlossen) die selbständige Durcharbeitung einer
neuen Flora auf Grund des natürlichen Systems unter-
nahm; dieselbe erschien nach seiner Beruftmg auf den
botanischen Lehrstuhl zu Erlangen im Jahre 1837 unter
dem Titel „Synopsis Florae Germanicae et Helveticae*
und erfuhr in zweiter, nach seinem Tode in dritter Aus-
gabe wesentliche Bereicherungen. Sein „Taschenbuch der
deutschen und Schweizer Floi'a*', von welchem E. Hallier
im Jahre 1878 eine ganz neue Umarbeitung vollzog, hat
in mehreren aufeinander folgenden Ausgaben den schwer-
wissenschaftHchen Stoff der „Synopsis** in kurze und
leichtfaßliche Form gebracht.
Viele Nachfolger, berufene und unberufene, hat Koch
gefunden, und neben den Zusammenstellungen der ge-
samten, von der Nord- und Ostseeküste bis zum Südhange
der Schweizer und österreichischen Alpen zusammen-
gefügten Pflanzenwelt ist in ähnlicher Anordnung und
Methode eine wachsende Menge von kleineren Provinzial-
oder Territorialfloren entstanden (siehe Schlußabschnitt:
Litteratur).
Nur auf eine Bearbeitung des deutschen Gebietes ist
hier noch aufmerksam zu machen, da sie, wenn auch mit
Ausschluß der Alpenkette, gleichsam das Erbe von Kochs
beliebtem Taschenbuche angetreten hat; es ist dies
A. Garckes „Flora von Deutschland**, seit der 13. Auf-
lage aus einer Flora von Nord- und Mitteldeutschland
auf das gesamte Deutsche Reich ausgedehnt, mit Recht
am meisten verbreitet und berühmt geworden; in kleinem
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Pflanzenverbreitung. 201
Format schließt sie auf einem Raum von über 500 Seiten
so riel des Wissenswerten in sich ein, dafi sie ein Vade-
mecum auf botanischen Streifztigen in Deutschland zu*
bilden berufen ist.
Diese wie die meisten unten zu nennenden Werke
beschäftigen sich ausschließlich mit den Blütenpflanzen
(Phanerogamen) einschließlich der Farne, Schachtelhalme,
Bärlappe. Aber auch die übrigen Klassen der Sporen-
pflanzen, zumal die Moose, Flechten und manche Süß-
wasseralgen, haben ein hohes floristisches Interesse und
regen die Sanmiler zu weiterem Eifer an, wenn sie die
Schätze der Blütenpflanzen kennen gelernt haben. Das
umfangreichste Hilfsmittel auf diesem Gebiete gewährt
die jetzt im Erscheinen begriffene neue ^Dr. L. Raben-
horsts Kryptogamenflora von Deutschland, Oesterreich
und der Schweiz** (2. Auflage, Leipzig 1885 u. f.), wäh-
rend für den hauptsächlichsten Teil Mitteldeutschlands
ausreichend bei der weiten Verbreitung der Sporenpflanzen
einstweilen die von Cohn veranstaltete Herausgabe der
EuTyptogamenflora von Schlesien (Bd. I: Qefäßkrypto-
gamen, Laub- und Lebermoose, Charen; Bd. H: Algen
und Flechten; Bd. HI: Pilze) dienen kann. Für die viel
studierten Laubmoose besonders ist die von J. Milde im
Jahre 1869 herausgegebene „Bryologia Silesiaca, Laub-
moosfiora von Nord- und Mitteldeutschland* ein hervor-
ragender Leitfaden geworden, neben ihr die aus dem
Nachlaß von J. Juratzka im Jahre 1882 herausgegebene
ff Laubmoosflora von Oesterreich-Üngarn**.
Kürzere Anleitungen sollen am Schluß nachgetragen
werden.
Es ist wohl selbstverständlich, daß es jedem, der in
deutschen Landen floristische Arbeit treiben will, darum
zu thun sein muß, an der Hand guter und für bequemen
Gebrauch abgekürzter Bücher den systematischen Abriß
über die bei uns zusammengefügten Pflanzenarten sich in
erster Linie zu eigen zu machen und beherrschen zu
lernen. Es ist nicht denkbar, daß ohne diese Grundlage
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202 Oscar Drude,
irgend etwas Ersprießliches für deutsche Floristik geleistet
werde, da selbst phänologische Beobachtungen eine ge-
. wisse sichere Kennerschaft voraussetzen.
Aber freilich erschöpft ist das Wissen und Können
auf floristischem Gebiete mit der eben bezeichneten Grund-
lage nicht; das strahlende Gebäude, zu dem tausend fleißige
Köpfe und Hände schon seit Jahrzehnten eifrig forschend
die Bausteine zusammengeschleppt haben und welches der
Erkenntnis des Naturlebens selbst geweiht sein soll, in
allen seinen den Geist anziehenden Fragen nach organi-
scher Ausgestaltung und nach der Abhängigkeit von ver-
gangenen wie gegenwärtig fortwirkenden Bedingungen,
das soll erst auf dieser sicheren Grundlage errichtet wer-
den, das umschließt erst das Wesen der „Flora", welche
etwas ganz anderes darstellen soll als ein Stückchen des
allgemeinen Systems der Pflanzenwelt.
Systematiker und Floristen sind zwar aufeinander
hingewiesen, aber sie brauchen mit ihren Bestrebungen
und Zielen nicht in derselben Person zusammenzufallen.
Für das mitteleuropäische Waldgebiet, in dem nicht nur
die systematische Durchforschung am ausführlichsten aus-
geführt, sondern auch die meisten physiologischen Ver-
suche mit Vorliebe an heimischen Pflanzen angestellt, die
meisten Verbreitungseinzelheiten gesammelt und auf exakte
geographische Unterlage gebracht sind, darf man be-
haupten, daß derjenige Botaniker, für den das Gepräge
der „ Flora •* nur Wert hat, insofern als es sich aus Ein-
zelarten mit bestimmter Verwandtschaft zusammensetzt,
kein schafiFender Florist sei.
Lassen wir daher auch die für sich selbst so hoch
dastehenden Ziele der natürlichen Systematik hier beiseite;
ein bescheideneres Maß von Kenntnissen genügt für den
deutschen Floristen zu seinen selbständigen Zielen; aber
wenn diese Ziele höher gestellt sind, so genügt dazu
nicht jenes engherzige Maß, welches vergessen läßt, daß
außerhalb der deutschen Lande ebenfalls Pflanzen, und
in weit umspannenden Kreisen ganz dieselben Pflanzen-
arten in anderem Gemisch und unter anderen, aber ähn-
lichen Verhältnissen wachsen.
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Pflanzenverbreitung. 203
Es ist ein Fehler einer großen Zahl — man darf
wohl sagen der Mehrzahl — von mitteleuropäischen Floren,
zu vergessen, daß die Flora von Deutschland als die von
floristisch sehr unselbständig dastehenden Landschaften,
als Glied eines viel größeren Ganzen erfaßt sein will.
Und doch zwingt dazu schon der oft gehörte Ausspruch,
daß Deutschland (ohne die Alpen) keine einzige stärker
verschiedene Pflanzenform für sich allein habe, sondern
daß alle auf weit größere, westlich oder östlich, südlich
oder nördlich ausgreifende Areale als Wohnplatz ver-
wiesen seien. Es gewähren daher auch die im Gebiete
gemachten Untersuchungen subtilerer Unterschiede für
selbständige Unterarten {Subspecies) oder Spielarten {Va"
rietates)^ die gerade für die Floristik von hoher Bedeu-
tung, von viel höherer Bedeutung als für die allgemeine
Systematik sind, erst dann eine volle Befriedigung, wenn
sie sich auf das volle Vergleichsmaterial in dem Areal
der verwandten Hauptarten stützen, und das ist meistens
nicht der Fall.
Es fehlt auch bislang an einer ausführlicheren Grund-
lage zu solcher Arbeitsweise, weil die zahlreichen ge-
nauen deutschen, französischen, englischen, skandinavi-
schen und westrussischen Lokalfloren ziemlich unvermittelt
nebeneinander hergehen und eine einheitliche große nord-
und mitteleuropäische Gesamtflora fehlt.
Nyman kommt das hohe Verdienst zu, zweimal eine
Zusammenstellung der gesamten europäischen Flora in
Katalogform gegeben zu haben, eine „Sylloge* (1855—65)
und einen „Conspectus Florae Europaeae* (Oerebro 1878
bis 1882) mit einer Gesamtzahl von 9395 Arten und
2014 Unterarten von Blütenpflanzen.
Schon diese Namens- und Verbreitungsliste zeigt den
Umfang der von der Zukunft zu erhoffenden größeren
„Flora* an, und dieselbe würde, auch auf Nord- und
Mitteleuropa beschränkt, doch die zugehörigen verwandten
Formen in Sibirien, Kanada und in den Nordpolarländem
zu berücksichtigen haben.
Dennoch ist in Nymans „Conspectus'' eine Liste
geschaffen, welche mehr gewürdigt und auch in kleineren
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204 Oscar Drade,
floristischen Arbeiten mehr benutzt zu werden verdiente,
sofern ihre Verfasser nicht Grund haben, besondere syste-
matische Abgrenzungen an den Tag zu bringen, und das
ist meistens nicht der Fall. Abgesehen von vielumstrit-
tenen Gattungen, wie Hieradum, JStibits, Rosa und Paten-
Ulla, bei denen eigene Ansichten leicht geäußert werden,
würde es meistenteils gentigen, wenn die Verfasser klei-
nerer Abhandlungen über unsere Landflora sich Nymans
Nomenklatur genau bedienen wollten, oder auch der von
Willkomm, Garcke u. a. angewendeten; und wenn sie
an Stelle der lästigen Autorencitation auf die von ihnen
benutzte litterarische Hauptquelle, welche für sie mit
gewissenhaft durcharbeitetem Stoff eintritt, hinweisen
würden, zumal da Nyman das seit Asche rsons vorzüg-
licher Flora von Brandenburg mit erneuter Strenge ein-
geführte Prioritätsprinzip der Benennung auch zu seiner
Grundlage in Zweifelfällen gemacht hat. Denn in dieser
Hinsicht möchte ich nur auf meinen früheren, in Schenks
Handbuch der Botanik Bd. HI T. 2 S. 293 dargelegten
Standpunkt verweisen, nach welchem der Automame nichts
bedeutet als einen abgekürzten Litteraturhinweis, und ich
möchte nur die Frage wiederholen, ob nicht der größere
Teil derer, welche die Autorennamen hinter den Art- und
Gattungsnamen anführen, dies in blindem Vertrauen auf
irgend ein von ihnen als Stütze erwähltes Buch ohne
eigene Kritik thun? Da erscheint es doch besser auf das
Werk zu verweisen, dem sie dieses Vertrauen schenken!
Wie gesagt, es ist nicht jedes Floristen Sache, sich das
kritische Formwesen der beschreibenden Systematik
auch nur für die Pflanzen eines kleinen Ländergebietes
wahrhaft zu eigen zu machen, wohingegen eine in das
Wesen der Natur selbst eindringende Pflanzenkenntnis
unumgänglich nötig ist. Letztere soll ihn auch befähigen
wissenschaftliche Fortschritte in Hinsicht auf die Formen-
erkenntnis selbst zu machen oder machen zu helfen; be-
sonders aber hat der Florist auf dem Boden geographi-
scher Grundlage die Verbreitung der Pflanzenformen, ihre
Mitwirkung an der Zusammensetzung der Vegetationsdecke,
ihre biologische Bedingtheit und Rückäußerung gegen die
Digitized by VjOOQ IC
Pflanzenverbreitung. 205
sie umgebenden Einflüsse zum Gegenstande seiner For-
schung zu nehmen.
Indem ich selbst seit einigen Jahren mit den Vor-
arbeiten zu einer geographischen Floristik Deutschlands
beschäftigt bin, welche in der ^ Bibliothek zur deutschen
Landes- und Volkskunde^ erscheinen soll, so überliefere
ich auf den folgenden Seiten die Richtschnur, welche ich
selbst meiner Monographie zu geben gedenke, um da-
durch zu thatkräftiger Mitarbeiterschaft aufzufordern.
Die Gliederung der deutschen Flora.
Es ist schon oben auf die weite Verbreitung der in
Deutschland sich findenden Arten auch außerhalb seiner
politischen Grenzen hingewiesen und es ist dabei als Not-
wendigkeit hingestellt, dieser Thaisache auch bei den
lokalfloristischen Arbeiten eingedenk zu bleiben. Das weite
Gebiet, auf welches der Blick sich richten muß, wird
durch das Areal des „nordischen Florenreichs* in Berg-
haus' Physikalischem Atlas, Pflanzenverbreitung Taf. 1,
angegeben, doch ist für uns auch das südlich angrenzende
„mediterran-orientalische Florenreich " von großer Bedeu-
tung und enthält die Gharakterzüge, welche das mittel-
europäische Florengebiet vor den sechs anderen Gebieten
des nordischen Florenreichs auszeichnen. Denn mit dessen
Eigenschaften und Verbreitungsverhältnissen ist es in
Kürze folgendermaßen beschaffen: Das ganze Florenreich
umfaßt Mittel- und Nordeuropa vom südwestlichen Frank-
reich und den Balkanstaaten im Südosten an nordwärts,
ferner Sibirien mit den Amurlandschaften, Alaska und
Kanada nebst dem nördlich angrenzenden Gebietsteil der
Vereinsstaaten, endlich Grönland und die übrigen arkti-
schen Inseln. Innerhalb der Nordpolarzone ist der Wald-
wuchs ausgeschlossen und es herrschen gleichartige Ver-
breitimgsverhältnisse rings um den Pol. Südlich der
Baumgrenze folgt zunächst ein, die gesamten Charaktere
der gleichartigen Waldverbreitung am besten zum Aus-
druck bringender Gürtel nordischer Nadelholz- und Birken -
Digitized by VjOOQ IC
206 Oscar Drude,
Wälder, welchen die Karte von Engler im „Versuch einer
Entwicklungsgeschichte der Pflanzenwelt* unter dem Na-
men des n subarktischen Coniferengebietes" darstellt. In
seinem Charakter etwas erweitert, streift dieser Gürtel
Norddeutschland und kehrt auf einzelnen Mittelgebirgen,
z. B. in der Bergregion des Harzes über 400 m, fast
ebenso rein wieder. Nun bleiben noch die südlichen
Gebietsteile des nordischen Florenreichs übrig, dadurch
ausgezeichnet, daß, herrührend von der Florenentwick-
lungsgeschichte im jüngeren Tertiär bis zur Eiszeit,
Formenkreise aus den jeweilig südlich sich anschließen-
den Florenreichen einzelne, zuweilen sogar sehr zahlreiche
Arten von Gesträuchen, Stauden oder einjährigen Kräutern
der nordischen Waldflora beigemischt und dadurch Misch-
lingsfloren aus je zwei Florenreichen erzeugt haben.
Für Deutschland, dessen Alpenflora allerdings der Haupt-
masse nach dem nordischen Florenreich selbst zuzurech-
nen ist, hat diese RoUe der Erzeugung einer Mischlingsflora
naturgemäß das südlich angrenzende mediterran-orienta-
lische Florenreich übernommen, und zahlreiche Arten dieses
Typus drängen sich zwischen die Waldflora, besetzen aber
zumal die wärmere Hügelregion oder die feuchte atlan-
tische Küstenniederung. Viele dieser Arten sind Süd-
und Mitteleuropa wirklich gemeinsam, viele andere haben
aber in den Mittelmeerländern nur zahlreiche, in voller
Entwicklung dort gebliebene Verwandte derselben Gattun-
gen. Solche Gattungen pflegen dann den entsprechenden
übrigen Gebieten des nordischen Florenreichs, nämlich
Mittelsibirien, den ochozkischen Küstenländern, in Nord-
amerika Kolumbien und Kanada, zu fehlen und mit
anderen Charakteren die Eigentümlichkeiten Mittel-
europas als besonderen Florengebiets zu vervoll-
ständigen. So giebt es z. B. im britischen Nordamerika
keine Centaurea wild, keine Erica, kein Symphytum, keine
Betonica, ursprünglich keinen Thymus, kein Origanum,
keine Genista und viele andere mediterrane Sippen. Ent-
wicklungsgeschichtlich ist die Annahme aber nicht be-
gründet, daß diese auf das mediterran-orientalische Floren-
reich hinweisenden Sippen lauter postglaciale E in wand e-
Digitized by VjOOQ IC
PflanzenverbreituBK. 207
rer aus dem Süden wären; sie können in Mitteleuropa
selbst sehr wohl als Arten (Species) ihre altursprüngliche
Heimat, ja ihren Ursprung gehabt und sogar dort im
wärmeren Hügellande die Eiszeit überdauert haben, doch
gehören sie zu demselben Stamme, welcher der Haupt-
masse nach jetzt aus Deutschland verdrängt und erst süd-
lich der Alpenkette in so viel reicherer Entwicklung er-
halten sich zeigt.
Um die feinere Gliederung der deutschen Flora auf
Grund der eben gemachten allgemeinen Auseinander-
setzungen zu verstehen, wird es zweckmäßig sein, eine
Gliederung Europas nördlich der Scheidelinie von Nord-
und Mitteleuropa in Florenbezirke voranzuschicken.
Als Kartengrundlage ist dabei auf Berghaus' Physika-
lischen Atlas, Pflanzenverbreitung Nr. IV: „Florenkarte
von Europa" zu verweisen, welche allerdings nach Zonen
und Regionen eingeteilt ist.
Während diese letzteren nach charaktergebenden
Formationspflanzen, in Europa also nach sommer- und
immergrünen Bäumen, abgegrenzt und benannt sind,
gehen die „Florenbezirke* (s. Ergänzungsheft 74 zu den
Geogr. Mitteil., Gotha 1884, S. 6) auf das Gesamt-
gemisch des Artbestandes, in welchem neben der
augenblicklichen Verteilung klimatischer Grenzwerte auch
die Wirkung der ganzen geologischen Geschichte der
Landschaft und die Einflüsse seiner Nachbarlandschaften
zum Ausdruck gelangt sind, näher ein, können aber be-
stimmte Grenzen um so weniger dulden, je allmählicher
sich das Artgemisch verändert. Endemische Arten ge-
hören für die Florenbezirke zu bedeutungsvollen Er-
scheinungen, ebenso die Verbreitung irgend welcher an-
derer Arten von bestimmendem pflanzengeographischen
Charakter, während über diese, wenn sie nicht gesellig
im Formationsverbande auftreten, die den biologisch-kli-
matologischen Spuren folgende Abgrenzung einzelner
, Waldzonen •* oder „Regionen" leicht hinweggeht. Hier-
nach möge das Folgende beurteilt werden ; zur ungefähren
geographischen Bezeichnung der Landschaf ken, über welche
sich ein Florenbezirk ausdehnt, kann aber meist genügend
Digitized by VjOOQ IC
208 Oscar Drude,
ein Anschluß an die Abteilungen der Vegetationszonen
erreicht werden, weshalb die genannte , Florenkarte von
Europa^ hier mit ihren Zonen von Bäumen als Hinweis
angeführt werden soll.
Das arktische Florengebiet greift in Europa mit zwei
Bezirken, dem norwegischen Fjeldbezirk (Flk. v.
Eur. , Zone 1) und dem uralischen Tundrenbezirk
(Flk. V. Eur., Zone 2) ein; von hier südlich bis zu den
Pyrenäen, dem Südalpenfuü und bis zum Pindus, in Süd-
rußland bis zu den waldlosen Steppen am unteren Dnjepr
und am ganzen Lauf des Don (donischer Bezirk, Flk.
y. Eur., Zone 7) erstrecken sich die sechs Bezirke des
mitteleuropäischen Waldgebietes.
Von diesen ist der nördlichste der bottnische Be-
zirk zu beiden Seiten des Bottnischen Meerbusens (Flk.
V. Eur., Zone 4); ostwärts vom Onegasee wird derselbe
abgelöst durch den schon an das sibirische Florengebiet
sich anschließenden westuralischen Waldbezirk (Flk. v.
Eur., Zone 3). Der baltische Bezirk umfaßt südlich
vom bottnischen und südwestlich vom westuralischen
Bezirke die um die Ostsee gelagerten Länder mit Ein-
schluß des nördlichen Großbritanniens und südlichen Skan-
dinaviens; im deutschen Nordseegebiet geht dieser Bezirk
allmählich in den folgenden über, der seinerseits ausge-
sprochen bei der in der Florenkarte von Europa darge-
stellten Westgrenze der Fichte {Piceci excelsa) beginnt.
Dem baltischen Bezirke rechne ich also die Hauptmasse
der Zone 5 (Flk. v. Eur.) zu, aber mit Ausschluß von
deren südwestlicher Abteilung 1, und es umfaßt derselbe
das Hauptverbreitungsgebiet der mitteleuropäischen Ebe-
nen- und Küstenpflanzen. Der dann folgende nord-
atlantische Bezirk erstreckt sich mit immer deut-
licher, immer vielseitiger ausgesprochener Verwandtschaft
zur spanischen Berg- und Küstenflora von der genannten
Westgrenze der Fichte in Holland über das südliche
Großbritannien durch die Normandie und das südwest-
liche Frankreich zum Nordhauge der Pyrenäen und des
asturischen Gebirges, entspricht also einer Erweiterung
der auf die Baumverbreitung {Quercus Her!) gegründeten
Digitized by VjOOQ IC
Pflanzenverbreitung. 209
, südwestfranzösischen üebergangszone ohne Olivenkultur*
der Florenkarte von Europa. Er ist Erhaltungsgebiet
zahlreicher Arten aus dem iberischen Mediterranbezirke
und Sitz nicht ganz weniger endemischer Arten, zugleich
das Hauptverbreitungsgebiet der westlichen Ebenen-
pflanzen. (Vergl. Roth, lieber die Pflanzen, welche den
Atlantischen Ozean auf der Westküste Europas begleiten.
Abh. d. Botan. Ver. d. Prov. Brandenburg. XXV, 132.)
Die drei nun folgenden Bezirke umschließen die ge-
samten mittel- und osteuropäischen Bergländer, teilweise
Hochgebirge, bis zu deren Südfuß im allgemeinen die
mediterrane Flora heranreicht: der Alpenbezirk er-
streckt sich vom nordatlantischen Bezirke ostwärts bis zu
den Karpaten und umfaßt also ziemlich genau die Ab-
teilungen 1 imd 2 der Zone 6 (Flk. v. Eur., Mitteleuro-
päische Wälder), ostwärts abgeschlossen durch die West-
grenze der Silberlinde {Tilia argentea) am Plattensee, und
dann durch die Nordgrenze der Edelkastanie (Castanea
vulgaris oder C. vesca) am Südgehänge der Karpaten.
Genauer ist die Grenze auf Kern er s schöner ^ Florenkarte
von Oesterreich-Ungam* ^) angegeben, wo unser hier ge-
nannter Alpenbezirk als Glied einer im weiteren Sinne
aufgefaßten „baltischen Flora'' erscheint und in scharfen
Gegensatz zu der „pontischen Flora** gebracht ist, zu
welcher der folgende Bezirk gehört. — Der Alpenbezirk
ist charakterisiert als Sitz der mitteleuropäischen Berg-
und Hügelpflanzen mit zahlreichen auf die Hochgebirgs-
regionen beschränkt gebliebenen („endemischen") Stauden,
während seine Waldbäume und die Hauptmasse der Arten
der Bergregion sich gleichmäßiger verteilt, oder zerstreut
bis zu der hauptsächlich durch die Nordgrenze der Tanne
(Abies alba oder A. pectincUa) bezeichneten Bezirksnord-
grenze sich finden; auch kehren manche Arten im skan-
dinavischen Berglande wieder, während sie in der deut-
schen Niederung sehr zerstreut sind oder ganz fehlen.
Seine mannigfaltigen Gaue gruppieren sich in die west-
*) Blatt 14 des Physikalisch-statistischen Atlas v. Oesterreich-
Ungam.
Anleitung znr deutschen Landes- und Volksforschnng. 14
ÜNIVERSlTY l DigitizedbyVjOOglC
or
»»£</ i^O^^•j^
210 Oscar Drude,
liehen Berglandschaften, in das hercynische Bergland^
das karpatische Bergland und in die des Alpenzugs selbst.
Der westpontische Bezirk, so benannt im An-
schluß an Kerners Zuerteilung dieser Landschaften zum
Gebiete der „pon tischen Flora", umfaßt den Rest der
nordischen Waldländer an der Donau vom Preßburger
Komitat an (Flk. v. Eur., Zone 6, Abteil. 3); die mitt-
leren Landschaften der Balkanhalbinsel, soweit sie nicht
zum mediterranen Florengebiet gehören, bilden in Alba-
nien, Thrakien, Makedonien die Stidgrenze des nordischen
Florenreichs in Europa und mischen sich hier gerade so
mit den Pflanzenarten der ionischen Mediterranbezirke,
wie die iberischen in die westlichen Landschaften Zutritt
hatten.
Als kaukasischer Bezirk endlich mag der Kau-
kasus in seinem bewaldeten und alpinen Teile ebenso wie
der Nordhang des bithynisch-pontischen Küstengebirges
die Aufzählung der europäischen Landschaften des nor-
dischen. Florenreichs abschließen; er leitet zu den Vege-
tationsformen der innerasiatischen Hochgebirge über.
Mit der Flora und Vegetation dieser aufgezählten
sechs Bezirke unseres Florengiebietes muß sich beschäfti-
gen, wer einen weitergehenden Ueberblick über das Zu-
standekommen der deutschen Sonderungsverhältnisse sich
verschaffen will. In Grisebachs Vegetation der Erde
(2. Aufl., 1884, Bd. I, S. 68-230) ist die Grundlage da-
für gegeben und viel Litteratur genannt, welche für
weitergehende Wünsche sorgt. Grisebach hat sich be-
gnügt auf den klimatischen Unterschied im europäischen
Waldgebiet hinzuweisen, der sich in dem Auftreten be-
sonders von drei Waldbäumen kundgibt, nämlich von
der Edelkastanie, der Weißtanne und Zerreiche; er hat
also, wie zumeist in seinem großen Werke, mehr die
Zonen Charaktere im Auge gehabt und dieselben klima-
tologisch zu erfassen gesucht. Die Edelkastanie soll den
atlantischen Westen auszeichnen; doch ist schon bemerkt,
wie sie sich, am Südhange der Alpen ostwärts verbreitet,
auch im westpontischen Bezirk vorfindet. Dem letzteren
erteilt Grisebach sehr richtig die Zerreiche (Quercus
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Pllanzenverbreitung. 211
Cerris) als Charakterbaum zu, während die Weißtanne,
wie oben bemerkt, die mittlere Zone (unseren Alpen-
bezirk) auszeichnet, aber sowohl nach Westen als nach
Osten übergreift.
Die Niederlande und die norddeutsche Niederung
sind, ebenso wie schon die nördlichsten Berglandschaften
Deutschlands (der Harz !), durch den Mangel aller dieser
kenntlich gemacht, und nur durch das üeberhandnehmen
der Birken-, Kiefern-, Eichen Waldungen mit landschafts-
weise vorherrschenden Fichten- oder Buchenwäldern ist
unser „baltischer Bezirk" in seinen Baumbestandteilen
ausgezeichnet, ohne eine Baumart vor den südlich an-
grenzenden vorauszuhaben; im bottnischen Bezirke fehlt
dann die Eiche und Buche völlig, die anderen bleiben;
im kaukasischen endlich treten zu den westpontischen
Bäumen Wallnuß und Platane hinzu, und die Weißtanne
wird durch nahe verwandte Arten ersetzt.
Aber die Bäume machen nur einen wichtigen, den
physiognomisch hervorstechendsten Charakterzug dieser
Bezirke aus; der Florist wird sich eingehend mit dem
systematischen Katalog aller Pflanzenarten zu beschäfti-
gen haben. Neben vielen gemeinen, weit und fast überall
verbreiteten, wird er andere bemerken, die ihr Auftreten
und ihre Standorte mit dem wechselnden Bezirk ebenfalls
gewechselt haben; sehr viele Arten sind nur in einem
Bezirke recht häufig und tonangebend, nehmen ab in
dem Nachbarbezirke und erreichen überhaupt nicht mehr
die femer liegenden; eine kleinere Zahl von Arten und
auch einige Gattungen sind auf einen einzelnen Bezirk
beschränkt, und hier ragt der Alpenbezirk mit der oberen
Region der Alpen selbst, der Pyrenäen und Karpaten
besonders hervor. Man sagt immer, daß Deutschland
keine einzige Pflanzenart für sich allein besäße (nachdem
man nämlich die Flora der Alpenkette selbst ausgeschlos-
sen hat, wo 200 starke Arten „endemisch** geblieben sind),
und man hat auch darin der Thatsache nach recht; der
Grund liegt aber darin, daß die Staatenbildung mit den
Florenbezirken in Mitteleuropa gar nicht zusammenfällt,
daß Deutschland an drei verschiedenen Bezirken, an
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212 Oscar Drude,
dem baltischen, nordatlantischen und alpinen, Anteil hat,
daß aber dieselben Bezirke in alle Nachbarstaaten über-
greifen oder sogar ihren Schwerpunkt dorthin verlegen.
Wenn man nach dem Besitz eigentümlicher (,, endemi-
scher") Arten fragt, so müssen zuvor die natürlichen
Einheiten festgestellt sein, für welche die Fragestellung
Bedeutung hat; oder es kann sich die Frage nur um
solche Arten drehen, welche ein absolut sehr kleines
Areal haben. Von letzteren fällt aber keines auf die
Länder des Deutschen Reiches.
Gaueintellnng der deutschen Flora.
Für so sehr in analytische Einzelheiten eindringende
Arbeiten, wie sie floristische Untersuchungen in einem
kleinen Bezirksteile, in einer Provinz Deutschlands oder
in einem einzelnen Berglande, Stadtgebiete, vorstellen,
genügt zur Sicherstellung der Grundlage, auf welcher die
eigenen Studien errichtet werden sollen, die Beschränkung
vom Ueberblick des gesamten nordischen Florenreichs auf
den einzelnen Bezirk noch nicht; in diesem fallen noch
vielerlei und merkwürdige Verschiedenheiten auf, beson-
ders hervorgerufen durch allmählich mit einer ausge-
sprochenen oder in sporadische Standorte aufgelösten
Vegetationslinie abschließende Areale auffälliger Arten;
von diesen erreicht gewöhnlich in einer bestimmten Rich-
tung eins nach dem anderen sein Ende, um von anderen
Arealen, die einem anderen Bezirke als Ausläufer ange-
hören, ebenso in allmählicher Aufeinanderfolge ersetzt
und überdeckt zu werden. Zweitens aber sind auch in
demselben Bezirke die Geselligkeitsanschlüsse der
vorherrschenden Arten, ihre Häufigkeit und die Bildung
bestimmter Artgenossenschaften innerhalb der be-
stehenden Formationen, noch recht verschieden und lassen
deutliche Eigenschaften bestimmter „Landschaften^ her-
vortreten. Diese Landschaften der deutschen Flora bis
zum Nordfuß der Alpen sollen hier genannt und. Kerners
Bezeichnungs weise folgend, als besondere Gaue benannt
werden ; ihre Merkmale sind hier nur in den kürzesten Zügen
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Pflanzenverbreitung. 213
angedeutet, die Ausführung der vorgenommenen umfang-
reichen Bearbeitung der „Pflanzenverbreitung in Deutsch-
land* zu überlassen, ja noch mehr: zu erhoffen, daß
durch Andeutung des einzuschlagenden Weges noch neue
Arbeiten da, wo der Nachweis schwierig ist, für die
nächsten Jahre hervorgerufen werden ! ^)
Dem baltischen Florenbezirke gehören in Deutschland
an: 1. der livländische Gau, 2. der Pommerngau, 3. der
masovische, 4. der märkische und 5. der Itibische Gau;
der nordatlantische Bezirk fällt auf Deutschland nur mit
6. dem Nordseegau, in welchem er nordostwärts ausläuft;
die übrigen gehören zum Alpenbezirk, nämlich: 7. der
mitteldeutsche, 8. der Sudeten-, 9. der Böhmerwaldgau,
10. der bojische Gau, 11. der deutsche Juragau, 12. der
Niederrheingau und 13. der Oberrheingau; endlich führt
der 14. Gau, das Alpenvorland, zu den hier nicht zu er-
örternden Alpenlandschaften selbst über*).
Um diese Gaueinteilung sich einzuprägen, wird es
zweckmäßig sein, mit den Gauen 7 — 9 zu beginnen,
welche als ,|hercynisches Bergland* zusammengefaßt
werden können. In breitem Gürtel vom Wichen bei Osna-
brück über Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Torgau,
durch das nördliche Sachsen zur Grenze von Ober- und
Niederlausitz, dann durch Schlesien entlang dem linken
üfergehänge der Oder am Ostabfall der Sudeten scheidet
dieses Bergland die nördliche und nordöstliche Niederung
^) Erst nach Druck dieses Artikels erschien als Vortrag, ge-
halten in der Senckenbergischen natorf. Gesellsch. in Frankfurt a. M.,
die Uebersicht über ^Die Gliederung der deutschen Flora* von Dr.
W. Jännicke. In dieser ist, einem anderen Prinzipe folgend, zu-
nächst die Region der £bene von der des Mittelgebirges und des
Hochgebirges abgeschieden und dann eine Zoneneinteilung vor-
genommen. Sie faßt also die Berg- und Thallandschaften weniger
einheitlich zusammen als es für physikalische Geographie not-
wendig erscheint, sobald man nicht die Verbreitung bestimmter
Formationsgruppen darzustellen beabsichtigt. Das hat aber auch
Verfasser besonders mit seinen wertvollen Listen der Berg- und
Hochgebirgsfloren Mitteldeutschlands beabsichtigt
') Bei der Wahl der Benennungen hatte der Verfasser sich
der freundlichen Unterstützung von Herrn Professor Dr. Kirch-
hoff, der selbst einige dieser Namen geschaffen hat, zu erfreuen.
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214 Oscar Drude,
von den südlicheren Gauen des Alpenbezirkes, bildet im
Quellgebiet der Oder mit dem Südostabfall des Altvater-
gebirges die Grenze gegen den Westrand vom Karpaten-
gau, umfängt dann den böhmischen Kessel, indem die
ganzen Sudeten bis zur Höhenstufe von 300 m herab, femer
das Erzgebirge, das Tepler Bergland, der Böhmerwald und
der bayrische Wald bis zum nördlichen Knie der Donau
und über die Nab hinaus zu ihm gehören, weiterhin das
Fichtelgebirge, der Franken- und Thüringerwald, dann
das Bergland an der oberen Fulda (aber mit Ausschluß
der Rhön), und nun nördlich des Vogelsberges das Hügel-
land links der W^eser bis zum Teutoburger Walde, wo
der Ausgangspunkt nahe Osnabrück wieder erreicht ist,
und es schließt in seinen Grenzen den Harz und Thü-
ringen ein.
Dieses hercynische Bergland zerfällt in die drei an
der oberen Saale nördlich des Frankenwaldes zusammen-
stoßenden Gaue: mitteldeutscher Gau um den Harz und
Thüringer wald, ostwärts bis zu einer Linie, welche vom
Frankenwalde auf Leipzig zu und von da zur Elbe zwi-
schen Torgau und Wittenberg läuft; Sudetengau ost-
wärts dieser Linie; Böhmerwaldgau, vom Frankenwalde
an über das Fichtelgebirge zum sächsischen Vogtlande
und Tepler Berglande den südlichen Anteil des hercyni-
schen Berglandes bis zur Donau umfassend. Auf den
höchsten Gebirgserhebungen finden sich hier einige den
Alpen fehlende skandinavische Arten {Carex sparsiflom^
Saxifraga nivalis ^ Pedicularis mdeticä); charakteristisch
ist auch Betula nana, Saxifraga decipiens, Ledum paltistre
Calamagrostis Halleriana, Hieracium alpinum und Unter-
arten ! Die den Alpen entstammenden Charakterarten sind
in den Sudeten, dem Böhmerwalde, dem Harze in abneh-
mender Zahl und Formationsfülle vorhanden; dem mittel-
deutschen Gau fehlen die Krummholzbestände im oberen
Berglande, welche überall dort im Sudeten- und Böhmerwald-
gau zerstreut sind; westliche Pflanzen, wie Digitalis pur-
purea, Hdlebonis viridis und foetidus, sind im mitteldeut-
schen Gau häufig, und dessen thüringisch-südhannöversche
Muschelkalkflora bietet ein buntes, im Sudetengau kaum
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Pflanzenverbreitung. 215
angedeutetes Bild einer Verwandtschaft mit dem süd-
deutschen Juragau; südöstliche Arten dringen im Sudeten-
gau reichlich vor, At^ncus Silvester und Cirsium hetero-
phyttum sind charakteristische Begleiter der Berglaub- und
Nadelwälder, während der Böhmer waldgau sich noch
durch den Besitz von Soldanella montana, Erica camea
u. a. auszeichnet. Die Weißtanne hat im mitteldeutschen
Gaue selbst weit südlich vom Harze ihre natürliche Vege-
tationsgrenze, ist aber in dem Sudeten- und Böhmerwald-
gau als herrlicher Waldbaum in dem Hügel- und Berg-
lande reich entwickelt.
Im Westen bildet der Niederrheingau das Grenz-
gebiet zwischen Niederung und Bergland; von der West-
grenze des mitteldeutschen Gaues an überdeckt er das
ganze rheinische Schiefergebirge und die Ardennen bis
zum Westfuße und umfaßt von der Rhön südwärts das
Mainthal bis Schweinfurt, den Odenwald, Bheinhessen,
im Hunsrück das rheinische Schiefergebirge wieder er-
reichend. Viele westliche Arten aus berg- und felslieben-
den Formationen erreichen hier die Nordgrenze ihrer Ver-
breitung.
Nördlich dieser Berglandsgaue breiten sich die sechs
Gaue der norddeutschen Niederung aus. Der liv län-
dische Gau umfaßt von DeutschJand nur die nordöst-
lich der Vegetationslinie der Rotbuche (siehe Flk. v. Eur.)
gelegene litauische Nordspitze Ostpreußens; Andromeda
(* C/iamaedaphne) calyculata reicht aus dem bottnischen Be-
zirk bis hierher, Ruhm Chamaetnoru^ und Betula nana sind
hier noch charakteristische Formationsgenossen. An diesen
Gau schließt sich der Po m nie mg au an, die preußisch-
pommersche Seeenschwelle und Küste bis gegen Greifswald
und Demmin in Mecklenburg umfassend; bis hierher finden
sich vereinzelt Swertia perenniSj Eubus Chamaemortcs (im
Swinemoor) und Betida humilis als Vertreter der nörd-
lichen Gaue in der Ebene, von da an nur noch im Berg-
lande.
Der masovische Gau zieht aus Polen von der
mittleren Weichsel entlang der Warthe und am nördlichen
Gehänge der Netze endend durch die Neumark bis zum
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216 Oscar Drude,
Oderbnich und umfaßt, von da der Oder aufwärts folgend,
auch Niederschlesien, im Südwesten vom Sudetengau be-
grenzt; weiter südwärts, im Quellgebiet der WarÜie und
berschlesien berührend, tritt der sarmatische Gau
an Deutschland heran. Hier finden Campantda sibirica,
Adenophora lUiiflora, Pulsatilla patens, Dianthus armarius
ihre Westgrenzen (siehe Flk. v. Eur., Vegetationslinie [3]),
Cytisus ratisbonensis seine Nordwestgrenze.
Im Norden des hercynischen Berglandes zwischen
dem Thallauf der Qörlitzer Neisse im Osten und dem
Elbthal bei Magdeburg im Westen erstreckt sich der
märkische Qau bis zum Oderbruch und der Linie
Demmin- Güstrow -Schwerin -Ludwigslust als Nordgrenze,
ein eingeschlossener, starker Charaktere entbehrender,
man könnte sagen : etwas indifferenter Gau. Hier wachsen
noch einige vereinzelte nordische Arten in Brüchen (Lin-
naea horealis bei Berlin! Eriophorum alpinum am Wen-
tower See im südlichsten Mecklenburg-Strelitz) ; östliche,
über die vorher genannten hinausgreifende Arten {Oste-
ricum pcUmtre) sind zertreut; ihnen begegnen die äußer-
sten Vorposten der atlantischen Arten, welche aber noch
nicht in geschlossenen Massen auftreten {Erica Tetralix,
bis zum Südrande dieses Gaues nördlich von Dresden vor-
dringend); einzelne Charakterarten des Berglandes schie-
ben sich nordwärts vor.
Die westlichen Niederungen nehmen der lübische
Gau, von Greifs wald und Rügen über die Seeenschwelle
rings um die Lübecker Bucht bis Schleswig ziehend, und
der Nordseegau, von Flandern im Südwesten durch
Holland und das gesamte Friesland nordwärts an der
Küste ausgedehnt und die oldenburgischen Moore wie die
ganze Lüneburger Heide nebst dem Unterlauf der Elbe
von Hitzacker an umfassend, in breitem Lanc^ürtel ein
und werden erst im Norden durch den jütländischen
Gau abgelöst. Beide sind einander ähnlich. Focke sagt,
daß im großen Ganzen der nordwestdeutsche Vegetations-
charakter von Holland bis Schleswig-Holstein derselbe
bleibt; dennoch scheint es mir geboten, hier eine Schei-
dung so vorzunehmen, daß zum atlantischen Bezirk der
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Pflanzenverbreitung. 217
mitteleuropäischen Flora gehörig nur der Nordseegau ge-
rechnet wird, in welchem die nordatlantische Flora (in
nordwestlicher Richtung gedacht) zum letztenmal mit be-
sonderer Fülle der bestimmenden Formationen: Heiden der
Erica Tetralix, Gebüsche der Myrica Gale, Moore mit Nar-
thecium ossifragum u. s. w. auftritt, während diese Pflanzen
weiter nordwestlich bis zum südlichen Schweden (Schonen,
Westerbotten) und bis Norwegens Westküste an zerstreuten
Plätzen zwar mit ihrer charakteristischen „Artgenossen-
schaft* auftreten, aber nicht die Formationen bilden.
Ganz ähnlich ziehen ja auch die Artgenossenschaften des
südöstlichen bojischen Gaues in das hercynische Berg-
land hinein und halten zumal die sächsischen Höhen des
Elbthales besetzt, sind aber nur eine mehr oder weniger
wichtige, meist verarmte Genossenschaft in einer über-
wiegenden mitteldeutschen Berg- und Hügelflora. In den
lübischen Gau, zu dem das östliche Hügelland Schleswig-
Holsteins gehört, ziehen auch noch die skandinavisch-
jütländischen Artgenossenschafken und lassen hier den
baltischen Charakter gegenüber dem nordatlantischen
überwiegen, und bottnisch-livländische Charakterarten, wie
Linnaea borealis (bei Lübeck), Erlophorum alpinum (Hol-
stein, Mecklenburg), erscheinen ebenfalls noch zwischen
denselben.
Kehren wir zurüch zu den Gauen des Alpenbezirkes,
welche südlich vom hercynischen Berglande und dem
Mittelrheingau liegen. Hier breitet sich zunächst im Osten
der bojische Gau im böhmischen Kessel und über den
mährischen Rücken hinüber bis zum Ostgehänge am March-
thal aus, südwärts bis gegen die Donau hinanreichend.
Kerners „quadischer Gau* ist in etwas anderer, doch
sehr ähnlicher Abgrenzung angenommen. Südöstliche
Pflanzengenossenschaften sind hier häufig, z. B. die Ge-
büsche von Spiraea salicifolia, trockene Bergwiesen mit
Cirsium canum, Iris sibirica u. a.; manche dieser Arten
erreichen hier ihre Nordwestgrenze, andere treten — wie
schon erwähnt — an geeigneten Plätzen in das hercynische
Bergland sporadisch über, da fast stets der Grundsatz gilt,
daß Hauptelemente eines Gaues als Nebenelemente in den
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218 • Oscar Drude,
benachbarten auftreten. Am Ostufer der March beginnt
dann der große karpatische Gau, welcher im Quell-
gebiet der Oder unmittelbar an das hercynische Bergland
herangeht ; die Umgebung von Wien hat eine sehr reich-
haltige Flora, indem hier, im Alpenvorlande, die nord-
östlichen Ausläufer der Alpen selbst enden, unmittelbar
an deren Ostsaum aber der pannonische Gau mit
seiner zum westpontischen Bezirk gehörigen, sehr ab-
weichend von der hercynischen Vegetation gestalteten
Flora beginnt, und nördlich der Donau der karpatische
und bojische Gau neue Elemente hinzufügt; diese Be-
ziehungen treten auf Kerners österreichischer Florenkarte
sehr klar hervor.
lieber den fränkischen und schwäbischen Jura, bei
Schaff hausen an den Rhein stoßend, westwärts bis zum
Schwarzwalde und über das Neckargebiet bis zum Oden-
walde, von da zur Tauber und über den Main bei Schwein-
furt und Bamberg bis zimi Frankenwalde ausgedehnt,
breitet sich der deutsche Juragau aus, welcher eine
große Verwandtschaft mit Thüringens Kalkflora im her-
cynischen Berglande zeigt, sich aber durch beigemischte
alpine Elemente gut unterscheidet. Auch scheint pflanzen-
geographisch der Sachverhalt wohl so aufzufassen sein,
daß in der jüngsten geologisch-floristischen Entväcklung
Mitteldeutschlands in dem warmen Muschelkalkgelände
des südlicheren hercynischen Berglandes die süddeutsche
Flora entweder ihre Plätze behielt oder wieder einnehmen
konnte; dem Deutschen Juragau gehört sie vollgültig zu,
in dem hercynischen Berglande bildet sie ein nicht all-
gemein verbreitetes Nebenelement.
Westlich dieses Gaues beherrscht der Oberrheingau
den Schwarzwald, die Vogesen, Lothringen, die Pfalz und
das eingeschlossene Rheinthal von Basel bis Bingen, durch
westliche Sippen sowohl in den Thälem als auf den Bergen
ausgezeichnet, südwestlich durch den sich von Basel bis
gegen Lyon hin erstreckenden Schweizer Juragau ab-
gelöst. Endlich zieht sich vom Donauthal, wo der junge
Strom den schwäbischen Jura verlassen, und vom Boden-
see, entlang dem Nordfuß der Alpenkette selbst, bis nach
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Pflanzen Verbreitung. 219
Wien der Qau des Alpenvorlandes hinüber, ausge-
zeichnet durch die zahlreichen Besiedelungen, welche er
von der Alpenflora erfahren hat, bei deren Gauen wir
hier stillstehen.
Es ist dem Eingeweihten selbstverständlich, dass,
wie überhaupt pflanzengeographische Begrenzungen, so
hier diejenigen der Gaue deutscher Flora nicht in starren
Grenzen, sondern als plastische Einheiten, mit Wiederkehr
in dem Nachbargelände und umgekehrt mit von dem letz-
teren durch andere Vegetation ausgefüllten Lücken, zu
erfassen sind. Was sie zu bedeuten haben, wofür sie
nützen und einen weiteren Untergrund bieten sollen, auf
welche Gesichtspunkte in ihrer Pflanzenliste bei einer ein-
gehenden Schilderung zu achten ist, mag aus folgender
Schlui^zusammenfassung dieses Gegenstandes hervorgehen.
Der Hauptmasse nach sind die Länder deutscher Zunge
nördlich der Alpen eingenommen von der südbaltischen
Flora und von der mittleren Alpenflora aus den Berg-
und Hügelregionen mit verarmter Hochgebirgsregion.
Diese Hauptmischung mag als „mitteleuropäisch** im
engen Sinne, kurzweg als „deutsch" bezeichnet werden.
Dieses deutsche Florenbild hat nun, der Lage seiner ein-
zelnen Landesteile entsprechend, von allen Seiten her
andere Elemente hinzugefügt erhalten, welche in manchen
Gauen eine bis zum Charaktergeben sich steigernde Häu-
figkeit besitzen. Auf einer Karte durch verschiedenfarbige
Sternchen und Punkte ausgedrückt, würde fast allerorts
Buntfarbigkeit herrschen, aber in den verschiedenen Gauen
würden meistens neben der deutschen Hauptfarbe eine
oder zwei Nebenfarben zumeist in die Augen springen.
Beispielsweise würde das arktische (aus dem norwegischen
Fjeldbezirk herrührende) Element im Harz mit Hinzu-
fügung von etwas Hochalpenflora die Nebenfarben bilden,
atlantische oder pannonische Farbsterne aber würden in
seiner eng umgrenzten Flora fehlen. So können wir über-
haupt die im deutschen Florenbilde auftretenden Neben-
elemente als uralisch, hochskandinavisch, hochalpin, nord-
atlantisch, westpontisch und mediterran unterscheiden. Und
so sind die einzelnen Gaue durch die Art und Weise der
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220 Oscar Drude,
Hinzufügung von einem oder mehreren Nebenelementen
und durch den Grad von deren Anteil an der Zusammen-
setzung der Flora ausgezeichnet, und nur um eine Grund-
lage zur gegenseitigen Verständigung zu geben bedarf
es der Abgrenzung bestimmter Landschaften und Gaue,
welche aber der denkende Geist überfliegen, in ihrem
ursächlichen Zustandekommen erfassen soll. Die Gesichts-
punkte, unter denen sich eine solche Gliederung ergiebt,
nicht aber die geographischen Grenzen der herausgeglie-
derten und stets der Willkür in etwas preisgegebenen
Teile sind das Wesentliche und das bleibend Wissenschaft-
liche, das übrige ist der nicht zu entbehrende „Form-
kram ** der Pflanzengeographie.
Einige Litteraturquellen für die Gliederung der deutechen
Flora durch die sich durchziehenden Vegetationslinien charakte-
ristischer Pflanzenareale :
Grisebach, Ueber die Vegt tationslinien des nordtcest liehen Deutsch-
lands, (Göttinger Studien 1845, Abteil. I, S. 461—562. Neu ab-
gedruckt in den »Gesammelten Abhandl. u. kl. Schriften", Leip-
zig 1880, 8. 187.) Die erste Sonderausarbeitung dieser Art von
epochemachender Bedeutung.
Elinggräff, Bemerkungen über Pflanzengrenzen oder Vegetations-
linien im nordlichen Europa, (Botan. Zeitg. 1858, S. 350.)
Gern dt, Gliederung der deutschen Flora mit besonderer Berück-
sichtigung Sachsens, Zwickau 1876—77. (8. u. 9. Jahresber. der
Realschule I. Ordn. daselbst.)
Noll, Einige dem Rheinthale von Bingen bis Koblenz eigentümliche
Pflanzen und Tiere. (Im Jahresber. d. Vereins fQr Geographie
und Statistik, Frankfurt a. M. 1878.)
LOw, Ueber Perioden und Wege ehemaliger Pflanzenwanderungen
im norddeutschen Tieflande. (Linnaea 1879, Bd. XLU, S. 511
bis 660.) Eine ausgezeichnete, besonders das Vordringen der
östlichen Pflanzen aus dem pannonischen, sarmatischen, maso-
vischen und livländischen Gau in das Herz Deutschlands be-
handelnde Arbeit.
Drude, Die Anwendung physiologischer Gesetze zur Erklärung der
Vegetationslinien, (Habilitationsschrift, Göttingen 1876.) Eine
kleine, allgemeine, nicht auf einen einzelnen Gau gerichtete
Studie.
-> Die Verteilung und Zusammensetzung östlicher Pflanzengenossen'
Schäften in der Umgebung von Dresden, (Festschrift der ,Isis*,
Dresden 1885, S. 75—107.)
Schulz, Die Vegetationsverhältnisse der Umgebung von Halle. (97 S.
mit 4 K., Halle 1888. Sonderdruck der Mitteil, des Vereins för
Erdkunde zu Halle, Jahrg. 1887.) Arealdarstellungen auf Karten.
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Pflanzenverbreitung. 221
V. Uechtritz, Die Vegetationslinien der scklesischen Flora, (Sonder-
druck aus Fieks Flora von Schlesien 1881, S. 76—111.)
Neilreich, Wiener Flora, und Sendtner, Bayrischer Wald, u.a.
siehe im Litteratur-Schlufiverzeichnis. Roth, Ffl, d. Atl. Ozeans,
siehe oben S. 209.
Die ForschuBgsrichtuBgen
in Hinsicht auf Pflanzengeschichte, Pflanzen-
vorkommen und Pflanzenleben innerhalb der
deutschen Flora.
1. OesoMclite der Flora.
Bei der Schilderung der Gaueinteilung Deutschlands
ist in den allgemeinen Gesichtspunkten auf den Entwick-
lungsgang hingewiesen, den die Flora mutmaßlich in der
jüngsten Erdgeschichte durchlief, um zudem jetzt herrschen-
den Bilde zu gelangen. Es wird auch daraus verständlich
geworden sein, dass die deutsche Florengeschichte nur im
Zusammenhange mit der des gesamten nordischen und
mediterranen Plorenreichs richtig erfasst werden kann. Um
so genauer sind bei uns die Einzelzüge zu verfolgen,
die Bausteine zu dem wichtigen Gesamtuntemehmen zu-
sammenzutragen.
Die Bestimmung der fossilen Pflanzenreste, zumal der
aus der Tertiärperiode stammenden, ist daher nicht nur
eine geologische, sondern ebensosehr eine botanische Auf-
gabe ; aber mit anderen Hilfsmitteln durchgeführt und in
ein anderes Gebiet hinüberspielend, braucht sie hier nur
angedeutet zu werden. Erst die mit der allerjüngsten
Zeit sich beschäftigenden Forschungen fallen ganz in die
floristisch-pflanzengeographische Behandlungsweise , weil
sie mit den jetzt lebenden Arten zu thun haben; und
da sind besonders vier Richtungen zu verfolgen : die Durch-
forschung der Torfmoore, die Aufsuchung pflanzengeo-
graphischer ^Relikte*, die Urkundenforschung nach dem
Bestehen altangesessener Formationen, der Verfolg neuerer
Wanderungen und ihrer Ursachen.
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222 Oscar Dnide,
Torfmoore.
Litteratur:
Grisebach, Veher die Bilduvg des Torfs in den Emsmoaren, 1845.
(Neu abgedruckt in den , Gesammelten Abhandl. u. kl. Schriften
zur Pflanzengeographie**, Leipzig 1880, S. 52 — 136.)
A. Blytt, flssaij on the Immigration of the Noricegian Flora,
Christiania 1876.
— Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Kliwate.
(In Englers botan. Jahrbüchern II, S. 1—50.)
C. Vaupell, De nordsjaellandske Skovmoser, KjöbenhaTn 1851,
56 S. mit 2 Taf. (L^ntersuchung der Waldmoore Seelands in
Verfolg der Ansichten Steenstrups, Videnskabemes Selskabs
Afhandl. 1841.)
A. Pokorny, Berichte der Kommission zur Erforschung der Torf-
moore Oesterreichs. (In den Verhandlungen des zool. -botan.
Vereins in Wien 1858, S. 209 u. f.; 1859, S. 81.)
F. Cohn, Jahresber. d, Schles. Gesellsch, für vaterl. Kultur 1883,
S. 244; 1884, S. 303 u. s. w.
Nathorst, 2ieue Funde von Glacialpflanzen {Mecklenburg, Schweiz
u. 8. w.) (In Englers botan. Jahrbüchern I, S. 431 ; III, S. 218.)
Die Torfmoore zeigen viele Spuren verschwundener
Vegationsformationen und örtlich verschwundener Arten,
aber nur von solchen, welche jetzt noch lebend vielerorts
in Fülle anzutreffen sind; in Verbindung mit den Klima-
schwankungen gebracht (Blytt), liefern sie wertvolle Doku-
mente für die seit der Eisbedeckung vor sich gegangenen
Wechsel. Noch viel kann in Deutschland in dieser Hin-
sicht untersucht werden; Moorkommissionen sind zu dem
Zwecke gebildet (Schlesische Gesellschaft). Als Beispiel der
Berücksichtigung dieser Richtung sei Krauses „Pflanzen-
geographische Uebersicht der Flora von Mecklenburg** ge-
nannt, wo (S. 62) Espe, Kiefer, Heide, Eiche, Erle, schließ-
lich erst die Buche als aufeinanderfolgende Formations-
glieder genannt werden.
Die Aufsuchung von „Relikten* hat dagegen in der
lebenden Flora stattzufinden und verleiht dem Botani-
sieren einen hohen Reiz und bleibenden Wert. So viele
Pflanzenfreunde jagen nach „Seltenheiten'* und greifen so
oft nach solchen von geringer Bedeutung; es kann ja
manchmal ganz gleichgültig sein, ob auf irgend einer
Wiese auch diese oder jene Orchis wächst. Ganz anders
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Pflanzenverbreitung. 223
bei den unersetzlichen Fundstätten, welche als Zeugen
verschwundener Perioden dienen; mit Recht haben Bo-
taniker wie Bartling und Grisebach bei ihren Exkur-
sionen zum Meißner im Werragebiet die alten Angaben
nach dem dortigen Vorkommen von Dryas octapetala und
Bubus Chamaeniorns auf das sorgfältigste geprüft, ohne
jedoch jemals etwas von diesen Pflanzen zu finden ; denn
weit und breit im mitteldeutschen Berglande fehlt die
Dryas, und Biibus Chamaemorus findet sich erst wieder,
im Nordosten und auf den Sudeten. Die Auffindung des
von Hampe bestrittenen Vorkommens von Eriophorum
alpinum am Brocken (neben Carex sparsifltyra) war von
Bedeutung, da sie die Spuren der früheren Ausdehnung
nordischer Arten vervollständigte. Ebenso hat auch die
Mediterranflora ihre „Relikte" an den heißen und trockenen
Standorten im südlichen Gebiet, überhaupt jedes beson-
dere Florenbezirkselement. Zu diesen Studien gehört aber
neben der Ausdauer und dem Talent im Sammeln die
Sachkenntnis; man muß wissen, um was es sich handelt,
und muß zielbewußt suchen.
Auch die Kryptogamenforschung hat die gleichen
Aufgaben, und zuweilen führt deren sichere Lösung zu
besonders glänzenden Ergebnissen. So hat Klinggräff
schon im Jahre 1858 im Anschluß an eine noch frühere
Arbeit Itzigsohns in der „Botanischen Zeitung" (S. 350)
eine „Flora der erratischen Blöcke" geliefert, in welcher
aus der Verbreitung der Moose die Herkunft aus Skandi-
navien entwickelt wird. Ueber die Frage nach marinen
Relikten in der Kieselalgen-(Bacillariaceen-)Flora der Sol-
quellen hat Cohn einige interessante Hinweise gegeben
(52. Jahresber. d Schles. Gesellsch. f. vaterl. Cultur, S. 112;
siehe auch „Botan. Ztg." 1875, S. 605).
Um über den Wechsel oder die Beständigkeit, deut-
licher gesagt: über die natürliche ürsprünglichkeit oder
Kultureinführung unserer jetzigen Vegetationsformationen
Aufschlüsse zu erhalten, dürfte in vielen FäUen Urkunden-
forschung und, greifen wir weiter zurück, ein Vergleich
alter Volkstraditionen mit der Gegenwart oder ein An-
schluß an prähistorische Forschungen sehr willkommen
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224 Oscar Drude,
sein. Borggreve hat in einer kleinen Schrift «Heide
und Wald; spezielle Studien und generelle Polgerungen
über Bildung und Erhaltung der sogenannten natürlichen
Vegetationsformen oder Pflanzengemeinden* (Berlin 1879)
den Grundsatz ausgesprochen, dafä in Deutschland mit
Ausschluß der bekannten Urwaldpartieen in Bergländem
fast alle Formationen, so auch die Heide im Nordsee-
und lübischen Gau, auf menschlichen Einfluß zurückzu-
führen seien. Sein Grundsatz: „In allen stärker bewohnten
Kulturländern übt der Mensch, direkt oder indirekt für,
bezw. gegen einzelne Organismen Partei ergreifend, den
weitaus überwiegendsten Einfluß auf die Gestaltung und
den Charakter der gesamten Pflanzendecke, so daß die
Frage, welche Pflanzen von den vielen auf dem betreflfen-
den Standorte vegetieren könnenden in einer Vegetation
herrschen, dort fast lediglich durch die Art der Behand-
lung resp. Benutzung des Bodens seitens des Menschen
entschieden wird**, welcher für das wirklich kultivierte Land
in größter Strenge gilt, leugnet auch die Ursprünglich-
keit der nicht geradezu kultivierten Formationen, und
zwar nicht nur hinsichtlich der Arten der selbstverständ-
lich der forstlichen Auswajü unterworfenen Bäume, son-
dern die Verteilung von Wald, Heide, Moor, Wiese, Anger
überhaupt. Diese Ansicht scheint weit über ihr Ziel
hinauszuschießen und ist neuerdings hinsichtlich der balti-
schen Heiden von Dr. E. Müller, einem umsichtigen
dänischen Forstschriftsteller (in dessen »Studien über die
natürlichen Humusformen und deren Einwirkung auf Vege-
tation und Boden**, deutsche Uebersetzung, Berlin 1887,
S. 224 — 271) zurückgewiesen, die Heiden als durch natür-
Uche Einflüsse über die alte Waldformation siegend zurück-
geführt. Aber es mag auf das Interesse hingewiesen sein,
welches die Forschung aus dieser Streitfrage zu ziehen
berufen ist.
Was der Mensch mit seinen Einflüssen für Umge-
staltungen hervorrufen kann, soll das letzte Glied dieser
florengeschichtlichen Studien bilden, welches besonders den
Pflanzenwanderungen der Gegenwart Aufmerksam-
keit schenkt. Eine andere, nicht minder interessante
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Pflanzenverbreitung. 225
Seite der Forschung ist es, den durch Kulturbedingungen
hervorgerufenen Umgestaltungen innerhalb der bestehen
bleibenden Formationen nachzuspüren und dadurch eine
festere Grundlage für oder wider die so kühn von Borg-
greve hingestellte Behauptung zu gewinnen. Werden
Wiesen künstlich berieselt, Bergwiesen drainiert, gedüngt
u. s. w., so werden sich bald die Wirkungen dieser Ein-
grifife in einer veränderten Verteilung,, im Verschwinden
einiger, im Auftauchen anderer Formationsglieder zeigen.
Ebenso verdient es Beachtung, wie sich auf brachliegendem
Boden im Walde, in der Heide, in bestimmter Reihen-
folge eine natürliche Vegetationsdecke einfindet und all-
mählich zu einer der sonst bekannten Formationen hin-
überführt.
. 2. Pflanzenvorkominen.
Von jeher ist das Vorkommen der an bestimmter Oert-
lichkeit vereinigten Pflanzenarten als die Grundlage aller
weiteren floristischen Studien betrachtet worden. Doch hat
man wohl im allgemeinen zu sehr die systematische An-
ordnung vor der topographischen vorwalten lassen; oft
erfährt man über die wirkliche Ausbreitung der interes-
santesten (d. h. irgendwie charakterbestimmenden!) Arten
nichts als die Bemerkungen „selten", „stellenweise", „ge-
mein", oder es werden einige Ortschaften genannt, in
welchen sich die botanische Exkursion zur Aufsuchung
bestimmter Arten versammeln kann. Wenn aber wirk-
lich eine lebensvolle Auffassung der floristischen Auf-
gaben den heutigen Standpunkten der Wissenschaft ent-
sprechend Wurzel in weiten Kreisen schlagen soll, so
muß die sorgfältig ausgearbeitete und geprüfte Liste der
wirklich vorhandenen Arten auf geographischer, deut-
licher gesagt: auf topographischer Grundlage nach
Vegetationsformationen an- und umgeordnet, letzteren
überhaupt starke Rechnung getragen werden.
Für das laienhafte Auge sind die Formationen,
d. h. die reinen oder gemischten Bestände von Gewächsen,
mit Berücksichtigung ihrer Geselligkeitsverhältnisse unter-
schieden und benannt, das zunächst sich im Landschafts-
Anleitnng zur deutschen Landes- und Volksforachung. 15
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226 Oscar Drude,
Charakter Aufdrängende ; je tiefer das botanisch-systema-
tische Verständnis dringt, desto mehr klären sich die
verworrenen Empfindungen beim Anschauen einer in ver-
schiedenen Gauen verschieden ausgestalteten Hauptfor-
mation; denn die Verschiedenheiten lassen sich auf das
Eintreten neuer Pflanzenarten als Glieder der Formation
zurückführen. Die Heiden von Celle bis Uelzen, beim
Durchqueren der Ardennen, an den Isarauen und im
Märkischen Gau sehen sehr verschieden aus und verdanken
ihr verschiedenes Aeußere jeweilig verschiedener Art-
zusammensetzung, unter denen die Ericaceenarten nach
Erica Tetralix, E. cinerea j E, carnea und Calluna vulgaris
wechseln ; was die oberflächliche Betrachtung hier mühelos
herausfindet, hat die wissenschaftliche Beobachtung nach
Mals und Zahl und unter Erwägung der biologischen
Bedingungen für die topographische Charakteristik der
Landschaft zu verwenden.
Studien dieser Art faßt man unter der Bezeichnung
„Vegetationsverhältnisse*' zusammen; zunächst muß aber
der Florist seine Pflanzenliste genau und vollständig
beherrschen. Man erinnere sich dabei an Linn^s in der
„Philosophia botanica" (1751) ausgesprochene Charakteri-
sierung: „Floristae enumerant vegetabHia spontanen certi ali-
cujus Loci, — Enumeratio sit sijsteinaticay ut etiani ahsentes
intelUgantur ; sint praesentes cum Loco, Solo, Te^npore,
Nominibus indigenis.^
Hier kann nur den speziell botanischen, mehr oder
weniger tief eindringenden Kenntnissen die gewonnene
Leistung entsprechen. Dafür, daß keine gröberen Fehler
vorkommen, sorgen die so zahlreich nach guten Quellen
ausgearbeiteten kleineren und größeren Exkursionsfloren;
aber damit ist freilich nur das Nothwendigste gethan.
Denn hier haben die sorgfältigeren Beobachtungen über
die schwieriger unterscheidbaren Unterarten und Varietäten
einzutreten, welche man bei dem großen Ueberblick über
die Flora zunächst leicht entbehren kann. Was für
Schwierigkeiten hier, beim Eingehen auf die in der Natur
unfertig geschiedenen Formenkreise der Arten, entstehen,
mag der Anfänger leicht erfahren, wenn er eine Brom-
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Pflanzenverbreitung. 227
beere oder Rose nach einer deutschen Lokalflora zu be-
stimmen sucht, in welcher diese Gattungen schon für den
Bereich irgend eines mittel- oder süddeutschen Gaues
mit je einem halben Hundert Arten vertreten sind. Denn
bei diesen Gattungen hat zuerst die Einsicht, daß die
wenigen Arten der älteren Autoren Sammelarten seien,
siegreich sich Bahn gebrochen; die feineren Unterschei-
dungen sind demgemäß dann auch in die gründlicher
ausgearbeiteten Lokalfloren übergegangen und haben sich
auf eine stetig größer werdende Zahl von Gattungen er-
streckt. Weniger zweckmäßig scheint es dagegen jedem
Anfänger zuzumuten, daß er sich sogleich in das Formen-
gewirr dieser in zahlreiche, höchst nahe verwandte Sippen
sich natürlich gliedernden Gattungen hineinstürze. Wenn
diese Zumutung zu tadeln ist, wenn entweder eine ün-
gleichartigkeit in die Floristik durch Vermengung starker
und schwacher Formkreise hineingelangt oder der Anfang
zu einer endlosen Zersplitterung bis zur Unmöglichkeit
sich in der gewohnten binären Artnomenklatur auszu-
drücken, gemacht wird, so ist doch andererseits zu be-
tonen, daß eine genaue Artkenntnis der im Lokal-
gebiete vorkommenden Pflanzen das Eingehen auf diese
schwachen Systemsippen verlangt. Sie sind sogar von
einer hervorragenden Wichtigkeit für die Erkenntnis einer
weitergehenden Florenentwncklung: denn der Satz, daß
keine „Pflanzenart" auf Deutschland beschränkt sei, ist
nicht mehr stichhaltig, sobald wir auf die Unterarten ein-
gehen: alsdann ist eine Reihe von Hieracium-Formen auf
die obere Sudetenregion beschränkt, eine Reihe von Rosa-,
RubuS'Formen bisher nur aus Deutschland beschrieben,
Armeria Ilalleri eine endemische Art der Harzflora, eine
Form von Salix Lapponum und das Sedum y^uhens Hke.
der Hochsudeten soll dann ebenfalls eigene „Art" sein u. s. w.
Hier nachlässig zu sein, würde heißen, in einen unver-
zeihlichen Fehler zu verfallen. Wie! in den Gärten werden
jährlich viele neue „Sorten" von Rosen, Begonien, Rho-
dodendren gezogen und unter neuen Eigennamen dem In-
teresse der Blumenliebhaber feilgeboten, und der Florist
sollte die unter natürlichen Bedingungen entstandenen
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228 Oscar Drude,
NaturzUchtungen, welche dem Ort und seinen besonderen
Lebensbedingungen ilir Entstehen und ihre Erhaltung ver-
danken, nicht mit wissenschaftlichem Interesse, man darf
sogar sagen: nicht mit Liebe zu sich heranziehen? Hier
liegt noch ein großes, weites, aber auch schwierig mit
umfassender Sachkenntnis zu bearbeitendes Feld offen,
und während man unter Algen, auch wohl Moosen, noch
stärkere „ Arten '^ als Neuheiten der Flora aufspüren kann,
erfordern die Blutenpflanzen eine Vertiefung in die un-
fertigen Formenkreise.
Dieselben gleichmäßig mit den »starken Arten*', für
welche man Linn^s Charakterisierung als passendes
Muster zu wählen pflegt, als » eigene ** Arten aufzuftihren,
erscheint weder im Sinne einer natürlichen Systematik,
noch im Sinne einer auf wissenschaftliche Bedürfnisse
Rücksicht nehmenden Phytographie; statt Wiederholungen
mag auf die Ausführungen im „Handbuch der Botanik*'
(Encyklopädie der Naturw., L Abteilung) Bd. HI Teil 2,
S. 255 und 284 hingewiesen werden. Denn ich stehe un-
verändert auf dem in ähnlicher Weise auch von Cela-
kowsky in der Einleitung zu dem mustergültigen „Prodro-
mus der Flora von Böhmen ** klargelegten Standpunkte.
Sollte darin vielleicht ein zu starkes Anhängertum an
die längst verschwundenen Linnäschen Zeiten zu liegen
scheinen, so mögen hier zur Bekräftigung der Ziele, welche
die Floristik als Heimstätte der speziellsten Pflanzen-
kenntnis zu verfolgen hat, die von Schur als Einleitung
zur Schilderung neuer österreichischer Formenkreise an-
geführten Sätze wie Leuchtsterne wiedergenannt werden:
„Es ist ein großer Fehler der Botaniker, zu glauben,
daß die neuen Benennungen von Pflanzenformen nur den
Bezeichnungen Linn^s anzuschließen seien. Die Zeit
Linn^s ist für uns ein Stück Altertum, wo eine be-
schränkte und unzureichende Erfahrung den Gesichtskreis
einengte.**
„Es giebt keine konstanten Pflanzenarten; was man
heute als solche aus Gewohnheit und Bequemlichkeit be-
handelt, sind nur Formen, die einer unbegrenzten Um-
änderung zulässig sind.**
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Pflanzenverbreitung. 229
Die Erfahrungetiy welche der eindringende Systema-
tiker sammelt, soll er als Fhytograph in kurzer Form der
Wissenschaft überweisen: in diesem Punkte liegt die
Schwierigkeit und der Widerspruch zwischen Wissen und
Darstellung. Nur um letztere handelt es sich bei der
Frage nach Abgrenzung von starken Arten, Unterarten,
Spielarten; es ist Sache der Wissenschaft, jetzt, wo das
Dogma von der Konstanz der Arten nicht mehr besteht,
durch geeignete Reformen der Freiheit der Forschung
Spielraum zu gewähren. Einen bemerkenswerten Ver-
such unter vielen findet man in Dr. 0. Euntzes „Methodik
der Speziesbeschreibung und Rubus" (Leipzig 1879); aber
auf die dort vorgeschlagene Weise geht es auch nicht. —
Die Liste von Arten, Unterarten und Varietäten in
der für jedes kleine Gebiet möglichen Vollständigkeit
erfordert dann ein Eingehen auf das besonders Hervor-
zuhebende, auf solche Formen, welche durch ihr Vor-
kommen oder durch ihr Fehlen, oder durch die Auswahl
ihrer Standorte, durch Häufigkeit oder Seltenheit zu den
auffälligen Erscheinungen gehören. Hinsichtlich der
Standorte wird dieser Gegenstand zweckmäßig mit den
Formationsgliederungen vereinigt, die pfianzengeogra-
phische Hervorhebung besonderer JEigentümlichkeiten be-
spricht zunächst das Vorkommen an sich im Bereich des
Gebietes. Hier soll durch die oben auseinandergesetzte
Gaueinteilung ein fester Anhalt gegeben werden; man
braucht nicht alles das hervorzuheben, was zu den ge-
meinsamen Merkmalen des ganzen Gaues gehört. Da-
gegen lassen sich auch keine Pflanzen allgemein nennen,'
deren Hervorhebung immer wichtig wäre; nur auf einige
Beispiele machte die Gaueinteilung aufmerksam. Die
gemeinsten Pflanzen der einen Gegend verdienen die-
höchste Aufmerksamkeit einige Grade westlich, östlich,,
südlich oder nördlich davon. In dem Elbsandsteingebirge
wächst fast überall die schöne, in leuchtend weißen
Sträußen blühende Spierstaude (Anincus Silvester)^ im un-
teren und mittleren Erzgebirge gesellt sich noch ebenso
häufig die etwas früher erscheinende Klebnelke ( Viscaria
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230 Oscar Drude,
vulgaris) hinzu und deckt oft die Bergwiesen oder Fels-
köpfe mit feurigem Rot. In dem westlichen Nachbar-
gau des hercynischen Berglandes ist das ganz anders;
in Thüringen vom Lothariusberge südwestlich von Quer-
furt "ostwärts und im ganzen Harzgebiet fehlt der Ärun-
cuSy und seine Vegetationslinie möchte hier recht ge-
nau festgestellt werden. Die schöne Viscaria hat im
westlich-mitteldeutschen Gau noch ein paar vereinzelte,
wenige Are einnehmende Standorte auf der Höhe des
basaltischen Meißner und im Ostharz. Warum ersteigt
sie nicht die duftigen Bergwiesen? Schwache klima-
tische und Substratunterschiede, welche in dem Mit-
bewerb so vieler anderer Pflanzen um den Standort
den Ausschlag geben müssen, können wir als dürftige,
ganz allgemein gehaltene Erklärung hier nennen; aber
seien wir um die Gründe der Erklärung nicht frühzeitig
besorgt und verlegen, wo wir sie nicht finden: Beob-
achtungen sammeln, dieselben sichten, sie als Bausteine
in das schon aufgerichtete Gefüge der Floristik einpassen,
das gegenwärtige Gebäude selbst ändern, wo es wertvolle
Bausteine nicht aufnehmen will, das allein sind Aufgaben,
um welche frohen Mutes und von wissenschaftlichem Eifer
beseelt hinauszuziehen in die Natur sich lohnt. Oft sind
schon mühselig zusammengetragene Verbreitungsbeob-
achtungen über eine einzelne Pflanzenfarailie von hohem
Interesse und geben Stoff zu weiteren Untersuchungen
über die Ursachen der Verbreitung. Schlesien gehört zu
unseren am besten durchforschten Ländern, und doch
regte Stenzel in einer sehr lesenswerten Schrift (Botan.
Sektion der Schles. Ges. f. vaterl. Kultur, 25. Febr. 1875;
Botan. Ztg. 1876, S. 654, 663) zu neuen zahlreichen
Beobachtungen über das Vorkommen der Farne, Bärlappe
und Schachtelhalme an, um Einsicht in die auffälligen
Lücken der Verbreitung zu erhalten, welche gemeine
Arten unter der Angabe „von der Ebene bis in das Hoch-
gebirge verbreitet** verhüllen. Denn diese sind unten
wirklich gemein und haben oben ein inselartiges Vor-
kommen in ganz anderen Formationen, fehlen aber meistens
in den zwischenliegenden Bergwäldern.
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Pflanzen Verbreitung. 231
An dieser Stelle mag ein Hinweis auf die Wichtig-
keit der Höhenabstufungen („Regionen") Platz finden;
denn dieselben sollte bei Pflanzensammlungen ordnungs-
mäßig beizufügen niemand unterlassen, ebensowenig wie
ein Florist ohne Aneroid in die Berge ziehen sollte. Es
gliedern sich die Hügel- und Bergländer je nach ihrem
steilen oder flachen Aufbau und ihrer geographischen
Lage zwar auch schon in Deutschland nach Ausschluß
der Karpaten und Alpenkette nicht unbeträchtlich ver-
schieden, doch könnte für allgemein gehaltene Angaben,
z. B. auf Herbar-Etiketten, vielleicht folgende aus den
Abgrenzungen Sendtners, Wimmers, Willkomms u. a.
in Vergleich mit meinen eigenen Beobachtungen hervor-
gegangene summarische Abstufung Beifall finden:
I. Niederung vom Meeresspiegel bis 150m. In ihr
bewirken zuweilen kleine Erhebungen schon große
floristische Veränderungen, wie z. B. viele seltene
(Berglands-) Arten nur die Geesthügel im Nordsee-
gau bewohnen; hier ist aber dann die geologische
Geschichte der Flora und das Substrat, nicht aber
ein klimatischer Höheneinfluß maßgebend.
n. Hügellandregion von 150 — 500 m, mit zwei Ab-
teilungen;
a) untere Stufe 150 — 300 m als wärmstes Hügel-
land mit Kultur von Wein, Pfirsich, Walnuß;
Erhaltungsgebiet der westpontischen und medi-
terran-atlantischen Arten ;
b) obere Stufe 300 — 500 m, vielfach als „Region
der Eichen" bezeichnet.
III. Berglandregion von 500 — 1100 m, mit drei Ab-
teilungen :
a) untere Waldregion 500—800 m; es herrscht der
Laubwald (Buche) mit zugeseilter Weißtanne;
b) obere Waldregion 800— 1100 m; es herrscht
der Fichtenwald;
c) Strauchregion 1100 — 1300 m; die Fichte ver-
schwindet und sinkt zum Strauch herab; Vogel-
beerstrauch , Krummholzkiefer , Weidenbüsche,
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282 Oscar Drude,
gesellige Halbsträucher ersetzen auch ohne Moor-
grund, mit alpinen Stauden vergesellschaftet,
den Wald, üebergang zu Region IV.
IV. Alpine Region von 1300m bis zum Gipfel der
Berge. Bei der geringen Entfaltung dieser Re-
gion im außeralpinen Deutschland bedarf es hier
keiner Abteilungen.
In der planmäßigen Erfassung der Vegetations-
formationen unter Berücksichtigung des Substrates und
der Region liegt die Handhabe zur topographisch-physio-
gnomischen Landschaftsschilderung auf floristischer Grund-
lage. Zwei Seiten bieten sich als Kriterien ersten Ranges
dar: 1. die Geselligkeit einzelner, mehrerer oder vieler
sich in die Hauptmasse des Geländes teilender Pflanzen-
arten, und 2. die biologische Erscheinungsweise derselben.
Es bilden zum Beispiel mancherlei Gräser zusammen mit
eingestreuten großblumigen Stauden (Dolden, Hahnenfuß-
arten, Sauerampfer) die Wiesen ; ihre biologische Gleich-
artigkeit liegt im Ausschluß der Holzgewächse und ein-
jährigen Sommergewächse, während die verschiedenen im
Wiesengemisch vereinten Gattungen teils oberirdisch mit
Rasenblättem und Rosetten, teils unterirdisch mit Wurzel-
stockknospen, oder endlich mit Zwiebeln und Knollen
(z. B. die Herbstzeitlose) ausdauern. An alles dieses
muß man sich bei dem Worte „Wiese" erinnern; gäbe
es dafür nicht dieses schöne, volkstümliche Wort, die
Pflanzengeographie müßte eins erfinden.
Indem, um Wiederholungen zu vermeiden, bezüglich
einer allgemeinen Richtschnur für die Auffassung der
Vegetationsformationen auf Neumayers „Anleitung zu
wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen* (2. Auf-
lage, 1888, Bd. II, S. 145 und 166—189), verwiesen
wird, mag es hier genügen, in derselben Reihenfolge die
flPormationsabteilungen* der deutschen • Flora mit
hinzugefügten „Einzelformationen* zu nennen. Von den
einzelnen Formationen selbst ist noch nie eine zusanmien-
hängende Darstellung für Deutschland gegeben, und diese
bildet ein Thema für die zu erwartende ausführliche
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Pflanzenverbreitung.
233
Pflanzengeographie des Landes. In Kerners schon an-
geführter lehrreicher Schrift ^Oesterreich-Ungams Pflan-
zenwelt* (»Die österreichisch -ungarische Monarchie in
Wort und Bild*, Wien 1886), auch in desselben Ver-
fassers nPflanzenleben der Donauländer*^ (Innsbruck 1863)
sind für den Sudeten- und bojischen Gau Formationen
genannt, welche (durch K. kenntlich gemacht) hier neben
anderen als Belege dienen mögen.
Formationsabteiliingen.
Sommergrüne Laubwälder
% einfachen Schlages,
f gemischten Schlages.
Immergrüne Nadelwälder.
Sommergrüne Gebüsche.
Immergrüne Gebüsche.
Blattlose Ruten- und Dprn-
gestrüppe.
Blattwechselnde imd immergrüne
Gesträuche.
Gesellige Stauden (d. h.
Kräuter mit ober- oder unter-
irdisch ausdaueifnden Wurzel-
stöcken» immergrün wie Pyrola,
oder sommergrün wie Petasites)
Formationen.
Buchenwald, Eichenwald, Birken-
wald, Erlenbruch.
Mengwälder.
Kiefernwald (= WeißfÖhrenwald
K.), Fichtenwald (Ä'.), Tannen-
wald.
Grünerlengebüsch (K.) , Sand-
domgebüsch (K.), Weidenge-
büsch (K.) , Eichengebüsch
(= ^Kratt** im liibigpViP.n Gaoi),
Hagedomgebüsch (als Sammel-
begriff für die zumal im Hügel-
gelände häufig vergesellschaf-
teten Rosen-, Weiß- u. Schwarz-
dornbüsche mit Brombeeren
u. s. w.).
Hülsengebüsch (von Hex Aquifo-
lium im Nordseegau), Wachhol-
der- und Zwergwachholderge-
büsch {K,), Knieholzgebüsch.
Ginstergestrüpp (von ülex euro-
paeus und Genista anglica im
Nordseegau), Besenstrauchge-
strüpp (von Sarothamnus).
Heidelbeergesträuch, Mooroeer-
gesträuch (von Vaccinium uli-
ginosum), Heidegesträuch.
Quellenflur {K.) der Hochgebirgs-
und Bergregion (Petasites al-
bus, Chaerophyllum hirsutum
und Polygonum Bistorta etc.).
Karflur (K,) z. B. von Aruncus,
Euphorbia dulcis^ Astrantia,
Lunaria ; Digitalisformation im
Niederrheingau.
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234
Oscar Drude,
Bergmatte (z. B. in den Hoch-
sudeten : Homogyne alpina
mit Empetrum vorherrschend,
Trientalis europaea, Doroni-
cum austriacum , Yaccinium,
Molinia und Cetraria dazwi-
schen gesellig oder einge-
sprengt).
Niederungswiese , saure Wiese,
Torfwiese , Thalwiese , Berg-
wiese; Grasmatte (in der 6e-
birgsregion, kurzhalmig).
Sandheideflur (K.) von Koeleria
glauca und Carex arenaria;
Corynephorus. Borstengras-
matte (K.) von Nardus stricta.
Diinenflur.
Flechtenüberzug , Moosteppich
(K,) der Felsblöcke.
Geröllflur {K.), Haldenflur (AT.).
Waldmoor, Buschwald aus Sumpf-
fohren.
Hochmoore (üT.j (d. h. überwie-
gend Ericaceen mit Sumpf-
moosen).
Wiesenmoor (K.) oder Grünmoor
(d. h. überwiegend Cypei-aceen).
Schilfdickicht (aus Rohrkolben,
Typha und Acorus Calamus).
Binsendickicht (aus Scirpus ma-
ritimus u. a.).
Schwimmdecke aus Lemna, Nyra-
phaea, Hydrocharis.
Tauchgrund aus Grüntangen,
Potamogeton.
Unterseeische Seegras-, Seetang-
wiese.
Eine Reihe der hier aufgeführten, die Hauptzüge
unserer Landschaften angebenden Formationen ist durch-
aus boreal, viele sind auch spezifisch mittel- und west-
europäisch, einige wenige kosmopolitisch. Jedenfalls sieht
jedermann leicht ein, da^ beim Eingehen auf die Eigen-
tümlichkeiten eines einzelnen Gaues — und deren gibt
es genug im Landschaftsbilde — die genannten Formationen
gegliedert werden müssen, indem die Totalität ihrer Ver-
breitung in eine mehr oder minder grosse Zahl von
mit niederen rasigen Halb-'
sträuchem,
mit eingesprengten Gräsern,
mit Moosen und Erd flech-
ten.
Wiesen (d. h. geselliger Gras-
wuchs auf feuchtem Boden
vorherrschend).
Grassteppen (d. h. geselliger,
aber lückenhafter Gras wuchs
auf sommerlich dürrem Boden).
Felspflanzen
auf Gestein,
in Spalten und Geröll.
Moore mit Baumwuchs.
Baumlose Moore.
Sumpf- und Uferpflanzen.
Wasserpflanzen.
Seepflanzen.
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Pflanzenverbreitung. 235
Formationsgliedern zerfallt. Diese letzteren auf topo-
graphischer Grundlage unter steter Berücksichtigung der
Höhenlage, der Bewässerung und geognostischen Be-
schaffenheit des Erd- oder Geröllbodens wissenschaftlich
zu begründen und schließlich kartographisch darzustellen,
das muß als eine neue und viel Arbeit erfordernde Seite
der Floristik betrachtet werden, an welcher sich zahlreiche
Kräfte üben und zur gemeinsamen Darstellung vereinigen
möchten.
Nur ganz flüchtig kann hier auf die erforderlichen
Ausführungen hingewiesen werden : Wälder der Rotbuche
gibt es in Europa vom südlichsten Skandinavien bis zum
Kaukasus ; im letzteren Gebirge wetteifern sie an Majestät
mit denen in Jütland und im lübischen Gau; ihr Cha-
rakter ist aber je nach Begleitformationen oder einzelnen
Begleitpflanzen ein sehr verschiedener : er wechselt, wenn
der Wanderer aus der Niederung in das Muschelkalk-
gelände des mitteldeutschen Gaues tritt oder die Basalt-
kegel Böhmens ersteigt ; er ist in der Auvergne sehr ver-
schieden von dem der Sudeten und im Kaukasus, und erst
darin liegt das für die spezielle Floristik, d. h. für
die auf einzelne Arten als gewichtige Merkzeichen achtende
Florenkunde, Wichtige. „Bergwiesen" sind ganz allge-
meine Formationen der borealen Berg- und Hochgebirgs-
länder, vielleicht in allen Gebirgen der Erde zu finden;
greift man aber aus ihrem Artgemisch gewisse Charakter-
arten heraus mit charakteristischer Verbreitung, spricht
man von den Meum athamanticum-, Mutellina- Wiesen, von
den TroUius-Wiesen, oder den auf den Kalkhügeln ausge-
breiteten mit Koeleria, Brachypodium pinnatum, vergesell-
schaftet an Anthemis tinctoria, Scabiosa Columbaria,
Thymus Serpyllum : sogleich ist der Kenner der deutschen
Flora im richtigen Bilde, kennt die Standorte nach ört-
lichen Bedingungen, nach Bewässerungsart, Regionshöhe
und Erscheinungsweise, und es muß folglich in dieser
Ausdrucksweise auch zugleich der Schlüssel zu einer
wissenschaftlichen Bezeichnung der Standorte gesucht wer-
den. T— So entsteht eine konsequente „Analyse der Vege-
tationsdecke''. Die Standortsbezeichnungen von Sendtner,
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23G Oscar Drude,
von F. W. Schultz (s. d. Litteraturauswahl) mit ihrer
steten Berücksichtigung der Höhenlage und der Gesteins-
unterlage verdienen das höchste Lob; die Hinzufägung der
angehörigen Vegetationsformation würde aber ihre Schärfe
noch wesentlich erhöhen.
3. Pflanzenleben.
Was nach allem diesem noch an floristischen Eigen-
tümlichkeiten einer Landschaft fehlt, das liegt in den be-
sonderen, an das besondere Klima, die Bodenverhältnisse und
den organischen Mitbewerb angepaßten und sich mit diesen
und durch diese forterhaltenden Lebenserscheinungen, in
der biologischen Entwicklungsweise der Flora aus-
gedrückt. Diese Faktoren bestimmen auf weite Räume,
auf weitere als sie im Rahmen der Gaufloristik liegen,
zunächst den Allgemeincharakter der Vegetation, be-
stimmen ihre Zusammensetzung aus Holzpflanzen, peren-
nirenden und einjährigen Gewächsen, die Länge der Ruhe-
periode, die Art und Weise ihres Ausdauems während
derselben, ob mit oder ohne Laubfall, mit besonderen
Frost-, Trockenschutzeinrichtungen oder ohne dieselben,
die durchgängige Größe, Textur und Farbe der Blätter
während der heißen Jahreszeit, die Schaustellung der
Blüten zu Befruchtungszwecken, die Geschwindigkeit der
Fruchtreife und die Fürsorge für Keimungssicherung. In
der Flora umherzuwandem und für diese Dinge kein Auge
zu haben,, das hieße die Botanik als biologische Wissen-
schaft verkennen.
Die eingehende Florenkunde Deutschlands wird aus
diesen hier in Kürze genannten Gesichtspunkten durch
Vertiefung in sie und durch Vergleich der pait wechseln-
der ozeanischer oder kontinentaler, Höhen- oder Tiefenlage
eintretenden Abänderungen des biologischen Durchschnitt-
verhaltens wesentliche Errungenschaften ziehen müssen.
Am allgemeinsten bekannt sind davon zur Zeit die ^phä-
nologischen Beobachtungen**, d. h. die statistischen
Vergleiche der Entwicklungszeiten im Austreiben ge-
meiner deutscher Bäume, Sträucher und Stauden zur Blatt-
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Pflauzenverbreitung. 237
bildung, ersten Blüteneutfaltung und in der von da bis
xwc Fruchtreife verstreichenden Zeit; der durchschnittliche
Termin des Frühlingseinzuges und die Länge der Vege-
tationsperiode ergiebt sich aus solchen vergleichenden Be-
obachtungen, von denen Prof. Dr. H. Hoff mann in Gießen
zusammen mit Dr. Egon Ihne eine große Zahl für Europa
zu Durchschnittswerten berechnet und kartographisch zu-
sammengestellt hat.
Es genügt, auf die wertvollen, in der „Vergleichenden phäno-
logischen Karte von Mitteleuropa* (Petermanns geographische Mit-
teilungen, 1881, Taf. 2) und in den , Resultaten der wichtigsten
pflanzenphänologischen Beobachtungen in Europa" (mit Frühlings-
karte, Gießen 1885), femer in den «Phänologischen Untersuchungen"
(Gießener Universitätsprogramm 1887) niedergelegten Ergebnissen,
sowie auch auf Ihn es „öeschichte der pflanzenphänologischen Be-
obachtungen in Europa und Schriftenverzeichnis*' (Beiträge zur
Phänologie, Gießen 1884) statt aller Weiterungen zu verweisen,
da hier auch die Beobachtungspflanzen und -methoden ausführlich
dargelegt sind.
Zu erinnern wäre vielleicht, data man sich in den
Zeitangaben eines absoluten Maßes bedienen sollte, indem
man den 21. Dezember als Datum des beginnenden Sonnen-
aufstieges in den borealen Ländern zum Nullpunkt wählte ;
die Zurückberechnung aller Daten auf Gießen wirkt lästig.
Auiäerdem wäre wünschenswert, daß solche Vergleiche von
Blütenentwicklungskurven mit Temperatur- und Nieder-
schlagskurven, wie sie Dr. Franke für die Flora von
Messina (in dem Jahresbericht der Schlesischen Gesell-
schaft für vaterl. Kultur 1882, S. 217) geliefert hat, auch
für die verschiedenen deutschen Gaue angestellt werden,
und daß hierbei nicht summarische Angaben, sondern
solche auf die hauptsächlichen Vegetationsformationen be-
zügliche zur Veröffentlichung gelangen. Der eigentüm-
hche Jahreszeitencharakter der letzteren kann kaum auf
andere Weise ohne viele Umstände klargelegt werden.
Für die bewohnten Kulturgelände darf man wohl be-
haupten, daß bald an Einzelbeobachtungen der zahlreichen
von Hoff mann empfohlenen Pflanzen Ueberfluß herrscht;
nur für gewisse Striche und zumal für die Gebirgsregionen
sind sie noch heute sehr willkommen. Nun handelt es
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238 Oscar Drude,
sich aber nicht nur um kartographische Unterlagen zur
phänologischen Demonstration des Einzuges des FrühKngs,
sondern besonders um Erforschung des Zusammenhanges
zwischen Klima und Pflanzenleben, wobei in Hinsicht auf
Phänologie Hof f mann besonders das Gesetz der thermi-
schen Vegetationskonstanten, gemessen durch Maximal-
temperaturen am Insolationsthermometer, aufgestellt hat.
Diesem Gesetze stehen anderweite Erfahrungen über Akkli-
matisation entgegen, und hier möchte umfassenderes Ma-
terial gewonnen werden. Beobachter auf diesem Gebiete
müssen sich unabhängig machen von den meteorologischen
Stationen, müssen in einem Garten, im Forst, n^e bei
den Beobachtungspflanzen ein Insolations-Maximumthermo-
meter, ein gewöhnliches Maximum- und Minimumthermo-
meter, ein Psychrometer und Bodenthermometer (für 10 bis
20 cm Erdreichstiefe) aufstellen ; die Wichtigkeit der Ab-
lesungen mehrerer freihängender Thermometer mit be-
feuchteter Kugel, in der Sonne oder im Baumschatten
oder über Grasflächen aufgestellt, kann für thermische
Vegetationsbeobachtungen nicht genug betont werden, zu-
gleich die Beobachtung der Insolationsstärke. Es empfiehlt
sich dann aus den zahlreichen phänologischen Pflanzen- *
arten eine kleinere Zahl auszuwählen, die Phasen der-
selben aber in größerer Vollständigkeit und unter steter
Berücksichtigung des Wetters zu notieren, endlich die-
selben graphisch nebeneinander aufzutragen. Es kommt
dabei sowohl auf Insolationsmaximalsummen bis zum Ein-
tritt der Beblätterung und ersten Blüte, als auf die von
da an bis zur Fruchtreife dem Gewächs zu Teil gewordenen
Insolations- und die am feuchten Thermometer abgelesenen
Tagestemperaturen an, sowie auf störende Zwischenfälle.
Als wichtigste Pflanzen zur Beobachtung möchte ich nennen :
Aesculus Uippocastnnum, Betula alba, Cystisus Lahurnum,
Fagiis silvatica, Fraxinus excelsior, Prunus Padus, Sam-
bucus raceniosa, Tilia grandifolia (Sommerlinde) und Vac-
cinium Myrtillus (diese wohl nur im Freien !) ; von mono-
kotylen Stauden und Zwiebeln: Narcissus Pseudonarcissus
(im Rasen gepflanzt!), Convallaria majalis und Colchicum
autunutale (im Rasen!). Von großer biologischer Bedeu-
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Pflanzenverbreitung. 239
tung und wichtig für genaue Beobachtungen ist die Be-
schleunigung des Phasen eintritts unter dem Einfluss
günstiger Temperaturen, nachdem ungünstige längere Zeit,
als es nach dem klimatischen Durchschnitt zu erwarten
gewesen wäre, dieselben zurückgehalten haben.
Wie bei diesen Beobachtungen, so auch bei den Ex-
kursionen auf die begleitenden, durch Ortsklima und
Bodenart veranlaßten äußeren Umstände zu achten, Durch-
schnittstemperaturen in Gebirgen aus Quellentemperaturen,
aus der Zeit des ersten und letzten Schneefalles und der
Tageszahl mit dauernder Schneedecke, aus dem Zufrieren
der Binnenteiche zu gewinnen, die Wirkung exzessiver
Jahre in Hinsicht auf Fröste oder Hitze, Dürre oder Regen-
fälle zu beachten, stets mit der chemischen und physikali-
schen Verschiedenartigkeit der Bodenunterlage in ihrem
Einfluß auf die Vegetation zu rechnen: das sind Dinge,
die den Floristen mit den übrigen geographischen Grund-
lagen seines Beobachtungsgebietes verknüpfen und welche
den gemeinsamen großen Zielen der Naturforschung ent-
springen.
Litteratnr als Hilfsmittel zu Studien in der deutsehen
Flora.
A. Einige kurze Bestimmungsanleitungen und die durch
Abbildungen erläuterten fundamentalen QueDenwerke über
das ganze Gebiet, mit Bemerkungen über ihren umfang
und Inhalt (vergl. auch die Einleitung S. 200—201).
Sporenpflanzen.
Eine kurze Einleitung in die Reiche der Flechten, Pilze,
Moose giebt die ,,Kryptogamenflora , enthaltend die Abbildung und
Beschreibung der vorzüglichsten Kryptogamen Deutschlands* y heraus-
gegeben von G. Pabst (und 0. Müller), Gera 1874 u. f. In
großem Quartformat mit vielen bunten, bei den Pilzen teilweise
schön gelungenen Lithographieen kann dieses Buch für oberfläch-
liche Gattungs- und Artkenntnis zur Vorbereitung dienen.
Für die Algen des süßen Wassers finden wir eine sehr gehalt-
volle und lehrreiche Einleitung in dem Werke: r^Die mikrosko-
pische Pflanzen- und Tierwelt des Süssicassers'^ ; Teil I: y,Die mikro-
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240 Oscar Drude,
skopische Pflanzenwelt des SUsswassers'^ , von Prof. Dr. 0. Kirchner
(Braunschweijf 1885). Auf 4 Tafeln in groß Quart sind in Schwarz-
druck sehr viele (166) kleine und größere Figuren der bei 260- his
900facher Vergi'ößei-ung gewonnenen mikrostopischen Charakter-
bilder dargestellt; der Text (56 S.) enthält Bestimmungstabellen
der Gattungen und Artdiagnosen für die wichtigeren^ auch 9 Seiten
praktische Einleitung für Sammlungs- und Eonservierungsmethoden.
Für die Meeresalgen sei noch einmal auf die zu Raben-
horsts j,Krtfptogamenflora von Deutschland, Oesterreich und der
Schweiz*^ (2. ganz neue Auflage) gehörige voilstöndigste Arbeit:
Bd. II. „Die Meeresalgen'^ von Dr. F. Hauck hingewiesen (576 Seiten
8°, mit 583 Holzschnitten und 5 Lichtdrucktafeln, Leipzig 1885),
in welcher auch eine kurze Einleitung über Sammeln und Präpa-
rieren zu finden ist.
Prof. Dr. Schimpers „Synopsis Mtiscorum Europaeot'um*
(734 S. 8^ Stuttgart 1860) ist ein durch 8 lithographische Ana-
lysentafeln noch nutzbarer wirkendes, höchst wissenschaftliches
Quellenwerk auch für die spezieUe deutsche Mooskunde. Es ist
ganz in lateinischer Sprache geschrieben.
Ein älteres, in Quartformat herausgegebenes, durch viele litho-
graphierte Tafeln kostbares, ausführlicheres Werk über die Laub-
moose ist Bruch und Schimpers „Bryologia Europaea, seu Genera
Miiscorum Europaeorum monographice iUustrcUa'^,
Als Exkursionsbuch für die Mooswelt allein eignet sieb die
185 Seiten lange Bearbeitung von P. Sydow: „Die Moose Deutsch-
lands'^ (Berlin 1881), ohne Abbildungen.
Derselbe Verfasser hat neuerdings der Lichenologie denselben
Dienst in seinem Buche: „Die Flechten Deutschlands'^ (Berlin 1887)
erwiesen; 1063 Flechtenarten sind unter 167 Grattungen auf 331 Seiten
abgehandelt, mit Diagnose und Verbreitung versehen, oft auch
durch kleine- Holzschnittfiguren mit den dem Anfänger oft be-
schwerlich fallenden Sporenuntersuchungen erläutert.
Ohne Abbildungen und ohne gerade eine deutsche Pilzflora
sein zu wollen, ist zur Einführung in dieses Gebiet gut Dr.
0. Wunsches „Die Pilze'^ zu gebrauchen, zumal zum Bestimmen
der größeren Formen. Für die allgemeine Systematik und Morpho-
logie dieses Reiches niederer Pflanzen kommt man ohnehin mit
keinem kurzen Bestimmbuch aus.
Blutenpflanzen.
Die Zahl der auf diesem Gebiete erschienenen kleineren oder
umfangreicheren Werke, besonders der Exkursionsfloren Nord- und
Mitteldeutschlands, ist eine sehr große, fast übergroße; nur auf
einige derselben mag mit Erläuterungen hingewiesen werden.
In kurzer Zeit sehr beliebt geworden ist Dr. H. Po to nies
„Illustrierte Flora von Nord- und Mitteldeutschland'^ (3. Auflage,
Berlin 1887); sie bietet auf 511 Seiten in groß Oktav neben den
Artunterschieden zugleich Holzschnittanalysen und Habitusdarstel-
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Pflanzenverbreitang. 241
longen, widmet den kritischen Gattangen Rosa, Rubus, Potentilla
unter Mitwirkung von Kennern eingebend ausgearbeitete Ueber-
sichten und bringt allein unter allen kurzen , Floren* von Deutsch-
land neben der systematisch-organographischen Einleitung auch
eine kurze Anleitung zur pflanzengeographischen Floristik unseres
Gebietes.
Die ,, Illustrierte deutsche Flora* (Blutenpflanzen und Gefäß-
kryptogamen) von H. Wagner (Stuttgart 1871) ist ein stattlicher
Band in Oktav von über 1000 Seiten, welcher in einer 68 Seiten langen
Einleitung die Kunstausdrücke der beschreibenden Pflanzenkunde,
auch etwas Anatomie, sowie Sammlun^s- und Untersuchungsregeln
mitteilt, dann im Haupttext ausführliche Artbeschreibungen mit
1250 kleinen Holzschnitten von Blütenzweigen, einzelnen Blüten,
Fruchtschnitten u. s. w. gibt.
Wohlfarths Buch: ,2>»6 Pflanzen des Deutschen Reichs,
Deutsch-Oesterreichs und der Schweiz'^ (Berlin 1881), welches sich
viele Freuode erworben hat, ist mir persönlich nidit bekannt.
Der von Prof. Dr. M. Willkomm verfaßte ^Führer in das
Reich der Pflanzen Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz'^
(2. Auflage, Leipzig 1882) zeichnet sich durch die eindringend
fachgemäße Behandlung des Gegenstandes aus, ohne seinen populär-
allgemeinverständlichen Charakter verloren zu haben; der Umfang
von 928 Seiten 8^ mit 7 Tafeln (Organographie der Blätter, Blüten,
Frucht) und mit 805 eingestreuten kleinen Holzschnitten, welche
meistens Blütenanalysen darstellen, kennzeichnet dies Buch als zu
den größeren gehörig. Die organographisch-systematische Einleitung
beschließt eine kurze Anleitung zur Anlegung eines Herbariums.
Von demselben Verfasser rührt ein faclmiäßiges Werk über
die Bäume, Sträucher und Halbsträucher der heimischen Flora
(einschließlich der kultivierten) her: „Forstliche Flora von Deutsch-
land und Oesterreich'^ (2. Auflage, Leipzig 1887). Der Umfang von
968 Seiten (S% die Hinzufügung von 82 großen Holzschnittsammei-
figuren läßt sie als ernsteren Studien gewidmet erscheinen; be-
sonders wichtig sind auch die Angaben über geographische Ver-
breitung.
iS^t vor kürzerer Zeit erschien in schöner Ausstattung Thomas
zweibändige ,, Flora von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz
in Wort und Bild'' (Gera 1887). Die schönen bunten Abbildungen
machen mit dem beschreibenden Texte das Buch zu einem Be-
lebungsmittel fQr das Herbarium deutscher Flora, sind treffend,
aber nicht kritisch wie Reichenbach angelegt.
Das im Verlage von Tempsky & Freitag erschienene drei-
bändige Sammelwerk: „ Frühlingsblumen'^ (von A.v. Enderes und
Prof.M. Willkomm), „Sommerblumen", j, Herbst- und WinierUumen'^
(beide letzteren von C. Sterne), Leipzig 1882 — 84, zeichnet sich
durch den Schatz von 120 Tafeln in schönem Farbendruck aus
und gibt, abgesehen von einer kurzen schematischen Familien-
übersicht, biologische und naturschildemde Skizzen, sowie Ge-
Anleitung zur deutschen Landes- und Yolksforachung. Iß
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242 Oscar Drude,
schichte einzelner Enlturpflanzen; zum Erlernen der „Flora" eignet
es sich nicht.
Prof. Dr. Jessens „Deutsehe Exkursions flora'^ (Hannover 1879)
ist kritisch und kenntnisreich geschrieben, bewegt sich aber zu
sehr in Abkürzungen, um einem großen Liebhaberkreise zu ge-
fallen.
Auf die letzte Ausgabe von Kochs „Taschenbuch der deutschen
und Schweizer Flora* durch Prof. E. Hallier (Leipzig 1878) ist
schon oben aufmerksam gemacht. Es hat jetzt viele Rivalen neben
sich, da die Bedürfnisse für die systematische Grundlage den ver-
schiedenen Vorkenntnissen entsprechend mannigfaltiger geworden
sind ; auch ist die systematische Anordnung dunkel, und zahlreiche
von Ascherson (Botan. Ztg. 1878) gemachte Berichtigungen ver-
raten gewisse Schwächen.
Sehr bekannt ist auch die durch viele farbige Oktavabbil-
dungen ausgezeichnete, durch Hallier in 5. Auflage herausgegebene
„Flora von Deutschland'^ von Schlechtendahl, Langethal und
Schenk (Gera 1880 u. f.). Für die jetzige Zeit ist sie nicht mehr
wichtig, wie sie einst war.
Prof. Dr. Franks „Pfianzentahellen zur leichten, schnellen und
sicheren Bestimmung der höheren Gewächse Nord- und Mitteldeutsch-
lands'^, in 5. Auflage (Leipzig 1887) erschienen, bilden wohl das beste
Buch, welches dem eine wissenschaftliche Grundlage erstrebenden
Anfänger empfohlen werden kann; die morphologische Einleitung
(mit Holzschnitterläuterungen), die systematische Schlußübersicht
und die Tabellen zum Bestimmen der Holzgewächse verleihen ihm
bei geringem Preise hohen Wert. Doch ist es keine „Flora",
sondern nur ein „Bestimmbuch" in kürzester Form.
Mit dem Jahre 1834, wo unter dem Titel „Ägrostographia
Germanica, Die Gräser und Cijperoideen der deutschen Flora, in ge-
freiten Abbildungen auf Kupfertafeln dargestelW^ von H. G. Ludwig
Reichenbach der erste Band einer neuen Folge von desselben
Verfassers „Plantae critieae* erschien, begann die stattliche Reihe
jener vollendetsten Ikonographie deutscher Flora, welche, noch bis
heutigestags nicht ganz vollendet (22 Bde.), von Prof. Dr. H. Gustav
Reichenbach fortgesetzt wird. Von hohem wissenschaftlichen
Werte in allen Bänden hat sich bei den späteren zugleich die
Schönheit der durch natürliche Farbengebung sehr anziehend ge-
machten Bilder im Quartformat gehoben; leider macht der hohe
Preis (ca. 1300 Mark) das Werk den meisten zur Selbstanschaffung
unmöglich, doch findet es sich wohl in allen größeren naturwissen-
schaftlichen Bibliotheken vor.
Ein kürzeres, aber auch sehr schön brauchbares und kriti-
sches Abbildungswerk ist in früherer Zeit von Albert Dietrich
in 12 Oktavbänden (Berlin 1833—44) unter dem Titel „Flora
Regni Borussici* herausgegeben; die Bilder sind farbig, Analysen
nur in geringem Umfange beigegeben; der Text enthält zu jeder
Tafel eine sehr ausführliche Artbeschreibung von wissenschaftlichem
Werte.
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Pflanzenyerbreitung. 243
Die Flora Dänemarks mit Schleswig-Holstein besitzt in der
^ Flora Danica^ , deren Nomenkl(Uor soeben (Febraar 1888) von
Lange herausgegeben ist, ein durch mehrere tausend farbige Ab-
bildungen kritisch ausgestattetes Quellenwerk über Blüten- und
Sporenpflanzen; ein Jahrhundert hindurch ist an seiner Fertigstel-
lung gearbeitet.
B. Auswahl ans der zu den einzelnen Gauen gehörigen
floristisoliBn Litterator.
An m. Von floristischen Standortsverzeichnissen sind nur solche
hier aufgeführt, welche vom pflanzengeographischen Gesichtspunkte
zusammengesteUt oder durch die Sorgfalt und den Umfang ihrer
Stoffaus wail ausgezeichnet sind. Wo nichts hinzugefügt ist, be-
zieht sich der Inhalt nur auf die GeföJ&pflanzen der Flora.
Reihenfolge: I. Livländischer und Pommemgau; masovischer
Gau; märkischer Gau; lübischer und Nordseegau.
II. Niederrheingau; mitteldeutscher Gau; Sudeten- und Böhmer-
waldgau.
III. Bojischer Gau; karpatischer Gau; deutscher Jura- und
Oberrheingau; Schweizer Jura- und Alpenvorlandgau.
L Die Gaue der norddeutschen Niederung.
Winkler, C: Litteratur und Pflanzenverzeichnis der Flora Baltica,
im Archiv f. d. Naturk. Liv-, Esth- u. Kurlands, Serie II Bd. 7
S. 387—490, gibt einen genügenden üeberblick über die Flora
des nordöstlichsten Grenzgaues.
Patze, Meyer und Elkan: Flora der Provinz Preusaen (Königs-
berg 1850, 599 S. in Taschenformat). Hier sind den interessan-
ten Arten geographische Signaturen {*) beigefügt, ein Verfahren,
das seitdem mehrfach in guten Floren, doch immer noch nicht
genügend, eingeschlagen ist.
Klinggräff^ C. J. v.: Flora von Preussen (Marienwerder 1848,
560 S. in Taschenformat; I. Nachtrag 1854, IL Nachtrag 1866).
Eine kritisch geschriebene, durch ausführliche Charaktere im
beschreibenden Teil zum Bestimmen gut geeignete Flora. —
Von demselben (als Klinggräff sen. angeführten) Verfasser rührt
eine spätere ausgezeichnete Schrift: Die VegetationsverhäUnisse
der Provinz Preussen aus dem Jahre 1866, her.
Klinggr&ff, H. v.: Versuch einer topographischen Flora der Pro'
vinz Westpreussen, 1881 (Schriften der naturf. Gesellschaft in
Danzig, Bd. V). Ohne Diagnosen, aber reichhaltiges Quellen-
werk für die Verbreitungsverhältnisse.
Zahlreiche Florenverzeichnisse, biologische Beobachtungen etc. der
preußischen Flora finden sich in den Schriften der physikalisch-
ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, wo der jüngst verstor-
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244 Oscar Drude,
bene Prof. Caspary eine jährliche Rundschan über die Fort-
schritte der FlorenkenDtnis veröffentlichte.
Rostafinski, Florae Polonicae Prodromus (Verhandl. der k. k.
zoolog.-botan. GeseUsch. in Wien 1872, S. 81), Verzeichnis mit
Standorten, ohne Diagnosen, ist zum Vergleich der östlichen
Gaue von Wichtigkeit.
Ritschi, G.: Flora des Grossherzogtums Posen (Posen 1851, 2915 S.
8^), ist mir unbekannt geblieben.
Die Flora Niederschlesiens und der Niederlausitz siehe in
Vereinigung mit dem schlesischen Berglande unter II.
Ascherson, Dr. P.: Flora der Provinz Brandenburg, der AUmark
und des Herzogtums Magdeburg (Berlin 1859—64). Erste Abteil.
(1034 S. in Taschenformat): Taschenbuch zum Bestimmen. Zweite
Abteil.: Spezialflora von Berlin (210 S.). Dritte Abtg. : Spezialflora
von Magdeburg (143 S.). Eine ausgezeichnete, den märkischen
Gau umfassende und darüber im Flözgebirge Magdeburgs u. s. w.
hinausgehende Flora, mit kritischer Nomenklatur und Diagnostik
der Arten, eingehender Fundortsbezeichnung, Hinzufügung der
Garten Wildlinge, unter Verwendung strenger Morphologie für
floristische Systematik. Die weitere Verbreitung der Arten ist
durch die Signatur (*) kurz angegeben.
Grantzow, C: Flora dir Ükermark {^xQnz\A\x 1880) nnd Lacke-
witz, W.: Flora von Berlin und der Provinz Brandenburg
(4. Aufl., Berlin 1879), sind mir nicht genauer bekannt. Zahl-
reiche kleinere Florenbilder und Nachträge zu den größeren
Werken sind niedergelegt in den Verhandlungen des botanischen
Vereins der Provinz Brandenburg.
Marsson, Dr. Th. Fr.: Flora von Neuvorpommem und den Insdn
Rügen und Usedom (Leipzig 1869, 650 S. 8^. Dies ist eine der
vorzüglichsten jüngeren Lokalfloren, wissenschaftlich in jeder
Zeile, die lateinischen Diagnosen ergänzt durch eine ausführ-
lichere deutsche Beschreibung, Gattungsübersichten unter jedem
Familiennamen. Eine pflanzengeographische Schilderung des
behandelten Gebietes fehlt.
Krause, Dr. E.: Pflanzengeographische üebersieht der Flora von
Mecklenburg (Sonderabdruck aus dem Archiv der Freunde der
Naturgesch. in Mecklenburg, Güstrow 1884, 146 S.). Enthält
eine Gliederung und Charakterisierung der Flora nach Vege-
tationslinien und Formationen.
Langmann, J. F.: Flora der beiden Grossherzogtümer Mecldenburg
(1. Aufl. 1841, 3. Aufl. Schwerin 1871), ist mir unbekannt ge-
blieben, scheint aber eine Lücke in den sonstigen Exkursions-
floren auszufüllen.
Sonder, Dr. 0. W.: Flora Hamburgensis (Hamburg 1851, 600 S.
in Taschenformat). Eine ältere, aber hübsch m lateinischen
Diagnosen geschriebene Lokalflora von einem kritischen Syste-
matiker.
Prahl, Dr. P.: Kritische Flora der Provinz Schleswig-Holstein, des
angrenzenden Gebiets der Hansestädte Hamburg und Lübeck und
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Pflanzenverbreitnng. 245
des Fürstentums Lübeck. I. Teil: SckuU und Exkursionsflora
(Kiel 1888, 227 S.). Jüngst erschienen mit der Absicht, ein
wirklich gefühltes Bedürfnis auszufällen, baut dieses Taschen-
buch sich auf eigener Landeskenntnis auf. Der zu erwartende
2. Teil soll (unter Mitwirkung von Dr. Krause und Fi seh er-
Benz on) den Yerbreitungsverhältnissen gewidmet sein.
Knuth, Dr. Paul (Kiel), hat in einer geologisch-botanischen Studie:
^Die Flora von Schleswig - Holstein'^ eine üebersicht über die
Gliederung der Herzogtümer gegeben (Schleswig-Holsteinische
Jahrbücher I, 1884) und die erste Abteilung einer Flora von
Schleswig- Holstein, Lübeck und Bremen (Leipzig 1887) erscheinen
lassen.
Fischer-Benzon, R. v.: Ueber die Flora des südwestlichen Schles-
wigs und der Inseln Föhr, Amrun und Nordstrand (Schriften
des naturw. Vereins f. Schleswig-Holstein, Bd. II, S. 65 — 116).
Höchst anziehende pfianzengeographische Skizze der Verbrei-
tungsverhältnisse und Katalog von 852 Gefäßpflanzen. — In
derselben Vereinsschnft finden sich noch mehrere wichtige Bei-
träge der Eibherzogtümer, z.B, Hennings Standortsverzeichnis
der Gefässpflamen um Kiel (Bd. II u. Bd. IV).
Meyer, Dr. G. F. W.: Flora Hanoverana excursoria (enthaltend
die Beschreibung der Phanerogamen in den Flußgebieten der
Ems, Weser und ünterelbe), Göttingen 1849. Eine ältere, aber
sehr gute, in deutscher Sprache geschriebene Flora (686 S. 8^).
Derselbe Verfasser hat eine Chloris Hanoverana als Standorts-
Terzeichnis herausgegeben, obwohl die Verbreitung der Arten
auch in der Flora excursoria genügenden Spielraum gefunden
hat; das illustrierte Hauptwerk in Folio ist unvollendet ge-
blieben, enthält aber die schönsten kolorierten Kupferdarstel-
lungen deutscher Pflanzenarten. Die Fundorte sind öfters un-
genau oder oberflächlich angeführt.
Pocke, Dr. W. 0.: Untersuchungen über die Vegetation des nordr
westdeutschen Tieflandes (in Abhandl. vom naturw. Verein zu
Bremen 1871, Bd. II, S. 405—456). Eine vorzügliche, die
pflanzen geographischen Formationen eingehend behandelnde
Studie.
In den genannten „Abhandlungen' von Bremen sind zahl-
reiche andere Beiträge zur Flora des Nordseegaues zerstreut.
Buchenau, Prof. Dr. F.: Flora von Bremen (3. Aufl. Bremen 1885).
821 Seiten Taschenformat bilden hier eine ausgezeichnete, auch
45 kleine Holzschnitte zur Erläuterung herbeiziehende Lokalflora.
— Flora der ostfriesischen Inseln (Norden 1881 , 172 S. 8*^), eben-
falls mit ausführlichen Diagnosen und mit 25 S. einleitender
pflanzengeographischer Schilderung und ausführlichem Litte-
raturverzeichnis.
Lantzius-Beninga, Dr. S.: Beiträge zur Kenntnis der Flora
Ostfrieslands (Göttingen 1849, 55 S. 4°). Vorangeht eine aus-
führliche Schilderung der die Formationen bildenden Vegetation,
dann ein systematisch angeordnetes Standortsverzeichnis.
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246 Oscar Drude,
Mejer, L.: Flora von Hannover (Hannover 1875, 219 S. 8®), und
Bertram, W.: Flora von Braunschweig (3. Aufl., Braunschweig
1885, 355 S. 8^), greifen mit ihrem Areal aus der Niederung
in die Hügellandscnaften des hercynischen Berglandes hinüber.
Vries, H. de: FUn'a van Nederland (Leiden 1870), giebt auf 70
hoch 8^- Seiten einen bequemen, in hoUändisdier Sprache ge-
schriebenen Ueberblick über die dortige Flora; die Pnanzenliste
umfaßt auch alle bekannt gewordenen Eryptogamen.
IL Hercynisches Bergland und Niederrheingan-Belgien.
Cr^pin, Prof. Dr. F.: Manuel de la Flore de Belgique (4. Aufl.,
Brüssel 1882), ist eine 483 S. in bequemem Taschenformat ent-
haltende, vorzügliche und knapp gefaßte belgische Exkursions-
flora. — - Um die weiter südwestlich gelegenen Gaue dea nord-
atlantischen Bezirkes mit ihrem sich häufenden Reichtum medi-
terraner Typen kennen zu lernen, empfiehlt sich Brebissons
Fiore de la Normandie, 5. Ausg. (von Mori^re), Caen 1879, oder
auch J. Lloyds Flore de Vouest de la France (Dep. Gharente-
inferieure, Deux-Sdvres, Vendee, Loire-inf^rieure, Morbihan, Fini-
8t6re, Cotes-du-Nord, lUe-et-Vilaine), 4. Ausg. (Nantes-Paris 1886,
4545 S. 8^).
Koltz, L P. J.: Prodrome de la Flore du Grand'DuchS de Luxem-
hourg, in dem „Recueil des M^moires et des travaux publ. par la
Soo. Botan. du G.-D. de Lux." 1877 u. f., umschließt auch die
Sporenpflanzen mit guten Diagnosen, Bestimmungsschlüsseln,
Standorten und Litteraturangaben.
Grepin, F.: L'Ardenne sous le rapport de sa v^güation (Gand 1868,
Sonderdruck von 54 S. 8°). Enthält eine 20 S. lange pflanzen-
geographische Uebersicht der Flora und einen 663 Arten um-
fassenden Katalog der Gefäßpflanzen (inkl. Gharen) mit hinzu-
gefügten Standorts- und Häufigkeitsnotizen.
Förster, Prof. Dr.: Flora excursoria des Regierungsbezirke» Aachen,
sowie der angrenzenden Gebiete von Limburg (Aachen 1878, 468 S.
8^), ist eine kritische Diagnosenflora, in welcher den Gattungen
Rubus, Rosa ein für Kxkursionszwecke übermäßiger Spielraum
^regeben ist. Eine geographische Uebersicht von 30 S. Länge
ist sehr anerkennenswert.
Wirt gen, Ph., ist Verfasser einer Reihe wertvoller floristischer
Arbeiten über die preußische Rheinprovinz; seine Flora der
preussischen Rheinprovinz (Bonn 1857, 568 S.) ist ein bequemes
und durch sehr übersichtliche Schlüssel ausgezeichnetes Taschen-
buch zum Bestimmen ; 2 Tafeln sind dem blütcnbau von Vero-
nica und Orchis gewidmet. Nachträge dazu nebst floristischen
Beiträgen anderer in den Verhandlungen des naturw. Vereins
d, preuss, Rheinlande und Westfalen,
Bach, M.: Taschenbuch der rheinpreussischen Flora (1. Aufl. 1878,
2. Aufl. München 1879), ist ein kurzgefaßtes Bestimmbuch.
Karsoh, A.: Flora der Provinz Westfalen (1. Ausg. Münster 1853,
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Pflanzenverbreitung. 247
842 S. 8°; 4. Ausg. 1879), eine umfangreich angelegte Flora,
in welcher die Gartenzierpflanzen hinter den einheimischen für
sich abgehandelt sind.
Bosch, L. (Dosch und Scriba in Aufl. 1 u. 2): Exkuraionsftora
der Blüten- und höheren Sporenpflanzen des Grossherzogtutns
Hessen und der angrenzenden Gebiete (3. Aufl. Gießen 1888,
616 S. in Taschenformat). Eine recht praktisch eingerichtete
Flora, durch gute und übersichtliche Diagnosen ausgezeichnet.
Auf die Bedürfnisse der Anfänger wird — fiir solche Exkursions-
flora fast zu viel — Rücksicht genommen, indem 8 Steindruck-
tafeln eine Auswahl von Blüten- und Fruchtanalysen bringen,
demgemäß auch 108 S. Morphologie der eigentlichen Flora
vorangehen.
Arealstudien über die selteneren Arten der Mittelrheinlandschaften,
in sinnreicher Methode dargestellt, findet man in Prof. Dr.
H. Hoffmanns ^Nachträgen" im 18. bis 26. Bericht der Ober-
hess. Gesellschaft f. Natur- u. Heilkunde (Gießen 1879—88).
Wigand, Prof. Dr. A.: Flora von Kurhessen (1. Aufl. Marburg
1859, 387 S. 8°; 3. Aufl. Kassel 1879), eine kritisch und über-
sichtlich zum Bestimmen angelegte Flora.
Nöldeke, C: Flora Goettingensis (Celle 1886, 125 S. in Taschen-
format), eine kritische, höchst sorgfältig wie desselben Verfassers
Flora von Celle gearbeitete Liste (ohne Diagnosen) mit Ver-
breitung und Standorten.
Hampe, Dr. E.: Flora Hercynica oder Aufzählung der im Harz-
gebiete wild wachsenden Gefässpfianzen , mit einem Anhange:
Aufzählung der Laub- und Lebermoose (Halle 1873, 383 S.
hoch 8°). Eine genaue Flora des Harzgebirges, abgesehen von
den Fundorten in lateinischer Sprache geschrieben, ohne pflanzen-
geographische üebersicht.
Die nördlich angrenzenden Lokalfloren von Braunschweig, Han-
nover siehe unter den norddeutschen Gauen: Bertram, Mejer,
Meyer.
Schneider, L.: Beschreibung der Gefässpflanzen des Florengebiets
von Magdeburg, Bernburg und Zerbst (Berlin 1877, 353 S. S\
ist durch eine 20 S. lange Üebersicht der Boden- und Vege-
tationsverhältnisse vorteilhaft ausgezeichnet.
Schönheit, F. Ch. H.: Taschenbuch der Flora Thüringens zum
Gebrauche bei Exkursionen (Rudolstadt 1850, 562 S. 8^ Nach-
trag 1864), mit zahlreichen Standortsangaben.
Vogel, H.: Flora von Thüringen (Leipzig 1875, 220 S. 8®), ent-
hält keine Diagnosen, sondern sehr ausführliche Standorts-
angaben, welche das vorher genannte ältere Werk ergänzen.
Garcke, Dr. A.: Flora von Halle, L: Phanerogamen (Halle 1848,
594 S. 8 % enthält neben kritischen Diagnosen sehr ausführliche
Stand Ortsangaben im Gebiete von Bitterfeld,. Schkeuditz und
Weißenfels bis Aschersleben und Dessau. II. : Eryptogamen nebst
einem Nachtrage zu den Phanerogamen (Berlin 1856, 276 S.).
Vergl. die Pflanzengeographie unter Schulz, oben S. 220.
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248 Oscar Drude,
Reichenbach, Prof. Dr. L.; Flora Saxonica, Exkursionsbucb für
das Königreich Sachsen und Thüringen, Provinz Sachsen und
Dessau, sowie die preußische Lausitz (Dresden 1844, 503 S. 8^
in engem Druck), eine altere fachwissenschaftliche Flora.
Ho 11, Dr. F., und Heynhold, G.: Flora von Sachsen (Dresden
1842, 862 S. 8^), hat ungefähr dasselbe Gebiet zur Grundlage.
Wünsche, Dr. 0.: Exkursionsflora fär das Königreich Sachsen
(5. Aufl. 1887), enthält auf 424 S. in Taschenformat die prak-
tischte Anleitung zur Kenntnis der sächsischen Blütenpflanzen,
bequem zum Bestimmen durch die Darstellung in analytischen
Schlüsseln.
Fiek, E.: Flora von Schlesien pretissischen und österreichischen An-
teils (Phanerogamen und Gefäßkryptogamen). Schlesien galt
immer als Hauptplatz für floristische Bestrebungen, und die
Jahresberichte der SclUesischen Gesellschaft für vaterländische
Kultur sind gefüllt mit Bausteinen und anregenden Ideen. So
ist auch diese, im Jahre 1881 erschienene neueste Flora (Bres-
lau, 571 S. 8°) ein Muster von Gründlichkeit und hat durch
R. V. U echt ritz' pflanzengeographische Einleitung eine noch
höhere allgemeine Bedeutung erhalten. Viele kritische Arten
und Bastarde sind hier für den Sudetenbezirk beschrieben. Die
frühere weitberühmte Flora desselben Gebietes war:
Wimmer, Prof. F.: Flora von Schlesien (2. Ausg. Breslau 1B44),
noch heutigestags sehr wertvoll durch den 225 S. in Taschen-
format umfassenden 2. Band mit einer eingehenden pflanzen-
geographischen Schilderung des Gebietes, zumal der Sudeten.
Milde, Bryologia Silesiaca, und Cohn, Kri/ptogamenfiora von
Schlesien, siehe oben S. 201.
Den zu Oesterreich gehörigen Anteil des Sudetengaues siehe
in Abteil. III: Celakovsky, Oborny, auch Knapp.
Meyer, J. C, und Schmidt, Fr.: Flora des Fichtelgebirges (Augs-
burg 1854), liefern auf 160 S. 8^ die speziellen Verbreitungs-
verhältnisse der Gefößpflanzen.
Sendtner, 0.: Die Vegetationsverhältnisse des bayrischen Waldes,
nach den Grundsätzen der Pflanzengeographie geschildert (München
1860, 505 S. 8° mit 8 J^^arten und Tafeln). Dies ausgezeichnete
Werk wurde erst nach des Verfassers Tode von Günibel und Radl-
kofer als 5. Beitrag zur naturwissenschaftlichen Erforschung
der bayrischen Lande herausgegeben, schickt einen methodischen
Teil voraus, läßt im 2. Teil ein Register von 1121 Gefäßpflanzen
mit Angabe der rationell zusammengefaßten Standorte folgen
und bespricht im 8. Teil die Vegetationslinien, sowie überhaupt
den bayrischen Wald im Vergleich mit den benachbarten Gauen.
Diagnosen der besprochenen Arten werden als bekannt voraus-
gesetzt.
(Vergl. auch Abteil. III: Prantl, Caflisch.)
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Pflanzenverbreitung. 249
III. Die karpatisclien und süddeutschen Gaue bis zu den Alpen.
Celakovsky, Prof. Dr. L.: Prodromus der Flora von Böhmen,
enthaltend die Beschreibungen und Verbreitungsangaben der wild-
wachsenden und im Freien kultivierten Gefässpflamen des König-
reichs» In 3 Teilen erschienen, mit einem 4. Teil, enthaltend
Nachträge, Register (Prag 1881), zusammen 955 S. hoch 8^
Von allen neueren deutschen Lokalfioren erscheint diese als
die bedeutendste, als ein wahrhaftes Quellenwerk auch in be-
zug auf die Abgrenzung der Arten, wo der Verfasser ein sehr
passendes Maß in Aufstellung von Unterarten bezw. Spielarten
angewendet hat, ohne jemals etwas Wesentliches unbeachtet zu
lassen. Der Titel „Prodromus* für ein solches Werk ist aller-
dings sehr bescheiden und deutet nur des Verfassers Ansicht au,
daß der ausführliche phytogeog^raphische Teil in einer „Flora**
nicht fehlen dürfe. Für letzteren scheint Dr. E. Purkyne
(„Lotos**, Jahrg. 1861) mit seiner pflanzengeographischen Glie-
derung Böhmens noch heute die beste Quelle zu sein.
Oborny, Prof. A.: Flora von Mähren und Oesterr.Schlevien (Brtinn
1885—87, 1258 S. hoch 8^), stellt eine andere vorzügliche
Landesflora dar, sehr anziehend auch durch eine 57 8. lange
pflanzengeographische Uebersicht, in welcher die angrenzenden
Distrikte des Sudetengaues gebührende Berücksichtigung finden.
Von demselben Verfasser rührt „Die Flora des Znaimer Kreises,
nach pflanzengeographischen Prinzipien zusammengestellt* (Brunn
1879, 200 S. 8*) her, ohne Diagnosen, ein gutes Muster einer
Standortsliste, mit Phänologie u. s. w., doch ohne Angabe der
herrschenden Vegetationsformationen.
Neilreich, A.: Flora von Niederösterreich, Aufzählung und Be-
schreibung . . . . , nebst einer pflanzengeographischen Schilderung
dieses Landes (Wien 1859, 1010 S. 8^ mit 132 S. Pflanzengeo-
graphie als erstem Teil). Eine ausgezeichnete Flora, gewisser-
maßen eine umfangreiche Erweiterung von desselben Verfassers
„Flora von Wien*) die Beschreibungen sind — wie auch bei
Doli für Baden — im Stil der größeren Florenwerke gehalten,
so daß auf die kurze Diagnose Synonymik und Abbildungs-
werke folgen, dann beschreibende Zusätze, endlich ausführliche
Standortsangaben. — Dieses Werk, sowie das folgende:
Duftschmid, Dr. J.: Flora von Oberösterreich (Linz 1870 u. f.,
2 Bde. 8^), sind die beiden sich ergänzenden wohlbekannten
Floren der Österreichischen Kronlande. Der Verfasser des letz-
teren ist schon 1866 verstorben, sein Manuskript vom Museum
Francisco-Carolinum herausgegeben.
Neilreich. Dr. A.: Flora von Wien (Wien 1846, 706 S. hoch 8^
und Nachträge, Wien 1851, 339 S.), ist ein gehaltvolles Werk
über die interessante Flora der österreichischen Hauptstadt;
58 S. im ersten Bande und eine Umarbeitung derselben in den
Nachträgen sind der pflanzengeographischen Uebersicht gewid-
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250 Oscar Drade,
met. Die Nachträge enthalten einen vergrößerten Umfang des
Gebietes bis zur Leitha und den Alpen.
Die „Flora von Hernstein in Niederösterreiek'^, bearbeitet von Dr.
Günther Beck (Pflanzengeographie, vollständiger Katalog aller
Blüten- und Sporenpflanzen, Wien 1884), mag nur kurz als
schönes Beispiel einer solchen Durcharbeitung hier genannt
werden, da sie der Hauptsache nach in den ^pengau hinein-
greift.
Neilreich, Dr. A., gab in den Verhandlungen der zoologiseM>oUi^-'
uischen Gesellschaft in Wien 1867 zur Erg^zung der allgemein
als Grundlage angesehenen und benutzten Synopsis Florae Ger-
manicae etc. von Koch (siehe oben S. 200) eine Ergänzung für
Ungarns und Slavoniens in diesem Werke nicht enthaltene
GefäJ&pflanzen heraus (153 S, S%
Von sehr hohem Werte für die Pflanzengeographie ist desselben
Verfassers vollständige Aufzählung der in Ungarn und Slavo-
nien bisher beobachteten Gefässpflanzen nebst einer pfiamengeo^
graphischen üebersicht (Wien 1866, mit Nachträgen 1870), zwar
ohne Diagnosen, aber mit reichen Standorten, zusammen
500 S. 8^
Knapp, J. A.: Die bisher bekannten Pflanzen Galiziens und d^r
Bukowina (Wien 1872, 520 S. S^, enthält sehr reiche Stand-
ortsangaben mit ausführlichen geographischen und botanischen
Registern, aber keine Diagnosen außer einigen kritischen An-
merkungen.
Simonkai, Prof. Dr. L. : Enumeratio Florae Transsilvanieae (Buda-
pest 1886, 678 S. 8°), mit pflanzengeographischer Einleitung
(in ungarischer Sprache), ohne Diagnosen, enthält die ausfiihr-
liche Verbreitung der äußersten Grenzmarken im Alpenbezirke
weiteren Sinnes (dadscher Gau).
Gaflisch, F.: Exkursionsflora für das sUdösUiche Deutsehland; ein
Taschenbuch zum Bestimmen der in den nördlichen Kalkalpen,
der Donauhochebene^ dem schwäbischen und fränkischen Jura und
dem bayrischen Walde vorkommenden Phanerogamen (Augsburg
1878, 374 S., davon 4 S. geographische Einleitung). Gute Ab-
kürzung der Standorte.
Prantl, Prof. Dr. K.: Exkursionsflora für das Königreich Bayern
(Stuttgart 1884, 586 S. in Taschenformat). Diese Flora, auf
noch weiterem Umfange als Caflischs sehr gerühmte Zusanunen-
stellung aufbauend, in allen Stücken mit wissenschaftlicher
Schärfe geschrieben, bildet den vorteilhaftesten botanischen
Begleiter in Bayern. 8 S. Einleitung sind einer pflanzengeo-
graphischen Einteilung des Gebietes und einer ausführlichen
Litteraturübersicht gewidmet.
Schnizlein und Frick hinger, Die Vegetationsverhältnisse der
Juror und Keuperformation in den Flussgebieten der Wömitz und
Ältmühl (Nördlingen 1848, 344 S. 8^ mit Kart«). Ohne Dia-
gnosen, aber mit vorzüglichen Verbreitungsangaben, ist dies Werk
eine der besten älteren Studien auf geographischer Unterlage.
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Pflanzenverbreitung. 251
Y. Martens und Eemmler: Flora von Württemherg und Hohen-
zollem (Heilbronn 1883, 8. Aufl.)» bat Diagnosen und Stand-
orte. Die erste (1884 erschienene) Ausgabe war noch nach dem
Linn^chen Systeme angeordnet.
Kirchner, Prof. Dr. 0.: Flora von Stuttgart und Umgebung, mit
besonderer Berücksiehtigung der pfianzenbiologisehen Verhältnisse
(Stuttgart 1888, 767 S. in Taschenformat). Dieses hübsche
Florenwerk stellt die jüngste Bereicherung unserer Litteratur
dar, indem es im Rahmen einer kleineren Lokalflora mit den
nmfangreichen Mitteln yiel weitergehender botanischer Metho-
den arbeitet und dabei den Befruchtungsvorgängen sowie der
indiyiduellen Verjüngung ausgedehnten Raum gewährt; möchte
das hier g^ebene Beispiel weiter wirken.
Schultz, Dr. F. W.: Grundzüge zur Phytostatik der Pfalz (in dem
XX. u. XXI. Jahresbericht der .Pollichia", Neustadt a. d. Hardt
1863, S. 99—318, mit Nachträgen) , mag hier als Muster einer
ohne Diagnosen gehaltenen ausf^rlichen Standortsliste mit
klaren Angaben der Verbreitung in Abhängigkeit vom Boden
ange^hrt werden.
Von demselben Verfasser ist schon 1846 eine Flara der Pfalz (575 S.
in Taschenformat) mit ausführlichen Beschreibungen der System-
arten herausgegeben.
Godron, Dr. A.: Flore de Lorraine (Meurthe, Moselle, Meuse,
Vosges), Nancy 1843—44 (2. Ausg. 1857), 3 Bde. in Taschen-
format, enthält in der klaren französischen Diagnosensprache
die ausföhrlichen Beschreibungen der in diesen westlichen Gauen
verbreiteten Pflanzen aus Meisterhand.
Doli, J. Gh.: Rheinische Flora (vom Bodensee bis zur Mosel und
Lahn), Frankfurt a. M. 1843, 832 S. 8^ mit einer Beilage über
die Laubknospen der Amentaceen (1845), ist in Hinsicht des
morphologisch -systematischen Apparates eine der ausgezeich-
netsten deutschen Lokalfloren und unterscheidet sich von man-
chen neueren vorteilhaft durch Zusammenziehung schwacher
Arten.
— Flora des Grossherzogtums Baden (Karlsruhe 1857 — 62, 3 Bde.
