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Full text of "Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik"

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ANMALEN 

^'/  DER 

PHILOSOPHIE 


— '    —  /  '  - 


Mit  besonderer   Rücksicht  auf  die 
Probleme  der  Als -Ob -Betrachtung 

In  Verbindung  mit 

KARL  HEIM,  D.  theol.,  Dr.  phil,,  o.  Prof.  der  Theologie  an  der  Universität  Münster, 
PAUL  KRÜCKMANN,  Dr.  jur..  Geh.  Justizrat,  o.  Prof.  der  Rechte  an  der  Universi- 
tät Münster,  EMIL  ABDERHALDEN,  Dr.  med.,  Dr.  phil.  h,  c,  Geh.  Medizinalrat, 
o.  Prof.  der  Physiologie  an  der  Universität  Halle  1=  MORITZ  PASCH,  Dr.  phil., 
Geh.  Hofrat,  o.  Prof.  der  Mathematik  an  der  Universität  Gießen,  PAUL  VOLKMANN, 
Dr.  phil.,  Geh.  Regierungsrat ,  o.  Prof.  der  Physik  an  der  Universität  Königsberg, 
ADOLF  HANSEN,  Dr.  phil.,  Geh.  Hofrat,  o.  Prof.  der  Botanik  an  der  Universität 
Gießen,  LUDWIG  POHLE,  Dr.  phil.,  Dr.  h.  c.  der  Staatswissenschaften,  Geh.  Regie- 
rungsrat, o.  Prof.  der  Nationalökonomie  an  der  Universität  Leipzig,  KONRAD  LANGE, 
Dr.  phil.,  o.  Prof.  der  Kimstgeschichte  und  Ästhetik  an  der  Universität  Tübingen  1= 
ERICH  BECHER,  Dr.  phil,,  o.  Prof.  der  Philosophie  imd  Psychologie  an  der  Universi- 
tät München,  ERNST  BERGMANN,  Dr.  phil.,  a.  o.  Prof.  der  Philosophie  an  der 
Universität  Leipzig,  HANS  CORNELIUS,  Dr.  phil..  Geh.  Regierungsrat,  o.  Prof  der 
Philosophie  an  der  Universität  Frankfurt,  KARL  GROOS,  Dr.  phil.,  o.  Prof  der  Philo- 
sophie an  der  Universität  Tübingen,  KURT  KOFFKA,  Dr.  phil.,  a.  o.  Prof  der  Philo- 
sophie und  Psychologie  an  der  Universität  Gießen,  ARNOLD  KOWALEWSKI, 
Dr.  phil.,  Prof.,  Privatdozent  der  Philosophie  an  der  Universität  Königsberg 

herausgegeben  von 

HANS  VAIHINGER  und  RAYMUND  SCHMIDT 


-ß^ 


/ 
Erster  Band 


v: 


LEIPZIG    ::   VERLAG  VON  FELIX  MEINER    ::    1919 


ß 


Copyright  1919  by  Felix  Meiner  in  Leipzig. 


i)   r  3' 


Druck  von  MeUijer  &  Wittig  in  I-cip^ig- 


Programm  der  Zeitschrift. 


Die  ,, Philosophie  des  Als-Ob",  die  IQII  in  erster,  1913  in 
zweiter,  191 8  in  dritter  Auflage  erschienen  ist,  hat  die  Aufmerk- 
samkeit weiter  Kreise  auf  sich  gezogen.  Hervorgegangen  aus 
einer  methodischen  Überschau  über  die  verschiedensten  Wissens- 
und Lebensgebiete  hat  sie  so  vielfache  Beachtung  gefunden,  daß 
es  angezeigt  erscheint,  die  Diskussion  über  sie,  die  nicht  bloß  in 
Fachkreisen,  sondern  auch  bei  den  Vertretern  der  Einzelwissen- 
schaften mannigfach  eingesetzt  hat,  fortan  in  einem  eigenen  Organ 
zu  vereinigen.  Was  als  Einzeläußerung  unter  der  Fülle  der  Gegen- 
wartserscheinungen leicht  verloren  gehen  kann,  soll  hier  in  frucht- 
baren Zusammenhang  gestellt  werden  und  so  Gelegenheit  finden, 
sich  in  Wirkung  und  Gegenwirkung  abzurunden  und  womöglich 
sich  mit  verwandten  Bestrebungen  zu  einem  neuen  Ganzen  zu- 
sammenzufügen. 

Es  handelt  sich  in  erster  Linie  darum,  die  in  der  Als-Ob- 
Betrachtung  zum  Ausdruck  kommende  Methode  zu  untersuchen, 
sie  auf  ihren  logischen  Wert  und  ihre  psychologische  Grundlage 
hin  zu  prüfen,  und  Umfang  und  Grenzen  ihrer  Anwendbarkeit 
in  Wissenschaft,  Leben  und  Weltanschauung  festzustellen. 

Aus  dieser  Prüfung  sollen  die  Resultate  hervorgehen.  Es 
sollen  kritische  Resultate  sein.  Der  Standpunkt  der  Philosophie 
des  Als-Ob  soll  nicht  dogmatisch  und  dogmatisierend  die  Beiträge 
der  Mitarbeiter  binden  oder  beeinflussen,  sondern  soll  vielmehr 
selbst  erst  zur  eigentlichen  Vollendung  gebracht,  und  wenn  es  die 
Sachlage  ergibt,  bis  zur  Überwindung  durch  einen  höheren 
Standpunkt  weitergeführt  werden. 

Es  besteht  also  für  die  Mitarbeiter  der  ,,Annalen"  keinerlei 
Verpflichtung  auf  irgendeine  feststehende  Formel.  Auch  der 
Widerspruch  kann  die  Entwicklung  fördern;  so  ist  den  Heraus- 
gebern die  objektive  Kritik  der  Als-Ob-Betrachtung  ebenso 
willkommen  wie  die  positive  Mitarbeit  am  Ausbau  ihrer  Prin- 
zipien. 

Ein  weiteres  Gebiet  von  Aufgaben  eröffnet  sich  im  Hinblick 
auf  die  Vergangenheit.     Hier  ist  zu  untersuchen,  in  welchem  Um- 


IV  Programm  der  Zeitschrift. 

fange  die  Geschichte  der  Philosophie  Spuren  einer  der  Als-Ob- 
Lehre  verwandten  oder  gleichartigen  Betrachtung  aufweist.  Natür- 
lich wird  in  dieser  Richtung  auf  strengste  wissenschaftliche  Sach- 
lichkeit gesehen  werden,  denn  nichts  liegt  den  Herausgebern 
ferner,  als  der  Geschichte  der  Philosophie  in  irgendeinem  Punkte 
Gewalt  antun  zu  wollen. 

In  bezug  auf  die  Probleme  der  Weltanschauung  sucht  die 
,, Philosophie  des  Als-Ob"  einen  Mittelweg  zwischen  Idealismus 
und  Positivismus,  deren  schroffer  Gegensatz  unsere  Zeit  so  zwie- 
spältig macht.  Und  so  wird  denn  auch  die  Tendenz  der  ,,An- 
nalen",  obwohl  sie  keinen  bestimmten  Weg  vorschreiben,  auf 
die  Überwindung  dieses  Gegensatzes  gerichtet  sein. 

Dieses  Interesse  ist  durch  die  Zeitlage  unterstützt.  Die  außer- 
ordentlichen Ereignisse  der  letzten  Jahre  haben  viele  zu  der  Über- 
zeugung geführt,  daß  der  ältere  Idealismus  in  seinen  bisherigen 
Formen  zu  wenig  die  rohe,  vernunftlose  und  vernunftwidrige 
Tatsächlichkeit  berücksichtigte,  und  zu  einseitig  eingestellt  war 
auf  die  Macht  des  Geistigen  und  die  Herrschaft  der  Vernunft; 
diesen  antirealistischen  Neigungen  entsprach  ein  dogmatischer, 
und  darum  vielfach  irreführender  metaphysischer  Wirklichkeits- 
begriff.  Die  in  ihrer  Weise  großartige  Unterschätzung  des  Realen, 
welche  von  diesem  Idealismus  ausgegangen  ist,  entspricht  nicht 
der  Welt,  mit  der  wir  zu  rechnen  haben.  Die  volle  Anerkennung 
des  Wirklichen  ist  vielmehr  selbst  ein  Stück  Idealismus,  und  zwar 
nicht  nur,  insofern  sie  sich  als  eine  Forderung  des  Wahrheits- 
ideals erweist,  sondern  vor  allem  auch  deshalb,  weil  sie  die  grund- 
legende Voraussetzung  ist  für  jede  ideelle  Beherrschung  des  Wirk- 
lichen. 

Andererseits  wird  es  dem  Positivismus,  der  diese  Beherrschung 
als  eine  lediglich  technische  versteht,  niemals  gelingen,  ein  Ge- 
schlecht oder  ein  Volk  zu  jener  geistigen  Erhebung  über  das 
Wirkliche  zu  befähigen,  die  der  Anfang  aller  inneren  Größe  ist. 
Auch  hierin  haben  die  Erfahrungen  der  letzten  Jahre  als  Lehr- 
meister gewirkt:  Viele,  die  sich  bis  dahin  nur  an  das  Tatsächliche, 
also  ausschließlich  an  die  empirische  Wirklichkeit,  gehalten  hatten, 
fanden  durch  ihr  äußeres  und  inneres  Erleben  den  Zugang  zu  der 
Überzeugung,  daß  überall  ideale  Werte  mitwirken,  die  der  mensch- 
liche Wille  sich  selbst  setzt  und  setzen  muß,  und  so  suchte  ihr 
Positivismus  von  selbst  nach  einer  Ergänzung  durch  den  Idea- 
lismus.     Blindheit    gegen    die    geistigen    Werte,    die    jenseits    des 


Programm  der  Zeitschrift,  V 

technischen  Könnens  hegen,  ist  ein  Zustand,  gegen  dessen  zer- 
setzende Wirkungen  alle  Kräfte  einer  charalrtervollen  Philosophie 
aufgeboten  werden  müssen. 

Was  der  Idealismus  eines  Kant  und  Fichte,  eines  Hegel 
und  Schleiermacher,  eines  Lotze  und  Windelband  dauernd 
Wertvolles  geschaffen  hat,  muß  erhalten  bleiben,  aber  nicht 
minder  auch  dasjenige,  was  an  den  realistischen  Ergänzungen, 
die  ein  Herbart,  ein  Schopenhauer  und  E.  v.  Hartmann  zu 
jenem  Idealismus  hinzufügten,  überzeugend  ist.  Dies  muß  ver- 
bunden werden  mit  dem,  was  der  Positivismus  eines  Laas  und 
Schuppe,  eines  Mach  und  Avenarius  an  Brauchbarem  er- 
arbeitet hat. 

So  bedürfen  beide  Richtungen,  Idealismus  und  Positivis- 
mus, gerade  weil  sie  sich  gegenwärtig  zum  Teil  so  verständnislos 
gegenüberstehen,  einer  neuen,  durchgreifenden  Aufklärung  ihrer 
Beziehungen;  ihr  Ausgleich  kann  sich  nur  vollziehen  unter  gründ- 
licher Berücksichtigung  der  Psychologie,  wie  sie  in  den  letzten 
Jahrzehnten  sich  entwickelt  hat. 

Diese  Arbeit  im  weitesten  Sinne  zu  leisten,  haben  sich  Heraus- 
geber und  Mitarbeiter  der  ,,Annalen"  entschlossen.  Tatsachen  und 
Ideale,  Wirklichkeiten  und  Werte,  Gegebenes  und  Aufgegebenes 
in  inneren  Einklang  miteinander  zu  setzen  oder  einem  solchen 
wenigstens  entgegen  zu  führen,  ist  eines  der  Hauptziele,  worauf 
sie  hinarbeiten. 

So  stellen  die  vorstehenden  Ausführungen  kein  Bekenntnis 
dar,  sondern  vielmehr  lediglich  ein  Programm,  eine  Aufgabe,  an 
deren  Lösung  sich  im  Interesse  der  wissenschaftlichen  Gesamtheit 
nun  auch  die  wissenschaftliche  Gesamtheit  beteiligen  soll. 

Bisher  hat  es  an  einer  fruchtbaren  Wechselwirkung  zwischen 
Einzelwissenschaften  und  Philosophie  gefehlt.  Wohl  haben  ge- 
legentlich und  mehr  zufällig  solche  gegenseitige  Förderungen  statt- 
gefunden, aber  es  fehlte  an  einem  gemeinsamen  Platze,  auf  dem 
Philosophen  einerseits  und  Vertreter  der  einzelnen  Fachwissen- 
schaften andererseits  zusammen  kommen  und  zusammen  arbeiten 
konnten.  In  diesem  Sinne  sind  als  Mitwirkende  an  dieser  Zeit- 
schrift am  Kopfe  derselben  nicht  bloß  Vertreter  der  Philosophie 
aufgezählt,  sondern  auch  je  ein  Vertreter  der  Theologie,  der  Juris- 
prudenz und  der  Medizin,  die  in  traditioneller  Reihenfolge  der 
Fakultäten  den  Reigen  eröffnen;  darauf  folgt  ein  Mathematiker, 
je  ein  Vertreter  der  unorganischen   und  der  organischen   Natur- 


VI  Programm   der  Zeitschrift. 

Wissenschaften,  ferner  ein  Nationalökonom  und  dazu  tritt  ein 
Kunsthistoriker  resp.  Ästhetiker.  Diesem  folgen  die  Philosophen 
im  engeren  Sinne,  die  die  Reihe  schließen.  Diese  auf  dem  Titel 
aufgezählten  Gelehrten  stimmen  diesem  Programm  der  Zeitschrift 
zu,  wobei  sie  noch  besonderen  Wert  darauf  legen,  hier  zum  Aus- 
druck zu  bringen,  daß  sie  damit  keine  direkte  oder  indirekte  Zu- 
stimmung zu  den  in  der  ,, Philosophie  des  Als-Ob"  ausgesprochenen 
Anschauungen  erklären  wollen,  daß  sie  aber  die  in  dem  genannten 
Werke  behandelten  Probleme  für  solche  halten,  die  durch  weitere 
wissenschaftliche  Diskussion  zur  Klärung  gebracht  werden  müssen. 
Eine  Verantwortung  für  den  Inhalt  der  einzelnen  Beiträge  in  der 
Zeitschrift  übernehmen  sie  nicht. 

Um  die  Erreichung  unserer  Ziele  nach  Möglichkeit  zu  fördern, 
haben  sich  die  ,,Annalen"  zur  Aufgabe  gemacht,  durch  entsprechende 
Abhandlungen  aus  allen  Gebieten  der  Philosophie  und  der  ein- 
schlägigen positiven  Wissenschaften,  sowie  durch  Besprechung 
wertvoller  Neuerscheinungen  die  gegenseitige  Aussprache  zu  be- 
leben und  das  philosophische  Interesse  zu  fördern. 

Halle  und  Leipzig,  im  Januar  1919. 

Hans  Vaihinger.         Raymund  Schmidt. 


Vorbemerkungen  der  Redaktion  zum  ersten  Bande. 

Die  Herausgabe  dieses  ersten  Bandes,  zu  der  wir  uns  im 
dritten  Jahre  des  Weltkrieges  entschlossen  und  die  während  seines 
vierten  Jahres  durchgeführt  wurde,  ist  natürlich  durch  die  Stürme 
dieser  Zeit  mannigfach  gestört  worden.  Unsere  Dispositionen 
mußten  wir  daher  während  des  Druckes  öfters  ändern.  So  ist  der 
jetzige  Einführungsartikel  über  die  allgemeine  Bedeutung  der  Philo- 
sophie des  Als  Ob  der  Stellvertreter  für  eine  viel  umfangreichere 
und  umfassendere,  tiefer  bohrende  und  höher  zielende  Abhand- 
lung, die  uns  in  Aussicht  gestellt  worden  war.  Auch  andere  fest  ver- 
sprochene Beiträge  riß  der  schreckliche  Gott  des  Krieges  uns  aus 
den  Händen.  So  ist  es  auch  gekommen,  daß  von  einem  und  dem- 
selben Autor  zwei  Beiträge  gebracht  werden  mußten,  wodurch  dieser 
Band  allerdings  eine  sachlich  wertvolle  Bereicherung  erfahren  hat. 

Auch  die  Anordnung  der  einzelnen  Beiträge  ist  durch  jene 
Hindernisse  beeinflußt  worden,  so  daß  wir  nicht  durchaus  die 
wissenschaftlich  zweckmäßigste  Gruppierung  treffen  konnten.  So 
mußte  ein  Beitrag,  der  an  die  vierte  Stelle  gehört  hätte,  an  den 
Schluß  gesetzt  werden. 

Trotz  dieser  Störungen  ist  es  uns  gelungen,  diesen  Band  noch 
zum  Schluß  des  Jahres  1918  fertigzustellen,  und  wir  können  un- 
gesäumt an  die  Herausgabe  des  zweiten  Bandes  gehen,  zu  dem 
uns  schon  wertvolles  Material  zugegangen  ist. 

Entsprechend  unserem  vorstehend  abgedruckten  Programme 
nehmen  wir  auch  unbedenklich  Beiträge  auf,  welche  gegen  einzelne 
Ausführungen  der  Philosophie  des  Als  Ob  oder  auch  gegen  deren 
prinzipielle  Grundlegungen  gerichtet  sind.  Wir  betrachten  es 
aber  nicht  als  unsere  Aufgabe,  derartige  kritische  Ausführungen 
selbst  unsererseits  nachzuprüfen  und  unsere  eigene  Stellungnahme 
dagegen  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Die  weitere  Entwicklung 
der  Wissenschaft  wird  schon  von  selbst  dazu  führen,  daß  un- 
genügend motivierte  und  zu  weitgehende  Negationen  wieder  ihre 
Korrektur  finden.  In  diesem  Sinne  bitten  wir,  unser  Stillschweigen 
zu  kritischen  Ausführungen  durchaus  nicht  etwa  als  Zustimmung 
oder  gar  etwa  als  Zugeständnis  der  Unmöglichkeit  der  Widerlegung 
unsererseits  zu  betrachten,  sondern  erinnern  ausdrücklich  daran, 
daß  alle  Beiträge  unter  ausschließlicher  Verantwortung  der  ein- 
zelnen Verfasser  selbst  erscheinen.  Daher  wird  die  Redaktion  nur 
in  ganz   besonderen  Fällen   zu  einer  Antikritik  das  Wort  nehmen. 


Inhaltsverzeichnis  des  ersten  Bandes. 


Seite 

Programm  der  Zeitschrift III 

Vorbemerkungen  der  Redaktion  zum  ersten  Bande VTI 

Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.    Von  Ottmar  Dittrich, 

Dr.,  Prof,  a.  d.  Univ.  Leipzig i 

Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.     Von  Heinrich  Scholz,   Dr.  phil.  et 

theol.,  ord.  Prof.  a.  d.  Univ.  Breslau 27 

Wahrheit   und   Unwahrheit  im   Recht.      Von   Prof.    Krückmann,    Dr.  jr., 

Geh.  Justizrat,  o,  Professor  der  Rechte  an  der  Univ.  Münster     .     .     .     113 
Die  Bedeutung    des    fiktionalen   Denkens    für   die   medizinische  Wissenschaft. 

Von  Marine-Oberassistenzarzt  d.  R.  Dr.  Carl  Coerper 191 

Das  „Als-Ob"  in  der  Molekularphysik.    Von  Dr.  Otto  Lehmann,  Geh.  Rat, 

Prof.  d.  Physik  a.  d.  Techn.  Hochschule  in  Karlsruhe 203 

Die   mathematischen  Fiktionen   und  ihre  Bedeutung   für   die   menschliche  Er- 
kenntnis.   Von  Ernst  Tischer,  Dr.  phil.,  Studienrat,  Prof.  in  Leipzig     231 
Der  Begriff  der  Individualität  als   fiktive  Konstruktion.     Eine   psychologische 

Untersuchung.     Von  Richard  Müller-Freienfels 270 

Grundzüge    einer    neufti   "Wertlehre.      Von    Richard    Müller-Freienfels     319 
Philosophie  der  Tat.    Grundriß  einer  autonomistischen  Rechenschaft  und  Ethik. 

Von  Dr.  Anton  Wesselsky-Wien 382 

Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.     Von  Konrad  Lange,  Dr.  phil., 

o.  Professor  der  Kunstgeschichte  und  Ästhetik  an  der  Univ.  Tübingen     424 
Ein   Mißverständnis   des   parallelistischen   Theorems.     Von  Prof.    Dr.  Julius 

Schultz-Berlin 473 

Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.    Eine  Studie 

über   den   elften  Band  der  neuen  Gesamtausgabe  der  Werke  Schopen- 
hauers („Genesis  des  Systems").     Von  Karl  Gjellerup 495 

Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.    Von  Arnold  Kowalewski, 

Dr.  phil.,  Prof.,  Privatdozent  der  Philosophie  an  der  Univ.  Königsberg     518 
Die    Philosophie    des    „Als   Ob"    vom    Standpunkte    der    Marburger   Schule. 

Von  Jörgeji  Jörgensen-Kopenhagen 596 

Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.    Mit  besonderer  Berücksichtigung  von 

Vaihingers  Philosophie  des  Als  Ob.    Von  Dr.  HansKelsen,a.  ö.  Prof. 

a.  d.  Univ.  Wien 630 

Bücherbesprechung: 

Richard  Müller-Freienfels,    Das  Denken  und    die   Phantasie.    Von 

Prof.  Martin  Havenstein 659 

Zur    Metajurispnidenz    und     Rechtsphilosophie    (Somlo,    Nelson,    Sturm). 

Von    Dr.    Rolf  Mallachow 664 

Otto  Gramzow,  Praktische  Erziehungskunst  für  das  neue  deutsche  Volk. 

Von  Dr.  Raymund  Schmidt 675 

Zum  Gedächtnis  von  Dr.  Fritz  Sommerlad 677 

Eingegangene  Bücher 681 


/ 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob. 

Von 

Ottmar  Dittrich, 

Dr.,  Prof.  a.  d,  Univ.  Leipzig. 

Inhaltsübersicht. 

I.  Die  Unfruchtbarkeit  des  ,, reinen"  Erkennens  führt  zur  Philosophie  des 
Als-ob  als  Philosophie  des  Handelns.  II.  Das  Handeln  ruht  auf  dem  „praktischen 
Gegensatz"  der  bisherigen  zu  einer  neuen  Tatsachen-Wirklichkeit.  Der  Zweck 
des  Handelns,  Herbeiführung  dieser  neuen  Wirklichkeit,  ist  erreichbar  nur  durch 
eine  Fiktion.  III.  Die  Philosophie  des  Als-ob  ist  also  Fiktionalismus,  die  Fiktion 
.^Methode  der  antagonistischen  Operationen".  IV.  Sie  entspricht  so,  für  jedes 
Handeln  unentbehrlich,  V.  als  Methode  dem  ,, praktischen  Gegensatz",  und  greift 
auch  auf  das  Erkennen  zweckmäßig  hinüber,  indem  sie  als  dessen  Methode  zu  wissen- 
schaftlich-praktischen Ergebnissen  führt.  So  zeigt  denn  die  Philosophie  des  Als-ob 
auch  hauptsächlich  auf,  wie  man  von  alter  gegensatzvoller  zu  neuer  relativ  gegen- 
satzloser Einzel-  und  schließlich  Gesamtwirklichkeit  gelange  an  der  Hand  von 
Idealerfüllungen,  die  in  Ideen  als  regulativen  Prinzipien  verankert  sind.  VI.  Daher 
ihr  Charakter  als  positivistischer,  Tatsachen  und  Ideale  nach  Maßgabe  von  Ideen 
zu  vereinigen  suchender  Idealismus,  und  ihre  Bestimmung,  sich  zufolge  ihrer  natür- 
lichen Befassung  mit  Problemstellungen  aller  möglichen  Gebiete  immer  vollkommener 
als  ,, System  der  theoretischen,  praktischen  und  religiösen  Fiktionen  der  Mensch- 
heit" darzustellen. 

I. 

Ein  uralcer  Satz  der  Erkenntnistheorie  lautet:  „Gleiches  kann 
nur  durch  Gleiches  erkannt  werden." 

Daran  ist  richtig,  daß  die  Methode  des  Erkennens  dem 
Gegenstande  des  Erkennens  entsprechen  muß. 

Die  Methode  des  Erkennens  ist  das  Urteil.  Wie  verhält  es 
sich  also  —  psychologisch  • —  zu  seinem  Gegenstande  ?  Man  kann 
in  Kürze  sagen,  folgendermaßen.^) 

Der  Ausgangspunkt  des  Urteilsprozesses  ist  allemal  ein  Un- 
bestimmtes, ein  X,  ein  Diskurrendum,  dem  infolge  eines  Diskursus 
des  (darum  diskursiven)  Denkens  irgendeine  Bestimmung  ä,  b,  c  usw. 


^)  Vgl.  zum   Folgenden   0.   Dittrich,   Die   Probleme   der   Sprachpsychologie 
[1913]  S.  57j  und  Grundzüge  der  Sprachpsychologie  I  (1903)  §  I483ff. 
Annalen  der  Philosophie,    I.  I 


2  Ottmar  Dittrich: 

zucrtcilt  wird.  Der  Diskursus  erfolgt  von  dem  x  zum  a,  von  da 
mit  dem  d  zurück  zum  X,  sodann  wieder  von  x  zu  b,  mit  diesem 
abermals  zurück  zu  x,  endlich  etwa  nochmals  von  x  zu  a  und  b 
und  mit  diesen  beiden  zurück  zu  x.  Das  Resultat  sind  beispiels- 
weise drei  Urteile:  ,,Er  zittert.",  ,,Er  ist  kalt.",  ,,Er  zittert  vor 
Kälte   (Kaltscin)." 

Man  sieht,  x  ist  im  Diskursus  eine  relative  Konstante  ge- 
worden, die  in  jedem  der  Urteile  als  Subjekt  auftritt;  a  und  b 
dagegen  (,, zittert"  und  ,,kalt")  wurden  je  eine  relative  Variable, 
die  in  dem  Urteil  ,,Er  zittert."  die  Rolle  des  Prädikates,  in  dem 
Urteil  ,,Er  ist  kalt."  die  des  Apprädikates  zum  Prädikatkern 
,,ist"  spielt  (denn  sie  macht  ja  mit  ihm  zusammen  das  Prädikat 
,,ist  kalt"  aus).^)  Ist  jedoch  einmal  in  solchen  mehrfachen  Dis- 
kursen und  daraus  erfolgenden  Urteilen  die  Rolle  des  x',  also 
irgendeines  Unbestimmten,  als  relative  Konstante  und  zugleich 
Diskurrendum  festgelegt,  so  vermag  auch  schon  der  Denkvorgang 
etwa  ,,von  x  znc  und  mit  diesem  zurück  zu  x"  als  Diskursus  zu  gelten, 
aus  dem  das  Urteil  ,,x  ist  t"  resultiert.  Ebenso  darf  x  jedesmal 
am  Ende  eines  Urtcilsprozesses  ,,x  ist  ö"  oder  ,,x  ist  b"  oder  ,,x 
ist  c"  usw.  als  ein  relatives  Diskursum  gelten,  nur  natürlich  nicht 
als  ein  absolutes  Diskursum.  Natürlich,  weil  die  Reihe  der  mög- 
lichen Bestimmungen  ,,a,  b,  c  ..."  ja  prinzipiell  unendlich,  und 
X  als  Diskurrendum  daher  eine  Quelle  von  unendlich  vielen  mög- 
lichen Denkprozessen  (Diskursen)  und  damit  Urteilen  ,,über"  x  ist. 

Daraus  folgt,  daß  der  Gegenstand  des  Erkennens  weder  durch 
ein  Urteil  noch  durch  eine  Reihe  von  Urteilen  jemals  erschöpft 
werden  kann.  Alles  Erkennen  ist  also,  da  es  außer  dem  Urteil 
keine  Methode  des  Erkennens  gibt,  eine  von  vornherein  unvollend- 
bare  Aufgabe.  Glaubt  jemand,  irgendeinen  Gegenstand  vollkommen 
erkennen  oder  ,, begreifen"  zu  können,  so  gibt  er  sich  einer  Illusion 
hin.  Denn  ,, Begreifen"  ist  ja  nichts  Geringeres  als  ,, etwas  in  seinem 
ganzen  Zusammenhange,  also  nach  seinem  Wesen,  seinem  Zweck, 
seinen  Ursachen  und  seinen  Beziehungen  verstehen  lernen.  Be- 
griffen ist  eine  Sache  nur  dann,  wenn  wir  nicht  nur  wissen,  was 
sie  ist,  sondern  warum  sie  so  ist  und  wozu  sie  dient  und  wie  sie 


*)  Es  ist  durchaus  unzweckmäßig,  „kalt"  in  dem  Satze  „Er  ist  kalt."  als 
;,  Prädikat"  zu  bezeichnen,  ebenso  unzweckmäßig  wie  die  Bezeichnung  des  Prädikat- 
kerns ,,ist"  als  Kopula",  was  offenbar  dem  Grundcharakter  des  Urteils  als  einer 
dichotomischen  Funktion  widerspricht.  Vgl.  zum  Gesamtsystem  der  syntaktischen 
Bezeichnungen  0.  Dittrich,  Die  Probleme  der  Sprachpsychologie  S.  6off. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  r 

mit  allen  anderen  Dingen  zusammenhängt."^)  Dies  zu  erreichen, 
ist  aber  prinzipiell  unmöglich.  Es  ist  immer  nur  so,  als  ob  man 
,, begriffen"  hätte.     Alles  Begreifen  ist  nur  ein  Scheinbegreifen. 

Hier  setzt  die  ,, Philosophie  des  Als-ob"  ein.  ,,Muß  es",  so 
fragt  sie  nicht  ausdrücklich,  wohl  aber  ihrem  ganzen  Sinne  nach,  — 
,,muß  es  bei  der  Unbcfriedigung  bleiben,  welche  so  allem  Er- 
kennen, vollends  allem  Begreifen  für  jeden  anhafter,  der  sich 
dieser  Sachlage  bewußt  ist  ^  Kann  einem  eine  solche  von  vorn- 
herein unlösbare  Aufgabe  überhaupt  zugemutet  sein.-*  Die  ent- 
weder zu  laxem  Sichbescheiden  bei  einem  unvollkommenen  Re- 
sultate oder  zur  Verzweiflung  treibt }  Ist  es  endlich  das  Wahre, 
die  Wahrheit,  was  auf  diese  Weise,  durch  bloßes  Erkennen,  er- 
reicht wird?" 

Alle  diese  Fragen  beantwortet  die  Philosophie  des  Als-ob 
mit  einem  entschiedenen  Nein.  Es  muß  nicht  bei  der  Un- 
bcfriedigung durch  Erkennen  und  Begreifen  bleiben.  Dem 
Menschen  sind  andere  als  unlösbare  Aufgaben  zugemutet.  Er 
darf  sich  nicht  bei  unvollkommenen  Resultaten  bescheiden  und 
braucht  nicht  zu  verzweifeln.  Das  Wahre,  die  Wahrheit,  wird 
nicht  durch  bloßes  Erkennen  erreicht,  sondern  —  von  da  an  wird 
die  Philosophie  des  Als-ob  positiv  —  durch  Handeln.  Nicht 
das  ist,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  ,,das  Wahre",  daß  man  bei  der 
sogenannten,  rein  erkenntnismäßigen  ,, Wahrheit"  stehen  bleibe, 
die  da  z.  B.  lautet:  ,,Er  zittert  vor  Kälte."  Sondern  ,,das  Wahre" 
ist  erst,  daß  man  daraus  die  praktische  Folge  zieht,  daß  man  dem 
vor  Kälte  Zitternden  hilft.  ,,Der  eigentliche  Zweck  des  Denkens 
(und  das  Erkennen  ist  ja  Denken)  ist  nicht  das  Denken  und  seine 
Produkte  selbst,  sondern  das  Handeln  und  in  letzter  Linie  das 
ethische  Handeln."^)  Was  aber  ist  nun  das  Handeln  selbst  .f* 
Und  wodurch  kommt  es  —  wiederum  psychologisch  —  zustande  ^ 

n. 

Auch  hier  gehen  wir  zunächst  von  Bestimmungen  aus,  die 
nicht  ausdrücklich  in  der  ,, Philosophie  des  Als-ob"  stehen. 

Handeln,  so  sagen  wir,  ist  willentlich  oder  aus  dem  Willen 
heraus  wirken.  Wirken  heißt,  die  bisherige  Wirklichkeit  ver- 
ändern.   Was  aber  ist  Wille  .'' 


*)  Kirchner-Michaelis,     Wörterbuch    der    philosophischen     Grundbegriffe 
3.  Y.  Begreifen. 

^  Vaih(inger),  Die  Philosophie  des  Als-ob  [2.  Aufl.  1913]  S.  93. 

I» 


A  Ottmar  Dittrich : 

,, Wille",  so  heißt  ts  bei  Rohmkc  ^),  ,,ist  die  Seele  in  solehcn 
Augcnblieken,  in  denen  dieses  gegenständliehc,  zuständliehe  und 
denkende  Bewußtsein  sieh  ursächlieh  auf  eine  im  Lichte  der  Lust 
vorgestellte  Veränderung  bezieht,  d.  h.  .ursächliches'  Bewußtsein 
ist."  Das  ist  im  allgemeinen  richtig,  aber  ganz  reicht  es  doch 
nicht  zu.  Einmal  wird  man,  ohne  dem  Hcdonismus  zu  verfallen, 
nicht  sagen  dürfen  ,,im  Lichte  der  Lust",  sondern  nur  ,,im  Lichte 
der  Befriedigung".  Dies  aber  liängt  wieder  aufs  engste  damit 
zusammen,  daß  die  ,,im  Lichte  der  Befriedigung"  vorgestellte 
Veränderung  nicht  eine  solche  schlechthin,  sondern  eine  ganz 
bestimmte  Veränderung  bedeuten  muß,  um  als  Willensziel  oder 
Zweck  fungieren  zu  können.  Und  endlich  wird  es  angemessen 
sein,  in  der  Definition  auch  auf  das  Motiv  des  Willens  hinzudeuten, 
so  daß  sich  aus  alledem  die  Fassung  ergibt:  ,, Wille  ist  die  Seele 
in  solchen  Augenblicken,  in  denen  sie,  von  der  gegenwärtigen 
Wirklichkeit  unbefriedigt  und  eine  zukünftige  Wirklichkeit  im 
Lichte  der  Befriedigung  vorstellend,  sich  ursächlich  auf  die  be- 
friedigende Veränderung  dieses  Gegensatzes  bezieht."^) 

Diese  modifizierte  Begriffsbestimmung  ist  für  uns  vor  allem 
dadurch  wertvoll,  daß  in  ihr  der  ,, praktische  Gegensatz"^)  zum 
Ausdruck  gebracht  ist,  der  den  Gegenstand  der  Seele  als  Wille 
bildet.  Denn  indem  die  Seele  die  gegenwärtige  Wirklichkeit  un- 
befriedigt wahrnimmt  und  eine  zukünftige  im  Lichte  der  Be- 
friedigung vorstellt,  wird  sie  sich  auch  dieses  Gegensatzes  bewußt, 
hat  sie  ihn  zum  Gegenstand.  Sie  wird  dadurch,  durch  dieses  Motiv, 
auch  erst  zum  Willen,  und  dieser  führt  seinerseits  zur  Praxis,  zum 
Handeln,  indem  er  ,, Handelnwollendes'*")  ist. 

,, Willensmotiv  [nämlich]  ist  jener  praktische  Gegensatz  in 
der  Seele,  insofern  er  die  unumgängliche  Bedingung  bedeutet 
dafür,  daß  die  Seele  wollendes  Bewußtsein  wird,  also  der  Grund 
ist,   daß  sich   die    Seele   auf  die   im   Lichte  der   Be^friedigung  vor- 


*)  J.  Rehmke.  Die  Willensfreiheit   [1911]   S.  33. 

*)  Diese  Fassung  kommt  der  von  Rehmke  selbst  (S.  13)  sehr  nahe:  „Die 
Tatsache  ,ich  will  dies'  enthalt...  immer  folgendes:  ,Ich,  der  ich  eine  im  Lichte 
der  Lust  stehende  Veränderung  vorstelle  und  zugleich  an  besonderem  Gegenständ- 
lichem dieses  meines  Augenblicks  Unlust  habe,  beziehe  mich  aus  diesem  Gegen- 
satze heraus  auf  die  im  Lichte  der  Lust  stehende  Veränderung".  Man  sieht  aber 
wohl,  weshalb  wir  auch  diese  Fassung  nicht  ohne  weiteres  annehmen  können. 

3)  Rehmke,  Die  Willensfreiheit  S.  11  ff.,  bes.   13  u.  21. 

■•)  Rehmke  S.  13,  vgl.  zi. 


A 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  C 

gestellte  Veränderung  jenes  Gegensatzes  ursäehlich  bezieht."  i) 
Und  von  hier  aus  geht  es  durch  den  Zweck  zum  Handeln,  zur 
Verwirklichung  des  Zwecks.  Denn  ,,was  wir  .Willcnszwcck'  oder 
, Zweck'  schlechthin  nennen,  ist  in  jedem  einzelnen  Falle  die  im 
Lichte  der  Befriedigung  vorgestellte  Veränderung  jenes  prak- 
tischen Gegensatzes  in  der  Seele,  die  [d.  h.  sofern  sie]  Wille  ist; 
mit  anderen  Worten,  , Zweck'  heißt  die  gewollte  Veränderung 
oder  kurz  das  Gewollte  oder  das,  was  [ich  d.  h.^)]  die  Seele  will. 
Das  also,  was  sich  als  Zweck  des  Willens  (der  wollenden  Seele) 
darstellt,  gehört  stets  zu  dem  praktischen  Gegensatze,  findet  sich 
demnach  in  dem  ,Willcnsmotiv'  der  Seele  als  die  im  Lichte  der 
Befriedigung  vorgestellte  Veränderung  [dieses  Gegensatzes].  Die 
Gleichung  , Gewolltes  =  Zweck'  trifft  [also]  überall  zu,  wenn  Be- 
wußtsein als  Wille  in  Frage  kommt.  Gewolltes  nennen  wir  aber 
, Zweck',  um  es  damit  insbesondere  als  ein  durch  den  Willen  zu 
Verwirklichendes,  auf  das  er  , zielt',  hervorzukehren;  das  Wort 
, Zweck'  läßt  uns  in  der  Tat  immer  hinausblicken  in  die  Zukunft, 
in  der  das  Gewollte  zu  verwirklichen  ist."^)  Wie  aber  geschieht 
nun  diese  Verwirklichung? 

Nicht  sowohl  direkt  durcli  den  Willen  geschieht  sie,  wie  es 
nach  dieser  letzten  Äußerung  den  Anschein  haben  könnte,  sondern 
eben  durch  das  Handeln.  Dies  erfordert  aber  endlich,  um  es  ver- 
ständlich zu  machen,  ein  Zurückgreifen  auf  das  früher  gegebene 
Beispiel. 

Wir  setzen  den  Fall,  ich  sitze,  mit  einer  angenehmen  Lektüre 
beschäftigt,  am  Fenster  meines  behaglich  durchwärmten  Zimmers, 
Da  fällt  mein  Blick  hinaus  auf  die  Strafie  auf  einen  Mann  draußen 
im  naßkalten,  stürmischen  Wetter.  Das  Resultat  ist  zunächst, 
daß  ich  dem  ,,vor  Kälte  Zitternden"  helfen  will.  Wie  kommt  es 
dazu } 

Der  seelische  Hergang  des  Ganzen  ist  nach  allem  Bisherigen 
folgender.  Während  ich  bislang  befriedigt  am  Fenster  saß,  be- 
friedigt mich  die  mir  gegenwärtige  Wirklichkeit  nicht  mehr,  seit- 
dem   ich    auf    Grund    der    Wahrnehmung    jenes    Mannes    geurteilt 


^)  Rehmke  S.  21,  mit  den  durch  unsere  bisherigen  Ausführungen  gebotenen 
Modifikationen.    Auch  die  folgenden  Zitate  sind  so  modifiziert. 

*)  Zu  dieser  Identifikation  des   Ich  mit  der  Seele  vgl.  Rehmke  S.  I2f. 
*)  Rehmke  S.  2if. 


5  Ottmar  Dittrich: 

habe:  „Er  zittert  vor  Kälte."  „Der  nicht  mehr  vor  Kälte  zit- 
ternde Mann"  wird  nun  von  mir  im  Lichte  der  Befriedigung  vor- 
gestellt, und  zugleich  im  Gegensatz  zu  der  unbefriedigenden  Wahr- 
nehmung, die  ich  immer  noch  von  dem  ,,vor  Kälte  zitternden 
Manne"  habe.  In  dem  Augenblicke,  wo  dies  eintritt,  erfahre  ich 
aber  auch  die  Umschaltung  vom  Nichtwollenden  zum  Wollenden^ 
vom  NichtWillen  zum  Willen,  auf  Grund  dieses  Gegensatzes, 
dieses  (Willens-)  Motivs.  Ich  will  nunmehr  diesen  Gegensatz, 
weil  er  mit  Unbefriedigung  verbunden  ist,  loswerden,  indem  ich 
ihn  zweckmäßig  verändere.  Mein  Zweck  aber  ist  der  von  mir 
im  Lichte  der  Befriedigung  vorgestellte  ,, nicht  mehr  vor  Kälte 
zitternde  Mann",  und  diesen  Zweck  gilt  es  zu  verwirklichen.  Dann 
wird  auch  der  Gegensatz  zweckmäßig  verändert  sein,  d.  h.  ich 
werde  den  ,,vor  Kälte  zitternden  Mann"  nur  noch  als  irrelevante 
Erinnerungsvorstellung  haben.  Diese  wird  meine  Befriedigung 
durch  die  Wahrnehmung  des  ,, nicht  mehr  vor  Kälte  zitternden 
Mannes"  nicht  stören.  Die  Wirklichkeit,  die  mir  unbefriedigend 
war,  wird  zweckmäßig  entwirklicht  und  durch  eine  neue,  be- 
friedigende, ersetzt  sein. 

Aber  so  ganz  unmittelbar  ist  dies  nicht  zu  erreichen.  Zuvor 
muß  der  ,, einfache  Zweck"  (der  im  Lichte  der  Befriedigung  vor- 
gestellte ,, nicht  mehr  vor  Kälte  zitternde  Mann")  zum  ,, Reihen- 
zweck" ^)  gestaltet  werden.  Dies  geschieht,  indem  aus  dem  , .ein- 
fachen Zweck"  die  zu  seiner  Verwirkhchung  nötige  Folge  ge- 
zogen wird.  ,,Will  ich",  sage  ich  mir,  ,, meinen  Zweck  verwirk- 
lichen, so  muß  ich  den  Mann  aus  dem  bösen  Wetter  hereinholen. 
Denn  Winken  und  Rufen  hat  mir  nichts  geholfen,  und  zum  Schicken 
habe  ich  niemand."  Ich  muß  also  das  ,, Mittel  zum  Zweck",  das 
Handeln,  wodurch  dieser  allein  von  mir  zu  verwirklichen  ist,  mit- 
wollen. Ich  muß  es  mitwollen  als  Anfangsglied  des  von  mir  über- 
haupt Gewollten.  Der  ,, eigentliche"  Zweck  darf  im  ,, Reihenzweck"" 
nur  als  Endglied  dastehen. 

Dies  alles  aber,  worin  ich  mich  auch  schon  ursächlich  auf  die 
Verwirklichung  des  ,,eigenthchen"  Zweckes  durch  mein  Handeln 
beziehe,  kann  nur  sein  durch  eine  —  Fiktion.  Ich  muß  ,, denken", 
daß  die  Vcrv^'irklichung  meines  ,, eigentlichen"  Zweckes  allein  von 
meinem  Willen  und  Handeln  abhänge.  Sonst  würde  ich  mich 
darauf    verlassen,    sie    geschehe    irgendwie    ohnedies,    und    würde 

•)  Vgl.  Rchmkc  S.  25ff. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  7 

überhaupt  nicht  zum  Handchi  gelangen.     Handeln  ist  also  nicht 
möglich  ohne  Fiktion. 

III. 

Damit  stehen  wir  auf  dem  Punkte,  der  als  das  Um  und  Auf 
der  ,, Philosophie  des  Als-ob"  bezeichnet  werden  muß.  Sie  ist 
Fiktionalismus.    Wie  aber  bestimmt  sie  nun  selbst  die  Fiktion.? 

Dabei  stoßen  wir  zunächst  auf  eine  Reihe  von  paradoxen 
Behauptungen. 

,,Das  Bestreben  der  Wissenschaft",  so  heißt  es  da  z.  B.^), 
,,geht  darauf  aus,  die  Vorstellungswelt,  die  nur  subjektiv,  fiktiv, 
falsch,  Irrtum  ist,  zu  einem  immer  brauchbareren  Instrument 
der  Berechnung  und  des  Handelns  zu  machen;  also  ist  diese  Vor- 
stellungswelt, welche  aus  diesem  Bestreben  resultiert,  und  welche 
man  gewöhnlich  Wahrheit  nennt,  nur  der  zweckmäßigste  Irrtum, 
d.  h.  diejenige  Vorstellungsweise,  welche  am  raschesten,  elegan- 
testen, sichersten  und  am  wenigsten  mit  irrationalen  Elementen 
besetzt,  Handeln  und  Berechnen  am  meisten  ermöglicht."  Oder, 
wie  man  es  auch  noch  ausdrücken  kann,  Wahrheit  ist  ,,nur  der 
zweckmäßigste  Grad  des  Irrtums,  und  Irrtum  der  unzweckmäßigste 
Grad  der  Vorstellung,  der  Fiktion".^) 

Fiktionen  also  sollen  uns,  indem  sie  immer  zweckmäßiger 
werden,  zur  Wahrheit,  auch  und  vor  allem  zur  ,, eigentlichen", 
der  Wahrheit  durch  Handeln,  führen,  und  Fiktionen  sind  —  ,, in- 
adäquate, subjektive,  bildliche  Vorstellungsweisen,  deren  Zusammen- 
treffen mit  der  Wirklichkeit  von  vornherein  ausgeschlossen  ist".^) 
„Ihr  Charakter  ist  innerer  Widerspruch,  logische  Unmöglichkeit 
und  Gewaltsamkeit  der  Annahme."*)  Sie  sind  ,, falsche  Faktoren 
in  der  Rechnung"^),  ,, falsche,  unmögliche  Begriffe  um  eines  prak- 
tisch-wissenschaftlichen Zweckes  willen"*),  ,, wissenschaftlich  er- 
laubte oder  gebotene  Erdichtungen"'),  ,, illegitime  Auskünfte", 
,, Versündigungen  gegen  das  eigene  logische  Grundprinzip  der 
Psyche",  ,, Umwege,   Listen,  hinterlistige  Schleichwege,  mit  denen 


1)  Vaih.  S.  193. 

*)  Ebenfalls  Vaih.  S.  193. 

»)  Vaih.  S.  606. 

«)  Vaih.  S.  607. 

»)  Vaih.  S.  769. 

•)  Vaih.  S.  521. 

7)  Vaih.  S.  257,  vgl.  S.  65. 


8  Ottmar  Dittrich: 

das  Denken  die  Wirklichkeitsschwicrigkeiten  —  und  sich  selbst 
überlistet,  um  freilich  am  Ende  vielleicht  auf  die  niederschlagende 
Erkenntnis  zu  kommen,  daß  es  mit  all  diesem  künstlichen  Tun 
doch  nicht  viel  erreicht  habe,  .  .  .  daß  durch  diese  Fiktionen  neue 
Schwierigkeiten  geschaffen  werden,  Fragen,  Probleme,  an  denen 
das  Denken  sich  vergeblich  abmüht".^)  ,,Denn  das  diskursive 
Denken  weicht  einerseits  von  der  Wirklichkeit  ab  bis  zur  Ver- 
fälschung derselben,  und  es  gerät  andererseits  mit  sich  selbst  in 
logische  Konflikte."^) 

Wie  kann  es  nun  aber  —  so  fragen  wir  wohl  mit  Recht  ver- 
wundert —  sein,  daß  ein  so  grundfalsches  Mittel,  wie  es  die  Fik- 
tion nach  der  ,, Philosophie  des  Als-ob"  selbst  ist,  doch  zu  wahren, 
auch  und  vor  allem  zu  ethisch -praktisch  wahren  Resultaten 
führt?  Wie  kann  es  sein,  daß,  ,,wenn  das  Denken  in  den  Fik- 
tionen der  Wirklichkeit  widerspricht,  und  wenn  es  sogar  sich 
selbst  widerspricht,  es  trotz  dieser  bedenklichen  Handlungsweise 
sein  Ziel  erreicht,  nämhch  die  Wirklichkeit  zu  treffen"?^)  Ja, 
sogar  durch  das  Handeln  eine  neue,  befriedigende  Wirklichkeit 
zu  schaffen  ? 

Die  Antwort  gibt  eine  sich  nicht  mehr  in  den  obigen,  zunächst 
nicht  recht  verständlichen  Paradoxien  bewegende  praktische  Be- 
griffsbestimmung der  Fiktion,  zu  der  uns  wiederum  ein  Beispiel 
hinleiten  mag.  — 

Die  wissenschaftlich-praktische  Aufgabe  sei,  den  Inhalt  eines 
Kreises  aus  dessen  gegebenem  Radius  r  zu  berechnen.  Dazu 
genügt  die  gewöhnliche  Kreisdefinition,  wonach  der  Kreis  von 
einer  in  sich  zurückkehrenden  krummen  Linie  begrenzt  ist,  deren 
jeder  Punkt  vom  Kreismittelpunkt  den  Abstand  r  hat,  in  keiner 
Weise. 

Ich  sage  mir  nun  —  für  den  Dreieckinhalt  habe  ich  die  Formel 

h  h 

Y  — ,  vielleicht  komme  ich  zu  dem  gewünschten  Ergebnis,   wenn 

ich  den  Kreisinhalt  als  eine  Summe  von  Dreiecksflächen  auffasse, 
in  denen  h  ^-  r  ist,  während  b,  die  Summe  der  Basen  jener  Drei- 
ecke, gleich  u,  dem  Umfang  des  Kreises  wäre.  Aber  auch  diesen 
kann  ich  aus  der  gewöhnlichen  Kreisdefinition  nicht  gewinnen. 
Also  versuche  ich  es  zuerst  mit  b  =  6r,  d.  h.  dem  Umfang  des 
dem   Kreise  eingeschriebenen  regelmäßigen   Sechseckes.      Ich  finde 

>)  Vaih.  S.  i39f. 
*)  Vaih.  S.  i6o. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  q 

jedoch,  daß  die  Abweichung  vom  Kreisumfang  sehr  groß  ist.  Näher 
komme  ich  ihm  schon,  wenn  ich  den  Umfang  des  eingeschriebenen 
Zwölfeckes  als  b  annehme,  noch  näher  mit  dem  eingeschriebenen 
24-,  48-,  96-Eck.  Mit  dem  letzteren  und  indem  er  dessen  Unter- 
schied vom  umgeschriebenen  96-Eck  mit  in  Betracht  zog,  kam 
bereits  Archimedes  auf  tc  (d.  h.  das  Verhältnis  m:  2r  als  Korrektur 
von  h  —  6r  —  2)  '  2r)  größer  als  3^°/7i  und  kleiner  als  377-  Die 
grundlegende  Formel  i  =  f^n  (aus  2r7i  •  rj2)  war  damit  gefunden. 
Denn  auch  h  konnte  nun  mit  sehr  geringem  Fehler  als  =  r  an- 
gesehen werden. 

Die  Annäherung,  die  mit  n  an  den  Kreisumfang  gegeben  ist, 
kann  ich  nun  beliebig  weit  treiben.  Ludolf  van  Ceulen  hat 
aus  dem  1073741 284-Eck  n  auf  35  Dezimalen  genau  berechnet. 
Shanks  ist  unter  Anwendung  moderner  Infinitesimalmethoden 
bis  auf  700  Dezimalen  gegangen  und  fußt  dabei,  wie  bereits  Vega 
(mit  140  Dezimalen),  mit  auf  der  Voraussetzung,  auf  die  es  uns 
hier  vor  allem  ankommt,  auf  einer  neuen,  von  Johannes  Kepler^) 
aufgestellten  Kreisdefinition.  ,,Der  Kreis",  so  lautet  diese  in 
ihrer  vollständigsten,  für  uns  brauchbarsten  Form,  ,,ist  so  zu 
betrachten  und  zu  behandeln,  wie  er  zu  betrachten  und  zu  be- 
handeln wäre,  wenn  er  ein  Vieleck  von  unendlich  vielen  unendlich 
kleinen  Seiten  wäre."  Oder,  etwas  kürzer:  ,,Der  Kreis  ist  so  zu 
betrachten  und  zu  behandeln,  als  ob  er  ein  Vieleck  von  unendlich 
vielen  unendlich  kleinen  Seiten  wäre." 

Diese  Definition,  die  offenbar  in  der  Linie  des  archimedischen 
Verfahrens  liegt,  ist  nun  schon  eine  ,, echte  Fiktion"  im  wissen- 
schaftlichen Sinne.  Wie  stellt  sich  ihre  logische  Struktur 
und  demzufolge  ihr   Wert  für  das   Erkennen   und   Handeln  dar .? 

In  ersterer  Hinsicht  gilt  folgendes.  Das  ,, fiktive  Urteil", 
in  dem  die  Fiktion,  beispielsweise  also  die  ,,neue"  Kreisdefinition, 
ausgesprochen  wird,  ist  zunächst  eine  Vorschrift.  Aber  keine 
unbedingte,  kategorische,  vielmehr  eine  —  nicht  ,, hypothetische "  ^), 
sondern  —  bedingte,  konditionale. 

Bedingt  durch  zweierlei:  einen  Vergleich  und  eine  Bedingung 
im  engeren  Sinne  des  Wortes. 

Der  Vergleich  wird  —  um  noch  einmal  an  das  Beispiel  an- 
zuknüpfen —  angestellt  zwischen  dem  Kreis   {A)  und  dem  Viel- 

1)  Vgl.  Vaih.  S.  536. 

*)  Auf  das  Verhältnis  der  Fiktion  zur  Hypothese  kommen  wir  noch  zurück. 
Vgl.  im  übrigen  für  das  „fiktive  Urteil"  bes.  Vaih.  S.  I54ff.,  592ff. 


O  Ottmar  Dittricli : 

eck  von  unendlich  vielen  unendlich  kleinen  Seiten  {B).  Das 
Tertium  comparationis  ist  die  Seitenzahl.  Dieses  aber  wird  zu- 
gleich durch  den  „irrealen"  Bedingungssatz  ,,\venn  er  [A)  ein 
Vieleck  von  unendlich  vielen  unendlich  kleinen  Seiten  [B]  wäre" 
in  die  Sphäre  des  Unwirklichen,  ja  Unmöglichen  verwiesen.  Der 
Vergleich  ist  damit,  soweit  die  Wirklichkeiten  ,, Kreis  [A)"  und 
,, Vieleck  (ß)"  in  Betracht  kommen,  zur  Unmöghchkcit  gestempelt. 
Man  weiß  ganz  genau:  Der  Kreis,  eine  stetig  gekrümmte  Linie, 
kann  in  keiner  Wirklichkeit  eine  winkelig  gebrochene  Gerade  sein; 
er  kann  darum  auch  keine  Seiten  und  folgerichtig  keine  Seiten- 
zahl haben,  sei  sie  endlich  oder  unendlich,  —  ganz  abgesehen  von 
den  im  Begriffe  des  Unendlichen  an  sich  gelegenen  W^idersprüchen. 

Dennoch  vollzieht  man  den  Vergleich;  warum?  Fordert  man 
von  einer  Definition,  daß  sie  reinen  Erkenntniswert  haben  soll, 
so  besitzt  diese  Kreisdefinition  sicherlich  keinen.  Man  weiß  jetzt 
nur,  daß  der  Kreis  kein  Vieleck  ist,  auch  keines  von  unendlich 
vielen  unendlich  kleinen  Seiten.  Was  ist  er  also  eigentlich.''  Das 
sagt  uns  die  Definition  nicht.    Sie  hat  an  sich  keinen  Erkenntniswert. 

Aber  vielleicht  hat  sie  desto  größeren  Wert  für  das  Handeln  .-* 
Das  ist  in  der  Tat  der  Fall.  Man  erfülle  nur  die  in  der  Fiktion 
enthaltene  Forderung,  und  man  wird  sehen,  es  ist  so.  Man  setze 
nur  einmal  versuchsweise  den  unmöglichen  Fall,  ,,der  Kreis  ist 
ein  Vieleck  von  unendlich  vielen  unendlich  kleinen  Seiten"  als 
wirkhch  an  und  ziehe  daraus  die  notwendigen  Folgen.^) 
Man  sage:  ,,Wenn  der  Kreis  ein  solches  Vieleck  ist  —  und  ich 
will  einmal  annehmen,  er  ist  es  wirklich  — ,  dann  unterliegt  er 
den  Gesetzen  für  die  Inhaltsberechnung  solcher  (regelmäßiger) 
Vielecke",  und  man  ist  auf  dem  Wege  zu  der  Formel  i  =  r^Ti. 

Deren  —  und  indirekt  der  Fiktion,  aus  der  sie  erwachsen  — 
praktischer  Wert  aber  ist  sichtlich  sehr  bedeutend.  Nicht  nur, 
daß  mir  damit  eine  Regel  für  die  ohne  Fiktion  unmöglich  ge- 
wesene Berechnung  des  Kreisumfangs  {2r7i)  und  Kreisinhalts 
{r^n)  für  alle  möglichen  Fälle  von  r  gegeben  ist.  Auch  die  Ober- 
fläche und  den  Rauminhalt  des  geraden  Zylinders^)  kann  ich  nun 
für  alle  Fälle  von  r  und  H  nach  den  Formeln  o  =  2r^7t  +  2rnH 
und  7  =-  r^TiH  berechnen,  sobald  ich  nur  die  weitere  Fiktion 
mache:  ,,Der  gerade  Zylinder  ist  ein  Prisma  von  unendlich  vielen 

•)  Vgl.  Vaih.  S.  585/. 

*)  Selbstverständlich  ist  der  Zylinder  mit  Kreis  als  Grundfläche  gemeint. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  I  j 

unendlich  kleinen  Seiten."  Schiefer  Zylinder,  Kegel,  Kegelstutz  usw. 
folgen  durch  weitere  Deduktion  und  Fiktion  leicht  nach;  was 
für  den  Kreiszylinder,  gilt  analog  für  den  Ellipsenzylinder,  -kegel 
usw.  usw.  Kurz,  die  praktische  Tragweite  der  fiktiven  Methode 
ist  in  diesem  Falle  geradezu  enorm,  besonders  wenn  man  bedenkt, 
daß  damit  Gerade  und  Krumme  überhaupt  als  infinitesimal  kom- 
mensurabel hingestellt  sind. 

