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Full text of "Anleitung zur deutschen landes- und volksforschung"

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ANLEITUNG 

ZUR  DEUTSCHEN 


BEARBKITET  VON 

A.  Penck,  G.  Becker,  M.  Eschenhagen«  R.  Assmann, 

O.  Drude,  W,  Marshall,  0.  Zacharias,  J.  Ranke,  F.  Kanffmann, 

ü.  Jahn,  A.  Meitzen,  W.  Götz. 


X  33C1    .i^  la.  £ -t  2?  a.  g  e 

der  Gentralkommission  fär  wissenschaftliche  Landeskunde  Yon 
Deutschland 

lierausge  gehen  von 

ALFRED   KIRCHHOPF. 


Mit  einei'  KaHe  und  58  Abbildungen  im  Text. 


STUTTGART. 

VERLAG  VON   J.   ENGELHORN. 
1889. 


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Das  Recht  der  Uehersetzüng  in  fremde  Sprachen  wird  vorbehalten^ 


Druck  von  (tebnider  Kröner  in  Stuttgart. 


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Vorwort. 


Das  vorliegende  Werk  gehört  in  den  Kreis  derjenigen 
Unternehmungen,  durch  welche  die  vom  Deutschen  Geo- 
graphentage eingesetzte  Kommission  für  wissenschaft- 
liche Landeskunde  von  Deutschland  die  Forschung  über 
deutsches  Land  und  Volk  von  neuem  anzuregen,  sie 
nach  Maßgabe  des  derzeitigen  Standes  der  Wissenschaft 
systematisch  zu  gestalten,  ihr  neue  Mitarbeiter  zu  er- 
werben sucht. 

Wer  auf  irgend  einem  Forschungsgebiete  mit  Erfolg 
thätig  sein  will,  muß  wissen,  auf  welche  Fragen  er  eine 
Antwort  suchen  soll,  welche  Mittel  am  besten  zu  diesem 
Ziele  führen,  und  inwieweit  er  bei  seiner  Arbeit  an  be- 
reits vorliegende  Ergebnisse  von  Vorgängern  anschließen 
kann. 

Neumayers  ausgezeichnete  „Anleitung  zu  wissen- 
schaftlichen Beobachtungen  auf  Reisen*  beweist  durch 
die  nach  verhältnismäßig  kurzer  Frist  nötig  gewordene 
zweite  Auflage,  wie  sehr  ein  solcher  Nachweis  leitender 
Gesichtspunkte   und  zweckmäßiger  Methoden   gerade  auf 


1  T'll  7  4  f  Digitized  by  GoOglC 


IV  Vorwort. 

naturwissenschaftlichem,  erd-  und  völkerkundlichem  Ge- 
biete einem  Bedürfnis  unserer  Zeit  entgegenkommt;  ähn- 
lich Kaltbrunners  „Beobachter**  in  seiner  volkstüm- 
licheren, auf  ,.Land  und  Leute ''  sich  beschränkenden 
Fassung  und  bezüglich  der  geologisch  -  geographischen 
Forschung  von  Richthofens  kla>sischer  „Führer  für 
Forschungsreisende ". 

Neben  diesen,  die  ganze  Erde  ins  Auge  fassenden 
Werken  fehlte  es  jedoch  bisher  au  einer  derartigen  An- 
leitung zur  Lösung  landes-  und  volkskundlicher  Aufgaben, 
wie  sie  gemäß  seiner  Eigenart  unser  Vaterland  im  be- 
sonderen stellt.  Diese  Lücke  auszufüllen  sollte  hiermit 
versucht  werden.  Allen  Mitarbeitern  an  dieser  neuen 
., Anleitung"  wird  man  die  Anerkennung  zollen  müssen, 
dal3  sie  mit  voller  Beherrschung  des  von  ihnen  dabei 
vertretenen  Faches  wissenschaftliche  Gründlichkeit  ver- 
knüpft haben  mit  einer  für  jeden  Gebildeten  verständ- 
lichen Form;  denn  es  galt  uns,  jeden  Vaterlandsfreund, 
nicht  bloß  den  auf  seinem  besonderen  Arbeitsfelde  hei- 
mischen Gelehrten  dadurch  zu  wirksamer  Anteilschaft  an 
dem  Ausbau  deutscher  Landes-  und  Volkskunde  zu  ge- 
winnen, claß  ihm  gezeigt  werde,  wieviel  hier  trotz  aller 
schon  geleisteten  Arbeit  noch  zu  thun  übrig  ist,  und  auf 
welchem  Wege  treuer  Sammlerfleiß,  sorgfältige  Beob- 
achtung jedes  einzelnen  auch  im  entlegensten  Winkel 
von  Deutschland  brauchbare  Bausteine  liefern  könne  zur 
immer  vollkommeneren  Erkenntnis  deutscher  Landes-  und 
Volksart. 


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Vorwort.  V 

Für  unseren  hochgebirgigen  Süden  besitzen  wir  schon 
seit  Jahren  die  schöne  „Anleitung  zu  wissenschaftlichen 
Beobachtungen  auf  Alpenreisen**.  Dieser  günstige  Um- 
stand gestattete  uns  von  einer  Berücksichtigung  der  Alpen- 
kunde im  einzelnen  hier  abzusehen,  während  sonst  der 
Begriff  „Deutschland"  nicht  im  engeren  staatlichen  Um- 
fange von  dieser  „Anleitung"  verstanden  wird.  In  einer 
Beziehung  müssen  wir  sogar  auf  das  eben  genannte  Werk 
zur  Ausfüllung  einer  Lücke  verweisen.  Die  anfangs  be- 
absichtigte Zufügung  eines  Abschnittes  über  prähistorische 
Forschung  konnte  nämlich  in  der  hier  dargeboteneu  An- 
leitung aus  äußeren  Gründen  nicht  erfolgen,  gerade  dieser 
Gegenstand  aber  findet  sich  in  jener  alpinen  Anleitung 
so  eingehend  und  in  einer  so  wesentlich  die  Anwendung 
auch  auf  das  außeralpine  Deutschland  gestattenden  Weise 
von  Johannes  Ranke  behandelt,  daß  die  hier  gelassene 
Lücke  minder  fühlbar  erscheint.  Außerdem  hilft  zu  ihrer 
Ausfüllung  das  seitens  des  preußischen  Unterrichtsmini- 
steriums herausgegebene  kleine  „Merkbuch,  Altertümer 
aufzugraben  und  aufzubewahren"   (Berlin   1888). 

Daß  der  Abschnitt  über  die  Gewässerkunde  nicht  an 
der  ihm  inhaltlich  gebührenden  zweiten  Stelle,  sondern 
am  Schlüsse  des  Ganzen  abgedruckt  wurde,  wolle  man 
mit  der  unvermeidlich  gewesenen  erst  späteren  Einliefe- 
rung  der  betreflfenden  Niederschrift  entschuldigen. 

Sollte  die  hiermit  der  Oeffentlichkeit  übergebene  An- 
leitung das  Glück  haben,  ihrer  Bestimmung  gerecht  zu 
werden,  so  dürfte  man  nicht  vergessen,  daß  das  Verdienst, 


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VI  Vorwort. 

sie  ins  Leben  gerufen  zu  haben,  dem  früheren  Vorsitzen- 
den unserer  landeskundlichen  Centralkomniission  zusteht, 
Herrn  Professor  Richard  Lehmann  in  Münster. 

Halle,  im  März  1889. 

Der  Herausgeber. 


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Inhalt 


Seite 

I.  Oberflächenbau.     Von  Professor  Dr.  Albrecht  Penck  .  1 

I.Beobachtungen  zur  Fixierung  der  Ober- 
flächengestaltung       3 

1.  Geographische  Ortsbestimmung  und  Kartierung  3 

2.  Höhenbestimmung 6 

3.  Tiefenmessung 13 

4.  Aufnahme  von  Höhlen 17 

II.  Beobachtungen  über  Veränderungen  der 

Landoberfläche 19 

1.  Beobachtungen  an  Küsten 20 

2.  Beobachtungen  an  den  Flüssen 28 

3.  Beobachtungen  über  Seeen 32 

4.  Beobachtungen   Über  Veränderungen  der   Ober- 
fiächengestalt 36 

a)  Massentransporte  durch  den  Wind  ....  37 

b)  Verwaschungen  durch  den  Regen    ....  40 

c)  Bergstürze,  Erdrutsche  und  Erdfälle    ...  41 

d)  Allmähliche  Höhenänderungen 43 

e)  Erdbeben 47 

HI.  Beobachtungen  über  die  Entstehung  der 

Landoberfläche «...  52 

1.  Allgemeinste  Beobachtungen  über   den  Bau  der 
Landoberfiäche 62 

2.  Beobachtungen  über  die  ehemalige  Vergletsche- 
rung des  Landes 57 

3.  Beobachtungen  über  Thalbildung 62 

II.  Gewäeeerkunde.     Von  Reg.-Baumeistcr  Gustav  Becker  629 

I.  Einleitung 631 

II.  Wasserversorgung  der  Gewässer 635 

1.  Niederschläge  im  allgemeinen 635 

2.  Mes-sung  der  Niederschläge 638 

3.  Verdunstung  und  Versickerung  der  Niederschläge  642 

4.  Abfluß  der  Niederschläge 643 


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VIII  Inhalt. 

Seite 

III.  Wasserstandsbeobachtungen 647 

IV.  Geschwindigkeit  des  Wassers 65JJ 

V.  Die  Wassermenge 661 

1.  Ermittelungen  aus  Geschwindigkeitemessungen  .  661 

2.  Ermittelung  durch  Rechnung 663^ 

3.  Ermittelung  durch  unmittelbare  Messung  .     .     .  667 
VI.  Die  allgemeinenEigenschaften  der  Gewässer  669 

VII.  Die  Verwaltung  der  Gewässer 677 

Die  Wassergesetzgebung 679 

Litteratur 680 

III.  Erdmagnetismus.    Von  Dr.  MaxEschenhagen     .     .    .  67 

I.  Allgemeines,  Grundbegriffe 69 

II.  Oertliche   und    zeitliche  Verschiedenheiten 

des  Erdmagnetismus 75 

III.  Allgemeine  Beobachtungsvorschriften      .     .  84 

IV.  Beobachtungsmethoden 89 

Deklination 89 

1.  Beobachtung  des  Polstems 92 

2.  Beobachtung  der  Sonne 95 

3.  Beobachtung  terrestrischer  Gegenstände      .     .  98 

Horizontalintensität 100 

Inklination 107 

V.  Instrumente 110 

1.  Der  Azimutalkonipaß llO 

2.  Der  Lamontsche  magnetische  Reisetheodolit .     .  118 
VI.  Verwertung  der  Beobachtungen 126 

IV^  Klima.     Von  Dr.  Richard  Assmann 129 

Einleitung 131 

I.  Temperatur 135 

1.  Strahl  ungstemperatur .135 

2.  Lufttemperatur 143 

3.  Bodentemperatur 156 

4.  Temperatur  des  Wassers 159 

II.  Luftdruck 162 

III.  Wind 165 

IV.  Wasserdampfgehalt  der  Luft 174 

V.  Hjdrometeore 177 

VI.  Außergewöhnliche  Vojkommnisse      ....  187 
V.  Pflanzenverbreltung.     Von  Professor  Dr.  Oscar  Drude  .  197 

Einleitung 199 


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Inhalt.  IX 

Seite 

Die  Gliederung  der  deutschen  Flora     ....  205 

Gaueinteilung  der  deutschen  Flora 212 

Die  Forschungsrichtungen 221 

1.  Geschichte  der  Flora 221 

Torfmoore 222 

2.  Pflanzenvorkommen 225 

3.  Pflanzeuleben 236 

Litteratur  als  Hilfsmittel  zu  Studien  in   der 

deutschen  Flora 239 

A.  Einige  kurze  Bestimmungsanleitungen  und  die 
durch  Abbildungen  erläuterten  fundamentalen 
Quellenwerke  über  das  ganze  Gebiet,  mit  Be- 
merkungen über  ihren  Umfang  und  Inhalt   .     .  239 

Sporenpflanzen 239 

Blütenpflanzen 240 

B.  Auswahl  aus  der  zu  den  einzelnen  Gauen  ge- 
hörigen floristischen  Litteratur 243 

1.  Die  Gaue  der  norddeutschen  Niederung  243 
II.  Hercynisches  Bergland  und  Niederrheingau. 

Belgien 24C 

III.  Die  karpathischen  und  süddeutschen  Gaue 

bis  zu  den  Alpen 249 

VI.  Tierverbreitung.   Von  Professor  Dr.  William  Mars  hall  253 

Einleitung 255 

Gaueinteilung  der  deutschen  Fauna 255 

Entstehung  der  Fauna 258 

Bestandteile 265 

Säugetiere 266 

Vögel 2()8 

Reptilien 272 

Amphibien 272 

Fische 273 

Mollusken 275 

Insekten 278 

Schmetterlinge  279 

Käfer 283 

Hymenopteren 286 

Fliegen 287 

Orthopteren 287 

Pseudoneuroptcren 288 

Neuropteren 288 

Hemipteren 289 

Myriopoden 290 

Arachnoiden 290 

Krustentiere     . 291 


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X  Inhalt. 

Seite 

Würmer 29*2 

Coelenteraten 294 

Protozoen 295 

Schlußwort 295 

Litteratur 29 

VII.  Ueber  das  Einsammeln  von  zoologischem  Material  in  Flüssen 

und  Seeen.    Von  Dr.  Otto  Zacharias 299 

I.  Allgemeines  über  das  Tierleben  in  größeren 

Wasserbecken :305 

11.  Die  Fauna  des  üferwassers 307 

1.  Litterarische  Hilfsmittel   zur  Speziesbestimmung  ;U0 

2.  Fangapparate  (Handnetz  aus  Seidengaze  etc.)     .  311 

III.  Die  pelagische  Süßwasserfauna 313 

1.  Erbeutung  derselben  mittelst  des  Schwebnetzes  314 

2.  Aufzählung  ihrer  Hauptvertreter 315 

IV.  Fauna  der  Tiefenregion 320 

Das  Arbeiten  mit  dem  Schleppnetz 322 

V.  Zoologische  Stationen 325 

VI.  Konservierungsmethoden 320 

VIII.  Somatlsch-anthropologische  Beobachtungen.  Von  Professor 

Dr.  Johannes  Ranke 329 

I.  Anthropologische  Besichtigungen     ....  331 

1.  Die  Farbe  der  Haut,  der  Haare  und  der  Augen  332 

2.  Die  Form   der  Haare  und   die  Stärke  der   Be- 
haarung    340 

3.  Augenfarben,  Augenformen  und  Augenstellung  .  341 

4.  Die  Nasenformen  und  Gesichtsprofilierung     .     .  344 

5.  Die  Bildung  der  Mundteile 347 

6.  Bildung  der  Ohrmuschel 352 

7.  Die  Bildung  der  Hände  und  Füße 354 

IL  Anthropologische  Messungen 358 

1.  Die  Körpergröße 35^* 

2.  Die  Körperproportionen 367 

3.  Die  Kopfniessung  an  Lebenden 371 

a)  Der  Himschädel 371 

b)  Der  Gesichtsschädel 377 

IX.  Dialektforschung.     Von  Dr.  Friedrich  Kau  ff  mann      .  381 

A.  Einleitung 3S3 

B.  Grundbegriflfe 384 

I.  Konstitutive  Faktoren  der  Sprechthätigkeit  380 

IL  Mundart  und  Schriftdeutsch 388 

C.  Materialsammlung  und  Orthogiaphie    ....  390 


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Inhalt.  XI 

Seite 

I.  Phonetische  Analyse  der  Mundart     ....  396 

1.  Die  Druckverhällnißsc  der  Exspiration  ....  1^98 

2.  Quantität 898 

8.  Die  Tonbewegung  der  Stimme 400 

4.  Die  Einzellaute 401 

a)  Die  Artikulationen  der  Vokale 402 

b)  Die  Artikulationen  der  Konsonanten   .     .     .  404 

5.  Ein-  und  Absatz  der  Laute 407 

a)  Bei  den  Vokalen 408 

b)  Bei  den  Konsonanten 408 

6.  Die  Silbenbildung 409 

II.  Grammatikalische  Statistik 410 

1.  Lautlehre 411 

2.  Flexionslehre 412 

8.  Wortbildungslehre 412 

4.  Syntax 413 

5.  Textproben '. 414 

III.  Die  historisch  entwickelte  Forschung  .     .     .  415 

IV.  Die  zusammenfassende  Darstellung  ....  421 
V.  Litteratur 424 

Allgemeines 424 

Oberdeutschland 424 

A.  Bayrisch- österreichische  Mundarten     .     .     .  424 

B.  Alemannische  Mundarten 425 

Mitteldeutschland 427 

A.  Die  Stammlande 427 

B.  Das  mitteldeutsche  Kolonisationsgebiet  .     .  428 
Niederdeutschland 429 

A.  Die  Stammlande 429 

B.  Der  kolonisierte  Osten 481 

Niederlande  und  Belgien 481 

X.  VoliiBtOiniiches  in  Glaube  und  Brauch,  Sage  und  Märchen. 

Von  Dr.  Ulrich  Jahn 488 

A.  Definition,  Verwertung  und  Sammlung  dos  Volkstüm- 
lichen       485 

I.  Definition  des  Volkstümlichen 485 

1.  Volksglaube  (Aberglaube) 485 

2.  Sage 485 

a)  Mythus 485 

b)  Legende 48(; 

c)  Historische  Sage 48(3 

d)  Lokal-  und  Namensagc 487 

8.  Brauch,  Sitte,  Gewohnheit 48^ 

4.  Märchen  und  Lied 48H 

II.  Verwertung  des  Volkstümlichen 480 


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XII  Inhalt. 

Seite 

III.  Sammlung  des  Volkstümlichen 439 

1.  Objektivität  des  Sammlers 439 

2.  Historisches 440 

3.  Fragebogen 441 

4.  Kenntnis  der  Litteratur  des  Volkstümlichen  .     .  442 

5.  Sammlungsmethoden 442 

(j.  Verkehr  mit  dem  Volke 443 

7.  Anlage  der  Sammlung 44'i 

8.  Ethnologisch-mythologische  Uebersichtskarten    .  445 

9.  Ueber  die  Litteratur  des  Volkstümlichen   .     .     .  445 

B.  Litteratur  des  Volsktümlicheii 447 

I.  Allgemein  deutsche  Sammlungen 447 

1.  Sagen 447 

2.  Märchen 447 

3.  Sagen  und  Märchen 447 

4.  Volksglaube,  Brauch  und  Sitte 448 

5.  Zeitschriften 448 

II.  Norddeutschland 449 

1.  Allgemeines 449 

2.  Niederlande  (Holland  und  Belgien) 449 

3.  Luxemburg 450 

4.  Rheinlande 450 

5.  Westfalen,  Niedersachsen 451 

6.  Oldenburg,  Ostfriesland 454 

7.  Schleswig,  Holstein,  Lauenburg 455 

8.  Lübeck 455 

9.  Altmark,  Magdeburger  Land,  Provinz  Branden- 
burg      455 

10.  Mecklenburg 450 

11.  Pommern  und  Rügen 457 

12.  West-  und  Ostpreußen 458 

13.  Russische  Ostseeprovinzen 400 

III.  Mitteldeutschland 400 

1.  Rheinpfalz 400 

2.  Hessen 460 

3.  Waldeck 402 

4.  Franken 402 

5.  Thüringen  und  Sachsen 403 

I).  Lausitz 400 

7.  Schlesien  (Preuß.  und  Oesterr.) 407 

8.  Posen 407 

IV.  Süddeutschland 407 

1.  Elsaß-Lothringen 407 

2.  Baden 408 

3.  Hohenzollern 409 

4.  Schwaben 409 


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Inhalt.  XIII 

Seite 

5.  Ober    und  Niederbayern 470 

iS.  Oberpfalz     ..." 470 

7.  Königreich  Bayern 470 

8.  Böhmen  und  Mähren 471 

9.  Ungarn 472 

10.  Siebenbürgen 472 

V.  Alpenländer 473 

1.  Allgemeines 47:J 

2.  Schweiz 474 

8.  Vorarlberg 47«> 

4.  Tirol 47«{ 

0.  Salzburg 477 

♦».  Kärnten 478 

7.  Steiermark 478 

8.  Oberösterreich 479 

9.  Niederösterroich 479 

10.  Kaiserreich  Oesterrelch 480 

XI.  Beobachtungen  über  Besiedelung,  Hausbau  und  landwirt- 
schaftliche Kultur.  Von  Geh.  Regierungsrat  Professor  Br. 
August  Meitzen 481 

I.  Zur  Kunde  von  Stadt  und  Land 48:> 

1.  Allgemeine  Gesichtspunkte 483 

2.  Verfahren  und  Hilfsmittel  in  Städten    ....  487 
:^.  Verfahren  und  Hilfsmittel  auf  dem  Lande     .     .  489 

II.  Charakter  der  Ansiedelungen  und  des  Agrar- 
wesens  in  den  verschiedenen  Landschaften 

Deutschlands 494 

1.  Die  altgermanisclien  Vorgebiete 494 

2.  Die  keltische  Besiedelung  in  Deut.schland  .     .     .  502 

3.  Römische  Siedelungen  in  Deutschland   .     .     .     .  510 

4.  Slawische  Siedelungen  in  Deutschland  ....  511 

5.  Siedelung    und    Agrarwesen    in    Süddeutschland 

und  am  Mittel rhein 515 

<».  Die  deutsche  Kolonisation  des  slawischen  Ostens  525 

7.  Behandlung  des  Beweismaterials 537 

III.  Ermittelungen  zur  Landeskunde  innerhalb 

der  einzelnen  ländlichen  Ortschaft  ....  540 

1.  Geschichtliche  Grundlagen  und  praktische  Zwecke  540 

2.  Beobachtungen  an  Kirchen 542 

'X  Ermittelungen  über  das  bäuerliche  Haus  .     .     .  550 

4.  Beobachtungen  über  Tracht  und  Hausrat  .     .     .  5()7 

5.  Einsicht  in  den  Wirtschaftsbetrieb  und  Anregung 

zu  Verbesseningen 509 

XII.  Wirtschaftsgeographie.    Von  Dr.  Wilhelm  Götz.    .    .  573 

Einleitung 575 


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XIV  Inhalt. 

Seite 

L  Süddeutschland '  578 

1.  Die  Grenze 578 

2.  Die  Bodengestalt 580 

8.  Die   geognostische  Bildung   der  sichtbaren  Erd- 
rinde    582 

4.  Die  Bodennatur 585 

5.  Atmosphärische  Einflüsse 588 

(3.  Die  Produktion 590 

a)  Die  Urproduktion 591 

b)  Die  Naturproduktion 594 

a)  Forstliche  Produktion 594 

?)  Viehzucht 595 

Y)  Bodenanbau 596 

5)  Landwirtschaftliche  Industrie  ....  597 

c)  Industrie 697 

7.  Handel 000 

a)  Städte  .     .     .     r 600 

b)  Verkehrswege 601 

II.  Rheinlande 602 

1.  Grenze 602 

2.  Bodengestalt 602 

3.  Geognostische  Bildung 608 

4.  Produktion 608 

a)  Die  Urproduktion 608 

b)  Die  Bodenproduktion 605 

c)  Industrie 607 

5.  Klimatische  Verhältnisse 606 

().  Verkehrszentren  und  -wege 607 

7.  Verkehrswege  und  -mittel 607 

III.  Mitteldeutschland 608 

1.  Grenze 608 

2.  Bodengestalt 609 

8.  Geognostische  Bildung 609 

4.  Bodennatur ^  610 

5.  Klimatische  Verhältnisse 611 

6.  Produktion 612 

a)  Urproduktion 612 

b)  Naturproduktion 618 

c)  Industrie 614 

7.  Sammelplätze  und  Verkehrswege 615 

IV.  Schlesien 616 

1.  Grenze 616 

2.  Bodengestalt 616 

8.  Geognostische  Bildung 617 

4.  Urproduktion 617 

5.  Klima 617 

6.  Produktion 618 

7.  Hauptplätze  und  Verkehr 618 


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Inhalt.  XV 

Seite 

V.  Nordostdeutschland 618 

1.  Grenze 619 

2.  Bodengestalt 619 

3.  Klima >. 620 

4.  Bodennatur 620 

5.  Produktion 622 

a)  Naturproduktion    .     ; 622 

b)  Gewerbliche  Produktion 622 

6.  Sammelplätze  und  Verkehi-swege 628 

Yl.  Nordwestdeutschland 624 

1.  Grenze 624 

2.  Bodengestalt 624 

3.  Geognostischo  Bildung 624 

4.  Klima 625 

5.  Naturproduktion 625 

6.  Verkehrsplätze  und  -wege 626 

Schlußwort 627 


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Berichtigungen. 

S.  87,   Z.  10   von   oben  ist  hinter   „tränkt**    einzufügen:    ,zu 
geschehen  hat*. 

S.  96,  Z.  21  von  oben  ist  statt  „frühere"  zu  lesen:  , spätere". 

Auf  S.  275  in  der  Tabelle  muß  es  so  heißen: 


im  Südostgau 
im  Nordostgau    . 
im  Nordwestgau . 


3 

1 

2ö 

1 

2 

38 
3 


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Oberflächenbau. 

Von 

Dr.  Albrecht  Penck, 

Professor  an  der  Universität  in  Wien. 


Anleitang  zar  deutochea  Landes-  und  Volksforschung. 


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I.    Beobachtangen   zur  Fixierung   der  Oberflächen- 
gestaltnng. 

1.  Oeographisolie  Ortsbestimmung  und  Eartierung. 

In  einem  Lande,  welches  wie  Mitteleuropa  seit  meh- 
reren Jahrhunderten  nach  allen  Richtungen  hin  geogra- 
phisch erforscht  ist,  giebt  es  über  die  Oberflächengestal- 
tung keine  Entdeckungen  von  großer  Tragweite  mehr  zu 
machen.  In  dieser  wie  in  anderer  Beziehung  sind  hier 
die  gegenwärtigen  Forscher  auf  eine  mehr  oder  weniger 
mühsame  Nachlese  angewiesen,  welche  ihnen  frühere 
Untersuchungen  gelassen  haben,  und  daraus  erwächst  fUr 
einen  jeden,  welcher  nunmehr  sein  Scherflein  zum  wei- 
teren Ausbau  unserer  Kenntnis  des  Landes  beitragen  will, 
zunächst  die  Aufgabe,  sich  über  die  bisherigen  Leistungen 
zu  unterrichten.  Der  bei  weitem  größte  Teil  der  be- 
reits gewonnenen  Ergebnisse  betreffs  des  Reliefs  des 
Landes  ist  in  Kartenwerken  niedergelegt,  an  welchen 
drei  Jahrhunderte  gearbeitet  haben.  Zunächst  haben 
Private  mit  Vermessungen  begonnen,  dann  wurden  na- 
mentlich im  Süden  schon  im  17.  Jahrhunderte  einzelne 
Personen  mit  Landesaufnahmen  beauftragt,  und  schließ- 
lich wurden  seit  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  nahezu 
allenthalben  staatlich  organisierte  Mappierungen  ins  Leben 
gerufen,  welche  einerseits  Karten  für  militärische  Zwecke, 
andererseits  Katastralvermessungen  zu  liefern  hatten.  Zahl- 
reiche geographische  Ortsbestimmungen  sind  zu  dem  Ende 
allenthalben  in  Mitteleuropa  ausgeführt  worden,  Triangu- 
lationen sind  netzförmig  über  das  Land  gebreitet,  und  es 


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4  Albrecht  Penck, 

giebt  wohl  kaum  noch  eine  Gemeindeflur,  welche  nicht 
an  diese  großen  Vermessungen  angeschlossen  wäre.  Der 
wichtigste  Teil  der  geographischen  Untersuchung,  die 
Ortsbestimmung,  kann  in  Mitteleuropa  im  wesentlichen 
als  vollendet  gelten;  das  Ziel,  welches  im  vorigen  Jahr- 
hunderte geographische  Gesellschaften  ins  Leben  rief,  ist 
erreicht. 

Nur  möge  man  deshalb  nicht  meinen,  daß  damit 
jedwede  Aussicht  auf  Verbesserungen  genommen  sei. 
Man  vergegenwärtige  sich  immer,  daß  nur  die  astrono- 
misch ermittelten  Positionen  als  ganz  verläßlich  zu  gelten 
haben,  daß  ferner  jede  trigonometrisch  bestimmte  Orts- 
lage um  so  unsicherer  ist,  je  weiter  dieselbe  von  astro- 
nomischen Positionen  entfernt  ist,  je  mehr  einzelne  Ope- 
rationen behufs  ihrer  Ermittelung  aneinander  geschlossen 
sind,  daß  endlich  auch  die  besten  Triangulationen  an  der 
Unsicherheit  unserer  Kenntnis  von  der  Brdgestalt  teil- 
nehmen. Es  ist  daher  selbstverständlich,  daß  selbst  in 
Mitteleuropa  die  geographischen  Positionen  durchschnitt- 
lich einen  gewissen  Grad  von  Genauigkeit  nicht  tiber- 
schreiten. Derselbe  dürfte  etwa  den  Wert  von  15 — 20" 
haben,  wenigstens  zeigen  sich  beim  Vergleiche  der  neuen 
Karte  des  Deutschen  Reiches  und  den  Blättern  der  nach 
denselben  Gesichtspunkten  konstruierten  Generalstabskarte 
von  Oesterreich-Ungarn  fast  allenthalben  Abweichungen 
im  Verlaufe  der  Grenze,  welche  sich  durchschnittlich 
auf  15 — 20"  belaufen,  gelegentlich  aber  sogar  bis  auf 
30"  und  darüber  anschwellen.  Auch  zwischen  den  preußi- 
schen und  sächsischen  Meßtischblättern  begegnet  man 
Unterschieden  in  den  Längen  von  fast  V*'  ^^^  selbst 
solchen  in  der  Breite.  Obgleich  beide  Kartenwerke  nach 
derselben  Projektion  entworfen  sind  und  die  entsprechen- 
den Blätter  genau  dieselben  Areale  zur  Darstellung  bringen 
sollten,  ist  dies  in  Wirklichkeit  nicht  der  Fall;  die  säch- 
sischen Blätter  umfassen  ein  etwas  ostnordöstlicher  ge- 
legenes Gebiet  als  die  preußischen. 

Man  wird  sich  daher  nicht  wundern  dürfen,  wenn 
die  geographische  Ortsbestimmung  selbst  in  Mitteleuropa 
gelegentlich  noch   zu  Berichtigungen   der  Lage  einzelner 


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Oberflächeabau.  5 

Stellen  führt.  Aber  es  erhellt  aus  dem  Dargelegten,  daß 
nur  sehr  genaue  Operationen,  welche  die  Länge  und 
Breite  bis  zur  Genauigkeit  von  einer  Sekunde  liefern,  zu 
wirklichen  Verbesserungen  führen  können.  Derartig  genaue 
Ortsbestimmungen  aber  lassen  sich  nicht  ohne  weiteres 
anstellen,  sie  erfordern  bereits  feste  Stationen  und  dürften 
nur  von  einem  astronomisch  vorgebildeten  Beobachter 
erfolgreich  durchführbar  sein^). 

In  den  meisten  Fällen  wird  es  sich  in  Mitteleuropa 
für  den  einzelnen  Beobachter  nicht  darum  handeln,  völhg 
neue  Karten  aufzunehmen,  sondern  die  Aufgabe  wird  in 
der  Ergänzung  eines  bereits  bestehenden  Eartenbildes 
bestehen.  Man  wird  sich  dabei  meist  des  besonders  von 
militärischer  Seite  vielfach  geübten  „Krokierens"  bedienen 
können,  d.  h.  man  lehnt  sich  an  die  bereits  vorhandene 
Situation  an  und  bestimmt  die  Entfernung  des  aufzu- 
nehmenden Gegenstandes,  eines  Flußufers,  eines  Steil- 
randes, einer  Düne  durch  Auszählen  der  Schritte  von  den 
bekannten  Fixpunkten,  nämlich  von  Wegkreuzung,  Weg- 
biegungen, Flußvereinigungen,  Felsen,  eventuell  einzelnen 
Bäumen,  indem  man  zugleich  die  eingeschlagene  Richtung 
mit  dem  Kompaß  ermittelt.  Auf  ähnliche  Weise  verfährt 
man  auch  bei  Aufnahmen  in  besonders  großem  Maßstabe. 
Man  entnimmt  aus  einer  vorliegenden  Karte  das  Wegnetz 
und  besonders  auffällige  Punkte  und  überträgt  dieselben 
auf  den  gewünschten  Maßstab.  Dann  zeichnet  man  die 
abgegangenen  Strecken  ein  und  ergänzt  schließlich,  nach- 
dem man  genug  Stellen  begangen  hat,  die  Zeichnung  aus 
freier  Hand.  Des  Kompasses  kann  man  hierbei  ganz  ent- 
raten,  wenn  aus  dem  aufzunehmenden  Gebiete  Fixpunkte 
genug  bekannt  sind,  welche  sich  gut  überblicken  lassen, 
so  daß  man  das  Abschreiten  in  der  Richtung  immer 
zwischen  je  zwei  Fixpunkten  ausführen  kann.  Anderer- 
seits kann  man  wiederum  durch  bloßes  Visieren  von  ver- 
schiedenen Fixpunkten  aus  und  Uebertragung  der  Visier- 


*)  Vergl.  hierzu:  Jordan-Steppes,  Das  deutsche  Vermes- 
suDgswesen,  Stuttgart  1882,  sowie  verschiedene  Aufsätze  in  den 
Mitteilungen  des  k.  k.  miütär.-geogr.  Institutes  in  Wien. 


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6  Albrecht  Penck, 

linien   in   den  Kartenentwurf  die  Lage  eines  bestimmten 
Ortes  ohne  das  ermüdende  Schrittzählen  ausführen. 

Es  werden  in  folgendem  verschiedene  Winke  für  die 
Anwendung  dieses  Verfahrens  gegeben  werden^).  (S.  10, 
21,  29,  34,  38.) 

2.  Hohenbestimmungen. 

Viel  später  als  die  Festlegung  der  beiden  geographi- 
schen Hauptkoordinaten,  nämlich  der  geographischen 
Länge  und  Breite,  erfolgte  die  Bestimmung  der  dritten, 
der  Meereshöhe,  welch  letztere  für  eine  genaue  Charak- 
teristik der  Oberflächengliederung  eines  Landes  notwendig 
ist.  Im  Laufe  unseres  Jahrhundert«  waren  es  durch  ganze 
Jahrzehnte  ausschließlich  Private,  welche  sich  dieses  von 
den  offiziellen  Landesvermessungen  gänzlich  vernachlässig- 
ten Gegenstandes  annahmen  und  mit  Hilfe  des  Barometers 
Tausende  von  Höhenzahlen  ermittelten.  Allein  nachdem 
die  kurhessische  Landesaufnahme  mit  dem  bis  dahin  in 
Mitteleuropa  üblich  gewesenen  Verfahren,  das  Relief  des 
Landes  ausschließlich  durch  die  Böschungswinkel  des 
Bodens  zu  charakterisieren  (klinometrische  Methode), 
gründlich  gebrochen  -und  gezeigt  hat,  daß  nur  durch  Er- 
mittelung von  Meereshöhen  möglichst  zahlreicher  Punkte 
das  Relief  zu  bestimmen  sei  (hypsometrisches  Verfahren), 
haben  die  neueren  Landesvermessungen  mit  um  so  größe- 
rem Eifer  das  früher  Versäumte  nachgeholt,  und  man  ist 
gegenwärtig,  soweit  neue  Vermessungen  reichen,  über  die 
Höhen  Verhältnisse  Mitteleuropas  ausgezeichnet  unterrichtet. 

Es  kommen  hierbei  weniger  die  offiziellen  General- 
stabskarten, welche  gewöhnlich  das  Terrain  in  Schrafifen 
darstellen,  in  Betracht,  als  die  Karten  größeren  Maßstabes, 
die  Meßtischblätter  von  Preußeu,  Sachsen  und  die  schönen 
von  Baden,  die  Positionsblätter  von  Bayern,  die  photo- 
graphischen Reproduktionen  der  österreichischen  Original- 
aufnahmen,    welche     samt    und     sonders    im    Maßstabe 


^)    Hatto    von   Hiltor,    Kurze    praktische   Anleitung   zum 
feldmäßigen  Darstellen  des  Terrains  (Krokieren).     Berlin  1872. 


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Oberflächenbau,  7 

1 :  25000  gehalten  sind  und  Höhenkurven  von  10  zu  10  ni, 
im  Flachlande  sogar  in  geringeren  Intervallen  aufweisen. 
Dazu  gesellen  sich  die  belgischen  Karten  1 :  20  000 ,  mit 
Höhenlinien  von  5  zu  5  m  im  Gebirge  und  von  Meter  zu 
Meter  im  Flachlande.  Durch  diese  Werke  ist  es  mög- 
lich, die  Meereshöhe  eines  jeden  Punktes  des  dargestell- 
ten Gebietes  bis  zu  einer  Genauigkeit  von  1 — 3  m  ohne 
weiteres  aus  der  Karte  zu  entnehmen,  und  nur  Messungen, 
welche  bis  auf  diese  Beträge  genau  sind,  vermögen  in 
den  eingehend  mappierten  Gebieten  Mitteleuropas  wirk- 
lich noch  eine  Bereicherung  der  Kenntnisse  des  Landes 
zu*  bieten.  Solche  aber  erfordern  nicht  geringe  Vorkeh- 
rungen, und  namentlich  ist  im  Auge  zu  behalten,  daß 
dieselbe  durch  jenes  Verfahren,  welches  einst  so  wichtige 
Ergebnisse  über  die  Höhenverhältnisse  der  Länder  ge- 
währte, nämlich  das  barometrische,  ohne  weiteres  nicht 
erreicht  wird. 

Die  barometrische  Höhenmessung  ist  gegenwärtig  in 
hohem  Maße  populär,  und  seitdem  die  kleinen,  zum  Teil 
ausgezeichneten  Aneroide  (Holost^riques)  so  billig  geworden 
sind,  hat  sich  vielfach  ein  gewisser  Sport  der  Höhen- 
bestimmung entwickelt,  wobei  vielfach  ganz  in  Vergessen- 
heit geraten  ist,  dalä  die  Aneroide  vermöge  ihrer  Kon- 
struktion bei  weitem  nicht  so  sicher  fungieren,  wie  die 
allerdings  etwas  unbeholfenen  und  nur  mit  großer  Vor- 
sicht zu  handhabenden  Quecksilberbarometer.  Aber  selbst 
diese  letzteren  sind  im  allgemeinen  nicht  geeignet,  Er- 
gebnisse von  solcher  Genauigkeit,  wie  oben  verlangt,  zu 
geben.  Es  möge  eben  nie  vergessen  werden,  daß  das 
Barometer  gestattet,  aus  Luftdruckverschiedenheiten 
auf  Höhenunterschiede  zu  schließen.  Das  Luftmeer 
ist  aber  namentlich  über  dem  nördlichen  Mitteleuropa  in 
steter  Bewegung  begriffen,  mit  großer  Schnelligkeit 
streichen  aufsteigende  Luftwirbel,  die  sogenannten  Minima, 
über  das  Land,  und  bei  einigermaßen  unsicherer  Witte- 
rung ändert  sich  binnen  wenig  Stunden  der  Luftdruck 
an  einem  Orte  um  mehrere  Millimeter.  Ist  nun  aber 
jene  Zeit  gerade  verstrichen  zwischen  den  zum  Behufe 
der  Höhenmessung   an   zwei   verschiedenen  Orten  vorge- 


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8  Albrecht  Penck, 

nommenen  Barometerablesungen,  so  wird  die  stattgehabte 
allgemeine  Aenderung  des  Luftdruckes  in  der  örtlich 
zwischen  beiden  Orten  infolge  des  Höhenunterschiedes 
stattfindenden  Druckdifferenz  versteckt  bleiben,  und  diese 
wird  um  ebensoviel  Millimeter  zu  hoch  oder  zu  niedrig 
erscheinen,  als  der  Luftdruck  inzwischen  gestiegen  oder 
gesunken  ist.  Einem  Druckunterschiede  von  1  mm  aber 
entspricht  eine  Höhendifferenz  von  mindestens  10,6  m;  baro- 
metrische Höhenmessungen,  welche  nicht  absolut  gleich- 
zeitig stattfinden,  werden  also  leicht  Irrtümer  im  Betrage 
von  10 — 20  und  mehr  Meter  ergeben,  ja  bei  unruhiger 
Atmosphäre  selbst  solche  von  50  m. 

Auch  absolut  gleichzeitige  Barometerablesungen  geben 
nicht  unter  allen  Umständen  ein  zur  exakten  Höhen- 
bestimmung brauchbares  Resultat.  Sind  die  beiden  Orte^ 
deren  Höhenunterschied  durch  gleichzeitige  Luftdruck- 
beobachtung ermittelt  werden  soll,  ziemlich  weit  voneinander 
entfernt,  so  kann  zwischen  beiden  ein  Luftdruckunterschied 
obwalten,  der  sich  im  Ergebnis  versteckt.  Selbst  dann 
endlich,  wenn  die  Orte,  deren  Höhenunterachied  durch 
gleichzeitige  Beobachtung  festgestellt  werden  soll,  ganz 
benachbart  sind,  kann  auf  Grund  einer  einmaligen,  noch 
so  subtil  angestellten  Messung  immer  noch  nicht  für  die 
Richtigkeit  des  Ergebnisses  gebürgt  werden.  Die  Unter- 
suchungen von  Rühlmann,  Bauernfeind  und  die  Dar- 
legungen von  Sprung  haben  gezeigt,  dala  die  Höhen- 
unterschiede benachbarter  Orte  sehr  verschieden  ausfallen^ 
je  nach  der  Stunde,  zu  welcher  die  Beobachtungen  an- 
gestellt werden,  daß  im  allgemeinen  die  Höhen  bei  Tage 
größer  ausfallen  als  bei  Nacht,  im  Sommer  größer  als 
im  Winter.  Die  zu  verschiedenen  Tagesstunden  ermittel- 
ten Werte  zeigen  Abweichungen  von  über  1  ®/o  vom  MitteL 
Es  hat  dies  seinen  Grund  darin,  daß  die  Temperatur- 
abnahme in  der  Luft,  welche  bei  der  barometrischen 
Messung  als  gleichmäßig  angenommen  wird,  zu  den  ver- 
schiedenen Tagesstunden  in  verschiedenem  Grade  erfolgt, 
welches  Verhältnis  sich  aus  den  Rechnungen  nicht  ent- 
fernen läßt. 

Unter    solchen   Verhältnissen    kann    eine    einmalige 


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Oberflächenbau.  9 

barometrische  Höhenmessung  nur  dann  zur  Ermittelung 
des  Höhenunterschiedes  zweier  Orte  dienen,  wenn  die- 
selben nicht  bloß  benachbart  sind,  sondern  auch  wenig 
verschiedene  Höhe  aufweisen.  Unter  der  Voraussetzung, 
daß  infolge  des  täglichen  Temperaturganges  Abweichungen 
von  etwa  1  ^/o  von  dem  wirklichen  Höhenunterschiede  zu 
erwarten  sind,  dürfte  höchstens  ein  Höhenintervall  von 
200 — 300  m  mit  der  erforderlichen  Genauigkeit  von  2  bis 
3  m  zu  ermitteln  sein.  Hierbei  aber  ist  immer  noch  zu 
berücksichtigen,  daß  dadurch  nur  eine  relative,  nicht  aber 
eine  absolute  Höhe  bestimmt  ist,  und  daia  die  letztere 
erst  durch  den  Anschluß  an  einen  bereits  gemessenen 
Ort  gewonnen  wird.  Der  einzelne  Beobachter  ist  daher 
meist  auf  gewisse  bereits  vorliegende  Höhenmessungen 
angewiesen,  und  er  kann,  indem  er  von  den  Fixpunkten 
der  Nivellements  oder  von  den  trigonometrischen  Punkten 
erster  Ordnung  ausgeht,  unter  Umständen  in  genauer 
kartierten  Gebieten  recht  erkleckliche  Arbeit  leisten. 
Ueberdies  bietet  aber  das  Barometer,  wie  Hann  kürzlich 
zeigte,  ein  Hilfsmittel,  um  selbst  absolute  Meereshöhen 
mit  sehr  großer  Genauigkeit  zu  bestimmen  ^),  wenn  längere 
Beobachtungen  vorliegen  und  durch  Vergleich  mit  Nach- 
barstationen ermittelt  wird,  um  wie  viel  der  beobachtete 
Barometerstand  von  einem  Normalmittel  abweicht.  Mit 
Hilfe  dieser  Abweichung  aber  kann  der  beobachtete  Luft- 
druck auf  eine  Normalperiode  reduziert  werden,  für  welche 
der  Luftdruck  im  Meeresniveau  bekannt  ist.  Die  Diffe- 
renz zwischen  dem  reduzierten  beobachteten  und  dem  für 
das  Meeresniveau  angenommenen  Barometerstand  ergiebt 
nach  den  gewöhnlichen  Formeln  eine  äußerst  genaue 
Meereshöhe  des  Beobachtungsortes,  welche  den  durch  die 
Nivellements  gefundenen  Werten  kaum  nachsteht.  Es  ist 
ein  großes  Verdienst  von  J.  Hann,  daß  er  in  der  an- 
geführten Schrift  durch  Konstruktion  von  Isobaren  im 
Meeresniveau  einzelnen  Beobachtern  Gelegenheit  geboten 
hat,   sich  im   Binnenlande  Mitteleuropas  Höhenfixpunkte 


*)  Die  Verteilung  des  Luftdruckes  über  Mittel-  und  Südeuropa. 
Wien  1887.    Geogr.  Abh.  II.  2.  S.  95. 


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10  Albrecht  Penck, 

ZU  schaflfen,  unabhängig  von  bereits  vorhandenen  Ver- 
messungen, und  dadurch  dem  Barometer  eine  neue  Be- 
deutung als  Höhenmesser  gegeben  zu  haben. 

Für  denjenigen,  welcher  die  Höhenmessungen  der 
großen  Kartenwerke  Mitteleuropas  durch  eigene  Beob- 
achtungen zu  kontrollieren  wünscht,  ist  überdies  zu  be- 
merken, daß  er  der  verschiedenen  Niveaus  eingedenk 
sein  möchte,  welche  in  den  einzelnen  Staaten  als  Basis 
dienen.  Der  Meeresspiegel  steht  an  den  verschiedenen 
Teilen  der  mitteleuropäischen  Küsten  nicht  gleich  hoch, 
und  je  nachdem  man  die  Höhen  auf  diesen  oder  jenen 
Pegel  bezieht,  wird  man  verschiedene  Werte  erhalten, 
üeberdies  haben  die  Binnenstaaten  ihre  Höhenmessungen 
auf  willkürliche  Fixpunkte  bezogen,  deren  Meereshöhe 
nachträglich  sich  vielfach  als  ungenau  erwiesen  hat.  Es 
sind  in  Mitteleuropa  verschiedene  Meeresspiegel  in  Ge- 
brauch und  es  müssen  die  offiziellen  Höhenangaben  stets, 
bevor  sie  miteinander  verglichen  werden  können,  auf  einen 
einheitlichen  Nullpunkt  bezogen  werden.  Als  solcher  gilt 
Normalnull  zu  Berlin,  welches  beinahe  mit  dem  Meeres- 
spiegel an  Swinemünde  und  dem  Amsterdamer  Pegel  zu- 
sammenfällt, dagegen  etwas  höher  liegt  als  der  Spiegel 
der  Adria  zu  Triest.  In  folgender  Tabelle  sind  die  Null- 
punkte der  verschiedenen  Kartenwerke  Mitteleuropas  zu- 
sammengestellt : 

Karte  d.  Deutschen  Reiches.  Normalnull    0,00  M. 

Karte  von  Sachsen.  Ostsee  bei  Swine- 
münde     0,06  m  unter  Normalnull  ^). 

Karten  von  Rheinpreußen,  Kurhessen, 
vom  Königreich  der  Niederlande. 
Amsterdamer  Pegel 0,18  „  über  „  *). 

Karten  von  Belgien.    Mittlerer  tiefster 

Wasserstand  zu  Ostende      ....     2,15  „  unter  „  '). 

Karten  von  Baden  und  Württemberg. 
Supponiertes  Meeresniveau  unter  dem 
Straßburger  Münster 2,02  r.      r  ^  '). 

*)  Hann,  Verteilung  des  Luftdruckes.  1887.  S.  11. 

^)  Ad  an,  Note  sur  les  nivellements  beiges.  Annuaire  de 
l'observ.  de  Bruxelles.  1878.  p.  177. 

^)  Neu  mann,  Orometrie  des  Schwarzwaldes.  Geogr.  Abh. 
I.  2.  S.  193. 


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Oberflächenbau.  H 

Karten  von  Bayern.  Supponiert.  Meeres- 
niveau  unter  der  Frauenkirche  zu 
München 1,78  m  unter  Normalnull  *). 

Karten  von  Oesterreich-Üngam.  Adria 
bei  Triest 0,46  ^      „  ^  ^j 

Karten  der  Schweiz.  Supponiert.  Meeres- 
spiegel unter  Pierre  du  Niten  im 
Genfer  See 3,51  ,      ,  ,  '). 

Diese  Daten  lassen  deutlichst  erkennen,  daß  die  für 
Belgien  und  Süddeutschland  angegebenen  Höhenzahlen 
durchschnittlich  um  2  m,  in  der  Schweiz  sogar  um  3,5  m 
zu  hoch  gegenüber  den  Normalzahlen  erscheinen,  und 
hieraus  erklärt  sich  teilweise  die  Thatsache,  daß  die 
nämlichen  Orte  auf  verschiedenen  Karten  verschiedene 
Höhen  haben.  Allein  vielfach  finden  sich  noch  größere 
unterschiede.  Es  hat  der  Bodensee  auf  schweizer  Karten 
eine  Höhe  von  398  m,  auf  den  neuen  österreichischen  hat 
ein  Uferpunkt  nur  392  m.  Aehnliches  wiederholt  sich 
sehr  häufig.  Es  haben  die  beiden  höchsten  Punkte  des 
sächsischen  Erzgebirges,  der  Fichtelberg  und  Keilberg, 
auf  der  Karte  des  Deutschen  Reiches  eine  Höhe  von 
1204  und  1238  m,  während  die  österreichische  Karte  1213 
und  1244  m  verzeichnet.  Für  den  westlich  gelegenen 
Hohenstein  lauten  hingegen  die  entsprechenden  Ziffern 
771  und  772  m.  Für  die  Schneekoppe  ergiebt  die 
preußische  Messung  1605  m,  die  österreichische  nur 
1603  m,  für  den  Spieglitzer  Schneeberg  bei  Glatz  hat  die 
deutsche  Karte  1424  m,  die  österreichische  nur  1422  m, 
obwohl  der  österreichische  Meeresspiegel  fast  ^/g  m  tiefer 
als  Normalnull  liegt.  Noch  viel  größere  Unterschiede 
ergeben  sich  im  Hochgebirge,  an  der  Grenze  zwischen 
Tirol  einerseits  und  der  Schweiz  und  Italien  andererseits. 
Hier  werden  solche  von  20 — 30  m  häufig,  solche  von 
50  m  gelegentlich  angetrofi^en. 

Diese  Thatsachen  bekunden,  daß  nicht  bloß  die  Ver- 
schiedenheiten der  zu  Grunde  gelegten  Niveaus,  sondern 

')  y.  Orff,  Aufgaben  und  Thätigkeit  des  topograph.  Bureaus. 
Jahreaber.  geogr.  Gesellsch.  München  VIII.  S.  227.  —  Jordan- 
Steppes,  Bd.  I.  S.  240. 


'f, 


Hann,  Verteilung  des  Luftdruckes.  1887.  vS.  11. 


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12  Albrecht  Penck, 

auch  noch  anderweitige  Ursachen  die  Differenz  der  Höhen- 
zahlen bedingen.  In  der  That  kann  nicht  geleugnet 
werden,  daß  die  Höhenangaben  selbst  der  großen  Karten 
vielfach  nur  als  relative  aufzufassen  sind,  indem  sie  mit 
Zuverläßlichkeit  die  Höhenunterschiede  benachbarter  Orte 
zu  ermitteln  ermöglichen,  während  sie  insgesamt  gelegent- 
lich nicht  unbeträchtliche  Verbesserungen  erheischen,  also 
nicht  die  absoluten  Erhebungen  wirklich  angeben.  Ueber- 
dies  ist  zu  erwägen,  daß  die  Höhenpunkte  dritter  und 
vierter  Ordnung  nur  bis  auf  etwa  1  %  genau  sind  und 
daß  selbst  die  beste  Karte  nicht  frei  von  Irrtümern  und 
Schreibfehlern  ist.  Es  kann  daher  ein  einzelner  Beob- 
achter mit  Hilfe  des  Barometers  noch  mancherlei  zur 
Kontrolle  offizieller  Messungen  beitragen,  nur  möchte  er 
dabei  beachten: 

1.  daß  er  völlig  vertraut  mit  der  Methode  der  Be- 
obachtung und  mit  seinem  Instrumente  ist*); 

2.  daß  er  nur  gleichzeitige  Beobachtungen  seinen 
Berechnungen  zu  Grunde  legt; 

3.  daß  der  zu  ermittelnde  Höhenunterschied  von  der 
Normalstation  aus  bei  einmaliger  Messung  nicht  über 
200—300  m  beträgt  und  daß  flir  größere  Höhen  zahl- 
reiche Beobachtungen  zu  Grunde  gelegt  werden; 

4.  daß  die  Normalstation  ein  Fixpunkt  eines  Nivelle- 
ments oder  die  korrigierte  Höhe  eines  trigonometrischen 
Signales  1.  Ordn.,  oder  endlich  eine  Barometerstation  ist, 
an  welcher  regelmäßige  Beobachtungen  angestellt  werden. 

Daß  durch  die  beiden  anderen  Verfahren  der  Höhen- 
messung, daß  durch  Triangulierungen  und  Nivellements 
sowohl  eine  erfolgreiche  Kontrolle  bereits  vermessener 
Gebiete  als  auch  eine  wissenschaftlich  brauchbare  Auf- 
nahme jener  Striche  gewälirt  werden  kann,  welche  noch 
nicht  neu  mappiert  sind,  liegt  auf  der  Hand.  Jedoch 
verlangen  die  genannten  Verfahren  umfassendere  Vor- 
kehrungen als  barometrische,  und  werden  im  allgemeinen 
nur  in  der  Hand  technisch  gebildeter  Beobachter  erfolg- 


^)  Hartl,  Praktische  Anleitung  zum  Höhenmessen  mit  Queck- 
silberbarometern und  Aneroiden.     Wien  1884. 


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Oberflachenbau.  13 

reich  sein.  Es  muß  daher  an  dieser  Stelle  davon  ab- 
gesehen werden,  dieselben  zu  schildern  ^). 

3.  Tiefenmessungen. 

Viel  dürftiger  als  mit  der  Kenntnis  der  Höhen  steht 
es  in  Mitteleuropa  mit  der  Kenntnis  der  Tiefen  der  Ge- 
wässer, namentlich  der  Seeen.  Zwar  ist  der  größte  deutsche 
See  (abgesehen  von  den  Haffen  an  der  Ostseektiste),  der 
Bodensee,  bereits  1826  durch  Gasser*)  genau  abgelotet 
worden,  aber  die  übrigen  deutschen  Alpenseeen  sind  erst 
durch  die  verdienstvollen  Arbeiten  von  A.  Qeistbeck^) 
hinsichtlich  ihrer  Tiefenverhältnisse  näher  bekannt  ge- 
worden, während  die  österreichischen  schon  früher  durch 
Simony  abgelotet  wurden.  Von  den  zahllosen  Seeen  der 
norddeutschen  Seeenplatte  sind  erst  wenige  durchgelotet 
worden,  unbekannt  sind  selbst  die  Tiefenverhältnisse  der 
Seeen  in  der  Nachbarschaft  Berlins.  Eingehende  Lotungen 
der  deutschen  Binnenseeen  anzustellen  bildet  daher  immer 
noch  eine  wichtige  Aufgabe,  welche  mit  verhältnismäßig 
geringem  Aufwände  von  seiten  einzelner  Naturfreunde  ge- 
löst werden  kann. 

Drei  Momente  sind  es,  welche  bei  solchen  Lotungen 
besonders  zu  berücksichtigen  sind: 

a)  die  genaue  Ermittelung  der  Tiefe  am  Orte   der 
Lotung, 

b)  die  genaue  Ermittelung  des  Ortes  der  Lotung, 

c)  die  Ermittelung  des  Seestandes  zur  Zeit  der  Lotung. 
a)  Die  Lotung  erfolgt  gemeinhin  mit  dem  Lote,  einem 

Gewichte,  das  an  einer  festen,  weder  zu  schwachen,  noch 
zu  starken  Schnur  in  die  Tiefe  gelassen  wird.  Im  Augen- 
blicke, wo  das  Lot  am  Seegrunde  aufstößt  und  das  Ab- 
rollen  der  Leine   innehält,    wird  notiert,   wie  viel  Meter 


^)  Nähere  Orientierung  bietet  die  treffliche  Schrift  von  Hartl, 
Praktische  Anleitung  zum  trigonometrischen  Höhenmeesen.  2.  Aufl. 
Wien  1884. 

2)  Württ.  Jahrb.  1826.  I.  S.  107. 

')  Die  Seeen  der  deutschen  Alpen.  Mitteil.  d.  Vereins  f.  Erd- 
kunde zu  Leipzig.    Leipzig  1884.  S.  203. 


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14  Albrecht  Penck, 

der  Leine  abgewickelt  sind.  Hierbei  ist  jedoch  zu  be- 
achten, daß  dann,  wenn  das  Lot  nicht  sehr  schwer  und 
die  zu  messende  Tiefe  groß  ist,  das  Gewicht  der  bereits 
abgelaufenen  Leine  ein  weiteres  Abrollen  derselben  be- 
dingen kann,  daß  femer,  indem  das  Boot  auf  dem  See- 
spiegel vom  Winde  etwas  getrieben  wird,  die  abgelaufene 
Leine  nicht  senkrecht,  sondern  unter  einem  spitzen 
Winkel  zur  Tiefe  führt,  daß  endlich  die  gewöhnlichen 
und  selbst  befetteten  Leinen  beim  Durchfeuchten  eine 
Zusammenziehung  von  etwa  10  ®/o  ihrer  Länge  erfahren, 
daß  also  die  trockene  Leine,  deren  Länge  gewöhnlich 
allein  berücksichtigt  wird,  länger  ist  als  die  feuchte, 
welche  die  Messung  wirklich  ausführt.  Alle  diese  ein- 
zelnen Umstände  bewirken,  daß  die  an  der  abgerollten 
Leine  abgelesenen  Tiefen  vielfach  zu  groß  ausfallen,  und 
zwar  meist  um  über  10  ^o,  weswegen  inmier  zu  beachten 
ist,  daß  Lot  und  Leine  in  entsprechendem  Verhältnis 
zu  einander  stehen,  daß  nämlich  das  Gewicht  des. Lotes 
immer  4— 5mal  größer  ist  als  das  der  abgelaufenen  Leine, 
daß  wahrend  des  Lötens  der  Beobachter  seinen  Ort  nicht 
verändert,  daß  er  endlich  nur  die  Länge  der  feuchten 
Schnur  berücksichtigt. 

b)  Unerläßlich  ist  femer  bei  jeder  Lotung  eines  Sees, 
daß  der  Ort  der  jedesmaligen  Tiefenbestimmung  sehr  ge- 
nau ermittelt  werde.  Dies  ist  aber  insofem  schwierig, 
als  sich  der  Beobachter  auf  einer  Fläche  befindet,  welche 
keinen  unmittelbaren  Anhaltspunkt  zur  Orientiemng  bietet 
und  auch  nicht,  wie  auf  dem  festen  Lande,  die  Anwen- 
dung der  einfachen  Methoden  des  Krokierens  gestattet. 
Bei  kleineren  Wasserbecken  sowie  bei  nicht  sehr  genauen 
Messungen  wird  man  den  Ort  der  Lotung  aus  dem  Kurse 
des  Bootes  und  der  Anzahl  der  Ruderschläge  hinreichend 
genau  bestimmen  können,  welche  man  bis  zum  Erreichen 
der  Lotungsstelle  gebraucht  hat,  nachdem  man  durch  Ab- 
rudem  einer  bekannten  Strecke  die  mittlere  Wirkung 
eines  Ruderschlages  ermittelt  hat.  Bei  größeren  Flächen 
aber,  sowie  bei  sehr  genauen  Untersuchungen  ist  man 
auf  Peilungen  angewiesen.  Am  bequemsten  wird  dann 
immer  sein,   zwischen  zwei  bekannten  Punkten  des  See* 


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Oberflächenbau. 


15 


gestades  einen  bestimmten  Kurs  einzuhalten  und  durch 
Anvisieren  eines  dritten  Punktes  den  Ort  der  Lotung  zu 
bestimmen. 

Man  rudere  von  A  nach  B  (Fig.  1).  Den  Ort  C  der  Lotung 
bestimmt  man,  indem  man  von  hier  aus  nach  D  visiert  und  den 
Winkel  BCD  oder  ACD  bestimmt.  Da  nun  die  Punkte  A,  B  und 
D  bekannt  sind  und  somit  AD  und  BD,  femer  die  Winkel  DBA 
und  BAD  gegeben  sind,  so  läßt  sich  auch  AC  bez.  BC  leicht  be- 
rechnen. Meist  wird  ein  graphisches  Verfahren  genügen,  indem 
man  in  D  B,n  AD  den  Winkel  CDA  anfügt,  welcher  ist  gleich 
180  <»  —  «  DAC  +  <  DÜA),  ■  oder  an  DB  den  Winkel  BDC  =  180^ 
-  «  DBC  +  <  BCD), 

Fig.  1. 


Sehr  bequem,  aber  mehrere  Beobachter  erfordernd, 
ist  das  bei  Küstenvermessungen  vielfach  geübte  Verfahren, 
da&  der  Ort  des  Bootes  vom  Lande  aus  in  zwei  Stationen 
bestimmt  wird. 

Es  wird  von  B  und  D  nach  C  während  der  Lotung,  deren 
Vornahme  durch  ein  Signal  angezeigt  wird,  visiert,  wobei  sich  die 
Winkel  BDC  und  DBC  ergeben.  Etwas  umständliche  Rechnungen 
erfordert  die  Methode,  nach  welcher  der  Ort  der  Lotung  durch 
Visieren  nach  drei  bekannten  Punkten  ermittelt  wird.  Man  be- 
stimmt in  C  die  Winkel  DCE  und  ECB  und  erhält  dann,  da  D, 
E  and  B  gegeben  sind,  die  Lage  von  C  durch  Anwendung  der 
Pothenotechen  Aufgabe. 


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16  .  Albrecht  Penck, 

Alle  diese  Operationen  aber  lassen  sich  vermeiden, 
wenn  die  Lotung  zur  Zeit  der  Eisbedeckung  ausgeführt 
wird.  Dann  kann  der  Ort  durch  Abzählen  der  in  einer 
bestimmten  Richtung  gemachten  Schritte  genau  bestimmt 
werden  (Krokieren,  vergl.  S.  5),  und  es  können  dann  ganz 
systematisch  Lotungen  ausgeführt  werden.  Ueberdies  ist 
dann  auch  der  sehr  störende  Umstand  beseitigt,  daß  das 
Boot  während  des  Lötens  aus  seinem  Kurse  getrieben 
wird.  Es  kann  daher  nicht  genug  empfohlen  werden,  See- 
lotungen im  Winter  vorzunehmen. 

c)  Sehr  wesentlich  kommt  bei  den  Lotungen  die 
Notierung  des  jeweiligen  Standes  des  Seespiegels  in  Be- 
tracht. 

Die  Seestände  sind  in  den  einzelnen  Abschnitten  des 
Jahres  sehr  verschieden ;  der  Bödensee  schwankt  jährlich 
in  Beträgen  von  2  m  und  manche  kleinere  Alpenseeen 
schwellen  sogar  um  10 — 12  m  regelmäfsig  an.  Größere 
Seeen  zeigen  überdies  die  Schwankungen  der  „seiches** 
(vergl.  S.  34),  welche  unter  Umständen  Werte  von  2  m 
erreichen  können.  Der  Betrag  aller  dieser  Schwankungen 
übersteigt  bei  weitem  den  der  von  einer  guten  Lotung 
zu  verlangenden  Genauigkeit.  Im  allgemeinen  muß  als 
erstrebenswert  bezeichnet  werden,  daß  die  gewonnenen 
Tiefen  bis  auf  1  m  sicher  sind,  während  für  den  Fall, 
wo  es  sich  um  Konstatierung  besonderer  Unregelmäßig- 
keiten am  Seegrunde  oder  um  Veränderungen  desselben 
handelt,  es  auf  die  Zuverläßlichkeit  der  Dezimeter  an- 
kommt, wie  sich  bei  der  Seegrundvermessung  nach  der 
Katastrophe  von  Zug  herausstellte  ^). 

Ein  bisher  in  Mitteleuropa  noch  viel  zu  wenig  ge- 
würdigter Gegenstand  ist  ferner  die  Auslotung  der 
Flüsse.  In  den  bei  weitem  meisten  Fällen  wird  dieselbe 
mit  einer  Meßstange  durchführbar  sein,  welche  senkrecht 
(oder  sonst  unter  Beobachtung  des  Neigungswinkels)  zum 
Grunde  herabgestoßen  wird.  Für  Ermittelung  isolierter 
und  oft  bedeutender  Tiefen,  welche  gelegentlich  im  Strom- 
bette entgegentreten,   und  z.  B.  in  der  Donau  bei  Wien 


')  Die  Katastrophe  von  Zug  5.  Juli  1887.    Zürich  1888.  S.  25. 


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Oberflächenbau.  1 7 

sich  um  20  m  herabsenken,  reichen  die  gewöhnlichen 
Meßstangen  nicht  aus,  und  es  müssen  sehr  schwere 
Gewichte  angewendet  werden,  um  beim  Loten  den  Ein- 
fluß der  Strömimg  zu  beseitigen.  Zuverlässige  und  öfter 
wiederholte  Stromtiefenmessungen  können  einen  lehrreichen 
Einblick  in  die  stetigen  Veränderungen  der  Strombetten 
gewähren  *). 

4.  Aufnahme  von  Höhlen. 

Ein  im  allgemeinen  noch  recht  dankbares  Gebiet  ist 
die  Erforschung  der  Höhlen,  welche  zumeist  die  Kalk- 
gebirge Mitteleuropas  auszeichnen.  Obwohl  namentlich  in 
neuester  Zeit  in  dieser  Hinsicht  manche  schätzenswerte 
Untersuchungen  angestellt  sind,  so  herrschen  in  weiteren 
Kreisen  noch  äußerst  unbestimmte  und  gewöhnlich  sehr 
übertriebene  Vorstellungen  über  die  Ausdehnung  und  Er- 
streckung dieser  unterirdischen  Räume.  Eine  genaue 
Au&ahme  derselben,  welche  recht  wünschenswert  ist, 
wird  am  besten  zwar  wohl  von  geschulten  Ingenieuren 
nach  den  Regeln  der  Markscheidekunst  auszuführen  sein, 
jedoch  ist  auch  hier  keineswegs  ausgeschlossen,  daß  ein 
auftnerksamer  Beobachter  ohne  besondere  technische  Vor- 
bildung etwas  recht  Nützliches  leisten  kann.  Mit  einem 
Bergkompaß  (über  den  Gebrauch  desselben  siehe  S.  54) 
und  einer  die  Meßkette  ersetzenden  Schnur  wird  man 
vielfach  den  Grundriß  der  Höhle  samt  ihren  Verzweigungen 
aufnehmen  können.  Man  mißt  nämlich  mit  der  ausge- 
spannten Schnur  möglichst  lange,  aufeinanderfolgende, 
geradlinige  Strecken,  bestimmt  mit  Hilfe  des  Kompasses 
deren  Richtung  (Streichen)  und  mit  dem  am  Kompaß  an- 
gebrachten Klinometer  deren  Neigung,  das  Fallen.  Außer- 
dem mißt  man  an  möglichst  zahlreichen  Stellen  den  Ab- 


')  Zu  diesem  Abschnitt  vergl.  Simony,  üeber  die  Tiefen- 
Verhältnisse  und  Becken gestaltung  der  Seen  des  Traungebietes. 
Der  Tourist.  Wien  1882.  —  Mayer,  Tiefenmessungen.  Ein  Bei- 
trag zur  Geodäsie.    Wien  1871. 

Anleitnng  znr  deutschen  Landes-  und  Yolksforschung.  2 


ÜNlVtr-4«   1  Y  DigitizedbyCiOOglC 

Of  J 


\*  .>^ 


18  Albrecht  Penck, 

etand  der  Höhlenwandungen  von  der  Schnur,  und  zwar 
sowohl  in  der  Horizontalen  als  auch  in  der  Vertikalen. 
Hierauf  kann  man  leicht  einen  Grundriß  entwerfen,  in- 
dem man  nacheinander  die  abgemessenen  Strecken,  multi- 
pliziert mit  dem  Kosinus  ihres  Neigungswinkels,  in  ihrer 
Richtung  aufzeichnet  und  dann  die  gemessenen  Horizontal- 
abstände der  Höhlenwandungen  anträgt.  Die  Höhe  der 
Höhle  läßt  sich  in  niedrigen  Gängen  meist  durch  eine 
Meßlatte  feststellen;  in  größeren  Grotten  (z.  B.  St.  Canzian 
bei  Triest)  haben  Versuche,  die  Höhenverhältnisse  durch 
das  Aufsteigen  kleiner  Luftballons  zu  ermitteln,  keine 
günstigen  Ergebnisse  geliefert,  und  man  mußte  sich  darauf 
beschränken  Raketen  steigen  zu  lassen,  wodurch  man 
nur  annähernd  richtige  Maße  erhielt. 

Einer  solchen  Aufnahme  einer  Höhle  muß  die  Er- 
forschung derselben  vorausgehen,  was  mancherlei  Vor- 
sicht verlangt.  Man  gehe  nie  allein  und  versäume 
nicht  sich  wie  bei  Hochgebirgspartieen  anzuseilen.  Vor- 
kommende Abgründe  sondiere  man  erst  durch  das  Herab- 
werfen von  Steinen  oder  Herablassen  eines  Lotes,  ehe 
man  sich  in  dieselben  herabbegiebt.  Auch  versäume  man 
nicht,  den  zurückgelegten  Weg  für  die  Rückkehr  durch 
Markierung  kenntlich  zu  machen.  Bei  der  Untersuchung- 
selbst  wolle  man  stets  beachten,  daß  die  unschein- 
barste EJuft  zu  mächtigen  Hallen  und  Gewölben  führen 
kann*),  und  daß  an  der  Decke  von  manchen  Gängen 
sich  andere  öffnen,  die  häufig  nur  durch  eine  Leiter  zu- 
gänglicli  sind,  weswegen  man  eine  solche  womöglich  mit- 
nehme. 

Eine  Höhlenerforschung  pflegt  gewöhnlich  sehr  lang- 
sam vorzuschreiten,  angezeigt  ist  es  daher,  einen  ge- 
nügenden Vorrat  an  Beleuchtungsmitteln  und  Proviant 
mitzunehmen.  Nur  lasse  man  sich  durch  die  Länge  der 
in  der  Tiefe  verbrachten  Zeit  nicht  täuschen  und  schließe 
aus  derselben  nicht  auf  den  zurückgelegten  Weg,  derselbe 
pflegt   in   der  Regel   recht  gering  zu  sein  und  kanii  nur 


*)  Schauer,  Zur  Auffindung  verdeckter  Höhlen.    Mitteil,  der 
Sektion  f.  Höhlenkunde.     Wien  1883.  Nr.  4. 


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Oberflächenbau.  19 

durch  eine  Au&ahme  sicher  festgestellt  werden.  Recht 
wichtig  sind  Temperaturbeobachtungen  in  den  Höhlen, 
indem  die  einen  die  mittlere  Erdwärme  ihrer  Umgebung 
zeigen,  also  etwas  mehr  als  die  mittlere  Jahrestemperatur 
ihres  Einganges,  während  die  anderen  bedeutend  kälter 
sind  und  Eisreste  bergen  (Eishöhlen). 


II.   Beobachtungen  Aber  Yeränderungen  der  Land- 
oberfläehe. 

Wenn  auch  dank  einer  mehrhundertjährigen  Arbeit 
das  Relief  Mitteleuropas  recht  genau  bekannt  ist  und  nur 
durch  mühsame  Nachlese  eine  Ergänzung  des  bereits  Be- 
kannten zu  erzielen  ist,  so  sind  deswegen  doch  keines- 
wegs Beobachtungen  über  die  Landoberfläche  zu  vernach- 
lässigen. Vielmehr  eröflnet  sich  gerade  in  einem  geogra- 
phisch bereits  gut  durchforschten  Gebiete  eine  Fülle  neuer 
und  ungemein  anregender  Aufgaben,  nämlich  die  Verände- 
rungen  festzustellen,  welche  die  Landoberfläche 
in  historischen  Zeiten,  teils  unter  den  Augen  des  Beob- 
achters, teils  seit  ihrer  Mappierung,  erlitten  hat.  Bei 
dem  fortwährenden  Wechsel,  welchen  die  Gestalt  der  Erd- 
oberfläche erfährt,  ist  eine  jede  kartographische  Auftiahme 
nur  die  Aufzeichnung  eines  jemaligen  Zustandes,  und  sie 
wird  dadurch  zu  einem  wichtigen  Anhaltspunkte  für  die 
Ermittelung  stattgehabter  Veränderungen.  Nicht  jede  Ab- 
weichung, welche  ein  Beobachter  im  Kartenbilde  von  der 
Natur  bemerkt,  bezeichnet  einen  Fehler  des  ersteren,  son- 
dern in  sehr  vielen  Fällen  handelt  es  sich  um  Verände- 
rungen, welche  das  Land  selbst  betroffen  haben;  die- 
selben zu  registrieren  ist  äußerst  wichtig. 

Die  Veränderungen  der  Landoberfläche  erfolgen  teils 
ganz  allmählich  durch  die  hier  stetig  wirkenden  Kräfte, 
teils  vollziehen  sie  sich  rascher  in  Gestalt  kleiner  Kata- 
strophen. Die  letzteren  pflegen  gewöhnlich  die  Aufmerk- 
samkeit der  Umwohner  und  schlielalich  auch  wissenschaft- 
lipher  Kreise  zu  erwecken,  allein  eine  Untersuchung  der- 


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20  Albrecht  Penck, 

selben  liefert  vielfach  ungenügende  Ergebnisse  deswegen, 
weil  der  Zustand  vor  der  Katastrophe  nicht  hinreichend 
bekannt  ist  und  gewöhnlich  aus  älteren  kartographischen 
Darstellungen  entnommen  wird.  Aber  seit  deren  An- 
fertigung haben  oft  allmählich  wirkende  Kräfte  vor  der 
Katastrophe  bereits  namhafte  Veränderungen  hervor- 
gebracht, welche  nunmehr  ausschließlich  als  das  Werk 
derselben  angesehen  werden.  Es  erwächst  hieraus  für 
den  Einzelbeobachter  die  wichtige  Aufgabe,  besonders  zu 
Veränderungen  neigende  Stellen  wiederholt  und  oft  zu 
besuchen,  um  den  jeweiligen  Zustand  derselben  zu  er- 
mitteln. 

1.  Beobachtungen  an  den  Küsten. 

Sehr  namhafte  Veränderungen  pflegt  die  Grenze  zwischen 
Wasser  und  Land  zu  erleiden,  imd  zwar  sind  die  mitteleuro- 
päischen Gestade  ganz  besonders  den  Umbildungen  ausge- 
setzt. Dieselben  bestehen  größtenteils  in  Wegwaschungen 
und  Anschwemmungen.  Die  We gwaschungen  pflegen  be- 
sonders an  den  Vorsprüngen  der  Steilküsten  zu  wirken,  und 
letztere  sind  daher  im  Rückwärtswandem  begriffen,  wel- 
ches ununterbrochen,  aber  zeitweilig  mit  größerer  Inten- 
sität geschieht.  Die  abenteuerlichsten  Vorstellungen  sind 
über  diesen  Vorgang  ziemlich  verbreitet,  man  spricht  oft 
von  ganzen  breiten  Landstreifen,  welche  fortgespült  sein 
sollen.  Selbst  in  Lehrbüchern  begegnet  man  einschlägigen 
Darstellungen,  dieselben  knüpfen  meist  an  eine  alte  Karte 
von  Helgoland  an,  welche  die  Insel  vielmal  größer  als 
heute  zeigen  ^).  Diese  Karte  ist  aber  nur  ein  Phantasie- 
gebilde, welches  gänzlich  der  Wahrhaftigkeit  entbehrt. 
Man  wende  daher  den  Vorsprüngen  der  Steilküsten,  den 
Kliffs,  besondere  Aufmerksamkeit  zu,  man  stelle  die 
Lage  des  Steilabfalles  oftmals  fest,  indem  man  dessen  Ent- 
fernung von  bekannten  Gegenständen,  von  Gebäuden,  Weg- 
kreuzungen u.  ä.  mißt.    Letzteres  geschieht  im  allgemei- 


*)  Z.  B.  in  Hann,  Hochstetter  und  Pokorny,  Allgemeine 
Erdkunde.    3.  Aufl.  1881.  S.  357. 


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Oberflächenbau.  21 

nen  mit  hinreichender  Genauigkeit  durch  Abzählen  der 
Schritte,  nur  wolle  man  beachten,  dass  eine  Angabe  der 
Entfernung  in  Schritten  durchaus  unzureichend  ist. .  Der 
Schritt  ist  ein  individuelles  Maß;  jeder  Beobachter  ist 
verpflichtet,  die  Größe  desselben  festzustellen  und  die  Er- 
gebnisse seiner  Messung  umgerechnet  im  Metermaße  mit- 
zuteilen, v^renn  er  wünscht,  dass  seine  Beobachtung  Ver- 
wendung findet.  Außerdem  ist  nötig,  daß  die  verwand- 
ten Fixpunkte  recht  eingehend  geschildert  werden,  damit 
sie  später  wieder  aufgefunden  werden.  Nützlich  ist  auch 
die  Richtung  anzugeben,  in  welcher  gemessen  wurde,  wie 
dies  von  Paul  Lehmann  in  einer  recht  trefflichen  Arbeit  ^ 
mehrfach  gethan  wird.  („So  maß  ich  auf  dem  Wege, 
der  vom  Gehöft  des  Schulz  Zuehlke  zu  der  vom  Meere 
verschlungenen  Hofstelle  des  alten  Schulzenhofes  führte, 
83  m  und  weiter  nach  Westen  vor  dem  Boldt  senior  be- 
zeichneten Grundstück  79  m,  den  Hauptweg  beide  Male 
nicht  mitgerechnet.")  Solche  Messungen  wiederhole  man 
von  Zeit  zu  Zeit  und  besonders  nach  Sturmfluten.  Ein 
einziges  Messungsergebnis  ist  an  und  für  sich  schon 
manchmal  interessant  durch  den  Vergleich  mit  älteren, 
die  aus  genauen  Karten  zu  entnehmen  sind. 

Andere  Stellen  der  Küste  neigen  zu  Versandungen, 
an  manche  Vorsprünge  wird  eine  schmale  Landzunge,  ein 
„Haken'',  angewaschen,  welcher  ziemlich  regelmäßig 
wächst,  manchmal  aber  auch  seine  Lage  verändert.  Ein 
wiederholtes  Ausmessen  solcher  Haken  und  Feststellung 
ihrer  Richtung  ist  wünschenswert^). 

Viel  umfangreicher  als  die  Zerstörungen  der  Steilküsten 
ist  die  der  flachen  Gestade,  wie  Mitteleuropa  solche  an  seiner 
Marschenküste  besitzt.  Hier  liegt  das  Land  im  mittleren 
Meeresniveau  und  selbst  unter  dem  Bereiche  der  Fluten, 
gegen  welche  es  durch  Deiche  geschützt  ist.  Der  Bestand 
des  Landes  knüpft  sich   an   den   der  letzteren,   und   die 


^)  Das  Küstengebiet  von  Hinterpommern.  Zeitschr.  d.  Gesellsch. 
f.  Erdkunde.    Berlin  1882.  S.  332  fF. 

^  Vergl.  hierzu;  Bornhöft,  Der  Greifswalder  Bodden.  II. 
Jahresber.  d.  geogr.  Gesellsch.  Greifswald.  1885.  S.  54. 


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I 


22  Albrecht  Penck, 

Deichbrüche  werden  für  große  Strecken  verderblich.  Dank 
einer  vorsichtigen  und  sorgfältigen  Ueberwachung  werden 
dieselben  seltener  und  seltener,  und  wünschenswert  wäre 
nur,  daß  sich  keine  Gelegenheit  bieten  möchte,  über  sie 
Beobachtungen  anzustellen.  Wo  ein  Deich  bricht,  pflegt 
das  außen  hoch  angeschwollene  Wasser  ungestüm  in  das 
innen  gelegene  Land  einzudringen  und  wäscht  hier  ge- 
wöhnlich einen  tiefen  Kolk  aus,  welcher  noch  lange,  nach- 
dem der  Schaden  ausgebessert  ist,  als  Teich  fortbesteht. 
Messungen  über  die  Tiefe  dieser  Kolke  (man  schreibt 
manchen  derselben  eine  solche  von  30  m  zu)  können  ein 
anschauliches  Maß  für  die  Wasserkraft  und  bei  späteren 
Wiederholungen  eine  Vorstellung  von  dem  allmählichen 
Zuwachsen  geben. 

Es  zeigt  die  Geschichte  der  mitteleuropäischen  Nord- 
seeküsten einen  fortwährenden  Kampf  des  Menschen  gegen 
die  Fluten,  welcher  anfänglich  große  Landverluste,  später 
einen  Landgewinn  brachte.  Zahlreiche  schöne  Arbeiten 
haben  bereits  gezeigt,  zu  welch  wichtigen  Ergebnissen 
das  Studium  alter  Karten  und  von  Archiven  über  den 
vormaligen  Zustand  des  Landes  und  die  seither  erfolgten 
Veränderungen  desselben  führen  kann  ^),  und  das  Thema 
ist  noch  bei  weitem  nicht  erschöpft.  Die  historische  Erd- 
kunde wird  hier  der  physischen  in  hohem  Maße  dienstbar. 
Es  kommt  daher  bei  einschlägigen  Untersuchungen  sehr 
darauf  an,  daß  nach  beiden  Seiten  hin  Kritik  geübt  wird. 
Es  gehört  zu  denselben  völlige  Vertrautheit  mit  den 
Methoden  historischer  Untersuchung  und  mit  den  örtlichen 
Verhältnissen. 

Außer  durch  die  unterwaschende  und  anschwemmende 
Thätigkeit  der  Fluten  wird  der  Verlauf  der  Küsten  be- 
sonders auch  durch  die  Verschiebungen  der  Grenzen  zwi- 
schen Wasser  und  Land,  sei  es  durch  Bewegungen  des 
letzteren,  sei  es  durch  Schwankungen  des  Meeresspiegels, 


*)  Arends,  Physische  Geschichte  der  Nordseeküsten  und  deren 
Veränderungen  seit  der  cymbrischen  Flut.  Emden  1823.  —  Beek- 
man,  De  strijd  om  het  bestaan.  Zutphen  1887.  —  Geerz,  Hi- 
storische Karte  von  Dithmarschen,  Eiderstedt  etc.  Berlin  1886.  — 
Meyn,  Die  Insel  Sylt. 


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Oberflächenbau.  23 

beeinflußt.  Aus  der  Erscheinung  lägt  sich  unmittelbar 
nicht  entnehmen,  welcher  von  beiden  Vorgängen  im  ein- 
zelnen Falle  wirklich  stattfand.  Man  hat  daher  eine 
neutrale  Ausdrucksweise  gewählt  und  spricht  von  einer 
positiven  Bewegung  der  Strandlinie,  wenn  das  Meer 
auf  Kosten  des  Landes  wächst  und  von  einer  negativen 
Bewegung  im  entgegengesetzten  Falle.  Diese  Erschei- 
nungen selbst  festzustellen  ist  die  nächstliegende  Aufgabe, 
und  erst  wenn  diese  in  unbefangener  Weise  gelöst  ist, 
lassen  sich  Folgerungen  herleiten.  Erst  kürzlich  hat 
Eduard  Sueß^)  gezeigt,  daß  man  im  großen  und 
ganzen  mit  den  Erscheinungen  selbst  noch  sehr  wenig 
vertraut  ist,  und  damit  ist  eine  Anregung  gegeben  den- 
selben von  neuem  volle  Aufmerksamkeit  zu  schenken. 

Bisher  hat  •  man  im  allgemeinen  von  Senkungs- 
erscheinungen der  deutschen  Gestade,  also  von  einer  po- 
sitiven Bewegung  der  Strandlinie  gesprochen.  Diese  An- 
sicht erheischt  eine  sorgfältige  Prüfung,  und  jedes  ein- 
schlägige Phänomen  sollte  gewissenhaft  untersucht  werden. 
Man  hat  längs  der  Nord-  und  Ostseeküsten  namentlich 
aus  dem  Vorkommen  submariner  Torflager  auf  eine 
Senkung  des  Landes  geschlossen.  In  der  That  ist  wahr, 
daß  sich  jener  Torf  nur  auf  dem  Lande  oder  in  süßem 
Wasser  gebildet  haben  kann.  Allein  bevor  man  aus 
diesem  Befunde  auf  eine  stattgehabte  Niveauveränderung 
schließt,  erwäge  man,  daß  unmittelbar  neben  dem  Strande, 
von  demselben  nur  durch  einen  Dünenstreifen  getrennt, 
Haffe  liegen,  in  welchen  heute  noch  die  TorfbUdung  in 
und  unter  dem  Meeresniveau  stattfindet.  Wird  über  den 
hier  entstandenen  Torf  die  Düne  hinweggeweht,  so  wird 
ersterer  zusammengepreßt  und  in  noch  tieferes  Niveau 
hinabgedrückt.  Schreitet  dann  die  Düne  weiter  landein- 
wärts vor,  so  kommt  an  ihrem  Außenrande  der  zusammen- 
gedrückte Torf  wieder  zum  Vorschein  und  ist  nun  ein 
submarines  Lager,  ohne  daß  jedoch  eine  Niveauveränderung 
des  Strandes  stattgefunden  hätte. 

Vielfach   hat  man  auch   aus    dem   Umstände,    daß 


1)  AntHtz  der  Erde.  Bd.  II,  Abschn.  9—13. 


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24  Albrecht  Penck, 

Reste  von  Gebäuden,  Straßenpflaster  u.  s.  w. 
unter  dem  Meeresspiegel  angetroffen  werden,  auf 
stattgehabte  Niveauveränderungen  geschlossen.  Es  ist 
hierzu  jedoch  zu  bemerken,  daß  große  Strecken  Lande» 
am  heutigen  Nordseegestade  unter  dem  Meeresspiegel 
liegen  und  bewohnt  und  bebaut  sind.  Es  liegt  in  Hol- 
land manche  gepflasterte  Straße  4 — 5  m  unter  dem 
Meeresspiegel  und  manches  Haus  ist  in  gleicher  Tiefe 
fundiert.  Durch  einen  großen  Deichbruch  könnten  diese 
Gebiete  überflutet  werden  und  es  würden  alle  diese 
Zeugen  menschlicher  Thätigkeit  tief  unter  den  Wassern 
begraben  sein  —  scheinbar  Zeugen  einer  Senkung, 
üeberdies  ist  zu  beachten,  daß  der  weiche  Marschenboden 
bei  Belastung  zusammensinkt.  Werden  Dämme  auf  ihm 
aufgeworfen,  so  wird  er  von  denselben  ausgequetscht,  und 
durch  nachträgliche  Straßenaufschüttung  kann  ein  ur- 
sprüngliches Pflaster  tiefer  und  tiefer  hinabgedrückt  werden, 
während  sich  daneben  der  Marschenboden  aufpreßt.  Dies 
ließ  sich  namentlich  in  den  alten  Vierteln  von  Hamburg 
gelegentlich  der  Anlage  des  Freihafeugebietes  wahrnehmen. 
Endlich  aber  ist  der  Marschenboden  selbst  in  einem  „Zu- 
sammensetzen" begriffen  und  seine  Oberfläche  sinkt  daher 
allmählich  ein,  so  daß  es  eine  Menge  von  Möglichkeiten 
giebt,  welche  bewirken  können,  daß  Bauwerke  und  Straßen 
unter  dem  Meeresniveau  entgegentreten,  ohne  daß  auf 
stattgehabte  Veränderungen  desselben  geschlossen  werden 
dürfe. 

Auch  die  Thatsache,  daß  gelegentlich  bei  Grabungen 
tief  unter  dem  Meeresniveau  Süßwasserschichten  ange- 
troffen werden,  läßt  nicht  ohne  weiteres  Schlüsse  auf 
stattgehabte  Niveauveränderungen  zu.  Es  kommen  hier 
wieder  die  Haffe  in  Betracht,  deren  Boden  oft  meh- 
rere Meter  unter  den  Meeresspiegel  hinabreicht,  und  in 
welchen  zahlreiche  Süßwassermuscheln  und  Schnecken 
leben,  deren  Gehäuse  von  vom  herein  unter  dem  Meeres- 
niveau abgelagert  werden.  Bricht  die  Nehrung  eines 
solchen  Haffs,  so  dringt  die  salzige  Flut  in  dasselbe 
ein  und  es  kommen  nunmehr  marine  Schichten  über  Süß- 
wassergebilden zur  Ablagerung,    ohne  daß   zugleich   ein 


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Oberflächenbaa.  25 

»Senkungsprozeß**  stattfindet.  Entsprechend  wird  es  sich 
unter  umständen  mit  den  oben  erwähnten  Kolken  verhalten. 

Kurz,  es  ist  die  allergrößte  Vorsicht  bei  den  Be- 
obachtungen über  »Senkungserscheinungen**  geboten.  Nicht 
alle  Dinge,  die  nur  auf  dem  Lande  gebildet  sein  können 
und  nunmehr  miter  den  Fluten  entgegentreten,  sind  in 
dieser  Hinsicht  beweiskräftig.  Es  möge  immer  bei  jedem 
einzelnen  zur  Beobachtung  gelangenden  Falle  erwogen 
werden,  ob  nicht  Sachen  vorliegen,  die  von  vornherein 
im  oder  gar  unter  dem  Meeresspiegel  sich  befunden  haben 
können,  oder  durch  »Setzen**  ihrer  Unterlage  unter  das- 
selbe geraten  sind.  Der  Umstand,  daß  die  gesamten 
Küsten  Mitteleuropas  von  Landstrecken  begleitet  werden, 
die  teils  unter,  teils  im  Niveau  des  benachbarten  Meeres 
gelegen  sind,  welche  femer  aus  sehr  losem  Material  be- 
stehen, das  sich  noch  nicht  verfestigt  hat,  macht  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich,  daß  die  meisten  „Senkungserschei- 
nungen** nichts  mit  einer  Niveau  Veränderung  zu  thun 
haben. 

Es  sind  überhaupt  die  Verschiebungen  der  Strand- 
linie schwer  festzustellen,  auch  eine  negative  Ver- 
änderung derselben,  eine  Hebungserscheinung,  ist 
schwer  zu  ermitteln.  Wohl  ist  im  allgemeinen  wahr,  daß 
das  Vorkommen  von  Meeresschichten  über  dem  Meeres- 
spiegel auf  eine  solche  weist,  allein  auch  hier  giebt  es 
Umstände,  welche  täuschend  wirken  können,  imd  die- 
selben kommen  namentlich  an  den  mitteleuropäischen 
Gestaden  vor.  Es  läßt  sich  hier  an  unzähligen  Stellen 
beobachten,  wie  heftige  Seebrisen  die  Schalen  von  Meeres- 
muscheln auf  die  benachbarten  Dünen  hinaufwehen,  und 
hier  findet  man  oft  20,  30,  ja  50  m  über  dem  Meere  ein 
ganzes  Muschelhaufwerk.  Nun  würde  niemand  bei  einem 
solchen  Falle  schließen,  daß  die  See  selbst  einst  so  hoch 
gestanden  hätte  wie  die  Gehäuse  ihrer  Bewohner  ver- 
schleppt sind,  aber  schwieriger  wird  der  Fall  dort,  wo 
über  einem  solchen  Lager  verwehter  Muscheln  Sand  ab- 
gelagert ist,  wodurch  der  Anschein  geweckt  wird,  als  ob 
hier  keine  marine  Schicht  vorläge.  Des  ferneren  ist  zu 
beachten,  daß  der  Mensch  selbst  die  Meeresmuscheln  ver- 


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26  Albrecht  Penck, 

schleppt,  dieselben  werden  als  Düngemittel  oft  weit  ver- 
frachtet und  erscheinen  dann  in  erheblicher  Höhe  über 
dem  Meere  auf  den  Aeckern ;  in  der  Umgebung  der  Groß- 
städte sieht  man  allenthalben  Austernschalen  auf  den 
Feldern,  und  endlich  haben  frühere  Küstenbewohner  sich 
in  reichlichem  Maße  von  Muscheln  genährt,  deren  Schalen 
nunmehr  in  Abfallhaufen  („Kjökenmöddinger")  nicht  sel- 
ten ziemlich  hoch  über  der  Küste  erscheinen.  Sobald 
man  also  Meeresmuscheln  abseits  des  Strandes  antrifft, 
untersuche  man  genau,  ob  dieselben  nicht  etwa  nur  ober- 
flächlich über  das  Land  verstreut  sind,  oder  in  Kjöken- 
möddinger  angesammelt  sind,  oder  endlich,  ob  die  Schicht, 
welche  sie  birgt,  nicht  bloß  eine  oberflächliche  ist.  Sollte 
nach  allen  solchen  Erwägungen  es  aber  zweifellos  bleiben, 
daß  die  Ablagerung,  wie  z.  B.  bei  Blankenese,  wirklich 
eine  marine  Bildung  ist,  so  untersuche  man  weiter,  ob 
nicht  gedachte  Ablagerung,  wie  es  im  berührten  Beispiel 
der  Fall  ist,  einer  '^teren  Periode  der  Erdgeschichte  an- 
gehört, mithin  nicht  als  Beweismittel  für  eine  rezente 
Niveauveränderung  gelten  kann. 

Bisher  hat  man  auf  der  Geest  an  den  deutschen 
Küsten  noch  nirgends  eine  echte  Strandlinie  gefunden, 
und  es  dürfte  wohl  auch  im  allgemeinen  vergeblich  sein, 
nach  solchen  zu  suchen.  Dagegen  möchte  die  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Zusammensetzung  der  Flußmarschen  nahe 
der  Mündung  gelenkt  werden.  Dieselben  erfüllen  gewöhn- 
lich alte  Thäler,  und  durch  Feststellung  der  Mächtigkeit 
der  Marschen  (durch  Bohrungen)  kann,  wie  E.  Geinitz^) 
praktisch  durchgeführt  hat,  die  Sohle  jener  alten  Thäler 
ermittelt  werden.  Liegt  dieselbe  unter  dem  Meeresniveau, 
so  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  seit  Bildung  des 
Thaies  eine  positive  Verschiebung  der  Küstenlinien  statt- 
gefunden hat.  Dabei  ist  aber  zu  beachten,  daß  gelegent- 
lich unter  den  Flußmarschen,  wie  z.  B.  bei  Hamburg*), 


*)  X.  Beitrag  zur  Geologie  Mecklenburgs  mit  einer  Tiefenkarte 
des  Warnowthales  bei  Rostock.  1888. 

^)  Vergl.  Wichmann,  Zeitschr.  der  Deutschen  geolog.  Ge- 
sellßch,  1886.  S.  460. 


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Oberflächenbau.  27 

marine  Schichten  versteckt  sind,  welche  eine  ziemlich 
weite  frühere  Ausdehnung  des  Meeres  verraten.  Nur 
möge  man  daraus  nicht  ohne  weiteres  auf  eine  sftatt- 
gehabte  negative  Niveau  Veränderung  schließen,  sondern 
man  untersuche  zunächst  genau  die  Höhe  der  Ab- 
lagerung; wenn  jene  nicht  um  mehrere  Meter  vom 
Meeresspiegel  differiert  (die  Schichten  von  Hamburg  liegen 
sogar  im  Meeresniveau),  wird  man  immer  zunächst  zu 
berücksichtigen  haben,  daß  im  Bereiche  der  Flußmün- 
dungen durch  den  Wechsel  der  Gezeiten  Meeresbewohner 
um  2 — 3  m  über  das  Meeresniveau  gebracht  werden 
können,  ja  daß  bei  Sturmfluten  noch  viel  beträchtlichere 
Verschwemmungen  eintreten  können. 

Man  sieht,  die  Beobachtungen  über  noch  von  statten 
gehende  Niveauveränderungen  der  Küsten  Mitteleuropas 
sind  ungemein  schwierig  anzustellen.  Auch  bietet  sich 
hier  nirgends  Gelegenheit,  wie  z.  B.  an  den  felsigen 
Küsten  Schwedens,  Höhenmarken  anzubringen,  die  ab 
und  zu  kontrolliert  werden  könnten.  Allein  selbst  filr 
den  Fall,  daß  solche  Marken  existierten,  würde  deren 
Beobachtung  nicht  unter  allen  Umständen  sichere  Ergeb- 
nisse gewähren.  Es  ist  die  Nordsee  von  Fluten  bewegt, 
und  der  Wind  staut  das  Wasser  gelegentlich  bedeutend 
auf.  So  war  z.  B.  am  18.  Mai  1860  der  Spiegel  der 
Zuidersee  von  einem  Sturme  derart  schräg  gestellt,  daß 
er  am  Ostufer  um  5  m  höher  war  als  am  Westufer. 
Auch  die  Ostsee  wird  durch  Stürme  manchmal  an  einem 
Ufer  hoch  aufgestaut,  und  überdies  zeigt  sie  ziemlich 
regelmäßige,  jährliche  Schwankungen  wie  ein  Binnen- 
see, welcher  die  Hochwasserperiode  seiner  Zuflüsse  ver- 
rät ^).  Vermöge  aller  dieser  Verhältnisse  kann  es  sich 
sehr  leicht  ereignen,  daß  ein  erster  Besuch  der  Höhen- 
marke gerade  bei  niedrigem  Wasserstande,  ein  zweiter 
bei  höherem  erfolgt,  so  daß  man  eine  Niveauverände- 
rung wahrzunehmen  scheint,  während  thatsächlich  nur 
eine  gelegentliche  Schwankung  beobachtet  wird.  Die  Er- 
scheinungen, welche  vielfach  zum  Beweise  einer  Hebung 


')  Brückner,   Annalen  der- Hydrographie.  1888.   Febr.-Heft. 


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28  Albrecht  Penck, 

des  nördlichen  Schwedens  angeführt  worden  sind,  werden 
von  E.  Sueß  aus  den  dargelegten  Gründen  als  nicht 
beweiskräftig  angesehen  ^).  Nur  fortgesetzte  Pegelbeob- 
achtungen vermögen  ganz  sicheres  Material  zur  Entschei- 
dung der  Frage  nach  etwa  stattfindenden  Niveauverände- 
rungen beizubringen,  vorausgesetzt,  daß  die  Pegel  sich 
auf  festem  Boden  befinden.  .  Die  Geestvorsprünge  der 
mitteleuropäischen  Küsten  sind  allein  für  Pegelstationen 
geeignet,  während  im  Bereiche  der  Marschen  und  auf 
den  Dünen,  die  sich  auf  das  Marschland  auflagern,  es  sich 
bei  längeren  Beobachtungsserien  immer  noch  fragen  muss, 
ob  nicht  während  derselben  der  Pegel,  seiner  sich  „setzen- 
den" Unterlage  folgend,  etwas  gesunken  ist. 

Bisher  haben  die  Pegelbeobachtungen  der  deutschen 
Ostsee  kein  Anzeichen  stattgehabter  Niveauveränderung 
gewährt. 

2.  BeobaciLtimgen  an  den  Flüssen. 

Mannigfache  Anregungen  für  Untersuchungen  über 
Veränderungen  in  der  Landoberfläche  bieten  die  Flüsse. 
Nur  die  wenigsten  rinnen  in  engem  felsigen  Bette,  un- 
fähig, dasselbe  zu  verschieben,  dahin,  die  meisten  ergießen 
sich  durch  breite  Thalauen,  in  mehr  oder  weniger  zahl- 
reichen Windungen.  Die  Lage  der  letzteren  ist  keine 
feste.  An  den  konvexen  Stellen  seiner  Biegungen  unter- 
wäscht der  Fluß  seine  Ufer,  an  den  konkaven  schwemmt 
er  Gerolle  an,  das  Bestreben  entvnckelnd,  seine  Win- 
dungen mehr  und  mehr  auszudehnen.  Dabei  ereignet  es 
sich  leicht,  daß  zwei  Windungen  sich  mehr  und  mehr 
nähern,  bis  sie  sich  trefifen;  der  Fluß  benutzt  nunmehr 
den  neuen  abgekürzten  Weg  und  giebt  die  durch  den- 
selben abgekürzte  Windung  auf,  welche  darauf  als  tote 
Flußstrecke  allmählich  versandet  und  verschlammt. 

Es '  sind  dies  alles  ganz  bekannte  Erscheinungen, 
allein  nur  für  die  wenigsten  Flüsse  ist  festgestellt,  in 
welcher  Zeit  sich  dieselben  abspielen.  Es  ist  daher 
wünschenswert,  daß  diese  Prozesse  in  ihren  Einzelheiten 

')  Sueß,  Antlitz  der  Erde.  Bd.  IL  S.  300. 


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Oberflächenbau.  29 

genauer  verfolgt  würden,  daß  ein  Beobachter  die  kon- 
kaven und  konvexen  Stellen  eines  Flußlaufes  wiederholt 
feststeUt,  was  durch  Krokieren  geschehen  kann  (S.  5, 
siehe  auch  S.  21).  Fortgesetzte  Beobachtungen  werden 
dann  erkennen  lassen,  wie  viel  der  stattgehabten  Ver- 
änderungen unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  und  wie 
viel  bei  Hochwasser  stattfanden.  Lohnend  wird  auch 
immer  der  Vergleich  der  Veränderungen  von  Flußläufen 
sein,  welche  sich  aus  dem  Studium  verschiedener  Karten- 
aufnahmen ergeben,  beziehentlich  durch  Begehungen  seit 
einer  letzten  Mappierung  herausstellen,  wobei  namentlich 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Menge  des  von  den  Ufern 
abgewaschenen  Materials  zu  lenken  wäre.  Einige  wenige 
einschlägige  Untersuchungen  haben  in  dieser  Hinsicht 
schätzenswerte  Ergebnisse  geliefert^). 

Die  größten  Veränderungen  zeigen  die  Flüsse  im 
verwilderten  Zustande,  d.  h.  dort,  wo  sie  sich  in  zahl- 
reiche Arme  zerteilen  und  förmlich  in  einzelne  Adern 
auflösen,  was  überall  da  eintritt,  wo  ein  Strom  aus  dem 
Gebirge  unmittelbar  in  die  Ebene  tritt.  Es  ist  der  Rhein 
verwildert  beim  Betreten  der  oberrheinischen  Tiefebene, 
die  Bode  ist  es  am  Nordfuße  des  Harzes,  der  Inn  beim 
Verlassen  der  Alpen.  An  solchen  Strecken  pflegt  kaum 
ein  Jahr  zu  vergehen,  ohne  daß  dieser  oder  jener  Arm 
außer  Gebrauch  gesetzt  wird,  während  sich  andere  Ver- 
zweigungen bilden.  Aufeinanderfolgende  Mappierungen 
Hefern  daher  recht  verschiedene  Bilder  des  Stromes;  es 
bietet  sich  hier  für  aufmerksame  Beobachter  Gelegenheit 
den  Vorgang  in  seinen  Einzelheiten  zu  verfolgen. 

Die  Flüsse  verändern  aber  nicht  nur  ihre  Betten  in 
der  Horizontalen,  sondern  auch  in  der  Vertikalen.  Manche 
füllen  ihre  Betten  nach  und  nach  mit  GeröUe  auf, 
was  gewöhnlich  im  verwilderten  Zustande  geschieht,  die 
andern  vertiefen  dasselbe.  Die  aufschüttenden  Flüsse 
erhöhen  ihr  Bett  mehr  und  mehr,  bis  sie  schließlich  im 
Niveau  des   umgebenden  Landes   fließen,   wobei  letzteres 


^)  Wagner,    Hydrologische   Untersuchungen   an    deutschen 
Flüssen.    Braunschweig  1887. 


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30  Albrecht  Penck, 

ihren  Angriffen  preisgegeben  ist.  GewöhnKch  werden 
dann  Dämme  errichtet,  zwischen  welchen  die  Aufschüttung 
weiter  fortschreitet,  so  daß  der  Fluß  mehr  und  mehr  über 
seine  Umgebung  kommt.  Dies  ist  namentlich  in  den 
Niederlanden  (Rhein),  sowie  auf  manchen  Strecken  des 
Alpenvorlandes  der  Fall.  Es  wäxe  wünschenswert  das 
Maß  ihrer  Betterhöhimg  festzustellen.  Dies  wird  einer- 
seits durch  Wasserstandsbeobachtungen  geschehen  können, 
andererseits  durch  Ermittelung  der  Zeiten,  in  welchen, 
und  der  Beträge,  um  welche  die  Uferdämme  erhöht  worden 
sind.     Angaben  hierüber  liegen  noch  nicht  vor. 

Wohl  die  meisten  Flüsse  schneiden  ihr  Bett  ein, 
aber  dies  geschieht  im  allgemeinen  sehr  langsam  und 
entzieht  sich  der  Beobachtung  fast  gänzlich.  Immerhin 
würde  ein  Versuch  hierüber  Material  zu  sammeln  zu 
empfehlen  sein.  Man  wird  vielleicht  aus  der  Geschichte 
der  wichtigeren  Strombrücken  einschlägige  Beobachtungen 
entnehmen  können.  Im  wesentlichen  wird  es  sich  dabei 
darum  handeln,  das  Alter  der  Brücke  zu  ermitteln;  je 
höher  dasselbe  ist,  desto  unwahrscheinlicher  dürften  Ver- 
tiefungen des  Flusses  sein.  Wird  hingegen  berichtet, 
daß  die  Brücke  wegen  Unterwaschung  mehrfach  verlegt 
wurde,  oder  daß  besondere  Sicherheitsmaßregeln  für  die 
Pfeiler  ergriffen  win-den,  wie  z.  B.  an  der  Lechbrücke 
bei  Augsburg  (siehe  unten),  so  ist  eine  Vertiefung  des 
Flußbettes  sehr  wahrscheinlich. 

Dort,  wo  der  Mensch  in  die  Arbeit  der  Ströme 
künstlich  eingreift,  vermag  er  deren  Thätigkeit  sehr  zu 
verändern.  Namentlich  haben  Flußregulierungen  in  dieser 
Hinsicht  oft  einen  bedenklichen  Erfolg.  Dieselben  be- 
zwecken meist  eine  Geradlegung  des  Bettes,  der  Weg 
des  Flusses  wird  abgekürzt,  sein  Gefälle  gesteigert.  Da- 
durch gewinnt  er  Kraft,  er  putzt  das  neue  Bett  'förmlich 
aus  und  gräbt  sich  eine  tiefe  Rinne  ein.  Solches  geschah 
mit  dem  Lech  bei  Augsburg  nach  seiner  Regulierung, 
seine  Vertiefung  erfolgte  dermaßen  schnell,  daß  die  alte 
berühmte  Lechbrücke  bei  Hochzoll  unterwaschen  wurde, 
sie  wurde  abgebrochen  und  ihi-e  Widerlager  liegen  heute 
mehrere  Meter  über  der  neuen  Brücke.   Auch  die  seit  kaum 


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0  berflächenbau.  3 1 

50  Jahren  bestehende  Eisenbahnbrücke  ist  bedroht  worden; 
ihre  Pfeiler  mußten  besonders  durch  ümmauerung  ge- 
schützt werden  und  erheben  sich  heute  nicht  mehr  aus 
dem  Flusse,  sondern  auf  einer  künstlich  geschaffenen 
kleinen  Insel.  Die  Vertiefung  des  Bettes  hat  sich  strom- 
aufwärts bis  zu  jenem  Wehre  fortgesetzt,  welches  einen 
Teil  des  Lechwassers  nach  Augsburg  wirft.  Dasselbe 
war  ursprünglich  kaum  1 — 2  ra  hoch  und  bestand  aus 
einer  einzigen  Reihe  von  Bohlen.  Indem  sich  nun  der 
Fluß  vertiefte,  mußte  das  Wehr  tiefer  und  tiefer  herab- 
gebaut werden,  jetzt  sieht  man  drei  Reihen  von  je  5  m 
langen  Bohlen  übereinander,  und  die  Höhe  des  Wehres 
beträgt  über  (J  m.  Alles  dies  erfolgte  in  25  Jahren. 
Aehnliche  Verhältnisse  kehren  an  der  Isar  wieder,  welche 
ihr  Bett  seit  der  Regulierung  um  2  m  vertiefte,  wodurch 
besondere  Schutzmaßregeln  für  die  Maximiliansbrücke  in 
München  nötig  wurden.  Auch  die  Stubenbrücke  in  Wien 
mußte  durch  Anlage  eines  Betons  und  eines  unterhalb 
gelegenen  Wehres  vor  ünterwaschung  geschützt  werden. 
Solche  Angaben  weiter  zu  sammeln  und  genau  historisch 
zu  belegen,  wäre  äußerst  verdienstvoll.  Daneben  wäre 
aber  auch  wichtig  die  Tiefen  der  im  Einschneiden  be- 
griffenen Geäder  wiederholt  festzustellen.  Ueberhaupt 
möge  sich  die  Aufinerksamkeit  künstlichen  Gerinnen  zu- 
wenden, also  Mühlgräben,  Entwässerungsgräben  u.  s.  w., 
welche  vielfach  eine  rasche  Vertiefung  in  kurzer  Zeit  er- 
fahren. So  wurden  z.  B.  im  Bette  eines  Mühlgrabens 
am  Trollhättafalle  in  Schweden  binnen  20  Jahren  mehrere 
0,5  m  tiefe  Riesentöpfe  ausgewaschen,  und  in  noch  viel 
kürzerer  Zeit  entstanden  solche  in  dem  Kanäle,  durch 
welchen  1878  die  Aare  teilweise  zum  Bieler  See  abgeleitet 
wurde  *).  Einen  sehr  merkwürdigen  einschlägigen  Fall 
beobachtete  ich  bei  Meran.  Hier  ist  das  Bett  des  vom 
Schlosse  Tirol  kommenden  Wildbaches  mit  großen  Steinen 
gepflastert,  über  welche  für  gewöhnlich  nur  ein  schmales, 
kaum    1   dm    breites  Rinnsal   herabläuft.     Letzteres   hat 


^)  Baltzer,    Ueber   einen   Fall   rascher   Strudel lochbildung. 
Mitteil.  d.  natnrf.  Gesellsch.    Bern  1884. 


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32  Albrecht  Penck, 

nun  in  die  aus  festem  Tonalit  bestehenden  Blöcke  eine 
schmale,  1 — 2  dm  tiefe  Furche  eingeschnitten.  Leider 
konnte  ich  die  Zeit  der  Anlage  des  Pflasters  nicht  er- 
mitteln, und  somit  mu&  offen  bleiben,  wie  lange  das  Rinn- 
sal brauchte,  um  die  Furchen  auszuwaschen. 

Das  durch  Lyell  besonders  bekannt  gewordene  Bei- 
spiel des  Rückwäiiisschreitens  der  Niagarafälle  möge  an- 
regen, auch  die  viel  weniger  bedeutenden  Wasserfälle 
Mitteleuropas  einer  fortlaufenden  Ueberwachung  zu  unter- 
werfen, indem  ron  Zeit  zu  Zeit  festgestellt  werden  möchte, 
um  wie  viel  die  obere  Kante  des  Falles  abgenutzt  wird. 
Hierbei  kann  es  sich  aber  um  ganz  genaue  Messungen 
mit  Hilfe  eines  Maßstabes  handeln,  und  es  möge  dabei 
von  leicht  kenntlichen,  am  besten  markierten  Stellen 
ausgegangen  werden,  damit  sp9.tere  Beobachtungen  mit 
voller  Sicherheit  sich  auf  dem  Boden  der  früheren  be- 
wegen. Den  Umwohnern  größerer  Wasserfälle  ist  meist 
das  Datum  bekannt,  an  welchem  diese  oder  jene  Klippe 
einbrach;  es  möchten  solche  Angaben  gesammelt  werden, 
um  auch  hier  den  Qang  der  Zerstörung  in  seinen  Einzel- 
heiten festzustellen.  Eine  Zusammenstellung  naturge- 
treuer, verschieden  alter  Abbildungen  eines  Wasserfalles 
dürfte  in  mancher  Hinsicht  zu  ähnlich  wichtigen  Folge- 
rungen führen  wie  der  Vergleich  verschiedener  karto- 
graphischer Aufnahmen  einer  Gegend  (vergl.  S.  66). 

3.  Beobaclitungen  über  Seeen. 

Die  Seeen  Mitteleuropas  sind,  geologisch  gesprochen, 
vorübergehende  Erscheinungen.  Ihre  Zuflüsse  arbeiten 
an  ihrer  Zuschüttung,  ihr  Abfluß  an  Tieferlegung  ihres 
Spiegels,  beide  zusammen  an  ihrem  Erlöschen.  Verhält- 
nismäßig rasch  vollziehen  sich  hier  Veränderungen,  welche 
leicht  verfolgt  werden  können. 

Alle  Flüsse,  welche  in  Binnenseeen  münden,  bauen  Del- 
tas in  dieselben  hinein,  und  das  Wachstum  der  letzteren  ist 
bereits  in  kurzen  Zeiträumen  ein  sichtbares.  Aeltere  und 
neuere  Karten  lassen  oft  recht  beträchtliche  Verschieden- 
heiten der  Uferlinie  erkennen.    Man  ermittle  dieselben  und 


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Oberflächenbau.  33 

berechne  die  Landvergrößerung.  Nur  wolle  man  ja  nicht 
6twa  mit  Hilfe  der  so  gewonnenen  Daten  ohne  weiteres 
feststellen,  wie  lange  der  See  noch  bestehen  kann.  Zu 
dem  Ende  ist  es  notwendig,  nicht  bloß  die  Verminderung 
des  Seeareals,  sondern  auch  die  des  Seevolums  zu 
kennen.  In  letzterer  Hinsicht  bleibt  noch  sehr  viel  zu 
thun.  Es  gilt  hier  nachzuweisen,  in  welcher  Tiefenzone 
der  Landzuwachs  erfolgte,  und  ob  ferner  vor  demselben 
die  Seetiefen  sich  durch  Ablagerung  von  zugeflihrtem 
Schlamm  gemindert  haben.  Nur  durch  zeitweise  Wieder- 
holung sehr  genauer  Tiefenmessungen  (siehe  S.  13)  wird 
sich  dies  alles  feststellen  lassen;  Seeauslotungen  werden 
daher  um  so  verdienstlicher  sein,  je  genauer  sie  die 
Deltaregion  berücksichtigen;  namentlich  möchten  dieselben 
auch  der  unter  dem  Wasser  befindlichen  Rinne  in  der 
Portsetzung  des  Flusses  nachgehen. 

Die  Tieferlegung  des  Seeabflusses  erfolgt  weniger 
regelmäßig  als  das  Anwachsen  des  Deltas  an  den  Zu- 
flüssen, ja  sie  kann  gelegentlich  sogar  gänzlich  stillstehen 
und  sich  in  das  Gegenteil  verwandeln.  So  scheint  der 
Bodensee  durch  Aufwachsen  von  Kalkablagerungen  und 
durch  Vergrößerung  des  Schuttkegels  vom  Eschenzer 
Bache  in  seiner  Abflußregion  im  Laufe  der  Zeiten  eher 
«ine  Aufstauung  als  eine  Senkung  seines  Spiegels  erfahren 
zu  haben,  während  an  anderen  Seen  (Züricher  See,  Gmun- 
dener  See)  Wehranlagen  am  unteren  Ende  davon  zeugen, 
daß  der  Abfluß  in  bedrohlicher  Weise  den  Seespiegel 
tiefer  zu  legen  sich  bestrebte.  Es  werden  daher  am  See- 
abflusse  Beobachtungen  mit  Erfolg  vorzunehmen  sein; 
dieselben  werden  erkennen  lassen,  ob  der  Seespiegel  eine 
Tendenz  zum  Steigen  oder  Fallen  bekundet.  Namentlich 
muß  es  als  nützlich  bezeichnet  werden  historische  Unter- 
suchungen über  die  Zeit  der  ersten  Anlage  und  des  wei- 
teren Ausbaues  der  stauenden  Wehre  anzustellen.  Sonst 
wird  man,  sofern  nicht  anhaltende  Pegelbeobachtungen 
vorliegen,  im  allgemeinen  aus  der  Bewegung  der  üfer- 
linie  auf  Veränderungen  des  Seespiegels  schließen  können. 
Man  konstatiere  daher,  sei  es  durch  Aussagen  von  Um- 
wohnern,  sei   es  durch  das  Studium  älterer  Karten,    sei 

Anleitnng  zur  deutschen  LandeB-  und  Volksforachung.  3 


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34  Albrecht  Penck, 

es  endlich  durch  Vergleich  neuerer  Karten  mit  der 
Natur,  ob  und  in  welcher  Richtung  sich  das  Ufer  ver- 
legt hat,  nur  beachte  man  hierbei,  daß  der  Seespiegel 
neben  einer  wohl  denkbaren  allgemeinen  auch  zeitweilige 
Schwankungen  aufweist. 

Es  ist  bereits  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die 
Binnenseeen  die  Schwellperioden  ihrer  Zuflüsse,  wenn  auch 
in  abgetönter  Weise,  wiederholen.  Man  vergewissere  sich 
daher,  ob  nicht  etwa  ein  scheinbares  Sinken  des  Sees 
sich  nicht  ohne  weiteres  daraus  erklärt,  daß  eine  frühere 
Beobachtung  bei  Hochwasser,  die  spätere  aber  bei  Nieder- 
wasser vorgenommen  ist.  Weniger  dürfte  das  Phänomen 
der  „Seiches",  am  Bodensee  Ruhß  genannt,  die  Beobach- 
tung beeinflussen.  Dasselbe  besteht  in  einem  Auf-  und 
Abschwanken  des  Seespiegels,  und  wenn  es  auch  gelegent- 
lich ein  Sinken  und  Heben  des  Wassers  im  Betrage  von 
mehr  als  1  m  verursacht,  so  spielt  es  sich  in  so  kurzen 
Zeiten  (20  Minuten  bis  *  2  Stunde)  ab,  daß  es  wohl  kaum 
unbeachtet  bleibt.  Viel  wichtiger  ist  es  die  Aufmerk- 
samkeit auf  die  größeren  Perioden  der  Seestände  zu 
lenken.  Erst  kürzlich  hat  sich  herausgestellt,  daß  die 
größeren  Binnengewässer  den  Wechsel  feuchter  und  trocke- 
ner Jahre  spiegeln  ^),  und  in  niederschlagsreichen  Perioden 
nicht  unbeträchtlich  höher  stehen  als  in  trockenen.  Es 
ist  daher  unter  Umständen  wohl  möglich,  daß  ein  Ver- 
gleich der  Seeufer  verschiedener  Zeiten  Schwankungs- 
perioden, bedingt  durch  klimatische  Verhältnisse,  erkennen 
läßt,    wie  dies  namentlich  für  den  Neusiedler  See^)  gilt. 

So  kann  denn  ein  Vergleich  verschiedener  Seekon- 
turen, nach  verschiedenen  Richtungen  hin  schätzbares 
Material  liefern.  Daß  es  sich  hierbei  namentlich  um  den 
jemaligen  Verlauf  der  flachen  Uferstellen  handelt,  liegt 
auf  der  Hand,  ebenso  wie  daß  die  im  Flachlande  liegen- 


^)  Brückner,  Annaler.  der  Hydrographie.  1888.  Febr.-Heft.  — 
Sieger,  Jahresbericht  des  Vereins  der  Geographen  an  der  Uni- 
versität Wien  1887.  Mitteilungen  d.  k.  k.  geograph.  Gesellschaft. 
Wien  1888. 

-)  Swarowsky.  Jahresbericht  des  Vereins  der  Geographen, 
an  der  Universität  Wien  1886. 


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Oberflächenbau.  35 

den  Seeen  weit  besseres  Material  liefern  als  die  von  felsi- 
gen üfem  eingeschlossenen.  Dafür  aber  bieten  die  6e- 
birgsseeen  wiederum  Anregungen  nach  anderer  Richtung, 
indem  nämlich  an  ihren  Ufern  vielfach  frühere  besonders 
hohe  oder  besonders  tiefe  Stände  verzeichnet  sind.  Solche 
Angaben  möchten  thunlichst  gesammelt  werden.  Ferner 
kommt  es  nicht  selten  vor,  daß  manche  Klippen  bei 
hohem  Stande  verschwinden  und  andere  bei  tieferem  her- 
vortreten; Angaben  über  das  Auftreten  oder  Verschwin- 
den von  Felsen  oder  gar  von  Inseln  können  oft  die  Ge- 
schichte eines  Wasserspiegels  in  recht  vollständiger  Weise 
liefern.  So  haben  Beobachtungen  über  5  Klippen  im 
Hafen  von  Baku  die  Geschichte  des  kaspischen  Seespiegels 
enthüllt  ^),  und  Berichte  über  die  bald  insulare,  bald  pen- 
insulare Lage  der  Stadt  Ardisch  am  Wansee  haben  die 
Schwankungsperioden  des  letzteren  oflfenbart  *).  Ein- 
schlägige Beobachtungen  können  daher  nicht  genug  em- 
pfohlen werden,  nur  möge  beachtet  werden,  daß  als  Be- 
obachtungsmarke eine  feste  Felsklippe  diene  und  nicht 
etwa  ein  bloßer  Block.  Ein  solcher  pflegt  den  Verschie- 
bungen seitens  der  Eisdecke  ausgesetzt  zu  sein,  und  seine 
Lage  kann  nicht  als  stabil  gelten. 

Die  großen  und  tiefen  Seeen  sind  beständiger  als 
die  kleinen  und  seichten.  Veränderungen  ihrer  Konturen 
werden  im  allgemeinen  eher  mit  klimatischen  Schwan- 
kungen als  mit  einer  Tieferlegung  ihres  Spiegels  zu  thun 
haben.  Die  kleineren  Seeen  hingegen  trocknen  rasch  aus. 
So  hatte  der  Federsee  im  südlichen  Württeraberg  1787 
noch  10,95  qkm,  während  er  jetzt  nur  noch  deren  2,5 
zählt.  Eine  Menge  von  Seeen  ist  in  historischen  Zeiten 
verschwunden.  Im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  ist  etwa 
^3  der  Seeen  des  Inngletschergebietes,  der  Zahl  nach  100, 
verschwunden,  und  in  Tirol  zählte  A.  Böhm^)  auf  der 
Anichschen  Karte   von  Tirol    118  Seeen,    die   jetzt  nicht 


^)  Brückner  a.  a.  0. 

*)  Sieger,  Mitteil.  d.  k.  k.  geogr.  Gesellsch.    Wien  1888. 
•)  Die  Hochseen  der  Ostalpen.    Mitteil.  d.  k.  k.  geogr.  Gesell- 
schaft.   Wien  1886. 


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36  Albrecht  Penck, 

mehr  existieren.  Diese  Daten  mögen  zu  weiteren  ein- 
schlägigen Untersuchungen  anregen.  Der  Vergleich  alter 
Karten  mit  dem  gegenwärtigen  Zustande  sowie  archiva- 
lische  Studien  dürften  allenthalben  eine  beträchtliche  Ver- 
minderung der  Zahl  stehender  Gewässer  ergeben.  Die 
ehemaligen  Konturen  derselben  dürften  meist  noch  kennt- 
lich sein,  so  daß  die  früher  vom  Wasser  bedeckten  Areale 
bestimmbar  sind.  Die  Ermittelung  derselben  wird  nicht 
bloß  unsere  Kenntnis  des  Seephänomens  mehren,  sondern 
auch  möglicherweise  einen  Anhaltspunkt  für  etwaige  Klima- 
änderungen bieten.  Wenigstens  ist  nicht  unwahrschein- 
lich, daß  ein  ehedem  bedeutend  größerer  Reichtum  an 
Binnengewässern  die  atmosphärische  Feuchtigkeit  beein- 
flussen konnte. 

4.  Beobachtungen  über  Veränderungen  der  Oberflächen- 


Die  Veränderungen  im  Verlaufe  der  Küsten,  Fluß- 
und  Seeufer  bilden  nur  einen  kleinen  Teil  der  zahllosen 
Veränderungen,  welche  die  Landoberfläche  stetig  erleidet, 
aber  sie  sind  der  auffälligere  Teil  der  Erscheinungen,  weil 
sie  größtenteils  in  der  Horizontalen  erfolgen  und  durch  ein- 
fache Messungen,  durch  Krokieren,  leicht  festgestellt  wer- 
den können.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  Prozessen, 
welche  das  Relief  des  Landes  umgestalten,  mit  der  Abtragung 
desselben  durch  die  Denudation,  mit  allmählichen  Ver- 
schiebungen ganzer  Teile  durch  Verwerfungen  (Disloka- 
tionen). Hier  handelt  es  sich  um  Aenderungen  von  Höheu- 
verhältnissen ,  für  welche  man  im  allgemeinen  ziemlich 
wenig  empfindlich  ist.  Die  bisher  empfohlene  Methode, 
durch  Vergleich  älterer  und  jüngerer  kartographischer 
Darstellungen  Rückschlüsse  auf  stattgehabte  Veränderungen 
zu  machen,  ist  für  den  folgenden  Kreis  von  Erscheinungen 
nicht  anwendbar,  da  erst  aus  jüngster  Zeit  wirklich  ver- 
trauenswerte Höhenmessungen  vorliegen.  Auch  möge  man 
sich  nicht  der  Illusion  hingeben,  als  ob  man  durch  wieder- 
holte Höhenmessungen  gewöhnlicher  Art  den  Betrag 
stattgehabter  Erhebungen  oder  Abtragungen  eines  Punktes 


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Oberflächenbau.  37 

numerisch  feststellen  könnte,  wie  dies  z.  B.  für  die  süd- 
amerikanischen Anden  vorgeschlagen  ist  ^).  Man  berück- 
sichtige vielmehr  immer,  daß  es  sich  um  geringfügige 
Aenderungen  handelt,  welche  meist  in  den  Fehlergrenzen 
der  barometrischen  oder  trigonometrischen  Höhenmessung 
liegen,  und  nur  durch  sehr  exakte  und  daher  äußerst  kost- 
spielige Nivellements  ermittelbar  sind.  Man  wird  daher 
im  allgemeinen  bloß  auf  Umwegen  wirkliche  Aenderungen 
im  Relief  des  Landes  feststellen  können.  Die  allmählich 
erfolgenden  Prozesse  werden  sich  der  Beobachtung  meist 
entziehen  und  nur  der  plötzlich  geschehenden  wird  man 
gewahr  werden.  Am  auffälligsten  werden  im  allgemeinen  die 
auf  der  Landoberfläche  erfolgenden*  Massentransporte  sein. 

a)  Massentransporte  durch  den  Wind. 

Recht  eindringlich  machen  sich  namentlich  Ver- 
wehungen durch  den  Wind  geltend.  Das  Wandern  der 
Dünen  ist  von  alters  her  an  den  Küsten  beobachtet  und 
wird  im  allgemeinen  als  ein  Glied  jener  Veränderungen  be- 
trachtet, welche  am  Gestade  erfolgen.  Allein  Flugsand- 
bildungen knüpfen  sich  nicht  bloß  an  die  Küste.  Es  liegt 
zwar  auf  der  Hand,  daß  sie  am  leichtesten  dort  ent- 
stehen, wo  ein  sandiger  Strand  vorliegt,  aber  man  be- 
gegnet ihnen  auch  allenthalben  im  Binnenlande,  wo  immer 
Sandlager  auftreten.  Sie  zeichnen  die  sandigen  Flächen 
des  norddeutschen  Tieflandes  aus,  sie  begleiten  die  san- 
digen Striche  der  oberrheinischen  Tiefebene  und  längs 
der  Elbe  in  Böhmen;  sie  kehren  in  der  Gegend  von  Nürn- 
berg im  Reichsforste  und  unweit  Schrobenhausen  in  Ober- 
bayem  wieder.  Allerdings  sind  alle  diese  binnenländischen 
Dünen  meist  befestigt,  mit  Gestrüpp  oder  Wald  bestanden, 
während  die  Küstendünen  vermöge  ihrer  Kahlheit  den 
Einwirkungen  des  Windes  sehr  ausgesetzt  sind.  Sie  auch 
sind  es  daher,  deren  Wanderung  am  längsten  beobachtet 
?rird,  und  in  der  That  liegen  über  das  Vorwäi^tsschreiten 


*)  Vergl.  hierüber  die  lehrreichen  Ausführungen  von  Reiß: 
Sinken  die  Anden?    Verh.  d.  Geeellsch.  f.  Erdk.   Berlin  1880.  S.45. 


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38  Albrecht  Penck, 

der  Nordseedünen  recht  ausführliche  Angaben  vor.  Dies 
möge  nicht  hindern,  neue  Beobachtungen  anzustellen.  Man 
messe  von  Zeit  zu  Zeit  den  inneren  Dünenrand  von  ge- 
wissen Fixpunkten  unter  Beachtung  der  auf  Seite  5  und 
21  gegebenen  Regeln,  man  ermittle  aus  zuverlässigen 
Karten  oder  aus  Akten  den  früheren  Stand.  Nur  ver- 
wende man  nicht,  wie  es  bisher  oft  geschehen,  die  verschie- 
densten Beobachtungen  zur  Bildung  eines  Mittels,  sondern 
beschränke  sich  in  diesem  Falle  wie  sonst  auch  darauf 
festzustellen,  wieviel  in  bestimmten  Zeiten  die  Verände- 
rungen betragen  haben.  Denn  es  ist  nicht  vorauszusetzen, 
daß  das  Wandern  der  Dünen  immer  gleichmäßig  erfolge; 
auch  hier  werden  sich,  wie  bei  anderen  Erscheinungen, 
Perioden  größerer  oder  geringerer  Intensität  geltend 
machen,  um  deren  Feststellung  es  sich  eben  handelt. 

Die  binnenländischen  bewachsenen  Dünen  dürften  im 
allgemeinen  als  stabil  gelten.  Da  jedoch  nicht  selten 
vorkommt,  daß  die  schützende  Bewaldung  abgeholzt  wird, 
so  beginnt  das  Wandern  von  neuem ;  es  wäre  wünschens- 
wert über  dessen  Schnelligkeit  etwas  zu  erfahren,  wie 
denn  überhaupt  es  wichtig  wäre  die  Verteilung  und  Größe 
dieser  Binnendünen  einmal  eingehend  zu  untersuchen.  Für 
die  gewöhnlichen  Landkarten  sind  dieselben  meist  zu  ge- 
ringfügige Gegenstände  und  ihre  Aufnahme  durch  Kro- 
kieren  im  Maßstabe  einer  Spezialaufnahme  1  :  25000  wäre 
lohnend. 

Der  Umstand,  daß  sich  Dünen  an  jedwedes  Sand- 
lager knüpfen,  deutet  an,  wie  universell  die  Wirkungen 
des  Windes  sind,  und  in  der  That  begegnet  man  dessen 
Spuren  auch  sonst  vielfach.  In  der  Nachbarschaft  von 
sandigen  Bezirken  zeigen  Felsen  eine  eigentümliche  Ab- 
schleifung,  indem  sie  wie  mit  einem  Firniß  überzogen 
sind  und  dabei  flache  Einkerbungen  zeigen,  die  sich  an 
die  weicheren  Gesteinspartieen  knüpfen,  während  alle  här- 
teren Partikel  kleine  Hervorragungen  bilden.  Solche 
Windschliffe  sind  aus  der  libyschen  Wüste,  aus  den 
trockenen  Gebieten  Nordamerikas  und  Indiens  zuerst  be- 
kannt geworden,  auf  mitteleuropäischem  Boden  sind  sie 
auf  den  Hohburger  Bergen   unweit  Würzen   in   Sachsen 


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Oberflächenbau.  39 

beobachtet;  es  wäre  wünschenswert  ihre  weitere  Ver- 
breitung festzustellen. 

Auch  einzelne  Blöcke  werden  durch  den  sandbeladenen 
Wind  abgeschliffen  und  nehmen  dabei  eine  höchst  auf- 
fällige Gestalt  an.  Es  werden  nämlich  Facetten  ange- 
schliffen, und  der  Block  erhält  durch  dieselben  eine  pyra- 
midale Form,  er  wirdgewöhnlich  als  Pyramidalgeschiebe 
bezeichnet,  oder  auch  nach  der  Kantenzahl  der  von  ihm 
gebildeten  Pyramide:  Dreikanter,  Vier-  oder  Fünf- 
kanter. Man  hat  diese  Pyramidalgeschiebe  zuerst  im 
norddeutschen  Flachlande  bemerkt  und  ihre  Entstehung 
mit  der  Vergletscherung  in  Beziehung  gebracht.  Nach- 
dem man  aber  ihre  Verbreitung  in  Wüstengebieten  ^)  und 
ihren  Mangel  im  Bereiche  der  alpinen  Vergletscherung 
erkannt  hat  ^),  kann  es  wohl  keinem  Zweifel  unterliegen, 
dalä  sie  Produkte  des  Windes  sind.  Erfreulich  wäre  daJber, 
wenn  ihre  Verbreitung  auch  in  den  süddeutschen  Flug- 
sandgebieten nachgewiesen  werden  würde. 

Neben  dem  Sande  wird  natürlich  der  Staub  in 
hervorragender  Weise  eine  Beute  des  Windes,  und  es 
findet  allenthalben  ein  fortwährendes  Verwehen  desselben 
statt.  Man  wird  sich  dessen  oft  genug  im  Sommer  inne, 
wenn  namentlich  vor  einem  Gewitter  der  W^ind  in  heftigen 
Stößen  Staub  aufwirbelt;  man  sieht  im  Winter  auf  der 
Schneedecke  häufig  Staub  aus  großer  Ferne  angeweht 
und  nimmt  bei  Schneetreiben  wahr,  daß  von  entblößten 
Strecken  Landes  Partikel  auf  die  benachbarten  Schnee- 
felder geblasen  sind.  Alle  diese  Verhältnisse  bekunden, 
daß  die  oberflächliche  lockere  Bodenkrume,  sofern  sie 
nicht  durch  eine  perennierende  Vegetationsdecke  festge- 
halten ist,  in  steter  Wanderung  begriffen  ist,  ohne  daß 
gerade  ein  Steppenklima  zu  herrschen  braucht,  und  es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  von  gewissen  ausgesetzten  Stellen 
der   Staub   auf  geschütztere  Orte   unablässig   verfrachtet 


*)  Walther,  Die  Entstehung  von  Kantengeröllen  in  der 
Galalawtiste.  Berichte  der  math.-phys.  Klasse  der  k.  sächs.  Gesell- 
schaft der  Wissensch.  1887.  14.  Nov. 

*)  Heim,  üeber  Kantengeschiebe  aus  dem  norddeutschen 
Diluvium.     Vierteljahrsschr.  d.  Zürcher  naturf.  Gesellsch.  1888. 


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40  Albrecht  Penck, 

wird,  nur  fehlen  hierüber  in  Mitteleuropa  alle  Beobach- 
tungen, wohl  deswegen,  weil  anderweitige  Prozesse,  von 
denen  unten  die  Rede  sein  wird,  den  Gang  der  Erschei- 
nung verschleiern.  Möglicherweise  lässt  sich  aber  hier 
und  da  auf  experimentellem  Wege  die  Staubablagerung 
messen,  vielleicht  dadurch,  daß  man  auf  ebener  Erde  sehr 
flache  Metallkästen  aufstellt,  deren  Boden  dicht  neben- 
einander befindliche  Nadeln  aufweist.  In  regelmäßigen 
Zeiträumen  möchte  dann  der  Kasten,  der  natürlich  vor 
seitlichem  Zufluss  geschützt  sein  muß,  ausgespült  werden, 
worauf  aus  dem  Spülwasser  der  Staub  ausgeschieden  wird. 
Durch  derartige  Versuche  ließe  sich  wahrscheinlich  fest- 
stellen, daß  der  atmosphärische  Staub  sich  in  wesentlichen 
Mengen  der  Ackerkrume  zugesellt,  und  nicht  undenkbar 
ist,  daß  an  manchen  Orten  die  zusammengewehten  Par- 
tikel zu  nennenswerten  Ablagerungen  sich  anhäufen  können. 
Es  würde  dies  eine  Fortdauer  der  Lößbildung  im  Sinne 
der  Theorie  von  Richthofens  ^)  bezeichnen. 

b)  Verwaschungen  durch  den  Regen. 

Nach  heftigen  Gewittergüssen  sieht  man  häufig  am 
Fuße  von  Gehängen  mächtige  Zusammenschwemmungen 
von  Erdreich,  hervorgebracht  durch  die  am  Gehänge  herab- 
gelaufenen Wassermassen.  Ich  habe  manchmal  1 — 3  dm 
mächtige,  so  entstandene  Ablagerungen  begegnet;  es 
wäre  wichtig  durch  öftere  Messungen  festzustellen,  ob 
sich  derartige  Erscheinungen  an  bestimmten  Orten  wieder- 
holen, welche  Erhöhung  des  Landes  sie  bewirken  und 
welche  Abwaschung  an  anderen  Stellen  sie  zur  Voraus- 
setzung haben.  Möglicherweise  kann  man  durch  Ein- 
grabung  von  Meßstangen  an  geeigneten  Orten  sich  Pegel 
flir  die  Erhöhung  und  Abtragung  des  Landes  schaffen. 

Besondere  Beobachtung  verdienen  auch  die  Vorgänge, 
welche  sich  an  die  Schneeschmelze  knüpfen.  Oft  sind  die 
oberen  Partieen  der  Gehänge  schon  „ausgeapert**,  während 
ihren  Fuss  noch  eine  mächtige  Schneedecke  verhüllt.   Der 


^)  China.  Bd.  I. 


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Oberflächenbau.  41 

winterliche  Frost  hat  oben  Felsen  gelockert,  dieselben 
stürzen  herab  und  finden  auf  der  unten  gelegenen  Schnee- 
decke eine  ausgezeichnete  Gleitbahn,  auf  welcher  sie  weiter 
thalwärts  rollen  können  als  sonst  möglich  wäre.  Auch 
wäre  zu  untersuchen,  ob  nicht  vielleicht  manche  groise 
isolierte  Felsblöcke  der  Granitgebiete  während  des 
Winters  ihre  Lage  etwas  verändert  haben.  Denkbar  ist 
wenigstens,  daß  ihre  Unterlage,  nachdem  sie  sich  mit 
Wasser  vollgesogen,  beim  Gefrieren  desselben  sich  etwas 
ausdehnt  und  dadurch  an  der  Position  des  Blockes  rüt- 
telt. Möglich  ist  femer,  daß  die  des  Frühjahrs  an  den 
Hängen  herabrinnenden  Wasser  manchmal  den  Sockel  des 
Blockes  unterminieren,  so  daß  dieser  etwas  ins  Rutschen 
kommt.  Kurz,  es  wären  Beobachtungen  über  die  gegen- 
seitige Lage  jener  großen  losen  Granitblöcke,  die  über 
den  Böhmerwald,  das  Erz-  und  Fichtelgebirge  sowie  über 
den  Brocken  förmlich  ausgestreut  sind,  recht  wünschens- 
wert, denn  es  unterliegt  in  sehr  vielen  Fällen  keinem 
Zweifel,  daß  solche  Blöcke  nicht  an  der  Stelle  gebildet 
sein  können,  an  welcher  sie  sich  gegenwärtig  befinden, 
indem  sie  manchmal  auf  fremden  Gesteinen  auflagern, 
oder  auf  mächtigem  verschwemmten  Materiale  ruhen, 
weswegen  sie  entschieden  gewandert  sein  müssen,  ohne 
damit  „erratisch"  zu  sein. 

c)  Bergstürze,  Erdrutsche  und  Erdfälle 

gehören  zu  den  auffälligeren  jener  Erscheinungen,  welche 
die  Landoberfläche  umgestalten,  und  sie  erregen  gewöhn- 
lich die  Aufmerksamkeit  weiter  Kreise,  erfahren  aber  nicht 
immer  die  entsprechende  wissenschaftliche  Würdigung. 

Die  Bergstürze  und  Erdrutsche  knüpfen  sich  an  steile 
Gehänge,  also  meist  an  Thäler.  Sie  beruhen  entweder 
auf  dem  Losbrechen  gelockerter  Felspartieen,  sind  also 
echte  Felsstürze,  oder  auf  einem  Ausgleiten  von  Schichten 
auf  einer  glitscherig  gewordenen  Unterlage,  was  gern  dort 
eintritt,  wo  die  Gehänge  steiler  geneigt  sind  als  die  gleich- 
sinnig fallenden  Schichten.  Das  sind  Felsrutschungen 
oder  Felsschlipfe.    Erdrutschungen  endlich  treten  dort  ein. 


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42  Albrecht  Penck, 

wo  loses,  an  einem  Gehänge  gleichsam  klebendes  Erd- 
reich ins  Rutschen  kommt.  Alle  diese  verschiedenen 
Kategorieen  von  Erdbewegungen  pflegen  durch  geraume 
Zeit  vorbereitet  zu  werden;  lange  arbeitet  der  Frost  an 
den  Klüften,  bevor  ein  Block  völUg  losgesprengt  ist,  lange 
muß  das  Wasser  die  Unterlage  abrutschender  Felsen  und 
des  Erdreichs  durchfeuchten,  ehe  sich  dieselben  in  Be- 
wegung setzen.  Man  hat  diese  lange  wirkenden  Ursachen 
der  Stürze  von  den  schließlichen  Veranlassungen  derselben 
wohl  zu  trennen,  was  bei  einer  Untersuchung  wohl  im 
Auge  zu  behalten  ist. 

An  einem  Bergsturz  oder  Erdrutsch  kann  man  ge- 
wöhnlich die  Abbruch-  oder  Abrutschstelle,  die  Rutsch- 
bahn und.  das  Trümmerfeld  unterscheiden.  Die  Erschei- 
nung selbst  pflegt  im  allgemeinen  in  der  Art  von  statten 
zu  gehen,  daß  die  losbrechenden  Felsen  beim  Herabfallen 
zertrümmern,  worauf  ihre  Fragmente  zusammen  neben- 
einander fortrollen,  bis  sie  endlich,  unter  Umständen  recht 
weit  von  der  Abbruchstelle,  liegen  bleiben;  die  abrutschen- 
den Massen  fließen  gleichsam  abwärts  und  werden  unten 
stromartig  verbreitet.  In  beiden  Fällen  erfolgt  die  Schutt- 
bewegung dicht  an  der  Erdoberfläche,  was  aber  bisher 
nur  selten  (wegen  des  Schreckens,  welchen  die  Erschei- 
nung verbreitet)  wahrgenommen  wurde  und  worauf  die 
Beobachter  die  Aufmerksamkeit  lenken  möchten ;  zugleich 
aber  mögen  begleitende  Erscheinungen,  Lichtphänomene 
und  Luftbewegung,  nicht  unbeachtet  bleiben  ^). 

Er d fälle  entstehen  vielfach  durch  Einbruch  unter- 
irdischer Hohlräume,  durch  Einstürzen  des  Daches  von 
Höhlen.  Da  sich  solches  bisher  nur  selten  unter  den 
Augen  von  Beobachtern  vollzogen  hat,  so  ist  es  wichtig, 
die  einzelnen  Begleiterscheinungen  zu  erfragen:  etwaiges 
Aufleuchten,  das  Getöse,  vielleicht  spürbare  Erderschüt- 
terungen, ganz  ebenso  wie  bei  Bergstürzen.  Dabei  aber 
möge  auch  hier  wiederum  zwischen  der  langanhaltenden 
Ursache  und  der  endlichen  Veranlassung  geschieden  werden. 


*)  Vergl.  Heim,  Ueber  Bergstürze.    Neujahrsblatt  d.  Zürch. 
naturf.  Gesellsch.  1882. 


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Oberflächenbau.  43 

und  die  letztere,  die  in  besonderen  meteorologischen  Um- 
ständen, einem  Unwetter  oder  gar  einem  Erdbeben  (vergL 
S.  47)  bestehen  kann,  möge  umsichtig  festgestellt  werden. 
Es  ist  von  manchen  Gegenden,  namentlich  dem  kroatischen 
Karste,  behauptet  worden,  daß  binnen  sehr  kurzer  Zeit 
sich  deren  Oberfläche  durch  zahllose  Einstürze  gänzlich 
verändert  habe,  was  nach  sonstigen  Erfahrungen  als  nicht 
recht  glaublich  erscheint.  Man  forsche  daher  über  das 
Alter  der  Erdfälle  nach,  fasse  aber  ins  Auge,  dais  nicht 
ein  jeder  Erdtrichter  das  Erzeugnis  eines  Einsturzes  sein 
muß.  Man  ist  geneigt  die  Erdtrichter,  die  Solle  und  Pfühle 
Norddeutschlands  als  Strudellöcher,  ausgewaschen  durch 
die  Schmelzwässer  der  Vergletscherung,  anzusehen,  und 
es  muß  als  in  hohem  Grade  wahrscheinlich  gelten,  daß 
viele  Erdtrichter  (Dolinen)  der  Karstgebiete  durch  Ver- 
witterung entstanden  sind,  indem  das  im  porösen  Gesteine 
einsickernde  Wasser  sich  allmählich  breite  Kanäle  ausfraß. 


d)  Allmähliche  Höhenänderungen. 

Bereits  im  vorigen  Jahrhundert  erregten  einige  Er- 
scheinungen, welche  die  Höhenänderung  mancher  Strecken 
Landes  erweisen,  die  Aufmerksamkeit  der  Geographen. 
Es  wurde  bekannt,  daß  ein  Kirchturm  in  Derbyshire  von 
einer  gewissen  Stelle  zwischen  Hopton  und  Wirkworth 
nicht  gesehen  werden  konnte,  dann  aber  sichtbar  wurde  ^y, 
Aehnliche  Daten  werden  aus  den  verschiedensten  Teilen 
Mitteleuropas  erzählt,  aus  Schwaben,  Franken,  Thüringen 
und  Sachsen.  So  war  z.  B.  das  Dorf  Kaditzsch,  un- 
weit Grimma  in  Sachsen,  früher  von  der  Chaussee,  die 
von  letzterer  Stadt  nach  Mutzschen  führt,  nicht  zu  sehen 
und  seit  etwa  20  Jahren  ist  es  sichtbar  geworden.  Von 
anderen  Punkten  wird  wiederum  mitgeteilt,  daß  sie  früher 
den  Ausblick  auf  bestimmte  Stellen  gestatteten,  was  nun 
nicht  mehr  möglich  ist. 


*)  Torbern   Bergmann,   Physikalische   Beschreibung   der 
Erdkugel.     3.  Aufl.  1791.  Bd.  II.  S.  143. 


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44  Albrecht  Penck, 

Kahle  hat  den  verdienstvollen  Versuch  gemacht, 
von  einer  bestimmten  Gegend  die  entsprechenden  Daten 
zu  sammeln^),  und  das  von  ihm  zusammengestellte,  sich 
vielfach  kontrollierende  Material  lälat  keinen  Zweifel  dar- 
über zu,  daß  rings  um  Jena  die  Höhen  Verhältnisse  in 
den  letzten  20 — 30  Jahren  Veränderungen  erlitten  haben, 
und  es  wäre  sehr  wünschenswert,  wenn  ähnliche  Zusammen- 
stellungen für  weitere  Gebiete  Mitteleuropas  vorgenommen 
würden.  Natürlich  müssen  dieselben  in  durchaus  kriti- 
scher Weise  geschehen.  Man  entnehme,  die  Daten  nicht 
aus  bloüem  Hörensagen,  sondern  suche  dieselben  un- 
mittelbar von  mehreren  unbefangenen  Zeugen  zu  erlangen 
und  notiere  sich  möglichst  genau  jede  einzelne  Aussage. 
Man  lasse  sich  femer  die  Punkte  genau  bezeichnen,  von 
welchen  aus  bestimmte  Gegenstände  sichtbar  oder  un- 
sichtbar geworden  sind.  Man  begebe  sich  dahin  und  stelle 
den  Thatbestand  selbst  fest.  Dann  vergewissere  man  sich, 
ob  nicht  etwa  in  der  Sehlinie  Entholzungen,  Bauten,  Gra- 
bungen u.  s.  w.  vorgenommen  sind,  ob  unter  derselben 
nicht  etwa  ein  Bergbau  umgeht,  der  ein  langsames  Nach- 
sinken der  Erdoberfläche  verursacht  hat,  wie  dies  z.  B. 
in  dem  erwähnten  Beispiele  von  Kaditzsch  in  Sachsen  der 
Fall  ist.  Weiter  suche  man  zu  ermitteln,  in  welcher  Zeit 
sich  die  Aussicht  verändert  hat,  und  ob  dies  nach  einem 
Erdrutsche  oder  Einstürze  oder  Erdbeben  (vergl.  S.  47)  ge- 
schehen ist,  wobei  jedoch  immer  die  Thatsache  im  Auge 
zu  behalten  ist,  daß  die  Bevölkerung  gern  geneigt  ist, 
großen  Naturerscheinungen  alle  möglichen  bereits  langsam 
geschehenen  Veränderungen  zuzuschreiben.  Endlich  er- 
mittle man  die  Höhenlage  und  gegenseitige  Entfernung 
aller  in  Frage  kommenden  Punkte  (siehe  unten). 

Eine  einzelne  Beobachtung  genügt  natürlich  nicht, 
um  das  Wesen  der  Erscheinung  festzustellen.  Ist  z.  B. 
ein  Dorf  von  einem  anderen  aus  sichtbar  geworden,  so 
kann  dies,  geschehen  sein,  indem  das  eine  oder  das  andere 


*)  Höhenänderungen  in  der  Umgegend  von  Jena  infolge 
Hebung  oder  Senkung  des  Bodens.  Mitteil,  der  geogr.  Gesellscb. 
Jena.  Bd.  V  u.  VI. 


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Oberflächenbau.  45 

sich  gehoben  hat,  oder  auch,  indem  der  zwischen  beiden 
befindliche  Rücken  niedriger  geworden  ist.  Ist  hingegen 
ein  Ort  vom  anderen  unsichtbar  geworden,  so  kann  dies 
durch  eine  Senkung  des  einen  oder  anderen  derselben, 
oder  durch  eine  Hebung  des  zwischengelegenen  Rückens 
erklärt  werden.  Man  suche  daher  möglichst  viel  Material 
zu  sammeln,  erst  dann,  wenn  für  einen  bestimmten  Ort 
von  verschiedenen  Seiten  aus  sich  übereinstimmend  die 
Möglichkeit  ergiebt,  daß  gerade  er  eine  Niveau  Veränderung 
erlitten  hat,  kann  diese  letztere  als  wahrscheinlich  gelten, 
während  dann,  wenn  nur  von  einer  Seite  her  sich  die 
Aussicht  verringert  oder  vermehrt  hat,  es  das  Wahrschein- 
lichste ist,  daß  dies  durch  Niveauveränderungen  eines  in 
dieser  Richtung  befindlichen  Rückens  zu  erklären  ist. 

Fig.  2. 

c 

dz.""  u 


Als  recht  nützlich  erweisen  sich  bei  solchen  Erörterungen 
genaue  Angaben  über  die  Höhenlage  und  Entfernung  aller  in  Be- 
tracht kommenden  Punkte.  Es  sei  von  A  (Fig.  2)  aus  über  dem 
Bücken  B  früher  gerade  die  Spitze  C  eines  Kirchturms  sichtbar 
gewesen,  jetzt  sehe  man  den  ganzen  Turm  mit  der  Höhe  H.  Sind 
nun  Äj,  hl  und  h^  die  Meereshöhen  von  -4,  B  und  C,  und  seifen  die 
Strecken  AB  =  A  und  BC  =  ^2  bekannt,  so  werden  sich  folgende 
Fälle  ergeben.  Es  ist  denkbar,  daß  die  Kirche  von  C  dadurch 
sichtbar  wurde,  daß  A  gehoben  wurde  bis  A\\  dann  wird  die 
Proportion 

AA^\AB  =  Il\BC 
gelten,  und 

Es  kann  aber  auch  sein,  daß  C  sich  gehoben  hat:  der  Betrag 
der  Hebung  ist  dann  gleich  H,    Schließlich    ist  denkbar,   daß  B 


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46  Albrecht  Penck, 

bis  B\   erniedrigt  wurde,  so  daß  C  von  A  über  Bi  zu  erblicken 
war.    Dann  gilt 

BB^iAB  =  HiAC 
und  _    ^{H 

Finden  sich  nun  für  eine  mutmaßliche  Erhebung  für  A  Öfters 

J        TT 

Werte  =  — ^ — ,  so  ist  wahrscheinlich,  daß  A  wirklich  gehoben  ist. 

«2 
Entsprechend  ergiebt  sich  die  Wahrscheinlichkeit  einer  Senkung 
von  ß,  oder  einer  Hebung  von  C.  Da  es  sich  gewöhnlich  um  sehr 
große  Entfernungen  und  geringe  Höhenänderungen  handelt,  so 
können  AB  und  AiB  als  gleich  angesehen  werden,  wie  denn  auch 
die  Krümmung  der  Erdoberflache  vernachlässigt  werden  darf. 

Erst  wenn  das  Wesen  der  Erscheinung  festgestellt 
ist,  kann  daran  gegangen  werden,  die  letztere  zu  erklären, 
und  da  bietet  sich  wieder  eine  Fülle  von  Möglichkeiten 
dar.  Ist  die  Höhenabnahme  eines  Rückens  zwischen  zwei 
verschiedenen  Punkten  festgestellt,  so  kann  diese  durch 
eine  hier  allmählich  stattgefundene  Abtragung  erklärt 
werden,  ferner  durch  eine  Senkung  infolge  des  Setzens 
des  Erdreiches,  infolge  des  Einbruches  von  Hohlräumen, 
endlich  durch  Schichtstörungen.  Die  wahrscheinliche  He- 
bung eines  Rückens  wird  schwerlich  mit  einer  statt- 
gehabten Denudation  in  Verbindung  zu  setzen  sein;  sie 
kann  erklärt  werden  durch  eine  wirkliche  Hebung  z.  B. 
infolge  des  Aufquellens  mancher  Gesteine,  z.  B.  der  Um- 
wandlung von  Anhydrit  in  Gips,  oder  durch  eine  ent- 
sprechende Schichtstörung,  endlich  aber  kann  sie  eine 
scheinbare  sein,  indem  der  Rücken  hinter  dem  allgemeinen 
Sinken  seiner  Umgebung  zurückblieb.  Aus  der  Menge 
dieser  recht  verschiedenen  Erklärungsmöglichkeiten  die 
wahrscheinlichste  auszuwählen  dürfte  nur  einem  genauen 
Kenner  der  geologischen  Verhältnisse  des  betreflFenden 
Gebietes  möglich  sein. 

Jedenfalls  ist  aber  auszusprechen,  daß  dort,  wo  Höhen- 
änderungen durch  Veränderungen  der  Aussichtsweite 
nachweisbar  sind,  wiederholte  Höhenmessungen  eventuell 
den  ziffermäßigen  Betrag  der  Aenderung  erkennen  lassen 
werden.  Nur  vergewissere  man  sich,  daß  diese  Mes- 
sungen wirklich  so  genau  sind,  daß  sie  geringfügige  Ab- 


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Oberflächenbau.  47 

weichungen  mit  Sicherheit  erkennen  lassen.  Gerade  hier 
heifit  es  der  üngenauigkeit  der  barometrischen  Methode 
recht  bewußt  bleiben ;  hier  kommen  die  störenden  Wirkun- 
gen der  Refraktion,  welche  die  trigonometrische  Höhenmes- 
sung beeinflussen,  besonders  ins  Gewicht.  Nur  wiederholte 
genaue  Nivellements  können  wirkliche  Höhenveränderungen 
nachweisen,  und  angesichts  der  ziemlich  zahlreichen  Fälle 
von  Aussichtsänderungen  in  Mitteleuropa  dürfte  es  an- 
gezeigt sein  die  Verschiedenheiten  in  den  Ergebnissen 
älterer  und  neuerer  Nivellements  nicht  bloß  durch  Foii- 
schritte  in  der  Methode  zu  erklären,  wie  denn  überhaupt 
bei  geodätischen  Operationen  mehr  als  bisher  geschehen, 
die  Veränderlichkeit  der  Erdkruste  in  Berücksichtigung 
gezogen  werden  sollte.  Es  ist  aber  nicht  bloß  Ver- 
änderlichkeit in  den  Höhen,  sondern  eine  solche  in  den 
Entfernungen  theoretisch  genommen  denkbar  und  A.  Heim 
ist  geneigt  Differenzen  zwischen  älteren  und  jüngeren 
Vermessungen  der  Schweiz  nicht  auf  bloße  Messungsfehler 
zurückzuführen^).  Hier  an  dieser  Stelle  möge  auch  der 
minimalen  Differenzen  gedacht  werden,  welche  sehr  ge- 
naue Ortsbestimmungen  großer  Sternwarten  lieferten*). 
Dieselben  regen  an,  die  Positionen  selbst  der  best- 
gekannten Stellen  Mitteleuropas  immer  von  neuem  wieder 
zu  ermitteln. 


e)  Erdbeben. 

Zu  denjenigen  Erscheinungen,  welche  nachweislich 
die  Oberflächengestaltung  eines  Landes  verändern,  ge- 
hören auch  die  Erdbeben,  wenngleich  es  im  allgemeinen 
dürftige  Nachrichten  sind,  welche  dies  zweifellos  bezeugen. 
Um  so  schätzenswerter  werden  daher  Beobachtungen  sein, 
welche  einschlägiges  Material  beizubringen  vermögen. 
Freilich  ist  Mitteleuropa  hierfür  im  allgemeinen  kein  ge- 


^)  Kirchhoffs  Länderkunde  von  Europa.  Bd.  I.  2.  S.  355. 

^)  Vergl.  hierzu:  Helmert,  Wahrnehmungen  über  die  Ver- 
änderlichkeit des  Erdkörpers.  Die  math.  und  phys.  Theorien  der 
höheren  Geodäsie.     Bd.  II.  1884.  S.  445. 


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48  Albrecht  Penck, 

eigneter  Boden,  es  ist  glücklicherweise  verhäUnismäüig 
selten  von  Erschütterungen  heimgesucht.  Gerade  aber 
diesem  Umstände  ist  zuzuschreiben,  daü  man  über  die 
einzelnen  Beben  trotz  der  dichten  Bevölkerung  und  trotz 
einer  großen  Anzahl  von  Gebildeten  oft  nicht  ausgiebige 
Nachrichten  zu  sammeln  imstande  ist;  denn  es  pflegt 
einen  jeden  die  Erschütterung  zu  überraschen,  so  daß 
eine  gewisse  Zeit  verstreicht,  bis  der  wahre  Charakter 
der  Erscheinung  festgestellt  ist;  dann  aber  tritt  zu  leicht 
eine  übergroße  Aufregung  ein,  der  sich  nur  wenige  zu 
entziehen  vermögen,  und  so  entschwinden  die  für  die 
Beobachtung  wichtigsten  Augenblicke.  Man  suche  daher 
vor  allem  die  Geistesgegenwart  zu  wahren;  im  Momente, 
wo  eine  Erschütterung  des  Bodens  eintritt,  blicke  man 
zur  Uhr  und  stelle  die  Zeit  fest,  dann  aber  richte  man 
das  Auge  auf  schwebende  Gegenstände,  Hängelampen, 
Ampeln  etc.,  und  beobachte  deren  Schwingungen  nach 
Größe  und  Richtung  in  Bezug  auf  benachbarte  Gegen- 
stände. Unterdessen  zähle  man  langsam,  etwa  im  Se- 
kundentempo, und  merke  sich,  bei  welchen  ZifiFern  neue 
Erschütterungen  vorkommen.  Alles  dies,  was  meist  im 
Zeiträume  von  Bruchteilen  einer  Minute  zu  geschehen  hat, 
notiere  man  sofort,  ohne  sich  von  dem  kommenden  Ge- 
fühle der  Bangigkeit  und  Unruhe  packen  zu  lassen  —  er- 
fahrungsgemäß sind  die  Erdbeben  Mitteleuropas  unge- 
fährliche Erscheinungen,  welche  wenigstens  in  diesem 
Jahrhundert  keine  Menschenleben  forderten.  Später  ver- 
gleiche man  die  Uhrzeit  mit  der  Zeit  eines  benachbarten 
Telegraphenamtes  und  reduziere  die  beobachtete  Uhrzeit, 
welche  gemeinhin  nicht  richtig  ist,  auf  die  Normalzeit  des 
Ortes,  femer  stelle  man  mit  dem  Kompaß  die  beobach- 
tete, nur  auf  benachbarte  Objekte  bezogene  Schwingungs- 
richtung von  hängenden  Gegenständen  genau  fest  (vergl. 
S.  54).  Alles  dies  Material,  welches  für  die  Berechnung 
der  Verbreitung  und  des  Herdes  eines  Erdbebens  von 
der  größten  Wichtigkeit  ist,  überantworte  man  Tages- 
blättern  oder  dem  Fachmanne,  welcher  hierzu  einladet. 
Die  Erdbeben  werden  gegenwärtig  fast  allgemein  auf 
Verschiebungen   innerhalb   der  Erdkruste   zurückgeführt. 


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Oberfläclienbau.  49 

auf  die  Bildung  von  Sprüngen  und  Verrückungen  längs 
derselben,  mag  nun  die  Ursache  im  Zusammenbrechen 
der  Decken  von  Hohlräumen  (Einsturzbeben),  in  Dislo- 
kationen (tektonische  Erdbeben)  oder  in  vulkanischen 
Erscheinungen  (vulkanische  Erdbeben)  bestehen.  In  allen 
Fällen  wird  man  einen  besonderen  Erdbebenherd  unter- 
scheiden können,  von  welchem  die  Bewegung  ausgeht, 
und  die  umgrenzenden  Schüttergebiete.  In  den  letz- 
teren zittert  die  Erde  so  etwa  wie  die  Scherben  einer 
zerberstenden  Glasplatte,  und  hier  stellen  sich  gelegent- 
lich Veränderungen  der  Oberflächeugestaltung  ein,  welche 
durch  die  Erschütterung  hervorgerufen  sind,  wie  z.  B. 
Bergstürze  und  Einbrüche,  welch  letztere  von  einer  ört- 
lichen Höhenänderung  begleitet  sein  können  (vergl.  oben 
S.  41 — 47);  hier  auch  kommt  es  gelegentlich  selbst  zur 
Bildung  von  Spalten  auf  lehmigem  Boden,  aus  welchen 
vom  Grundwasser  durchfeuchtete  schlammige  Massen  wie 
aus  Schlammvulkanen  hervorbrechen  können.  Besondere 
Aufmerksamkeit  endlich  verdienen  die  Ufer  stehender  Ge- 
wässer, von  großen  Teichen,  von  Binnenseeen,  wie  endlich 
des  Meeres.  Es  fragt  sich,  ob  ihr  Spiegel  durch  die  Er- 
schütterung ins  Schwanken  gerät,  ob  die  Wasser  zurück- 
treten, wiederkommen  und  von  neuem  weichen.  Es  wäre 
wünschenswert,  wenn  das  Auftreten  derartiger  Erschei- 
nungen, die  den  Ursprung  der  verheerenden  Erdbeben- 
flutwellen der  Küsten  des  Stillen  Ozeans  aufhellen  würden, 
an  den  mitteleuropäischen  Binnengewässern  festgestellt 
werden  könnten.  Umwohner  von  Binnenseeen  sollten  da- 
her während  eines  Erdbebens  ihren  Blick  dem  Seegestade 
zuwenden,  um  allenfallsige  Schwankungen  zu  beobachten, 
deren  zeitlicher  Verlauf  zu  notieren  ist.  Vielfach  endlich 
werden  Quellgänge  von  den  Erschütterungen  verändert, 
manche  Borne  versiegen  und  geben  erst  nach  einer  Weile 
wieder  Wasser.  Einschlägige  Fälle  möchten  wie  die  übri- 
gen Gefolgserscheinungen  von  Erschütterungen  kritisch 
und  umsichtig  festgestellt  werden,  denn  nur  zu  oft  wird 
gedankenlos  irgend  ein  Phänomen,  welches  unbeachtet 
längst  bestand,  auf  einmal  einem  Erdbeben  zugeschrieben 
(vergl.  S.  43  u.  44).     Es  ist  daher  unbedingt  notwendig, 

AnleituDg  zur  dentschen  Landes*  und  Volksforschung.  4 


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50  Albrecht  Penck, 

daß  eine  völlige  zeitliche  Uebereinstimmung  zwischen 
beiden  nachgewiesen  werde. 

Besondere  Erscheinungen  knüpfen  sich  an  den  Ort 
über  dem  eigentlichen  Erdbebenherd  (Epizentrum),  wel- 
cher nicht  bloß  in  einem  Punkte,  sondern  vielfach  in 
einer  längeren  Strecke  bestehen  kann.  Wird  nämlich  die 
Ursache  der  Erschütterung  in  einer  V  erschiebung  in  der 
Erdkruste  gesucht,  so  wird  dieselbe  auch  an  der  Erd- 
oberfläche ihre  Spuren  zeigen  können.  Hier  sind  wirk- 
liche Verrückungen  zu  erwarten,  welche  sich  in  der  Bil- 
dung kleiner  stufenförmiger  Absätze,  in  der  Abdämmung 
kleiner  Rinnsale  äußern  werden,  und  in  der  That  sind 
derartige  Erscheinungen  im  Herde  großer  Beben  mehr- 
fach festgestellt  worden.  Für  Mitteleuropa  liegen  ent- 
sprechende Beobachtungen  nicht  vor,  und  dürften  auch 
in  Anbetracht  der  Geringfügigkeit  dortiger  Erdbeben 
nicht  leicht  zu  machen  sein.  Aber  immerhin  dürfte  es 
von  Nutzen  sein,  wenn  die  Umwohner  eines  Erdbeben- 
herdes sich  nach  jeder  Erschütterung  vergewissem  woll- 
ten, ob  nicht  etwa  Höhenänderungen  (S.  48)  eingetreten 
sind;  auch  dürfte  der  Versuch  einmal  zu  wagen  sein,  daß 
Nivellements,  welche  durch  Erdbebenherde  gehen,  ge- 
legentlich, am  besten  unmittelbar  nach  dem  Erdbeben, 
wiederholt  würden.  In  dieser  Hinsicht  verdiente  das 
Nordende  der  oberrheinischen  Tiefebene,  wo  das  fast 
ständig  erschütterte  Großgerau  gelegen  ist,  der  Westrand 
der  niederrheinischen  Tiefebene  in  der  Gegend  von  Her- 
zogenrat und  der  Ostabfall  der  Alpen  bei  Wien  besondere 
Aufmerksamkeit  der  Landesvermessungen.  Aber  auch  die 
ganze  Flucht  der  mitteldeutschen  Gebirgsschwelle  vom 
Gesenke  bis  zu  den  Ardennen  wird  nicht  allzuselten  von 
Beben  heimgesucht,  während  die  norddeutsche  Tiefebene 
und  das  schwäbisch -bayrische  Alpenvorland  für  ein- 
schlägige Beobachtungen  ein  recht  unergiebiges  Feld  sind. 

Viel  eindringlicher  als  durch  Veränderungen  der  Land- 
oberfläche machen  sich  die  Erdbeben  durch  solche  von 
Gebäuden  geltend.  Häuser  erhalten  Sprünge,  Kamine 
bersten,  Schornsteine  fallen  um.  Jede  dieser  Erschei- 
nungen verdient  Beachtung,  und  man  kann  durch  genaue 


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Oberflächenbau.  51 

Ermittelung  der  Richtung  entstandener  Risse,  durch  Fest- 
stellung der  Seite,  nach  welcher  ein  Kamin  herabgestürzt 
ist,  recht  erheblichen  Nutzen  stiften  *).  Es  genüge  hier 
die  Aufmerksamkeit  auf  diese  Erscheinungen  gelenkt  zu 
haben,  deren  nähere  Erörterung  bereits  außerhalb  des 
Rahmens  dieser  Anleitung  liegen  würde.  Zum  Schlüsse 
sei  nochmals  betont,  daß  vor  allem  eine  gewisse  Geistes- 
gegenwart zur  Beobachtung  von  Erdbeben  gehört,  da 
dieselben  unerwartet  kommen  und  überraschen.  Sie 
halten  sict  eben  an  keine  bestimmten  Termine,  und  wenn 
in  Tagesblättem  gegenwärtig  viel  von  „kritischen  Erd- 
bebentagen**  (Falb)  die  Rede  ist,  so  möge  man  darum 
nicht  glauben,  daß  an  denselben  die  Wahrscheinlichkeit 
des  Eintrittes  einer  Erschütterung  größer  sei  als  an  ande- 
ren Tagen.  Das  gegenwärtige  Beobachtungsmaterial  reicht 
eben  noch  nicht  aus,  um  irgend  welche  Periode  der  Erd- 
beben festzustellen.  Erst  muß  über  die  Erdoberfläche 
ein  ganzes  Netz  von  Erdbebenstatiouen  verbreitet  sein, 
welche  mit  empfindlichen  Apparaten  (Seismographen)  jede 
feinste  Erschütterung  aufzeichnen,  bis  eine  Erdbeben- 
statistik sich  auf  wissenschaftlicher  Basis  erheben  wird. 
Gegenwärtig  befindet  sich  die  Lehre  von  den  Erdbeben 
etwa  in  demselben  Stadium  wie  die  Meteorologie  als  nur 
verheerende  Unwetter  aufgezeichnet  wurden  und  der  Gang 
von  Niederschlag  und  Temperatur  noch  unbekannt  war. 


*)  Näheres  enthalten  die  Fragebogen  über  Erdbebenerschei- 
nungen, wie  solche  z.  B.  von  Pilar,  GrandzQge  der  Abyssodyna- 
mik,  1881,  S.  151  und  Eck,  Jahreshefte  des  Vereins  für  vaterl. 
Naturkunde  in  Württemberg,  1887,  S.  359  mitgeteilt  werden.  Ein 
gutes  Werk  über  Erdbeben  veröffentlichte  J.  Milne  im  56.  Bande 
der  internationalen  wissenschaftlichen  Bibliothek.  Folgende  lebende 
deutsche  Gelehrte  beschäftigen  sich  besonders  mit  der  Sammlung 
von  Nachrichten  über  Erdbeben:  Prof.  E.  Sueß  und  Prof.  R eye r, 
Wien,-  Universität  (östlicher  und  nördlicher  Alpenrand);  Prof.  Eck, 
Stuttgart,  Polytechnikum  (Württemberg);  Prof.  A.  Heim,  Zürich 
(Schweiz);  Prof.  Lepsius,  Darmstadt  (oberrheinische  Tiefebene); 
Oberbergrat  Herrn.  Credner,  geologische  Landesanstalt,  Leipzig 
(Sachsen);  Prof.  Laube,  Prag,  deutsche  Universität  (Böhmen); 
Wirkl.  Geheimrat  von  Dechen,  Bonn  (Rheinlande). 


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52  Albrecht  Penck, 


in.  Beobachtungen  über  die  Entstehung  der  Land- 
oberfläche. 

Beobachtungen  über  jene  Vorgänge,  welche  die  Erd- 
oberfläche umbilden,  leiten  naturgemäß  zu  solchen  über 
die  Entstehung  der  letzteren  selbst.  In  der  That  haben 
alle  jene  zahlreichen  Kräfte,  welche  gegenwärtig  am  Re- 
lief eines  Landes  arbeiten,  dasselbe  nach  und  nach  heraus- 
gebildet; nicht  gewaltige  Katastrophen  schufen  den  Formen- 
schatz der  Erdoberfläche,  diese  ist  das  Werk  allmählich 
sich  vollziehender  Umwandlungen,  welche  sich  etwa  so 
langsam  abgespielt  haben  mögen  wie  jetzt  die  Thätig- 
keit  der  Flüsse,  die  Veränderungen  der  Küste  und  die 
der  Höhenverhältnisse.  Aber  man  darf  daraus  nicht 
schließen,  daß  es  genüge  die  jetzt  geschehenden  Vor- 
gänge in  ihrem  Wechselspiel  zu  verfolgen,  um  daraus  die 
Bildungsgeschichte  des  Landes  zu  entnehmen,  vielmehr 
ist  stets  im  Auge  zu  behalten,  daß  im  Laufe  der  Zeiten 
die  Intensität  der  gegeneinander  \^irkenden  Kräfte  er- 
hebliche Aenderungen  erlitten  haben  kann,  daß  manche 
zeitweilig  ausgesetzt  haben  mögen.  Man  muß  sich  in  die 
Erdgeschichte  selbst  vertiefen,  um  helles  Licht  über  den 
gegenwärtigen  Zustand  der  Erdoberfläche  zu  erhalten. 
Die  genetische  Morphologie  der  Erdoberfläche  beruht  auf 
geologischer  Basis.  Dabei  bleibt  jedoch  in  der  Auf- 
fassung der  Probleme  immer  eine  gewisse  Verschieden- 
heit zwischen  beiden  Wissenschaften.  Die  Geologie  unter- 
sucht die  Ablagerungen  früherer  Perioden,  um  aus  den- 
selben die  Geschichte  der  letzteren  zu  entziffern,  die 
Morphologie  der  Erdoberfläche  betrachtet  eben  dieselben 
Schichten  als  Bausteine  und  sucht  die  Rolle  festzustellen, 
welche  diese  in  dem  Relief  des  Landes  spielen. 

1.  Allgemeinste  Beobaclitungen  über  den  Bau  der  Land- 
Oberfläche. 

Beobachtungen  über  den  Schichtenbau  des  Landes 
bilden  den  Ausgangspunkt  für  eine  genetische  Morpho- 
logie der  Erdoberfläche.    Dieselben  erheischen  eine  völlige 


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Oberfl&chenbau.  53 

Vertrautheit  mit  der  Methodik  der  Geologie,  mit  der 
Gesteinslehre,  mit  der  Altersbestimmung  der  Gesteine,  mit 
der  Aufiiahme  der  Lagerungsverhältnisse.  Eine  Anleitung 
für  derartige  Beobachtungen  zu  geben  liegt  nicht  im 
Zwecke  dieser  Zeilen,  und  es  seien  hier  nur  einige  Winke 
zur  Orientierung  eingestreut  *). 

Die  Gesteinslehre  unterscheidet  zwei  Typen  von  Fels- 
arten, 1)  Massengesteine,  nämlich  solche,  welche  nach 
allen  Richtungen  hin  gleichmäßig  struiert  sind,  und 
2)  Schichtgesteine,  welche  sich  deutlich  in  bestimmte  paral- 
lele Lagen  sondern,  innerhalb  derer  wiederum  die  Zu- 
sammensetzung aus  weiteren  parallelen  Lagen  herrortritt. 
Beide  Hauptgruppen  von  Gesteinen  sind  hinsichtlich  ihrer 
Beschaffenheit  und  ihres  Auftretens  durchaus  verschieden. 
Die  Massengesteine  (Granit,  Porphyr,  Basalt,  Klingstein 
u.  a.  m.)  bestehen  meist  aus  einzelnen,  oft  wohl  unter- 
scheidbaren Mineralien,  seltener  aus  einer  glasigen  Masse 
mit  eingestreuten  Krystallen,  nur  ein  Teil  der  Schicht- 
gesteine stellt  ein  Mineralgemenge  dar,  es  sind  dies  die 
krystallinischen  Schiefer  (Gneis,  Glimmerschiefer),  meist 
setzen  sie  sich  aus  Trümmern  anderer  Gesteine  zusammen 
(Konglomerate,  aus  Gerollen  anderer  Gesteine  bestehend, 
Sandsteine,  Thonschiefer),  oder  sie  sind  Anhäufungen  von 
organischer  Materie  (Kohlen)  bez.  Ausscheidungen  von 
Tieren  und  Pflanzen  (Kalksteine).  Die  verschiedenen 
Glieder  der  Schichtgesteine  liegen  regelmäßig,  Schicht  ftlr 
Schicht  übereinander,  die  Massengesteine  setzen  quer 
durch  Schichtgesteine  oder  durcheinander,  sie  treten  in 
Gängen  und  Stöcken  auf  oder  schalten  sich  gelegentlich 
als  Decken  zwischen  die  Schichtgesteine  ein.  Die  Schicht- 
gesteine sind  die  Absätze  früherer  Meere,  die  Massen- 
gesteine  die  Ergüsse   vorzeitlicher  vulkanischer  Ergüsse. 

Die  geologische  Altersbestimmung  der  Gesteine  be- 
ruht auf  dem  Grundsatze,   daß   bei  ungestört  lagernden 

')  Als  Lehrbücher  der  Geologie  seien  besonders  empfohlen: 
M.  Neumayr,  Erdgeschichte,  2  Bde.  Leipzig  1886  und  1887.  — 
Herrn.  Credner,  Elemente  der  Geologie.  Leipzig.  6.  Aufl.  1887.  — 
K.  V.  Fritsch,  Allgemeine  Geologie,  Stuttgart  1888,  giebt  S.  55 
bis  76  eine  eingehende  Anweisung  für  geologische  Aufnahmen. 


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54  Albrecht  Penck, 

Schichtgesteinen  das  untere  immer  älter  ist  als  das  obere, 
daß  ferner  ein  Massengestein  stets  jünger  als  die  von  ihm 
durchbrochene  Schicht  ist.  Nun  aber  lagern  die  Schichten 
selten  noch  in  ihrer  ursprünglichen  Horizontalität,  und 
gelegentlich  sind  sie  sogar  umgekippt  worden,  d.  h.  die 
ältere  Schicht  lagert  zu  oberst,  die  jüngere  zu  unterst. 
In  solchem  Falle  bedarf  man  ein  anderes  Hilfsmittel,  um 
die  Altersverhältnisse  zu  ergründen,  welches  auch  dann 
angewandt  wird,  wenn  es  sich  um  den  Vergleich  sehr 
weit  voneinander  entfernt  liegender  Schichten  handelt. 
Es  hat  sich  nämlich  herausgestellt,  daß  gleich  alte  Schichten 
im  allgemeinen  dieselben  versteinerten  Tier-  und  Pflanzen- 
reste aufweisen.  Auf  Grund  dieser  Erfahrung  paralleli- 
siert  man  heute  meist  die  Schichten  nach  ihren  Versteine- 
rungen, und  nachdem  man  von  der  ganzen  geologischen 
Schichtfolge  nach  und  nach  die  Versteinerungen  (Fossilien) 
kennen  gelernt  hat,  ist  man  in  der  Lage  auf  Grund  der 
Funde  bestimmter,  leicht  kenntlicher  Versteinerungen  das 
Alter  jedwelcher  Schicht  bestimmen  zu  können.  Das 
Sammeln  von  Versteinerungen  bildet  somit  einen  wich- 
tigen Teil  der  geologischen  Beobachtung,  und  es  kann 
einzelnen  Naturfreunden  nicht  warm  genug  ans  Herz  ge- 
legt werden,  in  ihrer  Umgebung  eifrig  Fossilien  zu  sam- 
meln, wobei  vor  allem  das  eine  zu  beachten  ist,  daß  von 
jeder  einzelnen  Versteinerung  der  Fundpunkt  genau  an- 
gegeben werde  (z.  B.  gefunden  im  Mayr'schen  Stein- 
bruche, untere  Lage,  bei  Hötting).  so  daß  von  einem 
jeden  Stücke  die  Herkunft  festgestellt  werden  kann. 

Die  Schichtgesteine  sind  (bis  auf  wenige  Ausnahmen) 
ursprünglich  horizontal  gelagert  gewesen,  meist  aber  sind 
sie  dies  nicht  mehr,  sie  haben  im  Laufe  der  Zeiten 
Schichtstörungen  erlitten,  sie  sind  disloziert  worden. 
Sie  sind  nunmehr  nach  einer  bestimmten  Richtung  ge- 
neigt. Diese  Neigung  heißt  das  Fallen.  In  der  Richtung 
desselben  tauchen  sie  meist  in  die  Tiefe,  während  sie 
senkrecht  dazu  weiter  verfolgbar  sind.  Diese  letztere 
Richtung  heißt  das  Streichen. 

Streichen  und  Fallen  mißt  man  mit  dem  Bergkompaß. 
Derselbe  besteht   aus   einem  gewöhnlichen  Kompaß,   welcher   auf 


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Oberflächenbau.  55 

einem  viereckigen  Brettchen  befestigt  ist,  dessen  eines  Kantenpia^ar 
parallel  der  Nordsödlinie  der  Kompaßeinteilung  läuft.  Die  eine 
dieser  Kanten  legt  man,  den  Kompaß  wagvecht  haltend,  an  die 
Schicht,  deren  Lage  bestimmt  werden  soll,  und  liest  den  Winkel 
ab,  welchen  die  Magnetnadel  mit  der  Nordsüdlinie  der  Einteilung 
bildet.  Dieser  Winkel  giebt,  in  entsprechender  Weise  an  die  wirk- 
liche Nordsödlinie  angetragen,  das  Streichen.  Die  Richtung  des 
Fallens  ist  senkrecht  dazu,  und  es  braucht  nur  noch  angegeben  zu 
werden,  nach  welcher  Seite  hin  letzteres  erfolgt  und  wie  groß  es 
ist.  Zu  letzterem  Behufe  legt  man  wieder  den  Bergkompaß  an 
die  Schicht  an,  aber  in  der  Richtung  des  Fallens.  Ein  kleines  in 
ihm  angebrachtes  Lot  läßt  dann  ohne  weiteres  den  Fallwinkel 
erkennen.  Die  ermittelten  Werte  notiert  man  in  folgender  Weise : 
Streichen  y^b^O;  Fallen  10^ NW,  d.  h.  die  Streichrichtung  bildet 
mit  der  Nordlinie  einen  Winkel  von  45  ^  welcher  nach  Osten  an- 
zutragen ist,  es  herrscht  also  ein  Streichen  von  Südwest  nach  Nord- 
ost, dabei  fallen  die  Schichten  unter  70  ^  nach  Nordwest.  Die  De- 
klination der  Magnetnadel  ist  bei  Angabe  solcher  Daten  entsprechend 
zu  berücksichtigen. 

Erst  wenn  in  einer  Gegend  die  Schichtfolge  in  ihren 
Lagerungs-  und  Altersverhältnissen  durchaus  festgestellt 
ist,  kann  man  daran  gehen  das  Relief  des  Landes  zu  er- 
klären. Hierbei  kommt  es  im  wesentlichen  auf  einen 
Vergleich  zwischen  der  Oberflächengestalt  und  dem  Schicht- 
bau an^).  Manchmal  spiegelt  das  Land  alle  die  Wel- 
lungen der  Schichten,  es  steigt  dort  auf,  wo  sich  die 
letzteren  heben,  es  senkt  sich  da,  wo  jene  sinken,  der 
geologische  Bau  bedingt  den  der  Oberfläche.  Gewöhnlich 
aber,  und  dies  ist  im  südlichen  und  mittleren  Zentral- 
europa der  Fall,  zeigt  sich  ein  durchaus  anderes  Ver- 
hältnis. Die  obersten  Schichten  nämlich  steigen  kaum  zu 
größeren  Meereshöhen  an,  als  die  unteren,  und  öfters 
zeigt  die  Erdoberfläche  dort  Vertiefungen,  wo  sich  die 
ältesten  Schichten  aufwölben,  während  Erhabenheiten  dort 
entgegentreten,  wo  jüngere  Schichten  tief  eingesunken 
sind.  Der  geologische  Bau  liefert  in  diesem  Falle  keinen 
Schlüssel  zum  unmittelbaren  Verständnis  der  Oberfläche, 
er  ist  durch  gewaltige  stattgehabte  Abtragungen  (Denu- 
dation) zerstört  worden,  das  Land  ist  einer  Ruine  ver- 
gleichbar und  seine  Erhebungen  werden  von  dem  Gesetze 


*)  Vergl.  Näheres  in  F.  v.  Richthofens  ausgezeichnetem 
Führer  für  Forschungsreisende.    Berlin  1886. 


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56  Albrecht  Penck, 

beherrscht,  daß  sie  überall  dort  entgegentreten,  wo  der 
Schieb tbau  härtere  Glieder  aufweist,  mögen  dieselben 
älter  oder  jünger  sein,  während  sich  Vertiefungen  der 
Oberfläche  an  weichere  Gesteine  ohne  Rücksicht  auf  das 
Alter  derselben  knüpfen.  Man  kann  solch  eine  Land-- 
Schaft  als  Abtragungsrückstand   (Denudations-  1 

land Schaft)  bezeichnen.    Endlich  findet  sich  manchmal  | 

dai3  der  geologische  Aufbau  einer  Gegend  gänzlich   ver-  i 

schieiert  ist  durch  eine  Oberflächenschicht,  welche  sich 
allen  Unebenheiten  des  Landes  getreulich  anschmiegt, 
mit  demselben  ganz  regelmäßig  auf-  und  abwogend.    Es  j 

hat  hier  nach  Schafiung  des  Reliefs  eine  allgemeine  lieber- 
schüttung  mit  jüngeren  Schichten  stattgefunden,  indem 
die  letzten  geologischen  Ereignisse  ungefähr  auf  dem 
heutigen  Boden  stattgefunden  haben.  Ganz  Norddeutsch- 
land sowie  ein  Teil  des  Alpenvorlandes  sind  in  der  ge- 
dachten Art  mit  jüngeren  Gebilden  verhüllt  und  treten  als 
formliche  üeberschüttungslandschaften  entgegen^). 
Die  obei'flächliche  Hülle  solcher  Gebiete  hat  seitens 
der  Geologen  bis  vor  kurzem  keine  eingehendere  Behand- 
lung erfahren,  da  sie  eher  geeignet  schien,  den  inneren 
geologischen  Aufbau  einer  Gegend  zu  verschleiern,  als  zu 
offenbaren.  In  der  That  knüpft  sich  ihr  Auftreten  durch- 
aus nicht  an  die  sonst  gültigen  Regeln  über  das  Schicht- 
gefüge,  es  kann  dasselbe  nur  durch  stete  Vergegen- 
wärtigung der  Oberflächengestalt  verfolgt  und  erklärt 
werden.  Es  ist  unter  solchen  Umständen  wohl  begreiflich, 
daß  die  Erforschung  dieser  Gebilde  eine  eigene  Disziplin 
ins  Leben  gerufen  hat,  die  sogenannte  Oberflächen- 
geologie  (surface  geology),  welche  vielfach  weniger  von 
Fachgeologen  als  von  Geographen  und  namentlich  von 
einer  großen  Zahl  von  Naturfreunden  betrieben  worden 
ist.  Sich  mit  einem  Gebilde  der  Landoberfläche  beschäf- 
tigend, hat  die  Oberflächengeologie  schon  viele  Beiträge 
zum  Verständnis  der  ersteren  geliefert,    und  auf   sie  sei 

*)  Eine  Darlegung  über  die  mutmaßliche  Entstehung  der 
Oberfläche  Mitteleuropas  habe  ich  in  dem  Abschnitte:  Das  Deutsche 
Reich  von  Kirchhof fs  Länderkunde  von  Europa  —  auch  einzeln 
erschienen:   Leipzig,  Prag  und  Wien  1887  —  zu  geben  versucht. 


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.   Oberflächenbau.  57 

besonders  hingewiesen,  wenn  es  sich  um  Beobachtungen 
über  die  Entstehung  des  Bodenreliefs  handelt. 

2.  Beobachtungen  über  die  ehemalige  Vei^letsoherong  des 

Landes. 

Mitteleuropa  bietet  deswegen  für  das  Studium  der  Ober- 
flächengeologie  ein  yerhältnismäiaig  reiches  Forschungs- 
gebiet, weil  es  in  ausgiebigem  Maße  von  der  Gletscher- 
entwickelung  der  Eiszeit  betroffen  wurde,  welche  sich 
im  groiaen  und  ganzen  auf  dem  heutigen  Boden  abspielte. 
Im  Süden  wuchsen  die  Gletscher  der  Alpen  weit  in  das 
AlpenTorland  hinaus,  bauten  hier  ihre  Moränen  auf,  und 
die  von  ihnen  entströmenden  Gewässer  lagerten  mächtige 
Geröllmassen  ab  ^).  Im  Norden  aber  erstreckte  sich  eine 
gewaltige  Eismasse,  dem  Inlandeise  Grönlands  vergleich- 
bar, von  Skandinavien  ausgehend  über  die  Ost-  und  Nord- 
see, verbreitete  sich  über  das  ganze  norddeutsche  Tief- 
land ^  und  erklomm  selbst  den  Nordabfall  des  deutschen 
Mittelgebirgsgürtels.  Auf  letzterem  selber  endlich,  sowie 
auf  dem  Böhmerwalde  und  Schwarzwalde  waren  kleinere 
Eisströme  entwickelt*). 

Die  Gebilde  dieser  alten  Gletscher  sind  kenntlich: 

a)  durch  Gletscherschliflfe, 

b)  durch  Grundmoränen  mit  gekritzten  Geschieben, 

c)  durch  das  Auftreten  erratischer  Blöcke, 

d)  durch  das  Vorkommen  von  Riesenkesseln, 

e)  durch  das  Auftreten  zahlreicher  Seeen  und  be- 
sonderer Oberflächenformen  (Moränenlandschaft). 

a)  Dort  wo  ein  Gletscher  über  festen  Fels  hinweg- 
geht, schleift  er  denselben  mit  Hilfe  der  in  seiner  unter- 
sten Lage  eingefrorenen  Steine  ab.    Letztere  ritzen  hier- 

')  Penck,  Die  Vergletscherung  der  Deutschen  Alpen.  Leipzig 
1882.  —  Brückner,  Die  Vergletocherung  des  Salzachgebietes. 
Geogr.  Abhdlgn.  Bd.  I.  1.    Wien  1886. 

^  Dame 8,  Die  Glacialbildungen  der  norddeutschen  Tiefebene. 
Heft  479  der  Sammlung  gemeinverstUndlicher  wissenschaftlicher 
Vortrage  von  Virchow  und  HoltzendorflF.    Berlin  1886. 

•)  Part  seh:  Die  Gletscher  der  Vorzeit  in  den  Karpathen 
und  Mittelgebirgen  Deutschlands.    Breslau  1882. 


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58  Albrecht  Penck,  • 

bei  Linien,  Schrammen  oder  Furchen  ein,  welche  den 
Marsch  des  Eises  verraten.  Diese  Schrammung  ist  nur 
oberflächUch,  sie  setzt  sich  nirgends  in  das  Innere  des 
Gesteins  fort,  was  bei  Rutschflächen  der  Fall  ist,  sie 
besteht  in  einer  mehr  oder  minder  feinen,  sich  weit  er- 
streckenden, vielfach  sich  kreuzenden  Eannelierung,  die 
bei  Abwaschformen  des  Wassers  fehlt,  verbunden  mit 
Glättimg,  die  den  Verwitterungsformen  mangelt.  Etwaige 
Strukturverschiedenheiten  des  Gesteins  werden  gänzlich 
abgenutzt,  festere  Partieen  treten  nicht  als  Aufragungen, 
weichere  nicht  als  Vertiefungen  entgegen  wie  bei  den 
Windschliflfen.  Künstlich  sieht  man  ähnliche  Gebilde  ge- 
legentlich an  Ecksteinen  durch  den  Anprall  von  Wagen- 
rädern sowie  auf  steinigen  Wegen  erzeugt,  auf  welchen 
Holz  herabgeschleift  ist. 

b)  Indem  die  in  der  untersten,  manchmal  mehrere 
Meter  mächtigen  Schicht  des  Gletschers  eingefrorenen 
Steine  bei  der  Bewegung  des  letzteren  vielfach  neben- 
einander verschoben  werden,  nutzen  sie  sich  gegenseitig 
ab.  Das  eine  schrammt  mit  einer  scharfen  Spitze  ein 
anderes  und  dabei  wird  die  Spitze  abgeschliffen.  Schließ- 
lich durch  unablässige  Wiederholung  dieser  Vorgänge 
werden  alle  eingefrorenen  Steine  gerundet,  jedoch  nicht 
in  so  regelmäßiger  Weise  wie  die  Gerolle  eines  Flusses, 
und  werden  über  und  über  mit  einem  Netzwerke  sich 
kreuzender  Schrammen,  Linien  und  Furchen  bedeckt.  Der 
durch  ihre  Abschleifung  entstandene  Schlamm  imprägniert 
das  Eis  und  giebt  demselben  das  Aussehen  eines  grauen, 
quarzitischen  Gesteins.  Schmilzt  nun  der  Gletscher,  so 
tauen  die  Geschiebe  und  der  Schlamm  aus  und  ver- 
backen miteinander  zu  einer  zähen,  ungeschichteten 
Ablagerung,  die  im  wesentlichen  aus  einer  lehmigen  Grund- 
masse mit  unregelmäßig  eingestreuten  Geschieben  besteht. 
Es  ist  dies  der  Geschiebe-  oder  Blocklehm,  dessen 
einzelne  Geschiebe  in  der  obengedachten  Weise  gerundet 
und  geschrammt  sind.  Da  nun  aber  beim  Abschmelzen 
des  Gletschers  Wasser  frei  wird,  so  verschwemmt  dieses 
gelegentlich  die  anstauenden  Materialien  und  lagert  diese 
schichtweise  ab.     Es  finden  sich  daher  ganz   regelmäßig 


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Oberflächenbau.  59 

im  Geschiebelehme  geschichtete  Partieen.  EndUch  fallen 
am  Gletscherende,  wo  die  Grundmoräne  zur  Ablagerung 
gelangt,  oft  eckige  Felsblöcke  von  der  Gletscheroberfläche 
in  die  Grundmoräne,  weswegen  sich  auch  eckige  Bruch- 
stücke in  letzterer  nicht  selten  finden.  Keine  andere 
Kraft  als  die  eines  Gletschers  vermag  eine  normale  Grund- 
moräne zu  erzeugen. 

c)  Der  Gletscher  verfrachtet  nicht  bloß  an  seiner 
Sohle,  sondern  auch  auf  seinem  Rücken  mächtige  Gesteins- 
blöcke. Dieselben  liegen  ruhig  auf  ihm  und  erfahren  keine 
gegenseitigen  Reibungen,  sie  behalten  daher  ihre  eckigen 
Konturen  und  ihre  ursprüngliche  Gestalt.  Schmilzt  der 
Gletscher,  der  sie  trägt,  ab,  so  fallen  sie  zu  Boden  und 
bleiben  gelegentlich  in  recht  unsicherer  Lage  liegen, 
manchmal  weit  entfernt  von  ihrem  Ursprungsorte.  Man 
nennt  sie  daher  wohl  auch  Irrblöcke  oder  erratische 
Blöcke.  Solche  Findlinge  sind  zu  groß  und  zu  schwer, 
als  daß  man  ihren  Transport  durch  Wasser  erklären  kann, 
und  man  kann  daher  ihr  Vorhandensein  wohl  auf  die 
Thätigkeit  alter  Gletscher  zurückführen.  Nur  möge  man 
nicht  einen  jeden  Gesteinsblock,  der  auf  fremder  Unterlage 
ruht,  sofort  für  einen  Gletscherl3lock  halten.  Man  erinnere 
sich  der  S.  41  gegebenen  Hinweise  sowie  der  Thatsache, 
daß  gelegentlich  bei  der  Verwitterung  mächtiger  Schichten 
nur  einzelne  Blöcke  übrig  bleiben,  daß  ferner  aus  noch 
nicht  aufgeklärten  Ursachen  manchmal  große  Gesteins- 
blöcke in  fremden  Ablagerungen  entgegentreten,  die  dann 
auswittern  und  wie  Irrlinge  umherliegen,  was  am  Wasch- 
berge bei  Stockerau  unweit  Wien  der  Fall  ist. 

d)  Ein  Abschmelzen  der  Gletscher  giebt  beträchtlichen 
Wassermassen  Ursprung,  die  an  Stellen  in  Wirksamkeit 
treten  können,  zu  welchen  sonst  das  Wasser  nicht  hin- 
gelangen kann.  Es  waschen  jene  Wassermassen  bis- 
weilen Riesentöpfe  aus,  indem  sie  entweder  in  einem 
Strahle  auf  den  Boden  fallen,  hier  einen  Felsblock  er- 
greifen und  mit  diesem  ein  Loch  aushöhlen,  oder  indem 
sie  einen  Wirbel  bilden,  der  in  entsprechender  Weise 
wirksam  wird.  Riesenkessel  an  Punkten,  zu  welchen  jetzt 
das   Wasser   nicht   mehr  gelangen   kann,    können    daher 


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60  Albrecht  Penck, 

wohl  durch  die  Schmelzwasser  eines  Gletschers  ausge- 
strudelt sein,  und  man  wird  zu  dieser  Annahme  dort 
greifen,  wo  anderweitige  Anzeichen  früherer  Gletscher- 
thätigkeit  vorliegen.  Aus  einem  einzigen  Riesentopfe  aber 
auf  die  vormalige  Existenz  von  Gletschern  zu  schließen 
wäre  sehr  voreilig,  da  es  sich  hier  um  Gebilde  handelt, 
die  sich  nur  mittelbar  an  Gletscher  knüpfen.  Auch  wolle 
man  nicht  jede  cylindrische  Vertiefung  im  Boden  als 
Strudelloch  auffassen.  Die  Verwitterung  erzeugt  in  kal- 
kigen Gesteinen  oder  Gips  Schlote  ganz  ähnlicher  Art, 
die  sogenannten  geologischen  Orgeln,  welche  recht  oft 
mit  Riesentöpfen  verwechselt  werden.  Als  Unterscheidungs- 
merkmale möchten  folgende  dienen:  der  Riesentopf  als 
Strudelloch  schließt  nach  unten  mit  einem  flachen,  napf- 
ähnlichen Boden  ab ,  auf  welchem  die  Reibsteine  liegen, 
die  das  Loch  einwirbelten;  die  geologische  Orgel  zieht 
sich  nach  unten  meist  spitz  in  eine  Kluft  aus  und  ist 
mit  zähem  Lehm  erfüllt,  dem  Reibsteine  fehlen.  Frische 
Riesentöpfe  haben  glatt  abgewaschene,  oft  spiralig  ge- 
drehte Wandungen,  die  geologischen  Orgeln  haben  zer- 
fressene Wandungen;  sie  pflegen  meist  in  sehr  großer 
Zahl  dicht  nebeneinander  aufzutreten.  Es  sind  aber  nicht 
bloß  enge  cylindrische  Höhlungen,  welche  durch  die 
Gletscherwasser  ausgewirbelt  werden,  sondern  letzteren 
wird  in  Norddeutschland  die  Ausstrudelung  von  form- 
lichen Erdtrichtern,  der  Solle  oder  Pfühle  (vergl.  S.  43), 
zugeschrieben.  Die  Wirksamkeit  dieser  Schmelzwasser 
äußert  sich  femer  in  unvermutet  beginnenden  Thälem, 
welche  heute  wasserarm  sind  und  in  welchen  frühere 
mächtige  Ströme  wahre  Kolke  (vergl.  S.  22)  eingerissen 
haben,  die  nunmehr,  von  stehendem  Wasser  erfüllt,  als 
langgedehnte  Seeen  erscheinen  ^).  Das  ganze  Thalnetz  von 
Norddeutschland  hängt  mit  der  Abschmelzung  der  ehe- 
maligen Eisbedeckung  zusammen*). 


^)  E.  Geinitz,  Die  Seen,  Moore  und  Flußläufe  Mecklenburgs. 
Güstrow  1886. 

*)  G.  Berendt,  Jahrb.  d.  kgl.  preuß.  geolog.  Landesanstali 
Berlin  1881.  S.  482. 


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Oberflächenbau.  61 

e)  Die  unregelmä&igeu,  abtragenden  und  aufbauenden 
Prozesse,  welche  sich  an  einen  Gletscher  knüpfen,  schaffen 
gern  isolierte  Bodenvertiefungen,  die,  mit  Wasser  gefüllt, 
als  Seeen  entgegentreten.  Kleine,  in  Bergnischen  oder  ain 
Thalursprunge  gelegene,  durch  Wälle  abgedämmte  Seeen 
leiten  in  ihrer  Umgebung  oft  mit  Erfolg  zur  Auffindung 
Yon  Gletscherspuren,  namentlich  ist  der  Damm,  der  sie 
absperrt,  daraufhin  zu  untersuchen,  ob  er  nicht  gekritzte 
Geschiebe  birgt,  während  an  ihren  Ufern  nach  Gletscher- 
schliffen zu  suchen  ist.  Dort  femer,  wo  ein  Gletscher 
längere  Zeit  stillgestanden  hat,  sind  mächtige  Moränen 
zur  Ablagerung  gelangt,  die  als  hohe  Wälle  erscheinen. 
Letztere  verlaufen  sehr  unregelmäßig,  setzen  manch- 
mal aus,  gabeln  sich  und  vereinigen  sich  von  neuem. 
Zwischen  ihnen  erstrecken  sich  Senken,  mit  Tümpeln, 
Seeen  oder  Mooren  erfüllt.  Wo  eine  derartige  Landschaft 
auftritt,  wird  man  gleichfalls  meist  mit  Erfolg  nach 
zweifellosen  Gletscherspuren  suchen  können,  deren  Auf- 
findung dann  das  Ganze  als  Moränenlandschaft  er- 
scheinen läßt,  während  in  anderen  Fällen  es  sich  manch- 
mal um  das  unregelmäßig  gestaltete  Ablagerungsgebiet 
eines  Bergsturzes  handelt,  welches  hinter  sich  oft  wie  die 
echte  Moränenlandschaft  einen  See  aufstaut.  Man  schließe 
daher  nie  aus  der  bloßen  Oberflächengestalt  oder  dem 
Seeenreichtum  einer  Gegend  auf  das  Dasein  vormaliger 
Gletscher,  sondern  betrachte  derartige  Terraineigentüm- 
lichkeiten lediglich  als  Winke,  um  nach  Gletscherspuren 
zu  suchen.  Hinsichtlich  der  letzteren  aber  beherzige  man, 
daß  verschiedene  Prozesse  oft  zum  gleichen  Ziele  führen, 
daß  es  einen  ganzen  Kreis  pseudoglacialer  Erscheinungen 
giebt,  welche  bisweilen  in  ganz  täuschender  Weise  echten 
Gletscherspuren  ^)  ähneln.  Man  halte  daher  die  vormalige 
Existenz  eines  Gletschers  in  einer  Gegend  nicht  eher  für 
erwiesen  als  bis  der  ganze  Kreis  der  hier  erwähnten 
Erscheinungen  (mit  Ausnahme  vielleicht  der  ziemlich  sel- 
tenen Riesentöpfe)  nachgewiesen  ist. 


*)   Penck,    Pseudoglaciale    Erscheinungen.     Ausland    1884. 
Nr.  33.  —  Heim,  GletBcherkunde.  S.  402. 


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02  Albrecht.  Penck, 


3.  Beobaditimgen  über  Thalbildimg. 

Die  oft,  namentlich  in  Mitteleuropa,  hervortretende 
Unabhängigkeit  des  Verlaufes  der  Thäler  von  der  geolo- 
gischen Struktur  des  Landes  bildet  einen  wichtigen  Finger- 
zeig dafür,  daß  die  Thalbildung  in  sehr  vielen  FäUen 
wrenigstens  nicht  durch  den  Schichtbau  des  Landes  be- 
dingt ist,  während  andererseits  die  innige  Verknüpfung 
von  Thälern  und  Flüssen  von  alters  her  zu  der  Anschau- 
ung führte,  daß  die  Thäler  Auswaschungen  des  rinnenden 
Wassers  seien.  In  der  That  ist  man  auch  mehr  und 
mehr  von  der  Anschauung  abgekommen,  welche  in  den 
Thälern  die  Werke  von  Zerreißungen  und  Zerberstungen 
der  Erdkruste  erblickt,  und  man  ist  zu  der  alten  Ansicht 
zurückgekehrt,  daß  der  Fluß  sein  Thal  nach  denselben 
Regeln  ausgegraben  hat,  nach  welchen  er  sein  Bett  ver- 
tieft. Eng  verknüpft  ist  die  Bildung  der  Thäler  mit  der 
Entwickelung  des  Stromnetzes.  Das  letztere  wurde  in 
dem  Augenblicke  angelegt,  in  welchem  das  Land  dem 
Meere  entstieg,  zu  einer  Zeit,  als  die  gegenwärtigen 
Höhenverhältnisse  oft  noch  nicht  gegeben  waren,  und  es 
hat  bisweilen  die  mannigfachen  Schicksale  der  Land- 
oberfläche, örtliche  Hebungen  und  Senkungen  sowie  die 
Abtragung  durch  die  Denudation  überstehen  können.  Wie 
eine  Säge  arbeiten  die  Flüsse,  sobald  sie  nicht  ihre  Betten 
aufschütten;  hartnäckig  halten  sie  den  einmal  eingeschla- 
genen Lauf  inne,  entgegentretende  Hindernisse  siegreich 
überwindend.  Den  einzelnen  Phasen  dieser  Entwicklung 
nachzuspüren,  ist  ein  wesentlicher  Zweig  der  Oberflächen- 
geologie, denn  es  handelt  sich  hierbei  meist  um  Ab- 
lagerungen, welche,  unabhängig  vom  Schichtbau,  sich  an 
den  Gehängen  der  Thäler  entlang  erstrecken,  sichtlich  der 
Konfiguration  des  Landes  folgend. 

Man  begegnet  an  den  Thalflanken  sehr  häufig  wenig 
mächtigen  Geröllbildungen.  Dieselben  wurden  vom  Flusse 
abgelagert,  als  er  noch  im  betrefl^enden  Niveau  floß  und 
das  heutige  Thal  noch  nicht  geschafifen  hatte.  Denselben 
ist  eifrig  naclizuspüren,  ihre  Höhe  über  dem  angrenzenden 


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Oberflächenbau.  (j3 

Flusse,  welche  angiebt,  um  wieviel  letzterer  eingeschnitten 
ist,  möchte  genau  bestimmt  werden.  Zugleich  aber  richte 
sich  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Bestandteile  der  Ab- 
lagerung, man  vergewissere  sich  über  die  Herkunft  eines 
jeden  Gerölles  und  untersuche,  ob  alle  Gesteine  aus  dem 
Einzugsgebiete  der  betreffenden  Stelle  vertreten  sind,  oder 
ob  gewisse  fehlen,  oder  endlich,  ob  andere  vorhanden 
sind.  In  beiden  letzteren  Fällen  ist  es  nicht  unwahr- 
scheinlich, daß  Veränderungen  im  Stromsysteme  statt- 
gefunden haben,  daß  das  Einzugsgebiet  sich  vergrößert 
oder  verkleinert  hat.  Man  stelle  durch  häufige  Unter- 
suchung die  eine  oder  andere  Möglichkeit  fest  und  be- 
zeichne genau  den  Umfang  der  stattgehabten  Veränderungen. 
Ferner  suche  man  nach  Fossilien,  nach  Knochen  vor- 
weltlicher Tiere,  die  im  Schotter  entgegentreten,  und 
mustere  lehmige  Nester,  ob  dieselben  etwa  Schnecken- 
häuser bergen.  Große  Blöcke,  die  gelegentlich  ange- 
troffen werden,  und  die  möglicherweise  durch  Eisschollen 
transportiert  wurden,  prüfe  man  in  Erwägung  einer  mög- 
lichen Schrammung. 

Die  Untersuchung  der  GeröUe  einer  alten  Fluss- 
ablagerung erheischt  eine  genaue  Kenntnis  aller  im  be- 
treffenden Flußgebiete  und  dessen  Nachbarschaft  vor- 
kommenden Gesteine.  Im  großen  und.  ganzen  mag  die- 
selbe wohl  manchmal  aus  einer  geologischen  Karte  oder 
einem  Werke  ^)  zu  entnehmen  sein,  meist  jedoch  kann 
dieselbe  erst  durch  ausgedehnte  Wanderungen  erworben 
werden.  Der  Einzelbeobachter,  der  oft  nicht  in  der  Lage 
sein  dürfte  die  verlangten  Kenntnisse  sich  zu  erwerben, 
wird  daher  gut  thun  die  GeröUe  der  verschiedenen  Ab- 
lagerungen systematisch  zu  sammeln,  wobei  er,  sobald  es 
sich  um  Rollstücke  von  Schichtgesteinen  handelt,  sein 
Augenmerk  namentlich  auf  die  Gewinnung  von  Verstei- 
nerungen richten  möge.  Die  Geologen,  welche  mit  der 
Beschaffenheit  einzelner  Teile  Mitteleuropas  vertraut  sind, 
werden  derartige  Sammlungen  leicht  und  gern  bestim- 
men;  die  Adressen  solcher  Forscher  sind  aus  Richters 


*)  Lepsius,  Geologie  von  Deutschland.    Stuttgart  1887. 


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64  Albrecht  Penck, 

Verzeichnis  von  Forschern  in  wissenschaftlicher  Landes- 
und Volkskunde  Mitteleuropas  (im  Auftrage  der  Zentral- 
kommission für  wissenschaftliche  Landeskunde  von 
Deutschland  herausgegeben.  Dresden  1886)  zu  ent- 
nehmen. 

Die  alten  Flußschotter  der  Thalflanken  ziehen  sich 
in  dünnen  Schichten  manchmal  an  sanft  geneigten 
Flächen  in  den  Fluläkonkaven  ununterbrochen  bis  zur 
Thalsohle.  Dies  deutet  darauf,  daß  der  Fluß  durch 
stetige  Arbeit  das  Thal  vertiefte.  Nicht  selten  aber  auch 
beschränken  sich  derartige  auf  Abstufungen  der.  felsi- 
gen Gehänge,  auf  seitliche  Felsterrassen  des  Thaies. 
In  diesem  Falle  war  die  Arbeit  des  Flusses  keine 
ununterbrochene,  und  es  zeigt  die  am  Gehänge  be- 
findliche Ablagerung  ein  Flußbett  an,  welches  durch 
längere  Zeit  benutzt  wurde;  es  bezeichnet  eine  bestimmte 
Phase  in  der  Thalbildung.  Bei  weiterer  Verfolgung  läßt 
sich  dann  bald  erkennen,  daß  diese  Phase  auf  große 
Strecken  durch  regelmäßige  Felsterrassen  markiert  ist, 
welchen  manchmal  die  Geröllablagerungen  fehlen,  die 
aber  auf  den  ersten  Blick  den  höher  gelegenen  Thalboden 
einer  früheren  Periode  verraten.  Man  verfolge  derartige 
Felsterrassen  durch  das  ganze  Thalgebiet  und  ermittle 
allenthalben  deren  Höhe  über  dem  Flusse.  Dabei  zeigt 
sich  entweder,  daß  die  Höhe  der  Terrassen  thalaufwärts 
regelmäßig  abnimmt,  bis  sie  sich  schließlich  in  den  Thal- 
boden verflachen.  Man  hat  dann  eine  alte  Thalsohle  vor 
sich,  in  die  in  regelmäßiger  Weise  eine  neue  dermaßen 
eingeschnitten  ist,  daß  die  Vertiefung  thalaufwärts  fort- 
schritt.  Oder  es  stellt  sich  heraus,  daß  ein  Terrassenzug 
wechselnden  Abstand  vom  Flusse  besitzt.  Dann  ist  na- 
mentlich darauf  zu  achten,  ob  er  sich  nicht  etwa  thalabwärts 
hebt  anstatt  sich  zu  senken.  In  diesem  Falle  ist  nicht 
daran  zu  zweifeln,  daß  während  der  Thalbildung  Aende- 
rungen  in  den  Niveauverhältnissen  stattgefunden  haben. 
Ein  solches  Ansteigen  alter  Thalsohlen  entgegen  dem 
Flußgefälle  ist  bisher  namentlich  an  den  Durchbruch- 
thälern  des  Rheins,  der  Lahn  und  der  Mosel  wahrgenom- 
men  worden.     Es    erweist,    daß   jene   Durchbruchthäler 


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Oberflächenbau.  65 

dadurch  entstanden,  da&  die  Flüsse  ihr  Bett  in  einer 
hebenden  Scholle  einschnitten.  Es  wird  daher  besonders 
in  Durchbruchthälern  die  Aufmerksamkeit  auf  die  ge- 
dachten Verhältnisse  zu  lenken  sein. 

An  sehr  vielen  Flüssen  Mitteleuropas  beobachtet  man 
ziemlich  ausgedehnte  Terrassen,  welche  ausschließlich  bis 
zur  Thalsohle  herab  aus  sehr  mächtigem  Flußgeröll  be- 
stehen. Dieselben  kamen  dadurch  zustande,  daß  der 
Fluß  einst  sein  Bett  aufschüttete,  so  hoch,  bis  er  auf  der 
Höhe  der  Terrasse  floß;  dann  vertiefte  er  sein  Bett  wie- 
der, und  seine  ehemalige  Aufschüttung  erscheint  nunmehr 
neben  ihm  als  Schotterterrasse,  zu  unterscheiden  von 
den  oben  erwähnten,  im  Gesteine  der  Thalflanke  entgegen- 
tretenden Felsterrassen.  Solche  Schotterterrassen  verraten, 
daß  die  Thalbildung  gelegentlich  durch  Zeiten  der  Thal- 
verschüttung  unterbrochen  war;  dieselben  können  verur- 
sacht gewesen  sein  durch  örtliche  Verhältnisse,  welche 
eine  zeitweilige  Rückstauung  des  Flusses  bewirkten,  wie 
z.  B.  eine  Hebung  im  Unterlaufe,  hier  stattfindende 
Dammbildungen  durch  Bergstürze  oder  Schuttkegel.  Die 
große  Regelmäßigkeit  im  Auftreten  solcher  Schotterter- 
rassen in  Mitteleuropa  läßt  eine  allgemein  verbreitete 
Ursache  mutmaßen.  Man  kann  dieselbe  wohl  darin  er- 
blicken, daß  während  der  Eiszeit  die  Flüsse  verwilderten, 
indem  sie  nicht  mehr  in  der  Lage  waren  die  Menge  von 
Trümmern,  die  ihnen  zugeführt  wurde,  fortzuschaffen. 

Man  kann  im  Vorlande  der  Alpen  drei  verschiedene 
solcher  Schotterterrassen  übereinander  liegend  verfolgen, 
und  es  ist  wohl  wahrscheinlich,  daß  man  dies  an  anderen 
Stellen  gleichfalls  können  wird.  Nur  sei  man  äußerst 
vorsichtig  bei  der  Sonderung  verschiedener  Schotterter- 
rassen; man  erwäge,  daß  nicht  eine  jede  aus  Schotter 
bestehende  Terrasse  eine  echte  Aufschüttungsterrasse  ist, 
sondern  daß  sie  manchmal  in  einer  Aufschüttungsterrasse 
dieselbe  Rolle  spielt  wie  ein  Thalgehänge,  indem  ver- 
schiedene jüngere  Thalböden  an  ihr  angeschnitten  sein 
können,  welche  den  Anschein  erwecken,  als  ob  ebenso 
viele  verschiedene  Schotterterrassen  vorhanden  wären  als 
Abstufungen  einer  einzigen  zu  beobachten  sind. 

Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschung.  5 


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66  Albrecht  Penck. 

Wenn  ein  Fluß  sein  Bett  beträchtlich  aufschüttet» 
so  kann  es  schließlich  kommen,  daß  er  in  der  Höhe  einer 
niedrigen  Wasserscheide  fließt  und  über  dieselbe  eine  neue 
Richtung  wälüt.  Gerade  in  Aufschüttungsterrassen  wird 
man  daher  manchmal  GeröUe  gewahren,  deren  Weg  nach 
den  jetzigen  hydrographischen  Verhältnissen  nicht  erklärt 
werden  kann,  und  dadurch  Veränderungen  der  Strom- 
gebiete bezeugt  sehen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  in 
der  Nähe  niedriger  Wasserscheiden  die  Wahrscheinlich- 
keit am  größten  ist  derartige  Erscheinungen  festzustellen. 
Nur  wolle  man  nicht  etwa  aus  bloßen  orographiscben  Er- 
scheinungen, aus  dem  Auftreten  von  Landsenken  zwischen 
Thälern,  ohne  weiteres  schließen,  daß  vordem  andere 
hydrographische  Verhältnisse  herrschten;  man  betrachte 
hier,  wie  auch  sonst,  die  Oberflächengestalt  nur  als  eine 
Anregung  zu  bestimmten  Untersuchungen. 


Die  Beobachtungen  über  die  Oberflächengestalt  eines 
Landes  lassen  sich  in  Wort  und  Bild  niederlegen.  la 
den  Landkarten  besitzt  die  Geographie  ein  wirksame» 
Mittel  graphischer  Wiedergabe.  Daneben  aber  kommen 
anderweitige  bildliche  Darstellungen  sehr  in  Betraclit. 
Gute  Landschaftszeichnungen  —  ohne  künstlerische  Effekte 
bloß  die  strenge  Naturtreue  erstrebend  —  und  Land- 
schaftsphotographieen  sind  für  manche  wissenschaftliche 
Zwecke  nicht  zu  entbehren.  Aber  wie  viele  Illustrationen 
jährlich  veröffentlicht  werden  und  wie  viele  Photographieen 
der  gebirgigen  Partieen  Mitteleuropas  existieren  —  noch 
fehlt  es  an  einer  Sammlung  charakteristischer  Landschafts- 
typen, und  in  dieser  Richtung  können  zeichengeübte  Natur- 
freunde und  Amateurphotographen  noch  eine  schöne  Arbeit 
leisten  ^). 


*)  Simony,  Die  Bedeutung  landschaftlicher  Darstellungen  itt 
den  Naturwissenschaften.  Sitzungsber.  d.  math.-naturw.  Klasse  d. 
k.  Akad.  Wien  1852.  IX.  S.  200. 


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Erdmagnetismus. 

Von 

Dr.  Max  Eschenhagen 


in  Wilhelmshaven. 


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I.  Allgemeines,  Onmdbegrlffe. 

Nur  wenige  Fragen  der  Physik  der  Erde  vermögen 
den  menschlichen  Geist  so  andauernd  zu  beschäftigen  wie 
die  Erforschung  des  Wesens  des  Erdmagnetismus,  kaum 
aber  giebt  es  eine  andere  —  müssen  wir  hinzusetzen  — 
die,  trotz  der  vielfältigsten  Erfolge  im  einzelnen,  ihre 
endgültige  Lösung  uns  so  hartnäckig  verweigert.  Noch 
immer  ist,  trotz  der  Bemühungen  der  namhaftesten 
deutschen  wie  ausländischen  Gelehrten,  von  deren  erste- 
ren  nur  Humboldt,  Gauß,  Weber,  Lamont  ge- 
nannt sein  mögen,  keine  genügende  Erkenntnis  jener 
rätselhaften  Erscheinungen  möglich,  welche  die  bei 
uns  annähernd  nach  Nofden  weisende  Magnetnadel  dem 
Auge  des  Forschers  darbietet.  Wenn  auch  die  Be- 
mühungen gerade  in  dem  letzten  Jahrzehnt  sehr  be- 
deutende waren,  und  wenn  wir  uns  auch  eines  nicht  un- 
wesentlichen Fortschritts  in  Bezug  auf  die  erdmagnetischen 
Beobachtungs-  und  Meßmethoden  rühmen  können  —  in 
der  Erkenntnis  des  Wesens  aller  jener  Erscheinungen  sind 
wir  kaum  einen  Schritt  weiter  gekommen  als  die  oben 
genannten,  in  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts 
wirkenden  Männer.  Dieser  Zustand  würde  ein  entmuti- 
gender genannt  werden  können,  wenn  nicht  der  bereits 
erwähnte  Erfolg  in  der  Verbesserung  der  Hilfsmittel  der 
wissenschaftlichen  Beobachtung  ein  so  beachtenswerter 
Fortschritt  wäre,  der  —  zugleich  mit  der  Entdeckung 
verwandter  Erscheinungen,  wozu  die  Erdstrombeobach- 
tungen gerechnet  werden  müssen  —  uns  die  Aussicht 
giebt,  vielleicht  in  nicht  allzu  femer  Zeit  einen  wesentlichen 
Schritt  vorwärts  zu  thun.  Freilich  vermag  der  einzelne 
nur  wenig  zu  wirken,  eine  Anspannung  vieler  Kräfte  ist 


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70  Max  Eschenhagen, 

notwendig,  um  das  gewaltige  Material,  das  aus  vergange- 
nen Zeiten  aufgespeichert  liegt  und  das  durch  neueres 
eine  bedeutende  Vermehrung  erfahren  hat  und  noch  er- 
fahren muß,  zu  bewältigen.  Denn  als  man  erkannte,  daß 
die  Arbeit  eines  einzelnen  zur  Beobachtung  der  erdmag- 
netischen Erscheinungen  nicht  hinreichend  sei,  da  ver- 
einigten sich  unter  Führung  von  Gauß  und  Weber  eine 
Zahl  der  hervorragendsten  Gelehrten  verschiedener  Natio- 
nalität zum  erstenmal  im  dritten  Jahrzehnt  dieses  Jahr- 
hunderts zu  gemeinsamem  Wirken,  das  unter  thatkräfti- 
ger  Unterstützung  der  englischen  und  russischen  Regierung 
in  der  Gründung  zahlreicher  außereuropäischer  Observa- 
torien einen  lange  nachwirkenden  Wiederhall  fand. 

Zum  zweitenmal  vereinigte  das  gleiche  Streben  im 
Jahre  1882  die  gesamten  gebildeten  Nationen  zum  fried- 
lichen Wettbewerb:  als  in  jenem  Jahre  nach  internatio- 
naler Vereinbarung  ein  Netz  von  Stationen  die  Pole  der 
Erde  umschloß,  da  wurde  der  Anstellung  erdmagnetischer 
Beobachtungen  der  hervorragendste  Teil  der  Ausrüstung 
an  Instrumenten  wie  des  Beobachtungsprogramms  ge- 
widmet. • 

Gegenüber  diesen  gewaltigen  Anstrengungen,  deren 
Bedeutung,  wenngleich  in  der  Flut  der  Tagesereignisse 
fast  untergegangen,  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft 
ein  inhaltreiches  Blatt  füllen  wird,  gegenüber  dem  that- 
kräftigen  Eingreifen  so  vieler  bedeutenden  Männer  der 
Wissenschaft  wird  sich  der  einzelne,  der  anfängt,  sich 
mit  den  Erscheinungen  und  Beobachtungsmethoden  des 
Erdmagnetismus  vertraut  zu  machen,  anscheinend  mit 
Recht  fragen,  wie  da  noch  die  Arbeit  eines  Mannes  ins 
Gewicht  fallen  kann!  Und  doch,  müssen  wir  sagen,  sind 
in  dem  Gebäude,  zu  dessen  Krönung  die  Arbeit  vieler 
erforderlich  ist,  eine  nicht  kleine  Zahl  von  Lücken  vor- 
handen, die  durch  die  stille  Arbeit  einzelner  ausgefüllt 
werden  können.  Ja,  in  unserem  deutschen  Vaterlande, 
das  wir  mit  Stolz  die  Wiege  jener  gewaltigen  Unter- 
nehmimgen  nennen  dürfen,  sind  wir  noch  in  der  mag- 
netischen Durchforschung  desselben  hinter  anderen 
Nationen  im  Rückstande. 


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Erdmagnetismus.  7 1 

Bevor  wir  dazu  übergehen,  Näheres  über  die  Mittel 
und  Wege,  die  zur  Lösung  jener  Aufgabe  benutzt  werden 
müssen,  darzulegen,  ist  es  notwendig,  in  Kürze  die  Er- 
scheinungen des  Erdmagnetismus  —  das  Historische  ^) 
gänzlich  vermeidend  —  auseinanderzusetzen. 

Eine  frei  um  ihren  Schwerpunkt  allseitig  drehbare 
Magnetnadel  nimmt  an  jedem  Punkte  der  Erde  eine  be- 
stimmte Richtung  an,  welche  sie,  wenn  aus  derselben 
entfernt,  mit  einer  gewissen  Kraft  wieder  zu  erreichen 
strebt.  Die  Ursache  dieser  Erscheinung  schreibt  man 
dem  Magnetismus  der  Erde  zu,  der  jene  Nadel  mit 
jener  Kraft  in  einer  gewissen  Richtung  festhält.  Diese 
beiden  Bestimmungsstücke  —  Richtung  und  Kraft  —  sind 
verschieden  an  verschiedenen  Punkten  der  Erdober- 
fläche, ja  sie  ändern  ihre  Größe  an  demselben  Punkte 
mit  der  Zeit.  Hiermit  sind  die  Hauptaufgaben,  welche 
zur  Erforschung  des  Erdmagnetismus  wesentlich  sind, 
bereits  bezeichnet:  das  Studium  der  räumlichen  wie 
zeitlichen  Veränderungen. 

Wollen  wir  die  Richtung  einer  solchen  Nadel  ge- 
nauer kennen  lernen,  so  messen  wir  erstens  den  Winkel, 
um  welchen  sie  gegen  die  Horizontalebene  geneigt  ist, 
zweitens  den  Winkel,  welchen  die  durch  die  Nadel  ge- 
legte Vertikalebene  mit  einer  gewissen  Anfangsebene,  zu 
welcher  wir  die  Ebene  des  astronomischen  Meridians 
wählen,  bildet.  Ersterer  Winkel,  die  magnetische  Nei- 
gung oder  Inklination  genannt,  beträgt  zur  Zeit  im 
Herzen  von  Deutschland  etwa  66  ^,  wächst  nach  der  Nord- 
see bis  etwa  68®,  nach  dem  Süden  zu  nimmt  er  ab  bis 
circa  63®;  der  zweite  Winkel,  die  magnetische  Dekli- 
nation, von  den  Seefahrern  Mißweisung  genannt,  wird 
in  der  Horizontalebene  vorgestellt  als  Winkel  (Azimut) 
zwischen  einer  durch  entsprechende  Belastung  horizontal 
schwebenden  Magnetnadel  und  der  astronomischen  Nord- 
richtung, er  beträgt  im  östlichen  Deutschland  jetzt  circa 
8®,  im  westlichen  hingegen  14®.  Zur  Bestimmung  der 
Richtung   der    „erdmagnetischen   Kraft"    sind    also    zwei 


^)  Siehe  darüber:  Humboldt,  Kosmos  Bd.  IV. 


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72  Max  Eschenhagen, 

Winkel  zu  messen,  zu  diesen  kommt  als  drittes  Bestim- 
mungsstück die  „Kraft**  oder  Stärke  des  Erdmagnetismus 
hinzu.  Die  Gesamtheit  der  drei  Stücke'  pflegt  man  als 
„erdmagnetische  Elemente**  zu  bezeichnen.  Auch 
die  Kraft  ist  innerhalb  Deutschlands  sehr  verschieden. 
Man  kann  dieselbe  „relativ**  bestimmen,  wenn  man  bei- 
spielsweise ihre  Größe  an  einem  Punkte,  z.  B.  Berlin  als 
Maßeinheit  nimmt  und  das  Verhältnis  bestimmt,  in  wel- 
chem die  Größe  an  einem  anderen  Punkte  zu  dem  erste- 
ren  Werte  steht,  oder  aber  man  mißt  die  Kraft  an  jedem 
Punkte  in  „absolutem**  Maß.  Zur  Erläuterung  dieses 
Begriffs  diene  ein  Vergleich  mit  der  Schwerkraft,  der 
uns  nahe  gelegt  wird  durch  folgende  Betrachtung.  Ein 
einfaches  Pendel,  die  am  Faden  aufgehängte  Bleikugel, 
spannt  den  Faden  in  einer  Richtung,  die  wir  „vertikal** 
nennen;  bringen  wir  die  Kugel  durch  seitliches  Anstoßen 
aus  ihrer  Lage,  so  strebt  sie  mit  einer  gewissen  Kraft 
wieder  in  jene  Lage  zurückzukehren;  das  Pendel  macht, 
bevor  es  zur  Ruhe  kommt,  Schwingungen  um  jene  erste 
Ruhelage.  Aehnlich  verhält  sich  die  Magnetnadel;  jede 
Kompaßnadel,  die  aus  ihrer  beharrlichen  Richtung  ab- 
geleixkt  wird,  kommt  nach  Ausführung  einer  Anzahl  ähn- 
licher Schwingimgen  in  die  Anfangsrichtung  zurück.  Die 
Ursache  ist  im  ersten  Falle  die  Schwerkraft,  im  zweiten 
der  Erdmagnetismus. 

Diese  Aehnlichkeit ,  welcher  gleiche  mathematische 
Gesetze  zu  Grunde  gelegt  werden  können,  erstreckt  sich 
jedoch  nicht  auf  die  gesamte  Wirkungsweise  beider  Kraft e. 
Während  alle  materiellen  Körper  den  Gesetzen  der  Schwer- 
kraft unterworfen  sind,  wirkt  der  Erdmagnetismus  nur 
auf  diejenigen,  die  gleich  der  Erde  mit  Magnetismus  be- 
haftet sind.  Dies  ist  aber  notwendig  bei  keinem  Körper 
der  Fall,  wenigstens  können  wir  nicht  sagen,  daß  der 
Magnetismus  zum  Wiesen  eines  Körpers  gehöre. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  Hypothesen  ein- 
zugehen, die  zur  Erklärung  dieser  Erscheinungsweise  auf- 
gestellt werden  können;  es  genügt  anzunehmen,  daß  der 
Magnetismus  in  der  Gestalt  eines  unwägbaren  Fluidums 
den  Körpern,  in  erster  Linie  dem  Eisen,  anhaften  kann, 


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ErdmagneiismuB.  73 

und  zwar  tritt  derselbe  stets  in  zwei  verschiedenen  For- 
men, die  sich  wie  positiv  und  negativ  einander  gegenüber- 
stehen, auf,  nämlich  als  Nord-  und  Südmagnetismus. 
Wie  die  Erde,  so  besitzt  bekanntlich  jeder  Magnet  Po- 
larität, und  die  Wirkung  eines  Magneten  auf  einen 
anderen  ist  stets  eine  anziehende  und  abstoßende  zugleich, 
nach  dem  Gesetze,  daß  zwei  Körper  mit  gleichem  Mag- 
netismus sich  abstoßen  und  mit  ungleichem  sich  anziehen. 
Die  Größe  der  Abstoßung  oder  Anziehung  ist  dem 
Produkte  der  Magnetismen  direkt,  dem  Quadrate 
der  Entfernung  der  Körper  umgekehrt  proportio- 
nal. Als  Einheit  einer  Kraft  überhaupt  wird  in  der  Mecha- 
nik diejenige  Kraft  bezeichnet,  welche  der  Masseneinheit 
(Gramm)  in  der  Zeiteinheit  (Sekunde)  die  Geschwindigkeit 
„Eins**  mitteilt,  vermöge  deren  dieselbe  in  jeder  Sekunde 
die  Einheit  des  Weges  (Centimeter)  zurücklegen  würde.  Also 
nach  Verlauf  der  ersten  Sekunde  würde  der  Körper  imstande 
sein,  einen  Weg  von  1  cm  zurückzulegen,  in  der  zweiten 
wirkt  aber  die  Kraft  aufs  neue,  so  daß  jene  Masse  einen 
neuen  Impuls  von  der  Stärke  des  ersten  erfährt,  vermöge 
dessen  außer  der  von  der  ersten  Sekunde  mitgebrachten 
Geschwindigkeit  noch  die  gleiche  dazu  kommt,  so  daß  der 
Körper  am  Ende  der  zweiten  Sekunde  die  Geschwindigkeit 
„Zwei''  hat,  das  heißt,  wenn  am  Ende  der  zweiten  Sekunde 
die  Kraft  aufhörte  zu  wirken,  würde  er  jede  Sekunde 
2  cm  zurücklegen  können.  Wir  sagen,  es  kommt  jede  Se- 
kunde die  „Beschleunigung  Eins**  hinzu.  In  dieser  Weise 
wirkt  die  Schwerkraft  auf  den  fallenden  Körper,  dieselbe 
teilt  ihm  jede  Sekunde  eine  Beschleunigung  von  981  cm 
mit,  die  wir  mit  g  zu  bezeichnen  pflegen.  Nach  t  Se- 
kunden hat  ein  der  Schwerkraft  folgender  Körper  die 
Geschwindigkeit  gt^  das  heißt,  wenn  die  Schwerkraft  nach 
t  Sekunden  aufhörte  zu  wirken,  würde  er  in  jeder  nun 
folgenden  Sekunde  gt  Meter  zurücklegen,  bei  einem  fallen- 
den Körper  wirkt  aber  die  Schwerkraft  fort,  die  Ge- 
schwindigkeit steigert  sich  also.  In  ähnlicher  Weise  ist 
auch  die  magnetische  Anziehung  (resp.  Abstoßung)  zu 
denken;  ein  mit  einer  Quantität  Magnetismus  behafteter 
Körper  wird  auf  einen  zweiten  in  entsprechender  Weise 


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74  Mäx  Eschenhageu, 

einwirken.  Wir  bezeichnen  als  Einheit  des  Magnetismus 
diejenige  Quantität  Magnetismus,  welche  auf  die  gleiche 
in  der  Einheit  der  Entfernung  befindliche  Menge  die  Ein- 
heit der  Kraft,  wie  sie  oben  erklärt  ist,  ausübt.  Das 
heißt  also,  wenn  der  metallische  Körper,  welcher  jene 
Quantität  Magnetismus  besitzt,  1  g  wiegt,  so  würde  er 
die  Beschleunigung  „Eins"  erfahren,  vermöge  deren  er  sich 
mit  einer  Geschwindigkeit  bewegt,  die  bei  unverändert 
wirkender  Kraft  alle  Sekunden  um  1  cm  wächst.  Die 
Kraft,  welche  in  diesem  Falle  auf  den  1  g  schweren,  mit 
der  Einheit  des  Magnetismus  begabten  Körper  ausgeübt 
wird,  müssen  wir  folgerichtig  als  Einheit  der  magne- 
tischen Kraft  bezeichnen,  die,  wenn  wir  sie  mit  der 
Schwerkraft  vergleichen  wollen,  nur  den  981.  Teil  der- 
selben ausmacht. 

Wegen  des  bereits  erwähnten  Unterschiedes  der 
Schwerkraft  von  der  magnetischen  Ejraft  der  Erde,  welcher 
darin  bestand,  daß  bei  letzterer  stets  anziehende  und  ab- 
stoßende Kräfte  gleichzeitig  auftreten,  und  dementsprechend 
auch  jeder  magnetische  Körper  beide  Arten  von  Magne- 
tismus zeigt,  äußert  sich  der  Erdmagnetismus  nicht  gleich 
der  Schwere  als  anziehende  Kraft,  sondern  als  Richt- 
kraft, eben  jene  Kraft,  welche  die  frei  um  ihren  Schwer- 
punkt drehbare  Nadel  immer  wieder  in  jene  bestimmte 
Richtung  führte. 

Wir  sind  nunmehr  imstande,  diese  erdmagnetische 
Richtkraft  absolut  zu  messen,  das  heißt,  wir  können  ihre 
Wirkung,  wie  oben  auseinandergesetzt,  auf  gewisse  Grund- 
einheiten der  Länge,  der  Masse  und  der  Zeit  zurück- 
führen. Als  solche  sind,  wie  erwähnt,  Centimeter,  Gramm 
und  Sekunde  gewählt,  hiernach  nennt  man  die  diesem 
Maßsystem  zu  Grunde  liegende  Krafteinheit  abgekürzt 
C.G.S.-Einheit.  Die  Richtkraft  des  Erdmagnetismus  be- 
trägt in  Deutschland  auf  die  frei  sich  in  der  Richtung 
der  „totalen'*  Kraft  einstellende  Nadel  etwa  0,4—0,5  dieser 
Einheiten.  Die  praktische  Beobachtung  befaßt  sich  im 
allgemeinen  nur  mit  dem  Teile  dieser  Gesamtkraft,  welche 
in  der  horizontalen  Ebene,  also  auf  die  wagrecht  auf- 
gehängte und  nur  horizontal  sich  bewegende  Magnetnadel 


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Erdmagnetismus.  75 

wirkt  und  die  wir  Horizontalkraft  oder  Horizontal- 
intensität  nennen,  zum  Unterschied  von  der  Total- 
kraft oder  Totalintensität.  Die  Größe  der  Horizontal- 
komponente beträgt  für  Deutschland  etwa  0,«  C.G.S.  Mit 
dem  gleichen  Rechte  würde  man  auch  den  vertikal  wirken- 
den Teil  der  Totalkraft  betrachten  können,  der  folgerichtig 
Vertikalkraft  oder  Vertikalintensität  heißt.  Beide, 
Vertikal-  und  Horizontalintensität,  sind  die  Komponenten 
der  erdmagnetischen  Kraft,  wenn  wir  dieselbe  in  der  Ebene 
der  Deklination  und  Inklination  nach  dem  Parallelogramm  der 
Kräfte  zerlegen,  sie  lassen  sich  umgekehrt 
wieder  zur  Totalkraft  vereinigen,  wie  die 
Fig.  1  zeigt.  Horizontalkraft  und  Total- 
kraft schließen  den  Winkel  ein,  den  wir 
Inklination  nannten;  die  Trigonometrie 
lehrt,  daß  wenn  von  den  vier  Stücken  In- 
klination ,  Horizontalintensität ,  Vertikal- 
intensität und  Totalintensität  zwei  bekannt 
sind,  jedesmal  die  beiden  anderen  gefunden 
werden  können.  Es  ist  also  gleichgültig, 
welche  zwei  uns  gegeben  sind;  wie  wir 
wissen,  gehören  aber  drei  Stücke  zur  voll- 
ständigen Bestimmung  des  Erdmagnetismus,  zu  den  zwei 
muß  stets  die  Deklination  hinzukommen,  also  der  Winkel, 
welchen  jene  Ebene,  in  der  wir  die  Totalkraft  zerlegten, 
mit  der  Ebene  des  astronomischen  Meridians  bildet.  In 
der  Folge  soll  stets  die  Deklination  mit  d,  die  Inklination 
mit  i,  die  Totalkraft  mit  T,  die  Horizontalkraft  mit  H, 
die  Vertikalkraft  mit   V  bezeichnet  werden. 


n.    Oertliehe    und    zeitliche   Verschiedenheiten    des 
Erdmagnetismus. 

Es  war  im  vorhergehenden  Abschnitt  darauf  auf- 
merksam gemacht  worden,  daß  die  erdmagnetischen  Ele- 
mente nicht  an  allen  Punkten  der  Erdoberfläche  dieselbe 
Größe  haben.  Es  wird  notwendig  sein,  auf  diesen  Punkt, 
auf  die  räumliche  Verschiedenheit  des  Erdmagnetis- 


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7C  ^^^  Eschenhagen, 

mus,  etwas  naher  einzugehen  und  gleichzeitig  auch  die 
zeitlichen  Veränderungen  einer  genaueren  Betrach- 
tung zu  unterwerfen.  Beide  Umstände  sind  die  Ursachen, 
weshalb  wir  fortgesetzte  magnetische  Beobachtungen  nicht 
entbehren  können,  sie  sind  die  Ursache,  weshalb  die  ein- 
zelne Beobachtung,  selbst  wenn  sie  zur  Zeit  unbedeutend 
und  nicht  verwertbar  erscheinen  mag,  mit  der  Zeit  an 
Wert  gewinnt,  je  älter  sie  wird.  Das  Folgende  wird  die 
Richtigkeit  dieser  Behauptung  erweisen. 

Als  der  Entdecker  Amerikas  auf  seiner  Fahrt  nach 
Westen  die  Richtung  der  Kompaßnadel  mit  der  astrono- 
mischen Nordrichtung  verglich,  fand  er,  daß  mit  der  Ent- 
fernung von  den  Küsten  Spaniens  der  Winkel  jener  beiden 
Richtungen  immer  kleiner  wurde,  ja  er  erreichte  ein  Ge- 
biet im  Atlantischen  Ozean,  wo  beide  Richtungen  zu- 
sammenfielen, bis  weiterhin  die  Nadel,  deren  Richtung  in 
Spanien  nach  Osten  vom  astronomischen  Norden  abwich, 
sich  nach  Westen  von  dieser  Linie  entfernte.  Die  weitere 
Durchforschung  der  Erdoberfläche,  zu  der  allerdings  Jahr- 
hunderte erforderlich  waren,  lieferten  das  Material,  um 
ein  ganzes  System  von  Linien  gleicher  Deklination  (Iso- 
gonen),  gleicher  Inklination  (Isoklinen)  und  gleicher 
Ejraft  (Isodynamen)  zu  konstruieren. 

Es  zeigte  sich,  daß  einzelne  Linien  vorhanden  waren, 
auf  denen  die  Nadel  keine  Abweichung  von  der  wahren 
Nordrichtung  besaß  und  welche  jedesmal  ein  Gebiet  öst- 
licher Abweichung  von  einem  mit  westlicher  trennten,  es 
stellte  sich  heraus,  daß  auf  der  Südhälfte  der  Erde  ganz  ähn- 
liche Gesetze  für  das  Südende  der  Nadel  existierten,  wie 
auf  der  Nordhemisphäre  für  das  nördliche.  Beide  Hemi- 
sphären wurden  durch  eine  Linie  von  einander  getrennt, 
auf  welcher  die  Inklinationsnadel  keine  Neigung  anzeigte, 
durch  den  sog.  magnetischen  Aequator,  der  in  einiger 
Entfernung  von  dem  geographischen  Aequator,  bald  nörd- 
lich, bald  südlich  von  demselben  um  die  Erde  herumläuft. 
Dahingegen  konnten  zwei  Punkte  ermittelt  werden,  wo 
die  Inklinationsnadel  eine  vertikale  Richtung  annimmt,  die 
sog.  magnetischen  Pole  der  Erde.  Die  Linien  gleicher 
Kraft  wiesen  auf  jeder  Halbkugel  zwei  Stellen  auf,  wo  die 


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Erdmagnetismus.  77 

Kraft  einen  größten  Wert  erreichte,  die  sog.  Sammel- 
punkte der  erdmagnetischen  Kraft.  Die  nähere  Beschrei- 
bung dieser  Liniensysteme  ist  hier  nicht  am  Platze,  man 
ersieht  ihren  Verlauf  am  besten  aus  den  erdmagnetischen 
Karten,  die  z.  B.  in  „Berghaus'  physikalischem  Atlas"  zu 
finden  sind. 

Die  Wichtigkeit,  an  möglichst  vielen  Punkten  der 
Erdoberfläche  magnetische  Beobachtungen  anzustellen,  er- 
hellt sofort,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen,  welch  eine 
Rolle  der  Kompaß  auf  Seereisen  spielt.  Aber  auch 
für  die  Erkenntnis  des  Erdmagnetismus  ist  die  magne- 
tische Durchforschung  der  Erdoberfläche  von  größter  Be- 
deutung. Der  Verlauf  der  genannten  Liniensysteme  ist, 
wie  bereits  angedeutet,  kein  so  regelmäßiger,  wie  das 
Netz  der  Breiten-  und  Längengrade,  in  einer  Weise,  wie 
man  es  anfänglich  erhofft  hatte ;  ehe  jene  Linien,  die  wir 
auf  den  magnetischen  Karten  erblicken,  gezeichnet  werden 
konnten,  mußten  zahlreiche  Beobachtungen  angestellt  und 
verglichen  werden;  an  vielen  Stellen  sind  dieselben  noch 
äußerst  lückenhaft,  der  Verlauf  der  Linien  daher  sehr 
unsicher;  an  einzelnen  anderen  Stellen  haben  sich  Un- 
regelmäßigkeiten ergeben:  die  Werte  der  erdmagnetischen 
Elemente  standen  nicht  in  Einklang  mit  denen  der  um- 
liegenden Punkte,  und  es  bHeb  nichts  übrig,  als  derartige 
Beobachtungen  auszuschließen  und  den  Verlauf  der  Linien 
regelmäßiger  zu  gestalten.  Dies  Verfahren  hat  natürlich 
nur  Berechtigung,  wenn  es  sich  um  eine  genäherte  Dar- 
stellung handelt,  die  weitere  Aufgabe  erheischt  eine  ge- 
nauere Untersuchung  solcher  Unregelmäßigkeiten,  um  die 
Ursachen  derselben  zu  erforschen,  und  gerade  dieses  Ge- 
biet ist  es,  auf  dem  der  einzelne  Beobachter  seine  Wirk- 
samkeit entfalten  kann. 

Es  ist  ersichtlich,  daß  derartige  Beobachtungen  einen 
nicht  unerheblichen  Grad  der  Genauigkeit  erfordern,  der 
nur  geleistet  werden  kann  einerseits  durch  Einübung  der 
Beobachter  und  passende  Auswahl  des  Instrumentes,  an- 
dererseits durch  Berücksichtigung  aller  Umstände,  welche 
zu  einer  Vergleichbarkeit  der  Beobachtungen  beitragen 
können.     Dazu  gehört  aber  vor  allem  eine  Kenntnis  der 


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78  Max  Eschenhagen, 

zeitlichen   Aenderungen    der    erdmagnetischen    Ele- 
mente. 

Als  ein  päpstliches  Dekret  jene  Linie  ohne  Ab- 
weichung (NuU-Isogone),  die  von  Columbus  aufgefunden 
wurde,  zur  politischen  Grenzlinie  (Demarkationslinie)  er- 
hob, welche  die  Ländererwerbungen  der  Kronen  Spanien 
und  Portugal  trennen  sollte,  da  ahnte  der  Urheber  des- 
selben nicht,  daß  diese  Linie  allmählich  sich  verschieben 
würde  über  den  europäischen  Kontinent  hinweg  bis  nach 
Rußland  hinein,  und  daß  eine  Umkehr  dieser  Wanderung 
mit  Beginn  dieses  Jahrhunderts  erfolgen  würde.  Es  trat 
nämlich  eine  Verschiebung  des  ganzen  Systems  der  Iso- 
gonen  in  der  Weise  ein,  daß  an  Orten  wie  z.  B.  London 
oder  Clausthal  im  Harz  die  Deklination  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte folgende  Werte  annahm: 


L 

ondon 

Gl 

austhal 

1580 

11  »15' Ost 

1652 

1«  14' Ost 

1622 

6   0  , 

1672 

0   6  West 

1634 

6   6  , 

1680 

2   0   , 

1657 

0   0  , 

1695 

7  10   . 

1692 

6   0  West 

1715 

10   7   , 

1723 

14  17   , 

1740 

14  21   , 

1773 

21   9   , 

1770 

17   1   , 

1805 

24   8   , 

1800 

19  47   , 

1810 

19   8   , 

1840 

18   3   , 

Die  Linie  ohne  Abweichung  passierte  um  das  Jahr  1657 
London,  um  1660  Clausthal;  seit  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts ist  die  westliche  Deklination  wieder  im  Ab- 
nehmen begriffen.  Die  Wichtigkeit,  diese  Beobachtungen 
so  weit  zurück  zu  verfolgen  wie  möglich,  ist  klar,  wenn 
es  sich  darum  handelt,  die  Gesetzmäßigkeit  der  Er- 
scheinungen zu  erweisen. 

In  dieser  Beziehung  sind  wegen  des  frühzeitigen  Ge- 
brauches des  Kompasses  im  Bergwerk  die  alten  Gruben- 
risse der  Markscheider  eine  wertvolle  Fundgrube  geworden, 
wie  die  (im  Auszuge  mitgeteilte)  Reihe  von  Clausthal  und 
eine  ähnliche  von  Freiberg  beweisen. 


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Erdmagnetismus.  79 

Aehnlicl^e  Schwankungen,  sog.  säkulare  Aende- 
rungen,  zeigen  die  beiden  anderen  Elemente,  die  In- 
klination und  Intensität,  ebenfalls ;  während  die  westliche 
Deklination,  wie  erwähnt,  in  Deutschland  zur  Zeit  im 
Abnehmen  begriffen  ist,  wächst  die  Intensität,  die  In- 
klination hingegen  scheint,  wie  neuere  Beobachtungen 
am  erdmagnetischen  Observatorium  in  Wilhelmshaven  an- 
deuten, auf  einem  Umkehrpunkte  angelangt  zu  sein,  wo 
sie  vom  Abnehmen  zum  Wachsen  übergeht.  Da  der  auf 
ein  Jahr  entfallende  Betrag  der  Säkularänderung  in  sol- 
chem Falle  nur  ein  sehr  kleiner  ist  (nur  Bruchteile  einer 
Bogenminute  beträgt),  andererseits  die  Unsicherheiten  in 
der  Bestimmung  dieses  Elements  noch  große  sind,  so  läiät 
sich  das  Jahr,  in  welchem  der  Umkehrpunkt  liegt,  noch 
nicht  mit  Sicherheit  angeben. 

Aus  dem  Vorstehenden  ergiebt  sich,  da£  magnetische 
Karten  nur  dann  einen  Wert  haben,  wenn  vermerkt  ist, 
für  welches  Jahr  dieselben  gelten.  Die  nachstehend  ge- 
gebene Karte  von  Deutschland  giebt  eine  Uebersicht  der 
magnetischen  Linien,  wie  dieselben  im  Jahre  1885  sich 
gestalteten;  sie  ist  entworfen  von  dem  Direktor  der 
Deutschen  Seewarte,  Dr.  Neumeyer,  der  mit  sachkun- 
diger Hand  die  Beobachtungen  zusammengestellt  hat. 
Kennt  man  den  Betrag  der  jährlichen  Aenderung  eines 
erdmagnetischen  Elements,  wie  es  fdr  Deutschland  auf 
der  Karte  bemerkt  ist,  so  ist  man  imstande,  den  Wert 
desselben  auch  für  einen  späteren  oder  früheren  Zeitpunkt 
zu  berechnen,  andererseits  kann  man  Beobachtungen  aus 
verschiedenen  Jahren  auf  eine  Epoche  reduzieren  und  sie 
auf  diese  Weise  vergleichbar  machen  und  zum  Entwerfen 
einer  Karte  benutzen.  Die  Ermittelung  der  säkularen 
Variation  ist  sonach  von  der  größten  Wichtigkeit,  durch 
sie  und  für-  sie  behalten  ältere  sowohl  wie  vereinzelte 
Beobachtungen  ihren  Wert. 