8* mit 1429 S.). Dieses ausgezeichnete Werk geht mit dem in
ihr zur Darstellung gelangten morphologisch -systematischen
Material weit über den Rahmen einer für beschränktere Ge-
biete zugestutzten Lokalflora hinaus und enthält Beobachtungen,
welche ohne weiteres einer ausfdhrlichen deutschen Flora ein-
zureihen wären. Die Verbreitung in Baden ist durch ausfiihr-
liehe Hinweise, außerhalb des Landes durch die Signatur («)
angegeben.
Prantl, Prof. Dr. E.: Seuberts Exkursionsflora für das Grossherzog-
tum Baden (Stuttgart 1885, 4. Aufl., 420 S. in Taschenformat).
Im westlichen iUischluß an desselben Verfassers Flora von
Bayern.
Kirschleger, Prof. Dr. F.: Flore d'Älsaee (Straßburg 1852—62,
3 Bde.), und das jüngere Werk: Flore Vog4so-Rh4nane, ou de-
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252 Oscar Drude.
scriptian des plantes qui eroissent natureUemetU dans Us Vosges et
dans la väUh du Rhin (2 Bde. in Taschenformat von 502 a. 400 S.,
1870). In französischer Sprache geschrieben, aber mit Hinzn-
fÜgung der deutschen Pflanzennamen, inhaltsreich in kleinem
Druck, bildet dieses Werk eines ausgezeichneten Floristen för
das Elsaß mit Einschluß des rechtsrheinischen Geländes bis zu
den Schwarzwaldgipfeln und zum Jura die Grundlage. Ganz
eigenartig ist die 57 S. lange Anweisung fOr botamsche Ex-
kursionen im Gebiete, aus welcher zugleich eine anschauliche
Vorstellung der Anordnung in der Gesamtflora hervorgeht. —
Westlich über die Vogesen hinaus schließt sich eine hübsche
iran2Ösische Lokalflora an:
Aubriot, Prof. L., und Daguin, A.: Flore de la Haute-Mame
(Saint-Dizier 1885, 536 S.), mit geologischer Karte, aber ohne
Diagnosen.
Grenier, Prof. Gh.: Flore de la Chaine Jurassique (Paris 1865 — 75,
1001 S. 8^), ist eine sehr ausgezeichnete Flora des Schweizer
Juragaues, deren Vergleich für weitergehende Kenntnis des
deutschen Jura- und Kheingaues von großer Bedeutung ist.
Hier sind sehr vollständige Speziesbeschreibungen (in der durch-
sichtigen französischen Ausdrucksweise) zu finden. — Aus dem-
selben Gau sind Thurmanns Untersuchungen über den Ein-
fluß des Bodens auf die Verteilung der Gewächse von älterer
Zeit her berühmt.
Hof mann, Prof. Dr. J.: Flora des Isargehietes von Wolfratshattsen
bis Deggendorf (Landshut 1883, 377 S. in Taschenformat). Von
der Einleitung sind 8 S. einer Vegetationsübersicht, im Texte
der Anführung der Standorte viel Platz gewidmet.
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Tierverbreitung.
Von
Dr. William Marshall,
Professor an der Universität in Leipzig.
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Deutschland gehört in tiergeographischer Hinsicht zu
der ungeheuren Region, welche A. R. Wallace als die
paläarktische bezeichnet und die ganz Europa, Nord-
afrika, die nördliche Hälfte von Arabien, sowie ganz Asien
nördlich vom Himalajagebirge und dem Jangtse-Kiang
nebst einer bedeutenden Anzahl von Inseln im östlichen
Atlantischen und westlichen Stillen Meere, sowie in den
Binnenmeeren umfaßt. Es bildet weiter einen Teil der
nördlich von der Pyrenäen-, Alpen-, Balkan-, Kaukasus-
Kette und westlich vom Ural gelegenen europäischen
Subregion, und zwar ziemlich deren zentralen.
Man kann diesen Teil eine eigene Provinz nennen,
die meinetwegen die germanische heißen mag. Oest-
lich grenzt sie an die sarmatische, südlich an die alpine,
westlich an die ihr in ihren Produkten sehr ähnliche
keltische und nördlich, sich über die politischen Grenzen
hinaus erstreckend, an die arktische Provinz.
Naturgemäß teilt sich Deutschland nach seiner Boden-
beschaflFenheit, seiner Vegetation und seiner Tierwelt wei-
ter in zwei ünterprovinzen: die gebirgige südliche, die
„oberdeutsche", vom Fuße der Alpen bis zum 52. Pa-
rallelkreis im Westen und bis zum 51. Parallelkreis im
Osten, und in die „niederdeutsche", welche von der
Nordgrenze der oberdeutschen bis an die Küsten der Nord-
und Ostsee und bis zur Landesgrenze (eigentlich noch
darüber hinaus) reicht.
Jede dieser beiden Unterprovinzen teilt sich weiter
in zwei Gaue, in einen östlichen und westlichen, so daß
ganz Deutschland tiergeographisch in vier Gaue zerfällt:
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256 William Marshall,
einen nordöstlichen, einen nordwestlichen, einen
südöstlichen und einen südwestlichen.
Die Grenze zwischen den beiden ersteren wird fast
genau von der Elbe und unteren Saale gebildet. Die
zwischen den beiden letzteren verläuft schräg durch die
oberdeutsche Provinz ungefähr vom 12. zum 10.^ Meridian
V. Gr., von Halle bis zum Bodensee.
Der Südwestgau zeigt von allen deutschen tiergeo-
graphischen Gauen die größte Abwechslung in jeder Hin-
sicht; er enthält vom Harz bis zum schwäbischen Jura
bedeutende Gebirge, sehr viel Hügelland und zugleich im
Bheinthale die einzige Tiefebene der oberdeutschen Unter-
provinz, in ihm finden sich die größten Unterschiede der
Jahrestemperatur — von 1 1 ® im Rheinthal bis zu 2 ® auf
dem Brocken. Die Sommertemperatur indessen schwankt
im ganzen Gau, abgesehen von einigen hohen gebirgigen
Strichen, von 17^ in der nördlichen bis zu 19® in der
südlichen Hälfte, ja sie steigt stellenweise in den Thalem
bis zu 20 ®, der höchsten Sommertemperatur Deutschlands
überhaupt. Die Sommertemperatur ist aber bei Beurtei-
lung tiergeographischer Verhältnisse wichtiger als die
Jahrestemperatur. Für die große Zahl der in irgend
einem Entwickelungszustande den Winter durch schlafen-
den Tiere und für die Zugvögel ist die höhere oder nie-
dere Temperatur des Winters von geringerem Belang als
die Länge und Kürze seiner Dauer.
Reich ist dieser Gau an Wald, namentlich an Gebirgs-
wald und, was für die Verhältnisse der Entwickelung der
Fauna von großer Wichtigkeit ist, Nadel- und Laubwald
finden sich sowohl in großen Komplexen als auch häufig
in Mischung. Nur an stehenden Gewässern ist der Gau
arm, er wird aber von einem großen Strom von Süden
nach Norden durchströmt, von dessen Thal sich sowohl
nach Osten wie nach Westen bedeutende Nebenflußthäler
abzweigen. Im oberen Lauf nähert sich dieser Strom
dem Flußgebiet des Mittelmeeres bedeutend, ja ist durch
einen Kanal (den Rhein-Rhone-Kanal) mit demselben und
dadurch mit einer anderen Subregion der paläarktischen
Region, der mediterranen, verbunden.
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Tierverbreitung, 257
Der Südostgau, dessen größter Teil jedoch nicht
dem Deutschen Reiche angehört, sondern von Deutsch-
österreich bis zum Fuße der Alpen gebildet wird, enthält
gleichfalls ansehnliche Gebirge und ein Hügelland mit
bedeutenden Hochebenen, stellenweise mit Hochmooren.
Eine Tiefebene (die der Donau von Kremsmünster an)
findet sich nur im österreichischen Teile. Die mittlere
Jahrestemperatur für den deutschen Teil beträgt 8 — 9^
die größte Schwankung ist zwischen 9 und 4^ (Erzge-
birgskamm). Die durchschnittliche Sommertemperatur für
die deutsche Hälfte ist 16^, sie steigt indessen bedeutend
(bis auf 18®), wenn man die österreichische mit berück-
sichtigt.
Die Regenmenge ist infolge der größeren Nähe der
Alpen und der Gegenwart von Hochflächen etwas be-
deutender als im Südwestgau, die Waldmasse etwas ge-
ringer. An stehenden Gewässern ist der Südostgau in
seinem südlichen Teile, am Fuße der Alpen, ziemlich reich.
Ein großer Strom durchfließt ihn von West nach Ost
und tritt in eine andere Provinz (in die sarmatische) der
europäischen Subregion, ja er nähert sich infolge der
Eüstenbildung des Schwarzen Meeres der mediterranen
Subregion, in etwas sogar der sibirischen Region.
Der Nordostgau ist bei weitem der größte Gau,
er ist flach, nur im östlichen Teil zeigt er geringe Er-
höhungen. Seine Jahrestemperatur sinkt von Westen nach
Osten von 9® an der Elbe bis auf 6® an der Memel.
Die Sommertemperatur aber verteilt sich in anderer Rich-
tung, indem sie in der südlichen Hälfte 17 — 18^ beträgt,
in der nördlichen aber, infolge der Nähe des Meeres, um
einen Grad smkt. Die Winter im östlichen Teile des
Gaues, namentlich jenseits der Weichsel, sind die kälte-
sten und besonders die längsten in Deutschland. Die
Regenmenge dieses Gaues ist geringer als in den drei
übrigen deutschen Gauen; im Südosten sinkt sie sogar,
echt kontinental, auf nur 40 cm, steigt indessen in der
Nähe der Küste bis auf 60 cm. An Wald ist der Nord-
ostgau zwar reich, aber es ist meist ein armer, dürftiger
Anleittmg zur deutschen Landes- und Volksforschnng. 17
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258 William Marshall,
Wald, bestehend aus großen Strecken Kiefern, wodurch
nur ein sehr einseitiges und verh'ältnismä&ig geringes
Tierleben ermöglicht wird. Es findet sich aber viel Moor-
und Bruchland, wie überhaupt dieser Guu mit seinen zahl-
reichen und teilweise großen Strömen und seinen vielen
und ausgedehnten Seeen der wasserreichste Deutschlands
wird. Dazu kommt noch, daß er im Norden zwar nur
von einem Binnenmeere begrenzt wird, das aber doch von
wesentlichem Einflüsse auf seine ganze Beschaffenheit ist.
Er verbindet sich mit zwei anderen Provinzen der euro-
päischen Subregion, nämlich mit der sarmatischen durch
die Oder und Weichsel, und durch die Küste der Ostsee
mit der arktischen, und ein ganz klein wenig selbst mit
der westlichen.
Der Nordwestgau ist der kümmerlichste von allen.
Er ist flach, ohne irgend nennenswerte Erhöhung und,
was Wind und Regen sowie die Temperaturverhältnisse
betrifft, den maritimen Einflüssen weit mehr ausgesetzt
als der Nordostgau. Seine Temperatur ist auf dem
ganzen Areal sehr gleich, die mittlere des ganzen Jahres
beträgt 8 — 9®, die des Sommers 16 — 17 ^ aber seine
Winter sind im allgemeinen mild. Seine Regenmenge
beträgt gegen 70 cm. Er ist der am wenigsten konti-
nentale Gau Deutschlands, der geologisch am geringsten
differenzierte, enthält viel Moor- und Bruchstrecken und
weite, teilweise sandige Heideflächen, und die nordwest-
lichen Seewinde lassen in seinem größten Teile keinen
rechten Wald aufkommen. Auch an Gewässern ist dieser
Gau arm, kein einziger Fluß verbindet ihn mit einer an-
deren Subregion oder auch nur Provinz der paläarkti-
schen Hauptregion, nur die Meeresküste vermittelt eine
schwache Verbindung mit der westlichen und arktischen
Provinz der europäischen Subregion.
Die gegenwärtige Fauna von Gesamtdeutschland ist
ihrer geschichtlichen Entwickelung nach dreigliederig: sie
setzt sich aus je einer aus prähistorischer, mittel-
alterlicher und moderner Zeit herrührenden zusammen.
Die deutsche Fauna prähistorischen Ursprungs
besteht aus den Resten einer arktischen Fauna, welche
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Tierverbreitung. 259
am Schlüsse der Tertiärepoche infolge der Eiszeit ganz Nord-
europa bis zu den zahlreich herabgestiegenen gewaltigen
Qletschem der Alpen, des Schwarzwalds und der Vogesen
überzogen hatte. In dem Maße wie die Gletscher mit
der Eiszeit ihr Ende fanden und abtauend in die Berge
und nach Norden sich zurückzogen, folgte ihnen die kälte-
liebende Nordfauna, und ihre letzten Bestandteile finden
sich als „Reliktenfauna* oder „Wärmeflüchter" in
den höheren Gebirgen der südlichen und stellenweise,
namentlich im moorigen Flachlande, in der nördlichen
germanischen Unterprovinz.
In das Gebiet, welches durch das Zurückweichen der
während der Eiszeit importierten arktischen Tierwelt frei
wurde, teilten sich zwei weitere Faunen. Die eine be-
stand aus den Resten einer alten autochthonen, welche
durch die vordringenden Eismassen nebst der ursprüng-
lichen Flora des Landes auf einen schmalen Gürtel im cis-
alpinen Mitteleuropa zusammengedrängt gewesen war und
jetzt wieder Luft bekam sich auszudelmen. Aber zugleich
drang in das frei gewordene, auf weite Strecken von
Wald entblößte Terrain von Osten her eine Steppenflora
und in ihrem Gefolge eine Steppenfauna: die Bewohner
der sarmatischen Provinz wanderten in die deutsche ein.
Sie gruben sich hier indessen bald ihr eigenes Grab, in-
dem sie, die öde Grundmoräne der alten Eiszeitgletscher
nach und nach überarbeitend, auf ihr eine Humusdecke
schufen, welche es dem von der Mitte der Provinz her
sich ausdehnenden Walde und seinen Bewohnern ermög-
lichte, festen Fuß in neu eroberten Strichen zu fassen.
So wurde die sarmatische Invasion völlig in ihre alten
Gebiete zurückgedrängt, und wenn sich vielleicht hin und
wieder versprengte Kolonieen derselben halten konnten,
so waren sie zu unbedeutend, etwas an dem Charakter
der Waldfauna zu ändern, welche bis tief in das Mittel-
alter hinein die in Deutschland herrschende wurde. Aber
zufolge der wachsenden Zahl der menschlichen Bewohner
und der sich immer mehr ausdehnenden Kultur haben
neben den alten, namentlich im Nordwesten gebliebenen
moorigen und bruchigen „Naturblößen** sich die »Kul-
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260 William Marshall,
turblößen" derart ausgedehnt, daß nur noch 25®/o des
Areals der deutschen Provinz mit Wald bestanden ist,
während er früher, bis an die Gestade der Nord- und
Ostsee reichend, sicher 80 "/o und mehr bedeckte.
Der alte Urwald mit seinen Sümpfen und Wildnissen
ist fast YöUig aus der deutschen Provinz verschwunden
und mit ihm nicht wenige gröf3ere Tierarten, welche als
^Kultur flüchter" sich am längsten in den höheren Ge-
birgen, gewissermaßen in konzentrischer Verbreitung mit
der relikten Eisfauna, und in dem wenig kultivierten,
wilden äußersten Nordosten gehalten haben und noch
halten. Aber fortwährend wächst ihre Zahl. Auch der
Kulturwald ist nicht mehr derselbe, der er noch vor
50 Jahren war. Er nimmt an Umfang jährlich ab, man
hält darauf, daß er sich nicht zu dicht entwickelt, läßt
die Bäume meist nicht zu alt werden und entfernt na-
mentlich die hohlen. So werden zahlreichen Tierformen
die Bedingungen einer gedeihlichen Entwickelung ent-
zogen. Verschwundene Tiergestalten des mittel-
alterlichen Walddeutschlands sind u. a.: der braune Bär
(der letzte 1770 in Oberschlesien), der Luchs (der letzte
1818 bei Seesen im Braunschweigischen), der Auerochs
(der letzte 1755 bei Bujak in Ostpreußen) und der Fjäll-
fraß. Fast verschwunden sind: der Biber (hin, und
wieder noch in dem Nordostgau), der Nörz (ganz einzeln
im Nordostgau, 1852 noch am Harz), die Schwanenarten
(als Brutvögel ganz einzeln im Nordostgau). In starker
Abnahme begriffen sind: der Wolf (im Westen und
Nordosten der Provinz), die Wildkatze (in den dichtesten,
wildesten Waldungen), der Auerhahn (dichteste Waldun-
gen), der Kranich (im Nordostgau), die Mandelkrähe.
Merklich abnehmend und zum Teil nur durch die
Pflege des Menschen in einigem Bestände sich haltend
sind : der Edelhirsch, das Reh, das Wildschwein, das Birk-
und Haselhulm, der Schuhu, Kolkrabe, Schwarzspecht, die
Reiher, der schwarze Storch, die als Larven an alte hohle
Bäume, namentlich an Eichen gebundenen Käfer: Hama-
ticherus cerdo (heros), Prionus coriarius, Cetonia speciosis-
sima, auch der Hirschkäfer und viele andere Tiere mehr.
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Tierverbreitung. 261
Der Nashornkäfer hat seinen Bestand in manchen Gegen-
den dadurch gesichert, daß er sich an ein Leben auf
Kosten des Menschen angepaßt hat, indem er als Larve
in der Eichenlohe der Gerbereien haust. Viele, nament-
lich kleinere Tiere nehmen so unmerklich ab, daß man
diese Abnahme kaum konstatieren kann. Auch mit dem
Austrocknen der Sümpfe und Teiche verschwinden viele
Tiere, welche teils in, teils an ihnen lebten: zahlreiche
Vögel (die Bartmeise z. B.), Amphibien, Fische, Insekten
(z. B. ist der große Schwimmkäfer Dyticus latissimus sehr
selten geworden) u. s. w. Nicht wenig trägt die Ver-
folgung, oft genug die bloße häufigere Gegenwart des
Menschen dazu bei, Tiere, namentlich Vögel, aus einer
Gegend zu verscheuchen, sowie das Vernichten geeigneter
Wohnstätten, hohler Bäume, Felspartieen, Rohrwaldungen,
das Verschwinden von wilden Flußufern infolge der Fluß-
regulierungen, von Hecken und kleinen Feldgehölzen in-
folge der Separationen der Grundstücke u. s. f.
Sehr lehrreich ist eine Zusammenstellung, die Hof-
rat Senft an der Hand gewissenhafter, während eines
langen Lebens an einem Orte angestellter Beobachtungen
von den seit 1820 bis 1882 aus der Fauna Eisenachs, die
eine gute mitteldeutsche Durchschnittsfauna ist, ver-
schwundenen Wirbeltieren giebt. Danach sind infolge der
Vernichtung von Wohn- und Brutstätten, sowie durch
Verfolgung 25 Spezies von Vertebraten um Eisenach aus-
gerottet worden, nämlich: 4 Säugetiere, 16 Vögel, 3 Am-
phibien und 2 Fische. Dem Verschwinden nahe sind
21 Arten: 5 Säugetiere, 15 Vögel und 1 Amphibium.
Diese Tiere sind fast alle Bewohner wald- und wasser-
reicher Gegenden.
Neben diesen beiden im Rückgange begriflFenen
Gliedern der deutschen Fauna, die ihre Glanzpunkte in
der Vergangenheit hatten, findet sich noch ein drittes,
fortschreitendes Glied, dem die Zukunft gehört: die Fauna
der Neuzeit, die moderne. In dem Maße, wie die
Verhältnisse der Vegetation eines Landes sich ändern,
ändern sich zugleich diejenigen seiner Temperatur und
seiner Niederschläge, und durch dies alles zusammen
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262 William Majrshall,
werden neue Existenzbedingungen fQr die Tiere geschaffen,
denen. manche der alteinwohnenden sich nicht anzupassen
vermögen. Sie weichen den neuen Verhältnissen, wodurch
ein Terrain frei wird, das für andere bis dahin davon
ausgeschlossene Formen gerade durch seine veränderten
Umstände eine neue Heimstätte bietet. Von allen Nach-
barprovinzen aus werden Versuche einer Invasion gemacht
werden, welche um so zahlreicher und um so erfolgreicher
sein können, je mehr die neuen Bedingungen den neuen
Eindringlingen konvenieren und je bequemer gelten und
zahlreicher die Invasionslinien sind.
Entlang den Thälern der Ströme und Flüsse finden
sich die besten Invasionslinien. Einmal werden durch
gelegentliche oder periodisch (im Frühjahr) wiederkehrende
Ueberschwemmungen viele Tierarten, namentlich Insekten,
thalw'ärts getragen und können so, passiv wandernd, das
Gebiet ihres Vorkommens vergrößern; dann aber sehen
wir auch, daß die Organismen aktiv den Ufern der fließen-
den Gewässer folgen, denn sie wandern nicht nur thal-
wärts mit dem Flußlauf, sondern auch bergwärts ihm
entgegen.
Die Gründe, warum Tiere den Flußthälem auf- und
abwärts freiwillig folgen, scheinen verschiedener und ver-
wickelter Art zu sein. Zunächst mögen sie hier günstigere
Lebensbedingungen finden, reichlichere Nahrung, höhere
Temperaturen und Schutz vor Winden; was aber speziell
derartige Einwanderungen in die zentraleuropäische oder
deutsche Provinz betrifft, so dürfte ein anderes Moment
weit ausschlaggebender sein.
Der moderne Teil der deutschen Fauna besteht aus
solchen Tieren, welche, wie wir sahen, im großen imd
ganzen den Wald vermeiden, dafür aber Wiesen, Felder,
Heiden, mit einem Worte steppenartiges Land bewohnen:
steppenartig im besten Sinne des Wortes und im Gegen-
satze zum Wald gebraucht. Eine solche, nennen wir sie
meinethalben „Kultursteppe*, entstand auch in Deutsch-
land, wie überall, zuerst in den Thälern der größeren
Flüsse. Die Flüsse sind die normalen Straßen der
wandernden Menschheit: in einem vom Urwalde bedeck-
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Tierverbreitung. 263
ten, von Sümpfen durchschnittenen Lande bilden sie in
sich und ihren Ufern den sichersten Pfad. Wenn die
Einzelnen oder wenn kleine Scharen in unmittelbarer
Nähe des Flusses oder in irgendwelchen Fahrzeugen auf
ihm sich aufhalten, ist es sehr wenig wahrscheinlich, daß
sie sich in der Wildnis verirren werden, und wenn sie vor-
dringend im Thale Niederlassungen gründeten, so konn-
ten sie mit ihren Stammesgenossen in besserem Eontakt
und leichterem Verkehre bleiben als wenn sie aufs Gerate-
wohl irgendwo in die Wildnis eingedrungen wären. In
einem mehr oder weniger gebirgigen Lande unter kalten
oder gemäßigten Zonen wird auch der Urwald sich nicht
bis unmittelbar an die Ufer des Flusses haben ausdehnen,
bez. sich nicht hier haben halten können. Der Früh-
jahrseisgang, den wir uns auf den Strömen eines noch
unkultivierten Landes ganz anders wie gegenwärtig vor-
stellen müssen, wird zusammen mit häufigen, Sand und
Kies führenden Ueberschwemmungen eine Entwickelung
größerer Bäume in nächster Nähe des Flusses verhindert
haben.
So bilden auch in Deutschland die Flüsse Natur-
straßen, auf denen die höhere Kultur mit dem Römertume
und Christentume in das Land und zwar zunächst in die
oberdeutsche Provinz eindringen konnte und von dieser
dann weiter entlang den Flüssen auch in die niederdeutsche,
und in dem Maße, wie sie vordrang, lichtete sich der Wald
und wurden neue Pflanzen- und Tierformen absichtlich
eingeführt oder folgten freiwillig.
So sehen wir, daß eine nicht unbedeutende Anzahl
von Tierarten in den Südwestgau aus der mediterranen
Subregion und zwar um das Juragebirge herum auf der
Livasionslinie Rhone - Saöne - Doubs aufwärts und rhein-
abwärts eingedrungen sind, und vom Rheinthal in die
Seitenthäler des Neckars, des Mains und der Mosel. In den
Südostgau schlichen sich Formen der sarmatischen Provinz,
ja der sibirischen und mediterranen Subregion donau-
aufwärts und in den Nordostgau entlang der Weichsel,
Oder und Elbe ein. Auch den Küsten des Meeres folgen
viele Tiere, und so wird es erklärlich, daß in der nieder-
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264 Wüliam Marehall,
deutschen UnterproTinz keltische Formen von den Ge-
staden des Atlantischen Ozeans her einwandern und mit
arktischen sich treffen und mischen können. Auch der
Mensch erleichtert unbewußt nicht wenigen Tierformen
den Einmarsch und die Weiterverbreitung in Deutschland.
Seine Kanäle und seine Kunststraßen werden eifrig auch
von Tieren benutzt: von der Haubenlerche weiß man,
daß sie seit Anfang des Jahrhunderts (1813) erst in
Thüringen entlang den Heerstraßen eingedrungen ist und
seitdem sich weiter westwärts, immer den Chausseeen nach,
bis zum Rheine ausgebreitet hat. Die Eisenbahnen, so-
wohl mit ihrem rollenden Material als wie durch die
Schienenwege, vermitteln einen anhaltenden Austausch
von Pflanzen- und daher ganz gewiß auch von Tierformen
benachbarter Länder.
Während aber die Flüsse die Invasion der mit oder
entgegen ihrem Laufe vordringenden Organismen erleich-
tem, sind sie vielfach für solche, die senkrecht auf ihre
Ufer zuwandern, Barrieren. Nicht wenig deutsche Tier-
arten erreichen an der Donau, am Neckar und am Main
ihre Süd- oder Nordgrenze, an der Weichsel, Oder, Elbe,
Weser und Rhein aber ihre West- bez. ihre Ostgrenze.
Die Gebirge scheinen in der deutschen Provinz nicht an-
sehnlich genug zu sein, um wirksame Barrieren abzu-
geben, und wenn viele Tiere am nördlichen Fuß des
Harzes, des Erz- und Riesengebirges ihre Süd- bez.
Nordgrenze erreichen mögen, so liegt das weniger an
der Höhe der Gebirge als vielmehr daran, daß wir es
dann mit typischen Formen des Tieflandes oder des Ge-
birges überhaupt zu thun haben. Vielleicht daß sich
aber in der Fauna des nordöstlichen und südwestlichen
Abhanges des Fichtelgebirges, des Böhmerwaldes und in
derjenigen der beiden Abhänge des Erzgebirges doch wohl
nicht unwesentliche Unterschiede finden mögen, sie sind
indessen daraufhin noch nicht genügend untersucht. Die
Verschiedenheiten in der Tierwelt der Südost- und Nord-
westseite des schwäbischen Juras sind mehr auf die be-
zügliche Lage des Donau- und Neckarthaies mit ihren
Beziehungen zu östlichen und westlichen Faunen zurück-
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Tierverbreitung. 265
zuführen. Es ist selbstverständlich, daß in diesen ver-
schiedenen Gauen die kleineren Lokalfaunen sehr ver-
schieden sein können. Die Verteilung der Vegetation und
des Wassers sowie die Bodenbeschaffenheit sind nur selten
auf größere Strecken ganz gleich, und mit ihrem bunten
Wechsel tritt auch ein entsprechender Wechsel in der
Verteilung der Tierwelt ein. So sehen wir z. B., daß
überall wo dünenartige Sandansammlungen in Deutsch-
land sich finden, auch entsprechende Bewohner auftreten,
daß wo der Boden salzhaltig ist, sich salzliebende („halo-
phile**) Tiere einstellen, an kalkreichen Stellen lebt eine
reiche Kalkfauna u. s. w. Daher rührt in erster Linie
das oft merkwürdig versprengte Vorkommen namentlich
gewisser Insekten, und nicht selten können wir beob-
achten, wie die beiden Abhänge ein und desselben Thaies
einen ganz verschiedenen faunistischen Charakter haben,
einmal nach ihrer Lage zur Himmelsgegend, dann aber
auch nach ihrer Bodenbeschaffenheit. Manche Strecken
gewisser Thäler Thüringens haben auf der einen Seite Bunt-
sandstein, auf der anderen Muschelkalk und auf beiden
viele eigene Tierarten, und ein gleiches gilt für die Ab-
hänge namentlich der von Ost nach West verlaufenden
Gebirge.
Indem wir jetzt zu der Betrachtung der speziellen
Verbreitung der einzelnen wichtigeren Tierordnungen in
unserem Vaterlande übergehen, werden wir mit Rücksicht
auf den beschränkten Kaum bloß die wesentlichsten Mo-
mente hervorheben. Ich will dabei zugleich bemerken,
daß es mir völlig ungerechtfertigt erscheint, gelegentliche
Irrgäste oder offenbar verschlagene Arten, die abnormer
Weise und gegen ihren Willen zu uns gelangen, dem
Faunenbestande zuzurechnen. Nach meiner Meinung be-
steht die Fauna eines Landes aus folgenden drei Gliedern:
ständige Bewohner und regelmäßig wiederkeh-
rende Sommer- und Wintergäste.
Säugetiere finden sich von den ungefähr 380 Arten
der ganzen paläarktischen Region in Deutschland, ein-
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266 William Marshall,
schließlich seiner Meeresküsten, 61 — 63 (also etwa 16 ®/o),
nämlich: 17 Fledermäuse (3,&^/o der paläarktischen Arten),
7 Insektenfresser (22,6 ^/o), 11 Landraubtiere (18,s ^.o),
4 Robben (22», 20— 23 Nagetiere (13,2— 13,4 >,* je
nach Auffassung der Artenberechtigung), 4 Wiederkäuer
(5,9 ®/o) und 1 Vielhufer (50 ^/o), das Schwein. Von diesen
Tieren sind durch den Menschen eingeführt, bilden aber
durch Verwilderung und völlige Akklimatisierung einen
integrierenden Teil der Fauna: das Kaninchen und der
Damhirsch. Von den sonst in der paläarktischen Region
vorkommenden Säugetiergi-uppen fehlen Aifen, Pferde und
Klippdachse (Hyracidae).
Von den 17 Fledermäusen finden sieh 11 in der
ganzen Provinz, 3 davon erreichen in den Alpen die Süd-,
1 (Vesperugo Nathusii) am Rhein ihre Westgrenze, 3
(Rhinolophus ferrum equinum, VespertiHo Leisleri und
Vesperugo discolor) gehören der oberdeutschen, 1 (Vesper-
tiHo dasycneme) der niederdeutschen Provinz an und 1
(Vesperugo Nilsonii) ist glacialrelikt und findet sich außer
in Skandinavien noch in Ostpreußen und im Harz.
Die 7 Insektenfresser bewohnen das ganze Gebiet
Von den 11 Landraubtieren finden sich 3 in der
ganzen Provinz, eine Art (der Wolf) im Nordost- und
Sildwestgau sehr einzeln und eine (der Nörz) wohl nur
stellenweise im Nordostgau.
Die 4 Seeraubtiere (Robben) scheinen sowohl die
Ost- wie Nordsee zu bewohnen.
Von den 23 (?) Nagetieren der Provinz werden 14
allenthalben angetroffen, eine Art (Arvicola agrestis) er-
reicht in den Alpen die Süd-, eine andere (Mus agrarius)
am Rhein ihre Westgrenze, der Hamster geht nur an
wenigen Stellen über den Rhein und Main, scheint aber
die Donau südwärts nicht zu überschreiten. Der Ziesel
(Spermophilus citillus) gehört wie der Gartenschläfer
(Myoxus Dryas) dem Südostgau (Oberschlesien) an, die
braune Feldmaus (Arvicola campestris) dem Nordwesten,
der Biber ist als Kulturflüchter auf den Nordostgau zurück-
gedrängt, dessen äußerste nordöstliche Spitze (wie in den
Alpen) als Glacialrelikt der Schneehase (Lepus variabilis)
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Tierverbreitung.
267
bewohnt. Als Wirtschaftsschinarotzer sind dem Menschen
aus Osten in das Abendland gefolgt, wo sie sich allent-
halben finden, die Hausmaus und die Wanderratte, wäh-
rend ein früherer ähnlicher Parasit, die Hausratte, von
der Wanderratte fast ausgerottet ist und nur noch in
einzelnen, sehr isolierten kleinen Gebieten sich zu halten
vermochte.
Von den 3 noch vorhandenen autochthonen Wieder-
käuern finden sich 2 (Edelhirsch und Reh) allenthalben
an geeigneten Stellen, der dritte (das Elentier) als hoch-
gradiger Kulturflüchter nur im äußersten Nordosten des
Nordostgaues.
Das Schwein wird in der ganzen Provinz an ent-
sprechenden Lokalitäten angetrofi'en.
Von den 1 5 Säugetierfamilien, von denen Mitglieder
Deutschland bewohnen, ist keine einzige auf die palä-
arktische Region beschränkt : 2 sind ganz, 6 beinahe kosmo-
politisch, 4 weit verbreitet, 1 findet sich in der ganzen
Alten Welt und 2 werden in beiden Hälften der nörd-
lichen Hemisphäre angetroffen.
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(exkh verwilderte)
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Deutschland überhaapt, ,,..,*
allen Gauen ......*.,
den meisten Gauen .-.**.,,
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in den beiden West^iinen zusammen .
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1
1
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*) Vesperugo Nilssonii in Ostpreußen und im Harze und der
Wolf in Ostpreußen und in den Rheinlanden.
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268 William Marshall,
Die Vögel bieten, zufolge ihrer leichteren Orts-
bewegung, mehr Verschiedenheiten in der Art und Weise
ihrer Verbreitung als alle übrigen Landtiere.
Die Zahl der in Deutschland brütenden Familien der
Vögel beträgt 42, mithin ungefähr den dritten Teil der-
jenigen, welche der ganzen ungeheuren paläarktischen
Region eigen sind (129). Von diesen 42 Familien sind
19 ganz, 9 fast kosmopolitisch, sehr weit verbreitet 4,
altweltlich 8, zirkumpolar 1 und eine ist im wesentlichen
auf die paläarktische Region beschränkt. Die Zahl der
Arten aber beträgt nur etwa 34 ^/o , nämlich von ungefähr
680 circa 220. Keine einzige Art ist Deutschland aus-
schließlich eigentümlich, während zum Beispiel Java, das
270 Vogelarten aufweist, 40 besitzt, die bloß hier ge-
funden werden. Als charakteristisch für unsere Provinz
müssen wir hauptsächlich die Singvögel (Sylvien, Drosseln,
Meisen, Bachstelzen, Pieper u. s. w.) ansehen, während die
großen Familien der Spechte und der kuckucksartigen
Vögel nur sehr schwach vertreten sind; auch die eigent-
lichen Seevögel sind infolge einer nur äußerst wenig ent-
wickelten, ja eigentlich (abgesehen von Rügen) fehlenden
Steilküste nur in geringer Zahl vorhanden, desgleichen fehlen
zahlreiche Arten der an die süßen Gewässer gebundenen
Schwimm- und Stelzvögel als Brutvögel in dem größten
Teil der Provinz, namentlich in der oberdeutschen Unter-
provinz. Die meisten Familien zeigen indessen im großen
und ganzen eine ziemlich gleichmäßige Verteilung. Eine
Vogelart, der Fasan (Phasianus colchicus), ist vom Men-
schen eingeführt und verwildert.
Wir müssen die Mitglieder der deutschen Vogelfauna
in drei Gruppen bringen: 1. Standvögel, 2. konstante
Sommer- oder Brutgäste, 3. konstante Wintergäste.
Standvögel für die ganze Provinz sind solche, die
irgendwo in ihrem Gebiete zu jeder Jahreszeit normaler
Weise sich aufhalten, mithin fallen auch diejenigen Vögel,
welche für die einzelnen Gaue Strichvögel sein können,
im Verhältnis zum ganzen Terrain in diese Kategorie.
Sommer- oder Brutgäste sind die eigentlichen
„Zugvögel**, welche bloß bei uns brüten, uns im Winter
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TierverbreituDg. 269
aber wieder verlassen. Ihre Masse scheint aus zwei wesent-
lich verschiedenen Kategorieen zusammengesetzt zu sein,
nämlich: 1. altautochthone Formen, die schon vor
der Eiszeit Deutschland jahraus jahrein bewohnten, sich
aber an den auftretenden Winter derart anpaßten, daß
sie ihm periodisch aus dem Wege gehen, und 2. Pionier-
vögel, welche Familien angehören, die ursprünglich nicht
in Deutschland seßhaft waren, aber ihren Verbreitungs-
kreis nordwärts auszudehnen bestrebt sind; hierher gehört
der Kuckuck, der Wiedehopf, die Turmschwalbe, der Pirol
u. a. m.
Wintergäste endlich sind solche Vögel, welche
bei uns nicht brüten, aber alle Jahre im Winter von
Norden und Nordosten einwandern. Ihre Zahl nimmt von
Südwest nach Nordost successive zu, und es hängt von
dem Grade der Winterstrenge ab, wie weit sie nach Süden
und Südwesten vordringen.
Wenn wir die folgende Liste ansehen, so werden wir
bemerken, daß die östliche Hälfte und namentlich der
Nordostgau Deutschlands weit reicher an originellen For-
men (42) sind als die Westhälfte (11). Daß dies so ist,
wird durch eine Reihe von Ursachen bedingt, welche
hauptsächlich in der nordöstlichen Ecke auftreten. Erstens
häufen sich hier, zufolge der geringeren Kultivierung des
Landes, die Kulturflüchter, dann aber sind hier die süßen
Gewässer weit stärker entwickelt und liegen, was von
nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, dem Meere näher
als sonstwo in Deutschland, und so sehen wir, daß hier
von den 14 deutschen Entenvögeln 9 sich ausschließlich
finden und von den 36 Stelzvögeln bloß 4 nicht in diesem
Gau brüten.
Der dritte Umstand, durch welchen die Fauna des
Nordosi^aues bereichert wird, liegt wohl darin, daß Formen,
welche sowohl von Norden wie von Osten nach Deutsch-
land einzuwandern bestrebt sind, zuerst hier deutschen
Boden betreten, da ja das Land jenseits der Weichsel um
30 bis 40 Meilen weiter nach Osten vorspringt als die
übrige deutsche östHche Grenze.
Ein vierter Grund endlich ist der, daß in der äußer-
Digitized by VjOOQ IC
270 Wüliam Marshall,
sten Nordostecke einige glacialrelikte Formen brüten,
welche sonst nirgends in Deutschland als Brutvögel auf-
treten, z. B. das Schneehuhn (wieder in den Alpen),
Sumia ulula, die Schneeeule (Sumia nyctea) und die
Habichtseule (Sjmium uralense).
Die 8 eigentümlichen Vogelarten des Südostgaues
finden sich nur im Riesengebirge. Es sind 3 Ostformen,
Strix passerina, Picus tridactylus und Anthus spinoletta,
und als Relikte der Eiszeit ist es Fringilla linaria, Tur-
dus torquatus, Accentor alpinus und Eudromias morinellus.
Aus Osten früher eingedrungene und vollständig seß-
haft gewordene Vögel dürften die meisten Lerchen, der
Brachpieper (Anthus campestris, fehlt in England), der
kleine Fliegenschnapper (Muscicapa parva), zwei Rohr-
sänger (Acrocephalus turdoides, fehlt in England, und
Locustella fluviatilis, bis Ostthüringen), der Sprosser (Lus-
cinia vera, westlich bis Pommern), der Haussperling,
der Kirschkernbeifier, die Saatkrähe, die Wachtel, viel-
leicht auch das Rebhuhn, die Weihen, der Triel (Oedi-
cnemus crepitans), die Großtrappe u. a. m. sein. Die
Großtrappe geht als Brutvogel in Mitteleuropa bis zur
Elbe-Saale-Linie westlich und ungefähr bis zum 51. Parallel-
kreis südlich. Interessant verhalten sich zwei, eine Art
(Comus corone-comix) bildende Erähenformen. Die Nebel-
krähe (C. comix) ist, abgesehen von einigen verspreng-
ten kleinen Kolonieen, bloß im Nordostgau bis zur Elbe
Brutvogel, die Rabenkrähe (C. corone) findet sich nur ganz
einzeln an der westlichen Grenze dieses Gaues, ist dagegen
in den drei übrigen Gauen, in denen die NebelknLhe bloß
als Wintergast auftritt, fast die allein brütende Form.
Sehr interessant sind einige andere Vogelarten, die
gelegentlich einmal von Osten kommend in Deutschland
erscheinen, aber nicht als bloße Irrgäste aufgefaßt werden
dürfen, da sie in der neuen Heimat zur Brut schreiten und
so eigentlich einen Vorstoß machen, um das Gebiet der Ver-
breitung auszudehnen. Solche Vögel sind: die Kleintrappe
(Otis tetrax, Schlesien, Thüringen), das Fausthuhn (Syr-
rhaptes paradoxus, 1863 — 64 und ganz neuerdings), der
Earmingimpel (Carpodacus erythrinus, Schlesien, Schles-
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitimg.
271
wig) und der Bienenfresser (Merops apiaster, Schlesien,
Gegend von Nürnberg und, auf der Rhone-Doubs-Rhein-
Linie eingewandert, am Kaiserstuhl bei Freiburg i. Br.).
Für den Südwestgau ist es charakteristisch, dais er
keinen einzigen eigentümlichen Wasservogel enthält und
80 im schroffsten Gegensatz zum Nordostgau mit seinen
18 Arten steht. Die meisten seiner ihm speziell zukom-
menden Arten (Scops carniolicus, Emberiza cia und cirlus,
Fringilla petronia, Peti'ocichla saxatilis und cyanea, Sylva
orphea) sind vor noch nicht langer Zeit aus Süden ein-
gewanderte Bewohner des warmen Rheinthals und seiner
Seitenthäler. Eine Art (Panurus barbatus, die Bartmeise)
findet sich in Deutschland nur noch im äußersten Westen
in der Gegend von Metz. Einige wenige Vögel haben,
beiläufig bemerkt, keine festen Sitze, sondern wandern
nach Orten hin, wo ihre Nahrimg gut geraten ist, und
schreiten dann dort ziemlich unabhängig von der Jahres-
zeit zur Brut. Solche » Zigeunervögel ", wie sie der ältere
Brehm sehr bezeichnend nannte, sind z. B. der Kreuz-
schnabel (Coniferensamen) und der Waldkauz (Syrnium
aluco, Mäuse).
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272
William Marshall,
Außerordentlich schwach sind die Reptilien in Deutsch-
land vertreten. Von den bekannten ungefähr 2450 Ar-
ten finden sich hier (auf einem Terrain von 540 520 qkm)
nur 13, während auf der Halbinsel Malaka (154 000 qkm)
12 Schildkröten, 25 Eidechsen und 61 Schlangen, zu-
sammen 98 Arten von Reptilien gefunden werden (Can-
tor). Der Südwestgau ist der bei weitem reichste, hier
finden sich alle überhaupt in Deutschland vorkommenden
Eidechsen und Schlangen, aber sechs von ihnen finden
sich nur hier, Lacerta viridis und muralis, sowie Goluber
(Callopeltis) Aesculapii nur im Rheinthal und seiner nähe-
ren Nachbarschaft, Vipera aspis und Zamenis atrovirens
nur im äußersten Westen in der Umgegend von Metz.
Die einzige Schildkröte (Emys europaea) dürfte westlich
von einer von Schwerin nach Brandenburg und weiter
nach Görlitz gezogenen Linie kaum, vollends westlich von
der Elbe nur höchst ausnahmsweise vorkommen.
Eidechsen Schlangen
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Reptilien finden sich
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Deutschland überhaupt ....
allen vier Gauen zugleich . . .
den meisten (mindestens 3) Gauen
in der oberdeutschen Unterprovinz
in der niederdeutschen ,
in den beiden Ostgauen . . .
in den beiden Westgauen . . .
im Südwestgau
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im Nordwestgau
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6
Besser als die Reptilien sind die Amphibien in
Deutschland vertreten, namentlich die geschwänzten: von
93 Urodelen finden sich in Deutschland 6, aber nur 2
von ihnen (Triton cristatus und taeniatus) werden in allen
Gauen, 2 weitere (Triton alpestris und Salamandra macu-
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung.
273
losa) nur in der oberdeutschen Unterprovinz gefunden.
Triton helveticus gehört den westlichsten Teilen des Süd-
westgaues an und Salamandra atra dürfte außerhalb der
Alpen, vielleicht in den höheren Teilen des schwäbischen
Juras auf der Grenze der beiden Südgaue anzutreffen sein.
Auch die Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) , sowie
2 Froschformen (Rana agilis und arvensis) gehören dem
Rheinthal und seinen Seitenthälem an. Die übrigen
Anuren sind weit im Gebiet verbreitet.
Amphibien ßndan eich
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in den Westgauen zusammen
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6
1
6
4
1
Mancherlei Eigentümliches zeigt die Verbreitung der
Fische in Deutschland. Von den 39 das süße Wasser
bewohnenden Familien der Knochenfische haben 6 Re-
präsentanten in Deutschland, also etwa 15,5 ^/o, was ein
nicht ungünstiges Verhältnis ist. Ganz anders aber wird
die Sache, wenn wir die Verhältnisse des Vorkommens
der Arten betrachten, da finden wir von etwa 2400 Ar-
ten, welche die süßen Gewässer der ganzen Erde be-
wohnen, nur 60 in unserem Vaterlande, also 2,5 ^/o. Von
den 5 Familien der Glanzschupper (Ganoidei, 14 Arten)
kommen 2 Arten einer Familie in deutschen Gewässern
vor, nämlich: Acipenser sturio (der gemeine Stör) in allen
größeren Strömen und Acipenser ruthenus (der Sterlet)
Anleitang zur deutschen Landes» nnd Volksforschung. lg
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274 Wüliam Marshall,
bloß in der Donau bis oberhalb Regensburg. Die Störe
sind aber Wanderfische, welche um zu laichen in die
Flüsse aufsteigen, wie das auch eine Reihe von anderen
Fischen thut. So steigen zu bestimmten Zeiten in alle
großen, in das Meer mündenden deutschen Ströme die
Lachsforelle (Salmo trutta) und das Flußneunauge (Petro-
myzon fluviafcilis), und in alle mit Ausnahme der Donau:
der Schn'äpel (Coregonus oxyrhynchus), der Stint (Osme-
rus eperlanus), der Lachs (Salmo salar), der Maüisch
(Alosa vulgaris, auch in die Donau eintretend, aber nur
bis Pest), die Finte (Alosa finta) und der (weibliche) Aal
(Anguilla vulgaris), letzterer allerdings nicht um zu laichen.
Die Ziege oder der Sichling (Pelecus cultratus) bewohnt
das Schwarze Meer und die Ostsee und steigt von erste-
rem in die Donau, aber nicht hoch hinauf, so daß er
nur selten einmal und ausnahmsweise in ihrem deutschen
Teile gefangen wird, aber regelmäßig findet er sich in
der Oder, der Weichsel und den großen preußischen Seeen.
Gleichfalls vom Meere in die Flüsse eingedrungen sind
unsere beiden Stichlingarten (Gasterosteus aculeatus und
pungitius), doch nicht bloß um zu laichen, es sind keine
„Brutgäste" mehr, sie haben sich vielmehr vollständig an
das Leben im süßen Wasser angepaßt. Da sie sich wohl
in der Ost- und Nordsee, im Mittelländischen Meere bis
jetzt aber nur in seinen westlichsten Teilen finden, so
haben sie noch keinen Eingang in das Flußgebiet der
Donau gefunden, obwohl sie von Norden ständig nach
Süden vorrücken und ebenso im Mittelmeer nach Osten.
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, daß sie auch von
der Donau Besitz ergreifen werden, und vielleicht kann
sich dabei das Seltsame ereignen, daß dann in ihr zwei
verschiedene Horden aufeinander stoßen, nämlich eine aus
der Nordsee stammende, welche den Weg: Rhein, Main,
Main-Donaiikanal eingeschlagen hat, und eine andere, die
vom Schwarzen Meere her aufwärts vordringt. Eine Fisch-
art, der Karpfen (Cyprinus carpio), ist zwar vom Menschen
eingeführt, hat sich aber teilweise vollkommen emanzi-
piert und ist wild in den meisten Gegenden zur Zeit völlig
einheimisch geworden.
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung.
275
Ein Blick auf die nachstehende Tabelle zeigt uns,
daß der Südostgau bei weitem der reichste an eigentüm-
lichen Fischarten ist, was einmal auf die Gegenwart al-
piner Formen in den vor den Alpen gelegenen bayrischen
Seeen, dann aber namentlich auf das Vorhandensein einer
ganzen Reihe von sonst nirgends wieder in der abend-
ländischen Fauna, wohl aber in der südrussischen, rumä-
nischen und ungarischen vorkommender Fische in der
Donau zurückzuführen ist. In den Gewässern des Nord-
ostgaues kommen außer der Ziege (Pelecus cultratus)
noch zwei originelle Fische, die beiden Maränen (Core-
gonus Maraena und albula) vor.
Fische finden sich
Knochenfische
<6
^
11
in Deutschland Überhaupt . . . .
in allen Gauen zugleich
in den meisten (mindestens 3) Gauen
in der oberdeutschen Unterprovinz
in der niederdeutschen ,
in den beiden Ostgauen zusammen
in den beiden Westgaaen „
im Südwestgau
im Südostgau
im Nordostgau
im Nordwestgau
50
6
2
2
64
8
2
2
1
o
s
03
1
10
3
1
14
3
26
33
Der Reichtum Deutschlands an Mollusken kaun nicht
bedeutend genannt werden. Auf dem ganzen großen
Terrain finden sich nur 135 Landmollusken, von denen
die wenigsten eigentümlich sind, während die kleine Ma-
deira-Inselgnippe nicht weniger als 86 Arten landbewoh-
nender Schnecken aufweist. Von den 8 Familien der
Landgas tropoden haben 4 (also 50 ®/o) in Deutschland
Vertreter, aber von den etwa 5300 Arten kommen hier
nur 135, also noch nicht 2,4 °/o, vor. Etwas besser liegen
Digitized by VjOOQ IC
276 William Marahall,
die Verhältnisse bei den Süßwassermollusken. Es giebt
4 Familien von Sü^wassergastropoden mit ungefähr 1450
Arten; in unserem Yaterlande wurden 3 Familien und
63 Spezies (also 75 bez. 4,34 °|o) beobachtet. Von der
großen Schar der Muscheln bewohnen 3 Familien in etwa
730 Arten (?) die süßen Gewässer, und alle diese Familien
haben in zusammen 35 (allerdings zum Teil noch recht
zweifelhaften) Arten in Deutschland Vertreter, also etwa
4,6 °/o. Unter den Muscheln herrschen die kleinen Cycla-
diden, unter den Süßwasserschnecken die Planorben und
imter den Landschnecken hier wie überall die echten
Helices vor.
Im ganzen bilden Wald- und Laubformen (die Arten
der Untergattungen Trigonostoma, Triodopsis, Fruticicola,
Tachea unter den Helices, auch nicht wenig Formen unter
den Pupinen und Clausilien) den größeren Kontingent der
Landmolluskenfauna Deutschlands, und treten die im Süden
und Südosten Europas so mächtig entwickelten Felsformen
sehr zurück, doch ist es wahrscheinlich, daß die letzteren
zum Teil wenigstens als Glieder der modernen Fauna
im Vorrücken begriffen sind.
Sicher sind solche von Osten her einwandernde For-
men: Patula Solana, Campylaea faustina, Clausilia silesiaca,
omata und tumida, welche nur in den schlesischen Ge-
birgen gefunden werden, Tachea australis, eingeschwemmt
durch die Elbe bis unterhalb Dresden, und Planorbis
septemgyratus. Auch der schöne große Bulimus radiatus
macht den Eindruck eines südlichen Fremdlings, doch
wird gegenwärtig meist geleugnet, daß er, wie früher
angenommen wurde, mit dem Weinstock eingeschleppt
wurde. Meine Erfahrungen sprechen nicht gegen die alte
Vermutung; im ganzen Thale der Thüringer Saale von
Jena bis über Naumburg ist das Tier gemein, im Um-
thale findet es sich in teilweise ganz ähnlichem Terrain
nicht mehr lebend, sondern nur subfossil, und zwar am
häufigsten an Stellen, wo nachweislich früher Weinbau
getrieben wurde.
Im Südwestgau finden wir eine ganze Reihe von
Formen, welche entlang dem Rheine entweder von den
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Tierverbreitung. 277
Alpen oder von Südwesten her eingedrungen sind, und
andere, welche unmittelbar von Westen her vorrücken
(Yitrina elliptica, Fruticicola unidentata und carthusiana,
Tachea sylvatica, Azeka Menkeana, Clausilia lineolata,
Physa acuta, Cyclostoma elegans etc.).
Eine bedeutende Menge von deutschen Mollusken
müssen wir als glacialrelikt auffassen, da sie sich in
Skandinavien, den höheren Gebirgen unseres Vaterlandes,
wie im Harze, Riesengebirge, Schwarzwald, Schwäbische
Alb und in den Alpen wiederfinden, manche an allen
diesen Oertlichkeiten, manche nur an einzelnen, und zwar
Landschnecken: Pupa costulata, laevigata, substriata, al-
pestris, arctica, Hyalina contracta, Patula ruderata, Tri-
gonostoma holoserica, Triodopsis personata, Fruticicola
unidentata, umbrosa, Vollonia tenuilabris; — Süßwasser-
schnecken: Valvata antiqua und macrostoma. Auch die
Flußperlmuschel (Margaritana margaritif era) ist glacialrelikt
und findet sich zirkumpolar in allen subarktischen Län-
dern der Alten und Neuen Welt, in Deutschland im Riesen-,
Erz- und Fichtelgebirge, im Böhmer- und Westerwald,
im Hunsrück, den Vogesen und in einigen Bächen der
Lüneburger Heide.
Eine Reihe von Land* und SüiawassermoUusken wer-
den nur in Norddeutschland, manche nur an der Ostsee
(Rügen, Holstein u. s. w.) gefunden. Es ist möglich, daß
sie auch zum Teil glacialrelikt sind und sich vielleicht aus
irgendwelchen Gründen in den Gebirgen nicht zu halten
vermochten, oder es sind neue Eindringlinge aus Nord-
osten, oder endlich, und das scheint für die Süßwasser-
formen nicht ganz ausgeschlossen, es sind an Ort und
Stelle durch Umbildung neu entstandene Arten.
Eine der interessantesten Molluskenformen unserer
Fauna ist aber die Muschel Dreyssena polymorpha. Sie
war schon einmal in Deutschland während der postglacialen
Steppenzeit, verkleinerte dann aber ihr Gebiet auf das
südliche europäische Rußland (Wolga) und ist von hier
aus in historischer Zeit, seit der zweiten Hälfte des vori-
gen Jahrhunderts, wieder in die deutschen Ströme ein-
gedrungen bez. durch SchifiFe u. dergl. verschleppt worden.
Digitized by VjOOQ IC
278
William Marshall,
Aus der folgenden Liste ersieht man den großen
Reichtum der oberdeutschen Unterprovinz gegenüber der
niederdeutschen sehr deutlich. Die Zahl der Mollusken-
arten des Nordwestgaues mag 100 kaum überschreiten.
Mollusken finden sich
Schnecken
'S
00
S
1^
00 '<J
in Deutschland Überhaupt
in allen Gauen
fast in allen (mindestens 3) Gauen . ,
in der oberdeutschen Unterprovinz ,
in der niederdeutsclien ,
in den Ostgauen zusammen . . ,
in den Westgauen „ . . .
im Südwestgau
S im Südostgau
^ im Nordostgau ,
im Nordwestgau
3i
135
50
14
34
2
1
1
15
15
2
1
63
29
5
3
2
6
10
7
1
35
18
3
3
2
1
2
4
1
1
233
97
22
40
6
1
2
23
29
10
3
Die Verhältnisse des Vorkommens der übrigen Mehr-
zahl der wirbellosen Tiere in Deutschland überschauen
wir nicht derart, daß es möglich wäre, von irgend einer
Ordnung eine die Gesamtsumme aller Arten berücksich-
tigende Liste, wie das für die Wirbeltiere und Mollusken
doch einigermaßen thunlich war, geben zu können.
Verschiedene Ursachen wirken zusammen, dies zu ver-
hindern. Einmal sind große Gebiete unseres Vaterlandes
noch gar nicht oder doch nicht genügend durchforscht,
um uns ein Bild von der Verteilung der Gliedertiere,
Würmer u. s. w. in allen Gauen entwerfen zu lassen. Viele
dieser Geschöpfe sind außerdem winzig klein und leben
so versteckt, daß es oft auch für den besten und er-
fahrensten Sammler ein Glücksfall ist, wenn er auf eines
derselben stößt. Weiter sind die vorhandenen Verzeich-
nisse der Lokalfaunen meist unvollständig : gewisse Tier-
gruppen, wie die Mikrolepidopteren, die Raubkäfer, die
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Tierverbreitung. 279
Fliegen, die Hymenopteren, die winzigen Blasenfüße, Holz-
läuse, Milben u. s. w. zu sammeln und zu bestimmen, ist
mit solchen Opfern an Zeit und Geld verknüpft, daß die
meisten Lokalforscher, die doch zum größten Teil ander-
w^eitig beruflich beschäftigte Liebhaber sind, von vorn-
herein davon absehen müssen. Außerdem sind viele dieser
Geschöpfe fQr Sammlungen schwer zu konservieren und
sind, abgesehen von ihrer Kleinheit, zu unscheinbar, um
die menschliche Sammellust herauszufordern.
Eine nicht geringe Schwierigkeit, von der Glieder-
tierfauna eines Landes eine klare Vorstellung zu be-
kommen, liegt auch darin, daß dieselbe von Ja£j* zu Jahr
wechselt: oft verschwinden charakteristische, zahlreich
vorhanden gewesene Formen, ohne daß wir die Ursachen
kennen, völlig oder doch scheinbar völlig aus einer Gegend,
um oft erst nach Jahrzehnten wieder zu erscheinen. Bei
vielen fliegenden Formen liegt es nahe und ist wohl auch
richtig, dann eine Neueinwanderung zu vermuten, aber
in anderen Fällen ist eine solche Ansicht nicht wohl zu-
lässig und beruhen die oft befremdenden Thatsachen auf
anderen, bisweilen sehr tief liegenden Gründen in der
ganzen Oekonomie der betreffenden Tiere.
Am besten unterrichtet sind wir noch über die Ver-
breitung der Tagschmetterlinge, Schwärmer und Spinner
in Deutschland, aber schon für die unscheinbaren und oft
versteckt lebenden Eulen werden unsere betreffenden Kennt-
nisse mangelhafter, und für die Spanner und Microlepi-
dopteren sind sie zu gering, als daß wir allgemeinere .
Folgerungen aus ihnen ziehen könnten.
Die Schmetterlingsfauna Deutschlands ist eine gute
paläarktische Durchschnittsfauna. Sie enthält 145 Tag-
falter (Rhopalocera etwa 29 ^/o der paläarktischen Ge-
samtzahl), 15 Schwärmer (Sphingidae etwa 30 ^/o), 34 Holz-
bohrende (Xylotrophidae, schätzungsweise 24 *^/o), 63 Bär-
falter (Cheloniidae, enthält Zjgaeninae, Euprepiinae und
Lithosinae, 25 ^/o), 103 eigentliche Spinner (Bombycidae,
schätzungsweise 54 °/o) und 440 Eulen (Noctuidae, vielleicht
45».
Als glacialrelikt sind eine nicht unbedeutende Anzahl
Digitized by VjOOQ IC
280 William Marsball,
(mindestens 18) von Schmetterlingsarten anzusehen: Ar-
gynnis Aphirape, Thore (nördliches Skandinavien, Altai,
Oberschwaben), Aniathusia (von Finnland bis Ostpreußen,
Schwarzwald, schwäbischer Jura, Alpen), Pales (sehr inter-
essant! als Stammart Skandinavien und Alpen, als Varietät
Arsilache von Preußen westlich bis Hamburg, südlich bis
Berlin, dann wieder im Riesengebirge, Oberharz und
Schwarzwald), Erebia Epiphron (Hochschottland — Skan-
dinavien nicht! — Sudeten, Harz, Vogesen, Alpen),
Stygne, Pararge Hiera, Lycaena optilete, Doritis Apollo
und Mnemosyne, Colias palaeno (arktisch zirkumpolar, süd-
westlich bis Berlin, dann Schlesien, Schwarzwald und in
den auch sonst europäisch-arktische Insektenformen auf-
weisenden Nilgherriebergen in Indien). Folgende Nacht-
falter dürften Ueberbleibsel aus der Eiszeit sein: Arctia
plantaginis (im ganzen Norden in der Ebene, in Mittel-
und Süddeutschland im Gebirge), Tryphaena speciosa,
Lampetia arcuosa, Scopelosoma conflua, collina, Omia
cordigera und Dasypolia Tempil, welche sich alle im hohen
Norden, im Riesengebirge, zum Teil im Harz und in den
Alpen finden.
Sehr charakteristisch für die norddeutsche Ebene sind
die sog. Rohreulen (Nonagria, Senta, Tapinostola, Leu-
conia), die vielleicht, ähnlich wie die Großtrappe, zunächst
von Südosten aus Ungarn und Südrußland nach Nord-
deutschland eingewandert, dann aber wieder südlich und
zwar entlang den größeren Flüssen nach Mittel- und Süd-
. deutschland vorgedrungen sind; eine vielleicht unmittelbar
von Osten eingewanderte Kolonie findet sich in den Moor-
gegenden der bayrischen Hochfläche.
Mancherlei Interessantes bieten die der modernen
Fauna angehörigen, wahrscheinlich aus Osten eingewander-
ten Schmetterlinge. Da können wir zunächst konstatieren,
daß die besseren Flieger einen weit größeren Kontingent
hierzu stellen als die schlechteren. Es ist wahrscheinlich,
daß ein sehr großer Teil unserer Tagfalter, vielleicht der
größte, zu den nach der Waldzeit eingewanderten Tieren
gehört: so besonders sehr viele Arten von Melitaea, Argyn-
nis, vielleicht sämtliche Arten von Vanessa, Neptis, Limenitis,
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Tierverbreitung. 281
Apatura, nicht wenig Satyriden und Lycaeniden, sowie die
Mehrzahl der Arten von Colias (so findet sich C. Myrmidone
in Schlesien bis zur Oberlausitz und, wohl donauaufwärts
vorgerückt, erst seit 1849 in der auch früher sehr genau
durchforschten Gegend von Regensburg!). Von Nacht-
faltern dürfte die große Mehrzahl der Zygaenen^) und
Sesien südöstlichen Ursprungs sein, dann Orgyia seleni-
tica, welche von der Wolga bis zum Rhein vorkommt,
letzteren aber noch nicht überschritten hat, weiter Cnetho-
campa pinivora, die an der Elbe ihre Westgrenze erreicht,
und die seltene Pygaera Timon, welche noch nicht weiter
voi^edrungen ist als bis Tilsit. Wahrscheinlich auch der
Hauptsache nach östlichen Ursprungs sind die meisten
Arten der Eulengattungen : GucuUia, Plusia, Thalpochares
und Heliothis, in der Mehrzahl ausgezeichnet und auch am
Tage fliegende Geschöpfe, deren Raupen wesentlich von
charakteristischen Steppenpflanzen (Artemisien, Hauhechel,
Reseda, Disteln, Königskerze, Rittersporn, Klee u. s. w.) leben.
Gerade von diesen guten Füegern mögen auch nicht wenige
selbst den in Gärten kultivierten Pflanzen von weither
nachziehen: so erscheinen bisweilen an manchen Oerfclich-
keiten früher nie gesehene Plusia- und Heliothisarten oft
zahlreich in einem solchen Jahre, das ihren Wanderungen
vielleicht durch warmes heiteres Wetter und anhaltende
Südostwinde günstig war, um nach zwei oder drei Gene-
rationen wieder zu verschwinden. Wieviel das Flugver-
mögen bei der Verbreitung der Schmetterlinge vermag,
lehrt uns ein Blick auf die weiter unten folgende Liste:
von den 15 Arten Sphingiden, den bestfliegenden Tieren,
die es überhaupt giebt, finden sich 13 (also fast 87 ^/o!)
in ganz Deutschland, von den 200 Arten der drei trägen
Spinnerfamilien hingegen nur 117 (also 58,5 ®/o). Drei
^) Die übrigens schlecht fliegenden Zjgaenen nehmen von Süd-
osten nach Nordwesten rasch an Artenzahl 'ab: bei Wien finden
sich 15, bei Leipzig 7 (in den heißen, kahlen Ealkthälem Thü-
ringens steigt die Zahl allerdings wieder auf 13), in der Nordwest-
ebene im günstigsten Falle vielleicht 6, in Großbritannien 5. Auf
der Nordostlinie ist die Abnahme viel geringer: Danzig hat noch
10 Arten und Lievland 7.
Digitized by VjOOQ IC
282
William Marshall,
Sphingidenarten (Deilephila Nerii, celerio und lineata)
machen gleichfalls in warmen Sommern Versuche, ihren
Verbreitungsbezirk zu vergrößern, und erscheinen diesseits
der Alpen nördlich bis über die Grenzen des Gebiets
hinaus, legen Eier auf die betreffenden Nahrungspflanzen
ab, die Raupen entwickeln und verpuppen sich auch, die
Puppen aber gehen im Winter regelmäßig zu Grunde,
so daß keine zweite Generation im Freien sich bei uns
entwickeln kann.
Es dürften auch einige Westformen in unserer Schmet-
terlingsfauna sich finden, so z. B. Zygaena fausta, welche
in Thüringen und am Harz ihre Nord- und Ost^enze
erreicht. Die Zygänen werden, wie beiläufig bemerkt sei,
von Osten her in die weit eher sozusagen versteppten
„Mittelmeerränder*^ auch viel früher als wie in das cisalpine
Europa eingewandert sein, wie das för sehr viele Tiere
wahrscheinlich ist. Von dort, wo sie einen sehr günsti-
gen Entwickelungsboden antrafen, konnte dann eine oder
die andere Art wieder nach Norden vordringen.
I. Rhopalocera.
Tagesscbmetterlinge
finden sich
m
in
in
ganz Deutschland überhaupt . .
allen vier Gauen
den meisten (mindestens 3) Gauen
n der oberdeutschen ünterprovinz
n der niederdeutschen ,
n den beiden Ostgauen zusammen
n den beiden Westgauen „
m Öüdwestgau
im Südostgau
m Nordostgau
m Nordwestgau
145
72
44
15
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung.
283
IL Heterocera.
Schw&rmer, Spinner and Eulen
finden sich
Bombyce8
m
in
in
1
Deatscliland überhaupt
allen vier Gauen zugleich . . . .
den meisten Gauen (3, fast immer ist
der Nordwestgau ausgeschlossen) . .
in der oberdeutschen ünterprovinz .
in der niederdeutschen „
in den beiden Ostgauen
in den beiden Westgauen . . . .
im Südwestgau
im Südostgau
im Nordostgau
im Nordwestgau
102
65
15
9
2
3
1
3
3
1
440
242
97
33
1
12
4
14
19
15
3
654
371
133
53
3
16
7
24
25
18
3
Großschmetterlinge (ausschl. Geometriden) kommen vor etwa
799
Viel weniger gut als über das Vorkommen der Groß-
schmetterlinge sind wir über das der Käfer in Deutsch-
land unterrichtet, und aus nahe liegenden, weiter oben
entwickelten (Jründen:
In ganz Europa sind gefunden worden etwa 15 000 Arten.
In Deutschland 6000 „
In ganz Schlesien 4300 „
In der südlichen Hälfte Thüringens . . 3450 „
In Westfalen 3200 „
In der Provinz Preußen 3200 „
In Frankfurt-Nassau 3160 „
In der Umgegend von Hamburg . . . 2950 „
In der Rheinpro vinz 2764 ,,
Bei München 2453 „
Bei Kassel 2450 „
Bei Hildesheim 2390 „
In ganz Holland 2100 „
Im Nordwestgau 1700 „
Bei Sonderburg 1445 „
Digitized by VjOOQ IC
284 William Marshall,
Der Wert dieser Liste darf nicht überschätzt werden.
Einmal sind die Bezirke von sehr ungleicher Größe: der
Bestand der Eäferarten der ganzen Provinz Preußen läßt
sich nicht so ohne weiteres mit dem der bei Hildesheim
gefundenen vergleichen. Weiter sind aber auch die ver-
schiedenen Gebiete sehr ungleich durchforscht: eine Gegend,
welche seit langen Jahren von einer Reihe tüchtiger En-
tomologen ausgebeutet wurde, wird, aber nur scheinbar,
reicher sein als eine andere, in der nur ein einzelner noch
so eifriger und kenntnisreicher Forscher seit verhältnis-
mäßig kurzer Zeit arbeitet.
Dem sei indessen wie ihm wolle; eins ist sicher, daß
auch in der deutschen Eäferfauna eine langsame Abnahme
an Arten von Süd und Ost nach Nord und West statt-
findet, eine weit bedeutendere noch als vom Gebirge in
die Ebene, wie wir bei einem Vergleich z. B. der Fauna
des Thtiringerwaldes (3450 Arten) mit derjenigen der
Provinz Preußen (3200) leicht sehen können.
Glacialrelikte Käfer, ganz besonders aus den Fami-
lien der Carabiden, Staphyliniden und Chrysomeliden finden
sich überaus zahlreich in der norddeutschen Tiefebene und
den einzelnen höheren Gebirgen des Gebiets. Auch Süd-
ostformen sind nicht selten und wird hierzu namentlich
auch ein Teil der Bockkäfer zu rechnen sein, soweit sie
nicht als Larven ausgesprochene Holzfresser sind. Der
Schwerpunkt der Verbreitung des Genus Dorcadion liegt
im Südosten, in Persien u. s. w. Bei Wien kommen noch 5,
in Mähren 3, in Württemberg und Baden 2 Arten vor.
Eine einzige Art (Dorcadion fulginator incl. var. atrum)
findet sich an allen diesen Stellen, geht aber noch weiter,
wird indessen nördlich ungefähr von einer von der öster-
reichisch-schlesischen Grenze (Teschen) bis zum Nord-
rande des Harzes und von hier weiter bis Koblenz ge-
zogenen Linie kaum noch angetroffen werden.
Weiter als die trägen flügellosen Dorcadionarten
haben sich die schönen lebhaften Wespenböcke (Clytus)
verbreitet und verhalten sich ähnlich wie die Zygäniden.
Bei Wien finden sich 16, in Mähren 15, in Schlesien 14,
in Württemberg 11, in Preußen 10, in Westfalen und bei
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung.
285
Freiburg i. Br. 9, im Harz 7, bei Hamburg 5, in Hol-
land 3 und bei Sonderburg l^Art, also ist auch hier eine
stetige Abnahme nach Nordwest zu konstatieren.
In der folgenden Liste habe ich die Artenzahl eini-
ger wichtigen und besser gekannten K'äferfamilien nach
Lokalfaunen der verschiedenen Gaue zusammengestellt.
2
%
0)
s
[T
c3
1
1
3
1
1
3
1
1
1
Württemberg (v. Roser 1838) . .
4
231
53
104
31
113
217
Harz (Homung 1846, Leimbach 1886)
4
272
99
?
?
94»)
9
Westfalen lAndrä 1881) ....
4
280
57
79
24
88
250
Schlesien (Letzner 1871) . . . .
5(7?)
365
120
122
56
140
380
Ostpreußen (Lentz 1879) ....
5
285
190
108
43
121')
286
Sonderburg (Wüstnei 1886—87) .
Hamburg (Preller 1862) ....
2
153
66
40
5
24
145
3
243
101
79
12
72
193
Holland (Snellen von VoUenhoven
1870)
5
203
72
62
10
48
155
Als einzelne interessante Vorkommnisse mögen noch
erwähnt werden: Cicindela littoralis (1 Ex. 1833) und
literata (3 Ex. 1847) in Schlesien, letztere auch kon-
stant bei Pillau in Preußen, Gymnopleurus mopsus bei
üstrow in Oberschlesien, G. cantarus bei Grünstadt in Baden,
beide Eindringlinge aus dem Süden, der eine durch die
Lücke zwischen Sudeten und Beskiden, der andere zvri-
schen Vogesen und Schweizer Jura, — Nebria picicomis
*) Leimbach (Cerambye. des Harzes, Sondershausen 1886)
führt bloß 92 Arten auf. Ich habe aber am Brocken nach Wer-
nigerode zu 2 Spezies während mehrjährigen Sammeins aufgefun-
den, die er nicht beobachtet hat, nämlich: Rhopalopos insubricus
einmal und Pachyta lamed wiederholt.
■) Lentz (Kat. d. preuB. Käfer, in d. Beitr. z. Naturk. Pr.,
Königsberg 1879) führt noch Purpuricenus Koehleri und Rosalia
alpina auf als einmal gefangen. Beide Käfer halte ich für ein-
geschleppt.
Digitized by VjOOQ IC
286 William Marshall,
entlang des Rheines von Süddeutschland bis zur Rhein-
provinz, ähnlich Pterostichus parvumpunctatum, — Sisyphiis
Schaffen Süddeutschland bis Koburg, — Purpuricenus
Koehleri, auf der Südwest- und Südostinvasionslinie ein-
gedrungen, auf ersterer bis in die Rheinprovinz und
Westfalen, auf letzterer bis Niederschlesien (und vielleicht
weiter?) Einer der merkwürdigsten Eindringlinge aus
der mediterranen Subregion rheinabwärts bis über Koblenz
hinaus ist Asida grisea.
Versprengt im ganzen Gebiete finden sich an der
Meeresküste, in der Magdeburger Gegend, am salzigen
See bei Eisleben, bei Dürrenberg, Artem in Thüringen,
bei Dieux in Lothringen, bei Kissingen u. s. w. — also
überall wo der Boden salzhaltig ist — sog. halophile
(n salzliebende*') Käfer, indessen nicht alle Arten an jeder
Stelle. Am salzigen See bei Eisleben kommen etwa 30 Ar-
ten halophiler Käfer vor, hauptsächlich Laufkäfer (aus den
Gattungen: Pogonus, Anchomenus, Amara, Dichirotrichus,
Anisodactylus , Stenolophus, Bembidium, Tachys etc.),
aber auch Raubkäfer (Bledius) und neuerdings auch eine,
bisher nur vom Ostseestrande bekannte Chrysomelide
(Haemonia, c. Donacia Curtisii).
Ueber die Verbreitung der noch übrigen Insekten-
ordnungen in Deutschland läßt sich kaum etwas allge-
meines sagen.
Die Familie der Hymenopteren mag in Deutsch-
land in folgenden Artenzahlen vertreten sein: Echte Bienen
(Anthophila) etwa 500 (bei Halle a. S. 117), Faltenwespen
(Vespariae) vielleicht 40 (bei Halle 13, in der Provinz
Preußen 24), Grabwespen (Crabronidae) 240 ? (beiHaUe95,
Preußen 146), Pompilidae? (bei Halle und in Provinz
Preußen je 30), Sapygidae 6 (Halle 2, Preußen 4), Mu-
tillidae 15 (HaUe 5, Preußen 6), Scolüdae 20 (Halle und
Preußen je 5), Goldwespen (Chrysididae) 50? (Halle 15,
Preußen 29), Ameisen (Formicidae) in derProvinz Preußen 35,
Blattwespen (Tenthredinidae) gegen 400 (bei Halle gegen
170), Holzwespen (Uroceridae) 25 (bei Halle 7). Ueber
die Zahl der in Deutschland vorkommenden entomophagen
Hymenopterenarten können wir nur Vermutungen auf-
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung. 287
stellen, aber sie wird sehr bedeutend sein und dürfte wohl
5000 übersteigen. Hat man doch allein für die einhei-
mischen Arten der Proctotrypidae über 130 Gattungen
errichtet, ebenso viel für die echten Ichneumoniden, 89
für die Braconiden und gar 170 für die Chalcididae, deren
Artenzahl in dem verhältnismäßig faunistisch armen Eng-
land über 1200 beträgt, so daß wir wohl kaum zu hoch grei-
fen, wenn wir die Zahl der in Deutschland vorkommenden
Arten auf 2000 schätzen. Die Zahl der Grallwespengat-
tungen (Cynipidae) ist zwar nur 24, aber dieselben sind
auch bei uns sehr artenreich.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß sehr vide
namentlich der insektenfressenden Hautflügler auch erst
nach der Waldzeit und zugleich mit ihren Wirten in
Deutschland eingewandert sind, und dasselbe dürfte bei
den bienenartigen der Fall sein, deren Bestand natürlich
in erster Linie an die quantitative Entwickelung der Honig-
blumen eines Landes gebunden ist.
Die Fliegen (Diptera) sind in unserem Vater-
lande so wenig gesammelt worden, daß wir kaum eine Ver-
mutung über die Menge (1800?) ihrer Spezies haben können,
aber es scheint, daß dieselbe derjenigen der Hymen-
opteren und Käfer beträchtlich nachsteht. Erwähnung
verdient vielleicht, daß die Zahl der glazialrelikten For-
men, welche auf den höheren Gebirgen und im Norden
zugleich vorkommen, eine verhältnismäßig bedeutende ist
und daß ebenso an salzführenden 0 ertlichkeiten einige halo-
phile Formen auftreten. Am zahlreichsten sind in unserer
Fauna die Gattungen der Raubfliegen (Tachina, gegen 250
deutsche Arten), die Blumenfliegen (Anthomyia, circa 150)
und der Schwebfliegen (Syrphus, etwa 70).
Die Geradflügler (Orthoptera einschließlich der
Pseudoneuroptera) sind in Deutschland wie in anderen
gemäßigten Ländern nur schwach vertreten: von den etwa
bekannten 5000 Arten dürften sich kaum mehr als 150
in unserem Vaterlande finden. Aber gerade in dieser
Insektengruppe und namentlich imter den Heuschrecken
und Grillen finden sich, wie für so ausgesprochene
Steppenbewohner wenig verwunderlich, nicht wenig For-
Digitized by VjOOQ IC
288 William Marshall,
men im Süden und Osten des Gebietes, die offenbar
der Kultursteppe gefolgt sind. Die Wanderheuschrecke
(Pachytylus migratorius) hat zwar schon vom Mittelalter
an gelegentliche, große Invasionen nach Mitteleuropa bis
zum Atlantischen Ozean gemacht, aber es scheint, daß sie
doch seit einer Reihe von Jahren erst in Deutschland
selbst seßhaft geworden ist und sich hier bleibend ver-
mehrt hat, was von Ostdeutschland länger bekannt war
(auch in der Umgegend Leipzigs ist das Tier nicht gerade
selten !), aber L e y d i g hat bei Bonn ihr konstantes Vorkom-
men seit 1875, Goldfuß schon ihr gelegentliches seit An-
fang der vierziger Jahre konstatiert. Eine zweite Art (P.
cinerascens) ist süddeutsch, ebenso: Nemobius silvestris,
Oecanthus pellucens, Oedipoda coerulescens , Parapleurus
typus, Stetheophyma grossum und die seltsame, bei Ameisen
hausende Myrmecophüa acervorum. Formen, welche aus
Südwesten eingewandert das Rheinthal, teilweise auch
dessen benachbarte Thäler bewohnen, sind: Phyllodroma
germanica, Ephippiger vitium (Leydig) und Caloptenus
italicus. Auch die interessante Gottesanbeterin (Mantis
religiosa) findet sich im südlichsten Rheinthal am Kaiser-
stuhl bei Freiburg i. Br., soll aber im vorigen Jahrhun-
dert bei Frankfurt a. M., selbst im heißen Mainthal bei
Würzburg (Leydig) vorgekommen sein.
Die als Larven an das Wasser gebundenen sog.
Pseudoneuropteren, zu denen u. a. die Libellen ge-
hören, sind am arten- und iudividuenreichsteninden wasser-
reichen Gegenden der norddeutschen Ebene und in den
feuchten hohen Gebirgen. Derartige Gebirgsformen sind:
Libellula rubicunda und pedemontana, Gomphus forcipatus,
Cordulegaster bidentatus, Aeschna cyanea und juncea.
Die echten Netzflügler (Neuroptera) haben, ob-
gleich sie, geologisch gesprochen, sehr altertümliche In-
sekten sind, keinen sehr großen Entwickelungsaufschwung
genommen: ihre Gesamtzahl dürfte 1000 kaum über-
schreiten und von ihnen kommen im günstigsten Falle
100 auf Deutschland, welche sich hauptsächlich aus der
Schar der Köcherjungfrauen (Phryganeidae) rekrutieren.
Südliche Formen, besonders in den Gebirgen, sind : Man-
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Tierverbreitung. 289
tispa styriaca, Coniopteryx tineiformis, Osmylus chrysops
und der schöne Ascalaphus macaronius. Von Ameisen-
löwen haben wir zwei Arten in unserem Vaterlande,
nämlich Myrmecoleon formica lynx und formicarius; der
erstere findet sich mehr im nördlichen, der letztere im
südlichen Deutschland, aber stellenweise, z. B. bei Lüne-
burg, dann, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, am
Regenstein bei Blankenburg finden sich beide neben-
einander.
Von den Halbflüglern (Hemiptera, etwa 12000
Arten im ganzen) dürften wohl, wenn wir die Blattläuse
und Schmarotzer miteinscliließen , zwischen 1500 und
2000 in Deutschland vorkommen, aber über ihre Ver-
breitung wissen wir, abgesehen von einigen besonders
hervorragenden Formen, sehr wenig. In den heißen Thä-
lem Süddeutschlands, teilweise bis Thüringen hinab finden
sich einige Südformen, *z. B. Trigonosoma nigrolineatum
(Kosen, Jena), Pirates stridulus (Rhein- und Mainthal
Leydig) und Gerris vagabundus. Eine halophile Form
ist Salda pilosa, und die Bettwanze ist, ähnlich wie die
Ratte und die Maus sowie die Hausgrille und die Küchen-
schabe, dem Menschen folgend, eingewandert.
Auch eine Reihe von Cicaden sind ihrer Herkunft
nach südeuropäisch und offenbar im Einwandern begriffen :
Tettigometra virens, Ledra aurita (im Rheinthal und seinen
Seitenthälem), Tettigonia fraxini u. a. m.
Ein genaues, gewissenhaftes Sammeln aller Ineekten-
gruppen in allen Provinzen unseres Vaterlandes wäre sehr
zu wünschen: es ist für die Wissenschaft von viel größe-
rem Belang, wenn ein Sammler nachweist, wie viel und
was für auch noch so unscheinbare Insekten überhaupt
in einem Gebiete vorkommen, als wenn er gefangene
Schmetterlinge und Käfer etwa noch so schön aufzuspannen
und Raupen noch so ausgezeichnet zu präparieren ver-
steht. Das sind Allotria, die wohl als Zeitvertreib gelten
können, aber durchaus keinen wissenschaftlichen Wert
haben.
Sehr wenig Aufmerksamkeit ist in Deutschland bis
jetzt den Tausendfüßen (Myriopoda) zugewendet wor-
Anleltang zur deutschen Landes- und Volksforschung. 19
Digitized by VjOOQ IC
290 William Marshall,
den. Latzel zählt für die österreichisch - ungarische
Monarchie 170 Arten auf, von denen bei weitem die
meisten sich in den Alpen von Krain und Kärnten und
in Dalmatien finden. Aus Deutschland dürften kaum
mehr als 66 Arten bekannt sein (nämlich 31 Chilopoda,
2 Symphylia, 3 Pauropoda und 30 Diplopoda). Die inter-
essanteste Form ist die sonderbare, langbeinige «ge-
spensterhafte" Chilopode Scutigera coleoptrata, welche
im transalpinen Europa sehr häufig ist. Sie ist in einige
Gegenden Süddeutschlands eingedrungen, z. B. findet sie
sich in Frei bürg i. Br. und im Moselthale, was auf eine
Einwanderung aus Südwest hindeutet. Latzel meint,
das Tier sei in den Gegenden Mitteleuropas zu finden,
in denen der Weiustock im großen kultiviert werde.
Meine Erfahrungen erlauben mir nicht, einen solchen Zu-
sammenhang zu konstatieren ; ich habe das Tier in Triest,
Dalmatien und auf der Insel Korfu gesammelt, aber stets
nur in Häusern. Sein gelegentliches Vorkommen in hol-
ländischen und deutschen Hafenstädten, selbst in Kopen-
hagen spricht sehr für eine Einschleppung mit mensch-
lichen Geräten und Waren.
Aus der Ordnung der Arachnoideen mögen sich
in Deutschland vielleicht gegen 20 Arten Phalangiden
und etwa 250 echte Spinnen (Araneidae) finden.
Von ihrer Verbreitung im Gebiet läßt sich nur sagen,
daß nicht wenige Formen aus Südwesten in das Rheinthal
und teilweise weiter in die Seitenthäler eingewandert sind.
So findet sich, nach Leydig, Eresus cinnaberinus im
Rheinthal, Thomisus diadema und globosus im Mainthal,
Argiope Brünnichii im Rhein- und Mainthal, Pholcus
opilionoides, Scytodes thoracica, Atypus piceus und affinis,
Micaria spien didissima und Phrurolithus corsicus nur im
Rheinthal. Manche dieser Formen mögen vom Menschen
eingeschleppt sein. Von Pholcus opilionoides glaube ich
das sicher, da dieses in Südeuropa gemeine Tier in allen
Hafenstädten Europas gelegentlich auftritt und ich traf
es auch in Mehrzahl in Friedrichroda am Thüringerwalde
in den Wohnungen von Sommerfrischlern.
Nicht besser als mit der Kenntnis des Vorkommens
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Tierverbreitung. 291
der Arten der beiden vorhergehenden Gliedertierordnungen
in Deutschland ist es mit derjenigen der Verbreitung der
Krustentiere (Crustacea) bestellt.
Der Edelkrebs (Astacus fluviatilis) tritt in zwei
Formen auf: als Steinkrebs im westlichsten Teil und als
Edelkrebs (im engeren Sinne) im übrigen Deutschland.
An vielen Stellen ist er seit einigen Jahren infolge der
Krebspest ausgestorben: Harz schätzt die Zahl der im
bayrischen Kochelsee an dieser Krankheit verendeten In-
dividuen auf 12 Millionen! Andere zehnfüßige Kruster
kommen weder im süßen Wasser noch auf dem Lande in
unserem Gebiete vor.
Die Zahl der Arten deutscher Land- und Süß-
wasserasseln dürfte 20 kaum überschreiten. Amphi-
poden finden sich in unseren Bächen, Teichen und
Brunnenstuben 3 Arten, darunter zerstreut allenthalben
im Gebiet der mehr unterirdisch lebende Gammarus
puteanus. Freilebende Spalt fußkrebse (Copepoda)
finden sich vielleicht IG im Gebiet, parasitisch an Süß-
wasserfischen lebende (die Gattungen Ergasilus, Achtheres,
Tracheliastes und Argulus bildend) etwa sechs. Von
Ostracoden sind einige 30 Arten Cypriden als deutsch
beschrieben worden, Cladoceren etwa 20, von denen manche.
z. B. Sida crystallina und Leptodora hyalina glazialrelikt
sein dürften.
Die interessantesten einheimischen Krebsformen sind
indessen Branchiopoden , nämlich 2 Arten Branchipus
(stagnalis und Grubii), 2 Apus (productus und cancrifor-
mis) und Limnadia Hermanni. Die Arten der ersten
beiden Gattungen treten gelegentlich an bestinmiten Lokali-
täten in großer Menge auf, um dann auf viele Jahre zu
verschwinden. So erschien Apus cancriformis 1826 bei
Würzburg (Leydig), verschwand wieder und wurde 1867
erst wieder aufgefunden. Bei Bonn trat er 1840 auf, ist
aber seitdem noch nicht wieder aufgefunden; 1838 erschien
er bei Hildesheim (Leunis). Vor einigen Jahren fand er
sich auch häufiger in einigen Waldpfützen der Leipziger
Umgegend. Aehnlich ist es mit dem Vorkommen der
Branchipusarten und diese Erscheinungen, die man nicht
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292 William Marshall,
auf Neuein Wanderungen zurückführen kann, wären für
solche immerhin große, nicht so leicht zu übersehende
Tiere schwer verständlich, wenn wir nicht wüßten, daß
diese Branchiopoden Dauereier legten, welche jahrelang
ruhen können, ohne sich zu entwickeln, aber auch ohne
ihre Entwicklungsfähigkeit zu verlieren. Treten günstige
Bedingungen ein, dann erscheinen auf einmal und oft in
überraschender Menge die Krebse wieder. Limnadia
Hermanni dürfte doch sehr selten sein, ich habe sie nie
gefangen, Leydig aber erwähnt ihr Vorkommen im
Rhein- und Moselthale.
Die Zahl der bei uns freilebenden Wurmarten kritisch
festzustellen, wäre schon ein nicht ganz leichtes Unter-
nehmen, um so viel schwieriger ist es aber natürlich,
über ihre Verbreitung im Gebiete gründlichen Aufschluß
zu geben.
Wasserbewohnende Ringelwürmer (Oligochaetae
limnicolae) finden sich vielleicht 15 — 18 Arten, von denen
der meist klare Brunnen bewohnende Phraeoryctes Men-
keanus der interessanteste und ansehnlichste ist. Zwei
Arten von Pachydrylus, einer Meeresbewohner umfassen-
den Gattung, wurden als halophil, die eine in der Sole
von Kreuznach, die andere von Kissingen nachgewiesen.
Landbewohnende Ringel- oder Regen würm er (Oligo-
chaetae terricolae) dürften vielleicht in 10 — 12 Arten
das ganze Gebiet bewohnen; für die Fauna der Umgegend
von Würzburg allein zählt Fraisse 6 Spezies auf.
Die freilebenden Haarwürmer (Nematoden)
Deutschlands sind noch sehr unvollständig untersucht,
aber ihre Zahl mag, wenn man die in Pflanzen vor-
kommenden Formen einmal mit dazu rechnet, nicht un-
bedeutend sein. Auch unter ihnen giebt es einzelne halo-
phile Formen. Von parasitisch im Menschen lebenden
sind einige in neuerer Zeit, wie es scheint aus Südwesten,
entlang dem Rheine bis in die Aachener Gegend vorge-
drungen.
Die blutegelartigen Würmer (Hirudinei) sind
hauptsächlich Bewohner des süßen Wassers und auch in
Deutschland verhältnismäßig gut vertreten. Der medi-
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Tierverbreitung. 293
zinische Blutegel (Hirudo medicinalis) war hier früher
weitverbreitet, ist aber durch das Sammeln für Heilzwecke
an den meisten Stellen ausgerottet. Vielleicht ist auch
er ein verhältnismäßig neuer Einwanderer aus Südosten,
wo noch mehrere sehr nahe verwandte Formen (z. B.
H. officinalis) vorkommen. Thatsache ist wenigstens, dai3
der in Norddeutschland ursprünglich häufiger als in Süd-
deutschland vorkommende medizinische Blutegel England
nicht bewohnt, und es liegt die Vermutung nahe, daß
er erst nach der Loslösung Englands vom Festlande
eingedrungen sein mag.
Ein anderer Blutegel, der Pferdeegel (Haemopis
vorax) ist in Nordafrika und Südeuropa häufig, aber sehr
selten in Süddeutschland, wo er auch neu eingewandert
zu sein scheint. Sehr gemein sind hingegen allenthalben
mehrere Arten von Aulacostoma (z. B. gulo). Auch die
Arten der Gattungen Nephelis, Clepsine, Piscicola und
der auf Edelkrebsen schmarotzenden Gattung Branchi-
obdella sind weit in Deutschland verbreitet.
Die ausgedehnten Gewässer der norddeutschen Ebene,
aber auch die Bäche und Seeen der Gebirge shid reich
an Strudelwürmern (Turbellaria), welche zum Teil glazial-
relikt sein mögen. Landplanarien sind in einigen Arten
in Deutschland hin und wieder beobachtet worden, so
Rhynchodesmus terrestris im Rhein- und Mainthal und
sonst, aber immer selten. Geodesmus bilineatus, welcher
bei Gießen und (nach Leydig) auch bei Würzburg auf
der Erde von Blumenäschen beobachtet wurde, mag mit
fremdländischen Gewächsen eingewandert sein. Auch
einige wenige Schnurwürmer (Nemertini) sind als
Bewohner unserer süßen Gewässer aufgefunden worden
{Prorhynchus stagnalis und von Leydig im Main P. flu-
viatilis).
Von den schmarotzenden Plattwürmem wollen wir
nur den breiten Bandwurm (Bothriocephalus latus) her-
vorheben, der als deutsch früher nur aus den Küsten-
ländern der Nord- und Ostsee bekannt war, aber in
Süddeutschland erst vor wenigen Jahren, obwohl er schon
lange als in der Nachbarschaft der Schweizer Seeen lebend
Digitized by VjOOQ IC
294 William MarahaJl,
nachgewiesen worden war, und zwar in der Umgegend
des Starnberger Sees aufgefunden ist. Er lebt bekannt-
lich als Finne im Fleisch verschiedener Süßwasserfische,
und Leukart möchte vermuten, daß das Tier nach Süd-
deutschland eingeschleppt wurde, vielleicht von Sommer-
frischlern, die aus Norddeutschland oder Rußland stammten
und sich in ihre Heimat infiziert hatten. Die Eier des
Wurms gelangten ins Wasser, die Embryonen in die ge-
eigneten Fische, mit denen sie, zur Finne geworden, wie-
der vom Menschen verspeist wurden und in diesem sich
zum Wurm entwickeln konnten.
Hohltiere (Coelenterata), so mächtig im Meere
entwickelt, haben sich bekanntlich an ein Leben im süßen
Wasser in nur sehr bescheidener Zahl angepaßt. Drei
Arten des Süßwasserpolyps (Hydra viridis, grisea und
vulgaris) bewohnen gelegentlich und in verschiedener
Häufigkeit die geeigneten Gewässer wohl des ganzen Ge-
biets. Im Mansfelder salzigen See fand ich eine Zwerg-
form der grünen Hydra, welche ich als Hydra viridis var.
Bakeri beschrieb.
In neuerer Zeit hat ein sehr interessanter Polyp
(Cordylophora lacustris) angefangen sich unserer
Süßwasserfauna zuzugesellen. Zuerst wurde das Tier
vor langen Jahren schon von Agardh im Meere an der
norwegischen Küste entdeckt und als Tubularia comea
beschrieben. Allman fand es 1854 an den Docks zu
Dublin, dann wurde es im unteren Teil der Themse
4iufgefunden. Kirchenpauer beobachtete es 1861 an den
Seetonnen der Eibmündung, 1868 bei Blankenese und
gegenwärtig ist der rasenartige Kolonieen bildende Polyp
in Hamburg so häufig, daß er bisweilen die Röhren der
Wasserleitung verstopft. Ende der siebziger Jahre wurde
das Tier bei Halle, 1880 vonRiehm in den Mansfelder
Seeen gefunden. Auch in der Spree und im Tegelsee wurde
die Gegenwart des interessanten Geschöpfes nachgewiesen.
Wir haben es hier also mit einer ähnlichen Erscheinung
des Einwanderns vom Meere her in das süße Wasser
wie bei den beiden Stichlingarten und bei der Dreissena
polymorpha zu thun.
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung. 295
Süßwasserschwämme (Spongillidae) werden
in ganz Deutschland aber in verschiedener Häufigkeit
angetroffen. Sehr stattliche Exemplare erhielt ich nament-
lich aus der Trave bei Lübeck, lieber die Zahl der
berechtigten Arten unserer Spongillen sind die Ansichten
sehr geteilt: ich möchte nur 2 gelten lassen, VejdoTsky
nimmt für Böhmen 5, Retzer für Deutschland 8 Arten
an. Noll fand in Rheintümpeln oberhalb St. Goar 7 yer-
schiedene ,, Formen", deren Wert als Spezies bez. Varietät
er unentschieden läßt.
Die Urtiere (Protozoa), so interessant und wich-
tig ihr Studium auch sonst ist, bieten betreffs ihrer Ver-
breitung kaum ein Interesse, die meisten Formen dürften
sogar Kosmopoliten sein. Nur mag vielleicht darauf hin-
zuweisen sein, daß Moorwässer besonders reich, nament-
lich an Heliozoen zu sein pflegen.
Vieles ist schon gethan, unsere Kenntnis über das
Vorkommen der Arten der einzelnen Tiergruppen in den
verschiedenen Teilen unseres Vaterlandes zu begründen,
zu erweitern und zu befestigen; aber vieles, sehr vieles
bleibt noch zu thun übrig. Nach zwei Richtungen hin
müssen die Untersuchungen sich noch er weitem: einmal
müssen noch zahlreiche Ordnungen und Familien der
niederen, stellenweise aber auch der höheren Tierwelt
gesammelt und beobachtet werden, dann aber sind uns
noch ganze Striche unseres Vaterlandes betreffs ihrer
Fauna so gut wie unbekannt. Der größte Teil der nord-
deutschen Heide und der Marschen, der bayrischen Hoch-
moore, des Vogels-, Fichtel- und Erzgebirges sind uns
faunistisch noch ziemliche terrae incognitae! Nun ist es
freilich für den einzelnen Privatmann schwer, ja unmöglich,
die ganze Fauna eines Gebietes zu bearbeiten, schon das
Zusammenbringen der nötigen einschlagenden Litteratur
ist eine Klippe, um die er schwer, ja niemals ganz herum-
kommen wird, und dann würden selbst flir den Zoologen
von Fach die Schwierigkeiten, alle Gruppen gleichmäßig
Digitized by VjOOQ IC
296 William Marsfaall,
bearbeiten zu können, ein unübersteigliches Hindernis
bilden, geschweige denn für den sammelnden Liebhaber.
Aber ich glaube, es ließe sich bei geschickter Arbeits-
teilung doch Großes erreichen. Die Zeiten sind freilich
nicht danach angethan, daß die betreffenden Landesregie-
rungen sich groß der Sache annehmen können, abgesehen
davon, daß in vielen und nicht am wenigsten in maß-
gebenden Kreisen das Interesse für die Naturwissenschaften
überhaupt und für die Zoologie im besonderen ein äußerst
geringes genannt werden muß. Die Interessenten müssen
sich selbst helfen, und diese Selbsthilfe denke ich mir
etwa so: es giebt in unserem Vaterlande genug Spezia-
listen auch für die kleinste Tiergruppe; diese müßten
zusammentreten und gewissermaßen eine zoologische Lan-
desuntersuchungskommission bilden; Liebhaber aber, die
es doch fast aller Orten giebt und die mit etwas Mühe
auch noch reichlicher zu beschaffen wären, müßten alles,
was ihnen überhaupt faunistisch vorkommt, sammeln und
mit genauer Angabe des Ortes und der Zeit des Fundes
an eine Zentralstelle einsenden, welche nun ihrerseits die
Tiere ordnungs- oder familienweise an die betreffenden
Spezialisten der Untersuchungskommission weiterzusenden
haben würde. Diese würden über alle Eingänge genau
Buch führen und die eingegangenen Objekte könnten dann
bestimmt an den Sammler wieder zurückgehen. Je mehr
„speziellere Spezialisten'', um mich so auszudrücken, sich
für diesen Plan gewinnen ließen, desto leichter, aber auch
desto größer und sicherer würden die Erfolge sein. Ich
hege die Ueberzeugung, daß ein Naturforscher von orga-
nisatorischem Geschick bei dem großen allgemein wissen-
schaftlichen Interesse, das, Gott sei Dank! die meisten
unserer deutschen Forscher beseelt, unschwer die geeig-
neten Kräfte, sowohl die sammelnden als die bearbeiten-
den, zusammenbringen könnte. Hauptsächlich denke ich
betreffs der sammelnden an unseren intelligenten, über
ganz Deutschland ziemlich gleichmäßig verteilten Lehrer-
stand, der ja jetzt schon unter allen Berufsklassen den
größten Prozentsatz der Schar von Sammlern und Lieb-
habern bildet.
Digitized by VjOOQ IC
Tierverbreitung. 297
Ein Hauptaugenmerk müMen die betreffenden Lokal-
forscher auch auf die Veränderung der Lokalfauna zu
werfen haben : welche Formen nach und nach und zufolge
welcher Bedingungen wohl seltener oder häufiger werden,
welche verschwinden und welche neu auftreten, — das
alles sind nicht so schwer anzustellende Beobachtungen
von größter allgemeiner Bedeutung. Wenn dieselben
durch mehrere Generationen hindurch fortgesetzt würden,
könnten wahrscheinlich sehr überraschende Thatsachen an
das Licht gebracht werden.
Nur mit vereinten Kräften und geteilter Ar-
beit dürfen wir hoffen, nach und nach die wünschens-
werte und wissenswürdige Kenntnis der Verbreitung der
Tiere in unserem Vaterlande zu erlangen!
Hauptlitteratur.
Allgemein:
Leydig, F.: Verbreitung der Tiere im Rhöngebirge und Main-
tlial etc. Verh. d. nat. Ver. Jahrg. XXXVIII, 4. Folge, 8. Bd.,
S. 43-183. (Sehr wichtig!)
Säugetiere:
BlasiuB, J. H.: Naturgeschichte der Säugetiere Deutschlands.
Braunschweig 1857. Zahlreiche Verzeichnisse von Lokalfaunen.
Vögel:
Naumann, J. S.: Naturgeschichte der Vögel Deutschlands u. s. w.
G loger, C. C: Vollständiges Handbuch der Naturgeschichte der
Vögel Europas. Viele Lokalfaunen.
Reptilien:
Leydig, F.: Die in Deutschland lebenden Saurier. Tübingen 1871.
Außerdem Verzeichnisse von Lokalfaunen.
AmphibieE:
Knauer, Fr. K.: Naturgeschichte der Lurche. Wien 1878.
Leydig, F.: Anure Batrachier der deutschen Fauna. 1877.
— Die Molche der württembergischen Fauna. Berlin 1868. Lokal-
verzeichnisse.
Digitized by VjOOQ IC
298 Wüliam Marshall.
Fische:
V. Siebold, C. Th.: Die Süßwasserfische von Mitteleuropa. Leipzig
1868. Lokal Verzeichnisse.
Mollusken:
Ol essin, 8.: Deutsche Exkursions-Molluskenfauna. Nürnberg 187(5.
Sehr zahlreiche Lokalverzeichnisse.
Insekten:
Abgesehen von einer außerordentlich großen Menge von Ver-
zeichnissen von Lokalfaunen wären zu vergleichen:
Speyer, Ad. u. Aug.: Die geographische Verbreitung der Schmet-
terlinge in Deutschland und der Schweiz (Tagfalter, Schwärmer,
Spinner und Eulen). 2. Bd. Leipzig 1858.
Hofmann, £.: Isoporien der europäischen Tagfalter. Jenaische
Doktordissert. 1873.
Die Insekten Deutschlands. Käfer begonnen von Erichson,
fortgesetzt von Schaum, Kraatz, Kiese wetter. Berlin von
1848 an. Unvollendet.
Redtenbacher, C: Fauna austriaca, Käfer. Wien 1858.
Taschenberg, £. L.: Die Hymenopteren Deutschlands. 1866.
M eigen, J. W.: Systematische Beschreibung europäischer zweifl.
Insekten. Hamm 1818—38.
Schiner, R.: Fauna austriaca, die Fliegen. Wien 1860.
Tansendfäfse:
Latzel, R.: Die Myriopoden der österreichisch-ungar. Monarchie.
2 Bde. Wien 1880—84.
Spinnen:
Hahn, C. W., und Koch, C. C: Die Arachniden u. s. w. Nürnberg
1831—49.
Ohlert, E.: Preußische Spinnen. Verh. d. zoolog.-botan. Vereins
Wien IV.
lieber die übrigen Tierordnungen fehlen zusammenfassende
Monographieen , welche hauptsächlich auch die Verbreitung mit
umfassen.
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üeber das Einsammeln von zoolo-
gischem Material in Flüssen und
Seeen.
Von
Dr. Otto Zacharias
in Hirachberg i. Schi.
Digitized by VjOOQIC
Digitized by VjOOQ IC
Zur Mitarbeit auf demjenigen Gebiete landeskund-
licher Forschung, welches Zoologie und Botanik umfaßt,
Bind neben den eigentlichen Fachgelehrten auch die zahl-
reichen Naturfreunde berufen, welche erfahrungsgemätB
unter den Berg- und Forstbeamten, den Landwirten, In-
genieuren und Feldmessern, sowie unter den berufsmäßi-
gen Fischern imd Fischzuchten! anzutreflFen sind. Es
giebt unter diesen Leuten einzelne, welche mit einem
hochgradig entwickelten Beobachtungstalent ausgestattet
sind, so daß es geradezu als ein Verlust für die Wissen-
schaft zu betrachten wäre, wenn man es verschmähte,
Kräfte dieser Art in den Dienst der ernsten Forschung
zu stellen. Wir wissen heutzutage ganz genau, daß es
ein folgenschwerer Irrtum ist zu glauben, die Fähigkeit
zum Beobachten und Experimentieren könne nur auf einer
sogenannten „höheren Schule** und durch den nachfolgen-
den akademischen Unterricht erworben werden; die Um-
schau in der praktischen Sphäre des Lebens zeigt uns
vielmehr auf Schritt und Tritt, daß es Fabrikanten, Land-
wirte und Gewerbtreibende giebt, welche es in Bezug auf
Sinnesschärfe und kombinierende Verstandesthätigkeit ganz
getrost mit manchen Fachgelehrten aufnehmen können.
Es ist darum ein ausgezeichneter Gedanke der Central-
kommission für wissenschaftliche Landeskunde gewesen,
im Rahmen des vorliegenden Werkes eine gemeinver-
ständliche Anleitung zum Beobachten und Forschen auf
den verschiedenen Spezialgebieten zu geben, denn auf
solche Weise wird nicht bloß wahre Liebe zur Wissen-
schaft erweckt, sondern auch dafür gesorgt, daß der Laie
Digitized by VjOOQ IC
302 Otto Zacharias,
einen Begriff davon erhält, wie er sich nach Maßgabe
seiner Fähigkeiten an der Förderung dieses oder jenes
Wissenschaftszweiges beteiligen kann. Es sind oft nur
einige Fingerzeige notwendig, um jemanden auf den Weg
zu bringen, der zu wirklichen Erfolgen fOhrt — voraus-
gesetzt natürlich, daß der Betreffende denjenigen Grad
von Energie entfaltet, ohne den überhaupt wissenschaft-
liche Bestrebungen undenkbar sind.
Zum , Naturforscher" auf zoologischem Gebiet
— wovon im Nachstehenden hauptsächlich die Rede sein
soll — gehört in erster Linie eine Orientierung über die
Hauptvertreter der verschiedenen Klassen und Ordnungen
des Tierreichs, wie sie aus einem der neueren Lehrbücher
ohne große Schwierigkeit erlangt werden kann. Auch
wenn man sich der Erforschung und Einsammlung von
nur wenigen, engbegrenzten Gruppen der Fauna widmet,
ist es nützlich, sich über die näheren und ferneren Ver-
wandtschaftsbeziehungen derselben im System zu infor-
mieren. Dadurch erwirbt man eine Summe von wirk-
lichen Kenntnissen im Gegensatz zu dem bloß ober-
flächlichen Wissen vieler Sammler und naturforschenden
Dilettanten. Indessen würde ein ganz gründliches syste-
matisches Studium irgend einer Tiergruppe beim gegen-
wärtigen Stande der zoologischen Wissenschaft lediglich
nur auf Grund mikroskopisch-anatomischer und entwicke-
lungsgeschichtlicher Studien möglich sein, so daß die Mit-
wirkung von Laien auf diesem schwierigen Gebiete so
gut wie gänzlich ausgeschlossen ist.
Es giebt aber ein Feld innerhalb der Zoologie, auf
welchem die fleißige Mitwirkung gebildeter Laien und
Naturfreunde nicht bloß zulässig, sondern sogar sehr er-
wünscht ist. Dasselbe umfaßt alle Bemühungen, welche
auf die Erforschung der geographischen Verbreitung
bereits bekannter Tiere gerichtet sind, und ist groß ge-
nug, um vielen freiwilligen Mitarbeitern reichliche Be-
schäftigung zu gewähren. Es ist einleuchtend, daß eine
Kenntnis der Art und Weise, wie sich die einzelnen
Arten über ein großes Territorium verteilen, an und
für sich ein würdiger Gegenstand für die wissenschaft-
Digitized by VjOOQ IC
Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 303
liehe Landeskunde ist, denn eine solche Kenntnis setzt
spätere Beobachter in den Stand, aus den in der Ver-
teilung etwa eingetretenen Veränderungen Schlüsse zu
ziehen, welche auf die klimatischen Verhältnisse und die
Beschaflfenheit der Erdoberfläche in einer früheren Periode
helles Licht werfen. Einer unserer trefflichsten Forscher,
Fr. Leydig, hat darum mit vollem Rechte gesagt: „So
lange es ein Studium der Zoologie geben wird, bleiben
die Nachforschungen nach den Linien der Ausbreitung
einer Tierart von W^ert.** Derselbe verdienstvolle Ge-
lehrte, dem wir zahlreiche und wichtige Entdeckungen
auch auf dem speziellen Gebiete der heimatlichen Tier-
geographie verdanken, hat sich über den Wert zoologi-
scher Exkursionen, welche die Erforschung der Aus-
breitung einheimischer Spezies zum Zwecke haben, wie
folgt ausgesprochen. „Solche Studien — sagt er — streifen
nicht selten die ersten und letzten Fragen der Biologie.
Unsere Vorstellungen bezüglich des letzten Grundes tieri-
scher Gestaltung müssen beeinflußt werden durch die
Wahrnehmungen über Anpassung an einzelne Oertlich-
keiten und die hiervon bedingte Abhängigkeit zu leben.
Femer, da man die untergegangene Tierwelt immer nur
im Zusammenhange sowohl unter sich, als auch mit der
lebenden vor Augen behalten soll, so werfen solche For-
schungen Licht auf die zunächst vorausgegangenen Wand-
lungen der Erdoberfläche. Zuletzt liel.se sich zu gunsten
derartiger Studien noch geltend machen, daß neben dem
eigentlichen wissenschaftlichen Gewinn selbst für das ge-
wöhnliche tägliche Leben mancherlei Nutzen abfallt. Die
Kenntnis der naturhistorischen Beschaffenheit der nächsten
Umgebung kann dazu dienen, schädlichen Einwirkungen
vorzubeugen und andererseits das Wohl des Einzelnen
und des Ganzen zu erhöhen" ^).
Tiergeographische Studien bilden somit ein aner-
kanntes und interessantes Arbeitsfeld für den Zoologen
*) Ueber Verbreitung der Tiere im Rhöngebirge und Main-
tlial mit Hinblick auf Eitel und Rheintbal. Yerhandl. des natur-
histor. Vereins der preuß. Rheinlande U.Westfalens. 38. Bd. 1881.
Digitized by VjOOQ IC
304 Otto Zacharias,
von Fach, auf welchem er sehr gerne die Mithilfe ver-
ständnisvoller Naturfreunde in Anspruch nimmt. Leute
in Berufsstellungen, durch welche sie in beständigem
Verkehr mit Wald, Wiese und Feld oder mit Seeen und
Teichen gebracht werden, kommen häufig in die Lage,
Beobachtungen bez. Funde zu machen, welche wissen-
schaftlich wertvoll sind. Solche Beobachtungen gilt es
für den zoologischen Teil der Landeskunde fernerhin nutz-
bar zu machen.
Insbesondere erscheint es mir geboten, die Mitwirkung
weiterer Kreise zur immer genaueren Erforschung der
einheimischen Süßwasserfauna anzubahnen. Wir sind
zur Zeit weder vollkommen über deren durchschnittliche
Zusammensetzung unterrichtet, noch besitzen wir eine
irgendwie vollständige Kenntnis der geographischen Ver-
breitung der einzelnen Spezies von Würmern, Krebs-
tieren und Protozoen, aus denen jene Fauna vorwie-
gend besteht, wenn wir von den Fischen absehen, die
aus Nützlichkeitsrücksichten am besten bekannt gewor-
den sind.
Im Hinblick auf den Umstand freilich, daß die Tier-
welt unserer Gräben, Tümpel, Teiche, Seeen und Fluß-
läufe auch zahlreiche sehr winzige Bürger umfaßt, wäre
es wünschenswert, daß die Bekanntschaft mit der Hand-
habung des Mikroskopes in den gebildeten Kreisen des
Volks eine allgemeinere wäre als sie es thatsächlich ist.
Bei der außerordentlichen Billigkeit der Preise, für die
man jetzt Instrumente haben kann, welche eine ganz treff-
liche Leistungsfähigkeit besitzen, sollte man annehmen,
daß es der Ehrgeiz jeder wahrhaft gebildeten Famiüe
sein müßte, ein Mikroskop im Hause zu haben. Leider
ist dies in Deutschland noch keineswegs der FaU, und
dies ist ein großes Hemmnis für die Ausbreitung ge-
diegener naturwissenschaftlicher Belehrung. Unterscheidet
sich doch die wissenschaftliche Betrachtung der kleineren
Naturgegenstände hauptsächlich dadurch von einer bloß
laienhaften Beaugenscheinigung derselben, daß sie mit
bewaffnetem Auge erfolgt und so zu klareren Vorstellungen
führt als die bloß oberflächliche Kenntnisnahme, welche
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 305
im gewöhnlichen Leben an der Tagesordnung ist. Min-
destens muß derjenige, welcher sich als Sammler an der
Erforschung unserer (zum Teil mikroskopischen) Süß-
wasserfauna beteiligen will, im Besitz einer vorzüglichen
Lupe oder eines jener kleinen Schülerinstrumente sein,
die vom Optiker Paul Wächter in Berlin fabrikmäßig
hergestellt und billigst geliefert werden. Ohne ein der-
artiges Vergrößerungsglas würde man oft gar nicht in
Erfahrung bringen können, ob sich die Abfischung eines
Teiches oder Tümpels lohnt.
Bevor ich nun darlege, wie man im Speziellen dabei
verfährt, wenn man aus einem Flusse oder See zoologi-
sches Untersuchungsmaterial entnehmen soll, werde ich
in aller Kürze schildern, wie sich das Tierleben in einem
größeren Wasserbecken gestaltet. Denn natürlich muß
man erst wissen, Wo man die verschiedenen Vertreter
der Wasserfauna zu suchen hat, ehe man das Geschäft
des Sammeins erfolgreich betreiben kann. Ich stelle mir
bei dieser Schilderung einen wißbegierigen Laien vor, der
noch gar keine Routine in der Ausführung von faunisti-
schen Exkursionen besitzt, jemanden also, dem ich das
ABC des dabei einzuschlagenden Verfahrens beizubringen
habe. Für Fachzoologen ist diese Anleitung nicht be-
stimmt; indessen habe ich in meiner Praxis mehrfach die
Wahrnehmung gemacht, daß es auch unter meinen ver-
ehrten Kollegen Leute giebt, welche sich linkisch an-
stellen, wenn man sie in ein Boot setzt, mit den nötigen
Fangutensilien versieht und nun ersucht, selbstthätig an
der Abfischung des betreffenden Sees teilzunehmen. Es
giebt viele, denen solche Bootfahrten sehr unbequem sind,
und doch wüßte ich nicht, was reizvoller sein könnte als
die sonnige Oberfläche, die dämi|[^ernde Tiefe und das
Pflanzenreiche Uferwasser eines großen Weihers in Bezug
auf deren verschiedenartige Bewohnerschaft abzusuchen.
Es sind das Stunden, in denen man sich eines engeren
Zusammenhanges mit der Natur bewußt wird, und wo
man in die an den Erdgeist gerichteten Worte Fausts
mit einstimmen möchte, welche jenem Gefühle in so
poetischer Weise Ausdruck geben:
Anleitung zur deutschen Landes- und Volksfonohung. 20
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306 Otto Zacharias,
,Da führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen."
Eine Brüderlichkeit bestellt in der That zwischen allen
Wesen, deren Körper — mag er winzig oder kolossal
sein — bestimmten äu&eren Verhältnissen angepaßt ist,
imd die Abhängigkeit des Menschen von seinen kompli-
zierten Existenzbedingungen findet ihr vollkommenes Ana-
logon in der Art und Weise, wie die verschiedenartigen
Mitglieder der Tierwelt teils voneinander, teils aber auch
von dem umgebenden Medium abhängen, auf das sie (ihrer
Organisation nach) angewiesen sind.
Einen tieferen Einblick in diese Abhängigkeitsbeziehun-
gen gewinnen wir nur, wenn wir die einzelnen Arten
an ihren Wohnplätzen in der freien Natur aufsuchen, und
hierin besteht der Hauptnutzen, den faunistische Ex-
kursionen für den angehenden Forscher, für den Studen-
ten der Zoologie besitzen. Wissen wir doch durch Dar-
wins epochemachende Arbeiten, daß die wichtigste aller
Beziehungen im Kampfe ums Dasein diejenige von Or-
ganismus zu Organismus ist ^), und es ist außerordentlich
lehrreich, unsere speziellen Kenntnisse nach dieser Rich-
tung hin zu bereichem.
Ein großer See ist gleichsam eine Welt für sich,
und es wird eine gute Vorschule für umfassendere bio-
logische Studien sein, wenn jemand damit beginnt, sich
über die Fauna unserer einheimischen Wasserbecken
gründlich zu orientieren. Er wird dadurch, wie schon
eingangs betont wurde, auch der Landeskunde einen nicht
zu unterschätzenden Dienst leisten, insofern unser Wissen
über die geographische Verbreitung niederer Tiere dabei
gleichzeitig Förderung erfährt.
Sehen wir nun zu, welche Lebensbedingungen ein
See seinen Bewohnern darbietet und inwiefern die Fauna
in ihrer Zusammensetzung sowohl wie auch nach Gestalt
und Bau ihrer Repräsentanten von jenen Bedingungen
abhängig erscheint.
*) Ch. Darwin, Entstehung der Arten. 4. (deutsche) Aus-
gabe. 1870, S. 195 u. 381.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 307
In jedem großen Binnensee kann man (wie in einem
Meeresbecken) drei verschiedene Regionen unterscheiden:
1. diejenige des Ufers, 2. diejenige des freien Wassers
und 3. eine Tiefenregion.
Die Litoralregion (Uferzone) umfaßt den ganzen
Rand des Sees und scha£Pt wegen ihrer wechselnden Kon-
figuration und Bodenbeschaffenheit die mannigfaltigsten
Wohngebiete flir Schlamm- und Wassertiere. In dieser
Zone, deren Breite man wohl zu 10 — 15 m ansetzen darf,
herrscht eine große Verschiedenheit der Tiefenverhältnisse,
je nachdem der Seerand steiler abfallend oder mäßig ge-
neigt ist. Kleine in das Land einschneidende Buchten
gestatten das Aufkommen von üppigem Pflanzenwuchs
und bilden Schlupfwinkel und Brutstätten für solche
Wesen, welche der starke Wellenschlag vernichten würde.
Im allgemeinen ist der Boden der Litoralzone durch eine
thonige oder sandige Ghmndmasse charakterisiert, in der
sich Gferöllstücke, größere Steine und oft sogar mächtige
Pelstrümmer eingelagert finden. Weiter nach der Mitte
hinaus ist der Boden vieler unserer Seeen mit Armleuchter-
gewächsen oder mit den schnittlauchähnlichen Büscheln
des Karpfenfams bestanden, so daß man in der Tiefe
einen grünen Teppich ausgebreitet zu sehen meint. Durch
den Vegetationsprozeß dieser Gewächse wird das Ufer-
wasser mit einem beständigen Ueberschuß an Sauerstoff
versehen, und damit ist eine Hauptbedingung zur Ent-
faltung eines reichen Tierlebens erfüllt. Hierzu kommt
noch der Umstand, daß manche Binnenseeen von manns-
hohen Schilfwällen umsäumt sind, deren dichtes Wurzel-
geflecht für zahlreiche Lebewesen ein sehr willkommener
Aufenthaltsort ist. Im Bereiche der Litoralzone wird
man während der Sommermonate niemals vergeblich
fischen, denn hier wimmelt es in der heißen Jahreszeit
von großem und kleinem Getier der verschiedensten Art.
Als Fanggerät benutzt man ein Handnetz aus feiner
Müllergaze, welches man je nach Bedürfnis an einen
längeren oder kürzeren Stab anschraubt. Damit unter-
fährt man die im Wasser flottierenden Gewächse, streift
die Hornkraut- und Potamogetonranken ab, schwingt es
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308 Otto Zacharias,
in verschiedenen Tiefen durchs Wasser und entleert dann
seinen Inhalt in die bereit stehenden Glasgefässe. Nun
erst gewahrt man, wie ergiebig der Fang gewesen ist.
Kleine Fische schießen zwischen Hunderten von Wasser-
wanzen (Notonectiden) und Wassermilben (Hydrach-
niden) hin und her. Zahlreiche Insektenlarven,
Wasserkäfer und niedere Krebstiere werden gleich-
falls in den Gläsern sichtbar; dazu kommen langsam da-
hingleitende oder lebhaft sich schlängelnde Würmer
(Planarien, Naiden und Anguilluliden) ; an den Wänden
der Gefässe sich festheftende Armpolypen (Hydren) und
Schnecken, ungerechnet des Heeres von mikroskopischen
Urtieren (Protozoen), welche man erst bei mikroskopi-
scher Besichtigung entdeckt. Eine den Laien verwirrende
Fülle von animalischem Leben haben wir binnen wenigen
Minuten aus dem Wasser gehoben, und wenn wir einen
Blick auf die verschwindend kleine Fläche werfen, welche
wir mit unserem Netze abgefischt haben, so lehrt uns
eine kurze Ueberlegung, daß in einem großen Binnensee
hundert und aber hundert Zentner solcher Tiere vorhan-
den sein müssen. Und nim erhalten wir auf einmal einen
Begriff davon, wie die vielen Tausende von großen und
kleinen Fiächen, welche jeden unserer größeren Seeen
bevölkern, ausreichend ernährt werden können, was ja
sonst ein vollkommenes Rätsel wäre.
Zur Uferfauna gehören auch die interessanten Kolo-
nieen der Moostierchen (Bryozoen), welche man an
Brückenpfeilern, imtergetauchten Holzstücken und vor
s^em an der Unterseite von Seerosenblättern häufig an-
trifft. Wie arten- und varietätenreich die einheimische
Bryozoenfauna ist, haben wir erst neuerdings aus dem
treff'lichen und mit vorzüglichen Abbildungen ausgestat-
teten Spezial werke des Professors KarlKräpelin (Ham-
burg) zu ersehen Gelegenheit gehabt^).
Zur Erzielung eines möglichst reichen Fangergeb-
nisses wird es rätlich sein, sich eines Nachens zu be-
') Die deutschen Süßwasserbryozoen. Eine Monographie von
K. Kräpelin. Teil I. 1887.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 309
dienen und den betreffenden See in seinem ganzen Um-
fange zu durchforschen. Dies ist selbstyerständlich nicht
das Werk eines einzigen Tages; eine Arbeit dieser Art
erfordert vielmehr Wochen, wenn sie einigermaßen gründ-
lich sein soll. Um sich über die Tierwelt eines Wasser-
-beckens von 2000—3000 Morgen Fläche zu orientieren,
•werden wiederholte Besuche zu verschiedenen Jahreszeiten
nötig sein, wenn es sich um eine systematische Aufnahme
des faunistischen Inventars desselben handelt. Aug. Forel
zu Morges hat uns in seinen ausgezeichneten Arbeiten
über den Genfer See gezeigt, wie umständlich derartige
Untersuchungen vorzunehmen sind, wenn dieselben dauern-
den wissenschaftlichen Wert besitzen sollen *). Ich selbst
habe mich bei meiner Durchforschung der holsteinischen,
mecklenburgischen und westpreußischen Seeen nur um
einige wenige Gruppen von niederen Tieren (Strudel-
würmer, Rädertiere, Wassermilberf und Krustaceen) ge-
kümmert, aber ich muß doch sagen, daß mehrere Monate
nicht hingereicht haben, um die sich über ein Terrain
von 90 Meilen Länge erstreckende Exkursion in allen
Teilen mit gleicher Gründlichkeit durchzuführen^).
Dies erwähne ich bloß um zu zeigen, daß die Thätig-
keit des Naturforschers bei der Beschäftigung mit unserer
einheimischen Süßwasserfauna ernste Anstrengungen ver-
langt, wenn die Ergebnisse der aufgewandten Zeit ent-
sprechen sollen.
Der Neuling auf dem . Gebiete, welches ich durch
diese Anleitung dem populären Verständnis recht weit,
erschließen möchte, muß sich vor allen Dingen mit den
Hauptvertretem unserer Wasserfauna bekannt machen.
Denn sonst ist er nicht in der Lage, zwischen Selten-
heiten und ganz gewöhnlichen Vorkommnissen einen
Unterschied zu machen. Zum Behufe einer derartigen
ganz elementaren Orientierung möchte ich auf ein neuer--
2) 0.
.Forel, Mat^riaux p. servir ä Tätude du LacL^man. 1876.
Zacharias, Zur Kenntnis der pelagischen und lito-
ralen Fauna norddeutscher Seeen« Zeitschr. f. wissensch. Zoologie,
45. Bd. 1887.
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310 Otto Zacharias,
lieh erschienenes Buch von Dr. W. Heß (Das Süßwasser-
aquarium und seine Bewohner, 1886) verweisen. Handelt
es sich dann weiterhin um eine Einführung in die mikra-
akopische Tier- und Pflanzenwelt des Süßwassers, so giebt
es kein geeigneteres Vademekum als das von Dr. 0.
Kirchner und Dr. F. Blochmann herausgegebene zwei-
bändige Werk, welches unter dem Titel «Die mikrosko-
pische Pflanzen- und Tierwelt des süßen Wassers" 1885
und 1886 erschienen ist. Die dem Texte beigefügten
Figurentafeln sind Meisterwerke der Lithographie. Ein
dritter Band (Krebstiere und Würmer umfassend) ist in
Vorbereitung und dürfte im Laufe nächsten Jahres (1889)
in den Buchhandel gelangen, lieber die Kruster, welche
unsere Gewässer bevölkern, kann sich der Anfänger iu
ganz vorzüglicher Weise auch durch ein eigens zum po-
pulären Gebrauch verfaßtes Werk von Professor Anton
Fritsch in Prag (Die^ Krustentiere Böhmens, 1871) unter-
richten. Er wird in demselben die bekanntesten Vertreter
der Krebsfauna sehr naturgetreu abgebildet und trefflich
beschrieben finden. Ist es einem oder dem anderen der
geehrten Leser darum zu thun, sich mit der Handhabung
des Mikroskops zu wissenschaftlichen Zwecken eingehend
bekannt zu machen, so gestatte ich mir auf einen Leit-
faden zu verweisen, welchen ich selbst herausgegeben
habe. Er führt den Titel „Das Mikroskop und die wissen-
schaftlichen Methoden der mikroskopischen üntersuchui]^*
und ist 1884 in 4. Auflage erschienen^). Ich glaube in
diesem Buche alles mitgeteilt zu haben, was für einen
angehenden Naturforscher von Wichtigkeit ist
Befindet man sich auf Reisen und ist es nicht an-
gängig, sich in der Nähe eines Sees so lange aufzuhalten,
bis ein Kahn beschafft werden kann, so muß man sich
damit begnügen, die Uferzone vom Lande aus abzufischen.
Zu diesem Zwecke sind die von E. Thum (Mikroskopi-
sches Institut, Leipzig) beziehbaren, und aus Messingblech
angefertigten Netzstöcke ausgezeichnet zu gebrauclien,
insofern dieselben je nach Bedarf (wie ein Fernrohr) ver-
*) Verlag von Arthur Felix in Leipzig.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 311
kürzt oder verlängert werden können. Ihre MaxiraaUänge
beträgt 3 m, und so ist es möglich, nüt Hilfe derselben
auch von einem steilen Seerande aus das Wasser zu er-
reichen. Im vollständig zusammengeschobenen Zustande
hat ein derartiger Netzstock die Dimensionen eines kräf-
tigen Wanderstabes und vermag auch die Bolle eines
solchen zu spielen.
Verfügt jemand über ansehnlichere Mittel zur Aus-
rüstung, und handelt es sich um die Erforschung einer
großen Anzahl nahe bei einander liegender Seeen, so ist
die Anschaffung eines zerlegbaren Bootes anzuempfehlen,
welches leicht von Ort zu Ort transportiert werden kann.
Dergleichen Fahrzeuge sind zu sehr mäßigen Preisen von
der Berthon-Boat-Company zu Romsey (Hamshire, Eng-
land) zu beziehen. Durch dieselbe Fabrik sind (speziell
für zoologische Exkursionen konstruiert) kleine Böte zu
haben, welche ein so geringes Gewicht besitzen, daß für
jedes derselben ein einziger Träger hinreicht. Der Preis
eines derartigen Vehikels ist etwa 180 Mark. Die ge-
nannte Firma versendet übrigens illustrierte ICataloge, so
daß man sich vollständig über Größe und Bauart des an-
zuschaffenden Fahrzeugs vorher informieren kann. Ich
bin schon mehrfach in die Lage gekommen, die englische
Bezugsquelle zu empfehlen, und habe dann später ver-
nommen, daß die Käufer zufrieden gewesen sind.
Um die mikroskopischen Bewohner der Uferzone in
möglichst großer Menge zu erbeuten, bedient man sich
eines sehr einfachen Fangapparates, nämlich einer finger-
dicken Glasröhre von mindestens l^/s m Länge. Die-
selbe führt man in einem Blechfutterale bei sich, um sie
vor dem Zerbrechen zu schützen. Diese Röhre verschließt
man am oberen Ende durch den aufgedrückten Daumen
und senkt sie im seichten Wasser bis dicht über den mit
Pflanzen bewachsenen Grund. Nun thut man den ver-
schließenden Finger plötzlich fort, und dies hat natürlich
den Effekt, daß sich das Glasrohr mit einer reichlichen
Portion Schlammwasser füllt. Nach abermaligem Ver-
schlul^ des oberen Endes der Röhre kann man den Inhalt
derselben leicht in ein bereitstehendes Glasgefäß über-
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312 Otto Zacharias,
tragen ^). Läßt man solches Wasser 2 — 3 Tage lang ruhig
im Zimmer stehen, so kann man an den Wänden des-
selben mancherlei Infüsorienkolonieen, Wurzelfüßer und
kleine Würmer in großer Anzahl sitzen sehen. Diese
überträgt man dann behufs näherer Besichtigung und
Bestimmung auf einen Objektträger imd bringt sie unter
das Mikroskop.
Eine allgemeine Charakteristik der litoralen Wasser-
fauna ist oben bereits gegeben worden. Ich möchte an
dieser Stelle bloß noch hinzufügen, daß außer Protozoen
gewisse Würmer (Turbellarien und Rädertiere), Wasser-
milben und niedere Krebse (Cladoceren, Cypriden und
Cyclopiden) das Hauptkontingent zu derselben stellen.
Die Gruppe der Rädertiere (Rotatoria) umfaßt sehr
verschiedenartig gestaltete Wesen von mikroskopischer
Kleinheit, die aber allesamt durch den Besitz eines eigen-
tümlichen Wimperorgans ausgezeichnet sind, welches sich
am Kopfende der Tierchen befindet und die Aufgabe
-hat, Nahrung herbeizu wirbeln. Die Bewegung der ein-
zelnen Wimpern ist derartig stark, daß ein beständiger
Wasserstrom dadurch unterhalten wird, welcher einzellige
Algen sowie kleinere Infusorien mit sich fortreißt und in
den Schlund des betreffenden Rotatoriums hinabfbhrt.
Blickt man von oben her auf das in voller Thätigkeit
befindliche Organ, so macht dasselbe den Eindruck eines
sich rasch drehenden Rades, und hieraus erklärt sich die
sonst wenig verständliche Bezeichnung „Rädertiere*' für
die ganze Gruppe.
Die Strudelwürmer (oder Turbellarien) sind nicht
minder interessante, aber noch weit weniger populäre
Mitglieder der Teich- und Seeenfauna als die Rotatorien.
Ihren Namen, der für den Uneingeweihten etwas befremd-
lich klingt, haben diese Tiere von der strudelnden Be-
wegung erhalten, welche sie bei ihrem Dahingleiten im
Wasser mittelst zahlloser feiner Hautfortsätze erregen.
*) Sehr empfehlenswert ist auch der von Professor Fr. Eilh.
Schulze (Berlin) konstruierte , Schlammsauger*, der vom Prä-
parator des zoologischen Universitätsinstituts in Berlin zum Preise
von 4 Mark geliefert wird.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 313
Letztere sind jedoch so fein, daß sie nur mit dem Mikro-
skop wahrgenommen werden können. Ihrem Aussehen
nach besitzen die Strudelwürmer die größte Äehnlichkeit
mit winzigen Nacktschnecken; ihrer Organisation nach sind
sie aber von diesen grundverschieden. Das Hauptwerk
über Strudelwürmer ist Ludw. v. Graffs „Monographie
der rhabdocölen Turbellarien", Leipzig 1882.
Wie diese und die übrigen oben aufgeführten Wasser-
bewohner abgetötet und zu wissenschaftlichen Zwecken
dauernd konserviert werden können, darüber sollen am
Schlüsse dieses Kapitels einige Mitteilungen erfolgen.
Wir wollen jetzt weiter in unserer Betrachtung der
Seefauna fortfahren und einen Blick auf didenigen ani-
malischen Wesen werfen, welche das freie Wasser oder
die sog. pelagische Regioti- großer Binnenseeen be-
wohnen.
Fahren wir mit dem Boote immer weiter vom Ufer
weg nach der Seemitte zu, so wird der Pflanzenwuchs
auf dem Grunde immer spärlicher und alsbald hört er
ganz auf, weü die Hauptbedingung dafllr — das Licht -^
in den tieferen Wasserschichten nicht mehr vorhanden ist.
Dagegen macht sich in der pelagischen Region der meisten
Seeen eine üppige Algenvegetation geltend, welche in den
heißen Monaten in Form einer sog. „Wasserblüte* auf-
tritt und aus Milliarden von grünen Flocken besteht. In
den norddeutschen Seeen war es Clathrocystis aeruginosa
Henfr., welche das Wasser oft so intensiv spangrün filrbte,
daß man glauben konnte, es sei durch ein chemisches
Ingredienz verunreinigt worden. Bei einem flüchtigen
Blicke auf den weiten, in der Sonne glitzernden Wasser-
spiegel eines solchen Sees scheint es so, als könne der-
selbe gar kein tierisches Leben irgend welcher Art be-
herbergen. Ein Glas Wasser, welches wir an der Ober-
fläche schöpfen, zeigt auch bei Besichtigung mit der Lupe
nichts weiter als grüne Algenflocken.
Aber auf eine so wenig gründliche Untersuchung
verlassen wir uns nicht. Wir greifen zum „Schweb-
netz", d.h. zu einer Vorrichtung, welche einen riesigen
Beutel von Seidengaze darstellt, dessen Eingang von einem
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314 Otto Zacharias,
eisernen Binge gebildet wird, der mindestens 70 — 80 cm
Durchmesser hat. An diesem starken Binge ist der Beutel
befestigt. Dieses Netz wird mittelst dreier Schnüre,
welche sich in einem Knoten vereinigen, an einer länge-
ren Leine so befestigt, daß es — hinreichend beschwert —
bei der Bewegung des Bootes sich etwa 4 — 5 m unter
dem Wasserspiegel hält. Durch ein Gewicht, welches
man in unmittelbarer Nähe des Netzes an der Leine be-
festigt, kann man den Tiefgang des ersteren leicht regu-
lieren. Ist nun ein derartiges Schwebnetz am hinteren
Teile des Bootes angebracht, so setzen wir unsere Fahrt
durch die pelagische Begion fort, und erst kurz bevor
wir in die Litoralzone des jenseitigen Ufers gelangen,
legen wir die Buder ein und ziehen den Beutel an seinen
Schnüren aus dem Wasser. Auf dem Grunde desselben
werden wir jetzt einen rötlichen Brei vorfinden, den wir
sofort mit einem Spatel oder Löffel in besondere (mit
Wasser gefüllte) Gläser bringen. Eine Portion davon ver-
senken wir alsbald auch in eine Mischung von 50 ^joigem
Alkohol und Gljcerin, um konserviertes Material zur Hand
zu haben, welches bei vergleichenden Studien nicht ent-
behrt werden kann.
Nunmehr thun wir einen Blick in die Gläser, worin
das frische Material sich befindet. Wer die Fülle von
Leben, die hier durcheinander wimmelt, zum erstenmal
sieht, muis erstaunen. Das schießt, springt und fliegt
hin und her, daß es einem fast schwindlig beim Hinsehen
wird. Es sind Legionen von kleinen Wesen, die sich in
unseren Gläsern herumtummeln und aus dem engen Be-
zirke gern entfliehen möchten. Betrachten wir einzelne
dieser „Hüpferlinge** und „Wasserflöhe** (wie sie im VoHcs-
munde heißen) genauer, so machen wir die Wahrnehmung,
daß wir ganz andere Gestalten vor uns haben als wir sie
in der Uferzone antrafen. Und in der That handelt es
sich hier um eine Gesellschaft von Tieren ganz besonde-
rer Art, die lediglich im freien Wasser großer Seeen ge-
funden wird und daher pelagische Fauna heißt. £s
sind zum größten Teil niedere Erebschen, die wir vor
uns haben, aber solche, die in ganz wunderbarer Weise
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 315
dem krystallklaren . Elemente, worin sie ihre Lebens-
bedingungen finden, angepa&t sind. Alle diese beständig
schwimmenden, niemals rastenden Geschöpfe zeichnen sich
durch eine ungemein stark entwickelte Muskulatur vor
den litoralen Formen aus. Relativ dicke und sehr breite
Muskelstränge stehen mit ihren Ruderarmeu in Verbin-
dung und ermöglichen den Tierchen einen ungemein
raschen Ortswechsel. Insbesondere ist es Diaptomus gra-
cialis, ein Hüpferling von sehr schlankem Körperbau, der
sich durch seine blitzschnellen Bewegungen auffällig macht.
Man denke sich einen Menschen, welcher durch den ein-
maligen Vorstoß der beiden Arme um das Zehnfache seiner
ganzen Körperlänge im Wasser fortgeschnellt würde, und
man hat einen Vergleich zu der Art und Weise, wie jener
Diaptomus und seine nächsten Verwandten (die Cyclopiden)
in unseren Seeen und Teichen hin und her schießen.