Und  dieser  praktische  Wert  der  Fiktion  wird  offenbar  auch 
dadurch  nicht  beeinträchtigt,  daß  das  hier  mittelst  ihrer  erreichte 
Resultat  immer  nur  ein  annäherndes  ist  und  sein  kann.  Denn 
schon  mit  n  =  3,14159265  reicht  man  nach  dem  Urteil  von  Mathe- 
matikern ,, überall  aus"^),  wie  denn  überhaupt  gilt,  ,,daß  in  der 
größeren  Zahl  der  Fälle  es  nötig  oder  vorteilhaft  ist,  sich  mit  dem 
Aufsuchen  annähernder  Lösungen  zu  begnügen*',  sobald  sie  nur 
,, systematische  Annäherung"  bedeuten.^) 

Diese  aber  leisten  die  sämtlichen  vorerwähnten  Fiktionen  und 
muß  jede  Fiktion  leisten,  die  auf  wissenschaftlich-praktischen  Wert 
Anspruch  machen  soll,  somit,  da  die  Wissenschaft  immerhin  ein 
Lebensnerv  jeder  höheren  Praxis  bleibt,  überhaupt  jede  Fiktion. 
,, Fiktionen  sind  in  unserem  Sinne:  wissenschaftlich  erlaubte  oder 
gebotene  Erdichtungen"^),  der  Satz  erscheint  jetzt  minder  paradox. 
Und  die  ,, wissenschaftliche  Fiktion"  oder  ,, wissenschaftliche  Er- 
dichtung zu  praktischen  Zwecken"^)  ist  so  deutlich  abgegliedert 
von  der  ,, lügnerischen  Erfindung",  der  ,, poetischen"  oder  ,, my- 
thischen Erdichtung"  sowie  der  ,, irrigen  Annahme". 5) 

Aber  wie  ?  Die  Fiktion,  wissenschaftliche  Fiktion  natürlich, 
soll  doch  auch  nach  ihrer  strengen,  nicht  paradoxalen  Definition 
nur  eine  ,, bewußte  zweckmäßige  Abweichung  von  der  Wirk- 
lichkeit"®) sein!  Wie  kann  sie  dann  jemals  das  leisten,  was  hier 
in  Form  der  ,, Annäherung"  von  jeder  wissenschaftlichen  Fiktion 
gefordert  wird } 

Die  Antwort  lautet:  Abweichung,  bewußte,  zweckmäßige  Ab- 
weichung von  der  Wirklichkeit  ist  die   Fiktion  freilich   ebenfalls. 


^)  So  Fr.  Engel  in  Meyers  Konversationslexikon,  6.  Aufl.  XI  S.  626. 
*)  Die   Zitate   aus   F.   Enriques,    Fragen   der   Elemeritargeometrie,   deutsch 
von  H.  Fleischer   [1907]   II  S.  337. 

')  Vaih.  S.  257;  daher  auch  das  folgende  Zitat. 

*)  Vaih.  S.  65. 

*)  Vgl.  Vaih.  S.  257. 

6)  Vaih.  S.  174. 


12  Ottmar  Dittrich: 

Aber  sie  ist  nicht  dies  allein;  die  zuletzt  reproduzierte  Definition 
ist  in  dieser  Hinsicht  zu  weit.  Und  dies  führt  uns  endlich  in  den 
„eigentlich  logischen  Kern  der  Fiktion"^)  hinein. 

Die  Fiktion  ist  Abweichung  von  der  Wirklichkeit.  Aber  doch 
nur  zu  dem  Zwecke,  um  aus  der  alten,  unzweckmäßigen,  eine  neue, 
zweckmäßige  Wirklichkeit  theoretisch-praktisch  zu  gestalten.  Und 
sie  weicht  zweckmäßig  ab  zu  diesem  Zwecke,  indem  sie  ihn  der 
neuen  Wirklichkeit  so  weit  annähert,  daß  er  möglichst  ohne 
Schwierigkeit  darein  verwirklicht  werden  kann.  Wie  wird  dies 
aber  erreicht } 

Offenbar  ist  die  Abweichung  von  der  ,, Wirklichkeit  ohne 
Kreisinhaltsformel"  zu  dem  Zwecke,  ,, mittelst  des  Vieleckes  die 
Kreisinhaltsformel  zu  finden",  ein  Fehler.  Also  muß,  um  zur 
,, Wirklichkeit  mit  Kreisinhaltsformel "  zu  gelangen,  dieser  Fehler 
rückgängig  gemacht  werden.  Dies,  und  damit  die  Annäherung 
an  die  neue  Wirklichkeit,  geschieht  durch  die  fiktive  Gleich- 
setzung ,,der  Kreis  ist  ein  Vieleck  von  unendlich  vielen  unendhch 
kleinen  Seiten".  Aber  auch  darin  steckt  ein,  wenngleich  dem 
vorigen  groben  gegenüber  sehr  feiner  Fehler  und  außerdem  die 
neue  Fiktion  des  unendlich  Kleinen.  Dem  fiktiven  Zwecke  kann 
demzufolge,  bei  dieser  ,, Methode  der  entgegengesetzten 
Fehler"^),  nur  eine  annähernde  Verwirkhchung  entsprechen; 
wir  erhalten  nur  eine  ,, Wirklichkeit  mit  annähernder  Krcisinhalts- 
formel",  keine  ,,mit  Kreisinhaltsformel  (schlechthin)". 

Anders,  wenn  sich  die  ,, Methode  der  entgegengesetzten  Fehler" 
zur  ,, Methode  der  antagonistischen  Operationen"^)  aus- 
weitet. 

Ein  mathematisches  Beispiel  wird  hier  abermals  lehrreich 
sein.  Wir  geben  es  direkt  mit  den  Worten  von  Vaihinger*): 
,,Es  ist  die  Aufgabe,  eine  Linie  a  solle  in  zwei  Teile  x  und  ä  —  x 
geteilt  werden,  so  daß  x^  {a  —  x)  ein  Größtes  sei.  Diese  historisch 
gestellte   Aufgabe   schien   lange   unlösbar,    bis    Fermat   sie   durch 


»)  Vaih.  s.  217. 

*)  Vgl.  Vaih.  S.  i94ff.,  auch  zum  lolgenden. 

»)  Vaih.  S.  2i7f. 

*)  Vaih.  S.  aooff.  Wir  vermögen  nicht  zu  sehen,  inwiefern  Läpp  (Die  Wahr- 
heit, 1913)  an  Vaihi  ngc  rs  Wiedergabe  des  Fermatschen  Satzes  hätte  Kritik  üben 
sollen  (was  E.  Boernia,  Über  die  Philosophie  des  Als-ob,  1916,  S.  51  Anm.  zu  §  i, 
verlangt).  DaßVaihinger  die  Division  durch  e  übergeht,  ist  doch  für  das  Resultat 
belanglos;  die  «^-Glieder  fallen  auch  durch  Nullsetzung  des  e  sämtlich  fort. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  i  3 

folgenden  Kunstgriff  löste.  Fcrmat  setzt  statt  x  den  Teil  x -\-  e, 
also  einen  ganz  willkürlichen  Teil,  der  größer  ist,  als  der  verlangte. 
Dadurch  verwandelt  sich  jener  Ausdruck  x'^  (a  —  x)  in  folgenden : 
{x  -\-  e)^  •  {a  —  X  —  e).  Diesen  Ausdruck  vergleicht  er  mit  jenem, 
als  wenn  beide  gleich  groß  wären,  ob  sie  es  gleich  nicht  sind.  [Denn 
der  Wert  des  einen  und  des  anderen  ist  offenbar  verschieden; 
z.  B.  62  (9  -  6)  gibt  108;  dagegc-n  (6  +  1)2  (9  -  6  -  i)  gibt  98.] 
Diese  Vergleichung  nennt  er  eine  adäequalitas  (Diophanti  nagi- 
aörrjq).     Fermat  setzt  also  folgende  Gleichungen: 

(I)  x^  {a  —  x)  =^  x^a  —  x^, 

(II)  {x  +  e)^  [a  —  X  —  e)  =  [x^  -\-  2ex  +  e^)  [a  —  x  —  e)  = 
ax^  +  2aex  +  ae^  —  x^  —  2ex^  —  e^x  —  ex^  —  2e^x  —  e^. 

Er  setzt  nun,  wie  bemerkt,   (I)  =  (II);  daraus  folgt: 

(III)  x^a  —  %^  =  ax'^  +  2aex  +  ae^  —  x^  —  2ex^  —  e^x 

—  ex^  —  2e^x  —  e^ 
2aex  +  ae^  =  '^ex^  +  2)^^^  +  ^^ 
2ax  -\-  ae  —  t,x^  -\-  ^xe  +  e^- 
Wie  aber  nun  weiter .'' } 

Hier  macht  nun  Fermat  einfach  den  oben  begangenen  Fehler 
dadurch  wieder  rückgängig,  daß  er  sagt:  Jenes  x -\- e  war  eine 
bloI3e  Fiktion  zur  Einfädelung  der  Rechnung.  Faktisch  soll  ja 
doch  (I)  =  (II)  sein;  das  ist  aber  nur  möglich,  wenn  ^  =  0  ist^); 
also  fallen  alle  Glieder  mit  e  heraus.     Das  gibt: 

2ax  ^  $x^ , 
2a  =  3x, 

2a  

T  ~~ 

Beispiel:  Die  Linie  a  habe  die  Länge  I2;  so  ist  x  =  8,  a  —  x  =^  4; 
nur  in  diesem  Falle  ist  x^  {a  —  x)  ein  Größtes;  d.  h.  8^  (4)  =  256. 


^)  Man  nehme  an,  der  Unterschied  zwischen  x  und  x  +  e,  also  eben  die  Größe 
sei  sehr  klein,  so  wäre  die  Gleichsetzung  beinahe  richtig.  Man  nehme  an,  der 
Unterschied  sei  so  minimal  wie  möglich,  so  wird  die  Gleichsetzung  immer  richtiger. 
Nimmt  man  aber  e  =  unendlich  klein,  so  wird  die  Differenz  unendlich  klein;  setzt 
man  endlich  e  =  o,  so  wird  die  Differenz  auch  =  0.  Die  Größe  e  wird  also,  obgleich 
sie  Nichts  ist,  als  ein  Etwas  fingiert;  ein  Irreales  wird  eingeschoben  und  als  real 
angenommen.    Dies  ist  auch  ein  Vorspiel  der  Differentialrechnung. 


14 


Ottmar  Dittrich: 


Jede  andere  Teilung  gibt  ein  kleineres  Resultat:  z.  B.  7^  (5)  =  245; 
62(6)  =  216;  52(7)  =  175,  usw. 

In  diesem  merkwürdigen  Beispiel  hat  man  ein  typisches  Bild 
alles  fiktiven,  alles  diskursiven  Denkens.  Der  Gedankengang 
Fermats  war  folgender:  Die  fingierte  Größe  x  -\-  e  ist  nicht 
gleich  mit  der  Größe  x,  wenn  e  real  ist;  sie  ist  aber  gleich,  wenn 
e  =  O  ist.  Die  ganze  Rechnungs weise  beruht  auf  einer  quaternio 
terminorum,  indem  e  zuerst  =  real,  dann  =  o  genommen  wird. 
Eine  Gleichsetzung  der  beiden  Größen  x"^  [a  —  x)  und  [x  -\-  e)^ 
{a  —  X  —  e)  ist  gar  nicht  möglich;  darum  nennt  sie  Fermat  eine 
adaequälitas,  eine  approximative  Gleichheit,  keine  vollständige. 
Gleichwohl  rechnet  er,  als  ob  die  Gleichheit  vollständig  wäre, 
obwohl  nach  dem  strengen  Kodex  der  Mathematik  und  Logik 
X  nimmermehr  =  a:  +  ß  ist. 

Und  doch  wird  durch  diese  Rechnungsweise  das  Resultat  erreicht ! 
Durch  die  eingeschobene  Fiktion  x-j-e  und  ihre  Gleichsetzung  mit  x\ 

Was  tat  also  Fermat.''  Den  zuerst  begangenen  Fehler  nahm 
er  im  Verlauf  wieder  zurück,  indem  er  die  Hilfsgröße  e  einfach 
herausfallen  läßt.  Jetzt  ist  die  Gleichheit  der  Schlußgleichung 
keine  erdichtete  mehr,  wie  die  erste,  sondern  sie  ist  eine  faktische. 
Durch  die  Erdichtung,  durch  die  Methode  der  entgegengesetzten 
Operationen  ist  also  hier  ein  äußerst  wichtiges  Resultat  erreicht." 

Hier  ist  es  mithin  kein  Fehler  mehr,  der  dem  zuerst  begangenen 
Fehler  entgegengesetzt  wird,  sondern  eine  wirkliche  Korrektur. 
An  Stelle  von  x  =  x  -\-  e,  was  fehlerhaft  ist,  tritt  im  Verlaufe 
der  Rechnung  x  =  x  -\-  o  oder  x  =  x,  was  richtig  ist.     Das  Re- 

sultat   X  =  —  wird  dadurch  exakt,    die   Fiktion    x  —  x  -{-  e  war 
3 

vollkommen  zweckmäßig,  die  Annäherung  an  die  neue  Wirklich- 
keit führte  bis  zur  Adäquatheit,  nicht  bloß  Adäqualität.  Und 
die  Fiktion  x  =  x  +  e  ist  fortan  historisch  wie  logisch  entbehr- 
lich, da  man  das  exakte  Resultat  der  Aufgabe  kennt,  also  nun 
damit   rechnen   kann.      Nur   für   analoge   Aufgaben^),   deren   Re- 


*)  Vgl.  z.  B.  M.  Cantor,  Vorles.  üb.  Gesch.  d.  Mathematik  II»  S.  784:  ,,Das 
erste  Beispiel  Fermats  verlangt  B  in  zwei  Teile  zu  zerlegen,  welche  das  größte  Pro- 
dukt geben,  die  erste  Annahme  wählt  die  Teile  A  und  B  -  A,  die  zweite  A  +  E 
und  B  -  A  -  E.  Man  muß  also  A{B  -  A)  ^  {A  +  E){B  -  A  -  E)  setzen  oder 
0=  E{B  -  2A  -  E).  Nach  Division  durch  E  entsteht  B  =  2  A  ■¥  E.  Nun  elidatur  E, 
80  bleibt  2  A  =  B,  A  =  ^  B.    Vgl.  über  das  Allgemeine  der  Methode  noch  S.  783, 

\F{A  +  E)-F(A)-\ 


ro  sie  auf  die  Formel 


=  o    reduziert  ist. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  I  5 

sultat  sich  aus  jenem  nicht  direkt  ableiten  läßt,  bleibt  sie  natür- 
lich weiterhin  von  Wert;  die  Methode  weitet  sich  auch  hier  wieder 
zur  Fcrmatschen  „Methode  der  Maxima  und  Minima"  aus. 

IV. 

Soweit  ist  aus  den  mathematischen  Beispielen  dargetan,  daß 
der  ,, echten  Fiktion"  im  allgemeinen  folgende  Merkmale  zu- 
kommen^) : 

1.  Es  findet  dabei  stets  eine  Abweichung  von  der  bisherigen 
Wirklichkeit  statt,  jedoch  nur  zu  dem  Zwecke,  sich  einer  künftigen 
geforderten  Wirklichkeit  mit  minimal  fehlerhafter  oder  völliger 
Korrektur  bis  zur  Verwirklichung  selbst  anzunähern.  Die  Fiktion 
führt  also  durch  Abweichung  und  Annäherung  von  Wirklichkeit 
zu  Wirkhchkeit. 

2.  In  der  Abweichung  und  deren  Konsequenzen  ist  ein  Wider- 
spruch mit  der  Wirklichkeit  gegeben,  der  sich  bis  zum  Selbst- 
widerspruch in  der  fiktiv-begrifflichen  Auffassung  dieser  Wirklich- 
keit steigert.  Dieser  Widerspruch  soll  durch  die  antagonistische 
Annäherung  an  das  geforderte  Resultat  beseitigt  und  so  die  Fiktion 
historisch,  womöglich  auch  logisch  überflüssig  gemacht  werden. 

3.  Dazu  bedarf  es  aber  erst  einmal  des  Bewußtseins,  daß 
jene  Auffassung  eine  theoretisch  unmögliche  und  nur  zum  Zwecke 
der  sonst  unmöglichen  praktischen  Lösung  der  vorliegenden  Auf- 
gabe zugelassen  sei.  Das  Bewußtsein  der  Fiktivität  des  dazu 
nötigen  Gedankenprozesses,  eben  der  Fiktion,  muß  da  sein. 

4.  Erst  dann  erscheint  die  Fiktion  als  das,  was  sie  allein  ist, 
nicht  Selbstzweck,  sondern  ein  womöglich  zu  absoluter  Zweck- 
mäßigkeit zu  steigerndes  bloßes  Mittel  zu  praktischem  Zweck. 
Sie  ist  dann  etwas,  das  sich  eben  durch  diese  Zweckmäßigkeit 
erst  zu  justifizieren,  zu  rechtfertigen  hat,  an  sich  aber  keine 
Existenzberechtigung  besitzt.  — 

Wie  aber,  wenn  die  so  bestimmte  Fiktion  im  strengen,  wissen- 
schaftlichen Sinne  des  Wortes  nur  auf  einem  verhältnismäßig 
sehr  beschränkten  Gebiete  anwendbar  wäre .''  Bis  jetzt  haben 
wir  sie  ja  eigentlich  nur  auf  mathematischem  Boden  kennen  ge- 
lernt. Würde  dann  den  Fiktionalismus  als  ,, Philosophie  des 
Als-ob"  hinzustellen  nicht  einen  höchst  überspannten  Anspruch 
bedeuten  ? 


^)  Vgl.  dazu  auch  Vaih.  S.  171  ff. 


l5  Ottmar  Dittrich: 

In  der  Tat  heißt  es  in  der  „Philosophie  des  Als-ob"  selbst: 
„Als  eigentliche  Fiktionen  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  stellen 
sich  solche  Vorstcllungsgebilde  dar,  welche  nicht  nur  der  Wirk- 
lichkeit widersprechen,  sondern  auch  in  sich  selbst  widerspruchs- 
voll sind  (z.  B.  der  Begriff  des  Atoms,  des  Dinges  an  sich).  Von 
ihnen  zu  unterscheiden  sind  solche  Vorstellungsgebilde,  welche 
nur  der  gegebenen  Wirklichkeit  widersprechen,  bzw.  von  ihr  ab- 
weichen, ohne  schon  in  sich  selbst  widerspruchsvoll  zu  sein  (z.  B. 
die  künstliche  Einteilung).  Man  kann  die  letzteren  als  Halb- 
fiktionen,    Scmifiktionen  bezeichnen."^) 

Aber  dies  macht  sichtlich  für  das  Wesen  der  Fiktion  über- 
haupt nichts  aus.  Echte  Fiktionen  im  Sinne  der  ,, wissenschaft- 
lichen Fiktion"  sind  auch  die  Halbfiktionen.  Ob  sich  die  Ab- 
weichung von  der  ,, gegebenen"  Wirklichkeit  bis  zum  Selbstwider- 
spruch steigert  oder  nicht,  ist  verhältnismäßig  unerheblich.  Von 
wesentlicher  Bedeutung  ist  nur,  daß  die  Abweichung  und  die 
übrigen  Merkmale  der  Fiktion  da  seien,  und  das  trifft  auch  auf 
die  ,, Halbfiktion"  zu. 

Wir  werden  also  trotzdem  die  Behauptung  aufrecht  erhalten 
dürfen,  mindestens  die  ,, Halbfiktion",  also  auch  die  ,, echte  Fik- 
tion" im  allgemeinen  sei  für  jedes  Handeln  unentbehrlich. 
Nur  wird  natürlich  die  Fiktion,  die  Verwirklichung  meines  ,, eigent- 
lichen" Zweckes  hänge  allein  von  meinem  Willen  und  Handeln 
ab,  dem  experimentum  crucis  standhalten  müssen,  daß  sich  an 
ihr  die  wesentlichen  Fiktionsmerkmale  nachweisen  lassen. 

Das  tut  sie  aber,  und  es  tritt  sogar  dabei  noch  ein  besonders 
enger  Zus;  mmenhang  des  Handelns  mit  der  Fiktion  deutlich  hervor. 
,,Es  ist,  als  ob  die  Verwirklichung  meines  , eigentlichen'  Zweckes 
allein  von  meinem  Willen  und  Handeln  abhinge",  mit  dieser  Be- 
hauptung weiche  ich  offenbar  von  der  ,, gegebenen"  Wirklichkeit 
ab.  So  manche  Erfahrung  hat  mir  gezeigt,  daß,  was  ich  will, 
einerseits  auch  ohne  mich  verwirklicht,  andererseits  durch  fremde 
Wirks.  mkeit  an  der  ,, Verwirklichung  durch  mich"  verhindert 
werden  kann.  Ich  bin  mir  also  der  Fiktivität  meiner  Behauptung, 
soweit  sie  Abweichung  von  der  Wirklichkeit  bedeutet,  voll  be- 
wußt. Trotzdem  vollziehe  ich  nun  die  antagonistische  Operation 
zu  dieser  Abweichung,  indem  ich  mein  Handeln  als  Anfangsglied 
in  den  ,, Reihenzweck"  einstelle,  und  nähere  mich,  es  mitwollend, 

*)  Vaih.  S.  24. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  ij 

in  dieser  Verwirklichungsabsicht  wieder  der  Wirkhchkeit  an.  Und 
leiste  endlich,  indem  ich  infolgedessen  wirklich  handle,  auch  noch 
das  letzte,  was  zur  Fiktion  gehört:  Ich  erfülle  die  Forderung, 
daß  sie  wenigstens  historisch  überflüssig  gemacht  werde,  indem 
sie  sich  justifizicrt.  Habe  ich  der  Fiktion  gemäß  gehandelt,  so 
ist  es  nicht  mehr  ,,als  ob  die  Verwirklichung  meines  , eigentlichen' 
Zweckes  allein  von  meinem  Willen  und  Handeln  abhinge".  Die 
Verwirklichung  hat  allein  davon  abgehangen,  und  die  so  justi- 
fizierte  Fiktion  fällt  bis  auf  weiteres  als  historisch  überflüssig  ge- 
worden aus.  Sie  war  ja  auch  nur  als  Mittel  zum  praktischen 
Zwecke  da. 


Das  Mitwollen  des  Handelns  ist  also  die  fiktiv-antagonistische 
Annäherungsoperation  bei  der  Vorbereitung  des  Handelns,  und 
dieses  ist  mithin  jedesmal  wieder  fiktiv  bedingt.  Die  Fiktion  ist 
Methode  des  Handelns  wie  das  Urteil  Methode  des  Erkennens. 
Ja,  sie  ist  sogar  ,,die"  Methode  des  Handelns  wie  das  Urteil  ,,die" 
Methode  des  Erkennens.  Sie  gleicht  jener  auch  darin,  daß  sich 
der  These:  ,,Die  Methode  des  Erkennens  muß  dem  Gegenstande 
des  Erkennens  entsprechen"  die  andere  an  die  Seite  stellen  läßt: 
,,Die  Methode  des  Handelns  muß  dem  Gegenstande  des  Handelns 
entsprechen",  und  daß  sie  dieser  These  genügt.  Denn  der  Gegen- 
stand des  Handelns  ist  wie  der  des  Willens  der  ,, praktische  Gegen- 
satz", und  diesem  entspricht  auf  Seiten  der  Fiktion  der  Gegen- 
satz der  antagonistischen  Operationen,  wodurch  jener  praktische 
Gegensatz  aufgehoben  wird. 

Endlich  reicht  aber  die  Fiktion  als  Methode  sogar  grund- 
legend mit  in  das  Erkennen  hinein.  Sie  ist  nämlich  die  Methode 
des  Urteils.  Denn  dieses  stellt  sich  uns  jetzt  genau  besehen 
ebenfalls  als  eine  Folge  fiktiv-antagonistischer  Operationen  dar. 
Urteilen  ist  Kategorisieren,  Katcgorisieren  ist  Fingieren.^)  Es 
heißt  ursprünglich  einen  Gegenstand  der  Wahrnehmung  gewisser- 
maßen durch  die  Brille  der  Substantialität,  Qualität,  Modalität 
(Aktivität,  Passivität),  Kausalität,  Finalität  usw.  betrachten,  ihm 
,, ansehen",  was  er  ist,  wie  er  ist,  wie  er  sich  (tuend,  leidend)  ver- 
hält, wodurch,  wozu  er  ist,  und  dies  in  einem  Urteil  von  ihm  aus- 
sagen [xaxrjYOQüv).     Wie  durch   das  Vergrößerungsglas  ins   Reich 


1)  Vgl.  Vaih.  S.  297 ff.,  97 f. 

A»nalen  der  Philosophie.    I. 


j«;  Ottmar  Dittrich: 

der  unwirklichen  Größe,  so  wird  dabei  der  VVahrnehmungsgegen- 
stand  in  die  Sphäre  der  unwirklichen  Gedankendinge,  der  ,, Auf- 
fassungsformen" Substantialität  usw.  entrückt.  Aber  diese  Ab- 
weichungsoperation, wodurch  das  wirkhche  Diskurrendum  erst 
(allgemein)  begrifflich  faßbar  wird,  ist  im  Urteile  alsbald  gefolgt 
von  einer  Annäherungsoperation:  man  wählt  die  kategorialen 
Bestimmungen  a,  b,  c  usw.  immer  wieder  in  möglichst  strengem 
Hinblick  auf  ihren  wirklichen  Gegenstand  x.  Und  es  resultiert 
so  schließlich  etwa  das  Urteil:  ,,Er  ist  ein  armer  \or  Kälte  zitternder 
Mann". 

Auch    Methode    des    Erkcnnens    ist    mithin    die    Fiktion 

—  als  Urteil  — ,  und  sogar  ,,die"  Methode  des  Erkennens,  denn 
Urteil  und  Fiktion  sind,  wie  wir  nun  sehen,  eins.  Es  gehen  darum 
dem  Urteil  auch  die  beiden  letzten  Grundmerkmale  der  Fiktion 
nicht  ab.  Wer  nüchtern  urteilt,  ist  sich,  wenn  er  überhaupt  darauf 
reflektiert,  genau  bewußt,  daß  es  immer  nur  so  ist,  als  ob  er  durch 
ein  Urteil  oder  eine  Reihe  von  Urteilen  mit  dem  Erkennen  zu 
Ende  käme,  und  das  Urteil  macht  sich  selbst  überflüssig,  indem 
es  sich  als  praktisch  zweckmäßig  ausweist,  justifiziert.  Indem  es 
dazu  dient,  wissenschaftlich-  oder  sonstwie  praktische  Auf- 
gaben zu  lösen,  die  sonst  unlösbar  wären,  und  so  doch  zu  einem 

—  auf  rein  erkenntnismäßigem,  theoretischem  Gebiete  unmög- 
lichen —  Endergebnis  zu  gelangen. 

Indessen  begegnet  gerade  dies,  daß  man  auf  diese  Weise  jedes- 
mal zu  einem  Endergebnis,  der  befriedigenden  Verwirklichung 
des  ,, eigentlichen"  Zweckes  durch  das  Handeln  gelangt,  einem 
erheblichen.  Erkennen  wie  Handeln  betreffenden  Bedenken. 

Es  sind,  so  scheint  es,  immer  nur  ,, zufällige  Ansichten",  auf 
Grund  deren  im  einzelnen  Falle  gehandelt  wird.  ,,x  kann  be- 
trachtet, angesehen  werden,  als  ob  es  a,  als  ob  es  b  (so  oder  so) 
wäre",  also  ,,die  Betrachtung  des  x  unter  der  Form  des  a,  b  ist 
für  das  x  zufällig".^)  Und  es  scheint  weiter,  als  brauchten,  wenn 
nur  der  jeweilige  Zweck  immer  wieder  verwirklicht  wird,  diese 
einzelnen  Ansichten  und  davon  abhängenden  Zwecksetzungen 
untereinander  keinerlei  notwendigen,  organischen  Zusammenhang 
zu  haben. 

Aber  dies  zu  glauben  und  den  Fiktionalismus  auf  diese  Art 
zu  einem  ,, Perspektivismus"  stempeln  zu  wollen,   hieße  doch  ein 


')  Vgl.  Vaih.  S.  275. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  ig 

letztes,  bisher  nicht  erwähntes,  wesentliches  Merkmal  des  Han- 
delns übersehen.-')  Alles  Handeln  ist  ja  nämlich  zuletzt  Handeln 
gemäß  einem  Ideal,  dem  zu  verwirklichenden  ,, eigentlichen" 
Zweck,  und  ,, Ideal"  hängt  zusammen  mit  ,,Idec". 

Ideen  aber  wiederum,  das  dürfen  wir  nicht  vergessen,  sind 
,, notwendige  Gedanken,  nämlich  Aufgaben,  Maximen,  welche" 
auch  schon  ,, unserer  Erkenntnis  Regeln  geben  und  sie  vereinheit- 
lichen: sie  sind"  zwar  ,, nicht  konstitutive",  wohl  aber  ,, regu- 
lative Prinzipien". 2)  ,,So  ist  die  Idee  der  Seele"  nur  ,,der  ge- 
dachte Einheitspunkt  für  die  inneren,  die  des  Wcltganzen  der  für  die 
äußeren  Erscheinungen,  die  Idee  Gottes  der  für  alle  Dinge  überhaupt. 
Diese  Regeln  der  Forschung  dürfen"  also  jedenfalls  ,, nicht  —  wozu 
eine  verhängnisvolle  Neigung  in  unserer  Vernunft  liegt  —  für 
gegebene  Gegenstände  genommen  und  die  Forderung,  die  Bruch- 
stücke unseres  Wissens  einem  System  der  Erkenntnis  einzu- 
gliedern, nicht  als  dogmatische  Behauptung  über  das  Wirkliche 
gedeutet  werden."  Sondern  ,,die  Ideen  haben  bloß  eine  hode- 
getische  Bedeutung,  sie  geben  bloß  Fingerzeige,  die  uns  anleiten, 
wie  Erkenntnisse  zu  suchen  und  die  gefundenen  zu  vervollständigen 
seien". ^) 

Als  solche  Fingerzeige  sind  sie  aber  maßgebend  nicht  nur 
für  das  Erkennen  und  den  systematischen  Zusammenhang  der 
einzelnen  Erkenntnisse.  Sie  weisen  —  und  dadurch  werden  sie 
erst  eigentlich  wichtig  —  darüber  hinaus,  indem  sie  wie  für  das 
Erkennen  so  für  das  Handeln  überhaupt  fiktive  Regeln  ab- 
geben. ,,Das  einzelne  Handeln",  heißt  es  demzufolge,  ,,ist  so  ein- 
zurichten, als  ob  ein  jemals  Wahrnehmbares,  also  Wirkliches, 
existierte,  von  dem  aus  dessen  Übereinstimmung  mit  allem  übrigen 
Handeln  geboten  wäre."  Wir  wissen  genau,  daß  uns  ein  solches 
Einheitsprinzip,  die  Seele,  die  Welt,  Gott,  in  keiner  Wahrnehmung 
jemals  gegeben  sein  kann;  trotzdem  gilt  uns  die  Forderung,  die 
in  der  fiktiven  Annahme  eines  derartigen  Prinzips  eingeschlossen 
ist.    Ja  sie  gilt  uns  sogar  so  weit,  daß  sich  uns  die  eben  genannten 

^)  Perspektivismus"  ist  der  Fiktionalismus  durchaus  nur  in  der  Hinsicht, 
daß  eben  jede  Fiktion  notwendig  auch  eine  ,, Perspektive",  ein  Sehen  der  Dinge 
ist,  als  ob  sie  dies  oder  jenes,  so  oder  so  wären,  vgl.  Vaih.  S.  783,  anläßlich  von 
Nietzsches  , .Perspektivismus  ■. 

^)  Vgl.  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  536f.   [441  Vorländer]. 

*)  Die  Zitate  aus  Falckenberg,  Hilfsbuch  zur  Gesch.  d.  Philos.  seit  Kant 
[2.  Aufl.  1907]  S.  i6f. 

9* 


20  Ottmar  Dittrich: 

drei  Einheitsprinzipien  abermals  in  ein,  nun  allumfassendes  Ein- 
heitsprinzip vereinigen,  von  dem  aus  sich  dann  wieder  die  Be- 
ziehungen der  Ideale  und  damit  der  einzelnen  Fälle  des  Handelns 
zueinander  regeln. 

Denn  Einheit  ist  relative  Gegensatzlosigkeit,  und  der 
Wille  tendiert  auf  Grund  des  vorgefundenen  ,, praktischen  Gegen- 
satzes" auf  Schaffung  solcher  Gegensatzlosigkeit  mittels  des  Han- 
delns. Das  Ideal  aber,  in  dem  jene  Gegensatzlosigkeit  als  künftig 
wirklich  vorgestellt  wird,  ist  nichts  als  der  jeweilig  besondere  Aus- 
fluß jener  Einheitsidee,  jenes  Einheitsprinzips. 

Von  diesem  aus  wird  also  das  Ideal  zuletzt  oder,  wenn  man 
will,  zuerst  bestimmt.  Und  zwar  geschieht  dies  nicht  nur  in  der 
Hinsicht  ,,von  alter  gegensatzvollcr  zu  neuer  gegensatzloser  Einzel- 
wirklichkeit",  sondern  auch  in  der  Richtung  ,, Zukommen  auf 
eine  relativ  gegensatzlose  Gesamt  Wirklichkeit  durch  jedes  ein- 
zelne sein  Ideal  verwirklichende  Handeln".  Damit  ist  selbst- 
verständlich nicht  gesagt,  daß  das  einzelne  Handeln  immer  direkt 
zu  solcher  Gegensatzlosigkeit  beitragen  müßte  oder  könnte.  Es 
kann  vielmehr  oft  vom  Standpunkte  der  Idee  aus  zweckmäßiger 
sein,  zunächst  sogar  schärfere  Gegensätze  in  der  Wirklichkeit  zu 
schaffen,  als  sie  bisher  vorhanden  waren.  Um  nämlich  dadurch 
eine  desto  stärkere  Motivation  künftigen  Willens  zu  erlangen,  die 
dann  doch  zur,  nur  sehr  viel  weiter  reichenden,  Vereinheitlichung 
der  Wirklichkeit  durch  Handeln  führt.  So  ist  etwa  der  Krieg  zu 
verstehen,  sofern  er  den  sonst  nicht  erlangbaren  allgemeinen  Willen 
zu  friedlicher  Gegensatzschlichtung  motivieren  hilft. 


VI. 

Die  Philosophie  des  Als-ob  ist  mithin,  so  könnte  es  scheinen, 
schließlich  reiner  Ideismus  oder,  um  den  geläufigen  Fachausdruck 
anzuwenden,  reiner  Idealismus.  Und  diese  Meinung  würde  ge- 
stützt dadurch,  daß  sich  der  Begriff  der  Idee  in  ihr  keineswegs 
auf  die  von  Kant  angenommenen  Ideen  i.  e.  S.  beschränkt.  Nicht 
nur  die  Hauptideen  wie  die  der  Seele,  der  Welt  und  Gottes  nebst 
den  Ideen  der  Freiheit  und  Unsterblichkeit  ^)  gelten  ihr  als  —  fik- 
tive —  regulative  Prinzipien.   Auch  die  Kategorien  (Substantialität, 


')  Vgl.   dazu   bes.    Kant,    Kritik   der    reinen    Vernunft    S.  39off.    [Vorländer 
331  ff.]  (System  der  transzendentalen   Ideen). 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  21 

Akzidentalität,  Kausalität,  Finalität,  Einheitlichkeit  usw.)  sowie 
die  Anschauungsformen  (Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit)  sind  ihr 
darin  enthalten,  ja  sogar  alle  ,, Verstandesbegriffe"  überhaupt. 

Aber  würde  man  die   Einreihung  der   Philosophie    des  Als-ob 
unter  die   philosophischen    Grundrichtungen   m  dieser   Weise   vor- 
nehmen, so  geschähe  ihr  genau  so  schweres  Unrecht  wie  mit  der 
Behauptung,    sie    sei    ,, Positivismus",    sei    es    auch    ,, kritischer 
Positivismus".     Sie   selbst   will  jedenfalls   anders   genommen  sein. 
,;Die    zusammenfassende    Erkenntnis",    so    heißt    es    in    den 
, Vorbemerkungen  zur  Einführung'  in  die  , Philosophie  des  Als-ob'^), 
—  ,,die  zusammenfassende  Erkenntnis,  die  in  der  Einsicht  in  die 
Notwendigkeit    bewußter    Fiktionen    als    unentbehrlicher    Grund- 
lagen  unseres   wissenschaftlichen    Forschens,    unseres    ästhetischen 
Genießens,    unseres    praktischen    Handelns    besteht,    nimmt    den 
Namen  eines  idealistischen  Positivismus  für  sich  in  Anspruch,  in 
welchem  die    beiden   Dinge,    auf   welche   es   überhaupt  ankommt, 
gleichermaßen  zur   Geltung  kommen:  Tatsachen  und    Ideale.     In- 
sofern dieser  Standpunkt 2)  auch  bereits  bei  Kant  sich  findet,  und 
insofern  die  Darstellung  der   , Philosophie   des   Als-ob'   durch   eme 
ausführliche  Darstellung  des  Kan tischen  Systems  sich  rechtfertigt, 
könnte  sie  sich  nach  Kant  nennen;  sie  ist  aber  nicht  von  Kant 
selbst   ausgegangen,    und   zieht   den   ihrer    Entstehung   mehr   ent- 
sprechenden Namen  eines  .idealistischen  Positivismus'  voi*:  sie   ist 
Positivismus,   indem  sie    mit  aller   Entschiedenheit  und   Offenheit 
einzig  und   allein   im  Gegebenen  fußt,    in   den  empirischen  Emp- 
findungsinhalten, und  bewußt  und  bestimmt  alles  nicht  etwa  be- 
zweifelt  (sie  ist  darum  auch  nicht   Skeptizismus),  sondern  direkt 
leugnet,   was   darüber   hinaus   noch   etwa   auf    Grund    angeblicher 
intellektueller   oder   ethischer    Bedürfnisse   als    ,rear   angenommen 
werden   mag;    aber   die    .Philosophie   des   Als-ob'    ist    andererseits 
doch  Idealismus,  indem  sie  die  aus  jenen  intellektuellen  und  ethi- 
schen Bedürfnissen  entstandenen  ,  Ideen'  anerkennt   und  herüber- 
nimmt  als    nützliche,    wertvolle    Fiktionen   der    Menschheit,    ohne 
deren  , Annahme'  das  menschliche   Denken,   Fühlen  und  Handeln 
verdorren  müßte;   in  diesem   Sinne  ist  sie  eine    , Phänomenologie' 
des  ideenbildcnden,   fingierenden   Bewußtseins.     In  solchem   ,idea- 


1)  Vaih.  S.  XVI.  mit  Hereinnahme  des  Stückes  „Einsicht  in  .  .  .  praktischen 
Handelns"  von  S.  XV  in  das  Zitat. 

*)  In  der  vorher  erwähnten  beschränkteren  Ausdehnung. 


22  Ottmar  Dittrich: 

listischen  Positivismus'  sind  ja  auch  die  beiden  Richtungen  ver- 
treten, welche  Kant  in  seinem  Kritizismus  vereinigen  wollte.  Hier 
treten  diese  aber  in  einer  etwas  anderen  Kombination  auf,  welche 
den  Anspruch  erhebt,  mindestens  ebenso  berechtigt  zu  sein,  wie 
die  anderen  philosophischen  Richtungen  der  Gegenwart.  Ja,  man 
wird  ohne  Überhebung  sagen  dürfen,  daß  ein  solcher  idealistischer 
Positivismus  (oder  wenn  man  lieber  will:  ein  solcher  posi- 
tivistischer Idealismus)  auch  darum  die  Zukunft  für  sich 
hat,  weil  er  eben  Tatsachen  und  Ideale  in  sich  vereinigt,  und 
zwar  nicht  nur  derart,  daß  hier  ein  System  der  Erkenntnistheorie 
geboten  wird,  sondern  derart,  daß  hierin  auch  die  Keime  zu  einer 
vollbefricdigenden  Welt-   und   Lebensanschauung  enthalten  sind." 

Und  darin,  daß  die  Philosophie  des  Als-ob  Erkennen  und 
zum  Handeln  führendes  Wollen  in  einer,  beiderseitig  ihrem  Gegen- 
stande völlig  angemessenen  und  ihn  kritisch  behandelnden  Methode 
—  der  Fiktion  —  zusammenschließt,  wird  man  in  der  Tat  den 
Kern  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  zu  erblicken  haben.  Denn 
sie  ist  so  wohl  auch  erkenntnistheoretischer  Idealismus,  jedoch 
nur  zum  Zwecke  des  Handelns  und  daher  in  letzter  Linie  prak- 
tischer Idealismus.  Und  führt  als  solcher  zugleich  die  Kantische 
These  ,, Gedanken  ohne  Inhalt  sind  leer,  Anschauungen  ohne  Be- 
griffe sind  blind"  weiter  zu  der  These:  ,, Erkennen  ohne  Han- 
deln ist  leer,  Handeln  ohne  Erkennen  ist  blind." 

Will  man  sie  also,  ein  ,, System  der  theoretischen,  praktischen 
und  religiösen  Fiktionen  der  Menschheit  auf  Grund  eines  idea- 
listischen Positivismus" ^),  zu  einer  Art  ,, Pragmatismus"  und 
,,Utilitarismus"  stempeln,  so  mag  man  es  tun.  Auch  Sokrates 
war  in  diesem  Sinne  Pragmatist  und  Utilitarier.  Aber  man  ent- 
ziehe ihr  nicht  in  einem  Atem  das  kritische  Moment,  das  in 
ihrem  Wesen  als  Fiktionalismus  gelegen  ist,  und  wolle  sie  nicht, 
wie  es  mit  ihrer  Bezeichnung  als  ,, reiner"  Positivismus  oder  Idea- 
lismus allerdings  geschähe,  zugleich  auf  Hypothese  oder  Dogma 
als  eine  ihrer  Grundmethoden  stellen. 

Denn  keine  dieser  Methoden,  weder  die  dogmatische  noch 
die  hypothetische,  geht  prinzipiell  von  der  Erfahrung  aus,  um 
diese,  sofern  sie  unbefriedigend,  nach  Maßgabe  eines  Ideals  be- 
friedigend neu  zu  gestalten.  Sondern  das  Dogma  setzt  ohne 
weiteres,  die   Hypothese  unter  dem  Vorbehalt  der  ,, Verifikation" 


^)  So  der  Untertitel  des  ,, Philosophie  des  Als-ob". 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  23 

an  der  Erfahrung,  Ideen,  d.  h.  Gegenstände  der  Ideation*)  als 
wirklich  voraus,  nach  Maßgabe  deren  die  unbefriedigende  Er- 
fahrung befriedigend,  neu  zu  gestalten  sei. 2)  Davon  weiß  aber 
die  Philosophie  des  Als-ob  schlechterdings  nichts.  Sie  sieht  ja 
gerade  auch  die  Ideen  i.  e.  S.  als  Fiktionen  an  und  bewahrt  sich 
also  auch  ihnen  gegenüber  durchaus  ihren  kritischen  Sinn.  Es 
ist  ihr  immer  nur  so  ,,als  ob  die  Ideen  wirklich,  d.  h.  als  Gegen- 
stände jemals  möglicher  Wahrnehmung  existierten". 

Mit  dieser  —  fiktiven  —  Grundposition  findet  die  Philosophie 
des  Als-ob  ilir  Auslangen.  Sie  genügt  ihr  dazu,  die  Ideen  nicht 
nur,  sondern  überhaupt  ,,die  ganze  Vorstellungswelt"  als  ein 
—  regulatives  —  Instrument  zu  betrachten.  ,,Um  sich  leichter 
[und  immer  leichter]  in  der  Wirklichkeit  zu  orientieren" 3), 
d.  h.  um  das  in  jeder,  zuletzt  auch  in  ästhetischer,  ethischer  und 
rehgiöser  Hjnsicht  Richtige  faktisch,  also  im  Handeln  auf  die 
Wirklichkeit  zu  treffen,  —  dazu  und  nur  dazu  ist  sie  da.  Und 
darum  erscheint  sie  auch  zugleich  als  ,,das  letzte  und  höchste 
Resultat  der  ganzen  organischen  Entwicklung",  als  ,,die  letzte 
Blüte  gleichsam  des  ganzen  kosmischen  Geschehens"^),  insofern 
sie    in    Ideale    umgesetzt    und    durch    Handeln   verwirkUcht   wird. 

Ist  dies  nun  ,, Biologismus " .''  Gewiß  kann  man  es  so  nennen 
und  auch  dafür  in  der  ,, Philosophie  des  Als-ob"  so  manche  ge- 
wichtige Stütze  finden. 

,,Der  Organismus  ist  hineingestellt  in  eine  Welt  voll  wider- 
sprechender Empfindungen,  er  ist  den  Begriffen  einer  ihm  feind- 
lichen Außenwelt  bloßgestellt,  und  um  sich  zu  erhalten,  wird  er 
gezwungen,  sowohl  von  außen  als  innen  alle  möglichen  Hilfsmittel 
zu  suchen.  An  der  Not  und  am  Schmerz  entzündet  sich  die  gei^ 
stige  Entwicklung,  am  Widerspruch  und  Gegensatz  erwacht  das 
Bewußtsein,  und  der  Mensch  schuldet  seine  geistige  Entfaltung 
mehr  seinen  Feinden  als  seinen  Freunden."^) 

Allgemein:  der  praktische  Gegensatz  drängt  zum  Wollen  und 
Handeln.  Aber  schon  der  weitere  Satz,  es  sei  ein  ,, Faktum,  daß 
die  Seele  nach  Aus-  und  Vcrgleichung  strebt  und  sich  in  den  Fik- 


^)  Vgl.  unten  S.  25. 

*)  Vgl.  zu  dem  Unterschied  von  Fiktion,  Hypothese  und  Dogma  bes.  Vaih. 
S.  2i9{f,  143«-,  603ff. 

»)  Die  Zitate  nach  Vaih.  22. 
*)  Vgl.  Vaih.  S.  22f. 
»)  Vaih.   S.  19. 


24 


Ottmar  Dittrich: 


tionen  die  Mittel  schafft,  diese  Vergleichungen  immer  weiter  aus- 
zudehnen"^), paßt  nicht  mehr  in  das  Schema  des  landläufigen 
Biologismus.  Wenn  für  die  ,, Philosophie  des  Als-ob  ,,die  Seele 
nach  Selbsterhaltung  strebt  in  demselben  Sinne,  wie  der  [leibliche] 
Organismus  nach  Selbsterhaltung  strebt",  so  hat  dies  Streben^ 
das  die  gesamte  ,, psychische  und  logische  Entwicklung  beherrscht"  ^), 
gewiß  nicht  den  Charakter,  von  außen  her  verursacht,  wenn- 
gleich von  da  her  veranlaßt  zu  sein.  ,,Aus  sich  selbst  spinnt  die 
Psyche  diese  Hilfsmittel  heraus;  denn  die  Seele  ist  erfinderisch; 
den  Schatz  an  Hilfsmitteln,  der  in  ihr  selbst  liegt,  entdeckt  sie, 
gezwungen^)  von  der  Not,  gereizt  von  der  Außenwelt",  ,,die 
fiktive  Fähigkeit  der  Seele  ist  eine  Äußerung  der  psychischen 
Grundkräfte,  die  Fiktionen  sind  [im  Grunde  spontane]  psychische 
Gebilde".^)  Und  sie  sind,  als  regulative  Prinzipien,  wie  wir  sie 
kennen  gelernt  haben,  keineswegs  auf  reine  Abwehr  des  Angriffs 
von  Fall  zu  Fall,  auch  keineswegs  auf  einen  ,, Kampf  ums  Dasein" 
im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  gerichtet. 

Kurzum,  das  Problem  ist  nicht  Antithese  auf  Kosten  des 
Feindes,  so  daß  dieser  vernichtet  wird  und  —  nach  einer  Zeit  des 
Scheinfriedens  —  einem  neuen  gleichartigen  Feinde  Platz  macht. 
Synthese  ist  das  Problem,  Vereinbarung  und  dadurch  Selbst- 
erhaltung der  beiden,  von  nun  an  Freunde,  und  daß  der  Mensch 
schließlich  seine  geistige  Entfaltung  mehr  seinen  Freunden  schulde 
als  seinen  Feinden.  Deren  es  freilich  immer  wieder  gibt,  nicht 
nur  unter  den  Mitmenschen,  sondern  auch  in  der  übrigen  Außen- 
welt und  im  eigenen  Innern.  Jede  Aufgabe,  sei  es  selbst  eine 
rein  wissenschaftliche,  enthält  einen  solchen  Feind  in  Form  des 
praktischen  Gegensatzes,  der  Veränderung  heischt,  und  sie  wird 
befriedigend  erst,  wenn  die  Spannung,  die  in  ihr  liegt,  nicht  zur 
Beiseiteschiebung  der  Aufgabe  verwendet  wird,  sondern  zu  deren 
Lösung.  Lösung,  die  aber  wiederum  nur  erfolgen  kann  in  Form 
der  Verwirklichung  des  Ideals,  das  aus  dem  praktischen  Gegensatz 
abgeleitet  wird  nach  Maßgabe  einer  regulativen  Idee,  einer  Fik- 
tion. Auch  diese  jedoch  ruht,  ,, psychisches  Gebilde",  das  sie  ist, 
und   , .Äußerung  der   psychischen    Gnmdkräfte",    ursprünglich   auf 

»)  Vaih.  S.  158. 

*)  Die  Zitate  nach  Vaih.  S.  182. 

*)  Den  Ausdruck  ..gezwungen"  wird   man   dem   ganzen  Zusammenhang  nach 
nicht  pressen  dürfen. 
«)  Vaih.  S.  i8f. 


Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob.  2  5 

dem  praktischen  Gegensatz  primitivster  Art:  „Den  Schatz  an 
Hilfsmitteln,  der  in  ihr  selbst  ruht,  entdeckt  die  Seele  [zunächst] 
gezwungen  von  der  Not,  gereizt  von  der  Außenwelt".  Und  zieht 
daraus  ihre  Ideale  ab,  ebenfalls  als  ,, psychische  Gebilde". 

So  zeigt  sich  denn  in  diesem  ,, Biologismus"  der  Philosophie 
des  Als-ob  vollends,  wie  fest  sie  auf  dem  Boden  der  These  ,,von 
Wirklichkeit  zu  Wirklichkeit"  steht,  wie  wenig  sie  sich  haltlosen 
Phantasien,  Illusionen  hingibt,  die  doch  nur  von  Wirkhchkeit 
zu  Unwirklichkeit  führen  können.^)  Denn  es  ist  nun  klar:  auch 
das  Ideieren  und  infolgedessen  Idealisieren,  das  Setzen  von  Ideen 
und  Idealen  ist  ihr  ein  Glied  der  Wirklichkeit.  Es  ist  ihr  Tatsache 
als  Akt.  Und  es  tritt  ihr  dadurch  in  Gegensatz  zum  Gegenstand 
des  Ideierens  und  Idealisierens,  zum  Resultat  des  Aktes,  der  Idee 
und  dem  Ideal  selbst.  Denn  diese  allerdings  sind  ihr  —  was  das 
Ideal  angeht,  zunächst  noch  —  Unwirkliches,  jedoch  —  abermals 
was  das  Ideal  betrifft  —  zu  Verwirklichendes. 

Aber  ist  dies  auch  ,,in  Wirklichkeit"  so?  Unbefangene  Be- 
obachtung wird  es  wohl  bestätigen  und  so  zugleich  den  prak- 
tischen Grundgegensatz  aufdecken,  der,  blickt  man  nur  tief 
genug,  sich  als  Motiv  jedes  Handelns  nicht  nur,  sondern  natür- 
lich auch  schon  jedes  dazu  nötigen  Problemsteilens  ergibt,  den 
Gegensatz  von  Tatsache  und  Ideal.  Aus  diesem  Grundgegen- 
satze heraus  das  Problem,  das  Ideal  des  besonderen  Falles  stellen, 
ist  Sache  des  Willens,  es  lösen  heißt  Handeln.  Und  das  allgemeine, 
in  jedem  Sonderfalle  immer  wieder  zu  lösende  Problem  ist:  Ver- 
wirkhchung  des  Ideals,  auf  daß  Tatsache  mit  Tatsache  sich 
vergleiche  im  Rahmen  einer  neuen,  zuletzt  ethisch  und  religiös 
befriedigenden  Wirklichkeit. 

Daraus  aber  folgt  am  Ende  unmittelbar:  Ein  idealistischer 
Positivismus,  der  in  dieser  Weise  nicht  sowohl  die  Erkenntnis 
der  Tatsachen  um  ihrer  selbst  willen,  als  vielmehr  die  Setzung 
neuer  Tatsachen  um  der  ethisch-religiösen  Entwicklung  willen 
zum  Gegenstande  seines  Interesses  macht,  muß  sich  grundsätz- 
lich auch  mit  den  Problemstellungen  aller  dafür  in  Betracht 
kommenden  Gebiete  befassen.  Das  sind  aber  nicht  nur  die  Ge- 
biete der  Philosophie  und  Einzelwissenschaft,  sondern  auch  Kunst, 


1)  Wir  halten  es  darum  auch  für  unzweckmäßig,  den  Ausdruck  ., Illusion" 
als  Synonymum  von  „Fiktion"  zu  gebrauchen.  Die  ,, Philosophie  des  Als-ob"  ist 
nichts  weniger  als  ,. Illusionismus". 


26       Ottmar  Dittrich:  Die  allgemeine  Bedeutung  der  Philosophie  des  Als-ob. 

,, bildende"  wie  , .redende"  und  , .mimische"  und  ,, tönende",  sowie 
das  i.  e.  S.  sogenannte  praktische  Leben.  Man  braucht  nur  an 
die  Kapitel  Politik  und  Moral,  Industrie  und  Gesellschaft,  Krieg 
und  Frieden,  an  die  ,, Geschichte"  im  ganzen  zu  denken,  um  zu 
sehen,  welche  Problcmreihen  sich  da  auftun.  Die  Philosophie  des 
Als-ob  ist  prinzipiell  allumfassend. 

Indes  führt  uns  dies  schon  in  Einzelheiten  hinein,  und  diese 
zu  behandeln,  müssen  wir  den  ,,Annalen"  selbst  überlassen.  Auch 
daß  dabei  kritisch  zu  der  Philosophie  des  Als-ob  Stellung  genommen 
werde,  haben  wir  von  ihnen  zu  erwarten.  Denn  gerade  im  Sinne 
dieser  Philosophie  liegt  es  vielleicht  mehr  als  in  dem  aller  andern, 
was  Her  bar  t  einmal  so  schön  sagt:  ,,Die  Wahrheit  liegt  nicht 
hinter  uns,  sondern  vor  uns;  und  wer  sie  sucht,  der  schaue  vor- 
wärts, nicht  rückwärts!"^)  Unsere  Absicht  war  nur,  die  Schöpfung 
Vai hingers  als  einen  dazu  besonders  geeigneten  Ausgangspunkt 
nachzuweisen,  und  diese  Aufgabe  hoffen  wir  in  einer  auch  der 
Philosophie  des  Als-ob  angemessenen  Weise  erfüllt  zu  haben. 


^)  Herbarts  Philos.  Hauptschriften,  hrsg.  v.  Flügel  u.  Fritzsch,  Bd.  1,  Leit- 
spruch auf  s.  n. 


e 


Die  Religionsphilosophie  des  Als -ob. 

Von 
Heinrich  Scholz, 

Dr.  phil.  et   theol.,  ord.  Prof.  a.  d.  Univ.  Breslau. 

Inhaltsübersicht. 

Einleitung:  Ableitung  des  Aufbaus  aus  dem  durch  Vai hinger  erregten  drei- 
fachen Interesse  an  der  Entstehung,  dem  gegenwärtigen  Bestände  und  der  Bedeutung 
der  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  —  Grundlegende  systematische  Unterscheidungen : 
eigentliche  und  uneigentliche  Als-ob-Lehre. 
I.  Die  Entstehung  der  Religionsphilosophie  des  Als-ob. 

(I)   Die    durch    den    unkantischen   Begriff  der    Pflichtreligion    bedingte   Schöpfung 

der  Keligionsphilosophie  des  Als-ob  durch  den  Kantianer  Forberg. 
1^2)  Die  durch  Vaihingers  Untersuchungen  bedingte  Nachprüfung  des  Verhält- 
nisses der  Kan tischen  Religionsphilosophie  zur  Religionsphilosophie  des 
Als-ob.  Der  durch  das  Interesse  am  Dasein  Gottes  bestimmte  Artunter- 
schied zwischen  Kant  und  Forberg.  Der  erkenntniskrilische  Sinn  des 
Kan  tischen  „Als-ob".  Nachprüfung  und  Kritik  der  von  Vaihinger  ange- 
führten Hauptbeweisstellen  für  den  Anteil  Kants  an  der  Grundlegung  der 
eigentlichen  Religionsphilosophie  des  Als-ob. 

Erstes    Stück. 

In  seiner  „Philosophie  des  Als-ob"  (iQii;  zweite,  mit  der 
ersten  gleichlautende,  um  eine  Vorrede  vermehrte  Ausgabe  1913) 
hat  Vaihinger  den  Versuch  gemacht,  ein  System  der  geistigen 
Werte  zu  liefern,  das  lediglich  auf  praktischen  Gesichtspunkten 
beruht  und  folglich  auch  nur  in  praktischer  Hinsicht  aufrecht 
erhalten  werden  kann. 

Ein  integrierender  Bestandteil  dieses  Systems  ist  die  Religions- 
philosophie des  Als-ob. 

Unter  der  Religionsphilosophie  des  Als-ob  ist  eine  Theorie  zu 
verstehen,  die  das  Wesen  der  Religion  in  ihren  praktischen  Charakter 
verlegt  und  alle  theoretischen  Ansprüche  vom  Anteil  an  ihrer  Wesens- 
bestimmung ausschließt.  Religion  ist  nach  dieser  Auffassung  ein 
praktisches  Verhalten,  das  ohne  Bezug  auf  die  Wirklichkeit 
Gottes  lediglich  an  der  Gottes idee  orientiert  ist.  Sie  besteht 
also  weder  in  der  Überzeugung,  daß  es  ein  höchstes  Wesen  gibt, 
noch  in  einem  Verhalten,  das  dieser  Überzeugung  entspringt  oder 
sie  zur  Folge  hat,  sondern  in  einer  Lebensführung  der  Art,  als 
ob  es  ein  höchstes  Wesen  gäbe.  Zu  denken  ist  dieses  als  ein  Wesen, 
das  unbedingt  das  Gute  will;  denn  darin  besteht  der  religiöse  Cha- 


28  Heinrich  Scholz: 

rakter  des  Menschen  nach  dieser  praktischen  Auffassung  der  Re- 
ligion, daß  er  dem  Guten  mit  einer  Gesinnung  dient,  als  ob  es 
von  Gott  befohlen  und  zur  Herrschaft  über  das  Böse  bestimmt 
wäre. 

Religion  ist  also,  diesem  Ansatz  zufolge,  eine  eigentümliche 
Art  und  Weise,  die  absolute  Bedeutung  des  Guten  zu  empfinden. 
Eine  solche  Empfindung  ist  nun  freilich  in  allen  höheren  Religionen 
anzutreffen;  insofern  deckt  sich  die  neue  Religion  mit  dem,  was 
man  sonst  unter  diesem  Namen  versteht.  Die  praktische  Schätzung 
des  Guten  ist  es,  die  sie  mit  der  am  Bestände  des  Göttlichen  inter- 
essierten Religion  verbindet.  Aber  sonst  ist  sie  etwas  ganz  anderes 
als  diese.  Die  am  Bestände  des  Göttlichen  interessierte  Religion 
greift  über  die  praktische  Schätzung  des  Guten  in  eigentümlicher 
Weise  hinaus.  Wir  verstehen  unter  ihr  eine  Lebens  Verfassung,  die 
durch  den  Lebens  Zusammenhang  mit  dem  Göttlichen  bedingt  ist 
und  hierin  ihre  wesentliche  Bestimmung  hat.  Für  diese  Religion 
ist  das  Göttliche  eine  Realität,  die  zwar  die  Schätzung  des  Guten 
zur  Folge  hat,  aber  durchaus  nicht  mit  dieser  zusammenfällt. 
Vielmehr  erfolgt  in  diesem  Zusammenhange  die  eigentümliche 
Schätzung  des  Guten  erst  auf  Grund  der  erlebten  Wirklichkeit 
Gottes.  Zwar  kann  sich  die  Anerkennung  des  Guten  als  eines 
sittlichen  Prinzips  auch  innerhalb  der  religiösen  Lebens- 
verfassung sehr  wohl  ohne  ausdrückliche  Beziehung  auf  Gott 
aus  der  unmittelbaren  Einsicht  in  die  Bedeutung  des  Guten 
erzeugen.  Wo  aber  der  religiöse  Mensch  das  Gute  in  der 
ihm  eigentümlichen  Weise,  nämlich  als  göttlichen  Wert,  empfindet, 
geschieht  es  unter  der  Voraussetzung,  daß  das  Göttliche  ist, 
und  daß  es  im  Guten  lediglich  in  der  uns  be zwingendsten 
Ausprägung  erscheint. 