Es  war  erwähnt  worden,  daß  man  den  magnetischen 
Karten  eine  bestimmte  Epoche  zu  Grunde  legen  müsse, 
da  die  erdmagnetischen  Linien  nur  für  ein  bestimmtes 
Jahr  Geltung  haben.  Diese  Behauptung  ist  indes  nur 
richtig,    wenn    man    von    einem    jährlichen    Mittelwerte 


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80  Max  Eschenhagen, 

spricht,  der  fUr  das  betreffende  Jahr  gültig  ist.  Die 
Beobachtungsinstrumente,  welche  den  Wert  der  erdmag- 
netischen Elemente  jederzeit  erkennen  lassen,  zeigen  uns 
aber,  daß  die  Größe  derselben  fortlaufenden  Aenderungen 
(Variationen)  unterworfen'  ist,  die  teils  innerhalb  gewisser 
Zeiträume  wiederkehren,  also  Perioden  zeigen,  teils  aber 
vollkommen  regellos  als  sog.  „ Störung*^  erscheinen. 

Die  hervorragendste  periodische  Erscheinung  ist  die 
tägliche  Periode,  die  wir  einer  näheren  Betrachtung 
unterwerfen  wollen. 

Jener  Winkel,  den  die  horizontal  aufgehängte  Magnet- 
nadel mit  der  wahren  Nordrichtung  einschließt,  nimmt 
im  Laufe  eines  Tages  andere  Werte  an,  die  in  Deutsch- 
land um  etwa  12 — 15  Bogenminuten  auseinanderliegen 
können.  Die  westliche  Abweichung,  die  im  mittleren 
Deutschland  etwa  12®  erreicht,  fängt  in  den  späten  Vor- 
mittaffsstunden  an  größer  zu  werden  und  erreicht  etwa 
um  P  mittags  einen  Höchstbetrag,  sodann  wird  die  De- 
klination kleiner  und  erreicht  in  den  Abendstunden  einen 
niedrigsten  Wert,  von  da  an  wächst  sie  aufs  neue,  erreicht 
einen  zweiten  höchsten  Wert  einige  Stunden  nach  Mitter- 
nacht und  sinkt  dann  zu  dem  tiefsten  Wert  herab,  der 
gegen  8*^  morgens  eintritt,  um  dann  von  neuem,  wie  an- 
fangs geschildert ,  anzusteigen.  Die  Werte  um  1^  nach- 
mittags (p.  m.  =  post  meridiem)  und  um  8^  vormittags 
(a.  m.  =  ante  meridiem)  stellen  das  üauptmaximum  bez. 
das  Hauptminimum  der  täglichen  periodischen  Erschei- 
nung vor,  während  nach  Mittemacht  — -  die  Stunde  ist 
nicht  sicher  ausgeprägt  —  ein  Nebenmaximum  und  in 
den  Abendstunden  ein  Nebenminimum  eintritt.  Der  Unter- 
schied vom  Hauptmaximum  zum  Hauptminimum,  die 
Amplitude  der  Periode,  ist  im  Sommer  größer  als  im 
Winter,  die  einzelnen  Monate  stellen  üebergangsformen 
dar.  Entsprechende  Erscheinungen  zeigen  die  beiden 
anderen  Elemente,  die  Horizontalintensität  und  die  In- 
klination. Man  findet  den  Verlauf  derselben  nebst  dem 
der  Deklination  in  der  nachstehenden  Fig.  2,  wie  er 
im  erdmagnetischen  Observatorium  zu  Wilhelmshaven  im 
Jahre  1883  den  Aufzeichnungen  der  selbstregistrierenden 


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Erdmagnetismus. 

Flg.  2. 


81 


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Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschung. 


6 


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82  Max  Eschenhagen, 

Instrumente  entnommen  worden  ist.    Wie  ersichtlich  sind 
die  Schwankungen  der  Inklination  ziemlich  gering,  hin- 
gegen  sind   die    der   Horizontalkomponente    bedeutender^ 
zumal   ist   ein  Hauptminimum   gegen    10^  morgens   stark 
ausgeprägt.     Die  Zeichnungen   stellen   den  Verlauf  jener 
Schwankungen   im   Sommerhalbjahr,    im   Winterhalbjahr 
und  im  ganzen  Jahr  (die  Inklination  nur  im  Jahresmittel) 
dar,    die  Ordinaten   (von   der  in   der   Mitte  jeder  Kurve 
gezogenen    stärkeren    Linie    aus    gerechnet)    lassen    die 
Größen  derselben  in  dem  bezüglichen  Maß  (Bogenminuten 
in   Deklination   und   Inklination,   Bruchteile   von  C.G.S.- 
Einheiten  in  Intensität)  erkennen.     An  anderen  Punkten 
Deutschlands  wird  die  tägliche  Periode  der  drei  Elemente 
einen  nur  unbeträchtlich  abweichenden  Verlauf  haben,  so 
daß    die   hier   gegebenen    Kurven    eine   ziemlich   genaue 
Darstellung  jener  Erscheinung  für  Deutschland  geben.    An 
entfernteren,  namentlich  weiter  nördlichen  Punkten  ist  der 
Verlauf   der  Periode   etwas  verschoben  in  Bezug  auf  die 
Zeitpunkte   der  Maxima  und  Minima,   außerdem   ist   die 
Amplitude  eine  größere  nach  dem  magnetischen  Pol,  eine 
kleinere  nach  dem  Aequator  zu.    Schließlich  muß  erwähnt 
werden,  daß  die  Amplitude  in  verschiedenen  Jahren  nicht 
gleich   groß   bleibt,    sie   zeigt  eine  ziemlich  regelmäßige 
Schwankung  von  kleineren  zu  größeren  Werten  und  um- 
gekehrt, auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  soll. 
Alle  Bemerkungen  über  die  tägliche  Periode  bezogen 
sich  auf  eine  Darstellung  derselben,  wie  sie  erhalten  wird, 
wenn   man  beispielsweise  mit  Hilfe  der  dazu  geeigneten 
Instrumente  die  Größe  der  erdmagnetischen  Elemente  um 
jede  Stunde  ermittelt,  wodurch  man  z.  B.  für  jeden  Tag 
eines  Monats  24  Werte  erhält.     Bildet  man  nun  aus  den 
30  Monatswerten  für  jede  Stunde  das  Mittel,  so  giebt  der 
Verlauf  der  24  stündlichen  Mittelwerte  ein  Bild  einer  mitt- 
leren täglichen  Periode,  wie  sie  sich  in  dem  betreffenden 
Monate  darstellt.     Dieselbe  erscheint  an  einem  einzelnen 
Tage  nur  in  seltenen  Fällen  in  diesem  regelmäßigen  Ver- 
lauf,  gewöhnlich   ist   die  Periode   durch   allerlei  kleinere 
und    größere  Unregelmäßigkeiten    getrübt,    die    bei    der 
Mittelbildung  sich  ungefähr  gegenseitig  ausgleichen. 


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Erdmagnetismus. 


83 


Diese  Unregelmäßigkeiten,  die  meist  in  unbedeuten- 
den Ausbuchtungen  der  den  täglichen  Verlauf  darstellen- 
den Kurven  bestehen,  beginnen  zuweilen  plötzlich  sehr 
großen  umfang  anzunehmen,  es  herrscht  eine  „magne- 
tische Störung**.    Diese  Erscheinung,  bei  der  die  Mag- 


Fig.  8. 


Götti-nger  Zeit. 

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Verlauf  der  östlicIienDelclinaüam  sWort1la.e  (Gr.  Skiaven-See) 
ain  U.  November  1682. 

Cliajgnetisrh»  Störunge 


netnadel  eine  große  Unruhe  zeigt  und  oft  über  ganze 
Grade  in  wenigen  Zeitminuten  sich  bewegt,  tritt  an  vielen 
Orten  gleichzeitig  auf,  nicht  selten  erscheint  zur  selben 
Zeit  ein  Nordlicht  am  Himmel.  Bis  jetzt  ist  es  aber 
nicht  gelungen,  den  genauen  Zusammenhang  beider  Er- 
scheinungen nachzuweisen. 


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84  ^^'X  Eschenhagen, 

Es  ist  begreiflich,  daiä  beim  Eintreten  dieser  »mag- 
netischen Gewitter",  wie  sie  von  Humboldt  genannt 
wurden,  die  Beobachtung  der  in  schneller  Bewegung  be- 
findlichen Magnetnadel  eine  sehr  schwierige  ist;  nur  ein 
selbstthätig  aufzeichnendes  Verfahren  hat  hier  guten  Er- 
folg. Die  Kurve  (Fig.  3)  stellt  die  von  5  zu  5  Minuten 
aufgezeichnete  Schwankung  der  Deklinationsnadel  zu  Fort 
Rae  am  15.  November  1882  vor;  der  Abstand  eines 
Punktes  der  Kurve  von  einer  horizontalen  Linie  dient 
zur  Berechnung  des  jeweiligen  Wertes  der  Deklination. 
In  der  Figur  hat  1  mm  dieses  Abstandes  den  Wert  von 
4,6  Bogenminuten. 

Ueber  das  Wesen  dieser  Störungen  ist  so  gut  wie 
nichts  bekannt,  wir  beschränken  uns  auf  die  gegebene 
kurze  Darstellung  derselben,  obgleich  sie  für  das  nach- 
folgende nicht  ohne  Bedeutung  sind:  es  ist  von  Wichtig- 
keit, daß  ein  mit  magnetischen  Messungen  beschäftigter 
Beobachter  die  eintretende  Störung  an  der  Unruhe  der 
Magnetnadel  erkennt  und  die  Beobachtung  abbricht,  da 
bei  derartigen  Bewegungen  der  Nadel  keine  genauen  Re- 
sultate zu  erhalten  sind. 

Es  war  notwendig,  bei  einer  allgemeinen  Darstellung 
der  erdmagnetischen  Erscheinungen  etwas  länger  zu  ver- 
weilen, weil  die  Kenntnis  derselben  für  die  nun  zu  er- 
örternden Beobachtungsmethoden  von  der  gröMen  Be- 
deutung ist.  Mit  dem  hier  Gebotenen  ist  freilich  der 
Gegenstand  bei  weitem  nicht  erschöpft,  da  alles,  was 
nicht  zu  Beobachtungszwecken  in  Beziehung  steht,  von 
der  obigen  Darstellung  ausgeschlossen  wurde. 


in.   Allgemeine  BeobachtungsTorHchriften. 

Bei  der  Anstellung  magnetischer  Beobachtungen  kann 
der  Zweck  ein  mehrfacher  sein:  entweder  handelt  es  sich 
um  fortlaufende  Aufzeichnungen  der  Gröiae  der  erdmag- 
netischen Elemente  an  einem  oder  mehreren  Orten,  die 
alsdann  als  erdmagnetische  Stationen  oder  Observatorien 
bezeichnet   werden,    oder   aber   es   handelt   sich   um   ge- 


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Erdmagnetismus.  85 

legentliche  Ermittelungen  jener  Werte,  wie  solche  bei- 
spielsweise auf  Reisen  an  möglichst  vielen  Punkten  eines 
Landes  vorgenommen  werden  können.  Dieser  letztere 
Zweck,  die  magnetische  Reisebeobachtung,  ist  für 
den  Inhalt  dieses  Abrisses  das  Wesentliche,  da  die  erstere 
Art  der  Beobachtung  ein  wohleingerichtetes  Observato- 
rium erfordert.  Da  aber  der  Reisebeobachter,  wenn  irgend 
möglich,  im  Anschluß  an  ein  benachbartes  Observatorium 
arbeiten  soll,  so  wird  im  Schlußabschnitt  die  geeignete 
Verwertung  der  Beobachtungen   noch   erläutert   werden. 

Je  nach  dem  Grade  der  Genauigkeit,  welche  bei 
magnetischen  Reisebeobachtungen  erreicht  werden 
soll,  ist  die  Auswahl  der  zu  benutzenden  Instrumente 
zu  treffen.  Handelt  es  sich  um  eine  nur  rohe  Ermitte- 
lung der  Größe  der  erdmagnetischen  Elemente,  sei  es 
nur,  um  ihre  Größe  für  den  betreffenden  Ort  mit  unge- 
fährer Genauigkeit  zu  kennen,  oder  sei  es,  um  beispiels- 
weise die  Abweichung  der  magnetischen  Nordrichtung  von 
der  wahren  Nordrichtung  zur  genäherten  Auffindung  der 
letzteren  zu  benutzen,  so  wird  ein  einfacheres  Instrument 
diesen  Anforderungen  genügen.  Der  Grad  der  zu  fordernden 
Genauigkeit  wird  in  diesem  Falle  durch  die  Betrachtung 
bestimmt,  daß  ein  solcher  Beobachter  keine  Rücksicht 
auf  die  täglichen  Schwankungen  der  erdmagnetischen  Ele- 
mente nimmt,  es  kann  also  der  zu  duldende  Beobach- 
tungsfehler die  halbe  Größe  des  Betrages  jener  Aende- 
rungen  erreichen.  Handelt  es  sich  hingegen  um  größere 
Genauigkeit,  so  wird  man  feinere  Messungen  mit  voll- 
kommeneren Instrumenten  anzustellen,  die  Resultate  der- 
selben aber  von  dem  Einfluß  jener  Schwankungen  zu 
befireien  haben.  Hierzu  ist  der  oben  erwähnte  Anschluß 
an  ein  festes  Observatorium  erwünscht.  Im  nachfolgen- 
den werden  Instrumente  beschrieben  werden,  die  sowohl 
den  ersteren,  wie  den  letzteren  Anforderungen  Genüge 
leisten. 

Zuvor  mögen  noch  einige  allgemeinere  Vorschriften 
für  die  Auswahl  des  Beobachtungspunktes,  sowie  für  die 
Behandlung  der  Instrumente  bei  den  Beobachtungen  Platz 
finden. 


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8G  ^aoc  Eschenhagen, 

um  die  wirkliche  Größe  der  erdmagnetischen  Ele- 
mente eines  Punktes  kennen  zu  lernen,  muß  bei  der 
Auswahl  eines  Platzes  für  Aufstellung  eines  Instru- 
ments darauf  geachtet  werden,  daß  keinerlei  in  der  Nach- 
barschaft befindliche  Eisenmassen,  eisenhaltige  Gesteine 
u.  dei^l.  jene  Werte  ändern  können,  der  Punkt  muß  also 
in  erster  Linie  frei  von  sog.  Lokaleinflüssen  sein.  Wie 
weit  man  von  derartigen  störenden  Gegenständen  entfernt 
bleiben  muß,  ist  je  nach  der  Größe  derselben  verschie- 
den; kleinere  Einflüsse,  wie  z.  B.  Baulichkeiten  mit  nur 
wenig  Eisenteilen,  verlieren  ihre  Wirksamkeit  oft  schon 
bei  10  m  Entfernung,  während  bei  größeren  unter  Um- 
ständen 50  m  hierzu  nicht  hinreichend  sind.  Vollständige 
Sicherheit,  daß  keinerlei  Lokaleinfluß  an  der  Beobach- 
tungsstelle vorhanden,  kann  nur  dann  gewonnen  werden, 
wenn  man  an  mehreren  Punkten  im  Umkreis  die  gleichen 
Resultate  erhält.  Eine  solche  Untersuchung  ist  unent- 
behrlich, wenn  man  dauernd  an  dem  gleichen  Orte  Be- 
obachtungen anstellen  will.  Bei  nur  vorübergehenden 
Beobachtungen  muß  der  Beobachter  den  Platz  nach  seinem 
Ermessen  auswählen,  indem  er  sich  von  allem  fernhält, 
was  verdächtig  erscheint.  Hierher  sind  mancherlei  Ge- 
steinsarten, namentlich  Basalte  und  andere  eruptive  Ge- 
steine zu  rechnen;  Sandstein,  der  kein  Eisen  enthält 
(nicht  rötlich  gefärbt  ist),  namentlich  aber  Kalkstein  ist 
am  wenigsten  zu  fürchten.  Gewöhnlich  setzt  man  das 
Instrument  nicht  auf  einen  steinernen  Pfeiler,  sondern 
auf  ein  besonderes  dreibeiniges  und  leicht  transportables 
(eisenfreies)  Stativ,  das  nicht  zu  hoch  sein  darf,  um  Er- 
schütterungen durch  den  Wind  zu  vermeiden.  Nötigen- 
falls helfe,  wenn  nur  geringere  Hilfsmittel  zu  Verfügung 
stehen,  man  sich  durch  einen  eingeschlagenen  starken 
Pfahl,  dessen  obere  Fläche  ein  möglichst  wagrechtes,  mit 
Messingschrauben  befestigtes  Brettchen  bildet.  Das  ein- 
mal aufgestellte  Instrument,  wie  das  Stativ  sind  vor  allen 
unsanfteren  Berührungen  zu  schützen.  Der  Beobachter 
hat  alle  eisenhaltigen  Gegenstände  abzulegen  und  darauf 
zu  achten,  daß  auch  der  Anzug  keinerlei  eisenhaltige 
Teile  —  Schnallen,  Knöpfe  etc.  —  enthält. 


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Erdmagnetismas.  87 

Bei  allen  Beobachtungen  im  Freien  —  ein  besonders 
hergerichtetes  Beobachtungszelt  wird  nur  selten  zur  Ver- 
fügung stehen  —  wird  der  Fall  eintreten,  daß  das  auf- 
gestellte Instrument  den  Unbilden  der  Witterung  (Regen, 
Staub  u.  s.  w.)  ausgesetzt  wird;  es  ist  deshalb  ein  be- 
sonderes Augenmerk  auf  die  Reinigung  des  Instruments 
zu  verwenden,  welche  möglichst  bald  nach  jeder  Beob- 
achtung durch  Abwischen  mit  einem  weichen  Tuch,  wel- 
ches man  hin  und  wieder  mit  etwas  feinem  (Knochen-) 
Oel  tränkt.  Auf  eine  sichere  Verpackung  durch  festes 
Anziehen  aller  die  Beweglichkeit  hindernden  Schrauben, 
sowie  auf  einen  behutsamen  Transport  —  Tragen  in  der 
fiand  oder  auf  dem  Rücken  —  ist  gleichfalls  zu  achten. 
Es  mag  vielleicht  überflüssig  erscheinen,  diese  kleinen, 
fast  selbstverständlichen  Vorschriften  hier  anzuführen,  in- 
des zieht  die  Vernachlässigung  einer  derselben  nur  zu  häufig 
die  Unbrauchbarkeit  des  Instruments  nach  sich,  und  der 
noch  ungeübte  Beobachter  wird  zum  Schaden  seiner  Beob- 
achtungen wie  seines  Instruments  Lehrgeld  zu  zahlen  haben. 

Endlich  ist  noch  zu  erwähnen,  daß  jeder  Beobachter  ein 
sorgfältiges  Protokoll  der  Beobachtung  in  einem  Taschen- 
buch zu  führen  hat,  welches,  nach  dem  Muster  der  weiter 
unten  folgenden,  an  der  Spitze  das  Datum,  die  Art  der 
Beobachtung  und  das  benutzte  Instrument  zu  tragen,  sowie 
eine  Beschreibung  des  Beobachtungspunktes,  nötigenfalls 
mit  einem  die  Wiederauffindung  ermöglichenden  Situations- 
plan, zu  geben  hat.  Bei  jeder  einzelnen  zur  Beobachtung 
gehörigen  Einstellung  ist  die  Zeit  —  in  Stunden  und 
Minuten  —  zu  notieren,  auch  ist  der  Beobachter  namhaft 
zu  machen.  Nach  Rückkehr  von  der  Beobachtung  ist  die 
Beobachtung  aus  dem  Taschenbuch  in  ein  besonderes 
Berechnungsbuch  zu  kopieren,  welches  am  praktischsten 
auf  einer  Seite  die  Beobaclitungen  wiedergiebt,  während 
auf  der  daneben  befindlichen  die  weitere  Rechnung  aus- 
geführt wird.  Es  muß  der  Art  der  Protokollführung  wie 
der  Berechnung  stets  der  Gedanke  zu  Orunde  gelegt 
werden,  daß  man  gewissermaßen  für  einen  anderen,  nicht 
anwesenden  arbeitet,  der  nachher  aber  imstande  sein 
soll,  Beobachtung  wie  Rechnung  bis  ins  kleinste  zu  kon- 


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88  Max  Eschenhagen, 

trollieren.  Viele  Beobachtungen  von  Reisenden,  die  kein 
strenges  Beobachtungsschema  führten,  nachher  aber  an 
der  Berechnung  verhindert  waren,  müssen  als  wertlos  zur 
Seite  gelegt  werden,  und  die  Mühe,  die  auf  dieselben 
verwendet  wurde,  ist  verloren.  Was  jede  Beobachtung 
wertlos  macht,  ist  das  Fehlen  des  Datums  und  eventuell 
auch  der  Stunde,  zu  welcher  beobachtet  wurde.  Um  die 
häufig  vorkommenden  Irrtümer  bei  den  Ablesungen  zu 
vermeiden,  gewöhne  man  sich  daran,  nach  dem  Nieder- 
schreiben einer  Beobachtung  sich  stets  nochmals  von  der 
Richtigkeit  der  Ablesung  zu  überzeugen. 

Eines  Umstandes,  der  leicht  die  Richtigkeit  der  Be- 
obachtungsresultate beeinflussen  kann,  muß  noch  erwähnt 
werden,  nämlich  der  etwaige  Eisengehalt  der  Metallteile 
des  Beobachtungsinstruments.  Im  allgemeinen  enthält 
das  käufliche  Kupfer  und  Messing  einen  zwar  sehr  ge- 
ringen Eisengehalt,  der  aber  doch  beträchtlich  genug  sein 
kann,  eine  Ablenkung  der  in  ihrer  Nachbarschaft  befind- 
lichen Magnetnadel  hervorzubringen.  Andererseits  bietet 
die  elektrolytische  Darstellung  des  Kupfers  genügende 
Garantie  für  die  Reinheit  desselben,  so  daß  ein  vorsich- 
tiger Mechaniker  wohl  in  der  Lage  ist,  in  der  genannten 
Hinsicht  die  nötige  Sicherheit  zu  bieten.  Eine  sorgfältige 
und  genaue  Prüfung  eines  verdächtigen  Instruments  er- 
fordert eine  eingehende  Untersuchung,  die  am  besten  an 
einem  erdmagnetischen  Observatorium  ausgeführt  wird; 
eine  rohe  Untersuchung  kann  in  der  Weise  vorgenommen 
werden,  daß  einzelne  Teile  oder  das  ganze  Instrument  sehr 
vorsichtig  einer  frei  schwebenden  Magnetnadel  genähert 
werden;  eine  eintretende  Anziehung  oder  Abstoßung,  die 
nicht  auf  Erschütterungen  beruht  oder  durch  Luftströme 
(die  Magnetnadel  befindet  sich  deshalb  zweckmäßig  hinter 
Glas)  hervorgerufen  wird,  giebt  zu  ernsten  Bedenken  Anlaß. 

Im  folgenden  mögen  nun  die  erdmagnetischen  Be- 
obachtungsmethoden, und  zwar  in  erster  Linie  diejenigen, 
welche  die  absoluten  Größen  der  drei  Elemente  stets  mit 
Beziehung  auf  unsere  deutschen  Verhältnisse  liefern,  einer 
Darstellung  unterzogen  werden,  während  auf  die  sog.  Varia- 
tionsbeobachtungen nicht  näher  eingegangen  werden  kann. 


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V    Erdmagnetismus.  89 

Wenngleich  die  Instrumente,  die  unseren  Zwecken 
dienen,  gerade  in  jüngster  Zeit  mannigfaltige  Verbesse- 
rungen und  Vervollkommnungen  erfahren  haben,  so  sind 
wir  doch  weit  davon  entfernt,  bereits  die  endgültige, 
beste  Form  für  dieselben  zu  besitzen.  Bei  diesem  steten 
Wechsel  muß  es  zweckmäßig  erscheinen,  hier  in  erster 
Linie  die  Punkte  darzustellen,  auf  welche  bei  den  Beob- 
achtungen —  gleichviel  mit  welchem  Instrumente  — 
immer  zu  achten  ist,  und  aus  denen  jeder,  auch  wenn  er 
mit  anderen,  in  der  Folge  nicht  beschriebenen  Instru- 
menten arbeitet,  ersehen  kann,  worauf  es  ihm  ankommen 
muß.  Neben  dieser  Darlegung  der  Methode  mögen 
dann  einige  Instrumente,  teils  einfacherer,  teils  vollstän- 
digerer, genauerer  Konstruktion  beschrieben  werden.  Von 
einer  theoretischen  Begründung  kann  bei  dem  beschränk- 
ten Umfange  dieser  Darstellung  abgesehen  werden;  nähe- 
res darüber  findet  sich  in  folgenden  Werken: 

Gauss  und  Weber,  Resultate  des  magnetischen  Ver- 
eins.    Vergriffen. 
Lamont,  Handbuch  des  Erdmagnetismus.    Vergriffen. 
Günther,  Geophysik.    Stuttgart  bei  Enke  1885.    Be- 
sonders schätzbar  wegen  des  umfangreichen  Litte- 
ratumachweises. 
Ereil,    Anleitung    zu    magnetischen    Betrachtungen. 
Wien  bei  Gerold  1858.     (Anhang  zu  den  Sitzungs- 
berichten der  Wiener  Akademie  Bd.  XXXII.) 
Liznar,  Anleitung  zur  Messung  und  Berechnung  der 
Elemente  des  Erdmagnetismus.  Wien  bei  Gerold  1883. 
Letzteres  verdient  als  neueres  Werk  von  zwar  nicht 
erschöpfender,  aber  doch  eingehender  Darstellung  bei  ge- 
ringem Umfange  Beachtung. 


IT.  Beobachtungsmethoden. 

Deklination. 

Die  Aufgabe   der   Deklinationsbestimmung   ist   eine 
doppelte:  erstens  muß  die  Richtung  des  magnetischen 


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90  ^^^  Eschenhagen, 

Meridians,  zweitens  die  des  astronomischen  bestimmt 
werden.  Wir  hatten  gesehen,  daß  eine  horizontal  auf- 
gehängte Magnetnadel  sich  mit  ihrer  „magnetischen  Achse" 
in  die  Richtung  des  ersteren  einstellt.  Diese  magnetische 
Achse  ist  aber  äuüerlich  nicht  erkennbar,  sie  fällt  im 
allgemeinen  nicht  mit  der  geometrischen  Achse  der  Nadel 
zusammen,  ja  man  kann  nicht  einmal  sagen,  daß  sie  ge- 
radlinig verläuft.  Man  hat  nun  das  Beobachtungsverfahren 
derart  eingerichtet,  daß  man  die  Lage  der  erkennbaren 
geometrischen  Achse  der  Nadel  (bei  zugespitzter  Nadel 
die  Verbindungslinie  der  beiden  Spitzen)  oder  eine  andere 
feste  Richtung,  z.  B.  die  Normale  auf  einen  mit  der 
Nadel  fest  verbundenen  Spiegel,  bestimmt  und  die  Ab- 
weichung der  magnetischen  Achse  von  derselben  durch 
Umlegen  der  Nadel  (Vertauschen  von   oben   und  unten) 


Flg.  4. 
1. 

^  /                                 c -^^ 

'^ 

y-' 

•> 

nc^ 

C 

X. 

"V                                     : ^- 

eliminiert.  Sei  z.  B.  AB  (Fig.  4)  die  geometrische  Achse 
einer  Magnetnadel,  deren  Stellung  über  einer  Kreisteilung 
an  der  Spitze  abgelesen  werden  kann,  DE  sei  die  magne- 
tische Achse,  die  sich,  wenn  die  Nadel  frei  beweglich  ist, 
in  den  magnetischen  Meridian  einstellt.  Enthält  Spitze  A 
Nordmagnetismus,  so  muß  in  der  ersten  Lage  der  Nadel 
A  zu  weit  nach  Osten  zeigen,  und  zwar  genau  um  den 
Winkel,  den  magnetische  Achse  und  geometrische  Achse 
miteinander  bilden,  in  der  zweiten  Lage  der  Nadel  nach 
dem  Umlegen  wird  Spitze  A  um  denselben  Winkel  zu 
weit  nach  Westen  vom  magnetischen  Meridian  zeigen, 
das  Mittel  der  beiden  Ablesungen  wird  die  richtige  Lage 
des  magnetischen  Meridians  angeben.  Im  allgemeinen 
wird  bei  einer  Nadel  mit  zugespitzten  Enden  der  Winkel 
zwischen  beiden  Achsen  ein  sehr  kleiner  sein,  so  daß  er 


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Erdmagnetismus.  91 

sich  meist  bei  der  nicht  erhebliche  Genauigkeit  gewähren- 
den Ablesung  der  Stellung  einer  Spitze  über  einer  Kreis- 
teilung der  Beobachtung  entzieht. 

Bei  Beobachtungen,  die  einen  höheren  Grad  von  Ge- 
nauigkeit erfordern,  wählt  man  deshalb  andere  Verfahren, 
von  denen  hier  das  der  Spiegeleinstellung  genannt  sei. 
Man  verbindet  einen  kleinen  Spiegel  S8  fest  mit  der 
Magnetnadel  (in  der  Fig.  5  von  oben  gesehen  gezeichnet), 
die  Spiegelnormale  soll,  wie  in  der  Zeichnung  angedeutet, 
ungefähr  mit  der  Längsrichtung  des  Magneten  AB  zu- 
sammenfallen, während  die  magnetische  Achse  die  Rich- 
tung DE  haben  soll.  Richtet  man  nun  ein  Fernrohr  jFO, 
dessen  Stellung  auf  einem  horizontalen,  mit  Gradteilung 
versehenen  Kreise  abgelesen  werden  kann  und  welches 
im  Brennpunkte  des  Okulars  einen  vertikalen  Faden  nebst 
einem  dicht  davor  in  die  Okularröhre  eingelassenen  kleinen 

Fig.  5. 


Beleuchtungsprisma  enthält,  auf  den  Spiegel,  so  wird 
man  in  demselben  den  Faden  gespiegelt  in  einem  hellen 
Felde  erblicken,  außerdem  sieht  man  den  Faden,  der  im 
Brennpunkt  des  Okulars  sich  befindet,  direkt,  und  die 
Aufgabe  ist  es,  durch  Drehung  des  Fernrohrs  den  direkt 
gesehenen  Faden  mit  seinem  Spiegelbilde  zur  Deckung 
zu  bringen,  alsdann  befindet  sich  die  optische  Achse  des 
Femrohrs  genau  in  der  Richtung  der  Spiegelnormale. 
Durch  Umlegen  des  Magnets  und  neue  Einstellung  der 
Fäden  wird  auch  hier  als  Mittel  der  beiden  Einstellungen 
des  Femrohrs  die  Lage  desselben  erhalten,  in  welcher  es 
sich  genau  in  der  Richtung  des  magnetischen  Meridians 
befindet. 

Die  Magnete  pflegt  man  entweder  an  einem  kleinen 
Häkchen  mittelst  eines  Kokonfadens  aufzuhängen,  oder 
aber  man  lälät  ihn  vermittelst  eines  kleinen  Achathütchens 
auf  einer  Spitze  (Pinne)  balancieren.  Beide  Arten  haben 
ihre  Mängel:   bei  der  ersten  ist  die  Torsion  des  Fadens, 


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92  Max  Eschenhagen, 

welche  den  Magneten  aus  dem  Meridian  um  einen  kleinen 
Betrag  herausdreht,  störend,  bei  der  letzteren  die  Reibung 
auf  der  Pinne.  Für  Beobachtungen  im  Freien  kommt 
bei  Fadenaufhängimg  der  Einfluß  des  Windes  hinzu,  so 
daß  man  hier  am  zweckmäßigsten  die  Spitzenaufstellung 
wählen  wird.  Die  Fehler,  welche  durch  Reibung  auf  der 
Pinne  entstehen,  lassen  sich  vermindern,  indem  man  alle 
Einstellungen  der  Magnetnadel  unter  kleinen  Erschütte- 
rungen vornimmt.  Es  genügt,  an  der  Klemmschraube 
des  Instruments  mit  dem  Fingernagel  zu  kratzen,  wenn 
dem  Instrument  kein  besonderer  Reiber  beigegeben  ist, 
der  auf  einen  Knopf  des  Magnetkastens  angewandt  wird. 
Vor  allem  hat  man  sich  vor  Beschädigungen  der  Pinne 
beim  Auf-  und  Abnehmen  des  Magneten  zu  hüten;  die 
Spitze  muß,  durch  eine  Lupe  betrachtet,  tadellos  scharf 
aussehen,  nur  dann  sind  sichere  Einstellungen  und  zwar 
selbst  bei  der  feineren  Beobachtungsmethode  mit  dem 
Femrohr  zu  erzielen.  Um  die  hin  und  her  schwingende 
Nadel  schnell  zu  beruhigen,  gebraucht  man  einen  zweiten 
schwachen  Magnet,  den  Beruhigungsstab,  den  man  mit 
einem  Pole  dem  gleichnamigen  Pole  der  Nadel  nähert, 
wenn  dieser  herankommt,  beim  Zurückschwingen  dreht 
man  den  Beruhigungsmagnet  um  und  hemmt  mit  dem  un- 
gleichnamigen Pol  die  Bewegung  der  Nadel. 

Die  zweite  Aufgabe  der  Deklinationsbestimmung  be- 
steht in  dem  Auffinden  des  astronomischen  Meridians. 
Die  gewöhnlich  hierzu  benutzten  Methoden  stützen  sich 
auf  astronomische  Beobachtungen  (des  Polstems  oder  der 
Sonne)  und  terrestrische  Beobachtungen  im  Anschluß  an 
die  Landesvermessung.  Nur  der  wichtigste  Teil  dieser 
Aufgaben  kann  hier  hervorgehoben  werden,  das  weitere 
muß  eingehenderem  Studium  überlassen  werden. 

1.  Beobachtung  des  Polsterns. 

Bei  der  scheinbaren  Drehung  des  Himmelsgewölbes 
um  die  Erde  beschreiben  sämtliche  Fixsterne  Kreise,  die 
am  größten  für  Sterne  im  Himmelsäquator,  am  kleinsten 
für  Sterne  in  der  Nähe  des  Pols,  um  welchen  die  schein- 


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Erdmagnetismus.  93 

bare  Drehung  stattfindet,   sind.     Die  Höhe  des  letzteren 
über   dem  Horizont  ist  an  jedem  Orte  gleich   der  geo- 
graphischen Breite;  eine  Anzahl  von  Sternen,  deren  Ab- 
stand Tom  Pol  nicht  größer  als  die  geographische  Breite 
ist,  können  daher  auf  ihrer  Wanderung  von  uns  verfolgt 
werden;  sie  passieren  bei  .einer  Umdrehung  den  Meridian 
des  Beobachtungsprtes   —   die   durch   den  Pol   und  den 
Beobachtungsort  gelegte  senkrechte  Ebene  zweimal  (un- 
tere und  obere  Kulmination).    Die  Zeit  von  einer  oberen 
Kulmination  bis  zur  anderen  heißt  ein  Stemtag.    Würden 
wir  einen  Stern  in  dem  Augenblick,  wo  er  den  Meridian 
passiert   (kulminiert),    mit  einem  Fernrohr  einstellen,   so 
würde  dasselbe  die  Meridianrichtung  angeben.  Dies  direkte 
Verfahren  ist  im  allgemeinen  aus  verschiedenen  Gründen 
in  der  Praxis  nicht  anwendbar,   zumal  dazu  eine  genaue 
Kenntnis  der  Zeit  und  vorzügliche  Instrumente  gehören. 
Wollen  wir  mit  einfachen  Hilfsmitteln  arbeiten,  so  wählen 
wir  einen  hellen  Stern,  der  in  der  Nähe  des  Poles  steht 
und  der,  weil  sein  Kreis  ein  sehr  klei- 
ner ist,  sich  nur  sehr  langsam  bewegt.  ^**'  -^^^^^^^ 
Hierfür  bietet  sich  uns  Bewohnern  der  ^^ 
nördlichen    Hemisphäre    der    bekannte                  / 
helle  Stern  im  Sternbilde  des  Kleinen                 / 
Bären,  der  gewöhnlich  als  Polstern  be-                / 
zeichnet  wird  und  den  man  sehr  bald  in               / 
der  Verlängerung  der  Verbindungslinie 
der  beiden  Sterne  a  und  ß  des  Großen             /  •* 
Bären  auffindet  (Fig.  6).    Der  Polstern         ^  ^   ^        .ß 
hat  einen  Abstand  von  P  17'  vom  Pol,           f           • 
der  sich  fast  genau  in  der  Richtung  nach 
dem  Stern  C  (Mizar)  des  Großen  Bären  befindet.   Er  ist  also 
in  oberer  Kulmination,   wenn  der  letztere  in  unterer  ist 
und  umgekehrt.   Man  wird,  wenn  man  beide  Sterne  gleich- 
zeitig mit  dem  vertikalen  Faden  eines  Diopters  (siehe  Be- 
schreibung des  Azimutalkompasses)  zur  Deckung  bringen 
kann,   die  Visierlinie   so   genau,    wie  es  dies  Hilfsmittel 
erlaubt,  in  den  astronomischen  Meridian  gebracht  haben. 
Da  dies  mühsam  und  auch  nur  näherungsweise  der  Fall  ist, 
so  wählt  man  zur  Beobachtung  den  Zeitmoment,  wo  der 


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94  Max  Eschenhagen, 

Polstern  in  größter  östlicher  oder  westlicher  Entfernung 
vom  Meridian  steht,  was  man  wiederum  an  der  Stellung 
von  Mizar  (westlich  oder  östlich  vom  Polstern)  erkennen 
kann.  Richtet  man  dann  ein  Diopter  oder  ein  feststehendes 
Femrohr  mit  Fadenkreuz  im  Okular  auf  ihn,  so  wird  man 
finden,  daß  er  sich  sehr  langsam  horizontal,  oder  wie 
man  sich  ausdrückt,  in  Azimut  bewegt,  schnell  dagegen 
in  Höhe.  Man  ist  nun  in  der  Lage,  den  Zeitpunkt  der 
größten  Entfernung  vom  Meridian  (Digression)  abzuwarten, 
indem  man  aus  der  östlichen  oder  westlichen  Stellung 
des  Sterns  Mizar  ungefähr  auf  die  Stellung  des  Polstems 
schließt,  denselben  mit  dem  Femrohr  oder  der  Visier- 
vorrichtung (Diopter)  eines  Kompasses  einstellt  und  nun 
abwartet,  bis  die  Entfernung  vom  Meridian  ein  Maximum 
ist.  Der  Faden  des  Femrohrs  resp.  des  Diopters  wird 
dann  mit  dem  Stern  zur  Deckung  gebracht,  und  man  er- 
hält nun,  ohne  die  Ortszeit  zu  kennen,  die  Richtung 
des  astronomischen  Meridians,  wenn  die  scheinbare  Ent- 
fernung, das  Azimut  des  Polsterns,  in  Rechnung  gezogen 
wird.  Dieselbe  ist  außer  von  der  Poldistanz  des  Sterns 
auch  von  der  geographischen  Breite  des  Beobachtungsorts 
abhängig.  Die  folgende  Tafel  giebt  für  die  geographi- 
schen Breiten  Deutschlands  das  Azimut  des  Polstems  zur 
Zeit  der  größten  Digression. 


Breite : 

Azimut  des  Polstems: 

48» 

1« 

55' 

49 

1 

57 

50 

2 

0 

51 

2 

2 

52 

2 

5 

53 

2 

8 

54 

2 

11 

55 

2 

14 

Für  die  dazwischen  liegenden  Breiten  entnimmt  man 
die  Werte  durch  Interpolation.  Bei  östlicher  Stellung  des 
Sterns  Mizar  war  der  Polstern  westlich  vom  Meridian 
und  umgekehrt,  danach  ist  das  Azimut  in  Rechnung  zu 
ziehen. 


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Erdmagnetismus.  95 

Was  diese  Methode,  so  einfach  sie  ist,  doch  unsicher 
macht,  ist  der  umstand,  daß  bei  der  Höhe  des  Polsterns 
das  auf  ihn  gerichtete  Femrohr  sehr  stark  geneigt  sein  muß^ 
was  eine  nicht  unerhebliche  Fehlerquelle  bedingt,  wenn 
die  Lage  des  Fernrohrs  auf  der  horizontalen  Ebene  be- 
stimmt werden  soll.  Das  Visieren  mit  Diopter  ist  zudem 
sehr  mühsam;  auch  bei  Benutzung  eines  Fernrohrs  ist  es 
schwierig,  den  Faden  in  demselben  zu  erkennen,  man 
muß  durch  eine  kurze  Zeit  vor  das  Objektiv  gehaltene 
Lampe  sich  zu  orientieren  versuchen.  Es  wird  wegen 
dieser  Schwierigkeiten  hier  davon  Abstand  genommen, 
die  Methode  genauer  darzulegen  und  auf  den  Fall  auszu- 
dehnen, daß  der  Polstern  zu  einer  beliebigen  anderen 
Zeit  beobachtet  wurde. 


2.   Beobachtung   der   Sonne. 

Die  Bestimmung  des  astronomischen  Meridians  durch 
Sonnenbeobachtungen  gehört  insofern  zu  den  bequemsten, 
als  das  zu  beobachtende  Objekt,  die  Sonne,  leicht  einzu- 
stellen ist  und  wenigstens  in  der  günstigen  Jahreszeit 
auch  häufig  genug  unseren  Blicken  dargeboten  wird. 
Handelt  es  sich  nur  .um  eine  rohe  Aufzeichnung  des 
Meridians,  beispielsweise  auf  dem  Fußboden  einer  Stube, 
so  zeichnet  man  auf  die  tagsüber  von  der  Sonne  be- 
schienene Diele  etwa  5 — 6  konzentrische  Kreise,  jeden  in 
etwa  1  dm  Entfernung  vom  anderen,  und  errichtet  in  der 
Mitte  derselben  möglichst  genau  senkrecht  einen  Stab. 
Derselbe  habe  eine  solche  Länge,  daß  die  Spitze  seines 
Schattens  beispielsweise  um  9  Uhr  vormittags  den  äuße- 
ren Kreis  in  einem  Punkte  berührt;  mit  dem  höheren 
Stande  der  Sonne  wird  der  Schatten  kürzer  und  seine 
Spitze  berührt  nach  und  nach  die  inneren  Kreise.  Nach- 
mittags wiederholt  sich  der  Vorgang  in  umgekehrter 
Reihenfolge.  Hat  man  stets  die  Berührungspunkte  be- 
zeichnet und  halbiert  die  Bogen,  welche  zwischen  zwei 
auf  demselben  Kreise  liegenden  Berührungspunkten  liegen, 
so  geben  diese  Halbierungspunkte  mit  dem  Zentrum  der 


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96  ^<^  Escbenhagen, 

Kreise  die  Richtung  ^)  des  astronomischen  Meridians. 
Eine  über  dem  Zentrum  der  Kreise  aufgehängte  Magnet- 
nadel wird  sofort  eine  rohe  Darstellung  der  magnetischen 
Deklination  zu  geben  vermögen. 

Zu  allen  feineren  Sonnenbeobachtungen  ist  eine  ziem- 
lich genaue  Kenntnis  der  Ortszeit,  also  zunächst  eine 
gute,  Sekunden  zeigende  ühr  unentbehrlich.  Es  kann 
hier  in  diesem  kurzen  Abriß  nicht  gelehrt  werden,  wie 
die  richtige  Ortszeit  durch  astronomische  Beobachtungen, 
z.  B.  mit  einem  Sextanten,  ermittelt  werden  kann,  am 
einfachsten,  wenn  auch  nicht  immer  am  sichersten,  wird 
man  von  den  Telegraphenanstalten  die  Berliner  Zeit  er- 
halten können,  denen  dieselbe  täglich  übermittelt  wird. 
Man  hat  dann  nur  nötig,  die  geographische  Länge  des 
Beobachtungspunktes  einer  genauen  Karte  (den  Meßtisch- 
blättern der  Landesvermessung)  zu  entnehmen,  die  DiflFe- 
renz  gegen  Berlin,  welches  31  ®  3'  25''  östlich  von  Ferro 
liegt,  durch  15  zu  dividieren,  um  sie  in  Stunden,  Zeit- 
minuten und  Sekunden  zu  verwandeln  und  dieselbe  an  die 
erhaltene  Berliner  Zeit  anzubringen,  wobei  zu  beachten  ist, 
daß  östlich  von  Berlin  gelegene  Orte  frühere  Zeit  haben, 
die  ZeitdiflFerenz  daher  zu  addieren  ist,  bei  westlichen 
ist  sie  zu  subtrahieren,  um  auf  die  gesuchte  Ortszeit  zu 
kommen.  Erfährt  man  also  beispielsweise  zu  Halle  (geo- 
graphische Länge  29  ^  37'  43"  östlich  von  Ferro),  daß  es  zu 
Berlin  genau  9^  0"  0*  vormittags  ist,  während  die  Taschen- 
uhr 9^2™  80*  zeigte,  so  bildet  man  zunächst  die  Längen- 
diflferenz  beider  Orte  =  1  ®  25'  42",  um  welche  Halle 
westlich  von  Berlin  liegt;  in  Zeit  verwandelt  beträgt  die- 
selbe 5°^  43%  während  es  also  in  Berlin  O^O^^O^ist,  hat 
eine  richtige  Uhr  in  Halle  8*^54™  17*  zu  zeigen,  die  Zeit- 
angaben der  obigen  Taschenuhr  hatten  mithin  eine  Kor- 
rektion von  —  8°*  13*  zu  erfahren,  um  richtige  (mittlere) 
hallische  Zeit  zu  geben.  Die  Sonne  passiert  den  Meri- 
dian um  die  Zeit,  die  wir  „wahren  Mittag**  nennen,  der 


*)  Man  sehe  hierüber:  Koppe,  Mathematische  Geographie, 
und  Grunert,  Stereometrie.  Am  genauesten  ist  dies  Verfahren 
zur  Zeit  der  Sonnenwenden. 


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Erdmagnetismus.  97 

gewöhnlich  um  einige  Minuten  von  dem  mittleren  Mittag 
abweicht.  Die  Differenz  vom  mittleren  und  wahren  Mit- 
tag heißt  die  Zeitgleichung,  mittelst  derer  wir  aus  unserer 
mittleren  Uhrzeit  die  »wahre  Sonnenzeit**  erhalten  können '). 
Die  Sonne  beschreibt  bei  ihrer  scheinbaren  Bewegung 
am  Himmel  Bahnen,  deren  uns  sichtbarer  Teil,  der  Tage- 
bogen,  im  Sommer  größer  als  im  Winter  ist;  die  Ursache 
hiervon  ist  im  Abstand  der  Sonne  vom  Himmelsäquator, 
Deklination  genannt,  zu  suchen,  welcher  vom  21.  März 
bis  23.  September  nördlich  (-}-),  in  dem  anderen  Teil  des 
Jahres  südlich  ( — )  ist,  und  nach  der  sich  ihre  Erhebung 
über  den  Horizont  richtet.  Legt  man  durch  die  Welt- 
achse und  durch  die  Sonne  bei  beliebigem  Stande  eine 
Ebene,  so  schneidet  dieselbe  in  dem  scheinbaren  Himmels- 
gewölbe einen  Kreis  aus,  den  Stundenkreis  der  Sonne, 
dessen  Ebene  mit  der  Meridianebene  des  Ortes  (durch 
Weltachse  und  Zenit  gelegt)  den  Stundenwinkel  bildet. 
Man  mißt  den  Stündenwinkel  auf  dem  Aequator  und  zählt 
ihn  von  0 — 360®  von  Süd  über  West  herum.  Der  Stunden- 
winkel ist  0,  wenn  die  Sonne  im  Meridian,  180  ^  wenn 
sie  genau  im  Norden  steht  u.  s.  f.  Der  Stundenwinkel  ist 
also  gleich  der  wahren  Zeit,  durch  Multiplikation  mit  15  in 
Oraden  ausgedrückt,  da  300^  =  24^  sind.  Richtet  man 
das  Fadenkreuz  eines  mit  Blendglas  versehenen  Fem- 
rohrs auf  die  Sonne  und  notiert  Datum  und  Uhrzeit,  so 
kann  man  den  Winkel  berechnen,  um  welchen  man  das 
Femrohr  hätte  drehen  müssen,  damit  es  genau  nach  dem 
astronomischen  Süden  gerichtet  ist,  und  den  wir,  auf  den 
Horizont  reduziert,  als  Azimut  der  Sonne  bezeichnen. 
Er  ist  der  Winkel,  den  eine  durch  das  Zenit  und  die 
Sonne  gelegte  vertikale  Ebene  mit  der  Meridianebene 
bildet.  Nennen  wir  U  die  beobachtete  mittlere  ührzeit, 
C  die  Uhrkorrektion,  Z  die  Zeitgleichung,  so  giebt 

die  wahre  Zeit  der  Beobachtung,  wobei  die  Stunden  von 


*)  Näheres  hierüber  siehe  in  Kopp  es  mathematischer  Geo- 
graphie, auch  Kohlrauschs  Leitfaden  der  praktischen  Physik, 
wo  auch  eine  Tabelle  der  Zeitgleichung  zu  finden  ist. 

Aaleltnng  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschuug.  7 


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98  ^<^  Eschenhagen, 

0 — 24  durchgezählt  werden  müssen.  Der  durch  Multipli- 
kation von  Tmit  15  abgeleitete  westliche  Stunden winkel  der 
Sonne  heiße  t^  bezeichnet  dann  noch  f  die  geographische 
Breite  des  Beobachtungsortes  (aus  der  Karte  zu  entnehmen)» 
8  die  Deklination  der  Sonne  (diese  wie  die  Zeitgleichung 
für  Beobachtungstag  und  Stunde  erfährt  man  am  einfach- 
sten von  einer  Sternwarte,  wenn  man  kein  astronomisches 
Ealendarium  besitzt),  so  berechnet  man  das  Azimut  a 
der  Sonne  nach  der  Formel: 

sin  t 

taa  = ■ — 5 : -. 

°  cos  f  tg  0  —  sm  f  cos  t 

Man  erhält  den  Winkel,  welchen  die  durch  Sonne  und 
Zenit  des  Beobachtungsortes  gelegte  vertikale  Ebene  mit 
der  astronomischen  Nordrichtung  bildet,  durch  Subtraktion 
von  360^  also  das  von  Nord  über  Ost  gezählte  Azimut 
der  Sonne. 

Es  ist  begreiflich,  dais  zu  derartigen  Beobachtungen 
ein  nicht  unbedeutendes  Maß  von  Genauigkeit  sowohl 
hinsichtlich  der  Beobachtungsmethoden  als  der  zu  be- 
nutzenden Instrumente  gehört,  im  Fall  eine  grol3e  Ge- 
nauigkeit im  Resultat  erzielt  werden  soll.  Auch  hier 
spielen  größere  oder  geringere  Instrumentalfehler  keine 
unwichtige  Rolle.  Für  die  vorliegenden  Zwecke,  für  welche 
nur  einfachere  Hilfsmittel  als  zur  Verfügung  stehend  ge- 
dacht werden,  müssen  wir  uns  auf  das  hiermit  erreichbare 
beschränken.  Als  günstigste  Beobachtungszeit  empfiehlt 
es  sich,  eine  Tageszeit  zu  benutzen,  zu  der  die  Sonne 
möglichst  im  Osten  oder  Westen  oder  doch  möglichst  niedrig 
über  dem  Horizont  steht,  alsdann  haben  sowohl  ein  Fehler 
in  der  notierten  ührzeit  wie  auch  etwaige  Instrumental- 
fehler den  geringsten  Einfluß.  Man  wird  sich,  um  die 
Genauigkeit  zu  erhöhen,  niemals  mit  einer  Beobachtung 
begnügen,  sondern  dieselbe  mehrfach  wiederholen  müssen. 

3.    Beobachtung  terrestrischer  Gegenstände. 

Die  Verbindungslinie  je  zweier  Punkte  der  Erdober- 
fläche, die  der  Lage  nach  gegeben  sind,  ist  damit  in  ihrer 
Richtung    zum    astronomischen    Meridian    bestimmt,    der 


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£rdinagnetifimu8.  99 

durch  einen  ihrer  Endpunkte  geht;  zu  derartigen  fest  be* 
stimmten  Punkten  werden  bei  der  Landesvermessung 
namentlich  Kirchtürme  gewählt,  deren  geographische  Lage 
durch  Länge  und  Breite,  oder  deren  Abstände,  Koordi- 
naten genannt,  Ton  zwei  festen,  von  einem  Anfangspunkte . 
ausgehenden  Achsen  genau  ermittelt  werden.  Derartige 
Messungen  sind,  wie  in  allen  zivilisierten  Ländern,  so 
auch  in  Deutschland  ausgeführt,  wenn  auch  noch  nicht 
abgeschlossen.  Kennt  man  die  Lage  von  drei  festgelegten 
Punkten,  so  kann  (im  allgemeinen)  die  Lage  eines  jeden 
vierten  Punktes  durch  Rechnung  ermittelt  werden,  wenn 
man  die  Winkel  mi&t,  welche  die  Richtungslinien,  die 
vom  vierten  Punkte  nach  den  drei  ersteren  gezogen  wer- 
den, einschließen;  außerdem  ergiebt  die  weitere  Rechnung 
das  Azimut  dieser  Richtungslinien  gegen  den  astronomi- 
schen Meridian,  der  durch  den  vierten  Punkt  geht,  das 
heißt  die  Winkel,  welche  dieser  Meridian  mit  den  drei 
Richtungslinien  bildet.  Näheres  über  diese  Rechnungen 
findet  man  in  „Jordans  Taschenbuch  der  praktischen  Geo- 
metrie'^,  die  Koordinaten  erhält  man  von  dem  Bureau  der 
bezüglichen  Landesaufnahme.  Es  erfordert  das  Verfahren 
keinerlei  astronomische  Beobachtungen,  und  es  können 
die  erforderlichen  drei  Winkel  —  bei  entsprechender  Ge- 
nauigkeit —  auch  mit  verhältnismäßig  einfachen  Mitteln 
gemessen  werden.  Die  Rechnung  (Pothenotsche  Aufgabe) 
ist  indes  etwas  umständlicher  als  die  bei  den  beschriebenen 
anderen  Methoden.  Sicherer  als  andere  Methoden  ist  die- 
selbe, wenn  alle  eingestellten  (gepeilten)  Objekte  ungefähr 
in  gleicher  Höhe  oder  sehr  weit  entfernt  liegen.  Hat  man 
die  Absiqht,  einen  festen  Beobachtungspunkt  beizubehal- 
ten, so  ist  die  Einstellung  terrestrischer  Gegenstände,  die 
als  Miren  dienen,  besonders  bequem.  Die  Azimute  dieser 
Miren,  deren  man  womöglich  drei  gleichmäßig  im  Um- 
kreis verteilte  wählen  kann,  werden  ein  für  allemal  be- 
stimmt —  entweder  durch  Rechnung,  wie  angedeutet, 
oder  auch  durch  astronomische  Beobachtungen  nach  1. 
und  2.  Alsdann  ist  man  in  der  Lage,  nur  durch  die 
Einstellung  jener  Objekte,  zu  denen  man  möglichst  ent- 
fernte Kirchturmspitzen  wählt,  eine  schnelle  Bestimmung 


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100  ^^^  Eschenhagen, 

des  astronomischen  Meridians  zu  erhalten.  Man  ist  aller- 
dings dabei  auf  den  bestimmten  —  möglichst  genau  stets 
wieder  zu  wählenden  —  Beobachtungsplatz  angewiesen, 
für  welchen  die  Azimute  der  Richtungswinkel  einmal  be- 
rechnet sind. 

Nach  den  vorstehenden  Erörterungen  über  die  Auf- 
findung des  magnetischen  wie  des  astronomischen  Meri- 
dians ist  man  nunmehr  imstande,  als  Differenz  beider 
Richtungen  die  Deklination  oder  Mißweisung  der  Magnet- 
nadel zu  ermitteln.  Um  hierbei  Rechenfehler  zu  ver- 
meiden, muß  man  sich  an  eine  bestimmte  Zählung  der 
astronomischen  Azimute  gewöhnen.  Unter  solchen  ver- 
steht man  die  Winkel,  die  irgend  welche,  von  einem 
Orte  ausgehenden  Richtungslinien  mit  dem  astronomischen 
Meridian  dieses  Ortes  bilden,  sämtlich  gemessen  in  der 
Horizontalebene.  Man  zählt  sie  bei  Deklinationsbestim- 
mungen zweckmäßig  von  der  Nordrichtung  ausgehend  im 
Kreis  herum  über  Ost  nach  Süd  und  West,  von  0  bis 
360^.  Folgerichtig  würde  man  daher  auch  den  Dekli- 
nationswinkel in  dieser  Weise  zählen  müssen,  also  eine 
östliche  Deklination  von  350^  statt  einer  westlichen  von 
10®  in  Deutschland  erhalten,  doch  hat  man  hier  der 
Einfachheit  wegen  den  kleineren  Winkel  vorgezogen. 

Horizontalintensität. 

Vollständige  Bestimmungen  der  Horizontalintensität 
nach  absolutem  Maß  erfordern  nicht  allein  sehr  genaue 
Instrumente,  sondern  mehr  noch  geübte  .  Beobachter; 
handelt  es  sich  dagegen  um  Reisebeobach.tungen, 
so  können  schon  mit  einfacheren  Hilfsmitteln  ganz  brauch- 
bare Resultate  erzielt  werden,  wenn  man  sich  nämlich 
mit  relativen  Bestimmungen  (siehe  Einleitung)  begnügt. 
Man  beschränkt  sich  in  diesem  Falle  darauf,  nur  die 
Größe  der  Horizontalkomponente  in  ihrem  Verhältnis  zu 
einem  bestimmten  (Ausgangs-)  Orte  zu  beobachten,  für 
welchen  dieselbe  durch  genauere  Meßinstrumente  ermittelt 
ist.  Die  Mittel  hierzu  werden  wir  im  folgenden  näher 
kennen  lernen. 


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Erdmagnetismus.  101 

Es  war  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  daß 
eine  horizontal  schwingende  Magnetnadel  gleich  einem 
Pendel  um  ihre  Ruhelage  Schwingungen  ausführte;  die 
Kraft,  welche  sie  in  dieselbe  zurückzuführen  strebte,  ist 
die  Horizontalintensität;  je  größer  dieselbe  ist,  desto 
schneller  werden  die  Schwingungen  einander  folgen,  desto 
kürzer  ist  die  Dauer  eines  Hin-  und  Herganges  der  Nadel. 
Aehnliches  findet  statt,  wenn  die  Nadel  ein  größeres  oder 
kleineres  magnetisches  Moment  besitzt.  Hierunter 
versteht  man  das  für  die  Femwirkung  des  Magneten 
wesentliche  Produkt  aus  dem  Magnetismus  eines  Stabes 
in  die  halbe  Länge  desselben.  Man  bezeichnet  es  ge- 
wöhnlich mit  M.  Es  ist  veränderlich  mit  der  Tempera- 
tur und  auch  mit  der  Zeit;  kein  Magnet  behält  notwendig 
sein  magnetisches  Moment  in  dauernd  gleicher  Größe. 
Bezeichnet  man  mit  T  die  Schwingungsdauer  der  Nadel, 
das  heißt  die  Dauer  von  einem  Durchgange  derselben  durch 
die  Mittellage  bis  zum  nächsten  darauffolgenden  (also 
eigentlich  einer  halben  Schwingung),  ferner  K  das  Träg- 
heitsmoment der  Nadel,  eine  Größe,  die  wesentlich  von 
den  Dimensionen  wie  dem  Gewicht  derselben  abhängt, 
und  7c  die  bekannte  Zahl  3,i4irt,  so  gilt  für  kleine 
Schwingungen  die  Formel: 

aus  der  die  Horizontalkomponente  H  gefunden  werden 
kann,  wenn  bei  bekannten  K  und  M  die  Größe  von  T 
bestimmt  wird.  Nimmt  man  an,  daß  sich  K  und  M 
nicht  ändern,  wenn  man  von  einem  Ort  zum  anderen 
übergeht,  und  beobachtet  am  letzteren  eine  Schwingungs- 
dauer Tj,  so  ergiebt  sich  die  zugehörige  Horizontalinten- 
sität wiederum  nach  der  Formel: 

Es  ist  ersichtlich,  daß  die  Kenntnis  von  M  und  K  nicht 
erforderlich  ist,  um  aus  der  Schwingungsdauer  T  an  einem 
Orte  von  bekannter  Horizontalintensität  H  die  Inten- 
sität an   einem   anderen  Orte   zu   ermitteln;   man   erhält 


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102  Max  Eschenhagen, 

nach  Bestimmung  der  Schwingungsdauer  T^  an  dem  zu 
untersuchenden  Orte  die  dortige  Horizontalintensität  H^ 
nach  der  Formel: 

rr  IT      -^ 

-"l  —  -"  •    JT  2' 

welche  durch  Division  der  beiden  obigen  Gleichungen 
abzuleiten  ist. 

Streng  genommen  ändern  sich  aber  jene  beiden  Größen 
K  und  il/,  auch  wenn  Beschädigungen  der  Nadel  und 
Berührung  mit  Eisen  ausgeschlossen  sind,  etwas  mit  der 
Temperatur,  doch  sind  diese  Aenderungen  nur  von  Be- 
tracht, wenn  feinere  Instrumente  zur  Verfügung  stehen, 
sie  können  daher  hier  außer  Betracht  gelassen  werden  *). 

Um  nun  die  Dauer  eines  Hin-  und  Herganges  einer 
Magnetnadel  zu  bestimmen,  wird  dieselbe  horizontal  an 
einem  Kokonfaden  aufgehängt,  am  besten  in  einem  höl- 
zernen Kasten,  der  sie  vor  Luftzug  schützt  und  der  am 
Boden  unterhalb  der  Spitze  eine  Grad-  oder  auch  nur 
eine  Millimeterteilung  besitzt.  Oben  ist  er  mit  einer 
Glasplatte  bedeckt,  die  eine  vertikale  Röhre,  die  Sus- 
pensionsröhre, trägt,  in  deren  oberem  Ende  der  Faden 
an  einem  Haken  befestigt  ist.  Nachdem  man  den  Mag- 
net, der  am  besten  einen  kleinen  Haken  in  der  Mitte 
besitzt,  eingehängt  hat,  läßt  man  ihn  ganz  zur  Ruhe 
kommen,  so  daß  eines  seiner  spitzen  Enden  auf  einen 
bestimmten  mittleren  Teilstrich  zeigt.  Lenkt  man  nun 
den  Magnet  durch  Annäherung  eines  eisernen,  sogleich 
wieder  zu  entfernenden  Gegenstandes  bis  zu  einem 
bestimmten  Teilstriche  (ungefähr  20®)  ab,  so  beginnt  er 
hin  und  her  zu  schwingen,  bis  er  endlich  nach  circa 
15  Minuten  wieder  zur  Ruhe  konmit.  Diese  Zeit  benutzt 
man,  um  die  Dauer  einer  größeren  Anzahl  von  Schwin- 
gungen, z.  B.  50  oder  100,  zu  bestimmen,  indem  man 
z.  B.  am  einfachsten  einem  zweiten  die  Uhrzeit  möglichst 
genau  notierenden  Beobachter  ein  Zeichen  giebt,  zuerst 
bei  Beginn  des  als  0  anzunehmenden  Durchgangs  durch 


')  Siehe  darüber:  Liznars  Anleitung. 


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Erdmagnetismus .  103 

die  Mittellage,  zählt  dann  die  Durchgänge  fortlaufend 
und  giebt  beim  hundertsten  abermals  einen  Zuruf,  worauf 
der  zweite  Beobachter  wiederum  die  Zeit  notiert.  Man 
wiederholt  diese  Bestimmung  womöglich  mehrmals,  um 
desto  sicherer  den  Wert  einer  Schwingung  zu  erhalten,  muß 
aber  jedesmal  die  Nadel  wieder  um  den  gleichen  Winkel 
aus  der  Ruhelage  ablenken.  Beobachtet  man  in  derselben 
Weise  und  mit  genau  gleichen  Hilfsmitteln  an  einem  an- 
deren Orte  die  Schwingungsdauer,  so  kann  man  unter  der 
Voraussetzung,  daß  der  Magnet  seinen  Magnetismus  nicht 
geändert  hat,  das  Verhältnis  der  Horizontalintensitäten 
beider  Orte  nach   der  oben  angegebenen  Formel  finden. 

Will  man  größere  Genauigkeit  erzielen,  wozu  in  erster 
Linie  eine  gute  Uhr  mit  deutlich  hörbaren  Schlägen,  also 
womöglich  ein  Chronometer,  welches  halbe  Sekunden 
schlägt,  gehört,  so  zählt  man  die  Sekunden  stets  mit  und 
notiert  die  Zeit  einer  Reihe  von  Durchgängen  durch  die 
Mittellage,  und  nachdem  100  Schwingungen  vorüber,  eine 
gleiche  Reihe.  Da  dies  Verfahren  schon  größere  Uebung 
erfordert,  so  mag  es  bei  dieser  Andeutung  sein  Bewenden 
haben.  Man  kann  natürlich  auch  die  Schwingungen  einer 
auf  einer  Spitze  schwingenden  Nadel  beobachten,  da  hier 
aber  wegen  der  Reibung  die  Nadel  eher  zur  Ruhe  kommt, 
ist  die  Beobachtung  meist  nicht  sehr  zuverlässig. 

Es  mag  noch  erwähnt  sein,  daß  durch  Schwingungs- 
beobachtungen, wie  die  hier  geschilderten  in  der  Zeit, 
wo  man  anfing,  den  Erscheinimgen  des  Erdmagnetismus 
größeres  Interesse  zuzuwenden  (Anfang  dieses  Jahrhun- 
derts), ausschließlich  die  Intensitätsmessungen  vorgenom- 
men wurden.  Jetzt  verwendet  man  neben  jener  eine 
zweite  Art,  nämlich  die  Methode  der  Ablenkungen. 
Beide  Beobachtungsarten  zusammen  sind  zu  einer  abso- 
luten Messung  erforderlich,  jede  für  sich  kann  dazu  dienen, 
relative  Werte  zu  erhalten. 

Wird  eine  horizontal  drehbare  Nadel  ns  (Fig.  7)  um 
einen  Winkel,  den  wir  mit  dem  Buchstaben  (p  bezeichnen 
woUen,  aus  dem  magnetischen  Meridian  abgelenkt,  so  be- 
strebt sich  die  Kraft  der  Horizontalkomponente  jÖ,  die 
Nadel  wieder  in   den  Meridian  zurückzuziehen;  zerlegen 


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104 


Max  Eschenhagen, 


Flg.  7. 


I 


wir  diese  Kraft  in  zwei  Komponenten  in  der  Richtung 
der  Nadel  und  senkrecht  dazu,  so  kommt  nur  die  letztere 
zur  Geltung,  die,  wie  aus  der  Figur  ersichtlich,  die  Größe 
//  sin  ^  besitzt.  Derartige  Ablenkungen 
bringt  man  durch  einen  zweiten  Magnet 
hervor,  der  in  einer  bestimmten  Ent- 
fernung niedergelegt  wird.  Man  unter- 
scheidet hierbei  vier  sog.  Hauptlagen,  von 
denen  die  beiden  ersten  von  Gauß,  die 
beiden  letzten  von  dem  Münchener  Astro- 
nomen Lamont  eingeführt  sind.  Nach 
Gauß  legt  man  den  Magneten  (so  wollen 
wir  hinfort  stets  die  Ablenkungsmagneten 
nennen,  während  unter  „Nadel*  immer  die 
abgelenkte  Nadel  verstanden  werden  soll) 
östlich  oder  westlich  von  der  Nadel,  in  ost- 
westlicher Richtung,  also  senkrecht  auf 
dem  magnetischen  Meridian,  nieder,  so 
daß  seine  Verlängerung  durch  das  Zentrum 
der  Nadel  geht  (I.  Hauptlage  siehe  Fig.  8a), 
oder  aber  der  Magnet  befindet  sich  gleich- 
falls in  ostwestlicher  Richtung,  aber  nördlich  oder  süd- 
lich von  der  Nadel,  mit  seinem  Zentrum  im  Meridian 
(II.  Hauptlage  Fig.  8  b). 

Nach  Lamont  liegt  der  Magnet  östlich  oder  west- 
lich von  der  Nadel,  aber  er  bildet  mit  derselben  stets 
einen  rechten  Winkel,  seine  Verlängerung  geht  durch  das 
Zentrum  der  Nadel  (III.  Hauptlage  Fig.  8  c),  endlich  liegt 
er  nördlich  oder  südlich  von  der  Nadel,  deren  Verlängerung 
durch  sein  Zentrum  geht,  beider  Richtungen  stehen 
rechtwinklig  aufeinander  (IV.  Hauptlage  Fig.  8d). 

Für  die  Praxis  ist  am  zweckmäßigsten  die  Lage  UI, 
die  allen  anderen  vorzuziehen  ist,  weil  bei  ihr,  ohne  die 
theoretische  Behandlung  zu  erschweren,  die  größten  Ab- 
lenkungswinkel (und  damit  größere  Genauigkeit)  erzielt 
werden  können.  Wir  werden  uns  im  weiteren  nur  mit 
dieser  beschäftigen. 

Der  ablenkende  Magnet  dreht  die  Nadel  aus  dem 
Meridian,   wir   sagen,    er   übt   ein  Drehungsmoment  aus, 


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Erdmagnetismus. 


105 


dessen  Größe  teils  von  seinem  eigenen  magnetischen  Mo- 
ment abhängt,  teils  aber  •von  seiner  Entfernung.  Die 
Wirkung  ist  schwächer  bei  kleinem  Moment  und  großer 
Entfernung,  stärker  bei  großem  Moment  und  kleiner  Ent- 
fernung.   Nennen  wir  letztere  e,  das  magnetische  Moment 


Fig.  8. 


b. 


^ 


d. 
W 


\ 


A/,  so  gilt  als  Bedingung  des  Gleichgewichts  zwischen 
ablenkender  Kraft  und  der  entgegenwirkenden  Anziehungs- 
kraft des  Erdmagnetismus  die  Gleichung: 

M \_  e^  sin^ 

H~2       k      ' 


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106  ^äx  Eschenhagen, 

worin  k  eine  Oröße  ist,  die  hauptsächlich  von  den  Längen 
des  Magnets  und  der  Nadel  abhängt  und  die  wesent- 
lich als  konstant  angenommen  werden  kann.  Es  ist  er- 
sichtlich, daß  obige  Formel  genügt,  H  zu  finden,  wenn 
außer  k  noch  e  und  M  bekannt  sind;   ^  dagegen  beob- 

2Mk 
achtet  wird.    Setzen  wir  — 5—  =  C,  so  ergiebt  sich: 

n 
H  = 


sm  f 

Beobachtet  man  also  an  einem  Orte  mit  bekannter  Hori- 
zontalintensität IIq  den  Ablenkungswinkel  ^q,  so  ist  man 
imstande,  an  jedem  anderen  Orte,  wenn  man  genau  in 
gleicher  Weise  einen  Winkel  <Pi  beobachtet,  die  zuge- 
hörige Intensität  iT^  abzuleiten,  man  erhält  offenbar,  da 
C'=  Uq  sin  fo  gesetzt  werden  kann: 

^'       ^'  sin  9i  • 

Eine  wesentliche  Voraussetzung  ist  hier  wiederum, 
daß  das  magnetische  Moment  stets  ungeändert 
bleibt;  hiervon  hat  man  sich  durch  Beobachtungen  vor 
Ausgang  und  nach  der  Rückkehr  an  der  Basisstation  zu 
überzeugen,  um  sich  von  dieser  Bedingung  zu  befreien, 
die  auch  bei  großer  Vorsicht  meist  nicht  vollständig  zu 
erfüllen  ist,  ist  man  nach  Gauß'  Vorgang  dahin  gekom- 
men, Ablenkungen  und  Schwingungsbeobachtungen  zu 
kombinieren  und  damit  das  magnetische  Moment  ganz  aus 
der  Formel  zur  Berechnung  der  Horizontalintensität  zu 
eliminieren.  Es  wird  der  Magnet,  der  als  ablenkender 
Magnet  gedient  hat,  aufgehangen  und  seine  Schwingungs- 

dauer   bestimmt;   aus   den  beiden  Formeln:  MH  =  -^ 

und  jY  =  e^  — jT-^  folgt  durch  Division  und  Wurzelaus- 
ziehen : 


//=,^i 


2Kk 


T\  sin  ^ 


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Erdmagnetismus.  107 

Die  erste  Gröüe  pflegt  man  für  ein  bestimmtes  Be- 
obachtungsinstrument ein  für  allemal  zu  bestimmen  und 
nennt  sie  die  Konstante  des  Instruments.  Sie  er- 
fordert jedoch  eine  Kontrolle  in  größeren  Zwischenräumen, 
was  bei  kleineren  Instrumenten  am  zweckmäßigsten  in 
einem  größeren  erdmagnetischen  Observatorium  durch  Ver- 
gleich mit  den  dortigen  Instrumenten  geschieht.  Näher 
auf  diese  Bestimmungen  einzugehen,  erlaubt  der  knapp 
bemessene  Raum  nicht.  (Man  sehe  Liznars  Anleitung 
zur  Bestimmung  der  erdmagnetischen  Elemente.) 

Inklination. 

Die  Beobachtungen  der  Inklination  geschehen  am 
einfachsten  mit  Hilfe  einer  in  einer  vertikalen  Ebene 
schwingenden  Inklinationsnadel,  die  mit  einer  durch  ihren 
Schwerpunkt  gehenden  Achse  auf  zwei  glatten,  mög- 
lichst wenig  Reibung  darbietenden,  horizontalen  Achat- 
lagern aufliegt  und  deren  zugespitzte  Enden  dicht  vor 
einer  vertikal  stehenden  Kreisteilung  sich  befinden. 
Eine  solche  Nadel  würde  sich  genau  in  die  Richtung 
der  Inklination  stellen,  wenn  ihr  Schwerpunkt  genau 
in  der  Drehachse  läge  und  wenn  ihre  magnetische 
Achse  durch  den  Schwerpunkt  und  die  spitzen  Enden 
ginge.  Endlich  wird  vorausgesetzt,  daß  die  magnetische 
Achse  bei  der  Drehung  im  magnetischen  Meridian  bleibt, 
und  daß  die  Reibung  der  Achse  auf  den  Lagern  keine 
Störung  verursacht.  Für  die  Ablesung  der  Größe  der 
Neigung  an  dem  geteilten  Kreise  ist  es  weiterhin  wesent- 
lich, daß  jener  Kreis  gleichfalls  im  magnetischen  Meri- 
dian sich  befindet,  daß  die  Drehachse  der  Nadel  genau 
im  Zentrum  sei,  daß  die  Verbindungslinie  des  obersten 
und  untersten  Teilstriches,  die  beide  mit  90^  bezeichnet 
werden,  genau  senkrecht  stehe.  (Der  Teilstrich  0  befindet 
sich  beiderseits  in  horizontaler  Linie.)  Alle  diese  Be- 
dingungen sind  nur  genähert  zu  erftillen;  die  wesentlichen, 
durch  Nichterfüllung  derselben  entstehenden  Fehler  wer- 
den durch  das  Beobachtungsverfahren  bis  zu  einem  ge- 
wissen  Grade   ausgeglichen.     Dasselbe   ist  aus   dem  bei 


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108  Max  Eschenhagen, 

der  unten  folgenden  Beschreibung  des  Instruments  ge- 
gebenen Beobachtungsschema  ersichtlich.  Die  Reibung 
der  Achsen  auf  den  Lagern  kaon  auch  durch  die  pein- 
lichste Säuberung  nicht  vermieden  werden,  man  nimmt 
deshalb  mehrere  Ablesungen  der  Stellung  der  Nadel  an 
dem  dahinter  liegenden  Kreise  vor,  zwischen  welchen  man 
das  Instrument  ganz  leise  erschüttert  oder  die  Nadel 
durch  Aufheben   in  leicht  schwingende  Bewegung  setzt. 

Bei  allen  derartigen  Ablesungen  der  Stellung  einer 
Magnetnadelspitze  vor  oder  über  einem  Kreise  kommt  es, 
da  die  Nadel  immer  etwas  entfernt  vom  Kreise  bleiben 
muß,  darauf  an,  mit  dem  Auge  senkrecht  gegen  die  Kreis- 
teilung über  die  Spitze  zu  visieren;  man  erreicht  dies, 
wenn  entweder  die  Teilung  selbst  auf  Spiegelglas  ist  oder 
doch  davor  sich  befindet.  Man  erblickt  dann  die  Pupille 
seines  Auges  gespiegelt,  und  muß  dann  so  visieren,  daß 
dieselbe  von  der  Nadelspitze  halbiert  wird.  Nötigenfalls 
kann  man  hierzu  auch  das  Deckglas  vor  der  Nadel  ver- 
wenden. 

Die  Schwierigkeiten,  in  der  beschriebenen  Weise  gute 
Resultate  zu  erhalten,  sind  nicht  unbeträchtlich;  sie  waren 
Veranlassung,  daß  ein  indirektes  Verfahren  eingeschlagen 
wurde,  um  die  Größe  der  Vertikalkraft;  des  Erdinagnetis- 
mus  zu  bestimmen. 

Hält  man  einen  Stab  von  unmagnetischem,  sog« 
weichem  Eisen  in  die  Richtung  der  erdmagnetischen  In- 
klination, so  wird  derselbe  zu  einem  Magneten,  dessen 
Nordpol  unten,  dessen  Südpol  oben  ist;  man  sagt,  der 
Erdmagnetismus  induziert  in  ihm  einen  Magneten.  Die 
Stärke  oder  das  magnetische  Moment  desselben  ist  in 
obigem  Falle  proportional  der  Totalkraft,  die  in  der  Rich- 
tung der  Inklination  wirkt.  Hält  man  den  Stab  vertikal, 
so  induziert  die  Vertikalkraft.  Lenkt  man  mit  dem  Stabe 
irgend  eine  Magnetnadel  ab,  so  giebt  die  Größe  der  Ab- 
lenkung ein  Maß  für  die  Stärke  des  Stabes  und  mithin 
für  die  Stärke  der  induzierenden  Kraft.  Genauer  gestaltet 
sich  die  Sache  folgendermaßen. 

Das  magnetische  Moment  des  vertikalen  Stabes  ist 
proportional  der  Vertikalintensität  F,  es  sei  a .  F,  mit  diesem 


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Erdmagnetismus.  109 

lenkt  er  die  Nadel  um  einen  Winkel  ^  ab,  dem  entgegen 
wirkt  die  Kraft  H  sin  ^  der  horizontalen  Komponente. 
Wir  setzen  folglich: 

a.  F=  //.sin  t|) 

V 

und  erhalten,   da  -yj-  =  tg  i,   die  Inklination  i  nach  der 

Formel : 

ig  i  =  —  sin  ^  =  -4  sin  ([>. 

Die  konstante  Größe  A  =  —  ist  theoretisch  schwierig 

bestimmbar,  praktisch  benutzt  man  zur  Berechnung  die 
anderweit  bekannte  Inklination  einer  festen  Station ;  die- 
selbe sei  iß,  der  entsprechende  Ablenkungswinkel  sei  ^^^ 

tcr  i  , 

so  ist  A  =  -.  -r,  und  wir  erhalten  dann  die  Inklination 

sm^^o 
an   einem  Orte,   wo   mit   dem   gleichen  Apparate  in  der 
gleichen  Weise  der  Winkel  <]>i  beobachtet  wird,   die  zu- 
gehörige Inklination  i^  nach  der  Formel: 

®    ^        sm  ^0 

Wiewohl  das  Verfahren  einige  theoretische  Bedenken 
gegen  sich  hat,  so  sind  doch  die  Resultate,  die  auf  Reisen 
von  namhaften  Gelehrten  erhalten  wurden,  so  günstige 
und  dabei  ist  das  Beobachtungsverfahren  ein  so  bequemes, 
daß  dasselbe  nicht  ohne  zwingende  Gründe  verlassen 
werden  kann. 

Da  die  Induktion  des  Magnetismus  im  Eisen  Zeit 
gebraucht,  so  muß  man,  sobald  man  den  Stab  in  die 
vertikale  Lage  gebracht  hat,  stets  eine  gewisse  gleiche 
Zeit,  etwa  5  Minuten,  warten,  ehe  man  die  Ablenkung 
der  Nadel  abliest.  Auch  die  Temperatur  ist  nicht  ohne 
Einfluß.  Näheres  über  das  Instrument  findet  man  in  der 
erwähnten  Kr  eil  sehen  Abhandlung. 

Wir  verlassen  nun  die  allgemeine  Darstellung  der 
Beobachtungsmethoden  und  wenden  uns  der  Beschreibung 
einiger   Instrumente   zu,    bei   deren    Auswahl    nicht    der 


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110  Max  £8cheiihageii, 

Gesichtspunkt  maßgebend  wax,  etwas  Vollständiges  zu 
bieten,  sondern  in  dem  beschränkten  Rahmen  dieser  An- 
leitung ein  möglichst  einfaches  und  doch  brauchbares  und 
dabei  billiges  Instrument  zu  beschreiben,  dessen  Hand- 
habung leicht  zu  erlernen  ist  und  das  beispielsweise  ohne 
Schwierigkeit  fOr  das  physikalische  Kabinett  einer  Schule 
beschafft  werden  kann;  praktische  Beobachtungsbeispiele 
sollen  der  Beschreibung  als  Ergänzung  dienen.  Weiter- 
hin wird  eines  komplizierten  Reiseinstruments  Erwähnung 
gethan,  das  nach  den  Angaben  des  Direktors  der  deutschen 
Seewarte,  Dr.  Neumayer,  gefertigt  worden  ist. 


Ya  Instrumente. 

1.  Der  Azimntalkompaß. 

(Mit  Abbildung  Fig.  9.) 

Dies  Instrument,  welches  in  erster  Linie  zur  Beob- 
achtung der  Deklination  bestimmt  ist,  besteht  in  der  ein- 
fachsten Gestalt  aus  folgenden  Teilen:  Eine  von  drei  Puß- 
schrauben  {F)  getragene  Messingplatte  ist  in  der  Mitte 
durchbohrt  zur  Aufaahme  eines  Zapfens,  der  unten  an  einem 
runden,  mit  einer  Glasplatte  bedeckten  Messingkasten  {GG) 
sitzt  und  mittelst  dessen  sich  derselbe  auf  der  unteren  Platte 
drehen  kann.  In  der  Mitte  des  Kastens  sitzt  auf  der  Pinne 
mittelst  eines  Hütchens  die  an  beiden  Enden  zugespitzte 
Magnetnadel,  die  durch  einen  von  außen  wirkenden  Hebel 
(//)  zur  Schonung  der  Spitze  aufgehoben  und  gegen  die 
Glasplatte  gedrückt  werden  kann.  Die  Spitzen  der  Nadel 
bewegen  sich  ziemlich  dicht  über  einer  Kreisteilung,  so 
daß  ihre  Stellung  von  oben  her  mit  freiem  Auge  abge- 
lesen werden  kann.  Um  gut  zu  visieren,  hält  man  das 
Auge  möglichst  senkrecht  über  der  Nadelspitze,  so  daß 
die  im  oberen  Deckglas  gespiegelte  Pupille  des  Auges 
von  der  Nadel  halbiert  wird.  An  zwei  genau  gegenüber- 
liegenden Stellen  des  Gehäuses  GG  ist  das  Diopter,  be- 
stehend aus  der  Platte  D  mit  einem  engen  vertikalen 
Spalt  und  dem  Rahmen  D',  der  in  der  Mitte  einen  ver- 


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Erdmagnetismus. 


lll 


tikalen  Faden  trägt.  Die  Visierebene,  die  durch  Spalt 
und  Faden  gebildet  wird,  soll  vertikal  sein  und  durch  die 
Mitte  des  Kreises   gehen,   die   wieder  mit  der  Pinne  zu- 


Flg.  9. 


A  zimutalkompaß. 
(2/3  der  natürlichen  Qrdfse.) 


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112  Max  Eschenhagen, 

sammenfallen  soll.  Au&erdem  soll  die  Yerbinduugslinie 
der  beiden  Punkte  0  und  180^  der  Kreisteilung  in  diese 
Ebene  fallen.  Eine  verschiebbare  Hülse  B  mit  Blendglas 
an  der  Visierplatte  ist  bei  Sonnenbeobachtungen  vorzu- 
schieben. Der  Faden  ist  so  hoch  geführt,  daß  bei  etwas 
schräg  nach  innen  geklapptem  Rahmen  noch  der  Polstern 
bei  55^  Höhe  beobachtet  werden  kann.  Das  drehbare 
Gehäuse  kann  durch  Anziehen  der  Schraube  der  Klemme 
K  an  der  Fußplatte  festgestellt  werden.  Die  Visiere 
werden  beim  Verpacken  nach  innen  geklappt. 

Das  Instrument  wird  zur  Beobachtung  genau  hori- 
zontal gestellt  durch  Drehen  der  Fußschrauben,  bis  eine 
in  die  Mitte  der  Glasplatte  gesetzte  Dosenlibelle  auch 
beim  Drehen  des  Gehäuses  einspielt.  Die  Vertikalstellung 
der  Visierebene  kann  auch  kontrolliert  werden  durch 
Visieren  nach  einem  in  genügender  Entfernung  frei  auf- 
gehängten Senkel,  dessen  Faden  sich  mit  dem  Faden  im 
Rahmen  zur  Deckung  bringen  lassen  muß. 

Ein  geschickter  Mechaniker,  der  auf  Kompaßher- 
stellung geübt  ist,  vermag  diese  Vertikalstellung,  wie  die 
anderen  obigen  Bedingungen  ziemlich  genau  zu  erfüllen. 
Trotzdem  wird  es  immer  erforderlich  sein,  zur  Kontrolle 
die  mit  dem  Instrument  erhaltenen  Werte  mit  solchen 
eines  anderen  Instrumentes  zu  vergleichen;  zu  dem  Zwecke 
wird  es  am  besten  einem  erdmagnetischen  Observatorium 
übersandt,  welches  derartige  Verifikationen  ausführt  in 
der  Weise,  wie  z.  B.  meteorologische  und  nautische  In- 
strumente (Thermometer,  Sextanten)  von  der  Deutschen 
Seewarte  geprüft  werden.  Bei  einer  solchen  Prüfung 
muß  konstatiert  werden,  ob  der  Nullpunkt  der  Teilimg, 
wie  oben  erläutert,  in  die  Visierebene  fällt  und  ob  die 
Nadel  frei  von  einem  KoUimationsfehler  ist,  das  heißt  ob 
die  magnetische  Achse  der  Nadel  in  die  Verbindungslinie 
der  beiden  Spitzen  fällt. 

Die  hier  beschriebene  Einrichtung  des  Kompasses  ist 
die  für  besagte  Zwecke  denkbar  einfachste;  das  Instru- 
ment wird  einschließlich  der  noch  zu  besehreibenden  Ab- 
lenkungsschiene von  G.  Hechelmann  zu  Hamburg  in 
solider  und  guter  Ausführung  zum  Preise   von  70  Mark 


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Erdmagnetismus.  113 

geliefert.  Eine  größere  VoUkommenheit  erlangt  dasselbe, 
wenn  statt  des  Diopters  ein  Fernrohr  vorhanden  ist,  ferner 
wenn  die  Ereisteilung  außen  am  Gehäuse  angebracht  und  die 
Stellung  desselben  an  festen  Nonien  abgelesen  werden  kann. 

Die  erwähnte  Ablenkungsschiene  ist  eine  Messing- 
rohre, die  an  einem  Ende  ein  Schraubengewinde,  am 
anderen  (eingeschlossen)  einen  Magneten  trägt.  Man  kann 
dieselbe  bei  S  an  das  Oehäuse  fest  anschrauben,  wodurch 
die  Nadel  abgelenkt  wird. 

Zur  Beobachtung  der  Deklination  wird  das  Instru- 
ment auf  ein  Stativ,  Holz-  oder  Steinsockel  gestellt,  die 
Diopter  aufgeklappt,  die  Dosenlibelle  mitten  auf  die  Glas- 
platte gesetzt  und  durch  Drehen  zweier  Fußschrauben  die 
Blase  der  Libelle  zunächst  zwischen  die  beiden  Schrauben 
gebracht,  sodann  dreht  man  die  dritte  Fußschraube,  bis 
die  Blase  in  die  Mitte  läuft.  Jetzt  löst  man  die  Klemme 
K  und  kontrolliert,  ob  bei  Drehungen  des  Gehäuses  die 
Blase  in  der  Mitte  verbleibt;  nötigenfalls  muß  man  eine 
genäherte  Lage  herstellen  oder  die  Stellung  der  Glasplatte 
korrigieren.  Die  Nadel  hat  man  bereits  durch  Drehen 
des  Hebels  H  frei  gemacht,  so  daß  sie  inzwischen  zur 
Ruhe  gekommen  ist.  Jetzt  visiert,  oder  wie  der  Seefahrer 
sagt,  peilt  man  mittelst  des  Diopters  (durch  Drehen  des 
Gehäuses)  nach  dem  Objekt,  welches  beobachtet  werden 
soll,  dem  Polstern,  der  Sonne  oder  entfernten  Kirchtürmen, 
wie  oben  beschrieben  wurde,  und  notiert  die  Zeit,  bei 
Sonnenbeobachtungen  auf  Sekunden,  sonst  aber  immer 
auf  ganze  Minuten.  Das  gepeilte  Objekt,  z.  B.  die  Sonne, 
muß  durch  den  Faden  des  Diopters  halbiert  werden. 
Nunmehr  wird  die  Stellung  der  Nadel  an  beiden  Spitzen 
auf  Zehntel  Grade  genau  abgelesen,  nachdem  man  sich 
vorher  überzeugt  hat,  daß  die  Nadel  bei  kleinen  Er- 
schütterungen (wie  Kratzen  mit  dem  Fingernagel  an  der 
IQemmschraube)  ihre  Stellung  beibehält.  Sodann  wieder- 
holt man  die  Peilungen  mehrmals,  ebenso  die  Ablesungen 
der  zuvor  in  Bewegung  gesetzten  und  von  neuem  zur 
Ruhe  gekommenen  Nadel,  und  notiert  alles  wie  in  dem 
unten  folgenden  Beispiele,  welches  auch  die  Anordnung 
der  weiteren  Rechnung  zeigt. 

Anleltang  zur  dentschen  Landes-  und  VolkBforachnng.  8 


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114  Max  Eschenhagen, 

Um  eine  relative  Intensitätsbestimmung  vor- 
zunehmen, schraubt  man  die  Schiene  bei  S  an  und  dreht 
nun  das  Gehäuse,  bis  die  Nadel  mit  den  Spitzen  auf  0** 
resp.  180^  steht.  Dann  zieht  man  die  Klemmschraube 
an,  schraubt  die  Schiene  wieder  ab  und  entfernt  sie. 
Jetzt  kehrt  die  Nadel  in  den  Meridian  zurück;  nachdem 
sie  zur  Ruhe  gekommen,  liest  man  die  Stellung  der 
Spitzen  ab,  wodurch  man  direkt'  den  Ablenkungswinkel 
erhält.  Man  dreht  dann  das  Gehäuse  um  etwa  180  ^ 
schraubt  die  Schiene  von  neuem  an,  die  nunmehr  die 
Nadel  nach  der  anderen  Seite  ablenkt.  Man  dreht  wie- 
der das  Gehäuse  nach,  bis  die  Spitzen  auf  0^  resp.  180^ 
stehen  und  verfährt  wie  vorhin.  Man  kann  das  Verfahren 
in  jeder  Stellung,  also  Schiene  Ost  bezw.  West  von  der 
Nadel  zweimal  wiederholen  und  nimmt  aus  den  vier  Wer- 
ten des  Ablenkungswinkels  das  Mittel  (siehe  Beispiel). 

Will  man  den  Kompaß  zu  einer  relativen  Inkli- 
nationsbestimmung benutzen,  so  würde  man  statt 
der  Schiene  am  besten  beiderseits  zwei  gleich  große  Eisen- 
stäbe (s.  Fig.  12)  in  vertikaler  —  durch  ein  Senkel  kon- 
trollierter —  Stellung  vermittelst  besonderer  Hülsen  (die 
in  der  Zeichnung  nicht  vorhanden)  zu  befestigen  haben. 
Man  ninmit  an,  daß  die  im  Stabe  entstehenden  Pole 
etwa  V^s  der  Gesamtlänge  des  Stabes  von  den  Enden 
entfernt  sind,  muß  also  dafür  sorgen,  daß  diese  mar- 
kierte Stelle  stets  auf  eine  Höhe  mit  der  abgelenkten 
Nadel  kommt.  Ein  Eisenstab  wirkt  mit  dem  unteren 
(Nord-),  der  andere  mit  dem  oberen  (Süd-)  Ende.  Da 
jeder  Eisenstab  etwas  permanenten  Magnetismus  enthält, 
der  den  induzierten  Magnetismus  verstärken  oder  schwächen 
kann,  je  nachdem  das  eine  oder  das  andere  Ende  des 
Stabes  nach  unten  gehalten  wird,  so  muß  dessen  Wirkung 
eliminiert  werden.  Man  mißt  also  die  entstehende  Ab- 
lenkung in  ähnlicher  Weise  wie  oben  mit  der  Schiene  ein- 
mal, wenn  die  z.  B.  mit  A  bezeichneten  Enden  der  Stäbe 
unten  sind,  also  zum  Nordpol  werden,  während  die  anderen 
Enden  B  (Südpol)  auf  der  Höhe  der  Nadel  sich  befinden. 
Jetzt  bringt  man  B  an  Stelle  von  A  und  B  nach  unten; 
in  der  Sunmie  beider  Wirkungen  fällt  dieser  Einfluß  des 


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Erdmagnetismus.  115 

permanenten  Magnetismus  heraus.  Man  mißt  den  Ab- 
lenkungswinkel im  übrigen  wie  bei  Ablenkungen  mit  der 
Schiene,  kann  aber  die  Einstellungen  dadurch  vervielfälti- 
gen, daß  man  beispielsweise  den  unteren  Pol  A  auf  die 
Höhe  der  Nadel  bringt  und  schließlich  auch  ähnlich  wie 
bei  der  Schiene  die  Stäbe  auf  die  andere  Seite  des  Meri- 
dians bringt,  im  ganzen  also  acht  Einstellungen  vornimmt ; 
jedesmal  hat  man  aber  darauf  zu  achten,  daß  der  Stab 
5  Minuten  in  seiner  Stellung  war,  ehe  man  die  Stellung 
der  Nadel  abliest.  Die  Schwierigkeit  des  ganzen  Verfahrens 
beruht  darin,  den  Einfluß  der  Induktionskraft  theoretisch 
sicher  in  Rechnung  zu  ziehen;  man  hat  deshalb  statt 
dieser  Methode  die  Inklinationsbestimmung  mittelst  Nadel- 
inklinatoriums  (siehe  unten)  meist  vorgezogen. 

Beispiel. 

Bestlmniiing  der  Deklination  nndHorlzontallntensItftt 

mit  einem  Hechelmann  sehen  Azimutalkompaß. 

Wilhelmshaven,  1888  Januar  28. 
Beobachtungspunkt:       Benutzte  Uhr:      Beobachter: 
Pfeiler  im  westlichen  Turm        Chronometer  fischenhagen. 

des  Observatoriums.  Knoblich  1839. 

I.  DeUinationsbestiminiing. 

1.  Sonnenpeilungen  (es  wurde  der  Faden  des  Diopters  auf 
die  Sonnenmitte  eingestellt,  was  durch  das  Zeichen  0  dar- 
gestellt wird). 

Beob.  Uhrzeit:      Stellung  der  Nadel: 
Nordspitze     Södspitze 
©    3^   Qxn  2»  p.m.        118,6  0        298,4« 
0    3    10  40  118,2  298,0 

0    3    12     9  118,0  297,75 

0    3   13  30  117,7  297,5 

2.  Peilungen  terrestrischer  Objekte  (Kirchtürme,  durch  i 
bezeichnet). 

Wilhelmshaven  S  119,6«  299,2«  3i»  15™  p.  m. 

Sengwarden  ?;  30,o  209,8  3   17 

Neuende  Ts  lh,x  254,»  3   29 

Sengwarden  t  29,9  209,7  3   30 

Wühelmshaven  S  119,7  299,3  3   37 


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116 


Max  Escbenhagen, 


3.  Sonnenpeilungen. 
Beob.  ührzeit: 

0  3i»31«a30« 

C)  3  32    55 

O  3   34    15 

0  3   36     0 


Stellung  der  Nadel: 
Nordspitze      Südspltze 


114,0^ 

113,6 
113,4 

113,0 


293,5  ^ 
293,1 
293,0 
292,6 


Berechnung: 
a)  Sonnenpeilungen. 

Die  beobachteten  Uhrzeiten  unter  1  und  2  werden  gemittelt, 
desgleichen  die  zugehörigen  Einstellungen  der  Magnetnadel.   Von 
denen  der  Südspitze  werden  180^  subtrahiert,   die  erhaltene  Zahl 
mit  der  Ablesung  der  Nordfpitze  zum  Mittel  kombiniert.    Man 
erhält  dann  die  für  die  Nordspitze  gültige  Einstellung. 
Die  Uhrkorrektion  betrug  zur  Beobachtungszeit  .     4-28°^   6» 
Dem  nautischen  Jahrbuch  entnimmt  man  die  Zeit- 
gleichung     —  l^nlO«') 

Gesamt  .  .  +14«  56« 
Die  erhaltene  Gesamtkorrektion  von  14^^56«  muß  den  beob- 
achteten Uhrzeiten  zugelegt  werden,  um  wahre  Sonnenzeit  zu  er- 
halten. Durch  Multiplikation  mit  15  erhält  man  den  Stundenwinke] 
der  Sonne  von  Süd  nach  West  gerechnet.  Die  Azimutberechnung 
nach  der  Formel  ftlhrt  man  dann  mit  fünfstelligen  Logarithmen- 
tafeln aus.    Man  erhält: 

i»*«K  TTh..««i4..    Tr.K.^  •/«*♦       Stunden-    Berechn. Azimut     Ablesung 
Beob.  Uhrzelt:    Wahre  Zelt:  ^j^keld.©:  der©:    d. Nordipltze : 

I.Reihe:  3iill°»208    3h26"al68    51*34'    iV'228^28'0    118*^   1' 
2.  Reihe:  3   33    40      3   48    36      57     9         233     3         113   16 

Flg.  10. 


Wie  aus  der  beistehenden  Fig.  10  ersichtlich,  ergiebt  sich  die 
magnetische  Deklination,  also  die  Abweichung  der  Nordspitze  der 


^)  Für  die  Beobachtungsstunde  interpoliert. 


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Erdmagnetismus.  117 

Nadel  vom  wahren  Norden  nach  Westen,  indem  man  die  Ergänzung 
der  Summe  der  beiden  Winkel:  des  Azimuts  der  Sonne  plus  Ab- 
lesung der  Nordspitze  zu  360°  bildet 

360  — (228<>28'  +  118<>   1')  =  360 °  -  346 <> 29' =  13^31' 
360  — (233     3+113    16)  =  360    -346   19  =  13   41 

Westliche  Deklination  im  Mittel  =  13  °"36'    um 
gh  50m  nachmittags  (Ortszeit). 

b)  Terrestrisch«  Peilungen. 

Die  oben  bei  Einstellungen  der  Kirchtürme  abgelesenen  Stel- 
lungen der  Nadel  werden  aui'  die  Nordspitze  reduziert  und  geben 
dann  den  Winkel,  den  die  Richtungslinie  nach  dem  gepeilten  Ob- 
jekt mit  dem  magnetischen  Meridian  einschließt,  von  ersterer  im 
Sinne  der  Kreisteüung  (im  Sinne  des  Uhrzeigers)  gerechnet.  Die 
daneben  angegebenen  anderweit  bekannten  Azimute  dieser  Rich- 
tungslinien sind  die  Winkel,  welche  der  astronomische  Meridian 
über  Osten  gezählt  mit  der  betreffenden  Richtungslinie  einschließt. 
Die  Summe  beider  Winkel  von  360  **  subtrahiert,  giebt  wiederum  die 
magnetische  westliche  Deklination: 

Nordspitze:    Azimut  d.  S  :  p^f^^^^^^^^^^^ 

Wilhelmshaven   J       119<»27'  226^60'  13  U3' 

Sengwarden        ?>         29   52  316   22  13   46 

Neuende  i        75     0  271    23  13   37 


Mittel    13  U2'   für 
3*»  53™  mittlere  Ortszeit  gültig. 

Im  Mittel  aus  beiden  Beobachtungsmethoden  ergiebi  sich  der 
Wert  der  Deklination  zu  Wilhelmshaven  (auf  jenem  Beobachtungs- 
pfeiler) zu  13  **  38',  welche  für  das  Mittel  aller  Beobachtungszeiten 
3h  52™  gültig  anzunehmen  ist. 

Der  Wert  gilt  unter  der  Voraussetzung,  daß  1)  die  Visierlinie 
durch  den  Nullpunkt  der  Teilung  geht,  was  bei  einem  guten 
Kompaß  innerhalb  enger  Grenzen  hergestellt  werden  kann,  daß 
2)  die  magnetische  Achse  der  Nadel  in  die  Verbindungslinie  der 
Spitzen  fällt.  Die  Uebereinstimmunff  des  obigen  Wertes  mit  dem 
durch  genauere  Instrumente  des  Observatoriums  (13^36')  zeigt, 
daß  jene  Fehlerquellen  bei  dem  benutzten  Instrument  vernach- 
lässigt werden  können,  da  bei  den  Beobachtungen  mit  dem  Kom- 
paß eine  Sicherheit  von  3 — 4'  nicht  immer  verbürgt  worden  kann, 
größer  ist  aber  der  Einfluß  jener  Fehler  hier  nicht  anzunehmen. 
Hat  man  für  die  genannten  Fehler  einen  größeren  Betrag  ermittelt, 
so  ist  derselbe  noch  als  Korrektion  anzubringen. 


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118  Max  Eschenbagen, 

n.  Bestimmung  der  lEtensität  durch  AblenknngeiL 

1888  Januar  27. 

Beobachtungsort:  Garten  des  Observatoriums.   Kompaß  auf  Stativ. 

Beobachter:  wie  oben. 


Einstellung  der 

Nordspitze:       Südspitze: 

Schiene: 

östlich     . 

.     .        0.0                  180,0 

3»»  30"  p.  m 

Schiene: 

entfernt  . 

.     .      89,1                  219,1 

3   32 

Schiene: 

westlich  . 

.     .        0,0                  180,0 

3   34 

Schiene: 

entfernt  . 

.    .    820,9                  141,0 

3  36 

Es  ergiebt  sich  als  Ablenkungswinkel:  39,o8°  =  39^5'. 

Aus   anderweiten  Beobachtungen  wurde  die  zur  Berechnung 
der  Intensität  erforderliche  Konstante  C  bestimmt  zu  U240.   Hier- 
nach erhält  man   die  Horizontalintensität  durch  die  Berechnung: 
log  H  =  log  1,1-240  —  log  sin  39*»  5'.    Es  ergiebt  sich: 
H  =  0,1783  um  3^  33"»  p.  m. 

Die  Angabe  von  vier  Dezimalstellen  genügt  bei  diesem  nur 
auf  einige  Minuten  sicheren  Ablenkungswinkel. 

Temperaturkorrektionen  sind  vernachlässigt.  Die  Konstante 
C  muß  bei  größeren  Beobachtungsreihen  vor  Abreise  und  nach  der 
Rückkehr  an  der  Basisstation  bestimmt  werden. 


2.  Der  Lamontselie  magnetische  Bdsetheodolit 

nach  Dr.  Neumayers  Angaben  gefertigt   von  Hechel- 
mann in  Hamburg. 

(Mit  2  Abbildungen.) 

Zu  genaueren  Beobachtungen  ist  vor  allem  eine  ge- 
nauere Ablesung  der  Stellung  einer  Magnetnadel  notwendig, 
als  man  sie  von  der  über  der  Kreisteilung  befindlichen  Nadel- 
spitze erhält.  Bei  dem  vorliegenden  Instrumente  ist  die 
bereits  beschriebene  Spiegeleinstellung  mittelst  eines  Fem- 
rohrs benutzt,  das  andererseits  auch  wieder  zur  Einstel- 
lung terrestrischer  Objekte,  der  Sonne  u.  s.  w.  dienen  kann. 

Fig.  11  zeigt  das  gesamte  Instrument,  das  mittelst 
dreier  Fufischrauben  F  auf  dem  Stativkopf  HH  ruht. 
Diese  Schrauben  sitzen  in  einem  soliden  kreisförmigen 
Messingstück  SS^  mit  demselben  ist  fest  verbunden  der 
oberhalb  befindliche  Teller  LL  mit  der  verdeckten  Kreis- 
teilung (in  Silber).  Der  über  diesem  Kreise  befindliche 
Teil   des  Instruments   ist   vermöge   eines   in   das   untere 


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Erdmagnetismus. 

Fig.  11. 


119 


Lamonts  magnetischer  Reiseapparat,  für  die  Beobg-chtung 

der  Nadel  auf  Spitzen  umgeändert  nach  Dr.  Neumayer. 

(3/,Q  der  natürlichen  Gröfse.) 


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120  Max  Eechenhagen, 

Stück  hineinragenden  konischen  Zapfens  drehbar,  er  trägt 
in  der  Mitte  den  Magnetkasten,  dessen  oberster  Teil  bei 
K  sichtbar  ist.  Dieser  Kasten  besitzt  (hier  fast  verdeckt) 
in  der  Richtung  des  Femrohrs  beiderseits  Glashülsen, 
welche  zur  Aufnahme  des  Magnets  dienen  und  beim  Ein- 
legen und  Herausnehmen  desselben  abgeschraubt  werden 
müssen.  Im  Boden  des  Kastens  befindet  sich  in  der  Mitte 
die  Pinne,  auf  welcher  die  Nadel  mittelst  ihres  Achat- 
hütchens ruht.  Dieselbe  besteht  aus  zwei  starken  Stahl- 
lamellen, die  fest  miteinander  verbunden  und  in  der  Mitte 
durchbohrt  sind  zur  Aufnahme  des  Hütchens.  Damit  der 
Magnet  umgelegt  werden  kann,  kann  das  Hütchen  von 
beiden  Seiten  gebraucht  werden;  es  schiebt  sich  beim 
Auflegen  des  Magneten  in  einer  Hülse  von  selbst  nach 
der  oberen  Seite.  Das  eine  Ende  des  Magneten  trägt 
den  vertikalen  Spiegel,  der  mit  dem  Femrohr  eingestellt 
werden  kann.  Letzteres  ruht  mittelst  einer  horizontalen 
Achse  in  zwei  Lagern  MM  und  kann  durch  die  Schraube 
V  in  Höhe  etwas  verstellt  werden.  Die  Lager  MM  sind 
durch  einen  Arm  fest  mit  der  mittleren  drehbaren  Achse 
verbunden,  so  daß  Fernrohr  und  Magnetgehäuse  immer 
in  derselben  Lage  zu  einander  bleiben.  Der  Arm  ist  der 
Fortsatz  eines  Tellers  TT,  der  beim  Drehen  des  oberen 
Teils  auf  dem  unteren  Teller  LL  hingleitet;  vermittelst 
der  am  Rande  des  oberen  befindlichen  beiderseitigen 
Nonien  kann  durch  Lupen  U  die  Stellung  des  oberen 
Teiles,  also  auch  des  Femrohrs,  auf  dem  unteren  Teil- 
kreise abgelesen  werden.  Festgehalten  wird  derselbe 
durch  Anziehen  der  Schraube  P,  welche  einen  Arm  GG 
am  unteren  Gestell  festklemmt,  in  den  der  das  Femrohr 
tragende  Arm  vermittelst  eines  Zapfens  Z  eingreift.  Ver- 
mittelst der  Schraube  TF,  die  am  Zapfen  Z  angreift,  kann 
noch  eine  feine  Bewegung  hergestellt  werden,  wobei  eine 
Feder  von  G  Gegendruck  leistet.  Das  Femrohr  0  hat 
hinter  dem  Okular  das  Beleuchtungsprisma  J9,  welches  das 
von  oben  einfallende  Licht  an  dem  im  Brennpunkt  des 
Okulars  befindlichen  Faden  vorüber  nach  dem  Magnet- 
spiegel und  von  da  zurück  in  das  Okular  schickt,  in  dem 
dann  ein  Bild  des  Fadens  <?esehen  wird. 


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Erdmagnetisinns.  121 

Der  bisher  beschriebene  Teil  des  Instruments  ist  er- 
forderlich zur  Bestimmung  der  absoluten  Deklination. 
Hierzu  wird  der  Magnetkasten  von  der  Platte,  auf  deren 
einer  Seite  (also  exzentrisch)  sich  die  Femrohrlager  befinden, 
abgenommen  und  das  Femrohr  zunächst  zur  Bestimmung 
des  astronomischen  Meridians  wie  beschrieben  benutzt. 
Man  stellt  dabei,  um  zu  kontrollieren,  daß  das  Instrument 
keine  Verschiebungen  erleidet,  irgend  einen  entfernten 
Gegenstand  (Mire)  ein,  was  man  zum  Schluß  wiederholt. 
Sodann  wird  das  Magnetgehäuse  wieder  aufgesetzt  und 
der  Magnet  (mittelst  Hebelvorrichtung)  auf  die  Spitze  ge- 
legt, so  daß  eine  z.  B.  mit  A  bezeichnete  Seite  nach  oben 
kommt,  darauf  wird  die  oben  beschriebene  Einstellung 
mittelst  Fernrohr  vorgenommen;  die  Magnetnadel  wird 
nun  wieder  aufgehoben,  umgelegt,  so  daß  Seite  Ä  nach 
unten  kommt,  und  von  neuem  eingestellt.  Das  Umlegen 
wiederholt  man  einigemal.  Man  wird  bei  einiger  Uebung 
bald  die  nötige  Sicherheit  im  Umlegen  und  Einstellen 
erwerben.  Bei  jeder  Einstellung  wird  die  Ablesung  der 
Nonien  notiert,  daneben  die  Uhrzeit  (auf  Minuten);  das 
Mittel  aus  einer  gleichen  Anzahl  von  Einstellungen  bei  A 
oben  und  A  unten  giebt  die  Stellung  des  Femrohrs,  in 
der  seine  Achse  im  magnetischen  Meridian  liegt.  Der 
Umstand,  daß  die  Magnetnadel  bei  diesem  Instrument 
statt  an  einem  Faden  zu  hängen,  auf  einer  Spitze  mht, 
und  damit  eine  Fehlerquelle  (Torsion  des  Fadens),  sowie 
die  Erschütterungen  durch  Wind  bei  Beobachtungen  auf 
Reisen  vermieden  sind,  ist  eine  wesentliche  Verbesserung, 
die  dasselbe  gegenüber  der  älteren  Lamontschen  Einrich- 
tung als  Reiseinstrument  besonders  brauchbar  macht.  An 
die  Deklinationsbestimmung  schließt  man  in  der  Regel 
eine  Intensitätsbeobachtung  an,  indem  man  die  Nadel 
im  Gehäuse  zunächst  ablenkt.  Hierzu  wird  auf  dem  Ge- 
häuse eine  Schiene  aa  (Fig.  12)  befestigt,  auf  welche  an 
den  Enden  Magnete  NN  aufgelegt  werden  können.  Derr 
artige  Magnete  sind  zwei  vorhanden,  die  beim  Transport 
in  die  Kästchen  NN  Fig.  12  verpackt  werden.  Man  legt 
jedesmal  einen  Magneten  auf  die  am  Ende  der  Schiene 
befindliche  Befestigungsvorrichtung  nacheinander  auf  beide 


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122 


Max  Eschenhagen, 

Flg.  12. 


Lamonts   magnetischer  Reiseapparat,  für  die  Beobachtung 

der  Nadel  auf  Spitzen  umgeändert  nach  Dr.  Neumajer. 

(1,5  der  natärlichen  Gröfae.) 


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Erdmagnetismus.  123 

Enden,  und  ^war  je  in  zwei  Lagen,  einmal  das  Nord- 
ende, einmal  das  Südende  der  freien  Nadel  zugekehrt. 
Bei  diesen  vier  Ablenkungen,  von  denen  zwei  die  Nadel 
östlich,  zwei  westlich  ablenken,  wird  die  Nadel  mit 
dem  Femrohr  eingestellt  und  die  Stellung  der  Nonien 
notiert.  Aus  der  Differenz  der  östlichen  und  westlichen 
Ablenkungen  erhält  man  den  doppelten  Winkel,  um 
welchen  die  Nadel  aus  dem  Meridian  abgelenkt  wird. 
Gewöhnlich  stellt  man  diese  Beobachtungen  mit  zwei 
Magneten  an  und  kann  damit  zugleich  eine  Deklinations- 
bestimmung in  der  Weise  verbinden,  daß  man  nach  der  Ein- 
stellung der  Miren  etc.  folgende  Beobachtungsreihe  anstellt: 

1.  Nadel  im  Meridian:  A  oben. 

2.  ,        ,  „  A  unten. 

3.  Ablenkungsmgt.I-W^8t;  Nordende-Ost   j  ^^^j   Ablenkung. 

6.      :    ..  wei    :     ÄV-*^-^^^«-^-»- 

7.  Nadel  im  Meridian:  A  unten. 

8.  „        „  n  A  oben. 

9.  «         ^  „  A  oben. 

10.  ,1        ,  ,  A  unten. 

11.  Ablenkungsmgt.II-We8t;  Nordende- West j^^^^l^^l^^j^^^ 

U.      '         :  .      Welt;         :  ot   )  ö«^^-  ^^1^°^-^- 

15.  Nadel  im  Meridian:  A  unten. 

16.  ,        „  ,.  A  oben. 

Die  Mittel  der  Ablesungen  1—2,  7—10  und  15—16 
geben  den  magnetischen  Meridian,  während  die  Ablenkungs- 
winkel sich  durch  Bildung  von  — — — j bezüglich 

13  +  14-11-12    ^^^^^^^     ^.^  ^^^^^^^^  ^^  ^^. 

den  Ablenkungen  jedesmal  notiert.  Während  der  Meridian- 
ablesungen müssen  natürlich  die  Ablenkungsmagnete  ge- 
nügend weit  entfernt  werden. 

An  diese  Ablenkungsbeobachtungen  schließen  sich 
die  Schwingungsbeobachtungen,  zu  welchen  der  Magnet- 
kasten abgenommen  und  durch  den  hölzernen  Schwingungs- 
kasten SS   (Fig.  12)    ersetzt   wird.     Der   zuletzt   zu   Ab- 


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}24  Max  Eschenhagen, 

lenkungen  benutzte  Magnet  II  wird  an  seinem  Häkchen 
aufgehängt  (der  Faden  muß  vorher  durch  Einhängen 
eines  gleichen  Messinggewichtes  austordiert  sein)  und 
man  beobachtet  die  Schwingungen  mittelst  einer  Uhr,  wie 
bereits  oben  beschrieben  wurde.  Hierbei  muß  die  Tem- 
peratur und  die  Größe  des  Schwingungsbogens  notiert 
werden,  üeber  die  weitere  Berechnung  der  hiermit  voll- 
endeten Intensitätsbestimmung,  sowie  einige  größere  Ge- 
nauigkeit bedingende  Methoden  muß  eine  ausführliche 
Anleitung  nachgesehen  werden. 

In  Fig.  11  ist  der  Theodolit  mit  einer  Vorrichtung 
versehen  zur  Bestimmung  der  Inklination  durch  Ab- 
lenkungen vermittelst  weicher  Eisenstäbe  EE,  Dieselben 
sind  an  einem  Ring  BB  befestigt  (der  hintere  Stab  ist  bei 
der  rechten  Fußschraube  sichtbar),  der  auf  ein  besonderes 
am  Magnetgehäuse  befestigtes  Gestell  gelegt  und  dessen 
wagrechte  Stellung  durch  eine  Libelle  iV  kontrolliert  wer- 
den kann.  Beide  Eisenstäbe  mit  verschiedenen  Polen  auf 
beiden  Seiten  der  Nadel  wirkend,  summieren  ihre  Wirkung, 
durch  Umlegen  derselben  mit  dem  Ring  erzielt  man  eine 
Ablenkung  der  Nadel  nach  der  entgegengesetzten  Seite, 
und  durch  gewisse  Kombinationen  (im  ganzen  acht)  in  der 
Stellung  der  Stäbe  bestimmt  man  die  Ablenkung,  welche 
der  Größe  der  induzierenden  Wirkung  der  Vertiktdkompo- 
nente  proportional  ist  und  aus  welcher  der  Wert  der  In- 
klination, wie  bereits  gezeigt,  berechnet  werden  kann. 
Eine  ausführlichere  Darlegung  aller  in  Frage  kommenden 
Verhältnisse  ist  in  Kreils  Anleitung  gegeben. 

Das  Ne um ay  ersehe  Instrument  enthält  zur  Bestim- 
mung der  Inklination  noch  ein  vollständiges  Nadelinkli- 
natorium,  das  an  Stelle  des  Magnetkastens  auf  den 
Theodoliten  gesetzt  werden  kann,  dasselbe  ist  in  Fig.  12 
JJ  zu  erkennen;  eine  der  beiden  im  besonderen  Käst- 
chen n  zu  verpackenden  Inklinationsnadeln  tis  zeigt  unge- 
fähr die  Richtung  der  Inklination  an.  Außerdem  sind  zwei 
zusammengelegte  Streichmagnete  S  nebst  einem  Bock  bb 
zum  Auflegen  der  Nadel  beim  ümmagnetisieren  vorhanden. 

Die  erste  Aufgabe  bei  einer  Inklinationsbestim- 
mung mittelst  des  Nadelinklinatoriums  besteht 


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Erdmagnetismus.  125 

darin,  nachdem  die  Achsen  und  Spitzen  der  Nadel  durch 
Einstecken  in  HoUundermark  vor  dem  Einlegen,  sowie 
die  Lager  mit  einem  Haarpinsel  gesäubert  sind,  den  mag- 
netischen Meridian  genähert  aufzufinden.  Man  dreht  hierzu 
das  Inklinatorium  so  lange,  bis  die  Nadel  senkrecht  (auf 
den  Teilstrich  90^)  sich  einstellt,  hebt  dieselbe  durch 
Drehen  der  Schraube  f  auf,  läßt  sie  wieder  herab  und 
wiederholt  die  Einstellung,  liest  dabei  die  Nonien  des 
Horizontalkreises  ab.  Jetzt,  hebt  man  die  Nadel  wieder 
auf,  dreht  das  Inklinatorium  um  180^,  läßt  die  Nadel 
wieder  auf  die  Lager  und  sucht  wieder  die  Ablesung  des 
Horizontalkreises,  bei  der  Stellung  der  Nadel  auf  90^. 
Das  Mittel  aus  den  beiden  Ablesungen  giebt  die  Stellung 
des  Liklinatoriums,  bei  welcher  die  Drehungsachse  der 
Nadel  im  mi^etischen  Meridian  ist.  Dreht  man  nun 
um  90^,  so  befindet  sich  die  Nadel  im  magnetischen 
Meridian,  und  sie  stellt  sich  beim  Herablassen  auf  die 
Lager  in  die  Richtung  der  Inklination. 

Um  nun  die  bereits  erwähnten  Fehlerquellen  unschäd- 
lich zu  machen,  hat  man  1)  die  Nadel  in  ihrer  Stellung 
gegen  den  Kreis  (Lagen  a  und  ß),  2)  den  Kreis  in  seiner 
Lage  (östlich  oder  westlich)  zu  vertauschen,  3)  die  Mag- 
netnadel umzumagnetisieren  (Ende  A-  resp.  J?-Nordpol), 
wobei  sie  ungefähr  gleichen  Magnetismus  wie  zuvor  er- 
halten soll.  Hierdurch  ergeben  sich  acht  Lagen  der  Nadel, 
in  denen  stets  die  Stellung  beider  Spitzen,  und  zwar  mehr- 
mals nach  vorhergehendem  Aufheben  der  Nadel  und  vor- 
sichtigem Tupfen  oder  Kratzen  am  Gehäuse,  abgelesen 
werden  muß.  Die  beiden  Enden  der  Nadel  sind  auf  einer 
Seite  mit  den  Buchstaben  A  und  B  bezeichnet.  Hiemach 
bezeichnet  man  die  acht  Stellungen  folgendermaßen:  . 
A  Nordpol.  B  Nordpol. 

OL,  Bezeichnete  Seite  außen 
(d.  h.  vom  Kreis  abgewendet). 

1.  Kreis  Ost.  5.  Kreis  Ost. 

2.  Kreis  West.  6.  Kreis  West. 
ß.  Bezeichnete  Seite  innen 

(dem  Kreis  zugewendet). 

3.  Kreis  West.  7.  Kreis  West. 

4.  Kreis  Ost,  8.  Kreis  Ost. 


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126  Max  Escbenhagen, 

Das  Mittel  aus  diesen  acht  Einstellungen,  deren  jede 
das  Resultat  aus  mehreren  Einzelablesungen  beider  Spitzen 
ist,  ergiebt  die  Inklination.  Mit  der  zweiten  Nadel 
wiederholt  man  die  ganze  Beobachtung.  Die  erhaltenen 
Werte  fallen  nur  befriedigend  aus,  wenn  die  Nadeln  mit 
größter  Sorgfalt  beim  Einlegen,  Ummagnetisieren  u.  s.  w. 
behandelt  werden,  außerdem  müssen  sie,  sowie  die  Lager 
vor  Niederschlag  von  Feuchtigkeit  bewahrt  werden.  Die 
üebereinstimmung  der  mit  mehreren  Nadeln  erhaltenen 
Werte  giebt  ein  Urteil  über  ihre  Zuverlässigkeit  ab. 

Das  in  den  beiden  Figuren  11  und  12  dargestellte 
vollständige  Instrument  wiegt  mit  dem  zur  festen  Ver- 
packung erforderlichen  Kasten  nebst  dem  zusammenleg- 
baren Stativ  22  kg  und  wird  von  dem  Verfertiger  Hechel- 
mann in  Hamburg  zu  dem  Preise  von  950  Mark  inklusive 
Stativ  geliefert.  Wird  nur  ein  Nadelinklinatorium  ge- 
wünscht, so  stellt  sich  der  Preis  entsprechend  billiger. 


VI.  Verwertung  der  Beobachtungen. 

Aus  der  Einleitung  ist  zu  entnehmen,  in  welcher 
Weise  magnetische  Beobachtungen  sowohl  der  magneti- 
schen Landesauihahme  als  der  Erkenntnis  der  erdmagne- 
tischen Erscheinungen  zum  Nutzen  gereichen.  Den  Be- 
merkungen über  die  zeitlichen  Aenderungen  derselben 
zufolge  muß  ein  Wert  der  erdmagnetischen  Elemente, 
der  zu  einer  bestimmten  Tageszeit,  z.  B.  um  Mittag,  be- 
obachtet wird,  auch  nur  für  diese  Zeit  und  den  betreffen- 
den Tag  gelten.  Um  denselben  gewissermaßen  allgemein 
gültig  zu  machen,  muß  er  auf  den  Mittelwert  einer  be- 
stimmten Epoche,  der  an  der  Hand  einer  längeren  Be- 
obachtungsreihe an  einem  erdmagnetischen  Observatorium 
abgeleitet  wird,  reduziert  werden.  Am  zweckmäßigsten 
ist  es  daher  immer  für  den  Reisebeobachter,  zu  einem 
solchen  Observatorium  in  Beziehung  zu  stehen,  damit 
durch  gleichzeitige  Ablesung  der  Variationsinstrumente 
während  seiner  Beobachtung  der  dortige  Wert  der  erd- 
magnetischen  Elemente    ermittelt   wird.     Derartige  Va- 


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Erdmagnetismus.  127 

riationsbeobachtungen  werden  an  besonderen  Instrumenten 
und  in  einem  besonderen  Variationsobservatorium  ange- 
stellt, deren  Beschreibung  hier  zu  weit  führen  würde. 
Man  hat  diese  Instrumente  mittelst  eines  photographischen 
Verfahrens  selbstregistrierend  gemacht;  bis  jetzt  ist  in 
Deutschland  nur  das  zur  Kaiserlichen  Marine  gehörige 
Observatorium  zu  Wilhelmshaven  mit  selbstregistrierenden 
Instrumenten  ausgerüstet,  für  ein  in  Potsdam  vom  Preußi- 
schen meteorologischen  Zentralinstitut  neu  zu  gründendes 
Observatorium  ist  die  Beschaffung  derselben  in  Aussicht 
genommen. 

Will  man  Beobachtungen,  ohne  im  Besitz  von  Va- 
riationsbeobachtungen zu  sein,  mit  einer  gewissen  Ge- 
nauigkeit wegen  der  täglichen  Schwankung  korrigieren, 
80  muß  man  die  erhaltenen  Werte  auf  das  Tagesmittel 
reduzieren,  wofern  man  nicht  vorzieht,  zu  solchen  Stunden 
zu  beobachten,  in  denen  das  zu  messende  Element  gerade 
das  Tagesmittel  erreicht.  Zur  Reduktion  werden  die 
in  Fig.  2  dargestellten  Kurven  des  täglichen  Ganges 
folgendermaßen  benutzt.  Beobachtet  man  z.  B.  die  De- 
klination um  12  Uhr  mittags  (Ortszeit),  so  entnimmt  man 
der  Kurve  der  Deklination  direkt  den  Wert  der  Ab- 
weichung vom  Tagesmittel,  nämlich  die  Länge  der  Ordi- 
nate um  12  Uhr,  und  bringt  dieselbe  (in  Minuten  aus- 
gedrückt) mit  entgegengesetztem  Vorzeichen  als  Korrektion 
an  dem  beobachteten  Wert  an.  Natürlich  ist  die  dem 
Beobachtungshalbjahr  entsprechende  Kurve  zu  wählen. 
Erhält  man  z.  B.  im  April  zu  Halle  den  Wert  der  De- 
klination von  11  ®  50'  um  12  Uhr  mittags,  so  findet  man 
in  jener  Kurve  eine  Ordinate  um  12  Uhr  von  6  Teilstrichen 
=  6',  um  welche  die  Deklination  zur  Beobachtungszeit 
größer  war  als  das  Tagesmittel,  diese  6'  sind  also  zu 
subtrahieren,  und  man  erhält  als  Deklination,  die  von  der 
regelmäßigen  täglichen  Schwankung  befreit  ist,  den  Wert 
von  11^  44'.  In  ähnlicher  Weise  erhält  man  den  Betrag 
der  Reduktion  für  andere  Zeiten  und  entsprechend  für 
die  Horizontalintensität.  Für  die  Inklination  ist  wegen 
der  geringen  Größe  der  täglichen  Schwankung  keine  Re- 
duktion erforderlich. 


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•iclier 
128  Max  Eschenhagen.  JbHORI 

Derartige  Reduktionen  können  dazu  dienen,  ein  Urteil   iinia;rer 
über  die  Genauigkeit  der  mit  einem  bestimmten  Beobach-     —  t«. 
tungsinstrument  erhaltenen  Resultate  zu  büden,  und  zwar 
besser  als  man  es  durch  theoretische  Betrachtungen  kann. 
Beobachtet  man  beispielsweise  die  Deklination  morgens  um 
8*^  und   mittags  um  1**,    so  muß  letzterer  Wert  um  den 
vollen  Betrag  der  Amplitude  der  täglichen  Periode  vom 
ersteren  abweichen;  reduziert  man  also  beide  Werte  auf  das 
Tagesmittel  (am  genauesten  natürlich  nach  den  Ablesungen    i\  ' 
der  Variationsinstrumente),  so  giebt  die  Uebereinstimmung    "^ö 
beider  Werte  das  Urteil  über  ihre  Genauigkeit. 

Während  größere,  mit  vollkommeneren  Instrumenten 
ausgeführte,  magnetische  Landesvermessungen  also  immer 
im    Anschluß    an    ein    Observatorium    erfolgen    müssen, 
kann   doch   in   der  bezeichneten   einfacheren  Weise   eine    i" 
Reihe   von  recht  schätzbaren  Werten  gewonnen  werden, 
wenn    z.   B.    für    die    physikalischen    Kabinette    höherer 
Schulen  das  beschriebene  einfachere  Instrument  statt  der 
daselbst    häufig   befindlichen,    kaum   den   Anforderungen 
der  Demonstration  genügenden,  ungenauen  Apparate  be- 
schafft und  es  als  Erfordernis  des  physikalischen  Unter-    fe 
richts   erachtet   würde,   alljährlich  einige  Messungen  der 
erdmagnetischen  Elemente  in  dBr  Nachbarschaft  der  Stadt 
oder  doch  an  einem  bestimmten  Punkte  vorzunehmen,  die 
dann,   womöglich  ausführlich,   in  dem  Schulprogramm    1^^^ 
zum  Abdruck   kommen  müßten.     Stehen  dem  physikali-    Ä^_ 
sehen  Unterricht  größere  Mittel  zu  Gebote,  so  wird  man    ?L^- 
statt  des  einfacheren  Instrumentes  ein  etwas  vollkomme-    • 
neres  verwenden  können,   welches  statt  des  Diopters  ein 
Fernrohr,  eventuell  ein  besonderes  Nadelinklinatorium  be- 
sitzt.  Derartige  Instrumente  sind  in  der  Kaiserlichen  Marine 
unter  dem  Namen  „  Deviationsmagnetometer ^  im  Gebrauch. 
Der  Preis  eines  solchen  Instrumentes  würde  je  nach  der 
Vollständigkeit  bis  zu  450  Mark  betragen.    Außer  der  ge- 
nannten Firma  von  Hechelmann  in  Hamburg  beschäftigen 
sich  besonders  mit  der  Herstellung  erdmagnetischer  Instru- 
mente: C.  Bamberg  in  Berlin,  Edelmann  in  München 
xind  Hartmann  in  Bockenheim  bei  Frankfurt  a.  M.  ''y\ 


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OstLv.a|t  Ferro  3|2  3p  a|*  3|S  3(8  3(7 

icher 

kHORIZONTALKRAFT(ISODYNAMEN) 

ina;fer  in  Hamburg'. 


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Erläuterungen : 
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JcUuiLdie  AlmahmA 
der  westlichen  Dekli 
nntian :  7.'o. 
__  IsökUnen. 

Jcüirliche  Änderung 

derlnkUnatiaii .  O'o(n 

Jsodynamen. 

Jährliche  Zunahme 
der  BorijantalJanfl : 
aoooii  C.aS.(eleJarisc/if 
Einlieiten ). 


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E  1  i  m  a. 

Von 

Dr.  Richard  Assmann, 

Oberbeamter  im  Preuß.  Meteorol.  Institut  und  Privatdozent  an  der 
Universität  in  Berlin. 


Anleitnng  zur  deutschen  Landes-  und  Yolksforschung. 


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Die  klimatischen  Verhältnisse  Mitteleuropas,  somit  auch 
diejenigen  des  Deutschen  Reichs,  dürfen  im  allgemeinen 
als  ausreichend  bekannt  angesehen  werden.  Sämtliche  das 
Deutsche  Reich  zusammensetzende  Staaten  haben  seit  Jahr- 
zehnten Netze  von  mehr  oder  weniger  zahlreichen  stän- 
digen meteorologischen  Stationen  errichtet,  welche  zuver- 
lässiges, nach  erprobten  Methoden  gewonnenes  Material 
liefern,  ausreichend,  um  ein  wahrheitsgetreues  Bild  des 
Klimas  in  gröberen  Umrissen  zu  geben. 

Aber  das  laufende  Jahrzehnt  stellt  höhere  Anforde- 
rungen an  die  Klimakunde.  Es  genügt  nicht  mehr,  die 
Mittelwerte  der  klimatischen  Faktoren  für  die  hauptsäch- 
lichsten geographischen  Bezirke  unseres  Vaterlandes  zu 
kennen;  man  kann  sich  der  Notwendigkeit  nicht  mehr 
verschließen,  enger  umgrenzte  Forschungsgebiete  in  An- 
griflf  zu  nehmen. 

So  sehen  wir  besonders  in  der  preußischen  Monarchie 
in  der  neuesten  Zeit  eine  intensive  Verdichtung  des  Stations- 
netzes in  der  Ausführung  begriffen,  welches  ein  Studium 
der  engeren  örtlichen  Erscheinungen  zu  ermöglichen  be- 
stimmt ist. 

Nach  Vollendung  dieser  Neuorganisation  wird  das 
Königreich  Preußen  gegen  2000  meteorologische  Stationen 
zur  Beobachtung  der  Niederschlags-  und  Gewittererschei- 
nungen, also  eine  auf  je  175  qkm  besitzen,  eine  Dichte 
des  Stationsnetzes,  welche  von  der  in  den  übrigen  deut- 
schen Staaten  vorhandenen  nur  wenig  abweicht. 


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132  Richard  Assmann, 

Auf  den  ersten  Blick  will  es  erscheinen,  als  müsse 
eine  derartig  intensive  und  dichte  Beobachtung  mehr  als 
genügen,  um  auch  das  feinere  klimatische  Detail  in  allen 
Fällen  deutlich  erkennen  zu  lassen.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  aber,  daß  z.  B.  in  einem  Gebirge  der  Flächen- 
raum von  175  qkm  Gipfel,  Abhänge,  Plateaus,  Thäler 
und  Schluchten,  Sonnen-  und  Schattenseiten,  Luv-  und 
Leeseiten,  kahles  Felsgestein,  Hochmoore  und  Wälder, 
hellfarbigen  und  dunkelfarbigen,  feuchten  und  trockenen 
Erdboden  enthalten  kann  und  thatsächlich  auch  vielfach 
enthält,  so  werden  wir  erkennen,  daß  von  einer  Kenntnis 
der  örtlichen  Erscheinungen  auf  Grund  der  einen  auf 
diesem  Flächenraum  befindlichen  meteorologischen  Station 
durchaus  nicht  die  Rede  sein  kann.  Will  man  diese  er- 
forschen, so  würde  eine  Verzehnfachung  der  Stationen 
noch  nicht  überall  zum  Ziele  führen,  vielmehr  müßten 
alle  diese  engsten  klimatischen  Bezirke  mit  eigenen  Be- 
obachtungsstationen ausgerüstet  werden. 

Man  sieht  aber  leicht,  daß  eine  derartige  Organi- 
sation nicht  nur  für  absehbare,  sondern  wohl  für  alle 
Zeiten  unausführbar  sein  müsse. 

Und  selbst  den  Fall  angenommen,  es  fänden  sich  in 
der  That  die  Personen  und  Mittel  zur  Errichtung  eines 
derartig  dichten  Netzes  von  Beobachtungsstationen,  so 
bliebe  doch  die  Schwierigkeit  der  Kontrolle  dieser  Statio- 
nen, der  Sammlung,  Sichtung,  Verarbeitung  und  Aus- 
nutzung der  Beobachtungen  bestehen.  Welches  meteoro- 
logische Zentralinstitut  würde  imstande  sein,  diese  Riesen- 
arbeit in  fruchtbarer  Weise  zu  bewältigen?  Und  wenn 
auch  zuzugeben  ist,  daß  unter  anderen  geographischen 
Bedingungen,  z.  B.  im  Flachlande,  die  Zahl  der  zu  Detail- 
studien nötigen  Stationen  erheblich  geringer  sein  darf, 
so  ist  doch  nicht  zu  vergessen,  daß  jeder  Wald  und  jedes 
Feld,  jeder  Hügel  und  jede  Mulde,  jede  Bodenart,  jeder 
See  und  jeder  Wasserlauf  seine  eigenartige,  von  der 
andersgestalteten  Umgebung  abweichende  Meteoration  hat. 

Es  ist  daher  nicht  zu  bezweifeln,  daß  jedes  allge- 
meine, über  ein  größeres  Gebiet  ausgedehnte  klimatolo- 
gische  Lokalstudium  ein  unmögliches  Ding  sei. 


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Klima.  133 

So  bleiben  als  Auswege  nur  zwei  Möglichkeiten: 
entweder  man  verzichtet  auf  allgemeine  eng  örtliche  Lokal- 
forschungen und  konzentriert  dieselben  auf  einzelne  be- 
sonders wichtige  und  komplizierte  Gebiete,  oder  man  trifft 
die  Einrichtung  „ fliegender*"  Beobachtungsnetze,  welche, 
zu  besonderen  Zwecken  an  ausgewählten  Punkten  mit 
möglichster  Intensität  organisiert,  nur  eine  kürzere  Reihe 
von  Jahren  thätig  sind,  dann  bis  auf  einige  Hauptstationen 
aufgelöst  und  an  anderer  Stelle  wieder  eingerichtet  werden. 
In  dieser  Weise  entstehen  Versuchsfelder,  welche  bei  rich- 
tiger Auswahl  erheblichen  Nutzen  zu  gewähren  vermögen. 

Für  die  Zwecke  systematischer  Forschung  kann  die 
noch  femer  zu  erwähnende  Methode  der  gelegentlichen 
Keisebeobachtungen  im  außeralpinen  Deutschland  nur  in- 
sofern in  Frage  kommen,  als  einzelne  seltener  besuchte 
oder  schwerer  zugängliche  Gegenden  als  Untersuchungs- 
objekte gewählt  werden.  Eishöhlen,  Spuren  alter  Gletscher, 
interessante  Yerwitterungserscheinungen  können  sehr  wohl 
gelegentlich  einer  Reise  ebensogut  untersucht  werden, 
wie  man  Beobachtungen  über  Niederschlags-  und  Be- 
wölkungsverhältnisse, Rauhreifbildungen,  optische  Erschei- 
nungen, über  abnorme  Temperaturverteilung  und  anderes 
mehr  hierbei  ausführen  kann.  Ganz  besonders  werden 
indes  außergewöhnliche  Phänomene  wie  Gewitter,  Wind- 
hosen, Föhnerscheinungen  u.  s.  w.  in  fruchtbringender 
Weise  als  Objekte  touristischer  Beobachtung  zu  dienen 
imstande  sein. 

Wir  gelangen  hiermit  zu  einer  Zweiteilung  unserer 
Anleitung  zur  Anstellung  klimatologischer  Beobachtungen: 
systematische,  kürzere  oder  längere  Zeit  hindurch  zu  einem 
bestimmten  Zweck  fortgesetzte  Beobachtungen  und  ge- 
legentliche Reisewahmehmungen. 

Bei  der  ersteren  Kategorie  schließen  wir  die  ständi- 
gen meteorologischen  Stationen  aus  dem  Grunde  aus,  weil 
eine  Anleitung  zu  Beobachtungen  an  denselben  nichts 
anderes  als  eine  Wiederholung  einer  der  zahlreichen  In- 
struktionen wiedergeben  müßte,  welche  von  den  meteoro- 
logischen Zentralinstituten  der  deutschen  Staaten  in  mehr 
oder  weniger  ausführlicher  Fassung  erlassen  worden  sind. 


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134  Richard  Assmann, 

Wir  können  aber  auch  die  klimatologische  Forschung 
in  einer  anderen  Weise,  nämlich  nach  den  mittelst  der- 
selben beabsichtigten  Zwecken  zerlegen,  und  zwar  in 
Beobachtungen,  welche  wissenschaftliche  Ziele  zur  Er- 
grUndung  oder  schärferen  Umgrenzung  von  Gesetzen  oder 
Hypothesen  verfolgen,  und  in  solche,  welche  bestimmt 
sind,  einem  praktischen  Zwecke  zu  dienen. 

Unter  den  letzteren  kommen  mannigfache  Einzel- 
fragen aus  Handel  und  Industrie,  aber  auch  aus  solchen 
Wissenschaften  in  Betracht,  welche  aus  der  Kenntnis 
klimatischer  Verhältnisse  Vorteile  zu  ziehen  in  der  Lage 
sind.  Die  medizinische  Wissenschaft  hat  z.  B.  ein  natür- 
liches und  sehr  beträchtliches  Interesse  an  der  klimato- 
logischen  Erforschung  ihrer  klimatischen  Kurorte.  Die 
Wasserbautechnik  muß  die  Niederschlagsverhältnisse  in 
den  Einzugsgebieten  der  Wasserläufe  zum  Zwecke  von 
Flu&korrektionen  oder  Kanalisationsanlagen  sorgfältigst 
berücksichtigen.  Das  Versicherungswesen  muß  die  lokalen 
Blitzschlags-  und  Hagelgefahren  sorgfältigst  in  seine  Be- 
rechnungen einziehen.  Die  Land-  und  Forstwirtschaft 
muß  die  Niederschlags-  und  Temperaturverhältnisse  zum 
Zwecke  von  Anbauversuchen  bisher  nicht  kultivierter  Feld- 
oder Gartenfrüchte,  zu  Meliorationen,  Aufforstungen,  Ur- 
barmachungen, Drainierungen,  Berieselungen,  Moorkulturen 
u.  a.  m.  genau  studieren ;  die  Industrie  bedarf  nicht  selten 
der  Kenntnis  der  Wind-  und  Wasserverhältnisse  zur  An- 
legung von  Motoren.  Alle  diese  Gewerbe  sind  in  ihren 
Erfolgen  mehr  oder  weniger  auf  die  richtige  Ausnutzung 
gegebener,  aber  nicht  überall  ausreichend  gekannter  kli- 
matischer Bedingungen  angewiesen,  so  daß  das  sorg- 
fältige Studium  derselben  an  der  Hand  der  Beobachtung 
zu  einer  unerläßlichen  Aufgabe  derselben  wird.  Es  kann 
nicht  der  Zweck  der  vorliegenden  Anleitung  sein,  für  alle 
die  genannten  und  mehrere  andere  Wissenschaften  und 
Gewerbe  spezielle  Instruktionen  zu  geben,  doch  soll  überall 
in  unseren  Erörterungen  thunlichste  Rücksicht  auf  die 
wichtigsten  derselben  genommen  werden. 

Im  folgenden  sollen  nun  alle  in  Frage  kommenden 
Jtlimatischen  Faktoren  in  der  Weise  durchmustert  werden, 


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Klima.  135 

daß  denjenigen  derselben,  welchen  ihrer  Natur  nach  zwar 
eine  erhebliche  Wichtigkeit  in  wissenschaftlicher  oder  ge- 
werblicher Beziehung  innewohnt,  welche  aber  aus  irgend 
welchen  Gründen  an  ständigen  meteorologischen  Stationen 
nicht  ausreichend  erforscht  zu  werden  pflegen,  ein  größerer 
Raum  zuerteilt  wird,  als  den  der  allgemeinen  Beobachtung 
regelmäßig  unterworfenen  Faktoren. 

Hierbei  soll,  soweit  als  thunlich,  Rücksicht  auf  die 
Anstellung  der  Beobachtungen  auf  Reisen  genommen  und 
das  nötige  Instrumentarium  kurz  erläutert  werden. 

Von  der  Anleitung  zur  Anstellung  der  gewöhnlichen 
an  meteorologischen  Stationen  tiberall  gebräuchlichen  Be- 
obachtungen ist  Abstand  genommen  worden  und  wird  in 
dieser  Beziehung  auf  die  Instruktionen  der  meteorologi- 
schen Zentralinstitute  verwiesen^). 

Die  klimatischen  Faktoren  sollen  in  der  Reihenfolge : 
Temperatur,  Luftdruck,  Winde,  Wasserdampfgehalt  der 
Luft,  Hydrometeore,  außergewöhnliche  Vorkommnisse  und 
Beimengungen  der  Luft  zur  Betrachtung  kommen. 


I.  Temperatur. 

Wir  haben  hierbei  zu  unterscheiden:  1.  Strahlungs- 
temperatur, 2.  Lufttemperatur,  3.  Boden temperatur,  4. 
Wassertemperatur. 

1.  Strahlungstemperatur. 

Da  die  Strahlungsbeobachtungen  zur  Zeit  noch  nicht 
zu  dem  Programm  der  meteorologischen  Stationen  gehören, 
andererseits  ohne  komplizierte  Apparate  überall  leicht 
auszuführen  sind  und  auch  schon  bei  kürzeren  Beobach- 
tungsreihen wertvolle  Resultate  zu  ergeben  geeignet  sind. 


')  Besonders  empfehlenswert  ist  Jelineks  Anleitung  zur  Aus- 
führung meteorologischer  Beobachtungen  nebst  einer  Sammlung 
von  Hilfstafeln,  neu  herausgegeben  und  umgearbeitet  von  J.  Hann. 
Wien  1884.  —  Im  August  1888  erscheint  auch  die  neue  ausführliche 
Anleitung  des  königlich  preußischen  meteorologischen  Instituts. 


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136  Richard  Assmann, 

soll  denselben  vorweg  eine  ausführlichere  Betrachtung  zu 
teil  werden. 

Die  Verhältnisse  der  bei  der  Einstrahlung  unter  dem 
Einflüsse  der  Sonnenwärme  und  bei  der  Ausstrahlung  in 
den  kalten  Weltenraum  stattfindenden  Temperaturen  stellen 
einen  wichtigeren  klimatischen  Faktor  dar,  als  man  ge- 
meinhin anzunehmen  geneigt  ist. 

Die  Intensität  der  Sonnenstrahlung  ist  abhängig  von 
dem  Einfallswinkel  der  Strahlen  auf  das  bestrahlte  Objekt 
und  von  der  Diurchlässigkeit  derjenigen  Medien,  welche 
die  Wärmestrahlen  zu  durchdringen  haben,  ehe  sie  ein 
Objekt  treflfen. 

Der  Einfluß  des  Einfallswinkels  läßt  sich  am  kürze- 
sten dadurch  ausdrücken,  daß  man  sagt,  die  Intensität 
der  Sonnenstrahlung  ändere  sich  im  Verhältnis  des  Sinus 
der  Sonnenhöhe.  Ist  der  Sinus  =  0,  fällt  also  die  Rich- 
tung der  Sonnenstrahlen  in  die  Ebene  des  bestrahlten 
Objektes ,  so  ist  die  Strahlungsintensität  gleichfalls  =  0, 
ist  derselbe  =  1,  wenn  die  Strahlenrichtuag  einen  rechten 
Winkel  mit  der  Fläche  des  Objektes  bildet,  dann  erreicht 
die  Strahlung  ihre  größtmögliche  Intensität.  Demnach 
müssen  alle  Objekte  der  Erdoberfläche  zwei  nach  der 
Jahres-  und  Tageszeit  regelmäßig  wechselnde  Perioden 
der  Bestrahlung  zeigen,  entsprechend  den  wechselnden 
Höhen  des  Sonnenstandes.  Weiterhin  aber  unterscheiden 
wir  an  allen  denjenigen  Gegenständen,  welche  nicht  in 
einer  horizontalen  Ebene  liegen,  eine  stärker  und  eine 
schwächer  oder  gar  nicht  bestrahlte  Seite,  entsprechend 
dem  auf  unserer  nördlichen  Halbkugel  von  der  Sonne 
beschriebenen  scheinbaren  Tagesbogen  von  Ost  durch  Süd 
nach  West.  Die  Nordseite  wird  daher  überall  die  am 
wenigsten  bestrahlte  Seite  der  Objekte  sein. 

Die  Durchlässigkeit  des  von  den  Sonnenstrahlen  zu 
durchschreitenden  Mediums,  der  Luft  oder  des  Wassers, 
hängt  aber  teils  von  der  Dicke  der  zu  durchmessenden 
Schicht,  teils  von  der  Beimengung  solcher  Substanzen  ab, 
welche  den  Sonnenstrahlen  den  Durchgang  verwehren,  sie 
daher  zurückhalten  und  zur  eigenen  Temperaturerhöhung 
benutzen. 


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Klima.  137 

Es  erhellt,  daß  ein  in  der  Richtung  der  Tangente 
die  Erdoberfläche  berührender  Sonnenstrahl  den  längsten 
aller  möglichen  Wege  bei  geradlinigem  Verlauf  durch  die 
Atmosphäre  zurücklegt,  während  er  bei  senkrechtem  Ein- 
fallen dem  kürzesten  Wege  folgt.  Die  Absorption  der 
Sonnenstrahlen  durch  die  Atmosphäre  wird  demnach  im 
ersteren  Falle  eine  beträchtlich  größere  sein  als  im  letz- 
teren. Hierzu  kommt  aber  noch,  daß  aus  natürlichen 
Oründen  die  untersten  Schichten  der  Atmosphäre  die 
dichtesten  sind  und  den  größten  Reichtum  an  solchen 
Körpern  besitzen,  welche,  vorwiegend  von  der  Erdoberfläche 
stammend,  eine  Verunreinigung  der  Atmosphäre  darstellen. 
Ueber  die  Größe  der  durch  den  Wasserdampf  bewirkten 
Wärmeabsorption  sind  die  Akten  trotz  zahlreicher  Arbeiten 
auf  diesem  Gebiete  noch  nicht  endgültig  geschlossen,  doch 
darf  die  Thatsache  der  Wärmeabsorption  durch  den 
Wasserdampf  überhaupt  nicht  mehr  bezweifelt  werden. 
Die  übrigen  Verunreinigungen  der  untersten  Atmosphären- 
schichten durch  Staubpartikel  aller  Art  bedingen  unter 
allen  Umständen  einen  großen  Wärmeverlust  der  Sonnen- 
strahlung, so  daß  nach  Langleys  Untersuchungen  die 
mittlere  Absorption  der  ganzen  Atmosphäre  nicht  mehr, 
wie  früher  angenommen,  zu  20  %,  sondern  zu  mindestens 
40  ®/o  zu  bewerten  ist. 

Für  Untersuchungen  der  Intensität  der  Sonnenstrah- 
lung kommt  für  unsere  Zwecke  als  Meßinstrument  aus- 
schließlich das  sogenannte  Schwarzkugelthermometer  im 
Vakuum,  auch  Insolations-  oder  Radiationsthermometer 
genannt,  in  Frage  (s.  Fig.  1).  Ein  mit  Lampenruß  ge- 
schwärztes Thermometer  befindet  sich  in  einer  kugelförmig 
aufgeblasenen  Glashülle,  welche  unter  der  Luftpumpe  mög- 
Uchst  .evakuiert  worden  ist.  Die  durch  die  durchsichtige 
Glaswand  mit  wenig  geschwächter  Energie  hindurchdringen-, 
den  Sonnenstrahlen  werden  von  dem  Rußüberzuge  des 
Thermometergefäßes  fast  vollkommen  absorbiert,  so  daß 
die  Angaben  des  Thermometers  ein  angenähertes  Maß  für 
die  Strahlungsintensität  selbst  darstellen,  zumal  die  um- 
gebende luftleere  Hülle  störende  Nebeneinflüsse,  die  dunkle 
Wärmestrahlung  fast  vollständig  und  die  Wärmeentziehung 


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138  Richard  Assmann, 

durch   bewegte  Luft  gänzlich   abhält.     Doch  lassen  sich 
mit  diesem  Apparate  absolute  Werte  nicht  gewinnen,  da 
der  Durchgängigkeitszustand  des  Glases  und 
Flg.  1.  der  Betrag  der  Luftverdtinnung  nicht  ohne 

Einfluß  auf  den  Betrag  der  zur  Messung 
kommenden  Strahlung  sind.  Wohl  aber 
kann  ein  und  dasselbe  Instrument  Werte 
liefern,  welche  untereinander  wohl  ver- 
gleichbar sind ;  sachgemäße  Prüfungen  durch 
Vergleichungen  mit  Instrumenten,  welche 
absolute  Messungen  von  wärmereflektieren- 
den Gegenständen  gestatten,  können  indes 
bis  jetzt  nur  an  wenigen  Zentralinstituten 
ausgeführt  werden.  Das  Schwarzkugelther- 
mometer wird  an  einer  der  Sonnenstrahlung 
ununterbrochen  ausgesetzten  Stelle  an  einem 
kleinen  Stativ  oder  Stabe  in  der  Höhe  von 
etwa  1,5  m  über  dem  Erdboden,  am  besten 
über  ßasengrund,  derartig  aufgestellt,  daß 
das  Thermometergefäß  nach  Süd  gerichtet 
ist.  Ist  das  Instrument  nicht,  wie  meistens, 
ein  Maximumthermometer,  so  kann  es  auch 
senkrecht,  am  besten  mit  dem  Gefäße  nach 
oben,  aufgestaut  werden.  Die  am  Thermo- 
meter abgelesenen  Werte  stellen  nun  also 
denjenigen  Erwärmungsgrad  dar,  welchen 
ein  schwarzer,  ebensowenig  Wärme  wie  der 
Ruß  reflektierender  Körper  unter  der  Ab- 
wesenheit störender  Nebeneinflüsse  anneh- 
men würde.  Den  Betrag  der  Strahlung 
erhält  man  dadurch,  daß  man  ein  zur  Be- 
.  Stimmung  der  wahren  Lufttemperatur  ge- 
i  ^  j}  eignetes  Thermometer,  am  besten  ein  Aspi- 
\  ,f   rationsthermometer   (s.  unter  Lufttempera- 

tur), in  der  Nähe  beobachtet;  die  Differenz 
beider  Instrumente  ist  der  Strahlungsbetrag 
in  relativem  Maße. 
Es   muß   darauf  hingewiesen   werden,    daß  man  die 
so  oft  als  „Temperatur  in  der  Sonne*  bezeichneten  An- 


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Klima.  139 

gaben  eines  gewöhnlichen^  den  Sonnenstrahlen  ausgesetz- 
ten Thermometers  nicht  mit  denen  nach  oben  angegebener 
Methode  vergleichen  kann.  Derartige  Beobachtungen  sind 
als  völlig  wertlos  anzusehen,  daher  besser  gänzlich  zu 
unterlassen. 

Die  Wichtigkeit  von  Messungen  der  Strahlungsinten- 
sität geht  aus  folgendem  hervor.  Mit  der  Verringerung 
der  die  Sonnenstrahlung  absorbierenden  Schichten  nimmt 
die  Intensität  der  ersteren  zu.  Hieraus  folgt,  daß  die- 
selbe mit  der  Erhebung  über  den  Erdboden  wächst. 
Durch  gleichzeitige  Beobachtungen  zweier  oder  mehrerer 
sorgfältig  verglichener  Schwarzkugelthermometer  in  ver- 
schiedenen Höhen  eines  Gebirges  ist  man  daher  imstande, 
wertvolle  Beiträge  zur  Frage  der  atmosphärischen  Wärme- 
absorption zu  liefern,  wenn  man  neben  denselben  die 
wahre  Lufttemperatur  bestimmt  und  wolkenreine  Tage 
zur  Beobachtung  verwendet.  Aber  auch  ein  einzelnes 
Instrument,  in  Verbindung  mit  einem  solchen  für  Er- 
mittelung der  Lufttemperatur  beobachtet,  kann  wichtige 
und  interessante  Aufschlüsse  geben.  Wenn  auch  die  ge- 
waltigen Differenzen,  wie  sie  Cayley  in  Leh  in  Tibet  in 
einer  Meereshöhe  von  3500  m  fand,  wo  er  das  Schwarz- 
kugelthermometer auf  101^,  d.  h.  13^  über  den  in 
dieser  Höhe  nur  88  ^  C.  betragenden  Siedepunkt  des 
Wassers,  steigen  sah,  während  die  Lufttemperatur  gleich- 
zeitig nur  23,9  ^,  die  Differenz  also  77,i  ®  erreichte,  im 
außeralpinen  Deutschland  wegen  mangelnder  Höhe  der 
Gebirge  nicht  beobachtet  werden  können,  so  ist  doch  an- 
zunehmen, daß  in  den  höheren  Bergländern  des  Riesen- 
gebirges, Schwarzwaldes,  Wasgaues  u.  s.  w.  die  ünter-^ 
schiede  gegen  40  ®  und  mehr  betragen  werden.  Wie  auch 
schon  in  den  untersten  Schichten  der  Atmosphäre  bei 
geringen  Höhendifferenzen  die  Zunahme  der  Strahlungs- 
intensität bemerkbar  wird,  geht  z.  B.  aus  den  Beobachtungen 
in  Magdeburg  hervor.  Im  Mittel  von  20  wolkenlosen 
Tagen  des  Juni  und  Juli  1884  betrug  der  Unterschied 
eines  Schwarzkugelthermometers  und  der  Lufttemperatur 
in  1,5  m  Höhe  über  dem  Erdboden  20,o  ^,  gleichzeitig 
aber  in   31  m   Höhe   auf  dem   Turme   der   Wetterwarte 


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140  Richard  Assmann, 

24,4  ^,  die  Zunahme  also  4,4  ^.  Das  in  demselben  Zeit- 
räume und  31  m  Höhe  am  Schwarzkugelthermomefcer  er- 
reichte Maximum  betrug  56,7  ®,  in  1,5  m  Höhe  52,«  ^ 
der  Unterschied  4,5  ^. 

Da  Beobachtungen  in  größeren  Höhen  aber  noch  so 
gut  wie  ganz  fehlen,  ist  über  den  Gang  der  fntensitats- 
zunahme  mit  der  Höhe  aus  Deutschland  noch  fast  nichts 
bekannt. 

Es  würde  daher  ohne  Zweifel  einer  wichtigen  wissen- 
schaftlichen Frage  ein  großer  Dienst  geleistet  werden 
durch  methodische,  wenn  auch  nur  über  kürzere  Zeit- 
räume ausgedehnte,  auf  wolkenfreie  Tage  beschränkte, 
korrespondierende  Beobachtungen  auf  Berggipfeln  und  am 
Fuße  derselben,  wenn  thunlich  auch  noch  an  mehreren 
dazwischen  liegenden  Punkten. 

Das  Gleiche  gilt  von  Beobachtungen  über  die  nächt- 
liche Ausstrahlung  in  den  Weltenraum.  Auch  hier  fehlen 
so  gut  wie  alle  methodischen  Untersuchungen  nicht  nur 
in  verschiedener  Höhenlage,  sondern  auch  in  demselben 
Niveau.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat  man  begonnen,  dieser 
Frage  etwas  mehr  Beachtung  zuzuwenden,  nachdem  im 
Beobachtungsgebiete  des  früheren  Vereines  für  landwirt- 
schaftliche Wetterkunde  in  Mitteldeutschland  eine  größere 
Anzahl  von  Minimumthermometem  auf  5  cm  hohen  Holz- 
stützen über  dem  Erdboden  in  regelmäßige  Beobachtung 
genommen  worden  ist.  Vom  königlich  preußischen  meteo- 
rologischen Institut  werden  an  einigen  Stationen  diese 
Untersuchungen  jetzt  fortgesetzt. 

Außer  der  unmittelbaren  Ein-  und  Ausstrahlung  der 
Wärme  eignet  sich  noch  femer  die  Ermittelung  des  Betrages 
reflektierter  Wärme  für  die  methodische  Untersuchung.  Alle 
von  direkten  Sonnenstrahlen  getroffenen  Körper  werfen 
denjenigen  Teil  derselben  zurück,  welchen  sie  nicht  ab- 
sorbieren: spiegelnde  und  hellgefärbte  Oberflächen  mehr 
als  stumpfe  und  dunkle.  Die  reflektierte  Wärme  ist 
gleichfalls  als  ein  wichtiger  klimatischer  Faktor  zu  be- 
zeichnen, welcher  der  Untersuchung  noch  dringend  be- 
darf. Zur  Ausführung  derselben  verwendet  man  am  besten 
gewöhnliche  Thermometer,  deren  Gefäße  mit  Lampenruß 


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Klima.  Ul 

überzogen  sind.  Die  Verwendung  der  Insolationsthermo- 
meter verbietet  sich  aus  dem  Grunde,  weil  deren  Glas- 
umhüllung für  reflektierte  sogenannte  dunkle  Wärme- 
strahlen nahezu  undurchgängig  ist.  Exponiert  inan  an  einem 
heiteren,  möglichst  windstillen  Tage  zwei  derartige  Thermo- 
meter in  der  Weise,  daß  man  das  eine  allein  der  Sonnen- 
strahlung, das  andere  aber  dieser  und  der  von  einer  weißen 
Wand  reflektierten  Strahlung  in  einigen  Metern  Entfernung 
aussetzt,  so  erhält  man  an  dem  letzteren  Instrument  nicht 
unbeträchtlich  höhere  Temperaturen  als  an  dem  ersteren, 
welches  man  durch  einen  dazwischen  gesetzten  Schirm 
vor  der  reflektierten  Strahlung  schützt.  Frankland  fand 
z.  B.  in  Pontresina  unter  diesen  Verhältnissen  einen  Unter- 
schied von  10^.  Von  großem  Einfluß  ist  femer  die  von 
einer  Wasseroberfläche  reflektierte  Strahlung,  welche  be- 
sonders den  nach  Süden  offenen  Abhängen  am  Nordrande 
von  Wasserbecken  erhebliche  thermische  Begünstigungen 
zu  teil  werden  läßt.  Beobachtet  man  gleichzeitig  noch 
die  wahre  Lufttemperatur,  so  erhält  man  einen  Ausdruck 
für  den  Betrag  dieser  Wärmereflexion  in  Bezug  auf  erstere. 
Eine  Schneeoberfläche  im  Winter,  ja  auch  die  Wolken- 
oberfläche wirken  in  derselben  Weise  auf  ihre  der  re- 
flektierten Strahlung  ausgesetzte  Umgebung  günstig  ein. 

Von  welcher  Wichtigkeit  aber  Untersuchungen  der 
strahlenden  Wärme  in  klimatischer  Beziehung  sind,  er- 
hellt aus  folgendem.  Das  gesamte  organische  Leben  auf 
der  Erdoberfläche  wird  von  der  direkten  Sonnenstrahlung 
fast  in  größerem  Maße  beeinflußt  als  von  der  Lufttempe- 
ratur; die  Bewohnbarkeit,  die  Vegetationsverhältnisse  und 
das  Tierleben  der  Gebirge  sind  von  derselben  ohne  Zweifel 
außerordentlich  abhängig.  Wie  wir  bei  der  Betrachtung 
der  Bodentemperatur  sehen  werden,  ist  die  Auslage  (Ex- 
position) des  Erdbodens  gegenüber  der  Sonnenstrahlung 
von  prinzipieller  Bedeutung  für  dessen  Temperatur. 

In  erster  Linie  aber  zieht  die  Heilkunde  Vorteil  aus 
der  Zunahme  der  Strahlungsintensität  mit  der  Höhe,  in- 
dem durch  letztere  die  Möglichkeit  geschaffen  wird,  Kranke 
selbst  in  bedeutenden  Höhen  auch  bei  niedrigen  Luft- 
temperaturen   während    des  Winters    der  Vorzüge    einer 


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142  Richard  Assmann, 

reinen  und  heilsamen  Gebirgsluft  teilhaftig  werden  zu 
lassen.  In  windstillen  sonnigen  Hochthälem  sinkt  in  der 
That  die  Lufttemperatur  gegenüber  der  Strahlungswärme 
zu  einem  klimatischen  Faktor  untergeordneter  Bedeutung 
herab,  indem  der  Kranke  während  der  Nacht  und  bei 
fehlendem  Sonnenschein  im  Hause  verweilt,  sonst  aber 
trotz  —  10^  Lufttemperatur  mit  Vorteil  für  seine  Gesund- 
heit im  Freien  verweilen  kann. 

Ebenso  wirkt  hier  die  Erhöhung  der  Temperatur 
durch  die  reflektierte  Strahlung  in  demselben  Sinne.  „Da 
das  Gefühl  der  Wärme  und  der  Annehmlichkeit  beim 
Aufenthalt  in  freier  Luft  von  dem  Gesamteffekt  der  direk- 
ten und  reflektierten  Strahlung  abhängt,''  sagt  Hann  in 
seinem  Handbuch  der  Klimatologie  S.  31,  „so  ergiebt  sich 
daraus  der  beträchtliche  Einfluß  der  Umgebung  eines 
Wohnortes  auf  das,  was  man  die  , klimatische  Temperatur' 
nennen  könnte.** 

Deshalb  sollten  die  Beobachtungen  der  Strahlungs- 
wärme in  allen  klimatischen  Kurorten  geradezu  in  erster 
Linie  stehen. 

Es  bedarf  keiner  besonderen  Begründung,  um  ein- 
zusehen, daß  die  Land-  und  Forstwirtschaft,  der  Weinbau 
und  die  Gärtnerei  von  der  direkten  und  der  reflektierten 
Wärmestrahlung,  ebenso  aber  auch  von  der  nächtlichen 
Ausstrahlung  in  hohem  Maße  abhängig  sind,  so  daß  eine 
methodische  Untersuchung  derselben  für  diese  Gewerbe 
von  erheblichem  Interesse  sein  müßte. 

Es  kann  nicht  der  Zweck  dieser  Arbeit  sein,  An- 
leitungen für  solche  kompliziertere  Untersuchungsmetho- 
den zu  geben,  welche,  wie  die  Erforschung  der  chemischen 
Strahlungsenergie  oder  die  Beobachtung  der  diffusen 
Wärmestrahlung  der  Atmosphäre,  in  wünschenswerter 
Genauigkeit  nur  von  größeren  Zentralinstituten  oder  Fach- 
männern in  Angriff  genommen  werden  können.  Vielmehr 
erscheint  es  uns  als  unsere  Aufgabe,  überall  nur  das  ohne 
besondere  instrumenteile  Schwierigkeiten  Erreichbare  zur 
Inangriffnahme  zu  empfehlen. 

Auch  der  Tourist  kann  mittelst  eines  (neuerdings  für 
Reisezwecke  handlich  konstruierten)  Schwarzkugelthermo- 


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Klima.  143 

meters,  eines  oder  einiger  Minimumthermomefcer  und  eines 
Aspirationsthermometers  auf  dem  Gebiete  der  Strahlungs- 
forschung manches  wertvolle  Ergebnis  erzielen.  Vereini- 
gen sich  aber  mehrere  Touristen  zu  gemeinsamer  ziel- 
bewußter Beobachtung  mit  gleichen  oder  doch  verglichenen 
Instrumenten,  so  läßt  sich  durch  gleichzeitige  Vornahme 
derselben  an  verschiedenen  zweckentsprechend  ausgewähl- 
ten Orten  manche  noch  nicht  genügend  gestützte  An- 
schauung erhärten  oder  modifizieren. 

2.  Lufttemperatur. 

Während  wir  die  bisher  vernachlässigten  Beobach- 
tungen der  Strahlungstemperaturen  als  ein  verdienst- 
liches Werk  empfehlen  konnten,  müssen  wir  in  Bezug 
auf  die  Lufttemperatur  feststellen,  daß  kein  anderer 
klimatischer  Faktor  einer  auch  nur  ähnlich  sorgfältigen 
und  regelmäßigen  Untersuchung  von  einem  Heere  wohl- 
geschulter Beobachter  unterzogen  wird  als  diese.  Alle 
meteorologischen  Stationen  II.  und  III.  Ordnung  in  Deutsch- 
land beobachten  mindestens  dreimal  täglich  an  festen 
Terminen,  welche  entweder  auf  7  Uhr  morgens,  2  Uhr 
mittags  und  9  Uhr  abends  oder  auf  8,  2,  8  fallen,  die 
Lufttemperatur  unter  allen  Vorsichtsmaßregeln,  welche 
die  Wissenschaft  für  nötig  hält.  Eine  Anleitung  zur 
Beobachtung  derselben  könnte  daher  als  der  überflüssigste 
Teil  unseres  ganzen  Aufsatzes  erscheinen.  Und  dennoch 
thut  vielleicht  in  keinem  Teile  der  Klimatologie  eine  Re- 
form so  sehr  not  wie  gerade  in  dem  der  Lufttemperatur- 
beobachtung. 

Zum  Beweise  dieser  Behauptung  ist  es  nötig,  etwas 
weiter  auszuholen. 

Wir  verstehen  unter  der  Lufttemperatur  diejenige 
Temperatur,  welche  ein  allein  von  seinen  natürlichen 
Verhältnissen  abhängiges  Luftquantura  an  beliebiger  Stelle 
der  Atmosphäre  wirklich  besitzt.  Als  die  natürlichen 
Verhältnisse  desselben  haben  wir  aber  erstens  die  Wärme- 
absorption der  freien  Atmosphäre  unter  dem  Einflüsse  der 
Sonnenstrahlung  zu  verstehen,  mag  die  letztere  das  zu 
untersuchende  Luftquantum   selbst   treffen  oder,   bei  be- 


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144  Richard  Assmann, 

wölktem  Himmel,  auf  dasselbe  nur  als  diflFiise  Wärme- 
strahlung wirken;  zweitens  gehört  hierzu  die  natürliche 
Wärmeausstrahlung  der  Atmosphäre  und  drittens  der 
thermische  Effekt,  welcher  von  dem  durch  direkte  oder 
diffuse  Bestrahlung  erwärmten  Erdboden  in  Verbindung 
mit  der  Ausstrahlung  auf  dem  Wege  der  Zuführung 
auf  das  fragliche  Luftquantum  ausgeübt  wird.  Mit  an- 
deren Worten:  Herrscht  zur  Zeit  unserer  Untersuchung 
Sonnenschein,  so  wollen  wir  die  Temperatur  eines  sonnen- 
durchstrahlten und  vom  besonnten  Erdboden  aus  er- 
wärmten* Luftteiles  ermitteln ;  ist  die  direkte  Bestrahlung 
durch  Bewölkung  ausgeschlossen,  so  wollen  wir  wissen, 
welche  Temperatur  ein  allein  durch  diffuse  Strahlung  und 
von  der  nicht  besonnten  Erdoberfläche  aus  erwärmtes 
Luftquantum  angenommen  hat,  während  in  beiden  Fällen 
die  Wärmeausstrahlung  der  Luft  und  des  Erdbodens  den 
augenblicklich  herrschenden  Bedingungen  entsprechend  in 
Thätigkeit  ist. 

Wird  nun  aber  in  der  That  diese  wahre  Lufttempe- 
ratur durch  die  gebräuchlichen  Methoden  der  Thermo- 
meteraufstellungen gemessen?  Es  ist  unmöglich,  diese 
Frage  anders  als  mit  „Nein"  zu  beantworten. 

Die  erste  Bedingung  für  eine  „normale"  Thermo- 
meteraufstellung ist  Ausschluß  aller  direkten  und  reflek- 
tierten Strahlung  von  den  Thermometern,  und  dieselbe 
ist  auch  in  der  That  bei  der  Verwendung  von  Körpern, 
welche  sich  gegen  Ein-  und  Ausstrahlung  anders  ver- 
halten als  die  atmosphärische  Luft,  unerläßlich.  Würde 
man  bei  völlig  ruhender  Luft  ein  Quecksilber-  und  ein 
Weingeistthermometer  nebeneinander  der  direkten  Sonnen- 
strahlung, reflektierter  Wärme  und  Ausstrahlung  aus- 
setzen, so  würden  dieselben  sich  nicht  nur  in  ihren  An- 
gaben von  der  wirklichen  Temperatur  der  nächst  benach- 
barten Luft  ganz  erheblich  unterscheiden,  sondern  auch 
voneinander  beträchtlich  differieren,  da  außer  der  Dicke 
und  Art  der  Glasumhüllung  noch  die  verschiedene  Ab- 
sorptionsfähigkeit von  Quecksilber  und  Weingeist,  femer 
auch  die  Farbe  des  letzteren,  ihre  Leitungsfähigkeit  und 
ihr  Wärmeemissionsvermögen  in  Frage  kommen. 


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Klima.  145 

Man  muß  deshalb  die  Instrumente  entweder  in  ein 
Oehäuse  einschließen,  oder  doch  in  den  Schatten  eines 
Hauses  oder  einer  Wand  bringen. 

Im  ersteren  Falle  wird  das  Gehäuse  den  ganzen 
Strahlungseffekt  auffangen  und  hierdurch,  seinen  eigen- 
tümlichen Bedingungen  entsprechend,  selbst  erwärmt 
werden.  Die  Wände  desselben  werden  aber  nicht  nur  nach 
außen,  sondern  auch  nach  innen  gegen  das  Thermometer 
hin  einen  Teil  ihrer  Wärme  durch  Strahlung  verlieren, 
daher  ihrerseits,  wenn  auch  in  geringerem  Maße,  die  An- 
gaben des  Thermometers  von  den  der  wahren  Lufttempe- 
ratur entsprechenden  entfernen.  Befindet  sich  dann  aber 
die  in  dem  Oehäuse  eingeschlossene  Luft  noch  unter  den 
normalen  Bedingungen  der  freien  Atmosphäre?  Zwar 
wird  bei  bewegter  Luft  die  „ normal"  erwärmte  Luft  der 
näheren  Umgebung  auch  in  und  durch  das  Gehäuse  treten 
und  das  Thermometergefäß  umspülen,  aber  nicht  ohne 
beim  Vorbeistreichen  an  den  höher  erwärmten  Gehäuse- 
wänden ihre  eigene  Temperatur  zu  erhöhen.  Und  bei 
windstillem  Wetter  fällt  auch  diese  Luftzufuhr  aus  der 
Nachbarschaft  ganz  oder  fast  ganz  fort! 

Man  hat  deshalb  wohl  oder  übel  zu  einer  weiteren 
Beschützung  auch  des  Gehäuses  gegen  Strahlung  schreiten 
müssen,  indem  man  dasselbe  in  den  Schatten  einer  höl- 
zernen, möglichst  luftdurchlässigen  Hülle  oder  in  den 
eines  Hauses  brachte.  Durch  den  ersteren  Ausweg  wird 
nun  allerdings  der  Strahlungseinfiuß,  wie  sorgfältige  Un- 
tersuchungen gezeigt  haben,  unter  mittleren  Verhältnissen 
fast  ganz  aufgehoben,  dafür  aber  die  Gefahr  der  Wärme- 
zufuhr von  der  Umhüllung  wegen  deren  großer  Masse 
vergrößert  oder,  will  man  diese  Zufuhr  erschweren,  die 
Luftemeuerung  in  dem  Gehäuse  erheblich  verringert. 

Im  Schatten  eines  Hauses  aber  treten  die  eigenartigen 
thermischen  Verhältnisse  des  Hauses  selbst,  seine  Träg- 
heit gegenüber  dem  Wechsel  der  Besonnungs-  und  Aus- 
strahlungswirkung, femer  noch  die  von  den  normalen 
Bedingungen  abweichenden  Temperaturen  des  dauernd  im 
Schatten  befindlichen  Erdbodens  in  Wirkung,   abgesehen 

Anleitung  zur  dentochen  Landet-  und  Volksforschung.  \Q 


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146  Richard  Assmann, 

von  der  auch  unter  diesen  Verhältnissen  nicht  unbeträcht- 
lichen Verminderung  der  Luftemeuerung. 

Bringt  man  aber  ein  ungeschütztes  Thermometer  in 
den  Schatten  eines  Hauses,  so  ist  es  mindestens  der  reflek- 
tierten Strahlung  der  Umgebung,  besonders  aber  in  noch 
höherem  Grade  der  Ausstrahlung  des  unbesonnten  Erd- 
bodens ausgesetzt.  Von  welchem  Einflüsse  aber  letztere 
Thatsache  werden  kann,  ersieht  man  aus  der  überall  an- 
zustellenden Beobachtung,  daß  im  Winter  nach  Eintritt 
von  Tauwetter  oder  am  Ende  des  Winters  im  Schatten 
eines  größeren  Hauses  der  Schnee  noch  wochenlang  länger 
liegen  oder  der  Erdboden  gefroren  bleibt  als  überall  dort, 
wo  die  Sonnenwärme  ihre  Wirkung  entfalten  könnt«. 
Wir  messen  also  in  diesem  Falle  die  Lufttemperatur  eines 
unter  völlig  abnormen  Bedingungen  befindlichen  Ortes, 
nicht  die  wahre  Temperatur  der  freien  Atmosphäre. 
Außerdem  ist  das  Instrument  aber  noch  der  Benetzung 
durch  Niederschläge  ausgesetzt. 

Eine  bessere  Methode,  zugleich  die  für  Reisebeob- 
achtungen bisher  einzig  verwendbare,  ist  durch  Benutzung 
des  Schleuderthermometers  gegeben,  welches  entweder 
unter  völlig  normalen  Bedingungen  der  Ein-  und  Aus- 
strahlung frei  ausgesetzt,  oder  in  dem  Schatten  eines 
Körpers  von  geringer  Masse  und  Dimension  an  einer  0,4 
bis  0,5  m  langen  Schnur  schnell  im  Kreise  herumge- 
schwungen wird.  Zwar  erhöht  auch  hier  die  Sonnen- 
strahlung und  reflektierte  Strahlung  den  Stand  des  Queck- 
silbers, aber  der  Wärmeverlust  desselben  wird  durch  die 
fortwährende  Berührung  mit  normal  temperierten  Luft- 
massen so  groß,  daß  die  Abweichung  von  der  wahren 
Lufttemperatur  nur  Zehntelgrade  beträgt.  Der  Verwen- 
dung des  Schleuderthermometers  im  Schatten  steht  aber 
der  nicht  zu  vernachlässigende  Umstand  entgegen,  daß 
durch  Beschattung  der  zu  untersuchenden  Luft  und  des 
Erdbodens  Bedingungen  geschafien  werden,  welche  von 
den  normalen  abweichen,  so  daß  das  Thermometer  unter 
deren  Einfluß  ebensoviel  zu  niedrig  stehen  wird,  wie  es 
im  Sonnenschein  zu  hoch  ist.  Die  Benetzung  desselben 
durch  Niederschläge  ist  nur  durch  die  umständliche  und 


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Klima.  147 

unsichere  Verwendung  eines  Regenschirmes  zu  ver- 
hindern. 

Auch  die  in  neuerer  Zeit  von  A.  Hazen  angegebene 
Modifikation  des  Schleuderthermometers,  welche  aus  der 
gleichzeitigen  Bewegung  zweier  Thermometer  mit  ver- 
schiedenen Strahlungskoeffizienten  —  Ruß  und  poliertem 
Golde  —  besteht,  ist  nach  Wilds  Untersuchungen  nicht 
als  einwurfsfrei  anzusehen. 

Wenn  auch  zuzugeben  ist,  daß  die  bei  den  obigen 
Beobachtungsmethoden  sich  ergebenden  Fehler  aus  länge- 
ren Reihen  in  den  Mitteln  zum  großen  Teile  wieder  zu 
verschwinden  pflegen,  da  die  Fehler  unter  dem  wechseln- 
den üeberwiegen  von  Einstrahlung  und  Ausstrahlung  meist 
nach  entgegengesetzten  Richtungen  hin  verlaufen,  so  ist 
doch  das  Verlangen  nach  der  Korrektheit  auch  der  Einzel- 
beobachtung ein  zu  berechtigtes,  um  nicht  nach  einer 
Methode  zu  suchen,  welche  dieses  zu  erfüllen  im- 
stande ist. 

Selbst  auf  die  Gefahr  des  Vorwurfes  hin,  mit  dem 
folgenden  pro  domo  zu  sprechen,  kann  es  der  Verfasser 
nicht  unterlassen,  an  dieser  Stelle  der  Verwendung  des 
von  ihm  in  neuester  Zeit  konstruierten  Aspiration sthermo- 
meters  das  Wort  zu  reden.  Die  zahlreichen  mit  diesem 
Apparat  vorgenommenen  Untersuchungen  anerkannter 
Fachmänner  haben  den  Beweis  geliefert,  daß  dasselbe, 
unter  den  oben  als  „normal"  gekennzeichneten  Bedingun- 
gen, also  in  freier  Atmosphäre  exponiert,  Angaben  liefert, 
welche  der  „wahren**  Lufttemperatur  näher  kommen  als 
irgend  eine  andere  Methode.  Als  Beweis  hierfür  ist 
die  Thatsache  anzusehen,  daß  dasselbe  seinen  Stand  nicht 
um  ein  Zehntel  eines  Grades  ändert,  wenn  es  abwechselnd 
besonnt  oder  mit  einem  kleinen  Körper  von  ganz  geringer 
Masse  aus  einer  solchen  Entfernung  beschattet  wird,  daß 
ein  thermischer  Einfluß  des  Körpers  selbst  völlig  aus- 
geschlossen ist.  Wählt  man  den  schattengebenden  Körper 
möglichst  klein,  z.  B.  nur  handgroß,  so  ist  auch  dessen 
Einfluß  auf  die  Wärmeabsorption  der  beschatteten  Luft- 
menge und  des  Erdbodens  gleich  Null,  da  die  im  Freien 
stets   vorhandene  Bewegung   der  Luft   ein   abweichendes 


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148  Richard  Assmann, 

thermisches  Verhalten  dieser  minimalen  Luftmenge  gegen* 
über  der  Umgebung  sicher  verhindert. 

Der  Apparat,  am  17.  November  1887  durch  Herrn 
Professor  vonBezold,  Direktor  des  königlich  preußischen 
meteorologischen  Instituts,  der  königlichen  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  vorgelegt,  ist  beschrieben  in 
den  Sitzungsberichten  derselben  Akademie,  ausführlicher 
in  der  meteorologischen  Monatsschrift  «Das  Wetter"  (1887 
Heft  12  und  1888  Heft  1,  Verlag  von  Salle  in  Braun- 
schweig). Derselbe  beruht,  ähnlich  dem  Schleuderthermo- 
meter, auf  dem  Prinzip  der  massenhaften  und  ununter- 
brochenen Luftzuführung  unter  Bedingungen,  welche  von 
denen  der  freien  Atmosphäre  möglichst  wenig  abweichen. 
Ein  Quecksilberthermometer  mit  möglichst  kleinem  zylin- 
drischen Gefäße  ist  in  eine  vernickelte,  durch  Hochpolitur 
vollkommen  spiegelnde,  dünnwandige  Messingröhre  von 
geringer  Masse  eingeschlossen,  welche,  nach  unten  völlig 
offen,  einen  durch  einen  einfachen  Saugebalgaspirator  er- 
zeugten kräftigen  Luftstroin  an  dem  Thermometergefaße 
kontinuierlich  vorüberführt  (Fig.  2,  3  u,  4).  Da  diese  Luft 
ß,us  der  freien  Atmosphäre  unmittelbar  unter  der  Oefinung 
des  Hüllrohrs  durch  Aspiration  entnommen  wird,  das  Hüll- 
rohr selbst  infolge  seiner  spiegelnden  Oberfläche  einen 
Teil  der  auffallenden  Strahlung,  direkter  und  reflektierter, 
zurückwirft,  also  selbst  nur  sehr  wenig  erwärmt  wird, 
kommt  die  eintretende  Luft  allein  mit  der  inneren  Ober- 
fläche des  nur  wenige  Centimeter  langen,  1  cm  im  Durch- 
messer haltenden  unteren  Stückes  des  Hüllrohres  vor  ihrem 
Herantritt  an  das  Thermometergefäß  auf  sehr  kurze  Zeit 
(etwa  0,0  5  Sekunde)  in  Berührung,  vermag  aber  dort  wegen 
der  geringfügigen  Temperaturdifferenz  und  ihrer  fort- 
währenden schnellen  Erneuerung  nicht,  Wärme  von  dem 
Betrage  aufzunehmen,  um  einen  Einfluß  von  0,i  ^  auf 
das  Thermometer  auszuüben. 

Der  Apparat  ist  durch  zwei  nebeneinander  gestellte, 
je  mit  besonderer  Umhüllung  versehene,  aber  von  dem- 
selben Aspirator  versorgte  Thermometer,  dessen  eines 
durch  Musselinumwickelung  seines  Gefäßes  zu  einem 
»feuchten*  umgewandelt  wird,   als  Aspirationspsychro- 


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Klima. 


149 


meter  in  einer  sehr  handlichen,  für  Reisen  durchaus  be- 
quemen Form  hergerichtet  worden.  Eine  feste  Leder- 
tasche birgt  außer  demselben  noch  den  zusammengelegten, 
nur  25  cm  langen,  15  cm  breiten  und  5  cm  hohen  Sauge- 
balg nebst  Gummischlauch.  Zur  Beobachtimg  wird  der 
Thermometerapparat    an   einen   Stock   oder   vorstehenden 


Flg.  3. 


Fi*?.  2. 


u 


II 


Flg.  4. 


r 


i'i 


JV 


Baumzweig  von  möglichst  geringer  Masse  in  Augenhöhe, 
oder  jeder  beliebigen  anderen,  angehängt,  der  Gurami- 
schlauch  mittelst  eines  eingeschliffenen  Mundstückes  ein- 
gesetzt, der  Saugebalg,  ohne  aus  der  umgehängten  Tasche 
genommen  zu  werden,  geöffnet  und  durch  leichten  Druck 
mit  der  Hand  komprimiert;  eine  Spiralfeder  im  Innern 
desselben  bewirkt  dann  selbstthätig  dessen  Expansion  und 


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150  Richard  Assmann, 

leitet  die  Aspiration  der  Luft  durch  den  Apparat  ein  *). 
Zur  Beobachtung  während  des  Regens  oder  Schneefalles 
erhält  das  Instrument  noch  einen  ebenfalls  spiegelnden 
„Mantel",  wie  Fig.  4  zeigt. 

Die  erheblichen  Vorzüge  des  Apparates  sowohl  ftlr 
die  fortgesetzte,  als  auch  für  die  gelegentliche  Reise- 
beobachtung liegen  auf  der  Hand.  Derselbe  ist  von  der 
Strahlung  in  jeder  Form  ebenso  unabhängig  wie  von  der 
Benetzung  durch  Niederschläge,  ist  daher  überall  und 
unter  allen  Verhältnissen  ohne  weiteres  zur  Ermittelung 
richtiger  Werte  der  Lufttemperatur  (und  Luftfeuchtigkeit), 
wie  wir  später  sehen  werden,  verwendbar.  Zugleich  ist 
seine  Empfindlichkeit  um  das  vier-  bis  fünffache  gegen- 
über dem  gewöhnlichen  Thermometer  erhöht,  so  daß  er 
imstande  ist,  selbst  den  kürzesten  Temperatursprüngen 
zu  folgen.  Hieraus  folgt  auch  sein  hoher  Wert  für  die 
Temperaturbeobachtungen  im  Luftballon. 

Die  über  den  Rahmen  vorliegender  Anleitimg  etwas 
hinausgehende  Ausführlichkeit  obiger  Erörterungen  über 
die  Methoden,  die  Temperatur  der  Luft  zu  messen,  er- 
schien uns  doch  unerläßlich,  um  zu  zeigen,  dass  der 
heutige  Standpunkt  der  diesbezüglichen  Beobachtungen 
die  Anstellung  exakter  Messungen  noch  nicht  als  über- 
flüssig erscheinen  lasse.  Wir  geben  daher  im  folgenden 
einige  Anleitungen  zur  Ausführung  wichtiger  Unter- 
suchungen auf  diesem  Gebiete, 

Ueberall,  wo  es  sich  um  die  Anstellung  regelmäßiger 
Beobachtungen  über  einen  längeren  Zeitraum  hin  handelt, 
sei  man  vor  allen  Dingen  bestrebt,  die  in  der  betreflfenden 
Gegend  offiziell  üblichen  Beobachtungszeiten  innezuhalten. 
Im  Königreiche  Preußen  und  den  in  meteorologischer 
Beziehung  angeschlossenen  Nachbarstaaten  Mecklenburg, 


')  Es  darf  nicht  unterlassen  werden,  darauf  hinzuweisen,  daß 
die  zu  erlangenden  Ergebnisse  nicht  unwesentlich  von  der  Kon- 
struktion und  den  zur  Verwendung  gelangenden  Maßen  abhängig 
sind.  Der  Autor  erklärt  daher  ausdrücklich,  daß  er  eine  Verant- 
wortlichkeit für  derartige  Apparate  nicht  übernimmt,  welche  nicht 
probemäßig  in  der  Werkstatt  von  R.  Fueß  in  Berlin  SW,  Alte 
Jakobstraße  108,  angefertigt  worden  sind. 


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Klima.  151 

Oldenburg,  Braunschweig,  Anhalt,  den  thüringischen 
Staaten  und  Hessen  sind  die  Beobachtungstermine  7  Uhr 
morgens,  2  Uhr  mittags  und  9  Uhr  abends,  ebenso  in 
Oesterreich,  Württemberg  und  Baden.  An  den  Stationen 
der  deutschen  Seewarte,  in  den  Königreichen  Sachsen  und 
Bayern  wird  um  8,  2,  8  Uhr  beobachtet.  Man  gewinnt 
durch  diese  Angliederung  den  großen  Vorteil  der  korre- 
spondierenden Beobachtungen  und  vermag  hierdurch  das 
Wesentliche  der  ermittelten  Ergebnisse  erst  voll  zu  er- 
kennen und  die  besonderen  Eigentümlichkeiten  des  eigenen 
Beobachtungsortes  zu  ermitteln. 

Will  man  aus  diesen  regelmäßigen  Beobachtungen, 
wie  üblich,  die  mittlere  Tagestemperatur  ableiten,  so  ver- 
fahre man  für  die  Termine  7*,  2p,  9p  nach  der  Formel 

7*  -J-  2p  -I-  9P  -4-  9p 

— -^ -^ — — ;  für  8»,  2P,  8p  muß  man  eine  Tren- 
nung in  Sommer  und  Winter  vornehmen  und  für  ersteren  noch 
die  Angaben  von  Extremthermometern  heranziehen.  Für 
die  Zeit  von  Mai  bis  einschließlich  September  verwendet  man 
die  Fomel   V»  (8^  +  8^)  +  V>  (Max.  +  Mi..)  ^  ^  ^^_ 

tober  bis  einschließlich  April  aber  folgende: 

^2   (8^  +  8p)  4-  ^'a  (8^  +  2P  +  8p) 

2 

Ist   man   nur  in  der  Lage,   das  Maximum-  und  das 

Minimumthermometer,    welche    abends   9   Uhr   abgelesen 

werden   sollen,   zu  beobachten,   so   erhält  man  auch  aus- 

diesen   mittelst    der    Formel    —^ '   ein   leidliches 

Tagesmittel. 

Handelt  es  sich  aber  nicht  um  die  methodische  fort- 
gesetzte Beobachtung  für  längere  Zeit,  sondern  wird  nur 
beabsichtigt,  etwa  während  einiger  Wochen  an  einem 
klimatisch  interessanten  Punkte  Ermittelungen  über  die 
Temperaturverhältnisse  anzustellen,  oder  auf  einer  Ge- 
birgsreise  speziellere  Aufgaben  dieser  Art  zu  lösen,  so 
wird  man  andere  Gesichtspunkte  ins  Auge  fassen  müssen. 

Als   Objekt   besonderer  Untersuchungen   im  Gebiete 


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152  Richard  Assmann, 

der  Lufttemperatur  kommt  zunächst  in  Frage  die  verti- 
kale Verteilung  der  Temperatur  unter  verschiedenen  Ver- 
hältnissen. Bekanntlich  nimmt  unter  gewöhnlichen  Be- 
dingungen die  Lufttemperatur  mit  der  Höhe  ab  und  zwar 
durchschnittlich  im  Winter  um  0,45  ® ,  im  Frühling  um 
0,67®,  im  Sommer  um  0,7o®,  im  Herbst  um  0,53",  im 
ganzen  Jahre  um  0,59®  C,  oder,  anders  ausgedrückt,  man 
muß  im  Winter  222,  im  Frühling  149,  im  Sommer  143, 
im  Herbst  188,  im  Jahresmittel  um  170  m  in  die  Höhe 
steigen,  ^um  die  Lufttemperatur  um  1®  sinken  zu  sehen. 
Dieses  im  allgemeinen  gültige  Gesetz  erleidet  nun  aber 
örtlich  und  unter  besonderen  Bedingungen  nicht  un- 
beträchtliche Ausnahmen.  Von  örtlichen  Abweichungen 
ist  der  Unterschied  der  Temperaturabnahme  an  der  dem 
vorherrschenden  Winde  zugekehrten  (Luv-)  und  der  ab- 
gewendeten (Lee-)  Seite  eines  Gebirges  zu  nennen;  auf 
ersterer  erreicht  sie  gewöhnlich  einen  kleineren  Wert,  als 
auf  der  letzteren.  Ferner  zeigt  sich  dieselbe  größer  auf 
Berggipfeln  und  deren  Abhängen  als  auf  größeren  Massen- 
erhebungen oder  Plateaus.  Bei  windstillem  und  klarem 
Wetter  dagegen  findet  nicht  selten  im  Winter  statt  einer 
Abnahme  mit  der  Höhe  eine  Zunahme  der  Temperatur 
statt.  Diese  Erscheinung  beruht  auf  dem  Vorgange,  daß 
der  Erdboden  der  Niederungen  oder  Thäler  wegen  früheren 
Auf  hörens  der  Besonnung  schon  eher  durch  Ausstrahlung 
erkaltet  als  der  noch  besonnter  Höhen.  Die  hierdurch 
eintretende  Verdichtung  der  Niederungsluft  bewirkt  aber 
eine  Erniedrigung  der  Flächen  gleichen  Luftdruckes  über 
den  Thälern  und  hierdurch  die  Entstehung  eines  Gefälles 
von  den  Abhängen  nach  dem  Thale  zu.  Diesem  Gefälle 
folgend  fließt  nun  die  an  den  Bergabhängen  durch  Aus- 
strahlung erkaltete  Luft  abwärts  und  sammelt  sich  über 
der  Niederung  in  Gestalt  eines  Sees  kalter  Luft  an, 
während  die  Höhenluft  wegen  des  späteren  Ausstrahlungs- 
beginnes sowohl,  als  auch  besonders  wegen  der  nach  oben 
abnehmenden  Größe  der  ausstrahlenden  Oberfläche  weniger 
an  Wärme  verliert.  Der  Gipfel  eines  Berges  wird  dem- 
nach am  wenigsten  erkalten,  da  seine  Bodenfläche  die 
kleinstmögliche   ist;    die    von   ihm   thalwärts  abfließende 


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Klima.  153 

Luft  kommt  bei  diesem  Wege  mit  fortgesetzt  an  Größe 
zunehmenden  Flächen  in  Berührung,  wird  also  durch 
deren  wachsenden  Ausstrahlungsbetrag  mehr  und  mehr 
abgekühlt. 

Dieser  in  Gebirgsländem  in  ruhigen  Nächten  zu 
allen  Jahreszeiten  zu  beobachtende  Vorgang,  welchem, 
wie  wir  unter  dem  Kapitel  „Wind"  sehen  werden,  der 
nächtliche  „ Bergwind '^  seine  Entstehung  verdankt,  wird 
im  Winter  nicht  selten  so  bedeutend  verstärkt,  daß  ganz 
beträchtliche  Temperaturunterschiede  zwischen  Gipfel  und 
Thal  eintreten,  welche  auch  in  den  Gebirgen  des  außer- 
alpinen Deutschlands  gelegentlich  20®  und  mehr  erreichen 
und  überschreiten  können.  So  wurde  z.  B.  am  21.  Januar 
1885  auf  dem  916  m  hohen  Inselberge  im  Thüringer- 
walde eine  Minimaltemperatur  von  —  5,5  ®,  in  Erfurt  aber, 
in  196  m  Höhe,  gleichzeitig  eine  solche  von  — 23,3® 
beobachtet ,  so  daß  die  um  720  m  höhere  Station  um 
17,8®  wärmer  war  als  die  untere.  Derartige  Erschei- 
nungen finden  sich  in  jedem  Winter  wiederholt  in  unseren 
Gebirgen.  Zur  vollen  Ausbildung  derselben  ist  die  Nähe 
eines  barometrischen  Maximums  mit  seiner  charakteristi- 
schen Eigenschaft  eines  niedersinkenden,  trockenen  Luft- 
stroms erforderlich,  begünstigt  durch  das  Vorhandensein 
einer  weit  ausgebreiteten  Schneedecke.  In  den  untersten 
Luftschichten  ist  diese  Temperaturzunahme  mit  der  Höhe 
am  beträchtlichsten. 

Die  Erhebung  über  das  Meeresniveau  spielt  bei  dem 
Zustandekommen  dieser  Erscheinung  keine  Rolle,  denn 
dieselbe  tritt  in  jedem  günstig  gestalteten  Hochthal  in 
derselben  Weise  auf.  So  betrug  in  dem  genannten  Bei- 
spiele das  Temperaturminimum  in  dem  nur  100  m  tiefer 
in  einer  Hochmulde  nahe  dem  Kamme  des  Gebirges  ge- 
legenen Oberhof  (808  m)  —  8,o  ®,  war  also  um  2,5  ®  nied- 
riger als  auf  dem  Inselberge. 

Im  Zusammenhang  mit  dieser  Erscheinung  findet  sich 
zuweilen  Gelegenheit,  äußerst  schnelle  Temperaturver- 
änderungen (auch  solche  der  relativen  Feuchtigkeit,  s. 
unten)  auf  Bergen  zu  beobachten,  welche  darin  ihre  Er- 
klärung finden,   daß   ein  gegen  das  Gebirge  anwehender 


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154  Richard  Assiuann, 

Luftstrom  die  eiskalte  Luft  der  Niederung  an  demselben 
in  die  Höhe  schiebt  und  so  den  Gipfel  auf  kürzere  oder 
längere  Zeit  überflutet. 

Der  tägliche  Gang  der  Lufttemperatur  ist  im  Ge- 
birge von  verschiedenen  Umständen  abhängig,  unter 
welchen  die  Auslage  gegenüber  der  Besonnung  und 
den  häufigsten  Winden  und  die  Herrschaft  lokaler  Luft- 
strömungen, der  Tag-  und  Nachtwinde,  besonders  ein- 
flußreich sind.  Im  allgemeinen  nimmt  die  tägliche  Wärme- 
schwankung an  isolierten  Bergen  mit  der  Höhe  nicht 
unbeträchtlich  bis  zu  einer  bestimmten  Grenze  ab,  ebenso 
tritt  das  Maximum  der  Temperatur  früher  ein  als  in  der 
Niederung.  Erstere  Erscheinung  hat  ihren  Grund  in  dem 
größeren  Luftwechsel  und  der  geringeren  Ausdehnung 
der  Gipfelfläche,  welche  die  Einstrahlungs-  und  Aus- 
strahlungseflfekte  vermindert,  während  letztere  auf  der 
zunehmenden  Bewölkung  in  den  ersten  Nachmittagsstunden 
auf  Berggipfeln  beruht. 

Die  Untersuchungen  der  Temperaturunterschiede  zwi- 
schen Wald  und  Feld,  welche,  um  die  Mitwirkung  anderer 
störender  Ursachen  auszuschließen,  in  der  Ebene  anzu- 
stellen sein  würden,  dürften  schwerlich  zu  neuen  Ergebnissen 
führen,  zumal  dieselben  von  einer  Anzahl  forstlich-meteo- 
rologischer Stationen  unter  Beachtung  aller  Vorsichtsmaß- 
regeln fortgesetzt  ausgeführt  werden.  Wir  glauben  daher 
die  Erörterung  derselben  hier  übergehen  zu  können. 

Wohl  aber  dürfte  es  durchaus  der  Mühe  lohnen 
durch  methodische,  für  eine  längere  Zeit  berechnete  sorg- 
fältige Beobachtungen  den  Einfluß  zu  untersuchen,  welchen 
ein  größeres  Wasserbecken  der  Ebene,  ein  größerer  See, 
wie  wir  deren  auch  im  außeralpinen  Deutschland  zahl« 
reiche  besitzen,  auf  die  Temperaturverhältnisse  der  näJieren 
und  weiteren  Umgebung  ausübt. 

Dieses  Objekt  würde  vor  allen  anderen  zur  Errichtung 
eines  „fliegenden  Stationsnetzes**,  auf  einige  Jahre  Dauer 
berechnet,  geeignet  sein,  da  bei  der  Unveränderlichkeit  der 
gegebenen  geographischen  Bedingungen  in  einem  der- 
artigen Zeiträume  schon  alle  überhaupt  zu  erreichenden 
Ergebnisse  erlangt  werden  könnten.     Zu  diesem  Zwecke 


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Klima.  155 

suche  man  rings  um  den  See  herum  und  in  der  Richtung 
des  vorherrschenden  Windes  auch  noch  in  einigen  Kilo- 
metern Entfernung  vor  und  hinter  dem  See  eine  Anzahl 
von  Stationen  zu  errichten,  an  welchen  womöglich  mit 
völlig  gleichartigen,  sorgfältig  verglichenen  Instrumenten 
nach  einheitlicher  Methode  beobachtet  wird.  In  besonders 
wichtigen  Perioden,  z.  B.  denen  der  Spät-  und  Frühfröste, 
würden  zweistündliche,  Tag  und  Nacht  fortgesetzte  Ab- 
lesungen der  Instrumente,  oder  die  Zuhilfenahme  von 
registrierenden  Thermometern  zu  empfehlen  sein.  Zu 
letzterem  Zweck  sind  die  von  Richard  Fr^res  in  Paris 
gelieferten  Thermographen  am  besten  zu  verwenden.  Be- 
sondere Aufmerksamkeit  würde  dann  auch  den  Temperatur- 
verhältnissen zu  widmen  sein,  welche  mit  dem  Zufrieren 
und  Wiederauftauen  des  Wasserbeckens  verknüpft  sind. 
Erhebungen  dieser  Art  fehlen,  wenigstens  in  methodischer 
Ausführung,  im  außeralpinen  Deutschland  noch  fast  voll- 
ständig, daher  denn  hier  ausdrücklich  auf  deren  erwünschte 
Inangriffnahme  hingewiesen  werden  soll. 

Desgleichen  verlohnt  es  sich  durchaus  der  Mühe,  den 
Temperaturunterschied  zwischen  Stadt  und  Land  gelegent- 
lichen längeren  Untersuchungen  zu  unterwerfen.  Die 
meisten  meteorologischen  Stationen  liegen  aus  leicht  be- 
greiflichen Gründen  in  Städten,  liefern  daher  Angaben, 
welche  nicht  den  Verhältnissen  des  betreffenden  Erden- 
ortes, sondern  den  künstlich  modifizierten  der  dort  befind- 
lichen Stadt  entsprechen.  Für  größere  enggebaute  Städte 
kann  aber  der  hieraus  hervorgehende  Fehler  nicht  nur  in 
den  Einzelwerten,  sondern  auch  im  Durchschnitt  längerer 
Zeiträume  eine  nicht  mehr  zu  vernachlässigende  Höhe  er- 
reichen. In  solchen  Fällen  würde  die  zeitweilige  Er- 
richtung einer  zwar  in  der  Nähe,  aber  außerhalb  des 
Wirkungskreises  der  Stadt  liegenden  Kontrollstation  von 
bedeutendem  klimatologischen  Werte  sein,  falls  sich  der 
Beobachter  in  der  Art  der  Aufstellung  der  Instrumente 
und  der  Beobachtung  streng  an  die  Normen  der  Innen- 
station anschließt. 

Beobachtungsreihen  der  beiden  letztgenannten  Arten 
werden    auch    ohne   Zweifel   von   allen   meteorologischen 


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156  Richard  Assmann, 

Zentralinstituten  gern  angenommen  und  im  klimatologischen 
Interesse  verarbeitet  werden.  Es  liegt  außerdem  auf  der 
Hand,  welche  Wichtigkeit  diese  Forschungen  für  alle  vom 
Klima  abhängigen  Gewerbe  der  betreffenden  Gegend  selbst 
haben  müssen. 

3.  Bodentemperatur. 

Beobachtungen  über  die  Bodentemperatur  werden  nur 
an  wenigen  größeren  meteorologischen  Stationen  metho- 
disch angestellt,  verdienen  aber  als  ein  wichtiges  klima- 
tisches Element  eine  größere  Beachtung.  Die  Vegetations- 
verhältnisse in  Gebirgsländem  können  z.  B.  nur  unter 
Zuhilfenahme  derartiger  Beobachtungsergebnisse  richtig 
gedeutet  werden. 

Bei  dem  Kapitel  über  Strahlungswärme  fanden  wir 
schon  als  Ergebnis  den  mächtigen  Einfluß  der  Strahlung 
auf  den  Erdboden.  Der  Winkel,  unter  welchem  der  Erd- 
boden von  den  Sonnenstrahlen  getroffen  wird,  beherrscht 
den  Erwärmungseffekt  im  höchsten  Maße.  Da  die  Luft- 
temperatur zu  einem  großen  Teile  von  der  Erwärmung 
des  Erdbodens  abhängig  ist,  wird  dessen  Temperatur  von 
prinzipieller  Bedeutung  sein  müssen.  Außer  dem  Ein- 
flüsse der  Auslage  ist  aber  auch  die  Wärmeabsorptions- 
fähigkeit des  Erdbodens  von  erheblicher  Wirkung.  So 
wird  sich  dunkelfarbiger,  trockener  Erdboden  beträchtlich 
höher  unter  der  Bestrahlung  erwärmen  als  hellfarbiger 
feuchter  Grund,  zumal  hierbei  noch  ein  nicht  geringer 
Teil  der  zugestrahlten  Wärme  zur  Verdunstung  des  Wassers 
verbraucht  wird. 

Die  Vegetation  befindet  sich  aber  mit  einem  ihrer 
wichtigsten  Teile,  den  Wurzeln,  innerhalb  des  Erdbodens, 
wird  daher  durch  dessen  Temperatur  unmittelbar  beein- 
flußt. Hieraus  erhellt  die  Notwendigkeit,  den  Boden- 
temperaturverhältnissen eine  größere  Aufmerksamkeit  als 
bisher  geschehen  zuzuwenden. 

Die  in  neuerer  Zeit  in  verschiedenen  Gegenden  Mittel- 
deutschlands angestellten  derartigen  Untersuchungen  haben 
zunächst  das  ganz  unerwartete  Ergebnis  zu  Tage  gefordert, 


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Klima.  157 

daß  ein  schwarzerdiger,  trockener  Boden  auch  in  unseren 
Breiten  Temperaturen  von  mehr  als  60^  annimmt;  in  der 
Goldenen  Aue  z.  B.  und  den  schwarzgründigen  Niederungen 
des  Thüringer  Beckens  wurden  wiederholt  65  ^,  in  einzelnen 
Fällen  sogar  67®  an  einem  auf  dem  Boden  liegenden, 
an  seinem  Gefä&e  dünn  mit  IBrde  überdeckten  Maximum- 
thermometer abgelesen.  Daiä  derartige  hohe  Temperaturen, 
welche  man  früher  allein  den  Wüstenklimaten  zuerteilte, 
unerwartet  waren,  ging  aus  dem  Umstände  hervor,  daß 
der  größere  Teil  der  zu  diesem  Zwecke  beschafften,  nur 
bis  60®  ausreichenden  Maximumthermometer  infolge  der 
hierüber  hinausgehenden  Temperaturen  im  ersten  Sommer 
zersprang. 

Obwohl  sich  nicht  verkennen  läßt,  daß  die  zu  ge- 
winnenden Resultate  nur  eine  eng  örtlich  umgrenzte  Be- 
deutung haben  können,  außerdem  von  der  Dicke  der  über 
das  Gefäß  des  Thermometers  ausgebreiteten  Erdschicht  ab- 
hängig sind,  erhellt  doch  deren  Bedeutung  für  die  Kennt- 
nis örtlicher  klimatischer  Erscheinungen  sowohl,  als  auch 
für  diejenigen  Gewerbe,  welcher  der  Erforschung  aller 
ihrer  Bodenverhältnisse  naturgemäß  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden genötigt  sind. 

Aus  der  Thatsache  der  bedeutenden  Wärmeabsorption 
dunkler  Böden  geht  aber  auch  die  Notwendigkeit  stärkeren 
nächtlichen  Wärmeverlustes  derselben  durch  Ausstrahlung 
hervor.  Das  Auftreten  von  Nachtfrösten  wird  daher  in 
solchen  Gegenden  in  hohem  Grade  befördert  erscheinen, 
ein  Ergebnis,  welches  für  die  Vegetationsverhältnisse  von 
einschneidendster  Bedeutung  ist.  Versuche  in  größerem 
Maßstabe,  welche  in  schwarzerdigen  Niederungen  Nord- 
deutschlands, z.  B.  im  Drömling,  dem  großen  Bruche  im 
Quellgebiet  der  Aller  und  Ohre,  angestellt  wurden,  brach- 
ten das  interessante  Ergebnis,  daß  in  klaren  Nächten  auf 
unbedecktem  schwarzen  Moorboden  die  nächtlichen  Mini- 
maltemperaturen um  mehrere  Grade  niedriger  waren  als 
an  nahe  benachbarten  Stellen  mit  anderem  Bodencharakter. 
Bedeckte  man  aber,  wie  es  zum  Zwecke  der  sog.  Moor- 
dammkultur, von  Rimpau  in  Cunran  inauguriert,  ge- 
schieht,  den   Moorboden   mit   einer   10  cm   hohen  Sand- 


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158  Richard  Assmann, 

schiebt,  so  verschwand  sofort  der  Unterschied  in  der 
Strahlungserkaltung,  so  daß  hierdurch  der  Vegetation  eine 
der  drohendsten  Gefahren  ihrer  Existenz  um  ein  Beträcht- 
liches verkleinert  vrerden  konnte.  Hier  zeigte  sich  also 
auch  die  praktische  Wichtigkeit  wissenschaftlicher  Unter- 
suchungen in  glänzendster  Weise. 

Die  Messung  der  Bodenausstrahlung  geschieht  am 
besten  in  analoger  Weise  wie  die  der  Einstrahlungs- 
wärme  durch  ein  auf  den  Boden  gelegtes  Minimum- 
thermometer mit  leicht  erdbedecktem  Gefäße. 

Im  Winter  erweisen  sich  bei  vorhandener  Schnee- 
decke Beobachtungen  der  Temperatur  am  Erdboden  unter 
und  über  dem  Schnee  von  hohem  Interesse,  indem  sie 
zeigen,  wie  außerordentlich  beträchtlich  der  Schutz  ist, 
welcher  eine  Schneedecke  dem  Erdboden  und  den  in  ihr 
befindlichen  Wintersaaten  gewährt.  Man  findet  hierbei, 
besonders  in  muldenförmigen  Niederungen,  nicht  selten 
ganz  erstaunliche  Unterschiede,  welche  bei  starker  Schnee- 
decke 20^  und  mehr  betragen  können. 

Temperaturbeobachtungen  in  größeren  Tiefen  des 
Erdbodens  haben  einen  praktischen  Wert  nur  für  die 
obersten,  bis  etwa  20  cm  hinabreichenden  Bodenschichten, 
also  bis  zu  einer  Tiefe,  in  welche  der  größere  Teil  unserer 
Kulturgewächse  seine  Wurzeln  zu  treiben  pflegt.  Man 
benutzt  zu  diesem  Zwecke  solche  Thermometer,  deren 
Gefäß  um  diesen  Betrag  unter  dem  unteren  Ende  der 
Skala  liegt.  Für  größere  Tiefen  verwendet  man  am 
besten  eingegrabene  Lamonische  Holzkästen  von  ver- 
schiedener Länge,  in  welche  das  an  einen  viereckigen 
Holzstab  befestigte  Thermometer  bis  zur  gewünschten 
Tiefe  eingesenkt  und  mit  dem  Boden  in  Berührung  ge- 
bracht werden  kann.  Im  Winter  muß  man  bei  niederer 
Lufttemperatur  während  des  Ablesens  die  Oeffhung  des 
Schachtes  verdecken,  um  nicht  die  warme  Luft  der 
größeren  Bodentiefen  entweichen  und  kalte  Außenluft 
deren  Stelle  einnehmen  zu  lassen. 

Die  Temperaturverhältnisse  in  größeren  Tiefen  des 
Erdbodens,  z.  B.  in  Bergwerksschachten,  Bohrlöchern  oder 
Tunnels  erfordern  zur  sachgemäßen  Beobachtung  mannig- 


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Klima.  159 

fache  Vorsichtsmaßregeln  und  kompliziertere  Instrumente, 
so  daß  eine  selbständige  Inangriffnahme  solcher  Unter- 
suchungen hier  nicht  angeregt  werden  kann. 

Im  Gebirge  kann  man  die  beträchtlichen  thermischen 
Unterschiede  der  verschiedenen  Seiten  eines  isolierten 
Berges  nach  dem  Vorgange  von  v.  Kern  er  in  der  Weise 
imtersuchen,  daß  man  rings  um  denselben  in  gleicher 
Höhe  Bodenthermometer  bis  zu  5  cm  Tiefe  einsenkt  und 
regelmäßig  3  mal  täglich  abliest.  Fügt  man  zu  diesen 
noch  Maximumthermometer  hinzu,  so  erhält  man  ein 
interessantes  Bild  über  die  Temperaturen  des  Erdbodens 
je  nach  seiner  Auslage  auch  in  der  täglichen  Periode. 
V.  Kern  er s  Versuche,  welche  aber  eine  80  cm  tiefe 
Bodenschicht  betrafen,  ergaben  im  Jahresmittel  den  nörd- 
lichen Abhang  um  3,8  "  kälter  als  die  übrigen,  fast  gleich- 
warmen Seiten  des  Berges,  Im  Sommer  aber  erwies  sich 
die  südöstliche  Auslage  wärmer  als  die  südwestliche  und 
südliche,  was  wohl  mit  der  in  den  Mittags-  und  ersten 
Nachmittagsstunden  eintretenden  Bewölkungszunahme  zu- 
sammenhängt. Die  Nordseite  blieb  im  Sommer  um  volle 
5  ^  hinter  der  Südseite  zurück,  ein  Ergebnis,  welches  auf 
die  Vegetationsverhältnisse  der  verschiedenen  Abhänge 
sicherlich  nicht  ohne  Einfluß  bleiben  kann.  Eine  Wieder- 
holung dieser  recht  wichtigen  Untersuchungen  an  anderen, 
günstig  gewählten  Orten  entbehrt  nicht  eines  erheblichen 
Interesses,  kann  daher  nur  empfohlen  werden. 

4.  Temperatur  des  Wassers. 

Messungen  der  Temperatur  von  Quellen  und  Flüssen 
oder  stehenden  Wasserbecken  können  gelegentlich  auf 
Reisen  von  erheblichem  Interesse  sein,  wo  es  sich  um  die 
Ermittelung  von  Gründen  für  außergewöhnliche  Verhält- 
nisse, warmer  oder  besonders  kalter  Quellen,  Abnormitäten 
in  der  winterlichen  Eisbedeckung,  Reichtum  an  Salzen, 
welche  den  Gefrierpunkt  erniedrigen,  z.  B.  Soolquellen, 
handelt. 

Beobachtungen  über  das  Gefrieren  und  Wiederauf- 
tauen der  stehenden  Gewässer  in  bezug  auf  Eintrittszeiten 


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160  Richard  Assmann, 

und  Dauer,  Messungen  der  Temperatur  und  Dicke  des 
Eises  unter  Berücksichtigung  der  Lufttemperatur  werden 
bisher  noch  äußerst  selten  angestellt,  entbehren  aber  nicht 
eines  erheblichen  klimatologischen  Interesses.  Auch  er- 
scheint es  bei  der  noch  herrschenden  Unsicherheit  über 
die  Vorgänge  bei  der  Bildung  des  sog.  „Grundeises^ 
durchaus  erforderlich,  daß  diesen  sorgfaltige  Beobach- 
tungen gewidmet  werden.  Dieses  bildet  sich  allwinterlich 
in  Seeen  und  Flüssen  an  flachen  Stellen  des  Grundes,  oft 
in  großen  Mengen,  und  taucht  nicht  selten,  mit  Kies  und 
Steinen  beladen,  empor.  Ob  die  Eisbildung  am  Boden 
selbst  vor  sich  gehe,  oder  von  untergetauchten  Eisschollen 
der  Oberfläche  stamme,  ist  noch  ebenso  unaufgeklärt,  als 
die  Frage,  ob  eine  unter  flacher  Wasserbedeckung  be- 
findliche Bodenoberfiäche  infolge  von  Wärmeausstrahlung 
unter  die  Temperatur  des  anliegenden  Wassers  erkalten 
könne.  Es  erscheint  aber  auch  nicht  unmöglich,  daß 
sich  bei  starker  Winterkälte  der  Erdboden  in  der  Um- 
gebung eines  Sees  derartig  abkühlen  könne,  daß  auch 
der  Grund  desselben  an  flacheren  ufemahen  Stellen  durch 
Fortleitung  seiner  Wärme  unter  den  Gefrierpunkt  erkalten 
könne.  Das  Grundeis  würde  hierdurch  zu  einer  Art 
„Glatteis"  werden,  welches  bei  Berührung  flüssigen  Wassers 
mit  unter  0  ^  erkaltetem  Erdboden  entsteht.  Zur  metho- 
dischen Untersuchung  dürfte  sich  folgendes  Verfahren 
empfehlen.  Man  setze  an  solchen  Stellen,  welche  er- 
fahrungsgemäß zur  Bildung  von  Grundeis  disponieren, 
zwei  entsprechend  lange  Röhren  von  starkem  Zinkblech 
und  etwa  5  cm  Durchmesser  in  das  Wasser  ein,  indem 
man  sie  an  je  einem  fest  eingerammten  Holzpfahle  be- 
festigt. Eines  der  unten  dicht  verschlossenen,  oben  offenen 
Rohre  reiche  bis  auf  den  Grund,  das  andere  sei  ungefähr 
10  cm  tief  in  denselben  eingetrieben;  oben  reichen  dieselben 
einige  Centimeter  weit  über  den  höchsten  Wasserstand 
hinaus.  Bei  Beginn  des  Winters  füllt  man  dieselben  mit 
einer  nicht  gefrierenden  Flüssigkeit,  z.  B.  einer  wässerigen 
Ghlorkalciumlösung  an  und  senkt  ein  Quellenthermoraeter 
bis  auf  den  Boden  in  dieselbe  ein.  Die  obere  Oeffhung 
bedeckt  man  mit  einer  Metallkappe,  welche,  zur  Hälfte  mit 


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Klima.  161 

Talg  vollgefüllt,  dieselbe  genügend  dicht  abschließt.  Man 
wird  in  dieser  Weise  durch  einmalige  Tagesablesungen 
der  beiden  Thermometer,  welche  man  mit  einem  Teile 
der  Bodenflüssigkeit  schnell  emporzieht,  die  Temperaturen 
der  untersten  Wasser-  und  obersten  Grundschicht  ermitteln 
und  hieraus  Anhaltspunkte  für  die  weitere  Aufklärung 
der  Grundeisbildung  erlangen. 

Hieran  schließen  sich  Untersuchungen  über  inter- 
essante Eisbildungen,  wie  sie  nicht  selten  an  Gebirgs- 
bächen  mit  starkem  Gefälle  eintreten.  Die  Erkaltung  des 
Wassers  erfolgt  bei  solchen,  welche  in  verhältnismäßig 
dünnen  Schichten  über  größere  freistehende  Felsmassen 
stürzen,  nicht  allein  von  der  Oberfläche  aus,  sondern  auch 
von  Seiten  der  Felsblöcke,  welche  sich  mit  einer  Art  an 
Stärke  stetig  wachsenden  Grundeises  überziehen.  Die 
starke  Strömung  reißt  lockere  Teile  desselben  ab,  während 
die  an  Sprüngen  und  Rauhigkeiten  haftenden  widerstehen. 
Allmählich  wird  so  der  Felsblock  mit  einer  schwamm- 
artigen, von  Kanälen  durchzogenen  Eishaube  überzogen, 
durch  welchen  das  Wasser  nur  noch  hindurchsickert. 
Schneeauflagerungen  verstärken  von  außen  dieses  Eis  und 
lassen  schließlich  vollständige  Brücken  und  Grotten  ent- 
stehen, unter  welchen  das  übrig  bleibende,  wegen  seines 
starken  Gefälles  nicht  zum  Einfrieren  kommende  Wasser 
hindurchsickert.  Treten  dann  infolge  gelegentlicher  Tau- 
ungen oder  üeberflutungen  stalagmitenartige  Eiszapfen 
von  oft  riesigen  Dimensionen  vor  den  Ausgang  der  Grotte, 
ßo  entstehen  äußerst  seltsame  und  interessante  Gestalten, 
welche  zwar  klimatisch  unwichtig,  aber  für  den  Forscher 
sehr  lehrreich  sind,  weshalb  auf  deren  gelegentliche  Beob- 
achtung bei  winterlichen  Gebirgsreisen  hier  hingewiesen 
werden  soll. 

Das  zur  Beobachtung  von  Wassertemperaturen  ge- 
eignetste Instrument  ist  das  sog.  „Quellenthermometer", 
dessen  Gefäß  von  einem  kleinen  gläsernen  Eimer  umgeben 
ist,  in  welchem  man,  nachdem  das  Instrument  einige 
Minuten  lang,  an  einer  Schnur  versenkt,  im  Wasser  ge- 
hängt hat,  eine  kleine  Menge  des  Wassers  mit  herauf- 
bringt.   Da  dieses  von  der  Temperatur  der  Luft  nur  sehr 

Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschung.  \\ 


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162  Richard  AssmanD, 

langsam  beeinflußt  wird,  kann  man  die  Ablesungen  be- 
quemer ausführen.  Man  kann  sich  auch  ein  solches  leicht 
selbst  herstellen,  indem  man  ein  kleines  Medizinfläschchen 
von  30 — 50  g  Inhalt  mittelst  eines  Fadens  an  das  untere 
Ende  eines  Thermometers  derartig  befestigt,  daß  das 
Gefäß  des  letzteren  ungefähr  in  der  Mitte  der  Flasche 
sich  befindet.  Der  Hals  des  Fläschchens  muß  aber  den 
mehr  als  doppelten  Querschnitt  des  Thermometergefäßes 
haben. 

Hierher  gehört  auch  noch  der  Hinweis  über  die 
Untersuchung  der  Temperaturverhältiiisse  von  Luft  und 
Wasser  in  den  mehrfach  in  Deutschland  anzutreffenden 
Eishöhlen  oder  Eisgrotten,  welche  auch  während  eines 
größeren  Teiles  oder  während  der  ganzen  wärmeren 
Jahreszeit  Eisbildungen  bergen.  Hier  ist  das  abtropfende 
Schmelz-  oder  Sickerwasser  wiederholten  Temperatur- 
messungen zu  unterwerfen,  wenn  möglich  auch  ein 
Thermometer  zwischen  vorhandenen  Eismassen  einzu- 
senken und  längere  Zeit  abzulesen. 

Beobachtungen  der  Temperg-tur  (und  Feuchtigkeit) 
der  Luft  in  mehreren  Höhen  der  Höhle,  besonders  aber 
in  den  untersten  Schichten  sind  hierbei  von  Wichtigkeit  ^). 


n.  Laftdrnck. 

Die  Messung  des  Luftdrucks  zu  allgemein  klimato- 
logischen  Zwecken  wird  ohne  Zweifel  von  den  ständigen 

')  Nach  Schwalbes  ^üebersichtlicher  Zusammenstellung  lit- 
terarischer Notizen  über  Eishöhlen  und  Eislöcher*  in  den  Mit- 
teilungen der  Sektion  für  Höhlenkunde  des  österr.  Touristenklubs 
1887.  2  u.  3  sind  im  anßeralpinen  Zentraleuropa  folgende  Eishöhlen 
bekannt:  1.  In  der  Eifel  bei  Roth.  2.  Im  Bergwerk  bei  Eisenberg 
(bei  Blankenburg  i.  Th.).  3.  Bei  Dürrberg  (bei  Böhmisch-Zwickau). 
4.  Bei  Rosendorf  in  Böhmen.  5.  Eisbildungen  im  Sauberge  bei 
Ehrentwiedersdorf  (bei  Sachsa).  6.  Das  Ziegenloch  bei  Questenberg. 
7.  Ein  Basaltberg  bei  Kaltennordheim  in  der  Vorderrhön.  8.  Eis- 
pinge  bei  Platten  (im  Erzgebirge).  —  Eisbildungen  kommen  vor: 
1.  An  der  Domburg  (Westerwald  bei  Frickhofen).  2.  An  der  Ring- 
mauer auf  dem  Tagstein  (Rhön).  3.  Bei  Burgk  a.  Saale  (bei  Eichicht). 
4.  Im  Schwedenloch  in  der  Sächsischen  Schweiz. 


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Klima.  163 

meteorologischen  Stationen  Deutschlands  in  einer  völlig 
ausreichenden  Weise  vorgenommen,  so  dais  einer  Ver- 
mehrung dieser  Beobachtungen  durchaus  nicht  das  Wort 
geredet  werden  kann.  Auch  die  barometrische  Höhen- 
bestimmung liegt  eigentlich  außerhalb  des  Rahmens  des 
vorliegenden  Aufsatzes.  Für  Gebirgsreisen  kann  nichts- 
destoweniger die  letztere  recht  erwünscht  werden,  so  daß 
die  kurze  Angabe  des  Verfahrens  in  seinen  Hauptzügen 
gerechtfertigt  erscheint. 

Luftdruckmessungen,  welche  eine  größere  Genauig- 
keit erreichen  sollen,  müssen  mittelst  des  Quecksilber- 
barometers ausgeführt  werden.  Aneroidbarometer  können 
nur  genäherte  Luftdruckwerte  geben,  da  sie  manchen 
Instrumentalfehlern  unterworfen  sind,  welche  nur  durch 
sorgfältigste  Vergleichungen  mit  Normalinstrumenten  er- 
mittelt werden  können. 

Für  die  Höhenmessung  ist  es  besonders  wichtig,  die- 
jenigen Zeiten  zu  Beobachtungen  des  Barometers  zu  be- 
nutzen, welche  den  Ablesungsterminen  der  ständigen 
meteorologischen  Stationen  der  betreffenden  Gegend  ent- 
sprechen. Hierdurch  wird  man  für  die  nachträgliche 
Berechnung  der  Luftdruckwerte  von  den  allgemeinen 
Aenderungen  derselben  ziemlich  unabhängig.  Man  wählt 
zur  Vergleichung  selbstverständlich  die  nächstgelegenen 
Stationen,  deren  Meereshöhe  genau  bekannt  ist,  aus 
und  ermittelt  aus  den  gleichzeitig  beobachteten  Druck- 
unterschieden den  Höhenunterschied  nach  einer  der  be- 
kannten Höhenmessungsformeln.  Für  den  praktischen 
Reisegebrauch  sind  hierzu  die  „Graphischen  Barometer- 
tafeln zur  Bestimmung  von  Höhenunterschieden  durch 
eine  bloße  Subtraktion*,  nach  Dr.  Vogler,  entworfen  von 
H.  Feld  (bei  Vieweg  &  Sohn  in  Braunschweig)  sehr  be- 
quem und  geben  eine  ausreichende  Genauigkeit.  Man  hat 
außer  dem  Barometerstande,  welcher  bis  l,o  mm  genau 
abzulesen  ist,  noch  die  Temperatur  des  am  Barometer 
befestigten  Thermometers  und  die  Lufttemperatur  ab- 
zulesen. 

J.  Hann  giebt  in  seiner  „Einführung  in  die  Meteoro- 
logie der  Alpen  •*  (Anleitung  zu  wissenschaftlichen  Beob- 


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164  Richard  ÄBsmann, 

achtungen  auf  Alpenreisen)  folgende  einfache  Regel,  um 
auf  der  Reise  olme  Tafeln  kleinere  Höhenunterschiede 
berechnen  zu  können. 

1.  Man  dividiere  die  Zahl  8000  durch  den  Barometer- 
stand der  unteren  und  oberen  Station  und  nehme  das 
Mittel  aus  diesen  Quotienten  (bis  auf  2  Decimalen). 

2.  Man  vergrößere  diesen  Mittelwert  um  so  viele 
Tausendteile  seiner  selbst  (oder  Zehntelprozente),  als  die 
doppelte  Temperatursumme  der  oben  und  unten  abge- 
lesenen Temperatur  beträgt. 

3.  Man  multipliziere  mit  dieser  so  vergrößerten  Zahl 
(welche  die  Seehöhe  in  Metern  angiebt,  um  die  man  bei 
der  herrschenden  mittleren  Lufttemperatur  steigen  muß, 
damit  das  Barometer  um  1  mm  sinke)  die  Differenz  B — b 
der  unten  und  oben  abgelesenen  Barometerstande. 

Nur  unter  besonderen  außergewöhnlichen  Verhält- 
nissen kann  eine  gelegentliche  Luftdruckbestimmung  von 
Wert  werden.  VVie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
kommen  Föhnerscheinungen  auch  in  den  Gebirgen  des 
außeralpinen  Deutschlands  nicht  selten  vor.  Sorgfältige 
Luffcdruckbeobachtungen  in  den  betroffenen  Gegenden  er- 
halten in  solchen  Fällen  eine  gewisse  Bedeutung,  da  man 
aus  ihnen  und  den  gleichzeitigen  benachbarten  Stationen 
den  Druckunterschied  (Gradienten),  welcher  den  Föhn  er- 
zeugte, ermitteln  kann.  Ebenso  kann  die  in  ganz  kurzen 
Pausen,  z.  B.  von  Minute  zu  Minute  fortgesetzte  Beob- 
achtung des  Barometers  bei  schweren  Gewittern  oder 
Gewittersttirmen,  besonders  aber  bei  Gelegenheit  von 
tomado-  oder  trombenartigen  Phänomenen  (Windhosen) 
von  bedeutendem  Werte  fSr  die  Erforschung  dieser  Er- 
scheinungen werden.  Bei  diesen  kommen  zuweilen  ganz 
beträchtliche  kurze  Druckschwankungen  vor,  deren  Kennt- 
nis für  die  Untersuchung  des  Phänomens  große  Wichtig- 
keit erlangen  kann. 


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Klima. 


165 


in.  Wind. 

Die  vorhandenen  meteorologischen  Stationen  Deutsch- 
lands geben  einen  vollauf  genügenden  Aufschluß  über 
die  großen  allgemeinen  Luftströmungen  in  diesem  Ge- 
biete; eine  Vermehrung  der  diesbezüglichen  Beobachtungen 
ist  daher  als  zwecklos  zu  bezeichnen. 

Um  so  wichtiger  aber  sind  Untersuchungen  über  ört- 
liche Luftströmungen,  welche,  besonders  in  den  Gebirgen, 
eine  fast  ebenso  reiche  Mannigfaltigkeit  aufweisen  wie 
die  Temperaturverhältnisse. 

Als  hauptsächlichste  Repräsentanten  örtlicher  Winde 
sind  die  Berg-  und  Thalwinde  der  Gebirge  und  die  Land- 
und  Seewinde  der  Küsten  zu  bezeichnen.  Beide  sind  die 
Folgeerscheinungen  von  Temperaturunterschieden  zwischen 
Tag  und  Nacht. 

Die  Entstehung  der  Gebirgswinde  erhellt  aus  folgen- 
dem (s.  Hann,  Handbuch  der  Elimatologie  S.  201).  In 
nachstehender  Figur   stelle  AB    einen   Bergabhang   dar. 


.^LA. 


Fig.  5. 


fe& 

c 

B* 

l^n 

^^^^>^,T>^,^^ 

t 

o' 

K"     _B 

^^ 

^^m 

a 

^^^'"^^^Tf-rir 

^■i^.-^^.i-.--^^^m 

^. 

Wenn  größere  atmosphärische  Störungen  nicht  vorhanden 
sind  und  die  Abnahme  der  Lufttemperatur  mit  der  Höhe 
die  normale  ist,  so  ist  der  Luftdruck  in  allen  horizon- 
talen Flächen,  hier  durch  die  parallelen  Linien  hh  dar- 
gestellt, der  gleiche,  mithin  kein  Grund  zum  Auftreten 
einer  Luftströmung  vorhanden.  Durch  die  Wirkung  der 
Sonnenwärme  auf  das  Thal  und  den  Bergabhang  wird  die 
über  denselben  befindliche  Luft   erwärmt   und   über   ihr 


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166  Richard  Assmann, 

früheres  Volumen  ausgedehnt.  So  wird  die  Luftsäule 
aal  über  ihre  bisherige  obere  Grenzfläche  ausgedehnt,  so 
daß  der  Luftdruck  in  dieser  um  den  Betrag  der  über  die- 
selbe erhobenen  Luftmenge  vermehrt  wird.  An  der  Stelle 
i,  wo  die  obere  Fläche  der  Luftsäule  aa'  den  Bergabhang 
berührt,  erfolgt  jedoch  keine  Druckveränderung,  da  die 
Lufbsäule  a  a'  hier  keine  Höhe  hat.  Die  vorher  horizontale 
Fläche  gleichen  Drucks  hat  hierdurch  eine  Neigung  gegen 
den  Bergabhang  erhalten,  deren  Folge  das  Auftreten  einer 
entsprechenden,  dem  Gefälle  folgenden  Luftströmung  gegen 
den  Abhang  hin  ist.  In  den  übrigen  Luftsäulen  hh\ 
cd  findet  derselbe  Vorgang  statt,  so  daß  die  ganze  über 
dem  Thale  und  dem  Abhänge  liegende  Luftmasse  dem 
Berge  zuströmt. 

Zugleich  wird  aber  der  Abhang  selbst  durch  die 
Sonnenstrahlen  erwärmt  und  hierdurch  die  ihm  anlie- 
gende Luft  ausgedehnt.  Das  Bestreben  derselben  in  die 
Höhe  zu  steigen  setzt  sich  nun  mit  der  gegen  den  Ab- 
hang gerichteten  Strömung  zu  einer  resultierenden  Be- 
wegung zusammen,  welche  an  dem  Bergabhange  aufwärts 
gerichtet  ist  und  als  Thalwind,  Tagwind,  auch  wohl 
Unterwind  bezeichnet  wird.  So  entsteht  die  Erscheinung 
einer  saugenden  Wirkung  der  Gebirge  auf  die  Luft  der 
Umgebung. 

Das  Umgekehrte  findet  während  der  Nacht  statt. 
Nach  Sonnenuntergang  erkaltet  die  Luft  und  der  Erd- 
boden durch  Ausstrahlung,  wodurch  eine  Zusammenziehuug 
und  Höhenverminderung  der  Luftsäulen  aa\  hh\  cc'  ein- 
tritt. Diese  führt  zu  einer  allmählichen  Umkehrung  des 
Gefälles,  welche  einen  vom  Bergabhange  abwärts  wehen- 
den Luftstrom  erzeugt.  Die  Wärmeausstrahlung  des  Erd- 
bodens ist  aber  außerordentlich  viel  größer  als  die  der 
freien  Atmosphäre;  deshalb  wird  sich  die  den  Bergabhang 
berührende  Luft  stärker  abkühlen  als  die  Luft  über  dem 
Thale;  sie  wird  sonach  vermöge  ihrer  größeren  Schwere, 
ähnlich  einem  bergablaufenden  Wasser,  längs  des  Ab- 
hanges nach  dem  Thale  und  weiterhin  im  Thale  abwärts 
strömen.  Diese  Luftströmung  ist  der  kühle  Bergwind, 
auch  Nacht-  oder  Oberwind  genannt. 


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Klima.  167 

Die  große  Bedeutung  dieses  örtlichen  Windregimes  in 
klimatischer  Beziehung  besteht  hauptsächlich  darin,  daß 
der  Thalwind  am  Tage  den  Wasserdampf  der  Niederungen 
an  den  Gebirgen  in  die  Höhe  führt,  welche  hiermit  zu 
Sammelapparaten  desselben  für  ihre  Umgebung  werden. 
Die  relative  Feuchtigkeit,  die  Bewölkung  und  die  Nieder- 
schläge nehmen  daher  in  den  Gebirgen  am  Tage  zu, 
während  sie  in  den  Niederungen  gleichzeitig  abnehmen. 
In  der  Nacht  findet  das  Umgekehrte  statt.  Ganz  be- 
sonders wichtig  aber  ist  der  örtliche  Zirkulationsvorgang 
für  die  hygienischen  Verhältnisse  solcher  Thäler  und 
Niederungen,  welche  durch  Gebirgsschutz  dem  Eindringen 
der  allgemeinen  Luftbewegungen  fast  ganz  entzogen  sind. 
In  ihnen  erfolgt  die  für  die  Gesundheit  der  Bewohner  so 
nötige  Ventilation  fast  allein  durch  die  Gebirgswinde, 
welche  die  feuchte,  mit  Staub  und  Miasmen  geschwängerte 
Thalluft  in  die  Höhe  führen,  wo  Kondensations  Vorgänge 
durch  Bildung  von  Wolken  und  Niederschlägen  die  staub- 
förmigen und  auch  die  gasigen  Beimengungen  aus  der 
Atmosphäre  herausfällen  und  erstere  zum  großen  Teile 
hierdurch  unschädlich  machen.  In  der  Nacht  aber  wird 
die  reinere  und  trockene  Höhenluft  der  Niederung  zu- 
geleitet. Die  Gebirge  werden  durch  diese  Vorgänge  zu 
wahren  Reinigungsapparaten  der  Niederungsluft. 

Die  Beobachtung  und  das  Studium  dieser  Erschei- 
nung erscheint  daher  als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
klimatischer  Kurorte,  welche  in  Thäleni  gelegen  sind, 
deren  Ventilation  ein  mächtigerer  Heilfaktor  ist  als  der 
vielgerühmte,  aber  noch  ziemlich  ungekannte  „  Ozonreich- 
tum". 

Fast  tiberall  jedoch,  wo  an  klimatischen  Kurorten 
meteorologische  Beobachtungen  angestellt  werden,  er- 
scheint es  als  die  vornehmste  Sorge  des  Beobachters, 
eine  Windfahne  auf  einem  möglichst  hohen,  das  Thal 
weit  überragenden  Berge  aufzustellen,  um  nicht  die  örtlich 
abgelenkten  Luftströmungen  des  Thaies,  deren  Vorhan- 
densein nur  als  eine  die  Beobachtung  störende  Erschei- 
nung ohne  jeglichen  klimatischen  Wert  zu  betrachten  ist, 
sondern  die  der  freien  Atmosphäre  beobachten  zu  können. 


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168  Richard  Assmann, 

Dieses  Verfahren,  für  eine  allgemeinen  meteorologischen 
Zwecken  dienende  Station  das  richtige,  ist  für  die  Kennt- 
nis der  klimatischen  Verhältnisse  eines  Kurortes  durch- 
aus widersinnig.  Hier  bringe  man  eine  empfindliche 
Windfahne  gerade  mitten  in  dem  Bette  der  örtlichen  Luft- 
strömungen an  und  beobachte  deren  Richtungsänderungen 
an  den  verschiedenen  Tageszeiten.  Man  kann  ohne 
weiteres  einem  der  allgemeinen  Luftbewegung  entzogenen 
Kurorte,  welcher  durch  keine  lokalen  Winde  ventiliert 
wird,  die  notwendigen  Eigenschaften  eines  klimatischen 
Kurortes  absprechen,  da  derselbe  durch  Anhäufung  der 
vielerlei  Schädlichkeiten,  welche  sowohl  aus  der  Besiede- 
lung  als  auch  aus  dem  Zusammenleben  vieler  Kranker 
hervorgehen,  nur  eine  Gefährdung  der  Bewohner  be- 
wirken wird. 

um  den  Betrag  der  Ventilation  beurteilen  zu  können, 
ist  die  Beobachtung  der  Windstärke  empfehlenswert, 
welche  man  aber  für  diesen  Zweck  ebenfalls  nicht  auf 
einer  außerhalb  des  Thaies  gelegenen  Höhe,  sondern  in- 
mitten der  von  den  Patienten  bewohnten  Gebäude  vor- 
zunehmen hat. 

Will  man  deren  tägliche  Periode  ermitteln,  so  bedarf 
man  registrierender  Apparate,  welche  am  besten  in  einem 
kleineren  Robinsonschen  Schalenkreuz-Anemometer  mit 
einer  einfachen  Vorrichtung  zur  selbstthätigen  Notierung 
von  Richtung  und  Geschwindigkeit,  letztere  in  Metern 
pro  Sekimde  ausgedrückt,  besteht  (s.  Fig.  6). 

Die  Aufzeichnung  der  Windrichtung  erfolgt  am  ein- 
fachsten durch  eine  durch  das  Dach  eines  Hauses  hindurch- 
gehende Windfahne,  an  deren  unterem  Ende  ein  mit  Papier 
bespannter  Cylinder  ^angebracht  ist,  welcher  sich  mit  der 
Fahne  dreht  ^).  Ein  das  Papier  berührender  Schreibstift, 
welcher  an  einer  metallenen  Zahnstange  befestigt  ist,  wird 

^)  Derartige  Vorrichtungen  sind  indes  nur  auf  solchen  Häusern 
anzubringen,  welche  einen  rationell  konstruierten  Blitzableiter  haben, 
da  unzweifelhaft  eine  Vermehrung  der  Blitzgefahr  ohne  letzteren 
bewirkt  wird.  Die  Windfahnenstange  ist  mittelst  eines  6  mm  starken 
Kupfer-  oder  1  cm  starken  verzinkten  Eisendrahtes  an  den  Blitz- 
ableiter metallisch  anzuschließen. 


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Klima. 


169 


durch  eine  einfache  Uhr,  deren  treibendes  Gewicht  er  dar- 
stellen kann,  gleichmäisig  innerhalb  eines  bestimmten  Zeit- 
raumes (24  Stunden  oder  mehr)  abwärts  bewegt.  Die 
Registrierung  der  Windgeschwindigkeit  kann  durch  einen 


Flg.  6. 


zweiten  Stift  von  anderer  Farbe  auf  dem  Papiercyhnder  in 
der  Weise  erfolgen,  daß  derselbe  durch  einen  galvanischen 
Kontakt  bei  der  fünfhundertsten  (oder  einer  anderen)  Um- 
drehung des  Schalenkreuzes  gegen  das  Papier  auf  kurze 
Zeit  angepreßt  wird. 


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170  Richard  Assmann, 

Wo  derartige,  immerhin  etwas  kostspielige  Apparate 
nicht  zur  Verfügung  stehen,  muü  man  sich  mit  der  mehr- 
maligen täglichen  Schätzung  der  Windstärke  begnügen, 
welche  am  besten  nach  der  fast  allgemein  gebräuchlichen 
12teiligen  (Be  auf  ort-)  Skala  erfolgt.  Dieselbe  bezeichnet 
Windstille  mit  0,  einen  leisen  Zug  mit  1,  leichten  Wind 
mit  2,  schwachen  Wind  mit  3,  mäßigen  mit  4,  frischen 
mit  5,  starken  mit  6,  steifen  mit  7,  stürmischen  mit  8, 
Sturm  mit  9,  starken  Sturm  mit  10,  schweren  Sturm  mit 
11  und  Orkan  mit  12. 

Außer  den  genannten,  bei  ruhigem  Wetter,  besonders 
während  des  Sommers  in  jedem  Gebirgslande  vorkommen- 
den örtlichen  Winden  finden  sich  aber  auch  noch  solche, 
welche  einzelnen  Gegenden  speziell  eigentümlich  sind  und 
ihren  Grund  in  besonderen  Gestaltungsverhältnissen  von 
Thälern  haben.  Der  kalte,  das  langgewundene  und 
schluchtenreiche  Thal  der  Wisp  abwärts  wehende  Wisper- 
wind, welcher  bei  seinem  Eintritt  in  das  wärmere  Rhein- 
thal häufig  Nebel  erzeugt,  ist  ein  Beispiel  derartiger 
LokaJwinde.  Derartige  Erscheinungen  mögen  in  den 
meisten  Gebirgsländern  Deutschlands  noch  existieren, 
ohne  jedoch  bisher  besonderer  Aufmerksamkeit  gewürdigt 
worden  zu  sein,  weshalb  es  sich  empfiehlt,  denselben  bei 
Gelegenheit  von  Gebirgsaufenthalten  nachzuspüren  und  sie 
der  Beobachtung  zu  unterwerfen.  Hierbei  ist  deren 
Temperatur  und  Feuchtigkeit  in  die  Untersuchung  hinein- 
zuziehen. 

Wir  erwähnten  schon  auf  S.  133,  daß  der  Föhn, 
welcher  längst  als  eine  vielen  Bergländern  eigentümliche, 
durch  hohe  Temperatur  und  Lufttrockenheit  ausgezeich- 
nete, meist  in  stürmischer  Stärke  auftretende  Luftströmung 
erkannt  worden  ist,  auch  den  Gebirgen  des  außeralpinen 
Deutschlands  nicht  fehle.  Zwar  wird  derselbe  bei  den 
geringeren  Höhen  dieser  Gebirge  meistenteils  seiner 
Sturmesstärke  sowie  seiner  extremen  Wärme  und  Trocken- 
heit entkleidet  auftreten,  doch  bleibt  er  in  vielen  Fällen 
durch  die  beiden  letzteren  Eigentümlichkeiten  wohl  er- 
kennbar. Im  Thüringerwalde  und  Harze  sowohl  als  auch 
im  Riesengebirge  ist  derselbe  wiederholt  konstatirt  worden. 


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Klima.  171 

Derselbe  kommt  unter  denselben  Bedingungen  und 
oft  gleichzeitig  ipit  den  Föhnen  der  nördlichen  Alpen- 
thaler  dann  zu  stände,  wenn  eine  barometrische  Depres- 
sion den  Kanal  oder  die  südliche  Nordsee  —  für  das 
Riesengebirge  kommt  auch  die  Ostsee  in  Frage  —  kreuzt, 
imter  deren  Einfluß  die  Luft  aus  den  dieser  Depression 
zugekehrten  Gebirgsthalem  schneller  abfließt  als  die  auf 
der  anderen  Seite  lagernde  Luft  über  das  Gebirge  her- 
über zum  Ersatz  nachfolgen  kann.  Hierdurch  entsteht 
eine  kleine  örtliche  Luftdruckverminderung,  in  welche  nun 
die  Luft  der  Höhen  mit  mehr  oder  weniger  großer  Ge- 
schwindigkeit hinabströmt.  Da  auf  der  dem  Winde  zu- 
gekehrten Seite  des  Gebirges  die  Luft  zum  Aufsteigen 
und  hierdurch  zur  Verdichtung  ihres  Wasserdanipfes  zu 
Wolken  und  Niederschlägen  gezwungen  wird,  hat  die- 
selbe nach  Ueberschreitung  des  Gebirges  einen  Teil  ihres 
Wasserdampfes  eingebüßt  und  sinkt  nun  an  der  Leesejii^ 
relativ  trocken  herab.  Feuchte  Luft,  in  welcher  Konden- 
sationen stattfinden,  kühlt  sich  aber  beim  Aufstetgen  um 
100  m  um  etwa  0,5®  ab,  während  trockene  Luft  ihre 
Temperatur  um  l,o  <^  für  dieselbe  Höhenstufe  verändert. 
Die  auf  der  Luvseite  aufsteigende  Luft  verliert  also  auf 
diesem  Wege  um  sehr  viel  weniger  an  Wärme,  und  zwar 
um  0,5  ®  flir  100  m  weniger  als  die  niedersinkende  der 
Leeseite  zunimmt,  so  daß  ein  z.  B.  den  Kamm  des  Riesen- 
gebirges, dessen  mittlere  Höhe  1400  m  beträgt,  über- 
schreitender Luftstrom,  welcher  in  200  m  Höhe  auf  der 
böhmischen  Seite  eine  Temperatur  von  5  ®  hatte,  auf  dem 
Kamme  mit  —  l^  im,Hirschberger  Thale  aber  mit  11^ 
Temperatur  ankommen  wird.  Zugleich  wird  derselbe,  an 
sich  schon  relativ  wasserdampfarm  vom  Gebirgskamme 
kommend,  durch  die  stattfindende  Kompressionserwärmung 
beim  Niedersinken  sich  mehr  und  mehr  von  dem  Sätti- 
gungspunkte seines  Wasserdampfes  entfernen,  also  ver- 
hältnismäßig trocken  im  Thale  anlangen.  Deshalb  ist 
auch  heiterer  Himmel  im  Thale  charakteristisch  für  diese 
Erscheinung,  während  der  Gebirgskamm  in  schwere  Wolken 
gehüllt  ist. 

Im  Riesengebirge  scheinen  übrigens  auch  die  sturm- 


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172  Richard  Assmann, 

artigen  Böen  des  Föhns  gelegentlich  in  heträchÜicher 
Stärke  aufzutreten. 

Wenn  auch  der  ausgesprochene  Föhn  im  aufieralpinen 
Deutschland  unter  die  selteneren  Vorkommnisse  zu  zählen 
ist,  so  gehört  doch  das  «föhnartige'*  Niedersinken  abge- 
trockneter Luftmassen  im  Lee  gewissermal^en  zu  den 
normalen  Vorgängen  an  denjenigen  Gebirgen,  welche  sich 
dem  wasserdampfreichen  Südwest-  bis  Westwinde  quer 
in  den  Weg  stellen.  Die  höhere  Temperatur,  geringere 
Feuchtigkeit  und  Bewölkung  sowie  die  geringere  Nieder- 
schlagsmenge der  Leeseite  erscheint  im  wesentlichen  als 
auf  diesem  Vorgange  des  „  Niedersinkens **  der  Luft  be- 
ruhend. 

Als  ein  Analogon  des  regelmäßigen  Windwechsels 
zwischen  Tag  und  Nacht,  wie  ihn  die  Gebirge  aufweisen, 
kann  das  Auftreten  von  Land-  und  Seewinden  an  den 
Meeresküsten,  aber  auch  an  den  Küsten  größerer  Binnen- 
seeen  angesehen  werden. 