Auf ein ganz besonders interessantes Krebschen,
welches nur selten in einem größeren Wasserbecken fehlt,
möchte ich die .Aufmerksamkeit der Leser speziell hin-
lenken. Es ist der große Armkrebs (Leptodora hyalina) ;
derselbe besitzt eine so hochgradige Durchsichtigkeit, daß
man ihn im Wasser nur an dem großen schwarzen Augen-
punkte entdecken kann, obgleich seine Körperlänge einen
Zentimeter beträgt. Hat man eine Anzahl von Exem-
plaren dieses Krusters in einem Glasbehälter und hält
diesen gegen das Licht, so sieht man nur hüpfende
schwarze Pünktchen und geisterhafte Bewegungen im
Wasser. Nur mit äußerster Anstrengung des Auges ver-
mag man die großen Buderorgane der Tierchen und die
zarten Umrisse ihres Leibes zu erkennen.
Außer den beiden genannten Arten kommen noch
mehrere andere Kruster in der pelagischen Region vor;
ich will jedoch nur die am häufigsten vorfindlichen Arten
anführen. Es sind dies neben Leptodora hyalina und
Diaptomus gracilis die folgenden: Ddphnella brachyuia
(der kurzschwänzige Glaskrebs), Daphnia pellucida (der
durchsichtige Wasserfloh), verschiedene Bosminiden oder
Rüsselkrebse und noch eine Anzahl Arten von Hüpfer-
lingen (Cyclopiden).
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316 Otto Zacharias,
Inmitten der schwärmenden Scharen dieser Krebs-
tiere treten nun aber auch ganz konstant noch einige
Arten von pelagisch lebenden Rädertieren auf. Diese
Thatsache wurde 1883 zuerst von dem schweizerischen
Naturforscher B. 0. Imhof entdeckt, und ich habe die-
selbe für die norddeutschen Seeen durchweg bestätigen
können. Die am häufigsten wiederkehrenden Arten sind:
'Asplanchna helvetica Imhof, Anuraea longispina Kellicott,
Anuraea cochlearis Gk)sse und Conochilus volvox Ehren-
berg.
Die in den Schweizer Seeen ungemein zahLreich vor^
handene Asplanchna, ein Rotatorium von der Form einer
bauchigen Flasche und auch so durchsichtig wie eine
solche, bevölkert in ganz staunenswert großer Menge auch
den landschaftlich so schön gelegenen Ukeleisee in Ost-
holstein und noch viele andere holsteinische, mecklen-
burgische, pommersche und westpreußische Seeen. Dazu
kommen noch auf der allemiedrigsten Stufe der Fauna
-stehende Wesen, sog. Protozoen oder Urtiere, welche
den bereits aufgezählten verhältnismäßig höheren animali-
schen Wesen zur Nahrung dienen. Und unter diesen sind
es wieder gewisse gepanzerte Geißelinfusorien (Cilioflagel-
laten), die mit ihrer Gegenwart die pelagische Region
ganz ausschließlich bevorzugen. In der Uferzone findet
man diese Protozoen niemals.
So bietet also die pelagische Tierwelt unserer ein-
heimischen Seeen eine ziemlich bunt zusammengewürfelte
Gesellschaft von Tieren dar, welche aber allesamt in dem
einen Punkt übereinstimmen, daß sie in vorzüglicher
Weise dem Aufenthalte im freien uferlosen und pflanzen-
leeren Wasser „angepaßt^ sind. Letzteres gilt, wie wir
sahen, nicht bloß in betreff der stärkeren Ausbildung des
Muskels jstems, sondern auch bezüglich der Form und
Färbung des gesamten Körpers. Die meisten pelagischen
Tiere sind von glasartiger Durchsichtigkeit, und es ist
dies ein spezieller Fall der eigentümlichen Erscheinung,
welche wir schützende Aehnlichkeit nennen. Wir müssen
uns dieselbe durch natürliche Auslese erworben denken.
„Offenbar — so argumentiert Hackel — ist allen Glas-
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 317
tieren in dem unaufhörlichen Kampfe, den sie miteinan-
der fuhren, die wasserähnliche Eörperbeschaffenheit von
äußerstem Nutzen, Die Verfolger können sich ihrer Beute
unvermerkt nähern, die Verfolgten können sich den erste-
ren leichter entziehen als wenn beide gefärbt und un-
durchsichtig, also im hellen Wasser leicht sichtbar wären.
Nehmen wir nun an, daß von diesen Glastieren ursprüng-
lich zahlreiche verschiedene Varietäten (verschieden haupt-
sächlich in dem Grade der Durchsichtigkeit und dem
Mangel der Farbe) nebeneinander existiert hätten, so
würden sicherlich die am meisten durchsichtigen und farb-
losen Individuen im Kampfe ums Dasein das üebergewicht
über die anderen errungen haben, und indem sie Gene-
rationen hindurch diese individuelle vorteilhafte Eigen-
tümlichkeit befestigten und verstärkten, schließlich not-
wendig zur Ausbildung der vollkommenen glasartigen
Beschaffenheit gelangt sein** ^).
Eine treffliche populäre Charakteristik der pelagischen
Fauna unserer Binnenseeen giebt Professor Ludwig
V. Graff in einem gemeinverständlichen Vortrage *), der
darüber folgendes enthält: „Wie wenige von den vielen
tausend Menschen, die alljährlich mit dem Gefühl heimi-
scher Vertrautheit sich auf dem blauen Wasser unserer
Alpenseeen schaukeln, mögen ahnen, daß auch hier, in-
mitten der krystallenen Flut, ein lebhaftes Tierleben my-
riadenfach pulsiert! Aber der Gleichförmigkeit der Lebens-
bediiigm^en entspricht auch die Zusammensetzung der
pelagischen Fauna. Neben Rädertieren und Vertretern
des kleinsten Lebens (Infusorien, Flagellaten), die teils
zwischen den ungezählten Mengen mikroskopischer Algen
sich tummeln, teUs auf ihnen schwankenden Halt finden,
sind es nur wenige Arten kleiner Krebschen von eini-
gen Millimetern bis 2 cm Länge, die in ungeheuren
Massen die hohe See bewohnen. Sonderbare Gesellen
mit mächtigen Buderarmen und langen (als Balancier-
stange dienenden) Leibesfortsätzen sind sie verurteilt
») E. Häckel, Generelle Morphologie. 1866, 2. Bd., S. 243.
«) V. Graff, Die Fauna der Alpenseeen. 1887, S. 12.
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318 Otto Zacharias,
ohne Rast und Ruh zeitlebens zu schwimmen und zu
schweben in ihrem flüssigen Elemente, dessen spezifisches
Gewicht freilich nur wenig geringer ist als das ihres
Leibes. Wer diese Tierchen zum erstenmal in einem
Glase Wasser vor sich hat, wird sie vergebens suchen
und wären sie selbst zu Hunderten darin, und erst bei
genauestem Zusehen kann das dunkle Augenpigment oder
etwa gefärbter Darminhalt an ihnen zum Verräter werden.
Die Durchsichtigkeit der Leibessubstanz ist uns längst
bekannt von den pelagischen Tieren des Meeres. Hier
wie dort war diese Anpassung an die Beschaffenheit des
Wassers ein Mittel, die zarten Geschöpfe vor Ausrottung
zu bewahren, indem sie dieselben den Augen ihrer Ver-
folger (namentlich der Fische) entziehen hilft. Da die
Zartheit ihres Leibes dem Wellenschlage nicht wider-
stehen würde, so treibt schon die geringste Kräuselung
der Oberfläche, der leiseste Windhauch unsere durch-
sichtigen Erebschen in jene Tiefen, wo die Bewegungen
der Wasserfläche nicht mehr wahrgenommen werden.*'
Die Empfindlichkeit der pelagischen Fauna gegen
Wind und Wellenschlag ist in der That so groß, daß
man nur bei völlig ruhigem Wetter Aussicht hat, ein
befriedigendes Fangergebnis zu erzielen. Besonders sen-
sibel ist Leptodora hyalina; Exemplare davon bei hefti-
gerem Winde zu erlangen, ist vollkommen hoffiiungslos.
Diejenigen Krebschen, welche in unseren einheimi-
schen Binnenseeen zu den Bewohnern der pelagischen
Region gehören, habe ich in der schon zitierten Abhand-
lung (Zeitschr. f. wiss. ZooL, 45. Bd., S. 258—259) auf-
gezählt. In den von mir unlängst (Sommer 1887) unter-
suchten mansfeldischen Seeen — den größten Mittel-
deutschlands — sind es nur folgende wenigen Arten,
deren Vorkommen ich außerhalb der Uferzone konsta-
tierte: Diaptomus laticeps Sars, Daphnella brachyura Li^v.,
Daphnia longispina Leydig und verschiedene Cyclopiden.
Exemplare von Leptodora fanden sich niemals im Netz-
inhalte vor.
Wohnt jemand in unmittelbarer Nähe eines großen
Sees — z. B. in Plön, in Schwerin oder in Waren am
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 319
Müritzsee — so hat er die allerbeste Gelegenheit, durch
Sammeln yon Erustaceenmaterial (in den verschiedenen
Jahreszeiten) unser heimatskundliches Wissen in betreff
dieser Tiergruppe zu erweitem. Es würde dann längst
bekannt geworden sein, daß unsere norddeutschen Seeen
in ihrer Erebsfauna eine große Aehnlichkeit mit denen
Südschwedens besitzen, wodurch der Gedanke an die Mög-*
lichkeit eines unmittelbaren Zusammenhanges beider Seeen-
gebiete während der Eiszeit sehr an Wahrscheinlich-
keit gewinnt. Ich habe auf Grund von zoologischen
Befunden auf diese interessante Thatsache zuerst hin-
gewiesen ^).
Zur Konservierung der kleinen Kruster für ver-
gleichende faunistische Untersuchungen kann die Auf-
bewahrung derselben in einer Mischung, welche aus einem
(Volum-) Teil destilliertem Wasser, einem Teil Glycerin
und einem Teil starken Alkohol besteht, empfohlen wer-
den. Das aus der Uferzone entnommene Material muß
stets von dem, welches der pelagischen Region entstammt,
getrennt gehalten werden. Man bedient sich zum Auf-
bewahren der bezüglichen Fangergebnisse mäßig großer
Gläser mit eingeriebenem Stöpsel, welche genau etiket-
tiert sind, so daß man zu jeder Zeit feststellen kann, aus
welchem See die Kruster gefischt wurden und in welchem
Monat die Exkursion stattfand. Sogar eine Bemerkung
darüber, ob das Wetter trübe oder sonnig war, dürfte
von Nutzen sein. Materialsamralungen von dieser Art
haben wissenschaftlichen Wert, und jeder Fachmann (Zoo-
log) kann dieselben für seine privaten oder Institutszwecke
gelegentlich verwenden.
Handelt es sich darum, die eingesammelten Krebs-
tiere für die nachfolgende mikroskopisch- anatomische
Untersuchung zu konservieren, so ist kein Verfahren für
diesen Zweck geeigneter als dieselben in eine V* ^lo^S^
(wässerige) Lösung von Ueberosmiumsäure zu bringen und
so lange darin zu lassen, bis sich eine leichte Bräunung
^) 0. Zacharias, Faunistische Studien in westpreußischen
Seeen. Schrift d. naturf. Gesellschaft in Danzig. 6. Bd., 1887.
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320 Otto Zacharias,
der einzelnen Objekte bemerklich macht. Das wird nach
einigen Minuten der Fall sein. Tritt diese Reaktion ein,
so nimmt man (mittelst einer Taubenfeder) die Krebschen
rasch heraus und überträgt sie in Alkohol von 70 ®o,
worin sie 10—12 Stunden verbleiben. Die dauernde Auf-
bewahrung erfolgt in 90^/oigem Alkohol. An Krustem,
welche auf diese Art konserviert sind, kann man noch
nach Jahren mikroskopische Untersuchungen in betreff
der feinsten Strukturverhältnisse vornehmen.
Es erübrigt mir nun noch, die faunistischen Verhält-
nisse der Tiefenregion zu erörtern. Professor F. A.
Forel in Lausanne, dem wir in erster Linie die Er-
forschung der auf dem Boden der großen Seeen lebenden
Tierwelt zu verdanken haben, läßt diese Region in einer
Tiefe von 15 m beginnen und selbstverständlich bis zur
Maximaltiefe des betreffenden Sees sich erstrecken. Eine
Charakteristik der physikalischen Verhältnisse, welche in
den imtersten Wasserschichten herrschen, läßt sich in
ganz kurzen Worten geben: starker Druck, welcher mit
je 10 m um eine Atmosphäre zunimmt; vollkommene,
Ruhe; sehr niedrige, aber beständige Temperatur; von
100 m an herrscht jahraus jahrein eine unveränderliche
Temperatur von 5,9 ° + 0,5 ® C. ; die Beleuchtung ist gleich
Null; die chemische Wirkung der Sonne hört mit einer
Tiefe von 45 m im Sommer, in einer solchen von 100 m
im Winter auf; über die ganze Bodenfläche der Tiefe
breitet sich ein dünner und weicher Schlamm aus, der
alle harten Gegenstände allmählich einhüllt und in seinem
Schöße begräbt. Pflanzliches Leben ist selbstverständlich
so gut wie nicht mehr vorhanden. Von 20 m an findet
man keine grünen Algen mehr. Diatomeen kommen je-
doch noch in den größeren Tiefen vor. Bei dieser Ar-
mut an vegetabilischer Nahrung erscheint es beinahe
wunderbar, wenn wir sehen, daß die Tiefenfauna ziemlich
reich an Arten ist, von denen fast jede durch zahlreiche
Individuen vertreten wird. Alle Typen und die meisten
Klassen der Süßwassertiere sind darunter vertreten: Fische
(von denen freilich kein einziger der Tiefenregion aus-
schließlich angehört), Insektenlarven, Arachniden,
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INIVERtlTY
Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 321
Krustaceen, Schnecken, Muscheln, Würmer, Arm-
polypen und Urtiere*).
Die Repräsentanten der Tiefenfauna sind im allge-
meinen klein, schwach und besitzen wenig ausgebildete
Bewegungswerkzeuge. Als schlechte Schwimmer können
sie sich nicht weit über den Schlamm erheben, und mit
der absoluten Ruhe des Wassers steht der Mangel an
Haftapparaten im Einklänge. Die Fähigkeit sich festzu-
setzen haben die meisten vollständig eingebüßt. Die
Schlammschnecken, welche sonst ihre Eier an Pflanzen-
teilen festkleben, setzen dieselben einfach in den Detritus
ab und überlassen sie ihrem Schicksale. Auch die Moos-
tiere sind nicht auf einer Unterlage fixiert, sondern stecken
— ebenso wie die Armpolypen — lose im Schlamme.
Manche Bewohner der Tiefe sind gänzlich farblos oder
ihre Pigmentierung ist schwach entwickelt. So hat der
sonst lebhaft grün oder braun gefärbte Süßwasserpolyp
(Hydra) als Bürger der Tiefenregion ein matt rosarotes
Kolorit. Desgleichen zeigt sich bei vielen Tieren eine
Tendenz zur Reduktion der Sehorgane, z. B. bei dem
Krebschen Niphargus puteanus, var. Porelii. Durch meine
eigenen Untersuchungen in den mansfeldischen Seeen
(zwischen Halle und Eisleben) habe ich festgestellt, daß
bei solchen Exemplaren von Microstbma lineare (einem
Strudelwurm), welche ich aus einer Tiefe von 12 m herauf-
holte, nur noch ganz schwache Spuren der rostroten
Augenflecken vorhanden waren. Es scheint somit, daß
bei niederen Tieren schon ein minderer Ghrad von Hellig-
keit hinreicht, um eine Verkümmerung der Sehorgane zu
erzeugen.
Um Vertreter der Tiefenfauna zu erbeuten, dazu be-
dient man sich eines sog. Schleppnetzes, welches ein
Pangapparat von sehr einfacher Konstruktion ist. Der-
selbe besteht aus einem dreieckig gestalteten Bügel von
Eisen, welcher mäßig zugeschärfte Kanten besitzt. An
') Vergl. den schönen Essay sur la faune profonde des Laos
de la Suisse von Prof. Du Plessis-Gouret. 1885.
Anleitung zur deutschen Landes- und Volksforschung. 21
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322 Otto Zacharias,
diesem Bügel wird ein durchlässiger Sack (aus Segellein-
wand) befestigt, dessen Bestimmung ist, Schlamm und
Schlick aufzunehmen, während der ganze Apparat lang-
sam an einer langen Leine über den Grund gezogen wird.
Natürlich erhält man die winzigen Tierchen auf diese
Weise nicht rein, sondern in einer Umhüllung von Sand
und Schlamm. Zur Beseitigung derselben ist es erforder-
lich, daß man den Inhalt des Schleppnetzes durch einen
feinen Musselinbeutel filtriert. Erst dann ist es mögUch
sich über das Fangergebnis zu orientieren.
Anstatt des Schleppnetzes kann man auch ein mäfiig
großes Blechgefäß von ovalem Querschnitt verwenden,
welches mit einem beweglichen Henkel versehen ist, wie
man ihn an den Wassereimem hat. Eine derartige Vor-
richtung erweist sich für mäßig große Seeen sogar noch
zweckmäßiger als das eigentliche Schleppnetz, weil der
Blechschöpfer bequemer zu handhaben ist als der um-
fangreiche Netzsack. Man kann ersteren häufiger empor-
ziehen und ausleeren als das oft zentnerschwere, mit
Schlamm beladene Schleppnetz, dessen Anwendung einer
einzelnen Person überhaupt nicht möglich ist.
Um das Material aus der Tiefenregion möglichst aus-
zunutzen, ist es geraten, den emporgeförderten Schlamm
portionsweise in flache Schüsseln zu thun und einige Tage
lang ruhig stehen zu lassen. Natürlich muß man ihn
vorher mit Wasser aus dem nämlichen See verdünnen.
Auf diese Weise ist es möglich gewisse Tiere (Würmer
z. B.) mit größerer Leichtigkeit zu erbeuten, denn indem
dieselben den ungewohnten Verhältnissen schwächeren
Druckes und höherer Temperatur sich zu entziehen ver-
suchen, kriechen sie aus dem Schlamm hervor und kön-
nen so mit einem Spatel oder Löffel leicht weggefangen
werden.
Im Anschluß an die vorstehenden Winke darüber,
wie man sich der Tiefenfauna zu bemächtigen hat, dürfte
eine kurze Aufklärung über die Art, wie diese Tierwelt
ernährt wird, nicht unerwünscht sein. Es wurde bereits
mitgeteilt, daß in den größeren Tiefen kein Pflanzenleben
mehr vorhanden ist. Demnach kann die Nahrungsquelle
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 323
für die Tiefenbewohner nur in der litoralen und pelagi-
schen Region fließen. Und dies ist wirklich der Fall.
Luft- und Wasserströmungen treiben vom Ufer her
abgerissene Pflanzenteile, Abfälle des menschlichen Haus-
halts, abgestorbene kleine Tiere u. dergl. auf die Höhe
des Sees hinaus, und hier saugen sich dieselben voll
Wasser bis sie untersinken. Die auf solche Weise dem
Grunde zugeführten Trümmer organischen Lebens bilden
den einen Teil der Nahrung ftlr die Tiefenbe^wohner.
Ein anderer Teil entstammt der pelagischen Region, in-
sofern aus den oberflächlichen Wasserschichten ein förm-
licher Re^en von winzigen Leichen beständig in die
Tiefe hinabrieselt, welcher aus verendeten Krebschen,
Würmern und Protozoen besteht. Die Tafel ist also für
die Tiefenfauna ziemlich reich gedeckt, und es erklärt
sich hierdurch die ansehnliche Individuenzahl der einzelnen
Arten.
Richten wir unser Nachdenken auf den mutmaßlichen
Ursprung der Tiefenfauna, so gelangen wir zu einigen
recht interessanten Schlußfolgerungen. Zunächst steht
fest, daß weder eine aktive noch eine passive Wande-
rung (Uebertragung) der Tiefenbewohner von See zu See
vorstellbar ist. Es giebt keine unmittelbare Verbindung
zwischen den Tiefenregionen zweier verschiedener Seeen.
Wird dies zugestanden, so kann die den Gh"und bevöl-
kernde Fauna lediglich durch Einwanderung aus der Ufer-
zone entsprungen sein. Tiere, welche erhöhten Wasser-
druck, Lichtmangel und kühle Temperatur gleich gut
vertragen konnten wie das Gegenteil, werden gelegentlich
tiefere Wasserscliichten aufgesucht haben und sich und
ihre Nachkommenschaft den veränderten Umständen an-
gepaßt haben. Diese Anpassung muß aber in jedem See
getrennt und für sich stattgefunden haben; infolgedessen
müssen die Tiere der Tiefenfauna der verschiedenen Seeen,
auch wenn sie zu der nämlichen Gattung gehören, immer
als besondere Varietäten und Arten beschrieben werden ^).
') A. Forel, Faunistische Studien in den Süßwasserseeen der
Schweiz. Zeit«chr. f. wissensch. Zoologie. 80. Bd. 1878.
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324 Otto Zacharias,
Diese Erwägung zieht eine Folgerung nach sich, welche
ein allgemeines zoologisches Interesse hat. Denn wenn
z. B. Limnaea abyssicola und Pisidium Forelü (die
erstere aus L. palustris, die andere aus P. nitidum ent-
standen) in mehreren Alpenseeen gefunden werden sollte,
so wäre damit zugleich der Nachweis erbracht, daß die-
selbe Art an zwei oder vielen völlig voneinander ge-
trennten Orten entstehen kann, und die Streitfrage, ob
die systematischen Gruppen monophyletischen oder poly-
phyletischen Ursprungs sind, ob einmalige oder mehr-
malige Entstehung derselben Art mit größerer Wahr-
scheinlichkeit anzunehmen ist — wäre damit prinzipiell
gelöst.
Professor v. Graff hat in seinem Vortrage über die
Alpenseeen^) sehr richtig bemerkt, daß der Hauptwert
von Tiefseestudien darin besteht, daß wir gleichsam in
jedem abgeschlossenen See ein Versuchsaquarium vor uns
haben, in welchem ganz unabhängig von der Fauna an-
derer Seeen die Züchtung einer Tierart aus Uferformen
vor sich geht, und die Richtung, in welcher die Form-
umwandlung erfolgt, sich mit viel größerer Sicherheit
auf bekannte Ursachen zurückführen läßt als dies im
Meere möglich ist. Die einzelnen Meeresbecken hängen
untereinander zusammen und bieten, selbst wenn sie durch
submarine Barrieren getrennt erscheinen, immerhin die
Möglichkeit der Uebertragung aus einem in das andere
dar. Dem entsprechend ist ja auch die Tiefseefauna der
Ozeane so außerordentlich gleichförmig und bii^ in der
gleichen Tiefe stets wieder dieselben typischen Ver-
treter. Hierzu kommt noch, daß die Meeresfauna bei
der zeitlichen Kontinuität, die wir zwischen den heutigen
und den Organismen der Sekundär- bez. Tertiärzeit an-
nehmen müssen, keinen Anhaltspunkt für die Beurteilung
der Zeiträume, die zur Entstehung neuer Arten erforder-
lich gewesen sind. Dem entgegen ist die Fauna unserer
Alpen- und Diluvialseeen eine vergleichsweise moderne,
so daß wir auch der Zeit nach den Prozeß der Arten-
>) A. a. 0. S. 21.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 325
bildung hier besser übersehen können. Aus alledem
ergiebt sich, daß eine fortgesetzte und gründliche Er-
forschung der Tierwelt unserer großen Binnenseeen wirk-
lich nutzbringend für die Wissenschaft ist, nützlicher
vielleicht als die jetzt mit so leidenschaftlichem Eifer
betriebene Durchstöberung der Meeresfauna nach zoolo-
gischen Novitäten, deren minutiöse Beschreibungen in
ihrer Zahllosigkeit unübersehbar zu werden beginnen.
Dabei soll durchaus nicht verkannt werden, daß der Eifer,
mit dem die Zoologen in den jüngstverflossenen Dezen-
nien meerwärts gepilgert sind, ungerechtfertigt gewesen
sei. Die marine Tierwelt ist zweifellos reicher an Orga-
nisationstypen und außerdem noch durch den Umstand
ausgezeichnet, daß sich in ihrer großen Formenmannig-
faltigkeit ein Fortschritt von morphologisch niedrig stehen-
den Gattungen und Arten zu solchen von höherer Aus-
bildung konstatieren läßt; Hierdurch wurde die Meeres-
fauna wichtig für die Durchführung des transformistischen
Gedankens, und die eifrige Hinwendung zum Studium
derselben erklärt sich befriedigend aus dem gesamten
Entwickelungsgange der modernen Zoologie. Es giebt
indessen eine große Anzahl von Problemen und Fragen,
welche sich nicht unmittelbar auf Phylogenie und Trans-
mutation beziehen, die aber gleichfalls ein intensives
wissenschaftliches Interesse darbieten und auf die Dauer
nicht unberücksichtigt bleiben können. Dazu gehören
die Emährungs-, Fortpflanzungs- und Entwickelungs-
verhältnisse vieler Vertreter der Süßwasserfauna, die
Einwirkung der chemischen Konstitution des Wassers
auf die Lebensfunktionen niederer Tiere, Experimente
über Regeneration amputierter Körperteile, Verhalten
der Wasserfauna zu Licht und Dunkelheit u. s. f. Ja es
ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß (worauf schon oben
hingewiesen wurde) auch das Problem der Entstehung
der Arten sich besser an Vertretern der Süßwasserfauna
seiner Lösung näher führen lassen wird als an Meeres-
tieren.
In Erwägung aller dieser Momente habe ich mich
veranlaßt gefühlt, in einem verbreiteten fachwissenschaft--
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320 Otto Zacharias,
liehen Organ ^) den Vorschlag zur Gründung von zoo-
logischen Stationen behufs wissenschaftlicher
Beobachtung der Süßwasserfauna zu machen,
und ich sehe jetzt, daß dieser Gedanke allgemein Anklang
findet. Ueber den Ort, wo eine solche Station seßhaften
Charakters zu errichten wäre, wird man sich leicht eini-
gen können. Es wird zunächst gleichgültig sein, ob man
dazu einen der großen norddeutschen Seeen ausersieht,
oder ob sich — wie dies nicht unwahrscheinlich ist —
die Blicke auf den durch seine Mächtigkeit ausgezeich-
neten Bodensee lenken werden. Neben einer Zentral-
station dieser Art, welche auch Fragen der Fischerei und
Fischzucht wissenschaftlich zu bearbeiten haben würde,
müssen aber noch eine Anzahl kleiner (und lokomobiler)
Stationen ins Leben gerufen werden, um ganze Seeen-
gebiete des Inlandes in Bezug auf deren Fauna systema-
tisch durchforschen zu können. Ich habe das ganze
Projekt, welches wohl in absehbarer Zeit seiner Ver-
wirklichung entgegengehen dürfte, im „Zoologischen An-
zeiger** eingehend besprochen. Hier habe ich dasselbe
nur in Erwähnung gebracht, weil ich die Freunde und
Förderer der wissenschaftlichen Landeskunde von Deutsch-
land auf eine Gelegenheit aufmerksam machen wollte,
bei der sie ihr Interesse für das Zustandekommen eines
auch in praktischer Hinsicht (nämlich für unsere gesamte
Fischerei- und Wasserwirtschaft) wichtigen Institutes,
jeder nach seiner Berufsstellung und seinem Einflüsse auf
weitere Kreise, an den Tag legen können.
Zum Schluß habe ich noch zu bemerken, daß sich
die im Vorstehenden gegebene Anleitung zur Abfischung
von Seeen ebensogut auf Flüsse und Ströme bezieht;
letztere enthalten gleichfalls eine Menge von niederen
Tieren, deren Kenntnis nicht minder erwünscht ist wie
») Zool. Anzeiger Nr. 26, 1888.
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Einsammeln v. zoolog. Material in Flüssen und Seeen. 827
diejenige der Tümpel, Teiche und größeren Wasserbecken
unseres Landes.
In einem Beitrage «Zur Kenntnis der Mikro-
fauna unserer einheimischen Flußläufe*^ ') habe
ich die Ergebnisse mitgeteilt, welche ich bei einer im
Sommer (1887) vorgenommenen Untersuchung erzielt
habe.
Zur Eonservierung des erbeuteten Materials benutzt
man, wenn es sich um Kruster, Rädertiere und Pro-
tozoen handelt, mit bestem Erfolg die schon oben er-
wähnte ^4 V^8® Lösung von Osmiumsäure.
Größere Würmer (Blutegel, Planarien etc.) tötet
man mittelst einer heißen (gesättigten) Lösung von Queck-
silberchlorid, in welcher die Objekte 10 — 15 Minuten ver-
bleiben. Hierauf werden dieselben mehrere Stunden lang
ausgewässert und kommen dann in 70 ^,o igen Alkohol zur
dauernden Aufbewahrung.
Kleine Würmer (Naiden, Nematoden u. s. w.) kon-
serviert man am besten in einer V» ^/oigen Chromsäure-
lösung. In derselben verbleiben die zarten Tierchen etwa
10 Stunden. Hiernach werden sie in schwachem Alkohol
aufbewahrt.
Mikroskopisch kleine grüne Algen und Diatomeen
kann man längere Zeit in destilliertem Wasser aufheben,
welchem einige Tropfen einer l%igen (wässerigen) Lösung
von Osmiumsäure zugesetzt sind.
Grüne Fadenalgen (Konfervaceen) halten sich recht
leidlich einige Zeit in einer 30 ^/oigen Lösung von essig-
saurem Kali in destilliertem Wasser.
Große Objekte (Fische, Amphibien, Wasserkäfer und
deren Larven, sowie Schnecken und Muscheln) konserviert
man am bequemsten und besten in 60 — 70^/oigem Alko-
hol. Am schönsten gelingt die Konservierung, wenn man
die auf einen Teller gebrachten lebenden Objekte mit
heißem Spiritus (60 ® C.) übergießt. Sie sterben dann so
gut wie augenblicklich und bewahren dabei oft ihre natür-
liche Haltung in ganz vorzüglicher Weise.
') Biolog. Zentralblatt Nr. 24, 1888.
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328 Otto Zacharias.
Mit Benutzung dieser Winke wird es auch dem Laien
möglich sein, das was er auf Reisen und Exkursionen an
Tieren (he^. niederen Pflanzen) auffindet, so zu konser-
vieren, daß ein Fachmann in den meisten Fällen später
imstande sein wird, die eingesammelten Objekte zu identi-
fizieren und zu bestimmen. Manches Wertvolle geht leider
unbenutzt verloren, weil das richtige Konservierungsver-
fahren auch vielen sonst gut unterrichteten Naturfreunden
nicht immer bekannt zu sein pflegt.
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Somatisch-anthropologische
Beobachtungen.
Von
Dr. Johannes Ranke,
0. 9. Professor der Anthropologie an der UniTersiiät in München.
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L Anthropologische Besichtigangen.
Die moderne Entwickelung der Anthropologie hat
dazu geführt, daß das Auge der Forscher sich mit ge-
steigertem Interesse der Untersuchung der vaterländischen
Verhältnisse zugewendet hat. Wählend man sich noch
vor kaum zwanzig Jahren als das Objekt anthropologi-
scher Studien fast ausschließlich nur Angehörige der sog.
Naturvölker denken konnte, ist das jetzt ganz anders
geworden : der Schwerpunkt der Weiterentwickelung un-
serer Kenntnisse vom Menschen liegt heute in der lokalen
vaterländischen Ethnographie. Erst wenn wir die Schwan-
kungsbreite der körperlichen Forrabildung unter unserem
eigenen Volke mit voller Sicherheit kennen werden, wer-
den wir den Wert der körperlichen Besonderheiten eines
fremden Volkes, eines anderen Stammes, eines fremden
Individuums richtig zu beurteilen vermögen. Wohl mancher
Anthropologe hat einen Schädel von besonderer Form als
ein Unikum beschrieben und vielleicht größere oder geringere
Tierähnlichkeiten an ihm entdeckt, der dem Kopfe, den
er selbst auf den Schultern trägt, zum Verwechseln und
typisch ähnlich war. Wie lange ist es überhaupt her,
seit wir exakt wissen, daß typische Unterschiede in der
Gesamtkörperbildung unseres Volkes existieren?
Aber nicht allein die Vergleichung mit anderen
Völkern und Rassen läßt die somatisch-anthropologische
Untersuchung unseres Volkes wichtig erscheinen. Die
somatisch-anthropologische Forschung im Vaterlande ist
zu einem Hilfsmittel der historischen Untersuchung ge-
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332 Jobaniies Ranke,
worden und wird sich mehr und mehr als solches aus-
bilden. Sie wird einst für die Entwickelungsgeschichte
der Stammes- und Volksindividualität da eintreten, wo
geschriebene Dokumente fehlen. Sie ermöglicht es schon,
aus den heutigen körperlichen Formen die ethnischen
Elemente zu rekonstruieren, welche zur Bildung der
modernen Volks- oder Stammesindiyidualitäten zusammen-
getreten sind. Darin liegt die höchste Aufgabe der vater-
ländischen somatischen Anthropologie, in welche sie sich
mit der archäologischen vaterländischen Ethnographie, mit
der Ethnographie der deutschen Stämme, teilt.
Hier ist noch außerordentlich yiel zu leisten, und
wenn sich die Aufforderung, praktisch mit Hand anzu-
legen, zunächst naturgemäiä an die Aerzte wendet, so
kann sich heutigestags doch jeder Gebildete leicht die
notwendigen Vorkenntnisse erwerben, welche für ein selb-
ständiges Eingreifen erforderlich sind^).
Wir wollen sofort an einem praktischen Beispiel die
Art der Fragen und die Methoden, hier Antworten zu
finden, klarzulegen suchen.
1. Die Farbe der Haut, der Haare und der Augen.
Die Ahnen unseres Volkes traten in das Licht der
Geschichte ein als blondhaarige Hünengestalten, blau-
äugig mit weißglänzender Haut. Die ihnen im Kampfe
gegenüberstehenden „ Römer ** erschienen sich selbst im
Vergleiche mit jenen klein und von brünetter Komplexion.
Wenn wir nun heute unter unserem Volke Umschau
halten, so fällt uns keineswegs mehr diese historisch be-
zeugte altgermanische Körperbeschaffenheit als die allge-
') Vergl. J. Ranke, Der HenBch. I. Bd.: Entwickelung, Bau n.
Leben des menschlichen Körpers, mit 24 Aquarelltafeln und 583 Ab-
bildungen im Text. II. Bd.: Die heutigen und yorgeschichtlichen
Menschenrassen, mit 6 Karten, 8 Aquarelltafeln und 408 Abbildun-
gen im Text. Leipzig, Bibliographisches Institut — £. Schmidt,
Anthropologische Methoden. Anleitung zum Beobachten und Sam-
meln fllr Laboratorium und Reise. Mit zahlreichen Abbildungen
im Text. Leipzig 1888.
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 333
mein typische auf. Es finden sich ja noch genug solche
ff echte Qermanen^, d. h. „Blonde", unter uns, aber
neben ihnen steht eine große Anzahl von ^Brünetten'',
d. h. Individuen mit bräunlicher Hautfarbe, braunen bis
schwarzen Haaren und braunen bis fast schwarzen Augen.
Und noch beträchtlicher ist vielfach die Anzahl jener,
welche weder vollkommen „ blond", noch vollkommen
»brünett", von diesen beiden Haupttypen Merkmale an
sich tragen und sich dadurch als Mischtypen charakte-
risieren.
Da lautet nun die erste somatisch-anthropologische
Frage: Wieviele von dem altgermanisch „ blonden Typus"
sind unter unserem deutschen Volke noch vorhanden?
Wie groß ist neben dem blonden Typus die Anzahl der
dem «brünetten Typus" und den «Mischtypen" zuge-
hörenden Personen? Indem wir konstatieren, wie sich
diese ethnischen Mischungsverhältnisse gestaltet haben, ge-
langen wir für einen bestimmten Ort, für eine bestimmte
Gegend, für ein Land und schließlich für unser ganzes
deutsches Vaterland zu einer Vorstellung, wie weit noch
rein germanisches Blut neben allophylen Zumischungen
vorhanden ist. Die Stammeszugehörigkeit ist für die letz-
teren eine verschiedene je nach den verschiedenen Qauen
des Vaterlandes und den vor der Einwanderung der Ger-
manen dort seßhaften oder den Germanen erst nach-
rückenden Bevölkerungsschichten.
In dieser außerordentlichen Einfachheit wurde primär
wirklich die Frage gestellt bei der Inangriffnahme der
bis jetzt größten somatisch-anthropologischen Einzelunter-
suchung aller Zeiten und aller Länder: der statisti-
schen Untersuchung über die Farbe der Haut,
der Haare und der Augen bei den Schulkindern
zunächst in Deutschland, an welche sich bis jetzt auch
schon Belgien, Schweiz und Oesterreich angeschlossen
haben. Herr Geheimerat R. Virchow hat die Bearbeitung
der durch die Lehrer auf Grund genauer Instruktionen
gewonnenen Bohzahlen dieser Statistik durchgeführt, wo-
durch die erste feste Basis für eine somatisch-anthropo-
logische Betrachtung unseres gesamten Volkes, auch im
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334 Johannes Ranke,
Vergleiche mit seinen unmittelbaren Nachbarn, gewonnen
worden ist. Es wurden in Deutschland 6 758827 Schul-
kinder in Beziehung auf ihre Komplexion untersucht, in
Gestenreich 2304501, in Belgien 608698, in der Schweiz
405609 Schulkinder, im ganzen sonach 10077635!
Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Zahlen
wurden zunächst die beiden „reinen oder Haupttypen"
— der „blonde Typus**, d. h. die „Blonden* mit
blonden Haaren, blauen Augen und weiläer
Hautfarbe, und der „brünette Typus", d. h. die
„Brünetten** mit braunen bis schwarzen Haaren,
braunen bis fast schwarzen Augen und brü-
netter oder weißer Hautfarbe — von den „Misch-
form en** ausgesondert. Das Hauptergebnis war:
in Deutschland . . . 31,80^0 »Blonde«, 14,05% «Branette*
„ Oesterreich . . . 19,79 , , 23,17 .
, Schweiz .... 11,10 , „ 25,70 , ,
y, Belgien . . . (leider nicht gezählt!) 27,50 , ,
Diese Zahlen lehren nach Virchow, dals das Deutsche
Reich in seinem gegenwärtigen Bestand noch immer den
rein blonden Typus in der größten Häufigkeit unter den
mitteleuropäischen Staaten (abgesehen von den Nieder-
landen) darbietet. Dabei stellt sich weiter die auffallende
Thatsache heraus, daß — bis auf den äußersten Norden
und Polen — ausnahmslos gegen die Grenzen Deutschlands
der „brünette Typus** in größerer Häufigkeit auftritt. In
Deutschland ist der blonde Typus noch immer der herr-
schende, während der brünette Typus als Nebentypus er-
scheint, üebrigens ist in den verschiedenen Gegenden
Deutschlands die Anzahl der Blonden und Brünetten sehr
Terschieden, dabei ergiebt sich, daß die größere Häufig-
keit der Brünetten sich durch Erblichkeit, d. h. durch
Mischung der nach dem übereinstimmenden Zeugnis der
Geschichte ursprünglich blonden Germanen mit anderen
mehr oder weniger brünetten Völkern erklärt. Auch das
ist nicht anzuzweifeln, daß überall dort die Brünetten
sich in größerer Anzahl geltend machen, wo uns die auf-
dämmernde Geschichte unseres Beobachtungsgebietes die
Kelten als frühere Bewohner erkennen läßt. So führt
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 335
uns sonach die Verteilung unserer beiden Haupttjpen in
Mitteleuropa der Hauptsache nach auf eine uralte Ver-
gangenheit zurück.
In auffallender Zonenbildung zeigt sich in der Rich-
tung von der Alpengrenze Deutschlands gegen die nörd-
lichen Meeresküsten, also von Süden nach Norden, eine
Zunahme des blonden Typus, in umgekehrter Richtung
eine ebenso auffallende Steigerung der dem brünetten
Tjrpus zugehörenden Individuen, so daß man bloß nach
der Anzahl der Blonden und Brünetten in einem deutschen
Lande oder in einer größeren Provinz von vornherein
sehr annähernd richtig herausfinden kann, wo auf der
Karte ungefähr das Land liegt. Norddeutschland hat im
allgemeinen zwischen 43,36 und 33,6, Mitteldeutschland
zwischen 32,5 und 25,89, Süddeutschland zwischen 24,46
und 18,44 ^/o Blonde; dagegen schwankt die Zahl der
Brünetten in Süddeutschland zwischen 25 und 19, in
Mitteldeutschland zwischen 18 und 13, in Norddeutsch-
land zwischen 12 und 7^/o.
In geistvoller Weise hat R. Virchow nachgewiesen^
daß sich auf diesem uns die älteste Besiedelungsgeschichte
unseres Vaterlandes wieder darstellenden Gemälde auch
einige hochinteressante Züge erkennen lassen, welche auf
die späteren Wanderzüge unseres Volkes sowohl in der
Völkerwanderungs- als in der späteren Regermanisierungs-
epoche des slavischen Ostens ein überraschendes Licht
werfen, dessen Leuchte in Verbindung mit den ethno-
graphischen Lebensverhältnissen der Bewohner uns un-
geahnte Einblicke in diese im ganzen historisch noch so
dunklen Völkerverschiebungen gestattet^).
Im großen ist die soeben skizzierte Untersuchung ja
fertig, aber im einzelnen ist doch noch sehr vieles nach-
zutragen. An dieser Untersuchung kann sich ohne weitere
Vorstudien jeder Gebildete beteiligen, aber namentlich
möchten wir eine Mahnung zur Mitarbeit an alle jene
richten, welche bei dem Ersatzgeschäfte der Armee in.
den Aushebungsbezirken mitzuarbeiten haben.
') Näheres siehe bei J. Ranke a. a. 0. Bd. II, S. 254 if.
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336 Johannes Ranke,
Es ist bekannt, daß im späteren Verlauf des Lebens
die in der Jugend hellen und entschieden «blonden* Haare
mehr oder weniger, und zwar in den verschiedenen Gegen-
den je nach der größeren relativen Anzahl der Blonden
oder Brünetten, in verschiedener Stärke nachdunkeln.
Da ist nun die erste Frage: Wie verhält sich die
Farbe der Haut, der Haare und der Augen bei erwach-
senen Personen, z. B. bei den Stellungspflichtigen für
die Armee, für die Landwehr, für den Landsturm?
Daneben wäre es sehr wünschenswert, wenn derartige
Aufnahmen für späteres reiferes und gereiftes Alter auch
für das weibliche Geschlecht und f&r die Nichtmilitär-
pflichtigen angestellt werden könnten, wozu sich wohl
den Geistlichen auf dem Lande die beste Gel^en-
heit bieten würde. Eine solche Studie, auch nur
eine einzige kleine Gemeinde, aber diese ganz
umfassend, wäre nicht nur sehr interessant, sondern
von bleibendem originellen wissenschaftlichen Werte. Es
würde sich hierbei um die Bestimmung des Eomplexions-
typus 1. der «Neugeborenen*, 2. der Einjährigen, 3. der
Kinder beim Eintritt in die Schule, 4. beim Austritt aus
derselben, 5. der Erwachsenen der verschiedenen Alters-
stufen in zehnjährigen Intervallen handeln, wobei auch
Angaben über 6. das Ergrauen und 7. über das Ausfallen
der Haare gemacht werden sollten. Wann beginnt das
Ergrauen, wann ist es beendigt, resp. wieviel «Graue*
oder «Weißgewordene* finden sich in den verschiedenen
höheren Altersstufen in der betreffenden Gemeinde?
Um eine solche statistische Aufnahme z. B. einer
ganzen Gemeinde genau nach dem für die Schulstatistik
aufgestellten Schema ausführen zu können, soll hier das
letztere mitgeteilt werden.
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Anthropologische Beobachtungen.
837
Erhebungsformnlar
znr Statistik über die Farbe der Haut, der Haare and der Angen.
ßdiule (Gymnasium, Gewerbe-, Real-.nnd Volksschule) zu
Zahl der 6chüler _, darunter Juden .
Davon haben:
|l
|l
1. Blaue Augen, blonde Haare, helle Haut
2. „ , rote „ „ ff
». » f. braune ,, , ,
4. , , „ fl braune ,
5. Graue Augen, blonde Haare, helle Haut ....
6. » , rote , ^ ri ....
7. , , braune „ , , ....
8. , , . „ braune , ....
9. , « schwarze „ , , ....
10. Braune oder schwarze Augen, blonde Haare, helle Haut
11. n » 1. „ rote „ , ,
12. , , , , braune , , ,
18. , , » f, „ n braune ^
14. , , , „ schwarze.
15. Andere Farbenkombinationen
Durchschnittliches Alter der besichtigten Schüler:
Von den Erläuterungen und Motiven, welche diesem
, Erhebungsformular'' bei der TJebersendung an die be-
treffenden Schulvorstände beigegeben waren, sind die
folgenden auch für unseren speziellen Zweck beherzi-
genswert:
Die Ausscheidung der jüdischen Schüler hat natürlich keinen
Bezue auf ihre Religion, sondern nur auf ihre Abstammung, und
obwohl bei der nicht geringen Zahl von Bekehrungen der jetzige
Stand des Religionsbekenntnisses keine ausreichende Scheidimg
gestattet, so ist dennoch zu erwarten, daß das Gesamtergebnis
durch diesen Mangel nicht zu stark beeinfluß werden wird. Wo
in den Schulen fremde Nationalitäten (z. B. Engländer, Amerika-
ner, Russen) vertreten sind, da ist es wünschenswert, daß sie außer
AolAltnnff znr deutschen Landes- nnd Volksforscbnng. 22
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338 Johannes Ranke,
Ansatz bleiben. Dagegen wird eine weitere Angabe über solche
Nationalitäten, welche innerhalb der Grenzen des Landes wohnhaft
sind, z. B. der Polen, Litauer, Franzosen, nicht verlangt. Sollten
die Herren Lehrer dieselben besonders angeben können, so wlirde
die Mitteilung der Ergebnisse ihrer Ermittelungen allerdings recht
nützlich sein.
Die Angabe der Hautfarbe, ob , hellweiß* oder , dunkelweiß
= brünett**, wird gelegentlich Schwierigkeiten bereiten, wenn nur
die der Luft und der Sonne ausgesetzten Körperteile in Betracht
gezogen werden. Indes schon die Betrachtung des entblößten
Vorderarms wird in der Regel ausreichen, um zu entscheiden, ob
das Individuum mehr blond oder mehr brünett ist.
Bei den Augen kommt es vor allem darauf an, festzustellen,
ob die Farbe blau oder braun ist. Die schwarzen Augen gehören
mit zu der braunen Abteilung, die grauen zu den blauen. Wenn
ffleichwohl die grauen Augen besonders unterschieden sind, so ist
dieses geschehen, weil hier schon der Verdacht einer Mischung
vorliegt. Auch wird die Unterscheidung keine Schwierigkeiten
bieten, wenn die Augen der Schüler untereinander verglichen wer-
den, wo sich das reine Blau sicher herausstellt.
Etwas schwieriger ist die Trennung bei den Haaren, wo
blonde, braune, schwarze und rote hervorgehoben sind. Als
schwarz sind nur diejenigen Haare zu bezeichnen, welche rein
schwarz sind. Alle diejenigen, welche sehr dunkel sind, aber im
Sonnenlicht eine braune Schattierung darbieten, oder welche in
der Luft und der Sonne bräunlich werden, sind als braune zu ver-
zeichnen. Als blond gelten nicht bloß die lichtgelben, sondern
auch die weißlichgelben, die aschblonden (graugelben oder grau-
bräunlichen) und die lichtbräunlichen, welche an der Luft gelblich
werden; die rotblonden, roten und brandroten Haare werden ge-
sondert aufgeftihrt.
Die in dem Formular aufgezeichneten Verbindungen der ver-
schiedenen Haut-, Haar- und Augeufarben erschöpfen nicht alle
möglichen und wirklich vorkommenden Kombinationen. Wo sich
derartige seltenere Kombinationen finden, da werden die Herren
Lehrer ersucht, sie gleichfalls zusätzlich zu verzeichnen.
Bezüglich der Farbenunterscheidung der Haare und
der Augen sind in dem vorstehenden Schema die Unter-
scheidungen möglichst einfach gestellt. Will man in
größere Feinheiten der Distinktion eingehen, so kann
man sich des 1885 von der deutschen anthropologischen
Gesellschaft akzeptierten Schemas bezüglich der Haar-
farben bedienen. Hier wird unterschieden:
Blond mit denNüancierungen: weißblond, flachs-
blond, aschblond, gelbblond, rotblond. Unter dem
Weißblond ist die möglichst wenig gefärbte Art des
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Anthropologische Beobachtungen. 339
Blonden zu verstehen, wie sie vielfach im gewöhnlichen
Leben als „wei^*^ bezeichnet zu werden pflegt, z. B. sagt
man von Kindern „Weißköpfe*. Davon ist selbstver-
ständlich das Weiß des Greisenhaares zu unterscheiden.
Liegt der Fall eines Albino, Kakerlaken, mit weiß-
blonden Haaren und rotleuchtenden Pupillen vor, so muß
man das natürlich besonders erwähnen.
Braun mit den Stufen: hellbraun, dunkelbraun,
schwarzbraun, schw9.rz. Bei diesen dunklen Schat-
tierungen ist es wünschenswert anzugeben, ob etwa die
Haare ein Bleichen an der Luft, ein Hellerwerden an den
Enden u. a. erkennen lassen.
Rot: lichtrot, braunrot.
Es konmit hier und da vor, daß auf einem Kopfe
verschiedenfarbige Haare stehen: „gemischte Haar-
farbe*^, z. B. neben hellbraunen auch dunkelbraune, selbst
schwarze Haare. Häufiger als am Kopfe zeigt sich diese
gemischte Farbe am Barthaare, wo die Farbe der ein-
zelnen Haare von blond mit rot zu braun und schwarz-
braun wechseln kann.
Wo es angeht, könnte bei einer eingehenderen Unter-
suchung neben den Kopfhaaren auch die übrigen
Körperhaare: Barthaar, Brauen und Wimpern,
Achselhaare, berücksichtigt werden. Zu solchen Un-
tersuchungen bietet sich z. B. Gelegenheit an den Bade-
plätzen im Freien, wo man nicht nur die oft recht ver-
schiedene Färbung der Kopf- und Körperhaare konstatieren
kann, sondern auch Verschiedenheiten in der »Verbrei-
tung des Haares** auf dem Körper. Bei manchen In-
dividuen kommt an gewissen Körperstellen, namentlich
am Rücken und in der Gegend des Kreuzbeins — im
letzteren Fall spricht man von Sacraltrychose — , eine
stärkere und auffälligere Behaarung vor, oder das Kopf-
haar greift tief in die Stirn herein u. a. Von dem sog.
„Flaumhaar", welches überall auf der Haut vorkommt,
müßte man hierbei selbstverständlich absehen.
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S40 Johannes Ranke,
2. Die Form der Haare und die Stärke der Behaanmg.
Eine zweite ebenfalls sehr interessante und wissen-
schaftlich wertvolle Aufgabe würde es sein, wenn neben
der Bestimmung der Farbe der Haare auch die Form
der Haare und die Stärke der Behaarung statistisch
aufgenommen werden könnte und zwar ebenfalls unter einer
geschlossenen Gruppe der deutschen Bevölkerung, z. B. in
einer Schule, bei den Stellungspflichtigen eines Ortes oder
Bezirks, am besten bei einer ganzen Landgemeinde etc.
Die verschiedenen Haarformen sind nach der mo-
dernen Terminologie folgende:
Kopfhaar: straff, schlicht, weHig, lockig,
kraus, spiralgerollt.
Die beiden erstgenannten Haarformen verlaufen ge-
radlinig; ihr Hauptunterschied besteht in der Dickeent-
wickelung der einzelnen Haare. Das straffe Haar hat
eine erhebliche Dicke und behält auch bei größerer Länge
den gestreckten Verlauf bei. Ist dieser Charakter be-
sonders stark ausgesprochen, so vergleichen wir die Be-
haarung als «mähnenartig' mit einer Pferdemähne. Das
schlichte Haar zeigt eine geringere Dicke des Einzel-
haares als das straffe Haar.
Alle anderen Haarformen verlaufen nicht geradlinig.
Welliges Haar zeigt weite, regelmäßige, nahezu in
einer Ebene liegende Biegungen, die schon an der Ein-
pflanzungsstelle der Haare beginnen und nicht sehr aus-
giebig sind. Bei dem lockigen Haar zeigen größere
Strähne desselben gegen das äußere Ende hm mehr oder
weniger starke Biegungen mit Neigung zur Drehung.
Das krause Haar unterscheidet sich dadurch, daß
sich bei ihm an den Einpflanzungsstellen in der Kopf-
haut ausgiebige, unregelmäßige, nicht in einer Ebene
befindliche Drehungen finden. Diese Drehungen nahem
sich der Rollenbildung mit weiten Ringen, zu welchen
kleinere Strähnchen oder Haarbüschel in meist etwas ver-
schiedener Weise sich vereinigen. Spiralgerollte Haare
finden sich unter den eingeborenen Europäern nicht, sie
sind eine typische Eigentümlichkeit mancher süda&ika-
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AnthropologiBche Beobachtungen. 341
nischen Stämme, namentlich der Buschmänner und Hotten-
totten, aber auch der Zulus. Hier ist das Haar um eine-
Längsachse spirälig gewunden, so daß es einige ganz
enge Ringe um dieselbe bildet. Auch das andere Extrem,
das zuerst genannte „straffe Haar'', ist in Europa unter
Europäern kaum, dagegen in exquisiter Ausbildung bei
den Mongolen und Mongoloiden (z. B. Japanern) und den
meisten amerikanischen „Indianern** anzutreffen.
Die Untersuchung der „Einpflanzung der Haare
in der Haut*, die in ethnologischer Beziehung so wich-
tig ist, sowie Studien über die Mikroskopie des Haares,
namentlich über ihren Querschnitt, der ja auch die größ-
ten, sogar ethnographisch yerwerteten, Unterschiede zeigt,
würde uns hier zu weit in Einzelheiten führen. Wer
sich fQr diese Fragen, die einer näheren Elarlegung noch
sehr bedürfen, interessiert, findet das Notwendige zu einer
Orientierung in dem mehrfach erwähnten Werke Bd. H,
S. 172 ff.
3. Augenfarben, Augenformen und Augenstellung.
Wie bezüglich der Haarfarbe, so können auch bei
der Augenfarbe noch feinere Unterschiede gemacht
werden, als sie unsere Schulstatistik verlangte. Wir un-
terscheiden nach Uebereinkommen als Au gen färbe resp.
Regenbogenhaut = Iris — Farbe: hellblau, dunkelblau,
grau, graubraun, hellbraun, braun, dunkel-
braun, schwarz. Broca führt außerdem noch grün als
Augenfarbe auf. Es ist das eine Mischung von blaugrau
mit hellbraun, eine Färbung, die wir unter „graubraun*
verstehen, da grün doch ein höchst uneigentlicher Aus-
druck dafUr ist.
Wichtiger als diese feinere Unterscheidung der Augen-
farbe ist die der Augenformen und der Augenstel-
lung im Gesichte.
Was die letztere betrifft, so giebt jede aufmerksame
Betrachtung der Begegnenden und ihre Zählung auf jedem
Spaziergang in der Stadt oder auf dem Lande Gelegen-
heit, statistische Aufnahmen zu machen.
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342 Johannes Ranke,
So habe ich bei dem Tegemseeer Markt, einem der
besuchtesten ländlichen Feste jenes reizenden Erdenwinkels
in den bayrischen Bergen, durch eine statistische Zählung
konstatiert, daß unter diesem Teile der altbajrischen
Landbevölkerung die Augenlidspalte fast ausnahmslos sehr
annähernd horizontal steht. Dagegen zählte ich unter
der Münchener Stadtbevölkerung beim Spazierengehen in
den Straßen 1 — 1,5% unter den Männern und 2% unter
den Frauen, bei welchen sich die Augenlidspalte in
„mongoloider" Weise mit ihrem äuläeren Winkel in
auffallendem Grade nach aufwärts wendet. Geringere,
aber noch sofort bemerkbare Grade in derselben Rich-
tung schiefstehender Augenlidspalten zählte ich bei Män-
nern und Frauen in München gleichmäßig zu 6%. Es
ist hierbei zu beachten, daß die Münchener Stadtbevölke-
rung im ganzen in großem Prozentsätze, und in ihren
höheren Ständen sogar fast überwiegend, nicht dem eigent-
lichen altbayrischen Stamme zugehört. Eine ähnliche
größere Statistik für andere deutsche Stämme und Be-
völkerungskreise würde sonach, wie es scheint, recht
interessante Unterschiede ergeben.
Hierbei kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt in
Frage. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich die Ge-
sichtsbildung unserer Neugeborenen in wesent-
lichen Zügen teils der der Mongoloiden, teils der
der niedrigsten schwarzen Stämme, z. B. der
Australier, annähert. Das was jene Gesichter frem-
der Völker für uns so ungewohnt macht, ist das Fest-
halten an typischen Bildungen, welche für unser Volk
nur erste Durchgangsstadien nach der Geburt darstellen.
Das gilt vor allem für die Niedrigkeit und Breite des
ganzen Gesichtes, für die Nasenbildung und auch für die
Bildung djBr Augenlidspalte, welch letztere das Mongolen-
gesicht gerade so typisch erscheinen läßt.
Die Bildung des „Mongolenauges^ besteht, abge-
sehen von jenem ebenerwähnten Schiefstellen und Auf-
wärtsziehen der äußeren Augenwinkel und einer Ver-
engerung der Lidspalte — „Schlitzaugen" — , in einer
eigentümlichen Bedeckung des inneren Augenwinkels (der
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Anthropologische Beobachtangen. 343
Thränenkarunkel daselbst) und bei geöffnetem Auge des
ganzen oberen Augenlides durch eine über das Auge
hereinh äugende Hautfalte, deren äußerer Rand am inneren
Augenwinkel halbmondförmig von der Nase her vorspringt.
Durch die Deckung des oberen Augenlides sieht es bei
extremen Fällen so aus, als kämen die Augenwimpern
direkt aus dem Auge hervor, da man ihren Ansatz am
oberen Lidrande nicht sehen kann. Hebt man mit den
Fingern bei solchen Augenbildungen die Haut über der
Nase an der Unterstirn in eine Falte auf, so verschwindet
diese eigentümliche Bedeckung des Auges durch die um-
gebende Haut, das Auge ist so frei wie es unsere Künst-
ler darzustellen gewohnt sind. Auch beim Niederschlagen
des Auges kommt der obere Lidrand zu Tage und von
der äußeren Seite her gelingt es auch, unter die halb-
mondförmige Hautfalte am inneren Augenwinkel hinein-
zusehen und die Thränenkarunkel zu erblicken. Die-
selbe Bildung kennen die Augenärzte als extreme, das
Sehvermögen dann mehr oder weniger beeinträchtigende
angeborene Mißbildung des Auges unter dem Namen
Epicanthus. Sehr gewöhnlich ist diese wahrhaft „mon-
goloide Augenbildung", d. h. das Auftreten jener halb-
mondförmigen Hautfalte am inneren Augenwinkel, der
»Mongolenfalte*, mit einem sehr wenig oder gar nicht
erhobenen Nasenrücken, namentlich an der Nasenwurzel,
verbunden ; hier ist gleichsam, da die Nase bei mangeln-
der Erhebung keine so ausgiebige Deckung durch Haut
beansprucht, zu viel Haut auf dem Nasenrücken und der
Unterstim, die sich dann gegen die Augen halbmondförmig
verschiebt.
Dieser Zustand ist exquisit erblich; in einem mir
bekannten Falle hatte z. B. die Mutter und ihre zwei
Kinder, ein Sohn und eine Tochter, beide im erwachsenen
Alter, die Mongolen- oder Epicanthusfalte.
Dieses wahre Mongolenauge stellt bei unseren Kin-
dern in der allerersten Jugend einen relativ häufigen,
aber bei dem späteren Wachstum nach und nach fast
ganz verschwindenden Bildungsdurchgang, eine vorüber-
gehende Entwickelungsstufe dar, offenbar zusammen-
Digitized by VjOOQ IC
344 Johannes Ranke,
hängend mit der meist ganz geringen oder fehlenden
Erhebung der Nasenbeine bei den Nengeborenen. Sowie
die Nasenbeine sich mehr und mehr dachförmig erheben,
verschwindet die halbmondförmige Falte nach und nach,
wenigstens in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle.
Der erste, welcher hierüber statistische Zahlungen
angestellt hat, war ein Russe, Metschnikow, der seine
Aufnahmen an russischen Kindern, also an solchen slayi-
sehen Stammes, ausführte. Da man den Russen vielfach
eine gewisse Beimischung mongolischen Blutes zuschreibt,
so wäre es sehr interessant zu konstatieren, wie sich daß
bei den germanischen, romanischen u. s. w. Stämmen verhalt.
Aus einer noch ungedruckteu Untersuchung entnehme ich,
daß bei den jüngsten Kindern der altbayrischen Bevölke-
rung dieses Mongolenauge relativ sehr häufig ist
4. Die Nasenformen und Gesichtsprofilienmg»
Damit. hängt auch die Frage nach der Nasenbil-
dung, sowie jene nach der mehr oder weniger ausge-
prägten Oesichtsprofilierung zusammen. Bei unseren
Neugeborenen fehlt die letztere noch so gut wie ganz,
das Oesicht ist „flach^ wie z. B. bei der mongoloiden
Rasse; freilich ragen, wegen der noch mangelnden Aus-
bildung der Kaumuskeln, die Wangenbeine nicht in die
Gesichtsfläche hervor, was jene Gesichter so typisch von
den meisten unserer Erwachsenen unterscheidet. Aber
es giebt auch unter den Deutschen beider Geschlechter
im erwachsenen Alter gar nicht wenige, welche sich durch
flache und in diesem Sinne mongoloide Gesichtsform aus-
zeichnen.
Wir unterscheiden nach üebereinkommen bezüglich
der Gesichtsform: hoch oder niedrig, schmal oder
breit, oval oder rund, flach oder profiliert.
Das flache Gesicht ist dabei meist auch niedrig oder
breit und rund, während das scharf profilierte meist hoch
oder schmal und längsoval sich darstellt.
Eine statistische Aufnahme über diesen Teil der
Gesichtsbildung unter unserem Volke und seinen ver-
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 345
schiedenen Stämmen würde sich wohl am besten mit einer
Nasenformstatistik verbinden, da in Europa ein stärker
profiliertes Öesicht mit einem schmalen und meist hohen,
ein flaches mit einem breiten und meist an der Nasen^-
wtiTzel wenigstens abgeflachten oder ^ eingesunkenen''
Nasenrücken verknüpft auftritt. Hier walten also die
gleichen ursächlichen Formbildungsmomente.
Ich habe eine Statistik der Nasenrückenformen
unter dem altbayrischen- Volke versucht. Es wurden un-
terschieden: Adlernasen, gerade Nasen und Stumpf-
nasen.
Ich habe 100 altbayrische Landleute männlichen
Qeschlechts darauf geprüft. Mein Ergebnis war:
I. Adlernasen:
1. Echte Adlernasen 3 % )
2. Echte Adlernasen mit abwärts geneigter Spitze. 1 i> ( 77o
3. Weniger stark gekrümmte Adlernasen .... 3 , )
4. Gerade Nasen, aber mit leichter adlemasenartiger t
Krümmung 22 , / «^
5. Nasen mit schwach adlerartig gekrümmtem Nasen- l *
rücken und überhängender Nasenspitze . . . . 2 „ 1 31^0
IL Gerade Nasen:
6. Echte gerade Nasen 37 „ \
7. Gerade Nasen mit schwach abwärts gebogener j
Nasenspitze 6 , [ 44 ,
8. Gerade Nasen mit stark abwärts gebogener Nasen- \
spitze 1 II
III. Stumpfnasen:
9. Gerade Nasen mit etwas aufgeworfener Nasen-
spitze 15 » J
10. Gerade Nasen mit stärkerer Hinneigung zur Stumpf- | 25 „
nase 7»\
11. Eigentliche Stumpfhasen 3 , ^
Der Haupttypus ist sonach bei diesen Altbayem die
gerade Nase mit einer stärkeren Hinneigung zur Adler-
nase, während die Bildung der Stumpfnase seltener er-
scheint. Dabei ist die Nase, und zwar am auffallendsten
bei dem weiblichen Geschlechte, ziemlich kurz und der
Nasenrücken bemerkbar breit, entsprechend dem relatiy
breiten Intervall zwischen den Augenhöhlen. Be-
sonders charakteristisch erscheint mir aber die Bildung
Digitized by VjOOQ IC
346 Johanoes Ranke,
der Nasenspitze und zwar besonders deren Verhältnis zur
Oberlippe bei den Altbayem.
Wie aus der letzten tabellarischen Uebersicht hervor-
geht, sind Nasen mit ,» überhängender Spitze* bei den
Altbayem auiserordentlich selten. Die Nasenspitze schnei-
det so ab, daß von dem äußeren Rande derselben bis
zum Ansatz an die Lippe eine auf die Mitte der letzteren
nahezu senkrechte, öfters sogar eine gegen den Lippen-
ansatz sich etwas senkende, von der Nasenspitze aus ab-
fallende Linie gezogen werden kann.
Das ist bei Mittel- und Norddeutschen, soviel ich sehe,
ganz anders. Die Nasen im «bayrischen Franken" zeigen
sich z. B., wie mir scheint, ohne daß ich freilich darüber
bis jetzt grötaere statistische Zählungen anführen könnte,
meist wesentlich länger, der Nasenrücken wie der Zwischen-
raum zwischen den Augenhöhlen schmäler, die Spitze
häufig überhängend. Eine von der Nasenspitze aus gegen
den Lippenrand gezogene Linie steigt also gegen letzteren
zu in die Höhe. Daß sich am Lebenden hier typische,
statistisch greifbare Unterschiede zeigen werden, dafür
spricht die große Verschiedenheit, die ich in der knöcher-
nen Nasenbüdung an den Schädeln der Altbayern und
bayrischen Franken konstatiert habe.
Ich stelle mir die Lösung der letztgenannten Aufgaben
wieder so vor, daß ein Geistlicher einer kleineren Land-
gemeinde, z. B. in Mitteldeutschland, die Nasenformen bei
allen seinen Pfarrkindern nacH Alter und Geschlecht in
der oben angegebenen Weise gesondert aufführt.
Dabei müßte aber noch auf etwas gemerkt werden:
Die Nasen unserer Neugeborenen haben, wie gesagt,
oft oder meist eine typisch „australoide" Form, d. h. der
Nasenrücken ist flach, erhebt sich nur sehr wenig über die
Qesichtsfläche, der Nasenrücken ist dementsprechend breit,
nur die Nasenspitze steht etwas stärker hervor, doch sind
die Nasenflügel extrem breit. Die Nase der Neugeborenen
sieht aus, als hätte man die Nase eines Erwachsenen flach
an das Gesicht angedrückt. Dadurch ergiebt sich eine
auffallende Erscheinung bezüglich der Stellung der
Nasenlöcher im Verhältnis zum Lippenrande. So wie
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 347
bei der Australiernase stehen die Nasenlöcher der Neu-
geborenen vielfach parallel zum Lippenrand, zwei gegen-
einander gerichtete Querspalten darstellend, während bei
den erwachsenen Europäern die Nasenlöcherspalten parallel
nebeneinander und annähernd senkrecht auf den Lippen-
rand verlaufen. Bei unseren Neugeborenen ist übrigens
die Stellung und Form der Nasenlöcher keineswegs ganz
identisch. Jene ebenbeschriebene Spaltenbildung scheint
mir die häufigste Form, daneben kommen aber auch drei-
eckig nach aulen sich erweiternde Nasenlochspalten, auch
zur Lippe horizontal gestellt, vor und außerdem solche,
welche langgezogene Ellipsen bilden mit einem mehr
oder weniger nach außen, also horizontal zur Lippe, ge-
wendeten gre^ßten Durchmesser.
Es sollte konstatiert werden, wie sich in dieser Be-
ziehung die verschiedenen Lebensalter verhalten, oder
vielmehr, in welchem Lebensalter sich diese primitive
Nasenbildung im allgemeinen verwächst, und wie groß
der Prozentsatz unter den Erwachsenen ist, an dem sich
noch diese Bildung ganz oder in Resten nachweisen läßt.
5. Die Bildung der Mundteile.
Bezüglich der Lippenbildung zeigen sich ebenfalls
zahlreiche anthropologische DiflEerenzen zwischen den In-
dividuen wie zwischen den Stämmen. Hier fehlt bis jetzt
aber noch jeder genauere statistische Anhalt. Die ver-
schiedenen Lippenformen, welche wir unterscheiden, sind
folgende:
Lippen: vortretend, voll, mäßig voll, zart,
geschwungen.
Namentlich das letztere charakterisiert den typischen
Europäermund, dessen Lippen „mäßig voll" und wie ein
antiker griechischer Bogen „geschwungen" sind. Auch
das entwickelt sich aber bei dem Individuum erst nach
und nach zum typischen Bilde, so daß wir auch hier auf
zählbare Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen
Stämmen rechnen dürfen, wie sich solche bei verschie-
denen Rassen bekanntlich in charakteristischer Weise er-
Digitized by VjOOQ IC
348 Johannes Ranke,
geben. Dabei ist festzuhalten, daß die sich hervorwöl-
bende, mit der (meist roten) Mundschleimhaut überkleidete
Lippe ein Charakteristikum des Menschen ist gegenüber
dem menschenähnlichen Affen. Eine stärkere, vollere
Entwicklung der Lippen ist sonach eine Steigerung einer
typisch -menschlichen Eigenschaft. Auch die Mißbil-
dungen der Lippen, Hasenscharten und Wolfs-
rachen u. ä. wären statistisch zu zählen.
Bezüglich dör Zähne fällt zunächst die gegenseitige
Stellung der Zahnreihen im Oberkiefer und Unterkiefer
in die Augen. Entweder stehen die Zahnreihen nämlich
annähernd senkrecht gegeneinander, die Besitzer solcher
Zahnstellung werden als Geradzähner, Orthognathen,
oder, wo der Winkel mehr als 90® beträgt, als Hyper-
orthognathen bezeichnet. Bilden dagegen die Zahn-
reihen bei geschlossenen Kiefern miteinander einen mehr
oder weniger spitzen Winkel, wobei die Schneidezähne
des Oberkiefers schief nach außen und unten, die des
Unterkiefers schief nach außen und oben hervortreten,
so nennt man die Besitzer solcher Zahnstellung: Schief-
zähner, Prognathen. Stehen bei normal geschlossenem
Munde die Vorderzähne des Unterkiefers hinter denen des
Oberkiefers, so nennt man solche Leute Rückzähner,
Opistognathen; oder stehen umgekehrt bei normalem
Mundverschluß die Vorderzähne des Unterkiefers, als wäre
dieser gleichsam für den Oberkiefer zu groß, vor denen
des Oberkiefers (letztere sind dabei meist schief zuge-
wendet), so nennen wir dann solche Leute Vorderkauer
oder Progenaeen.
Die extremeren Fälle, auf die es vor allem ankommt,
sind ganz gut und mit genügender Sicherheit durch das
bloße Ansehen ohne Messung zu bestimmen. Hier sind
die Verhältnisse bei den verschiedenen Stämmen unseres
Vaterlandes ganz auffallend different.
Bezüglich der öeradzähnigkeit und Schiefzähnigkeit
— welch letztere man für den niedrigeren Bildungsmodus
zu betrachten gewöhnt ist — mögen folgende Beispiele
dienen. Ich bestimmte folgende Werte exakt durch Mes-
sung an Schädeln:
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologiache Beobachtungen. 349
Prognathie und Orthognathie
der Bevölkerung von
Altbayern Franken (Thüringen)
Es waren prognath ... 5% 21%
Es waren orthognath. . , 6Q ^ 72 ,
Es waren hyperorthognath . 29 „ 7 „
Bezüglich der „Rückzähner'^ habe ich keine statisti-
schen Zählungen in größerer Anzahl zur Verfügung.
Nicht selten erscheint aber Opistognathie mit Hyper-
orthognathie verbunden.
Die ^Vorderkauer" haben Virchow Anlaß zu
näheren Studien über ihr Vorkommen gegeben. Der
Vorderkauer oder Progenaeus hat die Besonderheit, daß,
im Profil gesehen, der Unterkiefer ein sehr stark hervor-
tretendes Kinn zeigt, so zwar, daß die Zähne meist eiwas
schräg rückwärts, öfters sogar fast nach innen stehen. Das
Kinn schiebt sich über das ganze Gesichtsprofil vor, das
Mittelgesicht fällt dementsprechend relativ ein imd, indem
häufig die Stirn wieder weiter hervortritt, bekommt diese
höchst charakteristische Oesichtsbildung eine gewisse Aehn-
hchkeit mit dem Kalenderneumond.
In Süddeutschland findet sich diese Kiefer- und
Qesichtsbildung absolut sehr selten, während sie von
Virchow bei den , Friesen" »in sehr weiter Verbreitung"
nachgewiesen und ihr Vorkommen bis tief nach Han-
nover (wo sie zuerst von Ludwig Meyer an Irren be-
obachtet und beschrieben war) verfolgt ist. „Ich glaube
also," sagt Virchow (Jenaer Kongreß 1876, S. 83), „die
Progenie zu einem ethnologischen Merkmale erheben zu
können, ohne daß ich deshalb behaupte, daß sie auf alle
Fälle zutreffen müsse. Aber meine Untersuchungen er-
gaben, daß wenn man die Statistik der Schädel nach
Regionen vornimmt, man in friesischen Bezirken unge-
wöhnlich große Zahlen und ungewöhnlich stark entwickelte
Formen von Progenie vorfindet."
Hier liegt sonach ein ergiebiges Feld zur statistischen
Untersuchung weit offen.
Auch das Aussehen der Zähne ist wichtig; wir
unterscheiden: opak, durchscheinend, massig, fein.
Digitized by VjOOQ IC
350 Johannes Ranke,
Bei Naturvölkern hat man auch auf Färbung und Feilung
der Zähne zu achten. Letzteres kommt auch bei uns
— abgesehen von zahnärztlichen Eingriffen — vor; Knaben
lassen sich von Kameraden den Zwischenraum zwischen
den mittleren Schneidezähnen nach oben spitz zugehend
ausfeilen, um besser und lauter durch die Zähne pfeifen
zu können (Spitzbubenpfiff).
Bezüglich der Geschlechtsdifferenzen soll daran er-
innert werden, daß man meist behauptet, das weibliche
Geschlecht neige mehr als das männliche zur Schief-
zähnigkeit, was Virchow halb scherzend auf eine
relativ größere Zunge der Frauen als Ursache zurück-
führen wollte. Nach Schaaffhausen sind die mitt-
leren Schneidezähne der Frauen großer als die
der Männer. Es war das, wie mir scheint, bis in die
neueste Zeit eine ziemlich allgemein geteilte Anschauung.
Ein vielbeschäftigter Zahnarzt, Julius Parreidt,
ist nun aber nach eigenen Messungen gegen diese Be-
hauptung aufgetreten, ohne Schaaffhausen zu über-
zeugen: „Ich fand," sagte letzterer in einer folgenden
Publikation, „daß die mittleren oberen Schneidezähne
be'.m Weibe nicht nur verhältnismäßig, sondern absolut
größer sind als beim Manne (Anthropol. Kongreß, Trier
1883, S. 113). Ein Vergleich von 12 Männern und
12 Weibern im Alter von 18—25 Jahren ergab, daß die
mittlere Breite derselben beim Manne 8,8, beim Weibe
9,3 betrug, diese waren also um 0,5 mm breiter; bei den
Männern war die Breite 10 X 9 mm, 2x8; bei den
Weibern 5x10, 5x9, 1x8. Die unteren mittleren
Schneidezähne waren bei den Männern im Mittel 5,5, bei
den Weibern 5,4.*
Franz Daffner giebt als mittlere Breite der
mittleren oberen Schneidezähne bei bayrischen Soldaten,
durchschnittlich eiwas über 22 Jahre alt, nur 7,75 mm,
und für die mittleren unteren sogar nur 5,67 an. Hier
giebt es sonach offenbar sehr auffallende Unterschiede,
die wahrscheinlich eine ethnische oder Stammesverschie-
denheit andeuten, da Schaaffhausen an Rheinländern
(Bonn) seine Messungen angestellt hat. Parreidt hat
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Anthropologische 'Beobachtungen. 35 1
seine Messungen in der zahnärztlichen Poliklinik in
Leipzig angestellt, wir haben sonach drei sehr ver-
schiedene deutsche Stämme von den drei genannten For-
schem in Beobachtung gestellt. Parreidt fand in je
100 Messungen die mittleren oberen Schneidezähne bei
seinen „ Sächsinnen" um ein geringes im Mittel kleiner
als die bei den , sächsischen" Männern; seine Mittelzahlen
sind für Männer 8,48i, für Frauen 8,8S9 mm. Nach Aus-
scheidung einiger, wie er annimmt, abnormen Fälle wer-
den diese Zahlen 8,6 und 8,4. Solche Messungen sind am
Lebenden leicht mittelst eines kleinen Greifzirkels auszu-
führen und wären gewiß nicht ohne lehrreiches Ergebnis.
Zahnärzte namentlich hätten auch die beste Gelegen-
heit darüber Messungen und statistische Zählungen an-
zustellen, wie sich die Größe des „Weisheitszahnes"
zu den Nachbarzähn,en verhält, ob er, wie man an-
nimmt, so gut wie immer kleiner als diese ist. Es fragt
sich: Wie oft ist er gleich groß? Wie oft größer als sein
Nachbar? Wie verhält sich in dieser Hinsicht der obere
und untere Kiefer? Die Vergrößerung des Weisheits-
zahnes wird bekanntlich, da nach der Behauptung z. B.
Hyrtls bei den menschenähnlichen Affen die Mahlzähne
vom 1.— 3. an Größe zunehmen, als ein Rückschlag auf
affenahnliche Form der Bezahnung gedeutet und soU bei
„rohen Rassen" häufiger sein als bei der unseren; um-
fassendere statistische Aufnahmen darüber fehlen aber
bis jetzt noch vollständig. Auch fQr die menschenähn-
lichen Affen ist die Frage noch keineswegs vollkommen
erledigt, da nach v. Bisch off wenigstens beim Schim-
panse der 3. Mahlzahn (Weisheitszahn) kleiner ist als
der 2., der seinerseits größer ist als der 1.
Indem wir andere Besonderheiten der Bezahnung,
obwohl sie auch nicht ohne ethnischen Wert sind, über-
gehen (wie z. B. Vermehrung oder Verminderung der
Zähne, mehrwurzelige Schneide* oder Eckzähne, Diffe-
renzen in der Bewurzelung der Backen- [Prämolaren] und
Mahlzähne oder Stockzähne [Molaren], sowie im Eronen-
bau), wenden wir uns zu einem anderen für die ethnische
Diagnose sehr wichtigen Organ, zu der
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352 Jobannes Ranke,
6. Bildung der OliniinsclLel.
Im allgemeinen pflegte man bisher die Büdung des
äußeren Ohres nur wenig zn beachten. Man unterscheidet :
kleine und große, abstehende und anliegende; aber
auch Lage resp. Stellung am Kopf und Modellierung sind
yielfach verschieden, und man hat von diesen individuellen
Differenzen wenigstens fUr die Charakterisierung niederei-
Rassen schon hier und da Gebrauch zu machen ver-
sucht.
Das äußere Ohr bildet einen breiten blattartigen
Saum um die Oeffiiung des Gehörganges, der namentlich
nach oben, unten und hinten stark entwickelt ist und
seine eigentümliche trichterförmige, oder besser gesagt,
muschelförmige Gestalt durch eine eingelagerte knorpe-
lige Stütze erhält. Nur der unterste Teil des äußeren
Ohres, das sog. Ohrläppchen, ist knorpellos lediglich von
Haut gebildet. Beim normal gebauten Menschenohre ist
der äußere Rand der Ohrmuschel umgekrempt und der
Muschelvertiefung zu nach innen gerichtet, dieser umge-
krempte Rand wird als Leiste (Helix) bezeichnet. Gegen
das Gesicht zugewendet, also nach vorne, wird die Mün-
dung des Gehörganges teilweise verdeckt durch einen
größeren, seine abgerundete Spitze nach hinten wenden-
den Höcker, die Ecke (Tragus); ihr gegenüber nach
hinten, also der Leiste angenähert, zeigt sich ein ähn-
liches kleineres Höckerchen, welches seine abgerundete
Spitze der Ecke entgegen wendet und daher Gegenecke
(Antitragus) genannt wird. Von dieser Gegenecke erhebt
sich innerhalb der Leiste ein aufsteigender, konvex nach
außen gekrümmter, meist ziemlich schmaler Wulst oder
Wall, die Gegenleiste (Antihelix), die in ihren unteren
Partieen wenigstens die Krümmung der Leiste wiederholt,
im oberen Drittel der Ohrmuschel aber sich in zwei
Schenkel gabelt, welche sich unter den oberen vorderen
Rand der Leiste hineinschieben. Zwischen der konvexen
Rückwärts- und Auswärtsbiegung der Gegenleiste und der
Mündung des Gehörganges befindet sich die trichterförmige
Vertiefung der Ohrmuschel, welche als Muschelgrube
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Anthropologische Beobachtungen. 353
bezeichnet wird. Zwischen Ecke und Gegenecke senkt
sich gegen das Ohrläppchen ein Einschnitt (der Zwischen-
eckeneinschnitt). Meist ist die Form der Ohrmuschel
oblong, bald breiter bald schmäler, äußerlich von einer
nur an der Grenze des Läppchens etwas eingezogenen
Bogenlinie begrenzt.
Die Größe des Ohres solltef, nach Quetelet, mit
Einschluß des Läppchens, also nach seiner größten Aus-
dehnung gemessen, in allen Altersstufen gleich sein der
doppelten Länge der Augenlidspalte. Die individuellen
Größendifferenzen sind aber sehr auffällig. Dabei sind
große Ohren fast stets oval, kleinere mehr gerundet.
Größe und Gestalt des Läppchens sind mannigfach ver-
schieden. Häufig ist das Läppchen von der Wange ge-
schieden und daher frei, oft genug aber auch damit ver-
wachsen, sitzend, dann ist es auch nicht deutlich von der
„Ecke*' abgesetzt. Bei einem Buschmannohr fand Langer
dessen hinteren Rand, und damit auch den unteren Um-
riß der Ohrmuschel, unter einem sehr schiefen Winkel
in die Wange eingesenkt. Giebt es diese Form auch bei
uns? Das Ohrläppchen fehlt auch bei uns oft genug, es
wäre das so viel wie eine affenähnliche Bildung insofeme
als sich, wie es scheint, ein gut entwickeltes Ohrläppchen
nur bei dem Menschen findet. Unter 100 darauf unter-
suchten erwachsenen bayrischen Frauen fand sich bei 3 %
das Läppchen auffallend klein, bei 4^/^ ganz fehlend.
Beiläufig sei bemerkt, daß bei 11 % das Ohrläppchen
„undurchbohrt* war, d. h. es wurden keine Ohrgehänge
getragen.
Die Modellierung der eigentlichen Ohrmuschel kann
auch sehr verschieden sein:
1. Die Leiste kann nach hinten aufgerollt sein, so
daß sich das Ohr blattartig mit einem scharfen hinteren
Rande begrenzt. Wie oft kommt das vor?
2. An dem freien Rande der Leiste findet sich manch-
mal, ungefähr in der Höhe der Teilung der Gegenleiste
in ihre zwei Schenkel, jenes Knötchen, welches Darwin
als einen Ueberrest der Spitze früher, bei Tieren nämlich,
aufgerichteter und zugespitzter Ohren betrachtet, eine
Anleitnng Enr deutschen Landes- and Volksforsohnng. 23
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354 Johannes Ranke,
seitdem Ton Ludwig Meyer u. a. widerlegte Annahme.
Wie oft findet sich dieses Darwinsche Knötchen?
3. An der Gegenleiste erscheint öfter der Zwischen-
raum zwischen den « gabelnden Schenkeln** mehr oder
weniger verstrichen. Manchmal ergeben sich dagegen 3
oder sogar 4 Schenkel, letzteres eine sehr seltene Bildung.
Zweifellos sind diese individuellen Bildungen des
Ohres angeboren und wahrscheinlich erblich, das müßte
näher untersucht werden. Die Formverschiedenheiten des
Ohres sind so groß, daß sie sich fast bis zum Werte von
individuellen Kennzeichen (fQr die Justiz) erheben können.
Bei den Neugeborenen steht das Ohr noch etwas
tiefer als bei den Erwachsenen. Auch hier giebt es ge-
wiß unterschiede; dagegen konnten bis jetzt höher stehende
(d. h. affenähnlicher gestellte) Ohren, die man besonders
den Aegyptem und Juden zuschreiben wollte, beim Men-
schen nicht nachgewiesen werden.
Das weibliche Ohr ist durchweg kleiner als das
männliche und meist auch feiner modelliert und zeigt, wie
es scheint, weniger individuelle Variationen in der Form.
7. Die Bildung der H&nde und Füsse.
Die Bildungen des Rumpfes und der Extremitäten
entziehen sich durch die Bekleidung einer allgemeineren
Beobachtung; nur die Hände sind noch leicht zu unter-
suchen. Hier interessiert uns zunächst die verschiedene
Länge der Finger.
Der Daumen des Menschen ragt meist mit seiner
Spitze bis zum zweiten Oelenke des Zeigefingers. Der
Zeigefinger ist etwa um die halbe Nagellänge kürzer als
der Mittelfinger, welcher der längste Finger ist, und der
Ringfinger ist meist noch kürzer als der Zeigefinger, die
Spitze des kleinen Fingers reicht bis oder etwas über
das zweite Oelenk des Ringfingers. Mehrfach findet man
aber den Zeige- und Ringfinger gleich groß, manchmal
sogar den letzteren länger. Nach A. Ecker ist die re-
lativ zum Ringfinger größere Länge des Zeigefingers das
Attribut einer höherstehenden Form der Hand, die in
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Anthropologische Beobjichtungen. 355
Europa häufiger bei dem weiblichen als bei dem männ-
lichen Geschlecht zu sein scheint. Bei den Äffen fand
Ecker den Zeigefinger stets kürzer als den Ringfinger.
J. Orüning hat uns Anfänge zu einer Statistik dieses
interessanten Verhältnisses geliefert. Er maß die Finger-
langen bei 200 Personen (Letten und Litauern je 50 der
beiden Oeschlechter) und fand, daß bei den Männern der
vierte Finger den zweiten durchschnittlich um 5 mm über-
trifft, nur bei je zwei Individuen waren beide Finger gleich
lang oder der zweite länger als der vierte. Auch bei
den Frauen war der vierte Finger durchschnittlich um
4 mm länger als der zweite, bei vieren war der zweite
Finger länger als der vierte, bei dreien beide Finger gleich
lang. Zu ähnlichen Resultaten kam auch Brenn söhn
ebenfalls bei Litauern.
Die Hautfalte zwischen den Fingern, welche
die Finger auf der Rückseite der Hand länger erscheinen
läßt als auf der Beugeseite, und in stärker ausgebildeten
oder schon als wahre Mißbildungen imponierenden Fällen
den Eindruck einer schwimmhautähnlichen Bildung her-
vorbringt, ist individuell oft recht verschieden entwickelt.
Besonders stark hat man sie gelegentlich an den sonst
schmalen und manchmal geradezu „vornehm** geformten
Händen von Schwarzen angetroffen. Auch diese körper-
liche Eigentümlichkeit verdient eine genaue statistische
Aufnahme. Eine solche hat, soviel ich sehe, bisher nur
Grün in g versucht bei den schon oben erwähnten Finger-
messungen. Man sieht diese normale „ schwimmhautähn-
liche ** Erhebung der Hautfalte zwischen den eigenen
Fingern recht deutlich, wenn man die Hand von der
Rückseite bei auseinandergespreizten Fingern betrachtet.
Auf der Beugeseite erstreckt sich der freie Abschnitt der
Finger normal nur bis zu jener queren Furche, welche
den Finger vom Handteller trennt und welche beiläufig
dem ersten Dritteile der Länge des ersten Fingergliedes
entspricht; übrigens reicht die Spaltung der Finger von-
einander, auch von der Rückseite betrachtet, keineswegs
bis zum untersten Fingergelenk (Gelenk zwischen Mittel-
handknochen und erstem Fingergliede). Aus den ver-
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356 Johannes Ranke,
gleichenden Messungen Grttnings, einerseits über die
absolute Länge der Finger vom untersten Fingergelenk
(Fingerknöchel) bis zur Spitze, andererseits vom Ende der
Spalträume zwischen den Fingern ebenfalls bis zur Spitze,
erfahren wir etwas über die Höhe dieser Schwinunhaut-
falte zwischen den Fingern; je großer die letztere ist,
desto kleiner fällt im Vergleich mit der absoluten Finger-
lange die letztere Messung aus. Die im Spaltraum ge-
messene Länge des ersten Fingers fand Grüning durch-
schnittlich um 6 mm geringer als die absolute; die Länge
des zweiten Fingers, im zweiten Spaltraum gemessen, um
21 mm kleiner als die absolute Länge; bei den meisten
Ton Grüning gemessenen Individuen war der dritte Finger
im zweiten Spaltraum länger als im dritten, im Mittel
um 4 mm.
Meist ist die rechte Hand etwas größer als die linke,
ebenso wie gewöhnlich der rechte Arm im ganzen etwas
länger ist ids der linke, und zwar etwa um 4 — 6 nun.
Bei Linkhändern soll beides umgekehrt sein. Nach
den Beobachtungen von Malgaigne waren unter 182
darauf untersuchten Personen flinf linkhändige und zwei,
welche linke und rechte Hand gleich leicht gebrauchten.
Wie ist das bei uns?
Die Bildung der Fingernägel zeigt sehr auf-
fEÜlende individuelle Verschiedenheiten. Bei «schönen
Händen" sind sie nach oben konvex rinnenförmig ge-
wölbt, ziemlich groß, oft aber sind sie auffallend flach
und dann gewöhnlich auch klein. Diese beiden Haupt-
formen werden durch Zwischenglieder miteinander ver-
bunden. Männliche Nägel sind oft dick und undurch-
sichtig, während sich der zartere Nagel einer schönen
weiblichen Hand von der weißen Haut des Fingers, von
durchschimmerndem Blute leicht gerötet, wie ein Rosen-
blatt abhebt.
Weniger leicht bietet sich Gelegenheit, den nackten
Fuß zu untersuchen. Bei ihm sollte zuerst die allge-
meine Form: ob breit und kurz oder schmal und
lang, ob mit liohem oder niedrigem Rist, ob mit
gewölbter oder flacher Sohle, mit langvorstehen-
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 357
der oder kurzer Ferse, festgestellt werden. Eine flache
oder wenig gewölbte Sohle ist übrigens noch keineswegs
identisch mit „Plattfuß". Leute, die stets oder viel
barfuß gehen , besitzen ein mächtiger entwickeltes Fett-
polster zwischen Fußgewölbe und Sohlenhaut, wodurch
die Sohle ausgefüllter erscheint und in größerer Fläche
den Boden berührt. Zum Plattfuß gehört dagegen ein*
abgeflachtes Fußgewölbe, d. h. ein sehr niedriger, bei-
nahe flacher Rist.
Von Seiten der Anthropologie hat man der verschie-
denen Länffe der Zehen, namentlich der ersten Zehe, der
großen Zehe oder Fußdaumen, besonderes Interesse
geschenkt. In einer größeren, längeren und bewegliche-
ren großen Zehe wollte man eine Annäherung an den
Affentypus des Fußes erkennen. Die Messungen sind
übrigens an Europäern dadurch erschwert, daß durch das
Schuhwerk die Zehen verdrückt und aus ihrer normalen
Stellung gerückt sind. Die große Zehe steht nach außen
den übrigen Zehen zu stark genähert, die kleine Zehe
ebenso, aber nach innen gedrückt, um die wahre Länge
dieser beiden Zehen feststellen zu können, müssen wir sie
bei der*Vergleichung gerade stellen, ebenso auch die
durch den Schuhwerkdruck krampflg gegen den Fußballen
eingezogenen übrigen. Zehen strecken. Erst dann er-
halten wir ein richtiges Bild der gegenseitigen Längen-
verhältnisse der Zehen. Die antiken Kunstwerke der
griechischen klassischen Periode bildeten die große Zehe
kürzer als die zweite. Hyrtl fand aber bei der Wiener
Bevölkerung, sowohl bei Erwachsenen als bei Neu-
geborenen, die große Zehe im allgemeinen länger als
die zweite. Es fragt sich übrigens noch, ob diese An-
gabe auf ausgiebigen Messungen oder nur auf dem Ein-
druck des Augenscheins beruht. Denn es ist leicht zu
konstatieren, daß öfters die große und die zweite Zeh&
gleich lang oder, in vollkommener Streckung gemessen, die
zweite in Wahrheit sogar länger ist als die große, welch
letztere nur größer erscheint, weil sie normal weniger
als jene oder gar nicht hakenartig nach abwärts ge-
krümmt ist. Eine auf Messungen beruhende Statistik
Digitized by VjOOQ IC
358 Johannes Ranke,
hat neuerdings wieder Grüning geliefert. Er fand bei
seinen, oben schon zweimal erwähnten, Messungen an
200 Letten und Litauern, männlichen und weiblichen
Geschlechts, in der überwiegenden Mehrheit die zweite
Zehe länger als die erste, bei den Männern durchschnitt-
lich um 3 mm, bei den Frauen um 4 mm. Bei 9 Männern
war die erste Zehe größer als die zweite, bei einem beide
Längen gleich, dagegen war bei den Frauen in 21 Fällen
die erste Zehe länger als die zweite. Bei oberflächlicher
Betrachtung scheint fast immer die erste Zehe die längste
zu sein, das ändert sich aber, wie gesagt, öfters, sowie
man die beiden Zehen gerade richtet, was jeder Messung
vorausgehen muß. Meine eigenen an Münchener er-
wachsenen Frauen angestellten statistischen Zählungen
stimmen übrigens weit mehr mit Hyrtl überein. Ich
fand die erste Zehe am längsten bei 86®/o, bei nur
7 ®/o war die zweite Zehe die größte , ebenfalls bei 7 ^/o
waren erste und zweite Zehe gleich lang. Hier scheinen
sonach in Deutschland sehr auffallende Stammesdifferenzen
zu existieren; mein Beobachtungsmaterial gehörte, wie
das Hyrtls, meist zum altbajrischen Stamme. Ein Un-
terschied zwischen dem blonden und dem brünetten Typus
ergab sich mir bei der Zehenmessung übrigens bisher
nicht.
Auch an den Füßen verdienen die Zehennägel ein-
gehende Beachtung in derselben Weise, wie das oben für
die Fingernägel angedeutet wurde.
n. Anthropologische Messungen.
1. Die Eörpergrösse.
Unter den typischen Körpereigentümlichkeiten, mit
welchen die Germanen in das Licht der Geschichte ein-
traten, wurde neben der Blondheit von den Hörnern nichts
mehr angestaunt als ihre gigantisch erscheinende Leibes-
größe. Wenn wir nach den Beweisen forschen, daß wir
noch die echten Abkömmlinge dieser Ahnen sind, so muß
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Anthropologische Beobachtangen. 359
dabei der Untersuchung der Körpergröße eine besonders
wichtige R»olle zugeteilt werden.
Wie verhalten sich die verschiedenen deutschen
Stamme bezüglich ihrer Körpergröße? Giebt es vielleicht
auch ähnliche Zonen stärker oder weniger sich erheben-
der Körpergröße, wie wir solche bezüglich der Blonden
und Brünetten nachweisen konnten?
Diese letztere Frage wird von manchen, welche über
Körpergröße reden und schreiben, schon als in dem Sinne
erwiesen betrachtet, daß die „Brünetten'* im allgemeinen
kleiner sein müßten als die „Blonden**. Indem man von
dieser Seite im mehr oder weniger unbewußten Anschluß
an die von Frankreich speziell zur — wir gUtuben mit dem
Worte nicht zu viel zu sagen — Beschimpfung und Herab-
setzung Preußens erfundene angebliche „race prussienne**,
die der Hauptsache nach aus kleinen braunhäutigen und
schwarzhaarigen Finnen und Slawen bestehen sollte, eine
kleine brünette, kurzköpfige, mongoloide Rasse als die
Urbevölkerung Deutschlands als feststehend bewiesen po-
stuliert, sucht man nun nach den Enkeln dieser kleinen
brünetten Kurzköpfe neben den Nachkommen der eigent-
lichen Germanen, die man an ihrem hühnenhaften
Körperbau erkennen will. Es ist das offenbar ein schon
im Prinzipe unwissenschaftliches Verfahren, da man das,
was durch die Untersuchung der Körpergröße erforscht
werden soll, eben die Frage: besitzen der blonde Typus
und der brünette Typus im Durchschnitt verschiedene
Körpergrößen? schon im voraus als entschieden hinstellt.
Ganz ähnlich steht es mit der Kopfform. Es war
gewiß eine sehr wichtige Entdeckung von Lindenschmit
und Ecker, -da^i in den Grabstätten der Alemannen der
Völker Wanderungszeit , eines entschieden germanischen
Stammes, sich Skelette sowohl von hervorragender Größe
als mit weit überwiegend schmalem, dolichocephalen
Schädelbaue finden. Indem man nun aber diesen Satz
verallgemeinerte, glaubte man einerseits nur die, anderer-
seits alle die als wahre und unverfälschte Abkömmlinge
der alten Germanen betrachten zu dürfen, welche solche
„ Langschädel " auf den Schultern tragen, während man die
Digitized by VjOOQ IC
360 Johannes Ranke,
,Eurz8chädel' den zur Erklärung so beliebten, wie gesagt,
von Prankreicb importierten ^Urfinnen" als Enkel zu-
rechnen möchte. Virchow hat dieses ganze Gewebe von
wissenschaftlichen Fabeln mit kräftiger Hand zerrissen,
und die Statistik der Farbe der Haut, der Haare und der
Augen hat mit unzweifelhafter Beweiskraft gelehrt, daß
gerade Preußen die blondeste Bevölkerung von ganz
Deutschland besitzt. Hat es auch die körperlich größte?
Hat es auch die meisten Langköpfe?
Die Untersuchung der Körpergröße der gesamten
deutschen Bevölkerung ist nach dem Gesagten eines der
wichtigsten anthropologischen Probleme. Hier kann aber
auch nur, na^h einheiüichem Plane angestellt, eine all-
gemeine Statistik im ganzen Reiche wahrhaft brauchbare
Ergebnisse liefern. Solange wir eine solche allgemeine
Statistik noch nicht haben, sind alle Einzeluntersuchungen
nur Steinchen zu einem künftigen Mosaikgemälde, deren
Bedeutung aber für jetzt noch recht bescheiden ist. Man
muß sich das von vornherein vor Äugen halten, um sich
nicht zu voreiligen Verallgemeinerungen hinreißen zu
lassen, die durch jede neue Lokaluntersuchung wieder in
Frage gesteUt werden.
Das Problem der Körpergröße kann im großen zweifel-
los nur in Verbindung mit der militärischen Aushebung in
Angriff genommen werden. Hier geht uns Baden mit
einem nachahmungswerten Beispiele zum Teil schon voran.
Dort haben sich Männer gefunden, welche bei der ersten
Musterung der Militärpflichtigen zu den militärischen
Messungen und Aufnahmen auch noch wenigstens einige
sehr wichtige somatisch-anthropologische Untersuchungen
— Feststellung der Farbe der Haut, der- Haare und der
Augen, sowie Länge und Breite des Schädels, außerdem
noch die Sitzhöhe — hinzufügen. Hierbei wird die
Militärkommission in keiner Weise mehr als sonst be-
lastet; alle nötigen Aufschreibungen und weiteren Unter-
suchungen besorgt diese aus freiwilligen Forschem ge-
bildete „anthropologische Kommission*. Analog, nur mit
Hinzufügung noch einiger weniger Maße (Höhe des 7. Hals-
wirbels, Armlänge, Schulterbreite), sollte überall in Deutsch-
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 3G1
land und den Nachbarländern vorgegangen werden, dann
könnten wir bald die gewünschte Statistik fertig haben.
Als MlniTninn der Aufnahme für diese allge-
meine Statistik muß gefordert werden: 1. Farbe
der Haut, der Haare und der Augen, 2. Länge
und 3. Breite des Kopfes, 4. ganze Körperhöhe,
5. Höhe des 7. Halswirbels^ 6. Sitzhöhe, 7. Arm-
lange, 8. Schulterbreite (S. 367).
Aber es gehört kein kleines Maß von Aufopferung und
viel frei verfügbare Zeit dazu, um sich dieser Aufgabe zu
widmen ; dagegen müssen es nicht etwa nur Aerzte sein,
welche sich einer solchen Aufgabe unterziehen könnten.
Jeder der exakt zu sehen und zu messen versteht, kann
hier mit Hand anlegen.
Uebrigens sind schon die von Seiten der Militärkom-
missionen aufgenommenen Daten über Körpergröße an sich
fbr die somatische Anthropologie sehr interessant, auch
wenn wir von dem Typus der Leute, ob blond oder
brünett, oder von ihrer Kopfform, ob langköpfig öder
kurzköpfig, zunächst nichts weiter erfahren. Auf ersteres,
auf den Komplexionstypus, läßt ja, wie oben bemerkt,
schon die geographische Lage des Wohnortes einen gut
orientierenden Schluß ziehen, und ähnlich ist es wohl
auch, wie wir sehen werden, mit der Schädelform.
Wenn es wahr ist, daß ein Zusammenhang existiert
zwischen typischer Blondheit mit bedeutenderer Körper-
größe und umgekehrt zwischen typischer Brünettheit und
geringerer Körpergröße, so sollte sich das doch wohl so
nachweisen lassen, daß die Leute in den blondesten Be-
zirken Norddeutschlands im allgemeinen größer, anderer-
seits in den brünettesten Bezirken Süddeutschlands im
allgemeinen kleiner sind.
Meisner hat einen der blondesten Gaue Nord-
deutschlands, Schleswig, auf die mittlere Durchschnitts-
größe aller Militärpflichtigen untersucht und fand dafür
1692 mm. Ich habe die gleiche Untersuchung in einem
der brünettesten Bezirke Oberbayems (Rosenheim) eben-
falls bei allen vorgestellten Militärpflichtigen ausgeführt
und fand 1707 mm. Danach hat die Körpergröße als
Digitized by VjOOQ IC
362 Johannes Kanke,
solche also nichts mit dem Komplexionstypus zu thun.
In größerem Maßstäbe hat Baxter eine ähnliche Un-
tersuchung ausgeführt; er fand, analog wie wir, daß
unter 29060 Deutschen (in Amerika) die „Brünetten*
sowohl in Beziehung auf Körpergröße als Brustumfang
die „ Blonden ** überragen. Das Gleiche bezüglich der
Statur fand Weis b ach bei den Serbo- Kroaten der adria-
tischen Küstenländer, die Größe der Blonden betrug 1689,
die der Brünetten 1692 mm. Zu bemerken ist, daß so-
wohl Baxter wie Weisbach nur die Haarfarbe zur Fest-
stellung des Typus verwendeten. Eine kleinere Unter-
suchung habe ich selbst an Soldaten meist vom altbayri-
schen Stamme in München angestellt. Auch hier fand
sich, daß die Leute vom blonden Typus, mit weißer Haut,
blonden Haaren und blauen Augen, sogar etwas kleiner
waren als die vom brünetten Typus.
Vielleicht ist das anderswo anders? Das müßte
untersucht werden.
Ueber die Körpergröße der Militärpflichtigen und
Soldaten liegt ein überreiches Material bei den Miiitär-
und bei den dem Ersatzgeschäfte für die Armee dienen-
den Ziviibehörden bereit. Ich habe für das ganze rechts-
rheinische Hauptland Bayeras eine Größenstatistik der
„Militärpflichtigen** eines Jahres (1875) nach dem letzte-
ren Materiale ausgeführt. Dazu verschaffte ich mir die
Vorstellungslisten bei den Oberersatzkommis-
sionen (des Jahres 1875), welche alle Militär-
pflichtigen aufführen. Nur diese ganz vollständigen
Listen sind selbstverständlich für unseren Zweck zu ge-
brauchen, da die eingereihten Soldaten nach bestimmten
Gesichtspunkten, unter denen die Körpergröße eine der
wichtigsten Rollen spielt, ausgesuchte Leute sind, sonach
kein treues Bild der allgemeinen Körperentwickelung einer
Gegend geben können. Diese Listen wurden mir mit der
größten Bereitwilligkeit von Seiten der königlich bayri-
schen Regierungspräsidenten resp. der Herren Zivilvor-
sitzenden der Oberersatzkommissionea geliefert.
Meine Methode, die ich als praktisch bewährt em-
pfehlen kann, war folgende: Aus den genannten Listen
Digitized by VjOOQ IC
Anthropologische Beobachtungen. 363
machte ich bezüglich der Körpergröße aller mit einem
Maße verzeichneten, in diesem Jahre vorgestellten bay-
rischen Militärpflichtigen einen vollkommenen Auszug,
so daß jeder Militärpflichtige in meinen Tabellen mit
seinem Körpermaße verzeichnet steht. Etwa nicht Ge-
messene wurden besonders aufgeführt.
Für jeden Vorstellungsbezirk, jedes Bezirksamt oder
jede unmittelbare Stadt wurde eine eigene Tabelle ange-
legt. Auf einem in kleine Quadrate eingeteilten Bogen (wie
sie die Kinder in ihren Rechenheften vielfach benützen)
wurde, als Grundlinie (Abscisse) von 1 m 43 cm beginnend
bis Im 92 cm von 1 cm zu 1 cm fortschreitend, die
Zahlenreihe der gewöhnlich vorkommenden Größenmaße
eingetragen, üeber jede dieser Zahlen wurde durch
Punkte die Anzahl der mit diesem speziellen Größenmaße
in den betreffenden Bezirken vorgestellten Militärpflich-
tigen (jeder Militärpflichtige resp. sein Punkt kam in die
Mitte eines jener kleinen (Quadrate) als Ordinaten ver-
zeichnet. Leute, deren Größe unter 1 m 43 cm betrug,
ebenso solche, welche größer waren als 1 m 92 cm, wur-
den am Rande der Tabelle eigens mit ihrem Maße be-
merkt. Es bildet auf diese Weise die Bevölkerung jedes
Beobachtungsbezirks eine geschlossene Kurve, in welcher,
ohne jede weitere Umrechnung in Prozenten, lediglich
aus der absoluten Anzahl der über jedes Einzelmaß Ein-
getragenen (bez. mit der wechselnden Höhe der Ordi-
naten der Kurve) die allgemeine Verteilung der Körper-
größen im Bezirk zur Anschauung kommt. Ordnen wir
die Bezirke nach den Maximalordinaten ihrer Kurven,
d. h. nach den in jedem Bezirk am häufigsten vorkom-
menden Körpergrößen, so kommen wir im allgemeinen
schon zu gauz analogen Beziehungen, wie durch die pro-
zentische Umrechnung der Zahlen zu Mittelwerten.
Diese ganze Art der von mir gewählten Zusammen-
stellung ist zwar eine etwas mühevollere als die von anderen
benutzte, sie giebt aber für die Folge die Möglichkeit, die
einmal gemachte Arbeit in sehr verschiedener, verschiede-
nen Fragen angepaßter Weise zu verwerten. Sehr leicht
ist dabei die Ausscheidung der einzelnen Größengruppen.
Digitized by VjOOQ IC
364 Johannes Ranke,
Um die Ergebnisse geographisch in Kartenskizzen ein-
tragen zu können, machte ich folgende nach Zentimetern
fortschreitende Unterscheidungen :
Mh^^aßige ™t« 1 m 57 «» j ^^^^ ^^^ , „ ,, ^^
g^Ägroße rlS ;S^ S I ö-fie über 1 n. 69 cm.
Die Häufigkeitsstufen, die ich der kartographischen
Darstellung zu Orunde legte, waren:
Kleine unter Im 62 cm : Große von 1 m 70 cm und darüber:
10— 19 V der Militärpflichtigen 10— 19^0 der Militärpflichtigen
20— 29„ . , 20-29 „ ,
30—89 , . , 30-39 , .
Meisner für Schleswig, Ammon für Baden u. a.
haben sich dieser meiner Einteilung schon angeschlossen,
und es erscheint daher zweckmäßig, wenn auch anderwärts
nach dem gleichen Schema die Untersuchung geführt
werden könnte.
Von dem Ziehen von Mittelwerten für die Körper-
größe der Militärpflichtigen in jedem Untersuchungsbezirk
habe ich im allgemeinen bisher abgesehen, da dadurch
die Extreme, Kleinste und Größte, sich gegenseitig eli-
minieren, deren Zählung doch gerade von Bedeutung ist.
Immerhin sind namentlich für die Vergleichungen mit
älteren statistischen Aufnahmen die Berechnungen Ton
Mittelwerten wünschenswert, wie wir ja auch schon
oben von der Vergleichung der Mittelwerte erfolgreich
Gebrauch gemacht haben.
Es darf aber an dieser Stelle nicht verschwiegen
werden, daß den Körpergrößenbestimmungen bei den
Militärpflichtigen ein schwerwiegender Fehler anhaftet,
wenn man daraus auf die Körpergrößen der Bevölkerung
einen Schluß ziehen will : die Militärpflichtigen sind noch
keineswegs voll ausgewachsen und niemand ist imstande
zu sagen, wieviel noch jeder einzelne wachsen wird.
Das Wachstum im militärpflichtigen Alter ist bei den
einzelnen Individuen, bei verschiedenen Stänmien, bei dem
gleichen Stamm in verschiedener geographischer Um-
gebung — ob im Gebirg oder im Flachland — u. v. a.
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Anthropologische Beobachtungen. 365
zweifellos sehr verschieden, obwohl uns hierfür eigent-
liche, vorwurfsfreie, statistische Aufnahmen noch nicht
vorliegen. Im bayrischen und Tiroler Gebirge sind die
zur Militärpflicht einberufenen Jünglinge noch keineswegs
ausgewachsen oder nur annähernd voll entwickelt. Wer
die zwanzigjährigen „Buben" mit dreißigjährigen Männern
vergleicht, kann erst den unterschied ganz würdigen.
Aehnlich ist es übrigens doch fast überall, wenn auch
die Differenzen nicht so grell sind; bei beginnendem
militärpflichtigen Alter sind viele Individuen oder ganze
Stände und Bevölkerungsgruppen noch körperlich auf-
fallend unfertig, die sich in der Folge noch weit besser
ausbilden. Dieses Verhältnis zeigt sich z. B. vielfach bei
den Juden. Durch eine Anzahl von Untersuchungen ist
festgestellt, daß die Stellungspflichtigen Juden im allge-
meinen körperlich weniger ausgebildet sind als die nicht-
jüdischen (germanischen, slawischen, finnischen) Bevölke-
rungen, unter denen sie wohnen; das Verhältnis bessert
sich aber in der Folge. Die Bemerkung, welche Ko-
pernicki und Majer bei der Rekrutierung in Oester-
reichisch-Polen machten, daß die Juden im 20. Lebens-
jahre kleiner sind als die Ruthenen und Polen, unter
denen sie dort leben, im 25. Lebensjahre aber die Poleji
an Größe erreicht haben (die Ruthenen sind noch etwas
größer), ist ein sehr wichtiger Fingerzeig dafür, daß das
Wachstum zeitweilig verzögert werden, aber in späteren
Jahren das in früheren Versäumte nachholen könne.
Aehnlich wie mit der Körpergröße ist es mit dem no-
torisch im allgemeinen geringeren Brustumfange der
jüdischen Rekruten; auch hier stellen sich in späteren
Lebensjahren viel günstigere Dimensionen heraus.
üeber die weitere körperhche Entwickelung im Laufe
der Militärdienstzeit geben uns die Messungen späterer
Jahrgänge und der Landwehr- oder Landsturmleute einst
vielleicht erwünschten Aufschluß, dieser wird aber stets
nur einseitig bleiben, da alle jene, welche nicht eingereiht
werden, ausgeschlossen bleiben.
Bezüglich der Körpergröße des weiblichen Ge-
schlechts haben wir noch so gut wie gar keine Anhalts-
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366 Johasnes Ranke,
punkte, wenigstens sind die Messungszahlenreihen, 'auf
welche wir hinblicken können, viel zu klein. Auch bei
den Frauen muß von vornherein darauf hingewiesen wer-
den, daß dieselben im Beginn des „heiratsfähigen Alters*
noch keineswegs ganz ausgewachsen sind, viele wachsen
als Ehefrauen und Mütter noch beträchtlich.
Unter diesen Verhältnissen ist es sehr wünschenswert,
daß alle sich darbietenden Gelegenheiten, Erwachsene
zu messen, für beide Geschlechter benutzt werden
in Krankenhäusern, Pfründeanstalten^ Gefäng-
nissen u. a.
Es wäre gewiß eine dankenswerte Aufgabe, wenn in
der schon mehrfach dargelegten Weise ganze kleinere
Gemeinden auf ihre Körpergröße durchgemessen werden
würden, selbstverständlich wieder nach den oben (S. 336)
angegebenen Alterskategorieen.
Die Meßmethode der Gesamtkörpergröße ist sehr ein-
fach. Ein von 1 cm zu 1 cm eingeteiltes Doppelmeter-
band wird senkrecht an einer Wand oder Thüre so be-
festigt, daß sein Ende mit 0 — 1 cm genau am Boden
ansteht. Nun läßt man das zu messende Individuum, nach
Ablegen der Fußbekleidung, mit dem Rücken sich so gegen
die Wand stellen, daß das Metermaß in der Mittellinie des
Körpers steht und daß beide Fersen die Wand berühren,
das Gesicht geradeaus (vergl. S. 372) gerichtet. Einen
Zeichenwinkel oder ein genau ins Viereck geschnittenes
Brettchen von etwa 25 cm Länge und 15 cm Höhe drückt
man nun mit der Langkante an den Kopf in der Art an,
daß die aufrecht stehende Schmalkante scharf rechtwink-
lig an der Wand resp. an dem über den Kopf emporragen-
den Teile des Meterbandes anliegt, und liest nun an
der unteren Ecke des Brettchens resp. des Winkels ab.
Man berücksichtigt nur ganze, höchstens noch halbe Zenti-
meter.
Außerordentlich günstige Plätze für Körpermessungen
sind Badeanstalten. Hier könnte ein Körpermaß, wie
es bei den militärischen Messungen gebraucht wird (ein
Rekrutenmaß), aufgestellt werden und damit unter Auf-
sicht des Badedieners die Messungen der Badenden aus-
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Anthropologische Beobachtungen. 367
geführt werden. Es müßte ein Handspiegel und ein Heft
aufliegen, in welch letzteres der Gemessene sein AHer und
die Farbe seiner Augen und Haare einzutragen hätte. Es
unterliegt keinem Zweifel, daß, mit einigem Eifer, in
Badeanstalten zahlreiche Messungen an Erwachsenen und
jüngeren Leuten sehr verschiedenen Alters auf die ange-
gebene Weise gewonnen werden könnten.
2. Die Körperproportionen.
Ein für Körpermessungen sich interessierender Arzir
würde in Badeanstalten auch Gelegenheit zu solchen ein*
gehenderen Körpermessungen finden, wie sie unser verein-
bartes, unten mitzuteilendes anthropologisches Messungs-
schema wünscht.
Die wichtigsten Maße desselben sind:
1. Ganze Größe.
2. Bestimmung der Höhe des 7. Halswirbels resp.
dessen Domfortsatzes, den man bei etwas vorge-
beugtem Kopfe am Ende des Halses durch die Haut
hervortreten fühlt und sieht.
3. Bestimmung der Sitzhöhe, d. h. der Höhe des
Scheitels über dem Sitz.
Die erstere Messung hat nicht die geringste Schwierigkeit,
bei der dritten hat man darauf zu achten, daß der auf
einem lehnelosen Stuhle (z. B. Kistchen), dessen Hohe man
genau gemessen hat. Sitzende mit dem Kreuz (Unter-
rücken) genau an der Wand oder dem Pfosten des Re-
krutenmaßes ansitzt. Im übrigen wird verfahren wie
bei der Messung der ganzen Körperhöhe; die Sitzhöhe
ergiebt sich aus der direkt gemessenen Höhe des Sitzen-
den nach Abzug der Stuhlhöhe.
4. Bestimmung der Arm länge am rechten Arm.
5. Bestimmung der Schulterbreite.
Besonders wünschenswert sind außerdem noch:
(3. Bestimmung der Klafterlänge der Arme.
7. Bestimmung des Brustumfangs.
Um mit dem letztgenannten Maße zu beginnen, so
wird bei Männern der Brustumfang mit dem Meter-
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368 Johannes Ranke,
bände gemessen, welches man horizontal über die Brust-
warzen. anlegt. Der zu Messende steht dabei aufrecht,
hat die Hände erhoben und über dem Kopfe gefaltet.
Nun mifit man einmal bei tiefster Einatmung, das andere
Mal bei tiefster Ausatmung, die Differenz ist das Atem-
spiel. Das letztere beträgt bei erwachsenen Männern
im Mittel etwa 6 — 7 cm. Für den Brustumfang stehe
als Beispiel eine Tabelle von Herrn F. Daffner an 171
niederbayrischen Soldaten, im Durchschnitt etwas über
22 Jahre alt, wobei wir auch das Körpergewicht bei-
fügen. Die Größe^ in Zentimetern , Gewicht in Pfmid,
Brustumfang in Zentimetern. Folgendes sind Mittelwerte.
Brustumfang:
85,00—91,00
81,00 — 85yfo
82,t«— 89,iT
85,80 — 90,10
87,oo--91,«i
82,8«— 88,iT
90,18—96,01
85,80—91,11
85,11—89,10
85,70—91,10
85,i5— 91,11
85,45—90,75
87,10—92,85
86,15—92,50
87,50—93,10
85,50— 90,8«
88,05 94,45
87,10—93,05
85,18—92,5«
89,11—95,31
86,75—93,62
89,00-93,50
90,17—96,11
Danach beträgt die durchschnittliche Größe der
Gemessenen 168 cm, ihr Durchschnittskörpergewicht
130,9 Pfund, der durchschnittliche Brustumfang berech-
net sich auf 89,1 cm, er ist bei störkster Ausatmung
86,s9, bei stärkster Einatmung 91,89 cm. Das Atemspiel
ergiebt sich daraus zu 5,6 cm im Mittel.
zahl:
Größe:
Gewicht:
1
157
123,00
2
158
112,00
3
159
119,11
5
160
118,80
8
161
121,15
3
162
118,81
7
163
138,14
15
164 .
1^3,58
15
165
125,07
10
166
127,40
11
167
126,84
10
168
126.90
10
169
132,40
10
170
133,00
15 .
171
135,17
7
172
134.00
11
173
141,54
10
174
137,50
7
175
143,00
3
176
145,87
4
177
142,50
1
178
137,00
8
179
147,87
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Anthropologische BeobachtuDgen. 3(39
Topinard giebt folgende Mittelwerte von Brust
üfängen an nach sehr großen Messungsreihen.
Brustumfang:
Schotten .
Engländer .
Deutsche .
Buesen . .
Franzosen .
. 100,0
. 93,.
. 91,2
. 88,7
. 87,9
cm = 56,7 % der Körpergröße
M = 5«5,8 ,, „ „
,, = 53,4 ,. „
„ = 53,0 „ „
Bei Frauen muß der Brustumfang über den Brüsten
gemessen werden.
Bei bayrischen erwachsenen Frauen betrug nach
meinen Messungen die mittlere Körpergröße 157 cm, der
mittlere Brustumfang 84,9, das Atemspiel im Mittel von
82,7—87,1 = 4,4 cm. Auf die Körpergröße berechnet
beträgt der Brustumfang 54,o7 ^/o, also etwas mehr als
bei den deutschen Männern der obigen Tabelle.
Die Bestimmung der Armlänge und deren Abschnitte
geschieht am besten mit einem steifen Maßstabe bei aus-
gestrecktem Arm. Man greift sich zu - diesem Zwecke
zuerst den knöchernen Schulterhöhenrand bei hängendem
Arme heraus, fixiert ihn mit dem Finger, legt seinen Maß-
stab daran an und läßt nun den Arm heben und strecken,
dann liest man ab, wie weit der Mittelfinger reicht.
Zur Messung der Klafterlänge bedarf man eines
Doppelmeterstabes und eines Gehilfen, der das eine Ende
des quer über den Rücken des zu Messenden geführten
Stabes an der Spitze des Mittelfingers der einen Hand des
zu Messenden, bei vollkommenster Querstreckung beider
Arme, festhält, während man die Stellung des zweiten
Mittelfingers an dem Meterstabe selbst kontrolliert.
Die Brustbreite kann nicht aus der Armlänge
und der Klafterweite der Arme berechnet werden, sie
würde so viel zu schmal ausfallen, man muß sie direkt
messen. Ich benutze dazu einen Kalibermeßstock, wie ihn
die Holzhändler und Förster zur Dickenmessung der Baum-
stämme verwenden und den man bei jedem besseren
Drechsler, aber auch in größeren Eisenhandlungen fertig
kaufen kann. Gemessen wird bei hängenden Armen von
einer Außenkante der knöchernen Schulterhöhe zur anderen.
AnleitaDg zur dentschen Landes- and Volksforachnng. 24
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370 Johannes Ranke,
Die auf die angegebene Weise gewonnenen ersten
fünf Maße werden dann in folgender Weise verwertet.
Der Längenunterschied zwischen ganzer Höhe und
Sitzhöhe giebt die B einlange (Länge des freien Beines).
Die Differenz zwischen der ganzen Höhe und der Höhe
des 7. Halswirbels giebt die Höhe von Kopf und Hals.
Diese letztere von der Sitzhöhe abgezogen giebt die
Rumpflänge« Die Armlänge ist direkt gemessen,
ebenso die Dchulterbreite.
Die Aufgabe ist nun, die VerluQtnisse der Rumpf-
länge, der Beinlänge, der Armlänge und der Schulter-
breite zur ganzen Körpergröße festzustellen^ Verhältnisse,
in denen die verschiedenen Alter, Geschlechter, Indivi-
duen die auffallendsten und anthropolc^sch merkwürdig-
sten unterschiede zeigen. Um aber verschiedene Indivi-
duen vergleichen zu können, hat man die Körperhöhe des
einzelnen =100 oder = 1000 zu setzen und darauf die
Maße der Rumpf länge, der Bein- und Armlänge und der
Schulterbreite zu reduzieren. Nach etwa 11000 von
Herrn Gould berechneten Bestimmungen sind die ge-
wöhnlichen Körperproportionen bei Soldaten (in Amerika)
folgende :
Körpergröße ........ 100,oo
Länge von Kopf und Hals . . 14,»
Rumpflänge 38,»
Beinlänge 46,26
Armlänge 43,41
Wenn man schon auf die Messung der Körperpro-
portionen eingehen wiU, so sind, wie man sieht, wenigstens
4 Maße erforderlich: die ganze Größe, 7. Halswirbel,
Sitzhöhe, Armlänge; aber sehr wünschenswert ist auch
ein Breitenmaß, wozu sich die Schulterbreite am besten
empfehlen möchte, üeber den Wert und die Aufgabe
der Proportionsmessungen des Menschenkörpers cf. a. a. 0.
Bd. I, S. 1 — 16 und Bd. H, S. 63—109. Hier sei nur
speziell erwähnt, daß der Rumpf des Weibes im Durch-
schnitt länger, dagegen Arm und Bein kürzer ist als bei
dem Manne und daß sich die verschiedenen europäischen
Nationen durch eine verschiedene Rumpf-, Arm- und Bein-
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Anthropologische Beobachtungen. 371
länge unterscheiden: die germanischen Völker haben im
allgemeinen den kürzesten Rumpf, sowie die längsten,
d. h. ebenfalls männlich entwickeltsten Arme und Beine.
3. Die Eopfmessung an Lebenden,
a) Der Hirnschädel.
Schließlich werfen wir noch einen BUck auf die Auf-
gaben und Methoden der Eopfmessung an Lebenden.
Bekanntlich giebt es zwei typische Formen der Hirn-
Schädelbildung, welche man nach Retzius als Lang-
köpfe oder Dolichocephalen und Kurzköpfe oder
Brachjcephalen unterscheidet; zwischen beiden steht
als Mischform, weder entschieden lang, noch entschieden
kurz, die von Welcker und Broca abgetrennte Gruppe
der Mittelköpfe oder Mesocephalen.
Die messende Bestimmung dieser Formen ist sehr
einfach. Man benutzt dazu ein kleineres Ealibermaß,
einen Schiebezirkel oder Schiebeinstrument, bestehend
aus einer in Millimeter geteilten metallenen Mittelleiste,
an deren einem Ende senkrecht, einen rechten Winkel
mit ihr bildend, eine metallene Querleiste unbeweglich
befestigt ist, während sich eine zweite, in ihrer Höhe
verstellbare Querleiste gegen die erste parallel verschie-
ben, annähern und abrücken läßt. Zwischen diese beiden
von der Mittellinie senkrecht abstehenden Querleisten faßt
man nun die zu messende Eopfdimension und liest- die
Entfernung der beiden Querleisten an der geteilten Mittel-
leiste als das Maß der betreffenden Eopfdimension ab.
Zur Bestimmung der Dolicho- und Brachycephalie
genügt eine Längen- und eine Breitenbestimmung des
Hirnschädels, um die Länge, die sog. gerade Länge,
zu messen, setzt man die Mittelleiste des Schiebezirkels
senkrecht auf die Längsachse des ganzen sitzenden Eör-
pers und zwar so auf die Mittellinie des Scheitels auf,
daß der Eopf dadurch in zwei genau gleiche seitliche
Hälfken geteilt erscheint, die beiden Querarme des Schiebe-
zirkels sind dabei vom in der Mitte der Stirn und hinten
in der Mitte des Hinterhaupts nach abwärts gerichtet.
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372 Jahannes Ranke,
Den einen, den feststehenden, am Hinterhaupte anliegen-
den Querarm des Schiebezirkels hat man dabei fest an
den hervorragendsten Punkt des Hinterhauptes in der
Mittellinie angedrückt imd nun rückt man den zweiten
beweglichen Arm so gegen die Mittellinie der Stirn an,
daß seine (entsprechend nach aufwärts geschobene) Spitze
den Ansatz der Stirn an die Nasenwurzel berührt. Nun
drückt man beide Querarme ziemlich fest an den Schädel
an und liest die zwischen sie gefaßte Schädeldimension
als gerade Länge des Schädels ab.
Die Bestimmung der größten Breite des Schädels
erfolgt in analoger Weise. Der, dessen Kopf gemessen
werden soll, sitzt; wir legen den Schiebezirkel so an, daß
seine Mittelleiste quer gerade von rechts nach links hinter
dem Hinterkopfe sich befindet, die beiden gleich lang
gestellten Querarme nach vom gerichtet. Nun tastet
man sich, während man die Querarme dabei hält, mit
den Zeigefingern über den Ohren des zu Messenden die
stärksten Hervorwölbungen des Schädels jederseits heraus,
drückt an die eine derselben den mit der Mittelleiste fest-
verbundenen senkrechten Querarm an und schiebt dann
gegen die andere den zweiten beweglichen Querarm, drückt
stärker zusammen und liest wieder die zwischengefaßte
Schädeldimension als „größte Schädelbreite " ab.
Bei der Messung der Breite hat man auf die Stel-
lung des Kopfes des zu Messenden nicht weiter
zu achten, bei der Messung der Schädellänge dagegen
muß der Kopf des zu Messenden so gestellt werden, daß
er (wie bei der Messung der ganzen Körpergröße) an-
nähernd geradeaus blickt und zwar in der Richtung
der sog. deutschen Horizontalebene des Kopfes.
Die letztere wird so bestimmt, daß man den oberen Rand
der Oeffnung des äußeren Gehörganges ebenso hoch stellt
wie den unteren Rand der Augenhöhle, welch letzterer
leicht herausgetastet werden kann. Das Gesicht erscheint
in dieser Stellung etwas gesenkt.
Die Köpfe resp. Schädel sind sehr verschieden groß, die
Längen- und Breitenmaße ebenfalls sehr verschieden. Um
nun doch die Schädel untereinander direkt vergleichen zu
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Anthropologische Beobachtungen. 373
können, setzt man nach Retzius' Vorschlag die Länge des
Schädels = 100 und berechnet darauf die Breite des
Schädels als sog. Schädelindex, also :=— . Alle
® Länge
Schädel, bei denen die Schädelbreite im Verhältnis zur
Schädellänge, letztere = 100 gesetzt, d. h. also der Schädel-
index, die Größe 75,o nicht erreicht, nennen wir Lang-
schädel, Dolichocephalen, alle Schädel, bei denen die
Breite sich zur Länge wenigstens wie 80,o : 100 verhält,
oder bei denen sich beide Größen noch mehr annähern,
heißen Kurzköpfe oder Brachycephalen. Was zwischen
75,0 und 80,0 liegt, bildet die Gruppe der Mittelköpfe
oder Mesocephalen.
Durch eine „internationale Vereinigung über Qruppen-
einteilung und Bezeichnung der Schädelindices** wurden
folgende nähere Bezeichnungen 1886 festgesetzt:
I. Dolichocephalie bis Index 74,» und darunter.
Dazu gehört:
1. Ultradolichocephalic bis . . . Index 04,9
2. Hypeidolichocephalie .... „ 65,o — 09,9
3. Einfache Dolichocephalie ... „ 70,o — 74,»
II. Mesocephalie, dazu gehört: Index 75,o — 79,9.
111. Brachycephalie von Index 80,o und darüber.
Dazu gehört:
1. Einfache Brachycephalie . . . Index 80,o — 84,9
2. Hyperbrachycephalie , 85,o— 89,9
3. Ultrabrachycephalie „ 90,o und darüber.
In Europa kennen wir bis jetzt kein Volk, keinen
Stamm, keine irgend größere Bevölkerungsgruppe, welche
nur einen dieser zwei (resp. mit den Mesocephalen drei)
Schädeltypen zeigen, überall finden sich die Formen ge-
mischt — aber diese Mischung ist numerisch eine sehr
verschiedene. Es ist nach meinen Zusammenstellungen
nicht zu verkennen, daß in Beziehung auf die vorwiegende
Schädelbildung in Mitteleuropa, d. h. zunächst in der
germanischen Welt, ganz ähnliche Zonen existieren, wie
sie von Virchow durch die Schul Statistik ftür die Ver-
teilung des blonden und des brünetten Typus festgestellt
wurden :
Von Norden nach Süden, vom Meer bis zu den Alpen
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374 Johannes Ranke,
und in diese hinein, nimmt im allgemeinen die in einer
geschlossenen Beyölkerungsgruppe vorhandene Anzahl der
Dolichocephalen ab, dagegen die Anzahl der Brachy-
cephalen zu. Für den Norden sind die Dolichocephalen,
für den Süden, bis in die Alpen hinein, die Brachy-
cephalen für die Hirnschädelbildung charakterisidsch; dort
wo mehr Blonde sind auch mehr Dolichocephale, wo mehr
Brünette sind umgekehrt auch mehr Brachycephale, ohne
daß Blondheit und Dolichocephalie oder Brünettheit und
Brachycephalie typisch notwendig miteinander verbunden
wären. Wie groß die Unterschiede in der Zahl der bei-
den Hauptformen in den verschiedenen Gegenden Nord-
und Mitteleuropas sind, lehrt meine folgende Tabelle
der geographischen Verteilung der Schädelformen
in Mitteleuropa, wobei ich die Mesocephalen weglasse.
Unter 100 Köpfen sind | ls| |||-c §| S^S
Brachycephale (Index 80 und mehr) 6 81 ßß 83 90
Dolichocephale (Index unter 75) . 57 18 12 1 0
Uebrigens beweist diese Tabelle auch, daß die brachy-
cephale Schädelform heute unter den Deutschen weitaus
die herrschende, die Hauptform ist.
Nach den älteren Angaben von Retzius soUten die
Slawen brachycephal, die Germanen dolichocephal sein.
Es ist das nicht richtig, da unter den Slawen etwa die
gleichen Unterschiede zwischen Nord- und Südslawen nach-
gewiesen werden können wie unter Nord- und Südger-
manen. Es gilt das für die Kopfform wie für die Eom-
plexion, die Nordslawen sind auch vielfach blond. Ebenso
auch die dem ural-altaischen Stamme zugehörenden .mon-
goloiden" Finnen: „so blond wie ein Finne" ist nach
Virchow ein russisches Sprichwort. Blondheit und Doli-
chocephalie sind also wenigstens nicht ausschließlich ger-
manische Körpereigenschaften.
Wenn wir auch sonach schon im großen und ganzen
uns ein Bild von der Verteilung von Dolichocephalie und
Brachycephalie in Deutschland machen können, so fehlt
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Anthropologifiche Beobachtungen. 375
doch nocli viel, ehe wir im einzelnen über diese gewiß
sehr wichtigen Verhältnisse so weit orientiert sind, daß
wir eine statistische Karte darüber herstellen können
ähnlich wie die ausgezeichneten statistischen Karten
Virchows über die Verbreitung des blonden und brü-
netten Typus unter der deutschen Schuljugend. Und doch
müssen wir nach einer ebenso eingehenden Kenntnis auch
der Schädelformen streben.
Das kann nur durch Messung an Lebenden gewonnen
werden, wobei wir gleichzeitig auch Körpergröle, Kom-
plexionstypus und Proportionen bestimmen können.
Nebenbei ist es aber sehr wichtig, alle nur erreich-
baren Schädel aus der deutschen Bevölkerung zu sam-
meln, über deren lokale Provenienz wir sicheren Aufschluß
besitzen: z. B. Schädel aus einer Gemeinde. Oft giebt
sich Gelegenheit, z. B. bei Bauten auf dem Ortskirchhofe,
Schädel zu sammeln. Diese sollten nicht wieder einge-
graben und dadurch für die Vaterlandskunde vernichtet
werden, sondern gesammelt und aufbewahrt und zwar so,
daß von jedem der Schädel das Herkommen (der Ort,
von welchem er entnommen resp. die Heimat des ehe-
maligen Besitzers) genau bekannt bleibt. In den katho-
lischen Gemeinden finden sich noch hier und da auf den
Kirchhöfen oder in den Vorhallen der Kirche selbst 0 s-
suarien (Beinhäuser), in welchen die Gebeine, welche
bei Wiederbenutzung der Gräber zu Tage kommen, auf-
bewahrt werden. In solchen Ossuarien habe ich mit
Erlaubnis der kirchlichen Oberen und der Herren Pfarr-
vorstände in Bayern Tausende von Schädeln gemessen
mit dem Resultate, daß nun kein Land im Deutschen
Reich bezüglich der Schädelbildung besser und genauer
bekannt ist als Bayern. Es wäre sehr schade, wenn diese
pietätvolle Sitte der Landbewohner, die Gebeine ihrer
Vorfahren an heiliger Stätte zu sanuneln und aufzube-
wahren, verschwinden würde. Im Interesse einer Volk-
kunde, welche mit Pietät die üeberreste der Ahnen
unseres Stammes studiert, wäre es sogar zu wünschen,
daß an Orten, wo diese Sitte abgekommen, sie wieder
erneuert würde. Im protestantischen Lande weiß man
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376 Johannes Ranke,
schon lange von solchen „Beinhäusern" nichts mehr.
Hier sollten Pfarrer und Arzt jede Gelegenheit benutzen,
ausgegrabene Schädel zu sammeln und zu messen oder
diese Untersuchungen anthropologisch exakt geschulten
Forschern zu ermöglichen, anstatt die Gebeine sofort
wieder einscharren zu lassen, wo man sie gefunden. Den
Direktoren der anatomischen Universitätssamm-
lungen möchte ich es speziell ans Herz legen, möglichst
viel normale Schädel aus der Umgegend ihrer Univer-
sitätsstadt zu sammeln und bezüglich ihrer Herkunft gut
bezeichnet aufzubewahren, damit die Universitäten einst
auch Zentren für das Studium der ethnischen Anatomie
unseres Volkes werden können. Wie oft werden ganze
Kirchhöfe umgegraben oder alte Kirchhöfe bei Bauten
aufgedeckt — alle diese Schädel sollten als ein hoch-
wertvolles, unersetzliches Untersuchungsmaterial für die
deutsche Volkskunde sorgfältig gesammelt und gehütet
werden.
Wer sich näher über die feineren Fragen der Kranio-
metrie unterrichten will, findet in dem mehrfach ange-
führten Werke die Grundzüge derselben, und gern bin
ich bereit, jeden durch Rat und That weiter zu unter-
stützen.
Am Kopf messen wir mit dem Schiebezirkel noch
die Ohrhöhe des Schädels. Der bewegliche Querarm
des Instrumentes wird dabei, entsprechend kurz gestellt,
mit seiner Spitze in die Ohröffnung eingeführt, der zweite
Querarm auf den senkrecht über dem Ohrloch gelegenen
Punkt des Scheitels angedrückt, wobei der zu messende
Kopf in der oben beschriebenen deutschen Horizontal-
stellung sich befinden und die Mittelleiste des Schiebe-
zirkels senkrecht in die Höhe gerichtet sein muß. Nun
drückt man den oberen festen Querarm durch Indiehöhe-
schieben des unteren beweglichen an den Scheitel an
und liest an der Querleiste die zwischengefaßte Dimension
des Kopfes ab.
Die Stirnbreite wird mit demselben Instrument
direkt über den oberen Augenhöhlenrändem gemessen.
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Anthropologische Beobachtungen. 377
b) Der Gesichtsschädel.
Auch am Gesicht können mit dem Schiebezirkel
— oder mit einem Tasterzirkel, zum Teil auch mit einem
einfachen Zirkel — verschiedene sehr charakteristische
Maße genommen werden.
Die Gesichtshöhe und zwar einmal a) vom Haar-
rand der Stirn bis zur Kinnspitze (bei senkrecht gehal-
tenem Instrumente) und b) von der Nasenwurzel, wo die
Nase die Stirn berührt, bis zur Kinnspitze.
Die Mittelgesichtshöhe von der Nasenwurzel bis
zur Mundspalte (sonst wie oben).
Die Gesichtsbreite: a) Jochbreite oder größte
Breite der Wangenbeingegend mit dem Schiebeinstru-
ment, b) Wangenbeinhöckerbreite, mit demselben
Instrument zu messen. Man tastet dazu mit den Fingern
etwa 1 ^/s cm unter dem äußeren Rande der Augenhöhlen
den Vorsprung der Wangenbeinhöcker heraus, c) Untere
Kieferwinkelbreite, man tastet sich die Kieferwinkel,
drei Finger breit unter dem Ohr und etwas nach vorne
gelegen, als unteren hinteren Endpunkt des Gesichtes
heraus und mißt in der mehrfach angegebenen Weise
mit dem Schiebezirkel.