Die  Probe  auf  die  Richtigkeit  dieser  Interpretation  liegt  in 
der  Tatsache,  daß  der  religiöse  Mensch  das  Gute  keineswegs  als 
die  einzige  Ausstrahlung  des  Göttlichen  empfindet,  daß  er  viel- 
mehr, je  religiöser  er  ist,  um  so  mehr  auch  im  ,, Bösen"  die  Spuren 
des  Göttlichen  aufzufinden  sucht.  Mit  Recht;  denn  wenn  das 
Göttliche  mehr  ist  als  das  Gute,  wenn  es  unabhängig  von  diesem 
,, besteht",  so  braucht  es  nicht  nur  in  ihm  zu  ,, erscheinen",  sondern 
kann  sich  auch  im  Bösen  manifestieren.  In  diesem  Sinne  hat 
Goethe  recht:  die  höchste  Leistung  der  Religion  drückt  sich 
in  der  Anerkennung  des  Göttlichen  aus,  wo  und  wie  es  sich  offen- 
bare;  und  alle   Versuche  einer  Theodizee,   sie   mögen  sich  in  der 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  29 

Ausführung  noch  so  weit  von  den  Gesichtspunkten  des  rehgiösen 
Bewußtseins  entfernen,  hängen  durch  das  Interesse  am  „Bestände" 
des  Göttlichen  eng  mit  der  ReHgion  zusammen. 

Die  ReHgion  des  Als-ob  kennt  ein  solches  Interesse  nicht. 
Im  Gegenteil,  sie  zieht  sich  von  ihm  zurück,  weil  sie  Verwirrung 
von  ihm  befürchtet.  Für  sie  ist  die  Religion  überhaupt  nicht 
ein  Verhältnis  zum  ,, Göttlichen",  sondern  lediglich  ein  bestimmtes 
Verhältnis  zum  Guten,  und  zwar  ein  solches,  wodurch  das  Gute 
in  die  Werthöhe  des  Göttlichen  emporgehoben  wird.  Ob  das 
Göttliche  selbst  existiert,  ist  eine  Frage,  mit  der  sie  sich  gar  nicht 
beschäftigt;  es  genügt  ihr,  das  Gute  so  zu  empfinden,  daß  es  nicht 
stärker  empfunden  werden  könnte,  wenn  es  ein  höchstes  Wesen 
gäbe,  dessen  Wirkhchkeit  sich  erweisen  ließe. 

Der  Unterschied  der  Religion  des  Als-ob  von  der  sonst  so 
genannten  Religion  ist  also  in  Folgendem  zu  erblicken.  Die  Re- 
ligion im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  leitet  die  religiöse  Schätzung 
des  Guten  vom  ,, Bestände"  des  Göttlichen  ab;  die  Religion  des 
Als-ob  fällt  mit  einer  praktisch  gleichartigen  Schätzung  des  Guten 
zusammen,  ohne  auf  den  ,, Bestand"  des  GöttHchen  zu  reflektieren. 
Die  eigentlich  so  genannte  Religion  ist  stets  eine  Aussage  über 
das  Göttliche:  Gott  ist,  und  zwar  ist  er  in  seiner  erhebendsten 
Offenbarung  das  transzendente  Prinzip  des  Guten.  Er  kann  aber 
auch  im  ,, Bösen"  gegenwärtig  sein;  und  die  Idee  der  Allgegen- 
wart nötigt  sogar,  ihn  auch  in  diesem  anzuerkennen.  Die  Religion 
des  Als-ob  ist  dagegen  vielmehr  eine  Aussage  über  die  Bedeutung 
des  Guten:  das  Gute  ist  das  Göttliche;  und  zwar  ohne  Bezug 
auf  die  Frage,  ob  das  Göttliche  an  sich  existiert  oder  nicht.  Das 
Göttliche  ist  in  dieser  Konzeption  zu  einem  von  allen  Daseins - 
fragen  unabhängigen  Prädikat  des  Guten  geworden,  während  es 
in  der  Sphäre  der  eigentlich  so  genannten  Religion  vielmehr  das 
in  seinem  Dasein  bejahte  und  anerkannte  Subjekt  aller  Prädikate 
ist.  Und  während  die  eigentlich  so  genannte  Religion  Raum  hat 
für  die  religiöse  Beurteilung  des  Bösen,  darf  eine  konsequente 
Religion  des  Als-ob  sich  auf  eine  solche  auch  nicht  einmal  ein- 
lassen wollen;  denn  wenn  das  Gute  das  Göttliche  ist,  so  kann 
das  Böse  nur  das  Ungöttliche  sein. 

So  erscheint  als  der  entscheidende  Zug  an  der  eigentlichen 
Religion  des  Als-ob  die  Uninteressiertheit  am  Bestände  des 
Göttlichen.  In  dieser  Qualität  kann  die  Religion  des  Als-ob 
sich   in   zwei    Gestalten  ausprägen.     Wenn   das   Dasein   des    Gott- 


JO  Heinrich  Scholz: 

liehen  für  die  Substanz  des  religiösen  Bewußtseins  belanglos  ist, 
so  kann  die  Frage,  ob  Gott  existiert,  entweder  ausdrücklich  offen 
gelassen  oder  geradezu  verneint  werden.  Es  kann  heißen:  Der 
Mensch  hat  Religion,  insofern  er  sich  so  verhält,  als  ob  es  ein 
höchstes  Wesen  gäbe,  während  er  in  dem  Bewußtsein  handelt, 
daß  die  Existenz  eines  solchen  zweifelhaft  ist.  Es  kann  aber 
auch  heißen:  Der  Mensch  hat  Religion,  insofern  seine  Handlungen 
in  Analogie  zu  den  Handlungen  eines  Menschen  stehen,  der  an 
das  Dasein  Gottes  glaubt,  während  er  selbst  von  dem  Gegenteil 
überzeugt  ist  und  an  der  Nichtcxistenz  des  Göttlichen  festhält. 
Wir  können  die  erste  dieser  beiden  Religionsformen,  die  das  Dasein 
Gottes  im  Ungewissen  läßt,  als  die  skeptische  bezeichnen.  Die 
zweite,  die  auf  das  Dasein  Gottes  verzichtet  und  dasselbe  aus- 
drücklich verneint,  mag  die  paradoxe  heißen. 

Indessen,  unter  einer  Religion  des  Als-ob  kann  man  noch 
etwas  ganz  anderes  verstehen.  Man  kann  eine  Religion  darunter 
verstehen,  die  gleich  der  eigentlich  so  genannten  Religion  am  Be- 
stände des  Göttlichen  interessiert  ist  und  durch  das  ,, Als-ob" 
nur  ausdrücken  will,  daß  es  über  diesen  Bestand  eine  intellek- 
tuelle Gewißheit  nicht  geben  könne.  Eine  derartige  Religion 
käme  auf  eine  Lx;bcns Verfassung  hinaus,  deren  Subjekt  sich  so 
verhält,  als  ob  es  wüßte,  in  der  Form  der  Demonstration, 
daß  es  ein  höchstes  Wesen  gibt,  während  es  dieses  Wesen 
in  Wirklichkeit  nur  unter  gewissen  Bedingungen  kennt,  die 
zwar  genau  bestimmt  werden  können,  aber  des  logischen 
Zwanges  entbehren.  Handeln,  als  ob  es  ein  höchstes  Wesen 
gäbe,  wäre  alsdann  ein  verkürzter  Ausdruck  für  ein  Handeln 
der  Art,  als  ob  das  Dasein  eines  solchen  Wesens  intellektuell 
erweislich  wäre. 

Wir  können  diese  Art  von  Religion  als  die  uneigentliche 
Religion  des  Als-ob  und  die  ihr  entsprechende  Religionsphilo- 
sophie als  die  kritische  bezeichnen.  Sie  verdient  diesen  Namen 
insofern,  als  sie  zwischen  dem  Dasein  des  Göttlichen  und  der  Art 
unseres  Bewußtseins  von  Gott  unterscheidet  und  durch  das  ,, Als- 
ob"  nur  diese  Bewußtscinsart  genauer  zu  bestimmen  unternimmt. 
Durch  ihr  Interesse  am  Bestände  des  Göttlichen  ist  sie  von  der 
eigentlichen  Religion  des  Als-ob  nicht  nur  dem  Grade,  sondern 
der  Art  nach  verschieden.  Wenn  sie  dennoch  hier  eingesetzt 
wird,  so  geschieht  es  aus  einem  doppelten  Grunde:  einmal 
wegen    ihrer    formalen    Identität    mit     der    eigentlichen    Religion 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  %  I 

des  Als-ob,  sodann  wegen  der  sachlichen  und  systematischen 
Bedeutung,  die  sie  im  Verlauf  der  folgenden  Untersuchungen 
erlangen  wird. 

Es  ist  nämlich  Vai hinger  darum  zu  tun,  die  Religion  des 
Als-ob  in  der  paradoxen  Gestalt  einer  Religion  ohne  Gott  nicht 
nur  für  sein  eigenes  System,  sondern  auch  für  Kant  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Eine  Durcharbeitung  des  ganzen  in  Betracht  kom- 
menden Materials  unter  dem  von  ihm  selber  vertretenen  Gesichts- 
punkt soll  diesen  Anspruch  realisieren.^)  Eine  ganz  neue  Auf- 
fassung Kants  ist  der  Ertrag  dieser  Untersuchung.  Dieser  Auf- 
fassung gemäß  ist  die  Kantische  Religionsphilosophie  nicht  das, 
wofür  sie  gewöhnlich  gehalten  wird  —  eine  durch  sittliche  Er- 
wägungen bestimmte  Grundlegung  des  Glaubens  an  das  Dasein 
Gottes  — ,  sondern  etwas  ganz  anderes,  nämlich  eine  neue  Kon- 
zeption des  Begriffs  der  Religion.  Die  herrschende  Kant  auf  fassung 
nimmt  an,  daß  Kant  in  seiner  Religionsphilosophie  an  dem  In- 
halt des  religiösen  Bewußtseins  nichts  geändert  habe.  Dieser 
bestehe  auch  nach  Kant  in  der  Überzeugung  vom  Dasein  Gottes, 
mithin  in  einem  Existentialurteil,  das  sich  auf  die  transsubjektive 
Wirklichkeit  Gottes  bezieht.  Nur  die  Ableitung  dieses  Existential- 
urteils,  folghch  des  religiösen  Bewußtseinsinhaltes,  sei  durch  Kant 
eine  andere  geworden.  An  die  Stelle  der  logischen  Deduktion 
sei  die  ethische  Begründung  getreten,  an  die  Stelle  der  intel- 
lektuellen Beweisführung  die  moralische  Argumentation.  Die 
durch  die  Kritik  der  theoretischen  Vernunft  entwerteten  Stützen 
des  religiösen  Bewußtseins  seien  auf  Grund  der  neu  gewonnenen 
Einsicht  in  den  Primat  der  praktischen  Vernunft  durch  mora- 
lische Stützen  ersetzt  worden.  Hierauf  • —  und  hierauf  allein  — 
beruhe  die  Umwälzung  des  rcligionsphilosophischen  Denkens  durch 
Kant,  mithin  die  eigentümliche  religionsphilosophische  Leistung 
des  Kritizismus.  Die  kritische  Religionsphilosophie  bedeute  die 
Wendung  zu  einer  neuen  Ableitung  des  religiösen  Bewußtseins; 
nicht  weniger,  aber  auch  nicht  mehr.  Der  Substanz  nach  bleibe 
das  religiöse  Bewußtsein  durch  den  Kritizismus  unangetastet. 

Dieser  Auffassung  stellt  Vaihinger  eine  Auslegung  entgegen, 
die  die  Substanz  des  religiösen  Bewußtseins  berührt  und  den 
Schwerpunkt   der   Kantischen   Rehgionsphilosophie   in   die    Inter- 


^)  Vgl.  die  Philosophie  des  Als-ob,   S.  613 — 733. 


2  2  Heinrich  Scholz: 

pretation  des  religiösen  Bewußtseins  verlegt.     Nach  Vaihinger 
fordert    der    konsequente    Kritizismus    den    Verzicht    auf    jegliche 
Art  von  Religion,  die  sich  als  Glaube  an  das  Dasein  Gottes  emp- 
findet.    Eine  genaue  Musterung  der  Stellen,  in  denen  sich  Kant 
vom    Standpunkt    des    konsequenten    Kritizismus    aus    über    das 
Dasein   Gottes  ausspricht,  führe  zu  dem  Ergebnis,   ,,daß  ihm  die 
Existenz  eines  höchsten  Geistes  im  üblichen  Sinne  des  Existierens 
nicht  bloß  nicht  wahrscheinlich,  sondern  höchst  unwahrscheinlich, 
ja  direkt   unglaubhaft   wird   bis   zur   Unmöglichkeit".      Und   zwar 
bewegen   sich   die    hierfür   in    Betracht   kommenden    Stellen   nach 
Vaihinger    ,,vom   Unwahrscheinlichen    bis    zum   Unmöglichen   in 
verschiedenen  Abstufungen,   unter  Vermeidung  des   .  .  .   Ausweges 
des   Agnostizismus,   welcher  lehrt,   das    Gebiet  der   Dinge  an  sich 
sei   unbekannt,   dieses  unbekannte    Gebiet  könnte  aber  wohl  eine 
Welt  von   Geistern  mit  einem  höchsten   Geist  an  der  Spitze  sein. 
Ein    solcher    Agnostizismus    .  .  .    erscheint    als    ein    schwächlicher 
Kompromiß   gegenüber   dem   Radikalismus   der    Stellen,    in   denen 
Kant  seinen   Sitz  auf  der  äußersten  Linken  des  philosophischen 
Parlaments   nimmt:   ihm  sind   alle  transzendenten  Vorstel- 
lungen nichts  als  , selbstgemachte  Ideen'."     Um  noch  deut- 
licher zu  machen,  worum  es  sich  handelt,  unterscheidet  Vaihinger 
drei  Möglichkeiten.    Erstens :  die  Vorstellungen  einer  transzendenten 
Welt  sind  uns  aus  dieser  selbst  gegeben,  und  damit  ein  Beweis 
derselben.      Zweitens:    Jene    Vorstellungen    sind    von    uns    selbst 
gemacht  und  tragen  durch  ihre   Entstehung  in  sich  selber  den 
Gegenbeweis   gegen  die   Existenz  der   durch   sie   gedachten   Welt. 
Drittens:   Jene  Vorstellungen  sind  zwar  von  uns  selbst  gemacht; 
aber  es  entspricht  ihnen  trotzdem  eine  Welt  transzendenter  Reali- 
täten.    Diese  dritte  MögHchkeit  ist  es,  die  Vaihinger  ausdrücldich 
ausschließen    möchte.      ,, Einen    solchen    Kompromiß",    erklärt    er 
mit  Nachdruck,    ,, schließt  unser   Kant   nicht    .  .  .:   für   ihn  sind 
jene    Vorstellungen    schlechterdings    ideae    a    nohis    factae,    daher 
ideae  jiciae.''  ^) 

Den  Beweis  dafür  liefern  Vaihinger  zahlreiche  dahingehende 
Äußerungen  Kants,  die  über  sein  ganzes  Schrifttum  zerstreut 
sind,  und  deren  Sammlung  zu  den  wesentlichsten  Verdiensten 
der  Vaihinger  sehen  Untersuchung  gehört.  Von  besonderem  Be- 
lang  ist   für   Vaihinger  eine    Stelle   aus   der   Methodenlehre   der 


*)  Vgl.  zu  diesem  ganzen  Abschnitt  die  Philosophie  des  Als-ob  S.  734. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  22 

Kritik  der  reinen  Vernunft,  in  der  die  Gottesidec  unter  theore- 
tischem Gesichtspunkt  als  „heuristische  Fiktion",  mithin  als  eine 
zweckvolle  Erdichtung,  oder,  wie  Vai hinger  interpretiert  (S.  638 
unten),  als  eine  ,, bewußte  Selbsttäuschung"  bezeichnet  wird. 
Vaihinger  nennt  diese  Stelle  klassisch  und  bemerkt  dazu:  ,, Würde 
man  diese  klassische  Stelle  immer  vor  Augen  gehabt  haben,  so 
hätte  man  die  ganze  Ideenlehre  von  vornherein  besser  verstanden" 
(S.  620).  Man  würde  sie  —  das  ist  Vaihingers  Meinung  —  dann 
nicht  als  eine  Lehre  von  an  sich  möglichen,  nur  theoretisch  nicht 
erweislichen  Gegenständen  höherer  Ordnung  verstanden  haben, 
sondern  als  das,  was  sie  in  Wirklichkeit  sein  will,  nämlich  eine 
Lehre  von  der  praktischen  Brauchbarkeit  gewisser  Ideen,  die 
notorisch  nicht  mehr  als  Ideen  sind  —  Geschöpfe  der  mensch- 
lichen Einbildungskraft,  ohne  reellen  Hintergrund. 

Wenn  diese  Kantauffassung  zutrifft,  so  ist  es  undenkbar, 
daß  die  Kantische  Religion  in  dem  Glauben  an  das  Dasein  Gottes 
besteht;  denn  es  ist  sinnlos,  an  das  Dasein  eines  Wesens  zu  glauben, 
von  dessen  Nichte xistenz  man  überzeugt  ist.  Vielmehr  kann  die 
Religion  unter  dieser  Voraussetzung  nur  durch  eine  völlige  Um- 
schmelzung  ihres  substantiellen  Gehaltes  für  das  Bewußtsein  ge- 
rettet werden.  Sie  muß  das  Dasein  Gottes  preisgeben  und  in  ein 
praktisches  Verhalten  umschlagen,  das  lediglich  an  der  Gottes- 
idee orientiert  ist.  An  die  Stelle  des  unmöghch  gewordenen 
Existcntialurteils  muß  eine  Maxime  des  Handelns  treten, 
nämlich  die  Regel,  so  zu  handeln,  als  ob  es  ein  höchstes  Wesen 
gäbe  —  während  wir  wissen,  daß  es  ein  solches  nicht  gibt.  Religion 
ist  also  nach  den  Prinzipien'  des  konsequenten  Kritizismus  ihrer 
inhaltlichen  Bedeutung  nach  etwas  ganz  anderes,  als  ein  Urteil 
über  das  Dasein  Gottes;  sie  ist  die  Selbstbeziehung  des  handelnden 
Subjektes  auf  die  von  ihm  selbst  erzeugte  Gottes idee,  mit  anderen 
Worten:  ein  an  der  Gottesidee  orientiertes,  vom  Be- 
stände des  Göttlichen  völlig  abstrahierendes  praktisch- 
sittliches Verhalten. 

Mit  der  Entdeckung  dieses  Religionsbegriffes  glaubt  Vaihinger 
den  bisher  übersehenen  Kern  der  Kantischen  Religionslehre  er- 
gründet zu  haben.  Nach  abermaliger  sorgfältiger  Zusammen- 
fassung aller  in  diesem  Sinne  lautenden  Stellen  —  und  es  sind 
ihrer  mehr,  als  man  a  priori  für  möglich  hält  —  kommt  Vaihinger 
zu  folgendem  Ergebnis:  Nach  den  Prinzipien  des  echten,  kon- 
sequenten Kritizismus  ist  ,, Glaube  so  viel  wie  die  Annahme,  als 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3 


34 


Heinrich  Scholz: 


ob  etwas  wäre,  was  nicht  wirklich  ist  und  nicht  wirklich  sein  kann" 
(S.  638).  ,,Im  Kantischen  Sinne,  im  Sinne  der  kritischen  Philo- 
sophie heißt  der  Ausdruck  ,ich  glaube  an  Gott'  nichts  anderes 
als:  ,ich  handle  so,  als  ob  es  einen  Gott  wirklich  gäbe';  indem 
der  kantisch  und  kritisch  Denkende  sittlich  handelt,  handelt  er 
so,  als  ob  das  Gute  einen  unbedingten  Wert  in  der  Welt  hätte, 
derart,  daß  es  das  Entscheidende  in  der  Welt  wäre;  und  das  Gute 
wäre  das  Entscheidende  in  der  Welt,  wenn  es  eine  Wcltregierung 
gäbe,  welche  das  Gute  auch  letztlich  zum  Siege  führen  würde. 
Trotzdem  mir  meine  theoretische  Vernunft  verbietet,  eine  solche 
moralische  Weltordnung  anzunehmen  —  ein  solcher  Begriff  ist 
gänzlich  leer  — ,  so  handle  ich  doch  so,  als  ob  es  eine  solche  mora- 
lische Weltordnung  geben  würde,  da  mir  meine  praktische  Ver- 
nunft gebietet,  das  Gute  unbedingt  zu  tun"  (S.  684). 

Weiter.  Kant  hat  die  Bestimmung: ,, Religion  ist  die  Erkenntnis 
aller  unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote"  gelegentlich  in  die 
Form  gekleidet:  Alle  Religion  besteht  darin,  daß  wir  Gott  für  alle 
unsere  Pflichten  als  den  allgemein  zu  verehrenden  Gesetzgeber 
ansehen.  Hierzu  bemerkt  Vaihinger:  ,,Der  Ton  liegt  und  ist  zu 
legen  auf  , ansehen';  wir  sehen  es  so  an,  als  ob  es  einen  Gott  gäbe, 
und  als  ob  dieser  Gott  die  Moralgesetze  uns  geboten  hätte  —  in 
dieser  zweifachen  Fiktion  liegt  das  Wesen  der  religiösen 
Betrachtungsweise"  (S.  663). 

Eine  von  Vaihinger  selbst  schon  gezogene  Konsequenz  dieses 
Standpunktes  ist  die  völlige  Koinzidenz  von  Moralität  und  Re- 
ligion. ,, Sittlich  handeln  heißt,  entgegen  den  empirischen  Be- 
dingungen so  handeln,  als  ob  das  Gute  einen  unbedingten  Wert 
hätte,  als  ob  es  die  Macht  hätte,  in  eine  überempirische  Welt 
hineinzureichen,  in  der  ein  oberster  Weltherrscher  für  die  Har- 
monie des  Guten  und  des  Bösen  sorgte.  In  diesem  Sinne  ist 
gutes  Handeln  identisch  mit  dem  Glauben  an  Gott  und 
Unsterblichkeit.  .  .  .  Jedes  sittliche  Handeln  schließt 
die  Fiktion  von  Gott  und  Unsterblichkeit  in  sich  ein  — 
dies  ist  der  Sinn  des  praktischen  Vernunftglaubens  an 
Gott  und  Unsterblichkeit"  (S.  685). 

Eine  weitere  Konsequenz  ist  die  Möglichkeit  einer  Religion 
ohne  Gott.  Sie  ergibt  sich  mit  innerer  Folgerichtigkeit  aus  dem 
Verzicht  auf  die  Wirklichkeit  Gottes.  ,,Auch  der  Atheist,  der 
theoretisch  mit  dem  Munde  Gott  und  Unsterblichkeit  leugnet, 
glaubt,  wenn  er  sittlich  handelt,  praktisch  an  beides.     Praktischer 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  ßC 

Glaube  an  Gott  und  Unsterblichkeit  heißt  für  Kant  .  .  .:  sich 
praktisch  so  verhalten  .  .  .,  als  ob  man  theoretisch  an  jene 
Dinge  glauben  würde"  (S.  685  f.). 

Vai hinger  weiß  und  betont  es  ausdrücklich,  daß  dies  nicht 
die  ganze  Lehre  Kants  ist.  Er  weiß,  daß  Kant  sich  oft  genug 
auch  für  das  Dasein  Gottes  erklärt  hat  und  seinen  Ideen  einen 
Ausdruck  verleiht,  der  der  herrschenden  Auffassung  recht  gibt. 
Die  ,,Prolegomena"  und  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  sind 
die  Haupt  quellen  dieser  realistischen  Ausprägung  des  Kantischen 
Religionsbegriffs. 

Indessen  hierauf  ist  erstlich  zu  erwidern,  daß  diese  realistischen 
Formeln  sehr  leicht  als  Nachwirkungen  eines  Religionsbegriffs  ver- 
ständlich gemacht  werden  können,  der  bis  auf  Kant  fast  aus- 
schließlich geherrscht  hat  und  mit  dem  Kant  selber  aufgewachsen 
ist.  Daß  solche  Begriffe  ihre  Spuren  zurücklassen,  ist  nur  allzu 
begreiflich  und  hindert  nicht,  daß  sie  prinzipiell  überwunden  sind. 
Es  ist  sehr  wohl  denkbar,  daß  der  realistische  Religionsbegriff  in 
die  dem  Geist  des  Kritizismus  entsprechende  ideologische  Religions- 
konstruktion eingedrungen  ist,  ohne  sachlich  mehr  zu  bedeuten, 
als  das  Rudiment  einer  grundsätzlich  überwundenen  Anschauung. 
Der  religiöse  Realismus  würde  alsdann  in  dieselbe  Beleuchtung 
rücken,  wie  bei  Fichte  und  seinen  Nachfolgern  der  erkenntnis- 
theoretische Realismus  Kants.  Er  wäre  eine  im  konsequenten 
System  des  Kritizismus  unerträgliche  Inkonsequenz. 

Was  diesen  Realismus  im  besonderen  betrifft,  so  wird  er 
zweitens  noch  dadurch  eingeschränkt,  daß  Kant  fast  an  keiner 
Stelle  versäumt,  den  praktischen  Charakter  desselben  zu  betonen. 
Immer  wieder  hat  Kant  die  Realität  des  Göttlichen  als  eine  prak- 
tische bezeichnet,  und  Vaihinger  ist  geneigt,  diese  praktische 
,, Realität"  mit  praktischer  Bedeutung  gleichzusetzen  (S.  653 
Anm.).  Wenn  diese  Auslegung  zutrifft,  so  schränkt  sich  die  Rea- 
lität der  Gottesidee  auf  ihre  praktische  Bedeutung  und  Brauch- 
barkeit ein;  und  dem  Realismus  ist  auch  von  dieser  Seite  her  für 
die  Religionsphilosophie  nichts  abzugewinnen. 

Drittens  macht  Vaihinger  mit  Recht  darauf  aufmerksam, 
daß  einige  der  beweisendsten  Stellen  für  die  AIs-ob-Betrachtung 
der  Religion  sich  in  den  spätesten  Schriften  finden  —  also  in 
Schriften,  von  denen  man  annehmen  kann,  daß  sie  den  kriti- 
zistischen  Standpunkt  in  seiner  reifsten  Ausprägung  vertreten. 
Diese  späten  Zeugnisse  sind  wichtige  Stützpunkte  für  eine  Psycho- 
se 


36 


Heinrich  Scholz: 


logische  Konstruktion  der  Kantischen  Rcligionsphilosophie  in  der 
von  Vai hinger  angenommenen  Richtung  auf  eine  reine  Theorie 
des  Als-ob.  Es  ist  nichts  dagegen  zu  sagen,  wenn  Vaihinger 
bemerkt:  ,,Es  ist  psychologisch  leicht  verständhch,  daß  bei  Kant 
die  mildere  (nur  die  Erkennbarkeit  des  Daseins  Gottes  ausschließende) 
Form  der  Religion  des  Als-ob  die  ursprüngliche  gewesen  ist"  (S.  750 
Anm.).  ,,Erst  später"  —  meint  Vaihinger  —  ,,kam  Kant  da- 
hinter, daß  auch  schon  der  Begriff  der  Gottheit  selbst  .  .  .  fiktiver 
Natur  sei.  Während  so  viele  andere  bedeutende  Geister  ...  im 
Alter  in  dieser  Hinsicht  zu  einem  schwächlichen  Kompromiß 
herabglitten,  hat  Kant  sich,  je  älter  und  erfahrener  er  wurde, 
desto  mehr  befreit  und  sich  schließlich  zu  einem  konsequenten, 
entschiedenen  Standpunkt  durchgerungen"  (a.  a.  O.). 

Wenn  also  auch  nicht  behauptet  werden  kann,  daß  sich  die 
ganze  Lehre  Kants  auf  die  Theorie  des  Als-ob  zurückführen 
lasse,  so  läßt  sich  nach  Vaihinger  doch  so  viel  erweisen,  daß  die 
ideologische  Religionskonstruktion  die  durch  die  reifsten  Schriften 
Kants  bezeugte  richtige  Lehre  des  Kritizismus  ist.  Alle  anders 
lautenden  Stellen  sind  entweder  als  Vorstufen  oder  als  inkonsequente 
Durchkreuzungen  dieser  richtigen  Lehre  anzusehen  und  nach  den 
Ergebnissen  derselben  zu  korrigieren.  Mag  auch  der  sogenannte 
liistorische  Kant  in  Hinsicht  auf  seine  Rcligionsphilosophie  noch 
so  sehr  zwischen  Realismus  und  Pragmatismus  hin  und  her 
schwanken:  der  ideelle  Kant  ist  eine  eindeutige  Erscheinung 
—  eindeutig  im  Sinne  des  Pragmatismus  —  und  nur  an  ihm  hat 
die  Nachwelt  Interesse. 

Unzweifelhaft  verhält  es  sich  so.  Um  so  nötiger  erscheint 
eine  Nachprüfung  dieser  eigentümlichen,  die  Kantauffassung  eines 
ganzen  Jahrhunderts  umstoßenden  Interpretation.  Erwägt  man, 
wie  eng  die  religionsphilosophische  Arbeit  der  Gegenwart,  zumal 
auf  theologischem  Gebiete,  noch  immer  mit  Kant  und  den  Prin- 
zipien des  Kritizismus  verknüpft  ist,  so  sieht  man  leicht,  daß  die 
von  Vaihinger  geforderte  Umdeutung,  wenn  sie  sich  als  berechtigt 
erwiese,  auch  in  systematischer  Hinsicht  von  den  bedeutendsten 
Folgen  sein  müßte.  Eine  positive  Anknüpfung  an  Kant  könnte 
dann  entweder  überhaupt  nicht  mehr  stattfinden  oder  nur  noch 
unter  der  mißlichen  Bedingung,  daß  man  Kant  nicht  nur 
Ix'sser,  sondern  ganz  anders  zu  verstehen  sucht,  als  er  sich 
selbst  verstanden  hat. 


Die  Religionsplülosophie  des  Als-ob.  57 

Hierdurch  entsteht  nun  zunächst  die  Notwendigkeit,  die  Frage 
nach  dem  Anteil  Kants  an  der  Entstehung  der  Rehgionsphilo- 
sophie  des  Als-ob  in  die  folgenden  Untersuchungen  einzubeziehen. 
Es  wird  nötig  sein,  diese  Frage  im  Hinblick  auf  die  Prinzipien 
des  Kritizismus  und  mit  besonderer  Beziehung  auf  Vai hingers 
Beweisstücke  noch  einmal  gründlich  zu  diskutieren. 

Nun  ist  aber  noch  unmittelbarer  als  Kant  der  durch  Vai- 
hinger  der  Vergessenheit  entzogene  Kantianer  Forberg  an  der 
Entstehung  der  Religionsphilosophie  des  Als-ob  beteiligt.  Es 
wird  also  nicht  zu  umgehen  sein,  auch  dessen  Position  hier  ein- 
zureihen; denn  erstens  ist  Forberg  als  Religionsphilosoph  eine 
noch  nicht  ausgeschöpfte,  originelle  Erscheinung,  zweitens  ist 
sein  Religionsbcgriff  ein  so  wesentliches  Hilfsmittel  zur  Präzisierung 
des  Kantischen,  daß  er  schon  aus  diesem  Grunde  hier  nicht  ent- 
behrt werden  kann. 

In  einem  ähnlichen  Verhältnis  wie  Forberg  zu  Kant  steht 
die  Religionsphilosophie  des  Pragmatismus  zur  Vai  hinger  sehen 
Rehgionsphilosophie  des  Als-ob.  Und  so  wenig  wie  Forberg 
in  einer  Untersuchung  über  die  Entstehung  der  Religionsphilo- 
sophie des  Als-ob  neben  Kant  zu  entbehren  ist,  so  wenig  ist  die 
Religionsphilosophie  des  Pragmatismus  neben  der  Vaihingerschen 
in  einer  Arbeit  zu  entbehren,  die  über  den  gegenwärtigen  Stand 
der  Religionsphilosophie  des  Als-ob  orientieren  w^ill.  Denn 
auch  der  Pragmatismus  legt,  wie  schon  sein  Name  anzeigt,  ein 
ganz  besonderes  Gewicht  auf  die  praktische  Bedeutung  der  Re- 
ligion; ja,  er  versucht,  gleich  Vaihinger,  das  Wesen  der  Religion 
mit  diesem  Schlüssel  zu  erschließen.  Um  so  lehrreicher  wird  es 
sein,  die  Unterschiede  festzustellen,  die  zwischen  beiden  Theorien 
bestehen,  und  diese  durch  die  Aufklärung  der  unterscheidenden 
Merkmale  selbst  genauer  zu  präzisieren. 

Zu  einer  abschließenden  Betrachtung  gehört  aber  noch  mehr 
als  ein  kritischer  Überblick  über  den  gegenwärtigen  Stand  der 
Religionsphilosophie  des  Als-ob.  Es  entspricht  der  Bedeutung, 
die  sie  sich  beimißt  und  unter  der  Form  des  Pragmatismus  auch 
schon  erlangt  hat,  daß  diese  selbst  der  Prüfung  unterworfen  und 
unter  den  beiden  entscheidenden  Gesichtspunkten,  die  für  ein 
religionsphilosophisches  System  in  Betracht  kommen,  dem  philo- 
sophischen und  dem  religiösen,  erwogen  wird. 

Die  folgende  Untersuchung  wird  demnach  aus  drei  Haupt- 
stücken bestehen,  von  denen  das  erste  die  Entstehung,  das  zweite 


38 


Heinrich  Scholz: 


den  gegenwärtigen  Stand,  das  dritte  die  Bedeutung  der  Religions- 
philosophie des  Als-ob  zum  Gegenstande  hat. 

I. 

Die  Entstehung  der  Religionsphilosophie  des  Als-ob. 

(Forberg  und  Kant.) 

Die  I^ntische  Religionskonstruktion  ist  durch  Vaihingers 
Analyse  ein  so  kompliziertes  Gebilde  geworden,  daß  es  sich  emp- 
fiehlt, die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Religionsphilosophie 
des  Als-ob  nicht  unmittelbar  an  Kant  anzuknüpfen,  sondern  an 
die  Arbeit  des  Mannes,  den  Vai hinger  selbst  in  Hinsicht  auf  sein 
Verhältnis  zur  Theorie  des  Als-ob  als  den  konsequentesten  aller 
Kantianer  bezeichnet  hat.  Dieser  Mann  ist  der  aus  der  Geschichte 
des  Atheismusstreites  bekannte  Friedrich  Carl  Forberg. ^) 

Forberg  hat  im  ersten  Heft  des  von  Fichte  und  Niet- 
hammer herausgegebenen  Philosophischen  Journals  von  1798 
einen  höchst  interessanten  Aufsatz  über  den  Begriff  der  Religion 
veröffentlicht.  Dieser  Aufsatz  umschließt,  wie  Vai  hinger  zuerst 
gesehen  hat,  ein  ganzes  System  von  originellem  Charakter;  und 
es  ist  für  unsere  Zwecke  sehr  wichtig,  diesem  System  auf  die  Spur 
zu  kommen.^) 


^)  Vgl.  über  Forberg  (1770 — 1848)  das  Kapitel  bei  Vaihinger:  Forberg,  der 
Veranlasser  des  Fichteschen  Atheismusstreites  und  seine  Religion  des  Als-ob  (a.a.O., 
S-  733  bis  753).  —  Ferner  die  wertvolle,  außerordentlich  genau  gearbeitete  Untersu- 
chung von  A.Wesselsky,  Forberg  und  Kant,  Studien  zur  Geschichte  der  Philosophie 
des  Als-ob  und  im  Hinblick  auf  eine  Philosophie  der  Tat,  191 3.  —  Für  die  Erkenntnis 
von  Forbergs  persönlichem  Entwicklungsgang  ist  von  großer  Bedeutung  der  von 
ihm  selbst  verfaßte  ,, Lebenslauf  eines  Verschollenen",  Hildburghausen  und  Meiningen, 
Verlag  der  Keßelringschen  Hofbuchhandlung,  1840.  Ich  besitze  eine  Abschrift 
dieses  außerordentlich  seltenen,  nach  den  Ermittlungen  der  Auskunftsstelle  der 
deutschen  Bibliotheken  (bei  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin)  nur  noch  auf  den  Herzog- 
lichen Bibliotheken  zu  Gotha  und  Meiningen  vorhandenen  Büchleins  (im  Umfang 
von  61  Seiten)  durch  die  Güte  des  Herrn  Dr.  Hans  Lindau,  Bibliothekar  an  der 
Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin. 

-)  Forbergs  ..Entwicklung  des  Begriffs  der  Religion"  ist  neuerdings  zweimal 
herausgegeben  worden,  zuerst  von  Fritz  Medicus,  sodann  von  Hans  Lindau.  — 
Fichte  und  Forberg,  Die  philosophischen  Schriften  zum  Atheismusstreit,  neu 
herausgegeben  und  eingeleitet  von  Fritz  Medicus  1910  (im  Verlag  der  Philo- 
sophischen Bibliothek  von  Meiner  in  Leipzig).  —  Die  Schriften  zu  J.  G.  Fichtes 
Atheismusstreit,    herausgegeben    von    Hans    Lindau    1912    (München    bei    Georg 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  29 

Es  entspricht  der  Zeitlage,  in  der  Forbergs  Aufsatz  ent- 
standen ist,  daß  der  kritische  RationaHsmus  die  Konstruktion 
seines  Religionsbegriffes  völHg  beherrscht.  Dies  tritt  sofort  in 
der  Kritik  der  Quellen  des  religiösen  Bewußtseins  zutage.  Für 
Fichte  war  1791  das  Offenbarungsprinzip  noch  ein  Problem; 
für  Forberg  ist  es  ein  überwundener  Standpunkt.  Er  gedenkt 
desselben  mit  keinem  Worte,  sondern  wendet  sich  sofort  zu  den 
natürlichen  Quellen  des  religiösen  Bewußtseins:  Erfahrung,  Speku- 
lation und  Gewissen. 

Aus  der  Erfahrung  kann  die  ReHgion  offenbar  nicht  ent- 
springen; denn  diese  führt  nirgend  auf  Gott.  Um  auf  Gott  zu 
führen,  müßte  sie  eine  nach  moralischen  Gesichtspunkten  auf- 
gebaute Welt  antreffen,  d.  i.  eine  Welt,  ,,in  der  es  den  Guten  am 
Ende  gelingt,  und  den  Bösen  am  Ende  mißlingt".^) 

Allein  gerade  dies  sehen  wir  in  der  Erfahrung  eben  nicht  vor 
Augen,  und  es  ist  die  alte  Klage  aller  Rechtschaffenen  von  jeher  ge- 
wesen, daß  die  böse  Sache  so  oft  über  die  gute  triumphiert.  Eher  ließe 
sich  aus  der  Erfahrung  das  Gegenteil  folgern,  nämlich  daß  die  Welt 
nicht  moralisch  regiert  werde,  oder  daß  wenigstens  ein  böser  Genius 


Müller).  —  Die  Ausgabe  von  Lindau  ist  zwar  die  vollständigere;  doch  glaube  ich, 
nach  der  Ausgabe  von  Medicus,  als  der  verbreiteteren,  zitieren  zu  sollen. 

Ein  außerordentlich  wichtiger  Kommentar  zu  Forbergs  Aufsatz  ist  die  leider 
noch  nicht  wieder  neu  gedruckte  ..Apologie  meines  angeblichen  Atheismus"  (Gotha, 
Perthes,  1799).  Exemplare  dieses  gleichfalls  recht  seltenen  Büchleins  befinden 
sich  auf  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Berlin,  sowie  auf  den  Universitätsbibliotheken 
Breslau,  Halle,  Marburg,  Göttingen,  Kiel,  Königsberg.  —  Dagegen  ist  das  (auf  der 
Großherzoglichen  Bibliothek  zu  Darmstadt  vorhandene)  Schriftchen  ..Von  den 
Pflichten  des  Gelehrten"  (Gotha,  Perthes,  1801)  nichts  als  eine  an  Fichtes  Jenaer 
Vorlesimgen  angelehnte  ,, moralische  Rede,  gehalten  auf  dem  Lyzeum  zu  Saalfeld 
den  28.  März  i8oi",  und  nimmt  (gegen  Wesselskys  Vermutung  S.  31)  auf  den 
Atheismusstreit  in  keiner  Weise  Bezug. 

1)  Also  nicht  eine  Welt,  in  der  der  Gute  ..belohnt",  der  Böse  „bestraft"  wird, 
wie  noch  Kant,  wennschon  unter  strengster  Kritik  aller  Eudämonisierung  der 
Moralität,  in  Anknüpfung  an  den  Eudämonismus  der  Aufklärung  gelehrt  hatte. 
Die  Ablösung  dieses  kritischen,  an  die  Bedingung  der  Moralität  geknüpften  Eudä- 
monismus durch  die  idealistische  Konzeption  einer  moralischen  Welt,  in  der  nicht 
sowohl  auf  die  Belohnung  des  Guten  und  die  Bestrafung  des  Bösen,  als  vielmehr 
auf  das  Gelingen  des  Guten  und  das  Mißlingen  des  Bösen,  also  überhaupt  nicht 
eigentlich  auf  das  Schicksal  von  Personen,  sondern  auf  das  Schicksal  der  sittlichen 
Idee  und  ihres  Widerspiels  gerechnet  ist  —  dieser  wichtige,  in  Anbetracht  seiner 
Bedeutung  mit  einer  geradezu  auffallenden  Geräuschlosigkeit  erfolgende  Übergang 
ist  zweifellos  eines  der  Motive  gewesen,  die  Fichte  auf  Forbergs  Seite  geführt 
haben . 


40 


Heinrich  Scholz: 


mit  einem  guten  um  die  Herrschaft  der  Welt  streite.  .  .  .  Wer  die 
Gottheit  außer  sich,  im  Lauf  der  Dinge  sucht,  der  wird  sie  niemals 
finden.  ,, Werke  des  Teufels"  werden  ihm  auf  allen  Seiten  begegnen; 
aber  nur  selten,  und  immer  schüchtern  und  zweifelnd,  wird  er  sagen 
können:  „Hier  ist  Gottes  Finger!"^) 

Aber  auch  auf  die  Spekulation  kann  die  Religion  sich  nicht 
stützen.  Eine  scharfe  und  ungemein  anschauliche  Kritik  des 
ontologischen  und  des  kosmologischen  Argumentes  leitet  die  Dis- 
kussion dieses  Punktes  ein.  Den  Höhepunkt  aber  erreicht  diese 
Kritik  in  der  Zersetzung  des  teleologischen  Argumentes,  das  Kant 
bekanntlich  noch  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  mit  einer  gewissen 
Wärme  vorgetragen  hat.  Hier  ist  von  Wärme  nichts  mehr  zu 
spüren;  eine  eigentümliche  Kälte  ist  an  ihre  Stelle  getreten,  deren 
ironische  Schärfe  an  Hume  und  Schopenhauer  erinnert. 

Ordnung,  sagen  noch  andere,  ist  ohne  einen  ordnenden  Geist 
nicht  möglich.  —  Und  warum  nicht.?  Darum  nicht,  weil  wir  kein 
anderes  Prinzip  der  Ordnung  kennen,  außer  den  Verstand  ?  Aber 
seit  wann  ist  die  Grenze  unserer  Kenntnis  die  Grenze  des  Mög- 
lichen geworden.?  Und  wo  findet  sich  denn  in  der  Welt  die  Ord- 
nung so  unverkennbar,  daß  sich  auf  das  Dasein  einer  Gottheit  mit 
Sicherheit  schließen  ließe?  Im  Physischen.?  Aber  ein  geschickter 
Baumeister  ist  noch  bei  weitem  kein  Weltregent,  ein  großer  Künstler 
noch  lange  kein  Gott!  Im  Moralischen?  Aber  würde  eine  Lobrede 
auf  die  moralische  Ordnung  einer  Welt,  „die  im  Argen  liegt",  nicht 
eher  wie  eine  Satire  auf  die  Gottheit,  als  wie  eine  Demonstration 
ihres  Daseins  lauten?  Könnte  es  in  der  Welt  wohl  schlimmer  aus- 
sehen .  .  .,  wenn  ein  böses,  wenn  ein  feindseliges,  wenn  ein  übel- 
wollendes Wesen  die  Herrschaft  der  Welt  führte,  oder  sich  wenigstens 
darein  mit  einem  guten  Genius  teilte?  Würde  eine  Verteidigung 
des  Satans  wegen  Zulassung  des  Guten  wohl  weniger  gründlich  aus- 
fallen, als  die  Verteidigungen  der  Gottheit  wegen  Zulassung  des  Bösen 
bisher  ausgefallen  sind  ?  Und  wäre  der  Schluß  von  dem  Dasein  einer 
lasterhaften  Welt  auf  das  Dasein  eines  heiligen  Gottes  nicht  zum 
mindesten  sehr  ungewöhnlich,  sehr  unnatürlich  ?2) 


')  Atheismusschriften,  Ausgabe  Medicus,  S.  20.  —  Ich  gebe  hier  und  im 
Folgenden  absichtlich  wörtliche  Auszüge  in  größerem  Umfange,  erstens  weil  For- 
bergs Aufsatz  verhältnismäßig  noch  immer  wenig  bekannt  ist,  zweitens  —  und 
das  ist  der  entscheidende  Grund  —  weil  die  Kenntnis  des  Ethos  dieser  Abhandlung 
auch  für  die  Beurteilung  ihres  logischen  Gehaltes  sehr  wichtig  ist. 

*)  a.  a.  0.  S.  21  f.  —  Auch  diese  Kritik  hat  Fichte  in  seinem  Begleitaufsatz 
„über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine  göttliche  Weltregierung"  adoptiert  und 
in  den  schärfsten  Ausdrücken  wiederholt.  ,,Eine  Erklärung  der  Welt  und  ihrer 
Formen  aus  Zwecken  einer  Intelligenz  ist,  inwiefern  nur  wirklich  die  Welt  und  ihre 
Formen  erklärt  werden  sollen      .  .,  totaler  Unsinn."  (Atheismusschriften,  S.  6). 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  4I 

So  bleibt  als  die  einzige  Quelle  der  Religion  nur  noch  die 
sittliche  Gesinnung  übrig.  Unter  sittlicher  Gesinnung  ist  eine 
solche  zu  verstehen,  die  an  der  Hegemonie  des  Guten  interessiert 
ist.  Dieses  Interesse  drückt  sich  zunächst  in  der  Form  eines  herz- 
haften Wunsches  aus.  Es  ist  der  ,, Wunsch  des  guten  Herzens, 
daß  das  Gute  in  der  Welt  die  Oberhand  über  das  Böse  erhalten 
möge".  Aus  diesem  Wunsche  —  und  ,, einzig  und  allein"  aus 
ihm  —  entsteht  nach  Forberg  die  Religion.^) 


^)  a.  a.  0.  S.  22.  —  Bei  Fichte  entsteht  sie  vielmehr  aus  der  Überzeugung, 
daß  das  Gute  die  Oberhand  behalten  müsse.  ..Der  entscheidende  Punkt  ...  ist 
der,  daß  jener  Glaube  .  .  .  nicht  etwa  vorgestellt  werde  als  eine  willkürliche 
Annahme,  die  der  Mensch  machen  könne  oder  auch  nicht,  nachdem  es  ihm  be- 
liebe, als  ein  freier  Entschluß,  für  wahr  zu  halten,  was  das  Herz  wünscht, 
weil  es  dasselbe  wünscht  als  eine  Ergänzung  oder  Ersetzung  der  unzureichenden 
Überzeugungsgründe  durch  die  Hoffnung.  Was  in  der  Vernunft  gegründet 
ist,  ist  schlechthin  notwendig;  und  was  nicht  notwendig  ist,  ist  ebendarum 
vernunftwidrig"  (S.  5).  ,,Es  ist  hier  nicht  ein  Wunsch,  eine  Hoffnung  .  ,  .,  ein 
freier  Entschluß,  etwas  anzunehmen,  dessen  Gegenteil  man  wohl  auch  für  möglich 
hält.  Jene  Annahme  ist  unter  Voraussetzung  des  Entschlusses,  dem  Gesetze  in 
seinem  Innern  zu  gehorchen,  schlechthin  notwendig;  sie  ist  unmittelbar  in 
diesem  Entschlüsse  enthalten,  sie  selbst  ist  dieser  Entschluß"  (a.  a.  O.  S.  9).  Diese 
Differenz  in  Bezug  auf  den  positiven  Ausgangspunkt  bezeichnet  die  grundlegende 
Abweichung  Fichtes  von  Forberg,  aus  der  sich  alle  weiteren  Differenzen  als 
Folgerungen  ergeben.  Sie  beantwortet  auch  die  von  der  bisherigen  Forschung 
noch  kaum  mit  der  erreichbaren  Klarheit  beantwortete  Frage,  inwiefern  der  For- 
bergsche  Aufsatz  der  Fi  cht  eschen  Überzeugung  ,,  nicht  sowohl  entgegen  ist,  als 
nur  dieselbe  nicht  erreicht"  (S.  4).  Er  erreicht  sie  nicht,  insofern  er  mit  einem 
,, Wunsch"  und  einem  ,, Mögen"  beginnt,  wo  nach  Fichte  mit  einer  Überzeugung 
und  einem  Müssen  begonnen  werden  muß.  Der  idealistische  Optativ  ist  durch  einen 
kategorischen  Indikativ  zu  ersetzen  „Nicht  entgegen",  ja,  „in  vielen  Rücksichten 
mit  Fichtes  eigenen  Überzeugungen  übereinstimmend"  (S.  3)  aber  ist  der  For- 
bergsche  Aufsatz  insofern,  als  er  (i)  jede  theoretische  Religionskonstruktion  ab- 
lehnt, (2)  die  Religion  zum  Vorrecht  und  ausschließlichen  Eigentum  des  ,, guten 
Herzens"  macht.  ,,In  einem  bösen  Herzen  ist  kein  Wunsch  der  Art  vorhanden" 
(S.  22).  —  Beides  ist  Fichte  aus  der  Seele  gesprochen. 

Als  ein  drittes  gemeinsames  Motiv  könnte  man  die  Ablehnung  der  Kantischen 
„Schlußform"  (Religion  das  Ergebnis  eines  Schlusses  von  den  Bedingungen  des 
sittlichen  Idealzustandes  auf  den  göttlichen  Vollstrecker  desselben)  ansehen,  wenn 
diese  Ablehnung  bei  Fichte  nicht  einen  ganz  anderen  Sinn  als  bei  Forberg  hätte. 
Nach  Fichte  sind  sittliches  Handeln  und  Glaube  an  Gott  (bzw.  an  eine  subsistierende, 
nicht  etwa  bloß  imaginierte  moralische  Weltordnung)  nicht  zwei  verschiedene  (durch 
eine  Art  von  Syllogismus  verbundene)  Funktionen,  sondern  ,,ein  und  derselbe  un- 
teilbare Akt  des  Gemüts"  (S.  9).  Oder,  wie  es  in  der  ,, Appellation  an  das  Publikum" 
heißt:  „Moralität  ohne  Religion  mag  wohl  ein  äußerer  ehrbarer  Lebenswandel  sein.  .  .  . 
Aber  sobald  man  sich  zum  Wollen  der  Pflicht  .  .  .  erhebt  .  .  .,  also  durch  seine  Denk- 


A2  Heinrich  Scholz: 

Und  zwar  so,  daß  dieser  Wunsch  sich  zum  Glauben  steigert. 
Zum  Glauben,  daß  derselbe  kein  leerer  Wahn  —  oder,  wie  For- 
berg selbst  sich  ausdrückt,  nicht  ,,eine  bloße  und  leere  Schimäre"^)  — 
sondern  eine  durch  die  sittliche  Weltordnung  selbst  verbürgte  Hoff- 
nung ist.  Mit  einer  Wärme,  die  an  Fichte  erinnert  und  eines 
Fichte  würdig  wäre,  tritt  Forberg  für  diesen  Glauben  ein. 

Glaube,  daß  nichts  Gutes,  was  du  tust,  oder  auch  nur  entwirfst, 
sei  es  auch  noch  so  klein  und  unmerklich  und  unscheinbar,  verloren 
gehe  in  dem  regellosen  Laufe  der  Dinge!  Glaube,  daß  dem  Laufe 
der  Dinge  ein,  dir  freilich  unübersehbarer,  Plan  zum  Grunde  liegt, 
in  dem  auf  das  endliche  Gelingen  des  Guten  gerechnet  ist!  Glaube, 
daß  das  Reich  Gottes,  das  Reich  der  Wahrheit  und  des  Rechts, 
kommen  wird  auf  die  Erde,  und  trachte  du  nur  danach,  daß  es 
komme!  Glaube,  daß  eben  auf  das  Trachten  von  dir  einzelnem  alles 
berechnet  ist,  und  daß  ein  erhabener  Genius  über  das  Schicksal  waltet, 
der  alles,  was  du  beginnst,  vollendet,  vielleicht  erst  nach  Jahrhunderten 
vollendet!  Glaube,  daß  auf  jeden  Schritt,  den  du  um  der  guten  Sache 
willen  tust,  scheint  er  dir  auch  noch  so  verloren,  im  Plane  der  Gott- 
heit von  Ewigkeit  gerechnet  ist,  daß  du  jeden  deiner  Tage  für  die 
Ewigkeit  lebst,  und  daß  es  bloß  von  dir  abhängt,  jeden  Tag  für  das 
Beste  der  Welt  auf  ewig  zu  gewinnen,  oder  auf  ewig  zu  verlieren! 
Es  ist  wahr,  du  kannst  von  dem  allen  nicht  szientifisch  beweisen, 
daß  es  so  sein  müsse;  aber  genug,  dein  Herz  sagt  dir,  du  sollst  so 
handeln,  als  ob  es  so  wäre,  und  wenn  du  so  handelst,  so  zeigst  du 
eben  dadurch,  daß  du  Religion  hast. 2) 

Religion  ist  demnach  ,, nichts  anderes,  als  Glaube  an  das 
Gelingen  der  guten  Sache,  so  wie  Irreligion  dagegen  nichts 
anderes  ist,  als  Verzweiflung  an  der  guten  Sache".  ^) 

In  dieser  Bestimmung  ist  zwar  von  Gott  nicht  die  Rede.  In- 
dessen,  als  Urheber  und  Vollstrecker  der  Weltordnung,   ohne  die 


art  sich  selbst  in  eine  andere  Welt  versetzt,  drängt  sich  uns  sogleich  unwiderstehlich 
der  Geist  und  die  Gewißheit  dieser  anderen  Welt  auf"  (a.  a.  0.  S.  51).  —  Für  Fichte 
bedeutet  also  der  Verzicht  auf  die  Schlußform  eine  Steigerung  des  religiösen  Rea- 
lismus (bzw.  Objektivismus).  Für  Forberg  dagegen  bedeutet  er  die  Aufrichtung 
des  absoluten  religiösen  ,, Idealismus"  (bzw.  Illusionismus).  Über  Kant  hinaus 
wollen  sie  beide;  aber  der  von  Fichte  beabsichtigten  Verstärkung  des  spezifisch 
religiösen  Bewußtseins  steht  bei  Forberg  eine  ebenso  dezidierte  Abschwächung 
dieses  Bewußtseins  gegenüber.  Unter  einem  spezifisch  religiösen  Bewußtsein  ver- 
stehen wir  im  Anschluß  an  den  natürlichen  Sprachgebrauch  die  Überzeugung  vom 
Dasein  und  objektiven  Bestände  des  Göttlichen. 

')  a.  a.  0.  S.  25  Mitte. 

*)  a.  a.  O.  S.  26f. 

»)  a.  a.  O.  S.  28  oben. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  a\ 

ein  solcher  Glaube  unmöglich  erscheint,  steht  er  wenigstens  im 
Hintergrunde  dieser  Religionskonstruktion.  ,,Es  gibt  eine  mora- 
lische Weltregierung,  und  eine  Gottheit,  die  die  Welt  nach 
moralischen  Gesetzen  regiert;  —  wer  dies  glaubt,  der  hat 
Religion."^) 

Enthielte  der  Forbergsche  Aufsatz  nichts  weiter  als  die  an- 
geführten Sätze,  so  käme  er  für  die  eigentliche  Religionsphilosophie 
des  Als-ob  überhaupt  nicht  in  Betracht;  er  würde  vielmehr  nur 
als  ein  beredter  Ausdruck  der  ,, kritischen",  also  ,, uneigentlichen" 
Form  dieser  Religionsphilosophie  zu  gelten  haben.  Die  Worte: 
,,Du  sollst  handeln,  als  ob  es  so  wäre",  könnten  dann  nur  so  inter- 
pretiert werden:  ,,Du  sollst  handeln,  als  ob  du  wüßtest,  daß  es 
so  wäre,  während  du  davon  in  Wirklichkeit  nur  als  moralisches 
Subjekt  überzeugt  bist." 

Dem  widerspricht  auch  nicht  die  Bemerkung,  daß  der  religiöse 
Mensch  es,  ,,wenn  er  spekuliert,  dahingestellt  sein  lassen  könne", 
ob  es  ein  höchstes  Wesen  gibt  oder  nicht. ^i     Denn  die  Spekulation, 


^)  a.  a.  0.  S.  20  oben.  —  Man  kann  also  den  Ausdruck  „Gottesreich"  in 
diesem  Zusammenhange  wenigstens  nicht  ohne  weiteres  als  Metapher  verstehen.  — 
Durch  die  Abhebung  der  Gottesidee  von  der  moralischen  Weltordnung  geht  For- 
berg  sogar  über  Fichte  ., hinaus".  Fichte  hat  in  seinem  berühmten  Begleit- 
aufsatz aus  erkenntnistheoretischen  Gründen  die  volle  Identifizierung  dieser  beiden 
Ideen  gefordert  und  dadurch  den  Atheismusstreit  heraufbeschworen.  Denn  nicht 
die  Kritik  des  spekulativen  Eudämonismus,  wie  Fichte  in  der  ..Appellation  an 
das  Publikum"  annimmt,  sondern  die  pantheistische  Interpretation  der  moralischen 
Weltordnung  ist  als  das  eigentliche  Moment  des  Anstoßes  an  seinem  Aufsatz  emp- 
funden worden;  und  Vaihinger  hat  vollkommen  recht,  wenn  er  (S.  752  Anm.  i) 
den  entfesselten  Streit  als  einen  Pantheismusstreit  beaeichnet.  Ein  solcher  ist 
auch  der  1811/1812  zwischen  Jacobi  und  Schelling  ausgefochtene  religions- 
philosophische Konflikt,  der  ebenfalls,  auf  Grund  einer  damals  noch  verzeihlichen 
Gleichsetzung  von  Pantheismus  und  Atheismus,  dem  Namen  nach  als  Atheismus- 
streit bekannt  ist. 

2)  a.  a.  0.  S.  27  zweiter  Abschnitt,  Mitte.  —  Vgl.  die  erste  der  dem  thetischen 
Teil  des  Aufsatzes  angehängten  „verfänglichen"  Fragen:  Ist  ein  Gott?  Antwort: 
Es  ist  und  bleibt  ungewiß  (a.  a.  0.  S.  29).  —  Gegen  diesen  vom  Standpunkt  des 
Kritizismus  aus  vollkommen  gerechtfertigten  theoretischen  Agnostizismus  hat 
Fichte  in  seinem  Begleitaufsatz  lebhaft  protestiert,  nicht  etwa,  weil  er  ihn  nicht 
geteilt  hätte,  sondern  weil  er  mit  einem  feinen  Gefühl  für  die  Logik  der  Sache  die 
einseitige  Hervorhebung  dieses  negativen  Momentes  an  dieser  Stelle  und  in  diesem 
Zusammenhang  als  eine  Art  von  Irreführung  empfand.  Für  den  auf  sittlicher 
Basis  urteilenden  Menschen  ist,  trotz  des  theoretischen  Agnostizismus,  der  völlig 
unangetastet  bleibt,  die  Realität  des  Göttlichen  nach  Fichte  ..gar  nicht  zweifel- 
haft, sondern  das  Gewisseste,  was  es  gibt"  (a.  a.  0.  S.  13  unten).     Mit  Recht;  denn 


AA  Heinrich  Scholz: 

auf  die  hier  gezielt  wird,  ist  die  des  intellektuellen  Subjektes; 
und  daß  diese  die  Religion  nicht  zu  tragen  vermöge,  hat  sich  bereits 
aus  der  Kritik  der  rationalen  Gottesbeweise  ergeben. 