Dieser  Vorgang  beruht  auf  der  Erscheinung,  daß  im 
Laufe  des  Tages  bei  steigender  Besonnung  die  Luft  über 
dem  Festlande  oder  in  der  Umgebung  eines  größeren 
Binnensees  aufgelockert  wird  und  in  derselben  Weise  wie 
bei  den  Thalwinden  zu  einer  Erhebung  der  Flächen 
gleichen  Luftdrucks  Veranlassung  giebt.  Hieraus  geht  ein 
Gefälle  und  ein  Lufttransport  nach  dem  kühleren  Meere 
hervor,  so  daß  oberhalb  desselben  der  Luftdruck  um  das 
Gewicht  der  hinzugekommenen  Luftmenge  steigen,  über 
dem  Lande  aber  um  den  Betrag  der  fortgenommenen 
Luftmenge  fallen  muß.  So  entstehen  Druckunterschiede 
an  der  Erdoberfläche,  die  eine  Ausgleichsströmung  in 
Gestalt  des  „Seewindes**  hervorrufen,  welche  während  des 
Tages  vom  Wasser  gegen  die  Küste  gerichtet  ist.  Während 
der  Nacht  erfahren  umgekehrt  die  Flächen  gleichen  Drucks 
eine  Neigung  vom  Meere  nach  dem  Lande  zu,  ent- 
sprechend der  durch  Strahlungserkaltung  bewirkten  Ver- 
dichtung und  Zusammenziehung  der  FesÜandsluft,  so  daß 
in  der  Höhe  ein  vom  Wasser  zum  Lande,  in  der  Tiefe 
ein  vom  Lande  zum  Wasser  gerichteter  Luftstrom  zur 
Entwicklung  gelangt. 


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Klima.  173 

Ebenso  wie  die  Gebirgswinde  werden  diese  Land- 
und  Seewinde  ihre  typischen  Erscheinungen  nur  dann 
erkennen  lassen,  wenn  keine  allgemeinen  gröiaeren  Strö- 
mungen der  Atmosphäre  vorhanden  und  wenn  die  Be- 
dingungen der  kräftig  wirkenden  Ein-  und  Ausstrahlung 
erfüllt  sind. 

In  Deutschland,  dessen  Meeresküsten  diese  Be- 
dingungen nur  verhältnismäßig  selten  erfüllen,  ist  diese 
Erscheinung  in  ihrer  vollen  Ausbildung,  wie  sie  Regionen 
niederer  Breiten  eigentümlich  ist,  nicht  gerade  häufig 
und  ist  als  klimatischer  Faktor  kaum  zu  bezeichnen. 
An  größeren  Binnenseeen  jedoch  kann  man  dieselbe  nicht 
selten  in  voller  Deutlichkeit  nachweisen.  Verbinden  sich 
infolge  einer  gebirgigen  Umgebung  die  Erscheinungen 
der  Berg-  und  Thalwinde  mit  denen  der  Land-  und  See- 
winde, so  wird,  da  dieselben  stets  in  demselben  Richtungs- 
sinne wirken  —  bei  Tage  vom  Wasser  gegen  das  Land 
und  vom  Thale  gegen  den  Berg,  bei  Nacht  vom  Lande 
gegen  das  Wasser  und  vom  Berge  gegen  das  Thal  — , 
deren  Auftreten  deutlicher  und  deren  Wirkung  merklicher 
werden.  Der  unter  dem  Namen  la  Bise  bekannte  Lokal- 
wind des  Genfer  Sees  beruht  z.  B.  auf  dieser  Kombina- 
tion, dürfte  aber  auch  an  anderen  größeren  Wasserbecken 
annoch  unbekannte  Analoga  bei  genauerem  Nachforschen 
finden. 

Außer  dem  Studium  dieses  Windwechsels  selbst  ver- 
dienen Untersuchungen  über  die  Höhe  der  betreffenden 
Luftströmungen  Aufmerksamkeit,  da  einzelne  Beobach- 
tungen auf  eine  geringe  Vertikaldimension  derselben 
schließen  lassen.  Höhere  Türme  (Leuchttürme)  in  der 
Nähe  von  Küsten  oder  größeren  Binnenseeen  dürften  da- 
her sehr  geeignet  sein,  als  Beobachtungsstationen  zu 
dienen.  Eine  nach  den  oben  auf  S.  168  angegebenen 
Vorschlägen  konstruierte  registrierende  Windfahne  würde 
diesem  Zwecke  am  besten  dienen.  Andernfalls  sind 
mehrmalige  Beobachtungen  zu  solchen  Zeiten,  welche 
nicht  mit  dem  Wechsel  der  Windrichtungen  zusammen- 
fallen, ausreichend. 

Beobachtungen   über  Windrichtung  und  Windstärke 


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174  Richard  Asemano, 

auf  Reisen,  besonders  Gebirgsreisen,  sind  verhältnismäßig 
leicht  ausführbar  und  nicht  selten  von  weitergehendem 
Interesse,  wo  es  sich  um  die  Ermittelung  örtlicher  Eigen- 
tümlichkeiten handelt.  Ein  kleines  Taschenanemometer 
mit  Zählvorrichtung  (s.  Fig.  6  auf  S.  169)  erleichtert  die 
Gewinnung  korrekterer  Werte  erheblich,  sollte  daher  in 
der  Reiseausrtistung  solcher  Personen  nicht  fehlen,  welche 
klimatische  Untersuchungen  auf  Reisen  beabsichtigen. 


IT.  Wasserdampfgehalt  der  Luft. 

Man  ermittelt  den  Wasserdampfgehalt  der  Luft  in 
den  der  Erdoberfläche  nächsten  Schichten  entweder  durch 
wirkliche  Wägung  des  in  Dampfform  vorhandenen  Wassers, 
indem  man  dieses  von  einem  hierzu  geeigneten  Körper 
absorbieren  läßt  (Schwefelsäure,  Chlorkalcium),  oder  indem 
man  eine  erheblich  unter  die  Lufttemperatur  abgekühlte 
Körperoberfläche  mit  der  zu  untersuchenden  Luft  in  Be- 
rührung bringt.  Bei  der  dem  «Taupunkt*  der  Luft 
entsprechenden  Temperatur  der  abgekühlten  Oberfläche 
erfolgt  Verdichtung  des  Wasserdampfes  in  Gestalt  eines 
Taubeschlages.  Trotz  der  mit  genannten  beiden  Methoden 
zu  erlangenden  Sicherheit  der  Ergebnisse  bedient  man  sich 
wegen  der  mit  ihnen  verbundenen  umständlicheren  Mani- 
pulationen an  den  meteorologischen  Stationen  ausschließlich 
eines  anderen  Verfahrens,  welches  auf  der  Ermittelung  des 
dem  Wasserdampfgehalte  der  Luft  entsprechenden  Wärme- 
verbrauches zur  Verdunstung  flüssigen  (oder  festen)  Wassers 
beruht.  Das  Gefäß  eines  von  zwei  gleichkonstruierten 
sorgfältig  verglichenen  Thermometern  wird  mit  einer 
einfachen  Lage  weichen  Musselins  fest  anliegend  über- 
zogen, welches  durch  Benetzung  mit  reinem,  am  besten 
destilliertem  oder  Regenwasser,  als  Wasserdampfquelle 
dient.  Die  zur  Verdunstung  dieses  Wassers  dienende 
Wärmemenge  wird  hauptsächlich  dem  Thermometer- 
gefässe  selbst  entzogen,  so  dass  aus  der  Differenz  zwi- 
schen den  Ständen  der  beiden  benachbarten  Thermometer 


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Klima.  175 

ein  Rückschluß  auf  die  Fähigkeit  der  umgebenden  Luft, 
Wasserdampf  aufzunehmen,  gemacht  werden  kann.  Dieses 
sog.  Au  gu  st  sehe  Psychrometer,  dessen  Angaben  auf  Grund 
einer  empirischen  Formel  von  Regnault  sowohl  für  die 
Spannkraft  des  Wasserdampfes  (Dunstspannung)  als  auch 
für  das  Verhältnis  zwischen  der  wirklich  vorhandenen  und 
der  bei  derselben  Temperatur  möglichen  Wasserdampf  menge 
der  Luft  (relative  Feuchtigkeit)  verwertet  werden,  ist  das 
gebräuchlichste,  weil  bequemste  Instrument  zur  Messung 
der  „Luftfeuchtigkeit".  Doch  bietet  dasselbe  in  seiner 
korrekten  Behandlung  sowohl  als  auch  in  der  Auswertung 
seiner  Angaben  so  viele  Schwierigkeiten  und  Unsicher- 
heiten dar,  daß  von  einer  strengen  Vergleichbarkeit  der 
mittelst  desselben  ermittelten  Werte  zur  Zeit  nicht  die 
Rede  sein  kann.  Die  Regnaultsche  Formel  gilt  näm- 
lich nur  für  eine  mäßige  Luftbewegung  mit  voller  Schärfe, 
wird  daher  in  den  vielen  Fällen  von  geringerer  oder 
stärkerer  Bewegung  abweichende  Ergebnisse  liefern.  Bei 
niederen  Temperaturen,  wo  die  Verdunstung  von  Eis  die 
betreffenden  Werte  zu  liefern  hat,  und  schwacher  oder 
gänzlich  fehlender  Luftbewegung  bedarf  das  Instrument 
einer  derartig  langen  Zeit  zur  Erreichung  der  größt- 
mögUchen  StanddiflFerenz  der  beiden  Thermometer,  daß 
die  richtige  Behandlung  derselben  zu  einer  äußerst  schwie- 
rigen und  zeitraubenden  Aufgabe  wird.  Die  Verein- 
fachung und  Verbesserung  der  Beobachtungsmethode  er- 
scheint daher  als  eine  höchst  wichtige  Aufgabe. 

Das  oben  auf  S.  14(5  erwähnte  Aspirationspsychro- 
meter  scheint  nun  geeignet  zu  sein,  diesen  Forderungen 
gerecht  zu  werden,  indem  es  an  Stelle  der  zwischen 
voller  Windstille  und  stürmischer  Stärke  wechselnden 
Luftbewegung  eine  nahezu  unveränderliche  Geschwindig- 
keit der  Luftzufuhr  setzt,  ferner  aber  auch  die  Ver- 
dunstungsgeschwindigkeit durch  fortgesetzte  vollständige 
AbfUhrtmg  des  verdampften  Wassers  um  einen  bedeu- 
tenden Betrag  erhöht,  die  zur  Beobachtung  nötige  Zeit 
daher  erheblich  abkürzt.  Die  Notwendigkeit,  der  von 
den  Regnault  sehen  Voraussetzungen  abweichenden,  aber 
konstanten  Luftbewegung  eine  modifizirte  Formel  anzu- 


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176  Richard  Assmann, 

passen,  kann  gegenüber  den  genannten  Vorzügen  nicht 
in  das  Oewicht  fallen.  Eingehende  Untersuchungen  dieser 
Frage  befinden  sich  zur  Zeit  im  Gange. 

Eine  fernere,  wegen  der  Unsicherheit  der  winter- 
lichen Psychrometermessungen  hauptsächlich  zur  Inter- 
polation benutzte  Methode  beruht  auf  der  Eigenschaft 
entfetteten  Menschenhaares,  Wasser  aus  der  Luft  aufeu- 
nehmen  und  hierdurch  Veränderungen  seiner  Länge  zu 
erfahren .  Das  Saussure  sehe  Haarhygrometer,  von  Koppe 
in  eine  bequemere  Form  gebracht,  beruht  auf  diesem 
Prinzip,  ist  aber  nur  imstande,  bei  häufiger  Vergleichung 
mit  einem  Psychrometer  und  Justierung  seines  der  vollen 
Dampfsättigung  entsprechenden  Standes  einigermaßen  ver- 
läßliche Ergebnisse  zu  fördern. 

Methodische  Beobachtungen  des  Wasserdampfgehaltes 
der  Luft  werden,  wie  aus  diesen  Erörterungen  hervor- 
geht, am  besten  den  ständigen  meteorologischen  Stationen 
vorbehalten  bleiben.  Doch  wird  es  auch  durch  kürzere 
oder  gel^entliche  Beobachtungen  gelingen  können ,  kli- 
matisch wichtiges  Material  zu  gewinnen,  falls  man  sich 
des  die  meisten  Vorteile  bietenden  Aspirationspsychro- 
meters  bedient.  Als  derartige  üntersuchungsobjekte  können 
wir  folgende  ins  Auge  fassen. 

Zur  Zeit  von  winterlichen  ümkehrungen  der  verti- 
kalen Temperaturverteilung  sind  Ermittelungen  der  ent- 
sprechenden Wasserdampfverhältnisse  in  verschiedenen 
Höhen  an  einem  Gebirge  von  großem  Interesse,  zumal 
wenn  die  in  der  Niederung  angesammelte  kalte  und 
feuchte  Luft  durch  einen  Thalwind  vorübergehend  an 
den  Abhängen  heraufgeschoben  wird  und  die  benach- 
barten Höhen  überflutet.  Hierbei  kommen  interessante 
imd  prinzipiell  wichtige  Sprünge  in  den  Verhältnissen  der 
relativen  Feuchtigkeit  vor.  Desgleichen  bietet  die  Unter- 
suchung der  relativen  Feuchtigkeit  bei  Gelegenheit  von 
Föhnen  erhebliches  Interesse  dar,  zumal  wenn  es  möglich 
ist,  die  ermittelten  Werte  mit  solchen  zu  vergleichen, 
welche  gleichzeitig  auf  der  Höhe  des  Gebirges  und  auf 
der  Luvseite  desselben  angestellt  wurden.  Auf  höheren 
Bergen  kommen  nicht  selten  ganz  außergewöhnlich  niedrige 


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Klima.  177 

Werte  der  relativen  Feuchtigkeit  zur  Beobachtung,  so 
daß  die  Anstellung  derartiger  sicherer  Aufzeichnungen  als 
wünschenswert  zu  bezeichnen  ist.  Zweckmäßig  wird  man 
dieselben  in  kürzeren  Intervallen,  z.  B.  von  einer  Stunde, 
wenn  möglich  gelegentlich  über  Tag  und  Nacht  aus- 
gedehnt, vornehmen  können. 

Hieran  reihen  sich  Untersuchungen,  welche  weniger 
einen  klimatologischen  als  einen  rein  meteorologischen 
Wert  im  engeren  Sinne  beanspruchen,  z.  B.  die  Unter- 
suchung der  relativen  Feuchtigkeit  in  den  verschiedenen 
Schichten  von  Wolken,  wie  dies  nicht  selten  auf  höheren 
Bergen  bequem  ausführbar  ist.  In  größeren  Höhlen,  be- 
sonders aber  in  Eishöhlen,  wo  die  Verdunstungsverhält- 
nisse prinzipieDe  Wichtigkeit  erlangen  können,  dürfte  sich 
gleichfaUs  die  Anstellung  derartiger  Beobachtungen  em- 
pfehlen. 

Vor  Gewittern  kommen  nicht  selten  ungewöhnliche 
Erniedrigungen  der  relativen  Feuchtigkeit  vor,  welche 
volle  Beachtung  verdienen,  ebenso  ist  diesem  Faktor  bei 
Gelegenheit  der  seltenen  trombenartigen  Phänomene  mög- 
lichste Aufmerksamkeit  zu  widmen. 

Die  Beobachtungen  über  die  Verdunstung  leiden 
bisher  an  einer  so  bedeutenden  Unsicherheit  infolge  der 
Unmöglichkeit,  die  natürlichen  Verhältnisse  zur  Messung 
zu  benutzen,  daß  dieselben  als  empfehlenswert  nicht  be- 
zeichnet werden  können,  obwohl  aus  denselben  manches 
Interessante,  besonders  in  Gebirgen,  ermittelt  werden 
könnte.  Mit  der  Höhe  nimmt  die  Verdunstung  bedeu- 
tend zu. 

« 

V.  Hydrometeore. 

Unter  dem  Namen  „Hydrometeore**  faßt  man  aUe  die- 
jenigen Erscheinungsformen  des  atmosphärischen  Wassers 
zusammen,  welche  nicht  dem  gasförmigen  Aggregatzu- 
stande angehören:  Nebel,  Wolken,  Regen, Schnee,  Graupeln, 
Hagel,  Tau,  Reif,  Rauhreif  und  Glatteis. 

Nebel  und  Wolken  stellen  die  erste  Verdichtungs- 
stufe  des  Wasserdampfes  dar;   beide  bestehen  meist  aus 

AnleltuDg  zur  dentsohen  Landes-  und  Volksforschuug.  12 


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178  Richard  Assmann, 

kleinen,  zwischen  0,oo6  und  0,oi7  {^jno  bis  ^eo  mm)  im 
Durchmesser  haltenden  Wassertröpfchen,  welche  wegen 
ihres  geringen  Gewichtes  nur  langsam  abwärts  sinken,  oder 
durch  die  Bewegungen  der  Atmosphäre  schwebend  erhal- 
ten werden.  Die  Annahme,  daß  die  Wolkenelemente  aus 
Bläschen  und  nicht  aus  vollen  Tropfen  beständen,  hat  sich 
trotz  ihrer  inneren  Unwahrscheinlichkeit  mit  großer  Zähig- 
keit noch  immer  erhalten  und  ist  sogar  aus  neueren  Lehr- 
büchern noch  nicht  endgültig  verschwunden.  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort  beide  Auffassungen  gegeneinander  abzu- 
wägen, weshalb  nur  festgestellt  werden  möge,  daß  die 
direkte  Beobachtung  mit  dem  Mikroskop  ausnahmslos 
volle  Tropfen  ergeben  hat  und  daß  die  Bläschenform 
nach  Obermayer  eine  physikalische  Unmöglichkeit  ist^). 

Zur  Beobachtung  der  Wolkenelemente,  welche  als 
durchaus  wünschenswert  bezeichnet  werden  muß,  kann 
man  am  bequemsten  die  der  Erdoberfläche  selbst  auf- 
liegende Wolke,  den  Nebel  benutzen.  Unter  einem  im 
Freien  aufgestellten,  mit  einem  gewöhnlichen  gläsernen 
Objektträger  versehenen  Mikroskope  bemerkt  man  bei 
2 — 300f acher  Linearvergrößerung  die  Wolkenelemente  in 
Gestalt  von  kleinen  Regentropfen  auf  den  Objektträger 
auffaUen.  Messungen  derselben  stellt  man  mittelst  des 
gewöhnlichen  Okularmikrometers  ohne  Schwierigkeit  an. 
Wichtiger  werden  solche  Beobachtungen  auf  höheren 
Bergen  zumal  dann,  wenn,  wie  im  Winter  nicht  selten, 
deren  Gipfel  mit  der  oberen  Wolkengrenze  zusammen- 
fällt. Durch  Hinabsteigen  kann  man  dort  die  Größen- 
verhältnisse der  Tröpfchen  in  den  verschiedenen  Schichten 
der  Wolke  untersuchen. 

Von  prinzipieller  Wichtigkeit  aber  ist  die  Unter- 
suchung der  Wolkenelemente  bei  Temperaturen  unter 
0^,  da  die  gewöhnliche  Annahme,  daß  in  diesem  Falle 
an  SteDe  der  Tröpfchen  Eiskrystalle  die  Wolke  zusammen- 
setzen, durch  die  bisherigen  Beobachtungen  nicht  bestätigt 
worden  ist.  Auf  dem  Brocken  fand  z.  B.  der  Verfasser 
bei  einer  Temperatur  von  — 10^,  ja  von  — 13^  die  Wolken- 


*)  Einen  ferneren  Beweis  hat  auch  Kießling  geliefert 


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Klima. 


179 


elemente  ohne  Ausnahme  in  flüssigem  Zustande  vor;  doch 
zeigten  dieselben  die  Zeichen  der  „Ueberkaltung",  indem 
sie  bei  der  Berührung  eines  festen  Gegenstandes  fast 
unmittelbar  zu  einem  entsprechend  großen  amorphen  Eis- 
körnchen erstarrten.  In  dieser  Form  bildeten  sie  die- 
jenige Niederschlagsform,  welche  als  Rauhreif,  Anraum 
oder  Duftanhang  bezeichnet  wird.  In  den  Gebirgen  nimmt 
dieselbe  ganz  kollossale  Ausmaße  an,  so  daß  z.  B.  ein 
auf  dem  Brocken  stehender  Telegraphenpfahl  einen  Durch- 
messer von  2,90  m  durch  Rauhreifansatz  erhalten  hatte  ^). 

Fig.  7. 


Alle  Gegenstände,  welche  dem  Winde  ausgesetzt  sind, 
werden  von  dem  Rauhreif  überzogen,  welcher  sich  in  der 
Richtung  gegen  den  Wind  in  Gestalt  der  zierlichsten 
Feder-   und  Blumengebilde   an   sie   ansetzt,   oft   die  Ge- 


*)  Um  unseren  Lesern  einen  Begriff  von  der  Massenhaftigkeit 
des  Rauhreifes  auf  Berggipfeln  zu  verschaffen,  seien  hier  einige  vom 
Verfasser  auf  dem  Brockengipfel  aufgenommene  Photographieen 
reproduziert.  Fig.  7  stellt  den  oben  erwähnten  Telegraphenpfahl 
von  2,90  m  Durchmesser  dar,  Fig.  8  u.  9  geben  Bilder  von  ver- 
eisten Fichten  unterhalb  des  Brockengipfels. 


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180 


Richard  Assmann, 


stalten  dieser  Gegenstände  in  der  wunderlichsten  Weise 
verändernd. 

Der  Untersuchung  bedürftig  ist  besonders  in  dieser 
Beziehung  die  unerwartete  Thatsache,  daß  Ueberkaltungen 
des  Wassers  bei  den  ununterbrochen  bewegten  Wolken- 
tröpfchen vorkommen  können,  ebenso  das  Fehlen  aller 
krystallinischen  Eisgebilde  bei  niederen  Temperaturen. 

Desgleichen  fehlen  Beobachtungen  über  die  Ent- 
stehung des  Schnees  in  der  Atmosphäre  noch  vollständig, 
da  die  Möglichkeit  vorhanden  ist,  dass  der  Wasserdampf 


Fig.  8. 


unmittelbar  ohne  die  Zwischenstufe  des  flüssigen  Tröpf- 
chens in  Gestalt  eines  Eiskrystalles  verdichtet  werde. 
Beobachtungen  im  Luftballon  und  auf  Höhenstationen 
haben  nicht  selten  das  Vorhandensein  eines  äußerst  feinen 
Krystallstaubes  (als  Diamantstaub  gelegentlich  bezeichnet) 
in  der  Atmosphäre  ergeben,  welchen  man  als  die  erste 
Bildungsstufe  des  Schnees  anzusehen  hat;  niemand  aber 
hat  noch  beobachtet,  daß  aus  einem  flüssigen  Wolken- 
tröpfchen ein  sechsseitiges  Eissäulchen  geworden  ist,  wie 
man  dies  a  priori  hätte  erwarten  sollen. 


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Klima. 


181 


Daß  •  in  der  That  die  höheren ,  unter  dem  Namen 
der  Federwolken  oder  Girren  bekannten  Wolken  aus  Eis- 
kry stallen  in  Form  von  sechsseitigen  Säulchen  bestehen 
müssen,  hat  die  optische  Untersuchung  der  Sonnen-  und 
Mondringe,  welche  in  diesen  Wolken  durch  Lichtbrechung 
und  Reflexion  entstehen,  streng  bewiesen. 

Wie  man  sieht,  ist  auf  diesem  Gebiete  noch  ein 
weites  und  für  unser  Verständnis  der  wichtigsten  meteo- 
rologischen Vorgänge  belangreiches  Forschungsfeld  oflfen, 

Fig.  9. 


weshalb   wir   nicht   anstehen,    zur   vielseitigen  Inangriflf- 
nahme  dieses  Problemes  hierdurch  anzuregen. 

Das  Gleiche  gilt  von  der  Sammlung  direkter  Be- 
obachtungsbeweise für  die  Richtigkeit  der  Aitkenschen 
Hypothese,  nach  welcher  der  atmosphärische  Staub  die 
unerläßliche  Vorbedingung  zum  Eintreten  der  Verdichtung 
des  Wasserdampfes  überhaupt  darstellen  solle.  Es  ist 
unzweifelhaft,  daß  diese  „  Kondensationskeime  **  unter  einem 
guten  Mikroskop  wahrgenommen  werden  können,  indem 
man  die  ziemlich  schnell  eintretende  Verdunstung  der 
Wolkentröpfchen  unter  dem  Mikroskop  sorgsam  verfolgt. 


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182  Richard  Assmann, 

Vermutlich  wird  man  aber  hierzu  starke  Vergrößerungen, 
800 — lOOOfache,  nötig  haben,  da  mit  einer  400fachen 
kein  Ergebnis  gewonnen  werden  konnte  *). 

Die  Entstehung  der  Graupeln,  jener  Konglomerate 
von  Eiskrystallen ,  mehr  aber  noch  die  des  Hagels,  ist 
noch  nicht  im  entferntesten  sicher  bekannt,  bedarf  daher 
der  sorgfältigsten  Untersuchung  unter  günstigen  Bedin- 
gungen. Da  gerade  auf  diesem  Gebiete  gelegentliche 
touristische  Ermittelungen  wertvoll  werden  können,  auch 
besondere  instrumentelle  Vorbereitungen  kaum  erforderlich 
sind  —  mit  einer  starken  Lupe  wird  man  schon  manches 
Interessante  zu  Tage  fördern  können  — ,  so  sei  auch 
hierauf  besonders  hingewiesen. 

Kommt  man  bei  Gebirgsreisen  in  die  Wolkenregion, 
so  versäume  man  niemals,  die  Temperatur  und  die  Feuch- 
tigkeit der  Luft  innerhalb  derselben,  am  besten  durch  das 
Aspirationspsychrometer,  festzusteUen  und  mittelst  einer 
starken  Lupe,  besser  mittelst  eines  Taschenmikroskopes  von 
etwa  200maliger  Linearvergrößerung  die  Gestalt  und  den 
Aggregat'zustand  der  Wolkenelemente  zu  ermitteln,  was  man 
unschwer  auf  einem  frei  exponierten  Glasplättchen  vorneh- 
men kann.  Finden  sich  Krystallformen  vor,  so  versuche 
man,  eine  Anzahl  derselben  zu  zeichnen,  achte  auch  darauf, 
daß  (nach  Norde nskiöld)  der  Schnee  in  zwei  verschie- 
denen Formen,  der  sechsseitigen  Säule  und  dem  rechtwink- 
ligen Parallelepipedon,  krystallisieren  soll.  Die  allgemeinen 
Witterungsverhältnisse,  Windrichtung  und  Stärke,  Dicke 
der  Wolke,  etwaige  elektrische  Erscheinungen  in  derselben 
oder  in  der  Nähe  beachte  und  notiere  man  sorgfältig. 

Nur  auf  dem  Wege  der  direkten  Beobachtung  kann 
es  allem  Anschein  nach  gelingen,  endlich  Licht  in  die 
noch  der  gewagtesten  Hypothesenfabrikation  ausgesetzten 
Kondensationsvorgänge  in  den  höheren  Schichten  der 
Atmosphäre  zu  bringen. 

^)  Näheres  findet  sich  in  den  Aufsätzen  des  Verfassers :  Mikro- 
skopische Beobachtung  der  Wolkenelemente  auf  dem  Brocken  im 
2.  Jahrgang  der  Meteorologischen  Zeitschrift  S.  41,  ebenso  in  „Vom 
Brocken'  im  2.  Jahrgang  der  meteorologischen  Monatsschrift  «Das 
Wetter"  S.  25. 


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Klima.  .  183 

Aber  auch  die  unserer  Beobachtung  unmittelbar  zu- 
gänglichen Kondensationserscheinungen,  wie  der  Tau  und 
der  Reif,  bedürfen  noch  durchaus  der  fortgesetzten  For- 
schung, wie  aus  der  neuerdings  von  Aitken  aufgestellten 
Behauptung  hervorgeht,  dass  der  Tau  zum  größeren  Teile 
nicht  dem  Wasserdampfe  der  Luft,  sondern  dem  Wasser 
der  Erdoberfläche  und  Pflanzen  entstamme. 

Hierauf  abzielende  Untersuchungen  werden  sich  im 
wesentlichen  auf  Bedeckungen  von  bewachsenen  und  un- 
bewachsenen sowie  von  wasserreichen  und  trockenen 
Stellen  des  Bodens  mit  flachen  Glasschalen  und  Beobach- 
tungen der  Taumengen  an  den  verschiedenen  Objekten 
sowie  auf  Temperatur-  und  Feuchtigkeitsbestimmungen 
in  der  untersten  Luftschicht  erstrecken  müssen.  Des- 
gleichen fehlen  noch  die  Beobachtungsnachweise  darüber, 
ob  der  Reif  aus  Eiskrystallen  oder  aus  amorphen  Eis- 
klümpchen,  wie  der  Rauhreif,  besteht  und,  wenn  ersteres 
der  Fall  ist,  welche  Krystallform  derselbe  aufweist.  Ebenso 
ist  nachzuweisen,  ob  derselbe  aus  einem  schon  vorhande- 
nen Tautropfen  durch  Gefrieren  entsteht,  oder  ob  eine  un- 
mittelbare Kondensation  des  Wasserdampfes  zu  Eis  vorgeht. 

Außer  diesen  in  meteorologischer  Beziehung  wichti- 
gen, der  Erledigung  harrenden  Fragen  subtilerer  Natur 
ist  über  Beobachtung  der  Hydrometeore  noch  folgendes 
zu  erwähnen. 

Die  Bewölkung  wird  in  der  Weise  beobachtet,  daß 
man  eine  Schätzung  der  vorhandenen  Wolken  vornimmt, 
indem  man  sich  dieselben  bis  zur  Berührung  ihrer  Rän- 
der zusammengeschoben  denkt  und  nun  zu  ermitteln 
sucht,  wie  viele  Zehntel  des  ganzen  Himmels  von  diesen 
bedeckt  sein  würden.  Bei  dem  großen  Einfluß,  welchen 
die  Bewölkung  auf  die  Ein-  und  Ausstrahlungsverhält- 
nisse  ausübt,  würde  die  Konstruktion  eines  entsprechen- 
den Registrierapparates,  besonders  für  die  Nachtzeit,  einen 
erheblichen  Wert  haben  müssen.  Leider  sind  alle  bisher 
angestellten  Versuche  erfolglos  geblieben,  da  die  Zeit  und 
Dauer  des  Sonnenscheins  registrierende  Apparate,  der 
Campbell-Stokesche,  sowie  der  Maurersche,  keinen 
Schluß   auf  die  allgemeine  Himmelsbedeckung  gestatten, 


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184  Richard  Assmann, 

vielmehr  nur  angeben,  ob  und  wann  der  Ort  der  Sonne 
am  Himmel  bewölkt  oder  unbewölkt  gewesen  ist. 

Lokalen  Eigentümlichkeiten  in  der  Bewölkung  ein- 
zelner Gegenden,  besonders  an  den  Luv-  und  Leeseiten 
von  Gebirgen  oder  an  dominierenden  Ber^ipfeln,  Schätzun- 
gen der  unteren  oder  oberen  Wolkengrenzen  nach  be- 
kannten Höhen  der  Gebirgsprofile  ist  gleichfalls  Aufmerk- 
samkeit zuzuwenden;  ebenso  sind  Angaben  über  Fem- 
sichtsverhältnisse  gelegentlich  wichtig. 

Die  neuere  Zeit  hat  der  Höhenbestimmung  der  Wolken 
eine  grössere  Aufmerksamkeit  zugewendet,  wodurch  nach 
dem  Vorgange  von  Vettin,  Hildebrandson,  Ekholm 
und  Hagström  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Luft- 
strömungen in  verschiedenen  Schichten  der  Atmosphäre 
gewonnen  wurden.  Die  Anstellung  solcher  Beobachtungen 
erfordert  jedoch  einen  großen  Aufwand  von  Geduld  und 
Erfahrung  oder  die  Anwendung  komplizierter  Methoden 
und  Apparate,  z.  B.  der  photogrammetrischen,  so  daß  von 
einer  Darstellung  derselben  hier  abgesehen  werden  muß  ^). 

Unter  den  verschiedenen  Wolkenformen,  deren  Haupt- 
typen durch  die  Haufwolke  (cumulus),  die  Schichtwolke 
(stratus)  und  die  Federwolke  (cirrus)  bezeichnet  werden, 
verdienen  besonders  die  letzteren,  die  Girren,  eine  ein- 
gehendere Beobachtung.  Ihre  Bewegung  erscheint  meist 
wegen  der  großen  Höhe  derselben  —  6 — 8000  m  und 
mehr  —  als  eine  kaum  wahrnehmbare,  weshalb  deren 
Ermittelung  oft  viel  Geduld  und  Aufmerksamkeit  erfordert. 
Außer  ihrer  Bewegung  ist  die  Erstreckungsrichtung  der- 
selben besonders  dann  zu  beachten,  wenn  sie  in  Gestalt 
langer  Bänder  oder  Streifen  von  einer  Himmelsgegend 
über  den  ganzen  Himmel  hinüber  bis  zu  der  gegenüber- 
liegenden reichen  (Polarbanden).  Querstreifungen  und 
Kämmungen  derselben  sind  ebenfalls  mit  ihrer  Erstreckung 
zu  notieren.  Man  hüte  sich  aber  wohl,  tieferliegende, 
ähnlich   gestaltete   Wolkengebilde   als   Girren   anzusehen, 


^)  Näheres  findet  man  in  der  Meteorologischen  Zeitschrift  an 
vielen  Stellen,  z.  B.  UI.  S.  41,  189,  279,  19,  231,  279,  40;  IV.  S.73, 
214,  424  u.  a.  m. 


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Klima.  185 

versuche  vielmehr  stets  vorher  eine  angenäherte  Höhen- 
schätzung derselben.  Den  die  Gewitterwolken  regelmäßig 
begleitenden,  oft  aber  hinter  den  niederen  Wolken  ver- 
steckten Cirrusschirmen  ist  ebenfalls  Aufmerksamkeit  zu- 
zuwenden.    Näheres  siehe  unter  Gewitter  auf  S.  189. 

üeber  die  Messung  der  Niederschläge  in  ihren  ver- 
schiedenen Formen  geben  alle  Instruktionen  für  meteoro- 
logische Stationen  ausreichende  Belehrung;  auch  haben 
dieselben  nur  dann  einen  Wert,  wenn  sie  ohne  Unter- 
brechungen Jahre  hindurch  fortgesetzt  werden.  Nur  bei 
außergewöhnlichen  Vorkommnissen,  z.  B.  Wolkenbrüchen 
oder  gewaltigen  Schneefällen,  können  kürzere  Beobach- 
tungsreihen gelegentlich  von  Wert  werden.  Andererseits 
sind  es  gerade  die  Niederschlagsmengen  und  Niederschlags- 
dichten, welche  eine  wichtige  Rolle  in  der  auf  die  Tech- 
nik und  Bodenkultur  angewandten  Klimatologie  spielen. 
Aber  auch  für  diese  Zwecke  ist  die  Gewinnung  langer 
Reihen  ein  unbedingtes  Erfordernis,  zumal  kaum  eines  der 
übrigen  klimatischen  Elemente  ähnlich  großen  Schwan- 
kungen unterworfen  ist.  Auf  Reisen  wird  die  Nieder- 
schlagsmessung in  den  meisten  Fällen  unausführbar  sein, 
obwohl  man  bei  extremen  Ereignissen,  bei  welchen  es 
sich  weniger  um  streng  korrekte  Messungen  als  um  eine 
möglichst  richtige  Abschätzung  der  Mengen  handelt,  selbst 
mit  primitiven  Hilfsmitteln  wertvolles  Material  gewinnen 
kann.  Ein  Litermaß,  ein  größerer  Trinkbecher  kann  in 
solchen  Fällen  wohl  als  Regenmesser  dienen,  falls  man 
dessen  Oeffnungsquerschnitt  und  das  Gewicht  oder  Vo- 
lumen des  in  ihm  angesammelten  Wassers  einigermaßen 
genau  anzugeben  vermag.  Bei  Schneefällen  bestimme  man 
die  Höhe  der  Schneedecke  mittelst  eines  Centimeterstabes, 
wobei  man  sucht,  solche  Stellen  zur  Messung  zu  wählen, 
an  welchen  der  Schnee  gleichmäßig  gefallen  ist. 

Für  klimatologische  Untersuchungen  im  engeren  Sinne 
kommen  noch  Beobachtungen  über  die  bei  stärkeren  oder 
länger  anhaltenden  Niederschlägen  herrschenden  Winde, 
besonders  an  Gebirgsrändern,  in  Frage;  ebenso  die  Unter- 
suchungen über  die  vertikale  Verteilung  der  Niederschläge 
an  Gebirgen  in  verschiedenen  Jahreszeiten. 


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186  Richard  Assmann, 

Hierher  gehören  auch  die  Beobachtungen  über  die 
Höhe  und  den  Verlauf  der  Schneegrenzen  an  den  Ge- 
birgen in  den  verschiedenen  Jahreszeiten,  besonders  auch 
die  Eonstatierung  übersommemder  Schneemengen,  ebenso 
Messungen  über  die  Höhe  der  Schneedecke  sowie  über 
das  Datum  ihres  Eintrittes  und  Verschwindens.  Hieraus 
werden  sich  manche  für  die  Forstkultur  sowohl  als  auch 
für  die  Wasserverhältnisse  des  Bodens  wichtige  Schlüsse 
ziehen  lassen. 

Wo  die  örtlichen  Verhältnisse  es  gestatten,  richte  man 
auch  seine  Aufmerksamkeit  auf  die  Ermittelung  der  Tiefe 
des  Eindringens  der  Niederschläge  in  den  Erdboden  und 
auf  die  Veränderungen  des  Grundwasserstandes.  Ersteres 
ermittelt  man  in  roherer  Weise  durch  Aufgraben  des  Erd- 
bodens nach  stärkeren  Regenfällen  oder  im  Frühjahr 
nach  der  Schneeschmelze  und  Feststellen  der  Tiefe  der 
durchfeuchteten  Schicht.  Subtilere  Bestimmungen  würde 
folgende  Methode  ergeben  können.  Man  versenke  neben- 
einander eine  Anzahl  dicht  verlöteter,  1 — 2  cm  im  Durch- 
messer haltenden  Zinkröhren  von  verschiedener  Länge, 
welche  an  ihrem  unteren  Ende  ebenfalls  dicht  verschlossen, 
in  der  Höhe  von  1  cm  über  ihrem  Boden  aber  ringsum 
mit  Löchern  von  etwa  2  mm  Durchmesser  versehen  sind. 
Ihr  oberes  Ende  ist  offen,  aber  durch  einen  überfassenden 
Deckel  gegen  eindringenden  Regen  verschließbar.  In  jede 
Röhre  wird  ein  mit  einem  starken  Faden  umbundener 
kleiner  Wattebausch  mittelst  eines  Stabes  bis  zum  Boden 
hinabgestoßen,  der  Faden  aber  an  einem  im  Deckel  des 
Rohres  innen  angebrachten  Haken  locker  hängend  be- 
festigt. Auf  den  Wattebausch  schüttet  man  unter  Ver- 
meidung jeder  Feuchtigkeit  zuerst  einen  Fingerhut  voll 
pulverisierten  Blutlaugensalzes  und  auf  dieses  ein  gleiches 
Quantum  von  Eisenvitriol.  Man  kann  diese  beiden  Salze 
auch,  trocken  gemischt,  in  eine  kleine  Patrone  von  Fließ- 
papier füllen  und  mittelst  des  Stabes  vorsichtig  hinab- 
schieben. Im  trockenen  Zustande  reagieren  diese  beiden 
Substanzen  durchaus  nicht  aufeinander,  jeder  hinzutretende 
Wassertropfen  aber  färbt  dieselben  und  mit  ihnen  den 
Wattebausch    blutrot,    so    daß    aus    dem    Vorhandensein 


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Klima.  187 

dieser  Färbung  mit  Sicherheit  auf  das  seitliche  Eindringen 
flüssigen  Wassers  durch  die  Löcher  des  Rohres  geschlossen 
werden  kann.  Hat  man  nun  Röhren  von  2,  4,  6,  8,  10, 
15,  20  u.  s.  w.  Centimeter  Länge  nebeneinander  in  den 
Boden  eingesenkt,  dieselben  oben  sicher  verschlossen  und 
sämtliche  mit  einem  Brett  tiberdeckt,  um  das  Eindringen 
Jes  Regens  an  dem  äußeren  Umfange  der  Röhren  zu  ver- 
hindern, so  kann  man  durch  Herausziehen  der  Watte- 
bäusche mittelst  der  Fäden  nach  jedem  stärkeren  Regen 
oder  im  Frühjahr  nach  der  Schneeschmelze  feststellen, 
bis  zu  welcher  Tiefe  das  Gemisch  von  seitwärts  einge- 
drungenem Wässer  gerötet  worden  ist. 

Diese  allerdings  etwas  umständliche  Untersuchung 
hat  den  wichtigen  Zweck,  festzustellen,  ob,  wie  man  fast 
allgemein  annimmt,  das  Grundwasser  aus  dem  einge- 
drungenen Niederschlagswasser  entsteht  oder  nicht.  Letz- 
teres wird  von  Volger  und  anderen  mit  aller  Bestimmt- 
heit behauptet,  da  in  der  That  die  Beweise  für  das 
Eindringen  des  Regenwassers  bis  in  diejenigen  Tiefen 
fehlen,  in  welchen  das  Grundwasser  sich  befindet^). 

Den  Grundwasserstand  kann  man  in  einem  unbenutz- 
ten Brunnen  oder  besser  in  einer  zu  diesem  Zweck  ein- 
gesetzten, unten  offenen  Röhre  entweder  durch  einen 
Schwimmer  oder  durch  einen  eingesenkten  Maßstab  be- 
stimmen, indem  man  die  Entfernung  des  Grundwasser- 
spiegels bis  zur  Erdoberfläche  mißt. 


YI.  Außergewöhnliche  Yorkommnisse. 

Unter  den  als  „außergewöhnlich"  zu  bezeichnenden 
atmosphärischen  Vorkommnissen  sind  an  erster  Stelle  die 
elektrischen  Erscheinungen  zu  nennen.  Die  Beob- 
achtung der  Gewitter  ist  neuerdings  im  größeren  Teile 
Deutschlands  in  systematischer  Weise  energisch  in  An- 
griff genommen  worden,  so  daß  es  überflüssig  erscheinen 
könnte,  zu  einer  weiteren  Vermehrung  der  Beobachtungen 

*)  Näheres  siehe  Meteorologische  Zeitschrift  IV.  S.  388. 


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188  Richard  Assmann, 

anzuregen.  Erwägt  man  aber,  daß  die  Gewitter  nicht 
selten  eine  äußerst  lokale  Begrenzung,  besonders  in  Ge- 
birgen, haben,  so  wird  auch  der  nach  Vollendung  der 
Organisation  eines  Beobachtungsnetzes  von  2000  Stationen 
für  die  preußische  Monarchie  auf  eine  Station  entfallende 
Beobachtungsradius  von  8  km  vielerorts  noch  als  erheb- 
lich zu  groß  bezeichnet  werden  müssen,  um  über  all'e 
Gewittererscheinungen  Berichte  erhalten  zu  können.  Da 
aber  eine  Verwertung  der  Gewitterbeobachtungen  nur 
durch  Zusammenfassung  derselben  zu  erreichen  ist,  möge 
sich  ein  jeder,  welcher  beabsichtigt  diesen  Erscheinungen 
seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  an  das  meteorologische 
Zentralinstitut  seines  Landes  wenden  und  sich,  wenn  dies 
wünschenswert  erscheint,  in  das  allgemeine  Beobachtungs- 
netz mit  einreihen  lassen.  Da  eine  ausführliche  In- 
struktion in  diesem  Falle  von  dem  Zentralinstitute  dem 
Beobachter  erteilt  wird,  beschränken  wir  uns  hier  auf 
das  Wesentlichste. 

Man  beobachte  bei  einem  aus  der  Ferne  heran- 
ziehenden Gewitter  zunächst  seine  Bewegungsrichtung, 
indem  man  diejenige  Himmelsgegend,  in  welcher  es  zu- 
erst bemerkt  wurde,  notiert  und  weiter  zu  ermitteln  sucht, 
ob  dasselbe  über  den  Beobachtungsort  selbst  hinweg 
oder  seitwärts  desselben  vorüberzieht.  Im  letzteren  Falle 
ist  diejenige  Himmelsgegend  anzugeben,  in  welcher  es 
wieder  am  Horizont  verschwunden  ist. 

Den  vielen  Gewittern  vorhergehenden  stürmischen 
Böen,  welche  oft  große  Staubmassen  in  die  Höhe  treiben 
oder  Zerstörungen  anrichten,  ist  eine  besondere  Aufmerk- 
samkeit zuzuwenden,  indem  man  ihre  Richtung,  Zeit  des 
ersten  Sturm stoßes  und  dessen  Stärke  notiert. 

Als  Anfang  eines  Gewitters  wird  der  erste  für  den 
Beobachter  hörbare  Donner  angesehen,  da  derselbe  als 
ein  scharf  markiertes,  sinnenfälliges  Ereignis  am  ehesten 
vom  Beobachter  wahrgenommen  werden  kann.  Zwar 
werden  auch  hierbei  Täuschungen  nicht  ausgeschlossen 
sein,  indem  durch  lautes  Geräusch,  wie  in  größeren 
Städten,  oder  behindernde  Thätigkeit  des  Beobachters 
dessen  Wahrnehmung  beeinträchtigt  werden  kann.    Doch 


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Klima.  ]  89 

bieten  die  in  anderen  Ländern  üblichen  abweichenden 
Bestimmungen  eine  noch  geringere  Sicherheit,  wie  z.  B. 
die  Zeit  des  beginnenden  Regens  in  Nordamerika  oder 
die  Zeit  der  größten  Entwickelung  der  Gewittererschei- 
nungen in  Italien.  Die  Beobachtung  des  letzten  Donners, 
als  Ende  des  Gewitters,  macht  deshalb  beträchtliche 
Schwierigkeiten,  weil  man  häufig  wiederholt  einen  im 
Endstadium  eines  Gewitters  wahrnehmbaren  Donner  für 
den  letzten  halten  kann,  während  in  längeren  Zwischen- 
räumen deren  noch  mehrere  nachfolgen.  Man  thut  daher 
besser,  das  Ende  des  Gewitters  nur  schätzungsweise  an- 
zugeben. 

Recht  wichtig  ist  es,  dem  Aussehen  der  herankom- 
menden Gewitterwolke  Aufmerksamkeit  zu  widmen,  be- 
sonders in  den  Fällen,  in  welchen  abnorme  Erscheinungen, 
wie  trombenartige  Bildungen,  an  derselben  wahrzunehmen 
sind.  Dem  Gewitter  fehlt  niemals  ein  dichter  Schirm  von 
derb  verfilzten  Girren,  welcher  mit  demselben  sich  fort- 
bewegt. Am  Vorderrande  ragen  dieselben  meist  wenig 
über  die  unteren  Wolken  über,  haben  jedoch  an  den 
Seiten  und  besonders  am  hinteren  Rande  eine  größere 
Ausdehnung.  Wahrscheinlich  besteht  dieser  Schirm  aus 
„falschen**  Girren,  da  optische  Erscheinungen,  wie  sie  in 
Eiswolken  stattfinden  müßten,  mit  Sicherheit  in  ihnen 
nicht  konstatiert  worden  sind.  Sorgfältige  Beobach- 
tungen  dieser  Verhältnisse   würden  sehr  erwünscht  sein. 

Der  Vorderrand  einer  Gewitterwolke  ist  durch  einen 
meist  äußerst  drohend  erscheinenden  dunkeln,  zuweilen 
fast  schwarzen  Bogenwulst  charakterisiert,  welcher  mit 
Sturmeseile  vom  Horizont  heraufzieht.  An  diesem  „  Wolken- 
vorhang" oder  „Wolkenkragen"  treten  nicht  selten  zackige, 
weit  nach  unten  hängende  Wolkenfetzen  auf,  welche  gegen 
den  mehr  lichtgrauen,  helleren  Hintergrund  scharf  ab- 
stechen. Hat  der  Bogen  das  Zenit  passiert,  so  beginnt 
meist  sparsamer  großtropfiger  Regen,  während  starke 
Niederschläge,  besonders  auch  Hagelfälle  erst  aus  dem 
helleren  Wolkensegment  erfolgen.  Der  Wolkenkragen 
verdankt  der  vor  dem  Gewitter  in  rapidem  Aufsteigen 
begrifiFenen  warmen  und  feuchten  Luft  und  der  hierdurch 


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190  Richard  Assmann, 

hervorgerufenen  energischen  Wasserdampfkondensation  zu 
dichten  Wolken  sein  Aussehen,  während  im  Gebiete  des 
herabstürzenden  Niederschlages  Luft  aus  der  Höhe  mit 
herabgerissen  wird,  welche  hierdurch  dynamisch  erwärmt, 
deshalb  zur  Wolkenbildung  ungeeignet  und  aus  diesem 
Grunde  trotz  des  fallenden  Regens  durchsichtig  ist.  So 
stellt  ein  Gewitter  bis  zu  einem  gewissen  Grade-  eine 
Walze  mit  horizontaler,  zur  Fortpflanzungsrichtung  recht- 
winkliger Achse  dar;  doch  ist  der  Drehungssinn, derselben 
dem  einer  rollenden  Walze  entgegengesetzt,  indem  auf 
der  Vorderseite  derselben  aufwärts,  auf  der  Rückseite 
abwärts  gerichtete  Bewegung  herrscht.  Unter  günstigen 
Umständen,  z.  B.  auf  höheren  Bergen,  welche  nicht  selten 
das  Schauspiel  vorbeiziehender  Gewitter  gewähren,  lassen 
sich  manche  der  vorstehend  angegebenen  Vorgänge  that- 
sächlich  beobachten,  weshalb  die  Aufmerksamkeit  hierauf 
gelenkt  werden  soll.  Hierbei  sei  die  Bemerkung  ein- 
geschaltet, daß  die  oft  von  Touristen  aufgestellte  Be- 
hauptung, sich  über  einem  im  Thale  tobenden  Gewitter 
im  Sonnenschein  befunden  zu  haben,  meist  auf  Selbst- 
täuschung beruht,  da  man  seitwärts  vor  den  Augen  des 
Beobachters  sich  abspielende  Vorgänge  erfahrungsgemäß 
für  unterhalb  vorhandene  anzusehen  pflegt.  Jedenfalls 
darf  behauptet  werden,  daß  ein  Gewitter,  dessen  obere 
Grenze  mit  dem  dazugehörigen  Cirrusschirm  niedriger  als 
1200 — 1400  m  gelegen  habe,  noch  nirgends  sicher  fest- 
gestellt worden  ist. 

Von  außergewöhnlichen  Vorgängen  bei  Gewittern 
sind  noch  abnorme  Blitzformen  zu  erwähnen.  Nicht 
selten  treten,  besonders  bei  schwereren  Gewittern,  starke 
Teilungen  und  Verzweigungen  der  Blitze  in  einer  auch 
dem  Auge  deutlich  sichtbaren  Weise  auf,  welche  der 
Beobachter  unmittelbar  nach  ihrer  Wahrnehmung  nach 
dem  im  Auge  zurückbleibenden  Nachbilde  zu  zeichnen 
versuchen  sollte.  Die  Blitzphotographieen  der  Neuzeit 
haben  gezeigt,  daß  die  meisten  Blitze  aus  einem  Bün- 
del verzweigter  Strahlen  bestehen,  welche  dem  Auge 
als  ein  Strahl  erscheinen.  Rosenkranzförmige  Blitze,  aus 
stark  glänzenden  Knoten  bestehend,   welche  durch  einen 


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Klima.  191 

schwächeren  Strahl  miteinander  verbunden  sind,  femer 
stabreihenförmige  Blitze,  aus  einer  Reihe  scheinbar  voll- 
kommen voneinander  getrennter,  zugespitzter  Säulen  be- 
stehend, und  die  seltenen,  aber  nicht  mehr  in  den  Be- 
reich der  Fabel  zu  verweisenden  Kugelblitze  verdienen 
die  besondere  Aufmerksamkeit  des  Beobachters.  Letztere 
zeichnen  sich  durch  eine  langsame  Bewegung  und  plötzliche 
mächtige  Enddetonationen  aus.  In  höheren  Gebirgslagen 
bietet  sich  zuweilen  Gelegenheit,  Material  zur  Beantwor- 
tung der  wichtigen  Frage  zu  sammeln,  ob  es  Entladungen 
giebt,  welche  von  der  tieferen,  eigentlichen  Gewitter- 
wolke nach  dem  darüberliegenden  Cirrusschirm  erfolgen. 

Neuerdings  hat  man  auch  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  Farben  der  Blitze  gerichtet,  welche  sich  im  wesent- 
lichen um  blauweiß  und  rot  zu  gruppieren  scheinen.  Die 
Bedingungen,  unter  welchen  nicht  selten  sämtliche  Blitze 
die  eine  oder  die  andere  Farbe  zeigen,  sind  noch  un- 
bekannt, bedürfen  aber  dringend  der  Untersuchung,  zu- 
mal es  den  Anschein  hat,  als  ob  dieselben  mit  der  zün- 
denden oder  nicht  zündenden  Wirkung  der  Blitze  im 
Zusammenhange  ständen. 

Ein  fruchtbares  und  interessantes  Feld  der  Beob- 
achtung bietet  die  Untersuchung  der  Blitzschläge,  wes- 
halb man  niemals  versäumen  sollte,  den  Weg  des  Blitzes 
und  die  denselben  bestimmenden  Ursachen  womöglich 
unmittelbar  nach  dem  Vorfalle  sorgfältig  zu  untersuchen. 
Hierbei  ist  auf  den  Grundwasserstand,  dessen  Höhe 
man  nach  benachbarten  Brunnen  ermitteln  kann,  die  Art 
und  Beschaflfenheit  des  Untergrundes,  Nähe  von  höheren 
Bäumen  oder  überragenden  Gebäuden,  ferner  auf  das 
Vorhandensein  etwaiger  blitzanziehender  Gegenstände  wie 
Windfahnen,  eiserne  Schom steinkappen  u.  a.  m.  zu  achten. 
Vorhandene  Wasser-  und  Gasleitungen  sind  stets  auf 
Spuren  des  Blitzes  zu  untersuchen. 

Hatte  das  vom  BUtz  getroffene  Gebäude  aber  einen 
Blitzableiter,  so  ist  sorgfältig  nach  den  unzweifelhaft 
vorhandenen  Fehlern  in  der  Anlage  desselben  zu  suchen; 
meistens  sind  dieselben  in  den  Erdableitungen  zu  finden, 
da  von  gewissenlosen  Fabrikanten  dieser  der  unmittelbaren 


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192  Richard  Assmann, 

Betrachtung  entzogene,  aber  wichtigste  Teil  der  Anlage 
häufig  völlig  ungenügend  konstruirt  wird.  Im  Interesse 
der  Beseitigung  der  leider  noch  immer  herrschenden  Vor- 
urteile gegen  die  Blitzableiter  erscheint  es  eine  dringende 
Pflicht,  jedem  derartigen  Falle,  welcher  imstande  ist  diese 
Vorurteile  zu  nähren,  mit  größter  Sorgfalt  auf  die  Spur 
zu  kommen,  dem  zugehörigen  meteorologischen  Zentral- 
institute aber  genauen  Bericht  über  denselben  zu  er- 
statten. 

Nicht  so  selten,  als  man  gemeinhin  annimmt,  findet 
sich  auch  Gelegenheit,  die  unter  dem  Niunen  des  St.  Elms- 
feuers bekannte  Erscheinung  der  unter  Lichtentwickelung 
ruhig  aus  Spitzen  ausströmenden  Elektricität  zu  beob- 
achten. Man  bemerke  sich  außer  dem  Phänomen  selbst 
in  seinen  Einzelheiten  noch  den  allgemeinen  Witterungs- 
zustand so  gut  als  möglich. 

Auch  die  allerdings  sehr  seltene  Erscheinung  des 
nächtlichen,  schattenlosen  Leuchtens  der  Gegenstände  bei 
Abwesenheit  aller  anderen  Lichtquellen  sowie  das  Phäno- 
men der  selbstleuchtenden  Wolken  verdient  volle  Beob- 
achtung. Man  suche  hierbei  die  Helligkeit  des  beob- 
achteten Lichtes  zu  ermitteln,  z.  B.  durch  den  Versuch 
das  Zifferblatt  der  Uhr  zu  erkennen,  schätze  die  Ent- 
fernung der  äußersten  sichtbaren  Gegenstände  ab  und 
notiere  genau  die  Zeit  und  alle  wichtigen  Nebenum- 
stände. 

Untersuchungen  über  die  atmosphärische  Elektricität 
anzustellen  ist  trotz  der  so  wesentlich  vereinfachten 
Exn  ersehen  Methode  doch  ohne  Fach  Vorkenntnisse  nicht 
ratsam,  weshalb  auch  hierüber  keine  weiteren  Anleitungen 
gegeben  werden  sollen. 

Der  Beobachtung  zugänglich  und  durchaus  benötigt 
sind  dagegen  jene  in  ihrer  gewaltigsten  Entwickelung  glück- 
licherweise höchst  seltenen  Phänomene,  welche  unter  dem 
Namen  von  Tornados,  Tromben,  Windhosen,  auch 
wohl  als  Cyklone  oder  Wirbelstürme  bezeichnet,  Zerstörun- 
gen im  größten  Maßstabe  anrichten.  Der  Tornado  von 
Krossen  a.  0.  am  14.  Mai  1886  stellte  ein  derartiges 
Phänomen  in  voller  Entwickelung  dar,  während  die  Wind- 


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Klima.  193 

hose  von  Wetzlar  am  23.  Mai  desselben  Jahres  als  Bei- 
spiel einer  Trombe  mit  nicht  minder  schweren,  aber  viel 
enger  begrenzten  Zerstörungen  dienen  kann.  Kleinere  ähn- 
liche Erscheinungen  kommen  erheblich  häufiger  vor  als 
man  gewöhnlich  glaubt. 

Bei  der  Wichtigkeit,  welche  derartige  Vorkommnisse 
auch  in  theoretischer  Beziehung  besitzen  —  steht  doch 
der  Streit  über  auf-  oder  absteigende  Richtung  der  Luft- 
bewegung in  den  Tromben  zur  Zeit  in  schönster  Blüte  — 
ist  es  durchaus  erforderlich,  bei  der  gelegentlichen  Beob- 
achtung derselben  sowie  bei  der  nachträglichen  Unter- 
suchung ihrer  Wirkuiigen  nach  einheitlichem  Plane  zu 
verfahren,  weshalb  hier  eine  das  Wesentlichste  umfassende 
Anleitung  folgen  soll. 

Für  Beobachtungen  des  Phänomenes  selbst  gelten 
folgende  Gesichtspunkte:  1.  Erscheinungen  bei  der  Ent- 
wickelung:  Himmelsgegend  des  ersten  Auftretens,  Form, 
Zugrichtung,  Geschwindigkeit,  etwaige  wirbelnde  Be- 
w^ungen  der  Sturmwolke  unier  Angabe  des  Richtungs- 
sinnes; Beobachtung  (und  Notierung)  eines  Barometers 
(auch  eines  Aneroides),  Thermometers,  besser  noch  Psy- 
chrometers (oder  Hygrometers)  und  der  herrschenden 
Windrichtung  imd  Stärke.  2.  Bei  der  Annäherung:  wenn 
irgend  mögUch  Zeichnung  der  Sturm  wölke,  Notierung 
sichtbarer  Wirkungen  derselben,  wie  Staubwolken,  Wasser- 
bewegungen, Bewegungsrichtung  der  mitgeflihrten  Gegen- 
stände; Barometer,  Thermometer,  Wind,  wenn  thunlich 
auch  bei  der  größten  Annäherung  aufzuzeichnen.  Zeit- 
angaben sind  mit  möglichster  Genauigkeit  nach  Ortszeit 
zu  machen,  elektrische  Phänomene,  Hagel  und  Regenfälle 
sind  gleichfalls  zu  beachten.  3.  Nach  dem  Yorübergange: 
Ablesung  der  Instrumente  und  Ermittelung  der  Wind- 
richtung und  Stärke,  darauf  genaue  Aufnahme  der  Zer- 
störungsspuren  nach  folgender  Vorschrift:  a)  Angabe  der 
zerstörten  Gegenstände,  Schätzung  des  Gewichtes  derselben, 
b)  Angabe  der  Richtung,  in  welcher  die  zerstörende  Kraft 
bei  den  einzelnen  Gegenständen  gewirkt  hat,  nach  einem 
guten  Kompaß  unter   Berücksichtigung   der  Mißweisung 

Anleitung  zur  dentschen  Landes-  and  Yolksforschang.  \^ 


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194  Riebard  Assmann, 

(magnetischen  Deklination)  und  Vermeidung  störender 
Einflüsse,  wie  Eisenmassen,  c)  Peststellung  der  Lagerung 
der  Zerstörungsobjekte  übereinander  in  Beziehung  auf 
deren  Streckungsrichtung.  Besonders  an  diesen  Teil  der 
Untersuchung  gehe  man  ohne  jede  vorgefasste  Meinung 
über  die  Natur  des  Phänomens  streng  nach  den  objek- 
tiven Befunden,  d)  Seitliche  Abgrenzung  und  Ermittelung 
des  vorhergehenden  und  des  weiteren  Weges  der  Er- 
scheinung. 

Berichte  dieser  Art,  durch  Einzelbeobachtungen  zu- 
verlässiger Personen  vervollständigt,  säume  man  nicht, 
dem  zuständigen  meteorologischen  Zentralinstitut  zu  wei- 
terer Auswertung  und  wissenschaftlicher  Verarbeitung 
unverzüglich  zu  übersenden. 

Der  Beobachtungen  über  die  Bildung  von  Hagel  auf 
hohen  Bergen  haben  wir  oben  schon  Erwähnung  gethan; 
hier  erübrigt  nur  noch  darauf  hinzuweisen,  daß  der  Form, 
welche  durch  Zeichnungen  zu  fixieren  wäre,  dem  inneren 
Bau,  dem  Gewichte  einzelner  Stücke,  der  Menge  und  auch 
der  Temperatur  des  Hagels  unmittelbar  nach  seinem 
Fallen  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  ist.  Genauere  Ver- 
folgung und  Abgrenzung  der  Zerstörungsspuren  sind  von 
großem  Werte  für  das  Studium  der  Erscheinung. 

Den  in  Gebirgen  nicht  allzu  seltenen  optischen 
Phänomenen,  besonders  der  unter  dem  Namen  des 
«Brockengespenstes''  bekannten  Erscheinung  eines 
den  Schatten  des  Beobachters  auf  einer  nahen  Wolken- 
wand umgebenden  farbigen  Ringes,  einer  Art  Regenbogen, 
ist  gleichfalls  eine  systematische  Beobachtung  zuzuwen- 
den. Man  richte  hierbei  seine  Aufmerksamkeit  auf  fol- 
gende Punkte.  1.  Angabe  der  Tageszeit,  der  Bewölkungs- 
verteilung und  Schätzung  der  Entfernung  der  das  Phäno- 
men zeigenden  Wolke.  2.  Sorgfältige  Schätzung  der 
Dimension  des  Schattens  im  Vergleich  zur  eigenen  Größe 
des  Beobachters,  um  die  Frage  endgültig  zu  erledigen, 
ob  der  Schatten,  wie  noch  immer  angegeben  wird,  „riesen- 
hafte'' Dimensionen  gehabt  habe,  was  physikalisch  un- 
möglich erscheinen  muß.  3.  Angenäherte  Messung  des 
Ringdurchmessers.    Hierfür   giebt  Sharpe  (im  Quarterly 


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Klima.  195 

Journal  of  the  Royal  Meteorological  Society,  Vol.  XIII, 
No.  64,  Oktober  1887)  folgende  Vorschrift:  Man  schließe 
ein  Auge,  halte  das  Taschentuch  in  Armlänge  wagerecht 
ausgespannt,  bedecke  mit  dem  einen  Ende  desselben  den 
Bing  an  einer  Seite  und  bemerke  sich  mit  der  anderen 
Hand  die  Stelle  des  Tuches,  welche  den  gegenüberstehen- 
den Bogenrand  deckt,  markiere  sich  dann  diese  Stelle 
durch  einen  Knoten.  Nun  kontrolliere  man  durch  Wieder- 
holung des  Verfahrens,  ob  der  Knoten  an  der  richtigen 
Stelle  sitzt.  Durch  spätere  Messung  der  Länge  des 
Taschentuchendes  und  der  Entfernung  desselben  bis  zum 
Auge  bei  ausgestreckten  Armen  kann  leicht  der  Winkel 
ermittelt  werden,  welcher  vom  Auge  beiderseits  nach  dem 
Bogen  vorhanden  gewesen  ist.  Um  die  Breite  des  Farben- 
kreises selbst  zu  bestinmien,  kann  man  einen  kleineren 
Gegenstand,  z.  B.  ein  Taschenmesser,  in  derselben  Ent- 
fernung zur  Deckung  mit  demselben  zu  bringen  suchen. 
4.  Bestimmung  der  Reihenfolge  der  Farben. 

Da  über  die  Natur  dieser  Erscheinung  noch  immer 
Meinungsverschiedenheiten  vorhanden  sind,  indem  einige 
sie  für  eine  Wirkung  der  Beugung  des  Lichtes,  andere  Ar 
einen  wirklichen  Regenbogen  (unter  letzteren  Sharp e)  er- 
klären, ist  die  genauere  Beobachtung  recht  wünschenswert. 

Für  hygienische  Zwecke  erscheint  noch  die  neuer- 
dings in  Aufnahme  kommende  Untersuchung  der  atmo- 
sphärischen Luft  in  bezug  auf  Beimengungen  empfehlens- 
wert. Man  gewinnt  den  atmosphärischen  Staub  am 
einfachsten  in  der  Weise,  daß  man  mittelst  eines  Wasser- 
aspirators  von  nicht  zu  kleinen  Dimensionen,  ungefähr  0,2  bis 
0,5  cbm  Inhalt,  atmosphärische  Lufb  durch  eine  mit  sorg- 
föltig  rein  gehaltenem,  vorher  schon  an  Proben  auf  seinen 
Rückstand  geprüften  destillierten  Wasser  gefüllte  kleine 
Waschflasche  in  kleinen  Blasen  aufsteigen  läßt,  den  ge- 
fangenen Staub  dann  durch  Abdampfen  des  Wassers  im 
Wasserbade  gewinnt  und  mit  größter  Sorgfalt  wägt. 
Ueber  die  Natur  des  Staubes  geben  mikroskopische  und 
mikrochemische  Untersuchungen  Aufschluß,  auf  welche 
wir  hier  nicht  eingehen,  da  sie  ohne  fachmännische  Vor- 
bildung ergebnislos  bleiben  müssen. 


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196  Richard  Assmann. 

Will  man  der  Untersuchung  des  Ozongehaltes  der 
Luf};  Aufmerksamkeit  zuwenden,  so  benutze  man  an  Stelle 
des  wenig  empfindlichen  Jodkaliumpapiers  das  neuerdings 
von  Wurster  mit  Vorteil  verwandte  Tetramethylpara- 
phenylendiaminpapier,  welches  man  befeuchtet  und  in 
einer  Flasche   mit  aspirierter  Luft  in  Berührung  bringt. 


Die  vorstehende  Anleitung,  welche  den  Zweck  ver- 
folgte, weniger  die  allgemein  geübten  und  in  jeder  In- 
struktion für  meteorologische  Stationen  ausführlich  be- 
handelten klimatologischen  und  meteorologischen  Beob- 
achtungen zu  erörtern  als  den  bisher  beiseite  gelassenen 
oder  selteneren  Erscheinungen  Aufmerksamkeit  zuzuwen- 
den, hat  gezeigt,  an  wie  vielen  Punkten  noch  die  Er- 
forschung der  einschlägigen  Verhältnisse  auch  in  Deutsch- 
land lohnenden  Erfolg  verspricht. 

Möge  sie  an  ihrem  Teile  zur  Beschleunigung  unseres 
Fortschreitens  auf  dieser  Bahn  beitragen! 


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Pflanzenverbreitung. 

Von 

Prof.  Dr.  Oscar  Drude 

in  Dresden. 


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Alljährlich  ziehen  Tausende  deutscher  Vaterlands- 
genossen  von  jeglichem  Alter  und  Beruf  hinaus  in  Wald 
und  Aue,  um  in  ernster  oder  spielend-heiterer  Beschäf- 
tigung mit  den  lieblichen  Kindern  der  Flora  die  Einzel- 
züge des  Landschaftsbildes  kennen  zu  lernen,  welches 
unserer  Heimat  ihr  Gepräge  verliehen  hat  und  zusammen 
mit  dem  Aufbau  der  zum  Meere  nordwärts  sich  ab- 
senkenden Berglandschaften  und  Thalzüge,  zusammen  mit 
der  im  Jahreszeitenwechsel  schwankend  und  launisch,  bald 
früher  bald  später  die  Lebenserscheinungen  der  Pflanzen 
umgestaltenden  Witterung,  zusammen  endlich  mit  der  auf 
deren  Gegenwart  angewiesenen  Tierwelt  die  wesentlich- 
sten Eigenschaften  des  deutschen  Natur-  und  Kulturlebens 
enthält. 

Seitdem  durch  die  klaren  Begriffs-  und  Namen- 
gebungsbestimmungen  des  unsterblichen  Linn^,  welcher 
in  seiner  „Flora  lapponica*  (1737)  ein  erstes  und  vortreff- 
liches Muster  wissenschaftlicher  Floristik  schuf,  die  letz- 
tere aus  dem  Rahmen  der  schwerfällig  sich  weiter- 
bewegenden klassifizierenden  Systematik  herausgehoben 
und  gewissermaßen  zum  Gemeingut  derer  umgestaltet 
wurde,  die  in  Beschränkung  ihrer  Ziele  und  Wünsche 
wenigstens  in  dem  um  sie  herum  grünenden  Garten  der 
Natur  sich  zu  Hause  fühlen,  in  diesem  das  Zusammen- 
wirken des  Teppichs  verstehen  wollen,  seit  dieser  Zeit 
ist  eine  fast  ungezählte,  von  Jahr  zu  Jahr  sich  mehrende 
Menge  von  Hilfsbüchern  zu  dieser  Art  des  Studiums,  zu- 
meist unter  dem  Titel  „Exkursionsfloren'',  in  Deutschland 
wie  in   den   benachbarten  mit  Deutschland   sich   in  das 


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200  Oscar  Drude, 

rührigste  Streben  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  teilenden 
Ländern  erschienen.  Bei  uns  wurde  in  der  ersten  Hälfte 
•dieses  Jahrhunderts,  neben  Reichenbachs  „Flora  ger- 
manica excursoria*  und  umfangreicher  Ikonographie,  be- 
sonders durch  die  hochstehenden  Leistungen  von  W.  D.  J. 
Koch  eine  erweiterte  Grundlage  geschaffen,  welcher  be- 
rühmte Florist  als  Arzt  in  Kaiserslautern  zusammen  mit 
F.  C.  Hertens  in  Bremen  im  Jahre  1823  den  ersten  Band 
einer  veränderten  Ausgabe  von  Rohlings  „Deutschlands 
Flora"  verfaßte,  aber  noch  vor  deren  Vollendung  (sie 
wurde  mit  Band  V,  Klasse  XVIII  des  Linnäschen  Sy- 
stems, abgeschlossen)  die  selbständige  Durcharbeitung  einer 
neuen  Flora  auf  Grund  des  natürlichen  Systems  unter- 
nahm; dieselbe  erschien  nach  seiner  Beruftmg  auf  den 
botanischen  Lehrstuhl  zu  Erlangen  im  Jahre  1837  unter 
dem  Titel  „Synopsis  Florae  Germanicae  et  Helveticae* 
und  erfuhr  in  zweiter,  nach  seinem  Tode  in  dritter  Aus- 
gabe wesentliche  Bereicherungen.  Sein  „Taschenbuch  der 
deutschen  und  Schweizer  Floi'a*',  von  welchem  E.  Hallier 
im  Jahre  1878  eine  ganz  neue  Umarbeitung  vollzog,  hat 
in  mehreren  aufeinander  folgenden  Ausgaben  den  schwer- 
wissenschaftHchen  Stoff  der  „Synopsis**  in  kurze  und 
leichtfaßliche  Form  gebracht. 

Viele  Nachfolger,  berufene  und  unberufene,  hat  Koch 
gefunden,  und  neben  den  Zusammenstellungen  der  ge- 
samten, von  der  Nord-  und  Ostseeküste  bis  zum  Südhange 
der  Schweizer  und  österreichischen  Alpen  zusammen- 
gefügten Pflanzenwelt  ist  in  ähnlicher  Anordnung  und 
Methode  eine  wachsende  Menge  von  kleineren  Provinzial- 
oder  Territorialfloren  entstanden  (siehe  Schlußabschnitt: 
Litteratur). 

Nur  auf  eine  Bearbeitung  des  deutschen  Gebietes  ist 
hier  noch  aufmerksam  zu  machen,  da  sie,  wenn  auch  mit 
Ausschluß  der  Alpenkette,  gleichsam  das  Erbe  von  Kochs 
beliebtem  Taschenbuche  angetreten  hat;  es  ist  dies 
A.  Garckes  „Flora  von  Deutschland**,  seit  der  13.  Auf- 
lage aus  einer  Flora  von  Nord-  und  Mitteldeutschland 
auf  das  gesamte  Deutsche  Reich  ausgedehnt,  mit  Recht 
am  meisten  verbreitet  und  berühmt  geworden;  in  kleinem 


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Pflanzenverbreitung.  201 

Format  schließt  sie  auf  einem  Raum  von  über  500  Seiten 
so  riel  des  Wissenswerten  in  sich  ein,  dafi  sie  ein  Vade- 
mecum  auf  botanischen  Streifztigen  in  Deutschland  zu* 
bilden  berufen  ist. 

Diese  wie  die  meisten  unten  zu  nennenden  Werke 
beschäftigen  sich  ausschließlich  mit  den  Blütenpflanzen 
(Phanerogamen)  einschließlich  der  Farne,  Schachtelhalme, 
Bärlappe.  Aber  auch  die  übrigen  Klassen  der  Sporen- 
pflanzen, zumal  die  Moose,  Flechten  und  manche  Süß- 
wasseralgen, haben  ein  hohes  floristisches  Interesse  und 
regen  die  Sanmiler  zu  weiterem  Eifer  an,  wenn  sie  die 
Schätze  der  Blütenpflanzen  kennen  gelernt  haben.  Das 
umfangreichste  Hilfsmittel  auf  diesem  Gebiete  gewährt 
die  jetzt  im  Erscheinen  begriffene  neue  ^Dr.  L.  Raben- 
horsts  Kryptogamenflora  von  Deutschland,  Oesterreich 
und  der  Schweiz**  (2.  Auflage,  Leipzig  1885  u.  f.),  wäh- 
rend für  den  hauptsächlichsten  Teil  Mitteldeutschlands 
ausreichend  bei  der  weiten  Verbreitung  der  Sporenpflanzen 
einstweilen  die  von  Cohn  veranstaltete  Herausgabe  der 
EuTyptogamenflora  von  Schlesien  (Bd.  I:  Qefäßkrypto- 
gamen,  Laub-  und  Lebermoose,  Charen;  Bd.  H:  Algen 
und  Flechten;  Bd.  HI:  Pilze)  dienen  kann.  Für  die  viel 
studierten  Laubmoose  besonders  ist  die  von  J.  Milde  im 
Jahre  1869  herausgegebene  „Bryologia  Silesiaca,  Laub- 
moosfiora  von  Nord-  und  Mitteldeutschland*  ein  hervor- 
ragender Leitfaden  geworden,  neben  ihr  die  aus  dem 
Nachlaß  von  J.  Juratzka  im  Jahre  1882  herausgegebene 
ff  Laubmoosflora  von  Oesterreich-Üngarn**. 

Kürzere  Anleitungen  sollen  am  Schluß  nachgetragen 
werden. 


Es  ist  wohl  selbstverständlich,  daß  es  jedem,  der  in 
deutschen  Landen  floristische  Arbeit  treiben  will,  darum 
zu  thun  sein  muß,  an  der  Hand  guter  und  für  bequemen 
Gebrauch  abgekürzter  Bücher  den  systematischen  Abriß 
über  die  bei  uns  zusammengefügten  Pflanzenarten  sich  in 
erster  Linie  zu  eigen  zu  machen  und  beherrschen  zu 
lernen.    Es  ist  nicht  denkbar,  daß  ohne  diese  Grundlage 


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202  Oscar  Drude, 

irgend  etwas  Ersprießliches  für  deutsche  Floristik  geleistet 
werde,  da  selbst  phänologische  Beobachtungen  eine  ge- 
.  wisse  sichere  Kennerschaft  voraussetzen. 

Aber  freilich  erschöpft  ist  das  Wissen  und  Können 
auf  floristischem  Gebiete  mit  der  eben  bezeichneten  Grund- 
lage nicht;  das  strahlende  Gebäude,  zu  dem  tausend  fleißige 
Köpfe  und  Hände  schon  seit  Jahrzehnten  eifrig  forschend 
die  Bausteine  zusammengeschleppt  haben  und  welches  der 
Erkenntnis  des  Naturlebens  selbst  geweiht  sein  soll,  in 
allen  seinen  den  Geist  anziehenden  Fragen  nach  organi- 
scher Ausgestaltung  und  nach  der  Abhängigkeit  von  ver- 
gangenen wie  gegenwärtig  fortwirkenden  Bedingungen, 
das  soll  erst  auf  dieser  sicheren  Grundlage  errichtet  wer- 
den, das  umschließt  erst  das  Wesen  der  „Flora",  welche 
etwas  ganz  anderes  darstellen  soll  als  ein  Stückchen  des 
allgemeinen  Systems  der  Pflanzenwelt. 

Systematiker  und  Floristen  sind  zwar  aufeinander 
hingewiesen,  aber  sie  brauchen  mit  ihren  Bestrebungen 
und  Zielen  nicht  in  derselben  Person  zusammenzufallen. 
Für  das  mitteleuropäische  Waldgebiet,  in  dem  nicht  nur 
die  systematische  Durchforschung  am  ausführlichsten  aus- 
geführt, sondern  auch  die  meisten  physiologischen  Ver- 
suche mit  Vorliebe  an  heimischen  Pflanzen  angestellt,  die 
meisten  Verbreitungseinzelheiten  gesammelt  und  auf  exakte 
geographische  Unterlage  gebracht  sind,  darf  man  be- 
haupten, daß  derjenige  Botaniker,  für  den  das  Gepräge 
der  „  Flora  •*  nur  Wert  hat,  insofern  als  es  sich  aus  Ein- 
zelarten mit  bestimmter  Verwandtschaft  zusammensetzt, 
kein  schafiFender  Florist  sei. 

Lassen  wir  daher  auch  die  für  sich  selbst  so  hoch 
dastehenden  Ziele  der  natürlichen  Systematik  hier  beiseite; 
ein  bescheideneres  Maß  von  Kenntnissen  genügt  für  den 
deutschen  Floristen  zu  seinen  selbständigen  Zielen;  aber 
wenn  diese  Ziele  höher  gestellt  sind,  so  genügt  dazu 
nicht  jenes  engherzige  Maß,  welches  vergessen  läßt,  daß 
außerhalb  der  deutschen  Lande  ebenfalls  Pflanzen,  und 
in  weit  umspannenden  Kreisen  ganz  dieselben  Pflanzen- 
arten in  anderem  Gemisch  und  unter  anderen,  aber  ähn- 
lichen Verhältnissen  wachsen. 


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Pflanzenverbreitung.  203 

Es  ist  ein  Fehler  einer  großen  Zahl  —  man  darf 
wohl  sagen  der  Mehrzahl  —  von  mitteleuropäischen  Floren, 
zu  vergessen,  daß  die  Flora  von  Deutschland  als  die  von 
floristisch  sehr  unselbständig  dastehenden  Landschaften, 
als  Glied  eines  viel  größeren  Ganzen  erfaßt  sein  will. 
Und  doch  zwingt  dazu  schon  der  oft  gehörte  Ausspruch, 
daß  Deutschland  (ohne  die  Alpen)  keine  einzige  stärker 
verschiedene  Pflanzenform  für  sich  allein  habe,  sondern 
daß  alle  auf  weit  größere,  westlich  oder  östlich,  südlich 
oder  nördlich  ausgreifende  Areale  als  Wohnplatz  ver- 
wiesen seien.  Es  gewähren  daher  auch  die  im  Gebiete 
gemachten  Untersuchungen  subtilerer  Unterschiede  für 
selbständige  Unterarten  {Subspecies)  oder  Spielarten  {Va" 
rietates)^  die  gerade  für  die  Floristik  von  hoher  Bedeu- 
tung, von  viel  höherer  Bedeutung  als  für  die  allgemeine 
Systematik  sind,  erst  dann  eine  volle  Befriedigung,  wenn 
sie  sich  auf  das  volle  Vergleichsmaterial  in  dem  Areal 
der  verwandten  Hauptarten  stützen,  und  das  ist  meistens 
nicht  der  Fall. 

Es  fehlt  auch  bislang  an  einer  ausführlicheren  Grund- 
lage zu  solcher  Arbeitsweise,  weil  die  zahlreichen  ge- 
nauen deutschen,  französischen,  englischen,  skandinavi- 
schen und  westrussischen  Lokalfloren  ziemlich  unvermittelt 
nebeneinander  hergehen  und  eine  einheitliche  große  nord- 
und  mitteleuropäische  Gesamtflora  fehlt. 

Nyman  kommt  das  hohe  Verdienst  zu,  zweimal  eine 
Zusammenstellung  der  gesamten  europäischen  Flora  in 
Katalogform  gegeben  zu  haben,  eine  „Sylloge*  (1855—65) 
und  einen  „Conspectus  Florae  Europaeae*  (Oerebro  1878 
bis  1882)  mit  einer  Gesamtzahl  von  9395  Arten  und 
2014  Unterarten  von  Blütenpflanzen. 

Schon  diese  Namens-  und  Verbreitungsliste  zeigt  den 
Umfang  der  von  der  Zukunft  zu  erhoffenden  größeren 
„Flora*  an,  und  dieselbe  würde,  auch  auf  Nord-  und 
Mitteleuropa  beschränkt,  doch  die  zugehörigen  verwandten 
Formen  in  Sibirien,  Kanada  und  in  den  Nordpolarländem 
zu  berücksichtigen  haben. 

Dennoch  ist  in  Nymans  „Conspectus''  eine  Liste 
geschaffen,  welche  mehr  gewürdigt  und  auch  in  kleineren 


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204  Oscar  Drade, 

floristischen  Arbeiten  mehr  benutzt  zu  werden  verdiente, 
sofern  ihre  Verfasser  nicht  Grund  haben,  besondere  syste- 
matische Abgrenzungen  an  den  Tag  zu  bringen,  und  das 
ist  meistens  nicht  der  Fall.  Abgesehen  von  vielumstrit- 
tenen Gattungen,  wie  Hieradum,  JStibits,  Rosa  und  Paten- 
Ulla,  bei  denen  eigene  Ansichten  leicht  geäußert  werden, 
würde  es  meistenteils  gentigen,  wenn  die  Verfasser  klei- 
nerer Abhandlungen  über  unsere  Landflora  sich  Nymans 
Nomenklatur  genau  bedienen  wollten,  oder  auch  der  von 
Willkomm,  Garcke  u.  a.  angewendeten;  und  wenn  sie 
an  Stelle  der  lästigen  Autorencitation  auf  die  von  ihnen 
benutzte  litterarische  Hauptquelle,  welche  für  sie  mit 
gewissenhaft  durcharbeitetem  Stoff  eintritt,  hinweisen 
würden,  zumal  da  Nyman  das  seit  Asche rsons  vorzüg- 
licher Flora  von  Brandenburg  mit  erneuter  Strenge  ein- 
geführte Prioritätsprinzip  der  Benennung  auch  zu  seiner 
Grundlage  in  Zweifelfällen  gemacht  hat.  Denn  in  dieser 
Hinsicht  möchte  ich  nur  auf  meinen  früheren,  in  Schenks 
Handbuch  der  Botanik  Bd.  HI  T.  2  S.  293  dargelegten 
Standpunkt  verweisen,  nach  welchem  der  Automame  nichts 
bedeutet  als  einen  abgekürzten  Litteraturhinweis,  und  ich 
möchte  nur  die  Frage  wiederholen,  ob  nicht  der  größere 
Teil  derer,  welche  die  Autorennamen  hinter  den  Art-  und 
Gattungsnamen  anführen,  dies  in  blindem  Vertrauen  auf 
irgend  ein  von  ihnen  als  Stütze  erwähltes  Buch  ohne 
eigene  Kritik  thun?  Da  erscheint  es  doch  besser  auf  das 
Werk  zu  verweisen,  dem  sie  dieses  Vertrauen  schenken! 
Wie  gesagt,  es  ist  nicht  jedes  Floristen  Sache,  sich  das 
kritische  Formwesen  der  beschreibenden  Systematik 
auch  nur  für  die  Pflanzen  eines  kleinen  Ländergebietes 
wahrhaft  zu  eigen  zu  machen,  wohingegen  eine  in  das 
Wesen  der  Natur  selbst  eindringende  Pflanzenkenntnis 
unumgänglich  nötig  ist.  Letztere  soll  ihn  auch  befähigen 
wissenschaftliche  Fortschritte  in  Hinsicht  auf  die  Formen- 
erkenntnis selbst  zu  machen  oder  machen  zu  helfen;  be- 
sonders aber  hat  der  Florist  auf  dem  Boden  geographi- 
scher Grundlage  die  Verbreitung  der  Pflanzenformen,  ihre 
Mitwirkung  an  der  Zusammensetzung  der  Vegetationsdecke, 
ihre  biologische  Bedingtheit  und  Rückäußerung  gegen  die 


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Pflanzenverbreitung.  205 

sie  umgebenden  Einflüsse  zum  Gegenstande  seiner  For- 
schung zu  nehmen. 

Indem  ich  selbst  seit  einigen  Jahren  mit  den  Vor- 
arbeiten zu  einer  geographischen  Floristik  Deutschlands 
beschäftigt  bin,  welche  in  der  ^  Bibliothek  zur  deutschen 
Landes-  und  Volkskunde^  erscheinen  soll,  so  überliefere 
ich  auf  den  folgenden  Seiten  die  Richtschnur,  welche  ich 
selbst  meiner  Monographie  zu  geben  gedenke,  um  da- 
durch zu  thatkräftiger  Mitarbeiterschaft  aufzufordern. 


Die  Gliederung  der  deutschen  Flora. 

Es  ist  schon  oben  auf  die  weite  Verbreitung  der  in 
Deutschland  sich  findenden  Arten  auch  außerhalb  seiner 
politischen  Grenzen  hingewiesen  und  es  ist  dabei  als  Not- 
wendigkeit hingestellt,  dieser  Thaisache  auch  bei  den 
lokalfloristischen  Arbeiten  eingedenk  zu  bleiben.  Das  weite 
Gebiet,  auf  welches  der  Blick  sich  richten  muß,  wird 
durch  das  Areal  des  „nordischen  Florenreichs*  in  Berg- 
haus' Physikalischem  Atlas,  Pflanzenverbreitung  Taf.  1, 
angegeben,  doch  ist  für  uns  auch  das  südlich  angrenzende 
„mediterran-orientalische  Florenreich "  von  großer  Bedeu- 
tung und  enthält  die  Gharakterzüge,  welche  das  mittel- 
europäische Florengebiet  vor  den  sechs  anderen  Gebieten 
des  nordischen  Florenreichs  auszeichnen.  Denn  mit  dessen 
Eigenschaften  und  Verbreitungsverhältnissen  ist  es  in 
Kürze  folgendermaßen  beschaffen:  Das  ganze  Florenreich 
umfaßt  Mittel-  und  Nordeuropa  vom  südwestlichen  Frank- 
reich und  den  Balkanstaaten  im  Südosten  an  nordwärts, 
ferner  Sibirien  mit  den  Amurlandschaften,  Alaska  und 
Kanada  nebst  dem  nördlich  angrenzenden  Gebietsteil  der 
Vereinsstaaten,  endlich  Grönland  und  die  übrigen  arkti- 
schen Inseln.  Innerhalb  der  Nordpolarzone  ist  der  Wald- 
wuchs ausgeschlossen  und  es  herrschen  gleichartige  Ver- 
breitimgsverhältnisse  rings  um  den  Pol.  Südlich  der 
Baumgrenze  folgt  zunächst  ein,  die  gesamten  Charaktere 
der  gleichartigen  Waldverbreitung  am  besten  zum  Aus- 
druck bringender  Gürtel  nordischer  Nadelholz-  und  Birken - 


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206  Oscar  Drude, 

Wälder,  welchen  die  Karte  von  Engler  im  „Versuch  einer 
Entwicklungsgeschichte  der  Pflanzenwelt*  unter  dem  Na- 
men des  n  subarktischen  Coniferengebietes"  darstellt.  In 
seinem  Charakter  etwas  erweitert,  streift  dieser  Gürtel 
Norddeutschland  und  kehrt  auf  einzelnen  Mittelgebirgen, 
z.  B.  in  der  Bergregion  des  Harzes  über  400  m,  fast 
ebenso  rein  wieder.  Nun  bleiben  noch  die  südlichen 
Gebietsteile  des  nordischen  Florenreichs  übrig,  dadurch 
ausgezeichnet,  daß,  herrührend  von  der  Florenentwick- 
lungsgeschichte im  jüngeren  Tertiär  bis  zur  Eiszeit, 
Formenkreise  aus  den  jeweilig  südlich  sich  anschließen- 
den Florenreichen  einzelne,  zuweilen  sogar  sehr  zahlreiche 
Arten  von  Gesträuchen,  Stauden  oder  einjährigen  Kräutern 
der  nordischen  Waldflora  beigemischt  und  dadurch  Misch- 
lingsfloren aus  je  zwei  Florenreichen  erzeugt  haben. 
Für  Deutschland,  dessen  Alpenflora  allerdings  der  Haupt- 
masse nach  dem  nordischen  Florenreich  selbst  zuzurech- 
nen ist,  hat  diese  RoUe  der  Erzeugung  einer  Mischlingsflora 
naturgemäß  das  südlich  angrenzende  mediterran-orienta- 
lische Florenreich  übernommen,  und  zahlreiche  Arten  dieses 
Typus  drängen  sich  zwischen  die  Waldflora,  besetzen  aber 
zumal  die  wärmere  Hügelregion  oder  die  feuchte  atlan- 
tische Küstenniederung.  Viele  dieser  Arten  sind  Süd- 
und  Mitteleuropa  wirklich  gemeinsam,  viele  andere  haben 
aber  in  den  Mittelmeerländern  nur  zahlreiche,  in  voller 
Entwicklung  dort  gebliebene  Verwandte  derselben  Gattun- 
gen. Solche  Gattungen  pflegen  dann  den  entsprechenden 
übrigen  Gebieten  des  nordischen  Florenreichs,  nämlich 
Mittelsibirien,  den  ochozkischen  Küstenländern,  in  Nord- 
amerika Kolumbien  und  Kanada,  zu  fehlen  und  mit 
anderen  Charakteren  die  Eigentümlichkeiten  Mittel- 
europas als  besonderen  Florengebiets  zu  vervoll- 
ständigen. So  giebt  es  z.  B.  im  britischen  Nordamerika 
keine  Centaurea  wild,  keine  Erica,  kein  Symphytum,  keine 
Betonica,  ursprünglich  keinen  Thymus,  kein  Origanum, 
keine  Genista  und  viele  andere  mediterrane  Sippen.  Ent- 
wicklungsgeschichtlich ist  die  Annahme  aber  nicht  be- 
gründet, daß  diese  auf  das  mediterran-orientalische  Floren- 
reich  hinweisenden  Sippen  lauter  postglaciale  E  in  wand  e- 


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PflanzenverbreituBK.  207 

rer  aus  dem  Süden  wären;  sie  können  in  Mitteleuropa 
selbst  sehr  wohl  als  Arten  (Species)  ihre  altursprüngliche 
Heimat,  ja  ihren  Ursprung  gehabt  und  sogar  dort  im 
wärmeren  Hügellande  die  Eiszeit  überdauert  haben,  doch 
gehören  sie  zu  demselben  Stamme,  welcher  der  Haupt- 
masse nach  jetzt  aus  Deutschland  verdrängt  und  erst  süd- 
lich der  Alpenkette  in  so  viel  reicherer  Entwicklung  er- 
halten sich  zeigt. 

Um  die  feinere  Gliederung  der  deutschen  Flora  auf 
Grund  der  eben  gemachten  allgemeinen  Auseinander- 
setzungen zu  verstehen,  wird  es  zweckmäßig  sein,  eine 
Gliederung  Europas  nördlich  der  Scheidelinie  von  Nord- 
und  Mitteleuropa  in  Florenbezirke  voranzuschicken. 
Als  Kartengrundlage  ist  dabei  auf  Berghaus'  Physika- 
lischen Atlas,  Pflanzenverbreitung  Nr.  IV:  „Florenkarte 
von  Europa"  zu  verweisen,  welche  allerdings  nach  Zonen 
und  Regionen  eingeteilt  ist. 

Während  diese  letzteren  nach  charaktergebenden 
Formationspflanzen,  in  Europa  also  nach  sommer-  und 
immergrünen  Bäumen,  abgegrenzt  und  benannt  sind, 
gehen  die  „Florenbezirke*  (s.  Ergänzungsheft  74  zu  den 
Geogr.  Mitteil.,  Gotha  1884,  S.  6)  auf  das  Gesamt- 
gemisch des  Artbestandes,  in  welchem  neben  der 
augenblicklichen  Verteilung  klimatischer  Grenzwerte  auch 
die  Wirkung  der  ganzen  geologischen  Geschichte  der 
Landschaft  und  die  Einflüsse  seiner  Nachbarlandschaften 
zum  Ausdruck  gelangt  sind,  näher  ein,  können  aber  be- 
stimmte Grenzen  um  so  weniger  dulden,  je  allmählicher 
sich  das  Artgemisch  verändert.  Endemische  Arten  ge- 
hören für  die  Florenbezirke  zu  bedeutungsvollen  Er- 
scheinungen, ebenso  die  Verbreitung  irgend  welcher  an- 
derer Arten  von  bestimmendem  pflanzengeographischen 
Charakter,  während  über  diese,  wenn  sie  nicht  gesellig 
im  Formationsverbande  auftreten,  die  den  biologisch-kli- 
matologischen  Spuren  folgende  Abgrenzung  einzelner 
, Waldzonen •*  oder  „Regionen"  leicht  hinweggeht.  Hier- 
nach möge  das  Folgende  beurteilt  werden ;  zur  ungefähren 
geographischen  Bezeichnung  der  Landschaf  ken,  über  welche 
sich  ein  Florenbezirk  ausdehnt,  kann  aber  meist  genügend 


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208  Oscar  Drude, 

ein  Anschluß  an  die  Abteilungen  der  Vegetationszonen 
erreicht  werden,  weshalb  die  genannte  , Florenkarte  von 
Europa^  hier  mit  ihren  Zonen  von  Bäumen  als  Hinweis 
angeführt  werden  soll. 

Das  arktische  Florengebiet  greift  in  Europa  mit  zwei 
Bezirken,  dem  norwegischen  Fjeldbezirk  (Flk.  v. 
Eur. ,  Zone  1)  und  dem  uralischen  Tundrenbezirk 
(Flk.  V.  Eur.,  Zone  2)  ein;  von  hier  südlich  bis  zu  den 
Pyrenäen,  dem  Südalpenfuü  und  bis  zum  Pindus,  in  Süd- 
rußland bis  zu  den  waldlosen  Steppen  am  unteren  Dnjepr 
und  am  ganzen  Lauf  des  Don  (donischer  Bezirk,  Flk. 
y.  Eur.,  Zone  7)  erstrecken  sich  die  sechs  Bezirke  des 
mitteleuropäischen  Waldgebietes. 

Von  diesen  ist  der  nördlichste  der  bottnische  Be- 
zirk zu  beiden  Seiten  des  Bottnischen  Meerbusens  (Flk. 
V.  Eur.,  Zone  4);  ostwärts  vom  Onegasee  wird  derselbe 
abgelöst  durch  den  schon  an  das  sibirische  Florengebiet 
sich  anschließenden  westuralischen  Waldbezirk  (Flk.  v. 
Eur.,  Zone  3).  Der  baltische  Bezirk  umfaßt  südlich 
vom  bottnischen  und  südwestlich  vom  westuralischen 
Bezirke  die  um  die  Ostsee  gelagerten  Länder  mit  Ein- 
schluß des  nördlichen  Großbritanniens  und  südlichen  Skan- 
dinaviens; im  deutschen  Nordseegebiet  geht  dieser  Bezirk 
allmählich  in  den  folgenden  über,  der  seinerseits  ausge- 
sprochen bei  der  in  der  Florenkarte  von  Europa  darge- 
stellten Westgrenze  der  Fichte  {Piceci  excelsa)  beginnt. 
Dem  baltischen  Bezirke  rechne  ich  also  die  Hauptmasse 
der  Zone  5  (Flk.  v.  Eur.)  zu,  aber  mit  Ausschluß  von 
deren  südwestlicher  Abteilung  1,  und  es  umfaßt  derselbe 
das  Hauptverbreitungsgebiet  der  mitteleuropäischen  Ebe- 
nen- und  Küstenpflanzen.  Der  dann  folgende  nord- 
atlantische Bezirk  erstreckt  sich  mit  immer  deut- 
licher, immer  vielseitiger  ausgesprochener  Verwandtschaft 
zur  spanischen  Berg-  und  Küstenflora  von  der  genannten 
Westgrenze  der  Fichte  in  Holland  über  das  südliche 
Großbritannien  durch  die  Normandie  und  das  südwest- 
liche Frankreich  zum  Nordhauge  der  Pyrenäen  und  des 
asturischen  Gebirges,  entspricht  also  einer  Erweiterung 
der  auf  die  Baumverbreitung  {Quercus  Her!)  gegründeten 


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Pflanzenverbreitung.  209 

, südwestfranzösischen  üebergangszone  ohne  Olivenkultur* 
der  Florenkarte  von  Europa.  Er  ist  Erhaltungsgebiet 
zahlreicher  Arten  aus  dem  iberischen  Mediterranbezirke 
und  Sitz  nicht  ganz  weniger  endemischer  Arten,  zugleich 
das  Hauptverbreitungsgebiet  der  westlichen  Ebenen- 
pflanzen. (Vergl.  Roth,  lieber  die  Pflanzen,  welche  den 
Atlantischen  Ozean  auf  der  Westküste  Europas  begleiten. 
Abh.  d.  Botan.  Ver.  d.  Prov.  Brandenburg.  XXV,  132.) 
Die  drei  nun  folgenden  Bezirke  umschließen  die  ge- 
samten mittel-  und  osteuropäischen  Bergländer,  teilweise 
Hochgebirge,  bis  zu  deren  Südfuß  im  allgemeinen  die 
mediterrane  Flora  heranreicht:  der  Alpenbezirk  er- 
streckt sich  vom  nordatlantischen  Bezirke  ostwärts  bis  zu 
den  Karpaten  und  umfaßt  also  ziemlich  genau  die  Ab- 
teilungen 1  imd  2  der  Zone  6  (Flk.  v.  Eur.,  Mitteleuro- 
päische Wälder),  ostwärts  abgeschlossen  durch  die  West- 
grenze der  Silberlinde  {Tilia  argentea)  am  Plattensee,  und 
dann  durch  die  Nordgrenze  der  Edelkastanie  (Castanea 
vulgaris  oder  C.  vesca)  am  Südgehänge  der  Karpaten. 
Genauer  ist  die  Grenze  auf  Kern  er s  schöner  ^ Florenkarte 
von  Oesterreich-Ungam*  ^)  angegeben,  wo  unser  hier  ge- 
nannter Alpenbezirk  als  Glied  einer  im  weiteren  Sinne 
aufgefaßten  „baltischen  Flora''  erscheint  und  in  scharfen 
Gegensatz  zu  der  „pontischen  Flora**  gebracht  ist,  zu 
welcher  der  folgende  Bezirk  gehört.  —  Der  Alpenbezirk 
ist  charakterisiert  als  Sitz  der  mitteleuropäischen  Berg- 
und  Hügelpflanzen  mit  zahlreichen  auf  die  Hochgebirgs- 
regionen  beschränkt  gebliebenen  („endemischen")  Stauden, 
während  seine  Waldbäume  und  die  Hauptmasse  der  Arten 
der  Bergregion  sich  gleichmäßiger  verteilt,  oder  zerstreut 
bis  zu  der  hauptsächlich  durch  die  Nordgrenze  der  Tanne 
(Abies  alba  oder  A.  pectincUa)  bezeichneten  Bezirksnord- 
grenze sich  finden;  auch  kehren  manche  Arten  im  skan- 
dinavischen Berglande  wieder,  während  sie  in  der  deut- 
schen Niederung  sehr  zerstreut  sind  oder  ganz  fehlen. 
Seine  mannigfaltigen  Gaue  gruppieren  sich  in  die  west- 


*)  Blatt  14  des  Physikalisch-statistischen  Atlas  v.  Oesterreich- 
Ungam. 

Anleitung  znr  deutschen  Landes-  und  Volksforschnng.  14 


ÜNIVERSlTY      l  DigitizedbyVjOOglC 


or 


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210  Oscar  Drude, 

liehen  Berglandschaften,  in  das  hercynische  Bergland^ 
das  karpatische  Bergland  und  in  die  des  Alpenzugs  selbst. 

Der  westpontische  Bezirk,  so  benannt  im  An- 
schluß an  Kerners  Zuerteilung  dieser  Landschaften  zum 
Gebiete  der  „pon tischen  Flora",  umfaßt  den  Rest  der 
nordischen  Waldländer  an  der  Donau  vom  Preßburger 
Komitat  an  (Flk.  v.  Eur.,  Zone  6,  Abteil.  3);  die  mitt- 
leren Landschaften  der  Balkanhalbinsel,  soweit  sie  nicht 
zum  mediterranen  Florengebiet  gehören,  bilden  in  Alba- 
nien, Thrakien,  Makedonien  die  Stidgrenze  des  nordischen 
Florenreichs  in  Europa  und  mischen  sich  hier  gerade  so 
mit  den  Pflanzenarten  der  ionischen  Mediterranbezirke, 
wie  die  iberischen  in  die  westlichen  Landschaften  Zutritt 
hatten. 

Als  kaukasischer  Bezirk  endlich  mag  der  Kau- 
kasus in  seinem  bewaldeten  und  alpinen  Teile  ebenso  wie 
der  Nordhang  des  bithynisch-pontischen  Küstengebirges 
die  Aufzählung  der  europäischen  Landschaften  des  nor- 
dischen. Florenreichs  abschließen;  er  leitet  zu  den  Vege- 
tationsformen der  innerasiatischen  Hochgebirge  über. 

Mit  der  Flora  und  Vegetation  dieser  aufgezählten 
sechs  Bezirke  unseres  Florengiebietes  muß  sich  beschäfti- 
gen, wer  einen  weitergehenden  Ueberblick  über  das  Zu- 
standekommen der  deutschen  Sonderungsverhältnisse  sich 
verschaffen  will.  In  Grisebachs  Vegetation  der  Erde 
(2.  Aufl.,  1884,  Bd.  I,  S.  68-230)  ist  die  Grundlage  da- 
für gegeben  und  viel  Litteratur  genannt,  welche  für 
weitergehende  Wünsche  sorgt.  Grisebach  hat  sich  be- 
gnügt auf  den  klimatischen  Unterschied  im  europäischen 
Waldgebiet  hinzuweisen,  der  sich  in  dem  Auftreten  be- 
sonders von  drei  Waldbäumen  kundgibt,  nämlich  von 
der  Edelkastanie,  der  Weißtanne  und  Zerreiche;  er  hat 
also,  wie  zumeist  in  seinem  großen  Werke,  mehr  die 
Zonen  Charaktere  im  Auge  gehabt  und  dieselben  klima- 
tologisch  zu  erfassen  gesucht.  Die  Edelkastanie  soll  den 
atlantischen  Westen  auszeichnen;  doch  ist  schon  bemerkt, 
wie  sie  sich,  am  Südhange  der  Alpen  ostwärts  verbreitet, 
auch  im  westpontischen  Bezirk  vorfindet.  Dem  letzteren 
erteilt  Grisebach   sehr   richtig   die    Zerreiche  (Quercus 


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Pllanzenverbreitung.  211 

Cerris)  als  Charakterbaum  zu,  während  die  Weißtanne, 
wie  oben  bemerkt,  die  mittlere  Zone  (unseren  Alpen- 
bezirk) auszeichnet,  aber  sowohl  nach  Westen  als  nach 
Osten  übergreift. 

Die  Niederlande  und  die  norddeutsche  Niederung 
sind,  ebenso  wie  schon  die  nördlichsten  Berglandschaften 
Deutschlands  (der  Harz !),  durch  den  Mangel  aller  dieser 
kenntlich  gemacht,  und  nur  durch  das  üeberhandnehmen 
der  Birken-,  Kiefern-,  Eichen  Waldungen  mit  landschafts- 
weise vorherrschenden  Fichten-  oder  Buchenwäldern  ist 
unser  „baltischer  Bezirk"  in  seinen  Baumbestandteilen 
ausgezeichnet,  ohne  eine  Baumart  vor  den  südlich  an- 
grenzenden vorauszuhaben;  im  bottnischen  Bezirke  fehlt 
dann  die  Eiche  und  Buche  völlig,  die  anderen  bleiben; 
im  kaukasischen  endlich  treten  zu  den  westpontischen 
Bäumen  Wallnuß  und  Platane  hinzu,  und  die  Weißtanne 
wird  durch  nahe  verwandte  Arten  ersetzt. 

Aber  die  Bäume  machen  nur  einen  wichtigen,  den 
physiognomisch  hervorstechendsten  Charakterzug  dieser 
Bezirke  aus;  der  Florist  wird  sich  eingehend  mit  dem 
systematischen  Katalog  aller  Pflanzenarten  zu  beschäfti- 
gen haben.  Neben  vielen  gemeinen,  weit  und  fast  überall 
verbreiteten,  wird  er  andere  bemerken,  die  ihr  Auftreten 
und  ihre  Standorte  mit  dem  wechselnden  Bezirk  ebenfalls 
gewechselt  haben;  sehr  viele  Arten  sind  nur  in  einem 
Bezirke  recht  häufig  und  tonangebend,  nehmen  ab  in 
dem  Nachbarbezirke  und  erreichen  überhaupt  nicht  mehr 
die  femer  liegenden;  eine  kleinere  Zahl  von  Arten  und 
auch  einige  Gattungen  sind  auf  einen  einzelnen  Bezirk 
beschränkt,  und  hier  ragt  der  Alpenbezirk  mit  der  oberen 
Region  der  Alpen  selbst,  der  Pyrenäen  und  Karpaten 
besonders  hervor.  Man  sagt  immer,  daß  Deutschland 
keine  einzige  Pflanzenart  für  sich  allein  besäße  (nachdem 
man  nämlich  die  Flora  der  Alpenkette  selbst  ausgeschlos- 
sen hat,  wo  200  starke  Arten  „endemisch**  geblieben  sind), 
und  man  hat  auch  darin  der  Thatsache  nach  recht;  der 
Grund  liegt  aber  darin,  daß  die  Staatenbildung  mit  den 
Florenbezirken  in  Mitteleuropa  gar  nicht  zusammenfällt, 
daß  Deutschland  an  drei  verschiedenen  Bezirken,   an 


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212  Oscar  Drude, 

dem  baltischen,  nordatlantischen  und  alpinen,  Anteil  hat, 
daß  aber  dieselben  Bezirke  in  alle  Nachbarstaaten  über- 
greifen oder  sogar  ihren  Schwerpunkt  dorthin  verlegen. 
Wenn  man  nach  dem  Besitz  eigentümlicher  (,,  endemi- 
scher") Arten  fragt,  so  müssen  zuvor  die  natürlichen 
Einheiten  festgestellt  sein,  für  welche  die  Fragestellung 
Bedeutung  hat;  oder  es  kann  sich  die  Frage  nur  um 
solche  Arten  drehen,  welche  ein  absolut  sehr  kleines 
Areal  haben.  Von  letzteren  fällt  aber  keines  auf  die 
Länder  des  Deutschen  Reiches. 

Gaueintellnng  der  deutschen  Flora. 

Für  so  sehr  in  analytische  Einzelheiten  eindringende 
Arbeiten,  wie  sie  floristische  Untersuchungen  in  einem 
kleinen  Bezirksteile,  in  einer  Provinz  Deutschlands  oder 
in  einem  einzelnen  Berglande,  Stadtgebiete,  vorstellen, 
genügt  zur  Sicherstellung  der  Grundlage,  auf  welcher  die 
eigenen  Studien  errichtet  werden  sollen,  die  Beschränkung 
vom  Ueberblick  des  gesamten  nordischen  Florenreichs  auf 
den  einzelnen  Bezirk  noch  nicht;  in  diesem  fallen  noch 
vielerlei  und  merkwürdige  Verschiedenheiten  auf,  beson- 
ders hervorgerufen  durch  allmählich  mit  einer  ausge- 
sprochenen oder  in  sporadische  Standorte  aufgelösten 
Vegetationslinie  abschließende  Areale  auffälliger  Arten; 
von  diesen  erreicht  gewöhnlich  in  einer  bestimmten  Rich- 
tung eins  nach  dem  anderen  sein  Ende,  um  von  anderen 
Arealen,  die  einem  anderen  Bezirke  als  Ausläufer  ange- 
hören, ebenso  in  allmählicher  Aufeinanderfolge  ersetzt 
und  überdeckt  zu  werden.  Zweitens  aber  sind  auch  in 
demselben  Bezirke  die  Geselligkeitsanschlüsse  der 
vorherrschenden  Arten,  ihre  Häufigkeit  und  die  Bildung 
bestimmter  Artgenossenschaften  innerhalb  der  be- 
stehenden Formationen,  noch  recht  verschieden  und  lassen 
deutliche  Eigenschaften  bestimmter  „Landschaften^  her- 
vortreten. Diese  Landschaften  der  deutschen  Flora  bis 
zum  Nordfuß  der  Alpen  sollen  hier  genannt  und.  Kerners 
Bezeichnungs weise  folgend,  als  besondere  Gaue  benannt 
werden ;  ihre  Merkmale  sind  hier  nur  in  den  kürzesten  Zügen 


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Pflanzenverbreitung.  213 

angedeutet,  die  Ausführung  der  vorgenommenen  umfang- 
reichen Bearbeitung  der  „Pflanzenverbreitung  in  Deutsch- 
land* zu  überlassen,  ja  noch  mehr:  zu  erhoffen,  daß 
durch  Andeutung  des  einzuschlagenden  Weges  noch  neue 
Arbeiten  da,  wo  der  Nachweis  schwierig  ist,  für  die 
nächsten  Jahre  hervorgerufen  werden !  ^) 

Dem  baltischen  Florenbezirke  gehören  in  Deutschland 
an:  1.  der  livländische  Gau,  2.  der  Pommerngau,  3.  der 
masovische,  4.  der  märkische  und  5.  der  Itibische  Gau; 
der  nordatlantische  Bezirk  fällt  auf  Deutschland  nur  mit 
6.  dem  Nordseegau,  in  welchem  er  nordostwärts  ausläuft; 
die  übrigen  gehören  zum  Alpenbezirk,  nämlich:  7.  der 
mitteldeutsche,  8.  der  Sudeten-,  9.  der  Böhmerwaldgau, 
10.  der  bojische  Gau,  11.  der  deutsche  Juragau,  12.  der 
Niederrheingau  und  13.  der  Oberrheingau;  endlich  führt 
der  14.  Gau,  das  Alpenvorland,  zu  den  hier  nicht  zu  er- 
örternden Alpenlandschaften  selbst  über*). 

Um  diese  Gaueinteilung  sich  einzuprägen,  wird  es 
zweckmäßig  sein,  mit  den  Gauen  7 — 9  zu  beginnen, 
welche  als  ,|hercynisches  Bergland*  zusammengefaßt 
werden  können.  In  breitem  Gürtel  vom  Wichen  bei  Osna- 
brück über  Hannover,  Braunschweig,  Magdeburg,  Torgau, 
durch  das  nördliche  Sachsen  zur  Grenze  von  Ober-  und 
Niederlausitz,  dann  durch  Schlesien  entlang  dem  linken 
üfergehänge  der  Oder  am  Ostabfall  der  Sudeten  scheidet 
dieses  Bergland  die  nördliche  und  nordöstliche  Niederung 

^)  Erst  nach  Druck  dieses  Artikels  erschien  als  Vortrag,  ge- 
halten in  der  Senckenbergischen  natorf.  Gesellsch.  in  Frankfurt  a.  M., 
die  Uebersicht  über  ^Die  Gliederung  der  deutschen  Flora*  von  Dr. 
W.  Jännicke.  In  dieser  ist,  einem  anderen  Prinzipe  folgend,  zu- 
nächst die  Region  der  £bene  von  der  des  Mittelgebirges  und  des 
Hochgebirges  abgeschieden  und  dann  eine  Zoneneinteilung  vor- 
genommen. Sie  faßt  also  die  Berg-  und  Thallandschaften  weniger 
einheitlich  zusammen  als  es  für  physikalische  Geographie  not- 
wendig erscheint,  sobald  man  nicht  die  Verbreitung  bestimmter 
Formationsgruppen  darzustellen  beabsichtigt.  Das  hat  aber  auch 
Verfasser  besonders  mit  seinen  wertvollen  Listen  der  Berg-  und 
Hochgebirgsfloren  Mitteldeutschlands  beabsichtigt 

')  Bei  der  Wahl  der  Benennungen  hatte  der  Verfasser  sich 
der  freundlichen  Unterstützung  von  Herrn  Professor  Dr.  Kirch- 
hoff, der  selbst  einige  dieser  Namen  geschaffen  hat,  zu  erfreuen. 


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214  Oscar  Drude, 

von  den  südlicheren  Gauen  des  Alpenbezirkes,  bildet  im 
Quellgebiet  der  Oder  mit  dem  Südostabfall  des  Altvater- 
gebirges die  Grenze  gegen  den  Westrand  vom  Karpaten- 
gau,  umfängt  dann  den  böhmischen  Kessel,  indem  die 
ganzen  Sudeten  bis  zur  Höhenstufe  von  300  m  herab,  femer 
das  Erzgebirge,  das  Tepler  Bergland,  der  Böhmerwald  und 
der  bayrische  Wald  bis  zum  nördlichen  Knie  der  Donau 
und  über  die  Nab  hinaus  zu  ihm  gehören,  weiterhin  das 
Fichtelgebirge,  der  Franken-  und  Thüringerwald,  dann 
das  Bergland  an  der  oberen  Fulda  (aber  mit  Ausschluß 
der  Rhön),  und  nun  nördlich  des  Vogelsberges  das  Hügel- 
land links  der  W^eser  bis  zum  Teutoburger  Walde,  wo 
der  Ausgangspunkt  nahe  Osnabrück  wieder  erreicht  ist, 
und  es  schließt  in  seinen  Grenzen  den  Harz  und  Thü- 
ringen ein. 

Dieses  hercynische  Bergland  zerfällt  in  die  drei  an 
der  oberen  Saale  nördlich  des  Frankenwaldes  zusammen- 
stoßenden Gaue:  mitteldeutscher  Gau  um  den  Harz  und 
Thüringer wald,  ostwärts  bis  zu  einer  Linie,  welche  vom 
Frankenwalde  auf  Leipzig  zu  und  von  da  zur  Elbe  zwi- 
schen Torgau  und  Wittenberg  läuft;  Sudetengau  ost- 
wärts dieser  Linie;  Böhmerwaldgau,  vom  Frankenwalde 
an  über  das  Fichtelgebirge  zum  sächsischen  Vogtlande 
und  Tepler  Berglande  den  südlichen  Anteil  des  hercyni- 
schen  Berglandes  bis  zur  Donau  umfassend.  Auf  den 
höchsten  Gebirgserhebungen  finden  sich  hier  einige  den 
Alpen  fehlende  skandinavische  Arten  {Carex  sparsiflom^ 
Saxifraga  nivalis  ^  Pedicularis  mdeticä);  charakteristisch 
ist  auch  Betula  nana,  Saxifraga  decipiens,  Ledum  paltistre 
Calamagrostis  Halleriana,  Hieracium  alpinum  und  Unter- 
arten !  Die  den  Alpen  entstammenden  Charakterarten  sind 
in  den  Sudeten,  dem  Böhmerwalde,  dem  Harze  in  abneh- 
mender Zahl  und  Formationsfülle  vorhanden;  dem  mittel- 
deutschen Gau  fehlen  die  Krummholzbestände  im  oberen 
Berglande,  welche  überall  dort  im  Sudeten-  und  Böhmerwald- 
gau zerstreut  sind;  westliche  Pflanzen,  wie  Digitalis  pur- 
purea,  Hdlebonis  viridis  und  foetidus,  sind  im  mitteldeut- 
schen Gau  häufig,  und  dessen  thüringisch-südhannöversche 
Muschelkalkflora  bietet  ein  buntes,  im  Sudetengau  kaum 


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Pflanzenverbreitung.  215 

angedeutetes  Bild  einer  Verwandtschaft  mit  dem  süd- 
deutschen Juragau;  südöstliche  Arten  dringen  im  Sudeten- 
gau reichlich  vor,  At^ncus  Silvester  und  Cirsium  hetero- 
phyttum  sind  charakteristische  Begleiter  der  Berglaub-  und 
Nadelwälder,  während  der  Böhmer waldgau  sich  noch 
durch  den  Besitz  von  Soldanella  montana,  Erica  camea 
u.  a.  auszeichnet.  Die  Weißtanne  hat  im  mitteldeutschen 
Gaue  selbst  weit  südlich  vom  Harze  ihre  natürliche  Vege- 
tationsgrenze, ist  aber  in  dem  Sudeten-  und  Böhmerwald- 
gau als  herrlicher  Waldbaum  in  dem  Hügel-  und  Berg- 
lande reich  entwickelt. 

Im  Westen  bildet  der  Niederrheingau  das  Grenz- 
gebiet zwischen  Niederung  und  Bergland;  von  der  West- 
grenze des  mitteldeutschen  Gaues  an  überdeckt  er  das 
ganze  rheinische  Schiefergebirge  und  die  Ardennen  bis 
zum  Westfuße  und  umfaßt  von  der  Rhön  südwärts  das 
Mainthal  bis  Schweinfurt,  den  Odenwald,  Bheinhessen, 
im  Hunsrück  das  rheinische  Schiefergebirge  wieder  er- 
reichend. Viele  westliche  Arten  aus  berg-  und  felslieben- 
den Formationen  erreichen  hier  die  Nordgrenze  ihrer  Ver- 
breitung. 

Nördlich  dieser  Berglandsgaue  breiten  sich  die  sechs 
Gaue  der  norddeutschen  Niederung  aus.  Der  liv län- 
dische Gau  umfaßt  von  DeutschJand  nur  die  nordöst- 
lich der  Vegetationslinie  der  Rotbuche  (siehe  Flk.  v.  Eur.) 
gelegene  litauische  Nordspitze  Ostpreußens;  Andromeda 
(*  C/iamaedaphne)  calyculata  reicht  aus  dem  bottnischen  Be- 
zirk bis  hierher,  Ruhm  Chamaetnoru^  und  Betula  nana  sind 
hier  noch  charakteristische  Formationsgenossen.  An  diesen 
Gau  schließt  sich  der  Po  m  nie  mg  au  an,  die  preußisch- 
pommersche  Seeenschwelle  und  Küste  bis  gegen  Greifswald 
und  Demmin  in  Mecklenburg  umfassend;  bis  hierher  finden 
sich  vereinzelt  Swertia  perenniSj  Eubus  Chamaemortcs  (im 
Swinemoor)  und  Betida  humilis  als  Vertreter  der  nörd- 
lichen Gaue  in  der  Ebene,  von  da  an  nur  noch  im  Berg- 
lande. 

Der  masovische  Gau  zieht  aus  Polen  von  der 
mittleren  Weichsel  entlang  der  Warthe  und  am  nördlichen 
Gehänge  der  Netze  endend  durch  die  Neumark  bis  zum 


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216  Oscar  Drude, 

Oderbnich  und  umfaßt,  von  da  der  Oder  aufwärts  folgend, 
auch  Niederschlesien,  im  Südwesten  vom  Sudetengau  be- 

grenzt;  weiter  südwärts,  im  Quellgebiet  der  WarÜie  und 
berschlesien  berührend,  tritt  der  sarmatische  Gau 
an  Deutschland  heran.  Hier  finden  Campantda  sibirica, 
Adenophora  lUiiflora,  Pulsatilla  patens,  Dianthus  armarius 
ihre  Westgrenzen  (siehe  Flk.  v.  Eur.,  Vegetationslinie  [3]), 
Cytisus  ratisbonensis  seine  Nordwestgrenze. 

Im  Norden  des  hercynischen  Berglandes  zwischen 
dem  Thallauf  der  Qörlitzer  Neisse  im  Osten  und  dem 
Elbthal  bei  Magdeburg  im  Westen  erstreckt  sich  der 
märkische  Qau  bis  zum  Oderbruch  und  der  Linie 
Demmin- Güstrow -Schwerin -Ludwigslust  als  Nordgrenze, 
ein  eingeschlossener,  starker  Charaktere  entbehrender, 
man  könnte  sagen :  etwas  indifferenter  Gau.  Hier  wachsen 
noch  einige  vereinzelte  nordische  Arten  in  Brüchen  (Lin- 
naea  horealis  bei  Berlin!  Eriophorum  alpinum  am  Wen- 
tower  See  im  südlichsten  Mecklenburg-Strelitz) ;  östliche, 
über  die  vorher  genannten  hinausgreifende  Arten  {Oste- 
ricum  pcUmtre)  sind  zertreut;  ihnen  begegnen  die  äußer- 
sten Vorposten  der  atlantischen  Arten,  welche  aber  noch 
nicht  in  geschlossenen  Massen  auftreten  {Erica  Tetralix, 
bis  zum  Südrande  dieses  Gaues  nördlich  von  Dresden  vor- 
dringend); einzelne  Charakterarten  des  Berglandes  schie- 
ben sich  nordwärts  vor. 

Die  westlichen  Niederungen  nehmen  der  lübische 
Gau,  von  Greifs wald  und  Rügen  über  die  Seeenschwelle 
rings  um  die  Lübecker  Bucht  bis  Schleswig  ziehend,  und 
der  Nordseegau,  von  Flandern  im  Südwesten  durch 
Holland  und  das  gesamte  Friesland  nordwärts  an  der 
Küste  ausgedehnt  und  die  oldenburgischen  Moore  wie  die 
ganze  Lüneburger  Heide  nebst  dem  Unterlauf  der  Elbe 
von  Hitzacker  an  umfassend,  in  breitem  Lanc^ürtel  ein 
und  werden  erst  im  Norden  durch  den  jütländischen 
Gau  abgelöst.  Beide  sind  einander  ähnlich.  Focke  sagt, 
daß  im  großen  Ganzen  der  nordwestdeutsche  Vegetations- 
charakter von  Holland  bis  Schleswig-Holstein  derselbe 
bleibt;  dennoch  scheint  es  mir  geboten,  hier  eine  Schei- 
dung so  vorzunehmen,   daß  zum  atlantischen  Bezirk  der 


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Pflanzenverbreitung.  217 

mitteleuropäischen  Flora  gehörig  nur  der  Nordseegau  ge- 
rechnet wird,  in  welchem  die  nordatlantische  Flora  (in 
nordwestlicher  Richtung  gedacht)  zum  letztenmal  mit  be- 
sonderer Fülle  der  bestimmenden  Formationen:  Heiden  der 
Erica  Tetralix,  Gebüsche  der  Myrica  Gale,  Moore  mit  Nar- 
thecium  ossifragum  u.  s.  w.  auftritt,  während  diese  Pflanzen 
weiter  nordwestlich  bis  zum  südlichen  Schweden  (Schonen, 
Westerbotten)  und  bis  Norwegens  Westküste  an  zerstreuten 
Plätzen  zwar  mit  ihrer  charakteristischen  „Artgenossen- 
schaft*  auftreten,  aber  nicht  die  Formationen  bilden. 
Ganz  ähnlich  ziehen  ja  auch  die  Artgenossenschaften  des 
südöstlichen  bojischen  Gaues  in  das  hercynische  Berg- 
land hinein  und  halten  zumal  die  sächsischen  Höhen  des 
Elbthales  besetzt,  sind  aber  nur  eine  mehr  oder  weniger 
wichtige,  meist  verarmte  Genossenschaft  in  einer  über- 
wiegenden mitteldeutschen  Berg-  und  Hügelflora.  In  den 
lübischen  Gau,  zu  dem  das  östliche  Hügelland  Schleswig- 
Holsteins  gehört,  ziehen  auch  noch  die  skandinavisch- 
jütländischen  Artgenossenschafken  und  lassen  hier  den 
baltischen  Charakter  gegenüber  dem  nordatlantischen 
überwiegen,  und  bottnisch-livländische  Charakterarten,  wie 
Linnaea  borealis  (bei  Lübeck),  Erlophorum  alpinum  (Hol- 
stein, Mecklenburg),  erscheinen  ebenfalls  noch  zwischen 
denselben. 

Kehren  wir  zurüch  zu  den  Gauen  des  Alpenbezirkes, 
welche  südlich  vom  hercynischen  Berglande  und  dem 
Mittelrheingau  liegen.  Hier  breitet  sich  zunächst  im  Osten 
der  bojische  Gau  im  böhmischen  Kessel  und  über  den 
mährischen  Rücken  hinüber  bis  zum  Ostgehänge  am  March- 
thal  aus,  südwärts  bis  gegen  die  Donau  hinanreichend. 
Kerners  „quadischer  Gau*  ist  in  etwas  anderer,  doch 
sehr  ähnlicher  Abgrenzung  angenommen.  Südöstliche 
Pflanzengenossenschaften  sind  hier  häufig,  z.  B.  die  Ge- 
büsche von  Spiraea  salicifolia,  trockene  Bergwiesen  mit 
Cirsium  canum,  Iris  sibirica  u.  a.;  manche  dieser  Arten 
erreichen  hier  ihre  Nordwestgrenze,  andere  treten  —  wie 
schon  erwähnt — an  geeigneten  Plätzen  in  das  hercynische 
Bergland  sporadisch  über,  da  fast  stets  der  Grundsatz  gilt, 
daß  Hauptelemente  eines  Gaues  als  Nebenelemente  in  den 


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218  •  Oscar  Drude, 

benachbarten  auftreten.  Am  Ostufer  der  March  beginnt 
dann  der  große  karpatische  Gau,  welcher  im  Quell- 
gebiet der  Oder  unmittelbar  an  das  hercynische  Bergland 
herangeht ;  die  Umgebung  von  Wien  hat  eine  sehr  reich- 
haltige Flora,  indem  hier,  im  Alpenvorlande,  die  nord- 
östlichen Ausläufer  der  Alpen  selbst  enden,  unmittelbar 
an  deren  Ostsaum  aber  der  pannonische  Gau  mit 
seiner  zum  westpontischen  Bezirk  gehörigen,  sehr  ab- 
weichend von  der  hercynischen  Vegetation  gestalteten 
Flora  beginnt,  und  nördlich  der  Donau  der  karpatische 
und  bojische  Gau  neue  Elemente  hinzufügt;  diese  Be- 
ziehungen treten  auf  Kerners  österreichischer  Florenkarte 
sehr  klar  hervor. 

lieber  den  fränkischen  und  schwäbischen  Jura,  bei 
Schaff  hausen  an  den  Rhein  stoßend,  westwärts  bis  zum 
Schwarzwalde  und  über  das  Neckargebiet  bis  zum  Oden- 
walde,  von  da  zur  Tauber  und  über  den  Main  bei  Schwein- 
furt und  Bamberg  bis  zimi  Frankenwalde  ausgedehnt, 
breitet  sich  der  deutsche  Juragau  aus,  welcher  eine 
große  Verwandtschaft  mit  Thüringens  Kalkflora  im  her- 
cynischen Berglande  zeigt,  sich  aber  durch  beigemischte 
alpine  Elemente  gut  unterscheidet.  Auch  scheint  pflanzen- 
geographisch der  Sachverhalt  wohl  so  aufzufassen  sein, 
daß  in  der  jüngsten  geologisch-floristischen  Entväcklung 
Mitteldeutschlands  in  dem  warmen  Muschelkalkgelände 
des  südlicheren  hercynischen  Berglandes  die  süddeutsche 
Flora  entweder  ihre  Plätze  behielt  oder  wieder  einnehmen 
konnte;  dem  Deutschen  Juragau  gehört  sie  vollgültig  zu, 
in  dem  hercynischen  Berglande  bildet  sie  ein  nicht  all- 
gemein verbreitetes  Nebenelement. 

Westlich  dieses  Gaues  beherrscht  der  Oberrheingau 
den  Schwarzwald,  die  Vogesen,  Lothringen,  die  Pfalz  und 
das  eingeschlossene  Rheinthal  von  Basel  bis  Bingen,  durch 
westliche  Sippen  sowohl  in  den  Thälem  als  auf  den  Bergen 
ausgezeichnet,  südwestlich  durch  den  sich  von  Basel  bis 
gegen  Lyon  hin  erstreckenden  Schweizer  Juragau  ab- 
gelöst. Endlich  zieht  sich  vom  Donauthal,  wo  der  junge 
Strom  den  schwäbischen  Jura  verlassen,  und  vom  Boden- 
see, entlang  dem  Nordfuß  der  Alpenkette  selbst,  bis  nach 


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Pflanzen  Verbreitung.  219 

Wien  der  Qau  des  Alpenvorlandes  hinüber,  ausge- 
zeichnet durch  die  zahlreichen  Besiedelungen,  welche  er 
von  der  Alpenflora  erfahren  hat,  bei  deren  Gauen  wir 
hier  stillstehen. 

Es  ist  dem  Eingeweihten  selbstverständlich,  dass, 
wie  überhaupt  pflanzengeographische  Begrenzungen,  so 
hier  diejenigen  der  Gaue  deutscher  Flora  nicht  in  starren 
Grenzen,  sondern  als  plastische  Einheiten,  mit  Wiederkehr 
in  dem  Nachbargelände  und  umgekehrt  mit  von  dem  letz- 
teren durch  andere  Vegetation  ausgefüllten  Lücken,  zu 
erfassen  sind.  Was  sie  zu  bedeuten  haben,  wofür  sie 
nützen  und  einen  weiteren  Untergrund  bieten  sollen,  auf 
welche  Gesichtspunkte  in  ihrer  Pflanzenliste  bei  einer  ein- 
gehenden Schilderung  zu  achten  ist,  mag  aus  folgender 
Schlui^zusammenfassung  dieses  Gegenstandes  hervorgehen. 

Der  Hauptmasse  nach  sind  die  Länder  deutscher  Zunge 
nördlich  der  Alpen  eingenommen  von  der  südbaltischen 
Flora  und  von  der  mittleren  Alpenflora  aus  den  Berg- 
und  Hügelregionen  mit  verarmter  Hochgebirgsregion. 
Diese  Hauptmischung  mag  als  „mitteleuropäisch**  im 
engen  Sinne,  kurzweg  als  „deutsch"  bezeichnet  werden. 
Dieses  deutsche  Florenbild  hat  nun,  der  Lage  seiner  ein- 
zelnen Landesteile  entsprechend,  von  allen  Seiten  her 
andere  Elemente  hinzugefügt  erhalten,  welche  in  manchen 
Gauen  eine  bis  zum  Charaktergeben  sich  steigernde  Häu- 
figkeit besitzen.  Auf  einer  Karte  durch  verschiedenfarbige 
Sternchen  und  Punkte  ausgedrückt,  würde  fast  allerorts 
Buntfarbigkeit  herrschen,  aber  in  den  verschiedenen  Gauen 
würden  meistens  neben  der  deutschen  Hauptfarbe  eine 
oder  zwei  Nebenfarben  zumeist  in  die  Augen  springen. 
Beispielsweise  würde  das  arktische  (aus  dem  norwegischen 
Fjeldbezirk  herrührende)  Element  im  Harz  mit  Hinzu- 
fügung von  etwas  Hochalpenflora  die  Nebenfarben  bilden, 
atlantische  oder  pannonische  Farbsterne  aber  würden  in 
seiner  eng  umgrenzten  Flora  fehlen.  So  können  wir  über- 
haupt die  im  deutschen  Florenbilde  auftretenden  Neben- 
elemente als  uralisch,  hochskandinavisch,  hochalpin,  nord- 
atlantisch, westpontisch  und  mediterran  unterscheiden.  Und 
so  sind  die  einzelnen  Gaue  durch  die  Art  und  Weise  der 


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220  Oscar  Drude, 

Hinzufügung  von  einem  oder  mehreren  Nebenelementen 
und  durch  den  Grad  von  deren  Anteil  an  der  Zusammen- 
setzung der  Flora  ausgezeichnet,  und  nur  um  eine  Grund- 
lage zur  gegenseitigen  Verständigung  zu  geben  bedarf 
es  der  Abgrenzung  bestimmter  Landschaften  und  Gaue, 
welche  aber  der  denkende  Geist  überfliegen,  in  ihrem 
ursächlichen  Zustandekommen  erfassen  soll.  Die  Gesichts- 
punkte, unter  denen  sich  eine  solche  Gliederung  ergiebt, 
nicht  aber  die  geographischen  Grenzen  der  herausgeglie- 
derten und  stets  der  Willkür  in  etwas  preisgegebenen 
Teile  sind  das  Wesentliche  und  das  bleibend  Wissenschaft- 
liche, das  übrige  ist  der  nicht  zu  entbehrende  „Form- 
kram **  der  Pflanzengeographie. 

Einige  Litteraturquellen  für  die   Gliederung  der  deutechen 

Flora  durch  die  sich  durchziehenden  Vegetationslinien  charakte- 
ristischer Pflanzenareale : 

Grisebach,  Ueber  die  Vegt tationslinien  des  nordtcest liehen  Deutsch- 
lands, (Göttinger  Studien  1845,  Abteil.  I,  S.  461—562.  Neu  ab- 
gedruckt in  den  »Gesammelten  Abhandl.  u.  kl.  Schriften",  Leip- 
zig 1880,  8.  187.)  Die  erste  Sonderausarbeitung  dieser  Art  von 
epochemachender  Bedeutung. 

Elinggräff,  Bemerkungen  über  Pflanzengrenzen  oder  Vegetations- 
linien  im  nordlichen  Europa,    (Botan.  Zeitg.  1858,  S.  350.) 

Gern  dt,  Gliederung  der  deutschen  Flora  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung Sachsens,  Zwickau  1876—77.  (8.  u.  9.  Jahresber.  der 
Realschule  I.  Ordn.  daselbst.) 

Noll,  Einige  dem  Rheinthale  von  Bingen  bis  Koblenz  eigentümliche 
Pflanzen  und  Tiere.  (Im  Jahresber.  d.  Vereins  fQr  Geographie 
und  Statistik,  Frankfurt  a.  M.  1878.) 

LOw,  Ueber  Perioden  und  Wege  ehemaliger  Pflanzenwanderungen 
im  norddeutschen  Tieflande.  (Linnaea  1879,  Bd.  XLU,  S.  511 
bis  660.)  Eine  ausgezeichnete,  besonders  das  Vordringen  der 
östlichen  Pflanzen  aus  dem  pannonischen,  sarmatischen,  maso- 
vischen  und  livländischen  Gau  in  das  Herz  Deutschlands  be- 
handelnde Arbeit. 

Drude,  Die  Anwendung  physiologischer  Gesetze  zur  Erklärung  der 
Vegetationslinien,  (Habilitationsschrift,  Göttingen  1876.)  Eine 
kleine,  allgemeine,  nicht  auf  einen  einzelnen  Gau  gerichtete 
Studie. 

->  Die  Verteilung  und  Zusammensetzung  östlicher  Pflanzengenossen' 
Schäften  in  der  Umgebung  von  Dresden,  (Festschrift  der  ,Isis*, 
Dresden  1885,  S.  75—107.) 

Schulz,  Die  Vegetationsverhältnisse  der  Umgebung  von  Halle.  (97  S. 
mit  4  K.,  Halle  1888.  Sonderdruck  der  Mitteil,  des  Vereins  för 
Erdkunde  zu  Halle,  Jahrg.  1887.)   Arealdarstellungen  auf  Karten. 


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Pflanzenverbreitung.  221 

V.  Uechtritz,  Die  Vegetationslinien  der  scklesischen Flora,  (Sonder- 
druck aus  Fieks  Flora  von  Schlesien  1881,  S.  76—111.) 

Neilreich,  Wiener  Flora,  und  Sendtner,  Bayrischer  Wald,  u.a. 
siehe  im  Litteratur-Schlufiverzeichnis.  Roth,  Ffl,  d.  Atl.  Ozeans, 
siehe  oben  S.  209. 


Die  ForschuBgsrichtuBgen 

in    Hinsicht   auf   Pflanzengeschichte,    Pflanzen- 
vorkommen und  Pflanzenleben  innerhalb  der 
deutschen  Flora. 

1.  OesoMclite  der  Flora. 

Bei  der  Schilderung  der  Gaueinteilung  Deutschlands 
ist  in  den  allgemeinen  Gesichtspunkten  auf  den  Entwick- 
lungsgang hingewiesen,  den  die  Flora  mutmaßlich  in  der 
jüngsten  Erdgeschichte  durchlief,  um  zudem  jetzt  herrschen- 
den Bilde  zu  gelangen.  Es  wird  auch  daraus  verständlich 
geworden  sein,  dass  die  deutsche  Florengeschichte  nur  im 
Zusammenhange  mit  der  des  gesamten  nordischen  und 
mediterranen  Plorenreichs  richtig  erfasst  werden  kann.  Um 
so  genauer  sind  bei  uns  die  Einzelzüge  zu  verfolgen, 
die  Bausteine  zu  dem  wichtigen  Gesamtuntemehmen  zu- 
sammenzutragen. 

Die  Bestimmung  der  fossilen  Pflanzenreste,  zumal  der 
aus  der  Tertiärperiode  stammenden,  ist  daher  nicht  nur 
eine  geologische,  sondern  ebensosehr  eine  botanische  Auf- 
gabe ;  aber  mit  anderen  Hilfsmitteln  durchgeführt  und  in 
ein  anderes  Gebiet  hinüberspielend,  braucht  sie  hier  nur 
angedeutet  zu  werden.  Erst  die  mit  der  allerjüngsten 
Zeit  sich  beschäftigenden  Forschungen  fallen  ganz  in  die 
floristisch-pflanzengeographische  Behandlungsweise ,  weil 
sie  mit  den  jetzt  lebenden  Arten  zu  thun  haben;  und 
da  sind  besonders  vier  Richtungen  zu  verfolgen :  die  Durch- 
forschung der  Torfmoore,  die  Aufsuchung  pflanzengeo- 
graphischer ^Relikte*,  die  Urkundenforschung  nach  dem 
Bestehen  altangesessener  Formationen,  der  Verfolg  neuerer 
Wanderungen  und  ihrer  Ursachen. 


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222  Oscar  Dnide, 

Torfmoore. 

Litteratur: 

Grisebach,  Veher  die  Bilduvg  des  Torfs  in  den  Emsmoaren,  1845. 
(Neu  abgedruckt  in  den  , Gesammelten  Abhandl.  u.  kl.  Schriften 
zur  Pflanzengeographie**,  Leipzig  1880,  S.  52 — 136.) 

A.  Blytt,  flssaij  on  the  Immigration  of  the  Noricegian  Flora, 
Christiania  1876. 

—  Theorie  der  wechselnden  kontinentalen  und  insularen  Kliwate. 
(In  Englers  botan.  Jahrbüchern  II,  S.  1—50.) 

C.  Vaupell,  De  nordsjaellandske  Skovmoser,  KjöbenhaTn  1851, 
56  S.  mit  2  Taf.  (L^ntersuchung  der  Waldmoore  Seelands  in 
Verfolg  der  Ansichten  Steenstrups,  Videnskabemes  Selskabs 
Afhandl.  1841.) 

A.  Pokorny,  Berichte  der  Kommission  zur  Erforschung  der  Torf- 
moore Oesterreichs.  (In  den  Verhandlungen  des  zool. -botan. 
Vereins  in  Wien  1858,  S.  209  u.  f.;  1859,  S.  81.) 

F.  Cohn,  Jahresber.  d,  Schles.  Gesellsch,  für  vaterl.  Kultur  1883, 
S.  244;  1884,  S.  303  u.  s.  w. 

Nathorst,  2ieue  Funde  von  Glacialpflanzen  {Mecklenburg,  Schweiz 
u.  8.  w.)    (In  Englers  botan.  Jahrbüchern  I,  S.  431 ;  III,  S.  218.) 

Die  Torfmoore  zeigen  viele  Spuren  verschwundener 
Vegationsformationen  und  örtlich  verschwundener  Arten, 
aber  nur  von  solchen,  welche  jetzt  noch  lebend  vielerorts 
in  Fülle  anzutreffen  sind;  in  Verbindung  mit  den  Klima- 
schwankungen gebracht  (Blytt),  liefern  sie  wertvolle  Doku- 
mente für  die  seit  der  Eisbedeckung  vor  sich  gegangenen 
Wechsel.  Noch  viel  kann  in  Deutschland  in  dieser  Hin- 
sicht untersucht  werden;  Moorkommissionen  sind  zu  dem 
Zwecke  gebildet  (Schlesische  Gesellschaft).  Als  Beispiel  der 
Berücksichtigung  dieser  Richtung  sei  Krauses  „Pflanzen- 
geographische Uebersicht  der  Flora  von  Mecklenburg**  ge- 
nannt, wo  (S.  62)  Espe,  Kiefer,  Heide,  Eiche,  Erle,  schließ- 
lich erst  die  Buche  als  aufeinanderfolgende  Formations- 
glieder genannt  werden. 

Die  Aufsuchung  von  „Relikten*  hat  dagegen  in  der 
lebenden  Flora  stattzufinden  und  verleiht  dem  Botani- 
sieren einen  hohen  Reiz  und  bleibenden  Wert.  So  viele 
Pflanzenfreunde  jagen  nach  „Seltenheiten'*  und  greifen  so 
oft  nach  solchen  von  geringer  Bedeutung;  es  kann  ja 
manchmal  ganz  gleichgültig  sein,  ob  auf  irgend  einer 
Wiese  auch  diese  oder  jene  Orchis  wächst.    Ganz  anders 


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Pflanzenverbreitung.  223 

bei  den  unersetzlichen  Fundstätten,  welche  als  Zeugen 
verschwundener  Perioden  dienen;  mit  Recht  haben  Bo- 
taniker wie  Bartling  und  Grisebach  bei  ihren  Exkur- 
sionen zum  Meißner  im  Werragebiet  die  alten  Angaben 
nach  dem  dortigen  Vorkommen  von  Dryas  octapetala  und 
Bubus  Chamaeniorns  auf  das  sorgfältigste  geprüft,  ohne 
jedoch  jemals  etwas  von  diesen  Pflanzen  zu  finden ;  denn 
weit  und  breit  im  mitteldeutschen  Berglande  fehlt  die 
Dryas,  und  Biibus  Chamaemorus  findet  sich  erst  wieder, 
im  Nordosten  und  auf  den  Sudeten.  Die  Auffindung  des 
von  Hampe  bestrittenen  Vorkommens  von  Eriophorum 
alpinum  am  Brocken  (neben  Carex  sparsifltyra)  war  von 
Bedeutung,  da  sie  die  Spuren  der  früheren  Ausdehnung 
nordischer  Arten  vervollständigte.  Ebenso  hat  auch  die 
Mediterranflora  ihre  „Relikte"  an  den  heißen  und  trockenen 
Standorten  im  südlichen  Gebiet,  überhaupt  jedes  beson- 
dere Florenbezirkselement.  Zu  diesen  Studien  gehört  aber 
neben  der  Ausdauer  und  dem  Talent  im  Sammeln  die 
Sachkenntnis;  man  muß  wissen,  um  was  es  sich  handelt, 
und  muß  zielbewußt  suchen. 

Auch  die  Kryptogamenforschung  hat  die  gleichen 
Aufgaben,  und  zuweilen  führt  deren  sichere  Lösung  zu 
besonders  glänzenden  Ergebnissen.  So  hat  Klinggräff 
schon  im  Jahre  1858  im  Anschluß  an  eine  noch  frühere 
Arbeit  Itzigsohns  in  der  „Botanischen  Zeitung"  (S.  350) 
eine  „Flora  der  erratischen  Blöcke"  geliefert,  in  welcher 
aus  der  Verbreitung  der  Moose  die  Herkunft  aus  Skandi- 
navien entwickelt  wird.  Ueber  die  Frage  nach  marinen 
Relikten  in  der  Kieselalgen-(Bacillariaceen-)Flora  der  Sol- 
quellen hat  Cohn  einige  interessante  Hinweise  gegeben 
(52.  Jahresber.  d  Schles.  Gesellsch.  f.  vaterl.  Cultur,  S.  112; 
siehe  auch  „Botan.  Ztg."   1875,  S.  605). 

Um  über  den  Wechsel  oder  die  Beständigkeit,  deut- 
licher gesagt:  über  die  natürliche  ürsprünglichkeit  oder 
Kultureinführung  unserer  jetzigen  Vegetationsformationen 
Aufschlüsse  zu  erhalten,  dürfte  in  vielen  FäUen  Urkunden- 
forschung und,  greifen  wir  weiter  zurück,  ein  Vergleich 
alter  Volkstraditionen  mit  der  Gegenwart  oder  ein  An- 
schluß  an   prähistorische  Forschungen    sehr  willkommen 


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224  Oscar  Drude, 

sein.  Borggreve  hat  in  einer  kleinen  Schrift  «Heide 
und  Wald;  spezielle  Studien  und  generelle  Polgerungen 
über  Bildung  und  Erhaltung  der  sogenannten  natürlichen 
Vegetationsformen  oder  Pflanzengemeinden*  (Berlin  1879) 
den  Grundsatz  ausgesprochen,  dafä  in  Deutschland  mit 
Ausschluß  der  bekannten  Urwaldpartieen  in  Bergländem 
fast  alle  Formationen,  so  auch  die  Heide  im  Nordsee- 
und  lübischen  Gau,  auf  menschlichen  Einfluß  zurückzu- 
führen seien.  Sein  Grundsatz:  „In  allen  stärker  bewohnten 
Kulturländern  übt  der  Mensch,  direkt  oder  indirekt  für, 
bezw.  gegen  einzelne  Organismen  Partei  ergreifend,  den 
weitaus  überwiegendsten  Einfluß  auf  die  Gestaltung  und 
den  Charakter  der  gesamten  Pflanzendecke,  so  daß  die 
Frage,  welche  Pflanzen  von  den  vielen  auf  dem  betreflfen- 
den  Standorte  vegetieren  könnenden  in  einer  Vegetation 
herrschen,  dort  fast  lediglich  durch  die  Art  der  Behand- 
lung resp.  Benutzung  des  Bodens  seitens  des  Menschen 
entschieden  wird**,  welcher  für  das  wirklich  kultivierte  Land 
in  größter  Strenge  gilt,  leugnet  auch  die  Ursprünglich- 
keit der  nicht  geradezu  kultivierten  Formationen,  und 
zwar  nicht  nur  hinsichtlich  der  Arten  der  selbstverständ- 
lich der  forstlichen  Auswajü  unterworfenen  Bäume,  son- 
dern die  Verteilung  von  Wald,  Heide,  Moor,  Wiese,  Anger 
überhaupt.  Diese  Ansicht  scheint  weit  über  ihr  Ziel 
hinauszuschießen  und  ist  neuerdings  hinsichtlich  der  balti- 
schen Heiden  von  Dr.  E.  Müller,  einem  umsichtigen 
dänischen  Forstschriftsteller  (in  dessen  »Studien  über  die 
natürlichen  Humusformen  und  deren  Einwirkung  auf  Vege- 
tation und  Boden**,  deutsche  Uebersetzung,  Berlin  1887, 
S.  224 — 271)  zurückgewiesen,  die  Heiden  als  durch  natür- 
Uche  Einflüsse  über  die  alte  Waldformation  siegend  zurück- 
geführt. Aber  es  mag  auf  das  Interesse  hingewiesen  sein, 
welches  die  Forschung  aus  dieser  Streitfrage  zu  ziehen 
berufen  ist. 

Was  der  Mensch  mit  seinen  Einflüssen  für  Umge- 
staltungen hervorrufen  kann,  soll  das  letzte  Glied  dieser 
florengeschichtlichen  Studien  bilden,  welches  besonders  den 
Pflanzenwanderungen  der  Gegenwart  Aufmerksam- 
keit  schenkt.      Eine    andere,    nicht   minder   interessante 


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Pflanzenverbreitung.  225 

Seite  der  Forschung  ist  es,  den  durch  Kulturbedingungen 
hervorgerufenen  Umgestaltungen  innerhalb  der  bestehen 
bleibenden  Formationen  nachzuspüren  und  dadurch  eine 
festere  Grundlage  für  oder  wider  die  so  kühn  von  Borg- 
greve  hingestellte  Behauptung  zu  gewinnen.  Werden 
Wiesen  künstlich  berieselt,  Bergwiesen  drainiert,  gedüngt 
u.  s.  w.,  so  werden  sich  bald  die  Wirkungen  dieser  Ein- 
grifife  in  einer  veränderten  Verteilung,,  im  Verschwinden 
einiger,  im  Auftauchen  anderer  Formationsglieder  zeigen. 
Ebenso  verdient  es  Beachtung,  wie  sich  auf  brachliegendem 
Boden  im  Walde,  in  der  Heide,  in  bestimmter  Reihen- 
folge eine  natürliche  Vegetationsdecke  einfindet  und  all- 
mählich zu  einer  der  sonst  bekannten  Formationen  hin- 
überführt. 

.  2.  Pflanzenvorkominen. 

Von  jeher  ist  das  Vorkommen  der  an  bestimmter  Oert- 
lichkeit  vereinigten  Pflanzenarten  als  die  Grundlage  aller 
weiteren  floristischen  Studien  betrachtet  worden.  Doch  hat 
man  wohl  im  allgemeinen  zu  sehr  die  systematische  An- 
ordnung vor  der  topographischen  vorwalten  lassen;  oft 
erfährt  man  über  die  wirkliche  Ausbreitung  der  interes- 
santesten (d.  h.  irgendwie  charakterbestimmenden!)  Arten 
nichts  als  die  Bemerkungen  „selten",  „stellenweise",  „ge- 
mein", oder  es  werden  einige  Ortschaften  genannt,  in 
welchen  sich  die  botanische  Exkursion  zur  Aufsuchung 
bestimmter  Arten  versammeln  kann.  Wenn  aber  wirk- 
lich eine  lebensvolle  Auffassung  der  floristischen  Auf- 
gaben den  heutigen  Standpunkten  der  Wissenschaft  ent- 
sprechend Wurzel  in  weiten  Kreisen  schlagen  soll,  so 
muß  die  sorgfältig  ausgearbeitete  und  geprüfte  Liste  der 
wirklich  vorhandenen  Arten  auf  geographischer,  deut- 
licher gesagt:  auf  topographischer  Grundlage  nach 
Vegetationsformationen  an-  und  umgeordnet,  letzteren 
überhaupt  starke  Rechnung  getragen  werden. 

Für  das  laienhafte  Auge  sind  die  Formationen, 
d.  h.  die  reinen  oder  gemischten  Bestände  von  Gewächsen, 
mit  Berücksichtigung  ihrer  Geselligkeitsverhältnisse  unter- 
schieden und  benannt,  das  zunächst  sich  im  Landschafts- 

Anleitnng  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforachung.  15 


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226  Oscar  Drude, 

Charakter  Aufdrängende ;  je  tiefer  das  botanisch-systema- 
tische Verständnis  dringt,  desto  mehr  klären  sich  die 
verworrenen  Empfindungen  beim  Anschauen  einer  in  ver- 
schiedenen Gauen  verschieden  ausgestalteten  Hauptfor- 
mation; denn  die  Verschiedenheiten  lassen  sich  auf  das 
Eintreten  neuer  Pflanzenarten  als  Glieder  der  Formation 
zurückführen.  Die  Heiden  von  Celle  bis  Uelzen,  beim 
Durchqueren  der  Ardennen,  an  den  Isarauen  und  im 
Märkischen  Gau  sehen  sehr  verschieden  aus  und  verdanken 
ihr  verschiedenes  Aeußere  jeweilig  verschiedener  Art- 
zusammensetzung, unter  denen  die  Ericaceenarten  nach 
Erica  Tetralix,  E.  cinerea j  E,  carnea  und  Calluna  vulgaris 
wechseln ;  was  die  oberflächliche  Betrachtung  hier  mühelos 
herausfindet,  hat  die  wissenschaftliche  Beobachtung  nach 
Mals  und  Zahl  und  unter  Erwägung  der  biologischen 
Bedingungen  für  die  topographische  Charakteristik  der 
Landschaft  zu  verwenden. 

Studien  dieser  Art  faßt  man  unter  der  Bezeichnung 
„Vegetationsverhältnisse*'  zusammen;  zunächst  muß  aber 
der  Florist  seine  Pflanzenliste  genau  und  vollständig 
beherrschen.  Man  erinnere  sich  dabei  an  Linn^s  in  der 
„Philosophia  botanica"  (1751)  ausgesprochene  Charakteri- 
sierung: „Floristae  enumerant  vegetabHia  spontanen  certi  ali- 
cujus  Loci,  —  Enumeratio  sit  sijsteinaticay  ut  etiani  ahsentes 
intelUgantur ;  sint  praesentes  cum  Loco,  Solo,  Te^npore, 
Nominibus  indigenis.^ 

Hier  kann  nur  den  speziell  botanischen,  mehr  oder 
weniger  tief  eindringenden  Kenntnissen  die  gewonnene 
Leistung  entsprechen.  Dafür,  daß  keine  gröberen  Fehler 
vorkommen,  sorgen  die  so  zahlreich  nach  guten  Quellen 
ausgearbeiteten  kleineren  und  größeren  Exkursionsfloren; 
aber  damit  ist  freilich  nur  das  Nothwendigste  gethan. 
Denn  hier  haben  die  sorgfältigeren  Beobachtungen  über 
die  schwieriger  unterscheidbaren  Unterarten  und  Varietäten 
einzutreten,  welche  man  bei  dem  großen  Ueberblick  über 
die  Flora  zunächst  leicht  entbehren  kann.  Was  für 
Schwierigkeiten  hier,  beim  Eingehen  auf  die  in  der  Natur 
unfertig  geschiedenen  Formenkreise  der  Arten,  entstehen, 
mag  der  Anfänger  leicht  erfahren,    wenn   er  eine  Brom- 


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Pflanzenverbreitung.  227 

beere  oder  Rose  nach  einer  deutschen  Lokalflora  zu  be- 
stimmen sucht,  in  welcher  diese  Gattungen  schon  für  den 
Bereich  irgend  eines  mittel-  oder  süddeutschen  Gaues 
mit  je  einem  halben  Hundert  Arten  vertreten  sind.  Denn 
bei  diesen  Gattungen  hat  zuerst  die  Einsicht,  daß  die 
wenigen  Arten  der  älteren  Autoren  Sammelarten  seien, 
siegreich  sich  Bahn  gebrochen;  die  feineren  Unterschei- 
dungen sind  demgemäß  dann  auch  in  die  gründlicher 
ausgearbeiteten  Lokalfloren  übergegangen  und  haben  sich 
auf  eine  stetig  größer  werdende  Zahl  von  Gattungen  er- 
streckt. Weniger  zweckmäßig  scheint  es  dagegen  jedem 
Anfänger  zuzumuten,  daß  er  sich  sogleich  in  das  Formen- 
gewirr  dieser  in  zahlreiche,  höchst  nahe  verwandte  Sippen 
sich  natürlich  gliedernden  Gattungen  hineinstürze.  Wenn 
diese  Zumutung  zu  tadeln  ist,  wenn  entweder  eine  ün- 
gleichartigkeit  in  die  Floristik  durch  Vermengung  starker 
und  schwacher  Formkreise  hineingelangt  oder  der  Anfang 
zu  einer  endlosen  Zersplitterung  bis  zur  Unmöglichkeit 
sich  in  der  gewohnten  binären  Artnomenklatur  auszu- 
drücken, gemacht  wird,  so  ist  doch  andererseits  zu  be- 
tonen, daß  eine  genaue  Artkenntnis  der  im  Lokal- 
gebiete vorkommenden  Pflanzen  das  Eingehen  auf  diese 
schwachen  Systemsippen  verlangt.  Sie  sind  sogar  von 
einer  hervorragenden  Wichtigkeit  für  die  Erkenntnis  einer 
weitergehenden  Florenentwncklung:  denn  der  Satz,  daß 
keine  „Pflanzenart"  auf  Deutschland  beschränkt  sei,  ist 
nicht  mehr  stichhaltig,  sobald  wir  auf  die  Unterarten  ein- 
gehen: alsdann  ist  eine  Reihe  von  Hieracium-Formen  auf 
die  obere  Sudetenregion  beschränkt,  eine  Reihe  von  Rosa-, 
RubuS'Formen  bisher  nur  aus  Deutschland  beschrieben, 
Armeria  Ilalleri  eine  endemische  Art  der  Harzflora,  eine 
Form  von  Salix  Lapponum  und  das  Sedum  y^uhens  Hke. 
der  Hochsudeten  soll  dann  ebenfalls  eigene  „Art"  sein  u.  s.  w. 
Hier  nachlässig  zu  sein,  würde  heißen,  in  einen  unver- 
zeihlichen Fehler  zu  verfallen.  Wie!  in  den  Gärten  werden 
jährlich  viele  neue  „Sorten"  von  Rosen,  Begonien,  Rho- 
dodendren gezogen  und  unter  neuen  Eigennamen  dem  In- 
teresse der  Blumenliebhaber  feilgeboten,  und  der  Florist 
sollte    die    unter    natürlichen    Bedingungen    entstandenen 


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228  Oscar  Drude, 

NaturzUchtungen,  welche  dem  Ort  und  seinen  besonderen 
Lebensbedingungen  ilir  Entstehen  und  ihre  Erhaltung  ver- 
danken, nicht  mit  wissenschaftlichem  Interesse,  man  darf 
sogar  sagen:  nicht  mit  Liebe  zu  sich  heranziehen?  Hier 
liegt  noch  ein  großes,  weites,  aber  auch  schwierig  mit 
umfassender  Sachkenntnis  zu  bearbeitendes  Feld  offen, 
und  während  man  unter  Algen,  auch  wohl  Moosen,  noch 
stärkere  „  Arten '^  als  Neuheiten  der  Flora  aufspüren  kann, 
erfordern  die  Blutenpflanzen  eine  Vertiefung  in  die  un- 
fertigen Formenkreise. 

Dieselben  gleichmäßig  mit  den  »starken  Arten*',  für 
welche  man  Linn^s  Charakterisierung  als  passendes 
Muster  zu  wählen  pflegt,  als  » eigene  **  Arten  aufzuftihren, 
erscheint  weder  im  Sinne  einer  natürlichen  Systematik, 
noch  im  Sinne  einer  auf  wissenschaftliche  Bedürfnisse 
Rücksicht  nehmenden  Phytographie;  statt  Wiederholungen 
mag  auf  die  Ausführungen  im  „Handbuch  der  Botanik*' 
(Encyklopädie  der  Naturw.,  L  Abteilung)  Bd.  HI  Teil  2, 
S.  255  und  284  hingewiesen  werden.  Denn  ich  stehe  un- 
verändert auf  dem  in  ähnlicher  Weise  auch  von  Cela- 
kowsky  in  der  Einleitung  zu  dem  mustergültigen  „Prodro- 
mus  der  Flora  von  Böhmen  **  klargelegten  Standpunkte. 

Sollte  darin  vielleicht  ein  zu  starkes  Anhängertum  an 
die  längst  verschwundenen  Linnäschen  Zeiten  zu  liegen 
scheinen,  so  mögen  hier  zur  Bekräftigung  der  Ziele,  welche 
die  Floristik  als  Heimstätte  der  speziellsten  Pflanzen- 
kenntnis zu  verfolgen  hat,  die  von  Schur  als  Einleitung 
zur  Schilderung  neuer  österreichischer  Formenkreise  an- 
geführten Sätze  wie  Leuchtsterne  wiedergenannt  werden: 

„Es  ist  ein  großer  Fehler  der  Botaniker,  zu  glauben, 
daß  die  neuen  Benennungen  von  Pflanzenformen  nur  den 
Bezeichnungen  Linn^s  anzuschließen  seien.  Die  Zeit 
Linn^s  ist  für  uns  ein  Stück  Altertum,  wo  eine  be- 
schränkte und  unzureichende  Erfahrung  den  Gesichtskreis 
einengte.** 

„Es  giebt  keine  konstanten  Pflanzenarten;  was  man 
heute  als  solche  aus  Gewohnheit  und  Bequemlichkeit  be- 
handelt, sind  nur  Formen,  die  einer  unbegrenzten  Um- 
änderung zulässig  sind.** 


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Pflanzenverbreitung.  229 

Die  Erfahrungetiy  welche  der  eindringende  Systema- 
tiker sammelt,  soll  er  als  Fhytograph  in  kurzer  Form  der 
Wissenschaft  überweisen:  in  diesem  Punkte  liegt  die 
Schwierigkeit  und  der  Widerspruch  zwischen  Wissen  und 
Darstellung.  Nur  um  letztere  handelt  es  sich  bei  der 
Frage  nach  Abgrenzung  von  starken  Arten,  Unterarten, 
Spielarten;  es  ist  Sache  der  Wissenschaft,  jetzt,  wo  das 
Dogma  von  der  Konstanz  der  Arten  nicht  mehr  besteht, 
durch  geeignete  Reformen  der  Freiheit  der  Forschung 
Spielraum  zu  gewähren.  Einen  bemerkenswerten  Ver- 
such unter  vielen  findet  man  in  Dr.  0.  Euntzes  „Methodik 
der  Speziesbeschreibung  und  Rubus"  (Leipzig  1879);  aber 
auf  die  dort  vorgeschlagene  Weise  geht  es  auch  nicht.  — 

Die  Liste  von  Arten,  Unterarten  und  Varietäten  in 
der  für  jedes  kleine  Gebiet  möglichen  Vollständigkeit 
erfordert  dann  ein  Eingehen  auf  das  besonders  Hervor- 
zuhebende, auf  solche  Formen,  welche  durch  ihr  Vor- 
kommen oder  durch  ihr  Fehlen,  oder  durch  die  Auswahl 
ihrer  Standorte,  durch  Häufigkeit  oder  Seltenheit  zu  den 
auffälligen  Erscheinungen  gehören.  Hinsichtlich  der 
Standorte  wird  dieser  Gegenstand  zweckmäßig  mit  den 
Formationsgliederungen  vereinigt,  die  pfianzengeogra- 
phische  Hervorhebung  besonderer  JEigentümlichkeiten  be- 
spricht zunächst  das  Vorkommen  an  sich  im  Bereich  des 
Gebietes.  Hier  soll  durch  die  oben  auseinandergesetzte 
Gaueinteilung  ein  fester  Anhalt  gegeben  werden;  man 
braucht  nicht  alles  das  hervorzuheben,  was  zu  den  ge- 
meinsamen Merkmalen  des  ganzen  Gaues  gehört.  Da- 
gegen lassen  sich  auch  keine  Pflanzen  allgemein  nennen,' 
deren  Hervorhebung  immer  wichtig  wäre;  nur  auf  einige 
Beispiele  machte  die  Gaueinteilung  aufmerksam.  Die 
gemeinsten  Pflanzen  der  einen  Gegend  verdienen  die- 
höchste  Aufmerksamkeit  einige  Grade  westlich,  östlich,, 
südlich  oder  nördlich  davon.  In  dem  Elbsandsteingebirge 
wächst  fast  überall  die  schöne,  in  leuchtend  weißen 
Sträußen  blühende  Spierstaude  (Anincus  Silvester)^  im  un- 
teren und  mittleren  Erzgebirge  gesellt  sich  noch  ebenso 
häufig  die  etwas  früher  erscheinende  Klebnelke  ( Viscaria 


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230  Oscar  Drude, 

vulgaris)  hinzu  und  deckt  oft  die  Bergwiesen  oder  Fels- 
köpfe mit  feurigem  Rot.  In  dem  westlichen  Nachbar- 
gau des  hercynischen  Berglandes  ist  das  ganz  anders; 
in  Thüringen  vom  Lothariusberge  südwestlich  von  Quer- 
furt "ostwärts  und  im  ganzen  Harzgebiet  fehlt  der  Ärun- 
cuSy  und  seine  Vegetationslinie  möchte  hier  recht  ge- 
nau festgestellt  werden.  Die  schöne  Viscaria  hat  im 
westlich-mitteldeutschen  Gau  noch  ein  paar  vereinzelte, 
wenige  Are  einnehmende  Standorte  auf  der  Höhe  des 
basaltischen  Meißner  und  im  Ostharz.  Warum  ersteigt 
sie  nicht  die  duftigen  Bergwiesen?  Schwache  klima- 
tische und  Substratunterschiede,  welche  in  dem  Mit- 
bewerb  so  vieler  anderer  Pflanzen  um  den  Standort 
den  Ausschlag  geben  müssen,  können  wir  als  dürftige, 
ganz  allgemein  gehaltene  Erklärung  hier  nennen;  aber 
seien  wir  um  die  Gründe  der  Erklärung  nicht  frühzeitig 
besorgt  und  verlegen,  wo  wir  sie  nicht  finden:  Beob- 
achtungen sammeln,  dieselben  sichten,  sie  als  Bausteine 
in  das  schon  aufgerichtete  Gefüge  der  Floristik  einpassen, 
das  gegenwärtige  Gebäude  selbst  ändern,  wo  es  wertvolle 
Bausteine  nicht  aufnehmen  will,  das  allein  sind  Aufgaben, 
um  welche  frohen  Mutes  und  von  wissenschaftlichem  Eifer 
beseelt  hinauszuziehen  in  die  Natur  sich  lohnt.  Oft  sind 
schon  mühselig  zusammengetragene  Verbreitungsbeob- 
achtungen über  eine  einzelne  Pflanzenfarailie  von  hohem 
Interesse  und  geben  Stoff  zu  weiteren  Untersuchungen 
über  die  Ursachen  der  Verbreitung.  Schlesien  gehört  zu 
unseren  am  besten  durchforschten  Ländern,  und  doch 
regte  Stenzel  in  einer  sehr  lesenswerten  Schrift  (Botan. 
Sektion  der  Schles.  Ges.  f.  vaterl.  Kultur,  25.  Febr.  1875; 
Botan.  Ztg.  1876,  S.  654,  663)  zu  neuen  zahlreichen 
Beobachtungen  über  das  Vorkommen  der  Farne,  Bärlappe 
und  Schachtelhalme  an,  um  Einsicht  in  die  auffälligen 
Lücken  der  Verbreitung  zu  erhalten,  welche  gemeine 
Arten  unter  der  Angabe  „von  der  Ebene  bis  in  das  Hoch- 
gebirge verbreitet**  verhüllen.  Denn  diese  sind  unten 
wirklich  gemein  und  haben  oben  ein  inselartiges  Vor- 
kommen in  ganz  anderen  Formationen,  fehlen  aber  meistens 
in  den  zwischenliegenden  Bergwäldern. 


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Pflanzen  Verbreitung.  231 

An  dieser  Stelle  mag  ein  Hinweis  auf  die  Wichtig- 
keit der  Höhenabstufungen  („Regionen")  Platz  finden; 
denn  dieselben  sollte  bei  Pflanzensammlungen  ordnungs- 
mäßig beizufügen  niemand  unterlassen,  ebensowenig  wie 
ein  Florist  ohne  Aneroid  in  die  Berge  ziehen  sollte.  Es 
gliedern  sich  die  Hügel-  und  Bergländer  je  nach  ihrem 
steilen  oder  flachen  Aufbau  und  ihrer  geographischen 
Lage  zwar  auch  schon  in  Deutschland  nach  Ausschluß 
der  Karpaten  und  Alpenkette  nicht  unbeträchtlich  ver- 
schieden, doch  könnte  für  allgemein  gehaltene  Angaben, 
z.  B.  auf  Herbar-Etiketten,  vielleicht  folgende  aus  den 
Abgrenzungen  Sendtners,  Wimmers,  Willkomms  u.  a. 
in  Vergleich  mit  meinen  eigenen  Beobachtungen  hervor- 
gegangene summarische  Abstufung  Beifall  finden: 

I.  Niederung  vom  Meeresspiegel  bis  150m.  In  ihr 
bewirken  zuweilen  kleine  Erhebungen  schon  große 
floristische  Veränderungen,  wie  z.  B.  viele  seltene 
(Berglands-)  Arten  nur  die  Geesthügel  im  Nordsee- 
gau bewohnen;  hier  ist  aber  dann  die  geologische 
Geschichte  der  Flora  und  das  Substrat,  nicht  aber 
ein  klimatischer  Höheneinfluß  maßgebend. 
n.  Hügellandregion  von  150 — 500  m,  mit  zwei  Ab- 
teilungen; 

a)  untere  Stufe  150 — 300  m  als  wärmstes  Hügel- 
land mit  Kultur  von  Wein,  Pfirsich,  Walnuß; 
Erhaltungsgebiet  der  westpontischen  und  medi- 
terran-atlantischen Arten ; 

b)  obere  Stufe  300 — 500  m,  vielfach  als  „Region 
der  Eichen"  bezeichnet. 

III.   Berglandregion  von  500 — 1100  m,   mit  drei  Ab- 
teilungen : 

a)  untere  Waldregion  500—800  m;  es  herrscht  der 
Laubwald  (Buche)   mit  zugeseilter  Weißtanne; 

b)  obere  Waldregion  800— 1100  m;  es  herrscht 
der  Fichtenwald; 

c)  Strauchregion  1100 — 1300  m;  die  Fichte  ver- 
schwindet und  sinkt  zum  Strauch  herab;  Vogel- 
beerstrauch ,    Krummholzkiefer ,    Weidenbüsche, 


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282  Oscar  Drude, 

gesellige  Halbsträucher  ersetzen  auch  ohne  Moor- 
grund, mit  alpinen  Stauden  vergesellschaftet, 
den  Wald,  üebergang  zu  Region  IV. 
IV.  Alpine  Region  von  1300m  bis  zum  Gipfel  der 
Berge.  Bei  der  geringen  Entfaltung  dieser  Re- 
gion im  außeralpinen  Deutschland  bedarf  es  hier 
keiner  Abteilungen. 

In  der  planmäßigen  Erfassung  der  Vegetations- 
formationen unter  Berücksichtigung  des  Substrates  und 
der  Region  liegt  die  Handhabe  zur  topographisch-physio- 
gnomischen  Landschaftsschilderung  auf  floristischer  Grund- 
lage. Zwei  Seiten  bieten  sich  als  Kriterien  ersten  Ranges 
dar:  1.  die  Geselligkeit  einzelner,  mehrerer  oder  vieler 
sich  in  die  Hauptmasse  des  Geländes  teilender  Pflanzen- 
arten, und  2.  die  biologische  Erscheinungsweise  derselben. 
Es  bilden  zum  Beispiel  mancherlei  Gräser  zusammen  mit 
eingestreuten  großblumigen  Stauden  (Dolden,  Hahnenfuß- 
arten, Sauerampfer)  die  Wiesen ;  ihre  biologische  Gleich- 
artigkeit liegt  im  Ausschluß  der  Holzgewächse  und  ein- 
jährigen Sommergewächse,  während  die  verschiedenen  im 
Wiesengemisch  vereinten  Gattungen  teils  oberirdisch  mit 
Rasenblättem  und  Rosetten,  teils  unterirdisch  mit  Wurzel- 
stockknospen,  oder  endlich  mit  Zwiebeln  und  Knollen 
(z.  B.  die  Herbstzeitlose)  ausdauern.  An  alles  dieses 
muß  man  sich  bei  dem  Worte  „Wiese"  erinnern;  gäbe 
es  dafür  nicht  dieses  schöne,  volkstümliche  Wort,  die 
Pflanzengeographie  müßte  eins  erfinden. 

Indem,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden,  bezüglich 
einer  allgemeinen  Richtschnur  für  die  Auffassung  der 
Vegetationsformationen  auf  Neumayers  „Anleitung  zu 
wissenschaftlichen  Beobachtungen  auf  Reisen*  (2.  Auf- 
lage, 1888,  Bd.  II,  S.  145  und  166—189),  verwiesen 
wird,  mag  es  hier  genügen,  in  derselben  Reihenfolge  die 
flPormationsabteilungen*  der  deutschen  •  Flora  mit 
hinzugefügten  „Einzelformationen*  zu  nennen.  Von  den 
einzelnen  Formationen  selbst  ist  noch  nie  eine  zusanmien- 
hängende  Darstellung  für  Deutschland  gegeben,  und  diese 
bildet    ein    Thema    für    die   zu   erwartende    ausführliche 


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Pflanzenverbreitung. 


233 


Pflanzengeographie  des  Landes.  In  Kerners  schon  an- 
geführter lehrreicher  Schrift  ^Oesterreich-Ungams  Pflan- 
zenwelt* (»Die  österreichisch -ungarische  Monarchie  in 
Wort  und  Bild*,  Wien  1886),  auch  in  desselben  Ver- 
fassers nPflanzenleben  der  Donauländer*^  (Innsbruck  1863) 
sind  für  den  Sudeten-  und  bojischen  Gau  Formationen 
genannt,  welche  (durch  K.  kenntlich  gemacht)  hier  neben 
anderen  als  Belege  dienen  mögen. 


Formationsabteiliingen. 

Sommergrüne  Laubwälder 
%  einfachen  Schlages, 
f  gemischten  Schlages. 

Immergrüne  Nadelwälder. 


Sommergrüne  Gebüsche. 


Immergrüne  Gebüsche. 


Blattlose  Ruten-  und  Dprn- 
gestrüppe. 


Blattwechselnde  imd  immergrüne 
Gesträuche. 

Gesellige  Stauden  (d.  h. 
Kräuter  mit  ober-  oder  unter- 
irdisch ausdaueifnden  Wurzel- 
stöcken»  immergrün  wie  Pyrola, 
oder  sommergrün  wie  Petasites) 


Formationen. 

Buchenwald,  Eichenwald,  Birken- 
wald, Erlenbruch. 

Mengwälder. 

Kiefernwald  (=  WeißfÖhrenwald 
K.),  Fichtenwald  (Ä'.),  Tannen- 
wald. 

Grünerlengebüsch  (K.) ,  Sand- 
domgebüsch (K.),  Weidenge- 
büsch (K.) ,  Eichengebüsch 
(=  ^Kratt**  im  liibigpViP.n  Gaoi), 
Hagedomgebüsch  (als  Sammel- 
begriff für  die  zumal  im  Hügel- 
gelände häufig  vergesellschaf- 
teten Rosen-,  Weiß-  u.  Schwarz- 
dornbüsche mit  Brombeeren 
u.  s.  w.). 

Hülsengebüsch  (von  Hex  Aquifo- 
lium  im  Nordseegau),  Wachhol- 
der- und  Zwergwachholderge- 
büsch  {K,),  Knieholzgebüsch. 

Ginstergestrüpp  (von  ülex  euro- 
paeus  und  Genista  anglica  im 
Nordseegau),  Besenstrauchge- 
strüpp (von  Sarothamnus). 

Heidelbeergesträuch,  Mooroeer- 
gesträuch  (von  Vaccinium  uli- 
ginosum),  Heidegesträuch. 

Quellenflur  {K.)  der  Hochgebirgs- 
und  Bergregion  (Petasites  al- 
bus, Chaerophyllum  hirsutum 
und  Polygonum  Bistorta  etc.). 

Karflur  (K,)  z.  B.  von  Aruncus, 
Euphorbia  dulcis^  Astrantia, 
Lunaria ;  Digitalisformation  im 
Niederrheingau. 


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234 


Oscar  Drude, 


Bergmatte  (z.  B.  in  den  Hoch- 
sudeten :  Homogyne  alpina 
mit  Empetrum  vorherrschend, 
Trientalis  europaea,  Doroni- 
cum  austriacum ,  Yaccinium, 
Molinia  und  Cetraria  dazwi- 
schen gesellig  oder  einge- 
sprengt). 

Niederungswiese ,  saure  Wiese, 
Torfwiese ,  Thalwiese ,  Berg- 
wiese; Grasmatte  (in  der  6e- 
birgsregion,  kurzhalmig). 

Sandheideflur  (K.)  von  Koeleria 
glauca  und  Carex  arenaria; 
Corynephorus.  Borstengras- 
matte  (K.)  von  Nardus  stricta. 
Diinenflur. 

Flechtenüberzug ,  Moosteppich 
(K,)  der  Felsblöcke. 

Geröllflur  {K.),  Haldenflur  (AT.). 

Waldmoor, Buschwald  aus  Sumpf- 
fohren. 

Hochmoore  (üT.j  (d.  h.  überwie- 
gend Ericaceen  mit  Sumpf- 
moosen). 

Wiesenmoor  (K.)  oder  Grünmoor 
(d.  h.  überwiegend  Cypei-aceen). 

Schilfdickicht  (aus  Rohrkolben, 
Typha  und  Acorus  Calamus). 

Binsendickicht  (aus  Scirpus  ma- 
ritimus  u.  a.). 

Schwimmdecke  aus  Lemna,  Nyra- 
phaea,  Hydrocharis. 

Tauchgrund  aus  Grüntangen, 
Potamogeton. 

Unterseeische  Seegras-,  Seetang- 
wiese. 

Eine  Reihe  der  hier  aufgeführten,  die  Hauptzüge 
unserer  Landschaften  angebenden  Formationen  ist  durch- 
aus boreal,  viele  sind  auch  spezifisch  mittel-  und  west- 
europäisch, einige  wenige  kosmopolitisch.  Jedenfalls  sieht 
jedermann  leicht  ein,  da^  beim  Eingehen  auf  die  Eigen- 
tümlichkeiten eines  einzelnen  Gaues  —  und  deren  gibt 
es  genug  im  Landschaftsbilde  —  die  genannten  Formationen 
gegliedert  werden  müssen,  indem  die  Totalität  ihrer  Ver- 
breitung   in    eine    mehr    oder    minder   grosse    Zahl    von 


mit  niederen  rasigen  Halb-' 

sträuchem, 
mit  eingesprengten  Gräsern, 
mit  Moosen  und  Erd  flech- 
ten. 


Wiesen  (d.  h.  geselliger  Gras- 
wuchs auf  feuchtem  Boden 
vorherrschend). 

Grassteppen  (d.  h.  geselliger, 
aber  lückenhafter  Gras  wuchs 
auf  sommerlich  dürrem  Boden). 


Felspflanzen 

auf  Gestein, 

in  Spalten  und  Geröll. 
Moore  mit  Baumwuchs. 

Baumlose  Moore. 


Sumpf-  und  Uferpflanzen. 

Wasserpflanzen. 

Seepflanzen. 


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Pflanzenverbreitung.  235 

Formationsgliedern  zerfallt.  Diese  letzteren  auf  topo- 
graphischer Grundlage  unter  steter  Berücksichtigung  der 
Höhenlage,  der  Bewässerung  und  geognostischen  Be- 
schaffenheit des  Erd-  oder  Geröllbodens  wissenschaftlich 
zu  begründen  und  schließlich  kartographisch  darzustellen, 
das  muß  als  eine  neue  und  viel  Arbeit  erfordernde  Seite 
der  Floristik  betrachtet  werden,  an  welcher  sich  zahlreiche 
Kräfte  üben  und  zur  gemeinsamen  Darstellung  vereinigen 
möchten. 

Nur  ganz  flüchtig  kann  hier  auf  die  erforderlichen 
Ausführungen  hingewiesen  werden :  Wälder  der  Rotbuche 
gibt  es  in  Europa  vom  südlichsten  Skandinavien  bis  zum 
Kaukasus ;  im  letzteren  Gebirge  wetteifern  sie  an  Majestät 
mit  denen  in  Jütland  und  im  lübischen  Gau;  ihr  Cha- 
rakter ist  aber  je  nach  Begleitformationen  oder  einzelnen 
Begleitpflanzen  ein  sehr  verschiedener :  er  wechselt,  wenn 
der  Wanderer  aus  der  Niederung  in  das  Muschelkalk- 
gelände des  mitteldeutschen  Gaues  tritt  oder  die  Basalt- 
kegel Böhmens  ersteigt ;  er  ist  in  der  Auvergne  sehr  ver- 
schieden von  dem  der  Sudeten  und  im  Kaukasus,  und  erst 
darin  liegt  das  für  die  spezielle  Floristik,  d.  h.  für 
die  auf  einzelne  Arten  als  gewichtige  Merkzeichen  achtende 
Florenkunde,  Wichtige.  „Bergwiesen"  sind  ganz  allge- 
meine Formationen  der  borealen  Berg-  und  Hochgebirgs- 
länder,  vielleicht  in  allen  Gebirgen  der  Erde  zu  finden; 
greift  man  aber  aus  ihrem  Artgemisch  gewisse  Charakter- 
arten heraus  mit  charakteristischer  Verbreitung,  spricht 
man  von  den  Meum  athamanticum-,  Mutellina- Wiesen,  von 
den  TroUius-Wiesen,  oder  den  auf  den  Kalkhügeln  ausge- 
breiteten mit  Koeleria,  Brachypodium  pinnatum,  vergesell- 
schaftet an  Anthemis  tinctoria,  Scabiosa  Columbaria, 
Thymus  Serpyllum :  sogleich  ist  der  Kenner  der  deutschen 
Flora  im  richtigen  Bilde,  kennt  die  Standorte  nach  ört- 
lichen Bedingungen,  nach  Bewässerungsart,  Regionshöhe 
und  Erscheinungsweise,  und  es  muß  folglich  in  dieser 
Ausdrucksweise  auch  zugleich  der  Schlüssel  zu  einer 
wissenschaftlichen  Bezeichnung  der  Standorte  gesucht  wer- 
den. T—  So  entsteht  eine  konsequente  „Analyse  der  Vege- 
tationsdecke''. Die  Standortsbezeichnungen  von  Sendtner, 


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23G  Oscar  Drude, 

von  F.  W.  Schultz  (s.  d.  Litteraturauswahl)  mit  ihrer 
steten  Berücksichtigung  der  Höhenlage  und  der  Gesteins- 
unterlage verdienen  das  höchste  Lob;  die  Hinzufägung  der 
angehörigen  Vegetationsformation  würde  aber  ihre  Schärfe 
noch  wesentlich  erhöhen. 


3.  Pflanzenleben. 

Was  nach  allem  diesem  noch  an  floristischen  Eigen- 
tümlichkeiten einer  Landschaft  fehlt,  das  liegt  in  den  be- 
sonderen, an  das  besondere  Klima,  die  Bodenverhältnisse  und 
den  organischen  Mitbewerb  angepaßten  und  sich  mit  diesen 
und  durch  diese  forterhaltenden  Lebenserscheinungen,  in 
der  biologischen  Entwicklungsweise  der  Flora  aus- 
gedrückt. Diese  Faktoren  bestimmen  auf  weite  Räume, 
auf  weitere  als  sie  im  Rahmen  der  Gaufloristik  liegen, 
zunächst  den  Allgemeincharakter  der  Vegetation,  be- 
stimmen ihre  Zusammensetzung  aus  Holzpflanzen,  peren- 
nirenden  und  einjährigen  Gewächsen,  die  Länge  der  Ruhe- 
periode, die  Art  und  Weise  ihres  Ausdauems  während 
derselben,  ob  mit  oder  ohne  Laubfall,  mit  besonderen 
Frost-,  Trockenschutzeinrichtungen  oder  ohne  dieselben, 
die  durchgängige  Größe,  Textur  und  Farbe  der  Blätter 
während  der  heißen  Jahreszeit,  die  Schaustellung  der 
Blüten  zu  Befruchtungszwecken,  die  Geschwindigkeit  der 
Fruchtreife  und  die  Fürsorge  für  Keimungssicherung.  In 
der  Flora  umherzuwandem  und  für  diese  Dinge  kein  Auge 
zu  haben,,  das  hieße  die  Botanik  als  biologische  Wissen- 
schaft verkennen. 

Die  eingehende  Florenkunde  Deutschlands  wird  aus 
diesen  hier  in  Kürze  genannten  Gesichtspunkten  durch 
Vertiefung  in  sie  und  durch  Vergleich  der  pait  wechseln- 
der ozeanischer  oder  kontinentaler,  Höhen-  oder  Tiefenlage 
eintretenden  Abänderungen  des  biologischen  Durchschnitt- 
verhaltens wesentliche  Errungenschaften  ziehen  müssen. 
Am  allgemeinsten  bekannt  sind  davon  zur  Zeit  die  ^phä- 
nologischen  Beobachtungen**,  d.  h.  die  statistischen 
Vergleiche  der  Entwicklungszeiten  im  Austreiben  ge- 
meiner deutscher  Bäume,  Sträucher  und  Stauden  zur  Blatt- 


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Pflauzenverbreitung.  237 

bildung,  ersten  Blüteneutfaltung  und  in  der  von  da  bis 
xwc  Fruchtreife  verstreichenden  Zeit;  der  durchschnittliche 
Termin  des  Frühlingseinzuges  und  die  Länge  der  Vege- 
tationsperiode ergiebt  sich  aus  solchen  vergleichenden  Be- 
obachtungen, von  denen  Prof.  Dr.  H.  Hoff  mann  in  Gießen 
zusammen  mit  Dr.  Egon  Ihne  eine  große  Zahl  für  Europa 
zu  Durchschnittswerten  berechnet  und  kartographisch  zu- 
sammengestellt hat. 

Es  genügt,  auf  die  wertvollen,  in  der  „Vergleichenden  phäno- 
logischen  Karte  von  Mitteleuropa*  (Petermanns  geographische  Mit- 
teilungen, 1881,  Taf.  2)  und  in  den  ,  Resultaten  der  wichtigsten 
pflanzenphänologischen  Beobachtungen  in  Europa"  (mit  Frühlings- 
karte, Gießen  1885),  femer  in  den  «Phänologischen  Untersuchungen" 
(Gießener  Universitätsprogramm  1887)  niedergelegten  Ergebnissen, 
sowie  auch  auf  Ihn  es  „öeschichte  der  pflanzenphänologischen  Be- 
obachtungen in  Europa  und  Schriftenverzeichnis*'  (Beiträge  zur 
Phänologie,  Gießen  1884)  statt  aller  Weiterungen  zu  verweisen, 
da  hier  auch  die  Beobachtungspflanzen  und  -methoden  ausführlich 
dargelegt  sind. 

Zu  erinnern  wäre  vielleicht,  data  man  sich  in  den 
Zeitangaben  eines  absoluten  Maßes  bedienen  sollte,  indem 
man  den  21.  Dezember  als  Datum  des  beginnenden  Sonnen- 
aufstieges in  den  borealen  Ländern  zum  Nullpunkt  wählte ; 
die  Zurückberechnung  aller  Daten  auf  Gießen  wirkt  lästig. 
Auiäerdem  wäre  wünschenswert,  daß  solche  Vergleiche  von 
Blütenentwicklungskurven  mit  Temperatur-  und  Nieder- 
schlagskurven,  wie  sie  Dr.  Franke  für  die  Flora  von 
Messina  (in  dem  Jahresbericht  der  Schlesischen  Gesell- 
schaft für  vaterl.  Kultur  1882,  S.  217)  geliefert  hat,  auch 
für  die  verschiedenen  deutschen  Gaue  angestellt  werden, 
und  daß  hierbei  nicht  summarische  Angaben,  sondern 
solche  auf  die  hauptsächlichen  Vegetationsformationen  be- 
zügliche zur  Veröffentlichung  gelangen.  Der  eigentüm- 
hche  Jahreszeitencharakter  der  letzteren  kann  kaum  auf 
andere  Weise  ohne  viele  Umstände  klargelegt  werden. 

Für  die  bewohnten  Kulturgelände  darf  man  wohl  be- 
haupten, daß  bald  an  Einzelbeobachtungen  der  zahlreichen 
von  Hoff  mann  empfohlenen  Pflanzen  Ueberfluß  herrscht; 
nur  für  gewisse  Striche  und  zumal  für  die  Gebirgsregionen 
sind  sie   noch  heute  sehr  willkommen.     Nun  handelt  es 


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238  Oscar  Drude, 

sich  aber  nicht  nur  um  kartographische  Unterlagen  zur 
phänologischen  Demonstration  des  Einzuges  des  FrühKngs, 
sondern  besonders  um  Erforschung  des  Zusammenhanges 
zwischen  Klima  und  Pflanzenleben,  wobei  in  Hinsicht  auf 
Phänologie  Hof f mann  besonders  das  Gesetz  der  thermi- 
schen Vegetationskonstanten,  gemessen  durch  Maximal- 
temperaturen am  Insolationsthermometer,  aufgestellt  hat. 
Diesem  Gesetze  stehen  anderweite  Erfahrungen  über  Akkli- 
matisation entgegen,  und  hier  möchte  umfassenderes  Ma- 
terial gewonnen  werden.  Beobachter  auf  diesem  Gebiete 
müssen  sich  unabhängig  machen  von  den  meteorologischen 
Stationen,  müssen  in  einem  Garten,  im  Forst,  n^e  bei 
den  Beobachtungspflanzen  ein  Insolations-Maximumthermo- 
meter,  ein  gewöhnliches  Maximum-  und  Minimumthermo- 
meter, ein  Psychrometer  und  Bodenthermometer  (für  10  bis 
20  cm  Erdreichstiefe)  aufstellen ;  die  Wichtigkeit  der  Ab- 
lesungen mehrerer  freihängender  Thermometer  mit  be- 
feuchteter Kugel,  in  der  Sonne  oder  im  Baumschatten 
oder  über  Grasflächen  aufgestellt,  kann  für  thermische 
Vegetationsbeobachtungen  nicht  genug  betont  werden,  zu- 
gleich die  Beobachtung  der  Insolationsstärke.  Es  empfiehlt 
sich  dann  aus  den  zahlreichen  phänologischen  Pflanzen-  * 
arten  eine  kleinere  Zahl  auszuwählen,  die  Phasen  der- 
selben aber  in  größerer  Vollständigkeit  und  unter  steter 
Berücksichtigung  des  Wetters  zu  notieren,  endlich  die- 
selben graphisch  nebeneinander  aufzutragen.  Es  kommt 
dabei  sowohl  auf  Insolationsmaximalsummen  bis  zum  Ein- 
tritt der  Beblätterung  und  ersten  Blüte,  als  auf  die  von 
da  an  bis  zur  Fruchtreife  dem  Gewächs  zu  Teil  gewordenen 
Insolations-  und  die  am  feuchten  Thermometer  abgelesenen 
Tagestemperaturen  an,  sowie  auf  störende  Zwischenfälle. 
Als  wichtigste  Pflanzen  zur  Beobachtung  möchte  ich  nennen : 
Aesculus  Uippocastnnum,  Betula  alba,  Cystisus  Lahurnum, 
Fagiis  silvatica,  Fraxinus  excelsior,  Prunus  Padus,  Sam- 
bucus  raceniosa,  Tilia  grandifolia  (Sommerlinde)  und  Vac- 
cinium  Myrtillus  (diese  wohl  nur  im  Freien !) ;  von  mono- 
kotylen Stauden  und  Zwiebeln:  Narcissus  Pseudonarcissus 
(im  Rasen  gepflanzt!),  Convallaria  majalis  und  Colchicum 
autunutale  (im  Rasen!).    Von  großer  biologischer  Bedeu- 


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Pflanzenverbreitung.  239 

tung  und  wichtig  für  genaue  Beobachtungen  ist  die  Be- 
schleunigung des  Phasen eintritts  unter  dem  Einfluss 
günstiger  Temperaturen,  nachdem  ungünstige  längere  Zeit, 
als  es  nach  dem  klimatischen  Durchschnitt  zu  erwarten 
gewesen  wäre,  dieselben  zurückgehalten  haben. 

Wie  bei  diesen  Beobachtungen,  so  auch  bei  den  Ex- 
kursionen auf  die  begleitenden,  durch  Ortsklima  und 
Bodenart  veranlaßten  äußeren  Umstände  zu  achten,  Durch- 
schnittstemperaturen  in  Gebirgen  aus  Quellentemperaturen, 
aus  der  Zeit  des  ersten  und  letzten  Schneefalles  und  der 
Tageszahl  mit  dauernder  Schneedecke,  aus  dem  Zufrieren 
der  Binnenteiche  zu  gewinnen,  die  Wirkung  exzessiver 
Jahre  in  Hinsicht  auf  Fröste  oder  Hitze,  Dürre  oder  Regen- 
fälle zu  beachten,  stets  mit  der  chemischen  und  physikali- 
schen Verschiedenartigkeit  der  Bodenunterlage  in  ihrem 
Einfluß  auf  die  Vegetation  zu  rechnen:  das  sind  Dinge, 
die  den  Floristen  mit  den  übrigen  geographischen  Grund- 
lagen seines  Beobachtungsgebietes  verknüpfen  und  welche 
den  gemeinsamen  großen  Zielen  der  Naturforschung  ent- 
springen. 


Litteratnr  als  Hilfsmittel  zu  Studien  in  der  deutsehen 

Flora. 

A.  Einige  kurze  Bestimmungsanleitungen  und  die  durch 

Abbildungen  erläuterten  fundamentalen  QueDenwerke  über 

das  ganze  Gebiet,  mit  Bemerkungen  über  ihren  umfang 

und  Inhalt  (vergl.  auch  die  Einleitung  S.  200—201). 

Sporenpflanzen. 

Eine  kurze  Einleitung  in  die  Reiche  der  Flechten,  Pilze, 
Moose  giebt  die  ,,Kryptogamenflora ,  enthaltend  die  Abbildung  und 
Beschreibung  der  vorzüglichsten  Kryptogamen  Deutschlands* y  heraus- 
gegeben von  G.  Pabst  (und  0.  Müller),  Gera  1874  u.  f.  In 
großem  Quartformat  mit  vielen  bunten,  bei  den  Pilzen  teilweise 
schön  gelungenen  Lithographieen  kann  dieses  Buch  für  oberfläch- 
liche Gattungs-  und  Artkenntnis  zur  Vorbereitung  dienen. 

Für  die  Algen  des  süßen  Wassers  finden  wir  eine  sehr  gehalt- 
volle und  lehrreiche  Einleitung  in  dem  Werke:  r^Die  mikrosko- 
pische Pflanzen-  und  Tierwelt  des  Süssicassers'^ ;  Teil  I:  y,Die  mikro- 


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240  Oscar  Drude, 

skopische  Pflanzenwelt  des  SUsswassers'^ ,  von  Prof.  Dr.  0.  Kirchner 
(Braunschweijf  1885).  Auf  4  Tafeln  in  groß  Quart  sind  in  Schwarz- 
druck sehr  viele  (166)  kleine  und  größere  Figuren  der  bei  260-  his 
900facher  Vergi'ößei-ung  gewonnenen  mikrostopischen  Charakter- 
bilder dargestellt;  der  Text  (56  S.)  enthält  Bestimmungstabellen 
der  Gattungen  und  Artdiagnosen  für  die  wichtigeren^  auch  9  Seiten 
praktische  Einleitung  für  Sammlungs-  und  Eonservierungsmethoden. 

Für  die  Meeresalgen  sei  noch  einmal  auf  die  zu  Raben- 
horsts  j,Krtfptogamenflora  von  Deutschland,  Oesterreich  und  der 
Schweiz*^  (2.  ganz  neue  Auflage)  gehörige  voilstöndigste  Arbeit: 
Bd.  II.  „Die  Meeresalgen'^  von  Dr.  F.  Hauck  hingewiesen  (576  Seiten 
8°,  mit  583  Holzschnitten  und  5  Lichtdrucktafeln,  Leipzig  1885), 
in  welcher  auch  eine  kurze  Einleitung  über  Sammeln  und  Präpa- 
rieren zu  finden  ist. 

Prof.  Dr.  Schimpers  „Synopsis  Mtiscorum  Europaeot'um* 
(734  S.  8^  Stuttgart  1860)  ist  ein  durch  8  lithographische  Ana- 
lysentafeln noch  nutzbarer  wirkendes,  höchst  wissenschaftliches 
Quellenwerk  auch  für  die  spezieUe  deutsche  Mooskunde.  Es  ist 
ganz  in  lateinischer  Sprache  geschrieben. 

Ein  älteres,  in  Quartformat  herausgegebenes,  durch  viele  litho- 
graphierte Tafeln  kostbares,  ausführlicheres  Werk  über  die  Laub- 
moose ist  Bruch  und  Schimpers  „Bryologia  Europaea,  seu  Genera 
Miiscorum  Europaeorum  monographice  iUustrcUa'^, 

Als  Exkursionsbuch  für  die  Mooswelt  allein  eignet  sieb  die 
185  Seiten  lange  Bearbeitung  von  P.  Sydow:  „Die  Moose  Deutsch- 
lands'^ (Berlin  1881),  ohne  Abbildungen. 

Derselbe  Verfasser  hat  neuerdings  der  Lichenologie  denselben 
Dienst  in  seinem  Buche:  „Die  Flechten  Deutschlands'^  (Berlin  1887) 
erwiesen;  1063  Flechtenarten  sind  unter  167  Grattungen  auf  331  Seiten 
abgehandelt,  mit  Diagnose  und  Verbreitung  versehen,  oft  auch 
durch  kleine-  Holzschnittfiguren  mit  den  dem  Anfänger  oft  be- 
schwerlich fallenden  Sporenuntersuchungen  erläutert. 

Ohne  Abbildungen  und  ohne  gerade  eine  deutsche  Pilzflora 
sein  zu  wollen,  ist  zur  Einführung  in  dieses  Gebiet  gut  Dr. 
0.  Wunsches  „Die  Pilze'^  zu  gebrauchen,  zumal  zum  Bestimmen 
der  größeren  Formen.  Für  die  allgemeine  Systematik  und  Morpho- 
logie dieses  Reiches  niederer  Pflanzen  kommt  man  ohnehin  mit 
keinem  kurzen  Bestimmbuch  aus. 

Blutenpflanzen. 

Die  Zahl  der  auf  diesem  Gebiete  erschienenen  kleineren  oder 
umfangreicheren  Werke,  besonders  der  Exkursionsfloren  Nord-  und 
Mitteldeutschlands,  ist  eine  sehr  große,  fast  übergroße;  nur  auf 
einige  derselben  mag  mit  Erläuterungen  hingewiesen  werden. 

In  kurzer  Zeit  sehr  beliebt  geworden  ist  Dr.  H.  Po to nies 
„Illustrierte  Flora  von  Nord-  und  Mitteldeutschland'^  (3.  Auflage, 
Berlin  1887);  sie  bietet  auf  511  Seiten  in  groß  Oktav  neben  den 
Artunterschieden  zugleich  Holzschnittanalysen  und  Habitusdarstel- 


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Pflanzenverbreitang.  241 

longen,  widmet  den  kritischen  Gattangen  Rosa,  Rubus,  Potentilla 
unter  Mitwirkung  von  Kennern  eingebend  ausgearbeitete  Ueber- 
sichten  und  bringt  allein  unter  allen  kurzen  , Floren*  von  Deutsch- 
land neben  der  systematisch-organographischen  Einleitung  auch 
eine  kurze  Anleitung  zur  pflanzengeographischen  Floristik  unseres 
Gebietes. 

Die  ,,  Illustrierte  deutsche  Flora*  (Blutenpflanzen  und  Gefäß- 
kryptogamen) von  H.  Wagner  (Stuttgart  1871)  ist  ein  stattlicher 
Band  in  Oktav  von  über  1000  Seiten,  welcher  in  einer  68  Seiten  langen 
Einleitung  die  Kunstausdrücke  der  beschreibenden  Pflanzenkunde, 
auch  etwas  Anatomie,  sowie  Sammlun^s-  und  Untersuchungsregeln 
mitteilt,  dann  im  Haupttext  ausführliche  Artbeschreibungen  mit 
1250  kleinen  Holzschnitten  von  Blütenzweigen,  einzelnen  Blüten, 
Fruchtschnitten  u.  s.  w.  gibt. 

Wohlfarths  Buch:  ,2>»6  Pflanzen  des  Deutschen  Reichs, 
Deutsch-Oesterreichs  und  der  Schweiz'^  (Berlin  1881),  welches  sich 
viele  Freuode  erworben  hat,  ist  mir  persönlich  nidit  bekannt. 

Der  von  Prof.  Dr.  M.  Willkomm  verfaßte  ^Führer  in  das 
Reich  der  Pflanzen  Deutschlands,  Oesterreichs  und  der  Schweiz'^ 
(2.  Auflage,  Leipzig  1882)  zeichnet  sich  durch  die  eindringend 
fachgemäße  Behandlung  des  Gegenstandes  aus,  ohne  seinen  populär- 
allgemeinverständlichen Charakter  verloren  zu  haben;  der  Umfang 
von  928  Seiten  8^  mit  7  Tafeln  (Organographie  der  Blätter,  Blüten, 
Frucht)  und  mit  805  eingestreuten  kleinen  Holzschnitten,  welche 
meistens  Blütenanalysen  darstellen,  kennzeichnet  dies  Buch  als  zu 
den  größeren  gehörig.  Die  organographisch-systematische  Einleitung 
beschließt  eine  kurze  Anleitung  zur  Anlegung  eines  Herbariums. 
Von  demselben  Verfasser  rührt  ein  faclmiäßiges  Werk  über 
die  Bäume,  Sträucher  und  Halbsträucher  der  heimischen  Flora 
(einschließlich  der  kultivierten)  her:  „Forstliche  Flora  von  Deutsch- 
land und  Oesterreich'^  (2.  Auflage,  Leipzig  1887).  Der  Umfang  von 
968  Seiten  (S%  die  Hinzufügung  von  82  großen  Holzschnittsammei- 
figuren läßt  sie  als  ernsteren  Studien  gewidmet  erscheinen;  be- 
sonders wichtig  sind  auch  die  Angaben  über  geographische  Ver- 
breitung. 

iS^t  vor  kürzerer  Zeit  erschien  in  schöner  Ausstattung  Thomas 
zweibändige  ,,  Flora  von  Deutschland,  Oesterreich  und  der  Schweiz 
in  Wort  und  Bild''  (Gera  1887).  Die  schönen  bunten  Abbildungen 
machen  mit  dem  beschreibenden  Texte  das  Buch  zu  einem  Be- 
lebungsmittel fQr  das  Herbarium  deutscher  Flora,  sind  treffend, 
aber  nicht  kritisch  wie  Reichenbach  angelegt. 

Das  im  Verlage  von  Tempsky  &  Freitag  erschienene  drei- 
bändige Sammelwerk:  „ Frühlingsblumen'^  (von  A.v.  Enderes  und 
Prof.M.  Willkomm),  „Sommerblumen",  j, Herbst-  und  WinierUumen'^ 
(beide  letzteren  von  C.  Sterne),  Leipzig  1882 — 84,  zeichnet  sich 
durch  den  Schatz  von  120  Tafeln  in  schönem  Farbendruck  aus 
und  gibt,  abgesehen  von  einer  kurzen  schematischen  Familien- 
übersicht, biologische  und  naturschildemde  Skizzen,  sowie  Ge- 
Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Yolksforachung.  Iß 


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242  Oscar  Drude, 

schichte  einzelner  Enlturpflanzen;  zum  Erlernen  der  „Flora"  eignet 
es  sich  nicht. 

Prof.  Dr.  Jessens  „Deutsehe Exkursions flora'^  (Hannover  1879) 
ist  kritisch  und  kenntnisreich  geschrieben,  bewegt  sich  aber  zu 
sehr  in  Abkürzungen,  um  einem  großen  Liebhaberkreise  zu  ge- 
fallen. 

Auf  die  letzte  Ausgabe  von  Kochs  „Taschenbuch  der  deutschen 
und  Schweizer  Flora*  durch  Prof.  E.  Hallier  (Leipzig  1878)  ist 
schon  oben  aufmerksam  gemacht.  Es  hat  jetzt  viele  Rivalen  neben 
sich,  da  die  Bedürfnisse  für  die  systematische  Grundlage  den  ver- 
schiedenen Vorkenntnissen  entsprechend  mannigfaltiger  geworden 
sind ;  auch  ist  die  systematische  Anordnung  dunkel,  und  zahlreiche 
von  Ascherson  (Botan.  Ztg.  1878)  gemachte  Berichtigungen  ver- 
raten gewisse  Schwächen. 

Sehr  bekannt  ist  auch  die  durch  viele  farbige  Oktavabbil- 
dungen ausgezeichnete,  durch  Hallier  in  5.  Auflage  herausgegebene 
„Flora  von  Deutschland'^  von  Schlechtendahl,  Langethal  und 
Schenk  (Gera  1880  u.  f.).  Für  die  jetzige  Zeit  ist  sie  nicht  mehr 
wichtig,  wie  sie  einst  war. 

Prof.  Dr.  Franks  „Pfianzentahellen  zur  leichten,  schnellen  und 
sicheren  Bestimmung  der  höheren  Gewächse  Nord-  und  Mitteldeutsch- 
lands'^, in  5.  Auflage  (Leipzig  1887)  erschienen,  bilden  wohl  das  beste 
Buch,  welches  dem  eine  wissenschaftliche  Grundlage  erstrebenden 
Anfänger  empfohlen  werden  kann;  die  morphologische  Einleitung 
(mit  Holzschnitterläuterungen),  die  systematische  Schlußübersicht 
und  die  Tabellen  zum  Bestimmen  der  Holzgewächse  verleihen  ihm 
bei  geringem  Preise  hohen  Wert.  Doch  ist  es  keine  „Flora", 
sondern  nur  ein  „Bestimmbuch"  in  kürzester  Form. 

Mit  dem  Jahre  1834,  wo  unter  dem  Titel  „Ägrostographia 
Germanica,  Die  Gräser  und  Cijperoideen  der  deutschen  Flora,  in  ge- 
freiten Abbildungen  auf  Kupfertafeln  dargestelW^  von  H.  G.  Ludwig 
Reichenbach  der  erste  Band  einer  neuen  Folge  von  desselben 
Verfassers  „Plantae  critieae*  erschien,  begann  die  stattliche  Reihe 
jener  vollendetsten  Ikonographie  deutscher  Flora,  welche,  noch  bis 
heutigestags  nicht  ganz  vollendet  (22  Bde.),  von  Prof.  Dr.  H.  Gustav 
Reichenbach  fortgesetzt  wird.  Von  hohem  wissenschaftlichen 
Werte  in  allen  Bänden  hat  sich  bei  den  späteren  zugleich  die 
Schönheit  der  durch  natürliche  Farbengebung  sehr  anziehend  ge- 
machten Bilder  im  Quartformat  gehoben;  leider  macht  der  hohe 
Preis  (ca.  1300  Mark)  das  Werk  den  meisten  zur  Selbstanschaffung 
unmöglich,  doch  findet  es  sich  wohl  in  allen  größeren  naturwissen- 
schaftlichen Bibliotheken  vor. 

Ein  kürzeres,  aber  auch  sehr  schön  brauchbares  und  kriti- 
sches Abbildungswerk  ist  in  früherer  Zeit  von  Albert  Dietrich 
in  12  Oktavbänden  (Berlin  1833—44)  unter  dem  Titel  „Flora 
Regni  Borussici*  herausgegeben;  die  Bilder  sind  farbig,  Analysen 
nur  in  geringem  Umfange  beigegeben;  der  Text  enthält  zu  jeder 
Tafel  eine  sehr  ausführliche  Artbeschreibung  von  wissenschaftlichem 
Werte. 


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Pflanzenyerbreitung.  243 

Die  Flora  Dänemarks  mit  Schleswig-Holstein  besitzt  in  der 
^  Flora  Danica^ ,  deren  Nomenkl(Uor  soeben  (Febraar  1888)  von 
Lange  herausgegeben  ist,  ein  durch  mehrere  tausend  farbige  Ab- 
bildungen kritisch  ausgestattetes  Quellenwerk  über  Blüten-  und 
Sporenpflanzen;  ein  Jahrhundert  hindurch  ist  an  seiner  Fertigstel- 
lung gearbeitet. 


B.  Auswahl  ans  der  zu  den  einzelnen  Gauen  gehörigen 
floristisoliBn  Litterator. 

An  m.  Von  floristischen  Standortsverzeichnissen  sind  nur  solche 
hier  aufgeführt,  welche  vom  pflanzengeographischen  Gesichtspunkte 
zusammengesteUt  oder  durch  die  Sorgfalt  und  den  Umfang  ihrer 
Stoffaus wail  ausgezeichnet  sind.  Wo  nichts  hinzugefügt  ist,  be- 
zieht sich  der  Inhalt  nur  auf  die  GeföJ&pflanzen  der  Flora. 

Reihenfolge:  I.  Livländischer  und  Pommemgau;  masovischer 
Gau;  märkischer  Gau;  lübischer  und  Nordseegau. 

II.  Niederrheingau;  mitteldeutscher  Gau;  Sudeten-  und  Böhmer- 
waldgau. 

III.    Bojischer  Gau;   karpatischer   Gau;   deutscher  Jura-  und 
Oberrheingau;  Schweizer  Jura-  und  Alpenvorlandgau. 

L  Die  Gaue  der  norddeutschen  Niederung. 

Winkler,  C:  Litteratur  und  Pflanzenverzeichnis  der  Flora  Baltica, 
im  Archiv  f.  d.  Naturk.  Liv-,  Esth-  u.  Kurlands,  Serie  II  Bd.  7 
S.  387—490,  gibt  einen  genügenden  üeberblick  über  die  Flora 
des  nordöstlichsten  Grenzgaues. 

Patze,  Meyer  und  Elkan:  Flora  der  Provinz  Preusaen  (Königs- 
berg 1850,  599  S.  in  Taschenformat).  Hier  sind  den  interessan- 
ten Arten  geographische  Signaturen  {*)  beigefügt,  ein  Verfahren, 
das  seitdem  mehrfach  in  guten  Floren,  doch  immer  noch  nicht 
genügend,  eingeschlagen  ist. 

Klinggräff^  C.  J.  v.:  Flora  von  Preussen  (Marienwerder  1848, 
560  S.  in  Taschenformat;  I.  Nachtrag  1854,  IL  Nachtrag  1866). 
Eine  kritisch  geschriebene,  durch  ausführliche  Charaktere  im 
beschreibenden  Teil  zum  Bestimmen  gut  geeignete  Flora.  — 
Von  demselben  (als  Klinggräff  sen.  angeführten)  Verfasser  rührt 
eine  spätere  ausgezeichnete  Schrift:  Die  VegetationsverhäUnisse 
der  Provinz  Preussen  aus  dem  Jahre  1866,  her. 

Klinggr&ff,  H.  v.:  Versuch  einer  topographischen  Flora  der  Pro' 
vinz  Westpreussen,  1881  (Schriften  der  naturf.  Gesellschaft  in 
Danzig,  Bd.  V).  Ohne  Diagnosen,  aber  reichhaltiges  Quellen- 
werk für  die  Verbreitungsverhältnisse. 

Zahlreiche  Florenverzeichnisse,  biologische  Beobachtungen  etc.  der 
preußischen  Flora  finden  sich  in  den  Schriften  der  physikalisch- 
ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg,  wo  der  jüngst  verstor- 


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244  Oscar  Drude, 

bene  Prof.  Caspary  eine  jährliche  Rundschan  über  die  Fort- 
schritte der  FlorenkenDtnis  veröffentlichte. 

Rostafinski,  Florae  Polonicae  Prodromus  (Verhandl.  der  k.  k. 
zoolog.-botan.  GeseUsch.  in  Wien  1872,  S.  81),  Verzeichnis  mit 
Standorten,  ohne  Diagnosen,  ist  zum  Vergleich  der  östlichen 
Gaue  von  Wichtigkeit. 

Ritschi,  G.:  Flora  des  Grossherzogtums  Posen  (Posen  1851,  2915  S. 
8^),  ist  mir  unbekannt  geblieben. 
Die  Flora  Niederschlesiens   und   der  Niederlausitz  siehe  in 

Vereinigung  mit  dem  schlesischen  Berglande  unter  II. 

Ascherson,  Dr.  P.:  Flora  der  Provinz  Brandenburg,  der  AUmark 
und  des  Herzogtums  Magdeburg  (Berlin  1859—64).  Erste  Abteil. 
(1034  S.  in  Taschenformat):  Taschenbuch  zum  Bestimmen.  Zweite 
Abteil.:  Spezialflora  von  Berlin  (210  S.).  Dritte  Abtg. :  Spezialflora 
von  Magdeburg  (143  S.).  Eine  ausgezeichnete,  den  märkischen 
Gau  umfassende  und  darüber  im  Flözgebirge  Magdeburgs  u.  s.  w. 
hinausgehende  Flora,  mit  kritischer  Nomenklatur  und  Diagnostik 
der  Arten,  eingehender  Fundortsbezeichnung,  Hinzufügung  der 
Garten  Wildlinge,  unter  Verwendung  strenger  Morphologie  für 
floristische  Systematik.  Die  weitere  Verbreitung  der  Arten  ist 
durch  die  Signatur  (*)  kurz  angegeben. 

Grantzow,  C:  Flora  dir  Ükermark  {^xQnz\A\x  1880)  nnd  Lacke- 
witz,  W.:  Flora  von  Berlin  und  der  Provinz  Brandenburg 
(4.  Aufl.,  Berlin  1879),  sind  mir  nicht  genauer  bekannt.  Zahl- 
reiche kleinere  Florenbilder  und  Nachträge  zu  den  größeren 
Werken  sind  niedergelegt  in  den  Verhandlungen  des  botanischen 
Vereins  der  Provinz  Brandenburg. 

Marsson,  Dr.  Th.  Fr.:  Flora  von  Neuvorpommem  und  den  Insdn 
Rügen  und  Usedom  (Leipzig  1869,  650  S.  8^.  Dies  ist  eine  der 
vorzüglichsten  jüngeren  Lokalfloren,  wissenschaftlich  in  jeder 
Zeile,  die  lateinischen  Diagnosen  ergänzt  durch  eine  ausführ- 
lichere deutsche  Beschreibung,  Gattungsübersichten  unter  jedem 
Familiennamen.  Eine  pflanzengeographische  Schilderung  des 
behandelten  Gebietes  fehlt. 

Krause,  Dr.  E.:  Pflanzengeographische  üebersieht  der  Flora  von 
Mecklenburg  (Sonderabdruck  aus  dem  Archiv  der  Freunde  der 
Naturgesch.  in  Mecklenburg,  Güstrow  1884,  146  S.).  Enthält 
eine  Gliederung  und  Charakterisierung  der  Flora  nach  Vege- 
tationslinien und  Formationen. 

Langmann,  J.  F.:  Flora  der  beiden  Grossherzogtümer  Mecldenburg 
(1.  Aufl.  1841,  3.  Aufl.  Schwerin  1871),  ist  mir  unbekannt  ge- 
blieben, scheint  aber  eine  Lücke  in  den  sonstigen  Exkursions- 
floren auszufüllen. 

Sonder,  Dr.  0.  W.:  Flora  Hamburgensis  (Hamburg  1851,  600  S. 
in  Taschenformat).  Eine  ältere,  aber  hübsch  m  lateinischen 
Diagnosen  geschriebene  Lokalflora  von  einem  kritischen  Syste- 
matiker. 

Prahl,  Dr.  P.:  Kritische  Flora  der  Provinz  Schleswig-Holstein,  des 
angrenzenden  Gebiets  der  Hansestädte  Hamburg  und  Lübeck  und 


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Pflanzenverbreitnng.  245 

des  Fürstentums  Lübeck.  I.  Teil:  SckuU  und  Exkursionsflora 
(Kiel  1888,  227  S.).  Jüngst  erschienen  mit  der  Absicht,  ein 
wirklich  gefühltes  Bedürfnis  auszufällen,  baut  dieses  Taschen- 
buch sich  auf  eigener  Landeskenntnis  auf.  Der  zu  erwartende 
2.  Teil  soll  (unter  Mitwirkung  von  Dr.  Krause  und  Fi  seh  er- 
Benz on)  den  Yerbreitungsverhältnissen  gewidmet  sein. 

Knuth,  Dr.  Paul  (Kiel),  hat  in  einer  geologisch-botanischen  Studie: 
^Die  Flora  von  Schleswig  -  Holstein'^  eine  üebersicht  über  die 
Gliederung  der  Herzogtümer  gegeben  (Schleswig-Holsteinische 
Jahrbücher  I,  1884)  und  die  erste  Abteilung  einer  Flora  von 
Schleswig- Holstein,  Lübeck  und  Bremen  (Leipzig  1887)  erscheinen 
lassen. 

Fischer-Benzon,  R.  v.:  Ueber  die  Flora  des  südwestlichen  Schles- 
wigs  und  der  Inseln  Föhr,  Amrun  und  Nordstrand  (Schriften 
des  naturw.  Vereins  f.  Schleswig-Holstein,  Bd.  II,  S.  65 — 116). 
Höchst  anziehende  pfianzengeographische  Skizze  der  Verbrei- 
tungsverhältnisse  und  Katalog  von  852  Gefäßpflanzen.  —  In 
derselben  Vereinsschnft  finden  sich  noch  mehrere  wichtige  Bei- 
träge der  Eibherzogtümer,  z.B,  Hennings  Standortsverzeichnis 
der  Gefässpflamen  um  Kiel  (Bd.  II  u.  Bd.  IV). 

Meyer,  Dr.  G.  F.  W.:  Flora  Hanoverana  excursoria  (enthaltend 
die  Beschreibung  der  Phanerogamen  in  den  Flußgebieten  der 
Ems,  Weser  und  ünterelbe),  Göttingen  1849.  Eine  ältere,  aber 
sehr  gute,  in  deutscher  Sprache  geschriebene  Flora  (686  S.  8^). 
Derselbe  Verfasser  hat  eine  Chloris  Hanoverana  als  Standorts- 
Terzeichnis  herausgegeben,  obwohl  die  Verbreitung  der  Arten 
auch  in  der  Flora  excursoria  genügenden  Spielraum  gefunden 
hat;  das  illustrierte  Hauptwerk  in  Folio  ist  unvollendet  ge- 
blieben, enthält  aber  die  schönsten  kolorierten  Kupferdarstel- 
lungen deutscher  Pflanzenarten.  Die  Fundorte  sind  öfters  un- 
genau oder  oberflächlich  angeführt. 

Pocke,  Dr.  W.  0.:  Untersuchungen  über  die  Vegetation  des  nordr 
westdeutschen  Tieflandes  (in  Abhandl.  vom  naturw.  Verein  zu 
Bremen  1871,  Bd.  II,  S.  405—456).  Eine  vorzügliche,  die 
pflanzen  geographischen  Formationen  eingehend  behandelnde 
Studie. 

In  den  genannten  „Abhandlungen'  von  Bremen  sind  zahl- 
reiche andere  Beiträge  zur  Flora  des  Nordseegaues  zerstreut. 

Buchenau,  Prof.  Dr.  F.:  Flora  von  Bremen  (3.  Aufl.  Bremen  1885). 
821  Seiten  Taschenformat  bilden  hier  eine  ausgezeichnete,  auch 
45  kleine  Holzschnitte  zur  Erläuterung  herbeiziehende  Lokalflora. 

—  Flora  der  ostfriesischen  Inseln  (Norden  1881 ,  172  S.  8*^),  eben- 
falls mit  ausführlichen  Diagnosen  und  mit  25  S.  einleitender 
pflanzengeographischer  Schilderung  und  ausführlichem  Litte- 
raturverzeichnis. 

Lantzius-Beninga,  Dr.  S.:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Flora 
Ostfrieslands  (Göttingen  1849,  55  S.  4°).  Vorangeht  eine  aus- 
führliche Schilderung  der  die  Formationen  bildenden  Vegetation, 
dann  ein  systematisch  angeordnetes  Standortsverzeichnis. 


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246  Oscar  Drude, 

Mejer,  L.:  Flora  von  Hannover  (Hannover  1875,  219  S.  8®),  und 
Bertram,  W.:  Flora  von  Braunschweig  (3.  Aufl.,  Braunschweig 
1885,  355  S.  8^),  greifen  mit  ihrem  Areal  aus  der  Niederung 
in  die  Hügellandscnaften  des  hercynischen  Berglandes  hinüber. 
Vries,  H.  de:  FUn'a  van  Nederland  (Leiden  1870),  giebt  auf  70 
hoch  8^- Seiten  einen  bequemen,  in  hoUändisdier  Sprache  ge- 
schriebenen Ueberblick  über  die  dortige  Flora;  die  Pnanzenliste 
umfaßt  auch  alle  bekannt  gewordenen  Eryptogamen. 

IL  Hercynisches  Bergland  und  Niederrheingan-Belgien. 

Cr^pin,  Prof.  Dr.  F.:  Manuel  de  la  Flore  de  Belgique  (4.  Aufl., 
Brüssel  1882),  ist  eine  483  S.  in  bequemem  Taschenformat  ent- 
haltende, vorzügliche  und  knapp  gefaßte  belgische  Exkursions- 
flora. — -  Um  die  weiter  südwestlich  gelegenen  Gaue  dea  nord- 
atlantischen Bezirkes  mit  ihrem  sich  häufenden  Reichtum  medi- 
terraner Typen  kennen  zu  lernen,  empfiehlt  sich  Brebissons 
Fiore  de  la  Normandie,  5.  Ausg.  (von  Mori^re),  Caen  1879,  oder 
auch  J.  Lloyds  Flore  de  Vouest  de  la  France  (Dep.  Gharente- 
inferieure,  Deux-Sdvres,  Vendee,  Loire-inf^rieure,  Morbihan,  Fini- 
8t6re,  Cotes-du-Nord,  lUe-et-Vilaine),  4.  Ausg.  (Nantes-Paris  1886, 
4545  S.  8^). 

Koltz,  L  P.  J.:  Prodrome  de  la  Flore  du  Grand'DuchS  de  Luxem- 
hourg,  in  dem  „Recueil  des  M^moires  et  des  travaux  publ.  par  la 
Soo.  Botan.  du  G.-D.  de  Lux."  1877  u.  f.,  umschließt  auch  die 
Sporenpflanzen  mit  guten  Diagnosen,  Bestimmungsschlüsseln, 
Standorten  und  Litteraturangaben. 

Grepin,  F.:  L'Ardenne  sous  le  rapport  de  sa  v^güation  (Gand  1868, 
Sonderdruck  von  54  S.  8°).  Enthält  eine  20  S.  lange  pflanzen- 
geographische  Uebersicht  der  Flora  und  einen  663  Arten  um- 
fassenden Katalog  der  Gefäßpflanzen  (inkl.  Gharen)  mit  hinzu- 
gefügten Standorts-  und  Häufigkeitsnotizen. 

Förster,  Prof.  Dr.:  Flora  excursoria  des  Regierungsbezirke»  Aachen, 
sowie  der  angrenzenden  Gebiete  von  Limburg  (Aachen  1878,  468  S. 
8^),  ist  eine  kritische  Diagnosenflora,  in  welcher  den  Gattungen 
Rubus,  Rosa  ein  für  Kxkursionszwecke  übermäßiger  Spielraum 
^regeben  ist.  Eine  geographische  Uebersicht  von  30  S.  Länge 
ist  sehr  anerkennenswert. 

Wirt  gen,  Ph.,  ist  Verfasser  einer  Reihe  wertvoller  floristischer 
Arbeiten  über  die  preußische  Rheinprovinz;  seine  Flora  der 
preussischen  Rheinprovinz  (Bonn  1857,  568  S.)  ist  ein  bequemes 
und  durch  sehr  übersichtliche  Schlüssel  ausgezeichnetes  Taschen- 
buch zum  Bestimmen ;  2  Tafeln  sind  dem  blütcnbau  von  Vero- 
nica  und  Orchis  gewidmet.  Nachträge  dazu  nebst  floristischen 
Beiträgen  anderer  in  den  Verhandlungen  des  naturw.  Vereins 
d,  preuss,  Rheinlande  und  Westfalen, 

Bach,  M.:  Taschenbuch  der  rheinpreussischen  Flora  (1.  Aufl.  1878, 
2.  Aufl.  München  1879),  ist  ein  kurzgefaßtes  Bestimmbuch. 

Karsoh,  A.:  Flora  der  Provinz  Westfalen  (1.  Ausg.  Münster  1853, 


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Pflanzenverbreitung.  247 

842  S.  8°;  4.  Ausg.  1879),  eine  umfangreich  angelegte  Flora, 
in  welcher  die  Gartenzierpflanzen  hinter  den  einheimischen  für 
sich  abgehandelt  sind. 

Bosch,  L.  (Dosch  und  Scriba  in  Aufl.  1  u.  2):  Exkuraionsftora 
der  Blüten-  und  höheren  Sporenpflanzen  des  Grossherzogtutns 
Hessen  und  der  angrenzenden  Gebiete  (3.  Aufl.  Gießen  1888, 
616  S.  in  Taschenformat).  Eine  recht  praktisch  eingerichtete 
Flora,  durch  gute  und  übersichtliche  Diagnosen  ausgezeichnet. 
Auf  die  Bedürfnisse  der  Anfänger  wird  —  fiir  solche  Exkursions- 
flora fast  zu  viel  —  Rücksicht  genommen,  indem  8  Steindruck- 
tafeln eine  Auswahl  von  Blüten-  und  Fruchtanalysen  bringen, 
demgemäß  auch  108  S.  Morphologie  der  eigentlichen  Flora 
vorangehen. 

Arealstudien  über  die  selteneren  Arten  der  Mittelrheinlandschaften, 
in  sinnreicher  Methode  dargestellt,  findet  man  in  Prof.  Dr. 
H.  Hoffmanns  ^Nachträgen"  im  18.  bis  26.  Bericht  der  Ober- 
hess. Gesellschaft  f.  Natur-  u.  Heilkunde  (Gießen  1879—88). 

Wigand,  Prof.  Dr.  A.:  Flora  von  Kurhessen  (1.  Aufl.  Marburg 
1859,  387  S.  8°;  3.  Aufl.  Kassel  1879),  eine  kritisch  und  über- 
sichtlich zum  Bestimmen  angelegte  Flora. 

Nöldeke,  C:  Flora  Goettingensis  (Celle  1886,  125  S.  in  Taschen- 
format), eine  kritische,  höchst  sorgfältig  wie  desselben  Verfassers 
Flora  von  Celle  gearbeitete  Liste  (ohne  Diagnosen)  mit  Ver- 
breitung und  Standorten. 

Hampe,  Dr.  E.:  Flora  Hercynica  oder  Aufzählung  der  im  Harz- 
gebiete  wild  wachsenden  Gefässpfianzen ,  mit  einem  Anhange: 
Aufzählung  der  Laub-  und  Lebermoose  (Halle  1873,  383  S. 
hoch  8°).  Eine  genaue  Flora  des  Harzgebirges,  abgesehen  von 
den  Fundorten  in  lateinischer  Sprache  geschrieben,  ohne  pflanzen- 
geographische  üebersicht. 

Die  nördlich  angrenzenden  Lokalfloren  von  Braunschweig,  Han- 
nover siehe  unter  den  norddeutschen  Gauen:  Bertram,  Mejer, 
Meyer. 

Schneider,  L.:  Beschreibung  der  Gefässpflanzen  des  Florengebiets 
von  Magdeburg,  Bernburg  und  Zerbst  (Berlin  1877,  353  S.  S\ 
ist  durch  eine  20  S.  lange  Üebersicht  der  Boden-  und  Vege- 
tationsverhältnisse vorteilhaft  ausgezeichnet. 

Schönheit,  F.  Ch.  H.:  Taschenbuch  der  Flora  Thüringens  zum 
Gebrauche  bei  Exkursionen  (Rudolstadt  1850,  562  S.  8^  Nach- 
trag 1864),  mit  zahlreichen  Standortsangaben. 

Vogel,  H.:  Flora  von  Thüringen  (Leipzig  1875,  220  S.  8®),  ent- 
hält keine  Diagnosen,  sondern  sehr  ausführliche  Standorts- 
angaben, welche   das   vorher  genannte  ältere  Werk  ergänzen. 

Garcke,  Dr.  A.:  Flora  von  Halle,  L:  Phanerogamen  (Halle  1848, 
594  S.  8  %  enthält  neben  kritischen  Diagnosen  sehr  ausführliche 
Stand  Ortsangaben  im  Gebiete  von  Bitterfeld,.  Schkeuditz  und 
Weißenfels  bis  Aschersleben  und  Dessau.  II. :  Eryptogamen  nebst 
einem  Nachtrage  zu  den  Phanerogamen  (Berlin  1856,  276  S.). 
Vergl.  die  Pflanzengeographie  unter  Schulz,  oben  S.  220. 


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248  Oscar  Drude, 

Reichenbach,  Prof.  Dr.  L.;  Flora  Saxonica,  Exkursionsbucb  für 
das  Königreich  Sachsen  und  Thüringen,  Provinz  Sachsen  und 
Dessau,  sowie  die  preußische  Lausitz  (Dresden  1844,  503  S.  8^ 
in  engem  Druck),  eine  altere  fachwissenschaftliche  Flora. 

Ho  11,  Dr.  F.,  und  Heynhold,  G.:  Flora  von  Sachsen  (Dresden 
1842,  862  S.  8^),  hat  ungefähr  dasselbe  Gebiet  zur  Grundlage. 

Wünsche,  Dr.  0.:  Exkursionsflora  fär  das  Königreich  Sachsen 
(5.  Aufl.  1887),  enthält  auf  424  S.  in  Taschenformat  die  prak- 
tischte  Anleitung  zur  Kenntnis  der  sächsischen  Blütenpflanzen, 
bequem  zum  Bestimmen  durch  die  Darstellung  in  analytischen 
Schlüsseln. 

Fiek,  E.:  Flora  von  Schlesien  pretissischen  und  österreichischen  An- 
teils (Phanerogamen  und  Gefäßkryptogamen).  Schlesien  galt 
immer  als  Hauptplatz  für  floristische  Bestrebungen,  und  die 
Jahresberichte  der  SclUesischen  Gesellschaft  für  vaterländische 
Kultur  sind  gefüllt  mit  Bausteinen  und  anregenden  Ideen.  So 
ist  auch  diese,  im  Jahre  1881  erschienene  neueste  Flora  (Bres- 
lau, 571  S.  8°)  ein  Muster  von  Gründlichkeit  und  hat  durch 
R.  V.  U  echt  ritz'  pflanzengeographische  Einleitung  eine  noch 
höhere  allgemeine  Bedeutung  erhalten.  Viele  kritische  Arten 
und  Bastarde  sind  hier  für  den  Sudetenbezirk  beschrieben.  Die 
frühere  weitberühmte  Flora  desselben  Gebietes  war: 

Wimmer,  Prof.  F.:  Flora  von  Schlesien  (2.  Ausg.  Breslau  1B44), 
noch  heutigestags  sehr  wertvoll  durch  den  225  S.  in  Taschen- 
format umfassenden  2.  Band  mit  einer  eingehenden  pflanzen- 
geographischen Schilderung  des  Gebietes,   zumal  der  Sudeten. 

Milde,  Bryologia  Silesiaca,  und  Cohn,  Kri/ptogamenfiora  von 
Schlesien,  siehe  oben  S.  201. 

Den  zu  Oesterreich  gehörigen  Anteil  des  Sudetengaues  siehe 
in  Abteil.  III:  Celakovsky,  Oborny,  auch  Knapp. 

Meyer,  J.  C,  und  Schmidt,  Fr.:  Flora  des  Fichtelgebirges  (Augs- 
burg 1854),  liefern  auf  160  S.  8^  die  speziellen  Verbreitungs- 
verhältnisse der  Gefößpflanzen. 

Sendtner,  0.:  Die  Vegetationsverhältnisse  des  bayrischen  Waldes, 
nach  den  Grundsätzen  der  Pflanzengeographie  geschildert  (München 
1860,  505  S.  8°  mit  8  J^^arten  und  Tafeln).  Dies  ausgezeichnete 
Werk  wurde  erst  nach  des  Verfassers  Tode  von  Günibel  und  Radl- 
kofer  als  5.  Beitrag  zur  naturwissenschaftlichen  Erforschung 
der  bayrischen  Lande  herausgegeben,  schickt  einen  methodischen 
Teil  voraus,  läßt  im  2.  Teil  ein  Register  von  1121  Gefäßpflanzen 
mit  Angabe  der  rationell  zusammengefaßten  Standorte  folgen 
und  bespricht  im  8.  Teil  die  Vegetationslinien,  sowie  überhaupt 
den  bayrischen  Wald  im  Vergleich  mit  den  benachbarten  Gauen. 
Diagnosen  der  besprochenen  Arten  werden  als  bekannt  voraus- 
gesetzt. 

(Vergl.  auch  Abteil.  III:  Prantl,  Caflisch.) 


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Pflanzenverbreitung.  249 


III.  Die  karpatisclien  und  süddeutschen  Gaue  bis  zu  den  Alpen. 

Celakovsky,  Prof.  Dr.  L.:  Prodromus  der  Flora  von  Böhmen, 
enthaltend  die  Beschreibungen  und  Verbreitungsangaben  der  wild- 
wachsenden  und  im  Freien  kultivierten  Gefässpflamen  des  König- 
reichs» In  3  Teilen  erschienen,  mit  einem  4.  Teil,  enthaltend 
Nachträge,  Register  (Prag  1881),  zusammen  955  S.  hoch  8^ 
Von  allen  neueren  deutschen  Lokalfioren  erscheint  diese  als 
die  bedeutendste,  als  ein  wahrhaftes  Quellenwerk  auch  in  be- 
zug  auf  die  Abgrenzung  der  Arten,  wo  der  Verfasser  ein  sehr 
passendes  Maß  in  Aufstellung  von  Unterarten  bezw.  Spielarten 
angewendet  hat,  ohne  jemals  etwas  Wesentliches  unbeachtet  zu 
lassen.  Der  Titel  „Prodromus*  für  ein  solches  Werk  ist  aller- 
dings sehr  bescheiden  und  deutet  nur  des  Verfassers  Ansicht  au, 
daß  der  ausführliche  phytogeog^raphische  Teil  in  einer  „Flora** 
nicht  fehlen  dürfe.  Für  letzteren  scheint  Dr.  E.  Purkyne 
(„Lotos**,  Jahrg.  1861)  mit  seiner  pflanzengeographischen  Glie- 
derung Böhmens  noch  heute  die  beste  Quelle  zu  sein. 

Oborny,  Prof.  A.:  Flora  von  Mähren  und  Oesterr.Schlevien  (Brtinn 
1885—87,  1258  S.  hoch  8^),  stellt  eine  andere  vorzügliche 
Landesflora  dar,  sehr  anziehend  auch  durch  eine  57  8.  lange 
pflanzengeographische  Uebersicht,  in  welcher  die  angrenzenden 
Distrikte  des  Sudetengaues  gebührende  Berücksichtigung  finden. 

Von  demselben  Verfasser  rührt  „Die  Flora  des  Znaimer  Kreises, 
nach  pflanzengeographischen  Prinzipien  zusammengestellt*  (Brunn 
1879,  200  S.  8*)  her,  ohne  Diagnosen,  ein  gutes  Muster  einer 
Standortsliste,  mit  Phänologie  u.  s.  w.,  doch  ohne  Angabe  der 
herrschenden  Vegetationsformationen. 

Neilreich,  A.:  Flora  von  Niederösterreich,  Aufzählung  und  Be- 
schreibung .  . .  . ,  nebst  einer  pflanzengeographischen  Schilderung 
dieses  Landes  (Wien  1859,  1010  S.  8^  mit  132  S.  Pflanzengeo- 
graphie als  erstem  Teil).  Eine  ausgezeichnete  Flora,  gewisser- 
maßen eine  umfangreiche  Erweiterung  von  desselben  Verfassers 
„Flora  von  Wien*)  die  Beschreibungen  sind  —  wie  auch  bei 
Doli  für  Baden  —  im  Stil  der  größeren  Florenwerke  gehalten, 
so  daß  auf  die  kurze  Diagnose  Synonymik  und  Abbildungs- 
werke folgen,  dann  beschreibende  Zusätze,  endlich  ausführliche 
Standortsangaben.  —  Dieses  Werk,  sowie  das  folgende: 

Duftschmid,  Dr.  J.:  Flora  von  Oberösterreich  (Linz  1870  u.  f., 
2  Bde.  8^),  sind  die  beiden  sich  ergänzenden  wohlbekannten 
Floren  der  Österreichischen  Kronlande.  Der  Verfasser  des  letz- 
teren ist  schon  1866  verstorben,  sein  Manuskript  vom  Museum 
Francisco-Carolinum  herausgegeben. 

Neilreich.  Dr.  A.:  Flora  von  Wien  (Wien  1846,  706  S.  hoch  8^ 
und  Nachträge,  Wien  1851,  339  S.),  ist  ein  gehaltvolles  Werk 
über  die  interessante  Flora  der  österreichischen  Hauptstadt; 
58  S.  im  ersten  Bande  und  eine  Umarbeitung  derselben  in  den 
Nachträgen  sind  der  pflanzengeographischen  Uebersicht  gewid- 


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250  Oscar  Drade, 

met.  Die  Nachträge  enthalten  einen  vergrößerten  Umfang  des 
Gebietes  bis  zur  Leitha  und  den  Alpen. 

Die  „Flora  von  Hernstein  in  Niederösterreiek'^,  bearbeitet  von  Dr. 
Günther  Beck  (Pflanzengeographie,  vollständiger  Katalog  aller 
Blüten-  und  Sporenpflanzen,  Wien  1884),  mag  nur  kurz  als 
schönes  Beispiel  einer  solchen  Durcharbeitung  hier  genannt 
werden,  da  sie  der  Hauptsache  nach  in  den  ^pengau  hinein- 
greift. 

Neilreich,  Dr.  A.,  gab  in  den  Verhandlungen  der  zoologiseM>oUi^-' 
uischen  Gesellschaft  in  Wien  1867  zur  Erg^zung  der  allgemein 
als  Grundlage  angesehenen  und  benutzten  Synopsis  Florae  Ger- 
manicae  etc.  von  Koch  (siehe  oben  S.  200)  eine  Ergänzung  für 
Ungarns  und  Slavoniens  in  diesem  Werke  nicht  enthaltene 
GefäJ&pflanzen  heraus  (153  S,  S% 

Von  sehr  hohem  Werte  für  die  Pflanzengeographie  ist  desselben 
Verfassers  vollständige  Aufzählung  der  in  Ungarn  und  Slavo- 
nien  bisher  beobachteten  Gefässpflanzen  nebst  einer  pfiamengeo^ 
graphischen  üebersicht  (Wien  1866,  mit  Nachträgen  1870),  zwar 
ohne  Diagnosen,  aber  mit  reichen  Standorten,  zusammen 
500  S.  8^ 

Knapp,  J.  A.:  Die  bisher  bekannten  Pflanzen  Galiziens  und  d^r 
Bukowina  (Wien  1872,  520  S.  S^,  enthält  sehr  reiche  Stand- 
ortsangaben mit  ausführlichen  geographischen  und  botanischen 
Registern,  aber  keine  Diagnosen  außer  einigen  kritischen  An- 
merkungen. 

Simonkai,  Prof.  Dr.  L. :  Enumeratio  Florae  Transsilvanieae  (Buda- 
pest 1886,  678  S.  8°),  mit  pflanzengeographischer  Einleitung 
(in  ungarischer  Sprache),  ohne  Diagnosen,  enthält  die  ausfiihr- 
liche  Verbreitung  der  äußersten  Grenzmarken  im  Alpenbezirke 
weiteren  Sinnes  (dadscher  Gau). 

Gaflisch,  F.:  Exkursionsflora  für  das  sUdösUiche  Deutsehland;  ein 
Taschenbuch  zum  Bestimmen  der  in  den  nördlichen  Kalkalpen, 
der  Donauhochebene^  dem  schwäbischen  und  fränkischen  Jura  und 
dem  bayrischen  Walde  vorkommenden  Phanerogamen  (Augsburg 
1878,  374  S.,  davon  4  S.  geographische  Einleitung).  Gute  Ab- 
kürzung der  Standorte. 

Prantl,  Prof.  Dr.  K.:  Exkursionsflora  für  das  Königreich  Bayern 
(Stuttgart  1884,  586  S.  in  Taschenformat).  Diese  Flora,  auf 
noch  weiterem  Umfange  als  Caflischs  sehr  gerühmte  Zusanunen- 
stellung  aufbauend,  in  allen  Stücken  mit  wissenschaftlicher 
Schärfe  geschrieben,  bildet  den  vorteilhaftesten  botanischen 
Begleiter  in  Bayern.  8  S.  Einleitung  sind  einer  pflanzengeo- 
graphischen Einteilung  des  Gebietes  und  einer  ausführlichen 
Litteraturübersicht  gewidmet. 

Schnizlein  und  Frick hinger,  Die  Vegetationsverhältnisse  der 
Juror  und  Keuperformation  in  den  Flussgebieten  der  Wömitz  und 
Ältmühl  (Nördlingen  1848,  344  S.  8^  mit  Kart«).  Ohne  Dia- 
gnosen, aber  mit  vorzüglichen  Verbreitungsangaben,  ist  dies  Werk 
eine  der  besten  älteren  Studien  auf  geographischer  Unterlage. 


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Pflanzenverbreitung.  251 

Y.  Martens  und  Eemmler:  Flora  von  Württemherg  und  Hohen- 
zollem  (Heilbronn  1883,  8.  Aufl.)»  bat  Diagnosen  und  Stand- 
orte. Die  erste  (1884  erschienene)  Ausgabe  war  noch  nach  dem 
Linn^chen  Systeme  angeordnet. 

Kirchner,  Prof.  Dr.  0.:  Flora  von  Stuttgart  und  Umgebung,  mit 
besonderer  Berücksiehtigung  der  pfianzenbiologisehen  Verhältnisse 
(Stuttgart  1888,  767  S.  in  Taschenformat).  Dieses  hübsche 
Florenwerk  stellt  die  jüngste  Bereicherung  unserer  Litteratur 
dar,  indem  es  im  Rahmen  einer  kleineren  Lokalflora  mit  den 
nmfangreichen  Mitteln  yiel  weitergehender  botanischer  Metho- 
den arbeitet  und  dabei  den  Befruchtungsvorgängen  sowie  der 
indiyiduellen  Verjüngung  ausgedehnten  Raum  gewährt;  möchte 
das  hier  g^ebene  Beispiel  weiter  wirken. 

Schultz,  Dr.  F.  W.:  Grundzüge  zur  Phytostatik  der  Pfalz  (in  dem 
XX.  u.  XXI.  Jahresbericht  der  .Pollichia",  Neustadt  a.  d.  Hardt 
1863,  S.  99—318,  mit  Nachträgen) ,  mag  hier  als  Muster  einer 
ohne  Diagnosen  gehaltenen  ausf^rlichen  Standortsliste  mit 
klaren  Angaben  der  Verbreitung  in  Abhängigkeit  vom  Boden 
ange^hrt  werden. 

Von  demselben  Verfasser  ist  schon  1846  eine  Flara  der  Pfalz  (575  S. 
in  Taschenformat)  mit  ausführlichen  Beschreibungen  der  System- 
arten herausgegeben. 

Godron,  Dr.  A.:  Flore  de  Lorraine  (Meurthe,  Moselle,  Meuse, 
Vosges),  Nancy  1843—44  (2.  Ausg.  1857),  3  Bde.  in  Taschen- 
format, enthält  in  der  klaren  französischen  Diagnosensprache 
die  ausföhrlichen  Beschreibungen  der  in  diesen  westlichen  Gauen 
verbreiteten  Pflanzen  aus  Meisterhand. 

Doli,  J.  Gh.:  Rheinische  Flora  (vom  Bodensee  bis  zur  Mosel  und 
Lahn),  Frankfurt  a.  M.  1843,  832  S.  8^  mit  einer  Beilage  über 
die  Laubknospen  der  Amentaceen  (1845),  ist  in  Hinsicht  des 
morphologisch -systematischen  Apparates  eine  der  ausgezeich- 
netsten deutschen  Lokalfloren  und  unterscheidet  sich  von  man- 
chen neueren  vorteilhaft  durch  Zusammenziehung  schwacher 
Arten. 
—  Flora  des  Grossherzogtums  Baden  (Karlsruhe  1857 — 62,  3  Bde. 
8*  mit  1429  S.).  Dieses  ausgezeichnete  Werk  geht  mit  dem  in 
ihr  zur  Darstellung  gelangten  morphologisch -systematischen 
Material  weit  über  den  Rahmen  einer  für  beschränktere  Ge- 
biete zugestutzten  Lokalflora  hinaus  und  enthält  Beobachtungen, 
welche  ohne  weiteres  einer  ausfdhrlichen  deutschen  Flora  ein- 
zureihen wären.  Die  Verbreitung  in  Baden  ist  durch  ausfiihr- 
liehe  Hinweise,  außerhalb  des  Landes  durch  die  Signatur  («) 
angegeben. 
Prantl,  Prof.  Dr.  E.:  Seuberts  Exkursionsflora  für  das  Grossherzog- 
tum  Baden  (Stuttgart  1885,  4.  Aufl.,  420  S.  in  Taschenformat). 
Im  westlichen  iUischluß  an  desselben  Verfassers  Flora  von 
Bayern. 
Kirschleger,  Prof.  Dr.  F.:  Flore  d'Älsaee  (Straßburg  1852—62, 
3  Bde.),  und  das  jüngere  Werk:  Flore  Vog4so-Rh4nane,  ou  de- 


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252  Oscar  Drude. 

scriptian  des  plantes  qui  eroissent  natureUemetU  dans  Us  Vosges  et 
dans  la  väUh  du  Rhin  (2  Bde.  in  Taschenformat  von  502  a.  400  S., 
1870).  In  französischer  Sprache  geschrieben,  aber  mit  Hinzn- 
fÜgung  der  deutschen  Pflanzennamen,  inhaltsreich  in  kleinem 
Druck,  bildet  dieses  Werk  eines  ausgezeichneten  Floristen  för 
das  Elsaß  mit  Einschluß  des  rechtsrheinischen  Geländes  bis  zu 
den  Schwarzwaldgipfeln  und  zum  Jura  die  Grundlage.  Ganz 
eigenartig  ist  die  57  S.  lange  Anweisung  fOr  botamsche  Ex- 
kursionen im  Gebiete,  aus  welcher  zugleich  eine  anschauliche 
Vorstellung  der  Anordnung  in  der  Gesamtflora  hervorgeht.  — 
Westlich  über  die  Vogesen  hinaus  schließt  sich  eine  hübsche 
iran2Ösische  Lokalflora  an: 

Aubriot,  Prof.  L.,  und  Daguin,  A.:  Flore  de  la  Haute-Mame 
(Saint-Dizier  1885,  536  S.),  mit  geologischer  Karte,  aber  ohne 
Diagnosen. 

Grenier,  Prof.  Gh.:  Flore  de  la  Chaine  Jurassique  (Paris  1865 — 75, 
1001  S.  8^),  ist  eine  sehr  ausgezeichnete  Flora  des  Schweizer 
Juragaues,  deren  Vergleich  für  weitergehende  Kenntnis  des 
deutschen  Jura-  und  Kheingaues  von  großer  Bedeutung  ist. 
Hier  sind  sehr  vollständige  Speziesbeschreibungen  (in  der  durch- 
sichtigen französischen  Ausdrucksweise)  zu  finden.  —  Aus  dem- 
selben Gau  sind  Thurmanns  Untersuchungen  über  den  Ein- 
fluß des  Bodens  auf  die  Verteilung  der  Gewächse  von  älterer 
Zeit  her  berühmt. 

Hof  mann,  Prof.  Dr.  J.:  Flora  des  Isargehietes  von  Wolfratshattsen 
bis  Deggendorf  (Landshut  1883,  377  S.  in  Taschenformat).  Von 
der  Einleitung  sind  8  S.  einer  Vegetationsübersicht,  im  Texte 
der  Anführung  der  Standorte  viel  Platz  gewidmet. 


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Tierverbreitung. 

Von 

Dr.  William  Marshall, 

Professor  an  der  Universität  in  Leipzig. 


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Deutschland  gehört  in  tiergeographischer  Hinsicht  zu 
der  ungeheuren  Region,  welche  A.  R.  Wallace  als  die 
paläarktische  bezeichnet  und  die  ganz  Europa,  Nord- 
afrika, die  nördliche  Hälfte  von  Arabien,  sowie  ganz  Asien 
nördlich  vom  Himalajagebirge  und  dem  Jangtse-Kiang 
nebst  einer  bedeutenden  Anzahl  von  Inseln  im  östlichen 
Atlantischen  und  westlichen  Stillen  Meere,  sowie  in  den 
Binnenmeeren  umfaßt.  Es  bildet  weiter  einen  Teil  der 
nördlich  von  der  Pyrenäen-,  Alpen-,  Balkan-,  Kaukasus- 
Kette  und  westlich  vom  Ural  gelegenen  europäischen 
Subregion,  und  zwar  ziemlich  deren  zentralen. 

Man  kann  diesen  Teil  eine  eigene  Provinz  nennen, 
die  meinetwegen  die  germanische  heißen  mag.  Oest- 
lich  grenzt  sie  an  die  sarmatische,  südlich  an  die  alpine, 
westlich  an  die  ihr  in  ihren  Produkten  sehr  ähnliche 
keltische  und  nördlich,  sich  über  die  politischen  Grenzen 
hinaus  erstreckend,  an  die  arktische  Provinz. 

Naturgemäß  teilt  sich  Deutschland  nach  seiner  Boden- 
beschaflFenheit,  seiner  Vegetation  und  seiner  Tierwelt  wei- 
ter in  zwei  ünterprovinzen:  die  gebirgige  südliche,  die 
„oberdeutsche",  vom  Fuße  der  Alpen  bis  zum  52.  Pa- 
rallelkreis im  Westen  und  bis  zum  51.  Parallelkreis  im 
Osten,  und  in  die  „niederdeutsche",  welche  von  der 
Nordgrenze  der  oberdeutschen  bis  an  die  Küsten  der  Nord- 
und  Ostsee  und  bis  zur  Landesgrenze  (eigentlich  noch 
darüber  hinaus)  reicht. 

Jede  dieser  beiden  Unterprovinzen  teilt  sich  weiter 
in  zwei  Gaue,  in  einen  östlichen  und  westlichen,  so  daß 
ganz  Deutschland  tiergeographisch  in  vier  Gaue  zerfällt: 


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256  William  Marshall, 

einen  nordöstlichen,  einen  nordwestlichen,  einen 
südöstlichen  und  einen  südwestlichen. 