Abstand der inneren Augenwinkel, Abstand
der äußeren Augenwinkel mit dem Schiebezirkel zu
messen.
Die Nase: a) Nasenhöhe, mit einem Tasterzirkel
zu messen (es geht übrigens, wie bei allen folgenden
Maßen, auch mit dem Schiebezirkel oder mit einem an
den Spitzen gut abgerundeten einfachen Zirkel; beim
Tasterzirkel wie bei dem gewöhnlichen Zirkel liest man
die Entfernung der Arme an einem kleinen Metermaße
ab) von dem Ansatz der Nasenscheidewand an die Lippe
bis zur Nasenwurzel, b) Nasenlänge, von dem äußer-
sten Punkt der Nasenspitze bis zur Nasenwurzel, c) Nasen-
breite, größte Breite der Nasenflügel ohne anzudrücken.
Mund: Länge zwischen den Mundwinkeln.
Ohr: a) Höhe, von dem tiefsten Punkte des Läpp-
chens bis zum höchsten Punkte der Ohrmuschel, senk-
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378 Johaimee Ranke,
recht, b) Entfernung des Ohrlochs von der Nasen-
wurzel, mit dem Schiebezirkel zu messen. Die Spitze
des entsprechend kurz gestellten beweglichen Querarmes
wird in die Ohröf&iung eingestellt, der feste Querarm auf
die Nasenwurzel aufgelegt, die Mittelleiste gerade senk-
recht nach vorne (nicht schief nach rechts oder links)
gehalten und nun durch Anschieben des beweglichen
Armes beide Querarme an die Meßpunkte angedrückt.
Als letztes Maß erwähne ich noch die Messung des
Horizontalumfangs des Kopfes mit dem Meterband
(festes Lederband oder besser Stahlband) Über die Augen-
brauengegend und hinten über die größte Hervorragung
des Hinterhauptes so gemessen, daß das Band möglichst
straff anliegt, damit die Haare den thunlichst kleinen
Fehler geben. —
Wir haben oben die öffentlichen Badeanstalten als
besonders geeignet für anthropologische Aufnahmen be-
zeichnet. In England hat man die bei Volksfesten be-
sonders auf dem Lande überall auftauchenden Buden, in
welchen die Leute sich wiegen lassen und an Dynamo-
metern ihre Muskelkraft messen können, dazu benutzt,
diese Aufiaahmen durch Messung der Körpergröße, Be-
stimmung des Komplexionstypus, des Körpergewichts und
der Muskelzugkraft am Dynamometer für die Wissenschaft
verwendbar zu machen. Dieser Oedanke verdient gewiß
Beachtung eventuell Nachahmung, obwohl man dabei nicht
vergessen darf, daß dann solche Messungen wirklich exakt
ausgeführt werden müssen, also z. B. die Körpergrößen-
bestimmung ohne Fußbekleidung. Die Bestinmiung des
Körpergewichts in Kleidern ist wissenschaftlich ganz wert-
los, das würde, abgesehen vom Militär, am besten auch
in Badeanstalten gemacht werden können. Auch die
Rekruten und Soldaten werden bekanntlich bei Körper-
gewichtsbestimmungen stets nackt gewogen. —
Damit schließen wir diese kursorische Darstellung
der wichtigsten Aufgaben und Methoden zur somatisch-
anthropologischen Beobachtung im Vaterlande, und geben
im folgenden nur noch nach den neuesten Vereinbarungen
unter den deutschen Anthropologen eine kurze Zusammen-
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Anthropologische Beobachtungen. 379
Stellung alles dessen, von dem im vorstehenden als zu
beobachten die Rede war. Dabei woUen wir nicht ver-
säumen, noch einmal speziell darauf hinzuweisen, dafi es
keineswegs die Aufgabe sein kann, alle diese Beobach-
tungen an jeder Person auszuführen, sondern daß in der
angedeuteten Weise eine Beschränkung der Aufgabe auf
nur einzelne Beobachtungen schon sehr wichtige Resultate
geben kann (S. 361). Das Vorstehende erklärt das folgende
Aufnahmsschema.
No. Anthropologische Aufnahme.
A. Betrachtungen.
Ort und Tag der Aufnahme:
Name:
Geschlecht; J ? Alter:
Stamm: Geburtsort:
Beschaftigimg:
EmahrnngszuBtand :
Haut« Farbe: weiß, brünett, boud gebräunt
Auge, Iiis: hellblau, dunkelblau, grau, graubraun, hellbraun, braun,
dunkelbraun, schwarz.
„ Form: _
Stellung:
Haar, Kopf: blond, hellbraun, braun, dunkelbraun, schwarz, rot.
„ „ straff, schlicht, wellig, lockig, kraus, spiral-gerollt.
„ Bart: Farbe der Haare wie oben.
n tt Form „ „ „ „
„ Achselhöhle: auch Farbe und Form.
Kopf: lang, kurz, schmal, breit, hoch, niedrig.
(Besicht: hoch, niedrig, schmal, breit, oval, rund, flach, profiliert.
Stirn: niedrig, hoch, gerade, schräg, voll Wülste.
Wangenbeine: vortretend, angelegt.
Nase, Wurzel: , - - Rücken:
Nasenlöcher: _ Flügel:
Lippen: vortretend, voll, mäßig voll, zart, geschwungen.
Zahne, Stellung: ^
„ Aussehen: opak, durchscheinend^ maasig, fein.
Ohr, Läppchen: — Durchbohrung:
Hftnde : Nägel :
Fasse, längste Zehe: Form:
Sonstige Besonderheiten:
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380 Johannes Ranke.-
B. Hessnngen.
Maße in Millimetern.
I. Kopf.
OrOsate Länge:
„ Breite:
Ohrhohe:
Stimbreite:
GesichtehOhe, A (Haarrand):
„ B (Nasenwurzel):
Hittelgeaicht (Nasenwurzel bis Mund):
Oesichtebreite, a (Jochbogen):
„ b (Wangenbeinhöcker): -
„ c (Kieferwinkel):
Distanz der inneren Augenwinkel:
„ „ äußeren „
Naae, Höhe: ^ Länge:
„ Breite:
Hand, Länge:
Ohr, Höhe:
Entfernung des Ohrloches von der Nasenwurzel: .
Horizontalamfang des Kopfes:
II. K5rper.
Ganze Höhe:
Höhe des 7. Halswirbels vom Boden:
„ Nabels vom Boden:
„ großen Rollhügels (Trochanter) :
der Kniescheibe: „
des äußeren Fußknöchels (Malleolus ext.):
im Sitzen des Scheitels über dem Sitz (Sitzhöhe) :
Elafterweite:
Länge des Oberarms vom Rand der Schulterhöhe bis Ellbogen-
höcker: _ „
„ „ Unterarms, Ellbogenhöcker bis Handgelenk: __
„ „ Arms als Ganzes (Schulterhöhe bis Spitze des Mittel-
fingers = Armlänge):
Schnlterbreite:
Brnstumfang:
Hand, Länge (Mittelfinger):
„ " Breite (Ansatz der 4 Finger) :
FoBs, Länge :
„ Breite:
GrÖBBter Umfang des Oberschenkels:
,, ,, der Wade:
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Dialektforschung.
Von
Dr. Friedrich Xauffmann
in Marburg i. H.
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So allgemem die Ansicht sein mag, daß zum Ge*
samtbild einer Landes- und Volkskunde Darstellung der
Mundart, der Sprechweise des Volkes oder Stammes un-
erläßlich sei, so ist doch kaum die Frage aufgeworfen
oder genügend beantwortet, warum eigentlich dieser
scheinbar kleine Zug nicht vermißt werden kann. Wir
wollen hören, wie die Menschen reden, als wäre ihre
Sprache lebendiger Odem. Ist es bloße Neugierde
wissen zu wollen, wie sonderbar in dieser oder jener
Gegend gesprochen wird, oder liegt yielleicht doch eine
wissenschaftiche Berechtigung darin, nicht bloß den
Wortschatz als den Niederschlag der gesamten geistigen
Verfassung, sondern gerade die einzelnen Laute
der verschiedenen Mundarten kennen zu lernen? Wir fin-
den die Sprechweise bei dem einen Stamme rauh und
ungelenk, bei dem anderen gemütlich und anheimelnd,
beim dritten geziert und beleidigend, beim vierten ver-
drossen und welche Grundstimmung sonst noch im Klang
der Laute zu uns reden mag. Doch ist leicht zu zeigen,
daß diese Geschmacksurteile meist auf einer Art Selbst-
täuschung beruhen, indem immer nur die eigene subjek-
tive Angewöhnung des Beurteilers den Maßstab bildet.
Der Stammesangehörige, der mit der Mundart seiner Um-
gebung groß geworden, wird dieselben Klänge und Ge-
räusche lieb und traulich finden, die vom Standpunkt
eines sog. Hochdeutsch aus widerlich und häßlich er-
scheinen. Der Schwabe sagt vom angrenzenden Franken
»er singe*, umgekehrt wird der Franke vom Schwaben
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384 Friedrich KauffmanD,
kaum ein charakteristischeres Merkmal anzugeben wissen
als die eigentümliche Melodie in der Sprache. Von dieser
populären Beurteilung aus werden wir folglich nie zu
einer sachgemäßen Würdigung der Mundart gelangen.
Die thatsächliche Konstatierung, daß für gewisse
Begriffe die Wörter dort fehlen, die hier vorhanden sind,
kann ein helles Licht auf den Eulturzustand werfen. Es
ist beispielsweise für die Geistesrichtung höchst bezeich-
nend, welche Sinnes- und Seeleneindrücke vorwiegend
sprachlichen Ausdruck gefunden haben, welche mehr oder
weniger, welche überhaupt nicht. Was die Wortbildung
betrifft, so ist bekannt, daß auf niederdeutschem Gebiet
im Gegensatz zum hochdeutschen die Verkleinerungssuffixe
großenteils auf die Ammensprache beschränkt sind, in
der Verkehrssprache der Erwachsenen fast nie vorkommen,
gewiß ein interessantes Kennzeichen für die Verschieden-
artigkeit in der Gemütsanlage der beiden großen Stämme.
Wenn nun aber in Hessen, teilweise auch in der Khein-
provinz und anderwärts zuweilen statt des Nominativs der
Accusativ gebraucht wird, oder in bayrischen Dialekten
uns an Stelle von wir, haben an Stelle von sein üblich ist,
so wird sich daraus nichts allgemeineres für die Charak-
teristik des Stammes entnehmen lassen; es sind dies
interessante Details, welche die Vorstellungen von unserer
deutschen Muttersprache überhaupt bereichern, und im
Zusammenhang der Sprachgeschichte von Bedeutung
werden. Es ließe sich denken, die Darstellung der ver-
schiedenen einzelnen Laute, um die es sich zunächst
handelt, diente gleichfalls nur einem statistischen Zwecke,
aber es wird sich doch auch für die Lautforschung der
Nachweis führen lassen, daß sie in der That im großen
wie im kleinen direkt von allgemeiner wissenschaftlicher
Bedeutung ist.
Die Lehre von der Sprache des Menschen bildet ein
llauptkapitel der Disziplin, für die der unbestimmte Name
Anthropologie üblich ist, der Wissenschaft vom Men-
schen, soweit sie sich auf die erfahrungsmäßigen beob-
achtbaren Funktionen und Aeußerungen seines Wesens
bezieht. Die Sprachwissenschaft, im Gefolge davon auch
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Dialektforschung. 3g5
die mundartliche Forschung, muß sich dieser Zusammen-
gehörigkeit stets bewußt bleiben. Wie fast in allen
Zweigen der Anthropologie physische und psychische
Kräfte zusammenwirken, beruht die Sprache auf einer
unbewußten Wechselwirkung zwischen der Vor-
stellungswelt und den (physiologischen) Sprach-
werkzeugen. Die psychischen Faktoren anlangend
ist es für eine fruchtbare Dialektforschung dringend er-
forderlich, sich über die einfachsten Bewegungsgesetze
unserer Vorstellungen im Bewußtsein Klarheit zu ver-
schaifen ^). Es empfiehlt sich für praktische Zwecke an
Stelle des farbloseren Begriffes Bewußtsein das Gedächt-
nis zu setzen. Die zerstörenden und doch auch wieder
aufbauenden Prozesse der Gedächtniskraft, vermöge deren
Formen und Wörter zu Grunde gehen (vergessen werden),
oder Formen und Wörter, ja ganze Sätze mit anderem
Vorstellungsinhalt sich associieren als ihre ursprüngliche
Funktion verlangte, bilden den psychologischen Erklärungs-
grund für das Aussterben von Deklinations- und Kon-
jugationsklassen, für das Umsichgreifen anfänglich be-
schränkterer Flexionsweisen, für den Wandel der Bedeutung
der einzelnen Wörter, für die Neuschöpfung solcher, wie
für deren Verlust u. s. w. Es versteht sich von selbst,
daß bei alledem noch eine Reihe weiterer Kräfbe mit-
spielen, die in der allgemeinen Entwickelung nach außen
und innen sich zusammenfassen, die aber nicht alle auf-
gedeckt werden können. Ein VorsteUungsinhalt, der im
Gedächtnis ruht und von dessen Funktionen abhängig ist,
bildet die Grundvoraussetzung für alle Sprachvorgänge.
Das für unsere Zwecke wesentlichere Element der
Sprache ist das physiologische. Die Vorstellungen des
Individuums sind ebenso Produkte der Gesellschaft, wie
sie andererseits auf die Gesellschaft fördernd wirken sollen :
so ist die Sprache das wichtigste Hilfsmittel des Verkehrs
im weitesten Sinne des Wortes. Die Reize der motori-
*) Man orientiert sich hierüber am besten in dem Buche von
Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 2. Auflage.
Halle 1886.
Anleltnnß zur deutschen L&ndei« and VolksforBohnng. 25
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386 Friedrich Kauffmann,
sehen Nerven, der Telegraphendrähte im menschlichen
Organismus, wie sie schon bezeichnet worden sind, aflS-
zieren das Muskelsystem, mit gewissen Vorstellungen
associieren sich gewisse Bewegungen desselben, die ver-
möge der lautbildenden Organe als Lautreihen hörbar
und vermöge identischer Associationen bei der gesamten
Sprachgenossenschaft verständlich werden. Die ge-
wohnheitsmäßige Wiederholung derselben Bewegungen
ergiebt fQr die einzelnen Laute feststehende Bewegungs-
gefühle. In diesem Sinne hat fQr jedwede Sprach-
betrachtung das einfachste Bewegungselement, der Laut,
den fundamentalen Ausgangspunkt zu bilden. Für die in
den verschiedenen Sprachen und Mundarten vorhandenen
einzelnen Laute kommen nach dem bisherigen als wesent-
liche Momente in Betracht:
1. Die Nervenreize, 2. die Muskelbewegung, 3. die
Schallbildung (nebst Resonanz). Wenn wir von den
Nervenreizen als der großen terra incognita absehen, be-
ruht die Muskelbewegung und Schallbildung auf physi-
kalisch-akustischen Gesetzen, die experimentell konstatiert
werden können. In der Verschiedenheit dieser Gesetze
ist die Verschiedenheit der Sprachen und Mundarten nach
deren Lautstand begründet, sie ermöglichen die Aufstel-
lung von Lautsystemen. Bald ist die Muskelkontrak-
tion energisch, bald schwächer; in der einen Mundart
greifen Muskelstränge wirksamer ein, die in der anderen
nur eine untergeordnete Bedeutung haben, und damit
hängt zusammen, daß die von den Muskeln dirigierten
Organe, wie z. B. Kehlkopf und Zunge, Kiefer, Lippen,
ganz verschieden funktionieren: beim Kehlkopf Hebung,
Senkung oder Indifferenzlage; bei der Zunge Vor- oder
Zurückschieben, Auf- oder Abwärtskrümmen, Zusammen-
ziehen oder Verbreitem u. s. f. So werden sich in jeder
Einzelmundart gewisse stets sich gleichbleibende Nei-
gungen des gesamten Sprachorganismus feststellen lassen,
die bei der Lautbildung zu beobachten sind, z. B. ener-
gische Muskelspannung (die sich annäherungsweise messen
läßt), lebhaftes Heben und Senken des Kehlkopfs, mehr
Neigung zu Verbreiterung als Kompression der Zunge,
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Dialektforschung. 387
mäßige £äeferöffiiung, geringe Lippenthätigkeit und wie
sich sonst die Zustände im Detail naher charakterisieren
lassen mögen. Sievers sagt einmal gelegentlich: „Man
unterlasse nie zu untersuchen, ob sich die Abweichungen
der Einzelvokale zweier oder mehrerer Systeme nicht auf
ein gemeinsames, die Stellung der Systeme ohne weiteres
charakterisierendes Prinzip zurückführen lassen. Solche
Prinzipien sind beispielsweise die stärkere oder geringere
Beteiligung der Lippen, verschiedene Stufen der Nasa-
lierung. Femer gehört hierher namentlich auch eine
durchgehends bei allen Vokalen des Systems abweichende
Lagerung der Zunge. Versuche ich als Mitteldeutscher
z. B. eine prägnant norddeutsche Mundart, wie etwa die
holsteinische, zu sprechen, so muß ein fUr allemal die
Zunge etwas zurückgezogen und verbreitert werden; hat
man die richtige Lage, gewissermaßen die Operations-
basis, einmal gefunden, so folgen die charakteristischen
Lautnuancen der Mundart alle von selbst. Li der mir
geläufigen niederhessischen Mundart artikuliert die Zunge
schlajBF und mit möglichst geringer Anspannung aller ihrer
Teile, auch die Kehlkopfartikulation ist wenig energisch.
Um dagegen den richtigen Elangcharakter der sächsischen
Mundarten zu treffen, muß die ganze Zunge angestrafft
werden und der Kehlkopf bei stärkerem Exspirationsdruck *
energischer artikulieren.''
Besondere Aufmerksamkeit ist der Kehlkopf thätigkeit
zu widmen, namentlich auch bezüglich des Verhaltens der
Stimmbänder gegenüber dem von den Lungen kommen-
den Luftstrom; von der Art der Oeffnung derselben hängt
ab, was man als Accent bezeichnet, durch die Intensität
der Schwingungen ist die Verschiedenheit der Tonhöhe
bedingt, außerdem bestehen im Verhältnis von Exspirations-
druck zur Tonhöhe verschiedene Möglichkeiten. Alle diese
elementaren, iunerhalb der einzelnen Mundart stets sich
gleichbleibenden Bewegungen der Sprachorgane stellen
dar, was man als die eigentlich konstitutiven Faktoren
der Lautform einer Sprache bezeichnen kann; von ihrem
Verhalten und ihrem Zusammenwirken ist die Sprachform
abhängig; man wird demgemäß eine Mundart erst dann
Digitized by VjOOQ IC
388 Friedrich Kauffmann,
begreifen können, wenn die konstitutiven Sprachfaktoren
festgestellt sind.
Mit dem Nachweis dieser konstitutiven Faktoren er-
achte ich auch die innere Notwendigkeit einer Darstellung
der Lautverhältnisse im Rahmen einer Volkskunde für
erwiesen. Gerade in der Verschiedenheit der einzelnen Laute
prägen sich tieferliegende Unterschiede im physiologischen
Habitus aus, die — es bedarf keiner weiteren Worte —
wie viele andere nie bezweifelte Merkmale mit dazu dienen,
eine Volks- und Sprachgenossenschaft in ihrer Eigen-
artigkeit zu erkennen. Damit ist der mundartlichen
Forschung Stellung in der allgemeinen Anthropologie
angewiesen, ihr Zusammenhang mit der Volkskunde findet
in ebenderselben ihre innere Begründung. Es ist schon
behauptet worden, daß jede Mundart in ihrem Lautsystem
eine in sich geschlossene Harmonie darstelle; diese Har-
monie ist nichts anderes als die stets identische Funktion
der konstitutiven Sprachfaktoren, die folglich die einzige
Quelle abgeben, die Mundarten unter sich zu vergleichen
und abzugrenzen.
Im folgenden soll auf dieser Grundlage die Methode
der mundartlichen Forschung im Sinne der modernen
Grammatik skizziert werden.
Mundart findet sich allüberall, wo Menschen wohnen;
aber wie der Botaniker die Ziergärten und Gewächshäuser
meidet und sorgsam das Künstliche von den freien Kin-
dern der Natur zu sondern bestrebt ist, wird der Mund-
artenforscher an den Städten vorübergehen, in denen ver-
möge der Ansprüche des Verkehrs die gemeindeutsche
Schriftsprache Boden gewonnen hat, und die Dörfer auf-
suchen, um hier möglichst der unbeeinflußten, ungekünstel-
ten Rede der Eingeborenen, wie sie sich vom Vater zum
Sohn vererbt, zu lauschen. Allein man wird allgemein
heutzutage die Erfahrung machen, daß selbst das kleinste,
entlegenste Dorf verschiedenartige Sprechweisen beher-
bergt, die mehr oder minder voneinander sich abheben.
Von der* Verschiedenheit des Alters und Geschlechtes zu-
nächst abgesehen, spricht der Handwerker meist etwas
anders als der Bauer, und auch dieser verfügt in der
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 389
Regel über mehrere Sprachformen, die nach freier Wahl
oder unbewußt gebräuchlich sind ^). Es muß von vorn-
herein festgehalten werden, daß mit dem Gesellschafts-
kreis die Sprache wechselt. Nicht bloß in dem Sinne,
daß die höheren Stände gewisse Laute, Wörter oder
Wendungen vermeiden, die den niederen Ständen geläufig
sind, sondern wie der „Gebildete** im Verkehr mit dem
Bauern oder Handwerker gerne den angestammten Dialekt
spricht, so wird auch der gemeine Mann im Verkehr mit
nicht gewohnten Gesellschaftskreisen anders als innerhalb
der eigenen vier Wände reden. Es ist damit nicht ge-
sagt, daß diese veränderte Sprechweise auf Entlehnungen
aus der Schriftsprache, die ja eindringlich genug durch
Militärdienst, Kirche, Schule, Presse verbreitet wird, be-
ruhe, vielfach ist es nur Dialekt in „gebildeterer** Form,
wobei auffallende Laute und Worte möglichst zurück-
gehalten werden. Jeder Gesellschaftskreis hat dem-
nach seine eigene Sprechweise. Die Feststellung der
Abweichungen in der Mundart verschiedener Gesellschafts-
kreise ist eine sehr interessante, allerdings auch sehr
komplizierte Aufgabe (einfachste Form der Sprachmischung).
In weiterem Umfang fällt überhaupt jegliche Sprachform
unter den Begriff der Mundart. Es ist eine alltägliche
Beobachtung, daß es (auch auf der Bühne) kaum einen
Menschen giebt, der dem Dialekt seiner Heimat gänzlich
zu entsagen verstünde, selbst die höchste Gesellschaft
partizipiert (vermöge der konstitutiven Sprachfaktoren)
an dem Sprechtypus der heimatlichen Landschaft, bei
aller schriftdeutschen Angewöhnung wird allüberall Mund-
art gesprochen, nur eben modifiziert nach den Ansprüchen
des Gesellschafts- und Verkehrskreises, mit denen grad-
weise die Gemeinsprache zur Herrschaft gelangt').
') Besondere Aufmerksamkeit ist in paritätischen Gemeinden
dem Unterschied in der Sprechweise der Konfessionen zu widmen.
^Es ist wohl überflüssig, die vielfach verbreitete Ansicht,
ialekt nichts anderes als korrumpiertes, verdorbenes Schrift-
deutsch wÄre, ausdrücklich zu bekämpfen. Unsere Schriftsprache
hat sich mit unserer Litteratur zu ihrer heutigen Form entwickelt,
sie stellt ein Eonvolut aus ganz verschiedenen .Dialekten" dar
Digitized by VjOOQ IC
390 Friedrich Kauffmann,
Unter den deutschen Mundarten verstehen wir
insgemein nur die Sprachformen der Gesellschaft
der kleinen Leute auf dem platten Lande. Sie sind
historisch geworden, den Einflüssen der Fremde wenig
ausgesetzt und eben darum als einheitliche, reine Bil-
dungen vom größten Interesse, und der wissenschaftlichen
Erforschung ebenso würdig als bedürftig. Im folgenden
soll „Dialekt, „Mundart" nur in diesem engeren Sinne
gebraucht werden.
Der Bestand an reinen Volksmundarten im
Kreise des deutschen Sprachgebiets ist noch nicht so sehr
gefährdet als gewöhnlich beklagt zu werden pflegt. In
den Städten und deren nächster Umgebung mag vieles
Stammheitliche in Laut und Wortschatz überwuchert
werden, auf dem Lande ist davon kaum die Rede. Weil
eben die Mundart in der eigensten physiologischen und
psychologischen Konstitution des Stammes begründet ist,
kommt ihr eine stabile Konsistenz zu, die durch Lehn-
formen aus der Schriftsprache nicht beeinträchtigt wird.
Wohl mag in Niederdeutschland das Plattdeutsche einen
harten Kampf zu bestehen haben; für die große Masse
der reichen oberdeutschen Dialekte, die von der deutschen
Gemeinsprache im Lautstand (z. B. Konsonantismus) weni-
ger eingreifend abweichen, ist so gut wie nichts zu be-
ftlrchten, aber die Bitte um eifriges Sammeln und Forschen
für die Wissenschaft ist hier wie dort gleich angebracht.
Die Sprachverhältnisse einer Landschaft darzustellen
erfordert sehr viel mehr Arbeit und Studium, und ist
mit viel größeren Schwierigkeiten verknüpft, als der
Fernstehende auch nur ahnen mag. Liebevolle Hingabe
an die Interessen des Volkes vereinigt mit einer soi^-
fältigen Schulung des Gehörs ist die Grundvoraussetzung
für die Forschung. Es empfiehlt sich stets von der Unter-
suchung eines kleinen Bezirks, am besten eines einzelnen
Ortes auszugehen. Im allgemeinen, von zufälligen günstigen
Bedingungen abgesehen, muß aufrecht erhalten bleiben,
und kann im Grande genommen mit einer Yolksmundart über-
haupt nicht verglichen werden.
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 391
daß derjenige, welcher eine Volksmundart bearbeiten will,
derselben Sprachgenossenschaft angehöre. Man braucht
dies nicht dahin zu überspannen, daß der Forscher über-
haupt zuverlässig genau nur seinen eigenen Dialekt dar'
zustellen vermöge, es ist sogar empfehlenswerter, einen
vom fleimatsort entlegeneren Punkt der Sprachgenossen-
schaft zu wählen, weü gewisse (keineswegs fremdartige)
Verschiedenheiten das Beobachtungsvermögen schärfen und
Selbsttäuschungen verhüten. Es ist dies von Wichtigkeit.
Weil der Fremde dem Form- und Lautbestand einer
Mundart gegenüber in der Regel darauf angewiesen ist,
auf Treu und Glauben die Beobachtungen hinzunehmen,
ergeht die dringende Mahnung, in allen Fällen immer
nur das wirklich Vorhandene und exakt Beobachtete
wiederzugeben und sich nicht durch Vermutungen oder
vermeintlich berechtigte Schlußfolgerungen beeinflussen
zu lassen; je mehr man sich in eine Mundart eingelebt
hat, um so größer ist die Verführung, nach eigenem Gut-
dünken über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein
fraglicher Erscheinungen zu entscheiden.
Bei der Sammlung des Sprachmaterials erhebt sich
als wichtigste Vorfrage die nach der Orthographie.
Die Buchstaben unserer schriftdeutschen Gemeinsprache
sind nicht eindeutig nach Klangfarbe bestimmt, da wir
keinen Kanon der Aussprache besitzen. Für den Sachsen
sind k, t, p und g, d, h gleichwertig; in Mittel- und
Niederdeutscbland wird g zwischen Vokalen und am Ende
des Wortes nach Vokalen wie schwaches oder starkes ch
gesprochen, während die Süddeutschen mit dem Zeichen g
den Lautwert eines schwachen k verbinden; in alemanni-
schen Dialekten bedeutet das schriftdeutsche e in sehr die
Länge des e-Lautes in besser (geschlossenes, nach i hin
liegendes e), in anderen langes ä, und diese Aussprachs-
formen sind unbewußt stets beim Hochdeutschreden üblich.
Um solche Unsicherheiten und Schwankungen in der Vor-
stellung des gesprochenen Lautes zu verhüten, ist als
Regel zu beobachten, niemals sich auf eine (land-
schaftliche) Lautform der schriftdeutschen
Aussprache zu beziehen, um dadurch den Laut
Digitized by VjOOQ IC
392 Friedrich Kaaffmann,
des Dialekts zu yeranschaulichen. Daraus er-
giebt sich die Forderung, daß für jeden Dialekt ein
besonderes Alphabet aufgestellt werden muß ^). Dazu
reichen die Buchstaben des gemeinen Alphabets nicht aus,
weil in unserer Orthographie vielfach verschiedene
Laute durch dieselben Zeichen vertreten werden,
man veigleiche 8 in den Verbindungen st, sp, je nach
An- oder. Inlaut; bei den Vokalen sind namentlich e und o
mehrdeutig. Die Grundlage für jedes Dialektalphabet
haben die Zeichen unserer Büchersprache zu bilden,
jedes derselben hat einen genau zu definierenden und
nur diesen einen Lautwert darzustellen, und zwar so,
daß für jeden Einzellaut ein Zeichen verwendet wird,
Buchstabengruppen, wie z. B. seh für den einfachen sch^
Laut sind unthunlich. Weitere Buchstaben, die nötig
werden, lassen sich leicht entweder aus fremden Alpha-
beten entnehmen, was aber aus ästhetischen Rücksichten
möglichst zu beschränken ist, oder durch Hilfszeichen
unterscheiden. So ist für seh fast allgemein das aus dem
Slawischen stammende h, für den harten di-Laut vielfach
lateinisch ic, für den weichen 5 (der angelsächsische Buch-
stabe für g), für das einfahe ng am besten f&, für das un-
bestimmte e am Ende der Wörter 9 (umgekehrtes e) in Ge-
brauch; um die verschiedenen Timbres einer und derselben
Vokalreihe darzustellen, lassen sich leicht Punkte oder
Häkchen anbringen e, e (geschlossen), e (offen), ebenso
0; p, 0. Die Nasalierung bezeichne man durch '^ über
dem Vokal, z. B. ä, Länge des Vokals oder des Konso-
nanten durch über- oder untergesetztes -, z, B. a, l, w,
während die Kürze unbezeichnet bleiben, ein dritter Grad
(Halbkürze oder Halblänge) durch ^ markiert werden kann.
Vokale, die den Silbeniktus tragen, werden durch folgen-
des * ausgezeichnet, z. B. «*, in schwächerer Nebensilbe :,
z. B. «:, nachdruckslose Vokale brauchen nicht unter-
schieden zu werden; vergleiche z. B. schwäbisch bi'r9bdnn
') Auf die Fra^e eines Standardalphabets für die deutsche
Dialektforschung weiter einzugehen ist hier nicht der Ort; die
Entscheidung, wie sie oben getroffen, entspricht den praktischen
Bedürfnissen.
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 393
(Birnbaum) u. a. ; ansteigenden musikalischen Ton des Vo*
kals oder einer ganzen Silbe stellt ^^ absteigenden ^^,
steigend-fallenden x^, fallend-steigenden n^ dar, anderes
wird unten zur Sprache kommen. In dieser Weise wird
die Orthographie der Anforderung allgemeiner Verständ-
lichkeit entsprechen, ohne einen gar zu fremdartig ab*
stoßenden Eindruck zu machen.
Nach dieser Vorbereitung der Transskription kann
mit der systematischen Materialsammlung begonnen
werden. Bei der Beschaffung des Materials kommen zwei
Hauptquellen in Betracht: 1. direkte Aafiiahme aus
dem eigenen dialektischen Sprachstoffe oder mittelst
eigenen Hörens von anderen Individuen, 2. indirekte
Sammlung durch Zwischenpersonen oder schriftliche Mit-
teilungen. In letzterem Falle ist größte Vorsicht zu em-
pfehlen, der indirekte Weg ist überhaupt nur zulässig,
wenn der Bearbeiter an Hand persönlicher Erfahrung
sichere Kontrolle üben kann. Ob nun die Auftiahme mittel-
bar oder unmittelbar erfolgt, es muß in erster Linie darauf
geachtet werden, die wirklich gesprochene natür-
liche Mundart sich zugänglich zu machen. Da nun die
gesprochene Sprache ihr natürliches Dasein nur im ferti-
gen Satze hat, einzelne Wörter großenteils nur als ge-
drängte Sätze (Wortsätze) vorkommen, muß vermieden
werden, einzelne Vokabeln als Quelle der Mundart zu
benutzen. Die Sammlungen, die in dem festge-
setzten Transskriptionssystem anzulegen sind,
bestehen aus den Sätzen der alltäglichen Rede,
aus denen die einzelnen Wörter und Laute erst
entnommen werden müssen. Von allem anderen ab-
gesehen, ist diese Methode notwendig, weil vielfach die
einzelnen Wörter in verschiedenen Satzformen ganz ver-
schiedene Lautung zeigen (man denke an die En- und
Proklitika), die sich eben nur im Zusammenhang des
ganzen Satzgefüges richtig erkennen läßt. Einzelne
Wörter aus dem Satzzusammenhang losgelöst, nehmen
auf Anfrage im Munde der Mitteilenden sehr leicht eine
unnatürliche Lautung an, weil auf diese Weise die Re-
flexion über das Auszusprechende vielfach störend ein-
Digitized by VjOOQ IC
394 Friedrich Kaufmann,
wirkt. Was aber am eindringlichsten diese Art der
Materialsammlung erfordert, das sind die sog. Sandhi-
erscheinungen. Man versteht unter diesem der alt-
indischen Grammatik entlehnten Terminus die häufigen
Angleichungen und Verschmelzungen, die bei der Auf-
einanderfolge verschiedener oder derselben Laute im Satz-
gefüge eintreten. Jeder Dialekt liefert in dieser Hinsicht
die interessantesten und instruktivsten Belege, man ver-
gleiche z. B. aus der Kerenzer Mundart (Kanton Glarus,
Schweiz) : wempfebwit (wenn du fehlen willst), simpur^tsfrid^
(sind die Bauern zufrieden), gotakebigot (gut Tag geb euch
Gott) u. s. f. Diese Sandhierscheinungen, die unsere ge-
meine Orthographie nicht berücksichtigt, bedürfen ganz
besonderer Aufmerksamkeit, da sie leicht infolge unserer
Vorstellungen vom isolierten Wortkörper gar nicht be-
achtet werden, während sie doch das Hauptcharakteristi-
kum der gesprochenen Rede im Gegensatz zur ge-
schriebenen ausmachen. Werden schriftliche Aufzeich-
nungen, Dialektproben in Prosa oder Poesie als Quellen
benutzt, so müssen in der Regel Umsetzungen in die
Sprechformen stattfinden, die eben nur persönliche Er-
fahrung vorzunehmen vermag. Einen Dialekt rein nach
geschriebenen Quellen behandeln zu wollen, führt im
günstigsten Falle zu dürftigen Einzelbeobachtungen, vom
allgemeineren Standpunkt aus ist es ein Ding der Un-
möglichkeit. Selbst hören ist für den Dialektforscher die
Devise. Auf den Gassen, in den Familienstuben, in der
Schenke, auf dem Felde bei der Arbeit, überall wo die
Menschen sich finden, halte man die Ohren offen und
gewöhne sich ganz unabhängig vom Inhalt des Gesproche-
nen möglichst scharf die Sätze als ganze wie in ihren
kleinsten Teilen aufzufassen. Es ist ratsam, zunächst
einmal möglichst viel zu hören, ohne sich Notizen zu
machen, um über die verschiedenen Laute nach ihrem
akustischen Eindruck sich möglichst klar zu werden, die
Verbindung derselben, die Uebergänge vom einen zum
anderen, den Accent, den musikalischen Tonfall der ein-
zelnen Silben wie des ganzen Satzes zu erkennen, um
selbst möglichst bald korrekt und treffend nachsprechen
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 395
zu können und sich von allen Angewöhnungen der schrift-
deutschen Umgangssprache zu emanzipieren.
Nachdem dies erreicht, wende man sich an einzehie
Individuen verschiedenen Alters und Geschlechtes, von
denen man sich einer unbeeinflußten, rein dialektischen
Rede versichert halten kann. Man benutzt sie am frucht-
barsten in der Weise, daß man sich von ihnen Histör-
chen, Anekdoten, Abergläubisches, Gemeinnütziges jeg-
licher Art vorerzählen läßt und möglichst exakt Satz für
Satz nachschreibt, achte aber peinlich darauf. Laut fUr
Laut zu schreiben, wie sie zu Gehör kommen^). Not-
wendig muß im Tempo wegen des Nachschreibens Ver-
langsamung eintreten, auch die Pausen werden gedehnter
als in der gewöhnlichen Rede, allein dadurch wird kein
oder nur sehr geringer Schaden gestiftet, indem Tempo
und Pausen für sich nachträglich durch Wiederholung
des bereits aufgezeichneten in natürlichem Vortrag kon-
statiert werden können, und dabei auch etwaige lautliche
Abweichungen hervortreten. Bei dieser Art von Auf-
zeichnung ergiebt sich meist von selbst die wichtige
Regel: Zusammengehöriges zusammenzuschreiben,
durch Pausen Getrenntes auch schriftlich zu
trennen. Man wird sich der einzelnen Teile gar nicht
bewußt, aus denen der Satz sich zusammenfügt, das ein-
zelne Wort ist erst eine sekundäre Abstraktion aus dem
einheitlichen Satzteile. In jedem Satz schließen sich ein-
zelne Gruppen von Silben ganz ohne Rücksicht darauf,
ob sie einem oder verschiedenen Wörtern angehören, zu-
sammen; der Beginn jeder Gruppe ist jedesmal durch eine
stärker gesprochene Silbe markiert, z. B. der Satz: gib mir
das Biich her, zerfällt bei ruhiger Aufforderung deutlich
unterscheidbar in die zwei Teile: gi'bmirdas \ Buchher;
je nach Wechsel des Affekts können mehrere Silben her-
vorgehoben werden, die Silbengruppen sind also nicht ein
für allemal fest; der Taktierung der Musik vergleichbar
*) Stenographie, die schon empfohlen worden ist, will mir
wegen der Fülle der Hilfszeichen wie aas anderen Gründen nicht
zweckdienlich erscheinen, doch bekenne ich gern, daß es mir an
persönlicher Erfahrung hierin fehlt.
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396 Friedrich Kauflünann,
hat man sie Sprechtakte genannt. Auf deren innerem
Bau und Abgrenzung in den verschiedenen Satzformen
beruht die Wirkung der Rede auf die Gemüter, vergl. z. B.
gi'b I mrr cUis | Bwch her oder gibmirdasBuchher u. s. w.
Die Sprechtakte sind in den Aufzeichnungen zu vermerken.
Nachdem in dieser Weise 1. die Sprachorgane des
Beobachtenden übungsmä&ig auf den zu bearbeitenden
Dialekt eingeschult und die Nachsprechversuche gelungen
sind, 2. auf Grund dieser Voraussetzung mittelst der Buch-
staben und Zeichen auf dem Papier ein Laut für Laut
genaues Bild der gesprochenen Rede fixiert ist, dann erst
kann man sich auf die Studierstube zurückziehen und mit
der Bearbeitung beginnen. Der Endzweck ist dabei:
Fremden, mit dem Dialekt nicht vertrauten Lesern treffend
und anschaulich die gesprochene Mundart darzustellen,
durch schriftliche Mitteilung die persönliche Erfahrung
zu ersetzen. Es ist das nur annähernd zu erreichen.
Die besten Dienste leistet hierzu prägnante Erfassung der
konstitutiven Faktoren des Dialekts.
Die Bearbeitung eines Dialekts läßt sich etwa folgen-
dermaßen gliedern:
I. PhonetiHche Analyse der Mundart^).
Der gesprochene Satz besteht aus einer ununter-
brochenen Reihe von Sprachelementen. Diese Elemente
sind verschiedener Natur: Klänge (Vokale) wechseln mit
Geräuschen (Konsonanten), lautlose Pausen unterbrechen
kontinuierliche üebergänge vom einen zum anderen:
sprechen wir apa, so setzt die Stimme klingend mit a
ein, der Ton verklingt leise und allmählich, bis die Lippen
sich schließen und ein Moment der Lautlosigkeit (/?) ein-
tritt, die Lippen öffnen sich, bei scharfem Zuhören wird
*) Veryl. Eduard Sievers, Grundzüge der Phonetik, S.Auf-
lage, Leipzig 1886; Wilheltn Victor, Elemente der Phonetik
und Orthoepie des Deutschen, Englischen und Französischen. 2. ver-
besserte Auflage. Heilbronn 1887.
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Dialektforschung. 397
ein leises Anklingen des a yernehmbar, das schließlich im
reinen a-Laute gipfelt. All das vollzieht sich mit außer-
ordentlicher Geschwindigkeit. Während der Buchstabe^
demnach nichts anderes als die Pause des Lippenver-
schlusses bezeichnet, bleiben die sehr leisen Uebergänge
von dem hellklingenden a zu diesem Verschlusse wie un-
mittelbar nach demselben in unserer Orthographie un-
bezeichnet. Daraus folgt, daß die Buchstaben unseres
Alphabets streng genommen nicht einzelne Laute, sondern
Lautgruppen darstellen, deren markiertes Glied wir sicht-
bar ausdrücken, während die umgebenden leiseren Klänge
nicht berücksichtigt werden. Diese letzteren, die sog.
Uebergangs- oder Gleitlaute, sind sehr schwer zu
konstatieren; solange es an geeigneten Instrumenten fehlt,
wird man sich auf allgemeinere Angaben zu beschränken
haben.
Die übrigen Elemente des Satzes sind sowohl nach
akustischem Eindruck, wie nach ihrer physiologischen
Entstehung zu definieren.
Vom Standpunkt des beobachtenden Hörers aus
nehmen wir unmittelbar am gesprochenen Satze ver-
schiedene Grade von Nachdruck wahr, mit denen die
Atmungswerkzeuge des Sprechenden operieren, und diesem
Wechsel von stark und schwach Gesprochenem geht eine
musikalische Satzmelodie parallel, in der wir hohe und
tiefe, auf und ab steigende, andauernde und kurze Töne
unterscheiden. Einerseits die Exspiration, andererseits
die Quantität und Tonbildung begleiten die Laute
vom Beginn bis zu Ende des Satzes, das gegenseitige
Verhältnis ist ein durchaus unabhängiges, indem die ver-
schiedensten Grade von Nachdruck, Dauer und Betonung *)
bei einem und demselben Laute möglich sind.
*) Ton, Betonung u. s. w. verstehen wir immer nur in musika-
lischem Sinne, die Nachdrucksverhältnisse dürfen nicht damit zu-
sammengeworfen werden.
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398 Friedrich KaufFmann,
1. Die Druckverhältnisse der Exspiration 0-
Der Luftstrom, der, aus der Lunge getrieben, die
einzelnen Sprachwerkzeuge passiert, hat in verschiedenen
Mundarten ganz verschiedene Intensität; es ist eine der
dringlichsten Aufgaben, dieselbe wenigstens annäherungs-
weise für die Einzelmundart zu messen. Die Intensität
hängt von der Spannung der Muskeln unseres Sprach-
organismus ab und kann demgemäß zuweilen auch an
den äußeren Organen wahrgenommen werden, z. B. f in
der Mundart von Eerenzen (s. oben S. 394) wird mit solch
energischer Spannung hervorgebracht, daß sich die Lippen
einwärts krümmen, wie dies bei h nicht der Fall ist. Es
lohnt die aufgewendete Mühe reichlich, das Verhältnis
der Druckverschiedenheiten bei den Konsonanten festzu-
stellen. Folgender einfacher Apparat ist zu benutzen:
ein dünner Eautschukschlauch wird an einer u-f5rmig
gebogenen, zu etwa einem Drittel mit gefärbtem Wasser
gefüllter Glasröhre befestigt, das andere Ende wird in
den Mund bis hinter die Stelle eingeführt, wo der be-
treffende Konsonant gebildet wird; spricht man nun g ab-
wechselnd mit k oder b abwechselnd mit p etc., so läßt
sich das Druckverhältnis ohne weiteres an der verschiedenen
Steigungshöhe der Wassersäule bemessen und zahlenmäßig
ausdrücken, z. B. bei p steigt die Säule P^/2mal so hoch
als bei b u. s. w. Nebenher versäume man nicht, auf
das verschiedene Muskelgefuhl zu achten, das sich bei
der Aussprache von Lauten verschiedener Druckstärke in
den Organen kundgiebt. Die Ergebnisse sind för die Ver-
gleichung verschiedener Mundarten von größter Wich-
tigkeit.
2. Quantität.
Jeder Sprachlaut, Vokal wie Konsonant, ist einem
Wechsel der Exspiration sdauer unterworfen. Dieselbe
^) Wie weit Inspiration bei der Lautbildung eine Rolle
gpielt, ist im einzelnen Falle zu konstatieren.
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Dialektforschung. 399
hat in jeder Mundart eine Anzahl von Abstufungen. Die
landläufige Grammatik hat den höchst dürftigen Unter-
schied langer und kurzer Laute aufgestellt, mit denen
ein praktischer Sprachbetrieb unmöglich auskommen kann.
Die Abstufungen der Quantität sind zahllos. Die Zeit-
dauer der Einzellaute hängt generell von dem Sprech-
tempo ab, d. h. von der Geschwindigkeit der Lautfolge.
Der Usus der verschiedenen Mundarten ist in diesem
Punkte wieder ein sehr abweichender, und allerorts müssen
Beobachtungen angestellt werden. Da das Tempo eines
der Hauptausdrucksmittel der Stimmungen und AflTekte
ist, muß etwaigen Messungen gleichmäßig die ruhige Eon-
versation zu Grunde gelegt werden, die Extreme sind von
da aus zu konstatieren. Was man Kürze oder Länge des
Vokals oder Konsonanten nennt, ist für jede Mundart eine
unklare Vorstellung, solange man nicht, was leider fast
ausnahmslos der Fall ist, diese beiden Grade gegenseitig
vergleicht. In schweizerischen Mundarten ist das Ver-
hältnis von Kürze zur Länge ein viel schrofferes als in
mitteldeutschen. Großenteils ist die Kürze der Länge
angenähert, zahlenmäßig kann dies am besten zum Aus-
druck gebracht werden, Zeitverhältnis der Kürze zur Länge
wie 1 : 2 oder 2 : 3 u. s. w. Allein, wie gesagt, Länge
und Kürze sind immer nur Sammelbegriffe. Sehen wir
von den bei wechselndem Tempo eintretenden Quantitäts-
differenzen ab, so stehen die Vokale der unbetonten
Silben an Zeitdauer hinter denen der betonten Silben
zurück, betonte Vokale in Diphthongen unterscheiden sich
merklich an Quantität von denselben Vokalen in selb-
ständiger Funktion, in vielen Mundarten ist der betonte
Vokal in Satzpause gedehnter als im Satzinnem u. s. w.
Es ist nicht schwer, meist 5 — 6 verschiedene Quantitäten
nachzuweisen, die noch lange nicht das Thatsächliehe
erschöpfen, über das wir erst, mit Instrumenten versehen»
genügendes aussagen könnten. Bei den Konsonanten ist
es schwieriger, mehr Grade als lang oder kurz wahrzu-
nehmen. Das Wichtigste bleibt überall eine möglichst
anschauliche Definition von dem gegenseitigen Verhältnis
zwischen den einzelnen Graden, da der Fremde im Er-
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400 Friedlich Kaaffmann,
mangelungsfalle immer fehlerhafterweise die Zustande
seiner eigenen Sprechgewohnheit einsetzen wird. Hilfs-
zeichen der Darstellung sind leicht zu bilden, kürzeste
Vokale bleiben unbezeichnet, halbkurze bekommen ^^^ halb*
lange -', lange -, überlange - u. s. w.
3. Die Tonbewegung der Stimme.
Wir sehen hier von der Modulation ab, die syntak-
tischen Zwecken dient, daß etwa bei der Frage in den
meisten Mundarten (anscheinend nicht in allen) die Stimme
gegen das Ende ansteigt und ähnliches, es handelt sich
hier um die Betonung bei affektloser Rede. In populärer
Ausdrucks weise bezeichnet man diese Tonbewegung als
^ysingen**. Hier ist größte Vorsicht erforderlich. Oft und
yiel wird von den Angehörigen einer Sprachgenossenschaft
geleugnet, dafi sie „ singen '', während der Fremde dies
unzweifelhaft bestätigt; es ist sehr schwer, sich der heimat-
lichen Melodieen zu entäußern. Es handelt sich darum,
ob in der Mundart neben dem Wechsel der Druckstärke-
grade ein solcher zwischen hohen und tiefen Noten her-
geht, d. h. ob ein Vokal unter starkem Druck zugleich
musikalisch hoch, ein Vokal mit schwachem Druck musi-
kalisch tief liegt oder umgekehrt. Eine gewisse Ton-
modulation ist in jeder Mundart vertreten, schwankend
ist nur: einmal das Verhältnis zur Intensität der Exspi-
ration, zum anderen die Abstände zwischen hohen und
tiefen Tönen, die Intervalle. Die Intervalle der schweize-
rischen Dialekte sind bekanntlich sehr auffallend, am
Niederrhein sollen Intervalle bis zur Oktave aufsteigen,
leider ist von diesen Dingen noch sehr wenig bekannt
geworden; mau bezeichne die Intervalle künftighin mit
den geläufigen Ausdrücken der musikalischen Technik
(kleine, große Terz, Quart, Quinte u. s. w.). Im schwäbi-
schen Dialekt, wahrscheinlich ganz allgemein soweit der
alemannische Stamm reicht, sind die Vokale mit starker
Exspiration (d. h. in der Wurzelsilbe) musikalisch tiefer
als die Vokale der Endsilben bei schwachem Druck.
Das einfachste Mittel die Betonung sich deutlich zu Ge-
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Dialektforschung. 401
hör zu bringen, ist, die einzelnen Wörter oder Sätze bei
geschlossen gehaltenen Lippen zu sprechen, die Intervalle
werden sich auf diese Weise sehr scharf abheben. Es ist
ün Interesse allgemeiner Fragen dringend zu wünschen,
unsere Dialekte auf die musikalische Seite hin zu unter-
suchen; es mag vieles Stückwerk bleiben, die Meinung,
unmusikalisch zu sein, wird sich bei wiederholten XJebun-
gen diesen einfachen Formen gegenüber kaum als stich-
haltig erweisen.
4. Die Elnzellante.
Zur allgemeinen Verständlichkeit der orthographi-
schen Zeichen ist eine genaue Beschreibung der Laut-
werte derselben unumgänglich. Wir verstehen unter
einem Laut die bestimmte Modifikation, welche der aus
den Lungen getriebene Luftstrom entweder im Kehlkopf
oder im Ansatzrohr, d. h. im Schlund-, Mund- oder
Nasenraum, erfahrt. Zum Zustandekommen eines Sprach -
lautes sind drei Faktoren erforderlich:
1. ein Exspirationsstrom, dessen wechselnde Stärke
durch die Thätigkeit der Atmungsmuskulatur regu-
liert wird;
2. eine Hemmung dieses Stromes teils im Kehlkopf,
teils im Ansatzrohr, teils in beiden gleichzeitig, die
dem 6rade wie der Dauer nach verschieden sein
kann und den Schall erzeugt;
3. ein Resonanzraum, welcher dem durch das Zu-
sammenwirken von Exspirationsstrom und Hemmung
erzeugten Schall seine spezifische Färbung giebt.
Dar wichtigste Merkmal für den Einzellaut ist der
schallerzeugende Ort der Exspirationshemmung,
der Resonanzraum wirkt ja nur schallmodifizierend. Tritt
die Hemmung des Luftstromes im Kehlkopf durch Zu-
sammentreten der Stimmbänder ein, so geraten diese in
Schwingung, es entstehen Klänge und der Luftstrom wird
dadurch zum Stimmton, auch kurz Stimme genannt;
die Vokale sind nichts anderes als dieser durch einen
wechselnden Resonanzraum in Mund oder Nase verschie-
Anleltnng zur detitaoben Landes- und Yolksfonobimg. 26
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402 Friedrich Kauffmans,
denaxtig modifizierte Stiromton. Bleiben die Stimmbänder
offen, so streicht der Luftstrom durch, der Stimmton
fehlt; etwaige Hemmungen im Rachen oder Munde er-
zeugen Geräusche, deren verschiedenartige Resonanz in
der Mund- oder Nasenhöhle die stimmlosen Konso-
nanten ergiebt. Eine dritte Kategorie, die stimm-
haften Konsonanten, werden gebildet, wenn die Stimm-
bänder wie bei den Vokalen mitschwingen und der
Stimmton im Ansatzrohr eine zweite, der der stimm-
losen entsprechende Hemmung erfährt.
In diese drei Gruppen sind sämtliche Laute einzu-
reihen. Bei den deutschen Mundarten ist es von be-
sonderem Interesse, in jedem einzelnen Fall den Anteil
der stimmhaften Konsonanten am Lautmaterial zu kon-
statieren. Fast überall in Niederdeutschland fallen b, djg
darunter, während umgekehrt der größere Teil von Mittel-
und ganz Süddeutschland dieselben stimmlos ohne Hem-
mung im Kehlkopf bilden. Ob Stimmton bei der Bil-
dung der Konsonanten einer Mundart beteiligt ist oder
nicht, läßt sich erkennen, indem man beide Ohren fest
zuhält und die einzelnen Laute durchspricht, sobald die
Stimmbänder mitschwingen, macht sich ein eigenartiges
starkes Summen im Kopfe vernehmbar.
a) Die Artikulationen der Vokale.
unter Artikulation verstehen wir das Verhalten des
Kehlkopfs und Ansatzrohrs gegenüber dem Luftstrom.
Daß die Verschiedenheit der Vokale a, e, i, o, u nichts
anderes ist als ein und derselbe im Kehlkopf durch
Stimmbänderschwingungen erzeugte Stimmton oei ver-
schieden abgestuftem Resonanzraum, ist bereits bemerkt.
Die Stellung des Kehlkopfs, ob er bei Bildung eines
Vokals hoch steht oder sich senkt, ist zu beobachten, in-
dem man den Finger auf den von außen leicht fühlbaren
Knorpel auflegt und dessen Bewegungen folgt. Bei jedem
Vokal ist femer als das Wichtigste die Form des zuge-
hörigen Resonanzraums möglichst anschaulich zu schildern.
Es handelt sich dabei:
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Dialektforschung. 403
1. um das Verhalten des Gaumensegels, von
dessen Funktion die Beteiligung der Nase abhängt; liegt
das Segel hinten an der Rachenwand angepreM, so ist
der Fanal zur Nase für den Luftstrom abgeschlossen und
es entstehen die reinen Vokale; hängt dagegen das
Segel frei schwebend herab, so giebt der Nasenraum
gleichfalls eine Resonanz für den Stimmton ab und es
entstehen die Nasalvokale. Verschiedene Stufen sind
auch hier zu beobachten. Viele Mundarten kennen nasa-
lierte Vokale überhaupt nicht, in anderen ist die Nasa-
lierung leichter, in anderen intensiver, die Ursache liegt
in der Spannung des Gaumensegels. Als einfaches Ex-
periment empfiehlt sich bei der Bildung der Vokale sich
die Nase zuzuhalten; ist der Nasenkanal offen, so tritt
eine auffallende Veränderung der Vokaltimbres ein, ist
der Zugang abgeschnitten, so kommt der Vokal gleich
rein zur Geltung, ob die Nasenlöcher frei sind oder nicht.
2. um Lage, Form und Spannung der Zunge,
z. B. hinten hoch gewölbt, vorne spitz auslaufend, der
Längenachse nach komprimiert und ähnliches, wodurch
der stets sich verändernde Resonanzraum bedingt wird.
3. um Feststellung des Punktes, an welchem
die in allen Fällen eintretende Engenbildung zwischen
Zunge und innerer Mund wand statthat, z. B. vorne am
harten Gaumen, hinten auf der Grenzscheide des harten
und weichen Gaumens u. s. w.
4. um die Kieferweite (Senkung des Unterkiefers).
5. um die Funktion der Lippen: Rundung, Vor-
stülpen, Auseinandertreten mit Einziehung der Mund-
winkel u. a. m.
Das Zusammenwirken aller dieser Faktoren ergiebt
den einzelnen Vokal und wird als seine Artikulation
bezeichnet.
Jede einzelne Artikulation muß orthographisch durch ein
und dasselbe Zeichen ausgedrückt werden (s. oben S. 392).
Die Verbindung verschiedener Artikulationen, so das Auf-
einanderfolgen zweier oder dreier vokalischer Artikulatio-
nen, wie sie bei den Diphthongen und Triphthongen
vorhanden, ist durch zwei resp. drei Zeichen darzustellen,
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404 Friedrich Kauffniann,
doch so, daß die Buchstaben stets mit denen der be-
treffenden selbstiindigen Artikulationen identisch sind. Es
ist dies praktisch von Bedeutung. Der in der Gemein-
orthographie als ei, ai geschriebene Diphthong wird in
alemannischen Gegenden vielfach äi, in Mitteldeutschland
gewöhnlich ae gesprochen, es wäre unstatthaft, bei dem
Diphthongen gemeindeutsch ai etwa nur den ersten Kom-
ponenten (a) genau seiner Artikulation nach darzustellen
und den zweiten, wie es leider vielfach geschieht, durch
i wiederzugeben, auch wenn die Artikulation eine ganz
andere als beim selbständigen t-Laut (etwa gleich der e-
Artikulation) ist. Bei den Diphthongen ist noch auf die
Zungenbewegung beim üebergang vom einen zum anderen
Komponenten zu achten.
b) Die Artikulationen der Konsonanten.
Zunächst ist über den Namen einiges vorauszuschicken.
Die Verdeutschung „ Mitlauter ^ besagt, daß die Funktion
dieser Laute im Gegensatz zu anderen darin besteht, nur
als „gewissermaßen zurücktretende Beigaben** mit den
Selbstlautern mitzuklingen, also nicht selbständig wie diese,
Silbenträger zu sein. Allein in diesem strengen Sinne
hat die traditionelle Schulgrammatik den Namen nicht
verstanden wissen wollen. Denn 1. giebt es auch sog.
Vokale, die eine nur mitlautende Rolle spielen, man denke
an die Diphthonge ae, ao, in denen e und o ebenso unter-
geordnet (mitlautend) sind wie etwa l, m in am, al u. s. w.
2. Kommen thatsächlich eine Reihe von sog. Konsonan-
ten auch als Selbstlauter, als Silbenträger in allen deut-
schen Mundarten wie in der schriftdeutschen Umgangs-
sprache vor, nämlich die Liquiden l, r und die Nasale n,
m; vergl.: handl, ledr, gezeicknt, besm (besen) in nieder-
rheinischen Dialekten. Wenn unsere Bücherorthographie
vor die Liquiden und Nasale ein e-Zeichen einfügt, darf
man sich dadurch nicht täuschen lassen, es ist dies eitel
Schulmeisterei. Indessen kann doch der Name «Konso-
nanten* sehr wohl beibehalten werden, wenn man sich
dieser Thatsachen bewußt bleibt und an Stelle des ver-
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Dialektforschung. 405
meintlichen Gegensatzes der Vokale den eigentlichen der
Sonanten (= Selbstlauter) einführt. Die Sprachlaute
zerfallen ihrer Funktion nach sämtlich nicht in Vokale
und Konsonanten, sondern in Sonanten und Konsonanten;
unter Sonanten begreifen wir die sonantischen Vokale
und Konsonanten (Selbstlauter), unter Konsonanten die
konsonantischen Vokale und die gemeinen „Konsonanten*'
^MiÜauter). Wenn so das Verhältnis zwischen Vokal und
Konsonant als durchaus vermittelt erscheint, so wird die
Verbindung noch enger durch die sog. Halbyokale, d.h.
,, unsilbisch gebrauchte Vokale*, soweit sie nicht als zweite
Komponenten in Diphthongen (oder Triphthongen u. s. w.)
Yorkommen; „die Praxis pflegt den Ausdruck ,Halbyokal'
nur anzuwenden, um einen konsonantischen Vokal vor
einem silbischen Laute zu bezeichnen*. Unsilbische Vo-
kale (mitlautende) markiere man durch untergesetztes '>,
z. B. ae, ao, Halbvokale sind demnach nur z. B. i, u in
ia, ua u. s. w. Die Halbvokale i, u werden leicht mit ;
und w verwechselt und zusammengeworfen. Den Unter-
schied möge man sich durch Vergleich des englischen w
(double u) mit dem w der deutschen Gemeinsprache ver-
anschaulichen, die Klangverschiedenheit wird sofort ins
Ohr fallen.
Außerdem giebt es (s. oben S. 402) in den niederdeut-
schen Mundarten „Konsonanten*, die auch darin mit den
Vokalen übereinstimmen, daß nicht der stimmlose Luft-
strom, sondern der im Kehlkopf gebildete Stimmton
das Substrat bildet. Auf dieser Grundlage beruht die
weitere allgemeine Einteilung der Laute in Sonorlaute
(nicht mit Sonanten zu verwechseln!) und Geräuschlaute,
d. h. Laute mit und ohne Stimm ton. Zu den Sonorlauten
gehören die Vokale, Halbvokale, Liquiden, Nasale und
stimmhaften „Konsonanten*, zu den Geräuschlauten die
stimmlosen „Konsonanten* ^).
') Während in Niederdeatschland das Verhältnis von Media
znr Tennis sich mit dem des stimmhaften und stimmlosen Konso-
nanten deckt, stellt es sich in Mittel- und Oberdeutschland als das
des schwachen oder weichen zum starken oder harten Laute dar,
die Media ist hier Lenis, die Tenuis meist Fortis; die Artiku-
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406
Friedrich KaufFmann,
Für die Konsonanten im alltägliclien Verstände ist
das Vorhandensein von Geräuschen charakteristisch.
Diese Geräusche begleitet bei den stimmhaften Konso-
nanten der Stimmton, gemeinsam sind sie beiden Kate-
gorieen. Die Geräusche haben zweierlei mechanische Ur-
sachen, entweder liegen Reibungen (Reibegeräusche) oder
Explosionen zu Grunde. Man unterscheidet danach Reibe-
laute (Spiranten) und Explosions- oder nach dem
vorausgehenden Akte Verschlußlaute. Die Reibelaute
haben ihrer physikalischen Beschaffenheit nach eine kon-
tinuierliche Dauer, daher auch Dauerlaute genannt; die
Explosion ist dagegen stets eine momentane (Momentan-
laute). Mit dieser Einteilung nach mechanischen Prin-
zipien kreuzt sich die Systematisierung nach den Stellen,
an denen im Ansatzrohr das Reibegeräusch oder der Ver-
schluß gebildet wird (Artikulationsstellen). Es kom-
men in Betracht: Lippen, Zähne, vorderer und hinterer
Gaumen, Zunge. Folglich: 1. Labiale, 2. Dentale,
3. Gutturale, a) Palatale, b) Velare.
In dieser Weise wären die Laute der Einzelmundart
zu gruppieren; praktisch ist etwa folgende Tabelle anzu-
legen, bei der man aber berücksichtigen möge, daß hier
die Buchstaben immer nur Kategorieen vertreten, nicht
genau definierte Laute.
Labiale
Dentale
Palatale
Velare
^ V , p 1 Media (stimmhaft?)
Verschluß- |
h.
d.
ff-
9-
' Ten als (stimmlos) .
P-P'^
1. 1\
k. k\
k.k\
ijitimmhaft . . . .
m. IC.
n.l.r.z.
^•i. 3.
^.3.
' stimmlos ....
f.(w).
8.:s.
X.
x.r-
latioDs arten sind aber dabei durchaus identisch, die Media ist
stimmlos wie die Tenuis und unterscheidet sich nur durch ver-
schiedene Quantität und Spannungsenergie. Tn Süddeutschland
lassen sich die Abstände meist scharf fixieren.
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Dialektforschuag. 407
Jede dieser Lautkategorieen ist in der Einzelmundart
genau nach Artikulationsstelle und Artikulationsart zu
beschreiben, was um so dringlicher ist, als namentlich in
der Labialreihe Berührungen mit der Dentalreihe auf-
treten, w und f sind nämlich in der Regel nicht rein
labial, sondern es entsteht ein gleichzeitiges Reibegeräusch
an den Zähnen; man bezeichnet diese Formen als labio-
dentale. In der Dentalreihe ist die Artikulationsstelle
gleichfalls sehr wechselnd. Der Verschluß oder die Rei-
bungsenge wird durch die Zunge gebildet, die Gegenwand
bildet die Hinterseite der Zähne; man achte darauf, ob
die Zunge sich gegen die Ober- oder Unterzähne stemmt,
ob sie sich bei den s-Lauteii {z = stimmhaftes s) zwischen
die Zahnreihen schiebt, ob bei den ^-Lauten zu beiden
Seiten der Zungenränder Engenbildung stattfindet oder
nur rechts resp. links; bei den r-Lauten (Zungen-r) ist
auf das eigentümlich intermittierende Geräusch zu hören.
Die Palatalen brauchen nicht durch Hilfszeichen von
den Velaren unterschieden zu werden, wenn sich allge-
meine Gesetze für sie aufstellen lassen, z. B. palatale
Artikulation tritt nur ein, wenn helle Vokale vorangehen
und ähnliches. Unter die Velare fällt auch das sog.
Zäpfchen-r (r), dessen Verwandtschaft mit den a?-Lauten
bekannt ist. p\ (, k' bezeichnen aspirierte Laute, Fortes
mit nachstürzendem Hauch. — Um die Artikulationsstellen
bei den Dentalen, Palatalen und Velaren möglichst genau
angeben zu können, wende man folgendes ungefährliche
Experiment an: die Zunge wird mäßig dick mit reiner
chinesischer Tusche bestrichen, danach spreche man sorg-
fältig die einzelnen Konsonanten, und an der betreffenden
Verschluß- oder Engenstelle wird sich die Farbe abge-
drückt zeigen. Auflegen des Fingers bei der Artikulation
ist nicht sehr zuverlässig.
5. Ein- und Absatz der Laute.
Die hier zu behandelnden Erscheinungen gehören der
Funktionslehre an, die phonetische Analyse kehrt damit
wieder in den Zusammenhang des gesprochenen Satzes
Digitized by VjOOQ IC
408 Friedrich Kauffmann,
zurück. Es handelt sich zunächst darum, wie in den ver-
schiedenen Mundarten „ein nach vorwärts oder rückwärts
isolierter Laut seinen Anfang resp. sein Ende findet '^.
a) Bei den Vokalen.
1. Vokaleinsatz. Man versteht darunter das Ver-
halten der Stimmbänder einer beginnenden, einsetzenden
Exspiration gegenüber. Entweder beginnt dieselbe erst,
nachdem die Stimmbänder zum Tönen eingestellt sind,
oder sie beginnt bei offenem Kehlkopf, so da^ die Bänder
erst schwingen, nachdem der erste Exspirationshub vorüber
ist, oder drittens die Stimmritze ist in allen ihren Teilen
fest geschlossen, die Stimme muß erst gewaltsam diese
Hemmung überwinden, um zur Geltung zu gelangen.
Man unterscheidet diese drei Möglichkeiten als leisen,
gehauchten und festen Einsatz. Wie weit diese Mög-
lichkeiten in den Dialekten faktisch vertreten sind, wissen
wir noch nicht. Der sog. feste Einsatz ist vielfach üb-
lich, namentlich in Norddeutschland (vergl. Er-innerung)^
dem eigentlichen Vokallaut glaubt man eine Art Knacken
vorausgehen zu hören (Explosion des Kehlkopfs). Man
hat damit den Spiritus lenis der Griechen identifiziert und
bezeichnet demgemäß diesen Einsatz mit \ Der gehauchte
Einsatz ist nichts anderes als was wir durch den Buch-
staben h 0 ausdrücken.
2. Vokalabsatz. Aehnliche Erscheinungen wieder-
holen sich beim Ausgang der Vokale. In Deutschland
scheint der gehauchte Absatz der verbreitetste zu sein,
wobei die Exspiration noch fortdauert, nachdem die Stimm-
ritze bereits geöfihet ist; als Zeichen diene ^
Daß beim Vokal -Ein- und Absatz auch auf die
Energie des Vorgangs zu achten ist, versteht sich von
selbst.
b) Bei den Konsonanten.
Die Beobachtungen sind hier einfach auf das Ver-
hältnis von Luftstrom zur Engen- oder Verschlußbildung
zu übertragen. Konsonanten mit festem Einsatz werden
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 409
durch vorgesetztes ' ausgezeichnet, der gehauchte Absatz
durch \ der letztere tritt in der Regel bei absoluter Aus-
lautstellung der Verschlußlaute in Satzpause ein.
6. Die Silbenbildung.
Die einzelnen Lautelemente (Einsatz, Einzellaut,
Uebergangslaut, Absatz) sind zu Gruppen vereinigt,
deren einfachste Form die Silbe bildet, d. h. ein Laut-
komplex, der mit kontinuierlicher Exspiration hervor-
gebracht v^ird und notwendig einen Sonanten (Vokal oder
Konsonanten, s. oben S. 404 f.) als Silbengipfel enthalten
muß. Im Sprechtakt schließen sich mehrere solcher
Komplexe zusammen, die sowohl nach Intensität und
Dauer wie nach musikalischer Betonung sich gegenseitig
abheben. Wir unterscheiden starke, mittelstarke und
schwache Silben. Von diesen aus gelangen wir zum
Wort. Das Charakteristikum desselben ist die starke
Silbe, welcher fakultativ mittelstarke und schwache Silben
sich anschließen; die starke Silbe ist in allen germani-
schen Sprachen mit der Wurzel- oder Stammsilbe des
Wortes identisch.
Innerhalb der einzelnen Silbe findet eine Exspirations-
bewegung statt, volle Intensität ist dem Sonanten der
Silbe eigen, die Konsonanten vor demselben werden cres-
cendo, nach demselben decrescendo gebildet, je näher
ein Konsonant dem Sonanten steht, um so größer ist seine
natürliche Schallfülle. An dem Punkt, wo die Exspi-
rationsbewegung den niedersten Stärkegrad erreicht hat,
um eventuell zur Bildung einer neuen folgenden Silbe
wieder anzuschwellen, ist die Silbengrenze. Die Silben-
teilung ist ein sehr wichtiger konstitutiver Faktor. Es
giebt Mundarten, welche die Silbe mit dem Sonanten
schließen (offene Silben), in anderen gehören folgende
Konsonanten der ersten Silbe an und die Silbe beginnt
mit dem Sonanten. Zuweilen dienen beide Formen in
ein und derselben Mundart dem Ausdruck verschiedener
Affekte. Wichtig ist femer, für diesen auffallend ab-
weichenden Usus die Ursache festzustellen; dieselbe ist
Digitized by VjOOQ IC
410 Friedrich Kauffmann,
im Ein- und Absatz des Sonanten der Silbe zu suchen.
In diesem Zusammenhange besagen diese nichts anderes
als den sog. Accent. Fester Einsatz ergiebt in der Silbe
den stark geschnittenen Accent ('), der Vokal geht
noch im Momente seiner vollen Intensität in den zuge-
hörigen Konsonanten über; der schwach geschnittene
Accent (>) beruht auf dem leisen Einsatz, der Vokal
verklingt, die Abschneidung tritt erst ein, nachdem die
Intensität nachgelassen hat, folgende Konsonanten fallen
der Folgesilbe zu. Ganz anderer Beschaffenheit ist eine
weitere Accentform, der sog. Circumflex. Seine Wesen-
heit besteht darin, daß sich auf ein und dieselbe Laut-
gruppe zwei Accente verteilen (zweigipfelige Silben),
die aber im Gegensatz zum stark oder schwach geschnit-
tenen musikalischer Natur sind, auf einer und derselben
Silbe wird ein Intervall von hoher zu tiefer Note oder um-
gekehrt wahrnehmbar, meist bildet schwach geschnittener
Accent die exspiratorische Grundlage. In allen Mund-
arten, die wir als „singende* bezeichnen, ist der Circum-
flex mehr oder minder ausgeprägt vorhanden. Möglicher-
weise sind in dem eigentümlichen rheinisch -kölnischen
Accent stark und schwach geschnittener Accent verbun-
den, indem er vielleicht stark geschnitten beginnt und
schwach ausklingt.
Mit der Silbenbildung ist der Ring geschlossen; im
Sprechtakt gruppieren sich um die starke Vollsilbe die
mittelstarken und schwachen Silben, und der Sprechtakt
bildet die Einheit des Satzes, von dem wir ausgegangen sind.
II. Grammatikalische Statistik.
Die phonetische Analyse hat nicht allein den Zweck, die
gesprochenen Laute möglichst anschaulich zur Darstellung
zu bringen, sondern es vereingt sich damit die Thatsache,
daß nur auf diesem Wege der grammatische Aufriß einer
Mundart sich dem Verständnis zugänglich machen läßt.
Wenn über die Beschaffenheit der einzelnen Laut-
formen u. s. w. orientiert ist, bildet die nächste Aufgabe,
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Dialektforschung. 411
das gesammelte sprachliche Material statistisch aufzu-
nehmen, zunächst nach seinen formalen Seiten. Es kann
dies allerdings nur annähernd erreicht werden. Die An-
ordnung hat hier auf Grundlage der allgemeinen gram-
matikalischen KAtegorieen zu erfolgen.
1. Lautlehre.
Sie hat die Existenz und den Umfang einzelner
in der phonetischen Analyse definierter Lautformen nach-
zuweisen; für jeden (phonetischen) Einzellaut ist eine
möglichst reiche Seri« von Belegen zu geben, bei wich-
tigeren, interessanteren Erscheinungen ist Vollständigkeit
der Belege notwendig. Da& diese Angaben in der fest-
gestellten Orthographie zu machen sind, versteht sich von
selbst, jede Konzession an die ßuchorthographie ist ängst-
lich zu verhüten. Den mundartlichen Wörtern möge
jedesmal eine üebersetzung oder Umschrift ins Schrift-
deutsche beigegeben werden; vergl. Aä/'(hanf), tsls (zins),
lu9g (sieh zu). Nach dem, was im vorangehenden über
starke, mittelstarke und schwache Silben gesagt ist, muß
streng zwischen den Vokalen der Stammsilben 'und
denen der Kompositions-, Ableitungs- und Flexions-
silben geschieden werden; es ergiebt sich, daß einzelne
Lautqualitäten und -quantitäten nur in diesen letzteren vor-
kommen. Für jeden einzelnen Vokal sind ferner nach den
verschiedenen Timbres (offen und geschlossen u. s. w.) und
Quantitäten (lange, kurze, halbkurze, überlange u. s. w.)
Wörter, in denen er gesprochen, aufzuführen. Etwaige
Schwankungen eines und desselben Wortes in Vokal-
timbre oder Vokalquantität sind sorgfältig zu verzeichnen.
Für die Konsonanten gilt das nämliche. Besondere
Beachtung soll auch hier etwaigen Lautwechseln ge-
schenkt werden, wenn im gleichbedeutenden Wort ver-
schiedenartige Artikulation eines Grundlautes üblich ist. So
gilt beispielsweise für den Niederrhein und Nachbarschaft
das Gesetz, daß stimmlose Laute in der Nachbarschaft
stimmhafter gleichfalls stimmhaft werden und umgekehrt,
z. B. furxhar (furchtbar) mit stimmhaftem x vor stimm-
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412 Friedrich Kauffmann,
baftem b; in SüddeutscblsLnd besteht die Regel, daß aus-
lautende Verschluß-Lenes und -Fortes zu gehauchten
Fortes werden; vergl. schwäbisch: dägonäxt' (Tag und
Nacht), sisdä-k"" (es ist Tag). Die auf den Prozessen der
Silbenbildung beruhenden Sandhierscheinungen (s. oben
S. 394) müssen möglichst erschöpfend gesammelt werden.
2. Flexionslehre.
Hierunter ist statistisch zu vereinigen, was die Mund-
art an Flexionsformen besitzt: 1. Deklination der
Substantiva, Eigennamen, Adjektiva, Zahlwörter und Pro-
nomina, je nach Klassen geordnet; den Einteilungsgrund
bei den Substantiven wird in der Regel die Pluralbildung
abgeben. 2. Konjugation der Verba, die nach Bildung
des Tempus der Vergangenheit (Präteritum) in starke
und schwache Verba zerfallen; die Hilfszeitwörter sein,
haben, können, mögen, dürfen, wollen zeigen auffallende»
von den übrigen Verben abweichende Bildungen, die ge-
sondert zusammengestellt werden müssen.
3. Wortbildungslehre.
Die Steigerungsformen des Adjektivs (Kom-
parativ und Superlativ), die Bildungsweise der Adverbien
aus den zugehörigen Adjektiven, werden gewöhnlich in
der Flexionslehre behandelt, gehören aber in die Wort-
bildungslehre. In diesem Kapitel werden wohl auch an-
schließend am besten die Konjunktionen, Präpositio-
nen, Orts- und Zeitadverbien, Interjektionen und
ähnliches gesanmielt. Außerdem muß aufgenommen wer-
den, was die Mundart an Präfixen und Suffixen besitzt,
und in welchem Sinne dieselben verwendet werden; einzelne
Ableitungen geben sich leicht als abgestorbene, tote zu
erkennen, während andere lebendig in Erinnerung der
Sprechenden haften und immer wieder zu neuen Wortbil*
düngen benutzt werden; in diesen letzteren produktiven
Suffixen weichen die Mundarten vielfach ab. Auf die Be-
deutung der Diminutivbildungen ist bereits hinge-
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DialektforschuDg. 413
wiesen. Bei der eigentlichen Wortkomposition, Zu-
sammensetzung zweier sonst selbständiger Wörter, ist die-
selbe Unterscheidung zu berücksichtigen, erstarrte Kom-
positionen, wie: jumpfer, nachbar, mmper, Schulze u. a.
werden wie einheitliche Wörter behandelt, denen die leben-
dige Komposition, deren einzelne Glieder vom Sprechenden
selbst gesondert werden, gegenübersteht.
4. Syntax.
ünbegreiflicherweise ist dieses Gebiet von der mund-
artlichen Forschung fast ganz vernachlässigt worden, ob-
wohl hier nicht weniger interessante Resultate sich er-
geben als bei der Lautforschung. Wenn, wie oben
ausgeführt, die Sammlungen in der Weise angelegt wer-
den, daß man sich bemüht, den Sprachschatz der Mund-
art nur im gesprochenen Satz, nicht als abstrahirte Vo-
kabeln aufzuzeichnen, hat jeder Forscher ein höchst
zuverlässiges Material zur Hand, dessen Bearbeitung nicht
dringend genug zu wünschen ist. Ausgehend vom ein-
fachen Aussagesatz ist die Wortstellung zu schildern
und zu belegen, die Veränderungen, die im Aufforde-
rungs-, Wunsch- und Fragesatz eintreten, schließen
sich an. Die syntaktische Verwendung des Artikels und
der Pronomina, ihr Fehlen, ihre Funktion als En- und
Proklitika ist in vielen Mundarten abweichend. Das-
selbe gilt vom Gebrauch der Casus in ihrer Ab-
hängigkeit von Verben und Präpositionen. Beim
Verbum ist die Funktion der verschiedenen Tempora,
die Bildungsweise der umschriebenen Tempora (mit
sein oder haben), die Gebrauchsweisen der Modi, Parti-
cipia, Infinitive und des Gerundiums (in vielen Mund-
arten noch flektiert), so sehr sie zusammengeschrumpft
sein mögen, festzustellen. Die Formen der Verallge-
meinerung, Verneinung, der Koordination und
Vergleichung, und was in den Mundarten besonders
reich entwickelt zu sein scheint, der sog. Pleonasmus
— über all das sind wir noch gar nicht unterrichtet.
Von hohem Interesse ist die Periodenbildung in deu
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414 Friedrich Eauffinann,
Volks. niundarten; die gewöhüliche Anschauung, daß die-
selben zusammengesetzte Sätze nur sehr dürftig kennen,
wird vielleicht nicht stichhalten. Die Mittel, das Ab-
hängigkeitsverhältnis zum Ausdruck zu bringen, sind
sehr zahlreich; es werden nicht bloß gewisse Konjunk-
tionen oder Partikeln dazu verwendet, vielfach wird es
nur durch veränderte Wortstellung und Modulation
der Stimme ausgedrückt ohne grammatische Bezeichnung.
Weiterhin kommen in Betracht die Relativsätze, Kon-
junktionalsätze, bei denen wieder auf Wortstellung
und Modus zu achten ist. Gewiß sind damit noch lange
nicht alle syntaktischen Formen unserer unerschöpflichen
Mundarten genannt; eine sorgfältige Sammlung, die viel
Takt und Feingefühl erfordert, wird uns große Belehrung
bringen.
Vielversprechend wären statistische Sammlungen über
die volksmäßige Stilistik und Rhetorik, deren künst-
lerische Formen in gehobener Stimmung, deren drastische
Bildlichkeit und Anschaulichkeit bei Scherz, Humor und
Witz, kurz, welche Nuancierungen überhaupt den wechseln-
den mannigfaltigen Stimmungen des schlichten Bauern-
herzens zum Ausdiuck dienen. Im Zusammenhang damit
achte man genau auf die Verschiedenheit der Satzformen
nach ihrer musikalischen Melodie, ob der Satz in
tiefer Lage beginnt, um, wie in der Frage, hoch anzu-
steigen, ob sich hohe und tiefe Noten zu abwechselnden
Intervallen vereinigen u. s. w.
5. Textproben.
Den Abschluß der grammatischen Anordnung des
Materials bildet die Mitteilung fertiger, aus dem Munde
des Volkes gesammelter Proben des gesprochenen leben-
digen Dialekts: Wechselreden, Erzählungen, Anek-
doten, Poesieen und was dergleichen mehr dem Kopfe
der ländlichen Gesellschaft ents-prungen. Wichtig ist da-
bei strenge Handhabung der orthographischen Zeichen,
deren übersichtliche Verwendung großen Nutzen stiften
wird.
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Dialektforsch äug. 415
III. Die historisch-entiviekelnde ForNchung.
Die mühsame Aufgabe des Mundartenforschers ist
mit der Statistik der grammatischen Formen noch nicht
zum Ziele gelangt. Das heute vorhandene liegt Tor uns
wie die Schichten unserer Bergmassen, und je reicher
und mannigfaltiger das Material, um so eindringlicher die
Frage, wie und woher alles so gekommen. Das tief-
wurzelnde wissenschaltliche Bedürfnis nach der Erklärung
der Thatsachen, um sie zu begreifen, macht sich unseren
Mundarten gegenüber um so melir geltend, als wir von
einer historischen Entwickelung die Lösung allgemein
wichtiger Probleme zu erwarten haben, die nur die Mund-
artenforschung wagen darf.
Wir sind in der glücklichen Lage, auf mehr denn
1000 Jahre hinter uns an Hand einer bald mehr bald
weniger reichen Litteratur zurückblicken zu können, wir
bekommen ein Bild Yon den Menschen, wie sie vordem
gelebt, und die historische Grammatik unserer deutschen
Sprache, wie sie von Jakob Grimm eingeleitet und von
vielen nach ihm gepflegt worden ist, arbeitet daran, uns
Kenntnis zu geben, wie die Menschen vor Zeiten ge-
sprochen haben. Bereits kennen wir, wenn auch nur in
schattenhaften Umrissen, eine Reihe von Mundarten, die
in der grauen Vorzeit vorhanden gewesen, wie sie heute
vorhanden sind. Unsere Quellen dafür sind eben jene
Litteraturdenkmäler, die wir auf ihre Sprachformen hin
untersuchen. Die Thatsache, daß fast kein einziges un-
serer Denkmäler aus der althochdeutschen Periode bis
etwa ums Jahr 1100 mit dem anderen in der (geschrie-
benen) Sprachform übereinstimmt, läßt uns schließen, daß
in jenen Anfängen der litterarischen Produktion allüberall
in deutschen Gauen der Dialekt zur Aufzeichnung ge-
bracht worden, eine einigende Schriftsprache, wie wir sie
heute besitzen, nicht vorhanden gewesen ist. Aber es ist
noch nicht lange her, daß man sich die Frage vorgelegt
hat, wie weit wir den geschriebenen Buchstaben
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416 Friedrich Kauffmann,
als Zeugen der gesprochenen Lautform Vertrauen
schenken dürfen; man ist allmählich dazu gelangt, daß
es gründlich falsch ist, den Buchstaben jener vergangenen
Zeiten den Lautwert beizulegen, den unsere moderne An-
gewöhnung der Schule damit verbindet. Die Reime der
Dichter geben Fingerzeige, daß mit einem und demselben
Buchstaben ganz verschiedene Lautwerte wiedergegeben
worden sind (z. B. offenes und geschlossenes e), anderes
läßt sich aus der allgemeinen Sprachgeschichte und den
phonetischen Prinzipien erschließen, im großen und ganzen
sind aber für uns Heutige die althochdeutschen und mittel-
hochdeutschen Dialekte noch tote Sprachen, für die wir
uns eine traditionelle Aussprache angewöhnt haben, die
gewiß ebenso falsch und unzutreffend ist als die, mit der
wir das Lateinische und Griechische uns zu Gehör bringen.
Um zu zuverlässigen Anschauungen zu gelangen,
haben wir auf unserem jetzigen Standpunkt kein anderes
Hilfsmittel als das Studium der modernen Volksmund-
arten. Wir besitzen für einzelne Dialekte Aufzeichnungen,
die sich in einem Continuum über die letzten 1000 Jahre
verbreiten; wir sehen, wie die Orthographie derselben
von Jahrhundert zu Jahrhundert sich verändert, mit der
Zeit, da in Deutschland eine Litteratursprache übUch ge-
worden ist, lassen uns die Urkunden der Archive in der
Geschäftssprache des täglichen Lebens landschaftliche
dialektische Besonderheiten erkennen; heute sind wir in
der Lage, auf dem Wege der Beobachtung und des Ex-
periments die Sprechweise Laut für Laut genau zu kon-
statieren: was reizt mehr als von den heutigen gegebenen
Lautwerten aus die Verschiedenheiten der Orthographie
im Lauf der Jahrhunderte zu beleuchten und für einen
Lokaldialekt die Aufgabe wenigstens zu versuchen, die
gesprochene Sprache der Vergangenheit auf Grund dieser
vorhandenen Mittel zu rekonstruieren? Viel verzweigte
historische Wissenschaften arbeiten daran, uns eine deutsche
Altertumskunde, eine Volkskunde der Vergangenheit zu
liefern; es würde ein belebender Strom in die Menschen
von damals kommen, wenn es uns gelänge, über ihre
Sprache anschaulichere Vorstellungen zu gewinnen. Dies
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Dialektforschung. 417
der eine Grund, warum wir historische Behandlung der
Volksmundarten wünschen.
Aber noch eines. Wenn die Erforschung der Mund-
arten, als Einzelgebiet der heutigen Volkskunde, wissen-
schaftliches Oepräge tragen soll, muß sie dies durch
Aufstellung von Gesetzen dokumentieren. Der phone-
tische Habitus der Dialekte beruht auf dem Mechanismus
unserer Sprachwerkzeuge, deren Bewegungsgesetze wir
beobachten, allein für das Verständnis einer Sprache ist
dies mehr oder weniger untergeordnet. Wir müssen Ge-
setze finden in der Entwicklung des Ganzen. Das ist
freilich sehr schwer. Auf einem Teilgebiete sind wir
bereits dazu gelangt; das Problem der gesetzmäßigen
Entwicklung der einzelnen Laute ist durch vielfach be-
stätigende Zeugnisse als gelöst zu betrachten. Ein
strenger Beweis kann aber erst von Seiten der
lebendigen Sprache, nicht mittelst der (vieldeuti-
gen) Buchstaben der Litteraturdenkmäler geführt
werden. Dazu ist unsere deutsche Dialektforschung in
erster Linie berufen.
Die Zahl der Arbeiter auf diesem Gebiete ist natur-
gemäß eine geringe. Es bedarf einer umfassenden
Schulung. Kenntnis der Geschichte der deutschen Sprache
von ihren Anfangen, ja von ihrer Vorgeschichte an als
Glied in der Reihe der indogermanischen Sprachen, durch
die althochdeutsche und mittelhochdeutsche Periode hin-
durch bis in die Neuzeit herein ist notwendiges Erforder-
nis. Von diesem weiteren Kreise aus gUt es, sich in die
Oeschichte des Einzeldialekts zu vertiefen. Man sammle
alles Material, das für die betreffende Oertlichkeit oder
Landschaft in Betracht kommt und daher zu stammen
bezeugt ist: in den lateinischen Urkunden die Personen-,
Orts- und Flurnamen, berücksichtige genau die über-
lieferten Schreibungen der einschlagenden Litteratur-
werke, für das spätere Mittelalter von der Mitte des
18. Jahrhunderts ab, ist es der Mundartenforscher, der
zusammen mit dem Historiker die deutschen Urkunden
als Sprachdenkmäler der Vergessenheit entreißt und für
die Geschichte unserer deutschen Sprache verwertet; vom
AnleltuDg zur deutscheo Landet- nnd Volksforaohnng. 27
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418 Friedrich Kauffmann,
16. und 17. Jahrhundert ab beginnen vielfach dieDialekt-
dichtungen neuerer Zeit. Immer ist aber die Voraus-
setzung, daß die statistische Aufnahme wie die phone-
tische Analyse des zu bearbeitenden Dialekts bereits
vollzogen ist, nur so wird das Studium der Akten frucht-
bar werden, nur so läßt sich das Wesentliche vom Un-
wesentlichen, das Brauchbare vom Unbrauchbaren schei-
den. Aus den Denkmälern ist für jede einzelne Epoche
eine Grammatik zusammenzustellen, welche die histori-
schen Belege für die Laute und Formen von heute liefert.
Die Grundfrage bildet die Beurteilung der Ortho-
graphie während der nur litterarisch überlieferten Zeit-
räume. Für die älteste Zeit ist es vorerst geraten, das
Schriftbild als getreuen Abdruck der gesprochenen Form
zu nehmen, mit den wechselnden Schreibungen kombiniere
man den heutigen Lautwert, auf Grund phonetischer Er-
wägungen können wir den ursprünglichen Lautwert er-
schließen. Ist diese Operation für jeden einzelnen Laut
der Mundart wiederholt, so ergeben sich aus der Vielheit
gewisse gemeinsame Züge und gemeinsame Prozesse der
Entwickelung, die für die Ansetzung im besonderen die
Kontrolle abgeben. Im schwäbischen Dialekt ist ahd. o
durch ao, e durch ae vertreten, dieselben Diphthonge ao
und ae entsprechen auch mhd. ou und ei (aus -egi-)^ vergl.
hraoi^ (brot), wae (weh), wie laofd (laufen), ksaei (gesagte
mhd. geseit) ; wenn schon in althochdeutscher Periode die
Schreibungen ou, ei für den ursprünglich einfachen ö- und
i-Laut begegnen, ergiebt sich aus der heutigen Ueber-
einstimmung Identität der Lautung; andererseits ist der
Entwickelung von ou zu ao, ei zu ae gemeinsam, daß der
zweite Eomponent von ursprünglich höchster Zungen-
stellung Senkung und Abflachung der Zunge erfahren
hat; damit stimmt überein, daß o zu a, e zu a geworden
ist, für die wir dieselbe Zungenbewegung anzunehmen
haben, wonach o in oU; e in ei offene o und e gewesen
sein müssen. In der statistischen Materialsammlung sind
sämtliche identischen Laute gegenseitig streng abgesondert
worden. Im allgemeinen gilt der Lehrsatz, daß phonetisch
übereinstimmende Laute der heutigen Mundart aus überein-
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Dialektforschung. 419
stimmenden älteren Lautformen entstanden sind und die-
selbe Entwickelung genommen haben, solange nicht äußere
Zeugnisse dagegen sprechen. In diesem Sinne giebt es
Lautgesetze. Z. B. gilt für das Schwäbische das Ge-
setz: mhd. ou wird im Schwäbischen zu ao. Da£ es aber
nicht zulässig ist, dieses Gesetz umzukehren und für jedes
schwäbische ao mhd. ou als Grundform anzusetzen, be-
weisen einzelne ao, welche in den Urkunden der mittleren
Zeit au, a* geschrieben werden und die mhd. ä entsprechen,
das sich zum Diphthong ao entwickelt hat wie o zu ou,
e zu ei. In anderen Fällen wird aber heute an Stelle von
mhd. ä nicht ao, sondern ö (oflfen o) gesprochen, vergl.
schwäbisch jao (ja), obst (Abend). Diese scheinbare Un-
regelmäßigkeit ist gleichfalls auf ein bestimmtes Gesetz
zurückzuführen. Für die Entwickelung von Diphthongen
bedürfen wir aus allgemein phonetischen Gründen der
Annahme von zweigipfeligen Silben, die, wie wir heute
noch beobachten, in Satzpause eingetreten sind, was zu-
nächst überlanges a voraussetzt, langes ä ist dagegen zu p
geworden ; ein schlagender Beleg dafür ist die Entwicke-
lung des mhd. Diphthongs äi zu öd. Gesetzmäßigkeit der
Entwickelung dürfen wir demgemäß nur erwarten, wo
nach Artikulation exakt identische Laute im Spiele
sind ; lange Vokale entwickeln sich ganz anders als über-
lange Vokale derselben Mundstellung.
Wir ersehen, von welch eminent praktischem Werte
die genaue Analyse der phonetischen Struktur einer Mund-
art ist.
Immer und überall werden aber noch Reste bleiben,
die wir unter dem Entsprechungsgesetz nicht zu begreifen
vermögen. Im Schwäbischen ist ahd. e als Umlaut von a
vor folgendem i durch geschlossenes e vertreten; von dieser
Regel bestehen eine ziemliche Anzahl von Ausnahmen,
die mit ^ nicht e gesprochen werden, z. B. hex (Bäche)
zu ahd. hehhi, st^ (Schläge) zu ahd. aUgi u. a. Sie sind
folgendermaßen zu beurteilen. Eine historische Unter-
suchung ergiebt, daß etwa im 10., 11. Jahrhundert
gleichzeitig mit der Entwickelung von ä vor i zu f aus
bestimmten Gründen vordem nicht umgelautete a- Vokale
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420 Friedrich Kaufi&uaim,
vor i zu f geworden sind; in dieser Periode bildete sich
das Verhältnis aus: maxi zu mfxtix (macht, mächtig);
Singular al zu fle (alle), ncuct zu n^xt (Nacht, Nächte) u. a.
Vielfach wird im Schwäbischen wie Schriftdeutsch der
Plural vom Singular dadurch unterschieden, daß der erstere
Umlaut des Singular vokals zeigt; dieses morphologische
Prinzip, das sich aus Deutlichkeitsgründen empfahl, ist
nun mit der Zeit produktiv geworden, und wie man naxt
Plur. nfxt sprach, bildete man auch ifi^ zu däk\ obwohl
in diesem Falle niemals ein i der Endung vorhanden ge-
wesen ist. So mochte es kommen, daß auch zu släk^,
box u. a. Plurale 8lfk\ bfx gebildet wurden und die
älteren sldc% hex in Vergessenheit gerieten. Diesen sprach-
lichen Vorgang der Neuschöpfung von Formen hat man
Analogiebildung genannt. Er beruht auf Association
einzelner im Gedächtnis ruhender Laut- und Formgruppen
und spielt in der Sprachgeschichte eine höchst wichtige
Rolle. Die Grundlage büdet die allgemeine sog. Ideen-
association.
Der Bestand einer Mundart setzt sich außerdem noch
aus Formen und Lauten zusammen, die sich unter keine
dieser beiden Eategorieen bringen lassen, die vielmehr im
Gefolge des Verkehrs aus fremden Dialekten oder der
Schriftsprache in die Mundart eingeschleppt worden sind;
jede enthält mehr oder weniger Lehnwörter, stellt mehr
oder weniger eine Sprachmischung dar, deren fremde
Bestandteile oft sehr schwer zu beurteilen sind. Die Er-
klärung derselben muß innerhalb des Dialektes gesucht
werden, aus dem sie stammen, kann und darf nicht mit
der der Erbwörter zusammengeworfen werden.
Mittelst Nachweis dieser drei Faktoren: der laut-
gesetzlichen Entsprechungen, der Associations-
oder Analogiewirkungen und der Sprachmischung
ist der äußere Entwickelungsgang einer Mundart zu re-
konstruieren; deren Machtsphäre umfaßt in gleicher Weise
Laut- und Flexionslehre, Wortbildung und Syntax.
Für die Geschichte der einzelnen Laute der betonten
wie unbetonten Silben können einzelne Gesetze aufgestellt
werden, außer den Lautgesetzen auch Quantitäts-
Digitized by VjOOQ IC
Dialektforschung. 421
gesetze, die angeben, unter welchen Bedingungen ein
ursprünglich kurzer Vokal sich zum langen entwickelt hat
oder umgekehrt; Synkopierungsgesetze, nach denen
ursprünglich mehrsilbige Wortformen eine oder mehrere
Silben verloren haben; ihnen zur Seite gehen die Ana-
logieprozesse.
Ist all das bestmöglichst gelungen, dann gilt es, die
Mannigfaltigkeit der Einzelgesetze unter umfassendere
Gesichtspunkte zu bringen. Im schwäbischen Dialekt
weisen sämtliche Lautveränderungen auf eine allgemeine
Herabsetzung der Muskelspannung in den einzelnen
Organen, die früher nicht vorhanden gewesen sein kann.
Kurz wir haben die Aufgabe: die Ausbildung der
heutigen konstitutiven Faktoren einer Mundart
in ihrem geschichtlichen Werden nachzuweisen;
es muß dies gelingen, da ja jegliche Veränderung einer
Mundart nur in einer Veränderung dieser konstitutiven
Faktoren bestehen kann.
Den letzten Schluß der historischen Forschung bildet
endlich eine Chronologie der einzelnen Veränderungen,
wozu die Entstehungszeit der Denkmäler Anhaltspunkte
liefert. Nur ist stets zu beachten, daß die Orthographie
nicht gleichzeitig mit den Lauten einer Sprache sich ver-
ändert, sondern erst um Decennien später umgestaltet
worden sein mag. Oelingt es uns, in einer chronologi-
schen TabeUe die Schicksale der Mundart von der alt-
hochdeutschen Periode ab vorzuführen, so erachten wir
unsere Aufgabe als abgeschlossen.
IV. Die zusammenfassende Darstellnng.
Wir sind davon ausgegangen, daß die Mundart einer
einzelnen Oertlichkeit erforscht werden soll; es versteht
sich von selbst, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist,.
in ähnlicher Weise Ort für Ort zu behandeln. Eine um-
fassende Dialektgrammatik eines Dorfes oder einer Stadt
genügt als Zentrum für den gesamten Umkreis der Sprach-
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422 Friedrich Kauffmann,
genossenschaft, deren Abweichungen niemals prinzipieller
Natur sind und sich leicht rubrizieren lassen.
Von Interesse ist dagegen, den Bereich der Sprach-
genossenschaft abzugrenzen; das Material hierzu ver-
scha£Ft man sich entweder durch Reisen von Ort zu Ort,
oder durch schriftliche Meldungen, die von Ort zu Ort
einzuholen sind; der Geistliche oder Lehrer wird meist
gerne dazu erbötig sein^). Man vermeide auch hier so
sehr als möglich, sich einzelne Vokabeln aufzeichnen zu
lassen. Da es nun aber faktisch nicht gelungen ist, nach
der phonetischen (oder gar graphischen) Verschiedenheit
einzelner Laute feste Grenzliniea in sich geschlossener
Mundarten zu ziehen, da für die Einteilung und Ab-
grenzung der Mundarten nach dem bisherigen gerade die
gewöhnlich nicht geschriebenen Lautelemente maß-
gebend sind, ist persönliche Erfahrung unter allen Um-
ständen erforderlich. Die alte Grenze zwischen dem ale-
mannischen und fränkischen Dialekt wird sich auf ihrem
Verlaufe durch Württemberg nur noch mittelst der ver-
schiedenartigen Tonbewegung („ singen*) der ursprünglich
fränkischen und ursprünglich alemannischen Orte gewinnen
lassen. Scheinbar identische Laute angrenzender Mund-
arten können in ganz verschiedenen phonetischen Vor-
gängen begründet sein, von der gerade an der Grenze
intensiveren Sprachmischung abgesehen. Man wird dem-
gemäß in erster Linie auf die Betonung, Beschaffenheit
der Intervalle, Intensität der Exspiration, Wesenheit des
Accentes und deren Konsequenzen zu achten haben; die
Wissenschaft kommt hier zu demselben Resultate wie die
Volksmeinung, die den fremdsprachlichen Nachbar nur
auf Grund dieser allgemeinen Faktoren zu charakterisieren
weiß. Vokaltimbres und Eonsonantenartikulationen un-
abhängig von diesen Elementen betrachtet, ergeben keine
übereinstimmenden Grenzlinien; noch viel wichtiger sind
die Verbreitungsgebiete einzelner Wörter für bestimmte
*) Herr Dr. Georg Wenker in Marburg (Hessen) hat mit Hilfe
der VolksechuUehrer umfassende Sammlungen, die sich über das ge-
samte Deutsche Reich erstrecken, veranstaltet, die gegenwärtig zu
einem großartigen Sprachatlas verarbeitet werden.
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Dialektforschung. 423
Begriffe, doch ist auch hier vielfach Austausch eingetreten.
Immerhin wird eine kartographische Aufnahme charak-
teristischer lautlicher, flexivischer und lexikalischer Merk-
male gute Dienste leist-en.
Die Dialektgrammatik in ihrem Idealbilde, die exakte
phonetische Analyse, grammatikalische Statistik, histo-
rische Entwickelung und kartographisch angelegte Ver-
breitungsskizze umfassend, bildet im Grunde genommen
nur die erklärende Vorarbeit für die Vereinigung des
gesamten Sprachschatzes im Idiotikon, wie wir ein
solches von Schmeller für Bayern besitzen und im großen
Schweizerischen Idiotikon erwarten dürfen. Freilich
sind von der einfachen Wortsammlung bis zum allumfassen-
den Idiotikon viele Stufenfolgen möglich, jede lexikalische
Arbeit ist aber selbstredend an die Anforderungen, die
wir an die grammatische Behandlung gestellt haben, ge-
bunden. Zuverlässige phonetische Transskription, scharfe
Definition der Bedeutung bilden das Fundament; bei der
Absicht auf historische Betrachtung sind die älteren Wort-
formen anzufügen, unter Umständen mit maßvollen ety-
mologischen Notizen, die Wortbildung zu erörtern, Bedeu-
tungsentwickelung und Veränderung klarzulegen, Geschlecht
und Flexionsformen mitzuteilen, bei Gelegenheit der Be-
lege, die am zweckmäßigsten in fertigen Sätzen gegeben
werden, wird auch die syntaktische Funktion ersichtlich.
Die Gesamtanlage betreffend, halten wir die streng alpha-
betische Folge für die zweckdienlichste ; bei gutem Willen
wird sich auch der Fremde darin zurechtfinden.
Das Idiotikon bietet uns nicht bloß die ganze Fülle
des Wortvorrats nach seiner formalen Beschaffenheit und
Entwickelung, hier erhalten wir auch einen tiefen Einblick
in die materialen Faktoren der Volkssprache, soweit dies
die Bedeutungsveränderung der Wörter, der Verlust früher
vorhandener Wörter nebst Begriffen, die Neuschöpfung
von Wörtern oder Wortgruppen für neu auftretende Be-
friffe gestatten. Hier wird uns das Denken, Wollen und
ühlen' einer kleineren oder größeren Sprachgenossen-
schaft erschlossen, die Kulturgeschichte vereinigt sich
unlöslich mit der Sprachbetrachtung, die Darstellung der
Digitized by VjOOQ IC
424 Friedrich Kaufifaiann,
Mundart wird liier in eigentlichem Sinne zum Charakter-
bild des Volksstammes.
T. Litteratar.
Die folgende Litteraturübersicht schließt die
Dialektdichtungen aus und beschränkt sich auf Angabe
von grammatischen DarsteDungen und Wörterbüchern, die
für das Studium des Dialekts förderlich sind. Eine reiche
Liste von Dialektarbeiten älterer und jüngerer Zeit bietet
E. von Bahder, Die deutsche Philologie im Grundriß.
Paderborn 1883, S. 160—195. Für Nord- und Mittel-
deutschland vergl. namentlich die „Besondere Beilage
des königlich preußischen Staatsanzeigers ** zq Nr. 237
vom 9. Oktober 1869.
Allgemeines.
Weinhold, E.: lieber deutsche Dialektforschung. Ein Versuch.
Wien 1853.
Wegener, Ph.: lieber deutsche Dialektforschung. In der Zeit-
schrift für deutsche Philologie herausgegeben von Höpfner und
Zacher. 11. Bd. Halle 1880, S. 450—480.
Lundell, A.: Sur Tetude des Patois. In der Internationalen Zeit-
schrift für allgemeine Sprachwissenschaft, herausgegeben von
F. Techmer. 1. Bd. Leipzig 1884, S. 308—328.
Die deutschen Mundarten. Eine Monatsschrift für Dichtung,
Forschung und Kritik. Begründet von Jos. Ans. Pangkofer,
fortgesetzt von G. K. Frommann. 1. — 4. Jahrgang. Ntkmberg
1853—57. 5. u. 6. Jahrgang (als Vierteüahrsschrift). Nördlingen
1858—59. 7. Jahrgang (neue Folge 1. Bd.). Halle 1877. (Im
folgenden als D. M. zitiert.)
Oberdenfschiand.
A) Bayrisch-österreichische Mundarten.
Wein hold, E.: Grammatik der deutschen Mundarten. 2. Teil:
Bayrische Grammatik. Berlin 1867.
Schmeller, J. A.: Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt.
Beigegeben ist eine Sammlung von Mundart-Proben, d. i. kleinen
Erzählungen, Gesprächen, Singstücken u. dergl. in den ver-
schiedenen Dialekten des Königreichs. München 1821.
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Das Volkstümliche begreift in sich Glauben, Sagen
und Legenden, Bräuche, Sitten und Gewohnheiten, Mär-
chen, Lieder, Schwanke, Rätsel und Sprichwörter des
Volkes. Der Volksglaube ist der Glaube, welcher neben
dem von Schule und Kirche in fester Form in das Volk
hineingetragenen christlichen Glauben einherläuffc. Er ist
überall zu Hause. So sehr ihn die Kirche verfolgen und
die Bildung vornehm und verächtlich auf ihn herabblicken
mag, er kann gewaltsam niedergehalten, er kann ver-
flacht und abgeschwächt werden, so daß er scheinbar von
der Bildfläche verschwindet; kommt für ihn eine Zeit der
Ruhe und Erholung, so schlagen die Wurzeln von neuem
aus, und bald ist der Stamm kräftig, wie zuvor. .
Steht der Volksglaube allein da, so schilt man ihn
Aberglauben; ist er verquickt mit Erzählungen, die
mit bewundernswerter Beharrlichkeit von Geschlecht zu
Geschlecht fortgepflanzt und immer wieder und wieder,
als in der Gegenwart oder in der jüngsten Vergangen-
heit geschehen, erzählt und geglaubt werden, so wird er
zur S age (im engeren Sinne), zum Mythus. Diese
Verquickung mit Erzählungen findet sich Überall, wo
Volksglaube ist, es giebt mithin nirgends mythenlose
Gegenden. Mag auch noch so oft in die Welt geschrieen
und geschrieben werden: ;,Da8 Gebirge ist sagenreicher,
als die Ebene, im Flachlande kann die Sage nicht haften**,
die Sache hat mit der Geographie gar nichts zu thun.
Je vergessener ein Winkel ist (liegt er nun im Riesen-
gebirge oder in Hinterpommem, in der Schweiz oder im
Elsaß, in den Rheinlanden oder in Westfalen), um so
reicher ist sein Volksglaube und durch ihn seine Mythen,
und umgekehrt, je mehr die abstrakte Kirchenlehre und
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436 Ulrich Jahn,
die Bildung in die Bevölkerung eingedrungen sind, um so
farbloser der Volksglaube und um so ärmlicher und ver-
waschener die mythischen Sagen. Wie von Stamm zu
Stamm und von Gau zu Gau die Glaubensanschauungen
des Volkes variieren, so variieren auch von Stamm zu
Stamm und von Gau zu Gau die Mythen; wo aber die
Glaubensanschauungen gleich sind, da bietet ein Dörfchen
in seinem Mythenschatz ein Abbild der Mythologie des
ganzen Landstriches im kleinen dar.
Eine Abart des Mythus ist die Legende. Sie ist
ein Mythus, der mehr oder minder stark durch die reli-
giösen Vorstellungen des Christentums beeinflußt ist und
in dem an die Stelle göttlicher oder dämonischer Mächte
des Volksglaubens Christus und die Heiligen getreten sind.
Die Legende findet deshalb günstigen Grund und Boden
nur da, wo eine Verschmelzung des Christentums mit dem
Volksglauben stattgefunden hat, mit anderen Worten, wo
das Christentum volkstümlich geworden (und geblieben) ist
Sie wird uns deshalb bei der größeren Volkstümlichkeit
der katholischen Kirche in den katholischen Ländern un-
gleich häufiger begegnen, als in den evangelischen.
Neben den mythischen Sagen, welche durch den
Volksglauben hervorgerufen sind, giebt es ferner Sagen,
die der geschichtlichen üeberlieferung des Volkes ihre
Entstehung verdanken, sog. historische Sagen. Eine
geschichtliche Thatsache, eine Begebenheit, die, wenn sie
auch nicht geschichtlich ist, doch geschichtlich sein könnte,
ist mit einer Oertüchkeit in Verbindung getreten oder
hat sich auch nur an einen bekannten und volkstümlich
gewordenen Namen geklammert. Darauf ist sie als Ge-
schichte des Volkes von diesem mündlich fortgepflanzt,
hat einen dichterischen Schmuck angenommen und tritt
nun, halb Geschichte, halb Wunder, vor uns, — zumeisfc
freilich in den Chroniken. Das Volk kennt diese Sagen,
bei seinem ausgesprochenen Mangel an historischem Sinn,
nur selten, und finden sie sich wirklich, so fragt es sich
zunächst, ob sie nicht gelehrten Einflüssen, in das Volk
gedrungenen Druckwerken, dem gutgemeinten Lokal-
patriotismus des Pastors und Schulmeisters oder der Sucht
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Volkstümliches. 437
des adeligen Herrn, sein Geschlecht und seinen Stamm-
sitz zu einem sagenumwobenen zu machen, ihren Ur-
sprung verdanken. Wenn aber auch jeder Zweifel ge-
hoben sein sollte, so bringen die historischen Sagen
dennoch geringen Nutzen, da sie erfahrungsmäßig für den
Historiker wenig brauchbar sind und ihn oft nur lehren
können, wie kühl er sich der Volksüberlieferung gegen-
über da, wo sie die einzige Quelle ist, zu verhalten hat.
Eine dritte Art von Sagen sind die Lokal- und
Namensagen. Die Lokalsagen knüpfen an individuelle
lokale Eigentümlichkeiten an und haben nur an der be-
treffenden Stelle ihre Bedeutung. Der häufig an den
Kirchen angebrachte, in Stein gehauene „Christus der
gute Hirt" giebt im Norden wie im Süden des deutschen
Landes Anlaü zu den zahlreichen Sagen von Kirchen,
die durch fromme Schäfer erbaut sind; die einer Menschen-
oder Pferdespur ähnliche Vertiefung in einem Steine er-
klärt die Sage überall so, daß hier ein menschliches
Wesen oder ein Pferd als Wahrzeichen seine Spur im
Felsen zurückgelassen habe; der an dem Giebel mancher
alten Häuser angebrachte Pferdekopf ist dem Volke die
Erinnerung an ein Roß, das zum Bodenfenster hinaus-
sah u. s. w. Entfernt man das Christusbild, den Fels-
stein, den Pferdekopf, so verschwindet auch die Sage. —
Ganz ähnlich ist es mit den Namensagen, welche vom
Volke zur Erklärung eines unverstandenen Namens, eines
wunderlichen Gebrauchs u. s. w. erfunden sind. Der
Küstriner bringt seine Stadt mit einer Küsters-Trine, der
Schlesier den Rübezahl mit dem Rübenzählen zusammen.
Lautenthal verdankt seinen Namen einer Jungfer mit der
Laute, Wernigerode der Redensart: „Ik warne ju voer de
Rooden.* Und mehr oder minder schöne Erzählungen
berichten, wie das alles so gekommen sei. Es ist der
Lokal- und Namensagen eine unermeßliche Fülle vor-
handen, und es werden ihrer eher mehr als weniger;
denn wenn hier wirklich einmal eine in Vergessenheit
geraten sollte, tauchen dort sogleich wieder ein paar neue
auf. Sie haben aber auch keinen anderen Wert, als daß
sie von dem gesunden Mutterwitz des Volkes beredtes
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438 Ulrich Jahn,
Zeugnis ablegen. — Uebrigens brauchen die verschiedenen
Sagenklassen nicht immer getrennt voneinander aufzu-
treten. Im Gegenteil, es kommt oft genug vor, dal^ eine
Sage beides, mythisch und historisch, ist und gleichzeitig
der Volkswitz eine Namen- oder Lokalsage hineingetragen
hat. Es ist dann Sache des Forschers, die Sage in ihre
Bestandteile zu zerlegen und jedes Element gesondert zu
seinem Rechte zu bringen.
Der Volksglaube in seiner Verbindung mit Erzäh-
lungen ergab den Mythus; er wird, ins praktische Leben
übertragen, zum Volksbrauch und beherrscht darin das
ganze Leben des Volkes von der Geburt an bis zum Tode
in Freude und Leid, in allen Zeiten des Jahres und des
Lebens, bei Ackerbau und Viehzucht, in Gewerbe und
Hantierung. Wie der Mythus, solange noch Volksglaube
vorhanden ist, nicht erlöschen kann, so ist es auch mit
dem Brauch; und wie der Mythus sich von der histori-
schen Sage unterscheidet, so unterscheidet sich der Volks-
brauch von der Volks sitte dadurch, daß die letztere dem
geschichtlichen Herkommen ihre Entstehung verdankt.
Wir rechnen daher ihrem Gebiete zu die anläßlich ge-
schichtlicher Ereignisse eingerichteten Volksfeste, -Auf-
züge, -Spiele u. dergl. Sie sind selten wie die histori-
schen Sagen und verdienen gleich diesen nur geringeres
Interesse.
Den Bräuchen und Sitten stehen die Volksgewohn-
heiten gegenüber. Sie sind die Kinder des Volkswitzea
und darum zumal für die Kulturgeschichte von hohem
Werte. Außer der Art und Weise, wie die verschiedenen
Geschäfte im häusliclien Leben verrichtet werden, gehören
dazu AckerbesteUung, Viehzucht, Hausbau, Trachten,
Rechtsbräuche u. s. w. Auch sie können, nicht minder
wie die Sitten, mit Volksbräuchen durchsetzt und ver-
quickt sein, sind also selbst darin den drei Klassen der
Sagen ganz analog.
Dieselbe Dreiteilung begegnet uns bei der Volks-
dichtung. Das Spiel der Volksphantasie mit dem Volks-
glauben und seinen Mythen zeitigt das Märchen (ge-
reimtes und ungereimtes). Aus der geschichtlichen
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Yolkfltümliches. 439
Ueberlieferung schafft der (lichtende Volksgeist das hi-
storische Volkslied. Die große Masse der übrigen
Volkslieder endlich? die Volksschauspiele, Schwanke,
Bätsei, Kinderreime, Kinderspiele, Sprichwörter
u. s. w. verdanken der Verbindung von Volksphantasie
und Volkswitz ihr Dasein.
Der Volksglaube mit seinen Mythen, Legenden,
Bräuchen und Märchen bewährt sich als das Feste und
Beständige im Wechsel der Zeiten; er ist in seinen wesent-
lichen Erscheinungen nachweisbar vor tausend und zwei-
tausend Jahren nicht anders gewesen, als heutigestags.
Die geschichtliche Tradition mit den historischen Sagen,
Sitten und Liedern zeigt, wie das Volk die Vorzeit auf-
faßt und behält. Der Volkswitz in seinen mannigfachen
Aeu&erungen gestattet die tiefsten Einblicke in die Volks-
seele. Es ergiebt sich daraus, daß das Volkstümliche
den Disziplinen der Ethnologie, Anthropologie,
Mythologie und Prähistorie (denn die Mythologie
ist in erster Linie eine prähistorische Wissenschaft) nicht
minder, als der Kulturgeschichte, Völkerpsycho-
logie, Altertumskunde, ja in gewisser Weise auch
der Litteraturgeschichte, das denkbar beste und
brauchbarste Material in die Hand geben muß.
Wenn das Volkstümliche einer wissenschaftlichen
Disziplin als Quellenmaterial dienen -soll, so muß, was
das Volk spricht und thut, wie eine historische Urkunde,
die man nicht falschen darf, betrachtet und in dem Sinne
gesammelt und niedergeschrieben werden. Es ist nun
aber nicht eine Disziplin, es sind ihrer viele, die daran
teilhaben, und so muß notgedrungen ein thatsächliches,
objektives Archiv geschaffen werden, aus dem jeder For-
scher objektiv schöpfen kann. Der Sammler muß darum
einmal überall, wo es auch sein mag, sein Ich in den
Hintergrund stellen und sich der strengsten Objektivität
befleißigen; dann aber darf er seine Sammlungen nie
einseitig in den Dienst irgend einer bestimmten Disziplin
(es trifft das vorzugsweise die Mythologie) stellen und
den Stoff womöglich sogleich, wie das leider häufig genug
geschehen ist, in diesem Sinne bearbeiten. Es wird sich
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440 Ulrich Jahn,
empfehlen, an dieser Stelle in Kürze auf die Entwicke-
lung der Sammlungen des Volkstümlichen einzugehen.
Als im Anfang dieses Jahrhunderts der Wert des
Volkstümlichen für die "Wissenschaft durch die Gebrüder
Orimm erkannt wurde, benutzten dieselben für ihre
Sammlungen nicht nur, was sie selbst dem Volke ab-
lauschten, sie bedienten sich auch brieflicher Mitteilungen
und zogen endlich aus Schriftwerken, zumal aus Chro-
niken, die gelegentlichen Notizen der Verfasser über das
Volkstümliche aus. Es liegt auf der Hand, daß allein
dasjenige, was sie selbst sammelten, von zweifellosem
Werte ist; bei den brieflichen Mitteilungen und vielleicht
in noch höherem Grade bei den Erzählungen der Chro-
nisten liegt immer der Verdacht nahe, die Berichte möch-
ten subjektiv wiedergegeben, gefärbt und ausgeschmückt
sein. Und wenn jemand auch noch so sehr mit dem
Volksgeiste vertraut ist, wer steht dafür, daß nach der
Zurechtstutzung die einzelnen Stücke ihre echte, ursprüng-
liche Gestalt wieder erlangt haben? — Immerhin, wer
kann es den Brüdern Grimm verdenken, wenn sie so
verfuhren. Es mußte in verhältnismäßig kurzer Zeit ein
großes Material zusammengebracht werden, damit sie
darauf in ihren Forschungen fußen könnten, und sie
waren die ersten, welche darauf hinwiesen, daß ein Aus-
bau in den einzelnen Punkten unerläßlich nötig sei.
Angeregt durch die Erfolge der Gebrüder Grimm
machte man sich allerorten in Deutschland an die Samm-
lung des Volkstümlichen. Die Mühseligkeit aber, welche
das Sammeln aus dem Volke mit sich bringt, die lange ^
Zeit, welche der einzelne darauf verwenden muß, um
schließlich doch nur ein kleines Gebiet ausschöpfen zu
können, ließ verhältnismäßig wenig unmittelbare Samm-
lungen aus dem Volksmunde vornehmen. Viele begnüg-
ten sich damit, die Chroniken, gedruckte und ungedruckte,
auszuschreiben. Noch größer war die Zahl derer, welche
gelegentliche Beobachtungen, die sie im Volke gemacht
und dann niedergeschrieben hatten, dadurch zu stattlichen
Bänden anschwellen ließen, daß sie Leute, welche mit dem
Volke in naher Beziehung stehen, in erster Linie die
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Volkstümliches. 441
Volksschullehrer, um Beiträge baten. Da stellte sich
denn sehr bald heraus, daia die Eingänge nicht so viel-
seitig waren, als man das wünschte. Um nun die Kräfte
besser auszunutzen, wurden Fragebogen aufgesetzt, die
in Frageform alles dem Herausgeber Wissenswerte ent-
hielten und nur ausgefüllt zu werden brauchten. Waren
ihrer in genügender Anzahl aus den verschiedenen Gegen-
den des Landes eingelaufen, so wurde das Material zu-
sammengestellt und zugestutzt, mit gelehrten Anmerkungen
und einem Register versehen und in Druck gegeben.
Wenn die Fragebogen bereitwillig und schnell erledigt
worden, so nannte das Vorwort die Gegend sagen- *und
märchenreich; begegneten sie bei den Dorfhonoratiören
keinem Interesse, so war das Umgekehrte der Fall.
Im großen betrieb diese Methode Wilhelm Mann-
bar dt. Um ein umfassendes, zuverlässiges Archiv der
Ackerbräuche zu erlangen, sandte er tausende und aber
tausende von Fragebogen in die Welt hinaus. Alle Güter
und Dörfer wurden damit überschwemmt, und eine Un-
zahl von Volksschullehrern und Schülern (andere Leute
beteiligten sich, wie der handschriftliche Nachlaß Mann-
hardts zeigt, nur wenig) füllten die Bogen aus, und das
ersehnte Material war gewonnen. Was würde beispiels-
weise die Prähistorie sagen, wenn irgend ein übereifriger
Forscher auf den Gedanken käme, Anweisungen zum Aus-
graben an alle Lehrer, Pastoren, Schulzen und Gutsbesitzer
zu senden und sie darin aufzufordern, die auf ihrem Gebiete
befindlichen Heidengräber, Ringwälle u. s. w. zu durch-
wühlen und die Funde und Fundberichte einzusenden.
Man würde ihn verlachen; denn was nützt es, die Museen
mit Schaustücken und Fundberichten zu füllen, wenn die
Person des Gräbers nicht Gewähr leistet, einmal, daß bei
den Fundobjekten keine Fälschungen unterlaufen, dann,
daß die Fundstellen wirklich erschöpft sind, und endlich
drittens, daß sich alles der Wahrheit gemäß so verhält,
wie es der Fundbericht angiebt. — Leider wird die Volks-
kunde mit anderem Maße gemessen. Mannhardts Quellen-
material wurde als das höchste in seiner Art bewundert
und wird es von vielen noch heute.
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442 Ulrich Jahn,
Es soll ja nun nicht geleugnet; werden, daß es sehr
erwünscht ist, Mitarbeiter im Sammeln zu haben; diese
Mitarbeiter müssen jedoch volkstümlich vorgebildet sein,
und einzig, wenn sie das sind, kann ihren Beiträgen ein
wirklicher Wert beigelegt werden. Im folgenden mag
darum in aller Kürze angegeben werden, worauf es beim
Sammeln ankommt:
Zunächst mu& der Sammler wissen, was er zu sam-
meln hat. Es ist darum unerläfalich für ihn, sich mit
den bestehenden Sammlungen des Volkstümlichen bekannt
zu machen, und zwar nicht allein mit den Sammlungen
des engeren Kreises, in dem er selbst einzusetzen gedenkt,
sondern mindestens auch mit denen der benachbarten
Gegenden, wenn möglich sogar mit den besten auf diesem
Gebiete vorhandeuen Arbeiten ganz Deutschlands. Man
sage nicht, der Sammler würde dadurch subjektiv beein-
flußt werden und fände am Ende nachher mehr, als das
Volk wirklich bietet, oder färbe im Sinne des Gelesenen.
Wer sich durch die Lektüre in seiner Objektivität be-
einflussen lä&t, der wird das auch ohne dieselbe thun,
und es ist besser für ihn und die Wissenschaft, er lä&t
seine Hände überhaupt ganz fort von der Sache. Ebenso
unberechtigt ist der Einwand, durch die Kenntnis der
einschlägigen Sammlungen würde die Freude am eigenen
Sanuneln vergällt. Der Forscher des Volkstümlichen mu&
sich eben von vorneherein immer wieder und wieder vor
Augen halten, daß es nicht darauf ankommt. Neues zu
finden, sondern das Archiv zu er^nzen und zu berichti-
gen. Eine Ergänzung ist aber immer noch nötig, selbst
in den Gegenden, wo unsere vorzüglichsten Sammlungen
geschöpft sind. Und wenn die vorhandenen Sammlungen
nicht gut sind, wenn zu der Ergänzung noch die Be-
richtigung kommt, so kann durch die Kenntnis der Litte-
ratur die Freude nicht gemindert, im Gegenteil sie muß
dadurch erhöht werden.
Weiß der Sammler, um was es sich handelt, so mag
er ins Volk gehen. Beliebt ist es nun von jeher ge-
wesen, zu solchem Zwecke den Wanderstab zu ergreifen,
von Dorf zu Dorf zu ziehen und dabei die Leute auszu-
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YolkstamJiches. 443
fragen. Mit Recht muß man jedoch dieser Methode den
Vorwurf machen, sie begünstige gewissermaßen den Raub-
bau. Es ist eine Eigentümlichkeit des Volkes, dem Ge-
bildeten gegenüber schwer aufzutauen. Selbst derjenige,
welcher mit großem Glücke sammelt, dem so zu sagen
die Herzen der Leute zufallen, selbst dieser kann bei
solcher Art des Sammeins nur in die Oberfläche ein-
dringen, die tiefsten Tiefen des Volkstümlichen bleiben
ihm verschlossen. Nur unzurechnungsfähige Persönlich-
keiten, Kinder und die kindisch gewordenen Alten, machen
eine Ausnahme; sie sind gegen jedermann, der es gut
mit ihnen meint, vertrauensselig und beantworten gemein-
hin arglos alle an sie gerichteten Fragen. Was sie bieten,
ist aber auch nur Stückwerk, wovon sich jeder mit Leich-
tigkeit überzeugen wird, der von den Erwachsenen in die
Geheimnisse des Volkes eingeweiht wurde.
Da es vor allen Dingen darauf ankommt, den Arg-
wohn, die Scheu der Leute vor der Bildung, ihre Furcht,
sich lächerlich zu machen, zu überwinden, so will es uns
als das beste erscheinen, daß der Sammler in möglichst
lange anhaltenden innigen Verkehr mit dem Volke tritt,
Freude und Leid mit ihm teilt, so daß die Leute schließlich
einen der Ihrigen in ihm zu erblicken glauben. Dann ist
der Zeitpunkt der Ernte gekommen, und sie wird, wenn
der Sammler nicht aus der Rolle fällt, über Erwarten
reich ausfallen und kann, was von großer Wichtigkeit ist,
bis auf die letzten Aehren eingebracht werden.
Kleine Kunstgriffe werden dabei dem Sammler die
Arbeit erleichtem. Einige der bewährtesten mögen hier
aufgeführt werden. — Beherzige vor allem den Spruch:
„Mann mit zugeknöpften Taschen, dir thut niemand was
zulieb; Hand wird nur von Hand gewaschen, wenn du
nehmen willst, so gieb!" Der gemeine Mann teilt näm-
lich, wenn er hat, von Herzen gern von seinem üeber-
flusse mit, erwartet dafür aber auch dieselbe Tugend von
jedem, der sein Freund sein will. — Suche vorzugsweise
die Armen auf: die Tagelöhner, Hirten, Arbeiter, Hand-
werksburschen, Fischerknechte, Matrosen und das land-
fahrende Volk, denn das ganze Sinnen und Trachten der
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444 Ulrich Jahn,
Begüterten pflegt auf den Erwerb auszugehen. — Be-
diene dich bei der Unterhaltung der Mundart nur dann,
wenn du sie sicher beherrschst; sonst gebrauche den leicht
erlernbaren Mischdialekt, welchen Personen, die mit dem
Volke viel in Verbindung kommen, also beispielsweise
die Viehhändler uiid Fuhrleute, sprechen. — Sei den Juden
ein Jude und den Griechen ein Grieche. Wer dir miß-
trauisch entgegenkommt, den behandle scheinbar mit der-
selben Zurückhaltung. Dem tief in den Wahnvorstellungen
des Volksglaubens Befangenen erscheine noch tiefer darin
steckend. Schilt, was er schilt, und lobe, was er lobt.
Reize ihn dadurch zum Erzählen, daß du durch die Lit-
teratur als volkstümlich verbürgte Sagen irgend einer
deutschen Gegend als deine eigenen Erlebnisse vorträgst;
er wird bald genug Widerspruch oder Zustimmung laut
werden lassen und mit gleichem dienen. — Wenn mög-
lich, so zieh in deine Gespräche gleichzeitig mehrere Per-
sonen. Was der eine vergißt, holt der andere nach. —
Um hinter die Geheimnisse der Zauberei und Volksmedizin
zu kommen, gieb dich selbst als Hexenmeister oder klugen
Mann aus, der seine Erfahrungen nur austauschen will.
Die dazu erforderlichen Kenntnisse lassen sich leicht aus
den bestehenden Sammlungen erwerben. — Die Lieder
und Zauberformeln pflegen, dank den Fortschritten im
Volksschulwesen, zur Zeit fast allenthalben in deutschen
Landen nicht nur mündlich, sondern auch handschriftlich
überliefert zu werden. Trachte darum solchen Heften
nach und rette durch Abschreiben ihren Inhalt der Wissen-
schaft. — Mache Jagd auf Märchenerzähler von Ruf und
begnüge dich nicht mit dem, was Kinder und Erwachsene
davon im Gedächtnis behalten haben; das Märchen ist
eine Dichtung und verliert seine ihm eigentümliche un-
verfälschte Schönheit, wenn es von dem Sammler aus
zweiter oder gar dritter Hand aufgenommen wird. —
Aber genug hiermit; es kann ja doch nur angedeutet
werden; das Beste wird immer die Lust und Liebe zur
Sache thun, und dieselben können durch viele Regeln nur
beeinträchtigt werden.
Wichtiger ist es, daß der Sammler stets im Auge
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Volkatümliches. 445
behält, seine Quellen, wenn irgend möglich, bis auf den
Grund zu erschöpfen. Die einzelnen Punkte, auf die es
ankommt, mag er aus den brauchbaren Sammlungen seiner
engeren, bez. weiteren Heimat ersehen; hier die Haupt-
punkte in Kürze aufzuzählen ist nicht angebracht, da das
wie ein Fragebogen aussehen möchte und diesen oder
jenen von dem Studium der einschlägigen Litteratur ab-
halten könnte.
Endlich noch einige Worte über die Form, in welcher
Sammlungen des Volkstümlichen zu erscheinen haben.
Uns scheint es empfehlenswert, streng nach den oben
angegebenen Arten des Volkstümlichen einzuteilen und
in den einzelnen Abschnitten wiederum sachlich zu ord-
nen, und, damit das geographische Prinzip auch zu seinem
Rechte kommt, zur Uebersicht für die Verbreitung wich-
tiger Sagengruppen, Namen, Bräuche, Trachten u, s. w.
dem Werke volkstümliche Karten anzuhängen. Als muster-
gültig auf diesem Gebiete sei hingewiesen auf W. Schwär tz'
Schrift: Zur Stammbevölkerungsfrage der Mark Branden-
burg. Berlin 1887, 29 S. (Mit einer mythologisch-ethno-
logischen Uebersichtskarte der Mark und der angrenzen-
den Gebiete, auf Grund der noch im Landvolk fortlebenden,
aus der Heidenzeit stammenden Traditionen.) Separat-
abdruck aus „Märkische Forschungen". 20. Bd.
Zur besseren Orientierung der Sammler und Forscher
auf dem Gebiete des Volkstümlichen folgt eine Litteratur
der bedeutenderen Sammlungen, von Volksglaube, Sitte,
Brauch, Sage und Märchen, welche bis jetzt in Deutschland
erschienen sind. Die übrigen Arten des Volkstümlichen,
wie Volkslieder, Kinderreime, Rätsel u. s. w. müssen für
diesmal aus Raummangel noch beiseite gelassen werden.
Daß ich bei der Litteraturangabe einfache Kompilationen
und die Hunderte von Sagen- und Märchensammlungen,
deren Verfasser aus den Sagen und Märchen mehr oder
minder schlechte Novellen, Gedichte und Kunstmärchen
gemacht haben, gar nicht erwähnt habe, rechne ich mir
zum Verdienst an, ebenso dali ich die Werke, welche mir
nicht zur Hand waren, mit einem Sternchen bezeichnete.
Es ist eben viel Unbrauchbares in die Litteratur des
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440 Ulrich Jahn,
Volkstümlichen eingeschmuggelt worden, dais man nur
für das stehen und gut sagen kann, was man selbst ge-
sehen und geprüft hat. Leider sehe ich der Sternchen
mehr, als mir lieb ist; die verhältnismäiig kurze Zeit,
welche mir zur Ausarbeitung dieses Abschnittes gelassen
werden konnte, sowie die Zerstreutheit und zum Teil
schwere Zugänglichkeit des Stoffes und der Mangel an
wirklich brauchbaren Vorarbeiten mögen zur Entschuldi-
gung dienen. Es wäre mir auch nicht möglich gewesen,
das Gebotene zu geben, wenn ich nicht bei der Zusammen*-
bringung des einschlägigen Büchermaterials die treuste
Unterstützung bei den Herren L. Freytag und W. Seel-
mann in Berlin gefunden hätte, wofür ich an dieser Stelle
meinen schuldigen Dank ausspreche. Geordnet konnten
die Werke nur geographisch-politisch werden, da sich die
Sammler fast durchweg bei der Absteckung der Grenzen
ihres Gebietes durch die geographisch - politischen Ver-
hältnisse bestimmen ließen. Es ist eingeteilt worden in
allgemein deutsche, norddeutsche, mitteldeutsche,
süddeutsche und Sammlungen der Alpenländer. In
Norddentsclüand folgen sich nacheinander die Nieder-
lande (Holland und Belgien), Luxemburg, die Rhein-
lande, Westfalen und Niedersachsen, Oldenburg
und Ostfriesland, Schleswig-Holstein-Lauenburg,
Lübeck, Altmark-Magdeburger Land und Provinz
Brandenburg, Mecklenburg, Pommern und Rügen,
West- und Ostpreußen, die russischen Ostseepro-
vinzen. — In Mitteldeutschland: die Rheinpfalz, Hes-
sen, Waldeck, Franken, Thüringen und Sachsen,
Lausitz, Preußisch- und Oesterreichisch-Schlesien,
Posen. — In Süddeutschland: Elsaß-Lothringen,
Baden, Hohenzollern, Schwaben, Ober- und Nie-
derbayern, Oberpfalz, Königreich Bayern, Böh-
men und Mähren, Ungarn, Siebenbürgen. — In den
Alpenländem: Schweiz, Vorarlberg, Tirol, Salzburg,
Kärnten, Steiermark, Oberösterreich, Niederöster-
reich. — Zum Schluß sind angefügt die Sammlungen,
welche aus dem ganzen Gebiet des Kaiserstaats Oester-
reich geschöpft sind.
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Volkstümliches. 447
Litteratur.
Allgemein deuteohe Sammlungen.
Sagen. Deatsche Sagen. Hcrausg. von den Brüdern Grimm.
Berlin 1816. Nicolai. I. Teil. XXXVI u. 464 S.; IL Teil. Berlin
1818. XX u. 880 S. 2. A. Mit einer Abbildung der Sage nach
W. V. Kaulbach. 1. u. 2. Bd. Berlin 1865. (Erste wissenschaftliche'
Sagensammlung, zum weitaus größten Teile aus Schriftquellen ge-
schöpft.) — Deutsches Sagenbuch von Ludwig Bechstein. Mit
16 Holzschnitten nach Zeichnungen von A. Ehrhardt. Leipzig 1853.
Wigand. XXIV u. 815 S. (Für das große Publikum berechnet.) —
Deutsche Sagen. Herausg. von Heinrich PrÖhle. Mit Illustra-
tionen. Zweite neu bearbeitete Auflage. Berlin 1879. Friedberg &
Mode. XVI u. 333 S. (Aus Schrift;quellen und dem Volksmunde
geschöpft. Besonders reichhaltig vertreten die Kyffhauser Sagen.
Brauchbar.) — Sagenbuch des preußischen Staats. Von J. G. Th.
Grässe. 2 Bde. Glogau. Fleraming. 1. Bd. 1868. XVu. 784S.;
2. Bd. 1871. XVI u. 1104 S. (Für das große Publikum berechnet^
auf Schriftquellen beruhend, für die Wissenschaft bedeutungslos.)
— Deutsche MÄrchen und Sagen. Gesammelt u. mit Anmerkungen
begleitet, herausg. von J. W. Wolf. Mit 3 Kupfern. Leipzig 1845.
Brockhaus. XXlY. u. 605 S. (Aus Schriftquellen und dem Volks-
munde geschöpft. S. auch unter , Niederlande**.) ■— Die deutsche
Volkssage. Em Beitrag zur vergleichenden Mythologie mit ein-
geschalteten tausend Originalsagen. Von OttoHenne-Am Rhyn.
Leipzig 1874. Krüger. XXII u. 538 S. (Aus Schriftquellen und dem
Volksmunde entnommen. S. auch unt. Schweiz.) — Deutsche Pflanzen-
sagen. Ges. u. gereiht von A. Ritter von Perger. Stuttgart u.
Oehringen 1864. Schaber. IV u. 364 S. (Aus Schriftquellen.) —
Samml. bergmänn. Sagen von Fr. Wrubel. Mit einem Vorwort von
Ant. Birlinger. Freiberg in Sachsen 1883. Graz & Gerlach. VIII u.
176 S. (Mit geringen Ausnahmen aus Schriftquellen genommen.
Sehr ungleich.)
Härchen. Kinder- und Uausmärchen, gesammelt durch die
Brüder Grimm. 1. u. 2. Bd. Berlin 1812—14.; 2. A. 1.-3. Bd.
1819—22; große Ausgabe 20. A. Berlin 1885. Hertz. XX u. 704 S.
Vom 3. Band, welcher Anmerkungen, Varianten u. s. w. enthält^
erschien 1850 2. A., 1856 3. A. (Mustersammlung a. d. Gebiet des
Märchens. S. auch unt. Hessen.) — Deutsches Märchenbuch. Herausg.
von Ludwig Bechstein. Leipzig 1845. Wigand. VIU u. 301 S.
und Neues deutsches Märchenbuch von Ludwig Bechstein. Leip-
zig 1856. 45. A. Volksausgabe. Wien 1884. IV u. 271 S.; 51. A.