Indessen,  zwei  Sätze  stehen  dieser  ,, realistischen"  Auslegung 
der  Forbergschen  Religionskonstruktion  schon  innerhalb  des  auf- 
bauenden Teiles  seines  Aufsatzes  entgegen.  Der  erste  dieser  beiden 
Sätze  bezieht  sich  zwar  unmittelbar  nur  auf  das  zur  Verdeutlichung 
der  religiösen  Position  herangezogene  Reich  der  Wahrheit,  wie  es 
dem  Forscher  als  letzter  Ertrag  aller  Forschung  vorschwebt;  doch 
verdient  schon  diese  Analogie  wegen  ihrer  Beziehung  zum  Gottes- 
reich unsere  besondere  Aufmerksamkeit.  Jenes  Reich  der  Wahr- 
heit wird  als  der  ,, Endzweck  aller  denkenden  Menschen"  beschrieben, 
und  zwar  so,  daß  der  Glaube  an  dieses  Reich  mit  dem  Trachten 
nach  seinem  Kommen  zusammenfällt.  ,, Trachte  du  nur  nach 
dem  Reich  der  Wahrheit,  so  wird  dir  das  übrige,  nämlich  der 
Erfolg,  schon  von  selbst  zu  allen.  "^)  Und  nun  stoßen  wir  auf 
die  überraschenden  Worte : 

Das  Reich  der  Wahrheit  ist  indessen  ein  Ideal.  Denn  es  ist 
bei  der  unendlichen  Verschiedenheit  der  Fähigkeiten,  in  der  sich  die 
Natur    so    sehr    gefallen    zu    haben    scheint,    niemals    zu    erwarten, 


■wenn  diese  Realität  die  objektive  Mitbedingung  des  durch  die  praktische  Vernunft 
geforderten  sittlichen  Endzweckes  ist,  dieser  aber  nicht  imaginär  werden  kann, 
ohne  das  sittliche  Streben  selbst  in  den  Abgrund  des  Imaginären  zu  stoßen,  so 
kann  die  Realität  des  Göttlichen  dem  sittlich  strebenden  Menschen  nicht  weniger 
gewiß  sein,  als  die  verpflichtende  Kraft  des  kategorischen  Imperativs. 

^)  a.  a.  0.  S.  23.  —  Ich  kann  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  daß  For- 
berg schon  an  dieser  Stelle  anfängt,  undeutlich  zu  werden.  Der  hier  in  Anspruch 
genommene  „Erfolg"  kann  nach  dem  Zusammenhang  eigentlich  nur  in  der  durch 
das  Zusammenwirken  der  forschenden  Subjekte  bewirkten  Entstehung  eines  ob- 
jektiven Reiches  der  Wahrheit  erblickt  werden.  Der  Sinn  wäre  dann  dieser,  daß 
man  die  Gewißheit  von  der  Existenz  jenes  Reiches  nicht  durch  grübelnde  Speku- 
lation, sondern  durch  tätige  Mitarbeit  an  seinem  Aufbau  erwirbt.  Es  würde  sich 
also  um  eine  Art  von  erkenntnistheoretischer  Bedingung  für  die  „Einsicht"  in  den 
objektiven  Bestand  dieses  Reiches  handeln.  Etwa  so,  daß  eine  Erklärung  wie  diese 
herauskäme:  Nicht  durch  Spekulation,  sondern  durch  lebendige  persönliche  Teil- 
nahme an  der  Forschung  erwirbt  man  sich  die  Überzeugung,  daß  es  ein  Reich  der 
Wahrheit  gibt,  welches  auch  jenseits  der  forschenden  Subjekte  besteht.  —  Allein 
der  Forbergsche  Satz  kann  auch  als  eine  Ablenkung  des  Interesses  an  dem  objek- 
tiven Bestände  dieses  Reiches  verstanden  werden  —  „Kümmere  dich  überhaupt 
nicht  um  diesen  objektiven  Bestand,  sondern  halte  nur  den  subjektiven  Wahrheits- 
und Forschungsdrang  immerfort  in  dir  lebendig!"  —  und  in  Hinsicht  auf  die  fol- 
genden  Sätze  muß  er  sogar  so  verstanden  werden. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  ac 

daß  je  ein  Einverständnis  aller  Menschen  in  allen  Urteilen  statt- 
finden werde.  Das  Reich  der  Wahrheit  wird  also  zuver- 
lässig niemals  kommen,  und  der  Endzweck  der  Republik 
der  Gelehrten  wird  allem  Ansehen  nach  in  Ewigkeit  nicht 
erreicht  werden.^)  Gleichwohl  wird  das  in  der  Brust  jedes  denkenden 
Menschen  unvertilgbare  Interesse  für  Wahrheit  in  Ewgkeit  fordern, 
dem  Irrtum  aus  allen  Kräften  entgegenzuarbeiten  und  Wahrheit  von 
allen  Seiten  zu  verbreiten,  das  heißt,  geradeso  zu  verfahren,  als  ob 
der  Irrtum  einmal  gänzlich  aussterben  könnte  und  die  Alleinherrschaft 
der  Wahrheit  zu  erwarten  wäre.  Und  eben  dies  ist  der  Charakter 
einer  Natur,  die,  wie  die  menschliche,  bestimmt  ist,  ins  Unendliche 
sich  Idealen  zu  nähern. 2) 

Überträgt  man  diese  Sätze  auf  das  ,, Gottesreich",  so  ergibt 
sich  als  Formel  der  Religion  der  merkwürdige  Imperativ:  Handle 
so,  als  ob  du  an  das  Kommen  des  Gottesreiches  glaubtest,  wie- 
wohl es  niemals  kommen  wird  —  auch  nicht  in  einer  transzendenten 
Ordnung  der  Dinge;  denn  von  einer  solchen  wissen  wir  nichts, 
und  die  Ausmalung  einer  solchen  Ordnung  ist  eine  ,, müßige  Speku- 
lation".^) Nun  hat  freilich  Forberg  innerhalb  des  thetischen  Teils 
seines  Aufsatzes  einen  solchen  Imperativ  nicht  aufgestellt,  so  wenig 
wie  er  die  Bemerkungen  über  den  imaginären  Charakter  des  Reiches 
der  Wahrheit  ausdrücklich  auf  das  Gottesreich  übertragen  hat; 
aber  dem  aufmerksamen  Leser  drängt  diese  Beziehung  und  jener 
Imperativ  sich  so  unwiderstehlich  auf,  daß  ein  ganz  neues  Religions- 
bild  entsteht  —  nämlich  das  Bild  einer  Religion  des  Als-ob  im 
eigentlichsten  und  paradoxesten  Sinne  des  Wortes.^) 

Eine  Verschärfung  erleidet  dieses  Bild  durch  den  zweiten  aus 
dem  ,, Realismus"  herausführenden  Satz:  ,, Religion  ist  nichts  anderes 


^)  Vielleicht  doch  —  am  Ende  aller  Geschichte!  Wie,  wenn  das  „Ideal"  des 
Reiches  der  Wahrheit  als  eine  transzendente  Realität  zu  denken  wäre  ?  Aber  diesen 
Gedanken  hat  Forberg,  soweit  ich  sehe,  nirgend  auch  nur  flüchtig  gestreift  — 
wiewohl  nicht  einzusehen  ist,  was  unter  Voraussetzung  des  Kritizismus  gegen  einen 
solchen  Gedanken  einzuwenden  wäre. 

2)  a.  a.  0.  S.  23f. 

»)  a.  a.  0.  S.  28  oben. 

*)  Ausdrücklich  hervorgehoben  hat  Forberg  den  imaginären  Charakter  seines 
„Gottesreiches"  in  der  „Apologie  seines  angeblichen  Atheismus"  1799,  S.  163,  wo 
er  zusammenfassend  sagt:  „Nicht  das  Glauben,  daß  ein  Reich  Gottes  komme, 
ist  Religion,  sondern  das  Trachten  danach,  daß  es  komme,  selbst  wenn  man  glaubt, 
daß  es  niemals  kommen  werde,  ist  einzig  und  allein  Religion." 


46 


Heinrich  Scholz: 


als  ein  praktischer  Glaube. "i)  Das  könnte  zwar  heißen:  Re- 
ligion ist  ein  praktisch,  also  sitthch  fundierter  Glaube  an  das 
Dasein  Gottes;  aber  schon  das  nachdrückliche  ,, nichts  anderes 
als"  weist  in  eine  andere  Richtung.  Diese  wird  zwar  in  dem  Auf- 
satz selbst  nicht  so  sichtbar,  wie  es  zu  wünschen  wäre;  aber  sie 
wird  immerhin  angedeutet.  Forberg  nennt  diesen  Glauben 
,, praktisch",  weil  er  IcdigUch  als  die  ,, Maxime"  gewisser  Hand- 
lungen gedacht  ist.-)  Er  ist  also  nicht  eine  auf  sittlicher  Ge- 
sinnung aufruhende  und  von  dieser  verschiedene  Überzeugung  vom 
Dasein  Gottes,  sondern  ein  an  diesem  ganz  uninteressiertes,  erst 
nachträglich  in  die  religiöse  Ideenwelt  hineinprojiziertes  rein  sitt- 
liches Verhalten.  Forbergs  ,, Religion"  ist  eine  Rchgion  ohne 
Gott;  man  kann  Atheist  sein,  ohne  gegen  sie  zu  verstoßen. 

In    einer    der    ,, verfänglichen    Fragen",    mit    denen    Forberg 
seinen  Aufsatz  beschlossen  hat,  wird  das  ausdrücklich  festgestellt. 

Kann  ein  Atheist  Religion  haben.?  Antwort:  Allerdings.  (Von 
einem  tugendhaften  Atheisten  kann  man  sagen,  daß  er  denselben 
Gott  im  Herzen  erkennt,  den  er  mit  dem  Munde  verleugnet.  Prak- 
tischer Glaube  und  theoretischer  Unglaube  auf  der  einen,  so  wie  auf 
der  anderen  Seite  theoretischer  Glaube,  der  aber  dann  Aberglaube 
ist,  und  praktischer  Unglaube  können  ganz  wohl  beisammen  bestehen.)^) 

Ist  das  überhaupt  noch  ,,Rehgion"   und   ,, Glaube"  in  einem 
ernst  zu  nehmenden  Sinne  des  Wortes?     Forberg  erwidert: 

Die  Antwort  auf  diese  verfängliche  Frage  überläßt  man  billig 
dem  geneigten  Leser  selbst,  und  damit  zugleich  auch  das  Urteil,  ob 
der  Verfasser  des  gegenwärtigen  Aufsatzes  am  Ende  auch  wohl  mit 
ihm  nur  habe  spielen  wollen!*) 


*)  Die  Eingangsworte  des  ganzen  Aufsatzes.  > 

-)  a.  a.  0.  S.  28  oben. 

')  a.  a.  0.  S.  30  unten. 

*)  Eine  berichtigende  Erklärung  dieser  allerdings  sehr  ,, verfänglichen"  Antwort 
hat  Forberg  selbst  am  Schluß  der  „Apologie  seines  angeblichen  Atheismus"  (1799) 
geliefert.  Sie  lautet:  „Der  Verfasser  war  weit  entfernt,  zu  behaupten,  es  sei  mit 
dem  Begriff  eines  praktischen  Glaubens  bisher  überhaupt  niemandem  Ernst,  und 
dieser  Begriff  wirklich  nur  eine  Maske  des  Atheismus  gewesen.  Er  wollte  nicht 
beschuldigen,  sondern  vielmehr  entschuldigen.  Es  sollte  eine  sanftere  Wendung 
philosophischer  Polemik  sein.  Eigentlich  wollte  er  sagen,  der  Begriff  eines  prak- 
tischen Glaubens,  nach  der  gewöhnlichen,  noch  immer  viel  zu  theoretischen  Dar- 


Die  Keligionsphiloisophie  des  Als-ob.  47 

Zur  Aufklärung  dieses  seltsamen  Ergebnisses  bedarf  es  vor 
allem  einer  genauen  Verdeutlichung  dessen,  was  Forberg  unter 
einem  „praktischen  Glauben"  versteht.  Sagt  er  doch  selbst  in  der 
, .Apologie  seines  angebhchen  Atheismus"  (S.  196):  ,,Es  war  die 
Tendenz  der  ganzen  Abhandlung,  eine  neue  und  Mißverständnissen 


Stellung,  sei  ein  höchst  unphilosophischer  Begriff  und  ein  gefährlicher  Irrtum,  und 
eine  Hintertür,  um  jeden  Unsinn,  den  die  theoretische  Philosophie  mit  Mühe  los- 
geworden, durch  die  praktische  wieder  hereinzulassen;  und  es  sei  zur  Ehre  der 
Pfleger  jenes  Begriffs  zu  hoffen,  daß  es  ihnen  nicht  überhaupt  völliger  Ernst  ge- 
wesen." (S.  175  f-) 

Wenn  Forberg  das  hat  sagen  wollen,  so  hat  er  sich  zum  mindesten  sehr  un- 
geschickt ausgedrückt.  Er  will,  wenn  wir  seiner  ,. Erklärung"  folgen,  den  das 
Dasein  Gottes  umfassenden  Glauben  treffen,  spricht  aber  im  Text  mit  keiner  Silbe 
von  diesem,  sondern  ausschließlich  von  seinem  eigenen,  das  Dasein  Gottes  auf- 
hebenden Glauben.  Das  ist  ein  flagranter  Widerspruch,  den  keine  nachträgliche 
Erklärung  zudecken  kann,  zumal  wenn  sie  so  umständlich  und  gewunden  heraus- 
kommt, wie  im  vorliegenden  Falle. 

Forberg  versteht  es  im  allgemeinen  sehr  gut,  seinen  Gedanken  die  Farbe 
zu  geben,  die  er  für  seine  Zwecke  braucht.  Wenn  er  in  diesem  Falle  genötigt  ist, 
eine  Erklärung  abzugeben,  die  den  Text  geradezu  aufhebt,  so  liegt  die  Vermutung 
nahe,  daß  es  ihm  mit  dieser  Erklärung  selbst  nicht  Ernst  gewesen  ist. 

Diese  Vermutung  wird  durch  ein  späteres  offenherziges  Bekenntnis  For- 
bergs zum  ,, Atheismus"  bestätigt.  Forberg  war  von  Haus  aus  eine  nüchterne, 
rationale  Natur  und  hatte,  wie  wir  aus  dem  ..Lebenslauf  eines  Verschollenen" 
(s.  oben  S.  ßSf.  Anm.  2)  erfahren,  schon  in  seinem  zwölften  Jahre  mit  dem  Offen- 
barungsglauben gebrochen.  Eichhorns  ,, Einleitung  in  das  Alte  Testament",  die 
sein  Vater  ihm  1782  kaufte,  machte  Epoche  in  seinem  Leben.  ,.Ich  verschlang", 
so  erzählt  er  (S.  i6f.),  ..dieses  Buch,  worin  mir  alles  neu  war  und  unzählige  Dinge 
zur  Sprache  kamen,  die  mich  aufs  höchste  interessierten  und  meinem  philologischen 
und  kritischen  Sinn  ein  unermeßliches  Feld  eröffneten.  Zudem  war  darin  nie  von 
der  Bibel  als  von  einer  Offenbarung  die  Rede,  wodurch  mir  ein  schwerer  Stein  vom 
Herzen  fiel.  Denn  daß  Wunder,  Weissagungen,  Offenbarungen  immer  um  so  mehr 
Glauben  finden,  je  finsterer  die  Zeiten,  und  um  so  weniger,  je  heller  diese  werden, 
war  mir  schon  lange  bedenklich  gewesen.  Manche  Wundergeschichten,  wie  die 
als  Mauern  stehenden  Fluten  des  Roten  Meeres  und  des  Jordans  bei  dem  Durch- 
gang der  Israeliten,  Josuas  Befehl  an  die  Sonne,  stillzustehen,  Bileams  redende 
Eselin,  des  Teufels  Gespräch  mit  Jesus  und  dessen  Zank  mit  dem  Erzengel  Michael 
über  den  Leichnam  Mosis,  vermochte  ich  auf  keine  Weise  zu  verdauen.  Verwarf 
ich  aber  eine,  so  war  der  Kredit  aller,  mithin  auch  der  Bibel  als  göttliche  Offenbarung 
dahin." 

Diesem  frühzeitigen  Bruch  mit  der  Offenbarungsreligion  folgte  später  der 
Bruch  mit  der  Religion  überhaupt.  Forberg  ist  für  seine  Person  gewiß  schon  zur 
Zeit  des  Atheismusstreites  wirklicher  ..Atheist"  gewesen,  wenn  anders  die  Über- 
zeugung vom  Dasein  Gottes  in  irgendeinem  realen  Sinne  zum  Wesen  der  Re- 
ligion gehört.    Wir  haben  aus  späterer  Zeit  ein  briefliches  Bekenntnis  an  seinen 


^8  Heinrich  Scholz: 

weniger  unterworfene  und  wahrhaft  praktische  Ansicht  jenes  Glau- 
bens in  Vorschlag  zu  bringen  und  dadurch  den  Kantischen,  bei 
weitem  nicht  immer  gehörig  gefaßten  Begriff  in  sein  gehöriges 
Licht  zu  stellen."  Den  Begriff  eines  solchen  Glaubens  hat  For- 
berg  nun  bereits  zwei  Jahre  vor  der  Veröffentlichung  seines  Auf- 
satzes über  den  Begriff  der  Religion  in  einer  Arbeit  über  die  Per- 
fektibilität   der   Menschengattung  aufgestellt   und   verhältnismäßig 


alten  Jenaer  Freund,  den  nachmaligen  Heidelberger  Theologen  Paulus,  in  welchem 
es  heißt:  ..Die  Welt  hat  seit  meinen  atheistischen  Händeln  nichts  mehr  von  mir 
vernommen  und  dabei  wohl  auch  nichts  verloren.  .  .  .  Des  Glaubens  habe  ich  in 
keiner  Lage  meines  Lebens  bedurft,  und  gedenke,  in  meinem  entschiedenen  Un- 
glauben zu  verharren  bis  ans  Ende,  was  für  mich  ein  totales  Ende  ist."  (Brief  vom 
20.  Juli  1821,  abgedruckt  bei  v.  Reichlin-Meldegg,  Heinrich  Ebarhard  Gottlob 
Paulus  und  seine  Zeit,  H,   1853,  S.  268  f.) 

Mit  Fichte  kam  Forberg,  der  als  dezidierter  Reinholdianer  begonnen  hatte 
(vgl.  Wesselsky,  Forberg  und  Kant,  S.  23f.),  1794  gleich  nach  dessen  Ankunft 
in  Jena  in  nahe  und  freundschaftliche  Beziehungen,  da  er  vorübergehend  Teil- 
haber des  Gablerschen  Verlages  war,  in  welchem  der  erste  Entwurf  der  ,, Wissen- 
schaftslehre" erschien.  Auch  war  er  seit  1791  Privatdozent  der  Philosophie  in 
Jena,  und  las,  als  Fichte  kam,  vor  einem  ., nicht  unansehnlichen  Auditorium". 
1796  wurde  er  durch  Fichtes  Übergewicht  zur  Aufgabe  dieses  unbesoldeten  Postens 
genötigt  —  ein  Schlag,  den  er  so  vorbildlich  getragen  hat,  wie  das  Schicksal  des 
völligen  Vergessenwerdens  in  dem  berühmten  Atheismusstreit.  Er  macht  über- 
haupt in  seiner  Selbstbiographie  den  Eindruck  eines  vornehmen  Menschen,  der 
genau  über  die  Grenzen  seines  Könnens  Bescheid  weiß  und  frei  ist  von  aller  Eitel- 
keit und  aller  persönlichen  Empfindlichkeit. 

Es  mag  sein,  daß  der  Hang  zum  Skeptizismus  durch  den  Atheismushandel, 
aus  dem  er  übrigens,  im  Gegensatz  zu  Fichte,  ohne  ,. Maßregelung"  hervorging, 
noch  verschärft  worden  ist.  Jedenfalls  hat  Forberg  sich  später  auch  literarisch 
als  perfekten  Skeptiker  zu  erkennen  gegeben.  Dies  ist  geschehen  bei  der  Heraus- 
gabe eines  der  ausschweifendsten  und  zügellosesten  Humanistenbücher,  des 
Hermaphrodiiiis  des  Antonio  Beccadelli  (verfaßt  um  1425):  Antonii  Panormitae 
H ermaphroditus ,  primus  in  Germania  edidit  et  apophoreta  adiecit  F.  C.  Forberg. 
Coburg  1824.  (Ein  sekretiertes  Exemplar  auf  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek;  daselbst 
auch  eine  als  Privatdruck  bei  A.  Weigel  in  Leipzig  1908  erschienene  neue  Ausgabe: 
Antonii  Panormitae  H ermaphroditus.  Lateinisch  nach  der  Ausgabe  von  C.  Fr.  (!)  For- 
berg {Coburg  182^,  nebst  einer  deutschen  metrischen  Übersetzung  und  der  deutschen 
Übersetzung  der  Apophoreta  von  C.  Fr.  Forberg,  besorgt  und  herausgegeben  von  Fr.  Wolf  f.) 
—  Forbergs  Ausgabe,  das  Ergebnis  eines  exemplarischen  Gelehrtenfleißes,  der  wohl 
einer  besseren  Sache  würdig  gewesen  wäre,  ist  nach  des  Verfassers  eigenen  Worten 
aus  einer  Art  von  Überdruß  an  der  Philosophie  entstanden:  ,,philosophia,  in  qua 
olim  quasi  labernaculum  vitae  collocare  putabamus,  nunc  iacente."  „An  Höret",  fügt 
der  Skeptiker  hinzu,  ,,cuius  quaeque  prope  dies  nova  videt  dogmata  cito  peritura  pul- 
lulare,  ut  quot  philosophi,  tot  fere  hodie  philosophiae ,  seciae  nullae,  pro  cohorte  sin- 
gulares  exstare  mdeanturV 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  ^o 

eingehend    entwickelt.^)      Es    heißt    dort,    in    ausdrücklicher    An- 
knüpfung an  Kant^): 

Man  kann  ein  an  sich  ungewisses  (problematisches)  Urteil, 
welches  aber  als  Behauptung  (Assertion)  vorausgesetzt  werden  muß, 
um  auf  einen  Zweck  hinarbeiten  zu  können,  auf  den  man  notwendig 
hinarbeiten  will,  ein  Postulat,  und  das  Fürwahrhalten  eines  solchen 
Postulats  einen  praktischen  Glauben  nennen.  Diese  Begriffe 
gehören  zu  den  herrlichsten  Geschenken,  welche  Kant  der 
Philosophie  gemacht  hat.  Sie  sind  von  unendlichem  Gebrauche, 
aber  eben  darum  auch  mannigfaltigem  Mißbrauche  ausgesetzt.  Einige 
haben  sich  die  Sache  so  vorgestellt,  als  käme  es  nur  auf  Prämissen 
moralischen  Inhalts  an,  um  eine  Überzeugung,  die  daraus  hervorgeht, 
einen  praktischen  Glauben  zu  nennen.  Allein  was  aus  moralischen 
Prinzipien  geschlossen  wird,  das  wird  ebensogut  theore- 
tisch gewußt,  als  was  aus  physischen  oder  psychologischen 
Prinzipien  nur  immer  geschlossen  werden  mag.  Alles,  was 
auf  dem  Wege  der  Schlüsse  zu  erhalten  steht,  ist  theore- 
tisch; und  nur  das  ist  praktisch,  was  nirgends  außer  dem 
Gebiete  der  Maximen  zu  finden  ist.  Praktisch  glauben  ist  daher 
überhaupt  kein  Zustand  der  Betrachtung,  sondern  der  Entschließung. 
...  Es  soll  überhaupt  nicht  geschlossen,  sondern  es  soll  entschlossen 
werden.  .  .  ,  Praktisch  heißt  dieser  Glaube  nicht  sowohl,  weil  er  sich 
auf  praktische  Prinzipien  gründet,  als  vielmehr,  weil  er  unmittelbar 
Praxis  ist.  Wer  etwas  mehr  in  ihm  sucht,  als  ein  Verfahren,  als  ob 
ein  ungewisser  Satz  gewiß  wäre  —  wobei  indessen  das  „Als-ob" 
nur  dem  Auge  des  Beurteilers^)  sichtbar  wird  —  der  verkennt  ihn! 

Diese  wichtige  Erklärung  des  praktischen  Glaubens  spricht 
zwar  nur  von  der  praktischen  Anerkennung  einer  an  sich  nicht 
erweislichen  Wahrheit;  aber  Forberg  ist  später  noch  weiter  ge- 
gangen, und  es  ist  mindestens  Eine  wichtige  Stelle  aus  der  ,, Apo- 
logie   seines    Atheismus"    hervorzuheben,     wo     der    Forbergsche 


^)  Diese  Arbeit  ist  anonym  erschienen  im  ersten  Bande  des  von  Carl  Christian 
Erhard  Schmid  herausgegebenen  Philosophischen  Magazins.  Jena  1796.  S.  8iff. 
(Vorhanden  auf  der  Marburger  Universitätsbibliothek.)  —  Forbergs  Autorschaft 
ist   endgültig   erwiesen   durch   das   Zeugnis   im   ,, Lebenslauf   eines   Verschollenen", 

S.  45- 

^)  a.  a.  O.   S.  96 ff.  —  Schon  Wesselsky  hat  diese  wichtige   Stelle  bemerkt 

und  hervorgehoben  (S.  52  f.). 

3)  Also  des  Erkenntnistheoretikers  und  Religionsphilosophen  —  der  „Laie" 
braucht  diese  Reflexion  nicht  anzustellen;  ihm  ist  es  nach  Forberg  augenschein- 
lich erlaubt,  das  ,, Als-ob"  für  eine  verschränkte  Wirklichkeitsposition  zu  halten. 
Hier  spricht  aus  Forberg  der  Aufklärungsphilosoph,  den  seine  Metaphysik  nicht 
hindert,  auf  die  Stimmung  des  ,, Volkes"  einzugehen. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  4 


50 


Heinrich  Scholz: 


,, Glaube"  geradezu  zur  praktischen  Anerkennung  einer  notorischen 
Unwahrheit  wird.  „Man  könnte",  heißt  es  an  dieser  Stelle,  „ganz 
wohl  wissen,  daß  ein  Reich  Gottes  oder  ein  ewiger  Friede  oder 
eine  Welt  voll  Engel  Unmöglichkeiten  wären  und  blieben, 
und  man  könnte  dennoch  ohne  Unvernunft  fortfahren,  zu  handeln, 
als  ob  man  sie  möglich  machen  sollte.  Eis  wären  Ideale,  die  man 
im  Auge,  aber  nie  in  der  Nähe  haben  sollte,  unendliche  Auf- 
gaben, nicht  um  sie  zu  lösen,  sondern  um  ins  Unendliche  an 
ihnen  zu  lösen."  ^) 

Hier  ist  also  die  Religion  zum  Glauben  an  das  erweislich  Un- 
wirkliche geworden;  und  dieser  paradoxe  Religionsbegriff  ist  das 
tatsächliche,  wenn  auch  nur  mit  Einschränkungen  zugestandene 
Ergebnis  der  Forbergschen  Religionskonstruktion. 

Wie  ist  Forberg  auf  diesen  Begriff  gekommen?  Die  Ant- 
wort liegt  in  folgender  Beobachtung.  Für  Forberg  existiert 
die  Religion  überhaupt  nur  als  pflichtmäßiges  Verhalten.  Ein 
anderer  Religionsbcgriff  als  dieser  tritt  gar  nicht  in  den  Gesichts- 
kreis seiner  Betrachtungen;  sein  Aufsatz  ist  eine  scharfsinnige 
Abhandlung  über  den  Begriff  einer  Pf  licht  religion.  Daß  dieser  die 
Untersuchung  beherrscht,  geht  aus  vielen  Äußerungen  Forbergs 
hervor.     Der  Aufsatz  selbst  enthält  hierüber  folgende  Erklärung: 

Religion  ist  keine  gleichgültige  Sache,  mit  der  man  es  halten 
kann,  wie  man  will,  sondern  ist  Pflicht.  Es  ist  Pflicht,  zu  glauben 
an  eine  solche  Ordnung  der  Dinge  in  der  Welt,  wo  man  auf  das  end- 
liche Gelingen  aller  guten  Pläne  rechnen  kann,  und  wo  das  Bestreben, 
das  Gute  zu  befördern  und  das  Böse  zu  hindern,  nicht  schlechter- 
dings vergeblich  ist;  oder,  welches  eins  ist,  an  eine  moralische  Welt- 
regierung,  oder  an  einen  Gott,  der  die  Welt  nach  moralischen  Ge- 
setzen regiert.  Nur  ist  dieser  Glaube  keineswegs  insofern  Pflicht, 
wiefern  er  theoretisch,  das  heißt,  eine  müßige  Spekulation  ist, 
sondern  bloß  und  allein  insofern,  wiefern  er  praktisch,  das  heißt, 
wiefern  er  Maxime  wirklicher  Handlungen  ist.  Mit  anderen  Worten: 
Es  ist  nicht  Pflicht,  zu  glauben,  daß  eine  moralische  Weltregierung 
oder  ein  Gott,  als  moralischer  Weltregent,  existiert,  sondern  es  ist 
bloß  und  allein  dies  Pflicht,  zu  handeln,  als  ob  man  es  glaubte.*) 

Über   die   Tendenz   des    Forbergschen   Aufsatzes   kann   hier- 
nach um  so  weniger  ein    Zweifel  entstehen,  als  Forberg  diese  in 


^)  Apologie  S.  142  f. 

•)  Atheismusschriften,  herausgegeben  von  Medicus,  S.  2ji. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  c  [ 

seiner  ,, Apologie"  durch  seine  eigenen  Worte  klargelegt  hat.  ,,Ich 
habe  im  Philosophischen  Journale  den  Versuch  gemacht,  den 
Glauben  an  das  Dasein  Gottes  von  einer  Seite  darzustellen,  von 
welcher  er  ganz  gewiß  Pflicht  ist,  mithin  auf  den  Namen 
der  Religion  ganz  unstreitig  Anspruch  machen  kann."^) 
Religion  und  Pflichtreligion  sind  also  für  Forberg  identische 
Begriffe.  Diese  überaus  wichtige  Gleichung  wird  noch  durch 
folgende  Aussage  bestätigt  ^) : 

Meine  Abhandlung  im  Philosophischen  Journale  war  zu  nichts 
anderm  bestimmt,  als  den  Begriff  der  Religion  zu  entwickeln.  Ich 
hatte  also  einen  Begriff  der  Religion  zu  suchen.  Um  einen  solchen 
zu  finden,  mußte  ich  einen  Leitfaden  haben,  der  mich  sicherte, 
daß  das  Gefundene  auch  in  der  Tat  Religion  sei.  Dieser  Leitfaden 
war  mir  nun  die  Voraussetzung,  Religion  müsse  ein  Glaube 
sein,  der  Pflicht  ist,  ein  Glaube,  den  man  jedem  zumuten  darf, 
nicht  aber  ein  solcher,  den  man  haben  und  nicht  haben  k^in,  je 
nachdem  es  uns  beliebt.  Ich  konnte  nicht  zweifeln,  daß  ich 
in  dieser  Voraussetzung  alle  Stimmen  auf  meiner  Seite 
haben  würde. 

Aus  diesen  V^orten  geht  noch  einmal  hervor,  daß  Religion 
in  der  vollen  Bedeutung  des  Wortes  und  Pflichtreligion  für  For- 
berg  zusammenfallen;  und  zwar  mit  solcher  Evidenz,  daß  For- 
berg  gar  nicht  das  Bedürfnis  empfindet,  diese  Gleichsetzung  zu 
rechtfertigen  oder  zu  begründen,  sondern  a  priori  auf  die  Zu- 
stimmung der  philosophierenden  Zeitgenossen  rechnet.^) 


^)  Apologie  S.  117. 

*)  Apologie  S.  92  f. 

*)  Nur  als  ein  unzulänglicher  Ansatz  zur  Rechtfertigung  des  Begriffs  der 
Pflichtreligion  kann  die  gelegentliche  Bemerkung  gelten,  daß  ,,man  jedem  Menschen 
Religion  zumute  und  mit  dem  Urteil  der  Irreligiosität  eine  Beschuldigung  verknüpfe" 
(Apologie  S.  94f.);  denn  es  könnte  ja  sein,  daß  jene  Zumutung  und  diese  Beschuldigung 
auf  irrigen  Voraussetzungen  beruhen,  also  falsch  sind.  Diese  Möglichkeit  aber  hat 
Forberg  überhaupt  nicht  diskutiert,  und  damit  eine  Unterlassung  begangen,  die 
einem  so  strengen  Kritizisten  lieber  nicht  hätte  zustoßen  sollen.  Forberg  ist  un- 
zweifelhaft ein  origineller  Denker  gewesen,  von  dessen  Scharfsinn  und  Konsequenz 
man  nur  mit  der  größten  Hochachtung  sprechen  kann;  aber  man  überschätzt  ihn 
auf  Kosten  Fichtes,  wenn  man  seinen  Austritt  aus  der  philosophischen  Bewegung 
des  Zeitalters  mit  Wesselsky  (Forberg  und  Kant  S.  34;  vgl.  S.  65 ff.)  als  ,,das 
eigentliche  große  Unglück  bei  der  ganzen  Atheismuskatastrophe"  bezeichnet.  Der 
ungleich  Tiefere  von  beiden  ist  so  unzweifelhaft  Fichte  gewesen,  daß  Forberg 
das  Angemessene  tat,  als  er  freiwillig  hinter  Fichte  zurück  trat. 

4* 


C2  Heinrich  Scholz: 

Fällt  aber  die  Religion  unter  den  Pflichtbegriff,  so  kann  sie 
nicht  Spekulation  sein  wollen,  auch  nicht  sittlich  fundierte  Speku- 
lation über  das  Dasein  Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele; 
denn  Spekulation  ist  Spekulation,  gleichviel  auf  welchen  Prin- 
zipien sie  ruht.  „Ich  habe",  sagt  Forberg,  ,, niemals  begreifen 
können,  warum  eine  Spekulation  darum  im  mindesten  weniger 
Spekulation  sein  soll,  weil  sie  von  moralischen,  als  darum,  weil 
sie  von  physischen  oder  metaphysischen  Prinzipien  ausgeht."^) 
Zur  Spekulation  indessen  ist  niemand  verpflichtet,  kann  auch 
niemand  verpflichtet  werden.  ,,Abcr  die  Religion  ist  Pflicht 
und  hat  eben  darum  mit  zufälliger  und  ungewisser 
Spekulation  nichts  zu  schaffen.  Die  Religion  ist  keine 
Spekulation,  sie  enthält  höchstens  für  die  Vernunft  eine  Auf- 
forderung zur  Spekulation,  eine  Veranlassung,  den  praktischen 
Glauben  der  Religion  in  einen  theoretischen,  d.  i.  in  Theologie 
zu  verwandeln  —  etwas,  womit  sich  die  Religion  nicht  im  min- 
desten zu  befassen  braucht,  sondern  dem  Wechsel  theologischer 
Systeme,  als  einem  bloßen  Spielwerke  menschlicher  Wiß- 
begierde, ruhig  zusehen  kann."^) 


^)  Apologie  S.  96.  —  Dies  ist  auch  Fichtes  Überzeugung  gewesen.  Deshalb 
sucht  er  in  dem  Aufsatz  über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine  göttliche  Welt- 
regierung die  subjektive  sittliche  Lebensverfassung  und  den  Glauben  an  eine  ob- 
jektive sittliche  Weltordnung  in  einen  Akt  zusammenzufassen.  ,,Es  ist  hier  nicht 
eigentlich  ein  Erstes  und  ein  Zweites,  sondern  es  ist  absolut  Eins;  beides  sind  in 
der  Tat  nicht  zwei  Akte,  sondern  ein  und  ebenderselbe  unteilbare  Akt  des  Gemüts." 
Und  weiter:  ,,Es  ist  hier  nicht  ein  Wunsch,  eine  Hoffnung,  eine  Überlegung  und 
Erwägung  von  Gründen  für  und  wider,  ein  freier  Entschluß,  etwas  anzunehmen, 
dessen  Gegenteil  man  wohl  auch  für  möglich  hält.  Jene  Annahme  ist  unter  Voraus- 
setzung des  Entschlusses,  dem  Gesetz  in  seinem  Innern  zu  gehorchen,  schlechthin 
notwendig,  sie  ist  unmittelbar  in  diesem  Entschlüsse  enthalten,  sie  selbst  ist  dieser 
Entschluß."    (Atheismusschriften  S.  9.) 

*)  Apologie  S.  91  f.  —  Theologie  ist  hiernach  die  von  der  religiösen  (d.  i.  mora- 
lischen) Lebensverfassung  wohl  zu  unterscheidende  Weltanschauung,  die 
durch  Reflexion  auf  die  zur  Verwirklichung  der  sittlichen  Ideale  erforderlichen 
Realitäten  entsteht.  Zu  solcher  Reflexion  kann  selbstverständlich  niemand  ver- 
pflichtet werden.  Insofern  ist  sie  eine  ..spekulative  Theorie,  welche  zur  Religion 
zufällig  hinzukommt".  Indessen  ist  durch  die  Struktur  des  menschlichen  Geistes 
dafür  gesorgt,  daß  sie  gleichwohl  „niemals  ausbleibt"  (Apologie  S.  131).  ,, Könnten 
wir  uns  der  Spekulation  völlig  cntschlagcn,  so  wäre  von  Theologie  sofort  keine  Rede; 
und  zu  fragen,  ob  ein  Gott  sei,  käme  niemand  in  Versuchung.  Aber  das  hat  keine 
Gefahr.  Kraft  und  Trieb  sind  überall  unzertrennlich.  Vernunft,  so  gewiß  sie  Ver- 
nunft ist,  vernünftelt.  —  Die  Religion  kann,  so  gewiß  sie  diesen  Namen  verdienen 
soll,  kein  theoretischer  Glaube  an  Gott  sein.    Aber  sie  führt  zu  einem  theoretischen 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  e-* 

Eine  zur  Spekulation,  d.  i.  zum  Glauben  an  das  Dasein 
Gottes  erweiterte  Religion  könnte  nur  dann  eine  Pflichtreligion 
sein  oder  als  eine  solche  gedacht  werden,  wenn  das  pflichtmäßige 


Glauben  an  Gott,  d.  i.  zu  einer  Theologie.  Die  Theologie  fängt  an,  wo  die  Religion 
aufhört,  oder  vielmehr,  die  Theologie  ist  das,  was  die  Religion  sichtbar 
macht.  Ohne  Theologie  gäbe  es  zwar  Religion,  aber  nur  für  einen  möglichen 
Beobachter.  Alle  wirklichen  indessen  sähen  nichts  von  Religion  und  könnten 
nichts  davon  sehen.  Sie  sähen  nur  Moralität.  Religion  und  Theologie 
sind  also  unzertrennlich  (!).  Die  Theologie  ist  nichts  als  das  (sym» 
bolische)  Bewußtsein  der  Religion  selbst.  —  Es  ist  nicht  Pflicht,  und  also 
auch  nicht  Religion,  theoretisch  an  Gott  zu  glauben  und  sich  dieses  Glaubens  be- 
wußt zu  werden.  Es  ist  nur  Pflicht,  den  Eigennutz  zu  beschränken  und  das  all- 
gemeine Wohl  unablässig  vor  Augen  zu  haben.  Aber  in  dieser  Pflicht  ist  für  die 
Spekulation  eine  Aufforderung  enthalten,  eine  Gottheit  zu  suchen,  und  wiefern 
diese  Aufforderung  in  ihr  enthalten  ist,  erscheint  sie  als  Religion.  Wäre  diese 
Aufforderung  nicht  in  ihr  enthalten,  so  wäre  es  bloße  Moralität, 
und  so  etwas,  wie  der  Begriff  der  Religion  ist,  käme  uns  gar  nicht 
in  den  Sinn."     (Apologie  S.  I32f.) 

Die  Theologie  hat  also  zunächst  durch  Analyse  des  Pflichtbegriffes  den  Glauben 
an  das  Dasein   Gottes   zu  begründen.     Dies   ist  ihr  analytisches   Geschäft:  die 
Konstruktion  des    Gottesbegriffes  durch  Analysierung  des   Begriffes  der  Moralität, 
Ihre  zweite  Aufgabe  ist  die  symbolische  Darstellung  dieses  Begriffes  zum  Zweck 
der  für  die  lebendige  Mitteilung  unerläßlichen  Anschaulichkeit.     Hier  finden  sich 
sehr  feine  Bemerkungen  zur  Rechtfertigung  eines  kritischen  Anthropomorphismus. 
Im   System  des  abstrakten  Pantheismus  ,  ,wird  ein   Gott  gelehrt,  der  denkt,  aber 
nicht,  wie  der  Mensch  denkt;  der  will,  aber  nicht,  wie  der  Mensch  will;  der  ist,  aber 
nicht,  wie  der  Mensch  ist  —  von  dessen  Eigenschaften  man  sorgfältig  alles  Beschränkte 
und  Endliche  absondert,  und  durch  das  Nichts,  was  zuletzt  übrig  bleibt,  das  Un- 
endliche gedacht  zu  haben  wähnt.     Es  kommt  da  ein  Verstand  zum  Vorschein, 
der  nicht  denkt,   weil  alles  Denken   .  .  .  nur  durch  die  Einschränkung  möglich 
ist,  daß  man  nicht  alles  denkt  .  .  .,  ein  Wille,  der  nichts  will,  weil  alles  Wollen 
ein   Streben  ist  nach  einem  Zustand,  der  erst  werden  soll,  mithin  offenbar  einen 
Fortschritt  zum  Vollkommeneren  in  sich  schließt  —  ein  Dasein,  das  vom  Nicht- 
sein durchaus  nicht  zu  unterscheiden  ist:   denn   es  ist  das  Dasein  eines  Dinges,  das 
fürs  erste  nirgends  ist  (weil  es  sonst  entweder  irgendwo,  mithin  auf  einen  Teil 
des   Raumes   eingeschränkt,   oder   überall   sein   müßte,   wo   aber  nicht  abzusehen 
wäre,  wo  für  die  Welt  noch  Platz  bleiben  sollte),  das  aber  auch  fürs  andere  niemals 
ist,  noch  war,  noch  sein  wird  (weil  eine  sukzessive  Existenz  entweder  ohne  innere 
Veränderungen   gedacht  werden   müßte,   wo   aber   die  lästige    Besorgnis   Lessings 
eintritt,   daß   eine   solche   unendliche   Existenz  wohl  nichts   anderes   als  unendliche 
Langeweile   sein   möchte;   oder   mit  inneren   Veränderungen,   so   daß   also   die    Ge- 
danken   und    Entschließungen    der    Gottheit    nicht    stehende,    sondern    wechselnde 
Zustände   wären,   wo    aber   ein   Aufhören    und   Anfangen    von    VoUkonmienheiten, 
mithin    ein    Gott   zum   Vorschein    kommen   würde,   der   niemals   alle   Vollkommen- 
heiten zugleich  besäße,  sondern  in  jedem  Augenblicke  noch  göttlicher  sein  könnte, 
als  er  in  der  Tat  ist).  —  Alle  diese  Widersprüche  sind  unvermeidlich  in  einem  Systeme, 


54 


Heinrich  Scholz: 


sittliche  Handeln  ohne  die  Existenz  eines  höchsten  Wesens  nicht 
denkbar  wäre.     Das  ist  aber  nach  Forberg  nicht  der  Fall.     Man 


welches  einen  Begriff  von  der  Gottheit  aufstellt,  der  etwas  anderes  sein  soll,  als  ein 
Symbol  eines  völlig  Unbekannten,  von  dem  nur  das  Eine  bekannt  ist,  daß  es  das 
Prinzip  des  Weltlaufs  sei,  aber  unbekannt,  wie  es  das  sei.  Übrigens  ist  dies  keine 
neue  Lehre.  Man  hat  längst  bemerkt,  daß  wir  alles,  was  wir  von  der  Gottheit  be- 
haupten, nur  nach  einer  Analogie  behaupten,  daß  jede  Eigenschaft,  die  wir  der 
Gottheit  beilegen,  ihr  nicht  an  sich  zukomme,  daß  wir  gar  nicht  wissen,  was  die 
Gottheit  an  sich  sei,  sondern  daß  wir  uns  nur,  so  gut  wir  können,  ausdrücken,  um 
doch  etwas  zu  sagen,  wo  es  wohl  besser  wäre,  gar  nichts  zu  sagen."  (Apologie  S.  1 52 ff.) 

Um  aber  auf  die  wichtige  Funktion  der  Theologie  in  Forbergs  System  zurück- 
zukommen, so  ist  die  (auf  den  Tatsachen  des  sittlichen  Bewußtseins  aufruhende) 
,, theologische"  Spekulation  nach  Forbergs  eigenen  wiederholten  Versiche- 
rungen (siehe  oben)  nichts  Geringeres  als  das  Selbstbewußtsein  der 
Religion.  Erst  durch  die  theologische  Spekulation  wird  die  Religion  überhaupt 
ein  phaenomcnon  sui  generis,  mit  anderen  Worten  eine  Erscheinung,  die  von 
der  Moralität  unterschieden  werden  kann.  Ohne  die  theologische  Speku- 
lation sähe  man  ,,nur  Moralität",  und  ,,so  etwas,  wie  der  Begriff  der  Religion  ist, 
käme  uns  gar  nicht  in  den  Sinn".  (Apologie  S.  132  unten  und  S.  133.)  Daraus 
folgt  aber  gegen  Forberg: 

(i)  Daß  die  theologische  Spekulation  offenbar  nichts  weniger  als  eine  ,, müßige" 
Spekulation  ist;  denn  es  ist  unzulässig,  eine  Funktion  als  ,, müßig"  zu  bezeichnen, 
von  der  man  hernach  gestehen  muß,  daß  sie  die  Unterscheidung  von  Religion  und 
Moralität  überhaupt  erst  möglich  mache. 

(2)  Dann  ist  es  offenbar  aber  auch  unerlaubt,  den  Zusammenhang  von  Re- 
ligion und  Theologie  einen  ,, zufälligen"  zu  nennen  (S.  131  unten:  ,,sie  ist  eine  speku- 
lative Theorie,  welche  zur  Religion  zufällig  hinzukommt"')  oder  die  Theologie,  wie 
oben  im  Text  (Apologie  S.  92),  als  etwas  zu  bezeichnen,  ,, womit  sich  die  Religion 
nicht  im  mindesten  zu  befassen  braucht".  Vielmehr  wird  sich  die  Religion  einer 
solchen  ,, Theologie"  im  Interesse  ihrer  Selbsterfassung  sehr  ernstlich  hinzugeben 
haben;  und  Forberg  korrigiert  sich  selbst,  wenn  er  an  einer  späteren  Stelle,  freilich 
ohne  den  Widerspruch  zu  bemerken,  erklärt:  ,, Religion  und  Theologie  sind  also 
unzertrennlich.  Die  Theologie  ist  nichts  als  das  (symbolische)  Bewußtsein  der  Re- 
ligion selbst."     (Apologie  S.  133  oben.) 

(3)  aber  wird  nun  auch  klar,  und  zwar  durch  Forbergs  eigenes  Geständnis, 
daß  der  von  ihm  so  hoch  gestellte  praktische  Glaube  nichts  anderes  ist  als  ein  anderer 
Name  für  Moralität;  und  die  ,, verfängliche  Frage",  ob  der  ganze  Begriff  des  ,, prak- 
tischen Glaubens"  nicht  am  Ende  ein  spielender  sei,  wird  von  hier  aus  noch  einmal 
sehr  ernst.  Es  handelt  sich  wirklich  um  eine  Mystifikation,  wenn  man 
unter  Religion  eine  Erscheinung  versteht,  die  von  den  übrigen  Ge- 
halten des  geistigen  Lebens,  insbesondere  von  der  Moralität,  noch 
irgendwie  unterschieden  ist.  Forberg  hat  die  Pflichtmäßigkeit  der  Re- 
ligion auf  Kosten  ihrer  Eigenart  entwickelt,  und  zwar  so  konsequent,  daß  man 
annehmen  muß,  er  habe  unter  dem  Vorwande,  das  Höchste  zu  wollen  —  eine  Re- 
ligion, auf  die  man  verpflichtet  werden  kann  —  in  Wahrheit  vielmehr  die  völlige 
Entwurzelung  des  religiösen  Bewußtseins  beabsichtigt. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  5  5 

kann  auf  der  Basis  des  Kritizismus  nach  Forbergs  außerordentlich 
treffenden  Darlegungen  die  hypothetische  Notwendigkeit  des  Zu- 
sammenhanges der  Existenz  eines  höchsten  Wesens  mit  der  Idee 
der  Moralität  auf  eine  doppelte  Weise  konstruieren:  nämlich  ent- 
weder durch  eine  eudämonistische  oder  durch  eine  idealistische 
Spekulation. 

Der  eudämonistischen  Spekulation  zufolge  bedarf  der  sittlich 
handelnde   Mensch  eines   Gottes,    um  für  sein  Wohlverhalten  ent- 
schädigt zu  werden.      Indessen,  es  ist  leicht  zu  sehen,   daß  diese 
Kombination   die    Kritik   nicht   bestehen   kann.      Denn   auch  eine 
verdiente   Glückseligkeit  bleibt  in  der  Sphäre  des  Eudämonismus; 
und    auch    die     Qualitätserhöhung    dieses    Eudämonismus    ändert 
nichts   an  seiner   moralischen   Untauglichkeit.      Es   wäre   dann  so, 
daß  ,,alle  Opfer,   die  die  Pflicht  verlangt,  eigentlich  nur  als  auf- 
geschobener,    nicht     als     aufgehobener     Genuß     anzusehen  wären. 
Diese   Gesinnung  sogar  durch  die  Religion  unterstützen,   und  nur 
deshalb   einen    Gott    glauben   wollen,    damit    der    Eigennutz   auch 
bei  der  Uneigennützigkeit  seine  Rechnung  finde,  wäre  ohne  Zweifel 
so  viel,    als  die  Moralität   völlig   vernichten   und    das    menschliche 
Verderben  verewigen;  und  ein   Gott,   der  in  diesem   Systeme  ge- 
glaubt würde,  wäre  ganz  eigentlich  und  nach  dem  treffenden  Aus- 
druck   eines     tiefsinnigen,     nur     hin    und     wieder     etwas 
kühnen    Philosophen^)    der    Fürst   dieser   Welt,    mit    dem  das 
gute  Prinzip  in  der  menschlichen  Natur  unaufhörlich  zu  kämpfen 
hat,    und   der   überwunden   werden   muß,    wenn   anders    nicht   die 
Tugend   lauter   Heuchelei,   und   nichts   als   eine   zwar  etwas   weit- 
läufigere, aber  nur  desto  gewissere  Methode  sein  soll,  den  Eigen- 
nutz zu  befriedigen."^) 


1)  Hier  ist  natürlich  Fichte  gemeint.  Vgl.  die  ,, Appellation  an  das  Publikum" 
(W.  W.  V.  219):  ,,Wer  da  Genuß  will,  ist  ein  sinnlicher,  fleischlicher  Mensch,  der 
keine  Religion  hat  und  keiner  Religion  fähig  ist;  die  erste  wahrhaft  religiöse  Emp- 
findung ertötet  in  uns  auf  immer  die  Begierde.  Wer  Glückseligkeit  sucht,  ist  ein 
mit  sich  selbst  und  seiner  ganzen  Anlage  unbekannter  Tor;  es  gibt  keine  Glück- 
seligkeit, es  ist  keine  Glückseligkeit  möglich;  die  Erwartung  derselben,  und  ein 
Gott,  den  man  ihr  zufolge  annimmt,  sind  Hirngespinste.  Ein  Gott,  der  der  Begier 
dienen  soll,  ist  ein  verächtliches  Wesen;  er  leistet  einen  Dienst,  der  selbst  jedem 
erträglichen  Menschen  ekelt.  Ein  solcher  Gott  ist  ein  böses  Wesen;  denn  er  unter- 
stützt und  verewigt  das  menschliche  Verderben  und  die  Herabwürdigung  der  Ver- 
nunft. Ein  solcher  Gott  ist  ganz  eigentlich  ,der  Fürst  der  Welt',  der  schon 
längst  durch  den  Mund  der  Wahrheit  .  .  .  gerichtet  und  verurteilt  ist." 

*)  Apologie  S.  i04f. 


56 


Heinrich  Scholz: 


Läßt  man,  um  dieser  Kritik  zu  entgehen,  das  Postulat  der 
Entschädigung  fallen  und  wendet  man  durch  eine  idealistische 
Spekulation  die  Idee  der  moralischen  Weltordnung  dahin,  daß 
sie  die  Weltverfassung  bedeutet,  durch  die  der  objektive  Erfolg 
des  Guten,  der  in  keines  Menschen  Gewalt  steht,  verbürgt  wird, 
so  ist  der  Eudämonismus  zwar  überwoinden  und  ein  Gedanke 
angeregt,  der  des  Nachdenkens  würdig  ist;  es  ist  auch  die  Form 
der  Moraltheologie  gewonnen,  die  nach  Forbergs  ansprechender 
Deutung  ,,dem  Sinn  des  Urhebers  der  kritischen  Philosophie  am 
nächsten  zu  kommen"  scheint.^)  Nur  Religion  soll  dieser  Gedanken- 
gang nach  Forberg  nicht  sein,  ,,wenn  anders  Religion,  sei  sie 
übrigens,  was  sie  wolle,  doch  auf  jeden  Fall  etwas  sein  soll,  was 
Pflicht  ist".^)  ,,Wäre  der  Glaube  an  Gott,  selbst  wie  ihn  die 
.Moraltheologie  begründet,  Religion,  so  wäre  Religion  eine  speku- 
lative Theorie,  die  man  niemandem  zumuten  könnte,  da  man 
doch  Religion  in  der  Tat  jedermann  zumutet."^)  Denn  ,, zugegeben, 
was  unstreitig  zugegeben  werden  muß,  daß  wir  dem  Endzweck 
der  Vernunft*)  nicht  mit  Vernunft  nachstreben  können,  ohne  die 
Möglichkeit  dieses  Endzwecks  vorauszusetzen,  so  ist  es  doch  ebenso 
unstreitig,  daß  die  Pflicht  nur  das  Nachstreben  fordere,  das 
Urteil  aber,  wie  das  Ziel  dieses  Nachstrebens  möglich  sei,  gänzlich 
der  Spekulation  überlasse.  .  .  .  Die  Untersuchung,  wie  die  voll- 
ständige Realisierung  des  Endzwecks  der  Vernunft  möglich  sei, 
ist  der  Moralität  vollkommen  gleichgültig,  die  ohnehin  schon  genug 
zu  tun  hat  mit  Untersuchung  dessen,  was  jeder  seines  Orts  zur 
Realisierung  jenes  Endzwecks  beizutragen  habe.  Sonach  wäre  die 
Annahme  eines  Gottes,  als  eines  Prinzips,  um  daraus  die  Möglich- 
keit eines  Endzwecks,  der  für  uns  Pflicht  ist^),  zu  erklären,  zwar 
eine  mögliche,  auch  wohl  die  einzig  mögliche  Annahme;  nur  so 
etwas  überhaupt  anzunehmen  .  .  .,  das  ist  ganz  zufällig  und 
willkürlich*)  und  zur  Pflichterfüllung  ebenso  entbehrlich,  als 
dem  Schiffer  zum  Gebrauch  des  Kompasses  auf  der  See  alle  Theorien 


*)  Apologie  S.  III. 

•)  a.  a.  0. 

•)  Apologie  S.  113.  —  Nach  Fichte  ist  der  Glaube  an  den  objektiven  Er- 
folg des  Guten  vielmehr  eine  das  sittliche  Handeln  beständig  begleitende  und  vou 
diesem  gar  nicht  abtrennbare  Intuition. 

*)  Der  Objektivierung  des  Guten. 

*)  Die  Objektivierung  des  Guten. 

•)  Vgl.  hierzu  die  kritische  Bemerkung  S.  54  Anm. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  57 

der  magnetischen  Kraft  vollkommen  entbehrlich  sind:  es  ist  nichts 
als  Befriedigung  spekulativer  Wißbegierde. "i) 

Aber  wird  nicht  das  sittliche  Handeln  selbst  sinnlos,  wenn 
es  des  objektiven  Erfolges  nicht  nur  nicht  gewiß  werden  kann, 
sondern  sogar  im  Gegenteil  mit  der  Möglichkeit  seiner  völligen 
Erfolglosigkeit  rechnen  muß?  Fichte  hat  diese  Frage  entschlossen 
bejaht  und  auf  Grund  dieser  Bejahung  den  unbedingten  Glauben 
an  eine  göttliche  Weltregierung  gefordert.  2)  Die  Unerträglichkeit 
des  Gedankens,  daß  das  sitthche  Handeln  ein  zweckloses  sein 
könne,  ist  für  ihn  geradezu  der  ,, Grund  unsers  Glaubens  an  eine 
göttliche  (d.i.  in  seinem  Sinne:  die  Objektivierung  des  Guten 
verbürgende)  Weltregierung"  gewesen.  Forberg  ist  dieser  Fol- 
gerung ausgewichen,  und  zwar  durch  eine  Interpretation  des  sitt- 
lichen Strebens,  die  durch  ihre  ,, Ziellosigkeit",  oder  vielmehr  durch 
die  Art  und  Weise,  wie  sie  das  Streben  zum  Selbstzweck  erhebt, 
an  den  Idealismus  der  Marburger  Schule  erinnert.^) 

,,Ohne  Zweifel"  wird  auch  nach  Forberg,  bei  Abwesenheit 
einer  moralischen  Weltordnung,  die  die  Erhaltung  der  sittlichen 
Werte  verbürgt,  das  sittliche  Handeln  selbst  unvernünftig,  ,,wenn 
der  Erfolg  der  Zweck  des  Strebens,  wenn  das  Ziel  der 
Zweck  des  Laufens  ist". 

Aber  wie,  wenn  das  Streben  an  sich  selbst  Zweck  wäre  .?*)  Wenn 
es  gar  kein  Ziel  zu  erreichen  gäbe,  oder,  welches  für  die  Kämpfer 
eins  ist,  nur  ein  Ziel  in  unendlicher  Ferne?  Wenn  nicht  gegangen 
würde  um  des  Zieles  willen,  sondern  ein  Ziel  gesetzt  würde 
ufn  des  Gehens  willen,  damit  man  die  Richtung,  nicht  aber  das 
Ende  des  Weges  erfahre?  Wenn  das  Gebot  der  Vernunft  gar  nicht 
den  Sinn  hätte,  zu  gehen,  damit  man  das  Ziel  erreiche,  sondern  nur 


1)  Apologie  S.  III ff. 

«)  Vgl.  die  , .Appellation  an  das  Publikum"  (W.  W.  V.  zogt):  „Diejenigen, 
welche  sagen:  Die  Pflicht  muß  schlechthin,  ohne  Rücksicht  auf  irgendeinen  Zweck, 
geschehen,  drücken  sich  nicht  genau  aus.  ...  Es  ist  schlechthin  unmöglich,  daß 
der  Mensch  ohne  Aussicht  auf  einen  Zweck  handle.  Indem  er  sich  zum  Handeln 
bestimmt,  entsteht  ihm  der  Begriff  eines  Zukünftigen,  das  aus  seinem  Handeln 
folgen  werde,  und  dies  ist  eben  der  Zweckbegriff.  Jener  durch  die  pflichtmäßige 
Gesinnung  zu  erreichende  Zweck  ist  nur  kein  Genuß  —  das  wollen  sie  sagen,  und 
darin  haben  sie  recht;  er  ist  die  Behauptung  der  der  Vernunft  gebührenden 

Würde." 