Die  Grenze  zwischen  den  beiden  ersteren  wird  fast 
genau  von  der  Elbe  und  unteren  Saale  gebildet.  Die 
zwischen  den  beiden  letzteren  verläuft  schräg  durch  die 
oberdeutsche  Provinz  ungefähr  vom  12.  zum  10.^  Meridian 
V.  Gr.,  von  Halle  bis  zum  Bodensee. 

Der  Südwestgau  zeigt  von  allen  deutschen  tiergeo- 
graphischen Gauen  die  größte  Abwechslung  in  jeder  Hin- 
sicht; er  enthält  vom  Harz  bis  zum  schwäbischen  Jura 
bedeutende  Gebirge,  sehr  viel  Hügelland  und  zugleich  im 
Bheinthale  die  einzige  Tiefebene  der  oberdeutschen  Unter- 
provinz, in  ihm  finden  sich  die  größten  Unterschiede  der 
Jahrestemperatur  —  von  1 1  ®  im  Rheinthal  bis  zu  2  ®  auf 
dem  Brocken.  Die  Sommertemperatur  indessen  schwankt 
im  ganzen  Gau,  abgesehen  von  einigen  hohen  gebirgigen 
Strichen,  von  17^  in  der  nördlichen  bis  zu  19®  in  der 
südlichen  Hälfte,  ja  sie  steigt  stellenweise  in  den  Thalem 
bis  zu  20  ®,  der  höchsten  Sommertemperatur  Deutschlands 
überhaupt.  Die  Sommertemperatur  ist  aber  bei  Beurtei- 
lung tiergeographischer  Verhältnisse  wichtiger  als  die 
Jahrestemperatur.  Für  die  große  Zahl  der  in  irgend 
einem  Entwickelungszustande  den  Winter  durch  schlafen- 
den Tiere  und  für  die  Zugvögel  ist  die  höhere  oder  nie- 
dere Temperatur  des  Winters  von  geringerem  Belang  als 
die  Länge  und  Kürze  seiner  Dauer. 

Reich  ist  dieser  Gau  an  Wald,  namentlich  an  Gebirgs- 
wald  und,  was  für  die  Verhältnisse  der  Entwickelung  der 
Fauna  von  großer  Wichtigkeit  ist,  Nadel-  und  Laubwald 
finden  sich  sowohl  in  großen  Komplexen  als  auch  häufig 
in  Mischung.  Nur  an  stehenden  Gewässern  ist  der  Gau 
arm,  er  wird  aber  von  einem  großen  Strom  von  Süden 
nach  Norden  durchströmt,  von  dessen  Thal  sich  sowohl 
nach  Osten  wie  nach  Westen  bedeutende  Nebenflußthäler 
abzweigen.  Im  oberen  Lauf  nähert  sich  dieser  Strom 
dem  Flußgebiet  des  Mittelmeeres  bedeutend,  ja  ist  durch 
einen  Kanal  (den  Rhein-Rhone-Kanal)  mit  demselben  und 
dadurch  mit  einer  anderen  Subregion  der  paläarktischen 
Region,  der  mediterranen,  verbunden. 


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Tierverbreitung,  257 

Der  Südostgau,  dessen  größter  Teil  jedoch  nicht 
dem  Deutschen  Reiche  angehört,  sondern  von  Deutsch- 
österreich bis  zum  Fuße  der  Alpen  gebildet  wird,  enthält 
gleichfalls  ansehnliche  Gebirge  und  ein  Hügelland  mit 
bedeutenden  Hochebenen,  stellenweise  mit  Hochmooren. 
Eine  Tiefebene  (die  der  Donau  von  Kremsmünster  an) 
findet  sich  nur  im  österreichischen  Teile.  Die  mittlere 
Jahrestemperatur  für  den  deutschen  Teil  beträgt  8 — 9^ 
die  größte  Schwankung  ist  zwischen  9  und  4^  (Erzge- 
birgskamm).  Die  durchschnittliche  Sommertemperatur  für 
die  deutsche  Hälfte  ist  16^,  sie  steigt  indessen  bedeutend 
(bis  auf  18®),  wenn  man  die  österreichische  mit  berück- 
sichtigt. 

Die  Regenmenge  ist  infolge  der  größeren  Nähe  der 
Alpen  und  der  Gegenwart  von  Hochflächen  etwas  be- 
deutender als  im  Südwestgau,  die  Waldmasse  etwas  ge- 
ringer. An  stehenden  Gewässern  ist  der  Südostgau  in 
seinem  südlichen  Teile,  am  Fuße  der  Alpen,  ziemlich  reich. 
Ein  großer  Strom  durchfließt  ihn  von  West  nach  Ost 
und  tritt  in  eine  andere  Provinz  (in  die  sarmatische)  der 
europäischen  Subregion,  ja  er  nähert  sich  infolge  der 
Eüstenbildung  des  Schwarzen  Meeres  der  mediterranen 
Subregion,  in  etwas  sogar  der  sibirischen  Region. 

Der  Nordostgau  ist  bei  weitem  der  größte  Gau, 
er  ist  flach,  nur  im  östlichen  Teil  zeigt  er  geringe  Er- 
höhungen. Seine  Jahrestemperatur  sinkt  von  Westen  nach 
Osten  von  9®  an  der  Elbe  bis  auf  6®  an  der  Memel. 
Die  Sommertemperatur  aber  verteilt  sich  in  anderer  Rich- 
tung, indem  sie  in  der  südlichen  Hälfte  17 — 18^  beträgt, 
in  der  nördlichen  aber,  infolge  der  Nähe  des  Meeres,  um 
einen  Grad  smkt.  Die  Winter  im  östlichen  Teile  des 
Gaues,  namentlich  jenseits  der  Weichsel,  sind  die  kälte- 
sten und  besonders  die  längsten  in  Deutschland.  Die 
Regenmenge  dieses  Gaues  ist  geringer  als  in  den  drei 
übrigen  deutschen  Gauen;  im  Südosten  sinkt  sie  sogar, 
echt  kontinental,  auf  nur  40  cm,  steigt  indessen  in  der 
Nähe  der  Küste  bis  auf  60  cm.  An  Wald  ist  der  Nord- 
ostgau zwar  reich,  aber  es  ist  meist  ein  armer,  dürftiger 

Anleittmg  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschnng.  17 


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258  William  Marshall, 

Wald,  bestehend  aus  großen  Strecken  Kiefern,  wodurch 
nur  ein  sehr  einseitiges  und  verh'ältnismä&ig  geringes 
Tierleben  ermöglicht  wird.  Es  findet  sich  aber  viel  Moor- 
und  Bruchland,  wie  überhaupt  dieser  Guu  mit  seinen  zahl- 
reichen und  teilweise  großen  Strömen  und  seinen  vielen 
und  ausgedehnten  Seeen  der  wasserreichste  Deutschlands 
wird.  Dazu  kommt  noch,  daß  er  im  Norden  zwar  nur 
von  einem  Binnenmeere  begrenzt  wird,  das  aber  doch  von 
wesentlichem  Einflüsse  auf  seine  ganze  Beschaffenheit  ist. 
Er  verbindet  sich  mit  zwei  anderen  Provinzen  der  euro- 
päischen Subregion,  nämlich  mit  der  sarmatischen  durch 
die  Oder  und  Weichsel,  und  durch  die  Küste  der  Ostsee 
mit  der  arktischen,  und  ein  ganz  klein  wenig  selbst  mit 
der  westlichen. 

Der  Nordwestgau  ist  der  kümmerlichste  von  allen. 
Er  ist  flach,  ohne  irgend  nennenswerte  Erhöhung  und, 
was  Wind  und  Regen  sowie  die  Temperaturverhältnisse 
betrifft,  den  maritimen  Einflüssen  weit  mehr  ausgesetzt 
als  der  Nordostgau.  Seine  Temperatur  ist  auf  dem 
ganzen  Areal  sehr  gleich,  die  mittlere  des  ganzen  Jahres 
beträgt  8 — 9®,  die  des  Sommers  16 — 17  ^  aber  seine 
Winter  sind  im  allgemeinen  mild.  Seine  Regenmenge 
beträgt  gegen  70  cm.  Er  ist  der  am  wenigsten  konti- 
nentale Gau  Deutschlands,  der  geologisch  am  geringsten 
differenzierte,  enthält  viel  Moor-  und  Bruchstrecken  und 
weite,  teilweise  sandige  Heideflächen,  und  die  nordwest- 
lichen Seewinde  lassen  in  seinem  größten  Teile  keinen 
rechten  Wald  aufkommen.  Auch  an  Gewässern  ist  dieser 
Gau  arm,  kein  einziger  Fluß  verbindet  ihn  mit  einer  an- 
deren Subregion  oder  auch  nur  Provinz  der  paläarkti- 
schen  Hauptregion,  nur  die  Meeresküste  vermittelt  eine 
schwache  Verbindung  mit  der  westlichen  und  arktischen 
Provinz  der  europäischen  Subregion. 

Die  gegenwärtige  Fauna  von  Gesamtdeutschland  ist 
ihrer  geschichtlichen  Entwickelung  nach  dreigliederig:  sie 
setzt  sich  aus  je  einer  aus  prähistorischer,  mittel- 
alterlicher und  moderner  Zeit  herrührenden  zusammen. 

Die  deutsche  Fauna  prähistorischen  Ursprungs 
besteht   aus  den  Resten  einer  arktischen  Fauna,   welche 


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Tierverbreitung.  259 

am  Schlüsse  der  Tertiärepoche  infolge  der  Eiszeit  ganz  Nord- 
europa bis  zu  den  zahlreich  herabgestiegenen  gewaltigen 
Qletschem  der  Alpen,  des  Schwarzwalds  und  der  Vogesen 
überzogen  hatte.  In  dem  Maße  wie  die  Gletscher  mit 
der  Eiszeit  ihr  Ende  fanden  und  abtauend  in  die  Berge 
und  nach  Norden  sich  zurückzogen,  folgte  ihnen  die  kälte- 
liebende Nordfauna,  und  ihre  letzten  Bestandteile  finden 
sich  als  „Reliktenfauna*  oder  „Wärmeflüchter"  in 
den  höheren  Gebirgen  der  südlichen  und  stellenweise, 
namentlich  im  moorigen  Flachlande,  in  der  nördlichen 
germanischen  Unterprovinz. 

In  das  Gebiet,  welches  durch  das  Zurückweichen  der 
während  der  Eiszeit  importierten  arktischen  Tierwelt  frei 
wurde,  teilten  sich  zwei  weitere  Faunen.  Die  eine  be- 
stand aus  den  Resten  einer  alten  autochthonen,  welche 
durch  die  vordringenden  Eismassen  nebst  der  ursprüng- 
lichen Flora  des  Landes  auf  einen  schmalen  Gürtel  im  cis- 
alpinen  Mitteleuropa  zusammengedrängt  gewesen  war  und 
jetzt  wieder  Luft  bekam  sich  auszudelmen.  Aber  zugleich 
drang  in  das  frei  gewordene,  auf  weite  Strecken  von 
Wald  entblößte  Terrain  von  Osten  her  eine  Steppenflora 
und  in  ihrem  Gefolge  eine  Steppenfauna:  die  Bewohner 
der  sarmatischen  Provinz  wanderten  in  die  deutsche  ein. 
Sie  gruben  sich  hier  indessen  bald  ihr  eigenes  Grab,  in- 
dem sie,  die  öde  Grundmoräne  der  alten  Eiszeitgletscher 
nach  und  nach  überarbeitend,  auf  ihr  eine  Humusdecke 
schufen,  welche  es  dem  von  der  Mitte  der  Provinz  her 
sich  ausdehnenden  Walde  und  seinen  Bewohnern  ermög- 
lichte, festen  Fuß  in  neu  eroberten  Strichen  zu  fassen. 
So  wurde  die  sarmatische  Invasion  völlig  in  ihre  alten 
Gebiete  zurückgedrängt,  und  wenn  sich  vielleicht  hin  und 
wieder  versprengte  Kolonieen  derselben  halten  konnten, 
so  waren  sie  zu  unbedeutend,  etwas  an  dem  Charakter 
der  Waldfauna  zu  ändern,  welche  bis  tief  in  das  Mittel- 
alter hinein  die  in  Deutschland  herrschende  wurde.  Aber 
zufolge  der  wachsenden  Zahl  der  menschlichen  Bewohner 
und  der  sich  immer  mehr  ausdehnenden  Kultur  haben 
neben  den  alten,  namentlich  im  Nordwesten  gebliebenen 
moorigen  und  bruchigen  „Naturblößen**  sich  die  »Kul- 


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260  William  Marshall, 

turblößen"  derart  ausgedehnt,  daß  nur  noch  25®/o  des 
Areals  der  deutschen  Provinz  mit  Wald  bestanden  ist, 
während  er  früher,  bis  an  die  Gestade  der  Nord-  und 
Ostsee  reichend,  sicher  80  "/o  und  mehr  bedeckte. 

Der  alte  Urwald  mit  seinen  Sümpfen  und  Wildnissen 
ist  fast  YöUig  aus  der  deutschen  Provinz  verschwunden 
und  mit  ihm  nicht  wenige  gröf3ere  Tierarten,  welche  als 
^Kultur flüchter"  sich  am  längsten  in  den  höheren  Ge- 
birgen, gewissermaßen  in  konzentrischer  Verbreitung  mit 
der  relikten  Eisfauna,  und  in  dem  wenig  kultivierten, 
wilden  äußersten  Nordosten  gehalten  haben  und  noch 
halten.  Aber  fortwährend  wächst  ihre  Zahl.  Auch  der 
Kulturwald  ist  nicht  mehr  derselbe,  der  er  noch  vor 
50  Jahren  war.  Er  nimmt  an  Umfang  jährlich  ab,  man 
hält  darauf,  daß  er  sich  nicht  zu  dicht  entwickelt,  läßt 
die  Bäume  meist  nicht  zu  alt  werden  und  entfernt  na- 
mentlich die  hohlen.  So  werden  zahlreichen  Tierformen 
die  Bedingungen  einer  gedeihlichen  Entwickelung  ent- 
zogen. Verschwundene  Tiergestalten  des  mittel- 
alterlichen Walddeutschlands  sind  u.  a.:  der  braune  Bär 
(der  letzte  1770  in  Oberschlesien),  der  Luchs  (der  letzte 
1818  bei  Seesen  im  Braunschweigischen),  der  Auerochs 
(der  letzte  1755  bei  Bujak  in  Ostpreußen)  und  der  Fjäll- 
fraß.  Fast  verschwunden  sind:  der  Biber  (hin,  und 
wieder  noch  in  dem  Nordostgau),  der  Nörz  (ganz  einzeln 
im  Nordostgau,  1852  noch  am  Harz),  die  Schwanenarten 
(als  Brutvögel  ganz  einzeln  im  Nordostgau).  In  starker 
Abnahme  begriffen  sind:  der  Wolf  (im  Westen  und 
Nordosten  der  Provinz),  die  Wildkatze  (in  den  dichtesten, 
wildesten  Waldungen),  der  Auerhahn  (dichteste  Waldun- 
gen), der  Kranich  (im  Nordostgau),  die  Mandelkrähe. 
Merklich  abnehmend  und  zum  Teil  nur  durch  die 
Pflege  des  Menschen  in  einigem  Bestände  sich  haltend 
sind :  der  Edelhirsch,  das  Reh,  das  Wildschwein,  das  Birk- 
und  Haselhulm,  der  Schuhu,  Kolkrabe,  Schwarzspecht,  die 
Reiher,  der  schwarze  Storch,  die  als  Larven  an  alte  hohle 
Bäume,  namentlich  an  Eichen  gebundenen  Käfer:  Hama- 
ticherus  cerdo  (heros),  Prionus  coriarius,  Cetonia  speciosis- 
sima,  auch  der  Hirschkäfer  und  viele  andere  Tiere  mehr. 


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Tierverbreitung.  261 

Der  Nashornkäfer  hat  seinen  Bestand  in  manchen  Gegen- 
den dadurch  gesichert,  daß  er  sich  an  ein  Leben  auf 
Kosten  des  Menschen  angepaßt  hat,  indem  er  als  Larve 
in  der  Eichenlohe  der  Gerbereien  haust.  Viele,  nament- 
lich kleinere  Tiere  nehmen  so  unmerklich  ab,  daß  man 
diese  Abnahme  kaum  konstatieren  kann.  Auch  mit  dem 
Austrocknen  der  Sümpfe  und  Teiche  verschwinden  viele 
Tiere,  welche  teils  in,  teils  an  ihnen  lebten:  zahlreiche 
Vögel  (die  Bartmeise  z.  B.),  Amphibien,  Fische,  Insekten 
(z.  B.  ist  der  große  Schwimmkäfer  Dyticus  latissimus  sehr 
selten  geworden)  u.  s.  w.  Nicht  wenig  trägt  die  Ver- 
folgung, oft  genug  die  bloße  häufigere  Gegenwart  des 
Menschen  dazu  bei,  Tiere,  namentlich  Vögel,  aus  einer 
Gegend  zu  verscheuchen,  sowie  das  Vernichten  geeigneter 
Wohnstätten,  hohler  Bäume,  Felspartieen,  Rohrwaldungen, 
das  Verschwinden  von  wilden  Flußufern  infolge  der  Fluß- 
regulierungen, von  Hecken  und  kleinen  Feldgehölzen  in- 
folge der  Separationen  der  Grundstücke  u.  s.  f. 

Sehr  lehrreich  ist  eine  Zusammenstellung,  die  Hof- 
rat Senft  an  der  Hand  gewissenhafter,  während  eines 
langen  Lebens  an  einem  Orte  angestellter  Beobachtungen 
von  den  seit  1820  bis  1882  aus  der  Fauna  Eisenachs,  die 
eine  gute  mitteldeutsche  Durchschnittsfauna  ist,  ver- 
schwundenen Wirbeltieren  giebt.  Danach  sind  infolge  der 
Vernichtung  von  Wohn-  und  Brutstätten,  sowie  durch 
Verfolgung  25  Spezies  von  Vertebraten  um  Eisenach  aus- 
gerottet worden,  nämlich:  4  Säugetiere,  16  Vögel,  3  Am- 
phibien und  2  Fische.  Dem  Verschwinden  nahe  sind 
21  Arten:  5  Säugetiere,  15  Vögel  und  1  Amphibium. 
Diese  Tiere  sind  fast  alle  Bewohner  wald-  und  wasser- 
reicher Gegenden. 

Neben  diesen  beiden  im  Rückgange  begriflFenen 
Gliedern  der  deutschen  Fauna,  die  ihre  Glanzpunkte  in 
der  Vergangenheit  hatten,  findet  sich  noch  ein  drittes, 
fortschreitendes  Glied,  dem  die  Zukunft  gehört:  die  Fauna 
der  Neuzeit,  die  moderne.  In  dem  Maße,  wie  die 
Verhältnisse  der  Vegetation  eines  Landes  sich  ändern, 
ändern  sich  zugleich  diejenigen  seiner  Temperatur  und 
seiner   Niederschläge,    und    durch    dies    alles    zusammen 


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262  William  Majrshall, 

werden  neue  Existenzbedingungen  fQr  die  Tiere  geschaffen, 
denen. manche  der  alteinwohnenden  sich  nicht  anzupassen 
vermögen.  Sie  weichen  den  neuen  Verhältnissen,  wodurch 
ein  Terrain  frei  wird,  das  für  andere  bis  dahin  davon 
ausgeschlossene  Formen  gerade  durch  seine  veränderten 
Umstände  eine  neue  Heimstätte  bietet.  Von  allen  Nach- 
barprovinzen aus  werden  Versuche  einer  Invasion  gemacht 
werden,  welche  um  so  zahlreicher  und  um  so  erfolgreicher 
sein  können,  je  mehr  die  neuen  Bedingungen  den  neuen 
Eindringlingen  konvenieren  und  je  bequemer  gelten  und 
zahlreicher  die  Invasionslinien  sind. 

Entlang  den  Thälern  der  Ströme  und  Flüsse  finden 
sich  die  besten  Invasionslinien.  Einmal  werden  durch 
gelegentliche  oder  periodisch  (im  Frühjahr)  wiederkehrende 
Ueberschwemmungen  viele  Tierarten,  namentlich  Insekten, 
thalw'ärts  getragen  und  können  so,  passiv  wandernd,  das 
Gebiet  ihres  Vorkommens  vergrößern;  dann  aber  sehen 
wir  auch,  daß  die  Organismen  aktiv  den  Ufern  der  fließen- 
den Gewässer  folgen,  denn  sie  wandern  nicht  nur  thal- 
wärts  mit  dem  Flußlauf,  sondern  auch  bergwärts  ihm 
entgegen. 

Die  Gründe,  warum  Tiere  den  Flußthälem  auf-  und 
abwärts  freiwillig  folgen,  scheinen  verschiedener  und  ver- 
wickelter Art  zu  sein.  Zunächst  mögen  sie  hier  günstigere 
Lebensbedingungen  finden,  reichlichere  Nahrung,  höhere 
Temperaturen  und  Schutz  vor  Winden;  was  aber  speziell 
derartige  Einwanderungen  in  die  zentraleuropäische  oder 
deutsche  Provinz  betrifft,  so  dürfte  ein  anderes  Moment 
weit  ausschlaggebender  sein. 

Der  moderne  Teil  der  deutschen  Fauna  besteht  aus 
solchen  Tieren,  welche,  wie  wir  sahen,  im  großen  imd 
ganzen  den  Wald  vermeiden,  dafür  aber  Wiesen,  Felder, 
Heiden,  mit  einem  Worte  steppenartiges  Land  bewohnen: 
steppenartig  im  besten  Sinne  des  Wortes  und  im  Gegen- 
satze zum  Wald  gebraucht.  Eine  solche,  nennen  wir  sie 
meinethalben  „Kultursteppe*,  entstand  auch  in  Deutsch- 
land, wie  überall,  zuerst  in  den  Thälern  der  größeren 
Flüsse.  Die  Flüsse  sind  die  normalen  Straßen  der 
wandernden  Menschheit:  in  einem  vom  Urwalde  bedeck- 


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Tierverbreitung.  263 

ten,  von  Sümpfen  durchschnittenen  Lande  bilden  sie  in 
sich  und  ihren  Ufern  den  sichersten  Pfad.  Wenn  die 
Einzelnen  oder  wenn  kleine  Scharen  in  unmittelbarer 
Nähe  des  Flusses  oder  in  irgendwelchen  Fahrzeugen  auf 
ihm  sich  aufhalten,  ist  es  sehr  wenig  wahrscheinlich,  daß 
sie  sich  in  der  Wildnis  verirren  werden,  und  wenn  sie  vor- 
dringend im  Thale  Niederlassungen  gründeten,  so  konn- 
ten sie  mit  ihren  Stammesgenossen  in  besserem  Eontakt 
und  leichterem  Verkehre  bleiben  als  wenn  sie  aufs  Gerate- 
wohl irgendwo  in  die  Wildnis  eingedrungen  wären.  In 
einem  mehr  oder  weniger  gebirgigen  Lande  unter  kalten 
oder  gemäßigten  Zonen  wird  auch  der  Urwald  sich  nicht 
bis  unmittelbar  an  die  Ufer  des  Flusses  haben  ausdehnen, 
bez.  sich  nicht  hier  haben  halten  können.  Der  Früh- 
jahrseisgang, den  wir  uns  auf  den  Strömen  eines  noch 
unkultivierten  Landes  ganz  anders  wie  gegenwärtig  vor- 
stellen müssen,  wird  zusammen  mit  häufigen,  Sand  und 
Kies  führenden  Ueberschwemmungen  eine  Entwickelung 
größerer  Bäume  in  nächster  Nähe  des  Flusses  verhindert 
haben. 

So  bilden  auch  in  Deutschland  die  Flüsse  Natur- 
straßen, auf  denen  die  höhere  Kultur  mit  dem  Römertume 
und  Christentume  in  das  Land  und  zwar  zunächst  in  die 
oberdeutsche  Provinz  eindringen  konnte  und  von  dieser 
dann  weiter  entlang  den  Flüssen  auch  in  die  niederdeutsche, 
und  in  dem  Maße,  wie  sie  vordrang,  lichtete  sich  der  Wald 
und  wurden  neue  Pflanzen-  und  Tierformen  absichtlich 
eingeführt  oder  folgten  freiwillig. 

So  sehen  wir,  daß  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl 
von  Tierarten  in  den  Südwestgau  aus  der  mediterranen 
Subregion  und  zwar  um  das  Juragebirge  herum  auf  der 
Livasionslinie  Rhone  -  Saöne  -  Doubs  aufwärts  und  rhein- 
abwärts  eingedrungen  sind,  und  vom  Rheinthal  in  die 
Seitenthäler  des  Neckars,  des  Mains  und  der  Mosel.  In  den 
Südostgau  schlichen  sich  Formen  der  sarmatischen  Provinz, 
ja  der  sibirischen  und  mediterranen  Subregion  donau- 
aufwärts  und  in  den  Nordostgau  entlang  der  Weichsel, 
Oder  und  Elbe  ein.  Auch  den  Küsten  des  Meeres  folgen 
viele  Tiere,  und  so  wird  es  erklärlich,  daß  in  der  nieder- 


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264  Wüliam  Marehall, 

deutschen  UnterproTinz  keltische  Formen  von  den  Ge- 
staden des  Atlantischen  Ozeans  her  einwandern  und  mit 
arktischen  sich  treffen  und  mischen  können.  Auch  der 
Mensch  erleichtert  unbewußt  nicht  wenigen  Tierformen 
den  Einmarsch  und  die  Weiterverbreitung  in  Deutschland. 
Seine  Kanäle  und  seine  Kunststraßen  werden  eifrig  auch 
von  Tieren  benutzt:  von  der  Haubenlerche  weiß  man, 
daß  sie  seit  Anfang  des  Jahrhunderts  (1813)  erst  in 
Thüringen  entlang  den  Heerstraßen  eingedrungen  ist  und 
seitdem  sich  weiter  westwärts,  immer  den  Chausseeen  nach, 
bis  zum  Rheine  ausgebreitet  hat.  Die  Eisenbahnen,  so- 
wohl mit  ihrem  rollenden  Material  als  wie  durch  die 
Schienenwege,  vermitteln  einen  anhaltenden  Austausch 
von  Pflanzen-  und  daher  ganz  gewiß  auch  von  Tierformen 
benachbarter  Länder. 

Während  aber  die  Flüsse  die  Invasion  der  mit  oder 
entgegen  ihrem  Laufe  vordringenden  Organismen  erleich- 
tem, sind  sie  vielfach  für  solche,  die  senkrecht  auf  ihre 
Ufer  zuwandern,  Barrieren.  Nicht  wenig  deutsche  Tier- 
arten erreichen  an  der  Donau,  am  Neckar  und  am  Main 
ihre  Süd-  oder  Nordgrenze,  an  der  Weichsel,  Oder,  Elbe, 
Weser  und  Rhein  aber  ihre  West-  bez.  ihre  Ostgrenze. 
Die  Gebirge  scheinen  in  der  deutschen  Provinz  nicht  an- 
sehnlich genug  zu  sein,  um  wirksame  Barrieren  abzu- 
geben, und  wenn  viele  Tiere  am  nördlichen  Fuß  des 
Harzes,  des  Erz-  und  Riesengebirges  ihre  Süd-  bez. 
Nordgrenze  erreichen  mögen,  so  liegt  das  weniger  an 
der  Höhe  der  Gebirge  als  vielmehr  daran,  daß  wir  es 
dann  mit  typischen  Formen  des  Tieflandes  oder  des  Ge- 
birges überhaupt  zu  thun  haben.  Vielleicht  daß  sich 
aber  in  der  Fauna  des  nordöstlichen  und  südwestlichen 
Abhanges  des  Fichtelgebirges,  des  Böhmerwaldes  und  in 
derjenigen  der  beiden  Abhänge  des  Erzgebirges  doch  wohl 
nicht  unwesentliche  Unterschiede  finden  mögen,  sie  sind 
indessen  daraufhin  noch  nicht  genügend  untersucht.  Die 
Verschiedenheiten  in  der  Tierwelt  der  Südost-  und  Nord- 
westseite des  schwäbischen  Juras  sind  mehr  auf  die  be- 
zügliche Lage  des  Donau-  und  Neckarthaies  mit  ihren 
Beziehungen  zu  östlichen  und  westlichen  Faunen  zurück- 


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Tierverbreitung.  265 

zuführen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  in  diesen  ver- 
schiedenen Gauen  die  kleineren  Lokalfaunen  sehr  ver- 
schieden sein  können.  Die  Verteilung  der  Vegetation  und 
des  Wassers  sowie  die  Bodenbeschaffenheit  sind  nur  selten 
auf  größere  Strecken  ganz  gleich,  und  mit  ihrem  bunten 
Wechsel  tritt  auch  ein  entsprechender  Wechsel  in  der 
Verteilung  der  Tierwelt  ein.  So  sehen  wir  z.  B.,  daß 
überall  wo  dünenartige  Sandansammlungen  in  Deutsch- 
land sich  finden,  auch  entsprechende  Bewohner  auftreten, 
daß  wo  der  Boden  salzhaltig  ist,  sich  salzliebende  („halo- 
phile**)  Tiere  einstellen,  an  kalkreichen  Stellen  lebt  eine 
reiche  Kalkfauna  u.  s.  w.  Daher  rührt  in  erster  Linie 
das  oft  merkwürdig  versprengte  Vorkommen  namentlich 
gewisser  Insekten,  und  nicht  selten  können  wir  beob- 
achten, wie  die  beiden  Abhänge  ein  und  desselben  Thaies 
einen  ganz  verschiedenen  faunistischen  Charakter  haben, 
einmal  nach  ihrer  Lage  zur  Himmelsgegend,  dann  aber 
auch  nach  ihrer  Bodenbeschaffenheit.  Manche  Strecken 
gewisser  Thäler  Thüringens  haben  auf  der  einen  Seite  Bunt- 
sandstein, auf  der  anderen  Muschelkalk  und  auf  beiden 
viele  eigene  Tierarten,  und  ein  gleiches  gilt  für  die  Ab- 
hänge namentlich  der  von  Ost  nach  West  verlaufenden 
Gebirge. 


Indem  wir  jetzt  zu  der  Betrachtung  der  speziellen 
Verbreitung  der  einzelnen  wichtigeren  Tierordnungen  in 
unserem  Vaterlande  übergehen,  werden  wir  mit  Rücksicht 
auf  den  beschränkten  Kaum  bloß  die  wesentlichsten  Mo- 
mente hervorheben.  Ich  will  dabei  zugleich  bemerken, 
daß  es  mir  völlig  ungerechtfertigt  erscheint,  gelegentliche 
Irrgäste  oder  offenbar  verschlagene  Arten,  die  abnormer 
Weise  und  gegen  ihren  Willen  zu  uns  gelangen,  dem 
Faunenbestande  zuzurechnen.  Nach  meiner  Meinung  be- 
steht die  Fauna  eines  Landes  aus  folgenden  drei  Gliedern: 
ständige  Bewohner  und  regelmäßig  wiederkeh- 
rende Sommer-  und  Wintergäste. 

Säugetiere  finden  sich  von  den  ungefähr  380  Arten 
der  ganzen  paläarktischen  Region  in  Deutschland,   ein- 


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266  William  Marshall, 

schließlich  seiner  Meeresküsten,  61 — 63  (also  etwa  16  ®/o), 
nämlich:  17  Fledermäuse  (3,&^/o  der  paläarktischen  Arten), 
7  Insektenfresser  (22,6  ^/o),  11  Landraubtiere  (18,s  ^.o), 
4  Robben  (22»,  20— 23  Nagetiere  (13,2— 13,4  >,*  je 
nach  Auffassung  der  Artenberechtigung),  4  Wiederkäuer 
(5,9  ®/o)  und  1  Vielhufer  (50  ^/o),  das  Schwein.  Von  diesen 
Tieren  sind  durch  den  Menschen  eingeführt,  bilden  aber 
durch  Verwilderung  und  völlige  Akklimatisierung  einen 
integrierenden  Teil  der  Fauna:  das  Kaninchen  und  der 
Damhirsch.  Von  den  sonst  in  der  paläarktischen  Region 
vorkommenden  Säugetiergi-uppen  fehlen  Aifen,  Pferde  und 
Klippdachse  (Hyracidae). 

Von  den  17  Fledermäusen  finden  sieh  11  in  der 
ganzen  Provinz,  3  davon  erreichen  in  den  Alpen  die  Süd-, 
1  (Vesperugo  Nathusii)  am  Rhein  ihre  Westgrenze,  3 
(Rhinolophus  ferrum  equinum,  VespertiHo  Leisleri  und 
Vesperugo  discolor)  gehören  der  oberdeutschen,  1  (Vesper- 
tiHo dasycneme)  der  niederdeutschen  Provinz  an  und  1 
(Vesperugo  Nilsonii)  ist  glacialrelikt  und  findet  sich  außer 
in  Skandinavien  noch  in  Ostpreußen  und  im  Harz. 

Die  7  Insektenfresser  bewohnen  das  ganze  Gebiet 

Von  den  11  Landraubtieren  finden  sich  3  in  der 
ganzen  Provinz,  eine  Art  (der  Wolf)  im  Nordost-  und 
Sildwestgau  sehr  einzeln  und  eine  (der  Nörz)  wohl  nur 
stellenweise  im  Nordostgau. 

Die  4  Seeraubtiere  (Robben)  scheinen  sowohl  die 
Ost-  wie  Nordsee  zu  bewohnen. 

Von  den  23 (?)  Nagetieren  der  Provinz  werden  14 
allenthalben  angetroffen,  eine  Art  (Arvicola  agrestis)  er- 
reicht in  den  Alpen  die  Süd-,  eine  andere  (Mus  agrarius) 
am  Rhein  ihre  Westgrenze,  der  Hamster  geht  nur  an 
wenigen  Stellen  über  den  Rhein  und  Main,  scheint  aber 
die  Donau  südwärts  nicht  zu  überschreiten.  Der  Ziesel 
(Spermophilus  citillus)  gehört  wie  der  Gartenschläfer 
(Myoxus  Dryas)  dem  Südostgau  (Oberschlesien)  an,  die 
braune  Feldmaus  (Arvicola  campestris)  dem  Nordwesten, 
der  Biber  ist  als  Kulturflüchter  auf  den  Nordostgau  zurück- 
gedrängt, dessen  äußerste  nordöstliche  Spitze  (wie  in  den 
Alpen)  als  Glacialrelikt  der  Schneehase  (Lepus  variabilis) 


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Tierverbreitung. 


267 


bewohnt.  Als  Wirtschaftsschinarotzer  sind  dem  Menschen 
aus  Osten  in  das  Abendland  gefolgt,  wo  sie  sich  allent- 
halben finden,  die  Hausmaus  und  die  Wanderratte,  wäh- 
rend ein  früherer  ähnlicher  Parasit,  die  Hausratte,  von 
der  Wanderratte  fast  ausgerottet  ist  und  nur  noch  in 
einzelnen,  sehr  isolierten  kleinen  Gebieten  sich  zu  halten 
vermochte. 

Von  den  3  noch  vorhandenen  autochthonen  Wieder- 
käuern finden  sich  2  (Edelhirsch  und  Reh)  allenthalben 
an  geeigneten  Stellen,  der  dritte  (das  Elentier)  als  hoch- 
gradiger Kulturflüchter  nur  im  äußersten  Nordosten  des 
Nordostgaues. 

Das  Schwein  wird  in  der  ganzen  Provinz  an  ent- 
sprechenden Lokalitäten  angetrofi'en. 

Von  den  1 5  Säugetierfamilien,  von  denen  Mitglieder 
Deutschland  bewohnen,  ist  keine  einzige  auf  die  palä- 
arktische  Region  beschränkt :  2  sind  ganz,  6  beinahe  kosmo- 
politisch, 4  weit  verbreitet,  1  findet  sich  in  der  ganzen 
Alten  Welt  und  2  werden  in  beiden  Hälften  der  nörd- 
lichen Hemisphäre  angetroffen. 


Lands  all  get  Lere 
(exkh  verwilderte) 


in 
in 
in 


Deutschland  überhaapt,     ,,..,* 
allen  Gauen      ......*., 

den  meisten  Gauen   .-.**.,, 

in  der  oberdeutschen  ünterproviuz  ,     . 

in  dnr  niederdeutschen  Unteqjrovinz     . 

in  den  bpiden  Ost^^auen  zusammen  .     . 

in  den  beiden  West^iinen  zusammen     . 

im  Südwest-  und  Nördostgan  zusammen ') 

im  Südweatgftu 

im  Südostgau 

im  NordoHt^au     , * 

im  Nordwestgau 


62 

47 
2 
l 
2 
1 
1 
2 


*)  Vesperugo  Nilssonii  in  Ostpreußen  und  im  Harze  und  der 
Wolf  in  Ostpreußen  und  in  den  Rheinlanden. 


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268  William  Marshall, 

Die  Vögel  bieten,  zufolge  ihrer  leichteren  Orts- 
bewegung, mehr  Verschiedenheiten  in  der  Art  und  Weise 
ihrer  Verbreitung  als  alle  übrigen  Landtiere. 

Die  Zahl  der  in  Deutschland  brütenden  Familien  der 
Vögel  beträgt  42,  mithin  ungefähr  den  dritten  Teil  der- 
jenigen, welche  der  ganzen  ungeheuren  paläarktischen 
Region  eigen  sind  (129).  Von  diesen  42  Familien  sind 
19  ganz,  9  fast  kosmopolitisch,  sehr  weit  verbreitet  4, 
altweltlich  8,  zirkumpolar  1  und  eine  ist  im  wesentlichen 
auf  die  paläarktische  Region  beschränkt.  Die  Zahl  der 
Arten  aber  beträgt  nur  etwa  34  ^/o ,  nämlich  von  ungefähr 
680  circa  220.  Keine  einzige  Art  ist  Deutschland  aus- 
schließlich eigentümlich,  während  zum  Beispiel  Java,  das 
270  Vogelarten  aufweist,  40  besitzt,  die  bloß  hier  ge- 
funden werden.  Als  charakteristisch  für  unsere  Provinz 
müssen  wir  hauptsächlich  die  Singvögel  (Sylvien,  Drosseln, 
Meisen,  Bachstelzen,  Pieper  u.  s.  w.)  ansehen,  während  die 
großen  Familien  der  Spechte  und  der  kuckucksartigen 
Vögel  nur  sehr  schwach  vertreten  sind;  auch  die  eigent- 
lichen Seevögel  sind  infolge  einer  nur  äußerst  wenig  ent- 
wickelten, ja  eigentlich  (abgesehen  von  Rügen)  fehlenden 
Steilküste  nur  in  geringer  Zahl  vorhanden,  desgleichen  fehlen 
zahlreiche  Arten  der  an  die  süßen  Gewässer  gebundenen 
Schwimm-  und  Stelzvögel  als  Brutvögel  in  dem  größten 
Teil  der  Provinz,  namentlich  in  der  oberdeutschen  Unter- 
provinz. Die  meisten  Familien  zeigen  indessen  im  großen 
und  ganzen  eine  ziemlich  gleichmäßige  Verteilung.  Eine 
Vogelart,  der  Fasan  (Phasianus  colchicus),  ist  vom  Men- 
schen eingeführt  und  verwildert. 

Wir  müssen  die  Mitglieder  der  deutschen  Vogelfauna 
in  drei  Gruppen  bringen:  1.  Standvögel,  2.  konstante 
Sommer-  oder  Brutgäste,  3.  konstante  Wintergäste. 

Standvögel  für  die  ganze  Provinz  sind  solche,  die 
irgendwo  in  ihrem  Gebiete  zu  jeder  Jahreszeit  normaler 
Weise  sich  aufhalten,  mithin  fallen  auch  diejenigen  Vögel, 
welche  für  die  einzelnen  Gaue  Strichvögel  sein  können, 
im  Verhältnis  zum  ganzen  Terrain  in  diese  Kategorie. 

Sommer-  oder  Brutgäste  sind  die  eigentlichen 
„Zugvögel**,  welche  bloß  bei  uns  brüten,  uns  im  Winter 


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TierverbreituDg.  269 

aber  wieder  verlassen.  Ihre  Masse  scheint  aus  zwei  wesent- 
lich verschiedenen  Kategorieen  zusammengesetzt  zu  sein, 
nämlich:  1.  altautochthone  Formen,  die  schon  vor 
der  Eiszeit  Deutschland  jahraus  jahrein  bewohnten,  sich 
aber  an  den  auftretenden  Winter  derart  anpaßten,  daß 
sie  ihm  periodisch  aus  dem  Wege  gehen,  und  2.  Pionier- 
vögel, welche  Familien  angehören,  die  ursprünglich  nicht 
in  Deutschland  seßhaft  waren,  aber  ihren  Verbreitungs- 
kreis nordwärts  auszudehnen  bestrebt  sind;  hierher  gehört 
der  Kuckuck,  der  Wiedehopf,  die  Turmschwalbe,  der  Pirol 
u.  a.  m. 

Wintergäste  endlich  sind  solche  Vögel,  welche 
bei  uns  nicht  brüten,  aber  alle  Jahre  im  Winter  von 
Norden  und  Nordosten  einwandern.  Ihre  Zahl  nimmt  von 
Südwest  nach  Nordost  successive  zu,  und  es  hängt  von 
dem  Grade  der  Winterstrenge  ab,  wie  weit  sie  nach  Süden 
und  Südwesten  vordringen. 

Wenn  wir  die  folgende  Liste  ansehen,  so  werden  wir 
bemerken,  daß  die  östliche  Hälfte  und  namentlich  der 
Nordostgau  Deutschlands  weit  reicher  an  originellen  For- 
men (42)  sind  als  die  Westhälfte  (11).  Daß  dies  so  ist, 
wird  durch  eine  Reihe  von  Ursachen  bedingt,  welche 
hauptsächlich  in  der  nordöstlichen  Ecke  auftreten.  Erstens 
häufen  sich  hier,  zufolge  der  geringeren  Kultivierung  des 
Landes,  die  Kulturflüchter,  dann  aber  sind  hier  die  süßen 
Gewässer  weit  stärker  entwickelt  und  liegen,  was  von 
nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung  ist,  dem  Meere  näher 
als  sonstwo  in  Deutschland,  und  so  sehen  wir,  daß  hier 
von  den  14  deutschen  Entenvögeln  9  sich  ausschließlich 
finden  und  von  den  36  Stelzvögeln  bloß  4  nicht  in  diesem 
Gau  brüten. 

Der  dritte  Umstand,  durch  welchen  die  Fauna  des 
Nordosi^aues  bereichert  wird,  liegt  wohl  darin,  daß  Formen, 
welche  sowohl  von  Norden  wie  von  Osten  nach  Deutsch- 
land einzuwandern  bestrebt  sind,  zuerst  hier  deutschen 
Boden  betreten,  da  ja  das  Land  jenseits  der  Weichsel  um 
30  bis  40  Meilen  weiter  nach  Osten  vorspringt  als  die 
übrige  deutsche  östHche  Grenze. 

Ein  vierter  Grund  endlich  ist  der,  daß  in  der  äußer- 


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270  Wüliam  Marshall, 

sten  Nordostecke  einige  glacialrelikte  Formen  brüten, 
welche  sonst  nirgends  in  Deutschland  als  Brutvögel  auf- 
treten, z.  B.  das  Schneehuhn  (wieder  in  den  Alpen), 
Sumia  ulula,  die  Schneeeule  (Sumia  nyctea)  und  die 
Habichtseule  (Sjmium  uralense). 

Die  8  eigentümlichen  Vogelarten  des  Südostgaues 
finden  sich  nur  im  Riesengebirge.  Es  sind  3  Ostformen, 
Strix  passerina,  Picus  tridactylus  und  Anthus  spinoletta, 
und  als  Relikte  der  Eiszeit  ist  es  Fringilla  linaria,  Tur- 
dus  torquatus,  Accentor  alpinus  und  Eudromias  morinellus. 

Aus  Osten  früher  eingedrungene  und  vollständig  seß- 
haft gewordene  Vögel  dürften  die  meisten  Lerchen,  der 
Brachpieper  (Anthus  campestris,  fehlt  in  England),  der 
kleine  Fliegenschnapper  (Muscicapa  parva),  zwei  Rohr- 
sänger (Acrocephalus  turdoides,  fehlt  in  England,  und 
Locustella  fluviatilis,  bis  Ostthüringen),  der  Sprosser  (Lus- 
cinia  vera,  westlich  bis  Pommern),  der  Haussperling, 
der  Kirschkernbeifier,  die  Saatkrähe,  die  Wachtel,  viel- 
leicht auch  das  Rebhuhn,  die  Weihen,  der  Triel  (Oedi- 
cnemus  crepitans),  die  Großtrappe  u.  a.  m.  sein.  Die 
Großtrappe  geht  als  Brutvogel  in  Mitteleuropa  bis  zur 
Elbe-Saale-Linie  westlich  und  ungefähr  bis  zum  51.  Parallel- 
kreis südlich.  Interessant  verhalten  sich  zwei,  eine  Art 
(Comus  corone-comix)  bildende  Erähenformen.  Die  Nebel- 
krähe (C.  comix)  ist,  abgesehen  von  einigen  verspreng- 
ten kleinen  Kolonieen,  bloß  im  Nordostgau  bis  zur  Elbe 
Brutvogel,  die  Rabenkrähe  (C.  corone)  findet  sich  nur  ganz 
einzeln  an  der  westlichen  Grenze  dieses  Gaues,  ist  dagegen 
in  den  drei  übrigen  Gauen,  in  denen  die  NebelknLhe  bloß 
als  Wintergast  auftritt,  fast  die  allein  brütende  Form. 

Sehr  interessant  sind  einige  andere  Vogelarten,  die 
gelegentlich  einmal  von  Osten  kommend  in  Deutschland 
erscheinen,  aber  nicht  als  bloße  Irrgäste  aufgefaßt  werden 
dürfen,  da  sie  in  der  neuen  Heimat  zur  Brut  schreiten  und 
so  eigentlich  einen  Vorstoß  machen,  um  das  Gebiet  der  Ver- 
breitung auszudehnen.  Solche  Vögel  sind:  die  Kleintrappe 
(Otis  tetrax,  Schlesien,  Thüringen),  das  Fausthuhn  (Syr- 
rhaptes  paradoxus,  1863 — 64  und  ganz  neuerdings),  der 
Earmingimpel  (Carpodacus  erythrinus,  Schlesien,  Schles- 


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Tierverbreitimg. 


271 


wig)  und  der  Bienenfresser  (Merops  apiaster,  Schlesien, 
Gegend  von  Nürnberg  und,  auf  der  Rhone-Doubs-Rhein- 
Linie  eingewandert,  am  Kaiserstuhl  bei  Freiburg  i.  Br.). 
Für  den  Südwestgau  ist  es  charakteristisch,  dais  er 
keinen  einzigen  eigentümlichen  Wasservogel  enthält  und 
80  im  schroffsten  Gegensatz  zum  Nordostgau  mit  seinen 
18  Arten  steht.  Die  meisten  seiner  ihm  speziell  zukom- 
menden Arten  (Scops  carniolicus,  Emberiza  cia  und  cirlus, 
Fringilla  petronia,  Peti'ocichla  saxatilis  und  cyanea,  Sylva 
orphea)  sind  vor  noch  nicht  langer  Zeit  aus  Süden  ein- 
gewanderte Bewohner  des  warmen  Rheinthals  und  seiner 
Seitenthäler.  Eine  Art  (Panurus  barbatus,  die  Bartmeise) 
findet  sich  in  Deutschland  nur  noch  im  äußersten  Westen 
in  der  Gegend  von  Metz.  Einige  wenige  Vögel  haben, 
beiläufig  bemerkt,  keine  festen  Sitze,  sondern  wandern 
nach  Orten  hin,  wo  ihre  Nahrimg  gut  geraten  ist,  und 
schreiten  dann  dort  ziemlich  unabhängig  von  der  Jahres- 
zeit zur  Brut.  Solche  » Zigeunervögel ",  wie  sie  der  ältere 
Brehm  sehr  bezeichnend  nannte,  sind  z.  B.  der  Kreuz- 
schnabel (Coniferensamen)  und  der  Waldkauz  (Syrnium 
aluco,  Mäuse). 


Vögel  kommen  vor 

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in  3)  Gauen  .     .    . 

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272 


William  Marshall, 


Außerordentlich  schwach  sind  die  Reptilien  in  Deutsch- 
land vertreten.  Von  den  bekannten  ungefähr  2450  Ar- 
ten finden  sich  hier  (auf  einem  Terrain  von  540  520  qkm) 
nur  13,  während  auf  der  Halbinsel  Malaka  (154  000  qkm) 
12  Schildkröten,  25  Eidechsen  und  61  Schlangen,  zu- 
sammen 98  Arten  von  Reptilien  gefunden  werden  (Can- 
tor).  Der  Südwestgau  ist  der  bei  weitem  reichste,  hier 
finden  sich  alle  überhaupt  in  Deutschland  vorkommenden 
Eidechsen  und  Schlangen,  aber  sechs  von  ihnen  finden 
sich  nur  hier,  Lacerta  viridis  und  muralis,  sowie  Goluber 
(Callopeltis)  Aesculapii  nur  im  Rheinthal  und  seiner  nähe- 
ren Nachbarschaft,  Vipera  aspis  und  Zamenis  atrovirens 
nur  im  äußersten  Westen  in  der  Umgegend  von  Metz. 
Die  einzige  Schildkröte  (Emys  europaea)  dürfte  westlich 
von  einer  von  Schwerin  nach  Brandenburg  und  weiter 
nach  Görlitz  gezogenen  Linie  kaum,  vollends  westlich  von 
der  Elbe  nur  höchst  ausnahmsweise  vorkommen. 


Eidechsen  Schlangen 

1 

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Reptilien  finden  sich 

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in 
in 
in 

5 

50 

Deutschland  überhaupt  .... 
allen  vier  Gauen  zugleich  .  .  . 
den  meisten  (mindestens  3)  Gauen 

in  der  oberdeutschen  Unterprovinz 

in  der  niederdeutschen         , 

in  den  beiden  Ostgauen     .     .     . 

in  den  beiden  Westgauen  .     .     . 

im  Südwestgau 

im  Südost gau 

im  Nordostgau 

im  Nordwestgau 

4 
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2 

1 
1 

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2 

1 

1 

1 
1 

13 
6 

1 
6 

Besser  als  die  Reptilien  sind  die  Amphibien  in 
Deutschland  vertreten,  namentlich  die  geschwänzten:  von 
93  Urodelen  finden  sich  in  Deutschland  6,  aber  nur  2 
von  ihnen  (Triton  cristatus  und  taeniatus)  werden  in  allen 
Gauen,  2  weitere  (Triton  alpestris  und  Salamandra  macu- 


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Tierverbreitung. 


273 


losa)  nur  in  der  oberdeutschen  Unterprovinz  gefunden. 
Triton  helveticus  gehört  den  westlichsten  Teilen  des  Süd- 
westgaues an  und  Salamandra  atra  dürfte  außerhalb  der 
Alpen,  vielleicht  in  den  höheren  Teilen  des  schwäbischen 
Juras  auf  der  Grenze  der  beiden  Südgaue  anzutreffen  sein. 
Auch  die  Geburtshelferkröte  (Alytes  obstetricans) ,  sowie 
2  Froschformen  (Rana  agilis  und  arvensis)  gehören  dem 
Rheinthal  und  seinen  Seitenthälem  an.  Die  übrigen 
Anuren  sind  weit  im  Gebiet  verbreitet. 


Amphibien  ßndan  eich 

1 

1 

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1 

1 

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Deutschland  überhaupt    .... 

allen  Gauen 

fast  allen  (mindestens  in  3)  Gauen 
in  der  oberdeutschen  ünterprovinz 
in  der  niederdeutschen         „ 
in  den  Ostgauen  zusammen    .     . 
in  den  Westgauen  zusammen 

im  Südwestgau 

im  Südostgau 

im  Nordostgau 

im  Nordwestgau 

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2 

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1 

2 

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2 

2 

1 

1 



1 
1 

5 
2 

1 
2 

18 
6 
1 

6 

4 

1 

Mancherlei  Eigentümliches  zeigt  die  Verbreitung  der 
Fische  in  Deutschland.  Von  den  39  das  süße  Wasser 
bewohnenden  Familien  der  Knochenfische  haben  6  Re- 
präsentanten in  Deutschland,  also  etwa  15,5  ^/o,  was  ein 
nicht  ungünstiges  Verhältnis  ist.  Ganz  anders  aber  wird 
die  Sache,  wenn  wir  die  Verhältnisse  des  Vorkommens 
der  Arten  betrachten,  da  finden  wir  von  etwa  2400  Ar- 
ten, welche  die  süßen  Gewässer  der  ganzen  Erde  be- 
wohnen, nur  60  in  unserem  Vaterlande,  also  2,5  ^/o.  Von 
den  5  Familien  der  Glanzschupper  (Ganoidei,  14  Arten) 
kommen  2  Arten  einer  Familie  in  deutschen  Gewässern 
vor,  nämlich:  Acipenser  sturio  (der  gemeine  Stör)  in  allen 
größeren   Strömen  und  Acipenser   ruthenus   (der  Sterlet) 

Anleitang  zur  deutschen  Landes»  nnd  Volksforschung.  lg 


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274  Wüliam  Marshall, 

bloß  in  der  Donau  bis  oberhalb  Regensburg.  Die  Störe 
sind  aber  Wanderfische,  welche  um  zu  laichen  in  die 
Flüsse  aufsteigen,  wie  das  auch  eine  Reihe  von  anderen 
Fischen  thut.  So  steigen  zu  bestimmten  Zeiten  in  alle 
großen,  in  das  Meer  mündenden  deutschen  Ströme  die 
Lachsforelle  (Salmo  trutta)  und  das  Flußneunauge  (Petro- 
myzon  fluviafcilis),  und  in  alle  mit  Ausnahme  der  Donau: 
der  Schn'äpel  (Coregonus  oxyrhynchus),  der  Stint  (Osme- 
rus  eperlanus),  der  Lachs  (Salmo  salar),  der  Maüisch 
(Alosa  vulgaris,  auch  in  die  Donau  eintretend,  aber  nur 
bis  Pest),  die  Finte  (Alosa  finta)  und  der  (weibliche)  Aal 
(Anguilla  vulgaris),  letzterer  allerdings  nicht  um  zu  laichen. 
Die  Ziege  oder  der  Sichling  (Pelecus  cultratus)  bewohnt 
das  Schwarze  Meer  und  die  Ostsee  und  steigt  von  erste- 
rem  in  die  Donau,  aber  nicht  hoch  hinauf,  so  daß  er 
nur  selten  einmal  und  ausnahmsweise  in  ihrem  deutschen 
Teile  gefangen  wird,  aber  regelmäßig  findet  er  sich  in 
der  Oder,  der  Weichsel  und  den  großen  preußischen  Seeen. 
Gleichfalls  vom  Meere  in  die  Flüsse  eingedrungen  sind 
unsere  beiden  Stichlingarten  (Gasterosteus  aculeatus  und 
pungitius),  doch  nicht  bloß  um  zu  laichen,  es  sind  keine 
„Brutgäste"  mehr,  sie  haben  sich  vielmehr  vollständig  an 
das  Leben  im  süßen  Wasser  angepaßt.  Da  sie  sich  wohl 
in  der  Ost-  und  Nordsee,  im  Mittelländischen  Meere  bis 
jetzt  aber  nur  in  seinen  westlichsten  Teilen  finden,  so 
haben  sie  noch  keinen  Eingang  in  das  Flußgebiet  der 
Donau  gefunden,  obwohl  sie  von  Norden  ständig  nach 
Süden  vorrücken  und  ebenso  im  Mittelmeer  nach  Osten. 
Es  ist  wohl  nur  eine  Frage  der  Zeit,  daß  sie  auch  von 
der  Donau  Besitz  ergreifen  werden,  und  vielleicht  kann 
sich  dabei  das  Seltsame  ereignen,  daß  dann  in  ihr  zwei 
verschiedene  Horden  aufeinander  stoßen,  nämlich  eine  aus 
der  Nordsee  stammende,  welche  den  Weg:  Rhein,  Main, 
Main-Donaiikanal  eingeschlagen  hat,  und  eine  andere,  die 
vom  Schwarzen  Meere  her  aufwärts  vordringt.  Eine  Fisch- 
art, der  Karpfen  (Cyprinus  carpio),  ist  zwar  vom  Menschen 
eingeführt,  hat  sich  aber  teilweise  vollkommen  emanzi- 
piert und  ist  wild  in  den  meisten  Gegenden  zur  Zeit  völlig 
einheimisch  geworden. 


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Tierverbreitung. 


275 


Ein  Blick  auf  die  nachstehende  Tabelle  zeigt  uns, 
daß  der  Südostgau  bei  weitem  der  reichste  an  eigentüm- 
lichen Fischarten  ist,  was  einmal  auf  die  Gegenwart  al- 
piner Formen  in  den  vor  den  Alpen  gelegenen  bayrischen 
Seeen,  dann  aber  namentlich  auf  das  Vorhandensein  einer 
ganzen  Reihe  von  sonst  nirgends  wieder  in  der  abend- 
ländischen Fauna,  wohl  aber  in  der  südrussischen,  rumä- 
nischen und  ungarischen  vorkommender  Fische  in  der 
Donau  zurückzuführen  ist.  In  den  Gewässern  des  Nord- 
ostgaues kommen  außer  der  Ziege  (Pelecus  cultratus) 
noch  zwei  originelle  Fische,  die  beiden  Maränen  (Core- 
gonus  Maraena  und  albula)  vor. 


Fische  finden  sich 


Knochenfische 


<6 


^ 


11 


in  Deutschland  Überhaupt    .     .     .     . 

in  allen  Gauen  zugleich 

in  den  meisten  (mindestens  3)  Gauen 
in  der  oberdeutschen  Unterprovinz 
in  der  niederdeutschen        , 
in  den  beiden  Ostgauen  zusammen 
in  den  beiden  Westgaaen       „ 

im  Südwestgau 

im  Südostgau 

im  Nordostgau 

im  Nordwestgau 


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2 
2 


64 
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2 
2 
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1 

10 
3 


1 

14 
3 


26 


33 


Der  Reichtum  Deutschlands  an  Mollusken  kaun  nicht 
bedeutend  genannt  werden.  Auf  dem  ganzen  großen 
Terrain  finden  sich  nur  135  Landmollusken,  von  denen 
die  wenigsten  eigentümlich  sind,  während  die  kleine  Ma- 
deira-Inselgnippe  nicht  weniger  als  86  Arten  landbewoh- 
nender Schnecken  aufweist.  Von  den  8  Familien  der 
Landgas tropoden  haben  4  (also  50  ®/o)  in  Deutschland 
Vertreter,  aber  von  den  etwa  5300  Arten  kommen  hier 
nur  135,  also  noch  nicht  2,4  °/o,  vor.    Etwas  besser  liegen 


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276  William  Marahall, 

die  Verhältnisse  bei  den  Süßwassermollusken.  Es  giebt 
4  Familien  von  Sü^wassergastropoden  mit  ungefähr  1450 
Arten;  in  unserem  Yaterlande  wurden  3  Familien  und 
63  Spezies  (also  75  bez.  4,34  °|o)  beobachtet.  Von  der 
großen  Schar  der  Muscheln  bewohnen  3  Familien  in  etwa 
730  Arten  (?)  die  süßen  Gewässer,  und  alle  diese  Familien 
haben  in  zusammen  35  (allerdings  zum  Teil  noch  recht 
zweifelhaften)  Arten  in  Deutschland  Vertreter,  also  etwa 
4,6  °/o.  Unter  den  Muscheln  herrschen  die  kleinen  Cycla- 
diden,  unter  den  Süßwasserschnecken  die  Planorben  und 
imter  den  Landschnecken  hier  wie  überall  die  echten 
Helices  vor. 

Im  ganzen  bilden  Wald-  und  Laubformen  (die  Arten 
der  Untergattungen  Trigonostoma,  Triodopsis,  Fruticicola, 
Tachea  unter  den  Helices,  auch  nicht  wenig  Formen  unter 
den  Pupinen  und  Clausilien)  den  größeren  Kontingent  der 
Landmolluskenfauna  Deutschlands,  und  treten  die  im  Süden 
und  Südosten  Europas  so  mächtig  entwickelten  Felsformen 
sehr  zurück,  doch  ist  es  wahrscheinlich,  daß  die  letzteren 
zum  Teil  wenigstens  als  Glieder  der  modernen  Fauna 
im  Vorrücken  begriffen  sind. 

Sicher  sind  solche  von  Osten  her  einwandernde  For- 
men: Patula  Solana,  Campylaea  faustina,  Clausilia  silesiaca, 
omata  und  tumida,  welche  nur  in  den  schlesischen  Ge- 
birgen gefunden  werden,  Tachea  australis,  eingeschwemmt 
durch  die  Elbe  bis  unterhalb  Dresden,  und  Planorbis 
septemgyratus.  Auch  der  schöne  große  Bulimus  radiatus 
macht  den  Eindruck  eines  südlichen  Fremdlings,  doch 
wird  gegenwärtig  meist  geleugnet,  daß  er,  wie  früher 
angenommen  wurde,  mit  dem  Weinstock  eingeschleppt 
wurde.  Meine  Erfahrungen  sprechen  nicht  gegen  die  alte 
Vermutung;  im  ganzen  Thale  der  Thüringer  Saale  von 
Jena  bis  über  Naumburg  ist  das  Tier  gemein,  im  Um- 
thale  findet  es  sich  in  teilweise  ganz  ähnlichem  Terrain 
nicht  mehr  lebend,  sondern  nur  subfossil,  und  zwar  am 
häufigsten  an  Stellen,  wo  nachweislich  früher  Weinbau 
getrieben  wurde. 

Im  Südwestgau  finden  wir  eine  ganze  Reihe  von 
Formen,   welche  entlang  dem  Rheine  entweder  von  den 


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Tierverbreitung.  277 

Alpen  oder  von  Südwesten  her  eingedrungen  sind,  und 
andere,  welche  unmittelbar  von  Westen  her  vorrücken 
(Yitrina  elliptica,  Fruticicola  unidentata  und  carthusiana, 
Tachea  sylvatica,  Azeka  Menkeana,  Clausilia  lineolata, 
Physa  acuta,  Cyclostoma  elegans  etc.). 

Eine  bedeutende  Menge  von  deutschen  Mollusken 
müssen  wir  als  glacialrelikt  auffassen,  da  sie  sich  in 
Skandinavien,  den  höheren  Gebirgen  unseres  Vaterlandes, 
wie  im  Harze,  Riesengebirge,  Schwarzwald,  Schwäbische 
Alb  und  in  den  Alpen  wiederfinden,  manche  an  allen 
diesen  Oertlichkeiten,  manche  nur  an  einzelnen,  und  zwar 
Landschnecken:  Pupa  costulata,  laevigata,  substriata,  al- 
pestris,  arctica,  Hyalina  contracta,  Patula  ruderata,  Tri- 
gonostoma  holoserica,  Triodopsis  personata,  Fruticicola 
unidentata,  umbrosa,  Vollonia  tenuilabris;  —  Süßwasser- 
schnecken: Valvata  antiqua  und  macrostoma.  Auch  die 
Flußperlmuschel  (Margaritana  margaritif era)  ist  glacialrelikt 
und  findet  sich  zirkumpolar  in  allen  subarktischen  Län- 
dern der  Alten  und  Neuen  Welt,  in  Deutschland  im  Riesen-, 
Erz-  und  Fichtelgebirge,  im  Böhmer-  und  Westerwald, 
im  Hunsrück,  den  Vogesen  und  in  einigen  Bächen  der 
Lüneburger  Heide. 

Eine  Reihe  von  Land*  und  SüiawassermoUusken  wer- 
den nur  in  Norddeutschland,  manche  nur  an  der  Ostsee 
(Rügen,  Holstein  u.  s.  w.)  gefunden.  Es  ist  möglich,  daß 
sie  auch  zum  Teil  glacialrelikt  sind  und  sich  vielleicht  aus 
irgendwelchen  Gründen  in  den  Gebirgen  nicht  zu  halten 
vermochten,  oder  es  sind  neue  Eindringlinge  aus  Nord- 
osten, oder  endlich,  und  das  scheint  für  die  Süßwasser- 
formen nicht  ganz  ausgeschlossen,  es  sind  an  Ort  und 
Stelle  durch  Umbildung  neu  entstandene  Arten. 

Eine  der  interessantesten  Molluskenformen  unserer 
Fauna  ist  aber  die  Muschel  Dreyssena  polymorpha.  Sie 
war  schon  einmal  in  Deutschland  während  der  postglacialen 
Steppenzeit,  verkleinerte  dann  aber  ihr  Gebiet  auf  das 
südliche  europäische  Rußland  (Wolga)  und  ist  von  hier 
aus  in  historischer  Zeit,  seit  der  zweiten  Hälfte  des  vori- 
gen Jahrhunderts,  wieder  in  die  deutschen  Ströme  ein- 
gedrungen bez.  durch  SchifiFe  u.  dergl.  verschleppt  worden. 


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278 


William  Marshall, 


Aus  der  folgenden  Liste  ersieht  man  den  großen 
Reichtum  der  oberdeutschen  Unterprovinz  gegenüber  der 
niederdeutschen  sehr  deutlich.  Die  Zahl  der  Mollusken- 
arten  des  Nordwestgaues   mag  100  kaum  überschreiten. 


Mollusken  finden  sich 


Schnecken 


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00 

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00  '<J 


in  Deutschland  Überhaupt 

in  allen  Gauen 

fast  in  allen  (mindestens  3)  Gauen  .  , 
in  der  oberdeutschen  Unterprovinz  , 
in  der  niederdeutsclien  , 
in  den  Ostgauen  zusammen  .  .  , 
in  den  Westgauen  „  .  .  . 
im  Südwestgau 

S    im  Südostgau 

^    im  Nordostgau , 

im  Nordwestgau 


3i 


135 
50 
14 
34 

2 

1 

1 

15 
15 

2 

1 


63 
29 
5 
3 
2 


6 
10 

7 

1 


35 
18 
3 
3 
2 

1 
2 
4 
1 
1 


233 
97 
22 
40 
6 
1 
2 
23 
29 
10 
3 


Die  Verhältnisse  des  Vorkommens  der  übrigen  Mehr- 
zahl der  wirbellosen  Tiere  in  Deutschland  überschauen 
wir  nicht  derart,  daß  es  möglich  wäre,  von  irgend  einer 
Ordnung  eine  die  Gesamtsumme  aller  Arten  berücksich- 
tigende Liste,  wie  das  für  die  Wirbeltiere  und  Mollusken 
doch  einigermaßen  thunlich  war,  geben  zu  können. 

Verschiedene  Ursachen  wirken  zusammen,  dies  zu  ver- 
hindern. Einmal  sind  große  Gebiete  unseres  Vaterlandes 
noch  gar  nicht  oder  doch  nicht  genügend  durchforscht, 
um  uns  ein  Bild  von  der  Verteilung  der  Gliedertiere, 
Würmer  u.  s.  w.  in  allen  Gauen  entwerfen  zu  lassen.  Viele 
dieser  Geschöpfe  sind  außerdem  winzig  klein  und  leben 
so  versteckt,  daß  es  oft  auch  für  den  besten  und  er- 
fahrensten Sammler  ein  Glücksfall  ist,  wenn  er  auf  eines 
derselben  stößt.  Weiter  sind  die  vorhandenen  Verzeich- 
nisse der  Lokalfaunen  meist  unvollständig :  gewisse  Tier- 
gruppen,  wie  die  Mikrolepidopteren,  die  Raubkäfer,  die 


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Tierverbreitung.  279 

Fliegen,  die  Hymenopteren,  die  winzigen  Blasenfüße,  Holz- 
läuse, Milben  u.  s.  w.  zu  sammeln  und  zu  bestimmen,  ist 
mit  solchen  Opfern  an  Zeit  und  Geld  verknüpft,  daß  die 
meisten  Lokalforscher,  die  doch  zum  größten  Teil  ander- 
w^eitig  beruflich  beschäftigte  Liebhaber  sind,  von  vorn- 
herein davon  absehen  müssen.  Außerdem  sind  viele  dieser 
Geschöpfe  fQr  Sammlungen  schwer  zu  konservieren  und 
sind,  abgesehen  von  ihrer  Kleinheit,  zu  unscheinbar,  um 
die  menschliche  Sammellust  herauszufordern. 

Eine  nicht  geringe  Schwierigkeit,  von  der  Glieder- 
tierfauna eines  Landes  eine  klare  Vorstellung  zu  be- 
kommen, liegt  auch  darin,  daß  dieselbe  von  Ja£j*  zu  Jahr 
wechselt:  oft  verschwinden  charakteristische,  zahlreich 
vorhanden  gewesene  Formen,  ohne  daß  wir  die  Ursachen 
kennen,  völlig  oder  doch  scheinbar  völlig  aus  einer  Gegend, 
um  oft  erst  nach  Jahrzehnten  wieder  zu  erscheinen.  Bei 
vielen  fliegenden  Formen  liegt  es  nahe  und  ist  wohl  auch 
richtig,  dann  eine  Neueinwanderung  zu  vermuten,  aber 
in  anderen  Fällen  ist  eine  solche  Ansicht  nicht  wohl  zu- 
lässig und  beruhen  die  oft  befremdenden  Thatsachen  auf 
anderen,  bisweilen  sehr  tief  liegenden  Gründen  in  der 
ganzen  Oekonomie  der  betreffenden  Tiere. 

Am  besten  unterrichtet  sind  wir  noch  über  die  Ver- 
breitung der  Tagschmetterlinge,  Schwärmer  und  Spinner 
in  Deutschland,  aber  schon  für  die  unscheinbaren  und  oft 
versteckt  lebenden  Eulen  werden  unsere  betreffenden  Kennt- 
nisse mangelhafter,  und  für  die  Spanner  und  Microlepi- 
dopteren  sind  sie  zu  gering,  als  daß  wir  allgemeinere  . 
Folgerungen  aus  ihnen  ziehen  könnten. 

Die  Schmetterlingsfauna  Deutschlands  ist  eine  gute 
paläarktische  Durchschnittsfauna.  Sie  enthält  145  Tag- 
falter (Rhopalocera  etwa  29  ^/o  der  paläarktischen  Ge- 
samtzahl), 15  Schwärmer  (Sphingidae  etwa  30  ^/o),  34  Holz- 
bohrende  (Xylotrophidae,  schätzungsweise  24  *^/o),  63  Bär- 
falter (Cheloniidae,  enthält  Zjgaeninae,  Euprepiinae  und 
Lithosinae,  25  ^/o),  103  eigentliche  Spinner  (Bombycidae, 
schätzungsweise  54  °/o)  und  440  Eulen  (Noctuidae,  vielleicht 
45». 

Als  glacialrelikt  sind  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl 


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280  William  Marsball, 

(mindestens  18)  von  Schmetterlingsarten  anzusehen:  Ar- 
gynnis  Aphirape,  Thore  (nördliches  Skandinavien,  Altai, 
Oberschwaben),  Aniathusia  (von  Finnland  bis  Ostpreußen, 
Schwarzwald,  schwäbischer  Jura,  Alpen),  Pales  (sehr  inter- 
essant! als  Stammart  Skandinavien  und  Alpen,  als  Varietät 
Arsilache  von  Preußen  westlich  bis  Hamburg,  südlich  bis 
Berlin,  dann  wieder  im  Riesengebirge,  Oberharz  und 
Schwarzwald),  Erebia  Epiphron  (Hochschottland  —  Skan- 
dinavien nicht!  —  Sudeten,  Harz,  Vogesen,  Alpen), 
Stygne,  Pararge  Hiera,  Lycaena  optilete,  Doritis  Apollo 
und  Mnemosyne,  Colias  palaeno  (arktisch  zirkumpolar,  süd- 
westlich bis  Berlin,  dann  Schlesien,  Schwarzwald  und  in 
den  auch  sonst  europäisch-arktische  Insektenformen  auf- 
weisenden Nilgherriebergen  in  Indien).  Folgende  Nacht- 
falter dürften  Ueberbleibsel  aus  der  Eiszeit  sein:  Arctia 
plantaginis  (im  ganzen  Norden  in  der  Ebene,  in  Mittel- 
und  Süddeutschland  im  Gebirge),  Tryphaena  speciosa, 
Lampetia  arcuosa,  Scopelosoma  conflua,  collina,  Omia 
cordigera  und  Dasypolia  Tempil,  welche  sich  alle  im  hohen 
Norden,  im  Riesengebirge,  zum  Teil  im  Harz  und  in  den 
Alpen  finden. 

Sehr  charakteristisch  für  die  norddeutsche  Ebene  sind 
die  sog.  Rohreulen  (Nonagria,  Senta,  Tapinostola,  Leu- 
conia),  die  vielleicht,  ähnlich  wie  die  Großtrappe,  zunächst 
von  Südosten  aus  Ungarn  und  Südrußland  nach  Nord- 
deutschland eingewandert,  dann  aber  wieder  südlich  und 
zwar  entlang  den  größeren  Flüssen  nach  Mittel-  und  Süd- 
.  deutschland  vorgedrungen  sind;  eine  vielleicht  unmittelbar 
von  Osten  eingewanderte  Kolonie  findet  sich  in  den  Moor- 
gegenden der  bayrischen  Hochfläche. 

Mancherlei  Interessantes  bieten  die  der  modernen 
Fauna  angehörigen,  wahrscheinlich  aus  Osten  eingewander- 
ten Schmetterlinge.  Da  können  wir  zunächst  konstatieren, 
daß  die  besseren  Flieger  einen  weit  größeren  Kontingent 
hierzu  stellen  als  die  schlechteren.  Es  ist  wahrscheinlich, 
daß  ein  sehr  großer  Teil  unserer  Tagfalter,  vielleicht  der 
größte,  zu  den  nach  der  Waldzeit  eingewanderten  Tieren 
gehört:  so  besonders  sehr  viele  Arten  von  Melitaea,  Argyn- 
nis,  vielleicht  sämtliche  Arten  von  Vanessa,  Neptis,  Limenitis, 


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Tierverbreitung.  281 

Apatura,  nicht  wenig  Satyriden  und  Lycaeniden,  sowie  die 
Mehrzahl  der  Arten  von  Colias  (so  findet  sich  C.  Myrmidone 
in  Schlesien  bis  zur  Oberlausitz  und,  wohl  donauaufwärts 
vorgerückt,  erst  seit  1849  in  der  auch  früher  sehr  genau 
durchforschten  Gegend  von  Regensburg!).  Von  Nacht- 
faltern dürfte  die  große  Mehrzahl  der  Zygaenen^)  und 
Sesien  südöstlichen  Ursprungs  sein,  dann  Orgyia  seleni- 
tica,  welche  von  der  Wolga  bis  zum  Rhein  vorkommt, 
letzteren  aber  noch  nicht  überschritten  hat,  weiter  Cnetho- 
campa  pinivora,  die  an  der  Elbe  ihre  Westgrenze  erreicht, 
und  die  seltene  Pygaera  Timon,  welche  noch  nicht  weiter 
voi^edrungen  ist  als  bis  Tilsit.  Wahrscheinlich  auch  der 
Hauptsache  nach  östlichen  Ursprungs  sind  die  meisten 
Arten  der  Eulengattungen :  GucuUia,  Plusia,  Thalpochares 
und  Heliothis,  in  der  Mehrzahl  ausgezeichnet  und  auch  am 
Tage  fliegende  Geschöpfe,  deren  Raupen  wesentlich  von 
charakteristischen  Steppenpflanzen  (Artemisien,  Hauhechel, 
Reseda,  Disteln,  Königskerze,  Rittersporn,  Klee  u.  s.  w.)  leben. 
Gerade  von  diesen  guten  Füegern  mögen  auch  nicht  wenige 
selbst  den  in  Gärten  kultivierten  Pflanzen  von  weither 
nachziehen:  so  erscheinen  bisweilen  an  manchen  Oerfclich- 
keiten  früher  nie  gesehene  Plusia-  und  Heliothisarten  oft 
zahlreich  in  einem  solchen  Jahre,  das  ihren  Wanderungen 
vielleicht  durch  warmes  heiteres  Wetter  und  anhaltende 
Südostwinde  günstig  war,  um  nach  zwei  oder  drei  Gene- 
rationen wieder  zu  verschwinden.  Wieviel  das  Flugver- 
mögen bei  der  Verbreitung  der  Schmetterlinge  vermag, 
lehrt  uns  ein  Blick  auf  die  weiter  unten  folgende  Liste: 
von  den  15  Arten  Sphingiden,  den  bestfliegenden  Tieren, 
die  es  überhaupt  giebt,  finden  sich  13  (also  fast  87  ^/o!) 
in  ganz  Deutschland,  von  den  200  Arten  der  drei  trägen 
Spinnerfamilien   hingegen   nur    117   (also   58,5  ®/o).     Drei 


^)  Die  übrigens  schlecht  fliegenden  Zjgaenen  nehmen  von  Süd- 
osten nach  Nordwesten  rasch  an  Artenzahl  'ab:  bei  Wien  finden 
sich  15,  bei  Leipzig  7  (in  den  heißen,  kahlen  Ealkthälem  Thü- 
ringens steigt  die  Zahl  allerdings  wieder  auf  13),  in  der  Nordwest- 
ebene im  günstigsten  Falle  vielleicht  6,  in  Großbritannien  5.  Auf 
der  Nordostlinie  ist  die  Abnahme  viel  geringer:  Danzig  hat  noch 
10  Arten  und  Lievland  7. 


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282 


William  Marshall, 


Sphingidenarten  (Deilephila  Nerii,  celerio  und  lineata) 
machen  gleichfalls  in  warmen  Sommern  Versuche,  ihren 
Verbreitungsbezirk  zu  vergrößern,  und  erscheinen  diesseits 
der  Alpen  nördlich  bis  über  die  Grenzen  des  Gebiets 
hinaus,  legen  Eier  auf  die  betreffenden  Nahrungspflanzen 
ab,  die  Raupen  entwickeln  und  verpuppen  sich  auch,  die 
Puppen  aber  gehen  im  Winter  regelmäßig  zu  Grunde, 
so  daß  keine  zweite  Generation  im  Freien  sich  bei  uns 
entwickeln  kann. 

Es  dürften  auch  einige  Westformen  in  unserer  Schmet- 
terlingsfauna sich  finden,  so  z.  B.  Zygaena  fausta,  welche 
in  Thüringen  und  am  Harz  ihre  Nord-  und  Ost^enze 
erreicht.  Die  Zygänen  werden,  wie  beiläufig  bemerkt  sei, 
von  Osten  her  in  die  weit  eher  sozusagen  versteppten 
„Mittelmeerränder*^  auch  viel  früher  als  wie  in  das  cisalpine 
Europa  eingewandert  sein,  wie  das  för  sehr  viele  Tiere 
wahrscheinlich  ist.  Von  dort,  wo  sie  einen  sehr  günsti- 
gen Entwickelungsboden  antrafen,  konnte  dann  eine  oder 
die  andere  Art  wieder  nach  Norden  vordringen. 


I.  Rhopalocera. 


Tagesscbmetterlinge 
finden  sich 


m 
in 
in 


ganz  Deutschland  überhaupt   .     . 

allen  vier  Gauen 

den  meisten  (mindestens  3)  Gauen 
n  der  oberdeutschen  ünterprovinz 
n  der  niederdeutschen        , 
n  den  beiden  Ostgauen  zusammen 
n  den  beiden  Westgauen       „ 

m  Öüdwestgau 

im  Südostgau 

m  Nordostgau 

m  Nordwestgau 


145 
72 
44 
15 


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Tierverbreitung. 


283 


IL  Heterocera. 


Schw&rmer,  Spinner  and  Eulen 
finden  sich 


Bombyce8 


m 
in 
in 


1 


Deatscliland  überhaupt 

allen  vier  Gauen  zugleich  .  .  .  . 
den  meisten  Gauen  (3,  fast  immer  ist 
der  Nordwestgau  ausgeschlossen) .    . 

in  der  oberdeutschen  ünterprovinz  . 

in  der  niederdeutschen        „ 

in  den  beiden  Ostgauen 

in  den  beiden  Westgauen   .     .     .     . 

im  Südwestgau 

im  Südostgau 

im  Nordostgau 

im  Nordwestgau 


102 
65 

15 
9 
2 
3 
1 
3 
3 
1 


440 
242 

97 
33 

1 
12 

4 
14 
19 
15 

3 


654 
371 

133 
53 

3 
16 

7 

24 
25 
18 

3 


Großschmetterlinge  (ausschl.  Geometriden)  kommen  vor  etwa 


799 


Viel  weniger  gut  als  über  das  Vorkommen  der  Groß- 
schmetterlinge sind  wir  über  das  der  Käfer  in  Deutsch- 
land unterrichtet,  und  aus  nahe  liegenden,  weiter  oben 
entwickelten  (Jründen: 

In  ganz  Europa  sind  gefunden  worden  etwa  15  000  Arten. 

In  Deutschland 6000      „ 

In  ganz  Schlesien 4300      „ 

In  der  südlichen  Hälfte  Thüringens  .     .     3450      „ 

In  Westfalen 3200      „ 

In  der  Provinz  Preußen 3200      „ 

In  Frankfurt-Nassau 3160      „ 

In  der  Umgegend  von  Hamburg  .     .     .      2950      „ 

In  der  Rheinpro vinz 2764      ,, 

Bei  München 2453      „ 

Bei  Kassel 2450      „ 

Bei  Hildesheim 2390      „ 

In  ganz  Holland 2100      „ 

Im  Nordwestgau 1700      „ 

Bei  Sonderburg 1445      „ 


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284  William  Marshall, 

Der  Wert  dieser  Liste  darf  nicht  überschätzt  werden. 
Einmal  sind  die  Bezirke  von  sehr  ungleicher  Größe:  der 
Bestand  der  Eäferarten  der  ganzen  Provinz  Preußen  läßt 
sich  nicht  so  ohne  weiteres  mit  dem  der  bei  Hildesheim 
gefundenen  vergleichen.  Weiter  sind  aber  auch  die  ver- 
schiedenen Gebiete  sehr  ungleich  durchforscht:  eine  Gegend, 
welche  seit  langen  Jahren  von  einer  Reihe  tüchtiger  En- 
tomologen ausgebeutet  wurde,  wird,  aber  nur  scheinbar, 
reicher  sein  als  eine  andere,  in  der  nur  ein  einzelner  noch 
so  eifriger  und  kenntnisreicher  Forscher  seit  verhältnis- 
mäßig kurzer  Zeit  arbeitet. 

Dem  sei  indessen  wie  ihm  wolle;  eins  ist  sicher,  daß 
auch  in  der  deutschen  Eäferfauna  eine  langsame  Abnahme 
an  Arten  von  Süd  und  Ost  nach  Nord  und  West  statt- 
findet, eine  weit  bedeutendere  noch  als  vom  Gebirge  in 
die  Ebene,  wie  wir  bei  einem  Vergleich  z.  B.  der  Fauna 
des  Thtiringerwaldes  (3450  Arten)  mit  derjenigen  der 
Provinz  Preußen  (3200)  leicht  sehen  können. 

Glacialrelikte  Käfer,  ganz  besonders  aus  den  Fami- 
lien der  Carabiden,  Staphyliniden  und  Chrysomeliden  finden 
sich  überaus  zahlreich  in  der  norddeutschen  Tiefebene  und 
den  einzelnen  höheren  Gebirgen  des  Gebiets.  Auch  Süd- 
ostformen sind  nicht  selten  und  wird  hierzu  namentlich 
auch  ein  Teil  der  Bockkäfer  zu  rechnen  sein,  soweit  sie 
nicht  als  Larven  ausgesprochene  Holzfresser  sind.  Der 
Schwerpunkt  der  Verbreitung  des  Genus  Dorcadion  liegt 
im  Südosten,  in  Persien  u.  s.  w.  Bei  Wien  kommen  noch  5, 
in  Mähren  3,  in  Württemberg  und  Baden  2  Arten  vor. 
Eine  einzige  Art  (Dorcadion  fulginator  incl.  var.  atrum) 
findet  sich  an  allen  diesen  Stellen,  geht  aber  noch  weiter, 
wird  indessen  nördlich  ungefähr  von  einer  von  der  öster- 
reichisch-schlesischen  Grenze  (Teschen)  bis  zum  Nord- 
rande des  Harzes  und  von  hier  weiter  bis  Koblenz  ge- 
zogenen Linie  kaum  noch  angetroffen  werden. 

Weiter  als  die  trägen  flügellosen  Dorcadionarten 
haben  sich  die  schönen  lebhaften  Wespenböcke  (Clytus) 
verbreitet  und  verhalten  sich  ähnlich  wie  die  Zygäniden. 
Bei  Wien  finden  sich  16,  in  Mähren  15,  in  Schlesien  14, 
in  Württemberg  11,  in  Preußen  10,  in  Westfalen  und  bei 


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Tierverbreitung. 


285 


Freiburg  i.  Br.  9,  im  Harz  7,  bei  Hamburg  5,  in  Hol- 
land 3  und  bei  Sonderburg  l^Art,  also  ist  auch  hier  eine 
stetige  Abnahme  nach  Nordwest  zu  konstatieren. 

In  der  folgenden  Liste  habe  ich  die  Artenzahl  eini- 
ger wichtigen  und  besser  gekannten  K'äferfamilien  nach 
Lokalfaunen  der  verschiedenen  Gaue  zusammengestellt. 


2 

% 

0) 

s 

[T 

c3 

1 
1 

3 

1 

1 

3 

1 

1 

1 

Württemberg  (v.  Roser  1838)     .    . 

4 

231 

53 

104 

31 

113 

217 

Harz  (Homung  1846,  Leimbach  1886) 

4 

272 

99 

? 

? 

94») 

9 

Westfalen  lAndrä  1881)     .... 

4 

280 

57 

79 

24 

88 

250 

Schlesien  (Letzner  1871)    .    .     .     . 

5(7?) 

365 

120 

122 

56 

140 

380 

Ostpreußen  (Lentz  1879)    .... 

5 

285 

190 

108 

43 

121') 

286 

Sonderburg  (Wüstnei  1886—87)      . 
Hamburg  (Preller  1862)     .... 

2 

153 

66 

40 

5 

24 

145 

3 

243 

101 

79 

12 

72 

193 

Holland  (Snellen  von  VoUenhoven 

1870) 

5 

203 

72 

62 

10 

48 

155 

Als  einzelne  interessante  Vorkommnisse  mögen  noch 
erwähnt  werden:  Cicindela  littoralis  (1  Ex.  1833)  und 
literata  (3  Ex.  1847)  in  Schlesien,  letztere  auch  kon- 
stant bei  Pillau  in  Preußen,  Gymnopleurus  mopsus  bei 
üstrow  in  Oberschlesien,  G.  cantarus  bei  Grünstadt  in  Baden, 
beide  Eindringlinge  aus  dem  Süden,  der  eine  durch  die 
Lücke  zwischen  Sudeten  und  Beskiden,  der  andere  zvri- 
schen  Vogesen  und  Schweizer  Jura,  —  Nebria  picicomis 


*)  Leimbach  (Cerambye.  des  Harzes,  Sondershausen  1886) 
führt  bloß  92  Arten  auf.  Ich  habe  aber  am  Brocken  nach  Wer- 
nigerode zu  2  Spezies  während  mehrjährigen  Sammeins  aufgefun- 
den, die  er  nicht  beobachtet  hat,  nämlich:  Rhopalopos  insubricus 
einmal  und  Pachyta  lamed  wiederholt. 

■)  Lentz  (Kat.  d.  preuB.  Käfer,  in  d.  Beitr.  z.  Naturk.  Pr., 
Königsberg  1879)  führt  noch  Purpuricenus  Koehleri  und  Rosalia 
alpina  auf  als  einmal  gefangen.  Beide  Käfer  halte  ich  für  ein- 
geschleppt. 


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286  William  Marshall, 

entlang  des  Rheines  von  Süddeutschland  bis  zur  Rhein- 
provinz, ähnlich  Pterostichus  parvumpunctatum,  —  Sisyphiis 
Schaffen  Süddeutschland  bis  Koburg,  —  Purpuricenus 
Koehleri,  auf  der  Südwest-  und  Südostinvasionslinie  ein- 
gedrungen, auf  ersterer  bis  in  die  Rheinprovinz  und 
Westfalen,  auf  letzterer  bis  Niederschlesien  (und  vielleicht 
weiter?)  Einer  der  merkwürdigsten  Eindringlinge  aus 
der  mediterranen  Subregion  rheinabwärts  bis  über  Koblenz 
hinaus  ist  Asida  grisea. 

Versprengt  im  ganzen  Gebiete  finden  sich  an  der 
Meeresküste,  in  der  Magdeburger  Gegend,  am  salzigen 
See  bei  Eisleben,  bei  Dürrenberg,  Artem  in  Thüringen, 
bei  Dieux  in  Lothringen,  bei  Kissingen  u.  s.  w.  —  also 
überall  wo  der  Boden  salzhaltig  ist  —  sog.  halophile 
(n salzliebende*')  Käfer,  indessen  nicht  alle  Arten  an  jeder 
Stelle.  Am  salzigen  See  bei  Eisleben  kommen  etwa  30  Ar- 
ten halophiler  Käfer  vor,  hauptsächlich  Laufkäfer  (aus  den 
Gattungen:  Pogonus,  Anchomenus,  Amara,  Dichirotrichus, 
Anisodactylus ,  Stenolophus,  Bembidium,  Tachys  etc.), 
aber  auch  Raubkäfer  (Bledius)  und  neuerdings  auch  eine, 
bisher  nur  vom  Ostseestrande  bekannte  Chrysomelide 
(Haemonia,  c.  Donacia  Curtisii). 

Ueber  die  Verbreitung  der  noch  übrigen  Insekten- 
ordnungen in  Deutschland  läßt  sich  kaum  etwas  allge- 
meines sagen. 

Die  Familie  der  Hymenopteren  mag  in  Deutsch- 
land in  folgenden  Artenzahlen  vertreten  sein:  Echte  Bienen 
(Anthophila)  etwa  500  (bei  Halle  a.  S.  117),  Faltenwespen 
(Vespariae)  vielleicht  40  (bei  Halle  13,  in  der  Provinz 
Preußen  24),  Grabwespen  (Crabronidae)  240  ?  (beiHaUe95, 
Preußen  146),  Pompilidae?  (bei  Halle  und  in  Provinz 
Preußen  je  30),  Sapygidae  6  (Halle  2,  Preußen  4),  Mu- 
tillidae  15  (HaUe  5,  Preußen  6),  Scolüdae  20  (Halle  und 
Preußen  je  5),  Goldwespen  (Chrysididae)  50?  (Halle  15, 
Preußen  29),  Ameisen  (Formicidae)  in  derProvinz  Preußen  35, 
Blattwespen  (Tenthredinidae)  gegen  400  (bei  Halle  gegen 
170),  Holzwespen  (Uroceridae)  25  (bei  Halle  7).  Ueber 
die  Zahl  der  in  Deutschland  vorkommenden  entomophagen 
Hymenopterenarten   können    wir  nur  Vermutungen   auf- 


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Tierverbreitung.  287 

stellen,  aber  sie  wird  sehr  bedeutend  sein  und  dürfte  wohl 
5000  übersteigen.  Hat  man  doch  allein  für  die  einhei- 
mischen Arten  der  Proctotrypidae  über  130  Gattungen 
errichtet,  ebenso  viel  für  die  echten  Ichneumoniden,  89 
für  die  Braconiden  und  gar  170  für  die  Chalcididae,  deren 
Artenzahl  in  dem  verhältnismäßig  faunistisch  armen  Eng- 
land über  1200  beträgt,  so  daß  wir  wohl  kaum  zu  hoch  grei- 
fen, wenn  wir  die  Zahl  der  in  Deutschland  vorkommenden 
Arten  auf  2000  schätzen.  Die  Zahl  der  Grallwespengat- 
tungen  (Cynipidae)  ist  zwar  nur  24,  aber  dieselben  sind 
auch  bei  uns  sehr  artenreich. 

Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel,  daß  sehr  vide 
namentlich  der  insektenfressenden  Hautflügler  auch  erst 
nach  der  Waldzeit  und  zugleich  mit  ihren  Wirten  in 
Deutschland  eingewandert  sind,  und  dasselbe  dürfte  bei 
den  bienenartigen  der  Fall  sein,  deren  Bestand  natürlich 
in  erster  Linie  an  die  quantitative  Entwickelung  der  Honig- 
blumen eines  Landes  gebunden  ist. 

Die  Fliegen  (Diptera)  sind  in  unserem  Vater- 
lande so  wenig  gesammelt  worden,  daß  wir  kaum  eine  Ver- 
mutung über  die  Menge  (1800?)  ihrer  Spezies  haben  können, 
aber  es  scheint,  daß  dieselbe  derjenigen  der  Hymen- 
opteren  und  Käfer  beträchtlich  nachsteht.  Erwähnung 
verdient  vielleicht,  daß  die  Zahl  der  glazialrelikten  For- 
men, welche  auf  den  höheren  Gebirgen  und  im  Norden 
zugleich  vorkommen,  eine  verhältnismäßig  bedeutende  ist 
und  daß  ebenso  an  salzführenden  0 ertlichkeiten  einige  halo- 
phile  Formen  auftreten.  Am  zahlreichsten  sind  in  unserer 
Fauna  die  Gattungen  der  Raubfliegen  (Tachina,  gegen  250 
deutsche  Arten),  die  Blumenfliegen  (Anthomyia,  circa  150) 
und  der  Schwebfliegen  (Syrphus,  etwa  70). 

Die  Geradflügler  (Orthoptera  einschließlich  der 
Pseudoneuroptera)  sind  in  Deutschland  wie  in  anderen 
gemäßigten  Ländern  nur  schwach  vertreten:  von  den  etwa 
bekannten  5000  Arten  dürften  sich  kaum  mehr  als  150 
in  unserem  Vaterlande  finden.  Aber  gerade  in  dieser 
Insektengruppe  und  namentlich  imter  den  Heuschrecken 
und  Grillen  finden  sich,  wie  für  so  ausgesprochene 
Steppenbewohner  wenig  verwunderlich,  nicht  wenig  For- 


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288  William  Marshall, 

men  im  Süden  und  Osten  des  Gebietes,  die  offenbar 
der  Kultursteppe  gefolgt  sind.  Die  Wanderheuschrecke 
(Pachytylus  migratorius)  hat  zwar  schon  vom  Mittelalter 
an  gelegentliche,  große  Invasionen  nach  Mitteleuropa  bis 
zum  Atlantischen  Ozean  gemacht,  aber  es  scheint,  daß  sie 
doch  seit  einer  Reihe  von  Jahren  erst  in  Deutschland 
selbst  seßhaft  geworden  ist  und  sich  hier  bleibend  ver- 
mehrt hat,  was  von  Ostdeutschland  länger  bekannt  war 
(auch  in  der  Umgegend  Leipzigs  ist  das  Tier  nicht  gerade 
selten !),  aber  L  e  y  d  i  g  hat  bei  Bonn  ihr  konstantes  Vorkom- 
men seit  1875,  Goldfuß  schon  ihr  gelegentliches  seit  An- 
fang der  vierziger  Jahre  konstatiert.  Eine  zweite  Art  (P. 
cinerascens)  ist  süddeutsch,  ebenso:  Nemobius  silvestris, 
Oecanthus  pellucens,  Oedipoda  coerulescens ,  Parapleurus 
typus,  Stetheophyma  grossum  und  die  seltsame,  bei  Ameisen 
hausende  Myrmecophüa  acervorum.  Formen,  welche  aus 
Südwesten  eingewandert  das  Rheinthal,  teilweise  auch 
dessen  benachbarte  Thäler  bewohnen,  sind:  Phyllodroma 
germanica,  Ephippiger  vitium  (Leydig)  und  Caloptenus 
italicus.  Auch  die  interessante  Gottesanbeterin  (Mantis 
religiosa)  findet  sich  im  südlichsten  Rheinthal  am  Kaiser- 
stuhl bei  Freiburg  i.  Br.,  soll  aber  im  vorigen  Jahrhun- 
dert bei  Frankfurt  a.  M.,  selbst  im  heißen  Mainthal  bei 
Würzburg  (Leydig)  vorgekommen  sein. 

Die  als  Larven  an  das  Wasser  gebundenen  sog. 
Pseudoneuropteren,  zu  denen  u.  a.  die  Libellen  ge- 
hören, sind  am  arten-  und  iudividuenreichsteninden  wasser- 
reichen Gegenden  der  norddeutschen  Ebene  und  in  den 
feuchten  hohen  Gebirgen.  Derartige  Gebirgsformen  sind: 
Libellula  rubicunda  und  pedemontana,  Gomphus  forcipatus, 
Cordulegaster  bidentatus,  Aeschna  cyanea  und  juncea. 

Die  echten  Netzflügler  (Neuroptera)  haben,  ob- 
gleich sie,  geologisch  gesprochen,  sehr  altertümliche  In- 
sekten sind,  keinen  sehr  großen  Entwickelungsaufschwung 
genommen:  ihre  Gesamtzahl  dürfte  1000  kaum  über- 
schreiten und  von  ihnen  kommen  im  günstigsten  Falle 
100  auf  Deutschland,  welche  sich  hauptsächlich  aus  der 
Schar  der  Köcherjungfrauen  (Phryganeidae)  rekrutieren. 
Südliche  Formen,  besonders  in  den  Gebirgen,  sind :  Man- 


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Tierverbreitung.  289 

tispa  styriaca,  Coniopteryx  tineiformis,  Osmylus  chrysops 
und  der  schöne  Ascalaphus  macaronius.  Von  Ameisen- 
löwen haben  wir  zwei  Arten  in  unserem  Vaterlande, 
nämlich  Myrmecoleon  formica  lynx  und  formicarius;  der 
erstere  findet  sich  mehr  im  nördlichen,  der  letztere  im 
südlichen  Deutschland,  aber  stellenweise,  z.  B.  bei  Lüne- 
burg, dann,  wie  ich  aus  eigener  Erfahrung  weiß,  am 
Regenstein  bei  Blankenburg  finden  sich  beide  neben- 
einander. 

Von  den  Halbflüglern  (Hemiptera,  etwa  12000 
Arten  im  ganzen)  dürften  wohl,  wenn  wir  die  Blattläuse 
und  Schmarotzer  miteinscliließen ,  zwischen  1500  und 
2000  in  Deutschland  vorkommen,  aber  über  ihre  Ver- 
breitung wissen  wir,  abgesehen  von  einigen  besonders 
hervorragenden  Formen,  sehr  wenig.  In  den  heißen  Thä- 
lem  Süddeutschlands,  teilweise  bis  Thüringen  hinab  finden 
sich  einige  Südformen,  *z.  B.  Trigonosoma  nigrolineatum 
(Kosen,  Jena),  Pirates  stridulus  (Rhein-  und  Mainthal 
Leydig)  und  Gerris  vagabundus.  Eine  halophile  Form 
ist  Salda  pilosa,  und  die  Bettwanze  ist,  ähnlich  wie  die 
Ratte  und  die  Maus  sowie  die  Hausgrille  und  die  Küchen- 
schabe, dem  Menschen  folgend,  eingewandert. 

Auch  eine  Reihe  von  Cicaden  sind  ihrer  Herkunft 
nach  südeuropäisch  und  offenbar  im  Einwandern  begriffen : 
Tettigometra  virens,  Ledra  aurita  (im  Rheinthal  und  seinen 
Seitenthälem),  Tettigonia  fraxini  u.  a.  m. 

Ein  genaues,  gewissenhaftes  Sammeln  aller  Ineekten- 
gruppen  in  allen  Provinzen  unseres  Vaterlandes  wäre  sehr 
zu  wünschen:  es  ist  für  die  Wissenschaft  von  viel  größe- 
rem Belang,  wenn  ein  Sammler  nachweist,  wie  viel  und 
was  für  auch  noch  so  unscheinbare  Insekten  überhaupt 
in  einem  Gebiete  vorkommen,  als  wenn  er  gefangene 
Schmetterlinge  und  Käfer  etwa  noch  so  schön  aufzuspannen 
und  Raupen  noch  so  ausgezeichnet  zu  präparieren  ver- 
steht. Das  sind  Allotria,  die  wohl  als  Zeitvertreib  gelten 
können,  aber  durchaus  keinen  wissenschaftlichen  Wert 
haben. 

Sehr  wenig  Aufmerksamkeit  ist  in  Deutschland  bis 
jetzt  den  Tausendfüßen  (Myriopoda)  zugewendet  wor- 

Anleltang  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschung.  19 


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290  William  Marshall, 

den.  Latzel  zählt  für  die  österreichisch  -  ungarische 
Monarchie  170  Arten  auf,  von  denen  bei  weitem  die 
meisten  sich  in  den  Alpen  von  Krain  und  Kärnten  und 
in  Dalmatien  finden.  Aus  Deutschland  dürften  kaum 
mehr  als  66  Arten  bekannt  sein  (nämlich  31  Chilopoda, 
2  Symphylia,  3  Pauropoda  und  30  Diplopoda).  Die  inter- 
essanteste Form  ist  die  sonderbare,  langbeinige  «ge- 
spensterhafte" Chilopode  Scutigera  coleoptrata,  welche 
im  transalpinen  Europa  sehr  häufig  ist.  Sie  ist  in  einige 
Gegenden  Süddeutschlands  eingedrungen,  z.  B.  findet  sie 
sich  in  Frei  bürg  i.  Br.  und  im  Moselthale,  was  auf  eine 
Einwanderung  aus  Südwest  hindeutet.  Latzel  meint, 
das  Tier  sei  in  den  Gegenden  Mitteleuropas  zu  finden, 
in  denen  der  Weiustock  im  großen  kultiviert  werde. 
Meine  Erfahrungen  erlauben  mir  nicht,  einen  solchen  Zu- 
sammenhang zu  konstatieren ;  ich  habe  das  Tier  in  Triest, 
Dalmatien  und  auf  der  Insel  Korfu  gesammelt,  aber  stets 
nur  in  Häusern.  Sein  gelegentliches  Vorkommen  in  hol- 
ländischen und  deutschen  Hafenstädten,  selbst  in  Kopen- 
hagen spricht  sehr  für  eine  Einschleppung  mit  mensch- 
lichen Geräten  und  Waren. 

Aus  der  Ordnung  der  Arachnoideen  mögen  sich 
in  Deutschland  vielleicht  gegen  20  Arten  Phalangiden 
und  etwa  250  echte  Spinnen  (Araneidae)  finden. 
Von  ihrer  Verbreitung  im  Gebiet  läßt  sich  nur  sagen, 
daß  nicht  wenige  Formen  aus  Südwesten  in  das  Rheinthal 
und  teilweise  weiter  in  die  Seitenthäler  eingewandert  sind. 
So  findet  sich,  nach  Leydig,  Eresus  cinnaberinus  im 
Rheinthal,  Thomisus  diadema  und  globosus  im  Mainthal, 
Argiope  Brünnichii  im  Rhein-  und  Mainthal,  Pholcus 
opilionoides,  Scytodes  thoracica,  Atypus  piceus  und  affinis, 
Micaria  spien didissima  und  Phrurolithus  corsicus  nur  im 
Rheinthal.  Manche  dieser  Formen  mögen  vom  Menschen 
eingeschleppt  sein.  Von  Pholcus  opilionoides  glaube  ich 
das  sicher,  da  dieses  in  Südeuropa  gemeine  Tier  in  allen 
Hafenstädten  Europas  gelegentlich  auftritt  und  ich  traf 
es  auch  in  Mehrzahl  in  Friedrichroda  am  Thüringerwalde 
in  den  Wohnungen  von  Sommerfrischlern. 

Nicht  besser  als  mit  der  Kenntnis  des  Vorkommens 


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Tierverbreitung.  291 

der  Arten  der  beiden  vorhergehenden  Gliedertierordnungen 
in  Deutschland  ist  es  mit  derjenigen  der  Verbreitung  der 
Krustentiere  (Crustacea)  bestellt. 

Der  Edelkrebs  (Astacus  fluviatilis)  tritt  in  zwei 
Formen  auf:  als  Steinkrebs  im  westlichsten  Teil  und  als 
Edelkrebs  (im  engeren  Sinne)  im  übrigen  Deutschland. 
An  vielen  Stellen  ist  er  seit  einigen  Jahren  infolge  der 
Krebspest  ausgestorben:  Harz  schätzt  die  Zahl  der  im 
bayrischen  Kochelsee  an  dieser  Krankheit  verendeten  In- 
dividuen auf  12  Millionen!  Andere  zehnfüßige  Kruster 
kommen  weder  im  süßen  Wasser  noch  auf  dem  Lande  in 
unserem  Gebiete  vor. 

Die  Zahl  der  Arten  deutscher  Land-  und  Süß- 
wasserasseln dürfte  20  kaum  überschreiten.  Amphi- 
poden  finden  sich  in  unseren  Bächen,  Teichen  und 
Brunnenstuben  3  Arten,  darunter  zerstreut  allenthalben 
im  Gebiet  der  mehr  unterirdisch  lebende  Gammarus 
puteanus.  Freilebende  Spalt  fußkrebse  (Copepoda) 
finden  sich  vielleicht  IG  im  Gebiet,  parasitisch  an  Süß- 
wasserfischen lebende  (die  Gattungen  Ergasilus,  Achtheres, 
Tracheliastes  und  Argulus  bildend)  etwa  sechs.  Von 
Ostracoden  sind  einige  30  Arten  Cypriden  als  deutsch 
beschrieben  worden,  Cladoceren  etwa  20,  von  denen  manche. 
z.  B.  Sida  crystallina  und  Leptodora  hyalina  glazialrelikt 
sein  dürften. 

Die  interessantesten  einheimischen  Krebsformen  sind 
indessen  Branchiopoden ,  nämlich  2  Arten  Branchipus 
(stagnalis  und  Grubii),  2  Apus  (productus  und  cancrifor- 
mis)  und  Limnadia  Hermanni.  Die  Arten  der  ersten 
beiden  Gattungen  treten  gelegentlich  an  bestinmiten  Lokali- 
täten in  großer  Menge  auf,  um  dann  auf  viele  Jahre  zu 
verschwinden.  So  erschien  Apus  cancriformis  1826  bei 
Würzburg  (Leydig),  verschwand  wieder  und  wurde  1867 
erst  wieder  aufgefunden.  Bei  Bonn  trat  er  1840  auf,  ist 
aber  seitdem  noch  nicht  wieder  aufgefunden;  1838  erschien 
er  bei  Hildesheim  (Leunis).  Vor  einigen  Jahren  fand  er 
sich  auch  häufiger  in  einigen  Waldpfützen  der  Leipziger 
Umgegend.  Aehnlich  ist  es  mit  dem  Vorkommen  der 
Branchipusarten  und  diese  Erscheinungen,  die  man  nicht 


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292  William  Marshall, 

auf  Neuein  Wanderungen  zurückführen  kann,  wären  für 
solche  immerhin  große,  nicht  so  leicht  zu  übersehende 
Tiere  schwer  verständlich,  wenn  wir  nicht  wüßten,  daß 
diese  Branchiopoden  Dauereier  legten,  welche  jahrelang 
ruhen  können,  ohne  sich  zu  entwickeln,  aber  auch  ohne 
ihre  Entwicklungsfähigkeit  zu  verlieren.  Treten  günstige 
Bedingungen  ein,  dann  erscheinen  auf  einmal  und  oft  in 
überraschender  Menge  die  Krebse  wieder.  Limnadia 
Hermanni  dürfte  doch  sehr  selten  sein,  ich  habe  sie  nie 
gefangen,  Leydig  aber  erwähnt  ihr  Vorkommen  im 
Rhein-  und  Moselthale. 

Die  Zahl  der  bei  uns  freilebenden  Wurmarten  kritisch 
festzustellen,  wäre  schon  ein  nicht  ganz  leichtes  Unter- 
nehmen, um  so  viel  schwieriger  ist  es  aber  natürlich, 
über  ihre  Verbreitung  im  Gebiete  gründlichen  Aufschluß 
zu  geben. 

Wasserbewohnende  Ringelwürmer  (Oligochaetae 
limnicolae)  finden  sich  vielleicht  15 — 18  Arten,  von  denen 
der  meist  klare  Brunnen  bewohnende  Phraeoryctes  Men- 
keanus  der  interessanteste  und  ansehnlichste  ist.  Zwei 
Arten  von  Pachydrylus,  einer  Meeresbewohner  umfassen- 
den Gattung,  wurden  als  halophil,  die  eine  in  der  Sole 
von  Kreuznach,  die  andere  von  Kissingen  nachgewiesen. 
Landbewohnende  Ringel-  oder  Regen würm er  (Oligo- 
chaetae terricolae)  dürften  vielleicht  in  10 — 12  Arten 
das  ganze  Gebiet  bewohnen;  für  die  Fauna  der  Umgegend 
von  Würzburg  allein  zählt  Fraisse  6  Spezies  auf. 

Die  freilebenden  Haarwürmer  (Nematoden) 
Deutschlands  sind  noch  sehr  unvollständig  untersucht, 
aber  ihre  Zahl  mag,  wenn  man  die  in  Pflanzen  vor- 
kommenden Formen  einmal  mit  dazu  rechnet,  nicht  un- 
bedeutend sein.  Auch  unter  ihnen  giebt  es  einzelne  halo- 
phile  Formen.  Von  parasitisch  im  Menschen  lebenden 
sind  einige  in  neuerer  Zeit,  wie  es  scheint  aus  Südwesten, 
entlang  dem  Rheine  bis  in  die  Aachener  Gegend  vorge- 
drungen. 

Die  blutegelartigen  Würmer  (Hirudinei)  sind 
hauptsächlich  Bewohner  des  süßen  Wassers  und  auch  in 
Deutschland  verhältnismäßig   gut   vertreten.     Der   medi- 


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Tierverbreitung.  293 

zinische  Blutegel  (Hirudo  medicinalis)  war  hier  früher 
weitverbreitet,  ist  aber  durch  das  Sammeln  für  Heilzwecke 
an  den  meisten  Stellen  ausgerottet.  Vielleicht  ist  auch 
er  ein  verhältnismäßig  neuer  Einwanderer  aus  Südosten, 
wo  noch  mehrere  sehr  nahe  verwandte  Formen  (z.  B. 
H.  officinalis)  vorkommen.  Thatsache  ist  wenigstens,  dai3 
der  in  Norddeutschland  ursprünglich  häufiger  als  in  Süd- 
deutschland vorkommende  medizinische  Blutegel  England 
nicht  bewohnt,  und  es  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß 
er  erst  nach  der  Loslösung  Englands  vom  Festlande 
eingedrungen  sein  mag. 

Ein  anderer  Blutegel,  der  Pferdeegel  (Haemopis 
vorax)  ist  in  Nordafrika  und  Südeuropa  häufig,  aber  sehr 
selten  in  Süddeutschland,  wo  er  auch  neu  eingewandert 
zu  sein  scheint.  Sehr  gemein  sind  hingegen  allenthalben 
mehrere  Arten  von  Aulacostoma  (z.  B.  gulo).  Auch  die 
Arten  der  Gattungen  Nephelis,  Clepsine,  Piscicola  und 
der  auf  Edelkrebsen  schmarotzenden  Gattung  Branchi- 
obdella  sind  weit  in  Deutschland  verbreitet. 

Die  ausgedehnten  Gewässer  der  norddeutschen  Ebene, 
aber  auch  die  Bäche  und  Seeen  der  Gebirge  shid  reich 
an  Strudelwürmern  (Turbellaria),  welche  zum  Teil  glazial- 
relikt  sein  mögen.  Landplanarien  sind  in  einigen  Arten 
in  Deutschland  hin  und  wieder  beobachtet  worden,  so 
Rhynchodesmus  terrestris  im  Rhein-  und  Mainthal  und 
sonst,  aber  immer  selten.  Geodesmus  bilineatus,  welcher 
bei  Gießen  und  (nach  Leydig)  auch  bei  Würzburg  auf 
der  Erde  von  Blumenäschen  beobachtet  wurde,  mag  mit 
fremdländischen  Gewächsen  eingewandert  sein.  Auch 
einige  wenige  Schnurwürmer  (Nemertini)  sind  als 
Bewohner  unserer  süßen  Gewässer  aufgefunden  worden 
{Prorhynchus  stagnalis  und  von  Leydig  im  Main  P.  flu- 
viatilis). 

Von  den  schmarotzenden  Plattwürmem  wollen  wir 
nur  den  breiten  Bandwurm  (Bothriocephalus  latus)  her- 
vorheben, der  als  deutsch  früher  nur  aus  den  Küsten- 
ländern der  Nord-  und  Ostsee  bekannt  war,  aber  in 
Süddeutschland  erst  vor  wenigen  Jahren,  obwohl  er  schon 
lange  als  in  der  Nachbarschaft  der  Schweizer  Seeen  lebend 


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294  William  MarahaJl, 

nachgewiesen  worden  war,  und  zwar  in  der  Umgegend 
des  Starnberger  Sees  aufgefunden  ist.  Er  lebt  bekannt- 
lich als  Finne  im  Fleisch  verschiedener  Süßwasserfische, 
und  Leukart  möchte  vermuten,  daß  das  Tier  nach  Süd- 
deutschland eingeschleppt  wurde,  vielleicht  von  Sommer- 
frischlern, die  aus  Norddeutschland  oder  Rußland  stammten 
und  sich  in  ihre  Heimat  infiziert  hatten.  Die  Eier  des 
Wurms  gelangten  ins  Wasser,  die  Embryonen  in  die  ge- 
eigneten Fische,  mit  denen  sie,  zur  Finne  geworden,  wie- 
der vom  Menschen  verspeist  wurden  und  in  diesem  sich 
zum  Wurm  entwickeln  konnten. 

Hohltiere  (Coelenterata),  so  mächtig  im  Meere 
entwickelt,  haben  sich  bekanntlich  an  ein  Leben  im  süßen 
Wasser  in  nur  sehr  bescheidener  Zahl  angepaßt.  Drei 
Arten  des  Süßwasserpolyps  (Hydra  viridis,  grisea  und 
vulgaris)  bewohnen  gelegentlich  und  in  verschiedener 
Häufigkeit  die  geeigneten  Gewässer  wohl  des  ganzen  Ge- 
biets. Im  Mansfelder  salzigen  See  fand  ich  eine  Zwerg- 
form der  grünen  Hydra,  welche  ich  als  Hydra  viridis  var. 
Bakeri  beschrieb. 

In  neuerer  Zeit  hat  ein  sehr  interessanter  Polyp 
(Cordylophora  lacustris)  angefangen  sich  unserer 
Süßwasserfauna  zuzugesellen.  Zuerst  wurde  das  Tier 
vor  langen  Jahren  schon  von  Agardh  im  Meere  an  der 
norwegischen  Küste  entdeckt  und  als  Tubularia  comea 
beschrieben.  Allman  fand  es  1854  an  den  Docks  zu 
Dublin,  dann  wurde  es  im  unteren  Teil  der  Themse 
4iufgefunden.  Kirchenpauer  beobachtete  es  1861  an  den 
Seetonnen  der  Eibmündung,  1868  bei  Blankenese  und 
gegenwärtig  ist  der  rasenartige  Kolonieen  bildende  Polyp 
in  Hamburg  so  häufig,  daß  er  bisweilen  die  Röhren  der 
Wasserleitung  verstopft.  Ende  der  siebziger  Jahre  wurde 
das  Tier  bei  Halle,  1880  vonRiehm  in  den  Mansfelder 
Seeen  gefunden.  Auch  in  der  Spree  und  im  Tegelsee  wurde 
die  Gegenwart  des  interessanten  Geschöpfes  nachgewiesen. 
Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  ähnlichen  Erscheinung 
des  Einwanderns  vom  Meere  her  in  das  süße  Wasser 
wie  bei  den  beiden  Stichlingarten  und  bei  der  Dreissena 
polymorpha  zu  thun. 


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Tierverbreitung.  295 

Süßwasserschwämme  (Spongillidae)  werden 
in  ganz  Deutschland  aber  in  verschiedener  Häufigkeit 
angetroffen.  Sehr  stattliche  Exemplare  erhielt  ich  nament- 
lich aus  der  Trave  bei  Lübeck,  lieber  die  Zahl  der 
berechtigten  Arten  unserer  Spongillen  sind  die  Ansichten 
sehr  geteilt:  ich  möchte  nur  2  gelten  lassen,  VejdoTsky 
nimmt  für  Böhmen  5,  Retzer  für  Deutschland  8  Arten 
an.  Noll  fand  in  Rheintümpeln  oberhalb  St.  Goar  7  yer- 
schiedene  ,, Formen",  deren  Wert  als  Spezies  bez.  Varietät 
er  unentschieden  läßt. 

Die  Urtiere  (Protozoa),  so  interessant  und  wich- 
tig ihr  Studium  auch  sonst  ist,  bieten  betreffs  ihrer  Ver- 
breitung kaum  ein  Interesse,  die  meisten  Formen  dürften 
sogar  Kosmopoliten  sein.  Nur  mag  vielleicht  darauf  hin- 
zuweisen sein,  daß  Moorwässer  besonders  reich,  nament- 
lich an  Heliozoen  zu  sein  pflegen. 


Vieles  ist  schon  gethan,  unsere  Kenntnis  über  das 
Vorkommen  der  Arten  der  einzelnen  Tiergruppen  in  den 
verschiedenen  Teilen  unseres  Vaterlandes  zu  begründen, 
zu  erweitern  und  zu  befestigen;  aber  vieles,  sehr  vieles 
bleibt  noch  zu  thun  übrig.  Nach  zwei  Richtungen  hin 
müssen  die  Untersuchungen  sich  noch  er  weitem:  einmal 
müssen  noch  zahlreiche  Ordnungen  und  Familien  der 
niederen,  stellenweise  aber  auch  der  höheren  Tierwelt 
gesammelt  und  beobachtet  werden,  dann  aber  sind  uns 
noch  ganze  Striche  unseres  Vaterlandes  betreffs  ihrer 
Fauna  so  gut  wie  unbekannt.  Der  größte  Teil  der  nord- 
deutschen Heide  und  der  Marschen,  der  bayrischen  Hoch- 
moore, des  Vogels-,  Fichtel-  und  Erzgebirges  sind  uns 
faunistisch  noch  ziemliche  terrae  incognitae!  Nun  ist  es 
freilich  für  den  einzelnen  Privatmann  schwer,  ja  unmöglich, 
die  ganze  Fauna  eines  Gebietes  zu  bearbeiten,  schon  das 
Zusammenbringen  der  nötigen  einschlagenden  Litteratur 
ist  eine  Klippe,  um  die  er  schwer,  ja  niemals  ganz  herum- 
kommen wird,  und  dann  würden  selbst  flir  den  Zoologen 
von  Fach  die  Schwierigkeiten,  alle  Gruppen  gleichmäßig 


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296  William  Marsfaall, 

bearbeiten  zu  können,  ein  unübersteigliches  Hindernis 
bilden,  geschweige  denn  für  den  sammelnden  Liebhaber. 
Aber  ich  glaube,  es  ließe  sich  bei  geschickter  Arbeits- 
teilung doch  Großes  erreichen.  Die  Zeiten  sind  freilich 
nicht  danach  angethan,  daß  die  betreffenden  Landesregie- 
rungen sich  groß  der  Sache  annehmen  können,  abgesehen 
davon,  daß  in  vielen  und  nicht  am  wenigsten  in  maß- 
gebenden Kreisen  das  Interesse  für  die  Naturwissenschaften 
überhaupt  und  für  die  Zoologie  im  besonderen  ein  äußerst 
geringes  genannt  werden  muß.  Die  Interessenten  müssen 
sich  selbst  helfen,  und  diese  Selbsthilfe  denke  ich  mir 
etwa  so:  es  giebt  in  unserem  Vaterlande  genug  Spezia- 
listen auch  für  die  kleinste  Tiergruppe;  diese  müßten 
zusammentreten  und  gewissermaßen  eine  zoologische  Lan- 
desuntersuchungskommission bilden;  Liebhaber  aber,  die 
es  doch  fast  aller  Orten  giebt  und  die  mit  etwas  Mühe 
auch  noch  reichlicher  zu  beschaffen  wären,  müßten  alles, 
was  ihnen  überhaupt  faunistisch  vorkommt,  sammeln  und 
mit  genauer  Angabe  des  Ortes  und  der  Zeit  des  Fundes 
an  eine  Zentralstelle  einsenden,  welche  nun  ihrerseits  die 
Tiere  ordnungs-  oder  familienweise  an  die  betreffenden 
Spezialisten  der  Untersuchungskommission  weiterzusenden 
haben  würde.  Diese  würden  über  alle  Eingänge  genau 
Buch  führen  und  die  eingegangenen  Objekte  könnten  dann 
bestimmt  an  den  Sammler  wieder  zurückgehen.  Je  mehr 
„speziellere  Spezialisten'',  um  mich  so  auszudrücken,  sich 
für  diesen  Plan  gewinnen  ließen,  desto  leichter,  aber  auch 
desto  größer  und  sicherer  würden  die  Erfolge  sein.  Ich 
hege  die  Ueberzeugung,  daß  ein  Naturforscher  von  orga- 
nisatorischem Geschick  bei  dem  großen  allgemein  wissen- 
schaftlichen Interesse,  das,  Gott  sei  Dank!  die  meisten 
unserer  deutschen  Forscher  beseelt,  unschwer  die  geeig- 
neten Kräfte,  sowohl  die  sammelnden  als  die  bearbeiten- 
den, zusammenbringen  könnte.  Hauptsächlich  denke  ich 
betreffs  der  sammelnden  an  unseren  intelligenten,  über 
ganz  Deutschland  ziemlich  gleichmäßig  verteilten  Lehrer- 
stand, der  ja  jetzt  schon  unter  allen  Berufsklassen  den 
größten  Prozentsatz  der  Schar  von  Sammlern  und  Lieb- 
habern bildet. 


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Tierverbreitung.  297 

Ein  Hauptaugenmerk  müMen  die  betreffenden  Lokal- 
forscher auch  auf  die  Veränderung  der  Lokalfauna  zu 
werfen  haben :  welche  Formen  nach  und  nach  und  zufolge 
welcher  Bedingungen  wohl  seltener  oder  häufiger  werden, 
welche  verschwinden  und  welche  neu  auftreten,  —  das 
alles  sind  nicht  so  schwer  anzustellende  Beobachtungen 
von  größter  allgemeiner  Bedeutung.  Wenn  dieselben 
durch  mehrere  Generationen  hindurch  fortgesetzt  würden, 
könnten  wahrscheinlich  sehr  überraschende  Thatsachen  an 
das  Licht  gebracht  werden. 

Nur  mit  vereinten  Kräften  und  geteilter  Ar- 
beit dürfen  wir  hoffen,  nach  und  nach  die  wünschens- 
werte und  wissenswürdige  Kenntnis  der  Verbreitung  der 
Tiere  in  unserem  Vaterlande  zu  erlangen! 


Hauptlitteratur. 

Allgemein: 

Leydig,  F.:  Verbreitung  der  Tiere  im  Rhöngebirge  und  Main- 
tlial  etc.  Verh.  d.  nat.  Ver.  Jahrg.  XXXVIII,  4.  Folge,  8.  Bd., 
S.  43-183.    (Sehr  wichtig!) 

Säugetiere: 

BlasiuB,  J.  H.:  Naturgeschichte  der  Säugetiere  Deutschlands. 
Braunschweig  1857.    Zahlreiche  Verzeichnisse  von  Lokalfaunen. 

Vögel: 

Naumann,  J.  S.:  Naturgeschichte  der  Vögel  Deutschlands  u.  s.  w. 
G loger,  C.  C:  Vollständiges  Handbuch  der  Naturgeschichte  der 
Vögel  Europas.    Viele  Lokalfaunen. 

Reptilien: 

Leydig,  F.:  Die  in  Deutschland  lebenden  Saurier.  Tübingen  1871. 
Außerdem  Verzeichnisse  von  Lokalfaunen. 

AmphibieE: 

Knauer,  Fr.  K.:  Naturgeschichte  der  Lurche.    Wien  1878. 
Leydig,  F.:  Anure  Batrachier  der  deutschen  Fauna.    1877. 
—  Die  Molche  der  württembergischen  Fauna.   Berlin  1868.    Lokal- 
verzeichnisse. 


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298  Wüliam  Marshall. 

Fische: 

V.  Siebold,  C.  Th.:  Die  Süßwasserfische  von  Mitteleuropa.  Leipzig 
1868.    Lokal  Verzeichnisse. 

Mollusken: 

Ol  essin,  8.:  Deutsche  Exkursions-Molluskenfauna.  Nürnberg  187(5. 
Sehr  zahlreiche  Lokalverzeichnisse. 

Insekten: 

Abgesehen  von  einer  außerordentlich  großen  Menge  von  Ver- 
zeichnissen von  Lokalfaunen  wären  zu  vergleichen: 
Speyer,  Ad.  u.  Aug.:  Die  geographische  Verbreitung  der  Schmet- 
terlinge in  Deutschland  und  der  Schweiz  (Tagfalter,  Schwärmer, 
Spinner  und  Eulen).    2.  Bd.     Leipzig  1858. 
Hofmann,  £.:   Isoporien  der  europäischen  Tagfalter.    Jenaische 

Doktordissert.  1873. 
Die  Insekten  Deutschlands.    Käfer  begonnen  von  Erichson, 
fortgesetzt  von  Schaum,  Kraatz,  Kiese  wetter.    Berlin  von 
1848  an.    Unvollendet. 
Redtenbacher,  C:  Fauna  austriaca,  Käfer.    Wien  1858. 
Taschenberg,  £.  L.:  Die  Hymenopteren  Deutschlands.    1866. 
M eigen,  J.  W.:   Systematische  Beschreibung  europäischer  zweifl. 

Insekten.    Hamm  1818—38. 
Schiner,  R.:  Fauna  austriaca,  die  Fliegen.    Wien  1860. 

Tansendfäfse: 

Latzel,  R.:  Die  Myriopoden  der  österreichisch-ungar.  Monarchie. 
2  Bde.    Wien  1880—84. 

Spinnen: 

Hahn,  C.  W.,  und  Koch,  C.  C:  Die  Arachniden  u.  s.  w.   Nürnberg 

1831—49. 
Ohlert,  E.:  Preußische  Spinnen.    Verh.  d.  zoolog.-botan.  Vereins 

Wien  IV. 

lieber  die  übrigen  Tierordnungen  fehlen  zusammenfassende 
Monographieen ,  welche  hauptsächlich  auch  die  Verbreitung  mit 
umfassen. 


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üeber  das  Einsammeln  von  zoolo- 
gischem Material  in  Flüssen  und 
Seeen. 


Von 

Dr.  Otto  Zacharias 

in  Hirachberg  i.  Schi. 


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Zur  Mitarbeit  auf  demjenigen  Gebiete  landeskund- 
licher Forschung,  welches  Zoologie  und  Botanik  umfaßt, 
Bind  neben  den  eigentlichen  Fachgelehrten  auch  die  zahl- 
reichen Naturfreunde  berufen,  welche  erfahrungsgemätB 
unter  den  Berg-  und  Forstbeamten,  den  Landwirten,  In- 
genieuren und  Feldmessern,  sowie  unter  den  berufsmäßi- 
gen   Fischern   imd   Fischzuchten!   anzutreflFen   sind.     Es 
giebt   unter  diesen   Leuten   einzelne,   welche  mit  einem 
hochgradig  entwickelten  Beobachtungstalent  ausgestattet 
sind,  so  daß  es  geradezu  als  ein  Verlust  für  die  Wissen- 
schaft zu   betrachten   wäre,   wenn   man  es  verschmähte, 
Kräfte  dieser  Art  in   den  Dienst  der  ernsten  Forschung 
zu   stellen.     Wir  wissen  heutzutage  ganz  genau,   daß  es 
ein  folgenschwerer  Irrtum  ist  zu  glauben,   die  Fähigkeit 
zum  Beobachten  und  Experimentieren  könne  nur  auf  einer 
sogenannten  „höheren  Schule**  und  durch  den  nachfolgen- 
den akademischen  Unterricht  erworben  werden;  die  Um- 
schau  in   der  praktischen  Sphäre   des  Lebens  zeigt  uns 
vielmehr  auf  Schritt  und  Tritt,  daß  es  Fabrikanten,  Land- 
wirte und  Gewerbtreibende  giebt,  welche  es  in  Bezug  auf 
Sinnesschärfe  und  kombinierende  Verstandesthätigkeit  ganz 
getrost  mit  manchen  Fachgelehrten   aufnehmen  können. 
Es  ist  darum  ein   ausgezeichneter  Gedanke   der  Central- 
kommission   für  wissenschaftliche  Landeskunde  gewesen, 
im  Rahmen   des    vorliegenden  Werkes    eine   gemeinver- 
ständliche Anleitung  zum  Beobachten  und  Forschen  auf 
den  verschiedenen   Spezialgebieten   zu   geben,    denn   auf 
solche  Weise   wird   nicht  bloß  wahre  Liebe  zur  Wissen- 
schaft erweckt,  sondern  auch  dafür  gesorgt,  daß  der  Laie 


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302  Otto  Zacharias, 

einen  Begriff  davon  erhält,  wie  er  sich  nach  Maßgabe 
seiner  Fähigkeiten  an  der  Förderung  dieses  oder  jenes 
Wissenschaftszweiges  beteiligen  kann.  Es  sind  oft  nur 
einige  Fingerzeige  notwendig,  um  jemanden  auf  den  Weg 
zu  bringen,  der  zu  wirklichen  Erfolgen  fOhrt  —  voraus- 
gesetzt natürlich,  daß  der  Betreffende  denjenigen  Grad 
von  Energie  entfaltet,  ohne  den  überhaupt  wissenschaft- 
liche Bestrebungen  undenkbar  sind. 

Zum  , Naturforscher"  auf  zoologischem  Gebiet 
—  wovon  im  Nachstehenden  hauptsächlich  die  Rede  sein 
soll  —  gehört  in  erster  Linie  eine  Orientierung  über  die 
Hauptvertreter  der  verschiedenen  Klassen  und  Ordnungen 
des  Tierreichs,  wie  sie  aus  einem  der  neueren  Lehrbücher 
ohne  große  Schwierigkeit  erlangt  werden  kann.  Auch 
wenn  man  sich  der  Erforschung  und  Einsammlung  von 
nur  wenigen,  engbegrenzten  Gruppen  der  Fauna  widmet, 
ist  es  nützlich,  sich  über  die  näheren  und  ferneren  Ver- 
wandtschaftsbeziehungen derselben  im  System  zu  infor- 
mieren. Dadurch  erwirbt  man  eine  Summe  von  wirk- 
lichen Kenntnissen  im  Gegensatz  zu  dem  bloß  ober- 
flächlichen Wissen  vieler  Sammler  und  naturforschenden 
Dilettanten.  Indessen  würde  ein  ganz  gründliches  syste- 
matisches Studium  irgend  einer  Tiergruppe  beim  gegen- 
wärtigen Stande  der  zoologischen  Wissenschaft  lediglich 
nur  auf  Grund  mikroskopisch-anatomischer  und  entwicke- 
lungsgeschichtlicher  Studien  möglich  sein,  so  daß  die  Mit- 
wirkung von  Laien  auf  diesem  schwierigen  Gebiete  so 
gut  wie  gänzlich  ausgeschlossen  ist. 

Es  giebt  aber  ein  Feld  innerhalb  der  Zoologie,  auf 
welchem  die  fleißige  Mitwirkung  gebildeter  Laien  und 
Naturfreunde  nicht  bloß  zulässig,  sondern  sogar  sehr  er- 
wünscht ist.  Dasselbe  umfaßt  alle  Bemühungen,  welche 
auf  die  Erforschung  der  geographischen  Verbreitung 
bereits  bekannter  Tiere  gerichtet  sind,  und  ist  groß  ge- 
nug, um  vielen  freiwilligen  Mitarbeitern  reichliche  Be- 
schäftigung zu  gewähren.  Es  ist  einleuchtend,  daß  eine 
Kenntnis  der  Art  und  Weise,  wie  sich  die  einzelnen 
Arten  über  ein  großes  Territorium  verteilen,  an  und 
für   sich   ein   würdiger  Gegenstand  für  die  wissenschaft- 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     303 

liehe  Landeskunde  ist,  denn  eine  solche  Kenntnis  setzt 
spätere  Beobachter  in  den  Stand,  aus  den  in  der  Ver- 
teilung etwa  eingetretenen  Veränderungen  Schlüsse  zu 
ziehen,  welche  auf  die  klimatischen  Verhältnisse  und  die 
Beschaflfenheit  der  Erdoberfläche  in  einer  früheren  Periode 
helles  Licht  werfen.  Einer  unserer  trefflichsten  Forscher, 
Fr.  Leydig,  hat  darum  mit  vollem  Rechte  gesagt:  „So 
lange  es  ein  Studium  der  Zoologie  geben  wird,  bleiben 
die  Nachforschungen  nach  den  Linien  der  Ausbreitung 
einer  Tierart  von  W^ert.**  Derselbe  verdienstvolle  Ge- 
lehrte, dem  wir  zahlreiche  und  wichtige  Entdeckungen 
auch  auf  dem  speziellen  Gebiete  der  heimatlichen  Tier- 
geographie verdanken,  hat  sich  über  den  Wert  zoologi- 
scher Exkursionen,  welche  die  Erforschung  der  Aus- 
breitung einheimischer  Spezies  zum  Zwecke  haben,  wie 
folgt  ausgesprochen.  „Solche  Studien  —  sagt  er  —  streifen 
nicht  selten  die  ersten  und  letzten  Fragen  der  Biologie. 
Unsere  Vorstellungen  bezüglich  des  letzten  Grundes  tieri- 
scher Gestaltung  müssen  beeinflußt  werden  durch  die 
Wahrnehmungen  über  Anpassung  an  einzelne  Oertlich- 
keiten  und  die  hiervon  bedingte  Abhängigkeit  zu  leben. 
Femer,  da  man  die  untergegangene  Tierwelt  immer  nur 
im  Zusammenhange  sowohl  unter  sich,  als  auch  mit  der 
lebenden  vor  Augen  behalten  soll,  so  werfen  solche  For- 
schungen Licht  auf  die  zunächst  vorausgegangenen  Wand- 
lungen der  Erdoberfläche.  Zuletzt  liel.se  sich  zu  gunsten 
derartiger  Studien  noch  geltend  machen,  daß  neben  dem 
eigentlichen  wissenschaftlichen  Gewinn  selbst  für  das  ge- 
wöhnliche tägliche  Leben  mancherlei  Nutzen  abfallt.  Die 
Kenntnis  der  naturhistorischen  Beschaffenheit  der  nächsten 
Umgebung  kann  dazu  dienen,  schädlichen  Einwirkungen 
vorzubeugen  und  andererseits  das  Wohl  des  Einzelnen 
und  des  Ganzen  zu  erhöhen"  ^). 

Tiergeographische    Studien    bilden   somit   ein   aner- 
kanntes  und  interessantes  Arbeitsfeld   für   den  Zoologen 


*)  Ueber  Verbreitung  der  Tiere  im  Rhöngebirge  und  Main- 
tlial  mit  Hinblick  auf  Eitel  und  Rheintbal.  Yerhandl.  des  natur- 
histor.  Vereins  der  preuß.  Rheinlande  U.Westfalens.  38.  Bd.  1881. 


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304  Otto  Zacharias, 

von  Fach,  auf  welchem  er  sehr  gerne  die  Mithilfe  ver- 
ständnisvoller Naturfreunde  in  Anspruch  nimmt.  Leute 
in  Berufsstellungen,  durch  welche  sie  in  beständigem 
Verkehr  mit  Wald,  Wiese  und  Feld  oder  mit  Seeen  und 
Teichen  gebracht  werden,  kommen  häufig  in  die  Lage, 
Beobachtungen  bez.  Funde  zu  machen,  welche  wissen- 
schaftlich wertvoll  sind.  Solche  Beobachtungen  gilt  es 
für  den  zoologischen  Teil  der  Landeskunde  fernerhin  nutz- 
bar zu  machen. 

Insbesondere  erscheint  es  mir  geboten,  die  Mitwirkung 
weiterer  Kreise  zur  immer  genaueren  Erforschung  der 
einheimischen  Süßwasserfauna  anzubahnen.  Wir  sind 
zur  Zeit  weder  vollkommen  über  deren  durchschnittliche 
Zusammensetzung  unterrichtet,  noch  besitzen  wir  eine 
irgendwie  vollständige  Kenntnis  der  geographischen  Ver- 
breitung der  einzelnen  Spezies  von  Würmern,  Krebs- 
tieren und  Protozoen,  aus  denen  jene  Fauna  vorwie- 
gend besteht,  wenn  wir  von  den  Fischen  absehen,  die 
aus  Nützlichkeitsrücksichten  am  besten  bekannt  gewor- 
den sind. 

Im  Hinblick  auf  den  Umstand  freilich,  daß  die  Tier- 
welt unserer  Gräben,  Tümpel,  Teiche,  Seeen  und  Fluß- 
läufe auch  zahlreiche  sehr  winzige  Bürger  umfaßt,  wäre 
es  wünschenswert,  daß  die  Bekanntschaft  mit  der  Hand- 
habung des  Mikroskopes  in  den  gebildeten  Kreisen  des 
Volks  eine  allgemeinere  wäre  als  sie  es  thatsächlich  ist. 
Bei  der  außerordentlichen  Billigkeit  der  Preise,  für  die 
man  jetzt  Instrumente  haben  kann,  welche  eine  ganz  treff- 
liche Leistungsfähigkeit  besitzen,  sollte  man  annehmen, 
daß  es  der  Ehrgeiz  jeder  wahrhaft  gebildeten  Famiüe 
sein  müßte,  ein  Mikroskop  im  Hause  zu  haben.  Leider 
ist  dies  in  Deutschland  noch  keineswegs  der  FaU,  und 
dies  ist  ein  großes  Hemmnis  für  die  Ausbreitung  ge- 
diegener naturwissenschaftlicher  Belehrung.  Unterscheidet 
sich  doch  die  wissenschaftliche  Betrachtung  der  kleineren 
Naturgegenstände  hauptsächlich  dadurch  von  einer  bloß 
laienhaften  Beaugenscheinigung  derselben,  daß  sie  mit 
bewaffnetem  Auge  erfolgt  und  so  zu  klareren  Vorstellungen 
führt  als  die  bloß  oberflächliche  Kenntnisnahme,  welche 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     305 

im  gewöhnlichen  Leben  an  der  Tagesordnung  ist.  Min- 
destens muß  derjenige,  welcher  sich  als  Sammler  an  der 
Erforschung  unserer  (zum  Teil  mikroskopischen)  Süß- 
wasserfauna beteiligen  will,  im  Besitz  einer  vorzüglichen 
Lupe  oder  eines  jener  kleinen  Schülerinstrumente  sein, 
die  vom  Optiker  Paul  Wächter  in  Berlin  fabrikmäßig 
hergestellt  und  billigst  geliefert  werden.  Ohne  ein  der- 
artiges Vergrößerungsglas  würde  man  oft  gar  nicht  in 
Erfahrung  bringen  können,  ob  sich  die  Abfischung  eines 
Teiches  oder  Tümpels  lohnt. 

Bevor  ich  nun  darlege,  wie  man  im  Speziellen  dabei 
verfährt,  wenn  man  aus  einem  Flusse  oder  See  zoologi- 
sches Untersuchungsmaterial  entnehmen  soll,  werde  ich 
in  aller  Kürze  schildern,  wie  sich  das  Tierleben  in  einem 
größeren  Wasserbecken  gestaltet.  Denn  natürlich  muß 
man  erst  wissen,  Wo  man  die  verschiedenen  Vertreter 
der  Wasserfauna  zu  suchen  hat,  ehe  man  das  Geschäft 
des  Sammeins  erfolgreich  betreiben  kann.  Ich  stelle  mir 
bei  dieser  Schilderung  einen  wißbegierigen  Laien  vor,  der 
noch  gar  keine  Routine  in  der  Ausführung  von  faunisti- 
schen  Exkursionen  besitzt,  jemanden  also,  dem  ich  das 
ABC  des  dabei  einzuschlagenden  Verfahrens  beizubringen 
habe.  Für  Fachzoologen  ist  diese  Anleitung  nicht  be- 
stimmt; indessen  habe  ich  in  meiner  Praxis  mehrfach  die 
Wahrnehmung  gemacht,  daß  es  auch  unter  meinen  ver- 
ehrten Kollegen  Leute  giebt,  welche  sich  linkisch  an- 
stellen, wenn  man  sie  in  ein  Boot  setzt,  mit  den  nötigen 
Fangutensilien  versieht  und  nun  ersucht,  selbstthätig  an 
der  Abfischung  des  betreffenden  Sees  teilzunehmen.  Es 
giebt  viele,  denen  solche  Bootfahrten  sehr  unbequem  sind, 
und  doch  wüßte  ich  nicht,  was  reizvoller  sein  könnte  als 
die  sonnige  Oberfläche,  die  dämi|[^ernde  Tiefe  und  das 
Pflanzenreiche  Uferwasser  eines  großen  Weihers  in  Bezug 
auf  deren  verschiedenartige  Bewohnerschaft  abzusuchen. 
Es  sind  das  Stunden,  in  denen  man  sich  eines  engeren 
Zusammenhanges  mit  der  Natur  bewußt  wird,  und  wo 
man  in  die  an  den  Erdgeist  gerichteten  Worte  Fausts 
mit  einstimmen  möchte,  welche  jenem  Gefühle  in  so 
poetischer  Weise  Ausdruck  geben: 

Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Volksfonohung.  20 


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306  Otto  Zacharias, 

,Da  führst  die  Reihe  der  Lebendigen 

Vor  mir  vorbei  und  lehrst  mich  meine  Brüder 

Im  stillen  Busch,  in  Luft  und  Wasser  kennen." 

Eine  Brüderlichkeit  bestellt  in  der  That  zwischen  allen 
Wesen,  deren  Körper  —  mag  er  winzig  oder  kolossal 
sein  —  bestimmten  äu&eren  Verhältnissen  angepaßt  ist, 
imd  die  Abhängigkeit  des  Menschen  von  seinen  kompli- 
zierten Existenzbedingungen  findet  ihr  vollkommenes  Ana- 
logon  in  der  Art  und  Weise,  wie  die  verschiedenartigen 
Mitglieder  der  Tierwelt  teils  voneinander,  teils  aber  auch 
von  dem  umgebenden  Medium  abhängen,  auf  das  sie  (ihrer 
Organisation  nach)  angewiesen  sind. 

Einen  tieferen  Einblick  in  diese  Abhängigkeitsbeziehun- 
gen gewinnen  wir  nur,  wenn  wir  die  einzelnen  Arten 
an  ihren  Wohnplätzen  in  der  freien  Natur  aufsuchen,  und 
hierin  besteht  der  Hauptnutzen,  den  faunistische  Ex- 
kursionen für  den  angehenden  Forscher,  für  den  Studen- 
ten der  Zoologie  besitzen.  Wissen  wir  doch  durch  Dar- 
wins epochemachende  Arbeiten,  daß  die  wichtigste  aller 
Beziehungen  im  Kampfe  ums  Dasein  diejenige  von  Or- 
ganismus zu  Organismus  ist  ^),  und  es  ist  außerordentlich 
lehrreich,  unsere  speziellen  Kenntnisse  nach  dieser  Rich- 
tung hin  zu  bereichem. 

Ein  großer  See  ist  gleichsam  eine  Welt  für  sich, 
und  es  wird  eine  gute  Vorschule  für  umfassendere  bio- 
logische Studien  sein,  wenn  jemand  damit  beginnt,  sich 
über  die  Fauna  unserer  einheimischen  Wasserbecken 
gründlich  zu  orientieren.  Er  wird  dadurch,  wie  schon 
eingangs  betont  wurde,  auch  der  Landeskunde  einen  nicht 
zu  unterschätzenden  Dienst  leisten,  insofern  unser  Wissen 
über  die  geographische  Verbreitung  niederer  Tiere  dabei 
gleichzeitig  Förderung  erfährt. 

Sehen  wir  nun  zu,  welche  Lebensbedingungen  ein 
See  seinen  Bewohnern  darbietet  und  inwiefern  die  Fauna 
in  ihrer  Zusammensetzung  sowohl  wie  auch  nach  Gestalt 
und  Bau  ihrer  Repräsentanten  von  jenen  Bedingungen 
abhängig  erscheint. 

*)  Ch.  Darwin,  Entstehung  der  Arten.  4.  (deutsche)  Aus- 
gabe. 1870,  S.  195  u.  381. 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     307 

In  jedem  großen  Binnensee  kann  man  (wie  in  einem 
Meeresbecken)  drei  verschiedene  Regionen  unterscheiden: 
1.  diejenige  des  Ufers,  2.  diejenige  des  freien  Wassers 
und  3.  eine  Tiefenregion. 

Die  Litoralregion  (Uferzone)  umfaßt  den  ganzen 
Rand  des  Sees  und  scha£Pt  wegen  ihrer  wechselnden  Kon- 
figuration und  Bodenbeschaffenheit  die  mannigfaltigsten 
Wohngebiete  flir  Schlamm-  und  Wassertiere.  In  dieser 
Zone,  deren  Breite  man  wohl  zu  10 — 15  m  ansetzen  darf, 
herrscht  eine  große  Verschiedenheit  der  Tiefenverhältnisse, 
je  nachdem  der  Seerand  steiler  abfallend  oder  mäßig  ge- 
neigt ist.  Kleine  in  das  Land  einschneidende  Buchten 
gestatten  das  Aufkommen  von  üppigem  Pflanzenwuchs 
und  bilden  Schlupfwinkel  und  Brutstätten  für  solche 
Wesen,  welche  der  starke  Wellenschlag  vernichten  würde. 
Im  allgemeinen  ist  der  Boden  der  Litoralzone  durch  eine 
thonige  oder  sandige  Ghmndmasse  charakterisiert,  in  der 
sich  Gferöllstücke,  größere  Steine  und  oft  sogar  mächtige 
Pelstrümmer  eingelagert  finden.  Weiter  nach  der  Mitte 
hinaus  ist  der  Boden  vieler  unserer  Seeen  mit  Armleuchter- 
gewächsen oder  mit  den  schnittlauchähnlichen  Büscheln 
des  Karpfenfams  bestanden,  so  daß  man  in  der  Tiefe 
einen  grünen  Teppich  ausgebreitet  zu  sehen  meint.  Durch 
den  Vegetationsprozeß  dieser  Gewächse  wird  das  Ufer- 
wasser mit  einem  beständigen  Ueberschuß  an  Sauerstoff 
versehen,  und  damit  ist  eine  Hauptbedingung  zur  Ent- 
faltung eines  reichen  Tierlebens  erfüllt.  Hierzu  kommt 
noch  der  Umstand,  daß  manche  Binnenseeen  von  manns- 
hohen Schilfwällen  umsäumt  sind,  deren  dichtes  Wurzel- 
geflecht für  zahlreiche  Lebewesen  ein  sehr  willkommener 
Aufenthaltsort  ist.  Im  Bereiche  der  Litoralzone  wird 
man  während  der  Sommermonate  niemals  vergeblich 
fischen,  denn  hier  wimmelt  es  in  der  heißen  Jahreszeit 
von  großem  und  kleinem  Getier  der  verschiedensten  Art. 
Als  Fanggerät  benutzt  man  ein  Handnetz  aus  feiner 
Müllergaze,  welches  man  je  nach  Bedürfnis  an  einen 
längeren  oder  kürzeren  Stab  anschraubt.  Damit  unter- 
fährt man  die  im  Wasser  flottierenden  Gewächse,  streift 
die  Hornkraut-  und  Potamogetonranken  ab,  schwingt  es 


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308  Otto  Zacharias, 

in  verschiedenen  Tiefen  durchs  Wasser  und  entleert  dann 
seinen  Inhalt  in  die  bereit  stehenden  Glasgefässe.  Nun 
erst  gewahrt  man,  wie  ergiebig  der  Fang  gewesen  ist. 
Kleine  Fische  schießen  zwischen  Hunderten  von  Wasser- 
wanzen (Notonectiden)  und  Wassermilben  (Hydrach- 
niden)  hin  und  her.  Zahlreiche  Insektenlarven, 
Wasserkäfer  und  niedere  Krebstiere  werden  gleich- 
falls in  den  Gläsern  sichtbar;  dazu  kommen  langsam  da- 
hingleitende oder  lebhaft  sich  schlängelnde  Würmer 
(Planarien,  Naiden  und  Anguilluliden) ;  an  den  Wänden 
der  Gefässe  sich  festheftende  Armpolypen  (Hydren)  und 
Schnecken,  ungerechnet  des  Heeres  von  mikroskopischen 
Urtieren  (Protozoen),  welche  man  erst  bei  mikroskopi- 
scher Besichtigung  entdeckt.  Eine  den  Laien  verwirrende 
Fülle  von  animalischem  Leben  haben  wir  binnen  wenigen 
Minuten  aus  dem  Wasser  gehoben,  und  wenn  wir  einen 
Blick  auf  die  verschwindend  kleine  Fläche  werfen,  welche 
wir  mit  unserem  Netze  abgefischt  haben,  so  lehrt  uns 
eine  kurze  Ueberlegung,  daß  in  einem  großen  Binnensee 
hundert  und  aber  hundert  Zentner  solcher  Tiere  vorhan- 
den sein  müssen.  Und  nim  erhalten  wir  auf  einmal  einen 
Begriff  davon,  wie  die  vielen  Tausende  von  großen  und 
kleinen  Fiächen,  welche  jeden  unserer  größeren  Seeen 
bevölkern,  ausreichend  ernährt  werden  können,  was  ja 
sonst  ein  vollkommenes  Rätsel  wäre. 

Zur  Uferfauna  gehören  auch  die  interessanten  Kolo- 
nieen  der  Moostierchen  (Bryozoen),  welche  man  an 
Brückenpfeilern,  imtergetauchten  Holzstücken  und  vor 
s^em  an  der  Unterseite  von  Seerosenblättern  häufig  an- 
trifft. Wie  arten-  und  varietätenreich  die  einheimische 
Bryozoenfauna  ist,  haben  wir  erst  neuerdings  aus  dem 
treff'lichen  und  mit  vorzüglichen  Abbildungen  ausgestat- 
teten Spezial werke  des  Professors  KarlKräpelin  (Ham- 
burg) zu  ersehen  Gelegenheit  gehabt^). 

Zur  Erzielung  eines  möglichst  reichen  Fangergeb- 
nisses   wird   es  rätlich  sein,   sich  eines  Nachens  zu  be- 


')  Die  deutschen  Süßwasserbryozoen.   Eine  Monographie  von 
K.  Kräpelin.    Teil  I.     1887. 


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dienen  und  den  betreffenden  See  in  seinem  ganzen  Um- 
fange zu  durchforschen.  Dies  ist  selbstyerständlich  nicht 
das  Werk  eines  einzigen  Tages;  eine  Arbeit  dieser  Art 
erfordert  vielmehr  Wochen,  wenn  sie  einigermaßen  gründ- 
lich sein  soll.  Um  sich  über  die  Tierwelt  eines  Wasser- 
-beckens  von  2000—3000  Morgen  Fläche  zu  orientieren, 
•werden  wiederholte  Besuche  zu  verschiedenen  Jahreszeiten 
nötig  sein,  wenn  es  sich  um  eine  systematische  Aufnahme 
des  faunistischen  Inventars  desselben  handelt.  Aug.  Forel 
zu  Morges  hat  uns  in  seinen  ausgezeichneten  Arbeiten 
über  den  Genfer  See  gezeigt,  wie  umständlich  derartige 
Untersuchungen  vorzunehmen  sind,  wenn  dieselben  dauern- 
den wissenschaftlichen  Wert  besitzen  sollen  *).  Ich  selbst 
habe  mich  bei  meiner  Durchforschung  der  holsteinischen, 
mecklenburgischen  und  westpreußischen  Seeen  nur  um 
einige  wenige  Gruppen  von  niederen  Tieren  (Strudel- 
würmer, Rädertiere,  Wassermilberf  und  Krustaceen)  ge- 
kümmert, aber  ich  muß  doch  sagen,  daß  mehrere  Monate 
nicht  hingereicht  haben,  um  die  sich  über  ein  Terrain 
von  90  Meilen  Länge  erstreckende  Exkursion  in  allen 
Teilen  mit  gleicher  Gründlichkeit  durchzuführen^). 

Dies  erwähne  ich  bloß  um  zu  zeigen,  daß  die  Thätig- 
keit  des  Naturforschers  bei  der  Beschäftigung  mit  unserer 
einheimischen  Süßwasserfauna  ernste  Anstrengungen  ver- 
langt, wenn  die  Ergebnisse  der  aufgewandten  Zeit  ent- 
sprechen sollen. 

Der  Neuling  auf  dem  .  Gebiete,  welches  ich  durch 
diese  Anleitung  dem  populären  Verständnis  recht  weit, 
erschließen  möchte,  muß  sich  vor  allen  Dingen  mit  den 
Hauptvertretem  unserer  Wasserfauna  bekannt  machen. 
Denn  sonst  ist  er  nicht  in  der  Lage,  zwischen  Selten- 
heiten und  ganz  gewöhnlichen  Vorkommnissen  einen 
Unterschied  zu  machen.  Zum  Behufe  einer  derartigen 
ganz  elementaren  Orientierung  möchte  ich  auf  ein  neuer-- 


2)  0. 


.Forel,  Mat^riaux  p.  servir  ä Tätude  du  LacL^man.  1876. 
Zacharias,   Zur  Kenntnis   der  pelagischen  und  lito- 
ralen  Fauna  norddeutscher  Seeen«   Zeitschr.  f.  wissensch.  Zoologie, 
45.  Bd.  1887. 


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310  Otto  Zacharias, 

lieh  erschienenes  Buch  von  Dr.  W.  Heß  (Das  Süßwasser- 
aquarium  und  seine  Bewohner,  1886)  verweisen.  Handelt 
es  sich  dann  weiterhin  um  eine  Einführung  in  die  mikra- 
akopische  Tier-  und  Pflanzenwelt  des  Süßwassers,  so  giebt 
es  kein  geeigneteres  Vademekum  als  das  von  Dr.  0. 
Kirchner  und  Dr.  F.  Blochmann  herausgegebene  zwei- 
bändige Werk,  welches  unter  dem  Titel  «Die  mikrosko- 
pische Pflanzen-  und  Tierwelt  des  süßen  Wassers"  1885 
und  1886  erschienen  ist.  Die  dem  Texte  beigefügten 
Figurentafeln  sind  Meisterwerke  der  Lithographie.  Ein 
dritter  Band  (Krebstiere  und  Würmer  umfassend)  ist  in 
Vorbereitung  und  dürfte  im  Laufe  nächsten  Jahres  (1889) 
in  den  Buchhandel  gelangen,  lieber  die  Kruster,  welche 
unsere  Gewässer  bevölkern,  kann  sich  der  Anfänger  iu 
ganz  vorzüglicher  Weise  auch  durch  ein  eigens  zum  po- 
pulären Gebrauch  verfaßtes  Werk  von  Professor  Anton 
Fritsch  in  Prag  (Die^ Krustentiere  Böhmens,  1871)  unter- 
richten. Er  wird  in  demselben  die  bekanntesten  Vertreter 
der  Krebsfauna  sehr  naturgetreu  abgebildet  und  trefflich 
beschrieben  finden.  Ist  es  einem  oder  dem  anderen  der 
geehrten  Leser  darum  zu  thun,  sich  mit  der  Handhabung 
des  Mikroskops  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  eingehend 
bekannt  zu  machen,  so  gestatte  ich  mir  auf  einen  Leit- 
faden zu  verweisen,  welchen  ich  selbst  herausgegeben 
habe.  Er  führt  den  Titel  „Das  Mikroskop  und  die  wissen- 
schaftlichen Methoden  der  mikroskopischen  üntersuchui]^* 
und  ist  1884  in  4.  Auflage  erschienen^).  Ich  glaube  in 
diesem  Buche  alles  mitgeteilt  zu  haben,  was  für  einen 
angehenden  Naturforscher  von  Wichtigkeit  ist 

Befindet  man  sich  auf  Reisen  und  ist  es  nicht  an- 
gängig, sich  in  der  Nähe  eines  Sees  so  lange  aufzuhalten, 
bis  ein  Kahn  beschafft  werden  kann,  so  muß  man  sich 
damit  begnügen,  die  Uferzone  vom  Lande  aus  abzufischen. 
Zu  diesem  Zwecke  sind  die  von  E.  Thum  (Mikroskopi- 
sches Institut,  Leipzig)  beziehbaren,  und  aus  Messingblech 
angefertigten  Netzstöcke  ausgezeichnet  zu  gebrauclien, 
insofern  dieselben  je  nach  Bedarf  (wie  ein  Fernrohr)  ver- 


*)  Verlag  von  Arthur  Felix  in  Leipzig. 


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kürzt  oder  verlängert  werden  können.  Ihre  MaxiraaUänge 
beträgt  3  m,  und  so  ist  es  möglich,  nüt  Hilfe  derselben 
auch  von  einem  steilen  Seerande  aus  das  Wasser  zu  er- 
reichen. Im  vollständig  zusammengeschobenen  Zustande 
hat  ein  derartiger  Netzstock  die  Dimensionen  eines  kräf- 
tigen Wanderstabes  und  vermag  auch  die  Bolle  eines 
solchen  zu  spielen. 

Verfügt  jemand  über  ansehnlichere  Mittel  zur  Aus- 
rüstung, und  handelt  es  sich  um  die  Erforschung  einer 
großen  Anzahl  nahe  bei  einander  liegender  Seeen,  so  ist 
die  Anschaffung  eines  zerlegbaren  Bootes  anzuempfehlen, 
welches  leicht  von  Ort  zu  Ort  transportiert  werden  kann. 
Dergleichen  Fahrzeuge  sind  zu  sehr  mäßigen  Preisen  von 
der  Berthon-Boat-Company  zu  Romsey  (Hamshire,  Eng- 
land) zu  beziehen.  Durch  dieselbe  Fabrik  sind  (speziell 
für  zoologische  Exkursionen  konstruiert)  kleine  Böte  zu 
haben,  welche  ein  so  geringes  Gewicht  besitzen,  daß  für 
jedes  derselben  ein  einziger  Träger  hinreicht.  Der  Preis 
eines  derartigen  Vehikels  ist  etwa  180  Mark.  Die  ge- 
nannte Firma  versendet  übrigens  illustrierte  ICataloge,  so 
daß  man  sich  vollständig  über  Größe  und  Bauart  des  an- 
zuschaffenden Fahrzeugs  vorher  informieren  kann.  Ich 
bin  schon  mehrfach  in  die  Lage  gekommen,  die  englische 
Bezugsquelle  zu  empfehlen,  und  habe  dann  später  ver- 
nommen, daß  die  Käufer  zufrieden  gewesen  sind. 

Um  die  mikroskopischen  Bewohner  der  Uferzone  in 
möglichst  großer  Menge  zu  erbeuten,  bedient  man  sich 
eines  sehr  einfachen  Fangapparates,  nämlich  einer  finger- 
dicken Glasröhre  von  mindestens  l^/s  m  Länge.  Die- 
selbe führt  man  in  einem  Blechfutterale  bei  sich,  um  sie 
vor  dem  Zerbrechen  zu  schützen.  Diese  Röhre  verschließt 
man  am  oberen  Ende  durch  den  aufgedrückten  Daumen 
und  senkt  sie  im  seichten  Wasser  bis  dicht  über  den  mit 
Pflanzen  bewachsenen  Grund.  Nun  thut  man  den  ver- 
schließenden Finger  plötzlich  fort,  und  dies  hat  natürlich 
den  Effekt,  daß  sich  das  Glasrohr  mit  einer  reichlichen 
Portion  Schlammwasser  füllt.  Nach  abermaligem  Ver- 
schlul^  des  oberen  Endes  der  Röhre  kann  man  den  Inhalt 
derselben  leicht  in   ein  bereitstehendes  Glasgefäß  über- 


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312  Otto  Zacharias, 

tragen  ^).  Läßt  man  solches  Wasser  2 — 3  Tage  lang  ruhig 
im  Zimmer  stehen,  so  kann  man  an  den  Wänden  des- 
selben mancherlei  Infüsorienkolonieen,  Wurzelfüßer  und 
kleine  Würmer  in  großer  Anzahl  sitzen  sehen.  Diese 
überträgt  man  dann  behufs  näherer  Besichtigung  und 
Bestimmung  auf  einen  Objektträger  imd  bringt  sie  unter 
das  Mikroskop. 

Eine  allgemeine  Charakteristik  der  litoralen Wasser- 
fauna ist  oben  bereits  gegeben  worden.  Ich  möchte  an 
dieser  Stelle  bloß  noch  hinzufügen,  daß  außer  Protozoen 
gewisse  Würmer  (Turbellarien  und  Rädertiere),  Wasser- 
milben und  niedere  Krebse  (Cladoceren,  Cypriden  und 
Cyclopiden)  das  Hauptkontingent  zu  derselben  stellen. 

Die  Gruppe  der  Rädertiere  (Rotatoria)  umfaßt  sehr 
verschiedenartig  gestaltete  Wesen  von  mikroskopischer 
Kleinheit,  die  aber  allesamt  durch  den  Besitz  eines  eigen- 
tümlichen Wimperorgans  ausgezeichnet  sind,  welches  sich 
am  Kopfende  der  Tierchen  befindet  und  die  Aufgabe 
-hat,  Nahrung  herbeizu wirbeln.  Die  Bewegung  der  ein- 
zelnen Wimpern  ist  derartig  stark,  daß  ein  beständiger 
Wasserstrom  dadurch  unterhalten  wird,  welcher  einzellige 
Algen  sowie  kleinere  Infusorien  mit  sich  fortreißt  und  in 
den  Schlund  des  betreffenden  Rotatoriums  hinabfbhrt. 
Blickt  man  von  oben  her  auf  das  in  voller  Thätigkeit 
befindliche  Organ,  so  macht  dasselbe  den  Eindruck  eines 
sich  rasch  drehenden  Rades,  und  hieraus  erklärt  sich  die 
sonst  wenig  verständliche  Bezeichnung  „Rädertiere*'  für 
die  ganze  Gruppe. 

Die  Strudelwürmer  (oder  Turbellarien)  sind  nicht 
minder  interessante,  aber  noch  weit  weniger  populäre 
Mitglieder  der  Teich-  und  Seeenfauna  als  die  Rotatorien. 
Ihren  Namen,  der  für  den  Uneingeweihten  etwas  befremd- 
lich klingt,  haben  diese  Tiere  von  der  strudelnden  Be- 
wegung erhalten,  welche  sie  bei  ihrem  Dahingleiten  im 
Wasser   mittelst   zahlloser   feiner  Hautfortsätze   erregen. 

*)  Sehr  empfehlenswert  ist  auch  der  von  Professor  Fr.  Eilh. 
Schulze  (Berlin)  konstruierte  , Schlammsauger*,  der  vom  Prä- 
parator des  zoologischen  Universitätsinstituts  in  Berlin  zum  Preise 
von  4  Mark  geliefert  wird. 


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Letztere  sind  jedoch  so  fein,  daß  sie  nur  mit  dem  Mikro- 
skop wahrgenommen  werden  können.  Ihrem  Aussehen 
nach  besitzen  die  Strudelwürmer  die  größte  Äehnlichkeit 
mit  winzigen  Nacktschnecken;  ihrer  Organisation  nach  sind 
sie  aber  von  diesen  grundverschieden.  Das  Hauptwerk 
über  Strudelwürmer  ist  Ludw.  v.  Graffs  „Monographie 
der  rhabdocölen  Turbellarien",  Leipzig  1882. 

Wie  diese  und  die  übrigen  oben  aufgeführten  Wasser- 
bewohner abgetötet  und  zu  wissenschaftlichen  Zwecken 
dauernd  konserviert  werden  können,  darüber  sollen  am 
Schlüsse  dieses  Kapitels  einige  Mitteilungen  erfolgen. 

Wir  wollen  jetzt  weiter  in  unserer  Betrachtung  der 
Seefauna  fortfahren  und  einen  Blick  auf  didenigen  ani- 
malischen Wesen  werfen,  welche  das  freie  Wasser  oder 
die  sog.  pelagische  Regioti- großer  Binnenseeen  be- 
wohnen. 

Fahren  wir  mit  dem  Boote  immer  weiter  vom  Ufer 
weg  nach  der  Seemitte  zu,  so  wird  der  Pflanzenwuchs 
auf  dem  Grunde  immer  spärlicher  und  alsbald  hört  er 
ganz  auf,  weü  die  Hauptbedingung  dafllr  —  das  Licht  -^ 
in  den  tieferen  Wasserschichten  nicht  mehr  vorhanden  ist. 
Dagegen  macht  sich  in  der  pelagischen  Region  der  meisten 
Seeen  eine  üppige  Algenvegetation  geltend,  welche  in  den 
heißen  Monaten  in  Form  einer  sog.  „Wasserblüte*  auf- 
tritt und  aus  Milliarden  von  grünen  Flocken  besteht.  In 
den  norddeutschen  Seeen  war  es  Clathrocystis  aeruginosa 
Henfr.,  welche  das  Wasser  oft  so  intensiv  spangrün  filrbte, 
daß  man  glauben  konnte,  es  sei  durch  ein  chemisches 
Ingredienz  verunreinigt  worden.  Bei  einem  flüchtigen 
Blicke  auf  den  weiten,  in  der  Sonne  glitzernden  Wasser- 
spiegel eines  solchen  Sees  scheint  es  so,  als  könne  der- 
selbe gar  kein  tierisches  Leben  irgend  welcher  Art  be- 
herbergen. Ein  Glas  Wasser,  welches  wir  an  der  Ober- 
fläche schöpfen,  zeigt  auch  bei  Besichtigung  mit  der  Lupe 
nichts  weiter  als  grüne  Algenflocken. 

Aber  auf  eine  so  wenig  gründliche  Untersuchung 
verlassen  wir  uns  nicht.  Wir  greifen  zum  „Schweb- 
netz", d.h.  zu  einer  Vorrichtung,  welche  einen  riesigen 
Beutel  von  Seidengaze  darstellt,  dessen  Eingang  von  einem 


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314  Otto  Zacharias, 

eisernen  Binge  gebildet  wird,  der  mindestens  70 — 80  cm 
Durchmesser  hat.  An  diesem  starken  Binge  ist  der  Beutel 
befestigt.  Dieses  Netz  wird  mittelst  dreier  Schnüre, 
welche  sich  in  einem  Knoten  vereinigen,  an  einer  länge- 
ren Leine  so  befestigt,  daß  es  —  hinreichend  beschwert  — 
bei  der  Bewegung  des  Bootes  sich  etwa  4 — 5  m  unter 
dem  Wasserspiegel  hält.  Durch  ein  Gewicht,  welches 
man  in  unmittelbarer  Nähe  des  Netzes  an  der  Leine  be- 
festigt, kann  man  den  Tiefgang  des  ersteren  leicht  regu- 
lieren. Ist  nun  ein  derartiges  Schwebnetz  am  hinteren 
Teile  des  Bootes  angebracht,  so  setzen  wir  unsere  Fahrt 
durch  die  pelagische  Begion  fort,  und  erst  kurz  bevor 
wir  in  die  Litoralzone  des  jenseitigen  Ufers  gelangen, 
legen  wir  die  Buder  ein  und  ziehen  den  Beutel  an  seinen 
Schnüren  aus  dem  Wasser.  Auf  dem  Grunde  desselben 
werden  wir  jetzt  einen  rötlichen  Brei  vorfinden,  den  wir 
sofort  mit  einem  Spatel  oder  Löffel  in  besondere  (mit 
Wasser  gefüllte)  Gläser  bringen.  Eine  Portion  davon  ver- 
senken wir  alsbald  auch  in  eine  Mischung  von  50  ^joigem 
Alkohol  und  Gljcerin,  um  konserviertes  Material  zur  Hand 
zu  haben,  welches  bei  vergleichenden  Studien  nicht  ent- 
behrt werden  kann. 

Nunmehr  thun  wir  einen  Blick  in  die  Gläser,  worin 
das  frische  Material  sich  befindet.  Wer  die  Fülle  von 
Leben,  die  hier  durcheinander  wimmelt,  zum  erstenmal 
sieht,  muis  erstaunen.  Das  schießt,  springt  und  fliegt 
hin  und  her,  daß  es  einem  fast  schwindlig  beim  Hinsehen 
wird.  Es  sind  Legionen  von  kleinen  Wesen,  die  sich  in 
unseren  Gläsern  herumtummeln  und  aus  dem  engen  Be- 
zirke gern  entfliehen  möchten.  Betrachten  wir  einzelne 
dieser  „Hüpferlinge**  und  „Wasserflöhe**  (wie  sie  im  VoHcs- 
munde  heißen)  genauer,  so  machen  wir  die  Wahrnehmung, 
daß  wir  ganz  andere  Gestalten  vor  uns  haben  als  wir  sie 
in  der  Uferzone  antrafen.  Und  in  der  That  handelt  es 
sich  hier  um  eine  Gesellschaft  von  Tieren  ganz  besonde- 
rer Art,  die  lediglich  im  freien  Wasser  großer  Seeen  ge- 
funden wird  und  daher  pelagische  Fauna  heißt.  £s 
sind  zum  größten  Teil  niedere  Erebschen,  die  wir  vor 
uns  haben,  aber  solche,  die  in  ganz  wunderbarer  Weise 


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dem  krystallklaren .  Elemente,  worin  sie  ihre  Lebens- 
bedingungen finden,  angepa&t  sind.  Alle  diese  beständig 
schwimmenden,  niemals  rastenden  Geschöpfe  zeichnen  sich 
durch  eine  ungemein  stark  entwickelte  Muskulatur  vor 
den  litoralen  Formen  aus.  Relativ  dicke  und  sehr  breite 
Muskelstränge  stehen  mit  ihren  Ruderarmeu  in  Verbin- 
dung und  ermöglichen  den  Tierchen  einen  ungemein 
raschen  Ortswechsel.  Insbesondere  ist  es  Diaptomus  gra- 
cialis,  ein  Hüpferling  von  sehr  schlankem  Körperbau,  der 
sich  durch  seine  blitzschnellen  Bewegungen  auffällig  macht. 
Man  denke  sich  einen  Menschen,  welcher  durch  den  ein- 
maligen Vorstoß  der  beiden  Arme  um  das  Zehnfache  seiner 
ganzen  Körperlänge  im  Wasser  fortgeschnellt  würde,  und 
man  hat  einen  Vergleich  zu  der  Art  und  Weise,  wie  jener 
Diaptomus  und  seine  nächsten  Verwandten  (die  Cyclopiden) 
in  unseren  Seeen  und  Teichen  hin  und  her  schießen. 

Auf  ein  ganz  besonders  interessantes  Krebschen, 
welches  nur  selten  in  einem  größeren  Wasserbecken  fehlt, 
möchte  ich  die  .Aufmerksamkeit  der  Leser  speziell  hin- 
lenken. Es  ist  der  große  Armkrebs  (Leptodora  hyalina) ; 
derselbe  besitzt  eine  so  hochgradige  Durchsichtigkeit,  daß 
man  ihn  im  Wasser  nur  an  dem  großen  schwarzen  Augen- 
punkte entdecken  kann,  obgleich  seine  Körperlänge  einen 
Zentimeter  beträgt.  Hat  man  eine  Anzahl  von  Exem- 
plaren dieses  Krusters  in  einem  Glasbehälter  und  hält 
diesen  gegen  das  Licht,  so  sieht  man  nur  hüpfende 
schwarze  Pünktchen  und  geisterhafte  Bewegungen  im 
Wasser.  Nur  mit  äußerster  Anstrengung  des  Auges  ver- 
mag man  die  großen  Buderorgane  der  Tierchen  und  die 
zarten  Umrisse  ihres  Leibes  zu  erkennen. 

Außer  den  beiden  genannten  Arten  kommen  noch 
mehrere  andere  Kruster  in  der  pelagischen  Region  vor; 
ich  will  jedoch  nur  die  am  häufigsten  vorfindlichen  Arten 
anführen.  Es  sind  dies  neben  Leptodora  hyalina  und 
Diaptomus  gracilis  die  folgenden:  Ddphnella  brachyuia 
(der  kurzschwänzige  Glaskrebs),  Daphnia  pellucida  (der 
durchsichtige  Wasserfloh),  verschiedene  Bosminiden  oder 
Rüsselkrebse  und  noch  eine  Anzahl  Arten  von  Hüpfer- 
lingen (Cyclopiden). 


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316  Otto  Zacharias, 

Inmitten  der  schwärmenden  Scharen  dieser  Krebs- 
tiere treten  nun  aber  auch  ganz  konstant  noch  einige 
Arten  von  pelagisch  lebenden  Rädertieren  auf.  Diese 
Thatsache  wurde  1883  zuerst  von  dem  schweizerischen 
Naturforscher  B.  0.  Imhof  entdeckt,  und  ich  habe  die- 
selbe für  die  norddeutschen  Seeen  durchweg  bestätigen 
können.  Die  am  häufigsten  wiederkehrenden  Arten  sind: 
'Asplanchna  helvetica  Imhof,  Anuraea  longispina  Kellicott, 
Anuraea  cochlearis  Gk)sse  und  Conochilus  volvox  Ehren- 
berg. 

Die  in  den  Schweizer  Seeen  ungemein  zahLreich  vor^ 
handene  Asplanchna,  ein  Rotatorium  von  der  Form  einer 
bauchigen  Flasche  und  auch  so  durchsichtig  wie  eine 
solche,  bevölkert  in  ganz  staunenswert  großer  Menge  auch 
den  landschaftlich  so  schön  gelegenen  Ukeleisee  in  Ost- 
holstein und  noch  viele  andere  holsteinische,  mecklen- 
burgische, pommersche  und  westpreußische  Seeen.  Dazu 
kommen  noch  auf  der  allemiedrigsten  Stufe  der  Fauna 
-stehende  Wesen,  sog.  Protozoen  oder  Urtiere,  welche 
den  bereits  aufgezählten  verhältnismäßig  höheren  animali- 
schen Wesen  zur  Nahrung  dienen.  Und  unter  diesen  sind 
es  wieder  gewisse  gepanzerte  Geißelinfusorien  (Cilioflagel- 
laten),  die  mit  ihrer  Gegenwart  die  pelagische  Region 
ganz  ausschließlich  bevorzugen.  In  der  Uferzone  findet 
man  diese  Protozoen  niemals. 

So  bietet  also  die  pelagische  Tierwelt  unserer  ein- 
heimischen Seeen  eine  ziemlich  bunt  zusammengewürfelte 
Gesellschaft  von  Tieren  dar,  welche  aber  allesamt  in  dem 
einen  Punkt  übereinstimmen,  daß  sie  in  vorzüglicher 
Weise  dem  Aufenthalte  im  freien  uferlosen  und  pflanzen- 
leeren Wasser  „angepaßt^  sind.  Letzteres  gilt,  wie  wir 
sahen,  nicht  bloß  in  betreff  der  stärkeren  Ausbildung  des 
Muskels jstems,  sondern  auch  bezüglich  der  Form  und 
Färbung  des  gesamten  Körpers.  Die  meisten  pelagischen 
Tiere  sind  von  glasartiger  Durchsichtigkeit,  und  es  ist 
dies  ein  spezieller  Fall  der  eigentümlichen  Erscheinung, 
welche  wir  schützende  Aehnlichkeit  nennen.  Wir  müssen 
uns  dieselbe  durch  natürliche  Auslese  erworben  denken. 
„Offenbar  —  so  argumentiert  Hackel  —  ist  allen  Glas- 


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tieren  in  dem  unaufhörlichen  Kampfe,  den  sie  miteinan- 
der fuhren,  die  wasserähnliche  Eörperbeschaffenheit  von 
äußerstem  Nutzen,  Die  Verfolger  können  sich  ihrer  Beute 
unvermerkt  nähern,  die  Verfolgten  können  sich  den  erste- 
ren  leichter  entziehen  als  wenn  beide  gefärbt  und  un- 
durchsichtig, also  im  hellen  Wasser  leicht  sichtbar  wären. 
Nehmen  wir  nun  an,  daß  von  diesen  Glastieren  ursprüng- 
lich zahlreiche  verschiedene  Varietäten  (verschieden  haupt- 
sächlich in  dem  Grade  der  Durchsichtigkeit  und  dem 
Mangel  der  Farbe)  nebeneinander  existiert  hätten,  so 
würden  sicherlich  die  am  meisten  durchsichtigen  und  farb- 
losen Individuen  im  Kampfe  ums  Dasein  das  üebergewicht 
über  die  anderen  errungen  haben,  und  indem  sie  Gene- 
rationen hindurch  diese  individuelle  vorteilhafte  Eigen- 
tümlichkeit befestigten  und  verstärkten,  schließlich  not- 
wendig zur  Ausbildung  der  vollkommenen  glasartigen 
Beschaffenheit  gelangt  sein**  ^). 

Eine  treffliche  populäre  Charakteristik  der  pelagischen 
Fauna  unserer  Binnenseeen  giebt  Professor  Ludwig 
V.  Graff  in  einem  gemeinverständlichen  Vortrage  *),  der 
darüber  folgendes  enthält:  „Wie  wenige  von  den  vielen 
tausend  Menschen,  die  alljährlich  mit  dem  Gefühl  heimi- 
scher Vertrautheit  sich  auf  dem  blauen  Wasser  unserer 
Alpenseeen  schaukeln,  mögen  ahnen,  daß  auch  hier,  in- 
mitten der  krystallenen  Flut,  ein  lebhaftes  Tierleben  my- 
riadenfach  pulsiert!  Aber  der  Gleichförmigkeit  der  Lebens- 
bediiigm^en  entspricht  auch  die  Zusammensetzung  der 
pelagischen  Fauna.  Neben  Rädertieren  und  Vertretern 
des  kleinsten  Lebens  (Infusorien,  Flagellaten),  die  teils 
zwischen  den  ungezählten  Mengen  mikroskopischer  Algen 
sich  tummeln,  teUs  auf  ihnen  schwankenden  Halt  finden, 
sind  es  nur  wenige  Arten  kleiner  Krebschen  von  eini- 
gen Millimetern  bis  2  cm  Länge,  die  in  ungeheuren 
Massen  die  hohe  See  bewohnen.  Sonderbare  Gesellen 
mit  mächtigen  Buderarmen  und  langen  (als  Balancier- 
stange   dienenden)    Leibesfortsätzen    sind    sie    verurteilt 


»)  E.  Häckel,  Generelle  Morphologie.    1866,  2.  Bd.,  S.  243. 
«)  V.  Graff,  Die  Fauna  der  Alpenseeen.     1887,  S.  12. 


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318  Otto  Zacharias, 

ohne  Rast  und  Ruh  zeitlebens  zu  schwimmen  und  zu 
schweben  in  ihrem  flüssigen  Elemente,  dessen  spezifisches 
Gewicht  freilich  nur  wenig  geringer  ist  als  das  ihres 
Leibes.  Wer  diese  Tierchen  zum  erstenmal  in  einem 
Glase  Wasser  vor  sich  hat,  wird  sie  vergebens  suchen 
und  wären  sie  selbst  zu  Hunderten  darin,  und  erst  bei 
genauestem  Zusehen  kann  das  dunkle  Augenpigment  oder 
etwa  gefärbter  Darminhalt  an  ihnen  zum  Verräter  werden. 
Die  Durchsichtigkeit  der  Leibessubstanz  ist  uns  längst 
bekannt  von  den  pelagischen  Tieren  des  Meeres.  Hier 
wie  dort  war  diese  Anpassung  an  die  Beschaffenheit  des 
Wassers  ein  Mittel,  die  zarten  Geschöpfe  vor  Ausrottung 
zu  bewahren,  indem  sie  dieselben  den  Augen  ihrer  Ver- 
folger (namentlich  der  Fische)  entziehen  hilft.  Da  die 
Zartheit  ihres  Leibes  dem  Wellenschlage  nicht  wider- 
stehen würde,  so  treibt  schon  die  geringste  Kräuselung 
der  Oberfläche,  der  leiseste  Windhauch  unsere  durch- 
sichtigen Erebschen  in  jene  Tiefen,  wo  die  Bewegungen 
der  Wasserfläche  nicht  mehr  wahrgenommen  werden.*' 

Die  Empfindlichkeit  der  pelagischen  Fauna  gegen 
Wind  und  Wellenschlag  ist  in  der  That  so  groß,  daß 
man  nur  bei  völlig  ruhigem  Wetter  Aussicht  hat,  ein 
befriedigendes  Fangergebnis  zu  erzielen.  Besonders  sen- 
sibel ist  Leptodora  hyalina;  Exemplare  davon  bei  hefti- 
gerem Winde  zu  erlangen,  ist  vollkommen  hoffiiungslos. 

Diejenigen  Krebschen,  welche  in  unseren  einheimi- 
schen Binnenseeen  zu  den  Bewohnern  der  pelagischen 
Region  gehören,  habe  ich  in  der  schon  zitierten  Abhand- 
lung (Zeitschr.  f.  wiss.  ZooL,  45.  Bd.,  S.  258—259)  auf- 
gezählt. In  den  von  mir  unlängst  (Sommer  1887)  unter- 
suchten mansfeldischen  Seeen  —  den  größten  Mittel- 
deutschlands —  sind  es  nur  folgende  wenigen  Arten, 
deren  Vorkommen  ich  außerhalb  der  Uferzone  konsta- 
tierte: Diaptomus  laticeps  Sars,  Daphnella  brachyura  Li^v., 
Daphnia  longispina  Leydig  und  verschiedene  Cyclopiden. 
Exemplare  von  Leptodora  fanden  sich  niemals  im  Netz- 
inhalte vor. 

Wohnt  jemand  in  unmittelbarer  Nähe  eines  großen 
Sees  —  z.  B.  in  Plön,   in  Schwerin   oder  in  Waren  am 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     319 

Müritzsee  —  so  hat  er  die  allerbeste  Gelegenheit,  durch 
Sammeln  yon  Erustaceenmaterial  (in  den  verschiedenen 
Jahreszeiten)  unser  heimatskundliches  Wissen  in  betreff 
dieser  Tiergruppe  zu  erweitem.  Es  würde  dann  längst 
bekannt  geworden  sein,  daß  unsere  norddeutschen  Seeen 
in  ihrer  Erebsfauna  eine  große  Aehnlichkeit  mit  denen 
Südschwedens  besitzen,  wodurch  der  Gedanke  an  die  Mög-* 
lichkeit  eines  unmittelbaren  Zusammenhanges  beider  Seeen- 
gebiete während  der  Eiszeit  sehr  an  Wahrscheinlich- 
keit gewinnt.  Ich  habe  auf  Grund  von  zoologischen 
Befunden  auf  diese  interessante  Thatsache  zuerst  hin- 
gewiesen ^). 

Zur  Konservierung  der  kleinen  Kruster  für  ver- 
gleichende faunistische  Untersuchungen  kann  die  Auf- 
bewahrung derselben  in  einer  Mischung,  welche  aus  einem 
(Volum-)  Teil  destilliertem  Wasser,  einem  Teil  Glycerin 
und  einem  Teil  starken  Alkohol  besteht,  empfohlen  wer- 
den. Das  aus  der  Uferzone  entnommene  Material  muß 
stets  von  dem,  welches  der  pelagischen  Region  entstammt, 
getrennt  gehalten  werden.  Man  bedient  sich  zum  Auf- 
bewahren der  bezüglichen  Fangergebnisse  mäßig  großer 
Gläser  mit  eingeriebenem  Stöpsel,  welche  genau  etiket- 
tiert sind,  so  daß  man  zu  jeder  Zeit  feststellen  kann,  aus 
welchem  See  die  Kruster  gefischt  wurden  und  in  welchem 
Monat  die  Exkursion  stattfand.  Sogar  eine  Bemerkung 
darüber,  ob  das  Wetter  trübe  oder  sonnig  war,  dürfte 
von  Nutzen  sein.  Materialsamralungen  von  dieser  Art 
haben  wissenschaftlichen  Wert,  und  jeder  Fachmann  (Zoo- 
log) kann  dieselben  für  seine  privaten  oder  Institutszwecke 
gelegentlich  verwenden. 

Handelt  es  sich  darum,  die  eingesammelten  Krebs- 
tiere für  die  nachfolgende  mikroskopisch- anatomische 
Untersuchung  zu  konservieren,  so  ist  kein  Verfahren  für 
diesen  Zweck  geeigneter  als  dieselben  in  eine  V*  ^lo^S^ 
(wässerige)  Lösung  von  Ueberosmiumsäure  zu  bringen  und 
so  lange  darin  zu  lassen,  bis  sich  eine  leichte  Bräunung 


^)  0.  Zacharias,  Faunistische  Studien  in  westpreußischen 
Seeen.     Schrift  d.  naturf.  Gesellschaft  in  Danzig.    6.  Bd.,  1887. 


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320  Otto  Zacharias, 

der  einzelnen  Objekte  bemerklich  macht.  Das  wird  nach 
einigen  Minuten  der  Fall  sein.  Tritt  diese  Reaktion  ein, 
so  nimmt  man  (mittelst  einer  Taubenfeder)  die  Krebschen 
rasch  heraus  und  überträgt  sie  in  Alkohol  von  70  ®o, 
worin  sie  10—12  Stunden  verbleiben.  Die  dauernde  Auf- 
bewahrung erfolgt  in  90^/oigem  Alkohol.  An  Krustem, 
welche  auf  diese  Art  konserviert  sind,  kann  man  noch 
nach  Jahren  mikroskopische  Untersuchungen  in  betreff 
der  feinsten  Strukturverhältnisse  vornehmen. 

Es  erübrigt  mir  nun  noch,  die  faunistischen  Verhält- 
nisse der  Tiefenregion  zu  erörtern.  Professor  F.  A. 
Forel  in  Lausanne,  dem  wir  in  erster  Linie  die  Er- 
forschung der  auf  dem  Boden  der  großen  Seeen  lebenden 
Tierwelt  zu  verdanken  haben,  läßt  diese  Region  in  einer 
Tiefe  von  15  m  beginnen  und  selbstverständlich  bis  zur 
Maximaltiefe  des  betreffenden  Sees  sich  erstrecken.  Eine 
Charakteristik  der  physikalischen  Verhältnisse,  welche  in 
den  imtersten  Wasserschichten  herrschen,  läßt  sich  in 
ganz  kurzen  Worten  geben:  starker  Druck,  welcher  mit 
je  10  m  um  eine  Atmosphäre  zunimmt;  vollkommene, 
Ruhe;  sehr  niedrige,  aber  beständige  Temperatur;  von 
100  m  an  herrscht  jahraus  jahrein  eine  unveränderliche 
Temperatur  von  5,9  °  +  0,5  ®  C. ;  die  Beleuchtung  ist  gleich 
Null;  die  chemische  Wirkung  der  Sonne  hört  mit  einer 
Tiefe  von  45  m  im  Sommer,  in  einer  solchen  von  100  m 
im  Winter  auf;  über  die  ganze  Bodenfläche  der  Tiefe 
breitet  sich  ein  dünner  und  weicher  Schlamm  aus,  der 
alle  harten  Gegenstände  allmählich  einhüllt  und  in  seinem 
Schöße  begräbt.  Pflanzliches  Leben  ist  selbstverständlich 
so  gut  wie  nicht  mehr  vorhanden.  Von  20  m  an  findet 
man  keine  grünen  Algen  mehr.  Diatomeen  kommen  je- 
doch noch  in  den  größeren  Tiefen  vor.  Bei  dieser  Ar- 
mut an  vegetabilischer  Nahrung  erscheint  es  beinahe 
wunderbar,  wenn  wir  sehen,  daß  die  Tiefenfauna  ziemlich 
reich  an  Arten  ist,  von  denen  fast  jede  durch  zahlreiche 
Individuen  vertreten  wird.  Alle  Typen  und  die  meisten 
Klassen  der  Süßwassertiere  sind  darunter  vertreten:  Fische 
(von  denen  freilich  kein  einziger  der  Tiefenregion  aus- 
schließlich  angehört),   Insektenlarven,    Arachniden, 


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INIVERtlTY 


Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     321 

Krustaceen,  Schnecken,  Muscheln,  Würmer,  Arm- 
polypen und  Urtiere*). 

Die  Repräsentanten  der  Tiefenfauna  sind  im  allge- 
meinen klein,  schwach  und  besitzen  wenig  ausgebildete 
Bewegungswerkzeuge.  Als  schlechte  Schwimmer  können 
sie  sich  nicht  weit  über  den  Schlamm  erheben,  und  mit 
der  absoluten  Ruhe  des  Wassers  steht  der  Mangel  an 
Haftapparaten  im  Einklänge.  Die  Fähigkeit  sich  festzu- 
setzen haben  die  meisten  vollständig  eingebüßt.  Die 
Schlammschnecken,  welche  sonst  ihre  Eier  an  Pflanzen- 
teilen festkleben,  setzen  dieselben  einfach  in  den  Detritus 
ab  und  überlassen  sie  ihrem  Schicksale.  Auch  die  Moos- 
tiere sind  nicht  auf  einer  Unterlage  fixiert,  sondern  stecken 
—  ebenso  wie  die  Armpolypen  —  lose  im  Schlamme. 
Manche  Bewohner  der  Tiefe  sind  gänzlich  farblos  oder 
ihre  Pigmentierung  ist  schwach  entwickelt.  So  hat  der 
sonst  lebhaft  grün  oder  braun  gefärbte  Süßwasserpolyp 
(Hydra)  als  Bürger  der  Tiefenregion  ein  matt  rosarotes 
Kolorit.  Desgleichen  zeigt  sich  bei  vielen  Tieren  eine 
Tendenz  zur  Reduktion  der  Sehorgane,  z.  B.  bei  dem 
Krebschen  Niphargus  puteanus,  var.  Porelii.  Durch  meine 
eigenen  Untersuchungen  in  den  mansfeldischen  Seeen 
(zwischen  Halle  und  Eisleben)  habe  ich  festgestellt,  daß 
bei  solchen  Exemplaren  von  Microstbma  lineare  (einem 
Strudelwurm),  welche  ich  aus  einer  Tiefe  von  12  m  herauf- 
holte, nur  noch  ganz  schwache  Spuren  der  rostroten 
Augenflecken  vorhanden  waren.  Es  scheint  somit,  daß 
bei  niederen  Tieren  schon  ein  minderer  Ghrad  von  Hellig- 
keit hinreicht,  um  eine  Verkümmerung  der  Sehorgane  zu 
erzeugen. 

Um  Vertreter  der  Tiefenfauna  zu  erbeuten,  dazu  be- 
dient man  sich  eines  sog.  Schleppnetzes,  welches  ein 
Pangapparat  von  sehr  einfacher  Konstruktion  ist.  Der- 
selbe besteht  aus  einem  dreieckig  gestalteten  Bügel  von 
Eisen,   welcher   mäßig  zugeschärfte  Kanten  besitzt.     An 


')  Vergl.  den  schönen  Essay  sur  la  faune  profonde  des  Laos 
de  la  Suisse  von  Prof.  Du  Plessis-Gouret.     1885. 

Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Volksforschung.  21 


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322  Otto  Zacharias, 

diesem  Bügel  wird  ein  durchlässiger  Sack  (aus  Segellein- 
wand) befestigt,  dessen  Bestimmung  ist,  Schlamm  und 
Schlick  aufzunehmen,  während  der  ganze  Apparat  lang- 
sam an  einer  langen  Leine  über  den  Grund  gezogen  wird. 
Natürlich  erhält  man  die  winzigen  Tierchen  auf  diese 
Weise  nicht  rein,  sondern  in  einer  Umhüllung  von  Sand 
und  Schlamm.  Zur  Beseitigung  derselben  ist  es  erforder- 
lich, daß  man  den  Inhalt  des  Schleppnetzes  durch  einen 
feinen  Musselinbeutel  filtriert.  Erst  dann  ist  es  mögUch 
sich  über  das  Fangergebnis  zu  orientieren. 

Anstatt  des  Schleppnetzes  kann  man  auch  ein  mäfiig 
großes  Blechgefäß  von  ovalem  Querschnitt  verwenden, 
welches  mit  einem  beweglichen  Henkel  versehen  ist,  wie 
man  ihn  an  den  Wassereimem  hat.  Eine  derartige  Vor- 
richtung erweist  sich  für  mäßig  große  Seeen  sogar  noch 
zweckmäßiger  als  das  eigentliche  Schleppnetz,  weil  der 
Blechschöpfer  bequemer  zu  handhaben  ist  als  der  um- 
fangreiche Netzsack.  Man  kann  ersteren  häufiger  empor- 
ziehen und  ausleeren  als  das  oft  zentnerschwere,  mit 
Schlamm  beladene  Schleppnetz,  dessen  Anwendung  einer 
einzelnen  Person  überhaupt  nicht  möglich  ist. 

Um  das  Material  aus  der  Tiefenregion  möglichst  aus- 
zunutzen, ist  es  geraten,  den  emporgeförderten  Schlamm 
portionsweise  in  flache  Schüsseln  zu  thun  und  einige  Tage 
lang  ruhig  stehen  zu  lassen.  Natürlich  muß  man  ihn 
vorher  mit  Wasser  aus  dem  nämlichen  See  verdünnen. 
Auf  diese  Weise  ist  es  möglich  gewisse  Tiere  (Würmer 
z.  B.)  mit  größerer  Leichtigkeit  zu  erbeuten,  denn  indem 
dieselben  den  ungewohnten  Verhältnissen  schwächeren 
Druckes  und  höherer  Temperatur  sich  zu  entziehen  ver- 
suchen, kriechen  sie  aus  dem  Schlamm  hervor  und  kön- 
nen so  mit  einem  Spatel  oder  Löffel  leicht  weggefangen 
werden. 

Im  Anschluß  an  die  vorstehenden  Winke  darüber, 
wie  man  sich  der  Tiefenfauna  zu  bemächtigen  hat,  dürfte 
eine  kurze  Aufklärung  über  die  Art,  wie  diese  Tierwelt 
ernährt  wird,  nicht  unerwünscht  sein.  Es  wurde  bereits 
mitgeteilt,  daß  in  den  größeren  Tiefen  kein  Pflanzenleben 
mehr  vorhanden  ist.    Demnach  kann  die  Nahrungsquelle 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     323 

für  die  Tiefenbewohner  nur  in  der  litoralen  und  pelagi- 
schen  Region  fließen.     Und  dies  ist  wirklich  der  Fall. 

Luft-  und  Wasserströmungen  treiben  vom  Ufer  her 
abgerissene  Pflanzenteile,  Abfälle  des  menschlichen  Haus- 
halts, abgestorbene  kleine  Tiere  u.  dergl.  auf  die  Höhe 
des  Sees  hinaus,  und  hier  saugen  sich  dieselben  voll 
Wasser  bis  sie  untersinken.  Die  auf  solche  Weise  dem 
Grunde  zugeführten  Trümmer  organischen  Lebens  bilden 
den  einen  Teil  der  Nahrung  ftlr  die  Tiefenbe^wohner. 
Ein  anderer  Teil  entstammt  der  pelagischen  Region,  in- 
sofern aus  den  oberflächlichen  Wasserschichten  ein  förm- 
licher Re^en  von  winzigen  Leichen  beständig  in  die 
Tiefe  hinabrieselt,  welcher  aus  verendeten  Krebschen, 
Würmern  und  Protozoen  besteht.  Die  Tafel  ist  also  für 
die  Tiefenfauna  ziemlich  reich  gedeckt,  und  es  erklärt 
sich  hierdurch  die  ansehnliche  Individuenzahl  der  einzelnen 
Arten. 

Richten  wir  unser  Nachdenken  auf  den  mutmaßlichen 
Ursprung  der  Tiefenfauna,  so  gelangen  wir  zu  einigen 
recht  interessanten  Schlußfolgerungen.  Zunächst  steht 
fest,  daß  weder  eine  aktive  noch  eine  passive  Wande- 
rung (Uebertragung)  der  Tiefenbewohner  von  See  zu  See 
vorstellbar  ist.  Es  giebt  keine  unmittelbare  Verbindung 
zwischen  den  Tiefenregionen  zweier  verschiedener  Seeen. 
Wird  dies  zugestanden,  so  kann  die  den  Gh"und  bevöl- 
kernde Fauna  lediglich  durch  Einwanderung  aus  der  Ufer- 
zone entsprungen  sein.  Tiere,  welche  erhöhten  Wasser- 
druck, Lichtmangel  und  kühle  Temperatur  gleich  gut 
vertragen  konnten  wie  das  Gegenteil,  werden  gelegentlich 
tiefere  Wasserscliichten  aufgesucht  haben  und  sich  und 
ihre  Nachkommenschaft  den  veränderten  Umständen  an- 
gepaßt haben.  Diese  Anpassung  muß  aber  in  jedem  See 
getrennt  und  für  sich  stattgefunden  haben;  infolgedessen 
müssen  die  Tiere  der  Tiefenfauna  der  verschiedenen  Seeen, 
auch  wenn  sie  zu  der  nämlichen  Gattung  gehören,  immer 
als  besondere  Varietäten  und  Arten  beschrieben  werden  ^). 


')  A.  Forel,  Faunistische  Studien  in  den  Süßwasserseeen  der 
Schweiz.     Zeit«chr.  f.  wissensch.  Zoologie.    80.  Bd.  1878. 


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324  Otto  Zacharias, 

Diese  Erwägung  zieht  eine  Folgerung  nach  sich,  welche 
ein  allgemeines  zoologisches  Interesse  hat.  Denn  wenn 
z.  B.  Limnaea  abyssicola  und  Pisidium  Forelü  (die 
erstere  aus  L.  palustris,  die  andere  aus  P.  nitidum  ent- 
standen) in  mehreren  Alpenseeen  gefunden  werden  sollte, 
so  wäre  damit  zugleich  der  Nachweis  erbracht,  daß  die- 
selbe Art  an  zwei  oder  vielen  völlig  voneinander  ge- 
trennten Orten  entstehen  kann,  und  die  Streitfrage,  ob 
die  systematischen  Gruppen  monophyletischen  oder  poly- 
phyletischen  Ursprungs  sind,  ob  einmalige  oder  mehr- 
malige Entstehung  derselben  Art  mit  größerer  Wahr- 
scheinlichkeit anzunehmen  ist  —  wäre  damit  prinzipiell 
gelöst. 

Professor  v.  Graff  hat  in  seinem  Vortrage  über  die 
Alpenseeen^)  sehr  richtig  bemerkt,  daß  der  Hauptwert 
von  Tiefseestudien  darin  besteht,  daß  wir  gleichsam  in 
jedem  abgeschlossenen  See  ein  Versuchsaquarium  vor  uns 
haben,  in  welchem  ganz  unabhängig  von  der  Fauna  an- 
derer Seeen  die  Züchtung  einer  Tierart  aus  Uferformen 
vor  sich  geht,  und  die  Richtung,  in  welcher  die  Form- 
umwandlung erfolgt,  sich  mit  viel  größerer  Sicherheit 
auf  bekannte  Ursachen  zurückführen  läßt  als  dies  im 
Meere  möglich  ist.  Die  einzelnen  Meeresbecken  hängen 
untereinander  zusammen  und  bieten,  selbst  wenn  sie  durch 
submarine  Barrieren  getrennt  erscheinen,  immerhin  die 
Möglichkeit  der  Uebertragung  aus  einem  in  das  andere 
dar.  Dem  entsprechend  ist  ja  auch  die  Tiefseefauna  der 
Ozeane  so  außerordentlich  gleichförmig  und  bii^  in  der 
gleichen  Tiefe  stets  wieder  dieselben  typischen  Ver- 
treter. Hierzu  kommt  noch,  daß  die  Meeresfauna  bei 
der  zeitlichen  Kontinuität,  die  wir  zwischen  den  heutigen 
und  den  Organismen  der  Sekundär-  bez.  Tertiärzeit  an- 
nehmen müssen,  keinen  Anhaltspunkt  für  die  Beurteilung 
der  Zeiträume,  die  zur  Entstehung  neuer  Arten  erforder- 
lich gewesen  sind.  Dem  entgegen  ist  die  Fauna  unserer 
Alpen-  und  Diluvialseeen  eine  vergleichsweise  moderne, 
so   daß  wir  auch  der  Zeit  nach  den  Prozeß  der  Arten- 


>)  A.  a.  0.  S.  21. 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     325 

bildung  hier  besser  übersehen  können.  Aus  alledem 
ergiebt  sich,  daß  eine  fortgesetzte  und  gründliche  Er- 
forschung der  Tierwelt  unserer  großen  Binnenseeen  wirk- 
lich nutzbringend  für  die  Wissenschaft  ist,  nützlicher 
vielleicht  als  die  jetzt  mit  so  leidenschaftlichem  Eifer 
betriebene  Durchstöberung  der  Meeresfauna  nach  zoolo- 
gischen Novitäten,  deren  minutiöse  Beschreibungen  in 
ihrer  Zahllosigkeit  unübersehbar  zu  werden  beginnen. 
Dabei  soll  durchaus  nicht  verkannt  werden,  daß  der  Eifer, 
mit  dem  die  Zoologen  in  den  jüngstverflossenen  Dezen- 
nien meerwärts  gepilgert  sind,  ungerechtfertigt  gewesen 
sei.  Die  marine  Tierwelt  ist  zweifellos  reicher  an  Orga- 
nisationstypen  und  außerdem  noch  durch  den  Umstand 
ausgezeichnet,  daß  sich  in  ihrer  großen  Formenmannig- 
faltigkeit ein  Fortschritt  von  morphologisch  niedrig  stehen- 
den Gattungen  und  Arten  zu  solchen  von  höherer  Aus- 
bildung konstatieren  läßt;  Hierdurch  wurde  die  Meeres- 
fauna wichtig  für  die  Durchführung  des  transformistischen 
Gedankens,  und  die  eifrige  Hinwendung  zum  Studium 
derselben  erklärt  sich  befriedigend  aus  dem  gesamten 
Entwickelungsgange  der  modernen  Zoologie.  Es  giebt 
indessen  eine  große  Anzahl  von  Problemen  und  Fragen, 
welche  sich  nicht  unmittelbar  auf  Phylogenie  und  Trans- 
mutation beziehen,  die  aber  gleichfalls  ein  intensives 
wissenschaftliches  Interesse  darbieten  und  auf  die  Dauer 
nicht  unberücksichtigt  bleiben  können.  Dazu  gehören 
die  Emährungs-,  Fortpflanzungs-  und  Entwickelungs- 
verhältnisse  vieler  Vertreter  der  Süßwasserfauna,  die 
Einwirkung  der  chemischen  Konstitution  des  Wassers 
auf  die  Lebensfunktionen  niederer  Tiere,  Experimente 
über  Regeneration  amputierter  Körperteile,  Verhalten 
der  Wasserfauna  zu  Licht  und  Dunkelheit  u.  s.  f.  Ja  es 
ist  sogar  nicht  unwahrscheinlich,  daß  (worauf  schon  oben 
hingewiesen  wurde)  auch  das  Problem  der  Entstehung 
der  Arten  sich  besser  an  Vertretern  der  Süßwasserfauna 
seiner  Lösung  näher  führen  lassen  wird  als  an  Meeres- 
tieren. 

In  Erwägung  aller  dieser  Momente  habe  ich  mich 
veranlaßt  gefühlt,  in  einem  verbreiteten  fachwissenschaft-- 


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320  Otto  Zacharias, 

liehen  Organ  ^)  den  Vorschlag  zur  Gründung  von  zoo- 
logischen Stationen  behufs  wissenschaftlicher 
Beobachtung  der  Süßwasserfauna  zu  machen, 
und  ich  sehe  jetzt,  daß  dieser  Gedanke  allgemein  Anklang 
findet.  Ueber  den  Ort,  wo  eine  solche  Station  seßhaften 
Charakters  zu  errichten  wäre,  wird  man  sich  leicht  eini- 
gen können.  Es  wird  zunächst  gleichgültig  sein,  ob  man 
dazu  einen  der  großen  norddeutschen  Seeen  ausersieht, 
oder  ob  sich  —  wie  dies  nicht  unwahrscheinlich  ist  — 
die  Blicke  auf  den  durch  seine  Mächtigkeit  ausgezeich- 
neten Bodensee  lenken  werden.  Neben  einer  Zentral- 
station dieser  Art,  welche  auch  Fragen  der  Fischerei  und 
Fischzucht  wissenschaftlich  zu  bearbeiten  haben  würde, 
müssen  aber  noch  eine  Anzahl  kleiner  (und  lokomobiler) 
Stationen  ins  Leben  gerufen  werden,  um  ganze  Seeen- 
gebiete des  Inlandes  in  Bezug  auf  deren  Fauna  systema- 
tisch durchforschen  zu  können.  Ich  habe  das  ganze 
Projekt,  welches  wohl  in  absehbarer  Zeit  seiner  Ver- 
wirklichung entgegengehen  dürfte,  im  „Zoologischen  An- 
zeiger** eingehend  besprochen.  Hier  habe  ich  dasselbe 
nur  in  Erwähnung  gebracht,  weil  ich  die  Freunde  und 
Förderer  der  wissenschaftlichen  Landeskunde  von  Deutsch- 
land auf  eine  Gelegenheit  aufmerksam  machen  wollte, 
bei  der  sie  ihr  Interesse  für  das  Zustandekommen  eines 
auch  in  praktischer  Hinsicht  (nämlich  für  unsere  gesamte 
Fischerei-  und  Wasserwirtschaft)  wichtigen  Institutes, 
jeder  nach  seiner  Berufsstellung  und  seinem  Einflüsse  auf 
weitere  Kreise,  an  den  Tag  legen  können. 


Zum  Schluß  habe  ich  noch  zu  bemerken,  daß  sich 
die  im  Vorstehenden  gegebene  Anleitung  zur  Abfischung 
von  Seeen  ebensogut  auf  Flüsse  und  Ströme  bezieht; 
letztere  enthalten  gleichfalls  eine  Menge  von  niederen 
Tieren,   deren  Kenntnis   nicht  minder  erwünscht  ist  wie 


»)  Zool.  Anzeiger  Nr.  26,  1888. 


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Einsammeln  v.  zoolog.  Material  in  Flüssen  und  Seeen.     827 

diejenige  der  Tümpel,  Teiche  und  größeren  Wasserbecken 
unseres  Landes. 

In  einem  Beitrage  «Zur  Kenntnis  der  Mikro- 
fauna  unserer  einheimischen  Flußläufe*^  ')  habe 
ich  die  Ergebnisse  mitgeteilt,  welche  ich  bei  einer  im 
Sommer  (1887)  vorgenommenen  Untersuchung  erzielt 
habe. 

Zur  Eonservierung  des  erbeuteten  Materials  benutzt 
man,  wenn  es  sich  um  Kruster,  Rädertiere  und  Pro- 
tozoen handelt,  mit  bestem  Erfolg  die  schon  oben  er- 
wähnte  ^4  V^8®  Lösung  von  Osmiumsäure. 

Größere  Würmer  (Blutegel,  Planarien  etc.)  tötet 
man  mittelst  einer  heißen  (gesättigten)  Lösung  von  Queck- 
silberchlorid, in  welcher  die  Objekte  10 — 15  Minuten  ver- 
bleiben. Hierauf  werden  dieselben  mehrere  Stunden  lang 
ausgewässert  und  kommen  dann  in  70  ^,o igen  Alkohol  zur 
dauernden  Aufbewahrung. 

Kleine  Würmer  (Naiden,  Nematoden  u.  s.  w.)  kon- 
serviert man  am  besten  in  einer  V»  ^/oigen  Chromsäure- 
lösung. In  derselben  verbleiben  die  zarten  Tierchen  etwa 
10  Stunden.  Hiernach  werden  sie  in  schwachem  Alkohol 
aufbewahrt. 

Mikroskopisch  kleine  grüne  Algen  und  Diatomeen 
kann  man  längere  Zeit  in  destilliertem  Wasser  aufheben, 
welchem  einige  Tropfen  einer  l%igen  (wässerigen)  Lösung 
von  Osmiumsäure  zugesetzt  sind. 

Grüne  Fadenalgen  (Konfervaceen)  halten  sich  recht 
leidlich  einige  Zeit  in  einer  30  ^/oigen  Lösung  von  essig- 
saurem Kali  in  destilliertem  Wasser. 

Große  Objekte  (Fische,  Amphibien,  Wasserkäfer  und 
deren  Larven,  sowie  Schnecken  und  Muscheln)  konserviert 
man  am  bequemsten  und  besten  in  60 — 70^/oigem  Alko- 
hol. Am  schönsten  gelingt  die  Konservierung,  wenn  man 
die  auf  einen  Teller  gebrachten  lebenden  Objekte  mit 
heißem  Spiritus  (60  ®  C.)  übergießt.  Sie  sterben  dann  so 
gut  wie  augenblicklich  und  bewahren  dabei  oft  ihre  natür- 
liche Haltung  in  ganz  vorzüglicher  Weise. 

')  Biolog.  Zentralblatt  Nr.  24,  1888. 


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328  Otto  Zacharias. 

Mit  Benutzung  dieser  Winke  wird  es  auch  dem  Laien 
möglich  sein,  das  was  er  auf  Reisen  und  Exkursionen  an 
Tieren  (he^.  niederen  Pflanzen)  auffindet,  so  zu  konser- 
vieren, daß  ein  Fachmann  in  den  meisten  Fällen  später 
imstande  sein  wird,  die  eingesammelten  Objekte  zu  identi- 
fizieren und  zu  bestimmen.  Manches  Wertvolle  geht  leider 
unbenutzt  verloren,  weil  das  richtige  Konservierungsver- 
fahren auch  vielen  sonst  gut  unterrichteten  Naturfreunden 
nicht  immer  bekannt  zu  sein  pflegt. 


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Somatisch-anthropologische 
Beobachtungen. 

Von 

Dr.  Johannes  Ranke, 

0.  9.  Professor  der  Anthropologie  an  der  UniTersiiät  in  München. 


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L  Anthropologische  Besichtigangen. 

Die  moderne  Entwickelung  der  Anthropologie  hat 
dazu  geführt,  daß  das  Auge  der  Forscher  sich  mit  ge- 
steigertem Interesse  der  Untersuchung  der  vaterländischen 
Verhältnisse  zugewendet  hat.  Wählend  man  sich  noch 
vor  kaum  zwanzig  Jahren  als  das  Objekt  anthropologi- 
scher Studien  fast  ausschließlich  nur  Angehörige  der  sog. 
Naturvölker  denken  konnte,  ist  das  jetzt  ganz  anders 
geworden :  der  Schwerpunkt  der  Weiterentwickelung  un- 
serer Kenntnisse  vom  Menschen  liegt  heute  in  der  lokalen 
vaterländischen  Ethnographie.  Erst  wenn  wir  die  Schwan- 
kungsbreite der  körperlichen  Forrabildung  unter  unserem 
eigenen  Volke  mit  voller  Sicherheit  kennen  werden,  wer- 
den wir  den  Wert  der  körperlichen  Besonderheiten  eines 
fremden  Volkes,  eines  anderen  Stammes,  eines  fremden 
Individuums  richtig  zu  beurteilen  vermögen.  Wohl  mancher 
Anthropologe  hat  einen  Schädel  von  besonderer  Form  als 
ein  Unikum  beschrieben  und  vielleicht  größere  oder  geringere 
Tierähnlichkeiten  an  ihm  entdeckt,  der  dem  Kopfe,  den 
er  selbst  auf  den  Schultern  trägt,  zum  Verwechseln  und 
typisch  ähnlich  war.  Wie  lange  ist  es  überhaupt  her, 
seit  wir  exakt  wissen,  daß  typische  Unterschiede  in  der 
Gesamtkörperbildung  unseres  Volkes  existieren? 

Aber  nicht  allein  die  Vergleichung  mit  anderen 
Völkern  und  Rassen  läßt  die  somatisch-anthropologische 
Untersuchung  unseres  Volkes  wichtig  erscheinen.  Die 
somatisch-anthropologische  Forschung  im  Vaterlande  ist 
zu   einem  Hilfsmittel  der  historischen  Untersuchung  ge- 


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332  Jobaniies  Ranke, 

worden  und  wird  sich  mehr  und  mehr  als  solches  aus- 
bilden. Sie  wird  einst  für  die  Entwickelungsgeschichte 
der  Stammes-  und  Volksindividualität  da  eintreten,  wo 
geschriebene  Dokumente  fehlen.  Sie  ermöglicht  es  schon, 
aus  den  heutigen  körperlichen  Formen  die  ethnischen 
Elemente  zu  rekonstruieren,  welche  zur  Bildung  der 
modernen  Volks-  oder  Stammesindiyidualitäten  zusammen- 
getreten sind.  Darin  liegt  die  höchste  Aufgabe  der  vater- 
ländischen  somatischen  Anthropologie,  in  welche  sie  sich 
mit  der  archäologischen  vaterländischen  Ethnographie,  mit 
der  Ethnographie  der  deutschen  Stämme,  teilt. 

Hier  ist  noch  außerordentlich  yiel  zu  leisten,  und 
wenn  sich  die  Aufforderung,  praktisch  mit  Hand  anzu- 
legen, zunächst  naturgemäiä  an  die  Aerzte  wendet,  so 
kann  sich  heutigestags  doch  jeder  Gebildete  leicht  die 
notwendigen  Vorkenntnisse  erwerben,  welche  für  ein  selb- 
ständiges Eingreifen  erforderlich  sind^). 

Wir  wollen  sofort  an  einem  praktischen  Beispiel  die 
Art  der  Fragen  und  die  Methoden,  hier  Antworten  zu 
finden,  klarzulegen  suchen. 

1.  Die  Farbe  der  Haut,  der  Haare  und  der  Augen. 

Die  Ahnen  unseres  Volkes  traten  in  das  Licht  der 
Geschichte  ein  als  blondhaarige  Hünengestalten,  blau- 
äugig mit  weißglänzender  Haut.  Die  ihnen  im  Kampfe 
gegenüberstehenden  „ Römer **  erschienen  sich  selbst  im 
Vergleiche  mit  jenen  klein  und  von  brünetter  Komplexion. 

Wenn  wir  nun  heute  unter  unserem  Volke  Umschau 
halten,  so  fällt  uns  keineswegs  mehr  diese  historisch  be- 
zeugte altgermanische  Körperbeschaffenheit  als  die  allge- 


')  Vergl.  J.  Ranke,  Der  HenBch.  I.  Bd.:  Entwickelung,  Bau  n. 
Leben  des  menschlichen  Körpers,  mit  24  Aquarelltafeln  und  583  Ab- 
bildungen im  Text.  II.  Bd.:  Die  heutigen  und  yorgeschichtlichen 
Menschenrassen,  mit  6  Karten,  8  Aquarelltafeln  und  408  Abbildun- 
gen  im  Text.  Leipzig,  Bibliographisches  Institut  —  £.  Schmidt, 
Anthropologische  Methoden.  Anleitung  zum  Beobachten  und  Sam- 
meln fllr  Laboratorium  und  Reise.  Mit  zahlreichen  Abbildungen 
im  Text.    Leipzig  1888. 


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Anthropologische  Beobachtungen.  333 

mein  typische  auf.  Es  finden  sich  ja  noch  genug  solche 
ff  echte  Qermanen^,  d.  h.  „Blonde",  unter  uns,  aber 
neben  ihnen  steht  eine  große  Anzahl  von  ^Brünetten'', 
d.  h.  Individuen  mit  bräunlicher  Hautfarbe,  braunen  bis 
schwarzen  Haaren  und  braunen  bis  fast  schwarzen  Augen. 
Und  noch  beträchtlicher  ist  vielfach  die  Anzahl  jener, 
welche  weder  vollkommen  „ blond",  noch  vollkommen 
»brünett",  von  diesen  beiden  Haupttypen  Merkmale  an 
sich  tragen  und  sich  dadurch  als  Mischtypen  charakte- 
risieren. 

Da  lautet  nun  die  erste  somatisch-anthropologische 
Frage:  Wieviele  von  dem  altgermanisch  „ blonden  Typus" 
sind  unter  unserem  deutschen  Volke  noch  vorhanden? 
Wie  groß  ist  neben  dem  blonden  Typus  die  Anzahl  der 
dem  «brünetten  Typus"  und  den  «Mischtypen"  zuge- 
hörenden Personen?  Indem  wir  konstatieren,  wie  sich 
diese  ethnischen  Mischungsverhältnisse  gestaltet  haben,  ge- 
langen wir  für  einen  bestimmten  Ort,  für  eine  bestimmte 
Gegend,  für  ein  Land  und  schließlich  für  unser  ganzes 
deutsches  Vaterland  zu  einer  Vorstellung,  wie  weit  noch 
rein  germanisches  Blut  neben  allophylen  Zumischungen 
vorhanden  ist.  Die  Stammeszugehörigkeit  ist  für  die  letz- 
teren eine  verschiedene  je  nach  den  verschiedenen  Qauen 
des  Vaterlandes  und  den  vor  der  Einwanderung  der  Ger- 
manen dort  seßhaften  oder  den  Germanen  erst  nach- 
rückenden Bevölkerungsschichten. 

In  dieser  außerordentlichen  Einfachheit  wurde  primär 
wirklich  die  Frage  gestellt  bei  der  Inangriffnahme  der 
bis  jetzt  größten  somatisch-anthropologischen  Einzelunter- 
suchung aller  Zeiten  und  aller  Länder:  der  statisti- 
schen Untersuchung  über  die  Farbe  der  Haut, 
der  Haare  und  der  Augen  bei  den  Schulkindern 
zunächst  in  Deutschland,  an  welche  sich  bis  jetzt  auch 
schon  Belgien,  Schweiz  und  Oesterreich  angeschlossen 
haben.  Herr  Geheimerat  R.  Virchow  hat  die  Bearbeitung 
der  durch  die  Lehrer  auf  Grund  genauer  Instruktionen 
gewonnenen  Bohzahlen  dieser  Statistik  durchgeführt,  wo- 
durch die  erste  feste  Basis  für  eine  somatisch-anthropo- 
logische Betrachtung  unseres  gesamten  Volkes,   auch  im 


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334  Johannes  Ranke, 

Vergleiche  mit  seinen  unmittelbaren  Nachbarn,  gewonnen 
worden  ist.  Es  wurden  in  Deutschland  6  758827  Schul- 
kinder in  Beziehung  auf  ihre  Komplexion  untersucht,  in 
Gestenreich  2304501,  in  Belgien  608698,  in  der  Schweiz 
405609  Schulkinder,  im  ganzen  sonach  10077635! 

Bei  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  Zahlen 
wurden  zunächst  die  beiden  „reinen  oder  Haupttypen" 
—  der  „blonde  Typus**,  d.  h.  die  „Blonden*  mit 
blonden  Haaren,  blauen  Augen  und  weiläer 
Hautfarbe,  und  der  „brünette  Typus",  d.  h.  die 
„Brünetten**  mit  braunen  bis  schwarzen  Haaren, 
braunen  bis  fast  schwarzen  Augen  und  brü- 
netter oder  weißer  Hautfarbe  —  von  den  „Misch- 
form en**  ausgesondert.     Das  Hauptergebnis  war: 

in  Deutschland  .    .     .    31,80^0  »Blonde«,  14,05%  «Branette* 
„    Oesterreich    .     .     .     19,79  ,  ,  23,17  . 

,    Schweiz    ....     11,10  ,  „  25,70  ,  , 

y,   Belgien     .     .     .    (leider  nicht  gezählt!)  27,50  ,  , 

Diese  Zahlen  lehren  nach  Virchow,  dals  das  Deutsche 
Reich  in  seinem  gegenwärtigen  Bestand  noch  immer  den 
rein  blonden  Typus  in  der  größten  Häufigkeit  unter  den 
mitteleuropäischen  Staaten  (abgesehen  von  den  Nieder- 
landen) darbietet.  Dabei  stellt  sich  weiter  die  auffallende 
Thatsache  heraus,  daß  —  bis  auf  den  äußersten  Norden 
und  Polen  —  ausnahmslos  gegen  die  Grenzen  Deutschlands 
der  „brünette  Typus**  in  größerer  Häufigkeit  auftritt.  In 
Deutschland  ist  der  blonde  Typus  noch  immer  der  herr- 
schende, während  der  brünette  Typus  als  Nebentypus  er- 
scheint, üebrigens  ist  in  den  verschiedenen  Gegenden 
Deutschlands  die  Anzahl  der  Blonden  und  Brünetten  sehr 
Terschieden,  dabei  ergiebt  sich,  daß  die  größere  Häufig- 
keit der  Brünetten  sich  durch  Erblichkeit,  d.  h.  durch 
Mischung  der  nach  dem  übereinstimmenden  Zeugnis  der 
Geschichte  ursprünglich  blonden  Germanen  mit  anderen 
mehr  oder  weniger  brünetten  Völkern  erklärt.  Auch  das 
ist  nicht  anzuzweifeln,  daß  überall  dort  die  Brünetten 
sich  in  größerer  Anzahl  geltend  machen,  wo  uns  die  auf- 
dämmernde Geschichte  unseres  Beobachtungsgebietes  die 
Kelten   als  frühere  Bewohner  erkennen  läßt.     So  führt 


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Anthropologische  Beobachtungen.  335 

uns  sonach  die  Verteilung  unserer  beiden  Haupttjpen  in 
Mitteleuropa  der  Hauptsache  nach  auf  eine  uralte  Ver- 
gangenheit zurück. 

In  auffallender  Zonenbildung  zeigt  sich  in  der  Rich- 
tung von  der  Alpengrenze  Deutschlands  gegen  die  nörd- 
lichen Meeresküsten,  also  von  Süden  nach  Norden,  eine 
Zunahme  des  blonden  Typus,  in  umgekehrter  Richtung 
eine  ebenso  auffallende  Steigerung  der  dem  brünetten 
Tjrpus  zugehörenden  Individuen,  so  daß  man  bloß  nach 
der  Anzahl  der  Blonden  und  Brünetten  in  einem  deutschen 
Lande  oder  in  einer  größeren  Provinz  von  vornherein 
sehr  annähernd  richtig  herausfinden  kann,  wo  auf  der 
Karte  ungefähr  das  Land  liegt.  Norddeutschland  hat  im 
allgemeinen  zwischen  43,36  und  33,6,  Mitteldeutschland 
zwischen  32,5  und  25,89,  Süddeutschland  zwischen  24,46 
und  18,44  ^/o  Blonde;  dagegen  schwankt  die  Zahl  der 
Brünetten  in  Süddeutschland  zwischen  25  und  19,  in 
Mitteldeutschland  zwischen  18  und  13,  in  Norddeutsch- 
land zwischen  12  und  7^/o. 

In  geistvoller  Weise  hat  R.  Virchow  nachgewiesen^ 
daß  sich  auf  diesem  uns  die  älteste  Besiedelungsgeschichte 
unseres  Vaterlandes  wieder  darstellenden  Gemälde  auch 
einige  hochinteressante  Züge  erkennen  lassen,  welche  auf 
die  späteren  Wanderzüge  unseres  Volkes  sowohl  in  der 
Völkerwanderungs-  als  in  der  späteren  Regermanisierungs- 
epoche  des  slavischen  Ostens  ein  überraschendes  Licht 
werfen,  dessen  Leuchte  in  Verbindung  mit  den  ethno- 
graphischen Lebensverhältnissen  der  Bewohner  uns  un- 
geahnte Einblicke  in  diese  im  ganzen  historisch  noch  so 
dunklen  Völkerverschiebungen  gestattet^). 

Im  großen  ist  die  soeben  skizzierte  Untersuchung  ja 
fertig,  aber  im  einzelnen  ist  doch  noch  sehr  vieles  nach- 
zutragen. An  dieser  Untersuchung  kann  sich  ohne  weitere 
Vorstudien  jeder  Gebildete  beteiligen,  aber  namentlich 
möchten  wir  eine  Mahnung  zur  Mitarbeit  an  alle  jene 
richten,  welche  bei  dem  Ersatzgeschäfte  der  Armee  in. 
den  Aushebungsbezirken  mitzuarbeiten  haben. 


')  Näheres  siehe  bei  J.  Ranke  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  254  if. 


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336  Johannes  Ranke, 

Es  ist  bekannt,  daß  im  späteren  Verlauf  des  Lebens 
die  in  der  Jugend  hellen  und  entschieden  «blonden*  Haare 
mehr  oder  weniger,  und  zwar  in  den  verschiedenen  Gegen- 
den je  nach  der  größeren  relativen  Anzahl  der  Blonden 
oder  Brünetten,   in  verschiedener  Stärke  nachdunkeln. 

Da  ist  nun  die  erste  Frage:  Wie  verhält  sich  die 
Farbe  der  Haut,  der  Haare  und  der  Augen  bei  erwach- 
senen Personen,  z.  B.  bei  den  Stellungspflichtigen  für 
die  Armee,  für  die  Landwehr,  für  den  Landsturm? 

Daneben  wäre  es  sehr  wünschenswert,  wenn  derartige 
Aufnahmen  für  späteres  reiferes  und  gereiftes  Alter  auch 
für  das  weibliche  Geschlecht  und  f&r  die  Nichtmilitär- 
pflichtigen angestellt  werden  könnten,  wozu  sich  wohl 
den  Geistlichen  auf  dem  Lande  die  beste  Gel^en- 
heit  bieten  würde.  Eine  solche  Studie,  auch  nur 
eine  einzige  kleine  Gemeinde,  aber  diese  ganz 
umfassend,  wäre  nicht  nur  sehr  interessant,  sondern 
von  bleibendem  originellen  wissenschaftlichen  Werte.  Es 
würde  sich  hierbei  um  die  Bestimmung  des  Eomplexions- 
typus  1.  der  «Neugeborenen*,  2.  der  Einjährigen,  3.  der 
Kinder  beim  Eintritt  in  die  Schule,  4.  beim  Austritt  aus 
derselben,  5.  der  Erwachsenen  der  verschiedenen  Alters- 
stufen in  zehnjährigen  Intervallen  handeln,  wobei  auch 
Angaben  über  6.  das  Ergrauen  und  7.  über  das  Ausfallen 
der  Haare  gemacht  werden  sollten.  Wann  beginnt  das 
Ergrauen,  wann  ist  es  beendigt,  resp.  wieviel  «Graue* 
oder  «Weißgewordene*  finden  sich  in  den  verschiedenen 
höheren  Altersstufen  in  der  betreffenden  Gemeinde? 

Um  eine  solche  statistische  Aufnahme  z.  B.  einer 
ganzen  Gemeinde  genau  nach  dem  für  die  Schulstatistik 
aufgestellten  Schema  ausführen  zu  können,  soll  hier  das 
letztere  mitgeteilt  werden. 


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Anthropologische  Beobachtungen. 


837 


Erhebungsformnlar 

znr  Statistik  über  die  Farbe  der  Haut,  der  Haare  and  der  Angen. 

ßdiule  (Gymnasium,  Gewerbe-,  Real-.nnd  Volksschule)  zu 

Zahl  der  6chüler _,  darunter  Juden . 


Davon  haben: 

|l 

|l 

1.  Blaue  Augen,  blonde  Haare,  helle  Haut 

2.  „          ,        rote           „          „        ff 

».      »          f.        braune      ,,          ,         , 

4.      ,          ,            „            fl      braune  , 

5.  Graue  Augen,  blonde  Haare,  helle  Haut     .... 

6.  »          ,        rote           ,         ^         ri        .... 

7.  ,          ,        braune       „         ,         ,         .... 

8.  ,          ,            .            „      braune  ,         .... 

9.  ,          «        schwarze    „          ,        ,         .... 

10.  Braune  oder  schwarze  Augen,  blonde  Haare,  helle  Haut 

11.  n        »            1.            „      rote          „         ,        , 

12.  ,        ,            ,            ,      braune     ,         ,        , 
18.       ,        ,            »            f,          „          n     braune  ^ 
14.        ,        ,            ,            „      schwarze. 

15.  Andere  Farbenkombinationen 

Durchschnittliches  Alter  der  besichtigten  Schüler: 


Von  den  Erläuterungen  und  Motiven,  welche  diesem 
, Erhebungsformular''  bei  der  TJebersendung  an  die  be- 
treffenden Schulvorstände  beigegeben  waren,  sind  die 
folgenden  auch  für  unseren  speziellen  Zweck  beherzi- 
genswert: 

Die  Ausscheidung  der  jüdischen  Schüler  hat  natürlich  keinen 
Bezue  auf  ihre  Religion,  sondern  nur  auf  ihre  Abstammung,  und 
obwohl  bei  der  nicht  geringen  Zahl  von  Bekehrungen  der  jetzige 
Stand  des  Religionsbekenntnisses  keine  ausreichende  Scheidimg 
gestattet,  so  ist  dennoch  zu  erwarten,  daß  das  Gesamtergebnis 
durch  diesen  Mangel  nicht  zu  stark  beeinfluß  werden  wird.  Wo 
in  den  Schulen  fremde  Nationalitäten  (z.  B.  Engländer,  Amerika- 
ner, Russen)  vertreten  sind,  da  ist  es  wünschenswert,  daß  sie  außer 
AolAltnnff  znr  deutschen  Landes-  nnd  Volksforscbnng.  22 


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338  Johannes  Ranke, 

Ansatz  bleiben.  Dagegen  wird  eine  weitere  Angabe  über  solche 
Nationalitäten,  welche  innerhalb  der  Grenzen  des  Landes  wohnhaft 
sind,  z.  B.  der  Polen,  Litauer,  Franzosen,  nicht  verlangt.  Sollten 
die  Herren  Lehrer  dieselben  besonders  angeben  können,  so  wlirde 
die  Mitteilung  der  Ergebnisse  ihrer  Ermittelungen  allerdings  recht 
nützlich  sein. 

Die  Angabe  der  Hautfarbe,  ob  , hellweiß*  oder  , dunkelweiß 
=  brünett**,  wird  gelegentlich  Schwierigkeiten  bereiten,  wenn  nur 
die  der  Luft  und  der  Sonne  ausgesetzten  Körperteile  in  Betracht 
gezogen  werden.  Indes  schon  die  Betrachtung  des  entblößten 
Vorderarms  wird  in  der  Regel  ausreichen,  um  zu  entscheiden,  ob 
das  Individuum  mehr  blond  oder  mehr  brünett  ist. 

Bei  den  Augen  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  festzustellen, 
ob  die  Farbe  blau  oder  braun  ist.  Die  schwarzen  Augen  gehören 
mit  zu  der  braunen  Abteilung,  die  grauen  zu  den  blauen.  Wenn 
ffleichwohl  die  grauen  Augen  besonders  unterschieden  sind,  so  ist 
dieses  geschehen,  weil  hier  schon  der  Verdacht  einer  Mischung 
vorliegt.  Auch  wird  die  Unterscheidung  keine  Schwierigkeiten 
bieten,  wenn  die  Augen  der  Schüler  untereinander  verglichen  wer- 
den, wo  sich  das  reine  Blau  sicher  herausstellt. 

Etwas  schwieriger  ist  die  Trennung  bei  den  Haaren,  wo 
blonde,  braune,  schwarze  und  rote  hervorgehoben  sind.  Als 
schwarz  sind  nur  diejenigen  Haare  zu  bezeichnen,  welche  rein 
schwarz  sind.  Alle  diejenigen,  welche  sehr  dunkel  sind,  aber  im 
Sonnenlicht  eine  braune  Schattierung  darbieten,  oder  welche  in 
der  Luft  und  der  Sonne  bräunlich  werden,  sind  als  braune  zu  ver- 
zeichnen.  Als  blond  gelten  nicht  bloß  die  lichtgelben,  sondern 
auch  die  weißlichgelben,  die  aschblonden  (graugelben  oder  grau- 
bräunlichen) und  die  lichtbräunlichen,  welche  an  der  Luft  gelblich 
werden;  die  rotblonden,  roten  und  brandroten  Haare  werden  ge- 
sondert aufgeftihrt. 

Die  in  dem  Formular  aufgezeichneten  Verbindungen  der  ver- 
schiedenen Haut-,  Haar-  und  Augeufarben  erschöpfen  nicht  alle 
möglichen  und  wirklich  vorkommenden  Kombinationen.  Wo  sich 
derartige  seltenere  Kombinationen  finden,  da  werden  die  Herren 
Lehrer  ersucht,  sie  gleichfalls  zusätzlich  zu  verzeichnen. 

Bezüglich  der  Farbenunterscheidung  der  Haare  und 
der  Augen  sind  in  dem  vorstehenden  Schema  die  Unter- 
scheidungen möglichst  einfach  gestellt.  Will  man  in 
größere  Feinheiten  der  Distinktion  eingehen,  so  kann 
man  sich  des  1885  von  der  deutschen  anthropologischen 
Gesellschaft  akzeptierten  Schemas  bezüglich  der  Haar- 
farben bedienen.     Hier  wird  unterschieden: 

Blond  mit  denNüancierungen:  weißblond,  flachs- 
blond, aschblond,  gelbblond,  rotblond.  Unter  dem 
Weißblond    ist    die    möglichst    wenig    gefärbte   Art    des 


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Anthropologische  Beobachtungen.  339 

Blonden  zu  verstehen,  wie  sie  vielfach  im  gewöhnlichen 
Leben  als  „wei^*^  bezeichnet  zu  werden  pflegt,  z.  B.  sagt 
man  von  Kindern  „Weißköpfe*.  Davon  ist  selbstver- 
ständlich das  Weiß  des  Greisenhaares  zu  unterscheiden. 
Liegt  der  Fall  eines  Albino,  Kakerlaken,  mit  weiß- 
blonden Haaren  und  rotleuchtenden  Pupillen  vor,  so  muß 
man  das  natürlich  besonders  erwähnen. 

Braun  mit  den  Stufen:  hellbraun,  dunkelbraun, 
schwarzbraun,  schw9.rz.  Bei  diesen  dunklen  Schat- 
tierungen ist  es  wünschenswert  anzugeben,  ob  etwa  die 
Haare  ein  Bleichen  an  der  Luft,  ein  Hellerwerden  an  den 
Enden  u.  a.  erkennen  lassen. 

Rot:  lichtrot,  braunrot. 

Es  konmit  hier  und  da  vor,  daß  auf  einem  Kopfe 
verschiedenfarbige  Haare  stehen:  „gemischte  Haar- 
farbe*^,  z.  B.  neben  hellbraunen  auch  dunkelbraune,  selbst 
schwarze  Haare.  Häufiger  als  am  Kopfe  zeigt  sich  diese 
gemischte  Farbe  am  Barthaare,  wo  die  Farbe  der  ein- 
zelnen Haare  von  blond  mit  rot  zu  braun  und  schwarz- 
braun wechseln  kann. 

Wo  es  angeht,  könnte  bei  einer  eingehenderen  Unter- 
suchung neben  den  Kopfhaaren  auch  die  übrigen 
Körperhaare:  Barthaar,  Brauen  und  Wimpern, 
Achselhaare,  berücksichtigt  werden.  Zu  solchen  Un- 
tersuchungen bietet  sich  z.  B.  Gelegenheit  an  den  Bade- 
plätzen im  Freien,  wo  man  nicht  nur  die  oft  recht  ver- 
schiedene Färbung  der  Kopf-  und  Körperhaare  konstatieren 
kann,  sondern  auch  Verschiedenheiten  in  der  »Verbrei- 
tung  des  Haares**  auf  dem  Körper.  Bei  manchen  In- 
dividuen kommt  an  gewissen  Körperstellen,  namentlich 
am  Rücken  und  in  der  Gegend  des  Kreuzbeins  —  im 
letzteren  Fall  spricht  man  von  Sacraltrychose  — ,  eine 
stärkere  und  auffälligere  Behaarung  vor,  oder  das  Kopf- 
haar greift  tief  in  die  Stirn  herein  u.  a.  Von  dem  sog. 
„Flaumhaar",  welches  überall  auf  der  Haut  vorkommt, 
müßte  man  hierbei  selbstverständlich  absehen. 


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S40  Johannes  Ranke, 

2.  Die  Form  der  Haare  und  die  Stärke  der  Behaanmg. 

Eine  zweite  ebenfalls  sehr  interessante  und  wissen- 
schaftlich wertvolle  Aufgabe  würde  es  sein,  wenn  neben 
der  Bestimmung  der  Farbe  der  Haare  auch  die  Form 
der  Haare  und  die  Stärke  der  Behaarung  statistisch 
aufgenommen  werden  könnte  und  zwar  ebenfalls  unter  einer 
geschlossenen  Gruppe  der  deutschen  Bevölkerung,  z.  B.  in 
einer  Schule,  bei  den  Stellungspflichtigen  eines  Ortes  oder 
Bezirks,   am  besten  bei  einer  ganzen  Landgemeinde  etc. 

Die  verschiedenen  Haarformen  sind  nach  der  mo- 
dernen Terminologie  folgende: 

Kopfhaar:  straff,  schlicht,  weHig,  lockig, 
kraus,  spiralgerollt. 

Die  beiden  erstgenannten  Haarformen  verlaufen  ge- 
radlinig; ihr  Hauptunterschied  besteht  in  der  Dickeent- 
wickelung der  einzelnen  Haare.  Das  straffe  Haar  hat 
eine  erhebliche  Dicke  und  behält  auch  bei  größerer  Länge 
den  gestreckten  Verlauf  bei.  Ist  dieser  Charakter  be- 
sonders stark  ausgesprochen,  so  vergleichen  wir  die  Be- 
haarung als  «mähnenartig'  mit  einer  Pferdemähne.  Das 
schlichte  Haar  zeigt  eine  geringere  Dicke  des  Einzel- 
haares als  das  straffe  Haar. 

Alle  anderen  Haarformen  verlaufen  nicht  geradlinig. 
Welliges  Haar  zeigt  weite,  regelmäßige,  nahezu  in 
einer  Ebene  liegende  Biegungen,  die  schon  an  der  Ein- 
pflanzungsstelle  der  Haare  beginnen  und  nicht  sehr  aus- 
giebig sind.  Bei  dem  lockigen  Haar  zeigen  größere 
Strähne  desselben  gegen  das  äußere  Ende  hm  mehr  oder 
weniger  starke  Biegungen  mit  Neigung  zur  Drehung. 
Das  krause  Haar  unterscheidet  sich  dadurch,  daß 
sich  bei  ihm  an  den  Einpflanzungsstellen  in  der  Kopf- 
haut ausgiebige,  unregelmäßige,  nicht  in  einer  Ebene 
befindliche  Drehungen  finden.  Diese  Drehungen  nahem 
sich  der  Rollenbildung  mit  weiten  Ringen,  zu  welchen 
kleinere  Strähnchen  oder  Haarbüschel  in  meist  etwas  ver- 
schiedener Weise  sich  vereinigen.  Spiralgerollte  Haare 
finden  sich  unter  den  eingeborenen  Europäern  nicht,  sie 
sind   eine   typische  Eigentümlichkeit   mancher  süda&ika- 


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AnthropologiBche  Beobachtungen.  341 

nischen  Stämme,  namentlich  der  Buschmänner  und  Hotten- 
totten, aber  auch  der  Zulus.  Hier  ist  das  Haar  um  eine- 
Längsachse  spirälig  gewunden,  so  daß  es  einige  ganz 
enge  Ringe  um  dieselbe  bildet.  Auch  das  andere  Extrem, 
das  zuerst  genannte  „straffe  Haar'',  ist  in  Europa  unter 
Europäern  kaum,  dagegen  in  exquisiter  Ausbildung  bei 
den  Mongolen  und  Mongoloiden  (z.  B.  Japanern)  und  den 
meisten  amerikanischen  „Indianern**  anzutreffen. 

Die  Untersuchung  der  „Einpflanzung  der  Haare 
in  der  Haut*,  die  in  ethnologischer  Beziehung  so  wich- 
tig ist,  sowie  Studien  über  die  Mikroskopie  des  Haares, 
namentlich  über  ihren  Querschnitt,  der  ja  auch  die  größ- 
ten, sogar  ethnographisch  yerwerteten,  Unterschiede  zeigt, 
würde  uns  hier  zu  weit  in  Einzelheiten  führen.  Wer 
sich  fQr  diese  Fragen,  die  einer  näheren  Elarlegung  noch 
sehr  bedürfen,  interessiert,  findet  das  Notwendige  zu  einer 
Orientierung  in  dem  mehrfach  erwähnten  Werke  Bd.  H, 
S.  172  ff. 

3.  Augenfarben,  Augenformen  und  Augenstellung. 

Wie  bezüglich  der  Haarfarbe,  so  können  auch  bei 
der  Augenfarbe  noch  feinere  Unterschiede  gemacht 
werden,  als  sie  unsere  Schulstatistik  verlangte.  Wir  un- 
terscheiden nach  Uebereinkommen  als  Au  gen  färbe  resp. 
Regenbogenhaut  =  Iris  —  Farbe:  hellblau,  dunkelblau, 
grau,  graubraun,  hellbraun,  braun,  dunkel- 
braun, schwarz.  Broca  führt  außerdem  noch  grün  als 
Augenfarbe  auf.  Es  ist  das  eine  Mischung  von  blaugrau 
mit  hellbraun,  eine  Färbung,  die  wir  unter  „graubraun* 
verstehen,  da  grün  doch  ein  höchst  uneigentlicher  Aus- 
druck dafUr  ist. 

Wichtiger  als  diese  feinere  Unterscheidung  der  Augen- 
farbe ist  die  der  Augenformen  und  der  Augenstel- 
lung im  Gesichte. 

Was  die  letztere  betrifft,  so  giebt  jede  aufmerksame 
Betrachtung  der  Begegnenden  und  ihre  Zählung  auf  jedem 
Spaziergang  in  der  Stadt  oder  auf  dem  Lande  Gelegen- 
heit, statistische  Aufnahmen  zu  machen. 


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342  Johannes  Ranke, 

So  habe  ich  bei  dem  Tegemseeer  Markt,  einem  der 
besuchtesten  ländlichen  Feste  jenes  reizenden  Erdenwinkels 
in  den  bayrischen  Bergen,  durch  eine  statistische  Zählung 
konstatiert,  daß  unter  diesem  Teile  der  altbajrischen 
Landbevölkerung  die  Augenlidspalte  fast  ausnahmslos  sehr 
annähernd  horizontal  steht.  Dagegen  zählte  ich  unter 
der  Münchener  Stadtbevölkerung  beim  Spazierengehen  in 
den  Straßen  1 — 1,5%  unter  den  Männern  und  2%  unter 
den  Frauen,  bei  welchen  sich  die  Augenlidspalte  in 
„mongoloider"  Weise  mit  ihrem  äuläeren  Winkel  in 
auffallendem  Grade  nach  aufwärts  wendet.  Geringere, 
aber  noch  sofort  bemerkbare  Grade  in  derselben  Rich- 
tung schiefstehender  Augenlidspalten  zählte  ich  bei  Män- 
nern und  Frauen  in  München  gleichmäßig  zu  6%.  Es 
ist  hierbei  zu  beachten,  daß  die  Münchener  Stadtbevölke- 
rung im  ganzen  in  großem  Prozentsätze,  und  in  ihren 
höheren  Ständen  sogar  fast  überwiegend,  nicht  dem  eigent- 
lichen altbayrischen  Stamme  zugehört.  Eine  ähnliche 
größere  Statistik  für  andere  deutsche  Stämme  und  Be- 
völkerungskreise würde  sonach,  wie  es  scheint,  recht 
interessante  Unterschiede  ergeben. 

Hierbei  kommt  noch  ein  weiterer  Gesichtspunkt  in 
Frage.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  sich  die  Ge- 
sichtsbildung unserer  Neugeborenen  in  wesent- 
lichen Zügen  teils  der  der  Mongoloiden,  teils  der 
der  niedrigsten  schwarzen  Stämme,  z.  B.  der 
Australier,  annähert.  Das  was  jene  Gesichter  frem- 
der Völker  für  uns  so  ungewohnt  macht,  ist  das  Fest- 
halten an  typischen  Bildungen,  welche  für  unser  Volk 
nur  erste  Durchgangsstadien  nach  der  Geburt  darstellen. 
Das  gilt  vor  allem  für  die  Niedrigkeit  und  Breite  des 
ganzen  Gesichtes,  für  die  Nasenbildung  und  auch  für  die 
Bildung  djBr  Augenlidspalte,  welch  letztere  das  Mongolen- 
gesicht gerade  so  typisch  erscheinen  läßt. 

Die  Bildung  des  „Mongolenauges^  besteht,  abge- 
sehen von  jenem  ebenerwähnten  Schiefstellen  und  Auf- 
wärtsziehen der  äußeren  Augenwinkel  und  einer  Ver- 
engerung der  Lidspalte  —  „Schlitzaugen"  — ,  in  einer 
eigentümlichen  Bedeckung  des  inneren  Augenwinkels  (der 


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Anthropologische  Beobachtangen.  343 

Thränenkarunkel  daselbst)  und  bei  geöffnetem  Auge  des 
ganzen    oberen  Augenlides    durch    eine    über    das  Auge 
hereinh äugende  Hautfalte,  deren  äußerer  Rand  am  inneren 
Augenwinkel  halbmondförmig  von  der  Nase  her  vorspringt. 
Durch   die  Deckung   des   oberen  Augenlides  sieht  es  bei 
extremen  Fällen   so  aus,   als  kämen   die  Augenwimpern 
direkt  aus  dem  Auge  hervor,   da   man  ihren  Ansatz  am 
oberen  Lidrande   nicht  sehen  kann.     Hebt  man  mit  den 
Fingern    bei   solchen  Augenbildungen  die  Haut  über  der 
Nase  an  der  Unterstirn  in  eine  Falte  auf,  so  verschwindet 
diese  eigentümliche  Bedeckung  des  Auges  durch  die  um- 
gebende Haut,  das  Auge  ist  so  frei  wie  es  unsere  Künst- 
ler darzustellen  gewohnt  sind.    Auch  beim  Niederschlagen 
des  Auges  kommt  der  obere  Lidrand   zu  Tage   und  von 
der   äußeren  Seite   her  gelingt  es  auch,   unter  die  halb- 
mondförmige Hautfalte  am  inneren  Augenwinkel  hinein- 
zusehen   und    die    Thränenkarunkel    zu    erblicken.     Die- 
selbe  Bildung   kennen   die  Augenärzte   als  extreme,    das 
Sehvermögen  dann  mehr  oder  weniger  beeinträchtigende 
angeborene    Mißbildung    des   Auges    unter    dem   Namen 
Epicanthus.    Sehr  gewöhnlich  ist  diese  wahrhaft  „mon- 
goloide  Augenbildung",    d.  h.  das  Auftreten  jener  halb- 
mondförmigen  Hautfalte   am   inneren   Augenwinkel,    der 
»Mongolenfalte*,  mit  einem  sehr  wenig  oder  gar  nicht 
erhobenen  Nasenrücken,  namentlich  an  der  Nasenwurzel, 
verbunden ;  hier  ist  gleichsam,  da  die  Nase  bei  mangeln- 
der Erhebung  keine  so  ausgiebige  Deckung  durch  Haut 
beansprucht,  zu  viel  Haut  auf  dem  Nasenrücken  und  der 
Unterstim,  die  sich  dann  gegen  die  Augen  halbmondförmig 
verschiebt. 

Dieser  Zustand  ist  exquisit  erblich;  in  einem  mir 
bekannten  Falle  hatte  z.  B.  die  Mutter  und  ihre  zwei 
Kinder,  ein  Sohn  und  eine  Tochter,  beide  im  erwachsenen 
Alter,  die  Mongolen-  oder  Epicanthusfalte. 

Dieses  wahre  Mongolenauge  stellt  bei  unseren  Kin- 
dern in  der  allerersten  Jugend  einen  relativ  häufigen, 
aber  bei  dem  späteren  Wachstum  nach  und  nach  fast 
ganz  verschwindenden  Bildungsdurchgang,  eine  vorüber- 
gehende   Entwickelungsstufe    dar,    offenbar    zusammen- 


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344  Johannes  Ranke, 

hängend  mit  der  meist  ganz  geringen  oder  fehlenden 
Erhebung  der  Nasenbeine  bei  den  Nengeborenen.  Sowie 
die  Nasenbeine  sich  mehr  und  mehr  dachförmig  erheben, 
verschwindet  die  halbmondförmige  Falte  nach  und  nach, 
wenigstens  in  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle. 
Der  erste,  welcher  hierüber  statistische  Zahlungen 
angestellt  hat,  war  ein  Russe,  Metschnikow,  der  seine 
Aufnahmen  an  russischen  Kindern,  also  an  solchen  slayi- 
sehen  Stammes,  ausführte.  Da  man  den  Russen  vielfach 
eine  gewisse  Beimischung  mongolischen  Blutes  zuschreibt, 
so  wäre  es  sehr  interessant  zu  konstatieren,  wie  sich  daß 
bei  den  germanischen,  romanischen  u.  s.  w.  Stämmen  verhalt. 
Aus  einer  noch  ungedruckteu  Untersuchung  entnehme  ich, 
daß  bei  den  jüngsten  Kindern  der  altbayrischen  Bevölke- 
rung dieses  Mongolenauge  relativ  sehr  häufig  ist 

4.  Die  Nasenformen  und  Gesichtsprofilienmg» 

Damit. hängt  auch  die  Frage  nach  der  Nasenbil- 
dung, sowie  jene  nach  der  mehr  oder  weniger  ausge- 
prägten Oesichtsprofilierung  zusammen.  Bei  unseren 
Neugeborenen  fehlt  die  letztere  noch  so  gut  wie  ganz, 
das  Oesicht  ist  „flach^  wie  z.  B.  bei  der  mongoloiden 
Rasse;  freilich  ragen,  wegen  der  noch  mangelnden  Aus- 
bildung der  Kaumuskeln,  die  Wangenbeine  nicht  in  die 
Gesichtsfläche  hervor,  was  jene  Gesichter  so  typisch  von 
den  meisten  unserer  Erwachsenen  unterscheidet.  Aber 
es  giebt  auch  unter  den  Deutschen  beider  Geschlechter 
im  erwachsenen  Alter  gar  nicht  wenige,  welche  sich  durch 
flache  und  in  diesem  Sinne  mongoloide  Gesichtsform  aus- 
zeichnen. 