Wien, Pest, Leipzig o. J. VIII u. 278 S. (Mit gioßer Vorsicht zu
gebrauchen. Viel ist unecht und selbsterfunden, die Sprache stellen-
weise hochtrabend und gekünstelt.) — Deutsche Märchen, erzählt
von Karl Simrock. Stuttgart 1864. Cotta. VIII u. 373 S. (Ent-
hält 78 brauchbare Märchen, leider ohne jede Angabe des Fundortes.)
Sagen und Märchen. Märchen und Sagen von Karl und
Theodor Colshorn. Mit Titelbild nach Originalzeichnung von
Digitized by VjOOQ IC
448 . Ulrich Jahn,
Ludwig Richter. Hannover 1854. Rümpler. X u. 256 S. (S. unter
Niedersachsen u. Westfalen.) — Germaniens Völkerstimmen, Samm-
lung der deatschen Mundarten in Dichtungen, Sagen, Märchen,
Volksliedern u. s. w. Herausg. von Johannes Matthias Firme-
nich. Berlin. Schlesinger. 4. 3 Bde. 1. Bd. IV u. 544 S.; 2. Bd.
1846. X u. 832 S.; 3. Bd. 1854. VIII u. 960 S. Anhang zum 3. Bande
Berlin 1867. XU u. 86 S. (Enthält zahlreiche Sagen u. Märchen,
dem Volksmunde entnommen und in der Mundart wiedergegehen.)
— Weniger bieten für unsere Zwecke: Die deutschen Mundarten.
Eine Monatsschrift für Dichtung, Forschung und Kritik. Begründet
von Jos. Ans. Pangkofer, fortgesetzt von G. Frommann.
1854-59 und Neue Folge, 1. Bd. Halle 1877.
Volksglaube, Braach und Sitte. Der deutsche Volksaber-
glaube der Gegenwart von Adolf Wuttke. 1. A. 1860. Zweite,
völlig neue Bearbeitung. Berlin 1869. Wiegand & Grieben. XII u.
500 S. (Sehr reichhaltige Sammlung. Wuttke sammelte selbst und
hatte zum Teil vorzügliche Mitarbeiter. Immerhin ist manches mit
Vorsicht aufzunehmen und bedarf der Bestätigung. Auch die Lit-
teratur ist reichlich benutzt.) — 1142 Nummern deutscher Aber-
glauben und abergläubischer Bräuche, zumeist Schriften aus dem
Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts entnommen,
bietet Jakob Grimm. Deutsche Mythologie. 4. Ausgabe, herausg.
von E. H. Meyer. Berlin 1878. 3. Bd. S. 434—477. - Eine reich-
haltige Sammlung von Volksglaube und Brauch aus Belgien, Hol-
land, den Rheinlanden und Hessen in J. W. Wolf, Beiträge zur
deutschen Mythologie. 1. Bd. Göttingen u. Leipzig 1852. Dieterich
& Vogel. S. 205—261. — Deutsche Ackerbräuche in großer Zahl,
aber von zweifelhaftem Wert bieten die auf Grund des Mannhardt-
schen Fragebogenmaterials aufgebauten fünf Werke: Roggenwolf
und Roggenhund. Beitrag zur germanischen Sittenkunde von Wil-
helm Mannhardt. Danzig 1865. Ziemssen. XII und 51 S. —
Derselbe: Die Eomdämonen. Beitrag zur germanischen Sitten-
kunde. Berlin 1868. Dümmler. XVI u. 48 S. - Derselbe: Wald-
und Feldkulte. 1. Teil Der Baumkultus der Germanen und ihrer
Nachbarstämme. Berlin 1875. Gebr. Borntraeger. XX u. 646 S.
2. Teil. Antike Wald- und Feldkulte. Berlin 1877. XLVIII u. 360 S.
— Mythologische Forschungen, aus dem Nachlasse von Wilhelm
Mannhardt herausg. von Hermann Patzig. Mit Vorreden von
Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer. Straßburg 1884. Trübner.
XL u. 382 S. — Germanische Erntefeste im heidnischen und christ-
lichen Kultus, mit besonderer Beziehung auf Niedersachsen. Bei-
träge zur germanischen Altertumskunde und kirchlichen Archäo-
logie von Heino Pfannenschmied. Hannover 1878. Hahn. XXX
u. 710 S. — Deutsche Volksfeste im 19. Jahrhundert. Geschichte
ihrer Entstehung u. Beschreibung ihrer Feier. Herausg. von Fr. A.
R ei mann. Weimar 1839. Verlag des Landes-Industrie-Komptoirs.
XX u. 480 S. (Auf Schriftquellen beruhend, wenig brauchbar.)
Zeitschriften. Zeitschrift für deutsche Mythologie und Sitten-
kunde. Herausg. von J.W. Wolf. 1. Bd. Göttingen 1853. Dieterich.
Digitized by VjOOQ IC
Volkstümliches. 449
VIII u. 480 S.; 2. Bd. 1855. IV u. 448 S. — Zeitschrift fdr deutsche
Mythologie und Sittenkunde Begründet von J. W. Wolf. Heraus-
gegeben von W. Mannhardt. 3. Bd. 1855. IV u. 328 S. 4. Bd. 1859.
IV u. 450 S. (Enthält viele, zum Teil recht brauchbare, kleinere
Sammlungen des Volkstümlichen aus fast allen Teilen Deutschlands ;
die wichtigsten sind unten an gehörigem Orte aufgeführt.) — Am
Urds-Brunnen. Mitteilungen für Freunde volkstümlich- wissen-
schaftlicher Kunde. Herausg. von F. Höft. 1881 ff. 6. Bd. 7. Jahrg.
1888/89 herausg. von F. Höft in Rendsburg und H. Carstens in
Dahrenwurth bei Lunden. (Zur Zeit das einzige Blatt für deutsche
Volkskunde. Obgleich die wissenschaftliche Leitung der Zeitschrift
nicht ohne Bedenken ist, so darf doch einigen Artikeln, zumal
manchen der kleineren Mitteilungen, ein gewisser Wert nicht ab-
gesprochen werden.) — Vom I.Jan. 1889 ab wird die Zeitschrift fQr
Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft ständig einen bestimmten
Teil ihres Raumes den Interessen der deutschen Volkskunde u. Mytho-
logie widmen. Die Leitung dieses Teiles übernimmt U. Jahn in Berlin.
Norddeutschland.
Allgemeines. Norddeutsche Sa^en, Märchen und Gebräuche
aus Mecklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braun-
schweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Aus dem Munde
des Volkes ges. und herausg. von A. Kuhn und W. Schwärt z.
Leipzig 184S. Brockhaus. XLIV u. 560 S. (Mustersammlung für
Sage, Brauch und Märchen.)
Niederlande (Holland nnd Belgien). Niederländische Sagen.
Gesammelt und, mit Anmerkungen begleitet, herausg. von Johann
Wilhelm Wolf. Mit einem I^upfer. Leipzig 1848. Brockhaus.
XXXVIII u. 709 S. (Aus Schriftquellen und dem Volksmunde ge-
schöpft; reichhaltig und zuverlässig. Die Sammlung erstreckt sich
über die gesamten Niederlande, inkl. franz. Flandern. Eine Ueber-
setzung ins Holländische besorgt von Doorenbosch und Dykstra,
Groningen und Leeuwarden.) — Grootmoederken. Archiven voor
Nederduitsche sagen, aprookjes, volksliederen en volksgebruiken,
kinderspeelen en kinderliederen uitg. door J. W. Wolf. 1., 2. St.
Gent 1842 u. 43. — Wodana. Museum voor Nederduitsche oud-
heitskunde, uitg. door J. W. Wolf. Gent 1843. Annoot-Braeckman.
VI, XVIII u. 112 S. (Enthält Sagen, Märchen, Bräuche u. s. w.)
— Deutsche Märchen und Sagen. Gesammelt und mit Anmerkungen
begleitet, herausg. von J. W. Wolf. Mit 3 Kupfern. Leipzig 1845.
Brockhaus. XXIV u. 605 S. (Die aus dem Volksmunde geschöpften
Stücke (zumal die Märchen) gehören sämtlich den Niederlanden an,
zumeist Belgien, in zweiter Linie kommt Hollsuid in Betracht.) —
Nederlandsche volksoverleveringen en godenleer, verzameld en op-
gehelderd door L. Ph. C. van den Bergh. Utrecht 1836. Altheer.
VIII u. 232 S. (Bietet nicht, was der Titel erwarten läßt. Wenig
brauchbar.) — Marie von Plönnies, Die Sagen Belgiens. Köln
1846. (Enthält Legenden und Sagen von ungleichem Wert. Fran-
Anleitung zur deutschen Lande«- und Yolksforschnng. 29
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450 Ulrich Jahn,
zösische Uebersetzung: Legendes et traditions de la Belgique, tra-
duites librement du texte Allemand de Marie de Ploeonies par
Louis Pire. Avec une gravure sur acier. Cologne 1848. F. C. Eisen.
VIII u. 271 S.) — L'ann^e de Tancienne Belgique. Memoire ^ur
les saJEons» les mois, les semaines, les f&tes, les usages dans les
temps ant^rieurs ä Tintroduction du christianisme en Belgique,
avec rindication et Texplication de diff^rentes dates qui se trouTent
dans les documents du niojen äge^ et qui, en partie, sont encore
usit^es de nos jours; par le docteur Goremans. Bruxelles 1844.
184 S. Commission royale d'histoire. Extrait du tom. VII. Nr. 1,
des bulletins. (Reichhaltiges und wertvolles, Schriftquellen und
dem Volksmunde, vorzüglich in Brabant, Flandern und Limburg,
entnommenes Material an Volksglaube und Brauch.) — Calendrier
Beige. Fetes religieuses et civiles usages, croyances et pratdques
populaires des Beiges anciens et modernes, par le Baron de Rein s-
berg-Düringsfeld. Bruxelles 1861/62. Ciaassen. Tome premier.
X u. 443 S.; Tome second. 372 S. (Durchweg auf Schriftquellen
beruhend. Sehr reichhaltiges Material an kirchlichen und bürger-
lichen Festen; Volksbraucli und Glaube wird nur gestreift.) — Pie
Zeitschrift für deutsche Mythologie enthält I, 37—38 Friesische
Sagen aus Leeuwarden von T. R. Dykstra; II, 173 — 178 Ge-
bräuche aus Limburg und Brabant von J. M. Dautzenberg;
III, 161 — 172 Vlämische Sagen und Gebräuche von Theophilus
Prudens Amatus Lansens. — *Oude kindervertelsels in den
Brugschen tongyal verzameld en uitgegeven door Ad. Lootens,
met spi*aakkundigen anmerkingen over het Brugsche taaleigen door
M. E. F(ey8). Brüssel 1868. — *Welters, Limburgsche legenden,
sagen, sprookjes en volksverhalen. Verzameld en uitg. 1. deel. Venloo
1875; 2. deel. 1876. — G. Auguste Hock. Croyances et remedes po-
pulair. au pays de Li^ge. Liege 1872. Vailiant-Carmanne et C*®- 264 S.
Oeuvres de G. Auguste Hock. Tome III. (Brauchbare Sammlung von
Volksglaube und Brauch aus flämisch-wallonisch gemischter Gegend.)
Luxemburg. Sagenschatz des Luxemburger Landes. Gesam-
melt von N. Gredt. Luxemburg 1883. XVII u. 646 S. (Enthält
1215 Sagen, darunter einige Märchen. Die Sammlung beruht auf
schriftlichen Mitteilungen, die d. Verf. aus allen Teilen des Länd-
chens zugegangen sind.) — Luxemburger Sagen und Legenden.
Gesammelt und herausg. von Ed. de la Fontaine. Luxemburg
1882. Druck von Jos. Beffort. XVI u. 187 S. (Zum größten Teile
Schriftquellen entnommen.) — Luxemburger Sitten und Bräuche.
Gesammelt und herausg. von Ed. de la Fontaine. Luxemburg
1883. Brück. V u. 168 S. (Hält sich ganz auf der Oberfläche;
eine tiefer eindringende Neusammlung erwünscht.)
Rheinlande. Sitten und Sagen, Lieder, Sprichwörter und
Rätsel des Eifler A^olkes, nebst einem Idiotikon. Herausg. von
J. H. Schmitz. Mit einer Nachrede von K. Simrock. 1. Bd.:
Sitten. Trier 1856. Lintz. XIV u. 234 S.; 2. Bd.: Sagen. Trier
1858. XVI u. 152 S. (Fast ganz vom Verf. dem Volksmunde en^
nommen. Reichhaltig und zuverlässig.) — Aachens »Stigen und
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Volkstümliches. 451
Legenden von Joseph Müller. Aachen 1858. Mayer. XII u.
148 S. (Wenig brauchbar.) — Die deutschen Volksfeste, Volks-
bräuche und deutscher Volksglaube in Sagen, M&rlein und Volks-
liedern. Ein Beitrag zur vaterländischen Sittengeschichte von
Montanus (Notar Zuccalmaglio zu Hückeswagen). 1. Bändchen:
Die Volksfeste. Iserlohn u. Elberfeld 1854. 4. Bädeker. IVu.92S.;
2. Bändchen : Volksbrauche und Volksglaube. Mythologische Natur-
geschichte. Iserlohn 1858. S. 93—180. (Trefflicher Stoff bei ganz
unwissenschaftlicher Bearbeitung. Gesammelt hat Montanus vor-
zugsweise im Bergischen; doch ist auch manche Druckschrift olme
Quellenangabe geplündert worden.) — Die Wesen der niederrheini-
schen Sagen. Von Wilhelm vonWaldbrühl. Elberfeld 1857.
Kommission bei Schmachtenberg. 36 S. (Von großem Interesse,
aber mit Vorsicht aufzunehmen. Der Verf. sammelte in den Thälern
der Sieg, Dhünn und Wupper.) — Sagen und Märchen des Bergi-
schen Landes. Gesammelt von Franz Leibin g. Elberfeld 1868.
128 S. (Leibing sammelte im Oberbergischen und benutzte außer
der mündlichen Ueberlieferung Schriffcquellen, besonders die beiden
vorigen.) — Volkstümliches vom Niederrhein. 1. Heft. Aus Leuth
im Kreise Geldern. Gesammelt von J. S p e e. Köln 1875. Roemke
& Comp. 27 S.; 2. Heft. 1875. 48 S. (Enthält zwar vorzugsweise
Lieder, Kinderreime, Rätsel und Sprichwörter, aber auch einige
Bräuche und Volksaberglauben, zumal im 2. Heft S. 25 — 37. Brauch-
bar.) — Die Zeitschrift für deutsche Mythologie enthält I, S. 88—90,
189-195, 240-243 u. II, S. 413-417 Aberglauben, Bräuche und
Sagen von der Mosel, ges. von N. Hocker, und III, S. 53 — 61
Volksüberlieferungen aus der Rheinprovinz von Franz L innig.
Westfalen nnd Niedersachsen. Sagen, Gebräuche und Mär-
chen aus W^estfalen und einigen anderen, besonders den angrenzen-
den Gegenden Norddeutschlands. Gesammelt und herausg. von
Adalbert Kuhn. 1. Teil: Sagen. Leipzig 1859. Brockhaus,
XXVIII u. 376 S.; 2. Teü: Gebräuche und Märchen. Leipzig 1859.
Xll u. 316 S. (Mustersammlung.) — Volksüberlieferungen in der
Grafschaft Mark, nebst einem Glossar. Gesammelt und herausg.
von J. F. L. Woeste. Iserlohn 1848. Selbstverlag. VIII u. 112 S.
(Enthält S. 36—61 wertvollen Stoff an Märchen, Sagen, Zauber-
formeln, Abergl. u. Bauernregeln.) — Wichtiges Material für das
Volkstum der Grafschaft Mark legte Fr. Woeste ferner nieder in
der Zeitschrift für deutsche Mythologie I, 336-341, 384—396; H,
81—99; m, 46-53, 179—196, 302-304. - Aberglaube und Ge-
brauche in Süd Westfalen von J. F. L. Woeste. Jahrbuch d. Vereins
f. niederdeutsche Sprachforschung III, S. 127—151. (Von gleichem
Wert wie die vorigen.) — Münsterische Geschichten, Sagen und
Legenden, nebst einem Anhange von Volksliedern und Sprich-
wörtern. Münster 1825. Coppenrath. 307 S. (Bezieht sich nur auf
dos Münstersche Gebiet. Recht brauchbar.) — Volkssagen und
Legenden des Landes Paderborn. Gesammelt und herausg. von
Joseph Seiler. Kassel 1848. Luckhart. 128 S. (In 2 Abteilungen.
I enthält 27 zum größten Teil durch Ausschmückung wertlos ge-
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452 Ulrich Jahn,
machte Sagen; II bietet Sagen in poetischer Form.) — Westftliscbe
Sagen und Geschichten von H. Stahl (der Verfasser soll Temme
sein). 2 Bändchen. Elberfeld 1831. Büschlerscher Verlag. 1. Bd.
VIIl u. S. 1-128; 2. Bd. S. 129—278. (Wenig brauchbar.) - Der
Sagenschatz AVestfalens. Von Otto Weddigen und Hermann
Hartmann. Mit einem Titelbilde; ,Die Sage* nach Wilhelm
von Kaulbach. Minden i. Westf. 1884. Bruns. XXIV u. 387 S.
(Die Sagen sind zum weitaus größten Teile Schriftquellen ent-
nommen. Der Wert der Sammlung geht nicht über das Mittel-
mäßige hinaus.) — Der Volksaberglaube im hannoverschen West-
falen (Landdrostei Osnabrück). Beschrieben von Hermann
Hartmann. Mitteilungen des historischen Vereins zu Osnabrück.
7. Bd. Osnabrück 1864. S. 372—396. (Brauchbares Material, my-
thologisch verarbeitet.) — Bilder aus Westfalen. Sagen, Volks- und
FamiBenfeste, Gebräuche, Volksaberglaube und sonstige Volkstüm-
lichkeiten des ehemaligen Fürstentums Osnabrück. Von Hermann
Hartmann. Osnabrück 1871. Rackhorst. XII u. •^HS S. (Nur
S. 1 — 144 von ethn. Interesse. Das dort Gebotene zum größten
Teile aus der ebengenannten Arbeit dess. Verf. übernommen.) —
Bilder aus Westfalen. Neue Folge. Von Hermann Hartmann.
Mit 6 Illustrationen in Thondruck. Minden i. Westf. 1884. Brans.
VllI u. 305 S. (Enthält S. 3—68 einiges Brauchbare über Feaft-
gebrauche und Volksfeste, besonders im Osnabrückschen. Der
übrige Teil der Arbeit gehört nicht hierher.) — Geschichtliches.
Sitten und Gebräuche aus dem Amte Diepenau. Von Otto Heise.
Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen. Jahrgang
1851. Hannover 1854. Hahn. S. 81 — 135. (Recht brauchbar; bietet
Sitten, Bräuche, Gewohnheiten und Aberglauben. Diepenau ist der
oberen Grafschaft Hoya zugehörig.) — Niedersächsische Sagen und
Märchen. Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit An-
merkungen und Abhandlungen herausg. von Georg Schambach
undWilhelmMüller. Göttingen 1855. Vandenhoeck & Ruprecht.
XXVI u. 426 S. (Die treffliche Sammlung umfaßt vorzugsweise
die beiden Fürstentümer Göttingen und Grubenhagen, die im Nor-
den daran stoßenden braun seh weigischen Aemter, die am rechten
Weserufer liegenden hessischen Dörfer und einen Teil des Fürsten-
tums Hilde^heim. Vergl. auch die niedersächsischen Sagen von
G. Schambach in der Zeitschrift für deutsche Mythologie II,
109-110 u. 400—405.) — Sagen, Märchen, Schwanke und Ge-
bräuche aus Stadt und Stift Hildesheim. Gesammelt und mit An-
merkungen versehen von KarlSeifart. Göttingen 1 854. Wigand.
XIV u. 207 S.; 2. Sammlung. Kassel u. Göttingen 1860. XH u.
206 S. (Dem Volksmunde und Schriftquellen entnommen; einzelne
Stücke, zumal die Märchen, ausgeschmückt. Von mittelmäßigem
Werte.) — A. Harland, Sagen u. Mythen aus dem Sollinge. In
der Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen. Jahr-
gang 1878. Hannover 1878. S. 76—103. (Harland sammelte selbst;
den einzelnen recht brauchbaren Stücken, Sagen, Märchen, Bräuche
und Aberglauben enthaltend, sind mythol. Deutungen beigefiigt)
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Volkstümliches. 453
— Sagen und Sitten aus dem Fürstentum Schaumburg-Lippe und
den angrenzenden Ländern von Krnst Meier in der Zeitschrift
für deutsche Mythologie I, 168-173. (Wertvoll.) — Volkssagen,
Märchen und Legenden Niedersachsens. Gesammelt von Herrn.
Harrys. Celle 1840. Schulze. I.Abteil. XIV u. 94 S.; 2. Abteil.:
Der Harz. VIII u. 88 S. Neue (Titel-) Ausgabe 1862. (Kleine,
brauchbare Sammlung von 95 Sagen. Märchen sind in dem Werk-
chen nicht vertreten. Die Sagen des 2. Bändchens aus dem Ober-
harze.) — Harzmärchenbuch oder Sagen und Märchen aus dem
Oberharze. Gesammelt u. herausg. von August Ey. Stade 1862.
Steudel. VIII u. 221 S. (66 Nummern, die Märchen überwiegen an
Zahl. Der Verf. hat unmittelbar aus dem Volksmund geschöpft,
ist aber hier und da unkritisch verfahren. Mit Vorsicht zu be-
nutzen.) — Harzsagen. Gesammelt auf dem Oberharz und in der
übrigen Gegend von Harzeburg und Goslar bis zur Grafschaft
Hohenstein und bis Nordhausen von Heinrich Pröhle. Leipzig
1854. Avenarius & Mendelssohn. XXXVIII u. 306 S. - Unter-
harzische Sagen. Mit Anmerkungen und Abhandlungen herausg.
von Heinrich Pröhle. Aschersleben 1856. Fokke. XXIV u. 235 S.
- Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner, ge-
sammelt und herausg. von Heinrich Pröhle. 2. Auflage in einem
Bande. Leipzig 1886. Mendelssohn. XLI u. 280 S. (Giebt den
Inhalt der beiden vorigen Werke mit wesentlichen Kürzungen und
gesichtet wieder. Reichhaltig und treu wiedergegeben.) ■— Harz-
bilder. Sitten und Gebräuche aus dem Harzgebirge von Heinrich
Pröhle. Leipzig 1855. Brockhaus. IV u. 119 S. (Enthält im
wesentlichen nur Gebräuche des Oberharzes. Eine gründliche Nach-
lese würde lohnend sein.) — Eduard Jacobs, Der Brocken und
sein Gebiet. Urkundliche Beiträge zur geschichtlichen Kunde des
hohen Harzes, des Volks- und Hexen glaubens, besonders der Blocks-
bergsnge, sowie der Naturanschauung am Harze. Mit einer Karte.
Sonderabdruck aus dem 3. u. 4. Jahrgang der Zeitschrift des Harz-
vereins für Geschichte u. Altertumskunde. Wernigerode 1871. VIII
u. 358 S. und Der Brocken in Geschichte und Sage. Neiyahrsblätter,
herausg. von der histor. Kommission der Prov. Sachsen. III. Halle
1879. 52 S. (Beide Werke bieten für das Volkstümliche des Brocken-
gebietes manchen wertvollen Zug.) — Kinder- und Volksmärchen.
Gesammelt von Heinrich Pröhle. Leipzig 1853. Avenarius &
Mendelssohn. LIV u. 254 S. (78 Märchen, zum größten Teil auf
dem Oberharze gesammelt; einiges stammt aus den benachbarten
niedersächsischen Ortschaften und aus Schlesien. Die Kritik ist
von Pröhle nicht immer mit der nötigen Schärfe behandelt.) —
Märchen für die Jugend. Herausg. von Heinrich Pröhle. Mit
einer Abhandlung für Lehrer u. Erzieher. Halle 1854. Buchhand-
lung des Waisenhauses. XVI u. 236 S. (64 Märchen, gesammelt
aus dem niedersächsischen Lande zwischen Hamburg und Kyff-
häuser, vorzugsweise jedoch wieder aus dem westlichen Harz. Auch
dieser Sammlung fehlt hier und da die Kritik.) — Karl u. Theo-
dors Colshorn, Märchen und Sagen. Mit Titelbild nach OriginaU
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454 Ulrich Jahn,
Zeichnung von Ludwig Richter. Hannover 1854. Kumpler. X u.
256 S. (Von den 90 Nummern der trefflichen »Sammlung stammen
70 aus Niedersachsen, der Rest verteilt sich auf das übrige Deutsch-
land.) — Hochzeitbräuche und Sprüche aus dem Lüneburgischen
von Theodor Colshorn. Weimarisches Jahrbuch. III. Hannover
1855. S. 359—390. (Brauchbar.) — Hannoversche Geschichten und
Sagen. Gesammelt u. herausg. von Hermann Weiche lt. 1. Bd.
Mit; einem Vorwort von Karl Seifart. Celle 1878. Weichelt. Leipzig
in Komm, bei Hartknoch. VIII u. 248 S.; 2. Bd. Norden, öoltau.
IV u. 240 S.; 3. Bd. Ebenda. IV u. 240 S.; 4. Bd. unvoUständig
geblieben. (Wenig brauchbar.) — Das hannoversche Wendland.
Von K. Hennings. Festschrift, dem Zentralausschusse der kgl.
landwirtsch. Gesellsch. zu Celle bei seiner Anwesenheit im Wend-
lande i. S. 1862 gewidmet von dem landwirtsch. Lokalvereine des
W^endlandes zu Lüchow. Lüchow 1862. 4. Selbstverlag des Vereins.
KU S. (Enthält S. 33— 80 und 155—157 viel Brauchbares über
Sitten, Trachten, Gewohnheiten, Sprache, Volksglauben, Brauch u.
Sage der hannov. Wenden; bei anderem ist Vorsicht geboten. Siehe
d. folg.) — Sagen und Erzählungen aus dem hannoverschen Wend-
lande. Bearbeitet von Karl Hennings. Lüchow 1864. Säur. 169 S.
(Unbrauchbar.) — Hannoversche* Sitten und Gebräuche in ihrer
Beziehung zur Pflanzenwelt. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte
Deutschlands. Populäre Vorträge etc. von Berthold Seemann.
Leipzig 1862. Engelmann. X u. 93 S. (Wertlos.) — .Altertümer,
Geschichten und Sagen der Herzogtümer Bremen und Verden. Ge-
sammelt und herausg. von Friedrich Koste r. Mit 3 lith. Ab-
bildungen. 2. Abdr. Stade 1856. Komm, bei Pockwitz. VIII u.
278 S. (Enthält einiges Brauchbare an Sage und Brauch.)
Oldenbarg und Ostfrlesland. Aberglaube und Sagen aus dem
Herzogtum Oldenburg. Herausg. von L. Strackerjan. Oldenburg
1867. Stalling. 1. Bd. Ylll u. 422 S.; 2. Bd. VI u. 36<i S. (Die
brauchbare und sehr reichhaltige Sammlung bietet mehr, als der
Titel verspricht: außer Aberglauben und Sagen auch: Märchen,
Schwanke, Bräuche, Reime, Rätsel in großer Zahl.) — Volksmedizin
im nordwestlichen Deutschland von Goldschmidt. Bremen 1854.
Heyse. VIII u. 157 S. (Auch unter dem Titel: Skizzen aus der
Mappe eines Arztes. Der ganze recht brauchbare Stoff ist von
dem Verfasser im Herzogtum Oldenburg gesammelt.) — Ostfriea-
land in Bildern und Skizzen, Land und Volk in Geschichte und
Gegenwart geschildert von Hermann Meier. Mit einer Auswahl
plattdeutscher Kinder- und Volksreime und einem statistischen An-
hang. Leer 1868. Securius. VIII u. 260 S. (Seiner ganzen Dar-
stellung nach mehr für das große Publikum berechnet; enthält
immerhin manches Brauchbare an Sitten, Bräuchen und Gewohn-
heiten.) — Sagen und sagenhafte Erzählungen aus Ostfriesland.
Gesammelt und bearbeitet von Fr. Sundermann. Aurich 1869.
Dunkmann. VI u. 66 S. (Brauchbar; Darstellung oft ausgeschmückt)
— Die Spuren des deutschen Volksaberglaubens in Ostfriesland. In
Heft 1—5 des 2. Jahrg. des Ostfries. Monatsbl. f. provinz. Interessen.
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Volkstümliches. 455
Herausg. von A. E. Zwitzers. Emden 1874. Haynel. (Der Aufsatz,
ein Vortrag gehalten auf der Seminarkonferenz im Herbst 1873, ist
nicht vollständig erschienen. Was gedruckt ist, enthält reichen Stoff
an ostfriesischem Aberglauben und abergläubischem Brauche.)
Schleswig, Holstein, Lanenbnrg. Sagen, Märchen und Lieder
der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Herausg.
von Karl Müllenhoff. Kiel 1845. Schwers. LTV u «22 S. In
Reproduktion erechienon Kiel 1887. Homann. (Die Sammlung des
berühmten Gelehrten steht ihrem inneren Werte nach in keinem
Verhältnis zu seinen Leistungen auf dem Gebiet der germanischen
Philologie. Nur wenig ist von Müllenhoff seibat gesammelt, anderes
[etwa ein Viertel] entetammt Schriftquellen, das übrige beruht auf
schriftlichen Mitteilungen. In welcher bedenklichen Weise mit
diesen umgegangen ist, zeigen die Beiträge von C. P. Hansen auf
Sylt. Bei Müllenhoff erscheinen sie knapp, kurz und scheinbar
echt volkstümlich; in Hansens Werken: Friesische Sagen und Er-
zählungen. Altena 1858. Wendeborn. XI u. 194 S., und Sagen und
Erzählungen der Sylter Friesen, nebst einer Beschreibung der Insel
Sylt, als Einleitung, und einer Karte der Insel Sylt, als Zugabe.
Garding 1875. Lahr & Dircks. XVIII u. 222 S., dagegen sind die
einzelnen Sagen willkürlich kombiniert, novellistisch gefärbt und
in tendenziöser Weise zugestutzt und gefälscht.) — Nachträge zu
Müllenhoffs Sammlung finden sich in den verschiedenen Jahrgängen
der Jahrbücher für die Landeskunde der Herzogtümer Schleswig,
Holstein und Lauenburg. Die bedeutendsten sind: Heinrich
Handel mann, Nordeibische Weihnachten. 4. Bd. Kiel 1861.
S. 268 — 293. Als Separatabdruck Kiel 1861. Komm, bei Homann.
28 S., und J. Ehlers, Was die Alten meinen. Meistenteils nach münd-
licher Ueberiieferung aufgezeichnet. 8. Bd. Kiel 1865. S. 82-122.
— Dithmarsische Märchen in dithmarsischer Mundart aufgezeichnet
von R. Hansen. Zeitschrift der Gesellschaft f. schleswig-holstein-
lauenburgische Geschichte. 7. Bd. Kiel 1877. S. 213— 234. (Enthält
8 gut wiedergegebene Märchen aus Dith marsch en in der Mundart.)
Lübeck. Lübische Geschichten u. Sagen, ges. u. zusammengestellt
V.Ernst Deecke. Lübeck 1852. 2. wohlfeile Ausg. 1857. Dittmer.
VI u. 399 S. Verbesserte und mit einem Anhang vermehrte Aufl.
1878. (Mit geringen Ausnahmen aus Schriftquellen geschöpft.)
Altmark, Magdeburger Land nnd Provinz Brandenburg^). Die
Volkssagen der Altmark. Mit einem Anhange von Sagen aus den
übrigen Marken und aus dem Magdeburgischen. Gesammelt von
J. D. H. Temme. Berlin 1839. Nicolai. XIV u. 146 S. (Zumeist aus
Schriftquellen geschöpft.) — Hochzeitsgebräuche in der Altmark.
Vortrag gehalten zum Besten des Gymnasialbibliothekfonds in
Sangerhausen von Clemens Menzel. Stendal 1877. Franzen &
Grolse. 70 S. (Reichhaltiges, brauchbares Material, leider dadurch
entwertet, daß der Leser über die besondere Heimat der meisten
Sitten und Bräuche im Unklaren bleibt.) — Hochzeitsgebräuche
^) Spreewald und Niederlausitz siehe unter Lausitz.
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456 Ulrich Jahn,
des Magdeburger Landes. Von Ph. Wegen er. Geschichtsblätter
für Stadt und Land Magdeburg. 13. Jahrgang. Magdeburg 1878.
S. 225—255; 14. Jahrgang. 1879. S. 68-100; Ergänzungen und
Nachträge. 18. Jahrgang. 1883. S. 371-380. (Der Verf. hat die
Eheordnungen und die einschlägigen Sammlungen den Volkstiim-
lichen benutzt, auch sammelte er selbst im Volke. Berücksichtig
sind außer dem Magdeburger Land auch Braunschweig und die
Altmark.) — Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhang
von Gebräuchen und Aberglauben, gesammelt und herausg. von
Adalbert Kuhn. Berlin 1843. Reimer. XXVI u. 389 S. (Aus
dem Volksmunde und Schrift quellen geschöpft, reichhaltig und zu-
verlässig.) — Beiträge zur Sagengeschichte der Mark Brandenburg.
Von W. Schvsrartz. Märkische Forschungen. Herausg. von dem
Vereine für Geschichte der Mark Brandenburg. 8. Bd. Beilin 18Ö3.
S. 171 — 185. (Enthält interessante Nachträge zu der Kuhnschen
Sammlung, gesammelt im Barnimer Kreise.) — Sagen und alte
Geschichten der Mark Brandenburg. Von W. Schwärt z. Berlin
1871. 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Berlin 188t). Hertz.
(Obwohl zunächst für weitere Krei.<e berechnet, doch auch für den
Forscher von großem Werte und eine willkommene Ergänzung des
Kuhnschen Werkes, an dem Schwartz mit gesammelt.) — Der Volks-
mund in der Mark Brandenburg. Sagen, Märchen, Spiele, Sprich-
wörter und Gebräuche, gesammelt und herausg. von A. Engelien
und W. Lahn. 1. Teil (mehr nicht erschienen). Berlin 1808. Schnitze.
VIII u. 285 S. (Beruht zum größten Teile auf schriftlichen Mit-
teilungen von Volksschullehrem an die Verfasser.) — Volkstüm-
liches aus der Grafschaft Buppin und Umgegend. Gesammelt und
herausg. von Karl Eduard Haase. 1. Teil: Sagen. Neuruppin
1887. Petrenz. Sondertitel: Sagen aus der Grafschaft Ruppin und
Umgegend. XII u. 126 S. (Zum größten Teil der mündlichen
Ueberlieferung entnommen.) — Neue Sagen aus der Mark Branden-
burg. Ein Beitrag zum deutschen Sagenschatz von £. Handt-
mann. Berlin 1883. Abenheim (Joel). VIII u. 2t)3 S. (Der Verf.
hat in der Priegnitz und Uckermark gesammelt. Die Kritik nicht
immer mit der nötigen Schärfe angewandt; außerdem ist die Samm-
lung durch Ausschmückungen stark entwertet.)
tfecklenburg. Mecklenburgs Volkssagen. Gesammelt u. heraus-
gegeben von A. Nied er hoff er. 1. Bd. Leipzig 1857. X u. 233 S.;
2. Bd. 1859. VII u. 252 S.; 3. Bd. 18G0. VIII u. 256 S.; 4. Bd. 1862.
VIII u. 277 S. Hübner. (355 Sagen, für da« große Publikum be-
rechnet. Viel gehört gar nicht in eine Sagensammlung; anderes ist
durch novellistische Einkleidung unverwertbar geworden. Niederhöffer
hatte das Glück, mehrere ausgezeichnete Mitarbeiter zu besitzen.)
— J. Mussäus, ^Mecklenburgische Volksmärchen* und , Sympathien
und andere Thorheiten. Ein Beitrag zur Geschichte der Mensch-
heit, besonders des Mecklenburgers, in Mecklenburg geEammelt.*^
Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte u. Alter-
tumskunde. 5. Jahrgang. Schwerin 1840. S. 74— 100 u. 101-119.
(Wertvolles Material an Märchen, Sagen und Zauberbräuchen; die
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Volkstümliches, 457
Darstellung zum Teil ausgeschmückt.) — W. G. Beyer, Erinne-
ruugen an die nordische Mythologie in Yolkssagen u. Aherglauben
Mecklenburgs. Jahrbücher des Vereins für mecklenb. Geschichte
u. Altertumsk. 20. Jahrg. Schwerin 1855. S. 140—207. (Die Arbeit
beruht auf Schriftquellen u. Mitteilungen von Freundeshand. Der
Stoff, Sagen, Aberglauben, Bräuche, ist durchweg mythologisch
verarbeitet.) — Sympathien und andere abergläubische Kuren,
Lebens- und Verhaltungsregeln und sonstiger angewandter Aber-
glaube, wie er sich noch heute im Volke findet. Ein Beitrag zur
Kenntnis des mecklenburgischen Volkes. Von L. Fromm »Schwerin
und C. Struck -Waren. Archiv für Landesk. in den Großherzog-
tümem Mecklenburg etc. 14. Jahrg. Schwerin 1864. S. 497—564.
(Keichhaltig und zuverlässig.) — Sitten u. Gebräuche des Mecklen-
burger Landvolkes von Fr. L. Graf f. Archiv f. Landesk. in den
Großherzogt. Mecklenburg. 17. Jahrg. Schwerin 1867. S. 439—460.
(Brauchbares Material an Bräuchen und Gewohnheiten [besonders
Hochzeitsbräuchen] der Mecklenburger. Es fehlt fast durchweg die
genaue Angabe der Orte, wo die einzelnen Bräuche geübt werden.)
— Zum Tier- und Kräuterbuche des mecklenburgischen Volkes von
Karl Schiller. Schwerin 1861 u. 1864. 4. Bärensprung. I.Heft.
1861. IV u. 82 S.; 2. Heft. 1861. 34 S.; 3. Heft. 1864. 24 S. (Ent-
hält viel wertvolles Material an Volksglaube, Brauch u. Sage, so-
weit sich dieselben auf Tier- und Pflanzenwelt beziehen.) — Sagen,
Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg. Gesammelt u. herausg.
von Karl Bartsch. 2 Bde. Wien 1879 u. 1880. Braumüller.
1. Bd.: Sagen u. Märchen. XXVI u. 524 S.; 2. Bd.: Gebräuche u.
Aberglaube. VI u. 508 S. (Sehr reichhaltige Sammlung; die ein-
zelnen Stücke von ungleichem Werte. Bartschs Sammelthätigkeit
beschränkte sich zumeist auf Auszüge aus den eben genannten
Arbeiten. Zu den Sammlungen aus Volkesmund regte er an und
gab die Mitteilungen wieder mit genauer Namennennung der Ein-
sender, so daß eine Beurteilung der einzelnen, zum Teil vorzüg-
lichen Sammler ermöglicht ist.) — Volkstümliches aus Mecklenburg.
1. Heft. Beiträge zum Tier- und Pflanzenbuch. Tiergespräche,
Rätsel; Legenden und Redensarten, aus dem Volksmunde gesammelt
und der 11. Versammlung des Vereins für niederdeutsche Sprach-
forschung gewidmet von Rieh. Wossidlo. Rostock 1885. Werther.
32 S. (Gewährt außer Reimen, Sprüchen etc. einiges an Märchen u.
Sagen. Das Dargebotene ist gut.) — Die sympathetischen Mittel u.
Kurmethoden. Gesammelt, z. Teil selbst geprüft, historisch-kritisch
beleuchtet u. naturwissenschaftlich gedeutet von Georg Friedrich
Most. Rostock 1842. Stiller (Eberstein & Otto). XVI u. 175 S. (S. 107
bis 160 enthält 155 zum größten Teile in Mecklenburg gesammelte
u. treu wiedergegebene sympathetische Heilmittel u. Kurmethoden.)
Pommern und Rügen. Die Volkssagen von Pommern und
Rügen. Gesammelt von J. D. H. Temme. Berlin 1840. Nicolai.
XXX u. 352 S. (Zum größten Teil aus Schriftquellen geschöpft.
Temme sammelte nicht selbst aus dem Volke. Der Anhang S. 335
bis 352 bietet Meinungen und Bräuche.) — Theodor Schmidt,
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458 Ulrich Jahn,
Gereimter und ungereimter Aberglaube in Frommem. Beiträge zur
Kunde Pommerns. Herausgeg. von dem Verein für pommersche
Statistik. Stettin 1854. 6. Jahrg. 1. Heft. S. 55—65. (Wertvolle
Arbeit, ganz aufgenommen in U. Jahn, Hexenwesen u. Zauberei
in Pommern ; siehe unten.) — De Di^re, as man to segg^ un wat*8
seggen. Von Ch. Gilow. Anklam 1871. Krüger. VI u. 776 S.
und De Planten, as man to seggt un wat's seggen. Von Ch. Gi-
low. 1. Deil: A bet brackt. Anklam 1872. Komm, bei Krüger.
4 Bl. u. 384 S. (Enthalt manches Wertvolle über Volkstümliches
(Brauch, Glaube, Sage, Märchen, Lied] aus Tier- und Pflanzenwelt
in Pommern; leider ohne jegliche Angabe des Fundortes.) — Ru-
dolf Bai er, Beiträge von der Insel Rügen. Zeitschrift f. deutsche
Mythologie II, 1:39—148. (Enthält Sagen.) - Zur Mythologie und
Sittenkunde, aus Pommern, von Albert Hoefer. Germania, Vier-
teljahrsschrift f. deutsche Altertumskunde. 1. Jahrg. Stuttgart 1856.
S. 101 — 110. — Sammlung abergläubischer Gebräuche. Zusammen-
gestellt von Knorrn. Baltische Studien. XXXIIl. Stettin 1888.
S. 113—147. (Mit gutem Verständnis des Volkes unmittelbar aus
dem Volksmunde geschöpft.) — Volkssagen, Erzählungen. Aber-
glauben, Gebräuche n. Märchen aus dem östlichen Hinterpommern.
Gesammelt von Otto Knoop. Posen 1885. Jolowicz. XXX u.
240 S. (Beschäftigt sich zumeist mit dem kassnbischen Teile Pom-
merns. Verdienstliche, wenn auch nicht sehr eindringende Samm-
lung; aus dem Volksmunde geschöpft.) — Volkssagen aus Pommern
und Rügen. Gesammelt und herausg. von Ulrich Jahn. Stettin
1886. Dannenberg. XXVIII u. 541 S. (Zum größten Teile von Jahn
unmittelbar aus dem Volksmunde geschöpft.) — Hexenwesen und
Zauberei in Pommern. Von Ulrich Jahn. Stettin 1886. Koram.-
Verlag von Koebner in Breslau. 196 S. Separatabdruck von Bal-
tische Studien XXXVII; auch erschienen als Festschrift zur Be-
grüßung des 17. Kongresses der deutschen anthropol. Gesellschaft
in Stettin 1886. (Enthält Volksglaube und Brauch, soweit sie sich
auf die Zauberei beziehen.) — Von einer umfangreichen Sammlung
der pommerschen Märchen wird derselbe Verfasser Winter 1888/89
den ersten Band in Druck bringen. Verlag von Soltau in Norden.
Eine Sammlung der Sitten, Bräuche etc. in Vorbereitung.
West- und Ostpreussen. Die Volkssagen Ostpreußens, Lit-
tauens und Westpreußens. Gesammelt von W. J. A. vonTettau
und J. D. H. Temme. Berlin 18^)7. Nicolai. Neue Ausgabe. Berlin
1865. XXVIII u. 286 S. (Der Anhang von S. 255-286 bietet
Meinungen und Bräuche. Die Sammlung ist zum Überwiegenden
Teile aus Schriftquellen geschöpft.) — Hexenspruch u. Zauberbann.
Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens in der Prov. Preußen
von H. Frischbier. Berlin 1870. Enslin. XII u. 167 S. (Die Arbeit
umfaßt West- u. Ostpreußen. Sehr wertvoll, ebenso wie das folgende
Werk desselben Verf.) — Zur volkstümlichen Naturkunde. Beiträge
aus Ost- und Westpreußen von H. Frischbier. Altpreuß. Monats-
schrift. Königsberg 1885. S. 218 — 334. — Danziger Sagen. Ge-
sammelt von 0. F. Karl. 1. Heft. Danzig 1848. 40 S.; 2. Heft.
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Volkstümliches. 459
Danzig 1844. 48 S. (Nur zum kleinen Teil brauchbar.) — Danziger
Sagenbuch. Sagen von der Stadt und ihren Umgebungen. In voll-
ständiger Sammlung von F. A. Brandstätten Mit 5 Illustrationen
nach Originalzeichnungen von B. Laasner. 2. Aufl. Danzig 188'^.
Bertling. X u. 104 S. (Das Meiste ist aus Schriftquellen genommen,
nur wenig entstammt der mündlichen üeberlieferung.) — Eine
große. Anzahl von Aufsätzen (weit über hundert) volkstümlichen In-
halts, zumeist Westpreußen betreffend, hat AlexanderTreichel
erscheinen lassen in den Berichten der Berliner Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in der Zeitschrift des
historischen Vereins für den Regierungsbezirk Marien werder, in
den Schriften der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig und
zuletzt auch in der altpreußischen Monatsschrift in den Jahren
1879 ff. (Das darin niedergelegte Material ist zum Teil recht wert-
voll; störend wirken die oft wunderlichen Erklärungen. Am umfang-
reichsten ist Treichels Arbeit: Volkstümliches aus der Pflanzenwelt,
besonders für Westpreußen. Davon erschienen I — VI in den Schriften
der naturf. Gesellsch. zu Danzig. Band V ff., Fort-setzung VII in
dem 24. Bd. der altpreuß. Monatsschr. 1887. Heft 7/8.) — Die alte
gute Sitte in Altpreußen. Ein kirchlich-soziales Sittengemälde, aus
amtlichen Belichten zusammengestellt von C. G. Uintz. Königs-
berg 1862. Gräfe & Unzer. VIII u. 140 S. (Auf Grund amtlicher
Berichte der evangelischen Geistlichen herausg., enthält die Samm-
lung, dem Titel entsprechend, fast nur fromme, kirchliche Sitten
und Gewohnheiten; selten wird der Volksglaube und die damit
zusammenhängenden Bräuche gestreift.) — E. Lemke, Volkstüm-
liches in Ostpreußen. 1. Teil. Mohrungen 1884. Harich. XVI u.
190 S.; 2. Teil. 1887. XVI u. 803 S. (Die vortreffliche Sammlung
enthält Bräuche, Aberglauben, Keime, Spiele etc.. Sagen u. Mär-
chen, gesammelt in der Umgegend von Saalfeld. Material zu einem
S. Teile schon zusammengebracht, die Herausgabe leider noch frag-
lich.) — Sagen des preußischen Samlandes aus dem Munde des
Volkes erzählt von Rudolf Friedrich Reuse h. Königsberg 18S8.
Härtung. VIII u. 108 S. 2. völlig umgearbeitete Auflage, herausg.
von dem litterarischen Kränzchen zu Königsberg. Königsberg i. Pr.
1803. Härtung. XVI u. 139 S. (Die 2. Auflage ist eine kleine,
aber vortreffliche Sammlung.) — Wertvolle Nachträge zu den Sagen
des Samlandes lieferte R. F. Reu seh in den Preuß. Provinzial-
blättern. 23. Bd. 1840. S. 120-128; 2Ü (1841) S. 419-439: 27
(1842) S. 234-252, 460-479 u. 551-576 und Neue Preuß. Pro-
vinzialblätter. Bd. I (XXXV) 1846. S. 1—14. (Enthalten Aber-
glauben, Bräuche, Sagen etc.) — Aberglauben aus Masuren, nebst
einem Anhange, enthaltend: Masunsche Sagen und Märchen. Mit-
geteilt von M. Toppen. 2. durch zahlreiche Zusätze und durch
den Anhang erweiterte Auflage. Danzig 1867. Bertling. 168 S.
(1. Aufl. Beparatabdruck aus der Altpreuß. Monatsschr. Königs-
berg 1867. Rosbach. 106 S.) (Auf Grund von Schriftquellen und
der mündlichen Üeberlieferung gearbeitet; vorzugsweise polnisch.)
— Wenig Germanisches wird sich finden in Litauische Sagen.
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460 Ulrich Jahn,
Gesammelt von A. Q. Langkusch. Separatabdruck aus der alt-
preuß. Monatsschrift. 15. Bd. 5. u. 6. Heft. S. 412—459. (Die
Darstellung nicht immer volkstümlich, zum Teil sogar novellistisch
ausgeschmückt) — Rein littauisch scheinen Littauische Märchen,
Sprichworte, Rätsel u. Lieder. Gesammelt u. tibersetzt von August
Schleicher. Weimar 1857. Böhlau. X u. 244 S. (VortreflPlich.)
Russische Ostseeprovinzen. Sagen aus Hapsal, der Wiek,
Oesel und Runö. Gesammelt und kurz erläutert von C. Rußv^urm.
Reval 1861. Kluge. XX u. 191 S. (RuBwurm benutzte außer der
esthnischen auch die schwedische und die deutsche üeberlieferung.
Letztere bietet von den 200 Sagen etwa ein Fünftel. Vortreffliche
Arbeit)
Mitteldeutschland.
Rheinpfalz. Volkssage (in der bayrischen Rheinpfalz). Von
Ludwig Schandein. Bavaria. Landes- und Volkskunde des
Königreichs Bayern. IV, 2. München 1867. S. 277—344. — Der-
selbe, Volkssitte (in der bayrischen Rheinpfalz). Bavaria. IV, 2.
S. 344~'109. — Derselbe, Volksmedizin (in der bayrischen Rhein-
pfalz). IV, 2. S. 441—444. (Die beiden ersten Arbeiten recht
brauchbar; die letzte unbedeutend.) — *Friedrich Blaul, Träume
und Schäume vom Rhein. In Reisebildern aus d. Rheinpfalz. 2. venn.
Aufl. Kaiserslautern 1882. Gotthold. VI u. 564 S. u. 9 S. Register.
(Soll viel Brauchbares über d. Volkstümliche d. Rheinpfalz enthalten.)
Hessen. Hessische Sagen. Herausg. von J. W. Wolf. Göt-
tingen u. Leipzig 1853. Dieterich & Vogel. XVI u. 224 S. (Wolf
sammelte vorzugsweise im Großherzogtum und wurde von seinem
Schwager W. von Plönnies unterstützt. Gut. Aufgenommen in die
Sammlung ist eine frühere Arbeit desselben Verf. : Rodenstein und
Schnellerts. ihre Sagen u. deren Bedeutung für die deutsche Alter-
tumskunde. Darmstadt 1848. Leske. 32 S.) — Deutsche Hausm&rchen.
Herausg. von J. W. Wolf. Göttingen u. Leipzig 1851. Dieterich
& Vogel. XVI u. 439 S.; 2. (Titel-) Ausgabe 1858. (Durch Wolf
und W. von Plönnies im Odenwalde und aus dem Munde hessi-
scher Soldaten in der Darmstädter Garnison gesammelt. Eine
frühere Märchensammlung Wolfs: „Hausmärchen aus Hessen, aus
dem Munde des Volkes gesammelt. Darmstadt 1851. Becker. VllI
u. 64 S.*^, 12 IMärchen enthaltend, ist in die deutschen Hausmär-
chen verarbeitet worden. Einen Nachtrag zu der Sammlung bilden
4 Odenwälder Märchen von W. von Plönnies in der Zeitschrift
für deutsche Mythologie I, S. 38-42; H, S. 373-384.) — Hessische
Sagen von A. Nodnagel in der Zeitschrift für deutsche M3rtho-
logie I, S. 30-36 u. 246—250. (Brauchbar.) — Hessische Sagen,
Sitten und Gebräuche. Herausg. von G. Kaut. Oifenbach a. M.
1846. Krähe. VIll u. 100 S. (Enthält 14 ausgeschmückte, ganz
unbrauchbare Sagen. Etwas besser sind S. 81— 100 die Sitten und
Gebräuche. Der Stoff stammt aus Starkenburg.) — Oberhessisches
Sagenbuch. Aus dem Volksmunde gesammelt von Theod. Binde-
wald. Neue vermehrte Ausgabe Frankfurt a. M. 1873. HeyderA
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Volkstümliches. 461
Zimmer. XXIV u. 242 S. (Ein Teil davon schon veröflFentlicht im
12. Bd. des Archivs für hessische Geschichte und Altertumskunde.
Darmstadt 1869 unter dem Titel : Neue Sanunlung von Volkssaf^en
a. d. Vogelsberg u. seiner nächsten Umgebung. Bindewald sam-
melte in Oberhesaen, vorzüglich im Vogelsberge. Wertvoll.) —
Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen, gesammelt von
Karl Lyncker. Kassel 1854. Bertram. XX u. 265 S.; 2. (Titel-)
Ausgabe. Kassel u. Göttingen 1860. Wigand. (Gesammelt zu-
meist in Kurhessen. Wertvoll.) — K. Lyncker, Brunnen u. Seeen
und Brunnenkultus in Hessen. Zeitachnft des Vereins f. hessische
Geschichte u. Landesk. 7. Bd. Kassel 1858. S. 193—239. (Wert-
volle, reichhaltige volkstümliche Studie, aus dem litterarischen
Nachlasse Lynckers herausgegeben.) — Volkssitte im Herzogtum
Nassau. Ein Beitrag zu deren Kenntnis von Joseph Kehrein.
Weilburg 1862. Lanz. 296 S. (Enthält reichhaltigen, treu wieder-
gegebenen Stoff an Sagen, Märchen, Bräuchen, Aberglauben und
Volksdichtungen.) — Hessische Volksdichtungen in Sagen und
Märchen, Schwänken und Schnurren etc. Gesammelt von Philipp
Hof fme ister. Marburg 1869. Ehrhardt. XII u. 184 S. (Viel
Brauchbares unter vieler Spreu. Mit Vorsicht zu gebrauchen. Der
Stoff vorzugsweise in Kurhessen gesammelt.) — Lotich, Aufzeich-
nungen aus dem Munde des Volkes und Schilderungen aus dem
Volksleben in der Umgegend von Schlüchtern. Zeitschr. d. Vereins
für hess. Geschichte u. Landesk. 6. Bd. Kassel 1854. S. 356—372.
(Brauchbares Material an Sage, Brauch und Märchen.) — Die Ur-
religion des deutschen Volkes in hessischen Sitten, Sagen, Redens-
arten, Sprichwörtern und Namen von Elard Mülhause. Kassel
1860. Fischer. 359 S.; und: Die aus der Sagenzeit stammenden
Gebräuche der Deutschen, namentlich der Hessen, von Elard Mül-
hause. In der Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte a.
Landeskunde. Neue Folge. l.Bd. Kassel 1867. S. 256— 340. (Ent-
hält reichhaltiges, zum Teil mit Vorsicht aufzunehmendes Material ;
die wissenschaftliche Einkleidung häufig bedenklich.) — Sagen und
Aberglaube aus Hessen und Nassau. Als Beitrag zu vaterländischem
Volkstume bearbeitet u. herausg. durch Hermann von P fister.
Marburg 1885. Elwert. XVI u. 172 S. (Aus den Papieren Ferdi-
nands von Pfister, der die Gebrüder Grimm mit zahlreichen Bei-
trägen an hessischen Sagen für ihre unterschiedlichen Sammlungen
bedachte, und eigenen Aufzeichnungen herausgegeben.) — Hessische
Volkssitten und Gebräuche im Lichte der heidnischen Vorzeit.
Von Wilhelm Kolbe. Marburg 1886. Elwert. III a. 124 S.
2. sehr vermehrte Auflage. Marburg 1888. 191 S. (Das vom Verf.
aus Druckwerken und dem Volksmunde zusammencrebrachte Ma-
terial ist sogleich mythologisch verarbeitet; enthält einiges Brauch-
bare.) — Sagen und Gebräuche der Gegend von Hirschhorn. Von
Langheinz. Archiv filr hessische Geschichte und Altertumskunde.
14. Bd. Darmstadt 1879 (1. Heft 1875). S. 1—88. (Fast ausschließ-
lich von Langheinz selbst gesammelt in Hirschhorn am Neckar und
dessen nächster Umgebung. Einzelne Sagen sind ausgeschmückt.
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462 Ulrich Jahn,
sonst brauchbar.) — Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch
die Brüder Grimm. Berlin 1812—14; 20. Aufl. Berlin 1885. XX
u. 704 S. (Enthält gegen 80 hessische Märchen. Siehe den Quellen-
nachweis im 3. Bd. 8. Aufl. Göttingen 1856. Dieterich. VI u. 418 S.)
Waldeok. Volksüberlieferungen aus dem Fürstentum Waldeck.
Märchen, Sagen, Volksreime, Rätsel, Sprichwörter, Aberglauben,
Sitten und Gebräuche, nebst einem Idiotikon. Von L. Curtze.
Arolsen 1860. Speyer. XIV u. 518 S. (Vortrefflich.)
Franken. E. Fentsch, Volkssage und Volksglaube in Unter-
franken. Bavaria, Landes- u. Volkskunde des Königreichs Bayern.
IV, 1. München 1866. S. 174— 207. - Derselbe, Volkssitte in Unter-
franken u. Aschaffenburg. Bavaria. IV, I. S. 227-259. — Derselbe,
Volkssage und Volksglaube in Mittel franken. Bavaria III, 2. Mün-
chen 1865. S. 900— 944. — Derselbe, Volkssitte in Mittelfranken.
Bavaria III, 2. S. 944—984. — Derselbe, Volkssage und Volks-
glaube in Oberfranken. Bavaria III, 1. München 1865. S. 267—309.
— Derselbe, Volkssitt« in Oberfranken. Bavaria III, 1. S. 309
bis 367. (Fentsch fußt auf den bestehenden Sagenwerken, bietet
aber auch manches Eigene.) — Volkskrankheiten und Volksmedizin
in Unterfranken und Aschaffenburg. Von Fried r. Aug. Vogt.
Bavaria IV, I. S. 207—226. (Brauchbar.) — Volkskrankheiten und
Volksmedizin in Oberfranken. Von Georg Friedrich Fischer.
Bavaria III, 1. S. 390—409. (Brauchbar.) — Die Zeitschrift für
deutsche Mythologie enthält I, 18—30, 295—305 Sagen aus Unter-
franken von A. Fries; III, 61—70 Fränkische Sagen (Würzburg)
von J. Ruttor; IV, 19 — 24 Sagen und Bräuche aus der Main- und
Taubergegend von Alexander Kaufmann. — Die Sagen des
Spessarts. gesammelt von Adalbert von Herr lein. Aschaffen-
burg 1851. Krebs. IV u. 273 S.; 2. Aufl. herausg. von Joh. Schober.
Aschaffenburg. Krebs. XVI u. 420 S. (Die Sagen sind ausge-
schmückt, die Sammlung nur zum kleinen Teil brauchbar.) — Der
Sagenschatz des Frankenlandes. Herausg. von Ludwig Bechstein.
1. Teil (mehr nicht erschienen). Würzburg 1842. Voigt & Mocker.
314 S. Sondertitel: Die Sagen des Rhöngebirges und des Grab-
feldes. (Zum Teil aus Schriftquellen geschöpft, zum Teü volks-
mündlich gewonnen. Wie alle Bechsteinschen Sammlungen von
mäßigem Werte.) — Volkstümliches aus dem Fränkisch- Henneber-
gischen. Gesammelt und herausg. von Balthasar Spieß. Mit
einem Vorworte von Reinhold Bechstein. Wien 1 869. Braumüller.
XVI u. 216 S. (Enthält Idiotismen, Sprichwörter. Reime u. Spiele,
Rätsel, Bauern- u. Wetterregeln, Bräuche u. Volksglaube, Namenbuch.
Wertvoll.) — G. F. Stertzing, Kleine Beiträge zur deutschen
Mythologie. Zeitschrift für deutsches Altertum. 3. Bd. Leipzig
1843. S. 358—368. (Enthält Zaubersprüche, Aberglauben u. Bräuche
aus dem Jüchsethale im fränkischen Teile der Grafschaft Henne-
berg.) — Der Sagenkreis des Fichtelgebirges von Ludwig Zapf.
Hof (o. J.). Büching. XVI u. 186 u. VI S. (Nur zu geringem Teile
aus der mündlichen Ueberlieferung geschöpft, unwissenschaftlich
gehalten, wenig brauchbar.) — Volksmedizin und Aberglaube im
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Volkstümliches. 463
Frankenwalde. Nach zehiyahriger Beobachtung dargestellt von
Flügel. München 1863. Lentner. VIII u. 81 S. (Vortrefflich.)
— Zur Naturgeschichte des Volkes. Aberglaube auf dem Franken-
walde. Von Franz Harnisch. Mitteil, aus dem Archive des
voigtländ. Altertumsforschenden Vereins in Hohenleuben, nebst dem
38. u. 39. Jahresber. Weida (1870). S. 33—49. (Brauchbare Samm-
lung von Volksglaube, Brauch und Sage aus dem reußischen Teile
des Frankenwaldes.) — Volkstümliches aus Sonneberg im Meininger
Oberlande. Von August Schleicher. Weimar 1858. Komm.-
Verlag von Böhlau. XXVI u. 158 S. (Die vortreffliche Sammlung
beschränkt sich auf die Stadt Sonneberg; sie bietet außer Mund-
artlichem Sagen und Erzählungen, Sprich woi"te, Rätsel, Sprüche,
Kinderreime, Volkslieder, Bräuche und Aberglauben, Melodien.)
Thüringen und Sachsen. Der Sagenschatz und die Sagen-
kreise des Thüringerlandes. Herausg. von Ludwig Bechstein.
1. Teil. Hildburghausen 1835. Kesselring. 208 S. (Sondertiteh
Die Sagen von Eisenach und der Wartburg, dem Hörseelberg und
Reinhardsbrunn.); 2. Teü. 1836. XXVI u. 170 S. (Sondertitel: Die
Sagen aus Thüringens Frühzeit, von Ohrdruf und dem Inselberge.) ^
3. Teü. Meiningen u. Hildburghausen 1837. XIV u. 240 S. (Sonder-
titel: Die Sagen aus Thüringens Vorzeit, von den drei Gleichen,
dem Schneekopf und dem thüringischen Henneberg. Nebst einer
Abhandlung über den ethischen Wert der deutschen Volkssagen.) ;
4. Teil. 1838. XVI u. 239 S. (Sondertitel: Die Sagen des K>flF-
häusers und der Güldenen Aue, des Werragrundes und von Lieben-
stein und Altenstein.) Neue Ausgabe der 4 Teile 1862. (Bechstein
hat das Verdienst, Sinn und Liebe für die heimatliche Sage in
Thüringen geweckt und gepflegt zu haben. Seine Sammlungen
sind für das größere Publikum berechnet und zum Teil nicht frei
von romantischem Beiwerk; bei der Benutzung von Schriftquellen
erlaubte Bechstein sich mehrfach Zusätze und Abänderungen.) —
Thüringer Sagenbuch. Von Ludwig Bechstein. 2 Bde. Wien
u. Leipzig 1858. 2. Auflage Leipzig 1885. Koch. 1. Bd. VIII u.
272 S.; 2. Bd. 311 S. (Umfaßt ganz Thüringen und das Voigtland.
Wert, wie das vorige.) -- Kleine Beiträge zur* deutschen Mytho-
logie, Sitten- und Heimatskunde in Sagen und Gebräuchen au»
Thüringen. Gesammelt und herausg. von August Witzschel.
1. Teil: Sagen aus Thüringen. Wien 1866. Braumüller. XX u.
324 S.; 2. Teil: Sagen, Sitten u. Gebräuche aus Thüringen. Herausg.
von G. L. Schmidt in Eisenach. Wien 1878. Braumüller. XVI u.
342 S. (Das reichhaltige Sagenmaterial zum großen Teile Schriit-
quellen entnommen, Aberglaube und Brauch durch Fragebogen
zusammengebracht.) — August Witzschel, Sitten U.Gebräuche
aus der Umgegend von Eisenach. Eisenach 1866. 4. Jahresbericht
über das Karl-Friedrichs-Gyninasium zu Eisenach von Ostern 1865
bis Ostern 1866. (In das vorige Werk dess, Verf. hineingearbeitet.)
— Sitten und Gebräuche bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen
in Thüringen. Nach mündlichen, brieflichen und aktlichen Quellen
bearbeitet von Franz Schmidt. Weimar 1863. Böhlau. VHI u.
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464 Ulrich Jahn,
115 S. (Reichhaltig.) — Segen und Zauberformeln, gesammelt in
Thüringen von Karl von Auen. Zeitschrift für thüringische Ge-
schichte und Altertumskunde. Jena 1852. S. 184—196. (Enthält
41 Zauberformeln.) — Thüringische Sagen. Zur Kritik der späteren
Geschichtschreibung bis auf Rothe. Von Otto Posse. Sybels
historische Zeitschrift. 31. Bd. München 1874. S. 83—72. (Bringt
nichts Neues; weist nur die Wertlosigkeit der historischen Sagen
für die Geschichte nach und darum auch hier von Interesse.) —
Sagen aus dem Werrathal von E. Heusinger. Eisenach 1841.
Bärecke. 180 S. (Enthält 40 Sagen aus dem Werrathale, als Er-
gänzung zu Bechsteins Sagen; wissenschaftlich noch tiefer zu stellen,
als diese.) — Sagen der mittleren Werra nebst den angrenzenden
Abhängen des Thüringerwaldes und der Rhön. Von G. L. Wncke.
Salzungen 1864. Scheermesser. 2 Bde. 1. Bd. XVI u. 150 S,;
2. Bd. VIII u. 176 S. (Die von Wucke selbst dem Volksmunde
entnommene Sagensammlung stammt aus dem Werrathale von
Meiningen bis Vacha. Bd 1 giebt 202 Sagen vom rechten Werra-
ufer, Bd. 2 deren 241 vom linken Werraufer. Die Sammlung ist zwar
mehr für das größere Publikum berechnet, immerhin brauchbar
und übertrifft die Arbeiten Bechsteins und Heusingers um ein be-
deutendes.) — Eichsfeldische Gebräuche und Sagen. Zusammen-
gestellt von Heinrich Wald mann. Heiligenstadt 1864. 4. Progr.
des königl. kathol. Gymnasiums zu Heiligenstadt. 26 S. (Brauch-
bare, auf eigener Anschauung beruhende, leider nicht sehr ein-
dringende LoMsamralung.) — Sitten und Gebräuche in Duderstadt.
Von einem aus Duderstadt gebürtigen Geistlichen. In der Zeitschrift
für deutsche Mythologie II , S. 106—109. (Brauchbar.) — Sagen
und Märchen aus dem Helmegau und seiner Umgebung, gesammelt
von A. Rackwitz. Nordhausen 1886. Selbstveriag. 59 S. (Ent-
hält nur Sagen (keine Märchen); ist ein Probeheft und von Rack-
witz herausgegeben, um Fingerzeige zu geben, wie in Thüringen
und im Harz Sagen gesammelt werden müssen. Das Gebotene ist
gut.) — Sagen der Grafschaft Mansfeld und ihrer nächsten Um-
gebung. Gesammelt von Hermann Größler. Eisleben 1880.
Komm.- Verlag von Mähnert. XVI u. 258 S. (Der Stoff ist zum
größten Teil von Gymnasiasten u. Seminaristen zusammengetragen,
der Rest Druckschriften entnommen. Von mittelmäßigem Werte.)
— Die Sagen der Stadt Erfurt. Von H. Kruspe. Erfurt 1877.
Weingart. 1. Bändchen IV u. 120 S.; 2. Bändchen IV u. 92 S.
(Enthält 160 Sagen von Erfurt und seiner nächsten Umgebung.
Wenn auch das Meiste aus Schriftquellen geschöpft ist, so ist doch
von Kruspe auch viel Brauchbares dem Volksmunde entnommen
worden.) — Volkstümliches aus dem Saalthal. 1. Heft (mehr nicht
erschienen): Aberglaube und Volksmittel. Von Viktor Lommer.
Oriamünde 1880. Heyl. VIII u. 60 S. (Reichhaltige, treu wieder-
gegebene Sammlung von Zauberglaube und Brauch im altenburgi-
schen Gerichtsamt Kahla.) — Ueber Kleidertracht, Sitten und Ge-
bräuche der altenburgischen Bauern. Mit 12 ausgemalten Kupfern.
Von C. F. Kronbiegel. Altenburg 1801. XII u. 158 S.; 2. Aufl.
Digitized by VjOOQ IC
Volkstümliches. 465
mit 15 ausgemalten Kupfern und 2 Blatt Musik. Altenbui'g 1806.
(Enthält außer der ausführlichen Beschreibung der Trachten und
Gewohnheiten der Altenburger wertvolles Material Über Volks-
brauche, zumal bei Hochzeiten.) — Sitten, Gebräuche, Trachten,
Mundart, häusliche und landwirtschaftliche Einrichtungen der alten-
burgischen Bauern. 3. gänzlich umgearbeitete Auflage der Kron-
biegelschen Schrift von Karl Friedrich Hempel. Mit einem
Fürwort von dem Bauer und Anspanner Zacharias Kresse in Dobra-
schütz an seine Stammesgenossen. Nebst 10 kolor. Lithographien.
Altenburg 1839. Schnuphase. XVIII u. 127 S. -- Medizinisch-
physikalisch-statistische Topographie der Pflege Reichenfels. Ein
Beitrag zur Charakteristik des voigtländi8<£en Landvolks von
Julian Schmidt. Aus dem Leben und für das Leben. Nebst
einer lithogr. Abbildung der Tumelle. Leipzig 1827. Wienbrack.
XVI u. 168 S. (Enthält in seiner zweiten Hälfte sehr reichhaltiges,
treu wiedergegebenes Material an Volksglaube, Sitte, Brauch, Ge-
wohnheit, Tracht Medizin und Sage.) — Holzlandsagen. Sagen,
Märchen und Geschichten aus den Vorbergen des Thüringerwaldes.
Gesammelt und erzählt von Kurt Greß. Leipzig 1870. Wartig.
VIII u. 136 S. (Die Sammlung gehört dem Westkreis des Herzog-
tums Altenburg an. Von sehr geringem Werte.) — Volkssagen
aus dem Orlagau, nebst Belehrungen aus dem Sagenreiche, mit-
geteilt von W. Born er. Altenburg 1838. Heibig. IV u. 252 S.
(Wertvoller Sagenstoff aus dem Orlagau, zumal was Perchta, Holz-
weiber und Kobolde angeht. Störend wirkt die dialogische Form,
in die der Verf. seine Sammlung gekleidet hat.) — Sagenbuch des
Voigtlandes von Robert Eisel. Gera 1871. Griesbach, VI u. 433 S.
(Gesammelt im nichtsächsischen Voig^lande. Die einschlägige Lit-
teratur ist erschöpfend benutzt; über die Hälfte der wertvollen
Sammlung wurde von dem Verf. dem Volksmunde entnommen.) —
Volksbrauch, Aberglauben, Sagen und andere alte Ueberlieferungen
im Voigt lande, mit Berücksichtigung des Orlagaus und des Pleißner-
landes. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Voigtländer von
Job. Aug. Ernst Köhler. Leipzig 1867. Fleischer. VIII u.
652 S. (Sehr reichhaltige Sammlung, doch nur weniy dem Volks-
munde unmittelbar entnommen. Märchen enthält die Sammlung
nicht.) — Aberglauben, Sitten und Gebräuche des sächsischen Ober-
erzgebirges. Ein Beitrag zur Kenntnis des Volksglaubens und
Volkslebens im Königreich Sachsen. Abhandlung, zum Programm
der Realschule zu Annaberg für 1862 gehörig, von Moritz Spieß.
Dresden 1862. 4. Burdach. 80 S. (Reichhaltiges Material, dem Verf.
durch seine Schüler zugetragen.) — Abergläubische Meinungen
und Gebräuche der Anwohner des Erzgebirges. Von J. G. Kohl.
Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte. 1875. S. 513—533 und
718—742. (Der reichhaltige, wertvolle Stoff ist von dem Verf. selbst
gesammelt in den kleinen Strohflechterdörfem im Südwesten von
>resden.) — Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Zum ersten-
mal in der ursprünglichen Form aus Chroniken, mündlichen und
sciiriftlichen Ueberlieferungen und anderen Quellen gesammelt und
Anlettnng zur deutscben Landen- und Volkaforschnng. 30
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46G .Ulrich Jahn,
heräuBg". von Johann Georg Theodor GräBe. Dresden 1855.
2. verbesserte und sehr vermehrte Auflage. Mit einem Anhang:
Die Sagen des Herzogtums Sachsen- Altenburg. 1. Bd. Mit Holz-
schnitten. Dresden 1874. Schönfeld. XXXIV u. 552 S.; 2. Bd.
1874. 428 S. (Unbedeutend. Wie Bechstein zu beurteilen.)
LansitE. Yolkssagen und volkstümliche Denkmale der Lausitz
von Heinrich Gottlob Gräve. Bautzen 1839. Reichel. 144S.
(Wenig brauchbar.) — Volkslieder der Wenden in der Ober- und
Niederlausitz. Aus Volksmunde aufgezeichnet und mit den Sang-
weisen, deutscher Uebersetzung, den nötigen Erläuterungen, einer
Abhandlung Über die Sitten und Gebräuche der Wenden und einem
Anhange ibrer Märchen, Legenden und Sprichwörter herausg. von
Leopold Haupt und Johann Ernst Schmaler. 1. Teil:
Volkslieder der Wenden in der Oberlausitz. Grimma 1841. 4. XVI
u. 892 S. und 5 kolor. Tafeln Kostümbilder; 2. Teil: Volkslieder
der Wenden in der Niederlausitz. Grimma 1843. 4. XH u. 332 S.
und eine Karte. (Enthält im 2. Teile S. 157—274 brauchbares u.
zuverlässiges Material an Märchen, Sitten, Bräuchen u. Aberglauben
der Wenden.) — Sagenbuch der Lausitz. Gekrönte Preisschrül
von Karl Haupt. 1. Teil: Das Geisterreich. Separatabdruck
aus Band 40 des Neuen Lausitzischen Magazins. Leipzig 1862.
Engelmann. XXVIII u. 279 S.; 2. Teil: Die Geschichte. Separat-
abdruck aus Band 40 des Neuen Lausitzischen Magazins. Lapzig
1863. Engelmann. 245 S. (Mit geringen Ausnahmen gedruckten
und handschriftlichen Quellen entnommen.) — Wendische Volka-
sagen und Gebräuche aus dem Spreewald. Von Willibald
von Schulenbure. Leipzig 1880. Brockhaus. XXX u. 312 S.
(Der wertvolle, zuverlässige Stoff von dem Verf. selbst fast durch-
weg in Burg im Spreewalde gesammelt. Abschnitt IV, S. 57 — 78
enuiält auch Märchen.) — Wendisches Volkstum in Sage, Brauch
und Sitte. Von Willibald von Schulenburg. Berlin 1882.
Nicolai. X u. 208 S. (Der an Wert dem vorigen gleiche Stoff an
Sagen, Bräuchen und Märchen [Abschnitt IV. S. 13 — 43] ist in der
gEinzen Lausitz gesammelt. Auch Mitteilungen aus rein deutschen
örfem haben Aufnahme gefunden.) — Wendische Sagen, Märchen
und abergläubische Gebräuche. Gesammelt und nacherzählt von
Edm. Veckenstedt. Graz 1880. Leuschner & Lubensky. XIX
u. 499 S. (Der Stoff ist zum größten Teil in der deutsch redenden
Niederlausitz von VolksBchullehrem, Schülern u. s. w. gesammelt;
weniger berücksichtigt ist die Oberlausitz. Reichhaltiges Material,
aber unzuverlässig. Mit Vorsicht zu gebrauchen.) — Die Mittei-
lungen der Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie und Ur-
geschichte, Lübben 1887 ff., enthalten 3. Heft (1887) S. 146—152
Sagen; 4. Heft (1888) S. 238—282 Sagen, Brauch u. Glaube und
zwar S. 238 — 262 Sagen aus dem Gubener Kreise, gesammelt von
KarlGander; S. 262 — 267 Sagen, die sich an das alte Schloß
und den Stockshof bei Lieberose anschließen, gesammelt von
Krüger; S. 267— 270 Aberglaube aus der Gegend des Schwieloch-
sees und von Butzen, mitgeteilt von Lieber; S. 270—282 Fest-
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Volkstümliches. 467
gebrauche, vornehmlich aus dem nördlichen Teil des Gubener
Kreises, gesammelt Ton Karl G an der, mit Zusätzen für die Um-
gegend von Lübben, gesammelt von Wein eck.
Schlesien (Prenssisch- und OesterreicMsch-). Schlesien in Sage
u. Brauch. Geschildert von Philo vom Walde (Reinelt). Mit einem
Vorwort von Karl Weinhold. Berlin 1884. SenfT. XII n. 160 S.
(Leistet nicht, was der etwas anspruchsvolle Titel verspricht, immer-
hin ein brauchbarer Beitrag zur Volkskunde Schlesiens.) — Die
Sagen, der Aberglaube und abergläubische Sitten in Schlesien.
Mit einem Anhang über Prophezeiungen. Gesammelt, bearbeitet
und herausg. von Ludwig Grabinski. Schweidnitz (o. J.). Brieger
& Gilbers. VI u. 67 S. (Wenig brauchbar.) —Rübezahl. Ueber
den Rübezahl besitzen wir zur Zeit noch keine den Ansprüchen
der Wissenschaft genügende Sammlung. Am brauchbarsten sind
noch immer die beiden Schriften von J. Praetorius: Daemono-
logia Rubinzalii Silesii. 1662. 3. Aufl. Leipzig 1668—73. Dehlers,
und Satyrus Etymologicus oder der reformierende und informierende
Rübenzahl in hundert Namens derivationibus sampt einer Com-
pagnie der possierlichsten Historien. 1672; femer das sog. Koppen-
buch. Eirschberg 1736. (Die genannten Schriften des Praetorius
sind als eine vollständige Sammlung der Gebirgssagen anzusehen,
in welchen überall statt der Zwerge, Riesen, Hexen u. s. w., statt
des Nachtjägers, Teufels, Koboldes u. s. w. von Praetorius die
Person des Kübezahl eingesetzt ist; im übrigen ließ er die einzel-
nen Sagen fast durchweg unverändert. Aus dem Grunde beide
Werke als älteste deutsche Sammlung wirklicher Volkssagen eth-
nisch von hohem Werte.) — Von neueren Sammlungen der Rübe-
zahlsagen mag hier nur verwiesen werden auf: Rübezahl, der Herr
des Gebirges. Volkssagen aus dem Riesengebirge. Für Jung und
Alt erzählt vom Kräuterklauber (Karl Friedrich Mosch).
2. Aufl. Leipzig 1847. Jurany. (Die meisten Sagen sind von Mosch
tendenziös zugestutzt.) — Durch: Rübezahl, seine Begründung in
der deutschen Mythe, seine Idee und die ursprünglichen Rübezahl-
märchen. Hohenelbe 1884. Im Selbstverlage des Oesterr. Riesen-
gebirgsvereins. Komm.-Verlag bei Dominicus in Prag. IV u. 170 S.
ist der Wissenschaft nichts gewonnen. — Volkstümliches a. Oesterr.-
Schlesien, ges. u. herausg. von Anton Peter. 1. Bd.: Kinderlieder
und Kinderspiele, Volkslieder und Volksschauspiele, Sprichworte.
Troppau 1865 ; 2. Bd. : Sagen und Märchen, Bräuche und Volksaber-
glauben. Troppaul867; 3. Bd.: Leben der Oppaländler in Vergangen-
heit u. Gegenwart. Troppau 1872 u. 73. (Reichhaltig u. brauchbar.)
Posen. Bisher nichts von Belang erschienen. In Vorbereitung
von O. Knoop in Gnesen eine Sammlung der Volkssagen Posens.
SOddeutschland.
Elsass-Lothringeii. Traditions populaires, croyances supersti-
tieuses, usages et coutumes de Tancienne Lorraine. Recueilbs par
M. Richard. Deuxi^me l^dition. Remiremont 1848. Mougin.
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4t)8 Ulrich Jahn,
270 S. (Teil I, S. 7—46 Sagen und Legenden, fast durchweg
Schriftquellen entnommen; S. 47 — 268 Volksaberglauben, Bräuche
und damit zusammenhängende Sagen, alphabetisch nach Stichworten
geordnet. Reichhaltig und brauchbar.) — Die Sagen des Elsa^es,
zum erstenmal getreu nach der Yolksüberlieferung, den Chroniken
und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen gesammelt
und erläutert von August Stöber. Mit einer Sagenkarte von
J. Ringel. St. Gallen 1852. ScheitHn & ZoUikofer. XXIV u. 522 S.
2. (Titel-) Ausgabe. St. Gallen 1858. (Wertvoll, aber nicht ein-
dringend genug.) — Sagen aus dem Elsaß von August St5ber.
Zeitschrift für deutsche Mythologie I, 399 — 410. (Nachtrag zu dem
vorigen.) — Elsässisches Volksbüchlein. Kinder- und Volksliedchen,
Spielreime, Sprüche und Märchen^ herausg. von August Stöber.
Straßburg 1842. 119 S. (Enthält 10 treu wiedergegebene Märchen.)
— *Lambs, Ueber den Aberglauben im Elsaß. Straßburg 1880.
103 S. — Faßnachtsgebräuche in Elsaß-Lothringen. Gesammelt
und erläutert von He ino Pfanne nschmid. Eolmar 1884. Barth.
(Gesammelt im Elsaß durch Fragebogen. Die Faßnachtsgebräuche
werden in verarbeiteter Form dargeboten.) — Eine Menge volks-
tümlichen Materials ist niedergelegt in der Alsatia. Jahrbuch für
elsässlsche Geschichte, Sage, Altertumskunde, Sitte, Sprache und
Kunst. Ilerausgeg. von August Stöber. Mülhausen 1850—67.
Neue Folge. Mülhausen u. Kolmar 1861 — 76. August Stöber,
Neue Alsatia. Beiträge zur Landeskunde, Geschichte, Sitten- und
Rechtskunde des Elsasses. Ausgewählt aus 50 Jahren litterarischer
Thätigkeit des Verfassers (1834—1884). Zugleich Schlußband der
Alsatia. Mülhausen i. E. 1885. Petry. 4 Bl. u. 303 S.
Baden. Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzen-
den Gegenden. Gesammelt und herausg. von Bernhard Baader.
Karlsruhe 1851. Herder. XVIII u. 413 S. (Ein großer Teil der
wertvollen Sammlung, die vom Verf. selbst dem Volksmunde ent-
nommen ist, schon veröffentlicht in den Jahrgängen 18:35 — 39 von
Mones Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit.) — Neugesam-
melte Volkssagen aus dem Lande Baden und den angrenzenden
Gegenden von Bernhard Baader. Zugleich als Nachtrag zu
des Verf. Werke: Volkssagen aus dem Lande Baden. Karlsruhe
1859. Geßner. Xu. 115 S. (Wertvoll.) — Badisches Sagenbuch.
Eine Sammlung der schönsten Sagen, Geschichten, Märchen und
Legenden des badischen Landes aus Schrifturkunden, dem Munde
des Volkes und der Dichter. Herausg. von August Schnezler.
2 Bde. Karlsruhe 1846. Creuzbauer & Hasper. 1, Abteil.: Vom
Bodensee bis zur Ortenau. XXXII u. 496 S.; 2. Abteil.: Von der
Ortenau bis zur Maingegend. 667 S. (Der Verf. nennt sein Werk
selbst eine romantische Hauspostille; doch benutzte er das Manu-
skript der wertvollen, leider ungedruckt gebliebenen Sammlung des
Obersten Medicus, u. darum immerhin beachtenswert.) — Schreiber,
Zur Geschichte u. Statistik des Aberglaubens. Aus dem Kinzigthale.
Aus dem Albthale. Aus dem Kleggau u. Höhgau. Schreibers Taschen-
buch. l.Bd. 1839. S. 318—320; 2. Bd. 1840. S.273— 279. (Unbedeutend.)
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Volkstümliches. 469
Hohenzollem. Beiträge zur Mythologie u. Geschichte Hohen-
zollems. Von Theodor Thele. HohenzoUersche Blätter. Hechingen
1881. Nr. 133—186 u. 1882. Nr. 2—86 in zwangloser Reihe von
Aufsätzen. (Reichhaltiges Material, von den Lehrern Hohenzollenis
eingesandt. Thele starb mitten in der Arbeit, sie ist nach seinem
Tode nicht fortgesetzt worden.)
Schwaben. Deutsche Sagen, Sitten u. Gebräuche aus Schwaben,
gesammelt von Ernst Meier. 1. Teil. Stuttgart 1852. XXXII u.
324 S.; 2. Teil. Stuttgart 1852. S. 325—530. Metzler. (Reichhaltige,
zuverlässige Sammlung, zum größten Teile im Schwarzwald- und
Neckarkreise zusammengebracht.) — Schwab. Volkssagen, Sitten u.
Gebräuche von Ernst Meier. Zeitschrift für deutsche Mythologie
I, 438 — 448 (Nachtrag zu dem vorigen). — Deutsche Volksmärchen
aus Sehwaben. Aus dem Munde des Volks gesammelt u. herausg.
von Ernst Meier. Stuttgart 1852. Scheitlin. XII u. 323 S.;
3. Aufl. 1864. (Wertvoll, wie die vorigen. Die Märchen von Meier
selbst aus dem Volke geschöpft.) — Volkstümliches aus Schwaben.
Herausg. von Anton Birlinger. 1. Bd. Freiburg i. Br. 1861.
Herder. VIII u. 534 S.; 2. Bd. 1862. XXXVllI u. 482 S. (Band 1
auch unter dem Titel: Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Gesam-
melt und herausg. von A. Birlinger und M. R. Bück; Band 2
unter dem Titel: Sitten und Gebräuche. Gesammelt und herausg.
von Anton Birlinger. Gesammelt ist fast ausschließlich in Ober-
schwaben, zwischen Bodensee, Hier und Donau, und in Nieder-
schwaben, soweit es württembergisch ist. Der reichhaltige Stoff
ist dem Volksmunde entnommen und treu wiedergegeben.) — Aus
Schwaben. Sagen, Legenden, Aberglauben, Sitten, Rechtsbräuche,
Orteneckereien, Lieder, Kinderreime. Neue Sammlung von Anton
Birlinger. 2 Bde. Wiesbaden 1874. Killinger. 1. Bd.: Sagen,
Legenden, Volksaberglauben. VIH u. 512 S.; 2. Bd.: Sitten und
Rechtsbräuche. 535 S. (Aus dem Volksmund, aus handschriftlichem
Material und Druckwerken geschöpft. Schwaben ist weiter gefaßt,
als in dem Volkstümlichen, und begreift: Baden, Württemberg,
Hohenzollei-n und die bayrische Provinz Schwaben; das Haupt-
gebiet bleibt jedoch auch diesmal Württemberg. Sehr reichhaltig
und wertvoll.) — Medizinischer Volksg:lauben und Volksaberglauben
aus Schwaben. Eine kulturgeschichtliche Skizze von M. R. Bück.
Ravensburg 1865. Dom. 72 S. (Reichhaltig und treu wieder-
gegeben.) — Magnus Jocham, Sagen aus Schwaben-Neuburg.
Bavaria, Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern II, 2.
München 1863. S. 785—812. (Etwas oberflächlich.) — FeLDahn,
Volkssitte (in Schwaben und Neuburg). Bavaria II, 2. S. 827—840.
(Dahn benutzte außer den vorhandenen Sammlungen das wertvolle
handschriftliche Material Joseph Lentners.) — Friedrich Christ.
Schmid, Volkskrankheiten und Volksmedizin (in Schwaben und
Neuburg). Bavaria II, 2. S. 875-903. (Ethnisch unbedeutend.) —
Einschlägiges Material aus Schwaben im weitesten Sinne enthält
endlich &e Alemannia, Zeitschr. f. Sprache, Litteratur u. Volksk. des
Elsasses u. Oberrheins, herausg. von Ant. Birlinger. Bonn 1873 ff.
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470 Ulrich Jahn,
Ober- und Niederbayern. Aus dem Lechrain. Zur deutschea
Sitten- und Sagenkunde. Von Karl Freiherrn vonLeoprechting.
München 1855. Litterarisch-artistische Anstalt. XII u. 296 S. An-
hang 16 S. Musikbeilage. (Vortreffliche Sammlung, v. Leoprechting
sammelte im mittleren Lechrain. Der Lechrain ist das Lanc^
welches sich auf beiden Seiten des Lechs von Füßen bis Rain er-
streckt.) — Volksmedizin und Aberglaube in Oberbayerns Gegen-
wart und Vergangenheit. Von M. Höfler. Mit einem Vorworte
von Friedrich von Hellwald. München 1888. Stahl sen. XII
u. 244 S. u. 2 Tafeln in Photographiedruck. (Giebt aus Schrifl-
qu eilen und dem Volksmunde im bayrischen Oberlande, zumal im
Isarwinkel, geschöpftes Material an abergläubischem Brauch, so-
weit sich derselbe auf Krankheiten bezieht, in verarbeiteter Form.
Zu vermissen ist oft eine genauere Angabe des Fundortes.) — Alt-
bayrischer Sagenschatz zur Bereicherung der indogermanischen
Mythologie von S e p p. Mit 7 Illustrationen. München 1876. Stahl.
XVI u. 735 S. (Enthält in 183 Nummern manches Brauchbare an
bayrischen Sagen und Märchen, leider in einen Wust von mytho-
logischen Erklärungen verarbeitet.) — Die bayrischen Volkssagen
von Konrad Maurer. Bavaria, Landes- u. Volkskunde d. König-
reichs Bayern I. 1. München 18(50. S. 292—339. (Umfaßt Ober-
und Niederbayern; beruht lediglich auf dem bereits gedruckten
Sagenmaterial.) — Joseph Wolfsteiner, Volkskrankheiten und
Volksmedizin (in Oberbayern) und Volkskrankheiten und Volks-
medizin (in Niederbayern). Bavaria 1, 1. München 1860. S. 444
bis 473, und Bavaria L 2. München 1860. S. 1023—1032. (Un-
bedeutend.) — Fei. Dahn, Volkssitte (in Oberbayern) und Volks-
sitte (in Niederbayern). Bavaria I, 1. S. 363—423 u. I, 2. S. 990
bis 1006. (Außer Scliriftquellen ist das wertvolle handschriftliche
Material Joseph Lentners benutzt.) — Sagen und Aberglaube aus
Altbayern von H. Holland in der Zeitschrift für deutsche Mytho-
logie I, 447 -453 u. II, 99—103.
Oberpfalz. Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen. Von Fr.
Schönwerth. 1. TeiL Augsburg 1857. Rieger. XH u. 448 S.;
2. Teil. Augsburg 1858, 460 S.; 3. Teil, Augsburg 1859. 371 S.
(Reichhaltiger, unmittelbar dem Volksmunde entnommener Stoff,
zum Teil jedoch mit Vorsicht aufzunehmen. Wertvolle, umfang-
reiche Nachträge sollen sich in dem handschriftlichen Nachlasse
Schönwerths finden.) — Die Sagen der Oberpfalz u. Volkssitte in der
Oberpfalz. Von EduardFentsch. Bavaria, Landes- u. Volkskunde
des Königr. Bayern II, 1. München 1863. S. 217—253 u. S. 253—324.
(Fußt hauptsächlich auf Schönwerth; bietet aber auch eigenes.)
Königreich Bayern. Bayrische Sagen und Bräuche. Beitrag
zur deutschen Mythologie von Friedrich Panzer. 1. Bd. mit
4 Kupfertafeln. München 1848. Kaiser. VI u. 407 S.; 2. Bd. mit
4 Kupfertafeln. Mit einem Vorwort von E. L. Rochholz. München
1855. XXIV u. 595 S. (Panzer brachte das wertvolle Material aus
allen Teilen des Königreichs Bayern, inkl. Rheinpfalz, zusammen.
Beiden Bänden sind Erklärungen beigefügt, doch ist in den volks-
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Volkstümliches. 471
tümlichen Stoff selbst keine Deutung gelegt.) — Sagenbuch der
bayrincheu Lande. Aus dem Munde des Volkes, der Chronik und
der Dichter herausg. von A. Schöppner. 3 Bde. München.
Rieger. 1. Bd. XVI u. 496 S. 1852; 2. Bd. VIII u. 471 S. 1852;
3. Bd. VIII u. 470 S. 1853. Neue Auflage 1873. (Enthält eben-
falls Sagen (1368) aus allen Teilen Bayerns, iiüfU Rheinpfalz ; doch
ist das Werk für das große Publikum berechnet und, zumal im
1. Bande, mit einem großen Ballast von Balladen und Romanzen
behaftet. Der Wert der Sammlung gleicht dem der Bechstein-
schen, Gräßeschen u. s. w. Arbeiten.) — Volksmedizin und medi-
zinischer Aberglaube in Bayern und den angrenzenden Bezirken,
begründet auf die Geschichte der Medizin und Kultur. Von G. Lam-
mer t. Mit historischer Einleitung und einer lithogr. Tafel. Würz-
burg 1869. Julien. VI u. 274 S. (Vortreffliche, reichhaltige Sammlung.)
Böhmen und Mähren. Sagenbuch von Böhmen und Mähren.
Von JosephVirgil Grohmann. 1. Teil (mehr nicht erschienen) :
Sagen aus Böhmen. Prag 1863. Calvesche Erben. XX u. 324 S.
Sondertitel: Sagen aus Böhmen. (Berücksichtigt Deutsche und
Czechen. Die Sagen zum größten Teile dem Volksmunde ent-
nommen, von Schülern und Freunden dem Verf. eingesandt.) —
Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen und Mähren. Gesammelt
und herausg. von Joseph Virgil Grohmann. 1. Bd. (mehr nicht
erschienen). Prag u. Leipzig 1864. X u. 250 S. Auf Kosten des
Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen. (Berücksichtigt
Deutsche und Czechen. Die Sammlung umfaßt Böhmen und Mäh-
ren; der Stoff ist Schriftquellen und dem Volksmunde entnommen.
Letzteres gilt zumal von den deutschen Stücken. Gesammelt ist
in derselben Weise, wie bei den Sagen.) — Pestkalender aus Böh-
men. Ein Beitrag zur Kenntnis des Volkslebens und Volksglaubens
in Böhmen. Von 0. Frh. von Reinsberg-Düringsfeld. Prag
1862. Kober. XVI u. 627 S, Neue (Titel-) Ausgabe 1864. (Reich-
haltiges Material an kirchlichen und bürgerlichen Festen; Volks-
glaube und Brauch werden nur gestreift. Berücksichtigt Deutsche
und Czechen.) — Die Deutschen in Böhmen. Geschildert in geo-
graphisch-statistischer, staatswissenschaftlicher, volkstümlicher und
geschichtlicher Beziehung von F. A. Schmalfuß. Mit einer ethno-
graphischen Karte des Königreichs Böhmen. Prag 1851. Ehrlich.
XII u. 321 S. (Enthält S. 63—103 brauchbares Material über Volks-
leben, Glaube und Brauch der Deutschen in Böhmen.) — Aus dem
Böhmerwalde. Von Joseph Rank. Leipzig 1843. Einhorn. VIII u.
299 S. (Gesammelt in der deutschen Gegend, südlich von Tauß. Die
Sagen u. Märchen ausgeschmückt, das Material an Bräuchen, Aber-
glauben, Sitten u. Gewohnheiten dagegen reichhaltig und brauch-
bar.) — Jul. Ernst Födisch, Aus dem nordwestlichen Böhmen.
Beiträge zur Kenntnis deutschen Volkslebens in Böhmen. Progr.
der deutschen Oberrealschule in Prag. Prag 1869. 30 S. (Enthält
S. 17 — 30 brauchbares Material an Volksglauben, Brauch und
Sage.) — *P. A. Schmitt, Sagen aus Etbogen und Umgegend.
Elbogen 1864. — *Jul. Schuldes, NordÖöhmische Volkssagen in
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472 Ulrich Jahn,
ihrer Bedeutung für die germanische Mythologie und die Geschichte
des Landes. 1. Teil. Tetschen 1879. Selbstverlag. III u. 90 S. —
*M. Urban, Notizen zur Heimatskunde des Gerichtsbezirkes Plan.
Ein Beitrag zur Geschichte Deutsch-Böhmens. Tachau 1884. Holub.
(Enthält Sacen, Lieder, Sitten.) — Kleinere Abhandlungen über
Volkstümliches in Böhmen in den Mitteilungen des Vereins f&r
Geschichte der Deutschen in Böhmen.
Ungarn. Beitrag zur deutschen Mythologie und Sittenkunde
aus dem Volksleben der Deutschen in Ungarn. Als Aufmunterung
zu größeren Sammlungen in den deutschen Gegenden Ungarns.
Mitgeteilt durch K.J. Schröer. Preßburg 1855. 4. II u. 40 S. Aus
dem 5. Jahresprogramm der öflfentlichen Oberrealschule zu Preß-
burg. Komm.-Verlag von Wigand. (Enthält einiges Wenige über
das Volkstümliche der Deutschen in Ungarn. Vergl. auch den
Aufsatz desselben Verfassers : Aus dem Volksleben in Preßburg u.
der Umgegend in der Zeitschrift ftir deutsche Mythologie II, S. 187
bis 193 u. 424 — 426.) — Das Volkstum der Deutschen in Ungarn
wird berücksichtigt in der vortrefflichen, 1887 ins Leben gerufenen
Zeitschrift: Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn. Zeitschr. f. die
Volkskunde der Bewohner Ungarns und seiner Nebenländer. Red.
u. herausg. von Anton Herrmann. Budapest. 1. Jahrg. I.Heft
1887. 2. Heft 1888. Selbstverlag. Druck von Viktor Homyanszky.
Siebenbürgen. Siebenbürgische Sagen, gesammelt und mit-
geteilt von Friedrich Müller. Kronstadt 1857. Gott. XXXII
u. 424 S. 2. veränderte Aufl. 1858. Wien, Gräser. Hermannstadt.
Erafft. XXXVIII u. 404 S. (Vorzugsweise deutsche, aber auch
magyarische und walachische Sagen. Vortrefflich.) — Sagen und
Lieder aus dem Nösner Gelände, gesammelt von Heinrich Wittr
stock. Bistritz 1860. 49 S. (Der mündlichen Ueberlieferung ent-
nommen; gute Ergänzung der Müllerschen Sammlung.) — Deutsche
Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen. Gesammelt
von Joseph Haltrich. Berlin 1856. Springer. XX u. 337 S.;
2. Aufl. 1876; 3. Aufl. Wien 1882. Gräser. XVI u. 816 S. (Inhalt
der 3. Auflage 119 dem Volksmunde entnommene Märchen, dem
Herausgeber zum großen Teile durch seine Schüler zugestellt
Wertvoll.) — Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere
Schriften von Joseph Haltrich. In neuer Bearbeitimg herausg.
von J. Wolff. Wien 1885. Gräser. XVI u. 535 S. (Enthält die
zahlreichen (10) kleineren Schriften Haltrichs über Volkstümliches
in Siebenbürgen, vermehrt durch viele Stücke aus den eigenen
Sammlungen J. Wolffs. Sehr wertvoll.) — Deutsche Mythen aus
siebenbürgisch- sächsischen Quellen. Von Friedrich Wilhelm
Schuster. Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde.
Neue Folge 9. Bd. Kronstadt 1870. S. 230—331 u. 401—497; Neue
Folge 10. Bd. Hermannstadt 1872. S. 65—155. (Die Arbeit birgt
in sich eine große Masse wertvollen, volkstümlichen Materials, das
Schuster seinen eigenen Sammlungen entnommen hat.) — Sieben-
bürgisch-sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Rätsel, Zauberformeln
u. Kinderdichtungen, mit Anmerkungen u. Abhandlungen herausg.
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Volkstümliches. 473
von F. W. Schuster. Hennannstadt 1865. (Für den Volksglauben
von Wert die große Anzahl von Zauberformeln.) — Die sieben-
bürgisch-s&chsische Bauernhochzeit. Ein Beitrag zur Sittengesch.
von Johann Mätz. Progr. des evang. Gymn. in Schä&burg etc.
Kronstadt 1860. 101 S. pieichhaltig und wertvoll.) — Volkstüm-
licher Brauch und Glaube bei Geburt und Taufe im Siebenbürger
Sachsenlande. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte von Johann
Hillner. Progr. des evang. Gymn. zu Schäßburg und der damit
verbundenen Lehranstalten. Schäßburg 1877. Komm.- Verlag von
Michaelis. Hermannstadt. 4. 52 S. (Reichhaltiges Material, aus allen
Teilen des Siebenbürger Sachsenlandes durch dem Volkstümlichen
ireundh'che Sammler zusammengebracht und dem Verfasser zuge-
stellt.) — Volkstümlicher Glaube und Brauch bei Tod und Begräb-
nis im Siebenbürger Sachsenlande. Ein Beitrag zur Kulturgesch.
von Georg Schuller. 2 Teile. Progr. des evangel. Gymn. in
Schäßburg und der damit verbundenen Lehranstalten. Kronstadt
1863. Vni u. 67 S. und Hermannstadt 1865. VH u. 78 S. (Vor-
treffliche, reichhaltige Arbelt. Schuller hat den Stoff nicht nur
zumeist selbst gesammelt» sondern, als Bauersohn, selbst erlebt.) —
Das Todaustragen und der Muorlef. Ein Beitrag zur Kunde sächsi-
scher Sitte und Sage in Siebenbürgen. Sylvestergabe für Freunde
und Gönner von Johann Karl Schuller. Hermannstadt 1861.
18 S. — Agrarische Sitten und Gebräuche unter den Sachsen Sieben-
bürgens von Gustav Adolf Heinrich. Progr. des evang. ünter-
Kealgymnasiums etc. in Sächsisch Regen am Schlüsse des Schul-
jahres 1879/80. Hermannstadt 1880. 4. 88 S. (Brauchbarer Stoff,
mythologisch verarbeitet.) — Bilder aus dem sächsischen Bauem-
ieben in Siebenbürgen. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte
von Fr. Fr. Fronius. Wien 1879; 2. veränderte Auflage. Wien
1883. Gräser. XVI u. 252 S. (Enthält in 11 kulturhistorischen
Bildern viel wertvolles Material an Bräuchen, Sitten und Gewohn-
heiten im Siebenbürger Bauemieben.) — Zahlreiche kleinere Bei-
träge über «das Volkstümliche Siebenbürgens im Korrespondenzblatt
des Vereins für siebenbürgische Landeskunde. Hermannstadt 1878 ff.
AlpenISnder.
AllgemeiBes. Alpensagen. Volksüberlieferungen a. d. Schweiz,
aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Nieder-
österreich. Von Theodor Vernaleken. Wien 1858. Seidel XX
u. 436 S. (Fast ganz auf der mündlichen U eberlief erung bemhend,
liefert die wertvolle Sammlung nicht nur Sagen, sondern von S. 337
bis 426 auch Aberglauben, Bräuche, Sitten und Gewohnheiten.) —
Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausg. von Johann Ne-
pomuk Ritter von Alpen bürg. Wien 1861. Braumüller. XIV
u. 384 S. (Enthält 401 Sagen aus Tirol, Salzburg und Vorarlberg
und S. 873 — 383 einen Anhang über den Haselwurm : Beschwömng
der Haselstaude und des Haselwurms. Wertvoller Stoff, aber auch
manches Unechte darunter; dämm mit Vorsicht zu gebrauchen.)
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474 Ulrich Jahn,
Schweiz. Schweizersagen aus dem Aargau. Gesammelt und
erläutert von Ernst Ludwig Rochholz. 2 Bde. Aarau 1856.
Sauerlander. 1. Bd. XXXU u. 400 S.; 2. Bd. LVI u. 408 S. (Die
vortreffliche Sammlung enthält Sagen [Märchen und Legenden],
ausschließlich dem Volksmund im Aargau entnommen.) — Aargauer
Besegnungen von E. L. Roch holz in der Zeitschrift für deutsche
Mythologie IV, S. 103—140. (Sehr reichhaltig.) — üeber Pflanzen
und Kräuter von E. Meier in der Zeitschrift för deutsche Mytho-
logie I, S. 443—447. (Betrifft den Aargau.) — Das Frickthal in
seinen historischen und sagenhaften Erinnerungen. Beitrag zu den
Schweizersagen aus dem Aargau von £. L. Rochholz. Herausg.
von A. B irr eher. Aarau 1859. Christen. 76 S. (S. 1—37 enthält
Abhandlung über das Frickthal von ethnischem Interesse, S. 38 — 76
bietet 34 brauchbare Sagen.) — Volkssagen aus dem Kanton Basel-
land. Gesammelt von Hs. Georg Lenggenhage r. Basel 1874.
Komm.-Verlag von Schneider. IV u. 180 S. (157 ausschließlich dem
Kanton Baselland entnommene Sagen, meist ausgeschmückt und
dadurch entwertet.) — Der Großätti aus dem Leberberg. Y^as der-
selbe in alten Zeiten gesungen und gereimt, und über Wind und
Wetter, über Handel und Wandel, über geheuere und nicht ge-
heuere Dinge in Schimpf und Ernst sich ausgedacht, gesammelt
und getreulich nacherzählt von Frz. Jos. Schild. Solothurn 186H.
XVI u. 148 S. (Kleine, wertvolle Sammlung von Liedern, Kinder-
reimen, Rätseln, Sprichwörtern, Aberglauben und Bräuchen. Gre-
sammelt in den Kanton Solothurnschen Dörfern: Grenchen, Bettlach
und Selzach.) — Volkstümliches aus dem Kanton Bern. Lokalsagen
und Satzungen des Aberglaubens. Gesammelt von Heinrich Grun-
holzer durch seine Seminarzöglinge. Zusammengestellt u. herausg.
von J. E. Rothenbach. Separatabdruck aus der Neuen Alpenpost.
Zürich 1876. Schmidt. 62 S. (Enthält 8 Sagen im Dialekt und
580 Aberglauben und Bräuche.) — Sagen und Sagengeschichten
aus dem Simmenthai. Von D. Gempeler. 1. Bändchen. 1. und
2. Aufl. Thun 1883. Stämpfli. IV u. 143 S.; 2. Bändchen., Thun 1887.
IV u. 228 S. (Die Sagen sind weit ausgesponnen und ausgeschmückt.
Nur wenige Züge sind ethnisch verwertbar.) — Emmenthaler Alter-
tümer und Sagen. Von Alb. Jahn. Mit 5 lithogr. Tafeln. Bern
1865. Huber & Komp. 72 S. (Als Quellensammlung des Emmen-
thaler Volkstümlichen unbedeutend.) — * Walliser Sagen, gesammelt
und herausg. von Sagenfreunden. 1. Heft, 1. Teil, gesammelt und
erzählt von M. Tscheinen in Grächen; 2. Teil, gesammelt und
erzählt von P. J. Ruppen in Sitten. Sitten. — Sagen, Bräuche
und Legenden aus den fünf Orten Luzem, üri, Schwyz, ünter-
walden und Zug. Durch Alois Lütolf. Luzern 1865. Schiff-
mann. VI u. 597 S. (S. 1—80 erschien schon 1862. Die reich-
haltige Sammlung beruht auf Schriftquellen, eigenen Forschun-
gen Lütolfs und brieflichen Mitteilungen. Die einzelnen Stücke
darum von sehr ungleichem Werte. Unter den Sagen befinden sich
auch einige Märchen.) — Zürich und Umgebung. Heimatskunde.
Herausg. vom Lehrerverein Zürich unter Mitwirkung von Ulrich
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Volkstümliches. 475
Ernst, A. Heim etc. Zürich 1883. Schulthess. VIII u. 251 S. (Ent-
halt S. 132—160 Sitten und Volksfeste von Rud. Schoch und
S. 161 — 167 Sagen und Legenden von H. Wegmann. (Beide Ar-
beiten unbedeutend.) — *R. Baur, Volkssagen aus der Umgebung
des üetliberges. Zürich 1843. — Beiträge zur St. Gallischen Volks-
botanik von B. Wartmann. Verzeichnis der Dialektnamen, der
technischen und arzneilichen Volksanwendung meist einheimischer
Pflanzen. St. Gallen 1861. Scheitlin & ZoUikofer. 43 S. (Enthält
viel zuverlässiges Material an Volksglaube und Brauch, soweit die
Pflanzenwelt in Betracht kommt.) — Volkstümliches aus Graubün-
den. 1. Teil. Gesammelt und herausg. von Dietrich Jecklin.
Mit einem Anhang: Märchen aus dem Bündner Oberlande, gesam-
melt und nach dem Räto-Romanischen erzählt von Kaspar De-
curtius; 2. Teil. Nach authentischen Mitteilungen. Chur 1876.
Komm.-Verlag von Jost & Albin. 192 S.; 3. Teil. Chur 1878. Druck
von Sprecher & Plattner. VI u. 222 S. (Die Sammlung enthält
Sagen, Märchen, Legenden, Schwanke; Volksbrauch, Sitte und Ge-
wohnheit ist nicht berücksichtigt worden. Die einzelnen Stücke
sind sehr ungleich an Wert, viel ist sogar in dichterischer Form
wiedergegeben. Gut sind die von Decurtius gelieferten Märchen.)
— Rhätische Sitten und Gebräuche. Bruchstücke aus ungedruckten
Reisebeschreibungen. Von Georg Leonhardi. St. Gallen 1844.
Komm.- Verlag von Scheitlin & ZoUikofer. 60 S. (Enthält einiges
Brauchbare an Sitten, Gewohnheiten, Bräuchen und Sprichwörtern
aus Felßberg, MüiÄterthal und Prätigäu.) — Naturmythen. Neue
Schweizersagen. Gesammelt und erläutert von Ernst Ludwig
Rochholz. Leipzig 1862. Teubner. XX u. 288 S. (Wertvolle
Sammlung. Der Stoff ist aus der mündlichen üeberlieferung der
ganzen Schweiz zusammengetragen.) — Schweizerisches Sagenbuch.
Nach mündlichen üeberlieferungen , Chroniken und anderen ge-
druckten und handschrifllichen Quellen herausgegeben und mit er-
läuternden Anmerkungen begleitet von C. Kohlrusch. Basel 1854.
VIII u. 424 S.: 2. Abteilung: Legende. Leipzisr 1856. Hoffmann.
{Zum größten Teile Schriftquellen entnommen; enthält manches
Brauchbare.) — Die deutsche Volkssage. Beitrag zur vergleichen-
den Mythologie mit eingeschalteten tausend Originalsagen. Von
Otto Henne-Am Rhyn. Leipzig 1874. Krüger. XXII u. 538 S.
2. Aufl. Wien 1879. (Ein großer Teil der eingeschalteten, recht
brauchbaren Sagen und Märchen ist von dem Vater des Verfassers,
Anton Henne, und dem Verfasser selbst in der Schweiz dem Volks-
munde entnommen worden.) — Schweizersagen. Für Jung und Alt
dargestellt von H. Herzog. Aarau 1871. Sauerländer. XVI u.
215 S. (Für das große Publikum berechnet; fast durchweg auf
Schriftquellen fußend. Wenig brauchbar.) — Schweizerische Volks-
feste, Sitten und Gebräuche. Für Jung und Alt dargestellt von
H. Herzog. Mit Originaltitelbild. Aarau 1884. Sauerländer. X
u. 826 S. (Wie das vorige. Brauchbar, solange eine wissenschaft-
liche Sammlung der Schweizer Volkssitten und Bräuche fehlt.
Dankenswert ist die genaue Quellenangabe in beiden Werken des
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470 Ulrich Jahn,
Verfassers.) — Der Qaellkultas in der Schweiz. Von H. Runge.
Monatsschrift des wissenschaitlichen Vereins in Zürich. 4. Jahrg.
Zürich 1859. S. 103—124 u. S. 202-220. (Brauchbares Material,
mythologisch verarbeitet.) — Volksglaube in der Schweiz. Von
H. Runge. In der Zeitschrift für deutsche Mythologie IV, S. 1—6
u. 174 — 180 (89 Nummern). — Der Berchtoldstag in der Schweiz.
Eine mythologische Skizze von H.Runge. Zürich 1857. Meyer &
Zeller. 39 S. (Unbedeutend.) — Deutscher Glanbe und Brauch im
Spiegel der heidnischen Vorzeit von £. L. Roch holz. Berlin 1867.
Düinmler. 2 Bde. 1. Bd. VUI u. 335 S.; 2. Bd. VI u. 335 S. (Ent-
hält in verarbeiteter Form viele Volksbräuche aus der Schweiz.) —
E. L. Rochholz, Weihnachten und Neujahr in der Schweiz. Grenz-
boten. 23. Jahrg. Leipzig 1864. 2. Semester. 4. Bd. S. 375—389
u. S. 496 — 510. (Brauchbar.) — Kinder- und Hausmärchen aus der
Schweiz. Gesammelt u. herausg. von Otto Sutermeister. Aaran
1869. Sauerländer; 2. mit Zusätzen, Erläuterungen und litterari-
schen Nachweisen vermehrte Auflage. 1873. XV u. 241 S. (Mit
Vorsicht zu benutzen. Enthält in 63 Nummern Märchen, mit Sagen
gemischt, aus allen Teilen der Schweiz, von ungleichem Werte.
Benutzt sind zum überwiegenden Teile Schriftquellen, darunter viele
von geringer Zuverlässigkeit. Nur wenig ist unmittelbar durch Suter-
meister und 8eine Mitarbeiter aus dem Volksmunde geschöpft.)
Vorarlberg. Volkssagen aus Vorarlberg. Gesammelt von J. F.
Vonbun. Wien 1847. VI u. 92 S.; 2. vermehrte Auflage. Innsbruck
1850. Witting. XVllI u. 86 S. Beide Sammlungen sind verarbeitet
in: Die Sagen Vorarlbergs. Nach schriftlichen und mündlichen
üeberlieferungen gesammelt und erläutert von F. J. Vonbun.
Innsbruck 1858. Wagner. Vlll u. 152 S. (Die brauchbare Samm-
lung enthält in 102 Nummern Sagen, mit Märchen gemischt; an-
gehängt ist ein Glossar. Was Vonbun Märchen nennt, sind Mythen.)
— Beiträge zur deutschen Mythologie. Gesammelt in Churrhätien
von F. J. Vonbun. Chur 1862. Hitz. VI u. 137 S. (Gesammelt
in den altrhätiachen Landen: Vorarlberg, Liechtenstein und Grau-
bünden; enthält Sagen und Bräuche in verarbeiteter Form.) —
Sagen und Volksglauben im inneren Bregenzerwalde. Von Joseph
Elsen söhn. Im Programm des k. k. kathol. Gymn. in Teschen.
1866. 39 S. (Kleine, wertvoUe Sammlung. Ergänzung zu den Volks-
sagen Vonbuns, welcher den Bregenzerwald nur wenig berücksichtigte.)
Tirol. Mythen und Sagen Tirols. Gesammelt und herausg.
von Johann Nepomuk (Mahlschedl) Ritter von Alpenburg.
Mit einem einleitenden Vorwort von Ludwig Bechstein. Mit einem
Titelkupfer. Zürich 1857. Meyer & Zeller. XII u. 432 S. (Enthält
wertvollen Stoff an Sagen und Aberglauben, der aber zuweilen mit
Vorsicht aufgenommen sein will.) — Sagen, Märchen und Gebräuche
aus TiroL Gesammelt u. herausg. von IgnazVincenz Zingerle.
Innsbruck 1859. Wagner. XVI u. 496 S. (Vortrefflich.) — Sitten,
Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. Gesammelt u. herausg.
von Ignaz V. Zingerle. Innsbruck 1 857 ; 2. vermehrte Au Hage.
Innsbruck 1871. Wagner. XXIV u. 304 S. (Vortreffliche Samm-
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Volkstümliches. 477
limg; enthält außer 1793 Nummern Gebräuche etc. Kinderlieder,
Rätsel und als Anhang Teile aus H. Vintlers Blume der Tugend.)
— Kinder- und Haufimärchen, gesammelt durch die Brüder Ignaz
und Joseph Zingerle. Innsbruck 1852. Wagner. XIV u. 258 S.
2. vermehrte Auflage. Gera 1870. und Kinder- und Hausmärchen
aus Süddeutschland. Gesammelt und herausg. durch die Brüder
Ignaz und Joseph Zingerle. Mit einer Einleitung von J. W.
Wolf. Mit einem Titelbilde. Regensburff 1854. Pustet. XXIV u.
424 S. Auch erschienen unter dem Titel: Tirols Volksdichtungen
und Volksgebräuche. Gesammelt und herausg. durch die Brüder
Zingerle. 1. u. 2. Bändchen. (Beide Werke enthalten nur Märchen
aus allen Teilen Deutsch-Tirols; sie sind ebenso wie die beiden
vorhergenannten Werke J. V. Zingerles als Mustersammlungen des
Volkstümlichen Süddeutschlands anzusehen.) — Neue Erinnerungen
aus den Bergen Tirols. Sagen und Märchen. Von J. A. Hammerle.
Innsbruck 1854. Gedr. bei Witting. 70 S. (Enthält 15 Sagen, keine
Märchen. Guter Stoff in unwissenschaftlicher Form.) — Neue Er-
innerungen aus den Bergen Tirols. Alpenbilder. Ein Beitrag zur
Volks-, Landes- und Naturkunde. Von J. A. Hammerle. Inns-
bruck 1855. Gedr. bei Felician Rauch. 35 S. (Gute Bilder des
Sennenlebens im Oberinnthale; auch die Schafalpen werden be-
handelt.) — Kulturhistorische Studien aus Meran. Sprache, Litte-
ratur, Volksgebräuche, Zunftwesen. Mit vielen ungedruckten Doku-
menten. Von 0. Frh. von Reinsberg-Düringsfeld. Leipzig
1874. List & Francke. IV u. 192 S. (S. 27—35 behandelt den Volks-
brauch. Unbedeutend.) — Aus dem deutschen Südtirol. Mythen,
Sagen, Legenden und Schwanke, Sitten und Gebräuche, Meinungen
Sprüche, Redensarten etc. des Volkes an der deutschen Sprach-
grenze. Gesanmielt von Alois Menghin. Meran 1884. Plant.
173 S. (Wertvolle Ergänzung der Sammlungen Zingerles.) — Märchen
und Sagen aus Welschtirol. Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde.
Gesammelt von Christian Schneller. Innsbruck 1867. Wagner.
Vin u. 258 S. (Enthält außer Märchen und Sagen auch Sitten,
Bräuche und Aberglauben, Reimsprüche und Rätsel. Vortrefflich.)
— Ludwig von Hörmann, Mjrthologische Beiträge aus Welsch-
tirol. Mit einem Anhange welschtirolischer Sprichwörter und Volks-
lieder. Innsbruck 1870. 36 S. (Der Hauptteil enthält Sagen und
Legenden; die Sammlung ist eine Ergänzung der Schnellerschen
MiS-chen und Sagen.) — Volksgebräuche in Tirol und dem Salz-
burger Gebirge von J. E. Waldfreund in der Zeitschrift f. deutsche
Mytnologie 111, S. 334 — 343; Seeaagen von demselben ebenda IV.
S. 204—207. (Brauchbar.)
Salzburg. Salzburger Volkssagen. Herausg. und bearbeitet
von R. von Fr ei sau ff. Mit 900 Illustrationen, Initialen und Vig-
netten in volkstümlicher Art gezeichnet von J. Eibl. Wien, Pest,
Leipzig 1880. Hartleben. VIII u. 664 S. (Auf Schriftquellen
und dem Volksmunde beruhend, seiner ganzen Anlage nach für
ein größeres Publikum berechnet, immerhin brauchbar.) — *N.
Hub er. Fromme Sagen und Legenden aus Salzburg. Salzburg
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478 Ulrich Jahn,
1880. — Bayrische Sagen, mitgeteilt und geschichtlich beleuchtet
von H. F. Mass mann. 1. Bändchen (mehr nicht erschienen)
München 1831. Lindauer. VIII u. 90 S. (Enthalt vorzugsweise
Sagen vom Untersberg, auf Schriftquellen beruhend.)
Kärnten. Sagen aus Kärnten. Zusammengestellt und teilweise
neu erzählt von J. Rappold. Augsburg u. Leipzig 1887. Amthor.
XIV u. 266 S. (Die Sammlung ist für das große Publikum be-
rechnet und genügt wissenschaftlichen Ansprüchen nicht.) — Kultur-
studien über Volksleben, Sitten und Bräuche in Kärnten. Nebst
einem Anhang: Märchen aus Kärnten. Von Franz Franzisci.
Mit einem Geleitbrief von P. K. Rosegger. Herausg. vom Grill-
parzer-Litteraturverein in Wien. Wien 1879. Braumüller. VIII u.
104 S. (Enthält S. 1-86 in kulturhist. Bildern manches Brauch-
bare über das Volkstümliche in Kärnten; S. 87— -103 bietet 6 Mär-
chen ohne genauere Angabe des Fundortes.) — Volksüberlieferungen
aus Kärnten von Matthias Lexer in der Zeitschrift für deutsche
Mythologie II, S. 29—36; IV, S. 298—301 u. 407—414. (Enthält
Aberglauben, Bräuche, Sagen und Kinderreime.) — Valentin
Pogatschnigg, Beiträge zur deutschen Mythologie und Sitten-
kunde aus KäiTiten. Germania, Vierteljahrsschrift für deutsche
Altertumsk. 11. Jahrg. Wien 1866 S. 74— 77. (Enthält: Stephans-
reiten, Windfüttem, Klöckln und Klöcklerabende.) — Das sonst
noch aus Kärnten zusammengebrachte Material findet sich weit
verstreut; das meiste bietet die seit 1811 in Klagenfurt erscheinende
C a r i n t h i a , Zeitschrift f ü r Vat erl andskunde, Belehrung und ünter-
haltung. Herausg. vom Geschichtsvereine in Kärnten.
Steiermark. *J. Krainz, Mythen und Sagen aus dem steiri-
schen Hochlande. Brück a. d. Murr 1880. — Steiermärkische Sagen
und Volksgebräuche von J. G. Seidl in der Zeitschrift für deutsche
Mythologie II, 20—50. (Enthält 15 Sagen; der reine Volkston ist
nicht überall gewahrt; mit Vorsicht zu benutzen.) — Johann
Gabriel Seidl, seine Sagen und Geschichten aus Steiermark.
Eingeleitet und herausg. von Anton Schlossar. Mit Illustra-
tionen. Graz 1881. Cieslar. XXXI u. 138 S. (Enthält 47 Sagen
aus dem Nachlasse des ebengenannten Dichters und Gelehrten, von
ihm gesammelt und poetisch bearbeitet. Ethnisch nur von geringem
Werte.) — Sittenbilder aus dem steirischen Oberlande von P. K.
Rosegger. Graz 1870. Leykam. 4 ßl. u. 262 S., und Daa Volks-
leben in Steiermark, in Charakter- und Sittenbildern dargestellt von
P. K. Rosegger. In 2 Büchern. Graz 1875. Leykam- Josefsthal.
1. Bd. VI u. 185 S.; 2. Bd. 248 S. (Skizzenhaft, für das große
Publikum berechnet; enthält immerhin manches Brauchbare.) —
Kultur- und Sittenbilder aus Steiermark. Skizzen, Studien und Bei-
träge zur Volkskunde. Von AntonSchlossar. Graz 1885. GolL
IV u. 220 S. (Die Form wie bei dem vorigen. Der Stoff beruht
auf eigenen Sammlungen und Beiträgen zuverlässiger Berichterstat-
ter, enthält viel Wertvolles an Volksglauben, Braudi und Dichtung.)
— Fritz Pichler, Das Wetter. Nach deutscher und im beson-
deren nach steirischer Volksmeinung. (Kleines wertvolles Schrift-
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Volkstümliches. 479
chen.) — Volksmedizin und medizinischer Aherglaube in Steiermark,
Ein Beitrag zur Landeskunde von Viktor Fossel. Graz 188.S
Leuschner & Lubensky. 2. unveränderte Auflage. Graz 1886. VI
u. 172 S. (Sehr reichhaltiges und treu wiedergegebenes Material.)
Oberösterreioh. Das Jahr und seine Tage in Meinung und
Brauch der Heimat. Von Amand Baumgarten. Programm des
k. k. Gymn. zu Kremsmünster für das Schuljahr 1860. Linz 1860.
4. 82 S. (Reichhaltiges, dem Volksmunde entnommenes und treu
wiedergegebenes Material an Volksglaube, Brauch und Sage in
Oberösterreich, soweit dieselben die Festzeiten und Festtage des
Jahres betreffen.) — Aus der volksmäßigen Ueberlieferung der Hei-
mat. Von Amand Baumgarten. 3 Teile in 9 Kapiteln mit
einem Anhang von Liedern. Bericht über das Museum Franzisco-
Carolinum, nebst de'n Lieferungen der Beiträge zur Landeskunde
von Oesterreich ob der Enns. Nr. 23, 24, 29. Lmz 1862, 1864, 1870.
(Dem vorigen an Reichhaltigkeit und innerem Werte gleich. Be-
schäftigt sich mit den dort nicht behandelten Gebieten von Glaube,
Brauch und Sage.) — üeberbleibsel aus dem hohen Altertume im
Leben und Glauben der Bewohner des Landes ob der Enns. Von
Franz Xaver Pritz. Linz 1853. X u. 94 S. Auf Kosten des
Museum Franzisco-Carolinum. (Enthält in verarbeiteter Form eini-
ges Brauchbare über Volksglauben und Brauch in Oberösterreich.)
— Konrad Pasch, Erster Beitrag zur Kunde der Sagen, Mythen
und Bräuche im Innviertel. 2. Jahresbericht des k. k. Real- und
Obergymnasiums in Ried am Schlüsse des Schuljahres 1872/73. Ried.
22 S. (Kleine, brauchbare Arbeit. Der Stoff ist zum größten Teil
von Pasch gesammelt in dem Winkel, den Salzach, Weilhardforst
und Ibmner Moos bilden; einiges stammt aus der Umgegend von Ried.)
Niederösterreich. Oesterreichische Volksmärdien . Von Franz
Ziska. Wien 1822. Armbruster. 111 S. (Kleine, wertvolle Samm-
lung von Sagen und Märchen aus der Gebirgskette, die sich vom*
Schneeberg bis hart an die Donau neigt. Angehängt sind ein
Wörterbuch und Anmerkungen.) — Volkstümliches aus Niederöster-
reich. Von C. M. B l a a s. Germania, Vierteljahrsschrift f. deutsche
Altei-tumskunde. 20. Bd. 1875. S. 349—356; 25. Bd. 1880. S. 426
bis 431; 26. Bd. 1881. S. 229—242; 29. Bd. 1884. S. 85—110. (Ent-
hält reichhaltiges, treu wiedergegebenes Material an Aberglauben^
Bräuchen und Zaubersprüchen.) — Beiträge aus Niederösterreich
von Johann Wurth in der Zeitschrift für deutsche Mythologie
IV, S. 24—30 u. 140—149. (Wert, wie das folgende.) — Sitten,
Bräuche und Meinungen des Volkes in Niederösterreich. Gesammelt
und mitgeteilt von J. Wurth. Blätter für Landeskunde von Nieder-
österreich. 1. Jahrg. Wien 1865. S. 7— 9, 89— 44, 74-76, 113— 118,
134—139, 146—151; 2. Jahrg. Wien 1866. S. 261—264, 278—293.
(Wertvolle, reichhaltige Sammlung von Aberglauben, Bräuchen und
Zaubersprüchen.) — F. Branky, Hans. Volksüberlieferungen aus
Niederösterreich. Zeitschrift für deutsche Philologie. 8. Bd. Halle
1877. S. 73—101. (Niederösterreichische Märchen vom starken,,
dummen etc. Hans.) — Reste des Heidenglaubens in Sagen und
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480 Ulrich Jahn.
Gebräuchen des niederösterreichischen Volkes. Von Karl Land-
et ein er. Krems 1869. 72 S. Zum Teil schon vorher erschienen in
den Blattern für Landeskunde von Niederösterreich. 2. Jahrg. Wien
1866. S. 97—103 u. 241—246 unter dem Titel: Sa^en und Gebräuche
des österreichischen Landvolkes, namentlich aus der Umgebung von
Krems. Von K. Landsteiner. (Brauchbar; störend wirkt, daß
der Stoff sogleich mythologisch verarbeitet ist.) — *Ph. Bogler,
Land und Leute aus dem Wienerwald, deren Haus und Hof, Sitten
und Gebräuche. Eine landwirtschaftliche Kulturutudie. Wien 1879.
Frick. — August Silberstein, Bräuche und Sitten, Meinungen
und Aberglauben (im Lande unter der Enns). Topographie von
Niederösterreich. Herausg. vom Verein für Landeskd. von Nieder-
östeiTcich. l.Bd. Wien 1877. S.207— 214 u. 214-215. (Ganz ober-
flächlich.) — Karl Grözinger, Mythische Grundlagen des deut-
schen Hexenglaubens. Jahresbericht des k. k. Obergymn. in Krems.
Krems 1867. Panner. 28 S. (Enthält, in die Abhandlung verwebt,
einige von Grözinger beobachtete Aberglauben und Gebräuche der
Umgegend von Krems.) — Die Volksmythen Niederösterreichs. Vor-
trag von Hermann Rollet. Blätter des Vereins fUr Landeskd.
von Niederösterreich. Neue Folge. 11. Jahrg. Wien 1877. S. 59— 69,
110—115, 206—210, 284-306. (Verarbeitung des schon bekannten
Materials; sehr wenig Eigenes.)
Kaiserreich Oesterreich. L. Bechstein, Die Volkssagen,
Märchen und Legenden d08 Kaiserstaates Oesterreich. 1. Bd. 1. bis
4. Heft. Leipzig 1840/41. Polet. (1 3 V* Bogen u. 2 Kupfer. Mehr
nicht erschienen. Zu beuHeilen, wie die anderen Bechsteinschen
Arbeiten.) — Oesterreichisches Sagenbuch. Herausg. von J. Gebhart.
Pest 1862. Lauffer & Stolp. X u. 504 S. (Fast durchweg auf Schrifl-
quellen beruhend. Wenig brauchbar.) — Mythen und Bräuche des
Volkes in Oesterreich. Als Beitrag zur deutschen Mythologie, Volks-
dichtung und Sittenkunde. Von Theodor Vernaleken. Wien
1859. Braumüller. Vlll u. :^86 S. (Die historische Sage ist ganz
beiseite gelassen; es werden nur Mythen, Aberglauben und Bräuche
geboten. Gesammelt ist das meiste von Vernaleken selbst; daneben
benutzte er die mündlichen Mitteilungen seiner Schüler, auch stan-
den ihm zum Teil sehr tüchtige Mitarbeiter zur Seite. Der reich-
haltige, wertvolle Stoff entstammt den Landstrichen zwischen den
Alpen und den Sudeten, zwischen den Karpaten und dem Erz-
gebirge.) — Oesterreichische Kinder- und Hausmärchen. Treu nach
mündlicher Ueberlieferung von Theodor Vernaleken. Wien
1864. Neue Ausgabe. Mit 6 Illustrationen. Wien 1875. Braumüller.
XII u. 355 S. (Enthält 60 Märchen, zur Hälfte aus Niederösterreich
stammend; der Rest verteilt sich auf Böhmen, Mähren u. s. w.
Wertvoll.) — Die Mariensagen in Oesterreich. Gesammelt u. herausg.
von J. P. Kaltenbaeck. Wien 1845. Klang. XVI u. 410 S. (150
Marienlegenden aus allen Teilen des Kaiserreichs ; mit großem Fleiß
aus Schriftquellen zusammengetragen.)
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Beobachtungen über Besiedelung,
Hausbau und landwirtschaftliche
Kultur.
Vpn
Dr. August Meitzen,
Geheimer Regierungsrat a. D., Professor an der Universität
zu Berlin.
Anleitung zur deutschen Landes- und Yolksfonchung. 31
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I. Zur Knnde von Stadt und Land.
1. Allgemeine Gesiclitspimkte.
Wahrhaft humane Kultur beginnt erst mit der festen
Ansiedelung. Diese aber findet ihren augenfälligsten Aus-
druck in den Häusern und Gehöften und deren Stellung
und Gruppierung. Von den Wohnstätten aus muß die
Benutzung des Grund und Bodens geschehen, und zu ihnen,
als den Sitzen der Bewirtschaftung, steht die Verteilung
der Grundstücke, Kultur und Recht der Besitzungen und
die soziale Lage der Eigentümer in gewissen gegebenen^
bestimmt zu ermittelnden Beziehungen.
Für die Beobachtungen und Urteile der Landeskunde
über landwirtschaftliche Kulturverhältnisse kommt deshalb
zunächst der Unterschied der Wohnplätze als Städte und
Flecken einerseits, und als Dörfer, Weiler und Ein-
zelhöfe andererseits in Betracht, welcher, auch ohne
Rücksicht auf politische Rechte, schon in der Anordnung
der Wohnstätten sich geltend macht. Dieser Gegensatz
städtischer und ländlicher Besiedelung deutet auf tief-
greifende Verschiedenheiten des wirtschaftlichen
Lebens ihrer Insassen.
Gewiß ist für Stadt und Land die Form des Zu-
sammenwohn ens sehr charakteristisch. Es ist auch rich-
tig, daß die Stadt den Landbau nicht ausschließt. Es
giebt Städte, in welchen zahlreiche Landwirte wohnen.
In den antiken Staaten hatten die Städte sogar so sehr
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484 August Meitzen,
die Stellung von Zentralpunkten des gesamten Volks-
daseins, daß jeder freie Landbauer ein Bürger der be-
herrschenden Stadt war. Diese Verhältnisse haben teil-
weise dauernden Einfluß in den südlichen Gebieten
Deutschlands geübt. Aber im wesentlichen sind die
deutschen Städte eigenartige, zwar vielfach aus Dörfern
hervorgegangene, aber doch in bestimmtem Gegensatze
zu den ländlichen Orten begründete Anlagen des späteren
Mittelalters. Ihr Entstehen beruht auf einem entschei-
denden Fortschritte der Kultur.
Ursprünglich war ofienbar alle Sorge des Menschen
für den Unterhalt der Familie eine landwirtschaftliche,
und die Landwirtschaft enthielt alle Anfänge wirt-
schaftlichen Daseins in sich, Austausch und Handel
ebenso wie Herstellung aller nötigen Gebrauchsgegen-
stände, die wir der Industrie zuschreiben. Auch der
deutsche Bauer hat noch bis in späte Zeit fast alle seine
Bedürfnisse selbst beschafft. Er hat gesponnen, gewebt,
geschneidert, gemahlen, gebacken, gebraut, Seife gekocht.
Eisen geschmiedet, ja geschmolzen, Gerät, Wagen und
Pflug gefertigt und sein Haus mit Hilfe der Nachbarn
gezimmert, geklebt und unter Dach gebracht.
Handel und Industrie lösten sich von der Land-
wirtschaft erst spät als selbständij^e Erwerbsweisen los.
Ihre ersten Unternehmer aber schufen, kaum bewußt, ein
grundsätzlich neues Lebensprinzip. Denn die Land-
wirtschaft kann nötigenfalls ohne Absatz ihrer Produkte
sich selbst genügen. Handel und Industrie aber sind not-
wendig auf den Markt angewiesen. Der Kaufmann kann
auch die geringwertigste Ware nicht kaufen, wenn er
nicht Aussicht hat, die Hand zu finden, in der sie höhe-
ren Wert haben wird. Ebenso ist der Gewerbtreibende
verloren, wenn er nur produzieren, nicht angemessen ver-
kaufen kann. In den Unternehmern von Handel und In-
dustrie entstand als^o ein Kreis von Männern, welche den
täglichen Unterhalt ihrer Familien nicht selbst zu be-
schaffen vermochten, sondern mit treibender Sorge dem
unausgesetzten Absätze, also dem Auftreten, den Bedürf-
nissen und den Zahlungsmitteln von Kunden nachgehen
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 485
muMen. Deshalb drängten sie sich an Orten zusammen,
an denen Marktverkehr zu erwarten war, und alle ihre
Bestrebungen im persönlichen wie im gemeinnützigen
Sinne gingen dahin, diesen Marktverkehr zu sichern und
zu heben. Mauerschutz und gewappnete Polizei, Markt-
recht und Marktgericht, Gewicht, Maß und Münze, Kauf-
und Lagerhäuser, Straßen und Brücken, Boten und Geleit,
alle diese Forderungen erhoben sie nicht bloß, sondern
brachten auch die Kosten auf, sie ins Leben zu führen.
Meist gelang das beharrlich Erstrebte. Wohlhabenheit
und Gemeinsinn wuchsen. Die Städte wurden energische
Körperschaften, welche durch Privilegien, Kauf und
Waffengewalt bald auch politische Selbständigkeit und
den Territorialherren gleiche Machtstellung errangen.
Daraus aber erwuchsen Luxus und Kunstübung,
Weltkenntnis und Schulunterricht; es entstanden Mittel-
punkte wirtschaftlicher und sozialer Bildung, welche die
regierenden Fürsten, weltliche und geistliche, mit ihren
Hofkreisen und Beamten zu gleichen Lebensanforderungen
und zu den entsprechenden Verwaltungsmaßregeln fort-
rissen. Die Monarchie der Neuzeit mit ihrer Wohlfahrts-,
Finanz- und Bildungspolitik, und damit die gesamte
moderne Kultur ist wesentlich aus den städti-
schen Lebensbedürfnissen und Lebensanschauun-
gen hervorgegangen.
Die Landschaft, das flache Land, berührte sich mit
diesem Ringen und Treiben kaum anders als durch den
Dienstadel. Die breite Masse des bäuerlichen Daseins blieb
mit den Städten in schroffem Gegensatz. Sie ist in den
engen Kreis ihrer Wirtschaftsverhältnisse gebannt. Be-
sitz und Betrieb ändern sich kaum merklich im Laufe
vieler Jahrhunderte. Alle Grundstücke sind von Nach-
barn begrenzt, die jeder Veränderung widerstreben. Die
Wirtschaftsführung aller ist mit einer Reihe gemeinschaft-
licher Arbeiten und Nutzungen verknüpft, der Gang des
Jahres fordert täglich bestimmte Thätigkeiten , die nicht
ausgesetzt werden dürfen. Die Größe der Erträge hängt
viel mehr von Sonne und Regen als von besonderer Be-
triebsamkeit und Kenntnissen ab. Der Weiseste ist, wer
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486 August Meitzen,
nur das ausgiebt, was er sich vom Munde absparen kann.