»)  Vgl.   hierzu    den   Vortrag   von    Paul    Natorp,    Kant    und    die    Marburger 

Schule,  191 2. 

♦)  Wird  es  dann  nicht  eine  Art  von  Sport,  und  ist  solcher  sittlicher  Sport  im 
Grunde  wertvoller  als  irgendeine  andere  gymnastische  Übung? 


cß  Heinrich  Scholz: 

SO,  als  ob  man  es  erreichen  wollte?  Man  könnte  dann  ganz  wohl 
wissen,  daß  ein  Reich  Gottes  oder  ein  ewiger  Friede  oder  eine  Welt 
voll  Engel  Unmöglichkeiten  wären  und  blieben;  und  man  könnte 
dennoch  ohne  Unvernunft^)  fortfahren,  zu  handeln,  als  ob  man  sie 
möglich  machen  sollte.  Es  wären  Ideale^),  die  man  im  Auge,  aber 
nie  in  der  Nähe  behalten  sollte,  unendliche  Aufgaben^),  nicht, 
um  sie  zu  lösen,  sondern  ins  Unendliche  an  ihnen  zu  lösen.*) 

Wir  sind  nun  in  der  Lage,  zusammenzufassen  und  die  Frage 
zu  beantworten,  welche  Motive  bei  Forberg  den  Übergang  von 
der  uneigentlichen,  am  objektiven  Bestände  des  Göttlichen  inter- 
essierten, zur  eigentlichen,  diesem  Bestände  gegenüber  interesselos 
gewordenen  Religionsphilosophie  des  Als-ob  bewirkt  haben,  und 
innerhalb  dieser  wiederum  den  Übergang  von  der  skeptischen, 
das  Dasein  Gottes  bezweifelnden  Form  zur  paradoxen  Religion 
ohne  Gott.  Die  Motive,  die  wir  gesucht  haben,  ziehen  sich  in 
ein  einziges  zusammen.  Es  ist  der  Begriff  der  Pflichtreligion 
Aus  ihm  erklären  sich  restlos  alle  Verschiebungen  innerhalb  der 
Forbergschen  Religionsphilosophie.  Eine  Pflichtreligion  kann 
unter  Voraussetzung  des  Rationalismus  nur  Momente  enthalten, 
die  die  Vernunft  zu  ihrer  Annahme  verpflichten.  Pflicht  aber  im 
strengsten  und  eigentlichsten  Sinne  ist  immer  wieder  nur  die  mora- 
lische Lebensverfassung;  alles  übrige  ist  höchstens  ein  Recht,  zu 
dessen  Gebrauch  man  zwar  befugt,  aber  niemals  verpflichtet  sein 
kann.     Oder,  mit  Forberg  selbst  zu  sprechen: 

Es  ist  nicht  Pflicht,  zu  glauben,  daß  eine  moralische  Welt- 
regierung oder  ein  Gott,  als  moralischer  Weltregent,  existiert,  sondern 
es  ist  bloß  und  allein  dies  Pflicht,  zu  handeln,  als  ob  man  es 
glaubte.  In  den  Augenblicken  des  Nachdenkens  oder  des  Dis- 
putierens  kann  man  es  halten,  wie  man  will,  man  kann  sich  für  den 
Theismus  oder  für  den  Atheismus  erklären,  je  nachdem  man  es  vor  dem 
Forum  der  spekulativen  Vernunft  verantworten  zu  können  meint;  denn 
hier  ist  nicht  die  Rede  von  Religion,  sondern  von  Spekulation,  nicht 
von  Recht  und  Unrecht,  sondern  von  Wahrheit  und  Irrtum.^) 


*)  Aber  um  den  Preis  einer  mehr  als  erklügelten,  beinahe  sophistischen  Kon- 
struktion ! 

*)  Vielmehr  Idole! 

*)  Vielmehr  unendliche  Träume! 

*)  Apologie  S.  142/. 

')  Entwicklung  des  Begriffs  der  Religion  (Atheismusschriften  S.  28).  —  Es 
ist  kaum  nötig,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  wie  nahe  sich  diese  Formulierung 
der  Religion  mit  der  des  modernen   Pragmatismus  berührt. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  5^ 

Dieser  Gedankengang  ist  in  sich  so  klar  und  konsequent,  daß 
es  nur  noch  darauf  ankommt,  das  Ergebnis  abschheßend  auszu- 
sprechen.    Es  besteht  aus  folgenden  Stücken. 

(i)    Die   Forbergsche   Rehgion  ist  ihrer  Tendenz  nach  eine 
Rehgion  ohne  Gott.     Im  ersten  Entwurf  noch  theologisch  gefärbt, 
hat  sie   sich   in   der  späteren,    durch   die   „Apologie"   vertretenen 
Fassung  zu  einer  durch  keine   Einschränkungen  gemilderten   Re- 
ligion ohne  Gott  entwickelt;  und  zwar  insofern  mit  logischer  Kon- 
sequenz,  als  der  schon  im  ersten  Entwurf  vorausgesetzte  Begriff 
einer  Pflichtreligion  eine  solche   Entwicklung  gebieterisch  fordert. 
Denn  der    Glaube   an  das   Dasein    Gottes   kann   niemals   Moment 
einer    Pflichtrcligion   sein,    da   die    Pflicht   nur   sittliche   Aufgaben 
umspannt,  die  auch  ohne  das  Dasein  Gottes  gelöst  werden  müssen. 
Die    realistisch    gefärbten    Gedankengänge    Forbergs    sind    dem- 
nach als  inkonsequente  Vorstufen  einer  rein  ideologischen  Religions- 
konstruktion  zu   betrachten;    und   es   ist   mindestens   irreführend, 
wenn  Forberg  auch  noch  in  der  ,, Apologie",   wo  er  sich  selbst 
übersehen  konnte,  seine  Lehre  als  eine  solche  bezeichnet,  die  ,,die 
Gottheit  nicht  leugnet,  sondern  ausdrücklich  behauptet,  und  nur 
in  der  Form  abweicht,  wie  sie  sie  behauptet". i)     Denn  sie  leugnet 
wirklich  das   Göttliche,   wenn  anders  die  Anerkennung  des   Gött- 
lichen die  Bejahung  seiner  Wirklichkeit  in  sich  schließt. 

(2)  Gewonnen  wird  der  Inhalt  der  Pflichtreligion  nach  For- 
bergs  eigenem  Geständnis  durch  die  restlose  Preisgabe  alles  dessen, 
was  die  Religion  von  den  übrigen  Erscheinungen  des  menschlichen 
Geisteslebens,  insbesondere  von  der  Moralität  unterscheidet,  also 
um  den  Preis  ihrer  Eigenart  in  jedem,  auch  dem  bescheidensten 
Sinne.  2)  Eine  Religion  aber,  die  von  der  Moralität  überhaupt 
nicht  mehr  unterschieden  werden  kann,  hat  aufgehört,  Religion 
zu  sein.  Es  ergibt  sich  also,  daß  die  Forbergsche  Konstituierung 
der  Pflichtreligion  den  Verzicht  auf  die  Religion  zur  Folge  hat 
und  mit  diesem  schließlich  zusammenfällt.  Der  ,, praktische  Glaube" 
Forbergs  ist  nichts  als  ein  anderer,  umständlicherer  Name  für 
,, Moralität";  er  ist  insofern  in  der  Tat   ein  „spielender  Begriff ".») 

(3)  Man   kann   das    Ergebnis   der    Forbergschen    Rehgions- 
philosophie   auch  so  ausdrücken:  Was  an  der  Religion  Pflicht  ist, 


*)  Apologie  S.  86  oben. 
*)  Siehe  oben  S.  54  Anm, 
')  Siehe  oben  S.  46  Anm. 


6o  Heinrich  Scholz: 

ist  nicht  Religion  —  nicht  ein  wie  immer  bedingter  Glaube  an 
die  Realität  des  Göttlichen;  und  was  an  der  Rehgion  Religion 
ist,  also  Glaube  an  die  Realität  des  Göttlichen,  ist  nicht  Pflicht, 
sondern  Spekulation.  Forberg  sagt:  müßige  Spekulation.  So- 
weit damit  die  Ausschließung  einer  solchen  aus  dem  Begriff  der 
Pflichtreligion  ausgesprochen  werden  soll,  kann  dieser  Ausdruck 
hingenommen  werden.  Er  wirkt  aber  insofern  irreführend,  als 
Forberg  selbst  zuzugeben  genötigt  ist,  daß  erst  durch  solche 
Spekulation  die  Religion  zu  einer  von  der  Moralität  innerlich 
unterschiedenen  Größe  wird.  Ist  es  aber  so,  dann  kann  diese 
Spekulation  auch  nicht  als  ,, müßig"  bezeichnet  werden,  um  so 
weniger,  als  sie  auch  nach  Forbergs  Urteil  eine  durchaus  be- 
gründete ist.^)  Sie  ist  vielmehr  vom  Standpunkt  der  Religion  aus 
—  und  dieser  kommt  der  Religionsphilosophie  zu  —  als  grund- 
legend und  schöpferisch  zu  bezeichnen. 

(4)  Den  Grundbegriff  der  Pflichtreligion,  aus  dem  sich  alle 
weiteren  Positionen  ergeben,  hat  Forberg  nirgends  zu  begründen 
versucht.  Er  setzt  ihn  vielmehr  als  begründet  voraus,  indem  er 
sich  auf  die  Tatsache  beruft,  daß  Rehgion  im  bürgerlichen  Leben 
als  ein  Vorzug,  der  Atheismus  hingegen  als  ein  Gebrechen  emp- 
funden werde. 

(5)  Die  Frage,  ob  die  Forbergsche  Lehre  nicht  wenigstens 
die  konsequenteste  auf  der  Basis  des  Kritizismus  mögliche  Religions- 
philosophie sei,  kann  schon  jetzt  mit  Bestimmtheit  verneint  werden, 
sofern  es  sich  dabei  um  die  Idee  der  Pflichtreligion  handelt.  Denn 
eine  solche  ist  durch  die  Prinzipien  des  Kritizismus  in  keiner  Weise 
innerlich  gefordert  und  demgemäß  auch  von  Kant  nie  aufgestellt 
worden.^) 


^)  Vgl.  S.  1 1 1  der  ,, Apologie":  ,,Ich  halte  diese  (moralphilosophische)  Be- 
gründung (des  Gottesglaubens),  in  ihren  gehörigen  Schranken  (d.  i.  sofern  die 
Moralität  dadurch  nicht  wieder  theologisch  fundiert  werden  soll),  für  unwider- 
leglich." 

*)  Über  Fi  cht  es  Verhältnis  zu  Forberg  ist  abschließend  Folgendes  zu  sagen. 

A.    Beide  sind  einig 

(i)  in  der  strikten  Ablehnung  jeder  spekulativen  Religionskon- 
struktion. Sie  verwerfen  in  Hinsicht  auf  die  Begründung  der  Religion  sowohl 
die  theoretisch-teleologische,  wie  die  praktisch-eudämonistische,  aber  auch  —  und 
dies  ist  das  Neue,  was  sie  besonders  Kant  gegenüber  verbindet  —  die  ethische 
Spekulation,  die  die  Religion  aus  der  Reflexion  auf  die  transsubjektiven  Bedingungen 
für  die  erfolgreiche  Objektivierung  des  Guten  entstehen  läßt. 

2)  in  der  inhaltlichen  Definition  der  Religion:  Religion  ist  der  Glaube 
an   das   unbedingte    Gelingen   des   Guten,  jedoch  mit  dem   wichtigen   Unterschied, 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob,  6l 

Der  Bogriff  einer  Pflichtrcligion  ist  dem  Kantischen  Denken 
fremd.  ,,Was  darf  ich  hoffen?",  so  lautet  die  berühmte,  über 
die  Funktion  der  Rehgion  im  System  des  Kritizismus  entscheidende 
Frage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  ,,Was  darf  ich  hoffen?" 
und  nicht:  ,,Was  soll  ich  glauben?"  Die  Religion  erscheint  also 
nicht  als  etwas,  was  der  Mensch  zu  besitzen  verpflichtet  ist,  sondern 


daß  bei  Forberg  der  Ton  auf  dem  Glauben,  bei  Fichte  vielmehr  auf  dem  Ge- 
lingen liegt. 

B.    Sie  trennen  sich 

(i)  in  Hinsicht  auf  die  durch  diese  Tonverschiebung  bedingte  Stellung  zur 
Realität  des  Göttlichen.  Forbergs  vom  tatsächlichen  Gelingen  des  Guten 
abstrahierender  ,, Glaube"  ist  an  der  Realität  des  Göttlichen  so  uninteressiert,  daß- 
er  sich  mit  dem  „Atheismus"  verbinden  kann.  Fichtes  am  tatsächlichen  Ge- 
lingen des  Guten  aufs  stärkste  interessierter  Glaube  ist  auch  an  der  dieses  Ge- 
lingen verbürgenden  Realität  des  Göttlichen  so  stark  interessiert,  daß  er  mit  dieser 
steht  und  fällt. 

(2)  in  Hinsicht  auf  die  Frage  nach  dem  positiven  Grunde  der  Religion. 
Nach  Forberg  ist  dieser  (wie  später  bei  Feuerbach)  ein  frommer  Wunsch. 
, .Religion  entsteht  einzig  und  allein  aus  dem  Wunsche  des  guten  Herzens,  daß 
das  Gute  in  der  Welt  die  Oberhand  über  das  Böse  erhalten  möge."  (Entw.  der 
Begr.  der  Rel.  Atheismusschr.  S.  22.)  —  Nach  Fichte  ist  der  Grund  der  Religion 
vielmehr  eine  mit  dem  sittlichen  Handeln  selbst  unmittelbar  verbundene  Intuition, 
der  anschauliche  Glaube  an  den  objektiven  Erfolg  des  Guten,  mit  anderen  Worten: 
die  von  der  charaktervollen  Ausübung  des  Guten  gar  nicht  zu  trennende  Über- 
zeugung von  der  Erhaltung  des  sittlichen  Kraftaufwandes.  ,,Es  ist  hier  nicht  ein 
Wunsch,  eine  Hoffnung,  eine  Überlegung  und  Erwägung  von  Gründen  für  und 
wider,  ein  freier  Entschluß,  etwas  anzunehmen,  dessen  Gegenteil  man  wohl  auch 
für  möglich  hält.  Jene  Annahme  ist  unter  Voraussetzung  des  Entschlusses,  dem 
Gesetze  in  seinem  Innern  zu  gehorchen,  schlechthin  notwendig;  sie  ist  unmittelbar 
in  diesem  Entschlüsse  enthalten;  sie  selbst  ist  dieser  Entschluß."  (Über 
den  Grund  unseres  Glaubens  usf.    Atheismusschr.  S.  9.) 

(3)  in  Hinsicht  auf  die  Frage  nach  der  Qualität  des  religiösen  Bewußt- 
seins. Nach  Forberg  ist  dieses  lediglich  eine  Maxime  des  Handelns,  eine  das 
Handeln  begleitende  Voraussetzung,  die  aber  sehr  wohl  falsch  sein  kann.  Nach. 
Fichte  ist  es  eine  dem  sittlichen  Handeln  immanente  und  an  der  Evidenz  des- 
selben teilnehmende  Überzeugung  vo!i  unumstößlicher  Gewißheit  und 
Objektivität.  „Der  entscheidende  Punkt  ...  ist  der,  daß  jener  Glaube  .  .  . 
nicht  etwa  vorgestellt  werde  als  eine  willkürliche  Annahme,  die  der  Mensch 
machen  könne  oder  auch  nicht,  nachdem  es  ihm  beliebe,  als  ein  freier  Entschluß, 
für  wahr  zu  halten,  was  das  Herz  wünscht.  .  .  .  Was  in  der  Vernunft 
gegründet  ist,  ist  schlechthin  notwendig;  und  was  nicht  notwendig  ist, 
ist  eben  darum  vernunftwidrig.  Das  Fürwahrhalten  desselben  ist  Wahn  und 
Traum,  so  fromm  auch  etwa  geträumt  werden  möge."  (Über  den  Grund  usf. 

S.  5.)  ,,Es  ist  daher  ein  Mißverständnis,  zu  sagen:  es  sei  zweifelhaft,  ob  ein 
Gott  sei,  oder  nicht.  Es  ist  gar  nicht  zweifelhaft,  sondern  das  Gewisseste, 
was    es   gibt,    ja    der    Grund    aller    anderen    Gewißheit,    das    einzige   ab- 


Ö2  Heinrich  Scholz: 

als  ein  Recht,  von  dem  er  Gebrauch  machen  darf,  wenn  er  seine 
Pflicht  getan  hat.  ,,Was  darf  ich  hoffen,  wenn  ich  getan  habe, 
was  ich  soll?"  Dies  ist  die  genaue  und  erschöpfende  Formel  der 
Religion  im  System  des  Kritizism.us.  ,,Ein  Glaube,  der  geboten 
Avird,  ist  ein  Unding",  heißt  es  treffend  in  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft.^) 


solut  gültige  Objektive."  (a.  a.  0.  S.  13.)  ,,Daß  das  Kantsche  ,Als-ob'  gegen 
mein  System  ist,  ist  wahr  und  klar."  (22.  April  1799  an  Reinhold;  Fichtes  Leben 
und  literarischer  Briefwechsel,  IP,   1862,  S.  253.) 

Fragt  man  (4),  wie  Fichte  sich  zu  der  Forbergschen  Idee  einer  Pflicht- 
religion verhält,  so  ist  zu  antworten,  daß  er  zu  dieser  Idee  überhaupt  nicht  aus- 
drücklich Stellung  genommen  hat,  daß  er  sie  indessen  durch  seinen  ganz  anders- 
artigen Aufriß  implicite  ablehnt.  Sein  Grundbegriff  ist  der  der  Vernunftreligion; 
und  was  ,,in  der  Vernunft  gegründet  ist,  ist  schlechthin  notwendig"  (siehe  oben), 
ohne  daß  man  deshalb  geradezu  von  einer  Pflicht  zur  Anerkennung  desselben  zu 
sprechen  braucht.  Der  Glaube  (des  sittlich  handelnden  Menschen)  an  eine  mora- 
lische Weltordnung  ist  vernunftgemäß  und  vernunftnotwendig;  wer  ihn  ablehnt, 
setzt  sich  aus  der  Vernunftordnung  heraus  und  weigert  sich,  zu  denken,  was  er 
mitdenken  muß  (den  zur  Durchsetzung  des  Guten  in  der  Welt  erforderlichen  trans- 
subjektiven Faktor),  um  vernünftigerweise  sittlich  handeln  zu  können. 

^)  S.  184  der  Vorländerschen  Ausgabe.  —  Hiermit  erledigt  sich  auch  die  Be- 
hauptung, die  Niethammer,  der  Herausgeber  des  Philosophischen  Journals, 
schon  1796,  also  zwei  Jahre  vor  Forberg,  im  ersten  Heft  des  vierten  Bandes  seiner 
Zeitschrift,  in  den  ,, Philosophischen  Briefen  über  Religions- Indifferentismus  und 
einige  damit  verwandte  Begriffe",  vorgetragen  hat.  ,,In  der  kritischen  Philosophie 
geht  die  Religionswissenschaft  von  der  Überzeugung,  als  ihrem  Fundamente, 
aus:  daß  Religion  Pflicht  sei."  Freilich,  ,,was  hier  als  Pflicht  gefordert  wird, 
ist  nicht  Religion  in  der  dogmatizistischen  .  .  .  Bedeutung.  Nach  der  kritischen 
Philosophie  bedeutet  Religion  in  jener  Forderung  nichts  anderes  als  die  Ge- 
sinnung, seine  Pflichten  als  Gebote  der  Gottheit  zu  betrachten. 
Diese  Gesinnung  ist  Pflicht,  ehe  noch  jene  Überzeugung,  welche  das  Dasein  Gottes 
betrifft,  in  Frage  kommt.  Die  Pflichtvorschrift  fordert  also  hier  auch  nicht  diese 
Überzeugung,  sondern  lediglich  jene  Gesinnung,  bei  der  es  ganz  und  gar  nicht 
darauf  ankommt,  zu  wissen,  ob  die  Pflichten  wirklich  Gebote  der  Gottheit  seien," 
(a.  a.  0.  S.  52.)  ,, Unsere  Pflichten  uns  als  Gebote  der  Gottheit  vorzustellen 
und  diese  Vorstellung  zur  bleibenden  Gesinnung  in  uns  zu  erhöhen,  das  ist  unsere 
Religion."  (a.  a.  O.  S.  59.)  Es  ist  zugleich  die  ,,Idee",  mit  der  wir  ,,das  ganze 
Pflichtgebiet  umfassen".  ,,Von  diesem  Standpunkt  aus  erblicke  ich  das  Ideal, 
welches  ich  mir  als  das  Ziel  meines  gesamten  Handelns  vorgeschrieben  habe  —  das 
Ideal  des  höchsten  Gutes  —  in  seiner  ganzen  Reinheit  und  in  seiner  höchsten  Voll- 
endung. Zu  dieser  Idee  mich  zu  erheben,  ist  Pflicht;  und  der  Glaube,  den  meine 
Philosophie  postuliert,  betrifft  die  praktische  Realität  dieser  Idee,  d.h.  den 
Glauben,  daß  jenes  Ideal,  nach  dem  ich  streben  soll,  keine  Schimäre  sei.  Von 
einer  theoretischen  Realität  ist  aber  hier  in  keiner  Rücksicht  die  Rede.  Wer 
hier  für  die  Erkenntnis  des  Daseins  Gottes  oder  auch  selbst  für  die  theoretische 
Realität  jener  Idee  des  höchsten  Gutes  etwas  zu  gewinnen  hofft,  muß  einen  ganz 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  5» 

Daß  es  sich  wirklich  so  verhält,  ergibt  sich  aus  einem  Über- 
blick über  das  Gefüge  des  Kritizismus.  Wir  geben  dieser  Über- 
schau absichtlich  eine  freiere  Gestalt,  um  die  innere  Struktur  des 
Kantischen  Lehrgebäudes,  wie  sie  sich,  losgelöst  von  den  Zufällig- 
keiten seiner  äußeren  Entstehung,  dem  Auge  des  nachschaffenden 
Beobachters  darstellt,  möglichst  rein  hervortreten  zu  lassen,  i) 

irrigen  Begriff  vom  praktischen  Glauben  haben.  Ob  das  Ideal  des  höchsten 
Gutes  jemals  (in  irgendeiner  Zeit)  von  mir  werde  erreicht  werden,  weiß  ich 
nicht  und  kann  ich  nicht  wissen;  dies  kann  ich  also  auch  nicht  (als  etwas,  das  ge- 
schehen wird)  glauben.  Aber  das  weiß  ich,  daß  ich  danach  streben  soll,  es  zu 
erreichen;  und  darum  glaube  ich,  daß  es  erreichbar  für  mich  (d.  h.  es  mir  zur 
Aufgabe  zu  machen,  nicht  Schwärmerei)  sei."    (a.  a.  0.  S.  53.) 

Dieser  Niethammersche  Gedankengang  ist  eine  so  offenbare  Antezipation 
des  Forbergschen  Programms,  daß  trotz  der  immanenten  Logik,  die  unter  Voraus- 
setzung des  Begriffes  der  Pflichtreligion  einen  solchen  Gedankengang  nötig  macht, 
eine  Beeinflussung  Forbergs  durch  diesen  Aufsatz  wahrscheinlich  ist.  Um  so 
mehr,  als  Forberg  schon  damals  zu  den  Mitarbeitern  (und  also  wohl  auch  zu  den 
aufmerksamen  Lesern)  des  Journals  gehörte.  Vgl.  seinen  Aufsatz  ,,Über  den  Ur- 
sprung der  Sprache"  im  zweiten  Heft  des  dritten  Bandes  1795;  ferner  die  Ab- 
handlung über  die  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Körper,  im  dritten  Heft  des 
vierten  Bandes  1796;  Briefe  über  die  neueste  Philosophie,  im  ersten  Heft  des  sechsten 
Bandes  1797;  Über  den  Geist  des  Lutheranismus,  im  dritten  Heft  des  sechsten 
Bandes  1797;  Briefe  über  die  neueste  Philosophie  (zweiter  Teil)  und  Versuch  einer 
Deduktion  der  Kategorien,  im  vierten  Heft  des  siebenten  Bandes   1797. 

Wenn  Forberg  seinen  Religionsbegriff  unter  Niethammers  Einfluß  kon- 
zipiert hat,  so  erklärt  es  sich  auch  nachträglich,  warum  er  den  Begriff  der  Pflicht- 
religion ohne  nähere  Begründung  als  den  dem  System  des  Kritizismus  allein  ent- 
sprechenden vorausgesetzt  hat.  Er  lag  sozusagen  in  der  Luft,  wenigstens  in  der 
Luft  des  Kreises,  dem  Forberg  angehörte  und  für  den  er  in  erster  Linie  geschrieben 
hat.  —  Jedenfalls  ist  der  umfangreiche  Niethammersche  Aufsatz, 
von  dem  hier  nur  eine  Probe  gegeben  werden  konnte,  das  erste, 
dem  Forbergschen  um  mehrere  Jahre  vorausgehende  Dokument  einer 
konsequenten  Religionsphilosophie  des  Als-ob. 

^)  Es  muß  wohl  jeder,  der  sich  ernsthaft  und  eindringend  mit  Kants  Religions- 
philosophie beschäftigt  hat,  zu  der  Überzeugung  gelangen,  daß  ,,die  Religionsphilo- 
sophie des  kritischen  Idealismus  in  keiner  Kantischen  Schrift  in  voller  Konsequenz 
dargestellt  ist"  (A.  Schweitzer  in  seiner  nicht  genügend  beachteten  Arbeit  über 
die  Religionsphilosophie  Kants  von  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  bis  zur  Re- 
ligion innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft,  1899,  S.  314).  Vaihingers 
Analyse  in  der  ,, Philosophie  des  Als-ob"  ist  der  beste  und  lehrreichste  Kommentar 
zu  diesem  Urteil.  Aus  diesem  Grunde  versuche  ich  zunächst,  die  unzweifelhaften 
Grundgedanken  des  Kritizismus  in  ihrer  inneren  Konsequenz  bis  zu  den  religions- 
philosophischen Ergebnissen  zu  entwickeln,  und  zwar  unter  Bevorzugung  des  ein- 
fachsten Ausdrucks  und  unter  möglichstem  Verzicht  auf  den  Kantischen  Sprach- 
gebrauch, durch  dessen  beständige  Wiederholung  die  Aufklärung  der  Kantischen 
Gedanken  nicht  gefördert  wird. 


64 


Heinrich  Schok: 


Man  bestimmt  die  Aufklärungsrcligion  nicht  genau  genug, 
wenn  man  sie  bloß  als  Vernunftrcligion  bezeichnet.  Denn  eine 
Vernuiiftschöpfung  durch  und  durch  ist  auch  die  von  Kant  ins 
Auge  gefaßte  Rehgion.  Sie  ist  —  oder  will  es  wenigstens  sein  — 
eine  Schöpfung  der  reinen  Vernunft.  ,, Religion  innerhalb  der 
Grenzen  der  bloßen  Vernunft"  ist  schon  ein  Zugeständnis  an  die 
Geschichte,  hier  an  die  Herrschaft  des  Christentums,  dem  man 
durch  die  Unterscheidung  von  Form  und  Gehalt  und  durch  An- 
näherung an  die  Religion  der  reinen  Vernunft  die  innere  Bedeutung 
verschaffen  kann,  die  seiner  äußeren  Machtstellung  entspricht. 
Indessen,  die  hiermit  ergriffene  Aufgabe  ist  schon  mehr  ein  Stück 
praktischer  Religionspolitik  als  ein  Problem  der  eigentlichen  Re- 
ligionsphilosophie. Diese  hat  nur  eine  einzige  Aufgabe :  die  Kon- 
struktion der  reinen  Vernunftreligion. 

In  dieser  Hinsicht  ist  Kant  dezidierter  Rationalist.  Es  gibt 
wohl  kein  größeres  Mißverständnis  der  Vernunftkritik,  als  die 
immer  noch  verbreitete  Annahme,  daß  der  zur  Ablösung  des 
,, Wissens"  bestimmte  ,, Glaube"  etwas  über  alle  Vernunft  Hinaus- 
liegendes sei.  Er  ist  eine  Vernunftschöpfung,  so  gut  wie  das  Wissen; 
und  man  braucht  sich  nur  an  die  beiden  Abhandlungen:  ,,Was  heißt : 
sich  im  Denken  orientieren.''"  und  über  den  ,, vornehmen  Ton  in  der 
Philosophie"  zu  erinnern,  um  einzusehen,  in  welchem  Grade  Kant 
auch  als  Religionsphilosoph  konsequenter  Rationalist  gewesen  ist. 

Freilich,  es  ist  eine  andere  als  die  am  Aufbau  des  ,, Wissens" 
beteiligte  Vernunft,  aus  der  der  Kantische  ,, Glaube"  entspringt. 
Fjs  ist  nicht  die  Vernunft,  die  das  Denken  erzeugt  und  den  Er- 
kenntnisprozeß beherrscht,  sondern  die  Vernunft,  die  den  Willen 
erregt  und  sich  durch  diesen  in  Handlungen  ausdrückt.  Eine 
Funktion  dieser  Vernunft  ist  der  Kantischc  Glaube.  Er  ist  ein 
ethisch  fundiertes  Vernunftphänomen;  durch  die  ethische  Fun- 
dicrung  unterscheidet  er  sich  von  dem  Glauben  der  Aufklärungs- 
religion,  der  ein  logisch  fundierter  Vernunftglaube  sein  will.  Ver- 
nunftprodukte sind  beide  Religionen;  insofern  ist  Kant  der  Voll- 
ender der  Aufklärung,  auch  auf  religionsphilosophischem  Gebiet.^) 

')  Es  ist  daher  auch  nicht  richtig,  ihn  mit  Mendelssohn  den  All  zermalm  er 
zu  nennen;  denn  das  ist  er  nur  in  Hinsicht  auf  den  unkritischen  Vernunftgebrauch^ 
keineswegs  aber  in  Hinsicht  auf  den  Vemunftgebrauch  überhaupt  gewesen.  Viel- 
mehr hat  er  den  latenten  Umfang  der  reinen  Vernunft  einerseits  in  seiner  Theorie 
der  Erfahrung,  andererseits  in  seiner  Ethik  mit  einer  Eindringlichkeit  nachgewiesen, 
deren  Ergebnis  vielmehr  als  eine  Stärkung  und  Steigerung  des  Systems  der  pro- 
duktiven Vernunft  zu  bezeichnen  ist. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  65 

Mit  der  Aufklärung  teilt  er  auch  die  starken  metaphysischen  und 
weltanschaulichen  Interessen;  und  man  kann  sein  Werk  in  einer 
nachschaffenden  Betrachtung  vielleicht  nicht  besser  verständlich 
machen,  als  indem  man  es,  anstatt  immer  wieder  an  die  synthe- 
tischen Urteile  a  priori  anzuknüpfen,  vielmehr  als  einen  mit  den 
außerordentlichsten  Folgen  für  die  Wissenschaftslehre  verknüpften 
Versuch  einer  weltanschaulichen  Neuorientierung  auf  kritischer 
Grundlage  interpretiert. i) 

Aber  die  sittlich  schöpferische  Vernunft,  auf  der  der  Kantische 
Glaube  aufruht,  ist  von  der  theoretischen  nach  Kant  nicht  nur 
dem  Grade,  sondern  der  Art  nach  verschieden.  Jene  ist  in  ihrer 
Funktion  an  das  Dasein  von  Dingen  gebunden,  wenn  anders  sie 
mehr  sein  will  als  ein  mit  sich  selbst  und  seinen  Gebilden  beschäf- 
tigtes Denken,  wenn  sie  der  Erleuchtung  des  Wirklichen  dienen 
will,  und  nicht  nur  der  Aufklärung  dessen,  was  wahr  ist,  ohn- 
wirklich  zu  sein  oder  wirklich  sein  zu  müssen.  Anders  die  prak- 
tische Vernunft.  Sie  ist  in  ihrer  Gesetzgebung  unbedingt.  Sie 
fragt  nicht,  ob  der  Wille,  dem  sie  gebietet,  auch  zu  gehorchen  im- 
stande ist ;  sie  fordert  vielmehr,  daß  er  kann,  was  er  soll,  aus  keinem 
anderen  Grunde,  als  weil  er  es  soll,  und  weil  er  dadurch  —  und 
dadurch  allein  —  zu  einem  reinen,  freien  und  guten  Willen  wird. 
Rein,  frei  und  gut  sind  hier  eigentlich  nur  drei  verschiedene  Namen 
für  eine  und  dieselbe  Sache.  Der  Wille  heißt  rein,  insofern  er  dem 
Vernunftprinzip  unterworfen  ist.  Ein  gefühlsmäßig  bestimmter 
Wille  würde  im  Kantischen  Sinne  auch  dann  ein  ,, unreiner"  Wille 
sein,  wenn  er  in  Hinsicht  auf  seine  sittliche  Qualität  untadelig 
wäre.  Der  reine,  d.  i.  der  vernunftbestimmte  Wille  ist  aber  zu- 
gleich ein  freier  Wille,  insofern  die  Abhängigkeit  von  der  Vernunft 
die  Unabhängigkeit  von  allem  in  sich  befaßt,  was  nicht  mit  dieser 
Vernunft  identisch  ist.  Und  dieser  Wille  ist  schließlicli  gut,  nicht 
weil  er  zu  bestimmten  Zwecken  tauglich  ist,  sondern  weil  er  die 
Vernunftqualität  des  Menschen,  also  das,  was  ihn  nach  Kant 
von  allen  übrigen  Weltwesen  der  Art  nach  unterscheidet,  auf 
ihrer  höchsten,  zwar  immer  noch  sinnlich  beschränkten,  aber  nicht 
mehr    sinnlich    bedingten    Stufe    offenbart.      So    dienen    alle    drei 


1)  Daß  die  Kritik  der  Aufklärungsmetaphysik  das  eigentliche  Thema  der 
Vemunftkritik  ist  und  demgemäß  der  Aufbau  dieser  Metaphysik  den  Schlüssel 
zur  Struktur  der  Vernunftkritik  liefert,  hat  neuerdings  —  nach  Riehl  —  Benno 
Erdmann  erleuchtend  gezeigt  in  seiner  schönen  Akademieabhandlung  über  die 
Idee  von  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Berlin  1917. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  5 


56  Heinrich  Scholz: 

Prädikate  dazu,  die  Unbcdingtheit  der  praktischen  Vernunft  ins 
Liciht  zu  setzen  und  dieser  selbst  eine  Würde  zu  erteilen,  an  der 
dann  auch  die  Spekulationen,  die  sich  an  ihre  Gesetzgebung  an- 
schließen, in  eigentümlicher  Weise  teilnehmen.  Durch  diese  tief- 
sinnigen Entdeckungen  ist  Kant  der  Überwinder  der  Auf- 
klärung geworden;  und  zwar  hat  er  die  Aufklärung  nicht,  wie  die 
gleichzeitigen  Gcfühlsphilosophen  und  hernach  die  Romantiker, 
durch  eine  Abschwächung  der  Vernunft,  sondern  durch  eine  Ver- 
tiefung und  Staffelung  derselben  überwunden. 

Diese  Staffelung  hat  in  dem  berühmten  Theorem  vom  Primat 
der  praktischen  Vernunft  ihren  klassischen  Ausdruck  gefunden. 
Dieser  Primat  bedeutet  nicht,  was  auch  heute  noch  ausdrücklich 
bemerkt  werden  muß,  daß  wir  im  Leben  annehmen  dürfen,  was 
wir  im  Denken  verwerfen  müssen  —  einen  so  groben  und  brüchigen 
Dualismus  hätte  man  Kant  nie  unterstellen  sollen.  Er  bedeutet 
auch  nicht  eine  Überordnung  des  Wertvollen  über  das  Wirkhche, 
wie  eine  feinere  Auslegung  annimmt;  denn  das  Wertvolle  kann 
dadurch  allein,  daß  es  wertvoll  ist,  ebensowenig  wirklich  werden, 
wie  das  Denknotwendige  dadurch  allein,  daß  es  denknotwendig 
ist.  Der  Primat  der  praktischen  Vernunft  muß  etwas  anderes 
bedeuten;  und  es  ist  bei  einiger  Überlegung  nicht  schwer,  zu  sehen, 
was  er  bedeutet.  Er  bedeutet  den  Vorrang  der  sittlich  schöpfe- 
rischen vor  der  intellektuellen  Vernunft  in  Hinsicht  auf  die  Fragen 
der  Weltanschauung. 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hat  gezeigt,  daß  die  Inhalte 
des  religiösen  Bewußtseins  sich  durch  logische  Spekulation  nicht 
hervorbringen  lassen.  Sie  lassen  sich  deshalb  nicht  hervorbringen, 
weil  keine  Logik  imstande  ist,  den  Gegenständen  ihrer  Begriffe 
durch  bloße  Zergliederung  Existenz  zu  verschaffen,  falls  unter 
Existenz  die  objektive,  bewußtseinsunabhängige  Daseinsform  ver- 
standen wird.  Diese  ist  vielmehr  stets  etwas  Gegebenes,  etwas, 
was  sich  in  der  Anschauung  vorfindet  und  nur  durch  einen  Wahr- 
nchmungsakt  erfaßt,  aber  nicht  durch  Begriffe  erzeugt  werden 
kann.  Insofern,  also  in  Hinsicht  auf  ihr  Verhältnis  zum  reinen 
Denken,  sind  alle  Existentialurteile  syntlictisch.  Sie  setzen  etwas 
voraus,  was  nur  anschaulich  wahrgenommen,  aber  nie  logisch 
erzeugt  werden  kann.^) 


*)   Nur   unter    Voraussetzung   dieses    freilich    heiß    umstrittenen    ,, Realismus" 
ist  es  möglich,  den   Kantischen   Stoß  gegen  die  Aufklärungsmetaphysik  überhaupt 


Die  Reli^ionsphüosapbie  des  Ali-ob.  07 

Über  die  Wirklichkeit  oder  Nichtwirklichkeit  der  Gegenstände 
des  religiösen  Bewußtseins  ist  hiermit  offenbar  noch  gar  nichts 
entschieden,  man  müßte  denn  den  Umfang  des  Wirklichen  mit 
dem  des  sinnlich  Gegebenen  gleichsetzen;  indessen,  dies  ist  unter 
dem  Gesichtspunkt  des  Kritizismus  eine  unkritische,  weil  un- 
beweisbare Einschränkung  des  Wirklichen.  Fs  kann  wohl  sein, 
daß  der  Positivismus  recht  hat  und  daß  das  Wirkliche  überhaupt 
mit  dem  sinnhch  Gegebenen  zusammenf älh ;  aber  ein  Wissen  hier- 
über besitzen  wir  nicht,  und  es  ist  vom  Standpunkt  des  Kritizismus 
aus  nicht  nur  erlaubt,  sondern  sogar  geboten,  die  MögUchkeit, 
daß  der  Umkreis  des  Wirklichen  über  die  Sphäre  des  sinnlich  Ge- 
gebenen hinausreicht,  beständig  im  Auge  zu  behalten  —  mag  diese 
MögUchkeit  für  die  empirische  Forschung  auch  noch  so  leer  und 
bedeutungslos  sein.  Entschieden  ist  durch  die  Kantische  Kritik 
der  Aufklärungsmetaphysik  vielmehr  nur  dies,  daß  wir  uns  durch 
reines  Denken  allein  von  der  Wirklichkeit  der  Gegenstände  des 
religiösen  Bewußtseins  niemals  überzeugen  können.  ,, Widerlegt** 
ist  die  Wirklichkeit  dieser  Gegenstände  damit  nicht  im  geringsten; 
sie  bleiben  vielmehr  auch  nach  dieser  Kritik,  wie  KaTttsich  einmal 
glückhch  ausgedrückt  hat,  ,, Gedanken,  in  denen  nichts  Unmög- 
hches  ist".^ 

Dann  fragt  es  sich,  ob  wir  Ursache  haben,  aus  anderen  Gründen 
von  der  Wirklichkeit  der  Gegenstände  des  religiösen  Bewußtseins 
überzeugt  zu  sein.  Diese  Frage  kann  nur  durch  eine  Untersuchung 
der  Qualität  dieser  Gründe  entschieden  werden.  Wenn  es  über- 
haupt solche  Gründe  gibt,  so  werden  sie  folgendermaßen  beschaffen 


verständlich  tu  machen;  denn  wenn  das  Denken  imstande  ist,  den  Gegenstand 
der  Erkenntnis  zu  ,, schaffen",  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  es  in  seinen  Schöp- 
fungen auf  sinnliche  Gegenstände  eingeschränkt  sein  soll.  Es  ist  dann  sogar  nur 
folgerichtig,  über  diese  Grenze  hinauszugehen  und  den  empirischen  Wirklichkeit»- 
schöpfungen  solche  von  metaphysischer  Qualität  zur  Seite  zu  stellen.  Spinota 
und  die  deutschen  Idealisten  hätten  recht,  und  die  kühnste  Metaphysik  würde  Tom 
Standpunkt  des  Kritizismus  aus  unangreifbar  geworden  sein.  So  wichtig  sind  die 
realistischen  Voraussetzungen  für  die  Stoßkraft  des  Kritizismus.  Es  wäre  eine 
lohnende  Aufgabe,  einmal  die  ganze  Kritik  der  reinen  Vernunft  unter  diesem  Gesidits- 
punkt  durchzuinterpretieren  —  einmal  zu  fragen,  was  diese  Vemunftkritik  sein 
mu6,  um  die  Aufklärungsmetaphysik  zertrümmern  zu  können. 

*)  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Ausgabe  Vorländer,  S.  17a.  —  Ich  be- 
merke hier  ein  für  allemal,  daß,  wenn  nichts  anderes  bemerkt  ist,  Stellen  aus  der 
Vemunftkritik,  der  Kritik  der  Urteibkraft  und  der  , Religion  innerhalb"  nach  den 
Seitenzahlen  der  zweiten  Ausgabe,  die  übrigen  Werke  nach  den  Seitenzahlen  der 
Vorländerschen  Ausgaben  in  der  Philosophischen  Bibliothek  angeführt  sind. 


^g  Heinrich  Scholz: 

sein  müssen:  es  werden  erstens  Vernunft  gründe  sein  müssen,  und 
zweitens  solche,  die,  da  die  intellektuelle  Vernunft  versagt  hat, 
in  den  Tatsachen  des  sittlichen  Bewußtseins  verankert  sind. 

Das  sind  sie;  und  zwar  durch  eine  Überlegung,  die  sich  auf 
die  objektiven,  d.  i.  nicht  mehr  vom  Willen  des  sittlichen  Sub- 
jekts abhängigen  Folgen  des  Guten  bezieht.  Es  unterliegt  nämJich 
nicht  nur  das  sogenannte  Naturgeschehen,  sondern  auch  das  sitt- 
liche Handeln  der  Betrachtung  unter  dem  Gesichtspunkt  von 
Grund  und  Folge.  Unter  dem  Einfluß  dieser  Betrachtung  zerlegt 
sich  das  sittliche  Tun  in  einen  doppelten  Faktor,  einen  subjektiven 
und  einen  transsubjektiven.  Der  subjektive  Faktor  ist  der  Wille; 
er  ist  der  erzeugende  Grund  des  sittlichen  Handelns.  Der  trans- 
subjektive Faktor  ist  der  Inbegriff  der  Gewalten,  die  den  Erfolg 
des  sittlichen  Handelns  bestimmen.  Hieraus  ergibt  sich,  daß  stets 
nur  ein  Teil  des  sittlichen  Gesamtprozesses  in  der  Gewalt  unseres 
Willens  steht.  Es  ist  die  Richtung  auf  das  sittliche  Handeln; 
der  Erfolg  ist  an  Bedingungen  geknüpft,  die  wir  entweder  über- 
haupt nicht  beherrschen  oder  nur  zufällig  und  in  einem  Umfange, 
der  nur  in  den  seltensten  Fällen  befriedigt.  Hier  setzen  vielmehr 
die  transsubjektiven  Mächte  ein,  die  über  den  Erfolg  unseres 
Handelns  entscheiden. 

Nun  ist  es  gewiß,  daß  der  sittliche  Wille  an  und  für  sich  nie 
durch  die  Rücksicht  auf  den  Erfolg  bestimmt  sein  kann.     Nicht 
einmal  ein  Mitbestimmungsrecht  darf  dieser  für  sich  in  Anspruch 
nehmen;  denn  der  sittliche  Wille  ist  als  ein  solcher  definiert,  der 
aus  dem  Vernunftquell  entspringt  und  dem  Vernunftgesetz  gemäß 
ist.     Diese   Bestimmung  ist  un\\iderruflich,   und  nur,   insofern  sie 
als  eine  solche  empfunden  wird,  ist  der  durch  sie  bestimmte  Wille 
ein  sittlicher.     Sobald  die  Rücksicht  auf  den  Erfolg  —  und  wäre 
dieser  noch  so  erhebend  —  an  die  Stelle  des  souveränen  Vernunft- 
gebots  tritt,  ist  der  Wille  schon  nicht  mehr  ,,rein",  also  auch  nicht 
mehr  sittlich  gut.     Der  subjektive  Faktor  des  sittlichen  Handelns 
ist  also  durch  die  Souveränetät  der  Vernunft  ein  für  allemal  fest- 
gelegt.    Dieser  Gedankengang  ist  in  sich  so  konsequent  und  von 
Kant  so  vielseitig  eingeschärft  worden,   daß  die  wenigen  anders 
lautenden    Stellen    demgegenüber    völUg    bedeutungslos    werden. 
Sie  sind  Nachklänge  einer  grundsätzlich   überwundenen  Denkart, 
wie  sie  uns  bei  allen  grofJen  Überwindern  begegnen  —  nichts  weitt  r. 
Gleichwohl  liegt  es  im  Wesen  der  Vernunft,  nach  den  Folgen 
des  sittlichen  Handelns  zu  fragen.    Es  ist  dies,  wie  Kant  sich  aus- 


Die  Religionsphiloaiophie  des  AL>-ob.  6q 

drückt,  ein  unabweisliches  Vernunft bedürfnis,  das  man  zwar  sub- 
jektiv unterdrücken,   aber  nicht  objektiv  ausrotten  kann.     Denn 
erstens  ist  die   Betrachtung  der  Dinge  unter  dem   Gesichtspunkt 
von  Grund  und  Folge  eine  an  sich  der  Vernunft  gemäße  Betrachtungs- 
art.    Kant  hat  das  zwar  in  diesem  Zusammenhange  nicht  aus- 
drücklich eingeschärft;  aber  ein  Gedanke  vric  dieser  hat  ihm  un- 
zweifelhaft vorgeschwebt,  wenn  er  das  hier  obwaltende  Vemunft- 
interesse  immer  wieder  so  stark  betont.      Es  ist   also   keinesfalls 
eine  Schwäche  der  menschlichen  Vernunft,  die  in  der  Frage  nach 
den   Folgen- des  sittlichen   Handelns   zum  Ausdruck  kommt.     Es 
ist  vielmehr  gleichsam  das  Wesen  der  V^ernunft.   Von  einer  Schwäche 
würde  nur  dann  zu  reden  sein,   wenn  das   Nachdenken  über  die 
Folgen   des  sittlichen   Handelns   auf  den   Grund   dieses   Handelns 
bestimmend    zurückwirkte;    dieser    Fall    aber    ist    ausgeschlossen. 
Nicht   die   Rücksicht   auf   die    Folgen  setzt   den  sittlichen   Willen  . -• 
in    Bewegung,    sondern    umgekehrt:    die    zum   sittlichen    Handeln' 
drängende   Vernunft    bringt   erst   die   Frage   nach   den   Folgen   in 
Gang.     Und  hier  stoßen  wir  auf  einen  zweiten  Punkt,  der  für  die 
weitere  Entwicklung  wichtig  ist.     Das  Beispiel  der  Stoiker  beweist, 
daß  die  Frage  nach  den  Folgen  des  sittlichen  Handelns  allerdings 
unterdrückt    werden    kann.      Soweit   dies    zum    Zweck   der    Rein- 
erhaltung  des    Willens   geschieht,    ist   eine   solche    Unterdrückung 
ein  sittlicher  Akt  und  die  erste  sittliche  Tat  des  Menschen.     Aber 
nicht    darüber   hinaus.      Sobald   der   sittliche   Wille   gestählt,    das 
sittliche    Handeln   gesichert    ist,    ist   die    Frage    nach   den    Folgen 
nicht  nur  berechtigt,   sondern  selbst  gewissermaßen  eine  sittliche 
Frage.     Es  kann  uns  nach  Kant  gar  nicht  gleichgültig  sein,  was 
aus   dem  sittlichen   Handeln  folgt,   wenn  dieses  seiner    Idee  ent- 
spricht; eine   Gleichgültigkeit  gc^en  diese    Frage  würde   nicht  auf 
srttliche  Stärke  hindeuten,  sondern  eher  auf  eine  Art  von  Mangel 
an  klarer  ethischer  Reflexion.     Denn  das  sittliche  Prinzip  ist  ein 
unbedingt   gebietendes    Vernunftprinzip.     Was    aber   die    Vernunft 
gebietet,    muß  selbst   wieder   vernünftig,    und   was   sie   unbedingt 
gebietet,    muß   demgemäß   auch    unbedingt    vernünftig  sein.      Ist 
aber  das  sittliche   Handeln  ein  erfolgloses  oder  auch   nur  in  alle 
Ewigkeit  fort  durch  unberechenbare  Gegenwirkungen  eingeschränkt 
und  dem  Zufall  ausgeliefert,  so  ist  es  wenigstens  für  unsere  Ver- 
nunft —  und  eine  andere  kennen  wir  nicht  —  eine  Art  von  un- 
vernünftigem   Handeln.      Nun   läßt    sich   freilich   der    Ausweg   ge- 
winnen, daß  unser  Vertrauen  zu  den  Forderungen  jener  unbedingt 


70 


Heinhck  Scholz: 


gebietenden  Vernunft  selbst  ein  unbedingtes  ist.  Dann  gewinnen 
wir  den  Standpunkt  jenes  heroischen  Idealismus,  der  sich  der  im 
Sittlichen  durchbrechenden  Vernunft  mit  einer  Art  von  blindem 
Vertrauen  ergibt.  Dieses  Vertrauen  ist  schön;  aber  ein  wirklich 
konsequenter  Rationalist,  wie  Kant  es  im  höchsten  Sinne  ge- 
vvesen  ist,  wird  über  das  blinde  Vertrauen  auch  dann  hinaus- 
zukommen suchen,  wenn  es  sich  auf  die  Vernunft  bezieht.  Er 
wird,  und  durchaus  mit  Recht,  versuchen,  es  in  ein  vernünftiges 
Vertrauen  zu  verwandeln. 

Das  kann  aber  nur  durch  eine  Spekulation  über  die  Folgen 
<ies  sittlichen  Handelns,  mithin  durch  eine  Betrachtung  über  die 
transsubjektiven  Faktoren  dieses  Handelns  geschehen.  Das  Er- 
gebnis diesei"  Spekulation  ist  die  Religion  im  Kantischen  Sinne, 
die  ethisch  fundierte  Vernunftreligion. 

Und  zwar  kann  diese  Spekulation  eine  doppelte  Richtung  nehmen. 
Sie  kann  sich  entweder  auf  das  sittliche  Subjekt  oder  auf  die  sitt- 
liche Funktion  beziehen.  Bezieht  sie  sich  auf  das  sittliche  Sub- 
jekt, so  entsteht  eine  Welt,  in  der  Charakter  und  Schicksal,  sitt- 
liche Kultur  und  Lebensgefühl  —  Kant  sagt  mit  der  Aufklärung 
,, Glückseligkeit"  —  in  genauem  Einklang  stehen,  mit  anderen 
Worten  eine  Welt,  in  der  das  Gesamtbefinden  des  sittlichen  Sub- 
jektes, also  das,  was  nicht  in  der  Macht  seines  Willens  steht*), 
seinem  Charakter  und  der  Höhe  seiner  sittlichen  Kultur,  also  dem, 
was  von  seinem  Willen  abhängt,  im  genauesten  Verhältnis  ent- 
spricht. Eine  solche  Welt  ist  für  uns  transzendent.  Sie  kann 
nur  als  das  Werk  eines  allmächtigen  sittlichen  Wcltschöpfers  ge- 
dacht werden;  und  das  sittliche  Subjekt  kann  sich  nur  unter 
Voraussetzung  der  Unsterblichkeit  als  lebendiges  Glied  dieser 
Weltordnung  denken.  Die  eudämonistische  Klangfarbe,  die  dieser 
Gedankengang  bei  Kant  infolge  der  reichlichen  Verwendung  des 
GlückseUgkeitsmotivs    unzweifelhaft    angenommen    hat,    hat    zwar 


')  Wie  Kant  sehr  fein  gegen  die  Stoiker  bemerkt,  freilich  wiederum  in  der 
Sprache  der  Aufklärung,  die  von  Glückseligkeit  spricht,  wo  wir  heute  richtiger 
.  Lebensgefahr*  sagen.  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  S.  I43f.  ..Man  muß 
bedauern,  daß  die  Scharfsinnigkeit  dieser  Männer  .  .  .  unglücklich  angewandt  war, 
zwischen  äußerst  ungleichartigen  Begriffen,  dem  der  Glückseligkeit  und  dem  der 
Tugend,  Identität  zu  ergrübein."  Die  Konzentration  des  Lebcnsgefühls  auf  das 
Selbstbewußtsein  dir  Tugendhaftigkeit  ist  und  bleibt  eine  Reduktion,  und  zwar 
nnc  solche,  die  der  tiefsten  Erfahrung  des  Lebens  widerspricht.  Der  religiöse 
Verheißungsgedanke  ist  das  mit  Unrecht  so  oft  zurückgewiesene,  weil  mißverstandene 
Korrektiv  dieser  Einseitigkeit. 


Die  Religionsphilosciphie  des  Aii-ob.  7  I 

von  Anfang  an  mit  Recht  die  Kritik  der  dezidierten  Idealisten 
hcrvorgemfeu;  aber  sie  liegt  vielleicht  doch  nur  an  der  Oberfläche. 
Denn  die  moralische  Wek  ist  nach  Kant  als  eine  solche  zu  denken, 
die  "wir,  wie  Kant  einmal  fein  bemerkt  hat,  auf  Grund  unserer 
sittlichen  Urteilskraft  „ganz  parteilos"  fordern,  selbst  auf  die 
Gefahr  hin,  daß  wir  uns  ihrer  nicht  würdig  fühlen  und  Ursache 
haben,  uns  von  dem  Genuß  ihrer  Güter  auszuschließen.*)  Es 
ist  also  mindestens  der  Idee  nach  eine  Welt,  die  den  höchsten 
sittlichen  Ansprüchen  genügt,  mag  auch  der  Gehalt,  den  Kant 
ihr  durch  die  Reflexion  auf  das  sittliche  Subjekt  erteilt  hat,  dieser 
Idee  nicht  angemessen  sein.  Man  hat  diesen  wichtigen  Unter- 
schied von  Anfang  an  nicht  genügend  beachtet  und  daher  mit 
Unrecht  geglaubt,  durch  Nachweisung  jenes  eudämonistischen 
Gehaltes  die  Kantische  Spekulation  als  solche  entwurzeln  zu 
können.  Sie  mag  aus  anderen  Gründen  anfechtbar  sein  (worüber 
hier  nicht  zu  urteilen  ist):  aus  diesem  Grunde  ist  sie  es  nicht, 
wenigstens  nicht  im  Prinzip  —  und  darauf  kommt  es  hier  an.*) 
Es  ist  aber  auch  möglich,  in  der  Diskussion  der  Folgen  des 
sittlichen  Handelns  vom  sitthchen  Subj<kt  ganz  abzusehen  und 
sich  auf  die  sittliche  Funktion  zu  beschränken.  So  hat  es  Fichte 
später  gemacht,  und  bei  Kant  finden  sich  wenigstens  bedeutsame 
Ansätze  zu  einer  solchen  Betrachtungsart.*)  Die  Unbcdingtheit, 
Fiiit  der  das  Gute  sich  durch  Vermittelung  der  Vernunft  unserm 
Willen  aufdrängt,    läßt  dieses  als   höchsten   WVrt   erscheinen.      Ist 


*)  Religion  innerhalb,  S.  IX. 

*)  Kant  bat  diese  Form  seiner  Religionskonstruktion,  die  einzige,  die  er 
wirklich  durchgebildet  hat,  bekanntlich  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft, 
als  Lehre  vom  höchsten  Gut,  entwickelt;  präziser  und  idealistischer,  als  moralischen 
Beweis  des  Daseins  Gottes,  in  §  87  der  Kritik  der  Urteilskraft. 

■)  Vgl.  die  ausführliche  und  lehrreiche,  aber  durch  übertreibenden  Scharf- 
sinn entstellte  Arbeit  von  A.  Schweitzer,  Die  Religionsphilosophie  Kants  von 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  bis  zur  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloBcn 
Vernunft,  1899,  besonders  S.  4iff.,  S.  i88ff.,  S.  292ff..  S.  297 ff-,  S.  3ioff.  —  Das 
bjgebnis  des  Scbweitzerschen  Buches  ist  die  Feststellung  ..des  Nebeneinander« 
zweier  großer  Gedankengänge,  welche  in  dem  .  .  .  Verlauf  der  Eüitwicklung  der 
Kantischen  Religionsphilosophie  in  immer  schärfiren  l'mrissen  sich  voneinander 
abheben.  Der  erste  derselben,  welcher  auf  die  generelle  Betrachtungsweise  an- 
Kcl^  ist  und  die  moralische  Menschheit  als  solche  zum  Subjekt  hat,  erscheint 
«ieder  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  und  vollendet  sich  in  der  Religion  innerhalb 
der  Grenzen  der  bloßen  Vernunft.  Der  zweite  Gedankengang,  welcher  das  iso- 
lierte moralische  Wesen  zum  Subjekt  hat,  entwickelt  sich  zu  »einer  vollen 
Konsequenz  und  Einseitigkeit  in  der  .  .  .  Kritik  der  praktischen  Vernunft"  (S.  312 f.). 