Wir  unterscheiden  nach  üebereinkommen  bezüglich 
der  Gesichtsform:  hoch  oder  niedrig,  schmal  oder 
breit,  oval  oder  rund,  flach  oder  profiliert. 

Das  flache  Gesicht  ist  dabei  meist  auch  niedrig  oder 
breit  und  rund,  während  das  scharf  profilierte  meist  hoch 
oder  schmal  und  längsoval  sich  darstellt. 

Eine  statistische  Aufnahme  über  diesen  Teil  der 
Gesichtsbildung   unter   unserem  Volke   und  seinen   ver- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  345 

schiedenen  Stämmen  würde  sich  wohl  am  besten  mit  einer 
Nasenformstatistik  verbinden,  da  in  Europa  ein  stärker 
profiliertes  Öesicht  mit  einem  schmalen  und  meist  hohen, 
ein  flaches  mit  einem  breiten  und  meist  an  der  Nasen^- 
wtiTzel  wenigstens  abgeflachten  oder  ^ eingesunkenen'' 
Nasenrücken  verknüpft  auftritt.  Hier  walten  also  die 
gleichen  ursächlichen  Formbildungsmomente. 

Ich  habe  eine  Statistik  der  Nasenrückenformen 
unter  dem  altbayrischen-  Volke  versucht.  Es  wurden  un- 
terschieden: Adlernasen,  gerade  Nasen  und  Stumpf- 
nasen. 

Ich  habe  100  altbayrische  Landleute  männlichen 
Qeschlechts  darauf  geprüft.     Mein  Ergebnis  war: 

I.  Adlernasen: 

1.  Echte  Adlernasen 3  %  ) 

2.  Echte  Adlernasen  mit  abwärts  geneigter  Spitze.  1  i>  (    77o 

3.  Weniger  stark  gekrümmte  Adlernasen   ....  3  ,  ) 

4.  Gerade  Nasen,  aber  mit  leichter  adlemasenartiger  t 
Krümmung 22  ,  /  «^ 

5.  Nasen  mit  schwach  adlerartig  gekrümmtem  Nasen-  l       * 
rücken  und  überhängender  Nasenspitze .     .    .     .  2  „  1  31^0 

IL  Gerade  Nasen: 

6.  Echte  gerade  Nasen 37  „  \ 

7.  Gerade  Nasen  mit  schwach   abwärts  gebogener  j 
Nasenspitze 6  ,  [  44  , 

8.  Gerade  Nasen  mit  stark  abwärts  gebogener  Nasen-  \ 
spitze 1  II 

III.  Stumpfnasen: 

9.  Gerade  Nasen  mit  etwas   aufgeworfener  Nasen- 
spitze   15  »  J 

10.  Gerade  Nasen  mit  stärkerer  Hinneigung  zur  Stumpf-  |  25  „ 
nase 7»\ 

11.  Eigentliche  Stumpfhasen 3  ,  ^ 

Der  Haupttypus  ist  sonach  bei  diesen  Altbayem  die 
gerade  Nase  mit  einer  stärkeren  Hinneigung  zur  Adler- 
nase, während  die  Bildung  der  Stumpfnase  seltener  er- 
scheint. Dabei  ist  die  Nase,  und  zwar  am  auffallendsten 
bei  dem  weiblichen  Geschlechte,  ziemlich  kurz  und  der 
Nasenrücken  bemerkbar  breit,  entsprechend  dem  relatiy 
breiten  Intervall  zwischen  den  Augenhöhlen.  Be- 
sonders   charakteristisch   erscheint  mir  aber  die  Bildung 


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346  Johanoes  Ranke, 

der  Nasenspitze  und  zwar  besonders  deren  Verhältnis  zur 
Oberlippe  bei  den  Altbayem. 

Wie  aus  der  letzten  tabellarischen  Uebersicht  hervor- 
geht, sind  Nasen  mit  ,» überhängender  Spitze*  bei  den 
Altbayem  auiserordentlich  selten.  Die  Nasenspitze  schnei- 
det so  ab,  daß  von  dem  äußeren  Rande  derselben  bis 
zum  Ansatz  an  die  Lippe  eine  auf  die  Mitte  der  letzteren 
nahezu  senkrechte,  öfters  sogar  eine  gegen  den  Lippen- 
ansatz sich  etwas  senkende,  von  der  Nasenspitze  aus  ab- 
fallende Linie  gezogen  werden  kann. 

Das  ist  bei  Mittel-  und  Norddeutschen,  soviel  ich  sehe, 
ganz  anders.  Die  Nasen  im  «bayrischen  Franken"  zeigen 
sich  z.  B.,  wie  mir  scheint,  ohne  daß  ich  freilich  darüber 
bis  jetzt  grötaere  statistische  Zählungen  anführen  könnte, 
meist  wesentlich  länger,  der  Nasenrücken  wie  der  Zwischen- 
raum zwischen  den  Augenhöhlen  schmäler,  die  Spitze 
häufig  überhängend.  Eine  von  der  Nasenspitze  aus  gegen 
den  Lippenrand  gezogene  Linie  steigt  also  gegen  letzteren 
zu  in  die  Höhe.  Daß  sich  am  Lebenden  hier  typische, 
statistisch  greifbare  Unterschiede  zeigen  werden,  dafür 
spricht  die  große  Verschiedenheit,  die  ich  in  der  knöcher- 
nen Nasenbüdung  an  den  Schädeln  der  Altbayern  und 
bayrischen  Franken  konstatiert  habe. 

Ich  stelle  mir  die  Lösung  der  letztgenannten  Aufgaben 
wieder  so  vor,  daß  ein  Geistlicher  einer  kleineren  Land- 
gemeinde, z.  B.  in  Mitteldeutschland,  die  Nasenformen  bei 
allen  seinen  Pfarrkindern  nacH  Alter  und  Geschlecht  in 
der  oben  angegebenen  Weise  gesondert  aufführt. 

Dabei  müßte  aber  noch  auf  etwas  gemerkt  werden: 
Die  Nasen  unserer  Neugeborenen  haben,  wie  gesagt, 
oft  oder  meist  eine  typisch  „australoide"  Form,  d.  h.  der 
Nasenrücken  ist  flach,  erhebt  sich  nur  sehr  wenig  über  die 
Qesichtsfläche,  der  Nasenrücken  ist  dementsprechend  breit, 
nur  die  Nasenspitze  steht  etwas  stärker  hervor,  doch  sind 
die  Nasenflügel  extrem  breit.  Die  Nase  der  Neugeborenen 
sieht  aus,  als  hätte  man  die  Nase  eines  Erwachsenen  flach 
an  das  Gesicht  angedrückt.  Dadurch  ergiebt  sich  eine 
auffallende  Erscheinung  bezüglich  der  Stellung  der 
Nasenlöcher  im  Verhältnis  zum  Lippenrande.     So  wie 


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Anthropologische  Beobachtungen.  347 

bei  der  Australiernase  stehen  die  Nasenlöcher  der  Neu- 
geborenen vielfach  parallel  zum  Lippenrand,  zwei  gegen- 
einander gerichtete  Querspalten  darstellend,  während  bei 
den  erwachsenen  Europäern  die  Nasenlöcherspalten  parallel 
nebeneinander  und  annähernd  senkrecht  auf  den  Lippen- 
rand verlaufen.  Bei  unseren  Neugeborenen  ist  übrigens 
die  Stellung  und  Form  der  Nasenlöcher  keineswegs  ganz 
identisch.  Jene  ebenbeschriebene  Spaltenbildung  scheint 
mir  die  häufigste  Form,  daneben  kommen  aber  auch  drei- 
eckig nach  aulen  sich  erweiternde  Nasenlochspalten,  auch 
zur  Lippe  horizontal  gestellt,  vor  und  außerdem  solche, 
welche  langgezogene  Ellipsen  bilden  mit  einem  mehr 
oder  weniger  nach  außen,  also  horizontal  zur  Lippe,  ge- 
wendeten gre^ßten  Durchmesser. 

Es  sollte  konstatiert  werden,  wie  sich  in  dieser  Be- 
ziehung die  verschiedenen  Lebensalter  verhalten,  oder 
vielmehr,  in  welchem  Lebensalter  sich  diese  primitive 
Nasenbildung  im  allgemeinen  verwächst,  und  wie  groß 
der  Prozentsatz  unter  den  Erwachsenen  ist,  an  dem  sich 
noch  diese  Bildung  ganz  oder  in  Resten  nachweisen  läßt. 

5.  Die  Bildung  der  Mundteile. 

Bezüglich  der  Lippenbildung  zeigen  sich  ebenfalls 
zahlreiche  anthropologische  DiflEerenzen  zwischen  den  In- 
dividuen wie  zwischen  den  Stämmen.  Hier  fehlt  bis  jetzt 
aber  noch  jeder  genauere  statistische  Anhalt.  Die  ver- 
schiedenen Lippenformen,  welche  wir  unterscheiden,  sind 
folgende: 

Lippen:  vortretend,  voll,  mäßig  voll,  zart, 
geschwungen. 

Namentlich  das  letztere  charakterisiert  den  typischen 
Europäermund,  dessen  Lippen  „mäßig  voll"  und  wie  ein 
antiker  griechischer  Bogen  „geschwungen"  sind.  Auch 
das  entwickelt  sich  aber  bei  dem  Individuum  erst  nach 
und  nach  zum  typischen  Bilde,  so  daß  wir  auch  hier  auf 
zählbare  Unterschiede  zwischen  den  einzelnen  deutschen 
Stämmen  rechnen  dürfen,  wie  sich  solche  bei  verschie- 
denen Rassen  bekanntlich  in  charakteristischer  Weise  er- 


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348  Johannes  Ranke, 

geben.  Dabei  ist  festzuhalten,  daß  die  sich  hervorwöl- 
bende, mit  der  (meist  roten)  Mundschleimhaut  überkleidete 
Lippe  ein  Charakteristikum  des  Menschen  ist  gegenüber 
dem  menschenähnlichen  Affen.  Eine  stärkere,  vollere 
Entwicklung  der  Lippen  ist  sonach  eine  Steigerung  einer 
typisch -menschlichen  Eigenschaft.  Auch  die  Mißbil- 
dungen der  Lippen,  Hasenscharten  und  Wolfs- 
rachen u.  ä.  wären  statistisch  zu  zählen. 

Bezüglich  dör  Zähne  fällt  zunächst  die  gegenseitige 
Stellung  der  Zahnreihen  im  Oberkiefer  und  Unterkiefer 
in  die  Augen.  Entweder  stehen  die  Zahnreihen  nämlich 
annähernd  senkrecht  gegeneinander,  die  Besitzer  solcher 
Zahnstellung  werden  als  Geradzähner,  Orthognathen, 
oder,  wo  der  Winkel  mehr  als  90®  beträgt,  als  Hyper- 
orthognathen  bezeichnet.  Bilden  dagegen  die  Zahn- 
reihen bei  geschlossenen  Kiefern  miteinander  einen  mehr 
oder  weniger  spitzen  Winkel,  wobei  die  Schneidezähne 
des  Oberkiefers  schief  nach  außen  und  unten,  die  des 
Unterkiefers  schief  nach  außen  und  oben  hervortreten, 
so  nennt  man  die  Besitzer  solcher  Zahnstellung:  Schief- 
zähner,  Prognathen.  Stehen  bei  normal  geschlossenem 
Munde  die  Vorderzähne  des  Unterkiefers  hinter  denen  des 
Oberkiefers,  so  nennt  man  solche  Leute  Rückzähner, 
Opistognathen;  oder  stehen  umgekehrt  bei  normalem 
Mundverschluß  die  Vorderzähne  des  Unterkiefers,  als  wäre 
dieser  gleichsam  für  den  Oberkiefer  zu  groß,  vor  denen 
des  Oberkiefers  (letztere  sind  dabei  meist  schief  zuge- 
wendet), so  nennen  wir  dann  solche  Leute  Vorderkauer 
oder  Progenaeen. 

Die  extremeren  Fälle,  auf  die  es  vor  allem  ankommt, 
sind  ganz  gut  und  mit  genügender  Sicherheit  durch  das 
bloße  Ansehen  ohne  Messung  zu  bestimmen.  Hier  sind 
die  Verhältnisse  bei  den  verschiedenen  Stämmen  unseres 
Vaterlandes  ganz  auffallend  different. 

Bezüglich  der  öeradzähnigkeit  und  Schiefzähnigkeit 
—  welch  letztere  man  für  den  niedrigeren  Bildungsmodus 
zu  betrachten  gewöhnt  ist  —  mögen  folgende  Beispiele 
dienen.  Ich  bestimmte  folgende  Werte  exakt  durch  Mes- 
sung an  Schädeln: 


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Anthropologiache  Beobachtungen.  349 

Prognathie  und  Orthognathie 
der  Bevölkerung  von 

Altbayern      Franken  (Thüringen) 
Es  waren  prognath    ...      5%  21% 

Es  waren  orthognath.     .    ,    6Q  ^  72  , 

Es  waren  hyperorthognath .    29  „  7  „ 

Bezüglich  der  „Rückzähner'^  habe  ich  keine  statisti- 
schen Zählungen  in  größerer  Anzahl  zur  Verfügung. 
Nicht  selten  erscheint  aber  Opistognathie  mit  Hyper- 
orthognathie  verbunden. 

Die  ^Vorderkauer"  haben  Virchow  Anlaß  zu 
näheren  Studien  über  ihr  Vorkommen  gegeben.  Der 
Vorderkauer  oder  Progenaeus  hat  die  Besonderheit,  daß, 
im  Profil  gesehen,  der  Unterkiefer  ein  sehr  stark  hervor- 
tretendes Kinn  zeigt,  so  zwar,  daß  die  Zähne  meist  eiwas 
schräg  rückwärts,  öfters  sogar  fast  nach  innen  stehen.  Das 
Kinn  schiebt  sich  über  das  ganze  Gesichtsprofil  vor,  das 
Mittelgesicht  fällt  dementsprechend  relativ  ein  imd,  indem 
häufig  die  Stirn  wieder  weiter  hervortritt,  bekommt  diese 
höchst  charakteristische  Oesichtsbildung  eine  gewisse  Aehn- 
hchkeit  mit  dem  Kalenderneumond. 

In  Süddeutschland  findet  sich  diese  Kiefer-  und 
Qesichtsbildung  absolut  sehr  selten,  während  sie  von 
Virchow  bei  den  , Friesen"  »in  sehr  weiter  Verbreitung" 
nachgewiesen  und  ihr  Vorkommen  bis  tief  nach  Han- 
nover (wo  sie  zuerst  von  Ludwig  Meyer  an  Irren  be- 
obachtet und  beschrieben  war)  verfolgt  ist.  „Ich  glaube 
also,"  sagt  Virchow  (Jenaer  Kongreß  1876,  S.  83),  „die 
Progenie  zu  einem  ethnologischen  Merkmale  erheben  zu 
können,  ohne  daß  ich  deshalb  behaupte,  daß  sie  auf  alle 
Fälle  zutreffen  müsse.  Aber  meine  Untersuchungen  er- 
gaben, daß  wenn  man  die  Statistik  der  Schädel  nach 
Regionen  vornimmt,  man  in  friesischen  Bezirken  unge- 
wöhnlich große  Zahlen  und  ungewöhnlich  stark  entwickelte 
Formen  von  Progenie  vorfindet." 

Hier  liegt  sonach  ein  ergiebiges  Feld  zur  statistischen 
Untersuchung  weit  offen. 

Auch  das  Aussehen  der  Zähne  ist  wichtig;  wir 
unterscheiden:  opak,  durchscheinend,  massig,  fein. 


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350  Johannes  Ranke, 

Bei  Naturvölkern  hat  man  auch  auf  Färbung  und  Feilung 
der  Zähne  zu  achten.  Letzteres  kommt  auch  bei  uns 
—  abgesehen  von  zahnärztlichen  Eingriffen  —  vor;  Knaben 
lassen  sich  von  Kameraden  den  Zwischenraum  zwischen 
den  mittleren  Schneidezähnen  nach  oben  spitz  zugehend 
ausfeilen,  um  besser  und  lauter  durch  die  Zähne  pfeifen 
zu  können  (Spitzbubenpfiff). 

Bezüglich  der  Geschlechtsdifferenzen  soll  daran  er- 
innert werden,  daß  man  meist  behauptet,  das  weibliche 
Geschlecht  neige  mehr  als  das  männliche  zur  Schief- 
zähnigkeit,  was  Virchow  halb  scherzend  auf  eine 
relativ  größere  Zunge  der  Frauen  als  Ursache  zurück- 
führen wollte.  Nach  Schaaffhausen  sind  die  mitt- 
leren Schneidezähne  der  Frauen  großer  als  die 
der  Männer.  Es  war  das,  wie  mir  scheint,  bis  in  die 
neueste  Zeit  eine  ziemlich  allgemein  geteilte  Anschauung. 
Ein  vielbeschäftigter  Zahnarzt,  Julius  Parreidt, 
ist  nun  aber  nach  eigenen  Messungen  gegen  diese  Be- 
hauptung aufgetreten,  ohne  Schaaffhausen  zu  über- 
zeugen: „Ich  fand,"  sagte  letzterer  in  einer  folgenden 
Publikation,  „daß  die  mittleren  oberen  Schneidezähne 
be'.m  Weibe  nicht  nur  verhältnismäßig,  sondern  absolut 
größer  sind  als  beim  Manne  (Anthropol.  Kongreß,  Trier 
1883,  S.  113).  Ein  Vergleich  von  12  Männern  und 
12  Weibern  im  Alter  von  18—25  Jahren  ergab,  daß  die 
mittlere  Breite  derselben  beim  Manne  8,8,  beim  Weibe 
9,3  betrug,  diese  waren  also  um  0,5  mm  breiter;  bei  den 
Männern  war  die  Breite  10  X  9  mm,  2x8;  bei  den 
Weibern  5x10,  5x9,  1x8.  Die  unteren  mittleren 
Schneidezähne  waren  bei  den  Männern  im  Mittel  5,5,  bei 
den  Weibern  5,4.* 

Franz  Daffner  giebt  als  mittlere  Breite  der 
mittleren  oberen  Schneidezähne  bei  bayrischen  Soldaten, 
durchschnittlich  eiwas  über  22  Jahre  alt,  nur  7,75  mm, 
und  für  die  mittleren  unteren  sogar  nur  5,67  an.  Hier 
giebt  es  sonach  offenbar  sehr  auffallende  Unterschiede, 
die  wahrscheinlich  eine  ethnische  oder  Stammesverschie- 
denheit andeuten,  da  Schaaffhausen  an  Rheinländern 
(Bonn)   seine  Messungen   angestellt  hat.     Parreidt  hat 


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Anthropologische  'Beobachtungen.  35 1 

seine  Messungen  in  der  zahnärztlichen  Poliklinik  in 
Leipzig  angestellt,  wir  haben  sonach  drei  sehr  ver- 
schiedene deutsche  Stämme  von  den  drei  genannten  For- 
schem in  Beobachtung  gestellt.  Parreidt  fand  in  je 
100  Messungen  die  mittleren  oberen  Schneidezähne  bei 
seinen  „ Sächsinnen"  um  ein  geringes  im  Mittel  kleiner 
als  die  bei  den  , sächsischen"  Männern;  seine  Mittelzahlen 
sind  für  Männer  8,48i,  für  Frauen  8,8S9  mm.  Nach  Aus- 
scheidung einiger,  wie  er  annimmt,  abnormen  Fälle  wer- 
den diese  Zahlen  8,6  und  8,4.  Solche  Messungen  sind  am 
Lebenden  leicht  mittelst  eines  kleinen  Greifzirkels  auszu- 
führen und  wären  gewiß  nicht  ohne  lehrreiches  Ergebnis. 

Zahnärzte  namentlich  hätten  auch  die  beste  Gelegen- 
heit darüber  Messungen  und  statistische  Zählungen  an- 
zustellen, wie  sich  die  Größe  des  „Weisheitszahnes" 
zu  den  Nachbarzähn,en  verhält,  ob  er,  wie  man  an- 
nimmt, so  gut  wie  immer  kleiner  als  diese  ist.  Es  fragt 
sich:  Wie  oft  ist  er  gleich  groß?  Wie  oft  größer  als  sein 
Nachbar?  Wie  verhält  sich  in  dieser  Hinsicht  der  obere 
und  untere  Kiefer?  Die  Vergrößerung  des  Weisheits- 
zahnes wird  bekanntlich,  da  nach  der  Behauptung  z.  B. 
Hyrtls  bei  den  menschenähnlichen  Affen  die  Mahlzähne 
vom  1.— 3.  an  Größe  zunehmen,  als  ein  Rückschlag  auf 
affenahnliche  Form  der  Bezahnung  gedeutet  und  soU  bei 
„rohen  Rassen"  häufiger  sein  als  bei  der  unseren;  um- 
fassendere statistische  Aufnahmen  darüber  fehlen  aber 
bis  jetzt  noch  vollständig.  Auch  fQr  die  menschenähn- 
lichen Affen  ist  die  Frage  noch  keineswegs  vollkommen 
erledigt,  da  nach  v.  Bisch  off  wenigstens  beim  Schim- 
panse der  3.  Mahlzahn  (Weisheitszahn)  kleiner  ist  als 
der  2.,  der  seinerseits  größer  ist  als  der  1. 

Indem  wir  andere  Besonderheiten  der  Bezahnung, 
obwohl  sie  auch  nicht  ohne  ethnischen  Wert  sind,  über- 
gehen (wie  z.  B.  Vermehrung  oder  Verminderung  der 
Zähne,  mehrwurzelige  Schneide*  oder  Eckzähne,  Diffe- 
renzen in  der  Bewurzelung  der  Backen-  [Prämolaren]  und 
Mahlzähne  oder  Stockzähne  [Molaren],  sowie  im  Eronen- 
bau),  wenden  wir  uns  zu  einem  anderen  für  die  ethnische 
Diagnose  sehr  wichtigen  Organ,  zu  der 


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352  Jobannes  Ranke, 

6.  Bildung  der  OliniinsclLel. 

Im  allgemeinen  pflegte  man  bisher  die  Büdung  des 
äußeren  Ohres  nur  wenig  zn  beachten.  Man  unterscheidet  : 
kleine  und  große,  abstehende  und  anliegende;  aber 
auch  Lage  resp.  Stellung  am  Kopf  und  Modellierung  sind 
yielfach  verschieden,  und  man  hat  von  diesen  individuellen 
Differenzen  wenigstens  fUr  die  Charakterisierung  niederei- 
Rassen  schon  hier  und  da  Gebrauch  zu  machen  ver- 
sucht. 

Das  äußere  Ohr  bildet  einen  breiten  blattartigen 
Saum  um  die  Oeffiiung  des  Gehörganges,  der  namentlich 
nach  oben,  unten  und  hinten  stark  entwickelt  ist  und 
seine  eigentümliche  trichterförmige,  oder  besser  gesagt, 
muschelförmige  Gestalt  durch  eine  eingelagerte  knorpe- 
lige Stütze  erhält.  Nur  der  unterste  Teil  des  äußeren 
Ohres,  das  sog.  Ohrläppchen,  ist  knorpellos  lediglich  von 
Haut  gebildet.  Beim  normal  gebauten  Menschenohre  ist 
der  äußere  Rand  der  Ohrmuschel  umgekrempt  und  der 
Muschelvertiefung  zu  nach  innen  gerichtet,  dieser  umge- 
krempte  Rand  wird  als  Leiste  (Helix)  bezeichnet.  Gegen 
das  Gesicht  zugewendet,  also  nach  vorne,  wird  die  Mün- 
dung des  Gehörganges  teilweise  verdeckt  durch  einen 
größeren,  seine  abgerundete  Spitze  nach  hinten  wenden- 
den Höcker,  die  Ecke  (Tragus);  ihr  gegenüber  nach 
hinten,  also  der  Leiste  angenähert,  zeigt  sich  ein  ähn- 
liches kleineres  Höckerchen,  welches  seine  abgerundete 
Spitze  der  Ecke  entgegen  wendet  und  daher  Gegenecke 
(Antitragus)  genannt  wird.  Von  dieser  Gegenecke  erhebt 
sich  innerhalb  der  Leiste  ein  aufsteigender,  konvex  nach 
außen  gekrümmter,  meist  ziemlich  schmaler  Wulst  oder 
Wall,  die  Gegenleiste  (Antihelix),  die  in  ihren  unteren 
Partieen  wenigstens  die  Krümmung  der  Leiste  wiederholt, 
im  oberen  Drittel  der  Ohrmuschel  aber  sich  in  zwei 
Schenkel  gabelt,  welche  sich  unter  den  oberen  vorderen 
Rand  der  Leiste  hineinschieben.  Zwischen  der  konvexen 
Rückwärts-  und  Auswärtsbiegung  der  Gegenleiste  und  der 
Mündung  des  Gehörganges  befindet  sich  die  trichterförmige 
Vertiefung  der  Ohrmuschel,   welche  als  Muschelgrube 


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Anthropologische  Beobachtungen.  353 

bezeichnet  wird.  Zwischen  Ecke  und  Gegenecke  senkt 
sich  gegen  das  Ohrläppchen  ein  Einschnitt  (der  Zwischen- 
eckeneinschnitt). Meist  ist  die  Form  der  Ohrmuschel 
oblong,  bald  breiter  bald  schmäler,  äußerlich  von  einer 
nur  an  der  Grenze  des  Läppchens  etwas  eingezogenen 
Bogenlinie  begrenzt. 

Die  Größe  des  Ohres  solltef,  nach  Quetelet,  mit 
Einschluß  des  Läppchens,  also  nach  seiner  größten  Aus- 
dehnung gemessen,  in  allen  Altersstufen  gleich  sein  der 
doppelten  Länge  der  Augenlidspalte.  Die  individuellen 
Größendifferenzen  sind  aber  sehr  auffällig.  Dabei  sind 
große  Ohren  fast  stets  oval,  kleinere  mehr  gerundet. 
Größe  und  Gestalt  des  Läppchens  sind  mannigfach  ver- 
schieden. Häufig  ist  das  Läppchen  von  der  Wange  ge- 
schieden und  daher  frei,  oft  genug  aber  auch  damit  ver- 
wachsen, sitzend,  dann  ist  es  auch  nicht  deutlich  von  der 
„Ecke*'  abgesetzt.  Bei  einem  Buschmannohr  fand  Langer 
dessen  hinteren  Rand,  und  damit  auch  den  unteren  Um- 
riß der  Ohrmuschel,  unter  einem  sehr  schiefen  Winkel 
in  die  Wange  eingesenkt.  Giebt  es  diese  Form  auch  bei 
uns?  Das  Ohrläppchen  fehlt  auch  bei  uns  oft  genug,  es 
wäre  das  so  viel  wie  eine  affenähnliche  Bildung  insofeme 
als  sich,  wie  es  scheint,  ein  gut  entwickeltes  Ohrläppchen 
nur  bei  dem  Menschen  findet.  Unter  100  darauf  unter- 
suchten erwachsenen  bayrischen  Frauen  fand  sich  bei  3  % 
das  Läppchen  auffallend  klein,  bei  4^/^  ganz  fehlend. 
Beiläufig  sei  bemerkt,  daß  bei  11  %  das  Ohrläppchen 
„undurchbohrt*  war,  d.  h.  es  wurden  keine  Ohrgehänge 
getragen. 

Die  Modellierung  der  eigentlichen  Ohrmuschel  kann 
auch  sehr  verschieden  sein: 

1.  Die  Leiste  kann  nach  hinten  aufgerollt  sein,  so 
daß  sich  das  Ohr  blattartig  mit  einem  scharfen  hinteren 
Rande  begrenzt.     Wie  oft  kommt  das  vor? 

2.  An  dem  freien  Rande  der  Leiste  findet  sich  manch- 
mal, ungefähr  in  der  Höhe  der  Teilung  der  Gegenleiste 
in  ihre  zwei  Schenkel,  jenes  Knötchen,  welches  Darwin 
als  einen  Ueberrest  der  Spitze  früher,  bei  Tieren  nämlich, 
aufgerichteter   und   zugespitzter   Ohren    betrachtet,    eine 

Anleitnng  Enr  deutschen  Landes-  and  Volksforsohnng.  23 


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354  Johannes  Ranke, 

seitdem  Ton  Ludwig  Meyer  u.  a.  widerlegte  Annahme. 
Wie  oft  findet  sich  dieses  Darwinsche  Knötchen? 

3.  An  der  Gegenleiste  erscheint  öfter  der  Zwischen- 
raum zwischen  den  « gabelnden  Schenkeln**  mehr  oder 
weniger  verstrichen.  Manchmal  ergeben  sich  dagegen  3 
oder  sogar  4  Schenkel,  letzteres  eine  sehr  seltene  Bildung. 

Zweifellos  sind  diese  individuellen  Bildungen  des 
Ohres  angeboren  und  wahrscheinlich  erblich,  das  müßte 
näher  untersucht  werden.  Die  Formverschiedenheiten  des 
Ohres  sind  so  groß,  daß  sie  sich  fast  bis  zum  Werte  von 
individuellen  Kennzeichen  (fQr  die  Justiz)  erheben  können. 

Bei  den  Neugeborenen  steht  das  Ohr  noch  etwas 
tiefer  als  bei  den  Erwachsenen.  Auch  hier  giebt  es  ge- 
wiß unterschiede;  dagegen  konnten  bis  jetzt  höher  stehende 
(d.  h.  affenähnlicher  gestellte)  Ohren,  die  man  besonders 
den  Aegyptem  und  Juden  zuschreiben  wollte,  beim  Men- 
schen nicht  nachgewiesen  werden. 

Das  weibliche  Ohr  ist  durchweg  kleiner  als  das 
männliche  und  meist  auch  feiner  modelliert  und  zeigt,  wie 
es  scheint,  weniger  individuelle  Variationen  in  der  Form. 

7.  Die  Bildung  der  H&nde  und  Füsse. 

Die  Bildungen  des  Rumpfes  und  der  Extremitäten 
entziehen  sich  durch  die  Bekleidung  einer  allgemeineren 
Beobachtung;  nur  die  Hände  sind  noch  leicht  zu  unter- 
suchen. Hier  interessiert  uns  zunächst  die  verschiedene 
Länge  der  Finger. 

Der  Daumen  des  Menschen  ragt  meist  mit  seiner 
Spitze  bis  zum  zweiten  Oelenke  des  Zeigefingers.  Der 
Zeigefinger  ist  etwa  um  die  halbe  Nagellänge  kürzer  als 
der  Mittelfinger,  welcher  der  längste  Finger  ist,  und  der 
Ringfinger  ist  meist  noch  kürzer  als  der  Zeigefinger,  die 
Spitze  des  kleinen  Fingers  reicht  bis  oder  etwas  über 
das  zweite  Oelenk  des  Ringfingers.  Mehrfach  findet  man 
aber  den  Zeige-  und  Ringfinger  gleich  groß,  manchmal 
sogar  den  letzteren  länger.  Nach  A.  Ecker  ist  die  re- 
lativ zum  Ringfinger  größere  Länge  des  Zeigefingers  das 
Attribut  einer   höherstehenden   Form    der  Hand,   die  in 


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Anthropologische  Beobjichtungen.  355 

Europa  häufiger  bei  dem  weiblichen  als  bei  dem  männ- 
lichen Geschlecht  zu  sein  scheint.  Bei  den  Äffen  fand 
Ecker  den  Zeigefinger  stets  kürzer  als  den  Ringfinger. 
J.  Orüning  hat  uns  Anfänge  zu  einer  Statistik  dieses 
interessanten  Verhältnisses  geliefert.  Er  maß  die  Finger- 
langen bei  200  Personen  (Letten  und  Litauern  je  50  der 
beiden  Oeschlechter)  und  fand,  daß  bei  den  Männern  der 
vierte  Finger  den  zweiten  durchschnittlich  um  5  mm  über- 
trifft, nur  bei  je  zwei  Individuen  waren  beide  Finger  gleich 
lang  oder  der  zweite  länger  als  der  vierte.  Auch  bei 
den  Frauen  war  der  vierte  Finger  durchschnittlich  um 
4  mm  länger  als  der  zweite,  bei  vieren  war  der  zweite 
Finger  länger  als  der  vierte,  bei  dreien  beide  Finger  gleich 
lang.  Zu  ähnlichen  Resultaten  kam  auch  Brenn  söhn 
ebenfalls  bei  Litauern. 

Die  Hautfalte  zwischen  den  Fingern,  welche 
die  Finger  auf  der  Rückseite  der  Hand  länger  erscheinen 
läßt  als  auf  der  Beugeseite,  und  in  stärker  ausgebildeten 
oder  schon  als  wahre  Mißbildungen  imponierenden  Fällen 
den  Eindruck  einer  schwimmhautähnlichen  Bildung  her- 
vorbringt, ist  individuell  oft  recht  verschieden  entwickelt. 
Besonders  stark  hat  man  sie  gelegentlich  an  den  sonst 
schmalen  und  manchmal  geradezu  „vornehm**  geformten 
Händen  von  Schwarzen  angetroffen.  Auch  diese  körper- 
liche Eigentümlichkeit  verdient  eine  genaue  statistische 
Aufnahme.  Eine  solche  hat,  soviel  ich  sehe,  bisher  nur 
Grün  in g  versucht  bei  den  schon  oben  erwähnten  Finger- 
messungen. Man  sieht  diese  normale  „ schwimmhautähn- 
liche **  Erhebung  der  Hautfalte  zwischen  den  eigenen 
Fingern  recht  deutlich,  wenn  man  die  Hand  von  der 
Rückseite  bei  auseinandergespreizten  Fingern  betrachtet. 
Auf  der  Beugeseite  erstreckt  sich  der  freie  Abschnitt  der 
Finger  normal  nur  bis  zu  jener  queren  Furche,  welche 
den  Finger  vom  Handteller  trennt  und  welche  beiläufig 
dem  ersten  Dritteile  der  Länge  des  ersten  Fingergliedes 
entspricht;  übrigens  reicht  die  Spaltung  der  Finger  von- 
einander, auch  von  der  Rückseite  betrachtet,  keineswegs 
bis  zum  untersten  Fingergelenk  (Gelenk  zwischen  Mittel- 
handknochen  und   erstem   Fingergliede).     Aus   den   ver- 


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356  Johannes  Ranke, 

gleichenden  Messungen  Grttnings,  einerseits  über  die 
absolute  Länge  der  Finger  vom  untersten  Fingergelenk 
(Fingerknöchel)  bis  zur  Spitze,  andererseits  vom  Ende  der 
Spalträume  zwischen  den  Fingern  ebenfalls  bis  zur  Spitze, 
erfahren  wir  etwas  über  die  Höhe  dieser  Schwinunhaut- 
falte  zwischen  den  Fingern;  je  großer  die  letztere  ist, 
desto  kleiner  fällt  im  Vergleich  mit  der  absoluten  Finger- 
lange die  letztere  Messung  aus.  Die  im  Spaltraum  ge- 
messene Länge  des  ersten  Fingers  fand  Grüning  durch- 
schnittlich um  6  mm  geringer  als  die  absolute;  die  Länge 
des  zweiten  Fingers,  im  zweiten  Spaltraum  gemessen,  um 
21  mm  kleiner  als  die  absolute  Länge;  bei  den  meisten 
Ton  Grüning  gemessenen  Individuen  war  der  dritte  Finger 
im  zweiten  Spaltraum  länger  als  im  dritten,  im  Mittel 
um  4  mm. 

Meist  ist  die  rechte  Hand  etwas  größer  als  die  linke, 
ebenso  wie  gewöhnlich  der  rechte  Arm  im  ganzen  etwas 
länger  ist  ids  der  linke,  und  zwar  etwa  um  4 — 6  nun. 
Bei  Linkhändern  soll  beides  umgekehrt  sein.  Nach 
den  Beobachtungen  von  Malgaigne  waren  unter  182 
darauf  untersuchten  Personen  flinf  linkhändige  und  zwei, 
welche  linke  und  rechte  Hand  gleich  leicht  gebrauchten. 
Wie  ist  das  bei  uns? 

Die  Bildung  der  Fingernägel  zeigt  sehr  auf- 
fEÜlende  individuelle  Verschiedenheiten.  Bei  «schönen 
Händen"  sind  sie  nach  oben  konvex  rinnenförmig  ge- 
wölbt, ziemlich  groß,  oft  aber  sind  sie  auffallend  flach 
und  dann  gewöhnlich  auch  klein.  Diese  beiden  Haupt- 
formen werden  durch  Zwischenglieder  miteinander  ver- 
bunden. Männliche  Nägel  sind  oft  dick  und  undurch- 
sichtig, während  sich  der  zartere  Nagel  einer  schönen 
weiblichen  Hand  von  der  weißen  Haut  des  Fingers,  von 
durchschimmerndem  Blute  leicht  gerötet,  wie  ein  Rosen- 
blatt abhebt. 

Weniger  leicht  bietet  sich  Gelegenheit,  den  nackten 
Fuß  zu  untersuchen.  Bei  ihm  sollte  zuerst  die  allge- 
meine Form:  ob  breit  und  kurz  oder  schmal  und 
lang,  ob  mit  liohem  oder  niedrigem  Rist,  ob  mit 
gewölbter  oder  flacher  Sohle,   mit  langvorstehen- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  357 

der  oder  kurzer  Ferse,  festgestellt  werden.  Eine  flache 
oder  wenig  gewölbte  Sohle  ist  übrigens  noch  keineswegs 
identisch  mit  „Plattfuß".  Leute,  die  stets  oder  viel 
barfuß  gehen ,  besitzen  ein  mächtiger  entwickeltes  Fett- 
polster zwischen  Fußgewölbe  und  Sohlenhaut,  wodurch 
die  Sohle  ausgefüllter  erscheint  und  in  größerer  Fläche 
den  Boden  berührt.  Zum  Plattfuß  gehört  dagegen  ein* 
abgeflachtes  Fußgewölbe,  d.  h.  ein  sehr  niedriger,  bei- 
nahe flacher  Rist. 

Von  Seiten  der  Anthropologie  hat  man  der  verschie- 
denen Länffe  der  Zehen,  namentlich  der  ersten  Zehe,  der 
großen  Zehe  oder  Fußdaumen,  besonderes  Interesse 
geschenkt.  In  einer  größeren,  längeren  und  bewegliche- 
ren großen  Zehe  wollte  man  eine  Annäherung  an  den 
Affentypus  des  Fußes  erkennen.  Die  Messungen  sind 
übrigens  an  Europäern  dadurch  erschwert,  daß  durch  das 
Schuhwerk  die  Zehen  verdrückt  und  aus  ihrer  normalen 
Stellung  gerückt  sind.  Die  große  Zehe  steht  nach  außen 
den  übrigen  Zehen  zu  stark  genähert,  die  kleine  Zehe 
ebenso,  aber  nach  innen  gedrückt,  um  die  wahre  Länge 
dieser  beiden  Zehen  feststellen  zu  können,  müssen  wir  sie 
bei  der*Vergleichung  gerade  stellen,  ebenso  auch  die 
durch  den  Schuhwerkdruck  krampflg  gegen  den  Fußballen 
eingezogenen  übrigen.  Zehen  strecken.  Erst  dann  er- 
halten wir  ein  richtiges  Bild  der  gegenseitigen  Längen- 
verhältnisse der  Zehen.  Die  antiken  Kunstwerke  der 
griechischen  klassischen  Periode  bildeten  die  große  Zehe 
kürzer  als  die  zweite.  Hyrtl  fand  aber  bei  der  Wiener 
Bevölkerung,  sowohl  bei  Erwachsenen  als  bei  Neu- 
geborenen, die  große  Zehe  im  allgemeinen  länger  als 
die  zweite.  Es  fragt  sich  übrigens  noch,  ob  diese  An- 
gabe auf  ausgiebigen  Messungen  oder  nur  auf  dem  Ein- 
druck des  Augenscheins  beruht.  Denn  es  ist  leicht  zu 
konstatieren,  daß  öfters  die  große  und  die  zweite  Zeh& 
gleich  lang  oder,  in  vollkommener  Streckung  gemessen,  die 
zweite  in  Wahrheit  sogar  länger  ist  als  die  große,  welch 
letztere  nur  größer  erscheint,  weil  sie  normal  weniger 
als  jene  oder  gar  nicht  hakenartig  nach  abwärts  ge- 
krümmt ist.     Eine    auf  Messungen   beruhende   Statistik 


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358  Johannes  Ranke, 

hat  neuerdings  wieder  Grüning  geliefert.  Er  fand  bei 
seinen,  oben  schon  zweimal  erwähnten,  Messungen  an 
200  Letten  und  Litauern,  männlichen  und  weiblichen 
Geschlechts,  in  der  überwiegenden  Mehrheit  die  zweite 
Zehe  länger  als  die  erste,  bei  den  Männern  durchschnitt- 
lich um  3  mm,  bei  den  Frauen  um  4  mm.  Bei  9  Männern 
war  die  erste  Zehe  größer  als  die  zweite,  bei  einem  beide 
Längen  gleich,  dagegen  war  bei  den  Frauen  in  21  Fällen 
die  erste  Zehe  länger  als  die  zweite.  Bei  oberflächlicher 
Betrachtung  scheint  fast  immer  die  erste  Zehe  die  längste 
zu  sein,  das  ändert  sich  aber,  wie  gesagt,  öfters,  sowie 
man  die  beiden  Zehen  gerade  richtet,  was  jeder  Messung 
vorausgehen  muß.  Meine  eigenen  an  Münchener  er- 
wachsenen Frauen  angestellten  statistischen  Zählungen 
stimmen  übrigens  weit  mehr  mit  Hyrtl  überein.  Ich 
fand  die  erste  Zehe  am  längsten  bei  86®/o,  bei  nur 
7  ®/o  war  die  zweite  Zehe  die  größte ,  ebenfalls  bei  7  ^/o 
waren  erste  und  zweite  Zehe  gleich  lang.  Hier  scheinen 
sonach  in  Deutschland  sehr  auffallende  Stammesdifferenzen 
zu  existieren;  mein  Beobachtungsmaterial  gehörte,  wie 
das  Hyrtls,  meist  zum  altbajrischen  Stamme.  Ein  Un- 
terschied zwischen  dem  blonden  und  dem  brünetten  Typus 
ergab  sich  mir  bei  der  Zehenmessung  übrigens  bisher 
nicht. 

Auch  an  den  Füßen  verdienen  die  Zehennägel  ein- 
gehende Beachtung  in  derselben  Weise,  wie  das  oben  für 
die  Fingernägel  angedeutet  wurde. 


n.  Anthropologische  Messungen. 

1.  Die  Eörpergrösse. 

Unter  den  typischen  Körpereigentümlichkeiten,  mit 
welchen  die  Germanen  in  das  Licht  der  Geschichte  ein- 
traten, wurde  neben  der  Blondheit  von  den  Hörnern  nichts 
mehr  angestaunt  als  ihre  gigantisch  erscheinende  Leibes- 
größe. Wenn  wir  nach  den  Beweisen  forschen,  daß  wir 
noch  die  echten  Abkömmlinge  dieser  Ahnen  sind,  so  muß 


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Anthropologische  Beobachtangen.  359 

dabei  der  Untersuchung  der  Körpergröße  eine  besonders 
wichtige  R»olle  zugeteilt  werden. 

Wie  verhalten  sich  die  verschiedenen  deutschen 
Stamme  bezüglich  ihrer  Körpergröße?  Giebt  es  vielleicht 
auch  ähnliche  Zonen  stärker  oder  weniger  sich  erheben- 
der Körpergröße,  wie  wir  solche  bezüglich  der  Blonden 
und  Brünetten  nachweisen  konnten? 

Diese  letztere  Frage  wird  von  manchen,  welche  über 
Körpergröße  reden  und  schreiben,  schon  als  in  dem  Sinne 
erwiesen  betrachtet,  daß  die  „Brünetten'*  im  allgemeinen 
kleiner  sein  müßten  als  die  „Blonden**.  Indem  man  von 
dieser  Seite  im  mehr  oder  weniger  unbewußten  Anschluß 
an  die  von  Frankreich  speziell  zur  —  wir  gUtuben  mit  dem 
Worte  nicht  zu  viel  zu  sagen  —  Beschimpfung  und  Herab- 
setzung Preußens  erfundene  angebliche  „race  prussienne**, 
die  der  Hauptsache  nach  aus  kleinen  braunhäutigen  und 
schwarzhaarigen  Finnen  und  Slawen  bestehen  sollte,  eine 
kleine  brünette,  kurzköpfige,  mongoloide  Rasse  als  die 
Urbevölkerung  Deutschlands  als  feststehend  bewiesen  po- 
stuliert, sucht  man  nun  nach  den  Enkeln  dieser  kleinen 
brünetten  Kurzköpfe  neben  den  Nachkommen  der  eigent- 
lichen Germanen,  die  man  an  ihrem  hühnenhaften 
Körperbau  erkennen  will.  Es  ist  das  offenbar  ein  schon 
im  Prinzipe  unwissenschaftliches  Verfahren,  da  man  das, 
was  durch  die  Untersuchung  der  Körpergröße  erforscht 
werden  soll,  eben  die  Frage:  besitzen  der  blonde  Typus 
und  der  brünette  Typus  im  Durchschnitt  verschiedene 
Körpergrößen?  schon  im  voraus  als  entschieden  hinstellt. 

Ganz  ähnlich  steht  es  mit  der  Kopfform.  Es  war 
gewiß  eine  sehr  wichtige  Entdeckung  von  Lindenschmit 
und  Ecker,  -da^i  in  den  Grabstätten  der  Alemannen  der 
Völker  Wanderungszeit ,  eines  entschieden  germanischen 
Stammes,  sich  Skelette  sowohl  von  hervorragender  Größe 
als  mit  weit  überwiegend  schmalem,  dolichocephalen 
Schädelbaue  finden.  Indem  man  nun  aber  diesen  Satz 
verallgemeinerte,  glaubte  man  einerseits  nur  die,  anderer- 
seits alle  die  als  wahre  und  unverfälschte  Abkömmlinge 
der  alten  Germanen  betrachten  zu  dürfen,  welche  solche 
„  Langschädel "  auf  den  Schultern  tragen,  während  man  die 


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360  Johannes  Ranke, 

,Eurz8chädel'  den  zur  Erklärung  so  beliebten,  wie  gesagt, 
von  Prankreicb  importierten  ^Urfinnen"  als  Enkel  zu- 
rechnen möchte.  Virchow  hat  dieses  ganze  Gewebe  von 
wissenschaftlichen  Fabeln  mit  kräftiger  Hand  zerrissen, 
und  die  Statistik  der  Farbe  der  Haut,  der  Haare  und  der 
Augen  hat  mit  unzweifelhafter  Beweiskraft  gelehrt,  daß 
gerade  Preußen  die  blondeste  Bevölkerung  von  ganz 
Deutschland  besitzt.  Hat  es  auch  die  körperlich  größte? 
Hat  es  auch  die  meisten  Langköpfe? 

Die  Untersuchung  der  Körpergröße  der  gesamten 
deutschen  Bevölkerung  ist  nach  dem  Gesagten  eines  der 
wichtigsten  anthropologischen  Probleme.  Hier  kann  aber 
auch  nur,  na^h  einheiüichem  Plane  angestellt,  eine  all- 
gemeine Statistik  im  ganzen  Reiche  wahrhaft  brauchbare 
Ergebnisse  liefern.  Solange  wir  eine  solche  allgemeine 
Statistik  noch  nicht  haben,  sind  alle  Einzeluntersuchungen 
nur  Steinchen  zu  einem  künftigen  Mosaikgemälde,  deren 
Bedeutung  aber  für  jetzt  noch  recht  bescheiden  ist.  Man 
muß  sich  das  von  vornherein  vor  Äugen  halten,  um  sich 
nicht  zu  voreiligen  Verallgemeinerungen  hinreißen  zu 
lassen,  die  durch  jede  neue  Lokaluntersuchung  wieder  in 
Frage  gesteUt  werden. 

Das  Problem  der  Körpergröße  kann  im  großen  zweifel- 
los nur  in  Verbindung  mit  der  militärischen  Aushebung  in 
Angriff  genommen  werden.  Hier  geht  uns  Baden  mit 
einem  nachahmungswerten  Beispiele  zum  Teil  schon  voran. 
Dort  haben  sich  Männer  gefunden,  welche  bei  der  ersten 
Musterung  der  Militärpflichtigen  zu  den  militärischen 
Messungen  und  Aufnahmen  auch  noch  wenigstens  einige 
sehr  wichtige  somatisch-anthropologische  Untersuchungen 
—  Feststellung  der  Farbe  der  Haut,  der- Haare  und  der 
Augen,  sowie  Länge  und  Breite  des  Schädels,  außerdem 
noch  die  Sitzhöhe  —  hinzufügen.  Hierbei  wird  die 
Militärkommission  in  keiner  Weise  mehr  als  sonst  be- 
lastet; alle  nötigen  Aufschreibungen  und  weiteren  Unter- 
suchungen besorgt  diese  aus  freiwilligen  Forschem  ge- 
bildete „anthropologische  Kommission*.  Analog,  nur  mit 
Hinzufügung  noch  einiger  weniger  Maße  (Höhe  des  7.  Hals- 
wirbels, Armlänge,  Schulterbreite),  sollte  überall  in  Deutsch- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  3G1 

land  und  den  Nachbarländern  vorgegangen  werden,  dann 
könnten  wir  bald  die  gewünschte  Statistik  fertig  haben. 

Als  MlniTninn  der  Aufnahme  für  diese  allge- 
meine Statistik  muß  gefordert  werden:  1.  Farbe 
der  Haut,  der  Haare  und  der  Augen,  2.  Länge 
und  3.  Breite  des  Kopfes,  4.  ganze  Körperhöhe, 
5.  Höhe  des  7.  Halswirbels^  6.  Sitzhöhe,  7.  Arm- 
lange,  8.  Schulterbreite  (S.  367). 

Aber  es  gehört  kein  kleines  Maß  von  Aufopferung  und 
viel  frei  verfügbare  Zeit  dazu,  um  sich  dieser  Aufgabe  zu 
widmen ;  dagegen  müssen  es  nicht  etwa  nur  Aerzte  sein, 
welche  sich  einer  solchen  Aufgabe  unterziehen  könnten. 
Jeder  der  exakt  zu  sehen  und  zu  messen  versteht,  kann 
hier  mit  Hand  anlegen. 

Uebrigens  sind  schon  die  von  Seiten  der  Militärkom- 
missionen aufgenommenen  Daten  über  Körpergröße  an  sich 
fbr  die  somatische  Anthropologie  sehr  interessant,  auch 
wenn  wir  von  dem  Typus  der  Leute,  ob  blond  oder 
brünett,  oder  von  ihrer  Kopfform,  ob  langköpfig  öder 
kurzköpfig,  zunächst  nichts  weiter  erfahren.  Auf  ersteres, 
auf  den  Komplexionstypus,  läßt  ja,  wie  oben  bemerkt, 
schon  die  geographische  Lage  des  Wohnortes  einen  gut 
orientierenden  Schluß  ziehen,  und  ähnlich  ist  es  wohl 
auch,  wie  wir  sehen  werden,  mit  der  Schädelform. 

Wenn  es  wahr  ist,  daß  ein  Zusammenhang  existiert 
zwischen  typischer  Blondheit  mit  bedeutenderer  Körper- 
größe und  umgekehrt  zwischen  typischer  Brünettheit  und 
geringerer  Körpergröße,  so  sollte  sich  das  doch  wohl  so 
nachweisen  lassen,  daß  die  Leute  in  den  blondesten  Be- 
zirken Norddeutschlands  im  allgemeinen  größer,  anderer- 
seits in  den  brünettesten  Bezirken  Süddeutschlands  im 
allgemeinen  kleiner  sind. 

Meisner  hat  einen  der  blondesten  Gaue  Nord- 
deutschlands, Schleswig,  auf  die  mittlere  Durchschnitts- 
größe aller  Militärpflichtigen  untersucht  und  fand  dafür 
1692  mm.  Ich  habe  die  gleiche  Untersuchung  in  einem 
der  brünettesten  Bezirke  Oberbayems  (Rosenheim)  eben- 
falls bei  allen  vorgestellten  Militärpflichtigen  ausgeführt 
und  fand   1707  mm.     Danach  hat   die  Körpergröße   als 


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362  Johannes  Kanke, 

solche  also  nichts  mit  dem  Komplexionstypus  zu  thun. 
In  größerem  Maßstäbe  hat  Baxter  eine  ähnliche  Un- 
tersuchung ausgeführt;  er  fand,  analog  wie  wir,  daß 
unter  29060  Deutschen  (in  Amerika)  die  „Brünetten* 
sowohl  in  Beziehung  auf  Körpergröße  als  Brustumfang 
die  „  Blonden  **  überragen.  Das  Gleiche  bezüglich  der 
Statur  fand  Weis b ach  bei  den  Serbo- Kroaten  der  adria- 
tischen  Küstenländer,  die  Größe  der  Blonden  betrug  1689, 
die  der  Brünetten  1692  mm.  Zu  bemerken  ist,  daß  so- 
wohl Baxter  wie  Weisbach  nur  die  Haarfarbe  zur  Fest- 
stellung des  Typus  verwendeten.  Eine  kleinere  Unter- 
suchung habe  ich  selbst  an  Soldaten  meist  vom  altbayri- 
schen Stamme  in  München  angestellt.  Auch  hier  fand 
sich,  daß  die  Leute  vom  blonden  Typus,  mit  weißer  Haut, 
blonden  Haaren  und  blauen  Augen,  sogar  etwas  kleiner 
waren  als  die  vom  brünetten  Typus. 

Vielleicht  ist  das  anderswo  anders?  Das  müßte 
untersucht  werden. 

Ueber  die  Körpergröße  der  Militärpflichtigen  und 
Soldaten  liegt  ein  überreiches  Material  bei  den  Miiitär- 
und  bei  den  dem  Ersatzgeschäfte  für  die  Armee  dienen- 
den Ziviibehörden  bereit.  Ich  habe  für  das  ganze  rechts- 
rheinische Hauptland  Bayeras  eine  Größenstatistik  der 
„Militärpflichtigen**  eines  Jahres  (1875)  nach  dem  letzte- 
ren Materiale  ausgeführt.  Dazu  verschaffte  ich  mir  die 
Vorstellungslisten  bei  den  Oberersatzkommis- 
sionen (des  Jahres  1875),  welche  alle  Militär- 
pflichtigen aufführen.  Nur  diese  ganz  vollständigen 
Listen  sind  selbstverständlich  für  unseren  Zweck  zu  ge- 
brauchen, da  die  eingereihten  Soldaten  nach  bestimmten 
Gesichtspunkten,  unter  denen  die  Körpergröße  eine  der 
wichtigsten  Rollen  spielt,  ausgesuchte  Leute  sind,  sonach 
kein  treues  Bild  der  allgemeinen  Körperentwickelung  einer 
Gegend  geben  können.  Diese  Listen  wurden  mir  mit  der 
größten  Bereitwilligkeit  von  Seiten  der  königlich  bayri- 
schen Regierungspräsidenten  resp.  der  Herren  Zivilvor- 
sitzenden der  Oberersatzkommissionea  geliefert. 

Meine  Methode,  die  ich  als  praktisch  bewährt  em- 
pfehlen kann,   war  folgende:   Aus  den  genannten  Listen 


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Anthropologische  Beobachtungen.  363 

machte  ich  bezüglich  der  Körpergröße  aller  mit  einem 
Maße  verzeichneten,  in  diesem  Jahre  vorgestellten  bay- 
rischen Militärpflichtigen  einen  vollkommenen  Auszug, 
so  daß  jeder  Militärpflichtige  in  meinen  Tabellen  mit 
seinem  Körpermaße  verzeichnet  steht.  Etwa  nicht  Ge- 
messene wurden  besonders  aufgeführt. 

Für  jeden  Vorstellungsbezirk,  jedes  Bezirksamt  oder 
jede  unmittelbare  Stadt  wurde  eine  eigene  Tabelle  ange- 
legt. Auf  einem  in  kleine  Quadrate  eingeteilten  Bogen  (wie 
sie  die  Kinder  in  ihren  Rechenheften  vielfach  benützen) 
wurde,  als  Grundlinie  (Abscisse)  von  1  m  43  cm  beginnend 
bis  Im  92  cm  von  1  cm  zu  1  cm  fortschreitend,  die 
Zahlenreihe  der  gewöhnlich  vorkommenden  Größenmaße 
eingetragen,  üeber  jede  dieser  Zahlen  wurde  durch 
Punkte  die  Anzahl  der  mit  diesem  speziellen  Größenmaße 
in  den  betreffenden  Bezirken  vorgestellten  Militärpflich- 
tigen (jeder  Militärpflichtige  resp.  sein  Punkt  kam  in  die 
Mitte  eines  jener  kleinen  (Quadrate)  als  Ordinaten  ver- 
zeichnet. Leute,  deren  Größe  unter  1  m  43  cm  betrug, 
ebenso  solche,  welche  größer  waren  als  1  m  92  cm,  wur- 
den am  Rande  der  Tabelle  eigens  mit  ihrem  Maße  be- 
merkt. Es  bildet  auf  diese  Weise  die  Bevölkerung  jedes 
Beobachtungsbezirks  eine  geschlossene  Kurve,  in  welcher, 
ohne  jede  weitere  Umrechnung  in  Prozenten,  lediglich 
aus  der  absoluten  Anzahl  der  über  jedes  Einzelmaß  Ein- 
getragenen (bez.  mit  der  wechselnden  Höhe  der  Ordi- 
naten der  Kurve)  die  allgemeine  Verteilung  der  Körper- 
größen im  Bezirk  zur  Anschauung  kommt.  Ordnen  wir 
die  Bezirke  nach  den  Maximalordinaten  ihrer  Kurven, 
d.  h.  nach  den  in  jedem  Bezirk  am  häufigsten  vorkom- 
menden Körpergrößen,  so  kommen  wir  im  allgemeinen 
schon  zu  gauz  analogen  Beziehungen,  wie  durch  die  pro- 
zentische Umrechnung  der  Zahlen  zu  Mittelwerten. 

Diese  ganze  Art  der  von  mir  gewählten  Zusammen- 
stellung ist  zwar  eine  etwas  mühevollere  als  die  von  anderen 
benutzte,  sie  giebt  aber  für  die  Folge  die  Möglichkeit,  die 
einmal  gemachte  Arbeit  in  sehr  verschiedener,  verschiede- 
nen Fragen  angepaßter  Weise  zu  verwerten.  Sehr  leicht 
ist  dabei  die  Ausscheidung  der  einzelnen  Größengruppen. 


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364  Johannes  Ranke, 

Um  die  Ergebnisse  geographisch  in  Kartenskizzen  ein- 
tragen zu  können,  machte  ich  folgende  nach  Zentimetern 
fortschreitende  Unterscheidungen : 

Mh^^aßige  ™t«  1  m  57  «» j  ^^^^  ^^^  ,  „  ,,  ^^ 

g^Ägroße  rlS  ;S^  S  I  ö-fie  über  1  n.  69  cm. 

Die  Häufigkeitsstufen,  die  ich  der  kartographischen 
Darstellung  zu  Orunde  legte,  waren: 

Kleine  unter  Im  62  cm :     Große  von  1  m  70  cm  und  darüber: 
10— 19  V  der  Militärpflichtigen      10— 19^0  der  Militärpflichtigen 
20— 29„     .  ,  20-29  „     , 

30—89  ,     .  ,  30-39  ,     . 

Meisner  für  Schleswig,  Ammon  für  Baden  u.  a. 
haben  sich  dieser  meiner  Einteilung  schon  angeschlossen, 
und  es  erscheint  daher  zweckmäßig,  wenn  auch  anderwärts 
nach  dem  gleichen  Schema  die  Untersuchung  geführt 
werden  könnte. 

Von  dem  Ziehen  von  Mittelwerten  für  die  Körper- 
größe der  Militärpflichtigen  in  jedem  Untersuchungsbezirk 
habe  ich  im  allgemeinen  bisher  abgesehen,  da  dadurch 
die  Extreme,  Kleinste  und  Größte,  sich  gegenseitig  eli- 
minieren, deren  Zählung  doch  gerade  von  Bedeutung  ist. 
Immerhin  sind  namentlich  für  die  Vergleichungen  mit 
älteren  statistischen  Aufnahmen  die  Berechnungen  Ton 
Mittelwerten  wünschenswert,  wie  wir  ja  auch  schon 
oben  von  der  Vergleichung  der  Mittelwerte  erfolgreich 
Gebrauch  gemacht  haben. 

Es  darf  aber  an  dieser  Stelle  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  den  Körpergrößenbestimmungen  bei  den 
Militärpflichtigen  ein  schwerwiegender  Fehler  anhaftet, 
wenn  man  daraus  auf  die  Körpergrößen  der  Bevölkerung 
einen  Schluß  ziehen  will :  die  Militärpflichtigen  sind  noch 
keineswegs  voll  ausgewachsen  und  niemand  ist  imstande 
zu  sagen,  wieviel  noch  jeder  einzelne  wachsen  wird. 

Das  Wachstum  im  militärpflichtigen  Alter  ist  bei  den 
einzelnen  Individuen,  bei  verschiedenen  Stänmien,  bei  dem 
gleichen  Stamm  in  verschiedener  geographischer  Um- 
gebung —  ob  im  Gebirg  oder  im  Flachland  —  u.  v.  a. 


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Anthropologische  Beobachtungen.  365 

zweifellos  sehr  verschieden,  obwohl  uns  hierfür  eigent- 
liche, vorwurfsfreie,  statistische  Aufnahmen  noch  nicht 
vorliegen.  Im  bayrischen  und  Tiroler  Gebirge  sind  die 
zur  Militärpflicht  einberufenen  Jünglinge  noch  keineswegs 
ausgewachsen  oder  nur  annähernd  voll  entwickelt.  Wer 
die  zwanzigjährigen  „Buben"  mit  dreißigjährigen  Männern 
vergleicht,  kann  erst  den  unterschied  ganz  würdigen. 
Aehnlich  ist  es  übrigens  doch  fast  überall,  wenn  auch 
die  Differenzen  nicht  so  grell  sind;  bei  beginnendem 
militärpflichtigen  Alter  sind  viele  Individuen  oder  ganze 
Stände  und  Bevölkerungsgruppen  noch  körperlich  auf- 
fallend unfertig,  die  sich  in  der  Folge  noch  weit  besser 
ausbilden.  Dieses  Verhältnis  zeigt  sich  z.  B.  vielfach  bei 
den  Juden.  Durch  eine  Anzahl  von  Untersuchungen  ist 
festgestellt,  daß  die  Stellungspflichtigen  Juden  im  allge- 
meinen körperlich  weniger  ausgebildet  sind  als  die  nicht- 
jüdischen (germanischen,  slawischen,  finnischen)  Bevölke- 
rungen, unter  denen  sie  wohnen;  das  Verhältnis  bessert 
sich  aber  in  der  Folge.  Die  Bemerkung,  welche  Ko- 
pernicki  und  Majer  bei  der  Rekrutierung  in  Oester- 
reichisch-Polen  machten,  daß  die  Juden  im  20.  Lebens- 
jahre kleiner  sind  als  die  Ruthenen  und  Polen,  unter 
denen  sie  dort  leben,  im  25.  Lebensjahre  aber  die  Poleji 
an  Größe  erreicht  haben  (die  Ruthenen  sind  noch  etwas 
größer),  ist  ein  sehr  wichtiger  Fingerzeig  dafür,  daß  das 
Wachstum  zeitweilig  verzögert  werden,  aber  in  späteren 
Jahren  das  in  früheren  Versäumte  nachholen  könne. 
Aehnlich  wie  mit  der  Körpergröße  ist  es  mit  dem  no- 
torisch im  allgemeinen  geringeren  Brustumfange  der 
jüdischen  Rekruten;  auch  hier  stellen  sich  in  späteren 
Lebensjahren  viel  günstigere  Dimensionen  heraus. 

üeber  die  weitere  körperhche  Entwickelung  im  Laufe 
der  Militärdienstzeit  geben  uns  die  Messungen  späterer 
Jahrgänge  und  der  Landwehr-  oder  Landsturmleute  einst 
vielleicht  erwünschten  Aufschluß,  dieser  wird  aber  stets 
nur  einseitig  bleiben,  da  alle  jene,  welche  nicht  eingereiht 
werden,  ausgeschlossen  bleiben. 

Bezüglich  der  Körpergröße  des  weiblichen  Ge- 
schlechts haben  wir  noch  so  gut  wie  gar  keine  Anhalts- 


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366  Johasnes  Ranke, 

punkte,  wenigstens  sind  die  Messungszahlenreihen,  'auf 
welche  wir  hinblicken  können,  viel  zu  klein.  Auch  bei 
den  Frauen  muß  von  vornherein  darauf  hingewiesen  wer- 
den, daß  dieselben  im  Beginn  des  „heiratsfähigen  Alters* 
noch  keineswegs  ganz  ausgewachsen  sind,  viele  wachsen 
als  Ehefrauen  und  Mütter  noch  beträchtlich. 

Unter  diesen  Verhältnissen  ist  es  sehr  wünschenswert, 
daß  alle  sich  darbietenden  Gelegenheiten,  Erwachsene 
zu  messen,  für  beide  Geschlechter  benutzt  werden 
in  Krankenhäusern,  Pfründeanstalten^  Gefäng- 
nissen u.  a. 

Es  wäre  gewiß  eine  dankenswerte  Aufgabe,  wenn  in 
der  schon  mehrfach  dargelegten  Weise  ganze  kleinere 
Gemeinden  auf  ihre  Körpergröße  durchgemessen  werden 
würden,  selbstverständlich  wieder  nach  den  oben  (S.  336) 
angegebenen  Alterskategorieen. 

Die  Meßmethode  der  Gesamtkörpergröße  ist  sehr  ein- 
fach. Ein  von  1  cm  zu  1  cm  eingeteiltes  Doppelmeter- 
band wird  senkrecht  an  einer  Wand  oder  Thüre  so  be- 
festigt, daß  sein  Ende  mit  0 — 1  cm  genau  am  Boden 
ansteht.  Nun  läßt  man  das  zu  messende  Individuum,  nach 
Ablegen  der  Fußbekleidung,  mit  dem  Rücken  sich  so  gegen 
die  Wand  stellen,  daß  das  Metermaß  in  der  Mittellinie  des 
Körpers  steht  und  daß  beide  Fersen  die  Wand  berühren, 
das  Gesicht  geradeaus  (vergl.  S.  372)  gerichtet.  Einen 
Zeichenwinkel  oder  ein  genau  ins  Viereck  geschnittenes 
Brettchen  von  etwa  25  cm  Länge  und  15  cm  Höhe  drückt 
man  nun  mit  der  Langkante  an  den  Kopf  in  der  Art  an, 
daß  die  aufrecht  stehende  Schmalkante  scharf  rechtwink- 
lig an  der  Wand  resp.  an  dem  über  den  Kopf  emporragen- 
den Teile  des  Meterbandes  anliegt,  und  liest  nun  an 
der  unteren  Ecke  des  Brettchens  resp.  des  Winkels  ab. 
Man  berücksichtigt  nur  ganze,  höchstens  noch  halbe  Zenti- 
meter. 

Außerordentlich  günstige  Plätze  für  Körpermessungen 
sind  Badeanstalten.  Hier  könnte  ein  Körpermaß,  wie 
es  bei  den  militärischen  Messungen  gebraucht  wird  (ein 
Rekrutenmaß),  aufgestellt  werden  und  damit  unter  Auf- 
sicht des  Badedieners  die  Messungen  der  Badenden  aus- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  367 

geführt  werden.  Es  müßte  ein  Handspiegel  und  ein  Heft 
aufliegen,  in  welch  letzteres  der  Gemessene  sein  AHer  und 
die  Farbe  seiner  Augen  und  Haare  einzutragen  hätte.  Es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  daß,  mit  einigem  Eifer,  in 
Badeanstalten  zahlreiche  Messungen  an  Erwachsenen  und 
jüngeren  Leuten  sehr  verschiedenen  Alters  auf  die  ange- 
gebene Weise  gewonnen  werden  könnten. 

2.  Die  Körperproportionen. 

Ein  für  Körpermessungen  sich  interessierender  Arzir 
würde  in  Badeanstalten  auch  Gelegenheit  zu  solchen  ein* 
gehenderen  Körpermessungen  finden,  wie  sie  unser  verein- 
bartes, unten  mitzuteilendes  anthropologisches  Messungs- 
schema wünscht. 

Die  wichtigsten  Maße  desselben  sind: 

1.  Ganze  Größe. 

2.  Bestimmung  der  Höhe  des  7.  Halswirbels  resp. 
dessen  Domfortsatzes,  den  man  bei  etwas  vorge- 
beugtem Kopfe  am  Ende  des  Halses  durch  die  Haut 
hervortreten  fühlt  und  sieht. 

3.  Bestimmung  der  Sitzhöhe,  d.  h.  der  Höhe  des 
Scheitels  über  dem  Sitz. 

Die  erstere  Messung  hat  nicht  die  geringste  Schwierigkeit, 
bei  der  dritten  hat  man  darauf  zu  achten,  daß  der  auf 
einem  lehnelosen  Stuhle  (z.  B.  Kistchen),  dessen  Hohe  man 
genau  gemessen  hat.  Sitzende  mit  dem  Kreuz  (Unter- 
rücken) genau  an  der  Wand  oder  dem  Pfosten  des  Re- 
krutenmaßes ansitzt.  Im  übrigen  wird  verfahren  wie 
bei  der  Messung  der  ganzen  Körperhöhe;  die  Sitzhöhe 
ergiebt  sich  aus  der  direkt  gemessenen  Höhe  des  Sitzen- 
den nach  Abzug  der  Stuhlhöhe. 

4.  Bestimmung  der  Arm  länge  am  rechten  Arm. 

5.  Bestimmung  der  Schulterbreite. 
Besonders  wünschenswert  sind  außerdem  noch: 

(3.  Bestimmung  der  Klafterlänge  der  Arme. 
7.  Bestimmung  des  Brustumfangs. 
Um   mit  dem  letztgenannten  Maße  zu  beginnen,  so 
wird  bei  Männern   der  Brustumfang  mit  dem  Meter- 


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368  Johannes  Ranke, 

bände  gemessen,  welches  man  horizontal  über  die  Brust- 
warzen.  anlegt.  Der  zu  Messende  steht  dabei  aufrecht, 
hat  die  Hände  erhoben  und  über  dem  Kopfe  gefaltet. 
Nun  mifit  man  einmal  bei  tiefster  Einatmung,  das  andere 
Mal  bei  tiefster  Ausatmung,  die  Differenz  ist  das  Atem- 
spiel. Das  letztere  beträgt  bei  erwachsenen  Männern 
im  Mittel  etwa  6 — 7  cm.  Für  den  Brustumfang  stehe 
als  Beispiel  eine  Tabelle  von  Herrn  F.  Daffner  an  171 
niederbayrischen  Soldaten,  im  Durchschnitt  etwas  über 
22  Jahre  alt,  wobei  wir  auch  das  Körpergewicht  bei- 
fügen. Die  Größe^  in  Zentimetern ,  Gewicht  in  Pfmid, 
Brustumfang  in  Zentimetern.    Folgendes  sind  Mittelwerte. 

Brustumfang: 

85,00—91,00 
81,00 — 85yfo 
82,t«— 89,iT 
85,80 — 90,10 
87,oo--91,«i 
82,8«— 88,iT 
90,18—96,01 
85,80—91,11 
85,11—89,10 
85,70—91,10 
85,i5— 91,11 

85,45—90,75 

87,10—92,85 
86,15—92,50 
87,50—93,10 
85,50— 90,8« 

88,05 94,45 

87,10—93,05 
85,18—92,5« 
89,11—95,31 

86,75—93,62 

89,00-93,50 
90,17—96,11 

Danach  beträgt  die  durchschnittliche  Größe  der 
Gemessenen  168  cm,  ihr  Durchschnittskörpergewicht 
130,9  Pfund,  der  durchschnittliche  Brustumfang  berech- 
net sich  auf  89,1  cm,  er  ist  bei  störkster  Ausatmung 
86,s9,  bei  stärkster  Einatmung  91,89  cm.  Das  Atemspiel 
ergiebt  sich  daraus  zu  5,6  cm  im  Mittel. 


zahl: 

Größe: 

Gewicht: 

1 

157 

123,00 

2 

158 

112,00 

3 

159 

119,11 

5 

160 

118,80 

8 

161 

121,15 

3 

162 

118,81 

7 

163 

138,14 

15 

164   . 

1^3,58 

15 

165 

125,07 

10 

166 

127,40 

11 

167 

126,84 

10 

168 

126.90 

10 

169 

132,40 

10 

170 

133,00 

15  . 

171 

135,17 

7 

172 

134.00 

11 

173 

141,54 

10 

174 

137,50 

7 

175 

143,00 

3 

176 

145,87 

4 

177 

142,50 

1 

178 

137,00 

8 

179 

147,87 

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Anthropologische  BeobachtuDgen.  3(39 


Topinard   giebt  folgende   Mittelwerte   von  Brust 
üfängen  an  nach  sehr  großen  Messungsreihen. 

Brustumfang: 

Schotten     . 
Engländer . 
Deutsche    . 
Buesen  .     . 
Franzosen  . 

.     100,0 
.      93,. 

.          91,2 

.      88,7 
.      87,9 

cm  =  56,7  %  der  Körpergröße 

M     =  5«5,8  ,,      „              „ 
,,     =  53,4  ,.      „ 
„     =  53,0  „      „ 

Bei  Frauen  muß  der  Brustumfang  über  den  Brüsten 
gemessen  werden. 

Bei  bayrischen  erwachsenen  Frauen  betrug  nach 
meinen  Messungen  die  mittlere  Körpergröße  157  cm,  der 
mittlere  Brustumfang  84,9,  das  Atemspiel  im  Mittel  von 
82,7—87,1  =  4,4  cm.  Auf  die  Körpergröße  berechnet 
beträgt  der  Brustumfang  54,o7  ^/o,  also  etwas  mehr  als 
bei  den  deutschen  Männern  der  obigen  Tabelle. 

Die  Bestimmung  der  Armlänge  und  deren  Abschnitte 
geschieht  am  besten  mit  einem  steifen  Maßstabe  bei  aus- 
gestrecktem Arm.  Man  greift  sich  zu  -  diesem  Zwecke 
zuerst  den  knöchernen  Schulterhöhenrand  bei  hängendem 
Arme  heraus,  fixiert  ihn  mit  dem  Finger,  legt  seinen  Maß- 
stab daran  an  und  läßt  nun  den  Arm  heben  und  strecken, 
dann  liest  man  ab,  wie  weit  der  Mittelfinger  reicht. 

Zur  Messung  der  Klafterlänge  bedarf  man  eines 
Doppelmeterstabes  und  eines  Gehilfen,  der  das  eine  Ende 
des  quer  über  den  Rücken  des  zu  Messenden  geführten 
Stabes  an  der  Spitze  des  Mittelfingers  der  einen  Hand  des 
zu  Messenden,  bei  vollkommenster  Querstreckung  beider 
Arme,  festhält,  während  man  die  Stellung  des  zweiten 
Mittelfingers  an  dem  Meterstabe  selbst  kontrolliert. 

Die  Brustbreite  kann  nicht  aus  der  Armlänge 
und  der  Klafterweite  der  Arme  berechnet  werden,  sie 
würde  so  viel  zu  schmal  ausfallen,  man  muß  sie  direkt 
messen.  Ich  benutze  dazu  einen  Kalibermeßstock,  wie  ihn 
die  Holzhändler  und  Förster  zur  Dickenmessung  der  Baum- 
stämme verwenden  und  den  man  bei  jedem  besseren 
Drechsler,  aber  auch  in  größeren  Eisenhandlungen  fertig 
kaufen  kann.  Gemessen  wird  bei  hängenden  Armen  von 
einer  Außenkante  der  knöchernen  Schulterhöhe  zur  anderen. 

AnleitaDg  zur  dentschen  Landes-  and  Volksforachnng.  24 


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370  Johannes  Ranke, 

Die  auf  die  angegebene  Weise  gewonnenen  ersten 
fünf  Maße   werden  dann  in  folgender  Weise  verwertet. 

Der  Längenunterschied  zwischen  ganzer  Höhe  und 
Sitzhöhe  giebt  die  B einlange  (Länge  des  freien  Beines). 
Die  Differenz  zwischen  der  ganzen  Höhe  und  der  Höhe 
des  7.  Halswirbels  giebt  die  Höhe  von  Kopf  und  Hals. 
Diese  letztere  von  der  Sitzhöhe  abgezogen  giebt  die 
Rumpflänge«  Die  Armlänge  ist  direkt  gemessen, 
ebenso  die  Dchulterbreite. 

Die  Aufgabe  ist  nun,  die  VerluQtnisse  der  Rumpf- 
länge, der  Beinlänge,  der  Armlänge  und  der  Schulter- 
breite zur  ganzen  Körpergröße  festzustellen^  Verhältnisse, 
in  denen  die  verschiedenen  Alter,  Geschlechter,  Indivi- 
duen die  auffallendsten  und  anthropolc^sch  merkwürdig- 
sten unterschiede  zeigen.  Um  aber  verschiedene  Indivi- 
duen vergleichen  zu  können,  hat  man  die  Körperhöhe  des 
einzelnen  =100  oder  =  1000  zu  setzen  und  darauf  die 
Maße  der  Rumpf  länge,  der  Bein-  und  Armlänge  und  der 
Schulterbreite  zu  reduzieren.  Nach  etwa  11000  von 
Herrn  Gould  berechneten  Bestimmungen  sind  die  ge- 
wöhnlichen Körperproportionen  bei  Soldaten  (in  Amerika) 
folgende : 

Körpergröße     ........  100,oo 

Länge  von  Kopf  und  Hals    .    .  14,» 

Rumpflänge 38,» 

Beinlänge 46,26 

Armlänge 43,41 

Wenn  man  schon  auf  die  Messung  der  Körperpro- 
portionen eingehen  wiU,  so  sind,  wie  man  sieht,  wenigstens 
4  Maße  erforderlich:  die  ganze  Größe,  7.  Halswirbel, 
Sitzhöhe,  Armlänge;  aber  sehr  wünschenswert  ist  auch 
ein  Breitenmaß,  wozu  sich  die  Schulterbreite  am  besten 
empfehlen  möchte,  üeber  den  Wert  und  die  Aufgabe 
der  Proportionsmessungen  des  Menschenkörpers  cf.  a.  a.  0. 
Bd.  I,  S.  1  —  16  und  Bd.  H,  S.  63—109.  Hier  sei  nur 
speziell  erwähnt,  daß  der  Rumpf  des  Weibes  im  Durch- 
schnitt länger,  dagegen  Arm  und  Bein  kürzer  ist  als  bei 
dem  Manne  und  daß  sich  die  verschiedenen  europäischen 
Nationen  durch  eine  verschiedene  Rumpf-,  Arm-  und  Bein- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  371 

länge  unterscheiden:  die  germanischen  Völker  haben  im 
allgemeinen  den  kürzesten  Rumpf,  sowie  die  längsten, 
d.  h.  ebenfalls  männlich  entwickeltsten  Arme  und  Beine. 

3.  Die  Eopfmessung  an  Lebenden, 
a)  Der  Hirnschädel. 

Schließlich  werfen  wir  noch  einen  BUck  auf  die  Auf- 
gaben und  Methoden  der  Eopfmessung  an  Lebenden. 

Bekanntlich  giebt  es  zwei  typische  Formen  der  Hirn- 
Schädelbildung,  welche  man  nach  Retzius  als  Lang- 
köpfe oder  Dolichocephalen  und  Kurzköpfe  oder 
Brachjcephalen  unterscheidet;  zwischen  beiden  steht 
als  Mischform,  weder  entschieden  lang,  noch  entschieden 
kurz,  die  von  Welcker  und  Broca  abgetrennte  Gruppe 
der  Mittelköpfe  oder  Mesocephalen. 

Die  messende  Bestimmung  dieser  Formen  ist  sehr 
einfach.  Man  benutzt  dazu  ein  kleineres  Ealibermaß, 
einen  Schiebezirkel  oder  Schiebeinstrument,  bestehend 
aus  einer  in  Millimeter  geteilten  metallenen  Mittelleiste, 
an  deren  einem  Ende  senkrecht,  einen  rechten  Winkel 
mit  ihr  bildend,  eine  metallene  Querleiste  unbeweglich 
befestigt  ist,  während  sich  eine  zweite,  in  ihrer  Höhe 
verstellbare  Querleiste  gegen  die  erste  parallel  verschie- 
ben, annähern  und  abrücken  läßt.  Zwischen  diese  beiden 
von  der  Mittellinie  senkrecht  abstehenden  Querleisten  faßt 
man  nun  die  zu  messende  Eopfdimension  und  liest-  die 
Entfernung  der  beiden  Querleisten  an  der  geteilten  Mittel- 
leiste als  das  Maß   der  betreffenden  Eopfdimension   ab. 

Zur  Bestimmung  der  Dolicho-  und  Brachycephalie 
genügt  eine  Längen-  und  eine  Breitenbestimmung  des 
Hirnschädels,  um  die  Länge,  die  sog.  gerade  Länge, 
zu  messen,  setzt  man  die  Mittelleiste  des  Schiebezirkels 
senkrecht  auf  die  Längsachse  des  ganzen  sitzenden  Eör- 
pers  und  zwar  so  auf  die  Mittellinie  des  Scheitels  auf, 
daß  der  Eopf  dadurch  in  zwei  genau  gleiche  seitliche 
Hälfken  geteilt  erscheint,  die  beiden  Querarme  des  Schiebe- 
zirkels sind  dabei  vom  in  der  Mitte  der  Stirn  und  hinten 
in  der  Mitte   des  Hinterhaupts  nach  abwärts  gerichtet. 


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372  Jahannes  Ranke, 

Den  einen,  den  feststehenden,  am  Hinterhaupte  anliegen- 
den Querarm  des  Schiebezirkels  hat  man  dabei  fest  an 
den  hervorragendsten  Punkt  des  Hinterhauptes  in  der 
Mittellinie  angedrückt  imd  nun  rückt  man  den  zweiten 
beweglichen  Arm  so  gegen  die  Mittellinie  der  Stirn  an, 
daß  seine  (entsprechend  nach  aufwärts  geschobene)  Spitze 
den  Ansatz  der  Stirn  an  die  Nasenwurzel  berührt.  Nun 
drückt  man  beide  Querarme  ziemlich  fest  an  den  Schädel 
an  und  liest  die  zwischen  sie  gefaßte  Schädeldimension 
als  gerade  Länge  des  Schädels  ab. 

Die  Bestimmung  der  größten  Breite  des  Schädels 
erfolgt  in  analoger  Weise.  Der,  dessen  Kopf  gemessen 
werden  soll,  sitzt;  wir  legen  den  Schiebezirkel  so  an,  daß 
seine  Mittelleiste  quer  gerade  von  rechts  nach  links  hinter 
dem  Hinterkopfe  sich  befindet,  die  beiden  gleich  lang 
gestellten  Querarme  nach  vom  gerichtet.  Nun  tastet 
man  sich,  während  man  die  Querarme  dabei  hält,  mit 
den  Zeigefingern  über  den  Ohren  des  zu  Messenden  die 
stärksten  Hervorwölbungen  des  Schädels  jederseits  heraus, 
drückt  an  die  eine  derselben  den  mit  der  Mittelleiste  fest- 
verbundenen senkrechten  Querarm  an  und  schiebt  dann 
gegen  die  andere  den  zweiten  beweglichen  Querarm,  drückt 
stärker  zusammen  und  liest  wieder  die  zwischengefaßte 
Schädeldimension  als   „größte  Schädelbreite "   ab. 

Bei  der  Messung  der  Breite  hat  man  auf  die  Stel- 
lung des  Kopfes  des  zu  Messenden  nicht  weiter 
zu  achten,  bei  der  Messung  der  Schädellänge  dagegen 
muß  der  Kopf  des  zu  Messenden  so  gestellt  werden,  daß 
er  (wie  bei  der  Messung  der  ganzen  Körpergröße)  an- 
nähernd geradeaus  blickt  und  zwar  in  der  Richtung 
der  sog.  deutschen  Horizontalebene  des  Kopfes. 
Die  letztere  wird  so  bestimmt,  daß  man  den  oberen  Rand 
der  Oeffnung  des  äußeren  Gehörganges  ebenso  hoch  stellt 
wie  den  unteren  Rand  der  Augenhöhle,  welch  letzterer 
leicht  herausgetastet  werden  kann.  Das  Gesicht  erscheint 
in  dieser  Stellung  etwas  gesenkt. 

Die  Köpfe  resp.  Schädel  sind  sehr  verschieden  groß,  die 
Längen-  und  Breitenmaße  ebenfalls  sehr  verschieden.  Um 
nun  doch  die  Schädel  untereinander  direkt  vergleichen  zu 


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Anthropologische  Beobachtungen.  373 

können,  setzt  man  nach  Retzius'  Vorschlag  die  Länge  des 
Schädels  =  100    und    berechnet  darauf   die  Breite    des 

Schädels  als  sog.  Schädelindex,  also :=— .  Alle 

®  Länge 

Schädel,  bei  denen  die  Schädelbreite  im  Verhältnis  zur 
Schädellänge,  letztere  =  100  gesetzt,  d.  h.  also  der  Schädel- 
index, die  Größe  75,o  nicht  erreicht,  nennen  wir  Lang- 
schädel, Dolichocephalen,  alle  Schädel,  bei  denen  die 
Breite  sich  zur  Länge  wenigstens  wie  80,o  :  100  verhält, 
oder  bei  denen  sich  beide  Größen  noch  mehr  annähern, 
heißen  Kurzköpfe  oder  Brachycephalen.  Was  zwischen 
75,0  und  80,0  liegt,  bildet  die  Gruppe  der  Mittelköpfe 
oder  Mesocephalen. 

Durch  eine  „internationale  Vereinigung  über  Qruppen- 
einteilung  und  Bezeichnung  der  Schädelindices**  wurden 
folgende  nähere  Bezeichnungen  1886  festgesetzt: 

I.  Dolichocephalie  bis  Index  74,»  und  darunter. 
Dazu  gehört: 

1.  Ultradolichocephalic  bis     .     .     .     Index  04,9 

2.  Hypeidolichocephalie     ....         „      65,o — 09,9 

3.  Einfache  Dolichocephalie   ...         „      70,o — 74,» 

II.  Mesocephalie,  dazu  gehört:  Index  75,o — 79,9. 
111.  Brachycephalie  von  Index  80,o  und  darüber. 

Dazu  gehört: 

1.  Einfache  Brachycephalie    .     .     .     Index  80,o — 84,9 

2.  Hyperbrachycephalie ,  85,o— 89,9 

3.  Ultrabrachycephalie „  90,o  und  darüber. 

In  Europa  kennen  wir  bis  jetzt  kein  Volk,  keinen 
Stamm,  keine  irgend  größere  Bevölkerungsgruppe,  welche 
nur  einen  dieser  zwei  (resp.  mit  den  Mesocephalen  drei) 
Schädeltypen  zeigen,  überall  finden  sich  die  Formen  ge- 
mischt —  aber  diese  Mischung  ist  numerisch  eine  sehr 
verschiedene.  Es  ist  nach  meinen  Zusammenstellungen 
nicht  zu  verkennen,  daß  in  Beziehung  auf  die  vorwiegende 
Schädelbildung  in  Mitteleuropa,  d.  h.  zunächst  in  der 
germanischen  Welt,  ganz  ähnliche  Zonen  existieren,  wie 
sie  von  Virchow  durch  die  Schul  Statistik  ftür  die  Ver- 
teilung des  blonden  und  des  brünetten  Typus  festgestellt 
wurden : 

Von  Norden  nach  Süden,  vom  Meer  bis  zu  den  Alpen 


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374  Johannes  Ranke, 

und  in  diese  hinein,  nimmt  im  allgemeinen  die  in  einer 
geschlossenen  Beyölkerungsgruppe  vorhandene  Anzahl  der 
Dolichocephalen  ab,  dagegen  die  Anzahl  der  Brachy- 
cephalen  zu.  Für  den  Norden  sind  die  Dolichocephalen, 
für  den  Süden,  bis  in  die  Alpen  hinein,  die  Brachy- 
cephalen  für  die  Hirnschädelbildung  charakterisidsch;  dort 
wo  mehr  Blonde  sind  auch  mehr  Dolichocephale,  wo  mehr 
Brünette  sind  umgekehrt  auch  mehr  Brachycephale,  ohne 
daß  Blondheit  und  Dolichocephalie  oder  Brünettheit  und 
Brachycephalie  typisch  notwendig  miteinander  verbunden 
wären.  Wie  groß  die  Unterschiede  in  der  Zahl  der  bei- 
den Hauptformen  in  den  verschiedenen  Gegenden  Nord- 
und  Mitteleuropas  sind,  lehrt  meine  folgende  Tabelle 
der  geographischen  Verteilung  der  Schädelformen 
in  Mitteleuropa,  wobei  ich  die  Mesocephalen  weglasse. 

Unter  100  Köpfen  sind  |     ls|  |||-c    §|     S^S 

Brachycephale  (Index  80  und  mehr)     6        81        ßß        83        90 
Dolichocephale  (Index  unter  75)  .   57        18        12  1  0 

Uebrigens  beweist  diese  Tabelle  auch,  daß  die  brachy- 
cephale Schädelform  heute  unter  den  Deutschen  weitaus 
die  herrschende,  die  Hauptform  ist. 

Nach  den  älteren  Angaben  von  Retzius  soUten  die 
Slawen  brachycephal,  die  Germanen  dolichocephal  sein. 
Es  ist  das  nicht  richtig,  da  unter  den  Slawen  etwa  die 
gleichen  Unterschiede  zwischen  Nord-  und  Südslawen  nach- 
gewiesen werden  können  wie  unter  Nord-  und  Südger- 
manen. Es  gilt  das  für  die  Kopfform  wie  für  die  Eom- 
plexion,  die  Nordslawen  sind  auch  vielfach  blond.  Ebenso 
auch  die  dem  ural-altaischen  Stamme  zugehörenden  .mon- 
goloiden"  Finnen:  „so  blond  wie  ein  Finne"  ist  nach 
Virchow  ein  russisches  Sprichwort.  Blondheit  und  Doli- 
chocephalie sind  also  wenigstens  nicht  ausschließlich  ger- 
manische Körpereigenschaften. 

Wenn  wir  auch  sonach  schon  im  großen  und  ganzen 
uns  ein  Bild  von  der  Verteilung  von  Dolichocephalie  und 
Brachycephalie  in  Deutschland  machen  können,   so  fehlt 


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Anthropologifiche  Beobachtungen.  375 

doch  nocli  viel,  ehe  wir  im  einzelnen  über  diese  gewiß 
sehr  wichtigen  Verhältnisse  so  weit  orientiert  sind,  daß 
wir  eine  statistische  Karte  darüber  herstellen  können 
ähnlich  wie  die  ausgezeichneten  statistischen  Karten 
Virchows  über  die  Verbreitung  des  blonden  und  brü- 
netten Typus  unter  der  deutschen  Schuljugend.  Und  doch 
müssen  wir  nach  einer  ebenso  eingehenden  Kenntnis  auch 
der  Schädelformen  streben. 

Das  kann  nur  durch  Messung  an  Lebenden  gewonnen 
werden,  wobei  wir  gleichzeitig  auch  Körpergröle,  Kom- 
plexionstypus und  Proportionen  bestimmen  können. 

Nebenbei  ist  es  aber  sehr  wichtig,  alle  nur  erreich- 
baren Schädel  aus  der  deutschen  Bevölkerung  zu  sam- 
meln, über  deren  lokale  Provenienz  wir  sicheren  Aufschluß 
besitzen:  z.  B.  Schädel  aus  einer  Gemeinde.  Oft  giebt 
sich  Gelegenheit,  z.  B.  bei  Bauten  auf  dem  Ortskirchhofe, 
Schädel  zu  sammeln.  Diese  sollten  nicht  wieder  einge- 
graben und  dadurch  für  die  Vaterlandskunde  vernichtet 
werden,  sondern  gesammelt  und  aufbewahrt  und  zwar  so, 
daß  von  jedem  der  Schädel  das  Herkommen  (der  Ort, 
von  welchem  er  entnommen  resp.  die  Heimat  des  ehe- 
maligen Besitzers)  genau  bekannt  bleibt.  In  den  katho- 
lischen Gemeinden  finden  sich  noch  hier  und  da  auf  den 
Kirchhöfen  oder  in  den  Vorhallen  der  Kirche  selbst  0  s- 
suarien  (Beinhäuser),  in  welchen  die  Gebeine,  welche 
bei  Wiederbenutzung  der  Gräber  zu  Tage  kommen,  auf- 
bewahrt werden.  In  solchen  Ossuarien  habe  ich  mit 
Erlaubnis  der  kirchlichen  Oberen  und  der  Herren  Pfarr- 
vorstände in  Bayern  Tausende  von  Schädeln  gemessen 
mit  dem  Resultate,  daß  nun  kein  Land  im  Deutschen 
Reich  bezüglich  der  Schädelbildung  besser  und  genauer 
bekannt  ist  als  Bayern.  Es  wäre  sehr  schade,  wenn  diese 
pietätvolle  Sitte  der  Landbewohner,  die  Gebeine  ihrer 
Vorfahren  an  heiliger  Stätte  zu  sanuneln  und  aufzube- 
wahren, verschwinden  würde.  Im  Interesse  einer  Volk- 
kunde, welche  mit  Pietät  die  üeberreste  der  Ahnen 
unseres  Stammes  studiert,  wäre  es  sogar  zu  wünschen, 
daß  an  Orten,  wo  diese  Sitte  abgekommen,  sie  wieder 
erneuert  würde.     Im  protestantischen  Lande  weiß  man 


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376  Johannes  Ranke, 

schon  lange  von  solchen  „Beinhäusern"  nichts  mehr. 
Hier  sollten  Pfarrer  und  Arzt  jede  Gelegenheit  benutzen, 
ausgegrabene  Schädel  zu  sammeln  und  zu  messen  oder 
diese  Untersuchungen  anthropologisch  exakt  geschulten 
Forschern  zu  ermöglichen,  anstatt  die  Gebeine  sofort 
wieder  einscharren  zu  lassen,  wo  man  sie  gefunden.  Den 
Direktoren  der  anatomischen  Universitätssamm- 
lungen möchte  ich  es  speziell  ans  Herz  legen,  möglichst 
viel  normale  Schädel  aus  der  Umgegend  ihrer  Univer- 
sitätsstadt zu  sammeln  und  bezüglich  ihrer  Herkunft  gut 
bezeichnet  aufzubewahren,  damit  die  Universitäten  einst 
auch  Zentren  für  das  Studium  der  ethnischen  Anatomie 
unseres  Volkes  werden  können.  Wie  oft  werden  ganze 
Kirchhöfe  umgegraben  oder  alte  Kirchhöfe  bei  Bauten 
aufgedeckt  —  alle  diese  Schädel  sollten  als  ein  hoch- 
wertvolles, unersetzliches  Untersuchungsmaterial  für  die 
deutsche  Volkskunde  sorgfältig  gesammelt  und  gehütet 
werden. 

Wer  sich  näher  über  die  feineren  Fragen  der  Kranio- 
metrie  unterrichten  will,  findet  in  dem  mehrfach  ange- 
führten Werke  die  Grundzüge  derselben,  und  gern  bin 
ich  bereit,  jeden  durch  Rat  und  That  weiter  zu  unter- 
stützen. 

Am  Kopf  messen  wir  mit  dem  Schiebezirkel  noch 
die  Ohrhöhe  des  Schädels.  Der  bewegliche  Querarm 
des  Instrumentes  wird  dabei,  entsprechend  kurz  gestellt, 
mit  seiner  Spitze  in  die  Ohröffnung  eingeführt,  der  zweite 
Querarm  auf  den  senkrecht  über  dem  Ohrloch  gelegenen 
Punkt  des  Scheitels  angedrückt,  wobei  der  zu  messende 
Kopf  in  der  oben  beschriebenen  deutschen  Horizontal- 
stellung sich  befinden  und  die  Mittelleiste  des  Schiebe- 
zirkels senkrecht  in  die  Höhe  gerichtet  sein  muß.  Nun 
drückt  man  den  oberen  festen  Querarm  durch  Indiehöhe- 
schieben  des  unteren  beweglichen  an  den  Scheitel  an 
und  liest  an  der  Querleiste  die  zwischengefaßte  Dimension 
des  Kopfes  ab. 

Die  Stirnbreite  wird  mit  demselben  Instrument 
direkt  über  den  oberen  Augenhöhlenrändem  gemessen. 


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Anthropologische  Beobachtungen.  377 

b)  Der  Gesichtsschädel. 

Auch  am  Gesicht  können  mit  dem  Schiebezirkel 
—  oder  mit  einem  Tasterzirkel,  zum  Teil  auch  mit  einem 
einfachen  Zirkel  —  verschiedene  sehr  charakteristische 
Maße  genommen  werden. 

Die  Gesichtshöhe  und  zwar  einmal  a)  vom  Haar- 
rand der  Stirn  bis  zur  Kinnspitze  (bei  senkrecht  gehal- 
tenem Instrumente)  und  b)  von  der  Nasenwurzel,  wo  die 
Nase  die  Stirn  berührt,  bis  zur  Kinnspitze. 

Die  Mittelgesichtshöhe  von  der  Nasenwurzel  bis 
zur  Mundspalte  (sonst  wie  oben). 

Die  Gesichtsbreite:  a)  Jochbreite  oder  größte 
Breite  der  Wangenbeingegend  mit  dem  Schiebeinstru- 
ment, b)  Wangenbeinhöckerbreite,  mit  demselben 
Instrument  zu  messen.  Man  tastet  dazu  mit  den  Fingern 
etwa  1  ^/s  cm  unter  dem  äußeren  Rande  der  Augenhöhlen 
den  Vorsprung  der  Wangenbeinhöcker  heraus,  c)  Untere 
Kieferwinkelbreite,  man  tastet  sich  die  Kieferwinkel, 
drei  Finger  breit  unter  dem  Ohr  und  etwas  nach  vorne 
gelegen,  als  unteren  hinteren  Endpunkt  des  Gesichtes 
heraus  und  mißt  in  der  mehrfach  angegebenen  Weise 
mit  dem  Schiebezirkel. 

Abstand  der  inneren  Augenwinkel,  Abstand 
der  äußeren  Augenwinkel  mit  dem  Schiebezirkel  zu 
messen. 

Die  Nase:  a)  Nasenhöhe,  mit  einem  Tasterzirkel 
zu  messen  (es  geht  übrigens,  wie  bei  allen  folgenden 
Maßen,  auch  mit  dem  Schiebezirkel  oder  mit  einem  an 
den  Spitzen  gut  abgerundeten  einfachen  Zirkel;  beim 
Tasterzirkel  wie  bei  dem  gewöhnlichen  Zirkel  liest  man 
die  Entfernung  der  Arme  an  einem  kleinen  Metermaße 
ab)  von  dem  Ansatz  der  Nasenscheidewand  an  die  Lippe 
bis  zur  Nasenwurzel,  b)  Nasenlänge,  von  dem  äußer- 
sten Punkt  der  Nasenspitze  bis  zur  Nasenwurzel,  c)  Nasen- 
breite,  größte  Breite  der  Nasenflügel  ohne  anzudrücken. 

Mund:  Länge  zwischen  den  Mundwinkeln. 

Ohr:  a)  Höhe,  von  dem  tiefsten  Punkte  des  Läpp- 
chens  bis   zum  höchsten  Punkte  der  Ohrmuschel,   senk- 


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378  Johaimee  Ranke, 

recht,  b)  Entfernung  des  Ohrlochs  von  der  Nasen- 
wurzel, mit  dem  Schiebezirkel  zu  messen.  Die  Spitze 
des  entsprechend  kurz  gestellten  beweglichen  Querarmes 
wird  in  die  Ohröf&iung  eingestellt,  der  feste  Querarm  auf 
die  Nasenwurzel  aufgelegt,  die  Mittelleiste  gerade  senk- 
recht nach  vorne  (nicht  schief  nach  rechts  oder  links) 
gehalten  und  nun  durch  Anschieben  des  beweglichen 
Armes  beide  Querarme  an  die  Meßpunkte  angedrückt. 

Als  letztes  Maß  erwähne  ich  noch  die  Messung  des 
Horizontalumfangs  des  Kopfes  mit  dem  Meterband 
(festes  Lederband  oder  besser  Stahlband)  Über  die  Augen- 
brauengegend und  hinten  über  die  größte  Hervorragung 
des  Hinterhauptes  so  gemessen,  daß  das  Band  möglichst 
straff  anliegt,  damit  die  Haare  den  thunlichst  kleinen 
Fehler  geben.  — 

Wir  haben  oben  die  öffentlichen  Badeanstalten  als 
besonders  geeignet  für  anthropologische  Aufnahmen  be- 
zeichnet. In  England  hat  man  die  bei  Volksfesten  be- 
sonders auf  dem  Lande  überall  auftauchenden  Buden,  in 
welchen  die  Leute  sich  wiegen  lassen  und  an  Dynamo- 
metern ihre  Muskelkraft  messen  können,  dazu  benutzt, 
diese  Aufiaahmen  durch  Messung  der  Körpergröße,  Be- 
stimmung des  Komplexionstypus,  des  Körpergewichts  und 
der  Muskelzugkraft  am  Dynamometer  für  die  Wissenschaft 
verwendbar  zu  machen.  Dieser  Oedanke  verdient  gewiß 
Beachtung  eventuell  Nachahmung,  obwohl  man  dabei  nicht 
vergessen  darf,  daß  dann  solche  Messungen  wirklich  exakt 
ausgeführt  werden  müssen,  also  z.  B.  die  Körpergrößen- 
bestimmung ohne  Fußbekleidung.  Die  Bestinmiung  des 
Körpergewichts  in  Kleidern  ist  wissenschaftlich  ganz  wert- 
los, das  würde,  abgesehen  vom  Militär,  am  besten  auch 
in  Badeanstalten  gemacht  werden  können.  Auch  die 
Rekruten  und  Soldaten  werden  bekanntlich  bei  Körper- 
gewichtsbestimmungen stets  nackt  gewogen.  — 

Damit  schließen  wir  diese  kursorische  Darstellung 
der  wichtigsten  Aufgaben  und  Methoden  zur  somatisch- 
anthropologischen  Beobachtung  im  Vaterlande,  und  geben 
im  folgenden  nur  noch  nach  den  neuesten  Vereinbarungen 
unter  den  deutschen  Anthropologen  eine  kurze  Zusammen- 


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Anthropologische  Beobachtungen.  379 

Stellung  alles  dessen,  von  dem  im  vorstehenden  als  zu 
beobachten  die  Rede  war.  Dabei  woUen  wir  nicht  ver- 
säumen, noch  einmal  speziell  darauf  hinzuweisen,  dafi  es 
keineswegs  die  Aufgabe  sein  kann,  alle  diese  Beobach- 
tungen an  jeder  Person  auszuführen,  sondern  daß  in  der 
angedeuteten  Weise  eine  Beschränkung  der  Aufgabe  auf 
nur  einzelne  Beobachtungen  schon  sehr  wichtige  Resultate 
geben  kann  (S.  361).  Das  Vorstehende  erklärt  das  folgende 
Aufnahmsschema.  

No. Anthropologische  Aufnahme. 

A.  Betrachtungen. 

Ort  und  Tag  der  Aufnahme: 


Name: 

Geschlecht;  J  ?    Alter: 

Stamm: Geburtsort: 

Beschaftigimg: 

EmahrnngszuBtand : 


Haut«  Farbe:  weiß,  brünett,  boud gebräunt 
Auge,  Iiis:  hellblau,  dunkelblau,  grau,  graubraun,  hellbraun,  braun, 
dunkelbraun,  schwarz. 

„       Form: _ 

Stellung: 


Haar,  Kopf:  blond,  hellbraun,  braun,  dunkelbraun,  schwarz,  rot. 

„  „       straff,  schlicht,  wellig,  lockig,  kraus,  spiral-gerollt. 

„       Bart:  Farbe  der  Haare  wie  oben. 

n  tt      Form     „        „        „        „ 

„      Achselhöhle:  auch  Farbe  und  Form. 
Kopf:  lang,  kurz,  schmal,  breit,  hoch,  niedrig. 
(Besicht:  hoch,  niedrig,  schmal,  breit,  oval,  rund,  flach,  profiliert. 
Stirn:  niedrig,  hoch,  gerade,  schräg,  voll  Wülste. 
Wangenbeine:  vortretend,  angelegt. 

Nase,  Wurzel:  , - -  Rücken:  

Nasenlöcher:  _   Flügel: 


Lippen:  vortretend,  voll,  mäßig  voll,  zart,  geschwungen. 

Zahne,  Stellung: ^ 

„       Aussehen:  opak,  durchscheinend^  maasig,  fein. 

Ohr,  Läppchen: — Durchbohrung: 

Hftnde : Nägel : 


Fasse,  längste  Zehe: Form: 

Sonstige  Besonderheiten: 


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380  Johannes  Ranke.- 

B.  Hessnngen. 
Maße  in  Millimetern. 

I.  Kopf. 

OrOsate  Länge: 

„        Breite: 

Ohrhohe: 

Stimbreite: 

GesichtehOhe,  A  (Haarrand):  

„  B  (Nasenwurzel):    

Hittelgeaicht  (Nasenwurzel  bis  Mund): 

Oesichtebreite,  a  (Jochbogen): 

„  b  (Wangenbeinhöcker): - 

„  c  (Kieferwinkel):  

Distanz  der  inneren  Augenwinkel: 

„  „    äußeren  „  

Naae,  Höhe: ^ Länge: 

„      Breite: 

Hand,  Länge: 

Ohr,  Höhe:  

Entfernung  des  Ohrloches  von  der  Nasenwurzel: . 
Horizontalamfang  des  Kopfes: 

II.  K5rper. 

Ganze  Höhe: 

Höhe  des  7.  Halswirbels  vom  Boden: 

„    Nabels  vom  Boden:  

„    großen  Rollhügels  (Trochanter) : 

der  Kniescheibe: „ 

des  äußeren  Fußknöchels  (Malleolus  ext.): 


im  Sitzen  des  Scheitels  über  dem  Sitz  (Sitzhöhe) : 

Elafterweite: 

Länge  des  Oberarms  vom   Rand   der  Schulterhöhe  bis  Ellbogen- 

höcker:  _ „ 

„        „    Unterarms,  Ellbogenhöcker  bis  Handgelenk:  __ 
„        „    Arms  als  Ganzes   (Schulterhöhe  bis  Spitze  des  Mittel- 
fingers =  Armlänge): 

Schnlterbreite:  

Brnstumfang: 

Hand,  Länge  (Mittelfinger): 

„    "  Breite  (Ansatz  der  4  Finger) : 

FoBs,  Länge : 

„      Breite: 

GrÖBBter  Umfang  des  Oberschenkels: 

,,  ,,        der  Wade: 


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Dialektforschung. 

Von 

Dr.  Friedrich  Xauffmann 

in  Marburg  i.  H. 


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So  allgemem  die  Ansicht  sein  mag,  daß  zum  Ge* 
samtbild  einer  Landes-  und  Volkskunde  Darstellung  der 
Mundart,  der  Sprechweise  des  Volkes  oder  Stammes  un- 
erläßlich sei,  so  ist  doch  kaum  die  Frage  aufgeworfen 
oder  genügend  beantwortet,  warum  eigentlich  dieser 
scheinbar  kleine  Zug  nicht  vermißt  werden  kann.  Wir 
wollen  hören,  wie  die  Menschen  reden,  als  wäre  ihre 
Sprache  lebendiger  Odem.  Ist  es  bloße  Neugierde 
wissen  zu  wollen,  wie  sonderbar  in  dieser  oder  jener 
Gegend  gesprochen  wird,  oder  liegt  yielleicht  doch  eine 
wissenschaftiche  Berechtigung  darin,  nicht  bloß  den 
Wortschatz  als  den  Niederschlag  der  gesamten  geistigen 
Verfassung,  sondern  gerade  die  einzelnen  Laute 
der  verschiedenen  Mundarten  kennen  zu  lernen?  Wir  fin- 
den die  Sprechweise  bei  dem  einen  Stamme  rauh  und 
ungelenk,  bei  dem  anderen  gemütlich  und  anheimelnd, 
beim  dritten  geziert  und  beleidigend,  beim  vierten  ver- 
drossen und  welche  Grundstimmung  sonst  noch  im  Klang 
der  Laute  zu  uns  reden  mag.  Doch  ist  leicht  zu  zeigen, 
daß  diese  Geschmacksurteile  meist  auf  einer  Art  Selbst- 
täuschung beruhen,  indem  immer  nur  die  eigene  subjek- 
tive Angewöhnung  des  Beurteilers  den  Maßstab  bildet. 
Der  Stammesangehörige,  der  mit  der  Mundart  seiner  Um- 
gebung groß  geworden,  wird  dieselben  Klänge  und  Ge- 
räusche lieb  und  traulich  finden,  die  vom  Standpunkt 
eines  sog.  Hochdeutsch  aus  widerlich  und  häßlich  er- 
scheinen. Der  Schwabe  sagt  vom  angrenzenden  Franken 
»er  singe*,  umgekehrt  wird   der  Franke  vom  Schwaben 


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384  Friedrich  KauffmanD, 

kaum  ein  charakteristischeres  Merkmal  anzugeben  wissen 
als  die  eigentümliche  Melodie  in  der  Sprache.  Von  dieser 
populären  Beurteilung  aus  werden  wir  folglich  nie  zu 
einer  sachgemäßen  Würdigung  der  Mundart  gelangen. 

Die  thatsächliche  Konstatierung,  daß  für  gewisse 
Begriffe  die  Wörter  dort  fehlen,  die  hier  vorhanden  sind, 
kann  ein  helles  Licht  auf  den  Eulturzustand  werfen.  Es 
ist  beispielsweise  für  die  Geistesrichtung  höchst  bezeich- 
nend, welche  Sinnes-  und  Seeleneindrücke  vorwiegend 
sprachlichen  Ausdruck  gefunden  haben,  welche  mehr  oder 
weniger,  welche  überhaupt  nicht.  Was  die  Wortbildung 
betrifft,  so  ist  bekannt,  daß  auf  niederdeutschem  Gebiet 
im  Gegensatz  zum  hochdeutschen  die  Verkleinerungssuffixe 
großenteils  auf  die  Ammensprache  beschränkt  sind,  in 
der  Verkehrssprache  der  Erwachsenen  fast  nie  vorkommen, 
gewiß  ein  interessantes  Kennzeichen  für  die  Verschieden- 
artigkeit in  der  Gemütsanlage  der  beiden  großen  Stämme. 
Wenn  nun  aber  in  Hessen,  teilweise  auch  in  der  Khein- 
provinz  und  anderwärts  zuweilen  statt  des  Nominativs  der 
Accusativ  gebraucht  wird,  oder  in  bayrischen  Dialekten 
uns  an  Stelle  von  wir,  haben  an  Stelle  von  sein  üblich  ist, 
so  wird  sich  daraus  nichts  allgemeineres  für  die  Charak- 
teristik des  Stammes  entnehmen  lassen;  es  sind  dies 
interessante  Details,  welche  die  Vorstellungen  von  unserer 
deutschen  Muttersprache  überhaupt  bereichern,  und  im 
Zusammenhang  der  Sprachgeschichte  von  Bedeutung 
werden.  Es  ließe  sich  denken,  die  Darstellung  der  ver- 
schiedenen einzelnen  Laute,  um  die  es  sich  zunächst 
handelt,  diente  gleichfalls  nur  einem  statistischen  Zwecke, 
aber  es  wird  sich  doch  auch  für  die  Lautforschung  der 
Nachweis  führen  lassen,  daß  sie  in  der  That  im  großen 
wie  im  kleinen  direkt  von  allgemeiner  wissenschaftlicher 
Bedeutung  ist. 

Die  Lehre  von  der  Sprache  des  Menschen  bildet  ein 
llauptkapitel  der  Disziplin,  für  die  der  unbestimmte  Name 
Anthropologie  üblich  ist,  der  Wissenschaft  vom  Men- 
schen, soweit  sie  sich  auf  die  erfahrungsmäßigen  beob- 
achtbaren Funktionen  und  Aeußerungen  seines  Wesens 
bezieht.    Die  Sprachwissenschaft,  im  Gefolge  davon  auch 


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Dialektforschung.  3g5 

die  mundartliche  Forschung,  muß  sich  dieser  Zusammen- 
gehörigkeit stets  bewußt  bleiben.  Wie  fast  in  allen 
Zweigen  der  Anthropologie  physische  und  psychische 
Kräfte  zusammenwirken,  beruht  die  Sprache  auf  einer 
unbewußten  Wechselwirkung  zwischen  der  Vor- 
stellungswelt und  den  (physiologischen)  Sprach- 
werkzeugen. Die  psychischen  Faktoren  anlangend 
ist  es  für  eine  fruchtbare  Dialektforschung  dringend  er- 
forderlich, sich  über  die  einfachsten  Bewegungsgesetze 
unserer  Vorstellungen  im  Bewußtsein  Klarheit  zu  ver- 
schaifen  ^).  Es  empfiehlt  sich  für  praktische  Zwecke  an 
Stelle  des  farbloseren  Begriffes  Bewußtsein  das  Gedächt- 
nis zu  setzen.  Die  zerstörenden  und  doch  auch  wieder 
aufbauenden  Prozesse  der  Gedächtniskraft,  vermöge  deren 
Formen  und  Wörter  zu  Grunde  gehen  (vergessen  werden), 
oder  Formen  und  Wörter,  ja  ganze  Sätze  mit  anderem 
Vorstellungsinhalt  sich  associieren  als  ihre  ursprüngliche 
Funktion  verlangte,  bilden  den  psychologischen  Erklärungs- 
grund für  das  Aussterben  von  Deklinations-  und  Kon- 
jugationsklassen, für  das  Umsichgreifen  anfänglich  be- 
schränkterer Flexionsweisen,  für  den  Wandel  der  Bedeutung 
der  einzelnen  Wörter,  für  die  Neuschöpfung  solcher,  wie 
für  deren  Verlust  u.  s.  w.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  bei  alledem  noch  eine  Reihe  weiterer  Kräfbe  mit- 
spielen, die  in  der  allgemeinen  Entwickelung  nach  außen 
und  innen  sich  zusammenfassen,  die  aber  nicht  alle  auf- 
gedeckt werden  können.  Ein  VorsteUungsinhalt,  der  im 
Gedächtnis  ruht  und  von  dessen  Funktionen  abhängig  ist, 
bildet  die  Grundvoraussetzung  für  alle  Sprachvorgänge. 
Das  für  unsere  Zwecke  wesentlichere  Element  der 
Sprache  ist  das  physiologische.  Die  Vorstellungen  des 
Individuums  sind  ebenso  Produkte  der  Gesellschaft,  wie 
sie  andererseits  auf  die  Gesellschaft  fördernd  wirken  sollen : 
so  ist  die  Sprache  das  wichtigste  Hilfsmittel  des  Verkehrs 
im  weitesten  Sinne   des  Wortes.     Die  Reize  der  motori- 


*)  Man  orientiert  sich  hierüber  am  besten  in  dem  Buche  von 
Hermann  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,  2.  Auflage. 
Halle  1886. 

Anleltnnß  zur  deutschen  L&ndei«  and  VolksforBohnng.  25 


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386  Friedrich  Kauffmann, 

sehen  Nerven,  der  Telegraphendrähte  im  menschlichen 
Organismus,  wie  sie  schon  bezeichnet  worden  sind,  aflS- 
zieren  das  Muskelsystem,  mit  gewissen  Vorstellungen 
associieren  sich  gewisse  Bewegungen  desselben,  die  ver- 
möge der  lautbildenden  Organe  als  Lautreihen  hörbar 
und  vermöge  identischer  Associationen  bei  der  gesamten 
Sprachgenossenschaft  verständlich  werden.  Die  ge- 
wohnheitsmäßige Wiederholung  derselben  Bewegungen 
ergiebt  fQr  die  einzelnen  Laute  feststehende  Bewegungs- 
gefühle. In  diesem  Sinne  hat  fQr  jedwede  Sprach- 
betrachtung das  einfachste  Bewegungselement,  der  Laut, 
den  fundamentalen  Ausgangspunkt  zu  bilden.  Für  die  in 
den  verschiedenen  Sprachen  und  Mundarten  vorhandenen 
einzelnen  Laute  kommen  nach  dem  bisherigen  als  wesent- 
liche Momente  in  Betracht: 

1.  Die  Nervenreize,  2.  die  Muskelbewegung,  3.  die 
Schallbildung  (nebst  Resonanz).  Wenn  wir  von  den 
Nervenreizen  als  der  großen  terra  incognita  absehen,  be- 
ruht die  Muskelbewegung  und  Schallbildung  auf  physi- 
kalisch-akustischen Gesetzen,  die  experimentell  konstatiert 
werden  können.  In  der  Verschiedenheit  dieser  Gesetze 
ist  die  Verschiedenheit  der  Sprachen  und  Mundarten  nach 
deren  Lautstand  begründet,  sie  ermöglichen  die  Aufstel- 
lung von  Lautsystemen.  Bald  ist  die  Muskelkontrak- 
tion energisch,  bald  schwächer;  in  der  einen  Mundart 
greifen  Muskelstränge  wirksamer  ein,  die  in  der  anderen 
nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  haben,  und  damit 
hängt  zusammen,  daß  die  von  den  Muskeln  dirigierten 
Organe,  wie  z.  B.  Kehlkopf  und  Zunge,  Kiefer,  Lippen, 
ganz  verschieden  funktionieren:  beim  Kehlkopf  Hebung, 
Senkung  oder  Indifferenzlage;  bei  der  Zunge  Vor-  oder 
Zurückschieben,  Auf-  oder  Abwärtskrümmen,  Zusammen- 
ziehen oder  Verbreitem  u.  s.  f.  So  werden  sich  in  jeder 
Einzelmundart  gewisse  stets  sich  gleichbleibende  Nei- 
gungen des  gesamten  Sprachorganismus  feststellen  lassen, 
die  bei  der  Lautbildung  zu  beobachten  sind,  z.  B.  ener- 
gische Muskelspannung  (die  sich  annäherungsweise  messen 
läßt),  lebhaftes  Heben  und  Senken  des  Kehlkopfs,  mehr 
Neigung  zu  Verbreiterung  als   Kompression   der   Zunge, 


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Dialektforschung.  387 

mäßige  £äeferöffiiung,  geringe  Lippenthätigkeit  und  wie 
sich  sonst  die  Zustände  im  Detail  naher  charakterisieren 
lassen  mögen.  Sievers  sagt  einmal  gelegentlich:  „Man 
unterlasse  nie  zu  untersuchen,  ob  sich  die  Abweichungen 
der  Einzelvokale  zweier  oder  mehrerer  Systeme  nicht  auf 
ein  gemeinsames,  die  Stellung  der  Systeme  ohne  weiteres 
charakterisierendes  Prinzip  zurückführen  lassen.  Solche 
Prinzipien  sind  beispielsweise  die  stärkere  oder  geringere 
Beteiligung  der  Lippen,  verschiedene  Stufen  der  Nasa- 
lierung. Femer  gehört  hierher  namentlich  auch  eine 
durchgehends  bei  allen  Vokalen  des  Systems  abweichende 
Lagerung  der  Zunge.  Versuche  ich  als  Mitteldeutscher 
z.  B.  eine  prägnant  norddeutsche  Mundart,  wie  etwa  die 
holsteinische,  zu  sprechen,  so  muß  ein  fUr  allemal  die 
Zunge  etwas  zurückgezogen  und  verbreitert  werden;  hat 
man  die  richtige  Lage,  gewissermaßen  die  Operations- 
basis, einmal  gefunden,  so  folgen  die  charakteristischen 
Lautnuancen  der  Mundart  alle  von  selbst.  Li  der  mir 
geläufigen  niederhessischen  Mundart  artikuliert  die  Zunge 
schlajBF  und  mit  möglichst  geringer  Anspannung  aller  ihrer 
Teile,  auch  die  Kehlkopfartikulation  ist  wenig  energisch. 
Um  dagegen  den  richtigen  Elangcharakter  der  sächsischen 
Mundarten  zu  treffen,  muß  die  ganze  Zunge  angestrafft 
werden  und  der  Kehlkopf  bei  stärkerem  Exspirationsdruck  * 
energischer  artikulieren.'' 

Besondere  Aufmerksamkeit  ist  der  Kehlkopf thätigkeit 
zu  widmen,  namentlich  auch  bezüglich  des  Verhaltens  der 
Stimmbänder  gegenüber  dem  von  den  Lungen  kommen- 
den Luftstrom;  von  der  Art  der  Oeffnung  derselben  hängt 
ab,  was  man  als  Accent  bezeichnet,  durch  die  Intensität 
der  Schwingungen  ist  die  Verschiedenheit  der  Tonhöhe 
bedingt,  außerdem  bestehen  im  Verhältnis  von  Exspirations- 
druck zur  Tonhöhe  verschiedene  Möglichkeiten.  Alle  diese 
elementaren,  iunerhalb  der  einzelnen  Mundart  stets  sich 
gleichbleibenden  Bewegungen  der  Sprachorgane  stellen 
dar,  was  man  als  die  eigentlich  konstitutiven  Faktoren 
der  Lautform  einer  Sprache  bezeichnen  kann;  von  ihrem 
Verhalten  und  ihrem  Zusammenwirken  ist  die  Sprachform 
abhängig;  man  wird  demgemäß  eine  Mundart  erst  dann 


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388  Friedrich  Kauffmann, 

begreifen  können,  wenn  die  konstitutiven  Sprachfaktoren 
festgestellt  sind. 

Mit  dem  Nachweis  dieser  konstitutiven  Faktoren  er- 
achte ich  auch  die  innere  Notwendigkeit  einer  Darstellung 
der  Lautverhältnisse  im  Rahmen  einer  Volkskunde  für 
erwiesen.  Gerade  in  der  Verschiedenheit  der  einzelnen  Laute 
prägen  sich  tieferliegende  Unterschiede  im  physiologischen 
Habitus  aus,  die  —  es  bedarf  keiner  weiteren  Worte  — 
wie  viele  andere  nie  bezweifelte  Merkmale  mit  dazu  dienen, 
eine  Volks-  und  Sprachgenossenschaft  in  ihrer  Eigen- 
artigkeit zu  erkennen.  Damit  ist  der  mundartlichen 
Forschung  Stellung  in  der  allgemeinen  Anthropologie 
angewiesen,  ihr  Zusammenhang  mit  der  Volkskunde  findet 
in  ebenderselben  ihre  innere  Begründung.  Es  ist  schon 
behauptet  worden,  daß  jede  Mundart  in  ihrem  Lautsystem 
eine  in  sich  geschlossene  Harmonie  darstelle;  diese  Har- 
monie ist  nichts  anderes  als  die  stets  identische  Funktion 
der  konstitutiven  Sprachfaktoren,  die  folglich  die  einzige 
Quelle  abgeben,  die  Mundarten  unter  sich  zu  vergleichen 
und  abzugrenzen. 

Im  folgenden  soll  auf  dieser  Grundlage  die  Methode 
der  mundartlichen  Forschung  im  Sinne  der  modernen 
Grammatik  skizziert  werden. 

Mundart  findet  sich  allüberall,  wo  Menschen  wohnen; 
aber  wie  der  Botaniker  die  Ziergärten  und  Gewächshäuser 
meidet  und  sorgsam  das  Künstliche  von  den  freien  Kin- 
dern der  Natur  zu  sondern  bestrebt  ist,  wird  der  Mund- 
artenforscher an  den  Städten  vorübergehen,  in  denen  ver- 
möge der  Ansprüche  des  Verkehrs  die  gemeindeutsche 
Schriftsprache  Boden  gewonnen  hat,  und  die  Dörfer  auf- 
suchen, um  hier  möglichst  der  unbeeinflußten,  ungekünstel- 
ten Rede  der  Eingeborenen,  wie  sie  sich  vom  Vater  zum 
Sohn  vererbt,  zu  lauschen.  Allein  man  wird  allgemein 
heutzutage  die  Erfahrung  machen,  daß  selbst  das  kleinste, 
entlegenste  Dorf  verschiedenartige  Sprechweisen  beher- 
bergt, die  mehr  oder  minder  voneinander  sich  abheben. 
Von  der*  Verschiedenheit  des  Alters  und  Geschlechtes  zu- 
nächst abgesehen,  spricht  der  Handwerker  meist  etwas 
anders   als   der  Bauer,   und   auch   dieser  verfügt  in   der 


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Dialektforschung.  389 

Regel  über  mehrere  Sprachformen,  die  nach  freier  Wahl 
oder  unbewußt  gebräuchlich  sind  ^).  Es  muß  von  vorn- 
herein festgehalten  werden,  daß  mit  dem  Gesellschafts- 
kreis die  Sprache  wechselt.  Nicht  bloß  in  dem  Sinne, 
daß  die  höheren  Stände  gewisse  Laute,  Wörter  oder 
Wendungen  vermeiden,  die  den  niederen  Ständen  geläufig 
sind,  sondern  wie  der  „Gebildete**  im  Verkehr  mit  dem 
Bauern  oder  Handwerker  gerne  den  angestammten  Dialekt 
spricht,  so  wird  auch  der  gemeine  Mann  im  Verkehr  mit 
nicht  gewohnten  Gesellschaftskreisen  anders  als  innerhalb 
der  eigenen  vier  Wände  reden.  Es  ist  damit  nicht  ge- 
sagt, daß  diese  veränderte  Sprechweise  auf  Entlehnungen 
aus  der  Schriftsprache,  die  ja  eindringlich  genug  durch 
Militärdienst,  Kirche,  Schule,  Presse  verbreitet  wird,  be- 
ruhe, vielfach  ist  es  nur  Dialekt  in  „gebildeterer**  Form, 
wobei  auffallende  Laute  und  Worte  möglichst  zurück- 
gehalten werden.  Jeder  Gesellschaftskreis  hat  dem- 
nach seine  eigene  Sprechweise.  Die  Feststellung  der 
Abweichungen  in  der  Mundart  verschiedener  Gesellschafts- 
kreise ist  eine  sehr  interessante,  allerdings  auch  sehr 
komplizierte  Aufgabe  (einfachste  Form  der  Sprachmischung). 
In  weiterem  Umfang  fällt  überhaupt  jegliche  Sprachform 
unter  den  Begriff  der  Mundart.  Es  ist  eine  alltägliche 
Beobachtung,  daß  es  (auch  auf  der  Bühne)  kaum  einen 
Menschen  giebt,  der  dem  Dialekt  seiner  Heimat  gänzlich 
zu  entsagen  verstünde,  selbst  die  höchste  Gesellschaft 
partizipiert  (vermöge  der  konstitutiven  Sprachfaktoren) 
an  dem  Sprechtypus  der  heimatlichen  Landschaft,  bei 
aller  schriftdeutschen  Angewöhnung  wird  allüberall  Mund- 
art gesprochen,  nur  eben  modifiziert  nach  den  Ansprüchen 
des  Gesellschafts-  und  Verkehrskreises,  mit  denen  grad- 
weise die  Gemeinsprache  zur  Herrschaft  gelangt'). 


')  Besondere  Aufmerksamkeit  ist  in  paritätischen  Gemeinden 
dem  Unterschied  in  der  Sprechweise  der  Konfessionen  zu  widmen. 

^Es  ist  wohl  überflüssig,  die  vielfach  verbreitete  Ansicht, 
ialekt  nichts  anderes  als  korrumpiertes,  verdorbenes  Schrift- 
deutsch wÄre,  ausdrücklich  zu  bekämpfen.  Unsere  Schriftsprache 
hat  sich  mit  unserer  Litteratur  zu  ihrer  heutigen  Form  entwickelt, 
sie  stellt   ein  Eonvolut  aus  ganz   verschiedenen  .Dialekten"   dar 


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390  Friedrich  Kauffmann, 

Unter  den  deutschen  Mundarten  verstehen  wir 
insgemein  nur  die  Sprachformen  der  Gesellschaft 
der  kleinen  Leute  auf  dem  platten  Lande.  Sie  sind 
historisch  geworden,  den  Einflüssen  der  Fremde  wenig 
ausgesetzt  und  eben  darum  als  einheitliche,  reine  Bil- 
dungen vom  größten  Interesse,  und  der  wissenschaftlichen 
Erforschung  ebenso  würdig  als  bedürftig.  Im  folgenden 
soll  „Dialekt,  „Mundart"  nur  in  diesem  engeren  Sinne 
gebraucht  werden. 

Der  Bestand  an  reinen  Volksmundarten  im 
Kreise  des  deutschen  Sprachgebiets  ist  noch  nicht  so  sehr 
gefährdet  als  gewöhnlich  beklagt  zu  werden  pflegt.  In 
den  Städten  und  deren  nächster  Umgebung  mag  vieles 
Stammheitliche  in  Laut  und  Wortschatz  überwuchert 
werden,  auf  dem  Lande  ist  davon  kaum  die  Rede.  Weil 
eben  die  Mundart  in  der  eigensten  physiologischen  und 
psychologischen  Konstitution  des  Stammes  begründet  ist, 
kommt  ihr  eine  stabile  Konsistenz  zu,  die  durch  Lehn- 
formen aus  der  Schriftsprache  nicht  beeinträchtigt  wird. 
Wohl  mag  in  Niederdeutschland  das  Plattdeutsche  einen 
harten  Kampf  zu  bestehen  haben;  für  die  große  Masse 
der  reichen  oberdeutschen  Dialekte,  die  von  der  deutschen 
Gemeinsprache  im  Lautstand  (z.  B.  Konsonantismus)  weni- 
ger eingreifend  abweichen,  ist  so  gut  wie  nichts  zu  be- 
ftlrchten,  aber  die  Bitte  um  eifriges  Sammeln  und  Forschen 
für  die  Wissenschaft  ist  hier  wie  dort  gleich  angebracht. 

Die  Sprachverhältnisse  einer  Landschaft  darzustellen 
erfordert  sehr  viel  mehr  Arbeit  und  Studium,  und  ist 
mit  viel  größeren  Schwierigkeiten  verknüpft,  als  der 
Fernstehende  auch  nur  ahnen  mag.  Liebevolle  Hingabe 
an  die  Interessen  des  Volkes  vereinigt  mit  einer  soi^- 
fältigen  Schulung  des  Gehörs  ist  die  Grundvoraussetzung 
für  die  Forschung.  Es  empfiehlt  sich  stets  von  der  Unter- 
suchung eines  kleinen  Bezirks,  am  besten  eines  einzelnen 
Ortes  auszugehen.  Im  allgemeinen,  von  zufälligen  günstigen 
Bedingungen  abgesehen,   muß  aufrecht  erhalten  bleiben, 


und   kann  im  Grande  genommen   mit  einer  Yolksmundart  über- 
haupt nicht  verglichen  werden. 


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Dialektforschung.  391 

daß  derjenige,  welcher  eine  Volksmundart  bearbeiten  will, 
derselben  Sprachgenossenschaft  angehöre.  Man  braucht 
dies  nicht  dahin  zu  überspannen,  daß  der  Forscher  über- 
haupt zuverlässig  genau  nur  seinen  eigenen  Dialekt  dar' 
zustellen  vermöge,  es  ist  sogar  empfehlenswerter,  einen 
vom  fleimatsort  entlegeneren  Punkt  der  Sprachgenossen- 
schaft zu  wählen,  weü  gewisse  (keineswegs  fremdartige) 
Verschiedenheiten  das  Beobachtungsvermögen  schärfen  und 
Selbsttäuschungen  verhüten.  Es  ist  dies  von  Wichtigkeit. 
Weil  der  Fremde  dem  Form-  und  Lautbestand  einer 
Mundart  gegenüber  in  der  Regel  darauf  angewiesen  ist, 
auf  Treu  und  Glauben  die  Beobachtungen  hinzunehmen, 
ergeht  die  dringende  Mahnung,  in  allen  Fällen  immer 
nur  das  wirklich  Vorhandene  und  exakt  Beobachtete 
wiederzugeben  und  sich  nicht  durch  Vermutungen  oder 
vermeintlich  berechtigte  Schlußfolgerungen  beeinflussen 
zu  lassen;  je  mehr  man  sich  in  eine  Mundart  eingelebt 
hat,  um  so  größer  ist  die  Verführung,  nach  eigenem  Gut- 
dünken über  das  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein 
fraglicher  Erscheinungen  zu  entscheiden. 

Bei  der  Sammlung  des  Sprachmaterials  erhebt  sich 
als  wichtigste  Vorfrage  die  nach  der  Orthographie. 
Die  Buchstaben  unserer  schriftdeutschen  Gemeinsprache 
sind  nicht  eindeutig  nach  Klangfarbe  bestimmt,  da  wir 
keinen  Kanon  der  Aussprache  besitzen.  Für  den  Sachsen 
sind  k,  t,  p  und  g,  d,  h  gleichwertig;  in  Mittel-  und 
Niederdeutscbland  wird  g  zwischen  Vokalen  und  am  Ende 
des  Wortes  nach  Vokalen  wie  schwaches  oder  starkes  ch 
gesprochen,  während  die  Süddeutschen  mit  dem  Zeichen  g 
den  Lautwert  eines  schwachen  k  verbinden;  in  alemanni- 
schen Dialekten  bedeutet  das  schriftdeutsche  e  in  sehr  die 
Länge  des  e-Lautes  in  besser  (geschlossenes,  nach  i  hin 
liegendes  e),  in  anderen  langes  ä,  und  diese  Aussprachs- 
formen sind  unbewußt  stets  beim  Hochdeutschreden  üblich. 
Um  solche  Unsicherheiten  und  Schwankungen  in  der  Vor- 
stellung des  gesprochenen  Lautes  zu  verhüten,  ist  als 
Regel  zu  beobachten,  niemals  sich  auf  eine  (land- 
schaftliche) Lautform  der  schriftdeutschen 
Aussprache  zu  beziehen,  um  dadurch  den  Laut 


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392  Friedrich  Kaaffmann, 

des  Dialekts  zu  yeranschaulichen.  Daraus  er- 
giebt  sich  die  Forderung,  daß  für  jeden  Dialekt  ein 
besonderes  Alphabet  aufgestellt  werden  muß  ^).  Dazu 
reichen  die  Buchstaben  des  gemeinen  Alphabets  nicht  aus, 
weil  in  unserer  Orthographie  vielfach  verschiedene 
Laute  durch  dieselben  Zeichen  vertreten  werden, 
man  veigleiche  8  in  den  Verbindungen  st,  sp,  je  nach 
An-  oder.  Inlaut;  bei  den  Vokalen  sind  namentlich  e  und  o 
mehrdeutig.  Die  Grundlage  für  jedes  Dialektalphabet 
haben  die  Zeichen  unserer  Büchersprache  zu  bilden, 
jedes  derselben  hat  einen  genau  zu  definierenden  und 
nur  diesen  einen  Lautwert  darzustellen,  und  zwar  so, 
daß  für  jeden  Einzellaut  ein  Zeichen  verwendet  wird, 
Buchstabengruppen,  wie  z.  B.  seh  für  den  einfachen  sch^ 
Laut  sind  unthunlich.  Weitere  Buchstaben,  die  nötig 
werden,  lassen  sich  leicht  entweder  aus  fremden  Alpha- 
beten entnehmen,  was  aber  aus  ästhetischen  Rücksichten 
möglichst  zu  beschränken  ist,  oder  durch  Hilfszeichen 
unterscheiden.  So  ist  für  seh  fast  allgemein  das  aus  dem 
Slawischen  stammende  h,  für  den  harten  di-Laut  vielfach 
lateinisch  ic,  für  den  weichen  5  (der  angelsächsische  Buch- 
stabe für  g),  für  das  einfahe  ng  am  besten  f&,  für  das  un- 
bestimmte e  am  Ende  der  Wörter  9  (umgekehrtes  e)  in  Ge- 
brauch; um  die  verschiedenen  Timbres  einer  und  derselben 
Vokalreihe  darzustellen,  lassen  sich  leicht  Punkte  oder 
Häkchen  anbringen  e,  e  (geschlossen),  e  (offen),  ebenso 
0;  p,  0.  Die  Nasalierung  bezeichne  man  durch  '^  über 
dem  Vokal,  z.  B.  ä,  Länge  des  Vokals  oder  des  Konso- 
nanten durch  über-  oder  untergesetztes  -,  z,  B.  a,  l,  w, 
während  die  Kürze  unbezeichnet  bleiben,  ein  dritter  Grad 
(Halbkürze  oder  Halblänge)  durch  ^  markiert  werden  kann. 
Vokale,  die  den  Silbeniktus  tragen,  werden  durch  folgen- 
des *  ausgezeichnet,  z.  B.  «*,  in  schwächerer  Nebensilbe  :, 
z.  B.  «:,  nachdruckslose  Vokale  brauchen  nicht  unter- 
schieden zu  werden;  vergleiche  z.  B.  schwäbisch  bi'r9bdnn 

')  Auf  die  Fra^e  eines  Standardalphabets  für  die  deutsche 
Dialektforschung  weiter  einzugehen  ist  hier  nicht  der  Ort;  die 
Entscheidung,  wie  sie  oben  getroffen,  entspricht  den  praktischen 
Bedürfnissen. 


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Dialektforschung.  393 

(Birnbaum)  u.  a. ;  ansteigenden  musikalischen  Ton  des  Vo* 
kals  oder  einer  ganzen  Silbe  stellt  ^^  absteigenden  ^^, 
steigend-fallenden  x^,  fallend-steigenden  n^  dar,  anderes 
wird  unten  zur  Sprache  kommen.  In  dieser  Weise  wird 
die  Orthographie  der  Anforderung  allgemeiner  Verständ- 
lichkeit entsprechen,  ohne  einen  gar  zu  fremdartig  ab* 
stoßenden  Eindruck  zu  machen. 

Nach  dieser  Vorbereitung  der  Transskription  kann 
mit  der  systematischen  Materialsammlung  begonnen 
werden.  Bei  der  Beschaffung  des  Materials  kommen  zwei 
Hauptquellen  in  Betracht:  1.  direkte  Aafiiahme  aus 
dem  eigenen  dialektischen  Sprachstoffe  oder  mittelst 
eigenen  Hörens  von  anderen  Individuen,  2.  indirekte 
Sammlung  durch  Zwischenpersonen  oder  schriftliche  Mit- 
teilungen. In  letzterem  Falle  ist  größte  Vorsicht  zu  em- 
pfehlen, der  indirekte  Weg  ist  überhaupt  nur  zulässig, 
wenn  der  Bearbeiter  an  Hand  persönlicher  Erfahrung 
sichere  Kontrolle  üben  kann.  Ob  nun  die  Auftiahme  mittel- 
bar oder  unmittelbar  erfolgt,  es  muß  in  erster  Linie  darauf 
geachtet  werden,  die  wirklich  gesprochene  natür- 
liche Mundart  sich  zugänglich  zu  machen.  Da  nun  die 
gesprochene  Sprache  ihr  natürliches  Dasein  nur  im  ferti- 
gen Satze  hat,  einzelne  Wörter  großenteils  nur  als  ge- 
drängte Sätze  (Wortsätze)  vorkommen,  muß  vermieden 
werden,  einzelne  Vokabeln  als  Quelle  der  Mundart  zu 
benutzen.  Die  Sammlungen,  die  in  dem  festge- 
setzten Transskriptionssystem  anzulegen  sind, 
bestehen  aus  den  Sätzen  der  alltäglichen  Rede, 
aus  denen  die  einzelnen  Wörter  und  Laute  erst 
entnommen  werden  müssen.  Von  allem  anderen  ab- 
gesehen, ist  diese  Methode  notwendig,  weil  vielfach  die 
einzelnen  Wörter  in  verschiedenen  Satzformen  ganz  ver- 
schiedene Lautung  zeigen  (man  denke  an  die  En-  und 
Proklitika),  die  sich  eben  nur  im  Zusammenhang  des 
ganzen  Satzgefüges  richtig  erkennen  läßt.  Einzelne 
Wörter  aus  dem  Satzzusammenhang  losgelöst,  nehmen 
auf  Anfrage  im  Munde  der  Mitteilenden  sehr  leicht  eine 
unnatürliche  Lautung  an,  weil  auf  diese  Weise  die  Re- 
flexion über  das  Auszusprechende  vielfach  störend  ein- 


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394  Friedrich  Kaufmann, 

wirkt.  Was  aber  am  eindringlichsten  diese  Art  der 
Materialsammlung  erfordert,  das  sind  die  sog.  Sandhi- 
erscheinungen.  Man  versteht  unter  diesem  der  alt- 
indischen Grammatik  entlehnten  Terminus  die  häufigen 
Angleichungen  und  Verschmelzungen,  die  bei  der  Auf- 
einanderfolge verschiedener  oder  derselben  Laute  im  Satz- 
gefüge eintreten.  Jeder  Dialekt  liefert  in  dieser  Hinsicht 
die  interessantesten  und  instruktivsten  Belege,  man  ver- 
gleiche z.  B.  aus  der  Kerenzer  Mundart  (Kanton  Glarus, 
Schweiz) :  wempfebwit  (wenn  du  fehlen  willst),  simpur^tsfrid^ 
(sind  die  Bauern  zufrieden),  gotakebigot  (gut  Tag  geb  euch 
Gott)  u.  s.  f.  Diese  Sandhierscheinungen,  die  unsere  ge- 
meine Orthographie  nicht  berücksichtigt,  bedürfen  ganz 
besonderer  Aufmerksamkeit,  da  sie  leicht  infolge  unserer 
Vorstellungen  vom  isolierten  Wortkörper  gar  nicht  be- 
achtet werden,  während  sie  doch  das  Hauptcharakteristi- 
kum  der  gesprochenen  Rede  im  Gegensatz  zur  ge- 
schriebenen ausmachen.  Werden  schriftliche  Aufzeich- 
nungen, Dialektproben  in  Prosa  oder  Poesie  als  Quellen 
benutzt,  so  müssen  in  der  Regel  Umsetzungen  in  die 
Sprechformen  stattfinden,  die  eben  nur  persönliche  Er- 
fahrung vorzunehmen  vermag.  Einen  Dialekt  rein  nach 
geschriebenen  Quellen  behandeln  zu  wollen,  führt  im 
günstigsten  Falle  zu  dürftigen  Einzelbeobachtungen,  vom 
allgemeineren  Standpunkt  aus  ist  es  ein  Ding  der  Un- 
möglichkeit. Selbst  hören  ist  für  den  Dialektforscher  die 
Devise.  Auf  den  Gassen,  in  den  Familienstuben,  in  der 
Schenke,  auf  dem  Felde  bei  der  Arbeit,  überall  wo  die 
Menschen  sich  finden,  halte  man  die  Ohren  offen  und 
gewöhne  sich  ganz  unabhängig  vom  Inhalt  des  Gesproche- 
nen möglichst  scharf  die  Sätze  als  ganze  wie  in  ihren 
kleinsten  Teilen  aufzufassen.  Es  ist  ratsam,  zunächst 
einmal  möglichst  viel  zu  hören,  ohne  sich  Notizen  zu 
machen,  um  über  die  verschiedenen  Laute  nach  ihrem 
akustischen  Eindruck  sich  möglichst  klar  zu  werden,  die 
Verbindung  derselben,  die  Uebergänge  vom  einen  zum 
anderen,  den  Accent,  den  musikalischen  Tonfall  der  ein- 
zelnen Silben  wie  des  ganzen  Satzes  zu  erkennen,  um 
selbst  möglichst  bald   korrekt  und  treffend  nachsprechen 


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Dialektforschung.  395 

zu  können  und  sich  von  allen  Angewöhnungen  der  schrift- 
deutschen Umgangssprache  zu  emanzipieren. 

Nachdem  dies  erreicht,  wende  man  sich  an  einzehie 
Individuen  verschiedenen  Alters  und  Geschlechtes,  von 
denen  man  sich  einer  unbeeinflußten,  rein  dialektischen 
Rede  versichert  halten  kann.  Man  benutzt  sie  am  frucht- 
barsten in  der  Weise,  daß  man  sich  von  ihnen  Histör- 
chen, Anekdoten,  Abergläubisches,  Gemeinnütziges  jeg- 
licher Art  vorerzählen  läßt  und  möglichst  exakt  Satz  für 
Satz  nachschreibt,  achte  aber  peinlich  darauf.  Laut  fUr 
Laut  zu  schreiben,  wie  sie  zu  Gehör  kommen^).  Not- 
wendig muß  im  Tempo  wegen  des  Nachschreibens  Ver- 
langsamung eintreten,  auch  die  Pausen  werden  gedehnter 
als  in  der  gewöhnlichen  Rede,  allein  dadurch  wird  kein 
oder  nur  sehr  geringer  Schaden  gestiftet,  indem  Tempo 
und  Pausen  für  sich  nachträglich  durch  Wiederholung 
des  bereits  aufgezeichneten  in  natürlichem  Vortrag  kon- 
statiert werden  können,  und  dabei  auch  etwaige  lautliche 
Abweichungen  hervortreten.  Bei  dieser  Art  von  Auf- 
zeichnung ergiebt  sich  meist  von  selbst  die  wichtige 
Regel:  Zusammengehöriges  zusammenzuschreiben, 
durch  Pausen  Getrenntes  auch  schriftlich  zu 
trennen.  Man  wird  sich  der  einzelnen  Teile  gar  nicht 
bewußt,  aus  denen  der  Satz  sich  zusammenfügt,  das  ein- 
zelne Wort  ist  erst  eine  sekundäre  Abstraktion  aus  dem 
einheitlichen  Satzteile.  In  jedem  Satz  schließen  sich  ein- 
zelne Gruppen  von  Silben  ganz  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  sie  einem  oder  verschiedenen  Wörtern  angehören,  zu- 
sammen; der  Beginn  jeder  Gruppe  ist  jedesmal  durch  eine 
stärker  gesprochene  Silbe  markiert,  z.  B.  der  Satz:  gib  mir 
das  Biich  her,  zerfällt  bei  ruhiger  Aufforderung  deutlich 
unterscheidbar  in  die  zwei  Teile:  gi'bmirdas  \  Buchher; 
je  nach  Wechsel  des  Affekts  können  mehrere  Silben  her- 
vorgehoben werden,  die  Silbengruppen  sind  also  nicht  ein 
für  allemal  fest;  der  Taktierung  der  Musik  vergleichbar 

*)  Stenographie,  die  schon  empfohlen  worden  ist,  will  mir 
wegen  der  Fülle  der  Hilfszeichen  wie  aas  anderen  Gründen  nicht 
zweckdienlich  erscheinen,  doch  bekenne  ich  gern,  daß  es  mir  an 
persönlicher  Erfahrung  hierin  fehlt. 


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396  Friedrich  Kauflünann, 

hat  man  sie  Sprechtakte  genannt.  Auf  deren  innerem 
Bau  und  Abgrenzung  in  den  verschiedenen  Satzformen 
beruht  die  Wirkung  der  Rede  auf  die  Gemüter,  vergl.  z.  B. 
gi'b  I  mrr  cUis  |  Bwch  her  oder  gibmirdasBuchher  u.  s.  w. 
Die  Sprechtakte  sind  in  den  Aufzeichnungen  zu  vermerken. 

Nachdem  in  dieser  Weise  1.  die  Sprachorgane  des 
Beobachtenden  übungsmä&ig  auf  den  zu  bearbeitenden 
Dialekt  eingeschult  und  die  Nachsprechversuche  gelungen 
sind,  2.  auf  Grund  dieser  Voraussetzung  mittelst  der  Buch- 
staben und  Zeichen  auf  dem  Papier  ein  Laut  für  Laut 
genaues  Bild  der  gesprochenen  Rede  fixiert  ist,  dann  erst 
kann  man  sich  auf  die  Studierstube  zurückziehen  und  mit 
der  Bearbeitung  beginnen.  Der  Endzweck  ist  dabei: 
Fremden,  mit  dem  Dialekt  nicht  vertrauten  Lesern  treffend 
und  anschaulich  die  gesprochene  Mundart  darzustellen, 
durch  schriftliche  Mitteilung  die  persönliche  Erfahrung 
zu  ersetzen.  Es  ist  das  nur  annähernd  zu  erreichen. 
Die  besten  Dienste  leistet  hierzu  prägnante  Erfassung  der 
konstitutiven  Faktoren  des  Dialekts. 

Die  Bearbeitung  eines  Dialekts  läßt  sich  etwa  folgen- 
dermaßen gliedern: 


I.  PhonetiHche  Analyse  der  Mundart^). 

Der  gesprochene  Satz  besteht  aus  einer  ununter- 
brochenen Reihe  von  Sprachelementen.  Diese  Elemente 
sind  verschiedener  Natur:  Klänge  (Vokale)  wechseln  mit 
Geräuschen  (Konsonanten),  lautlose  Pausen  unterbrechen 
kontinuierliche  üebergänge  vom  einen  zum  anderen: 
sprechen  wir  apa,  so  setzt  die  Stimme  klingend  mit  a 
ein,  der  Ton  verklingt  leise  und  allmählich,  bis  die  Lippen 
sich  schließen  und  ein  Moment  der  Lautlosigkeit  (/?)  ein- 
tritt, die  Lippen  öffnen  sich,  bei  scharfem  Zuhören  wird 


*)  Veryl.  Eduard  Sievers,  Grundzüge  der  Phonetik,  S.Auf- 
lage, Leipzig  1886;  Wilheltn  Victor,  Elemente  der  Phonetik 
und  Orthoepie  des  Deutschen,  Englischen  und  Französischen.  2.  ver- 
besserte Auflage.  Heilbronn  1887. 


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Dialektforschung.  397 

ein  leises  Anklingen  des  a  yernehmbar,  das  schließlich  im 
reinen  a-Laute  gipfelt.  All  das  vollzieht  sich  mit  außer- 
ordentlicher Geschwindigkeit.  Während  der  Buchstabe^ 
demnach  nichts  anderes  als  die  Pause  des  Lippenver- 
schlusses  bezeichnet,  bleiben  die  sehr  leisen  Uebergänge 
von  dem  hellklingenden  a  zu  diesem  Verschlusse  wie  un- 
mittelbar nach  demselben  in  unserer  Orthographie  un- 
bezeichnet.  Daraus  folgt,  daß  die  Buchstaben  unseres 
Alphabets  streng  genommen  nicht  einzelne  Laute,  sondern 
Lautgruppen  darstellen,  deren  markiertes  Glied  wir  sicht- 
bar ausdrücken,  während  die  umgebenden  leiseren  Klänge 
nicht  berücksichtigt  werden.  Diese  letzteren,  die  sog. 
Uebergangs-  oder  Gleitlaute,  sind  sehr  schwer  zu 
konstatieren;  solange  es  an  geeigneten  Instrumenten  fehlt, 
wird  man  sich  auf  allgemeinere  Angaben  zu  beschränken 
haben. 

Die  übrigen  Elemente  des  Satzes  sind  sowohl  nach 
akustischem  Eindruck,  wie  nach  ihrer  physiologischen 
Entstehung  zu  definieren. 

Vom  Standpunkt  des  beobachtenden  Hörers  aus 
nehmen  wir  unmittelbar  am  gesprochenen  Satze  ver- 
schiedene Grade  von  Nachdruck  wahr,  mit  denen  die 
Atmungswerkzeuge  des  Sprechenden  operieren,  und  diesem 
Wechsel  von  stark  und  schwach  Gesprochenem  geht  eine 
musikalische  Satzmelodie  parallel,  in  der  wir  hohe  und 
tiefe,  auf  und  ab  steigende,  andauernde  und  kurze  Töne 
unterscheiden.  Einerseits  die  Exspiration,  andererseits 
die  Quantität  und  Tonbildung  begleiten  die  Laute 
vom  Beginn  bis  zu  Ende  des  Satzes,  das  gegenseitige 
Verhältnis  ist  ein  durchaus  unabhängiges,  indem  die  ver- 
schiedensten Grade  von  Nachdruck,  Dauer  und  Betonung  *) 
bei  einem  und  demselben  Laute  möglich  sind. 

*)  Ton,  Betonung  u.  s.  w.  verstehen  wir  immer  nur  in  musika- 
lischem Sinne,  die  Nachdrucksverhältnisse  dürfen  nicht  damit  zu- 
sammengeworfen werden. 


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398  Friedrich  KaufFmann, 

1.  Die  Druckverhältnisse  der  Exspiration  0- 

Der  Luftstrom,  der,  aus  der  Lunge  getrieben,  die 
einzelnen  Sprachwerkzeuge  passiert,  hat  in  verschiedenen 
Mundarten  ganz  verschiedene  Intensität;  es  ist  eine  der 
dringlichsten  Aufgaben,  dieselbe  wenigstens  annäherungs- 
weise für  die  Einzelmundart  zu  messen.  Die  Intensität 
hängt  von  der  Spannung  der  Muskeln  unseres  Sprach- 
organismus ab  und  kann  demgemäß  zuweilen  auch  an 
den  äußeren  Organen  wahrgenommen  werden,  z.  B.  f  in 
der  Mundart  von  Eerenzen  (s.  oben  S.  394)  wird  mit  solch 
energischer  Spannung  hervorgebracht,  daß  sich  die  Lippen 
einwärts  krümmen,  wie  dies  bei  h  nicht  der  Fall  ist.  Es 
lohnt  die  aufgewendete  Mühe  reichlich,  das  Verhältnis 
der  Druckverschiedenheiten  bei  den  Konsonanten  festzu- 
stellen. Folgender  einfacher  Apparat  ist  zu  benutzen: 
ein  dünner  Eautschukschlauch  wird  an  einer  u-f5rmig 
gebogenen,  zu  etwa  einem  Drittel  mit  gefärbtem  Wasser 
gefüllter  Glasröhre  befestigt,  das  andere  Ende  wird  in 
den  Mund  bis  hinter  die  Stelle  eingeführt,  wo  der  be- 
treffende Konsonant  gebildet  wird;  spricht  man  nun  g  ab- 
wechselnd mit  k  oder  b  abwechselnd  mit  p  etc.,  so  läßt 
sich  das  Druckverhältnis  ohne  weiteres  an  der  verschiedenen 
Steigungshöhe  der  Wassersäule  bemessen  und  zahlenmäßig 
ausdrücken,  z.  B.  bei  p  steigt  die  Säule  P^/2mal  so  hoch 
als  bei  b  u.  s.  w.  Nebenher  versäume  man  nicht,  auf 
das  verschiedene  Muskelgefuhl  zu  achten,  das  sich  bei 
der  Aussprache  von  Lauten  verschiedener  Druckstärke  in 
den  Organen  kundgiebt.  Die  Ergebnisse  sind  för  die  Ver- 
gleichung  verschiedener  Mundarten  von  größter  Wich- 
tigkeit. 

2.  Quantität. 

Jeder  Sprachlaut,   Vokal  wie  Konsonant,   ist  einem 
Wechsel  der  Exspiration sdauer  unterworfen.    Dieselbe 


^)  Wie   weit  Inspiration  bei  der  Lautbildung  eine  Rolle 
gpielt,  ist  im  einzelnen  Falle  zu  konstatieren. 


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Dialektforschung.  399 

hat  in  jeder  Mundart  eine  Anzahl  von  Abstufungen.  Die 
landläufige  Grammatik  hat  den  höchst  dürftigen  Unter- 
schied langer  und  kurzer  Laute  aufgestellt,  mit  denen 
ein  praktischer  Sprachbetrieb  unmöglich  auskommen  kann. 
Die  Abstufungen  der  Quantität  sind  zahllos.  Die  Zeit- 
dauer der  Einzellaute  hängt  generell  von  dem  Sprech- 
tempo ab,  d.  h.  von  der  Geschwindigkeit  der  Lautfolge. 
Der  Usus  der  verschiedenen  Mundarten  ist  in  diesem 
Punkte  wieder  ein  sehr  abweichender,  und  allerorts  müssen 
Beobachtungen  angestellt  werden.  Da  das  Tempo  eines 
der  Hauptausdrucksmittel  der  Stimmungen  und  AflTekte 
ist,  muß  etwaigen  Messungen  gleichmäßig  die  ruhige  Eon- 
versation zu  Grunde  gelegt  werden,  die  Extreme  sind  von 
da  aus  zu  konstatieren.  Was  man  Kürze  oder  Länge  des 
Vokals  oder  Konsonanten  nennt,  ist  für  jede  Mundart  eine 
unklare  Vorstellung,  solange  man  nicht,  was  leider  fast 
ausnahmslos  der  Fall  ist,  diese  beiden  Grade  gegenseitig 
vergleicht.  In  schweizerischen  Mundarten  ist  das  Ver- 
hältnis von  Kürze  zur  Länge  ein  viel  schrofferes  als  in 
mitteldeutschen.  Großenteils  ist  die  Kürze  der  Länge 
angenähert,  zahlenmäßig  kann  dies  am  besten  zum  Aus- 
druck gebracht  werden,  Zeitverhältnis  der  Kürze  zur  Länge 
wie  1  :  2  oder  2 :  3  u.  s.  w.  Allein,  wie  gesagt,  Länge 
und  Kürze  sind  immer  nur  Sammelbegriffe.  Sehen  wir 
von  den  bei  wechselndem  Tempo  eintretenden  Quantitäts- 
differenzen ab,  so  stehen  die  Vokale  der  unbetonten 
Silben  an  Zeitdauer  hinter  denen  der  betonten  Silben 
zurück,  betonte  Vokale  in  Diphthongen  unterscheiden  sich 
merklich  an  Quantität  von  denselben  Vokalen  in  selb- 
ständiger Funktion,  in  vielen  Mundarten  ist  der  betonte 
Vokal  in  Satzpause  gedehnter  als  im  Satzinnem  u.  s.  w. 
Es  ist  nicht  schwer,  meist  5 — 6  verschiedene  Quantitäten 
nachzuweisen,  die  noch  lange  nicht  das  Thatsächliehe 
erschöpfen,  über  das  wir  erst,  mit  Instrumenten  versehen» 
genügendes  aussagen  könnten.  Bei  den  Konsonanten  ist 
es  schwieriger,  mehr  Grade  als  lang  oder  kurz  wahrzu- 
nehmen. Das  Wichtigste  bleibt  überall  eine  möglichst 
anschauliche  Definition  von  dem  gegenseitigen  Verhältnis 
zwischen  den  einzelnen  Graden,   da  der  Fremde  im  Er- 


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400  Friedlich  Kaaffmann, 

mangelungsfalle  immer  fehlerhafterweise  die  Zustande 
seiner  eigenen  Sprechgewohnheit  einsetzen  wird.  Hilfs- 
zeichen der  Darstellung  sind  leicht  zu  bilden,  kürzeste 
Vokale  bleiben  unbezeichnet,  halbkurze  bekommen  ^^^  halb* 
lange  -',  lange  -,  überlange  -  u.  s.  w. 

3.  Die  Tonbewegung  der  Stimme. 

Wir  sehen  hier  von  der  Modulation  ab,  die  syntak- 
tischen Zwecken  dient,  daß  etwa  bei  der  Frage  in  den 
meisten  Mundarten  (anscheinend  nicht  in  allen)  die  Stimme 
gegen  das  Ende  ansteigt  und  ähnliches,  es  handelt  sich 
hier  um  die  Betonung  bei  affektloser  Rede.  In  populärer 
Ausdrucks  weise  bezeichnet  man  diese  Tonbewegung  als 
^ysingen**.  Hier  ist  größte  Vorsicht  erforderlich.  Oft  und 
yiel  wird  von  den  Angehörigen  einer  Sprachgenossenschaft 
geleugnet,  dafi  sie  „ singen '',  während  der  Fremde  dies 
unzweifelhaft  bestätigt;  es  ist  sehr  schwer,  sich  der  heimat- 
lichen Melodieen  zu  entäußern.  Es  handelt  sich  darum, 
ob  in  der  Mundart  neben  dem  Wechsel  der  Druckstärke- 
grade ein  solcher  zwischen  hohen  und  tiefen  Noten  her- 
geht, d.  h.  ob  ein  Vokal  unter  starkem  Druck  zugleich 
musikalisch  hoch,  ein  Vokal  mit  schwachem  Druck  musi- 
kalisch tief  liegt  oder  umgekehrt.  Eine  gewisse  Ton- 
modulation ist  in  jeder  Mundart  vertreten,  schwankend 
ist  nur:  einmal  das  Verhältnis  zur  Intensität  der  Exspi- 
ration, zum  anderen  die  Abstände  zwischen  hohen  und 
tiefen  Tönen,  die  Intervalle.  Die  Intervalle  der  schweize- 
rischen Dialekte  sind  bekanntlich  sehr  auffallend,  am 
Niederrhein  sollen  Intervalle  bis  zur  Oktave  aufsteigen, 
leider  ist  von  diesen  Dingen  noch  sehr  wenig  bekannt 
geworden;  mau  bezeichne  die  Intervalle  künftighin  mit 
den  geläufigen  Ausdrücken  der  musikalischen  Technik 
(kleine,  große  Terz,  Quart,  Quinte  u.  s.  w.).  Im  schwäbi- 
schen Dialekt,  wahrscheinlich  ganz  allgemein  soweit  der 
alemannische  Stamm  reicht,  sind  die  Vokale  mit  starker 
Exspiration  (d.  h.  in  der  Wurzelsilbe)  musikalisch  tiefer 
als  die  Vokale  der  Endsilben  bei  schwachem  Druck. 
Das  einfachste  Mittel    die  Betonung  sich  deutlich  zu  Ge- 


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Dialektforschung.  401 

hör  zu  bringen,  ist,  die  einzelnen  Wörter  oder  Sätze  bei 
geschlossen  gehaltenen  Lippen  zu  sprechen,  die  Intervalle 
werden  sich  auf  diese  Weise  sehr  scharf  abheben.  Es  ist 
ün  Interesse  allgemeiner  Fragen  dringend  zu  wünschen, 
unsere  Dialekte  auf  die  musikalische  Seite  hin  zu  unter- 
suchen; es  mag  vieles  Stückwerk  bleiben,  die  Meinung, 
unmusikalisch  zu  sein,  wird  sich  bei  wiederholten  XJebun- 
gen  diesen  einfachen  Formen  gegenüber  kaum  als  stich- 
haltig erweisen. 

4.  Die  Elnzellante. 

Zur  allgemeinen  Verständlichkeit  der  orthographi- 
schen Zeichen  ist  eine  genaue  Beschreibung  der  Laut- 
werte derselben  unumgänglich.  Wir  verstehen  unter 
einem  Laut  die  bestimmte  Modifikation,  welche  der  aus 
den  Lungen  getriebene  Luftstrom  entweder  im  Kehlkopf 
oder  im  Ansatzrohr,  d.  h.  im  Schlund-,  Mund-  oder 
Nasenraum,  erfahrt.  Zum  Zustandekommen  eines  Sprach - 
lautes  sind  drei  Faktoren  erforderlich: 

1.  ein  Exspirationsstrom,  dessen  wechselnde  Stärke 
durch  die  Thätigkeit  der  Atmungsmuskulatur  regu- 
liert wird; 

2.  eine  Hemmung  dieses  Stromes  teils  im  Kehlkopf, 
teils  im  Ansatzrohr,  teils  in  beiden  gleichzeitig,  die 
dem  6rade  wie  der  Dauer  nach  verschieden  sein 
kann  und  den  Schall  erzeugt; 

3.  ein  Resonanzraum,  welcher  dem  durch  das  Zu- 
sammenwirken von  Exspirationsstrom  und  Hemmung 
erzeugten  Schall  seine  spezifische  Färbung  giebt. 

Dar  wichtigste  Merkmal  für  den  Einzellaut  ist  der 
schallerzeugende  Ort  der  Exspirationshemmung, 
der  Resonanzraum  wirkt  ja  nur  schallmodifizierend.  Tritt 
die  Hemmung  des  Luftstromes  im  Kehlkopf  durch  Zu- 
sammentreten der  Stimmbänder  ein,  so  geraten  diese  in 
Schwingung,  es  entstehen  Klänge  und  der  Luftstrom  wird 
dadurch  zum  Stimmton,  auch  kurz  Stimme  genannt; 
die  Vokale  sind  nichts  anderes  als  dieser  durch  einen 
wechselnden  Resonanzraum  in  Mund  oder  Nase  verschie- 

Anleltnng  zur  detitaoben  Landes-  und  Yolksfonobimg.  26 


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402  Friedrich  Kauffmans, 

denaxtig  modifizierte  Stiromton.  Bleiben  die  Stimmbänder 
offen,  so  streicht  der  Luftstrom  durch,  der  Stimmton 
fehlt;  etwaige  Hemmungen  im  Rachen  oder  Munde  er- 
zeugen Geräusche,  deren  verschiedenartige  Resonanz  in 
der  Mund-  oder  Nasenhöhle  die  stimmlosen  Konso- 
nanten ergiebt.  Eine  dritte  Kategorie,  die  stimm- 
haften Konsonanten,  werden  gebildet,  wenn  die  Stimm- 
bänder wie  bei  den  Vokalen  mitschwingen  und  der 
Stimmton  im  Ansatzrohr  eine  zweite,  der  der  stimm- 
losen entsprechende  Hemmung  erfährt. 

In  diese  drei  Gruppen  sind  sämtliche  Laute  einzu- 
reihen. Bei  den  deutschen  Mundarten  ist  es  von  be- 
sonderem Interesse,  in  jedem  einzelnen  Fall  den  Anteil 
der  stimmhaften  Konsonanten  am  Lautmaterial  zu  kon- 
statieren. Fast  überall  in  Niederdeutschland  fallen  b,  djg 
darunter,  während  umgekehrt  der  größere  Teil  von  Mittel- 
und  ganz  Süddeutschland  dieselben  stimmlos  ohne  Hem- 
mung im  Kehlkopf  bilden.  Ob  Stimmton  bei  der  Bil- 
dung der  Konsonanten  einer  Mundart  beteiligt  ist  oder 
nicht,  läßt  sich  erkennen,  indem  man  beide  Ohren  fest 
zuhält  und  die  einzelnen  Laute  durchspricht,  sobald  die 
Stimmbänder  mitschwingen,  macht  sich  ein  eigenartiges 
starkes  Summen  im  Kopfe  vernehmbar. 

a)  Die  Artikulationen  der  Vokale. 

unter  Artikulation  verstehen  wir  das  Verhalten  des 
Kehlkopfs  und  Ansatzrohrs  gegenüber  dem  Luftstrom. 
Daß  die  Verschiedenheit  der  Vokale  a,  e,  i,  o,  u  nichts 
anderes  ist  als  ein  und  derselbe  im  Kehlkopf  durch 
Stimmbänderschwingungen  erzeugte  Stimmton  oei  ver- 
schieden abgestuftem  Resonanzraum,  ist  bereits  bemerkt. 
Die  Stellung  des  Kehlkopfs,  ob  er  bei  Bildung  eines 
Vokals  hoch  steht  oder  sich  senkt,  ist  zu  beobachten,  in- 
dem man  den  Finger  auf  den  von  außen  leicht  fühlbaren 
Knorpel  auflegt  und  dessen  Bewegungen  folgt.  Bei  jedem 
Vokal  ist  femer  als  das  Wichtigste  die  Form  des  zuge- 
hörigen Resonanzraums  möglichst  anschaulich  zu  schildern. 
Es  handelt  sich  dabei: 


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Dialektforschung.  403 

1.  um  das  Verhalten  des  Gaumensegels,  von 
dessen  Funktion  die  Beteiligung  der  Nase  abhängt;  liegt 
das  Segel  hinten  an  der  Rachenwand  angepreM,  so  ist 
der  Fanal  zur  Nase  für  den  Luftstrom  abgeschlossen  und 
es  entstehen  die  reinen  Vokale;  hängt  dagegen  das 
Segel  frei  schwebend  herab,  so  giebt  der  Nasenraum 
gleichfalls  eine  Resonanz  für  den  Stimmton  ab  und  es 
entstehen  die  Nasalvokale.  Verschiedene  Stufen  sind 
auch  hier  zu  beobachten.  Viele  Mundarten  kennen  nasa- 
lierte Vokale  überhaupt  nicht,  in  anderen  ist  die  Nasa- 
lierung leichter,  in  anderen  intensiver,  die  Ursache  liegt 
in  der  Spannung  des  Gaumensegels.  Als  einfaches  Ex- 
periment empfiehlt  sich  bei  der  Bildung  der  Vokale  sich 
die  Nase  zuzuhalten;  ist  der  Nasenkanal  offen,  so  tritt 
eine  auffallende  Veränderung  der  Vokaltimbres  ein,  ist 
der  Zugang  abgeschnitten,  so  kommt  der  Vokal  gleich 
rein  zur  Geltung,  ob  die  Nasenlöcher  frei  sind  oder  nicht. 

2.  um  Lage,  Form  und  Spannung  der  Zunge, 
z.  B.  hinten  hoch  gewölbt,  vorne  spitz  auslaufend,  der 
Längenachse  nach  komprimiert  und  ähnliches,  wodurch 
der   stets   sich  verändernde  Resonanzraum   bedingt  wird. 

3.  um  Feststellung  des  Punktes,  an  welchem 
die  in  allen  Fällen  eintretende  Engenbildung  zwischen 
Zunge  und  innerer  Mund  wand  statthat,  z.  B.  vorne  am 
harten  Gaumen,  hinten  auf  der  Grenzscheide  des  harten 
und  weichen  Gaumens  u.  s.  w. 

4.  um  die  Kieferweite  (Senkung  des  Unterkiefers). 

5.  um  die  Funktion  der  Lippen:  Rundung,  Vor- 
stülpen, Auseinandertreten  mit  Einziehung  der  Mund- 
winkel u.  a.  m. 

Das  Zusammenwirken  aller  dieser  Faktoren  ergiebt 
den  einzelnen  Vokal  und  wird  als  seine  Artikulation 
bezeichnet. 

Jede  einzelne  Artikulation  muß  orthographisch  durch  ein 
und  dasselbe  Zeichen  ausgedrückt  werden  (s.  oben  S.  392). 
Die  Verbindung  verschiedener  Artikulationen,  so  das  Auf- 
einanderfolgen zweier  oder  dreier  vokalischer  Artikulatio- 
nen, wie  sie  bei  den  Diphthongen  und  Triphthongen 
vorhanden,  ist  durch  zwei  resp.  drei  Zeichen  darzustellen, 


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404  Friedrich  Kauffniann, 

doch  so,  daß  die  Buchstaben  stets  mit  denen  der  be- 
treffenden selbstiindigen  Artikulationen  identisch  sind.  Es 
ist  dies  praktisch  von  Bedeutung.  Der  in  der  Gemein- 
orthographie als  ei,  ai  geschriebene  Diphthong  wird  in 
alemannischen  Gegenden  vielfach  äi,  in  Mitteldeutschland 
gewöhnlich  ae  gesprochen,  es  wäre  unstatthaft,  bei  dem 
Diphthongen  gemeindeutsch  ai  etwa  nur  den  ersten  Kom- 
ponenten (a)  genau  seiner  Artikulation  nach  darzustellen 
und  den  zweiten,  wie  es  leider  vielfach  geschieht,  durch 
i  wiederzugeben,  auch  wenn  die  Artikulation  eine  ganz 
andere  als  beim  selbständigen  t-Laut  (etwa  gleich  der  e- 
Artikulation)  ist.  Bei  den  Diphthongen  ist  noch  auf  die 
Zungenbewegung  beim  üebergang  vom  einen  zum  anderen 
Komponenten  zu  achten. 

b)  Die  Artikulationen  der  Konsonanten. 

Zunächst  ist  über  den  Namen  einiges  vorauszuschicken. 
Die  Verdeutschung  „  Mitlauter  ^  besagt,  daß  die  Funktion 
dieser  Laute  im  Gegensatz  zu  anderen  darin  besteht,  nur 
als  „gewissermaßen  zurücktretende  Beigaben**  mit  den 
Selbstlautern  mitzuklingen,  also  nicht  selbständig  wie  diese, 
Silbenträger  zu  sein.  Allein  in  diesem  strengen  Sinne 
hat  die  traditionelle  Schulgrammatik  den  Namen  nicht 
verstanden  wissen  wollen.  Denn  1.  giebt  es  auch  sog. 
Vokale,  die  eine  nur  mitlautende  Rolle  spielen,  man  denke 
an  die  Diphthonge  ae,  ao,  in  denen  e  und  o  ebenso  unter- 
geordnet (mitlautend)  sind  wie  etwa  l,  m  in  am,  al  u.  s.  w. 
2.  Kommen  thatsächlich  eine  Reihe  von  sog.  Konsonan- 
ten auch  als  Selbstlauter,  als  Silbenträger  in  allen  deut- 
schen Mundarten  wie  in  der  schriftdeutschen  Umgangs- 
sprache vor,  nämlich  die  Liquiden  l,  r  und  die  Nasale  n, 
m;  vergl.:  handl,  ledr,  gezeicknt,  besm  (besen)  in  nieder- 
rheinischen Dialekten.  Wenn  unsere  Bücherorthographie 
vor  die  Liquiden  und  Nasale  ein  e-Zeichen  einfügt,  darf 
man  sich  dadurch  nicht  täuschen  lassen,  es  ist  dies  eitel 
Schulmeisterei.  Indessen  kann  doch  der  Name  «Konso- 
nanten* sehr  wohl  beibehalten  werden,  wenn  man  sich 
dieser  Thatsachen  bewußt  bleibt  und  an  Stelle  des  ver- 


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Dialektforschung.  405 

meintlichen  Gegensatzes  der  Vokale  den  eigentlichen  der 
Sonanten  (=  Selbstlauter)  einführt.  Die  Sprachlaute 
zerfallen  ihrer  Funktion  nach  sämtlich  nicht  in  Vokale 
und  Konsonanten,  sondern  in  Sonanten  und  Konsonanten; 
unter  Sonanten  begreifen  wir  die  sonantischen  Vokale 
und  Konsonanten  (Selbstlauter),  unter  Konsonanten  die 
konsonantischen  Vokale  und  die  gemeinen  „Konsonanten*' 
^MiÜauter).  Wenn  so  das  Verhältnis  zwischen  Vokal  und 
Konsonant  als  durchaus  vermittelt  erscheint,  so  wird  die 
Verbindung  noch  enger  durch  die  sog.  Halbyokale,  d.h. 
,, unsilbisch  gebrauchte  Vokale*,  soweit  sie  nicht  als  zweite 
Komponenten  in  Diphthongen  (oder  Triphthongen  u.  s.  w.) 
Yorkommen;  „die  Praxis  pflegt  den  Ausdruck  ,Halbyokal' 
nur  anzuwenden,  um  einen  konsonantischen  Vokal  vor 
einem  silbischen  Laute  zu  bezeichnen*.  Unsilbische  Vo- 
kale (mitlautende)  markiere  man  durch  untergesetztes  '>, 
z.  B.  ae,  ao,  Halbvokale  sind  demnach  nur  z.  B.  i,  u  in 
ia,  ua  u.  s.  w.  Die  Halbvokale  i,  u  werden  leicht  mit  ; 
und  w  verwechselt  und  zusammengeworfen.  Den  Unter- 
schied möge  man  sich  durch  Vergleich  des  englischen  w 
(double  u)  mit  dem  w  der  deutschen  Gemeinsprache  ver- 
anschaulichen, die  Klangverschiedenheit  wird  sofort  ins 
Ohr  fallen. 

Außerdem  giebt  es  (s.  oben  S.  402)  in  den  niederdeut- 
schen Mundarten  „Konsonanten*,  die  auch  darin  mit  den 
Vokalen  übereinstimmen,  daß  nicht  der  stimmlose  Luft- 
strom, sondern  der  im  Kehlkopf  gebildete  Stimmton 
das  Substrat  bildet.  Auf  dieser  Grundlage  beruht  die 
weitere  allgemeine  Einteilung  der  Laute  in  Sonorlaute 
(nicht  mit  Sonanten  zu  verwechseln!)  und  Geräuschlaute, 
d.  h.  Laute  mit  und  ohne  Stimm  ton.  Zu  den  Sonorlauten 
gehören  die  Vokale,  Halbvokale,  Liquiden,  Nasale  und 
stimmhaften  „Konsonanten*,  zu  den  Geräuschlauten  die 
stimmlosen  „Konsonanten*  ^). 

')  Während  in  Niederdeatschland  das  Verhältnis  von  Media 
znr  Tennis  sich  mit  dem  des  stimmhaften  und  stimmlosen  Konso- 
nanten deckt,  stellt  es  sich  in  Mittel-  und  Oberdeutschland  als  das 
des  schwachen  oder  weichen  zum  starken  oder  harten  Laute  dar, 
die  Media  ist  hier  Lenis,   die  Tenuis  meist  Fortis;  die  Artiku- 


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406 


Friedrich  KaufFmann, 


Für  die  Konsonanten  im  alltägliclien  Verstände  ist 
das  Vorhandensein  von  Geräuschen  charakteristisch. 
Diese  Geräusche  begleitet  bei  den  stimmhaften  Konso- 
nanten der  Stimmton,  gemeinsam  sind  sie  beiden  Kate- 
gorieen.  Die  Geräusche  haben  zweierlei  mechanische  Ur- 
sachen, entweder  liegen  Reibungen  (Reibegeräusche)  oder 
Explosionen  zu  Grunde.  Man  unterscheidet  danach  Reibe- 
laute (Spiranten)  und  Explosions-  oder  nach  dem 
vorausgehenden  Akte  Verschlußlaute.  Die  Reibelaute 
haben  ihrer  physikalischen  Beschaffenheit  nach  eine  kon- 
tinuierliche Dauer,  daher  auch  Dauerlaute  genannt;  die 
Explosion  ist  dagegen  stets  eine  momentane  (Momentan- 
laute). Mit  dieser  Einteilung  nach  mechanischen  Prin- 
zipien kreuzt  sich  die  Systematisierung  nach  den  Stellen, 
an  denen  im  Ansatzrohr  das  Reibegeräusch  oder  der  Ver- 
schluß gebildet  wird  (Artikulationsstellen).  Es  kom- 
men in  Betracht:  Lippen,  Zähne,  vorderer  und  hinterer 
Gaumen,  Zunge.  Folglich:  1.  Labiale,  2.  Dentale, 
3.  Gutturale,  a)  Palatale,  b)  Velare. 

In  dieser  Weise  wären  die  Laute  der  Einzelmundart 
zu  gruppieren;  praktisch  ist  etwa  folgende  Tabelle  anzu- 
legen, bei  der  man  aber  berücksichtigen  möge,  daß  hier 
die  Buchstaben  immer  nur  Kategorieen  vertreten,  nicht 
genau  definierte  Laute. 


Labiale 

Dentale 

Palatale 

Velare 

^         V ,    p    1  Media  (stimmhaft?) 
Verschluß-  | 

h. 

d. 

ff- 

9- 

'  Ten  als  (stimmlos)  . 

P-P'^ 

1. 1\ 

k.  k\ 

k.k\ 

ijitimmhaft .     .     .     . 

m.  IC. 

n.l.r.z. 

^•i.  3. 

^.3. 

'  stimmlos    .... 

f.(w). 

8.:s. 

X. 

x.r- 

latioDs arten  sind  aber  dabei  durchaus  identisch,  die  Media  ist 
stimmlos  wie  die  Tenuis  und  unterscheidet  sich  nur  durch  ver- 
schiedene Quantität  und  Spannungsenergie.  Tn  Süddeutschland 
lassen  sich  die  Abstände  meist  scharf  fixieren. 


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Dialektforschuag.  407 

Jede  dieser  Lautkategorieen  ist  in  der  Einzelmundart 
genau  nach  Artikulationsstelle  und  Artikulationsart  zu 
beschreiben,  was  um  so  dringlicher  ist,  als  namentlich  in 
der  Labialreihe  Berührungen  mit  der  Dentalreihe  auf- 
treten, w  und  f  sind  nämlich  in  der  Regel  nicht  rein 
labial,  sondern  es  entsteht  ein  gleichzeitiges  Reibegeräusch 
an  den  Zähnen;  man  bezeichnet  diese  Formen  als  labio- 
dentale. In  der  Dentalreihe  ist  die  Artikulationsstelle 
gleichfalls  sehr  wechselnd.  Der  Verschluß  oder  die  Rei- 
bungsenge wird  durch  die  Zunge  gebildet,  die  Gegenwand 
bildet  die  Hinterseite  der  Zähne;  man  achte  darauf,  ob 
die  Zunge  sich  gegen  die  Ober-  oder  Unterzähne  stemmt, 
ob  sie  sich  bei  den  s-Lauteii  {z  =  stimmhaftes  s)  zwischen 
die  Zahnreihen  schiebt,  ob  bei  den  ^-Lauten  zu  beiden 
Seiten  der  Zungenränder  Engenbildung  stattfindet  oder 
nur  rechts  resp.  links;  bei  den  r-Lauten  (Zungen-r)  ist 
auf  das  eigentümlich  intermittierende  Geräusch  zu  hören. 
Die  Palatalen  brauchen  nicht  durch  Hilfszeichen  von 
den  Velaren  unterschieden  zu  werden,  wenn  sich  allge- 
meine Gesetze  für  sie  aufstellen  lassen,  z.  B.  palatale 
Artikulation  tritt  nur  ein,  wenn  helle  Vokale  vorangehen 
und  ähnliches.  Unter  die  Velare  fällt  auch  das  sog. 
Zäpfchen-r  (r),  dessen  Verwandtschaft  mit  den  a?-Lauten 
bekannt  ist.  p\  (,  k'  bezeichnen  aspirierte  Laute,  Fortes 
mit  nachstürzendem  Hauch.  —  Um  die  Artikulationsstellen 
bei  den  Dentalen,  Palatalen  und  Velaren  möglichst  genau 
angeben  zu  können,  wende  man  folgendes  ungefährliche 
Experiment  an:  die  Zunge  wird  mäßig  dick  mit  reiner 
chinesischer  Tusche  bestrichen,  danach  spreche  man  sorg- 
fältig die  einzelnen  Konsonanten,  und  an  der  betreffenden 
Verschluß-  oder  Engenstelle  wird  sich  die  Farbe  abge- 
drückt zeigen.  Auflegen  des  Fingers  bei  der  Artikulation 
ist  nicht  sehr  zuverlässig. 

5.  Ein-  und  Absatz  der  Laute. 

Die  hier  zu  behandelnden  Erscheinungen  gehören  der 
Funktionslehre  an,  die  phonetische  Analyse  kehrt  damit 
wieder   in   den  Zusammenhang   des   gesprochenen  Satzes 


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408  Friedrich  Kauffmann, 

zurück.  Es  handelt  sich  zunächst  darum,  wie  in  den  ver- 
schiedenen Mundarten  „ein  nach  vorwärts  oder  rückwärts 
isolierter  Laut  seinen  Anfang  resp.  sein  Ende  findet '^. 

a)  Bei  den  Vokalen. 

1.  Vokaleinsatz.  Man  versteht  darunter  das  Ver- 
halten der  Stimmbänder  einer  beginnenden,  einsetzenden 
Exspiration  gegenüber.  Entweder  beginnt  dieselbe  erst, 
nachdem  die  Stimmbänder  zum  Tönen  eingestellt  sind, 
oder  sie  beginnt  bei  offenem  Kehlkopf,  so  da^  die  Bänder 
erst  schwingen,  nachdem  der  erste  Exspirationshub  vorüber 
ist,  oder  drittens  die  Stimmritze  ist  in  allen  ihren  Teilen 
fest  geschlossen,  die  Stimme  muß  erst  gewaltsam  diese 
Hemmung  überwinden,  um  zur  Geltung  zu  gelangen. 
Man  unterscheidet  diese  drei  Möglichkeiten  als  leisen, 
gehauchten  und  festen  Einsatz.  Wie  weit  diese  Mög- 
lichkeiten in  den  Dialekten  faktisch  vertreten  sind,  wissen 
wir  noch  nicht.  Der  sog.  feste  Einsatz  ist  vielfach  üb- 
lich, namentlich  in  Norddeutschland  (vergl.  Er-innerung)^ 
dem  eigentlichen  Vokallaut  glaubt  man  eine  Art  Knacken 
vorausgehen  zu  hören  (Explosion  des  Kehlkopfs).  Man 
hat  damit  den  Spiritus  lenis  der  Griechen  identifiziert  und 
bezeichnet  demgemäß  diesen  Einsatz  mit  \  Der  gehauchte 
Einsatz  ist  nichts  anderes  als  was  wir  durch  den  Buch- 
staben h  0  ausdrücken. 

2.  Vokalabsatz.  Aehnliche  Erscheinungen  wieder- 
holen sich  beim  Ausgang  der  Vokale.  In  Deutschland 
scheint  der  gehauchte  Absatz  der  verbreitetste  zu  sein, 
wobei  die  Exspiration  noch  fortdauert,  nachdem  die  Stimm- 
ritze bereits  geöfihet  ist;  als  Zeichen  diene  ^ 

Daß  beim  Vokal -Ein-  und  Absatz  auch  auf  die 
Energie  des  Vorgangs  zu  achten  ist,  versteht  sich  von 
selbst. 

b)  Bei  den  Konsonanten. 

Die  Beobachtungen  sind  hier  einfach  auf  das  Ver- 
hältnis von  Luftstrom  zur  Engen-  oder  Verschlußbildung 
zu  übertragen.     Konsonanten  mit  festem  Einsatz  werden 


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Dialektforschung.  409 

durch  vorgesetztes  '  ausgezeichnet,  der  gehauchte  Absatz 
durch  \  der  letztere  tritt  in  der  Regel  bei  absoluter  Aus- 
lautstellung der  Verschlußlaute  in  Satzpause  ein. 

6.  Die  Silbenbildung. 

Die  einzelnen  Lautelemente  (Einsatz,  Einzellaut, 
Uebergangslaut,  Absatz)  sind  zu  Gruppen  vereinigt, 
deren  einfachste  Form  die  Silbe  bildet,  d.  h.  ein  Laut- 
komplex, der  mit  kontinuierlicher  Exspiration  hervor- 
gebracht v^ird  und  notwendig  einen  Sonanten  (Vokal  oder 
Konsonanten,  s.  oben  S.  404  f.)  als  Silbengipfel  enthalten 
muß.  Im  Sprechtakt  schließen  sich  mehrere  solcher 
Komplexe  zusammen,  die  sowohl  nach  Intensität  und 
Dauer  wie  nach  musikalischer  Betonung  sich  gegenseitig 
abheben.  Wir  unterscheiden  starke,  mittelstarke  und 
schwache  Silben.  Von  diesen  aus  gelangen  wir  zum 
Wort.  Das  Charakteristikum  desselben  ist  die  starke 
Silbe,  welcher  fakultativ  mittelstarke  und  schwache  Silben 
sich  anschließen;  die  starke  Silbe  ist  in  allen  germani- 
schen Sprachen  mit  der  Wurzel-  oder  Stammsilbe  des 
Wortes  identisch. 

Innerhalb  der  einzelnen  Silbe  findet  eine  Exspirations- 
bewegung  statt,  volle  Intensität  ist  dem  Sonanten  der 
Silbe  eigen,  die  Konsonanten  vor  demselben  werden  cres- 
cendo, nach  demselben  decrescendo  gebildet,  je  näher 
ein  Konsonant  dem  Sonanten  steht,  um  so  größer  ist  seine 
natürliche  Schallfülle.  An  dem  Punkt,  wo  die  Exspi- 
rationsbewegung  den  niedersten  Stärkegrad  erreicht  hat, 
um  eventuell  zur  Bildung  einer  neuen  folgenden  Silbe 
wieder  anzuschwellen,  ist  die  Silbengrenze.  Die  Silben- 
teilung ist  ein  sehr  wichtiger  konstitutiver  Faktor.  Es 
giebt  Mundarten,  welche  die  Silbe  mit  dem  Sonanten 
schließen  (offene  Silben),  in  anderen  gehören  folgende 
Konsonanten  der  ersten  Silbe  an  und  die  Silbe  beginnt 
mit  dem  Sonanten.  Zuweilen  dienen  beide  Formen  in 
ein  und  derselben  Mundart  dem  Ausdruck  verschiedener 
Affekte.  Wichtig  ist  femer,  für  diesen  auffallend  ab- 
weichenden Usus   die  Ursache   festzustellen;   dieselbe   ist 


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410  Friedrich  Kauffmann, 

im  Ein-  und  Absatz  des  Sonanten  der  Silbe  zu  suchen. 
In  diesem  Zusammenhange  besagen  diese  nichts  anderes 
als  den  sog.  Accent.  Fester  Einsatz  ergiebt  in  der  Silbe 
den  stark  geschnittenen  Accent  ('),  der  Vokal  geht 
noch  im  Momente  seiner  vollen  Intensität  in  den  zuge- 
hörigen Konsonanten  über;  der  schwach  geschnittene 
Accent  (>)  beruht  auf  dem  leisen  Einsatz,  der  Vokal 
verklingt,  die  Abschneidung  tritt  erst  ein,  nachdem  die 
Intensität  nachgelassen  hat,  folgende  Konsonanten  fallen 
der  Folgesilbe  zu.  Ganz  anderer  Beschaffenheit  ist  eine 
weitere  Accentform,  der  sog.  Circumflex.  Seine  Wesen- 
heit besteht  darin,  daß  sich  auf  ein  und  dieselbe  Laut- 
gruppe zwei  Accente  verteilen  (zweigipfelige  Silben), 
die  aber  im  Gegensatz  zum  stark  oder  schwach  geschnit- 
tenen musikalischer  Natur  sind,  auf  einer  und  derselben 
Silbe  wird  ein  Intervall  von  hoher  zu  tiefer  Note  oder  um- 
gekehrt wahrnehmbar,  meist  bildet  schwach  geschnittener 
Accent  die  exspiratorische  Grundlage.  In  allen  Mund- 
arten, die  wir  als  „singende*  bezeichnen,  ist  der  Circum- 
flex mehr  oder  minder  ausgeprägt  vorhanden.  Möglicher- 
weise sind  in  dem  eigentümlichen  rheinisch -kölnischen 
Accent  stark  und  schwach  geschnittener  Accent  verbun- 
den, indem  er  vielleicht  stark  geschnitten  beginnt  und 
schwach  ausklingt. 

Mit  der  Silbenbildung  ist  der  Ring  geschlossen;  im 
Sprechtakt  gruppieren  sich  um  die  starke  Vollsilbe  die 
mittelstarken  und  schwachen  Silben,  und  der  Sprechtakt 
bildet  die  Einheit  des  Satzes,  von  dem  wir  ausgegangen  sind. 


II.  Grammatikalische  Statistik. 

Die  phonetische  Analyse  hat  nicht  allein  den  Zweck,  die 
gesprochenen  Laute  möglichst  anschaulich  zur  Darstellung 
zu  bringen,  sondern  es  vereingt  sich  damit  die  Thatsache, 
daß  nur  auf  diesem  Wege  der  grammatische  Aufriß  einer 
Mundart  sich  dem  Verständnis  zugänglich  machen  läßt. 

Wenn  über  die  Beschaffenheit  der  einzelnen  Laut- 
formen u.  s.  w.  orientiert  ist,  bildet  die  nächste  Aufgabe, 


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Dialektforschung.  411 

das  gesammelte  sprachliche  Material  statistisch  aufzu- 
nehmen, zunächst  nach  seinen  formalen  Seiten.  Es  kann 
dies  allerdings  nur  annähernd  erreicht  werden.  Die  An- 
ordnung hat  hier  auf  Grundlage  der  allgemeinen  gram- 
matikalischen KAtegorieen  zu  erfolgen. 

1.  Lautlehre. 

Sie  hat  die  Existenz  und  den  Umfang  einzelner 
in  der  phonetischen  Analyse  definierter  Lautformen  nach- 
zuweisen; für  jeden  (phonetischen)  Einzellaut  ist  eine 
möglichst  reiche  Seri«  von  Belegen  zu  geben,  bei  wich- 
tigeren, interessanteren  Erscheinungen  ist  Vollständigkeit 
der  Belege  notwendig.  Da&  diese  Angaben  in  der  fest- 
gestellten Orthographie  zu  machen  sind,  versteht  sich  von 
selbst,  jede  Konzession  an  die  ßuchorthographie  ist  ängst- 
lich zu  verhüten.  Den  mundartlichen  Wörtern  möge 
jedesmal  eine  üebersetzung  oder  Umschrift  ins  Schrift- 
deutsche beigegeben  werden;  vergl.  Aä/'(hanf),  tsls  (zins), 
lu9g  (sieh  zu).  Nach  dem,  was  im  vorangehenden  über 
starke,  mittelstarke  und  schwache  Silben  gesagt  ist,  muß 
streng  zwischen  den  Vokalen  der  Stammsilben 'und 
denen  der  Kompositions-,  Ableitungs-  und  Flexions- 
silben geschieden  werden;  es  ergiebt  sich,  daß  einzelne 
Lautqualitäten  und  -quantitäten  nur  in  diesen  letzteren  vor- 
kommen. Für  jeden  einzelnen  Vokal  sind  ferner  nach  den 
verschiedenen  Timbres  (offen  und  geschlossen  u.  s.  w.)  und 
Quantitäten  (lange,  kurze,  halbkurze,  überlange  u.  s.  w.) 
Wörter,  in  denen  er  gesprochen,  aufzuführen.  Etwaige 
Schwankungen  eines  und  desselben  Wortes  in  Vokal- 
timbre oder  Vokalquantität  sind  sorgfältig  zu  verzeichnen. 
Für  die  Konsonanten  gilt  das  nämliche.  Besondere 
Beachtung  soll  auch  hier  etwaigen  Lautwechseln  ge- 
schenkt werden,  wenn  im  gleichbedeutenden  Wort  ver- 
schiedenartige Artikulation  eines  Grundlautes  üblich  ist.  So 
gilt  beispielsweise  für  den  Niederrhein  und  Nachbarschaft 
das  Gesetz,  daß  stimmlose  Laute  in  der  Nachbarschaft 
stimmhafter  gleichfalls  stimmhaft  werden  und  umgekehrt, 
z.  B.  furxhar  (furchtbar)  mit  stimmhaftem  x  vor  stimm- 


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412  Friedrich  Kauffmann, 

baftem  b;  in  SüddeutscblsLnd  besteht  die  Regel,  daß  aus- 
lautende Verschluß-Lenes  und  -Fortes  zu  gehauchten 
Fortes  werden;  vergl.  schwäbisch:  dägonäxt'  (Tag  und 
Nacht),  sisdä-k""  (es  ist  Tag).  Die  auf  den  Prozessen  der 
Silbenbildung  beruhenden  Sandhierscheinungen  (s.  oben 
S.  394)  müssen  möglichst  erschöpfend  gesammelt  werden. 

2.  Flexionslehre. 

Hierunter  ist  statistisch  zu  vereinigen,  was  die  Mund- 
art an  Flexionsformen  besitzt:  1.  Deklination  der 
Substantiva,  Eigennamen,  Adjektiva,  Zahlwörter  und  Pro- 
nomina, je  nach  Klassen  geordnet;  den  Einteilungsgrund 
bei  den  Substantiven  wird  in  der  Regel  die  Pluralbildung 
abgeben.  2.  Konjugation  der  Verba,  die  nach  Bildung 
des  Tempus  der  Vergangenheit  (Präteritum)  in  starke 
und  schwache  Verba  zerfallen;  die  Hilfszeitwörter  sein, 
haben,  können,  mögen,  dürfen,  wollen  zeigen  auffallende» 
von  den  übrigen  Verben  abweichende  Bildungen,  die  ge- 
sondert zusammengestellt  werden  müssen. 

3.  Wortbildungslehre. 

Die  Steigerungsformen  des  Adjektivs  (Kom- 
parativ und  Superlativ),  die  Bildungsweise  der  Adverbien 
aus  den  zugehörigen  Adjektiven,  werden  gewöhnlich  in 
der  Flexionslehre  behandelt,  gehören  aber  in  die  Wort- 
bildungslehre. In  diesem  Kapitel  werden  wohl  auch  an- 
schließend am  besten  die  Konjunktionen,  Präpositio- 
nen, Orts-  und  Zeitadverbien,  Interjektionen  und 
ähnliches  gesanmielt.  Außerdem  muß  aufgenommen  wer- 
den, was  die  Mundart  an  Präfixen  und  Suffixen  besitzt, 
und  in  welchem  Sinne  dieselben  verwendet  werden;  einzelne 
Ableitungen  geben  sich  leicht  als  abgestorbene,  tote  zu 
erkennen,  während  andere  lebendig  in  Erinnerung  der 
Sprechenden  haften  und  immer  wieder  zu  neuen  Wortbil* 
düngen  benutzt  werden;  in  diesen  letzteren  produktiven 
Suffixen  weichen  die  Mundarten  vielfach  ab.  Auf  die  Be- 
deutung der  Diminutivbildungen   ist  bereits  hinge- 


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DialektforschuDg.  413 

wiesen.  Bei  der  eigentlichen  Wortkomposition,  Zu- 
sammensetzung zweier  sonst  selbständiger  Wörter,  ist  die- 
selbe Unterscheidung  zu  berücksichtigen,  erstarrte  Kom- 
positionen, wie:  jumpfer,  nachbar,  mmper,  Schulze  u.  a. 
werden  wie  einheitliche  Wörter  behandelt,  denen  die  leben- 
dige Komposition,  deren  einzelne  Glieder  vom  Sprechenden 
selbst  gesondert  werden,  gegenübersteht. 

4.  Syntax. 

ünbegreiflicherweise  ist  dieses  Gebiet  von  der  mund- 
artlichen Forschung  fast  ganz  vernachlässigt  worden,  ob- 
wohl hier  nicht  weniger  interessante  Resultate  sich  er- 
geben als  bei  der  Lautforschung.  Wenn,  wie  oben 
ausgeführt,  die  Sammlungen  in  der  Weise  angelegt  wer- 
den, daß  man  sich  bemüht,  den  Sprachschatz  der  Mund- 
art nur  im  gesprochenen  Satz,  nicht  als  abstrahirte  Vo- 
kabeln aufzuzeichnen,  hat  jeder  Forscher  ein  höchst 
zuverlässiges  Material  zur  Hand,  dessen  Bearbeitung  nicht 
dringend  genug  zu  wünschen  ist.  Ausgehend  vom  ein- 
fachen Aussagesatz  ist  die  Wortstellung  zu  schildern 
und  zu  belegen,  die  Veränderungen,  die  im  Aufforde- 
rungs-,  Wunsch-  und  Fragesatz  eintreten,  schließen 
sich  an.  Die  syntaktische  Verwendung  des  Artikels  und 
der  Pronomina,  ihr  Fehlen,  ihre  Funktion  als  En-  und 
Proklitika  ist  in  vielen  Mundarten  abweichend.  Das- 
selbe gilt  vom  Gebrauch  der  Casus  in  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  Verben  und  Präpositionen.  Beim 
Verbum  ist  die  Funktion  der  verschiedenen  Tempora, 
die  Bildungsweise  der  umschriebenen  Tempora  (mit 
sein  oder  haben),  die  Gebrauchsweisen  der  Modi,  Parti- 
cipia,  Infinitive  und  des  Gerundiums  (in  vielen  Mund- 
arten noch  flektiert),  so  sehr  sie  zusammengeschrumpft 
sein  mögen,  festzustellen.  Die  Formen  der  Verallge- 
meinerung, Verneinung,  der  Koordination  und 
Vergleichung,  und  was  in  den  Mundarten  besonders 
reich  entwickelt  zu  sein  scheint,  der  sog.  Pleonasmus 
—  über  all  das  sind  wir  noch  gar  nicht  unterrichtet. 
Von  hohem  Interesse  ist  die  Periodenbildung  in  deu 


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414  Friedrich  Eauffinann, 

Volks. niundarten;  die  gewöhüliche  Anschauung,  daß  die- 
selben zusammengesetzte  Sätze  nur  sehr  dürftig  kennen, 
wird  vielleicht  nicht  stichhalten.  Die  Mittel,  das  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zum  Ausdruck  zu  bringen,  sind 
sehr  zahlreich;  es  werden  nicht  bloß  gewisse  Konjunk- 
tionen oder  Partikeln  dazu  verwendet,  vielfach  wird  es 
nur  durch  veränderte  Wortstellung  und  Modulation 
der  Stimme  ausgedrückt  ohne  grammatische  Bezeichnung. 
Weiterhin  kommen  in  Betracht  die  Relativsätze,  Kon- 
junktionalsätze, bei  denen  wieder  auf  Wortstellung 
und  Modus  zu  achten  ist.  Gewiß  sind  damit  noch  lange 
nicht  alle  syntaktischen  Formen  unserer  unerschöpflichen 
Mundarten  genannt;  eine  sorgfältige  Sammlung,  die  viel 
Takt  und  Feingefühl  erfordert,  wird  uns  große  Belehrung 
bringen. 

Vielversprechend  wären  statistische  Sammlungen  über 
die  volksmäßige  Stilistik  und  Rhetorik,  deren  künst- 
lerische Formen  in  gehobener  Stimmung,  deren  drastische 
Bildlichkeit  und  Anschaulichkeit  bei  Scherz,  Humor  und 
Witz,  kurz,  welche  Nuancierungen  überhaupt  den  wechseln- 
den mannigfaltigen  Stimmungen  des  schlichten  Bauern- 
herzens zum  Ausdiuck  dienen.  Im  Zusammenhang  damit 
achte  man  genau  auf  die  Verschiedenheit  der  Satzformen 
nach  ihrer  musikalischen  Melodie,  ob  der  Satz  in 
tiefer  Lage  beginnt,  um,  wie  in  der  Frage,  hoch  anzu- 
steigen, ob  sich  hohe  und  tiefe  Noten  zu  abwechselnden 
Intervallen  vereinigen  u.  s.  w. 

5.  Textproben. 

Den  Abschluß  der  grammatischen  Anordnung  des 
Materials  bildet  die  Mitteilung  fertiger,  aus  dem  Munde 
des  Volkes  gesammelter  Proben  des  gesprochenen  leben- 
digen Dialekts:  Wechselreden,  Erzählungen,  Anek- 
doten, Poesieen  und  was  dergleichen  mehr  dem  Kopfe 
der  ländlichen  Gesellschaft  ents-prungen.  Wichtig  ist  da- 
bei strenge  Handhabung  der  orthographischen  Zeichen, 
deren  übersichtliche  Verwendung  großen  Nutzen  stiften 
wird. 


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Dialektforsch  äug.  415 


III.  Die  historisch-entiviekelnde  ForNchung. 

Die  mühsame  Aufgabe  des  Mundartenforschers  ist 
mit  der  Statistik  der  grammatischen  Formen  noch  nicht 
zum  Ziele  gelangt.  Das  heute  vorhandene  liegt  Tor  uns 
wie  die  Schichten  unserer  Bergmassen,  und  je  reicher 
und  mannigfaltiger  das  Material,  um  so  eindringlicher  die 
Frage,  wie  und  woher  alles  so  gekommen.  Das  tief- 
wurzelnde wissenschaltliche  Bedürfnis  nach  der  Erklärung 
der  Thatsachen,  um  sie  zu  begreifen,  macht  sich  unseren 
Mundarten  gegenüber  um  so  melir  geltend,  als  wir  von 
einer  historischen  Entwickelung  die  Lösung  allgemein 
wichtiger  Probleme  zu  erwarten  haben,  die  nur  die  Mund- 
artenforschung wagen  darf. 

Wir  sind  in  der  glücklichen  Lage,  auf  mehr  denn 
1000  Jahre  hinter  uns  an  Hand  einer  bald  mehr  bald 
weniger  reichen  Litteratur  zurückblicken  zu  können,  wir 
bekommen  ein  Bild  Yon  den  Menschen,  wie  sie  vordem 
gelebt,  und  die  historische  Grammatik  unserer  deutschen 
Sprache,  wie  sie  von  Jakob  Grimm  eingeleitet  und  von 
vielen  nach  ihm  gepflegt  worden  ist,  arbeitet  daran,  uns 
Kenntnis  zu  geben,  wie  die  Menschen  vor  Zeiten  ge- 
sprochen haben.  Bereits  kennen  wir,  wenn  auch  nur  in 
schattenhaften  Umrissen,  eine  Reihe  von  Mundarten,  die 
in  der  grauen  Vorzeit  vorhanden  gewesen,  wie  sie  heute 
vorhanden  sind.  Unsere  Quellen  dafür  sind  eben  jene 
Litteraturdenkmäler,  die  wir  auf  ihre  Sprachformen  hin 
untersuchen.  Die  Thatsache,  daß  fast  kein  einziges  un- 
serer Denkmäler  aus  der  althochdeutschen  Periode  bis 
etwa  ums  Jahr  1100  mit  dem  anderen  in  der  (geschrie- 
benen) Sprachform  übereinstimmt,  läßt  uns  schließen,  daß 
in  jenen  Anfängen  der  litterarischen  Produktion  allüberall 
in  deutschen  Gauen  der  Dialekt  zur  Aufzeichnung  ge- 
bracht worden,  eine  einigende  Schriftsprache,  wie  wir  sie 
heute  besitzen,  nicht  vorhanden  gewesen  ist.  Aber  es  ist 
noch  nicht  lange  her,  daß  man  sich  die  Frage  vorgelegt 
hat,   wie  weit  wir  den  geschriebenen  Buchstaben 


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416  Friedrich  Kauffmann, 

als  Zeugen  der  gesprochenen  Lautform  Vertrauen 
schenken  dürfen;  man  ist  allmählich  dazu  gelangt,  daß 
es  gründlich  falsch  ist,  den  Buchstaben  jener  vergangenen 
Zeiten  den  Lautwert  beizulegen,  den  unsere  moderne  An- 
gewöhnung der  Schule  damit  verbindet.  Die  Reime  der 
Dichter  geben  Fingerzeige,  daß  mit  einem  und  demselben 
Buchstaben  ganz  verschiedene  Lautwerte  wiedergegeben 
worden  sind  (z.  B.  offenes  und  geschlossenes  e),  anderes 
läßt  sich  aus  der  allgemeinen  Sprachgeschichte  und  den 
phonetischen  Prinzipien  erschließen,  im  großen  und  ganzen 
sind  aber  für  uns  Heutige  die  althochdeutschen  und  mittel- 
hochdeutschen Dialekte  noch  tote  Sprachen,  für  die  wir 
uns  eine  traditionelle  Aussprache  angewöhnt  haben,  die 
gewiß  ebenso  falsch  und  unzutreffend  ist  als  die,  mit  der 
wir  das  Lateinische  und  Griechische  uns  zu  Gehör  bringen. 
Um  zu  zuverlässigen  Anschauungen  zu  gelangen, 
haben  wir  auf  unserem  jetzigen  Standpunkt  kein  anderes 
Hilfsmittel  als  das  Studium  der  modernen  Volksmund- 
arten.  Wir  besitzen  für  einzelne  Dialekte  Aufzeichnungen, 
die  sich  in  einem  Continuum  über  die  letzten  1000  Jahre 
verbreiten;  wir  sehen,  wie  die  Orthographie  derselben 
von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  sich  verändert,  mit  der 
Zeit,  da  in  Deutschland  eine  Litteratursprache  übUch  ge- 
worden ist,  lassen  uns  die  Urkunden  der  Archive  in  der 
Geschäftssprache  des  täglichen  Lebens  landschaftliche 
dialektische  Besonderheiten  erkennen;  heute  sind  wir  in 
der  Lage,  auf  dem  Wege  der  Beobachtung  und  des  Ex- 
periments die  Sprechweise  Laut  für  Laut  genau  zu  kon- 
statieren: was  reizt  mehr  als  von  den  heutigen  gegebenen 
Lautwerten  aus  die  Verschiedenheiten  der  Orthographie 
im  Lauf  der  Jahrhunderte  zu  beleuchten  und  für  einen 
Lokaldialekt  die  Aufgabe  wenigstens  zu  versuchen,  die 
gesprochene  Sprache  der  Vergangenheit  auf  Grund  dieser 
vorhandenen  Mittel  zu  rekonstruieren?  Viel  verzweigte 
historische  Wissenschaften  arbeiten  daran,  uns  eine  deutsche 
Altertumskunde,  eine  Volkskunde  der  Vergangenheit  zu 
liefern;  es  würde  ein  belebender  Strom  in  die  Menschen 
von  damals  kommen,  wenn  es  uns  gelänge,  über  ihre 
Sprache  anschaulichere  Vorstellungen  zu  gewinnen.    Dies 


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Dialektforschung.  417 

der  eine  Grund,  warum  wir  historische  Behandlung  der 
Volksmundarten  wünschen. 

Aber  noch  eines.  Wenn  die  Erforschung  der  Mund- 
arten, als  Einzelgebiet  der  heutigen  Volkskunde,  wissen- 
schaftliches Oepräge  tragen  soll,  muß  sie  dies  durch 
Aufstellung  von  Gesetzen  dokumentieren.  Der  phone- 
tische Habitus  der  Dialekte  beruht  auf  dem  Mechanismus 
unserer  Sprachwerkzeuge,  deren  Bewegungsgesetze  wir 
beobachten,  allein  für  das  Verständnis  einer  Sprache  ist 
dies  mehr  oder  weniger  untergeordnet.  Wir  müssen  Ge- 
setze finden  in  der  Entwicklung  des  Ganzen.  Das  ist 
freilich  sehr  schwer.  Auf  einem  Teilgebiete  sind  wir 
bereits  dazu  gelangt;  das  Problem  der  gesetzmäßigen 
Entwicklung  der  einzelnen  Laute  ist  durch  vielfach  be- 
stätigende Zeugnisse  als  gelöst  zu  betrachten.  Ein 
strenger  Beweis  kann  aber  erst  von  Seiten  der 
lebendigen  Sprache,  nicht  mittelst  der  (vieldeuti- 
gen) Buchstaben  der  Litteraturdenkmäler  geführt 
werden.  Dazu  ist  unsere  deutsche  Dialektforschung  in 
erster  Linie  berufen. 

Die  Zahl  der  Arbeiter  auf  diesem  Gebiete  ist  natur- 
gemäß eine  geringe.  Es  bedarf  einer  umfassenden 
Schulung.  Kenntnis  der  Geschichte  der  deutschen  Sprache 
von  ihren  Anfangen,  ja  von  ihrer  Vorgeschichte  an  als 
Glied  in  der  Reihe  der  indogermanischen  Sprachen,  durch 
die  althochdeutsche  und  mittelhochdeutsche  Periode  hin- 
durch bis  in  die  Neuzeit  herein  ist  notwendiges  Erforder- 
nis. Von  diesem  weiteren  Kreise  aus  gUt  es,  sich  in  die 
Oeschichte  des  Einzeldialekts  zu  vertiefen.  Man  sammle 
alles  Material,  das  für  die  betreffende  Oertlichkeit  oder 
Landschaft  in  Betracht  kommt  und  daher  zu  stammen 
bezeugt  ist:  in  den  lateinischen  Urkunden  die  Personen-, 
Orts-  und  Flurnamen,  berücksichtige  genau  die  über- 
lieferten Schreibungen  der  einschlagenden  Litteratur- 
werke,  für  das  spätere  Mittelalter  von  der  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  ab,  ist  es  der  Mundartenforscher,  der 
zusammen  mit  dem  Historiker  die  deutschen  Urkunden 
als  Sprachdenkmäler  der  Vergessenheit  entreißt  und  für 
die  Geschichte  unserer  deutschen  Sprache  verwertet;  vom 

AnleltuDg  zur  deutscheo  Landet-  nnd  Volksforaohnng.  27 


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418  Friedrich  Kauffmann, 

16.  und  17.  Jahrhundert  ab  beginnen  vielfach  dieDialekt- 
dichtungen  neuerer  Zeit.  Immer  ist  aber  die  Voraus- 
setzung, daß  die  statistische  Aufnahme  wie  die  phone- 
tische Analyse  des  zu  bearbeitenden  Dialekts  bereits 
vollzogen  ist,  nur  so  wird  das  Studium  der  Akten  frucht- 
bar werden,  nur  so  läßt  sich  das  Wesentliche  vom  Un- 
wesentlichen, das  Brauchbare  vom  Unbrauchbaren  schei- 
den. Aus  den  Denkmälern  ist  für  jede  einzelne  Epoche 
eine  Grammatik  zusammenzustellen,  welche  die  histori- 
schen Belege  für  die  Laute  und  Formen  von  heute  liefert. 
Die  Grundfrage  bildet  die  Beurteilung  der  Ortho- 
graphie während  der  nur  litterarisch  überlieferten  Zeit- 
räume. Für  die  älteste  Zeit  ist  es  vorerst  geraten,  das 
Schriftbild  als  getreuen  Abdruck  der  gesprochenen  Form 
zu  nehmen,  mit  den  wechselnden  Schreibungen  kombiniere 
man  den  heutigen  Lautwert,  auf  Grund  phonetischer  Er- 
wägungen können  wir  den  ursprünglichen  Lautwert  er- 
schließen. Ist  diese  Operation  für  jeden  einzelnen  Laut 
der  Mundart  wiederholt,  so  ergeben  sich  aus  der  Vielheit 
gewisse  gemeinsame  Züge  und  gemeinsame  Prozesse  der 
Entwickelung,  die  für  die  Ansetzung  im  besonderen  die 
Kontrolle  abgeben.  Im  schwäbischen  Dialekt  ist  ahd.  o 
durch  ao,  e  durch  ae  vertreten,  dieselben  Diphthonge  ao 
und  ae  entsprechen  auch  mhd.  ou  und  ei  (aus  -egi-)^  vergl. 
hraoi^  (brot),  wae  (weh),  wie  laofd  (laufen),  ksaei  (gesagte 
mhd.  geseit) ;  wenn  schon  in  althochdeutscher  Periode  die 
Schreibungen  ou,  ei  für  den  ursprünglich  einfachen  ö-  und 
i-Laut  begegnen,  ergiebt  sich  aus  der  heutigen  Ueber- 
einstimmung  Identität  der  Lautung;  andererseits  ist  der 
Entwickelung  von  ou  zu  ao,  ei  zu  ae  gemeinsam,  daß  der 
zweite  Eomponent  von  ursprünglich  höchster  Zungen- 
stellung Senkung  und  Abflachung  der  Zunge  erfahren 
hat;  damit  stimmt  überein,  daß  o  zu  a,  e  zu  a  geworden 
ist,  für  die  wir  dieselbe  Zungenbewegung  anzunehmen 
haben,  wonach  o  in  oU;  e  in  ei  offene  o  und  e  gewesen 
sein  müssen.  In  der  statistischen  Materialsammlung  sind 
sämtliche  identischen  Laute  gegenseitig  streng  abgesondert 
worden.  Im  allgemeinen  gilt  der  Lehrsatz,  daß  phonetisch 
übereinstimmende  Laute  der  heutigen  Mundart  aus  überein- 


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Dialektforschung.  419 

stimmenden  älteren  Lautformen  entstanden  sind  und  die- 
selbe Entwickelung  genommen  haben,  solange  nicht  äußere 
Zeugnisse  dagegen  sprechen.  In  diesem  Sinne  giebt  es 
Lautgesetze.  Z.  B.  gilt  für  das  Schwäbische  das  Ge- 
setz: mhd.  ou  wird  im  Schwäbischen  zu  ao.  Da£  es  aber 
nicht  zulässig  ist,  dieses  Gesetz  umzukehren  und  für  jedes 
schwäbische  ao  mhd.  ou  als  Grundform  anzusetzen,  be- 
weisen einzelne  ao,  welche  in  den  Urkunden  der  mittleren 
Zeit  au,  a*  geschrieben  werden  und  die  mhd.  ä  entsprechen, 
das  sich  zum  Diphthong  ao  entwickelt  hat  wie  o  zu  ou, 
e  zu  ei.  In  anderen  Fällen  wird  aber  heute  an  Stelle  von 
mhd.  ä  nicht  ao,  sondern  ö  (oflfen  o)  gesprochen,  vergl. 
schwäbisch  jao  (ja),  obst  (Abend).  Diese  scheinbare  Un- 
regelmäßigkeit ist  gleichfalls  auf  ein  bestimmtes  Gesetz 
zurückzuführen.  Für  die  Entwickelung  von  Diphthongen 
bedürfen  wir  aus  allgemein  phonetischen  Gründen  der 
Annahme  von  zweigipfeligen  Silben,  die,  wie  wir  heute 
noch  beobachten,  in  Satzpause  eingetreten  sind,  was  zu- 
nächst überlanges  a  voraussetzt,  langes  ä  ist  dagegen  zu  p 
geworden ;  ein  schlagender  Beleg  dafür  ist  die  Entwicke- 
lung des  mhd.  Diphthongs  äi  zu  öd.  Gesetzmäßigkeit  der 
Entwickelung  dürfen  wir  demgemäß  nur  erwarten,  wo 
nach  Artikulation  exakt  identische  Laute  im  Spiele 
sind ;  lange  Vokale  entwickeln  sich  ganz  anders  als  über- 
lange Vokale  derselben  Mundstellung. 

Wir  ersehen,  von  welch  eminent  praktischem  Werte 
die  genaue  Analyse  der  phonetischen  Struktur  einer  Mund- 
art ist. 

Immer  und  überall  werden  aber  noch  Reste  bleiben, 
die  wir  unter  dem  Entsprechungsgesetz  nicht  zu  begreifen 
vermögen.  Im  Schwäbischen  ist  ahd.  e  als  Umlaut  von  a 
vor  folgendem  i  durch  geschlossenes  e  vertreten;  von  dieser 
Regel  bestehen  eine  ziemliche  Anzahl  von  Ausnahmen, 
die  mit  ^  nicht  e  gesprochen  werden,  z.  B.  hex  (Bäche) 
zu  ahd.  hehhi,  st^  (Schläge)  zu  ahd.  aUgi  u.  a.  Sie  sind 
folgendermaßen  zu  beurteilen.  Eine  historische  Unter- 
suchung ergiebt,  daß  etwa  im  10.,  11.  Jahrhundert 
gleichzeitig  mit  der  Entwickelung  von  ä  vor  i  zu  f  aus 
bestimmten  Gründen  vordem  nicht  umgelautete  a- Vokale 


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420  Friedrich  Kaufi&uaim, 

vor  i  zu  f  geworden  sind;  in  dieser  Periode  bildete  sich 
das  Verhältnis  aus:  maxi  zu  mfxtix  (macht,  mächtig); 
Singular  al  zu  fle  (alle),  ncuct  zu  n^xt  (Nacht,  Nächte)  u.  a. 
Vielfach  wird  im  Schwäbischen  wie  Schriftdeutsch  der 
Plural  vom  Singular  dadurch  unterschieden,  daß  der  erstere 
Umlaut  des  Singular vokals  zeigt;  dieses  morphologische 
Prinzip,  das  sich  aus  Deutlichkeitsgründen  empfahl,  ist 
nun  mit  der  Zeit  produktiv  geworden,  und  wie  man  naxt 
Plur.  nfxt  sprach,  bildete  man  auch  ifi^  zu  däk\  obwohl 
in  diesem  Falle  niemals  ein  i  der  Endung  vorhanden  ge- 
wesen ist.  So  mochte  es  kommen,  daß  auch  zu  släk^, 
box  u.  a.  Plurale  8lfk\  bfx  gebildet  wurden  und  die 
älteren  sldc%  hex  in  Vergessenheit  gerieten.  Diesen  sprach- 
lichen Vorgang  der  Neuschöpfung  von  Formen  hat  man 
Analogiebildung  genannt.  Er  beruht  auf  Association 
einzelner  im  Gedächtnis  ruhender  Laut-  und  Formgruppen 
und  spielt  in  der  Sprachgeschichte  eine  höchst  wichtige 
Rolle.  Die  Grundlage  büdet  die  allgemeine  sog.  Ideen- 
association. 

Der  Bestand  einer  Mundart  setzt  sich  außerdem  noch 
aus  Formen  und  Lauten  zusammen,  die  sich  unter  keine 
dieser  beiden  Eategorieen  bringen  lassen,  die  vielmehr  im 
Gefolge  des  Verkehrs  aus  fremden  Dialekten  oder  der 
Schriftsprache  in  die  Mundart  eingeschleppt  worden  sind; 
jede  enthält  mehr  oder  weniger  Lehnwörter,  stellt  mehr 
oder  weniger  eine  Sprachmischung  dar,  deren  fremde 
Bestandteile  oft  sehr  schwer  zu  beurteilen  sind.  Die  Er- 
klärung derselben  muß  innerhalb  des  Dialektes  gesucht 
werden,  aus  dem  sie  stammen,  kann  und  darf  nicht  mit 
der  der  Erbwörter  zusammengeworfen  werden. 

Mittelst  Nachweis  dieser  drei  Faktoren:  der  laut- 
gesetzlichen Entsprechungen,  der  Associations- 
oder  Analogiewirkungen  und  der  Sprachmischung 
ist  der  äußere  Entwickelungsgang  einer  Mundart  zu  re- 
konstruieren; deren  Machtsphäre  umfaßt  in  gleicher  Weise 
Laut-  und  Flexionslehre,  Wortbildung  und  Syntax. 

Für  die  Geschichte  der  einzelnen  Laute  der  betonten 
wie  unbetonten  Silben  können  einzelne  Gesetze  aufgestellt 
werden,   außer   den  Lautgesetzen   auch  Quantitäts- 


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Dialektforschung.  421 

gesetze,  die  angeben,  unter  welchen  Bedingungen  ein 
ursprünglich  kurzer  Vokal  sich  zum  langen  entwickelt  hat 
oder  umgekehrt;  Synkopierungsgesetze,  nach  denen 
ursprünglich  mehrsilbige  Wortformen  eine  oder  mehrere 
Silben  verloren  haben;  ihnen  zur  Seite  gehen  die  Ana- 
logieprozesse. 

Ist  all  das  bestmöglichst  gelungen,  dann  gilt  es,  die 
Mannigfaltigkeit  der  Einzelgesetze  unter  umfassendere 
Gesichtspunkte  zu  bringen.  Im  schwäbischen  Dialekt 
weisen  sämtliche  Lautveränderungen  auf  eine  allgemeine 
Herabsetzung  der  Muskelspannung  in  den  einzelnen 
Organen,  die  früher  nicht  vorhanden  gewesen  sein  kann. 
Kurz  wir  haben  die  Aufgabe:  die  Ausbildung  der 
heutigen  konstitutiven  Faktoren  einer  Mundart 
in  ihrem  geschichtlichen  Werden  nachzuweisen; 
es  muß  dies  gelingen,  da  ja  jegliche  Veränderung  einer 
Mundart  nur  in  einer  Veränderung  dieser  konstitutiven 
Faktoren  bestehen  kann. 

Den  letzten  Schluß  der  historischen  Forschung  bildet 
endlich  eine  Chronologie  der  einzelnen  Veränderungen, 
wozu  die  Entstehungszeit  der  Denkmäler  Anhaltspunkte 
liefert.  Nur  ist  stets  zu  beachten,  daß  die  Orthographie 
nicht  gleichzeitig  mit  den  Lauten  einer  Sprache  sich  ver- 
ändert, sondern  erst  um  Decennien  später  umgestaltet 
worden  sein  mag.  Oelingt  es  uns,  in  einer  chronologi- 
schen TabeUe  die  Schicksale  der  Mundart  von  der  alt- 
hochdeutschen Periode  ab  vorzuführen,  so  erachten  wir 
unsere  Aufgabe  als  abgeschlossen. 


IV.  Die  zusammenfassende  Darstellnng. 

Wir  sind  davon  ausgegangen,  daß  die  Mundart  einer 
einzelnen  Oertlichkeit  erforscht  werden  soll;  es  versteht 
sich  von  selbst,  daß  es  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  ist,. 
in  ähnlicher  Weise  Ort  für  Ort  zu  behandeln.  Eine  um- 
fassende Dialektgrammatik  eines  Dorfes  oder  einer  Stadt 
genügt  als  Zentrum  für  den  gesamten  Umkreis  der  Sprach- 


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422  Friedrich  Kauffmann, 

genossenschaft,  deren  Abweichungen  niemals  prinzipieller 
Natur  sind  und  sich  leicht  rubrizieren  lassen. 

Von  Interesse  ist  dagegen,  den  Bereich  der  Sprach- 
genossenschaft abzugrenzen;  das  Material  hierzu  ver- 
scha£Ft  man  sich  entweder  durch  Reisen  von  Ort  zu  Ort, 
oder  durch  schriftliche  Meldungen,  die  von  Ort  zu  Ort 
einzuholen  sind;  der  Geistliche  oder  Lehrer  wird  meist 
gerne  dazu  erbötig  sein^).  Man  vermeide  auch  hier  so 
sehr  als  möglich,  sich  einzelne  Vokabeln  aufzeichnen  zu 
lassen.  Da  es  nun  aber  faktisch  nicht  gelungen  ist,  nach 
der  phonetischen  (oder  gar  graphischen)  Verschiedenheit 
einzelner  Laute  feste  Grenzliniea  in  sich  geschlossener 
Mundarten  zu  ziehen,  da  für  die  Einteilung  und  Ab- 
grenzung der  Mundarten  nach  dem  bisherigen  gerade  die 
gewöhnlich  nicht  geschriebenen  Lautelemente  maß- 
gebend sind,  ist  persönliche  Erfahrung  unter  allen  Um- 
ständen erforderlich.  Die  alte  Grenze  zwischen  dem  ale- 
mannischen und  fränkischen  Dialekt  wird  sich  auf  ihrem 
Verlaufe  durch  Württemberg  nur  noch  mittelst  der  ver- 
schiedenartigen Tonbewegung  („ singen*)  der  ursprünglich 
fränkischen  und  ursprünglich  alemannischen  Orte  gewinnen 
lassen.  Scheinbar  identische  Laute  angrenzender  Mund- 
arten können  in  ganz  verschiedenen  phonetischen  Vor- 
gängen begründet  sein,  von  der  gerade  an  der  Grenze 
intensiveren  Sprachmischung  abgesehen.  Man  wird  dem- 
gemäß in  erster  Linie  auf  die  Betonung,  Beschaffenheit 
der  Intervalle,  Intensität  der  Exspiration,  Wesenheit  des 
Accentes  und  deren  Konsequenzen  zu  achten  haben;  die 
Wissenschaft  kommt  hier  zu  demselben  Resultate  wie  die 
Volksmeinung,  die  den  fremdsprachlichen  Nachbar  nur 
auf  Grund  dieser  allgemeinen  Faktoren  zu  charakterisieren 
weiß.  Vokaltimbres  und  Eonsonantenartikulationen  un- 
abhängig von  diesen  Elementen  betrachtet,  ergeben  keine 
übereinstimmenden  Grenzlinien;  noch  viel  wichtiger  sind 
die  Verbreitungsgebiete  einzelner  Wörter  für  bestimmte 

*)  Herr  Dr.  Georg  Wenker  in  Marburg  (Hessen)  hat  mit  Hilfe 
der  VolksechuUehrer  umfassende  Sammlungen,  die  sich  über  das  ge- 
samte Deutsche  Reich  erstrecken,  veranstaltet,  die  gegenwärtig  zu 
einem  großartigen  Sprachatlas  verarbeitet  werden. 


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Dialektforschung.  423 

Begriffe,  doch  ist  auch  hier  vielfach  Austausch  eingetreten. 
Immerhin  wird  eine  kartographische  Aufnahme  charak- 
teristischer lautlicher,  flexivischer  und  lexikalischer  Merk- 
male gute  Dienste  leist-en. 

Die  Dialektgrammatik  in  ihrem  Idealbilde,  die  exakte 
phonetische  Analyse,  grammatikalische  Statistik,  histo- 
rische Entwickelung  und  kartographisch  angelegte  Ver- 
breitungsskizze umfassend,  bildet  im  Grunde  genommen 
nur  die  erklärende  Vorarbeit  für  die  Vereinigung  des 
gesamten  Sprachschatzes  im  Idiotikon,  wie  wir  ein 
solches  von  Schmeller  für  Bayern  besitzen  und  im  großen 
Schweizerischen  Idiotikon  erwarten  dürfen.  Freilich 
sind  von  der  einfachen  Wortsammlung  bis  zum  allumfassen- 
den Idiotikon  viele  Stufenfolgen  möglich,  jede  lexikalische 
Arbeit  ist  aber  selbstredend  an  die  Anforderungen,  die 
wir  an  die  grammatische  Behandlung  gestellt  haben,  ge- 
bunden. Zuverlässige  phonetische  Transskription,  scharfe 
Definition  der  Bedeutung  bilden  das  Fundament;  bei  der 
Absicht  auf  historische  Betrachtung  sind  die  älteren  Wort- 
formen anzufügen,  unter  Umständen  mit  maßvollen  ety- 
mologischen Notizen,  die  Wortbildung  zu  erörtern,  Bedeu- 
tungsentwickelung und  Veränderung  klarzulegen,  Geschlecht 
und  Flexionsformen  mitzuteilen,  bei  Gelegenheit  der  Be- 
lege, die  am  zweckmäßigsten  in  fertigen  Sätzen  gegeben 
werden,  wird  auch  die  syntaktische  Funktion  ersichtlich. 
Die  Gesamtanlage  betreffend,  halten  wir  die  streng  alpha- 
betische Folge  für  die  zweckdienlichste ;  bei  gutem  Willen 
wird  sich  auch  der  Fremde  darin  zurechtfinden. 

Das  Idiotikon  bietet  uns  nicht  bloß  die  ganze  Fülle 
des  Wortvorrats  nach  seiner  formalen  Beschaffenheit  und 
Entwickelung,  hier  erhalten  wir  auch  einen  tiefen  Einblick 
in  die  materialen  Faktoren  der  Volkssprache,  soweit  dies 
die  Bedeutungsveränderung  der  Wörter,  der  Verlust  früher 
vorhandener  Wörter  nebst  Begriffen,  die  Neuschöpfung 
von  Wörtern  oder  Wortgruppen  für  neu  auftretende  Be- 

friffe  gestatten.  Hier  wird  uns  das  Denken,  Wollen  und 
ühlen'  einer  kleineren  oder  größeren  Sprachgenossen- 
schaft erschlossen,  die  Kulturgeschichte  vereinigt  sich 
unlöslich  mit  der  Sprachbetrachtung,  die  Darstellung  der 


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424  Friedrich  Kaufifaiann, 

Mundart  wird  liier  in  eigentlichem  Sinne  zum  Charakter- 
bild des  Volksstammes. 


T.  Litteratar. 

Die  folgende  Litteraturübersicht  schließt  die 
Dialektdichtungen  aus  und  beschränkt  sich  auf  Angabe 
von  grammatischen  DarsteDungen  und  Wörterbüchern,  die 
für  das  Studium  des  Dialekts  förderlich  sind.  Eine  reiche 
Liste  von  Dialektarbeiten  älterer  und  jüngerer  Zeit  bietet 
E.  von  Bahder,  Die  deutsche  Philologie  im  Grundriß. 
Paderborn  1883,  S.  160—195.  Für  Nord-  und  Mittel- 
deutschland vergl.  namentlich  die  „Besondere  Beilage 
des  königlich  preußischen  Staatsanzeigers  **  zq  Nr.  237 
vom  9.  Oktober  1869. 

Allgemeines. 

Weinhold,  E.:  lieber  deutsche  Dialektforschung.  Ein  Versuch. 
Wien  1853. 

Wegener,  Ph.:  lieber  deutsche  Dialektforschung.  In  der  Zeit- 
schrift für  deutsche  Philologie  herausgegeben  von  Höpfner  und 
Zacher.   11.  Bd.  Halle  1880,  S.  450—480. 

Lundell,  A.:  Sur  Tetude  des  Patois.  In  der  Internationalen  Zeit- 
schrift für  allgemeine  Sprachwissenschaft,  herausgegeben  von 
F.  Techmer.   1.  Bd.  Leipzig  1884,  S.  308—328. 


Die  deutschen  Mundarten.  Eine  Monatsschrift  für  Dichtung, 
Forschung  und  Kritik.  Begründet  von  Jos.  Ans.  Pangkofer, 
fortgesetzt  von  G.  K.  Frommann.  1. — 4.  Jahrgang.  Ntkmberg 
1853—57.  5.  u.  6.  Jahrgang  (als  Vierteüahrsschrift).  Nördlingen 
1858—59.  7.  Jahrgang  (neue  Folge  1.  Bd.).  Halle  1877.  (Im 
folgenden  als  D.  M.  zitiert.) 


Oberdenfschiand. 

A)  Bayrisch-österreichische  Mundarten. 

Wein  hold,  E.:  Grammatik  der  deutschen  Mundarten.  2.  Teil: 
Bayrische  Grammatik.    Berlin  1867. 

Schmeller,  J.  A.:  Die  Mundarten  Bayerns  grammatisch  dargestellt. 
Beigegeben  ist  eine  Sammlung  von  Mundart-Proben,  d.  i.  kleinen 
Erzählungen,  Gesprächen,  Singstücken  u.  dergl.  in  den  ver- 
schiedenen Dialekten  des  Königreichs.   München  1821. 


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Dialektforschung.  425 

Schm%ller,  J.  A.:  Bayrisches  Wörterbuch.  Zweite  mit  des  Ver- 
fassers Nachträgen  vermehrte  Ausgabe  bearbeitet  von  G.  E. 
Frommann.     1.  u.  2.  Bd.    München  1869-78. 


Schröer,  K.  J.:  Die  Laute  der  deutschen  Mundarten  des  ungri- 
schen  Ber^landes.    Wien  1864. 

—  Versuch  emer  Darstellung  der  deutschen  Mundarten  des  ungri- 
schen  Berglandes.  Mit  Karte.  Wien  1864.  Vergl.  D.  M.  VI,  21. 
179.  330. 

—  Wörterbuch  der  Mundart  von  Gottschee.    Wien  1870. 

Na  gl,  W.:   Da  Roanad.    Grammatische  Analyse  des  niederöstei> 
reichischen  Dialekts  im  Anschluß  an  den  VI.  Gesang  des  Roanad. 
Mit  ausführlichem  Nachschlagebuch.    Wien  1886.    Hieraus: 
Die  Koigugation   des  schwachen  und  starken  Verbum   im 

niederösterreichischen  Dialekte.    Wien  1886. 
Die  Deklination   der  drei  Geschlechter  des  Substantivs  im 
niederösterreichischen  Dialekte.    Wien  1886. 
Castelli,  J.  F.:   Wörterbuch   der  Mundart  in  Oesterreich  unter 

der  Enns.    Wien  1847. 
Lexer,  M.:  Kämtisches  Wörterbuch.    Leipzig  1862. 
Krassnig,  J.:   Versuch  einer  Lautlehre  des  oberkämtischen  Dia- 
lektes.   Progr.  des  Untergymnasiums  zu  Villach  1869 — 70. 
Hintner,  V.:  Beiträge  zur  tirolischen  Dialektforschung.   I.    Wien 

1873.  II.  Wien  1874  (Tal  Defreggen). 
Schöpf,  B.:   Ueber  die  deutsche  Volksmundart  in  Tirol.    Progr. 
von  Bozen  1853.    Vergl.  D.  M.  III,  15.  89. 

—  Tirolisches  Idiotikon.    Innsbruck  1862. 

Thaler,  J.:  Die  deutschen  Mundarten  in  Tirol.    D.  M.  III,  317.449. 

Printzinger,  A.:  Die  bayrisch-österreichische  Volkssprache  und 
die  Salzburger  Mundarten.  Mitteilungen  der  Gesellschaft  fdr 
Salzburger  Landeskunde  22,  178—199.  VergL  noch  D.  M.  IIT, 
334—344  (C.  Waldfreund). 


B)  Alemannisohe  Mundarten. 

Wein  hold,   K.;   Grammatik   der   deutschen  Mundarten.    1.  Teil: 
Alemannische  Grammatik.    Berlin  1863. 


Tob  1er,  L.:  Ethnographische  Gesichtspunkte  der  schweizerdeut- 
schen Dialektforschung.   Jahrbuch  für  schweizerische  Geschichte. 

12.  Bd.  1887.  S.  185-210. 

Stalder,  F.  J.:  Die  Landessprachen  der  Schweiz  oder  schweize- 
rische Dialektologie.    Aarau  1819. 

Schweizerisches  Idiotikon.  Wörterbuch  der  schweizerdeut- 
schen Sprache.  Gesammelt  auf  Veranstaltung  der  antiquarischen 
Gesellschaft  in  Zürich  unter  Beihilfe  aus  allen  Kreisen  des 
Schweizervolks.    Bearbeitet  von  F.  Staub,  L.  Tobler  u.  a.    1.  bis 

13.  Lieferung.    Frauenfeld  1881—88. 


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420  Friedrich  Kauffmann, 

Staub,  L.:  Ein  schweizerisch-alemaniiisches  Lautgesetz.  D.V.  VII, 
18.  191.  333. 

Bachmann,  A.:  Beiträge  zur  Geschichte  der  schweizerischen  Gut- 
turallaute.   Dies.     Zürich  1886. 

Stickelberger,  H.:  Lautlehre  der  lebenden  Mundart  der  Stadt 
Schaff  hausen.    Aarau  1880. 

Seiler,  G.  A.:  Die  Bas  1er  Mundart.  Ein  grammatisch-lexikali- 
scher Beitrag  zum  schweizerdeutschen  Idiotikon.    Basel  1879. 

Heusler,  A.:  Beitrag  zum  Konsonantismus  der  Mundart  von  Basel- 
stadt.    Freiburger  Dissertation.     Straßburg  1888. 

Hunziker,  J.:  Aargauer  Wörterbuch.    Aarau  1877. 

Winteler^  J.:  Die  Kerenzer  Mundart  des  Kantons  Glarus  in 
ihren  Grundzügen  dargestellt.    Leipzig  und  Heidelberg   1876. 

Tobler^  F.:  Appenzellischer  Sprachschatz.     Zürich  1837. 

Brandstetter,  R.:  Die  Zischlaute  der  Mundart  von  B er om uns t er. 
Einsiedeln  1883  (Geschichtsfreund  XXXVIII,  205). 

Tobler,  L.:  Probe  des  Saamer  Dialekts  im  Kanton  Bern.    D.M. 

VI,  394.  

Birlinger,  A.:  Die  alemannische  Sprache  rechts  des  Rheins  seit 

dem  13.  Jahrhundert.     Berlin  1868. 
—  Alemannia.    Zeitschrift  für  Sprache,  Litteratur  und  Volkskunde 

des  Elsaßes  und  Oberrheins.     1.— 15.  Bd.     Bonn  1873—87. 
Meyer,  J.:  Das  gedehnte  l  in  nordostalemannischen  Dialekten.  D.  M. 

VII,  177;  vergl.  auch  448. 

Perathoner,  V.:  Ueber  den  Vokalismus  einiger  Mundarten  Vor- 
arlbergs.    Progr.  von  Feldkirch  1883. 

Vonbun,  J.:  Mundartliches  aus  Vorarlberg.  D.  M.  Ill,  297.  IV, 
1.  319.  323.  V,  479.   VI,  218. 

Birlinger,  A.:  Sprachvergleichende  Studien  im  Alemannischen  und 
Schwäbischen.  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  XV, 
191.  257.  XVI,  47. 

Heimburger,  K.:  Grammatische  Darstellung  des  Dorfes  Otten- 
heim  (bei  Kehl).  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache 
und  Litteratur  herausgegeben  von  H.  Paul  und  W.  Braune. 
Xm,  211.  

Fischer,  H.:  Ueber  den  schwäbischen  Dialekt  und  die  schwäbische 
Dialektdichtung.   Vierteljahrshefle  für  württemb.ergische  Landes- 
kunde 1884,  S.  130. 
Lauchert,  F.:   Lautlehre   der  Mundart  von  Rottweil   und  Um- 
gegend.   Progr.  von  Rottweil  1855. 
Kau  ff  mann,  F.:  Der  Vokalismus  des  Schwäbischen  in  der  Mund- 
art von  Horb.     Straßburg  1887. 
Schmidt,  J.C:  Schwäbisches  Wörterbuch.  2.  Aufl.  Stuttgart  1844. 
Birlinger,  A.:  Schwäbisch-Augsburgisches  Wörterbuch.    München 
1864. 
Wertvolles  Material  findet  sich  femer  in  den  vom  topographisch- 
statistischen Bureau  herausgegebenen  „Oberamtabeschreibungen*  des 


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Dialektforschung.  427 

Königreichs  Württemberg,  namentlich  Balingen,  Spaichingen,  Tutt- 
lingen, Eilwangen. 

Mankel:  Die  Mundart  des  Münsterthales.  Straßburger  Studien. 
II,  113. 

Lienhardt,  H.:  Die  Mundart  des  mittleren  Zomthales  (Zabem- 
Brumath).  Jahrbuch  fiir  Geschichte,  Sprache  und  Litteratur 
Elsaß-Lothringens.    II,  112. 

Kräujter,  J.  F.:  Die  schweizerisch-elsässischen  ei,  öy,  ou  für  alte 
i,  yy  u.     Zeitschrift  für  deutsches  Altertum.    XXI,  258. 

—  Untersuchungen  zur  els^ssisclien  Grammatik.  Birlinger's  Ale- 
mannia.  IV,  255.   V,  186. 


Mitteldeutschland. 

A)  Die  Stammlande. 

F  oll  mann,  M.:  Die  Mundart  der  Deutsch-Lothringer  und  Luxem- 
burger.    Progr.  von  Metz  1886. 

Klein,  P.:  Die  Sprache  der  Luxemburger.    Luxemburg  1855. 

Lenz,  Ph.:  Der  Handschuchsheimer  Dialekt  (bei  Heidelberg). 
I.  Wörterverzeichnis.     Progr.  von  Konstanz  1887. 

Wülcker,  E.:  Lauteigentümlichkeiten  des  Frankfurter  Stadtdia- 
lekts im  Mittelalter.     Paul  und  Braunes  Beiträge.    IV,  1. 

Kehrein,  J.:  Volkssprache  und  Volkssitte  im  Herzogtum  Nassau. 
Weilburg  1862.     Bonn  1872. 

Schmid,  K.  L.:  Westerwäldisches  Idiotikon.  Hadamar  und 
Herbom  1800. 

Wegeier,  J.:  Koblenz  in  seiner  Mundart  und  seinen  hervor- 
ragenden Persönlichkeiten.    Koblenz  1870. 

Schmitz,  J.  H.:  Sitten  und  Sagen,  Lieder,  Sprichwörter  und 
Rätsel  des  Eifler  Volkes.     1.  Bd.    Trier  1856. 

Hoffmann  von  Fallersieben:  Die  Eifler  Mundart  D.M. 
VI,  11. 

Busch,  Th.:  Ueber  den  Eifeldialekt.    Progr.  von  Malmedy.  1888. 

Wahlenberg,  F.  W.:  Die  niederrheinische  Mundart  und  ihre 
Lautverschiebungsstufe.     Progr.  von  Köln  1871. 

Honig,  F.:  Wörterbuch  der  Kölner  Mundart.     Köln  1877. 

Wenker,  G.:  Das  rheinische  Platt.    Mit  Karte.    Düsseldorf  1877. 

Nörrenberg,  C:  Studien  zu  den  ntederrheinischen  Mundarten. 
Paul  und  Braunes  Beiträge  IX,  371. 

Heinzerling,  J.:  Ueber  den  Vokalismus  und  Konsonantismus 
der  Siegerländer  Mundart.    Marburg  1871. 

Vi  1  mar,  A.  F.  Gh.:  Idiotikon  von  Kurhessen.    Marburg  1868. 

Pfister,  H.  V.:  Mundartliche  und  stammheitliche  Nachträge  zu 
A.  F.  C.  Vilmars  Idiotikon  von  Hessen.  Mit  Karte.  Marburg  1886. 

—  Chattische  Stammeskunde.    Kassel  1880. 

Sartorius,  B.:  Die  Mundart  der  Stadt  Würzburg.    Würzburg 

1862.  n 


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428  Friedrich  Kauffmann, 

Bauer,  H.:  Der  ostfränkisclie  Dialekt  zaKünzelsan.  Zeitschrift 
des  historischen  Vereins  für  das  württembergische  Beranken. 
6.  Bd.,  3.  Heft. 

Stengel,  A. :  Beiti-ag  zur  Kenntnis  der  Mundart  an  der  schwäbi- 
schen Retzat  und  mittleren  Altmühl.    D.M.  VII,  389. 

Schleicher,  A.:  Volkstümliches  aus  Sonneberg  im  Meininger 
Oberlande.    Weimar  1858. 

Spiess,  B.:  Die  fränkisch-henneb ergische  Mundart.  Mit  Karte. 
Wien  1873. 

—  Beiträge  zu  einem  Hennebergischen  Idiotikon.  Wien  1881. 
Vergl.  D.  M.  VH;  weiteres  von  Brückner,  D.  M.  11,  111; 
Stertzing  II-VI. 

Regel,  K.:Die  Ruhlaer  Mundart.    Weimar  1868. 

Hertel,  L.:   Die  Greiz  er  Mundart  (Vogtland)  in  den  Beiti^gen 

zur  Landes-  und  Volkskunde  des  Thüringerwaldes  herausgegeben 

von  Regel.   2.  Heft.  Jena  1887,  S.  1. 
Schulze,   M.:   Idiotikon   der  nordthüringischen  Mundart 

Nordhausen  1874.    Nachträge  von  Kleemann.    1882. 
Haushalter,  B.:  Die  Mundarten  des  Harzgebietes.  Mit  Karte. 

Halle  1884. 

—  Der  Vokalismus  der  Rudolstädter  Mundart.  Rudolstadt  1882. 

—  Die  Sprachgrenze  zwischen  Mittel-  und  Niederdeutsch  von  Hede- 
münden an  der  Werra  bis  Staßfurt  an  der  Bode.  Mit  Karte. 
Halle  1883. 

Pasch,  £.:  Das  Altenburger  Bauerndeutsch.    Altenburg  1879. 


Prochazka,  A.:  Das  deutsche  Sprachgebiet  in  Böhmen.  Mit^ 
teilungen  des  Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen. 
1876. 

Mannl,  P.  0.:  Die  Sprache  der  ehemaligen  Herrschaft  The u sing 
als  Beitrag  zu  einem  Wörterbuch  der  fränkischen  Mundart  in 
Böhmen.    Progr.  von  Pilsen  1887. 

Nassl,  J.:  Die  Laute  der  Tepler  Mundart.  Prag  1863  (Beiträge 
zur  Geschichte  Böhmens  II,  1.  Bd.  Nr.  1). 

Neubauer,  J.:  Altdeutsche  Idiotismen  der  Egerländer  Mund- 
art. Mit  einer  kurzen  Darstellung  der  Lautverhältnisse  dieser 
Mundart.    Wien  1887.     

B)  Das  mitteldeutsche  Kolonisatioiisgebiet. 

Albrecht,  K.:  Die  Leipziger  Mundart.  Grammatik  und  Wörter- 
buch der  Leipziger  Volkssprache.    Leipzig  1881. 

Franke,  G.:  Der  obersächsische  Dialekt.  Progr.  v.  Leipzig  1885. 

Böhme,  0.:  Beiträge  zu  einem  Vogtländischen  Wörterbache. 
Progr.  von  Reichenbach  i.  V.  1888. 

Göpfert,  E.:  Die  Mundart  des  sächsischen  Erzgebirges.  Mit  Karte. 
Leipzig  1879. 

Kiessling:  Blicke  in  die  Mundart  der  südlichen  Oberlausitz. 
4.  Jahresbericht  des  königl.  Seminars  zu  Löbau. 


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DialekiforschuDg.  429 

N  e  u  m  a  n  n :    Niederlausitzische    Idiotismen    im    Neuen    Lausitz. 
Magazin.    80.  Bd.,  3.  Heft. 


Weinhold,   K.:    Verbreitung   und   Herkunft   der  Deutschen   in 

Schlesien.    Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde 

herausgegeben  von  A.  Eirchhoff.    2.  Bd.,  3.  Heft.    Stuttgart  1887. 
—  üeber  deutsche  Dialektforschung.    Die  Laut-  und  Wortbildung 

und  die  Formen  der  schlesischen  Mundart.    Wien  1853. 
-—  Beiträge  zu  einem  schlesischen  Wörterbuche.   Wien  1855.  Vergl. 

D.  M.  IV,  63. 
Rückert.  H.:   Zur  Charakteristik  der  deutschen  Mundarten  in 

Schlesien.    Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  I,  199.    IV,  322. 

V,  125. 
Waniek,  6.:  Zum  Vokalismus  der  schlesischen  Mundart.    Progr. 

von  Bielitz  1880.  

Krone 8 :  Zur  Geschichte  des  deutschen  Volkstums  im  Kar pat en- 
lande  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Zip s  und  ihr  Nachbar- 
gebiet.   Graz  1878. 

Schlesinger:  Die  deutsche  Sprachinsel  von  Igl au.  Mitteilungen 
des  Vereins  filr  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen  23,  105. 

NoS,  K.:  Beiträge  zur  Kenntnis  der  Mundart  der  Stadt  Igl  au. 
D.  M.  V,  301.  310.  

Marienburg,  F.:  Ueber  das  Verhältnis  der  sieb enbürgisch- 
sächsischen  Sprache  zu  den  niedersächsischen  und  nieder- 
rheinischen  Dialekten.  Archiv  des  Vereins  für  siebenbürgische 
Landeskunde  1845.    3.  Heft. 

Reissenberger,  K.:  Die  Forschungen  über  die  Herkunft  des 
siebenbürgischen  Sachsen  Volkes.    Hermannstadt  1877. 

Wolff,  J.:  Der  Konsonantismus  des  Siebenbürgisch-Sächsisohen 
mit  Rücksicht  auf  die  Lautverhältnisso  verwandter  Mundarten. 
Progr.  von  Mühlbach  1873. 

—  üeber  die  Natur  der  Vokale  im  siebenbürgisch-sächsischen  Dia- 
lekt.   Progr.  von  Mühlbach  1875. 

Scheiner,  A.:  Die  Mediascher  Mundart.  Paul  und  Braunes  Bei- 
träge VII,  113. 

Keintzel,  G.:  Nösner  Dialekt  und  Gemeinsächsisch.  Korresp.-BL 
d.  Ver.  f.  Siebenbürg.  Landesk.  XI,  45  (1888). 

Schuller,  J.  K.:  Beiträge  zu  einem  Wörterbuch  der  siebenbürgisch- 
sächsischen  Mundart.    Prag  1865. 


Niederdeutschland. 

A)  Die  Stammlande. 