Allen diesen Umständen nach muß die ländliche Be-
völkerung Stetigkeit und Beharren beherrschen.
Ansprüche, welche an sie gemacht werden, selbst wenn
sie Vorteile bringen, werden als Last empfunden. Jedes
Eindringen ariderer Geschäftsbedingungen begegnet Ab-
neigung und Mißtrauen. Notwendigkeit und Gewohnheit
machen sie zum passiven Elemente der bürgerlichen Ge-
sellschaft.
Ihr aktiver Widerpart dagegen, der von den Bedürf-
nissen des städtischen Lebens und vom fortschreitenden
Bewußtsein des Staates getragen wird, sieht sehr wohl,
daß der Boden, die gemeinsame Quelle des Lebensunter-
haltes, nicht so ausgenutzt wird als möglich und zweck-
mäßig wäre, und daß die bestehenden Anlagen und
Einrichtungen, die herkömmlichen Rechte und Lebens-
gewohnheiten dem Fortschritt der Kultur und der Kraft-
entwickelung der Nation Hindernisse entgegensetzen.
Diese Hinderhisse sind nicht sowohl in der Erkenntnis
als in der rechtsbeständigen Lage der Dinge begründet,
ihre freiwillige Behebung ist hoffnungslos. Daher entsteht
der Gedanke gesetzlicher Abänderung von Staats wegen
unter Entschädigung aller erwachsenden Benachteiligungen,
aber doch gegen den herkömmlichen Rechtszustand.
Dies ist die Landeskulturgesetzgebung, in deren
Aufstellung und Durchführung alle modernen Staaten be-
griffen sind. Sie beabsichtigt die hergebrachten Nachbar-
und Herrschaftsrechte, die Lasten und Dienste zu lösen,
und Grundgerechtigkeiten sowie Form und gegenseitige
Lage der Grundstücke so umzugestalten, daß jede Be-
sitzung ihr Land in möglichst geschlossenen, zu zweck-
mäßiger Kultur geeigneten Flächen vereinigt erhält, und
daß für Wege, Be- und Entwässerungen und andere
Meliorationen angemessen gesorgt ist.
Es ist klar, welches Bedürfnis umfassender und
eindringender Landeskunde bei den Entschließungen
und Entwürfen über solche für weite Ländergebiete ent-
scheidende Bestimmungen und Maßregeln fühlbar wer-
den muß.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 487
Die Sachlage selbst ergiebt aber auch die völlig ver-
schiedexien Gesichtspunkte für die Beobachtungen der
Landeskunde über die Städte und über das flache Land.
Bei den Städten liegt das Hauptinteresse auf ihrer Ent-
wickelung zur Persönlichkeit und deren wirtschaftlichem
und politischem Wirken. Bei dem flachen Lande sind
es die dauernden, seit den ältesten Zeiten fortbestehenden
Grundlagen der Gestaltung des ländlichen Besitzes und
Betriebes und des agrarischen Rechtes. Nicht die ein-
zelne Ortschaft ist hierbei das Bedeutsame, sondern die
übereinstimmenden Eigentümlichkeiten ganzer Landschaf-
ten. Die Stadt fordert individuelle, das Land generelle
Untersuchung.
2. Verfahren und Hilfsmittel in Städten.
Eine Stadt kennen zu lernen^ ist wesentlich Sache
ausdauernden Studiums. In der Regel bietet sie selbst
alle Mittel, die Fragen, welche die Landeskunde inter-
essieren, zu lösen.
Der Plan giebt das Bild der StraL^en und Plätze,
der Verkehrswege nach außen, der Stadtbezirke und der
wichtigen Gebäude der weltlichen und kirchlichen Ver-
waltung. Die Statistik, die mindestens seit dem Beginn
unseres Jahrhunderts bei den Gemeindebehörden vorhan-
den ist, schildert die Bevölkerung nach Zahl, Geschlecht,
Religion und Familienstand und die Erwerbsthätigkeit
der Berufsstände, dazu Geburten, Trauungen und Todes-
fälle, unterschieden nach der Zeit im Jahr und Gesichts-
punkten der Gesundheit und Sittlichkeit. Auch die Zahl
der Häuser, die Wohnweise, der Grundbesitz, die Vieh-
haltung sind festgestellt, und alle diese Zustände erlauben
Vergleichungen mit einer Reihe vorhergehender Erhebun-
gen und Urteile über Zu- oder Abnahme und deren Ur-
sachen. Aehnliche, ja nach der Mühe, die man aufwendet,
noch genauere Einsicht läßt die Besteuerung zu. Das
Finanzbudget der Stadt und die Natur und das Verhält-
nis der oft bis in mehrere Jahrhunderte zurück zu ver-
folgenden Aufwendungen bietet verschiedenartiges, keines-
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488 August Meitzen,
wegs auf das Rechnungswesen beschränktes Interesse.
Die gegenwärtigen Zustände aber verknüpfen sich eng
und beweisfahig mit der Geschichte. Vorhandene R«ste.
Lage der Bauten und Ueberlieferungen verschiedener
Zeugnisse ergeben den Umfang der ersten Anlage, Zeit
und Art derselben, die einzelnen Erweiterungen, die Er-
richtung von Kirchen, Rathaus, Kaufhaus und anderen
öffentlichen Gebäuden, die Durchführung und Beseitigung
der Befestigungen.
Die neuere Forschung wendet sich dabei mit be-
sonderem Interesse gegen unsere überraschende Unsicher-
heit über die Höhe der mittelalterlichen Bevölke-
rungszahlen^). Berechnungen aus Bürger- und Steuer-
rollen, aus Kirchenregistem und Zollangaben, aus der
Häuserzahl, ihrer Area und mutmaßlichen Bewohnung
sind für mehrere Städte aufgestellt, aber die Ergebnisse
blieben bisher mit guten Gründen bestreitbar. Jeder Bei-
trag ist sehr dankenswert. Aehnliches Streben richtet
sich auf die Frage nach dem ältesten Entstehen der
Städte. War eine römische Anlage, ein Bischofsitz,
eine Kaiserpfalz mit den Haushaltungen der Ministerialen
und Hörigen ihr Anfang? Lehnte sich die Gründung an
eine Burg, unter deren Mauern Eigene und Freie Schutz
fanden? Oder waren es Kaufleute, die sich am passenden
Ort mit solchen Kräften und Erfolgen festzusetzen ver-
mochten, daß mit oder gegen den Willen von Grund-
herren oder benachbarten Gewalthabern die Stadt zum
eigenen Recht erwuchs. Ist die erste Verwaltung von
solchen wirtschaftlichen Körperschaften oder von einer
oder mehreren Parochieen, die am Orte bestanden, oder
von den Bauermeistem , von Dörfern, die sich in ihm
vereinigten, oder endlich vom Grundherrn mit mehr oder
weniger Anschluß an die alten Erinnerungen der Volks-
gemeinde und Volksgerichte begründet worden? Oder
welche dieser Kräfte und wie haben sie zusammengewirkt?
^) Jastrow, Die Volkszahl deutscher Städte- zu Eode des
Mittelalters. Ueberblick über Stand und Mittel der Forschung.
Berlin 1886.
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BesiedeluDg, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 489
Welchen Ursprung, welche Organisation und welchen Ein-
fluß hatten Patrizier, Gilden, Zünfte und Bruderschaften?
Solche Untersuchungen setzen das Vorhandensein ur-
kundlicher Grundlagen in Stadt- oder Pfarrarchiven oder
in den Landesarchiven voraus. Nur Quellenstudium kann
sie begründen; bereits vorhandene ältere Stadtchroniken
leiten in der Regel irre. Es gehört dazu volle wissen-
schaftliche Kenntnis der neuesten Geschichtsforschung auf
diesem Gebiete.
Alle Ermittelungen über die gegenwärtigen wie die
vergangenen Zustände der Städte haben indes die erfreu-
liche Seite, nirgends Hindernissen zu begegnen. Es ge-
hört dazu nur hinreichende Vorbereitung und längere
Muße. Ueberall wird man sicher sein können, daß sich
für ernstes Bestreben alle vorhandenen Hilfsmittel er-
schließen. Stets wird man an den entscheidenden Stellen
bereitwilliges Entgegenkommen, sachkundiges Verständnis
und förderliche Mitarbeiter finden. Die Forschung in
dieser Richtung der Landeskunde hat nur mit der per-
sönlichen Mühewaltung; nicht mit äußeren Anständen zu
kämpfen.
3. Verfahren und Hilfsmittel auf dem Lande.
Befriedigende Ergebnisse in der Kunde des flachen
Landes zu erlangen, begegnet leider sehr viel größeren
Schwierigkeiten, als Ermittelungen in Städten.
Die Eigentümlichkeiten eines einzelnen Dorfes lassen
sich nicht in dem Sinn6 ausbeuten wie die einer Stadt.
Das Intei*esse aller Erscheinungen, die sich in demselben
zeigen, liegt immer nur in ihrer allgemeineren Bedeutung,
in dem Hinweise, den sie auf die Zustände ganzer
Gegenden oder Landschaften geben. Diese durch ein
einzelnes Beispiel zu erläutern, ist unter Umständen nicht
unth unlieb. Aber es behält immer den Charakter der
Einzelheit. Es zeigt nur, was innerhalb der ganzen Land-
schaft im einzelnen Falle möglich ist. Wie weit gleiche
Verhältnisse in größerer Verbreitung bestehen, und ob
sie sich im allgemeinen in höherem oder minderem Grade
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490 August Meitzen.
ähnlich oder ^anz abweichend vorfinden, kann danach in
keiner Weise beurteilt werden. Es entstehen deshalb für
die Kunde des flachen Landes zwei Kreise der Ermitte-
lung, welche nicht in ihren letzten Zielen, wohl aber in
ihren Angrifl*spunkten und in ihrem Verfahren verschieden
sind. Der eine richtet sich auf das Typische innerhalb
großer Gesamtheiten und hat deshalb einen vorwiegend
statistisch -topographischen Charakter, der andere will
individuelle Erscheinungen für solche Fragen erfassen,
welche sich aus Einzelheiten erschließen. Hunderte von
Dörfern einer Landschaft können nicht speziell unter-
sucht werden. Gleichwohl ist es nötig, wenn die Be-
trachtung der verschiedenen Zustände und die Gruppierung
des Uebereinstimmenden feste Anhaltspunkte gewinnen
soll, sämtliche Ortschaften auf gewisse möglichst
leicht erkennbare Eigenschaften zu prüfen, aus
deren Vorhandensein oder Fehlen im Sinne von Ursache
und Wirkung auf einen bestimmten und wichtigen Kreis
typischer Eigentümlichkeiten zu schließen thunlich ist.
Unter diesen Gesichtspunkten werden, ganz abgesehen
von seinem lebhaften historischen Interesse, auch für die
Gegenwart und für die unmittelbar praktischen Zwecke
die Ergebnisse eines besonderen Forschungskreises von
Bedeutung. Derselbe ist auf dem Gedanken der erwähnten
merkwürdigen Konstanz des ländlichen Daseins aufgebaut
und sucht an dem Charakter der ursprünglichen An-
lage die Hauptzüge der späteren Entwickelung
und der bestehenden Verhältnisse zu erkennen.
Es ist keine Frage, die bis zur Zwangslage gleich
bleibende Beharrlichkeit der agrarischen Zustände erlaubt
den SchliüA, daß, wo übermächtige störende Einflüsse,
wie Herrschaft fremder Nationalität oder gewaltsames
Eingreifen des Staates ausgeschlossen blieben, der auf
unsere Zeit gekommene Bestand der agrarischen Anlagen
in der Darstellung der Gehöfte und der Verteilung des
Grandbesitzes noch wesentliche Grundlinien der ersten
festen Ansiedelung und der Bedingungen, die sie dem
gesamten Agrarwesen stellte, an sich trägt. Diese Auf-
fassung hat immer größere Zuversicht gewonnen, je sorg-
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 491
fältiger die Untersuchungen in die Vergleichung der hi-
storischen Ueberlieferungen aller Jahrhunderte mit den
uns noch vor Augen stehenden agrarischen Thatsachen
einzudringen vermochten, deren Bestand gewissermaßen
die ältesten Ruinen schöpferischer Thätigkeit unseres
Volkes darstellt.
Dieselbe Anschauung aber darf folgerichtig von den
ersten festen Ansiedelungen aller Nationen unserer Kultur-
staaten gelten. Da sich nun die Siedelungen verschiedener
Völker auf den Territorien dieser Staaten im Laufe der
Zeit vielfach übereinander geschoben haben, ist die Auf-
gabe entstanden, für jedes Volk die Gebiete ursprüng-
licher und unberührt volkstümlicher Siedelung abzugrenzen
und den nationalen Typus auf diesen Gebieten aufzu-
suchen. Aus der Kenntnis dieser Typen ist dann auch
zu einer Unterscheidung und Beurteilung der Eigentüm-
lichkeiten zu gelangen, welche sich für die Landschaften
gemischter Siedelung ergeben.
Solche Untersuchungen können nur auf umfassende
Einsicht und Bearbeitung der Landeskartierungen ge-
gründet werden.
Die großen topographischen Karten, welche
im Maßstabe von 1:100000, 1:50000 oder 1:25000
der wirklichen Länge veröfiFentlicht sind, stellen in ihren
Signaturen überall das Ergebnis spezieller, bestimmte
charakteristische Erscheinungen erfassender Beobachtung
der wesentlichen allgemeinen Grundzüge der Siede-
lung dar. Sie zeigen die Verteilung der Wohnplätze
nach ihren Gruppen oder ihrer Vereinzelung, die gegen-
seitige Entfernung, die Gestalt der Weiler und Dörfer,
die Lage der Gehöfte in den Ortschaften, die Dorfstraßen
und den Verlauf der Verkehrs- und Feldwege, die Aus-
dehnung der Gärten, der Aecker und der Wiesen, und
die Verbreitung des unkultivierten Landes an Waldungen,
Heiden, Mooren und Sauden.
Genauere Einsicht aber hängt überall von der Kennt-
nis der Besitzverteilung ab. Diese weisen die topo-
graphischen Karten nicht nach, und sie wird auch durch
die Agrarstatistik der einzelnen Staaten, Bezirke und Ge-
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492 August Meitzen,
meinden nur in Durchschnittszahlen geboten, welche keine
Anschauung von der gegenseitigen Lage gewähren. Auch
aus dem Augenschein am Orte selbst läßt sich die Lage
der einzelnen Grundstücke der verschiedenen Besitzungen
in ihren Besonderheiten nur sehr schwer tibersehen. Die
entscheidenden Hilfsmittel der einschlagenden Ermitte-
lungen sind deshalb im wesentlichen die Flur karten,
welche im Maßstab von 1 : 5000 bis 1 : 1250 der wirk-
lichen Längen aufgemessen sind. Sie zeigen ein Bild der
Verteilung aller einzelnen Parzellen und weisen in zuge-
hörigen Registern für jede der Parzellen Kulturart, Fläche
und Eigentümer, meist auch den durch Schätzung ge-
fundenen verhältnismäßigen Wert nach.
Solche Parzellarkarten sind mit seltenen Ausnahmen
für alle Ortschaften, entweder aus den Katasteraufnahmen
oder aus Verkoppelungen , aus gutsherrlich-bäuerlichen
Auseinandersetzungen oder aus sonstigen amtlich be-
glaubigten Vermessungen vorhanden. Sie finden sich so-
wohl bei den Ortsverwaltungen als bei den Behörden,
welche die Messung ' veranlaßt haben.
Es ist sehr lehrreich, an einem oder dem anderen
Orte die Karte mit der Lokalität selbst zu vergleichen
und mit den Besitzern die Gründe der Einteilung und
die Bestimmungen des Betriebes und der Nachbarrechte
zu besprechen. Aber dies ist nur in einzelnen Fällen
und zur Aufhellung unklar gebliebener Fragen erforder-
lich und selten möglich.
Im wesentlichen ist die Untersuchung auf das bei
den gedachten Behörden vorhandene Material an-
gewiesen. Hier finden sich die Karten großer Landes-
teile vereinigt, so daß sie im Zusammenhange durch-
gesehen auf die Gleichartigkeit ihrer Bilder geprüft und
nach charakteristischen Verschiedenheiten gesondert wer-
den können. Hier läßt sich auch aus den Registern und
aktenmäßigen Verhandlungen am einfachsten das Ver-
ständnis dieser Bilder gewinnen. Wo sich Neues zeigt,
kann es alsbald in seinen Besonderheiten festgestellt und
ähnliches zur Vergleichung gezogen werden. Zugleich
aber bietet sich bei diesen Behörden die schwer entbehr-
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Besiedelung, Uausbaa und landwirtschafiliche Kultur. 498
liehe, uns in der Regel mit großer Bereitwilligkeit und
freundlichem Interesse gewährte sachkundige Aus-
kunft der Verwaltungs- und Vermessungsbeamten, welche
durch langjährige spezielle Amtsthätigkeit die Feldfluren
ihres Bezirkes in allen Eigentümlichkeiten der Lage und
der Betriebs- und Rechtsverhältnisse genau kennen und
mit Sicherheit sagen können, wo das tibereinstimmende
Kartenbild gleiche agrarische Verhältnisse verbürgt, und
wo es sich empfiehlt, für gewisse Fragen nähere akten-
mäßige Ermittelungen vorzunehmen.
Es ist erklärlich, daß diese Untersuchungen, welche
sich im Zusammenhange auf das gesamte Gebiet unserer
modernen Kulturstaaten erstrecken müssen, bisher nur
lückenhaft durchgeführt werden konnten und manche
Probleme offen lassen mußten. Es werden also noch
lange von der Lokalforschung ergänzende und berichti-
gende Arbeiten erwartet und unternommen werden müssen.
Aber um so mehr ist es notwendig, für die Beobachtungen
der Landeskunde wenigstens von den erreichten ersten
Grundzügen auszugehen. Die Landeskunde soll diese un-
^ entbehrliche Grundlage für ihren eigenen Erkenntniskreis
mehr und mehr ausbauen. Was aber von diesem bereits
bekannt und erworben ist, hat auch die Aufgabe jeder
Lehre zu erfüllen. Der Nachfolgende soll der Arbeit noch-
maliger Entdeckung überhoben und seine Kraft für neue
Forcjchung gewonnen werden.
Andere Wege allerdings geht die Beobachtung des
Einzelnen, des Interessanten im wechselnden Leben der
ländlichen Bevölkerung. Sie fordert individuelle und per-
sönliche Beziehungen, und trachtet nach unmittelbarer
und lebendiger Anregung und Förderung.
Beide Richtungen der Landeskunde sollen deshalb im
folgenden nach ihren verschiedenen Gesichtspunkten und
Hilfsmitteln auseinander gehalten werden.
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494 August Meitzen,
II. Charakter der Ansiedelungen and des Agrarwesens
in den Tersehiedenen Landscliaften Deutsehlands.
1. Die altgermanischen Volkggebiete.
Die bisher erlangten Ergebnisse der Forschung über
die volkstümlichen Typen der Ansiedelung und des durch
sie bedingten Agrarwesens unserer europäischen Kultur-
völker lassen sich, soweit sie Deutschland betreffen, folgen-
dermaßen überblicken.
Vier Nationen haben auf diesem Ländergebiete ihre
volkstümliche Art der Ansiedelung zur Geltung gebracht,
die Kelten, die Römer, die Deutschen und die
Slawen.
Unter ihnen haben die Deutschen bei weitem
den größten Einfluü geübt. Denn sie haben nicht
allein einen gewissen Teil Deutschlands ausschließlich und
ursprünglich besiedelt, sondern auch im gesamten übrigen
Deutschland die Siedelungen der anderen Nationen fast
ausnahmslos in deutschem Sinne umgestaltet. Sie haben
die früher hier von den Kelten angelegten Ansiedelungen
in Besitz genommen und mehr oder weniger den volks-
tümlichen deutschen Sitten angepaßt. Von den seit Cäsars
Zeit begründeten römischen Kolonieen haben sie kaum
Spuren übrig gelassen. Die seit der Völkerwanderung
von der Weichsel zur Elbe und Saale vorgeschobene
slawische Besiedelung des Ostens aber ist durch sie mit
geringer Ausnahme in deutsche Flur- und Betriebsein-
richtung gebracht worden.
Daraus ergeben sich Unterscheidungen rein
nationaler und gemischter Siedelung in gewisser
geographischer Verbreitung. Jede dieser Anlagen aber
läßt wieder einige im Laufe der Jahrhunderte aufgetretene
Entwickelungsstufen erkennen. Verglichen mit den Vor-
gängen, die uns historisch aus dem Wechsel der Völker-
bewegungen bekannt sind, entsteht «auf diese Weise ein
sehr anziehendes kulturhistorisclies Bild, welches auch
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 495
für die Gegenwart besonders belehrend ist, weil es seine
wichtigsten Beweismittel den uns unmittelbar vor Augen
liegenden agrarischen Thatsachen entnimmt.
Die Kelten hatten noch zur Zeit der ersten Nach-
richten Ciisars und Strabos ganz Süddeutschland inne.
Außery dem gesamten Flußgebiete der Donau und dos
Rheins ist aber auch von der Porta Westfalica ab das
linke Ufer der Weser bis zur Nordseeküste und vom Eib-
gebiete der größte Teil von Böhmen als ursprünglich
keltischer Boden anzusehen.
Die Römer haben ihre Herrschaft zwar vorüber-
gehend beinahe ebenso weit ausgedehnt. Wirtschaftlich
aber, so daß Ansiedelungen entstehen konnten, haben sie
Deutschland nur bis zum Limes romanus in Besitz ge-
nommen. Diese noch heut als Pfahlgraben fast auf
ihrer gesamten Linie erkennbare Grenze begann bei Em-
merich an dem Drususkanale zur Yssel, zog sich dem
Rhein parallel an die Lippe und zwischen Elberfeld und
Barmen hindurch längs der Höhen der rechtsrheinischen
Berge und des Taunus um die Ebene der Wetterau nach
dem Main oberhalb Hanau, setzte sich dann vom Main-
knie bei Miltenberg nach Oettingen und dem Remsthal
fort und führte aus diesem weiter über Gunzenhausen
nach Pföring an die Donau, welche von da ab bis Pan-
nonien als Grenze galt.
Gegen die Slawen endlich zog Karl der Große 805
nach glücklich beendeten Awaren- und Sachsenkriegen
eine ähnliche Grenze des deutschen Reiches, den Limes
sorabicus. Sie führte an der Donau aufwärts von Lorch
bei Linz bis Regensburg, von da zur Regnitz nach Brem-
berg (Nürnberg?), Forchheim und Bamberg, weiter über
den Thüringerwald nach Erfurt und dann die Saale ent-
lang nach Naumburg, Merseburg, Chesla (nordöstlich
Gifhorn) und Bardowiek. Jenseits der Elbe aber setzte
sie sich von Lauenburg längs der Delvenau nach Lübeck
und über Plön an der Swentine nach der Kieler Bucht fort.
Durch diese historisch bekannten Grenzlinien erweist
sich, daß das mit Sicherheit und ausschließlich in volks-
tümlicher Weise deutsch besiedelte Gebiet inner-
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496 August Meitzen,
halb Deutschlands verhältnismäßig klein ist. Es umfa&t
im wesentlichen nur die Landschaften zwischen Weser
und Wiuterberg im Westen, Westerwald. Taunus und
Thüringei'wald im Süden, und Saale und Delvenau im
Osten. Im Norden schließt sich demselBöir\aber die
cymbrische Halbinsel und das ostgermanische S^
vien Yon Schonen bis gegen den Mälarsee an.
Innerhalb dieser Grenzen läßt sich nun der Charakter
der deutschen volkstümlichen Ansiedelungen deutlich er-
kennen. Mit Ausnahme gewisser Ortschaften und Wohn-
plätze, deren Entstehung in der Neuzeit oder im späten
Mittelalter sicher zu erweisen ist, besteht fast über-
raschende typische Uebereinstimmung.
Ueberall finden sich Dörfer von meist mitt-
lerer Größe. In den Dorf lagen derselben liegen die
Gehöfte ersichtlich planlos, meist völlig unregel-
mäßig und oft schwer zugänglich, so daß diese Anlagen
mit Recht als Turf, Haufen oder Haufendorf zu bezeich-
nen sind. Die Ausdehnung ihrer Fluren ist zwar nach
der Größe der Allmenden und des erworbenen Marken-
landes verschieden. Das eigentliche alte Kulturland an
Aeckem, Gärten und Feldwiesen aber nimmt ziemlich
übereinstimmende Flächen von 300 — GUÜ ha ein. Sehr
große Fluren sind aus Wüstungen vereinigt oder durch
spätere Rodungen angewachsen.
Für alle diese Dörfer läßt sich die Hufenverfassung
nachweisen. Sie zerfielen in 10 bis 40 gleiche Anteile,
welche danach bemessen waren, daß sie einem Hausvater
mit seiner Familie den Unterhalt und die Mittel für die
öffentlichen Lasten zu gewähren vermochten, aber auch
von einer bäuerlichen Familie mit wenigem Gesinde be-
stellt werden konnten. Diese Anteile waren als einzelne
Besitzungen ausgewiesen, es konnten aber auch mehrere
in einer Hand liegen oder einzelne in Halbe, Viertel oder
Achtel geteilt sein.
Der Grundbesitz aller dieser Anteile lag, soweit er
kultiviert war, in der Flur im Gemenge. Das Ackerland
war in Abschnitte (Gewanne) von in sich gleicher
Bodenbeschaffenheit geteilt, und in jedem dieser Ab-
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Besiedelung. Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 497
schnitte kam jeder Hufe eine gleiche Fläche zu.
Nach alter bleibender Sitte wurden die Hufenanteile in
jedem Gewann einzeln nach dem Lose zugewiesen. In
Schleswig- Holstein kommt auch der sog. Solfall, die Ver-
teilung nach der Sonne, d. h. nach der Reihe in der
Dorflage vor. Ursprünglich scheinen die Abschnitte so
gebildet worden zu sein, daß die Fläche der einzelnen
Hufe in jedem Gewanne etwa einen Morgen oder Tage-
werk, also das Maß betrug, was an einem Vormittage
oder Tage gepflügt werden konnte. Die Morgen- oder
Jochgröße war in den verschiedenen Dörfern nach Boden
und Sitte verschieden. Regulierungen von in Unordnung
gekommenen Gewannen und nacbträgliche Verteilungen
des zwischen den älteren Gewannen liegen gebliebenen
Landes wurden dagegen durch Teilung der Fläche des
l)etrefFenden Abschnittes in parallele Streifen vorgenom-
men, deren Größe dem Hufenanrecht an dieser Fläche
entsprach; dies war bei gegebenen Gewanngrenzen das
einfachste. Wege kamen bei der Teilung gar nicht in
Rücksicht, sondern sind erst später entstanden, und durch-
schneiden die einzelnen Ackerstücke in der Richtung auf
die Nachbarorte wie es sich triflFt, oft höchst unzweck-
mäßig. Für die Feldbestellung bestanden überall nur
Ueberfahrtsrechte. Deshalb und wegen des gemeinschaft-
lichen Weideganges der Herden aller Wirte war Flur-
zwang notwendig.
Die Flur war in meist 3, aber auch 2 oder 4 und
mehr möglichst gleich große Felder oder Schläge
so geteilt, daß zu jedem Schlage eine Anzahl Gewanne
gehörte, und wegen der verhältnismäßigen Verteilung jedes
Gewannes unter die vorhandenen Hufen in jedem Schlage
auch von jeder Hufe die ungefähr gleiche Fläche lag.
Alle Grundstücke desselben Schlages aber mußten auf
Kundgebung des Dorfvorstandes zu gleicher Zeit bestellt
und mit gleicher Frucht besät, und ebenso zu gleicher
Zeit abgeerntet und dem Weidevieh ofl^en gegeben werden.
Gegen letzteres wurde der Schlag, solange die Frucht
stand, von den Wirten nach ihren Anteilen abgezäunt.
Anlettnng zur deatachen Landes- und Volksforichung. 32
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498 August Meitzen,
Die meisten Dörfer besaßen Allmenden, d. li. Wald-.
Wiesen- oder Heideland,- das nicht an die Hüfner verteilt
war, sondern von ihnen gemeinschaftlich benutzt oder
auch stückweise an einzelne Dorfgenossen, an später be-
gründete kleine Stellen, oder selbst an Auswärtige auf
Zeit oder dauernd gejren Zins überlassen wurde.
Da die Allmenden ursprünglich wie die gesamte Flur
den Hufen zu gleichen Anteilen zustanden, ist die eigent-
liche Größe der Hufen in den verschiedenen Dörfern
sehr verschieden. Aber auch die Größe des Kultur-
landes der Hufe ist selbst in Nachbardörfern sehr un-
gleich, weil es davon abhing, wie weit die Hüfner ihre
Gewanne in die Allmende ausgedehnt hatten.
Indes ist schon im frühen Mittelalter ein auf das
örtliche Bedürfnis beschränktes Ausmaß für die Hufe
üblich geworden, welches ortschafts- und gegend weise
zwischen 20 bis 120 Morgen schwankt, und wegen der
verschiedenen Morgengröße von Ort zu Ort auch noch
mehr abweicht. Schon früh aber haben die deutschen
Könige und Kaiser für ihre Landverleihungen in enT^
fernteu, ihnen nicht näher bekannten Oertlichkeiten ein
festes Maß verwenden müssen. Dies ist die Königshufe,
welche sich für die Karolingerzeit auf 48 — r)0 ha be-
rechnet. Im späteren Mittelalter haben dann die Landes-
herren für ihre Verleihungen und für größere Landmes-
sungen den Gebrauch gleichen Landmaßes angeordnet
und für den Morgen und die Hufe in ihren Territorien
eine bestimmte, vom landesüblichen Fußmaße abhängige
Größe eingeführt. Deshalb sind für denselben Ort oft sehr
widersprechende Angaben über die Hufenzahl vorhanden.
Die meisten Wirte besaßen auch Markenrechte,
d. h. Eigentums- oder Nutzungsrechte an Grundstücken,
die zu keiner Dorfflur gehörten, sondern Reste des aul.:er-
halb der Ansiedelungen verbliebenen Landes waren und
auf das alte Volksland zurückzuführen sind. Diese alten,
meist sehr ausgedehnten, unbesiedelten Marken standen
unter einer gewohnheitsrechtlichen Verwaltung und Ge-
richtsbarkeit der Gemeinschaft aller, oft sehr entfernt
wohnenden Markgenossen, welche in herkömmlicher Weise
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Bcsieclelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 499
Anrechte an diesen Ländereien besaßen. Im Laufe der
Zeit teilten diese indes vielfaeli die Marken vertragsmäßig
und lösten sie allmählich so weit auf, daß alle oder ein-
zelne Beteiligte ihren Anteil als Sondereigen erhielten.
Flg. 1.
Wurde ein solches Markenstück ausschließlich den Ge-
nossen eines Dorfes zugewiesen, so erhielt es ganz den
Charakter der Allmende, nur mit dem erklärlichen Unter-
schiede, daß die Anrechte daran nicht notwendig den
Hufenanteilen, sondern den Markenrechten entsprachen.
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300
August Meitzen,
Die Verhältnisse eines solchen Dorfes erläutert das
schematische Bild einer verkleinerten Flurkarte (Fig. 1)
näher ^).
Zu diesem Kartenbilde ist foldendes zu bemerken. Das
Dorf enthalt, wie das Bild zeigt, 18 Hofstätten, Schule und
Kirche. Aus dem Vermessungsregister, welches die Flächen- und
Besitzangabe für jede einzelne verzeichnete Parzelle enthalten muü.
würde sich ohne Schwierigkeit eine Tabelle zusammenstellen lassen,
welche Gewann für Gewann das Verhältnis der Beteiligung jeder
einzelnen Besitzung an demselben, schließlich die Gesamtsumme
der Grundstücke derselben nachweist.
Diese Tabelle würde folgende Form haben:
Besitzer
Gewann 5
Gewann 0
Morgen
Hufen-
anteile
zu 6,4
Morgen
Hafen-
anteile
zu 1„.
D
19,a
3
4,«
3
P
6,4
1
1,6
1
S
14.8
a»*
''\i
2';4
a
4,8
3*
1,1
^»
b
12,«
2
1,5
1
c
d
6.5
1
1,6
1
e
—
—
l.c
1
f
6.4
1
1,5
1
9
h
Q
6.8
l
1,T
1
X
-
-
—
-
Zusammen
76,8
12
19,2
12
u. s. f. bis zur
Summe jeder Be-
sitzung.
*) Kartenbilder thatsächlich vorhandener, derartig in volks-
tümlich deutscher Weise angelegter Dörfer sind veröffentlicht:
Winterhude bei Hamburg in D. W. Hübbe, Einige Mitteilungen
über Kulturverhältnisse, Sitten und Gebrauche im Landgebiete Ham-
burg. Zeitschrift des Vereins für hamburgische Geschichte. Neue
Folge 1865, Bd. II, Heft 3. S. 429. — Echte bei Nordheim in
W. Seelig, Die Verkoppelungsgesetzgebung in Hannover. 1852. —
Apelern. Kr. Rintelen , in H. Weitemeyer, Die Grundstäcks-
zusammenlegung in der Feldmark Apelern. Rintelen 1883. —
Waldau bei Kassel in K. Peyrer, Die Zusammenlegung der
Grundstücke u. s. w. Wien 1873. — Varmissen, Amt Münden.
Karte von der Feldmark vor und nach der Verkoppelung nach
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 501
Beispiele vollständigem Berechnungen finden sich in: Meitzen.
Cod. dipl. Sil. Bd. IV, 1863, S. 33 für Domslau, S. 45 für Tschech-
nitz, S. 55 Krampitz, S. 82 Zedlitz. — G. H. Schmidt, Zur
Agrargesch. Lübecks u. Ostholsteins. Zürich 1887, S. 36 für Kembs.
Auch ohne daß es urkundlich bekannt wäre, würde diese Be-
rechnung zeigen, daß das Dominium 3 Hufen, die Pfarrei 1, die
Scholtisei 2V4, der Bauer b 1 V-s die Bauern d und f je 1, a '/< und
e Va Hufe besitzen, h ist in 3 Kätnerstellen dismembriert , außer-
dem sind 7 Gärtner außerhalb des Hufenlandes auf Dominial- und
Allmendeland angesetzt, c der Kretscham ist unbeäckert, die früher
zur Stelle gehörigen Grundstücke hat die Scholtisei in Besitz.
Das alte Hufenland bilden die Gewanne 8, 10—18 und 22
bis 38. In jedem dieser Gewanne mit Ausnahme von 36 — 38 be-
sitzt jede der 12 Hufen ungefähr 1 Morgen, in den Gewannen 36
bis 38 aber je 4 Morgen. Letztere sind einer späteren Regulierung
unterworfen worden, und zwar zu einer Zeit, in welcher das Domi-
nium nur 2 Hufen besaß, denn es würde sonst bei der Regulierung
die dritte Hufe mit den beiden übrigen zusammengelegt worden
sein. Da die Scholtisei überall neben der '/* Hufe a liegt, zeigt
sich, daß diese V^ Hufe früher zur Scholtisei gehörte.
Die Teilung des zwischen den alten Gewannen belegenen AI- -
mendelandes 5, Ü, 7, 9 und 21, sowie der sämtlichen Wiesen 39 und
40 hat erst stattgefunden, als das Dominium bereits 3 Hufen er-
worben und die Scholtisei das Land von c eingezogen hatte, aber
eher als die Scholtisei die Stelle a mit V^ Hufen von ihrem alten
Besitze von 2 Hufen abzweigte, weil a auch in allen AUmende-
stücken neben der Scholtisei liegt.
Die Allmende 44 ist noch ungeteilt. 43 ist ein Erbenschafts-
wald, an welchem das Dominium keinen Anteil mehr hat. Es ist
in 16 Schlägen bewirtschafteter Niederwaid, welcher nach dem Ein-
schlage das ei'ste Jahr beackert wird. Daran sind die Pfarrei
und 8 Hufen zu gleichen Rechten beteiligt. Das Dominium ist
durch den Plan 43 abgefunden, welchen dasselbe den 7 Gärtnern (/
überwiesen hat. Diesen Gärtnern sind auch aus der im übrigen
ungeteilten Allmende die Wiesen 41 überlassen worden.
Die Gewanne 19 und 20 bilden eine Abfindung aus der Mark M.
Die Anteile zeigen, daß das Dominium 2 Anteile, die Scholtisei
2 Anteile, die Hufen &, e, f, h je 1 Anteil und die Gemeinde 3 An-
teile an der Abfindung besaßen. Das Dominium hat seine 3 An-
teile in 20 den 7 Gärtnern abgetreten. Auch eine weitere Teilung
der Mark ist eingetreten. Durch dieselbe hat das Dominium den
Schüttler (Bayer & Hoyer, Kassel). — Mölme, Amt Marienburg,
in Festschrift zur Säkularfeier der landwirtschaftl. Gesellsch. Celle.
Hannover 1864. Zeichnung Blatt 8. (Die Gewanne sind nicht die
ursprünglichen, sondern 1831 bereits reguliert.) — Vergl. Schön-
berg, Handbuch der politischen Oekonomie, 2. Aufl., T. II, S. 158 ff.
Tübingen 1886.
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502 August Meitzen,
Waldplan 8 und die Scholtisei das Rodeland 2 erhalten. Diese
Grundstücke sind indes nicht zur Dorfflur geschlagen worden.
Die Aecker der Flur sind stets in Dreifelderwirtschaft
mit Flur zwang bewirtschaftet worden. Ursprünglich bildeten
Gewann 10—12, l(i-18 und 22-27 das I , Gewann 8, 13-15 und
28—35 das II. und Gewann 36-38 das III. Feld. Durch die Auf-
nahme der früheren Allmendestücke 5, 6, 7, 9 und 21 in das Acker-
land ist indes eine andere Dreifeldereinrichtung nötig geworden,
welche so erfolgt ist, daß 21 zu Feld I, 8, 13, 14 und 15 zu Feld 111
und dagegen als Firsatz 5, 6, 7 und 9 zu Feld U geschlagen wor-
den sind.
Die Markanteile 20 liegen außerhalb des Flurzw^anges und
der drei Felder, deshalb konnten davon verschiedene Stücke x au
in benachbarten Dörfern wohnende Auswärtige (Forensen) abgetreten
werden. Dies ist trotz des Flurzwangs, dem sie dadurch unter-
worfen wurden, auch in 21 von b und f geschehen. Diese Stellen
finden in '20 die nötige Ergänzung für ihren Wirt seh afbsbet rieb.
c hat für die an h im Hufenlande abgetretene halbe Hufe in 20
einen annähernden P^rsatz erlangt, welcher flurzwangsfrei vorteil-
hafter bewirtschaftet werden kann.
2. Die keltische Besiedelung in Deutschland.
Das Wesen der keltischen volkstümlichen Be-
siedelung läßt sich am sichersten aus den Flurverhält-
nissen von Irland erkennen. Sie wird hier durch die
altüberlieferten irischen Gesetze hinreichend erläutert ').
Irland zerfiel im 7. Jahrhundert in 184 Tricha ceds, von
denen jedes 30 Bailes oder Townlands enthielt. Es be-
standen also 5520 Townlands. Jedes derselben enthielt
als Regel »SOO Kühe in vier Herden und teilte sich in
vier Quarters. Der Quarter berechnete sich in den ver-
schiedenen Landschaften Irlands auf 120 oder 240 irish
acres gleich 1(30 oder 820 englische Statute acres, d. i.
()4,8 oder 129,« ha, und es bestanden in demselben meist
vier, hier und da auch sechs Tates oder Haushaltungen.
Diese Townlands, welche sich 1598 auf 0814 vermehrt
hntten, sind noch heut in Irland in großer Anzahl nach
Quarters und Tates mit ihren Namen und Grenzen nach-
weisbar. Sie gründen sich auf die ('1 an Verfassung.
') Fr. Seebohni. Tlie Knglish Village comniunitv. London
1883. Uebers. von Th. v. Bunsen. Heidelberg 1885. -- Fr. Walter,
Das alte Wales. Bonn 1.^51».
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 503
Es gab 184 alte Clane unter patriarchalisch regieren-
den Clanhäuptlingen. Alle Mitglieder des Clans glaubten
von demselben Ahn abzustammen, führten denselben Na-
men und hatten am Landgebiete des Clans, mit Aus-
nahme einer gewissen Häuptlingsdomäne, gleiches Anrecht.
Sie erhielten davon ein entsprechendes Stück auf Lebens-
zeit zugewiesen. Erbrecht bestand nur an der beweg-
lichen Habe, und nur für Söhne, aber für eheliche und
uneheliche gleich.
Der Haushalt des Townlands war ursprünglich
ein gemeinsamer. Solange er nicht mehr als 16 Familien-
väter zählte, wohnten sie unter einem ünterhäuptlinge in
demselben Hause.
Fig. 3.
Fig.
Dieses Haus wird in den Gesetzen genau beschrieben.
Es bestand aus sechs in zwei Reihen gewachsenen oder
eingegrabenen Baumstämmen, an denen oben Zweige
gabelförmig so stehen gelassen waren, daß sie zusammen-
gebunden Kreuzungen bildeten, über welche ein langer
Stamm als Firstbalken zum Tragen des Daches gelegt
wurde. Das große Rohrdach wurde vom First aus an
den drei Säulen jeder Seite befestigt und weiter fort bis
zu niedrigen Flechtwerken geschleppt, die die Seitenwände
bildeten. Auf diese Weise entstand, wie die Zeichnungen
Fig. 2 u. 3 andeuten, ein dreischiffiger geräumiger Bau,
der in der Mitte eine Halle mit dem Herde und am Hinter-
gieb^l, wie es scheint, eine Art Tribüne für den Häupt-
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504 August Meitzen,
ling, in den beiden Seitenschiffen aber vier Abteilungen
zu je vier Betten (gwellys) enthielt. Zwischen den Säulen
liefen vor jeder Abteilung Bretter, auf denen man beim
Aufenthalt in der Halle saß. Die Häuser der Könige
hatten abgerindete Säulen (das weiße Haus), im übrigen
waren die der Ober- und Unterhäuptlinge, wie die der
einzelnen Tates gleich und unterschieden sich nur durch
das doppelte oder vierfache Wergeid jedes BaustQckes
bei Beschädigungen. Dieses Wergeid muß mehr durch
die Würde als die Größe bedingt gewesen sein, weil die
Fläche der Schlafstelleu und die Länge der Hölzer keine
sehr großen Unterschiede gestatteten.
Wurden die Familien zahlreicher, so wurde das Ge-
biet in Quarters, bei weiterem Anwachsen in Tates ge-
teilt. Diese Notwendigkeit trat etwa im 7. Jahrhundert
ein, und damit wurde auch der Uebergang von der Weide-
wirtschaft zum dauernden Ackerbau unvermeidlich.
Den früheren Weiderevieren entsprechend wurde jeder
Täte ihr Land im Zusammenhange zugewiesen und je
nach der Beschaffenheit und Benutzung in unregel-
mäßige Kämpe zerlegt, die, wie ausdrücklich bekundet
wird, damals zuerst von Mauern, Gräben oder Hecken um-
zogen wurden. So liegen sie noch heute, trotz der völli-
gen Veränderung der Eigentumsverhältnisse.
Die nachstehende Karte Fig. 4 giebt das schema-
tische Bild eines solchen irischen Townlands. I—IV
sind die vier Quarters, jeder mit vier Tates. Täte /// 4
ist das ursprüngliche Stammhaus des Townlands mit dem
Bufgwall. D ist das Domänenland des Häuptlings, der
darauf eine Anzahl Knechts- und Vasallenstellen ange-
setzt hat *).
Schon mit der Wirtschaft in den Tates entstand erb-
licher Familienbesitz und ein Grundadel, der die
ärmeren Clanmitglieder zu Vasallen, Knechten oder Päch-
*) Fr. Seebohm hat a. a. 0. dos Kartenbild der Bally Bai*
linderren mit den Quarters Crosheen, Cartron und Carrowna-
creggaun in Galway County, und Karte der Half-Bally of Cor-
reskallie Monaghan County in Irland S. 224 veröffentlicht, die
auch die deutsche Uebersetzung von Th. v. Bunsen S. 148 giebt.
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Beaiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 505
tem herabdrückte. Die englische Herrschaft betrachtete
die Clanhäuptlinge als Landlords und Lehnsadel der Krone.
Die übrige bäuerliche Bevölkerung aber wurde mit dem
Ausgange des Mittelalters zwar als freie Leute, aber nur
als Zeitpächter behandelt, deren iramisr ungünstiger wer-
dende Lage zu den heutigen bekannten Mißständen ge-
führt hat.
Die Verhältnisse der keltischen Gallier, welche
Cäsar vorfand, entsprachen nicht mehr der alten irischen
Flg. 4.
Clanverfassung, wohl aber erinnerten sie daran. Außer
einer mächtigen Priesterschaft, . welche sich ihre unge-
schriebenen Gesetze und Kultlieder noch aus England
holte, bestand überall bereits ein dem späteren irischen
entsprechender Grundadel mit Lehnsleuten und Knechten.
In betreff der Besiedelung aber finden sich noch heute
im größten Teile von Frankreich und namentlich in allen
südwestlichen Departements, ebenso wie in Irland, nur
einzelne Städte, aber fast gar keine größeren Dörfer,
vielmehr nur kleinere Weiler um Kirchen und Schlösser^
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50(3 August Meitzen,
und im übrigen zerstreut liegende Einzelgehöfte, welche
von den zugehörigen Grundstücken in umfriedeten un-
regelmäßigen Kämpen möglichst geschlossen umgeben sind.
Dieser Zustand entspricht auch den Schilderungen Cäsars
in betreff der Lage der Wohnplätze zu seiner Zeit, und
es ist anzunehmen, daß er die Kömerherrschaft überdauert
hat, weil die Römer, wo sie nicht Militärkolonieen an-
legten, die Verhältnisse des Grundbesitzes der Provinzialen
nicht veränderten.
Ganz entsprechend ist nun die Besiedelung
von Westfalen, Friesland und dem Niederrhein.
Vom linken Weserufer, der oberen Lippe und dem Hell-
wege ab bis zur Nordsee und dem Rhein, ebenso auch
jenseits des Rheins im Westen von Neuß und Erkelenz
und weiter in Brabant und Flandern, soweit das belgische
Tiefland reicht, finden sich überall den keltischen ganz
ähnliche Einzelhöfe.
Das Bild dieser Besiedelung ergiebt jedes betreifende
Blatt der Generalstabskarte hinreichend deutlich *).
Daß diese Landstriche früher keltisch bewohnt waren,
läßt sich kaum bezweifeln.
Cäsar fand die keltischen Menapier noch in den Land-
schaften rechts des Rheins.
In überraschenderweise stimmt überdies das west-
fälische-Haus, auf welches auch das friesische zurück-
zuführen ist, mit dem geschilderten keltischen Hause
überein. Es hat allerdings jetzt auf allen größeren Höfen
eine viel mehr in die Länge entwickelte Gestalt. Wie
die nachfolgenden Zeichnungen Fig. 5 — 7 zeigen, ist aber
der Plan derselbe und die alte Grundform findet sich
noch heute in den Gebäuden der kleinen Stellen und
Heuerlinge. Die Benutzung ist allerdings eine ganz andere
geworden, denn es wohnt nur noch eine einzige Familie
*) Veröffentlichte Flurkarten sind: Scbulzenhof Gassei, Gem.
üeberwasser bei Münster in G. Landau, Beilage zum Korrespon-
denzblatt des Gesamtvereins der deutschen Gesch.- u. Altert.- Ver.
Sept. 1859. — Natbergen, Kr. Osnabrück, Karte der Feldmark
vor und nach der Verkoppelung im Jahre 1863 u. 1804 (Salomon
& Läders, Hannover).
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 5()7
im Hause am Platze des Häuptlings, und an der Stelle
der keltischen Schlafstätten stehen Pferde und Kühe.
Cäsar erzählt nun ausdrücklich, daß sich die Teuk-
terer und Usipier in den Häusern der über den Rhein
verjagten Menapier einwohnten, bis er sie im folgenden
Jahre wieder vertrieb.
Es liegt deshalb die Folgerung sehr nahe, daß der
schroffe Gegensatz, in welchem die Besiedelung auf dem
linken Ufer der Weser zu der volkstümlich deutschen auf
Fig.
dem rechten steht, auf Uebernahme der ursprünglich kel-
tischen Anlagen durch die deutschen Zuwanderer beruht.
Dies gewinnt dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß
schon die ersten aus dem alten Herminonenlande von der
mittleren Elbe stromabwärts vordringenden ingävonischen
Stämme an der Nordsee als Hauptkultus ihres Volks-
bundes von den Kelten den Nerthusdienst, den Dienst der
Gottheit der Schiffahrt und des Handels übernahmen, und
ähnlich die später zum Niederrhein gewanderten Stämme
der Istävonen sich im Wodans - Dienst in Gegensatz zu
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)08
August Meitzen,
dem uralten herminonischen Zeus-(Irinins-)Kultus stellten.
Wodan ist zwar ein Kriegsgott, aber ein runenkundiger,
überlegter, kenntnis- und listenreicher, und keineswegs
sittenstrenger Freigeist, ein Abglanz überlegener Bildung.
Er ist ersichtlich unter dem Einflüsse keltischer Kultur
zum Bundesgott erhöht.
Jedenfalls ist die Frage nach dem Gegensatze der
Dörfer und der Einzelhöfe, sowie der deutschen und der
Fig. «.
keltischen Kultur eines der interessantesten Probleme,
vor das sich die Landeskunde Deutschlands gestellt sieht.
Es kommt dabei in Betracht, daß die herminonischen
Mutterstämme noch durch Jahrhunderte in sporadischem
und halbnomadischem Anbau gelebt haben können, wäh-
rend ihre in die nassen und stürmischen Küstenstriche
gewanderten Zweige, welche bei der damaligen ünbe-
wohnbarkeit der Marschen dort nur spärliches und bereits
kultiviertes Anbauland vorfanden, gewiß Veranlassung
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Besiedelung, Hausbau und landwii-tschaftliche Kultur. 509
hatten, diese Landstriche in gleicher Weise weiter zu be-
nutzen, wie sie sie von den Vorbesitzern überkamen.
Natürlich aber paßten sie vieles, wie das Haus, ihren
Sitten an. In diesem Sinne läßt sich auch die den Kelten
fremde Marken- und Hufenverfassung Westfalens
auffassen. Den Friesen ist beides ebenfalls unbekannt.
Die Hammerke Frieslands sind Anlagen von Meliorations-
genossenschaften, wie die Eindeichungen. In Westfalen
Fig. 7.
y
X
\C
r
=£/
9
9 !
dagegen ist das nicht zu den Höfen gehörige Land als
Mark betrachtet worden. In diesen Marken aber erscheint
in der sächsischen Zeit vielfach das Märkerrecht, Echt-
wort, nach Hufenrecht, und ebenso der Heerbann nach
der Hufe verteilt, obgleich mit den Einzelhöfen der Be-
griff der Hufe kaum zu vereinigen ist und sich bei ihnen
auch später überall wieder verloren hat. Aus Marken-
teilen stammen ferner die den Kelten ebenfalls fremden
Esche undVöhden, Ackerländereien, welche einer An-
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510 A.ugust Meitzen,
zahl Xachbarhöfeii gemeinschaftlich gehören, nicht in
Kämpe, sondern in Gewanne eingeteilt sind und unter
FlurzVang bewirtschaftet wurden.
Die Zeichnunsren Fig. 6 u. 7 erläutern sich dahin: a ist das
p]ingangsthor. h die Diele (Tenne), c Estrich, d Stand des Rindviehs,
e der Pferde, f Krippen, q DüngeröfFnungen, h Bühnen, auf denen
das Gesinde schläft, i Bodenraum für die (Getreideernte, k Vorrats-
kammer. / Hausrauni (Fleeti, m Glastüren, n fußhoher Herd,
o Waschfaß, p Kßtisch, q Schlaf bühne des Wirts in kleinen Häusern,
r Schlaf kam mer in größeren mit *? Ehebett, t Kammer für Kinder
oder Mägde, m unterkellerte Wohnstube, v in neueren Häusern be-
wegliche Holzwand, iv Fohlenstall, x Kälberstall, y Schweinstall,
z Gänseställe. (Der Boden und die landwirtsch. Verhältnisse des
13reuß. Staats, Bd. II, S. 132.) — Ueber das Verhältnis des friesi-
schen Hauses zum M-estfälischen vergl. unten Abschn. II, 3.
3. Romiscbe Siedelnngen in Deutschland.
Die Römer gingen nicht aus einer ungemischt natio-
nalen Volksgrundlage hervor. Ihr Staatswesen entstand
spät nach bewuläten Anschauungen. Soweit sie überhaupt
Ansiedelungen angelegt haben, beruhen dieselben auf dem
planmäüigen Messungswesen der Gromatiker. Wie die
Lagerabsteckung in Parallelen vom Mittelpunkte des sich
rechtwinklig kreuzenden Decumanus und Cardo maximus
au.sging, kamen auch Straßen und Mauern einer Stadt-
gründung durch das Groma zur Feststellung.
Die Aeckcr der Militärkolonieen aber wurden ebenso
in quadratischen oder oblongen Rechtecken assigniert,
deren 20 und 12 Fuü breite Grenzen die Zugangswege
bildeten. Diese Rechtecke umschlossen je 1 Centurie von
200 oder 210 jugera gleich oO,? oder 59,2 ha, welche zu
Augustus* Zeit in der Weise an Veteranen verteilt wurden,
daß der gemeine Soldat 06 v, der niedere Offizier 100,
<ler höhere 13*^^3 j. erhielt. In Italien, namentlich in Cam-
panien sind solche Aufteilungen vollständig erhalten. In
Süddeutschland und den Rheinlanden sind bis jetzt trotz
der großen Zahl aufgegrabener römischer Villen nicht
einmal Spuren aufgefunden. Sie sind deshalb, wenn solche
Militärkolonisationen durch Assignation in der späteren
Kaiserzeit überhaupt noch in Uebung waren, durch die
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 511
deutsche Besitznahme in der Völkerwanderung völlig ver-
tilgt worden.
4. Slawische Siedelungen in Deutschland.
Ursprünglich slawisch besiedelte Gebiete in
alter Verfassung sind nicht mehr leicht aufzufinden.
Teils trafen die Slawen bei ihrem Vordrängen auf griechisch-
römisches Gebiet, teils auf deutsches. Allerdings läßt
sich wegen der Leichtigkeit der Wanderungen der vandi-
lischeu Ostgermanen kaum bezweifeln, daß dieselben zu
Attilas Zeit noch fast nomadisch lebten, und selbst die
östlichen Sueven können wegen der völlig mangelnden
Spuren nur ganz leichte Häuser errichtet haben, deren
Bild sich uns noch in den Hausurnen ^) erhalten haben
dürfte. Die Slawen werden also bis zur Elbe und Saale
wenig mehr als seit gewisser Zeit benutzte, zerstreut be-
legene Ackerflächen vorgefunden haben, deren etwaige
Abgrenzungen ohne Beziehung zu stehenden Wohnstätten
keinen Einfluß auf die neue Anlage von Besiedelungen
üben konnten. Aber einerseits ist der gesamte Osten
seit der Karolinger Zeit bis auf die neueste Gegenwart
intensiv von dem Einflüsse deutschen Agrarwesens durch-
drungen und umgestaltet worden; andererseits ist Li-
tauen durch finnische Einwanderung und Rußland durch
die Tatarenherrschaft und die seit dem Ende des IG. Jahr-
hunderts erfolgte Einführung des Mir wesentlichen Ver-
änderungen unterworfen gewesen. Es gehören deshalb
spezielle Untersuchungen dazu, festzustellen, in welchen
Gegenden, ja selbst in welchen Orten noch altslawische
Verbältnisse aufgesucht werden können.
*) A. Meitzen, Das deutsche Haus. Berlin 1.S82. Taf. IV u.
V, S. 21. — R. Henning, Das deutsche Haus. Straßburg 1SS2.
S, 178. — R. Virchows Untersuchung in Zeitschrift für Ethno-
logie und Anthropologie. Jahrg. 15, V. Berlin 1888. S. 319 (Ita-
lische Prähistorie) hat festgestellt, daß die italischen Hausurnen
der altitalischen Zeit angehören. — R. Virchow, Sitzungsberichte
der Berliner Akad. d. Wissensch. 1883. XXXVII, lieber die Zeit-
bestimmung der italischen und deutschen Hausumen.
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512
August Meitzen,
Indes hat die slawische Ansiedelungsweise teils in
der Form der Dorf lagen, teils im Besitzrecht Eigentüm-
lichkeiten gehabt, welche diese Untersuchung erleichtem.
In den Dorfanlagen haben die Slawen durch Plan-
mäßigkeit und zwar in zwei bestimmten, fast ausschließ-
lich auftretenden Formen ihren Ansiedelungen einen dem
Flg. 8.
volkstümlich deutschen durchaus entgegengesetzten Cha-
rakter gegeben.
Der Plan des Runddorfes Fig. 8^) gehört vor-
^) Kartenbilder der Dorf beringe: Zagkwitz in V. Jacob i,
Forschungen über da« Agrarwesen des altenburgischcn Oberlandes,
der zuerst darauf hinwies flllustr. Zeitung. Leipzig. Weber 1845).
— G. Landau (Beilage z. Korresp.-Bl. iyt)2). Tiefengruben bei
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 513
2ugsweise den westlichen, wendisch-sorbischen Stämmen
an. Er ist ein fächerförmiger. Die Gehöfte liegen eng
gereiht im Kreise oder hufeisenförmig um einen runden
oder ovalen Platz, der ursprünglich nur einen Zugang
hatte. Nach außen aber folgt hinter jedem Gehöft ein
keilförmig sich verbreiternder Baumgarten, der häufig
noch gegenwärtig mit hohem Holze besetzt ist, und das
Fig. 9.
■Ganze wird von einer beinahe kreisförmig fortlaufenden
Hecke umschlossen.
Berka an der Um. — Müncherode, W. v. Jena. — Rucknitz
bei Bautzen. — Festschrift zur Säkularfeier der k. landwirtechaftl.
GeseUsch. Celle. 1884. Zeichnung Bl. 3. Putball, Witzetze,
Trebuhn, Simander, Bockleben, Prezier, Predöhl
und C r i w i t z im Lemgow bei Lüchow. — Domnowitz, Kr.
Trebnitz, Meitzen, Codex dipl. siles. Bd. IV, S. 62. Boden u. s. w.
B. a. 0. Bd. 1, S. 3(32. Ausbreitung der Deutschen u. s. w. a. a. 0.
S. 39. Deutsche Dörfer, Zeitschr. f. Ethnol. Berlin. Jahrg. IV. 1872.
Heft 3, S. 144.
Anleitung zar dentachen Landes- und Volksforschung. 33
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514 August Meitzen,
Der Plan des Straßendorfes Fig. 9^) herrscht
von der Oder an im gesamten Osten. Die Gehöfte liegen
in zwei eng gedrängten Reihen an einer breiten Straße^
haben jedes hinter sich in gleicher Breite einen Gras-
garten, so daß sie alle rechtwinklig auf die Straße stoßen,
und rückseitig durch eine meist in gerader Linie fort-
laufende Hecke gegen die Ackerflur abgeschlossen werden.
Die Straße ist in der Regel so breit, daß auf beiden
Seiten längs der Gehöfte Wege fortlaufen, in der Mitte
aber noch Kirche und Kirchhof, auch Schmiede, Schule
und als Viehtränke ausgegrabene Wasserlöcher Platz finden.
Dem Besitzrechte nach beruht das Siedelungswesen
der Slawen auf der sog. Hauskommunion oder dem
kommunistischen Zusammenleben der gesamten Familie.
Auch bei ihnen regiert wie bei den Kelten ein Familien-
haupt, ein Staressina, ein Aeltester, die in einen Haus-
halt bis zu 40, ja 60 Personen vereinigte Familie. Aber
die Familienmitglieder besitzen gar kein persönliches
Eigentum außer Waffen, Beute und Brautschmuck. Es
besteht auch keine gesonderte Feldnutzung, sondern Ar-
beit und Haushalt sind völlig gemeinschaftlich und liegen
ebenso wie die Kasse in der Hand des Staressina, welcher
patriarchalisch alle Anordnungen trifft, indes durch Wahl
ersetzt werden kann. Im Hause regiert seine Frau.
Das Land einer Zadruga bildet also ein einziges ge-
schlossenes Ganze. Wenn die Familie aber allzusehr an-
wächst und nicht anderes Land okkupiert werden kann,
so werden die gemeinsamen Grundstücke geteilt und zwar
nach Stämmen unter der Fiktion, daß die Söhne des Be-
gründers der Familie noch lebten, und gleiche Teile er-
*) Kartenbilder sind wiedergegeben : Lichtenberg im Lem-
gow bei Lüchow. Festschr. Celle: Bl. 3. — Domslau, Kr. Breslau,
Meitzen, Codex dipl. siles. Bd. IV, S. 24. Der Boden u. s. w.
Bd. I, S. 363. Ausbreitung der Deutschen u. s. w. a. a. 0. S. 43.
— Krampitz, Kr. Neumarkt. Ebenda Cod. S. .54. Ausbr. S. 45.
— Tschechnitz, Kr. Breslau. Ebenda Cod. S. 44. Ausbr. S. 46.
— Wach au bei Leipzig, Karte von der Flur vor und nach der
Zusammenlegung (Wilhard in Dresden) in der Festschrift für die
25. Versammlung deutscher Land- und Forstwirte zu Dresden 1865
von Reuning. — Neuenmörbitz, Hgt. Altenburg in V. Jacobi.
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ßesiedelung, Hausbau and landwirtschaftliche Kultur. 515
hielten ^). Dadurch werden neue Zadrugas begründet, unter
denen jeder Zusammenhang aufhört. Da die Teilung aber
für jedes besonders kultivierte oder nutzbare Grundstück
im einzelnen ausgeführt wird, und sobald eine der neuen
Zadrugas im Laufe der Zeit wieder teilen muß, sich die
gleiche Weise wiederholt, so können die Grundstücke einer
slawischen Flur sehr unregelmäßig durcheinander liegen.
Dazu kommt, daß das volkstümliche Ackergerät
der Slawen ein leichter Haken war, mit welchem nicht
wie mit dem deutschen Pfluge in Längsfurchen, sondern
lang und quer über Kreuz geackert wurde, deshalb legten
sie keinen Wert auf Teilung des Ackers in Parallelstreifen,
sondern teilten in Blöcke von beliebiger Form*).
Diese Feldeinteilungen sind allerdings durch die
Deutschen fast auf dem gesamten Gebiete Deutschlands
völlig umgestaltet. Alle Landeinteilung nach Haken oder
Pflügen, nach kleinen oder großen, polnischen oder deut-
schen Hufen beruht auf der Einführung deutscher ge-
messener Zinspflichtigkeit. Aber es giebt doch noch in
Oberfranken, im Meißener Lande, in der Oberlausitz und
im südlichen Böhmen, sporadisch auch in Schlesien und
Pommerellen noch Reste, welche Anschauung und Ver-
gleichung gestatten^).
5. Siedelnng und Agrarwesen in Süddentsclüand nnd am
Mittelrhein.
Wie sich nach diesen Angaben über den Bestand an
ursprünglichen und unveränderten nationalen Ansiede-
lungen in Deutschland ergiebt, nehmen die gemischten
Siedelungs gebiete den bei weitem überwiegenden Teil
ein. Indes läßt sich die Frage bezüglich derselben überall
auf den Einfluß beschränken, welchen das deutsche Agrar-
wesen örtlich auf das frühere keltische oder slawische
ausgeübt hat.
*) Fr. S. Kraus, Sitte und Brauch der Sadslawen. Wien 1885.
^) Nach Bemerkungen von J. Peisker über das südliche
Böhmen. (Zädruha na Prachensku, Athenaea, V, 1888.)
') Vergl. Cod. dipl. sil. Bd. IV. Domnowitz.
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516 August Meitzen,
In dieser Beziehung ist geschichtlich hinreichend be-
kannt, zu welcher Zeit und unter welchen Verhältnissen
die einzelnen Gebiete germanisiert wurden.
In dem großen Landesabschnitte Süddeutschlands
östlich der Vogesen, vom Thüringerwalde bis zu den
Alpen und von den Vogesen bis zum Böhmerwalde, fand
Cäsar schon auf dem alten Sequanergebiete in der Rhein-
pfalz Vangionen, Nemeter und Tribocer als kürzlich ein-
gedrungen vor. Seit Tiberius waren Hermunduren und
Marcomannen im festen Besitz des Gebietes nördlich der
Donau außerhalb des Limes. Seit dem Marcomannenkriege
drangen Uaipier, Tubanten, Tenkterer, die am Odenwalde
saßen, und verschiedene mit ihnen als Alemannen ver-
schmolzene Chatten- und Suevenstämme zwischen den
Vogesen und dem schwäbischen Jura, die suevischen
Juthungen zwischen diesem und dem Lech, und marco-
mannische Bajuvaren zwischen Lech und Enns gegen die
Alpen vor und wurden auf diesen Gebieten nach dem
Sturz der Ostgoten Herren bis zur heutigen Sprachgrenze.
Ihre Ansiedelungen entsprachen in der Pfalz, dem
gesamten Elsaß, dem badischen Rheinthal, der Mitte von
Württemberg, in Schwaben mit der Nordschweiz, im
Hermundurenlande, vom Main bis zur Tauber und Rezat,
und im Bajuvarengebiete vom Lech bis zur Isar und zur
Mangfall im Südwesten völlig*) den heimischen volks-
^) Kartenbilder sind veröffentlicht: aus Hessen in L. Frohn-
häuser, Das große Hobsgut des Wormser Andreasstifts in der
Mark Lampe rtsheim. Archiv f. hess. Gesch. u. Altertumskunde.
Darmstadt 1880. Bd. XV, Heft 1, S. 126. - Aibling bei München.
Plan über die Zusammenlegung der Grundstücke in den Gemein-
den Aibling, Harthausen, Unnosen u. s. w. vom landwirtschaftlichen
Zentralverein für Bayern. 1862. — Bichis hausen. Oberamt Mün-
singen, in: Must«rpläne zu neuen Feldweganlagen, Feldeinteüungen
und Zusammenlegungen herausg. von der k. Zentralstelle für die
Landwirtsch. Stuttgart. Heft 1854, Bl. Ja. — Delmensingen.
Oberamt Laupheim, dgl. Heft 11, 1868, BI. 14. — Marbaoh, Ober-
amt Riedlingen, dgl. Bl. 9 — Hai Hingen, ebenda, dgl. Bl. 5.
— AUeshausen, ebenda, dgl. Bl. 1. ~ Rohrdorf, Oberamt
Wangen, dgl. Heft I, Bl. 5a. -— Bierstetten, Oberamt Saulgau,
dgl. Bl. 4a. — Ebenso waren die Anlagen der Angelsachsen: vergl.
Hitcliin, Township N. v. London. Middlesex 1816. — Mush
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 517
tümlichen Anlagen des Chatten- und Suevenlandes. Es
sind Haufendörfer in Gewannen mit Hufenverfassung
und Flurzwang. Sie zeigen, daß diese offenen und leicht
zugänglichen Landschaften von fruchtbarer und ziemlich
ebener BodenbeschafFenheit beim Eindringen zuerst besetzt
und volksmäßig in Besitz genommen wurden.
Zwischen ihnen aber finden sich tiberall auf den
bergigen Höhen und Hängen, in Heide und Moor und in
sonst ungünstigen Lagen Einzelhöfe und Weiler oder
auch Dörfer, deren Feldeinteilung die grundsätzliche Gleich-
heit der einzelnen Hufen des volkstümlichen Dorfes er-
sichtlich außer Rücksicht läßt.
Es ist klar, daß dadurch ein wesentlicher und durch-
greifender Unterschied gegeben ist. Volksgenossen
können ohne unlösbaren Streit nicht anders als nach
gleichen oder verhältnismäßigen Anteilen teilen. Un-
gleichartige Bodenverteilungen müssen von der tiber-
raächtigen entscheidenden Bestimmung eines Grundherrn
abhängen, der verleihen kann, wem er will und wie er
es für gut hält. Diese Neuerung hängt sehr erklärlich
mit den weiteren Eroberungen und der Entwickelung der
Königs- und Adelsherrschaft zusammen, welche die Zeit
der späteren Völkerwanderung und des Frankenreiches
mit sich brachte.
Das Bild einer solchen Flur giebt Fig. 10*).
Wymondley, Pavish 1808, in Fr. Seebohm, The English Vil-
lage Community. London 1HH3. S. 1, 6, 2(5 u. 432.
*) An Karten sind veröffentlicht: Nehmetsweiler, Oberamt
Ravensburg, in: Musterpläne a. a. 0. Heft II, BI. 11. — Bisch-
manns hausen, Oberamt Riedlingen, dgl. Bl. 3. — Hasen weil er,
Oberamt Ravensburg, dgl. Bl, 7. — Eiselau, Oberamt Ulm, dgl.
Bl. 4. — Kreuz Pnllach, Oberbayem. S. v. München. — Oeden
Pullach, dgl. — Daigstetten, dgl., in: Heinr. Ranke. Ueber
Feldmarken in der Münchener Umgebung, Beiträge zur Anthropo-
logie u. Urgesch, Bd. V. München 18H2. — Vettersbaoh, Gem.
Thalgau, Herzogt. Salzburg, in: K. Peyrer, Die Zusammenlegung
der Grundstücke u. s. w. in Oesterreich u. Deutschland. Wien 1873.
— Ganz Bayern ist indes im Zusammenhange im Maßstab von
1 : 5000 lithographiert und jedes Blatt von etwa 4 D-Fuß einzeln
für 80 Pfennig käuflich, so daß mit Leichtigkeit ein Bild jeder Flur
erlangt werden kann. Aehnlich sind auch die württembergischen
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518
August Meitzen,
Ein zweites Mischgebiet ist Rheinland südlich
des Limes.
Flg. 10.
Hier liegen schwierige Fragen der Entwickelung
der Frankenstämme. Agrippa verpflanzte 38 v. Chr.
und österreichischen Katasterkarten in Steindruck käuflich, haben
aber den doppelten Maßstab. Baden und Elsaß lassen nur Ueber-
sichtskarten im Maßstab von 1 : 10000 erscheinen.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 519
die Ubier in die Oegend zwischen Gellep bei Neuß und
den Vinxtbach bei Andernach. Tiberius siedelte 8 u. Chr.
weiter rheinabwärts Sigambern an. Um 60 n. Chr. müssen
ihnen stammverwandte Ansivaren, die aus dem Emslande
von den sächsischen Bructerern und Chauken verdrängt
wurden, die Gaue zwischen Ruhr und Wied, und Mitte
des 2. Jahrhunderts sigambrische Franken und Chama-
ven die Rheinufergebiete links und rechts der Yssel in
Besitz genommen haben. Schon unter Julian und Valen-
tinian kämpften rheinauf und -ab Franken und Alemannen,
dann Franken und Burgunden. Um 412 eroberten die
rechtsrheinischen Ansivaren das gesamte Gebiet der Ubier
und Trevirer und gründeten das starke Reich der Ripuarier.
Im Jahre 508 aber ermordete Clodwig ihren König und
übernahm die Herrschaft in Personalunion zum Franken-
reiche.
Ganz Ripuarien ist mit Ausnahme der schroffen und
rauhen Gebirgslagen des Sauerlandes volkstümlich in Ge-
wannen besiedelt, im schroffen Gegensatz zu den unmittel-
bar nördlich der alten Ubiergrenze beginnenden Einzelhöfen
des Niederrheins *).
Von dem vereinigten Rheinlande aus eroberte Clod-
wig auch das alte Chattenland und die alemannischen
Main- und Neckarländer, und begründete so ein in seinem
Volkstum ziemlich gleichartiges Zentrum seiner bald zum
Weltreich anwachsenden Frankenherrschaft. Von
diesem Zentrum, das sich um das Ripuarierland, die Hei-
mat der Karolinger, gruppiert, gingen die weiteren neuen
Entwickelungen des deutschen Agrarwesens und haupt-
sächlich auch die anwachsenden Volksmassen aus, die
diese Vorgänge bedingten.
*) Kartenbilder sind veröffentlicht: Lommersdorf, Kr.
Schieiden (nur Teil), (Reg.-Bez. Aachen, Kr. Schieiden, Gem. Lom-
mersdorf, Teil der Flur XIV; Georg Billig in Aachen). — Mühl-
pfad, Kr. St. Goar, in K. Lamprecht a. a. 0. Bd. L S. 363. —
Sühn, Kr. Bittburg, dgl. S. 361. — Filsch, Kr. Trier, dgl. S. 454.
— SaarbÖlzbacfa, Kr. Merzig, in: Die Teilung und Zusammen-
legung der geböferschaftlichen Ländereien, zu Saarhölzbach (von
Otto Beck). Trier 1864. Meitzen, Der Boden u. s. w. Bd. L
S. 353, und Zeitschr. f. Ethnol. Jahrg. IV. 1872. Heft 4, S. 137.
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520 August Meitzen,
Das Frankenreich brachte durch innere Notwendig-
keit die volkstümliche Verfassung der deutschen
Stämme in Verfall und verhinderte damit auch weitere
volkstümliche Ansiedelungen.
Auf die Bevölkerung der römischen Provinzen konnte
unmöglich die deutsche Volksgemeinde übertragen werden.
Der König wurde über sie Herrscher durch Eroberung^
zugleich Nachfolger der Cäsaren, und von der Geistlich-
keit als biblischer König behandelt. Die Verwaltung
überwies er seinen Getreuen im Sinne von Kriegskom-
missaren. Das Land, soweit es nicht im Privateigentum
stand, und alle nutzbaren fiskalischen Rechte an letzterem
betrachtete er als sein Eigen und als seine Finanzquelle.
Er verlieh davon im Drange des Bedürfnisses und per-
sönlicher Neigung so viel an Geistliche und Weltliche^
dass der Krone fast nichts mehr übrig blieb. Das nur
Verliehene wurde bald erblicher Besitz.
Diese Ländereien der Kirche und der Großen waren
aber in eigener Wirtschaft nicht nutzbar zu machen,
sondern mußten an Zinsbauern weiter vergeben werden-
Zugleich ging die Gemeinfreiheit mehr und mehr durch
die Heerbannslast, durch Verarmung und Vergewaltigung
unter. Karl der Große machte allerdings noch einen
Versuch, auf die alten Volksgerichte und Volksgesetze
eine bureaukratische Staatsorganisation aufzubauen. Mit
seinem Tode aber war entschieden, daß der Staat im
wesentlichen in Territorialgewalten aufging. Gericht und
Verwaltung auch über die freien Insassen kam durch
Lehn, Schutzbedürfnis und Immunitätsprivilegien mehr
und mehr in die Hände der aus den Stiftern und dem
Lehnsadel hervorgehenden großen und kleinen Grund-
herren, und behielt dabei meist nur gewisse Formen,
wenig vom Wesen der Volksverfassung.
Für die agrarischen Zustände folgte daraus, daß,
nachdem auch das Sachsenland unterworfen war, An-
siedelungen nicht mehr aus der alten Volksgemeinde her-
vorgehen konnten. Es waren wohl noch die wenigen
frei gebliebenen Bauernschaften in der Lage, in ihrer
Allmende eine Tochtergemeinde in alter Weise zu be-
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 521
gründen. Vielleicht konnte sich auch eine Markgenossen-
schaft in solcher Verfassung erhalten haben, daß sie die
Ansetzung eines Dorfes auf ihren Gründen zu beschließen
vermochte. Aber im wesentlichen war alles ungeteilte
Land Staatsland oder grundherrlich geworden, und wenn
der Obereigentümer auch den bestehenden Besitz und die
herkömmlichen Nutzungen unangetastet ließ, Neubesiede-
lungen hingen doch von seinem Willen und seinen Plänen
ab und erhielten entsprechende Einrichtungen.
Schon vom 6. zum 9. Jahrhundert, in Zeiten ver-
hältnismäßiger Ruhe, wuchs die Volksmenge so an,
daß sich die Rodungen in den Waldungen und Wüstungen
des Staates, der Kirche und der Privaten, wie auch der
Ausbau in den Allmenden sehr erheblich ausdehnten.
Eine zweite Periode, welche noch weiter in das bis dahin
als unkultivierbar behandelte Berg- und Sumpfland ein-
griff, begann im 11. Jahrhundert und setzte sich bis ins
13. fort. Arnold und Lamprecht haben in lehrreicher
Weise gezeigt, wie aus dem Orts- und Gewannnaraen auf
Art und Zeit dieser Vorgänge geschlossen werden kann *).
Wenn für solche Neuanlagen nur alte Ortschaften
erweitert wurden, war natürlich, daß dabei der Charak-
ter der letzteren keine wesentliche Veränderung erlitt.
Es konnten die Gewanne hinausgesöhoben und Teilung
der Hufen durch dieses Neuland ermöglicht werden. Es
konnten auch kleine Stellen entstehen und mit demselben
ausgestattet werden. Dies war auch durch erbliche Land-
leihen, durch Prekarien oder durch Pachtland und Wein-
bau auf den Allmenden oder auf gutsherrlichen Rode-
ländern thunlich. Diese auch bei Pacht auf die Dauer
berechneten Verhältnisse entwickelten sich je nach den
') K. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben Bd, I, S. 141 ff.
— Arnold, Ansiedelungen und Wanderungen deutscher Stämme.
Marburg 1875. — Vergl. auch: P. Gas sei, Ueber thüringische Orts-
namen. Erfurt 1856. — Wald mann, Die Ortsnamen von Heili-
genstadt. Progr. 185(). — Fuß, Probe eines erklärenden Verzeich-
nisses elsaß-Iothringischer Flurnamen. Progr. d. kath. Gymnasiums.
Straßburg 1884 und 1887. — Bruno Stehle, Orts-, Flur- und
Waldnamen des Kreises Thann im Oberelsaß. Straßburg 1887.
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522 Augast Meitzen,
Umständen zu Gehöferschaften oder zu bleibendem Eigen-
tum. Alle solche Vorgänge sind vielfach belegt^).
Auch wo es sich um Neugründungen handelte,
sind die Grundherren, wie viele Fälle ergeben, häufig
der alten volkstümlichen Weise gefolgt. Obwohl sie
schwerlich völlig freie, sondern eigene oder hörige Hüfner-
gemeinden ansetzten, so folgten sie doch dem Grundsatze
der Gewanne und vermochten dadurch in Größe, Güte,
Entfernung und Leistungsfähigkeit jeder Art völlig gleiche
Hufen zu vergeben. Aber für keinen Grundherren war
eine solche Art der Verleihung eine Notwendigkeit, und
es traten deshalb mit der Grundherrlichkeit einige ganz
neue Erscheinungen auf.
Bei den Verleihungen des Königs nach der oben
S. 16 erwähnten Königshufe wurde mit einer besonderen
Virga regalis ein Grundstück von 120 Morgen mit zu-
sammen 21(300 n Ruten in verschieden gestalteten Flächen
aufgemessen. Die Königshufen kommen am Rhein häufig
als Einzelhöfe rund geschlossen, auch weilerartig, mehrere
mit unregelmäßiger Vermengung der Grundstücke zu-
sammenliegend, oder in Dörfern mit fast gewannartig im
Gemenge liegender Flur, endlich aber auch in der Form
der Marsch- und der Waldhufen vor. Der Ursprung
dieser beiden Hufenarten führt, wie es scheint, ebenfalls
auf die Karolinger Zeit zurück *).
Die Marschhufe ist in Holland schon seit Beginn
der großen Seedeichungen angewendet worden, welche
die Verteilung des Marschlandes zur Ackerkultur möglich
machten. Sie besteht in der Regel aus fünf oder sechs
ziemlich genau 5 m breiten, von Gräben eingefaßten und
vom Deiche aus geradlinig in die Marsch fortlaufenden
Parallelstreifen ^). Die Dorfstraße bildet der Deich, und
») Meitzen in Schönbergs Handbuch, 2. Aufl., Bd. II, S. 165.
') Kartenbilder und Erläuterung inE. Lamprecht, Deutsches
Wirtschaftsleben u. s. w. Bd. I, S. 353, über: Boos bei Sobemheim,
Kr. Kreuznach. Koxhausen mit Hütten, Herbstmühlen
und Berscheid, Kr. ßitburg. D in spei und Oberdinspel,
Kr. Neuwied.
') Kartenbilder für V a h r und Neuland bei Bremen auf der
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 523
die Gehöfte liegen an dessen innerer Böschung. Jeder
Streifen ist vom Gehöft aus zugänglich. Querwege sind
seltene Ausnahmen. Die Gräben sind so breit, daß sie
nur mit dem Springstock übersprungen werden können.
Sie dienen zur Entwässerung; mit dem tief ausgehobeneu
Boden wird der Ackerstreifen erhöht, und sie halten zu-
gleich das Weide vieh des Hofes ohne Hirten auf dem
ihm eingeräumten Weideschlage fest. Die einzelnen Höfe
stehen mit ihren Nachbarhöfen nur politisch und durch die
Pflichten der Eindeichungs- und der Entwässerungsanlagen
in Beziehung. Die Grundstücke aller aber bilden lange
und verhältnismäßig schmale, in genauem Parallelismus
nebeneinander liegende, geschlossene Streifen. Die ersten
1106 in Deutschland urkundlich erwähnten Marschhufen
zeigen deutlich den Zusammenhang mit der Königshufe,
denn sie sind dem Vertragsinhalte nach mit der Virga
regalis 720 Ruten lang und 80 Ruten breit zugemessen
und enthielten thatsächlich 48 h.
Auch die Wäldhufe läßt sich in mehreren Fällen
nach Bezeichnung und Maß als Königshufe (Mausus re-
galis) nachweisen. Sie hat aber einen allgemeineren Cha-
rakter. Sie besteht ebenfalls wie die Marschhufe aus
einem einzigen geschlossenen Streifen Landes, auf dessen
Mitte oder an dessen Ende das Gehöft liegt, und enthält
in der Regel eine Fläche von 30 — 36 h. Sie läßt sich
schon 793 nachweisen, und in gleiche Zeit fallen auch
Hufen gleicher Art von 48 h Fläche in Reichsforsten.
Die Wald- oder Hagenhufe (indago, novale), deren
Bild Fig. 11 *) giebt, wurde gewöhnlich bei der Rodung
Karte von dem Gebiete der fr. Hansestadt Bremen von H. Thätjen-
horst un(\ A. Dautze. 1851 u. ff. — Alte Land bei Stade in:
Festschrift zur Säkularfeier der k. landwirtschaftl. Gesellsch. Celle
1864, Zeichnung ßl. 4, und Meitzen, Ausbreitung der Deutschen
u. 8. w. S. 32. — Karte des Hamburger Gebietes in 1:10000.
Auf jeder größeren topographischen Karte deutlich zu erkennen.
Vergl. auch unten Fig. 12.
*) Kartenbilder und Erläuterungen sind veröffentlicht: Wol-
persdorf, Hgt. Aitenburg in V. Jacob i, Forschungen a. a. 0. —
Mittweida mit Frankenau, Topfseifen, Königshain,
Köllingshain; Clausnitz, Markersdorf, Garndorf in:
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524
August Meitzen,
Fig. 11.
und Kolonisation von gebirgigem Waldterrain an-
gewendet. Der Unternehmer bezeichnete im Thal am
Meitzen, Ausbreitung der Deutschen a. a. 0. S. 28. — Schön-
brunn, Kr. Sagan. Ebenda S. 27, und Cod. sil. Bd. IV. S. 72.
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BesiedeluDg, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 525
Bach die geeigneten Stellen für die Gehöfte in der be-
absichtigten Hufenzahl, suchte für jedes Gehöft den Thal-
abhang in die Höhe eine wegen des Erfordernisses der
Fahrbarkeit oft recht gekrümmte Weglinie auf und maß
dann die einzelnen Hufen so zwischen diese Wege ein,
daß womöglich kein Weg die Grenze der zugehörigen
Hufe überschritt. Die Hufenstreifen erhielten deshalb
ebenfalls eine oft sehr gewundene Figur, und es war un-
möglich, den verschiedenen Hufen untereinander gleiche
BodenbeschafFenheit zu gewähren. Der Unterschied wurde
deshalb durch größere Fläche einigermaßen und so weit
ausgeglichen, daß noch immerhin allen Hufen gleiche
Lasten auferlegt werden konnten. Aber wirklich gleicher
Wert war keineswegs zu erreichen, und für eine Genossen-
schaft mit gleichen Anrechten wäre eine solche Vertei-
lung selbst durch das Loos unausführbar gewesen. Der
Gutsherr aber konnte befehlen oder dem einzelnen Zu-
wanderer überlassen, anzunehmen oder nicht.
6. Die deutsche Eolonisatioii des slawlsoheii Ostens.
Diese auf den alten karolingischen Gebieten vorge-
bildeten Siedelungsformen fanden ihre schärfere Fort-
entwickelung und weit verbreitete Anwendung bei der
Ausdehnung des deutschen Agrarwesens auf die
allmählich germanisierten Slawenländer.
Diese Ausbreitung wurde schon durch Karls des Großen
Awarenkrieg eingeleitet. Bereits aus 811 besitzen wir
eine Urkunde über Verleihung von 40 Hufen in Awarien,
895 über 8 regales mansos in ßichenberg an der Save.
903 über 5 Hufen und verschiedene Dörfer deutschen
Namens an der kleinen Krems. Aber dies sind nur spär-
liche Reste. Ludwig gestattete jedem, der Ansiedelungen
anlegen wollte, dort Besitz zu ergreifen. Diese Anlagen
wurden indes wahrscheinlich alle von den Ungarn wieder
vernichtet und erstanden erst im 10. und 11. Jahrhundert
von neuem.
Boden u. s. w. Bd. I, S. 358. — Zedlitz, Kr. Steinau, dgl. Auch
auf den publizierten Meßtischbliittem von 1 : 25000 überall erkennbar.
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526 August Meitzen,
Mit 805 beginnt indes die bleibende deutsche Besitz-
nahme Oberfrankens bis zum Böhmerwald und Sachsens
bis zum Erzgebirge und der Elbe. Oberfranken wurde
an fränkische Ritter verteilt. Es ist sehr wahrscheinlich,
da& sie in einzelnen Orten slawischen Namens die Torge-
fundenen Besitzungen bestehen ließen; die Feldeinteilung
spricht dafür; zum Teil aber legten sie Waldhufen an,
zum Teil finden sich Weiler und neue Dorfanlagen mit
nahezu gewannartiger Einteilung.
Sachsen nördlich des Thüringerwaldes wurde
anfänglich vom Markgrafen zu Erfurt, dann von den
sächsischen Kaisern unterworfen. Die Ebenen waren hier
bis an die Saale und selbst bis über deren Mündung
hinaus, soweit nicht schwer zugängliche Waldungen und
Sümpfe die wenig ausgedehnten Slawengaue schieden,
dicht mit kleinen wendischen Ortschaften besetzt. Es ist
deren Uebemahme durch Stifter und sächsische Ritter
zuzuschreiben, daß sich im Meißenschen und um Dresden
bis zum Ausgang des Mittelalters slawische Sprache und
eigentümliche slawische Einrichtungen erhielten. Nament-
lich blieben Supane als Dorfälteste bestehen, in anderen
Dörfern waren Vicaze, Krieger, anscheinend zu bäuer-
lichen Reiterlehen herabgedrückte slawische Adlige, Vor-
stände.
Deutsche Rittergeschlechter besaßen auch die Ober-
lausitz, welche seit Arnulf v. Kärnten zwischen deutscher
und böhmischer Oberherrschaft schwankte und bis auf
die Gegenwart eine zahlreiche slawische Bevölkerung be-
halten hat.
Die Bergmassen des Thüringerwaldes, Vogtlan-
des, Fichtelgebirges und Erzgebirges aber waren
bis tief in die Vorberge hinab noch zur Ottonenzeit völlige
Waldeinöden. Nur in den Thälern um Saalfeld, Alten-
burg und Zeitz waren einige Rodungen mit slawischen
Orten besetzt. Alle diese Gebirgswälder sind von Deut-
schen mit Waldhufen besiedelt worden. Die topogra-
phische Karte zeigt überall die durch die blattrippenartig
verlaufenden Wege hinreichend charakterisierte Gestalt
derselben. Urkunden sind darüber wenige vorhanden;
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Besiedeluog, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 527
aber sie genügen zu zeigen, daß die Siedelung schon im
10. Jahrhundert begann, und die Ortsnamen beweisen, daü
die. Siedler aus allen deutschen Stämmen herbeigezogen
wurden. Die Mehrzahl bekunden sich indes als Franken.
Besonderes Interesse bieten die Dorfanlagen in der
breiten Ebene des rechten Saaleufers.
Verwüstungen verschiedener Art, üeberschwemmun-
gen der Gewässer, Brände und Zerstörungen durch Krieg
und Fehde haben in ganz Deutschland schon früh zum
Untergang zahlreicher alter Dörfer geführt, deren
frühere Existenz sich teils urkundlich, teils aus Flur- und
anderen Lokalnamen erweisen läist^). Ihre Fluren und
Allmenden sind dann mit denen benachbarter Orte ver-
einigt worden, in welche wohl auch die übrig gebliebenen
Besitzer aufgenommen wurden. Wie die Karten zeigen,
haben dann häufig Gewannregulierungen eine der neuen
Sachlage entsprechende Verteilung geschaffen. Dies zeigt
sich besonders in Schwaben am Lech, im Elsaß und
in der Pfalz in den üeberschwemmungsgebieten des
Rheins und im Thüringischen und Magdeburgischen.
Insbesondere die letzteren, der Saale und Elbe benach-
barten Gegenden Süd- und Nordthüringens hatten im
7. Jahrhundert von den heftigen Einfällen der Slawen
zu leiden, und Heinrich I. suchte sie durch Vereinigung
zu größeren Dörfern, Burgflecken und kleinen Städten zu
sichern, üebereinstimmend zeigt sich in allen diesen
Oertlichkeiten, sowohl am Lech und Rhein als an der
Unstrut und Saale, daß die Regulierungen der Acker-
fluren meist im Sinne sehr großer und regelmäßi-
ger Gewanne stattfanden, deren Hufenanteile oft über
die gesamte Ackerflur in gleichmäßigem Parallelismus
fortlaufen *). Diese Parallelstreifen werden bei Parzellie-
') Ermittelungen und Kartierungen der in Nordthüringen be-
sonders zahlreichen Wüstungen sind von Dr. Gust. Brecht ver-
anlaßt und z. B. für Quedlinburg 1885 veröffentlicht. — Vergl.
A. Straub, Die abgegangenen Ortschaften des Elsaß. Straß-
burg 1887.
') Veröffentlicht sind Karten: Großenstein bei Ronneburg
in V. Jacob i a. a. 0. — Alten Gottern und Großen Got-
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528 August Meitzen,
rungen der Hufen äußerst schmal und sind in dem Karten-
bilde nur scheinbar durch Gewendestöße unterbrochen,
die der Besitzer, soweit es der Flurzwang gestattet, je
nach seiner Feldeinteilung willkürlich innehalten kann.
Aus der Praxis dieser Regulierungen großer Gewanne
und vielleicht auch aus der Erkenntnis, daß die sehr
langen Streifensysteme gleichwohl wirtschaftlich unvor-
teilhaft sind, ist nun, wie es scheint, das Verfahren her-
vorgegangen, nach welchem in der Saaleebene slawi-
sche Ortschaften in deutsche Dörfer umgewandelt
wurden, und welches bei der Kolonisation der rechts-
elbischen Slawenländer mehr und mehr die weiteste Ver-
breitung erlangte. Während um Rochlitz, im Meißenschen
und um Dresden die kleinen slawischen Orte überwiegend
erhalten sind, ist an der Saale in der Regel von mehre-
ren nur ein geeignet belegenes bestehen geblieben und
erweitert worden. Die Flur aber ist in so große und
breite Gewanne von nicht übermäßiger Länge ein-
geteilt worden, daß auch die Breite des einzelnen Hufen-
anteils eine hinreichende blieb. Zugleich führte man die
im alten Volksgebiete nicht übliche Sitte ein, alle Gren-
zen zwischen den Hufenanteilen im Gewann durch zwei-
füßige Raine des gewachsenen Bodens zu befestigen,
deren Abpflügen sofort bemerkbar werden mußte.
Diese Umgestaltung der slawischen Besiedelung in
deutsche Huferianlagen, wobei die regelmäßige Form der
bei den Slawen üblichen Stellung der Gehöfte
beibehalten wurde, ist in Sachsen zwar unter deutscher
Leitung, aber wenigstens in den überwiegenden Fällen
nicht unter Vertreibung der slawischen bäuerlichen Be-
völkerung geschehen, vielmehr wurde es durch dies Ver-
fahren den deutschen Grundherren möglich, ihren slawi-
schen Hörigen mit der Zuweisung gleicher Hufen gleiche,
teru, Kr. Langensalza. Zeitschrift des landwirtsch. Vereins f&r
Rheinpreußen. 1861. Nr. 4. — Eberstadt bei Weimar, Karte der
Flur vor und nach der Zusammenlegung. 1856. v. Wißmann.
Ewald & Pfeffer. — Göggingen bei Augsburg, Plan über die
Zusammenlegung der Grundstücke. 1861. Landwirtschaft!. Zentral-
verein für Bayern. München.
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Besiedelang, Hausbau und landwirtschafbliche Kultur. 529
ergiebige und doch leicht und sicher zu tragende Lasten
aufzuerlegen und sie durch den Flurzwang bei gleicher,
<len Bedürfnissen entsprechender Kultur und Leistungs-
fähigkeit zu erhalten.
Die Ueberftihrung deutscher agrarischer Einrichtun-
gen in die heutigen sächsischen Lande bis zur Elbe darf
um die Mitte des 12. Jahrhunderts als im wesentlichen
beendet angesehen werden. Sie war die Vorschule für
eine viel stürmischer vorgehende Kolonisationsbewegung,
welche um diese Zeit begann und die rechtselbischen
<Sebiete bis zur Weichsel und Memel betraf.
Das Vordringen der deutschen Kolonisation in
<lie rechtselbischen Slawengebiete ist einerseits dem
Streben Adolfs von Schaumburg, Heinrichs des Löwen
und Albrechts des Bären zuzuschreiben, ihre Eroberungen
durch angesiedelte Deutsche festzuhalten und besser zu
verwerten. Andererseits entsprang es aber aus der Er-
kenntnis der slawischen Fürsten, Geistlichen und Großen,
daß die Zustände der kleinen slawischen Teilstaaten durch-
aus unhaltbar geworden waren. Der Adel dieser Staats-
wesen leistete nur Kriegsdienst, die Städte waren ledig-
lich Landesfesten, die bäuerliche Bevölkerung aber wurde
von ungemessenen und willkürlichen Lasten bedrückt,
gefährdet und von besserer Kultur zurückgehalten. Die
Erträge und beitreibbaren Einnalmien standen in steigen-
dem Mißverhältnisse zu den Finanzbedürfuissen, und die
Zeit der Kreuzzüge und Minnesänger forderte großen
Aufwand der Hofhaltungen.
Aber es ist zweifelhaft, ob die Einsicht, wie viel die
deutschen Bauernschaften für die Kultur des Landes zu
leisten vermochten, sich so rasch und allgemein verbreitet
hätte, wenn nicht die damals immer mehr überhand-
nehmenden Einbrüche der Nordsee in die niederländi-
schen und friesischen Marschlandschaften zur Aufnahme
der bedrängten Bevölkerung aufgefordert, hätten und da-
durch zugleich Kolonisten herbeigezogen worden wären,
welche seit Jahrhunderten im Kampfe mit der See große
Erfahrung und Verständnis für planmäßige Meliorations-
^nlagen gewonnen hatten.
AnleltxiDg znr deutschen Landei- nnd Volksfonchung. 34
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530 August Meitzen,
Das Auftreten der Fläminger, Holländer oder
Niederländer, bildet eine sehr beachtenswerte Einleitung
zu der Kolonisation des Ostens. Sie waren es, welche^
wie erwähnt, 11 OG die ersten Marschhufen in der Wümme-
niederung bei Bremen anlegten, und die Gedanken des
Vertrages, welchen sie mit dem Erzbischofe schlössen^
wurden maügebend für die gesamte Kolonisation.
Sie übernahmen das Land nach gemessenen Hufen
und mit genau festgesetzten, für jede Zinshufe gleichen
Lasten, deren Leistung nach einer Anzahl für die Kulti-
vierung des Landes genügenden Freijahren zu beginnen
hatte. Sie erlangten das Recht, Kirchen zu bauen, und
sicherten jeder derselben eine Hufe als Widmuth zu. Vor
allem aber wurde von Bedeutung, daß sie sich ausbedangen,
aus der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit des Landes auszu-
scheiden. Die geringen Sachen soll ihr eigener Dorfrichter
entscheiden, für größere Sachen wollen sie den Erzbischof
auf ihre Kosten herbeiholen, der persönlich ihr Richter
sein soll. Ihm fällt ein Dritteil aller Gerichtsgefälle zu.
Die Abmachungen der Fläminger hatten außerdem
das Eigentümliche, daß sie im wesentlichen nur dasjenige
Land übernahmen, welches ihnen für den Anbau ge-
eignet schien. Solange sich ihre Anlagen nur auf den
Marschen und Stromauen der Weser und Elbe ausbreiteten^
war das von geringer Bedeutung; denn mit Ausnahme
der Moore und Sande, welche als völlig unnutzbar liegen
blieben, hat der Boden dieser Gebiete so gleichmäßige
und ebene Beschaffenheit, daß, wie jede Generalstabskarte
zeigt, sich die langen Parallelstreifen dieser Anlagen ohne
Unterbrechung aneinanderreihen konnten.
Seit 1140 aber verbreiteten sich die holländischen
Kolonieen auch außerhalb der Marschen. Im Laufe
weniger Jahrzehnte übernahmen sie in weiter Ausdehnung
Siedelungen auf der Geest, in Holstein und Wagrien, in
der Altmark und Brandenburg, in Sachsen, Schlesien,
Böhmen, Mähren und Siebenbürgen^). Es bildete sich
*) Kartenbilder finden sich bei : Z e d 1 i t z , Cod. dipl. sil. IV.
S. 82. — J i e d 1 i t z , Illustr. landw. Vereinskalender f. d. Kr. Sachsen
u. die thür. Staaten von R. v. Langsdorff. 1886. X. Jahrg. S. 66.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 531
dabei ein besonderer BegriflF des flämischen Rechtes und
der flämischen Hufe, nach welchem solche Kolonieen auch
mit anderen Bauern als flämischen angesetzt wurden. Der
deutsche Orden bestimmte 1238 die flämische Hufe, deren
Maß inzwischen auf etwa 17h herabgesetzt worden war,
zum Muster der kulmischen.
Alle diese Anlagen aber behielten die Besonderheit
bei, daß sie sich nur auf das bereits kultivierte oder leicht
kultivierbare Land beschränkten, und auf diesem möglichst
die geraden und genau parallel fortlaufenden Streifen der
Marschhufe festhielten. In dieser Form liegen in Ober-
schlesien, Preußen und Polen zahlreiche Fluren aufgeteilt.
Bei Neugrtindungen wurden dabei die Gehöfte, wie bei
den Marschhufen, auf dem Streifen selbst angelegt, bei
schon vorhandenen Dorf lagen wurden aber diese Streifen-
systeme auch unabhängig von den Gehöften aufgemessen.
Aus dieser Art der Anlage ergab sich indes schon
früh, daß der Grundherr nur zu ungenügender Ver-
wertung seines Bodens gelangte, wenn es ihm nicht
möglich wurde, die Anlage auch über das liegengebliebene
Land auszudehnen. Dies konnte dadurch geschehen, daß
die Ansiedler sich dazu verstanden, dieselben durch ein
oder mehrere weitere Systeme solcher Parallelstreifen,
oder auch durch Anlage einiger Nebengewanne zu kulti-
vieren.
Es ist dies durch das schematische Bild einer solchen
flämisch ausgesetzten Flur in Fig. 12 ersichtlich ge-
macht. A sind die ursprünglichen 10 flämischen Hufen
zu je 66 Morgen rheinl. gleich dem kulmischen Maße.
B zeigt, wie der Parallelismus der Streifen bis an die
Grenze der Feldflur weiter geführt werden konnte. Jede
Hufe erhielt dadurch ungefähr 44 Morgen mehr, der Be-
sitz des alten Hüfeners betrug also nun l^'a Hufen. C
und D ist eine in Preußen sehr häufige Weise, kulmische
Hufen durch Gewanne zu vergrößern. Die Streifen wur-
den senkrecht gegen die der alten Anlage angelegt und
folgen so in der Reihe, daß der Hüfner, der in C den
entferntesten Streifen zugewiesen erhält, in D den näch-
sten bekommt. jB, F und G bilden die Verteilung des
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532
August Meitzen,
letzten Restes der Flur in gewöhnlichen Gewannen. Der
ursprüngliche Hüfner erhielt in C bis G noch 40 Morgen
Zuwachs, so da& sich sein Besitz mit der entsprechenden
Fig. 12.
' ^ioo^fl^
•o^Jgo
Zins- und Dienstlast auf 2 \4 Hufe berechnete. Bei dieser
Verteilung kann aber ersichtlich auf die BodenbeschaflFen-
heit keine genügende Rücksicht genommen werden, die
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 533
einzelnen Hufen können deshalb durch die gleichen
Leistungen sehr verschieden getroflPen werden.
Im Westen unterblieb nach 1250 offenbar aus diesem
Grunde die Anlage von flämischen Hufen überhaupt. Es
wurde dafür der in Sachsen schon in früherer Zeit üb-
lichen in großen Gewannen der Vorzug gegeben.
Ja es zeigt sich, daß ursprünglich flämisch angelegte
Fluren unter völliger Beseitigung der flämischen Ein-
teilung noch im 14. Jahrhundert nachträglich in Gewann-
fluren umgestaltet wurden. Dies ist urkundlich bezeugt
für Domslau ^), dessen Bild Fig. 13 zugleich die An-
schauung von der ganz allgemein verbreitetet! Art giebt,
wie Gewannfluren im kolonisierten Osten angelegt sind *).
Umgestaltungen konnten schon früh ohne Schwierig-
keiten vorgenommen werden, weil, wie die Urkunden
zeigen, die Zuweisung des Hufenlandes häufig nur über-
schläglich und nach allgemeinen Abgrenzungen geschah,
die genaue Aufmessuug aber bis nach beendigter Kulti-
vierung vorbehalten wurde, oft auch überhaupt oder sehr
lange Zeit unterblieb. Ueberdies durften die Bauern
auch wieder ausgekauft werden, und zogen wohl leicht
aus eigenem Antriebe weiter, um neue Anlagen zu unter-
nehmen, die 6 — 15 Jahre lastenfrei waren.
Außer den flämischen und den gewannmäßigen An-
lagen wurden auch die fränkischen Waldhufen in
großer Ausdehnung zur Kolonisation des Ostens ange-
wendet. Sie verbreiteten sich vom Erzgebirge aus seit
1200 über den gesamten Zug des Riesengebirges, Glatzer-
und Altvatergebirges mit allen ihren Vorbergen bis tief
nach Böhmen und Mähren hinein, ebenso finden sie sich
auf großen Strecken des Böhmer waldes, des mährischen
Gesenkes, den Bergen von Ober- und Niederösterreich, der
') Näheier Nachweis in: M sitzen. Cod. dipl. siles. Bd. IV,
Urkunden schlesischer Dörfer zur Geschichte der Feldeinteilung.
S. 24.
*) Kartenbilder: Krampitz und Tschechnitz in: Cod,
dipl. Bd. IV, S. 44 u. 04. — Subkan: Fünfzig Jahre der Land-
wirtschaft Westpreußens. Danzigl872. — Kembs in G.H. Schmidt,
Zur Agrargeschichte Lübecks und Ostholsteins. Zürich 1887.
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534
August Meitzen,
DOMSLAU
mährisch-ungarischen Grenzkette und den Beskiden. Sie
bedeckten aber auch nach und nach über den Jablunkapaü
hinaus die Karpathen und die Gebirge des nordöstlichen
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Besiedelung, Hauabau und landwirtschaff liehe Kultur. 535
•
Ungarns, und reichen bis nach Siebenbürgen und Rumä-
nien hinein, hier sogar unter dem Namen von Königs-
hufen.
In den ebenen Gegenden fanden sie weniger An-
wendung. Indes sind sie doch in Niederschlesien längs
Bober, Queis und Katzbach, im Katzengebirge/ um Lüben
und Glogau, und in den Trebnitzer Bergen Über Kreuz-
burg bis auf die polnische Platte, um die Quellen der
Malapane und Warthe, ziemlich verbreitet. In flachem
und gleichmäßigem Terrain konnte ihnen aber ein be-
stimmterer Parallelismus gegeben werden, so daß im
Mangel urkundlicher Bezeichnung fränkische und flämische,
die gesamte Flur in Parallelstreifen einnehmende Hufen
oft schwer zu unterscheiden sind.
Dieser Zweifel wird in noch höherem Maße bei den
sogen, flämischen Hägerhufen geltend, welche längs
der üstseeküste in Mecklenburg und Neuvorpommern
einen breiten Landstrich einnehmen, in einem schmaleren
sich aber auch in Hinterpommern über Köslin hinaus
fortsetzen. Sie heißen auch westfälische, entweder von
ihren Bebauern oder von den um 1240 im Schaumburgi-
schen auf dem Bückeburger Walde ganz in Form und
Größe der fränkischen Waldhufen angesetzten zahlreichen
Hagen. Auch nördlich Hannover sind damals solche
Hagen begründet worden. Da nun die pommerische
Hägerhufe 40 h Fläche besitzt und selten einen genauen
Parallelismus innehält, vielmehr auch keilförmige Formen
wie bei den Waldhufen je nach der Ausdehnung der Flur
vorkommen, so steht diese Hägerhufe im allgemeinen der
letzteren näher als der flämischen. Ihr Name ist viel-
leicht von gewissen noch nicht näher festgestellten Eigen-
tümlichkeiten des flämischen Rechtes hergenommen. Aber
er kann auch als eine Bestätigung der nahen Verwandt-
schaft der Wald- und Marschhufen aufgefaßt werden,
die, wie gezeigt, im Grundgedanken besteht, in der wei-
teren Entwicklung aber meist verschwunden ist. Die
Waldhufen konnten sich in ihrer Gestalt nicht ändern,
wenn sie nicht völlig beseitigt wurden, was sich nur in
sehr seltenen Fällen vermuten läßt. Die flämischen Hufen
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536 August Meitzen,
aber wurden auf zahlreichen Fluren zu großer Aehnlich-
keit mit Gewannen ausgebaut.
In vorstehendem ist angedeutet, wo auf dem Koloni-
sationsgebiete alte slawische, wo flämische und wo Wald-
hufen bestehen. Im äußersten Osten an der Memel, in
den Kreisen Memel, Heidekrug, Niederung, Tilsit und
Ragnit besteht die Besiedelung tiberwiegend aus Einzel-
höfen, welche den westfälischen entsprechen und; da in
Memel im 13. Jahrhundert Westfalen einwanderten, auch
zum Teil mit Westfalen besetzt sind. Die Einzelhöfe
waren aber in Litauen altlandesüblich, so daß die An-
lage dieser Höfe den Litauern zugeschrieben werden
muß. Die weit überwiegenden Flächen des deutschen Ostens
nehmen überall gewannmäßig angelegte Dörfer ein, so-
weit nicht eine Anzahl leicht erkennbarer, moderner
Anlagen entstanden ist.
Modern sind vor allem die großen geschlossenen
Güter der Gutsherren.
Allerdings übernahmen die Ritter in der Mark Bran-
denburg bereits unter Albrecht dem Bären größere Lehn-
güter von 10 bis 20 Hufen, und auch in den übrigen
Slawenländem und im preußischen Ordenslande gab es
größere Güter, die unter den Voigten der Gutsherren von
den auf kleinen Stellen angesetzten Resten der alten Be-
völkerung unter Heranziehung der deutschen Bauern zu
Spann- und Handdiensten bewirtschaftet wurden. Aber
diese Güter lagen nur ausnahmsweise außerhalb der Dorf-
lage und des allgemeinen Ackergemenges. Seit dem Ende
des Mittelalters aber strebte der Landadel überall aus
Forsten und Markanteilen, aus AUmendeland und wüsten
oder niedergelegten Bauerngütern größere Ländereien zur
eigenen Bewirtschaftung zu bringen, und legte darauf häufig
gesonderte Vorwerke außerhalb der engen Dorf läge an, auf
denen bald die üblich gewordenen Schlösser erwuchsen.
Der neueren Zeit gehören auch zahlreiche, meist ver-
einzelte Gehöfte bildende Anlagen der Industrie und
des Verkehrs an. Bergwerke, Fabrikanlagen, Mühlen,
Ziegeleien, Gasthöfe, Vergnügungsorte, Chausseehäuser,
Bahnstationen u. dergl.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 537
Es sind auch auf Rodungen und Meliorationsgebieten
ganze Ortschaften, namentlich seit dem vorigen Jahr-
hundert, entstanden. Dahin gehören die sog. Haulände-
reien der Provinzen Posen und Westpreußen, die zahl-
reichen Bruchkolonieen, welche Friedrich Wilhelm L
und Friedrich der Große auf den in den Marken und
Pommern entwässerten Sümpfen und auf dem Oder-^
Warthe- und Netzebruch begründeten; endlich die seit
1675 begonnenen, nach Lage und Plan auf der topo-
graphischen Karte leicht erkennbaren bedeutenden Veen-
kolonieen in den Torfmooren Hannovers und Ostfries-
lands.
Aus diesen Orundzüg«n ergiebt sich das allgemeine
Bild der Besiedelung Deutschlands.
7. Behandlung des Beweismaterials.
Wer sich mit der Landeskunde einer bestimm-
ten Gegend beschäftigen will, wird ohne besondere
Schwierigkeit, nach den gewonnenen geschichtlichen An-
haltspunkten für die Beurteilung des Charakteristischen in
den Anlagen der Wohnplätze, sich an der Hand der
topographischen Karte darüber zu informieren vermögen,
welche Gestaltungen der Besiedelung er in denselben zu
erwarten hat, welche Merkmale diese verschiedenen For-
men unterscheiden und welche Fragen über Feldeinteilung,
Besitzverhältnisse und Wirtschaftsbetrieb sich aus deren
Wesen ergeben.
Für die Auswahl typischer, näher zu bearbei-
tender Dorffluren wird er durch Nachfrage und Ein-
sicht der vorhandenen Dokumente darüber mit Sicherheit
XJeberzeugung erreichen, daß das Bild der Flurkarte nicht
auf einer modernen Verkoppelung oder sonstigen Aus-
einandersetzung, sondern auf dem Zustande beruht, wel-
cher vor dem Eingreifen der Landeskulturgesetze liegt.
Aus den Karten, Registern und Akten Einsicht in
die Verteilung des alten Besitzstandes zu erlangen,
ist bei Einzelhöfen und bei Wald- und Marschhufen wegen
ihres Zusammenschlusses sehr einfach. Auch die ün-
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538 August Meitzen,
regelmäfiigkeit der Verteilung bei süddeutschen gutsherr-
lichen Weilern und Dörfern und bei altslawischen Fluren
zeigt sich bald. Zeitraubender wird wegen der vielen
Parzellen die Feststellung der Hufenanteile bei den in
Gewanne geteilten Fluren. Sie ist selbstredend am schwie-
rigsten und in manchem Falle vergeblich für die alter-
tümlichsten Formen und wird immer leichter für die
volksmälaigen, aber durch Regulierungen geordneten Ge-
wanne, dann für die entwickelteren Eolonisationsanlagen
des späteren Mittelalters und endlich für die Umgestal-
tungen aus flämischen Hufen.
Das Eartenbild läßt sich bei kleineren Karten
durch Durchpausen abnehmen. . Für Karten aus mehreren
Blättern sind häufig kleinere lithographierte oder doch
zu kopierende Uebersichtskarten vorhanden, in welche der
Besitzstand, wenn sie ihn nicht enthalten, leicht einzu-
zeichnen ist. Es ist auch keine große Mühe, eine Flur-
karte mit einem Pantographen auf ein handliches Blatt
zu übertragen. Stets aber läßt sich die Quadratur be-
nutzen, die auf den meisten Karten vorhanden oder auf
einem Stück Pauspapier darüber zu legen ist. Der In-
halt jedes Quadrates kann daraus in ein entsprechendes
kleineres Quadrat auf einem quadrierten Papier ohne
weiteres nach dem Augenmaß übertragen werden. Alle
diese Manipulationen erlernen sich leicht. Jeder Feld-
messer kennt sie und vermag sie durch seinen Rat zu
unterstützen. Er wird auch eine üebersichtskarte in
Linien und Signaturen so herzustellen wissen, daß sie
durch Photographie auf den Raum einer Druckseite ver-
kleinert und durch Lichtdruck mit allem nötigen Detail
veröffentlicht werden kann.
Wer im feldmesserischen Zeichnen nicht geübt ist,
kann sich deshalb auf die Fixierung der erforder-
lichen Grundlagen beschränken. Dazu gehöi*t nur, daß
er in die Pause oder das Brouillon der Kopie alle Par-
zellen mit ihren Besitzern und Flächen einträgt, die
Kulturarten, Garten, Wald, Wiese, Hutung durch eine
leichte Signatur erkennbar macht und die Lage des besten
und des schlechtesten Ackerlandes andeutet. Außerdem
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 539
ist noch dem Register die einfache Notiz der Gesamt-
große jeder einzelnen Besitzung und der ganzen Flur,
sowie der Kulturarten, Wege und Gewässer zu entnehmen.
Dieses Material gestattet die Zahl der Hufen auch
für den Fall, daß sie nicht urkundlich bekannt ist, durch
die Berechnung der Hufenanteile in den einzelnen Ge-
wannen zu ermitteln. Es läßt sich daraus auch feststellen,
ob die Verteilung des Hufenlandes nach Gewannen oder
nach jQämischen Hausstreifen stattgefunden, welcher Be-
sitz der Pfarrei und den kleinen Stellen zugewiesen wurde
und wo und in welcher Ausdehnung Gemeinde- und All-
mendenland vorhanden ist. Dies sind die wesentlichsten
Anhaltspunkte für die Frage nach dem Charakter der
Feldlage.
Liegen noch Urkunden über die Geschichte des
Ortes im Orts- oder Staatsarchive vor, so wird sich durch
die darin angezeigten Besitz Veränderungen und sonstigen
Rechtsgeschäfte, oder durch die Ueberlieferung der Zins-
und Lastenverteilung, der Hufenanzahl und ähnlichem nur
um so deutlicher der Zusammenhang der ersten Grund-
züge der Ansiedelung und ihrer Wirtschaftsweise mit den
thatsächlichen Zuständen ergeben, welche auf uns ge-
kommen sind.
Eine derartige Bearbeitung auch einer Mehrzahl von
Ortschafken ist keineswegs so mühevoll, daß nicht der,
welcher sich für die Kunde seiner Heimat interessiert,
sie vornehmen könnte. Er wird dadurch ein festes und
anschauliches Bild der Hauptbedingungen des Agrar-
wesens und der Zustände des flachen Landes in den
untersuchten Gegenden und damit Einsicht in einen nur
allzusehr unbeachteten Faktor der heimischen Kultur-
geschichte gewinnen.
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540 August Meitzen,
III. Ermittelungen zur Landeskunde innerhalb der
einzelnen ländlichen Ortschaft.
1. Geschiclitllclie Grundlagen nnd praktisclie Zwecke.
Das ländliche Dasein jeder Gegend hat eigentümliche
Elemente in sich, die nur aus dem zwingenden Charakter
der Bedingungen verstanden werden können, welche mit
der ersten Anlage der festen Ansiedelungen gegeben sind.
Aber es bleibt, auch wenn dieser Boden gewonnen ist,
sehr vieles auf dem flachen Lande aufzusuchen, was der
Jünger der Landeskunde nicht allein zu beobachten und
kennen zu lernen, sondern gewissermaßen mitzuerleben
und in den Kreis unmittelbarer fördernder Thätigkeit zu
ziehen hat. Die Gesamtheit der Lebensbeziehungen
und Lebensanschauungen der bäuerlichen Bevöl-
kerung, die Bewegung und die Beweggründe des realen
täglichen Lebens, ihre Bestrebungen und Hoffiiungen,
Mängel und Bedürfnisse wird er um so weniger leicht
und sicher auffassen, als er voraussichtlich nach seiner
Lebenslage oder doch nach dem Wesen seiner Bildung
ein Städter ist.
Es ist aber ein tiefer Gedanke unserer modernen
Nationalökonomie, daß uns das Verständnis des Wirk-
lichen und Möglichen vor allem aus der eindringen-
den Betrachtung der Geschichte erwächst. Die Be-
obachtung wird überall am leichtesten an die Belehrung
anknüpfen können, die uns die historische Entwicklung
giebt. Alle Landeskunde sucht recht eigentlich dadurch
zu wirken, daß sie der Bevölkerung selbst die Augen für
geschichtliche und volkstümliche Verhältnisse öffnet, Inter-
esse für die Fragen der Kulturentwickelung und für Kon-
servierung und Werthaltung der beachtenswürdigen.6egen-
stände und Sitten wecken und von dieser idealen und
gemütvollen Auffassung aus auch Eingang für praktische
Gedanken und Vorschläge sich verschaffen will, welche
nicht allein Altertümer und Merkwürdigkeiten betreffen.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 541
sondern zu Verbesserungen und Verschönerungen mancher-
lei Art im Aeu&eren der Orte, wie im häuslichen und
wirtschaftlichen Leben, in Arbeit und Genuß von alt und
jung anregen.
Diesen Gedankengang wird auch der den unmittelbar
praktischen Beziehungen des lokalen ländlichen Lebens
ferner Stehende am besten inne halten, aber er wird es
freilich auch verstehen müssen, der ländlichen Bevölke-
rung persönlich nahe, zu treten, sie nicht bloß als
ein Objekt des Studiums, sondern so zu behandeln, daß
er durch sein eigenes warmes und unbefangenes Interesse
auch das ihrige aufschließt.
Wer eine Anweisung zu gedeihlicher Thätig-
keit in dieser Richtung geben soll, vermag kaum anders,
als sich unmittelbar in die Lage eines Mannes zu ver-
setzen, der für gewöhnlich durch seinen Beruf in der
Stadt gebunden ist und nur seine Nebenstunden der Landes-
kunde zuwenden kann, der von Zeit zu Zeit einen freien
Tag, womöglich mit seiner Familie und mit einem kleineu
Kreise gleichdenkender Freunde der Erholung und zu-
gleich der anregenden frischen Arbeit solcher Beobach-
tungen widmen will.
Denken wir ihn mit seinen Wünschen in eines der
heimlichen, weltabgeschiedenen Dörfer in den Bergen,
fem der betretenen Straße unangemeldet eindringen und
sich im Hausgarten des bescheidenen Wirtshauses nieder-
lassen, um einen heiteren und ergiebigen Tag zuzubringen.
Es ist richtig, daß er auf dem Lande allenthalben auch
einen stattlichen Herrenhof finden kann, der neben fröh-
lichen Stunden ihm ebenso das Interesse der Belehrung
zu bieten vermag. Aber wir können verzichten, ihm über
sein Auftreten dem Gutsherrn gegenüber Andeutungen zu
machen. Versteht er aus dem Bauern die Wünsche der
Landeskunde zu erfragen, so wird er dazu dem Guts-
herren gegenüber gewiß keiner Anweisung bedürfen. Wie
faßt er also seine Aufgabe am besten an?
Hat er sich, wie geschildert wurde, aus Karten, Akten
und Urkunden für die Ortschaft schon vorbereitet, so wird
er freilich mehr als die Bauern selbst wissen, und er
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542 August Meitzcn,
wird sie über Dinge fragen können, über deren Kennt-
nis sie bei einem Fremden mit Recht staunen. Wenn er
es aber nicht sehr gut versteht, das daraus erwachende
Mißtrauen zu verscheuchen, wird er sich mit so viel Weis-
heit schwerlich leichten Eingang verschaffen.
2. Beobaelitmigen an Kirchen.
Sei also die Vorbereitung des Beobachters mehr oder
weniger vollständig, immer wird er sich im Orte am
besten einführen, wenn er sich von dem Ersten, mit dem
ein Gespräch unbefangen anzuknüpfen ist, über Dinge
belehren läßt, die einer Anfrage wert sind und sie
natürlich erscheinen lassen.
Deshalb empfiehlt es sich nach vielfacher Erfahrung
am meisten in einem solchen Orte zuerst die Kirche zum
Gegenstande der Betrachtung zu machen.
Die Kirche genau anzusehen, findet Jeder im Dorfe
verständlich. Niemand bedenklich. Es wird dadurch auch
die Bekanntschaft mit dem Geistlichen am einfach-
sten eingeleitet, sowie die mit der anderen Intelligenz
des Dorfes, dem Küster, dem Schullehrer, dem Ortsvor-
stand, deren jeder seinen eigenen Interessenkreis und
seine eigenen Meinungen und Ueberlieferungen hat.
An die Kirche knüpft sich alles, was man vom Dorfe
erzählen kann. Freilich ist auf diese Chronik nicht viel
zu geben, selbst wenn sie aus dem Pfarrarchive stammt.
Aber etwas findet sich immer, und wenn man mit Inter-
esse und mit Schonung auch auf Irrtümer eingeht, alles
Thatsächliche selbst sieht und selbst prüft, giebt ein Wort
das andere. Es handelt sich ja zunächst darum, das sichere
Vertrauen zu gewinnen, daß man ohne jeden Neben-
gedanken und namentlich ohne Ueberhebung oder gar
Spott nur vom warmen Interesse für die Geschichte des
Orts und das Wohl und Wehe seiner Bewohner er-
füllt ist.
Die Kirche ist aber auch als Bauwerk und ge-
wissermaßen als Ortsmuseum ein besonders beachtens-
wertes Objekt.
Digitized by VjOOQ IC
Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 543
Dabei kommt noch zu eigentümlicher Geltung, da&
ein schöner und großer Kirchenbau ja an sich der Auf-
merksamkeit wert ist, daß aber gerade die kleinsten und
unscheinbarsten Kirchen das eingehendere Interesse ver-
dienen.
In betreif der Untersuchung der architektonisch aus-
gezeichneten oder nach Ueberlieferung und urkundlichen
Nachrichten sehr früh begründeten Kirchenbauwerke
Deutschlands ist auch auf dem platten Lande das meiste
allerdings schon geschehen. Zahlreiche in die Frage des
Bauwesens'und der kirchlichen Vorschriften und Gebräuche
völlig eingelebte Architekten haben alle wichtigeren Bau-
ten durchforscht; und die Landeskunde findet an der von
ihnen ausgegangenen Litteratur und den Sammlungen der
Baubehörden und Bauakademieen reiche Hilfsmittel, sich
die hervorragenden Bauten und die lokalen Verhält-
nisse, aus denen sie hervorgingen, zum Verständnis zu
bringen.
Aber auch die unbedeutenden und architektonisch
wenig anziehend erscheinenden Landkirchen haben ihren
Wert. 'Gevrisse bauliche Besonderheiten sind niemals
ausgeschlossen, und für die Kultur der Gegend ist die
Gründung, die Zeit und Art ihres Ausbaues und die
Entwickelung ihres Sprengeis immer von erheblichem
Interesse.
üeber die Zeit des Bonifacius hinauf reichen in
Deutschland nur wenige und meist an Hauptkirchen ge-
knüpfte Erinnerungen der Kirchengründung. Seit Karl
dem Großen und Ludwig dem Frommen befahlen aber
die Kapitularien ausgiebige Landdotationen der Pfar-
reien. Ein oder zwei Hufen sollten jeder Pfarrstelle
lastenfrei überwiesen werden. Dazu kamen die Pfarr-
zehnten. Diese Anforderungen vermochte die Geistlich-
keit aufrecht zu erhalten und in alle deutschen Länder
zu verbreiten. Sie ging, wie gezeigt ist, auch auf die
Kolonisation des Ostens über. Die Frage der späteren
Erhaltung durfte deshalb die Bischöfe von der Einrich-
tung von Pfarrsystemen nicht zurückhalten. In älterer
Zeit, als die heidnischen Elemente im Volke noch kaum
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544 August Meitzen,
niedergedrückt waren, war es allerdings nicht leicht, den
Widerstrebenden diese Lasten aufzuerlegen, und die älte-
ren Pfarrsprengel sind deshalb meist sehr groü und erst
nach und nach hat die Gründung von Filialen das Netz
enger gezogen. Auf dem Kolonisationsgebiete haben die
Kolonisten dagegen in der Regel von Anfang an eine
eigene Parochialkirche für ihr Dorf und die Zuweisung
der freien Hufe für den Pfarrer gefordert. Für den Geist-
lichen, der darauf so gut leben konnte wie ein Bauer,
war also gesorgt.
Dagegen mit dem Kirchenbau stand die Sache
schwieriger. Wir wissen aus dem Zeugnis Ottos von
Bamberg, daü in jener Zeit hier und da blotle Laubhütten
als Kirchen geweiht wurden. Auch ein kleiner Holz-
oder Steinbau konnte wohl erreicht werden. Aber ob
der Bau sich weiter entwickelte, hing ganz von den
Schicksalen und der Wohlhabenheit des Sprengeis ab.
Je kleiner der Sprengel war, desto schwieriger wurde die
Durchführung, denn alle Nachbargemeinden hatten ebenso
für ihre eigenen Kirchen zu sollen. Zudem machte man
eigentlich erst nach der Reformation den Anspruch, daß
eine Kirche die ganze Gemeinde fassen könne. Für
größere Feste genügte der Kirchhof, den mit starken
Mauern als Zufluchtsort zu befestigen vielfach wichtiger
schien, als die Kirche auszubauen. Nicht wenige der
Bauten, auch wenn sie früh beendet wurden, blieben
durch die späteren Jahrhunderte kapellenartig, und end-
lich wurden auch wohl mehrere Pfarreien vereinigt. Der
Pfarrer wurde dadurch besser gestellt, und eine der be-
stehenden Kirchen genügte in der Hauptsache für den
Gottesdienst mehrerer Dörfer; die anderen wurden nur
noch gelegentlich oder an besonderen Ennnerungstagen
einmal benutzt, und bilden häufig die unberührtesten
Reste der alten Bauzeit.
Wie diese ältesten Reste aussehen müssen, da-
für giebt es in der Geschichte der Architektur einigen
Anhalt.
Als höchstes Ideal für Kirchenbauten schwebte den
Geistlichen nach der Karolingerzeit allerdings der Dom
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Bediedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 545
zu Aachen vor, also ein Rundbau, ein Achteck, welches
häufig noch in den ältesten Krypten erscheint. Aber ein
solcher Plan, auch nur als Bruchstück, als ein in einem
späteren Eirchenbau mitbenutzter Mauerrest wird dem
Auge unserer Forscher und Konservatoren der Altertümer
schwerlich entgangen sein.
In der Regel aber war die älteste Bauweise ein ein-
facher viereckiger Raum mit Holzdecke und sehr kleinen
schlitzartigen Fenstern wie Schießscharten. Diese wurden
bei stattlicheren Bauten auch vergrößert, indes mit Stein-
platten, in denen kleine Oeffiiungen durchgeschlagen
waren, ausgesetzt. Alte Fenster sind häufig dadurch noch
vorhanden, daß sie, wenn man den Bau vergrößerte, voll-
ständig zugemauert und dafür an anderer Stelle andere
durchgebrochen wurden. Dasselbe ist von Thüren zu
sagen. Alle älteren Baue sind von Bruchsteinen zu ver-
muten, nur die Thüreinfassung von Haustein, höchstens
auch die Fenster. Die Fläminger führten Backstein-
bau ein.
Mit dem romanischen Stil kam auch für Dorf-
kirchen die Apsis in Gebrauch. Sie wurde indes nicht
rund, sondern dreiseitig aus dem Achteck an das kleine
Viereck des Kirchenraumes angesetzt. Sie ist der erste
Kirchenteil, der gewölbt wurde. Der romanische Stil
schließt seine Fenster oben im Halbkreis ab. Lisenen
und anderer Schmuck, auch Doppelfenster und Halb-
säulcheueinfassung mögen sich seit 1 1 50 auch auf reichere
Dorf bauten verbreitet haben.
Gotische Spitzbögen und die zugehörige Orna-
mentik lassen sich kaum früher als 1230 datieren. Die
ältere Gotik hält überall streng am gleichseitigen Dreieck.
Seit 1350 beginnen im Maßwerk die wie Fischblasen aus-
geschwungenen Blätter, seit 1450 die Flammen und Un-
regelmäßigkeiten willkürlicher Art. Auch kommen seit-
dem wie an den Häusern so auch an den Kirchengiebeln
in Stadt und Dorf hohe und schlanke, schöngeführte
gotische Nischen auf.
Die Deckenwölbungen der Landkirchen gehören nur
selten dem 15. Jahrhundert an und haben hier und da
AnleltoDg rar deutschen Landes« und Volksforschung. 35
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54(3 August Meitzen,
zu späteren neuen Pfeilerstellungen Veranlassung ge-
geben. Holzdecken sind oft sehr alt und zeigen unter
neuem Anstrich die alte gotische Malerei des 15. Jahr-
hunderts.
Alle Kirchenbauten des Mittelalters sind sehr lang-
sam und in der Regel nur bruchstückweise fortgeführt
worden. Meist blieb ein Stück des alten Gebäudes erhalten,
um während des Baues zum Gottesdienst benutzt werden
zu können. Diese alten erhaltenen Stücke lassen sich am
Stil und an der Art der Steinfügung längs der Verbin-
dung der neuen erkennen. Häufig bilden sehr alte Grund-
lagen, ja eine ganze ältere Kapelle, aus Pietät den Chor
der groß ausgebauten neueren Kirche. Dabei sind auch
wohl die Mauern erhöht, mit Streben gestützt, die Fenster
verändert, und die Thür ist zur Porta erweitert und er-
höht.
Für die Kirchen, welche in den früher slawischen
Dörfern errichtet wurden, gilt bezüglich des Baues und
der darüber zu machenden Beobachtungen im wesent-
lichen dasselbe, wie für die in den deutschen Kolonieen.
Indes ist doch zu bemerken, daß den Slawen das Christen-
tum oktroyiert wurde, und noch lange öfifentlichen und
heimlichen Widerstand fand. Noch 1140 wird über die
Heiden und die Wildheit im Altenburgischen geklagt.
Die Kirche war deshalb zufrieden, nur hier und da einen
Parochus einführen zu können, und gab den einzelnen an-
fänglich sehr große Sprengel, deren Einkünfte sie nicht
bloß sicherstellen, sondern ihnen auch Macht und Ein-
fluß geben sollten. Alle solche Parochialkirchensprengel
sind urkundlich festgestellt und lassen sich auch einfach
erkennen. Denn während die vorerwähnten deutschen
Kirchen sänitUch Mutterkirchen sind, sind in den slawi-
schen Distrikten nur die alten Parochialkirchen Mutter-
kirchen, und haben mehr oder weniger Tochterkirchen
unter sich, je nachdem der Parochus sich dazu verstand,
die Errichtung derselben, die ihm stets Abbruch thun»
mußte, zu begünstigen. Viele der slawischen Kirchen,
und namentlich die älteren, haben auch die Eigentüm-
lichkeit, daß sie nicht wie die deutschen, womöglich
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 547
mitten im Dorf, auf dem Anger oder in der Reihe liegen,
sondern häufig auf einem benachbarten Hügel oder sonst
an besonderer Stelle, weil man es vorzog, die Kirche
auf den Ort eines älteren slawischen Heiligtums zu
setzen.
Zum Kirchenbau ist noch zu gedenken, daß die geist-
lichen Ritterorden und namentlich die Templer es liebten,
ihre Kirchen unmittelbar als Burgen auszustatten, so
daü sich an manchen derselben sdle Erfordernisse des
klösterlichen Wohnens und der burgmäßigen Verteidigung
finden.
Femer war es in den Kurien der Ritter, die seit
der Hohenstaufenzeit gegen das frühere Verbot mehr und
mehr in befestigte Burgen umgestaltet wurden, übhch,
eine Hauskapelle zu bauen, die häufig turmartig und
so eingerichtet war, daß der Burgherr im ersten Stock
vor dem dort celebrierenden Geistlichen die Messe hörte,
das Hofgesinde und die Dorfleute aber der Messe zu
ebener Erde beiwohnten, indem die gewölbte Decke
zwischen beiden Stockwerken durch eine weite Oeffnung
durchbrochen war. Es kommt vor, daß solche Gebäude
als Kapellen oder als Glockentürme an darangebauten
Kirchen erhalten sind.
Auch die Datierung der Ausbreitung späterer nach-
mittelalterlicher Baustile ist nicht ohne Interesse
und Bedeutung, und ist darüber gewöhnlich aus den
Pfarreiakten, sogar mit Angabe der Meister, Auskunft zu
erlangen.
Damit ist vieles angedeutet, was auf Beobachtungen
über das Kirchengebäude selbst Bezug hat.
Für das Innere der Kirchen gilt vor allem als
beachtenswert, daß die älteren Grabsteine und ihre In-
schriften jederzeit wichtige Urkunden sind, über welche
eine Nachricht, auch wenn die Inschrift nicht sofort ent-
ziffert werden kann, dem Staatsarchive, als der Zentral-
stelle für Landesgeschichte, erwünscht und eine Auffor-
derung ist, nähere Nachforschungen anzustellen.
Dafür ist nicht lediglich auf diejenigen Steine zu
achten, welche Bildwerke oder Schrift zeigen. Es ist
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548 August Meitzen,
vielmehr ein sehr häufiger Gebrauch, bei Restaurationen
der Kirchen die Grabsteine zur Herstellung eines besseren
FuL^bodens umzudrehen. Dies ist sogar auch zu Mauer-
bekleidungen geschehen, so daß ein achtsames Auge noch
sehr interessante Funde entdecken kann. Es genügt schon
auf solche verwendete Grabsteine zu gelegentlicher Auf-
nahme aufmerksam zu machen. Viele Kirchen waren
nach der Sitte älterer Zeit, die Vornehmen in der Kirche
selbst beizusetzen, mit Gräbern ganz erfdllt.
Auch ist namentlich an Parochialkirchen besonders
sorgfältig nach gewissen rohen Stein figuren zu for-
schen, welche sich nicht selten an den Außenmauern ein-
gemauert finden. Es sind dies oft Reste älterer Kirchen-
ornamente, es war aber auch Sitte, Gegenstände heidni-
scher Verehrung auf diese Weise gewissermaßen an die
Kirche zu bannen und unschädlich zu machen.
Nächst den Grabsteinen sind die Altäre, ihre Aus-
schmückung, ihre Bilder, und die Schutzheiligen, denen
sie geweiht sind oder geweiht waren, ein wesentlicher
Gegenstand des Interesses. Auch in evangelischen Kirchen
ist den einschlagenden Fragen meist noch nachzukommen.
Sie bilden viel mehr, als es auf den ersten Blick scheinen
kann, wesentliche Grundlagen für die Landesgeschichte.
Denn der Hauptaltar gehört den Schutzheiligen, welche
die Gründer der Kirche bestimmten, die Nebenaltäre und
ihre Heiligen gingen aus besonderen Veranlassungen her-
vor. Die Heiligen haben nun ihre genaue Geschichte.
Sie bekamen Ruf und verloren ihn wieder. Wenn der
Papst die Reliquien eines Märtyrers sandte, oder einen
Verstorbenen heilig sprach, verbreitete sich der Kultus
desselben in einer nach Ort und Zeit bekannten Weise.
Bei dem Mangel an Urkunden über die ältere Besiede-
lung lassen sich in den Kolonistendörfern aus den Kirchen-
heiligen ziemlich zuverlässige Schlüsse über die Oertlich-
keit, aus der die Ansiedler kamen, und die Zeit, in welcher
die Siedelung erfolgte, ziehen. Auch gewisse Richtungen
des Zeitgeistes, die devotere oder freiere Stellung gegen
den Papst, die Barmherzigkeit, die gegenseitige Unter-
stützung, der bürgerliche oder der geistliche Korporations-
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BesiedeluDg, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 549
sinn sprechen sich in den Begründungen der Altäre,
namentlich der Nebenaltäre, aus.
Die Altäre sind häufig unter dem Tafelrande oder
am unteren Rande des Aufsatzes, nicht selten auch auf
der Rückseite auf dem Holzwerk mit Jahreszahlen ver-
sehen. Solche Zahlen sind genau abzuzeichnen, weil ihre
Form leicht irre führt.
Was die Bilder betrifft, so macht sie auch ohne
Kunstwert schon ihr Alter der Beachtung wert.
Ueber die älteren deutschen Maler und ihre
Schulen ist noch wenig genug bekannt. Jeder Name
und jede Datierung ist sehr erwünscht. Seit etwa 1350
erscheinen Bilder der Kölner, Nürnberger und Prager
Schule, seit 1450 die der Niederländer oder ihrer Nach-
ahmer an den mitteldeutschen Altären. Gleichzeitig ent-^
standen auch Holzschnitzereien, meist bunt ausgemdt und
vergoldet, seit 1480 in übertriebener Spätgotik, aber viel-
fach von der ausgezeichnetsten Arbeit. Damit verbanden
sich ähnliche Monstranzhäuschen, seltener altes Orgel-
schnitzwerk. Schon im 15. Jahrhundert scheinen aus
Italien Bilder in größerer Zahl versandt worden zu sein,
welche nur den goldenen Hintergrund und Kopf und
Hände gemalt enthielten, die übrige Ausstattung aber
dem deutschen Maler überließen, der imstande war, sie
dem betreffenden Schutzheiligen nach Bedürfnis anzu-
passen.
Die eigentlichen Altargeräte haben auch die evan-
gelischen Pfarreien in der Regel aufbewahrt, wie sie aus
der katholischen Zeit herüberkamen.
Die Altäre sind der Heiligen wegen aus evangeli-
schen Kirchen meist entfernt. Aber auch in katholischen
hat der barocke Zopfstil der Jesuiten wenig Altes und
Würdiges mehr übrig gelassen. Es giebt nur noch
ein in der Regel wirksames Mittel, es wieder zu finden.
Man lasse es sich nicht verdrießen, alle Schlupfwinkel
der Bahrenkammer und namentlich des Kirchen-
bodens sorgsam zu durchsuchen. Man wird sicher
nicht ohne Ausbeute bleiben, und kann dabei auch einen
Blick auf die Glocken thun, welche oft recht alt sind
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550 Augast Meitzen,
und interessante, nicht selten verunglückte Inschriften
haben.