«2  Heiorich  Scholz: 

fs  aber  der  höchste  Wert,  so  hat  es  auch  ein  Anrecht  darauf,  die 
höchste  Macht  in  der  Welt  zu  sein.  Mit  anderen  W^orten:  der 
Erfolg  des  sittlichen  Handelns,  objektiv  vorgestellt,  kann  nur 
;ils  die  allmähhche  und  schließlich  endgükige  Überwindung 
des  Nichtguten  durch  das  Gute  gedacht  werden.  Wie  man 
sich  diesen  Prozeß  nun  :tuch  vorstellen  mag,  jedenfalls  ist  er  nur 
•/u  denken,  wenn  das  Gute  nicht  wirkungslos  geschieht;  und  das 
sittliche  Bewußtsein  unrd  sich  sogar  erst  dann  befriedigt  fühlen, 
wenn  der  objektive  Erfolg  des  Guten  in  einem  genauen  Verhältnis 
7X1  dem  subjektiven  sittlichen  Kraftaufwand  steht.  Dieser  von 
Kant,  wie  bemerkt,  nur  angedeutete  Gedankengang  führt  aber- 
mals auf  eine  Welt,  die  nur  als  das  Werk  <ines  allmächtigen  sitt- 
lichen Wcltschöpfers  gedacht  werden  kann,  und  an  der  der  sitt- 
liclie  Mensch  ebenfalls  nur  als  unsterbliches  Wesen  teilzunehmen 
x'crmag.*^ 

')  Man  vgl.  besonders  das  dritte  Hauptstück  der  ,, Religion  innerhalb",  mit 
der  charakteristischen  Überschrift:  Der  Sieg  des  guten  Prinzips  über  das  Böse  und 
dir  Gründung  eines  Reiches  Gottes  auf  Erden.     Daß  es  sich  in  der  Religionskon- 
siruktion  dieses  Stückes,  trotz  der  ersichtlichen  und  vielfach  störenden  Anlehnung 
an    den    biblisch-christlichen    Sprachgebrauch    und    Voi^tellungskreis,   um   die   Aus- 
fomiung  tiefsinniger,  aus  einem   echt   Kantischen   Interesse  an  der  Objektivierung 
des    Guten    entspringender    Ideen    handelt,    kann    bei    genauer    Betrachtung    nicht 
zweifelhaft  sein.     Das  höchste  Gui  ist  hier  der  mit  dem  Siege  des  guten  Prinrips 
iiber  das  Böse  verknüpfte  sittlich»-   Idealzustand;  und  der  Gottesglaiibe  entspringt 
hier  ,, eigentlich  .  .  .  nur  .  .  .  aus  dem  Vemunftbedürfnisse,  eine  Macht  anzunehmen, 
welche  den  sittlichen  Gesetzen  den  ganzen  in  einer  Welt  möglichen  .  .  .  Effekt  ver- 
schaffen kann"  (S.  M?)-     Die  Art,  wie  Kant  aus  diesem  neuen  Begriff  des  höchsten 
(Jutes  den  Glauben  an  das  Dasein  Gottes  ableitet  (S.  i3Qff.),  ist  zwar  sehr  mystisch 
und  unbestimmt,  und  man  muß  sich  darüber  wundem,  daß  Schweitzers  oft  über- 
treibender   Scharfsinn    an    der   logischen    Inzulänglichkeit    dieser    Ableitung   keinen 
.Anstoß  genommen  hat,  sondern  dieselbe  ..naturlich"  (S.  iqi)  findet  und  als  einen 
wunderbar   tiefen   Gedanken"   preist   (S.  170):   indessen,   das   Ziel  des  ganzen   Ge- 
dankenganges  ist  gleichwohl  durch    Kant   klar  vorgezeichnet.     ,,Weil  der   Mensch 
t^ie    mit    der    reinen    moralischen    Gesinnung    unzertrennlich    verbundene    Idee    des 
liochsten  Gutes  .  .  .  nicht  selbst  realisieren  kann,  ...  so  findet  er  sich  zum  Glauben 
an   die   Mit»-irkung  oder   Veranstaltung  eines  moralischen  Welturhcbers  hingezogen, 
ikodurch  dieser  Zweck  allein  möglich  ist"  (S.  210).     Gegeben  ist  also  (l)  der  Aus- 
gangspunkt: die  Konzeption  einer  moralischen  Welt,  in  der  das  Gute  die  alles  be- 
herrschende Macht   ist;   (2)  der   Zielpunkt;   die    Erkenntnis,  daß  eine   solche  Welt 
aus   den   Anstrengungen   der   sittlichen    Subjekte  allein   nicht   hervorgehen,  sondern 
nur  durch  Gott  realisiert  werden  kann.     Es  bleibt  also  nur  die  unter  solchen  Um- 
standen   verhiiltnismäßig    untergeordnete    Frage     kontrovers,    warun>    eine    solche 
Welt  nur  unter  der  Mitwirkung  Gottes  zustande  kommen  kann.     Diese  Frage  habe 
ich    im    Text,   unter   reinlicher    .\uisrheidung   «les    für   diesen    Gedankengang   durch 


Die  Religionsphilo- iphie  de»  Als-r)b.  j -t 

Religion  im  Kiintischcn  Sinne  ist  Jso  der  auf  dem  Ver- 
nunftinteiesse  an  den  Folgen  dos  sittlichen  Handelns 
aufruhende  Glaube  an  das  Dasein  Gottes  und  die  mit 
diesem  Glauben  verknüpfte  Hoffnung  auf  Unsterblich- 
keit.») F:s  ist  m  der  Anh-.ge  diescT  Religionskonstruktion  be- 
gründet, daß  Gott  in  ihr  als  Vollstrecker  der  sittlichen  Weltordnung 
gedacht  "wird;  denn  hierauf  Ix-raht  und  hierin  erschöpft  sich  zu- 
gleich die  Bedeutung  seiner  Existenz  für  das  sittliche  Interesse. 
Der  sittliche  Mensch  bedarf  des  Gottlichen  nur  in  Hinsicht  auf 
das  mit  dem  sittlichen  Handeln  verknüpfte  Interesse  an  der  Exi- 
stenz einer  sittlichen  Welt;  darüber  hinaus  hat  das  Dasein  Gottes 
für  ihn  keinen  Wert.  Entspringt  aber  das  religiöse  Interesse  aus 
den  metaphysischen  Konsequenzen  des  Pflichtbewußtseins  und 
dient  das  Dasein  Gottes  dem  Zweck,  diese  Konsequenzen  zu  reali- 
sieren, so  liegt  es  nahe,  beide  Gesichtspunkte  miteinander  zu  ver- 
knüpfen und  das  höchste  Wesen  als  ein  solches  zu  denken,  das, 
indem  es  für  die  Folgen  des  Sittlichen  einsteht,  auch  die  Voraus- 
setzung demselben,  mithin  das  Pflichtbewußtsein,  in  unmittelbarer 
Beziehung  zu  seinem  Willen  empfindet.  Dann  erscheint  die  Pflicht 
als  göttliches  Gebot  und  Religion  als  eine  Deutung  des  Sitten- 
gesetzes unter  dem  Gesichtspunkt  des  Göttlichen,  oder,  \;^ie'Kant 
sich  ausgedrückt  hat.  als  die  Erkenntnis  aller  unserer  Pflichten 
als  goiilicLcr  Gebote. 

Es  ist  aber  wichtig,  festzustellen,  daß  diese  berühmte  De- 
finition als  sekundär  zu  betrachten  ist.  Denn  jene  Deutung  hat 
nur  dann  einen  Wert,   wenn  sie   nicht   als  eine  willkürliche,  auch 


"ieine  Abwesenheit  charakteristischen  Glückseligkeitsniotivs.  mit  freier  Verwendung 
Ficbtescher  Gedanken  möglichst  schlicht  zu  beantworten  gesucht.  Es  scheint 
mir  ein  Vorzug  dieser  Antwort  zu  sein,  daß  sie  zugleich  das  Unsterblichkeitsmotiv 
aufnimmt,  das  bei  Kant  schon  im  Titel  —  ..Die  Gründung  eines  Reiches  Gottes 
auf  Erden"  —  und  vollends  hernach  in  der  Ausführung  zu  kurz  kommt,  während 
es  andererseits  gleichwohl  heißt  daß  ,,ohne  Glauben  an  em  künftiges  Leben  g*r 
keine  Religion  gedacht  werden  kann"  (S.  187).  Man  wird  also  die  im  Text  ver- 
suchte Vermittelung  zwischen  dem  Weltreich  de»  Guten  und  den  Ideen  von  Gott 
und  Unsterblichkeit  nicht  als  one  Fichtianisicrung  Kants  bezeichnen  dürfen, 
sondern  höchstens  als  einen  im  Interesse  der  Klarlegung  unternommenen  Versuch, 
Kant  ,, besser  zu  verstehen,  als  er  sich  selbst  verstanden  hat".  Daß  es  ohne  solche 
Versuche  eine  über  den  Buchstaben  hinauskomn>ende  Kantauslegung  nicht  gibt, 
darf  heute  als  allgemein  zugestanden  gelten. 

')  Eis  ist  wohl  kaum  nötJg.  ausdrücklich  zu  bemerken,  daß  Kant  unter  Un- 
■^terblichkeit  «mmer  nur  die  Fortdauer  der  vernünftigen  Persönlichkeit  versteht 
(Kritik  der  praktischen  Vernunft,   S.  156). 


-A  Heinrich   ScboU: 

nicht  als  eint-  auf  d<r  hloßtn  Lebhaftigkeit  der  sittlichen  Emp- 
findung beruhende,  sondern  als  eine  objektiv  Ix-gründete,  im 
Dasein  Gottes  wurzelnde  erscheint.^)  Es  ist  ein  Mißverständnis 
Kants,  wenn  man  sagt:  Wir  glauben  im  Kantischen  Sinne  an 
Gott,  um  ein  Wesen  zu  haben,  auf  das  wir  unsere  Pflichten  bt- 
/ieh<n  können.  Das  l^mgckehrte  ist  der  Fall ;  wir  Inziehen  nach 
Kant  unsere  Pflichten  auf  Gott,  weil  wir  Ursache  haben,  von 
seiner  Existenz  iibirzxugt  zu  sein.  Diese  Ursach<-  aber  liegt  nach 
Kant  in  der  metaphysischen  Struktur  der  aus  dem  Pflichtbewußt- 
sein gefolgerten  sittlichen  Weltanschauung. 

Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  dieser  Welt,  nschauung,  da.ß  sie 
nur  unter  gewissen  metaphysischen  \'orausset Zungen  konsequent 
zu  Ende  gedacht  werd<  n  kann.  l)u-  Anerkennung  riieser  Voraus- 
s<-tzurTgen,  genau  gesprochen  die  Ül)erzeugung  von  ihrer  Realität, 
ist  di:T  eigentliche  Gehalt  der  Kantischen  Religion.  Religion 
im  Kantischen  Sinne  ist  demnach  der  durch  die  met;- 
physischen  Konsequenzen  der  sittlichen  Weltanschauung 
geforderte  Vernunft  glaube  an  das  Dasein  (iottes  und  die 
mit  diesem  Glauben  verknüpftt-  Hoffnung  .aif  l'nsterb- 
lichkeit. 

Sie  ist  ihrem  Gehalt  nach  Glauln  ..n  dv.s  Dasein  Gottes, 
wie  Kant  es  nicht  nur  in  der  Kritik  der  praktischen  Vi  rnunfl, 
sondern  auch  in  der  Kniik  der  Uneilskraft  ausdrücklich  aus- 
gesprochen hat.*)  l\nn  nur  wenn  (^lott  ist,  kann  die  sittliche 
Weltordnung  wirklich  w<rden.  D.iß  sie  is  .ib<^r  werde,  ist  für 
die  Vernunft  \on  fler  größten  Wichtigkeit ;  denn  wenn  wir  nicht 
auf  sie  rechmn  dürlen.  so  ist  d«  r  sittliclu    Idealismus  zwar  immer 


';  Die  gtligeiiüichr  Abltitimg  dei  Kelipm  aus  dem  iiictaphysi>chen  Charakter 
der  Pflichteiupfiiidung.  aii.statt  aus  den  nietaphv«i5chtn  Konsequenzen  derselben 
(t.  B.  KritiW  der  Urteilskraft  ^  Hh  Anm.).  i*t  eine  niethf>di5ch  iinj^enaue,  sachlich 
nichts  bedeutende  Verkürzung  des  echten   Kantischen   Gedankenganges. 

*)  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  S.  158:  Das  Dasein  Gottes  als  ein  Postulat 
der  reinen  Vernunft.  Kritik  der  Urteilskraft,  §  S7:  Von  dem  moralischen  Beweise 
für  das  Dasein  Gottes.  Vgl.  auch  folgende  Stellen  aus  der  durch  ihre  Klarheit  aus- 
gezeichneten .Abhandlung  von  1786:  Was  heifJt:  sich  im  Denken  orientieren?  ..Drr 
Bejriff  von  Gott  und  "^elb<t  die  l'T>er7.eugung  von  seinem  Dasein  kann  nur  allein 
in  der  Vcniur'i  angetrofi»n  werden."  f Kleine  Schriften.  II.  157.)  ..Wenn  der 
Vernunft  m  machen,  weicht  übersinnliche  Gegenstande  betreffen,  als  das  Dasein 
(iottes  und  du  künftige  Welt,  das  ihr  zustehende  Recht,  zuerst  zu  sprechen,  be- 
striiuii   wird,  M'   i^t   aller    "ch^jrmerei   .  .      eine   weite    Pforte  geöffnet." 


Die    RclipoDsphilosophie  des   AU-ol .  re 

noth    ein«,    orhabtne    Gesinnung,    alxr    im    ticfst-n    Grunde    doch 
schließlich  ein  ziel-  und  aussichtsloses  Streben. M 

Der  Form  nach  ist  die  Kantische  Religion  das  Ergebnis  einer 
ethischen  Spekulation.  Sie  ist.  trotz  Vaihiir^er,  der  das  Gegen- 
teil behaupte. t  *),  in  ihrer  originalen  und  konsequenten  Gestalt 
ein  theoretischer  Schluß  aus  p/aktischen  Prämissen.  Kant  selber 
hat  sich  darüber  im  85.  Paragraphen  der  Kritik  der  Urteilskraft 
mit    aller    nur    wünschenswerten    Deutlichkeit    ausgedrücki.      ,,Die 


)  Vgl.  die  Exemplifikation  auf  Spinoza,  am  Schluß  des  §  S7  der  Kritik  der 
l  rteibkraft  (S.  427 f.):  ,,\Vir  können  .  .  .  einen  rechtschaffenen  Mann  (wie  et^a 
den  Spinoza)  annehmen,  der  sich  fest  überredet  halt,  es  sei  kein  Gott  und  .  .  . 
auch  kein  künftiges  Leben;  wie  wird  er  seine  eigene  innere  Zweckbestimmung  durch 
das  moralische  Gesetz,  v^elrhes  er  tutig  verehrt,  beurteilen?  Er  verlangt  von  Be- 
folgung desselben  für  sich  keinen  Vorteil,  weder  in  die-scr  noch  in  einer  anderen 
Welt;  uneigennützig  will  er  vielmehr  nur  das  Gute  stiften,  wozu  jenes  heilige  Gesetz 
allen  seinen  Kräften  die  Richtung  <jibt.  Aber  sein  Bestreben  ist  begrenzt,  txnd 
von  der  Natur  kann  er  zwar  hin  und  wieder  einen  zufälligen  Beitritt,  niemals  aber 
eine  gesetzmäßige  und  nach  beständigen  Regeln  .  .  .  eintreffende  Zusammenstimmung 
zu  dem  Zwecke  erwarten,  welchen  zu  bewirken  er  sich  doch  verbunden  und  an- 
getrieben fühlt.  .  .  .  Den  Zweck  also,  den  dieser  Wohlgesinnte  in  Befolgung  der 
moralischen  Gesetze  vor  .\ugen  hatte  und  haben  sollte,  müßte  er  allerdings  als 
unmöglich  aufgeben:  oder  will  er  auch  hierin  dem  Rufe  seiner  sittliche!)  inneren 
Bestimmung  anhänglich  bleiben  und  die  Achtung,  welche  das  «ittliche 
(iesetz  ihm  unmittelbar  zum  fJehorchen  einflößt,  nicht  durch  die 
Nichtigkeit  des  einzigen,  ihrer  hohen  Forderung  angemessenen  idea- 
iischen  Endzwecks  schwächen  (welches  ohne  einen  der  moralischen 
Gesinnung  widerfahrenden  Abbruch  nicht  geschehen  kann),  so  muß 
ir  .  .  .  das  Dasein  eines  moralischen  Welturhebers,  d.  i.  Gottes  annehmen." 

*)  Philosophie  des  Als-ob,  S.  681 :  ,,Der  erhte  und  eigentliche  Kantische  Kriti- 
zismus zieht  überhaupt  keine  theoretischen  Schlüsse,  sondern  lehrt:  Du  mußt  so 
handeln,  als  ob  es  einen  Gott  usw  gäbe."  —  Noch  schärfer  S.  742:  ,,Nach  dem 
N'ulgärkantianismus  ist  Kants  moralischer  Gottesbeweis  ein  theoretischer  Schluß 
aus  moralischen  Tatsachen,  während  der  echte  Kritizismus  den  moralischen  Gottes- 
beweis so  versteht:  Wer  nach  dem  kategorischen  Imperativ  handelt,  handelt  so, 
als  ob  die  Pflicht  Gebot  eines  Gottes  wäre;  er  glaubt  also  in  diesem  Sinne  an  Gott, 
und  das  moralische  Handeln  ist  in  diesem  Sinne  ein  Gottesbeweis."  —  Es  ist  schwer, 
sich  diese  moralische  .Dtmonstratior  gegen  das  Da."-ein  (iottis'  als  iine  Form 
des  moralischen  Gottesbeweises  verstandlich  zu  machen.  Soweit  ich  sehe,  hat 
Kant  (im  Einklang  mit  dem  natürlichen  Sprachgebrauch)  unter  einem  Gottes- 
beweis  nie  etwas  anderes  verstanden  als  einen  Beweis  für  das  Dasein  Gotte«.  So 
nötig  es  ist,  zwischen  Kant  und  dem  Kantiani.^mus  zu  unterscheiden:  hier  ist 
diese  Unterscheidung  nirlit  anfjebratht:  und  man  kunnte  \ulleicht  mit  n  >rh  besserem 
Kechte.  als  Vaihinger.  der  der  von  ihm  verteidigten  Gottesfiktion  den  Charakter 
eines  Gottesbeweises  beilegt,  diese  Art  von  Gottesbeweisen  als  offenbare 
Fiktionen   betrachten 


76  Heinrich  Scholz: 

Physikothcologic",  so  heii3t  es  daselbst,  ,,ist  der  Versuch  der  Ver- 
nunft, aus  den  Zwecken  der  Natur  auf  die  oberste  Ursache  der 
Natur  und  ihre  Eigenschaften  zu  schließen.  Eine  Moraltheologie 
wäre  der  Versuch,  aus  dem  moralischen  Zwecke  vernünftiger  Wesen 
in  der  Natur  auf  jene  Ursache  und  ihre  Eigenschaften  zu  schließen.** 
Genau  genommen,  handelt  es  sich  sogar  um  einen  doppelten  Schluß, 
nämhch  erstens  aus  der  Eigemirt  des  Guten  auf  die  Beschaffenheit 
der  ihm  zukommenden  Folgen;  zweitens  aus  der  Eigenart  dieser 
Folgen  auf  das  Dasein  und  die  Beschaffenheit  Gottes,  sowie  auf 
die  zum  persönlichen  Anteil  an  dem  durch  ihn  gestifteten  ,, Gottes- 
reich*' erforderliche  UnstL-rbliclikcit. 

Der  Hebel  dieser  Religion  ist  nicht  eigentlich  ein  Wunsch, 
auch  nicht  ein  sogenannter  frommer  Wunsch,  sondern,  wie  Kant 
sich  ausdrückt,  ein  Vernunftbedürfnis,  d.  h.  eine  aus  dem  Vernunft- 
interesse entspringende  Forderung  von  ganz  eigener  Qualität  und 
Bedeutsamkeit.*'  In  Hinsicht  auf  diesen  Ursprung  heißen  die 
Realitäten  der  Kantischen  Religion  Postulate.  Sie  sollen  dadurch 
nicht  zu  bloßen  Ideen,  noch  weniger  zu  Fiktionen  herabgestimmt 
werden.  Denn  ,, bloße  Ideen"  sind  sie  schon  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  logischen  Spekulation;  und  wenn  sie  durch  diese  ,, wider- 
legt" werden  könnten,  so  gäbe  es  überhaupt  keine  Religionsphilo- 
sophie im  Kantischen  Sinne.  Sondern  indem  sie  als  Postulate 
bezeichnet  werden,  soll  damit  lediglich  der  Grund  angegelxn 
werden,  warum  wir  von  der  Realität  dieser  ,, Ideen"  überzeugt 
sind  oder  überzeugt  zu  sein  Ursache  haben;  .ibcr  es  ist  nicht  daran 
zu  denken,  daß  sie  selbst  diese  Realität  vertreten  oder  zu  ihrer 
Erzeugung  dienen.  Sie  sind  Dascinsforderungen,  nicht  Daseins- 
schöpfungen; und  nirgends  ist  Kant  so  unkritisch  gewesen, 
die  Daseinsforderung  als  solche  mit  einem  Dascinsbeweis  zu 
verwechseln.  Diese  Verwechslung  ist  vielmehr  eine  Tat  des  Kan- 
tianismus,  an  welcher  Kant  selbst  unschuldig  ist.  Hier  ist  der 
Punkt,  wo  es  nötig  wird,  zwischen  Kant  und  dem  Kantianismus 
genau  zu  unterscheiden  und  eine  scharfe  Grenze  zwischen  beiden 
zu  ziehen.  Kant  hat  gewußt  und  keinen  Zweifel  daran  gelassen, 
daß  das  Dasein  immer  etw.ts  Gegebenes  ist,  also  etwas  von  unserer 
Vernunft    in   5<>inem    Bestände   völlig   Unabhängiges.      Ej   hat   ge- 

M  Vgl.  den  Abschnitt  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  der  überschrieben 
ist:  Vom  Fur*ahrhaltcn  aus  einem  Bedürfnisse  der  reinen  Vernunft  (S.  180  ff.). 
Hier  wird  das  sittlich  fimdierte  \ernunftbediirfnis  ausdrücklich  vom  bloßen  Wunsch 
unterschieden  'S    \Si). 


Die  Religionsphilosophie  des  Ab-ob.  77 

wüßt,  daß  sittliche  Dcnknotwendigkeittn  ebensowenig  wie  logische 
jtnials  etwas  zu  erschaffen  vermögen,  was  nicht  unabhängig  von 
(inserm  Denken  für  sich  besteht.  Die  ganze  Energie  seines  kri- 
tischen Realismus  wirkt  hier  in  die  Religionsphilosophie  hin- 
über.^) 

Der  Vorzug,  den  die  praktische  Vernunft  vor  der  theoretischen 
\oraus  hat,  besteht  also  nicht  etwa  darin,  daß  sie  durch  ihre  Postu- 
l.ite  etwas  ins  Dasein  zu  rufen  vermag,  was  für  die  theoretische 
Vernunft  nicht  existiert,  sondern  darin,  und  darin  allein,  ist  dieser 
\orzug  zu  suchen,  daß  sie  eine  Wirklichkeitserwartung  be- 
gründet, die  die  theoretische  Vernunft  als  solche  nicht  zu  erzeugen 
vermag.  Sie  tut  das,  indem  sie  den  Glauben  an  Gott,  den  die 
logische  Spekulation  nie  über  die  Stufe  einer  H^-pothese,  und  rwar 
«  iner  unsicheren  und  entbehrlichen  Hypothese,  zu  erheben  vermag, 
in  eine  Art  von  sittlicher  Denknotwendigkeit  verwandelt  und 
dadurch  aus  der  Sphäre  der  Unsicherheit  und  Entbehrlichkeit 
heraushebt.  Wenn  wir  sagen:  Die  praktische  Vernunft  verwandelt 
den  Gottesglauben  in  eine  Art  von  sittlicher  Denknotwendigkeit, 
so  soll  damit  ein  Doppeltes  zum  Ausdruck  gebracht  werden. 
Erstens  noch  einmal:  Diese  Denknotwendigkeit  ist  nicht  von 
der  Art,  daß  sie  das  Pflichtbewußtsein  als  solches  berührte.  Der 
gute   Wille   muß  jeden    Einfluß  dieser    Spekulation,   so   begründet 


')  Vaihingen  drückt  dieses  realistische  Ergebnis  des  Kritizismus  mustci- 
haft  aus,  wenn  er  sagt:  ..Man  kann  den  tiefsten  Unterschied  des  Kritizismus  Kants 
vom  Dogmatismus  so  formulieren:  Kant  hat  im  Gegensatze  zum  rationalistischen 
Dogmatismus  gelehrt:  Was  notwendig  gedacht  werden  muß.  darf  darum  doch  noch 
nicht  für  existierend  ausgegeben  werden;  oder:  Notwendigkeit  des  Gedachtwerdens 
schließt  nicht  Notwendigkeit  des  Existierens  ein."  (Kant  ein  Metaphj'siker  ?  In 
der  Sigwartfestschrift,  1901,  S.  145.)  —  Man  kann  und  muß  aber  zur  Ergänzung 
hinzufügen:  Was  (aus  logischen  und)  ethischen  Gründen  notwendig  als  existierend 
gedacht  werden  muß,  dessen  Existenz  rückt  auf  die  höchste  uns  zugängliche  Stufe 
der  Glaubhaftigkeit  empor.  Durch  diesen  Zusatz  unterscheidet  sich  der  kritische 
Positivismus  Kants  von  dem  absoluten  Positivismus  Comtes  und  des  19.  Jahr- 
hunderts. Kant  und  Comte  stimmen  darin  überein,  daß  sie  das  Wirkliche  mit 
dem  Gegebenen  zusammenfallen  lassen;  aber  während  Comte  und  der  eigentliclie 
Positivismus  das  Wirkliche  mit  dem  natürlich  Gegebenen  identifiziert,  läßt  Kant 
ausdrücklich  die  Möglichkeit  offen,  daß  der  Umfang  des  Wirklichen  über  die  Sphäre 
des  natürlich  Gegebenen  hinausreicht.  Gleichzeitig  gibt  er  die  Gründe  an,  die 
eine  solche  Erweiterung  des  Wirklichkeitsbegriffs  veranlassen,  und  nennt  die  Kri- 
terien, die  es  der  Vernunft  ermöglichen,  zu  diesem  erweiterten  Wirklichkeitsbegriff 
wenigstens  indirekt  Stellung  zu  nehmen. 


78  Heinrich  Schob: 

sie  auch  stin  mag,  auf  sein  Zustandekommen  ablehnen,  weil  er 
sonst  nicht  mehr  „rein",  also  auch  nicht  mehr  gut  sein  würde.*) 
Zweitens  ist  diese  Spekulation  auch  insofern  nicht  absolut,  als 
die  ihr  innewohnende  Denknotwendigkeit  nur  vom  Standpunkt 
unserer  Vernunft  aus  ersichthch  ist.  Es  könnte  sein,  daß  eine 
absolute  Vernunft  eine  andere  Lösung  bereitstellen  kann.  In- 
dessen, eine  solche  kennen  wir  nicht  und  sind  daher  auch  nicht 
in  der  Lage,  von  dieser  Möglichkeit  praktisch  Gebrauch  zu 
machen. 

Es  ist  also  freihch  im  strengsten  Sinne  ein  Vertrauensurteil, 
das  hier  gefällt  wird.  Aber  es  ist  ein  Vertrauensurteil  auf  der 
ausgezeichnetsten  Grundlage.  Unser  Glaube  an  Gott  ist  eigentlich 
nichts  anderes  als  ein  zur  Konsequenz  erhobener  Ausdruck  des 
Glaubens  an  die  metaphysische  Bedeutung  der  praktischen  Ver- 
nunft —  eines  Glaubens,  der  uns  durch  die  übersinnliche  Qualität 
und  den  kategorischen  Charakter  dieser  Vernunft  gleichsam  ab- 
genötigt wird.  Wenn  ein  in  hypothetischen  Spekulationen  be- 
stehender Glaube  in  religiöser  Hinsicht  mit  Recht  als  unzulänglich 
empfunden  wird,  ja  als  unbegründet  bezeichnet  werden  darf,  so 
ist  ein  auf  ethische  Postulate  gestützter  Glaube  um  so  besser  be- 
gründet. Ja,  er  ist  der  bestbegründete,  der  bei  der  Krintischen 
Schätzung  des  Sittlichen  überhaupt  gedacht  werden  kann.  Ein 
Irrtum  kann  er  trotzdem  sein,  wenn  nämlich  Gott  nicht  existiert; 
aber  da  es  ein  unmittelbares  Verfahren,  sich  von  der  Existenz 
oder  Nichtexistenz  eines  höchsten  Wesens  zu  überzeugen,  nicht 
gibt,  so  bleibt  nur  der  Ausweg,  die  Gründe  zu  prüfen,  die  für  oder 


^)  Hier  tritt  eine  Spannung  ein.  die  Kant  nicht  völlig  zu  lösen  vermocht  hat. 
Zwar  daß  der  gute  Wille  von  jener  Spekulation,  falls  sie  lutrifft,  das  heißt,  falls 
die  durch  sie  geforderten  Realitäten  wirklich  sind,  nicht  beeinflußt  werden  darf, 
ohne  an  seiner  Reinheit  Schaden  zu  nehmen,  ist  wohl  zu  begreifen,  da  jene  Rea- 
litäten ja  so  gedacht  sind,  daß  die  mit  ihnen  verknüpften  Güter  nur  dem  Subjekt 
des  reinen  Willens  zuteil  werden.  Aber  daß  jene  Spekulationen  auch  in  dem  Falle, 
daß  sie  nichts  bedeuten,  dem  sittlichen  Willen  nichts  anhaben  sollen,  ist  schwer 
zu  verstehen.  Denn  wenn  das  sittliche  Streben  zwar  einerseits  unbedingt  geboten, 
andererseits  aber  in  Hinsicht  auf  seinen  objektiven  Erfolg  völlig  dem  Spiel  des 
Zufjüls  unterworfen  ist,  so  entsteht  ein  Konflikt,  an  dem  nicht  etwa  die  Sentimen- 
talität, sondern  gerade  der  sittlich  ertüchtigte  Mensch  sich  innerlich  zerreiben  kann. 
Darum  hat  Fichte  den  Vorsehungsglauben  —  den  Glauben,  daß  nichts  Gutes 
vergeblich  geschehe  —  in  das  sittliche  Handeln  einbezogen  und  mit  diesem  analytisch 
verknüpft.  Er  hat  damit  eine  Tat  getan,  die  eine  von  Kant  hintcrlassene  Lücke 
im  Smne  des  edelsten   Idealismus  konsequent  und  charaktervoll  ausfüllt. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  jq 

gegen  eine  solche  Annahme  sprechen.^)  Hierbei  zeigt  es  sich, 
daß  die  Gründe,  die  für  eine  solche  Annahme  in  Betracht  kommen, 
moralische  Gründe  erster  Ordnung  sind.  Der  Gottesglaube  in  dieser 
Gestalt  ist  also,  um  mit  Leibniz  zu  sprechen,  ein  phaenomenon 
bene,  ja  opiime  fundatum. 

Aber  wenn  auch  die  Postulate  nie  das  Dasein  selbst  erzeugen, 
sondern  nur  den  Daseins  glauben  begründen  können  —  einen 
Glauben,  der  gegen  die  Möglichkeit  des  Irrtums  nie  völlig  sicher- 
zustellen ist  — ,  so  ist  es  andererseits  ebenso  nötig,  zu  betonen 
daß  es  ein  Daseinsglaube  ist,  der  durch  diese  Postulate  begründet 
wird.  Freilich  ist  Gott  nicht,  weil  wir  ihn  denken  müssen,  auch 
nicht,  weil  seine  Existenz  zur  Realisierung  gewisser  sittlich  be- 
gründeter Denkinhalte  erforderlich  ist;  aber  er  muß  sein,  wenn 
anders  die  durch  das  sittliche  Denken  in  Aussicht  genommene 
moralische  Welt  ihrerseits  wirkhch  werden  soll.  Denn  das  ist  der 
Sinn  des  Postulates;  es  fordert  das  Dasein  eines  Wesens,  dessen 
Wirklichkeit  dafür  einsteht  und  allein  dafür  einstehen  kann,  daß 
der  von  der  Anspannung  unseres  Willens  unabhängige  Koeffizient 
der  morahschen  Welt  und  damit  zugleich  diese  selbst  wirklich  wird. 
Kant  unterscheidet  hier  sehr  genau  zwischen  Ideal  und  Wirk- 
lichkeit. Unter  Voraussetzung  des  Daseins  Gottes  ist  die  mora- 
lische Welt  ,, nicht  mehr  bloße  Idee",  sondern  sie  erhält  dadurch 
,, wahre  Realität".^)  Oder,  wie  es  ein  andermal  von  der  Statu- 
ierung  des    Göttlichen   heißt:   sie   dient   dazu,    ,,um  dem   Begriffe 


^)  Vß!-  liierzu  die  erleuchtenden  Worte  aus  der  Vorrede  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft:  ,,Es  wäre  allerdings  befriedigender  für  unsere  spekulative  Ver- 
nunft, ohne  diesen  Umschweif  jene  Aufgaben  für  sich  aufzulösen  und  sie  als  Ein- 
sicht zum  praktischen  Gebrauche  aufzubewahren;  allein  es  ist  nun  einmal  mit 
unserem  Vermögen  der  Spekulation  nicht  so  gut  bestellt."  (S.  5.)  —  An  die  Stelle 
der  direkten  religiösen  Orientierung,  die  un^  nach  den  Prinzipien  des  Kritizismus 
versagt  ist  und  auf  Grund  der  Struktur  des  menschlichen  Geistes  immer  versagt 
bleiben  wird,  muß  also  der  Versuch  einer  indirekten  Orientierung  treten;  und 
es  ist  das  doppelte,  bei  dieser  Problemlage  nicht  hoch  genug  zu  schätzende  Ver- 
dienst des  Kritizismus,  diesen  Versuch  nicht  nur  gewagt,  sondern,  durch  Bezug 
auf  die  Konsequenzen  der  praktischen  Vernunft,  auf  eine  sichere  methodische 
Grundlage  gestellt  zu  haben.  In  diesem  Versuch  einer  in  direkten  religiösen 
Orientierung  tritt  nicht  nur  das  religiöse  Interesse  Kants,  sondern  auch  der  tief- 
greifende Artunterschied  zwischen  Kritizismus  und  Agnostizismus  zutage.  Der 
Agnostizismus  leitet  aus  der  Unmöglichkeit  einer  direkten  Stellungnahme  zum 
religiösen  Problem  im  Gegensatze  zum  Kritizismus  erstens  (theoretisch)  die  re- 
ligionsphilosophische Skepsis,  zweitens  (praktisch)  den  religiösen  Indifferensismus  ab. 
^)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  S.  66. 


3o  Heinrich  Scholz: 

vom  höchsten  Gut  objektive  Realität  zu  geben,  d.  i.  zu  ver- 
hindern, daß  es  zusamt  der  ganzen  Sitthchkeit  nicht  bloß  für  ein 
bloßes  Ideal  gehalten  werde,  wenn  dasjenige  nirgend  existierte, 
dessen  Idee  die  Moralität  unzertrennlich  begleitet". i) 

Man  drückt  sich  also  nicht  richtig  aus,  wenn  man  sagt:  Re- 
ligion, im  Kantischen  Sinne,  ist  die  Anerkennung  der  Gottes- 
idee. Sie  ist  nicht  Anerkennung  einer  Idee,  sondern  Glaube 
an  das  Dasein  Gottes,  oder,  wie  Kant  sich  auch  ausgedrückt 
hat,  .an  die  objektive  Realität  des  Göttlichen.  Zwar  versteht  es 
sich  von  selbst,  daß  das  Göttliche  unmittelbar  nur  als  Idee 
gegeben  ist  —  als  Idee,  d.  h.  als  ein  Begriff,  dem  man  ,,die  ob- 
jektive Realität  theoretisch  nicht  sichern  kann".^)  Aber  gerade 
darin  besteht  die  eigentümliche  Leistung  der  ethisch  fundierten 
Spekulation,  daß  sie  über  diese  unmittelbare,  rein  ideelle  Ge- 
gebenheit des  Göttlichen  hinausführt,  indem  sie  Gründe  aufweist, 
die  uns  berechtigen,  von  der  mehr-als-idcellen  Gegebenheit 
des  Göttlichen,  von  seiner  objektiven  Realität  überzeugt  zu  sein. 
Nicht  als  ob  durch  diese  Gründe  das  Göttliche  selbst  zu  objek- 
tiver Realität  ,, erhoben"  werden  könnte.  Entweder  besitzt  es 
diese  Realität  unabhängig  von  allen  unseren  Spekulationen,  oder 
es  wird  sie  durch  keine  dieser  Spekulationen  erlangen.  Wohl  aber 
wird,  in  Ermangelung  jeder  Möglichkeit,  sich  vom  Dasein  oder 
Nichtsein  des  Göttlichen  durch  unmittelbare  Anschauung  zu  über- 
zeugen, die  Stellung  zu  dieser  wichtigen  Frage  durch  die  Ergebnisse 
der  ethischen  Spekulation  wenigstens  indirekt  so  weit  geregelt, 
daß  eine  Entscheidung  zugunsten  des  Daseins  Gottes  mit  guten 
Gründen  erfolgen  kann.  Der  nachdenkende  sittliche  Mensch 
muß  sich  gleichsam  für  dieses  Dasein  entscheiden,  er  ,,muß" 
die  Gottesidee  ,,als  real  anerkennen",  ,,um  nicht  mit  sich  selbst 
in  Widerspruch  zu  kommen".^) 


')  Was  heißt:  sich  im  Denken  orientieren?  (Kleine  Schriften,  II,  154.)  — 
Man  sieht  aus  diesen  beiden  Stellen,  namentlich  aber  aus  der  letzten,  was  als  das 
Gegenstück  dieser  objektiven  Realität  zu  denken  ist.  Es  ist  die  ideelle,  gedanken- 
hafte Realität,  die  eigentlich  gar  nicht  Realität  heißen  sollte,  das  scholastische 
Esse  in  iniellectu,  im  Gegensatz  zum  Esse  in  re.  Die  objektive  Realität,  von  der 
hier  die  Rede  ist,  ist  also  eine  reelle  Objektivität  —  ich  glaube,  diese  Auffassung 
behaupten  zu  müssen  auch  gegen  die  Kantauslegung  der  Marburger  Schule,  die 
hierin  einen  Rest  von  unüberwundenem  Dogmatismus  erblicken  wird. 

0  Kritik  der  Urteilskraft,  S.  459. 

=)  Kritik  der  Urteilskraft^  S.  461,  Anm.  Schluß. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob,  g  I 

Hierauf  also  beruht  der  Vorzug  der  ethisch  fundierten  Speku- 
lation vor  der  logischen,  daß  sie  eine  metaphysische  Entscheidung 
ermöglicht,  die  die  logische  Spekulation  für  sich  allein  nicht  herbei- 
zuführen vermag.  Sie  begründet  das  metaphysische  Existential- 
urteil:  Gott  ist;  denn  daß  es  möglich  ist,  daß  Gott  existiert, 
muß  auch  der  reine  Logiker  zugeben.  Und  zwar  nicht  nur  aus 
dem  mageren  Grunde,  weil  er  das  Gegenteil  nicht  beweisen  kann. 
Kant  hat  für  die  Gotteshypothese  auch  eine  Art  von  theoretischer 
Deduktion  geliefert.  Der  Nerv  dieser  eigentümlichen  Deduktion 
liegt  in  einer  ungemein  tiefsinnigen  Betrachtung  über  das  Ver- 
hältnis der  Wirklichkeit  zu  unserm  Verstände. 

Es  handelt  sich  dabei  um  folgenden  Gedankengang.  Daß 
uns  die  Wirklichkeit  an  und  für  sich  in  begreiflicher  Form  ge- 
geben sein  muß,  um  überhaupt  erkannt  zu  werden,  ist  nach  Kants 
Erkenntnistheorie  aus  dem  Begriff  der  Erkenntnis  a  priori  ab- 
zuleiten. Wir  würden  von  der  Welt  überhaupt  nichts  wissen, 
wenn  sie  nicht  in  die  anschauHchen  und  intellektuellen  Auffassungs- 
formen  unseres  Geistes  einginge.  Und  wir  wissen  von  ihr  auch 
nur  soviel,  als  uns  in  diesen  Formen  von  ihrem  Wesen  ,, erscheint". 
Darum  kennen  wir  sie  einerseits  nur  als  ,, Erscheinung";  anderer- 
seits sind  wir  imstande,  zu  behaupten,  daß  sie  die  Formen  unseres 
Geistes  annehmen  muß,  sofern  wir  sie  als  ,, Erscheinung",  d.  i. 
als  Gegenstand  unseres  Bewußtseins  denken. 

Indessen,  die  Welt,  mit  der  wir  es  im  Erkennen  zu  tun  haben, 
ist  nicht  nur  in  diesem  allgemeinsten  Sinne  begreiflich.  Sie  ent- 
spricht nicht  nur  den  auf  Begreiflichkeit  überhaupt  gerichteten 
Mindestforderungen  unseres  Verstandes,  sondern  ist  uns  auf  eine 
Weise  gegeben,  die  über  die  allgemeine  BegreifHchkeit  hinaus- 
reicht und  un3  befähigt,  sie  nicht  nur  in  isolierten  Einzelerkennt- 
nissen, sondern  in  einem  Erkenntnissystem  zu  erfassen.  Dadurch 
erst  sind  wir  instand  gesetzt,  uns  in  der  Welt  zu  orientieren  und 
diejenige  Erkenntnisstufe  zu  erreichen,  die  uns  zur  Weltbeherr- 
schung verhilft,  und  die  wir  tatsächlich  überall  meinen,  wo  von 
Erkenntnis  die  Rede  ist.  Die  vom  Verstände  a  priori  geforderte 
Welt  könnte  trotz  ihrer  Gesetzlichkeit  doch  insofern  anarchisch 
sein,  als  zwar  jeder  Einzelfall  auf  das  genaueste  determiniert,  aber 
zugleich  so  für  sich  geregelt  wäre,  daß  wir  zwar  eine  unübersehbare 
Zahl  von  Einzelregeln,  aber  keine  eigentlichen  Gesetze,  also  keine 
Regeln  für  eine  beliebige  Zahl  von  gleichartigen  Fällen,  aufstellen 
könnten.     Denken  wir  uns  diesen  Zustand  verwirklicht,  so  würden 

Annalen  der  Philosophie.    I.  6 


g2  Heinrich  Scholz: 

wir,  bei  aller  prinzipiellen  Begreiflichkeit  der  Welt,  auf  einen  pro- 
duktiven Gebrauch  unseres  Verstandes  verzichten  müssen.  Oder, 
um  mit  Kant  selbst  zu  sprechen:  ,,Wäre  unter  den  Erscheinungen, 
die  sich  uns  darbieten,  eine  so  große  Verschiedenheit  .  .  .,  daß 
auch  der  allerschärfste  menschliche  Verstand  durch  Vcrgleichung 
der  einen  mit  der  anderen  nicht  die  mindeste  Ähnlichkeit  aus- 
findig machen  könnte  (ein  Fall,  der  sich  wohl  denken  läßt),  so 
würde  ...  sogar  kein  Verstand  stattfinden."^)  Umgekehrt  ist 
die  ,, größte  systematische  .  .  .  Einheit"  die  ,,  Schule,  und  selbst 
die  Grundlage  der  Möglichkeit  des  größten  Gebrauchs 
der  Menschenvernunft.  Die  Idee  derselben  ist  also  mit  dem 
Wesen  unserer  Vernunft  unzertrennlich  verbunden".^) 

Nun  ist  uns  die  Welt  in  der  Tat  so  gegeben,  daß  unser  Ver- 
stand sie  nicht  nur  überhaupt  begreifen,  sondern  sich  in  ihr  orien- 
tieren, also  sie  übersehen  kann.  Das  heißt:  sie  steht  zu  unserm 
Verstand  in  einem  Verhältnis,  das  wir  nur  als  zweckmäßig  be- 
zeichnen können.  In  dieser  Hinsicht  dürfen  wir  sie  also  als  eine 
Art  von  objektivem  Vernunftsystem  betrachten,  folglich  auch  als 
das  Werk  einer  Intelligenz,  die  sie  —  zwar  nicht  auf  unsern  Nutzen, 
wie  die  Teleologie  der  Aufklärungsmetaphysik  gelehrt  hatte  — 
wohl  aber  auf  unsern  Verstand  hin  geschaffen  hat. 

Eine  ,, Erkenntnis"  ist  das  freilich  nicht  —  zu  einer  solchen 
fehlt  ihr  der  unerläßliche  objektive  Koeffizient,  nämlich  die  an- 
schauliche Gegebenheit  des  Göttlichen;  wohl  aber  haben  wir  es 
hier  mit  einer  berechtigten,  zum  mindesten  mit  einer  erlaubten 
Hypothese  zu  tun.  Die  Idee  einer  solchen  Welt  ist  in  Hinsicht 
auf  den  uns  zustehenden  produktiven  Verstandesgebrauch  für 
uns  geradezu  ,, gesetzgebend;  und  so  ist  es  sehr  natürlich,  eine 
ihr  korrespondierende  gesetzgebende  Vernunft  .  .  .  anzunehmen, 
von  der  alle  systematische  Einheit  der  Natur  .  .  .  abzuleiten  sei".^) 
Wir  dürfen  also  von  der  Idee  eines  höchsten  Wesens  ,,in  der 
vernünftigen  Weltbetrachtung  Gebrauch  machen";  und 
es  darf  hinzugefügt  werden,  daß  diese  Idee  auf  einen  solchen 
Gebrauch  eigentlich  angelegt  zu  sein  scheint.^)  Fragt  man  also: 
,,ob  es  etwas  von  der  Welt  Unterschiedenes  gebe,  was  den  Grund 
der   Wcltordnung   und    ihres    Zusammenhanges    nach    allgemeinen 


')  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  68if. 
-)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  722  f. 
-)  Kritik  der  reinen  Vernunft^  S.  723. 
*)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  726  Ende. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  3^ 

Gesetzen  enthalte,  so  ist  die  Antwort:  ohne  Zweifel".^)  Nur 
darf  nicht  vergessen  werden,  daß  diese  Antwort  noch  kein  ,, Beweis" 
für  das  Dasein  Gottes  ist.  Denn  sie  stützt  sich  zwar  auf  die  ,, syste- 
matische und  zweckmäßige  Ordnung  des  Weltbaues",  ist  also 
,,r  espektiv  auf  den  Weltgebrauch  unserer  Vernunft  ganz 
gegründet.  Wollten  wir  ihr  aber  schlechthin  objektive  Gültig- 
keit erteilen,  so  würden  wir  vergessen,  daß  es  lediglich  ein 
Wesen  in  der  Idee  ist,  das  wir  denken"  und  dem  wir  das  Dasein 
zuerkennen;  wir  würden  also  aus  dem  Kritizismus  in  den  Dogma- 
tismus zurückfallen.^) 

Indessen,  auch  diese  tiefsinnig  begründete  Annahme  eines 
Göttlichen  aus  theoretischen  Gründen  reicht  nach  Kant  noch 
nicht  hin,  um  den  Vernunftglauben  an  sein  Dasein  hinreichend 
zu  fundieren.  Denn  es  fehlt  ihr  die  eigentümliche,  der  Möglichkeit 
eines  Andersdenkens  entrückte  Notwendigkeit,  die  sie  haben  müßte, 
um  einer  solchen  Anforderung  zu  genügen.  Die  Kongruenz  zwischen 
der  homogenen  Beschaffenheit  des  Wirklichen  und  den  Postulaten 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  724  Anfang. 

*)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  726.  —  Es  wird  kaum  erforderlich  sein,  zu 
bemerken,  wie  nahe  sich  diese  Erinnerung  an  die  Spuren  einer  theoretischen  Meta- 
physik auf  der  Basis  des  Kritizismus  mit  Paulsens  Kantauffassung  berührt.     Ich 
bin  genötigt,  Paulsens  Abhandlung  über  Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik,  1900, 
in   Kombination  mit  den  überaus   feinen   Einschränkungen    Vai hingers  (Kant  — 
ein  Metaphysiker  ?     Sigwart-Festschrift,    1900),   die   ich  mir  völlig  aneignen  kann, 
für  eine  der  lehrreichsten  Korrekturen  der  üblichen  Kantauslegung  zu  halten.     Die 
herrschende    Auffassung,    wonach    diese    metaphysischen    Spuren    Reste    eines    vor- 
kritischen Denkens  sind,  ist  m.  E.  nicht  aufrecht  zu  erhalten.     Kant  hat  wirklich 
die  Idee  einer  konstruktiven  Metaphysik  auf  kritischer  Grundlage  konzipiert,  wenn 
er  sie  auch  nie  zur  Ausführung  gebracht  und  in  gewissen  Augenblicken,  aus  Rück- 
sicht  auf   die    Gefahren   eines   neuen    Dogmatismus,   selbst   zurückgenommen   hat. 
In  Hinsicht  auf  das  Ideal  einer  solchen  Metaphysik  sind  die  großen  Nachkantianer 
die  echten  Erben  des  Kantischen  Geistes  gewesen,  so  sehr  sie  auch  in  der  Methode 
gefehlt  haben  mögen;  und  noch  immer  können  sich  diejenigen  auf  Kant  berufen, 
die    eine    kritische    Metaphysik   des    Geistes    erwarten.      Eine   solche    Metaphysik 
wäre  gleichsam   der   Text  zu   dem   schönen   und   tiefsinnigen  Worte   Kants:  ,,Die 
Welt  muß  als  aus  einer  Idee  entsprungen  vorgestellt  werden,  wenn  sie  mit  dem- 
jenigen  Vernunftgebrauch,   ohne   welchen   wir   uns   selbst   der   Vernunft   unwürdig 
halten   würden,   nämlich   dem   moralischen    .  .  .   zusammenstimmen   soll."     (Kritik 
der  reinen  Vernunft,  S.  843  f.)     Setzt  man  an  die  Stelle  des  moralischen  den  pro- 
duktiven  Vernunftgebrauch  —  und  der  moralische  Vemunftgebrauch  ist  ja  doch 
nur  (nach  Kantischer  Auffassung,  der  man  nicht  unbedingt  zuzustimmen  braucht) 
die  höchste  Form  des  produktiven  — ,  so  gibt  es  vielleicht  kein  schöneres  Vorwort 
zu  einer  kritischen  Metaphysik  des  Geistes  als  dieses. 

6* 


§4  Heinrich  Scholz: 

unseres  Verstandes  kann  sich  vielleicht  auch  anders  erklären, 
sie  kann  vielleicht  auch  auf  „Zufall"  beruhen;  und  vor  allem: 
eine  unbedingte  Nötigung,  sich  über  diesen  Zusammenhang 
Gedanken  zu  machen,  liegt  nicht  vor.  Ein  auf  solchen  Voraus- 
setzungen auf  ruhender  Vernunftglaube  kann  also  ,,zwar  noch  mit 
starken  Gründen  aus  der  Analogie,  aber  nicht  mit  solchen,  denen 
sich  die  hartnäckigste  Zweifelsucht  ergeben  müßte,  unterstützt 
werden".^) 

Wenn  es  sich  aber  so  verhält,  so  kann  der  angestrebte  Ver- 
nunftglaube erst  recht  nicht  mit  einem  so  mageren  Ausweis  wie 
der  Tatsache  seiner  Unwiderleglichkeit  vor  dem  Richterstuhl  des 
Kritizismus  bestehen.  Ein  Glaube,  der  lediglich  deshalb  geglaubt 
wird,  weil  er  nicht  widerlegt  werden  kann,  der  die  Wirklichkeit 
Gottes  nur  deshalb  annimmt,  weil  sie  nicht  unmöglich  ist,  ver- 
dient unter  dem  Gesichtspunkt  des  Kritizismus  überhaupt  nicht 
ernst  genommen  zu  werden.  Für  die  Ansprüche,  die  an  die  Posi- 
tionen eines  solchen  Glaubens  zu  stellen  sind,  genügt  es  durchaus 
nicht,  ,,daß  kein  positives  Hindernis  dawider  ist;  und  es  kann 
uns  nicht  erlaubt  sein,  Gedankenwesen,  welche  alle  unsere  Be- 
griffe übersteigen  .  .  .,  auf  bloßen  Kredit  der  ihr  Geschäft  gern 
vollendenden  spekulativen  Vernunft  als  wirkliche  und  bestimmte 
Gegenstände  einzuführen".^)  Nein,  der  erstrebte  Glaube  muß  so 
beschaffen  sein,   daß  er,   nachdem  er  aufgehört  hat,   sich  als  ein 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  857. 

*)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  701.  —  Es  ist  mir  selbstverständlich  nicht 
unbekannt,  daß  Kant  sich  über  diesen  kritischen  Punkt  vielfach  auch  lässiger 
ausgedrückt  und  dadurch  selbst  den  Anschein  erweckt  hat,  als  ob  der  von  ihm 
erstrebte  Vernunftglaube  sich  wesentlich  auf  das  negative  Bewußtsein  seiner  Un- 
widerleglichkeit gründe.  Indessen,  es  verhält  sich  mit  diesem  Schein  nicht  anders, 
als  mit  der  qualitativ  verwandten,  nur  noch  ärgeren  Behauptung,  daß  nach  Kant 
das  subjektive  Bedürfnis  nach  Gott  der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  sei.  Eine 
größere  Irrung  ist  nicht  leicht  denkbar;  dennoch  taucht  sie  in  gröberen  oder  feineren 
Gestalten  immer  wieder  auf,  meistens  dann  freilich  mit  einer  vernichtenden  Kritik, 
die  ebenso  gerecht  wie  —  unbillig  ist.  Ich  bemerke  an  dieser  Stelle  noch  einmal, 
daß  meine  Darstellung  nichts  anderes  beabsichtigt,  als  die  Religionsphilosophie 
des  Kritizismus  in  ihrer  reifsten  Gestalt  zur  Anschauung  zu  bringen, 
und  daß  eine  etwa  zu  erwartende  Kritik,  auf  die  jeder  Versuch  dieser  Art  gefaßt 
sein  muß,  sich  an  diesem  Ziel  zu  orientieren  haben  würde.  Mit  dem  bloßen  Zu- 
geständnis, daß  Kant  gelegentlich  auch  so  gedacht  habe,  wie  ich  es  hier  darstelle, 
würde  mir  nicht  geholfen  sein. 


Die  Religionspbilosophie  des  Als-ob.  gc 

Wissen  zu  gebärden,   dennoch  eine   Sprache  zu  sprechen  vermag, 
die  vor  der  schärfsten  Vernunft  gerechtfertigt  werden  kann.^) 

Das  kann  er  aber  nur,  wenn  er  sich  auf  Tatsachen  gründet, 
also  nicht  nur  von  dem  Bewußtsein  seiner  Möghchkeit  lebt.  ,,Auf 
Tatsache  muß  sich  alles  Fürwahrhalten  .  .  .  gründen,  wenn  es 
nicht  völlig  grundlos  sein  soll."^)  Und  zwar  muß  es  im  strengsten 
Sinne  eine  metaphysische  Tatsache  sein;  denn  nur  aus  ihr  können 
die  metaphysischen  Konsequenzen  gezogen  werden,  aus  denen  die 
Religion  besteht.  Hier  wird  erst  ganz  klar,  warum  die  tiefsinnige 
Spekulation  über  die  logische  Struktur  des  Weltgefüges  zur  vollen 
Begründung  eines  probehaltigen  Vernunftglaubens  doch  schließlich 
nicht  ausreicht;  der  Schluß  von  logischen  Tatsachen  auf  meta- 
physische Realitäten  ist  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Kritizismus 
nicht  bindend  genug.  Er  ist  noch  immer  der  ,, Zweifelsucht"  aus- 
gesetzt. Im  strengsten  Sinne  kann  nur  aus  metaphysischen  Tat- 
sachen auf  metaphysische  Realitäten  geschlossen  werden.  Eine 
solche  Tatsache  ist  nun,  wie  Kant  oft  genug  wiederholt  hat,  die 
Freiheit.  Sie  ist  ,,die  einzige  unter  allen  Ideen  der  reinen  Ver- 
nunft, deren  Gegenstand  Tatsache  ist  und  unter  die  scibiUa  ge- 
rechnet werden  muß".^)  Darum  also,  weil  sie,  obschon  über- 
sinnlich, dennoch  zugleich,  als  moralisches  Phänomen,  eine  un- 
umstößliche Tatsache  ist,  dürfen  Schlüsse  aus  ihr  gezogen  werden, 
die  selbst  ins  Übersinnliche  hinausreichen.*) 


^)  Man  erinnere  sich  hier  an  die  wichtige,  aber  selten  hinreichend  beachtete 
Ergänzung  des  berühmten  Satzes  von  der  Aufhebung  des  Wissens  durch  den  Glauben 
(Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  XXX  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage).  Diese 
Ergänzung  besteht  in  der  Forderung  eines  Glaubens,  der  dem  Wissen  an  Qualität 
nicht  nachsteht.  ,,Das,  was  hierbei  streitig  wird,  ist  nicht  die  Sache,  sondern 
der  Ton.  Denn  es  bleibt  euch  noch  genug  übrig,  um  die  vor  der  schärfsten  Ver- 
nunft gerechtfertigte  Sprache  emes  festen  Glaubens  zu  sprechen,  wenn  ihr  gleich 
die  des  Wissens  habt  aufgeben  müssen."  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  772f-) 
Der  Kantische  Glaube  hat  mit  dem  Wissen  gemein,  daß  er,  gleich  diesem,  eine 
Vernunftschöpfung  ist.  Nur  innerhalb  dieses  gemeinsamen  Quellgebietes  be- 
deutet  der    Übergang   vom   Wissen    zum    Glauben    bei    Kant   eine  (xeiaßaaig  sie 

lillo    fjfävoz. 

*)  Kritik  der  Urteilskraft,  S.  468. 

2)  Kritik  der  Urteilskraft,  S.  457. 

*)  Vgl.  hierzu  den  ganzen  wichtigen  §  91  der  Kritik  der  Urteilskraft:  ,,Von 
der  Art  des  Fürwahrhaltens  durch  einen  praktischen  Glauben",  besonders  aber 
S.  465ff.  —  Auf  Vaihingers  Deutung  der  Freiheit  als  Fiktion  brauche  ich  unter 
Hinweisung  auf  diesen  klassischen  Paragraphen  nicht  näher  einzugehen. 


g5  Heinrich  Scholz: 

Das  Resultat  dieser  Schlüsse,  Gott  und  Unsterblichkeit,  ist 
der  Inhalt  der  Kantischen  Religion.  Und  nun  stehen  wir  an  dem 
Punkte,  wo  es  möglich  ist,  die  Qualität  des  Kantischen  ,,  Glaubens" 
abschließend  zu  bestimmen,  i)  Daß  dieser  ein  exklusiver  Vernunft- 
glaube sein  muß,  um  der  Glaube  eines  aufgeklärten  2^italters  zu 
sein,  ist  über  jeden  Zweifel  gewiß.  Es  versteht  sich  ebenso,  wie 
es  sich  versteht,  daß  er  im  Gegensatz  zum  Glauben  der  Aufklärungs- 
metaphysik ein  ethisch  fundierter  Vernunft  glaube  ist.  Denn  das 
ist  der  einzig  mögliche  Sinn  des  vielfach  mißdeuteten  und  auch 
nicht  glücklichen  Ausdrucks  ,, praktischer  Glaube".  ,, Praktisch" 
ist  gleichbedeutend  mit  ,, ethisch  fundiert",  und  bedeutet  nichts 
weniger  als  etwa  dies:  ,,zum  Zweck  der  Lebensführung  ersonnen". 
Ejn  solcher  Glaube  wäre  pragmatisch,  und  ein  innerer  Beweg- 
grund zur  Einführung  eines  solchen  ist  in  den  Konsequenzen  des 
Kritizismus  nicht  nur  nirgends  angedeutet,  sondern  wird  durch 
diese  sogar  ausgeschlossen.  Denn  dann  wäre  die  sittliche  Lebens- 
führung nicht  mehr  das  unverfälschte  Ergebnis  des  kategorischen 
Imperativs,  sondern  gleichsam  das  kombinierte  Resultat  von 
diesem  und  einigen  Optativen,  die  sich  unbefugt  in  die  Gesetz- 
gebung des  Willens  eingedrängt  haben.  Auch  der  wohltätige 
Zweck  könnte  dieses  Mittel  nicht  heiligen.  Dazu  kommt,  daß 
ein  solcher  pragmatischer  Glaube  im  Kantischen  Sinne  nie  zum 
Vernunftglauben  aufsteigen  könnte;  er  wäre  vielmehr  ein  Phänomen, 
das  die  reine  Vernunft  zu  überwinden  hätte  und  höchstens  als 
Durchgangspunkt  zulassen  könnte. 