Verein  für  niederdeutsche  Sprachforschung.  Korrespon- 
denzblatt 1.— 12.  Heft,  seit  1876.  Jahrbuch  1.— 12.  Jahrgang, 
seit  1875.    Nordau  und  Leipzig. 


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430  Friedrich  Kauffmann, 

Wi  n  k  1  e  r ,  J. :  Algemeen  nederduitsch  en  friesch  dialecticon.    1.  n. 

2.  Bd.    'sGravenhage  1874. 
Versuch  eines  bremisch-niedersächsischen  Wörterbuchs,  l.bia 

5.  Teü,  1767—71.    6.  Teü,  Bremen  1881. 
Jellinghaus,  H.:  Zur  Einteilung  der  niederdeutschen  Mundarten. 

Kiel  1884.  

Eöttsches,  H.:  Die  Krefelder  Mundart.    D.  M.  VII,  36. 

Koch,  Fr.:  Die  Laute  der  Werdener  Mundart.  Progr.  von 
Aachen  1879. 

Hollhaus,  E.:  Die  Ronsdorfer  Mundart.  Zeitschrift  für  deutsche 
Philologie,  XIX,  339.  421. 

Jellinghaus,  H.:  Westfälische  Grammatik.  Die  Laute  und 
Flexionen  der  Ravensb ergischen  Mundart.  2.  Aufl.  Bremen 
1885. 

Kaumann:  Entwurf  einer  Laut-  und  Flexionslehre  der  mfinste- 
rischen  Mundart  in  ihrem  gegenwärtigen  Stande.  Dissert. 
von  Münster  1884. 

Holthausen,  F.:  Die  Soester  Mundart.  Laut-  und  Formenlehre 
nebst  Texten  (=  Forschungen,  herausgegeben  vom  Verein  für 
niederdeutsche  Sprachforschung  I).    Norden  und  Leipzig  1886. 

Woeste,  F.:  Wörterbuch  der  westfälischen  Mundart  (=  Wörter- 
bücher, herausgegeben  vom  Verein  für  niederdeutsche  Sprach- 
forschung I).    Norden  und  Leipzig  1883. 

Hoffmann,  E.:  Die  Vokale  der  lippischen  Mundart.  Dissert 
von  Zürich.    Hannover  1887. 

Schambach,  G.:  Wörterbuch  der  niederdeutschen  Mundart  der 
Fürstentümer  Göttingen  u.  Grubenhagen.  Hannover  1858. 

Müller,  J.:  Andeutungen  zu  einer  Lautlehre  der  Hildesheimi- 
schen Mundart.    D.M.  II,  118.  193.    Vergl.  ebenda  S.39— 44. 

Hoff  mann,  H.:  Mundart  in  und  um  Fall  er  sieben.  D.M.  V, 
41.  145.  289. 

Dam  kohl  er,  E.:  Mundartliches  aus  Cattenstedt  am  Harze. 
Progr.  von  Helmstedt  1884. 

—  Zur  Charakteristik  des  niederdeutschen  Harzes.    Halle  1886. 
Wegen  er,  Ph.:  Zur  Charakteristik  der  niederdeutschen  Dialekte, 

besonders  auf  dem  Boden  des  Nordthüringgaus.    Geschichts- 
blätter für  .Stadt  und  Land  Magdeburg  13,  1.  167. 

—  Idiotische  Beiträge  zum  Sprachschatze  des  Magdeburger 
Landes.    Ebenda  416. 

Danneil,  J.  F.:  Wörterbuch  der  alt  märkisch -plattdeutschen 

Mundart.    Salzwedel  1859. 
Graupe,  Br.:  De  dialecto  marchica.    Diss.     Berlin  1879. 
Chemnitz,  E.   und  Mielck,   W. :   Die  niederdeutsche  Sprache 

des  Tischlergewerks  in  Hamburg  und  Holstein.    Jah^ 

buch  des  Vereins  für  niederdeutsche  Sprachforschung.    Jahrgang 

1875,  S.  72  AT. 
Schütze,  J.  F.:  Holsteinisches  Idiotikon.    Hamburg  1800  bis 

1802.    Altona  1806. 


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Dialektforschung.  431 

Müllen  hoff,  K.:  Glossar  zam  Quickbom  von  Klaus  Groth. 

Allen,  C.  F.:  üeber  Sprache  und  Volkstümlichkeiten  im  Herzog- 
tum Schleswig  oder  Sü^jütland.  Nebst  Karte.  Kopenhagen 
1848.  

B)  Der  kolonisierte  Osten. 

Nerger,  K.:  Grammatik  des  mecklenburgischen  Dialekts* 
Leipzig  1869. 

Mi:  Wörterbuch  der  mecklenburgisch-vorpommerschen  Mund- 
art.   Leipzig  1876. 

Koseffarten:  lieber  das  in  Pommern  gesprochene  Niederdeutsch. 
Baltische  Studien  DI,  172. 

Dähnert,  J.  C. :  Plattdeutsches  Wörterbuch  nach  der  alten  und 
neuen  pommerschen  Mundart.    Stralsund  1781. 

Höfer,  A.:  Die  neuniederdeutschen  Lautverhältnisse  besonders 
Neuvorpommerns.  Zeitschrift  für  die  Wissenschaft  der  Spradie 
III,  375.    Vergl.  I,  379. 

Förstemann,  E.:  Die  niederdeutsche  Mundart  von  Dan  zig, 
V.  d.  Hagens  Germania  IX,  150. 

Seidel,  W.:  üeber  die  Danziger  Mundart.  Neue  preufi.  Pro- 
vinz.-Blätter  I,  27.     Vergl.  II,  294. 

Schemionek,  A.:  Ausdrücke  und  Redensarten  der  elbingi- 
gchen  Mundart    Danzig  1881. 

Lehmann,  A.:  Die  Volksmundarten  in  der  Provinz  Preußen. 
Preuß.  Provinz.-Blätter  XXVII,  5. 

Frischbier,  H. :  Preußisches  Wörterbuch.  Ost-  imd  west- 
preußische Provinzialismen  in  alphabetiBcher  Folge.  2  Bde. 
Berlin  1883-85. 

Bezzenberger,  A. :  Kässlausch,  Kössligs.  Ein  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Königsberger  Mundart.  Altpreuß.  Monatsschrift 
XXIII,  646  ff. 

Sallmann,  K.:  Neue  Beiträge  zur  deutschen  Mundart  in  Esth- 
land.  Reval  1880.  Nachlese  in  der  Baltischen  Monatsschrift 
1887.  Heft  6. 

Gutzeit,  W.  V.:  Wörterschatz  der  deutschen  Sprache  L  i  vi  and  s. 
Riga  1859  ff.  

Niederlande  und  Belgien'). 

Onze  Volkstaal.  Tydschrift  gewyd  aan  de  studio  der  nederl. 
ton^allen.  Red.  U.  de  Beer  onder  toezicht  v.  H.  Kern,  P.  J. 
Cosijn,  J.  H.  Gall^e,  B.  Symons,  J.  Beckering  Onckers. 


Winkler,  J.:   Sporen   der  Friesche  Taal  in  de  Volkspraak  vaik 
Noord  Holland.    Navorscher  XXVII. 


»)  Mit  gütigen  Beiträgen  von  Herrn  Prof.  Dr.  J.  H.  Gall^e 
in  Utrecht. 


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432  Friedrich  Eaufl^ann. 

Beets,  N.:   Nordhollands ch   taaleigeo.    Taalkundig  Magasyn 

HI.  IV. 
Bouman,  J.:  De  Volkstaal  in  NoordhoUand.   Purmerende  1871. 
Suurbach,  H.:  Terschellinger  Dialect.   Noord  en  Zuid  IIL 
Tinholt,   A.:    Taalbyzonderheden  van   het   eiland   Marken. 

Taalgids  IV. 
Koffeman,  K.:  Het  Urker  taaleigen.    Taal-  en  letterbode  VI. 
Holland,  J.:  Het  Dialect  der  stad  Groningen.    Taalk.  Bydr.  H. 
Onnckes,  J.:  Groningsch  Dialect.     VolksUal  II. 
Aarsen,  A.:  Veluwsch  taaleigen.   Taalgids  VI.    Taal-  en  letter- 
bode V.    Noord  en  Zuid  IV. 
Siffl^,  A.  F.:  Over  het  Zeeuwsch  taaleigen.     Taalk.  Magaz.  I. 
Stolk,  A.  F.:  Dialect  te  Viaardingen.    Noord  en  Zuid  IIL 
Kousemaker,  J.:  Z uidbevel an dsch  taaleigen.    Noord  en  Zuid 

ni.  IV. 
Vorstermann  van  Oyen,  G.  A.:  Het  Dialect  te  Aardenbarg. 

Noord  en  Zuid  II. 
Schuermans,  L.  W.:  Algemeen  Vlaamsch  Idioticon.  Leuven 

1856-70. 
de  Bo,  L.  L.:  Westvlaamsch  Idioticon.    Brügge  1870—73. 
Deflou,   K.:   Woorden   en    Vaktermen   uit   Westvlaan deren. 

Volkstaal  VII. 
Her  maus,  C:  Dialect  der  Meyery.     Belg.  Museum  111. 
van  Cuuk,  W.:  Dialect  in  het  land  van  Ouyk.   Noord  en  Zuid  UL 

Vergl.  Navorscher  IX,  X,  XL 
van  der  Brand,  H.:  De  quantiteit  in  de  Noordbrabantsche 

Volkstaal.    Volkstaal  I.  IL 
Mertens,  M.:  Het  Limburgs  ch  Dialect.    Volkstaal  II. 
Jongeneel,  J.:  Een  zuid-limburgsch  taaleigen.   Heerlen  1884. 
Kern,  H.:  Proeve  van  eene  taalkundige  behandeling  van  het  Ost- 

geldersch  taaleigen.    Taalgids  VII.  VIU. 
Gallöe,  J.  H.:  Woordenlyst  van  de  taal  van  de  grafschap  Zut- 

phen  en  Twenthe. 
Oosijn,  P.  J.:  Nieuw  Saksisch.     Taalkundig.  Bydr.  I. 
van  Wyngaarden,   C:   Overysselsch   Dialect.     Volkstaal  L 

Noord  en  Zuid  I.  III. 


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Volkstümliches  in  Glaube  und 
Brauch,  Sage  und  Märchen. 

Von 

Dr.  Ulrich  Jahn 

in  Berlin. 


Anleitung  zur  deutoohen  Landes-  und  Yollnfonchung. 


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Das  Volkstümliche  begreift  in  sich  Glauben,  Sagen 
und  Legenden,  Bräuche,  Sitten  und  Gewohnheiten,  Mär- 
chen, Lieder,  Schwanke,  Rätsel  und  Sprichwörter  des 
Volkes.  Der  Volksglaube  ist  der  Glaube,  welcher  neben 
dem  von  Schule  und  Kirche  in  fester  Form  in  das  Volk 
hineingetragenen  christlichen  Glauben  einherläuffc.  Er  ist 
überall  zu  Hause.  So  sehr  ihn  die  Kirche  verfolgen  und 
die  Bildung  vornehm  und  verächtlich  auf  ihn  herabblicken 
mag,  er  kann  gewaltsam  niedergehalten,  er  kann  ver- 
flacht und  abgeschwächt  werden,  so  daß  er  scheinbar  von 
der  Bildfläche  verschwindet;  kommt  für  ihn  eine  Zeit  der 
Ruhe  und  Erholung,  so  schlagen  die  Wurzeln  von  neuem 
aus,  und  bald  ist  der  Stamm  kräftig,  wie  zuvor.    . 

Steht  der  Volksglaube  allein  da,  so  schilt  man  ihn 
Aberglauben;  ist  er  verquickt  mit  Erzählungen,  die 
mit  bewundernswerter  Beharrlichkeit  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  fortgepflanzt  und  immer  wieder  und  wieder, 
als  in  der  Gegenwart  oder  in  der  jüngsten  Vergangen- 
heit geschehen,  erzählt  und  geglaubt  werden,  so  wird  er 
zur  S  age  (im  engeren  Sinne),  zum  Mythus.  Diese 
Verquickung  mit  Erzählungen  findet  sich  Überall,  wo 
Volksglaube  ist,  es  giebt  mithin  nirgends  mythenlose 
Gegenden.  Mag  auch  noch  so  oft  in  die  Welt  geschrieen 
und  geschrieben  werden:  ;,Da8  Gebirge  ist  sagenreicher, 
als  die  Ebene,  im  Flachlande  kann  die  Sage  nicht  haften**, 
die  Sache  hat  mit  der  Geographie  gar  nichts  zu  thun. 
Je  vergessener  ein  Winkel  ist  (liegt  er  nun  im  Riesen- 
gebirge  oder  in  Hinterpommem,  in  der  Schweiz  oder  im 
Elsaß,  in  den  Rheinlanden  oder  in  Westfalen),  um  so 
reicher  ist  sein  Volksglaube  und  durch  ihn  seine  Mythen, 
und  umgekehrt,  je  mehr  die  abstrakte  Kirchenlehre  und 


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436  Ulrich  Jahn, 

die  Bildung  in  die  Bevölkerung  eingedrungen  sind,  um  so 
farbloser  der  Volksglaube  und  um  so  ärmlicher  und  ver- 
waschener die  mythischen  Sagen.  Wie  von  Stamm  zu 
Stamm  und  von  Gau  zu  Gau  die  Glaubensanschauungen 
des  Volkes  variieren,  so  variieren  auch  von  Stamm  zu 
Stamm  und  von  Gau  zu  Gau  die  Mythen;  wo  aber  die 
Glaubensanschauungen  gleich  sind,  da  bietet  ein  Dörfchen 
in  seinem  Mythenschatz  ein  Abbild  der  Mythologie  des 
ganzen  Landstriches  im  kleinen  dar. 

Eine  Abart  des  Mythus  ist  die  Legende.  Sie  ist 
ein  Mythus,  der  mehr  oder  minder  stark  durch  die  reli- 
giösen Vorstellungen  des  Christentums  beeinflußt  ist  und 
in  dem  an  die  Stelle  göttlicher  oder  dämonischer  Mächte 
des  Volksglaubens  Christus  und  die  Heiligen  getreten  sind. 
Die  Legende  findet  deshalb  günstigen  Grund  und  Boden 
nur  da,  wo  eine  Verschmelzung  des  Christentums  mit  dem 
Volksglauben  stattgefunden  hat,  mit  anderen  Worten,  wo 
das  Christentum  volkstümlich  geworden  (und  geblieben)  ist 
Sie  wird  uns  deshalb  bei  der  größeren  Volkstümlichkeit 
der  katholischen  Kirche  in  den  katholischen  Ländern  un- 
gleich häufiger  begegnen,  als  in  den  evangelischen. 

Neben  den  mythischen  Sagen,  welche  durch  den 
Volksglauben  hervorgerufen  sind,  giebt  es  ferner  Sagen, 
die  der  geschichtlichen  üeberlieferung  des  Volkes  ihre 
Entstehung  verdanken,  sog.  historische  Sagen.  Eine 
geschichtliche  Thatsache,  eine  Begebenheit,  die,  wenn  sie 
auch  nicht  geschichtlich  ist,  doch  geschichtlich  sein  könnte, 
ist  mit  einer  Oertüchkeit  in  Verbindung  getreten  oder 
hat  sich  auch  nur  an  einen  bekannten  und  volkstümlich 
gewordenen  Namen  geklammert.  Darauf  ist  sie  als  Ge- 
schichte des  Volkes  von  diesem  mündlich  fortgepflanzt, 
hat  einen  dichterischen  Schmuck  angenommen  und  tritt 
nun,  halb  Geschichte,  halb  Wunder,  vor  uns,  —  zumeisfc 
freilich  in  den  Chroniken.  Das  Volk  kennt  diese  Sagen, 
bei  seinem  ausgesprochenen  Mangel  an  historischem  Sinn, 
nur  selten,  und  finden  sie  sich  wirklich,  so  fragt  es  sich 
zunächst,  ob  sie  nicht  gelehrten  Einflüssen,  in  das  Volk 
gedrungenen  Druckwerken,  dem  gutgemeinten  Lokal- 
patriotismus des  Pastors  und  Schulmeisters  oder  der  Sucht 


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Volkstümliches.  437 

des  adeligen  Herrn,  sein  Geschlecht  und  seinen  Stamm- 
sitz zu  einem  sagenumwobenen  zu  machen,  ihren  Ur- 
sprung verdanken.  Wenn  aber  auch  jeder  Zweifel  ge- 
hoben sein  sollte,  so  bringen  die  historischen  Sagen 
dennoch  geringen  Nutzen,  da  sie  erfahrungsmäßig  für  den 
Historiker  wenig  brauchbar  sind  und  ihn  oft  nur  lehren 
können,  wie  kühl  er  sich  der  Volksüberlieferung  gegen- 
über da,  wo  sie  die  einzige  Quelle  ist,  zu  verhalten  hat. 
Eine  dritte  Art  von  Sagen  sind  die  Lokal-  und 
Namensagen.  Die  Lokalsagen  knüpfen  an  individuelle 
lokale  Eigentümlichkeiten  an  und  haben  nur  an  der  be- 
treffenden Stelle  ihre  Bedeutung.  Der  häufig  an  den 
Kirchen  angebrachte,  in  Stein  gehauene  „Christus  der 
gute  Hirt"  giebt  im  Norden  wie  im  Süden  des  deutschen 
Landes  Anlaü  zu  den  zahlreichen  Sagen  von  Kirchen, 
die  durch  fromme  Schäfer  erbaut  sind;  die  einer  Menschen- 
oder Pferdespur  ähnliche  Vertiefung  in  einem  Steine  er- 
klärt die  Sage  überall  so,  daß  hier  ein  menschliches 
Wesen  oder  ein  Pferd  als  Wahrzeichen  seine  Spur  im 
Felsen  zurückgelassen  habe;  der  an  dem  Giebel  mancher 
alten  Häuser  angebrachte  Pferdekopf  ist  dem  Volke  die 
Erinnerung  an  ein  Roß,  das  zum  Bodenfenster  hinaus- 
sah u.  s.  w.  Entfernt  man  das  Christusbild,  den  Fels- 
stein, den  Pferdekopf,  so  verschwindet  auch  die  Sage.  — 
Ganz  ähnlich  ist  es  mit  den  Namensagen,  welche  vom 
Volke  zur  Erklärung  eines  unverstandenen  Namens,  eines 
wunderlichen  Gebrauchs  u.  s.  w.  erfunden  sind.  Der 
Küstriner  bringt  seine  Stadt  mit  einer  Küsters-Trine,  der 
Schlesier  den  Rübezahl  mit  dem  Rübenzählen  zusammen. 
Lautenthal  verdankt  seinen  Namen  einer  Jungfer  mit  der 
Laute,  Wernigerode  der  Redensart:  „Ik  warne  ju  voer  de 
Rooden.*  Und  mehr  oder  minder  schöne  Erzählungen 
berichten,  wie  das  alles  so  gekommen  sei.  Es  ist  der 
Lokal-  und  Namensagen  eine  unermeßliche  Fülle  vor- 
handen, und  es  werden  ihrer  eher  mehr  als  weniger; 
denn  wenn  hier  wirklich  einmal  eine  in  Vergessenheit 
geraten  sollte,  tauchen  dort  sogleich  wieder  ein  paar  neue 
auf.  Sie  haben  aber  auch  keinen  anderen  Wert,  als  daß 
sie   von   dem   gesunden   Mutterwitz   des  Volkes   beredtes 


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438  Ulrich  Jahn, 

Zeugnis  ablegen.  —  Uebrigens  brauchen  die  verschiedenen 
Sagenklassen  nicht  immer  getrennt  voneinander  aufzu- 
treten. Im  Gegenteil,  es  kommt  oft  genug  vor,  dal^  eine 
Sage  beides,  mythisch  und  historisch,  ist  und  gleichzeitig 
der  Volkswitz  eine  Namen-  oder  Lokalsage  hineingetragen 
hat.  Es  ist  dann  Sache  des  Forschers,  die  Sage  in  ihre 
Bestandteile  zu  zerlegen  und  jedes  Element  gesondert  zu 
seinem  Rechte  zu  bringen. 

Der  Volksglaube  in  seiner  Verbindung  mit  Erzäh- 
lungen ergab  den  Mythus;  er  wird,  ins  praktische  Leben 
übertragen,  zum  Volksbrauch  und  beherrscht  darin  das 
ganze  Leben  des  Volkes  von  der  Geburt  an  bis  zum  Tode 
in  Freude  und  Leid,  in  allen  Zeiten  des  Jahres  und  des 
Lebens,  bei  Ackerbau  und  Viehzucht,  in  Gewerbe  und 
Hantierung.  Wie  der  Mythus,  solange  noch  Volksglaube 
vorhanden  ist,  nicht  erlöschen  kann,  so  ist  es  auch  mit 
dem  Brauch;  und  wie  der  Mythus  sich  von  der  histori- 
schen Sage  unterscheidet,  so  unterscheidet  sich  der  Volks- 
brauch von  der  Volks sitte  dadurch,  daß  die  letztere  dem 
geschichtlichen  Herkommen  ihre  Entstehung  verdankt. 
Wir  rechnen  daher  ihrem  Gebiete  zu  die  anläßlich  ge- 
schichtlicher Ereignisse  eingerichteten  Volksfeste,  -Auf- 
züge, -Spiele  u.  dergl.  Sie  sind  selten  wie  die  histori- 
schen Sagen  und  verdienen  gleich  diesen  nur  geringeres 
Interesse. 

Den  Bräuchen  und  Sitten  stehen  die  Volksgewohn- 
heiten gegenüber.  Sie  sind  die  Kinder  des  Volkswitzea 
und  darum  zumal  für  die  Kulturgeschichte  von  hohem 
Werte.  Außer  der  Art  und  Weise,  wie  die  verschiedenen 
Geschäfte  im  häusliclien  Leben  verrichtet  werden,  gehören 
dazu  AckerbesteUung,  Viehzucht,  Hausbau,  Trachten, 
Rechtsbräuche  u.  s.  w.  Auch  sie  können,  nicht  minder 
wie  die  Sitten,  mit  Volksbräuchen  durchsetzt  und  ver- 
quickt sein,  sind  also  selbst  darin  den  drei  Klassen  der 
Sagen  ganz  analog. 

Dieselbe  Dreiteilung  begegnet  uns  bei  der  Volks- 
dichtung. Das  Spiel  der  Volksphantasie  mit  dem  Volks- 
glauben und  seinen  Mythen  zeitigt  das  Märchen  (ge- 
reimtes    und    ungereimtes).      Aus    der    geschichtlichen 


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Yolkfltümliches.  439 

Ueberlieferung  schafft  der  (lichtende  Volksgeist  das  hi- 
storische Volkslied.  Die  große  Masse  der  übrigen 
Volkslieder  endlich?  die  Volksschauspiele,  Schwanke, 
Bätsei,  Kinderreime,  Kinderspiele,  Sprichwörter 
u.  s.  w.  verdanken  der  Verbindung  von  Volksphantasie 
und  Volkswitz  ihr  Dasein. 

Der  Volksglaube  mit  seinen  Mythen,  Legenden, 
Bräuchen  und  Märchen  bewährt  sich  als  das  Feste  und 
Beständige  im  Wechsel  der  Zeiten;  er  ist  in  seinen  wesent- 
lichen Erscheinungen  nachweisbar  vor  tausend  und  zwei- 
tausend Jahren  nicht  anders  gewesen,  als  heutigestags. 
Die  geschichtliche  Tradition  mit  den  historischen  Sagen, 
Sitten  und  Liedern  zeigt,  wie  das  Volk  die  Vorzeit  auf- 
faßt und  behält.  Der  Volkswitz  in  seinen  mannigfachen 
Aeu&erungen  gestattet  die  tiefsten  Einblicke  in  die  Volks- 
seele. Es  ergiebt  sich  daraus,  daß  das  Volkstümliche 
den  Disziplinen  der  Ethnologie,  Anthropologie, 
Mythologie  und  Prähistorie  (denn  die  Mythologie 
ist  in  erster  Linie  eine  prähistorische  Wissenschaft)  nicht 
minder,  als  der  Kulturgeschichte,  Völkerpsycho- 
logie, Altertumskunde,  ja  in  gewisser  Weise  auch 
der  Litteraturgeschichte,  das  denkbar  beste  und 
brauchbarste  Material  in  die  Hand  geben  muß. 

Wenn  das  Volkstümliche  einer  wissenschaftlichen 
Disziplin  als  Quellenmaterial  dienen  -soll,  so  muß,  was 
das  Volk  spricht  und  thut,  wie  eine  historische  Urkunde, 
die  man  nicht  falschen  darf,  betrachtet  und  in  dem  Sinne 
gesammelt  und  niedergeschrieben  werden.  Es  ist  nun 
aber  nicht  eine  Disziplin,  es  sind  ihrer  viele,  die  daran 
teilhaben,  und  so  muß  notgedrungen  ein  thatsächliches, 
objektives  Archiv  geschaffen  werden,  aus  dem  jeder  For- 
scher objektiv  schöpfen  kann.  Der  Sammler  muß  darum 
einmal  überall,  wo  es  auch  sein  mag,  sein  Ich  in  den 
Hintergrund  stellen  und  sich  der  strengsten  Objektivität 
befleißigen;  dann  aber  darf  er  seine  Sammlungen  nie 
einseitig  in  den  Dienst  irgend  einer  bestimmten  Disziplin 
(es  trifft  das  vorzugsweise  die  Mythologie)  stellen  und 
den  Stoff  womöglich  sogleich,  wie  das  leider  häufig  genug 
geschehen  ist,  in  diesem  Sinne  bearbeiten.    Es  wird  sich 


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440  Ulrich  Jahn, 

empfehlen,    an  dieser  Stelle  in  Kürze  auf  die  Entwicke- 
lung  der  Sammlungen  des  Volkstümlichen  einzugehen. 

Als  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  der  Wert  des 
Volkstümlichen  für  die  "Wissenschaft  durch  die  Gebrüder 
Orimm  erkannt  wurde,  benutzten  dieselben  für  ihre 
Sammlungen  nicht  nur,  was  sie  selbst  dem  Volke  ab- 
lauschten, sie  bedienten  sich  auch  brieflicher  Mitteilungen 
und  zogen  endlich  aus  Schriftwerken,  zumal  aus  Chro- 
niken, die  gelegentlichen  Notizen  der  Verfasser  über  das 
Volkstümliche  aus.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  allein 
dasjenige,  was  sie  selbst  sammelten,  von  zweifellosem 
Werte  ist;  bei  den  brieflichen  Mitteilungen  und  vielleicht 
in  noch  höherem  Grade  bei  den  Erzählungen  der  Chro- 
nisten liegt  immer  der  Verdacht  nahe,  die  Berichte  möch- 
ten subjektiv  wiedergegeben,  gefärbt  und  ausgeschmückt 
sein.  Und  wenn  jemand  auch  noch  so  sehr  mit  dem 
Volksgeiste  vertraut  ist,  wer  steht  dafür,  daß  nach  der 
Zurechtstutzung  die  einzelnen  Stücke  ihre  echte,  ursprüng- 
liche Gestalt  wieder  erlangt  haben?  —  Immerhin,  wer 
kann  es  den  Brüdern  Grimm  verdenken,  wenn  sie  so 
verfuhren.  Es  mußte  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ein 
großes  Material  zusammengebracht  werden,  damit  sie 
darauf  in  ihren  Forschungen  fußen  könnten,  und  sie 
waren  die  ersten,  welche  darauf  hinwiesen,  daß  ein  Aus- 
bau in  den  einzelnen  Punkten  unerläßlich  nötig  sei. 

Angeregt  durch  die  Erfolge  der  Gebrüder  Grimm 
machte  man  sich  allerorten  in  Deutschland  an  die  Samm- 
lung des  Volkstümlichen.  Die  Mühseligkeit  aber,  welche 
das  Sammeln  aus  dem  Volke  mit  sich  bringt,  die  lange  ^ 
Zeit,  welche  der  einzelne  darauf  verwenden  muß,  um 
schließlich  doch  nur  ein  kleines  Gebiet  ausschöpfen  zu 
können,  ließ  verhältnismäßig  wenig  unmittelbare  Samm- 
lungen aus  dem  Volksmunde  vornehmen.  Viele  begnüg- 
ten sich  damit,  die  Chroniken,  gedruckte  und  ungedruckte, 
auszuschreiben.  Noch  größer  war  die  Zahl  derer,  welche 
gelegentliche  Beobachtungen,  die  sie  im  Volke  gemacht 
und  dann  niedergeschrieben  hatten,  dadurch  zu  stattlichen 
Bänden  anschwellen  ließen,  daß  sie  Leute,  welche  mit  dem 
Volke  in   naher   Beziehung   stehen,   in   erster  Linie   die 


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Volkstümliches.  441 

Volksschullehrer,  um  Beiträge  baten.  Da  stellte  sich 
denn  sehr  bald  heraus,  daia  die  Eingänge  nicht  so  viel- 
seitig waren,  als  man  das  wünschte.  Um  nun  die  Kräfte 
besser  auszunutzen,  wurden  Fragebogen  aufgesetzt,  die 
in  Frageform  alles  dem  Herausgeber  Wissenswerte  ent- 
hielten und  nur  ausgefüllt  zu  werden  brauchten.  Waren 
ihrer  in  genügender  Anzahl  aus  den  verschiedenen  Gegen- 
den des  Landes  eingelaufen,  so  wurde  das  Material  zu- 
sammengestellt und  zugestutzt,  mit  gelehrten  Anmerkungen 
und  einem  Register  versehen  und  in  Druck  gegeben. 
Wenn  die  Fragebogen  bereitwillig  und  schnell  erledigt 
worden,  so  nannte  das  Vorwort  die  Gegend  sagen-  *und 
märchenreich;  begegneten  sie  bei  den  Dorfhonoratiören 
keinem  Interesse,  so  war  das  Umgekehrte  der  Fall. 

Im  großen  betrieb  diese  Methode  Wilhelm  Mann- 
bar dt.  Um  ein  umfassendes,  zuverlässiges  Archiv  der 
Ackerbräuche  zu  erlangen,  sandte  er  tausende  und  aber 
tausende  von  Fragebogen  in  die  Welt  hinaus.  Alle  Güter 
und  Dörfer  wurden  damit  überschwemmt,  und  eine  Un- 
zahl von  Volksschullehrern  und  Schülern  (andere  Leute 
beteiligten  sich,  wie  der  handschriftliche  Nachlaß  Mann- 
hardts  zeigt,  nur  wenig)  füllten  die  Bogen  aus,  und  das 
ersehnte  Material  war  gewonnen.  Was  würde  beispiels- 
weise die  Prähistorie  sagen,  wenn  irgend  ein  übereifriger 
Forscher  auf  den  Gedanken  käme,  Anweisungen  zum  Aus- 
graben an  alle  Lehrer,  Pastoren,  Schulzen  und  Gutsbesitzer 
zu  senden  und  sie  darin  aufzufordern,  die  auf  ihrem  Gebiete 
befindlichen  Heidengräber,  Ringwälle  u.  s.  w.  zu  durch- 
wühlen und  die  Funde  und  Fundberichte  einzusenden. 
Man  würde  ihn  verlachen;  denn  was  nützt  es,  die  Museen 
mit  Schaustücken  und  Fundberichten  zu  füllen,  wenn  die 
Person  des  Gräbers  nicht  Gewähr  leistet,  einmal,  daß  bei 
den  Fundobjekten  keine  Fälschungen  unterlaufen,  dann, 
daß  die  Fundstellen  wirklich  erschöpft  sind,  und  endlich 
drittens,  daß  sich  alles  der  Wahrheit  gemäß  so  verhält, 
wie  es  der  Fundbericht  angiebt.  —  Leider  wird  die  Volks- 
kunde mit  anderem  Maße  gemessen.  Mannhardts  Quellen- 
material wurde  als  das  höchste  in  seiner  Art  bewundert 
und  wird  es  von  vielen  noch  heute. 


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442  Ulrich  Jahn, 

Es  soll  ja  nun  nicht  geleugnet;  werden,  daß  es  sehr 
erwünscht  ist,  Mitarbeiter  im  Sammeln  zu  haben;  diese 
Mitarbeiter  müssen  jedoch  volkstümlich  vorgebildet  sein, 
und  einzig,  wenn  sie  das  sind,  kann  ihren  Beiträgen  ein 
wirklicher  Wert  beigelegt  werden.  Im  folgenden  mag 
darum  in  aller  Kürze  angegeben  werden,  worauf  es  beim 
Sammeln  ankommt: 

Zunächst  mu&  der  Sammler  wissen,  was  er  zu  sam- 
meln hat.  Es  ist  darum  unerläfalich  für  ihn,  sich  mit 
den  bestehenden  Sammlungen  des  Volkstümlichen  bekannt 
zu  machen,  und  zwar  nicht  allein  mit  den  Sammlungen 
des  engeren  Kreises,  in  dem  er  selbst  einzusetzen  gedenkt, 
sondern  mindestens  auch  mit  denen  der  benachbarten 
Gegenden,  wenn  möglich  sogar  mit  den  besten  auf  diesem 
Gebiete  vorhandeuen  Arbeiten  ganz  Deutschlands.  Man 
sage  nicht,  der  Sammler  würde  dadurch  subjektiv  beein- 
flußt werden  und  fände  am  Ende  nachher  mehr,  als  das 
Volk  wirklich  bietet,  oder  färbe  im  Sinne  des  Gelesenen. 
Wer  sich  durch  die  Lektüre  in  seiner  Objektivität  be- 
einflussen lä&t,  der  wird  das  auch  ohne  dieselbe  thun, 
und  es  ist  besser  für  ihn  und  die  Wissenschaft,  er  lä&t 
seine  Hände  überhaupt  ganz  fort  von  der  Sache.  Ebenso 
unberechtigt  ist  der  Einwand,  durch  die  Kenntnis  der 
einschlägigen  Sammlungen  würde  die  Freude  am  eigenen 
Sanuneln  vergällt.  Der  Forscher  des  Volkstümlichen  mu& 
sich  eben  von  vorneherein  immer  wieder  und  wieder  vor 
Augen  halten,  daß  es  nicht  darauf  ankommt.  Neues  zu 
finden,  sondern  das  Archiv  zu  er^nzen  und  zu  berichti- 
gen. Eine  Ergänzung  ist  aber  immer  noch  nötig,  selbst 
in  den  Gegenden,  wo  unsere  vorzüglichsten  Sammlungen 
geschöpft  sind.  Und  wenn  die  vorhandenen  Sammlungen 
nicht  gut  sind,  wenn  zu  der  Ergänzung  noch  die  Be- 
richtigung kommt,  so  kann  durch  die  Kenntnis  der  Litte- 
ratur  die  Freude  nicht  gemindert,  im  Gegenteil  sie  muß 
dadurch  erhöht  werden. 

Weiß  der  Sammler,  um  was  es  sich  handelt,  so  mag 
er  ins  Volk  gehen.  Beliebt  ist  es  nun  von  jeher  ge- 
wesen, zu  solchem  Zwecke  den  Wanderstab  zu  ergreifen, 
von  Dorf  zu  Dorf  zu  ziehen  und  dabei  die  Leute  auszu- 


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YolkstamJiches.  443 

fragen.  Mit  Recht  muß  man  jedoch  dieser  Methode  den 
Vorwurf  machen,  sie  begünstige  gewissermaßen  den  Raub- 
bau. Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  des  Volkes,  dem  Ge- 
bildeten gegenüber  schwer  aufzutauen.  Selbst  derjenige, 
welcher  mit  großem  Glücke  sammelt,  dem  so  zu  sagen 
die  Herzen  der  Leute  zufallen,  selbst  dieser  kann  bei 
solcher  Art  des  Sammeins  nur  in  die  Oberfläche  ein- 
dringen, die  tiefsten  Tiefen  des  Volkstümlichen  bleiben 
ihm  verschlossen.  Nur  unzurechnungsfähige  Persönlich- 
keiten, Kinder  und  die  kindisch  gewordenen  Alten,  machen 
eine  Ausnahme;  sie  sind  gegen  jedermann,  der  es  gut 
mit  ihnen  meint,  vertrauensselig  und  beantworten  gemein- 
hin arglos  alle  an  sie  gerichteten  Fragen.  Was  sie  bieten, 
ist  aber  auch  nur  Stückwerk,  wovon  sich  jeder  mit  Leich- 
tigkeit überzeugen  wird,  der  von  den  Erwachsenen  in  die 
Geheimnisse  des  Volkes  eingeweiht  wurde. 

Da  es  vor  allen  Dingen  darauf  ankommt,  den  Arg- 
wohn, die  Scheu  der  Leute  vor  der  Bildung,  ihre  Furcht, 
sich  lächerlich  zu  machen,  zu  überwinden,  so  will  es  uns 
als  das  beste  erscheinen,  daß  der  Sammler  in  möglichst 
lange  anhaltenden  innigen  Verkehr  mit  dem  Volke  tritt, 
Freude  und  Leid  mit  ihm  teilt,  so  daß  die  Leute  schließlich 
einen  der  Ihrigen  in  ihm  zu  erblicken  glauben.  Dann  ist 
der  Zeitpunkt  der  Ernte  gekommen,  und  sie  wird,  wenn 
der  Sammler  nicht  aus  der  Rolle  fällt,  über  Erwarten 
reich  ausfallen  und  kann,  was  von  großer  Wichtigkeit  ist, 
bis  auf  die  letzten  Aehren  eingebracht  werden. 

Kleine  Kunstgriffe  werden  dabei  dem  Sammler  die 
Arbeit  erleichtem.  Einige  der  bewährtesten  mögen  hier 
aufgeführt  werden.  —  Beherzige  vor  allem  den  Spruch: 
„Mann  mit  zugeknöpften  Taschen,  dir  thut  niemand  was 
zulieb;  Hand  wird  nur  von  Hand  gewaschen,  wenn  du 
nehmen  willst,  so  gieb!"  Der  gemeine  Mann  teilt  näm- 
lich, wenn  er  hat,  von  Herzen  gern  von  seinem  üeber- 
flusse  mit,  erwartet  dafür  aber  auch  dieselbe  Tugend  von 
jedem,  der  sein  Freund  sein  will.  —  Suche  vorzugsweise 
die  Armen  auf:  die  Tagelöhner,  Hirten,  Arbeiter,  Hand- 
werksburschen, Fischerknechte,  Matrosen  und  das  land- 
fahrende Volk,  denn  das  ganze  Sinnen  und  Trachten  der 


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444  Ulrich  Jahn, 

Begüterten  pflegt  auf  den  Erwerb  auszugehen.  —  Be- 
diene dich  bei  der  Unterhaltung  der  Mundart  nur  dann, 
wenn  du  sie  sicher  beherrschst;  sonst  gebrauche  den  leicht 
erlernbaren  Mischdialekt,  welchen  Personen,  die  mit  dem 
Volke  viel  in  Verbindung  kommen,  also  beispielsweise 
die  Viehhändler  uiid  Fuhrleute,  sprechen.  —  Sei  den  Juden 
ein  Jude  und  den  Griechen  ein  Grieche.  Wer  dir  miß- 
trauisch entgegenkommt,  den  behandle  scheinbar  mit  der- 
selben Zurückhaltung.  Dem  tief  in  den  Wahnvorstellungen 
des  Volksglaubens  Befangenen  erscheine  noch  tiefer  darin 
steckend.  Schilt,  was  er  schilt,  und  lobe,  was  er  lobt. 
Reize  ihn  dadurch  zum  Erzählen,  daß  du  durch  die  Lit- 
teratur  als  volkstümlich  verbürgte  Sagen  irgend  einer 
deutschen  Gegend  als  deine  eigenen  Erlebnisse  vorträgst; 
er  wird  bald  genug  Widerspruch  oder  Zustimmung  laut 
werden  lassen  und  mit  gleichem  dienen.  —  Wenn  mög- 
lich, so  zieh  in  deine  Gespräche  gleichzeitig  mehrere  Per- 
sonen. Was  der  eine  vergißt,  holt  der  andere  nach.  — 
Um  hinter  die  Geheimnisse  der  Zauberei  und  Volksmedizin 
zu  kommen,  gieb  dich  selbst  als  Hexenmeister  oder  klugen 
Mann  aus,  der  seine  Erfahrungen  nur  austauschen  will. 
Die  dazu  erforderlichen  Kenntnisse  lassen  sich  leicht  aus 
den  bestehenden  Sammlungen  erwerben.  —  Die  Lieder 
und  Zauberformeln  pflegen,  dank  den  Fortschritten  im 
Volksschulwesen,  zur  Zeit  fast  allenthalben  in  deutschen 
Landen  nicht  nur  mündlich,  sondern  auch  handschriftlich 
überliefert  zu  werden.  Trachte  darum  solchen  Heften 
nach  und  rette  durch  Abschreiben  ihren  Inhalt  der  Wissen- 
schaft. —  Mache  Jagd  auf  Märchenerzähler  von  Ruf  und 
begnüge  dich  nicht  mit  dem,  was  Kinder  und  Erwachsene 
davon  im  Gedächtnis  behalten  haben;  das  Märchen  ist 
eine  Dichtung  und  verliert  seine  ihm  eigentümliche  un- 
verfälschte Schönheit,  wenn  es  von  dem  Sammler  aus 
zweiter  oder  gar  dritter  Hand  aufgenommen  wird.  — 
Aber  genug  hiermit;  es  kann  ja  doch  nur  angedeutet 
werden;  das  Beste  wird  immer  die  Lust  und  Liebe  zur 
Sache  thun,  und  dieselben  können  durch  viele  Regeln  nur 
beeinträchtigt  werden. 

Wichtiger   ist   es,    daß  der  Sammler  stets  im  Auge 


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Volkatümliches.  445 

behält,  seine  Quellen,  wenn  irgend  möglich,  bis  auf  den 
Grund  zu  erschöpfen.  Die  einzelnen  Punkte,  auf  die  es 
ankommt,  mag  er  aus  den  brauchbaren  Sammlungen  seiner 
engeren,  bez.  weiteren  Heimat  ersehen;  hier  die  Haupt- 
punkte in  Kürze  aufzuzählen  ist  nicht  angebracht,  da  das 
wie  ein  Fragebogen  aussehen  möchte  und  diesen  oder 
jenen  von  dem  Studium  der  einschlägigen  Litteratur  ab- 
halten könnte. 

Endlich  noch  einige  Worte  über  die  Form,  in  welcher 
Sammlungen  des  Volkstümlichen  zu  erscheinen  haben. 
Uns  scheint  es  empfehlenswert,  streng  nach  den  oben 
angegebenen  Arten  des  Volkstümlichen  einzuteilen  und 
in  den  einzelnen  Abschnitten  wiederum  sachlich  zu  ord- 
nen, und,  damit  das  geographische  Prinzip  auch  zu  seinem 
Rechte  kommt,  zur  Uebersicht  für  die  Verbreitung  wich- 
tiger Sagengruppen,  Namen,  Bräuche,  Trachten  u,  s.  w. 
dem  Werke  volkstümliche  Karten  anzuhängen.  Als  muster- 
gültig auf  diesem  Gebiete  sei  hingewiesen  auf  W.  Schwär  tz' 
Schrift:  Zur  Stammbevölkerungsfrage  der  Mark  Branden- 
burg. Berlin  1887,  29  S.  (Mit  einer  mythologisch-ethno- 
logischen Uebersichtskarte  der  Mark  und  der  angrenzen- 
den Gebiete,  auf  Grund  der  noch  im  Landvolk  fortlebenden, 
aus  der  Heidenzeit  stammenden  Traditionen.)  Separat- 
abdruck aus  „Märkische  Forschungen".    20.  Bd. 

Zur  besseren  Orientierung  der  Sammler  und  Forscher 
auf  dem  Gebiete  des  Volkstümlichen  folgt  eine  Litteratur 
der  bedeutenderen  Sammlungen,  von  Volksglaube,  Sitte, 
Brauch,  Sage  und  Märchen,  welche  bis  jetzt  in  Deutschland 
erschienen  sind.  Die  übrigen  Arten  des  Volkstümlichen, 
wie  Volkslieder,  Kinderreime,  Rätsel  u.  s.  w.  müssen  für 
diesmal  aus  Raummangel  noch  beiseite  gelassen  werden. 
Daß  ich  bei  der  Litteraturangabe  einfache  Kompilationen 
und  die  Hunderte  von  Sagen-  und  Märchensammlungen, 
deren  Verfasser  aus  den  Sagen  und  Märchen  mehr  oder 
minder  schlechte  Novellen,  Gedichte  und  Kunstmärchen 
gemacht  haben,  gar  nicht  erwähnt  habe,  rechne  ich  mir 
zum  Verdienst  an,  ebenso  dali  ich  die  Werke,  welche  mir 
nicht  zur  Hand  waren,  mit  einem  Sternchen  bezeichnete. 
Es   ist   eben    viel   Unbrauchbares   in    die   Litteratur   des 


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440  Ulrich  Jahn, 

Volkstümlichen  eingeschmuggelt  worden,  dais  man  nur 
für  das  stehen  und  gut  sagen  kann,  was  man  selbst  ge- 
sehen und  geprüft  hat.  Leider  sehe  ich  der  Sternchen 
mehr,  als  mir  lieb  ist;  die  verhältnismäiig  kurze  Zeit, 
welche  mir  zur  Ausarbeitung  dieses  Abschnittes  gelassen 
werden  konnte,  sowie  die  Zerstreutheit  und  zum  Teil 
schwere  Zugänglichkeit  des  Stoffes  und  der  Mangel  an 
wirklich  brauchbaren  Vorarbeiten  mögen  zur  Entschuldi- 
gung dienen.  Es  wäre  mir  auch  nicht  möglich  gewesen, 
das  Gebotene  zu  geben,  wenn  ich  nicht  bei  der  Zusammen*- 
bringung  des  einschlägigen  Büchermaterials  die  treuste 
Unterstützung  bei  den  Herren  L.  Freytag  und  W.  Seel- 
mann in  Berlin  gefunden  hätte,  wofür  ich  an  dieser  Stelle 
meinen  schuldigen  Dank  ausspreche.  Geordnet  konnten 
die  Werke  nur  geographisch-politisch  werden,  da  sich  die 
Sammler  fast  durchweg  bei  der  Absteckung  der  Grenzen 
ihres  Gebietes  durch  die  geographisch  -  politischen  Ver- 
hältnisse bestimmen  ließen.  Es  ist  eingeteilt  worden  in 
allgemein  deutsche,  norddeutsche,  mitteldeutsche, 
süddeutsche  und  Sammlungen  der  Alpenländer.  In 
Norddentsclüand  folgen  sich  nacheinander  die  Nieder- 
lande (Holland  und  Belgien),  Luxemburg,  die  Rhein- 
lande, Westfalen  und  Niedersachsen,  Oldenburg 
und  Ostfriesland,  Schleswig-Holstein-Lauenburg, 
Lübeck,  Altmark-Magdeburger  Land  und  Provinz 
Brandenburg,  Mecklenburg,  Pommern  und  Rügen, 
West-  und  Ostpreußen,  die  russischen  Ostseepro- 
vinzen. —  In  Mitteldeutschland:  die  Rheinpfalz,  Hes- 
sen, Waldeck,  Franken,  Thüringen  und  Sachsen, 
Lausitz,  Preußisch-  und  Oesterreichisch-Schlesien, 
Posen.  —  In  Süddeutschland:  Elsaß-Lothringen, 
Baden,  Hohenzollern,  Schwaben,  Ober-  und  Nie- 
derbayern, Oberpfalz,  Königreich  Bayern,  Böh- 
men und  Mähren,  Ungarn,  Siebenbürgen.  —  In  den 
Alpenländem:  Schweiz,  Vorarlberg,  Tirol,  Salzburg, 
Kärnten,  Steiermark,  Oberösterreich,  Niederöster- 
reich. —  Zum  Schluß  sind  angefügt  die  Sammlungen, 
welche  aus  dem  ganzen  Gebiet  des  Kaiserstaats  Oester- 
reich  geschöpft  sind. 


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Volkstümliches.  447 

Litteratur. 
Allgemein  deuteohe  Sammlungen. 

Sagen.  Deatsche  Sagen.  Hcrausg.  von  den  Brüdern  Grimm. 
Berlin  1816.  Nicolai.  I.  Teil.  XXXVI  u.  464  S.;  IL  Teil.  Berlin 
1818.  XX  u.  880  S.  2.  A.  Mit  einer  Abbildung  der  Sage  nach 
W.  V.  Kaulbach.  1.  u.  2.  Bd.  Berlin  1865.  (Erste  wissenschaftliche' 
Sagensammlung,  zum  weitaus  größten  Teile  aus  Schriftquellen  ge- 
schöpft.) —  Deutsches  Sagenbuch  von  Ludwig  Bechstein.  Mit 
16  Holzschnitten  nach  Zeichnungen  von  A.  Ehrhardt.  Leipzig  1853. 
Wigand.  XXIV  u.  815  S.  (Für  das  große  Publikum  berechnet.)  — 
Deutsche  Sagen.  Herausg.  von  Heinrich  PrÖhle.  Mit  Illustra- 
tionen. Zweite  neu  bearbeitete  Auflage.  Berlin  1879.  Friedberg  & 
Mode.  XVI  u.  333  S.  (Aus  Schrift;quellen  und  dem  Volksmunde 
geschöpft.  Besonders  reichhaltig  vertreten  die  Kyffhauser  Sagen. 
Brauchbar.)  —  Sagenbuch  des  preußischen  Staats.  Von  J.  G.  Th. 
Grässe.  2  Bde.  Glogau.  Fleraming.  1.  Bd.  1868.  XVu.  784S.; 
2.  Bd.  1871.  XVI  u.  1104  S.  (Für  das  große  Publikum  berechnet^ 
auf  Schriftquellen  beruhend,  für  die  Wissenschaft  bedeutungslos.) 
—  Deutsche  MÄrchen  und  Sagen.  Gesammelt  u.  mit  Anmerkungen 
begleitet,  herausg.  von  J.  W.  Wolf.  Mit  3  Kupfern.  Leipzig  1845. 
Brockhaus.  XXlY.  u.  605  S.  (Aus  Schriftquellen  und  dem  Volks- 
munde geschöpft.  S.  auch  unter  , Niederlande**.)  ■—  Die  deutsche 
Volkssage.  Em  Beitrag  zur  vergleichenden  Mythologie  mit  ein- 
geschalteten tausend  Originalsagen.  Von  OttoHenne-Am  Rhyn. 
Leipzig  1874.  Krüger.  XXII  u.  538  S.  (Aus  Schriftquellen  und  dem 
Volksmunde  entnommen.  S.  auch  unt.  Schweiz.)  —  Deutsche  Pflanzen- 
sagen. Ges.  u.  gereiht  von  A.  Ritter  von  Perger.  Stuttgart  u. 
Oehringen  1864.  Schaber.  IV  u.  364  S.  (Aus  Schriftquellen.)  — 
Samml.  bergmänn.  Sagen  von  Fr.  Wrubel.  Mit  einem  Vorwort  von 
Ant.  Birlinger.  Freiberg  in  Sachsen  1883.  Graz  &  Gerlach.  VIII  u. 
176  S.  (Mit  geringen  Ausnahmen  aus  Schriftquellen  genommen. 
Sehr  ungleich.) 

Härchen.  Kinder-  und  Uausmärchen,  gesammelt  durch  die 
Brüder  Grimm.  1.  u.  2.  Bd.  Berlin  1812—14.;  2.  A.  1.-3.  Bd. 
1819—22;  große  Ausgabe  20.  A.  Berlin  1885.  Hertz.  XX  u.  704  S. 
Vom  3.  Band,  welcher  Anmerkungen,  Varianten  u.  s.  w.  enthält^ 
erschien  1850  2.  A.,  1856  3.  A.  (Mustersammlung  a.  d.  Gebiet  des 
Märchens.  S.  auch  unt.  Hessen.)  —  Deutsches  Märchenbuch.  Herausg. 
von  Ludwig  Bechstein.  Leipzig  1845.  Wigand.  VIU  u.  301  S. 
und  Neues  deutsches  Märchenbuch  von  Ludwig  Bechstein.  Leip- 
zig 1856.  45.  A.  Volksausgabe.  Wien  1884.  IV  u.  271  S.;  51.  A. 
Wien,  Pest,  Leipzig  o.  J.  VIII  u.  278  S.  (Mit  gioßer  Vorsicht  zu 
gebrauchen.  Viel  ist  unecht  und  selbsterfunden,  die  Sprache  stellen- 
weise hochtrabend  und  gekünstelt.)  —  Deutsche  Märchen,  erzählt 
von  Karl  Simrock.  Stuttgart  1864.  Cotta.  VIII  u.  373  S.  (Ent- 
hält 78  brauchbare  Märchen,  leider  ohne  jede  Angabe  des  Fundortes.) 

Sagen  und  Märchen.  Märchen  und  Sagen  von  Karl  und 
Theodor  Colshorn.    Mit  Titelbild  nach  Originalzeichnung  von 


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448  .  Ulrich  Jahn, 

Ludwig  Richter.  Hannover  1854.  Rümpler.  X  u.  256  S.  (S.  unter 
Niedersachsen  u.  Westfalen.)  —  Germaniens  Völkerstimmen,  Samm- 
lung der  deatschen  Mundarten  in  Dichtungen,  Sagen,  Märchen, 
Volksliedern  u.  s.  w.  Herausg.  von  Johannes  Matthias  Firme- 
nich. Berlin.  Schlesinger.  4.  3  Bde.  1.  Bd.  IV  u.  544  S.;  2.  Bd. 
1846.  X  u.  832  S.;  3.  Bd.  1854.  VIII  u.  960  S.  Anhang  zum  3.  Bande 
Berlin  1867.  XU  u.  86  S.  (Enthält  zahlreiche  Sagen  u.  Märchen, 
dem  Volksmunde  entnommen  und  in  der  Mundart  wiedergegehen.) 

—  Weniger  bieten  für  unsere  Zwecke:  Die  deutschen  Mundarten. 
Eine  Monatsschrift  für  Dichtung,  Forschung  und  Kritik.  Begründet 
von  Jos.  Ans.  Pangkofer,  fortgesetzt  von  G.  Frommann. 
1854-59  und  Neue  Folge,  1.  Bd.   Halle  1877. 

Volksglaube,  Braach  und  Sitte.  Der  deutsche  Volksaber- 
glaube der  Gegenwart  von  Adolf  Wuttke.  1.  A.  1860.  Zweite, 
völlig  neue  Bearbeitung.  Berlin  1869.  Wiegand  &  Grieben.  XII  u. 
500  S.  (Sehr  reichhaltige  Sammlung.  Wuttke  sammelte  selbst  und 
hatte  zum  Teil  vorzügliche  Mitarbeiter.  Immerhin  ist  manches  mit 
Vorsicht  aufzunehmen  und  bedarf  der  Bestätigung.  Auch  die  Lit- 
teratur  ist  reichlich  benutzt.)  —  1142  Nummern  deutscher  Aber- 
glauben und  abergläubischer  Bräuche,  zumeist  Schriften  aus  dem 
Ende  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts  entnommen, 
bietet  Jakob  Grimm.  Deutsche  Mythologie.  4.  Ausgabe,  herausg. 
von  E.  H.  Meyer.  Berlin  1878.  3.  Bd.  S.  434—477.  -  Eine  reich- 
haltige Sammlung  von  Volksglaube  und  Brauch  aus  Belgien,  Hol- 
land, den  Rheinlanden  und  Hessen  in  J.  W.  Wolf,  Beiträge  zur 
deutschen  Mythologie.  1.  Bd.  Göttingen  u.  Leipzig  1852.  Dieterich 
&  Vogel.  S.  205—261.  —  Deutsche  Ackerbräuche  in  großer  Zahl, 
aber  von  zweifelhaftem  Wert  bieten  die  auf  Grund  des  Mannhardt- 
schen  Fragebogenmaterials  aufgebauten  fünf  Werke:  Roggenwolf 
und  Roggenhund.  Beitrag  zur  germanischen  Sittenkunde  von  Wil- 
helm Mannhardt.  Danzig  1865.  Ziemssen.  XII  und  51  S.  — 
Derselbe:  Die  Eomdämonen.  Beitrag  zur  germanischen  Sitten- 
kunde. Berlin  1868.  Dümmler.  XVI  u.  48  S.  -  Derselbe:  Wald- 
und  Feldkulte.  1.  Teil  Der  Baumkultus  der  Germanen  und  ihrer 
Nachbarstämme.  Berlin  1875.  Gebr.  Borntraeger.  XX  u.  646  S. 
2.  Teil.  Antike  Wald-  und  Feldkulte.  Berlin  1877.  XLVIII  u.  360  S. 

—  Mythologische  Forschungen,  aus  dem  Nachlasse  von  Wilhelm 
Mannhardt  herausg.  von  Hermann  Patzig.  Mit  Vorreden  von 
Karl  Müllenhoff  und  Wilhelm  Scherer.  Straßburg  1884.  Trübner. 
XL  u.  382  S.  —  Germanische  Erntefeste  im  heidnischen  und  christ- 
lichen Kultus,  mit  besonderer  Beziehung  auf  Niedersachsen.  Bei- 
träge zur  germanischen  Altertumskunde  und  kirchlichen  Archäo- 
logie von  Heino  Pfannenschmied.  Hannover  1878.  Hahn.  XXX 
u.  710  S.  —  Deutsche  Volksfeste  im  19.  Jahrhundert.  Geschichte 
ihrer  Entstehung  u.  Beschreibung  ihrer  Feier.  Herausg.  von  Fr.  A. 
R  ei  mann.  Weimar  1839.  Verlag  des  Landes-Industrie-Komptoirs. 
XX  u.  480  S.    (Auf  Schriftquellen  beruhend,  wenig  brauchbar.) 

Zeitschriften.  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  und  Sitten- 
kunde. Herausg.  von  J.W.  Wolf.   1.  Bd.  Göttingen  1853.  Dieterich. 


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Volkstümliches.  449 

VIII  u.  480  S.;  2.  Bd.  1855.  IV  u.  448  S.  —  Zeitschrift  fdr  deutsche 
Mythologie  und  Sittenkunde  Begründet  von  J.  W.  Wolf.  Heraus- 
gegeben von  W.  Mannhardt.  3.  Bd.  1855.  IV  u.  328  S.  4.  Bd.  1859. 
IV  u.  450  S.  (Enthält  viele,  zum  Teil  recht  brauchbare,  kleinere 
Sammlungen  des  Volkstümlichen  aus  fast  allen  Teilen  Deutschlands ; 
die  wichtigsten  sind  unten  an  gehörigem  Orte  aufgeführt.)  —  Am 
Urds-Brunnen.  Mitteilungen  für  Freunde  volkstümlich- wissen- 
schaftlicher Kunde.  Herausg.  von  F.  Höft.  1881  ff.  6.  Bd.  7.  Jahrg. 
1888/89  herausg.  von  F.  Höft  in  Rendsburg  und  H.  Carstens  in 
Dahrenwurth  bei  Lunden.  (Zur  Zeit  das  einzige  Blatt  für  deutsche 
Volkskunde.  Obgleich  die  wissenschaftliche  Leitung  der  Zeitschrift 
nicht  ohne  Bedenken  ist,  so  darf  doch  einigen  Artikeln,  zumal 
manchen  der  kleineren  Mitteilungen,  ein  gewisser  Wert  nicht  ab- 
gesprochen werden.)  —  Vom  I.Jan.  1889  ab  wird  die  Zeitschrift  fQr 
Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  ständig  einen  bestimmten 
Teil  ihres  Raumes  den  Interessen  der  deutschen  Volkskunde  u.  Mytho- 
logie widmen.  Die  Leitung  dieses  Teiles  übernimmt  U.  Jahn  in  Berlin. 

Norddeutschland. 

Allgemeines.  Norddeutsche  Sa^en,  Märchen  und  Gebräuche 
aus  Mecklenburg,  Pommern,  der  Mark,  Sachsen,  Thüringen,  Braun- 
schweig, Hannover,  Oldenburg  und  Westfalen.  Aus  dem  Munde 
des  Volkes  ges.  und  herausg.  von  A.  Kuhn  und  W.  Schwärt z. 
Leipzig  184S.  Brockhaus.  XLIV  u.  560  S.  (Mustersammlung  für 
Sage,  Brauch  und  Märchen.) 

Niederlande  (Holland  nnd  Belgien).  Niederländische  Sagen. 
Gesammelt  und,  mit  Anmerkungen  begleitet,  herausg.  von  Johann 
Wilhelm  Wolf.  Mit  einem  I^upfer.  Leipzig  1848.  Brockhaus. 
XXXVIII  u.  709  S.  (Aus  Schriftquellen  und  dem  Volksmunde  ge- 
schöpft; reichhaltig  und  zuverlässig.  Die  Sammlung  erstreckt  sich 
über  die  gesamten  Niederlande,  inkl.  franz.  Flandern.  Eine  Ueber- 
setzung  ins  Holländische  besorgt  von  Doorenbosch  und  Dykstra, 
Groningen  und  Leeuwarden.)  —  Grootmoederken.  Archiven  voor 
Nederduitsche  sagen,  aprookjes,  volksliederen  en  volksgebruiken, 
kinderspeelen  en  kinderliederen  uitg.  door  J.  W.  Wolf.  1.,  2.  St. 
Gent  1842  u.  43.  —  Wodana.  Museum  voor  Nederduitsche  oud- 
heitskunde,  uitg.  door  J.  W.  Wolf.  Gent  1843.  Annoot-Braeckman. 
VI,  XVIII  u.  112  S.  (Enthält  Sagen,  Märchen,  Bräuche  u.  s.  w.) 
—  Deutsche  Märchen  und  Sagen.  Gesammelt  und  mit  Anmerkungen 
begleitet,  herausg.  von  J.  W.  Wolf.  Mit  3  Kupfern.  Leipzig  1845. 
Brockhaus.  XXIV  u.  605  S.  (Die  aus  dem  Volksmunde  geschöpften 
Stücke  (zumal  die  Märchen)  gehören  sämtlich  den  Niederlanden  an, 
zumeist  Belgien,  in  zweiter  Linie  kommt  Hollsuid  in  Betracht.)  — 
Nederlandsche  volksoverleveringen  en  godenleer,  verzameld  en  op- 
gehelderd  door  L.  Ph.  C.  van  den  Bergh.  Utrecht  1836.  Altheer. 
VIII  u.  232  S.  (Bietet  nicht,  was  der  Titel  erwarten  läßt.  Wenig 
brauchbar.)  —  Marie  von  Plönnies,  Die  Sagen  Belgiens.  Köln 
1846.    (Enthält  Legenden  und  Sagen  von  ungleichem  Wert.    Fran- 

Anleitung  zur  deutschen  Lande«-  und  Yolksforschnng.  29 


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450  Ulrich  Jahn, 

zösische  Uebersetzung:  Legendes  et  traditions  de  la  Belgique,  tra- 
duites  librement  du  texte  Allemand  de  Marie  de  Ploeonies  par 
Louis  Pire.  Avec  une  gravure  sur  acier.  Cologne  1848.  F.  C.  Eisen. 
VIII  u.  271  S.)  —  L'ann^e  de  Tancienne  Belgique.  Memoire  ^ur 
les  saJEons»  les  mois,  les  semaines,  les  f&tes,  les  usages  dans  les 
temps  ant^rieurs  ä  Tintroduction  du  christianisme  en  Belgique, 
avec  rindication  et  Texplication  de  diff^rentes  dates  qui  se  trouTent 
dans  les  documents  du  niojen  äge^  et  qui,  en  partie,  sont  encore 
usit^es  de  nos  jours;  par  le  docteur  Goremans.  Bruxelles  1844. 
184  S.  Commission  royale  d'histoire.  Extrait  du  tom.  VII.  Nr.  1, 
des  bulletins.  (Reichhaltiges  und  wertvolles,  Schriftquellen  und 
dem  Volksmunde,  vorzüglich  in  Brabant,  Flandern  und  Limburg, 
entnommenes  Material  an  Volksglaube  und  Brauch.)  —  Calendrier 
Beige.  Fetes  religieuses  et  civiles  usages,  croyances  et  pratdques 
populaires  des  Beiges  anciens  et  modernes,  par  le  Baron  de  Rein s- 
berg-Düringsfeld.  Bruxelles  1861/62.  Ciaassen.  Tome  premier. 
X  u.  443  S.;  Tome  second.  372  S.  (Durchweg  auf  Schriftquellen 
beruhend.  Sehr  reichhaltiges  Material  an  kirchlichen  und  bürger- 
lichen Festen;  Volksbraucli  und  Glaube  wird  nur  gestreift.)  —  Pie 
Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  enthält  I,  37—38  Friesische 
Sagen  aus  Leeuwarden  von  T.  R.  Dykstra;  II,  173 — 178  Ge- 
bräuche aus  Limburg  und  Brabant  von  J.  M.  Dautzenberg; 
III,  161 — 172  Vlämische  Sagen  und  Gebräuche  von  Theophilus 
Prudens  Amatus  Lansens.  —  *Oude  kindervertelsels  in  den 
Brugschen  tongyal  verzameld  en  uitgegeven  door  Ad.  Lootens, 
met  spi*aakkundigen  anmerkingen  over  het  Brugsche  taaleigen  door 
M.  E.  F(ey8).  Brüssel  1868.  —  *Welters,  Limburgsche  legenden, 
sagen,  sprookjes  en  volksverhalen.  Verzameld  en  uitg.  1.  deel.  Venloo 
1875;  2.  deel.  1876.  —  G.  Auguste  Hock.  Croyances  et  remedes  po- 
pulair.  au  pays  de  Li^ge.  Liege  1872.  Vailiant-Carmanne  et  C*®-  264  S. 
Oeuvres  de  G.  Auguste  Hock.  Tome  III.  (Brauchbare  Sammlung  von 
Volksglaube  und  Brauch  aus  flämisch-wallonisch  gemischter  Gegend.) 
Luxemburg.  Sagenschatz  des  Luxemburger  Landes.  Gesam- 
melt von  N.  Gredt.  Luxemburg  1883.  XVII  u.  646  S.  (Enthält 
1215  Sagen,  darunter  einige  Märchen.  Die  Sammlung  beruht  auf 
schriftlichen  Mitteilungen,  die  d.  Verf.  aus  allen  Teilen  des  Länd- 
chens zugegangen  sind.)  —  Luxemburger  Sagen  und  Legenden. 
Gesammelt  und  herausg.  von  Ed.  de  la  Fontaine.   Luxemburg 

1882.  Druck  von  Jos.  Beffort.  XVI  u.  187  S.  (Zum  größten  Teile 
Schriftquellen  entnommen.)  —  Luxemburger  Sitten  und  Bräuche. 
Gesammelt  und  herausg.  von  Ed.  de  la  Fontaine.    Luxemburg 

1883.  Brück.  V  u.  168  S.  (Hält  sich  ganz  auf  der  Oberfläche; 
eine  tiefer  eindringende  Neusammlung  erwünscht.) 

Rheinlande.  Sitten  und  Sagen,  Lieder,  Sprichwörter  und 
Rätsel  des  Eifler  A^olkes,  nebst  einem  Idiotikon.  Herausg.  von 
J.  H.  Schmitz.  Mit  einer  Nachrede  von  K.  Simrock.  1.  Bd.: 
Sitten.  Trier  1856.  Lintz.  XIV  u.  234  S.;  2.  Bd.:  Sagen.  Trier 
1858.  XVI  u.  152  S.  (Fast  ganz  vom  Verf.  dem  Volksmunde  en^ 
nommen.    Reichhaltig   und    zuverlässig.)   —   Aachens   »Stigen  und 


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Volkstümliches.  451 

Legenden  von  Joseph  Müller.  Aachen  1858.  Mayer.  XII  u. 
148  S.  (Wenig  brauchbar.)  —  Die  deutschen  Volksfeste,  Volks- 
bräuche und  deutscher  Volksglaube  in  Sagen,  M&rlein  und  Volks- 
liedern. Ein  Beitrag  zur  vaterländischen  Sittengeschichte  von 
Montanus  (Notar  Zuccalmaglio  zu  Hückeswagen).  1.  Bändchen: 
Die  Volksfeste.  Iserlohn  u.  Elberfeld  1854.  4.  Bädeker.  IVu.92S.; 
2.  Bändchen :  Volksbrauche  und  Volksglaube.  Mythologische  Natur- 
geschichte. Iserlohn  1858.  S.  93—180.  (Trefflicher  Stoff  bei  ganz 
unwissenschaftlicher  Bearbeitung.  Gesammelt  hat  Montanus  vor- 
zugsweise im  Bergischen;  doch  ist  auch  manche  Druckschrift  olme 
Quellenangabe  geplündert  worden.)  —  Die  Wesen  der  niederrheini- 
schen Sagen.  Von  Wilhelm  vonWaldbrühl.  Elberfeld  1857. 
Kommission  bei  Schmachtenberg.  36  S.  (Von  großem  Interesse, 
aber  mit  Vorsicht  aufzunehmen.  Der  Verf.  sammelte  in  den  Thälern 
der  Sieg,  Dhünn  und  Wupper.)  —  Sagen  und  Märchen  des  Bergi- 
schen Landes.  Gesammelt  von  Franz  Leibin g.  Elberfeld  1868. 
128  S.  (Leibing  sammelte  im  Oberbergischen  und  benutzte  außer 
der  mündlichen  Ueberlieferung  Schriffcquellen,  besonders  die  beiden 
vorigen.)  —  Volkstümliches  vom  Niederrhein.  1.  Heft.  Aus  Leuth 
im  Kreise  Geldern.  Gesammelt  von  J.  S  p  e  e.  Köln  1875.  Roemke 
&  Comp.  27  S.;  2.  Heft.  1875.  48  S.  (Enthält  zwar  vorzugsweise 
Lieder,  Kinderreime,  Rätsel  und  Sprichwörter,  aber  auch  einige 
Bräuche  und  Volksaberglauben,  zumal  im  2.  Heft  S.  25 — 37.  Brauch- 
bar.) —  Die  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  enthält  I,  S.  88—90, 
189-195,  240-243  u.  II,  S.  413-417  Aberglauben,  Bräuche  und 
Sagen  von  der  Mosel,  ges.  von  N.  Hocker,  und  III,  S.  53 — 61 
Volksüberlieferungen  aus  der  Rheinprovinz  von  Franz  L innig. 
Westfalen  nnd  Niedersachsen.  Sagen,  Gebräuche  und  Mär- 
chen aus  W^estfalen  und  einigen  anderen,  besonders  den  angrenzen- 
den Gegenden  Norddeutschlands.  Gesammelt  und  herausg.  von 
Adalbert  Kuhn.  1.  Teil:  Sagen.  Leipzig  1859.  Brockhaus, 
XXVIII  u.  376  S.;  2.  Teü:  Gebräuche  und  Märchen.  Leipzig  1859. 
Xll  u.  316  S.  (Mustersammlung.)  —  Volksüberlieferungen  in  der 
Grafschaft  Mark,  nebst  einem  Glossar.  Gesammelt  und  herausg. 
von  J.  F.  L.  Woeste.  Iserlohn  1848.  Selbstverlag.  VIII  u.  112  S. 
(Enthält  S.  36—61  wertvollen  Stoff  an  Märchen,  Sagen,  Zauber- 
formeln, Abergl.  u.  Bauernregeln.)  —  Wichtiges  Material  für  das 
Volkstum  der  Grafschaft  Mark  legte  Fr.  Woeste  ferner  nieder  in 
der  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  I,  336-341,  384—396;  H, 
81—99;  m,  46-53,  179—196,  302-304.  -  Aberglaube  und  Ge- 
brauche  in  Süd  Westfalen  von  J.  F.  L.  Woeste.  Jahrbuch  d.  Vereins 
f.  niederdeutsche  Sprachforschung  III,  S.  127—151.  (Von  gleichem 
Wert  wie  die  vorigen.)  —  Münsterische  Geschichten,  Sagen  und 
Legenden,  nebst  einem  Anhange  von  Volksliedern  und  Sprich- 
wörtern. Münster  1825.  Coppenrath.  307  S.  (Bezieht  sich  nur  auf 
dos  Münstersche  Gebiet.  Recht  brauchbar.)  —  Volkssagen  und 
Legenden  des  Landes  Paderborn.  Gesammelt  und  herausg.  von 
Joseph  Seiler.  Kassel  1848.  Luckhart.  128  S.  (In  2  Abteilungen. 
I  enthält  27  zum  größten  Teil  durch  Ausschmückung  wertlos  ge- 


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452  Ulrich  Jahn, 

machte  Sagen;  II  bietet  Sagen  in  poetischer  Form.)  —  Westftliscbe 
Sagen  und  Geschichten  von  H.  Stahl  (der  Verfasser  soll  Temme 
sein).  2  Bändchen.  Elberfeld  1831.  Büschlerscher  Verlag.  1.  Bd. 
VIIl  u.  S.  1-128;  2.  Bd.  S.  129—278.  (Wenig  brauchbar.)  -  Der 
Sagenschatz  AVestfalens.  Von  Otto  Weddigen  und  Hermann 
Hartmann.  Mit  einem  Titelbilde;  ,Die  Sage*  nach  Wilhelm 
von  Kaulbach.  Minden  i.  Westf.  1884.  Bruns.  XXIV  u.  387  S. 
(Die  Sagen  sind  zum  weitaus  größten  Teile  Schriftquellen  ent- 
nommen. Der  Wert  der  Sammlung  geht  nicht  über  das  Mittel- 
mäßige hinaus.)  —  Der  Volksaberglaube  im  hannoverschen  West- 
falen (Landdrostei  Osnabrück).  Beschrieben  von  Hermann 
Hartmann.  Mitteilungen  des  historischen  Vereins  zu  Osnabrück. 
7.  Bd.  Osnabrück  1864.  S.  372—396.  (Brauchbares  Material,  my- 
thologisch verarbeitet.)  —  Bilder  aus  Westfalen.  Sagen,  Volks-  und 
FamiBenfeste,  Gebräuche,  Volksaberglaube  und  sonstige  Volkstüm- 
lichkeiten des  ehemaligen  Fürstentums  Osnabrück.  Von  Hermann 
Hartmann.  Osnabrück  1871.  Rackhorst.  XII  u.  •^HS  S.  (Nur 
S.  1 — 144  von  ethn.  Interesse.  Das  dort  Gebotene  zum  größten 
Teile  aus  der  ebengenannten  Arbeit  dess.  Verf.  übernommen.)  — 
Bilder  aus  Westfalen.  Neue  Folge.  Von  Hermann  Hartmann. 
Mit  6  Illustrationen  in  Thondruck.  Minden  i.  Westf.  1884.  Brans. 
VllI  u.  305  S.  (Enthält  S.  3—68  einiges  Brauchbare  über  Feaft- 
gebrauche  und  Volksfeste,  besonders  im  Osnabrückschen.  Der 
übrige  Teil  der  Arbeit  gehört  nicht  hierher.)  —  Geschichtliches. 
Sitten  und  Gebräuche  aus  dem  Amte  Diepenau.  Von  Otto  Heise. 
Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen.  Jahrgang 
1851.  Hannover  1854.  Hahn.  S.  81  — 135.  (Recht  brauchbar;  bietet 
Sitten,  Bräuche,  Gewohnheiten  und  Aberglauben.  Diepenau  ist  der 
oberen  Grafschaft  Hoya  zugehörig.)  —  Niedersächsische  Sagen  und 
Märchen.  Aus  dem  Munde  des  Volkes  gesammelt  und  mit  An- 
merkungen und  Abhandlungen  herausg.  von  Georg  Schambach 
undWilhelmMüller.  Göttingen  1855.  Vandenhoeck  &  Ruprecht. 
XXVI  u.  426  S.  (Die  treffliche  Sammlung  umfaßt  vorzugsweise 
die  beiden  Fürstentümer  Göttingen  und  Grubenhagen,  die  im  Nor- 
den daran  stoßenden  braun  seh weigischen  Aemter,  die  am  rechten 
Weserufer  liegenden  hessischen  Dörfer  und  einen  Teil  des  Fürsten- 
tums Hilde^heim.  Vergl.  auch  die  niedersächsischen  Sagen  von 
G.  Schambach  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  II, 
109-110  u.  400—405.)  —  Sagen,  Märchen,  Schwanke  und  Ge- 
bräuche aus  Stadt  und  Stift  Hildesheim.  Gesammelt  und  mit  An- 
merkungen versehen  von  KarlSeifart.  Göttingen  1 854.  Wigand. 
XIV  u.  207  S.;  2.  Sammlung.  Kassel  u.  Göttingen  1860.  XH  u. 
206  S.  (Dem  Volksmunde  und  Schriftquellen  entnommen;  einzelne 
Stücke,  zumal  die  Märchen,  ausgeschmückt.  Von  mittelmäßigem 
Werte.)  —  A.  Harland,  Sagen  u.  Mythen  aus  dem  Sollinge.  In 
der  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen.  Jahr- 
gang 1878.  Hannover  1878.  S.  76—103.  (Harland  sammelte  selbst; 
den  einzelnen  recht  brauchbaren  Stücken,  Sagen,  Märchen,  Bräuche 
und  Aberglauben  enthaltend,   sind  mythol.  Deutungen  beigefiigt) 


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Volkstümliches.  453 

—  Sagen  und  Sitten  aus  dem  Fürstentum  Schaumburg-Lippe  und 
den  angrenzenden  Ländern  von  Krnst  Meier  in  der  Zeitschrift 
für  deutsche  Mythologie  I,  168-173.  (Wertvoll.)  —  Volkssagen, 
Märchen  und  Legenden  Niedersachsens.  Gesammelt  von  Herrn. 
Harrys.  Celle  1840.  Schulze.  I.Abteil.  XIV  u.  94  S.;  2.  Abteil.: 
Der  Harz.  VIII  u.  88  S.  Neue  (Titel-)  Ausgabe  1862.  (Kleine, 
brauchbare  Sammlung  von  95  Sagen.  Märchen  sind  in  dem  Werk- 
chen nicht  vertreten.  Die  Sagen  des  2.  Bändchens  aus  dem  Ober- 
harze.) —  Harzmärchenbuch  oder  Sagen  und  Märchen  aus  dem 
Oberharze.  Gesammelt  u.  herausg.  von  August  Ey.  Stade  1862. 
Steudel.  VIII  u.  221  S.  (66  Nummern,  die  Märchen  überwiegen  an 
Zahl.  Der  Verf.  hat  unmittelbar  aus  dem  Volksmund  geschöpft, 
ist  aber  hier  und  da  unkritisch  verfahren.  Mit  Vorsicht  zu  be- 
nutzen.) —  Harzsagen.  Gesammelt  auf  dem  Oberharz  und  in  der 
übrigen  Gegend  von  Harzeburg  und  Goslar  bis  zur  Grafschaft 
Hohenstein  und  bis  Nordhausen  von  Heinrich  Pröhle.  Leipzig 
1854.  Avenarius  &  Mendelssohn.  XXXVIII  u.  306  S.  -  Unter- 
harzische Sagen.  Mit  Anmerkungen  und  Abhandlungen  herausg. 
von  Heinrich  Pröhle.  Aschersleben  1856.  Fokke.  XXIV  u.  235  S. 

-  Harzsagen,  zum  Teil  in  der  Mundart  der  Gebirgsbewohner,  ge- 
sammelt und  herausg.  von  Heinrich  Pröhle.  2.  Auflage  in  einem 
Bande.  Leipzig  1886.  Mendelssohn.  XLI  u.  280  S.  (Giebt  den 
Inhalt  der  beiden  vorigen  Werke  mit  wesentlichen  Kürzungen  und 
gesichtet  wieder.  Reichhaltig  und  treu  wiedergegeben.)  ■—  Harz- 
bilder. Sitten  und  Gebräuche  aus  dem  Harzgebirge  von  Heinrich 
Pröhle.  Leipzig  1855.  Brockhaus.  IV  u.  119  S.  (Enthält  im 
wesentlichen  nur  Gebräuche  des  Oberharzes.  Eine  gründliche  Nach- 
lese würde  lohnend  sein.)  —  Eduard  Jacobs,  Der  Brocken  und 
sein  Gebiet.  Urkundliche  Beiträge  zur  geschichtlichen  Kunde  des 
hohen  Harzes,  des  Volks-  und  Hexen glaubens,  besonders  der  Blocks- 
bergsnge,  sowie  der  Naturanschauung  am  Harze.  Mit  einer  Karte. 
Sonderabdruck  aus  dem  3.  u.  4.  Jahrgang  der  Zeitschrift  des  Harz- 
vereins für  Geschichte  u.  Altertumskunde.  Wernigerode  1871.  VIII 
u.  358  S.  und  Der  Brocken  in  Geschichte  und  Sage.  Neiyahrsblätter, 
herausg.  von  der  histor.  Kommission  der  Prov.  Sachsen.  III.  Halle 
1879.  52  S.  (Beide  Werke  bieten  für  das  Volkstümliche  des  Brocken- 
gebietes manchen  wertvollen  Zug.)  —  Kinder-  und  Volksmärchen. 
Gesammelt  von  Heinrich  Pröhle.  Leipzig  1853.  Avenarius  & 
Mendelssohn.  LIV  u.  254  S.  (78  Märchen,  zum  größten  Teil  auf 
dem  Oberharze  gesammelt;  einiges  stammt  aus  den  benachbarten 
niedersächsischen  Ortschaften  und  aus  Schlesien.  Die  Kritik  ist 
von  Pröhle  nicht  immer  mit  der  nötigen  Schärfe  behandelt.)  — 
Märchen  für  die  Jugend.  Herausg.  von  Heinrich  Pröhle.  Mit 
einer  Abhandlung  für  Lehrer  u.  Erzieher.  Halle  1854.  Buchhand- 
lung des  Waisenhauses.  XVI  u.  236  S.  (64  Märchen,  gesammelt 
aus  dem  niedersächsischen  Lande  zwischen  Hamburg  und  Kyff- 
häuser,  vorzugsweise  jedoch  wieder  aus  dem  westlichen  Harz.  Auch 
dieser  Sammlung  fehlt  hier  und  da  die  Kritik.)  —  Karl  u.  Theo- 
dors Colshorn,  Märchen  und  Sagen.    Mit  Titelbild  nach  OriginaU 


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454  Ulrich  Jahn, 

Zeichnung  von  Ludwig  Richter.  Hannover  1854.  Kumpler.  X  u. 
256  S.  (Von  den  90  Nummern  der  trefflichen  »Sammlung  stammen 
70  aus  Niedersachsen,  der  Rest  verteilt  sich  auf  das  übrige  Deutsch- 
land.) —  Hochzeitbräuche  und  Sprüche  aus  dem  Lüneburgischen 
von  Theodor  Colshorn.  Weimarisches  Jahrbuch.  III.  Hannover 
1855.  S.  359—390.  (Brauchbar.)  —  Hannoversche  Geschichten  und 
Sagen.  Gesammelt  u.  herausg.  von  Hermann  Weiche  lt.  1.  Bd. 
Mit;  einem  Vorwort  von  Karl  Seifart.  Celle  1878.  Weichelt.  Leipzig 
in  Komm,  bei  Hartknoch.  VIII  u.  248  S.;  2.  Bd.  Norden,  öoltau. 
IV  u.  240  S.;  3.  Bd.  Ebenda.  IV  u.  240  S.;  4.  Bd.  unvoUständig 
geblieben.  (Wenig  brauchbar.)  —  Das  hannoversche  Wendland. 
Von  K.  Hennings.  Festschrift,  dem  Zentralausschusse  der  kgl. 
landwirtsch.  Gesellsch.  zu  Celle  bei  seiner  Anwesenheit  im  Wend- 
lande  i.  S.  1862  gewidmet  von  dem  landwirtsch.  Lokalvereine  des 
W^endlandes  zu  Lüchow.  Lüchow  1862.  4.  Selbstverlag  des  Vereins. 
KU  S.  (Enthält  S.  33— 80  und  155—157  viel  Brauchbares  über 
Sitten,  Trachten,  Gewohnheiten,  Sprache,  Volksglauben,  Brauch  u. 
Sage  der  hannov.  Wenden;  bei  anderem  ist  Vorsicht  geboten.  Siehe 
d.  folg.)  —  Sagen  und  Erzählungen  aus  dem  hannoverschen  Wend- 
lande. Bearbeitet  von  Karl  Hennings.  Lüchow  1864.  Säur.  169  S. 
(Unbrauchbar.)  —  Hannoversche*  Sitten  und  Gebräuche  in  ihrer 
Beziehung  zur  Pflanzenwelt.  Ein  Beitrag  zur  Kulturgeschichte 
Deutschlands.  Populäre  Vorträge  etc.  von  Berthold  Seemann. 
Leipzig  1862.  Engelmann.  X  u.  93  S.  (Wertlos.)  —  .Altertümer, 
Geschichten  und  Sagen  der  Herzogtümer  Bremen  und  Verden.  Ge- 
sammelt und  herausg.  von  Friedrich  Koste r.  Mit  3  lith.  Ab- 
bildungen. 2.  Abdr.  Stade  1856.  Komm,  bei  Pockwitz.  VIII  u. 
278  S.     (Enthält  einiges  Brauchbare  an  Sage  und  Brauch.) 

Oldenbarg  und  Ostfrlesland.  Aberglaube  und  Sagen  aus  dem 
Herzogtum  Oldenburg.  Herausg.  von  L.  Strackerjan.  Oldenburg 
1867.  Stalling.  1.  Bd.  Ylll  u.  422  S.;  2.  Bd.  VI  u.  36<i  S.  (Die 
brauchbare  und  sehr  reichhaltige  Sammlung  bietet  mehr,  als  der 
Titel  verspricht:  außer  Aberglauben  und  Sagen  auch:  Märchen, 
Schwanke,  Bräuche,  Reime,  Rätsel  in  großer  Zahl.)  —  Volksmedizin 
im  nordwestlichen  Deutschland  von  Goldschmidt.  Bremen  1854. 
Heyse.  VIII  u.  157  S.  (Auch  unter  dem  Titel:  Skizzen  aus  der 
Mappe  eines  Arztes.  Der  ganze  recht  brauchbare  Stoff  ist  von 
dem  Verfasser  im  Herzogtum  Oldenburg  gesammelt.)  —  Ostfriea- 
land  in  Bildern  und  Skizzen,  Land  und  Volk  in  Geschichte  und 
Gegenwart  geschildert  von  Hermann  Meier.  Mit  einer  Auswahl 
plattdeutscher  Kinder-  und  Volksreime  und  einem  statistischen  An- 
hang. Leer  1868.  Securius.  VIII  u.  260  S.  (Seiner  ganzen  Dar- 
stellung nach  mehr  für  das  große  Publikum  berechnet;  enthält 
immerhin  manches  Brauchbare  an  Sitten,  Bräuchen  und  Gewohn- 
heiten.) —  Sagen  und  sagenhafte  Erzählungen  aus  Ostfriesland. 
Gesammelt  und  bearbeitet  von  Fr.  Sundermann.  Aurich  1869. 
Dunkmann.  VI  u.  66  S.  (Brauchbar;  Darstellung  oft  ausgeschmückt) 
—  Die  Spuren  des  deutschen  Volksaberglaubens  in  Ostfriesland.  In 
Heft  1—5  des  2.  Jahrg.  des  Ostfries.  Monatsbl.  f.  provinz.  Interessen. 


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Volkstümliches.  455 

Herausg.  von  A.  E.  Zwitzers.  Emden  1874.  Haynel.  (Der  Aufsatz, 
ein  Vortrag  gehalten  auf  der  Seminarkonferenz  im  Herbst  1873,  ist 
nicht  vollständig  erschienen.  Was  gedruckt  ist,  enthält  reichen  Stoff 
an  ostfriesischem  Aberglauben  und  abergläubischem  Brauche.) 

Schleswig,  Holstein,  Lanenbnrg.  Sagen,  Märchen  und  Lieder 
der  Herzogtümer  Schleswig,  Holstein  und  Lauenburg.  Herausg. 
von  Karl  Müllenhoff.  Kiel  1845.  Schwers.  LTV  u  «22  S.  In 
Reproduktion  erechienon  Kiel  1887.  Homann.  (Die  Sammlung  des 
berühmten  Gelehrten  steht  ihrem  inneren  Werte  nach  in  keinem 
Verhältnis  zu  seinen  Leistungen  auf  dem  Gebiet  der  germanischen 
Philologie.  Nur  wenig  ist  von  Müllenhoff  seibat  gesammelt,  anderes 
[etwa  ein  Viertel]  entetammt  Schriftquellen,  das  übrige  beruht  auf 
schriftlichen  Mitteilungen.  In  welcher  bedenklichen  Weise  mit 
diesen  umgegangen  ist,  zeigen  die  Beiträge  von  C.  P.  Hansen  auf 
Sylt.  Bei  Müllenhoff  erscheinen  sie  knapp,  kurz  und  scheinbar 
echt  volkstümlich;  in  Hansens  Werken:  Friesische  Sagen  und  Er- 
zählungen. Altena  1858.  Wendeborn.  XI  u.  194  S.,  und  Sagen  und 
Erzählungen  der  Sylter  Friesen,  nebst  einer  Beschreibung  der  Insel 
Sylt,  als  Einleitung,  und  einer  Karte  der  Insel  Sylt,  als  Zugabe. 
Garding  1875.  Lahr  &  Dircks.  XVIII  u.  222  S.,  dagegen  sind  die 
einzelnen  Sagen  willkürlich  kombiniert,  novellistisch  gefärbt  und 
in  tendenziöser  Weise  zugestutzt  und  gefälscht.)  —  Nachträge  zu 
Müllenhoffs  Sammlung  finden  sich  in  den  verschiedenen  Jahrgängen 
der  Jahrbücher  für  die  Landeskunde  der  Herzogtümer  Schleswig, 
Holstein  und  Lauenburg.  Die  bedeutendsten  sind:  Heinrich 
Handel  mann,  Nordeibische  Weihnachten.  4.  Bd.  Kiel  1861. 
S.  268 — 293.  Als  Separatabdruck  Kiel  1861.  Komm,  bei  Homann. 
28  S.,  und  J.  Ehlers,  Was  die  Alten  meinen.  Meistenteils  nach  münd- 
licher Ueberiieferung  aufgezeichnet.  8.  Bd.  Kiel  1865.  S.  82-122. 
—  Dithmarsische  Märchen  in  dithmarsischer  Mundart  aufgezeichnet 
von  R.  Hansen.  Zeitschrift  der  Gesellschaft  f.  schleswig-holstein- 
lauenburgische  Geschichte.  7.  Bd.  Kiel  1877.  S.  213— 234.  (Enthält 
8  gut  wiedergegebene  Märchen  aus  Dith marsch en  in  der  Mundart.) 

Lübeck.  Lübische  Geschichten  u.  Sagen,  ges.  u.  zusammengestellt 
V.Ernst  Deecke.  Lübeck  1852.  2.  wohlfeile  Ausg.  1857.  Dittmer. 
VI  u.  399  S.  Verbesserte  und  mit  einem  Anhang  vermehrte  Aufl. 
1878.    (Mit  geringen  Ausnahmen  aus  Schriftquellen  geschöpft.) 

Altmark,  Magdeburger  Land  nnd  Provinz  Brandenburg^).  Die 
Volkssagen  der  Altmark.  Mit  einem  Anhange  von  Sagen  aus  den 
übrigen  Marken  und  aus  dem  Magdeburgischen.  Gesammelt  von 
J.  D.  H.  Temme.  Berlin  1839.  Nicolai.  XIV  u.  146  S.  (Zumeist  aus 
Schriftquellen  geschöpft.)  —  Hochzeitsgebräuche  in  der  Altmark. 
Vortrag  gehalten  zum  Besten  des  Gymnasialbibliothekfonds  in 
Sangerhausen  von  Clemens  Menzel.  Stendal  1877.  Franzen  & 
Grolse.  70  S.  (Reichhaltiges,  brauchbares  Material,  leider  dadurch 
entwertet,  daß  der  Leser  über  die  besondere  Heimat  der  meisten 
Sitten   und  Bräuche   im  Unklaren  bleibt.)    —    Hochzeitsgebräuche 


^)  Spreewald  und  Niederlausitz  siehe  unter  Lausitz. 


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456  Ulrich  Jahn, 

des  Magdeburger  Landes.  Von  Ph.  Wegen  er.  Geschichtsblätter 
für  Stadt  und  Land  Magdeburg.  13.  Jahrgang.  Magdeburg  1878. 
S.  225—255;  14.  Jahrgang.  1879.  S.  68-100;  Ergänzungen  und 
Nachträge.  18.  Jahrgang.  1883.  S.  371-380.  (Der  Verf.  hat  die 
Eheordnungen  und  die  einschlägigen  Sammlungen  den  Volkstiim- 
lichen  benutzt,  auch  sammelte  er  selbst  im  Volke.  Berücksichtig 
sind  außer  dem  Magdeburger  Land  auch  Braunschweig  und  die 
Altmark.)  —  Märkische  Sagen  und  Märchen  nebst  einem  Anhang 
von  Gebräuchen  und  Aberglauben,  gesammelt  und  herausg.  von 
Adalbert  Kuhn.  Berlin  1843.  Reimer.  XXVI  u.  389  S.  (Aus 
dem  Volksmunde  und  Schrift  quellen  geschöpft,  reichhaltig  und  zu- 
verlässig.) —  Beiträge  zur  Sagengeschichte  der  Mark  Brandenburg. 
Von  W.  Schvsrartz.  Märkische  Forschungen.  Herausg.  von  dem 
Vereine  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg.  8.  Bd.  Beilin  18Ö3. 
S.  171 — 185.  (Enthält  interessante  Nachträge  zu  der  Kuhnschen 
Sammlung,  gesammelt  im  Barnimer  Kreise.)  —  Sagen  und  alte 
Geschichten  der  Mark  Brandenburg.  Von  W.  Schwärt z.  Berlin 
1871.  2.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  Berlin  188t).  Hertz. 
(Obwohl  zunächst  für  weitere  Krei.<e  berechnet,  doch  auch  für  den 
Forscher  von  großem  Werte  und  eine  willkommene  Ergänzung  des 
Kuhnschen  Werkes,  an  dem  Schwartz  mit  gesammelt.)  —  Der  Volks- 
mund in  der  Mark  Brandenburg.  Sagen,  Märchen,  Spiele,  Sprich- 
wörter und  Gebräuche,  gesammelt  und  herausg.  von  A.  Engelien 
und  W.  Lahn.  1.  Teil  (mehr  nicht  erschienen).  Berlin  1808.  Schnitze. 
VIII  u.  285  S.  (Beruht  zum  größten  Teile  auf  schriftlichen  Mit- 
teilungen von  Volksschullehrem  an  die  Verfasser.)  —  Volkstüm- 
liches aus  der  Grafschaft  Buppin  und  Umgegend.  Gesammelt  und 
herausg.  von  Karl  Eduard  Haase.  1.  Teil:  Sagen.  Neuruppin 
1887.  Petrenz.  Sondertitel:  Sagen  aus  der  Grafschaft  Ruppin  und 
Umgegend.  XII  u.  126  S.  (Zum  größten  Teil  der  mündlichen 
Ueberlieferung  entnommen.)  —  Neue  Sagen  aus  der  Mark  Branden- 
burg. Ein  Beitrag  zum  deutschen  Sagenschatz  von  £.  Handt- 
mann.  Berlin  1883.  Abenheim  (Joel).  VIII  u.  2t)3  S.  (Der  Verf. 
hat  in  der  Priegnitz  und  Uckermark  gesammelt.  Die  Kritik  nicht 
immer  mit  der  nötigen  Schärfe  angewandt;  außerdem  ist  die  Samm- 
lung durch  Ausschmückungen  stark  entwertet.) 

tfecklenburg.  Mecklenburgs  Volkssagen.  Gesammelt  u.  heraus- 
gegeben von  A.  Nied  er  hoff  er.  1.  Bd.  Leipzig  1857.  X  u.  233  S.; 
2.  Bd.  1859.  VII  u.  252  S.;  3.  Bd.  18G0.  VIII  u.  256  S.;  4.  Bd.  1862. 
VIII  u.  277  S.  Hübner.  (355  Sagen,  für  da«  große  Publikum  be- 
rechnet. Viel  gehört  gar  nicht  in  eine  Sagensammlung;  anderes  ist 
durch  novellistische  Einkleidung  unverwertbar  geworden.  Niederhöffer 
hatte  das  Glück,  mehrere  ausgezeichnete  Mitarbeiter  zu  besitzen.) 
—  J.  Mussäus,  ^Mecklenburgische  Volksmärchen*  und  , Sympathien 
und  andere  Thorheiten.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Mensch- 
heit, besonders  des  Mecklenburgers,  in  Mecklenburg  geEammelt.*^ 
Jahrbücher  des  Vereins  für  mecklenburgische  Geschichte  u.  Alter- 
tumskunde. 5.  Jahrgang.  Schwerin  1840.  S.  74— 100  u.  101-119. 
(Wertvolles  Material  an  Märchen,  Sagen  und  Zauberbräuchen;  die 


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Volkstümliches,  457 

Darstellung  zum  Teil  ausgeschmückt.)  —  W.  G.  Beyer,  Erinne- 
ruugen  an  die  nordische  Mythologie  in  Yolkssagen  u.  Aherglauben 
Mecklenburgs.  Jahrbücher  des  Vereins  für  mecklenb.  Geschichte 
u.  Altertumsk.  20.  Jahrg.  Schwerin  1855.  S.  140—207.  (Die  Arbeit 
beruht  auf  Schriftquellen  u.  Mitteilungen  von  Freundeshand.  Der 
Stoff,  Sagen,  Aberglauben,  Bräuche,  ist  durchweg  mythologisch 
verarbeitet.)  —  Sympathien  und  andere  abergläubische  Kuren, 
Lebens-  und  Verhaltungsregeln  und  sonstiger  angewandter  Aber- 
glaube, wie  er  sich  noch  heute  im  Volke  findet.  Ein  Beitrag  zur 
Kenntnis  des  mecklenburgischen  Volkes.  Von  L.  Fromm  »Schwerin 
und  C.  Struck -Waren.  Archiv  für  Landesk.  in  den  Großherzog- 
tümem  Mecklenburg  etc.  14.  Jahrg.  Schwerin  1864.  S.  497—564. 
(Keichhaltig  und  zuverlässig.)  —  Sitten  u.  Gebräuche  des  Mecklen- 
burger Landvolkes  von  Fr.  L.  Graf  f.  Archiv  f.  Landesk.  in  den 
Großherzogt.  Mecklenburg.  17.  Jahrg.  Schwerin  1867.  S.  439—460. 
(Brauchbares  Material  an  Bräuchen  und  Gewohnheiten  [besonders 
Hochzeitsbräuchen]  der  Mecklenburger.  Es  fehlt  fast  durchweg  die 
genaue  Angabe  der  Orte,  wo  die  einzelnen  Bräuche  geübt  werden.) 
—  Zum  Tier-  und  Kräuterbuche  des  mecklenburgischen  Volkes  von 
Karl  Schiller.  Schwerin  1861  u.  1864.  4.  Bärensprung.  I.Heft. 
1861.  IV  u.  82  S.;  2.  Heft.  1861.  34  S.;  3.  Heft.  1864.  24  S.  (Ent- 
hält viel  wertvolles  Material  an  Volksglaube,  Brauch  u.  Sage,  so- 
weit sich  dieselben  auf  Tier-  und  Pflanzenwelt  beziehen.)  —  Sagen, 
Märchen  und  Gebräuche  aus  Mecklenburg.  Gesammelt  u.  herausg. 
von  Karl  Bartsch.  2  Bde.  Wien  1879  u.  1880.  Braumüller. 
1.  Bd.:  Sagen  u.  Märchen.  XXVI  u.  524  S.;  2.  Bd.:  Gebräuche  u. 
Aberglaube.  VI  u.  508  S.  (Sehr  reichhaltige  Sammlung;  die  ein- 
zelnen Stücke  von  ungleichem  Werte.  Bartschs  Sammelthätigkeit 
beschränkte  sich  zumeist  auf  Auszüge  aus  den  eben  genannten 
Arbeiten.  Zu  den  Sammlungen  aus  Volkesmund  regte  er  an  und 
gab  die  Mitteilungen  wieder  mit  genauer  Namennennung  der  Ein- 
sender, so  daß  eine  Beurteilung  der  einzelnen,  zum  Teil  vorzüg- 
lichen Sammler  ermöglicht  ist.)  —  Volkstümliches  aus  Mecklenburg. 
1.  Heft.  Beiträge  zum  Tier-  und  Pflanzenbuch.  Tiergespräche, 
Rätsel;  Legenden  und  Redensarten,  aus  dem  Volksmunde  gesammelt 
und  der  11.  Versammlung  des  Vereins  für  niederdeutsche  Sprach- 
forschung gewidmet  von  Rieh.  Wossidlo.  Rostock  1885.  Werther. 
32  S.  (Gewährt  außer  Reimen,  Sprüchen  etc.  einiges  an  Märchen  u. 
Sagen.  Das  Dargebotene  ist  gut.)  —  Die  sympathetischen  Mittel  u. 
Kurmethoden.  Gesammelt,  z.  Teil  selbst  geprüft,  historisch-kritisch 
beleuchtet  u.  naturwissenschaftlich  gedeutet  von  Georg  Friedrich 
Most.  Rostock  1842.  Stiller  (Eberstein  &  Otto).  XVI  u.  175  S.  (S.  107 
bis  160  enthält  155  zum  größten  Teile  in  Mecklenburg  gesammelte 
u.  treu  wiedergegebene  sympathetische  Heilmittel  u.  Kurmethoden.) 
Pommern  und  Rügen.  Die  Volkssagen  von  Pommern  und 
Rügen.  Gesammelt  von  J.  D.  H.  Temme.  Berlin  1840.  Nicolai. 
XXX  u.  352  S.  (Zum  größten  Teil  aus  Schriftquellen  geschöpft. 
Temme  sammelte  nicht  selbst  aus  dem  Volke.  Der  Anhang  S.  335 
bis  352  bietet  Meinungen  und  Bräuche.)  —  Theodor  Schmidt, 


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458  Ulrich  Jahn, 

Gereimter  und  ungereimter  Aberglaube  in  Frommem.  Beiträge  zur 
Kunde  Pommerns.  Herausgeg.  von  dem  Verein  für  pommersche 
Statistik.  Stettin  1854.  6.  Jahrg.  1.  Heft.  S.  55—65.  (Wertvolle 
Arbeit,  ganz  aufgenommen  in  U.  Jahn,  Hexenwesen  u.  Zauberei 
in  Pommern ;  siehe  unten.)  —  De  Di^re,  as  man  to  segg^  un  wat*8 
seggen.  Von  Ch.  Gilow.  Anklam  1871.  Krüger.  VI  u.  776  S. 
und  De  Planten,  as  man  to  seggt  un  wat's  seggen.  Von  Ch.  Gi- 
low. 1.  Deil:  A  bet  brackt.  Anklam  1872.  Komm,  bei  Krüger. 
4  Bl.  u.  384  S.  (Enthalt  manches  Wertvolle  über  Volkstümliches 
(Brauch,  Glaube,  Sage,  Märchen,  Lied]  aus  Tier-  und  Pflanzenwelt 
in  Pommern;  leider  ohne  jegliche  Angabe  des  Fundortes.)  —  Ru- 
dolf Bai  er,  Beiträge  von  der  Insel  Rügen.  Zeitschrift  f.  deutsche 
Mythologie  II,  1:39—148.  (Enthält  Sagen.)  -  Zur  Mythologie  und 
Sittenkunde,  aus  Pommern,  von  Albert  Hoefer.  Germania,  Vier- 
teljahrsschrift  f.  deutsche  Altertumskunde.  1.  Jahrg.  Stuttgart  1856. 
S.  101  —  110.  —  Sammlung  abergläubischer  Gebräuche.  Zusammen- 
gestellt von  Knorrn.  Baltische  Studien.  XXXIIl.  Stettin  1888. 
S.  113—147.  (Mit  gutem  Verständnis  des  Volkes  unmittelbar  aus 
dem  Volksmunde  geschöpft.)  —  Volkssagen,  Erzählungen.  Aber- 
glauben, Gebräuche  n.  Märchen  aus  dem  östlichen  Hinterpommern. 
Gesammelt  von  Otto  Knoop.  Posen  1885.  Jolowicz.  XXX  u. 
240  S.  (Beschäftigt  sich  zumeist  mit  dem  kassnbischen  Teile  Pom- 
merns. Verdienstliche,  wenn  auch  nicht  sehr  eindringende  Samm- 
lung; aus  dem  Volksmunde  geschöpft.)  —  Volkssagen  aus  Pommern 
und  Rügen.  Gesammelt  und  herausg.  von  Ulrich  Jahn.  Stettin 
1886.  Dannenberg.  XXVIII  u.  541  S.  (Zum  größten  Teile  von  Jahn 
unmittelbar  aus  dem  Volksmunde  geschöpft.)  —  Hexenwesen  und 
Zauberei  in  Pommern.  Von  Ulrich  Jahn.  Stettin  1886.  Koram.- 
Verlag  von  Koebner  in  Breslau.  196  S.  Separatabdruck  von  Bal- 
tische Studien  XXXVII;  auch  erschienen  als  Festschrift  zur  Be- 
grüßung des  17.  Kongresses  der  deutschen  anthropol.  Gesellschaft 
in  Stettin  1886.  (Enthält  Volksglaube  und  Brauch,  soweit  sie  sich 
auf  die  Zauberei  beziehen.)  —  Von  einer  umfangreichen  Sammlung 
der  pommerschen  Märchen  wird  derselbe  Verfasser  Winter  1888/89 
den  ersten  Band  in  Druck  bringen.  Verlag  von  Soltau  in  Norden. 
Eine  Sammlung  der  Sitten,  Bräuche  etc.  in  Vorbereitung. 

West-  und  Ostpreussen.  Die  Volkssagen  Ostpreußens,  Lit- 
tauens  und  Westpreußens.  Gesammelt  von  W.  J.  A.  vonTettau 
und  J.  D.  H.  Temme.  Berlin  18^)7.  Nicolai.  Neue  Ausgabe.  Berlin 
1865.  XXVIII  u.  286  S.  (Der  Anhang  von  S.  255-286  bietet 
Meinungen  und  Bräuche.  Die  Sammlung  ist  zum  Überwiegenden 
Teile  aus  Schriftquellen  geschöpft.)  —  Hexenspruch  u.  Zauberbann. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Aberglaubens  in  der  Prov.  Preußen 
von  H.  Frischbier.  Berlin  1870.  Enslin.  XII  u.  167  S.  (Die  Arbeit 
umfaßt  West-  u.  Ostpreußen.  Sehr  wertvoll,  ebenso  wie  das  folgende 
Werk  desselben  Verf.)  —  Zur  volkstümlichen  Naturkunde.  Beiträge 
aus  Ost-  und  Westpreußen  von  H.  Frischbier.  Altpreuß.  Monats- 
schrift. Königsberg  1885.  S.  218 — 334.  —  Danziger  Sagen.  Ge- 
sammelt von  0.  F.  Karl.     1.  Heft.     Danzig  1848.  40  S.;  2.  Heft. 


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Volkstümliches.  459 

Danzig  1844.  48  S.  (Nur  zum  kleinen  Teil  brauchbar.)  —  Danziger 
Sagenbuch.  Sagen  von  der  Stadt  und  ihren  Umgebungen.  In  voll- 
ständiger Sammlung  von  F.  A.  Brandstätten  Mit  5  Illustrationen 
nach  Originalzeichnungen  von  B.  Laasner.  2.  Aufl.  Danzig  188'^. 
Bertling.  X  u.  104  S.  (Das  Meiste  ist  aus  Schriftquellen  genommen, 
nur  wenig  entstammt  der  mündlichen  üeberlieferung.)  —  Eine 
große.  Anzahl  von  Aufsätzen  (weit  über  hundert)  volkstümlichen  In- 
halts, zumeist  Westpreußen  betreffend,  hat  AlexanderTreichel 
erscheinen  lassen  in  den  Berichten  der  Berliner  Gesellschaft  für 
Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte,  in  der  Zeitschrift  des 
historischen  Vereins  für  den  Regierungsbezirk  Marien werder,  in 
den  Schriften  der  Naturforschenden  Gesellschaft  zu  Danzig  und 
zuletzt  auch  in  der  altpreußischen  Monatsschrift  in  den  Jahren 
1879  ff.  (Das  darin  niedergelegte  Material  ist  zum  Teil  recht  wert- 
voll; störend  wirken  die  oft  wunderlichen  Erklärungen.  Am  umfang- 
reichsten ist  Treichels  Arbeit:  Volkstümliches  aus  der  Pflanzenwelt, 
besonders  für  Westpreußen.  Davon  erschienen  I — VI  in  den  Schriften 
der  naturf.  Gesellsch.  zu  Danzig.  Band  V  ff.,  Fort-setzung  VII  in 
dem  24.  Bd.  der  altpreuß.  Monatsschr.  1887.  Heft  7/8.)  —  Die  alte 
gute  Sitte  in  Altpreußen.  Ein  kirchlich-soziales  Sittengemälde,  aus 
amtlichen  Belichten  zusammengestellt  von  C.  G.  Uintz.  Königs- 
berg 1862.  Gräfe  &  Unzer.  VIII  u.  140  S.  (Auf  Grund  amtlicher 
Berichte  der  evangelischen  Geistlichen  herausg.,  enthält  die  Samm- 
lung, dem  Titel  entsprechend,  fast  nur  fromme,  kirchliche  Sitten 
und  Gewohnheiten;  selten  wird  der  Volksglaube  und  die  damit 
zusammenhängenden  Bräuche  gestreift.)  —  E.  Lemke,  Volkstüm- 
liches in  Ostpreußen.  1.  Teil.  Mohrungen  1884.  Harich.  XVI  u. 
190  S.;  2.  Teil.  1887.  XVI  u.  803  S.  (Die  vortreffliche  Sammlung 
enthält  Bräuche,  Aberglauben,  Keime,  Spiele  etc..  Sagen  u.  Mär- 
chen, gesammelt  in  der  Umgegend  von  Saalfeld.  Material  zu  einem 
S.  Teile  schon  zusammengebracht,  die  Herausgabe  leider  noch  frag- 
lich.) —  Sagen  des  preußischen  Samlandes  aus  dem  Munde  des 
Volkes  erzählt  von  Rudolf  Friedrich  Reuse h.  Königsberg  18S8. 
Härtung.  VIII  u.  108  S.  2.  völlig  umgearbeitete  Auflage,  herausg. 
von  dem  litterarischen  Kränzchen  zu  Königsberg.  Königsberg  i.  Pr. 
1803.  Härtung.  XVI  u.  139  S.  (Die  2.  Auflage  ist  eine  kleine, 
aber  vortreffliche  Sammlung.)  —  Wertvolle  Nachträge  zu  den  Sagen 
des  Samlandes  lieferte  R.  F.  Reu  seh  in  den  Preuß.  Provinzial- 
blättern.  23.  Bd.  1840.  S.  120-128;  2Ü  (1841)  S.  419-439:  27 
(1842)  S.  234-252,  460-479  u.  551-576  und  Neue  Preuß.  Pro- 
vinzialblätter.  Bd.  I  (XXXV)  1846.  S.  1—14.  (Enthalten  Aber- 
glauben, Bräuche,  Sagen  etc.)  —  Aberglauben  aus  Masuren,  nebst 
einem  Anhange,  enthaltend:  Masunsche  Sagen  und  Märchen.  Mit- 
geteilt von  M.  Toppen.  2.  durch  zahlreiche  Zusätze  und  durch 
den  Anhang  erweiterte  Auflage.  Danzig  1867.  Bertling.  168  S. 
(1.  Aufl.  Beparatabdruck  aus  der  Altpreuß.  Monatsschr.  Königs- 
berg 1867.  Rosbach.  106  S.)  (Auf  Grund  von  Schriftquellen  und 
der  mündlichen  Üeberlieferung  gearbeitet;  vorzugsweise  polnisch.) 
—    Wenig  Germanisches    wird    sich    finden  in   Litauische   Sagen. 


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460  Ulrich  Jahn, 

Gesammelt  von  A.  Q.  Langkusch.  Separatabdruck  aus  der  alt- 
preuß.  Monatsschrift.  15.  Bd.  5.  u.  6.  Heft.  S.  412—459.  (Die 
Darstellung  nicht  immer  volkstümlich,  zum  Teil  sogar  novellistisch 
ausgeschmückt)  —  Rein  littauisch  scheinen  Littauische  Märchen, 
Sprichworte,  Rätsel  u.  Lieder.  Gesammelt  u.  tibersetzt  von  August 
Schleicher.  Weimar  1857.  Böhlau.  X  u.  244  S.  (VortreflPlich.) 
Russische  Ostseeprovinzen.  Sagen  aus  Hapsal,  der  Wiek, 
Oesel  und  Runö.  Gesammelt  und  kurz  erläutert  von  C.  Rußv^urm. 
Reval  1861.  Kluge.  XX  u.  191  S.  (RuBwurm  benutzte  außer  der 
esthnischen  auch  die  schwedische  und  die  deutsche  üeberlieferung. 
Letztere  bietet  von  den  200  Sagen  etwa  ein  Fünftel.  Vortreffliche 
Arbeit) 

Mitteldeutschland. 

Rheinpfalz.  Volkssage  (in  der  bayrischen  Rheinpfalz).  Von 
Ludwig  Schandein.  Bavaria.  Landes-  und  Volkskunde  des 
Königreichs  Bayern.  IV,  2.  München  1867.  S.  277—344.  —  Der- 
selbe, Volkssitte  (in  der  bayrischen  Rheinpfalz).  Bavaria.  IV,  2. 
S.  344~'109.  —  Derselbe,  Volksmedizin  (in  der  bayrischen  Rhein- 
pfalz). IV,  2.  S.  441—444.  (Die  beiden  ersten  Arbeiten  recht 
brauchbar;  die  letzte  unbedeutend.)  —  *Friedrich  Blaul,  Träume 
und  Schäume  vom  Rhein.  In  Reisebildern  aus  d.  Rheinpfalz.  2.  venn. 
Aufl.  Kaiserslautern  1882.  Gotthold.  VI  u.  564  S.  u.  9  S.  Register. 
(Soll  viel  Brauchbares  über  d.  Volkstümliche  d.  Rheinpfalz  enthalten.) 

Hessen.  Hessische  Sagen.  Herausg.  von  J.  W.  Wolf.  Göt- 
tingen u.  Leipzig  1853.  Dieterich  &  Vogel.  XVI  u.  224  S.  (Wolf 
sammelte  vorzugsweise  im  Großherzogtum  und  wurde  von  seinem 
Schwager  W.  von  Plönnies  unterstützt.  Gut.  Aufgenommen  in  die 
Sammlung  ist  eine  frühere  Arbeit  desselben  Verf. :  Rodenstein  und 
Schnellerts.  ihre  Sagen  u.  deren  Bedeutung  für  die  deutsche  Alter- 
tumskunde. Darmstadt  1848.  Leske.  32  S.)  —  Deutsche  Hausm&rchen. 
Herausg.  von  J.  W.  Wolf.  Göttingen  u.  Leipzig  1851.  Dieterich 
&  Vogel.  XVI  u.  439  S.;  2.  (Titel-)  Ausgabe  1858.  (Durch  Wolf 
und  W.  von  Plönnies  im  Odenwalde  und  aus  dem  Munde  hessi- 
scher Soldaten  in  der  Darmstädter  Garnison  gesammelt.  Eine 
frühere  Märchensammlung  Wolfs:  „Hausmärchen  aus  Hessen,  aus 
dem  Munde  des  Volkes  gesammelt.  Darmstadt  1851.  Becker.  VllI 
u.  64  S.*^,  12  IMärchen  enthaltend,  ist  in  die  deutschen  Hausmär- 
chen verarbeitet  worden.  Einen  Nachtrag  zu  der  Sammlung  bilden 
4  Odenwälder  Märchen  von  W.  von  Plönnies  in  der  Zeitschrift 
für  deutsche  Mythologie  I,  S.  38-42;  H,  S.  373-384.)  —  Hessische 
Sagen  von  A.  Nodnagel  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  M3rtho- 
logie  I,  S.  30-36  u.  246—250.  (Brauchbar.)  —  Hessische  Sagen, 
Sitten  und  Gebräuche.  Herausg.  von  G.  Kaut.  Oifenbach  a.  M. 
1846.  Krähe.  VIll  u.  100  S.  (Enthält  14  ausgeschmückte,  ganz 
unbrauchbare  Sagen.  Etwas  besser  sind  S.  81— 100  die  Sitten  und 
Gebräuche.  Der  Stoff  stammt  aus  Starkenburg.)  —  Oberhessisches 
Sagenbuch.  Aus  dem  Volksmunde  gesammelt  von  Theod.  Binde- 
wald.  Neue  vermehrte  Ausgabe  Frankfurt  a.  M.  1873.    HeyderA 


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Volkstümliches.  461 

Zimmer.  XXIV  u.  242  S.  (Ein  Teil  davon  schon  veröflFentlicht  im 
12.  Bd.  des  Archivs  für  hessische  Geschichte  und  Altertumskunde. 
Darmstadt  1869  unter  dem  Titel :  Neue  Sanunlung  von  Volkssaf^en 
a.  d.  Vogelsberg  u.  seiner  nächsten  Umgebung.  Bindewald  sam- 
melte in  Oberhesaen,  vorzüglich  im  Vogelsberge.  Wertvoll.)  — 
Deutsche  Sagen  und  Sitten  in  hessischen  Gauen,  gesammelt  von 
Karl  Lyncker.  Kassel  1854.  Bertram.  XX  u.  265  S.;  2.  (Titel-) 
Ausgabe.  Kassel  u.  Göttingen  1860.  Wigand.  (Gesammelt  zu- 
meist in  Kurhessen.  Wertvoll.)  —  K.  Lyncker,  Brunnen  u.  Seeen 
und  Brunnenkultus  in  Hessen.  Zeitachnft  des  Vereins  f.  hessische 
Geschichte  u.  Landesk.  7.  Bd.  Kassel  1858.  S.  193—239.  (Wert- 
volle, reichhaltige  volkstümliche  Studie,  aus  dem  litterarischen 
Nachlasse  Lynckers  herausgegeben.)  —  Volkssitte  im  Herzogtum 
Nassau.  Ein  Beitrag  zu  deren  Kenntnis  von  Joseph  Kehrein. 
Weilburg  1862.  Lanz.  296  S.  (Enthält  reichhaltigen,  treu  wieder- 
gegebenen Stoff  an  Sagen,  Märchen,  Bräuchen,  Aberglauben  und 
Volksdichtungen.)  —  Hessische  Volksdichtungen  in  Sagen  und 
Märchen,  Schwänken  und  Schnurren  etc.  Gesammelt  von  Philipp 
Hof fme ister.  Marburg  1869.  Ehrhardt.  XII  u.  184  S.  (Viel 
Brauchbares  unter  vieler  Spreu.  Mit  Vorsicht  zu  gebrauchen.  Der 
Stoff  vorzugsweise  in  Kurhessen  gesammelt.)  —  Lotich,  Aufzeich- 
nungen aus  dem  Munde  des  Volkes  und  Schilderungen  aus  dem 
Volksleben  in  der  Umgegend  von  Schlüchtern.  Zeitschr.  d.  Vereins 
für  hess.  Geschichte  u.  Landesk.  6.  Bd.  Kassel  1854.  S.  356—372. 
(Brauchbares  Material  an  Sage,  Brauch  und  Märchen.)  —  Die  Ur- 
religion  des  deutschen  Volkes  in  hessischen  Sitten,  Sagen,  Redens- 
arten, Sprichwörtern  und  Namen  von  Elard  Mülhause.  Kassel 
1860.  Fischer.  359  S.;  und:  Die  aus  der  Sagenzeit  stammenden 
Gebräuche  der  Deutschen,  namentlich  der  Hessen,  von  Elard  Mül- 
hause. In  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  hessische  Geschichte  a. 
Landeskunde.  Neue  Folge.  l.Bd.  Kassel  1867.  S.  256— 340.  (Ent- 
hält reichhaltiges,  zum  Teil  mit  Vorsicht  aufzunehmendes  Material ; 
die  wissenschaftliche  Einkleidung  häufig  bedenklich.)  —  Sagen  und 
Aberglaube  aus  Hessen  und  Nassau.  Als  Beitrag  zu  vaterländischem 
Volkstume  bearbeitet  u.  herausg.  durch  Hermann  von  P fister. 
Marburg  1885.  Elwert.  XVI  u.  172  S.  (Aus  den  Papieren  Ferdi- 
nands von  Pfister,  der  die  Gebrüder  Grimm  mit  zahlreichen  Bei- 
trägen an  hessischen  Sagen  für  ihre  unterschiedlichen  Sammlungen 
bedachte,  und  eigenen  Aufzeichnungen  herausgegeben.)  —  Hessische 
Volkssitten  und  Gebräuche  im  Lichte  der  heidnischen  Vorzeit. 
Von  Wilhelm  Kolbe.  Marburg  1886.  Elwert.  III  a.  124  S. 
2.  sehr  vermehrte  Auflage.  Marburg  1888.  191  S.  (Das  vom  Verf. 
aus  Druckwerken  und  dem  Volksmunde  zusammencrebrachte  Ma- 
terial ist  sogleich  mythologisch  verarbeitet;  enthält  einiges  Brauch- 
bare.) —  Sagen  und  Gebräuche  der  Gegend  von  Hirschhorn.  Von 
Langheinz.  Archiv  filr  hessische  Geschichte  und  Altertumskunde. 
14.  Bd.  Darmstadt  1879  (1.  Heft  1875).  S.  1—88.  (Fast  ausschließ- 
lich von  Langheinz  selbst  gesammelt  in  Hirschhorn  am  Neckar  und 
dessen  nächster  Umgebung.    Einzelne  Sagen  sind  ausgeschmückt. 


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462  Ulrich  Jahn, 

sonst  brauchbar.)  —  Kinder-  und  Hausmärchen,  gesammelt  durch 
die  Brüder  Grimm.  Berlin  1812—14;  20.  Aufl.  Berlin  1885.  XX 
u.  704  S.  (Enthält  gegen  80  hessische  Märchen.  Siehe  den  Quellen- 
nachweis im  3.  Bd.  8.  Aufl.  Göttingen  1856.  Dieterich.  VI  u.  418  S.) 

Waldeok.  Volksüberlieferungen  aus  dem  Fürstentum  Waldeck. 
Märchen,  Sagen,  Volksreime,  Rätsel,  Sprichwörter,  Aberglauben, 
Sitten  und  Gebräuche,  nebst  einem  Idiotikon.  Von  L.  Curtze. 
Arolsen  1860.    Speyer.    XIV  u.  518  S.    (Vortrefflich.) 

Franken.  E.  Fentsch,  Volkssage  und  Volksglaube  in  Unter- 
franken. Bavaria,  Landes-  u.  Volkskunde  des  Königreichs  Bayern. 
IV,  1.  München  1866.  S.  174— 207.  -  Derselbe,  Volkssitte  in  Unter- 
franken u.  Aschaffenburg.  Bavaria.  IV,  I.  S.  227-259.  —  Derselbe, 
Volkssage  und  Volksglaube  in  Mittel  franken.  Bavaria  III,  2.  Mün- 
chen 1865.  S.  900— 944. —  Derselbe,  Volkssitte  in  Mittelfranken. 
Bavaria  III,  2.  S.  944—984.  —  Derselbe,  Volkssage  und  Volks- 
glaube in  Oberfranken.  Bavaria  III,  1.  München  1865.  S.  267—309. 
—  Derselbe,  Volkssitt«  in  Oberfranken.  Bavaria  III,  1.  S.  309 
bis  367.  (Fentsch  fußt  auf  den  bestehenden  Sagenwerken,  bietet 
aber  auch  manches  Eigene.)  —  Volkskrankheiten  und  Volksmedizin 
in  Unterfranken  und  Aschaffenburg.  Von  Fried r.  Aug.  Vogt. 
Bavaria  IV,  I.  S.  207—226.  (Brauchbar.)  —  Volkskrankheiten  und 
Volksmedizin  in  Oberfranken.  Von  Georg  Friedrich  Fischer. 
Bavaria  III,  1.  S.  390—409.  (Brauchbar.)  —  Die  Zeitschrift  für 
deutsche  Mythologie  enthält  I,  18—30,  295—305  Sagen  aus  Unter- 
franken  von  A.  Fries;  III,  61—70  Fränkische  Sagen  (Würzburg) 
von  J.  Ruttor;  IV,  19 — 24  Sagen  und  Bräuche  aus  der  Main- und 
Taubergegend  von  Alexander  Kaufmann.  —  Die  Sagen  des 
Spessarts.  gesammelt  von  Adalbert  von  Herr  lein.  Aschaffen- 
burg 1851.  Krebs.  IV  u.  273  S.;  2.  Aufl.  herausg.  von  Joh.  Schober. 
Aschaffenburg.  Krebs.  XVI  u.  420  S.  (Die  Sagen  sind  ausge- 
schmückt, die  Sammlung  nur  zum  kleinen  Teil  brauchbar.)  —  Der 
Sagenschatz  des  Frankenlandes.  Herausg.  von  Ludwig  Bechstein. 
1.  Teil  (mehr  nicht  erschienen).  Würzburg  1842.  Voigt  &  Mocker. 
314  S.  Sondertitel:  Die  Sagen  des  Rhöngebirges  und  des  Grab- 
feldes. (Zum  Teil  aus  Schriftquellen  geschöpft,  zum  Teü  volks- 
mündlich gewonnen.  Wie  alle  Bechsteinschen  Sammlungen  von 
mäßigem  Werte.)  —  Volkstümliches  aus  dem  Fränkisch- Henneber- 
gischen. Gesammelt  und  herausg.  von  Balthasar  Spieß.  Mit 
einem  Vorworte  von  Reinhold  Bechstein.  Wien  1 869.  Braumüller. 
XVI  u.  216  S.  (Enthält  Idiotismen,  Sprichwörter.  Reime  u.  Spiele, 
Rätsel,  Bauern-  u.  Wetterregeln,  Bräuche  u.  Volksglaube,  Namenbuch. 
Wertvoll.)  —  G.  F.  Stertzing,  Kleine  Beiträge  zur  deutschen 
Mythologie.  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum.  3.  Bd.  Leipzig 
1843.  S.  358—368.  (Enthält  Zaubersprüche,  Aberglauben  u.  Bräuche 
aus  dem  Jüchsethale  im  fränkischen  Teile  der  Grafschaft  Henne- 
berg.) —  Der  Sagenkreis  des  Fichtelgebirges  von  Ludwig  Zapf. 
Hof  (o.  J.).  Büching.  XVI  u.  186  u.  VI  S.  (Nur  zu  geringem  Teile 
aus  der  mündlichen  Ueberlieferung  geschöpft,  unwissenschaftlich 
gehalten,  wenig  brauchbar.)  —  Volksmedizin  und  Aberglaube  im 


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Volkstümliches.  463 

Frankenwalde.  Nach  zehiyahriger  Beobachtung  dargestellt  von 
Flügel.    München  1863.    Lentner.    VIII  u.  81  S.     (Vortrefflich.) 

—  Zur  Naturgeschichte  des  Volkes.  Aberglaube  auf  dem  Franken- 
walde. Von  Franz  Harnisch.  Mitteil,  aus  dem  Archive  des 
voigtländ.  Altertumsforschenden  Vereins  in  Hohenleuben,  nebst  dem 
38.  u.  39.  Jahresber.  Weida  (1870).  S.  33—49.  (Brauchbare  Samm- 
lung von  Volksglaube,  Brauch  und  Sage  aus  dem  reußischen  Teile 
des  Frankenwaldes.)  —  Volkstümliches  aus  Sonneberg  im  Meininger 
Oberlande.  Von  August  Schleicher.  Weimar  1858.  Komm.- 
Verlag  von  Böhlau.  XXVI  u.  158  S.  (Die  vortreffliche  Sammlung 
beschränkt  sich  auf  die  Stadt  Sonneberg;  sie  bietet  außer  Mund- 
artlichem Sagen  und  Erzählungen,  Sprich woi"te,  Rätsel,  Sprüche, 
Kinderreime,  Volkslieder,  Bräuche  und  Aberglauben,  Melodien.) 

Thüringen  und  Sachsen.  Der  Sagenschatz  und  die  Sagen- 
kreise des  Thüringerlandes.  Herausg.  von  Ludwig  Bechstein. 
1.  Teil.  Hildburghausen  1835.  Kesselring.  208  S.  (Sondertiteh 
Die  Sagen  von  Eisenach  und  der  Wartburg,  dem  Hörseelberg  und 
Reinhardsbrunn.);  2.  Teü.  1836.  XXVI  u.  170  S.  (Sondertitel:  Die 
Sagen  aus  Thüringens  Frühzeit,  von  Ohrdruf  und  dem  Inselberge.)  ^ 

3.  Teü.  Meiningen  u.  Hildburghausen  1837.  XIV  u.  240  S.  (Sonder- 
titel: Die  Sagen  aus  Thüringens  Vorzeit,  von  den  drei  Gleichen, 
dem  Schneekopf  und  dem  thüringischen  Henneberg.  Nebst  einer 
Abhandlung  über  den  ethischen  Wert  der  deutschen  Volkssagen.) ; 

4.  Teil.  1838.  XVI  u.  239  S.  (Sondertitel:  Die  Sagen  des  K>flF- 
häusers  und  der  Güldenen  Aue,  des  Werragrundes  und  von  Lieben- 
stein und  Altenstein.)  Neue  Ausgabe  der  4  Teile  1862.  (Bechstein 
hat  das  Verdienst,  Sinn  und  Liebe  für  die  heimatliche  Sage  in 
Thüringen  geweckt  und  gepflegt  zu  haben.  Seine  Sammlungen 
sind  für  das  größere  Publikum  berechnet  und  zum  Teil  nicht  frei 
von  romantischem  Beiwerk;  bei  der  Benutzung  von  Schriftquellen 
erlaubte  Bechstein  sich  mehrfach  Zusätze  und  Abänderungen.)  — 
Thüringer  Sagenbuch.  Von  Ludwig  Bechstein.  2  Bde.  Wien 
u.  Leipzig  1858.  2.  Auflage  Leipzig  1885.  Koch.  1.  Bd.  VIII  u. 
272  S.;  2.  Bd.  311  S.  (Umfaßt  ganz  Thüringen  und  das  Voigtland. 
Wert,  wie  das  vorige.)  --  Kleine  Beiträge  zur* deutschen  Mytho- 
logie, Sitten-  und  Heimatskunde  in  Sagen  und  Gebräuchen  au» 
Thüringen.  Gesammelt  und  herausg.  von  August  Witzschel. 
1.  Teil:  Sagen  aus  Thüringen.  Wien  1866.  Braumüller.  XX  u. 
324  S.;  2.  Teil:  Sagen,  Sitten  u.  Gebräuche  aus  Thüringen.  Herausg. 
von  G.  L.  Schmidt  in  Eisenach.  Wien  1878.  Braumüller.  XVI  u. 
342  S.  (Das  reichhaltige  Sagenmaterial  zum  großen  Teile  Schriit- 
quellen  entnommen,  Aberglaube  und  Brauch  durch  Fragebogen 
zusammengebracht.)  —  August  Witzschel,  Sitten  U.Gebräuche 
aus  der  Umgegend  von  Eisenach.  Eisenach  1866.  4.  Jahresbericht 
über  das  Karl-Friedrichs-Gyninasium  zu  Eisenach  von  Ostern  1865 
bis  Ostern  1866.    (In  das  vorige  Werk  dess,  Verf.  hineingearbeitet.) 

—  Sitten  und  Gebräuche  bei  Hochzeiten,  Taufen  und  Begräbnissen 
in  Thüringen.  Nach  mündlichen,  brieflichen  und  aktlichen  Quellen 
bearbeitet  von  Franz  Schmidt.   Weimar  1863.    Böhlau.    VHI  u. 


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464  Ulrich  Jahn, 

115  S.  (Reichhaltig.)  —  Segen  und  Zauberformeln,  gesammelt  in 
Thüringen  von  Karl  von  Auen.  Zeitschrift  für  thüringische  Ge- 
schichte und  Altertumskunde.  Jena  1852.  S.  184—196.  (Enthält 
41  Zauberformeln.)  —  Thüringische  Sagen.  Zur  Kritik  der  späteren 
Geschichtschreibung  bis  auf  Rothe.  Von  Otto  Posse.  Sybels 
historische  Zeitschrift.  31.  Bd.  München  1874.  S.  83—72.  (Bringt 
nichts  Neues;  weist  nur  die  Wertlosigkeit  der  historischen  Sagen 
für  die  Geschichte  nach  und  darum  auch  hier  von  Interesse.)  — 
Sagen  aus  dem  Werrathal  von  E.  Heusinger.  Eisenach  1841. 
Bärecke.  180  S.  (Enthält  40  Sagen  aus  dem  Werrathale,  als  Er- 
gänzung zu  Bechsteins  Sagen;  wissenschaftlich  noch  tiefer  zu  stellen, 
als  diese.)  —  Sagen  der  mittleren  Werra  nebst  den  angrenzenden 
Abhängen  des  Thüringerwaldes  und  der  Rhön.  Von  G.  L.  Wncke. 
Salzungen  1864.  Scheermesser.  2  Bde.  1.  Bd.  XVI  u.  150  S,; 
2.  Bd.  VIII  u.  176  S.  (Die  von  Wucke  selbst  dem  Volksmunde 
entnommene  Sagensammlung  stammt  aus  dem  Werrathale  von 
Meiningen  bis  Vacha.  Bd  1  giebt  202  Sagen  vom  rechten  Werra- 
ufer,  Bd.  2  deren  241  vom  linken  Werraufer.  Die  Sammlung  ist  zwar 
mehr  für  das  größere  Publikum  berechnet,  immerhin  brauchbar 
und  übertrifft  die  Arbeiten  Bechsteins  und  Heusingers  um  ein  be- 
deutendes.) —  Eichsfeldische  Gebräuche  und  Sagen.  Zusammen- 
gestellt von  Heinrich  Wald  mann.  Heiligenstadt  1864.  4.  Progr. 
des  königl.  kathol.  Gymnasiums  zu  Heiligenstadt.  26  S.  (Brauch- 
bare, auf  eigener  Anschauung  beruhende,  leider  nicht  sehr  ein- 
dringende LoMsamralung.)  —  Sitten  und  Gebräuche  in  Duderstadt. 
Von  einem  aus  Duderstadt  gebürtigen  Geistlichen.  In  der  Zeitschrift 
für  deutsche  Mythologie  II ,  S.  106—109.  (Brauchbar.)  —  Sagen 
und  Märchen  aus  dem  Helmegau  und  seiner  Umgebung,  gesammelt 
von  A.  Rackwitz.  Nordhausen  1886.  Selbstveriag.  59  S.  (Ent- 
hält nur  Sagen  (keine  Märchen);  ist  ein  Probeheft  und  von  Rack- 
witz herausgegeben,  um  Fingerzeige  zu  geben,  wie  in  Thüringen 
und  im  Harz  Sagen  gesammelt  werden  müssen.  Das  Gebotene  ist 
gut.)  —  Sagen  der  Grafschaft  Mansfeld  und  ihrer  nächsten  Um- 
gebung. Gesammelt  von  Hermann  Größler.  Eisleben  1880. 
Komm.- Verlag  von  Mähnert.  XVI  u.  258  S.  (Der  Stoff  ist  zum 
größten  Teil  von  Gymnasiasten  u.  Seminaristen  zusammengetragen, 
der  Rest  Druckschriften  entnommen.  Von  mittelmäßigem  Werte.) 
—  Die  Sagen  der  Stadt  Erfurt.  Von  H.  Kruspe.  Erfurt  1877. 
Weingart.  1.  Bändchen  IV  u.  120  S.;  2.  Bändchen  IV  u.  92  S. 
(Enthält  160  Sagen  von  Erfurt  und  seiner  nächsten  Umgebung. 
Wenn  auch  das  Meiste  aus  Schriftquellen  geschöpft  ist,  so  ist  doch 
von  Kruspe  auch  viel  Brauchbares  dem  Volksmunde  entnommen 
worden.)  —  Volkstümliches  aus  dem  Saalthal.  1.  Heft  (mehr  nicht 
erschienen):  Aberglaube  und  Volksmittel.  Von  Viktor  Lommer. 
Oriamünde  1880.  Heyl.  VIII  u.  60  S.  (Reichhaltige,  treu  wieder- 
gegebene Sammlung  von  Zauberglaube  und  Brauch  im  altenburgi- 
schen  Gerichtsamt  Kahla.)  —  Ueber  Kleidertracht,  Sitten  und  Ge- 
bräuche der  altenburgischen  Bauern.  Mit  12  ausgemalten  Kupfern. 
Von  C.  F.  Kronbiegel.    Altenburg  1801.   XII  u.  158  S.;  2.  Aufl. 


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Volkstümliches.  465 

mit  15  ausgemalten  Kupfern  und  2  Blatt  Musik.  Altenbui'g  1806. 
(Enthält  außer  der  ausführlichen  Beschreibung  der  Trachten  und 
Gewohnheiten  der  Altenburger  wertvolles  Material  Über  Volks- 
brauche,  zumal  bei  Hochzeiten.)  —  Sitten,  Gebräuche,  Trachten, 
Mundart,  häusliche  und  landwirtschaftliche  Einrichtungen  der  alten- 
burgischen  Bauern.  3.  gänzlich  umgearbeitete  Auflage  der  Kron- 
biegelschen  Schrift  von  Karl  Friedrich  Hempel.  Mit  einem 
Fürwort  von  dem  Bauer  und  Anspanner  Zacharias  Kresse  in  Dobra- 
schütz  an  seine  Stammesgenossen.  Nebst  10  kolor.  Lithographien. 
Altenburg  1839.  Schnuphase.  XVIII  u.  127  S.  --  Medizinisch- 
physikalisch-statistische Topographie  der  Pflege  Reichenfels.  Ein 
Beitrag  zur  Charakteristik  des  voigtländi8<£en  Landvolks  von 
Julian  Schmidt.  Aus  dem  Leben  und  für  das  Leben.  Nebst 
einer  lithogr.  Abbildung  der  Tumelle.  Leipzig  1827.  Wienbrack. 
XVI  u.  168  S.  (Enthält  in  seiner  zweiten  Hälfte  sehr  reichhaltiges, 
treu  wiedergegebenes  Material  an  Volksglaube,  Sitte,  Brauch,  Ge- 
wohnheit, Tracht  Medizin  und  Sage.)  —  Holzlandsagen.  Sagen, 
Märchen  und  Geschichten  aus  den  Vorbergen  des  Thüringerwaldes. 
Gesammelt  und  erzählt  von  Kurt  Greß.  Leipzig  1870.  Wartig. 
VIII  u.  136  S.  (Die  Sammlung  gehört  dem  Westkreis  des  Herzog- 
tums Altenburg  an.  Von  sehr  geringem  Werte.)  —  Volkssagen 
aus  dem  Orlagau,  nebst  Belehrungen  aus  dem  Sagenreiche,  mit- 
geteilt von  W.  Born  er.  Altenburg  1838.  Heibig.  IV  u.  252  S. 
(Wertvoller  Sagenstoff  aus  dem  Orlagau,  zumal  was  Perchta,  Holz- 
weiber und  Kobolde  angeht.  Störend  wirkt  die  dialogische  Form, 
in  die  der  Verf.  seine  Sammlung  gekleidet  hat.)  —  Sagenbuch  des 
Voigtlandes  von  Robert  Eisel.  Gera  1871.  Griesbach,  VI  u.  433  S. 
(Gesammelt  im  nichtsächsischen  Voig^lande.  Die  einschlägige  Lit- 
teratur  ist  erschöpfend  benutzt;  über  die  Hälfte  der  wertvollen 
Sammlung  wurde  von  dem  Verf.  dem  Volksmunde  entnommen.)  — 
Volksbrauch,  Aberglauben,  Sagen  und  andere  alte  Ueberlieferungen 
im  Voigt  lande,  mit  Berücksichtigung  des  Orlagaus  und  des  Pleißner- 
landes.  Ein  Beitrag  zur  Kulturgeschichte  der  Voigtländer  von 
Job.  Aug.  Ernst  Köhler.  Leipzig  1867.  Fleischer.  VIII  u. 
652  S.  (Sehr  reichhaltige  Sammlung,  doch  nur  weniy  dem  Volks- 
munde unmittelbar  entnommen.  Märchen  enthält  die  Sammlung 
nicht.)  —  Aberglauben,  Sitten  und  Gebräuche  des  sächsischen  Ober- 
erzgebirges. Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Volksglaubens  und 
Volkslebens  im  Königreich  Sachsen.  Abhandlung,  zum  Programm 
der  Realschule  zu  Annaberg  für  1862  gehörig,  von  Moritz  Spieß. 
Dresden  1862.  4.  Burdach.  80  S.  (Reichhaltiges  Material,  dem  Verf. 
durch  seine  Schüler  zugetragen.)  —  Abergläubische  Meinungen 
und  Gebräuche  der  Anwohner  des  Erzgebirges.  Von  J.  G.  Kohl. 
Zeitschrift  für  deutsche  Kulturgeschichte.  1875.  S.  513—533  und 
718—742.    (Der  reichhaltige,  wertvolle  Stoff  ist  von  dem  Verf.  selbst 

gesammelt  in   den  kleinen  Strohflechterdörfem  im  Südwesten  von 
>resden.)  —  Der  Sagenschatz  des  Königreichs  Sachsen.    Zum  ersten- 
mal in  der  ursprünglichen  Form  aus  Chroniken,   mündlichen  und 
sciiriftlichen  Ueberlieferungen  und  anderen  Quellen  gesammelt  und 
Anlettnng  zur  deutscben  Landen-  und  Volkaforschnng.  30 


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46G  .Ulrich  Jahn, 

heräuBg".  von  Johann  Georg  Theodor  GräBe.  Dresden  1855. 
2.  verbesserte  und  sehr  vermehrte  Auflage.  Mit  einem  Anhang: 
Die  Sagen  des  Herzogtums  Sachsen- Altenburg.  1.  Bd.  Mit  Holz- 
schnitten. Dresden  1874.  Schönfeld.  XXXIV  u.  552  S.;  2.  Bd. 
1874.  428  S.    (Unbedeutend.    Wie  Bechstein  zu  beurteilen.) 

LansitE.  Yolkssagen  und  volkstümliche  Denkmale  der  Lausitz 
von  Heinrich  Gottlob  Gräve.  Bautzen  1839.  Reichel.  144S. 
(Wenig  brauchbar.)  —  Volkslieder  der  Wenden  in  der  Ober-  und 
Niederlausitz.  Aus  Volksmunde  aufgezeichnet  und  mit  den  Sang- 
weisen, deutscher  Uebersetzung,  den  nötigen  Erläuterungen,  einer 
Abhandlung  Über  die  Sitten  und  Gebräuche  der  Wenden  und  einem 
Anhange  ibrer  Märchen,  Legenden  und  Sprichwörter  herausg.  von 
Leopold  Haupt  und  Johann  Ernst  Schmaler.  1.  Teil: 
Volkslieder  der  Wenden  in  der  Oberlausitz.  Grimma  1841.  4.  XVI 
u.  892  S.  und  5  kolor.  Tafeln  Kostümbilder;  2.  Teil:  Volkslieder 
der  Wenden  in  der  Niederlausitz.  Grimma  1843.  4.  XH  u.  332  S. 
und  eine  Karte.  (Enthält  im  2.  Teile  S.  157—274  brauchbares  u. 
zuverlässiges  Material  an  Märchen,  Sitten,  Bräuchen  u.  Aberglauben 
der  Wenden.)  —  Sagenbuch  der  Lausitz.  Gekrönte  Preisschrül 
von  Karl  Haupt.  1.  Teil:  Das  Geisterreich.  Separatabdruck 
aus  Band  40  des  Neuen  Lausitzischen  Magazins.  Leipzig  1862. 
Engelmann.  XXVIII  u.  279  S.;  2.  Teil:  Die  Geschichte.  Separat- 
abdruck aus  Band  40  des  Neuen  Lausitzischen  Magazins.  Lapzig 
1863.  Engelmann.  245  S.  (Mit  geringen  Ausnahmen  gedruckten 
und  handschriftlichen  Quellen  entnommen.)  —  Wendische  Volka- 
sagen  und  Gebräuche  aus  dem  Spreewald.  Von  Willibald 
von  Schulenbure.  Leipzig  1880.  Brockhaus.  XXX  u.  312  S. 
(Der  wertvolle,  zuverlässige  Stoff  von  dem  Verf.  selbst  fast  durch- 
weg in  Burg  im  Spreewalde  gesammelt.  Abschnitt  IV,  S.  57 — 78 
enuiält  auch  Märchen.)  —  Wendisches  Volkstum  in  Sage,  Brauch 
und  Sitte.  Von  Willibald  von  Schulenburg.  Berlin  1882. 
Nicolai.  X  u.  208  S.  (Der  an  Wert  dem  vorigen  gleiche  Stoff  an 
Sagen,  Bräuchen  und  Märchen  [Abschnitt  IV.  S.  13 — 43]  ist  in  der 

gEinzen  Lausitz  gesammelt.  Auch  Mitteilungen  aus  rein  deutschen 
örfem  haben  Aufnahme  gefunden.)  —  Wendische  Sagen,  Märchen 
und  abergläubische  Gebräuche.  Gesammelt  und  nacherzählt  von 
Edm.  Veckenstedt.  Graz  1880.  Leuschner  &  Lubensky.  XIX 
u.  499  S.  (Der  Stoff  ist  zum  größten  Teil  in  der  deutsch  redenden 
Niederlausitz  von  VolksBchullehrem,  Schülern  u.  s.  w.  gesammelt; 
weniger  berücksichtigt  ist  die  Oberlausitz.  Reichhaltiges  Material, 
aber  unzuverlässig.  Mit  Vorsicht  zu  gebrauchen.)  —  Die  Mittei- 
lungen der  Niederlausitzer  Gesellschaft  für  Anthropologie  und  Ur- 
geschichte, Lübben  1887  ff.,  enthalten  3.  Heft  (1887)  S.  146—152 
Sagen;  4.  Heft  (1888)  S.  238—282  Sagen,  Brauch  u.  Glaube  und 
zwar  S.  238 — 262  Sagen  aus  dem  Gubener  Kreise,  gesammelt  von 
KarlGander;  S.  262 — 267  Sagen,  die  sich  an  das  alte  Schloß 
und  den  Stockshof  bei  Lieberose  anschließen,  gesammelt  von 
Krüger;  S.  267— 270  Aberglaube  aus  der  Gegend  des  Schwieloch- 
sees   und  von  Butzen,   mitgeteilt  von  Lieber;   S.  270—282  Fest- 


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Volkstümliches.  467 

gebrauche,  vornehmlich  aus  dem  nördlichen  Teil  des  Gubener 
Kreises,  gesammelt  Ton  Karl  G  an  der,  mit  Zusätzen  für  die  Um- 
gegend von  Lübben,  gesammelt  von  Wein  eck. 

Schlesien  (Prenssisch-  und  OesterreicMsch-).  Schlesien  in  Sage 
u.  Brauch.  Geschildert  von  Philo  vom  Walde  (Reinelt).  Mit  einem 
Vorwort  von  Karl  Weinhold.  Berlin  1884.  SenfT.  XII  n.  160  S. 
(Leistet  nicht,  was  der  etwas  anspruchsvolle  Titel  verspricht,  immer- 
hin ein  brauchbarer  Beitrag  zur  Volkskunde  Schlesiens.)  —  Die 
Sagen,  der  Aberglaube  und  abergläubische  Sitten  in  Schlesien. 
Mit  einem  Anhang  über  Prophezeiungen.  Gesammelt,  bearbeitet 
und  herausg.  von  Ludwig  Grabinski.  Schweidnitz  (o.  J.).  Brieger 
&  Gilbers.  VI  u.  67  S.  (Wenig  brauchbar.)  —Rübezahl.  Ueber 
den  Rübezahl  besitzen  wir  zur  Zeit  noch  keine  den  Ansprüchen 
der  Wissenschaft  genügende  Sammlung.  Am  brauchbarsten  sind 
noch  immer  die  beiden  Schriften  von  J.  Praetorius:  Daemono- 
logia  Rubinzalii  Silesii.  1662.  3.  Aufl.  Leipzig  1668—73.  Dehlers, 
und  Satyrus  Etymologicus  oder  der  reformierende  und  informierende 
Rübenzahl  in  hundert  Namens  derivationibus  sampt  einer  Com- 
pagnie  der  possierlichsten  Historien.  1672;  femer  das  sog.  Koppen- 
buch. Eirschberg  1736.  (Die  genannten  Schriften  des  Praetorius 
sind  als  eine  vollständige  Sammlung  der  Gebirgssagen  anzusehen, 
in  welchen  überall  statt  der  Zwerge,  Riesen,  Hexen  u.  s.  w.,  statt 
des  Nachtjägers,  Teufels,  Koboldes  u.  s.  w.  von  Praetorius  die 
Person  des  Kübezahl  eingesetzt  ist;  im  übrigen  ließ  er  die  einzel- 
nen Sagen  fast  durchweg  unverändert.  Aus  dem  Grunde  beide 
Werke  als  älteste  deutsche  Sammlung  wirklicher  Volkssagen  eth- 
nisch von  hohem  Werte.)  —  Von  neueren  Sammlungen  der  Rübe- 
zahlsagen mag  hier  nur  verwiesen  werden  auf:  Rübezahl,  der  Herr 
des  Gebirges.  Volkssagen  aus  dem  Riesengebirge.  Für  Jung  und 
Alt  erzählt  vom  Kräuterklauber  (Karl  Friedrich  Mosch). 
2.  Aufl.  Leipzig  1847.  Jurany.  (Die  meisten  Sagen  sind  von  Mosch 
tendenziös  zugestutzt.)  —  Durch:  Rübezahl,  seine  Begründung  in 
der  deutschen  Mythe,  seine  Idee  und  die  ursprünglichen  Rübezahl- 
märchen. Hohenelbe  1884.  Im  Selbstverlage  des  Oesterr.  Riesen- 
gebirgsvereins.  Komm.-Verlag  bei  Dominicus  in  Prag.  IV  u.  170  S. 
ist  der  Wissenschaft  nichts  gewonnen.  —  Volkstümliches  a.  Oesterr.- 
Schlesien,  ges.  u.  herausg.  von  Anton  Peter.  1.  Bd.:  Kinderlieder 
und  Kinderspiele,  Volkslieder  und  Volksschauspiele,  Sprichworte. 
Troppau  1865 ;  2.  Bd. :  Sagen  und  Märchen,  Bräuche  und  Volksaber- 
glauben. Troppaul867;  3.  Bd.:  Leben  der  Oppaländler  in  Vergangen- 
heit u.  Gegenwart.  Troppau  1872  u.  73.  (Reichhaltig  u.  brauchbar.) 
Posen.  Bisher  nichts  von  Belang  erschienen.  In  Vorbereitung 
von  O.  Knoop  in  Gnesen  eine  Sammlung  der  Volkssagen  Posens. 

SOddeutschland. 

Elsass-Lothringeii.  Traditions  populaires,  croyances  supersti- 
tieuses,  usages  et  coutumes  de  Tancienne  Lorraine.  Recueilbs  par 
M.  Richard.     Deuxi^me  l^dition.     Remiremont   1848.     Mougin. 


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4t)8  Ulrich  Jahn, 

270  S.  (Teil  I,  S.  7—46  Sagen  und  Legenden,  fast  durchweg 
Schriftquellen  entnommen;  S.  47 — 268  Volksaberglauben,  Bräuche 
und  damit  zusammenhängende  Sagen,  alphabetisch  nach  Stichworten 
geordnet.  Reichhaltig  und  brauchbar.)  —  Die  Sagen  des  Elsa^es, 
zum  erstenmal  getreu  nach  der  Yolksüberlieferung,  den  Chroniken 
und  anderen  gedruckten  und  handschriftlichen  Quellen  gesammelt 
und  erläutert  von  August  Stöber.  Mit  einer  Sagenkarte  von 
J.  Ringel.  St.  Gallen  1852.  ScheitHn  &  ZoUikofer.  XXIV  u.  522  S. 
2.  (Titel-)  Ausgabe.  St.  Gallen  1858.  (Wertvoll,  aber  nicht  ein- 
dringend genug.)  —  Sagen  aus  dem  Elsaß  von  August  St5ber. 
Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  I,  399 — 410.  (Nachtrag  zu  dem 
vorigen.)  —  Elsässisches  Volksbüchlein.  Kinder-  und  Volksliedchen, 
Spielreime,  Sprüche  und  Märchen^  herausg.  von  August  Stöber. 
Straßburg  1842.  119  S.  (Enthält  10  treu  wiedergegebene  Märchen.) 
—  *Lambs,  Ueber  den  Aberglauben  im  Elsaß.  Straßburg  1880. 
103  S.  —  Faßnachtsgebräuche  in  Elsaß-Lothringen.  Gesammelt 
und  erläutert  von  He ino  Pfanne nschmid.  Eolmar  1884.  Barth. 
(Gesammelt  im  Elsaß  durch  Fragebogen.  Die  Faßnachtsgebräuche 
werden  in  verarbeiteter  Form  dargeboten.)  —  Eine  Menge  volks- 
tümlichen Materials  ist  niedergelegt  in  der  Alsatia.  Jahrbuch  für 
elsässlsche  Geschichte,  Sage,  Altertumskunde,  Sitte,  Sprache  und 
Kunst.  Ilerausgeg.  von  August  Stöber.  Mülhausen  1850—67. 
Neue  Folge.  Mülhausen  u.  Kolmar  1861 — 76.  August  Stöber, 
Neue  Alsatia.  Beiträge  zur  Landeskunde,  Geschichte,  Sitten-  und 
Rechtskunde  des  Elsasses.  Ausgewählt  aus  50  Jahren  litterarischer 
Thätigkeit  des  Verfassers  (1834—1884).  Zugleich  Schlußband  der 
Alsatia.    Mülhausen  i.  E.  1885.     Petry.    4  Bl.  u.  303  S. 

Baden.  Volkssagen  aus  dem  Lande  Baden  und  den  angrenzen- 
den Gegenden.  Gesammelt  und  herausg.  von  Bernhard  Baader. 
Karlsruhe  1851.  Herder.  XVIII  u.  413  S.  (Ein  großer  Teil  der 
wertvollen  Sammlung,  die  vom  Verf.  selbst  dem  Volksmunde  ent- 
nommen ist,  schon  veröffentlicht  in  den  Jahrgängen  18:35 — 39  von 
Mones  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.)  —  Neugesam- 
melte Volkssagen  aus  dem  Lande  Baden  und  den  angrenzenden 
Gegenden  von  Bernhard  Baader.  Zugleich  als  Nachtrag  zu 
des  Verf.  Werke:  Volkssagen  aus  dem  Lande  Baden.  Karlsruhe 
1859.  Geßner.  Xu.  115  S.  (Wertvoll.)  —  Badisches  Sagenbuch. 
Eine  Sammlung  der  schönsten  Sagen,  Geschichten,  Märchen  und 
Legenden  des  badischen  Landes  aus  Schrifturkunden,  dem  Munde 
des  Volkes  und  der  Dichter.  Herausg.  von  August  Schnezler. 
2  Bde.  Karlsruhe  1846.  Creuzbauer  &  Hasper.  1,  Abteil.:  Vom 
Bodensee  bis  zur  Ortenau.  XXXII  u.  496  S.;  2.  Abteil.:  Von  der 
Ortenau  bis  zur  Maingegend.  667  S.  (Der  Verf.  nennt  sein  Werk 
selbst  eine  romantische  Hauspostille;  doch  benutzte  er  das  Manu- 
skript der  wertvollen,  leider  ungedruckt  gebliebenen  Sammlung  des 
Obersten  Medicus,  u.  darum  immerhin  beachtenswert.)  —  Schreiber, 
Zur  Geschichte  u.  Statistik  des  Aberglaubens.  Aus  dem  Kinzigthale. 
Aus  dem  Albthale.  Aus  dem  Kleggau  u.  Höhgau.  Schreibers  Taschen- 
buch. l.Bd.  1839. S. 318—320;  2. Bd.  1840.  S.273— 279.  (Unbedeutend.) 


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Volkstümliches.  469 

Hohenzollem.  Beiträge  zur  Mythologie  u.  Geschichte  Hohen- 
zollems.  Von  Theodor  Thele.  HohenzoUersche  Blätter.  Hechingen 
1881.  Nr.  133—186  u.  1882.  Nr.  2—86  in  zwangloser  Reihe  von 
Aufsätzen.  (Reichhaltiges  Material,  von  den  Lehrern  Hohenzollenis 
eingesandt.  Thele  starb  mitten  in  der  Arbeit,  sie  ist  nach  seinem 
Tode  nicht  fortgesetzt  worden.) 

Schwaben.  Deutsche  Sagen,  Sitten  u.  Gebräuche  aus  Schwaben, 
gesammelt  von  Ernst  Meier.  1.  Teil.  Stuttgart  1852.  XXXII  u. 
324  S.;  2.  Teil.  Stuttgart  1852.  S.  325—530.  Metzler.  (Reichhaltige, 
zuverlässige  Sammlung,  zum  größten  Teile  im  Schwarzwald-  und 
Neckarkreise  zusammengebracht.)  —  Schwab.  Volkssagen,  Sitten  u. 
Gebräuche  von  Ernst  Meier.  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie 
I,  438 — 448  (Nachtrag  zu  dem  vorigen).  —  Deutsche  Volksmärchen 
aus  Sehwaben.  Aus  dem  Munde  des  Volks  gesammelt  u.  herausg. 
von  Ernst  Meier.  Stuttgart  1852.  Scheitlin.  XII  u.  323  S.; 
3.  Aufl.  1864.  (Wertvoll,  wie  die  vorigen.  Die  Märchen  von  Meier 
selbst  aus  dem  Volke  geschöpft.)  —  Volkstümliches  aus  Schwaben. 
Herausg.  von  Anton  Birlinger.  1.  Bd.  Freiburg  i.  Br.  1861. 
Herder.  VIII  u.  534  S.;  2.  Bd.  1862.  XXXVllI  u.  482  S.  (Band  1 
auch  unter  dem  Titel:  Sagen,  Märchen,  Volksaberglauben.  Gesam- 
melt und  herausg.  von  A.  Birlinger  und  M.  R.  Bück;  Band  2 
unter  dem  Titel:  Sitten  und  Gebräuche.  Gesammelt  und  herausg. 
von  Anton  Birlinger.  Gesammelt  ist  fast  ausschließlich  in  Ober- 
schwaben, zwischen  Bodensee,  Hier  und  Donau,  und  in  Nieder- 
schwaben, soweit  es  württembergisch  ist.  Der  reichhaltige  Stoff 
ist  dem  Volksmunde  entnommen  und  treu  wiedergegeben.)  —  Aus 
Schwaben.  Sagen,  Legenden,  Aberglauben,  Sitten,  Rechtsbräuche, 
Orteneckereien,  Lieder,  Kinderreime.  Neue  Sammlung  von  Anton 
Birlinger.  2  Bde.  Wiesbaden  1874.  Killinger.  1.  Bd.:  Sagen, 
Legenden,  Volksaberglauben.  VIH  u.  512  S.;  2.  Bd.:  Sitten  und 
Rechtsbräuche.  535  S.  (Aus  dem  Volksmund,  aus  handschriftlichem 
Material  und  Druckwerken  geschöpft.  Schwaben  ist  weiter  gefaßt, 
als  in  dem  Volkstümlichen,  und  begreift:  Baden,  Württemberg, 
Hohenzollei-n  und  die  bayrische  Provinz  Schwaben;  das  Haupt- 
gebiet bleibt  jedoch  auch  diesmal  Württemberg.  Sehr  reichhaltig 
und  wertvoll.)  —  Medizinischer  Volksg:lauben  und  Volksaberglauben 
aus  Schwaben.  Eine  kulturgeschichtliche  Skizze  von  M.  R.  Bück. 
Ravensburg  1865.  Dom.  72  S.  (Reichhaltig  und  treu  wieder- 
gegeben.) —  Magnus  Jocham,  Sagen  aus  Schwaben-Neuburg. 
Bavaria,  Landes-  und  Volkskunde  des  Königreichs  Bayern  II,  2. 
München  1863.  S.  785—812.  (Etwas  oberflächlich.)  —  FeLDahn, 
Volkssitte  (in  Schwaben  und  Neuburg).  Bavaria  II,  2.  S.  827—840. 
(Dahn  benutzte  außer  den  vorhandenen  Sammlungen  das  wertvolle 
handschriftliche  Material  Joseph  Lentners.)  —  Friedrich  Christ. 
Schmid,  Volkskrankheiten  und  Volksmedizin  (in  Schwaben  und 
Neuburg).  Bavaria  II,  2.  S.  875-903.  (Ethnisch  unbedeutend.) — 
Einschlägiges  Material  aus  Schwaben  im  weitesten  Sinne  enthält 
endlich  &e  Alemannia,  Zeitschr.  f.  Sprache,  Litteratur  u.  Volksk.  des 
Elsasses  u.  Oberrheins,  herausg.  von  Ant.  Birlinger.  Bonn  1873  ff. 


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470  Ulrich  Jahn, 

Ober-  und  Niederbayern.  Aus  dem  Lechrain.  Zur  deutschea 
Sitten-  und  Sagenkunde.  Von  Karl  Freiherrn  vonLeoprechting. 
München  1855.  Litterarisch-artistische  Anstalt.  XII  u.  296  S.  An- 
hang 16  S.  Musikbeilage.  (Vortreffliche  Sammlung,  v.  Leoprechting 
sammelte  im  mittleren  Lechrain.  Der  Lechrain  ist  das  Lanc^ 
welches  sich  auf  beiden  Seiten  des  Lechs  von  Füßen  bis  Rain  er- 
streckt.) —  Volksmedizin  und  Aberglaube  in  Oberbayerns  Gegen- 
wart und  Vergangenheit.  Von  M.  Höfler.  Mit  einem  Vorworte 
von  Friedrich  von  Hellwald.  München  1888.  Stahl  sen.  XII 
u.  244  S.  u.  2  Tafeln  in  Photographiedruck.  (Giebt  aus  Schrifl- 
qu eilen  und  dem  Volksmunde  im  bayrischen  Oberlande,  zumal  im 
Isarwinkel,  geschöpftes  Material  an  abergläubischem  Brauch,  so- 
weit sich  derselbe  auf  Krankheiten  bezieht,  in  verarbeiteter  Form. 
Zu  vermissen  ist  oft  eine  genauere  Angabe  des  Fundortes.)  —  Alt- 
bayrischer Sagenschatz  zur  Bereicherung  der  indogermanischen 
Mythologie  von  S  e  p  p.  Mit  7  Illustrationen.  München  1876.  Stahl. 
XVI  u.  735  S.  (Enthält  in  183  Nummern  manches  Brauchbare  an 
bayrischen  Sagen  und  Märchen,  leider  in  einen  Wust  von  mytho- 
logischen Erklärungen  verarbeitet.)  —  Die  bayrischen  Volkssagen 
von  Konrad  Maurer.  Bavaria,  Landes-  u.  Volkskunde  d.  König- 
reichs Bayern  I.  1.  München  18(50.  S.  292—339.  (Umfaßt  Ober- 
und  Niederbayern;  beruht  lediglich  auf  dem  bereits  gedruckten 
Sagenmaterial.)  —  Joseph  Wolfsteiner,  Volkskrankheiten  und 
Volksmedizin  (in  Oberbayern)  und  Volkskrankheiten  und  Volks- 
medizin (in  Niederbayern).  Bavaria  1,  1.  München  1860.  S.  444 
bis  473,  und  Bavaria  L  2.  München  1860.  S.  1023—1032.  (Un- 
bedeutend.) —  Fei.  Dahn,  Volkssitte  (in  Oberbayern)  und  Volks- 
sitte (in  Niederbayern).  Bavaria  I,  1.  S.  363—423  u.  I,  2.  S.  990 
bis  1006.  (Außer  Scliriftquellen  ist  das  wertvolle  handschriftliche 
Material  Joseph  Lentners  benutzt.)  —  Sagen  und  Aberglaube  aus 
Altbayern  von  H.  Holland  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Mytho- 
logie I,  447  -453  u.  II,  99—103. 

Oberpfalz.  Aus  der  Oberpfalz.  Sitten  und  Sagen.  Von  Fr. 
Schönwerth.  1.  TeiL  Augsburg  1857.  Rieger.  XH  u.  448  S.; 
2.  Teil.  Augsburg  1858,  460  S.;  3.  Teil,  Augsburg  1859.  371  S. 
(Reichhaltiger,  unmittelbar  dem  Volksmunde  entnommener  Stoff, 
zum  Teil  jedoch  mit  Vorsicht  aufzunehmen.  Wertvolle,  umfang- 
reiche Nachträge  sollen  sich  in  dem  handschriftlichen  Nachlasse 
Schönwerths  finden.)  —  Die  Sagen  der  Oberpfalz  u.  Volkssitte  in  der 
Oberpfalz.  Von  EduardFentsch.  Bavaria,  Landes- u. Volkskunde 
des  Königr.  Bayern  II,  1.  München  1863.  S.  217—253  u.  S.  253—324. 
(Fußt  hauptsächlich  auf  Schönwerth;  bietet  aber  auch  eigenes.) 

Königreich  Bayern.  Bayrische  Sagen  und  Bräuche.  Beitrag 
zur  deutschen  Mythologie  von  Friedrich  Panzer.  1.  Bd.  mit 
4  Kupfertafeln.  München  1848.  Kaiser.  VI  u.  407  S.;  2.  Bd.  mit 
4  Kupfertafeln.  Mit  einem  Vorwort  von  E.  L.  Rochholz.  München 
1855.  XXIV  u.  595  S.  (Panzer  brachte  das  wertvolle  Material  aus 
allen  Teilen  des  Königreichs  Bayern,  inkl.  Rheinpfalz,  zusammen. 
Beiden  Bänden  sind  Erklärungen  beigefügt,  doch  ist  in  den  volks- 


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Volkstümliches.  471 

tümlichen  Stoff  selbst  keine  Deutung  gelegt.)  —  Sagenbuch  der 
bayrincheu  Lande.  Aus  dem  Munde  des  Volkes,  der  Chronik  und 
der  Dichter  herausg.  von  A.  Schöppner.  3  Bde.  München. 
Rieger.  1.  Bd.  XVI  u.  496  S.  1852;  2.  Bd.  VIII  u.  471  S.  1852; 
3.  Bd.  VIII  u.  470  S.  1853.  Neue  Auflage  1873.  (Enthält  eben- 
falls Sagen  (1368)  aus  allen  Teilen  Bayerns,  iiüfU  Rheinpfalz ;  doch 
ist  das  Werk  für  das  große  Publikum  berechnet  und,  zumal  im 
1.  Bande,  mit  einem  großen  Ballast  von  Balladen  und  Romanzen 
behaftet.  Der  Wert  der  Sammlung  gleicht  dem  der  Bechstein- 
schen,  Gräßeschen  u.  s.  w.  Arbeiten.)  —  Volksmedizin  und  medi- 
zinischer Aberglaube  in  Bayern  und  den  angrenzenden  Bezirken, 
begründet  auf  die  Geschichte  der  Medizin  und  Kultur.  Von  G.  Lam- 
mer t.  Mit  historischer  Einleitung  und  einer  lithogr.  Tafel.  Würz- 
burg 1869.  Julien.  VI  u.  274  S.  (Vortreffliche,  reichhaltige  Sammlung.) 
Böhmen  und  Mähren.  Sagenbuch  von  Böhmen  und  Mähren. 
Von  JosephVirgil  Grohmann.  1.  Teil  (mehr  nicht  erschienen) : 
Sagen  aus  Böhmen.  Prag  1863.  Calvesche  Erben.  XX  u.  324  S. 
Sondertitel:  Sagen  aus  Böhmen.  (Berücksichtigt  Deutsche  und 
Czechen.  Die  Sagen  zum  größten  Teile  dem  Volksmunde  ent- 
nommen, von  Schülern  und  Freunden  dem  Verf.  eingesandt.)  — 
Aberglauben  und  Gebräuche  aus  Böhmen  und  Mähren.  Gesammelt 
und  herausg.  von  Joseph  Virgil  Grohmann.  1.  Bd.  (mehr  nicht 
erschienen).  Prag  u.  Leipzig  1864.  X  u.  250  S.  Auf  Kosten  des 
Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen.  (Berücksichtigt 
Deutsche  und  Czechen.  Die  Sammlung  umfaßt  Böhmen  und  Mäh- 
ren; der  Stoff  ist  Schriftquellen  und  dem  Volksmunde  entnommen. 
Letzteres  gilt  zumal  von  den  deutschen  Stücken.  Gesammelt  ist 
in  derselben  Weise,  wie  bei  den  Sagen.)  —  Pestkalender  aus  Böh- 
men. Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Volkslebens  und  Volksglaubens 
in  Böhmen.  Von  0.  Frh.  von  Reinsberg-Düringsfeld.  Prag 
1862.  Kober.  XVI  u.  627  S,  Neue  (Titel-)  Ausgabe  1864.  (Reich- 
haltiges Material  an  kirchlichen  und  bürgerlichen  Festen;  Volks- 
glaube und  Brauch  werden  nur  gestreift.  Berücksichtigt  Deutsche 
und  Czechen.)  —  Die  Deutschen  in  Böhmen.  Geschildert  in  geo- 
graphisch-statistischer, staatswissenschaftlicher,  volkstümlicher  und 
geschichtlicher  Beziehung  von  F.  A.  Schmalfuß.  Mit  einer  ethno- 
graphischen Karte  des  Königreichs  Böhmen.  Prag  1851.  Ehrlich. 
XII  u.  321  S.  (Enthält  S.  63—103  brauchbares  Material  über  Volks- 
leben, Glaube  und  Brauch  der  Deutschen  in  Böhmen.)  —  Aus  dem 
Böhmerwalde.  Von  Joseph  Rank.  Leipzig  1843.  Einhorn.  VIII  u. 
299  S.  (Gesammelt  in  der  deutschen  Gegend,  südlich  von  Tauß.  Die 
Sagen  u.  Märchen  ausgeschmückt,  das  Material  an  Bräuchen,  Aber- 
glauben, Sitten  u.  Gewohnheiten  dagegen  reichhaltig  und  brauch- 
bar.) —  Jul.  Ernst  Födisch,  Aus  dem  nordwestlichen  Böhmen. 
Beiträge  zur  Kenntnis  deutschen  Volkslebens  in  Böhmen.  Progr. 
der  deutschen  Oberrealschule  in  Prag.  Prag  1869.  30  S.  (Enthält 
S.  17 — 30  brauchbares  Material  an  Volksglauben,  Brauch  und 
Sage.)  —  *P.  A.  Schmitt,  Sagen  aus  Etbogen  und  Umgegend. 
Elbogen  1864.  —  *Jul.  Schuldes,  NordÖöhmische  Volkssagen  in 


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472  Ulrich  Jahn, 

ihrer  Bedeutung  für  die  germanische  Mythologie  und  die  Geschichte 
des  Landes.  1.  Teil.  Tetschen  1879.  Selbstverlag.  III  u.  90  S.  — 
*M.  Urban,  Notizen  zur  Heimatskunde  des  Gerichtsbezirkes  Plan. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  Deutsch-Böhmens.  Tachau  1884.  Holub. 
(Enthält  Sacen,  Lieder,  Sitten.)  —  Kleinere  Abhandlungen  über 
Volkstümliches  in  Böhmen  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  f&r 
Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen. 

Ungarn.  Beitrag  zur  deutschen  Mythologie  und  Sittenkunde 
aus  dem  Volksleben  der  Deutschen  in  Ungarn.  Als  Aufmunterung 
zu  größeren  Sammlungen  in  den  deutschen  Gegenden  Ungarns. 
Mitgeteilt  durch  K.J.  Schröer.  Preßburg  1855.  4.  II  u.  40  S.  Aus 
dem  5.  Jahresprogramm  der  öflfentlichen  Oberrealschule  zu  Preß- 
burg. Komm.-Verlag  von  Wigand.  (Enthält  einiges  Wenige  über 
das  Volkstümliche  der  Deutschen  in  Ungarn.  Vergl.  auch  den 
Aufsatz  desselben  Verfassers :  Aus  dem  Volksleben  in  Preßburg  u. 
der  Umgegend  in  der  Zeitschrift  ftir  deutsche  Mythologie  II,  S.  187 
bis  193  u.  424 — 426.)  —  Das  Volkstum  der  Deutschen  in  Ungarn 
wird  berücksichtigt  in  der  vortrefflichen,  1887  ins  Leben  gerufenen 
Zeitschrift:  Ethnologische  Mitteilungen  aus  Ungarn.  Zeitschr.  f.  die 
Volkskunde  der  Bewohner  Ungarns  und  seiner  Nebenländer.  Red. 
u.  herausg.  von  Anton  Herrmann.  Budapest.  1.  Jahrg.  I.Heft 
1887.    2.  Heft  1888.    Selbstverlag.   Druck  von  Viktor  Homyanszky. 

Siebenbürgen.  Siebenbürgische  Sagen,  gesammelt  und  mit- 
geteilt von  Friedrich  Müller.  Kronstadt  1857.  Gott.  XXXII 
u.  424  S.  2.  veränderte  Aufl.  1858.  Wien,  Gräser.  Hermannstadt. 
Erafft.  XXXVIII  u.  404  S.  (Vorzugsweise  deutsche,  aber  auch 
magyarische  und  walachische  Sagen.  Vortrefflich.)  —  Sagen  und 
Lieder  aus  dem  Nösner  Gelände,  gesammelt  von  Heinrich  Wittr 
stock.  Bistritz  1860.  49  S.  (Der  mündlichen  Ueberlieferung  ent- 
nommen; gute  Ergänzung  der  Müllerschen  Sammlung.)  —  Deutsche 
Volksmärchen  aus  dem  Sachsenlande  in  Siebenbürgen.  Gesammelt 
von  Joseph  Haltrich.  Berlin  1856.  Springer.  XX  u.  337  S.; 
2.  Aufl.  1876;  3.  Aufl.  Wien  1882.  Gräser.  XVI  u.  816  S.  (Inhalt 
der  3.  Auflage  119  dem  Volksmunde  entnommene  Märchen,  dem 
Herausgeber  zum  großen  Teile  durch  seine  Schüler  zugestellt 
Wertvoll.)  —  Zur  Volkskunde  der  Siebenbürger  Sachsen.  Kleinere 
Schriften  von  Joseph  Haltrich.  In  neuer  Bearbeitimg  herausg. 
von  J.  Wolff.  Wien  1885.  Gräser.  XVI  u.  535  S.  (Enthält  die 
zahlreichen  (10)  kleineren  Schriften  Haltrichs  über  Volkstümliches 
in  Siebenbürgen,  vermehrt  durch  viele  Stücke  aus  den  eigenen 
Sammlungen  J.  Wolffs.  Sehr  wertvoll.)  —  Deutsche  Mythen  aus 
siebenbürgisch- sächsischen  Quellen.  Von  Friedrich  Wilhelm 
Schuster.  Archiv  des  Vereins  für  siebenbürgische  Landeskunde. 
Neue  Folge  9.  Bd.  Kronstadt  1870.  S.  230—331  u.  401—497;  Neue 
Folge  10.  Bd.  Hermannstadt  1872.  S.  65—155.  (Die  Arbeit  birgt 
in  sich  eine  große  Masse  wertvollen,  volkstümlichen  Materials,  das 
Schuster  seinen  eigenen  Sammlungen  entnommen  hat.)  —  Sieben- 
bürgisch-sächsische  Volkslieder,  Sprichwörter,  Rätsel,  Zauberformeln 
u.  Kinderdichtungen,    mit  Anmerkungen  u.  Abhandlungen  herausg. 


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Volkstümliches.  473 

von  F.  W.  Schuster.  Hennannstadt  1865.  (Für  den  Volksglauben 
von  Wert  die  große  Anzahl  von  Zauberformeln.)  —  Die  sieben- 
bürgisch-s&chsische  Bauernhochzeit.  Ein  Beitrag  zur  Sittengesch. 
von  Johann  Mätz.  Progr.  des  evang.  Gymn.  in  Schä&burg  etc. 
Kronstadt  1860.  101  S.  pieichhaltig  und  wertvoll.)  —  Volkstüm- 
licher Brauch  und  Glaube  bei  Geburt  und  Taufe  im  Siebenbürger 
Sachsenlande.  Ein  Beitrag  zur  Kulturgeschichte  von  Johann 
Hillner.  Progr.  des  evang.  Gymn.  zu  Schäßburg  und  der  damit 
verbundenen  Lehranstalten.  Schäßburg  1877.  Komm.- Verlag  von 
Michaelis.  Hermannstadt.  4.  52  S.  (Reichhaltiges  Material,  aus  allen 
Teilen  des  Siebenbürger  Sachsenlandes  durch  dem  Volkstümlichen 
ireundh'che  Sammler  zusammengebracht  und  dem  Verfasser  zuge- 
stellt.) —  Volkstümlicher  Glaube  und  Brauch  bei  Tod  und  Begräb- 
nis im  Siebenbürger  Sachsenlande.  Ein  Beitrag  zur  Kulturgesch. 
von  Georg  Schuller.  2  Teile.  Progr.  des  evangel.  Gymn.  in 
Schäßburg  und  der  damit  verbundenen  Lehranstalten.  Kronstadt 
1863.  Vni  u.  67  S.  und  Hermannstadt  1865.  VH  u.  78  S.  (Vor- 
treffliche, reichhaltige  Arbelt.  Schuller  hat  den  Stoff  nicht  nur 
zumeist  selbst  gesammelt»  sondern,  als  Bauersohn,  selbst  erlebt.)  — 
Das  Todaustragen  und  der  Muorlef.  Ein  Beitrag  zur  Kunde  sächsi- 
scher Sitte  und  Sage  in  Siebenbürgen.  Sylvestergabe  für  Freunde 
und  Gönner  von  Johann  Karl  Schuller.  Hermannstadt  1861. 
18  S.  —  Agrarische  Sitten  und  Gebräuche  unter  den  Sachsen  Sieben- 
bürgens von  Gustav  Adolf  Heinrich.  Progr.  des  evang.  ünter- 
Kealgymnasiums  etc.  in  Sächsisch  Regen  am  Schlüsse  des  Schul- 
jahres 1879/80.  Hermannstadt  1880.  4.  88  S.  (Brauchbarer  Stoff, 
mythologisch  verarbeitet.)  —  Bilder  aus  dem  sächsischen  Bauem- 
ieben in  Siebenbürgen.  Ein  Beitrag  zur  deutschen  Kulturgeschichte 
von  Fr.  Fr.  Fronius.  Wien  1879;  2.  veränderte  Auflage.  Wien 
1883.  Gräser.  XVI  u.  252  S.  (Enthält  in  11  kulturhistorischen 
Bildern  viel  wertvolles  Material  an  Bräuchen,  Sitten  und  Gewohn- 
heiten im  Siebenbürger  Bauemieben.)  —  Zahlreiche  kleinere  Bei- 
träge über  «das  Volkstümliche  Siebenbürgens  im  Korrespondenzblatt 
des  Vereins  für  siebenbürgische  Landeskunde.  Hermannstadt  1878  ff. 

AlpenISnder. 

AllgemeiBes.  Alpensagen.  Volksüberlieferungen  a.  d.  Schweiz, 
aus  Vorarlberg,  Kärnten,  Steiermark,  Salzburg,  Ober-  und  Nieder- 
österreich. Von  Theodor  Vernaleken.  Wien  1858.  Seidel  XX 
u.  436  S.  (Fast  ganz  auf  der  mündlichen  U eberlief erung  bemhend, 
liefert  die  wertvolle  Sammlung  nicht  nur  Sagen,  sondern  von  S.  337 
bis  426  auch  Aberglauben,  Bräuche,  Sitten  und  Gewohnheiten.)  — 
Deutsche  Alpensagen.  Gesammelt  und  herausg.  von  Johann  Ne- 
pomuk  Ritter  von  Alpen  bürg.  Wien  1861.  Braumüller.  XIV 
u.  384  S.  (Enthält  401  Sagen  aus  Tirol,  Salzburg  und  Vorarlberg 
und  S.  873 — 383  einen  Anhang  über  den  Haselwurm :  Beschwömng 
der  Haselstaude  und  des  Haselwurms.  Wertvoller  Stoff,  aber  auch 
manches  Unechte   darunter;   dämm  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen.) 


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474  Ulrich  Jahn, 

Schweiz.  Schweizersagen  aus  dem  Aargau.  Gesammelt  und 
erläutert  von  Ernst  Ludwig  Rochholz.  2  Bde.  Aarau  1856. 
Sauerlander.  1.  Bd.  XXXU  u.  400  S.;  2.  Bd.  LVI  u.  408  S.  (Die 
vortreffliche  Sammlung  enthält  Sagen  [Märchen  und  Legenden], 
ausschließlich  dem  Volksmund  im  Aargau  entnommen.)  —  Aargauer 
Besegnungen  von  E.  L.  Roch  holz  in  der  Zeitschrift  für  deutsche 
Mythologie  IV,  S.  103—140.  (Sehr  reichhaltig.)  —  üeber  Pflanzen 
und  Kräuter  von  E.  Meier  in  der  Zeitschrift  för  deutsche  Mytho- 
logie I,  S.  443—447.  (Betrifft  den  Aargau.)  —  Das  Frickthal  in 
seinen  historischen  und  sagenhaften  Erinnerungen.  Beitrag  zu  den 
Schweizersagen  aus  dem  Aargau  von  £.  L.  Rochholz.  Herausg. 
von  A.  B  irr  eher.  Aarau  1859.  Christen.  76  S.  (S.  1—37  enthält 
Abhandlung  über  das  Frickthal  von  ethnischem  Interesse,  S.  38 — 76 
bietet  34  brauchbare  Sagen.)  —  Volkssagen  aus  dem  Kanton  Basel- 
land. Gesammelt  von  Hs.  Georg  Lenggenhage r.  Basel  1874. 
Komm.-Verlag  von  Schneider.  IV  u.  180  S.  (157  ausschließlich  dem 
Kanton  Baselland  entnommene  Sagen,  meist  ausgeschmückt  und 
dadurch  entwertet.)  —  Der  Großätti  aus  dem  Leberberg.  Y^as  der- 
selbe in  alten  Zeiten  gesungen  und  gereimt,  und  über  Wind  und 
Wetter,  über  Handel  und  Wandel,  über  geheuere  und  nicht  ge- 
heuere Dinge  in  Schimpf  und  Ernst  sich  ausgedacht,  gesammelt 
und  getreulich  nacherzählt  von  Frz.  Jos.  Schild.  Solothurn  186H. 
XVI  u.  148  S.  (Kleine,  wertvolle  Sammlung  von  Liedern,  Kinder- 
reimen, Rätseln,  Sprichwörtern,  Aberglauben  und  Bräuchen.  Gre- 
sammelt  in  den  Kanton  Solothurnschen  Dörfern:  Grenchen,  Bettlach 
und  Selzach.)  —  Volkstümliches  aus  dem  Kanton  Bern.  Lokalsagen 
und  Satzungen  des  Aberglaubens.  Gesammelt  von  Heinrich  Grun- 
holzer  durch  seine  Seminarzöglinge.  Zusammengestellt  u.  herausg. 
von  J.  E.  Rothenbach.  Separatabdruck  aus  der  Neuen  Alpenpost. 
Zürich  1876.  Schmidt.  62  S.  (Enthält  8  Sagen  im  Dialekt  und 
580  Aberglauben  und  Bräuche.)  —  Sagen  und  Sagengeschichten 
aus  dem  Simmenthai.  Von  D.  Gempeler.  1.  Bändchen.  1.  und 
2.  Aufl.  Thun  1883.  Stämpfli.  IV  u.  143  S.;  2.  Bändchen.,  Thun  1887. 
IV  u.  228  S.  (Die  Sagen  sind  weit  ausgesponnen  und  ausgeschmückt. 
Nur  wenige  Züge  sind  ethnisch  verwertbar.)  —  Emmenthaler  Alter- 
tümer und  Sagen.  Von  Alb.  Jahn.  Mit  5  lithogr.  Tafeln.  Bern 
1865.  Huber  &  Komp.  72  S.  (Als  Quellensammlung  des  Emmen- 
thaler Volkstümlichen  unbedeutend.)  —  *  Walliser  Sagen,  gesammelt 
und  herausg.  von  Sagenfreunden.  1.  Heft,  1.  Teil,  gesammelt  und 
erzählt  von  M.  Tscheinen  in  Grächen;  2.  Teil,  gesammelt  und 
erzählt  von  P.  J.  Ruppen  in  Sitten.  Sitten.  —  Sagen,  Bräuche 
und  Legenden  aus  den  fünf  Orten  Luzem,  üri,  Schwyz,  ünter- 
walden  und  Zug.  Durch  Alois  Lütolf.  Luzern  1865.  Schiff- 
mann. VI  u.  597  S.  (S.  1—80  erschien  schon  1862.  Die  reich- 
haltige Sammlung  beruht  auf  Schriftquellen,  eigenen  Forschun- 
gen Lütolfs  und  brieflichen  Mitteilungen.  Die  einzelnen  Stücke 
darum  von  sehr  ungleichem  Werte.  Unter  den  Sagen  befinden  sich 
auch  einige  Märchen.)  —  Zürich  und  Umgebung.  Heimatskunde. 
Herausg.   vom   Lehrerverein  Zürich   unter  Mitwirkung  von  Ulrich 


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Volkstümliches.  475 

Ernst,  A.  Heim  etc.  Zürich  1883.  Schulthess.  VIII  u.  251  S.  (Ent- 
halt S.  132—160  Sitten  und  Volksfeste  von  Rud.  Schoch  und 
S.  161 — 167  Sagen  und  Legenden  von  H.  Wegmann.  (Beide  Ar- 
beiten unbedeutend.)  —  *R.  Baur,  Volkssagen  aus  der  Umgebung 
des  üetliberges.  Zürich  1843.  —  Beiträge  zur  St.  Gallischen  Volks- 
botanik von  B.  Wartmann.  Verzeichnis  der  Dialektnamen,  der 
technischen  und  arzneilichen  Volksanwendung  meist  einheimischer 
Pflanzen.  St.  Gallen  1861.  Scheitlin  &  ZoUikofer.  43  S.  (Enthält 
viel  zuverlässiges  Material  an  Volksglaube  und  Brauch,  soweit  die 
Pflanzenwelt  in  Betracht  kommt.)  —  Volkstümliches  aus  Graubün- 
den. 1.  Teil.  Gesammelt  und  herausg.  von  Dietrich  Jecklin. 
Mit  einem  Anhang:  Märchen  aus  dem  Bündner  Oberlande,  gesam- 
melt und  nach  dem  Räto-Romanischen  erzählt  von  Kaspar  De- 
curtius;  2.  Teil.  Nach  authentischen  Mitteilungen.  Chur  1876. 
Komm.-Verlag  von  Jost  &  Albin.  192  S.;  3.  Teil.  Chur  1878.  Druck 
von  Sprecher  &  Plattner.  VI  u.  222  S.  (Die  Sammlung  enthält 
Sagen,  Märchen,  Legenden,  Schwanke;  Volksbrauch,  Sitte  und  Ge- 
wohnheit ist  nicht  berücksichtigt  worden.  Die  einzelnen  Stücke 
sind  sehr  ungleich  an  Wert,  viel  ist  sogar  in  dichterischer  Form 
wiedergegeben.  Gut  sind  die  von  Decurtius  gelieferten  Märchen.) 
—  Rhätische  Sitten  und  Gebräuche.  Bruchstücke  aus  ungedruckten 
Reisebeschreibungen.  Von  Georg  Leonhardi.  St.  Gallen  1844. 
Komm.- Verlag  von  Scheitlin  &  ZoUikofer.  60  S.  (Enthält  einiges 
Brauchbare  an  Sitten,  Gewohnheiten,  Bräuchen  und  Sprichwörtern 
aus  Felßberg,  MüiÄterthal  und  Prätigäu.)  —  Naturmythen.  Neue 
Schweizersagen.  Gesammelt  und  erläutert  von  Ernst  Ludwig 
Rochholz.  Leipzig  1862.  Teubner.  XX  u.  288  S.  (Wertvolle 
Sammlung.  Der  Stoff  ist  aus  der  mündlichen  üeberlieferung  der 
ganzen  Schweiz  zusammengetragen.)  —  Schweizerisches  Sagenbuch. 
Nach  mündlichen  üeberlieferungen ,  Chroniken  und  anderen  ge- 
druckten und  handschrifllichen  Quellen  herausgegeben  und  mit  er- 
läuternden Anmerkungen  begleitet  von  C.  Kohlrusch.  Basel  1854. 
VIII  u.  424  S.:  2.  Abteilung:  Legende.  Leipzisr  1856.  Hoffmann. 
{Zum  größten  Teile  Schriftquellen  entnommen;  enthält  manches 
Brauchbare.)  —  Die  deutsche  Volkssage.  Beitrag  zur  vergleichen- 
den Mythologie  mit  eingeschalteten  tausend  Originalsagen.  Von 
Otto  Henne-Am  Rhyn.  Leipzig  1874.  Krüger.  XXII  u.  538  S. 
2.  Aufl.  Wien  1879.  (Ein  großer  Teil  der  eingeschalteten,  recht 
brauchbaren  Sagen  und  Märchen  ist  von  dem  Vater  des  Verfassers, 
Anton  Henne,  und  dem  Verfasser  selbst  in  der  Schweiz  dem  Volks- 
munde entnommen  worden.)  —  Schweizersagen.  Für  Jung  und  Alt 
dargestellt  von  H.  Herzog.  Aarau  1871.  Sauerländer.  XVI  u. 
215  S.  (Für  das  große  Publikum  berechnet;  fast  durchweg  auf 
Schriftquellen  fußend.  Wenig  brauchbar.)  —  Schweizerische  Volks- 
feste, Sitten  und  Gebräuche.  Für  Jung  und  Alt  dargestellt  von 
H.  Herzog.  Mit  Originaltitelbild.  Aarau  1884.  Sauerländer.  X 
u.  826  S.  (Wie  das  vorige.  Brauchbar,  solange  eine  wissenschaft- 
liche Sammlung  der  Schweizer  Volkssitten  und  Bräuche  fehlt. 
Dankenswert  ist  die  genaue  Quellenangabe  in  beiden  Werken  des 


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470  Ulrich  Jahn, 

Verfassers.)  —  Der  Qaellkultas  in  der  Schweiz.  Von  H.  Runge. 
Monatsschrift  des  wissenschaitlichen  Vereins  in  Zürich.  4.  Jahrg. 
Zürich  1859.  S.  103—124  u.  S.  202-220.  (Brauchbares  Material, 
mythologisch  verarbeitet.)  —  Volksglaube  in  der  Schweiz.  Von 
H.  Runge.  In  der  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie  IV,  S.  1—6 
u.  174 — 180  (89  Nummern).  —  Der  Berchtoldstag  in  der  Schweiz. 
Eine  mythologische  Skizze  von  H.Runge.  Zürich  1857.  Meyer  & 
Zeller.  39  S.  (Unbedeutend.)  —  Deutscher  Glanbe  und  Brauch  im 
Spiegel  der  heidnischen  Vorzeit  von  £.  L.  Roch  holz.  Berlin  1867. 
Düinmler.  2  Bde.  1.  Bd.  VUI  u.  335  S.;  2.  Bd.  VI  u.  335  S.  (Ent- 
hält in  verarbeiteter  Form  viele  Volksbräuche  aus  der  Schweiz.)  — 
E.  L.  Rochholz,  Weihnachten  und  Neujahr  in  der  Schweiz.  Grenz- 
boten. 23.  Jahrg.  Leipzig  1864.  2.  Semester.  4.  Bd.  S.  375—389 
u.  S.  496 — 510.  (Brauchbar.)  —  Kinder-  und  Hausmärchen  aus  der 
Schweiz.  Gesammelt  u.  herausg.  von  Otto  Sutermeister.  Aaran 
1869.  Sauerländer;  2.  mit  Zusätzen,  Erläuterungen  und  litterari- 
schen Nachweisen  vermehrte  Auflage.  1873.  XV  u.  241  S.  (Mit 
Vorsicht  zu  benutzen.  Enthält  in  63  Nummern  Märchen,  mit  Sagen 
gemischt,  aus  allen  Teilen  der  Schweiz,  von  ungleichem  Werte. 
Benutzt  sind  zum  überwiegenden  Teile  Schriftquellen,  darunter  viele 
von  geringer  Zuverlässigkeit.  Nur  wenig  ist  unmittelbar  durch  Suter- 
meister und  8eine  Mitarbeiter  aus  dem  Volksmunde  geschöpft.) 

Vorarlberg.  Volkssagen  aus  Vorarlberg.  Gesammelt  von  J.  F. 
Vonbun.  Wien  1847.  VI  u.  92  S.;  2.  vermehrte  Auflage.  Innsbruck 
1850.  Witting.  XVllI  u.  86  S.  Beide  Sammlungen  sind  verarbeitet 
in:  Die  Sagen  Vorarlbergs.  Nach  schriftlichen  und  mündlichen 
üeberlieferungen  gesammelt  und  erläutert  von  F.  J.  Vonbun. 
Innsbruck  1858.  Wagner.  Vlll  u.  152  S.  (Die  brauchbare  Samm- 
lung enthält  in  102  Nummern  Sagen,  mit  Märchen  gemischt;  an- 
gehängt ist  ein  Glossar.  Was  Vonbun  Märchen  nennt,  sind  Mythen.) 
—  Beiträge  zur  deutschen  Mythologie.  Gesammelt  in  Churrhätien 
von  F.  J.  Vonbun.  Chur  1862.  Hitz.  VI  u.  137  S.  (Gesammelt 
in  den  altrhätiachen  Landen:  Vorarlberg,  Liechtenstein  und  Grau- 
bünden; enthält  Sagen  und  Bräuche  in  verarbeiteter  Form.)  — 
Sagen  und  Volksglauben  im  inneren  Bregenzerwalde.  Von  Joseph 
Elsen  söhn.  Im  Programm  des  k.  k.  kathol.  Gymn.  in  Teschen. 
1866.  39  S.  (Kleine,  wertvoUe  Sammlung.  Ergänzung  zu  den  Volks- 
sagen Vonbuns,  welcher  den  Bregenzerwald  nur  wenig  berücksichtigte.) 

Tirol.  Mythen  und  Sagen  Tirols.  Gesammelt  und  herausg. 
von  Johann  Nepomuk  (Mahlschedl)  Ritter  von  Alpenburg. 
Mit  einem  einleitenden  Vorwort  von  Ludwig  Bechstein.  Mit  einem 
Titelkupfer.  Zürich  1857.  Meyer  &  Zeller.  XII  u.  432  S.  (Enthält 
wertvollen  Stoff  an  Sagen  und  Aberglauben,  der  aber  zuweilen  mit 
Vorsicht  aufgenommen  sein  will.)  —  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche 
aus  TiroL  Gesammelt  u.  herausg.  von  IgnazVincenz  Zingerle. 
Innsbruck  1859.  Wagner.  XVI  u.  496  S.  (Vortrefflich.)  —  Sitten, 
Bräuche  und  Meinungen  des  Tiroler  Volkes.  Gesammelt  u.  herausg. 
von  Ignaz  V.  Zingerle.  Innsbruck  1 857 ;  2.  vermehrte  Au  Hage. 
Innsbruck  1871.    Wagner.    XXIV  u.  304  S.    (Vortreffliche  Samm- 


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Volkstümliches.  477 

limg;  enthält  außer  1793  Nummern  Gebräuche  etc.  Kinderlieder, 
Rätsel  und  als  Anhang  Teile  aus  H.  Vintlers  Blume  der  Tugend.) 

—  Kinder-  und  Haufimärchen,  gesammelt  durch  die  Brüder  Ignaz 
und  Joseph  Zingerle.  Innsbruck  1852.  Wagner.  XIV  u.  258  S. 
2.  vermehrte  Auflage.  Gera  1870.  und  Kinder-  und  Hausmärchen 
aus  Süddeutschland.  Gesammelt  und  herausg.  durch  die  Brüder 
Ignaz  und  Joseph  Zingerle.  Mit  einer  Einleitung  von  J.  W. 
Wolf.  Mit  einem  Titelbilde.  Regensburff  1854.  Pustet.  XXIV  u. 
424  S.  Auch  erschienen  unter  dem  Titel:  Tirols  Volksdichtungen 
und  Volksgebräuche.  Gesammelt  und  herausg.  durch  die  Brüder 
Zingerle.  1.  u.  2.  Bändchen.  (Beide  Werke  enthalten  nur  Märchen 
aus  allen  Teilen  Deutsch-Tirols;  sie  sind  ebenso  wie  die  beiden 
vorhergenannten  Werke  J.  V.  Zingerles  als  Mustersammlungen  des 
Volkstümlichen  Süddeutschlands  anzusehen.)  —  Neue  Erinnerungen 
aus  den  Bergen  Tirols.  Sagen  und  Märchen.  Von  J.  A.  Hammerle. 
Innsbruck  1854.  Gedr.  bei  Witting.  70  S.  (Enthält  15  Sagen,  keine 
Märchen.  Guter  Stoff  in  unwissenschaftlicher  Form.)  —  Neue  Er- 
innerungen aus  den  Bergen  Tirols.  Alpenbilder.  Ein  Beitrag  zur 
Volks-,  Landes-  und  Naturkunde.  Von  J.  A.  Hammerle.  Inns- 
bruck 1855.  Gedr.  bei  Felician  Rauch.  35  S.  (Gute  Bilder  des 
Sennenlebens  im  Oberinnthale;  auch  die  Schafalpen  werden  be- 
handelt.) —  Kulturhistorische  Studien  aus  Meran.  Sprache,  Litte- 
ratur,  Volksgebräuche,  Zunftwesen.  Mit  vielen  ungedruckten  Doku- 
menten. Von  0.  Frh.  von  Reinsberg-Düringsfeld.  Leipzig 
1874.  List  &  Francke.  IV  u.  192  S.  (S.  27—35  behandelt  den  Volks- 
brauch. Unbedeutend.)  —  Aus  dem  deutschen  Südtirol.  Mythen, 
Sagen,  Legenden  und  Schwanke,  Sitten  und  Gebräuche,  Meinungen 
Sprüche,  Redensarten  etc.  des  Volkes  an  der  deutschen  Sprach- 
grenze. Gesanmielt  von  Alois  Menghin.  Meran  1884.  Plant. 
173  S.  (Wertvolle  Ergänzung  der  Sammlungen  Zingerles.)  —  Märchen 
und  Sagen  aus  Welschtirol.  Ein  Beitrag  zur  deutschen  Sagenkunde. 
Gesammelt  von  Christian  Schneller.  Innsbruck  1867.  Wagner. 
Vin  u.  258  S.  (Enthält  außer  Märchen  und  Sagen  auch  Sitten, 
Bräuche  und  Aberglauben,  Reimsprüche  und  Rätsel.    Vortrefflich.) 

—  Ludwig  von  Hörmann,  Mjrthologische  Beiträge  aus  Welsch- 
tirol. Mit  einem  Anhange  welschtirolischer  Sprichwörter  und  Volks- 
lieder. Innsbruck  1870.  36  S.  (Der  Hauptteil  enthält  Sagen  und 
Legenden;  die  Sammlung  ist  eine  Ergänzung  der  Schnellerschen 
MiS-chen  und  Sagen.)  —  Volksgebräuche  in  Tirol  und  dem  Salz- 
burger Gebirge  von  J.  E.  Waldfreund  in  der  Zeitschrift  f.  deutsche 
Mytnologie  111,  S.  334 — 343;  Seeaagen  von  demselben  ebenda  IV. 
S.  204—207.    (Brauchbar.) 

Salzburg.  Salzburger  Volkssagen.  Herausg.  und  bearbeitet 
von  R.  von  Fr  ei  sau  ff.  Mit  900  Illustrationen,  Initialen  und  Vig- 
netten in  volkstümlicher  Art  gezeichnet  von  J.  Eibl.  Wien,  Pest, 
Leipzig  1880.  Hartleben.  VIII  u.  664  S.  (Auf  Schriftquellen 
und  dem  Volksmunde  beruhend,  seiner  ganzen  Anlage  nach  für 
ein  größeres  Publikum  berechnet,  immerhin  brauchbar.)  —  *N. 
Hub  er.   Fromme  Sagen  und  Legenden   aus  Salzburg.     Salzburg 


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478  Ulrich  Jahn, 

1880.  —  Bayrische  Sagen,  mitgeteilt  und  geschichtlich  beleuchtet 
von  H.  F.  Mass  mann.  1.  Bändchen  (mehr  nicht  erschienen) 
München  1831.  Lindauer.  VIII  u.  90  S.  (Enthalt  vorzugsweise 
Sagen  vom  Untersberg,  auf  Schriftquellen  beruhend.) 

Kärnten.  Sagen  aus  Kärnten.  Zusammengestellt  und  teilweise 
neu  erzählt  von  J.  Rappold.  Augsburg  u.  Leipzig  1887.  Amthor. 
XIV  u.  266  S.  (Die  Sammlung  ist  für  das  große  Publikum  be- 
rechnet und  genügt  wissenschaftlichen  Ansprüchen  nicht.)  —  Kultur- 
studien über  Volksleben,  Sitten  und  Bräuche  in  Kärnten.  Nebst 
einem  Anhang:  Märchen  aus  Kärnten.  Von  Franz  Franzisci. 
Mit  einem  Geleitbrief  von  P.  K.  Rosegger.  Herausg.  vom  Grill- 
parzer-Litteraturverein  in  Wien.  Wien  1879.  Braumüller.  VIII  u. 
104  S.  (Enthält  S.  1-86  in  kulturhist.  Bildern  manches  Brauch- 
bare über  das  Volkstümliche  in  Kärnten;  S.  87— -103  bietet  6  Mär- 
chen ohne  genauere  Angabe  des  Fundortes.)  —  Volksüberlieferungen 
aus  Kärnten  von  Matthias  Lexer  in  der  Zeitschrift  für  deutsche 
Mythologie  II,  S.  29—36;  IV,  S.  298—301  u.  407—414.  (Enthält 
Aberglauben,  Bräuche,  Sagen  und  Kinderreime.)  —  Valentin 
Pogatschnigg,  Beiträge  zur  deutschen  Mythologie  und  Sitten- 
kunde aus  KäiTiten.  Germania,  Vierteljahrsschrift  für  deutsche 
Altertumsk.  11.  Jahrg.  Wien  1866  S.  74— 77.  (Enthält:  Stephans- 
reiten, Windfüttem,  Klöckln  und  Klöcklerabende.)  —  Das  sonst 
noch  aus  Kärnten  zusammengebrachte  Material  findet  sich  weit 
verstreut;  das  meiste  bietet  die  seit  1811  in  Klagenfurt  erscheinende 
C  a  r  i  n  t  h  i  a ,  Zeitschrift  f ü r  Vat erl  andskunde,  Belehrung  und  ünter- 
haltung.    Herausg.  vom  Geschichtsvereine  in  Kärnten. 

Steiermark.  *J.  Krainz,  Mythen  und  Sagen  aus  dem  steiri- 
schen  Hochlande.  Brück  a.  d.  Murr  1880.  —  Steiermärkische  Sagen 
und  Volksgebräuche  von  J.  G.  Seidl  in  der  Zeitschrift  für  deutsche 
Mythologie  II,  20—50.  (Enthält  15  Sagen;  der  reine  Volkston  ist 
nicht  überall  gewahrt;  mit  Vorsicht  zu  benutzen.)  —  Johann 
Gabriel  Seidl,  seine  Sagen  und  Geschichten  aus  Steiermark. 
Eingeleitet  und  herausg.  von  Anton  Schlossar.  Mit  Illustra- 
tionen. Graz  1881.  Cieslar.  XXXI  u.  138  S.  (Enthält  47  Sagen 
aus  dem  Nachlasse  des  ebengenannten  Dichters  und  Gelehrten,  von 
ihm  gesammelt  und  poetisch  bearbeitet.  Ethnisch  nur  von  geringem 
Werte.)  —  Sittenbilder  aus  dem  steirischen  Oberlande  von  P.  K. 
Rosegger.  Graz  1870.  Leykam.  4  ßl.  u.  262  S.,  und  Daa  Volks- 
leben in  Steiermark,  in  Charakter-  und  Sittenbildern  dargestellt  von 
P.  K.  Rosegger.  In  2  Büchern.  Graz  1875.  Leykam- Josefsthal. 
1.  Bd.  VI  u.  185  S.;  2.  Bd.  248  S.  (Skizzenhaft,  für  das  große 
Publikum  berechnet;  enthält  immerhin  manches  Brauchbare.)  — 
Kultur-  und  Sittenbilder  aus  Steiermark.  Skizzen,  Studien  und  Bei- 
träge zur  Volkskunde.  Von  AntonSchlossar.  Graz  1885.  GolL 
IV  u.  220  S.  (Die  Form  wie  bei  dem  vorigen.  Der  Stoff  beruht 
auf  eigenen  Sammlungen  und  Beiträgen  zuverlässiger  Berichterstat- 
ter, enthält  viel  Wertvolles  an  Volksglauben,  Braudi  und  Dichtung.) 
—  Fritz  Pichler,  Das  Wetter.  Nach  deutscher  und  im  beson- 
deren nach  steirischer  Volksmeinung.    (Kleines  wertvolles  Schrift- 


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Volkstümliches.  479 

chen.)  —  Volksmedizin  und  medizinischer  Aherglaube  in  Steiermark, 
Ein  Beitrag  zur  Landeskunde  von  Viktor  Fossel.  Graz  188.S 
Leuschner  &  Lubensky.  2.  unveränderte  Auflage.  Graz  1886.  VI 
u.  172  S.    (Sehr  reichhaltiges  und  treu  wiedergegebenes  Material.) 

Oberösterreioh.  Das  Jahr  und  seine  Tage  in  Meinung  und 
Brauch  der  Heimat.  Von  Amand  Baumgarten.  Programm  des 
k.  k.  Gymn.  zu  Kremsmünster  für  das  Schuljahr  1860.  Linz  1860. 
4.  82  S.  (Reichhaltiges,  dem  Volksmunde  entnommenes  und  treu 
wiedergegebenes  Material  an  Volksglaube,  Brauch  und  Sage  in 
Oberösterreich,  soweit  dieselben  die  Festzeiten  und  Festtage  des 
Jahres  betreffen.)  —  Aus  der  volksmäßigen  Ueberlieferung  der  Hei- 
mat. Von  Amand  Baumgarten.  3  Teile  in  9  Kapiteln  mit 
einem  Anhang  von  Liedern.  Bericht  über  das  Museum  Franzisco- 
Carolinum,  nebst  de'n  Lieferungen  der  Beiträge  zur  Landeskunde 
von  Oesterreich  ob  der  Enns.  Nr.  23,  24,  29.  Lmz  1862,  1864,  1870. 
(Dem  vorigen  an  Reichhaltigkeit  und  innerem  Werte  gleich.  Be- 
schäftigt sich  mit  den  dort  nicht  behandelten  Gebieten  von  Glaube, 
Brauch  und  Sage.)  —  üeberbleibsel  aus  dem  hohen  Altertume  im 
Leben  und  Glauben  der  Bewohner  des  Landes  ob  der  Enns.  Von 
Franz  Xaver  Pritz.  Linz  1853.  X  u.  94  S.  Auf  Kosten  des 
Museum  Franzisco-Carolinum.  (Enthält  in  verarbeiteter  Form  eini- 
ges Brauchbare  über  Volksglauben  und  Brauch  in  Oberösterreich.) 
—  Konrad  Pasch,  Erster  Beitrag  zur  Kunde  der  Sagen,  Mythen 
und  Bräuche  im  Innviertel.  2.  Jahresbericht  des  k.  k.  Real-  und 
Obergymnasiums  in  Ried  am  Schlüsse  des  Schuljahres  1872/73.  Ried. 
22  S.  (Kleine,  brauchbare  Arbeit.  Der  Stoff  ist  zum  größten  Teil 
von  Pasch  gesammelt  in  dem  Winkel,  den  Salzach,  Weilhardforst 
und  Ibmner  Moos  bilden;  einiges  stammt  aus  der  Umgegend  von  Ried.) 

Niederösterreich.  Oesterreichische  Volksmärdien .  Von  Franz 
Ziska.  Wien  1822.  Armbruster.  111  S.  (Kleine,  wertvolle  Samm- 
lung von  Sagen  und  Märchen  aus  der  Gebirgskette,  die  sich  vom* 
Schneeberg  bis  hart  an  die  Donau  neigt.  Angehängt  sind  ein 
Wörterbuch  und  Anmerkungen.)  —  Volkstümliches  aus  Niederöster- 
reich.  Von  C.  M.  B  l  a  a  s.  Germania,  Vierteljahrsschrift  f.  deutsche 
Altei-tumskunde.  20.  Bd.  1875.  S.  349—356;  25.  Bd.  1880.  S.  426 
bis  431;  26.  Bd.  1881.  S.  229—242;  29.  Bd.  1884.  S.  85—110.  (Ent- 
hält reichhaltiges,  treu  wiedergegebenes  Material  an  Aberglauben^ 
Bräuchen  und  Zaubersprüchen.)  —  Beiträge  aus  Niederösterreich 
von  Johann  Wurth  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Mythologie 
IV,  S.  24—30  u.  140—149.  (Wert,  wie  das  folgende.)  —  Sitten, 
Bräuche  und  Meinungen  des  Volkes  in  Niederösterreich.  Gesammelt 
und  mitgeteilt  von  J.  Wurth.  Blätter  für  Landeskunde  von  Nieder- 
österreich. 1.  Jahrg.  Wien  1865.  S.  7— 9,  89— 44,  74-76,  113— 118, 
134—139,  146—151;  2.  Jahrg.  Wien  1866.  S.  261—264,  278—293. 
(Wertvolle,  reichhaltige  Sammlung  von  Aberglauben,  Bräuchen  und 
Zaubersprüchen.)  —  F.  Branky,  Hans.  Volksüberlieferungen  aus 
Niederösterreich.  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie.  8.  Bd.  Halle 
1877.  S.  73—101.  (Niederösterreichische  Märchen  vom  starken,, 
dummen  etc.  Hans.)  —  Reste  des  Heidenglaubens  in  Sagen  und 


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480  Ulrich  Jahn. 

Gebräuchen  des  niederösterreichischen  Volkes.  Von  Karl  Land- 
et ein  er.  Krems  1869.  72  S.  Zum  Teil  schon  vorher  erschienen  in 
den  Blattern  für  Landeskunde  von  Niederösterreich.  2.  Jahrg.  Wien 
1866.  S.  97—103  u.  241—246  unter  dem  Titel:  Sa^en  und  Gebräuche 
des  österreichischen  Landvolkes,  namentlich  aus  der  Umgebung  von 
Krems.  Von  K.  Landsteiner.  (Brauchbar;  störend  wirkt,  daß 
der  Stoff  sogleich  mythologisch  verarbeitet  ist.)  —  *Ph.  Bogler, 
Land  und  Leute  aus  dem  Wienerwald,  deren  Haus  und  Hof,  Sitten 
und  Gebräuche.  Eine  landwirtschaftliche  Kulturutudie.  Wien  1879. 
Frick.  —  August  Silberstein,  Bräuche  und  Sitten,  Meinungen 
und  Aberglauben  (im  Lande  unter  der  Enns).  Topographie  von 
Niederösterreich.  Herausg.  vom  Verein  für  Landeskd.  von  Nieder- 
östeiTcich.  l.Bd.  Wien  1877.  S.207— 214  u.  214-215.  (Ganz  ober- 
flächlich.) —  Karl  Grözinger,  Mythische  Grundlagen  des  deut- 
schen Hexenglaubens.  Jahresbericht  des  k.  k.  Obergymn.  in  Krems. 
Krems  1867.  Panner.  28  S.  (Enthält,  in  die  Abhandlung  verwebt, 
einige  von  Grözinger  beobachtete  Aberglauben  und  Gebräuche  der 
Umgegend  von  Krems.)  —  Die  Volksmythen  Niederösterreichs.  Vor- 
trag von  Hermann  Rollet.  Blätter  des  Vereins  fUr  Landeskd. 
von  Niederösterreich.  Neue  Folge.  11.  Jahrg.  Wien  1877.  S.  59— 69, 
110—115,  206—210,  284-306.  (Verarbeitung  des  schon  bekannten 
Materials;  sehr  wenig  Eigenes.) 

Kaiserreich  Oesterreich.  L.  Bechstein,  Die  Volkssagen, 
Märchen  und  Legenden  d08  Kaiserstaates  Oesterreich.  1.  Bd.  1.  bis 
4.  Heft.  Leipzig  1840/41.  Polet.  (1 3  V*  Bogen  u.  2  Kupfer.  Mehr 
nicht  erschienen.  Zu  beuHeilen,  wie  die  anderen  Bechsteinschen 
Arbeiten.)  —  Oesterreichisches  Sagenbuch.  Herausg.  von  J. Gebhart. 
Pest  1862.  Lauffer  &  Stolp.  X  u.  504  S.  (Fast  durchweg  auf  Schrifl- 
quellen  beruhend.  Wenig  brauchbar.)  —  Mythen  und  Bräuche  des 
Volkes  in  Oesterreich.  Als  Beitrag  zur  deutschen  Mythologie,  Volks- 
dichtung und  Sittenkunde.  Von  Theodor  Vernaleken.  Wien 
1859.  Braumüller.  Vlll  u.  :^86  S.  (Die  historische  Sage  ist  ganz 
beiseite  gelassen;  es  werden  nur  Mythen,  Aberglauben  und  Bräuche 
geboten.  Gesammelt  ist  das  meiste  von  Vernaleken  selbst;  daneben 
benutzte  er  die  mündlichen  Mitteilungen  seiner  Schüler,  auch  stan- 
den ihm  zum  Teil  sehr  tüchtige  Mitarbeiter  zur  Seite.  Der  reich- 
haltige, wertvolle  Stoff  entstammt  den  Landstrichen  zwischen  den 
Alpen  und  den  Sudeten,  zwischen  den  Karpaten  und  dem  Erz- 
gebirge.) —  Oesterreichische  Kinder-  und  Hausmärchen.  Treu  nach 
mündlicher  Ueberlieferung  von  Theodor  Vernaleken.  Wien 
1864.  Neue  Ausgabe.  Mit  6  Illustrationen.  Wien  1875.  Braumüller. 
XII  u.  355  S.  (Enthält  60  Märchen,  zur  Hälfte  aus  Niederösterreich 
stammend;  der  Rest  verteilt  sich  auf  Böhmen,  Mähren  u.  s.  w. 
Wertvoll.)  —  Die  Mariensagen  in  Oesterreich.  Gesammelt  u.  herausg. 
von  J.  P.  Kaltenbaeck.  Wien  1845.  Klang.  XVI  u.  410  S.  (150 
Marienlegenden  aus  allen  Teilen  des  Kaiserreichs ;  mit  großem  Fleiß 
aus  Schriftquellen  zusammengetragen.) 


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Beobachtungen  über  Besiedelung, 

Hausbau    und   landwirtschaftliche 

Kultur. 

Vpn 

Dr.  August  Meitzen, 

Geheimer  Regierungsrat  a.  D.,  Professor  an  der  Universität 
zu  Berlin. 


Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  Yolksfonchung.  31 


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I.  Zur  Knnde  von  Stadt  und  Land. 

1.  Allgemeine  Gesiclitspimkte. 

Wahrhaft  humane  Kultur  beginnt  erst  mit  der  festen 
Ansiedelung.  Diese  aber  findet  ihren  augenfälligsten  Aus- 
druck in  den  Häusern  und  Gehöften  und  deren  Stellung 
und  Gruppierung.  Von  den  Wohnstätten  aus  muß  die 
Benutzung  des  Grund  und  Bodens  geschehen,  und  zu  ihnen, 
als  den  Sitzen  der  Bewirtschaftung,  steht  die  Verteilung 
der  Grundstücke,  Kultur  und  Recht  der  Besitzungen  und 
die  soziale  Lage  der  Eigentümer  in  gewissen  gegebenen^ 
bestimmt  zu  ermittelnden  Beziehungen. 

Für  die  Beobachtungen  und  Urteile  der  Landeskunde 
über  landwirtschaftliche  Kulturverhältnisse  kommt  deshalb 
zunächst  der  Unterschied  der  Wohnplätze  als  Städte  und 
Flecken  einerseits,  und  als  Dörfer,  Weiler  und  Ein- 
zelhöfe andererseits  in  Betracht,  welcher,  auch  ohne 
Rücksicht  auf  politische  Rechte,  schon  in  der  Anordnung 
der  Wohnstätten  sich  geltend  macht.  Dieser  Gegensatz 
städtischer  und  ländlicher  Besiedelung  deutet  auf  tief- 
greifende Verschiedenheiten  des  wirtschaftlichen 
Lebens  ihrer  Insassen. 

Gewiß  ist  für  Stadt  und  Land  die  Form  des  Zu- 
sammenwohn ens  sehr  charakteristisch.  Es  ist  auch  rich- 
tig, daß  die  Stadt  den  Landbau  nicht  ausschließt.  Es 
giebt  Städte,  in  welchen  zahlreiche  Landwirte  wohnen. 
In  den  antiken  Staaten   hatten   die  Städte  sogar  so  sehr 


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484  August  Meitzen, 

die  Stellung  von  Zentralpunkten  des  gesamten  Volks- 
daseins, daß  jeder  freie  Landbauer  ein  Bürger  der  be- 
herrschenden Stadt  war.  Diese  Verhältnisse  haben  teil- 
weise dauernden  Einfluß  in  den  südlichen  Gebieten 
Deutschlands  geübt.  Aber  im  wesentlichen  sind  die 
deutschen  Städte  eigenartige,  zwar  vielfach  aus  Dörfern 
hervorgegangene,  aber  doch  in  bestimmtem  Gegensatze 
zu  den  ländlichen  Orten  begründete  Anlagen  des  späteren 
Mittelalters.  Ihr  Entstehen  beruht  auf  einem  entschei- 
denden Fortschritte  der  Kultur. 

Ursprünglich  war  ofienbar  alle  Sorge  des  Menschen 
für  den  Unterhalt  der  Familie  eine  landwirtschaftliche, 
und  die  Landwirtschaft  enthielt  alle  Anfänge  wirt- 
schaftlichen Daseins  in  sich,  Austausch  und  Handel 
ebenso  wie  Herstellung  aller  nötigen  Gebrauchsgegen- 
stände, die  wir  der  Industrie  zuschreiben.  Auch  der 
deutsche  Bauer  hat  noch  bis  in  späte  Zeit  fast  alle  seine 
Bedürfnisse  selbst  beschafft.  Er  hat  gesponnen,  gewebt, 
geschneidert,  gemahlen,  gebacken,  gebraut,  Seife  gekocht. 
Eisen  geschmiedet,  ja  geschmolzen,  Gerät,  Wagen  und 
Pflug  gefertigt  und  sein  Haus  mit  Hilfe  der  Nachbarn 
gezimmert,  geklebt  und  unter  Dach  gebracht. 

Handel  und  Industrie  lösten  sich  von  der  Land- 
wirtschaft erst  spät  als  selbständij^e  Erwerbsweisen  los. 
Ihre  ersten  Unternehmer  aber  schufen,  kaum  bewußt,  ein 
grundsätzlich  neues  Lebensprinzip.  Denn  die  Land- 
wirtschaft kann  nötigenfalls  ohne  Absatz  ihrer  Produkte 
sich  selbst  genügen.  Handel  und  Industrie  aber  sind  not- 
wendig auf  den  Markt  angewiesen.  Der  Kaufmann  kann 
auch  die  geringwertigste  Ware  nicht  kaufen,  wenn  er 
nicht  Aussicht  hat,  die  Hand  zu  finden,  in  der  sie  höhe- 
ren Wert  haben  wird.  Ebenso  ist  der  Gewerbtreibende 
verloren,  wenn  er  nur  produzieren,  nicht  angemessen  ver- 
kaufen kann.  In  den  Unternehmern  von  Handel  und  In- 
dustrie entstand  als^o  ein  Kreis  von  Männern,  welche  den 
täglichen  Unterhalt  ihrer  Familien  nicht  selbst  zu  be- 
schaffen vermochten,  sondern  mit  treibender  Sorge  dem 
unausgesetzten  Absätze,  also  dem  Auftreten,  den  Bedürf- 
nissen  und    den  Zahlungsmitteln  von  Kunden  nachgehen 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     485 

muMen.  Deshalb  drängten  sie  sich  an  Orten  zusammen, 
an  denen  Marktverkehr  zu  erwarten  war,  und  alle  ihre 
Bestrebungen  im  persönlichen  wie  im  gemeinnützigen 
Sinne  gingen  dahin,  diesen  Marktverkehr  zu  sichern  und 
zu  heben.  Mauerschutz  und  gewappnete  Polizei,  Markt- 
recht und  Marktgericht,  Gewicht,  Maß  und  Münze,  Kauf- 
und Lagerhäuser,  Straßen  und  Brücken,  Boten  und  Geleit, 
alle  diese  Forderungen  erhoben  sie  nicht  bloß,  sondern 
brachten  auch  die  Kosten  auf,  sie  ins  Leben  zu  führen. 
Meist  gelang  das  beharrlich  Erstrebte.  Wohlhabenheit 
und  Gemeinsinn  wuchsen.  Die  Städte  wurden  energische 
Körperschaften,  welche  durch  Privilegien,  Kauf  und 
Waffengewalt  bald  auch  politische  Selbständigkeit  und 
den  Territorialherren  gleiche  Machtstellung  errangen. 

Daraus  aber  erwuchsen  Luxus  und  Kunstübung, 
Weltkenntnis  und  Schulunterricht;  es  entstanden  Mittel- 
punkte wirtschaftlicher  und  sozialer  Bildung,  welche  die 
regierenden  Fürsten,  weltliche  und  geistliche,  mit  ihren 
Hofkreisen  und  Beamten  zu  gleichen  Lebensanforderungen 
und  zu  den  entsprechenden  Verwaltungsmaßregeln  fort- 
rissen. Die  Monarchie  der  Neuzeit  mit  ihrer  Wohlfahrts-, 
Finanz-  und  Bildungspolitik,  und  damit  die  gesamte 
moderne  Kultur  ist  wesentlich  aus  den  städti- 
schen Lebensbedürfnissen  und  Lebensanschauun- 
gen hervorgegangen. 

Die  Landschaft,  das  flache  Land,  berührte  sich  mit 
diesem  Ringen  und  Treiben  kaum  anders  als  durch  den 
Dienstadel.  Die  breite  Masse  des  bäuerlichen  Daseins  blieb 
mit  den  Städten  in  schroffem  Gegensatz.  Sie  ist  in  den 
engen  Kreis  ihrer  Wirtschaftsverhältnisse  gebannt.  Be- 
sitz und  Betrieb  ändern  sich  kaum  merklich  im  Laufe 
vieler  Jahrhunderte.  Alle  Grundstücke  sind  von  Nach- 
barn begrenzt,  die  jeder  Veränderung  widerstreben.  Die 
Wirtschaftsführung  aller  ist  mit  einer  Reihe  gemeinschaft- 
licher Arbeiten  und  Nutzungen  verknüpft,  der  Gang  des 
Jahres  fordert  täglich  bestimmte  Thätigkeiten ,  die  nicht 
ausgesetzt  werden  dürfen.  Die  Größe  der  Erträge  hängt 
viel  mehr  von  Sonne  und  Regen  als  von  besonderer  Be- 
triebsamkeit und  Kenntnissen  ab.    Der  Weiseste  ist,  wer 


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486  August  Meitzen, 

nur  das  ausgiebt,  was  er  sich  vom  Munde  absparen  kann. 
Allen  diesen  Umständen  nach  muß  die  ländliche  Be- 
völkerung Stetigkeit  und  Beharren  beherrschen. 
Ansprüche,  welche  an  sie  gemacht  werden,  selbst  wenn 
sie  Vorteile  bringen,  werden  als  Last  empfunden.  Jedes 
Eindringen  ariderer  Geschäftsbedingungen  begegnet  Ab- 
neigung und  Mißtrauen.  Notwendigkeit  und  Gewohnheit 
machen  sie  zum  passiven  Elemente  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft. 

Ihr  aktiver  Widerpart  dagegen,  der  von  den  Bedürf- 
nissen des  städtischen  Lebens  und  vom  fortschreitenden 
Bewußtsein  des  Staates  getragen  wird,  sieht  sehr  wohl, 
daß  der  Boden,  die  gemeinsame  Quelle  des  Lebensunter- 
haltes, nicht  so  ausgenutzt  wird  als  möglich  und  zweck- 
mäßig wäre,  und  daß  die  bestehenden  Anlagen  und 
Einrichtungen,  die  herkömmlichen  Rechte  und  Lebens- 
gewohnheiten dem  Fortschritt  der  Kultur  und  der  Kraft- 
entwickelung der  Nation  Hindernisse  entgegensetzen. 
Diese  Hinderhisse  sind  nicht  sowohl  in  der  Erkenntnis 
als  in  der  rechtsbeständigen  Lage  der  Dinge  begründet, 
ihre  freiwillige  Behebung  ist  hoffnungslos.  Daher  entsteht 
der  Gedanke  gesetzlicher  Abänderung  von  Staats  wegen 
unter  Entschädigung  aller  erwachsenden  Benachteiligungen, 
aber  doch  gegen  den  herkömmlichen  Rechtszustand. 

Dies  ist  die  Landeskulturgesetzgebung,  in  deren 
Aufstellung  und  Durchführung  alle  modernen  Staaten  be- 
griffen sind.  Sie  beabsichtigt  die  hergebrachten  Nachbar- 
und  Herrschaftsrechte,  die  Lasten  und  Dienste  zu  lösen, 
und  Grundgerechtigkeiten  sowie  Form  und  gegenseitige 
Lage  der  Grundstücke  so  umzugestalten,  daß  jede  Be- 
sitzung ihr  Land  in  möglichst  geschlossenen,  zu  zweck- 
mäßiger Kultur  geeigneten  Flächen  vereinigt  erhält,  und 
daß  für  Wege,  Be-  und  Entwässerungen  und  andere 
Meliorationen  angemessen  gesorgt  ist. 

Es  ist  klar,  welches  Bedürfnis  umfassender  und 
eindringender  Landeskunde  bei  den  Entschließungen 
und  Entwürfen  über  solche  für  weite  Ländergebiete  ent- 
scheidende Bestimmungen  und  Maßregeln  fühlbar  wer- 
den muß. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     487 

Die  Sachlage  selbst  ergiebt  aber  auch  die  völlig  ver- 
schiedexien  Gesichtspunkte  für  die  Beobachtungen  der 
Landeskunde  über  die  Städte  und  über  das  flache  Land. 
Bei  den  Städten  liegt  das  Hauptinteresse  auf  ihrer  Ent- 
wickelung  zur  Persönlichkeit  und  deren  wirtschaftlichem 
und  politischem  Wirken.  Bei  dem  flachen  Lande  sind 
es  die  dauernden,  seit  den  ältesten  Zeiten  fortbestehenden 
Grundlagen  der  Gestaltung  des  ländlichen  Besitzes  und 
Betriebes  und  des  agrarischen  Rechtes.  Nicht  die  ein- 
zelne Ortschaft  ist  hierbei  das  Bedeutsame,  sondern  die 
übereinstimmenden  Eigentümlichkeiten  ganzer  Landschaf- 
ten. Die  Stadt  fordert  individuelle,  das  Land  generelle 
Untersuchung. 

2.  Verfahren  und  Hilfsmittel  in  Städten. 

Eine  Stadt  kennen  zu  lernen^  ist  wesentlich  Sache 
ausdauernden  Studiums.  In  der  Regel  bietet  sie  selbst 
alle  Mittel,  die  Fragen,  welche  die  Landeskunde  inter- 
essieren, zu  lösen. 

Der  Plan  giebt  das  Bild  der  StraL^en  und  Plätze, 
der  Verkehrswege  nach  außen,  der  Stadtbezirke  und  der 
wichtigen  Gebäude  der  weltlichen  und  kirchlichen  Ver- 
waltung. Die  Statistik,  die  mindestens  seit  dem  Beginn 
unseres  Jahrhunderts  bei  den  Gemeindebehörden  vorhan- 
den ist,  schildert  die  Bevölkerung  nach  Zahl,  Geschlecht, 
Religion  und  Familienstand  und  die  Erwerbsthätigkeit 
der  Berufsstände,  dazu  Geburten,  Trauungen  und  Todes- 
fälle, unterschieden  nach  der  Zeit  im  Jahr  und  Gesichts- 
punkten der  Gesundheit  und  Sittlichkeit.  Auch  die  Zahl 
der  Häuser,  die  Wohnweise,  der  Grundbesitz,  die  Vieh- 
haltung sind  festgestellt,  und  alle  diese  Zustände  erlauben 
Vergleichungen  mit  einer  Reihe  vorhergehender  Erhebun- 
gen und  Urteile  über  Zu-  oder  Abnahme  und  deren  Ur- 
sachen. Aehnliche,  ja  nach  der  Mühe,  die  man  aufwendet, 
noch  genauere  Einsicht  läßt  die  Besteuerung  zu.  Das 
Finanzbudget  der  Stadt  und  die  Natur  und  das  Verhält- 
nis der  oft  bis  in  mehrere  Jahrhunderte  zurück  zu  ver- 
folgenden Aufwendungen  bietet  verschiedenartiges,  keines- 


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488  August  Meitzen, 

wegs  auf  das  Rechnungswesen  beschränktes  Interesse. 
Die  gegenwärtigen  Zustände  aber  verknüpfen  sich  eng 
und  beweisfahig  mit  der  Geschichte.  Vorhandene  R«ste. 
Lage  der  Bauten  und  Ueberlieferungen  verschiedener 
Zeugnisse  ergeben  den  Umfang  der  ersten  Anlage,  Zeit 
und  Art  derselben,  die  einzelnen  Erweiterungen,  die  Er- 
richtung von  Kirchen,  Rathaus,  Kaufhaus  und  anderen 
öffentlichen  Gebäuden,  die  Durchführung  und  Beseitigung 
der  Befestigungen. 

Die  neuere  Forschung  wendet  sich  dabei  mit  be- 
sonderem Interesse  gegen  unsere  überraschende  Unsicher- 
heit über  die  Höhe  der  mittelalterlichen  Bevölke- 
rungszahlen^). Berechnungen  aus  Bürger-  und  Steuer- 
rollen, aus  Kirchenregistem  und  Zollangaben,  aus  der 
Häuserzahl,  ihrer  Area  und  mutmaßlichen  Bewohnung 
sind  für  mehrere  Städte  aufgestellt,  aber  die  Ergebnisse 
blieben  bisher  mit  guten  Gründen  bestreitbar.  Jeder  Bei- 
trag ist  sehr  dankenswert.  Aehnliches  Streben  richtet 
sich  auf  die  Frage  nach  dem  ältesten  Entstehen  der 
Städte.  War  eine  römische  Anlage,  ein  Bischofsitz, 
eine  Kaiserpfalz  mit  den  Haushaltungen  der  Ministerialen 
und  Hörigen  ihr  Anfang?  Lehnte  sich  die  Gründung  an 
eine  Burg,  unter  deren  Mauern  Eigene  und  Freie  Schutz 
fanden?  Oder  waren  es  Kaufleute,  die  sich  am  passenden 
Ort  mit  solchen  Kräften  und  Erfolgen  festzusetzen  ver- 
mochten, daß  mit  oder  gegen  den  Willen  von  Grund- 
herren oder  benachbarten  Gewalthabern  die  Stadt  zum 
eigenen  Recht  erwuchs.  Ist  die  erste  Verwaltung  von 
solchen  wirtschaftlichen  Körperschaften  oder  von  einer 
oder  mehreren  Parochieen,  die  am  Orte  bestanden,  oder 
von  den  Bauermeistem ,  von  Dörfern,  die  sich  in  ihm 
vereinigten,  oder  endlich  vom  Grundherrn  mit  mehr  oder 
weniger  Anschluß  an  die  alten  Erinnerungen  der  Volks- 
gemeinde und  Volksgerichte  begründet  worden?  Oder 
welche  dieser  Kräfte  und  wie  haben  sie  zusammengewirkt? 


^)  Jastrow,  Die  Volkszahl  deutscher  Städte-  zu  Eode  des 
Mittelalters.  Ueberblick  über  Stand  und  Mittel  der  Forschung. 
Berlin  1886. 


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BesiedeluDg,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     489 

Welchen  Ursprung,  welche  Organisation  und  welchen  Ein- 
fluß hatten  Patrizier,  Gilden,  Zünfte  und  Bruderschaften? 

Solche  Untersuchungen  setzen  das  Vorhandensein  ur- 
kundlicher Grundlagen  in  Stadt-  oder  Pfarrarchiven  oder 
in  den Landesarchiven  voraus.  Nur  Quellenstudium  kann 
sie  begründen;  bereits  vorhandene  ältere  Stadtchroniken 
leiten  in  der  Regel  irre.  Es  gehört  dazu  volle  wissen- 
schaftliche Kenntnis  der  neuesten  Geschichtsforschung  auf 
diesem  Gebiete. 

Alle  Ermittelungen  über  die  gegenwärtigen  wie  die 
vergangenen  Zustände  der  Städte  haben  indes  die  erfreu- 
liche Seite,  nirgends  Hindernissen  zu  begegnen.  Es  ge- 
hört dazu  nur  hinreichende  Vorbereitung  und  längere 
Muße.  Ueberall  wird  man  sicher  sein  können,  daß  sich 
für  ernstes  Bestreben  alle  vorhandenen  Hilfsmittel  er- 
schließen. Stets  wird  man  an  den  entscheidenden  Stellen 
bereitwilliges  Entgegenkommen,  sachkundiges  Verständnis 
und  förderliche  Mitarbeiter  finden.  Die  Forschung  in 
dieser  Richtung  der  Landeskunde  hat  nur  mit  der  per- 
sönlichen Mühewaltung;  nicht  mit  äußeren  Anständen  zu 
kämpfen. 

3.  Verfahren  und  Hilfsmittel  auf  dem  Lande. 

Befriedigende  Ergebnisse  in  der  Kunde  des  flachen 
Landes  zu  erlangen,  begegnet  leider  sehr  viel  größeren 
Schwierigkeiten,  als  Ermittelungen  in  Städten. 

Die  Eigentümlichkeiten  eines  einzelnen  Dorfes  lassen 
sich  nicht  in  dem  Sinn6  ausbeuten  wie  die  einer  Stadt. 
Das  Intei*esse  aller  Erscheinungen,  die  sich  in  demselben 
zeigen,  liegt  immer  nur  in  ihrer  allgemeineren  Bedeutung, 
in  dem  Hinweise,  den  sie  auf  die  Zustände  ganzer 
Gegenden  oder  Landschaften  geben.  Diese  durch  ein 
einzelnes  Beispiel  zu  erläutern,  ist  unter  Umständen  nicht 
unth unlieb.  Aber  es  behält  immer  den  Charakter  der 
Einzelheit.  Es  zeigt  nur,  was  innerhalb  der  ganzen  Land- 
schaft im  einzelnen  Falle  möglich  ist.  Wie  weit  gleiche 
Verhältnisse  in  größerer  Verbreitung  bestehen,  und  ob 
sie  sich  im  allgemeinen  in  höherem  oder  minderem  Grade 


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490  August  Meitzen. 

ähnlich  oder  ^anz  abweichend  vorfinden,  kann  danach  in 
keiner  Weise  beurteilt  werden.  Es  entstehen  deshalb  für 
die  Kunde  des  flachen  Landes  zwei  Kreise  der  Ermitte- 
lung, welche  nicht  in  ihren  letzten  Zielen,  wohl  aber  in 
ihren  Angrifl*spunkten  und  in  ihrem  Verfahren  verschieden 
sind.  Der  eine  richtet  sich  auf  das  Typische  innerhalb 
großer  Gesamtheiten  und  hat  deshalb  einen  vorwiegend 
statistisch -topographischen  Charakter,  der  andere  will 
individuelle  Erscheinungen  für  solche  Fragen  erfassen, 
welche  sich  aus  Einzelheiten  erschließen.  Hunderte  von 
Dörfern  einer  Landschaft  können  nicht  speziell  unter- 
sucht werden.  Gleichwohl  ist  es  nötig,  wenn  die  Be- 
trachtung der  verschiedenen  Zustände  und  die  Gruppierung 
des  Uebereinstimmenden  feste  Anhaltspunkte  gewinnen 
soll,  sämtliche  Ortschaften  auf  gewisse  möglichst 
leicht  erkennbare  Eigenschaften  zu  prüfen,  aus 
deren  Vorhandensein  oder  Fehlen  im  Sinne  von  Ursache 
und  Wirkung  auf  einen  bestimmten  und  wichtigen  Kreis 
typischer  Eigentümlichkeiten  zu  schließen  thunlich  ist. 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  werden,  ganz  abgesehen 
von  seinem  lebhaften  historischen  Interesse,  auch  für  die 
Gegenwart  und  für  die  unmittelbar  praktischen  Zwecke 
die  Ergebnisse  eines  besonderen  Forschungskreises  von 
Bedeutung.  Derselbe  ist  auf  dem  Gedanken  der  erwähnten 
merkwürdigen  Konstanz  des  ländlichen  Daseins  aufgebaut 
und  sucht  an  dem  Charakter  der  ursprünglichen  An- 
lage die  Hauptzüge  der  späteren  Entwickelung 
und  der  bestehenden  Verhältnisse  zu  erkennen. 

Es  ist  keine  Frage,  die  bis  zur  Zwangslage  gleich 
bleibende  Beharrlichkeit  der  agrarischen  Zustände  erlaubt 
den  SchliüA,  daß,  wo  übermächtige  störende  Einflüsse, 
wie  Herrschaft  fremder  Nationalität  oder  gewaltsames 
Eingreifen  des  Staates  ausgeschlossen  blieben,  der  auf 
unsere  Zeit  gekommene  Bestand  der  agrarischen  Anlagen 
in  der  Darstellung  der  Gehöfte  und  der  Verteilung  des 
Grandbesitzes  noch  wesentliche  Grundlinien  der  ersten 
festen  Ansiedelung  und  der  Bedingungen,  die  sie  dem 
gesamten  Agrarwesen  stellte,  an  sich  trägt.  Diese  Auf- 
fassung hat  immer  größere  Zuversicht  gewonnen,  je  sorg- 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     491 

fältiger  die  Untersuchungen  in  die  Vergleichung  der  hi- 
storischen Ueberlieferungen  aller  Jahrhunderte  mit  den 
uns  noch  vor  Augen  stehenden  agrarischen  Thatsachen 
einzudringen  vermochten,  deren  Bestand  gewissermaßen 
die  ältesten  Ruinen  schöpferischer  Thätigkeit  unseres 
Volkes  darstellt. 

Dieselbe  Anschauung  aber  darf  folgerichtig  von  den 
ersten  festen  Ansiedelungen  aller  Nationen  unserer  Kultur- 
staaten gelten.  Da  sich  nun  die  Siedelungen  verschiedener 
Völker  auf  den  Territorien  dieser  Staaten  im  Laufe  der 
Zeit  vielfach  übereinander  geschoben  haben,  ist  die  Auf- 
gabe entstanden,  für  jedes  Volk  die  Gebiete  ursprüng- 
licher und  unberührt  volkstümlicher  Siedelung  abzugrenzen 
und  den  nationalen  Typus  auf  diesen  Gebieten  aufzu- 
suchen. Aus  der  Kenntnis  dieser  Typen  ist  dann  auch 
zu  einer  Unterscheidung  und  Beurteilung  der  Eigentüm- 
lichkeiten zu  gelangen,  welche  sich  für  die  Landschaften 
gemischter  Siedelung  ergeben. 

Solche  Untersuchungen  können  nur  auf  umfassende 
Einsicht  und  Bearbeitung  der  Landeskartierungen  ge- 
gründet werden. 

Die  großen  topographischen  Karten,  welche 
im  Maßstabe  von  1:100000,  1:50000  oder  1:25000 
der  wirklichen  Länge  veröfiFentlicht  sind,  stellen  in  ihren 
Signaturen  überall  das  Ergebnis  spezieller,  bestimmte 
charakteristische  Erscheinungen  erfassender  Beobachtung 
der  wesentlichen  allgemeinen  Grundzüge  der  Siede- 
lung dar.  Sie  zeigen  die  Verteilung  der  Wohnplätze 
nach  ihren  Gruppen  oder  ihrer  Vereinzelung,  die  gegen- 
seitige Entfernung,  die  Gestalt  der  Weiler  und  Dörfer, 
die  Lage  der  Gehöfte  in  den  Ortschaften,  die  Dorfstraßen 
und  den  Verlauf  der  Verkehrs-  und  Feldwege,  die  Aus- 
dehnung der  Gärten,  der  Aecker  und  der  Wiesen,  und 
die  Verbreitung  des  unkultivierten  Landes  an  Waldungen, 
Heiden,  Mooren  und  Sauden. 

Genauere  Einsicht  aber  hängt  überall  von  der  Kennt- 
nis der  Besitzverteilung  ab.  Diese  weisen  die  topo- 
graphischen Karten  nicht  nach,  und  sie  wird  auch  durch 
die  Agrarstatistik  der  einzelnen  Staaten,  Bezirke  und  Ge- 


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492  August  Meitzen, 

meinden  nur  in  Durchschnittszahlen  geboten,  welche  keine 
Anschauung  von  der  gegenseitigen  Lage  gewähren.  Auch 
aus  dem  Augenschein  am  Orte  selbst  läßt  sich  die  Lage 
der  einzelnen  Grundstücke  der  verschiedenen  Besitzungen 
in  ihren  Besonderheiten  nur  sehr  schwer  tibersehen.  Die 
entscheidenden  Hilfsmittel  der  einschlagenden  Ermitte- 
lungen sind  deshalb  im  wesentlichen  die  Flur  karten, 
welche  im  Maßstab  von  1  :  5000  bis  1  :  1250  der  wirk- 
lichen Längen  aufgemessen  sind.  Sie  zeigen  ein  Bild  der 
Verteilung  aller  einzelnen  Parzellen  und  weisen  in  zuge- 
hörigen Registern  für  jede  der  Parzellen  Kulturart,  Fläche 
und  Eigentümer,  meist  auch  den  durch  Schätzung  ge- 
fundenen verhältnismäßigen  Wert  nach. 

Solche  Parzellarkarten  sind  mit  seltenen  Ausnahmen 
für  alle  Ortschaften,  entweder  aus  den  Katasteraufnahmen 
oder  aus  Verkoppelungen ,  aus  gutsherrlich-bäuerlichen 
Auseinandersetzungen  oder  aus  sonstigen  amtlich  be- 
glaubigten Vermessungen  vorhanden.  Sie  finden  sich  so- 
wohl bei  den  Ortsverwaltungen  als  bei  den  Behörden, 
welche  die  Messung '  veranlaßt  haben. 

Es  ist  sehr  lehrreich,  an  einem  oder  dem  anderen 
Orte  die  Karte  mit  der  Lokalität  selbst  zu  vergleichen 
und  mit  den  Besitzern  die  Gründe  der  Einteilung  und 
die  Bestimmungen  des  Betriebes  und  der  Nachbarrechte 
zu  besprechen.  Aber  dies  ist  nur  in  einzelnen  Fällen 
und  zur  Aufhellung  unklar  gebliebener  Fragen  erforder- 
lich und  selten  möglich. 

Im  wesentlichen  ist  die  Untersuchung  auf  das  bei 
den  gedachten  Behörden  vorhandene  Material  an- 
gewiesen. Hier  finden  sich  die  Karten  großer  Landes- 
teile vereinigt,  so  daß  sie  im  Zusammenhange  durch- 
gesehen auf  die  Gleichartigkeit  ihrer  Bilder  geprüft  und 
nach  charakteristischen  Verschiedenheiten  gesondert  wer- 
den können.  Hier  läßt  sich  auch  aus  den  Registern  und 
aktenmäßigen  Verhandlungen  am  einfachsten  das  Ver- 
ständnis dieser  Bilder  gewinnen.  Wo  sich  Neues  zeigt, 
kann  es  alsbald  in  seinen  Besonderheiten  festgestellt  und 
ähnliches  zur  Vergleichung  gezogen  werden.  Zugleich 
aber  bietet  sich  bei  diesen  Behörden  die  schwer  entbehr- 


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Besiedelung,  Uausbaa  und  landwirtschafiliche  Kultur.     498 

liehe,  uns  in  der  Regel  mit  großer  Bereitwilligkeit  und 
freundlichem  Interesse  gewährte  sachkundige  Aus- 
kunft der  Verwaltungs-  und  Vermessungsbeamten,  welche 
durch  langjährige  spezielle  Amtsthätigkeit  die  Feldfluren 
ihres  Bezirkes  in  allen  Eigentümlichkeiten  der  Lage  und 
der  Betriebs-  und  Rechtsverhältnisse  genau  kennen  und 
mit  Sicherheit  sagen  können,  wo  das  tibereinstimmende 
Kartenbild  gleiche  agrarische  Verhältnisse  verbürgt,  und 
wo  es  sich  empfiehlt,  für  gewisse  Fragen  nähere  akten- 
mäßige Ermittelungen  vorzunehmen. 

Es  ist  erklärlich,  daß  diese  Untersuchungen,  welche 
sich  im  Zusammenhange  auf  das  gesamte  Gebiet  unserer 
modernen  Kulturstaaten  erstrecken  müssen,  bisher  nur 
lückenhaft  durchgeführt  werden  konnten  und  manche 
Probleme  offen  lassen  mußten.  Es  werden  also  noch 
lange  von  der  Lokalforschung  ergänzende  und  berichti- 
gende Arbeiten  erwartet  und  unternommen  werden  müssen. 
Aber  um  so  mehr  ist  es  notwendig,  für  die  Beobachtungen 
der  Landeskunde  wenigstens  von  den  erreichten  ersten 
Grundzügen  auszugehen.  Die  Landeskunde  soll  diese  un- 
^  entbehrliche  Grundlage  für  ihren  eigenen  Erkenntniskreis 
mehr  und  mehr  ausbauen.  Was  aber  von  diesem  bereits 
bekannt  und  erworben  ist,  hat  auch  die  Aufgabe  jeder 
Lehre  zu  erfüllen.  Der  Nachfolgende  soll  der  Arbeit  noch- 
maliger Entdeckung  überhoben  und  seine  Kraft  für  neue 
Forcjchung  gewonnen  werden. 

Andere  Wege  allerdings  geht  die  Beobachtung  des 
Einzelnen,  des  Interessanten  im  wechselnden  Leben  der 
ländlichen  Bevölkerung.  Sie  fordert  individuelle  und  per- 
sönliche Beziehungen,  und  trachtet  nach  unmittelbarer 
und  lebendiger  Anregung  und  Förderung. 

Beide  Richtungen  der  Landeskunde  sollen  deshalb  im 
folgenden  nach  ihren  verschiedenen  Gesichtspunkten  und 
Hilfsmitteln  auseinander  gehalten  werden. 


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494  August  Meitzen, 


II.  Charakter  der  Ansiedelungen  and  des  Agrarwesens 
in  den  Tersehiedenen  Landscliaften  Deutsehlands. 

1.  Die  altgermanischen  Volkggebiete. 

Die  bisher  erlangten  Ergebnisse  der  Forschung  über 
die  volkstümlichen  Typen  der  Ansiedelung  und  des  durch 
sie  bedingten  Agrarwesens  unserer  europäischen  Kultur- 
völker lassen  sich,  soweit  sie  Deutschland  betreffen,  folgen- 
dermaßen  überblicken. 

Vier  Nationen  haben  auf  diesem  Ländergebiete  ihre 
volkstümliche  Art  der  Ansiedelung  zur  Geltung  gebracht, 
die  Kelten,  die  Römer,  die  Deutschen  und  die 
Slawen. 

Unter  ihnen  haben  die  Deutschen  bei  weitem 
den  größten  Einfluü  geübt.  Denn  sie  haben  nicht 
allein  einen  gewissen  Teil  Deutschlands  ausschließlich  und 
ursprünglich  besiedelt,  sondern  auch  im  gesamten  übrigen 
Deutschland  die  Siedelungen  der  anderen  Nationen  fast 
ausnahmslos  in  deutschem  Sinne  umgestaltet.  Sie  haben 
die  früher  hier  von  den  Kelten  angelegten  Ansiedelungen 
in  Besitz  genommen  und  mehr  oder  weniger  den  volks- 
tümlichen deutschen  Sitten  angepaßt.  Von  den  seit  Cäsars 
Zeit  begründeten  römischen  Kolonieen  haben  sie  kaum 
Spuren  übrig  gelassen.  Die  seit  der  Völkerwanderung 
von  der  Weichsel  zur  Elbe  und  Saale  vorgeschobene 
slawische  Besiedelung  des  Ostens  aber  ist  durch  sie  mit 
geringer  Ausnahme  in  deutsche  Flur-  und  Betriebsein- 
richtung gebracht  worden. 

Daraus  ergeben  sich  Unterscheidungen  rein 
nationaler  und  gemischter  Siedelung  in  gewisser 
geographischer  Verbreitung.  Jede  dieser  Anlagen  aber 
läßt  wieder  einige  im  Laufe  der  Jahrhunderte  aufgetretene 
Entwickelungsstufen  erkennen.  Verglichen  mit  den  Vor- 
gängen, die  uns  historisch  aus  dem  Wechsel  der  Völker- 
bewegungen bekannt  sind,  entsteht  «auf  diese  Weise  ein 
sehr  anziehendes  kulturhistorisclies  Bild,  welches  auch 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     495 

für  die  Gegenwart  besonders  belehrend  ist,  weil  es  seine 
wichtigsten  Beweismittel  den  uns  unmittelbar  vor  Augen 
liegenden  agrarischen  Thatsachen  entnimmt. 

Die  Kelten  hatten  noch  zur  Zeit  der  ersten  Nach- 
richten Ciisars  und  Strabos  ganz  Süddeutschland  inne. 
Außery  dem  gesamten  Flußgebiete  der  Donau  und  dos 
Rheins  ist  aber  auch  von  der  Porta  Westfalica  ab  das 
linke  Ufer  der  Weser  bis  zur  Nordseeküste  und  vom  Eib- 
gebiete der  größte  Teil  von  Böhmen  als  ursprünglich 
keltischer  Boden  anzusehen. 