Mit diesen Beobachtungen gelangen nun zwar die
Besucher zunächst nicht über Kirche und Kirchhof hinaus,
aber die darauf verwandten Stunden dürfen sie nicht
reuen, die anderen Früchte fallen desto leichter. Alles
kommt darauf an, daß sie erst unter Land und Leuten
heimisch werden und diejenigen herausfinden, welche
Freude daran haben, sie weiter in ihr Heimwesen ein-
zuführen.
3. Ermittelungen über das bäuerliche Hans.
Das Wichtigste, was weit-er zu sehen ist, sind die
Gehöfte.
Das Haus mit seiner Form, Einteilung und Einrich-
tung ist die wesentlichste Grundlage des bäuerlichen
Kulturlebens. Wie das Haus ist, so ist auch die Fanodlien-
existenz. Seine Bauart schon bedingt die Art des Fa-
milienlebens, die Beziehungen zu Weib und Kind, zu
männlichem und weiblichem Gesinde, und zur Viehhaltung
und der gesamten Wirtschaftsführung.
Es ist schon ausführlich gezeigt, daß im west-
lichen Deutschland, auf dem alten Kelten boden, das
dem keltischen Glanhause in wesentlichen Zügen ent-
sprechende westfölische oder sächsische Haus das herr-
schende ist.
Es läLst sich auch nicht verkennen, daiä dasselbe
den mit der Zeit in abweichender Richtung entwickel-
ten Formen des niederrheinischen sog. Tehauses,
des holländischen und des friesischen zu Grunde
liegt.
Sie alle sind ursprünglich davon ausgegangen, da&
das Zentrum des Hauses die hoch wie das Mittelschiff
einer gotischen Kirche bis zum Dache entvrickelte Diele
ist, die im Vorderraum nahe der mächtigen Einfahrt als
Dreschtenne dient, im Hinterraum aber den Herd und
das allgemeine Wohngelaß der Familie birgt: Dort sind
auch die Bettschranken fest in die Wände eingelassen.
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 551
In den Nebenschiffen steht das Vieh und das Wirtschafts-
gerät. Erst allmählich ist dieser Raum teilweis zu Kam-
mern ausgebaut und hinter dem Hintergiebel ein weiteres
Fach und zuletzt ein ganzes Haus mit Wohnräumen an-
gesetzt worden. Diese Grundzüge werden nur undeut-
licher, wo, wie namentlich in Friesland, durch Mauerwerk
und hoizsparende Konstruktion versucht werden mußte,
dem Mangel an Bauhölzern zu begegnen^).
Die Ausbreitung dieses sächsischen Haus-
typus läßt sich näher bestimmen. Er hält am Nieder-
rhein auf dem linken Rheinufer ebenso wie die Einzel-
höfe die alte übiergrenze überraschend inne, auf der
rechten Rheinseite aber reicht er ebenso genau bis zu der
alten Sachsengrenze auf den Wasserscheiden des Rothaar-
gebirges nach Olpe und Siegen. Von Siegen nördlich
Hegt die Ostgrenze dieser Hausform in einer Linie, die
über Astenberg zu den alten Orenzfesten Sachsenburg und
Sachsenhausen und weiter, den Habichtswald ausschließend,
über Zierenberg nach Münden zieht. Von Münden ver-
folgt sie die Weser stromab, überschreitet die rechte Seite
des Stroms bis zur Wasserscheide des Sollinger Waldes,
läuft dann nördlich zur Leine und nach Elze und von da
über Hildesheim, das Lüneburger und altmärkische Wend-
land*) einschließend, in die Gegend von Tangermünde.
Jenseits der Elbe reichte es früher wenigstens sporadisch
bis nahe an Berlin. In Mecklenburg und auf Rügen,
sowie in den pommernseben Strandgegenden, soweit die
erwähnte Hägerhufe, die ja auch westfälische heißt, reicht,
ist es noch beute ziemlich verbreitet.
Es zeigt sich also, daß diese Hausform nicht an die
*) Abbildungen inMeitzen, Der Boden und die landwirtsch.
Verhältnisse Preußens, Bd. II, S. 134. — Rud. Henning, Das
deutsche Haus. Sti-aßburg 1882. S. 26 u. 40. — Otto Lasiue,
Das friesische Bauernhaus. Straßburg 1885. S. 4 ff. — Ru d. H enning,
Die deutschen Haustypen. Straßburg 1866 (sämtlich in Quellen
und Forschungen von Ten Brink, Heft 47 u. 55. — Aug. Meitzen,
Das deutsche Haus. 1882. Taf. II, IV u. VI.
') Das 8ächsiBche Haus der Wenden s. in Meitzen, Der
Boden u. s. w. a. a. 0. S. 136.
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552 Augpist Meitzen,
Einzelhöfe des linken Weserufers geknüpft geblieben ist^
daß sie vielmehr mit den Eroberungen, die der sächsische
Volksstamm gemacht hat, und mit den Kolonisten, die
er aussendete, auch auf weiten Strecken Fuß gefaßt hat,
welche nach ihrer Besiedelungsart den Dörfern und den
Gewannfluren angehören.
Dieser nördlichen Verbreitung eines anscheinend
nicht ursprünglich deutschen Haustypus steht auch im
Süden eine fremde Hausform gegenüber, welche mit Recht
auf die ihr entsprechende, in Oberitalien allgemein ver-
breitete, mehr städtische als ländliche Bauweise zurück-
geführt wird. Man könnte diese Häuser rätische be-
nennen. Sie sind auch in Savoyen und weiter verbreitet,
und heißen in der Schweiz, wo sie sporadisch vor-
kommen, Heidenhäuser. Sie charakterisieren sich als
große, schwere, viereckige, mehrstöckige Steinbauten mit
flachen Schindeldächern, welche in ihrem Innern zahl-
reiche, wie in der Stadt von Treppenfluren aus zugäng-
liche und verschieden gruppierte Wohnräume und Kam-
mern bergen. Dieses Haus ist in Tirol und den rätischen
Alpen sehr verbreitet und zieht sich durch Ober- und
Niederbayem bis in den Böhmerwald, wo es noch um
Cham das herrschende ist.
Diesem rätischen oder oberitalienischen Typus ist
aber auch das schon häufiger von dem eigentlichen
Schweizerhause unterschiedene Tirolerhaus in seiner
vielleicht überwiegenden Masse zuzurechnen. Die Zeich-
nung Fig. 14 giebt den Steinbau, wie das Tirolerhaus
gegenüberstehend wieder. Allerdings zeigt dies Tiroler-
haus nahezu das Bild des Schweizerhauses. Wenn man
es aber mit dem Typus des Schweizerhauses zusammen-
werfen wollte, würde man sich mehr an Aeußerlichkeiten
oder Ornamente, wie das flache, mit Steinen beschwerte
Dach, die Galerieen, die Schrotholz wände, die sich bei
verschiedenen Typen verwenden lassen, als an den eigent-
lichen Grundgedanken, die häusliche Einrichtung der
Familie halten.
Auch in Oberbayern, Salzburg und Steiermark, so-
weit die bajuvarische Besiedelung reicht, ebenso verein-
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 553
zeit in der Schweiz, iiamentlich im Engadin, Wallis und
Waadt tritt dies Tirol besonders charakteristische Haus
Flg. 14,
als ein großer, viereckiger, mehrstöckiger Bau auf, der
entweder überhaupt massiv, oder doch als Schrotholzbau
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554
August Meitzen,
auf massiver Untermauening raht und dessen gesamte
innere Einteilung dadurch auch äußerlich gekennzeichnet
und bedingt ist, daß die Eingangsthür in der Mitte der
Giebelseite liegt. Damit ist die Sonderung eines von
Giebel zu Giebel laufenden Flurs gegeben, zu dessen
Seiten sich je ein oder zwei Vorder- und Hinterzimmer
und Kammern mit der Küche verteilen. Ebenso aber ist
eine Treppe in der Mitte des Hauses notwendig, welche,
um nicht dunkel zu sein, einen ähnlichen Flur im Ober-
stock fordert. Ob nun am Giebel im Oberstock und an
der Dachstube balkonartige Galerieen angelegt sind, oder
Fig. 15.
.>».
< ^ — — — ^=-^-
ob sich solche auch unter dem Schleppdach des Ober-
stockes auf einer oder beiden Seiten zu leichterer Kom-
munikation und wirtschaftlichem Gebrauch weiterziehen,
ändert den einem städtischen Hause entsprechenden Plan
nicht und kann eine freie willkürliche Einteilung in
Zimmer und Kammern nur erleichtem. Die festen tragen-
den Zwischenmauern, die der große Raum nicht entbehren
kann, werden ebenfalls nach individueller Willkür gestellt.
Einer solchen Massenhaftigkeit und Veränderlichkeit des
Bauwerkes entspricht auch die Konstruktion des Daches,
welches auf den inneren Zwischenmauern und Wänden
und auf langen, von Giebel zu Giebel laufenden Verband-
stücken ruht, und bei dem gegenüber den großen bretter-
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 555
artigen Schindeln, den Sparren nur eine untergeordnete
Rolle zukommt.
Zwischen diesen beiden fremden Typen ist in ununter-
brochener Erstreckung von Südwest nach Nordost das
fränkische Haus mit seinen Nebenformen des aleman-
nischen und des eigentlichen Schweizerhauses als der
zweifellos deutsche volkstümliche Haustypus verbreitet.
Die Grundidee des fränkischen Hauses liegt
in der stets gleichartigen Herstellung bestimmter, mehr
kompendiöser als beschränkter Wohnräume für die Fa-
milie, und in der Sonderung dieser Wohnräume von den
Flg. 16.
Ställen und Wirtschaftsgelassen, ohne sie doch zu weit
von denselben zu trennen. Die gesamte Einteilung des
Baues ist auch bei dem kleinen Gärtnerhause in über-
raschender Weise typisch, wird aber um so charakteristi-
scher, wenn man es nicht mit einer solchen unbedeuten-
den Stelle von geringem Bedarf an Wirtschaftsräumen,
sondern mit einem für Gespannhaltung hinreichend be-
ackerten Bauernhofe zu thun hat.
Das Haus steht dann mit dem Giebel nach der Dorf-
stra&e, der Kuhstall und oft weiterhin auch der Pferde-
stall sto&en unter demselben Dache daran an, gegenüber
liegen die Schafställe, Schuppen und Schirrkammer; im
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556
August Meitzen,
Hintergründe des Hofes steht die Scheuer; die Mitte des
Hofes nimmt die Dungstätte ein, und die Vorderseite des
Hofes von der Straße her ist unter den Fenstern des
Hauses durch ein kleines Blumengärtchen, und daneben
als Eingang in den Hof durch eine kleine Thür für Per-
Fig. 17.
Flg. 18.
UEU
F
f
ä'öii
sonen und ein großes Thor für Wagenfahrt geschlossen.
Oft aber vertritt auch die Stelle dieser Thore ein Durch-
fahrtshaus, in welchem sich ein Speicher oder die Woh-
nung des Altenteilsinhabers befindet.
Fig. 19.
Die Zeichnungen Fig. 15 — 20 zeigen das fränkische
Haus und den fränkischen Hof in seinen einfachsten und
verbreitetsten Gestalten.
Das Innere des Hauses, das von einer Art Bürger-
steg, dem Wandel, zwischen Hausmauer und Dungstätte
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 557
zugänglich ist, hat seine Thür auf den Hof. Diese führt
in den Hausflur, auf dem sich unter einem großen Schlote
der Sommerherd und nach hinten der Backofen befinden.
Vom Flur aus liegt nach der Dorfstraße zu die Wohn-
stube mit Kochofen für den Winter. Ihre Fenster, in
der Regel vier, sehen auf der einen Seite nach dem Hof,
auf der anderen nach der Straße. Hinter der Wohnstube
liegt mit einem Fenster nach der Dorfstraße die Schlaf-
kammer, in die in der Regel eine Seite des Ofens hinein-
reicht. In der Stube laufen unter den Fenstern Bänke,
Fig. 20.
vor denen in der Ecke der große Tisch steht. Ein Küchen-
schrank, einige Stühle, eine Schwarzwälderuhr, oft noch
ein Bett bilden den Rest des Mobiliars. Auch dessen
Stellung ergeben die Zeichnungen Fig. 18 u. 19. Typisch
ist ebenso die Dachanlage. Stets liegen, wie Fig. 18
zeigt, die Balken der Stubendecke auf der Vorder- und
Rückwand des Hauses, und in sie sind die Sparren in
beinahe gleichseitigem Dreieck eingelassen, so daß sie in
ihrer Verbindung das verhältnismäßig hohe Stroh- oder
Schindeldach hauptsächlich tragen, das nur in leichten
Dachlatten hängt.
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558 August Meitzen,
Das fränkische Baus (Fig. 18 u. 19) enthält bei a den Flur;
b Küche mit Sommerherd und Backofen unter einem stark ge-
mauerten Rauchfange; c Wohnstube mit d Kochofen und Ofenbank,
und e Herdnische für Leuchtkien (wie Fig. 18 genauer zeigt);
f Schlaf kammer; g Mägdekammer, darunter der einige Fuß über
den Boden erhöhte Keller; ä Vorderkammer oder Stube; » Gang
zum Stall; l Pferdestall; k Schlaf bühne im Stall, auf der der Knecht
schläft und unter der der Futterkasten steht; m Kuhstall; n Ein-
quartierungsstall, der zugleich als Futter- oder Schirrkammer be-
nutzt wird. — Im Gehöft (Fig. 17) liegt das Wohnhans bei a;
b ist der Pferde- und der KuhstaU; c die Dungstätte; d die Scheune;
e ein Schuppen oder die Futterkanimer; f der Schaf stall mit dem
Heuboden darüber; g Schweineställe; h der offene Thorweg der
ersten oder das Thorhaus der zweiten Skizze (Fig. 15 u. 16); i und
k in Fig. 16 Schüttboden und Auszugshaus, oder in Fig. 15 der
Ort des sog. „Lehms"^ eines Vorratshauses für Getreide u. dergl.,
welches durch dicken Lehmbeschlag feuerfest gemacht ist; das Dach
liegt auf der Lehmeinwölbung nur als Regenschutz; / Brunnen an
beÜebiger Stelle. — Fränkische Häuser kommen auch breit gegen
die Straße gestellt, mit einer Vorhalle vor der Thür, wie Fig. 20
zeigt, vor. Es sind dies meist Kretschamhäuser oder kleine Stellen.
Die Erkerstube im Dach über der Vorhalle dient vorzugsweise als
Wochenstube der Frau.
Diese Haus- und Gellöftanlage kann im engeren
Sinne als fränkische bezeichnet werden. Es darf als kein
charakteristischer Unterschied betrachtet werden, daß das
Wohnhaus in den bevölkerteren rheinischen und thüringi-
schen Landschaften gegenwärtig meist zweistöckig ist. In
der Regel tritt es, wie in alter Zeit, nur einstöckig auf.
Sein Ursprung und Ausgangspunkt am Mittelrhein läßt
sich als deutsch- fränkisch nicht bezweifeln, weil
jenseits der Ardennen und Vogesen in der Champagne und
Lothringen ganz andere, Mauer an Mauer stehende und
unter sich mannigfach verschiedene, im allgemeinen aber
mehr städtisch als ländlich gedachte Hausformen auftreten.
Den nationalen Charakter des fränkischen Hauses
bestätigt auch der Umstand, daß das alemannische und
das eigentliche Schweizerhaus in allem Wesentlichen mit
demselben übereinstimmen. Letzteres gehört in der Schweiz
und in Tirol nur den alemannischen und schwäbischen
Landesteilen völlig typisch an, ist aber auch in den Ti-
roler, Salzburger und steirischen Alpen sporadisch ver-
breitet.
Digitized by VjOOQ IC
Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 559
Das alemannische Haus weicht vom fränkischen
nicht im Qedanken der Einteilung, sondern in Besonder-
heiten ab, welche recht eigentlich für das Haus der ge-
birgigeren Gegenden angemessener sind als für das der
ebeneren, und ziemlich ähnlich auch bei dem fränkischen
in Gebirgslagen vorkommen. Es ist dem größeren Holz-
reichtum des Gebirges und dem Bedürfnis besserer Er-
wärmung entsprechend statt aus Fachwerk häufig aus
Schrotholz im Blockhausverband oder auch mit Ständern
außerhalb der Balkenwand aufgeführt. Beides kommt
indes ebenso in den Gebirgsdörfern Schlesiens und Böh-
mens beim eigentlichen fränkischen Hause in weiter Ver-
breitung vor. Femer besitzt das alemannische Haus
häufig einen dem abhängigen Terrain angepaßten Unter-
bau. Es scheint, daß hier und da die Ungleichheit nur
durch große, soweit nötig unter die Schwellen gebrachte
Steine ausgeglichen worden ist. Dies war wegen der
Feuchtigkeit zweckmäßiger, als den Estrich auf ange-
schüttete Erde zu legen. Ja es finden sich ziemlich
künstliche Steintische als Unterlage angebracht, welche
den Mäusen unmöglich machen sollen, zum Estrich zu
gelangen. In der Regel aber wurden Steinmauern auf-
geführt, auf welchen nicht allein die Wohngelasse trocken
und warm stehen konnten, sondern welche zugleich den
Zweck erfüllten, Raum für die Einstallung des Viehes zu
gewähren. Damit verbindet sich gewöhnlich auch ein
hohes und oft tief herabgezogenes Schindel- oder Stroh-
dach. Die Höhe der Wohngelasse über der Erde macht
eine Galerie, ähnlich dem Oberstock der fränkischen
Häuser, nötig, über welche das Dach hinweggezogen wird.
Zugleich aber vermag ein hohes Dach, wenn es am Berg-
abhang liegt, sehr gut eine Scheune zu ersetzen, es kann
sogar eine An- oder Einfahrt in dasselbe vom Berge her
angelegt werden. Wenn die Wirtschaft nicht zu groß
ist, lassen sich auf diese Weise alle Nebengebäude er-
sparen. Auch alle diese Einrichtungen aber kommen bei
den fränkischen Gebirgshäusern der Sudeten weit ver-
breitet vor. Es bleiben zwischen beiden nur gewisse
kleinere, schwer zu bezeichnende Unterschiede der Höhen-
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560 August Meitzen,
und Breitenmaße, der Verzierung und Ausstattung, die
bei der Verschiedenheit der Gegenden und der Volkssitten
keiner Erklärung bedürfen.
In der Schweiz besteht vielleicht aus der Zeit des
Reislaufens her die weit verbreitete Sitte, daß zwei Brüder
dieselbe Landwirtschaft gemeinschaftlich fortführen. Das
derart für zwei Familien eingerichtete Haus ist in seinem
Plane völlig übereinstimmend mit zwei mit dem Rücken
aneinandergestellten und durch dasselbe Dach verbundenen
fränkischen Häusern. Die beiden Wohnungen sind durch
das ganze Haus bis unter den First meist auch im Flur
durch eine durchgehende Wand geschieden. Der Eingang
ist für beide, wie beim fränkischen und alemannischen
Hause, nicht im Giebel, sondern von der Seite unter dem
überhängenden breiten Dache, und wird auf beiden Seiten
gleichmäßig über eine Galerie erreicht, welche je nach
dem Terrain und je nachdem dem Hause ein Keller oder
auch Ställe untergebaut sind, durch eine niedere oder
höhere Treppe erstiegen wird. Beide Treppen beginnen
an der vorderen Giebelfront unter dem Dachschutze. Diese
Treppen und Galerieen auf beiden Seiten und die breite
Fensterreihe der beiden Wohnungen unter dem in klassi-
schem Winkel gestellten, flachen, mit Steinen beschwerten
Schindeldache geben dem Baue einen stattlichen und
harmonischen Charakter, und es ist erklärlich, daß die
schönen gefälligen Linien dieser Holzkonstruktion, bei
denen jedes Profil zu entsprechender Wirkung gelangt,
von jeher zur Ornamentierung durch Abkantungen und
Ausfräsungen der Balken, Sparren und Träger, und zu
verschieden gemusterten Ausschnitten der Schalbretter
und Galeriegeländer eingeladen haben. Der oft sehr reiche
Schnitzereienschmuck im Aeußeren und Inneren, den das
vorzüglich gewachsene Tannenholz begünstigt, kehrt bis
in die entlegensten Thäler wieder, weil bei den festen
Gemeindeverhältnissen der Schweiz schon seit dem 15. Jahr-
hundert, im Auslande wohlhabend gewordene Soldaten
und Kaufleute in großer Zahl in ihre Heimat zurück-
kehrten und für einen behaglichen Ruhesitz besonderen
Aufwand nicht scheuten. Neben den Doppelhäusern
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Besiedelimg, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 561
kommen auch einfache Hausanlagen häufig vor, welche
nur insofern im Plan von der fränkischen Anlage ab-
weichen, als das lange Holz der Alpen und das flache
Dach dazu führen, das Maß des Stübele im Verhältnis
zur Stube etwas über das der fränkischen Stubenkammer
auszudehnen. Die grundsätzlich geringere Breite bleibt
indes bezeichnend. Wie auch beim fränkischen Hause
ist häufig im Giebel eine Stube über der Wohnstube
ausgebaut, die durch eine Klappe über dem Ofen der
letzteren ersteigbar ist oder wenigstens erwärmt wird.
So wie das fränkische Haus im Flur gegenüber der Ein-
gangsthür eine Hinterthür besitzt, besteht auch bei diesen
alemannischen Häusern eine Hinterthür, die ebenso wie
-die Eingangsthür durch eine Galerie und Treppe zu-
gänglich ist. Da bei den einfachen wie bei den doppel-
ten Schweizerhäusern in der Regel wenig oder gar keine
Wirtschaftsräume nötig sind, weil Weide- und Milchwirt-
schaft auf entfernten Alpen in besonderen Hütten ge-
trieben wird und der Hauswirtschaft der Garten und
einige Stück Milchvieh im Souterrain genügen, ist jen-
seits des Flurs den Stuben gegenüber häufig nur ein
Schuppen oder Holzraum, oft aber sind auch hier Kam-
mern angebracht und in eine derselben die Küche ver-
legt, die sonst wie beim fränkischen Hause unter dem
Schlote liegt, so daß der Herd an den Stubenofen stößt.
Einen Zweifel, ob ein dem nationalen Typus ent-
sprechendes alemannisches Schweizerbaus von dem durch
den romanischen Süden beeinflußten bajuvarischen Tiroler-
hause auseinander zu halten sei, könnte nur das beiden
gemeinsame flache Dach begründen. Dasselbe wird aber
als eine in der alemannischen Schweiz und ziemlich weit
im schwäbischen Bayern von den älteren rätischen Ge-
birgsbewohnern übernommene Sitte angesehen werden
müssen. Für das rätische Haus ist es motiviert, für das
alemannische nicht. Wo Material für hohe Unter-
stützungswände aus Stein oder Holz leicht zu beschaffen
ist, wird es allerdings erleichtert. Das flache Dach findet
sich vom Bodensee über Kempten bis nahe an die Donau.
Anleitung zur dentschen Landes- and Volksforscbung. 36
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562 August Meitzen,
Die rätische Hausform aber reicht nach Nordwest nicht
über die bayrischen Seeen. Im Lechgebiet haben, wie
die Bavaria und noch neuerdings Virchow^) belegen,
die Häuser die Thür nie im Giebel, sondern zeigen den
Flur und die sonstige Einteilung des alemannischen.
Also nimmt von der Grenze des rätischen bis zu der
des sächsischen Hauses der Grundtypus des fränkischen
das gesamte Deutschland ein, soweit sich nicht städtische
Formen auch schon in den Dörfern eingebürgert haben.
Das fränkische Haus verdrängt auch ersichtlich durch
seine Zweckmäßigkeit und Einfachheit den Tiroler wie
den sächsischen Typus, und ist weit bis nach Osten mit
der deutschen Feldeinteilung über die Earpathen nach
Siebenbürgen und tief nach Polen und Litauen vorge-
drungen. Auch unter den Slawen wird der deutsche Ur-
sprung dieser Häuser durch die nur polonisierten deut-
schen Bezeichnungen aller Teile desselben bestätigt.
Innerhalb dieses weiten östlichen Verbreitungsgebietes
des fränkischen Hauses aber hat sich ein sehr deutlicher
älterer Haustypus erhalten, welcher zwar auf völlig deut-
schem Boden beinahe ganz vom fränkischen verdrängt
ist, aber an der unteren Donau, in Rußland, Polen und
Westpreußen und merkwürdigerweise auch in Skandi-
navien weite und durchaus typische Verbreitung hat.
Dieses Haus ist wegen des Auftretens in Skandinavien
das nordische genannt worden, könnte aber, wie es
scheint mit gutem Grunde, auch als das thrakische,
griechische oder überhaupt als das Haus der alten Welt
oder das Höhlenhaus bezeichnet werden.
Sein Typus ist eine oblong viereckige Kammer, von
der schmalen Seite zugänglich, und hat vor dem Eingange
eine auf Säulen gestellte, von demselben Dache mitbe-
deckte Vorhalle. Es entspricht also den Höhlengräbern
Aegyptens und Persiens, dem Bungalow Indiens, dem
griechischen Templum, den Bauernhäusern Joniens zu
Galens Zeit wie noch in der Gegenwart, und läßt sich
») Bavaria Bd. I, S. 278 u. 980. Zeitschrift für Ethnologie.
Jahrg. XIX. 1887. S. 578 fF.
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Besiedeiung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 563
in seinem subtropischen Ursprünge, als Schutz, mehr
gegen den Sonnenbrand als gegen die Kälte, kaum be-
zweifeln. Den antiken Süden beherrschte es.
Fig. 21.
Wie aber zu denken, daß es sich von der Donau und
den Ufern des Schwarzen Meeres über den gesamten
Osten verbreitet und trotz der völlig anderen Umstände
in den Ländern großer Winterkälte bis in den hohen
Norden als typisch eingebürgert hat, ist ein schwieriges
Fig. 22.
Problem. Zur Lösung läßt sich nur vermuten, daß die
dort bis zur Völkerwanderungszeit mit Wagen und Jurten
herumziehenden Völker bei der ersten Berührung mit der
griechischen Kultur auch dieses Haus als das maßgebende
annahmen. Die Thatsache seines Gebrauches kann indes
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564
August Meitzen,
nicht verkannt oder übersehen werden, und der Zusammen-
hang der südlichen mit der nördlichen Gestaltung wird
um so wahrscheinlicher, als es sich keineswegs nur um
den allgemeinen Plan der Baulichkeit, sondern auch um
Fig. 28.
innere Eigentümlichkeiten der Bewohnung handelt, welche
ohne üebertragung kaum zu denken sind. Wo das Haus
nicht modernen Veränderungen unterlegen hat, besteht
nur ein größerer oder engerer Wohnraum, der auf beiden
Seiten Fenster hat und durch die Deckbalken hindurch
Flg. 24.
bis zu den Dachsparren offen ist. Im Norden sind die
Dachsparren verschalt. Im Dach ist nahe dem First eine
Klappe mit oder ohne Glasfenster. Es giebt keine Bett-
stellen oder Bettschränke, sondern längs der Wände ziehen
sich Bänke, welche zugleich als Kasten dienen. Diese
am Ehrenplatz breiteren Bänke werden für die Nacht mit
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Bemedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 565
Bettkissen und Laken bedeckt, iv eiche am Tage zusammen-
gelegt aufbewahrt bleiben. In diesen Besonderheiten
stimmen die Donauländer mit Skandinavien noch heut
tiberein. In Morea, Rumänien und Südrußland liegt die
Vorhalle häufig nicht am Qiebel, sondern an einer Seite
unter dem Dach, von der aus dann auch der Eingang in
den Wohnraum führt. In Polen und im nördlichen- Ruß-
land haben sich Bettstellen eingeführt, und in letzterem
ist ein ringsum zusammenhängend überdachtes Oehöft
Sitte, welches nur einen kleinen Hof in der Mitte unbe-
deckt läßt. Von diesem aus betritt man auf Stufen die
Vorhalle des Winterhauses und durch diese vom Hinter-
g'ebel her den Wohnraum. Dieser hat Fenster nach der
orfstraße und nach beiden Seiten, ist aber nicht selten
von der Thür zu den Stra&enfenstern hin durch eine
Zwischenwand in zwei ziemlich gleiche Abschnitte durch-
geteilt. Jenseits der durch Säulen oder ein Geländer,
begrenzten Vorhalle schließt sich in niedrigerer ^^iiäge
als ein besonderes Gebäude die Somjxieri^^iiAre mehr
oder weniger nahe an. Gleichwohl öiläbt der Typus
erkennbar. ^.
Das Bild dieses Hauses, wie es noch gegenwärtig in
Posen, Hinterpommem und Westpreußen /vorkommt, ist
das in Fig. 21 — 24 wiedergegebene. \^
Wie der Plan Fig. 22 ersichtlich macht, ist 6^. Straßenseite ;
h Vorhalle; c Flur mit d Leiter auf den Boden; ^ Gesindebett;
f Stein zum Getreideschroten; g Wohnstube; h Baekofen, über
welchem der Schlot; i ein offener, kaum 1 Fuß hoher Herd zum
Eodien und Einheizen mit Kappe darüber, die auf dab Holz l ge-
stützt ist (dieser Herd ist in neuerer Zeit meist durch e>nen Koch-
ofen in derselben Stellung ersetzt, den eine Ofenbank umgiebt);
k ist ein kleines, in der Höhe von 3 Fuß angebrachtes, offenes
Sommerkamin, auf dem der Leuchtkien brennt, mit kleiner Kappe;
tn Nachofen, d. h. ein erhöhter Ruheplatz vor und über dem Back-
ofen; n großes, o kleines Bett; p Tisch und Bank; q Spülfaß auf
Füßen; r Spind; 8 Kammer; t Stall; u mit Schoben eingedeckte^
als Keller dienende Gruben. Die Scheune steht meist dem Stall
gegenüber. Aermere haben das Vieh bei r q in der Stube.
Bei der erweiterten Hauseinrichtung (Fig. 24) ist a Straßen-
front; b Halle mit quergeschnittener Thür nach c, dem Flur;
d Bodentreppe; e Schornstein, von dem aus die beiden Oefen ff
gefeuert werden; gg kleine Kamine zu Leuchtkien: hh Ofenbank
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566 August Meitzen,
(Ehrenplatz); i Stube des Altsitzers; k Wohnstube des Wirts;
/ Kammer; m Stall.
Für jeden nun, der sich mit der örtlichen Landeskunde
beschäftigen will und beobachtend die Gehöfte der Dorf-
. Schaft mustert, geht die nächste Frage von Erheb-
lichkeit dahin, welchem ürtypus sie angehören. Er wird
sich leicht Rechenschaft geben können, ob er der in der
ganzen Gegend zu erwartende ist, ob dieser noch in einer
gewissen ursprünglichen Reinheit besteht, oder ob und
welchen Veränderungen er unterlag. Auch die unbedeu-
tenden Umgestaltungen haben ihre Gründe, und es ist
nicht ohne Interesse, diese sich zu vergegenwärtigen oder
sie zu erfragen.
Ob das typische Haus ungewöhnliche Form und
Ausdehnung, ein weiteres Stockwerk, mehr Stuben und
Kammern, oder eine zweite Wohnung erhalten hat, ist
nicht ohne Bedeutung. Hat das Haus nur an Reinlich-
KSffr^^md Behaglichkeit gewinnen sollen, hat man bessere
WohnraWte»^||^ninscht oder namentlich bessere Schlaf-
zimmer als Bed^VirTiis empfunden? Oder hat man unnütz
ein stolzeres ^dtisches Gebäude aufgeführt, dessen über-
flüssige Räum\ den Mäusen und dem Verfall überlassen
bleiben? Oder^ wurden vielleicht gar in das Heim des
Bauern zur Sciiuldendeckung Mietsleute als Störenfriede
«ingenommeif?
Möglicljerweise ist indes doch eine bisher noch nicht
beachtete l^odifikation des Typus schon aus älterer Zeit
vorhanden/ Giebt es vielleicht einen Unterschied, der sich
nach Stamjbesgrenzen, Territorien, Gebirgsscheiden geltend
macht, cÄer der mit der Dialektgrenze zusammenfällt?
Ist insbesondere die Hausanlage der deutschen Kolonisten
und der altslawischen Ortschaften auch da noch in ge-
wissen Merkmalen gegenüber zu stellen, wo der eigentüm-
liche Typus des griechischen oder nordischen Hauses
durch den fränkischen bereits verdrängt ist?
Um welche Zeit und aus welchem Material, in wel-
chen Dimensionen, bis zu welcher Höhe, mit welcher Be-
dachung sind überhaupt die charakteristischen Häuser und
Hofgebäude des Ortes erbaut? Es ist ersichtlich, welchen
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 567
Einfluß auf Haustiefe und Dachhöhe die Länge der Hölzer
ausübt, sowie Nadel- oder Laubholz, das man anwendet.
Giebt es noch Strohdächer, hölzerne Schornsteine, runde
Stämmchen statt Sparren? Zeigen sich noch Erinnerungen
an Blockhausbau? Finden sich Anbauten oder Galerieen,
die dem Typus des Hauses eigentlich fremd sind ? Zeigen
sich städtische Anklänge, oder ist man beim alten ge-
blieben? Sind Balken mit Schnitzwerk eingesäumt, am
Dachfirst die Pferdeköpfe und auf den Fensterläden bunte
Blumenmalereien? Oder ist sonstige Ornamentik be-
merkbar?
Alle Datierungen sind sehr erwünscht, nur ist zu
untersuchen, ob die Jahreszahlen nicht von älteren Bau-
ten herrühren, etwa auf wieder benutzten Thürsteinen
stehen geblieben sind.
Finden sich Sinnsprüche oder sonstige Inschriften
oder etwa noch Hausmarken? Weiß man noch etwas von
deren Gebrauch an Haus, Gerät und Vieh?
4. Beobaclitungen über Tracht und Hausrat.
Mit der häuslichen Einrichtung hängt nahe auch die
Tracht zusammen.
Mobiliar und Kleidung, so einfach und selbst roh
und geschmacklos sie sein können, stehen in einer ge-
wissen Harmonie. Was wir Volkstrachten nennen,
stammt aus irgend einer vergangenen Periode der Wohl-
habenheit, in der es einer adligen oder in der Regel
städtischen Mode gelang, wenn auch mit Modifikationen,
Ausdehnung über das Land zu gewinnen. Wie wenig
auch nur annähernd an Ursprünglichkeit gedacht werden
darf, beweisen frühmittelalterliche Skulpturen und die
Miniaturmalereien der Codices aus den Klosterbibliotheken
hinlänglich. Die meisten noch erhaltenen Volkstrachten
weisen auf die Reformationszeit oder die Zeit vor dem
30jährigen Kriege zurück.
Auch die Gegenwart ist wieder eine solche Zeit außer-
ordentlich gesteigerten Wohlstandes, in der sich die
städtischen Moden leider nicht zum Vorteil des
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568 August Meitzen,
flachen Landes über dasselbe ausbreiten. Der Nachteil
liegt weniger in dem Zurückdrängen der Poesie, welche
der Landmann weniger als der philosophierende Stadter
gewahr wird, sondern in der Anwendung der un-
glaublich schlechten Stoffe. Unter dem Anschein
der BQligkeit werden die Landleute zu außerordentlich
hohen Ausgaben verlockt, wenn sie ganze und reine
Kleidung tragen wollen. Da sich diese Kostspieligkeit
fühlbar macht, gewöhnen sie sich, allenfalls auch in
Lumpen zu gehen. Dazu entwöhnen sie sich, Leinen
und Wolle im Hause zu spinnen und zu weben, und da-
durch nicht bloß brauchbare, sehr dauerhafte Stoffe zu
bekommen, sondern auch eine Beschäftigung für die Muße-
stunden des Winters zu haben, die sich gut bezahlt macht,
und die sie von unnötigen und kostspieligen Versuchen,
die Langeweile zu vertreiben, abhält.
Das richtige Budget der Kleidung festzustellen,
ist eine sehr wichtige Aufgabe. Kosten und Dauer des
einzelnen Stückes müssen berechnet und der möglichst
beste Ersatz ermittelt werden. Es ist fast eine Pflicht,
dies namentlich dem Lehrer der Ortsschule vollkommen
deutlich zu machen.
Dabei ist auch historisch die Entwickelung der Klei-
dung und ihrer Beschaffung, sowie ihrer Preise sehr
interessant. Es ist von großer Bedeutung, welchen Teil
des gleichzeitig gezahlten Lohnes eines Knechtes oder
einer Magd der Anzug in Anspruch nimmt. Besonders
glücklich sind in- dieser Richtung zu Preis- und Lohn-
vergleichen die verhältnismäßigen Ausgaben verwendet
worden, welche für Stiefel und Schuhe von dem Lohne
des Gesindes und der Tagelöhner beansprucht werden.
Uebrigens knüpfen sich an die Kleidung auch hier
und da Fragen der Stammesverwandtschaft und Ver-
schiedenheit. Unterschiede in Schnitt und Farbe der
Röcke und Mieder, namentlich aber der Kopfbedeckungen
der Frauen, werden mit derselben Beharrlichkeit durch
Jahrhunderte festgehalten, wie die Streitigkeiten und
Spottreden der männlichen Jugend.
Wenn der Anzug nun vorzugsweise in das Gebiet
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 569
der Hausfrauen gehört, so zeigt sich als wohlbegründet,
daß es sich sehr empfiehlt, auch die Frauen zu Teil-
nehn>erinnen an den Untersuchungen der Landeskunde
heranzuziehen. Ihnen werden sich die Truhen und Schränke
mit dem Sonntags- und Brautstaat und den alten Erb-
stücken von der Großmutter her yiel leichter öfiPhen als
dem brillenbewaffheten Stadtherren, dem eine echte Bäuerin
dafür niemals ein mitfühlendes Verständnis zutraut.
5. Einsicht in den Wirtsohaftsbetrieb und Anregung zu
Die Männer mögen vor allem auf den Hof gehen
und för ein gutes Stück Vieh und för Wagenfahrt, Ge-
schirr und Ackergerät Auge gewinnen.
Freilich mag man sich mit Gelehrsamkeit vor den
Bauern hüten. Die Wirtsstube könnte hinterher noch
jahrelang von Witzworten klingen, und der Frager in der
ganzen Gegend den Kredit verlieren. Aber ein richtig
angebrachtes Wart über den Pflug wird nicht nur
empfehlen, sondern kann auch praktischen Nutzen stiften.
Wie das alte Ackergerät ausgesehen, und wie lange es
noch gebraucht worden, wer zuerst so klug gewesen, die
Kosten für das bessere nicht zu scheuen, und wie viel
vorteilhafter sich auf dem Boden des Ortes damit arbeitet,
das wird jeder Wirt ganz gern sagen, namentlich wenn
er besseres Gerät hat als seine Nachbarn.
Auf den kleinen Fortschritten aber ruht bei der
bäuerlichen Wirtschaft das Hauptgewicht. Schon diese
nützlichen Vorgänge, eben weil sie unscheinbar und un-
beachtet sind, nur zu erfragen, zu bemerken und zu be-
loben, ist ein Gewinn. Und wie volkswirtschaftlich inter-
essant ist es dabei, festzustellen, wo und wann und auf
wessen Veranlassung und mit welchem Erfolge sich in
einer Gegend zuerst gewisse Verbesserungen verbreitet
haben: andere Fruchtfolge und Bestellungsweise, eiserne,
wohlgeformte Geräte verschiedener Art, Pflüge, Eggen,
Walzen, Gabeln, Schaufeln, Baumsägen, Beile u. dergl.;
wie sich Tieferpflügen, Kalk, künstlicher Dünger, Drillen
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570 Augast Meitzen,
und Behäufeln, Auspflanzen eingeführt; wo die Bauern zu-
erst Dreschmaschinen benutzten, liehen oder genossenschaft-
lich anschafiFfcen; wie sie Drainage eingeführt, sich darüber
vereinigt und dafür Geld beschafft haben? ob Verbände
für Rübenbau, Flachsbereitung, Obstbau, Obstdarren be-
stehen? wie man zum Zuchtvieh gelangt? ob viel oder
wenig Jungvieh aufgezogen, Schweine, Ochsen gemästet,
Fleischschafe gezüchtet werden? wie die Viehhaltung ist,
ob das Futter geschrotet, gebrüht wird? ob Milch, Butter,
Käse zweckmäßig behandelt und angemessen verwertet
werden? wie die Preise aller wichtigen Produkte im Ver-
hältnis zum nächsten Hauptmarkt stehen? wie hoch der
Acker guten oder mittleren Landes, wie Wiese und Weide
verkauft, wie verpachtet werden? was große, was kleine
Höfe und Häuser und Grundstücke im Verhältnis gelten
u. dergl. mehr.
Alle diese Dinge erfordern keine intensive landwirt-
schaftliche Kenntnis, wenn man sie nur zu erfragen, nicht
selbst die praktische Probe mit der Ausübung zu machen
hat. Das nötigste Verständnis der Zwecke und Bedingun-
gen der Technik und der wichtigen landwirtschaftlichen
Handhabung lä&t sich aus der Lektüre eines guten
landwirtschaftlichen Lehrbuches gewinnen. Nie-
mand wird ohne eigenen Nutzen seine Anschauungen auf
diesem Boden der ersten Voraussetzungen des Volksdaseins
erweitem und vertiefen. Je richtiger und frischer er die-
selben aber erfaßt, desto eher wird es ihm gelingen,
nicht bloß deutlich zu sehen und das Zweckentsprechende
von der bloßen Theorie zu scheiden, sondern auch an-
regend und fordernd auf die Mitglieder eines Berufskreises
zu wirken, der in seinen Eigentümlichkeiten nur zu oft
verkannt wird.
Der Bauer ist mit seiner Arbeit und mit seinem
Nutzen übler daran als man meint. Der Industrielle
rechnet zuerst und arbeitet dann. Der Bauer ist ein Spiel
des Glücks, weder Wetter noch Preise beherrscht er, die
beste Arbeit kommt nicht auf gegen den Einfluß der
täglich wechselnden Bedingungen. Es gehört viel Cha-
rakter und Einsicht dazu, daß er nicht mehr Wert auf
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Besiedelung, Hausbau und landwirtschaftliche Kultur. 571
die schlaue Ausnutzung eines geschäftlichen Vorteils, als
auf stets mit Opfern verbundene, nur allmählich ihre
Wirkung summierende, mühsame Verbesserungen legen
sollte. Und dennoch liegt gerade in solchen richtig ge-
wagten Verbesserungen seine wahre Bahn zum Wohl-
stand.
Dazu aber bedarf er Ermutigung und Unterweisung,
und zwar nicht der fast hoffnungslosen direkten, sondern
gerade derjenigen, welche in der scheinbar ganz naiven
und unabsichtlichen Sammlung vorteilhafter und
überzeugender Beispiele liegt.
Auf wirtschaftlichem Gebiete ist für die nähere Kunde
der Zustände des flachen Landes am förderlichsten das
aufzusuchen, was intelligenten Landwirten zu ihrem Vor-
teil in Thun und Lassen geglückt ist. Was der Beob-
achter darüber gesehen und gehört hat, wird ihm selbst
die sicherste Belehrung sein. Anderen Landleuten aber
braucht er es nur gelegentlich und gesprächsweise klar
und richtig mitzuteilen. Der Bauer, selbst wenn er ab-
lehnt, überhört ein solches Wort so leicht nicht und wird
nächstens gehen und selbst zusehen.
Für diese wie für alle Ermittelungen und Unter-
suchungen zur Landeskunde gilt aber allgemein, daß es
nicht geraten ist, die erlangten Ergebnisse so lange auf-
zuspeichern, bis es gelingt, ein anscheinend umfassendes
und den Forscher durch Vollständigkeit befriedigendes
Bild hinzustellen. Dieses Bemühen ist vergeblich. Der
Inhalt des Lebens und seiner Entwicklung ist zu reich.
Vielmehr zieht die Landeskunde den größten Gewinn
daraus, wenn das richtig Beobachtete und Festgestellte,
das durch seine Wahrheit und Unmittelbarkeit immer
Interesse erweckt, so'bald als möglich zum Gemein-
gut gemacht wird. Das Gesehene alsbald nach seinen
Lokalbeziehungen mit thunlicher Ausführlichkeit, Spezia-
lität und Anschaulichkeit in Tagesblättem, Zeitschriften
oder Vereinsmitteilungen niederzulegen, empfiehlt sich am
meisten. Werden die Thatsachen klar und bündig
hingestellt, so knüpfen sie am einfachsten und verständ-
lichsten an die Erfahrungen anderer an. Sie werden bei
Digitized by VjOOQ IC
572 Augufit Meitzen.
ßleichstrebenden Weiterentwickelung^ Ergänzung und Be-
richtigung finden, und es wird aus dem unerschöpflichen
StofiPe der Schatz des Wissenswerten und Förderlichen
mit vereinten Kräften schneller und sicherer gehoben
werden, je rascher es gelingt, weitere Kreise für die Mit-
arbeit anzuregen.
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Wirtschaftsgeographie.
Von
Dr. Wilhelm Götz,
Dozent an der Technischen Hochschule in München.
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Jede Art der angewandten Geographie^), d. i.
der dem Leben der organischen Wesen zugewendeten
«Erdoberflächenkunde'*, weist zunächst eine Gemeinsam-
keit wichtiger stoflFlicher Bestandteile mit abstrakter
oder allgemeiner geographischer Betrachtung oder mit
anderen Spezialgeographieen auf. Aber wenn wir auch
z. B. die Behandlung der Bodengestalt oder der geo-
gnostischen Beschaffenheit in mehreren Arten von Erd-
kunde antreffen, so wird dadurch doch die charakteristische
Souderaufgabe keiner im Zwecke klaren geographischen
Einzelbetrachtung (angewandter oder abstrakter) beein-
trächtigt. Denn es werden, um z. B. mit unserer wirt-
schaftlich-geographischen Thätigkeit einen Beleg zu
bieten, nur diejenigen Erscheinungen oder Eigentümlich-
keiten zur Verwendung herangezogen, welche eine un-
mittelbar ursächliche Bedeutung für die ökonomische Be-
schaffenheit und Stellung des betreffenden Landes zur
Folge haben. Handelt es sich dann um Landeskunde,
80 wird ja überdies noch das Individuelle der Darstellung
durch die örtliche Besonderung, durch das Vorkommen der
betreffenden Wahrnehmung in dem untersuchten Teil-
gebiet gesichert.
Es forscht nun aber die »wirtschaftliche Geographie"
nach der Eigenart der Länder zu dem Zwecke, letztere
als den Boden des Erwerbslebens der Bewohner
*) Diese naheliegende Bezeichnung fuhren wir in obigem
Sinn seit längerer Zeit. Eine ungleich engere Bestimmung fanden
wir dann hierfür in Paulitschkes Vorrede zu seiner geographi-
schen Verkehrslehre.
Digitized by VjOOQ IC
576 Wühelm Götz,
zu erkennen ^). Die betreffende Landeskunde wird daher
die physischen Thatsachen und Erscheinungen Deutsch-
lands wesentlich nach ihrer möglichen oder real erwiese-
nen Nutzbarkeit für die Entstehung, den Erwerb und
den Austausch^) von Gütern aufzufassen suchen.
Die Betrachtung wird sodann natürlich so vorgehen
müssen, daß sie das Ganze in mehr oder weniger kleinere
Teile der Gesamtoberfiäche abgrenzt, bei deren Aneinander-
fügung aber sich aus stilistisch-ästhetischen Gründen der
Wiederholung (z. B. bezüglich der klimatischen Eigen-
schaften oder der Verkehrswege) zu enthalten sucht. Nur
beim vordersten Gesichtspunkte der Darstellung ist es
nicht allein leicht thunlich, sondern nahezu unentbehrlich,
sofort auch das Ganze zu behandeln ; wir beginnen näm-
lich, gemäß der Forderung der Denkgesetze imd da wir
eine Ortswissenschaft unseres Planeten betreiben, mit Fest-
stellung
der Lage, welche dann durch Betrachtung der
Grenzen ihre nähere Würdigung erhält. Ohne die so-
fortige Behandlung der Grenzen würde es an hierher
gehörigem Stoffe mangeln, da weder geographische Breite
noch sonstige Naturbestimmtheiten als sonderlich charak-
terisierend für die Lage bemerkbar werden, wie dies für so
manches ferne Land, z. B. für Island, für Norwegen u. a.,
der Fall wäre. Dagegen kommt alles in Betracht, was für
*) Die Entwickelung dieser Definition hat Verfasser in der
Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde (Berlin) 1882 gegeben in
der Abhandlung „Die Aufgabe der wirtschaftlichen Geographie*.
Ueber ^Allgemeine Geographie* handelte er im »Ausland* von 1884.
') Der Güteraustausch ist allerdings nur eine Art des Erwerbs;
allein infolge seines besonderen Einflusses auf die mechanische
Umgestaltung so mancher geographischen Thatsache (z. B. Ent-
waldung Dalmatiens, Suezkanal), sowie um der besonderen Be-
deutung willen, welche einzelnen geographischen Erscheinungen
für den Verkehr eignet (z. B. Gebirgseinschnitten , Längsprofilen
von Flüssen) — erscheint es gerechtfertigt, die Hinnahme von
Gütern aus den Händen der Natur und deren Verarbeitung aus-
drücklich von ihrem Transport und Umtausch zu imterscheiden.
Benennt man ja noch immer in weiten Kreisen unser ganzes
Spezialfach lediglich nach dem Güteraustausch als Handels-
geographie.
Digitized by VjOOQ IC
Wirtechaftsgeogi-aphie. 577
Einzelerscheinungen der Grenze und für ihren gesamten
Naturcharakter und kommerzielle Eigenart von Einfluß
ist. Es gehört also vor allem die Erwägung der Nach-
barschaft hierher, ohne daß jedoch historisch-politische
Streifungen zulässig wären; denn sie sind nicht Sache
der Erdkunde, nur im weiteren Sinne der Landeskunde.
Es werden also dann nur Momente zur Verwendung
kommen, wie etwa folgende: die Angrenzung an das
Tiefland des großen Ostreiches und die damit gegebene
Offenheit, die Richtung der Längsachse und der Medi-
terrancharakter der Ostsee, die Nachbarschaft und der
^ zeiträumliche ** ^) Abstand des Welthandelsstaates par
excellence, die Angrenzung der mit gleichen oder eng
verwandten Bevölkerungen arbeitenden drei Staaten des
Niederrheingebietes, welche so großartige Gesamtindustrie
besitzen, die Breite und Gliederung des vom Meere
trennenden Alpengebirges u. dergl. mehr.
Der Grenzverlauf selbst aber wird vor allem nicht
als Linie, sondern als Grenzband oder -landstrich ins
Auge gefaßt*).
Eben deshalb aber liegt es schon hierbei nahe, auf
die Verfolgung der gesamtdeutschen Grenze mittelst ge-
nauerer Darstellung zu verzichten und erst bei der Be-
handlung von größeren Teilganzen den betreffenden Ab-
schnitt der AuLiengrenzen zu prüfen und wiederzugeben.
Allerdings ist hiermit bereits angedeutet, daß sich das
Nachfolgende mit der Komposition größerer Teilgebiete
befaßt, nur zuweilen mit Landschaften.
Diese Unterscheidung deutscher Gebiete kann auch
innerhalb der wirtschaftlichen Geographie von allgemein
erdkundlichen Gesichtspunkten gelenkt v«r erden, da Deutsch-
land nicht mehr durch tiefer greifende Sondergesetzgebun-
gen seiner Staaten wirtschaftlich so getrennt ist, daß man
*) Diese Bezeichnung ist in dem vielverwendeten Sinne ge-
meint, wie er sich in des Verfassers Werk , Die Verkehrswege im
Dienste des Welthandels'' (Stuttgart 1888) vorfindet.
'^) Hierfür hat Verfasser in seinem ^Donaugebiet" (Stuttgart
1882) besonders für die , obere Donau" einigermaßen exemplifiziert.
Vergl. auch Ratzel, Anthropogeographie S. 128.
Anleitung zur deutschen Landes- und YolksforschunK. 37
Digitized by VjOOQ IC
578 Wilhelm Götz,
die politischen Landesgrenzen im Inneren sorgfältig be-
achten müßte.
Als Teilganze erachten wir aber: I. Süddeutsch-
land, IL die sog. Rheinlande, IIL Mitteldeutsch-
land bis zu den Sudeten, IV. Schlesien, V. Nordost-
deutschland, VI. Nordwestdeutschland.
Mit dieser Angabe von Hauptgebieten will aber nicht
die Teilung in einzelne Oberflächenstücke beendet sein.
Vielmehr wird sich namentlich für die Gegenden südlich
des Tieflandes eine mannigfache Scheidung in Landschafts-
individualitäten für die durchzuführende Betrachtung nach
den folgenden Hauptgesichtspunkten (wenigstens der Ge-
stalt, der Bodennatur und Produktion) als sehr angezeigt
erweisen, ohne dass dies hier skizziert werden soll.
I. Sflddeutschland.
1. Die Grenze im N. zieht der Rücken des Franken-
und Thüringerwaldes, die Rhön, die Fuldischen Höhen,
der untere Main oder der Fuß des Taunus und des Huns-
rück. Im W. gehören zum Grenzband die beiderseitigen
Hänge des Moselthales und der nordöstliche Thalrand der
Meurthe. Im S. z. B. kommen sowohl die Rücken des
Randen, des Höhgau und Klettgau wie das Gegenüber
zwischen unterster Aar und Rhein in Betracht. Die leb-
hafte Profilierung dieser jurassischen Erhebungen zwischen
dem Südfluß des Schwarzwalds und dem Bodensee, eine
langgezogene hemmende Gegend im Verhältnis zu der
Zugänglichkeit des Bodenseebeckens, verlangt besondere
Beachtung. Seehöhendifferenzen zwischen Städtchen und
Bergrücken ihrer nächsten Nachbarschaft werden als Be-
lege dafür zu suchen sein. Man erhält ^ie zum Teil aus
den Angaben der meteorologischen Statistik, weit leichter
aber aus den Sektionen der „Topographischen Karte des
Großherzogtums Baden^ (1 : 50000), welche namentlich
auch das linke Rheinufer wiedergiebt, oder doch aus der
Karte für Südwestdeutschland (1 : 250000), welche eine
noch hinreichende üebersichtlichkeit besitzt. Dazu würden
Digitized by VjOOQ IC
Wirtschaftsgeographie. 579
auf der Südseite die mehrfach hintereinander aufsteigen-
den Jurazüge als abschließende Wälle des Hochrheinthaies
zu kennzeichnen sein.
Im W. aber erfolgt die Klarlegung der Grenze zu-
nächst durch Skizzierung der „burgundischen Pforte".
Man giebt deren Breite, d. h. n.-s. Ausdehnung an, die
Seehöhe von etwa 350 m für den Rand annehmend; man
charakterisiert ihre Erhebung durch Hinweis auf die
Eanalscheitelstrecke bei Münsterol. Die Landeskunde kann
auch ihre Wichtigkeit für den Völkerverkehr durch Andeu-
tungen über ihre historische Benutzung (von der Etrusker-
zeit an) und über heutigen Transitverkehr bezeichnen.
Die Angaben über das Kanalniveau werden aus der
, Statistik des Deutschen Reichs" Bd. XV entnommen,
oder aus Büchern, wie Nördlings „Selbstkosten des
Eisenbahntransports **, oder Bellingraths „Bau und Be-
trieb eines deutschen Kanalnetzes*.
Dann folgt die Behandlung der Vogesen, über welche
die Reisehandbücher von K. Mündel und v. Seydlitz
entsprechend orientieren, besonders über die schwache
Gliederung ihres Kammes, in dessen breiten Unterbau
freilich beiderseits mehrere Thäler tief einschneiden. Sie
wären in diesem Zusammenhang nur zu benennen, nicht
eigentlich zu besprechen, zumal keine tiefere Einsattelung
durch sie veranlaßt wird, um einen leichteren üebergang
zu gestatten. (Das Steinthal wird sowohl infolge seiner
Richtung als durch die Enge in oberster Strecke unfähig,
als Ausnahme zu gelten.) Der Grenzstreif, welcher sodann
nach NW. zieht, wird wesentlich die Wasserscheide der
Meurthe behandeln heißen, die beiderseitigen Gehänge
des Moselthales u. s. w. Hier hat man die exakteste
Grundlage an den Sektionen der „Karte des Deutschen
Reiches" (1:100000), die für Nordelsaß und Lothringen
neu hergestellt wurden.
Im N. Süddeutschlands aber wird die betreffende Breite
und Unebenheit der Einsenkungen zwischen den oben-
genannten Mittelgebirgen wichtig erscheinen, jedoch in
geringerem Maße, als die Oberflächenerscheinungen an
den politischen Außengrenzen in 0., S. und W., zumal
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580 Wilhelm Götz.
noch wiederholt eine Behandlung der nördlichen Zwischen-
region erfolgt (bei dem Kapitel über Produktion und bei
dem über Verkehr).
Das Hinübergreifen einzelner politischer Gebietsteile
über die natürlichen Grenzen, z. B. des bayrischen Voigt-
landes oder bei den „Rheinlanden" des Münsterer Bezirks,
wird nicht Anlaß sein, solche Stücke von ihrem nächsten
politischen Zusammenhang in der Betrachtung loszu-
trennen; denn die Verkehrseinrichtungen und zahlreiche
andere wirtschaftspolitische Einwirkungen und Thatsachen
haben für solche Teile nicht selten einen stärkeren Einfluß
auf Produktion und Verkehr, als ihn die physikalische
Verwandtschaft und Zugehörigkeit besitzt.
Die Feststellung der Grenzstreifen nun gestattet so-
dann bereits eine fühlbare Einschränkung der nächsten
Aufgabe: man hat nämlich mit denselben ein beträchtliches
Stück der Bodengestalt bereits beschrieben.
2. Die Bodengestalt zu charakterisieren, ist einer-
seits die wichtigste und eingreifendste Aufgabe abstrakt
geographischer Art, andererseits aber auch das Schwie-
rigste für die Form der Darstellung im Hinblick auf den
Leser, der zu einer längeren Gefolgschaft hierbei nur
durch besondere Reizmittel zu bringen ist. Als solches
wird eine an Bildern reichere Ausdrucksweise noch nicht
genügen; namentlich aber erheben die zunächst folgenden
Hauptgesichtspunkte der Betrachtung auch für diesen
2. Punkt bestimmte Forderungen: es sind die Einflüsse der
betreffenden Profilseigenschaften ins Auge zu fassen.
Vorerst aber wird man für Gesamtdeutschlands
Bodengestalt als sehr fruchtbare Hilfsbücher zu benutzen
haben: Wagner (Guthe), Lehrbuch der Geographie, so-
wie besonders auch die betreffenden Kapitel (1 und 2,
4 und 5) in Pencks „Das Deutsche Reich*. Neben
beiden wissenschaftlichen Werken nehmen für die ein-
zelnen Gebiete, resp. für die gebirgigen Landschaften die
Reisehandbücher als Quellen eine hervorragende Stelle
ein; immer noch voran Bädeker und die Meyerschen
Reisebücher, für die Alpen auch Trautwein; v. Ber-
lepsch für Südwestdeutschland. Für Bayern nennen wir
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Wirtschaftsgeographie. 581
noch J. F. Weiß' „Südbayerns Oberfläche und Höhen-
berechnungen", Waltenbergers „etc. Allgäuer Alpen**,
sowie sein „etc. Wettersteingebirg" und dessen „Zusammen-
stellung der Kartenwerke Bayerns" 1884.
Hierher gehören auch Karten wie Algermissens
Topographische Spezialkarte des Schwarzwaldes (1 : 200000).
Die Seehöhe ist bei der Bodengestalt von vielfacher
praktischer Bedeutung, wie für klimatische Faktoren so
und zwar größtenteils eben auf Grund der letzteren für
solche der Vegetation und bez. der Bodenkulturen. Eine
Anzahl von hochgelegenen Ortschaften (nicht aber von
Berggipfeln ^)) wird man sich neben den in der Tiefe
gelagerten zu vergegenwärtigen haben, um auf die Diffe-
renz der Naturbedingungen hinzudeuten, welche sich den
betreffenden Bewohnern bieten. Sodann kommen die
Einschnitte und Bodenfurchen besonders in Be-
tracht, durch welche die massigeren Erhebungen pro-
duktionell gegliedert werden, um vor allem kommerzielle
Vorteile zu gestatten, aber auch die unteren Schichten
der Erdrinde da und dort zu Tage' treten zu lassen, hier-
mit aber auch so manche nutzbare Mineralien und Me-
talle. Die Pässe, die Thal er, alle tiefen und schmalen
Einsenkungen gehören hierher. Zwischen der Sohle der
Einsenkungen und den Höhen der Rücken und Plateaus
aber sind die Böschungen oder Gehänge, deren Nei-
gungswinkel für die Bildung von Dammerde, für die
Herstellung von Lokal- und Flurfahrwegen, für die Me-
thode des landwirtschaftlichen Anbaues und für dessen
belastenderen Aufwand an Werk- und Fahrzeugen, für die
Kulturpflanzen selbst u. s. w. von Wichtigkeit sind.
Mit Beachtung dieser Gesichtspunkte, soweit sie ört-
lich in Betracht kommen können, kann also bereits vor-
her eine Grenze, wie die der Bayrischen und Allgäuer
') Die Höhe der Gipfel zu kennen, hat für uns höchst ge-
ringen Wert, namentlich dann, wenn sie beträchtlich über ihre
Umgebung hervorragen oder wenn sie nicht in grösserer Anzahl
nahe bei einander stehen und dadurch einen beachtenswerten Teil
der Landschaft als unter den Einflüssen ihrer Seehöhe befindlich
erscheinen lassen.
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582 Wilhelm Götz,
Alpen, untersucht worden sein, wobei allerdings die Ein-
schnitte am meisten berücksichtigt wurden; denn sie ver-
teilen durch das ganze Alpenland in so reichlicher Weise
die Möglichkeit ersprießlichen Anbaues, und sie regen
diesen durch die von ihnen gebotenen Durchwege und
Uebergänge in das Nachbarland an.
Für die Beurteilung und Erkenntnis der Bodengestalt
ist aber außerhalb des Tieflandes von mannigfacher Be-
deutung
3. diegeognostische Bildung der sichtbaren Erd-
rinde und ihre unmittelbare Grundlage. Läßt ja doch
die petrographische Bildung einer hügeligen und Berg-
landschaft so viele verlässige Schlüsse auf die Profilsver-
hältnisse zu: ein Gneis- und Granitgebiet wird andere
Böschungen in der Regel zeigen, namentlich wenn von
scharfen Thalspalten abgesehen wird, als die jurassische
Formation; der Kreidesandstein bekommt den Einwirkungen
der atmosphärischen Kräfte gegenüber wesentlich andere
Formen, als Doloraitmassen. Namentlich aber, da auch
für die Landeskunde eine wissenschaftliche Methode vor-
auszusetzen ist, wird die mannigfaltige Ursache der vor-
handenen Bodengestalt, das Nacheinander und die Wirk-
samkeit der tektonischen Vorgänge, erkannt und beachtet
werden müssen. Aber dies nur so weit, als auch die be-
treffenden Profilseigenschaften des heutigen Bodens für
die Produktion und den Verkehr von Einfluß sind.
Realistischer wirkt aber in diesem Zusammenhang
das Bedürfnis, für den nächstfolgenden Hauptgesichts-
punkt der Länderbetrachtung, nämlich für deren boden-
kundliche Beschaffenheit, sowie weiter für die Frage nach
der Voraussetzung der Stein- und Metallgewinnung die
betreffende stoffliche Grundlage des Festbodens zu er-
kennen. So erscheint es also unumgänglich, die geo-
gnostische und petrographische Eigenart des
betreffenden Territoriums in Betracht zu ziehen.
Man wird nach der petrographischen Erscheinungs-
form der betreffenden Formationsetagen oder Massen-
gesteinsbildungen, sowie nach ihrer Lagerung imd Glie-
derung (ob in Stöcken, in Schiefer und Bänken, ob
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Wirtschaftsgeogi-aphie. 583
zerklüftet u. s. w.) sich erkundigen. (Hierbei nochmals
zu erwähnen, daß nur solches hereingehört, was mit den
übrigen Teilen der Gesamtdarstellung in kausalem Zu-
sammenhange steht, mag sich aus dem Bestreben recht-
fertigen, gegen die Geognosie als eine nach Ziel, Umfang
und beträchtlich auch nach Methode von der Geographie
unterschiedene Disziplin stets die Grenze einzuhalten.)
Unentbehrlich aber ist für so manche Produktionsfrageu
vieles von der Gesteinsgrundlage und von deren Wechsel,
da z. B. Zerklüftung auf die Wasserkapazität, da Dichtig-
keit und horizontale Lagerung des krjstallinischen Schie-
fers auf die Durchlässigkeit, quarzreiche Etagen auf die
Durchwärmung und Lockerheit des Bodens maßgebend
wirken; der Wechsel von Formationsgliedern läßt größere
Bodenfurchen, hiermit aber auch Naturwege so oft ent-
stehen u. s. w.
Nicht nur in bergigem Lande, sondern auch in einem
so vielfach flachen Gebiete, wie das Tafelland rechts der
oberen Donau ist die Beachtung solcher geognostischen
Gesichtspunkte geboten.
Für Süddeutschland wird man in Bezug auf Bayern
eine erwünschte Grundlage flir die betreffende Detail-
orientierung etwa durch nachfolgende Werke und Schrif-
ten finden: in Gümbels „Geognos tische Beschreibung
des bayrischen Alpengebirges und seiner Vorlande", „Geo-
gnostische Beschreibung des ostbayrischen Grenzgebirges,
des Fichtelgebirges" (1879); die gleichfalls von ihm heraus-
gegebenen geognostischen Karten, an welchen u. a. v. Am-
mon hervorragenden Anteil hat, nehmen allerdings auf
die für unsere Zwecke erwünschten Unterscheidungen
petrographischer Art weniger Rücksicht als andere Landes-
aufnahmen; sie dienen ausschließlich dem rein geognosti-
schen Interesse. (Erschienen oder im Drucke sind fast
alle Sektionen [XIV] der bergigeren Teile Bayerns aus-
schließlich der Pfalz.) Außerdem sind nur petrographische
Bearbeitungen enger begrenzter Gebiete erschienen; wir
nennen beispielsweise v. Zittel, v. Ammon, Kalkowsky
(Gneis und Granit der Oberpfalz). — Für Württemberg
dienen vor allem die „Begleitworte**, welche als kleine
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584 Wilhelm Götz,
Quartbroschüre jeder Sektion der „Geognostischen Karte^
des Landes (1 : 50000) beigegeben sind. Sie sind wie ftlr
Bodenkunde und für Mineralproduktion, so etliche auch
f&r die Erkundung der Bodengestalt durch genaues Re-
gistrieren der Flußgefällsverhältnisse sehr erwünscht.
(30 Blätter.) Weiter giebt mancherlei für unsere Zwecke
Fr aas, „Geognostische Beschreibung von Württemberg,
Baden und HohenzoUem '^; Gutekunst, „ Geognosie
und Mineralogie Württembergs** (1880); Th. Engel,
„Geognostischer Wegweiser durch Württemberg** (1883).
üeber die Bodenseegegend haben K. Miller („Molasse-
meer der Bodenseegegend **) und J. Schill (^Geologie der
Gegend von üeberlingen, des Höhgau ** u. s. w.) spezieller
gearbeitet. Für diese, wie für die östlichere Region
tertiärer und glacialer Erscheinungen giebt A. Penck
mit seiner „Vergletscherung der deutschen Alpen** sowohl
in der Darstellung, als in den Litteraturhinweisen viele
Materialien. Hierher gehören auch AI. Geistbecks ,.Seen
der deutschen Alpen**. Für die geognostisch-orographische
Betrachtung instruiert besonders auch H. v. Barth in
„Aus den nördlichen Kalkalpen**. — Badens „Geologi-
scher Atlas des Großherzogtums** ist die kartographische
Grundlage für die neuestens begonnene geognostische
Landesaufnahme nach agronomischen Gesichtspunkten;
doch stehen von letzterer natürlich Ergebnisse noch aus.
Eine eingehendere Arbeit litterarischer Art, doch müh-
sam für unsere Zwecke zu benutzen sind die 11 Teile
der „Beiträge zur geognostischen Beschreibung des 6ro&-
herzogtums Baden** von Sandberger, Schill und Vogel-
gesang. Man wird leichter sich begnügen lassen an
Platz* „Geologische Skizze von Baden** (mit Karte). —
Elsaß-Lothringen bringt ausgezeichnete Sektionen der
„Geologischen Spezialkarte** (l:2r»000) samt „Erläute-
rungen** und „Abhandlungen** zu denselben und zur „Geo-
logischen Karte der Umgegend von Straßburg mit Be-
rücksichtigung der agronomischen Verhältnisse**. Letztere
besonders gehört zu dem, was wir als nächstes Ziel zum
besten der wirtschaftlichen Geographie für alle Gebiete
wünschen. Hierher haben wir auch die zwei ersten Jahr-
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Wirtschaftsgeographie. 585
gänge „Mitteilungen der Kommission für geologische
Landesuntersuchung** zu rechnen. — Auch Hessen er-
freut sich seit geraumer Zeit einer nahezu vollständigen,
wenn auch stellenweise von der unbedingt verlässigen
jetzigen Leitung nicht aufrecht erhaltenen Landesauf-
nahme in 18 Sektionen, üeber die Fragen, welche auf
Bodennatur und Mineralprodukte Bezug haben, finden
sich kürzere Aufsätze in den Jahrgängen des „Notiz-
blattes des Vereins für Erdkunde und verwandte Wissen-
schaften zu Darmstadt** (von 1854 an). Spärlicher sind
Abschnitte verwendbar in den „Abhandlungen der groß-
herzoglich hessischen geologischen Landesanstalt** (seit
1884); mehr bieten die älteren „Beiträge zur Geologie
des Gro&herzogtums Hessen und der angrenzenden Gegen-
den**, besonders ihre „Ergänzungsblätter**. Für die di-
luvialen Gebiete ist eine zahlreiche, besonders in den ver-
schiedenen geologischen Zeitschriften verteilte Litteratur
vorhanden. Lepsius als Leiter der geologischen Landes-
anstalt Hessens giebt naturgemäß sowohl in seiner be-
gonnenen (I, 1) „Geologie von Deutschland** gerade über
diese Rheingebiete die berufensten Mitteilungen, als er
auch mit seiner „Geologischen Uebersichtskarte des Main-
zer Beckens** die Stein- und Bodenunterschiede erwünscht
aufzeigt (1:100000), dazu in „Die oberrheinische Tief-
ebene imd ihre Randgebirge** (1885) orographisch und
bodenkundlich so viel Nutzbares einfügt.
Mit diesen Hinweisen nun ist zugleich ein Teil der-
jenigen litterarischen Hilfsmittel bezeichnet, welche dem
dritten unserer Gesichtspunkte dienstbar werden können,
nämlich der Darstellung
4. der Bodennatur. Die Bodenkunde der be-
treffenden Gebiete in Bezug auf Zusammensetzung und
Farbe der Bodendecke und hinsichtlich ihres nächsten
Untergrundes ortsbeschreibend zu behandeln, erscheint
uns eine ebenso unentbehrliche als noch sehr wenig aus-
geführte Aufgabe. Denn nicht nur fehlen hierzu Hand-
bücher und Einzelarbeiten für irgend welche größeren
geographischen Regionen, sondern es kann, abgesehen von
dem, was aus einzelnen geognostischen Karten und aus
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586 Wilhelm Götz,
den wenigen neuen Karten agronomischen Charakters zu
ersehen ist, hier fast nur auf dem entwickelten Wege
vorgegangen werden, daß die petrographische Beschaffen-
heit des betreffenden Landstriches erforscht wird, um
dann auf die vorhandene Bodendecke zu schließen. Aller-
dings ist auch dies zur Zeit noch sehr erschwert durch
den Mangel einer Petrographie von Deutschland und
durch den meist in wenig zusammenhängender Weise
ortsbeschreibenden Tenor der geognostischen Schriften
und Werke. Nur die meisten „Erläuterungen'' zu den
Sektionen der geognostischen Karten der Landesaufnah-
men sind in genannter Hinsicht als Ausnahmen zu unseren
Gunsten zu begrüßen.
Unentbehrlich aber ist einer wirtschaftlichen Geo-
graphie die Verwendung der Bodenkunde in angeregtem
Sinne ^) oder die Erkenntnis und Bezeichnung der Boden-
natur. Wenn wir zu dieser wesentlich auch die Farbe
rechneu, so geschieht dies nicht nur aus dem Grunde der
allgemeinen Geographie, daß es ein wohl selbstverständ-
liches Erfordernis der Erdbeschreibung sei, auch in
dieser Hinsicht das Aussehen achtsam zu bezeichnen.
Vielmehr ist ja die Farbe auch sehr belangreich für
Vegetation (vergl. darüber Wollny in den „Forschungen
zur Agrikulturphysik'* VH. Bd.) und für den Wert ver-
schiedener Steine und Erden. — Unvergleichlich wichtiger
aber ist es für die Darlegung und für das Verständnis
der vegetabilischen Produktion und ihre Bürgschaften in
Bezug auf Nahrung und Befeuchtung, sowie für die Be-
deutung eines Landstriches in Bezug auf mineralische
Produkte, daß man die verwitterten und zersetzten Erd-
') Diese Forderung wurde vom Verfasser bereits eingehend
begründet in der oben S. 576 erwähnten größeren Abhandlung der
Zeitschrift ttir Erdkunde lb'82, weshalb wohl hier im ganzen anf
eine genauere Ausführung:; verzichtet werden kann, um nicht Ge-
sagtes zu wiederholen. Ebenso hat Verfasser, soviel ihm die Lit-
teratur bekannt, zuerst in einer nicht speziell der Bodenbeschrei-
bung gewidmeten Arbeit (wie sie z. B. Meitzens «Boden des
preuß. Staates* ist) versucht, die Bodenkunde, Avenn auch in dürfti-
ger Weise und unbefriedigt von dem Erreichten, in die Erdkunde
einzubeziehen, als er nämlich sein , Donaugebiet ** schrieb (1881).
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Wirtfichaftsgeographie. 587
lagen und deren Untergrund gegendweise kenne. Man
bedarf übrigens auch umgekehrt zum vollen Verständnis
der Bodengestalt resp. der Veränderlichkeit der Profils-
linien und zu den Erweisen für die geognostisch-petro-
graphischen Qualitäten der obersten Gesteinsschichten
(massen) einer Kenntnis der „Dammerde** und der Ver-
witteruDgsergebnisse. Die Natur des Zersetzungsbodens
aber bleibt neben dem Klima das Matagebendste für die
Produktion. Sie ist jedoch auch eminent einflußreich für
Verkehrswege. Hiermit zielen wir nicht zunächst etwa
auf die Sümpfe Nord Westdeutschlands, sondern nament-
lich auf die wesentliche Abhängigkeit des Baues von
Chausseekörpern und von Eisenbahnen im flachen Land,
auf die Anlage von Distrikts- und Gemeindewegen, welche
ja sehr verschieden rasch und teuer entstehen werden,
je nachdem z. B. Dolomitgrus oder Quarzschiefer zu
Grunde liegt.
Bezüglich Bayerns nun wird man für den größten
Teil seines Gesamtareals zunächst auf die Benutzung der
Gümbelschen Schriften zur Folgerung bodenkundlicher
Thatsachen angewiesen sein. Eine Teilbearbeitung dieses
Gebietes, jedoch nur übersichtlicher Art, liegt in dem
Bericht des Kreiskomitees: „Die Landwirtschaft im Re-
gierungsbezirk Oberbayem'* (1885).
Für die übrigen Länder sind zunächst die oben be-
nannten petrographischen Orientierungen und geognosti-
schen Darstellungen eine provisorische Grundlage. Für
Württemberg aber hat dessen thätige königliche Zentral-
stelle für die Landwirtschaft besondere Gesteins- und
Bodenuntersuchungen veranstaltet und seit 1866 die wich-
tigsten Formationsgebiete der mesozoischen Periode in
ihren „ Jahresheften ** klarstellen lassen. Baden hat, wie
schon angedeutet, nunmehr eine Abteilung für geognostisch-
agronomische Untersuchungen eingerichtet, obwohl dieses
Land nicht in dem Maße wie Bayern Agrikulturinteressen
zu betonen pflegt.
Von allgemeinem, nicht geographischem Werte für
die Unterweisung im Erschließen der bodenkundlichen Orts-
thatsachen aus den zu suchenden petrographischen erscheint
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588 Wilhelm GöU,
uns ein Lohrbüchlein nennenswert, Daferts Bodenkunde
(1885).
5. Aber die Bodenbildung und die Verwitterungs-
verhältnisse, somit auch die vorhandenen Profile sind
wesentlich herbeigeführt und weiterhin abhängig von den
atmosphärischen Einflüssen, vom Klima.
Hier ist ja freilich nicht zu fragen, ob man die
Elimatologie wesentlich beizuziehen habe, sondern nur,
welche Bestandteile derselben am unentbehrlichsten seien.
Man wird allenthalben den Frostverhältnissen des
Winters und Frühjahrs und der Summe, den Zeiten und
Erscheinungsformen der Niederschläge, wohl auch der
wechselnden Luftfeuchtigkeit und der Bewölkung, weniger
dem Vorwalten der Windrichtungen nachforschen.
In einzelnen Gegenden aber kommen die Sommer-
temperaturen wegen ihrer Beschleunigung der Ernte und
wegen der Erzielung von Produkten, welche sonst süd-
licheren Breiten angehören, wesentlich mit in Betracht;
so für Niederbayerns Donauebene, so für den Norden des
oberrheinischen Tieflandes.
Als litterarische Hilfsmittel in letzterer Hinsicht em-
pfehlen sich die Arbeiten über phänologische Thatsachen.
Von allgemeinerer Bedeutung ist hier H. H. K. Hoff-
manns „Phänologische Karte von Mitteleuropa" in Peter-
manns Mitteilungen (1881) und „ Phänologische Unter-
suchungen" 1887. Egon Ihne verfaßte nach den »Beiträgen
zur Phänologie" (1879) die „Geschichte der phänologischen
Beobachtungen" (1884).
Sucht man aber sodann in der Litteratur nach spe-
ziellen Beobachtungen für die Gesamtheit obiger Gesichts-
punkte, einer beträchtlichen Reihe von Jahren rückwärts
geltend, so gebricht es daran. Dies gilt aber schon in
Bezug auf die Niederschläge allein, noch mehr aber hin-
sichtlich der Fröste. Denn bei letzteren handelt es sich
am meisten um die Ausdehnung der Frosterscheinungen
ins Frühjahr hinein, um die Spätfröste, welche neben
dem Temperaturminimum des Januar und Dezember den
maßgebendsten Einfluß auf die ungestörte Entwickelungs-
zeit der Pflanzen haben. Hierfür finden wir keine ge-
Digitized by VjOOQ IC
Wirtschaftsgeographie. 589
druckten Nachweise; denn die publizierten Ergebnisse
bringen nur die Tagesmittel des Mai, nicht die täglichen
Minima. Als instruktive Arbeiten aber nennen wir: Dove,
„Die Kälterückfälle im Mai* (Abh. d. k. Akad., Berlin
1856); V. Bezold, «KäJterückfaUe im Mai« (Verh. d.
Akad. d. Wissensch. IL KL 1883); Recknagel, ^üeber
Spätfröste** u. s. w. (PoUichia 1870); Gaea von 1881:
„Die Kälterückfälle im Mai**.
Für die Frage der Niederschläge sind wenigstens
von zwei Autoren für Gesamtdeutschland oder doch für
dessen größtes Gebiet wertvolle Nachweise vorhanden:
H. Töpfers „Untersuchungen über die Regenverhältnisse
Deutschlands" (1881), ein unersetzbares reichhaltiges Buch
(namentlich durch Tabelle III) ; sodann die Abhandlungen
Hellmanns in der „Meteorologischen Zeitschrift* (Hann
und Koppen) von 1886 und 1887. Außerdem sei noch
erwähnt: Heft 2 der „Beiträge zur Hydrographie Badens:
Die Niederschlagsverhältnisse".
Für die Mehrzahl der einzelnen Teilgebiete aber sind
die meisten Beobachtungsstationen erst jüngeren Alters,
weshall) noch wenige zusammenfassende Darstellungen
aus den veröflFentlichten Jahresergebnissen erwachsen sind.
Doch mag hier eine kleinere neueste Arbeit von Singer
erwähnt werden: „Die Temperaturverhältnisse von Süd-
deutschland" in den „Meteorologischen Beobachtungen des
Königreichs Bayern" (1888).
Die meteorologische Litteratur über Württemberg
hat ihre betreffenden Materialien in den Abschnitten der
„Württembergischen Jahrbücher für Statistik und Landes-
kunde" (Aufsätze von Schoder über Stuttgart im be-
sonderen). Baden hat seit 1869 seine „Jahresberichte der
großherzoglich badischen meteorologischen Zentralstation".
Die meteorologische Litteratur über Baden bis 1876 gab
Sohncke im VII. Jahresbericht, üeber das Elsaß fehlen
zwar neueste Publikationen; doch gab solche in ver-
gangenen Jahren das kaiserliche Ministerium, Abteilung
für Gewerbe, Landwirtschaft und öffentliche Arbeiten.
Die Regenmengen dagegen sind z. B. von Emile Dietz
für 1870—80 bearbeitet (französisch). Einzelheiten über
Digitized by VjOOQ IC
590 Wilhelm Götz,
die Gegenden des oberrheinischen Tieflandes hat auch der
Jahresbericht des Vereins für Naturkunde zu Mannheim;
so namentlich über diese Stadt selbst. Hierher gehört
auch Gouzy, „Resultate der Beobachtungen zu Münster
(Elsaß) 187G-81« (1882). '
Ob man die klimatischen Fragen etwa schon an die
der Bodengestalt anschließe oder mit deren Erledigung
verflechte, wird der Darsteller jeweilig entscheiden: jeden-
falls aber wird man das Klima als maßgebendsten Faktor
für jene Produktion, welche die Natur selbst besorgt,
und als höchst einflußreich auf die Art der menschlichen
Produktivarbeit vor der Darlegung dieses vorletzten Ge-
sichtspunktes, der Produktion, skizzieren, üeberhaupt
wird es geradezu durch die ästhetische Rücksicht auf
Mannigfaltigkeit der Anordnung und auf Vermeidung von
Wiederholungen geboten sein, strichweise z. B. zugleich
mit der Gestalt die meteorologischen Einflüsse, die Zu-
sammensetzung und die mineralisch -metallische Produk-
tion, ja auch Naturwege zusammenzuschließen und dann
erst zu der weiteren Vorführung dieser geographischen
Eigenschaften des übrigen Teilganzen oder Landes vor-
zugehen und hierauf das Kapitel „ Produktion ** zu behandeln.
6. Die Produktion. Bei diesem ebenso umfang-
reichen, als an sich vielseitig interessierenden Abschnitte
gilt es vor allem, die Grenze durch die Rücksicht auf
den inneren Zusammenhang unseres Spezialfaches thun-
lichst enge zu ziehen. Es wird hier namentlich auch der
Blick auf den letzten (7.) Gesichtspunkt mitbestimmend
sein müssen, nämlich der auf die Verkehrswege und deren
eingreifendere Benutzung. Wie aus der Geognosie und
aus der Bodenkunde nur solche Elemente für uns ver-
wendbar werden, welche für iUima und Produktion un-
mittelbar kausale Bedeutung haben, so wird jene Pro-
duktion eines Landes außer Betracht bleiben, welche
nicht die Herstellung von Verkehrswegen mit veranlaßt
oder eine für deren Unterhalt beachtenswerte Benutzung
veranlaßt. Daß freilich produktives Leben und Arbeiten,
durch welches auch das landschaftliche Aussehen modi-
fiziert wird (Anbau bestimmter Produkte, Bau von Häuser-
Digitized by VjOOQ IC
Wirtschaftsgeographie. 591
gruppen u. a. m.), notwendig zu skizzieren ist, erscheint
durch die Aufgabe der Erdoberflächenbeschreibung in
unserem Sinne wohl von selbst geboten.
Man wird aber bei der Einzelbetrachtung entweder
von den nationalökonomischen Kategorieen sich vorwärts-
führen lassen dürfen, also die ür-, Natur- und Kunst-
produktion, eine nach der anderen, durch das betrefifende
ganze Land hin erfragen, oder man wird gegendweise
die genannten Gesichtspunkte so erledigen, daß die be-
treflPende Landschaft A für die Produktionsbetrachtung
vollständig erkannt ist, bevor man zur angrenzenden
Landschaft B übergeht. So findet in letzterem Fall na-
türlich wieder die Gliederung des betreffenden Teilganzen
in Unterabteilungen statt, wie es bei nachfolgenden
Lit. a— c meist ähnlich gehalten wird.
Es empfiehlt sich außerdem bei entschieden indu-
striellen Regionen von selbst, die Städte und das um-
gebende Land nicht getrennt zu behandeln, während das
Umgekehrte bei vorwiegend landwirtschaftlichem Erwerbs-
leben nahe liegt, ja meist geboten erscheint.
In der Nachfrage nach der Produktion nun wird
man aber in jedem Falle von den vorhin genannten Ar-
ten und ihren Unterabteilungen geleitet bleiben, um die
nötige Uebersicht zu gewinnen und faßlich werden zu
können.
a) Die Urproduktion zunächst wird, soweit sie mine-
ralisch-metallischer Art ist, eben wegen der engsten Ver-
bindung der nutzbaren Mineralien mit der Bodennatur
sich meist zur ersten Feststellung der Erzeugnisse eignen.
Dies wenigstens in den Landschaften Süddeutschlands.
Doch wird man auch bei Rheinland- Westfalen mit der
sofortigen Vorführung der Kohlen- und Metallförderiynig
nicht unrichtig handeln, weil diese dem Betrachter mit
zu allernächst ins Auge fallen muß, wenn er für die
Frage nach der Produktion Umschau hält. Allerdings
spricht gegen eine Behandlung der Montanproduktion an
dieser Stelle der Umstand, daß eine hochentwickelte Tech-
nik, also eine Wirkung sehr fortgeschrittener Industrie
die Voraussetzung unserer Gewinnung der Bergprodukte
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592 Wilhelm Götz,
bildet. Allein für uns entscheiden zunächst Gründe der
Anschauung, der äußeren Betrachtung des Landes und
seiner Merkmale, also nicht ein begriff lich«schematischer
Aufbau; auch würde man mit solchem die stärksten Schwie-
rigkeiten haben, an irgend einer späteren Stelle die mi-
neralisch - metallische Produktion vorzubringen. Wenn
man nicht versuchen will, letzterer nach der landwirt-
schaftlichen Industrie aus äußerlichen Gründen gerecht
zu werden, oder die gesamte Urproduktion unmittelbar
vor der Industrie zu behandeln, so bleibt kein anderer
Zusammenhang brauchbar, als der von uns empfohlene,
oder die Verwebung unter die Feststellung der Boden-
natur und die geognostischen Andeutungen.
Für die geographische Kenntnis der gesamten mine-
ralisch-metallischen Produktion unseres Gebietes ist nur
spärlich durch eine direkt verwertbare Litteratur vor-
gearbeitet. Wir verweisen zunächst auf ein höchst ver-
dienstliches Werk: „Die nutzbaren Mineralien und Gebirgs-
arten im Deutschen Reiche*' u. s. w. von H. v. Dechen;
ebenso auf Gottgetreu, Baumaterialien, I, 1 — 117. Für
die Geognosie und Bodenkunde haben wir v. Dechen nicht
genannt, weil er sogar in seinen Abschnitten „Zusammen-
setzung" gleichsam nur beispielshalber die einzelnen Ge-
steinserscheinungen örtlich bezeichnet, jedenfalls uns kein
mäßig ausgedehntes Bereich petrographisch zusammen-
hängend wiedergeben läßt. Dagegen ist für Mineral- und
Metallproduktion nur das eine zu bedauern, daß fragliches
treffliche Hilfsmittel seit 1873 nicht wieder neu aufgelegt
wurde. Aus solchen Wericen ftlr die Gesamtheit der be-
treffenden Produktion überhaupt wird man noch am rasche-
sten die nötigen Notizen erholen. So instruieren über die
fossile Kohle hauptsächlich H. B. Geinitz, „Geologie der
Steinkohlen Deutschlands und anderer Länder Europas*
(mit Atlas 1865); C. F. Zincken, „üeber das Vorkommen
der fossilen Kohlen** (1. Bd.).
Die amtlichen Statistiken aber rubrizieren nur nach
Bergamtsbezirken, wodurch z. B. die Mitteilungen über
Bayern für uns ziemlich wertlos sind. Da verhelfen ge-
legentliche Angaben, wie sie z. B. in der bezüglich Kohle
Digitized by VjOOQ IC
Wirtschaftsgeographie. 593
wertvollen Zeitschrift „Glückauf, berg- und hüttenmän-
nische Zeitung für den Niederrhein und Westfalen** sich
finden (hier im Jahrgang 1881), leichter zur örtlichen
Einsicht. Bayern hat allerdings noch an einigen älteren
Publikationen verwertbare Quellen; so am Jahrgang 1842
des „Gewerbeblattes des polytechnischen Vereins •* (Schmitz,
,Ueber das Vorkommen nutzbarer Fossilien in Bayern*);
desgleichen an Laubmanns Schrift: „Ueber Vorkommen,
Produktion, Zirkulation u. s. w. der mineralischen Kohle
in Bayern* u. s. w. (1874). Hierher gehört auch der in
ßatzels „Wendelstein* (Zeitschrift; des deutschen u. österr.
Alpenvereins 1886)- erwähnte „Abriß der geognostischen
Verhältnisse der Tertiärschichten bei Miesbach* u. s. w.
Für Württemberg kann sowohl aus den „Jahrbüchern*, als
namentlich aus den einzelnen Bänden „Beschreibung des
Oberamts N.N.* — diesem beneidenswerten Vorrat vorzüg-
lich zugerichteter Werksteine für den Aufbau von Deutsch-
lands Landeskunde — das meiste entnommen werden.
Im übrigen aber muß man sich, abgesehen von dem,
was die geognostische Litteratur zerstreut vorbringt, vor-
erst mit dem rein statistischen Material begnügen, wel-
ches in den „Monatsheften zur Statistik des Deutschen
Reiches* geboten wird (z. B. Februarhefl 1887).
Eine mstruktive, aber natürlich örtlich unvollständige
Instruktion bieten für die hierhergehörigen Erwerbszweige
noch die Handelskammerberichte, welche gewöhnlich auch
die „Industrie der Steine und Erden* behandeln und vor
irrigen Vorstellungen in Bezug auf einzelne Produktions-
stätten bewahren. (Welche Handelskammern hierher ge-
hören, muss man erkunden aus „Die Handels- und Ge-
werbekammern des D. Reiches* 1884 [ein Verzeichnis].)
Für die bergigen Gebiete sind auch die Reisehandbücher
instruktiv (Meyer, Mündler u. s. w.).
Zu der Urproduktion ist aber sodann in einer landes-
kundlichen Darstellung auch Fischerei und Jagd zu
rechnen. Beide sind auch in unserem Gebiete einträg-
lich genug und von Einfluß auf die Landschaft, z. B.
auf die Alpenforsterhaltung, um Erwähnung zu verlangen,
wie auch der Seeenreichtum auf die erstere hinführt.
Anloitang zur dentachen Landes- und Volksforachang. 38
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594 Wilhelm Götz,
b) Der UebergaDg zur Naturproduktion ei^ebt
sich in solchem Zusammenhang leicht.
a) An der forstlichen findet man das erste Glied
der Darstellung.
Da wird die Ausdehnung der Bestände, die örtliche
Bestimmung des Yorwaltens von Nadel- und Laubholz,
die Grenzen beider bei gesteigerter Seehöhe zu erkun-
den sein.
Eine yerlässige Forschung wird hierzu keine ge-
druckte Litteratur für Bayern vorfinden; denn die Sta-
tistik giebt dabei für engere Bezirke zu wenig über die
örtliche Lage neuere Auskunft. Man ist hier nur auf
eine ältere Statistik der staatlichen Forste angewiesen.
0. V. Leos .Forststatistik von Deutschland und Oester-
reich-Ungam" ist wenigstens für die wichtigsten Gesichts-
punkte der Anbauverschiedenheit und für die Ortslage
gearbeitet (1874). Weiter im W. sind »Württembergs
forstliche Verhältnisse* (1880) der IX. Versammlung deut-
scher Forstmänner in unserem Sinne dargelegt worden.
Für 1885 vnirden „Forststatistische Mitteilungen von
Württemberg" hergestellt. Elsaß-Lothringen besitzt eine
uns nicht zugängliche statistische Forstbehandlung des
kaiserl. Ministeriums v. 1885; 1883 edierte v. Berg »Mit-
teilungen über die forstlichen Verhältnisse Elsaß-Lothrin-
gens*. Hessens „Fors^:- und Kameralverwaltung* hat
Wilbrand beschrieben (1880).
Mit der Behandlung des Waldes wird sich sodann
die Beachtung der forstlichen Nebenprodukte ver-
binden. Da kommt vor allem im Alpenlande, wie in
den Mittelgebirgen an der Nordgrenze, so im Fichtel-
gebirge, in der Rhön, im Spessart, die Herstellung der
Holzkohle in Betracht. Die Ausbeute an Terpentin ist
nur im Spessart und im Elsaß erwähnenswert. Die Ge-
winnung von Beeren in Nordostbayern verlangt Beach-
tung. Dagegen ist der Schälbetrieb so spärlich vertreten,
daß er in den süddeutschen Ländern nur geringer Be-
rücksichtigung bedarf. Es fehlt auch an anderen kom-
merziell wichtigeren Erzeugnissen von Belang, wie es
Pilze, Galläpfel u. dergl. wären. Die Handelskammer-
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Wirtschaf tfigeograp hie. 595
berichte kennen wir hier als die einzigen zugänglicheren
Quellen.
ß) Für den Süden nun, wo im Unterschied von Mit-
teldeutschland, auf beachtenswerten Strichen noch die
Weidewirtschaft für die Nutztiere vorwiegt, mag es zu-
nächst naheliegend erscheinen, die Viehzucht an die
Forstkultur u. s. w. anzuschließen. Doch auch hier wird
es ratsamer erscheinen, erst auf Grund der zu bezeich-
nenden Bodenkultur vorzugehen, da letztere nicht nur
&st allenthalben das betrachtete Oebiet bedeckt, sondern
die Tierwelt auch entsprechenderweise nicht an veischie-
denen Stellen nach ihren Gattungen getrennt zur Sprache
kommen dürfte, ohne daü die Darstellung in ihrer Ord-
nung geschädigt und dadurch minder übersichtlich und
unzusammenhängend werde.
Es wird aber den verschiedenen Anforderungen am
besten dadurch entsprochen, da£ je nach ihrer wirtschaft-
lich als wichtiger anerkannten Bedeutung für die be-
treffende Landschaft bald die Viehzucht, bald die Agri-
kultur vorantrete. So wird in Oberbayem, in Oberschwaben
und wohl auch im südlichen Baden die Viehzucht zuerst
Beachtung verlangen, in Niederbayem, in Franken, in
der Rheinebene, im Neckarland der Bodenanbau.
Bei der Viehzucht kommt die Pflege der Rinderzucht
weitaus am meisten in Betracht, die der Pferde für einige
wenige Gegenden; die der Schafe könnte nahezu über-
gangen werden. Dagegen verdient die Geflügelzucht, zu-
mal auch wegen der Eierausfuhr, besondere Betonung,
wenn auch die Statistik Niederbayems, die von Elsaß-
Lothringen oder des Rieses wenig, resp. in zu langen
Zwischenräumen und nicht von der erwünschten Sunmie
von Material unterstützt, uns konkrete Belehrung giebt.
Da wir auch hier, wie allenthalben, nur die über die
Deckung des lokalen und regionalen Bedarfs hinausgehende
Produktion in unserer Behandlung anzeigen, 00 müssen wir
uns an den Handelskammerberichten der betreffenden Kreise
und Länder genügen lassen, nachdem der Inhalt der amt-
lichen Viehzählung von 1883 die nötige Grundlage gegeben
hat. (Für Bayern im 47. Heft der amÜichen Publikationen.)
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596 Wühelm Götz,
7) Das Vorwiegende aber wird immerhin die primäre
Frage nach dem Bodenanbau bleiben, da die Nutzfciere
von dessen Gedeihen größtenteils abhängen. Die Dar-
stellung führt nun hier 1. den Ackerbau für Getreide
und für Futterpflanzen vor; 2. für die teilweise mit
letzteren identischen Handelspflanzen (also ffir Raps,
Flachs, Hanf, Tabak, Hopfen, Wein). Damit verbindet
sich beim örtlichen Vorgehen die Betrachtung der Garten-
kultur und des Obstbaus.
Hierbei erweisen sich die statistischen ,, Monatshefte*^
des Deutschen Reiches, detaillierter die Sonderbehandlung
des gleichen Gegenstandes durch die Emtestatistiken der
Einzelländer als die nächsten, wenn auch nicht höchst
exakten Quellen. Besonders die „Statistischen Mitteilun-
gen über das Großherzogtum Baden" widmen den land-
wirtschaftlichen Erscheinungen etwas vermehrte Acht-
samkeit. Ueber die Futter- und Handelspflanzen findet
man für Baden die erwünschten landschaftlichen Ab-
grenzungen in den betreffenden , Monatsheften'^ der Sta-
tistik des Deutschen Reiches, weil da die kleineren Be-
zirke des Landes vorgeführt sind. Rein geographisch
für das ganze Reich aber belehren die 36 Karten des
„Atlas der Bodenkultur" (1883). — Ueber den Tabak
finden sich mehrere amtliche Publikationen; so in Band 42
der Statistik des Deutschen Reiches: „Tabakbau, -fabri-
kation und -handel" (mit 8 Skizzen); sodann im August
der „Monatshefte" der Statistik des Deutschen Reiches
von 1886: „Tabakbau und -ernte". Der Weinbau ist
leider für Bayern und für Elsaß-Lothringen nicht nach
Bezirksämtern wiedergegeben.
Ohne Hinweise auf die Qualität des Produkts im
Unterschied von derjenigen in anderen Ländern wird
eine befriedigende Kennzeichnung hier nicht erreicht
werden, wie es überhaupt geboten erscheint, das
Besondere der Qualität bei den meisten einzelnen
Artikeln der Natur- und der Urproduktion als
charakterisierende Eigentümlichkeiten anzu-
geben. Hierzu bedarf es allerdings der Beachtung jener
Litteratur, welche teils in Büchern, teils in periodisch
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Wirtschaftsgeographie. 597
oder täglich erscheinenden Organen eine zunehmende An-
eignung der War e n k u n d e gestattet. Dies geschieht durch
alle Handelsberichte, dies durch so verdienstliche Bände,
wie sie durch eine Reihe von Jahren der deutsche Handels-
tag herstellen ließ: „Das deutsche Wirtschaftsjahr, nach
den Jahresberichten der Handelskammern'* u. s. w. Auch
Lehrbücher der Warenkunde gehören hierher. Wenn sie
auch für die Unterscheidung innerdeutscher Produktions-
striche voneinander wenig bieten, so orientieren sie doch
über Gesichtspunkte, die zu verfolgen sind. Jedenfalls
kann wirtschaftliche Geographie ohne Warenkunde nicht
mit zureichender Sicherheit in dem Abschnitte von der
Produktion vorgehen.
S) An die Naturproduktion der Landwirtschaft wird
sich kaum etwas anderes als die landwirtschaftliche
Industrie anschließen; resp. letztere kann schon bei der
Behandlung des betreffenden Acker- oder Flurprodukts
ebenso zur Vorführung gelangen, als bei der Viehzucht
die Molkerei.
Für Süddeutschland wird also die Spritbrennerei,
Bierbrauerei, Weinkellerei, Mühlenindustrie wichtig genug
sein, mindestens die drei ersteren.
Die betreffenden statistischen Angaben kann man
infolge der vorhandenen indirekten Besteuerung für Sprit
und Bier resp. ihrer Rohstoffe im ganzen zuverlässig nur
bei den Zentralbehörden der Länder sich zu verschaffen
suchen. Die gedruckten Nachweise aber geben nicht
genügende örtUche Orientierung.
c) Hiermit haben wir zu der letzten Abteilung der
Produktion, zur Industrie (=der „Eunstproduktion**),
den Uebergang genommen.
Hier .handelt es sich wieder zunächst um die richti-
gen Grenzen, wie sie der Begriff der Erdoberflächenkunde
andeutet. Es wird also vor allem von einer Industrie-
statistik gleichsam in geographischem Umschlage abzusehen
sein. Vielmehr gehört hierher nur, was auf die Frage nach
dem Aussehen der Landschaft antwortet und nach dem
Erfolge, welchen das Anbieten von Produkten von selten
der Natur in Bezug auf Gruppen von Etablissements,
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598 Wilfaelin G0t2,
auf Verkehrswege oder augenfällige Verkehrsmittel nach
sich gezogen, also keine industriellen Einzelerscheinungen.
Das landschaftbeschreibende Element muß hier das
Maßgebendste sein. Man verzichtet also auf Heranziehen
aller jener Hinweise, mit denen zwar sehr bekannte und
reichlich rentierende Fabriken oder Geschäfte bezeichnet
werden könnten, denen aber wegen ihres vereinzelten
Vorkommens oder wegen der geringen Lasten, für welche
sie Verkehrswege in Anspruch nehmen, keine geogra-
phische Bedeutung zukommt. So würde z. B. bei einer
wirtschaftlichen Geographie über Nordostdeutschland auch
ein Gesamtanwesen von der Ausdehnung der Spindler-
schen chemischen Waschanstalt an der Spree zu über-
gehen sein : erst bei einer Monographie über Brandenburg
hätte man davon Notiz zu nehmen. Ebenso würde die
Kunstindustrie Münchens nicht wegen der Summe ihrer
Ausfuhrtransporte, auch noch nicht allein wegen ihres
Einflusses auf das Aussehen der Stadt, sondern erst
wegen ihrer großen Vermehrung des Personenverkehrs
und der durch sie erhöhten Gesamtbedeutung des Platzes
für das wirtschaftliche Leben des Landes berührt werden.
Wenn dagegen zahlreiche oder große Steinbrüche, nahe
aneinander gelegen, wenn eine größere Anzahl von Ar-
beiterhäusem , z. B. durch ein Eisenwerk hervorgerufen,
wenn die Reste aufgelassener Erz- oder Kohlengruben
u. dergl. mehr dem Landschaftsbilde einen besonderen
Zug aufprägen: dann ist es geboten, achtsam davon zu
schreiben.
Sodann wird auch jene industrielle Produktion mit-
behandelt, welche durch ihre Quantitäten bezogenen Roh-
stoffes oder versandter Fabrikate entweder die Herstellung
von Verkehrswegen wesentlich mitbewirkt hat oder deren
Benutzung mit beträchtlichem Prozentsatz der darauf be-
förderten Lasten beibehalten heißt.
Woher ist aber hierüber konkret und verlässig
Orientierung zu gewinnen?
Die betreffende Litteratur steht noch aus. Die in
einzelnen Ländern (Bayern und auch Preußen) vorhandene
Gewerbestatistik erweist sich als für unsere Zwecke nicht
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Wirtschaftsgeographie. 599
geeignet. Nur die Handelskammerberichte geben einiges.
Der Hauptsache nach müssen hier verlässige Daten auf
privatem Wege und durch ungedruckte Schriftstücke von
den betreffenden Etablissements direkt erholt werden.
Gewiß rühmenswert sind für diese Fragen zwar auch
Werke wie dasjenige Oust. Neumanns, »Das Deutsche
Reich* (2 Bde., 1874), oder auch Ungewitters „Geo-
graphie* (1875). Allein es ist ja unmöglich, daß man
mit diesen Sammelwerken ein zutreffendes Bild der Gegen-
wart entwerfe, da eben durch die Detailbehandlung,
welche ohne die Materialien einer verlässigen Statistik
erfolgte, zu viele Anachronismen hereingebracht werden:
zu viele Betriebe finden in jenen verdienstvollen Werken
noch Erwähnung, welche schon lange nicht mehr oder
nur kümmerlich erhalten werden. Imm^hin wird aller-
dings bezüglich ausgedehnterer Landschaftsindustrieen,
z. B. Weiden- und Strohflechterei, oder mineralischer
Produktion, z. B. Zement- oder Gipsmühlen, aus jenen
Büchern eine durch nichts anderes zur Zeit ersetzbare
ortsstatistische Grundlage gewonnen.
Außerdem dienen als erwünschte Hilfsmittel Einzel-
arbeiten, wie die „Industriegeographie Bayerns* von Am-
thor, sodann die schon erwähnten vorzüglichen Ober-
amtsbeschreibungen Württembergs , herausgegeben vom
königlich statistisch-topographischen Bureau ^) , und na-
mentlich auch die fast für alle unsere Gesichtspunkte
belangreichen Reisehandbücher; unter diesen ftb* den
Südwesten Deutschlands noch das schon angedeutete
Mey ersehe „Schwarzwald, Odenwald, Heidelberg* u. s. w.
und Bädeker, „Rheinlande*. Man wird aber auch bei
der Skizzierung der industriellen Produktion eine sachlich
^) Erschienen sind die Bücher über die Aemter Backnang,
Balingen, Brackenheim, Crailsheim, Ellwangen, Gmünd, Heilbronn,
Horb, Eünzelsau, Marbach, Mergentheim, Neckarsulm, Neresheim,
Obemdorf, Oehringen, Spaichingen, Rottweil, Tuttlingen. Wenn
auch die geschichtlichen Abschnitte sehr umfangreich sind, so ist
doch die Landeskunde Württembergs durch diese Leistung in einer
Weise gefördert, daß großenteils wenig mehr zu thun übrig bleibt
und die Hauptaufgabe neben der Ergänzung im Sinne unseres Sy-
stems die Herstellung eines zusammengehörigen Ganzen wäre.
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600 Wilhelm Götz,
begründete Aufeinanderfolge der Einzelangaben einhalten.
Zuerst verlangt die eventuell weitaus tiberragende Orts-
industrie Anführung, sodann vrird man die noch nicht
erwähnten landwirtschaftlichen Industrieen (z. B. Bier-
brauereien, Mahl- oder Tabakprodukte), weiter Holzwaren-,
Metallwaren- ^), Textilindustrie samt Hilfs- und Anschluß-
industrieen, wie Färberei, Bleicherei, Papierfabrikation,
hierauf noch besondere massenhafter vertretene Indu-
strieen, wie die Bleistiftfabrikation in und bei Nürnberg,
die Kunstgewerbe Münchens, den Buchdruck und Buch-
handel Stuti^arts u. dergl. verzeichnen. Mannigfach wird
der Hinweis auf die Provenienz der Rohstoffe vorbereitend
dem nächsten Gesichtspunkt dienen.
7. An die Beschreibung der geographisch charakte-
risierenden Industrie schlieM sich nämlich in gleichem
Sinne die der sichtbaren Einflüsse des Handels an.
Daß dieser wesentlich mit hierher gehört, folgt schon
daraus, daß er es ist, welcher jede einigermaßen dauernde
massenhafte Produktion, von der der Steinbrüche an bis
zum Kunstgewerbe, erst eigentlich hervorruft, also die
zahlreichsten künstlichen Veränderungen im Aussehen der
Erdoberfläche bewirkt. Solche werden sodann auch durch
alle Verkehrswege hervorgerufeu ; denn welch eine mar-
kante Eigenart gewinnt z. B. schon durch eine gut an-
gelegte Chaussee das Aussehen eines Bergabhangs und
-Überganges! Beiderlei Wirkungen aber werden am deut-
lichsten in und an den großen Sammelstätten der mensch-
lichen Besiedelung, an den Verkehrshauptorten anschaulich.
a) Daher wird der kommerzielle Gesichtspunkt un-
serer Betrachtung zuerst die Skizzierung der Naturbe-
dingungen der großen oder wichtigen Städte bevrirken.
Als regelmäßig verwendbare Momente erweisen sich hier:
1. die Lage an einem so oder so nutzbaren Gewässer;
2. die Bodengestalt der Umgebung und die zum Orte
oder in dessen Nähe kommenden Naturfurchen; 3. die
Bodennatur einschließlich etwa vorhandener mineralisch-
') Sie wird hier meist nur, soweit sie ihren Sitz in oder
nächst Städten hat, zur Darstellung kommen.
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Wirtschaftsgeographie. 601
metallischer Produkte und der Besiedelung der Umgebung;
4. die Lage in Bezug auf Transitlinien des Verkehrs, die
sich am Orte schneiden; eventuell 5. die ethnographische
Lage, z. B. an Nationalitätsgrenzen. Als allgemein in-
struktiv mögen hierbei genannt werden kleinere Schriften,
wie Eohl, „Die geographische Lage der Hauptstädte
Europas* (1874); Röscher desgl.; Karrer, „Der Boden
der Hauptstädte Europas** (1883). Doch erscheinen solche
Behelfe entbehrlich, wenn man ungefähr mit den ange-
gebenen Gesichtspunkten heuristisch vorgeht.
In Süddeutschland würden als schulgerechteste Bei-
spiele Regensburg und Mannheim sich bieten ; am schwie-
rigsten ist Würzburg und München zu behandeln: hier
kommen wesentlich auch die künstlichen, d. h. von dem
menschlichen Belieben geschaffenen Bedingungen obrig-
keitlichen Eingreifens hinzu, namentlich für München.
Strasburg gewann wesentlich auch von unserem 5. Punkt,
was z. B. im 0*. von Wien gilt.
b) Daß aber die Städte Ausgangs- und Endpunkte
wichtigerer Verkehrswege sind, führt wesentlich zur
Uebersicht über die bemerkbarsten Eigentümlichkeiten
der letzteren und ihrer Benützung, somit auch der Ver-
kehrs mittel. Demgemäß wird man auf das Längsprofil
der Hauptwege (Eisenbahnen, Wasserwege, im Gebirge
auch der Fahrstraßen) achten, also auf ihre Gefällsver-
hältnisse, Scheitelstrecken, Grundlage; desgleichen kommt
die bauliche Beschaffenheit in Betracht, also z. B. Doppel-
gleis, Tiefe der Fahrlinie bei Wasserstraßen, Schleusen-
breite bei Kanälen. Ebenso die Größe der Fahrzeuge
oder Züge (bei detaillierterer Behandlung auch die Wägen
der Sekundärbahnen), die Methode der Schiffahrt (Flöße
und ihre Größe, Leinpfadbenutzung, Tauerei). Jeden-
falls bedarf sodann auch die Leistungsfähigkeit im Wege-
zurücklegen in Bezug auf Zeitverbrauch von einem Haupt-
platze zum anderen einiger orientierender Angaben. Solche
charakterisieren nämlich zum Teil die Stellung der Städte
zum Verkehrsganzen des Reiches oder Mitteleuropas; des-
gleichen die Verwendbarkeit der an dem betreffenden
Wege gelegenen Produkte und damit die Ausdehnung ihres
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002 Wilhelm Götz,
Verschleißes, was auch vielfach auf das landschaftliche oder
sonstige Aussehen der betreffenden Landstrecke Einfluß hat.
Bei dieser Betrachtungsweise geben zunächst die
Handelskammerberichte für die Warenbewegung viele An-
haltspunkte, während auch die Statistik hier mehr Er-
hebungen gepflogen hat, als bei der Produktion. Die
Statistik des Deutschen Reiches orientiert vor allem über
den Wasserstraßenverkehr. Die Eisenbahntransporte da-
gegen können geqgraphisch nach einzelnen Schienenwegen
aus den Landesmitteilungen nur naoii langwierigen Ad-
ditionen erkannt werden: man wird z. B. für einzelne
österreichische Linien viel leichter zur Gewißheit gelangen,
als über solche von süddeutschen Staaten. Dagegen wird
die Bedeutung wichtiger Transitlinien noch hinreicliend
durch Feststellung ihrer Zufahrtstrecken, ihrer versorgen-
den Anfangs- und Hauptzwischenstationen und ihrer näch-
sten und Endziele gekennzeichnet.
Dieses Moment bereitet den logischen Uebergang
zur Betrachtung anderer, d. h. angrenzender deutscher Ge-
biete. Hier schließen sich nun am natürlichsten
n. die Rheinlande
an, d. h. die Gebiete rechts und links des Rheines von
Mainz abwärts.
1. Man wird dabei (vergl. S. 580 Z. 4 v. o.) auch
das nördliche Westfalen nicht abscheiden. Die W.- 6r en z e
ergiebt sich mit der Betrachtung der Eifel und Hochvenn.
Im übrigen ist die Grenze an der östlichen Wasserscheide
des Rheingebietes gegeben.
2. Die Skizzierung der Bodengestalt hat trotz des
Allgemeincharakters der Plateausbildung und des Tief-
landes doch eine große Mannigfaltigkeit zu verarbeiten,
insofern die einzelnen Teile des rheinischen Schiefer-
gebirges durch die Art der auf dem breiten Sockel auf-
sitzenden Erhebungen deutlich voneinander unterschieden
werden, abgesehen etwa von d^i einander nahe verwand-
ten Profilen des Westerwald und des Taunus.
Digitized by VjOOQ IC
WiFtschaffcsgeograpbie. 603
Die Reisehandbücher von Meyer, „Rheinland von
Düsseldorf bis Heidelberg*, Woerl, „Die Rheinlande und
die anstoßenden Gebiete* u. s. w., Baedeker, „Das
Rheinland von der Schweizer bis zur holländischen Grenze*,
Steinbach, „Mittelrheinland*, geben hier den S. 580 an-
geführten Büchern über Gesamtdeutschland mannigfache
Ergänzung; doch fehlt noch eine nähere Einzelbeschreir
bung des in Rede stehenden Berglandes.
3. Die geognostischen Ursachen für das Relief
und für die wichtigsten Erscheinungen der Ur- und Natur-
produktion sind genügend skizziert, namentlich was das
Bergland betrifft. Es geschah dies wohl am meisten
durch V. Dechen. Wie seine in wiederholter Auflage
erschienene geognostische Karte von Rheinland- Westfalen
(1:80000) das Bild des Landes vorführt (1879), so sind
namentlich „Erläuterungen* zu denjem'gen Sektionen der
„Geologischen Karte von Preußen und den thüringischen
Staaten*, welche hierher gehören (allerdings erst sechs),
durch ihren Abschnitt „Mineralgänge und andere nutz-
bare Lagerstätten* instruktiv. Die „Verhandlungen des
naturhistorischen Vereins für Rheinland- Westfalen* ent-
halten mannigfache hier verwendbare Aufsätze v. Dechens.
Von ihm wurde auch hergestellt: „Geologischer Führer
durch das Siebengebirge, in der Eifel*; Flözkarte des
Saarbrückener Steinkohlendistrikts 1883 (1 : 50000). Kar-
tenwerke sind noch: Siedamgrotzky, Aachener Stein-
kohlenbecken 1884 (1:20000); Achepohl, Niederrhein.-
westfälisches Steinkohlenbecken 1885 (1:52000).
4. a) Die Urproduktion hängt mit geognostischen
Thatsachen in diesem Gebiete deshalb aufs engste zu-
sammen, weil ja die mineralisch-metallische Produktion
hier in überragender Weise die Bedeutung des Landes
bestimmt. Jedenfalls wird an keiner späteren Stelle dieser
Gesichtspunkt zur Behandlung kommen. Man wird natür-
lich nur landschaftsweise vorgehen und etwa im S. mit
dem Saarkohlenflöz beginnen. Zugleich kommen die
Eisenerze der Moselanlande in Betracht. Hier mag außer
den S. 592 angeführten Werken, besonders v. Dechens,
u. a, die Flözkarte des Saarbrückener Kohlendistrikts
Digitized by VjOOQ IC
604 Wilhelm G6tz,
von M. Klever diensam sein, oder Abhandlungen, wie
die n Geschichtliche Entwickelung des Steinkohlenbergbaus
im Saargebiet** in der „Zeitschrift für das Berg-, Hütten-
und Salinenwesen im preußischen Staat** von 1884. —
Von da aus wird man zu Eifel und Hochvenn oder zum
Hunsrück übergehen. Für erstere und ihre gesamte
physische Beschaffenheit im Hinblick auf die Produktion
brachte die ^Kölnische Zeitung** im Februar und März
1883 eine reichhaltige Monographie. Die eruptiven Ge-
steinspartieen werden durch die geognostischen Karten
und Erläuterungen ohnedies hinsichtlich ihrer nutzbaren
oder doch mineralogischen Zusammensetzung genügend
vergegenwärtigt. Wie weit aber hierfür die praktische
Ausbeutung von G. Neumanns „Deutschem Reiche** noch
zutreffe, würde nur durch eine offizielle Produktions-
statistik verlässig zu beantworten sein, da z. B. die No-
tizen im „Glückauf** oder in dem bis 1886 erschienenen
„Berggeist** hier nicht zureichen. Die betreffenden Er-
hebungen haben ja freilich an den geschäftlichen Rück-
sichten der Produzenten starke Hemmnisse; aber diese
reichen doch nicht aus, um den Mangel aller derartiger
Arbeiten ausreichend zu rechtfertigen.
Für die meiste Montanthätigkeit der Rheinprovinz
hat man aber immerhin an H.Wagners „Beschreibung des
Bergreviers Aachen" (1881), ebenso als für Wetzlar und
für Weilburg (Nassau) 1878 und 1879 durch das Ober-
bergamt Bonn veranstaltet, eine befriedigende Quelle.
Für Westfalen resp. das Ruhrgebiet hat wiederum
v. Dechen besonders vorgearbeitet, z. B. durch seine
Schrift: „Schichten des Steinkohlengebirges an der Ruhr*
(1874); dagegen wird bei einer Kontrolle mittelst neuerer
Karten die Raubsche Flözkarte als zu wenig verlässig
erachtet, so detaillierte Ausführung sie auch besitzt.
C. F. Zinckens Werk (S. 592) ist hier zu wenig voll-
ständig und dient mehr zur Instruktion für die formale
Behandlung der Kohlenreviere. Percys Metallui^e ist
auch hier wertvoll. (Die Zeitschrift „Berggeist** [31 Jahr-
gänge, Köln] war vorwiegend technologisch.)
üeber Zink- und Bleiabbau, über die Schieferbrüche
Digitized by VjOOQ IC
Wirtschaftsgeographie. 605
und die in der Eifel wie im und am Westerwald blühende
Keramik hat man aus unserem Jahrzehnt meist nur stück-
weise Berichte in den Publikationen der Handelskammern,
(lieber die Werke von Mechernich allerdings bieten Ge-
naueres L. Schmitz und Zander, ^Geschichte des Me-
chernicher Bleierzbaues* 1882.) Die »Berg- und Hütten-
zeitung" entbehrt erwünschter Ortsangaben und ent-
sprechender Gesamtstatistik. Dies gilt auch für «Stahl
und Eisen** von Jüngst (viel mit Oberschlesien beschäftigt).
Aehnlich ist es mit der „Thonindustriezeitung'*.
So nahe es sachlich läge, hier die Eisenverarbeitung
und Metallwarenfabrikation anzuschließen, so wird dies
doch schwerlich von der Rücksicht auf die passendere
Folge der Naturproduktion zugelassen.
Diese wird doch immerhin vor den Hinweisen auf
Krupp zu stehen kommen, zumal außerdem notwendig auch
die Textilindustrie an die der Metallwaren anzuschließen
wäre. Man kann aber nicht erst nach derselben die Wein-
und Tabakpflanzungen vorbringen. Dagegen liegt es hier
nahe, infolge der großenteils totalen Abwechselung der
beherrschenden Produktion landschaftsweise je die gesamte
Ur-, Natur- und gewerbliche Produktion zugleich zu er-
ledigen, so daß für diese Gesichtspunkte keine Region
wiederholt zu besichtigen wäre.
Bei der Urproduktion kämen wegen der Wichtigkeit
für Verkehr und Transporte auch die Mineralbäder in
Betracht, für welche schon die balneologische Litteratur
Material genug liefert. Dazu würden für den Südosten
z. B. die „Jahrbücher des nassauischen Vereins für Natur-
kunde" dienlich sein, in denen 1383 Koch das Thermal-
quellgebiet von Ems behandelt.
b) Die Bodenproduktion zeigt vor allem die Weine
am Taunus auf, aber auch weiter nordwärts. Als ein
Buch mit wertvollen, namentlich zur Vergleichung ge-
eigneten diesbezüglichen Notizen erweist sich Hamm,
„Der Wein, sein Werden und Wesen". Beachtenswert
erscheint auch v. Ompteda, „Rheinische Gärten von der
Mosel bis zum Bodensee", freilich mehr zu Süddeutsch-
land gehörig. Die Getreide-, Flachs- und Tabakpflan-
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(J06 Wühelm Götz,
• #
zuDgen des Tieflandes und der Uferregion des Rheines
können nur minder verlässig aus der Emtestatistik des
Deutschen Reiches erkannt werden, da diese erst neuerdings
eingehender spezialisiert, so daß sie die kleineren Ver-
waltungsbezirke unterscheidet. Bereits bei diesem weniger
für die landwirtschaftliche Produktion wichtigen Gebiete
ist auf das große und wertvolle Werk Meitzens hinzu-
weisen: „Der Boden und die landwirtschaftlichen Ver-
hältnisse des preußischen Staates* (1869). Besonders der
1. Band ist eine reiche Grundlage und großenteils ein
Muster für unsere landeskundliche Aufgabe. Wird darin
auch z. B. die Bodendecke etwas zu einseitig resp. nach
zu wenig Gesichtspunkten bezeichnet, so liegt hier doch,
die erste bedeutende Arbeit vor, welche in dieser Hinsicht
geographisch zusammenhängende Ganze darstellt^).
5. Da die klimatischen Faktoren nur für die
minder entscheidenden Striche mit vorwiegender Natur-
produktion belangreich sind, werden sie füglich hier vor-
gebracht oder besser nur in die land- und forstwirtschaft-
liche Darlegung eingestreut. Die Hauptquelle bieten für
alle preußischen Lande, somit für ganz Norddeutschland^
die betreffenden Abschnitte der „Preußischen Statistik',
herausgegeben in zwanglosen Heften, welche die Ergeb-
nisse der Beobachtungen des könighch meteorologischen
Instituts eingehend verzeichnen, namentlich die für den
Weinbau maßgebenden Temperaturverhältnisse. Für die
Zeit vor 1880 dienen zwei Publikationen von Dove: ,Kli-
matologie von Norddeutschland nach den Beobachtungen
von 1848 — 70" und , Ergebnisse der meteorologischen Be-
obachtungen 1870 — 79", desgleichen die Arbeiten über
Spätfröste, vergl. S. 589. Für die Produkte des Tieflandes
kommen die Niederschläge besonders in Betracht, für
welche auf die S. 589 angegebenen Arbeiten zu verweisen
sein wird. Daneben hat Hellmann in der „Zeitschrift
des königlich preußischen statistischen Bureaus* 1884 noch
^) Um des Zasammenhangs mit diesem rühmlichen Werke
willen nennen wir hier auch den starken Band der sorgfältigen
und fQr uns vielfach benutzbaren Arbeit J. A. Mückes, , Deutsch-
lands Getreideertrag' (1888).
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Wirtschaftsgeographie. ()07
die n größten Niederschlagsmengen Deutschlands mit be-
sonderer Berücksichtigung Norddeutschlands ** behandelt.
Von der gleichzeitigen Beschreibung der hier maß-
gebenden klimatischen Elemente und der Bodenproduktion
ist hierauf notwendig zur Industrie überzugehen. Am
nächsten steht aber' hier die Textilindustrie, von der aus
man dann zu den anderen Zweigen des rheinischen Fabrik-
lebens weitergeführt wird. Eine verlässliche Darlegung der
einzelnen kleineren Bezirke und der Städte im Hinblick
auf ihre vergleichsweise Bedeutung oder Rangstufe ist aus
den schon erwähnten Gründen erschwert. Man ist immer
wieder auf die Statistik der Betriebe angewiesen, wie sie
besonders in den üandelskammerberichten vorkommen
und auf die öfter zu erwähnende Gesamtdarstellung ,,Das
deutsche Wirtschaftsjahr **, bis 1885. Man wird außerdem
etwa noch eine ortsstatistische Zusammenstellung sich
aus Qeschäftsadreßbüchem fertigen können, was aber
doch zu umständlich ist. Weiterhin besteht nur noch
das Hilfsmittel privater Auskünfte. Bei dem raschen
Wechsel der Dinge aber, welche in dieser Hinsicht jedes
Lustrum bringt, erscheint die Geographie und Landes-
kunde überhaupt nicht dazu berufen, sonderlich ins De-
tail hier einzugehen, und ist so von diesen Lücken der
wirtschaftsstatistischen Litteratur nur oberflächlich be-
nachteiligt.
6. Jedenfalls aber führt dies lebhaft zur Beschäfti-
gung mit den frequentesten Städten, und diese zu den
Verkehrszentren und -wegen. Von ersteren kommt
wohl nur Köln näher in Betracht. Die Reisehandbücher
und Woerls „Köln" geben Materialien. Ueber die geo-
graphischen Vorteile seiner Lage vergl. auch W. Götz,
»Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels", S. 537.
Außerdem kann es sich noch um Frankfurt handeln.
7. Bei den Verkehrswegen und -mittein wird
natürlich vor allem der Rhein und seine schiffbaren
Nebenflüsse nach der Reichsstatistik und mit Angaben
über die Schiffahrtsstationen gekennzeichnet, während
auch der spezielle ,»Jahre8bericht der Rheinschiffahlrts-
kommission" als Hauptbeleg zu verwenden ist. Die Frage
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608 Wilhelm Götz,
des Dortmund-Emskanals kann nicht übergangen werden:
die Litteratur hierüber durchzugehen, wird durch mehrere
Jahrgänge (1883 — 85) des „SchifiF, Organ für Binnen-
schiffahrt*, nahezu erspart. — Die Eisenbahnen werden
keine sonderliche Erörterung veranlassen, da ihre Her-
stellung in diesem Lande weder sehr bemerkenswerte
Eigentümlichkeiten zeigt, noch zu Fortschritten für das
Eisenbahnwesen eigens geführt hat. Die Transitlinien
von 0. nach SW. dürften immerhin das Beachtenswerteste
sein, sowie die von Frankfurt nach W ziehende Route.
Frankfurt aber ist, zumal als stattlicher Binnenhafen, ein
Sammelpunkt für den Verkehr der Rheinlande nach dem
Innern des Reiches, und wird vielleicht besser hier, doch
wohl auch bei Mitteldeutschland seine besondere
Würdigung finden können.
IIL Mitteldeutschland.
Das Innere, d. i. Mitteldeutschland, macht infolge
der weit stärkeren oder vielfältigeren Verschiedenheit
zwischen seinen wirtschaftspolitischen und geographisch
begrenzten Gebieten, und infolge des allzu gewundenen
und gezackten Verlaufes der Grenze zwischen Bergland
und Tiefebene die Fixierung seiner Ausdehnung schwierig.
Aber es wird hier unumgänglich sein, auch provinziell
zusammengehörige Teile zu trennen, die einen bei der
Darstellung der Hauptteile des Tieflandes zu betrachten,
die anderen als zu Mitteldeutschland gehörig zu behandeln.
1. Die Grenze im W. ist bereits festgestellt; sie
zieht von Frankfurt nordwärts und weist die Wetterau
dem 0. zu. Im N. nun lagern SoUing und Harz nicht
isoliert in der Tiefebene, sondern erscheinen der Boden-
plastik nach als die stärksten nördlichen Erhebungen des
zusammenhängenden mitteldeutschen Berglandes. Daher
werden beide Gebirge wohl noch mit in unser Teilganzes
einzubeziehen sein. Weiter aber wird die Provinz Sachsen
nur mit den Regierungsbezirken Erfurt und Merseburg
zu Mitteldeutschland zu rechnen sein, das Königreich
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Wirtschaftsgeographie. 609
Sachsen aber ohne Rücksicht auf die Tieflandsgrenze.
Diese letztere Beachtung der politischen Grenze gilt auch
im 0., wo Schlesien doch als eine gesonderte Individuali-
tät behandelt zu werden eine Reihe von Ansprüchen be-
sitzt, also hier ausgeschlossen bleibt.
2. Die Bodengestalt dieses fast durchweg in leb-
haften Profilen verlaufenden Gesamtgebietes läßt sich nur
schwer nach vorhandener Litteratur darstellen, wenn alle
Teile gleichmäßig bedacht werden sollen. Auch hier giebt
H. Wagner-Guthe und Penck (D. Reich) ervrünschte
Grundlinien. Namentlich aber wird die Kartographie
vielfach den einzigen sicheren Boden gewähren. Nur
für einzelne eigentliche Gebirgsgegenden kennen wir
spezielle Behandlung, besonders durch Reisehandbücher.
Hierher gehören Meyers „Thüringen" und „Harz*
(Vereinsbuch des Harzklubs); dazu eine Höhenschichten-
karte des Harz (1 : 100000) von der königlich preußischen
geologischen Landesanstalt (1882), und Bomsdorff,
Spezialkarte vom Harz (1885). Der Thüringerwald hat
überdies in Petermanns Mitteilungen durch Regel (1878)
eine besondere Wiedergabe mit Wort und Bild (topo-
graphische Karte) gefunden. Einzelne Ergänzungen könn-
ten den geognostischen Schilderungen entnommen werden.
Eine Höhenschichtenkarte dieses Gebirges entwarf 1870
Fils.
3. üeber die geognostischen Bedingungen des Bodens
und der Produktion geben die Erläuterungen zu einzelnen
Sektionen der schon erwähnten Karte von Preußen und
den thüringischen Staaten praktische Auskunft. Doch
fehlen hier noch die meisten Sektionen. Namentlich ist
das bergige Gebiet des Regierungsbezirks Cassel wie
bodenplastisch, so geognostisch minder eingehend in der
Litteratur behandelt. Auch die „Jahresberichte des Ver-
eins für Naturkunde zu Cassel ** haben sich mit verwand-
ten Fragen sehr wenig befaßt. Hier muß man sich eben
einstweilen besonders an solche Bücher halten, wie
V. Dechens „Nutzbare Mineralien*. Für andere Gegen-
den giebt es einige erwünschte Monographieen; so eine
5,Geognostische Darstellung des Steinkohlengebietes von
Anleitung znr dentsoben Landes- und Volksforschung. 39
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610 Wilhelm Götz,
Halle" von Laspeyres. Weit mehr ist natürlich der
Harz, das alte üebungsfeld des Bergbaus, bedacht. Hier-
her gehört: Lossen, Geognostische Uebersichtskarte des
Harz (1881); Prediger, Große geologische Karte vom
Harz; desgleichen Aufsätze, wie „Die Phosphoritlager von
Harzburg" („Zeitschr. der d. geolog. Gesellschaft** 1884)
oder Groddeck, „Abriß der Geognosie des Harzes* (1883);
Hautzinger, „Silber- und Kupfersegen des Harzes*.
Noch mehr ist Sachsen (Königreich) bearbeitet. Eg
geschah dies besonders durch die Verdienste Naumanns;
eingehend ward durch C r e d n e r und G e i n i t z kartographisch
und in Text reichliches Material zur Verfügung gestellt.
Unter Credners Leitung erscheinen vor allem die vor-
trefflichen Karten der sächsischen Landesaufiiahme, das
glänzendste Zeugnis ftir die aufnehmenden Kräfte und
für die kartographische Technik unserer Tage, nament-
lich wenn man den bodenkundlichen Wert mit in Be-
tracht zieht. Credner hat durch seine „Acht Abhand-
lungen über die Geologie Sachsens'' (1885) einiges den
„Erläuterungen" jener Karten hinzugefügt. „Der Boden
der Stadt Leipzig" (1883) ist eine wichtige Spezial-
arbeit dieses Verfassers. Geinitz hat in seiner für die
gesamten Mittelgebirge Deutschlands wichtigen Schrift:
„Das Quadersandsteingebirge oder die Kreideformation in
Deutschland" besonders auf Sachsen Rücksicht genommen.
„Das Erzgebirge und seine Bedeutung" behandelt Metz-
ner 1881. Ueber den Norden Sachsens informieren drei
Aufsätze der „Zeitschrift der deutschen geologischen Ge-
sellschaft" von 1879 und 1881.
4. Bei der ausgezeichneten Grundlage für die Er-
kenntnis der Bodennatur, welche mit den erwähnten
"Karten gegeben wird, liegt es jedenfalls hier am näch-
sten, diesem Gesichtspunkt im Anschluß an die betreffen-
den geognostischen Eigentümlichkeiten gerecht zu werden.
Außer der geologischen Spezialkarte belehren wohl nur
einzelne Aufsätze, z. B. „Beobachtungen im sächsischen
Diluvium über lehmigen Geschiebesand" („Zeitschrift der
deutschen geologischen Gesellschaft" 1881) und „Glacial-
erscheinungen in Sachsen nebst Bemerkungen über den
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Wirtschaftegeographie. 611
Geschiebemergel" (ebendas. 1882) von Creduer. Ebert
behandelt die Terfciärablagerungen in der Gegend von
Cassel (ebendas. 1881).
5. Die klimatischen Verhältnisse sodann haben im
Königreich Sachsen durch eine größere Zahl älterer Sta-
tionen eine ausreichende Beobachtung gefunden, deren
Alter z. B. aus H. Töpfers „Untersuchungen über die
Regenverhältnisse Deutschlands** (1884) ersichtlich ist; sie
stammen meist von 1862 und 1863. (Töpfer teilt Sach-
sen in Bergland, Eibtiefregion, Erzgebirge und Lausitz.)
Auch in Do V es „Klimatologie von Norddeutschland* sind
sie zum Teil verwendet. Im besonderen aber wurden in
Sachsen seit 1878 durch eine eigene Abteilung des me-
teorologischen Institutes Wetterprognosen für die Zwecke
der Landwirtschaft angestellt, welche größtenteils von
K. Chr. Bruhns veröffentlicht wurden („Bericht über
. . . Wetterprognosen" u. s. w.). Die meteorologischen Be-
obachtungen der Stationen werden alljährlich nebst einer
beträchtlichen Anzahl von lokalen und speziellen For-
schungsergebnissen durch das statistische Bureau des
königlichen Ministeriums des Innern seit 1866 publiziert.
Die Feststellungen über die Niederschlagsquanta und
-Zeiten erfolgen seit 1882 durch vermehrte Beobachtungen
(vergl. „Resultate aus den meteorologischen Beobachtun-
gen** u. s. w. Bd. XXIII).
Hierher gehören noch ergänzende Notizen aus den
drei Abhandlungen Hellmanns in der „Meteorologischen
Zeitschrift", Jahrgang 1886 und 1887 (in letzterem ist
namentlich auch die Regenarmut im Elbthale behandelt).
Desgleichen A. v. Danckelmanns „Niederschlagsbeob-
achtungen in Leipzig und einigen sächsischen Stationen
1864—81".
Für Thüringen und Sachsen zugleich nennen vdr Ass-
manns „Einfluß der Gebirge auf das Klima von Mittel-
deutschland" (im 1. Bd. der „Forschungen zur deutschen
Landes- und Volkskunde" 1886), sodann sämtliche Publi-
kationen für das gesamte Preußen, namentlich die der „Zeit-
schrift des königlich preußischen statistischen Bureaus", um
durch die Angaben über die südliche Provinz Sachsen auch
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612 Wilhelm Götz,
über Nordthüringen informiert zu werden. P. Schreibers
^Bedeutung der Windrosen* in Peter m. Ergänzungsheften
1881 bezieht sich hauptsächlich auf das Königreich Sachsen.
Für den W,, das einst kurhessische Gebiet, sind zu
Cassel und Marburg langjährige meteorologische Beob-
achtungen angestellt worden. Aui&er Doves Publikationen
für Norddeutschland giebt Möhl, „Die Witterungsver-
hältnisse zu Cassel 1864 — 80'* u. s. w. (1881), Materia-
lien. Für die Wetterau sind mehrere Jahrgänge des im
übrigen ziemlich sterilen Jahresberichts der naturwissen-
schaftlichen öeseUschaft für die Wetterau zu Hanau, und
für Niederschläge der Jahresbericht des physikalischen
Vereins Frankfurt von 1870 für 1836—70 zu beachten.
6. a) Handelt es sich im weiteren um die Produk-
tion, so mag ja auch in diesem Gebiete die Urproduk-
tion, namentlich bei der Darstellung Sachsens, sofort mit
den geognostischen Bedingungen des Landes behandelt
worden sein. Jedenfalls wird man sich für das preußische
Gebiet weniger auf die „Preußische Statistik", als auf die
des Deutschen Reiches stützen, z. B. auf das Februarheft
1887 für die Montanverhältnisse. — Für Oberhessen lieferte
M. Darmstadt eine „Beschreibung der nutzbaren Gesteine
des Großherzogtums* (1888). Abgesehen von solchen lit-
terarischen Nachweisen wird z. B. für Thüringen die
mineralisch- metallische Produktion wesentlich aus v. De-
chen und Neu mann (S. 592 u. 599) ersichtlich sein.
Ueber die Mineralausbeute, besonders der Schiefer, geben
sowohl die Erläuterungen der geologischen Spezialkarte
Preußens, als besonders auch die Handelskammerberichte
und „Das deutsche Wirtschaftsjahr* zahlreiche Auskünfte.
Vom Halleschen Kohlenrevier handelt eine besondere der
, Abhandlungen * zur geologischen Spezialkarte von Preußen ;
Bd. I, Heft 3: Laspeyres' „Geognostische Darstellung
des Steinkohlengebirges von Halle*.
Die sächsischen Kohlenschätze aber finden zunächst
schon an den vorzüglichen Profildarstellungen der ^ Geo-
logischen Spezialkarte* Angaben der einzelnen Schichten-
lagen, wie sie z. B. die Tafel des Kohlenreviers von Oels-
nitz und die des Kohlenfeldes von Zwickau bietet. Litte-
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Wirtschaftsgeographie. 613
ratur bringen dann sowohl die Erläuterungen hierzu, als
Schriften wie „Die geognostische Steinkohlenformation in
Sachsen** von Geinitz. Für die ziemlich geringen Metall-
förderungen ist auch hier Percys Werk (S. 604) wie für
den Kohlenabbau noch sehr wohl verwendbar. Auch
öeinitz (S. 610) ist noch reichlich instruierend, nament-
lich Bd. 3. Die Bände des „Jahrbuchs für das Berg-
und Hüttenwesen im Königreich Sachsen** haben für unsere
Zwecke selten Verwendbares, da sie vorwiegend Techno-
logisches und Berufsstatistisches enthalten.
b) üeber die Naturproduktion sodann hat man
für den W. zunächst mannigfache Unterweisung an den
landwirtschaftlichen Zeitschriften. Aber es ist ja freilich
zu bedauern, daß Meitzens ausgezeichnetes Werk „Der
Boden u. s. w. des preußischen Staates** sich nur auf die
vor 1866 zu diesem Staate gehörigen Gebiete erstreckt.