Daß  der  Kantische  Glaube  das  Dasein  Gottes  und  nicht 
etwa  nur  die  Gottes idee  zum  Gegenstande  hat,  folgt  mit  Not- 
wendigkeit aus  seiner  Funktion.  Denn  das  Dasein  Gottes  ist  die 
Voraussetzung  für  die  Realität  der  moralischen  Welt,  wie  das 
Dasein  und  der  Gebrauch  der  Freiheit  für  die  Konzeption  dieser 
Welt  die  Voraussetzung  ist.  Nun  ist  aber  der  Kantische  Glaube 
nichts  anderes  als  die  im  Gottcsglaubcn  fixierte  Überzeugung 
von  der  Realität  dieser  sittlichen  Welt;  er  ist  im  engsten  und 
eigentlichsten  Sinne  das  Postulat  des  Daseins  Gottes  als  der  zur 
Durchsetzung  dieser  Realität  erforderlichen  objektiven  Grund- 
bedingung. Dem  entspricht  die  klassische  Definition  des  Postu- 
lates in  der   Kritik  der  praktischen   Vernunft:   ,,Ein   Postulat   ist 


^)  Vgl.  hierzu  die  freilich  über  die  Stufe  einer  guten  Materialsammlung  nicht 
wesentlich  hinausgeführte  Arbeit  von  E.  Sänger,  Kants  Lehre  vom  Glaubenj  1903. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  37 

ein  theoretischer  .  .  .  Satz,  sofern  er  einem  a  priori  unbedingt 
geltenden  praktischen  Gesetze  unzertrennlich  anhängt"  (S.  156). 
Nicht  —  um  dieses  noch  einmal  zu  sagen  —  nicht  als  ob  durch 
ein  solches  Postulat  das  Dasein  Gottes  in  irgendeiner  Form,  in 
irgendeinem  Sinne  erzeugt  werden  könnte.  Das  kann  durch 
Postulate  so  wenig  geschehen,  wie  durch  irgendeinen  Vernunft - 
begriff,  der  der  logischen  Spekulation  angehört.  An  sich  ist  das 
Dasein  Gottes  nie  mehr,  als  eine  bloße  Möglichkeit,  und  keine 
Vernunft  ist  imstande,  diese  Möglichkeit  durch  einen  Macht - 
Spruch  in  Wirklichkeit  zu  verwandeln.  Wenn  Kant  sich  gelegent- 
lich so  auszudrücken  scheint,  so  hat  er  sich  ungenau  ausgedrückt. 
Erzeugt  werden  kann  durch  sittliche  Besinnung  immer  nur  das 
Interesse  an  der  Wirklichkeit  Gottes,  niemals  diese  Wirklichkeit 
selbst.  Wohl  aber  kann  sie,  durch  Vermittlung  dieses  Inter- 
esses, wofern  sich  dasselbe  auf  Tatsachen  stützt,  aus  der  Sphäre 
einer  Möglichkeit,  die  uns  gleichgültig  läßt,  in  die  einer  Wahr- 
scheinlichkeit emporgehoben  werden,  die  das  Urteil  ,,Es  ist  ein 
Gott"  zwar  immer  noch  als  ein  mit  der  Möglichkeit  des  Irrtums 
verknüpftes  Wagnis,  aber  nicht  mehr  als  Willkür  erscheinen  läßt. 
Denn  das  ,, Bedürfnis",  aus  dem  heraus  wir  so  urteilen,  ist 
,, nicht  etwa  ein  hypothetisches  einer  beliebigen  Absicht  der 
Spekulation,  daß  man  etwas  annehmen  müsse,  wenn  man  zur 
Vollendung  des  Vernunftgebrauchs  in  der  Spekulation  hinauf- 
steigen will,  sondern  ein  gesetzliches,  etwas  anzunehmen, 
ohne  welches  nicht  geschehen  kann,  was  man  sich  zur  Absicht 
seines  Tuns  und  Lassens  unnachlaßlich  setzen  soll".-^)  Darum, 
und  darum  allein,  weil  das  hier  vorliegende  Bedürfnis  erstens 
über  alle  Willkür  hinausragt,  und  weil  e->  zweitens  nicht  sowohl 
mit  einer  Schwäche  der  menschlichen  Natur,  als  vielmehr  mit 
einer  eigentümlichen  Stärke  und  Kraft  der  sittlichen  Gesinnung 
verknüpft  ist  —  darum  ist  es  nach  Kant  erlaubt,  aus  der  Energie 
dieses  Bedürfnisses  auf  die  objektive  Realität  des  durch  dasselbe 
geforderten  höchsten  Wesens  zu  ,, schließen".^) 


*)  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Vorrede,  S.  5. 

*)  Also  wiederum:  zu  schließen!  Man  vgl.  die  für  die  Aufklärung  des  Ver- 
hältnisses von  Postulat  und  Existentialurteil  höchst  wichtige  Auseinandersetzung 
Kants  mit  Wizenmann,  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  S.  183,  Anm.  Der 
Sinn  dieser  Auseinandersetzung  ist  dieser:  So  wenig  aus  irgendeinem  beliebigen 
Bedürfnis  auf  die  Existenz  des  geforderten  Gegenstandes  geschlossen  werden  darf, 
so  zulässig  ist  dieser  Schluß  in  dem  vorliegenden  Falle.     Die  unvergleichbare  Qua- 


88  Heinrich  Scholz: 

Wohlgcmerkt :  Es  ist  erlaubt!  Von  einer  Pflicht  ist  bei 
Kant  hier  nirgend  die  Rede.  Lediglich  von  einem  Recht.  Noch 
die  Kritik  der  Urteilskraft  schärft  ausdrücklich  ein,  daß  dieser 
Glaube  ein  ,, freies  Fürwahrhalten"  ist.^) 

An  der  Tatsache,  daß  das  Dasein  Gottes  der  Inhalt  des 
l\antischen  Glaubens  ist,  ändert  auch  der  Umstand  nichts,  daß 
Kant  die  objektive  Realität  des  Göttlichen  in  genauerer  De- 
termination gern  als  eine  praktische  bezeichnet.  Das  könnte 
freilich  an  und  für  sich  soviel  bedeuten,  wie  eine  zu  bestimmten 
Zwecken  lediglich  vorgestellte  Realität.  Es  kann  aber  im 
Zusammenhang  seiner  Gedanken  nur  bedeuten:  eine  aus  be- 
stimmten Gründen  glaubhaft  gewordene  Realität.  Diese 
Gründe  sind  ,, praktisch",  insofern  sie  nicht  logischer,  sondern 
moralphilosophischer  Natur  sind.^) 

Ebensowenig  bedeutet  es  einen  Einwand  gegen  die  Richtig- 
keit dieser  Interpretation,  wenn  Kant  sich  wiederholt  in  dem 
Sinne  ausdrückt,  daß  die  Vernunft  Gott  ,, schaffe"  oder  ,, mache". 
Denn  das,  was  sie  ,, schafft"  oder  ,, macht",  ist  nicht  Gott,  sondern 
lediglich  die  Gottesidee.  In  Hinsicht  auf  diese  Idee  ist  die  Ver- 
nunft nach  Kant  freilich  schöpferisch.  Sie  hat  durch  sich  selbst 
und  allein  zu  bestimmen,  wie  das  Wesen  beschaffen  sein  muß, 
das  den  Namen  Gottes  verdient.^)  Aber  daraus  kann  nicht  ge- 
folgert werden,  daß  die  Religion  im  Kantischen  Sinne  sich  im 
Denken  des  richtigen  Gottesgedankens  erschöpft.  Noch  weniger 
ist  daraus  zu  schließen,   daß  die   Kantische  Religion  sich  auf  die 


lität  des  moralischen  Interesses  —  beweist  nicht  etwa  das  Dasein  Gottes;  aber  sie 
rechtfertigt  eine  Annahme,  die  in  jedem  anderen  Falle  zu  verwerfen  wäre,  nämlich 
die  Annahme,  daß  der  durch  dieses  Interesse  geforderte  Gegenstand  existiert.  Man 
darf  bei  der  Kritik  der  Kantischen  Postulatentheorie  nie  die  von  Kant  voraus- 
gesetzte Qualität  seiner  Postulate  vergessen.  Es  ist  kaum  fraglich,  es  ist  nahezu 
gewiß,  daß  Kant  die  Qualität  seiner  Postulate  überschätzt  hat;  aber  eine  Kritik, 
die  Kant  treffen  will,  muß  hier  und  nicht  bei  den  Folgerungen  einsetzen. 

^)  Vgl.  Kritik  der  Urteilskraft,  S.  463  und  die  wichtige  Anm.  zu   S.  458. 

-)  Gegen  Vaihinger,  S.  653  Anm. 

*)  Man  vgl.  hierzu  die  Selbstauslegung  Kants  in  der  großen  Anmerkung  des 
Schriftchens  über  den  vornehmen  Ton  (Kleine  Schriften,  IV,  17  f.).  ,,Aus  dem 
moralischen  Gesetz.  .  .  geht  der  Begrif  f(!)  von  Gott  hervor,  welchen  uns  selbst  zu 
machen  die  praktische  reine  Vernunft  nötigt.  Wenn  daher  einer  (mit  dem  Plato- 
niker  Schlosser,  gegen  den  das  Schriftchen  bekanntlich  gerichtet  ist)  .  .  .  sagt, 
er  verachte  denjenigen,  der  sich  seinen  Gott  zu  machen  denkt",  so  ist  ihm  nicht 
zu  helfen.  ,,Denn  es  ist  für  sich  selbst  klar,  daß  ein  Begriff(!),  der  aus 
unserer    Vernunft    hervorgehen     muß,    von     uns    selbst    gemacht    sein 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  89 

Fiktion  des  Göttlichen  beschränkt.  Das  Schaffen,  von  dem  .hier 
die  Rede  ist,  ist  im  Kantischen  Sinne  überhaupt  nicht  Religion, 
sondern  eine  formale  Leistung  der  Vernunft  im  Dienste  der  Re- 
ligion, mithin  ein  Stück  Religionsphilosophie.  Die  Religion  im 
Kantischen  Sinne  hat  das  Dasein  Gottes  zum  Gegenstände.^) 

Freilich,  da  uns  das  Dasein  Gottes  in  keiner  Form  gegeben 
ist,  so  ist  auch  die  Qualität  des  religiösen  Existcntialurteils  eine 
andere,  als  die  von  empirischen  oder  moralischen  Existential- 
sätzen.  Diese  sind,  weil  und  soweit  die  durch  sie  bestimmten 
Erscheinungen  gegeben  sind,  objektiv  gewiß.  Das  religiöse 
Existentialurteil  kann,  da  sein  Gegenstand  nicht  gegeben  ist, 
auch  nie  gegeben  sein  kann,  in  Hinsicht  auf  seine  Kausalität 
auch  nicht  objektiv  gewiß  sein.  Es  hat  seinen  unmittelbaren 
Grund  nicht  in  einer  erweislichen  Tatsache,  sondern  in  der  auf 
eine  solche  gestützten  Reflexion  des  sittlichen  Subjektes;  es  ist 
also  subjektiv  gewiß.  ^)  Dies  und  nur  dies  soll  durch  die  Kantische 
Lehre  von  der  Subjektivität  der  religiösen  Existentialurteile  zum 
Ausdruck  gebracht  werden.  Nicht,  daß  diese  Urteile  „nur"  sub- 
jektiv und  deshalb  ohne  objektive  Bedeutung  wären,  sondern 
sie  sind  allerdings  von  objektivem  Gehalt,  nämlich  echte  Existential- 
urteile, aber  als  solche,  wenigstens  unmittelbar,  nicht  durch  den 
Zwang  von  erweislichen  Tatsachen,  sondern  durch  sittliche  Denk- 
notwendigkeiten, also  subjektiv  motiviert.  Oder,  um  mit  Kant 
selbst  zu  sprechen:  die  religiöse  ,, Überzeugung  ist  nicht  logische, 
sondern  moralische  Gewißheit;  und  da  sie  auf  subjektiven 
Gründen  (der  moralischen  Gesinnung)  beruht,  so  muß  ich  nicht 
einmal  sagen:  es  ist  moralisch  gewiß,  daß  ein  Gott  sei  usw.,  sondern: 
ich  bin  moralisch  gewiß".  Das  heißt,  wie  Kant  erläuternd  fort- 
fährt: ,,Der  Glaube  an  einen  Gott  und  an  eine  andere  Welt  ist 
mit  meiner  moralischen  Gesinnung  so  verwebt,    daß,    sowenig    ich 


müsse.  Hätten  wir  ihn  von  irgendeiner  Erscheinung  abnehmen  wollen,  so  wäre 
unser  Erkenntnisgrund  empirisch  und  zur  Gültigkeit  für  jedermann  .  .  .  untauglich. 
Vielmehr  müßten  wir  eine  Weisheit,  die  uns  persönlich  erschiene,  zuerst  an  jenen 
von  uns  gemachten  Begriff  als  das  Urbild  halten,  um  zu  sehen,  ob  diese  Person 
auch  dem  Charakter  jenes  selbstgemachten  Urbildes  entspreche."  Deutlicher  kann 
man  wohl  nicht  sagen,  worauf  es  an  dieser  Stelle  ankommt:  daß  die  schöpferische 
Funktion  der  Vernunft  sich  ausschließlich  auf  die  Erzeugung  der  Gottesidee  bezieht. 

^)  Gegen  Vaihinger,  S.  687  u.   704. 

^)  Daß  die  Freiheit  im  Kantischen  Sinne  erweislich,  wenn  schon  nicht  er- 
klärlich ist,  darf  nach  den  überaus  zahlreichen  Aussprüchen,  die  sich  auf  diesen 
Punkt  beziehen,  hier  vorausgesetzt  werden. 


90 


Heinrich  Scholz: 


Gefahr   laufe,    die   letztere   einzubüßen,    ebensowenig   besorge   ich, 
daß  mir  der  erste  jemals  entrissen  werden  könne.  "^) 

Man  kann  diesen  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  außer- 
ordentHch  wichtigen,  die  Qualität  des  Glaubens  im  System  des 
Kritizismus  auf  das  Genaueste  bestimmenden  Satz  noch  dahin 
ergänzen,  daß  man  hinzufügt:  Eis  ist  unter  dem  Gesichtspunkt 
einer  rein  logischen  Spekulation  sogar  ungewiß,  ob  Gott  existiert, 
weil  das  Dasein  Gottes  in  dieser  Hinsicht  lediglich  eine  Möglich- 
keit bedeutet,  die  zwar  nicht  widerlegt,  aber  auch  durch  nichts 
,, bewiesen"  werden  kann.  Die  Brücke  zur  moralischen  Gewißheit 
ist  damit  keineswegs  abgebrochen.  Sie  entsteht  vielmehr  durch 
die  dem  Gleichgewicht  der  Gründe  und  Gegengründe  entsprechende 
Umkehrung  der  Akzente,  die  dadurch  zustande  kommt,  daß  das- 
selbe Dasein  Gottes,  theoretisch  betrachtet,  eine  Möglichkeit  dar- 
stellt, die  zwar  nicht  ,, bewiesen",  aber  auch  durch  nichts  ,, wider- 
legt" werden  kann.  Wenn  es  sich  aber  so  verhält,  so  fragt  es  sich, 
ob  vielleicht  Gründe  vorhanden  sind,  die  die  Vernunft  bestimmen 
könnten,  der  Bejahung  dieser  Möglichkeit  vor  ihrer  Verneinung 
den  Vorzug  zu  geben.  Nach  Kant  sind  solche  Gründe  nun  wirklich 
vorhanden,  und  zwar  liegen  sie  in  den  Konsequenzen  der  Moralität. 
Nicht  unmittelbar  in  dieser  selbst  —  dann  wären  sie  objektiv  mora- 
lisch gewiß  —  ,wohl  aber  in  den  Ergebnissen  einer  Reflexion,  die 
sich  an  das  sittliche  Selbstgefühl  anschließt  und  durch  Entwicklung 
der  Konsequenzen  desselben  das  religiöse  Existentialurteil  sub- 
jektiv moralisch  gewiß  macht.  Oder,  um  noch  einmal  mit  Kant 
zu  reden:  ,,Das  moralische  Argument  soll  keinen  objektiv  gültigen 
Beweis  vom  Dasein  Gottes  an  die  Hand  geben,  nicht  dem  Zweifel- 
gläubigen  beweisen,  daß  ein  Gott  sei,  sondern  daß,  wenn  er  mora- 
liscli  konsequent  denken  will,  er  die  Annehmung  dieses  Satzes 
unter  die  Maximen  seiner  praktischen  Vernunft  aufnehmen  müsse.  — • 
Es  soll  damit  auch  nicht  gesagt  werden:  es  ist  zur  Sittlichkeit 
notwendig  .  .  .,  sondern:  es  ist  durch  sie  notwendig."  In  diesem 
Sinne  ist  es  ein  ,, subjektiv,  für  moralische  Wesen  hinreichendes 
Argument  ".2) 

Die  von  Kant  so  nachdrücklich  betonte  Subjektivität  des 
religiösen  Existentialurteils  bezieht  sich  also  lediglich  auf  die  Art 
seiner  Ej-zeugung,  genauer  auf  die  seiner  Motivitation,  nicht  aber 


')  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  857. 
*)  Kritik  der  Urteilskraft,  S.  424  Anm. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  gi 

auf  seine  Bedeutungsqualität.  Motivation  ist  nicht  Intention. 
Die  „Intention"  des  religiösen  Urteils  ist  nach  Kant  eine  durch 
und  durch  objektive,  wie  seine  Motivation  eine  subjektive  ist; 
und  man  kann  den  Kantischen  Standpunkt  in  Hinsicht  auf  die 
Bedeutung  des  religiösen  Urteils  nur  als  den  eines  objektiven 
Intentionalismus  bezeichnen.  Das  religiöse  Existcntialurteil  wird 
nach  Kant  allerdings  durch  Ideen  erzeugt;  aber  es  besteht 
nicht  selbst  in  Ideen,  sondern  in  einer  Daseinsbehauptung.  Nicht 
in  der  Form :  Gott  ist,  weil  er  sein  muß,  sondern  so :  Wir  sind  be  - 
rechtigt  zu  sagen:  Gott  ist,  weil  und  sofern  wir  genötigt  sind, 
zu  sagen:  er  muß  sein.  Hier  wird  nicht,  wie  in  der  Aufklärungs- 
metaphysik, aus  der  Notwendigkeit  der  Gottesidee  auf  das  Dasein 
Gottes  geschlossen,  sondern  lediglich  auf  das  Recht  zur  vertrauens- 
vollen Bejahung  dieses  Daseins,  die  objelctiv  freilich  immer  mit 
der  Möglichkeit  des  Irrens  verknüpft  bleibt.  Das  ist  ein  großer 
Unterschied.  Es  ist  die  Distanz,  die  Kant  von  der  Aufklärung 
und  allem  Dogmatismus  trennt.  Es  ist  zugleich  einer  der  großen 
Schritte,  die  Kant  über  die  Aufklärung  hinaus  getan  hat. 

Insofern  heißt  es  und  muß  es  heißen  —  nicht:  es  ist  gewiß, 
sondern:  ich  bin  gewiß.  Aber  ,,ich  bin  gewiß"  bedeutet  nun  doch 
nichts  weniger  als  soviel  wie:  ,,ich  stelle  mir  vor"  oder  ,,ich  bilde 
mir  ein".  Von  solchen  ,, Vorstellungen"  oder  ,, Einbildungen"  hat 
Kant  seinen  ,, Vernunftglauben"  nicht  nur  aufs  strengste  ge- 
schieden, sondern  es  ist  geradezu  der  alles  beherrschende  Zweck 
seiner  Religionsphilosophie,  den  Glauben  ein  für  allemal  über 
diese  Stufe  des  ,,Schwärmens"  hinauszuheben;  und  alle  Ein- 
schränkungen und  Korrekturen,  die  die  Religion  in  seinem  System 
erleidet,  sind  unter  diesem  nur  Gesichtspunkt  zu  verstehen. 

Denn  die  Gewißheit  seines  ,, Glaubens"  ist  der  des  ,, Wissens" 
nicht  etwa  nachstehend,  sondern  vollkommen  ebenbürtig.  Die 
Unterscheidung  der  Glaubens-  und  der  Wissensgewißheit  ist  nicht 
im  Sinne  einer  Abstufung,  sondern  lediglich  in  dem  einer  kritischen 
Auseinanderhaltung  zu  verstehen;  denn  auch  hier  ist  jener  ,, Ver- 
wirrung" zu  steuern,  die  entsteht,  wenn  man  die  Grenzen  der 
unter  sich  so  verschiedenen  Gewißheitsarten  ineinanderlaufen 
läßt.  Der  Kantische  Glaube  ist  nicht  Vorstufe  des  Wissens 
—  denn  er  kann  sich  nie  in  ein  Wissen  verwandeln  — ,  sondern 
da.    wohlfundierte    Gegenstück   zu    diesem.^)      Er   ist,    wie    Kant 


^)  Vgl.  hierzu  die  wichtigen  Ausführungen  über  den  Begriff  der  ,, Glaubens- 
sachen", §  91,  3  der  Kritik  der  Urteilskraft. 


92 


Heinrich  Scholz: 


selbst   sich   ausgedrückt    hat,    dem    Grade    nach    keinem   Wissen 
nachstehend,  wiewohl  der  Art  nach  völlig  von  ihm  unterschieden.^) 
Religion  im  Kantischen  Sinne  ist  also 

A)  in  Hinsicht  auf  ihren  Gehalt:  ein  Urteil  über  das  Dasein 
Gottes  (und  die  Unsterblichkeit  der  Seele),  hingegen  Deutung 
unserer  Pflichten  nur  insofern,  als  diese  auf  jenem  Existential- 
urteil  auf  ruht; 

B)  in  Hinsicht  auf  ihre  Form: 

(i)  ein  exklusives  Vernunfturteil ; 

(2)  innerhalb    dieser    Kategorie:    ein    ethisch    fundiertes 
Vernunfturteil ; 

C)  in  Hinsicht  auf  ihre  Gewißheit:  ein  subjektiv  begründetes 
Urteil,  das  aber  in  Bezug  auf  seine  Evidenz  den  objektiv  begründeten 
Erkenntnisurteilcn  nicht  nachsteht; 

D)  in  Hinsicht  auf  ihre  Wahrheit:  ein  zwar  unbeweisbares 
und  insofern  mit  der  Möglichkeit  des  Irrens  verknüpftes,  aber 
um  so  besser  begründetes  und  insofern  auf  die  Unwahrschein- 
lich keit  des   Irrens  hindeutendes  Urteil  über  das  Dasein  Gottes. 

Nach  diesen  Ergebnissen  erscheint  es  als  ausgeschlossen,  Kant 
für  die  Religionsphilosophie  des  Als-ob  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Das  Interesse  am  Bestände  des  Göttlichen,  das  die 
Kantische  Religionsphilosophie  beherrscht,  schließt  ihre 
Deutung  im  Sinne  der  eigentlichen  Als-ob-Lehre  aus. 
Denn  diese  hat,  wie  gezeigt  worden  ist,  die  Auflösung 
des  Interesses  am  Bestände  des  Göttlichen  zur  Voraus- 
setzung.^) Die  Kantische  Religionsphilosophie  ist  also 
in  ontologischer  Hinsicht,  in  Hinsicht  auf  ihr  Interesse 
am  Dasein  Gottes,  von  der  eigentlichen  Als-ob-Lehre 
grundsätzlich  verschieden.  Nur  in  logisch-erkenntnis- 
theoretischer Hinsicht,  also  im  uncigentlichen  Sinne, 
kann  sie  als  eine  Als-ob-Lehre  bezeichnet  werden. 
Und  zwar  genau  in  dem  Umfange,  in  welchem  sie  nicht 
sowohl  unter  dem  primären  Gesichtspunkt  des  Glaubens, 
als  unter  den  sekundären  Gesichtspunkten  der  Pflicht 
und  des  sittlichen  Verhaltens  konstruiert  wird.  Das 
heißt:     sie    ist     eine     Religionsphilosophie     des     Als-ob, 


')  Was  heißt:  sich  im  Denken  orientieren?  (Kleine  Schriften,  II,  157). 
*)  Siehe  oben  S.  29. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  g^ 

insofern  sie  (i)  verstanden  wird  als  Erkenntnis  aller 
unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote,  und  insofern 
sie  (2)  interpretiert  werden  kann  als  ein  Verhalten  von 
der  Art,   als  ob  es  ein  höchstes  Wesen  gäbe. 

Denn  unsere  Pflichten  sind  an  sich  keine  göttlichen   Gebote, 
sondern   Imperative  der  reinen  Vernunft.      Göttliche   Gebote  sind 
sie  nur  insofern,  als  wir  Gründe  haben,  sie  auf  Gott  zu  beziehen. 
Als  moralisch  handelnde  Wesen  haben  wir  solche  Gründe  nicht, 
wohl  aber  auf  Grund  der  Weltanschauung,  die  sich  aus  solchem 
Handeln  ergibt.     Unter  dem  Gesichtspunkt  der  bloßen  Moralität 
ist  also  die  religiöse  Deutung  der  Pflicht  wirklich  nur  ein  affekt- 
volles Als-ob,   dem  keine  wesenhafte   Bedeutung  zukommt.     Erst 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  sittlichen  Weltanschauung  wird  die 
Deutung   unserer    Pflichten    als    göttlicher    Gebote   eine   ernst    zu 
nehmende  Interpretation;  denn  die  sittliche  Weltanschauung  kommt 
erst  im   Glauben  an  das   Dasein   Gottes  zum  Abschluß.     Und  es 
kann  nicht  fehlen,  daß  dieser  Glaube  nun  hinterher  auch  auf  die 
Empfindung  unserer   Pflichten   zurückwirkt;   ist  es   doch   dieselbe 
Vernunft,  die  den  kategorischen  Imperativ  und  die  sittliche  Welt- 
anschauung mit  ihren  metaphysischen  Konsequenzen  erzeugt.     In 
diesem  Sinne  und  unter  dieser  Bedingung  ist  die  Erkenntnis  unserer 
Pflichten  als  göttlicher  Gebote  eben  so  ernst  und  real  zu  nehmen 
wie  etwa  die  Definition  der  Erfahrung  als  Erkenntnis  der  Dinge 
unter  der  Form  der  Erscheinung. 

Was  aber  den  zweiten  Ausdruck  betrifft:  Religion  ein  Ver- 
halten, als  ob  es  ein  höchstes  Wesen  gäbe,  so  ist  die  Meinung 
Kants  nicht  diese:  wir  wissen  zwar,  daß  es  kein  höchstes  Wesen 
gibt;  aber  wir  müssen  so  handeln,  als  ob  es  so  wäre,  sondern:  wir 
wissen  zwar  nicht,  ob  es  ein  höchstes  Wesen  gibt;  aber  wir  müssen 
so  handeln,  als  ob  wir  wüßten,  daß  es  so  ist,  während  wir  in  Wahr- 
heit nur  durch  einen  Glaubensakt  davon  überzeugt  sind.  Kant 
selbst  hat  sich  einmal  ausdrücklich  so  ausgelegt,  und  die  Stelle, 
an  der  er  es  getan  hat,  ist  auch  bei  Vaihinger  angeführt. i) 


1)  In  der  aus  dem  Anfang  der  90  er  Jahre  stammenden,  leider  Fragment  ge- 
bliebenen Arbeit  über  die  Fortschritte  der  Metaphysik  seit  Leibniz  und  Wolf 
heißt  der  Glaube  einmal  in  einer  ungewöhnlich  glücklichen  Formulierung  eine 
,, praktisch  gültige  und  in  dieser  Absicht  hinreichende  Belehrung,  so  zu  handeln, 
als  ob  wir  wüßten,  daß  diese  Gegenstände  (Gott  und  Unsterblichkeit)  wirklich 
wären"  (Kleine  Schriften,  III,  129).  —  Vgl.  Vaihinger,  S.  679.  —  Auf  die  sach- 
liche Bedeutung  des  Kantischen  Fragmentes  hat  schon  K.  Oesterreich  in  seiner 


94 


Heinrich  Scholz: 


Um  SO  auffallender  ist  es,  daß  Vai hinger  trotzdem  eine  ganz 
andere  Kantauffassung  vertritt  —  eine  Auffassung,  die  Kant  in 
seinen  besten  Momenten  zum  radikalen  Als-ob-Philosophen  und 
Forberg  zu  seinem  konsequentesten  Fortbildner  macht.  Nach 
Vaihinger  ist  die  Kantische  Rechtfertigung  der  religiösen  Ideen 
,,eine  rein  fiktive".  Hierin  bestehe  der  ,, unermeßliche  Unter- 
schied" zwischen  der  Kantischen  Rechtfertigung  dieser  Ideen 
und  aller  vor-  und  nachkantischen.  Kant  betrachte  dieselben 
lediglich  als  ,, praktisch  zweckmäßige  Fiktionen".  Ganz  un- 
kantisch  sei  daher  der  Kanlianismus  vulgaris,  ,,nach  welchem 
Kant  die  religiösen  Hauptideen  rechtfertigen  soll  auf  Grund 
von  moralischen  Tatsachen".^)  ,,Im  Kantischen  Sinne,  im  Sinne 
der  kritischen  Philosophie  heißt  der  Ausdruck  ,ich  glaube  an  Gott' 
nichts  anderes  als:  ,ich  handle  so,  als  ob  es  einen  Gott  wirklich 
gäbe'  ....  Trotzdem  mir  meine  theoretische  Vernunft  ver- 
bietet, eine  .  .  .  moralische  Weltordnung  anzunehmen  .  .  .,  so 
handle  ich  doch  so,  als  ob  es  eine  solche  moralische  Weltordnung 
geben  würde,  da  mir  meine  praktische  Vernunft  gebietet, 
das  Gute  unbedingt  zu  tun.  Indem  ich  diesem  Gebot  der  prak- 
tischen Vernunft  folge,  handle  ich,  streng  genommen,  theoretisch 
unvernünftig;  denn  meine  theoretische  Vernunft  sagt  mir,  daß 
eine  solche  moralische  Weltordnung  nur  ein  leerer,  wenn  auch 
schöner  Begriff  ist."^) 

Ehe  wir  fragen,  auf  welche  Stellen  diese  Kantauffassung  sich 
stützt,  sind  einige  grundsätzliche  Bemerkungen  zu  dieser  Aus- 
legung einzuschalten.  Es  ist  zunächst  hervorzuheben,  daß  Vai- 
hinger seine  Interpretation  durchaus  nicht  als  die  einzig  erweis- 
liche vorträgt.  Er  hat  im  Gegenteil  klar  gesehen,  daß  der  Tat- 
bestand des  Kantischen  Schrifttums  auch  eine  ganz  andere  Aus- 
legung zuläßt,  und  er  hat  selbst  die  Hauptstellen  angedeutet, 
auf  denen  eine  solche  Auslegung  fußen  könnte.  Es  ist  also  auch 
nicht  anzunehmen,  daß  er  die  in  dieser  Arbeit  vorgetragene  Kant- 


Arbeit  über  Kant  und  die  Metaphysik  1906  mit  Recht  nachdrücklich  hingewiesen.  — 
Im  übrigen  habe  ich  mich  bei  der  Ausarbeitung  des  Apparates  und  der  Rekonstruktion 
der  Kantischen  Religionsphilosophie  absichtlich  auf  die  gedruckten  Schriften  be- 
schränkt, weil  diese  allein  für  eine  nachschaffende  Darstellung  seiner  Gedanken- 
welt in   Betracht  kommen  können. 

')  Vaihinger,  S.  68of. 

*)  S.  684. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  OC 

auffassung  als  unerweislich  ablehnen  würde;  aber  er  sieht  in  ihr 
allerdings  den  Niederschlag  eines  Kantianismus  vulgaris,  der  an 
die  letzten  Absichten  Kants  an  keinem  entscheidenden  Punkte 
heranreicht.  Und  das  genügt;  denn  unsere  Darstellung  erhebt 
den  Anspruch,  aus  der  Idee  des  Kritizismus  geflossen  zu  sein  — 
also  aus  derselben  Quelle,  aus  der  auch  Vai hinger  seine  Auf- 
fassung ableitet.  In  dieser  Hinsicht  aber  scheint  mir  die  ein- 
gestandene ,, Unvernunft"  der  von  ihm  herauspräparierten  Re- 
ligion für  die  objektive  Beurteilung  entscheidend  zu  sein.  Wenn 
unter  Bezug  auf  die  Idee  des  Kritizismus  irgend  etwas  voraus- 
gesetzt werden  darf,  so  ist  es  dies,  daß  Kant  eine  Vernunft- 
religion  angestrebt  hat.  Die  von  Vaihinger  für  den  Kritizismus 
in  Anspruch  genommene  Religion  nähert  sich  aber  in  bedenk- 
lichster Weise  dem  Gegenteil  einer  solchen.  Dieses  Ergebnis  scheint 
mir  grundsätzlich  gegen  die  Richtigkeit  seiner  Kantauslegung  zu 
entscheiden,  und  zwar  gerade  unter  dem  als  maßgebend  an- 
erkannten Gesichtspunkt  der  Idee  des  Kritizismus. 

Es  ist  auch  nicht  richtig,  wenn  Vaihinger,  zwischen  einem 
gemäßigten   und   einem   radikalen   Kritizismus   unterscheidend,    in 
Hinsicht    auf   das    Verhältnis    dieser   beiden   zueinander   bemerkt: 
,,Für  den  gemäßigten  Kritizismus  ist  alle  Erkenntnis  des  Über- 
sinnlichen  vollständig  eingebildet,    für   den  radikalen    Kritizismus 
ist    das    Übersinnliche   selbst    bloße    Einbildung"    (S.  748).      Denn 
diesen  radikalen  Kritizismus  würde  Kant  vielmehr  als  negativen 
Dogmatismus,   also  als   Ausdruck  einer  unkritischen   Denkart  be- 
zeichnet   haben,    wie   er    auch    die    Religion   der    bewußten    ,, Un- 
vernunft",  der   Vaihinger  zusteuert,   schwerlich  als   kritisch   an- 
erkannt   haben    würde.      Die    dogmatische    Leugnung    des    Über- 
sinnlichen ist  ein  Merkmal  des   Positivismus  und  bezeichnet  den 
metaphysischen   Punkt,    an  dem  sich  der   Kritizismus   vom   Posi- 
tivismus ersichtlich  trennt.     Der  ,, gemäßigte"  Kritizismus  ist  also 
selbst  schon  der  konsequente,    und   die   Unterscheidung  zwischen 
ihm     und      einem     radikalen     Kritizismus      hält      der     Prüfung 
nicht   stand. 

Aber  auch  die  Formel  für  den  gemäßigten  Kritizismus  er- 
scheint mir  schon  als  zu  positivistisch  gefärbt.  Für  den  Kriti- 
zismus ist  keineswegs  alle  Erkenntnis  des  Übersinnlichen  voll- 
ständig eingebildet.  Die  ethisch  fundierte  Erkenntnis  desselben, 
wie  sie  in  der  Bestimmung  Gottes  als  des  moralischen  Welturhebers 
zutage  tritt,  ist  im  Sinne  dieses  Kritizismus  ganz  und  gar  nicht 


q5  Heinrich  Scholz  : 

eingebildet.  Sie  mag  inadäquat  sein  und  nur  einen  symbolischen 
Geltungswert  haben;  aber  ,, inadäquat"  ist  nicht  „eingebildet", 
sondern  drückt  die  bei  grundsätzlich  unerreichbarer  objektiver 
Zulänglichkeit  erreichbare  subjektive  Zulänglichkeit  einer  Er- 
kenntnisart aus.^) 

Was  aber  den  Kantianismus  vulgaris  betrifft,  so  scheint  es 
mir  richtiger,  ihn  auf  folgende  Vergröberungen  des  Kritizismus 
einzuschränken.  Erstens  auf  die  Behauptung:  Religion  im  Kan- 
tischen Sinne  sei  die  praktische  Annahme  eines  theoretisch  wider- 
legten Gottesglaubens.  Zweitens  auf  den  Satz:  die  Kantischen 
Postulate  seien  als  praktische  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  zu 
verstehen.  Beide  Sätze  sind  Deutungen,  die  sich  mit  der  Idee 
des  Kritizismus  in  keiner  Weise  vertragen  und  darum  ausdrück- 
lich zurückzuweisen  sind.  Religion  im  Kantischen  Sinne  ist  nicht 
die  praktische  Annahme  eines  theoretisch  widerlegten  Existential- 
urteils,  sondern  die  ethisch  fundierte  Annahme  einer  logisch  nicht 
(hinreichend)  fundierbaren  Wirklichkeitsbehauptung.  Und  die 
Postulate  sind  nicht  praktische  Beweise  für  das  Dasein  Gottes, 
sondern  ethisch  fundierte  Daseinsforderungen,  die  den  Glauben 
an  das  Dasein  Gottes  begründen.  Indem  unsere  Darstellung  diese 
beiden  Punkte  heraushebt  und  im  Gegensinne  des  Kantianismus 
vulgaris  interpretiert,  rückt  sie  über  die  Vermutung  hinaus,  ein 
Ausdruck  dieses  Kantianismus  vulgaris  zu  sein. 


Indessen,  mit  diesen  kritischen  Bemerkungen  ist  Vaihingers 
Kantauffassung  noch  nicht  widerlegt.  Denn  nicht  nur,  daß  diese 
Auffassung  sich  auf  eine  Reihe  von  Stellen  stützt,  die  einer  be- 
sonderen Auslegung  bedürfen,  sie  ist  auch  mit  gewissen  Momenten 
der  Kantischen  Ideenlehre  in  einer  so  eigentümlichen  und  scharf- 
sinnigen Weise  verknüpft,  daß  auch  hier  eine  Nachprüfung  er- 
forderlich ist. 

Wir  betrachten  zunächst  die  wichtigsten  Stellen,  an  denen 
Kant  nach  Vaihingers  Urteil  sich  zur  konsequenten  Als-ob- 
Lehre  bekennt.  Es  ist  ein  Verdienst  der  Vaihingerschen  Unter- 
suchung, diese  Stellen  hervorgehoben  und  so  aufeinander  be- 
zogen   zu    haben,    daß    ihre  Bedeutung  erst  klar  ersichtlich  wird. 


*)  Vgl.  noch  einmal  die  wichtige  Abhandlung:   Was  heißt:  sich  im  Denken 
orientieren  ? 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  gy 

Außerdem  hat  schon  Vaihingcr  bemerkt,  daß  es  vorwiegend 
die  Altersschriften  sind,  in  denen  Kant  die  Als-ob-Lehre  vor- 
trägt —  also  Schriften,  in  denen  man  eher  die  Rückkehr  zu  einer 
konservativeren  Betrachtung  erwartet.  Das  Gegenteil  scheint  hier 
der  Fall  zu  sein,  und  die  Vermutung  liegt  wirklich  nahe,  daß  es 
sich  um  den  konsequentesten  Ausdruck  der  Kantischen  Religions- 
philosophie handelt. 

Die  erste  der  in  Betracht  kommenden  Stellen  ist  schon  von 
Forberg  hervorgehoben  worden.^)  Sie  findet  sich  in  der  gegen 
den  Schlosserschen  Piatonismus  gerichteten  ,, Verkündigung  des 
nahen  Abschlusses  eines  Traktats  zum  ewigen  Frieden  in  der  Philo- 
sophie"  (1796)  und  lautet: 

Es  gibt  etwas  in  der  menschlichen  Vernunft,  was  .  .  .  seine  Realität 
und  Wahrheit  in  Wirkungen  beweist,  die  .  .  .  schlechterdings  können 
geboten  werden.  Dieses  ist  der  Begriff  der  Freiheit  und  das  von 
dieser  abstammende  Gesetz  des  kategorischen  .  .  .  Imperativs*  Durch 
dieses  bekommen  Ideen,  die  für  die  bloß  spekulative  Vernunft 
völlig  leer  sein  würden,  ob  wir  gleich  durch  diese  zu  ihnen  ...  un- 
vermeidlich hingewiesen  werden,  eine  obzwar  nur  moralisch- 
praktische  Realität:  nämlich  uns  so  zu  verhalten,  als  ob  ihre 
Gegenstände  (Gott  und  Unsterblichkeit),  die  man  also  in  jener  (prak- 
tischen) Rücksicht  postulieren  darf,  gegeben  wären. ^) 

Hierzu  gehört  als  eine  Art  von  Erläuterung  folgende  An- 
merkung über  den  Begriff  des  Postulates: 

Postulat  ist  ein  a  priori  gegebener  .  .  . ,  keines  Beweises  fähiger, 
praktischer  Imperativ.  Man  postuliert  also  nicht  Sachen  oder  über- 
haupt das  Dasein  irgendeines  Gegenstandes,  sondern  nur  eine  Maxime 
der  Handlung  eines  Subjekts.^) 

Hiernach,  und  ganz  besonders  nach  dieser  Erläuterung,  scheint 
die  Kantische  Religion  in  der  Tat  nichts  anderes  zu  sein,  als  ein 
vom  Dasein  Gottes  ausdrücklich  abstrahierendes  Verhalten  prak- 
tischer Art,     Indessen,  hierzu  ist  Folgendes  zu  bemerken: 


^)  Apologie  meines  Atheismus,  S.  igöf.  —  Vgl.  Vaihinger,  S.  682,  Anm    i 
*)  Kleine  Schriften,  IV,  32f. 
^)  rbidem  S.  35,  Anm. 
Annalen  der  Philosophie.    I.  7 


98 


Heinrich  Scholz: 


(i)    Es  kommt  für  die  Auslegung  alles  darauf  an,   wie   man 
den   Kantischen   Text   akzentuiert.      Und   da   Kant   selbst   keine 
Akzente  gesetzt  hat,  müssen  sie  aus  dem  Zusammenhang  erschlossen 
werden.    Man  kann  akzentuieren,  wie  es,  zugunsten  der  konsequen- 
ten Als-ob-Lehre,  aber  ohne  Ermächtigung  durch  Kant,  oben  ge- 
schehen ist:  Religion  ein  Verhalten,  als  ob  Gott  gegeben  wäre.    Man 
kann  aber  auch  akzentuieren:  Religion  ein  Verhalten,  als  ob  Gott 
gegeben,  also  erweislich  wirklich  wäre,  und  nicht  nur  —  für 
unsere,    der    Anschauung    des    Übersinnlichen    unfähige    Ver- 
nunft   —  die    objektiv   immer   problematische    Wirklichkeit   eines 
moralischen    Vertrauensurteils    hätte.      Und    diese    Akzentuierung 
scheint  mir  die  richtige  zu  sein.     Denn  es  ist  vorher  ausdrücklich 
von   der  bloß  spekulativen,   also  unvollständigen,   der  Ergänzung 
fähigen    und    bedürftigen    Vernunft    die    Rede,    mithin   von   einer 
Vernunft,  deren  Urteil  allein  nichts  entscheiden  kann;  und  außer- 
dem heißt  es  von  dieser   Vernunft  ausdrücklich,    daß  wir  durch 
sie  auf  die  Idee  (des  Daseins)  Gottes  unvermeidlich  hingewiesen 
werden.    Wenn  aber  die  logische   Spekulation  so  erstens  als  frag- 
mentarisch, zweitens  als  über  sich  hinausweisend  dargestellt  wird, 
so  bleibt  kaum  eine  andere  Auslegung  übrig,  als  die,  die  den  Ton 
auf  die   Gegebenheit  legt  und  die  Religion  im  Kantischen  Sinne 
demgemäß  als  ein  Verhalten  interpretiert,  als  ob  Gott  erweislich 
gegeben  wäre.     Denn  man  kann 

(2)  auch  nicht  sagen,  daß  ,, gegeben"  hier  einfach  soviel  wie 
,, wirklich"  bedeute.  Freilich  kann  man  sich  für  diese  Gleichung 
auf  eine  auch  von  Vaihinger  (S.  683)  hervorgehobene  Stelle  aus 
dem  unserer  Kundgebung  zeitlich  und  sachlich  ganz  nahestehenden 
Schriftchen  über  den  vornehmen  Ton  in  der  Philosophie  berufen, 
wo  es  heißt: 


An  Gott  moralisch-praktisch  glauben,  heißt  nicht:  seine  Wirk- 
lichkeit vorher  theoretisch  für  wahr  annehmen,  damit  man  den  [durch 
das  Sittengesetz  gebotenen]  Zweck  ...  zu  bewirken  Triebfedern  be- 
komme —  denn  dazu  ist  das  Gesetz  der  Vernunft  schon  für  sich  ob- 
jektiv hinreichend  — ,  sondern  um  nach  dem  Ideal  jenes  Zwecks  so 
zu  handeln,  als  ob  eine  solche  Weltregierung  wirklich  wäre.^) 


*)  Kleine  Schriften,  IV  13,  Anm. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  99 

Indessen,    auch    dieser    Satz    ist    nicht    durchschlagend;    denn 
Kant  sagt  hier  nicht:  der  praktische  Glaube  im  Sinne  des  Kritizis- 
mus ist  ein  vom  Dasein  Gottes  abstrahierendes  Verhalten,  sondern 
die  klar  ersichtliche  Tendenz  seines  Satzes  ist  diese:  einzuschärfen, 
daß  der  Glaube  an  das  Dasein  Gottes  nie  das  Motiv  des  sittlichen 
Handelns  werden  darf,  weil  dieses  durch  eine  solche  Motivierung 
gleichsam  verunreinigt  werden  würde.     Es  handelt  sich  hier  also 
eigentlich   gar   nicht   um  die   Wirklichkeitsfrage,   sondern   um  die 
von  Kant  so  oft  und  immer  identisch  entschiedene   Frage  nach 
dem  Verhältnis   des    Glaubens   an   das   Dasein   Gottes   zur 
Moralität.     Und  es  ist,  als  ob  Kant  hätte  sagen  wollen:  Selbst 
wenn  das  Dasein  Gottes  erweislich  wäre,  so  dürfte  es  auf  die  Be- 
gründung der  Moral  keinen  Einfluß  haben.     Der   Satz  klingt  so 
freilich  ein  wenig  paradox;  aber  man  darf  nicht  vergessen,  gegen 
wen  er  gerichtet  ist.     Gegen  einen  Platoniker,  der  die  reine  Ver- 
nunft    durch     intellektuelle     Anschauungen     und     mystische     Er- 
leuchtungen   überbieten    will,    und    der    in    platonisierender    Form 
das  Transzendenzprinzip  wieder  in  Kraft  setzt,  um  die  Autonomie 
der  Moral  zu  zertrümmern.     Kant  kämpft  hier  für  das  Palladium 
seiner  Philosophie,  nämlich  für  die  Autonomie  der  Moral;  darum 
drückt  er  sich  hier  so  negativ  aus.    Der  ganze  Satz  ist  antithetisch 
zu  verstehen,  wie  das  aus  den  ,,Prolegomenen"  bekannte  ,, frucht- 
bare   Bathos   der    Erfahrung"    und   die   sich   daran   anschließende 
Kriegserklärung  gegen  die  Metaphysik,   die  ebenfalls  antithetisch 
gemeint  ist  und  höchstens  die  Hälfte  des   Ganzen  zum  Ausdruck 
bringt.     Sachlich  sind  zu  unserer  Stelle  die   Schlußworte  aus  der 
Kritik   der    Urteilskraft    mit    ihrer   lehrreichen    Gegenüberstellung 
von    Ethikotheologie    und    theologischer    Ethik    zu    vergleichen: 
,,Es  ist  also  wohl  eine  Ethikotheologie  möglich;   denn  die  Moral 
kann  zwar  mit  ihrer  Regel,  aber  nicht  mit  der  Endabsicht,  welche 
ebendieselbe    auferlegt,    ohne    Theologie  bestehen.   .  .  .   Aber  eine 
theologische  Ethik  ist  unmöglich,  weil  Gesetze,  die  nicht  die  Ver- 
nunft ursprünglich  selbst  gibt  .  .  .,  nicht  moralisch  sein  können." 
Genau   derselbe    Gedanke   scheint    mir   in   dem   hier   vorliegenden 
Satze  zum  Ausdruck  zu  kommen;  er  sagt  dasselbe  —  nur  in  anti- 
thetisch verschärfter  Form. 

Als  ein  weiteres  lehrreiches  Beispiel  für  solche  formalen  Aus- 
drucksverschiebungen,  denen  eine  sachliche  Bedeutung  nicht  zu- 
kommt, kann  folgende,  auf  die  religiöse  Deutung  des  Sitten- 
gesetzes bezügliche  Gegenüberstellung  gelten: 

7* 


ICO 


Heinrich  Scholz ; 


Setzt  einen  Menschen  in  den 
Augenblicken  der  Stimmung  seines 
Gemüts  zur  moralischen  Empfin- 
dung. Wenn  er  sich,  umgeben  von 
einer  schönen  Natur,  in  einem 
ruhigen,  heiteren  Genüsse  seines 
Daseins  befindet,  so  fühlt  er  in  sich 
ein  Bedürfnis,  irgend  jemand  dafür 
dankbar  zu  sein.  Oder  er  sehe 
sich  ein  andermal  in  derselben 
Gemütsverfassung  im  Gedränge  von 
Pflichten,  denen  er  nur  durch  frei- 
willige Aufopferung  Genüge  leisten 
kann  und  will,  so  fühlt  er  in  sich 
ein  Bedürfnis,  hiermit  zugleich  etwas 
Befohlenes  ausgerichtet  und  einem 
Oberherrn  gehorcht  zu  haben.  Oder 
er  habe  sich  etwa  unbedachtsamer- 
weise  wider  seine  Pflicht  vergangen, 
wodurch  er  doch  eben  nicht  Men- 
schen verantwortlich  geworden  ist, 
so  werden  die  strengen  Selbst- 
verweise dennoch  eine  Sprache  in 
ihm  führen,  als  ob  sie  die  Stimme 
eines  Richters  wären,  dem  er  dar- 
über Rechenschaft  abzulegen 
hätte.  Mit  einem  Worte:  er  bedarf 
einer  moralischen  Intelligenz,  um 
für  den  Zweck,  wozu  er  existiert, 
ein  Wesen  zu  haben,  welches  diesem 
gemäß  von  ihm  und  der  Welt 
die  Ursache  sei.  ...  Es  ist  also 
wenigstens  möglich  und  auch  der 
Grund  dazu  in  moralischer 
Denkungsart  gelegen  .  .  .,  die 
Existenz  eines  (solchen)  Wesens 
sich  vorzustellen.  (Kr.  d.  U.  §  86 
Anm.) 


Die  verschleierte  Göttin,  vor  der 
wir  beiderseits  unsere  Knie  beugen, 
ist  das  moralische  Gesetz  in  uns  in 
seiner  unverletzlichen  Majestät.  Wir 
vernehmen  zwar  ihre  Stimme  und 
verstehen  auch  gar  wohl  ihr  Gebot, 
sind  aber  beim  Anhören  im  Zweifel, 
ob  sie  von  dem  Menschen,  aus  der 
Machtvollkommenheit  seiner  eige- 
nen Vernunft  selbst,  oder  ob  sie 
von  einem  anderen,  dessen  Wesen 
ihm  unbekannt  ist  und  welches  zum 
Menschen  durch  seine  eigene  Ver- 
nunft spricht,  herkomme.  Im  Grun- 
de täten  wir  vielleicht  besser, 
uns  dieser  Nachforschung  gar 
zu  überheben,  da  sie  bloß  speku- 
lativ ist  und,  was  uns  zu  tun  ob- 
liegt, immer  dasselbe  bleibt,  man 
mag  eines  oder  das  andere  Prinzip 
zum  Grunde  legen;  nur  daß  das 
didaktische  Verfahren,  das  mora- 
lische Gesetz  in  uns  auf  deutliche 
Begriffe  nach  logischer  Lehrart  zu 
bringen,  eigentlich  allein  philo- 
sophisch, dasjenige  aber,  jenes 
Gesetz  zu  personifizieren  und 
aus  der  moralisch  gebietenden 
Vernunfteine  verschleierte  Isis 
zu  machen  .  .  .,  eine  ästhetische 
[in  Kants  Sprachgebrauch  gleich- 
bedeutend mit:  sinnlich-unphilo- 
sophische, modern  gesprochen  „my- 
thische"] Vorstellungsart  ebendes- 
selben Gegenstandes  ist;  deren  man 
sich  wohl  hintennach,  wenn  durch 
erstere  die  Prinzipien  schon  ins 
Reine  gebracht  worden,  bedienen 
kann,  um  durch  sinnliche,  obzwar 
nur  analogische  Darstellung  jene 
Ideen  zu  beleben,  doch  immer  mit 
einiger  Gefahr,  in  schwärme- 
rische Visionen  zu  geraten, 
die  der  Tod  aller  Philosophie 
sind.  (Vom  vornehmen  Ton;  Kl. 
Sehr.  IV.  22  f.  Vgl.  dazu  den  ,, prak- 
tischen Schluß"  aus  den  „Träumen 
eines  Geistersehers"). 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  I O  I 

Hier  haben  wir  zwei  Lesarten  vor  uns,  von  denen  die  zweite 
offenbar  als  die  kritischere  zu  betrachten  ist.  Aber  nicht  so,  daß 
die  erste  durch  sie  ,, widerlegt"  und  als  ,, unkritisch"  aufgehoben 
wird;  vielmehr  handelt  es  sich  in  beiden  um  denselben  Gedanken, 
nämlich  um  das  kritisch  begründete  und  begrenzte  Recht  zur 
religiösen  Deutung  des  Sittengesetzes.  Jener  spricht  die  Be- 
gründetheit, dieser  die  Begrenztheit  dieses  Rechtes  aus;  und  zwar 
ist  es  beiden  Stücken  eigentümlich,  daß  sie  das  Maximum  dessen 
ausdrücken,  was  in  den  Grenzen  des  Kritizismus  gesagt  werden 
kann  —  das  erste  Stück  in  positiver,  das  zweite  in  negativer  Hin- 
sicht. Sie  stellen  gleichsam  die  äußersten  Endpunkte  der  kriti- 
zistischen  Linie  dar;  aber  diese  Linie  ist  wirklich  der  Kritizismus, 
und  es  ist  weder  nötig  noch  möglich,  ihn  auf  einen  dieser  beiden 
Punkte  zu  konzentrieren.  Jeder  große  Gedanke  ist  mehrerer 
Ausdrucksweisen  fähig,  je  nach  dem  Gesichtspunkt,  der  die  Aus- 
einandersetzung beherrscht.  Es  ist  ein  Unterschied,  ob  es  sich 
darum  handelt,  die  unantastbaren  Rechte  der  Religion  zu  ver- 
treten oder  unberechtigte  Übergriffe  der  Religion  abzuwehren. 
Und  es  ist  nicht  zulässig,  aus  den  hierdurch  bedingten  Modi- 
fikationen des  Ausdrucks  auf  Brüche  im  System  zu  schließen. 

(3)  Die  Bestimmung  des  Postulates  als  einer  von  allen  Daseins- 
spekulationen abgelösten  Gesinnungsforderung  widerspricht  der 
durch  die  Logik  und  den  Geist  des  Systems  geforderten  klassischen 
Definition  desselben  so  sehr,  daß  man  berechtigt  ist,  von  ihr  zu 
abstrahieren.  Denn  wenn  das  Postulat  im  Grunde  nichts  anderes 
ist,  als  die  Forderung  einer  Handlungsmaxime,  so  fällt  es  mit  dem 
kategorischen  Imperativ  zusammen  und  verliert  jede  selbständige 
Bedeutung  neben  diesem.  Dann  sind  ,, Postulat"  und  ,, katego- 
rischer Imperativ"  völlig  kongruente  Begriffe.  Das  können  sie 
aber  offenbar  nicht  sein,  wenn  das  Postulat  neben  dem  katego- 
rischen Imperativ  einen  Sinn  haben  soll;  und  sie  sind  es  auch 
nicht,  wenn  man  die  Postulate,  wie  es  durch  Kant  selbst  ge- 
schehen ist,  als  Daseinsforderungen  definiert,  die  auf  der  Geltung 
des  kategorischen  Imperativs  aufruhen.  Dann,  aber  auch  nur 
dann,  ist  die  Unterscheidung  von  Postulat  und  kategorischem 
Imperativ  berechtigt  und  der  Grund  ihrer  Differenzierung  er- 
sichtlich. 

Fragt  man,  was  Kant  zu  der  im  Zusammenhang  seines  Denkens 
nicht  vorgesehenen,  pragmatischen  Bestimmung  des  Postulates  ver- 
anlaßt  haben  könne,   so  wird   die   Antwort   in  jenem   unkritisch- 


I02  Heinrich  Scholz: 

platonisicrcndcn  Realismus  zu  suchen  sein,  der  das  Dasein  Gottes 
als  eine  erwiesene  Tatsache  auffaßt.  Von  diesem  Realismus  ab- 
zurücken, hat  Kant  allerdings  die  stärksten  Gründe  gehabt; 
denn  wenn  das  Dasein  Gottes  eine  erweisliche  Tatsache  ist,  so 
gibt  es  eine  Erkenntnis  des  Übersinnlichen,  folglich  auch  eine 
theoretische  Metaphysik,  für  deren  Existenz  es  gleichgültig  ist, 
ob  sie  auf  begrifflichen  Spekulationen  oder  auf  intellektuellen 
Anschauungen  beruht.  Eine  solche  Metaphysik  würde  die  Grund- 
lagen des  Kritizismus  umstoßen;  vielmehr  sind  ihr  selbst  die  Grund- 
lagen durch  den  Kritizismus  entzogen.  Nun  haben  freilich  auch 
die  Postulate  in  ihrer  klassischen  Formulierung  das  Dasein  Gottes 
zum  Gegenstande,  aber  nur  als  Daseinsforderungen.  Um  diesen 
entscheidenden  Punkt  hervorzuheben,  um  zu  verhüten,  daß  die 
Postulate  als  Daseinserkenntnisse  aufgefaßt  werden,  hat  Kant 
sie  an  dieser  Stelle  im  Widerspruch  mit  sich  selbst  von  jeder 
Daseinsbeziehung  losgelöst  und  sie  in  Gesinnungsforderungen  ver- 
wandelt, die  uns  ein  Verhalten  vorschreiben,  als  ob  es  ein  höchstes 
Wesen  gäbe,  und  nicht  nur  einen  Grund,  an  sein  Dasein  zu 
glauben. 

Denn  daß  der  Inhalt  des  religiösen  Bewußtseins  durch  diese 
ungenaue  und  inkonsequente  Auslegung  der  Postulate  keine  Än- 
derung erlitten  hat,  ergibt  sich  aus  der  auch  von  Vaihinger  be- 
merkten unmittelbaren  Fortsetzung  der  angeführten  Stelle.  Sie 
lautet:  ,,Wenn  es  nun  Pflicht  ist,  zu  einem  gewissen  Zweck  (dem 
höchsten  Gut)  hinzuwirken,  so  muß  ich  auch  berechtigt  sein, 
anzunehmen,  daß  die  Bedingungen  da  sind,  unter  denen  allein 
diese  Leistung  der  Pflicht  möglich  ist,  obzwar  dieselben  übersinn- 
lich sind  und  wir  (in  theoretischer  Rücksicht)  keine  Er- 
kenntnis derselben  zu  erlangen  vermögend  sind."  Hier  ist  also 
die  Religion  wieder  ganz  unzweideutig  der  Glaube  an  das  Dasein 
Gottes.  Vaihinger  glaubt  diese  Erklärung,  die  seine  Auffassung 
gleichsam  entwurzelt,  als  nachträglichen  Zusatz  zurückweisen  zu 
können-;  es  ist  hierzu  jedoch  zu  bemerken,  daß  einer  solchen 
Interpretation  jeder  objektive  Anhaltspunkt  fehlt. 

Indessen,  es  sind  in  diesem  Zusammenhange  noch  zwei  Stellen 
zu  diskutieren,  die  noch  bestimmter  als  die  bisher  betrachteten 
von  der   Idee  des  AJs-ob  beherrscht  zu  sein  scheinen.     Sie  finden 

»)  S.  683. 


Die  Religionsphilosopliie  des  Als-ob.  IO3 

sich  in  der  „Metaphysik  der  Sitten"  vom  Jahre  1797.  Die  erste 
der  beiden  in  Betracht  kommenden  Stellen  bezieht  sich  auf  die 
Interpretation  des  Gewissens.  Die  eigentümliche  Duplizität,  die 
der  Mensch  in  sich  vorfindet,  wenn  das  Gewissen  ihn  warnt  oder 
straft,  erzeugt  nach  einer  Vorstellung,  die  Kant  nicht  mißbilligt, 
die  Idee  eines  zweiten  Selbst,  das  dem  Subjekt  des  empirischen 
Lebens  wie  eine  erhabene  Person  gegenübersteht  und  als  eine 
Art  von  göttlicher  Autorität  empfunden  wird.  Es  handelt  sich 
nun  für  Kant  darum,  die  Bedeutung  dieser  Vorstellungsart  im 
Sinne  des  Kritizismus  aufzuklären. 