Die  Römer  haben  ihre  Herrschaft  zwar  vorüber- 
gehend beinahe  ebenso  weit  ausgedehnt.  Wirtschaftlich 
aber,  so  daß  Ansiedelungen  entstehen  konnten,  haben  sie 
Deutschland  nur  bis  zum  Limes  romanus  in  Besitz  ge- 
nommen. Diese  noch  heut  als  Pfahlgraben  fast  auf 
ihrer  gesamten  Linie  erkennbare  Grenze  begann  bei  Em- 
merich an  dem  Drususkanale  zur  Yssel,  zog  sich  dem 
Rhein  parallel  an  die  Lippe  und  zwischen  Elberfeld  und 
Barmen  hindurch  längs  der  Höhen  der  rechtsrheinischen 
Berge  und  des  Taunus  um  die  Ebene  der  Wetterau  nach 
dem  Main  oberhalb  Hanau,  setzte  sich  dann  vom  Main- 
knie bei  Miltenberg  nach  Oettingen  und  dem  Remsthal 
fort  und  führte  aus  diesem  weiter  über  Gunzenhausen 
nach  Pföring  an  die  Donau,  welche  von  da  ab  bis  Pan- 
nonien  als  Grenze  galt. 

Gegen  die  Slawen  endlich  zog  Karl  der  Große  805 
nach  glücklich  beendeten  Awaren-  und  Sachsenkriegen 
eine  ähnliche  Grenze  des  deutschen  Reiches,  den  Limes 
sorabicus.  Sie  führte  an  der  Donau  aufwärts  von  Lorch 
bei  Linz  bis  Regensburg,  von  da  zur  Regnitz  nach  Brem- 
berg  (Nürnberg?),  Forchheim  und  Bamberg,  weiter  über 
den  Thüringerwald  nach  Erfurt  und  dann  die  Saale  ent- 
lang nach  Naumburg,  Merseburg,  Chesla  (nordöstlich 
Gifhorn)  und  Bardowiek.  Jenseits  der  Elbe  aber  setzte 
sie  sich  von  Lauenburg  längs  der  Delvenau  nach  Lübeck 
und  über  Plön  an  der  Swentine  nach  der  Kieler  Bucht  fort. 

Durch  diese  historisch  bekannten  Grenzlinien  erweist 
sich,  daß  das  mit  Sicherheit  und  ausschließlich  in  volks- 
tümlicher Weise  deutsch  besiedelte  Gebiet  inner- 


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496  August  Meitzen, 

halb  Deutschlands  verhältnismäßig  klein  ist.  Es  umfa&t 
im  wesentlichen  nur  die  Landschaften  zwischen  Weser 
und  Wiuterberg  im  Westen,  Westerwald.  Taunus  und 
Thüringei'wald  im  Süden,  und  Saale  und  Delvenau  im 
Osten.  Im  Norden  schließt  sich  demselBöir\aber  die 
cymbrische  Halbinsel  und  das  ostgermanische  S^ 
vien  Yon  Schonen  bis  gegen  den  Mälarsee  an. 

Innerhalb  dieser  Grenzen  läßt  sich  nun  der  Charakter 
der  deutschen  volkstümlichen  Ansiedelungen  deutlich  er- 
kennen. Mit  Ausnahme  gewisser  Ortschaften  und  Wohn- 
plätze,  deren  Entstehung  in  der  Neuzeit  oder  im  späten 
Mittelalter  sicher  zu  erweisen  ist,  besteht  fast  über- 
raschende typische  Uebereinstimmung. 

Ueberall  finden  sich  Dörfer  von  meist  mitt- 
lerer Größe.  In  den  Dorf  lagen  derselben  liegen  die 
Gehöfte  ersichtlich  planlos,  meist  völlig  unregel- 
mäßig und  oft  schwer  zugänglich,  so  daß  diese  Anlagen 
mit  Recht  als  Turf,  Haufen  oder  Haufendorf  zu  bezeich- 
nen sind.  Die  Ausdehnung  ihrer  Fluren  ist  zwar  nach 
der  Größe  der  Allmenden  und  des  erworbenen  Marken- 
landes verschieden.  Das  eigentliche  alte  Kulturland  an 
Aeckem,  Gärten  und  Feldwiesen  aber  nimmt  ziemlich 
übereinstimmende  Flächen  von  300 — GUÜ  ha  ein.  Sehr 
große  Fluren  sind  aus  Wüstungen  vereinigt  oder  durch 
spätere  Rodungen  angewachsen. 

Für  alle  diese  Dörfer  läßt  sich  die  Hufenverfassung 
nachweisen.  Sie  zerfielen  in  10  bis  40  gleiche  Anteile, 
welche  danach  bemessen  waren,  daß  sie  einem  Hausvater 
mit  seiner  Familie  den  Unterhalt  und  die  Mittel  für  die 
öffentlichen  Lasten  zu  gewähren  vermochten,  aber  auch 
von  einer  bäuerlichen  Familie  mit  wenigem  Gesinde  be- 
stellt werden  konnten.  Diese  Anteile  waren  als  einzelne 
Besitzungen  ausgewiesen,  es  konnten  aber  auch  mehrere 
in  einer  Hand  liegen  oder  einzelne  in  Halbe,  Viertel  oder 
Achtel  geteilt  sein. 

Der  Grundbesitz  aller  dieser  Anteile  lag,  soweit  er 
kultiviert  war,  in  der  Flur  im  Gemenge.  Das  Ackerland 
war  in  Abschnitte  (Gewanne)  von  in  sich  gleicher 
Bodenbeschaffenheit  geteilt,   und  in  jedem  dieser  Ab- 


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Besiedelung.  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     497 

schnitte  kam  jeder  Hufe  eine  gleiche  Fläche  zu. 
Nach  alter  bleibender  Sitte  wurden  die  Hufenanteile  in 
jedem  Gewann  einzeln  nach  dem  Lose  zugewiesen.  In 
Schleswig- Holstein  kommt  auch  der  sog.  Solfall,  die  Ver- 
teilung nach  der  Sonne,  d.  h.  nach  der  Reihe  in  der 
Dorflage  vor.  Ursprünglich  scheinen  die  Abschnitte  so 
gebildet  worden  zu  sein,  daß  die  Fläche  der  einzelnen 
Hufe  in  jedem  Gewanne  etwa  einen  Morgen  oder  Tage- 
werk, also  das  Maß  betrug,  was  an  einem  Vormittage 
oder  Tage  gepflügt  werden  konnte.  Die  Morgen-  oder 
Jochgröße  war  in  den  verschiedenen  Dörfern  nach  Boden 
und  Sitte  verschieden.  Regulierungen  von  in  Unordnung 
gekommenen  Gewannen  und  nacbträgliche  Verteilungen 
des  zwischen  den  älteren  Gewannen  liegen  gebliebenen 
Landes  wurden  dagegen  durch  Teilung  der  Fläche  des 
l)etrefFenden  Abschnittes  in  parallele  Streifen  vorgenom- 
men, deren  Größe  dem  Hufenanrecht  an  dieser  Fläche 
entsprach;  dies  war  bei  gegebenen  Gewanngrenzen  das 
einfachste.  Wege  kamen  bei  der  Teilung  gar  nicht  in 
Rücksicht,  sondern  sind  erst  später  entstanden,  und  durch- 
schneiden die  einzelnen  Ackerstücke  in  der  Richtung  auf 
die  Nachbarorte  wie  es  sich  triflFt,  oft  höchst  unzweck- 
mäßig. Für  die  Feldbestellung  bestanden  überall  nur 
Ueberfahrtsrechte.  Deshalb  und  wegen  des  gemeinschaft- 
lichen Weideganges  der  Herden  aller  Wirte  war  Flur- 
zwang notwendig. 

Die  Flur  war  in  meist  3,  aber  auch  2  oder  4  und 
mehr  möglichst  gleich  große  Felder  oder  Schläge 
so  geteilt,  daß  zu  jedem  Schlage  eine  Anzahl  Gewanne 
gehörte,  und  wegen  der  verhältnismäßigen  Verteilung  jedes 
Gewannes  unter  die  vorhandenen  Hufen  in  jedem  Schlage 
auch  von  jeder  Hufe  die  ungefähr  gleiche  Fläche  lag. 
Alle  Grundstücke  desselben  Schlages  aber  mußten  auf 
Kundgebung  des  Dorfvorstandes  zu  gleicher  Zeit  bestellt 
und  mit  gleicher  Frucht  besät,  und  ebenso  zu  gleicher 
Zeit  abgeerntet  und  dem  Weidevieh  ofl^en  gegeben  werden. 
Gegen  letzteres  wurde  der  Schlag,  solange  die  Frucht 
stand,    von   den  Wirten  nach  ihren  Anteilen   abgezäunt. 

Anlettnng  zur  deatachen  Landes-  und  Volksforichung.  32 


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498  August  Meitzen, 

Die  meisten  Dörfer  besaßen  Allmenden,  d.  li.  Wald-. 
Wiesen-  oder  Heideland,-  das  nicht  an  die  Hüfner  verteilt 
war,  sondern  von  ihnen  gemeinschaftlich  benutzt  oder 
auch  stückweise  an  einzelne  Dorfgenossen,  an  später  be- 
gründete kleine  Stellen,  oder  selbst  an  Auswärtige  auf 
Zeit  oder  dauernd  gejren  Zins  überlassen  wurde. 

Da  die  Allmenden  ursprünglich  wie  die  gesamte  Flur 
den  Hufen  zu  gleichen  Anteilen  zustanden,  ist  die  eigent- 
liche Größe  der  Hufen  in  den  verschiedenen  Dörfern 
sehr  verschieden.  Aber  auch  die  Größe  des  Kultur- 
landes  der  Hufe  ist  selbst  in  Nachbardörfern  sehr  un- 
gleich, weil  es  davon  abhing,  wie  weit  die  Hüfner  ihre 
Gewanne  in  die  Allmende  ausgedehnt  hatten. 

Indes  ist  schon  im  frühen  Mittelalter  ein  auf  das 
örtliche  Bedürfnis  beschränktes  Ausmaß  für  die  Hufe 
üblich  geworden,  welches  ortschafts-  und  gegend weise 
zwischen  20  bis  120  Morgen  schwankt,  und  wegen  der 
verschiedenen  Morgengröße  von  Ort  zu  Ort  auch  noch 
mehr  abweicht.  Schon  früh  aber  haben  die  deutschen 
Könige  und  Kaiser  für  ihre  Landverleihungen  in  enT^ 
fernteu,  ihnen  nicht  näher  bekannten  Oertlichkeiten  ein 
festes  Maß  verwenden  müssen.  Dies  ist  die  Königshufe, 
welche  sich  für  die  Karolingerzeit  auf  48  — r)0  ha  be- 
rechnet. Im  späteren  Mittelalter  haben  dann  die  Landes- 
herren für  ihre  Verleihungen  und  für  größere  Landmes- 
sungen den  Gebrauch  gleichen  Landmaßes  angeordnet 
und  für  den  Morgen  und  die  Hufe  in  ihren  Territorien 
eine  bestimmte,  vom  landesüblichen  Fußmaße  abhängige 
Größe  eingeführt.  Deshalb  sind  für  denselben  Ort  oft  sehr 
widersprechende  Angaben  über  die  Hufenzahl  vorhanden. 

Die  meisten  Wirte  besaßen  auch  Markenrechte, 
d.  h.  Eigentums-  oder  Nutzungsrechte  an  Grundstücken, 
die  zu  keiner  Dorfflur  gehörten,  sondern  Reste  des  aul.:er- 
halb  der  Ansiedelungen  verbliebenen  Landes  waren  und 
auf  das  alte  Volksland  zurückzuführen  sind.  Diese  alten, 
meist  sehr  ausgedehnten,  unbesiedelten  Marken  standen 
unter  einer  gewohnheitsrechtlichen  Verwaltung  und  Ge- 
richtsbarkeit der  Gemeinschaft  aller,  oft  sehr  entfernt 
wohnenden  Markgenossen,  welche  in  herkömmlicher  Weise 


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Bcsieclelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     499 

Anrechte  an  diesen  Ländereien  besaßen.  Im  Laufe  der 
Zeit  teilten  diese  indes  vielfaeli  die  Marken  vertragsmäßig 
und  lösten  sie  allmählich  so  weit  auf,  daß  alle  oder  ein- 
zelne  Beteiligte   ihren  Anteil   als  Sondereigen   erhielten. 

Flg.  1. 


Wurde  ein  solches  Markenstück  ausschließlich  den  Ge- 
nossen eines  Dorfes  zugewiesen,  so  erhielt  es  ganz  den 
Charakter  der  Allmende,  nur  mit  dem  erklärlichen  Unter- 
schiede, daß  die  Anrechte  daran  nicht  notwendig  den 
Hufenanteilen,    sondern   den  Markenrechten    entsprachen. 


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300 


August  Meitzen, 


Die  Verhältnisse  eines  solchen  Dorfes  erläutert  das 
schematische  Bild  einer  verkleinerten  Flurkarte  (Fig.  1) 
näher  ^). 

Zu  diesem  Kartenbilde  ist  foldendes  zu  bemerken.  Das 
Dorf  enthalt,  wie  das  Bild  zeigt,  18  Hofstätten,  Schule  und 
Kirche.  Aus  dem  Vermessungsregister,  welches  die  Flächen-  und 
Besitzangabe  für  jede  einzelne  verzeichnete  Parzelle  enthalten  muü. 
würde  sich  ohne  Schwierigkeit  eine  Tabelle  zusammenstellen  lassen, 
welche  Gewann  für  Gewann  das  Verhältnis  der  Beteiligung  jeder 
einzelnen  Besitzung  an  demselben,  schließlich  die  Gesamtsumme 
der  Grundstücke  derselben  nachweist. 

Diese  Tabelle  würde  folgende  Form  haben: 


Besitzer 

Gewann  5 

Gewann  0 

Morgen 

Hufen- 
anteile 

zu   6,4 

Morgen 

Hafen- 
anteile 
zu  1„. 

D 

19,a 

3 

4,« 

3 

P 

6,4 

1 

1,6 

1 

S 

14.8 

a»* 

''\i 

2';4 

a 

4,8 

3* 

1,1 

^» 

b 

12,« 

2 

1,5 

1 

c 
d 

6.5 

1 

1,6 

1 

e 

— 

— 

l.c 

1 

f 

6.4 

1 

1,5 

1 

9 
h 

Q 

6.8 

l 

1,T 

1 

X 

- 

- 

— 

- 

Zusammen 

76,8 

12 

19,2 

12 

u.    s.   f.   bis    zur 
Summe  jeder  Be- 
sitzung. 


*)  Kartenbilder  thatsächlich  vorhandener,  derartig  in  volks- 
tümlich deutscher  Weise  angelegter  Dörfer  sind  veröffentlicht: 
Winterhude  bei  Hamburg  in  D.  W.  Hübbe,  Einige  Mitteilungen 
über  Kulturverhältnisse,  Sitten  und  Gebrauche  im  Landgebiete  Ham- 
burg. Zeitschrift  des  Vereins  für  hamburgische  Geschichte.  Neue 
Folge  1865,  Bd.  II,  Heft  3.  S.  429.  —  Echte  bei  Nordheim  in 
W.  Seelig,  Die  Verkoppelungsgesetzgebung  in  Hannover.  1852.  — 
Apelern.  Kr.  Rintelen ,  in  H.  Weitemeyer,  Die  Grundstäcks- 
zusammenlegung in  der  Feldmark  Apelern.  Rintelen  1883.  — 
Waldau  bei  Kassel  in  K.  Peyrer,  Die  Zusammenlegung  der 
Grundstücke  u.  s.  w.  Wien  1873.  —  Varmissen,  Amt  Münden. 
Karte   von   der  Feldmark   vor   und  nach   der  Verkoppelung  nach 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     501 

Beispiele  vollständigem  Berechnungen  finden  sich  in:  Meitzen. 
Cod.  dipl.  Sil.  Bd.  IV,  1863,  S.  33  für  Domslau,  S.  45  für  Tschech- 
nitz,  S.  55  Krampitz,  S.  82  Zedlitz.  —  G.  H.  Schmidt,  Zur 
Agrargesch.  Lübecks  u.  Ostholsteins.   Zürich  1887,  S.  36  für  Kembs. 

Auch  ohne  daß  es  urkundlich  bekannt  wäre,  würde  diese  Be- 
rechnung zeigen,  daß  das  Dominium  3  Hufen,  die  Pfarrei  1,  die 
Scholtisei  2V4,  der  Bauer  b  1  V-s  die  Bauern  d  und  f  je  1,  a  '/<  und 
e  Va  Hufe  besitzen,  h  ist  in  3  Kätnerstellen  dismembriert ,  außer- 
dem sind  7  Gärtner  außerhalb  des  Hufenlandes  auf  Dominial-  und 
Allmendeland  angesetzt,  c  der  Kretscham  ist  unbeäckert,  die  früher 
zur  Stelle  gehörigen  Grundstücke  hat  die  Scholtisei  in  Besitz. 

Das  alte  Hufenland  bilden  die  Gewanne  8,  10—18  und  22 
bis  38.  In  jedem  dieser  Gewanne  mit  Ausnahme  von  36 — 38  be- 
sitzt jede  der  12  Hufen  ungefähr  1  Morgen,  in  den  Gewannen  36 
bis  38  aber  je  4  Morgen.  Letztere  sind  einer  späteren  Regulierung 
unterworfen  worden,  und  zwar  zu  einer  Zeit,  in  welcher  das  Domi- 
nium nur  2  Hufen  besaß,  denn  es  würde  sonst  bei  der  Regulierung 
die  dritte  Hufe  mit  den  beiden  übrigen  zusammengelegt  worden 
sein.  Da  die  Scholtisei  überall  neben  der  '/*  Hufe  a  liegt,  zeigt 
sich,  daß  diese  V^  Hufe  früher  zur  Scholtisei  gehörte. 

Die  Teilung  des  zwischen  den  alten  Gewannen  belegenen  AI-  - 
mendelandes  5,  Ü,  7,  9  und  21,  sowie  der  sämtlichen  Wiesen  39  und 
40  hat  erst  stattgefunden,  als  das  Dominium  bereits  3  Hufen  er- 
worben und  die  Scholtisei  das  Land  von  c  eingezogen  hatte,  aber 
eher  als  die  Scholtisei  die  Stelle  a  mit  V^  Hufen  von  ihrem  alten 
Besitze  von  2  Hufen  abzweigte,  weil  a  auch  in  allen  AUmende- 
stücken  neben  der  Scholtisei  liegt. 

Die  Allmende  44  ist  noch  ungeteilt.  43  ist  ein  Erbenschafts- 
wald, an  welchem  das  Dominium  keinen  Anteil  mehr  hat.  Es  ist 
in  16  Schlägen  bewirtschafteter  Niederwaid,  welcher  nach  dem  Ein- 
schlage das  ei'ste  Jahr  beackert  wird.  Daran  sind  die  Pfarrei 
und  8  Hufen  zu  gleichen  Rechten  beteiligt.  Das  Dominium  ist 
durch  den  Plan  43  abgefunden,  welchen  dasselbe  den  7  Gärtnern  (/ 
überwiesen  hat.  Diesen  Gärtnern  sind  auch  aus  der  im  übrigen 
ungeteilten  Allmende  die  Wiesen  41  überlassen  worden. 

Die  Gewanne  19  und  20  bilden  eine  Abfindung  aus  der  Mark  M. 
Die  Anteile  zeigen,  daß  das  Dominium  2  Anteile,  die  Scholtisei 
2  Anteile,  die  Hufen  &,  e,  f,  h  je  1  Anteil  und  die  Gemeinde  3  An- 
teile an  der  Abfindung  besaßen.  Das  Dominium  hat  seine  3  An- 
teile in  20  den  7  Gärtnern  abgetreten.  Auch  eine  weitere  Teilung 
der  Mark  ist  eingetreten.     Durch  dieselbe  hat  das  Dominium  den 


Schüttler  (Bayer  &  Hoyer,  Kassel).  —  Mölme,  Amt  Marienburg, 
in  Festschrift  zur  Säkularfeier  der  landwirtschaftl.  Gesellsch.  Celle. 
Hannover  1864.  Zeichnung  Blatt  8.  (Die  Gewanne  sind  nicht  die 
ursprünglichen,  sondern  1831  bereits  reguliert.)  —  Vergl.  Schön- 
berg, Handbuch  der  politischen  Oekonomie,  2.  Aufl.,  T.  II,  S.  158  ff. 
Tübingen  1886. 


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502  August  Meitzen, 

Waldplan  8  und  die  Scholtisei  das  Rodeland  2  erhalten.  Diese 
Grundstücke  sind  indes  nicht  zur  Dorfflur  geschlagen  worden. 

Die  Aecker  der  Flur  sind  stets  in  Dreifelderwirtschaft 
mit  Flur  zwang  bewirtschaftet  worden.  Ursprünglich  bildeten 
Gewann  10—12,  l(i-18  und  22-27  das  I ,  Gewann  8,  13-15  und 
28—35  das  II.  und  Gewann  36-38  das  III.  Feld.  Durch  die  Auf- 
nahme der  früheren  Allmendestücke  5,  6,  7,  9  und  21  in  das  Acker- 
land ist  indes  eine  andere  Dreifeldereinrichtung  nötig  geworden, 
welche  so  erfolgt  ist,  daß  21  zu  Feld  I,  8,  13,  14  und  15  zu  Feld  111 
und  dagegen  als  Firsatz  5,  6,  7  und  9  zu  Feld  U  geschlagen  wor- 
den sind. 

Die  Markanteile  20  liegen  außerhalb  des  Flurzw^anges  und 
der  drei  Felder,  deshalb  konnten  davon  verschiedene  Stücke  x  au 
in  benachbarten  Dörfern  wohnende  Auswärtige  (Forensen)  abgetreten 
werden.  Dies  ist  trotz  des  Flurzwangs,  dem  sie  dadurch  unter- 
worfen wurden,  auch  in  21  von  b  und  f  geschehen.  Diese  Stellen 
finden  in  '20  die  nötige  Ergänzung  für  ihren  Wirt  seh  afbsbet  rieb. 
c  hat  für  die  an  h  im  Hufenlande  abgetretene  halbe  Hufe  in  20 
einen  annähernden  P^rsatz  erlangt,  welcher  flurzwangsfrei  vorteil- 
hafter bewirtschaftet  werden  kann. 

2.  Die  keltische  Besiedelung  in  Deutschland. 

Das  Wesen  der  keltischen  volkstümlichen  Be- 
siedelung läßt  sich  am  sichersten  aus  den  Flurverhält- 
nissen von  Irland  erkennen.  Sie  wird  hier  durch  die 
altüberlieferten  irischen  Gesetze  hinreichend  erläutert '). 
Irland  zerfiel  im  7.  Jahrhundert  in  184  Tricha  ceds,  von 
denen  jedes  30  Bailes  oder  Townlands  enthielt.  Es  be- 
standen also  5520  Townlands.  Jedes  derselben  enthielt 
als  Regel  »SOO  Kühe  in  vier  Herden  und  teilte  sich  in 
vier  Quarters.  Der  Quarter  berechnete  sich  in  den  ver- 
schiedenen Landschaften  Irlands  auf  120  oder  240  irish 
acres  gleich  1(30  oder  820  englische  Statute  acres,  d.  i. 
()4,8  oder  129,«  ha,  und  es  bestanden  in  demselben  meist 
vier,  hier  und  da  auch  sechs  Tates  oder  Haushaltungen. 
Diese  Townlands,  welche  sich  1598  auf  0814  vermehrt 
hntten,  sind  noch  heut  in  Irland  in  großer  Anzahl  nach 
Quarters  und  Tates  mit  ihren  Namen  und  Grenzen  nach- 
weisbar.    Sie  gründen  sich  auf  die  ('1  an  Verfassung. 

')  Fr.  Seebohni.  Tlie  Knglish  Village  comniunitv.  London 
1883.  Uebers.  von  Th.  v.  Bunsen.  Heidelberg  1885.  --  Fr.  Walter, 
Das  alte  Wales.     Bonn  1.^51». 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     503 


Es  gab  184  alte  Clane  unter  patriarchalisch  regieren- 
den Clanhäuptlingen.  Alle  Mitglieder  des  Clans  glaubten 
von  demselben  Ahn  abzustammen,  führten  denselben  Na- 
men und  hatten  am  Landgebiete  des  Clans,  mit  Aus- 
nahme einer  gewissen  Häuptlingsdomäne,  gleiches  Anrecht. 
Sie  erhielten  davon  ein  entsprechendes  Stück  auf  Lebens- 
zeit zugewiesen.  Erbrecht  bestand  nur  an  der  beweg- 
lichen Habe,  und  nur  für  Söhne,  aber  für  eheliche  und 
uneheliche  gleich. 

Der  Haushalt  des  Townlands  war  ursprünglich 
ein  gemeinsamer.  Solange  er  nicht  mehr  als  16  Familien- 
väter zählte,  wohnten  sie  unter  einem  ünterhäuptlinge  in 
demselben  Hause. 


Fig.  3. 


Fig. 


Dieses  Haus  wird  in  den  Gesetzen  genau  beschrieben. 
Es  bestand  aus  sechs  in  zwei  Reihen  gewachsenen  oder 
eingegrabenen  Baumstämmen,  an  denen  oben  Zweige 
gabelförmig  so  stehen  gelassen  waren,  daß  sie  zusammen- 
gebunden Kreuzungen  bildeten,  über  welche  ein  langer 
Stamm  als  Firstbalken  zum  Tragen  des  Daches  gelegt 
wurde.  Das  große  Rohrdach  wurde  vom  First  aus  an 
den  drei  Säulen  jeder  Seite  befestigt  und  weiter  fort  bis 
zu  niedrigen  Flechtwerken  geschleppt,  die  die  Seitenwände 
bildeten.  Auf  diese  Weise  entstand,  wie  die  Zeichnungen 
Fig.  2  u.  3  andeuten,  ein  dreischiffiger  geräumiger  Bau, 
der  in  der  Mitte  eine  Halle  mit  dem  Herde  und  am  Hinter- 
gieb^l,  wie  es  scheint,  eine  Art  Tribüne  für  den  Häupt- 


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504  August  Meitzen, 

ling,  in  den  beiden  Seitenschiffen  aber  vier  Abteilungen 
zu  je  vier  Betten  (gwellys)  enthielt.  Zwischen  den  Säulen 
liefen  vor  jeder  Abteilung  Bretter,  auf  denen  man  beim 
Aufenthalt  in  der  Halle  saß.  Die  Häuser  der  Könige 
hatten  abgerindete  Säulen  (das  weiße  Haus),  im  übrigen 
waren  die  der  Ober-  und  Unterhäuptlinge,  wie  die  der 
einzelnen  Tates  gleich  und  unterschieden  sich  nur  durch 
das  doppelte  oder  vierfache  Wergeid  jedes  BaustQckes 
bei  Beschädigungen.  Dieses  Wergeid  muß  mehr  durch 
die  Würde  als  die  Größe  bedingt  gewesen  sein,  weil  die 
Fläche  der  Schlafstelleu  und  die  Länge  der  Hölzer  keine 
sehr  großen  Unterschiede  gestatteten. 

Wurden  die  Familien  zahlreicher,  so  wurde  das  Ge- 
biet in  Quarters,  bei  weiterem  Anwachsen  in  Tates  ge- 
teilt. Diese  Notwendigkeit  trat  etwa  im  7.  Jahrhundert 
ein,  und  damit  wurde  auch  der  Uebergang  von  der  Weide- 
wirtschaft zum  dauernden  Ackerbau  unvermeidlich. 
Den  früheren  Weiderevieren  entsprechend  wurde  jeder 
Täte  ihr  Land  im  Zusammenhange  zugewiesen  und  je 
nach  der  Beschaffenheit  und  Benutzung  in  unregel- 
mäßige Kämpe  zerlegt,  die,  wie  ausdrücklich  bekundet 
wird,  damals  zuerst  von  Mauern,  Gräben  oder  Hecken  um- 
zogen wurden.  So  liegen  sie  noch  heute,  trotz  der  völli- 
gen Veränderung  der  Eigentumsverhältnisse. 

Die  nachstehende  Karte  Fig.  4  giebt  das  schema- 
tische Bild  eines  solchen  irischen  Townlands.  I—IV 
sind  die  vier  Quarters,  jeder  mit  vier  Tates.  Täte  ///  4 
ist  das  ursprüngliche  Stammhaus  des  Townlands  mit  dem 
Bufgwall.  D  ist  das  Domänenland  des  Häuptlings,  der 
darauf  eine  Anzahl  Knechts-  und  Vasallenstellen  ange- 
setzt hat  *). 

Schon  mit  der  Wirtschaft  in  den  Tates  entstand  erb- 
licher  Familienbesitz  und  ein  Grundadel,  der  die 
ärmeren  Clanmitglieder  zu  Vasallen,  Knechten  oder  Päch- 

*)  Fr.  Seebohm  hat  a.  a.  0.  dos  Kartenbild  der  Bally  Bai* 
linderren  mit  den  Quarters  Crosheen,  Cartron  und  Carrowna- 
creggaun  in  Galway  County,  und  Karte  der  Half-Bally  of  Cor- 
reskallie  Monaghan  County  in  Irland  S.  224  veröffentlicht,  die 
auch  die  deutsche  Uebersetzung  von  Th.  v.  Bunsen  S.  148  giebt. 


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Beaiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     505 

tem  herabdrückte.  Die  englische  Herrschaft  betrachtete 
die  Clanhäuptlinge  als  Landlords  und  Lehnsadel  der  Krone. 
Die  übrige  bäuerliche  Bevölkerung  aber  wurde  mit  dem 
Ausgange  des  Mittelalters  zwar  als  freie  Leute,  aber  nur 
als  Zeitpächter  behandelt,  deren  iramisr  ungünstiger  wer- 
dende Lage  zu  den  heutigen  bekannten  Mißständen  ge- 
führt hat. 

Die  Verhältnisse   der   keltischen  Gallier,   welche 
Cäsar  vorfand,  entsprachen  nicht  mehr  der  alten  irischen 

Flg.  4. 


Clanverfassung,  wohl  aber  erinnerten  sie  daran.  Außer 
einer  mächtigen  Priesterschaft, .  welche  sich  ihre  unge- 
schriebenen Gesetze  und  Kultlieder  noch  aus  England 
holte,  bestand  überall  bereits  ein  dem  späteren  irischen 
entsprechender  Grundadel  mit  Lehnsleuten  und  Knechten. 
In  betreff  der  Besiedelung  aber  finden  sich  noch  heute 
im  größten  Teile  von  Frankreich  und  namentlich  in  allen 
südwestlichen  Departements,  ebenso  wie  in  Irland,  nur 
einzelne  Städte,  aber  fast  gar  keine  größeren  Dörfer, 
vielmehr  nur  kleinere  Weiler  um  Kirchen  und  Schlösser^ 


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50(3  August  Meitzen, 

und  im  übrigen  zerstreut  liegende  Einzelgehöfte,  welche 
von  den  zugehörigen  Grundstücken  in  umfriedeten  un- 
regelmäßigen Kämpen  möglichst  geschlossen  umgeben  sind. 
Dieser  Zustand  entspricht  auch  den  Schilderungen  Cäsars 
in  betreff  der  Lage  der  Wohnplätze  zu  seiner  Zeit,  und 
es  ist  anzunehmen,  daß  er  die  Kömerherrschaft  überdauert 
hat,  weil  die  Römer,  wo  sie  nicht  Militärkolonieen  an- 
legten, die  Verhältnisse  des  Grundbesitzes  der  Provinzialen 
nicht  veränderten. 

Ganz  entsprechend  ist  nun  die  Besiedelung 
von  Westfalen,  Friesland  und  dem  Niederrhein. 
Vom  linken  Weserufer,  der  oberen  Lippe  und  dem  Hell- 
wege ab  bis  zur  Nordsee  und  dem  Rhein,  ebenso  auch 
jenseits  des  Rheins  im  Westen  von  Neuß  und  Erkelenz 
und  weiter  in  Brabant  und  Flandern,  soweit  das  belgische 
Tiefland  reicht,  finden  sich  überall  den  keltischen  ganz 
ähnliche  Einzelhöfe. 

Das  Bild  dieser  Besiedelung  ergiebt  jedes  betreifende 
Blatt  der  Generalstabskarte  hinreichend  deutlich  *). 

Daß  diese  Landstriche  früher  keltisch  bewohnt  waren, 
läßt  sich  kaum  bezweifeln. 

Cäsar  fand  die  keltischen  Menapier  noch  in  den  Land- 
schaften rechts  des  Rheins. 

In  überraschenderweise  stimmt  überdies  das  west- 
fälische-Haus,  auf  welches  auch  das  friesische  zurück- 
zuführen ist,  mit  dem  geschilderten  keltischen  Hause 
überein.  Es  hat  allerdings  jetzt  auf  allen  größeren  Höfen 
eine  viel  mehr  in  die  Länge  entwickelte  Gestalt.  Wie 
die  nachfolgenden  Zeichnungen  Fig.  5 — 7  zeigen,  ist  aber 
der  Plan  derselbe  und  die  alte  Grundform  findet  sich 
noch  heute  in  den  Gebäuden  der  kleinen  Stellen  und 
Heuerlinge.  Die  Benutzung  ist  allerdings  eine  ganz  andere 
geworden,  denn  es  wohnt  nur  noch  eine  einzige  Familie 

*)  Veröffentlichte  Flurkarten  sind:  Scbulzenhof  Gassei,  Gem. 
üeberwasser  bei  Münster  in  G.  Landau,  Beilage  zum  Korrespon- 
denzblatt des  Gesamtvereins  der  deutschen  Gesch.-  u.  Altert.- Ver. 
Sept.  1859.  —  Natbergen,  Kr.  Osnabrück,  Karte  der  Feldmark 
vor  und  nach  der  Verkoppelung  im  Jahre  1863  u.  1804  (Salomon 
&  Läders,  Hannover). 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     5()7 

im  Hause  am  Platze  des  Häuptlings,  und  an  der  Stelle 
der  keltischen  Schlafstätten  stehen  Pferde  und  Kühe. 

Cäsar  erzählt  nun  ausdrücklich,  daß  sich  die  Teuk- 
terer  und  Usipier  in  den  Häusern  der  über  den  Rhein 
verjagten  Menapier  einwohnten,  bis  er  sie  im  folgenden 
Jahre  wieder  vertrieb. 

Es  liegt  deshalb  die  Folgerung  sehr  nahe,  daß  der 
schroffe  Gegensatz,  in  welchem  die  Besiedelung  auf  dem 
linken  Ufer  der  Weser  zu  der  volkstümlich  deutschen  auf 


Fig. 


dem  rechten  steht,  auf  Uebernahme  der  ursprünglich  kel- 
tischen Anlagen  durch  die  deutschen  Zuwanderer  beruht. 
Dies  gewinnt  dadurch  an  Wahrscheinlichkeit,  daß 
schon  die  ersten  aus  dem  alten  Herminonenlande  von  der 
mittleren  Elbe  stromabwärts  vordringenden  ingävonischen 
Stämme  an  der  Nordsee  als  Hauptkultus  ihres  Volks- 
bundes von  den  Kelten  den  Nerthusdienst,  den  Dienst  der 
Gottheit  der  Schiffahrt  und  des  Handels  übernahmen,  und 
ähnlich  die  später  zum  Niederrhein  gewanderten  Stämme 
der    Istävonen   sich   im  Wodans  -  Dienst  in  Gegensatz  zu 


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)08 


August  Meitzen, 


dem  uralten  herminonischen  Zeus-(Irinins-)Kultus  stellten. 
Wodan  ist  zwar  ein  Kriegsgott,  aber  ein  runenkundiger, 
überlegter,  kenntnis-  und  listenreicher,  und  keineswegs 
sittenstrenger  Freigeist,  ein  Abglanz  überlegener  Bildung. 
Er  ist  ersichtlich  unter  dem  Einflüsse  keltischer  Kultur 
zum  Bundesgott  erhöht. 

Jedenfalls   ist   die  Frage   nach   dem  Gegensatze  der 
Dörfer  und  der  Einzelhöfe,  sowie  der  deutschen  und  der 

Fig.  «. 


keltischen  Kultur  eines  der  interessantesten  Probleme, 
vor  das  sich  die  Landeskunde  Deutschlands  gestellt  sieht. 
Es  kommt  dabei  in  Betracht,  daß  die  herminonischen 
Mutterstämme  noch  durch  Jahrhunderte  in  sporadischem 
und  halbnomadischem  Anbau  gelebt  haben  können,  wäh- 
rend ihre  in  die  nassen  und  stürmischen  Küstenstriche 
gewanderten  Zweige,  welche  bei  der  damaligen  ünbe- 
wohnbarkeit  der  Marschen  dort  nur  spärliches  und  bereits 
kultiviertes    Anbauland    vorfanden,    gewiß    Veranlassung 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwii-tschaftliche  Kultur.     509 


hatten,  diese  Landstriche  in  gleicher  Weise  weiter  zu  be- 
nutzen, wie  sie  sie  von  den  Vorbesitzern  überkamen. 

Natürlich  aber  paßten  sie  vieles,  wie  das  Haus,  ihren 
Sitten  an.  In  diesem  Sinne  läßt  sich  auch  die  den  Kelten 
fremde  Marken-  und  Hufenverfassung  Westfalens 
auffassen.  Den  Friesen  ist  beides  ebenfalls  unbekannt. 
Die  Hammerke  Frieslands  sind  Anlagen  von  Meliorations- 
genossenschaften,  wie  die  Eindeichungen.     In  Westfalen 

Fig.  7. 


y 

X 

\C 

r 

=£/ 

9 

9      ! 

dagegen  ist  das  nicht  zu  den  Höfen  gehörige  Land  als 
Mark  betrachtet  worden.  In  diesen  Marken  aber  erscheint 
in  der  sächsischen  Zeit  vielfach  das  Märkerrecht,  Echt- 
wort, nach  Hufenrecht,  und  ebenso  der  Heerbann  nach 
der  Hufe  verteilt,  obgleich  mit  den  Einzelhöfen  der  Be- 
griff der  Hufe  kaum  zu  vereinigen  ist  und  sich  bei  ihnen 
auch  später  überall  wieder  verloren  hat.  Aus  Marken- 
teilen stammen  ferner  die  den  Kelten  ebenfalls  fremden 
Esche  undVöhden,  Ackerländereien,  welche  einer  An- 


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510  A.ugust  Meitzen, 

zahl  Xachbarhöfeii  gemeinschaftlich  gehören,  nicht  in 
Kämpe,  sondern  in  Gewanne  eingeteilt  sind  und  unter 
FlurzVang  bewirtschaftet  wurden. 

Die  Zeichnunsren  Fig.  6  u.  7  erläutern  sich  dahin:  a  ist  das 
p]ingangsthor.  h  die  Diele  (Tenne),  c  Estrich,  d  Stand  des  Rindviehs, 
e  der  Pferde,  f  Krippen,  q  DüngeröfFnungen,  h  Bühnen,  auf  denen 
das  Gesinde  schläft,  i  Bodenraum  für  die  (Getreideernte,  k  Vorrats- 
kammer. /  Hausrauni  (Fleeti,  m  Glastüren,  n  fußhoher  Herd, 
o  Waschfaß,  p  Kßtisch,  q  Schlaf  bühne  des  Wirts  in  kleinen  Häusern, 
r  Schlaf  kam  mer  in  größeren  mit  *?  Ehebett,  t  Kammer  für  Kinder 
oder  Mägde,  m  unterkellerte  Wohnstube,  v  in  neueren  Häusern  be- 
wegliche Holzwand,  iv  Fohlenstall,  x  Kälberstall,  y  Schweinstall, 
z  Gänseställe.  (Der  Boden  und  die  landwirtsch.  Verhältnisse  des 
13reuß.  Staats,  Bd.  II,  S.  132.)  —  Ueber  das  Verhältnis  des  friesi- 
schen Hauses  zum  M-estfälischen  vergl.  unten  Abschn.  II,  3. 

3.  Romiscbe  Siedelnngen  in  Deutschland. 

Die  Römer  gingen  nicht  aus  einer  ungemischt  natio- 
nalen Volksgrundlage  hervor.  Ihr  Staatswesen  entstand 
spät  nach  bewuläten  Anschauungen.  Soweit  sie  überhaupt 
Ansiedelungen  angelegt  haben,  beruhen  dieselben  auf  dem 
planmäüigen  Messungswesen  der  Gromatiker.  Wie  die 
Lagerabsteckung  in  Parallelen  vom  Mittelpunkte  des  sich 
rechtwinklig  kreuzenden  Decumanus  und  Cardo  maximus 
au.sging,  kamen  auch  Straßen  und  Mauern  einer  Stadt- 
gründung durch  das  Groma  zur  Feststellung. 

Die  Aeckcr  der  Militärkolonieen  aber  wurden  ebenso 
in  quadratischen  oder  oblongen  Rechtecken  assigniert, 
deren  20  und  12  Fuü  breite  Grenzen  die  Zugangswege 
bildeten.  Diese  Rechtecke  umschlossen  je  1  Centurie  von 
200  oder  210  jugera  gleich  oO,?  oder  59,2  ha,  welche  zu 
Augustus*  Zeit  in  der  Weise  an  Veteranen  verteilt  wurden, 
daß  der  gemeine  Soldat  06  v,  der  niedere  Offizier  100, 
<ler  höhere  13*^^3  j.  erhielt.  In  Italien,  namentlich  in  Cam- 
panien  sind  solche  Aufteilungen  vollständig  erhalten.  In 
Süddeutschland  und  den  Rheinlanden  sind  bis  jetzt  trotz 
der  großen  Zahl  aufgegrabener  römischer  Villen  nicht 
einmal  Spuren  aufgefunden.  Sie  sind  deshalb,  wenn  solche 
Militärkolonisationen  durch  Assignation  in  der  späteren 
Kaiserzeit  überhaupt   noch   in  Uebung   waren,   durch  die 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     511 

deutsche  Besitznahme  in  der  Völkerwanderung  völlig  ver- 
tilgt worden. 

4.  Slawische  Siedelungen  in  Deutschland. 

Ursprünglich  slawisch  besiedelte  Gebiete  in 
alter  Verfassung  sind  nicht  mehr  leicht  aufzufinden. 
Teils  trafen  die  Slawen  bei  ihrem  Vordrängen  auf  griechisch- 
römisches  Gebiet,  teils  auf  deutsches.  Allerdings  läßt 
sich  wegen  der  Leichtigkeit  der  Wanderungen  der  vandi- 
lischeu  Ostgermanen  kaum  bezweifeln,  daß  dieselben  zu 
Attilas  Zeit  noch  fast  nomadisch  lebten,  und  selbst  die 
östlichen  Sueven  können  wegen  der  völlig  mangelnden 
Spuren  nur  ganz  leichte  Häuser  errichtet  haben,  deren 
Bild  sich  uns  noch  in  den  Hausurnen  ^)  erhalten  haben 
dürfte.  Die  Slawen  werden  also  bis  zur  Elbe  und  Saale 
wenig  mehr  als  seit  gewisser  Zeit  benutzte,  zerstreut  be- 
legene Ackerflächen  vorgefunden  haben,  deren  etwaige 
Abgrenzungen  ohne  Beziehung  zu  stehenden  Wohnstätten 
keinen  Einfluß  auf  die  neue  Anlage  von  Besiedelungen 
üben  konnten.  Aber  einerseits  ist  der  gesamte  Osten 
seit  der  Karolinger  Zeit  bis  auf  die  neueste  Gegenwart 
intensiv  von  dem  Einflüsse  deutschen  Agrarwesens  durch- 
drungen und  umgestaltet  worden;  andererseits  ist  Li- 
tauen durch  finnische  Einwanderung  und  Rußland  durch 
die  Tatarenherrschaft  und  die  seit  dem  Ende  des  IG.  Jahr- 
hunderts erfolgte  Einführung  des  Mir  wesentlichen  Ver- 
änderungen unterworfen  gewesen.  Es  gehören  deshalb 
spezielle  Untersuchungen  dazu,  festzustellen,  in  welchen 
Gegenden,  ja  selbst  in  welchen  Orten  noch  altslawische 
Verbältnisse  aufgesucht  werden  können. 


*)  A.  Meitzen,  Das  deutsche  Haus.  Berlin  1.S82.  Taf.  IV  u. 
V,  S.  21.  —  R.  Henning,  Das  deutsche  Haus.  Straßburg  1SS2. 
S,  178.  —  R.  Virchows  Untersuchung  in  Zeitschrift  für  Ethno- 
logie und  Anthropologie.  Jahrg.  15,  V.  Berlin  1888.  S.  319  (Ita- 
lische Prähistorie)  hat  festgestellt,  daß  die  italischen  Hausurnen 
der  altitalischen  Zeit  angehören.  —  R.  Virchow,  Sitzungsberichte 
der  Berliner  Akad.  d.  Wissensch.  1883.  XXXVII,  lieber  die  Zeit- 
bestimmung der  italischen  und  deutschen  Hausumen. 


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512 


August  Meitzen, 


Indes  hat  die  slawische  Ansiedelungsweise  teils  in 
der  Form  der  Dorf  lagen,  teils  im  Besitzrecht  Eigentüm- 
lichkeiten gehabt,  welche  diese  Untersuchung  erleichtem. 

In  den  Dorfanlagen  haben  die  Slawen  durch  Plan- 
mäßigkeit und  zwar  in  zwei  bestimmten,  fast  ausschließ- 
lich auftretenden  Formen  ihren  Ansiedelungen  einen  dem 


Flg.  8. 


volkstümlich    deutschen  durchaus  entgegengesetzten  Cha- 
rakter gegeben. 

Der  Plan  des  Runddorfes  Fig.  8^)  gehört  vor- 

^)  Kartenbilder  der  Dorf  beringe:  Zagkwitz  in  V.  Jacob  i, 
Forschungen  über  da«  Agrarwesen  des  altenburgischcn  Oberlandes, 
der  zuerst  darauf  hinwies  flllustr.  Zeitung.  Leipzig.  Weber  1845). 
—  G.  Landau  (Beilage  z.  Korresp.-Bl.  iyt)2).    Tiefengruben  bei 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     513 

2ugsweise  den  westlichen,  wendisch-sorbischen  Stämmen 
an.  Er  ist  ein  fächerförmiger.  Die  Gehöfte  liegen  eng 
gereiht  im  Kreise  oder  hufeisenförmig  um  einen  runden 
oder  ovalen  Platz,  der  ursprünglich  nur  einen  Zugang 
hatte.  Nach  außen  aber  folgt  hinter  jedem  Gehöft  ein 
keilförmig  sich  verbreiternder  Baumgarten,  der  häufig 
noch  gegenwärtig  mit  hohem  Holze  besetzt  ist,   und  das 

Fig.  9. 


■Ganze   wird   von  einer  beinahe  kreisförmig  fortlaufenden 
Hecke  umschlossen. 


Berka  an  der  Um.  —  Müncherode,  W.  v.  Jena.  —  Rucknitz 
bei  Bautzen.  —  Festschrift  zur  Säkularfeier  der  k.  landwirtechaftl. 
GeseUsch.  Celle.  1884.  Zeichnung  Bl.  3.  Putball,  Witzetze, 
Trebuhn,  Simander,  Bockleben,  Prezier,  Predöhl 
und  C r i w i t z  im  Lemgow  bei  Lüchow.  —  Domnowitz,  Kr. 
Trebnitz,  Meitzen,  Codex  dipl.  siles.  Bd.  IV,  S.  62.  Boden  u.  s.  w. 
B.  a.  0.  Bd.  1,  S.  3(32.  Ausbreitung  der  Deutschen  u.  s.  w.  a.  a.  0. 
S.  39.  Deutsche  Dörfer,  Zeitschr.  f.  Ethnol.  Berlin.  Jahrg.  IV.  1872. 
Heft  3,  S.  144. 

Anleitung  zar  dentachen  Landes-  und  Volksforschung.  33 


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514  August  Meitzen, 

Der  Plan  des  Straßendorfes  Fig.  9^)  herrscht 
von  der  Oder  an  im  gesamten  Osten.  Die  Gehöfte  liegen 
in  zwei  eng  gedrängten  Reihen  an  einer  breiten  Straße^ 
haben  jedes  hinter  sich  in  gleicher  Breite  einen  Gras- 
garten, so  daß  sie  alle  rechtwinklig  auf  die  Straße  stoßen, 
und  rückseitig  durch  eine  meist  in  gerader  Linie  fort- 
laufende Hecke  gegen  die  Ackerflur  abgeschlossen  werden. 
Die  Straße  ist  in  der  Regel  so  breit,  daß  auf  beiden 
Seiten  längs  der  Gehöfte  Wege  fortlaufen,  in  der  Mitte 
aber  noch  Kirche  und  Kirchhof,  auch  Schmiede,  Schule 
und  als  Viehtränke  ausgegrabene  Wasserlöcher  Platz  finden. 

Dem  Besitzrechte  nach  beruht  das  Siedelungswesen 
der  Slawen  auf  der  sog.  Hauskommunion  oder  dem 
kommunistischen  Zusammenleben  der  gesamten  Familie. 
Auch  bei  ihnen  regiert  wie  bei  den  Kelten  ein  Familien- 
haupt, ein  Staressina,  ein  Aeltester,  die  in  einen  Haus- 
halt bis  zu  40,  ja  60  Personen  vereinigte  Familie.  Aber 
die  Familienmitglieder  besitzen  gar  kein  persönliches 
Eigentum  außer  Waffen,  Beute  und  Brautschmuck.  Es 
besteht  auch  keine  gesonderte  Feldnutzung,  sondern  Ar- 
beit und  Haushalt  sind  völlig  gemeinschaftlich  und  liegen 
ebenso  wie  die  Kasse  in  der  Hand  des  Staressina,  welcher 
patriarchalisch  alle  Anordnungen  trifft,  indes  durch  Wahl 
ersetzt  werden  kann.  Im  Hause  regiert  seine  Frau. 
Das  Land  einer  Zadruga  bildet  also  ein  einziges  ge- 
schlossenes Ganze.  Wenn  die  Familie  aber  allzusehr  an- 
wächst und  nicht  anderes  Land  okkupiert  werden  kann, 
so  werden  die  gemeinsamen  Grundstücke  geteilt  und  zwar 
nach  Stämmen  unter  der  Fiktion,  daß  die  Söhne  des  Be- 
gründers der  Familie  noch  lebten,  und  gleiche  Teile  er- 


*)  Kartenbilder  sind  wiedergegeben :  Lichtenberg  im  Lem- 
gow  bei  Lüchow.  Festschr.  Celle:  Bl.  3.  —  Domslau,  Kr.  Breslau, 
Meitzen,  Codex  dipl.  siles.  Bd.  IV,  S.  24.  Der  Boden  u.  s.  w. 
Bd.  I,  S.  363.     Ausbreitung  der  Deutschen  u.  s.  w.  a.  a.  0.  S.  43. 

—  Krampitz,  Kr.  Neumarkt.   Ebenda  Cod.  S.  .54.    Ausbr.  S. 45. 

—  Tschechnitz,  Kr.  Breslau.   Ebenda  Cod.  S.  44.  Ausbr.  S. 46. 

—  Wach  au  bei  Leipzig,  Karte  von  der  Flur  vor  und  nach  der 
Zusammenlegung  (Wilhard  in  Dresden)  in  der  Festschrift  für  die 
25.  Versammlung  deutscher  Land-  und  Forstwirte  zu  Dresden  1865 
von  Reuning.  —  Neuenmörbitz,  Hgt.  Altenburg  in  V.  Jacobi. 


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ßesiedelung,  Hausbau  and  landwirtschaftliche  Kultur.     515 

hielten  ^).  Dadurch  werden  neue  Zadrugas  begründet,  unter 
denen  jeder  Zusammenhang  aufhört.  Da  die  Teilung  aber 
für  jedes  besonders  kultivierte  oder  nutzbare  Grundstück 
im  einzelnen  ausgeführt  wird,  und  sobald  eine  der  neuen 
Zadrugas  im  Laufe  der  Zeit  wieder  teilen  muß,  sich  die 
gleiche  Weise  wiederholt,  so  können  die  Grundstücke  einer 
slawischen  Flur  sehr  unregelmäßig  durcheinander  liegen. 

Dazu  kommt,  daß  das  volkstümliche  Ackergerät 
der  Slawen  ein  leichter  Haken  war,  mit  welchem  nicht 
wie  mit  dem  deutschen  Pfluge  in  Längsfurchen,  sondern 
lang  und  quer  über  Kreuz  geackert  wurde,  deshalb  legten 
sie  keinen  Wert  auf  Teilung  des  Ackers  in  Parallelstreifen, 
sondern  teilten  in  Blöcke  von  beliebiger  Form*). 

Diese  Feldeinteilungen  sind  allerdings  durch  die 
Deutschen  fast  auf  dem  gesamten  Gebiete  Deutschlands 
völlig  umgestaltet.  Alle  Landeinteilung  nach  Haken  oder 
Pflügen,  nach  kleinen  oder  großen,  polnischen  oder  deut- 
schen Hufen  beruht  auf  der  Einführung  deutscher  ge- 
messener Zinspflichtigkeit.  Aber  es  giebt  doch  noch  in 
Oberfranken,  im  Meißener  Lande,  in  der  Oberlausitz  und 
im  südlichen  Böhmen,  sporadisch  auch  in  Schlesien  und 
Pommerellen  noch  Reste,  welche  Anschauung  und  Ver- 
gleichung  gestatten^). 

5.  Siedelnng  und  Agrarwesen  in  Süddentsclüand  nnd  am 
Mittelrhein. 

Wie  sich  nach  diesen  Angaben  über  den  Bestand  an 
ursprünglichen  und  unveränderten  nationalen  Ansiede- 
lungen in  Deutschland  ergiebt,  nehmen  die  gemischten 
Siedelungs gebiete  den  bei  weitem  überwiegenden  Teil 
ein.  Indes  läßt  sich  die  Frage  bezüglich  derselben  überall 
auf  den  Einfluß  beschränken,  welchen  das  deutsche  Agrar- 
wesen örtlich  auf  das  frühere  keltische  oder  slawische 
ausgeübt  hat. 


*)  Fr.  S.  Kraus,  Sitte  und  Brauch  der  Sadslawen.   Wien  1885. 
^)  Nach   Bemerkungen   von  J.  Peisker   über   das   südliche 
Böhmen.   (Zädruha  na  Prachensku,  Athenaea,  V,  1888.) 
')  Vergl.  Cod.  dipl.  sil.  Bd.  IV.  Domnowitz. 


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516  August  Meitzen, 

In  dieser  Beziehung  ist  geschichtlich  hinreichend  be- 
kannt, zu  welcher  Zeit  und  unter  welchen  Verhältnissen 
die  einzelnen  Gebiete  germanisiert  wurden. 

In  dem  großen  Landesabschnitte  Süddeutschlands 
östlich  der  Vogesen,  vom  Thüringerwalde  bis  zu  den 
Alpen  und  von  den  Vogesen  bis  zum  Böhmerwalde,  fand 
Cäsar  schon  auf  dem  alten  Sequanergebiete  in  der  Rhein- 
pfalz Vangionen,  Nemeter  und  Tribocer  als  kürzlich  ein- 
gedrungen vor.  Seit  Tiberius  waren  Hermunduren  und 
Marcomannen  im  festen  Besitz  des  Gebietes  nördlich  der 
Donau  außerhalb  des  Limes.  Seit  dem  Marcomannenkriege 
drangen  Uaipier,  Tubanten,  Tenkterer,  die  am  Odenwalde 
saßen,  und  verschiedene  mit  ihnen  als  Alemannen  ver- 
schmolzene Chatten-  und  Suevenstämme  zwischen  den 
Vogesen  und  dem  schwäbischen  Jura,  die  suevischen 
Juthungen  zwischen  diesem  und  dem  Lech,  und  marco- 
mannische  Bajuvaren  zwischen  Lech  und  Enns  gegen  die 
Alpen  vor  und  wurden  auf  diesen  Gebieten  nach  dem 
Sturz  der  Ostgoten  Herren  bis  zur  heutigen  Sprachgrenze. 

Ihre  Ansiedelungen  entsprachen  in  der  Pfalz,  dem 
gesamten  Elsaß,  dem  badischen  Rheinthal,  der  Mitte  von 
Württemberg,  in  Schwaben  mit  der  Nordschweiz,  im 
Hermundurenlande,  vom  Main  bis  zur  Tauber  und  Rezat, 
und  im  Bajuvarengebiete  vom  Lech  bis  zur  Isar  und  zur 
Mangfall   im  Südwesten   völlig*)    den   heimischen  volks- 


^)  Kartenbilder  sind  veröffentlicht:  aus  Hessen  in  L.  Frohn- 
häuser,  Das  große  Hobsgut  des  Wormser  Andreasstifts  in  der 
Mark  Lampe rtsheim.  Archiv  f.  hess.  Gesch.  u.  Altertumskunde. 
Darmstadt  1880.  Bd.  XV,  Heft  1,  S.  126.  -  Aibling  bei  München. 
Plan  über  die  Zusammenlegung  der  Grundstücke  in  den  Gemein- 
den Aibling,  Harthausen,  Unnosen  u.  s.  w.  vom  landwirtschaftlichen 
Zentralverein  für  Bayern.  1862.  —  Bichis hausen.  Oberamt  Mün- 
singen, in:  Must«rpläne  zu  neuen  Feldweganlagen,  Feldeinteüungen 
und  Zusammenlegungen  herausg.  von  der  k.  Zentralstelle  für  die 
Landwirtsch.  Stuttgart.  Heft  1854,  Bl.  Ja.  —  Delmensingen. 
Oberamt  Laupheim,  dgl.  Heft  11,  1868,  BI.  14.  —  Marbaoh,  Ober- 
amt Riedlingen,  dgl.  Bl.  9  —  Hai  Hingen,  ebenda,  dgl.  Bl.  5. 
—  AUeshausen,  ebenda,  dgl.  Bl.  1.  ~  Rohrdorf,  Oberamt 
Wangen,  dgl.  Heft  I,  Bl.  5a.  -—  Bierstetten,  Oberamt Saulgau, 
dgl.  Bl.  4a.  —  Ebenso  waren  die  Anlagen  der  Angelsachsen:  vergl. 
Hitcliin,   Township   N.  v.  London.     Middlesex   1816.  —  Mush 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     517 

tümlichen  Anlagen  des  Chatten-  und  Suevenlandes.  Es 
sind  Haufendörfer  in  Gewannen  mit  Hufenverfassung 
und  Flurzwang.  Sie  zeigen,  daß  diese  offenen  und  leicht 
zugänglichen  Landschaften  von  fruchtbarer  und  ziemlich 
ebener  BodenbeschafFenheit  beim  Eindringen  zuerst  besetzt 
und  volksmäßig  in  Besitz  genommen  wurden. 

Zwischen  ihnen  aber  finden  sich  tiberall  auf  den 
bergigen  Höhen  und  Hängen,  in  Heide  und  Moor  und  in 
sonst  ungünstigen  Lagen  Einzelhöfe  und  Weiler  oder 
auch  Dörfer,  deren  Feldeinteilung  die  grundsätzliche  Gleich- 
heit der  einzelnen  Hufen  des  volkstümlichen  Dorfes  er- 
sichtlich außer  Rücksicht  läßt. 

Es  ist  klar,  daß  dadurch  ein  wesentlicher  und  durch- 
greifender Unterschied  gegeben  ist.  Volksgenossen 
können  ohne  unlösbaren  Streit  nicht  anders  als  nach 
gleichen  oder  verhältnismäßigen  Anteilen  teilen.  Un- 
gleichartige Bodenverteilungen  müssen  von  der  tiber- 
raächtigen  entscheidenden  Bestimmung  eines  Grundherrn 
abhängen,  der  verleihen  kann,  wem  er  will  und  wie  er 
es  für  gut  hält.  Diese  Neuerung  hängt  sehr  erklärlich 
mit  den  weiteren  Eroberungen  und  der  Entwickelung  der 
Königs-  und  Adelsherrschaft  zusammen,  welche  die  Zeit 
der  späteren  Völkerwanderung  und  des  Frankenreiches 
mit  sich  brachte. 

Das  Bild  einer  solchen  Flur  giebt  Fig.  10*). 


Wymondley,  Pavish  1808,  in  Fr.  Seebohm,  The  English  Vil- 
lage  Community.     London  1HH3.  S.  1,  6,  2(5  u.  432. 

*)  An  Karten  sind  veröffentlicht:  Nehmetsweiler,  Oberamt 
Ravensburg,  in:  Musterpläne  a.  a.  0.  Heft  II,  BI.  11.  —  Bisch- 
manns hausen,  Oberamt  Riedlingen,  dgl.  Bl.  3.  —  Hasen  weil  er, 
Oberamt  Ravensburg,  dgl.  Bl,  7.  —  Eiselau,  Oberamt  Ulm,  dgl. 
Bl.  4.  —  Kreuz  Pnllach,  Oberbayem.  S.  v.  München.  —  Oeden 
Pullach,  dgl.  —  Daigstetten,  dgl.,  in:  Heinr.  Ranke.  Ueber 
Feldmarken  in  der  Münchener  Umgebung,  Beiträge  zur  Anthropo- 
logie u.  Urgesch,  Bd.  V.  München  18H2.  —  Vettersbaoh,  Gem. 
Thalgau,  Herzogt.  Salzburg,  in:  K.  Peyrer,  Die  Zusammenlegung 
der  Grundstücke  u.  s.  w.  in  Oesterreich  u.  Deutschland.  Wien  1873. 
—  Ganz  Bayern  ist  indes  im  Zusammenhange  im  Maßstab  von 
1 :  5000  lithographiert  und  jedes  Blatt  von  etwa  4  D-Fuß  einzeln 
für  80  Pfennig  käuflich,  so  daß  mit  Leichtigkeit  ein  Bild  jeder  Flur 
erlangt  werden  kann.     Aehnlich  sind  auch  die  württembergischen 


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518 


August  Meitzen, 


Ein   zweites   Mischgebiet   ist  Rheinland   südlich 
des  Limes. 


Flg.  10. 


Hier  liegen   schwierige  Fragen  der  Entwickelung 
der  Frankenstämme.     Agrippa  verpflanzte  38  v.  Chr. 


und  österreichischen  Katasterkarten  in  Steindruck  käuflich,  haben 
aber  den  doppelten  Maßstab.  Baden  und  Elsaß  lassen  nur  Ueber- 
sichtskarten  im  Maßstab  von  1 :  10000  erscheinen. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     519 

die  Ubier  in  die  Oegend  zwischen  Gellep  bei  Neuß  und 
den  Vinxtbach  bei  Andernach.  Tiberius  siedelte  8  u.  Chr. 
weiter  rheinabwärts  Sigambern  an.  Um  60  n.  Chr.  müssen 
ihnen  stammverwandte  Ansivaren,  die  aus  dem  Emslande 
von  den  sächsischen  Bructerern  und  Chauken  verdrängt 
wurden,  die  Gaue  zwischen  Ruhr  und  Wied,  und  Mitte 
des  2.  Jahrhunderts  sigambrische  Franken  und  Chama- 
ven  die  Rheinufergebiete  links  und  rechts  der  Yssel  in 
Besitz  genommen  haben.  Schon  unter  Julian  und  Valen- 
tinian  kämpften  rheinauf  und  -ab  Franken  und  Alemannen, 
dann  Franken  und  Burgunden.  Um  412  eroberten  die 
rechtsrheinischen  Ansivaren  das  gesamte  Gebiet  der  Ubier 
und  Trevirer  und  gründeten  das  starke  Reich  der  Ripuarier. 
Im  Jahre  508  aber  ermordete  Clodwig  ihren  König  und 
übernahm  die  Herrschaft  in  Personalunion  zum  Franken- 
reiche. 

Ganz  Ripuarien  ist  mit  Ausnahme  der  schroffen  und 
rauhen  Gebirgslagen  des  Sauerlandes  volkstümlich  in  Ge- 
wannen besiedelt,  im  schroffen  Gegensatz  zu  den  unmittel- 
bar nördlich  der  alten  Ubiergrenze  beginnenden  Einzelhöfen 
des  Niederrheins  *). 

Von  dem  vereinigten  Rheinlande  aus  eroberte  Clod- 
wig auch  das  alte  Chattenland  und  die  alemannischen 
Main-  und  Neckarländer,  und  begründete  so  ein  in  seinem 
Volkstum  ziemlich  gleichartiges  Zentrum  seiner  bald  zum 
Weltreich  anwachsenden  Frankenherrschaft.  Von 
diesem  Zentrum,  das  sich  um  das  Ripuarierland,  die  Hei- 
mat der  Karolinger,  gruppiert,  gingen  die  weiteren  neuen 
Entwickelungen  des  deutschen  Agrarwesens  und  haupt- 
sächlich auch  die  anwachsenden  Volksmassen  aus,  die 
diese  Vorgänge  bedingten. 

*)  Kartenbilder  sind  veröffentlicht:  Lommersdorf,  Kr. 
Schieiden  (nur  Teil),  (Reg.-Bez.  Aachen,  Kr.  Schieiden,  Gem.  Lom- 
mersdorf, Teil  der  Flur  XIV;  Georg  Billig  in  Aachen).  —  Mühl- 
pfad, Kr.  St.  Goar,  in  K.  Lamprecht  a.  a.  0.  Bd.  L  S.  363.  — 
Sühn,  Kr.  Bittburg,  dgl.  S.  361.  —  Filsch,  Kr.  Trier,  dgl.  S.  454. 
—  SaarbÖlzbacfa,  Kr.  Merzig,  in:  Die  Teilung  und  Zusammen- 
legung der  geböferschaftlichen  Ländereien,  zu  Saarhölzbach  (von 
Otto  Beck).  Trier  1864.  Meitzen,  Der  Boden  u.  s.  w.  Bd.  L 
S.  353,  und  Zeitschr.  f.  Ethnol.  Jahrg.  IV.  1872.  Heft  4,  S.  137. 


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520  August  Meitzen, 

Das  Frankenreich  brachte  durch  innere  Notwendig- 
keit die  volkstümliche  Verfassung  der  deutschen 
Stämme  in  Verfall  und  verhinderte  damit  auch  weitere 
volkstümliche  Ansiedelungen. 

Auf  die  Bevölkerung  der  römischen  Provinzen  konnte 
unmöglich  die  deutsche  Volksgemeinde  übertragen  werden. 
Der  König  wurde  über  sie  Herrscher  durch  Eroberung^ 
zugleich  Nachfolger  der  Cäsaren,  und  von  der  Geistlich- 
keit als  biblischer  König  behandelt.  Die  Verwaltung 
überwies  er  seinen  Getreuen  im  Sinne  von  Kriegskom- 
missaren. Das  Land,  soweit  es  nicht  im  Privateigentum 
stand,  und  alle  nutzbaren  fiskalischen  Rechte  an  letzterem 
betrachtete  er  als  sein  Eigen  und  als  seine  Finanzquelle. 
Er  verlieh  davon  im  Drange  des  Bedürfnisses  und  per- 
sönlicher Neigung  so  viel  an  Geistliche  und  Weltliche^ 
dass  der  Krone  fast  nichts  mehr  übrig  blieb.  Das  nur 
Verliehene  wurde  bald  erblicher  Besitz. 

Diese  Ländereien  der  Kirche  und  der  Großen  waren 
aber  in  eigener  Wirtschaft  nicht  nutzbar  zu  machen, 
sondern  mußten  an  Zinsbauern  weiter  vergeben  werden- 
Zugleich  ging  die  Gemeinfreiheit  mehr  und  mehr  durch 
die  Heerbannslast,  durch  Verarmung  und  Vergewaltigung 
unter.  Karl  der  Große  machte  allerdings  noch  einen 
Versuch,  auf  die  alten  Volksgerichte  und  Volksgesetze 
eine  bureaukratische  Staatsorganisation  aufzubauen.  Mit 
seinem  Tode  aber  war  entschieden,  daß  der  Staat  im 
wesentlichen  in  Territorialgewalten  aufging.  Gericht  und 
Verwaltung  auch  über  die  freien  Insassen  kam  durch 
Lehn,  Schutzbedürfnis  und  Immunitätsprivilegien  mehr 
und  mehr  in  die  Hände  der  aus  den  Stiftern  und  dem 
Lehnsadel  hervorgehenden  großen  und  kleinen  Grund- 
herren, und  behielt  dabei  meist  nur  gewisse  Formen, 
wenig  vom  Wesen  der  Volksverfassung. 

Für  die  agrarischen  Zustände  folgte  daraus,  daß, 
nachdem  auch  das  Sachsenland  unterworfen  war,  An- 
siedelungen nicht  mehr  aus  der  alten  Volksgemeinde  her- 
vorgehen konnten.  Es  waren  wohl  noch  die  wenigen 
frei  gebliebenen  Bauernschaften  in  der  Lage,  in  ihrer 
Allmende   eine  Tochtergemeinde   in   alter  Weise   zu   be- 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     521 

gründen.  Vielleicht  konnte  sich  auch  eine  Markgenossen- 
schaft in  solcher  Verfassung  erhalten  haben,  daß  sie  die 
Ansetzung  eines  Dorfes  auf  ihren  Gründen  zu  beschließen 
vermochte.  Aber  im  wesentlichen  war  alles  ungeteilte 
Land  Staatsland  oder  grundherrlich  geworden,  und  wenn 
der  Obereigentümer  auch  den  bestehenden  Besitz  und  die 
herkömmlichen  Nutzungen  unangetastet  ließ,  Neubesiede- 
lungen  hingen  doch  von  seinem  Willen  und  seinen  Plänen 
ab  und  erhielten  entsprechende  Einrichtungen. 

Schon  vom  6.  zum  9.  Jahrhundert,  in  Zeiten  ver- 
hältnismäßiger Ruhe,  wuchs  die  Volksmenge  so  an, 
daß  sich  die  Rodungen  in  den  Waldungen  und  Wüstungen 
des  Staates,  der  Kirche  und  der  Privaten,  wie  auch  der 
Ausbau  in  den  Allmenden  sehr  erheblich  ausdehnten. 
Eine  zweite  Periode,  welche  noch  weiter  in  das  bis  dahin 
als  unkultivierbar  behandelte  Berg-  und  Sumpfland  ein- 
griff, begann  im  11.  Jahrhundert  und  setzte  sich  bis  ins 
13.  fort.  Arnold  und  Lamprecht  haben  in  lehrreicher 
Weise  gezeigt,  wie  aus  dem  Orts-  und  Gewannnaraen  auf 
Art  und  Zeit  dieser  Vorgänge  geschlossen  werden  kann  *). 

Wenn  für  solche  Neuanlagen  nur  alte  Ortschaften 
erweitert  wurden,  war  natürlich,  daß  dabei  der  Charak- 
ter der  letzteren  keine  wesentliche  Veränderung  erlitt. 
Es  konnten  die  Gewanne  hinausgesöhoben  und  Teilung 
der  Hufen  durch  dieses  Neuland  ermöglicht  werden.  Es 
konnten  auch  kleine  Stellen  entstehen  und  mit  demselben 
ausgestattet  werden.  Dies  war  auch  durch  erbliche  Land- 
leihen, durch  Prekarien  oder  durch  Pachtland  und  Wein- 
bau auf  den  Allmenden  oder  auf  gutsherrlichen  Rode- 
ländern thunlich.  Diese  auch  bei  Pacht  auf  die  Dauer 
berechneten  Verhältnisse   entwickelten   sich  je  nach  den 


')  K.  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben  Bd,  I,  S.  141  ff. 
—  Arnold,  Ansiedelungen  und  Wanderungen  deutscher  Stämme. 
Marburg  1875.  —  Vergl.  auch:  P.  Gas  sei,  Ueber  thüringische  Orts- 
namen. Erfurt  1856.  —  Wald  mann,  Die  Ortsnamen  von  Heili- 
genstadt. Progr.  185().  —  Fuß,  Probe  eines  erklärenden  Verzeich- 
nisses elsaß-Iothringischer  Flurnamen.  Progr.  d.  kath.  Gymnasiums. 
Straßburg  1884  und  1887.  —  Bruno  Stehle,  Orts-,  Flur-  und 
Waldnamen  des  Kreises  Thann  im  Oberelsaß.     Straßburg  1887. 


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522  Augast  Meitzen, 

Umständen  zu  Gehöferschaften  oder  zu  bleibendem  Eigen- 
tum.    Alle  solche  Vorgänge  sind  vielfach  belegt^). 

Auch  wo  es  sich  um  Neugründungen  handelte, 
sind  die  Grundherren,  wie  viele  Fälle  ergeben,  häufig 
der  alten  volkstümlichen  Weise  gefolgt.  Obwohl  sie 
schwerlich  völlig  freie,  sondern  eigene  oder  hörige  Hüfner- 
gemeinden  ansetzten,  so  folgten  sie  doch  dem  Grundsatze 
der  Gewanne  und  vermochten  dadurch  in  Größe,  Güte, 
Entfernung  und  Leistungsfähigkeit  jeder  Art  völlig  gleiche 
Hufen  zu  vergeben.  Aber  für  keinen  Grundherren  war 
eine  solche  Art  der  Verleihung  eine  Notwendigkeit,  und 
es  traten  deshalb  mit  der  Grundherrlichkeit  einige  ganz 
neue  Erscheinungen  auf. 

Bei  den  Verleihungen  des  Königs  nach  der  oben 
S.  16  erwähnten  Königshufe  wurde  mit  einer  besonderen 
Virga  regalis  ein  Grundstück  von  120  Morgen  mit  zu- 
sammen 21(300  n  Ruten  in  verschieden  gestalteten  Flächen 
aufgemessen.  Die  Königshufen  kommen  am  Rhein  häufig 
als  Einzelhöfe  rund  geschlossen,  auch  weilerartig,  mehrere 
mit  unregelmäßiger  Vermengung  der  Grundstücke  zu- 
sammenliegend, oder  in  Dörfern  mit  fast  gewannartig  im 
Gemenge  liegender  Flur,  endlich  aber  auch  in  der  Form 
der  Marsch-  und  der  Waldhufen  vor.  Der  Ursprung 
dieser  beiden  Hufenarten  führt,  wie  es  scheint,  ebenfalls 
auf  die  Karolinger  Zeit  zurück  *). 

Die  Marschhufe  ist  in  Holland  schon  seit  Beginn 
der  großen  Seedeichungen  angewendet  worden,  welche 
die  Verteilung  des  Marschlandes  zur  Ackerkultur  möglich 
machten.  Sie  besteht  in  der  Regel  aus  fünf  oder  sechs 
ziemlich  genau  5  m  breiten,  von  Gräben  eingefaßten  und 
vom  Deiche  aus  geradlinig  in  die  Marsch  fortlaufenden 
Parallelstreifen  ^).     Die  Dorfstraße  bildet  der  Deich,  und 


»)  Meitzen  in  Schönbergs  Handbuch,  2.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  165. 

')  Kartenbilder  und  Erläuterung  inE.  Lamprecht,  Deutsches 
Wirtschaftsleben  u.  s.  w.  Bd.  I,  S.  353,  über:  Boos  bei  Sobemheim, 
Kr.  Kreuznach.  Koxhausen  mit  Hütten,  Herbstmühlen 
und  Berscheid,  Kr.  ßitburg.  D  in  spei  und  Oberdinspel, 
Kr.  Neuwied. 

')  Kartenbilder  für  V  a  h  r  und  Neuland  bei  Bremen  auf  der 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     523 

die  Gehöfte  liegen  an  dessen  innerer  Böschung.  Jeder 
Streifen  ist  vom  Gehöft  aus  zugänglich.  Querwege  sind 
seltene  Ausnahmen.  Die  Gräben  sind  so  breit,  daß  sie 
nur  mit  dem  Springstock  übersprungen  werden  können. 
Sie  dienen  zur  Entwässerung;  mit  dem  tief  ausgehobeneu 
Boden  wird  der  Ackerstreifen  erhöht,  und  sie  halten  zu- 
gleich das  Weide vieh  des  Hofes  ohne  Hirten  auf  dem 
ihm  eingeräumten  Weideschlage  fest.  Die  einzelnen  Höfe 
stehen  mit  ihren  Nachbarhöfen  nur  politisch  und  durch  die 
Pflichten  der  Eindeichungs-  und  der  Entwässerungsanlagen 
in  Beziehung.  Die  Grundstücke  aller  aber  bilden  lange 
und  verhältnismäßig  schmale,  in  genauem  Parallelismus 
nebeneinander  liegende,  geschlossene  Streifen.  Die  ersten 
1106  in  Deutschland  urkundlich  erwähnten  Marschhufen 
zeigen  deutlich  den  Zusammenhang  mit  der  Königshufe, 
denn  sie  sind  dem  Vertragsinhalte  nach  mit  der  Virga 
regalis  720  Ruten  lang  und  80  Ruten  breit  zugemessen 
und  enthielten  thatsächlich  48  h. 

Auch  die  Wäldhufe  läßt  sich  in  mehreren  Fällen 
nach  Bezeichnung  und  Maß  als  Königshufe  (Mausus  re- 
galis) nachweisen.  Sie  hat  aber  einen  allgemeineren  Cha- 
rakter. Sie  besteht  ebenfalls  wie  die  Marschhufe  aus 
einem  einzigen  geschlossenen  Streifen  Landes,  auf  dessen 
Mitte  oder  an  dessen  Ende  das  Gehöft  liegt,  und  enthält 
in  der  Regel  eine  Fläche  von  30 — 36  h.  Sie  läßt  sich 
schon  793  nachweisen,  und  in  gleiche  Zeit  fallen  auch 
Hufen  gleicher  Art  von  48  h  Fläche  in  Reichsforsten. 

Die  Wald-  oder  Hagenhufe  (indago,  novale),  deren 
Bild  Fig.  11  *)  giebt,  wurde  gewöhnlich  bei  der  Rodung 

Karte  von  dem  Gebiete  der  fr.  Hansestadt  Bremen  von  H.  Thätjen- 
horst  un(\  A.  Dautze.  1851  u.  ff.  —  Alte  Land  bei  Stade  in: 
Festschrift  zur  Säkularfeier  der  k.  landwirtschaftl.  Gesellsch.  Celle 
1864,  Zeichnung  ßl.  4,  und  Meitzen,  Ausbreitung  der  Deutschen 
u.  8.  w.  S.  32.  —  Karte  des  Hamburger  Gebietes  in  1:10000. 
Auf  jeder  größeren  topographischen  Karte  deutlich  zu  erkennen. 
Vergl.  auch  unten  Fig.  12. 

*)  Kartenbilder  und  Erläuterungen  sind  veröffentlicht:  Wol- 
persdorf,  Hgt.  Aitenburg  in  V.  Jacob i,  Forschungen  a.  a.  0.  — 
Mittweida  mit  Frankenau,  Topfseifen,  Königshain, 
Köllingshain;  Clausnitz,  Markersdorf,  Garndorf  in: 


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524 


August  Meitzen, 

Fig.  11. 


und  Kolonisation  von  gebirgigem  Waldterrain  an- 
gewendet.    Der   Unternehmer   bezeichnete    im   Thal    am 


Meitzen,  Ausbreitung  der  Deutschen  a.  a.  0.  S.  28.  —  Schön- 
brunn,  Kr.  Sagan.    Ebenda  S.  27,   und  Cod.  sil.  Bd.  IV.   S.  72. 


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BesiedeluDg,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     525 

Bach  die  geeigneten  Stellen  für  die  Gehöfte  in  der  be- 
absichtigten Hufenzahl,  suchte  für  jedes  Gehöft  den  Thal- 
abhang in  die  Höhe  eine  wegen  des  Erfordernisses  der 
Fahrbarkeit  oft  recht  gekrümmte  Weglinie  auf  und  maß 
dann  die  einzelnen  Hufen  so  zwischen  diese  Wege  ein, 
daß  womöglich  kein  Weg  die  Grenze  der  zugehörigen 
Hufe  überschritt.  Die  Hufenstreifen  erhielten  deshalb 
ebenfalls  eine  oft  sehr  gewundene  Figur,  und  es  war  un- 
möglich, den  verschiedenen  Hufen  untereinander  gleiche 
BodenbeschafFenheit  zu  gewähren.  Der  Unterschied  wurde 
deshalb  durch  größere  Fläche  einigermaßen  und  so  weit 
ausgeglichen,  daß  noch  immerhin  allen  Hufen  gleiche 
Lasten  auferlegt  werden  konnten.  Aber  wirklich  gleicher 
Wert  war  keineswegs  zu  erreichen,  und  für  eine  Genossen- 
schaft mit  gleichen  Anrechten  wäre  eine  solche  Vertei- 
lung selbst  durch  das  Loos  unausführbar  gewesen.  Der 
Gutsherr  aber  konnte  befehlen  oder  dem  einzelnen  Zu- 
wanderer  überlassen,  anzunehmen  oder  nicht. 

6.  Die  deutsche  Eolonisatioii  des  slawlsoheii  Ostens. 

Diese  auf  den  alten  karolingischen  Gebieten  vorge- 
bildeten Siedelungsformen  fanden  ihre  schärfere  Fort- 
entwickelung und  weit  verbreitete  Anwendung  bei  der 
Ausdehnung  des  deutschen  Agrarwesens  auf  die 
allmählich  germanisierten  Slawenländer. 

Diese  Ausbreitung  wurde  schon  durch  Karls  des  Großen 
Awarenkrieg  eingeleitet.  Bereits  aus  811  besitzen  wir 
eine  Urkunde  über  Verleihung  von  40  Hufen  in  Awarien, 
895  über  8  regales  mansos  in  ßichenberg  an  der  Save. 
903  über  5  Hufen  und  verschiedene  Dörfer  deutschen 
Namens  an  der  kleinen  Krems.  Aber  dies  sind  nur  spär- 
liche Reste.  Ludwig  gestattete  jedem,  der  Ansiedelungen 
anlegen  wollte,  dort  Besitz  zu  ergreifen.  Diese  Anlagen 
wurden  indes  wahrscheinlich  alle  von  den  Ungarn  wieder 
vernichtet  und  erstanden  erst  im  10.  und  11.  Jahrhundert 
von  neuem. 


Boden  u.  s.  w.  Bd.  I,  S.  358.  —  Zedlitz,  Kr.  Steinau,  dgl.    Auch 
auf  den  publizierten  Meßtischbliittem  von  1 :  25000  überall  erkennbar. 


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526  August  Meitzen, 

Mit  805  beginnt  indes  die  bleibende  deutsche  Besitz- 
nahme Oberfrankens  bis  zum  Böhmerwald  und  Sachsens 
bis  zum  Erzgebirge  und  der  Elbe.  Oberfranken  wurde 
an  fränkische  Ritter  verteilt.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich, 
da&  sie  in  einzelnen  Orten  slawischen  Namens  die  Torge- 
fundenen  Besitzungen  bestehen  ließen;  die  Feldeinteilung 
spricht  dafür;  zum  Teil  aber  legten  sie  Waldhufen  an, 
zum  Teil  finden  sich  Weiler  und  neue  Dorfanlagen  mit 
nahezu  gewannartiger  Einteilung. 

Sachsen  nördlich  des  Thüringerwaldes  wurde 
anfänglich  vom  Markgrafen  zu  Erfurt,  dann  von  den 
sächsischen  Kaisern  unterworfen.  Die  Ebenen  waren  hier 
bis  an  die  Saale  und  selbst  bis  über  deren  Mündung 
hinaus,  soweit  nicht  schwer  zugängliche  Waldungen  und 
Sümpfe  die  wenig  ausgedehnten  Slawengaue  schieden, 
dicht  mit  kleinen  wendischen  Ortschaften  besetzt.  Es  ist 
deren  Uebemahme  durch  Stifter  und  sächsische  Ritter 
zuzuschreiben,  daß  sich  im  Meißenschen  und  um  Dresden 
bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters  slawische  Sprache  und 
eigentümliche  slawische  Einrichtungen  erhielten.  Nament- 
lich blieben  Supane  als  Dorfälteste  bestehen,  in  anderen 
Dörfern  waren  Vicaze,  Krieger,  anscheinend  zu  bäuer- 
lichen Reiterlehen  herabgedrückte  slawische  Adlige,  Vor- 
stände. 

Deutsche  Rittergeschlechter  besaßen  auch  die  Ober- 
lausitz, welche  seit  Arnulf  v.  Kärnten  zwischen  deutscher 
und  böhmischer  Oberherrschaft  schwankte  und  bis  auf 
die  Gegenwart  eine  zahlreiche  slawische  Bevölkerung  be- 
halten hat. 

Die  Bergmassen  des  Thüringerwaldes,  Vogtlan- 
des, Fichtelgebirges  und  Erzgebirges  aber  waren 
bis  tief  in  die  Vorberge  hinab  noch  zur  Ottonenzeit  völlige 
Waldeinöden.  Nur  in  den  Thälern  um  Saalfeld,  Alten- 
burg und  Zeitz  waren  einige  Rodungen  mit  slawischen 
Orten  besetzt.  Alle  diese  Gebirgswälder  sind  von  Deut- 
schen mit  Waldhufen  besiedelt  worden.  Die  topogra- 
phische Karte  zeigt  überall  die  durch  die  blattrippenartig 
verlaufenden  Wege  hinreichend  charakterisierte  Gestalt 
derselben.     Urkunden    sind    darüber   wenige    vorhanden; 


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Besiedeluog,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     527 

aber  sie  genügen  zu  zeigen,  daß  die  Siedelung  schon  im 
10.  Jahrhundert  begann,  und  die  Ortsnamen  beweisen,  daü 
die. Siedler  aus  allen  deutschen  Stämmen  herbeigezogen 
wurden.    Die  Mehrzahl  bekunden  sich  indes  als  Franken. 

Besonderes  Interesse  bieten  die  Dorfanlagen  in  der 
breiten  Ebene  des  rechten  Saaleufers. 

Verwüstungen  verschiedener  Art,  üeberschwemmun- 
gen  der  Gewässer,  Brände  und  Zerstörungen  durch  Krieg 
und  Fehde  haben  in  ganz  Deutschland  schon  früh  zum 
Untergang  zahlreicher  alter  Dörfer  geführt,  deren 
frühere  Existenz  sich  teils  urkundlich,  teils  aus  Flur-  und 
anderen  Lokalnamen  erweisen  läist^).  Ihre  Fluren  und 
Allmenden  sind  dann  mit  denen  benachbarter  Orte  ver- 
einigt worden,  in  welche  wohl  auch  die  übrig  gebliebenen 
Besitzer  aufgenommen  wurden.  Wie  die  Karten  zeigen, 
haben  dann  häufig  Gewannregulierungen  eine  der  neuen 
Sachlage  entsprechende  Verteilung  geschaffen.  Dies  zeigt 
sich  besonders  in  Schwaben  am  Lech,  im  Elsaß  und 
in  der  Pfalz  in  den  üeberschwemmungsgebieten  des 
Rheins  und  im  Thüringischen  und  Magdeburgischen. 
Insbesondere  die  letzteren,  der  Saale  und  Elbe  benach- 
barten Gegenden  Süd-  und  Nordthüringens  hatten  im 
7.  Jahrhundert  von  den  heftigen  Einfällen  der  Slawen 
zu  leiden,  und  Heinrich  I.  suchte  sie  durch  Vereinigung 
zu  größeren  Dörfern,  Burgflecken  und  kleinen  Städten  zu 
sichern,  üebereinstimmend  zeigt  sich  in  allen  diesen 
Oertlichkeiten,  sowohl  am  Lech  und  Rhein  als  an  der 
Unstrut  und  Saale,  daß  die  Regulierungen  der  Acker- 
fluren meist  im  Sinne  sehr  großer  und  regelmäßi- 
ger Gewanne  stattfanden,  deren  Hufenanteile  oft  über 
die  gesamte  Ackerflur  in  gleichmäßigem  Parallelismus 
fortlaufen  *).    Diese  Parallelstreifen  werden  bei  Parzellie- 


')  Ermittelungen  und  Kartierungen  der  in  Nordthüringen  be- 
sonders  zahlreichen  Wüstungen  sind  von  Dr.  Gust.  Brecht  ver- 
anlaßt und  z.  B.  für  Quedlinburg  1885  veröffentlicht.  —  Vergl. 
A.  Straub,  Die  abgegangenen  Ortschaften  des  Elsaß.  Straß- 
burg 1887. 

')  Veröffentlicht  sind  Karten:  Großenstein  bei  Ronneburg 
in  V.  Jacob i  a.  a.  0.    —   Alten  Gottern  und  Großen  Got- 


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528  August  Meitzen, 

rungen  der  Hufen  äußerst  schmal  und  sind  in  dem  Karten- 
bilde nur  scheinbar  durch  Gewendestöße  unterbrochen, 
die  der  Besitzer,  soweit  es  der  Flurzwang  gestattet,  je 
nach   seiner   Feldeinteilung   willkürlich  innehalten   kann. 

Aus  der  Praxis  dieser  Regulierungen  großer  Gewanne 
und  vielleicht  auch  aus  der  Erkenntnis,  daß  die  sehr 
langen  Streifensysteme  gleichwohl  wirtschaftlich  unvor- 
teilhaft sind,  ist  nun,  wie  es  scheint,  das  Verfahren  her- 
vorgegangen, nach  welchem  in  der  Saaleebene  slawi- 
sche Ortschaften  in  deutsche  Dörfer  umgewandelt 
wurden,  und  welches  bei  der  Kolonisation  der  rechts- 
elbischen  Slawenländer  mehr  und  mehr  die  weiteste  Ver- 
breitung erlangte.  Während  um  Rochlitz,  im  Meißenschen 
und  um  Dresden  die  kleinen  slawischen  Orte  überwiegend 
erhalten  sind,  ist  an  der  Saale  in  der  Regel  von  mehre- 
ren nur  ein  geeignet  belegenes  bestehen  geblieben  und 
erweitert  worden.  Die  Flur  aber  ist  in  so  große  und 
breite  Gewanne  von  nicht  übermäßiger  Länge  ein- 
geteilt worden,  daß  auch  die  Breite  des  einzelnen  Hufen- 
anteils eine  hinreichende  blieb.  Zugleich  führte  man  die 
im  alten  Volksgebiete  nicht  übliche  Sitte  ein,  alle  Gren- 
zen zwischen  den  Hufenanteilen  im  Gewann  durch  zwei- 
füßige Raine  des  gewachsenen  Bodens  zu  befestigen, 
deren  Abpflügen  sofort  bemerkbar  werden  mußte. 

Diese  Umgestaltung  der  slawischen  Besiedelung  in 
deutsche  Huferianlagen,  wobei  die  regelmäßige  Form  der 
bei  den  Slawen  üblichen  Stellung  der  Gehöfte 
beibehalten  wurde,  ist  in  Sachsen  zwar  unter  deutscher 
Leitung,  aber  wenigstens  in  den  überwiegenden  Fällen 
nicht  unter  Vertreibung  der  slawischen  bäuerlichen  Be- 
völkerung geschehen,  vielmehr  wurde  es  durch  dies  Ver- 
fahren den  deutschen  Grundherren  möglich,  ihren  slawi- 
schen Hörigen  mit  der  Zuweisung  gleicher  Hufen  gleiche, 


teru,  Kr.  Langensalza.  Zeitschrift  des  landwirtsch.  Vereins  f&r 
Rheinpreußen.  1861.  Nr.  4. —  Eberstadt  bei  Weimar,  Karte  der 
Flur  vor  und  nach  der  Zusammenlegung.  1856.  v.  Wißmann. 
Ewald  &  Pfeffer.  —  Göggingen  bei  Augsburg,  Plan  über  die 
Zusammenlegung  der  Grundstücke.  1861.  Landwirtschaft!.  Zentral- 
verein für  Bayern.     München. 


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Besiedelang,  Hausbau  und  landwirtschafbliche  Kultur.     529 

ergiebige  und  doch  leicht  und  sicher  zu  tragende  Lasten 
aufzuerlegen  und  sie  durch  den  Flurzwang  bei  gleicher, 
<len  Bedürfnissen  entsprechender  Kultur  und  Leistungs- 
fähigkeit zu  erhalten. 

Die  Ueberftihrung  deutscher  agrarischer  Einrichtun- 
gen in  die  heutigen  sächsischen  Lande  bis  zur  Elbe  darf 
um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  als  im  wesentlichen 
beendet  angesehen  werden.  Sie  war  die  Vorschule  für 
eine  viel  stürmischer  vorgehende  Kolonisationsbewegung, 
welche  um  diese  Zeit  begann  und  die  rechtselbischen 
<Sebiete  bis  zur  Weichsel  und  Memel  betraf. 

Das  Vordringen  der  deutschen  Kolonisation  in 
<lie  rechtselbischen  Slawengebiete  ist  einerseits  dem 
Streben  Adolfs  von  Schaumburg,  Heinrichs  des  Löwen 
und  Albrechts  des  Bären  zuzuschreiben,  ihre  Eroberungen 
durch  angesiedelte  Deutsche  festzuhalten  und  besser  zu 
verwerten.  Andererseits  entsprang  es  aber  aus  der  Er- 
kenntnis der  slawischen  Fürsten,  Geistlichen  und  Großen, 
daß  die  Zustände  der  kleinen  slawischen  Teilstaaten  durch- 
aus unhaltbar  geworden  waren.  Der  Adel  dieser  Staats- 
wesen leistete  nur  Kriegsdienst,  die  Städte  waren  ledig- 
lich Landesfesten,  die  bäuerliche  Bevölkerung  aber  wurde 
von  ungemessenen  und  willkürlichen  Lasten  bedrückt, 
gefährdet  und  von  besserer  Kultur  zurückgehalten.  Die 
Erträge  und  beitreibbaren  Einnalmien  standen  in  steigen- 
dem Mißverhältnisse  zu  den  Finanzbedürfuissen,  und  die 
Zeit  der  Kreuzzüge  und  Minnesänger  forderte  großen 
Aufwand  der  Hofhaltungen. 

Aber  es  ist  zweifelhaft,  ob  die  Einsicht,  wie  viel  die 
deutschen  Bauernschaften  für  die  Kultur  des  Landes  zu 
leisten  vermochten,  sich  so  rasch  und  allgemein  verbreitet 
hätte,  wenn  nicht  die  damals  immer  mehr  überhand- 
nehmenden Einbrüche  der  Nordsee  in  die  niederländi- 
schen und  friesischen  Marschlandschaften  zur  Aufnahme 
der  bedrängten  Bevölkerung  aufgefordert,  hätten  und  da- 
durch zugleich  Kolonisten  herbeigezogen  worden  wären, 
welche  seit  Jahrhunderten  im  Kampfe  mit  der  See  große 
Erfahrung  und  Verständnis  für  planmäßige  Meliorations- 
^nlagen  gewonnen  hatten. 

AnleltxiDg  znr  deutschen  Landei-  nnd  Volksfonchung.  34 


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530  August  Meitzen, 

Das  Auftreten  der  Fläminger,  Holländer  oder 
Niederländer,  bildet  eine  sehr  beachtenswerte  Einleitung 
zu  der  Kolonisation  des  Ostens.  Sie  waren  es,  welche^ 
wie  erwähnt,  11 OG  die  ersten  Marschhufen  in  der  Wümme- 
niederung  bei  Bremen  anlegten,  und  die  Gedanken  des 
Vertrages,  welchen  sie  mit  dem  Erzbischofe  schlössen^ 
wurden  maügebend  für  die  gesamte  Kolonisation. 

Sie  übernahmen  das  Land  nach  gemessenen  Hufen 
und  mit  genau  festgesetzten,  für  jede  Zinshufe  gleichen 
Lasten,  deren  Leistung  nach  einer  Anzahl  für  die  Kulti- 
vierung des  Landes  genügenden  Freijahren  zu  beginnen 
hatte.  Sie  erlangten  das  Recht,  Kirchen  zu  bauen,  und 
sicherten  jeder  derselben  eine  Hufe  als  Widmuth  zu.  Vor 
allem  aber  wurde  von  Bedeutung,  daß  sie  sich  ausbedangen, 
aus  der  gewöhnlichen  Gerichtsbarkeit  des  Landes  auszu- 
scheiden. Die  geringen  Sachen  soll  ihr  eigener  Dorfrichter 
entscheiden,  für  größere  Sachen  wollen  sie  den  Erzbischof 
auf  ihre  Kosten  herbeiholen,  der  persönlich  ihr  Richter 
sein  soll.     Ihm  fällt  ein  Dritteil  aller  Gerichtsgefälle  zu. 

Die  Abmachungen  der  Fläminger  hatten  außerdem 
das  Eigentümliche,  daß  sie  im  wesentlichen  nur  dasjenige 
Land  übernahmen,  welches  ihnen  für  den  Anbau  ge- 
eignet schien.  Solange  sich  ihre  Anlagen  nur  auf  den 
Marschen  und  Stromauen  der  Weser  und  Elbe  ausbreiteten^ 
war  das  von  geringer  Bedeutung;  denn  mit  Ausnahme 
der  Moore  und  Sande,  welche  als  völlig  unnutzbar  liegen 
blieben,  hat  der  Boden  dieser  Gebiete  so  gleichmäßige 
und  ebene  Beschaffenheit,  daß,  wie  jede  Generalstabskarte 
zeigt,  sich  die  langen  Parallelstreifen  dieser  Anlagen  ohne 
Unterbrechung  aneinanderreihen  konnten. 

Seit  1140  aber  verbreiteten  sich  die  holländischen 
Kolonieen  auch  außerhalb  der  Marschen.  Im  Laufe 
weniger  Jahrzehnte  übernahmen  sie  in  weiter  Ausdehnung 
Siedelungen  auf  der  Geest,  in  Holstein  und  Wagrien,  in 
der  Altmark  und  Brandenburg,  in  Sachsen,  Schlesien, 
Böhmen,   Mähren   und  Siebenbürgen^).     Es  bildete  sich 

*)  Kartenbilder  finden  sich  bei :  Z  e  d  1  i  t  z ,  Cod.  dipl.  sil.  IV. 
S.  82.  —  J  i  e  d  1  i  t  z ,  Illustr.  landw.  Vereinskalender  f.  d.  Kr.  Sachsen 
u.  die  thür.  Staaten  von  R.  v.  Langsdorff.  1886.  X.  Jahrg.  S.  66. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     531 

dabei  ein  besonderer  BegriflF  des  flämischen  Rechtes  und 
der  flämischen  Hufe,  nach  welchem  solche  Kolonieen  auch 
mit  anderen  Bauern  als  flämischen  angesetzt  wurden.  Der 
deutsche  Orden  bestimmte  1238  die  flämische  Hufe,  deren 
Maß  inzwischen  auf  etwa  17h  herabgesetzt  worden  war, 
zum  Muster  der  kulmischen. 

Alle  diese  Anlagen  aber  behielten  die  Besonderheit 
bei,  daß  sie  sich  nur  auf  das  bereits  kultivierte  oder  leicht 
kultivierbare  Land  beschränkten,  und  auf  diesem  möglichst 
die  geraden  und  genau  parallel  fortlaufenden  Streifen  der 
Marschhufe  festhielten.  In  dieser  Form  liegen  in  Ober- 
schlesien, Preußen  und  Polen  zahlreiche  Fluren  aufgeteilt. 
Bei  Neugrtindungen  wurden  dabei  die  Gehöfte,  wie  bei 
den  Marschhufen,  auf  dem  Streifen  selbst  angelegt,  bei 
schon  vorhandenen  Dorf  lagen  wurden  aber  diese  Streifen- 
systeme auch  unabhängig  von  den  Gehöften  aufgemessen. 

Aus  dieser  Art  der  Anlage  ergab  sich  indes  schon 
früh,  daß  der  Grundherr  nur  zu  ungenügender  Ver- 
wertung seines  Bodens  gelangte,  wenn  es  ihm  nicht 
möglich  wurde,  die  Anlage  auch  über  das  liegengebliebene 
Land  auszudehnen.  Dies  konnte  dadurch  geschehen,  daß 
die  Ansiedler  sich  dazu  verstanden,  dieselben  durch  ein 
oder  mehrere  weitere  Systeme  solcher  Parallelstreifen, 
oder  auch  durch  Anlage  einiger  Nebengewanne  zu  kulti- 
vieren. 

Es  ist  dies  durch  das  schematische  Bild  einer  solchen 
flämisch  ausgesetzten  Flur  in  Fig.  12  ersichtlich  ge- 
macht. A  sind  die  ursprünglichen  10  flämischen  Hufen 
zu  je  66  Morgen  rheinl.  gleich  dem  kulmischen  Maße. 
B  zeigt,  wie  der  Parallelismus  der  Streifen  bis  an  die 
Grenze  der  Feldflur  weiter  geführt  werden  konnte.  Jede 
Hufe  erhielt  dadurch  ungefähr  44  Morgen  mehr,  der  Be- 
sitz des  alten  Hüfeners  betrug  also  nun  l^'a  Hufen.  C 
und  D  ist  eine  in  Preußen  sehr  häufige  Weise,  kulmische 
Hufen  durch  Gewanne  zu  vergrößern.  Die  Streifen  wur- 
den senkrecht  gegen  die  der  alten  Anlage  angelegt  und 
folgen  so  in  der  Reihe,  daß  der  Hüfner,  der  in  C  den 
entferntesten  Streifen  zugewiesen  erhält,  in  D  den  näch- 
sten  bekommt.     jB,  F  und  G  bilden  die  Verteilung  des 


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532 


August  Meitzen, 


letzten  Restes  der  Flur  in  gewöhnlichen  Gewannen.  Der 
ursprüngliche  Hüfner  erhielt  in  C  bis  G  noch  40  Morgen 
Zuwachs,  so  da&  sich  sein  Besitz  mit  der  entsprechenden 


Fig.  12. 


'     ^ioo^fl^ 


•o^Jgo 


Zins-  und  Dienstlast  auf  2  \4  Hufe  berechnete.  Bei  dieser 
Verteilung  kann  aber  ersichtlich  auf  die  BodenbeschaflFen- 
heit  keine   genügende  Rücksicht  genommen  werden,    die 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     533 

einzelnen  Hufen  können  deshalb  durch  die  gleichen 
Leistungen  sehr  verschieden  getroflPen  werden. 

Im  Westen  unterblieb  nach  1250  offenbar  aus  diesem 
Grunde  die  Anlage  von  flämischen  Hufen  überhaupt.  Es 
wurde  dafür  der  in  Sachsen  schon  in  früherer  Zeit  üb- 
lichen in  großen  Gewannen  der  Vorzug  gegeben. 
Ja  es  zeigt  sich,  daß  ursprünglich  flämisch  angelegte 
Fluren  unter  völliger  Beseitigung  der  flämischen  Ein- 
teilung noch  im  14.  Jahrhundert  nachträglich  in  Gewann- 
fluren umgestaltet  wurden.  Dies  ist  urkundlich  bezeugt 
für  Domslau  ^),  dessen  Bild  Fig.  13  zugleich  die  An- 
schauung von  der  ganz  allgemein  verbreitetet!  Art  giebt, 
wie  Gewannfluren  im  kolonisierten  Osten  angelegt  sind  *). 
Umgestaltungen  konnten  schon  früh  ohne  Schwierig- 
keiten vorgenommen  werden,  weil,  wie  die  Urkunden 
zeigen,  die  Zuweisung  des  Hufenlandes  häufig  nur  über- 
schläglich und  nach  allgemeinen  Abgrenzungen  geschah, 
die  genaue  Aufmessuug  aber  bis  nach  beendigter  Kulti- 
vierung vorbehalten  wurde,  oft  auch  überhaupt  oder  sehr 
lange  Zeit  unterblieb.  Ueberdies  durften  die  Bauern 
auch  wieder  ausgekauft  werden,  und  zogen  wohl  leicht 
aus  eigenem  Antriebe  weiter,  um  neue  Anlagen  zu  unter- 
nehmen, die  6  —  15  Jahre  lastenfrei  waren. 

Außer  den  flämischen  und  den  gewannmäßigen  An- 
lagen wurden  auch  die  fränkischen  Waldhufen  in 
großer  Ausdehnung  zur  Kolonisation  des  Ostens  ange- 
wendet. Sie  verbreiteten  sich  vom  Erzgebirge  aus  seit 
1200  über  den  gesamten  Zug  des  Riesengebirges,  Glatzer- 
und Altvatergebirges  mit  allen  ihren  Vorbergen  bis  tief 
nach  Böhmen  und  Mähren  hinein,  ebenso  finden  sie  sich 
auf  großen  Strecken  des  Böhmer waldes,  des  mährischen 
Gesenkes,  den  Bergen  von  Ober-  und  Niederösterreich,  der 


')  Näheier  Nachweis  in:  M sitzen.  Cod.  dipl.  siles.  Bd.  IV, 
Urkunden  schlesischer  Dörfer  zur  Geschichte  der  Feldeinteilung. 
S.  24. 

*)  Kartenbilder:  Krampitz  und  Tschechnitz  in:  Cod, 
dipl.  Bd.  IV,  S.  44  u.  04.  —  Subkan:  Fünfzig  Jahre  der  Land- 
wirtschaft Westpreußens.  Danzigl872.  —  Kembs  in  G.H.  Schmidt, 
Zur  Agrargeschichte  Lübecks  und  Ostholsteins.     Zürich  1887. 


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534 


August  Meitzen, 


DOMSLAU 


mährisch-ungarischen  Grenzkette  und  den  Beskiden.  Sie 
bedeckten  aber  auch  nach  und  nach  über  den  Jablunkapaü 
hinaus  die  Karpathen  und  die  Gebirge   des  nordöstlichen 


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Besiedelung,  Hauabau  und  landwirtschaff liehe  Kultur.     535 

• 

Ungarns,  und  reichen  bis  nach  Siebenbürgen  und  Rumä- 
nien hinein,  hier  sogar  unter  dem  Namen  von  Königs- 
hufen. 

In  den  ebenen  Gegenden  fanden  sie  weniger  An- 
wendung. Indes  sind  sie  doch  in  Niederschlesien  längs 
Bober,  Queis  und  Katzbach,  im  Katzengebirge/  um  Lüben 
und  Glogau,  und  in  den  Trebnitzer  Bergen  Über  Kreuz- 
burg bis  auf  die  polnische  Platte,  um  die  Quellen  der 
Malapane  und  Warthe,  ziemlich  verbreitet.  In  flachem 
und  gleichmäßigem  Terrain  konnte  ihnen  aber  ein  be- 
stimmterer Parallelismus  gegeben  werden,  so  daß  im 
Mangel  urkundlicher  Bezeichnung  fränkische  und  flämische, 
die  gesamte  Flur  in  Parallelstreifen  einnehmende  Hufen 
oft  schwer  zu  unterscheiden  sind. 

Dieser  Zweifel  wird  in  noch  höherem  Maße  bei  den 
sogen,  flämischen  Hägerhufen  geltend,  welche  längs 
der  üstseeküste  in  Mecklenburg  und  Neuvorpommern 
einen  breiten  Landstrich  einnehmen,  in  einem  schmaleren 
sich  aber  auch  in  Hinterpommern  über  Köslin  hinaus 
fortsetzen.  Sie  heißen  auch  westfälische,  entweder  von 
ihren  Bebauern  oder  von  den  um  1240  im  Schaumburgi- 
schen auf  dem  Bückeburger  Walde  ganz  in  Form  und 
Größe  der  fränkischen  Waldhufen  angesetzten  zahlreichen 
Hagen.  Auch  nördlich  Hannover  sind  damals  solche 
Hagen  begründet  worden.  Da  nun  die  pommerische 
Hägerhufe  40  h  Fläche  besitzt  und  selten  einen  genauen 
Parallelismus  innehält,  vielmehr  auch  keilförmige  Formen 
wie  bei  den  Waldhufen  je  nach  der  Ausdehnung  der  Flur 
vorkommen,  so  steht  diese  Hägerhufe  im  allgemeinen  der 
letzteren  näher  als  der  flämischen.  Ihr  Name  ist  viel- 
leicht von  gewissen  noch  nicht  näher  festgestellten  Eigen- 
tümlichkeiten des  flämischen  Rechtes  hergenommen.  Aber 
er  kann  auch  als  eine  Bestätigung  der  nahen  Verwandt- 
schaft der  Wald-  und  Marschhufen  aufgefaßt  werden, 
die,  wie  gezeigt,  im  Grundgedanken  besteht,  in  der  wei- 
teren Entwicklung  aber  meist  verschwunden  ist.  Die 
Waldhufen  konnten  sich  in  ihrer  Gestalt  nicht  ändern, 
wenn  sie  nicht  völlig  beseitigt  wurden,  was  sich  nur  in 
sehr  seltenen  Fällen  vermuten  läßt.    Die  flämischen  Hufen 


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536  August  Meitzen, 

aber  wurden  auf  zahlreichen  Fluren  zu  großer  Aehnlich- 
keit  mit  Gewannen  ausgebaut. 

In  vorstehendem  ist  angedeutet,  wo  auf  dem  Koloni- 
sationsgebiete alte  slawische,  wo  flämische  und  wo  Wald- 
hufen bestehen.  Im  äußersten  Osten  an  der  Memel,  in 
den  Kreisen  Memel,  Heidekrug,  Niederung,  Tilsit  und 
Ragnit  besteht  die  Besiedelung  tiberwiegend  aus  Einzel- 
höfen, welche  den  westfälischen  entsprechen  und;  da  in 
Memel  im  13.  Jahrhundert  Westfalen  einwanderten,  auch 
zum  Teil  mit  Westfalen  besetzt  sind.  Die  Einzelhöfe 
waren  aber  in  Litauen  altlandesüblich,  so  daß  die  An- 
lage dieser  Höfe  den  Litauern  zugeschrieben  werden 
muß.  Die  weit  überwiegenden  Flächen  des  deutschen  Ostens 
nehmen  überall  gewannmäßig  angelegte  Dörfer  ein,  so- 
weit nicht  eine  Anzahl  leicht  erkennbarer,  moderner 
Anlagen  entstanden  ist. 

Modern  sind  vor  allem  die  großen  geschlossenen 
Güter  der  Gutsherren. 

Allerdings  übernahmen  die  Ritter  in  der  Mark  Bran- 
denburg bereits  unter  Albrecht  dem  Bären  größere  Lehn- 
güter von  10  bis  20  Hufen,  und  auch  in  den  übrigen 
Slawenländem  und  im  preußischen  Ordenslande  gab  es 
größere  Güter,  die  unter  den  Voigten  der  Gutsherren  von 
den  auf  kleinen  Stellen  angesetzten  Resten  der  alten  Be- 
völkerung unter  Heranziehung  der  deutschen  Bauern  zu 
Spann-  und  Handdiensten  bewirtschaftet  wurden.  Aber 
diese  Güter  lagen  nur  ausnahmsweise  außerhalb  der  Dorf- 
lage und  des  allgemeinen  Ackergemenges.  Seit  dem  Ende 
des  Mittelalters  aber  strebte  der  Landadel  überall  aus 
Forsten  und  Markanteilen,  aus  AUmendeland  und  wüsten 
oder  niedergelegten  Bauerngütern  größere  Ländereien  zur 
eigenen  Bewirtschaftung  zu  bringen,  und  legte  darauf  häufig 
gesonderte  Vorwerke  außerhalb  der  engen  Dorf  läge  an,  auf 
denen  bald  die  üblich  gewordenen  Schlösser  erwuchsen. 

Der  neueren  Zeit  gehören  auch  zahlreiche,  meist  ver- 
einzelte Gehöfte  bildende  Anlagen  der  Industrie  und 
des  Verkehrs  an.  Bergwerke,  Fabrikanlagen,  Mühlen, 
Ziegeleien,  Gasthöfe,  Vergnügungsorte,  Chausseehäuser, 
Bahnstationen  u.  dergl. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     537 

Es  sind  auch  auf  Rodungen  und  Meliorationsgebieten 
ganze  Ortschaften,  namentlich  seit  dem  vorigen  Jahr- 
hundert, entstanden.  Dahin  gehören  die  sog.  Haulände- 
reien  der  Provinzen  Posen  und  Westpreußen,  die  zahl- 
reichen Bruchkolonieen,  welche  Friedrich  Wilhelm  L 
und  Friedrich  der  Große  auf  den  in  den  Marken  und 
Pommern  entwässerten  Sümpfen  und  auf  dem  Oder-^ 
Warthe-  und  Netzebruch  begründeten;  endlich  die  seit 
1675  begonnenen,  nach  Lage  und  Plan  auf  der  topo- 
graphischen Karte  leicht  erkennbaren  bedeutenden  Veen- 
kolonieen  in  den  Torfmooren  Hannovers  und  Ostfries- 
lands. 

Aus  diesen  Orundzüg«n  ergiebt  sich  das  allgemeine 
Bild  der  Besiedelung  Deutschlands. 

7.  Behandlung  des  Beweismaterials. 

Wer  sich  mit  der  Landeskunde  einer  bestimm- 
ten Gegend  beschäftigen  will,  wird  ohne  besondere 
Schwierigkeit,  nach  den  gewonnenen  geschichtlichen  An- 
haltspunkten für  die  Beurteilung  des  Charakteristischen  in 
den  Anlagen  der  Wohnplätze,  sich  an  der  Hand  der 
topographischen  Karte  darüber  zu  informieren  vermögen, 
welche  Gestaltungen  der  Besiedelung  er  in  denselben  zu 
erwarten  hat,  welche  Merkmale  diese  verschiedenen  For- 
men unterscheiden  und  welche  Fragen  über  Feldeinteilung, 
Besitzverhältnisse  und  Wirtschaftsbetrieb  sich  aus  deren 
Wesen  ergeben. 

Für  die  Auswahl  typischer,  näher  zu  bearbei- 
tender Dorffluren  wird  er  durch  Nachfrage  und  Ein- 
sicht der  vorhandenen  Dokumente  darüber  mit  Sicherheit 
XJeberzeugung  erreichen,  daß  das  Bild  der  Flurkarte  nicht 
auf  einer  modernen  Verkoppelung  oder  sonstigen  Aus- 
einandersetzung, sondern  auf  dem  Zustande  beruht,  wel- 
cher vor   dem  Eingreifen   der  Landeskulturgesetze  liegt. 

Aus  den  Karten,  Registern  und  Akten  Einsicht  in 
die  Verteilung  des  alten  Besitzstandes  zu  erlangen, 
ist  bei  Einzelhöfen  und  bei  Wald-  und  Marschhufen  wegen 
ihres   Zusammenschlusses    sehr    einfach.     Auch   die   ün- 


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538  August  Meitzen, 

regelmäfiigkeit  der  Verteilung  bei  süddeutschen  gutsherr- 
lichen Weilern  und  Dörfern  und  bei  altslawischen  Fluren 
zeigt  sich  bald.  Zeitraubender  wird  wegen  der  vielen 
Parzellen  die  Feststellung  der  Hufenanteile  bei  den  in 
Gewanne  geteilten  Fluren.  Sie  ist  selbstredend  am  schwie- 
rigsten und  in  manchem  Falle  vergeblich  für  die  alter- 
tümlichsten Formen  und  wird  immer  leichter  für  die 
volksmälaigen,  aber  durch  Regulierungen  geordneten  Ge- 
wanne, dann  für  die  entwickelteren  Eolonisationsanlagen 
des  späteren  Mittelalters  und  endlich  für  die  Umgestal- 
tungen aus  flämischen  Hufen. 

Das  Eartenbild  läßt  sich  bei  kleineren  Karten 
durch  Durchpausen  abnehmen.  .  Für  Karten  aus  mehreren 
Blättern  sind  häufig  kleinere  lithographierte  oder  doch 
zu  kopierende  Uebersichtskarten  vorhanden,  in  welche  der 
Besitzstand,  wenn  sie  ihn  nicht  enthalten,  leicht  einzu- 
zeichnen ist.  Es  ist  auch  keine  große  Mühe,  eine  Flur- 
karte mit  einem  Pantographen  auf  ein  handliches  Blatt 
zu  übertragen.  Stets  aber  läßt  sich  die  Quadratur  be- 
nutzen, die  auf  den  meisten  Karten  vorhanden  oder  auf 
einem  Stück  Pauspapier  darüber  zu  legen  ist.  Der  In- 
halt jedes  Quadrates  kann  daraus  in  ein  entsprechendes 
kleineres  Quadrat  auf  einem  quadrierten  Papier  ohne 
weiteres  nach  dem  Augenmaß  übertragen  werden.  Alle 
diese  Manipulationen  erlernen  sich  leicht.  Jeder  Feld- 
messer kennt  sie  und  vermag  sie  durch  seinen  Rat  zu 
unterstützen.  Er  wird  auch  eine  üebersichtskarte  in 
Linien  und  Signaturen  so  herzustellen  wissen,  daß  sie 
durch  Photographie  auf  den  Raum  einer  Druckseite  ver- 
kleinert und  durch  Lichtdruck  mit  allem  nötigen  Detail 
veröffentlicht  werden  kann. 

Wer  im  feldmesserischen  Zeichnen  nicht  geübt  ist, 
kann  sich  deshalb  auf  die  Fixierung  der  erforder- 
lichen Grundlagen  beschränken.  Dazu  gehöi*t  nur,  daß 
er  in  die  Pause  oder  das  Brouillon  der  Kopie  alle  Par- 
zellen mit  ihren  Besitzern  und  Flächen  einträgt,  die 
Kulturarten,  Garten,  Wald,  Wiese,  Hutung  durch  eine 
leichte  Signatur  erkennbar  macht  und  die  Lage  des  besten 
und  des  schlechtesten  Ackerlandes  andeutet.     Außerdem 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     539 

ist  noch  dem  Register  die  einfache  Notiz  der  Gesamt- 
große  jeder  einzelnen  Besitzung  und  der  ganzen  Flur, 
sowie  der  Kulturarten,  Wege  und  Gewässer  zu  entnehmen. 

Dieses  Material  gestattet  die  Zahl  der  Hufen  auch 
für  den  Fall,  daß  sie  nicht  urkundlich  bekannt  ist,  durch 
die  Berechnung  der  Hufenanteile  in  den  einzelnen  Ge- 
wannen zu  ermitteln.  Es  läßt  sich  daraus  auch  feststellen, 
ob  die  Verteilung  des  Hufenlandes  nach  Gewannen  oder 
nach  jQämischen  Hausstreifen  stattgefunden,  welcher  Be- 
sitz der  Pfarrei  und  den  kleinen  Stellen  zugewiesen  wurde 
und  wo  und  in  welcher  Ausdehnung  Gemeinde-  und  All- 
mendenland  vorhanden  ist.  Dies  sind  die  wesentlichsten 
Anhaltspunkte  für  die  Frage  nach  dem  Charakter  der 
Feldlage. 

Liegen  noch  Urkunden  über  die  Geschichte  des 
Ortes  im  Orts-  oder  Staatsarchive  vor,  so  wird  sich  durch 
die  darin  angezeigten  Besitz  Veränderungen  und  sonstigen 
Rechtsgeschäfte,  oder  durch  die  Ueberlieferung  der  Zins- 
und  Lastenverteilung,  der  Hufenanzahl  und  ähnlichem  nur 
um  so  deutlicher  der  Zusammenhang  der  ersten  Grund- 
züge der  Ansiedelung  und  ihrer  Wirtschaftsweise  mit  den 
thatsächlichen  Zuständen  ergeben,  welche  auf  uns  ge- 
kommen sind. 

Eine  derartige  Bearbeitung  auch  einer  Mehrzahl  von 
Ortschafken  ist  keineswegs  so  mühevoll,  daß  nicht  der, 
welcher  sich  für  die  Kunde  seiner  Heimat  interessiert, 
sie  vornehmen  könnte.  Er  wird  dadurch  ein  festes  und 
anschauliches  Bild  der  Hauptbedingungen  des  Agrar- 
wesens  und  der  Zustände  des  flachen  Landes  in  den 
untersuchten  Gegenden  und  damit  Einsicht  in  einen  nur 
allzusehr  unbeachteten  Faktor  der  heimischen  Kultur- 
geschichte gewinnen. 


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540  August  Meitzen, 


III.  Ermittelungen  zur  Landeskunde  innerhalb  der 
einzelnen  ländlichen  Ortschaft. 

1.  Geschiclitllclie  Grundlagen  nnd  praktisclie  Zwecke. 

Das  ländliche  Dasein  jeder  Gegend  hat  eigentümliche 
Elemente  in  sich,  die  nur  aus  dem  zwingenden  Charakter 
der  Bedingungen  verstanden  werden  können,  welche  mit 
der  ersten  Anlage  der  festen  Ansiedelungen  gegeben  sind. 
Aber  es  bleibt,  auch  wenn  dieser  Boden  gewonnen  ist, 
sehr  vieles  auf  dem  flachen  Lande  aufzusuchen,  was  der 
Jünger  der  Landeskunde  nicht  allein  zu  beobachten  und 
kennen  zu  lernen,  sondern  gewissermaßen  mitzuerleben 
und  in  den  Kreis  unmittelbarer  fördernder  Thätigkeit  zu 
ziehen  hat.  Die  Gesamtheit  der  Lebensbeziehungen 
und  Lebensanschauungen  der  bäuerlichen  Bevöl- 
kerung, die  Bewegung  und  die  Beweggründe  des  realen 
täglichen  Lebens,  ihre  Bestrebungen  und  Hoffiiungen, 
Mängel  und  Bedürfnisse  wird  er  um  so  weniger  leicht 
und  sicher  auffassen,  als  er  voraussichtlich  nach  seiner 
Lebenslage  oder  doch  nach  dem  Wesen  seiner  Bildung 
ein  Städter  ist. 

Es  ist  aber  ein  tiefer  Gedanke  unserer  modernen 
Nationalökonomie,  daß  uns  das  Verständnis  des  Wirk- 
lichen und  Möglichen  vor  allem  aus  der  eindringen- 
den Betrachtung  der  Geschichte  erwächst.  Die  Be- 
obachtung wird  überall  am  leichtesten  an  die  Belehrung 
anknüpfen  können,  die  uns  die  historische  Entwicklung 
giebt.  Alle  Landeskunde  sucht  recht  eigentlich  dadurch 
zu  wirken,  daß  sie  der  Bevölkerung  selbst  die  Augen  für 
geschichtliche  und  volkstümliche  Verhältnisse  öffnet,  Inter- 
esse für  die  Fragen  der  Kulturentwickelung  und  für  Kon- 
servierung und  Werthaltung  der  beachtenswürdigen.6egen- 
stände  und  Sitten  wecken  und  von  dieser  idealen  und 
gemütvollen  Auffassung  aus  auch  Eingang  für  praktische 
Gedanken  und  Vorschläge  sich  verschaffen  will,  welche 
nicht  allein  Altertümer  und  Merkwürdigkeiten  betreffen. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     541 

sondern  zu  Verbesserungen  und  Verschönerungen  mancher- 
lei Art  im  Aeu&eren  der  Orte,  wie  im  häuslichen  und 
wirtschaftlichen  Leben,  in  Arbeit  und  Genuß  von  alt  und 
jung  anregen. 

Diesen  Gedankengang  wird  auch  der  den  unmittelbar 
praktischen  Beziehungen  des  lokalen  ländlichen  Lebens 
ferner  Stehende  am  besten  inne  halten,  aber  er  wird  es 
freilich  auch  verstehen  müssen,  der  ländlichen  Bevölke- 
rung persönlich  nahe,  zu  treten,  sie  nicht  bloß  als 
ein  Objekt  des  Studiums,  sondern  so  zu  behandeln,  daß 
er  durch  sein  eigenes  warmes  und  unbefangenes  Interesse 
auch  das  ihrige  aufschließt. 

Wer  eine  Anweisung  zu  gedeihlicher  Thätig- 
keit  in  dieser  Richtung  geben  soll,  vermag  kaum  anders, 
als  sich  unmittelbar  in  die  Lage  eines  Mannes  zu  ver- 
setzen, der  für  gewöhnlich  durch  seinen  Beruf  in  der 
Stadt  gebunden  ist  und  nur  seine  Nebenstunden  der  Landes- 
kunde zuwenden  kann,  der  von  Zeit  zu  Zeit  einen  freien 
Tag,  womöglich  mit  seiner  Familie  und  mit  einem  kleineu 
Kreise  gleichdenkender  Freunde  der  Erholung  und  zu- 
gleich der  anregenden  frischen  Arbeit  solcher  Beobach- 
tungen widmen  will. 

Denken  wir  ihn  mit  seinen  Wünschen  in  eines  der 
heimlichen,  weltabgeschiedenen  Dörfer  in  den  Bergen, 
fem  der  betretenen  Straße  unangemeldet  eindringen  und 
sich  im  Hausgarten  des  bescheidenen  Wirtshauses  nieder- 
lassen, um  einen  heiteren  und  ergiebigen  Tag  zuzubringen. 
Es  ist  richtig,  daß  er  auf  dem  Lande  allenthalben  auch 
einen  stattlichen  Herrenhof  finden  kann,  der  neben  fröh- 
lichen Stunden  ihm  ebenso  das  Interesse  der  Belehrung 
zu  bieten  vermag.  Aber  wir  können  verzichten,  ihm  über 
sein  Auftreten  dem  Gutsherrn  gegenüber  Andeutungen  zu 
machen.  Versteht  er  aus  dem  Bauern  die  Wünsche  der 
Landeskunde  zu  erfragen,  so  wird  er  dazu  dem  Guts- 
herren gegenüber  gewiß  keiner  Anweisung  bedürfen.  Wie 
faßt  er  also  seine  Aufgabe  am  besten  an? 

Hat  er  sich,  wie  geschildert  wurde,  aus  Karten,  Akten 
und  Urkunden  für  die  Ortschaft  schon  vorbereitet,  so  wird 
er  freilich   mehr  als   die   Bauern   selbst  wissen,   und  er 


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542  August  Meitzcn, 

wird  sie  über  Dinge  fragen  können,  über  deren  Kennt- 
nis sie  bei  einem  Fremden  mit  Recht  staunen.  Wenn  er 
es  aber  nicht  sehr  gut  versteht,  das  daraus  erwachende 
Mißtrauen  zu  verscheuchen,  wird  er  sich  mit  so  viel  Weis- 
heit schwerlich  leichten  Eingang  verschaffen. 

2.  Beobaelitmigen  an  Kirchen. 

Sei  also  die  Vorbereitung  des  Beobachters  mehr  oder 
weniger  vollständig,  immer  wird  er  sich  im  Orte  am 
besten  einführen,  wenn  er  sich  von  dem  Ersten,  mit  dem 
ein  Gespräch  unbefangen  anzuknüpfen  ist,  über  Dinge 
belehren  läßt,  die  einer  Anfrage  wert  sind  und  sie 
natürlich  erscheinen  lassen. 

Deshalb  empfiehlt  es  sich  nach  vielfacher  Erfahrung 
am  meisten  in  einem  solchen  Orte  zuerst  die  Kirche  zum 
Gegenstande  der  Betrachtung  zu  machen. 

Die  Kirche  genau  anzusehen,  findet  Jeder  im  Dorfe 
verständlich.  Niemand  bedenklich.  Es  wird  dadurch  auch 
die  Bekanntschaft  mit  dem  Geistlichen  am  einfach- 
sten eingeleitet,  sowie  die  mit  der  anderen  Intelligenz 
des  Dorfes,  dem  Küster,  dem  Schullehrer,  dem  Ortsvor- 
stand, deren  jeder  seinen  eigenen  Interessenkreis  und 
seine  eigenen  Meinungen  und  Ueberlieferungen  hat. 

An  die  Kirche  knüpft  sich  alles,  was  man  vom  Dorfe 
erzählen  kann.  Freilich  ist  auf  diese  Chronik  nicht  viel 
zu  geben,  selbst  wenn  sie  aus  dem  Pfarrarchive  stammt. 
Aber  etwas  findet  sich  immer,  und  wenn  man  mit  Inter- 
esse und  mit  Schonung  auch  auf  Irrtümer  eingeht,  alles 
Thatsächliche  selbst  sieht  und  selbst  prüft,  giebt  ein  Wort 
das  andere.  Es  handelt  sich  ja  zunächst  darum,  das  sichere 
Vertrauen  zu  gewinnen,  daß  man  ohne  jeden  Neben- 
gedanken und  namentlich  ohne  Ueberhebung  oder  gar 
Spott  nur  vom  warmen  Interesse  für  die  Geschichte  des 
Orts  und  das  Wohl  und  Wehe  seiner  Bewohner  er- 
füllt ist. 

Die  Kirche  ist  aber  auch  als  Bauwerk  und  ge- 
wissermaßen als  Ortsmuseum  ein  besonders  beachtens- 
wertes Objekt. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     543 

Dabei  kommt  noch  zu  eigentümlicher  Geltung,  da& 
ein  schöner  und  großer  Kirchenbau  ja  an  sich  der  Auf- 
merksamkeit wert  ist,  daß  aber  gerade  die  kleinsten  und 
unscheinbarsten  Kirchen  das  eingehendere  Interesse  ver- 
dienen. 

In  betreif  der  Untersuchung  der  architektonisch  aus- 
gezeichneten oder  nach  Ueberlieferung  und  urkundlichen 
Nachrichten  sehr  früh  begründeten  Kirchenbauwerke 
Deutschlands  ist  auch  auf  dem  platten  Lande  das  meiste 
allerdings  schon  geschehen.  Zahlreiche  in  die  Frage  des 
Bauwesens'und  der  kirchlichen  Vorschriften  und  Gebräuche 
völlig  eingelebte  Architekten  haben  alle  wichtigeren  Bau- 
ten durchforscht;  und  die  Landeskunde  findet  an  der  von 
ihnen  ausgegangenen  Litteratur  und  den  Sammlungen  der 
Baubehörden  und  Bauakademieen  reiche  Hilfsmittel,  sich 
die  hervorragenden  Bauten  und  die  lokalen  Verhält- 
nisse, aus  denen  sie  hervorgingen,  zum  Verständnis  zu 
bringen. 

Aber  auch  die  unbedeutenden  und  architektonisch 
wenig  anziehend  erscheinenden  Landkirchen  haben  ihren 
Wert.  'Gevrisse  bauliche  Besonderheiten  sind  niemals 
ausgeschlossen,  und  für  die  Kultur  der  Gegend  ist  die 
Gründung,  die  Zeit  und  Art  ihres  Ausbaues  und  die 
Entwickelung  ihres  Sprengeis  immer  von  erheblichem 
Interesse. 

üeber  die  Zeit  des  Bonifacius  hinauf  reichen  in 
Deutschland  nur  wenige  und  meist  an  Hauptkirchen  ge- 
knüpfte Erinnerungen  der  Kirchengründung.  Seit  Karl 
dem  Großen  und  Ludwig  dem  Frommen  befahlen  aber 
die  Kapitularien  ausgiebige  Landdotationen  der  Pfar- 
reien. Ein  oder  zwei  Hufen  sollten  jeder  Pfarrstelle 
lastenfrei  überwiesen  werden.  Dazu  kamen  die  Pfarr- 
zehnten. Diese  Anforderungen  vermochte  die  Geistlich- 
keit aufrecht  zu  erhalten  und  in  alle  deutschen  Länder 
zu  verbreiten.  Sie  ging,  wie  gezeigt  ist,  auch  auf  die 
Kolonisation  des  Ostens  über.  Die  Frage  der  späteren 
Erhaltung  durfte  deshalb  die  Bischöfe  von  der  Einrich- 
tung von  Pfarrsystemen  nicht  zurückhalten.  In  älterer 
Zeit,  als  die  heidnischen  Elemente  im  Volke  noch  kaum 


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544  August  Meitzen, 

niedergedrückt  waren,  war  es  allerdings  nicht  leicht,  den 
Widerstrebenden  diese  Lasten  aufzuerlegen,  und  die  älte- 
ren Pfarrsprengel  sind  deshalb  meist  sehr  groü  und  erst 
nach  und  nach  hat  die  Gründung  von  Filialen  das  Netz 
enger  gezogen.  Auf  dem  Kolonisationsgebiete  haben  die 
Kolonisten  dagegen  in  der  Regel  von  Anfang  an  eine 
eigene  Parochialkirche  für  ihr  Dorf  und  die  Zuweisung 
der  freien  Hufe  für  den  Pfarrer  gefordert.  Für  den  Geist- 
lichen, der  darauf  so  gut  leben  konnte  wie  ein  Bauer, 
war  also  gesorgt. 

Dagegen  mit  dem  Kirchenbau  stand  die  Sache 
schwieriger.  Wir  wissen  aus  dem  Zeugnis  Ottos  von 
Bamberg,  daü  in  jener  Zeit  hier  und  da  blotle  Laubhütten 
als  Kirchen  geweiht  wurden.  Auch  ein  kleiner  Holz- 
oder Steinbau  konnte  wohl  erreicht  werden.  Aber  ob 
der  Bau  sich  weiter  entwickelte,  hing  ganz  von  den 
Schicksalen  und  der  Wohlhabenheit  des  Sprengeis  ab. 
Je  kleiner  der  Sprengel  war,  desto  schwieriger  wurde  die 
Durchführung,  denn  alle  Nachbargemeinden  hatten  ebenso 
für  ihre  eigenen  Kirchen  zu  sollen.  Zudem  machte  man 
eigentlich  erst  nach  der  Reformation  den  Anspruch,  daß 
eine  Kirche  die  ganze  Gemeinde  fassen  könne.  Für 
größere  Feste  genügte  der  Kirchhof,  den  mit  starken 
Mauern  als  Zufluchtsort  zu  befestigen  vielfach  wichtiger 
schien,  als  die  Kirche  auszubauen.  Nicht  wenige  der 
Bauten,  auch  wenn  sie  früh  beendet  wurden,  blieben 
durch  die  späteren  Jahrhunderte  kapellenartig,  und  end- 
lich wurden  auch  wohl  mehrere  Pfarreien  vereinigt.  Der 
Pfarrer  wurde  dadurch  besser  gestellt,  und  eine  der  be- 
stehenden Kirchen  genügte  in  der  Hauptsache  für  den 
Gottesdienst  mehrerer  Dörfer;  die  anderen  wurden  nur 
noch  gelegentlich  oder  an  besonderen  Ennnerungstagen 
einmal  benutzt,  und  bilden  häufig  die  unberührtesten 
Reste  der  alten  Bauzeit. 

Wie  diese  ältesten  Reste  aussehen  müssen,  da- 
für giebt  es  in  der  Geschichte  der  Architektur  einigen 
Anhalt. 

Als  höchstes  Ideal  für  Kirchenbauten  schwebte  den 
Geistlichen   nach   der  Karolingerzeit  allerdings  der  Dom 


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Bediedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     545 

zu  Aachen  vor,  also  ein  Rundbau,  ein  Achteck,  welches 
häufig  noch  in  den  ältesten  Krypten  erscheint.  Aber  ein 
solcher  Plan,  auch  nur  als  Bruchstück,  als  ein  in  einem 
späteren  Eirchenbau  mitbenutzter  Mauerrest  wird  dem 
Auge  unserer  Forscher  und  Konservatoren  der  Altertümer 
schwerlich  entgangen  sein. 

In  der  Regel  aber  war  die  älteste  Bauweise  ein  ein- 
facher viereckiger  Raum  mit  Holzdecke  und  sehr  kleinen 
schlitzartigen  Fenstern  wie  Schießscharten.  Diese  wurden 
bei  stattlicheren  Bauten  auch  vergrößert,  indes  mit  Stein- 
platten, in  denen  kleine  Oeffiiungen  durchgeschlagen 
waren,  ausgesetzt.  Alte  Fenster  sind  häufig  dadurch  noch 
vorhanden,  daß  sie,  wenn  man  den  Bau  vergrößerte,  voll- 
ständig zugemauert  und  dafür  an  anderer  Stelle  andere 
durchgebrochen  wurden.  Dasselbe  ist  von  Thüren  zu 
sagen.  Alle  älteren  Baue  sind  von  Bruchsteinen  zu  ver- 
muten, nur  die  Thüreinfassung  von  Haustein,  höchstens 
auch  die  Fenster.  Die  Fläminger  führten  Backstein- 
bau ein. 

Mit  dem  romanischen  Stil  kam  auch  für  Dorf- 
kirchen die  Apsis  in  Gebrauch.  Sie  wurde  indes  nicht 
rund,  sondern  dreiseitig  aus  dem  Achteck  an  das  kleine 
Viereck  des  Kirchenraumes  angesetzt.  Sie  ist  der  erste 
Kirchenteil,  der  gewölbt  wurde.  Der  romanische  Stil 
schließt  seine  Fenster  oben  im  Halbkreis  ab.  Lisenen 
und  anderer  Schmuck,  auch  Doppelfenster  und  Halb- 
säulcheueinfassung  mögen  sich  seit  1 1 50  auch  auf  reichere 
Dorf  bauten  verbreitet  haben. 

Gotische  Spitzbögen  und  die  zugehörige  Orna- 
mentik lassen  sich  kaum  früher  als  1230  datieren.  Die 
ältere  Gotik  hält  überall  streng  am  gleichseitigen  Dreieck. 
Seit  1350  beginnen  im  Maßwerk  die  wie  Fischblasen  aus- 
geschwungenen Blätter,  seit  1450  die  Flammen  und  Un- 
regelmäßigkeiten willkürlicher  Art.  Auch  kommen  seit- 
dem wie  an  den  Häusern  so  auch  an  den  Kirchengiebeln 
in  Stadt  und  Dorf  hohe  und  schlanke,  schöngeführte 
gotische  Nischen  auf. 

Die  Deckenwölbungen  der  Landkirchen  gehören  nur 
selten   dem    15.  Jahrhundert   an  und  haben  hier  und  da 

AnleltoDg  rar  deutschen  Landes«  und  Volksforschung.  35 


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54(3  August  Meitzen, 

zu  späteren  neuen  Pfeilerstellungen  Veranlassung  ge- 
geben. Holzdecken  sind  oft  sehr  alt  und  zeigen  unter 
neuem  Anstrich  die  alte  gotische  Malerei  des  15.  Jahr- 
hunderts. 

Alle  Kirchenbauten  des  Mittelalters  sind  sehr  lang- 
sam und  in  der  Regel  nur  bruchstückweise  fortgeführt 
worden.  Meist  blieb  ein  Stück  des  alten  Gebäudes  erhalten, 
um  während  des  Baues  zum  Gottesdienst  benutzt  werden 
zu  können.  Diese  alten  erhaltenen  Stücke  lassen  sich  am 
Stil  und  an  der  Art  der  Steinfügung  längs  der  Verbin- 
dung der  neuen  erkennen.  Häufig  bilden  sehr  alte  Grund- 
lagen, ja  eine  ganze  ältere  Kapelle,  aus  Pietät  den  Chor 
der  groß  ausgebauten  neueren  Kirche.  Dabei  sind  auch 
wohl  die  Mauern  erhöht,  mit  Streben  gestützt,  die  Fenster 
verändert,  und  die  Thür  ist  zur  Porta  erweitert  und  er- 
höht. 

Für  die  Kirchen,  welche  in  den  früher  slawischen 
Dörfern  errichtet  wurden,  gilt  bezüglich  des  Baues  und 
der  darüber  zu  machenden  Beobachtungen  im  wesent- 
lichen dasselbe,  wie  für  die  in  den  deutschen  Kolonieen. 
Indes  ist  doch  zu  bemerken,  daß  den  Slawen  das  Christen- 
tum oktroyiert  wurde,  und  noch  lange  öfifentlichen  und 
heimlichen  Widerstand  fand.  Noch  1140  wird  über  die 
Heiden  und  die  Wildheit  im  Altenburgischen  geklagt. 
Die  Kirche  war  deshalb  zufrieden,  nur  hier  und  da  einen 
Parochus  einführen  zu  können,  und  gab  den  einzelnen  an- 
fänglich sehr  große  Sprengel,  deren  Einkünfte  sie  nicht 
bloß  sicherstellen,  sondern  ihnen  auch  Macht  und  Ein- 
fluß geben  sollten.  Alle  solche  Parochialkirchensprengel 
sind  urkundlich  festgestellt  und  lassen  sich  auch  einfach 
erkennen.  Denn  während  die  vorerwähnten  deutschen 
Kirchen  sänitUch  Mutterkirchen  sind,  sind  in  den  slawi- 
schen Distrikten  nur  die  alten  Parochialkirchen  Mutter- 
kirchen, und  haben  mehr  oder  weniger  Tochterkirchen 
unter  sich,  je  nachdem  der  Parochus  sich  dazu  verstand, 
die  Errichtung  derselben,  die  ihm  stets  Abbruch  thun» 
mußte,  zu  begünstigen.  Viele  der  slawischen  Kirchen, 
und  namentlich  die  älteren,  haben  auch  die  Eigentüm- 
lichkeit,   daß    sie    nicht    wie    die    deutschen,    womöglich 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     547 

mitten  im  Dorf,  auf  dem  Anger  oder  in  der  Reihe  liegen, 
sondern  häufig  auf  einem  benachbarten  Hügel  oder  sonst 
an  besonderer  Stelle,  weil  man  es  vorzog,  die  Kirche 
auf  den  Ort  eines  älteren  slawischen  Heiligtums  zu 
setzen. 

Zum  Kirchenbau  ist  noch  zu  gedenken,  daß  die  geist- 
lichen Ritterorden  und  namentlich  die  Templer  es  liebten, 
ihre  Kirchen  unmittelbar  als  Burgen  auszustatten,  so 
daü  sich  an  manchen  derselben  sdle  Erfordernisse  des 
klösterlichen  Wohnens  und  der  burgmäßigen  Verteidigung 
finden. 

Femer  war  es  in  den  Kurien  der  Ritter,  die  seit 
der  Hohenstaufenzeit  gegen  das  frühere  Verbot  mehr  und 
mehr  in  befestigte  Burgen  umgestaltet  wurden,  übhch, 
eine  Hauskapelle  zu  bauen,  die  häufig  turmartig  und 
so  eingerichtet  war,  daß  der  Burgherr  im  ersten  Stock 
vor  dem  dort  celebrierenden  Geistlichen  die  Messe  hörte, 
das  Hofgesinde  und  die  Dorfleute  aber  der  Messe  zu 
ebener  Erde  beiwohnten,  indem  die  gewölbte  Decke 
zwischen  beiden  Stockwerken  durch  eine  weite  Oeffnung 
durchbrochen  war.  Es  kommt  vor,  daß  solche  Gebäude 
als  Kapellen  oder  als  Glockentürme  an  darangebauten 
Kirchen  erhalten  sind. 

Auch  die  Datierung  der  Ausbreitung  späterer  nach- 
mittelalterlicher Baustile  ist  nicht  ohne  Interesse 
und  Bedeutung,  und  ist  darüber  gewöhnlich  aus  den 
Pfarreiakten,  sogar  mit  Angabe  der  Meister,  Auskunft  zu 
erlangen. 

Damit  ist  vieles  angedeutet,  was  auf  Beobachtungen 
über  das  Kirchengebäude  selbst  Bezug  hat. 

Für  das  Innere  der  Kirchen  gilt  vor  allem  als 
beachtenswert,  daß  die  älteren  Grabsteine  und  ihre  In- 
schriften jederzeit  wichtige  Urkunden  sind,  über  welche 
eine  Nachricht,  auch  wenn  die  Inschrift  nicht  sofort  ent- 
ziffert werden  kann,  dem  Staatsarchive,  als  der  Zentral- 
stelle für  Landesgeschichte,  erwünscht  und  eine  Auffor- 
derung ist,  nähere  Nachforschungen  anzustellen. 

Dafür  ist  nicht  lediglich  auf  diejenigen  Steine  zu 
achten,    welche   Bildwerke   oder   Schrift   zeigen.     Es   ist 


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548  August  Meitzen, 

vielmehr  ein  sehr  häufiger  Gebrauch,  bei  Restaurationen 
der  Kirchen  die  Grabsteine  zur  Herstellung  eines  besseren 
FuL^bodens  umzudrehen.  Dies  ist  sogar  auch  zu  Mauer- 
bekleidungen geschehen,  so  daß  ein  achtsames  Auge  noch 
sehr  interessante  Funde  entdecken  kann.  Es  genügt  schon 
auf  solche  verwendete  Grabsteine  zu  gelegentlicher  Auf- 
nahme aufmerksam  zu  machen.  Viele  Kirchen  waren 
nach  der  Sitte  älterer  Zeit,  die  Vornehmen  in  der  Kirche 
selbst  beizusetzen,  mit  Gräbern  ganz  erfdllt. 

Auch  ist  namentlich  an  Parochialkirchen  besonders 
sorgfältig  nach  gewissen  rohen  Stein figuren  zu  for- 
schen, welche  sich  nicht  selten  an  den  Außenmauern  ein- 
gemauert finden.  Es  sind  dies  oft  Reste  älterer  Kirchen- 
ornamente, es  war  aber  auch  Sitte,  Gegenstände  heidni- 
scher Verehrung  auf  diese  Weise  gewissermaßen  an  die 
Kirche  zu  bannen  und  unschädlich  zu  machen. 

Nächst  den  Grabsteinen  sind  die  Altäre,  ihre  Aus- 
schmückung, ihre  Bilder,  und  die  Schutzheiligen,  denen 
sie  geweiht  sind  oder  geweiht  waren,  ein  wesentlicher 
Gegenstand  des  Interesses.  Auch  in  evangelischen  Kirchen 
ist  den  einschlagenden  Fragen  meist  noch  nachzukommen. 
Sie  bilden  viel  mehr,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
kann,  wesentliche  Grundlagen  für  die  Landesgeschichte. 
Denn  der  Hauptaltar  gehört  den  Schutzheiligen,  welche 
die  Gründer  der  Kirche  bestimmten,  die  Nebenaltäre  und 
ihre  Heiligen  gingen  aus  besonderen  Veranlassungen  her- 
vor. Die  Heiligen  haben  nun  ihre  genaue  Geschichte. 
Sie  bekamen  Ruf  und  verloren  ihn  wieder.  Wenn  der 
Papst  die  Reliquien  eines  Märtyrers  sandte,  oder  einen 
Verstorbenen  heilig  sprach,  verbreitete  sich  der  Kultus 
desselben  in  einer  nach  Ort  und  Zeit  bekannten  Weise. 
Bei  dem  Mangel  an  Urkunden  über  die  ältere  Besiede- 
lung  lassen  sich  in  den  Kolonistendörfern  aus  den  Kirchen- 
heiligen ziemlich  zuverlässige  Schlüsse  über  die  Oertlich- 
keit,  aus  der  die  Ansiedler  kamen,  und  die  Zeit,  in  welcher 
die  Siedelung  erfolgte,  ziehen.  Auch  gewisse  Richtungen 
des  Zeitgeistes,  die  devotere  oder  freiere  Stellung  gegen 
den  Papst,  die  Barmherzigkeit,  die  gegenseitige  Unter- 
stützung, der  bürgerliche  oder  der  geistliche  Korporations- 


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BesiedeluDg,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     549 

sinn  sprechen  sich  in  den  Begründungen  der  Altäre, 
namentlich  der  Nebenaltäre,  aus. 

Die  Altäre  sind  häufig  unter  dem  Tafelrande  oder 
am  unteren  Rande  des  Aufsatzes,  nicht  selten  auch  auf 
der  Rückseite  auf  dem  Holzwerk  mit  Jahreszahlen  ver- 
sehen. Solche  Zahlen  sind  genau  abzuzeichnen,  weil  ihre 
Form  leicht  irre  führt. 

Was  die  Bilder  betrifft,  so  macht  sie  auch  ohne 
Kunstwert  schon  ihr  Alter  der  Beachtung  wert. 

Ueber  die  älteren  deutschen  Maler  und  ihre 
Schulen  ist  noch  wenig  genug  bekannt.  Jeder  Name 
und  jede  Datierung  ist  sehr  erwünscht.  Seit  etwa  1350 
erscheinen  Bilder  der  Kölner,  Nürnberger  und  Prager 
Schule,  seit  1450  die  der  Niederländer  oder  ihrer  Nach- 
ahmer an  den  mitteldeutschen  Altären.  Gleichzeitig  ent-^ 
standen  auch  Holzschnitzereien,  meist  bunt  ausgemdt  und 
vergoldet,  seit  1480  in  übertriebener  Spätgotik,  aber  viel- 
fach von  der  ausgezeichnetsten  Arbeit.  Damit  verbanden 
sich  ähnliche  Monstranzhäuschen,  seltener  altes  Orgel- 
schnitzwerk. Schon  im  15.  Jahrhundert  scheinen  aus 
Italien  Bilder  in  größerer  Zahl  versandt  worden  zu  sein, 
welche  nur  den  goldenen  Hintergrund  und  Kopf  und 
Hände  gemalt  enthielten,  die  übrige  Ausstattung  aber 
dem  deutschen  Maler  überließen,  der  imstande  war,  sie 
dem  betreffenden  Schutzheiligen  nach  Bedürfnis  anzu- 
passen. 

Die  eigentlichen  Altargeräte  haben  auch  die  evan- 
gelischen Pfarreien  in  der  Regel  aufbewahrt,  wie  sie  aus 
der  katholischen  Zeit  herüberkamen. 

Die  Altäre  sind  der  Heiligen  wegen  aus  evangeli- 
schen Kirchen  meist  entfernt.  Aber  auch  in  katholischen 
hat  der  barocke  Zopfstil  der  Jesuiten  wenig  Altes  und 
Würdiges  mehr  übrig  gelassen.  Es  giebt  nur  noch 
ein  in  der  Regel  wirksames  Mittel,  es  wieder  zu  finden. 
Man  lasse  es  sich  nicht  verdrießen,  alle  Schlupfwinkel 
der  Bahrenkammer  und  namentlich  des  Kirchen- 
bodens sorgsam  zu  durchsuchen.  Man  wird  sicher 
nicht  ohne  Ausbeute  bleiben,  und  kann  dabei  auch  einen 
Blick  auf  die  Glocken  thun,   welche  oft  recht  alt  sind 


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550  Augast  Meitzen, 

und   interessante,    nicht   selten    verunglückte    Inschriften 
haben. 

Mit  diesen  Beobachtungen  gelangen  nun  zwar  die 
Besucher  zunächst  nicht  über  Kirche  und  Kirchhof  hinaus, 
aber  die  darauf  verwandten  Stunden  dürfen  sie  nicht 
reuen,  die  anderen  Früchte  fallen  desto  leichter.  Alles 
kommt  darauf  an,  daß  sie  erst  unter  Land  und  Leuten 
heimisch  werden  und  diejenigen  herausfinden,  welche 
Freude  daran  haben,  sie  weiter  in  ihr  Heimwesen  ein- 
zuführen. 

3.  Ermittelungen  über  das  bäuerliche  Hans. 

Das  Wichtigste,  was  weit-er  zu  sehen  ist,  sind  die 
Gehöfte. 

Das  Haus  mit  seiner  Form,  Einteilung  und  Einrich- 
tung ist  die  wesentlichste  Grundlage  des  bäuerlichen 
Kulturlebens.  Wie  das  Haus  ist,  so  ist  auch  die  Fanodlien- 
existenz.  Seine  Bauart  schon  bedingt  die  Art  des  Fa- 
milienlebens, die  Beziehungen  zu  Weib  und  Kind,  zu 
männlichem  und  weiblichem  Gesinde,  und  zur  Viehhaltung 
und  der  gesamten  Wirtschaftsführung. 

Es  ist  schon  ausführlich  gezeigt,  daß  im  west- 
lichen Deutschland,  auf  dem  alten  Kelten boden,  das 
dem  keltischen  Glanhause  in  wesentlichen  Zügen  ent- 
sprechende westfölische  oder  sächsische  Haus  das  herr- 
schende ist. 

Es  läLst  sich  auch  nicht  verkennen,  daiä  dasselbe 
den  mit  der  Zeit  in  abweichender  Richtung  entwickel- 
ten Formen  des  niederrheinischen  sog.  Tehauses, 
des  holländischen  und  des  friesischen  zu  Grunde 
liegt. 

Sie  alle  sind  ursprünglich  davon  ausgegangen,  da& 
das  Zentrum  des  Hauses  die  hoch  wie  das  Mittelschiff 
einer  gotischen  Kirche  bis  zum  Dache  entvrickelte  Diele 
ist,  die  im  Vorderraum  nahe  der  mächtigen  Einfahrt  als 
Dreschtenne  dient,  im  Hinterraum  aber  den  Herd  und 
das  allgemeine  Wohngelaß  der  Familie  birgt:  Dort  sind 
auch   die  Bettschranken   fest   in   die  Wände  eingelassen. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     551 

In  den  Nebenschiffen  steht  das  Vieh  und  das  Wirtschafts- 
gerät. Erst  allmählich  ist  dieser  Raum  teilweis  zu  Kam- 
mern ausgebaut  und  hinter  dem  Hintergiebel  ein  weiteres 
Fach  und  zuletzt  ein  ganzes  Haus  mit  Wohnräumen  an- 
gesetzt worden.  Diese  Grundzüge  werden  nur  undeut- 
licher, wo,  wie  namentlich  in  Friesland,  durch  Mauerwerk 
und  hoizsparende  Konstruktion  versucht  werden  mußte, 
dem  Mangel  an  Bauhölzern  zu  begegnen^). 

Die  Ausbreitung  dieses  sächsischen  Haus- 
typus läßt  sich  näher  bestimmen.  Er  hält  am  Nieder- 
rhein auf  dem  linken  Rheinufer  ebenso  wie  die  Einzel- 
höfe die  alte  übiergrenze  überraschend  inne,  auf  der 
rechten  Rheinseite  aber  reicht  er  ebenso  genau  bis  zu  der 
alten  Sachsengrenze  auf  den  Wasserscheiden  des  Rothaar- 
gebirges nach  Olpe  und  Siegen.  Von  Siegen  nördlich 
Hegt  die  Ostgrenze  dieser  Hausform  in  einer  Linie,  die 
über  Astenberg  zu  den  alten  Orenzfesten  Sachsenburg  und 
Sachsenhausen  und  weiter,  den  Habichtswald  ausschließend, 
über  Zierenberg  nach  Münden  zieht.  Von  Münden  ver- 
folgt sie  die  Weser  stromab,  überschreitet  die  rechte  Seite 
des  Stroms  bis  zur  Wasserscheide  des  Sollinger  Waldes, 
läuft  dann  nördlich  zur  Leine  und  nach  Elze  und  von  da 
über  Hildesheim,  das  Lüneburger  und  altmärkische  Wend- 
land*) einschließend,  in  die  Gegend  von  Tangermünde. 
Jenseits  der  Elbe  reichte  es  früher  wenigstens  sporadisch 
bis  nahe  an  Berlin.  In  Mecklenburg  und  auf  Rügen, 
sowie  in  den  pommernseben  Strandgegenden,  soweit  die 
erwähnte  Hägerhufe,  die  ja  auch  westfälische  heißt,  reicht, 
ist  es  noch  beute  ziemlich  verbreitet. 

Es  zeigt  sich  also,  daß  diese  Hausform  nicht  an  die 


*)  Abbildungen  inMeitzen,  Der  Boden  und  die  landwirtsch. 
Verhältnisse  Preußens,  Bd.  II,  S.  134.  —  Rud.  Henning,  Das 
deutsche  Haus.  Sti-aßburg  1882.  S.  26  u.  40.  —  Otto  Lasiue, 
Das  friesische  Bauernhaus.  Straßburg  1885.  S.  4  ff.  —  Ru  d.  H enning, 
Die  deutschen  Haustypen.  Straßburg  1866  (sämtlich  in  Quellen 
und  Forschungen  von  Ten  Brink,  Heft  47  u.  55.  —  Aug.  Meitzen, 
Das  deutsche  Haus.  1882.  Taf.  II,  IV  u.  VI. 

')  Das  8ächsiBche  Haus  der  Wenden  s.  in  Meitzen,  Der 
Boden  u.  s.  w.  a.  a.  0.  S.  136. 


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552  Augpist  Meitzen, 

Einzelhöfe  des  linken  Weserufers  geknüpft  geblieben  ist^ 
daß  sie  vielmehr  mit  den  Eroberungen,  die  der  sächsische 
Volksstamm  gemacht  hat,  und  mit  den  Kolonisten,  die 
er  aussendete,  auch  auf  weiten  Strecken  Fuß  gefaßt  hat, 
welche  nach  ihrer  Besiedelungsart  den  Dörfern  und  den 
Gewannfluren  angehören. 

Dieser  nördlichen  Verbreitung  eines  anscheinend 
nicht  ursprünglich  deutschen  Haustypus  steht  auch  im 
Süden  eine  fremde  Hausform  gegenüber,  welche  mit  Recht 
auf  die  ihr  entsprechende,  in  Oberitalien  allgemein  ver- 
breitete, mehr  städtische  als  ländliche  Bauweise  zurück- 
geführt wird.  Man  könnte  diese  Häuser  rätische  be- 
nennen. Sie  sind  auch  in  Savoyen  und  weiter  verbreitet, 
und  heißen  in  der  Schweiz,  wo  sie  sporadisch  vor- 
kommen, Heidenhäuser.  Sie  charakterisieren  sich  als 
große,  schwere,  viereckige,  mehrstöckige  Steinbauten  mit 
flachen  Schindeldächern,  welche  in  ihrem  Innern  zahl- 
reiche, wie  in  der  Stadt  von  Treppenfluren  aus  zugäng- 
liche und  verschieden  gruppierte  Wohnräume  und  Kam- 
mern bergen.  Dieses  Haus  ist  in  Tirol  und  den  rätischen 
Alpen  sehr  verbreitet  und  zieht  sich  durch  Ober-  und 
Niederbayem  bis  in  den  Böhmerwald,  wo  es  noch  um 
Cham  das  herrschende  ist. 

Diesem  rätischen  oder  oberitalienischen  Typus  ist 
aber  auch  das  schon  häufiger  von  dem  eigentlichen 
Schweizerhause  unterschiedene  Tirolerhaus  in  seiner 
vielleicht  überwiegenden  Masse  zuzurechnen.  Die  Zeich- 
nung Fig.  14  giebt  den  Steinbau,  wie  das  Tirolerhaus 
gegenüberstehend  wieder.  Allerdings  zeigt  dies  Tiroler- 
haus nahezu  das  Bild  des  Schweizerhauses.  Wenn  man 
es  aber  mit  dem  Typus  des  Schweizerhauses  zusammen- 
werfen wollte,  würde  man  sich  mehr  an  Aeußerlichkeiten 
oder  Ornamente,  wie  das  flache,  mit  Steinen  beschwerte 
Dach,  die  Galerieen,  die  Schrotholz  wände,  die  sich  bei 
verschiedenen  Typen  verwenden  lassen,  als  an  den  eigent- 
lichen Grundgedanken,  die  häusliche  Einrichtung  der 
Familie  halten. 

Auch  in  Oberbayern,  Salzburg  und  Steiermark,  so- 
weit die  bajuvarische  Besiedelung  reicht,   ebenso  verein- 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     553 

zeit  in  der  Schweiz,  iiamentlich  im  Engadin,  Wallis  und 
Waadt   tritt   dies  Tirol  besonders  charakteristische  Haus 


Flg.  14, 


als  ein  großer,  viereckiger,  mehrstöckiger  Bau  auf,   der 
entweder  überhaupt  massiv,  oder  doch  als  Schrotholzbau 


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554 


August  Meitzen, 


auf  massiver  Untermauening  raht  und  dessen  gesamte 
innere  Einteilung  dadurch  auch  äußerlich  gekennzeichnet 
und  bedingt  ist,  daß  die  Eingangsthür  in  der  Mitte  der 
Giebelseite  liegt.  Damit  ist  die  Sonderung  eines  von 
Giebel  zu  Giebel  laufenden  Flurs  gegeben,  zu  dessen 
Seiten  sich  je  ein  oder  zwei  Vorder-  und  Hinterzimmer 
und  Kammern  mit  der  Küche  verteilen.  Ebenso  aber  ist 
eine  Treppe  in  der  Mitte  des  Hauses  notwendig,  welche, 
um  nicht  dunkel  zu  sein,  einen  ähnlichen  Flur  im  Ober- 
stock fordert.  Ob  nun  am  Giebel  im  Oberstock  und  an 
der  Dachstube  balkonartige  Galerieen  angelegt  sind,  oder 

Fig.  15. 


.>». 


<  ^  —  —  — ^=-^- 


ob  sich  solche  auch  unter  dem  Schleppdach  des  Ober- 
stockes auf  einer  oder  beiden  Seiten  zu  leichterer  Kom- 
munikation und  wirtschaftlichem  Gebrauch  weiterziehen, 
ändert  den  einem  städtischen  Hause  entsprechenden  Plan 
nicht  und  kann  eine  freie  willkürliche  Einteilung  in 
Zimmer  und  Kammern  nur  erleichtem.  Die  festen  tragen- 
den Zwischenmauern,  die  der  große  Raum  nicht  entbehren 
kann,  werden  ebenfalls  nach  individueller  Willkür  gestellt. 
Einer  solchen  Massenhaftigkeit  und  Veränderlichkeit  des 
Bauwerkes  entspricht  auch  die  Konstruktion  des  Daches, 
welches  auf  den  inneren  Zwischenmauern  und  Wänden 
und  auf  langen,  von  Giebel  zu  Giebel  laufenden  Verband- 
stücken ruht,  und  bei  dem  gegenüber  den  großen  bretter- 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     555 

artigen  Schindeln,  den  Sparren  nur  eine  untergeordnete 
Rolle  zukommt. 

Zwischen  diesen  beiden  fremden  Typen  ist  in  ununter- 
brochener Erstreckung  von  Südwest  nach  Nordost  das 
fränkische  Haus  mit  seinen  Nebenformen  des  aleman- 
nischen und  des  eigentlichen  Schweizerhauses  als  der 
zweifellos  deutsche  volkstümliche  Haustypus  verbreitet. 

Die  Grundidee  des  fränkischen  Hauses  liegt 
in  der  stets  gleichartigen  Herstellung  bestimmter,  mehr 
kompendiöser  als  beschränkter  Wohnräume  für  die  Fa- 
milie, und  in  der  Sonderung  dieser  Wohnräume  von  den 

Flg.  16. 


Ställen  und  Wirtschaftsgelassen,  ohne  sie  doch  zu  weit 
von  denselben  zu  trennen.  Die  gesamte  Einteilung  des 
Baues  ist  auch  bei  dem  kleinen  Gärtnerhause  in  über- 
raschender Weise  typisch,  wird  aber  um  so  charakteristi- 
scher, wenn  man  es  nicht  mit  einer  solchen  unbedeuten- 
den Stelle  von  geringem  Bedarf  an  Wirtschaftsräumen, 
sondern  mit  einem  für  Gespannhaltung  hinreichend  be- 
ackerten Bauernhofe  zu  thun  hat. 

Das  Haus  steht  dann  mit  dem  Giebel  nach  der  Dorf- 
stra&e,  der  Kuhstall  und  oft  weiterhin  auch  der  Pferde- 
stall sto&en  unter  demselben  Dache  daran  an,  gegenüber 
liegen  die  Schafställe,  Schuppen  und  Schirrkammer;   im 


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556 


August  Meitzen, 


Hintergründe  des  Hofes  steht  die  Scheuer;  die  Mitte  des 
Hofes  nimmt  die  Dungstätte  ein,  und  die  Vorderseite  des 
Hofes  von  der  Straße  her  ist  unter  den  Fenstern  des 
Hauses  durch  ein  kleines  Blumengärtchen,  und  daneben 
als  Eingang  in  den  Hof  durch  eine  kleine  Thür  für  Per- 


Fig.  17. 


Flg.  18. 


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sonen  und  ein  großes  Thor  für  Wagenfahrt  geschlossen. 
Oft  aber  vertritt  auch  die  Stelle  dieser  Thore  ein  Durch- 
fahrtshaus, in  welchem  sich  ein  Speicher  oder  die  Woh- 
nung des  Altenteilsinhabers  befindet. 

Fig.  19. 


Die  Zeichnungen  Fig.  15 — 20  zeigen  das  fränkische 
Haus  und  den  fränkischen  Hof  in  seinen  einfachsten  und 
verbreitetsten  Gestalten. 

Das  Innere  des  Hauses,  das  von  einer  Art  Bürger- 
steg, dem  Wandel,  zwischen  Hausmauer  und  Dungstätte 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     557 

zugänglich  ist,  hat  seine  Thür  auf  den  Hof.  Diese  führt 
in  den  Hausflur,  auf  dem  sich  unter  einem  großen  Schlote 
der  Sommerherd  und  nach  hinten  der  Backofen  befinden. 
Vom  Flur  aus  liegt  nach  der  Dorfstraße  zu  die  Wohn- 
stube mit  Kochofen  für  den  Winter.  Ihre  Fenster,  in 
der  Regel  vier,  sehen  auf  der  einen  Seite  nach  dem  Hof, 
auf  der  anderen  nach  der  Straße.  Hinter  der  Wohnstube 
liegt  mit  einem  Fenster  nach  der  Dorfstraße  die  Schlaf- 
kammer, in  die  in  der  Regel  eine  Seite  des  Ofens  hinein- 
reicht.    In  der  Stube  laufen  unter  den  Fenstern  Bänke, 

Fig.  20. 


vor  denen  in  der  Ecke  der  große  Tisch  steht.  Ein  Küchen- 
schrank,  einige  Stühle,  eine  Schwarzwälderuhr,  oft  noch 
ein  Bett  bilden  den  Rest  des  Mobiliars.  Auch  dessen 
Stellung  ergeben  die  Zeichnungen  Fig.  18  u.  19.  Typisch 
ist  ebenso  die  Dachanlage.  Stets  liegen,  wie  Fig.  18 
zeigt,  die  Balken  der  Stubendecke  auf  der  Vorder-  und 
Rückwand  des  Hauses,  und  in  sie  sind  die  Sparren  in 
beinahe  gleichseitigem  Dreieck  eingelassen,  so  daß  sie  in 
ihrer  Verbindung  das  verhältnismäßig  hohe  Stroh-  oder 
Schindeldach  hauptsächlich  tragen,  das  nur  in  leichten 
Dachlatten  hängt. 


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558  August  Meitzen, 

Das  fränkische  Baus  (Fig.  18  u.  19)  enthält  bei  a  den  Flur; 
b  Küche  mit  Sommerherd  und  Backofen  unter  einem  stark  ge- 
mauerten Rauchfange;  c  Wohnstube  mit  d  Kochofen  und  Ofenbank, 
und  e  Herdnische  für  Leuchtkien  (wie  Fig.  18  genauer  zeigt); 
f  Schlaf kammer;  g  Mägdekammer,  darunter  der  einige  Fuß  über 
den  Boden  erhöhte  Keller;  ä  Vorderkammer  oder  Stube;  »  Gang 
zum  Stall;  l  Pferdestall;  k  Schlaf bühne  im  Stall,  auf  der  der  Knecht 
schläft  und  unter  der  der  Futterkasten  steht;  m  Kuhstall;  n  Ein- 
quartierungsstall, der  zugleich  als  Futter-  oder  Schirrkammer  be- 
nutzt wird.  —  Im  Gehöft  (Fig.  17)  liegt  das  Wohnhans  bei  a; 
b  ist  der  Pferde-  und  der  KuhstaU;  c  die  Dungstätte;  d  die  Scheune; 
e  ein  Schuppen  oder  die  Futterkanimer;  f  der  Schaf  stall  mit  dem 
Heuboden  darüber;  g  Schweineställe;  h  der  offene  Thorweg  der 
ersten  oder  das  Thorhaus  der  zweiten  Skizze  (Fig.  15  u.  16);  i  und 
k  in  Fig.  16  Schüttboden  und  Auszugshaus,  oder  in  Fig.  15  der 
Ort  des  sog.  „Lehms"^  eines  Vorratshauses  für  Getreide  u.  dergl., 
welches  durch  dicken  Lehmbeschlag  feuerfest  gemacht  ist;  das  Dach 
liegt  auf  der  Lehmeinwölbung  nur  als  Regenschutz;  /  Brunnen  an 
beÜebiger  Stelle.  —  Fränkische  Häuser  kommen  auch  breit  gegen 
die  Straße  gestellt,  mit  einer  Vorhalle  vor  der  Thür,  wie  Fig.  20 
zeigt,  vor.  Es  sind  dies  meist  Kretschamhäuser  oder  kleine  Stellen. 
Die  Erkerstube  im  Dach  über  der  Vorhalle  dient  vorzugsweise  als 
Wochenstube  der  Frau. 

Diese  Haus-  und  Gellöftanlage  kann  im  engeren 
Sinne  als  fränkische  bezeichnet  werden.  Es  darf  als  kein 
charakteristischer  Unterschied  betrachtet  werden,  daß  das 
Wohnhaus  in  den  bevölkerteren  rheinischen  und  thüringi- 
schen Landschaften  gegenwärtig  meist  zweistöckig  ist.  In 
der  Regel  tritt  es,  wie  in  alter  Zeit,  nur  einstöckig  auf. 
Sein  Ursprung  und  Ausgangspunkt  am  Mittelrhein  läßt 
sich  als  deutsch- fränkisch  nicht  bezweifeln,  weil 
jenseits  der  Ardennen  und  Vogesen  in  der  Champagne  und 
Lothringen  ganz  andere,  Mauer  an  Mauer  stehende  und 
unter  sich  mannigfach  verschiedene,  im  allgemeinen  aber 
mehr  städtisch  als  ländlich  gedachte  Hausformen  auftreten. 

Den  nationalen  Charakter  des  fränkischen  Hauses 
bestätigt  auch  der  Umstand,  daß  das  alemannische  und 
das  eigentliche  Schweizerhaus  in  allem  Wesentlichen  mit 
demselben  übereinstimmen.  Letzteres  gehört  in  der  Schweiz 
und  in  Tirol  nur  den  alemannischen  und  schwäbischen 
Landesteilen  völlig  typisch  an,  ist  aber  auch  in  den  Ti- 
roler, Salzburger  und  steirischen  Alpen  sporadisch  ver- 
breitet. 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     559 

Das  alemannische  Haus  weicht  vom  fränkischen 
nicht  im  Qedanken  der  Einteilung,  sondern  in  Besonder- 
heiten ab,  welche  recht  eigentlich  für  das  Haus  der  ge- 
birgigeren Gegenden  angemessener  sind  als  für  das  der 
ebeneren,  und  ziemlich  ähnlich  auch  bei  dem  fränkischen 
in  Gebirgslagen  vorkommen.  Es  ist  dem  größeren  Holz- 
reichtum des  Gebirges  und  dem  Bedürfnis  besserer  Er- 
wärmung entsprechend  statt  aus  Fachwerk  häufig  aus 
Schrotholz  im  Blockhausverband  oder  auch  mit  Ständern 
außerhalb  der  Balkenwand  aufgeführt.  Beides  kommt 
indes  ebenso  in  den  Gebirgsdörfern  Schlesiens  und  Böh- 
mens beim  eigentlichen  fränkischen  Hause  in  weiter  Ver- 
breitung vor.  Femer  besitzt  das  alemannische  Haus 
häufig  einen  dem  abhängigen  Terrain  angepaßten  Unter- 
bau. Es  scheint,  daß  hier  und  da  die  Ungleichheit  nur 
durch  große,  soweit  nötig  unter  die  Schwellen  gebrachte 
Steine  ausgeglichen  worden  ist.  Dies  war  wegen  der 
Feuchtigkeit  zweckmäßiger,  als  den  Estrich  auf  ange- 
schüttete Erde  zu  legen.  Ja  es  finden  sich  ziemlich 
künstliche  Steintische  als  Unterlage  angebracht,  welche 
den  Mäusen  unmöglich  machen  sollen,  zum  Estrich  zu 
gelangen.  In  der  Regel  aber  wurden  Steinmauern  auf- 
geführt, auf  welchen  nicht  allein  die  Wohngelasse  trocken 
und  warm  stehen  konnten,  sondern  welche  zugleich  den 
Zweck  erfüllten,  Raum  für  die  Einstallung  des  Viehes  zu 
gewähren.  Damit  verbindet  sich  gewöhnlich  auch  ein 
hohes  und  oft  tief  herabgezogenes  Schindel-  oder  Stroh- 
dach. Die  Höhe  der  Wohngelasse  über  der  Erde  macht 
eine  Galerie,  ähnlich  dem  Oberstock  der  fränkischen 
Häuser,  nötig,  über  welche  das  Dach  hinweggezogen  wird. 
Zugleich  aber  vermag  ein  hohes  Dach,  wenn  es  am  Berg- 
abhang liegt,  sehr  gut  eine  Scheune  zu  ersetzen,  es  kann 
sogar  eine  An-  oder  Einfahrt  in  dasselbe  vom  Berge  her 
angelegt  werden.  Wenn  die  Wirtschaft  nicht  zu  groß 
ist,  lassen  sich  auf  diese  Weise  alle  Nebengebäude  er- 
sparen. Auch  alle  diese  Einrichtungen  aber  kommen  bei 
den  fränkischen  Gebirgshäusern  der  Sudeten  weit  ver- 
breitet vor.  Es  bleiben  zwischen  beiden  nur  gewisse 
kleinere,  schwer  zu  bezeichnende  Unterschiede  der  Höhen- 


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560  August  Meitzen, 

und  Breitenmaße,  der  Verzierung  und  Ausstattung,  die 
bei  der  Verschiedenheit  der  Gegenden  und  der  Volkssitten 
keiner  Erklärung  bedürfen. 

In  der  Schweiz  besteht  vielleicht  aus  der  Zeit  des 
Reislaufens  her  die  weit  verbreitete  Sitte,  daß  zwei  Brüder 
dieselbe  Landwirtschaft  gemeinschaftlich  fortführen.  Das 
derart  für  zwei  Familien  eingerichtete  Haus  ist  in  seinem 
Plane  völlig  übereinstimmend  mit  zwei  mit  dem  Rücken 
aneinandergestellten  und  durch  dasselbe  Dach  verbundenen 
fränkischen  Häusern.  Die  beiden  Wohnungen  sind  durch 
das  ganze  Haus  bis  unter  den  First  meist  auch  im  Flur 
durch  eine  durchgehende  Wand  geschieden.  Der  Eingang 
ist  für  beide,  wie  beim  fränkischen  und  alemannischen 
Hause,  nicht  im  Giebel,  sondern  von  der  Seite  unter  dem 
überhängenden  breiten  Dache,  und  wird  auf  beiden  Seiten 
gleichmäßig  über  eine  Galerie  erreicht,  welche  je  nach 
dem  Terrain  und  je  nachdem  dem  Hause  ein  Keller  oder 
auch  Ställe  untergebaut  sind,  durch  eine  niedere  oder 
höhere  Treppe  erstiegen  wird.  Beide  Treppen  beginnen 
an  der  vorderen  Giebelfront  unter  dem  Dachschutze.  Diese 
Treppen  und  Galerieen  auf  beiden  Seiten  und  die  breite 
Fensterreihe  der  beiden  Wohnungen  unter  dem  in  klassi- 
schem Winkel  gestellten,  flachen,  mit  Steinen  beschwerten 
Schindeldache  geben  dem  Baue  einen  stattlichen  und 
harmonischen  Charakter,  und  es  ist  erklärlich,  daß  die 
schönen  gefälligen  Linien  dieser  Holzkonstruktion,  bei 
denen  jedes  Profil  zu  entsprechender  Wirkung  gelangt, 
von  jeher  zur  Ornamentierung  durch  Abkantungen  und 
Ausfräsungen  der  Balken,  Sparren  und  Träger,  und  zu 
verschieden  gemusterten  Ausschnitten  der  Schalbretter 
und  Galeriegeländer  eingeladen  haben.  Der  oft  sehr  reiche 
Schnitzereienschmuck  im  Aeußeren  und  Inneren,  den  das 
vorzüglich  gewachsene  Tannenholz  begünstigt,  kehrt  bis 
in  die  entlegensten  Thäler  wieder,  weil  bei  den  festen 
Gemeindeverhältnissen  der  Schweiz  schon  seit  dem  15.  Jahr- 
hundert, im  Auslande  wohlhabend  gewordene  Soldaten 
und  Kaufleute  in  großer  Zahl  in  ihre  Heimat  zurück- 
kehrten und  für  einen  behaglichen  Ruhesitz  besonderen 
Aufwand    nicht    scheuten.      Neben    den    Doppelhäusern 


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Besiedelimg,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     561 

kommen  auch  einfache  Hausanlagen  häufig  vor,  welche 
nur  insofern  im  Plan  von  der  fränkischen  Anlage  ab- 
weichen, als  das  lange  Holz  der  Alpen  und  das  flache 
Dach  dazu  führen,  das  Maß  des  Stübele  im  Verhältnis 
zur  Stube  etwas  über  das  der  fränkischen  Stubenkammer 
auszudehnen.  Die  grundsätzlich  geringere  Breite  bleibt 
indes  bezeichnend.  Wie  auch  beim  fränkischen  Hause 
ist  häufig  im  Giebel  eine  Stube  über  der  Wohnstube 
ausgebaut,  die  durch  eine  Klappe  über  dem  Ofen  der 
letzteren  ersteigbar  ist  oder  wenigstens  erwärmt  wird. 
So  wie  das  fränkische  Haus  im  Flur  gegenüber  der  Ein- 
gangsthür  eine  Hinterthür  besitzt,  besteht  auch  bei  diesen 
alemannischen  Häusern  eine  Hinterthür,  die  ebenso  wie 
-die  Eingangsthür  durch  eine  Galerie  und  Treppe  zu- 
gänglich ist.  Da  bei  den  einfachen  wie  bei  den  doppel- 
ten Schweizerhäusern  in  der  Regel  wenig  oder  gar  keine 
Wirtschaftsräume  nötig  sind,  weil  Weide-  und  Milchwirt- 
schaft auf  entfernten  Alpen  in  besonderen  Hütten  ge- 
trieben wird  und  der  Hauswirtschaft  der  Garten  und 
einige  Stück  Milchvieh  im  Souterrain  genügen,  ist  jen- 
seits des  Flurs  den  Stuben  gegenüber  häufig  nur  ein 
Schuppen  oder  Holzraum,  oft  aber  sind  auch  hier  Kam- 
mern angebracht  und  in  eine  derselben  die  Küche  ver- 
legt, die  sonst  wie  beim  fränkischen  Hause  unter  dem 
Schlote  liegt,  so  daß  der  Herd  an  den  Stubenofen  stößt. 
Einen  Zweifel,  ob  ein  dem  nationalen  Typus  ent- 
sprechendes alemannisches  Schweizerbaus  von  dem  durch 
den  romanischen  Süden  beeinflußten  bajuvarischen  Tiroler- 
hause auseinander  zu  halten  sei,  könnte  nur  das  beiden 
gemeinsame  flache  Dach  begründen.  Dasselbe  wird  aber 
als  eine  in  der  alemannischen  Schweiz  und  ziemlich  weit 
im  schwäbischen  Bayern  von  den  älteren  rätischen  Ge- 
birgsbewohnern übernommene  Sitte  angesehen  werden 
müssen.  Für  das  rätische  Haus  ist  es  motiviert,  für  das 
alemannische  nicht.  Wo  Material  für  hohe  Unter- 
stützungswände aus  Stein  oder  Holz  leicht  zu  beschaffen 
ist,  wird  es  allerdings  erleichtert.  Das  flache  Dach  findet 
sich  vom  Bodensee  über  Kempten  bis  nahe  an  die  Donau. 

Anleitung  zur  dentschen  Landes-  and  Volksforscbung.  36 


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562  August  Meitzen, 

Die  rätische  Hausform  aber  reicht  nach  Nordwest  nicht 
über  die  bayrischen  Seeen.  Im  Lechgebiet  haben,  wie 
die  Bavaria  und  noch  neuerdings  Virchow^)  belegen, 
die  Häuser  die  Thür  nie  im  Giebel,  sondern  zeigen  den 
Flur  und  die  sonstige  Einteilung  des  alemannischen. 

Also  nimmt  von  der  Grenze  des  rätischen  bis  zu  der 
des  sächsischen  Hauses  der  Grundtypus  des  fränkischen 
das  gesamte  Deutschland  ein,  soweit  sich  nicht  städtische 
Formen  auch  schon  in  den  Dörfern  eingebürgert  haben. 
Das  fränkische  Haus  verdrängt  auch  ersichtlich  durch 
seine  Zweckmäßigkeit  und  Einfachheit  den  Tiroler  wie 
den  sächsischen  Typus,  und  ist  weit  bis  nach  Osten  mit 
der  deutschen  Feldeinteilung  über  die  Earpathen  nach 
Siebenbürgen  und  tief  nach  Polen  und  Litauen  vorge- 
drungen. Auch  unter  den  Slawen  wird  der  deutsche  Ur- 
sprung dieser  Häuser  durch  die  nur  polonisierten  deut- 
schen Bezeichnungen  aller  Teile  desselben  bestätigt. 

Innerhalb  dieses  weiten  östlichen  Verbreitungsgebietes 
des  fränkischen  Hauses  aber  hat  sich  ein  sehr  deutlicher 
älterer  Haustypus  erhalten,  welcher  zwar  auf  völlig  deut- 
schem Boden  beinahe  ganz  vom  fränkischen  verdrängt 
ist,  aber  an  der  unteren  Donau,  in  Rußland,  Polen  und 
Westpreußen  und  merkwürdigerweise  auch  in  Skandi- 
navien weite  und  durchaus  typische  Verbreitung  hat. 
Dieses  Haus  ist  wegen  des  Auftretens  in  Skandinavien 
das  nordische  genannt  worden,  könnte  aber,  wie  es 
scheint  mit  gutem  Grunde,  auch  als  das  thrakische, 
griechische  oder  überhaupt  als  das  Haus  der  alten  Welt 
oder  das  Höhlenhaus  bezeichnet  werden. 

Sein  Typus  ist  eine  oblong  viereckige  Kammer,  von 
der  schmalen  Seite  zugänglich,  und  hat  vor  dem  Eingange 
eine  auf  Säulen  gestellte,  von  demselben  Dache  mitbe- 
deckte Vorhalle.  Es  entspricht  also  den  Höhlengräbern 
Aegyptens  und  Persiens,  dem  Bungalow  Indiens,  dem 
griechischen  Templum,  den  Bauernhäusern  Joniens  zu 
Galens  Zeit   wie  noch   in   der  Gegenwart,   und  läßt  sich 


»)  Bavaria  Bd.  I,  S.  278  u.  980.    Zeitschrift  für  Ethnologie. 
Jahrg.  XIX.  1887.  S.  578  fF. 


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Besiedeiung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     563 

in  seinem  subtropischen  Ursprünge,  als  Schutz,  mehr 
gegen  den  Sonnenbrand  als  gegen  die  Kälte,  kaum  be- 
zweifeln.    Den  antiken  Süden  beherrschte  es. 

Fig.  21. 


Wie  aber  zu  denken,  daß  es  sich  von  der  Donau  und 
den  Ufern  des  Schwarzen  Meeres  über  den  gesamten 
Osten  verbreitet  und  trotz  der  völlig  anderen  Umstände 
in  den  Ländern  großer  Winterkälte  bis  in  den  hohen 
Norden  als  typisch  eingebürgert  hat,  ist  ein  schwieriges 

Fig.  22. 


Problem.  Zur  Lösung  läßt  sich  nur  vermuten,  daß  die 
dort  bis  zur  Völkerwanderungszeit  mit  Wagen  und  Jurten 
herumziehenden  Völker  bei  der  ersten  Berührung  mit  der 
griechischen  Kultur  auch  dieses  Haus  als  das  maßgebende 
annahmen.    Die  Thatsache  seines  Gebrauches  kann  indes 


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564 


August  Meitzen, 


nicht  verkannt  oder  übersehen  werden,  und  der  Zusammen- 
hang der  südlichen  mit  der  nördlichen  Gestaltung  wird 
um  so  wahrscheinlicher,  als  es  sich  keineswegs  nur  um 
den  allgemeinen  Plan  der  Baulichkeit,  sondern  auch  um 


Fig.  28. 


innere  Eigentümlichkeiten  der  Bewohnung  handelt,  welche 
ohne  üebertragung  kaum  zu  denken  sind.  Wo  das  Haus 
nicht  modernen  Veränderungen  unterlegen  hat,  besteht 
nur  ein  größerer  oder  engerer  Wohnraum,  der  auf  beiden 
Seiten  Fenster   hat   und   durch  die  Deckbalken  hindurch 


Flg.  24. 


bis  zu  den  Dachsparren  offen  ist.  Im  Norden  sind  die 
Dachsparren  verschalt.  Im  Dach  ist  nahe  dem  First  eine 
Klappe  mit  oder  ohne  Glasfenster.  Es  giebt  keine  Bett- 
stellen oder  Bettschränke,  sondern  längs  der  Wände  ziehen 
sich  Bänke,  welche  zugleich  als  Kasten  dienen.  Diese 
am  Ehrenplatz  breiteren  Bänke  werden  für  die  Nacht  mit 


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Bemedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     565 

Bettkissen  und  Laken  bedeckt,  iv  eiche  am  Tage  zusammen- 
gelegt aufbewahrt  bleiben.  In  diesen  Besonderheiten 
stimmen  die  Donauländer  mit  Skandinavien  noch  heut 
tiberein.  In  Morea,  Rumänien  und  Südrußland  liegt  die 
Vorhalle  häufig  nicht  am  Qiebel,  sondern  an  einer  Seite 
unter  dem  Dach,  von  der  aus  dann  auch  der  Eingang  in 
den  Wohnraum  führt.  In  Polen  und  im  nördlichen-  Ruß- 
land haben  sich  Bettstellen  eingeführt,  und  in  letzterem 
ist  ein  ringsum  zusammenhängend  überdachtes  Oehöft 
Sitte,  welches  nur  einen  kleinen  Hof  in  der  Mitte  unbe- 
deckt läßt.  Von  diesem  aus  betritt  man  auf  Stufen  die 
Vorhalle  des  Winterhauses  und  durch  diese  vom  Hinter- 

g'ebel  her  den  Wohnraum.  Dieser  hat  Fenster  nach  der 
orfstraße  und  nach  beiden  Seiten,  ist  aber  nicht  selten 
von  der  Thür  zu  den  Stra&enfenstern  hin  durch  eine 
Zwischenwand  in  zwei  ziemlich  gleiche  Abschnitte  durch- 
geteilt. Jenseits  der  durch  Säulen  oder  ein  Geländer, 
begrenzten  Vorhalle  schließt  sich  in  niedrigerer ^^iiäge 
als  ein  besonderes  Gebäude  die  Somjxieri^^iiAre  mehr 
oder  weniger  nahe  an.  Gleichwohl  öiläbt  der  Typus 
erkennbar.  ^. 

Das  Bild  dieses  Hauses,  wie  es  noch  gegenwärtig  in 
Posen,  Hinterpommem  und  Westpreußen /vorkommt,  ist 
das  in  Fig.  21 — 24  wiedergegebene.         \^ 

Wie  der  Plan  Fig.  22  ersichtlich  macht,  ist  6^.  Straßenseite ; 
h  Vorhalle;  c  Flur  mit  d  Leiter  auf  den  Boden;  ^  Gesindebett; 
f  Stein  zum  Getreideschroten;  g  Wohnstube;  h  Baekofen,  über 
welchem  der  Schlot;  i  ein  offener,  kaum  1  Fuß  hoher  Herd  zum 
Eodien  und  Einheizen  mit  Kappe  darüber,  die  auf  dab  Holz  l  ge- 
stützt ist  (dieser  Herd  ist  in  neuerer  Zeit  meist  durch  e>nen  Koch- 
ofen  in  derselben  Stellung  ersetzt,  den  eine  Ofenbank  umgiebt); 
k  ist  ein  kleines,  in  der  Höhe  von  3  Fuß  angebrachtes,  offenes 
Sommerkamin,  auf  dem  der  Leuchtkien  brennt,  mit  kleiner  Kappe; 
tn  Nachofen,  d.  h.  ein  erhöhter  Ruheplatz  vor  und  über  dem  Back- 
ofen; n  großes,  o  kleines  Bett;  p  Tisch  und  Bank;  q  Spülfaß  auf 
Füßen;  r  Spind;  8  Kammer;  t  Stall;  u  mit  Schoben  eingedeckte^ 
als  Keller  dienende  Gruben.  Die  Scheune  steht  meist  dem  Stall 
gegenüber.    Aermere  haben  das  Vieh  bei  r  q  in  der  Stube. 

Bei  der  erweiterten  Hauseinrichtung  (Fig.  24)  ist  a  Straßen- 
front; b  Halle  mit  quergeschnittener  Thür  nach  c,  dem  Flur; 
d  Bodentreppe;  e  Schornstein,  von  dem  aus  die  beiden  Oefen  ff 
gefeuert  werden;  gg  kleine  Kamine  zu  Leuchtkien:   hh  Ofenbank 


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566  August  Meitzen, 

(Ehrenplatz);   i  Stube   des    Altsitzers;    k  Wohnstube    des    Wirts; 
/  Kammer;  m  Stall. 

Für  jeden  nun,  der  sich  mit  der  örtlichen  Landeskunde 
beschäftigen  will  und  beobachtend  die  Gehöfte  der  Dorf- 
. Schaft  mustert,  geht  die  nächste  Frage  von  Erheb- 
lichkeit dahin,  welchem  ürtypus  sie  angehören.  Er  wird 
sich  leicht  Rechenschaft  geben  können,  ob  er  der  in  der 
ganzen  Gegend  zu  erwartende  ist,  ob  dieser  noch  in  einer 
gewissen  ursprünglichen  Reinheit  besteht,  oder  ob  und 
welchen  Veränderungen  er  unterlag.  Auch  die  unbedeu- 
tenden Umgestaltungen  haben  ihre  Gründe,  und  es  ist 
nicht  ohne  Interesse,  diese  sich  zu  vergegenwärtigen  oder 
sie  zu  erfragen. 

Ob  das  typische  Haus  ungewöhnliche  Form  und 
Ausdehnung,  ein  weiteres  Stockwerk,  mehr  Stuben  und 
Kammern,  oder  eine  zweite  Wohnung  erhalten  hat,  ist 
nicht  ohne  Bedeutung.  Hat  das  Haus  nur  an  Reinlich- 
KSffr^^md  Behaglichkeit  gewinnen  sollen,  hat  man  bessere 
WohnraWte»^||^ninscht  oder  namentlich  bessere  Schlaf- 
zimmer als  Bed^VirTiis  empfunden?  Oder  hat  man  unnütz 
ein  stolzeres  ^dtisches  Gebäude  aufgeführt,  dessen  über- 
flüssige Räum\  den  Mäusen  und  dem  Verfall  überlassen 
bleiben?  Oder^  wurden  vielleicht  gar  in  das  Heim  des 
Bauern  zur  Sciiuldendeckung  Mietsleute  als  Störenfriede 
«ingenommeif? 

Möglicljerweise  ist  indes  doch  eine  bisher  noch  nicht 
beachtete  l^odifikation  des  Typus  schon  aus  älterer  Zeit 
vorhanden/  Giebt  es  vielleicht  einen  Unterschied,  der  sich 
nach  Stamjbesgrenzen,  Territorien,  Gebirgsscheiden  geltend 
macht,  cÄer  der  mit  der  Dialektgrenze  zusammenfällt? 
Ist  insbesondere  die  Hausanlage  der  deutschen  Kolonisten 
und  der  altslawischen  Ortschaften  auch  da  noch  in  ge- 
wissen Merkmalen  gegenüber  zu  stellen,  wo  der  eigentüm- 
liche Typus  des  griechischen  oder  nordischen  Hauses 
durch  den  fränkischen  bereits  verdrängt  ist? 

Um  welche  Zeit  und  aus  welchem  Material,  in  wel- 
chen Dimensionen,  bis  zu  welcher  Höhe,  mit  welcher  Be- 
dachung sind  überhaupt  die  charakteristischen  Häuser  und 
Hofgebäude  des  Ortes  erbaut?    Es  ist  ersichtlich,  welchen 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     567 

Einfluß  auf  Haustiefe  und  Dachhöhe  die  Länge  der  Hölzer 
ausübt,  sowie  Nadel-  oder  Laubholz,  das  man  anwendet. 
Giebt  es  noch  Strohdächer,  hölzerne  Schornsteine,  runde 
Stämmchen  statt  Sparren?  Zeigen  sich  noch  Erinnerungen 
an  Blockhausbau?  Finden  sich  Anbauten  oder  Galerieen, 
die  dem  Typus  des  Hauses  eigentlich  fremd  sind  ?  Zeigen 
sich  städtische  Anklänge,  oder  ist  man  beim  alten  ge- 
blieben? Sind  Balken  mit  Schnitzwerk  eingesäumt,  am 
Dachfirst  die  Pferdeköpfe  und  auf  den  Fensterläden  bunte 
Blumenmalereien?  Oder  ist  sonstige  Ornamentik  be- 
merkbar? 

Alle  Datierungen  sind  sehr  erwünscht,  nur  ist  zu 
untersuchen,  ob  die  Jahreszahlen  nicht  von  älteren  Bau- 
ten herrühren,  etwa  auf  wieder  benutzten  Thürsteinen 
stehen  geblieben  sind. 

Finden  sich  Sinnsprüche  oder  sonstige  Inschriften 
oder  etwa  noch  Hausmarken?  Weiß  man  noch  etwas  von 
deren  Gebrauch  an  Haus,  Gerät  und  Vieh? 

4.  Beobaclitungen  über  Tracht  und  Hausrat. 

Mit  der  häuslichen  Einrichtung  hängt  nahe  auch  die 
Tracht  zusammen. 

Mobiliar  und  Kleidung,  so  einfach  und  selbst  roh 
und  geschmacklos  sie  sein  können,  stehen  in  einer  ge- 
wissen Harmonie.  Was  wir  Volkstrachten  nennen, 
stammt  aus  irgend  einer  vergangenen  Periode  der  Wohl- 
habenheit, in  der  es  einer  adligen  oder  in  der  Regel 
städtischen  Mode  gelang,  wenn  auch  mit  Modifikationen, 
Ausdehnung  über  das  Land  zu  gewinnen.  Wie  wenig 
auch  nur  annähernd  an  Ursprünglichkeit  gedacht  werden 
darf,  beweisen  frühmittelalterliche  Skulpturen  und  die 
Miniaturmalereien  der  Codices  aus  den  Klosterbibliotheken 
hinlänglich.  Die  meisten  noch  erhaltenen  Volkstrachten 
weisen  auf  die  Reformationszeit  oder  die  Zeit  vor  dem 
30jährigen  Kriege  zurück. 

Auch  die  Gegenwart  ist  wieder  eine  solche  Zeit  außer- 
ordentlich gesteigerten  Wohlstandes,  in  der  sich  die 
städtischen    Moden    leider    nicht    zum    Vorteil    des 


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568  August  Meitzen, 

flachen  Landes  über  dasselbe  ausbreiten.  Der  Nachteil 
liegt  weniger  in  dem  Zurückdrängen  der  Poesie,  welche 
der  Landmann  weniger  als  der  philosophierende  Stadter 
gewahr  wird,  sondern  in  der  Anwendung  der  un- 
glaublich schlechten  Stoffe.  Unter  dem  Anschein 
der  BQligkeit  werden  die  Landleute  zu  außerordentlich 
hohen  Ausgaben  verlockt,  wenn  sie  ganze  und  reine 
Kleidung  tragen  wollen.  Da  sich  diese  Kostspieligkeit 
fühlbar  macht,  gewöhnen  sie  sich,  allenfalls  auch  in 
Lumpen  zu  gehen.  Dazu  entwöhnen  sie  sich,  Leinen 
und  Wolle  im  Hause  zu  spinnen  und  zu  weben,  und  da- 
durch nicht  bloß  brauchbare,  sehr  dauerhafte  Stoffe  zu 
bekommen,  sondern  auch  eine  Beschäftigung  für  die  Muße- 
stunden des  Winters  zu  haben,  die  sich  gut  bezahlt  macht, 
und  die  sie  von  unnötigen  und  kostspieligen  Versuchen, 
die  Langeweile  zu  vertreiben,  abhält. 

Das  richtige  Budget  der  Kleidung  festzustellen, 
ist  eine  sehr  wichtige  Aufgabe.  Kosten  und  Dauer  des 
einzelnen  Stückes  müssen  berechnet  und  der  möglichst 
beste  Ersatz  ermittelt  werden.  Es  ist  fast  eine  Pflicht, 
dies  namentlich  dem  Lehrer  der  Ortsschule  vollkommen 
deutlich  zu  machen. 

Dabei  ist  auch  historisch  die  Entwickelung  der  Klei- 
dung und  ihrer  Beschaffung,  sowie  ihrer  Preise  sehr 
interessant.  Es  ist  von  großer  Bedeutung,  welchen  Teil 
des  gleichzeitig  gezahlten  Lohnes  eines  Knechtes  oder 
einer  Magd  der  Anzug  in  Anspruch  nimmt.  Besonders 
glücklich  sind  in-  dieser  Richtung  zu  Preis-  und  Lohn- 
vergleichen die  verhältnismäßigen  Ausgaben  verwendet 
worden,  welche  für  Stiefel  und  Schuhe  von  dem  Lohne 
des  Gesindes  und  der  Tagelöhner  beansprucht  werden. 

Uebrigens  knüpfen  sich  an  die  Kleidung  auch  hier 
und  da  Fragen  der  Stammesverwandtschaft  und  Ver- 
schiedenheit. Unterschiede  in  Schnitt  und  Farbe  der 
Röcke  und  Mieder,  namentlich  aber  der  Kopfbedeckungen 
der  Frauen,  werden  mit  derselben  Beharrlichkeit  durch 
Jahrhunderte  festgehalten,  wie  die  Streitigkeiten  und 
Spottreden  der  männlichen  Jugend. 

Wenn   der  Anzug  nun   vorzugsweise   in   das  Gebiet 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     569 

der  Hausfrauen  gehört,  so  zeigt  sich  als  wohlbegründet, 
daß  es  sich  sehr  empfiehlt,  auch  die  Frauen  zu  Teil- 
nehn>erinnen  an  den  Untersuchungen  der  Landeskunde 
heranzuziehen.  Ihnen  werden  sich  die  Truhen  und  Schränke 
mit  dem  Sonntags-  und  Brautstaat  und  den  alten  Erb- 
stücken von  der  Großmutter  her  yiel  leichter  öfiPhen  als 
dem  brillenbewaffheten  Stadtherren,  dem  eine  echte  Bäuerin 
dafür  niemals  ein  mitfühlendes  Verständnis  zutraut. 

5.  Einsicht  in  den  Wirtsohaftsbetrieb  und  Anregung  zu 


Die  Männer  mögen  vor  allem  auf  den  Hof  gehen 
und  för  ein  gutes  Stück  Vieh  und  för  Wagenfahrt,  Ge- 
schirr und  Ackergerät  Auge  gewinnen. 

Freilich  mag  man  sich  mit  Gelehrsamkeit  vor  den 
Bauern  hüten.  Die  Wirtsstube  könnte  hinterher  noch 
jahrelang  von  Witzworten  klingen,  und  der  Frager  in  der 
ganzen  Gegend  den  Kredit  verlieren.  Aber  ein  richtig 
angebrachtes  Wart  über  den  Pflug  wird  nicht  nur 
empfehlen,  sondern  kann  auch  praktischen  Nutzen  stiften. 
Wie  das  alte  Ackergerät  ausgesehen,  und  wie  lange  es 
noch  gebraucht  worden,  wer  zuerst  so  klug  gewesen,  die 
Kosten  für  das  bessere  nicht  zu  scheuen,  und  wie  viel 
vorteilhafter  sich  auf  dem  Boden  des  Ortes  damit  arbeitet, 
das  wird  jeder  Wirt  ganz  gern  sagen,  namentlich  wenn 
er  besseres  Gerät  hat  als  seine  Nachbarn. 

Auf  den  kleinen  Fortschritten  aber  ruht  bei  der 
bäuerlichen  Wirtschaft  das  Hauptgewicht.  Schon  diese 
nützlichen  Vorgänge,  eben  weil  sie  unscheinbar  und  un- 
beachtet sind,  nur  zu  erfragen,  zu  bemerken  und  zu  be- 
loben, ist  ein  Gewinn.  Und  wie  volkswirtschaftlich  inter- 
essant ist  es  dabei,  festzustellen,  wo  und  wann  und  auf 
wessen  Veranlassung  und  mit  welchem  Erfolge  sich  in 
einer  Gegend  zuerst  gewisse  Verbesserungen  verbreitet 
haben:  andere  Fruchtfolge  und  Bestellungsweise,  eiserne, 
wohlgeformte  Geräte  verschiedener  Art,  Pflüge,  Eggen, 
Walzen,  Gabeln,  Schaufeln,  Baumsägen,  Beile  u.  dergl.; 
wie  sich  Tieferpflügen,  Kalk,  künstlicher  Dünger,  Drillen 


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570  Augast  Meitzen, 

und  Behäufeln,  Auspflanzen  eingeführt;  wo  die  Bauern  zu- 
erst Dreschmaschinen  benutzten,  liehen  oder  genossenschaft- 
lich anschafiFfcen;  wie  sie  Drainage  eingeführt,  sich  darüber 
vereinigt  und  dafür  Geld  beschafft  haben?  ob  Verbände 
für  Rübenbau,  Flachsbereitung,  Obstbau,  Obstdarren  be- 
stehen? wie  man  zum  Zuchtvieh  gelangt?  ob  viel  oder 
wenig  Jungvieh  aufgezogen,  Schweine,  Ochsen  gemästet, 
Fleischschafe  gezüchtet  werden?  wie  die  Viehhaltung  ist, 
ob  das  Futter  geschrotet,  gebrüht  wird?  ob  Milch,  Butter, 
Käse  zweckmäßig  behandelt  und  angemessen  verwertet 
werden?  wie  die  Preise  aller  wichtigen  Produkte  im  Ver- 
hältnis zum  nächsten  Hauptmarkt  stehen?  wie  hoch  der 
Acker  guten  oder  mittleren  Landes,  wie  Wiese  und  Weide 
verkauft,  wie  verpachtet  werden?  was  große,  was  kleine 
Höfe  und  Häuser  und  Grundstücke  im  Verhältnis  gelten 
u.  dergl.  mehr. 

Alle  diese  Dinge  erfordern  keine  intensive  landwirt- 
schaftliche Kenntnis,  wenn  man  sie  nur  zu  erfragen,  nicht 
selbst  die  praktische  Probe  mit  der  Ausübung  zu  machen 
hat.  Das  nötigste  Verständnis  der  Zwecke  und  Bedingun- 
gen der  Technik  und  der  wichtigen  landwirtschaftlichen 
Handhabung  lä&t  sich  aus  der  Lektüre  eines  guten 
landwirtschaftlichen  Lehrbuches  gewinnen.  Nie- 
mand wird  ohne  eigenen  Nutzen  seine  Anschauungen  auf 
diesem  Boden  der  ersten  Voraussetzungen  des  Volksdaseins 
erweitem  und  vertiefen.  Je  richtiger  und  frischer  er  die- 
selben aber  erfaßt,  desto  eher  wird  es  ihm  gelingen, 
nicht  bloß  deutlich  zu  sehen  und  das  Zweckentsprechende 
von  der  bloßen  Theorie  zu  scheiden,  sondern  auch  an- 
regend und  fordernd  auf  die  Mitglieder  eines  Berufskreises 
zu  wirken,  der  in  seinen  Eigentümlichkeiten  nur  zu  oft 
verkannt  wird. 

Der  Bauer  ist  mit  seiner  Arbeit  und  mit  seinem 
Nutzen  übler  daran  als  man  meint.  Der  Industrielle 
rechnet  zuerst  und  arbeitet  dann.  Der  Bauer  ist  ein  Spiel 
des  Glücks,  weder  Wetter  noch  Preise  beherrscht  er,  die 
beste  Arbeit  kommt  nicht  auf  gegen  den  Einfluß  der 
täglich  wechselnden  Bedingungen.  Es  gehört  viel  Cha- 
rakter und  Einsicht  dazu,    daß  er  nicht  mehr  Wert  auf 


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Besiedelung,  Hausbau  und  landwirtschaftliche  Kultur.     571 

die  schlaue  Ausnutzung  eines  geschäftlichen  Vorteils,  als 
auf  stets  mit  Opfern  verbundene,  nur  allmählich  ihre 
Wirkung  summierende,  mühsame  Verbesserungen  legen 
sollte.  Und  dennoch  liegt  gerade  in  solchen  richtig  ge- 
wagten Verbesserungen  seine  wahre  Bahn  zum  Wohl- 
stand. 

Dazu  aber  bedarf  er  Ermutigung  und  Unterweisung, 
und  zwar  nicht  der  fast  hoffnungslosen  direkten,  sondern 
gerade  derjenigen,  welche  in  der  scheinbar  ganz  naiven 
und  unabsichtlichen  Sammlung  vorteilhafter  und 
überzeugender  Beispiele  liegt. 

Auf  wirtschaftlichem  Gebiete  ist  für  die  nähere  Kunde 
der  Zustände  des  flachen  Landes  am  förderlichsten  das 
aufzusuchen,  was  intelligenten  Landwirten  zu  ihrem  Vor- 
teil in  Thun  und  Lassen  geglückt  ist.  Was  der  Beob- 
achter darüber  gesehen  und  gehört  hat,  wird  ihm  selbst 
die  sicherste  Belehrung  sein.  Anderen  Landleuten  aber 
braucht  er  es  nur  gelegentlich  und  gesprächsweise  klar 
und  richtig  mitzuteilen.  Der  Bauer,  selbst  wenn  er  ab- 
lehnt, überhört  ein  solches  Wort  so  leicht  nicht  und  wird 
nächstens  gehen  und  selbst  zusehen. 

Für  diese  wie  für  alle  Ermittelungen  und  Unter- 
suchungen zur  Landeskunde  gilt  aber  allgemein,  daß  es 
nicht  geraten  ist,  die  erlangten  Ergebnisse  so  lange  auf- 
zuspeichern, bis  es  gelingt,  ein  anscheinend  umfassendes 
und  den  Forscher  durch  Vollständigkeit  befriedigendes 
Bild  hinzustellen.  Dieses  Bemühen  ist  vergeblich.  Der 
Inhalt  des  Lebens  und  seiner  Entwicklung  ist  zu  reich. 
Vielmehr  zieht  die  Landeskunde  den  größten  Gewinn 
daraus,  wenn  das  richtig  Beobachtete  und  Festgestellte, 
das  durch  seine  Wahrheit  und  Unmittelbarkeit  immer 
Interesse  erweckt,  so'bald  als  möglich  zum  Gemein- 
gut gemacht  wird.  Das  Gesehene  alsbald  nach  seinen 
Lokalbeziehungen  mit  thunlicher  Ausführlichkeit,  Spezia- 
lität und  Anschaulichkeit  in  Tagesblättem,  Zeitschriften 
oder  Vereinsmitteilungen  niederzulegen,  empfiehlt  sich  am 
meisten.  Werden  die  Thatsachen  klar  und  bündig 
hingestellt,  so  knüpfen  sie  am  einfachsten  und  verständ- 
lichsten an  die  Erfahrungen  anderer  an.    Sie  werden  bei 


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572  Augufit  Meitzen. 

ßleichstrebenden  Weiterentwickelung^  Ergänzung  und  Be- 
richtigung finden,  und  es  wird  aus  dem  unerschöpflichen 
StofiPe  der  Schatz  des  Wissenswerten  und  Förderlichen 
mit  vereinten  Kräften  schneller  und  sicherer  gehoben 
werden,  je  rascher  es  gelingt,  weitere  Kreise  für  die  Mit- 
arbeit anzuregen. 


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Wirtschaftsgeographie. 

Von 

Dr.  Wilhelm  Götz, 

Dozent  an  der  Technischen  Hochschule  in  München. 


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Jede  Art  der  angewandten  Geographie^),  d.  i. 
der  dem  Leben  der  organischen  Wesen  zugewendeten 
«Erdoberflächenkunde'*,  weist  zunächst  eine  Gemeinsam- 
keit wichtiger  stoflFlicher  Bestandteile  mit  abstrakter 
oder  allgemeiner  geographischer  Betrachtung  oder  mit 
anderen  Spezialgeographieen  auf.  Aber  wenn  wir  auch 
z.  B.  die  Behandlung  der  Bodengestalt  oder  der  geo- 
gnostischen  Beschaffenheit  in  mehreren  Arten  von  Erd- 
kunde antreffen,  so  wird  dadurch  doch  die  charakteristische 
Souderaufgabe  keiner  im  Zwecke  klaren  geographischen 
Einzelbetrachtung  (angewandter  oder  abstrakter)  beein- 
trächtigt. Denn  es  werden,  um  z.  B.  mit  unserer  wirt- 
schaftlich-geographischen Thätigkeit  einen  Beleg  zu 
bieten,  nur  diejenigen  Erscheinungen  oder  Eigentümlich- 
keiten zur  Verwendung  herangezogen,  welche  eine  un- 
mittelbar ursächliche  Bedeutung  für  die  ökonomische  Be- 
schaffenheit und  Stellung  des  betreffenden  Landes  zur 
Folge  haben.  Handelt  es  sich  dann  um  Landeskunde, 
80  wird  ja  überdies  noch  das  Individuelle  der  Darstellung 
durch  die  örtliche  Besonderung,  durch  das  Vorkommen  der 
betreffenden  Wahrnehmung  in  dem  untersuchten  Teil- 
gebiet gesichert. 

Es  forscht  nun  aber  die  »wirtschaftliche  Geographie" 
nach  der  Eigenart  der  Länder  zu  dem  Zwecke,  letztere 
als   den  Boden   des   Erwerbslebens   der   Bewohner 


*)  Diese  naheliegende  Bezeichnung  fuhren  wir  in  obigem 
Sinn  seit  längerer  Zeit.  Eine  ungleich  engere  Bestimmung  fanden 
wir  dann  hierfür  in  Paulitschkes  Vorrede  zu  seiner  geographi- 
schen Verkehrslehre. 


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576  Wühelm  Götz, 

zu  erkennen  ^).  Die  betreffende  Landeskunde  wird  daher 
die  physischen  Thatsachen  und  Erscheinungen  Deutsch- 
lands wesentlich  nach  ihrer  möglichen  oder  real  erwiese- 
nen Nutzbarkeit  für  die  Entstehung,  den  Erwerb  und 
den  Austausch^)  von  Gütern  aufzufassen  suchen. 

Die  Betrachtung  wird  sodann  natürlich  so  vorgehen 
müssen,  daß  sie  das  Ganze  in  mehr  oder  weniger  kleinere 
Teile  der  Gesamtoberfiäche  abgrenzt,  bei  deren  Aneinander- 
fügung  aber  sich  aus  stilistisch-ästhetischen  Gründen  der 
Wiederholung  (z.  B.  bezüglich  der  klimatischen  Eigen- 
schaften oder  der  Verkehrswege)  zu  enthalten  sucht.  Nur 
beim  vordersten  Gesichtspunkte  der  Darstellung  ist  es 
nicht  allein  leicht  thunlich,  sondern  nahezu  unentbehrlich, 
sofort  auch  das  Ganze  zu  behandeln ;  wir  beginnen  näm- 
lich, gemäß  der  Forderung  der  Denkgesetze  imd  da  wir 
eine  Ortswissenschaft  unseres  Planeten  betreiben,  mit  Fest- 
stellung 

der  Lage,  welche  dann  durch  Betrachtung  der 
Grenzen  ihre  nähere  Würdigung  erhält.  Ohne  die  so- 
fortige Behandlung  der  Grenzen  würde  es  an  hierher 
gehörigem  Stoffe  mangeln,  da  weder  geographische  Breite 
noch  sonstige  Naturbestimmtheiten  als  sonderlich  charak- 
terisierend für  die  Lage  bemerkbar  werden,  wie  dies  für  so 
manches  ferne  Land,  z.  B.  für  Island,  für  Norwegen  u.  a., 
der  Fall  wäre.    Dagegen  kommt  alles  in  Betracht,  was  für 


*)  Die  Entwickelung  dieser  Definition  hat  Verfasser  in  der 
Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  (Berlin)  1882  gegeben  in 
der  Abhandlung  „Die  Aufgabe  der  wirtschaftlichen  Geographie*. 
Ueber  ^Allgemeine  Geographie*  handelte  er  im  »Ausland*  von  1884. 

')  Der  Güteraustausch  ist  allerdings  nur  eine  Art  des  Erwerbs; 
allein  infolge  seines  besonderen  Einflusses  auf  die  mechanische 
Umgestaltung  so  mancher  geographischen  Thatsache  (z.  B.  Ent- 
waldung Dalmatiens,  Suezkanal),  sowie  um  der  besonderen  Be- 
deutung willen,  welche  einzelnen  geographischen  Erscheinungen 
für  den  Verkehr  eignet  (z.  B.  Gebirgseinschnitten ,  Längsprofilen 
von  Flüssen)  —  erscheint  es  gerechtfertigt,  die  Hinnahme  von 
Gütern  aus  den  Händen  der  Natur  und  deren  Verarbeitung  aus- 
drücklich von  ihrem  Transport  und  Umtausch  zu  imterscheiden. 
Benennt  man  ja  noch  immer  in  weiten  Kreisen  unser  ganzes 
Spezialfach  lediglich  nach  dem  Güteraustausch  als  Handels- 
geographie. 


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Wirtechaftsgeogi-aphie.  577 

Einzelerscheinungen  der  Grenze  und  für  ihren  gesamten 
Naturcharakter  und  kommerzielle  Eigenart  von  Einfluß 
ist.  Es  gehört  also  vor  allem  die  Erwägung  der  Nach- 
barschaft hierher,  ohne  daß  jedoch  historisch-politische 
Streifungen  zulässig  wären;  denn  sie  sind  nicht  Sache 
der  Erdkunde,  nur  im  weiteren  Sinne  der  Landeskunde. 

Es  werden  also  dann  nur  Momente  zur  Verwendung 
kommen,  wie  etwa  folgende:  die  Angrenzung  an  das 
Tiefland  des  großen  Ostreiches  und  die  damit  gegebene 
Offenheit,  die  Richtung  der  Längsachse  und  der  Medi- 
terrancharakter der  Ostsee,  die  Nachbarschaft  und  der 
^ zeiträumliche **  ^)  Abstand  des  Welthandelsstaates  par 
excellence,  die  Angrenzung  der  mit  gleichen  oder  eng 
verwandten  Bevölkerungen  arbeitenden  drei  Staaten  des 
Niederrheingebietes,  welche  so  großartige  Gesamtindustrie 
besitzen,  die  Breite  und  Gliederung  des  vom  Meere 
trennenden  Alpengebirges  u.  dergl.  mehr. 

Der  Grenzverlauf  selbst  aber  wird  vor  allem  nicht 
als  Linie,  sondern  als  Grenzband  oder  -landstrich  ins 
Auge  gefaßt*). 

Eben  deshalb  aber  liegt  es  schon  hierbei  nahe,  auf 
die  Verfolgung  der  gesamtdeutschen  Grenze  mittelst  ge- 
nauerer Darstellung  zu  verzichten  und  erst  bei  der  Be- 
handlung von  größeren  Teilganzen  den  betreffenden  Ab- 
schnitt der  AuLiengrenzen  zu  prüfen  und  wiederzugeben. 
Allerdings  ist  hiermit  bereits  angedeutet,  daß  sich  das 
Nachfolgende  mit  der  Komposition  größerer  Teilgebiete 
befaßt,  nur  zuweilen  mit  Landschaften. 

Diese  Unterscheidung  deutscher  Gebiete  kann  auch 
innerhalb  der  wirtschaftlichen  Geographie  von  allgemein 
erdkundlichen  Gesichtspunkten  gelenkt  v«r erden,  da  Deutsch- 
land nicht  mehr  durch  tiefer  greifende  Sondergesetzgebun- 
gen seiner  Staaten  wirtschaftlich  so  getrennt  ist,  daß  man 


*)  Diese  Bezeichnung  ist  in  dem  vielverwendeten  Sinne  ge- 
meint, wie  er  sich  in  des  Verfassers  Werk  ,  Die  Verkehrswege  im 
Dienste  des  Welthandels''  (Stuttgart  1888)  vorfindet. 

'^)  Hierfür  hat  Verfasser  in  seinem  ^Donaugebiet"  (Stuttgart 
1882)  besonders  für  die  , obere  Donau"  einigermaßen  exemplifiziert. 
Vergl.  auch  Ratzel,  Anthropogeographie  S.  128. 

Anleitung  zur  deutschen  Landes-  und  YolksforschunK.  37 


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578  Wilhelm  Götz, 

die  politischen  Landesgrenzen  im  Inneren  sorgfältig  be- 
achten müßte. 

Als  Teilganze  erachten  wir  aber:  I.  Süddeutsch- 
land, IL  die  sog.  Rheinlande,  IIL  Mitteldeutsch- 
land bis  zu  den  Sudeten,  IV.  Schlesien,  V.  Nordost- 
deutschland, VI.  Nordwestdeutschland. 

Mit  dieser  Angabe  von  Hauptgebieten  will  aber  nicht 
die  Teilung  in  einzelne  Oberflächenstücke  beendet  sein. 
Vielmehr  wird  sich  namentlich  für  die  Gegenden  südlich 
des  Tieflandes  eine  mannigfache  Scheidung  in  Landschafts- 
individualitäten für  die  durchzuführende  Betrachtung  nach 
den  folgenden  Hauptgesichtspunkten  (wenigstens  der  Ge- 
stalt, der  Bodennatur  und  Produktion)  als  sehr  angezeigt 
erweisen,  ohne  dass  dies  hier  skizziert  werden  soll. 


I.  Sflddeutschland. 

1.  Die  Grenze  im  N.  zieht  der  Rücken  des  Franken- 
und  Thüringerwaldes,  die  Rhön,  die  Fuldischen  Höhen, 
der  untere  Main  oder  der  Fuß  des  Taunus  und  des  Huns- 
rück.  Im  W.  gehören  zum  Grenzband  die  beiderseitigen 
Hänge  des  Moselthales  und  der  nordöstliche  Thalrand  der 
Meurthe.  Im  S.  z.  B.  kommen  sowohl  die  Rücken  des 
Randen,  des  Höhgau  und  Klettgau  wie  das  Gegenüber 
zwischen  unterster  Aar  und  Rhein  in  Betracht.  Die  leb- 
hafte Profilierung  dieser  jurassischen  Erhebungen  zwischen 
dem  Südfluß  des  Schwarzwalds  und  dem  Bodensee,  eine 
langgezogene  hemmende  Gegend  im  Verhältnis  zu  der 
Zugänglichkeit  des  Bodenseebeckens,  verlangt  besondere 
Beachtung.  Seehöhendifferenzen  zwischen  Städtchen  und 
Bergrücken  ihrer  nächsten  Nachbarschaft  werden  als  Be- 
lege dafür  zu  suchen  sein.  Man  erhält  ^ie  zum  Teil  aus 
den  Angaben  der  meteorologischen  Statistik,  weit  leichter 
aber  aus  den  Sektionen  der  „Topographischen  Karte  des 
Großherzogtums  Baden^  (1 :  50000),  welche  namentlich 
auch  das  linke  Rheinufer  wiedergiebt,  oder  doch  aus  der 
Karte  für  Südwestdeutschland  (1  :  250000),  welche  eine 
noch  hinreichende  üebersichtlichkeit  besitzt.   Dazu  würden 


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Wirtschaftsgeographie.  579 

auf  der  Südseite  die  mehrfach  hintereinander  aufsteigen- 
den Jurazüge  als  abschließende  Wälle  des  Hochrheinthaies 
zu  kennzeichnen  sein. 

Im  W.  aber  erfolgt  die  Klarlegung  der  Grenze  zu- 
nächst durch  Skizzierung  der  „burgundischen  Pforte". 
Man  giebt  deren  Breite,  d.  h.  n.-s.  Ausdehnung  an,  die 
Seehöhe  von  etwa  350  m  für  den  Rand  annehmend;  man 
charakterisiert  ihre  Erhebung  durch  Hinweis  auf  die 
Eanalscheitelstrecke  bei  Münsterol.  Die  Landeskunde  kann 
auch  ihre  Wichtigkeit  für  den  Völkerverkehr  durch  Andeu- 
tungen über  ihre  historische  Benutzung  (von  der  Etrusker- 
zeit  an)  und  über  heutigen  Transitverkehr  bezeichnen. 

Die  Angaben  über  das  Kanalniveau  werden  aus  der 
, Statistik  des  Deutschen  Reichs"  Bd.  XV  entnommen, 
oder  aus  Büchern,  wie  Nördlings  „Selbstkosten  des 
Eisenbahntransports **,  oder  Bellingraths  „Bau  und  Be- 
trieb eines  deutschen  Kanalnetzes*. 

Dann  folgt  die  Behandlung  der  Vogesen,  über  welche 
die  Reisehandbücher  von  K.  Mündel  und  v.  Seydlitz 
entsprechend  orientieren,  besonders  über  die  schwache 
Gliederung  ihres  Kammes,  in  dessen  breiten  Unterbau 
freilich  beiderseits  mehrere  Thäler  tief  einschneiden.  Sie 
wären  in  diesem  Zusammenhang  nur  zu  benennen,  nicht 
eigentlich  zu  besprechen,  zumal  keine  tiefere  Einsattelung 
durch  sie  veranlaßt  wird,  um  einen  leichteren  üebergang 
zu  gestatten.  (Das  Steinthal  wird  sowohl  infolge  seiner 
Richtung  als  durch  die  Enge  in  oberster  Strecke  unfähig, 
als  Ausnahme  zu  gelten.)  Der  Grenzstreif,  welcher  sodann 
nach  NW.  zieht,  wird  wesentlich  die  Wasserscheide  der 
Meurthe  behandeln  heißen,  die  beiderseitigen  Gehänge 
des  Moselthales  u.  s.  w.  Hier  hat  man  die  exakteste 
Grundlage  an  den  Sektionen  der  „Karte  des  Deutschen 
Reiches"  (1:100000),  die  für  Nordelsaß  und  Lothringen 
neu  hergestellt  wurden. 

Im  N.  Süddeutschlands  aber  wird  die  betreffende  Breite 
und  Unebenheit  der  Einsenkungen  zwischen  den  oben- 
genannten Mittelgebirgen  wichtig  erscheinen,  jedoch  in 
geringerem  Maße,  als  die  Oberflächenerscheinungen  an 
den   politischen  Außengrenzen   in  0.,  S.  und  W.,  zumal 


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580  Wilhelm  Götz. 

noch  wiederholt  eine  Behandlung  der  nördlichen  Zwischen- 
region erfolgt  (bei  dem  Kapitel  über  Produktion  und  bei 
dem  über  Verkehr). 

Das  Hinübergreifen  einzelner  politischer  Gebietsteile 
über  die  natürlichen  Grenzen,  z.  B.  des  bayrischen  Voigt- 
landes oder  bei  den  „Rheinlanden"  des  Münsterer  Bezirks, 
wird  nicht  Anlaß  sein,  solche  Stücke  von  ihrem  nächsten 
politischen  Zusammenhang  in  der  Betrachtung  loszu- 
trennen; denn  die  Verkehrseinrichtungen  und  zahlreiche 
andere  wirtschaftspolitische  Einwirkungen  und  Thatsachen 
haben  für  solche  Teile  nicht  selten  einen  stärkeren  Einfluß 
auf  Produktion  und  Verkehr,  als  ihn  die  physikalische 
Verwandtschaft  und  Zugehörigkeit  besitzt. 

Die  Feststellung  der  Grenzstreifen  nun  gestattet  so- 
dann bereits  eine  fühlbare  Einschränkung  der  nächsten 
Aufgabe:  man  hat  nämlich  mit  denselben  ein  beträchtliches 
Stück  der  Bodengestalt  bereits  beschrieben. 

2.  Die  Bodengestalt  zu  charakterisieren,  ist  einer- 
seits die  wichtigste  und  eingreifendste  Aufgabe  abstrakt 
geographischer  Art,  andererseits  aber  auch  das  Schwie- 
rigste für  die  Form  der  Darstellung  im  Hinblick  auf  den 
Leser,  der  zu  einer  längeren  Gefolgschaft  hierbei  nur 
durch  besondere  Reizmittel  zu  bringen  ist.  Als  solches 
wird  eine  an  Bildern  reichere  Ausdrucksweise  noch  nicht 
genügen;  namentlich  aber  erheben  die  zunächst  folgenden 
Hauptgesichtspunkte  der  Betrachtung  auch  für  diesen 
2.  Punkt  bestimmte  Forderungen:  es  sind  die  Einflüsse  der 
betreffenden  Profilseigenschaften  ins  Auge  zu  fassen. 

Vorerst  aber  wird  man  für  Gesamtdeutschlands 
Bodengestalt  als  sehr  fruchtbare  Hilfsbücher  zu  benutzen 
haben:  Wagner  (Guthe),  Lehrbuch  der  Geographie,  so- 
wie besonders  auch  die  betreffenden  Kapitel  (1  und  2, 
4  und  5)  in  Pencks  „Das  Deutsche  Reich*.  Neben 
beiden  wissenschaftlichen  Werken  nehmen  für  die  ein- 
zelnen Gebiete,  resp.  für  die  gebirgigen  Landschaften  die 
Reisehandbücher  als  Quellen  eine  hervorragende  Stelle 
ein;  immer  noch  voran  Bädeker  und  die  Meyerschen 
Reisebücher,  für  die  Alpen  auch  Trautwein;  v.  Ber- 
lepsch  für  Südwestdeutschland.    Für  Bayern  nennen  wir 


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Wirtschaftsgeographie.  581 

noch  J.  F.  Weiß'  „Südbayerns  Oberfläche  und  Höhen- 
berechnungen", Waltenbergers  „etc.  Allgäuer  Alpen**, 
sowie  sein  „etc.  Wettersteingebirg"  und  dessen  „Zusammen- 
stellung der  Kartenwerke  Bayerns"  1884. 

Hierher  gehören  auch  Karten  wie  Algermissens 
Topographische  Spezialkarte  des  Schwarzwaldes  (1 :  200000). 
Die  Seehöhe  ist  bei  der  Bodengestalt  von  vielfacher 
praktischer  Bedeutung,  wie  für  klimatische  Faktoren  so 
und  zwar  größtenteils  eben  auf  Grund  der  letzteren  für 
solche  der  Vegetation  und  bez.  der  Bodenkulturen.  Eine 
Anzahl  von  hochgelegenen  Ortschaften  (nicht  aber  von 
Berggipfeln  ^))  wird  man  sich  neben  den  in  der  Tiefe 
gelagerten  zu  vergegenwärtigen  haben,  um  auf  die  Diffe- 
renz der  Naturbedingungen  hinzudeuten,  welche  sich  den 
betreffenden  Bewohnern  bieten.  Sodann  kommen  die 
Einschnitte  und  Bodenfurchen  besonders  in  Be- 
tracht, durch  welche  die  massigeren  Erhebungen  pro- 
duktionell  gegliedert  werden,  um  vor  allem  kommerzielle 
Vorteile  zu  gestatten,  aber  auch  die  unteren  Schichten 
der  Erdrinde  da  und  dort  zu  Tage'  treten  zu  lassen,  hier- 
mit aber  auch  so  manche  nutzbare  Mineralien  und  Me- 
talle. Die  Pässe,  die  Thal  er,  alle  tiefen  und  schmalen 
Einsenkungen  gehören  hierher.  Zwischen  der  Sohle  der 
Einsenkungen  und  den  Höhen  der  Rücken  und  Plateaus 
aber  sind  die  Böschungen  oder  Gehänge,  deren  Nei- 
gungswinkel für  die  Bildung  von  Dammerde,  für  die 
Herstellung  von  Lokal-  und  Flurfahrwegen,  für  die  Me- 
thode des  landwirtschaftlichen  Anbaues  und  für  dessen 
belastenderen  Aufwand  an  Werk-  und  Fahrzeugen,  für  die 
Kulturpflanzen  selbst  u.  s.  w.  von  Wichtigkeit  sind. 

Mit  Beachtung  dieser  Gesichtspunkte,  soweit  sie  ört- 
lich in  Betracht  kommen  können,  kann  also  bereits  vor- 
her  eine  Grenze,    wie   die   der  Bayrischen   und  Allgäuer 


')  Die  Höhe  der  Gipfel  zu  kennen,  hat  für  uns  höchst  ge- 
ringen Wert,  namentlich  dann,  wenn  sie  beträchtlich  über  ihre 
Umgebung  hervorragen  oder  wenn  sie  nicht  in  grösserer  Anzahl 
nahe  bei  einander  stehen  und  dadurch  einen  beachtenswerten  Teil 
der  Landschaft  als  unter  den  Einflüssen  ihrer  Seehöhe  befindlich 
erscheinen  lassen. 


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582  Wilhelm  Götz, 

Alpen,  untersucht  worden  sein,  wobei  allerdings  die  Ein- 
schnitte am  meisten  berücksichtigt  wurden;  denn  sie  ver- 
teilen durch  das  ganze  Alpenland  in  so  reichlicher  Weise 
die  Möglichkeit  ersprießlichen  Anbaues,  und  sie  regen 
diesen  durch  die  von  ihnen  gebotenen  Durchwege  und 
Uebergänge  in  das  Nachbarland  an. 

Für  die  Beurteilung  und  Erkenntnis  der  Bodengestalt 
ist  aber  außerhalb  des  Tieflandes  von  mannigfacher  Be- 
deutung 

3.  diegeognostische  Bildung  der  sichtbaren  Erd- 
rinde und  ihre  unmittelbare  Grundlage.  Läßt  ja  doch 
die  petrographische  Bildung  einer  hügeligen  und  Berg- 
landschaft so  viele  verlässige  Schlüsse  auf  die  Profilsver- 
hältnisse zu:  ein  Gneis-  und  Granitgebiet  wird  andere 
Böschungen  in  der  Regel  zeigen,  namentlich  wenn  von 
scharfen  Thalspalten  abgesehen  wird,  als  die  jurassische 
Formation;  der  Kreidesandstein  bekommt  den  Einwirkungen 
der  atmosphärischen  Kräfte  gegenüber  wesentlich  andere 
Formen,  als  Doloraitmassen.  Namentlich  aber,  da  auch 
für  die  Landeskunde  eine  wissenschaftliche  Methode  vor- 
auszusetzen ist,  wird  die  mannigfaltige  Ursache  der  vor- 
handenen Bodengestalt,  das  Nacheinander  und  die  Wirk- 
samkeit der  tektonischen  Vorgänge,  erkannt  und  beachtet 
werden  müssen.  Aber  dies  nur  so  weit,  als  auch  die  be- 
treffenden Profilseigenschaften  des  heutigen  Bodens  für 
die  Produktion  und  den  Verkehr  von  Einfluß  sind. 

Realistischer  wirkt  aber  in  diesem  Zusammenhang 
das  Bedürfnis,  für  den  nächstfolgenden  Hauptgesichts- 
punkt der  Länderbetrachtung,  nämlich  für  deren  boden- 
kundliche Beschaffenheit,  sowie  weiter  für  die  Frage  nach 
der  Voraussetzung  der  Stein-  und  Metallgewinnung  die 
betreffende  stoffliche  Grundlage  des  Festbodens  zu  er- 
kennen. So  erscheint  es  also  unumgänglich,  die  geo- 
gnostische  und  petrographische  Eigenart  des 
betreffenden  Territoriums  in  Betracht  zu  ziehen. 

Man  wird  nach  der  petrographischen  Erscheinungs- 
form der  betreffenden  Formationsetagen  oder  Massen- 
gesteinsbildungen, sowie  nach  ihrer  Lagerung  imd  Glie- 
derung   (ob    in    Stöcken,    in    Schiefer    und    Bänken,    ob 


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Wirtschaftsgeogi-aphie.  583 

zerklüftet  u.  s.  w.)  sich  erkundigen.  (Hierbei  nochmals 
zu  erwähnen,  daß  nur  solches  hereingehört,  was  mit  den 
übrigen  Teilen  der  Gesamtdarstellung  in  kausalem  Zu- 
sammenhange steht,  mag  sich  aus  dem  Bestreben  recht- 
fertigen, gegen  die  Geognosie  als  eine  nach  Ziel,  Umfang 
und  beträchtlich  auch  nach  Methode  von  der  Geographie 
unterschiedene  Disziplin  stets  die  Grenze  einzuhalten.) 
Unentbehrlich  aber  ist  für  so  manche  Produktionsfrageu 
vieles  von  der  Gesteinsgrundlage  und  von  deren  Wechsel, 
da  z.  B.  Zerklüftung  auf  die  Wasserkapazität,  da  Dichtig- 
keit und  horizontale  Lagerung  des  krjstallinischen  Schie- 
fers auf  die  Durchlässigkeit,  quarzreiche  Etagen  auf  die 
Durchwärmung  und  Lockerheit  des  Bodens  maßgebend 
wirken;  der  Wechsel  von  Formationsgliedern  läßt  größere 
Bodenfurchen,  hiermit  aber  auch  Naturwege  so  oft  ent- 
stehen u.  s.  w. 

Nicht  nur  in  bergigem  Lande,  sondern  auch  in  einem 
so  vielfach  flachen  Gebiete,  wie  das  Tafelland  rechts  der 
oberen  Donau  ist  die  Beachtung  solcher  geognostischen 
Gesichtspunkte  geboten. 

Für  Süddeutschland  wird  man  in  Bezug  auf  Bayern 
eine  erwünschte  Grundlage  flir  die  betreffende  Detail- 
orientierung etwa  durch  nachfolgende  Werke  und  Schrif- 
ten finden:  in  Gümbels  „Geognos tische  Beschreibung 
des  bayrischen  Alpengebirges  und  seiner  Vorlande",  „Geo- 
gnostische  Beschreibung  des  ostbayrischen  Grenzgebirges, 
des  Fichtelgebirges"  (1879);  die  gleichfalls  von  ihm  heraus- 
gegebenen geognostischen  Karten,  an  welchen  u.  a.  v.  Am- 
mon  hervorragenden  Anteil  hat,  nehmen  allerdings  auf 
die  für  unsere  Zwecke  erwünschten  Unterscheidungen 
petrographischer  Art  weniger  Rücksicht  als  andere  Landes- 
aufnahmen; sie  dienen  ausschließlich  dem  rein  geognosti- 
schen Interesse.  (Erschienen  oder  im  Drucke  sind  fast 
alle  Sektionen  [XIV]  der  bergigeren  Teile  Bayerns  aus- 
schließlich der  Pfalz.)  Außerdem  sind  nur  petrographische 
Bearbeitungen  enger  begrenzter  Gebiete  erschienen;  wir 
nennen  beispielsweise  v.  Zittel,  v.  Ammon,  Kalkowsky 
(Gneis  und  Granit  der  Oberpfalz).  —  Für  Württemberg 
dienen   vor   allem   die   „Begleitworte**,   welche  als  kleine 


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584  Wilhelm  Götz, 

Quartbroschüre  jeder  Sektion  der  „Geognostischen  Karte^ 
des  Landes  (1 :  50000)  beigegeben  sind.  Sie  sind  wie  ftlr 
Bodenkunde  und  für  Mineralproduktion,  so  etliche  auch 
f&r  die  Erkundung  der  Bodengestalt  durch  genaues  Re- 
gistrieren der  Flußgefällsverhältnisse  sehr  erwünscht. 
(30  Blätter.)  Weiter  giebt  mancherlei  für  unsere  Zwecke 
Fr  aas,  „Geognostische  Beschreibung  von  Württemberg, 
Baden  und  HohenzoUem '^;  Gutekunst,  „ Geognosie 
und  Mineralogie  Württembergs**  (1880);  Th.  Engel, 
„Geognostischer  Wegweiser  durch  Württemberg**  (1883). 
üeber  die  Bodenseegegend  haben  K.  Miller  („Molasse- 
meer der  Bodenseegegend **)  und  J.  Schill  (^Geologie  der 
Gegend  von  üeberlingen,  des  Höhgau  **  u.  s.  w.)  spezieller 
gearbeitet.  Für  diese,  wie  für  die  östlichere  Region 
tertiärer  und  glacialer  Erscheinungen  giebt  A.  Penck 
mit  seiner  „Vergletscherung  der  deutschen  Alpen**  sowohl 
in  der  Darstellung,  als  in  den  Litteraturhinweisen  viele 
Materialien.  Hierher  gehören  auch  AI.  Geistbecks  ,.Seen 
der  deutschen  Alpen**.  Für  die  geognostisch-orographische 
Betrachtung  instruiert  besonders  auch  H.  v.  Barth  in 
„Aus  den  nördlichen  Kalkalpen**.  —  Badens  „Geologi- 
scher Atlas  des  Großherzogtums**  ist  die  kartographische 
Grundlage  für  die  neuestens  begonnene  geognostische 
Landesaufnahme  nach  agronomischen  Gesichtspunkten; 
doch  stehen  von  letzterer  natürlich  Ergebnisse  noch  aus. 
Eine  eingehendere  Arbeit  litterarischer  Art,  doch  müh- 
sam für  unsere  Zwecke  zu  benutzen  sind  die  11  Teile 
der  „Beiträge  zur  geognostischen  Beschreibung  des  6ro&- 
herzogtums  Baden**  von  Sandberger,  Schill  und  Vogel- 
gesang. Man  wird  leichter  sich  begnügen  lassen  an 
Platz*  „Geologische  Skizze  von  Baden**  (mit  Karte).  — 
Elsaß-Lothringen  bringt  ausgezeichnete  Sektionen  der 
„Geologischen  Spezialkarte**  (l:2r»000)  samt  „Erläute- 
rungen** und  „Abhandlungen**  zu  denselben  und  zur  „Geo- 
logischen Karte  der  Umgegend  von  Straßburg  mit  Be- 
rücksichtigung der  agronomischen  Verhältnisse**.  Letztere 
besonders  gehört  zu  dem,  was  wir  als  nächstes  Ziel  zum 
besten  der  wirtschaftlichen  Geographie  für  alle  Gebiete 
wünschen.    Hierher  haben  wir  auch  die  zwei  ersten  Jahr- 


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Wirtschaftsgeographie.  585 

gänge  „Mitteilungen  der  Kommission  für  geologische 
Landesuntersuchung**  zu  rechnen.  —  Auch  Hessen  er- 
freut sich  seit  geraumer  Zeit  einer  nahezu  vollständigen, 
wenn  auch  stellenweise  von  der  unbedingt  verlässigen 
jetzigen  Leitung  nicht  aufrecht  erhaltenen  Landesauf- 
nahme in  18  Sektionen,  üeber  die  Fragen,  welche  auf 
Bodennatur  und  Mineralprodukte  Bezug  haben,  finden 
sich  kürzere  Aufsätze  in  den  Jahrgängen  des  „Notiz- 
blattes des  Vereins  für  Erdkunde  und  verwandte  Wissen- 
schaften zu  Darmstadt**  (von  1854  an).  Spärlicher  sind 
Abschnitte  verwendbar  in  den  „Abhandlungen  der  groß- 
herzoglich hessischen  geologischen  Landesanstalt**  (seit 
1884);  mehr  bieten  die  älteren  „Beiträge  zur  Geologie 
des  Gro&herzogtums  Hessen  und  der  angrenzenden  Gegen- 
den**, besonders  ihre  „Ergänzungsblätter**.  Für  die  di- 
luvialen Gebiete  ist  eine  zahlreiche,  besonders  in  den  ver- 
schiedenen geologischen  Zeitschriften  verteilte  Litteratur 
vorhanden.  Lepsius  als  Leiter  der  geologischen  Landes- 
anstalt Hessens  giebt  naturgemäß  sowohl  in  seiner  be- 
gonnenen (I,  1)  „Geologie  von  Deutschland**  gerade  über 
diese  Rheingebiete  die  berufensten  Mitteilungen,  als  er 
auch  mit  seiner  „Geologischen  Uebersichtskarte  des  Main- 
zer Beckens**  die  Stein-  und  Bodenunterschiede  erwünscht 
aufzeigt  (1:100000),  dazu  in  „Die  oberrheinische  Tief- 
ebene imd  ihre  Randgebirge**  (1885)  orographisch  und 
bodenkundlich  so  viel  Nutzbares  einfügt. 

Mit  diesen  Hinweisen  nun  ist  zugleich  ein  Teil  der- 
jenigen litterarischen  Hilfsmittel  bezeichnet,  welche  dem 
dritten  unserer  Gesichtspunkte  dienstbar  werden  können, 
nämlich  der  Darstellung 

4.  der  Bodennatur.  Die  Bodenkunde  der  be- 
treffenden Gebiete  in  Bezug  auf  Zusammensetzung  und 
Farbe  der  Bodendecke  und  hinsichtlich  ihres  nächsten 
Untergrundes  ortsbeschreibend  zu  behandeln,  erscheint 
uns  eine  ebenso  unentbehrliche  als  noch  sehr  wenig  aus- 
geführte Aufgabe.  Denn  nicht  nur  fehlen  hierzu  Hand- 
bücher und  Einzelarbeiten  für  irgend  welche  größeren 
geographischen  Regionen,  sondern  es  kann,  abgesehen  von 
dem,   was   aus   einzelnen  geognostischen  Karten  und  aus 


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586  Wilhelm  Götz, 

den  wenigen  neuen  Karten  agronomischen  Charakters  zu 
ersehen  ist,  hier  fast  nur  auf  dem  entwickelten  Wege 
vorgegangen  werden,  daß  die  petrographische  Beschaffen- 
heit des  betreffenden  Landstriches  erforscht  wird,  um 
dann  auf  die  vorhandene  Bodendecke  zu  schließen.  Aller- 
dings ist  auch  dies  zur  Zeit  noch  sehr  erschwert  durch 
den  Mangel  einer  Petrographie  von  Deutschland  und 
durch  den  meist  in  wenig  zusammenhängender  Weise 
ortsbeschreibenden  Tenor  der  geognostischen  Schriften 
und  Werke.  Nur  die  meisten  „Erläuterungen''  zu  den 
Sektionen  der  geognostischen  Karten  der  Landesaufnah- 
men sind  in  genannter  Hinsicht  als  Ausnahmen  zu  unseren 
Gunsten  zu  begrüßen. 

Unentbehrlich  aber  ist  einer  wirtschaftlichen  Geo- 
graphie die  Verwendung  der  Bodenkunde  in  angeregtem 
Sinne  ^)  oder  die  Erkenntnis  und  Bezeichnung  der  Boden- 
natur. Wenn  wir  zu  dieser  wesentlich  auch  die  Farbe 
rechneu,  so  geschieht  dies  nicht  nur  aus  dem  Grunde  der 
allgemeinen  Geographie,  daß  es  ein  wohl  selbstverständ- 
liches Erfordernis  der  Erdbeschreibung  sei,  auch  in 
dieser  Hinsicht  das  Aussehen  achtsam  zu  bezeichnen. 
Vielmehr  ist  ja  die  Farbe  auch  sehr  belangreich  für 
Vegetation  (vergl.  darüber  Wollny  in  den  „Forschungen 
zur  Agrikulturphysik'*  VH.  Bd.)  und  für  den  Wert  ver- 
schiedener Steine  und  Erden.  —  Unvergleichlich  wichtiger 
aber  ist  es  für  die  Darlegung  und  für  das  Verständnis 
der  vegetabilischen  Produktion  und  ihre  Bürgschaften  in 
Bezug  auf  Nahrung  und  Befeuchtung,  sowie  für  die  Be- 
deutung eines  Landstriches  in  Bezug  auf  mineralische 
Produkte,  daß  man  die  verwitterten  und  zersetzten  Erd- 


')  Diese  Forderung  wurde  vom  Verfasser  bereits  eingehend 
begründet  in  der  oben  S.  576  erwähnten  größeren  Abhandlung  der 
Zeitschrift  ttir  Erdkunde  lb'82,  weshalb  wohl  hier  im  ganzen  anf 
eine  genauere  Ausführung:;  verzichtet  werden  kann,  um  nicht  Ge- 
sagtes zu  wiederholen.  Ebenso  hat  Verfasser,  soviel  ihm  die  Lit- 
teratur  bekannt,  zuerst  in  einer  nicht  speziell  der  Bodenbeschrei- 
bung gewidmeten  Arbeit  (wie  sie  z.  B.  Meitzens  «Boden  des 
preuß.  Staates*  ist)  versucht,  die  Bodenkunde,  Avenn  auch  in  dürfti- 
ger Weise  und  unbefriedigt  von  dem  Erreichten,  in  die  Erdkunde 
einzubeziehen,  als  er  nämlich  sein  ,  Donaugebiet **  schrieb  (1881). 


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Wirtfichaftsgeographie.  587 

lagen  und  deren  Untergrund  gegendweise  kenne.  Man 
bedarf  übrigens  auch  umgekehrt  zum  vollen  Verständnis 
der  Bodengestalt  resp.  der  Veränderlichkeit  der  Profils- 
linien und  zu  den  Erweisen  für  die  geognostisch-petro- 
graphischen  Qualitäten  der  obersten  Gesteinsschichten 
(massen)  einer  Kenntnis  der  „Dammerde**  und  der  Ver- 
witteruDgsergebnisse.  Die  Natur  des  Zersetzungsbodens 
aber  bleibt  neben  dem  Klima  das  Matagebendste  für  die 
Produktion.  Sie  ist  jedoch  auch  eminent  einflußreich  für 
Verkehrswege.  Hiermit  zielen  wir  nicht  zunächst  etwa 
auf  die  Sümpfe  Nord  Westdeutschlands,  sondern  nament- 
lich auf  die  wesentliche  Abhängigkeit  des  Baues  von 
Chausseekörpern  und  von  Eisenbahnen  im  flachen  Land, 
auf  die  Anlage  von  Distrikts-  und  Gemeindewegen,  welche 
ja  sehr  verschieden  rasch  und  teuer  entstehen  werden, 
je  nachdem  z.  B.  Dolomitgrus  oder  Quarzschiefer  zu 
Grunde  liegt. 

Bezüglich  Bayerns  nun  wird  man  für  den  größten 
Teil  seines  Gesamtareals  zunächst  auf  die  Benutzung  der 
Gümbelschen  Schriften  zur  Folgerung  bodenkundlicher 
Thatsachen  angewiesen  sein.  Eine  Teilbearbeitung  dieses 
Gebietes,  jedoch  nur  übersichtlicher  Art,  liegt  in  dem 
Bericht  des  Kreiskomitees:  „Die  Landwirtschaft  im  Re- 
gierungsbezirk Oberbayem'*  (1885). 

Für  die  übrigen  Länder  sind  zunächst  die  oben  be- 
nannten petrographischen  Orientierungen  und  geognosti- 
schen  Darstellungen  eine  provisorische  Grundlage.  Für 
Württemberg  aber  hat  dessen  thätige  königliche  Zentral- 
stelle für  die  Landwirtschaft  besondere  Gesteins-  und 
Bodenuntersuchungen  veranstaltet  und  seit  1866  die  wich- 
tigsten Formationsgebiete  der  mesozoischen  Periode  in 
ihren  „ Jahresheften **  klarstellen  lassen.  Baden  hat,  wie 
schon  angedeutet,  nunmehr  eine  Abteilung  für  geognostisch- 
agronomische  Untersuchungen  eingerichtet,  obwohl  dieses 
Land  nicht  in  dem  Maße  wie  Bayern  Agrikulturinteressen 
zu  betonen  pflegt. 

Von  allgemeinem,  nicht  geographischem  Werte  für 
die  Unterweisung  im  Erschließen  der  bodenkundlichen  Orts- 
thatsachen  aus  den  zu  suchenden  petrographischen  erscheint 


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588  Wilhelm  GöU, 

uns  ein  Lohrbüchlein  nennenswert,  Daferts  Bodenkunde 
(1885). 

5.  Aber  die  Bodenbildung  und  die  Verwitterungs- 
verhältnisse, somit  auch  die  vorhandenen  Profile  sind 
wesentlich  herbeigeführt  und  weiterhin  abhängig  von  den 
atmosphärischen  Einflüssen,  vom  Klima. 

Hier  ist  ja  freilich  nicht  zu  fragen,  ob  man  die 
Elimatologie  wesentlich  beizuziehen  habe,  sondern  nur, 
welche  Bestandteile  derselben  am  unentbehrlichsten  seien. 

Man  wird  allenthalben  den  Frostverhältnissen  des 
Winters  und  Frühjahrs  und  der  Summe,  den  Zeiten  und 
Erscheinungsformen  der  Niederschläge,  wohl  auch  der 
wechselnden  Luftfeuchtigkeit  und  der  Bewölkung,  weniger 
dem  Vorwalten  der  Windrichtungen  nachforschen. 

In  einzelnen  Gegenden  aber  kommen  die  Sommer- 
temperaturen wegen  ihrer  Beschleunigung  der  Ernte  und 
wegen  der  Erzielung  von  Produkten,  welche  sonst  süd- 
licheren Breiten  angehören,  wesentlich  mit  in  Betracht; 
so  für  Niederbayerns  Donauebene,  so  für  den  Norden  des 
oberrheinischen  Tieflandes. 

Als  litterarische  Hilfsmittel  in  letzterer  Hinsicht  em- 
pfehlen sich  die  Arbeiten  über  phänologische  Thatsachen. 
Von  allgemeinerer  Bedeutung  ist  hier  H.  H.  K.  Hoff- 
manns „Phänologische  Karte  von  Mitteleuropa"  in  Peter- 
manns Mitteilungen  (1881)  und  „  Phänologische  Unter- 
suchungen" 1887.  Egon  Ihne  verfaßte  nach  den  »Beiträgen 
zur  Phänologie"  (1879)  die  „Geschichte  der  phänologischen 
Beobachtungen"  (1884). 

Sucht  man  aber  sodann  in  der  Litteratur  nach  spe- 
ziellen Beobachtungen  für  die  Gesamtheit  obiger  Gesichts- 
punkte, einer  beträchtlichen  Reihe  von  Jahren  rückwärts 
geltend,  so  gebricht  es  daran.  Dies  gilt  aber  schon  in 
Bezug  auf  die  Niederschläge  allein,  noch  mehr  aber  hin- 
sichtlich der  Fröste.  Denn  bei  letzteren  handelt  es  sich 
am  meisten  um  die  Ausdehnung  der  Frosterscheinungen 
ins  Frühjahr  hinein,  um  die  Spätfröste,  welche  neben 
dem  Temperaturminimum  des  Januar  und  Dezember  den 
maßgebendsten  Einfluß  auf  die  ungestörte  Entwickelungs- 
zeit   der  Pflanzen   haben.     Hierfür   finden   wir  keine  ge- 


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Wirtschaftsgeographie.  589 

druckten  Nachweise;  denn  die  publizierten  Ergebnisse 
bringen  nur  die  Tagesmittel  des  Mai,  nicht  die  täglichen 
Minima.  Als  instruktive  Arbeiten  aber  nennen  wir:  Dove, 
„Die  Kälterückfälle  im  Mai*  (Abh.  d.  k.  Akad.,  Berlin 
1856);  V.  Bezold,  «KäJterückfaUe  im  Mai«  (Verh.  d. 
Akad.  d.  Wissensch.  IL  KL  1883);  Recknagel,  ^üeber 
Spätfröste**  u.  s.  w.  (PoUichia  1870);  Gaea  von  1881: 
„Die  Kälterückfälle  im  Mai**. 