Es wäre eine sehr dankenswerte Aufgabe, eine diesbe-
zügliche Ergänzung herzustellen. Für Thüringen sodann
ist die Reichsstatistik der Ernten ungleich nutzbarer, als
für andere Länder, weil ihre Angaben hier stets enge
begrenzte Gebiete betreffen, also örtlich näher bestimmen.
Dies gilt auch für die Drostei Göttingen, dagegen wenig
für die Regierungsbezirke der Provinz Sachsen. Man
wird bei genauerer Behandlung dieser Fragen sich für
die Verwaltungsamtsbezirke unterster Instanz Original-
berichte bei den Provinzialregierungen oder im statisti-
schen Zentralamt des Staates zu verschaffen suchen. Denn
allerdings muß man als Beleg der wirtschaftlichen Eigenart
des Landes oder Gaues das approximative Ergebnis der
Ernte der betreffenden Anbauflächen in Betracht ziehen.
Genannter Umstand kommt ähnlich auch für das
Königreich Sachsen in Betracht, dessen Kreise immerhin
etwas zu groß sind, resp. zu verschiedene Teile haben, als
daß man mittelst statistischer Gesamtziffern der Kreisemten
zu Angaben eigentlich landeskundlichen Charakters ohne
weitere Behelfe vorgehen könnte. Mehreres aber bringt
Langsdorff, „Die Landwirtschaft im Königreich Sachsen** .
Die besonderen Erträgnisse des Gartenbaues im Ge-
biet der Gera und Um bei Arnstadt und Erfurt finden
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614 Wilhelm Götz,
teils in den Handelskammerberichien letzterer Stadt, teils
in der „Monatsschrift des Vereins für Gartenbau im
preußischen Staate* besondere Würdigung.
Die forstliche Produktion hat die einzige für unsere
Zwecke vollentsprechende Behandlung, welche über irgend
ein größeres Gebiet vorhanden wäre, durch A. Wagner
gefunden, „Die Waldungen des ehemaligen Kurfürsten-
tums Hessen*". Diese Musterarbeit hat namentlich den
ausnahmsweisen Vorzug, die Waldbestände überhaupt,
nicht nur die des Staates detailliert und vielseitig in
zwei Bändchen vorzuführen (1886). üeber Sachsen und
einige Kleinstaaten bringt das reichhaltige Büchlein Lehr s,
„Die deutschen Holzzölle und deren Erhöhung** (1883),
die Angaben über Erträgnisse nach Hektaren und über
Verwendung. Desgleichen wird die örtliche Verteilung
der Wälder für Sachsen und die preußischen Regierungs-
bezirke und zwölf kleinere Staaten in Donners „Hand-
buch der Forstwissenschaft", c. XIV: Porstpolitik von
Lehr, mannigfach vorgeführt. Allein in beiden Arbeiten
sind nur die Staatsforste verwendet, und man wird dann
mit Hilfe der Kenntnis der Anbauflächen in den „Monats-
heften** der Reichsstatistik erst auf die übrigen Waldun-
gen und so auf die Gesamtheit der Forstbestände zu
schließen haben.
Etwas maßgebender aber für die wirtschaftliche Be-
deutung Mitteldeutschlands ist
c) die industrielle Produktion. Wie in Thüringen
Schiefer und Holz zu der Weltindustrie der Spielwaren
südlich des Thüringerwaldes geführt und nördlich des-
selben, so bewirkte auch die Eisenerzverarbeitung im
Schmalkaldener Distrikt eine hohe Exporttüchtigkeit. Für
dies, für die Papier-, Dachpappen-, Zünd Warenfabriken
u. s. w., für die eminente Entwickelung der Textilwaren-
industrie (z. B. mit ihren Spezialitäten in Apolda oder
denen in Greiz) haben wir außer den schon zu den
früheren Gebieten angeführten Materialien und Mitteln
keine weiteren zu nennen (vergl. S. 599 u. 607).
Dies ist im ganzen auch hinsichtlich Sachsens, wie
für Cassel und Hanau zu sagen. Nur hat Sachsen
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WirtschaftBgeograpfaie. (J 1 ^
reichlichere, resp. von näher aneinander gelegenen Städten
abgegebene Berichte; es kann hier auch einigermaßen
aus dem Grenzübergang der Waren nach und von Oester-
reich dies und jenes geschlossen werden. Aber es wird
immerhin mühevoll bleiben, ein Bild ohne zahlreiche
Anachronismen, die der Ortsansäi&ige leicht sehen könnte,
von dem gegenwärtigen sichtbaren Stand des industriellen
Lebens zu entwerfen.
7. a) Dagegen liegt es mehr in der Hand des Geo-
graphen, von der Eigenart der Sammelplätze des Erwerbs
und Verkehrs zutreffend zu schreiben. Es erscheint dies
um so mehr erleichtert, als das ganze Land von Frankfurt
bis Görlitz und von Eoburg bis Halle und Clausthal
strenger gefaßt nur eine kommerziell bedeutende Stadt
besitzt, Leipzig. Diesem Platze sind geschichtliche und
geognostische (S. 610) Monographieen gewidmet, und es
ist an sich unschwer, aus physischen Gründen und aus
historischen (Messe, Stapelort u. s. w.) seine heutige Blüte
zu erklären und deren Dauer zu behaupten. Dresden
hat allerdings weniger physische Gründe ^r sich, ninmit
auch durch seine Produktion und seinen Handel nur eine
mittelmäßige Stellung ein. Von Cassel, Erfurt, Halle gilt
dies noch mehr.
b) Von den Verkehrswegen sodann heißt es hier ein-
gehender Rechenschaft geben, insofern deren Bedeutung
und deren Verschiedenheit voneinander dazu auffordern.
Der Weg von der Mittelelbe über Halle— Erfurt nach
Frankfurt und die nordsüdlichen Uebergänge oder Ge-
birgsdurchbrüche (Thüringerwald bei Zella), namentlich
auch die Bahnen über das Erzgebirge dräpgen sich zu-
nächst auf und veranschaulichen die Bedeutung der un-
mittelbar an ihnen gelegenen Bezirke und Orte. Sodann
verdient die Anzahl und Führung der Bahnen mit Schmal-
spur in Sachsen besondere Beachtung. Zum dritten ge-
bührt letztere den so wichtigen oder doch in Entwicke-
lung begriffenen Wasserstraßen, üeber die Elbverkehrs-
verhältnisse, wie über die der Saale, über die der Weser,
der Fulda und der Unstrut giebt die reichhaltige Zeit-
schrift „Das Schiff, Organ für Binnenschiffahrt**, vielfache
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616 Wilhelm Göts,
Instruktion und erscheint ftbr eine befriedigende Einsicht
in diesen Zweig unseres Verkehrswesens kaum entbehrlich.
Da sie in Dresden ausgegeben wird, ist es natürlich, daß
gerade unser mitteldeutsches Gebiet am meisten berück-
sichtigt wird. Die «Statistik des Deutschen Reiches" kann
nicht hinreichend Ersatz dafür bieten.
Die Behandlung dieses ganzen Teilgebietes III aber
wird um so befriedigender sich gestalten, je mehr man
für die Mehrzahl unserer 7 Gesichtspunkte gleichsam Gau
für Gau als Sonderganze betrachtet. Bearbeitet ist aber
bereits die „Landeskunde von Sachsen -Weimar'* durch
Kronfeld (1879).
IV. Schlesien.
Man wird richtiger Schlesien ohne Hinzufügung nörd-
licherer Gebiete betrachten, weil letztere viel mehr mit
den anderen Teilen des Tieflandes gemein haben als mit
Gesamtschlesien.
1. So hat man sich mit den Grenzen nicht weiter
aufzuhalten, als da& deren Offenheit nach 0. und deren
Südrand nach seiner Beschaffenheit als Schranke und als
Linie mit Uebergängen und Durchwegen besprochen wird.
Mit letzterem ist ja freilich die Gliederung der Sudeten
und da und dort schon ihre Gestalt zu kennzeichnen.
2. Die Gestalt also zu beschreiben, verlangt eine
volle Wiedergabe der Sudeteubildung. der Vorbergzüge
und der schwachen Erhebungen des „Schlesischen Land-
rückens", welche vom Tarnowitzer Plateau aus in WNW.
ziehen und immerhin für die Entstehung von Städten
wichtig geworden sind. Für die Sudeten arbeiteten jene
Autoren, welchen man die Beschreibung einzelner Gebirgs-
teile verdankt. So Letzner, „Wegweiser durch das Riesen-
gebirge'*; Ebert, „Das Riesengebirge* (1884); Kutzner
(Mosch), , Wanderung durchs Riesen- und Isergebirge"*;
dazu anonym: „Wanderbuch für das Riesengebirge " (1885);
Burmann, „Bilder aus dem Gebirge und Berglande von
Schlesien"; ;,Führer durch die Grafschaft Glatz** (1881).
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Wirtschaftsgeographie. 617
3. Die geognos tischen Hauptthatsachen sind aus
den wiederholt erwähnten amtlichen Karten und ihren
Erläuterungen zu entnehmen; doch sind auch nicht wenige
Aufsätze in verschiedenen «Jahresberichten der schlesi-
schen Gesellschaft für vaterländische Kultur' über einige
wichtige Teile der Sudeten enthalten, deren ja über-
haupt zahlreiche Stellen aller allgemeinen geognostischen
Handbücher mit verschiedenen konkreten Angaben ge-
denken. Besonders zahlreich sind F. Römers Publi-
kationen über die Oeognosie und die Urproduktion Schle-
siens, sowohl in den „Jahresberichten" als aufserdem,
z. B. „Die Geologie von Oberschlesien** (1870).
4. Für die Urproduktion nun hat ein Verband der
Kohlen- und Eisenindustriellen des Tamowitzer Plateaus
ein sehr gut bedientes und für uns praktisches Organ in
der zu Kattowitz erscheinenden „ScUesischen berg- und
hüttenmännischen Zeitung**. Die „Metallurgie** J. Percys
giebt sowohl in ihrem I. Band über die Kohlen, als in
ihrem IL der „Eisenhüttenkunde** 1. Abteilung besonders
über das Eisen Schlesiens viele nicht veraltende Orien-
tierung. Hierher gehört F. Römers „Karte der Erzlager-
stätten des Muschelkalkes** sowie A. Schützes „Nieder-
schlesisch- böhmisches Steinkohlengebirge** (mit Karten,
1882); sodann Aufsätze von H. R. Göppert in den
„Jahresberichten** von 1866 und 1880. v. Dechens
wiederholt genanntes Werk dient zur Ergänzung.
5. Das Klima wurde in Schlesien schon frühzeitig
mit Sorgfalt auf einzelnen Stationen beobachtet. Die
Ergebnisse wurden für die Zeit von 1836 — 65 in den
„Jahresberichten der schlesischen Gesellschaft für vater-
ländische Kultur** mitgeteilt; später in der „Zeitschrift für
Meteorologie*". Es finden sich namentlich auch die Nieder-
schläge und die Bewölkung seit Jahrzehnten verzeichnet.
Göppert hat die Wirkungen der Kälte und anderer
meteorologischer Sondererscheinungen auf die Flora man-
nigfach behandelt in den „Jahresberichten** (1870, 71 fif.).
G all es „Allgemeine Uebersicht der meteorologischen Be-
obachtungen auf der königlichen Sternwarte zu Breslau**
erscheinen von 1864 an ständig in den „Jahresberichten**.
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618 Wilhelm Götz,
6. Bezüglich der Produktion besitzt man au&er den
allgemeinen Quellen für die preußischen Provinzen (Sta-
tistik, Meitzens Werk u. a.) wenig Materialien. Die
genannten „Jahresberichte" bieten wenig Verwertbares,
zumal auch ihre außerordentlich zahlreichen botanischen
und hortologischen Aufsätze fast nur der Fachwissenschaft
und ihrer Technik dienen.
Bezüglich der Forste empfiehlt sich, wie für alle preußi-
schen Provinzen das Werk 0. v. Hagens, in 2. Auflage
von K.Donner: „Die forstlichen Verhältnisse Preußens*;
allerdings nur für die den königlichen Oberförstereien
unterstellten Bestände, welche übrigens sehr gut aus den
16 Jahrgängen des „Deutschen Forst- und Jagdkalenders **
ersehen werden. Die anderen Waldgebiete sind nur länder-
oder Provinzen weise angegeben; es ist also zu kombinie-
ren, wie wir bei „Kurhessen* erwähnten.
Alle weiteren Quellenmaterialien für Produktion („Die
landwirtschaftliche Bodenbenutzung* z. B. aus Band 86
der „Preußischen Statistik*), sowie diejenigen für
7. Hauptplätze (Breslau allein) und Verkehr sind
aus der sonst bereits angegebenen Litteratur zu erholen.
T. Nordostdeutschland.
Die bereits mit Schlesien in AngrifiF genommene weite
Region der germanischen Tiefebene trennen wir teils in-
folge der Zugehörigkeit der Flußgebiete zu zwei ver-
schiedenen Meeren, teils wegen des politisch und physisch
scheidenden Charakters der Elbelinie in das Land östlich
und westlich dieses Stromes. Zu ersterem ziehen wir
auch Holstein und Schleswig, weil beide durch Boden-
gestalt und Verkehrszugänge mehr zur Ostsee gewiesen
erscheinen. Allerdings wird durch die übermächtige At-
traktionskraft Hamburgs Holstein in Bezug auf sein wirt-
schaftliches Vermögen enge an die Elbe resp. deren Ver-
kehrsbedeutung angeschlossen. Da aber für Schleswig
der gleiche Grund nicht zutriflft, und da auch Kiel eine
selbständige kommerzielle Stellung in rasch zunehmender
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Wirtschaftsgeographie. (> 1 9
Weise sich erwirbt, namentlich aber die Westgrenze der
Ostsee untrennbar zu deren südlichem Küstengebiet ge-
hört, so wiegen die Ghünde für die angegebene Zuteilung
immerhin vor.
1. Die Grenzen Nordostdeutschlands nun verlangen
nur an einer Seite eine nähere Beachtung: im N. Man
wird entweder in diesem Zusammenhang die Profile und
die horizontale Gliederung der Küste eingehend zu durch-
forschen und vergleichend zu würdigen haben, oder man
wird sich zunächst nur auf die hauptsächlichen Eigen-
schaften in genannten Beziehungen beschränken und die
wirksamsten Einzelheiten bei der Darlegung der Verkehrs-
plätze und -wege ins Auge fassen. Für ersteren Fall
sind die „Seekarten", herausgegeben vom hydrographi-
schen Amt, Nr. 30, 40, 65, 71—73 (70), sehr wünschens-
wert.
2. Die Bodengestalt nun zu beschreiben, erscheint
trotz der allgemein geringen Seehöhe lohnend und an-
ziehend, da immerhin reichlicher Wechsel des sanften
Profils vorhanden und dieser von großem Einflüsse auf
Produktion und Verkehrsweise ist, was allerdings mit der
beträchtlichen landschaftlichen Verschiedenheit der Boden-
beschaffenheit enge zusammenhängt ^). Darum haben ein-
zelne Teile, wie z. B. die Seeenplatten, schon mannig-
fache spezielle Darstellung erfahren. Aber auch südlich
derselben sehen wir wie in Brandenburgs Unebenheiten,
im Fläming oder gar in dem holsteinischen und schles-
wigschen Profilswechsel Veranlassung genug, diesen grund-
legenden Gesichtspunkt unserer Darstellung achtsam zu
behandeln.
Von den Abhandlungen zur geologischen Spezialkarte
treffen auf unser Gebiet, für unsere Zwecke verwendbar:
Band I, 1; III, 3 (Schleswig-Holstein); VII, 2; VIII, 1.
Ebenso sind beachtenswert: Jentzsch, „Das Relief der
Provinz Preulaen*, in „Schriften der physikalisch-ökono-
*) Vollständig klar wird dies durch die Sektionen der , Karte
des Deutschen Reiches**, bearbeitet vom preußischea Generalatab
(1 : 100000); für ganz Ost- und VVestpreußen, SO.-Pommern, Mecklen-
burg existieren neue Blätter.
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620 Wühelm Götz,
mischen Gesellschaft zu Königsberg" (1879); Geinitz,
* ^Seeen, Moore und Flußläufe Mecklenburgs". Meitzen
(Bd. I) giebt eine sorgfältige üebersicht. E. Geinitz
hat bereits in den „Forschungen zur deutschen Landes-
und Volkskunde" die mecklenburgischen Höhenrücken
behandelt (1886). Auch Berendts „Tertiär der Mark
Brandenburg" (Sitzungsber. der k. Akad., Berlin 1885)
gehört hierher, wie zur Bodennatur.
Mehr Materialien bieten sich für die Charakterisie-
rung 3. des Klimas. Zunächst gehören hierher die amt-
lichen Publikationen der „Preußischen Statistik", in ihnen
(Bd. XV u. XXXII) Doves „Klimatologie von Norddeutsch-
land". Er hat auch die Witterungsverhältnisse von Ber-
lin (1819—65) eigens bearbeitet (Berliner Stadtkalender
1867; jetzt Statistisches Jahrbuch von Berlin). Zu Kiel,
Swinemünde, Neufahrwasser und Memel sind Aufzeich-
nungen über täglich sechsmalige Wind- und Wetterbeob-
achtungen vorhanden (meist von 1876 an), seit 1888 meist
verwertet in den „Meteorologischen Beobachtungen in
Deutschland", welche die Deutsche Seewarte zu Ham-
burg herausgab. Hierher gehört auch die „Statistik der
Stürme an der deutschen Seeküste", soweit sie von der
gleichen Behörde mitgeteilt wurde (1880). Dazu die
schon erwähnten Bücher, wie Töpfers „Regenverhält-
nisse" u. s. w. oder Hellmanns „Größte Niederschlags-
mengen" u. s. w. Mecklenburgs Beobachtungen werden
vom groKherzoglichen statistischen Bureau veröffentlicht.
4. Ebenso nun wurde die Bodennatur des Flach-
landes litterarisch mannigfach bearbeitet. Man wird aber
hier zugleich die geognostische Beschaffenheit und
die mineralische Urproduktion zu charakterisieren haben.
Denn die Bodenstoffe und schon die Gestalt der Ebene
samt den Erhebungen können ja gar nicht ohne Kennt-
nis ihrer geologischen Vergangenheit resp. Entstehung
erkannt werden.
Schon an Meitzens Darstellung hat man für diese
Zusammengehörigkeit und für die Existfenz der Vorarbei-
ten genügenden Nachweis. Einzelne Schriften sind z. B.
Orths „Geologische Verhältnisse des norddeutschen
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Wirtschaftsgeogi-apbie. 621
Schwemmlandes" oder Jentzschs „Diluvium in Nord-
deutschland** (1880) in den „Schriften der physikalisch-
ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg", welche in ver-
schiedenen Bänden hier einschlägige Abhandlungen pu-
blizierte, z. B. 1879 „üeber die Zusammensetzung des
altpreußischen Bodens** oder 1881 „Untergrund des nord-
deutschen Flachlandes". Für kleinere Striche von be-
sonderem Interesse erscheinen beachtenswert Aufsätze,
wie deren drei in der „Zeitschrift für Forst- und Jagd-
wesen** (1885) stehen: „Der Sandboden der Tuchler Heide**;
oder solche über Benutzung der Moore (1 884), wie sie dort
allerdings auch für Nord Westdeutschland mehrfach verabfaßt
wurden. Andere Beispiele haben wir in der „Zeitschrift
der deutschen geologischen Gesellschaft**, wo u. a. 1879
der „Geschiebemergel in Norddeutschland ** behandelt ist,
1882 die Ergebnisse der von Preußen ausgeführten Tief-
bohrungen, 1886 Sande zwischen Elbe und Oder; oder
in der „Geognostischen Beschreibung der Gegend von
Berlin** von Berendt und Dames (1880). — Weit tiber-
ragt erscheinen freilich diese und frühere Darstellungen
durch die so eminenten Leistungen der „Geologischen
Spezialkarte**, herausgegeben von der geologischen Landes-
anstalt und der Bergakademie, welche dieses geognostisch-
agronomische Bild sowohl durch Wiedergabe der Ober-
fläche, als durch Angabe aller erkundenden Bohrungen
auf einer zweiten Tafel für die betreffende gleiche Sektion
bringt und in den Erläuterungen lehrreich kommentiert.
Diese Arbeiten besitzen das hohe Verdienst, thatsächliche
Anerkennung in weitesten Kreisen für den Gedanken er-
wirkt zu haben, daß die geologischen Untersuchungen
gemeinnützig vor allem für die Bodenkultur werden sollen,
also für dasjenige Publikum, von dessen Mitteln diese
Institute äußerlich großenteils abhängen. Zur Zeit ist
freilich erst ein mäßiger Teil Brandenburgs mappiert.
Doch verdankt man der Anstalt auch schon so manche
allgemeiner belehrende Hefte gleichen Betreffes in ihren
„Abhandlungen zur geologischen Spezialkarte** u. s. w.
So ist namentlich II, 2: „Rüdersdorf und Umgegend**
(A. Orth) von Bedeutung; III, 2: „Der Boden der Um-
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622 Wilhelm Götz,
gegend von Berlin'* (Wahnschaffe und Lauf er); VII, 2:
„Das märkisch-pommersche Tertiär" (Berendt).
Für Mecklenburg sodann sind Geinitz' «Beiträge zur
Geologie Mecklenburgs** sehr praktisch gehalten; ebenso
gehören dessen „Flözformationen Mecklenburgs" hierher,
die er in dem überhaupt für die Landeskunde Mecklenburgs
so wertvollen „Archiv des Vereins der Freunde der Natur-
geschichte in Mecklenburg** (es hat 42 Bände) publizierte.
Andere Einzelorientierungen — aber etwas spärlich —
bieten die „Jahrbücher** der geologischen Landesanstalt
Preußens.
Auf solcher wenigstens teilweise wirklich entsprechen-
den Belehrung über den Vegetationsboden läßt sich dann
5. a) die ür- und die Naturproduktion unschwer
wissenschaftlich erklären. Bei ersterer kommt als Spezia-
lität besonders der Bernstein in Betracht (R. Klebs, „Die
Gewinnung und Verarbeitung des Bernsteins, 1883); außer-
dem das Salz (Inowrazlaw, Spremberg). — Für die forst-
lichen Zustände sodann fehlt es nicht an erwünschten
Hilfslitteralien. Als solche zeigen sich die „Beiträge zur
Forststatistik des Deutschen Reiches für 1883**, bearbeitet
im kaiserlichen statistischen Amt 1884. Einzelne Klar-
stellungen allgemeinerer Art geben die „Beiträge zur
Phänologie** (samt Litteratumachweisen), vergl. S. 588.
Der Charakter der Landwirtschaft nun kann trotz
der mannigfach überholten Zustände von 1866 doch
immerhin aus Meitzens Werk großenteils erkannt wer-
den. In den wesentlicheren Punkten aber vermag man
mittelst der amtlichen Statistik Richtigstellung und Er-
gänzung zu gewinnen. Hierher gehören die Ernte- und
Anbaunachweise und die Viehzählung (1883); sodann die
Steuemachweise über die landwirtschaftlichen Industrieen:
für Brandenburg und Posen bezüglich der Rübenzucker-
fabrikation, für das Ganze die Tabak- und die Spritsteuer.
Für Mecklenburg wird die Nachfrage nach den Milch-
produkten eine besondere Aufgabe sein.
b) Die gewerbliche Produktion wird sich hieran
zum Teil anschließen können, insofern z. B. die Textil-
industrie Südbrandeuburgs nicht an große Plätze gebun-
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Wirtfichaftsgeographie. 623
den erscheint, also nicht erst auf Grund der Darstellung
der Städte zur Kennzeichnung käme. Allein im ganzen
wird sich für das Gebiet doch empfehlen, die Lage und
Bedeutung der Hauptsammelplätze des Verkehrs und der
Arbeit zugleich als Sitze der Industrie besonders vorzuführen.
6. a) Man wird das einzigartige Leben von Berlin
als Ergebnis seiner Lage(!) und allerdings auch der
Geschichte seines Staatswesens zeigen, hierbei denn so-
wohl seine Verkehrsverhältnisse und die seiner allseiti-
gen Produktion den Hauptthatsachen nach gruppieren.
(Hier kommen namentlich auch die Wasserwege und die
Binnenschiffahrt als sehr bedeutende Faktoren in Be-
tracht.) Dann werden noch Stettin samt Nachbarschaft,
Danzig, Königsberg besondere Beachtung verlangen.
(Namentlich wird die Umgebung von Danzig auch zur
Erklärung seiner frühzeitigen Entwickelung auf Grund
der hierhergehörigen Sektionen der Generalstabskarte zu
schildern sein.) Die Wasserwege aber werden wiederum
aus Band XV der „Statistik des Deutschen Reichs" zu
verfolgen sein (namentlich' auch vom Pregel zum Njemen,
auf dem Oberländischen Kanal, auf den kleineren Flüssen).
Holstein-Schleswig aber wird sich aus den angeführ-
ten Quellen für die preußischen Provinzen überhaupt, und
nachdem auch für diese nördlichste Provinz nur neue Auf-
nahmen des preußischen Generalstabs in dessen Kartenwerk
(1 : 100000) niedergelegt sind, hinreichend darstellen lassen.
b) Endlich für die Hafenfrequenz der Ostseeplätze
einschließlich Lübeck sind noch die Berichte und die
Statistik des „Deutschen Handelsarchivs '^ als Quellen zu
verwenden, aus denen z. B. der Beleg für unsere oben
gebrachte Behauptung über Kiel gewonnen wird; ferner
Dullo, Gebiet, Geschichte und Charakter des Seehandels
der größten deutschen Ostseeplätze (Jena 1888). Auch
Bädeker, „Reisehandbuch für Mittel- und Norddeutsch-
land'*, dient der Blrkenntnis hinsichtlich der Seestädte in
besonderer Weise, weit mehr als für Binnenplätze. Die
Statistik über Seeschifi'ahrt in den Reichspublikationen,
Arbeiten über Seefischerei, wie in Petermann s Ergänzungs-
heft von 1886, vervollständigen nach der Außenseite hin.
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Ö24 Wühelm Götz,
YI. Nordwestdeatschland.
Das Land westlich der Elbe und nördlich des Harz
und der rheinischen Gebirgserhebung bildet ein nahezu
einheitliches Ganzes, insofern mit Ausnahme weniger und
schwacher Erhebungen im südlichen Teile nur Tiefland
vorhanden ist, zu welchem ja auch die Lüneburger Heide
gerechnet werden wird.
1. Für die Grenz behandlung ist wohl nur die Be-
schafiFenheit der Küste von Interesse, welche ja auf die
kommerzielle Bedeutung dieser Landstriche, d. h. auf die
üferregion und auf das Hinterland, den größten Einfluß
ausübt. Hierfür geben vor allem die betreflfenden topo-
graphischen Aufnahmen, welche unter v. Papen im Maß-
stab von 1 : 100000 für das Königreich Hannover herge-
stellt wurden, die nötige Grundlage. (Die topographische
Karte von Oldenburg, 14 Sektionen im Maßstab von
1 : 50000, gehört gleichfalls hierher ^).
2. u. 3. Die Bodengestalt sodann kann bei dem
extrem gleichartigen Profile nur wegen des Wechsels,
welchen die Moore und die wenigen sanften Mittelgebirgs-
vorstufen bewirken, etwas nähere Beschäftigung bean-
spruchen. Doch sind auch hier Gestalt, Stoffe und damit
Urproduktion meist aufs engste miteinander zu ver-
flechten. Für den S. ebenso als für die Marschgebiete
wird wiederum durch Pencks „Deutsches Reich* VTI, 5
und VUI, 5 eine sehr erwünschte Grundlage geboten, in
welcher der Wert der Autopsie sich bestens bemerkbar
macht. Die eigentliche Tiefebene findet mannigfache
Darstellung in all den Arbeiten, welche sich mit einzelnen
bodenkundlichen Erscheinungen derselben beschäftigen.
Hierher gehören sowohl Schriften über die Lüneburger
Heide, als solche über die Moore. Wenn nun die Nutz-
barkeit der Bodenverhältnisse in Frage kommt, so sind
^) Seekarten des hydrographischen Amtes, welche jedenfalls
sehr wertvolle Ergänzungen bieten, sind hergestellt vor allem für
die Flußmündungsgebiete: Nr. 1, 49, 88 (70).
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WirtBchaftageographie. 625
z. B. Arbeiten beachteDSwert, wie in der „Zeitschrift für das
Berg-, Hütten- und Salinen wesen des preußischen Staates**
1885; desgleichen Prechts „Salzindustrie von Staßfurt**
(ebenda 1882). In der „Zeitschrift der deutschen geolo-
gischen Gesellschaft** werden die Phosphoritlager (resp.
fossilen Hölzer) von Harzburg und von Braunschweig
(1884), desgleichen das Quartär am Nordrand des Harzes
(1885) behandelt. Eine westlichere Region behandelt der
„Bericht der landwirtschaftlichen Versuchsstation Münster**
(1884) in „Bodenarten von Westfalen**. Die Gebirge an
der Weser und im S. überhaupt finden in den drei Schrif-
ten Brauns über den Jura in Norddeutschland (1869 — 74)
geognostische Beschreibung. Das Osnabrücker Diluvium
wird bodenkundlich in der „Zeitschrift der deutschen geo-
logischen Gesellschaft** (1882) eingehend dargestellt, lieber
die Moore unterrichten z. B. Saalfeld, „Die norddeut-
schen und niederländischen Moore** („Ausland** 1882);
Laer, „Ueber Moorrauch und seine Beseitigung** (1871);
die „Moorzeitung**; M. Fleischer, „Die Thätigkeit der
Zentralmoorkomraission** ; Prestel, dieser für die Klima-
tologie überhaupt und für die Nordwestdeutschlands ins-
besondere so fruchtbare Schriftsteller, „üeber den Moor-
rauch in seiner geographischen Verbreitung** („Zeitschrift
für Meteorologie** 1868); auch Hennebergs („Journal der
Landwirtschaft** 1868) „üeber das Moorbrennen in Ost-
friesland**. Ueber den Marschboden belehrt Band IX der
„Land wirtschaftlichen Jahrbücher** (1880).
4. Die klimatischen Verhältnisse sodann wurden
bereits 1864 von Prestel in einer sehr wichtigen Be-
ziehung dargethan: „Die Regenverhältnisse des König-
reichs Hannover nebst u. s. w.**. Dazu treten sodann die
bereits wiederholt erwähnten Arbeiten für Norddeutsch-
land in der „Preußischen Statistik** (einschließlich der-
jenigen von Dove).
5. Die Naturproduktion wird durch die (seit 1884
besonders erscheinenden) „Monatshefte** der Statistik des
Deutschen Reiches für Hannover in besonders brauchbarer
Weise dadurch skizziert, dass die Gliederung in Land-
drosteien uns hier zu gute kommt. Dies gilt also z. B.
Anleftung zur deutacben Landes- und Volksforochang. 40
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(326 Wilhelm Götz,
auch der betreffenden Publikation über Rübenzuckerfabri-
kation, die ja im SO. unseres Gebietes die stärkste Ent-
wickelung innerhalb Deutschlands erlangt hat. Außerdem
ist aus den landwirtschaftlichen Zeitschriften weiteres zu
erholen. Hierher gehört vor allem das mit wertvollen
bodenkundlichen Aufsätzen bereicherte „Hannoveraner
land- und forstwirtschaftliche Vereinsblatt* (Hildesheim)
und das „Journal für Landw^irtschaft** (Celle); ebenso die
„Jahresberichte der königlichen Landwirtschaftsgesellschaft
des Zentralvereins für Hannover** (Hannover). Für die
Moore ist hier noch nennenswert: Mecke und K. San-
der: „Sind unsere Moore überhaupt industriell auszu-
nutzen?** (1880). — Die industrielle Produktion erhält
ihre entsprechendste resp. die noch am meisten anschau-
liche Skizzierung im „Deutschen Wirtschaftsjahr" und in
dessen Quellen, den Jahresberichten der Handelskammern.
Außerdem ist auch hier wiederum auf Baedeker zu ver-
weisen, welcher zahlreiche Anhaltspunkte, besonders über
die Städte bietet.
(). Für die Seeplätze sodann, vor allem für Ham-
burg, hat man in der Handelsstatistik, wie sie sowohl
die „Statistik des Deutschen Reiches** als das „Deutsche
Handelsarchiv " bringt, wertvolle Orientierungen. Ham-
burg hat allerdings eine eigene „Statistik des hamburgi-
schen Staates**; doch behandelt diese ebenso vorwiegend
sozialpolitische Gegenstände, wie die sächsische. Die amt-
liche Statistik der Seeschiffahrt erfolgt in eigenen Bänden,
wo immer auch der Bestand der Schiffe wie beim Verkehr
auf den Wasserstraßen angegeben wird. Bei letzteren
wird es sich für uns naturgemäß auch um die beschlosse-
nen Kanalausführungen handeln, für diejenige vom Rhein
über Dortmund nach Rheine a,Ems und wohl auch ost-
wärts, sowie um den bei Brunsbüttel in die Unterelbe
mündenden Ost-Nordseekanal (Petermanns Mitteil. 1880).
Die festen Verkehrswege, insbesondere die Eisenl)ahnen,
geben wohl keinen sonderlichen Anlaß zu Orientierungen,
da das Gebiet zu wenig Ansprüche an die Fortschritte
baulicher Entwickelung gemacht hat.
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Wirtschaftsgeographie. 027
Indem wir nun so eine übersichtliche Behandlung
größerer Teilganze Deutschlands skizziert haben, wurde
keineswegs versucht, auch nur auszugsweise eine
Litteraturtibersichtzugleich vorzubringen. Mitden
litterarischen Angaben sollte vielmehr nur exemplifiziert
sein, nach welchen Fragen etwa der Darsteller
sich umsehen werde. Letzterer wird eine seiner
schwersten Aufgaben stets darin finden, die Grenze für
das Uninteressante und Nichtgeographische zu ziehen, so-
bald er auch nur ein mäßig großes Gebiet, wie z. B.
Schlesien, landeskundlich im Sinne des wirtschaftlichen
Charakterbildes zu bearbeiten unternommen hat. Man
wird sich daher leichter befreunden mit unserer Abweisung
aller derjenigen wirtschaftlich ja sehr wichtigen That-
sachen, welche zwar die kommerzielle und finanzielle
Macht einer Bevölkerung kennzeichnen, aber auf das
Aussehen des Landes und auf die Arbeiten an seiner
Oberfläche keinen direkten Einfluß haben. Außer dem
S. 600 u. 601 Angeführten würde hier etwa noch an die
Börse, den Geldverkehr, an die gesamte häusliche Lebens-
weise der Bewohner und an andere Kulturmomente zu
erinnern sein: dies und derlei gehört nicht zu dem geo-
graphischen Material.
Daß aber außer der Kenntnis der Litteratur und
neben dem Verständnis für deren Benutzung noch be-
sonders die Erkundigung durch Augenschein als dringend
wünschenswert von jedem zu erstreben ist, welcher die
Teilgebiete unseres Vaterlandes eingehender geographisch
vorführen will, bedarf wohl keiner weiteren Betonung.
Die wenigsten Gegenden und Erscheinungen sind so cha-
rakteristisch von der Natur gegeben, daß sie nur nach
Abbildungen und nach Beschreibungen vollgenügend
schriftstellerisch nachkonstruiert werden können. Schon
das Element der Farbe fehlt in den allermeisten der ge-
nannten Hilfsmittel, und die Gestalt wird durch das Wort
des Geognosten und des Geographen doch immer etwas
zu generell oder einseitig gezeichnet. Zur Durchforschung
von Seiten eines Fußreisenden bieten namentlich für alle
gebirgigen Regionen die von dem Leipziger Verein für
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628 Wilhelm Götz.
Erdkunde herausgegebenen „Wissenschaftlichen Beobach-
tungen auf Reisen** eine vielfach dankenswerte Begleitung.
Durch das persönliche Wort der Nachfrage an Ort und
Stelle und durch die briefliche Orientierung besonders
über die Zustände der Produktion wird eine weitere Er-
gänzung zu dem nutzbaren Material von Karten und Lit-
teratur erbracht werden müssen. Dala letztere für wich-
tige Punkte unserer wirtschaftlichen Landeskunde noch
ungenügend ist, haben wir oben in verschiedenem Zu-
sammenhange berührt. Gewiß wird dies zunächst nach-
teilig auf Darstellungen dieser Art wirken. Aber indem
der Mangel dem allgemeineren BewuLiisein nahe gebracht
wird, erfolgt zugleich die Anregung zur Beseitigung. So-
weit letztere von Männern der Wissenschaft abhängt,
wird das Erwünschte dann gewiß bald in Angriff ge-
nommen. So wird diese Art der Landeskunde nicht nur
erhöhte Einsicht in das vaterländische Vermögen wirt-
schaftlicher Art gewähren und dadurch viele erwünschte
Winke und Unterweisung geben können, sondern auch
auf benachbarte Felder des Wissens und der Forschung
beiruchtend wirken.
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Gewässerkunde.
Von
Gustav Becker,
Königlicher Regierungsbaumeister in Königsberg i. Pr.
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I. £inleitaii||;.
Wie das Wasser in dem Haushalte der Natur zur
Erhaltung und Förderung alles tierischen und pflanzlichen
Lebens unentbehrlich ist, so übt seine Nutzung in dem
Haushalte des einzelnen Menschen und der Völker die
mächtigste Einwirkung auf die Entwicklung der wirt-
schaftlichen Kräfte und somit auf die Hebung der Wolil-
ftihrt aus. Dieser Zusammenhang lässt sich bei allen
Kulturvölkern bis in ferne Zeiten hin nachweisen, und
dennoch ist die Verwertung des Wassers bisher keines-
wegs überall eine zweckmäßige und besonders keine er-
schöpfende gewesen. Rücksichtslos haben häufig die
einen, unbekümmert um die Nachteile für andere, Vor-
teile aus der Wassernutzung gezogen, und es ist nur
unzureichend Bedacht darauf genommen worden, dem
Wassermaugel vorzubeugen und dem nicht minder nach-
teiligen Wasserüberfluü zu steuern. So haben sich durch
willkürliches Vorgehen an den Wasserläufen, insbesondere
an den nicht schiffbaren Strecken, deren Nutzung und
Unterhaltung fast ausschließlich den Anwohnern zusteht,
bez. obliegt, im Laufe der Zeiten derart schwierige Ver-
hältnisse entwickelt, daß es vieljähriger mühevoller Ar-
beiten der staatlichen Organe und der einsichtsvollen
Mitwirkung weiter Kreise, sowie nicht minder großer
Geldopfer bedürfen wird, um zu einer nach den letzt-
jährigen verheerenden Hochwassem besonders ungestüm
geforderten regelmäßigen Wasserwirtschaft zu gelangen.
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1)32 Gustav Becker,
Die Zahl und der Wasserreichtum der deut-
schen Ströme, Flüsse und Seeen ermutigen dazu, die
hinsichtlich des Ausbaues der Flußläufe und der Her-
stellung künstlicher Wasserstraßen als Verkehrswege be-
reits mit gutem Erfolge ausgeführten Arbeiten fortzu-
setzen und eine weitere Wassemutzung anzustreben.
Lehrt doch ein Blick auf die Karte von Deutschland
die gleichmäßige Verteilung der vom Fels zum Meer
sich erstreckenden großen Flußgebiete der Weichsel,
Oder, Elbe, Weser und des Rheins und das Vor-
handensein ausgedehnter Seeenketten in Ostpreußen«
Hinterpommem und Mecklenburg. Auch wissen wir, daß
künstliche Wasserwege zur Verbindung des Ostens mit
dem Westen Deutschlands teils vorhanden, teils geplant
sind. Der Nordostseekanal ist in Ausführung, eine ein-
heitliche Wasserstraße von der Nordsee mittelst Rhein
und Donau nach dem Schwarzen Meer ist vorhanden,
und die Möglichkeit einer mehrfachen Verbindung der
Ostsee mit dem Schwarzen Meer ist gegeben. Weitere
Anlagen, wie der Rhein — Weser — Elbekanal, ein Elbe—
Spreekanal, ein Donau— Oderkanal treten der Verwirk-
lichung näher, der sonstigen zahlreichen Pläne zur Ver-
besserung von Flußläufen gar nicht zu gedenken ^). In
allen diesen Fällen sind es vorwiegend Verkehrsforde-
rungen, welche erstrebt werden, doch werden dieselben
auch anderweitige Vorteile zur Folge haben.
Auf Deutschland, mit einem Gebiet von 54,2 Mil-
lionen Hektar und einer mittleren jährlichen Regenhöhe
von G60 mm, fallen in einem Jahre *^58 Milliarden
Kubikmeter Niederschläge, wovon schätzungsweise
im ganzen 33G mm oder bei einer gleichmäßigen Ver-
teilung, sekundlich 5700 cbm, zum Abfluß nach dem
Meere bez. nach den Nachbarstaaten gelangen. Diese
Wassermassen auf ihrem Laufe vielseitig zu nutzen und
ihre verheerenden Wirkungen abzuschwächen oder ganz
*) Karte der deutschen Wasserstraßen. Im Auftrage des
Ministers der öffentlichen Arbeiten in Preußen herausgegeben von
Syrapher und Maschke, K. Reg.-Baumeister, Berlin.
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Gewässerkunde. 633
zu verhindern, kurzum eine regelmäßige Wasserwirtschaft
zu führen, d. h. einen richtigen Ausgleich zwischen dem
zeitlich und örtlich auftretenden Mangel und Ueberfluß
an Wasser zu bewirken, ist zweifellos eine wichtige, volks-
wirtschaftliche Aufgabe.
Umfang und Bedeutung der Wasserläufe als Ver-
kehrswege sind bereits angedeutet, doch bedarf es nicht
allein der Erweiterung, sondern auch des Ausbaues
der vorhandenen Wasserstraßen. Haben auch die
durch Regulierung und Kanalisierung der Flüsse er-
reichten Erfolge eine wesentliche Hebung des Binnen-
schiffahrtsverkehrs veranlaßt und den wirtschaftlichen
Wert dieser Wasserstraßen entsprechend vermehrt, so
erscheinen doch weitere Verbesserungen „nach Maßgabe
des Erreichbaren" erforderlich. Vor allem ist eine Ver-
mehrung der Wassertiefe bei kleinem Wasser anzustreben,
da diese der Schiffahrt eine Vermehrung der Tauchtiefe
gestattet, welche mit der Verringerung der Frachtkosten
gleichbedeutend ist, denn es wächst nach SchlichtingO
die Tragfähigkeit der Schiffe wie die dritte Potenz der
Tauchtiefe^ während die Widerstände, also die Zugkosten,
nur wie die zweite Potenz zunehmen und überdies die
Vermehrung der Tragfähigkeit des Schiffes nicht eine
verhältnismäßige Vermehrung der Schiffsbemannung be-
dingt.
In unzureichender Weise ist auch das Wasser bisher
zur Bewässerung von Wiesen und Weiden benutzt
worden, während von den in Deutschland vorhandenen
5,9 Millionen Hektar Wiesen und 4,6 Millionen Hektar
Weiden bei richtiger Bewässerung sehr wohl eine Mehrung
des Bodenertrages sich erwarten läßt, wofür, wenngleich
klimatische Verhältnisse in der Nachahmung eine gewisse
Beschränkung auferlegen, Frankreich und Italien be-
reits gute Beispiele geben, in welchen Ländern der 81.
bez. 20. Teil des Bodens erfolgreich bewässert werden
kann.
^) Referate über die dem 111. Internationalen Binnenschiffahrt«-
kongreß zur Beratung gestellten Fragen. Frankfurt a. M. 1888.
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(}34 Gustav Becker.
Eine vermehrte Verwendung des fließenden Wassers
als Betriebskraft für Wasserräder und Turbinen
und des gestauten W^ assers als Druckwasser für Wasser-
motoren, um Arbeitsmaschinen in der Landwirtschaft, der
Industrie und den Gewerben treiben zu können, dürfte
namentlich in Gegenden, wo auf Dampf und Gas ver-
zichtet werden muü und die Förderung von Kleinbetrieben
in Frage kommt, besonders der niedrigen Kosten wegen
zu erstreben sein. So kostet eine Pferdekraft — 75 Kilo-
graramraeter für die Sekunde — bei einer zweipferdigen
Dampfmaschine, also im Kleinbetriebe, für die Stunde
rund 44 Pfennig und bei Anwendung von Heißluft-
niaschinen und Gasmotoren für die Stunde noch 20 Pfen-
nig, während nach Intze ') bei Ausführung der im Gebiete
der oberen Wupper geplanten Sammelbecken für Elber-
feld und Barmen die Kosten für eine Pferdekraftstunde
voraussichtlich nur 2 Pfennig betragen werden. Erwägt
man, daß das für die Maschine verbrauchte Wasser unter
Umständen noch weitere Verwendung finden kann, so
erscheinen die Vorteile, welche Flüsse und Bäche in
dieser Richtung, besonders im Gebirgs- und Hügeilande
zu bringen vermögen, als recht ausgedehnte.
Schließlich möge noch auf die W^ichtigkeit der un-
mittelbaren Versorgung der Haushaltungen mit
Wasser hingewiesen werden, deren Ausführung in stetem
Wachsen begriffen ist. Die noch in Benutzung befind-
lichen Anlagen des Deutschen Ritterordens in Ostpreußen
zur Aufspeicherung des Wassers mittelst Staudämmen,
insbesondere die Land- und Wirrgrabenleitung bei Königs-
berg in Preußen *) erregen ebenso unsere Aufmerksam-
keit, wie die Wasserversorgung der Hochebene der Rauhen
Alb in Württemberg^), woselbst bis zum Jahre 1^70
^) Intze, Ueber die bessere Ausnutzung der Gewässer, in der
Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure 1888. S. 1009.
*) Vergl. Frühling, Wasserleitungen, in Band III des Hand-
buches der Ingenieurwissenschaften. I.Abt. S. 175. 2. Aufl. Leip-
zig 1883.
') E h m ann , Die Wasserversorgung der wasserarmen Alb u. s. w.
Stuttgart.
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Gewässerkunde. (335
spärliches Quellwasser und angesammeltes Regenwasser
nur kümmerlich den Bedarf deckte, während jetzt mit
Wasserkraft getriebene Pumpwerke das ausgezeichnete
Quell Wasser der Thäler in die Höhe fördern und 100 Ort-
schaften in ausgiebigster Weise mit Wasser versorgen.
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, die
großen Vorteile einer regelmäßigen Wasserwirtschaft
klarzulegen. Dieselbe erfolgreich durchführen zu können,
bedarf es jedoch, neben gesetzgeberischen Maßregeln,
richtiger technischer Maßnahmen, welche nur auf wissen-
schaftlicher Grundlage sich zuverlässig aufbauen lassen.
Derartige Beobachtungen und Untersuchungen an den
deutschen Flüssen und Seeen sind aber noch recht lücken-
haft. Was hierfür zu thun ist, und welche Wege bereits
eingeschlagen sind, soll nachstehend besprochen werden,
wozu im voraus zu bemerken ist, daß die Verwertung
der Forschungsergebnisse, sowie vielfache Untersuchungen
sachkundigen Kräften vorbehalten bleiben müssen, daß
aber ein verständnisvolles Mitwirken weiter Kreise nicht
allein wünschenswert., sondern notwendig ist.
IL Wasserversorgung der Gewässer,
1. Niederschläge im allgemeinen.
Für die in Form von Regen, Schnee, Hagel, Grau-
peln, Nebel, Tau und Reif auf die Erde fallenden
Niederschläge ist, soweit nicht eine Verdunstung oder
Versickerung, sondern ein oberirdischer Abfluß statt-
findet, der Weg zu Thal durch die Oberflächengestaltung
der Erde gegeben und aus letzterer auch der Umfang
der Gebiete erkenntlich, aus welchen die Speisung von
Seeen und Bächen, Flüssen und Strömen im einzelnen
oberirdisch stattfindet. Diese sog. Niederschlagsgebiete
grenzen sich mehr oder minder scharf gegeneinander
durch Oberflächenerhebungen , Wasserscheiden genannt,
ab und bilden den Ausgang der vorzunehmenden Beob-
achtungen. Die unterirdische Speisung durch Grund-
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636 Gustav Becker,
wasserströme läßt sich nicht in gleicher Weise verfolgen,
doch dürften weitere Forschungen auch hierüber mehr
Licht verbreiten.
Die Bestimmung der Niederschläge in den einzehien
Niederschlagsgebieten erfolgt durch Messung der Regen-
höhe, d. h. derjenigen Höhe einer Wasserschicht, welche
sich ohne Rücksicht auf Verluste auf einer wagerechten
Fläche bildet. Die hierfür benutzten Vorrichtungen pflegen
Regenmesser genannt zu werden.
Aus den bisherigen Beobachtungen soll kurz fol-
gendes hervorgehoben werden: Die Niederschläge sind
der Zahl, Stärke, Zeit des Auftretens und der geographi-
schen Lage noch nicht überall die gleichen.
Hinsichtlich der Zahl der Niederschläge bedarf
es noch eines einheitlichen Verfahrens bei der Aufzeich-
nung, wofür Dr. Brückner^) vorschlägt, alle Tage mit
Niederschlägen von > 0,i5 mm als Regentage anzusehen
und weitere Gruppen für Niederschläge bis >• l,o mm,
bez. > 5 mm, bez. > 10 mm zu bilden.
Bezüglich der Stärke der jährlichen Regen-
menge scheint eine Uebereinstimmung darin zu be-
stehen, daß die Niederschläge in der Tiefebene geringer
als am Fuße der Gebirge sind und dieselben in dem Ge-
birge selbst die größte Höhe erreichen. Als durchschnitt-
liche jährliche Regenhöhe können für Deutschland 660 mm
angenommen werden. Andererseits wird die jährliche
Regenhöhe
für Süddeutschland und Oesterreich zu 800 mm
„ Westdeutschland zu 650 „
„ Norddeutschland „ 580 ,
angegeben.
Für das Auftreten der Niederschläge der
Jahreszeit nach zeigt sich nach Hellmann ^) dahin ein
einheitlicher Grundzug, daß die Ebene die größten Nieder-
schläge im Sommer erhält, während im Gebirge mit zu-
') Methode der Zählung der Regentage in der Meteorologi-
schen Zeitschrift 1887. S. 241 if.
^) Meteorologische Zeitschrift 1887. S. 84 flf.
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Gewässerkunde. 637
nehmender Höhe die Sommerregen abnehmen und von
einer gewissen, in den einzelnen Gebirgen verschiedenen
Höhe ab die Winterniederschläge vorherrschen. Mit Aus-
nahme der Nordseeküste, woselbst der Herbst die nasseste
Jahreszeit ist und trotz vielfacher sonstiger Abweichungen
treffen diese Verhältnisse auch für Deutschland im all-
gemeinen zu, doch zeigt sich überdies eine Zunahme der
Sommerregen von Westen nach Osten etwa nach einer
von dem Niederrhein nach den Sudeten quer durch
Deutschland gedachten Linie. In den mehr östlich ge-
legenen Gebirgen, wie den Sudeten, tritt hiernach erst
in größerer Höhe ein üeberwiegen der Winterregen als
beispielsweise in den Vogesen gegen die Tiefebene ein.
Ueber das Verhältnis der Regenmengen ein-
zelner Zeiten zu der jährlichen Regenmenge
geben die Untersuchungen von Hell mann *), wenigstens
für das nördliche Deutschland, Auskunft.
Hiemach sind monatliche Niederschläge von
200 mm nicht selten und überschreiten in einzelnen
Fällen den Betrag von 300 mm ; auch zeigt sich in dem
Betrage der größten Niederschlagsmenge der verschie-
denen Monate eine jährliche Regelmäßigkeit.
Die größten täglichen Niederschlagshöhen
stimmen in dem ebenen Norddeutschland ziemlich gut
überein, so daß das mittlere tägliche Maximum der Nieder-
schläge zu 35 mm angenommen werden kann , während
Tagesmaxima von mindestens 100 mm überall zu ge-
wärtigen sind.
Starke Regenfälle sind meist von kurzer Dauer und
fallen selten 10 Minuten lang mit gleicher Dichtigkeit.
Erhebliche Unterschiede treten in dem ebenen Nord-
deutschland nicht auf, und Beobachtungen in Trier, Dres-
den, Breslau, Kiel, Posen, Königsberg weisen darauf hin,
daß auf Stundenmaxima von ÜO — 75 mm zu rech-
nen ist.
Den wichtigsten Einfluß auf die Niederschläge üben
^) Größte Niederschlagsmengen in Deutschland. Zeitschrift
des statistischen Bureaus zu Berlin. 24. Jahrg. 1884.
Digitized by VjOOQ IC
038 Gustav Becker,
die örtlichen Verhältnisse, wie die Nähe des Meeres, die
Lage gegen das Gebirge, Waldbestand und Kulturver-
hältnisse, die Nähe größerer Binnenseeen und anderes aus.
Lehrreiche Beweise hierfür bieten die Isohyetenkarten,
Karten mit Linien gleicher Regenhöhen , von Baden *)
dar, deren Studium warm empfohlen werden kann. Ein
gleiches Beoachtungsmaterial wird für ganz Deutschland
anzustreben sein, sich aber wohl erst nach Durchführung
der geplanten Neugestaltung des meteorologischen Dienstes
in Preußen gewinnen lassen. Die vorhandenen Regen-
karten von Deutschland lassen es noch an dem nötigen
Maß von Genauigkeit fehlen, auch sind dieselben nicht
derart erschöpfend, um für die Fluß- und Seeenkunde
hinreichende Unterlagen zu gewähren; ebenso wird die
gute Unterstützung, welche die amtliche Thätigkeit sei-
tens einzelner Privaten und namentlich seitens landwirt-
schaftlicher Vereine bisher gefunden hat, auf diesem Ge-
biete dauernd erforderlich sein.
2. Messung der Niederscliläge.
Die Regenmesser, auch Hyetometer, Pluviometer,
Ombrometer oder Udonieter genannt, bestehen im wesent-
lichen aus drei Teilen, dem Auffangegefäß, dem
Sammelgefäß und dem Meßgefäß. Das Auffangegefaß
bildet eine kreisrunde oder quadratische Schale mit genau
bestimmter oberer Oeffnung und scharfem Rande, welche
sich nach unten trichterförmig verjüngt und sonach die
Niederschläge nur durch eine kleine Oeffnung in das
darunter befindliche cylindrische Sammelgefäß gelangen
läßt, wodurch der Verlust durch Verdunstung so gering
ist, daß derselbe vernachlässigt werden kann. Die Größe
der Auffangefläche schwankt zwischen 200 qcm auf den
neueren Stationen in Baden, 500 qcm auf den Stationen
der deutschen Seewarte und 2000 qcm auf den forstlieh-
') Beiträge zur flydrogi-aphie des Großherzogtums Baden.
Herausgegeben von dem Zentralbüreau für Meteorologie u. Hydro-
i^raphie. Karlsruhe 1885.
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Gewässerkunde.
639
Flg. 1.
gefäss
Samiut I
geCi-
meteorologischen Stationen in Preußen und den Reichs-
landen, hat aber bei dieser Verschiedenheit keinen Einfluß
auf die Messungen. Aus dem
Sammelgefäß, dessen Größe für
die Zeit zwischen zwei Beob-
achtungen zu bemessen ist,
kann das Wasser mittelst eines
Hahnes in einen Meßcylinder Auffange-
von Glas abgelassen werden,
welcher derart geteilt ist, daß
die Regenhöhe unmittelbar ab-
gelesen werden kann.
Mittelst dieser Apparate
kann wohl die Größe eines
Regenfalls, nicht aber die Zeit,
in welcher derselbe stattgefun-
den hat, mit Sicherheit gemes-
sen werden, da häufige Beob-
achtungen sich nur schwer aus-
führen lassen, weshalb dieselben
in der Regel nicht häufiger als
zweimal in 24 Stunden statt-
zufinden pflegen. Nach den Be-
schlüssen des Meteorologen-
kongresses zu Wien soll die
Beobachtung einmal, um 7 Uhr
morgens , vorgenommen und
das Ergebnis für den voraus-
gegangenen Tag aufgeschrieben
werden.
Die Regenmesser nach dem
Modell der deutschen Seewarte
kosten mit Vorrichtung zum
Befestigen an einem Pfosten
mit doppelten Auffange-
gefäßen und Meßglas in den
mechanischen Instituten von
(). Ney und von R. Fueß in Berlin 27,o Mark.
Für technische Zwecke ist, neben der Höhe des
Messgetä^a
Regenmesser (Modell der deutschen
See warte).
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040
Gustav Becker,
Auffange gefäss
'CiviniUüJ
£;iiinm«lgt»riit«a
Selhirt^lftlfeteiender
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Gewässerkunde. 641
{legenfalles , Zeit und Dauer desselben von Wichtigkeit,
weshalb eine ausgedehntere Verwendung selbstaufzeich-
nender Regenmesser, welche dauernd über die Nieder-
schläge Aufschluß geben, sehr wünschenswert erscheint.
Von den verschiedenen selbstaufzeichnenden Regenmessern
möge der nebenstehend abgebildete von Dr. Maurer in
Zürich angegebene und von Ho ttingeru. Comp, in Zürich^)
hergestellte näher beschrieben werden. Das Auffange-
gefäß mit 250 qcm OeflFnung läßt das Wasser in ein
drehbares Sammelgefäß fallen, welches nach gänzlicher
Füllung mit 500 ccm sich selbstthätig entleert. Senk-
recht unter dem Sammelgefäß befindet sich ein durch
eine Spiralfeder gehaltener Stift und im rechten Winkel
an demselben ein Arm mit Schreibstift, welcher je nach
der Füllung des Sammelgefäßes eine andere Höhenlage
hat. Auf einer durch ein Uhrwerk getriebenen, mit ent-
sprechend geteiltem Papier überzogenen Trommel wird
demnach eine gebrochene Linie verzeichnet, in welche
jede Entleerung des Sammelgefäßes infolge Zusammen-
ziehung der Feder durch einen senkrechten Strich be-
merkbar ist.
Soll Schnee, dessen Masse sich zum Wasser wie 15 : 1
verhält, gemessen werden, so ist entweder das Auffange-
gefäß an Ort und Stelle zu erwärmen oder durch ein
anderes Gefäß während der Dauer des Auftauens zu er-
setzen.
Hinsichtlich der Aufstellung des Regenmessers
scheint die Höhe über dem Erdboden von geringer Be-
deutung und die frühere Annahme, daß die Regendichte
an der Erdoberfläche am größten sei, unzutrefiFend zu
sein. Vielmehr kommt die Einwirkung des Windes bei
den Messungen wesentlich zur Geltung, weshalb bei
Aufstellung von Regenmessern besonders darauf Bedacht
genommen werden muß, daß der Wind inNder Nähe so
wenig als möglich Widerstand findet, um nicht durch
Aufstau den Regen über die Auffangeschale fortzutreiben.
*) Derselbe wird auch von R« Fueß u. 0« Ney in Berlin zum
Preise von 160 M. geliefert.
Anleitung zur dentseben Landes« und VolksforBchong. 41
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(342 Gustav Becker,
Zur Beseitigung des nachteiligen Einflusses des Windes
ist von Nipher ein Schutztrichter in Vorschlag gebracht
worden, der nicht ohne Wirkung ist, jedoch bei reich-
lichem Schneefall seinen Dienst versagt*).
3. Verdunstung und Versickerung der Niederschläge.
Von den Niederschlägen wird ein Teil von den
Pflanzen aufgenommen, ein anderer wird dem Abfluß
durch Verdunstung bez. Versickerung entzogen. Die
Verdunstung am und im Boden ist bisher nur unvoll-
kommen festgestellt worden. Ein auf bayrischen Sta-
tionen hierfür benutzter Apparat *) giebt nur Aufschluß
über die Verdunstung in flachen, mit Wasser gesättigten
Bodenschichten. Versuche von Woldrick in Oberdöbling
bei Wien über die Verdunstung des Wassers im Boden
in verschiedenen Tiefen haben aber gezeigt, daß die Ver-
dunstung mit zunehmender Stärke der Bodenschicht ab-
nimmt. Aus diesen und weiteren Beobachtungen geht
allein mit Sicherheit hervor, daß die Verdunstimg im
Sommer am größten ist, im Herbst und Frühling abnimmt
und im Winter am geringsten ist, und daß die Zeit
des Wachstums der Pflanzen, großen Einfluß auf die
Verdunstung ausübt. So ergiebt sich die Verdunstung
auf Wiesen und Weiden größer als auf Brachfeld, und
in Waldgebieten hält das Laubdach erhebliche Mengen
der Niederschläge, welche vorwiegend verdunsten, von
dem Boden ab. Während die Regenmenge über dem
Laubdach bis zu 18 '7« größer als im freien Felde ge-
funden worden ist, hat sich die im Walde gemessene
Regenhöhe nur zu 7l^/o jener ergeben, wonach also die
Verlustraenge 47 "/o beträgt.
Eineil eigenartigen Ausgleich hat die Natur für die
geringeren Niederschläge auf Waldboden aber dadurch
^) lieber den von Nipher vorgeschlag^enen Sehuiztrichter für
Regenmesser. Meteorologische Zeitschrift 1884. S. 881.
*) Handbuch der Ingenieurwissenschaflen. 2. Aufl. Bd. III
Wasserbau. 1. Abt. S. 25.
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Gewasserkunde. 643
getroffen, daß von demselben eine wesentlich geringere
Menge, nach den verschiedenen Beobachtungen 40 — lO^/o,
als auf freiem Felde verdunstet und in den Waldboden
demgemäß eine ebenso große und bei einer Streudecke
sogar eine größere Wassermenge einsickert als im Freien,
und auf diese Weise gerade im Sommer der Waldboden
zu einer gleichmäßigen Speisung der Quellen, Bäche und
Seeen wesentlich beiträgt ^).
4. AbflnsB der Niederscliläge.
Aus Vorstehendem geht also hervor, daß die Nieder-
schläge je nach der Jahreszeit und nach der natürlichen
oder künstlichen Beschaffenheit der Erdoberfläche ver-
schieden große Verluste erleiden und sonach nur ein
Teil derselben zu Thal gelangt. Diese Abflußmenge läßt
sich für einen bestimmten Flußlauf nur aus der Größe
des zugehörigen Niederschlagsgebietes ermitteln, wofür
ein besonderes Kartenmaterial bisher für Deutschland nur
unvollkommen vorhanden ist. Für Bayern giebt es wohl
eine 1881 erschienene hydrographische üebersichtskarte,
im übrigen ist neben den Admiralitätskarten *) , welche
jedoch nur die Küsten der Nord- und Ostsee behandeln,
wenig allgemein zugängliches Material bekannt. Eine
gute Unterlage gewähren aber auch schon die General-
stabskarten (1:100000) und noch besser die von der
Landesaufnahme herausgegebenen, bisher allerdings nur
teilweise erschienenen Meßtischblätter^) (1:25000), imd
ebenso unterrichten die geologischen Karten **). Aus ihnen
läßt sich neben der Größe die Form und das Gefälle der
Niederschlagsgebiete ersehen und somit ein Anhalt für
diejenige Niederschlagsmenge gewinnen, welche in der
*) Ebermayer, Die physikalischen Einwirkungen des Waldes
auf Luft und Boden und seine klimatologische und hygieiniache
Bedeutung. Berlin 1873.
*) Verlag von Dietrich Reimer, Berlin.
') Verlag von R. Eisen schmidt, Berlin.
*) Verlag von der Simon Schroppschen Landkartenhandlung
(.J. Neumann), Berlin.
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(J44 Gustav Becker,
Zeiteinheit zum Abfluß gelangt. Nehmen wir z. B. an,
dalä von Wäldboden 13 ^/o , vom Felde 27 V und von
weitläufig bebautem Gelände 37 ^jo der Niederschläge
oberirdisch abfließen, so ist noch zu berücksichtigen, daß
diese Wassermengen nur nach und nach, und zwar mit
weiteren Verlusten, in die Thäler gelangen. Für städtische
Entwässerungskanäle sind diese Verhältnisse näher unter-
sucht worden, und von Bürkli ') wird für Gebiete bis zu
2000 ha für diese Verzögerung des Abflusses die allge-
meine Formel
_ o,r>7^ _
angegeben, worin A^. die Abflußmenge in Sek.-L. für 1 ha
bei dem Zuflußgebiete F; R die Regenmenge in L. f. 1 ha
u. Sek.; g das Gefälle des Zuflußgebietes F bedeutet.
Ebenso hat Frühling^) den Verlauf des Abflusses für
städtische En twässerungsgebiete behandelt.
Kurz zusammengefaßt erleiden also die Niederschläge
nach Jahreszeit und Bodenkultur verschieden große Ver-
luste durch Verdunstung und Versickerung, und die ver-
bleibende Abflußmenge gelangt erst nach weiteren Ver-
lusten und einer von Größe, Form und Gefälle des
Niederschlagsgebietes abhängenden Verzögerung in das
Sammelgewässer.
Zu berücksichtigen ist nun ferner die Verdunstung
auf den freien Wasserflächen der Seeen und Flüsse,
doch sind zuverlässige, der Wirklichkeit entsprechende
Beobachtungen schwierig auszuführen, da die Luftströ-
mung und die Temperatur, bei großen Wasserflächen
auch die Windrichtung von erheblichem Einfluß sind,
die bisher benutzten Apparate diesen Einflüssen aber
nur unvollkommen Rechnung tragen. Allgemein läßt
sich nur sagen, daß die Verdunstung am Tage größer
ist als während der Nacht, und daß eine Verdunstungs-
') Größte Abflußmengen bei städtischen Abzugskanälen. Mit-
teilungen des Schweizer. Ing.- u. Arch.- Vereins 1880.
''') Handbuch der Ingenieurwissenschaften Bd. II f, Wasserbau.
2. Aufl. S. 401 flf.
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Gewasserkunde. G45
höhe von mehr als 1 cm in den 12 Tagesstunden selten
beobachtet worden ist. Holländische Ingenieure nehmen
für die dortigen Kanäle in heißen Sommern 90 cm Ver-
dunstung an. Auf diesem Gebiete sind also weitere For-
schungen durchaus wünschenswert, bei welcher Gelegen-
heit auch auf die Beobachtung der Temperatur der
Gewässer, welche auf die Vorgänge nicht ohne Einfluß
erscheint, hingewiesen werden soll. Nach dem Ergebnis
einjähriger Beobachtungen in der Saale bei Halle ^) geht
hervor, daß das Wasser im allgemeinen eine höhere Tem-
peratur besitzt als die Luft, und auch selbst die niedrigste
Lufttemperatur niclit mit der niedrigsten Wassertemperatur
zusammenfällt. Der Verfasser hält es nicht für ange-
messen, hieraus bereits weitere Schlüsse zu ziehen , er-
achtet aber weitere Untersuchungen für erforderlich ^).
Einen weiteren Verlust erhalten die abfließenden
Wassermassen zeitweilig dadurch, daß sie besonders bei
Anschwellung der Wasserläufe die unterirdischen Wasser-
zuflüsse speisen, wie andererseits letztere von außerordent-
licher Bedeutung für die Wasserversorgung von Seeen,
Bächen und Flüssen sind. Ueber diese unterirdischen
Wasserzuflüsse, das sog. Grundwasser, sind unsere
Kenntnisse naturgemäß noch geringer als hinsichtlich
der oberirdischen Abflußmengen. Die allgemeinste Er-
klärung für die Bildung des Grundwassers besteht in
der Annahme, daß das versickernde Niederschlagswasser
durch undurchlässige Schichten aufgehalten wird, und den
Gesetzen der Schwere folgend einen Abfluß sucht und
hierbei entweder nochmals als Quelle zu Tage tritt oder
unmittelbar von einem offenen Gewässer aufgenommen
wird.
Vogler dagegen behauptet, daß die Niederschläge
nur bis zu geringer Tiefe in den Boden eindringen und
nicht zur Bildung des Grundwassers beitragen, letzteres
vielmehr ein Erzeugnis bisher unberücksichtigter Nieder-
') Ergebnisse einjäliri<(ftr I5eobachtung der Wassertenipemtur
in der Saal« bei Halle von W. U 1 e. Meteorol. Zeitsehr. Aug. 1887.
'') Woeikof, Die Klimate der Erde. Jena ISST. 1. «d. 6. Kap.
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646 Gustav Becker,
schlüge' ist, welche unterhalb der Erdoberfläche, und
zwar durch Verdichtung des Wassergasgehaltes der Luft
erfolgen.
Novak^) nimmt ferner an, daß das Wasser der Meere
und Seeen durch Spalten und Klüfte in den sog. tellu-
rischen Hohlraum gelangt, von hier in Dampfform in die
oberen Erdschichten aufsteigt und sich daselbst zu Grund-
wasser verdichtet.
lieber den Umfang der Grundwassergebiete sind die
Ermittelungen ebenso schwierig wie über Gefalle, Ge-
schwindigkeit und Menge des Grundwassers. Das Ge-
fälle hängt vorwiegend von der Steigung der undurch-
lässigen Schicht ab und wechselt mit der Beschaffenheit
der durchlässigen Schicht, welche je verschiedene Druck-
höhen zur üeberwindung der Bewegungswiderstände er-
forderlich macht. Hiernach wird also die Geschwindigkeit
wesentlich von der geringeren oder größeren Durchlässig-
keit des Bodens, d. i. der Zahl und Größe der Zwischen-
räume in demselben, beeinflußt.
Wenn auch mancherlei Einzelbeobachtungen über
Grundwasserverhältnisse gemacht worden sind, so ist es
doch bisher nicht gelungen, allgemein gültige Formeln
über die Grund wasserbewegung aufzustellen. Jedenfalls
erscheinen Forschungen namentlich über die wechselnde
Höhe des Grundwasserstandes '^) und nebenbei auch über
die Temperatur des Grundwassers, wie solche in einzel-
nen Städten für Zwecke der Gesundheitspflege vorge-
nommen werden, in weiteren Gebieten wünschenswert.
Diese Beobachtungen dürfen natürlich nicht an benutzten
Brunnen, sondern müssen an besonderen Wasserst^inds-
röhren vorgenommen werden. In Berlin sind fiir diesen
Zweck gußeiserne Muffenröhren von 21 cm Weite mit
verschließbarem Deckel bis l,o m tief unter den mitt-
leren Grundwasserstand gesenkt, in denen der Wasser-
stand an Schwimmern mit Teilung, deren Nullpunkt in
*) Nowak, Vom Ursprünge der Quellen. Prag 1879.
') Nowak, lieber das Verhältnis der Grundwasserschwankun-
gen u. 8. w. Prag 1874.
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Gewässerkunde.
(547
den Wasserspiegel fällt, täglich zur bestimmten Stunde
abgelesen wird.
Die außerordentlichen Verschiedenheiten der Nieder-
schlagsgebiete untereinander und einzelner Teile der-
selben und die zahlreichen erwähnten Einzeleinflüsse ge-
statten es nicht überall, endgültige Schlüsse aus den
zumal bisher vielfach lückenhaften Beobachtungen der
Niederschläge zu ziehen, vielmehr bilden die Unter-
suchungen an den Flußläufen selbst eine wichtige Er-
gänzung hierzu.
TU. Wasserstandsbeobachtungen.
Die gewöhnlichste Vorrichtung zur Beobachtung der
besteht in senkrecht oder
Fig. 3.
Wasserspiegelschwankungen
geneigt aufgestellten und un-
verrückbar befestigten Maß-
stäben, sog. Pegeln, mit
einer Einteilung nach Fuß-
oder Metermaß. Beispiels-
weise in Baden werden die
Pegel aus zwei rechtwinkelig
zusammengenieteten Eisen-
blechen hergestellt, welche
unter 45^ befestigt sind und
dem Beobachter ein Ablesen
von der Seite her gestatten.
Die Teillinien für die ganzen
und halben Meter sind durch
aufgenietete Stäbchen er-
sichtlich gemacht, während
dazwischen abwechselnd
Rechtecke von je 5 cm Höhe
ausgestanzt sind. Neben den
Teilungen für volle Meter
sind außerdem die Höhenzahlen aufgenietet.
Für Preußen ist eine bis auf 2 cm herabgehende
Teilung vorgeschrieben, welche dadurch übersichtlich wird,
Pegel in Baden (1:20).
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048
Gustav Becker,
Fig. 4.
(laß von einer Mittellinie aus abwechselnd je 10 cm links
bez. rechts verzeichnet und die Decimeter durch arabische,
die ganzen Meter durch römische Zahlen hervorgehoben
werden. Die Einteilung wird, sowohl mit Farbe als er-
haben, gewöhnlich auf einer hölzernen Latte hergestellt.
Empfehlenswerter sind Pegel aus email-
liertem Eisenblech oder aus Steingut bez.
Porzellan, welche wegen der glatteren
Oberfläche weniger verunreinigt werden
und sich auch leichter reinigen lassen.
In der Regel sind die Pegel jetzt
derart eingeteilt, daß höheren Wasser-
ständen auch höhere Zahlen der Ablesung
entsprechen und der Nullpunkt entweder
mit dem bekannten niedrigsten Wasser-
stande oder wohl auch mit der normalen
Sohle zusammenfällt. Die Annahme des
Nullpunktes ist sonach ohne Bedeutung,
doch vermeidet man gern etwaige ne-
gative Ablesungen; dagegen ist die un-
veränderte Höhenlage des Nullpunktes
von der größten Wichtigkeit und daher
durch andere feste Punkte festzulegen
und häufiger zu prüfen. Die Kenntnis
der Höhenlage der Nullpunkte unter-
einander und zum Meeresspiegel oder
einem anderen Normalhöhenpunkt ist erst
für erweiterte Zwecke erforderlich.
Die Orts wähl für die Aufstellung
eines Pegels erfordert besondere Auf-
merksamkeit, indem auf ein geschlosse-
nes Bett mit möglichst unveränderlicher
Sohle, durch welches die ganze Wassermenge abfließt, und
auf eine geschützte Stelle mit ruhiger Wasserfläche ebenso
zu achten, wie die Rückwirkung von Stauanlagen zu ver-
meiden ist. Bei Wehranlagen sind Pegel im Ober- und
Unterwasser aufzustellen.
Die Ablesung muß regelmäßig, täglich wenigstens
einmal zur gleichen Zeit, bei ungewöhnlichen Wasser-
Pegel in Preusseii.
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G e wässerkuD de. 649
ständen aber häufiger erfolgen. Für die Pegel an den
schiffbaren Flüssen Preulaens ist aus den hierüber vor-
handenen Bestimmungen folgendes hervorzuheben:
§ 5. Auf denjenigen Stationen, wo kein merklicher
Flutwechsel stattfindet, werden die Wasserstände an jedem
Tage zu Mittag zwischen 11 und 1 Uhr beobachtet.
Sollte der Wasserstand sich schnell ändern, wie etwa bei
Eisgängen oder Gewitterregen, so ist das Maximum oder
Minimum des Wasserstandes, insofern es nicht in der vor-
stehend angegebenen Beobacfatungszeit eintritt, besonders
zu vermerken.
Wo dagegen ein stärkerer Flutwechsel sich bemerk-
bar macht, ist jedesmal im Laufe eines Tages, und zwar
in den Tagesstunden, ein Hochwasser und ein Niedrig-
wasser mit möglichst genauer Angabe der Zeit des Ein-
tritts desselben zu beobachten und zu notieren. Der
Beobachter muß sich zu diesem Zwecke wenigstens eine
Viertelstunde vor dem erwarteten Stillstande des Wassers
i:n den Pegel begeben und von fünf zu fünf Minuten den-
selben so lange beobachten, bis ein entschiedenes Sinken
oder Steigen des Wassers stattfindet u. s. w.
55 0. Der Eisgang und Eisstand muß so vollständig
notiert werden, daß aus der Tabelle zu ersehen, wie
lange das Gewässer neben dem Beobachtungsorte mit Eis
bedeckt gewesen. Ferner ist anhaltender, starker Regen
oder Schneefall und heftiger Wind mit Angabe der Rich-
tung desselben in die Tabelle aufzunehmen. In den
Tabellen für die Seehäfen ist dagegen die Richtung und
Stärke des Windes fortgesetzt anzugeben, letztere unter
den Bezeichnungen: Windstille, mäßiger Wind, starker
Wind, Sturm und Orkan. Ferner ist in den Seehäfen,
bei welchen durch Winde Rückströmung aus der See
veranlaßt wird, die Richtung des Stromes durch die
Worte: auslaufend und einlaufend zu bezeichnen. End-
lich aber ist auch die Tiefe des Seegatts oder des Fahr-
wassers vor der Hafenmündung, wenn dasselbe bedeuten-
den Veränderungen unterworfen ist, nach jeder wirk-
lichen Messung in der letzten Spalte der Tabelle zu
notieren.
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650
Gustav Becker,
Die Monatstabellen sind in folgender Weise aufeu-
stellen :
Wasserstände des Pregels
beobachtet in den Mittagsutunden am Pegel zn Tapiau
März 188 .
Meter
1
2
3
U. 8. W.
Summa
Mittel
1,48
1,60
1,70
Bemerkungen.
Mäßiger Eisgang.
Heftiger Regen und starker Wind aus SW.
Nachmittags 5 Uhr Wasserstand + liso.
Tapiau, den 1. April 188...
Revidiert
Tapiau, den 3. April 188..
Der Pegelbeobachter.
Der Bauinspektor.
Jährlich sind ferner Nachweise in folgender Form
aufzustellen:
Znsammenstellnng der Wasserstftnde
am Pegel zu
für das Jahr
Vorbemerkung:
Höheulage des Pegel-Nullpunkts zu N. N. . . .
Höhenlage des dazu gehörigen Festpunktes, näm-
lich zu N. N.
Der für die Bauausführungen maßgebende mittlere
Wasserstand ist
Der höchste Wasseratand bei eisfreiem Strome fand
statt am 18 . . . . .
Der höchste Wasserstand infolge von Eisversetzung
fand statt am 18
Der niedrigste Wasserstand fand statt am
18
= -f m.
Digitized by VjOOQ IC
Gewässerkunde. 651
Sommeu der monatliehen Wasserstände:
Januar = m.
Februar = ,
u. 8. w.
Summa m.
Der mittlere Wasserstand des Jahres 18 = m.
Der höchste Wasserstand am ... - „
Der höchste eisfreie Wasserstand am = ,
Der niedrigste Wasserstand am . . — .. . „
Ich bescheinige hiermit, dafi ich während dieses Jahres die
Beobachtungen wiederholentlich kontrolliert und immer richtig
befunden, sowie auch, daß ich am d. J. den Pegel
untersucht und dabei den Maßstab richtig eingeteilt, lotrecht auf-
gestellt und die HöhenL'ige des Nullpunkts = m unter dem
oben angegebenen Festpunkte gefunden habe.
, den t«n 18
Der Wasserbauinspektor.
An den Hauptströmen sind umfangreiche Pegelbeob-
achtungen seit Dezennien vorgenommen und übersichtlich
geordnet worden, während an den nicht schiffbaren Neben-
flüssen, besonders aus Mangel an geeigneten, zuverlässigen
Beobachtern, welche sich freiwillig dieser Mühe unter-
ziehen, bisher wenig geschehen ist. Für Preußen ist
neuerdings der Herr Minister für Landwirtschaft den Ver-
hältnissen näher getreten und hat sich zur Aufstellung
von Pegeln auf Staatskosten geneigt gezeigt, falls die
zuverlässige Beobachtung unentgeltlich zu erreichen ist.
Auiäer festen Pegeln sind auch wohl Schwimmer-
pegel in Gebrauch, deren einfachste Einrichtung in einem
Schwimmgefäß und darauf befindlicher geteilter Latte
besteht, wodurch es möglich wird, den Wasserstand be-
quem gegen eine über dem Wasser befindliche Höhen-
marke ablesen zu können.
Eine andere Einrichtung ist durch das Patent J. De-
condun derart getroffen, daß eine gußeiserne Glocke,
welche durch ein Kupferrohr mit einem Manometer in
Verbindung steht, in das Wasser bis zu bestimmter Tiefe
eingesenkt wird und daß bei wechselnden Wasserständen
der in der Glocke und Leitung sich entsprechend ändernde
Digitized by VjOOQ IC
652 Gustav Becker,
Luftdruck mittelst des Manometers ein Zeigerwerk vor
einer die Wasserstände bezeichnenden Einteilung bewegt.
Derartige Apparate sind unter dem Namen Hydrometer
in den Handel ^ gekommen und eignen sich für Ab- .
lesungen vom Zimmer aus.
Um den Wasserstand zu bestimmten Zeiten nach-
träglich ablesen zu können, hat Stadtbaurath Wingen
in Glogau eine eigenartige, unter Nr. 44 749 ihm pa-
tentierte Einrichtung erfunden. Dieselbe besteht im
wesentlichen aus einem Schwimmer in Verbindung mit
einer wagerecht beweglichen Pegellatte und einem Gegen-
gewicht; auf diese Latte hängen sich von dem als Leiter
ausgebildeten Gewicht einer Pendelulu* in bestimmten
Zeiträumen mit dem Sinken des Gewichts kleine Marken
mit Zeitangabe an denjenigen Stellen auf, welche den
derzeitigen Wasserstand angeben.
Zur dauernden Aufzeichnung des Wechsels der
Wasserstände finden selbstregistrierende Pegel Ver-
wendung, bei welchen ein meist in besonderem Brunnen
angeordneter Schwimmer durch die nötigen Uebertragun-
gen einen Schreibstift bewegt, welcher, den Schwankungen
des Wasserspiegels entsprechend, auf einer mit geteiltem
Papier überzogenen, durch ein Uhrwerk gleichmäüig ge-
drehten Trommel die Kurve der Wasserstände aufzeich-
net, so daß die Abscissen die Zeit, und die Ordinaten
die zugehörigen Wasserstände angeben*).
Die über längere Zeiträume ausgedehnten Pegel-
beobachtungen gestatten einen Schluß auf die voraus-
sichtlichen Wasserstände bez. Wassertiefen in den ein-
zelnen Monaten. Für die Rheinpegel in Baden sind diese
Ergebnisse von einem Zeitraum von 30 Jahren derart
graphisch dargestellt, daß die Monate als die Abscissen,
und die gemittelten höchsten, mittleren und niedrigsten
Wasserstände als die Ordinaten eines rechtwinkeligen Ko-
ordinatensystems aufgezeichnet sind, woraus der mittlere
*) Wischeropp, Berlin und Wien.
^) Selbstregistrierend 0 Pegeluhr an dem Hauptweserpegel zu
Bremen. Zeitschrift für Bauwesen 1870. — 0. Ney in Berlin fertigt
Apparate für 550 Mark.
Digitized by VjOOQ IC
Gewässerkunde. (553
Wasserstand in den einzelnen Jahreszeiten anschaulich
wird ^). Diese Darstellungen lassen sich för Vergleiche
noch durch Einzeichnung der mittleren Regenhöhen, der
Größe des Niederschlagsgebiets, dessen Neigung und
sonstige Beschaffenheit ergänzen, wie überhaupt die zeich-
nerische Darstellung von Zahlenwerten für vergleichende
Forschungen außerordentlich bequem ist.
Aus benachbarten Pegelbeobachtungen geht ferner
das Wasserspiegelgefälle hervor, wodurch ein rechneri-
scher Schluß auf die Geschwindigkeit des Wassers, welche
neben anderen Einflüssen vorwiegend von dem Wasser-
spiegelgefälle abhängt und mit HUfe des wasserführenden
Querschnitts des Flußbettes ein Schluß auf die abgeführte
Wassermenge möglich ist.
Zu außerordentlicher Bedeutung sind aber in letzter
Zeit die Pegelbeobachtungen behufs Ankündigung von
Hochwassergefahren gelangt, indem durch einen geord-
neten Nachrichtendienst der Behörden höhere Wasser-
stände in den oberen Flußgebieten so zeitig telegraphisch
nach unterhalb gemeldet werden können, daß Vorkeh-
rungen und Sicherungen möglich gemacht sind.
IV. Geschwindigkeit des Wassers.
Die Geschwindigkeit der Wasserfäden ist in einem
Querprofile nicht an allen Stellen die gleiche, sondern sie
nimmt in wagerechten Schichten von der Mitte nach den
Ufern und in senkrechten Schichten von der Oberfläche
nach der Sohle hin ab.
Zur Messung der Oberflächengeschwindigkeit
dienen Schwimmkugeln aus Kupfer^), Eisenblech oder
Glas, welche so weit mit Wasser gefüllt werden, daß sie
nur wenig über die Oberfläche hinaxisragen, um den Luft-
widerstand möglichst zu beseitigen. Aus der Dauer des
Durchschwimmens einer bekannten Wasserstrecke läßt
') Beiträge zur Hydrographie des Großherzogtums Baden Heft 1,
*) Bei 15 cm Durchmesser Stück 9 Mark.
Digitized by VjOOQ IC
654 Gustav Becker,
sich alsdann die Geschwindigkeit feststellen. Unter Um-
ständen genügen auch wohl für kleine Flüsse Rundholz-
abschnitte von 5— -10 cm Durchmesser und 3 cm Starke,
und für größere Flüsse Stangenabschnitte von 4 — 5 cm
Durchmesser und 20 — 40 cm Länge, an deren unterem
Ende Steine befestigt werden.
Ferner findet das einfache Log Verwendung, ein
dreieckiges Brettstück, von dessen drei Ecken sich Schnüre
zu einer Maßleine vereinigen, an welcher der zurück-
gelegte Weg an der Hand einer guten Uhr mit Sekunden-
zeiger bestimmt werden kann. Die Längenmessung ist
zwar ungenau, besonders auch durch den Widerstand,
welchen die Leine dem schwimmenden Brettchen bietet,
doch ist das Verfahren bei höheren Wasserständen für
angenäherte Werte brauchbar.
Die mittlere Geschwindigkeit in einer senkrechten
Längsschicht läßt sich durch den Gab eoschen Stab oder
Schwimm st ab, einer mit Schrot beschwerten und bis
in die Nähe der Sohle herabgesenkten Blechröhre, welche
wie die vorerwähnte Schwimmkugel beobachtet wird, je-
doch auch nur ungenau ermitteln.
Zweckmäßiger und zuverlässiger ist es, die Ge-
schwindigkeit der Wasserfäden an verschiedenen Stellen
eines Querschnitts zu messen und die Mittelwerte zu be-
nutzen. Von den verschiedenen hierfür gebräuchlichen
Instrumenten sollen nur die wesentlichsten Erwähnung
finden.
Der Tiefenschwimmer ist dem Oberflächenschwim-
mer nachgebildet, jedoch belastet und wird mittelst einer
Schnur, deren Länge der gewünschten Tiefe angepaßt
werden kann, von einem Oberflächenschwimmer gehalten.
Die Pitotsche Röhre ist in einfachster Gestalt ein
offenes, rechtwinkelig gebogenes Rohr, in welches das
Wasser, wenn der wagerechte Schenkel gegen die Strömung
gerichtet wird, so lange eindringt und sich über den
umgebenden Wasserspiegel erhebt, bis das Gewicht dieser
kleinen Wassersäule dem Stoße des Wassers das Gleich-
gewicht hält. Ist der Einströmungsquerschnitt der Röhre
f', und bezeichnet g die Beschleunigung durch die Schwere,
Digitized by VjOOQ IC
Gewässerkunde.
655
sowie Y das Einheitsgewicht des Wassers, so ist der von
dem Wasser ausgeübte Stoß gleich iT.-^.Ti welchem
die Wassersäule mit dem Gewicht f\h.^, worin /" den
Querschnitt des senkrechten
Rohrschenkels bezeichnet, ^* *^
das Gleichgewicht halten
muß.
Die Gleichgewichtsbe-
dingung lautet also
f
^9
.^=r^h.^
oder
Die Geschwindigkeit v^ ist
noch abhängig von einem
für jedes Instrument beson-
ders zu bestimmenden Er-
fahrungskoeffizienten (i., so
daß, da ^2g konstant und
\ / -^ für jedes Instrument '--^
bekannt ist, die Gleichung ^^
die vereinfachte Form
v^ = \i.}Jh
annehmen kann. Eine we-
sentliche Verbesserung an
diesem Apparat ist von
Darcy vorgenommen. Dar-
cy benutzt neben der Pitot-
schen Röhre eine zweite
Glasröhre mit senkrecht ge-
richteter unterer Oeflfhung, welche beide auf einer Holz-
tafel befestigt sind, hierdurch an einer senkrecht ge-
stellten Stange sich bewegen und durch ein Steuer selbst-
thätig in die Stromrichtüng sich einstellen lassen.
Darcy sehe Röhre.
Digitized by VjOOQ IC
65(5
Gustav Becker,
Beide Röhren sind unten in gleicher Höhe abspen*-
bar. Läßt man nun das Wasser eintreten, so wird das-
selbe in der Pitotschen Röhre sich dem Wassersloße ent-
sprechend über den Wasserspiegel erheben, in der anderen
Röhre dagegen nur bis zu letzterem ansteigen. Da femer
beide Röhren oben gegen die Luft abzuschlieL:en sind,
ist es möglich, die Wassersäulen bis zu einer passenden
Höhe aufzusaugen und nach Schließen der unteren Ab-
sperrvorrichtungen an einer zweckmäßig beweglichen
Höhenteilung den Unterschied der Wasserspiegel ablesen
zu können. Die Geschwindigkeit orgiebt sich alsdann aus
der Gleichung v, = \i \'h^ — h.
Der Wert (t muß sorgfältig durch vergleichende Versuche
ermittelt werden.
Die Darcysche Röhre hat zwar den Vorteil, an der
Sohle und am Ufer, sowie am Wasserspiegel benutzt
werden zu können, doch
beschränkt sich der Ge-
brauch auf geringe Tiefen
bis wenig mehr als einen
Meter.
Für die notwendige senk-
rechte Stellung hat v. Wag-
ner *) ein besonderes Gestell,
in welchem das Instrument
hängt, in Anwendung ge-
bracht.
Frank in München hat
die hydrometrische Röhre
derart eingerichtet, daß mit-
telst einer Messung die mitt-
lere Geschwindigkeit in einer
Senkrechten gefunden werden kann ^).
Am gebräuchlichsten ist der im Jahre 1790 von
Woltmann erfundene und nach dem Erfinder benannte
Fig. 6.
v-C.. ■'- i
Woltmannscher Flügel.
*) V. Wagner, Hydrologische Untersuchungen an der Weser.
Elbe, dem Rhein u. s. w. Braunschweig 1881.
•) Deutsche Bauzeitung 1888. Nr. 101.
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Gewässerkunde. 657
Woltmannsche oder hydrometrische Flügel. In
der einfachsten Einrichtung besteht die Meßvorrichtung,
welche an einer Stange in bestimmter Tiefe festgehalten
wird, aus zwei bis fünf an einer wagerechten Welle sitzen-
den Flügeln, deren Umdrehung durch den Stoß des
fließenden Wassers erfolgt. Die Zahl der Umdrehungen
in der Zeiteinheit läßt sich an einem Rade ablesen, wel-
ches in das auf der Flügelachse befindliche Schrauben-
gewinde mittelst einer über Wasser reichenden Schnur
ein- und ausgerückt werden kann.
Der Apparat liat im Laufe der Zeit wesentliche Ver-
besserungen sowohl an dem Zählapparat selbst, wie an
dessen Ausrückvorrichtung *) erfahren. Bisweilen ist der-
selbe auch mit einem Steuer versehen worden, um sich
selbstthätig in die Stromrichtung einstellen zu können,
wodurch sich jedoch nachteilige Erschütterungen und, falls
die Stromrichtung nicht senkrecht zum Profil gerichtet
war, Unregelmäßigkeiten gezeigt haben.
Je nach der verschiedenartigen Einrichtung schwankt
der Preis dieser Apparate von 40 — 160 Mark.
Eine bedeutende Verbesserung ist von Amsler-
Laffon in Schaffhausen dadurch eingeführt worden, daß
das lästige Herausnehmen des Apparats aus dem Wasser
behufs Ablesung der Umdrehungen dadurch beseitigt
worden ist, daß diese durch elektrische Uebertragung
über Wasser erfolgt. Das von der Flügelwelle bewegte
Rad ist nämlich mit einem Ansatz versehen, welcher nach
einer gewissen Anzahl Umdrehungen einen Kontakt er-
zeugt, wodurch ein Elektromagnet erregt wird, welcher
den zugehörigen Anker anzieht und eine farbige Scheibe
vor einer Oeffnung freigiebt und alsbald wieder ver-
schwinden, bez. ein Glockensignal ertönen läßt. Die Ein-
und Ausrückschnur, welche leicht von der Strömung be-
wegt wird, ist behufs größerer Zuverlässigkeit innerhalb
der aus Gasröhren hergestellten Haltestange angeordnet,
während das Steuer nur den Zweck hat, die Haltung der
*) V. Wagner a. a. 0.
Anleltang zur deutschen Landes- und VolkRforschung. 42
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658 Gustav Becker,
Stange zu erleichtern, der Apparat also mit der Hand
rechtwinkelig zum Profil eingestellt werden muß.
Für größere Tiefen als 2 m hat Amsler das In-
strument nicht mehr an einer Stange befestigt, sondern
mittelst Karabinerhaken zwischen ein Drahtseil gespannt,
welches auf der Sohle durch ein linsenförmiges Eisen-
gewicht und über Wasser durch eine an einem Ausleger
eines Bootes befindliche Rolle gehalten und mit einem
Haspel befestigt wird, wobei der hydrometrische Flügel
sich frei in die Stromrichtung einstellt. Der Preis eines
solchen Apparates beträgt rund 270 Mark.
Während bei der vorbeschriebenen Einrichtung bei
einem Wechsel der Tiefenlage das Instrument aus dem
Wasser genommen werden muß, um neu eingestellt wer-
den zu können, hat Professor Harlacher^) in Prag auch
diesen Nachteil in sinnreicher Weise zu vermeiden ge-
wußt und daneben weitere Verbesserungen vorgenommen.
Die von Ha rl acher benutzte Stange zeigt die wesent-
liche Abweichung, daß dieselbe nicht aufgehängt, sondern
in die Flußsohle getrieben wird und somit zwei Stütz-
punkte erhält. Dieselbe ist aus einem Eisenrohr gefertigt
und mit einem senkrechten Schlitz versehen, durch wel-
chen ein Arm geführt ist, welcher die Verbindung mit
dem Aufhängepunkt des hydrometrischen Flügels im
Mittelpunkt der Röhre und der cylindrischen , durch
federnde Rollen bewirkten Führung desselben außerhalb
der Röhre herstellt. Mit Leichtigkeit kann hierdurch an
einem Drahtseil der Flügel gehoben und gesenkt und die
jederzeitige Tiefenlage ersehen werden; auch ist der
Apparat zum Schutze gegen das Aufstoßen auf die Fluß-
sohle mit einer kreisförmigen Scheibe versehen, welche
gleichzeitig in der tiefsten Lage die Höhe des Flügels
über der Sohle angiebt und das Instrument angemessen
beschwert und das Herunterlassen erleichtert. Befindet
sich die Zähl Vorrichtung unter Wasser, so ist zum Ab-
^) Harlacher, Die Messungen in der Elbe und Donau
und die hydrometrischen Apparate und Methoden des Verfassers.
Leipzig 1881.
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Gewässerkunde. 050
lesen nur das Herausnehmen des Flügels, nicht auch das-
jenige der Stange nach jeder einzelnen Beobachtung er-
forderlich. Harlacher hat weiter aber auch die elektrische
üebertragung für die Ablesung derart dienstbar gemacht,
daß nach je 100 Flügelumdrehimgen ein Glockensignal
ertönt. Mit dieser Einrichtung kann der hydrometrische
Flügel während der Dauer sämtlicher Beobachtungen in
einer Senkrechten unter Wasser bleiben. Um ferner die
mittlere Geschwindigkeit in einer Senkrechten durch
gleichmäßige Bewegung des hydrometrischen Flügels von
der Oberfläche bis zur Sohle, also durch eine Beobacli-
tung, feststellen zu können, hat Harlacher eine mecha-
nische Windevorrichtung für das Drahtseil und einen
Tourenzähler für die einzelneu Umdrehungen eingeschaltet.
Hierbei ist das Schraubengewinde auf der Flügelachse
und das Rad in Wegfall gekommen, an deren Stelle eine
auf der Flügelachse excentrisch befestigte Scheibe bei
jeder Umdrehung einen Kontakt erzeugt, wobei mittelst
Elektromagnet ein Sperrrad jedesmal um eine Zahnlücke
bewegt wird.
Die von verschiedenen Seiten gemachte Beobachtung,
daß die Geschwindigkeit in ein und demselben Punkte
eines Querprofils große Verschiedenheit zeigt, ist von
Harlacher durch Einfügung eines Chronographen un-
zweifelhaft bestätigt. Derselbe zeigt die Geschwindigkeit
während einer bestimmten Zeitdauer auf einem durch
Linien geteilten Papierstreifen an, auf welchem die Ab-
scissen die Zeit, die Ordinaten die zugehörige Geschwin-
digkeit darstellen. Dadurch ist ein Einblick in die Be-
wegung der einzelnen Wasserteilchen gewonnen worden,
welcher die allgemeine Annahme von dem Parallelismus
der Wasserfäden stark erschüttert.
Die Beziehung zwischen der Geschwindigkeit des
Wassers und einer Anzahl von Umdrehungen des Flügels
ergiebt sich aus der Annahme, daß die Geschwindigkeit v
der Anzahl der Umdrehungen n proportional ist, also die
Gleichung
V = ^ ,n
besteht, worin ß eine von der Form der Flügel abhängige
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Gustav Becker,
BdIcHe
Hydrometer von Harlacher.
Konstante bezeichnet, welche
für jedes Instrument be-
sonders bestimmt werden
muß. Da aber die Instru-
mente für kleine Geschwin-
digkeiten meistens nicht
empfindlich genug sind, hat
man noch einen zweiten
Koeffizienten a hinzugefügt.
Dieser entspricht der kleinen
Geschwindigkeit, welche zur
Ueberwindung der Reibungs-
widerstände in dem Instru-
ment gerade ausreicht, wo-
durch die Gleichung die
Form
V = a-j-ßw
erhält. Die Werte werden
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Gewässerkunde. 661
aus wiederholten Versuchen gefunden und nach der Me-
thode der kleinsten Quadrate oder auch nur auf graphi-
schem Wege *) bestimmt. Die Versuche selbst werden
in der Regel in stehenden Gewässern vorgenommen, wo-
bei das an einem Boot oder einer EoUbrücke befestigte
Instrument eine bestimmte Strecke weit durch das Wasser
gezogen wird. Der Wert ß müßte sich eigentlich hier-
bei für jedes Instrument konstant, gleich
Weglänge
Ganghöhe der Schaufeln '
ergeben; derselbe zeigt sich aber abhängig von der Ge-
schwindigkeit, mit welcher das Instrument den Weg l
zurücklegt, so daß die Anzahl der Umdrehungen mithin
auch abhängig von der Zeitdauer des Versuchs ist.
Die eingehendsten Ermittelungen hierüber sind von
Exner*) vorgenommen worden, welcher zu der Formel
gelangt. Neben den schon erwähnten Bezeichnungen be-
deutet hierin n die Umdrehungszahl in der Zeit z auf der
Weglänge i, und n^ die Anzahl der Umdrehungen auf
dem Wege l bei sehr großer Geschwindigkeit.
Die einfacheren Formeln v z= ^n für ausschließlich
große Geschwindigkeiten und v = a -\~ ^n bei sorgfälti-
ger Konstantenbestimmung nach Geschwindigkeiten, welche
den beabsichtigten Messungen ähnlich sind, erscheinen
aber vielfach ausreichend.
V. Die Wassermenge.
1. Ermittelung aus Oeschwindigkeitsmessmigen.
Aus den durch Messung gefundenen Geschwindigkeiten
läßt sich nun die Wassermenge durch Rechnung ermitteln.
*) Scheck, Zur Bestimmung der Konstanten für hydro-
metriflche Flügel. Wochenblatt fiir Baukunde 1887. S. 382.
•) Zeitschrift für Bauwesen 1875.
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Ö(i2 Oustav Becker,
1. Wird ein Flußprofil in eine Anzahl senkrechter
paralleler Streifen (f) und jeder Streifen wiederum in
eine Anzahl zweckmäüig gleich große Abschnitte (ä) zer-
legt und in letzteren die Geschwindigkeit (o) durch Mes-
sung ermittelt, so ergiebt sich die mittlere Geschwindig-
keit in einem Profilstreifen aus der Summe der Produkte
dieser Geschwindigkeiten und der zugehörigen Flächen-
abschnitte dividiert durch die Fläche des Profilstreifens.
Die Summe der Produkte aus den mittleren Geschwindig-
keiten und den Flächen der Profilstreifen ist die Wasser-
menge Q^ welche in der Zeiteinheit durch das Profil von
der Größe F fließt.
Es ist also die mittlere Geschwindigkeit in einem
Profilstreifen :
1(0. a)
und die Gesamtwassermenge in der Sekunde
Q = lif.r)
und die mittlere Geschwindigkeit in dem ganzen Quer-
profil :
2. Harlacher ermittelt die Wassermenge auf graphi-
schem Wege aus den bekannten mittleren Geschwindig-
keiten, worüber näheres in den Mitteilungen des Verfassers
nachzulesen ist *).
3. Trägt man auf einem Querprofil die Geschwindig-
keit an den einzelnen Punkten als Ordinaten auf und
verbindet die Endpunkte gleich langer Ordinaten mit-
einander, so ergeben sich Kurven, welche den geometri-
schen Ort gleicher Geschwindigkeiten in einem Querprofil
bezeichnen und Isotachen genannt werden. Diese Kurven
werden von einer gekrümmten Fläche umhüllt, welche
zusammen mit dem Querprofil und der zwischengelegenen
'Oberflächen- bez. Sohlstrecke einen Körper begrenzt,
dessen Inhalt der Wassermenge entspricht, welche in der
*) Harlacher, Die Messungen in der Elbe n. 8. w.
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Gewässerkunde. (3(33
Zeiteinheit das Profil durchfließt. Durch Zerlegen dieses
Körpers mittelst Parallelebenen zu dem Querprofil, so
daß Abschnitte gleicher Höhe entstehen, läßt sich der
Inhalt dieser Abschnitte aus dem Produkt der halben
Summe der durch Planimetrieren erhaltenen Plächengrößen
und der Höhe, welche einen Teil der Geschwindigkeit
darstellt, ermitteln und somit der Inhalt des ganzen
Körpers und die Wassermenge gewinnen.
2. Ermittelung durch Rechnimg.
Die Wassermenge eines Flusses läßt sich auch aus
der durch Rechnung bestimmten mittleren Geschwindig-
keit finden.
Die hierfür aufgestellten Formeln lassen sich auf
folgende Betrachtungen zurückführen. Die dem Gesetze
der Schwere unterworfenen Wassermengen in einem Fluß-
bette müßten eigentlich eine beschleunigte Bewegung an-
nehmen; in dem Beharrungszustande, also bei unveränder-
tem Gefälle, fließen aber gleich große Wassermengen ab
als zu und es findet sonach eine gleichförmige Bewegung
statt; die Geschwindigkeiten verhalten sich also umge-
kehrt wie die Querprofile. Man ist daher allgemein da-
von ausgegangen, daß die Widerstände, welche durch
Hindernisse im Abfluß entstehen, die Beschleunigung ganz
aufheben und hat angenommen, daß der Widerstand ( W)
von der Größe der berührten Fläche oder bei der Strom-
strecke von der Länge Eins von dem benetzten Umfange {p)
in erster Potenz und von der Geschwindigkeit in zweiter
Potenz proportional abhängig ist, so daß sich ergiebt
worin n einen unbekannten konstanten Faktor bezeichnet.
Die Beschleunigung für jede Einheit der untersuchten
Wassermenge ist gleich J . g^ worin J das relative Gefalle
und g die Beschleunigung durch die Schwerkraft bezeich-
net, also für die ganze Masse von dem Querschnitt F und
der Länge Eins gleich J.g.F. Aus der Gleichheit dieser
beiden Werte für Widerstand und Beschleunigung er-
giebt sich
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664 Gustav Becker,
n.p .v^ = J.g . F
n p
Werden die beiden Konstanten g und n zu
n
vereinigt und
F _ Fläche _
p ~" Benetzter Umfang ""
gesetzt, welchen Ausdruck man auch mit Profilradius
oder mittlere hydraulische Tiefe bezeichnet, so ist
schließlich v = c\/ R,J.
Alle Formeln lassen sich auf die vorstehende Form
zurückführen und ihre Richtigkeit wird alsdann aus der
Bedeutung, welche dem Koefficienten c zugewiesen wird,
zu ersehen sein.
Die älteste in Deutschland gebräuchliche Formel ist
diejenige von Ch^zy-Eytelwein, welche die obige Form
t? = c y^BJ hat und wofür Eytelwein den Koefficienten
c = 50,9 also als konstant bestimmte. In einer Reihe
älterer Formeln ist bereits die Richtigkeit des konstanten
Koefficienten bestritten worden, die neueren Untersuchun-
gen haben aber erst wesentliche Aenderungen hervor-
gerufen. So haben Humphreys und Abbot auf Grund
umfangreicher Wassermessungen am Mississippi vorwiegend
den Einfiuß des Gefälles nachgewiesen und in der von
ihnen aufgestellten Formel, welche von Grebenau die
vereinfachte Form
V = 8,29 V ä77
erhalten hat, zum Ausdruck gebracht.
Darcy und Bazin haben wiederum den Haupteinfluß
auf die Geschwindigkeit, auf den Grad der Rauheit des
benetzten Umfanges und den Wechsel des Werthes
// ^ Fläche
p Benetzter Umfang
zurückzuführen gesucht.
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Gewässerkunde.
Die Bazinsche Formel lautet
ß
i?.J=(a + |)..'
und sonach der Koefficient nach der Eytelw einschen
Formel
i
V'+i'
Die Aufstellung einer allgemein gültigen Formel ist
äußerst schwierig. Ganguillet und Kutter haben sich
bemüht, allen Einflüssen möglichst Rechnung zu tragen
und angenommen, daß der Koefficient c abhängig ist:
F
a) von der mittleren hydraulischen Tiefe R = — unter
der Voraussetzung, daß mit wachsendem B auch c
wächst ;
b) von dem Grade der Rauheit des benetzten Umfanges,
wonach c sich unter sonst gleichen Verhältnissen
bei zunehmender Rauheit vermindert;
c) von dem Gefälle J, Bei größeren Gewässern nimmt
c mit der Zunahme des Gefälles ab, bei kleinen
Gewässern wächst c mit dem Gefälle;
d) von den mitgeführten Sinkstofl^en;
e) von der Form des Querprofils und von der Sohlen-
breite.
Die Formel von Ganguillet und Kutter lautet
hiemach :
1 , 0,00155
V = I : TTTrTzrr^. I V^i^J.
Die Größe n bezeichnet den wechselnden Koefficien-
ten für den Grad der Rauheit des benetzten Umfanges
\md beträgt erfahrungsgemäß:
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6G6
Gustav Becker,
n
1.
Für Kanäle von sorgfältig gehobeltem
Holz und von glatter Zementverkleidung
0,016
100,00
2.
Für Kanäle aus Brettern
0,01 s
83,js
3.
Für Kanäle von behauenen Quadersteinen
und von gut gefugten Backsteinen . .
Für Kanäle von Bruchsteinen ....
0,011
76.»i
4.
0,017
58,9s
5.
Für Kanäle in Erde; Bäche und Flüsse
0,025
40.00
6.
Für Gewässer mit gröberen Geschieben
und mit Wasserpflanzen ......
0,080
33,ss
Die Ergebnisse dieser Formel zeigen eine möglichst
gute üebereinstimmung mit unmittelbaren Messungen,
und die auf den ersten Blick umständliche Benutzung
wird wesentlich dadurch erleichtert, daß der Wert für c
für eine große Anzahl Fälle sich in Lehrbüchern ange-
geben findet.
Hagen geht davon aus, daß die Fehlergrenzen bei
Wassermessungen recht erheblich sind und daher bei einer
Formel zur Bestimmung der Geschwindigkeit über dem
Bemühen, der Wahrheit möglichst nahe zu konmien, die
leichte Anwendbarkeit derselben nicht außer acht gelassen
werden soll.
Die neueren Formeln von Hagen lauten:
1. Für kleine Wasserläufe mit geringerem Gefälle
als 1 : 1000 und M < 0,47 m
t; = a . JB y J.
Hierin ist sonach c = a \/ . ; a = 4,9.
2. Für Flüsse und Ströme, bei R > 0,47 m
v = ^y/R.slT,
und ß =- 3,34.
worm c =
ß
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(Jewässerkunde. 667
3. Ermittelimg dnrclL nnmittelbare Messung.
Am zuverlässigsten ist die Bestimmung der Wasser-
menge durch unmittelbare Messung, welche sich indes
nicht in allen Fällen ausführen läßt.
Kann das Wasser abgeleitet werden, so fängt man
dasselbe in einem geaichten Gefäße unter Feststellung
der Dauer der Füllung und Beobachtung des Wasser-
standes unmittelbar auf, welcher bei gleichmäßigem Zu-
fluß sich nicht verändern darf, und bestimmt hiernach
die in der Zeiteinheit abfließende Menge.
Die Messung mittelst des sog. Wasserzolles wird
derart bewirkt, daß man das Wasser durch kreisrunde,
verschließbare Oeflfnungen von bestimmter Größe in dünner
Wand unter unverändertem Druck ausfließen läßt und
stets so viele Oeff*nungen frei macht, als zur Erhaltung
des gleichen Wasserspiegels erforderlich sind.
Beispielsweise hat Bornemann die Größe der Aus-
flußmengen bei einer Druckhöhe von 2t),iö mm über der
Mitte der Ausflußöffnung und
einem Durchmesser
der Oeffnung von 2G,i5 13,o8 6,54 3,27 mm
in der Minute zu . 0,o38o 0,oo87 8 0,ooo98 0,00027 cbm
ermittelt.
Mit großer Genauigkeit lassen sich die Wassermengen
in dem Beharrungszustande des Gewässers bei dem Aus-
tritt aus Schützöffnungen bestimmen. In allen Fällen ist
die Wassermenge (Q) gleich dem Produkt aus der Größe
der Durchflußöffiiung (i") und der mittleren Geschwindig-
keit {v) oder Q = F. v.
Die Wasserelementchen bewegen sich aber wie frei
fallende Körper, wonach die Geschwindigkeit
V = \i V2gh
ist, worin \i einen nach den besonderen Umständen zu
ermittelnden Koefficienten ^) bezeichnet.
*) Vergl. Meissner, Die Hydraulik und die hydi-aulischen
Motoren. 1. Band. Jena 1878.
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668
Gustav Becker,
Bei der untenstehend gewählten Anordnung empfiehlt
es sich, um den Ausfluß möglichst wenig zu behindern,
die Begrenzung der Mündung nach außen abzuschrägen,
alsdann kann der Koefficient [i zu 0,65 bis 0,7 o und zwar
um so größer angenommen werden, je kleiner die Druck-
höhe und die Höhe der Ausflußöffnung ist (Fig. 8).
Fig. 8.
Fig. 9.
An schützenartig einegebauten Oeffnungen von der
Breite b hat Bornemann (Civilingenieur 1871, S. 54)
bei vorstehenden Bezeichnungen die Wassermenge zu
und
(1 = 0,637752 + 0,299954
(*.-i)
ermittelt und weitere Versuche im Civilingenieur 1880
mitgeteilt (Fig. 9).
Fig. 10.
Fig. 11.
;^
- -^ -^
^te^
g
- :
''
' y.
^^
b
iMumfcMiii.ijp:
üeber vollkommene Ueberfälle (Fig. 10), bei
welchen also der Unterwasserspiegel tiefer als der Wehr-
rücken liegt, fließt bei einer Breite b eine Wassermenge
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Gewässerkunde. 069
2
worin im Mittel — [x = 0,443 angenommen werden kann.
o
Ein derartiger Einbau mit selbstaufzeichnender Meß-
vorrichtung für einen Wasserlauf ist von Professor Intze
näher erläutert und beschrieben worden (vergl. Zeitschrift
des Vereins deutscher Ingenieure 1888, S. 1007).
Für einen unvollkommenen Ueberfall (Fig. 11),
dessen Wehrrücken tiefer liegt als das Unterwasser, kann
die Wassermenge zu
und der Ausflufikoefficient, zwischen 0,296 und 0,606
schwankend, im Mittel zu 0,45 angenommen werden.
Die Höhenmessung der Wasserspiegel muß in beiden
Fällen in einiger Entfernung von dem Wehrrücken vor-
genommen werden. Eine genauere Ermittelung der
Koefficienten giebt Bornemann in dem Civilingenieur
1870, S. 291 u. 375 und über alle sonstigen Einflüsse
bei unmittelbaren Wassermessungen mag auf Sonder werke
über Hydraulik ^) verwiesen werden.
YI« Die allgemeinen Eigenschaften der Gewässer.
Wird der Abfluß der atmosphärischen Niederschläge
nicht behindert, so setzt sich derselbe in Rinnen, Gräben,
Bächen , Flüssen und Strömen bis zum Meere hin fort.
Wird aber die natürliche Vorflut früher unterbrochen,
so entstehen Sümpfe, Teiche und Binnenseeen.
Sümpfe bilden sich dort, wo, neben Mangel an
Vorflut, das Grundwasser nahe unter der Erdoberfläche
steht und nur geringes Gefälle hat. Sie finden sich
daher ebensowohl im Hochlande bei undurchlässigem
Untergründe wie an Strommündungen und in Fluß-
*) Z. B. Meissner, Hydraulik u. s. w. Wex, Hydrodynamik.
Leipzig 1888.
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670 Gustav Becker.
niederungen infolge Ablagerung von Sinkstoffen. Ein-
gedeichte Niederungen gehen mit der nach und nach
sich vollziehenden Aufhöhung der Vorländer der Ver-
sumpfung entgegen, wenn sie nicht durch Schaffung
künstlicher Vorflut, das ist Anlage von Schöpfwerken,
davor bewahrt werden.
Kleinere, mit stehendem Wasser gefüllte Vertiefungen
der Erdoberfläche werden Teiche, größere Seeen ge-
nannt. Die Bezeiclmung von Binnen- und Landseeen
führen aber auch Gewässer, welche nicht allein Zufluß,
sondern auch Abfluß haben, also wie die zahlreichen
Seeen der Havel als Flußteile und Flußstrecken anzu-
sehen sind. Die Seeen erfahren durch Ablagerung eine,
wenn auch nur langsam fortschreitende, so doch nament-
lich bei geringem Abfluß wahrnehmbare Verflachung und
bedürfen erforderlichenfalls von Zeit zu Zeit der Räumung.
Neben den natürlichen sind künstliche, den verschiedensten
Zwecken dienende Teiche und Seen, welche durch den
Aufstau von Wasserläufen oder den Abschluß von Thälem
gebildet werden, recht häufig. Die Wassermenge dieser
Gewässer ist je nach der Art der Speisung eine mehr
oder weniger wechselnde und aus den über die Nieder-
schläge gemachten Mitteilungen zu erklären. Hierher
können auch die eigenartigen Bildungen d^er Haffe an
der Ostseeküste gerechnet werden. In dieselben münden
zahlreiche Binnengewässer, während die Verbindung mit
dem Meere nur durch je eine schmale Rinne, das Tief
genannt, vorhanden ist, im übrigen aber die Nehrung,
eine unfruchtbare Dünenkette, das Haff gegen das Meer
abschließt. Der Wasserstand dieser Haffe ist von den
Winden abhängig, welche den Strom ein- und ausgehend
wechseln machen und nicht selten einen erheblichen Auf-
stau in den Flußläufen und ein Eindringen von Seewasser
in dieselben bewirken.
Bei den fließenden Gewässern unterscheidet man das
von der Sohle und den ufern begrenzte Bett und den
Lauf, das Querprofil und das Längenprofil. Bett und
Lauf verdanken ihre Entstehung nicht allein der Ober-
flächengestaltung der Erde, sondern wesentlich der mecha-
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Gewässerkunde. 07 1
nischen Kraft des Wassers und der leichten Beweglichkeit
seiner Teile.
Nur in seltenen Fällen befindet sich das Bett natür-
lich oder durch künstliche Anlagen in solchem Zustande,
daß bei den wechselnden Wasserständen ein Versanden
oder eine Vertiefung der Sohle ganz vermieden wird.
Indem die lebendige Kraft des Wassers bald zu
gering ist zur Fortführung der Sinkstoffinassen und bald
größer als der Widerstand, welchen Sohle und Ufer
bieten können, findet vielmehr eine stete Veränderung
an dem Lauf und den Betten, besonders der nicht regu-
lierten Bäche und Flüsse, statt, die sich durch die schlän-
gelnde Bewegung des Wassers, das sog. Serpentinieren,
bemerkbar macht ^).
Die Sinkstoffe entstehen sowohl durch die V,er-
witterung und Zertrümmerung von Gestein, welches ab-
rollend in die Wasserläufe gelangt, als auch, und zwar
vorwiegend durch Abbruch der Ufer und Abschwemmungen
der Erdoberfläche, durch fließendes Wasser. Der Größe
nach werden die Sinkstoflfe in Geschiebe, Gerolle, Kies,
Sand und Schlick unterschieden, welche mit der Länge
des zurückgelegten Weges merkliche Formänderungen
und Verkleinerungen erfahren. Bewegt werden die Sink-
stoffe durch die lebendige Kraft des Wassers, welche
gleich dem Produkt aus der Masse und dem halben
Quadrat der Geschwindigkeit ist.
Die Größe der in einer Flußstrecke sich findenden
Sinkstoffe hängt also vorwiegend von der Geschwindig-
keit des W^assers und somit von dem Gefälle ab, wes-
halb die Sinkstoffe in dem Oberlaufe eines Flusses vor-
wiegend aus Kies und GeröUe und in dem Mittel- und
Unterlaufe mehr aus Sand und Schlick bestehen werden,
wenngleich auch sehr verschieden große Sinkstoffe in der-
selben Flußstrecke sich vorfinden können.
Die feinen Sinkstoffe bewegen sich schwebend und
schwimmend weiter, während dies bei Sand nur selten
^) Sternberg, Ueber Längen- und Querprofil geschiebe-
führender Flüsse. Zeitschrift für Bauwesen 1875.
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672 Gustav Becker,
der Fall ist, derselbe vielmehr ebenso wie Kies gleitend
und rollend auf der Sohle weiter gelangt, wobei sich
besonders bei nicht zu großen Geschwindigkeiten eine
große Regelmäßigkeit zeigt Der Sand bildet alsdann
auf der Sohle quer zum Stromlauf gerichtete kleine, dicht
aufeinanderfolgende Wälle mit stromauf gerichteter flacher
Böschung, auf welcher die Sandkörner zunächst gleitend
und in höherer Lage rollend den Kamm ersteigen, die
steile Böschung stromab herunterfallen, von den nach-
folgenden Körnern bedeckt werden, bis der ganze Wall
darüber hinweggegangen ist und nun die Wanderung auf
der flachen Böschung von neuem beginnen kann. Die
Schnelligkeit, mit welcher der Sand auf diese Weise sich
weiter bewegt, ist recht erheblich; bei etwa l,o m Wasser-
gescji windigkeit ist eine Fortführung von rund 10,o m
in 24 Stunden beobachtet worden.
Die größeren SinkstoflFe werden sich wohl in ähn-
licher Weise fortbewegen, doch läßt sich nur die That-
sache der Bewegung feststellen, ihre Art dagegen nicht
gut beobachten.
Die kleinsten Sammler der Niederschläge sind Rin-
nen, welche sich zu Gräben vereinigen, und wiederum
den Pichen zufließenden, welche ihrerseits gewöhnlich
noch durch Quellen und Grundwasser gespeist werden.
Quellbäche werden diejenigen genannt, welche jahrüber
gleichmäßig Wasser führen, während Regenbäche von
den Schwankungen der Niederschläge abhängen. Bei den
Gletscherbächen schwankt die Wassermenge nach der
Jahreszeit und ist im Winter wesentlich geringer als im
Sommer.
Unter den Flüssen, denen das W^asser oberirdisch
durch Rinnen, Gräben und Bäche zufließt, unterscheidet
man der Lage nach Küsten fltisse, welche unmittelbar
in die HaflPe oder das Meer münden, Niederungsflüsse,
welche nur im Flachlande liegen, und Ströme, welche
ein großes Gebiet umfassen und bei denen wegen unter-
scheidender Eigenschaften von Ober-, Mittel- und Unter-
lauf gesprochen wird.
Die Wasserversorgung der Gewässer ist bereits
Digitized by VjOOQ IC
Gewässerkunde.
673
in einem früheren Abschnitt behandelt worden, nachfol-
gend soll daher nur noch eine Zusammenstellung der
Niederschlagsgebiete der wichtigeren deutschen Ströme
mit einigen Nebenangaben Platz finden.
Größe
Länge des
Flußlaufes
Ge-
samt-
ge-
falle
Namen
des
in
Be-
des
Niederschlags-
gerader
Linie
im
Strom-
merkun-
Flusses
gebietes
von der
Quelle
strich
gen
in
bis zur
ge-
im
Deutsch-
Mün-
messen
ganzen
land
dung
qkm
gkm i
km
km
m
Memel . .
112000
3500
450
877
267
Pregel . .
15 000
15000
—
—
—
Weichsel .
198285
33326
530
1125
650
Oder. . .
119337
—
944
765»)
—
») Von Ra-
Warthe .
53250
34965
. — •
795
—
tibor bis
Elbe. . .
146500
95 234
—
1154
1400
Swine-
Havel .
24417
24417
90
353
—
münde.
Saale . .
23985
23985
—
442
—
Weser . .
48000
48000
250^^)
436
115
2) Vom Zu-
Rhein . .
224'400
132 590
700
1162
r.2:i00
sammen-
Neckar .
ia9()0
13 900
1(>4
370
617
fluß von
Main . .
27 800
27 800
260
590
810
Werraund
Lahn . .
5 870
5870
80
218
538
Fulda ab.
Ruhr . .
4470
4470
130
2:^
643
Lippe
4430
4430
167
255
123
Mosel .
28280
—
274
514
674
Im übrigen vergl. Statistik des Deutschon Reichs Bd. XV. 1876.
Das Verhältnis der Abfluümenge zur Nieder-
schlagsmenge läßt sich nur annähernd bestimmen und
schwankt naturgemäß in weiten Grenzen. Gräve^) giebt
für die größeren deutschen Ströme im Durchschnitt die
Abflußmenge zu 31,4 ®/o der Niederschlagsmenge an.
Nach anderen Angaben sollen die Abflußmengen für die
Elbe 28 >, ftlr die Weichsel 32 > betragen. Franzius »)
^) Grävo, Wasserreichtum der deutschen Ströme. Civil -
ingenieur Bd. 25. Heft 8.
^) Deutsches Bauhandbuch. 1. Aufl. Bd. 3. Baukunde den
Ingenieurs S. 60.
AnloUnaR zur deaUcben Lftodes- und VolksforacliuuK. 43
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674
Gustav Becker,
hat allgemein für die Abflußmengen deutscher Flüsse
nachfolgende Tabelle aufgestellt:
Deutsche Flüsse
führen in der Sek.
und von 1 qkm
Zuflußgebiet
Bei
kleinstem
Wasser
cbm
Bei
größtem
Wasser
cbm
Ver-
hältnis
beider
rund
Bemerkungen
nahe bei den
Quellen in ge-
birgiger Gegend
(nicht Gletscher)
0,002—0,004
0,SR-O,«0
1:150
Großer Nieder-
schlag , rascher
und voller Abfluß.
in bergiger oder
steiler hügeliger
Gegend. . . .
0,00«
0,18 — 0,28
1:90
Mäßiger Nieder-
schlag , rascher
Abfluß.
in nicht steiler
hügeliger Gegend
0,0018
0,12—0,18
1:75
Mäßiger Nieder-
schi ag,lang8amer
unvollkommener
Abfluß.
in flacher Gegend
0,001«
0,06—0,12
1:50
Kleiner Nieder-
schlag,lang8amer
unvollkommener
Abfluß.
in flacher, sandi-
ger oder moori-
ger Gegend . .
0,0012—0,0015
0.085-0,06
1:35
Kleiner Nieder-
schlag, geringer
Abfluß.
Eine umfangreichere Tabelle für die Abflußmengen
unter Berücksichtigung der Bodenbeschaflfenheit, Durch-
lässigkeit und Neigung des Niederschlagsgebietes giebt
Ingenieur Lauterburg ^) in Bern.
Der Wechsel der Wasserstände ist schon bei
den Pegelbeobachtungen behandelt und auf die Regel-
mäßigkeit mittlerer Wasserstände in den verschiedenen
Jahreszeiten hingevnesen worden. Die Ergebnisse dieser
Beobachtungen sind zur BevreisfÜhrung dafür benutzt
*) Reinhard, Kalender für Straßen-, Wasserbau- und Kultur-
Ingenieure. Wiesbaden 1889. S. 140.
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Gewässerkunde. 675
worden, daß durch Entwaldungen und damit zusammen-
hängende Umgestaltungen eine stetige Senkung der
Wasserstände und eine Wasserabnahme in den Flüssen
stattfindet ^). Von anderer Seite ^) ist diese Behauptung
widerlegt und ein vielseitiger lebhafter Meinungsaustausch
hervorgerufen worden, dessen Abschluß nicht so bald zu
erwarten ist, da die Wasserstandsbeobachtungen allein
zu Schlüssen nicht ausreichend erscheinen, über die
Aenderungen in dem Gefälle, der Höhenlage der Sohle
und der Breite des Flußbettes Beobachtungen nicht in
hinreichender Zahl vorliegen.
Die Wasser menge eines Flusses wechselt natur-
gemäß mit der Höhe des Wasserstandes und nimmt von
der Quelle zur Mündung stetig zu. Genauere Angaben
lassen sich daher nicht machen und nur für den Ver-
gleich mögen nachstehende Angaben gelten:
Nieder- Mittel- Hooh-
Wassermenge Wasseimenge Wassermenge
cbm cbm cbm
1. Memel (Tilsit) 89 608 4400
2. Oder (unterhalb der Wai-the-
mündung) 230 410 ö60
3. Elbe (Torgau) 90 330 1800
4. Rhein (oberhalb der Mosel). 910 1220 1750
Unter dem Gefälle eines Wasserlaufes versteht
man die Kurve, welche der Wasserspiegel in seiner
Längsrichtung bildet, und bezeichnet mit absolutem Ge-
fälle den Höhenunterschied zweier Punkte des Wasser-
spiegels und mit relativem Gefälle die Neigung des
Wasserspiegels auf beliebiger Strecke gegen eine Wage-
rechte. Im allgemeinen bildet der Wasserspiegel eine
nach unten gekrümmte Linie, welche sich nach der
Mündung hin mehr und mehr abflacht, deren Stetigkeit
aber vielfach unterbrochen wird.
Als Beispiel mögen die Gefällsverhältnisse des Rheins
aufgeführt werden:
*) Wex, Wasserabnahme in den Quellen, Flüssen und Strömen.
Wien 1873 u. 1879.
^ Hagen, Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissen-
schaften. Berlin 1880.
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67(3 Gustav Becker,
Gefälle von Basel bis Straßburg 1 : 1000 bis 1 : 1600
y, „ Straßburg bis Mannheim i. M. . 1 : 2840
, y, Mannheim bis Mainz .... 1:11200
, y, Mainz bis Bingen 1:7700
y, „ Bingen bis Koblenz zwischen . 1:780 und 1:2000
^ „ Koblenz bis zur holländischen
Grenze im Durchschnitt . . 1:5500 (4000-8600)
Der Weg, welchen das Wasser in der Zeiteinheit
zurücklegt, heißt seine Geschwindigkeit. Dieselbe wird
hervorgerufen durch das Gesetz der Schwere, welchem
die Wassermassen folgen und wonach die Bewegung eine
gleichmäßig beschleunigte sein müßte. Die Widerstände,
welche durch das Bett, die Sinkstoffe, die Zähflüssigkeit
der Wasserfäden und anderes entstehen, heben diese Be-
schleunigung aber teilweise oder ganz auf. In letzterem
Falle würde die Bewegung eine gleichförmige sein; es
findet eine solche jedoch meist nur auf kurzen Strecken
statt, da Verengerungen und Erweiterungen des Bettes,
Krümmungen des Laufes und jähe Aenderungen in der
Sohle einen steten Wechsel hervorrufen.
Die Geschwindigkeit der einzelneu Punkte eines
Wasserquerschnitts ist, wie bereits erwähnt, nicht überall
die gleiche, sondern in oder nahe an der Oberfläche am
größten und nimmt nach der Sohle und den Ufern hin
ab. Die größte Geschwindigkeit in jedem Querschnitt
pflegt in der Senkrechten, welche der größten Wasser-
tiefe entspricht, stattzufinden, weshalb die Linie, welche
den geometrischen Ort für die größten Geschwindigkeiten
in den einzelnen Querschnitten bezeichnet, Stromrinne,
Thalrinne, Fahrrinne genannt wird. Diese Linie hat
keine feste Lage, sondern ändert sich mit den Umwand-
lungen, welche an dem Flußbett vor sich gehen, und bei
hohen Wasserständen.
In der Abnahme der Geschwindigkeit der Wasser-
fädeu in einem Querschnitt läßt sich eine Gesetzmäßig-
keit finden, welche senkrechten Parabeln mit dem Scheitel
in oder nahe unter der Wasseroberfläche und wagerechten
Parabeln mit dem Scheitel in der Stromrinne entspricht,
doch läßt sich hieraus die thatsächliche Bewegung des
Wassers in einem Flußlauf nicht genügend erklären, es
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Gewässerkunde. (377
scheinen vieiraehr die Wasserfäden in ihrem Laufe eine
Aenderung ihrer Lage zu erfahren, wobei wahrscheinlich
der Wärmegrad derselben nicht ohne Einfluß ist.
Die Beziehungen, welche zwischen der Geschwindig-
keit des Wassers, dem Gefälle und der Beschaffenheit
und Gestalt des Bettes bisher aufgestellt worden sind,
sind in den an anderer Stelle erwähnten Geschwindigkeits-
formeln zum Ausdruck gelangt.
YII. Die Yerwaltuiig der Gewässer.
Eine einheitliche Verwaltung der Wasserläufe ist
im Deutschen Reiche nicht vorhanden. Art. 4 der Reichs-
verfassung bestimmt nur : Der Beaufsichtigung seitens des
Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegt dem
Flößerei- und Schiffahrt s betrieb auf den mehreren Staaten
gemeinsamen Wasserstraßen und der Zustand der letz-
teren, sowie die Fluß- und sonstigen Wasserzölle. Nicht
einmal in den einzelnen Bundesstaaten besteht bisher eine
einheitliche Verwaltung ganzer Flußstrecken. Es erscheint
aber dringend wünschenswert, daß von einer obersten
Stelle aus sämtliche die Wasserläufe betreffenden Ange-
legenheiten bearbeitet werden, daß ferner die Wasser-
verhältnisse desselben Niederschlagsgebietes einer Be-
zirksverwaltung unterstellt und eine so weitgehende
Einteilung in kleinere Wasserämter stattfindet, daß den
Vorstehern derselben die gründlichste Kenntnis aller
örtlichen Verhältnisse möglich wird. Daneben ist eine
Landesanstalt notwendig, welche die wissenschaftliche
Erforschung der Gewässer anregt und unterstützt und
die von den technischen Verwaltungen ausgeführten
Beobachtungen sammelt, sichtet und für einen sach-
gemäßen Ausbau der Wasserstrassen und eine zweck-
mäßige Nutzung der Wasserkräfte verwertbar macht.
Es soll aber nicht verkannt werden, daß ein Uebergang
in neue Einrichtungen vielfache Schwierigkeiten bietet
und von sorgfältigen Vorbereitungen abhängig ist. Allein
Baden besitzt bisher ein derartiges „Zentralbureau für
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678 Gustav Becker,
Meteorologie und Hydrographie**, dem bereits wertvolle
Arbeiten *) zu verdanken sind. In Bayern sind Regen-
und Gewittermeldestationen eingerichtet und Messungen
der Schneehöhen auf den Bergen angeordnet. In Preufien
ist eine umfassende Neugestaltung des meteorologischen
Instituts, welches dem Eultusmimsterium untergestellt
ist, in der Durchführung begriffen. Dasselbe soll sich
neben dem Zentralinstitut und dem meteorologischen In-
stitut in Potsdam auf zwei Stationen erster Ordnung im
Osten und Westen Preulaens und auf rund 2000 Regen-
beobachtungsstationen erstrecken. Auch die Einrichtung
hydrographischer Aemter ist angebahnt und die den
Oberpräsidenten unterstellten Meliorationsbaubeamten sind
mit der Aufnahme und Sammlung der die Wasserläufe
betreffenden Verhältnisse betraut. Diese Arbeiten sind
aber noch zu wenig vorgeschritten, um einem hydro-
graphischen Hauptamt zur Verwertung überwiesen werden
zu können.
Die Verwaltung der Wasserläufe und aller Wasser-
verhältnisse ist bisher fast in keinem Staate Deutschlands
einheitlich geordnet. In Preußen gehören die öffentlichen
Gewässer zu der dritten Abteilung des Ministeriums der
öffentlichen Arbeiten, während das Deich wesen und die
die Landeskultur betreffenden Wasseranlagen dem Mini-
sterium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten unter-
stellt sind.
Dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten sind für
die größten Ströme die Strombauverwaltungen der Weich-
sel, der Oder, von der österreichischen Landesgrenze bis
Schwedt, der Elbe, von der sächsischen Grenze bis zur
Mündung der Seeve und des Rheins unterstellt. Die Vor-
steher dieser Verwaltungen sind die Oberpräsidenten von
Westpreußen, Schlesien, Sachsen und der Rheinprovinz,
denen als Techniker die Strombaudirektoren zur Seite
stehen und eine entsprechende Anzahl Wasserbauinspek-
toren und Regierungsbaumeister untergeordnet sind. Im
*) Beiträge zur Hydrographie des Großherzogtums Baden.
Karlsruhe.
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Gewässerkunde. 679
übrigen sind die Wasserläufe den Provinzialregierungen
überwiesen und werden im einzelnen die Diensfcgeschäfte
von Wasserbauinspektoren wahrgenommen ^). Das land-
wirtschaftliche Ministerium läßt die kulturtechnischen An-
gelegenheiten durch die den Oberpräsidenten unterge-
ordneten Meliorationsbaubeamten bearbeiten.
Die Wassergesetzgebung.
Die Wassergesetzgebung*) ist weder im Deutschen
Reiche noch in den Einzelstaaten einheitlich geregelt,
sondern setzt sich aus einer größeren Anzahl von Ge-
setzen und Verordnungen zusammen. Es kann daher
selbst in großen Zügen ^) hier nicht darauf eingegangen
werden, dagegen sollen wenigstens die wichtigsten Ge-
setze angeführt werden:
Allgem. Landr. Teü I, Tit. 8, §§ 96-117, Tit. 9,
§§ 170-192, §§ 223-274;
Allgem. Landr. Teil II, Tit. 15, Abschn. 2, §§ 38—87,
Absch. 5, §§ 229-246;
Vorflut-Edikt vom 15. November 1811;
Gesetz vom 14. Juni 1859 wegen Verschaffung der
Vorflut in den Bezirken des Appellationsgerichts-
hofs zu Köln und des Justizsenats zu Ehrenbreit-
stein, sowie in den hohenzoUemschen Landen;
Vorflutgesetz für Neu- Vorpommern und Rügen vom
9. Februar 1867;
Gesetz über die Benutzung der Privatflüsse vom 28. Fe-
bruar 1843;
Gesetz über das Deichwesen vom 28. Februar 1848;
Fischereigesetz vom 30. Mai 1874;
') Schulz, Der Verwaltungsdienst der königl. preußischen
Kreis- und Wasserbau-Inspektoren. Berlin 1886.
*) Nieberding, Wasserrecht und Wasserpolizei in Preußen.
Breslau 1866. 2. Aufl. bearbeitet von F. Frank 1889.
') Vergl. Graf Hue deGrais, Handbuch der Verfassung und
Verwaltung in Preußen. Berlin 1884. S. 403 u. 457.
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680 Gustav Becker.
Gesetz, betreffend die Befugnisse der tStrombauverwal-
tungen in Preußen gegenüber den öferbesitzern an
öffentlichen Flüssen vom 20. .August 1883;
Aus dem Gesetz über die Zuständigkeit der Verwal-
waltungsbehörden vom 1. August 1883:
Tit. XII: Wasserpolizei, Tit. XIII: Deichangelegen -
heiten,
Tit. XIV: Fischereipolizei;
Die bayrischen Wassergesetze vom 28. Mai 1852.
Litteratur.
Außer den bereits in Fußnoten angeführten Werken
und Schriften mögen noch besonders hervorgehoben werden :
Beschreibung der preußischen Ströme in der Zeitechrift för Bau-
wesen (Berlin) und zwar
die Memel Jahrgang 1861,
der Pregel , 1870,
die Weichsel „ 1862,
die Oder , 1864,
die Klbe , 1859,
die Weser , 1857,
der Rhein ^ 1856.
l 'ober Hoch wiifiser und EisveihiUtnisse linden sich eine Anzahl Auf-
sätze in dem Zentralblatt der Bauverwaltung. Berlin. Jahrgang
1881—88.
Denkschrift über die Ströme Memel, Weichsel, Oder, Elbe, Weser
und Rhein. Bearbeitet im Auftrage des Herrn Ministers der
öffentl. Arbeiten. Berlin 1888.
Handbuch der Ingenieurwissenschaften. Band 3: Der Wasserbau.
2. Aufl. 188:1 Leipzig.
Deutsches Bauhandbuch. Band 3: Baukunde des Ingenieurs. Ber-
lin 1879.
Handbuch der Baukunde. Band 1: Hilfswissenschaften. Berlin 1885.
' ' OF THT ^
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THI8 BOOK 18 DtTE OK THE LAST DATE
8TAMPED BELOW
AN INITIAL FINE OF 26 CENTS
WILL BE A88E88E30 FOR FAILURE TO RETURN
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