Für  die  Frage  der  Niederschläge  sind  wenigstens 
von  zwei  Autoren  für  Gesamtdeutschland  oder  doch  für 
dessen  größtes  Gebiet  wertvolle  Nachweise  vorhanden: 
H.  Töpfers  „Untersuchungen  über  die  Regenverhältnisse 
Deutschlands"  (1881),  ein  unersetzbares  reichhaltiges  Buch 
(namentlich  durch  Tabelle  III) ;  sodann  die  Abhandlungen 
Hellmanns  in  der  „Meteorologischen  Zeitschrift*  (Hann 
und  Koppen)  von  1886  und  1887.  Außerdem  sei  noch 
erwähnt:  Heft  2  der  „Beiträge  zur  Hydrographie  Badens: 
Die  Niederschlagsverhältnisse". 

Für  die  Mehrzahl  der  einzelnen  Teilgebiete  aber  sind 
die  meisten  Beobachtungsstationen  erst  jüngeren  Alters, 
weshall)  noch  wenige  zusammenfassende  Darstellungen 
aus  den  veröflFentlichten  Jahresergebnissen  erwachsen  sind. 
Doch  mag  hier  eine  kleinere  neueste  Arbeit  von  Singer 
erwähnt  werden:  „Die  Temperaturverhältnisse  von  Süd- 
deutschland" in  den  „Meteorologischen  Beobachtungen  des 
Königreichs  Bayern"   (1888). 

Die  meteorologische  Litteratur  über  Württemberg 
hat  ihre  betreffenden  Materialien  in  den  Abschnitten  der 
„Württembergischen  Jahrbücher  für  Statistik  und  Landes- 
kunde" (Aufsätze  von  Schoder  über  Stuttgart  im  be- 
sonderen). Baden  hat  seit  1869  seine  „Jahresberichte  der 
großherzoglich  badischen  meteorologischen  Zentralstation". 
Die  meteorologische  Litteratur  über  Baden  bis  1876  gab 
Sohncke  im  VII.  Jahresbericht,  üeber  das  Elsaß  fehlen 
zwar  neueste  Publikationen;  doch  gab  solche  in  ver- 
gangenen Jahren  das  kaiserliche  Ministerium,  Abteilung 
für  Gewerbe,  Landwirtschaft  und  öffentliche  Arbeiten. 
Die  Regenmengen  dagegen  sind  z.  B.  von  Emile  Dietz 
für  1870—80  bearbeitet  (französisch).    Einzelheiten  über 


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590  Wilhelm  Götz, 

die  Gegenden  des  oberrheinischen  Tieflandes  hat  auch  der 
Jahresbericht  des  Vereins  für  Naturkunde  zu  Mannheim; 
so  namentlich  über  diese  Stadt  selbst.  Hierher  gehört 
auch  Gouzy,  „Resultate  der  Beobachtungen  zu  Münster 
(Elsaß)  187G-81«  (1882).       ' 

Ob  man  die  klimatischen  Fragen  etwa  schon  an  die 
der  Bodengestalt  anschließe  oder  mit  deren  Erledigung 
verflechte,  wird  der  Darsteller  jeweilig  entscheiden:  jeden- 
falls aber  wird  man  das  Klima  als  maßgebendsten  Faktor 
für  jene  Produktion,  welche  die  Natur  selbst  besorgt, 
und  als  höchst  einflußreich  auf  die  Art  der  menschlichen 
Produktivarbeit  vor  der  Darlegung  dieses  vorletzten  Ge- 
sichtspunktes, der  Produktion,  skizzieren,  üeberhaupt 
wird  es  geradezu  durch  die  ästhetische  Rücksicht  auf 
Mannigfaltigkeit  der  Anordnung  und  auf  Vermeidung  von 
Wiederholungen  geboten  sein,  strichweise  z.  B.  zugleich 
mit  der  Gestalt  die  meteorologischen  Einflüsse,  die  Zu- 
sammensetzung und  die  mineralisch -metallische  Produk- 
tion, ja  auch  Naturwege  zusammenzuschließen  und  dann 
erst  zu  der  weiteren  Vorführung  dieser  geographischen 
Eigenschaften  des  übrigen  Teilganzen  oder  Landes  vor- 
zugehen und  hierauf  das  Kapitel  „  Produktion  **  zu  behandeln. 

6.  Die  Produktion.  Bei  diesem  ebenso  umfang- 
reichen, als  an  sich  vielseitig  interessierenden  Abschnitte 
gilt  es  vor  allem,  die  Grenze  durch  die  Rücksicht  auf 
den  inneren  Zusammenhang  unseres  Spezialfaches  thun- 
lichst  enge  zu  ziehen.  Es  wird  hier  namentlich  auch  der 
Blick  auf  den  letzten  (7.)  Gesichtspunkt  mitbestimmend 
sein  müssen,  nämlich  der  auf  die  Verkehrswege  und  deren 
eingreifendere  Benutzung.  Wie  aus  der  Geognosie  und 
aus  der  Bodenkunde  nur  solche  Elemente  für  uns  ver- 
wendbar werden,  welche  für  iUima  und  Produktion  un- 
mittelbar kausale  Bedeutung  haben,  so  wird  jene  Pro- 
duktion eines  Landes  außer  Betracht  bleiben,  welche 
nicht  die  Herstellung  von  Verkehrswegen  mit  veranlaßt 
oder  eine  für  deren  Unterhalt  beachtenswerte  Benutzung 
veranlaßt.  Daß  freilich  produktives  Leben  und  Arbeiten, 
durch  welches  auch  das  landschaftliche  Aussehen  modi- 
fiziert wird  (Anbau  bestimmter  Produkte,  Bau  von  Häuser- 


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Wirtschaftsgeographie.  591 

gruppen  u.  a.  m.),  notwendig  zu  skizzieren  ist,  erscheint 
durch  die  Aufgabe  der  Erdoberflächenbeschreibung  in 
unserem  Sinne  wohl  von  selbst  geboten. 

Man  wird  aber  bei  der  Einzelbetrachtung  entweder 
von  den  nationalökonomischen  Kategorieen  sich  vorwärts- 
führen  lassen  dürfen,  also  die  ür-,  Natur-  und  Kunst- 
produktion, eine  nach  der  anderen,  durch  das  betrefifende 
ganze  Land  hin  erfragen,  oder  man  wird  gegendweise 
die  genannten  Gesichtspunkte  so  erledigen,  daß  die  be- 
treflPende  Landschaft  A  für  die  Produktionsbetrachtung 
vollständig  erkannt  ist,  bevor  man  zur  angrenzenden 
Landschaft  B  übergeht.  So  findet  in  letzterem  Fall  na- 
türlich wieder  die  Gliederung  des  betreffenden  Teilganzen 
in  Unterabteilungen  statt,  wie  es  bei  nachfolgenden 
Lit.  a— c  meist  ähnlich  gehalten  wird. 

Es  empfiehlt  sich  außerdem  bei  entschieden  indu- 
striellen Regionen  von  selbst,  die  Städte  und  das  um- 
gebende Land  nicht  getrennt  zu  behandeln,  während  das 
Umgekehrte  bei  vorwiegend  landwirtschaftlichem  Erwerbs- 
leben nahe  liegt,  ja  meist  geboten  erscheint. 

In  der  Nachfrage  nach  der  Produktion  nun  wird 
man  aber  in  jedem  Falle  von  den  vorhin  genannten  Ar- 
ten und  ihren  Unterabteilungen  geleitet  bleiben,  um  die 
nötige  Uebersicht  zu  gewinnen  und  faßlich  werden  zu 
können. 

a)  Die  Urproduktion  zunächst  wird,  soweit  sie  mine- 
ralisch-metallischer Art  ist,  eben  wegen  der  engsten  Ver- 
bindung der  nutzbaren  Mineralien  mit  der  Bodennatur 
sich  meist  zur  ersten  Feststellung  der  Erzeugnisse  eignen. 
Dies  wenigstens  in  den  Landschaften  Süddeutschlands. 
Doch  wird  man  auch  bei  Rheinland- Westfalen  mit  der 
sofortigen  Vorführung  der  Kohlen-  und  Metallförderiynig 
nicht  unrichtig  handeln,  weil  diese  dem  Betrachter  mit 
zu  allernächst  ins  Auge  fallen  muß,  wenn  er  für  die 
Frage  nach  der  Produktion  Umschau  hält.  Allerdings 
spricht  gegen  eine  Behandlung  der  Montanproduktion  an 
dieser  Stelle  der  Umstand,  daß  eine  hochentwickelte  Tech- 
nik, also  eine  Wirkung  sehr  fortgeschrittener  Industrie 
die  Voraussetzung  unserer  Gewinnung  der  Bergprodukte 


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592  Wilhelm  Götz, 

bildet.  Allein  für  uns  entscheiden  zunächst  Gründe  der 
Anschauung,  der  äußeren  Betrachtung  des  Landes  und 
seiner  Merkmale,  also  nicht  ein  begriff lich«schematischer 
Aufbau;  auch  würde  man  mit  solchem  die  stärksten  Schwie- 
rigkeiten haben,  an  irgend  einer  späteren  Stelle  die  mi- 
neralisch -  metallische  Produktion  vorzubringen.  Wenn 
man  nicht  versuchen  will,  letzterer  nach  der  landwirt- 
schaftlichen Industrie  aus  äußerlichen  Gründen  gerecht 
zu  werden,  oder  die  gesamte  Urproduktion  unmittelbar 
vor  der  Industrie  zu  behandeln,  so  bleibt  kein  anderer 
Zusammenhang  brauchbar,  als  der  von  uns  empfohlene, 
oder  die  Verwebung  unter  die  Feststellung  der  Boden- 
natur und  die  geognostischen  Andeutungen. 

Für  die  geographische  Kenntnis  der  gesamten  mine- 
ralisch-metallischen Produktion  unseres  Gebietes  ist  nur 
spärlich  durch  eine  direkt  verwertbare  Litteratur  vor- 
gearbeitet. Wir  verweisen  zunächst  auf  ein  höchst  ver- 
dienstliches Werk:  „Die  nutzbaren  Mineralien  und  Gebirgs- 
arten  im  Deutschen  Reiche*'  u.  s.  w.  von  H.  v.  Dechen; 
ebenso  auf  Gottgetreu,  Baumaterialien,  I,  1  —  117.  Für 
die  Geognosie  und  Bodenkunde  haben  wir  v.  Dechen  nicht 
genannt,  weil  er  sogar  in  seinen  Abschnitten  „Zusammen- 
setzung" gleichsam  nur  beispielshalber  die  einzelnen  Ge- 
steinserscheinungen örtlich  bezeichnet,  jedenfalls  uns  kein 
mäßig  ausgedehntes  Bereich  petrographisch  zusammen- 
hängend wiedergeben  läßt.  Dagegen  ist  für  Mineral-  und 
Metallproduktion  nur  das  eine  zu  bedauern,  daß  fragliches 
treffliche  Hilfsmittel  seit  1873  nicht  wieder  neu  aufgelegt 
wurde.  Aus  solchen  Wericen  ftlr  die  Gesamtheit  der  be- 
treffenden Produktion  überhaupt  wird  man  noch  am  rasche- 
sten die  nötigen  Notizen  erholen.  So  instruieren  über  die 
fossile  Kohle  hauptsächlich  H.  B.  Geinitz,  „Geologie  der 
Steinkohlen  Deutschlands  und  anderer  Länder  Europas* 
(mit  Atlas  1865);  C.  F.  Zincken,  „üeber  das  Vorkommen 
der  fossilen  Kohlen**   (1.  Bd.). 

Die  amtlichen  Statistiken  aber  rubrizieren  nur  nach 
Bergamtsbezirken,  wodurch  z.  B.  die  Mitteilungen  über 
Bayern  für  uns  ziemlich  wertlos  sind.  Da  verhelfen  ge- 
legentliche Angaben,  wie  sie  z.  B.  in  der  bezüglich  Kohle 


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Wirtschaftsgeographie.  593 

wertvollen  Zeitschrift  „Glückauf,  berg-  und  hüttenmän- 
nische Zeitung  für  den  Niederrhein  und  Westfalen**  sich 
finden  (hier  im  Jahrgang  1881),  leichter  zur  örtlichen 
Einsicht.  Bayern  hat  allerdings  noch  an  einigen  älteren 
Publikationen  verwertbare  Quellen;  so  am  Jahrgang  1842 
des  „Gewerbeblattes  des  polytechnischen  Vereins  •*  (Schmitz, 
,Ueber  das  Vorkommen  nutzbarer  Fossilien  in  Bayern*); 
desgleichen  an  Laubmanns  Schrift:  „Ueber  Vorkommen, 
Produktion,  Zirkulation  u.  s.  w.  der  mineralischen  Kohle 
in  Bayern*  u.  s.  w.  (1874).  Hierher  gehört  auch  der  in 
ßatzels  „Wendelstein*  (Zeitschrift;  des  deutschen  u.  österr. 
Alpenvereins  1886)-  erwähnte  „Abriß  der  geognostischen 
Verhältnisse  der  Tertiärschichten  bei  Miesbach*  u.  s.  w. 
Für  Württemberg  kann  sowohl  aus  den  „Jahrbüchern*,  als 
namentlich  aus  den  einzelnen  Bänden  „Beschreibung  des 
Oberamts  N.N.*  —  diesem  beneidenswerten  Vorrat  vorzüg- 
lich zugerichteter  Werksteine  für  den  Aufbau  von  Deutsch- 
lands Landeskunde  —  das  meiste  entnommen  werden. 

Im  übrigen  aber  muß  man  sich,  abgesehen  von  dem, 
was  die  geognostische  Litteratur  zerstreut  vorbringt,  vor- 
erst mit  dem  rein  statistischen  Material  begnügen,  wel- 
ches in  den  „Monatsheften  zur  Statistik  des  Deutschen 
Reiches*  geboten  wird  (z.  B.  Februarhefl  1887). 

Eine  mstruktive,  aber  natürlich  örtlich  unvollständige 
Instruktion  bieten  für  die  hierhergehörigen  Erwerbszweige 
noch  die  Handelskammerberichte,  welche  gewöhnlich  auch 
die  „Industrie  der  Steine  und  Erden*  behandeln  und  vor 
irrigen  Vorstellungen  in  Bezug  auf  einzelne  Produktions- 
stätten bewahren.  (Welche  Handelskammern  hierher  ge- 
hören, muss  man  erkunden  aus  „Die  Handels-  und  Ge- 
werbekammern des  D.  Reiches*  1884  [ein  Verzeichnis].) 
Für  die  bergigen  Gebiete  sind  auch  die  Reisehandbücher 
instruktiv  (Meyer,  Mündler  u.  s.  w.). 

Zu  der  Urproduktion  ist  aber  sodann  in  einer  landes- 
kundlichen Darstellung  auch  Fischerei  und  Jagd  zu 
rechnen.  Beide  sind  auch  in  unserem  Gebiete  einträg- 
lich genug  und  von  Einfluß  auf  die  Landschaft,  z.  B. 
auf  die  Alpenforsterhaltung,  um  Erwähnung  zu  verlangen, 
wie  auch  der  Seeenreichtum  auf  die  erstere  hinführt. 

Anloitang  zur  dentachen  Landes-  und  Volksforachang.  38 


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594  Wilhelm  Götz, 

b)  Der  UebergaDg  zur  Naturproduktion  ei^ebt 
sich  in  solchem  Zusammenhang  leicht. 

a)  An  der  forstlichen  findet  man  das  erste  Glied 
der  Darstellung. 

Da  wird  die  Ausdehnung  der  Bestände,  die  örtliche 
Bestimmung  des  Yorwaltens  von  Nadel-  und  Laubholz, 
die  Grenzen  beider  bei  gesteigerter  Seehöhe  zu  erkun- 
den sein. 

Eine  yerlässige  Forschung  wird  hierzu  keine  ge- 
druckte Litteratur  für  Bayern  vorfinden;  denn  die  Sta- 
tistik giebt  dabei  für  engere  Bezirke  zu  wenig  über  die 
örtliche  Lage  neuere  Auskunft.  Man  ist  hier  nur  auf 
eine  ältere  Statistik  der  staatlichen  Forste  angewiesen. 
0.  V.  Leos  .Forststatistik  von  Deutschland  und  Oester- 
reich-Ungam"  ist  wenigstens  für  die  wichtigsten  Gesichts- 
punkte der  Anbauverschiedenheit  und  für  die  Ortslage 
gearbeitet  (1874).  Weiter  im  W.  sind  »Württembergs 
forstliche  Verhältnisse*  (1880)  der  IX.  Versammlung  deut- 
scher Forstmänner  in  unserem  Sinne  dargelegt  worden. 
Für  1885  vnirden  „Forststatistische  Mitteilungen  von 
Württemberg"  hergestellt.  Elsaß-Lothringen  besitzt  eine 
uns  nicht  zugängliche  statistische  Forstbehandlung  des 
kaiserl.  Ministeriums  v.  1885;  1883  edierte  v.  Berg  »Mit- 
teilungen über  die  forstlichen  Verhältnisse  Elsaß-Lothrin- 
gens*. Hessens  „Fors^:-  und  Kameralverwaltung*  hat 
Wilbrand  beschrieben  (1880). 

Mit  der  Behandlung  des  Waldes  wird  sich  sodann 
die  Beachtung  der  forstlichen  Nebenprodukte  ver- 
binden. Da  kommt  vor  allem  im  Alpenlande,  wie  in 
den  Mittelgebirgen  an  der  Nordgrenze,  so  im  Fichtel- 
gebirge, in  der  Rhön,  im  Spessart,  die  Herstellung  der 
Holzkohle  in  Betracht.  Die  Ausbeute  an  Terpentin  ist 
nur  im  Spessart  und  im  Elsaß  erwähnenswert.  Die  Ge- 
winnung von  Beeren  in  Nordostbayern  verlangt  Beach- 
tung. Dagegen  ist  der  Schälbetrieb  so  spärlich  vertreten, 
daß  er  in  den  süddeutschen  Ländern  nur  geringer  Be- 
rücksichtigung bedarf.  Es  fehlt  auch  an  anderen  kom- 
merziell wichtigeren  Erzeugnissen  von  Belang,  wie  es 
Pilze,    Galläpfel   u.  dergl.   wären.     Die  Handelskammer- 


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Wirtschaf tfigeograp  hie.  595 

berichte  kennen  wir  hier  als  die  einzigen  zugänglicheren 
Quellen. 

ß)  Für  den  Süden  nun,  wo  im  Unterschied  von  Mit- 
teldeutschland, auf  beachtenswerten  Strichen  noch  die 
Weidewirtschaft  für  die  Nutztiere  vorwiegt,  mag  es  zu- 
nächst naheliegend  erscheinen,  die  Viehzucht  an  die 
Forstkultur  u.  s.  w.  anzuschließen.  Doch  auch  hier  wird 
es  ratsamer  erscheinen,  erst  auf  Grund  der  zu  bezeich- 
nenden Bodenkultur  vorzugehen,  da  letztere  nicht  nur 
&st  allenthalben  das  betrachtete  Oebiet  bedeckt,  sondern 
die  Tierwelt  auch  entsprechenderweise  nicht  an  veischie- 
denen  Stellen  nach  ihren  Gattungen  getrennt  zur  Sprache 
kommen  dürfte,  ohne  daü  die  Darstellung  in  ihrer  Ord- 
nung geschädigt  und  dadurch  minder  übersichtlich  und 
unzusammenhängend  werde. 

Es  wird  aber  den  verschiedenen  Anforderungen  am 
besten  dadurch  entsprochen,  da£  je  nach  ihrer  wirtschaft- 
lich als  wichtiger  anerkannten  Bedeutung  für  die  be- 
treffende Landschaft  bald  die  Viehzucht,  bald  die  Agri- 
kultur vorantrete.  So  wird  in  Oberbayem,  in  Oberschwaben 
und  wohl  auch  im  südlichen  Baden  die  Viehzucht  zuerst 
Beachtung  verlangen,  in  Niederbayem,  in  Franken,  in 
der  Rheinebene,  im  Neckarland  der  Bodenanbau. 

Bei  der  Viehzucht  kommt  die  Pflege  der  Rinderzucht 
weitaus  am  meisten  in  Betracht,  die  der  Pferde  für  einige 
wenige  Gegenden;  die  der  Schafe  könnte  nahezu  über- 
gangen werden.  Dagegen  verdient  die  Geflügelzucht,  zu- 
mal auch  wegen  der  Eierausfuhr,  besondere  Betonung, 
wenn  auch  die  Statistik  Niederbayems,  die  von  Elsaß- 
Lothringen  oder  des  Rieses  wenig,  resp.  in  zu  langen 
Zwischenräumen  und  nicht  von  der  erwünschten  Sunmie 
von  Material  unterstützt,   uns  konkrete  Belehrung  giebt. 

Da  wir  auch  hier,  wie  allenthalben,  nur  die  über  die 
Deckung  des  lokalen  und  regionalen  Bedarfs  hinausgehende 
Produktion  in  unserer  Behandlung  anzeigen,  00  müssen  wir 
uns  an  den  Handelskammerberichten  der  betreffenden  Kreise 
und  Länder  genügen  lassen,  nachdem  der  Inhalt  der  amt- 
lichen Viehzählung  von  1883  die  nötige  Grundlage  gegeben 
hat.   (Für  Bayern  im  47.  Heft  der  amÜichen  Publikationen.) 


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596  Wühelm  Götz, 

7)  Das  Vorwiegende  aber  wird  immerhin  die  primäre 
Frage  nach  dem  Bodenanbau  bleiben,  da  die  Nutzfciere 
von  dessen  Gedeihen  größtenteils  abhängen.  Die  Dar- 
stellung führt  nun  hier  1.  den  Ackerbau  für  Getreide 
und  für  Futterpflanzen  vor;  2.  für  die  teilweise  mit 
letzteren  identischen  Handelspflanzen  (also  ffir  Raps, 
Flachs,  Hanf,  Tabak,  Hopfen,  Wein).  Damit  verbindet 
sich  beim  örtlichen  Vorgehen  die  Betrachtung  der  Garten- 
kultur und  des  Obstbaus. 

Hierbei  erweisen  sich  die  statistischen  ,, Monatshefte*^ 
des  Deutschen  Reiches,  detaillierter  die  Sonderbehandlung 
des  gleichen  Gegenstandes  durch  die  Emtestatistiken  der 
Einzelländer  als  die  nächsten,  wenn  auch  nicht  höchst 
exakten  Quellen.  Besonders  die  „Statistischen  Mitteilun- 
gen über  das  Großherzogtum  Baden"  widmen  den  land- 
wirtschaftlichen Erscheinungen  etwas  vermehrte  Acht- 
samkeit. Ueber  die  Futter-  und  Handelspflanzen  findet 
man  für  Baden  die  erwünschten  landschaftlichen  Ab- 
grenzungen in  den  betreffenden  , Monatsheften'^  der  Sta- 
tistik des  Deutschen  Reiches,  weil  da  die  kleineren  Be- 
zirke des  Landes  vorgeführt  sind.  Rein  geographisch 
für  das  ganze  Reich  aber  belehren  die  36  Karten  des 
„Atlas  der  Bodenkultur"  (1883).  —  Ueber  den  Tabak 
finden  sich  mehrere  amtliche  Publikationen;  so  in  Band  42 
der  Statistik  des  Deutschen  Reiches:  „Tabakbau,  -fabri- 
kation  und  -handel"  (mit  8  Skizzen);  sodann  im  August 
der  „Monatshefte"  der  Statistik  des  Deutschen  Reiches 
von  1886:  „Tabakbau  und  -ernte".  Der  Weinbau  ist 
leider  für  Bayern  und  für  Elsaß-Lothringen  nicht  nach 
Bezirksämtern  wiedergegeben. 

Ohne  Hinweise  auf  die  Qualität  des  Produkts  im 
Unterschied  von  derjenigen  in  anderen  Ländern  wird 
eine  befriedigende  Kennzeichnung  hier  nicht  erreicht 
werden,  wie  es  überhaupt  geboten  erscheint,  das 
Besondere  der  Qualität  bei  den  meisten  einzelnen 
Artikeln  der  Natur-  und  der  Urproduktion  als 
charakterisierende  Eigentümlichkeiten  anzu- 
geben. Hierzu  bedarf  es  allerdings  der  Beachtung  jener 
Litteratur,    welche   teils   in  Büchern,   teils   in  periodisch 


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Wirtschaftsgeographie.  597 

oder  täglich  erscheinenden  Organen  eine  zunehmende  An- 
eignung der  War  e  n  k  u  n  d  e  gestattet.  Dies  geschieht  durch 
alle  Handelsberichte,  dies  durch  so  verdienstliche  Bände, 
wie  sie  durch  eine  Reihe  von  Jahren  der  deutsche  Handels- 
tag herstellen  ließ:  „Das  deutsche  Wirtschaftsjahr,  nach 
den  Jahresberichten  der  Handelskammern'*  u.  s.  w.  Auch 
Lehrbücher  der  Warenkunde  gehören  hierher.  Wenn  sie 
auch  für  die  Unterscheidung  innerdeutscher  Produktions- 
striche voneinander  wenig  bieten,  so  orientieren  sie  doch 
über  Gesichtspunkte,  die  zu  verfolgen  sind.  Jedenfalls 
kann  wirtschaftliche  Geographie  ohne  Warenkunde  nicht 
mit  zureichender  Sicherheit  in  dem  Abschnitte  von  der 
Produktion  vorgehen. 

S)  An  die  Naturproduktion  der  Landwirtschaft  wird 
sich  kaum  etwas  anderes  als  die  landwirtschaftliche 
Industrie  anschließen;  resp.  letztere  kann  schon  bei  der 
Behandlung  des  betreffenden  Acker-  oder  Flurprodukts 
ebenso  zur  Vorführung  gelangen,  als  bei  der  Viehzucht 
die  Molkerei. 

Für  Süddeutschland  wird  also  die  Spritbrennerei, 
Bierbrauerei,  Weinkellerei,  Mühlenindustrie  wichtig  genug 
sein,  mindestens  die  drei  ersteren. 

Die  betreffenden  statistischen  Angaben  kann  man 
infolge  der  vorhandenen  indirekten  Besteuerung  für  Sprit 
und  Bier  resp.  ihrer  Rohstoffe  im  ganzen  zuverlässig  nur 
bei  den  Zentralbehörden  der  Länder  sich  zu  verschaffen 
suchen.  Die  gedruckten  Nachweise  aber  geben  nicht 
genügende  örtUche  Orientierung. 

c)  Hiermit  haben  wir  zu  der  letzten  Abteilung  der 
Produktion,  zur  Industrie  (=der  „Eunstproduktion**), 
den  Uebergang  genommen. 

Hier  .handelt  es  sich  wieder  zunächst  um  die  richti- 
gen Grenzen,  wie  sie  der  Begriff  der  Erdoberflächenkunde 
andeutet.  Es  wird  also  vor  allem  von  einer  Industrie- 
statistik gleichsam  in  geographischem  Umschlage  abzusehen 
sein.  Vielmehr  gehört  hierher  nur,  was  auf  die  Frage  nach 
dem  Aussehen  der  Landschaft  antwortet  und  nach  dem 
Erfolge,  welchen  das  Anbieten  von  Produkten  von  selten 
der  Natur   in   Bezug    auf  Gruppen   von   Etablissements, 


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598  Wilfaelin  G0t2, 

auf  Verkehrswege  oder  augenfällige  Verkehrsmittel  nach 
sich  gezogen,  also  keine  industriellen  Einzelerscheinungen. 
Das  landschaftbeschreibende  Element  muß  hier  das 
Maßgebendste  sein.  Man  verzichtet  also  auf  Heranziehen 
aller  jener  Hinweise,  mit  denen  zwar  sehr  bekannte  und 
reichlich  rentierende  Fabriken  oder  Geschäfte  bezeichnet 
werden  könnten,  denen  aber  wegen  ihres  vereinzelten 
Vorkommens  oder  wegen  der  geringen  Lasten,  für  welche 
sie  Verkehrswege  in  Anspruch  nehmen,  keine  geogra- 
phische Bedeutung  zukommt.  So  würde  z.  B.  bei  einer 
wirtschaftlichen  Geographie  über  Nordostdeutschland  auch 
ein  Gesamtanwesen  von  der  Ausdehnung  der  Spindler- 
schen  chemischen  Waschanstalt  an  der  Spree  zu  über- 
gehen sein :  erst  bei  einer  Monographie  über  Brandenburg 
hätte  man  davon  Notiz  zu  nehmen.  Ebenso  würde  die 
Kunstindustrie  Münchens  nicht  wegen  der  Summe  ihrer 
Ausfuhrtransporte,  auch  noch  nicht  allein  wegen  ihres 
Einflusses  auf  das  Aussehen  der  Stadt,  sondern  erst 
wegen  ihrer  großen  Vermehrung  des  Personenverkehrs 
und  der  durch  sie  erhöhten  Gesamtbedeutung  des  Platzes 
für  das  wirtschaftliche  Leben  des  Landes  berührt  werden. 
Wenn  dagegen  zahlreiche  oder  große  Steinbrüche,  nahe 
aneinander  gelegen,  wenn  eine  größere  Anzahl  von  Ar- 
beiterhäusem ,  z.  B.  durch  ein  Eisenwerk  hervorgerufen, 
wenn  die  Reste  aufgelassener  Erz-  oder  Kohlengruben 
u.  dergl.  mehr  dem  Landschaftsbilde  einen  besonderen 
Zug  aufprägen:  dann  ist  es  geboten,  achtsam  davon  zu 
schreiben. 

Sodann  wird  auch  jene  industrielle  Produktion  mit- 
behandelt, welche  durch  ihre  Quantitäten  bezogenen  Roh- 
stoffes oder  versandter  Fabrikate  entweder  die  Herstellung 
von  Verkehrswegen  wesentlich  mitbewirkt  hat  oder  deren 
Benutzung  mit  beträchtlichem  Prozentsatz  der  darauf  be- 
förderten Lasten  beibehalten  heißt. 

Woher  ist  aber  hierüber  konkret  und  verlässig 
Orientierung  zu  gewinnen? 

Die  betreffende  Litteratur  steht  noch  aus.  Die  in 
einzelnen  Ländern  (Bayern  und  auch  Preußen)  vorhandene 
Gewerbestatistik  erweist  sich  als  für  unsere  Zwecke  nicht 


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Wirtschaftsgeographie.  599 

geeignet.  Nur  die  Handelskammerberichte  geben  einiges. 
Der  Hauptsache  nach  müssen  hier  verlässige  Daten  auf 
privatem  Wege  und  durch  ungedruckte  Schriftstücke  von 
den  betreffenden  Etablissements  direkt  erholt  werden. 

Gewiß  rühmenswert  sind  für  diese  Fragen  zwar  auch 
Werke  wie  dasjenige  Oust.  Neumanns,  »Das  Deutsche 
Reich*  (2  Bde.,  1874),  oder  auch  Ungewitters  „Geo- 
graphie* (1875).  Allein  es  ist  ja  unmöglich,  daß  man 
mit  diesen  Sammelwerken  ein  zutreffendes  Bild  der  Gegen- 
wart entwerfe,  da  eben  durch  die  Detailbehandlung, 
welche  ohne  die  Materialien  einer  verlässigen  Statistik 
erfolgte,  zu  viele  Anachronismen  hereingebracht  werden: 
zu  viele  Betriebe  finden  in  jenen  verdienstvollen  Werken 
noch  Erwähnung,  welche  schon  lange  nicht  mehr  oder 
nur  kümmerlich  erhalten  werden.  Imm^hin  wird  aller- 
dings bezüglich  ausgedehnterer  Landschaftsindustrieen, 
z.  B.  Weiden-  und  Strohflechterei,  oder  mineralischer 
Produktion,  z.  B.  Zement-  oder  Gipsmühlen,  aus  jenen 
Büchern  eine  durch  nichts  anderes  zur  Zeit  ersetzbare 
ortsstatistische  Grundlage  gewonnen. 

Außerdem  dienen  als  erwünschte  Hilfsmittel  Einzel- 
arbeiten, wie  die  „Industriegeographie  Bayerns*  von  Am- 
thor,  sodann  die  schon  erwähnten  vorzüglichen  Ober- 
amtsbeschreibungen Württembergs ,  herausgegeben  vom 
königlich  statistisch-topographischen  Bureau  ^) ,  und  na- 
mentlich auch  die  fast  für  alle  unsere  Gesichtspunkte 
belangreichen  Reisehandbücher;  unter  diesen  ftb*  den 
Südwesten  Deutschlands  noch  das  schon  angedeutete 
Mey ersehe  „Schwarzwald,  Odenwald,  Heidelberg*  u.  s.  w. 
und  Bädeker,  „Rheinlande*.  Man  wird  aber  auch  bei 
der  Skizzierung  der  industriellen  Produktion  eine  sachlich 

^)  Erschienen  sind  die  Bücher  über  die  Aemter  Backnang, 
Balingen,  Brackenheim,  Crailsheim,  Ellwangen,  Gmünd,  Heilbronn, 
Horb,  Eünzelsau,  Marbach,  Mergentheim,  Neckarsulm,  Neresheim, 
Obemdorf,  Oehringen,  Spaichingen,  Rottweil,  Tuttlingen.  Wenn 
auch  die  geschichtlichen  Abschnitte  sehr  umfangreich  sind,  so  ist 
doch  die  Landeskunde  Württembergs  durch  diese  Leistung  in  einer 
Weise  gefördert,  daß  großenteils  wenig  mehr  zu  thun  übrig  bleibt 
und  die  Hauptaufgabe  neben  der  Ergänzung  im  Sinne  unseres  Sy- 
stems die  Herstellung  eines  zusammengehörigen  Ganzen  wäre. 


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600  Wilhelm  Götz, 

begründete  Aufeinanderfolge  der  Einzelangaben  einhalten. 
Zuerst  verlangt  die  eventuell  weitaus  tiberragende  Orts- 
industrie Anführung,  sodann  vrird  man  die  noch  nicht 
erwähnten  landwirtschaftlichen  Industrieen  (z.  B.  Bier- 
brauereien, Mahl-  oder  Tabakprodukte),  weiter  Holzwaren-, 
Metallwaren-  ^),  Textilindustrie  samt  Hilfs-  und  Anschluß- 
industrieen,  wie  Färberei,  Bleicherei,  Papierfabrikation, 
hierauf  noch  besondere  massenhafter  vertretene  Indu- 
strieen, wie  die  Bleistiftfabrikation  in  und  bei  Nürnberg, 
die  Kunstgewerbe  Münchens,  den  Buchdruck  und  Buch- 
handel Stuti^arts  u.  dergl.  verzeichnen.  Mannigfach  wird 
der  Hinweis  auf  die  Provenienz  der  Rohstoffe  vorbereitend 
dem  nächsten  Gesichtspunkt  dienen. 

7.  An  die  Beschreibung  der  geographisch  charakte- 
risierenden Industrie  schlieM  sich  nämlich  in  gleichem 
Sinne  die  der  sichtbaren  Einflüsse  des  Handels  an. 

Daß  dieser  wesentlich  mit  hierher  gehört,  folgt  schon 
daraus,  daß  er  es  ist,  welcher  jede  einigermaßen  dauernde 
massenhafte  Produktion,  von  der  der  Steinbrüche  an  bis 
zum  Kunstgewerbe,  erst  eigentlich  hervorruft,  also  die 
zahlreichsten  künstlichen  Veränderungen  im  Aussehen  der 
Erdoberfläche  bewirkt.  Solche  werden  sodann  auch  durch 
alle  Verkehrswege  hervorgerufeu ;  denn  welch  eine  mar- 
kante Eigenart  gewinnt  z.  B.  schon  durch  eine  gut  an- 
gelegte Chaussee  das  Aussehen  eines  Bergabhangs  und 
-Überganges!  Beiderlei  Wirkungen  aber  werden  am  deut- 
lichsten in  und  an  den  großen  Sammelstätten  der  mensch- 
lichen Besiedelung,  an  den  Verkehrshauptorten  anschaulich. 

a)  Daher  wird  der  kommerzielle  Gesichtspunkt  un- 
serer Betrachtung  zuerst  die  Skizzierung  der  Naturbe- 
dingungen der  großen  oder  wichtigen  Städte  bevrirken. 
Als  regelmäßig  verwendbare  Momente  erweisen  sich  hier: 

1.  die  Lage   an   einem   so   oder   so  nutzbaren  Gewässer; 

2.  die  Bodengestalt  der  Umgebung  und  die  zum  Orte 
oder  in  dessen  Nähe  kommenden  Naturfurchen;  3.  die 
Bodennatur  einschließlich   etwa  vorhandener  mineralisch- 


')  Sie  wird  hier  meist  nur,   soweit  sie  ihren  Sitz  in  oder 
nächst  Städten  hat,  zur  Darstellung  kommen. 


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Wirtschaftsgeographie.  601 

metallischer  Produkte  und  der  Besiedelung  der  Umgebung; 
4.  die  Lage  in  Bezug  auf  Transitlinien  des  Verkehrs,  die 
sich  am  Orte  schneiden;  eventuell  5.  die  ethnographische 
Lage,  z.  B.  an  Nationalitätsgrenzen.  Als  allgemein  in- 
struktiv mögen  hierbei  genannt  werden  kleinere  Schriften, 
wie  Eohl,  „Die  geographische  Lage  der  Hauptstädte 
Europas*  (1874);  Röscher  desgl.;  Karrer,  „Der  Boden 
der  Hauptstädte  Europas**  (1883).  Doch  erscheinen  solche 
Behelfe  entbehrlich,  wenn  man  ungefähr  mit  den  ange- 
gebenen Gesichtspunkten  heuristisch  vorgeht. 

In  Süddeutschland  würden  als  schulgerechteste  Bei- 
spiele Regensburg  und  Mannheim  sich  bieten ;  am  schwie- 
rigsten ist  Würzburg  und  München  zu  behandeln:  hier 
kommen  wesentlich  auch  die  künstlichen,  d.  h.  von  dem 
menschlichen  Belieben  geschaffenen  Bedingungen  obrig- 
keitlichen Eingreifens  hinzu,  namentlich  für  München. 
Strasburg  gewann  wesentlich  auch  von  unserem  5.  Punkt, 
was  z.  B.  im  0*.  von  Wien  gilt. 

b)  Daß  aber  die  Städte  Ausgangs-  und  Endpunkte 
wichtigerer  Verkehrswege  sind,  führt  wesentlich  zur 
Uebersicht  über  die  bemerkbarsten  Eigentümlichkeiten 
der  letzteren  und  ihrer  Benützung,  somit  auch  der  Ver- 
kehrs mittel.  Demgemäß  wird  man  auf  das  Längsprofil 
der  Hauptwege  (Eisenbahnen,  Wasserwege,  im  Gebirge 
auch  der  Fahrstraßen)  achten,  also  auf  ihre  Gefällsver- 
hältnisse, Scheitelstrecken,  Grundlage;  desgleichen  kommt 
die  bauliche  Beschaffenheit  in  Betracht,  also  z.  B.  Doppel- 
gleis, Tiefe  der  Fahrlinie  bei  Wasserstraßen,  Schleusen- 
breite bei  Kanälen.  Ebenso  die  Größe  der  Fahrzeuge 
oder  Züge  (bei  detaillierterer  Behandlung  auch  die  Wägen 
der  Sekundärbahnen),  die  Methode  der  Schiffahrt  (Flöße 
und  ihre  Größe,  Leinpfadbenutzung,  Tauerei).  Jeden- 
falls bedarf  sodann  auch  die  Leistungsfähigkeit  im  Wege- 
zurücklegen  in  Bezug  auf  Zeitverbrauch  von  einem  Haupt- 
platze zum  anderen  einiger  orientierender  Angaben.  Solche 
charakterisieren  nämlich  zum  Teil  die  Stellung  der  Städte 
zum  Verkehrsganzen  des  Reiches  oder  Mitteleuropas;  des- 
gleichen die  Verwendbarkeit  der  an  dem  betreffenden 
Wege  gelegenen  Produkte  und  damit  die  Ausdehnung  ihres 


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002  Wilhelm  Götz, 

Verschleißes,  was  auch  vielfach  auf  das  landschaftliche  oder 
sonstige  Aussehen  der  betreffenden  Landstrecke  Einfluß  hat. 

Bei  dieser  Betrachtungsweise  geben  zunächst  die 
Handelskammerberichte  für  die  Warenbewegung  viele  An- 
haltspunkte, während  auch  die  Statistik  hier  mehr  Er- 
hebungen gepflogen  hat,  als  bei  der  Produktion.  Die 
Statistik  des  Deutschen  Reiches  orientiert  vor  allem  über 
den  Wasserstraßenverkehr.  Die  Eisenbahntransporte  da- 
gegen können  geqgraphisch  nach  einzelnen  Schienenwegen 
aus  den  Landesmitteilungen  nur  naoii  langwierigen  Ad- 
ditionen erkannt  werden:  man  wird  z.  B.  für  einzelne 
österreichische  Linien  viel  leichter  zur  Gewißheit  gelangen, 
als  über  solche  von  süddeutschen  Staaten.  Dagegen  wird 
die  Bedeutung  wichtiger  Transitlinien  noch  hinreicliend 
durch  Feststellung  ihrer  Zufahrtstrecken,  ihrer  versorgen- 
den Anfangs-  und  Hauptzwischenstationen  und  ihrer  näch- 
sten und  Endziele  gekennzeichnet. 

Dieses  Moment  bereitet  den  logischen  Uebergang 
zur  Betrachtung  anderer,  d.  h.  angrenzender  deutscher  Ge- 
biete.    Hier  schließen  sich  nun  am  natürlichsten 


n.  die  Rheinlande 

an,   d.  h.  die  Gebiete  rechts  und  links  des  Rheines  von 
Mainz  abwärts. 

1.  Man  wird  dabei  (vergl.  S.  580  Z.  4  v.  o.)  auch 
das  nördliche  Westfalen  nicht  abscheiden.  Die  W.-  6r en  z e 
ergiebt  sich  mit  der  Betrachtung  der  Eifel  und  Hochvenn. 
Im  übrigen  ist  die  Grenze  an  der  östlichen  Wasserscheide 
des  Rheingebietes  gegeben. 

2.  Die  Skizzierung  der  Bodengestalt  hat  trotz  des 
Allgemeincharakters  der  Plateausbildung  und  des  Tief- 
landes doch  eine  große  Mannigfaltigkeit  zu  verarbeiten, 
insofern  die  einzelnen  Teile  des  rheinischen  Schiefer- 
gebirges durch  die  Art  der  auf  dem  breiten  Sockel  auf- 
sitzenden Erhebungen  deutlich  voneinander  unterschieden 
werden,  abgesehen  etwa  von  d^i  einander  nahe  verwand- 
ten Profilen  des  Westerwald  und  des  Taunus. 


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WiFtschaffcsgeograpbie.  603 

Die  Reisehandbücher  von  Meyer,  „Rheinland  von 
Düsseldorf  bis  Heidelberg*,  Woerl,  „Die  Rheinlande  und 
die  anstoßenden  Gebiete*  u.  s.  w.,  Baedeker,  „Das 
Rheinland  von  der  Schweizer  bis  zur  holländischen  Grenze*, 
Steinbach,  „Mittelrheinland*,  geben  hier  den  S.  580  an- 
geführten Büchern  über  Gesamtdeutschland  mannigfache 
Ergänzung;  doch  fehlt  noch  eine  nähere  Einzelbeschreir 
bung  des  in  Rede  stehenden  Berglandes. 

3.  Die  geognostischen  Ursachen  für  das  Relief 
und  für  die  wichtigsten  Erscheinungen  der  Ur-  und  Natur- 
produktion sind  genügend  skizziert,  namentlich  was  das 
Bergland  betrifft.  Es  geschah  dies  wohl  am  meisten 
durch  V.  Dechen.  Wie  seine  in  wiederholter  Auflage 
erschienene  geognostische  Karte  von  Rheinland- Westfalen 
(1:80000)  das  Bild  des  Landes  vorführt  (1879),  so  sind 
namentlich  „Erläuterungen*  zu  denjem'gen  Sektionen  der 
„Geologischen  Karte  von  Preußen  und  den  thüringischen 
Staaten*,  welche  hierher  gehören  (allerdings  erst  sechs), 
durch  ihren  Abschnitt  „Mineralgänge  und  andere  nutz- 
bare Lagerstätten*  instruktiv.  Die  „Verhandlungen  des 
naturhistorischen  Vereins  für  Rheinland- Westfalen*  ent- 
halten mannigfache  hier  verwendbare  Aufsätze  v.  Dechens. 
Von  ihm  wurde  auch  hergestellt:  „Geologischer  Führer 
durch  das  Siebengebirge,  in  der  Eifel*;  Flözkarte  des 
Saarbrückener  Steinkohlendistrikts  1883  (1 :  50000).  Kar- 
tenwerke sind  noch:  Siedamgrotzky,  Aachener  Stein- 
kohlenbecken 1884  (1:20000);  Achepohl,  Niederrhein.- 
westfälisches  Steinkohlenbecken  1885  (1:52000). 

4.  a)  Die  Urproduktion  hängt  mit  geognostischen 
Thatsachen  in  diesem  Gebiete  deshalb  aufs  engste  zu- 
sammen, weil  ja  die  mineralisch-metallische  Produktion 
hier  in  überragender  Weise  die  Bedeutung  des  Landes 
bestimmt.  Jedenfalls  wird  an  keiner  späteren  Stelle  dieser 
Gesichtspunkt  zur  Behandlung  kommen.  Man  wird  natür- 
lich nur  landschaftsweise  vorgehen  und  etwa  im  S.  mit 
dem  Saarkohlenflöz  beginnen.  Zugleich  kommen  die 
Eisenerze  der  Moselanlande  in  Betracht.  Hier  mag  außer 
den  S.  592  angeführten  Werken,  besonders  v.  Dechens, 
u.   a,    die    Flözkarte    des   Saarbrückener  Kohlendistrikts 


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604  Wilhelm  G6tz, 

von  M.  Klever  diensam  sein,  oder  Abhandlungen,  wie 
die  n  Geschichtliche  Entwickelung  des  Steinkohlenbergbaus 
im  Saargebiet**  in  der  „Zeitschrift  für  das  Berg-,  Hütten- 
und  Salinenwesen  im  preußischen  Staat**  von  1884.  — 
Von  da  aus  wird  man  zu  Eifel  und  Hochvenn  oder  zum 
Hunsrück  übergehen.  Für  erstere  und  ihre  gesamte 
physische  Beschaffenheit  im  Hinblick  auf  die  Produktion 
brachte  die  ^Kölnische  Zeitung**  im  Februar  und  März 
1883  eine  reichhaltige  Monographie.  Die  eruptiven  Ge- 
steinspartieen  werden  durch  die  geognostischen  Karten 
und  Erläuterungen  ohnedies  hinsichtlich  ihrer  nutzbaren 
oder  doch  mineralogischen  Zusammensetzung  genügend 
vergegenwärtigt.  Wie  weit  aber  hierfür  die  praktische 
Ausbeutung  von  G.  Neumanns  „Deutschem  Reiche**  noch 
zutreffe,  würde  nur  durch  eine  offizielle  Produktions- 
statistik verlässig  zu  beantworten  sein,  da  z.  B.  die  No- 
tizen im  „Glückauf**  oder  in  dem  bis  1886  erschienenen 
„Berggeist**  hier  nicht  zureichen.  Die  betreffenden  Er- 
hebungen haben  ja  freilich  an  den  geschäftlichen  Rück- 
sichten der  Produzenten  starke  Hemmnisse;  aber  diese 
reichen  doch  nicht  aus,  um  den  Mangel  aller  derartiger 
Arbeiten  ausreichend  zu  rechtfertigen. 

Für  die  meiste  Montanthätigkeit  der  Rheinprovinz 
hat  man  aber  immerhin  an  H.Wagners  „Beschreibung  des 
Bergreviers  Aachen"  (1881),  ebenso  als  für  Wetzlar  und 
für  Weilburg  (Nassau)  1878  und  1879  durch  das  Ober- 
bergamt Bonn  veranstaltet,  eine  befriedigende  Quelle. 

Für  Westfalen  resp.  das  Ruhrgebiet  hat  wiederum 
v.  Dechen  besonders  vorgearbeitet,  z.  B.  durch  seine 
Schrift:  „Schichten  des  Steinkohlengebirges  an  der  Ruhr* 
(1874);  dagegen  wird  bei  einer  Kontrolle  mittelst  neuerer 
Karten  die  Raubsche  Flözkarte  als  zu  wenig  verlässig 
erachtet,  so  detaillierte  Ausführung  sie  auch  besitzt. 
C.  F.  Zinckens  Werk  (S.  592)  ist  hier  zu  wenig  voll- 
ständig und  dient  mehr  zur  Instruktion  für  die  formale 
Behandlung  der  Kohlenreviere.  Percys  Metallui^e  ist 
auch  hier  wertvoll.  (Die  Zeitschrift  „Berggeist**  [31  Jahr- 
gänge, Köln]  war  vorwiegend  technologisch.) 

üeber  Zink-  und  Bleiabbau,  über  die  Schieferbrüche 


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Wirtschaftsgeographie.  605 

und  die  in  der  Eifel  wie  im  und  am  Westerwald  blühende 
Keramik  hat  man  aus  unserem  Jahrzehnt  meist  nur  stück- 
weise Berichte  in  den  Publikationen  der  Handelskammern, 
(lieber  die  Werke  von  Mechernich  allerdings  bieten  Ge- 
naueres L.  Schmitz  und  Zander,  ^Geschichte  des  Me- 
chernicher  Bleierzbaues*  1882.)  Die  »Berg-  und  Hütten- 
zeitung" entbehrt  erwünschter  Ortsangaben  und  ent- 
sprechender Gesamtstatistik.  Dies  gilt  auch  für  «Stahl 
und  Eisen**  von  Jüngst  (viel  mit  Oberschlesien  beschäftigt). 
Aehnlich  ist  es  mit  der  „Thonindustriezeitung'*. 

So  nahe  es  sachlich  läge,  hier  die  Eisenverarbeitung 
und  Metallwarenfabrikation  anzuschließen,  so  wird  dies 
doch  schwerlich  von  der  Rücksicht  auf  die  passendere 
Folge  der  Naturproduktion  zugelassen. 

Diese  wird  doch  immerhin  vor  den  Hinweisen  auf 
Krupp  zu  stehen  kommen,  zumal  außerdem  notwendig  auch 
die  Textilindustrie  an  die  der  Metallwaren  anzuschließen 
wäre.  Man  kann  aber  nicht  erst  nach  derselben  die  Wein- 
und  Tabakpflanzungen  vorbringen.  Dagegen  liegt  es  hier 
nahe,  infolge  der  großenteils  totalen  Abwechselung  der 
beherrschenden  Produktion  landschaftsweise  je  die  gesamte 
Ur-,  Natur-  und  gewerbliche  Produktion  zugleich  zu  er- 
ledigen, so  daß  für  diese  Gesichtspunkte  keine  Region 
wiederholt  zu  besichtigen  wäre. 

Bei  der  Urproduktion  kämen  wegen  der  Wichtigkeit 
für  Verkehr  und  Transporte  auch  die  Mineralbäder  in 
Betracht,  für  welche  schon  die  balneologische  Litteratur 
Material  genug  liefert.  Dazu  würden  für  den  Südosten 
z.  B.  die  „Jahrbücher  des  nassauischen  Vereins  für  Natur- 
kunde" dienlich  sein,  in  denen  1383  Koch  das  Thermal- 
quellgebiet von  Ems  behandelt. 

b)  Die  Bodenproduktion  zeigt  vor  allem  die  Weine 
am  Taunus  auf,  aber  auch  weiter  nordwärts.  Als  ein 
Buch  mit  wertvollen,  namentlich  zur  Vergleichung  ge- 
eigneten diesbezüglichen  Notizen  erweist  sich  Hamm, 
„Der  Wein,  sein  Werden  und  Wesen".  Beachtenswert 
erscheint  auch  v.  Ompteda,  „Rheinische  Gärten  von  der 
Mosel  bis  zum  Bodensee",  freilich  mehr  zu  Süddeutsch- 
land gehörig.     Die  Getreide-,   Flachs-   und  Tabakpflan- 


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(J06  Wühelm  Götz, 

•  # 

zuDgen  des  Tieflandes  und  der  Uferregion  des  Rheines 
können  nur  minder  verlässig  aus  der  Emtestatistik  des 
Deutschen  Reiches  erkannt  werden,  da  diese  erst  neuerdings 
eingehender  spezialisiert,  so  daß  sie  die  kleineren  Ver- 
waltungsbezirke unterscheidet.  Bereits  bei  diesem  weniger 
für  die  landwirtschaftliche  Produktion  wichtigen  Gebiete 
ist  auf  das  große  und  wertvolle  Werk  Meitzens  hinzu- 
weisen: „Der  Boden  und  die  landwirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse des  preußischen  Staates*  (1869).  Besonders  der 
1.  Band  ist  eine  reiche  Grundlage  und  großenteils  ein 
Muster  für  unsere  landeskundliche  Aufgabe.  Wird  darin 
auch  z.  B.  die  Bodendecke  etwas  zu  einseitig  resp.  nach 
zu  wenig  Gesichtspunkten  bezeichnet,  so  liegt  hier  doch, 
die  erste  bedeutende  Arbeit  vor,  welche  in  dieser  Hinsicht 
geographisch  zusammenhängende  Ganze  darstellt^). 

5.  Da  die  klimatischen  Faktoren  nur  für  die 
minder  entscheidenden  Striche  mit  vorwiegender  Natur- 
produktion belangreich  sind,  werden  sie  füglich  hier  vor- 
gebracht oder  besser  nur  in  die  land-  und  forstwirtschaft- 
liche Darlegung  eingestreut.  Die  Hauptquelle  bieten  für 
alle  preußischen  Lande,  somit  für  ganz  Norddeutschland^ 
die  betreffenden  Abschnitte  der  „Preußischen  Statistik', 
herausgegeben  in  zwanglosen  Heften,  welche  die  Ergeb- 
nisse der  Beobachtungen  des  könighch  meteorologischen 
Instituts  eingehend  verzeichnen,  namentlich  die  für  den 
Weinbau  maßgebenden  Temperaturverhältnisse.  Für  die 
Zeit  vor  1880  dienen  zwei  Publikationen  von  Dove:  ,Kli- 
matologie  von  Norddeutschland  nach  den  Beobachtungen 
von  1848 — 70"  und  , Ergebnisse  der  meteorologischen  Be- 
obachtungen 1870 — 79",  desgleichen  die  Arbeiten  über 
Spätfröste,  vergl.  S.  589.  Für  die  Produkte  des  Tieflandes 
kommen  die  Niederschläge  besonders  in  Betracht,  für 
welche  auf  die  S.  589  angegebenen  Arbeiten  zu  verweisen 
sein  wird.  Daneben  hat  Hellmann  in  der  „Zeitschrift 
des  königlich  preußischen  statistischen  Bureaus*  1884  noch 

^)  Um  des  Zasammenhangs  mit  diesem  rühmlichen  Werke 
willen  nennen  wir  hier  auch  den  starken  Band  der  sorgfältigen 
und  fQr  uns  vielfach  benutzbaren  Arbeit  J.  A.  Mückes,  , Deutsch- 
lands Getreideertrag'  (1888). 


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Wirtschaftsgeographie.  ()07 

die  n  größten  Niederschlagsmengen  Deutschlands  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  Norddeutschlands  **  behandelt. 
Von  der  gleichzeitigen  Beschreibung  der  hier  maß- 
gebenden klimatischen  Elemente  und  der  Bodenproduktion 
ist  hierauf  notwendig  zur  Industrie  überzugehen.  Am 
nächsten  steht  aber'  hier  die  Textilindustrie,  von  der  aus 
man  dann  zu  den  anderen  Zweigen  des  rheinischen  Fabrik- 
lebens weitergeführt  wird.  Eine  verlässliche  Darlegung  der 
einzelnen  kleineren  Bezirke  und  der  Städte  im  Hinblick 
auf  ihre  vergleichsweise  Bedeutung  oder  Rangstufe  ist  aus 
den  schon  erwähnten  Gründen  erschwert.  Man  ist  immer 
wieder  auf  die  Statistik  der  Betriebe  angewiesen,  wie  sie 
besonders  in  den  üandelskammerberichten  vorkommen 
und  auf  die  öfter  zu  erwähnende  Gesamtdarstellung  ,,Das 
deutsche  Wirtschaftsjahr **,  bis  1885.  Man  wird  außerdem 
etwa  noch  eine  ortsstatistische  Zusammenstellung  sich 
aus  Qeschäftsadreßbüchem  fertigen  können,  was  aber 
doch  zu  umständlich  ist.  Weiterhin  besteht  nur  noch 
das  Hilfsmittel  privater  Auskünfte.  Bei  dem  raschen 
Wechsel  der  Dinge  aber,  welche  in  dieser  Hinsicht  jedes 
Lustrum  bringt,  erscheint  die  Geographie  und  Landes- 
kunde überhaupt  nicht  dazu  berufen,  sonderlich  ins  De- 
tail hier  einzugehen,  und  ist  so  von  diesen  Lücken  der 
wirtschaftsstatistischen  Litteratur  nur  oberflächlich  be- 
nachteiligt. 

6.  Jedenfalls  aber  führt  dies  lebhaft  zur  Beschäfti- 
gung mit  den  frequentesten  Städten,  und  diese  zu  den 
Verkehrszentren  und  -wegen.  Von  ersteren  kommt 
wohl  nur  Köln  näher  in  Betracht.  Die  Reisehandbücher 
und  Woerls  „Köln"  geben  Materialien.  Ueber  die  geo- 
graphischen Vorteile  seiner  Lage  vergl.  auch  W.  Götz, 
»Die  Verkehrswege  im  Dienste  des  Welthandels",  S.  537. 
Außerdem  kann  es  sich  noch  um  Frankfurt  handeln. 

7.  Bei  den  Verkehrswegen  und  -mittein  wird 
natürlich  vor  allem  der  Rhein  und  seine  schiffbaren 
Nebenflüsse  nach  der  Reichsstatistik  und  mit  Angaben 
über  die  Schiffahrtsstationen  gekennzeichnet,  während 
auch  der  spezielle  ,»Jahre8bericht  der  Rheinschiffahlrts- 
kommission"  als  Hauptbeleg  zu  verwenden  ist.    Die  Frage 


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608  Wilhelm  Götz, 

des  Dortmund-Emskanals  kann  nicht  übergangen  werden: 
die  Litteratur  hierüber  durchzugehen,  wird  durch  mehrere 
Jahrgänge  (1883 — 85)  des  „SchifiF,  Organ  für  Binnen- 
schiffahrt*, nahezu  erspart.  —  Die  Eisenbahnen  werden 
keine  sonderliche  Erörterung  veranlassen,  da  ihre  Her- 
stellung in  diesem  Lande  weder  sehr  bemerkenswerte 
Eigentümlichkeiten  zeigt,  noch  zu  Fortschritten  für  das 
Eisenbahnwesen  eigens  geführt  hat.  Die  Transitlinien 
von  0.  nach  SW.  dürften  immerhin  das  Beachtenswerteste 
sein,  sowie  die  von  Frankfurt  nach  W  ziehende  Route. 
Frankfurt  aber  ist,  zumal  als  stattlicher  Binnenhafen,  ein 
Sammelpunkt  für  den  Verkehr  der  Rheinlande  nach  dem 
Innern  des  Reiches,  und  wird  vielleicht  besser  hier,  doch 
wohl  auch  bei  Mitteldeutschland  seine  besondere 
Würdigung  finden  können. 


IIL  Mitteldeutschland. 

Das  Innere,  d.  i.  Mitteldeutschland,  macht  infolge 
der  weit  stärkeren  oder  vielfältigeren  Verschiedenheit 
zwischen  seinen  wirtschaftspolitischen  und  geographisch 
begrenzten  Gebieten,  und  infolge  des  allzu  gewundenen 
und  gezackten  Verlaufes  der  Grenze  zwischen  Bergland 
und  Tiefebene  die  Fixierung  seiner  Ausdehnung  schwierig. 
Aber  es  wird  hier  unumgänglich  sein,  auch  provinziell 
zusammengehörige  Teile  zu  trennen,  die  einen  bei  der 
Darstellung  der  Hauptteile  des  Tieflandes  zu  betrachten, 
die  anderen  als  zu  Mitteldeutschland  gehörig  zu  behandeln. 

1.  Die  Grenze  im  W.  ist  bereits  festgestellt;  sie 
zieht  von  Frankfurt  nordwärts  und  weist  die  Wetterau 
dem  0.  zu.  Im  N.  nun  lagern  SoUing  und  Harz  nicht 
isoliert  in  der  Tiefebene,  sondern  erscheinen  der  Boden- 
plastik nach  als  die  stärksten  nördlichen  Erhebungen  des 
zusammenhängenden  mitteldeutschen  Berglandes.  Daher 
werden  beide  Gebirge  wohl  noch  mit  in  unser  Teilganzes 
einzubeziehen  sein.  Weiter  aber  wird  die  Provinz  Sachsen 
nur  mit  den  Regierungsbezirken  Erfurt  und  Merseburg 
zu   Mitteldeutschland    zu   rechnen    sein,    das    Königreich 


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Wirtschaftsgeographie.  609 

Sachsen  aber  ohne  Rücksicht  auf  die  Tieflandsgrenze. 
Diese  letztere  Beachtung  der  politischen  Grenze  gilt  auch 
im  0.,  wo  Schlesien  doch  als  eine  gesonderte  Individuali- 
tät behandelt  zu  werden  eine  Reihe  von  Ansprüchen  be- 
sitzt, also  hier  ausgeschlossen  bleibt. 

2.  Die  Bodengestalt  dieses  fast  durchweg  in  leb- 
haften Profilen  verlaufenden  Gesamtgebietes  läßt  sich  nur 
schwer  nach  vorhandener  Litteratur  darstellen,  wenn  alle 
Teile  gleichmäßig  bedacht  werden  sollen.  Auch  hier  giebt 
H.  Wagner-Guthe  und  Penck  (D.  Reich)  ervrünschte 
Grundlinien.  Namentlich  aber  wird  die  Kartographie 
vielfach  den  einzigen  sicheren  Boden  gewähren.  Nur 
für  einzelne  eigentliche  Gebirgsgegenden  kennen  wir 
spezielle  Behandlung,  besonders  durch  Reisehandbücher. 
Hierher  gehören  Meyers  „Thüringen"  und  „Harz* 
(Vereinsbuch  des  Harzklubs);  dazu  eine  Höhenschichten- 
karte des  Harz  (1  :  100000)  von  der  königlich  preußischen 
geologischen  Landesanstalt  (1882),  und  Bomsdorff, 
Spezialkarte  vom  Harz  (1885).  Der  Thüringerwald  hat 
überdies  in  Petermanns  Mitteilungen  durch  Regel  (1878) 
eine  besondere  Wiedergabe  mit  Wort  und  Bild  (topo- 
graphische Karte)  gefunden.  Einzelne  Ergänzungen  könn- 
ten den  geognostischen  Schilderungen  entnommen  werden. 
Eine  Höhenschichtenkarte  dieses  Gebirges  entwarf  1870 
Fils. 

3.  üeber  die  geognostischen  Bedingungen  des  Bodens 
und  der  Produktion  geben  die  Erläuterungen  zu  einzelnen 
Sektionen  der  schon  erwähnten  Karte  von  Preußen  und 
den  thüringischen  Staaten  praktische  Auskunft.  Doch 
fehlen  hier  noch  die  meisten  Sektionen.  Namentlich  ist 
das  bergige  Gebiet  des  Regierungsbezirks  Cassel  wie 
bodenplastisch,  so  geognostisch  minder  eingehend  in  der 
Litteratur  behandelt.  Auch  die  „Jahresberichte  des  Ver- 
eins für  Naturkunde  zu  Cassel  **  haben  sich  mit  verwand- 
ten Fragen  sehr  wenig  befaßt.  Hier  muß  man  sich  eben 
einstweilen  besonders  an  solche  Bücher  halten,  wie 
V.  Dechens  „Nutzbare  Mineralien*.  Für  andere  Gegen- 
den giebt  es  einige  erwünschte  Monographieen;  so  eine 
5,Geognostische  Darstellung   des  Steinkohlengebietes   von 

Anleitung  znr  dentsoben  Landes-  und  Volksforschung.  39 


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610  Wilhelm  Götz, 

Halle"  von  Laspeyres.  Weit  mehr  ist  natürlich  der 
Harz,  das  alte  üebungsfeld  des  Bergbaus,  bedacht.  Hier- 
her gehört:  Lossen,  Geognostische  Uebersichtskarte  des 
Harz  (1881);  Prediger,  Große  geologische  Karte  vom 
Harz;  desgleichen  Aufsätze,  wie  „Die  Phosphoritlager  von 
Harzburg"  („Zeitschr.  der  d.  geolog.  Gesellschaft**  1884) 
oder  Groddeck,  „Abriß  der  Geognosie  des  Harzes*  (1883); 
Hautzinger,  „Silber-  und  Kupfersegen  des  Harzes*. 

Noch  mehr  ist  Sachsen  (Königreich)  bearbeitet.  Eg 
geschah  dies  besonders  durch  die  Verdienste  Naumanns; 
eingehend  ward  durch  C  r  e  d  n  e  r  und  G  e  i  n  i  t  z  kartographisch 
und  in  Text  reichliches  Material  zur  Verfügung  gestellt. 
Unter  Credners  Leitung  erscheinen  vor  allem  die  vor- 
trefflichen Karten  der  sächsischen  Landesaufiiahme,  das 
glänzendste  Zeugnis  ftir  die  aufnehmenden  Kräfte  und 
für  die  kartographische  Technik  unserer  Tage,  nament- 
lich wenn  man  den  bodenkundlichen  Wert  mit  in  Be- 
tracht zieht.  Credner  hat  durch  seine  „Acht  Abhand- 
lungen über  die  Geologie  Sachsens''  (1885)  einiges  den 
„Erläuterungen"  jener  Karten  hinzugefügt.  „Der  Boden 
der  Stadt  Leipzig"  (1883)  ist  eine  wichtige  Spezial- 
arbeit  dieses  Verfassers.  Geinitz  hat  in  seiner  für  die 
gesamten  Mittelgebirge  Deutschlands  wichtigen  Schrift: 
„Das  Quadersandsteingebirge  oder  die  Kreideformation  in 
Deutschland"  besonders  auf  Sachsen  Rücksicht  genommen. 
„Das  Erzgebirge  und  seine  Bedeutung"  behandelt  Metz- 
ner 1881.  Ueber  den  Norden  Sachsens  informieren  drei 
Aufsätze  der  „Zeitschrift  der  deutschen  geologischen  Ge- 
sellschaft" von  1879  und  1881. 

4.  Bei  der  ausgezeichneten  Grundlage  für  die  Er- 
kenntnis der  Bodennatur,  welche  mit  den  erwähnten 
"Karten  gegeben  wird,  liegt  es  jedenfalls  hier  am  näch- 
sten, diesem  Gesichtspunkt  im  Anschluß  an  die  betreffen- 
den geognostischen  Eigentümlichkeiten  gerecht  zu  werden. 
Außer  der  geologischen  Spezialkarte  belehren  wohl  nur 
einzelne  Aufsätze,  z.  B.  „Beobachtungen  im  sächsischen 
Diluvium  über  lehmigen  Geschiebesand"  („Zeitschrift  der 
deutschen  geologischen  Gesellschaft"  1881)  und  „Glacial- 
erscheinungen   in  Sachsen   nebst  Bemerkungen  über  den 


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Wirtschaftegeographie.  611 

Geschiebemergel"  (ebendas.  1882)  von  Creduer.  Ebert 
behandelt  die  Terfciärablagerungen  in  der  Gegend  von 
Cassel  (ebendas.  1881). 

5.  Die  klimatischen  Verhältnisse  sodann  haben  im 
Königreich  Sachsen  durch  eine  größere  Zahl  älterer  Sta- 
tionen eine  ausreichende  Beobachtung  gefunden,  deren 
Alter  z.  B.  aus  H.  Töpfers  „Untersuchungen  über  die 
Regenverhältnisse  Deutschlands**  (1884)  ersichtlich  ist;  sie 
stammen  meist  von  1862  und  1863.  (Töpfer  teilt  Sach- 
sen in  Bergland,  Eibtiefregion,  Erzgebirge  und  Lausitz.) 
Auch  in  Do V es  „Klimatologie  von  Norddeutschland*  sind 
sie  zum  Teil  verwendet.  Im  besonderen  aber  wurden  in 
Sachsen  seit  1878  durch  eine  eigene  Abteilung  des  me- 
teorologischen Institutes  Wetterprognosen  für  die  Zwecke 
der  Landwirtschaft  angestellt,  welche  größtenteils  von 
K.  Chr.  Bruhns  veröffentlicht  wurden  („Bericht  über 
. . .  Wetterprognosen"  u.  s.  w.).  Die  meteorologischen  Be- 
obachtungen der  Stationen  werden  alljährlich  nebst  einer 
beträchtlichen  Anzahl  von  lokalen  und  speziellen  For- 
schungsergebnissen durch  das  statistische  Bureau  des 
königlichen  Ministeriums  des  Innern  seit  1866  publiziert. 
Die  Feststellungen  über  die  Niederschlagsquanta  und 
-Zeiten  erfolgen  seit  1882  durch  vermehrte  Beobachtungen 
(vergl.  „Resultate  aus  den  meteorologischen  Beobachtun- 
gen** u.  s.  w.  Bd.  XXIII). 

Hierher  gehören  noch  ergänzende  Notizen  aus  den 
drei  Abhandlungen  Hellmanns  in  der  „Meteorologischen 
Zeitschrift",  Jahrgang  1886  und  1887  (in  letzterem  ist 
namentlich  auch  die  Regenarmut  im  Elbthale  behandelt). 
Desgleichen  A.  v.  Danckelmanns  „Niederschlagsbeob- 
achtungen in  Leipzig  und  einigen  sächsischen  Stationen 
1864—81". 

Für  Thüringen  und  Sachsen  zugleich  nennen  vdr  Ass- 
manns „Einfluß  der  Gebirge  auf  das  Klima  von  Mittel- 
deutschland" (im  1.  Bd.  der  „Forschungen  zur  deutschen 
Landes-  und  Volkskunde"  1886),  sodann  sämtliche  Publi- 
kationen für  das  gesamte  Preußen,  namentlich  die  der  „Zeit- 
schrift des  königlich  preußischen  statistischen  Bureaus",  um 
durch  die  Angaben  über  die  südliche  Provinz  Sachsen  auch 


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612  Wilhelm  Götz, 

über  Nordthüringen  informiert  zu  werden.  P.  Schreibers 
^Bedeutung  der  Windrosen*  in  Peter m.  Ergänzungsheften 
1881  bezieht  sich  hauptsächlich  auf  das  Königreich  Sachsen. 

Für  den  W,,  das  einst  kurhessische  Gebiet,  sind  zu 
Cassel  und  Marburg  langjährige  meteorologische  Beob- 
achtungen angestellt  worden.  Aui&er  Doves  Publikationen 
für  Norddeutschland  giebt  Möhl,  „Die  Witterungsver- 
hältnisse zu  Cassel  1864  —  80'*  u.  s.  w.  (1881),  Materia- 
lien. Für  die  Wetterau  sind  mehrere  Jahrgänge  des  im 
übrigen  ziemlich  sterilen  Jahresberichts  der  naturwissen- 
schaftlichen öeseUschaft  für  die  Wetterau  zu  Hanau,  und 
für  Niederschläge  der  Jahresbericht  des  physikalischen 
Vereins  Frankfurt  von  1870  für  1836—70  zu  beachten. 

6.  a)  Handelt  es  sich  im  weiteren  um  die  Produk- 
tion, so  mag  ja  auch  in  diesem  Gebiete  die  Urproduk- 
tion, namentlich  bei  der  Darstellung  Sachsens,  sofort  mit 
den  geognostischen  Bedingungen  des  Landes  behandelt 
worden  sein.  Jedenfalls  wird  man  sich  für  das  preußische 
Gebiet  weniger  auf  die  „Preußische  Statistik",  als  auf  die 
des  Deutschen  Reiches  stützen,  z.  B.  auf  das  Februarheft 
1887  für  die  Montanverhältnisse.  —  Für  Oberhessen  lieferte 
M.  Darmstadt  eine  „Beschreibung  der  nutzbaren  Gesteine 
des  Großherzogtums*  (1888).  Abgesehen  von  solchen  lit- 
terarischen Nachweisen  wird  z.  B.  für  Thüringen  die 
mineralisch- metallische  Produktion  wesentlich  aus  v.  De- 
chen  und  Neu  mann  (S.  592  u.  599)  ersichtlich  sein. 
Ueber  die  Mineralausbeute,  besonders  der  Schiefer,  geben 
sowohl  die  Erläuterungen  der  geologischen  Spezialkarte 
Preußens,  als  besonders  auch  die  Handelskammerberichte 
und  „Das  deutsche  Wirtschaftsjahr*  zahlreiche  Auskünfte. 
Vom  Halleschen  Kohlenrevier  handelt  eine  besondere  der 
,  Abhandlungen  *  zur  geologischen  Spezialkarte  von  Preußen ; 
Bd.  I,  Heft  3:  Laspeyres'  „Geognostische  Darstellung 
des  Steinkohlengebirges  von  Halle*. 

Die  sächsischen  Kohlenschätze  aber  finden  zunächst 
schon  an  den  vorzüglichen  Profildarstellungen  der  ^  Geo- 
logischen Spezialkarte*  Angaben  der  einzelnen  Schichten- 
lagen, wie  sie  z.  B.  die  Tafel  des  Kohlenreviers  von  Oels- 
nitz  und  die  des  Kohlenfeldes  von  Zwickau  bietet.    Litte- 


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Wirtschaftsgeographie.  613 

ratur  bringen  dann  sowohl  die  Erläuterungen  hierzu,  als 
Schriften  wie  „Die  geognostische  Steinkohlenformation  in 
Sachsen**  von  Geinitz.  Für  die  ziemlich  geringen  Metall- 
förderungen ist  auch  hier  Percys  Werk  (S.  604)  wie  für 
den  Kohlenabbau  noch  sehr  wohl  verwendbar.  Auch 
öeinitz  (S.  610)  ist  noch  reichlich  instruierend,  nament- 
lich Bd.  3.  Die  Bände  des  „Jahrbuchs  für  das  Berg- 
und  Hüttenwesen  im  Königreich  Sachsen**  haben  für  unsere 
Zwecke  selten  Verwendbares,  da  sie  vorwiegend  Techno- 
logisches und  Berufsstatistisches  enthalten. 

b)  üeber  die  Naturproduktion  sodann  hat  man 
für  den  W.  zunächst  mannigfache  Unterweisung  an  den 
landwirtschaftlichen  Zeitschriften.  Aber  es  ist  ja  freilich 
zu  bedauern,  daß  Meitzens  ausgezeichnetes  Werk  „Der 
Boden  u.  s.  w.  des  preußischen  Staates**  sich  nur  auf  die 
vor  1866  zu  diesem  Staate  gehörigen  Gebiete  erstreckt. 
Es  wäre  eine  sehr  dankenswerte  Aufgabe,  eine  diesbe- 
zügliche Ergänzung  herzustellen.  Für  Thüringen  sodann 
ist  die  Reichsstatistik  der  Ernten  ungleich  nutzbarer,  als 
für  andere  Länder,  weil  ihre  Angaben  hier  stets  enge 
begrenzte  Gebiete  betreffen,  also  örtlich  näher  bestimmen. 
Dies  gilt  auch  für  die  Drostei  Göttingen,  dagegen  wenig 
für  die  Regierungsbezirke  der  Provinz  Sachsen.  Man 
wird  bei  genauerer  Behandlung  dieser  Fragen  sich  für 
die  Verwaltungsamtsbezirke  unterster  Instanz  Original- 
berichte bei  den  Provinzialregierungen  oder  im  statisti- 
schen Zentralamt  des  Staates  zu  verschaffen  suchen.  Denn 
allerdings  muß  man  als  Beleg  der  wirtschaftlichen  Eigenart 
des  Landes  oder  Gaues  das  approximative  Ergebnis  der 
Ernte  der  betreffenden  Anbauflächen  in  Betracht  ziehen. 

Genannter  Umstand  kommt  ähnlich  auch  für  das 
Königreich  Sachsen  in  Betracht,  dessen  Kreise  immerhin 
etwas  zu  groß  sind,  resp.  zu  verschiedene  Teile  haben,  als 
daß  man  mittelst  statistischer  Gesamtziffern  der  Kreisemten 
zu  Angaben  eigentlich  landeskundlichen  Charakters  ohne 
weitere  Behelfe  vorgehen  könnte.  Mehreres  aber  bringt 
Langsdorff,  „Die  Landwirtschaft  im  Königreich  Sachsen** . 

Die  besonderen  Erträgnisse  des  Gartenbaues  im  Ge- 
biet  der  Gera   und  Um   bei  Arnstadt  und  Erfurt  finden 


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614  Wilhelm  Götz, 

teils  in  den  Handelskammerberichien  letzterer  Stadt,  teils 
in  der  „Monatsschrift  des  Vereins  für  Gartenbau  im 
preußischen  Staate*  besondere  Würdigung. 

Die  forstliche  Produktion  hat  die  einzige  für  unsere 
Zwecke  vollentsprechende  Behandlung,  welche  über  irgend 
ein  größeres  Gebiet  vorhanden  wäre,  durch  A.  Wagner 
gefunden,  „Die  Waldungen  des  ehemaligen  Kurfürsten- 
tums Hessen*".  Diese  Musterarbeit  hat  namentlich  den 
ausnahmsweisen  Vorzug,  die  Waldbestände  überhaupt, 
nicht  nur  die  des  Staates  detailliert  und  vielseitig  in 
zwei  Bändchen  vorzuführen  (1886).  üeber  Sachsen  und 
einige  Kleinstaaten  bringt  das  reichhaltige  Büchlein  Lehr s, 
„Die  deutschen  Holzzölle  und  deren  Erhöhung**  (1883), 
die  Angaben  über  Erträgnisse  nach  Hektaren  und  über 
Verwendung.  Desgleichen  wird  die  örtliche  Verteilung 
der  Wälder  für  Sachsen  und  die  preußischen  Regierungs- 
bezirke und  zwölf  kleinere  Staaten  in  Donners  „Hand- 
buch der  Forstwissenschaft",  c.  XIV:  Porstpolitik  von 
Lehr,  mannigfach  vorgeführt.  Allein  in  beiden  Arbeiten 
sind  nur  die  Staatsforste  verwendet,  und  man  wird  dann 
mit  Hilfe  der  Kenntnis  der  Anbauflächen  in  den  „Monats- 
heften** der  Reichsstatistik  erst  auf  die  übrigen  Waldun- 
gen und  so  auf  die  Gesamtheit  der  Forstbestände  zu 
schließen  haben. 

Etwas  maßgebender  aber  für  die  wirtschaftliche  Be- 
deutung Mitteldeutschlands  ist 

c)  die  industrielle  Produktion.  Wie  in  Thüringen 
Schiefer  und  Holz  zu  der  Weltindustrie  der  Spielwaren 
südlich  des  Thüringerwaldes  geführt  und  nördlich  des- 
selben, so  bewirkte  auch  die  Eisenerzverarbeitung  im 
Schmalkaldener  Distrikt  eine  hohe  Exporttüchtigkeit.  Für 
dies,  für  die  Papier-,  Dachpappen-,  Zünd Warenfabriken 
u.  s.  w.,  für  die  eminente  Entwickelung  der  Textilwaren- 
industrie (z.  B.  mit  ihren  Spezialitäten  in  Apolda  oder 
denen  in  Greiz)  haben  wir  außer  den  schon  zu  den 
früheren  Gebieten  angeführten  Materialien  und  Mitteln 
keine  weiteren  zu  nennen  (vergl.  S.  599  u.  607). 

Dies  ist  im  ganzen  auch  hinsichtlich  Sachsens,  wie 
für    Cassel    und    Hanau    zu    sagen.      Nur    hat    Sachsen 


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WirtschaftBgeograpfaie.  (J 1  ^ 

reichlichere,  resp.  von  näher  aneinander  gelegenen  Städten 
abgegebene  Berichte;  es  kann  hier  auch  einigermaßen 
aus  dem  Grenzübergang  der  Waren  nach  und  von  Oester- 
reich  dies  und  jenes  geschlossen  werden.  Aber  es  wird 
immerhin  mühevoll  bleiben,  ein  Bild  ohne  zahlreiche 
Anachronismen,  die  der  Ortsansäi&ige  leicht  sehen  könnte, 
von  dem  gegenwärtigen  sichtbaren  Stand  des  industriellen 
Lebens  zu  entwerfen. 

7.  a)  Dagegen  liegt  es  mehr  in  der  Hand  des  Geo- 
graphen, von  der  Eigenart  der  Sammelplätze  des  Erwerbs 
und  Verkehrs  zutreffend  zu  schreiben.  Es  erscheint  dies 
um  so  mehr  erleichtert,  als  das  ganze  Land  von  Frankfurt 
bis  Görlitz  und  von  Eoburg  bis  Halle  und  Clausthal 
strenger  gefaßt  nur  eine  kommerziell  bedeutende  Stadt 
besitzt,  Leipzig.  Diesem  Platze  sind  geschichtliche  und 
geognostische  (S.  610)  Monographieen  gewidmet,  und  es 
ist  an  sich  unschwer,  aus  physischen  Gründen  und  aus 
historischen  (Messe,  Stapelort  u.  s.  w.)  seine  heutige  Blüte 
zu  erklären  und  deren  Dauer  zu  behaupten.  Dresden 
hat  allerdings  weniger  physische  Gründe  ^r  sich,  ninmit 
auch  durch  seine  Produktion  und  seinen  Handel  nur  eine 
mittelmäßige  Stellung  ein.  Von  Cassel,  Erfurt,  Halle  gilt 
dies  noch  mehr. 

b)  Von  den  Verkehrswegen  sodann  heißt  es  hier  ein- 
gehender Rechenschaft  geben,  insofern  deren  Bedeutung 
und  deren  Verschiedenheit  voneinander  dazu  auffordern. 
Der  Weg  von  der  Mittelelbe  über  Halle— Erfurt  nach 
Frankfurt  und  die  nordsüdlichen  Uebergänge  oder  Ge- 
birgsdurchbrüche  (Thüringerwald  bei  Zella),  namentlich 
auch  die  Bahnen  über  das  Erzgebirge  dräpgen  sich  zu- 
nächst auf  und  veranschaulichen  die  Bedeutung  der  un- 
mittelbar an  ihnen  gelegenen  Bezirke  und  Orte.  Sodann 
verdient  die  Anzahl  und  Führung  der  Bahnen  mit  Schmal- 
spur in  Sachsen  besondere  Beachtung.  Zum  dritten  ge- 
bührt letztere  den  so  wichtigen  oder  doch  in  Entwicke- 
lung  begriffenen  Wasserstraßen,  üeber  die  Elbverkehrs- 
verhältnisse,  wie  über  die  der  Saale,  über  die  der  Weser, 
der  Fulda  und  der  Unstrut  giebt  die  reichhaltige  Zeit- 
schrift „Das  Schiff,  Organ  für  Binnenschiffahrt**,  vielfache 


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616  Wilhelm  Göts, 

Instruktion  und  erscheint  ftbr  eine  befriedigende  Einsicht 
in  diesen  Zweig  unseres  Verkehrswesens  kaum  entbehrlich. 
Da  sie  in  Dresden  ausgegeben  wird,  ist  es  natürlich,  daß 
gerade  unser  mitteldeutsches  Gebiet  am  meisten  berück- 
sichtigt wird.  Die  «Statistik  des  Deutschen  Reiches"  kann 
nicht  hinreichend  Ersatz  dafür  bieten. 

Die  Behandlung  dieses  ganzen  Teilgebietes  III  aber 
wird  um  so  befriedigender  sich  gestalten,  je  mehr  man 
für  die  Mehrzahl  unserer  7  Gesichtspunkte  gleichsam  Gau 
für  Gau  als  Sonderganze  betrachtet.  Bearbeitet  ist  aber 
bereits  die  „Landeskunde  von  Sachsen -Weimar'*  durch 
Kronfeld  (1879). 


IV.  Schlesien. 

Man  wird  richtiger  Schlesien  ohne  Hinzufügung  nörd- 
licherer Gebiete  betrachten,  weil  letztere  viel  mehr  mit 
den  anderen  Teilen  des  Tieflandes  gemein  haben  als  mit 
Gesamtschlesien. 

1.  So  hat  man  sich  mit  den  Grenzen  nicht  weiter 
aufzuhalten,  als  da&  deren  Offenheit  nach  0.  und  deren 
Südrand  nach  seiner  Beschaffenheit  als  Schranke  und  als 
Linie  mit  Uebergängen  und  Durchwegen  besprochen  wird. 
Mit  letzterem  ist  ja  freilich  die  Gliederung  der  Sudeten 
und  da  und  dort  schon  ihre  Gestalt  zu  kennzeichnen. 

2.  Die  Gestalt  also  zu  beschreiben,  verlangt  eine 
volle  Wiedergabe  der  Sudeteubildung.  der  Vorbergzüge 
und  der  schwachen  Erhebungen  des  „Schlesischen  Land- 
rückens", welche  vom  Tarnowitzer  Plateau  aus  in  WNW. 
ziehen  und  immerhin  für  die  Entstehung  von  Städten 
wichtig  geworden  sind.  Für  die  Sudeten  arbeiteten  jene 
Autoren,  welchen  man  die  Beschreibung  einzelner  Gebirgs- 
teile  verdankt.  So  Letzner,  „Wegweiser  durch  das  Riesen- 
gebirge'*; Ebert,  „Das  Riesengebirge*  (1884);  Kutzner 
(Mosch),  , Wanderung  durchs  Riesen-  und  Isergebirge"*; 
dazu  anonym:  „Wanderbuch  für  das  Riesengebirge "  (1885); 
Burmann,  „Bilder  aus  dem  Gebirge  und  Berglande  von 
Schlesien";    ;,Führer  durch  die  Grafschaft  Glatz**   (1881). 


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Wirtschaftsgeographie.  617 

3.  Die  geognos tischen  Hauptthatsachen  sind  aus 
den  wiederholt  erwähnten  amtlichen  Karten  und  ihren 
Erläuterungen  zu  entnehmen;  doch  sind  auch  nicht  wenige 
Aufsätze  in  verschiedenen  «Jahresberichten  der  schlesi- 
schen  Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur'  über  einige 
wichtige  Teile  der  Sudeten  enthalten,  deren  ja  über- 
haupt zahlreiche  Stellen  aller  allgemeinen  geognostischen 
Handbücher  mit  verschiedenen  konkreten  Angaben  ge- 
denken. Besonders  zahlreich  sind  F.  Römers  Publi- 
kationen über  die  Oeognosie  und  die  Urproduktion  Schle- 
siens, sowohl  in  den  „Jahresberichten"  als  aufserdem, 
z.  B.  „Die  Geologie  von  Oberschlesien**  (1870). 

4.  Für  die  Urproduktion  nun  hat  ein  Verband  der 
Kohlen-  und  Eisenindustriellen  des  Tamowitzer  Plateaus 
ein  sehr  gut  bedientes  und  für  uns  praktisches  Organ  in 
der  zu  Kattowitz  erscheinenden  „ScUesischen  berg-  und 
hüttenmännischen  Zeitung**.  Die  „Metallurgie**  J.  Percys 
giebt  sowohl  in  ihrem  I.  Band  über  die  Kohlen,  als  in 
ihrem  IL  der  „Eisenhüttenkunde**  1.  Abteilung  besonders 
über  das  Eisen  Schlesiens  viele  nicht  veraltende  Orien- 
tierung. Hierher  gehört  F.  Römers  „Karte  der  Erzlager- 
stätten des  Muschelkalkes**  sowie  A.  Schützes  „Nieder- 
schlesisch- böhmisches  Steinkohlengebirge**  (mit  Karten, 
1882);  sodann  Aufsätze  von  H.  R.  Göppert  in  den 
„Jahresberichten**  von  1866  und  1880.  v.  Dechens 
wiederholt  genanntes  Werk  dient  zur  Ergänzung. 

5.  Das  Klima  wurde  in  Schlesien  schon  frühzeitig 
mit  Sorgfalt  auf  einzelnen  Stationen  beobachtet.  Die 
Ergebnisse  wurden  für  die  Zeit  von  1836 — 65  in  den 
„Jahresberichten  der  schlesischen  Gesellschaft  für  vater- 
ländische Kultur**  mitgeteilt;  später  in  der  „Zeitschrift  für 
Meteorologie*".  Es  finden  sich  namentlich  auch  die  Nieder- 
schläge und  die  Bewölkung  seit  Jahrzehnten  verzeichnet. 
Göppert  hat  die  Wirkungen  der  Kälte  und  anderer 
meteorologischer  Sondererscheinungen  auf  die  Flora  man- 
nigfach behandelt  in  den  „Jahresberichten**  (1870,  71  fif.). 
G  all  es  „Allgemeine  Uebersicht  der  meteorologischen  Be- 
obachtungen auf  der  königlichen  Sternwarte  zu  Breslau** 
erscheinen  von  1864  an  ständig  in  den  „Jahresberichten**. 


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618  Wilhelm  Götz, 

6.  Bezüglich  der  Produktion  besitzt  man  au&er  den 
allgemeinen  Quellen  für  die  preußischen  Provinzen  (Sta- 
tistik, Meitzens  Werk  u.  a.)  wenig  Materialien.  Die 
genannten  „Jahresberichte"  bieten  wenig  Verwertbares, 
zumal  auch  ihre  außerordentlich  zahlreichen  botanischen 
und  hortologischen  Aufsätze  fast  nur  der  Fachwissenschaft 
und  ihrer  Technik  dienen. 

Bezüglich  der  Forste  empfiehlt  sich,  wie  für  alle  preußi- 
schen Provinzen  das  Werk  0.  v.  Hagens,  in  2.  Auflage 
von  K.Donner:  „Die  forstlichen  Verhältnisse  Preußens*; 
allerdings  nur  für  die  den  königlichen  Oberförstereien 
unterstellten  Bestände,  welche  übrigens  sehr  gut  aus  den 
16  Jahrgängen  des  „Deutschen  Forst-  und  Jagdkalenders ** 
ersehen  werden.  Die  anderen  Waldgebiete  sind  nur  länder- 
oder  Provinzen  weise  angegeben;  es  ist  also  zu  kombinie- 
ren, wie  wir  bei  „Kurhessen*  erwähnten. 

Alle  weiteren  Quellenmaterialien  für  Produktion  („Die 
landwirtschaftliche  Bodenbenutzung*  z.  B.  aus  Band  86 
der  „Preußischen  Statistik*),  sowie  diejenigen  für 

7.  Hauptplätze  (Breslau  allein)  und  Verkehr  sind 
aus  der  sonst  bereits  angegebenen  Litteratur  zu  erholen. 


T.  Nordostdeutschland. 

Die  bereits  mit  Schlesien  in  AngrifiF  genommene  weite 
Region  der  germanischen  Tiefebene  trennen  wir  teils  in- 
folge der  Zugehörigkeit  der  Flußgebiete  zu  zwei  ver- 
schiedenen Meeren,  teils  wegen  des  politisch  und  physisch 
scheidenden  Charakters  der  Elbelinie  in  das  Land  östlich 
und  westlich  dieses  Stromes.  Zu  ersterem  ziehen  wir 
auch  Holstein  und  Schleswig,  weil  beide  durch  Boden- 
gestalt und  Verkehrszugänge  mehr  zur  Ostsee  gewiesen 
erscheinen.  Allerdings  wird  durch  die  übermächtige  At- 
traktionskraft Hamburgs  Holstein  in  Bezug  auf  sein  wirt- 
schaftliches Vermögen  enge  an  die  Elbe  resp.  deren  Ver- 
kehrsbedeutung angeschlossen.  Da  aber  für  Schleswig 
der  gleiche  Grund  nicht  zutriflft,  und  da  auch  Kiel  eine 
selbständige  kommerzielle  Stellung  in  rasch  zunehmender 


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Wirtschaftsgeographie.  (>  1 9 

Weise  sich  erwirbt,  namentlich  aber  die  Westgrenze  der 
Ostsee  untrennbar  zu  deren  südlichem  Küstengebiet  ge- 
hört, so  wiegen  die  Ghünde  für  die  angegebene  Zuteilung 
immerhin  vor. 

1.  Die  Grenzen  Nordostdeutschlands  nun  verlangen 
nur  an  einer  Seite  eine  nähere  Beachtung:  im  N.  Man 
wird  entweder  in  diesem  Zusammenhang  die  Profile  und 
die  horizontale  Gliederung  der  Küste  eingehend  zu  durch- 
forschen und  vergleichend  zu  würdigen  haben,  oder  man 
wird  sich  zunächst  nur  auf  die  hauptsächlichen  Eigen- 
schaften in  genannten  Beziehungen  beschränken  und  die 
wirksamsten  Einzelheiten  bei  der  Darlegung  der  Verkehrs- 
plätze  und  -wege  ins  Auge  fassen.  Für  ersteren  Fall 
sind  die  „Seekarten",  herausgegeben  vom  hydrographi- 
schen Amt,  Nr.  30,  40,  65,  71—73  (70),  sehr  wünschens- 
wert. 

2.  Die  Bodengestalt  nun  zu  beschreiben,  erscheint 
trotz  der  allgemein  geringen  Seehöhe  lohnend  und  an- 
ziehend, da  immerhin  reichlicher  Wechsel  des  sanften 
Profils  vorhanden  und  dieser  von  großem  Einflüsse  auf 
Produktion  und  Verkehrsweise  ist,  was  allerdings  mit  der 
beträchtlichen  landschaftlichen  Verschiedenheit  der  Boden- 
beschaffenheit enge  zusammenhängt  ^).  Darum  haben  ein- 
zelne Teile,  wie  z.  B.  die  Seeenplatten,  schon  mannig- 
fache spezielle  Darstellung  erfahren.  Aber  auch  südlich 
derselben  sehen  wir  wie  in  Brandenburgs  Unebenheiten, 
im  Fläming  oder  gar  in  dem  holsteinischen  und  schles- 
wigschen  Profilswechsel  Veranlassung  genug,  diesen  grund- 
legenden Gesichtspunkt  unserer  Darstellung  achtsam  zu 
behandeln. 

Von  den  Abhandlungen  zur  geologischen  Spezialkarte 
treffen  auf  unser  Gebiet,  für  unsere  Zwecke  verwendbar: 
Band  I,  1;  III,  3  (Schleswig-Holstein);  VII,  2;  VIII,  1. 
Ebenso  sind  beachtenswert:  Jentzsch,  „Das  Relief  der 
Provinz  Preulaen*,  in  „Schriften  der  physikalisch-ökono- 

*)  Vollständig  klar  wird  dies  durch  die  Sektionen  der  ,  Karte 
des  Deutschen  Reiches**,  bearbeitet  vom  preußischea  Generalatab 
(1 :  100000);  für  ganz  Ost-  und  VVestpreußen,  SO.-Pommern,  Mecklen- 
burg existieren  neue  Blätter. 


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620  Wühelm  Götz, 

mischen  Gesellschaft  zu  Königsberg"  (1879);  Geinitz, 
*  ^Seeen,  Moore  und  Flußläufe  Mecklenburgs".  Meitzen 
(Bd.  I)  giebt  eine  sorgfältige  üebersicht.  E.  Geinitz 
hat  bereits  in  den  „Forschungen  zur  deutschen  Landes- 
und Volkskunde"  die  mecklenburgischen  Höhenrücken 
behandelt  (1886).  Auch  Berendts  „Tertiär  der  Mark 
Brandenburg"  (Sitzungsber.  der  k.  Akad.,  Berlin  1885) 
gehört  hierher,  wie  zur  Bodennatur. 

Mehr  Materialien  bieten  sich  für  die  Charakterisie- 
rung 3.  des  Klimas.  Zunächst  gehören  hierher  die  amt- 
lichen Publikationen  der  „Preußischen  Statistik",  in  ihnen 
(Bd.  XV  u.  XXXII)  Doves  „Klimatologie  von  Norddeutsch- 
land". Er  hat  auch  die  Witterungsverhältnisse  von  Ber- 
lin (1819—65)  eigens  bearbeitet  (Berliner  Stadtkalender 
1867;  jetzt  Statistisches  Jahrbuch  von  Berlin).  Zu  Kiel, 
Swinemünde,  Neufahrwasser  und  Memel  sind  Aufzeich- 
nungen über  täglich  sechsmalige  Wind-  und  Wetterbeob- 
achtungen vorhanden  (meist  von  1876  an),  seit  1888  meist 
verwertet  in  den  „Meteorologischen  Beobachtungen  in 
Deutschland",  welche  die  Deutsche  Seewarte  zu  Ham- 
burg herausgab.  Hierher  gehört  auch  die  „Statistik  der 
Stürme  an  der  deutschen  Seeküste",  soweit  sie  von  der 
gleichen  Behörde  mitgeteilt  wurde  (1880).  Dazu  die 
schon  erwähnten  Bücher,  wie  Töpfers  „Regenverhält- 
nisse" u.  s.  w.  oder  Hellmanns  „Größte  Niederschlags- 
mengen" u.  s.  w.  Mecklenburgs  Beobachtungen  werden 
vom  groKherzoglichen   statistischen  Bureau  veröffentlicht. 

4.  Ebenso  nun  wurde  die  Bodennatur  des  Flach- 
landes litterarisch  mannigfach  bearbeitet.  Man  wird  aber 
hier  zugleich  die  geognostische  Beschaffenheit  und 
die  mineralische  Urproduktion  zu  charakterisieren  haben. 
Denn  die  Bodenstoffe  und  schon  die  Gestalt  der  Ebene 
samt  den  Erhebungen  können  ja  gar  nicht  ohne  Kennt- 
nis ihrer  geologischen  Vergangenheit  resp.  Entstehung 
erkannt  werden. 

Schon  an  Meitzens  Darstellung  hat  man  für  diese 
Zusammengehörigkeit  und  für  die  Existfenz  der  Vorarbei- 
ten genügenden  Nachweis.  Einzelne  Schriften  sind  z.  B. 
Orths    „Geologische    Verhältnisse     des     norddeutschen 


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Wirtschaftsgeogi-apbie.  621 

Schwemmlandes"  oder  Jentzschs  „Diluvium  in  Nord- 
deutschland** (1880)  in  den  „Schriften  der  physikalisch- 
ökonomischen Gesellschaft  zu  Königsberg",  welche  in  ver- 
schiedenen Bänden  hier  einschlägige  Abhandlungen  pu- 
blizierte, z.  B.  1879  „üeber  die  Zusammensetzung  des 
altpreußischen  Bodens**  oder  1881  „Untergrund  des  nord- 
deutschen Flachlandes".  Für  kleinere  Striche  von  be- 
sonderem Interesse  erscheinen  beachtenswert  Aufsätze, 
wie  deren  drei  in  der  „Zeitschrift  für  Forst-  und  Jagd- 
wesen** (1885)  stehen:  „Der  Sandboden  der  Tuchler  Heide**; 
oder  solche  über  Benutzung  der  Moore  (1 884),  wie  sie  dort 
allerdings  auch  für  Nord  Westdeutschland  mehrfach  verabfaßt 
wurden.  Andere  Beispiele  haben  wir  in  der  „Zeitschrift 
der  deutschen  geologischen  Gesellschaft**,  wo  u.  a.  1879 
der  „Geschiebemergel  in  Norddeutschland **  behandelt  ist, 
1882  die  Ergebnisse  der  von  Preußen  ausgeführten  Tief- 
bohrungen, 1886  Sande  zwischen  Elbe  und  Oder;  oder 
in  der  „Geognostischen  Beschreibung  der  Gegend  von 
Berlin**  von  Berendt  und  Dames  (1880).  —  Weit  tiber- 
ragt erscheinen  freilich  diese  und  frühere  Darstellungen 
durch  die  so  eminenten  Leistungen  der  „Geologischen 
Spezialkarte**,  herausgegeben  von  der  geologischen  Landes- 
anstalt und  der  Bergakademie,  welche  dieses  geognostisch- 
agronomische  Bild  sowohl  durch  Wiedergabe  der  Ober- 
fläche, als  durch  Angabe  aller  erkundenden  Bohrungen 
auf  einer  zweiten  Tafel  für  die  betreffende  gleiche  Sektion 
bringt  und  in  den  Erläuterungen  lehrreich  kommentiert. 
Diese  Arbeiten  besitzen  das  hohe  Verdienst,  thatsächliche 
Anerkennung  in  weitesten  Kreisen  für  den  Gedanken  er- 
wirkt zu  haben,  daß  die  geologischen  Untersuchungen 
gemeinnützig  vor  allem  für  die  Bodenkultur  werden  sollen, 
also  für  dasjenige  Publikum,  von  dessen  Mitteln  diese 
Institute  äußerlich  großenteils  abhängen.  Zur  Zeit  ist 
freilich  erst  ein  mäßiger  Teil  Brandenburgs  mappiert. 
Doch  verdankt  man  der  Anstalt  auch  schon  so  manche 
allgemeiner  belehrende  Hefte  gleichen  Betreffes  in  ihren 
„Abhandlungen  zur  geologischen  Spezialkarte**  u.  s.  w. 
So  ist  namentlich  II,  2:  „Rüdersdorf  und  Umgegend** 
(A.  Orth)  von  Bedeutung;  III,  2:   „Der  Boden  der  Um- 


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622  Wilhelm  Götz, 

gegend  von  Berlin'*  (Wahnschaffe  und  Lauf  er);  VII,  2: 
„Das  märkisch-pommersche  Tertiär"  (Berendt). 

Für  Mecklenburg  sodann  sind  Geinitz'  «Beiträge  zur 
Geologie  Mecklenburgs**  sehr  praktisch  gehalten;  ebenso 
gehören  dessen  „Flözformationen  Mecklenburgs"  hierher, 
die  er  in  dem  überhaupt  für  die  Landeskunde  Mecklenburgs 
so  wertvollen  „Archiv  des  Vereins  der  Freunde  der  Natur- 
geschichte in  Mecklenburg**  (es  hat  42  Bände)  publizierte. 

Andere  Einzelorientierungen  —  aber  etwas  spärlich  — 
bieten  die  „Jahrbücher**  der  geologischen  Landesanstalt 
Preußens. 

Auf  solcher  wenigstens  teilweise  wirklich  entsprechen- 
den Belehrung  über  den  Vegetationsboden  läßt  sich  dann 

5.  a)  die  ür-  und  die  Naturproduktion  unschwer 
wissenschaftlich  erklären.  Bei  ersterer  kommt  als  Spezia- 
lität besonders  der  Bernstein  in  Betracht  (R.  Klebs,  „Die 
Gewinnung  und  Verarbeitung  des  Bernsteins,  1883);  außer- 
dem das  Salz  (Inowrazlaw,  Spremberg).  —  Für  die  forst- 
lichen Zustände  sodann  fehlt  es  nicht  an  erwünschten 
Hilfslitteralien.  Als  solche  zeigen  sich  die  „Beiträge  zur 
Forststatistik  des  Deutschen  Reiches  für  1883**,  bearbeitet 
im  kaiserlichen  statistischen  Amt  1884.  Einzelne  Klar- 
stellungen allgemeinerer  Art  geben  die  „Beiträge  zur 
Phänologie**    (samt  Litteratumachweisen),    vergl.  S.  588. 

Der  Charakter  der  Landwirtschaft  nun  kann  trotz 
der  mannigfach  überholten  Zustände  von  1866  doch 
immerhin  aus  Meitzens  Werk  großenteils  erkannt  wer- 
den. In  den  wesentlicheren  Punkten  aber  vermag  man 
mittelst  der  amtlichen  Statistik  Richtigstellung  und  Er- 
gänzung zu  gewinnen.  Hierher  gehören  die  Ernte-  und 
Anbaunachweise  und  die  Viehzählung  (1883);  sodann  die 
Steuemachweise  über  die  landwirtschaftlichen  Industrieen: 
für  Brandenburg  und  Posen  bezüglich  der  Rübenzucker- 
fabrikation, für  das  Ganze  die  Tabak-  und  die  Spritsteuer. 
Für  Mecklenburg  wird  die  Nachfrage  nach  den  Milch- 
produkten eine  besondere  Aufgabe  sein. 

b)  Die  gewerbliche  Produktion  wird  sich  hieran 
zum  Teil  anschließen  können,  insofern  z.  B.  die  Textil- 
industrie Südbrandeuburgs  nicht  an  große  Plätze  gebun- 


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Wirtfichaftsgeographie.  623 

den  erscheint,  also  nicht  erst  auf  Grund  der  Darstellung 
der  Städte  zur  Kennzeichnung  käme.  Allein  im  ganzen 
wird  sich  für  das  Gebiet  doch  empfehlen,  die  Lage  und 
Bedeutung  der  Hauptsammelplätze  des  Verkehrs  und  der 
Arbeit  zugleich  als  Sitze  der  Industrie  besonders  vorzuführen. 

6.  a)  Man  wird  das  einzigartige  Leben  von  Berlin 
als  Ergebnis  seiner  Lage(!)  und  allerdings  auch  der 
Geschichte  seines  Staatswesens  zeigen,  hierbei  denn  so- 
wohl seine  Verkehrsverhältnisse  und  die  seiner  allseiti- 
gen Produktion  den  Hauptthatsachen  nach  gruppieren. 
(Hier  kommen  namentlich  auch  die  Wasserwege  und  die 
Binnenschiffahrt  als  sehr  bedeutende  Faktoren  in  Be- 
tracht.) Dann  werden  noch  Stettin  samt  Nachbarschaft, 
Danzig,  Königsberg  besondere  Beachtung  verlangen. 
(Namentlich  wird  die  Umgebung  von  Danzig  auch  zur 
Erklärung  seiner  frühzeitigen  Entwickelung  auf  Grund 
der  hierhergehörigen  Sektionen  der  Generalstabskarte  zu 
schildern  sein.)  Die  Wasserwege  aber  werden  wiederum 
aus  Band  XV  der  „Statistik  des  Deutschen  Reichs"  zu 
verfolgen  sein  (namentlich'  auch  vom  Pregel  zum  Njemen, 
auf  dem  Oberländischen  Kanal,  auf  den  kleineren  Flüssen). 

Holstein-Schleswig  aber  wird  sich  aus  den  angeführ- 
ten Quellen  für  die  preußischen  Provinzen  überhaupt,  und 
nachdem  auch  für  diese  nördlichste  Provinz  nur  neue  Auf- 
nahmen des  preußischen  Generalstabs  in  dessen  Kartenwerk 
(1 :  100000)  niedergelegt  sind,  hinreichend  darstellen  lassen. 

b)  Endlich  für  die  Hafenfrequenz  der  Ostseeplätze 
einschließlich  Lübeck  sind  noch  die  Berichte  und  die 
Statistik  des  „Deutschen  Handelsarchivs '^  als  Quellen  zu 
verwenden,  aus  denen  z.  B.  der  Beleg  für  unsere  oben 
gebrachte  Behauptung  über  Kiel  gewonnen  wird;  ferner 
Dullo,  Gebiet,  Geschichte  und  Charakter  des  Seehandels 
der  größten  deutschen  Ostseeplätze  (Jena  1888).  Auch 
Bädeker,  „Reisehandbuch  für  Mittel-  und  Norddeutsch- 
land'*, dient  der  Blrkenntnis  hinsichtlich  der  Seestädte  in 
besonderer  Weise,  weit  mehr  als  für  Binnenplätze.  Die 
Statistik  über  Seeschifi'ahrt  in  den  Reichspublikationen, 
Arbeiten  über  Seefischerei,  wie  in  Petermann  s  Ergänzungs- 
heft von  1886,  vervollständigen  nach  der  Außenseite  hin. 


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Ö24  Wühelm  Götz, 


YI.  Nordwestdeatschland. 

Das  Land  westlich  der  Elbe  und  nördlich  des  Harz 
und  der  rheinischen  Gebirgserhebung  bildet  ein  nahezu 
einheitliches  Ganzes,  insofern  mit  Ausnahme  weniger  und 
schwacher  Erhebungen  im  südlichen  Teile  nur  Tiefland 
vorhanden  ist,  zu  welchem  ja  auch  die  Lüneburger  Heide 
gerechnet  werden  wird. 

1.  Für  die  Grenz behandlung  ist  wohl  nur  die  Be- 
schafiFenheit  der  Küste  von  Interesse,  welche  ja  auf  die 
kommerzielle  Bedeutung  dieser  Landstriche,  d.  h.  auf  die 
üferregion  und  auf  das  Hinterland,  den  größten  Einfluß 
ausübt.  Hierfür  geben  vor  allem  die  betreflfenden  topo- 
graphischen Aufnahmen,  welche  unter  v.  Papen  im  Maß- 
stab von  1 :  100000  für  das  Königreich  Hannover  herge- 
stellt wurden,  die  nötige  Grundlage.  (Die  topographische 
Karte  von  Oldenburg,  14  Sektionen  im  Maßstab  von 
1 :  50000,  gehört  gleichfalls  hierher  ^). 

2.  u.  3.  Die  Bodengestalt  sodann  kann  bei  dem 
extrem  gleichartigen  Profile  nur  wegen  des  Wechsels, 
welchen  die  Moore  und  die  wenigen  sanften  Mittelgebirgs- 
vorstufen  bewirken,  etwas  nähere  Beschäftigung  bean- 
spruchen. Doch  sind  auch  hier  Gestalt,  Stoffe  und  damit 
Urproduktion  meist  aufs  engste  miteinander  zu  ver- 
flechten. Für  den  S.  ebenso  als  für  die  Marschgebiete 
wird  wiederum  durch  Pencks  „Deutsches  Reich*  VTI,  5 
und  VUI,  5  eine  sehr  erwünschte  Grundlage  geboten,  in 
welcher  der  Wert  der  Autopsie  sich  bestens  bemerkbar 
macht.  Die  eigentliche  Tiefebene  findet  mannigfache 
Darstellung  in  all  den  Arbeiten,  welche  sich  mit  einzelnen 
bodenkundlichen  Erscheinungen  derselben  beschäftigen. 
Hierher  gehören  sowohl  Schriften  über  die  Lüneburger 
Heide,  als  solche  über  die  Moore.  Wenn  nun  die  Nutz- 
barkeit der  Bodenverhältnisse   in  Frage  kommt,    so  sind 

^)  Seekarten  des  hydrographischen  Amtes,  welche  jedenfalls 
sehr  wertvolle  Ergänzungen  bieten,  sind  hergestellt  vor  allem  für 
die  Flußmündungsgebiete:  Nr.  1,  49,  88  (70). 


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WirtBchaftageographie.  625 

z.  B.  Arbeiten  beachteDSwert,  wie  in  der  „Zeitschrift  für  das 
Berg-,  Hütten-  und  Salinen wesen  des  preußischen  Staates** 
1885;  desgleichen  Prechts  „Salzindustrie  von  Staßfurt** 
(ebenda  1882).  In  der  „Zeitschrift  der  deutschen  geolo- 
gischen Gesellschaft**  werden  die  Phosphoritlager  (resp. 
fossilen  Hölzer)  von  Harzburg  und  von  Braunschweig 
(1884),  desgleichen  das  Quartär  am  Nordrand  des  Harzes 
(1885)  behandelt.  Eine  westlichere  Region  behandelt  der 
„Bericht  der  landwirtschaftlichen  Versuchsstation  Münster** 
(1884)  in  „Bodenarten  von  Westfalen**.  Die  Gebirge  an 
der  Weser  und  im  S.  überhaupt  finden  in  den  drei  Schrif- 
ten Brauns  über  den  Jura  in  Norddeutschland  (1869 — 74) 
geognostische  Beschreibung.  Das  Osnabrücker  Diluvium 
wird  bodenkundlich  in  der  „Zeitschrift  der  deutschen  geo- 
logischen Gesellschaft**  (1882)  eingehend  dargestellt,  lieber 
die  Moore  unterrichten  z.  B.  Saalfeld,  „Die  norddeut- 
schen und  niederländischen  Moore**  („Ausland**  1882); 
Laer,  „Ueber  Moorrauch  und  seine  Beseitigung**  (1871); 
die  „Moorzeitung**;  M.  Fleischer,  „Die  Thätigkeit  der 
Zentralmoorkomraission** ;  Prestel,  dieser  für  die  Klima- 
tologie  überhaupt  und  für  die  Nordwestdeutschlands  ins- 
besondere so  fruchtbare  Schriftsteller,  „üeber  den  Moor- 
rauch in  seiner  geographischen  Verbreitung**  („Zeitschrift 
für  Meteorologie**  1868);  auch  Hennebergs  („Journal  der 
Landwirtschaft**  1868)  „üeber  das  Moorbrennen  in  Ost- 
friesland**. Ueber  den  Marschboden  belehrt  Band  IX  der 
„Land wirtschaftlichen  Jahrbücher**  (1880). 

4.  Die  klimatischen  Verhältnisse  sodann  wurden 
bereits  1864  von  Prestel  in  einer  sehr  wichtigen  Be- 
ziehung dargethan:  „Die  Regenverhältnisse  des  König- 
reichs Hannover  nebst  u.  s.  w.**.  Dazu  treten  sodann  die 
bereits  wiederholt  erwähnten  Arbeiten  für  Norddeutsch- 
land in  der  „Preußischen  Statistik**  (einschließlich  der- 
jenigen von  Dove). 

5.  Die  Naturproduktion  wird  durch  die  (seit  1884 
besonders  erscheinenden)  „Monatshefte**  der  Statistik  des 
Deutschen  Reiches  für  Hannover  in  besonders  brauchbarer 
Weise  dadurch  skizziert,  dass  die  Gliederung  in  Land- 
drosteien   uns  hier  zu  gute  kommt.     Dies  gilt  also  z.  B. 

Anleftung  zur  deutacben  Landes-  und  Volksforochang.  40 


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(326  Wilhelm  Götz, 

auch  der  betreffenden  Publikation  über  Rübenzuckerfabri- 
kation, die  ja  im  SO.  unseres  Gebietes  die  stärkste  Ent- 
wickelung  innerhalb  Deutschlands  erlangt  hat.  Außerdem 
ist  aus  den  landwirtschaftlichen  Zeitschriften  weiteres  zu 
erholen.  Hierher  gehört  vor  allem  das  mit  wertvollen 
bodenkundlichen  Aufsätzen  bereicherte  „Hannoveraner 
land-  und  forstwirtschaftliche  Vereinsblatt*  (Hildesheim) 
und  das  „Journal  für  Landw^irtschaft**  (Celle);  ebenso  die 
„Jahresberichte  der  königlichen  Landwirtschaftsgesellschaft 
des  Zentralvereins  für  Hannover**  (Hannover).  Für  die 
Moore  ist  hier  noch  nennenswert:  Mecke  und  K.  San- 
der: „Sind  unsere  Moore  überhaupt  industriell  auszu- 
nutzen?** (1880).  —  Die  industrielle  Produktion  erhält 
ihre  entsprechendste  resp.  die  noch  am  meisten  anschau- 
liche Skizzierung  im  „Deutschen  Wirtschaftsjahr"  und  in 
dessen  Quellen,  den  Jahresberichten  der  Handelskammern. 
Außerdem  ist  auch  hier  wiederum  auf  Baedeker  zu  ver- 
weisen, welcher  zahlreiche  Anhaltspunkte,  besonders  über 
die  Städte  bietet. 

().  Für  die  Seeplätze  sodann,  vor  allem  für  Ham- 
burg, hat  man  in  der  Handelsstatistik,  wie  sie  sowohl 
die  „Statistik  des  Deutschen  Reiches**  als  das  „Deutsche 
Handelsarchiv "  bringt,  wertvolle  Orientierungen.  Ham- 
burg hat  allerdings  eine  eigene  „Statistik  des  hamburgi- 
schen Staates**;  doch  behandelt  diese  ebenso  vorwiegend 
sozialpolitische  Gegenstände,  wie  die  sächsische.  Die  amt- 
liche Statistik  der  Seeschiffahrt  erfolgt  in  eigenen  Bänden, 
wo  immer  auch  der  Bestand  der  Schiffe  wie  beim  Verkehr 
auf  den  Wasserstraßen  angegeben  wird.  Bei  letzteren 
wird  es  sich  für  uns  naturgemäß  auch  um  die  beschlosse- 
nen Kanalausführungen  handeln,  für  diejenige  vom  Rhein 
über  Dortmund  nach  Rheine  a,Ems  und  wohl  auch  ost- 
wärts, sowie  um  den  bei  Brunsbüttel  in  die  Unterelbe 
mündenden  Ost-Nordseekanal  (Petermanns  Mitteil.  1880). 
Die  festen  Verkehrswege,  insbesondere  die  Eisenl)ahnen, 
geben  wohl  keinen  sonderlichen  Anlaß  zu  Orientierungen, 
da  das  Gebiet  zu  wenig  Ansprüche  an  die  Fortschritte 
baulicher  Entwickelung  gemacht  hat. 


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Wirtschaftsgeographie.  027 

Indem  wir  nun  so  eine  übersichtliche  Behandlung 
größerer  Teilganze  Deutschlands  skizziert  haben,  wurde 
keineswegs  versucht,  auch  nur  auszugsweise  eine 
Litteraturtibersichtzugleich  vorzubringen.  Mitden 
litterarischen  Angaben  sollte  vielmehr  nur  exemplifiziert 
sein,  nach  welchen  Fragen  etwa  der  Darsteller 
sich  umsehen  werde.  Letzterer  wird  eine  seiner 
schwersten  Aufgaben  stets  darin  finden,  die  Grenze  für 
das  Uninteressante  und  Nichtgeographische  zu  ziehen,  so- 
bald er  auch  nur  ein  mäßig  großes  Gebiet,  wie  z.  B. 
Schlesien,  landeskundlich  im  Sinne  des  wirtschaftlichen 
Charakterbildes  zu  bearbeiten  unternommen  hat.  Man 
wird  sich  daher  leichter  befreunden  mit  unserer  Abweisung 
aller  derjenigen  wirtschaftlich  ja  sehr  wichtigen  That- 
sachen,  welche  zwar  die  kommerzielle  und  finanzielle 
Macht  einer  Bevölkerung  kennzeichnen,  aber  auf  das 
Aussehen  des  Landes  und  auf  die  Arbeiten  an  seiner 
Oberfläche  keinen  direkten  Einfluß  haben.  Außer  dem 
S.  600  u.  601  Angeführten  würde  hier  etwa  noch  an  die 
Börse,  den  Geldverkehr,  an  die  gesamte  häusliche  Lebens- 
weise der  Bewohner  und  an  andere  Kulturmomente  zu 
erinnern  sein:  dies  und  derlei  gehört  nicht  zu  dem  geo- 
graphischen Material. 

Daß  aber  außer  der  Kenntnis  der  Litteratur  und 
neben  dem  Verständnis  für  deren  Benutzung  noch  be- 
sonders die  Erkundigung  durch  Augenschein  als  dringend 
wünschenswert  von  jedem  zu  erstreben  ist,  welcher  die 
Teilgebiete  unseres  Vaterlandes  eingehender  geographisch 
vorführen  will,  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Betonung. 
Die  wenigsten  Gegenden  und  Erscheinungen  sind  so  cha- 
rakteristisch von  der  Natur  gegeben,  daß  sie  nur  nach 
Abbildungen  und  nach  Beschreibungen  vollgenügend 
schriftstellerisch  nachkonstruiert  werden  können.  Schon 
das  Element  der  Farbe  fehlt  in  den  allermeisten  der  ge- 
nannten Hilfsmittel,  und  die  Gestalt  wird  durch  das  Wort 
des  Geognosten  und  des  Geographen  doch  immer  etwas 
zu  generell  oder  einseitig  gezeichnet.  Zur  Durchforschung 
von  Seiten  eines  Fußreisenden  bieten  namentlich  für  alle 
gebirgigen  Regionen   die    von     dem  Leipziger  Verein   für 


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628  Wilhelm  Götz. 

Erdkunde  herausgegebenen  „Wissenschaftlichen  Beobach- 
tungen auf  Reisen**  eine  vielfach  dankenswerte  Begleitung. 
Durch  das  persönliche  Wort  der  Nachfrage  an  Ort  und 
Stelle  und  durch  die  briefliche  Orientierung  besonders 
über  die  Zustände  der  Produktion  wird  eine  weitere  Er- 
gänzung zu  dem  nutzbaren  Material  von  Karten  und  Lit- 
teratur  erbracht  werden  müssen.  Dala  letztere  für  wich- 
tige Punkte  unserer  wirtschaftlichen  Landeskunde  noch 
ungenügend  ist,  haben  wir  oben  in  verschiedenem  Zu- 
sammenhange berührt.  Gewiß  wird  dies  zunächst  nach- 
teilig auf  Darstellungen  dieser  Art  wirken.  Aber  indem 
der  Mangel  dem  allgemeineren  BewuLiisein  nahe  gebracht 
wird,  erfolgt  zugleich  die  Anregung  zur  Beseitigung.  So- 
weit letztere  von  Männern  der  Wissenschaft  abhängt, 
wird  das  Erwünschte  dann  gewiß  bald  in  Angriff  ge- 
nommen. So  wird  diese  Art  der  Landeskunde  nicht  nur 
erhöhte  Einsicht  in  das  vaterländische  Vermögen  wirt- 
schaftlicher Art  gewähren  und  dadurch  viele  erwünschte 
Winke  und  Unterweisung  geben  können,  sondern  auch 
auf  benachbarte  Felder  des  Wissens  und  der  Forschung 
beiruchtend  wirken. 


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Gewässerkunde. 

Von 

Gustav  Becker, 

Königlicher  Regierungsbaumeister  in  Königsberg  i.  Pr. 


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I.  £inleitaii||;. 

Wie  das  Wasser  in  dem  Haushalte  der  Natur  zur 
Erhaltung  und  Förderung  alles  tierischen  und  pflanzlichen 
Lebens  unentbehrlich  ist,  so  übt  seine  Nutzung  in  dem 
Haushalte  des  einzelnen  Menschen  und  der  Völker  die 
mächtigste  Einwirkung  auf  die  Entwicklung  der  wirt- 
schaftlichen Kräfte  und  somit  auf  die  Hebung  der  Wolil- 
ftihrt  aus.  Dieser  Zusammenhang  lässt  sich  bei  allen 
Kulturvölkern  bis  in  ferne  Zeiten  hin  nachweisen,  und 
dennoch  ist  die  Verwertung  des  Wassers  bisher  keines- 
wegs überall  eine  zweckmäßige  und  besonders  keine  er- 
schöpfende gewesen.  Rücksichtslos  haben  häufig  die 
einen,  unbekümmert  um  die  Nachteile  für  andere,  Vor- 
teile aus  der  Wassernutzung  gezogen,  und  es  ist  nur 
unzureichend  Bedacht  darauf  genommen  worden,  dem 
Wassermaugel  vorzubeugen  und  dem  nicht  minder  nach- 
teiligen Wasserüberfluü  zu  steuern.  So  haben  sich  durch 
willkürliches  Vorgehen  an  den  Wasserläufen,  insbesondere 
an  den  nicht  schiffbaren  Strecken,  deren  Nutzung  und 
Unterhaltung  fast  ausschließlich  den  Anwohnern  zusteht, 
bez.  obliegt,  im  Laufe  der  Zeiten  derart  schwierige  Ver- 
hältnisse entwickelt,  daß  es  vieljähriger  mühevoller  Ar- 
beiten der  staatlichen  Organe  und  der  einsichtsvollen 
Mitwirkung  weiter  Kreise,  sowie  nicht  minder  großer 
Geldopfer  bedürfen  wird,  um  zu  einer  nach  den  letzt- 
jährigen verheerenden  Hochwassem  besonders  ungestüm 
geforderten  regelmäßigen  Wasserwirtschaft  zu  gelangen. 


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1)32  Gustav  Becker, 

Die  Zahl  und  der  Wasserreichtum  der  deut- 
schen Ströme,  Flüsse  und  Seeen  ermutigen  dazu,  die 
hinsichtlich  des  Ausbaues  der  Flußläufe  und  der  Her- 
stellung künstlicher  Wasserstraßen  als  Verkehrswege  be- 
reits mit  gutem  Erfolge  ausgeführten  Arbeiten  fortzu- 
setzen und  eine  weitere  Wassemutzung  anzustreben. 
Lehrt  doch  ein  Blick  auf  die  Karte  von  Deutschland 
die  gleichmäßige  Verteilung  der  vom  Fels  zum  Meer 
sich  erstreckenden  großen  Flußgebiete  der  Weichsel, 
Oder,  Elbe,  Weser  und  des  Rheins  und  das  Vor- 
handensein ausgedehnter  Seeenketten  in  Ostpreußen« 
Hinterpommem  und  Mecklenburg.  Auch  wissen  wir,  daß 
künstliche  Wasserwege  zur  Verbindung  des  Ostens  mit 
dem  Westen  Deutschlands  teils  vorhanden,  teils  geplant 
sind.  Der  Nordostseekanal  ist  in  Ausführung,  eine  ein- 
heitliche Wasserstraße  von  der  Nordsee  mittelst  Rhein 
und  Donau  nach  dem  Schwarzen  Meer  ist  vorhanden, 
und  die  Möglichkeit  einer  mehrfachen  Verbindung  der 
Ostsee  mit  dem  Schwarzen  Meer  ist  gegeben.  Weitere 
Anlagen,  wie  der  Rhein — Weser — Elbekanal,  ein  Elbe— 
Spreekanal,  ein  Donau— Oderkanal  treten  der  Verwirk- 
lichung näher,  der  sonstigen  zahlreichen  Pläne  zur  Ver- 
besserung von  Flußläufen  gar  nicht  zu  gedenken  ^).  In 
allen  diesen  Fällen  sind  es  vorwiegend  Verkehrsforde- 
rungen, welche  erstrebt  werden,  doch  werden  dieselben 
auch  anderweitige  Vorteile  zur  Folge  haben. 

Auf  Deutschland,  mit  einem  Gebiet  von  54,2  Mil- 
lionen Hektar  und  einer  mittleren  jährlichen  Regenhöhe 
von  G60  mm,  fallen  in  einem  Jahre  *^58  Milliarden 
Kubikmeter  Niederschläge,  wovon  schätzungsweise 
im  ganzen  33G  mm  oder  bei  einer  gleichmäßigen  Ver- 
teilung, sekundlich  5700  cbm,  zum  Abfluß  nach  dem 
Meere  bez.  nach  den  Nachbarstaaten  gelangen.  Diese 
Wassermassen  auf  ihrem  Laufe  vielseitig  zu  nutzen  und 
ihre   verheerenden  Wirkungen   abzuschwächen  oder  ganz 


*)  Karte  der  deutschen  Wasserstraßen.  Im  Auftrage  des 
Ministers  der  öffentlichen  Arbeiten  in  Preußen  herausgegeben  von 
Syrapher  und  Maschke,  K.  Reg.-Baumeister,  Berlin. 


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Gewässerkunde.  633 

zu  verhindern,  kurzum  eine  regelmäßige  Wasserwirtschaft 
zu  führen,  d.  h.  einen  richtigen  Ausgleich  zwischen  dem 
zeitlich  und  örtlich  auftretenden  Mangel  und  Ueberfluß 
an  Wasser  zu  bewirken,  ist  zweifellos  eine  wichtige,  volks- 
wirtschaftliche Aufgabe. 

Umfang  und  Bedeutung  der  Wasserläufe  als  Ver- 
kehrswege sind  bereits  angedeutet,  doch  bedarf  es  nicht 
allein  der  Erweiterung,  sondern  auch  des  Ausbaues 
der  vorhandenen  Wasserstraßen.  Haben  auch  die 
durch  Regulierung  und  Kanalisierung  der  Flüsse  er- 
reichten Erfolge  eine  wesentliche  Hebung  des  Binnen- 
schiffahrtsverkehrs veranlaßt  und  den  wirtschaftlichen 
Wert  dieser  Wasserstraßen  entsprechend  vermehrt,  so 
erscheinen  doch  weitere  Verbesserungen  „nach  Maßgabe 
des  Erreichbaren"  erforderlich.  Vor  allem  ist  eine  Ver- 
mehrung der  Wassertiefe  bei  kleinem  Wasser  anzustreben, 
da  diese  der  Schiffahrt  eine  Vermehrung  der  Tauchtiefe 
gestattet,  welche  mit  der  Verringerung  der  Frachtkosten 
gleichbedeutend  ist,  denn  es  wächst  nach  SchlichtingO 
die  Tragfähigkeit  der  Schiffe  wie  die  dritte  Potenz  der 
Tauchtiefe^  während  die  Widerstände,  also  die  Zugkosten, 
nur  wie  die  zweite  Potenz  zunehmen  und  überdies  die 
Vermehrung  der  Tragfähigkeit  des  Schiffes  nicht  eine 
verhältnismäßige  Vermehrung  der  Schiffsbemannung  be- 
dingt. 

In  unzureichender  Weise  ist  auch  das  Wasser  bisher 
zur  Bewässerung  von  Wiesen  und  Weiden  benutzt 
worden,  während  von  den  in  Deutschland  vorhandenen 
5,9  Millionen  Hektar  Wiesen  und  4,6  Millionen  Hektar 
Weiden  bei  richtiger  Bewässerung  sehr  wohl  eine  Mehrung 
des  Bodenertrages  sich  erwarten  läßt,  wofür,  wenngleich 
klimatische  Verhältnisse  in  der  Nachahmung  eine  gewisse 
Beschränkung  auferlegen,  Frankreich  und  Italien  be- 
reits gute  Beispiele  geben,  in  welchen  Ländern  der  81. 
bez.  20.  Teil  des  Bodens  erfolgreich  bewässert  werden 
kann. 


^)  Referate  über  die  dem  111.  Internationalen  Binnenschiffahrt«- 
kongreß   zur  Beratung  gestellten  Fragen.    Frankfurt  a.  M.   1888. 


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(}34  Gustav  Becker. 

Eine  vermehrte  Verwendung  des  fließenden  Wassers 
als  Betriebskraft  für  Wasserräder  und  Turbinen 
und  des  gestauten  W^ assers  als  Druckwasser  für  Wasser- 
motoren, um  Arbeitsmaschinen  in  der  Landwirtschaft,  der 
Industrie  und  den  Gewerben  treiben  zu  können,  dürfte 
namentlich  in  Gegenden,  wo  auf  Dampf  und  Gas  ver- 
zichtet werden  muü  und  die  Förderung  von  Kleinbetrieben 
in  Frage  kommt,  besonders  der  niedrigen  Kosten  wegen 
zu  erstreben  sein.  So  kostet  eine  Pferdekraft  —  75  Kilo- 
graramraeter  für  die  Sekunde  —  bei  einer  zweipferdigen 
Dampfmaschine,  also  im  Kleinbetriebe,  für  die  Stunde 
rund  44  Pfennig  und  bei  Anwendung  von  Heißluft- 
niaschinen  und  Gasmotoren  für  die  Stunde  noch  20  Pfen- 
nig, während  nach  Intze  ')  bei  Ausführung  der  im  Gebiete 
der  oberen  Wupper  geplanten  Sammelbecken  für  Elber- 
feld  und  Barmen  die  Kosten  für  eine  Pferdekraftstunde 
voraussichtlich  nur  2  Pfennig  betragen  werden.  Erwägt 
man,  daß  das  für  die  Maschine  verbrauchte  Wasser  unter 
Umständen  noch  weitere  Verwendung  finden  kann,  so 
erscheinen  die  Vorteile,  welche  Flüsse  und  Bäche  in 
dieser  Richtung,  besonders  im  Gebirgs-  und  Hügeilande 
zu  bringen  vermögen,  als  recht  ausgedehnte. 

Schließlich  möge  noch  auf  die  W^ichtigkeit  der  un- 
mittelbaren Versorgung  der  Haushaltungen  mit 
Wasser  hingewiesen  werden,  deren  Ausführung  in  stetem 
Wachsen  begriffen  ist.  Die  noch  in  Benutzung  befind- 
lichen Anlagen  des  Deutschen  Ritterordens  in  Ostpreußen 
zur  Aufspeicherung  des  Wassers  mittelst  Staudämmen, 
insbesondere  die  Land-  und  Wirrgrabenleitung  bei  Königs- 
berg in  Preußen  *)  erregen  ebenso  unsere  Aufmerksam- 
keit, wie  die  Wasserversorgung  der  Hochebene  der  Rauhen 
Alb   in   Württemberg^),    woselbst   bis   zum    Jahre    1^70 


^)  Intze,  Ueber  die  bessere  Ausnutzung  der  Gewässer,  in  der 
Zeitschrift  des  Vereins  deutscher  Ingenieure  1888.  S.  1009. 

*)  Vergl.  Frühling,  Wasserleitungen,  in  Band  III  des  Hand- 
buches der  Ingenieurwissenschaften.  I.Abt.  S.  175.  2. Aufl.  Leip- 
zig 1883. 

')  E  h  m  ann ,  Die  Wasserversorgung  der  wasserarmen  Alb  u.  s.  w. 
Stuttgart. 


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Gewässerkunde.  (335 

spärliches  Quellwasser  und  angesammeltes  Regenwasser 
nur  kümmerlich  den  Bedarf  deckte,  während  jetzt  mit 
Wasserkraft  getriebene  Pumpwerke  das  ausgezeichnete 
Quell  Wasser  der  Thäler  in  die  Höhe  fördern  und  100  Ort- 
schaften in  ausgiebigster  Weise  mit  Wasser  versorgen. 
Diese  wenigen  Andeutungen  mögen  genügen,  die 
großen  Vorteile  einer  regelmäßigen  Wasserwirtschaft 
klarzulegen.  Dieselbe  erfolgreich  durchführen  zu  können, 
bedarf  es  jedoch,  neben  gesetzgeberischen  Maßregeln, 
richtiger  technischer  Maßnahmen,  welche  nur  auf  wissen- 
schaftlicher Grundlage  sich  zuverlässig  aufbauen  lassen. 
Derartige  Beobachtungen  und  Untersuchungen  an  den 
deutschen  Flüssen  und  Seeen  sind  aber  noch  recht  lücken- 
haft. Was  hierfür  zu  thun  ist,  und  welche  Wege  bereits 
eingeschlagen  sind,  soll  nachstehend  besprochen  werden, 
wozu  im  voraus  zu  bemerken  ist,  daß  die  Verwertung 
der  Forschungsergebnisse,  sowie  vielfache  Untersuchungen 
sachkundigen  Kräften  vorbehalten  bleiben  müssen,  daß 
aber  ein  verständnisvolles  Mitwirken  weiter  Kreise  nicht 
allein  wünschenswert.,  sondern  notwendig  ist. 


IL  Wasserversorgung  der  Gewässer, 

1.  Niederschläge  im  allgemeinen. 

Für  die  in  Form  von  Regen,  Schnee,  Hagel,  Grau- 
peln, Nebel,  Tau  und  Reif  auf  die  Erde  fallenden 
Niederschläge  ist,  soweit  nicht  eine  Verdunstung  oder 
Versickerung,  sondern  ein  oberirdischer  Abfluß  statt- 
findet, der  Weg  zu  Thal  durch  die  Oberflächengestaltung 
der  Erde  gegeben  und  aus  letzterer  auch  der  Umfang 
der  Gebiete  erkenntlich,  aus  welchen  die  Speisung  von 
Seeen  und  Bächen,  Flüssen  und  Strömen  im  einzelnen 
oberirdisch  stattfindet.  Diese  sog.  Niederschlagsgebiete 
grenzen  sich  mehr  oder  minder  scharf  gegeneinander 
durch  Oberflächenerhebungen ,  Wasserscheiden  genannt, 
ab  und  bilden  den  Ausgang  der  vorzunehmenden  Beob- 
achtungen.     Die    unterirdische    Speisung    durch    Grund- 


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636  Gustav  Becker, 

wasserströme  läßt  sich  nicht  in  gleicher  Weise  verfolgen, 
doch  dürften  weitere  Forschungen  auch  hierüber  mehr 
Licht  verbreiten. 

Die  Bestimmung  der  Niederschläge  in  den  einzehien 
Niederschlagsgebieten  erfolgt  durch  Messung  der  Regen- 
höhe, d.  h.  derjenigen  Höhe  einer  Wasserschicht,  welche 
sich  ohne  Rücksicht  auf  Verluste  auf  einer  wagerechten 
Fläche  bildet.  Die  hierfür  benutzten  Vorrichtungen  pflegen 
Regenmesser  genannt  zu  werden. 

Aus  den  bisherigen  Beobachtungen  soll  kurz  fol- 
gendes hervorgehoben  werden:  Die  Niederschläge  sind 
der  Zahl,  Stärke,  Zeit  des  Auftretens  und  der  geographi- 
schen Lage  noch  nicht  überall  die  gleichen. 

Hinsichtlich  der  Zahl  der  Niederschläge  bedarf 
es  noch  eines  einheitlichen  Verfahrens  bei  der  Aufzeich- 
nung, wofür  Dr.  Brückner^)  vorschlägt,  alle  Tage  mit 
Niederschlägen  von  >  0,i5  mm  als  Regentage  anzusehen 
und  weitere  Gruppen  für  Niederschläge  bis  >•  l,o  mm, 
bez.  >  5  mm,  bez.  >  10  mm  zu  bilden. 

Bezüglich  der  Stärke  der  jährlichen  Regen- 
menge scheint  eine  Uebereinstimmung  darin  zu  be- 
stehen, daß  die  Niederschläge  in  der  Tiefebene  geringer 
als  am  Fuße  der  Gebirge  sind  und  dieselben  in  dem  Ge- 
birge selbst  die  größte  Höhe  erreichen.  Als  durchschnitt- 
liche jährliche  Regenhöhe  können  für  Deutschland  660  mm 
angenommen  werden.  Andererseits  wird  die  jährliche 
Regenhöhe 

für  Süddeutschland  und  Oesterreich  zu     800  mm 

„     Westdeutschland  zu 650     „ 

„    Norddeutschland    „ 580     , 

angegeben. 

Für  das  Auftreten  der  Niederschläge  der 
Jahreszeit  nach  zeigt  sich  nach  Hellmann  ^)  dahin  ein 
einheitlicher  Grundzug,  daß  die  Ebene  die  größten  Nieder- 
schläge im  Sommer  erhält,  während  im  Gebirge  mit  zu- 


')  Methode   der  Zählung   der  Regentage  in  der  Meteorologi- 
schen Zeitschrift  1887.  S.  241  if. 

^)  Meteorologische  Zeitschrift  1887.  S.  84  flf. 


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Gewässerkunde.  637 

nehmender  Höhe  die  Sommerregen  abnehmen  und  von 
einer  gewissen,  in  den  einzelnen  Gebirgen  verschiedenen 
Höhe  ab  die  Winterniederschläge  vorherrschen.  Mit  Aus- 
nahme der  Nordseeküste,  woselbst  der  Herbst  die  nasseste 
Jahreszeit  ist  und  trotz  vielfacher  sonstiger  Abweichungen 
treffen  diese  Verhältnisse  auch  für  Deutschland  im  all- 
gemeinen zu,  doch  zeigt  sich  überdies  eine  Zunahme  der 
Sommerregen  von  Westen  nach  Osten  etwa  nach  einer 
von  dem  Niederrhein  nach  den  Sudeten  quer  durch 
Deutschland  gedachten  Linie.  In  den  mehr  östlich  ge- 
legenen Gebirgen,  wie  den  Sudeten,  tritt  hiernach  erst 
in  größerer  Höhe  ein  üeberwiegen  der  Winterregen  als 
beispielsweise  in  den  Vogesen  gegen  die  Tiefebene   ein. 

Ueber  das  Verhältnis  der  Regenmengen  ein- 
zelner Zeiten  zu  der  jährlichen  Regenmenge 
geben  die  Untersuchungen  von  Hell  mann  *),  wenigstens 
für  das  nördliche  Deutschland,  Auskunft. 

Hiemach  sind  monatliche  Niederschläge  von 
200  mm  nicht  selten  und  überschreiten  in  einzelnen 
Fällen  den  Betrag  von  300  mm ;  auch  zeigt  sich  in  dem 
Betrage  der  größten  Niederschlagsmenge  der  verschie- 
denen Monate  eine  jährliche  Regelmäßigkeit. 

Die  größten  täglichen  Niederschlagshöhen 
stimmen  in  dem  ebenen  Norddeutschland  ziemlich  gut 
überein,  so  daß  das  mittlere  tägliche  Maximum  der  Nieder- 
schläge zu  35  mm  angenommen  werden  kann ,  während 
Tagesmaxima  von  mindestens  100  mm  überall  zu  ge- 
wärtigen sind. 

Starke  Regenfälle  sind  meist  von  kurzer  Dauer  und 
fallen  selten  10  Minuten  lang  mit  gleicher  Dichtigkeit. 
Erhebliche  Unterschiede  treten  in  dem  ebenen  Nord- 
deutschland nicht  auf,  und  Beobachtungen  in  Trier,  Dres- 
den, Breslau,  Kiel,  Posen,  Königsberg  weisen  darauf  hin, 
daß  auf  Stundenmaxima  von  ÜO — 75  mm  zu  rech- 
nen ist. 

Den  wichtigsten  Einfluß  auf  die  Niederschläge  üben 


^)  Größte  Niederschlagsmengen  in  Deutschland.    Zeitschrift 
des  statistischen  Bureaus  zu  Berlin.    24.  Jahrg.  1884. 


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038  Gustav  Becker, 

die  örtlichen  Verhältnisse,  wie  die  Nähe  des  Meeres,  die 
Lage  gegen  das  Gebirge,  Waldbestand  und  Kulturver- 
hältnisse, die  Nähe  größerer  Binnenseeen  und  anderes  aus. 
Lehrreiche  Beweise  hierfür  bieten  die  Isohyetenkarten, 
Karten  mit  Linien  gleicher  Regenhöhen ,  von  Baden  *) 
dar,  deren  Studium  warm  empfohlen  werden  kann.  Ein 
gleiches  Beoachtungsmaterial  wird  für  ganz  Deutschland 
anzustreben  sein,  sich  aber  wohl  erst  nach  Durchführung 
der  geplanten  Neugestaltung  des  meteorologischen  Dienstes 
in  Preußen  gewinnen  lassen.  Die  vorhandenen  Regen- 
karten von  Deutschland  lassen  es  noch  an  dem  nötigen 
Maß  von  Genauigkeit  fehlen,  auch  sind  dieselben  nicht 
derart  erschöpfend,  um  für  die  Fluß-  und  Seeenkunde 
hinreichende  Unterlagen  zu  gewähren;  ebenso  wird  die 
gute  Unterstützung,  welche  die  amtliche  Thätigkeit  sei- 
tens einzelner  Privaten  und  namentlich  seitens  landwirt- 
schaftlicher Vereine  bisher  gefunden  hat,  auf  diesem  Ge- 
biete dauernd  erforderlich  sein. 


2.  Messung  der  Niederscliläge. 

Die  Regenmesser,  auch  Hyetometer,  Pluviometer, 
Ombrometer  oder  Udonieter  genannt,  bestehen  im  wesent- 
lichen aus  drei  Teilen,  dem  Auffangegefäß,  dem 
Sammelgefäß  und  dem  Meßgefäß.  Das  Auffangegefaß 
bildet  eine  kreisrunde  oder  quadratische  Schale  mit  genau 
bestimmter  oberer  Oeffnung  und  scharfem  Rande,  welche 
sich  nach  unten  trichterförmig  verjüngt  und  sonach  die 
Niederschläge  nur  durch  eine  kleine  Oeffnung  in  das 
darunter  befindliche  cylindrische  Sammelgefäß  gelangen 
läßt,  wodurch  der  Verlust  durch  Verdunstung  so  gering 
ist,  daß  derselbe  vernachlässigt  werden  kann.  Die  Größe 
der  Auffangefläche  schwankt  zwischen  200  qcm  auf  den 
neueren  Stationen  in  Baden,  500  qcm  auf  den  Stationen 
der  deutschen  Seewarte  und  2000  qcm  auf  den  forstlieh- 


')  Beiträge  zur  flydrogi-aphie  des  Großherzogtums  Baden. 
Herausgegeben  von  dem  Zentralbüreau  für  Meteorologie  u.  Hydro- 
i^raphie.     Karlsruhe   1885. 


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Gewässerkunde. 


639 


Flg.  1. 


gefäss 


Samiut  I 
geCi- 


meteorologischen  Stationen  in  Preußen  und  den  Reichs- 
landen, hat  aber  bei  dieser  Verschiedenheit  keinen  Einfluß 
auf  die  Messungen.  Aus  dem 
Sammelgefäß,  dessen  Größe  für 
die  Zeit  zwischen  zwei  Beob- 
achtungen zu  bemessen  ist, 
kann  das  Wasser  mittelst  eines 
Hahnes  in  einen  Meßcylinder  Auffange- 
von  Glas  abgelassen  werden, 
welcher  derart  geteilt  ist,  daß 
die  Regenhöhe  unmittelbar  ab- 
gelesen werden  kann. 

Mittelst  dieser  Apparate 
kann  wohl  die  Größe  eines 
Regenfalls,  nicht  aber  die  Zeit, 
in  welcher  derselbe  stattgefun- 
den hat,  mit  Sicherheit  gemes- 
sen werden,  da  häufige  Beob- 
achtungen sich  nur  schwer  aus- 
führen lassen,  weshalb  dieselben 
in  der  Regel  nicht  häufiger  als 
zweimal  in  24  Stunden  statt- 
zufinden pflegen.  Nach  den  Be- 
schlüssen des  Meteorologen- 
kongresses zu  Wien  soll  die 
Beobachtung  einmal,  um  7  Uhr 
morgens ,  vorgenommen  und 
das  Ergebnis  für  den  voraus- 
gegangenen Tag  aufgeschrieben 
werden. 

Die  Regenmesser  nach  dem 
Modell  der  deutschen  Seewarte 
kosten  mit  Vorrichtung  zum 
Befestigen  an  einem  Pfosten 
mit  doppelten  Auffange- 
gefäßen  und  Meßglas  in  den 
mechanischen  Instituten  von 
().  Ney  und  von  R.  Fueß  in  Berlin  27,o  Mark. 

Für    technische   Zwecke    ist,    neben    der    Höhe    des 


Messgetä^a 


Regenmesser  (Modell  der  deutschen 
See  warte). 


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040 


Gustav  Becker, 


Auffange  gefäss 


'CiviniUüJ 


£;iiinm«lgt»riit«a 


Selhirt^lftlfeteiender 


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Gewässerkunde.  641 

{legenfalles ,  Zeit  und  Dauer  desselben  von  Wichtigkeit, 
weshalb  eine  ausgedehntere  Verwendung  selbstaufzeich- 
nender Regenmesser,  welche  dauernd  über  die  Nieder- 
schläge Aufschluß  geben,  sehr  wünschenswert  erscheint. 
Von  den  verschiedenen  selbstaufzeichnenden  Regenmessern 
möge  der  nebenstehend  abgebildete  von  Dr.  Maurer  in 
Zürich  angegebene  und  von  Ho  ttingeru.  Comp,  in  Zürich^) 
hergestellte  näher  beschrieben  werden.  Das  Auffange- 
gefäß  mit  250  qcm  OeflFnung  läßt  das  Wasser  in  ein 
drehbares  Sammelgefäß  fallen,  welches  nach  gänzlicher 
Füllung  mit  500  ccm  sich  selbstthätig  entleert.  Senk- 
recht unter  dem  Sammelgefäß  befindet  sich  ein  durch 
eine  Spiralfeder  gehaltener  Stift  und  im  rechten  Winkel 
an  demselben  ein  Arm  mit  Schreibstift,  welcher  je  nach 
der  Füllung  des  Sammelgefäßes  eine  andere  Höhenlage 
hat.  Auf  einer  durch  ein  Uhrwerk  getriebenen,  mit  ent- 
sprechend geteiltem  Papier  überzogenen  Trommel  wird 
demnach  eine  gebrochene  Linie  verzeichnet,  in  welche 
jede  Entleerung  des  Sammelgefäßes  infolge  Zusammen- 
ziehung der  Feder  durch  einen  senkrechten  Strich  be- 
merkbar ist. 

Soll  Schnee,  dessen  Masse  sich  zum  Wasser  wie  15  : 1 
verhält,  gemessen  werden,  so  ist  entweder  das  Auffange- 
gefäß an  Ort  und  Stelle  zu  erwärmen  oder  durch  ein 
anderes  Gefäß  während  der  Dauer  des  Auftauens  zu  er- 
setzen. 

Hinsichtlich  der  Aufstellung  des  Regenmessers 
scheint  die  Höhe  über  dem  Erdboden  von  geringer  Be- 
deutung und  die  frühere  Annahme,  daß  die  Regendichte 
an  der  Erdoberfläche  am  größten  sei,  unzutrefiFend  zu 
sein.  Vielmehr  kommt  die  Einwirkung  des  Windes  bei 
den  Messungen  wesentlich  zur  Geltung,  weshalb  bei 
Aufstellung  von  Regenmessern  besonders  darauf  Bedacht 
genommen  werden  muß,  daß  der  Wind  inNder  Nähe  so 
wenig  als  möglich  Widerstand  findet,  um  nicht  durch 
Aufstau  den  Regen  über  die  Auffangeschale  fortzutreiben. 


*)  Derselbe  wird  auch  von  R«  Fueß  u.  0«  Ney  in  Berlin  zum 
Preise  von  160  M.  geliefert. 

Anleitung  zur  dentseben  Landes«  und  VolksforBchong.  41 


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(342  Gustav  Becker, 

Zur  Beseitigung  des  nachteiligen  Einflusses  des  Windes 
ist  von  Nipher  ein  Schutztrichter  in  Vorschlag  gebracht 
worden,  der  nicht  ohne  Wirkung  ist,  jedoch  bei  reich- 
lichem Schneefall  seinen  Dienst  versagt*). 

3.  Verdunstung  und  Versickerung  der  Niederschläge. 

Von  den  Niederschlägen  wird  ein  Teil  von  den 
Pflanzen  aufgenommen,  ein  anderer  wird  dem  Abfluß 
durch  Verdunstung  bez.  Versickerung  entzogen.  Die 
Verdunstung  am  und  im  Boden  ist  bisher  nur  unvoll- 
kommen festgestellt  worden.  Ein  auf  bayrischen  Sta- 
tionen hierfür  benutzter  Apparat  *)  giebt  nur  Aufschluß 
über  die  Verdunstung  in  flachen,  mit  Wasser  gesättigten 
Bodenschichten.  Versuche  von  Woldrick  in  Oberdöbling 
bei  Wien  über  die  Verdunstung  des  Wassers  im  Boden 
in  verschiedenen  Tiefen  haben  aber  gezeigt,  daß  die  Ver- 
dunstung mit  zunehmender  Stärke  der  Bodenschicht  ab- 
nimmt. Aus  diesen  und  weiteren  Beobachtungen  geht 
allein  mit  Sicherheit  hervor,  daß  die  Verdunstimg  im 
Sommer  am  größten  ist,  im  Herbst  und  Frühling  abnimmt 
und  im  Winter  am  geringsten  ist,  und  daß  die  Zeit 
des  Wachstums  der  Pflanzen,  großen  Einfluß  auf  die 
Verdunstung  ausübt.  So  ergiebt  sich  die  Verdunstung 
auf  Wiesen  und  Weiden  größer  als  auf  Brachfeld,  und 
in  Waldgebieten  hält  das  Laubdach  erhebliche  Mengen 
der  Niederschläge,  welche  vorwiegend  verdunsten,  von 
dem  Boden  ab.  Während  die  Regenmenge  über  dem 
Laubdach  bis  zu  18  '7«  größer  als  im  freien  Felde  ge- 
funden worden  ist,  hat  sich  die  im  Walde  gemessene 
Regenhöhe  nur  zu  7l^/o  jener  ergeben,  wonach  also  die 
Verlustraenge  47  "/o   beträgt. 

Eineil  eigenartigen  Ausgleich  hat  die  Natur  für  die 
geringeren  Niederschläge   auf  Waldboden   aber   dadurch 


^)  lieber  den  von  Nipher  vorgeschlag^enen  Sehuiztrichter  für 
Regenmesser.    Meteorologische  Zeitschrift  1884.  S.  881. 

*)  Handbuch  der  Ingenieurwissenschaflen.  2.  Aufl.  Bd.  III 
Wasserbau.  1.  Abt.  S.  25. 


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Gewasserkunde.  643 

getroffen,  daß  von  demselben  eine  wesentlich  geringere 
Menge,  nach  den  verschiedenen  Beobachtungen  40 — lO^/o, 
als  auf  freiem  Felde  verdunstet  und  in  den  Waldboden 
demgemäß  eine  ebenso  große  und  bei  einer  Streudecke 
sogar  eine  größere  Wassermenge  einsickert  als  im  Freien, 
und  auf  diese  Weise  gerade  im  Sommer  der  Waldboden 
zu  einer  gleichmäßigen  Speisung  der  Quellen,  Bäche  und 
Seeen  wesentlich  beiträgt  ^). 

4.  AbflnsB  der  Niederscliläge. 

Aus  Vorstehendem  geht  also  hervor,  daß  die  Nieder- 
schläge je  nach  der  Jahreszeit  und  nach  der  natürlichen 
oder  künstlichen  Beschaffenheit  der  Erdoberfläche  ver- 
schieden große  Verluste  erleiden  und  sonach  nur  ein 
Teil  derselben  zu  Thal  gelangt.  Diese  Abflußmenge  läßt 
sich  für  einen  bestimmten  Flußlauf  nur  aus  der  Größe 
des  zugehörigen  Niederschlagsgebietes  ermitteln,  wofür 
ein  besonderes  Kartenmaterial  bisher  für  Deutschland  nur 
unvollkommen  vorhanden  ist.  Für  Bayern  giebt  es  wohl 
eine  1881  erschienene  hydrographische  üebersichtskarte, 
im  übrigen  ist  neben  den  Admiralitätskarten  *) ,  welche 
jedoch  nur  die  Küsten  der  Nord-  und  Ostsee  behandeln, 
wenig  allgemein  zugängliches  Material  bekannt.  Eine 
gute  Unterlage  gewähren  aber  auch  schon  die  General- 
stabskarten (1:100000)  und  noch  besser  die  von  der 
Landesaufnahme  herausgegebenen,  bisher  allerdings  nur 
teilweise  erschienenen  Meßtischblätter^)  (1:25000),  imd 
ebenso  unterrichten  die  geologischen  Karten  **).  Aus  ihnen 
läßt  sich  neben  der  Größe  die  Form  und  das  Gefälle  der 
Niederschlagsgebiete  ersehen  und  somit  ein  Anhalt  für 
diejenige  Niederschlagsmenge   gewinnen,    welche   in   der 


*)  Ebermayer,  Die  physikalischen  Einwirkungen  des  Waldes 
auf  Luft  und  Boden  und  seine  klimatologische  und  hygieiniache 
Bedeutung.     Berlin  1873. 

*)  Verlag  von  Dietrich  Reimer,  Berlin. 

')  Verlag  von  R.  Eisen schmidt,  Berlin. 

*)  Verlag  von  der  Simon  Schroppschen  Landkartenhandlung 
(.J.  Neumann),  Berlin. 


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(J44  Gustav  Becker, 

Zeiteinheit  zum  Abfluß  gelangt.  Nehmen  wir  z.  B.  an, 
dalä  von  Wäldboden  13  ^/o ,  vom  Felde  27  V  und  von 
weitläufig  bebautem  Gelände  37  ^jo  der  Niederschläge 
oberirdisch  abfließen,  so  ist  noch  zu  berücksichtigen,  daß 
diese  Wassermengen  nur  nach  und  nach,  und  zwar  mit 
weiteren  Verlusten,  in  die  Thäler  gelangen.  Für  städtische 
Entwässerungskanäle  sind  diese  Verhältnisse  näher  unter- 
sucht worden,  und  von  Bürkli ')  wird  für  Gebiete  bis  zu 
2000  ha  für  diese  Verzögerung  des  Abflusses  die  allge- 
meine Formel 

_  o,r>7^    _ 

angegeben,  worin  A^.  die  Abflußmenge  in  Sek.-L.  für  1  ha 
bei  dem  Zuflußgebiete  F;  R  die  Regenmenge  in  L.  f.  1  ha 
u.  Sek.;  g  das  Gefälle  des  Zuflußgebietes  F  bedeutet. 
Ebenso  hat  Frühling^)  den  Verlauf  des  Abflusses  für 
städtische  En  twässerungsgebiete  behandelt. 

Kurz  zusammengefaßt  erleiden  also  die  Niederschläge 
nach  Jahreszeit  und  Bodenkultur  verschieden  große  Ver- 
luste durch  Verdunstung  und  Versickerung,  und  die  ver- 
bleibende Abflußmenge  gelangt  erst  nach  weiteren  Ver- 
lusten und  einer  von  Größe,  Form  und  Gefälle  des 
Niederschlagsgebietes  abhängenden  Verzögerung  in  das 
Sammelgewässer. 

Zu  berücksichtigen  ist  nun  ferner  die  Verdunstung 
auf  den  freien  Wasserflächen  der  Seeen  und  Flüsse, 
doch  sind  zuverlässige,  der  Wirklichkeit  entsprechende 
Beobachtungen  schwierig  auszuführen,  da  die  Luftströ- 
mung und  die  Temperatur,  bei  großen  Wasserflächen 
auch  die  Windrichtung  von  erheblichem  Einfluß  sind, 
die  bisher  benutzten  Apparate  diesen  Einflüssen  aber 
nur  unvollkommen  Rechnung  tragen.  Allgemein  läßt 
sich  nur  sagen,  daß  die  Verdunstung  am  Tage  größer 
ist  als  während  der  Nacht,  und  daß  eine  Verdunstungs- 


')  Größte  Abflußmengen  bei  städtischen  Abzugskanälen.  Mit- 
teilungen des  Schweizer.  Ing.-  u.  Arch.- Vereins  1880. 

''')  Handbuch  der  Ingenieurwissenschaften  Bd.  II f,  Wasserbau. 
2.  Aufl.  S.  401  flf. 


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Gewasserkunde.  G45 

höhe  von  mehr  als  1  cm  in  den  12  Tagesstunden  selten 
beobachtet  worden  ist.  Holländische  Ingenieure  nehmen 
für  die  dortigen  Kanäle  in  heißen  Sommern  90  cm  Ver- 
dunstung an.  Auf  diesem  Gebiete  sind  also  weitere  For- 
schungen durchaus  wünschenswert,  bei  welcher  Gelegen- 
heit auch  auf  die  Beobachtung  der  Temperatur  der 
Gewässer,  welche  auf  die  Vorgänge  nicht  ohne  Einfluß 
erscheint,  hingewiesen  werden  soll.  Nach  dem  Ergebnis 
einjähriger  Beobachtungen  in  der  Saale  bei  Halle  ^)  geht 
hervor,  daß  das  Wasser  im  allgemeinen  eine  höhere  Tem- 
peratur besitzt  als  die  Luft,  und  auch  selbst  die  niedrigste 
Lufttemperatur  niclit  mit  der  niedrigsten  Wassertemperatur 
zusammenfällt.  Der  Verfasser  hält  es  nicht  für  ange- 
messen, hieraus  bereits  weitere  Schlüsse  zu  ziehen ,  er- 
achtet aber  weitere  Untersuchungen  für  erforderlich  ^). 

Einen  weiteren  Verlust  erhalten  die  abfließenden 
Wassermassen  zeitweilig  dadurch,  daß  sie  besonders  bei 
Anschwellung  der  Wasserläufe  die  unterirdischen  Wasser- 
zuflüsse speisen,  wie  andererseits  letztere  von  außerordent- 
licher Bedeutung  für  die  Wasserversorgung  von  Seeen, 
Bächen  und  Flüssen  sind.  Ueber  diese  unterirdischen 
Wasserzuflüsse,  das  sog.  Grundwasser,  sind  unsere 
Kenntnisse  naturgemäß  noch  geringer  als  hinsichtlich 
der  oberirdischen  Abflußmengen.  Die  allgemeinste  Er- 
klärung für  die  Bildung  des  Grundwassers  besteht  in 
der  Annahme,  daß  das  versickernde  Niederschlagswasser 
durch  undurchlässige  Schichten  aufgehalten  wird,  und  den 
Gesetzen  der  Schwere  folgend  einen  Abfluß  sucht  und 
hierbei  entweder  nochmals  als  Quelle  zu  Tage  tritt  oder 
unmittelbar  von  einem  offenen  Gewässer  aufgenommen 
wird. 

Vogler  dagegen  behauptet,  daß  die  Niederschläge 
nur  bis  zu  geringer  Tiefe  in  den  Boden  eindringen  und 
nicht  zur  Bildung  des  Grundwassers  beitragen,  letzteres 
vielmehr  ein  Erzeugnis  bisher  unberücksichtigter  Nieder- 


')  Ergebnisse  einjäliri<(ftr  I5eobachtung  der  Wassertenipemtur 

in  der  Saal«  bei  Halle  von  W.  U 1  e.    Meteorol.  Zeitsehr.  Aug.  1887. 

'')  Woeikof,  Die  Klimate  der  Erde.   Jena  ISST.  1.  «d.  6.  Kap. 


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646  Gustav  Becker, 

schlüge'  ist,  welche  unterhalb  der  Erdoberfläche,  und 
zwar  durch  Verdichtung  des  Wassergasgehaltes  der  Luft 
erfolgen. 

Novak^)  nimmt  ferner  an,  daß  das  Wasser  der  Meere 
und  Seeen  durch  Spalten  und  Klüfte  in  den  sog.  tellu- 
rischen Hohlraum  gelangt,  von  hier  in  Dampfform  in  die 
oberen  Erdschichten  aufsteigt  und  sich  daselbst  zu  Grund- 
wasser verdichtet. 

lieber  den  Umfang  der  Grundwassergebiete  sind  die 
Ermittelungen  ebenso  schwierig  wie  über  Gefalle,  Ge- 
schwindigkeit und  Menge  des  Grundwassers.  Das  Ge- 
fälle hängt  vorwiegend  von  der  Steigung  der  undurch- 
lässigen Schicht  ab  und  wechselt  mit  der  Beschaffenheit 
der  durchlässigen  Schicht,  welche  je  verschiedene  Druck- 
höhen zur  üeberwindung  der  Bewegungswiderstände  er- 
forderlich macht.  Hiernach  wird  also  die  Geschwindigkeit 
wesentlich  von  der  geringeren  oder  größeren  Durchlässig- 
keit des  Bodens,  d.  i.  der  Zahl  und  Größe  der  Zwischen- 
räume in  demselben,  beeinflußt. 

Wenn  auch  mancherlei  Einzelbeobachtungen  über 
Grundwasserverhältnisse  gemacht  worden  sind,  so  ist  es 
doch  bisher  nicht  gelungen,  allgemein  gültige  Formeln 
über  die  Grund wasserbewegung  aufzustellen.  Jedenfalls 
erscheinen  Forschungen  namentlich  über  die  wechselnde 
Höhe  des  Grundwasserstandes  '^)  und  nebenbei  auch  über 
die  Temperatur  des  Grundwassers,  wie  solche  in  einzel- 
nen Städten  für  Zwecke  der  Gesundheitspflege  vorge- 
nommen werden,  in  weiteren  Gebieten  wünschenswert. 
Diese  Beobachtungen  dürfen  natürlich  nicht  an  benutzten 
Brunnen,  sondern  müssen  an  besonderen  Wasserst^inds- 
röhren  vorgenommen  werden.  In  Berlin  sind  fiir  diesen 
Zweck  gußeiserne  Muffenröhren  von  21  cm  Weite  mit 
verschließbarem  Deckel  bis  l,o  m  tief  unter  den  mitt- 
leren Grundwasserstand  gesenkt,  in  denen  der  Wasser- 
stand an  Schwimmern  mit  Teilung,   deren  Nullpunkt  in 


*)  Nowak,  Vom  Ursprünge  der  Quellen.    Prag  1879. 
')  Nowak,  lieber  das  Verhältnis  der  Grundwasserschwankun- 
gen  u.  8.  w.     Prag  1874. 


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Gewässerkunde. 


(547 


den  Wasserspiegel  fällt,    täglich   zur  bestimmten  Stunde 
abgelesen  wird. 

Die  außerordentlichen  Verschiedenheiten  der  Nieder- 
schlagsgebiete untereinander  und  einzelner  Teile  der- 
selben und  die  zahlreichen  erwähnten  Einzeleinflüsse  ge- 
statten es  nicht  überall,  endgültige  Schlüsse  aus  den 
zumal  bisher  vielfach  lückenhaften  Beobachtungen  der 
Niederschläge  zu  ziehen,  vielmehr  bilden  die  Unter- 
suchungen an  den  Flußläufen  selbst  eine  wichtige  Er- 
gänzung hierzu. 


TU.  Wasserstandsbeobachtungen. 

Die  gewöhnlichste  Vorrichtung  zur  Beobachtung  der 

besteht    in    senkrecht   oder 


Fig.  3. 


Wasserspiegelschwankungen 
geneigt  aufgestellten  und  un- 
verrückbar befestigten  Maß- 
stäben, sog.  Pegeln,  mit 
einer  Einteilung  nach  Fuß- 
oder Metermaß.  Beispiels- 
weise in  Baden  werden  die 
Pegel  aus  zwei  rechtwinkelig 
zusammengenieteten  Eisen- 
blechen hergestellt,  welche 
unter  45^  befestigt  sind  und 
dem  Beobachter  ein  Ablesen 
von  der  Seite  her  gestatten. 
Die  Teillinien  für  die  ganzen 
und  halben  Meter  sind  durch 
aufgenietete  Stäbchen  er- 
sichtlich gemacht,  während 
dazwischen  abwechselnd 
Rechtecke  von  je  5  cm  Höhe 
ausgestanzt  sind.  Neben  den 
Teilungen  für  volle  Meter 
sind  außerdem  die  Höhenzahlen  aufgenietet. 

Für  Preußen  ist   eine   bis   auf  2  cm   herabgehende 
Teilung  vorgeschrieben,  welche  dadurch  übersichtlich  wird, 


Pegel  in  Baden  (1:20). 


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048 


Gustav  Becker, 


Fig.  4. 


(laß  von  einer  Mittellinie  aus  abwechselnd  je  10  cm  links 
bez.  rechts  verzeichnet  und  die  Decimeter  durch  arabische, 
die  ganzen  Meter  durch  römische  Zahlen  hervorgehoben 
werden.  Die  Einteilung  wird,  sowohl  mit  Farbe  als  er- 
haben, gewöhnlich  auf  einer  hölzernen  Latte  hergestellt. 
Empfehlenswerter  sind  Pegel  aus  email- 
liertem Eisenblech  oder  aus  Steingut  bez. 
Porzellan,  welche  wegen  der  glatteren 
Oberfläche  weniger  verunreinigt  werden 
und  sich  auch  leichter  reinigen  lassen. 
In  der  Regel  sind  die  Pegel  jetzt 
derart  eingeteilt,  daß  höheren  Wasser- 
ständen auch  höhere  Zahlen  der  Ablesung 
entsprechen  und  der  Nullpunkt  entweder 
mit  dem  bekannten  niedrigsten  Wasser- 
stande oder  wohl  auch  mit  der  normalen 
Sohle  zusammenfällt.  Die  Annahme  des 
Nullpunktes  ist  sonach  ohne  Bedeutung, 
doch  vermeidet  man  gern  etwaige  ne- 
gative Ablesungen;  dagegen  ist  die  un- 
veränderte Höhenlage  des  Nullpunktes 
von  der  größten  Wichtigkeit  und  daher 
durch  andere  feste  Punkte  festzulegen 
und  häufiger  zu  prüfen.  Die  Kenntnis 
der  Höhenlage  der  Nullpunkte  unter- 
einander und  zum  Meeresspiegel  oder 
einem  anderen  Normalhöhenpunkt  ist  erst 
für  erweiterte  Zwecke  erforderlich. 

Die  Orts  wähl  für  die  Aufstellung 
eines  Pegels  erfordert  besondere  Auf- 
merksamkeit, indem  auf  ein  geschlosse- 
nes Bett  mit  möglichst  unveränderlicher 
Sohle,  durch  welches  die  ganze  Wassermenge  abfließt,  und 
auf  eine  geschützte  Stelle  mit  ruhiger  Wasserfläche  ebenso 
zu  achten,  wie  die  Rückwirkung  von  Stauanlagen  zu  ver- 
meiden ist.  Bei  Wehranlagen  sind  Pegel  im  Ober-  und 
Unterwasser  aufzustellen. 

Die  Ablesung   muß   regelmäßig,   täglich  wenigstens 
einmal   zur   gleichen  Zeit,    bei   ungewöhnlichen  Wasser- 


Pegel  in  Preusseii. 


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G  e  wässerkuD  de.  649 

ständen  aber  häufiger  erfolgen.  Für  die  Pegel  an  den 
schiffbaren  Flüssen  Preulaens  ist  aus  den  hierüber  vor- 
handenen Bestimmungen  folgendes  hervorzuheben: 

§  5.  Auf  denjenigen  Stationen,  wo  kein  merklicher 
Flutwechsel  stattfindet,  werden  die  Wasserstände  an  jedem 
Tage  zu  Mittag  zwischen  11  und  1  Uhr  beobachtet. 
Sollte  der  Wasserstand  sich  schnell  ändern,  wie  etwa  bei 
Eisgängen  oder  Gewitterregen,  so  ist  das  Maximum  oder 
Minimum  des  Wasserstandes,  insofern  es  nicht  in  der  vor- 
stehend angegebenen  Beobacfatungszeit  eintritt,  besonders 
zu  vermerken. 

Wo  dagegen  ein  stärkerer  Flutwechsel  sich  bemerk- 
bar macht,  ist  jedesmal  im  Laufe  eines  Tages,  und  zwar 
in  den  Tagesstunden,  ein  Hochwasser  und  ein  Niedrig- 
wasser mit  möglichst  genauer  Angabe  der  Zeit  des  Ein- 
tritts desselben  zu  beobachten  und  zu  notieren.  Der 
Beobachter  muß  sich  zu  diesem  Zwecke  wenigstens  eine 
Viertelstunde  vor  dem  erwarteten  Stillstande  des  Wassers 
i:n  den  Pegel  begeben  und  von  fünf  zu  fünf  Minuten  den- 
selben so  lange  beobachten,  bis  ein  entschiedenes  Sinken 
oder  Steigen  des  Wassers  stattfindet  u.  s.  w. 

55  0.  Der  Eisgang  und  Eisstand  muß  so  vollständig 
notiert  werden,  daß  aus  der  Tabelle  zu  ersehen,  wie 
lange  das  Gewässer  neben  dem  Beobachtungsorte  mit  Eis 
bedeckt  gewesen.  Ferner  ist  anhaltender,  starker  Regen 
oder  Schneefall  und  heftiger  Wind  mit  Angabe  der  Rich- 
tung desselben  in  die  Tabelle  aufzunehmen.  In  den 
Tabellen  für  die  Seehäfen  ist  dagegen  die  Richtung  und 
Stärke  des  Windes  fortgesetzt  anzugeben,  letztere  unter 
den  Bezeichnungen:  Windstille,  mäßiger  Wind,  starker 
Wind,  Sturm  und  Orkan.  Ferner  ist  in  den  Seehäfen, 
bei  welchen  durch  Winde  Rückströmung  aus  der  See 
veranlaßt  wird,  die  Richtung  des  Stromes  durch  die 
Worte:  auslaufend  und  einlaufend  zu  bezeichnen.  End- 
lich aber  ist  auch  die  Tiefe  des  Seegatts  oder  des  Fahr- 
wassers vor  der  Hafenmündung,  wenn  dasselbe  bedeuten- 
den Veränderungen  unterworfen  ist,  nach  jeder  wirk- 
lichen Messung  in  der  letzten  Spalte  der  Tabelle  zu 
notieren. 


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650 


Gustav  Becker, 


Die  Monatstabellen   sind  in  folgender  Weise  aufeu- 
stellen : 

Wasserstände  des  Pregels 

beobachtet  in  den  Mittagsutunden  am  Pegel  zn  Tapiau 
März  188     . 


Meter 


1 
2 

3 

U.  8.  W. 


Summa 
Mittel 


1,48 
1,60 
1,70 


Bemerkungen. 


Mäßiger  Eisgang. 

Heftiger  Regen  und  starker  Wind  aus  SW. 

Nachmittags  5  Uhr  Wasserstand  +  liso. 


Tapiau,  den  1.  April  188... 

Revidiert 
Tapiau,  den  3.  April  188.. 


Der  Pegelbeobachter. 
Der  Bauinspektor. 


Jährlich   sind   ferner  Nachweise   in  folgender  Form 
aufzustellen: 

Znsammenstellnng  der  Wasserstftnde 

am  Pegel  zu 

für  das  Jahr 


Vorbemerkung: 


Höheulage  des  Pegel-Nullpunkts  zu  N.  N.    .    .    . 
Höhenlage  des  dazu  gehörigen  Festpunktes,  näm- 
lich   zu  N.  N. 


Der  für  die  Bauausführungen  maßgebende  mittlere 

Wasserstand  ist 

Der  höchste  Wasseratand  bei  eisfreiem  Strome  fand 

statt  am  18 .    .     .    .     . 

Der  höchste  Wasserstand  infolge  von  Eisversetzung 

fand  statt  am 18 

Der  niedrigste  Wasserstand  fand  statt  am 

18 


=  -f       m. 


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Gewässerkunde.  651 

Sommeu  der  monatliehen  Wasserstände: 

Januar =  m. 

Februar =  , 

u.  8.  w. 

Summa       m. 

Der  mittlere  Wasserstand  des  Jahres  18 =  m. 

Der  höchste  Wasserstand  am ...      -  „ 

Der  höchste  eisfreie  Wasserstand  am =  , 

Der  niedrigste  Wasserstand  am .    .  —   ..  .  „ 

Ich  bescheinige  hiermit,  dafi  ich  während  dieses  Jahres  die 
Beobachtungen  wiederholentlich  kontrolliert  und  immer  richtig 

befunden,  sowie  auch,  daß  ich  am  d.  J.  den  Pegel 

untersucht  und  dabei  den  Maßstab  richtig  eingeteilt,  lotrecht  auf- 
gestellt und  die  HöhenL'ige  des  Nullpunkts  =  m  unter  dem 

oben  angegebenen  Festpunkte  gefunden  habe. 

,  den      t«n  18 

Der  Wasserbauinspektor. 

An  den  Hauptströmen  sind  umfangreiche  Pegelbeob- 
achtungen  seit  Dezennien  vorgenommen  und  übersichtlich 
geordnet  worden,  während  an  den  nicht  schiffbaren  Neben- 
flüssen, besonders  aus  Mangel  an  geeigneten,  zuverlässigen 
Beobachtern,  welche  sich  freiwillig  dieser  Mühe  unter- 
ziehen, bisher  wenig  geschehen  ist.  Für  Preußen  ist 
neuerdings  der  Herr  Minister  für  Landwirtschaft  den  Ver- 
hältnissen näher  getreten  und  hat  sich  zur  Aufstellung 
von  Pegeln  auf  Staatskosten  geneigt  gezeigt,  falls  die 
zuverlässige  Beobachtung  unentgeltlich  zu   erreichen  ist. 

Auiäer  festen  Pegeln  sind  auch  wohl  Schwimmer- 
pegel  in  Gebrauch,  deren  einfachste  Einrichtung  in  einem 
Schwimmgefäß  und  darauf  befindlicher  geteilter  Latte 
besteht,  wodurch  es  möglich  wird,  den  Wasserstand  be- 
quem gegen  eine  über  dem  Wasser  befindliche  Höhen- 
marke ablesen  zu  können. 

Eine  andere  Einrichtung  ist  durch  das  Patent  J.  De- 
condun  derart  getroffen,  daß  eine  gußeiserne  Glocke, 
welche  durch  ein  Kupferrohr  mit  einem  Manometer  in 
Verbindung  steht,  in  das  Wasser  bis  zu  bestimmter  Tiefe 
eingesenkt  wird  und  daß  bei  wechselnden  Wasserständen 
der  in  der  Glocke  und  Leitung  sich  entsprechend  ändernde 


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652  Gustav  Becker, 

Luftdruck   mittelst   des  Manometers   ein  Zeigerwerk   vor 
einer  die  Wasserstände  bezeichnenden  Einteilung  bewegt. 
Derartige  Apparate   sind   unter  dem  Namen  Hydrometer 
in   den   Handel  ^    gekommen   und   eignen   sich   für   Ab- . 
lesungen  vom  Zimmer  aus. 

Um  den  Wasserstand  zu  bestimmten  Zeiten  nach- 
träglich ablesen  zu  können,  hat  Stadtbaurath  Wingen 
in  Glogau  eine  eigenartige,  unter  Nr.  44  749  ihm  pa- 
tentierte Einrichtung  erfunden.  Dieselbe  besteht  im 
wesentlichen  aus  einem  Schwimmer  in  Verbindung  mit 
einer  wagerecht  beweglichen  Pegellatte  und  einem  Gegen- 
gewicht; auf  diese  Latte  hängen  sich  von  dem  als  Leiter 
ausgebildeten  Gewicht  einer  Pendelulu*  in  bestimmten 
Zeiträumen  mit  dem  Sinken  des  Gewichts  kleine  Marken 
mit  Zeitangabe  an  denjenigen  Stellen  auf,  welche  den 
derzeitigen  Wasserstand  angeben. 

Zur  dauernden  Aufzeichnung  des  Wechsels  der 
Wasserstände  finden  selbstregistrierende  Pegel  Ver- 
wendung, bei  welchen  ein  meist  in  besonderem  Brunnen 
angeordneter  Schwimmer  durch  die  nötigen  Uebertragun- 
gen  einen  Schreibstift  bewegt,  welcher,  den  Schwankungen 
des  Wasserspiegels  entsprechend,  auf  einer  mit  geteiltem 
Papier  überzogenen,  durch  ein  Uhrwerk  gleichmäüig  ge- 
drehten Trommel  die  Kurve  der  Wasserstände  aufzeich- 
net, so  daß  die  Abscissen  die  Zeit,  und  die  Ordinaten 
die  zugehörigen  Wasserstände  angeben*). 

Die  über  längere  Zeiträume  ausgedehnten  Pegel- 
beobachtungen gestatten  einen  Schluß  auf  die  voraus- 
sichtlichen Wasserstände  bez.  Wassertiefen  in  den  ein- 
zelnen Monaten.  Für  die  Rheinpegel  in  Baden  sind  diese 
Ergebnisse  von  einem  Zeitraum  von  30  Jahren  derart 
graphisch  dargestellt,  daß  die  Monate  als  die  Abscissen, 
und  die  gemittelten  höchsten,  mittleren  und  niedrigsten 
Wasserstände  als  die  Ordinaten  eines  rechtwinkeligen  Ko- 
ordinatensystems aufgezeichnet  sind,  woraus  der  mittlere 

*)  Wischeropp,  Berlin  und  Wien. 

^)  Selbstregistrierend 0  Pegeluhr  an  dem  Hauptweserpegel  zu 
Bremen.  Zeitschrift  für  Bauwesen  1870.  —  0.  Ney  in  Berlin  fertigt 
Apparate  für  550  Mark. 


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Gewässerkunde.  (553 

Wasserstand  in  den  einzelnen  Jahreszeiten  anschaulich 
wird  ^).  Diese  Darstellungen  lassen  sich  för  Vergleiche 
noch  durch  Einzeichnung  der  mittleren  Regenhöhen,  der 
Größe  des  Niederschlagsgebiets,  dessen  Neigung  und 
sonstige  Beschaffenheit  ergänzen,  wie  überhaupt  die  zeich- 
nerische Darstellung  von  Zahlenwerten  für  vergleichende 
Forschungen  außerordentlich  bequem  ist. 

Aus  benachbarten  Pegelbeobachtungen  geht  ferner 
das  Wasserspiegelgefälle  hervor,  wodurch  ein  rechneri- 
scher Schluß  auf  die  Geschwindigkeit  des  Wassers,  welche 
neben  anderen  Einflüssen  vorwiegend  von  dem  Wasser- 
spiegelgefälle abhängt  und  mit  HUfe  des  wasserführenden 
Querschnitts  des  Flußbettes  ein  Schluß  auf  die  abgeführte 
Wassermenge  möglich  ist. 

Zu  außerordentlicher  Bedeutung  sind  aber  in  letzter 
Zeit  die  Pegelbeobachtungen  behufs  Ankündigung  von 
Hochwassergefahren  gelangt,  indem  durch  einen  geord- 
neten Nachrichtendienst  der  Behörden  höhere  Wasser- 
stände in  den  oberen  Flußgebieten  so  zeitig  telegraphisch 
nach  unterhalb  gemeldet  werden  können,  daß  Vorkeh- 
rungen und  Sicherungen  möglich  gemacht  sind. 


IV.  Geschwindigkeit  des  Wassers. 

Die  Geschwindigkeit  der  Wasserfäden  ist  in  einem 
Querprofile  nicht  an  allen  Stellen  die  gleiche,  sondern  sie 
nimmt  in  wagerechten  Schichten  von  der  Mitte  nach  den 
Ufern  und  in  senkrechten  Schichten  von  der  Oberfläche 
nach  der  Sohle  hin  ab. 

Zur  Messung  der  Oberflächengeschwindigkeit 
dienen  Schwimmkugeln  aus  Kupfer^),  Eisenblech  oder 
Glas,  welche  so  weit  mit  Wasser  gefüllt  werden,  daß  sie 
nur  wenig  über  die  Oberfläche  hinaxisragen,  um  den  Luft- 
widerstand möglichst  zu  beseitigen.  Aus  der  Dauer  des 
Durchschwimmens    einer    bekannten   Wasserstrecke    läßt 


')  Beiträge  zur  Hydrographie  des  Großherzogtums  Baden  Heft  1, 
*)  Bei  15  cm  Durchmesser  Stück  9  Mark. 


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654  Gustav  Becker, 

sich  alsdann  die  Geschwindigkeit  feststellen.  Unter  Um- 
ständen genügen  auch  wohl  für  kleine  Flüsse  Rundholz- 
abschnitte von  5— -10  cm  Durchmesser  und  3  cm  Starke, 
und  für  größere  Flüsse  Stangenabschnitte  von  4 — 5  cm 
Durchmesser  und  20 — 40  cm  Länge,  an  deren  unterem 
Ende  Steine  befestigt  werden. 

Ferner  findet  das  einfache  Log  Verwendung,  ein 
dreieckiges  Brettstück,  von  dessen  drei  Ecken  sich  Schnüre 
zu  einer  Maßleine  vereinigen,  an  welcher  der  zurück- 
gelegte Weg  an  der  Hand  einer  guten  Uhr  mit  Sekunden- 
zeiger bestimmt  werden  kann.  Die  Längenmessung  ist 
zwar  ungenau,  besonders  auch  durch  den  Widerstand, 
welchen  die  Leine  dem  schwimmenden  Brettchen  bietet, 
doch  ist  das  Verfahren  bei  höheren  Wasserständen  für 
angenäherte  Werte  brauchbar. 

Die  mittlere  Geschwindigkeit  in  einer  senkrechten 
Längsschicht  läßt  sich  durch  den  Gab  eoschen  Stab  oder 
Schwimm  st  ab,  einer  mit  Schrot  beschwerten  und  bis 
in  die  Nähe  der  Sohle  herabgesenkten  Blechröhre,  welche 
wie  die  vorerwähnte  Schwimmkugel  beobachtet  wird,  je- 
doch auch  nur  ungenau  ermitteln. 

Zweckmäßiger  und  zuverlässiger  ist  es,  die  Ge- 
schwindigkeit der  Wasserfäden  an  verschiedenen  Stellen 
eines  Querschnitts  zu  messen  und  die  Mittelwerte  zu  be- 
nutzen. Von  den  verschiedenen  hierfür  gebräuchlichen 
Instrumenten  sollen  nur  die  wesentlichsten  Erwähnung 
finden. 

Der  Tiefenschwimmer  ist  dem  Oberflächenschwim- 
mer nachgebildet,  jedoch  belastet  und  wird  mittelst  einer 
Schnur,  deren  Länge  der  gewünschten  Tiefe  angepaßt 
werden  kann,  von  einem  Oberflächenschwimmer  gehalten. 

Die  Pitotsche  Röhre  ist  in  einfachster  Gestalt  ein 
offenes,  rechtwinkelig  gebogenes  Rohr,  in  welches  das 
Wasser,  wenn  der  wagerechte  Schenkel  gegen  die  Strömung 
gerichtet  wird,  so  lange  eindringt  und  sich  über  den 
umgebenden  Wasserspiegel  erhebt,  bis  das  Gewicht  dieser 
kleinen  Wassersäule  dem  Stoße  des  Wassers  das  Gleich- 
gewicht hält.  Ist  der  Einströmungsquerschnitt  der  Röhre 
f',  und  bezeichnet  g  die  Beschleunigung  durch  die  Schwere, 


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Gewässerkunde. 


655 


sowie  Y  das  Einheitsgewicht  des  Wassers,  so  ist  der  von 

dem  Wasser  ausgeübte  Stoß  gleich  iT.-^.Ti    welchem 

die  Wassersäule  mit  dem  Gewicht  f\h.^,  worin  /"  den 

Querschnitt  des  senkrechten 

Rohrschenkels      bezeichnet,  ^*  *^ 

das     Gleichgewicht     halten 

muß. 

Die   Gleichgewichtsbe- 
dingung lautet  also 


f 


^9 


.^=r^h.^ 


oder 


Die  Geschwindigkeit  v^  ist 
noch  abhängig  von  einem 
für  jedes  Instrument  beson- 
ders zu  bestimmenden  Er- 
fahrungskoeffizienten (i.,  so 
daß,  da  ^2g  konstant  und 

\  /  -^  für  jedes  Instrument   '--^ 

bekannt  ist,   die  Gleichung  ^^ 

die  vereinfachte  Form 

v^  =  \i.}Jh 

annehmen  kann.  Eine  we- 
sentliche Verbesserung  an 
diesem  Apparat  ist  von 
Darcy  vorgenommen.  Dar- 
cy  benutzt  neben  der  Pitot- 
schen  Röhre  eine  zweite 
Glasröhre  mit  senkrecht  ge- 
richteter unterer  Oeflfhung,  welche  beide  auf  einer  Holz- 
tafel befestigt  sind,  hierdurch  an  einer  senkrecht  ge- 
stellten Stange  sich  bewegen  und  durch  ein  Steuer  selbst- 
thätig  in  die  Stromrichtüng  sich  einstellen  lassen. 


Darcy  sehe  Röhre. 


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65(5 


Gustav  Becker, 


Beide  Röhren  sind  unten  in  gleicher  Höhe  abspen*- 
bar.  Läßt  man  nun  das  Wasser  eintreten,  so  wird  das- 
selbe in  der  Pitotschen  Röhre  sich  dem  Wassersloße  ent- 
sprechend über  den  Wasserspiegel  erheben,  in  der  anderen 
Röhre  dagegen  nur  bis  zu  letzterem  ansteigen.  Da  femer 
beide  Röhren  oben  gegen  die  Luft  abzuschlieL:en  sind, 
ist  es  möglich,  die  Wassersäulen  bis  zu  einer  passenden 
Höhe  aufzusaugen  und  nach  Schließen  der  unteren  Ab- 
sperrvorrichtungen an  einer  zweckmäßig  beweglichen 
Höhenteilung  den  Unterschied  der  Wasserspiegel  ablesen 
zu  können.  Die  Geschwindigkeit  orgiebt  sich  alsdann  aus 
der  Gleichung  v,  =  \i  \'h^  —  h. 

Der  Wert  (t  muß  sorgfältig  durch  vergleichende  Versuche 
ermittelt  werden. 

Die  Darcysche  Röhre  hat  zwar  den  Vorteil,  an  der 
Sohle   und   am   Ufer,    sowie    am   Wasserspiegel   benutzt 

werden  zu  können,  doch 
beschränkt  sich  der  Ge- 
brauch auf  geringe  Tiefen 
bis  wenig  mehr  als  einen 
Meter. 

Für  die  notwendige  senk- 
rechte Stellung  hat  v.  Wag- 
ner *)  ein  besonderes  Gestell, 
in  welchem  das  Instrument 
hängt,  in  Anwendung  ge- 
bracht. 

Frank  in  München  hat 
die  hydrometrische  Röhre 
derart  eingerichtet,  daß  mit- 
telst einer  Messung  die  mitt- 
lere Geschwindigkeit  in  einer 
Senkrechten  gefunden  werden  kann  ^). 

Am  gebräuchlichsten  ist  der  im  Jahre  1790  von 
Woltmann   erfundene  und  nach  dem  Erfinder  benannte 


Fig.  6. 


v-C..  ■'-  i 


Woltmannscher  Flügel. 


*)  V.  Wagner,  Hydrologische  Untersuchungen  an  der  Weser. 
Elbe,  dem  Rhein  u.  s.  w.    Braunschweig  1881. 
•)  Deutsche  Bauzeitung  1888.  Nr.  101. 


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Gewässerkunde.  657 

Woltmannsche  oder  hydrometrische  Flügel.  In 
der  einfachsten  Einrichtung  besteht  die  Meßvorrichtung, 
welche  an  einer  Stange  in  bestimmter  Tiefe  festgehalten 
wird,  aus  zwei  bis  fünf  an  einer  wagerechten  Welle  sitzen- 
den Flügeln,  deren  Umdrehung  durch  den  Stoß  des 
fließenden  Wassers  erfolgt.  Die  Zahl  der  Umdrehungen 
in  der  Zeiteinheit  läßt  sich  an  einem  Rade  ablesen,  wel- 
ches in  das  auf  der  Flügelachse  befindliche  Schrauben- 
gewinde mittelst  einer  über  Wasser  reichenden  Schnur 
ein-  und  ausgerückt  werden  kann. 

Der  Apparat  liat  im  Laufe  der  Zeit  wesentliche  Ver- 
besserungen sowohl  an  dem  Zählapparat  selbst,  wie  an 
dessen  Ausrückvorrichtung  *)  erfahren.  Bisweilen  ist  der- 
selbe auch  mit  einem  Steuer  versehen  worden,  um  sich 
selbstthätig  in  die  Stromrichtung  einstellen  zu  können, 
wodurch  sich  jedoch  nachteilige  Erschütterungen  und,  falls 
die  Stromrichtung  nicht  senkrecht  zum  Profil  gerichtet 
war,  Unregelmäßigkeiten  gezeigt  haben. 

Je  nach  der  verschiedenartigen  Einrichtung  schwankt 
der  Preis  dieser  Apparate  von  40 — 160  Mark. 

Eine  bedeutende  Verbesserung  ist  von  Amsler- 
Laffon  in  Schaffhausen  dadurch  eingeführt  worden,  daß 
das  lästige  Herausnehmen  des  Apparats  aus  dem  Wasser 
behufs  Ablesung  der  Umdrehungen  dadurch  beseitigt 
worden  ist,  daß  diese  durch  elektrische  Uebertragung 
über  Wasser  erfolgt.  Das  von  der  Flügelwelle  bewegte 
Rad  ist  nämlich  mit  einem  Ansatz  versehen,  welcher  nach 
einer  gewissen  Anzahl  Umdrehungen  einen  Kontakt  er- 
zeugt, wodurch  ein  Elektromagnet  erregt  wird,  welcher 
den  zugehörigen  Anker  anzieht  und  eine  farbige  Scheibe 
vor  einer  Oeffnung  freigiebt  und  alsbald  wieder  ver- 
schwinden, bez.  ein  Glockensignal  ertönen  läßt.  Die  Ein- 
und  Ausrückschnur,  welche  leicht  von  der  Strömung  be- 
wegt wird,  ist  behufs  größerer  Zuverlässigkeit  innerhalb 
der  aus  Gasröhren  hergestellten  Haltestange  angeordnet, 
während  das  Steuer  nur  den  Zweck  hat,  die  Haltung  der 


*)  V.  Wagner  a.  a.  0. 
Anleltang  zur  deutschen  Landes-  und  VolkRforschung.  42 


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658  Gustav  Becker, 

Stange  zu  erleichtern,  der  Apparat  also  mit  der  Hand 
rechtwinkelig  zum  Profil  eingestellt  werden  muß. 

Für  größere  Tiefen  als  2  m  hat  Amsler  das  In- 
strument nicht  mehr  an  einer  Stange  befestigt,  sondern 
mittelst  Karabinerhaken  zwischen  ein  Drahtseil  gespannt, 
welches  auf  der  Sohle  durch  ein  linsenförmiges  Eisen- 
gewicht und  über  Wasser  durch  eine  an  einem  Ausleger 
eines  Bootes  befindliche  Rolle  gehalten  und  mit  einem 
Haspel  befestigt  wird,  wobei  der  hydrometrische  Flügel 
sich  frei  in  die  Stromrichtung  einstellt.  Der  Preis  eines 
solchen  Apparates  beträgt  rund  270  Mark. 

Während  bei  der  vorbeschriebenen  Einrichtung  bei 
einem  Wechsel  der  Tiefenlage  das  Instrument  aus  dem 
Wasser  genommen  werden  muß,  um  neu  eingestellt  wer- 
den zu  können,  hat  Professor  Harlacher^)  in  Prag  auch 
diesen  Nachteil  in  sinnreicher  Weise  zu  vermeiden  ge- 
wußt und  daneben  weitere  Verbesserungen  vorgenommen. 
Die  von  Ha rl acher  benutzte  Stange  zeigt  die  wesent- 
liche Abweichung,  daß  dieselbe  nicht  aufgehängt,  sondern 
in  die  Flußsohle  getrieben  wird  und  somit  zwei  Stütz- 
punkte erhält.  Dieselbe  ist  aus  einem  Eisenrohr  gefertigt 
und  mit  einem  senkrechten  Schlitz  versehen,  durch  wel- 
chen ein  Arm  geführt  ist,  welcher  die  Verbindung  mit 
dem  Aufhängepunkt  des  hydrometrischen  Flügels  im 
Mittelpunkt  der  Röhre  und  der  cylindrischen ,  durch 
federnde  Rollen  bewirkten  Führung  desselben  außerhalb 
der  Röhre  herstellt.  Mit  Leichtigkeit  kann  hierdurch  an 
einem  Drahtseil  der  Flügel  gehoben  und  gesenkt  und  die 
jederzeitige  Tiefenlage  ersehen  werden;  auch  ist  der 
Apparat  zum  Schutze  gegen  das  Aufstoßen  auf  die  Fluß- 
sohle mit  einer  kreisförmigen  Scheibe  versehen,  welche 
gleichzeitig  in  der  tiefsten  Lage  die  Höhe  des  Flügels 
über  der  Sohle  angiebt  und  das  Instrument  angemessen 
beschwert  und  das  Herunterlassen  erleichtert.  Befindet 
sich  die  Zähl  Vorrichtung  unter  Wasser,    so  ist  zum  Ab- 


^)  Harlacher,  Die  Messungen  in  der  Elbe  und  Donau 
und  die  hydrometrischen  Apparate  und  Methoden  des  Verfassers. 
Leipzig  1881. 


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Gewässerkunde.  050 

lesen  nur  das  Herausnehmen  des  Flügels,  nicht  auch  das- 
jenige der  Stange  nach  jeder  einzelnen  Beobachtung  er- 
forderlich. Harlacher  hat  weiter  aber  auch  die  elektrische 
üebertragung  für  die  Ablesung  derart  dienstbar  gemacht, 
daß  nach  je  100  Flügelumdrehimgen  ein  Glockensignal 
ertönt.  Mit  dieser  Einrichtung  kann  der  hydrometrische 
Flügel  während  der  Dauer  sämtlicher  Beobachtungen  in 
einer  Senkrechten  unter  Wasser  bleiben.  Um  ferner  die 
mittlere  Geschwindigkeit  in  einer  Senkrechten  durch 
gleichmäßige  Bewegung  des  hydrometrischen  Flügels  von 
der  Oberfläche  bis  zur  Sohle,  also  durch  eine  Beobacli- 
tung,  feststellen  zu  können,  hat  Harlacher  eine  mecha- 
nische Windevorrichtung  für  das  Drahtseil  und  einen 
Tourenzähler  für  die  einzelneu  Umdrehungen  eingeschaltet. 
Hierbei  ist  das  Schraubengewinde  auf  der  Flügelachse 
und  das  Rad  in  Wegfall  gekommen,  an  deren  Stelle  eine 
auf  der  Flügelachse  excentrisch  befestigte  Scheibe  bei 
jeder  Umdrehung  einen  Kontakt  erzeugt,  wobei  mittelst 
Elektromagnet  ein  Sperrrad  jedesmal  um  eine  Zahnlücke 
bewegt  wird. 

Die  von  verschiedenen  Seiten  gemachte  Beobachtung, 
daß  die  Geschwindigkeit  in  ein  und  demselben  Punkte 
eines  Querprofils  große  Verschiedenheit  zeigt,  ist  von 
Harlacher  durch  Einfügung  eines  Chronographen  un- 
zweifelhaft bestätigt.  Derselbe  zeigt  die  Geschwindigkeit 
während  einer  bestimmten  Zeitdauer  auf  einem  durch 
Linien  geteilten  Papierstreifen  an,  auf  welchem  die  Ab- 
scissen  die  Zeit,  die  Ordinaten  die  zugehörige  Geschwin- 
digkeit darstellen.  Dadurch  ist  ein  Einblick  in  die  Be- 
wegung der  einzelnen  Wasserteilchen  gewonnen  worden, 
welcher  die  allgemeine  Annahme  von  dem  Parallelismus 
der  Wasserfäden  stark  erschüttert. 

Die  Beziehung  zwischen  der  Geschwindigkeit  des 
Wassers  und  einer  Anzahl  von  Umdrehungen  des  Flügels 
ergiebt  sich  aus  der  Annahme,  daß  die  Geschwindigkeit  v 
der  Anzahl  der  Umdrehungen  n  proportional  ist,  also  die 
Gleichung 

V  =  ^  ,n 
besteht,  worin  ß  eine  von  der  Form  der  Flügel  abhängige 


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Gustav  Becker, 


BdIcHe 


Hydrometer  von  Harlacher. 


Konstante  bezeichnet,  welche 
für  jedes  Instrument  be- 
sonders bestimmt  werden 
muß.  Da  aber  die  Instru- 
mente für  kleine  Geschwin- 
digkeiten meistens  nicht 
empfindlich  genug  sind,  hat 
man  noch  einen  zweiten 
Koeffizienten  a  hinzugefügt. 
Dieser  entspricht  der  kleinen 
Geschwindigkeit,  welche  zur 
Ueberwindung  der  Reibungs- 
widerstände in  dem  Instru- 
ment gerade  ausreicht,  wo- 
durch die  Gleichung  die 
Form 

V  =  a-j-ßw 
erhält.     Die  Werte  werden 


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Gewässerkunde.  661 

aus  wiederholten  Versuchen  gefunden  und  nach  der  Me- 
thode der  kleinsten  Quadrate  oder  auch  nur  auf  graphi- 
schem Wege  *)   bestimmt.     Die  Versuche   selbst   werden 
in  der  Regel  in  stehenden  Gewässern  vorgenommen,  wo- 
bei  das  an  einem  Boot  oder  einer  EoUbrücke  befestigte 
Instrument  eine  bestimmte  Strecke  weit  durch  das  Wasser 
gezogen  wird.     Der  Wert  ß   müßte  sich  eigentlich  hier- 
bei für  jedes  Instrument  konstant,  gleich 
Weglänge 
Ganghöhe  der  Schaufeln ' 
ergeben;  derselbe  zeigt  sich  aber  abhängig  von  der  Ge- 
schwindigkeit,  mit   welcher   das   Instrument   den  Weg  l 
zurücklegt,   so  daß  die  Anzahl  der  Umdrehungen  mithin 
auch  abhängig  von  der  Zeitdauer  des  Versuchs  ist. 

Die  eingehendsten  Ermittelungen  hierüber  sind  von 
Exner*)  vorgenommen  worden,   welcher  zu  der  Formel 

gelangt.  Neben  den  schon  erwähnten  Bezeichnungen  be- 
deutet hierin  n  die  Umdrehungszahl  in  der  Zeit  z  auf  der 
Weglänge  i,  und  n^  die  Anzahl  der  Umdrehungen  auf 
dem  Wege  l  bei  sehr  großer  Geschwindigkeit. 

Die  einfacheren  Formeln  v  z=  ^n  für  ausschließlich 
große  Geschwindigkeiten  und  v  =  a  -\~  ^n  bei  sorgfälti- 
ger Konstantenbestimmung  nach  Geschwindigkeiten,  welche 
den  beabsichtigten  Messungen  ähnlich  sind,  erscheinen 
aber  vielfach  ausreichend. 


V.  Die  Wassermenge. 

1.  Ermittelung  aus  Oeschwindigkeitsmessmigen. 

Aus  den  durch  Messung  gefundenen  Geschwindigkeiten 
läßt  sich  nun  die  Wassermenge  durch  Rechnung  ermitteln. 

*)  Scheck,    Zur   Bestimmung   der    Konstanten    für    hydro- 
metriflche  Flügel.    Wochenblatt  fiir  Baukunde  1887.  S.  382. 
•)  Zeitschrift  für  Bauwesen  1875. 


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Ö(i2  Oustav  Becker, 

1.  Wird  ein  Flußprofil  in  eine  Anzahl  senkrechter 
paralleler  Streifen  (f)  und  jeder  Streifen  wiederum  in 
eine  Anzahl  zweckmäüig  gleich  große  Abschnitte  (ä)  zer- 
legt und  in  letzteren  die  Geschwindigkeit  (o)  durch  Mes- 
sung ermittelt,  so  ergiebt  sich  die  mittlere  Geschwindig- 
keit in  einem  Profilstreifen  aus  der  Summe  der  Produkte 
dieser  Geschwindigkeiten  und  der  zugehörigen  Flächen- 
abschnitte dividiert  durch  die  Fläche  des  Profilstreifens. 
Die  Summe  der  Produkte  aus  den  mittleren  Geschwindig- 
keiten und  den  Flächen  der  Profilstreifen  ist  die  Wasser- 
menge Q^  welche  in  der  Zeiteinheit  durch  das  Profil  von 
der  Größe  F  fließt. 

Es  ist  also  die  mittlere  Geschwindigkeit  in  einem 
Profilstreifen : 

1(0. a) 

und  die  Gesamtwassermenge  in  der  Sekunde 
Q  =  lif.r) 

und   die   mittlere  Geschwindigkeit   in  dem  ganzen  Quer- 
profil : 

2.  Harlacher  ermittelt  die  Wassermenge  auf  graphi- 
schem Wege  aus  den  bekannten  mittleren  Geschwindig- 
keiten, worüber  näheres  in  den  Mitteilungen  des  Verfassers 
nachzulesen  ist  *). 

3.  Trägt  man  auf  einem  Querprofil  die  Geschwindig- 
keit an  den  einzelnen  Punkten  als  Ordinaten  auf  und 
verbindet  die  Endpunkte  gleich  langer  Ordinaten  mit- 
einander, so  ergeben  sich  Kurven,  welche  den  geometri- 
schen Ort  gleicher  Geschwindigkeiten  in  einem  Querprofil 
bezeichnen  und  Isotachen  genannt  werden.  Diese  Kurven 
werden  von  einer  gekrümmten  Fläche  umhüllt,  welche 
zusammen  mit  dem  Querprofil  und  der  zwischengelegenen 

'Oberflächen-    bez.    Sohlstrecke    einen    Körper    begrenzt, 
dessen  Inhalt  der  Wassermenge  entspricht,  welche  in  der 


*)  Harlacher,  Die  Messungen  in  der  Elbe  n.  8.  w. 


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Gewässerkunde.  (3(33 

Zeiteinheit  das  Profil  durchfließt.  Durch  Zerlegen  dieses 
Körpers  mittelst  Parallelebenen  zu  dem  Querprofil,  so 
daß  Abschnitte  gleicher  Höhe  entstehen,  läßt  sich  der 
Inhalt  dieser  Abschnitte  aus  dem  Produkt  der  halben 
Summe  der  durch  Planimetrieren  erhaltenen  Plächengrößen 
und  der  Höhe,  welche  einen  Teil  der  Geschwindigkeit 
darstellt,  ermitteln  und  somit  der  Inhalt  des  ganzen 
Körpers  und  die  Wassermenge  gewinnen. 

2.  Ermittelung  durch  Rechnimg. 

Die  Wassermenge  eines  Flusses  läßt  sich  auch  aus 
der  durch  Rechnung  bestimmten  mittleren  Geschwindig- 
keit finden. 

Die  hierfür  aufgestellten  Formeln  lassen  sich  auf 
folgende  Betrachtungen  zurückführen.  Die  dem  Gesetze 
der  Schwere  unterworfenen  Wassermengen  in  einem  Fluß- 
bette müßten  eigentlich  eine  beschleunigte  Bewegung  an- 
nehmen; in  dem  Beharrungszustande,  also  bei  unveränder- 
tem Gefälle,  fließen  aber  gleich  große  Wassermengen  ab 
als  zu  und  es  findet  sonach  eine  gleichförmige  Bewegung 
statt;  die  Geschwindigkeiten  verhalten  sich  also  umge- 
kehrt wie  die  Querprofile.  Man  ist  daher  allgemein  da- 
von ausgegangen,  daß  die  Widerstände,  welche  durch 
Hindernisse  im  Abfluß  entstehen,  die  Beschleunigung  ganz 
aufheben  und  hat  angenommen,  daß  der  Widerstand  ( W) 
von  der  Größe  der  berührten  Fläche  oder  bei  der  Strom- 
strecke von  der  Länge  Eins  von  dem  benetzten  Umfange  {p) 
in  erster  Potenz  und  von  der  Geschwindigkeit  in  zweiter 
Potenz  proportional  abhängig  ist,  so  daß  sich  ergiebt 

worin  n  einen  unbekannten  konstanten  Faktor  bezeichnet. 
Die  Beschleunigung  für  jede  Einheit  der  untersuchten 
Wassermenge  ist  gleich  J .  g^  worin  J  das  relative  Gefalle 
und  g  die  Beschleunigung  durch  die  Schwerkraft  bezeich- 
net, also  für  die  ganze  Masse  von  dem  Querschnitt  F  und 
der  Länge  Eins  gleich  J.g.F.  Aus  der  Gleichheit  dieser 
beiden  Werte  für  Widerstand  und  Beschleunigung  er- 
giebt sich 


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664  Gustav  Becker, 

n.p  .v^  =  J.g .  F 

n    p 
Werden  die  beiden  Konstanten  g  und  n  zu 

n 
vereinigt  und 

F  _  Fläche  _ 

p  ~"  Benetzter  Umfang  "" 
gesetzt,   welchen  Ausdruck  man  auch  mit  Profilradius 
oder  mittlere  hydraulische  Tiefe  bezeichnet,    so  ist 
schließlich  v  =  c\/  R,J. 

Alle  Formeln  lassen  sich  auf  die  vorstehende  Form 
zurückführen  und  ihre  Richtigkeit  wird  alsdann  aus  der 
Bedeutung,  welche  dem  Koefficienten  c  zugewiesen  wird, 
zu  ersehen  sein. 

Die  älteste  in  Deutschland  gebräuchliche  Formel  ist 
diejenige  von  Ch^zy-Eytelwein,  welche  die  obige  Form 
t?  =  c  y^BJ  hat  und  wofür  Eytelwein  den  Koefficienten 
c  =  50,9  also  als  konstant  bestimmte.  In  einer  Reihe 
älterer  Formeln  ist  bereits  die  Richtigkeit  des  konstanten 
Koefficienten  bestritten  worden,  die  neueren  Untersuchun- 
gen haben  aber  erst  wesentliche  Aenderungen  hervor- 
gerufen. So  haben  Humphreys  und  Abbot  auf  Grund 
umfangreicher  Wassermessungen  am  Mississippi  vorwiegend 
den  Einfiuß  des  Gefälles  nachgewiesen  und  in  der  von 
ihnen  aufgestellten  Formel,  welche  von  Grebenau  die 
vereinfachte  Form  

V  =  8,29  V  ä77 

erhalten  hat,  zum  Ausdruck  gebracht. 

Darcy  und  Bazin  haben  wiederum  den  Haupteinfluß 
auf  die  Geschwindigkeit,  auf  den  Grad  der  Rauheit  des 
benetzten  Umfanges  und  den  Wechsel  des  Werthes 

//  ^  Fläche 

p       Benetzter  Umfang 
zurückzuführen  gesucht. 


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Gewässerkunde. 
Die  Bazinsche  Formel  lautet 

ß 


i?.J=(a  +  |)..' 


und   sonach   der  Koefficient   nach  der  Eytelw einschen 
Formel  

i 


V'+i' 


Die  Aufstellung  einer  allgemein  gültigen  Formel  ist 
äußerst  schwierig.  Ganguillet  und  Kutter  haben  sich 
bemüht,  allen  Einflüssen  möglichst  Rechnung  zu  tragen 
und  angenommen,  daß  der  Koefficient  c  abhängig  ist: 

F 

a)  von  der  mittleren  hydraulischen  Tiefe  R  =  —  unter 

der  Voraussetzung,  daß  mit  wachsendem  B  auch  c 
wächst ; 

b)  von  dem  Grade  der  Rauheit  des  benetzten  Umfanges, 
wonach  c  sich  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
bei  zunehmender  Rauheit  vermindert; 

c)  von  dem  Gefälle  J,  Bei  größeren  Gewässern  nimmt 
c  mit  der  Zunahme  des  Gefälles  ab,  bei  kleinen 
Gewässern  wächst  c  mit  dem  Gefälle; 

d)  von  den  mitgeführten  Sinkstofl^en; 

e)  von  der  Form  des  Querprofils  und  von  der  Sohlen- 
breite. 

Die  Formel  von  Ganguillet  und  Kutter  lautet 
hiemach : 

1    ,    0,00155 


V  =  I   : TTTrTzrr^. I  V^i^J. 

Die  Größe  n  bezeichnet  den  wechselnden  Koefficien- 
ten  für  den  Grad  der  Rauheit  des  benetzten  Umfanges 
\md  beträgt  erfahrungsgemäß: 


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6G6 


Gustav  Becker, 


n 

1. 

Für  Kanäle  von  sorgfältig  gehobeltem 

Holz  und  von  glatter  Zementverkleidung 

0,016 

100,00 

2. 

Für  Kanäle  aus  Brettern 

0,01  s 

83,js 

3. 

Für  Kanäle  von  behauenen  Quadersteinen 

und  von  gut  gefugten  Backsteinen    .     . 
Für  Kanäle  von  Bruchsteinen    .... 

0,011 

76.»i 

4. 

0,017 

58,9s 

5. 

Für  Kanäle  in  Erde;    Bäche  und  Flüsse 

0,025 

40.00 

6. 

Für  Gewässer  mit  gröberen  Geschieben 

und  mit  Wasserpflanzen  ...... 

0,080 

33,ss 

Die  Ergebnisse  dieser  Formel  zeigen  eine  möglichst 
gute  üebereinstimmung  mit  unmittelbaren  Messungen, 
und  die  auf  den  ersten  Blick  umständliche  Benutzung 
wird  wesentlich  dadurch  erleichtert,  daß  der  Wert  für  c 
für  eine  große  Anzahl  Fälle  sich  in  Lehrbüchern  ange- 
geben findet. 

Hagen  geht  davon  aus,  daß  die  Fehlergrenzen  bei 
Wassermessungen  recht  erheblich  sind  und  daher  bei  einer 
Formel  zur  Bestimmung  der  Geschwindigkeit  über  dem 
Bemühen,  der  Wahrheit  möglichst  nahe  zu  konmien,  die 
leichte  Anwendbarkeit  derselben  nicht  außer  acht  gelassen 
werden  soll. 

Die  neueren  Formeln  von  Hagen  lauten: 

1.  Für  kleine  Wasserläufe  mit  geringerem  Gefälle 
als  1 :  1000  und  M  <  0,47  m 

t;  =  a  .  JB  y  J. 
Hierin  ist  sonach  c  =  a  \/  . ;  a  =  4,9. 

2.  Für  Flüsse  und  Ströme,  bei  R  >  0,47  m 

v  =  ^y/R.slT, 

und  ß  =-  3,34. 


worm  c  = 


ß 


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(Jewässerkunde.  667 


3.  Ermittelimg  dnrclL  nnmittelbare  Messung. 

Am  zuverlässigsten  ist  die  Bestimmung  der  Wasser- 
menge durch  unmittelbare  Messung,  welche  sich  indes 
nicht  in  allen  Fällen  ausführen  läßt. 

Kann  das  Wasser  abgeleitet  werden,  so  fängt  man 
dasselbe  in  einem  geaichten  Gefäße  unter  Feststellung 
der  Dauer  der  Füllung  und  Beobachtung  des  Wasser- 
standes unmittelbar  auf,  welcher  bei  gleichmäßigem  Zu- 
fluß sich  nicht  verändern  darf,  und  bestimmt  hiernach 
die  in  der  Zeiteinheit  abfließende  Menge. 

Die  Messung  mittelst  des  sog.  Wasserzolles  wird 
derart  bewirkt,  daß  man  das  Wasser  durch  kreisrunde, 
verschließbare  Oeflfnungen  von  bestimmter  Größe  in  dünner 
Wand  unter  unverändertem  Druck  ausfließen  läßt  und 
stets  so  viele  Oeff*nungen  frei  macht,  als  zur  Erhaltung 
des  gleichen  Wasserspiegels  erforderlich  sind. 

Beispielsweise  hat  Bornemann  die  Größe  der  Aus- 
flußmengen bei  einer  Druckhöhe  von  2t),iö  mm  über  der 
Mitte  der  Ausflußöffnung  und 
einem  Durchmesser 

der  Oeffnung  von      2G,i5      13,o8        6,54         3,27  mm 
in  der  Minute  zu  .     0,o38o    0,oo87  8    0,ooo98    0,00027  cbm 
ermittelt. 

Mit  großer  Genauigkeit  lassen  sich  die  Wassermengen 
in  dem  Beharrungszustande  des  Gewässers  bei  dem  Aus- 
tritt aus  Schützöffnungen  bestimmen.  In  allen  Fällen  ist 
die  Wassermenge  (Q)  gleich  dem  Produkt  aus  der  Größe 
der  Durchflußöffiiung  (i")  und  der  mittleren  Geschwindig- 
keit {v)  oder  Q  =  F.  v. 

Die  Wasserelementchen  bewegen  sich  aber  wie  frei 
fallende  Körper,  wonach  die  Geschwindigkeit 

V  =  \i  V2gh 
ist,    worin  \i  einen   nach   den   besonderen  Umständen  zu 
ermittelnden  Koefficienten  ^)  bezeichnet. 


*)  Vergl.  Meissner,   Die  Hydraulik   und   die   hydi-aulischen 
Motoren.     1.  Band.    Jena  1878. 


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668 


Gustav  Becker, 


Bei  der  untenstehend  gewählten  Anordnung  empfiehlt 
es  sich,  um  den  Ausfluß  möglichst  wenig  zu  behindern, 
die  Begrenzung  der  Mündung  nach  außen  abzuschrägen, 
alsdann  kann  der  Koefficient  [i  zu  0,65  bis  0,7 o  und  zwar 
um  so  größer  angenommen  werden,  je  kleiner  die  Druck- 
höhe und  die  Höhe  der  Ausflußöffnung  ist  (Fig.  8). 


Fig.  8. 


Fig.  9. 


An  schützenartig  einegebauten  Oeffnungen  von  der 
Breite  b  hat  Bornemann  (Civilingenieur  1871,  S.  54) 
bei  vorstehenden  Bezeichnungen  die  Wassermenge  zu 


und 


(1  =  0,637752  +  0,299954 


(*.-i) 


ermittelt  und   weitere  Versuche  im   Civilingenieur   1880 
mitgeteilt  (Fig.  9). 


Fig.  10. 


Fig.  11. 

;^ 

-    -^ -^ 

^te^ 

g 

-  :     

'' 

' y. 

^^ 

b 

iMumfcMiii.ijp: 

üeber  vollkommene  Ueberfälle  (Fig.  10),  bei 
welchen  also  der  Unterwasserspiegel  tiefer  als  der  Wehr- 
rücken liegt,  fließt  bei  einer  Breite  b  eine  Wassermenge 


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Gewässerkunde.  069 

2 
worin  im  Mittel  —  [x  =  0,443  angenommen  werden  kann. 
o 

Ein  derartiger  Einbau  mit  selbstaufzeichnender  Meß- 
vorrichtung für  einen  Wasserlauf  ist  von  Professor  Intze 
näher  erläutert  und  beschrieben  worden  (vergl.  Zeitschrift 
des  Vereins  deutscher  Ingenieure  1888,  S.  1007). 

Für  einen  unvollkommenen  Ueberfall  (Fig.  11), 
dessen  Wehrrücken  tiefer  liegt  als  das  Unterwasser,  kann 
die  Wassermenge  zu 

und    der    Ausflufikoefficient,    zwischen    0,296    und    0,606 
schwankend,  im  Mittel  zu  0,45   angenommen  werden. 

Die  Höhenmessung  der  Wasserspiegel  muß  in  beiden 
Fällen  in  einiger  Entfernung  von  dem  Wehrrücken  vor- 
genommen werden.  Eine  genauere  Ermittelung  der 
Koefficienten  giebt  Bornemann  in  dem  Civilingenieur 
1870,  S.  291  u.  375  und  über  alle  sonstigen  Einflüsse 
bei  unmittelbaren  Wassermessungen  mag  auf  Sonder  werke 
über  Hydraulik  ^)  verwiesen  werden. 


YI«  Die  allgemeinen  Eigenschaften  der  Gewässer. 

Wird  der  Abfluß  der  atmosphärischen  Niederschläge 
nicht  behindert,  so  setzt  sich  derselbe  in  Rinnen,  Gräben, 
Bächen ,  Flüssen  und  Strömen  bis  zum  Meere  hin  fort. 
Wird  aber  die  natürliche  Vorflut  früher  unterbrochen, 
so  entstehen  Sümpfe,  Teiche  und  Binnenseeen. 

Sümpfe  bilden  sich  dort,  wo,  neben  Mangel  an 
Vorflut,  das  Grundwasser  nahe  unter  der  Erdoberfläche 
steht  und  nur  geringes  Gefälle  hat.  Sie  finden  sich 
daher  ebensowohl  im  Hochlande  bei  undurchlässigem 
Untergründe    wie    an    Strommündungen    und    in    Fluß- 


*)  Z.  B.  Meissner,  Hydraulik  u.  s.  w.    Wex,  Hydrodynamik. 
Leipzig  1888. 


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670  Gustav  Becker. 

niederungen  infolge  Ablagerung  von  Sinkstoffen.  Ein- 
gedeichte Niederungen  gehen  mit  der  nach  und  nach 
sich  vollziehenden  Aufhöhung  der  Vorländer  der  Ver- 
sumpfung entgegen,  wenn  sie  nicht  durch  Schaffung 
künstlicher  Vorflut,  das  ist  Anlage  von  Schöpfwerken, 
davor  bewahrt  werden. 

Kleinere,  mit  stehendem  Wasser  gefüllte  Vertiefungen 
der  Erdoberfläche  werden  Teiche,  größere  Seeen  ge- 
nannt. Die  Bezeiclmung  von  Binnen-  und  Landseeen 
führen  aber  auch  Gewässer,  welche  nicht  allein  Zufluß, 
sondern  auch  Abfluß  haben,  also  wie  die  zahlreichen 
Seeen  der  Havel  als  Flußteile  und  Flußstrecken  anzu- 
sehen sind.  Die  Seeen  erfahren  durch  Ablagerung  eine, 
wenn  auch  nur  langsam  fortschreitende,  so  doch  nament- 
lich bei  geringem  Abfluß  wahrnehmbare  Verflachung  und 
bedürfen  erforderlichenfalls  von  Zeit  zu  Zeit  der  Räumung. 
Neben  den  natürlichen  sind  künstliche,  den  verschiedensten 
Zwecken  dienende  Teiche  und  Seen,  welche  durch  den 
Aufstau  von  Wasserläufen  oder  den  Abschluß  von  Thälem 
gebildet  werden,  recht  häufig.  Die  Wassermenge  dieser 
Gewässer  ist  je  nach  der  Art  der  Speisung  eine  mehr 
oder  weniger  wechselnde  und  aus  den  über  die  Nieder- 
schläge gemachten  Mitteilungen  zu  erklären.  Hierher 
können  auch  die  eigenartigen  Bildungen  d^er  Haffe  an 
der  Ostseeküste  gerechnet  werden.  In  dieselben  münden 
zahlreiche  Binnengewässer,  während  die  Verbindung  mit 
dem  Meere  nur  durch  je  eine  schmale  Rinne,  das  Tief 
genannt,  vorhanden  ist,  im  übrigen  aber  die  Nehrung, 
eine  unfruchtbare  Dünenkette,  das  Haff  gegen  das  Meer 
abschließt.  Der  Wasserstand  dieser  Haffe  ist  von  den 
Winden  abhängig,  welche  den  Strom  ein-  und  ausgehend 
wechseln  machen  und  nicht  selten  einen  erheblichen  Auf- 
stau in  den  Flußläufen  und  ein  Eindringen  von  Seewasser 
in  dieselben  bewirken. 

Bei  den  fließenden  Gewässern  unterscheidet  man  das 
von  der  Sohle  und  den  ufern  begrenzte  Bett  und  den 
Lauf,  das  Querprofil  und  das  Längenprofil.  Bett  und 
Lauf  verdanken  ihre  Entstehung  nicht  allein  der  Ober- 
flächengestaltung der  Erde,  sondern  wesentlich  der  mecha- 


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Gewässerkunde.  07 1 

nischen  Kraft  des  Wassers  und  der  leichten  Beweglichkeit 
seiner  Teile. 

Nur  in  seltenen  Fällen  befindet  sich  das  Bett  natür- 
lich oder  durch  künstliche  Anlagen  in  solchem  Zustande, 
daß  bei  den  wechselnden  Wasserständen  ein  Versanden 
oder  eine  Vertiefung  der  Sohle  ganz  vermieden  wird. 

Indem  die  lebendige  Kraft  des  Wassers  bald  zu 
gering  ist  zur  Fortführung  der  Sinkstoffinassen  und  bald 
größer  als  der  Widerstand,  welchen  Sohle  und  Ufer 
bieten  können,  findet  vielmehr  eine  stete  Veränderung 
an  dem  Lauf  und  den  Betten,  besonders  der  nicht  regu- 
lierten Bäche  und  Flüsse,  statt,  die  sich  durch  die  schlän- 
gelnde Bewegung  des  Wassers,  das  sog.  Serpentinieren, 
bemerkbar  macht  ^). 

Die  Sinkstoffe  entstehen  sowohl  durch  die  V,er- 
witterung  und  Zertrümmerung  von  Gestein,  welches  ab- 
rollend in  die  Wasserläufe  gelangt,  als  auch,  und  zwar 
vorwiegend  durch  Abbruch  der  Ufer  und  Abschwemmungen 
der  Erdoberfläche,  durch  fließendes  Wasser.  Der  Größe 
nach  werden  die  Sinkstoflfe  in  Geschiebe,  Gerolle,  Kies, 
Sand  und  Schlick  unterschieden,  welche  mit  der  Länge 
des  zurückgelegten  Weges  merkliche  Formänderungen 
und  Verkleinerungen  erfahren.  Bewegt  werden  die  Sink- 
stoffe durch  die  lebendige  Kraft  des  Wassers,  welche 
gleich  dem  Produkt  aus  der  Masse  und  dem  halben 
Quadrat  der  Geschwindigkeit  ist. 

Die  Größe  der  in  einer  Flußstrecke  sich  findenden 
Sinkstoffe  hängt  also  vorwiegend  von  der  Geschwindig- 
keit des  W^assers  und  somit  von  dem  Gefälle  ab,  wes- 
halb die  Sinkstoffe  in  dem  Oberlaufe  eines  Flusses  vor- 
wiegend aus  Kies  und  GeröUe  und  in  dem  Mittel-  und 
Unterlaufe  mehr  aus  Sand  und  Schlick  bestehen  werden, 
wenngleich  auch  sehr  verschieden  große  Sinkstoffe  in  der- 
selben Flußstrecke  sich  vorfinden  können. 

Die  feinen  Sinkstoffe  bewegen  sich  schwebend  und 
schwimmend   weiter,   während   dies   bei  Sand  nur  selten 


^)  Sternberg,    Ueber  Längen-    und   Querprofil    geschiebe- 
führender  Flüsse.     Zeitschrift  für  Bauwesen  1875. 


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672  Gustav  Becker, 

der  Fall  ist,  derselbe  vielmehr  ebenso  wie  Kies  gleitend 
und  rollend  auf  der  Sohle  weiter  gelangt,  wobei  sich 
besonders  bei  nicht  zu  großen  Geschwindigkeiten  eine 
große  Regelmäßigkeit  zeigt  Der  Sand  bildet  alsdann 
auf  der  Sohle  quer  zum  Stromlauf  gerichtete  kleine,  dicht 
aufeinanderfolgende  Wälle  mit  stromauf  gerichteter  flacher 
Böschung,  auf  welcher  die  Sandkörner  zunächst  gleitend 
und  in  höherer  Lage  rollend  den  Kamm  ersteigen,  die 
steile  Böschung  stromab  herunterfallen,  von  den  nach- 
folgenden Körnern  bedeckt  werden,  bis  der  ganze  Wall 
darüber  hinweggegangen  ist  und  nun  die  Wanderung  auf 
der  flachen  Böschung  von  neuem  beginnen  kann.  Die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  der  Sand  auf  diese  Weise  sich 
weiter  bewegt,  ist  recht  erheblich;  bei  etwa  l,o  m  Wasser- 
gescji windigkeit  ist  eine  Fortführung  von  rund  10,o  m 
in  24  Stunden  beobachtet  worden. 

Die  größeren  SinkstoflFe  werden  sich  wohl  in  ähn- 
licher Weise  fortbewegen,  doch  läßt  sich  nur  die  That- 
sache  der  Bewegung  feststellen,  ihre  Art  dagegen  nicht 
gut  beobachten. 

Die  kleinsten  Sammler  der  Niederschläge  sind  Rin- 
nen, welche  sich  zu  Gräben  vereinigen,  und  wiederum 
den  Pichen  zufließenden,  welche  ihrerseits  gewöhnlich 
noch  durch  Quellen  und  Grundwasser  gespeist  werden. 
Quellbäche  werden  diejenigen  genannt,  welche  jahrüber 
gleichmäßig  Wasser  führen,  während  Regenbäche  von 
den  Schwankungen  der  Niederschläge  abhängen.  Bei  den 
Gletscherbächen  schwankt  die  Wassermenge  nach  der 
Jahreszeit  und  ist  im  Winter  wesentlich  geringer  als  im 
Sommer. 

Unter  den  Flüssen,  denen  das  W^asser  oberirdisch 
durch  Rinnen,  Gräben  und  Bäche  zufließt,  unterscheidet 
man  der  Lage  nach  Küsten fltisse,  welche  unmittelbar 
in  die  HaflPe  oder  das  Meer  münden,  Niederungsflüsse, 
welche  nur  im  Flachlande  liegen,  und  Ströme,  welche 
ein  großes  Gebiet  umfassen  und  bei  denen  wegen  unter- 
scheidender Eigenschaften  von  Ober-,  Mittel-  und  Unter- 
lauf gesprochen  wird. 

Die  Wasserversorgung  der  Gewässer  ist  bereits 


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Gewässerkunde. 


673 


in  einem  früheren  Abschnitt  behandelt  worden,  nachfol- 
gend soll  daher  nur  noch  eine  Zusammenstellung  der 
Niederschlagsgebiete  der  wichtigeren  deutschen  Ströme 
mit  einigen  Nebenangaben  Platz  finden. 


Größe 

Länge  des 
Flußlaufes 

Ge- 
samt- 

ge- 
falle 

Namen 

des 

in 

Be- 

des 

Niederschlags- 

gerader 
Linie 

im 
Strom- 

merkun- 

Flusses 

gebietes 

von  der 
Quelle 

strich 

gen 

in 

bis  zur 

ge- 

im 

Deutsch- 

Mün- 

messen 

ganzen 

land 

dung 

qkm 

gkm       i 

km 

km 

m 

Memel   .     . 

112000 

3500 

450 

877 

267 

Pregel    .     . 

15  000 

15000 

— 

— 

— 

Weichsel    . 

198285 

33326 

530 

1125 

650 

Oder.     .     . 

119337 

— 

944 

765») 

— 

»)  Von  Ra- 

Warthe  . 

53250 

34965 

. — • 

795 

— 

tibor  bis 

Elbe.     .     . 

146500 

95  234 

— 

1154 

1400 

Swine- 

Havel      . 

24417 

24417 

90 

353 

— 

münde. 

Saale .     . 

23985 

23985 

— 

442 

— 

Weser    .     . 

48000 

48000 

250^^) 

436 

115 

2)  Vom  Zu- 

Rhein    .     . 

224'400 

132  590 

700 

1162 

r.2:i00 

sammen- 

Neckar   . 

ia9()0 

13  900 

1(>4 

370 

617 

fluß  von 

Main  .     . 

27  800 

27  800 

260 

590 

810 

Werraund 

Lahn  .     . 

5  870 

5870 

80 

218 

538 

Fulda  ab. 

Ruhr  .     . 

4470 

4470 

130 

2:^ 

643 

Lippe 

4430 

4430 

167 

255 

123 

Mosel      . 

28280 

— 

274 

514 

674 

Im  übrigen  vergl.  Statistik  des  Deutschon  Reichs  Bd.  XV.  1876. 

Das  Verhältnis  der  Abfluümenge  zur  Nieder- 
schlagsmenge läßt  sich  nur  annähernd  bestimmen  und 
schwankt  naturgemäß  in  weiten  Grenzen.  Gräve^)  giebt 
für  die  größeren  deutschen  Ströme  im  Durchschnitt  die 
Abflußmenge  zu  31,4  ®/o  der  Niederschlagsmenge  an. 
Nach  anderen  Angaben  sollen  die  Abflußmengen  für  die 
Elbe  28  >,  ftlr  die  Weichsel  32  >  betragen.   Franzius  ») 

^)  Grävo,  Wasserreichtum  der  deutschen  Ströme.  Civil - 
ingenieur  Bd.  25.  Heft  8. 

^)  Deutsches  Bauhandbuch.  1.  Aufl.  Bd.  3.  Baukunde  den 
Ingenieurs  S.  60. 

AnloUnaR  zur  deaUcben  Lftodes-  und  VolksforacliuuK.  43 


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674 


Gustav  Becker, 


hat   allgemein    für    die   Abflußmengen    deutscher   Flüsse 
nachfolgende  Tabelle  aufgestellt: 


Deutsche  Flüsse 

führen  in  der  Sek. 

und  von  1  qkm 

Zuflußgebiet 

Bei 

kleinstem 
Wasser 

cbm 

Bei 
größtem 
Wasser 

cbm 

Ver- 
hältnis 
beider 

rund 

Bemerkungen 

nahe     bei     den 
Quellen    in     ge- 
birgiger Gegend 
(nicht  Gletscher) 

0,002—0,004 

0,SR-O,«0 

1:150 

Großer      Nieder- 
schlag ,     rascher 
und  voller  Abfluß. 

in  bergiger  oder 
steiler  hügeliger 
Gegend.     .     .     . 

0,00« 

0,18  —  0,28 

1:90 

Mäßiger   Nieder- 
schlag ,     rascher 
Abfluß. 

in    nicht    steiler 
hügeliger  Gegend 

0,0018 

0,12—0,18 

1:75 

Mäßiger  Nieder- 
schi ag,lang8amer 
unvollkommener 
Abfluß. 

in  flacher  Gegend 

0,001« 

0,06—0,12 

1:50 

Kleiner     Nieder- 

schlag,lang8amer 

unvollkommener 

Abfluß. 

in  flacher,  sandi- 
ger  oder  moori- 
ger Gegend    .     . 

0,0012—0,0015 

0.085-0,06 

1:35 

Kleiner     Nieder- 
schlag,  geringer 
Abfluß. 

Eine  umfangreichere  Tabelle  für  die  Abflußmengen 
unter  Berücksichtigung  der  Bodenbeschaflfenheit,  Durch- 
lässigkeit und  Neigung  des  Niederschlagsgebietes  giebt 
Ingenieur  Lauterburg ^)  in  Bern. 

Der  Wechsel  der  Wasserstände  ist  schon  bei 
den  Pegelbeobachtungen  behandelt  und  auf  die  Regel- 
mäßigkeit mittlerer  Wasserstände  in  den  verschiedenen 
Jahreszeiten  hingevnesen  worden.  Die  Ergebnisse  dieser 
Beobachtungen    sind   zur    BevreisfÜhrung    dafür    benutzt 


*)  Reinhard,  Kalender  für  Straßen-,  Wasserbau-  und  Kultur- 
Ingenieure.  Wiesbaden  1889.   S.  140. 


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Gewässerkunde.  675 

worden,  daß  durch  Entwaldungen  und  damit  zusammen- 
hängende Umgestaltungen  eine  stetige  Senkung  der 
Wasserstände  und  eine  Wasserabnahme  in  den  Flüssen 
stattfindet  ^).  Von  anderer  Seite  ^)  ist  diese  Behauptung 
widerlegt  und  ein  vielseitiger  lebhafter  Meinungsaustausch 
hervorgerufen  worden,  dessen  Abschluß  nicht  so  bald  zu 
erwarten  ist,  da  die  Wasserstandsbeobachtungen  allein 
zu  Schlüssen  nicht  ausreichend  erscheinen,  über  die 
Aenderungen  in  dem  Gefälle,  der  Höhenlage  der  Sohle 
und  der  Breite  des  Flußbettes  Beobachtungen  nicht  in 
hinreichender  Zahl  vorliegen. 

Die  Wasser  menge  eines  Flusses  wechselt  natur- 
gemäß mit  der  Höhe  des  Wasserstandes  und  nimmt  von 
der  Quelle  zur  Mündung  stetig  zu.  Genauere  Angaben 
lassen  sich  daher  nicht  machen  und  nur  für  den  Ver- 
gleich mögen  nachstehende  Angaben  gelten: 

Nieder-  Mittel-  Hooh- 

Wassermenge    Wasseimenge    Wassermenge 

cbm  cbm  cbm 

1.  Memel  (Tilsit) 89  608  4400 

2.  Oder  (unterhalb  der  Wai-the- 

mündung) 230  410  ö60 

3.  Elbe  (Torgau) 90  330  1800 

4.  Rhein  (oberhalb  der  Mosel).     910  1220  1750 

Unter  dem  Gefälle  eines  Wasserlaufes  versteht 
man  die  Kurve,  welche  der  Wasserspiegel  in  seiner 
Längsrichtung  bildet,  und  bezeichnet  mit  absolutem  Ge- 
fälle den  Höhenunterschied  zweier  Punkte  des  Wasser- 
spiegels und  mit  relativem  Gefälle  die  Neigung  des 
Wasserspiegels  auf  beliebiger  Strecke  gegen  eine  Wage- 
rechte. Im  allgemeinen  bildet  der  Wasserspiegel  eine 
nach  unten  gekrümmte  Linie,  welche  sich  nach  der 
Mündung  hin  mehr  und  mehr  abflacht,  deren  Stetigkeit 
aber  vielfach  unterbrochen  wird. 

Als  Beispiel  mögen  die  Gefällsverhältnisse  des  Rheins 
aufgeführt  werden: 

*)  Wex,  Wasserabnahme  in  den  Quellen,  Flüssen  und  Strömen. 
Wien  1873  u.  1879. 

^  Hagen,  Abhandlungen  der  Königl.  Akademie  der  Wissen- 
schaften.   Berlin  1880. 


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67(3  Gustav  Becker, 

Gefälle  von  Basel  bis  Straßburg     1 :  1000  bis  1 :  1600 

y,         „     Straßburg  bis  Mannheim  i.  M.  .  1 :  2840 

,         y,     Mannheim  bis  Mainz     ....  1:11200 

,         y,     Mainz  bis  Bingen 1:7700 

y,         „     Bingen  bis  Koblenz  zwischen     .  1:780  und  1:2000 
^         „     Koblenz    bis   zur  holländischen 

Grenze  im  Durchschnitt     .     .  1:5500  (4000-8600) 

Der  Weg,  welchen  das  Wasser  in  der  Zeiteinheit 
zurücklegt,  heißt  seine  Geschwindigkeit.  Dieselbe  wird 
hervorgerufen  durch  das  Gesetz  der  Schwere,  welchem 
die  Wassermassen  folgen  und  wonach  die  Bewegung  eine 
gleichmäßig  beschleunigte  sein  müßte.  Die  Widerstände, 
welche  durch  das  Bett,  die  Sinkstoffe,  die  Zähflüssigkeit 
der  Wasserfäden  und  anderes  entstehen,  heben  diese  Be- 
schleunigung aber  teilweise  oder  ganz  auf.  In  letzterem 
Falle  würde  die  Bewegung  eine  gleichförmige  sein;  es 
findet  eine  solche  jedoch  meist  nur  auf  kurzen  Strecken 
statt,  da  Verengerungen  und  Erweiterungen  des  Bettes, 
Krümmungen  des  Laufes  und  jähe  Aenderungen  in  der 
Sohle  einen  steten  Wechsel  hervorrufen. 

Die  Geschwindigkeit  der  einzelneu  Punkte  eines 
Wasserquerschnitts  ist,  wie  bereits  erwähnt,  nicht  überall 
die  gleiche,  sondern  in  oder  nahe  an  der  Oberfläche  am 
größten  und  nimmt  nach  der  Sohle  und  den  Ufern  hin 
ab.  Die  größte  Geschwindigkeit  in  jedem  Querschnitt 
pflegt  in  der  Senkrechten,  welche  der  größten  Wasser- 
tiefe entspricht,  stattzufinden,  weshalb  die  Linie,  welche 
den  geometrischen  Ort  für  die  größten  Geschwindigkeiten 
in  den  einzelnen  Querschnitten  bezeichnet,  Stromrinne, 
Thalrinne,  Fahrrinne  genannt  wird.  Diese  Linie  hat 
keine  feste  Lage,  sondern  ändert  sich  mit  den  Umwand- 
lungen, welche  an  dem  Flußbett  vor  sich  gehen,  und  bei 
hohen  Wasserständen. 

In  der  Abnahme  der  Geschwindigkeit  der  Wasser- 
fädeu  in  einem  Querschnitt  läßt  sich  eine  Gesetzmäßig- 
keit finden,  welche  senkrechten  Parabeln  mit  dem  Scheitel 
in  oder  nahe  unter  der  Wasseroberfläche  und  wagerechten 
Parabeln  mit  dem  Scheitel  in  der  Stromrinne  entspricht, 
doch  läßt  sich  hieraus  die  thatsächliche  Bewegung  des 
Wassers  in  einem  Flußlauf  nicht  genügend  erklären,    es 


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Gewässerkunde.  (377 

scheinen  vieiraehr  die  Wasserfäden  in  ihrem  Laufe  eine 
Aenderung  ihrer  Lage  zu  erfahren,  wobei  wahrscheinlich 
der  Wärmegrad  derselben  nicht  ohne  Einfluß  ist. 

Die  Beziehungen,  welche  zwischen  der  Geschwindig- 
keit des  Wassers,  dem  Gefälle  und  der  Beschaffenheit 
und  Gestalt  des  Bettes  bisher  aufgestellt  worden  sind, 
sind  in  den  an  anderer  Stelle  erwähnten  Geschwindigkeits- 
formeln zum  Ausdruck  gelangt. 


YII.  Die  Yerwaltuiig  der  Gewässer. 

Eine  einheitliche  Verwaltung  der  Wasserläufe  ist 
im  Deutschen  Reiche  nicht  vorhanden.  Art.  4  der  Reichs- 
verfassung bestimmt  nur :  Der  Beaufsichtigung  seitens  des 
Reichs  und  der  Gesetzgebung  desselben  unterliegt  dem 
Flößerei-  und  Schiffahrt s  betrieb  auf  den  mehreren  Staaten 
gemeinsamen  Wasserstraßen  und  der  Zustand  der  letz- 
teren, sowie  die  Fluß-  und  sonstigen  Wasserzölle.  Nicht 
einmal  in  den  einzelnen  Bundesstaaten  besteht  bisher  eine 
einheitliche  Verwaltung  ganzer  Flußstrecken.  Es  erscheint 
aber  dringend  wünschenswert,  daß  von  einer  obersten 
Stelle  aus  sämtliche  die  Wasserläufe  betreffenden  Ange- 
legenheiten bearbeitet  werden,  daß  ferner  die  Wasser- 
verhältnisse desselben  Niederschlagsgebietes  einer  Be- 
zirksverwaltung unterstellt  und  eine  so  weitgehende 
Einteilung  in  kleinere  Wasserämter  stattfindet,  daß  den 
Vorstehern  derselben  die  gründlichste  Kenntnis  aller 
örtlichen  Verhältnisse  möglich  wird.  Daneben  ist  eine 
Landesanstalt  notwendig,  welche  die  wissenschaftliche 
Erforschung  der  Gewässer  anregt  und  unterstützt  und 
die  von  den  technischen  Verwaltungen  ausgeführten 
Beobachtungen  sammelt,  sichtet  und  für  einen  sach- 
gemäßen Ausbau  der  Wasserstrassen  und  eine  zweck- 
mäßige Nutzung  der  Wasserkräfte  verwertbar  macht. 
Es  soll  aber  nicht  verkannt  werden,  daß  ein  Uebergang 
in  neue  Einrichtungen  vielfache  Schwierigkeiten  bietet 
und  von  sorgfältigen  Vorbereitungen  abhängig  ist.  Allein 
Baden  besitzt  bisher  ein   derartiges    „Zentralbureau   für 


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678  Gustav  Becker, 

Meteorologie  und  Hydrographie**,  dem  bereits  wertvolle 
Arbeiten  *)  zu  verdanken  sind.  In  Bayern  sind  Regen- 
und  Gewittermeldestationen  eingerichtet  und  Messungen 
der  Schneehöhen  auf  den  Bergen  angeordnet.  In  Preufien 
ist  eine  umfassende  Neugestaltung  des  meteorologischen 
Instituts,  welches  dem  Eultusmimsterium  untergestellt 
ist,  in  der  Durchführung  begriffen.  Dasselbe  soll  sich 
neben  dem  Zentralinstitut  und  dem  meteorologischen  In- 
stitut in  Potsdam  auf  zwei  Stationen  erster  Ordnung  im 
Osten  und  Westen  Preulaens  und  auf  rund  2000  Regen- 
beobachtungsstationen erstrecken.  Auch  die  Einrichtung 
hydrographischer  Aemter  ist  angebahnt  und  die  den 
Oberpräsidenten  unterstellten  Meliorationsbaubeamten  sind 
mit  der  Aufnahme  und  Sammlung  der  die  Wasserläufe 
betreffenden  Verhältnisse  betraut.  Diese  Arbeiten  sind 
aber  noch  zu  wenig  vorgeschritten,  um  einem  hydro- 
graphischen Hauptamt  zur  Verwertung  überwiesen  werden 
zu  können. 

Die  Verwaltung  der  Wasserläufe  und  aller  Wasser- 
verhältnisse ist  bisher  fast  in  keinem  Staate  Deutschlands 
einheitlich  geordnet.  In  Preußen  gehören  die  öffentlichen 
Gewässer  zu  der  dritten  Abteilung  des  Ministeriums  der 
öffentlichen  Arbeiten,  während  das  Deich wesen  und  die 
die  Landeskultur  betreffenden  Wasseranlagen  dem  Mini- 
sterium für  Landwirtschaft,  Domänen  und  Forsten  unter- 
stellt sind. 

Dem  Ministerium  der  öffentlichen  Arbeiten  sind  für 
die  größten  Ströme  die  Strombauverwaltungen  der  Weich- 
sel, der  Oder,  von  der  österreichischen  Landesgrenze  bis 
Schwedt,  der  Elbe,  von  der  sächsischen  Grenze  bis  zur 
Mündung  der  Seeve  und  des  Rheins  unterstellt.  Die  Vor- 
steher dieser  Verwaltungen  sind  die  Oberpräsidenten  von 
Westpreußen,  Schlesien,  Sachsen  und  der  Rheinprovinz, 
denen  als  Techniker  die  Strombaudirektoren  zur  Seite 
stehen  und  eine  entsprechende  Anzahl  Wasserbauinspek- 
toren und  Regierungsbaumeister  untergeordnet  sind.    Im 


*)   Beiträge   zur  Hydrographie   des  Großherzogtums   Baden. 
Karlsruhe. 


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Gewässerkunde.  679 

übrigen  sind  die  Wasserläufe  den  Provinzialregierungen 
überwiesen  und  werden  im  einzelnen  die  Diensfcgeschäfte 
von  Wasserbauinspektoren  wahrgenommen  ^).  Das  land- 
wirtschaftliche Ministerium  läßt  die  kulturtechnischen  An- 
gelegenheiten durch  die  den  Oberpräsidenten  unterge- 
ordneten Meliorationsbaubeamten  bearbeiten. 


Die  Wassergesetzgebung. 

Die  Wassergesetzgebung*)  ist  weder  im  Deutschen 
Reiche  noch  in  den  Einzelstaaten  einheitlich  geregelt, 
sondern  setzt  sich  aus  einer  größeren  Anzahl  von  Ge- 
setzen und  Verordnungen  zusammen.  Es  kann  daher 
selbst  in  großen  Zügen  ^)  hier  nicht  darauf  eingegangen 
werden,  dagegen  sollen  wenigstens  die  wichtigsten  Ge- 
setze angeführt  werden: 

Allgem.   Landr.  Teü  I,   Tit.  8,   §§  96-117,    Tit.  9, 

§§  170-192,  §§  223-274; 
Allgem.  Landr.  Teil  II,  Tit.  15,  Abschn.  2,  §§  38—87, 

Absch.  5,  §§  229-246; 
Vorflut-Edikt  vom  15.  November  1811; 
Gesetz  vom    14.  Juni    1859    wegen  Verschaffung    der 
Vorflut   in    den   Bezirken    des   Appellationsgerichts- 
hofs  zu  Köln   und   des   Justizsenats   zu  Ehrenbreit- 
stein,  sowie  in  den  hohenzoUemschen  Landen; 
Vorflutgesetz   für   Neu- Vorpommern   und   Rügen    vom 

9.  Februar  1867; 
Gesetz  über  die  Benutzung  der  Privatflüsse  vom  28.  Fe- 
bruar 1843; 
Gesetz  über  das  Deichwesen  vom  28.  Februar  1848; 
Fischereigesetz  vom  30.  Mai  1874; 


')  Schulz,  Der  Verwaltungsdienst  der  königl.  preußischen 
Kreis-  und  Wasserbau-Inspektoren.  Berlin  1886. 

*)  Nieberding,  Wasserrecht  und  Wasserpolizei  in  Preußen. 
Breslau  1866.    2.  Aufl.  bearbeitet  von  F.  Frank  1889. 

')  Vergl.  Graf  Hue  deGrais,  Handbuch  der  Verfassung  und 
Verwaltung  in  Preußen.  Berlin  1884.   S.  403  u.  457. 


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680  Gustav  Becker. 

Gesetz,  betreffend  die  Befugnisse  der  tStrombauverwal- 
tungen   in  Preußen  gegenüber  den  öferbesitzern  an 
öffentlichen  Flüssen  vom  20.  .August  1883; 
Aus   dem  Gesetz   über   die  Zuständigkeit  der  Verwal- 
waltungsbehörden  vom  1.  August  1883: 

Tit.  XII:  Wasserpolizei,  Tit.  XIII:  Deichangelegen - 

heiten, 
Tit.  XIV:  Fischereipolizei; 
Die  bayrischen  Wassergesetze  vom  28.  Mai  1852. 


Litteratur. 


Außer  den  bereits  in  Fußnoten  angeführten  Werken 
und  Schriften  mögen  noch  besonders  hervorgehoben  werden : 

Beschreibung   der  preußischen  Ströme   in  der  Zeitechrift  för  Bau- 
wesen (Berlin)  und  zwar 

die  Memel  Jahrgang  1861, 
der  Pregel  ,  1870, 

die  Weichsel      „         1862, 
die  Oder  ,  1864, 

die  Klbe  ,         1859, 

die  Weser  ,  1857, 

der  Rhein  ^  1856. 

l 'ober  Hoch wiifiser  und  EisveihiUtnisse  linden  sich  eine  Anzahl  Auf- 
sätze in  dem  Zentralblatt  der  Bauverwaltung.  Berlin.  Jahrgang 
1881—88. 
Denkschrift  über  die  Ströme  Memel,  Weichsel,  Oder,  Elbe,  Weser 
und  Rhein.  Bearbeitet  im  Auftrage  des  Herrn  Ministers  der 
öffentl.  Arbeiten.  Berlin  1888. 
Handbuch  der  Ingenieurwissenschaften.     Band  3:  Der  Wasserbau. 

2.  Aufl.  188:1    Leipzig. 
Deutsches  Bauhandbuch.    Band  3:  Baukunde  des  Ingenieurs.    Ber- 
lin 1879. 
Handbuch  der  Baukunde.   Band  1:  Hilfswissenschaften.  Berlin  1885. 

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AN  INITIAL  FINE  OF  26  CENTS 

WILL  BE  A88E88E30  FOR  FAILURE  TO  RETURN 
THI8  BOOK  ON  THE  DATE  DUE.  THE  PENALTY 
WILL  INCREA8E  TO  SO  CENT8  ON  THE  FOURTH 
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OVERDUE. 


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