Was  bedeutet  die  mit  dem  Erlebnis  des  Gewissens  verknüpfte 
Vorstellung  einer  göttlichen  Stimme  im  Menschen?  Kant  ant- 
wortet : 

Dieses  will  nicht  so  \ael  sagen,  als :  der  Mensch,  durch  die  Idee, 
zu  welcher  ihn  sein  Gewissen  unvermeidhch  leitet,  sei  berechtigt, 
noch  weniger  aber:  er  sei  durch  dasselbe  verbunden,  ein  .  .  .  höchstes 
Wesen  außer  sich  als  wirklich  anzunehmen;  denn  sie  wird  ihm 
nicht  objektiv,  durch  theoretische,  sondern  bloß  subjektiv^  durch 
praktische,  sich  selbst  verpflichtende  Vernunft,  ihr  angemessen  zu 
handeln,  gegeben;  und  der  Mensch  erhält  vermittelst  dieser  nur  nach 
der  Analogie  mit  einem  Gesetzgeber  aller  vernünftigen  Weltwesen 
eine  bloße  Leitung,  die  Gewissenhaftigkeit  (welche  auch  religio  ge- 
nannt wird)  als  Verantwortlichkeit  vor  einem  von  uns  selbst  unter- 
schiedenen, aber  uns  doch  innigst  gegenwärtigen  heiligen  Wesen 
(der  m.oralisch-gesetzgebenden  Vernunft)  sich  vorzustellen  und  dessen 
Willen  den  Regeln  der  Gesetzlichkeit  zu  unterwerfen.  Der  Begriff 
von  der  Religion  überhaupt  ist  hier  dem  Menschen  bloß  „ein  Prinzip 
der  Beurteilung  aller  seiner  Pf  Hebten  als  göttlicher  Gebote".^; 

Wie  ist  diese  Stelle  zu  interpretieren?  Der  Schlüssel  zu  ihrer 
richtigen  Deutung  scheint  mir  in  dem  ,,hier"  zu  liegen.  ,,Hier", 
nämlich  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Interpretation  des  Gewissens, 
ist  die  Religion  in  der  Tat  nichts  anderes,  als  die  Beurteilung  aller 
unserer  Pflichten  nach  der  Analogie  von  göttlichen  Geboten. 
Was  heißt  das  ?  Es  heißt  nicht :  Die  Religion  der  reinen  Vernunft 
ist  nicht  mehr  als  eine  vom  Bestände  des  Göttlichen  abstrahierende 
Beziehung  unserer  Pflichten  auf  die  Idee  des  Göttlichen.  Kant 
will  hier  vielmehr  etwas  ganz  anderes  sagen.  Er  will  sagen,  daß 
das  Gewissen  als  solches,  die  Stimme  der  sittlich  gebietenden 
Vernunft,  ohne  den  Bezug  auf  das  Schicksal  der  sittlichen  Werte 


^)  Kants  Werke,  herausgegeben  von  Ernst  Cassirer,  VII,   1916,  S.  252. 


jQ^  Heinrich  Scholz: 

nicht  über  die  bloße  Idee  des  Göttlichen  hinausführt.  Er  will, 
um  CS  anders  auszudrücken,  der  kritiklosen  Personifikation  des 
Gewissens  steuern  und  damit  eine  Beurteilung  abwehren,  deren 
Unangemessenheit  sich  unter  kritischem  Gesichtspunkt  von  selber 
versteht.  Die  ganze  Stelle  ist  also  ein  Beitrag  zur  kritischen 
Interpretation  des  Gewissens  und  hat  auf  die  Religion  im  eigent- 
lichen Sinne  gar  keinen  unmittelbaren  Bezug  —  man  müßte  denn 
den  Vernunftglaubcn  Kants  in  die  Personifikation  des  Gewissens 
verlegen  und  alles  vergessen,  was  aus  seinen  klassischen  Dar- 
legungen über  den  wahren  Gehalt  seines  Vernunftglaubens  zu 
lernen  ist. 

Also  scheidet  auch  diese  Stelle  aus ;  und  es  bleibt  nur  noch  eine 
einzige  übrig,  die  ernstlich  beachtet  zu  werden  verdient.     Sie  lautet: 

Das  Formale  aller  Religion,  wenn  man  sie  so  erklärt:  sie  sei 
der  Inbegriff  aller  Pflichten  als  {instar)  göttlicher  Gebote,  gehört 
zur  philosophischen  Moral,  indem  dadurch  nur  die  Beziehung  der 
Vernunft  auf  die  Idee  von  Gott,  welche  sie  sich  selber  macht,  aus- 
gedrückt wird;  und  eine  Religionspflicht  wird  alsdann  noch  nicht 
zur  Pflicht  gegen  {r/ga)  Gott  als  ein  außer  unserer  Idee  existierendes 
Wesen  gemacht,  indem  wir  hierbei  von  der  Existenz  desselben  noch 
abstrahieren.^) 

Die  richtige  Auslegung  dieses  Stückes  scheint  mir  an  zwei 
Punkten  zu  hängen.  Erstens  hat  man  das  ,,noch"  zu  beachten, 
das  dem  letzten  Satz  ausdrücklich  beigefügt  ist.  Kant  sagt  nicht: 
die  Religion  des  Kritizismus  abstrahiert  überhaupt  vom  Dasein 
Gottes.  Er  sagt  vielmehr:  Solange  wir  die  Religion  nur  als  In- 
begriff unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote  denken,  abstrahieren 
wir  noch  vom  Dasein  Gottes.  Das  ist  nun  nichts  weniger  als 
eme  neue  Erkenntnis,  die  über  das  bisher  betrachtete  Gefüge  des 
Kritizismus  hinausführt.  Vielmehr  ordnet  sie  sich  diesem  voll- 
kommen ein  und  darf  als  ein  nachträglicher  wichtiger  Beleg  für 
die  unsere  Kantdarstellung  beherrschende  Grundauffassung  an- 
gesehen werden,  daß  die  Auslegung  der  Religion  im  Sinne  einer 
Deutung  unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote,  trotz  des  häufigen 
Auftretens  dieser  Formel  bei  Kant,  nicht  als  die  primäre,  sondern 
durchaus  als  die  sekundäre  Definition  des  religiösen  Bewußtseins 
aus  dem  Geiste  des  Kritizismus  heraus  zu  betrachten  ist.-i 


')  Kants  Werke,  herausgegeben  von  Ernst  Cassirer,  VII,  S.  303. 
*)  Siehe  oben  S.  73!. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  lOs 

Auch  das  ist  nichts  Unerhörtes  bei  Kant.  Die  neueste  For- 
schung hat  erwiesen,  daß  auch  die  berühmte  Frage,  wie  synthetische 
Urteile  a  priori  mögHch  sind,  trotz  der  von  Kant  für  sie  in  An- 
spruch genommenen  Klassizität  nicht  die  Kernfrage  der  Vernunft- 
kritik ist.  ^)  Daß  aber  die  Beurteilung  unserer  Pflichten  als  gött- 
licher Gebote,  solange  die  Überzeugung  vom  Dasein  Gottes  nicht 
durch  die  aus  den  Prinzipien  des  Kritizismus  gefolgerte  sittliche 
Weltanschauung  fundiert  ist,  nur  eine  analogische  sein  kann, 
versteht  sich  von  selbst;  denn  erst,  wenn  das  Dasein  Gottes 
gewiß  ist,  kann  dieser  Bezug  als  ein  realer  gedacht  werden.  Das 
Dasein  Gottes  wird  aber  zur  Gewißheit  —  nicht  durch  die  meta- 
physische Interpretation  unserer  Pflichten,  sondern  durch  die  Re- 
flexion auf  die  metaphysischen  Konsequenz;en  der  auf  der  im- 
manenten Deutung  des  Pflichtbegriffs  auf  ruhenden  sittlichen  Welt- 
anschauung. Man  kann  die  ganze  Stelle  demnach  auch  als  einen 
Beitrag  zur  Erleuchtung  der  Motive  betrachten,  aus  denen  die 
Kantische  Vernunftreligion  entspringt.  Sie  entspringt  nicht,  wie 
es  manchmal  bei  Kant  erscheint  und  im  Anschluß  an  gewisse 
Äußerungen  dargestellt  wird,  aus  der  metaphysischen  Empfindung 
des  Pflichtbewußtseins,  sondern  aus  der  Vertiefung  in  die  meta- 
physischen Konsequenzen,  die  eine  am  Leitfaden  dieses  Pflicht- 
bewußtseins entwickelte  Weltanschauung  in  sich  enthält. 

W^ill  man  dennoch  die  ganze  Stelle  im  Sinne  einer  kritischen 
Reduktion  des  Kantischen  Religionsbegriffs  verstehen,  so  ist  diese 
Auslegung  zwar  unmotiviert,  kann  aber  gleichwohl  ohne  Bruch 
dem  hier  aufgestellten  Gefüge  des  Kritizismus  angeschlossen  werden. 
Es  ist  nämlich  zweitens  zu  bemerken,  daß  die  ganze  Stelle  in 
einem  Zusammenhang  erscheint,  in  welchem  die  religiöse  Ge- 
sinnung selbst  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Pflicht  betrachtet 
wird.  Die  religiöse  Gesinnung,  als  ein  Teil  der  Moral, 
oder,  um  mit  Kant  selbst  zu  sprechen,  die  ,, Religions- 
lehre, als  ein  integrierender  Teil  der  allgemeinen 
Pflichtenlehre  betrachtet"^),  ist  das  Thema  des  Ab- 
schnittes, aus  dem  unsere  Stelle  herausgenommen  ist. 
Nun  ist  zwar  wiederholt  und  mit  Nachdruck  betont  worden,  daß 
Kant,  im  Unterschied  und  Gegensatz  zu  Forberg,  eine  Pflicht- 


^)  Vgl.  die  schon  einmal  (oben  S.  65,  Anm.  i   genannte)  Akaderaieabhandlung 
von  B.  Erdmann  über  die  Idee  von  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Berlin  1917. 
2)  Kants  Werke,  herausgegeben  von  Ernst  Cassirer,  VII,   S.  303  oben. 


I06  Heinrich  Scholz: 

religion  als  solche  nicht  kennt^);  es  versteht  sich  indessen  von 
selbst,  daß  es  ihm  freistand,  seine  an  sich  ganz  anders  orientierte 
Religion  auch  einmal  unter  diesen  Gesichtspunkt  zu  stellen  — 
zumal  in  einer  Metaphysik  der  Sitten,  in  der  sich,  bei  der  damals 
noch  so  lebendig  empfundenen  Verknüpfung  von  Religion  und 
Moral,  dieser  Gesichtspunkt  gleichsam  von  selber  aufdrängte. 
Dann  aber  konnte  Kant  gar  nicht  anders,  als  sich  so  ausdrücken, 
wie  er  sich  ausgedrückt  hat.  Denn  da  das  Dasein  Gottes,  wie 
in  dieser  Darstellung  immer  wieder  betont  worden  ist,  objektiv 
unerweislich  ist  und  auch  durch  kein  Postulat  ,, erwiesen"  werden, 
sondern  immer  nur  glaubhaft  gemacht  werden  kann,  so  kann 
auch  die  Religion,  als  Pflicht  betrachtet,  im  Sinne  des  Kritizismus 
nie  mehr  sein,  als  eine  Auffassung  unserer  Pflichten,  als  ob  sie 
göttliche  Gebote  wären.  Zu  einer  solchen  Auffassung  sind  wir 
nach  Kant  verpflichtet;  dagegen  stellt  sich  der  reale  Bezug 
unserer  Pflichten  auf  Gott  als  eine  Auffassung  dar,  zu  der  wir 
nur  berechtigt  sind  ■ —  und  auch  dieses  erst  dann,  wenn  uns 
das  Dasein  Gottes,  aus  Gründen  weltanschaulicher  Art,  zur 
moralischen   Gewißheit  geworden  ist. 

Die  Nachprüfung  der  wichtigsten  und  entscheidendsten  Stellen, 
die  für  die  Als-ob-Auffassung  in  Anspruch  genommen  werden  können, 
hat  also  zu  einem  negativen  Ergebnis  geführt.  Was  im  Sinne 
der  Als-ob-Lehre  gedeutet  werden  kann,  bezieht  sich 
bei  Kant  nicht  auf  die  Religion,  sofern  sie  in  ihrer 
Eigenart  gesehen  und  nicht  als  Antezipation  des  Ge- 
wissens oder  als  Pflichtbestandteil  gedacht  ist;  und 
was  sich  bei  Kant  auf  die  Religion  bezieht,  enthält 
keine  Hindeutung  auf  die  Theorie  des  Als-ob  im  Sinne 
eines  vom  Dasein  Gottes  abstrahierenden  Verhaltens. 

Dieses  Ergebnis  trifft  nicht  nur  Vai hingers  Resultate,  es 
ist  vielmehr  auch  auf  die  Schlüsse  zu  beziehen,  die  schon  am  An- 
fange des  19.  Jahrhunderts  ein  Denker  wie  Reinhold  aus  den 
beiden  soeben  untersuchten  Stellen  der  Metaphysik  der  Sitten 
gezogen  hat.  Reinhold  ist  bei  seiner  Abrechnung  mit  der  Rcligions- 
philosophie  des  Kritizismus  in  der  ,, Anleitung  zur  Kenntnis  und 
Beurteilung  der  Philosophie  in  ihren  sämtlichen  Lehrgebäuden" 
(Wien  1805)  unter  Bezug  auf  unsere  Stellen  zu  demselben  Er- 
gebnis  wie   Vaihingcr   gelangt.      Der    Glaube   an    Gott,    den   die 


')  Siehe  oben  S.  61   und  S. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  107 

Kritik  durch  die  praktische  Vernunft  postuhercn  läßt,  besteht 
auch  nach  Reinhold  ,, keineswegs  in  einem  Fürwahrhalten,  daß 
Gott  ist  .  .  .,  sondern  vielmehr  in  dem  Tun  und  Lassen,  dem 
Handeln  .  .  .,  als  ob  .  .  .  Gott  wäre".  ,,Wie  könnte  auch",  fährt 
Reinhold  fort,  ,,von  einem  Sein  Gottes  ...  in  einer  Kritik  der 
Vernunft  die  Rede  sein,  welche  die  Möglichkeit  und  Wirklich- 
keit für  bloße  Formen  des  Denkens  .  .  .  erklärt  und  ...  die 
Wirklichkeit  sonach  aus  der  Spontaneität  des  vorstellenden 
Subjektes  hervorgehen  läßt."^) 

Hier  ist  offenbar  die  Daseinskategorie  mit  der  Daseins- 
position als  solcher  verwechselt.  Die  Tatsache,  daß  das  Dasein 
im  Urteilsakt  als  ein  nicht  nur  an  sich  gegebenes,  sondern  zu- 
gleich gedachtes  erscheint,  ist  zu  der  Behauptung  übersteigert, 
daß  das  Dasein  an  sich  eine  Gedankenschöpfung,  also  überhaupt 
nur  eine  Denklcistung  sei.  Für  diese  Verwechslung  ist  Kant 
nicht  verantwortlich  zu  machen.  Kant  hat  vielmehr  im  Gegen- 
teil die  Daseinsposition  von  der  Daseinskategorie  auf  das 
Genaueste  unterschieden;  seine  ganze  Kritik  der  Metaphysik  steht 
und  fällt  mit  dieser  Unterscheidung.  Dann  aber  fallen  auch  die 
Konsequenzen  dahin,  die  Reinhold  aus  seiner  irrtümlichen 
Gleichung  ableitet.  Aus  der  Vernunft kritik  als  solcher  wird 
niemals  ein  Beweis  gegen  das  Dasein  Gottes  im  Sinne  der  be- 
wußtseinsunabhängigen Wirklichkeit  des  höchsten  Wesens  zu 
führen  sein.  W^as  aber  die  Auslegung  der  beiden  kritischen  Stellen 
aus  der  ,, Metaphysik  der  Sitten"  betrifft,  die  nun  allein  noch 
übrig  bleiben,  so  wird  sie  durch  die  Erkenntnisse  widerlegt,  die 
unsere  Nachprüfung  aufgewiesen  hat. 

Indessen,  Vaihinger  hat  seine  Kantauffassung  durch  gewisse 
Momente  der  Kantischen  Ideenlehre  in  so  scharfsinniger  Weise  zu 
stützen  gesucht,  daß  auch  dieser  Punkt  noch  der  Nachprüfung 
bedarf.  Diese  Ideenlehre  ist  verwickelt  und  aus  mehreren  Gedanken- 
gängen zusammengewoben.  Unter  ihnen  sind  zwei  von  besonderer 
Wichtigkeit.  Der  eine  liefert  die  Umrisse  zu  einer  logisch  fun- 
dierten religiösen  Metaphysik.  Er  ist  an  einer  früheren  Stelle 
dieser   Arbeit   gewürdigt   worden.-'      In   diesen   ersten    Gedanken - 


^)  a.  a.  0.  S.  I25ff.  —  Die  Stelle  ist  schon  von  Wesselsky  bemerkt  worden 
(Forberg  und  Kant,  S.  20  u.  S.  11).  —  Schon  in  seinem  Briefe  an  Fichte  vom 
16.  April  1799  nennt  Reinhold  Forbergs  Religion  des  Als-ob  eine  Kantische 
Idee  (Fichtes  Leben  und  literarischer  Briefwechsel,   11",   1862,  S.  246). 

2)  Siehe  oben   S.  Siff. 


lo8  Heinrich  Scholz: 

gang  Spielt  nun  beständig  .ein  zweiter  hinein,  der  ganz  andere 
Tendenzen  verfolgt.  Vaihingcr  hat  auf  diesen  Gedankengang 
mit  stärkstem  Nachdruck  aufmerksam  gemacht  und  sich  dadurch 
ein  Verdienst  um  die  Kantforschung  erworben.  Es  handelt  sich 
um  die  regulative  Bedeutung  der  Kantischen  Ideen.  ^) 

Aber  welcher  Art  sind  diese  Ideen  ?  Scheinbar  sind  es  die 
bekannten  drei:  Gott,  Freiheit,  Unsterblichkeit.  Indessen,  der 
Zusammenhang  zeigt  unwidersprechlich,  daß  es  sich  hier  in  Wahr- 
heit um  drei  ganz  andere  Ideen  handelt,  nämlich  erstens  um  die  Idee 
der  Substantialität,  zweitens  um  die  Idee  der  unendlichen  Kausal- 
reihe, drittens  um  die  Struktur  einer  alle  kompossiblen  Gesichts- 
punkte in  sich  befassenden  theoretischen  Weltbetrachtung.  Den 
Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser  Interpretation  wird  die  folgende 
Hauptstelle  erbringen.  ,,Wir  wollen",  sagt  Kant,  ,,den  genannten 
Ideen  als  Prinzipien  zufolge  erstlich  (in  der  Psychologie)  alle 
Erscheinungen  .  .  .  unseres  Gemüts  an  dem  Leitfaden  der  inneren 
Erfahrung  so  verknüpfen,  als  ob  dasselbe  eine  einfache  Substanz 
wäre,  die  mit  persönlicher  Identität  beharrlich  (wenigstens  im 
Leben)  existiert.  .  .  .  Wir  müssen  zweitens  (in  der  Kosmo- 
logie) die  Bedingungen  der  inneren  sowohl  als  der  äußeren  Natur- 
erscheinungen in  einer  solchen  nirgend  zu  vollendenden  Unter- 
suchung verfolgen,  als  ob  dieselbe  an  sich  unendlich  und  ohne 
ein  erstes  und  oberstes  Glied  sei.  .  .  .  Endlich  und  drittens  müssen 
wir  (in  Ansehung  der  Theologie)  alles,  was  nur  immer  in  den 
Zusammenhang  der  möglichen  Erfahrung  gehören  mag,  so  be- 
trachten, als  ob  diese  eine  absolute  .  .  .  Einheit  aus- 
mache, doch  aber  zugleich,  als  ob  der  Inbegriff  aller  Erscheinungen 
(die  Sinnenwelt  selbst)  einen  einzigen  obersten  und  allgenugsamen 
Grund  außer  ihrem  Umfange  habe,  nämlich  eine  .  .  .  schöpferische 
Vernunft,  in  Beziehung  auf  welche  wir  allen  empirischen  Ge- 
brauch unserer  Vernunft  in  seiner  größten  Erweiterung  so  richten, 
als  ob  die  Gegenstände  selbst  aus  jenem  Urbildc  aller  Vernunft 
entsprungen  wären."-) 

Diese  Sätze  sind  in  der  Tat  sehr  bemerkenswert.  Vaihinger 
hebt  sie  aufs  stärkste  hervor.  Er  nimmt  die  notwendigen  Er- 
gänzungen S.  798  der  zweiten  Ausgabe  hinzu,  wo  die  angeführten 


i 


*)  Vgl.  die  übersichtliche  und  zusammenfassende  Darstellung  bei  Vaihinger, 
S.6i9ff. 

*)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  700. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  Iqq 

Vernunft  begriffe  als  heuristische  Fiktionen  bezeichnet  werden,  und 
sagt:  „Würde  man  diese  klassische  Stelle  immer  vor  Augen  gehabt 
haben,  so  hätte  man  die  ganze  Ideenlehre  von  vornherein  besser 
verstanden."  ^) 

Indessen,  um  es  noch  einmal  zu  sagen,  die  hier  diskutierten 
Ideen  sind  etwas  ganz  anderes,  als  Gott,  Freiheit  und  Unsterb- 
lichkeit. Von  der  Unsterblichkeit  ist  überhaupt  nicht  die  Rede; 
denn  die  Substantialität  der  Seele,  die  die  erste  Fragestellung 
beherrscht,  wird  ausdrücklich  auf  die  Verhältnisse  ,,in  diesem 
Leben"  eingeschränkt.  Es  handelt  sich  also  gar  nicht  um  ein 
Glaubensobjekt,  sondern  um  ein  Erkenntnisprinzip.  Die  Freiheit 
scheidet  ebenfalls  aus;  in  der  zweiten  kosmologischen  Frage  wird 
lediglich  das  Kausalitätsproblem  unter  einem  bestimmten,  mit 
der  Freiheit  in  gar  keinem  Zusammenhang  stehenden  Gesichts- 
punkt erwogen.  Immerhin  scheint  der  Gottesgedanke  übrig  zu 
bleiben;  und  dieser  Schein  wird  verstärkt  durch  den  im  Schema- 
tismus der  Vernunftkritik  begründeten,  hier  aber  ganz  unpassenden 
Zusatz:  in  der  Theologie.  Denn  wovon  ist  eigentlich  hier  die 
Rede }  Gar  nicht  von  Gott,  sondern  von  der  Welt,  genauer, 
wie  schon  oben  bemerkt,  von  einer  alle  kompossiblen  Gesichts- 
punkte in  sich  befassenden  theoretischen  Weltbetrachtung.  Es 
kommen  zwei  Hauptgesichtspunkte  in  Betracht:  der  mechanische 
und  der  teleologische.  Dem  Ideal  des  Mechanismus  gemäß  ist 
die  Welt  als  eine  in  sich  geschlossene  Einheit,  ohne  jeden  Bezug 
auf  eine  absolute  Vernunft,  zu  betrachten.  Gleichzeitig  aber  darf 
sie  nach  Kant  unter  teleologischem  Gesichtspunkt  als  eine  über 
sich  selbst  hinausweisende,  auf  eine  absolute  Vernunft  bezogene 
Einheit  angesehen  werden.  Beweisbar  im  strengen  Sinne  des 
Wortes  ist  keine  der  beiden  Betrachtungsarten,  weil  beide  mit 
ihren  Voraussetzungen  über  die  Erfahrung  hinausgreifen.  Da 
beide  sich  bei  richtigem  Gebrauch  als  erkenntnisfördernd  be- 
weisen, so  ist  es  falsch,  zu  sagen:  sie  schließen  sich  aus.  Vielmehr 
sind  sie  einander  zur  Ergänzung  bestimmt,  und  zwar  so,  daß  die 
theoretische  Weltbetrachtung  um  so  vollkommener  sein  wird,  je 
mehr  es  ihr  gelingt,  von  beiden  Idealen  in  der  richtigen  Weise 
und  an  der  richtigen  Stelle  Gebrauch  zu  machen.  Sie  sind,  wie 
die  Idee  der  Substantialität  und  die  der  unendlichen  Kausalreihe, 
wertvolle  ,, heuristische  Fiktionen". 


^)  Vaihinger,  a.  a.  0.  S.  620. 


1 1 0  Heinrich  Scholz : 

In  dieser  Hinsicht  hat  Vaihinger  vollkommen  recht;  aber 
er  übersieht,  daß  es  sich  gar  nicht  um  religiöse  Ideen,  sondern 
um  ein  bestimmtes  Erkenntnisideal  handelt.  Es  ist  —  der  Aus- 
druck ist  nicht  zu  modern  —  das  Erkenntnisideal  des  Monismus. 
Man  vergegenwärtige  sich  noch  einmal,  worum  es  sich  handelt:  um 
die  Einheit  der  seelischen  Funktionen,  um  die  unbegrenzte  Ein- 
heit der  Kausalität,  und  um  die  Einheit  des  Weltgefüges  in 
mechanischer  und  in  teleologischer  Beziehung.  Alle  drei  Ein- 
heiten gehen  schließlich  zurück  auf  den  Einheitstrieb  der  er- 
kennenden Vernunft;  und  sofern  sie  auf  ihn  zurückgehen,  steht 
dieser  im  Mittelpunkt  der  Betrachtung.  Der  ganze  untersuchte 
Gedankengang  ist  eine  Kritik  dieses  Einheitstriebes,  und  die  ihm 
zugehörigen  Bestimmungen  lassen  sich  gleichsam  a  priori  ab- 
leiten, sobald  man  diese  Absicht  erkannt  hat.  Es  handelt  sich 
für  Kant  darum,  diesen  Einheitstrieb  in  die  Grenzen  zu  schließen, 
in  denen  er  die  Erkenntnis  befruchten  kann.  Die  bewunderungs- 
würdige Besonnenheit  Kants  tritt  auch  hier  wieder  hell  zutage. 
Er  lehnt  diesen  Trieb  nicht  einfach  ab,  weil  er  über  die  Erfahrung 
hinausreicht,  sondern  er  weist  ihm  den  Spielraum  zu,  den  er  inner- 
halb der  Erfahrung  für  sich  beanspruchen  kann.  Er  ist  zwar 
kein  konstitutives  Prinzip,  wie  der  dogmatische  Monismus  noch 
heute  behauptet,  wohl  aber  ein  regulatives,  heuristisches  Prinzip  — 
ein  Prinzip,  das  der  Erfahrung  in  dem  Umfange  vorgreifen  darf, 
in  welchem  es  nachträglich  durch  sie  bestätigt  wird. 

Nur  das  ist  noch  einmal  entschieden  zu  betonen,  daß  die 
kritisierten  Ideen  rein  szicntifischen  Ursprungs  sind  und  gar  nichts 
mit  Religion  zu  tun  haben.  Wir  fügen  zur  Bestätigung  noch  eine 
spätere  Ausführung  aus  demselben  Gedankengange,  wenige  Seiten 
nach  der  eben  besprochenen  Hauptstelle,  hinzu.  Hier  heißt  es 
vom  psychologischen  Substanzbegriff:  Die  Vernunft  hat  hierbei 
,, nichts  anderes  vor  Augen,  als  Prinzipien  der  systematischen 
Einheit  in  Erklärung  der  Erscheinungen  der  Seele,  näm- 
lich alle  Bestimmungen  als  in  einem  einigen  Subjekte,  alle  Kräfte, 
soviel  möglich,  als  abgeleitet  von  einer  einigen  Grundkraft,  allen 
Wechsel  als  gehörig  zu  den  Zuständen  eines  und  desselben  be- 
harrlichen Wesens  zu  betrachten".^'  Von  der  angenommenen 
Grundkraft  aber  heißt  es  zuvor:  ,,Die  Idee  einer  Grundkraft,  von 
welcher  die   Logik  gar   nicht  ausmittelt,   ob  es   dergleichen  gebe, 

»)  S.  710. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  III 

ist  wenigstens  das  Problem  einer  systematischen  Vorstellung  der 
Mannigfaltigkeit  von  Kräften.  Das  logische  Vernunftprinzip  er- 
fordert, diese  Einheit  soweit  als  möglich  zustande  zu  bringen; 
und  je  mehr  die  Erscheinungen  der  einen  und  anderen  Kraft 
unter  sich  identisch  gefunden  werden,  desto  wahrscheinlicher 
wird  es,  daß  sie  nichts  als  verschiedene  Äußerungen  einer  und 
derselben  Kraft  sein,  welche  (komparativ)  ihre  Grundkraft  heißen 
kann."^)  ,,Die  komparativen  Grundkräftc  müssen  wiederum  unter- 
einander verglichen  werden,  um  sie  dadurch,  daß  man  ihre  Ein- 
helligkeit entdeckt,  einer  einzigen  radikalen,  d.  i.  absoluten  Grund- 
kraft nahe  zu  bringen.  Diese  Vernunfteinheit  aber  ist  bloß 
hypothetisch.  Man  behauptet  nicht,  daß  eine  solche  in  der 
Tat  angetroffen  werden  müsse,  sondern  daß  man  sie  zugunsten 
der  Vernunft  .  .  .  suchen,  und,  wo  es  sich  tun  läßt,  auf  solche 
Weise  systematische  Einheit  ins  Erkenntnis  bringen 
müsse."  ^) 

Nichts  anderes  als  eine  kritische  Exposition  dieses  monistischen 
Erkenntnisideals  ist  auch  die  folgende,  wegen  ihres  Als -ob -Charakters 
in    diesen    Zusammenhang   gehörige    Würdigung   der    sogenannten 
Gottesidee.     ,,Den    Gegenstand   dieser    Idee",   sagt   Kant   an  der 
in  Betracht  kommenden   Stelle,   ,, haben  wir  nicht  den  mindesten 
Grund,   schlechthin  anzunehmen   (an  sich   zu  supponieren) ;   denn 
was   kann  uns  wohl  dazu  vermögen  oder  auch   nur  berechtigen, 
ein  Wesen  von  der  höchsten  Vollkommenheit  ...  zu  glauben  .  .  ., 
wäre  es  nicht  die  Welt,  in  Beziehung  auf  welche  diese  Supposition 
allein  notwendig  sein  kann;   und  da  zeigt  es  sich  klar,   daß  die 
Idee  desselben,  so  wie  alle  spekulativen  Ideen,  nichts  weiter 
sagen  wolle,    als   daß   die   Vernunft   gebiete,    alle    Verknüpfung 
der  Welt   nach   Prinzipien  einer  systematischen   Einheit 
zu  betrachten,  mithin  als  ob  sie  insgesamt  aus  einem  einzigen 
ailbefassenden    Wesen    als    oberster    und    allgenugsamer    Ursache 
entsprungen  wären."")     Die   Gottesidee  ist  in  diesem  Zusammen- 
hange   jedes    religiösen    Charakters   entkleidet;    sie    erscheint    hier 
lediglich  als  ein  metaphysisches   Symbol  für  die  Einheit  der  das 
Weltgefüge    umspannenden    Kausalität.       Kant    selbst    hat    die 
oberste   Weltursache  des  kosmologischen   Beweises,   ja  selbst  den 


^)  a.  a.  0.  S.  677, 

2)  S.  677  f. 

®)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  714. 


112  Heinrich  Scholz : 

erhabenen  Wcltbaumeister  des  teleologischen  Argumentes  sehr 
genau  von  dem  Gott  des  religiösen  Bewußtseins  unterschieden. 
Er  hat  gezeigt,  wie  viel  ihnen  zu  diesem  fehlt.  Wir  machen  also  von 
seiner  eigenen  Erkenntnis  Gebrauch,  wenn  wir  der  an  dieser  Stelle 
erscheinenden  Gottesidee  den  religiösen    Charakter  absprechen. 

Das  Ergebnis  unserer  Nachprüfung  ist  also  dieses.  Die  der 
Als-ob-Richtung  angehörigen  Partien  der  kritischen  Ideenlehre 
beziehen  sich  gar  nicht  auf  die  Religion,  sondern  auf  die  Ideale 
des  intellektuellen  Monismus.  Sie  beziehen  sich  auf  Ideen,  deren 
Bedeutung  darin  besteht,  ,,den  Verstand  zu  einem  gewissen 
Ziele  zu  richten",  nämlich,  ihm  ,,dic  größte  Einheit  neben  der 
größten  Ausbreitung  zu  verschaffen".^)  Dagegen  fehlt  diesen 
Ideen  jeder  Bezug  auf  die  sittliche  Weltanschauung,  also  das, 
was  sie  im  Sinne  des  Kritizismus  überhaupt  erst  zu  religiösen 
Ideen  macht.  Die  deduzierten  Ideen  sind  nicht  religiös,  und  die 
religiösen  Ideen  sind  nicht  deduziert,  d.  i.  sie  sind  in  diesen  Partien 
überhaupt  nicht  in  Betracht  gezogen.  Der  religiöse  Schein  stammt 
lediglich  aus  der  irreführenden  Beibehaltung  des  Ausdrucks  ,,Gott", 
die  sich,  wie  bemerkt,  aus  dem  allgemeinen  Schematismus  der 
Vernunftkritik  erklärt. 

Wo  aber  die  religiösen  Ideen  wirklich  theoretisch  diskutiert 
werden,  da  sind  sie  nach  Kant  nichts  weniger  als  ,, heuristische 
Fiktionen"  ohne  objektive  Bedeutung,  sondern  ,, fehlerfreie  Ideale", 
deren  ,, objektive  Realität"  auf  dem  Wege  der  logischen  Speku- 
lation ,,zwar  nicht  bewiesen,  aber  auch  nicht  widerlegt  werden 
kann".  ,,Und  wenn  es",  fährt  Kant  bedeutsam  fort,  ,,eine  Moral- 
theologic  geben  sollte,  die  diesen  Mangel  ergänzen  kann,  so  be- 
weist alsdann  die  vorher  nur  problematische  transzendentale  Theo- 
logie ihre  Unentbchrlichkeit  durch  Bestimmung  ihres  Begriffs  und 
unaufhörliche  Zensur  einer  durch  Sinnlichkeit  oft  genug  getäuschten 
und  mit  ihren  eigenen  Ideen  nicht  immer  einstimmigen  Vernunft."^) 

Und  auch  darauf  kann  Vai hinger  nicht  zurückgreifen,  daß 
Kant  in  seiner  Philosophie  des  Christentums  gewisse  christliche 
Dogmen  und  Ideen,  wie  die  der  Jungfrauengeburt,  der  Genug- 
tuung, des  jüngsten  Gerichtes,  als  Symbole  gelten  läßt.  ^)     Selbst- 


^)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  672. 
*)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  669. 
=>)  Vaihinger,  S.  735. 


Die  Religionsphilosophie  des  Als-ob.  I  I  ■? 

verständlich  bedeutet  das  nicht  eine  Anerkennung  des  meta- 
physischen Tatbestandes,  den  diese  Dogmen  und  Ideen  ursprüng- 
lich auszudrücken  bestimmt  waren.  Es  bedeutet  vielmehr,  wie 
Vai hinger  selbst  einmal  fein  und  überaus  zutreffend  bemerkt 
hat,  eine  Wendung  vom  Metaphysischen  ins  Metaphorische.  Aber 
die  Anerkennung  der  Gottesidee  ist  eine  von  dieser  völlig  ver- 
schiedene. Sie  ist  auch  nicht  mit  der  klassischen  Interpretation 
des  religiösen  Anthropomorphismus  zu  vergleichen.  Eine  solche 
Vergleichung  würde  vielmehr  eine  irreführende  Verwechslung  be- 
deuten. Der  Anthropomorphismus  des  religiösen  Sprachgebrauchs 
ist  im  Sinne  des  Kritizismus  wirklich  nur  von  subjektiver  Be- 
deutung. Von  einer  anderen  Bedeutung  kann  er  gar  nicht  sein; 
denn  er  drückt  immer  nur  aus,  wie  wir  Gott  sehen  und  moralisch 
zu  sehen  genötigt  sind,  nicht  aber,  wie  Gott  an  sich  beschaffen  ist. 
Indessen,  die  Vorstellung  des  höchsten  Wesens  ist  etwas 
ganz  anderes,  als  die  Tatsache  seines  Daseins.  Man  kann  die 
bildliche  Auffassung  Gottes  so  entschieden  zurückweisen,  wie  es 
die  großen  Mystiker  und  hernach  Spinoza  und  Fichte  getan 
haben,  und  doch,  wie  diese,  aufs  unbedingteste  von  der  objektiven 
Realität  des  Göttlichen  überzeugt  sein.^)  Nicht  anders  liegen  die 
Dinge  bei  Kant.  Auch  er  unterscheidet  auf  das  genaueste  zwischen 
dem  Dasein  Gottes  als  solchem  und  der  Art,  wie  wir  es  uns  vor- 
stellen. Die  Vorstellung  bleibt  immer  inadäquat,  auch  wenn  das 
Dasein  des  höchsten  Wesens  aus  adäquaten  Gründen  gewiß  ist; 
und  es  ist  nicht  zulässig,  aus  dem  Als-ob-Charaktcr  der  Gottes- 
vorstellung auf  die  Als-ob-Natur  seines  Daseins  zu  schließen. 


^)  Besonders  lehrreich  in  diesem  Zusammenhange  ist  auch  die  merkwürdige 
Äußerung  eines  so  dezidierten  religiösen  Realisten  wie  Lavater  gegen  Jacob i 
vom  13.  Dezember  1787:  „Der  Gott,  der  sich  zeigen  kann,  der  persönliche  Gott 
als  solcher,  ist,  wenn  ich  so  sagen  darf,  nur  eine  Silhouette  Gottes,  des  unschau- 
baren,  weltentragenden  —  nur  ein  relativer  Gott!  Ein  Gott  für  Personen  — 
ein  Ich  für  Ichheiten."  (Vgl.  meine  Ausgabe  der  Hauptschriften  zum  Pantheismus- 
streit zwischen  Jacobi  und  Mendelssohn,   1916,  Einleitung,  S.  CXXV.) 


Annalen  der  Philosophie.    I. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht 

Von 
Professor  Krückmann-Münster  i.  W. 

Inhaltsübersicht. 

§  I.  Einleitung.  Täuschung  durch  das  sinnhch  Wahrgenommene.  Un- 
bewußte Abweichung  von  der  Wahrheit.  Diese  vielfach  nach  und  trotz  besserer 
Erkenntnis  aufrecht  erhalten  mit  Rücksicht  auf  die  Verkehrssicherheit. 

§2.  Rechtserwerb  im  guten  Glauben.  „Nemo  plus  iuris  transferre  potest 
quam  ipse  habet"  oberster  Grundsatz  des  Rechtes.  Durchbrochen,  um  den  gut- 
gläubigen Erwerber  zu  schützen.  Übereinstimmung  zwischen  Rechtsstand  und 
Besitzstand  angestrebt,  Ergänzung  durch  Ersitzung  und  Verjährung  der  Eigentums- 
klage. Rechtserwerb  im  guten  Glauben  gilt  nicht  bei  gestohlenen,  verlorenen  oder 
abhanden  gekommenen  Sachen.  Wo  du  deinen  Glauben  gelassen  hast,  sollst  du 
ihn  wieder  suchen,  Hand  wahre  Hand.  Keine  Veräußerungsmacht  des  Veräußerers, 
keine  gesteigerte  Erwerbstätigkeit  des  Erwerbers,  aber  auch  kein  grundsätzliches 
Aufgeben  des  Satzes:  ,,Nemo  plus  iuris  .  .  .".  Scheinrecht  nur  Beschreibung,  keine 
Erklärung,  Grund  der  Wirkung  die  dem  Scheinberechtigten  zustehende,  hinter 
dem  Scheinrecht  sich  versteckende  Ausübungsmöglichkeit  des  Nichtberechtigten 
in  Ansehung  fremder  Rechte.  Die  verschiedenen  Befugnisse  des  Eigentums.  Unter- 
schied von  Recht  und  Möglichkeit  der  Rechtsausübung,  Unentziehbarkeit  der  Rechts- 
stellung, Selbstbehauptungsfähigkeit  des  Rechtes.  Ausübungsmöglichkeit  gründet 
sich  auf  Besitz,  das  äußerlich  sichtbare  tatsächliche  Haben  im  Gegensatz  zum  un- 
sichtbaren rechtlichen  Haben.  Buchbesitzer  —  Sachbesitzer.  Rechtserwerb  im 
guten  Glauben  überträgt  Eigentum,  Nießbrauch,  Pfandrecht,  überhaupt  alle  ding- 
lichen Rechte.  Der  gute  Glaube  deckt  nicht  bloß  Mangel  an  Recht,  auch  Mangel 
an  Verfügungsbefugnis  oder  Verfügungserlaubnis. 

§3.     Sonstige   dingliche    Scheinberechtigungen.      Gutgläubiger   Eigen- 
besitz, keine  Haftung  für  Beschädigung,  Fruchterwerb,  Besitzklagen. 

§4.  Scheingläubiger  und  Scheinschuldner.  A.  Scheingläubiger. 
Oberster  Grundsatz  des  Rechtes:  Der  Schuldner  wird  nur  durch  Leistung  an  den 
wahren  Gläubiger  frei.  Durchbrochen  im  Interesse  der  Verkehrssicherheit.  Schuldner 
wird  unter  Umständen  auch  frei  durch  Leistung  an  fingierten  Gläubiger:  Buch- 
besitzer, Sachbesitzer,  Besteller  des  Nießbrauchs,  Aktienbuch,  Papierinhaber,  Alt- 
gläubiger (Patent,  Verlagsrecht,  Hypothek).  Verkauf  eines  Handelsgeschäftes, 
Eintritt  in  Geschäft  eines  Einzclkaufmanns,  Anzeige  von  der  angeblichen  Ab- 
tretung. Ungebundenes  Privatvermögen  —  gebundenes  Sondervermögen  (Ge- 
sellschaft, Gütergemeinschaft,  Erbschaft).  Anders  Verpfändung  und  Pfändung 
von  Forderungen.  Legitimation  des  Scheingläubigers  gegenüber  Dritten  (Hypo- 
thek, Wechsel,  Orderpapiere).  Bereicherung,  Gewinnanteil  der  Aktionäre  und 
Kommanditisten . 

B.  Scheinschuldner.  Scheinmissetäter.  Abtretung  der  Forderung  unter 
Vorlegung  der  Schuldurkunde,  Kündigung  usw.  der  Hypothek  gegen  den  ein- 
getragenen Eigentümer,  Verpfänder  als  Eigentümer.  Unwahre  Angaben  des  Minder- 
jährigen über  die  Einwilligung  des  gesetzlichen  Vertreters. 

§5.  Güterrechtsregister.  Eintragung  der  Änderung  des  Güterstandes 
in  das  Register.  Erwerbsgeschäft  der  Frau,  vertragsmäßiges  Vorbehaltsgut.  Ein- 
gebrachtes  bei   Errungenschafts-  und   Fahrnisgemeinschaft.     Gütertrennung.     Auf- 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I  I  c 

hebung  der  Gütergemeinschaft.  Wiederherstellung  des  früheren  Gaterstandes. 
Aufhebung  der  ehelichen  Lebensgemeinschaft.  Entziehung  der  Schlüsselgewalt. 
Uneingeschränkte  Durchsetzung  der  Wahrheit  bei  Verfügungen  der  Frau  in  gesetz- 
lichem Güterstande. 

§  6.  Scheinehe.  Nichtigkeit,  Anfechtbarkeit.  Nichtigkeit  bei  unrichtiger 
Todeserklärung.  Zwitter.  Schutz  Dritter.  Schutz  des  gutgläubigen  Gatten. 
Schutz  der  Kinder.  Wesen  der  Nichtigkeitsklage.  Wirkungen  der  Scheinehe  sind 
Wirkungen  eines  geschichtlich  vorhandenen  äußeren  Vorganges,  eines  tatsächlich 
vorhandenen  Tatbestandes.  Keine  Wirkungen  des  gedachten  Scheines  eines  ge- 
dachten Rechtsverhältnisses.    Dauerwirkungen  wie  bei  echter  Ehe.    Ehebesitz. 

§  7.  Rechtsstellung  des  Kindes.  Beruht  nur  auf  Fiktion.  Einzelfälle, 
eheliches,  uneheliches  Kind.  Anfechtung  der  Ehelichkeit.  Unterlassung  der  An- 
fechtung. Doppelte  Ehelichkeit,  doppelte  Vaterschaft.  Unterhaltsanspruch  des 
fingiert  ehelichen  Kindes  gegen  den  unehelichen  Erzeuger.  Streitfragen.  An- 
erkennung der  Vaterschaft. 

§  8.  Erbrecht.  Erbe,  Nichterbe,  Erbrechtsbesitzer,  Erbscliaftsbesitzer,  Erb- 
schein, Zeugnis  des  Testamentsvollstreckers.  Unrichtige  Todeserklärung.  Zeugnis  über 
fortgesetzte  Gütergemeinschaft.    Ausübung  gar  nicht  vorhandener  Befugnisse. 

§  9.  Personenvertretung,  Verwaltungsrecht.  Quittung.  Vollmacht. 
Auftrag.  Geschäftsführung  bei  der  Gesellschaft.  Handlungsvollmacht.  Schlüssel- 
gewalt. Vereinsvorstand.  Genossenschaftsvorstand.  Verwaltungsbefugnis  aus 
eigenem  Recht  im  ehelichen  Güterrecht,  kraft  elterlicher  Gewalt,  kraft  Vorerbschaft. 
Vormund. 

§  10.  Rückwirkende  Kraft.  Anfechtung  von  Rechtsgeschäften  unter 
Lebenden,  von  Testamenten.  Erbunwürdigkeit.  Anfechtung  der  Ehelichkeit 
eines  Kindes.  Ausschlagung  der  Erbschaft.  Genehmigung.  Bestätigung  der 
Ehe.  Erstarkung  der  Ehe.  Gegenstück  des  Grundstückkaufs.  Erstarkung  des 
Vertrages  eines  Minderjährigen.  Unvordenklichkeit.  Rücknahme  der  Eheanfech- 
tungsklage.    Unterbrechung  der  Verjährung. 

§  II.  Absolute  Ungewißheit.  Unbekannter  Familienstand  eines  Minder- 
jährigen.    Findelkind.     Schatzfund.    Verschollenheit  des  Mündels. 

§  12.  Sprachliche  Fiktion.  Zweifel  beim  Auftrag.  Restwirkungen  eines 
untergegangenen  Rechtsverhältnisses.  Teilweiser  Untergang  im  Gegensatz  zu 
yölligem  Untergang. 


§  1.    Eiuleituii 


o» 


Erfahrene  Anwälte  pflegen  den  Parteien  gern  zu  sagen:  Recht 
bekommt  im  Prozesse  nicht  der,  der  es  hat,  sondern  der,  der  es 
beweisen  kann.  Darin  ist  für  die  praktische  Leistung  des  Rechtes 
das  eigentliche  und  Hauptproblem  beschlossen.  Von  anderer  Seite 
her  faßt  die  Theorie  dieses  selbe  Problem  an,  indem  sie  lehrt,  daß 
für  das  Recht  nur  der  von  der  Partei  geäußerte  Wille  in  Betracht 
komme,  ein  nicht  geäußerter  Wille  unberücksichtigt  bleiben  müsse. 
So  unsinnlich  die  Rcchtswelt  ist,  ihre  Äußerungen  bewegen  sich 
alle  im  Gebiet  des  sinnlich  Wahrnehmbaren  und  nur  das  Wahr- 
genommene kann  für  die  rechtlichen  Entscheidungen  der  Parteien, 
des  Richters,  des  Gesetzgebers  maßgebend  sein.  Das  sinnlich 
Wahrgenommene  täuscht  nun  oft  ein  Bild  vor,  das  der  wahren 
Rechtslage  nicht  entspricht,  und  da  sehen  sich  Gesetz,  Gericht 
und  Parteien  oft  genug  genötigt,  das  Unwahre  für  wahr  zu  nehmen, 

8* 


I  l(5  Krückmann: 

CS  als  wahr  zu  behandeln,  und  müssen  und  wollen  dabei  auch  dann 
bleiben,  wenn  sich  nachträglich  herausstellt,  daß  das  für  wahr 
Gehaltene  unwahr  war.  Das  unbewußt  als  unwahr  behandelte 
Wahre  oder  als  wahr  behandelte  Unwahre  wird  vielfach  aus 
zwingenden  praktischen  Gründen  auch  nachher  noch  weiter  als 
unwahr  oder  wahr  behandelt.  Aus  der  unbewußten  Abweichung 
von  der  Wahrheit  wird  eine  bewußte  und  bei  ihr  soll  es  sein  Be- 
wenden haben.  Grund  ist  die  Sicherheit  des  gutgläubigen  Rechts- 
verkehrs, die  Unmöglichkeit,  eine  objektiv  wahre  Entscheidung 
mit  Sicherheit  zu  treffen,  aber  auch  die  Erwägung,  daß  andern- 
falls Personen,  die  keinen  Schutz  verdienen,  besser  behandelt 
werden  würden  als  viel  würdigere,  und  daß  gewisse  Schutzmaß- 
nahmen strafrechtlicher  Natur  unter  Umständen  vollständig  ver- 
sagen würden,  wenn  wir  uns  statt  an  die  Unwahrheit,  d.  h.  richtiger 
an  den  Schein  der  Wahrheit,  vielmehr  an  die  Wahiheit  selber 
halten  würden. 

Ein  Rundgang  durch  das  Recht  wird  dies  bestätigen.  Mir 
als  dem  Zivihsten  liegt  natürlich  das  bürgerliche  Recht  am  nächsten, 
es  liefert  auch  die  feinsten  Belege.  Aus  Gründen  des  Raumes 
muß  ich  mich  darauf  beschränken,  indem  ich  weiteres  anderen 
Beiträgen  vorbehalte. 

Dem  Leser  sei  empfohlen,  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  zur 
Hand  zu  nehmen  und  die  bloß  zitierten,  aber  nicht  ausgeschriebenen 
Bestimmungen  nachzulesen.  Hätte  ich  alles  ausschreiben  wollen, 
wäre  die  Abhandlung  auf  den  dreifachen  Umfang  angewachsen. 
Die  Zitate  ohne  nähere  Angabe  sind  Zitate  aus  dem  Bürgerlichen 
Gesetzbuch,  BGB.,  sonst  sind  die  Titel  der  angeführten  Gesetze 
immer  voll  ausgeschrieben. 

Selbstverständlich  mußte  auf  eine  gewisse  Auswahl  gesehen 
werden,  erschöpfend  ist  der  Stoff  nicht  gebracht,  denn  manche 
Bestimmungen  setzen  derart  eingehende  Einführung  voraus,  daß 
Rücksichten  auf  den  Raum  es  verboten,  sie  überhaupt  zu  erwähnen. 
Der  Wert  des  Beispiels  wäre  zu  teuer  erkauft  worden,  zumal  diese 
mehr  oder  weniger  versteckten  Fälle  im  Leben  doch  nicht  so 
häufig  vorkommen,  daß  sie  als  wirkungskräftiges  Beispiel  ein- 
geschätzt werden  könnten. 

Eine  gelegentliche  Abrundung,  die  ich  eingeflochten  habe, 
soll  dem  Leser  den  Stoff  interessanter  machen  oder  sein  weiter- 
gehendes Kausalitätsbedürfnis  befriedigen,  damit  er  nicht  mit 
ungelösten  Fragen  von  der  Lesung  scheidet. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  117 


§  3.    Rechtserwerb  im  guten  Ulaubeii. 

I.  Oberster  Grundsatz  unseres  Rechtes  ist,  daß  niemand 
mehr  Rechte  übertragen  kann  als  er  hat.  Logischer  Zwang  führte 
schon  die  Römer  zur  Formulierung  dieses  Grundsatzes:  Nemo 
plus  iuris  transferre  potest  quam  ipse  habet.  Wir  haben  uns  dar- 
über hinweggesetzt  und  so  beobachten  wir  täglich  die  Folge- 
widrigkeit, daß  jemand  Rechte  übertragen  kann,  die  ihm  gar  nicht 
gehören.  An  sich  ist  die  Übertragung  fremder  Rechte  nichts 
Wunderbares,  es  muß  dann  aber  Vollmacht  oder  Erlaubnis  des 
wahren  Berechtigten  vorliegen,  der  zu  der  Veräußerung  durch 
den  Nichtberechtigten  seine  Einwilligung  gibt.  Das  Eigentümliche 
bei  dem  Rechtserwerb  im  guten  Glauben  ist,  daß  hier  die  Rechts- 
übertragung ohne  und  gegen  den  Willen  des  wahren  Berechtigten 
erfolgt,  §§932ff. 

Die  rechtspolitische  Erwägung  ist  einfach:  Einer  muß  den 
Schaden  tragen,  der  Eigentümer  oder  der  gutgläubige  Erwerber, 
der  die  Sache  voll  bezahlt  hat.  Außerdem  besteht  ein  Bedürfnis, 
daß  Eigentums-  und  Besitzordnung  nicht  zu  lange  miteinander  in 
Widerspruch  stehen.  Um  den  Widerstreit  zwischen  Eigentums- 
und Besitzordnung  auszugleichen,  sind  Rechtserwerb  im  guten 
Glauben,  Ersitzung  und  Verjährung  der  Eigentumsklage  ein- 
geführt, denn  einmal  muß  sich  schließlich  auch  ein  rechtswidriger 
Besitzstand  gesetzlich  legalisieren,  muß  aus  einem  unrechtmäßigen 
zu  einem  rechtmäßigen  werden,  muß  den  gesetzlichen  Schutz  er- 
halten, weil  er  sich  tatsächlich  zu  behaupten  gewußt  hat. 

Man  kann  nun  drei  Abstufungen  beobachten  und  je  nachdem 
tritt  die  Übereinstimmung  zwischen  Eigentumsordnung  und  Besitz- 
ordnung früher  oder  später  ein. 

Der  Eigentümer  verleiht  Bücher  an  einen  Freund,  der  dar- 
über hinwegstirbt.  Die  Erben  lassen  die  Bücherei  ihres  Vaters 
versteigern  oder  verkaufen  sie  unter  der  Hand  an  einen  Antiquar. 
Dieser  erwirbt  im  guten  Glauben  alle  Bücher  und  wird  sofort  mit 
der  Übereignung  Eigentümer  auch  der  fremden,  §§  932ff. 

Dem  Eigentümer  sind  Schmucksachen,  oder  bei  einem  Ge- 
schäfte Lebensmittel,  wertvolle  Stoffe,  Pelzwaren,  Schuhe  usw. 
gestohlen,  der  Käufer  erwirbt,  weil  die  Sachen  zu  den  ge- 
stohlenen, verlorenen  oder  sonst  abhanden  gekommenen  Sachen 
gehören,   trotz   guten    Glaubens   kein    Eigentum,    §  935.      Aber  er 


j  I  g  Krückmann : 

kann,  weil  er  gutgläubig  ist,    ersitzen,    und  ersitzt  in    lO  Jahren,. 

§§  937"- 

Ist  er  nicht  gutgläubig,  d.  h.  es  ist  ihm  bekannt  oder  infolge 

grober  Fahrlässigkeit  unbekannt,  daß  die  Sache  nicht  dem  Ver- 
äußerer gehört,  §  932  II,  dann  ist  Rechtserwerb  im  guten  Glauben 
wie  Ersitzung  ausgeschlossen  und  es  bleibt  nur  noch  die  Ver- 
jährung des  Herausgabcanspruches  des  Eigentümers,  §§  pSsff., 
195,  222.  Der  Eigentümer  kann  wegen  Verjährung  seines  Heraus- 
gabeanspruches die  Sache  nicht  von  dem  Diebe  oder  dem  bös- 
gläubigen Käufer  herausfordern,  §§  195,  222.  Er  behält  sein  Eigen- 
tum, kann  es  aber  gegenüber  der  Verjährungseinrede  nicht  geltend 
machen.  Das  praktische  Ergebnis  überrascht  vielleicht,  aber  dem 
Bösgläubigen  soll  aus  Unrecht  kein  Recht  erwachsen. 

Alle  diese  Bestimmungen  erweisen  eines:  Das  Recht  erkennt 
die  zwingende  praktische  Notwendigkeit  an,  den  tatsächlichen 
äußeren  Zustand  der  Dinge,  nämlich  die  Tatsache,  daß  der  bloße 
Besitzer  die  Sache  tatsächlich,  wenn  auch  nicht  rechtlich,  hat, 
schließlich  doch  in  einen  Rechtszustand  überzuführen,  sei  er  auch 
noch  so  unvollkommen.  Es  kann  auch  nicht  anders  sein.  Recht 
und  Besitz  müssen  sich  nach  Möglichkeit  immer  in  derselben 
Hand  zusammenfinden,  und  es  kann  auf  die  Dauer  der  Zustand 
nicht  aufrecht  erhalten  werden,  daß  dem  Eigentumsrechte  nicht 
auch  der  wahre  Besitzstand  entspricht.  Theoretisch  ist  an  sich 
das  normale  Mittel,  die  wünschenswerte  Übereinstimmung  zwischen 
Rechtsstand  und  Besitzstand  herbeizuführen,  die  Eigentumsklage, 
die  Klage  auf  Herausgabe  der  Sache,  die  der  nichtbesitzende 
Eigentümer  gegen  den  besitzenden  Nichteigentümer  anstrengen 
kann,  §§  985ff.  Aber  darauf  können  wir  nicht  immer  warten 
und  wir  wollen  darauf  auch  nicht  immer  warten,  sondern  schützen 
aus  zwingenden  Gründen  der  Verkehrssicherheit  den  gutgläubigen 
Besitzer,  versagen  also  die  Klage  aus  §  985  ff.  Nicht  bloß  der 
Besitz  soll  zum  Eigentum  gezogen  werden,  sondern  der  Besitz 
zieht  umgekehrt  auch  das  Eigentum  an  sich. 

Aber  nicht  immer.  Gestohlene,  verlorene  oder  sonst  ab- 
handen gekommene  Sachen  können  nicht  auf  Grund  des  bloßen 
guten  Glaubens  erworben  werden,  §  935.  Der  Grund  ist,  daß 
sie  ohne  den  Willen  des  Eigentümers  in  den  menschlichen  Ver- 
kehr geraten  sind.  Wer  seine  Sache  wissentlich  und  willentlich 
einem  Mieter,  einem  Entleiher,  einem  Verwahrer,  einem  Hand- 
werker, einer  Fabrik  anvertraut,  muß  nehmen,  was  danach  kommt^ 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  ng 

wenn  diese  an  gutgläubige  Dritte  weiter  veräußern.  Er  muß  sich 
an  den  halten,  der  sein  Vertrauen  betrogen  hat:  Wo  du  deinen 
Glauben  gelassen  hast,  sollst  du  ihn  wieder  suchen.  Oder:  Hand 
wahre  Hand.  Gutgläubige  Dritte  sollen  nicht  darunter  leiden, 
daß  der  Eigentümer  sein  Vertrauen  einem  Menschen  schenkte, 
der  es  nachher  enttäuscht.  Strafrechtlich  zugespitzt  heißt  dies: 
§  935  gewährt  wohl  Schutz  gegen  den  Diebstahl,  aber  nicht  gegen 
die  Unterschlagung. 

H.  Man  hat  über  die  juristische  Konstruktion  dieser  Er- 
scheinung gestritten.  Die  einen  behaupteten,  der  Veräußerer 
hätte  eine  besondere  Veräußerungsmacht,  kraft  deren  er  fremde 
Sachen  wirksam  veräußern  könnte.  Die  Unhaltbarkcit  ergibt 
sich  aus  dem  bekannten  Wort  Regelsbergcrs,  was  dies  denn 
für  eine  Macht  sei,  die  vor  dem  bösen  Glauben  des  Erwerbers 
hinschmölze  wie  die  Butter  an  der  Sonne.  In  der  Tat,  das,  was 
wir  Juristen  unter  Macht,  insbesondere  rechtlicher  Macht,  ver- 
stehen, kann  der  Veräußerer  nicht  haben,  denn  mit  dem  Begriff 
der  Macht  verbinden  wir  immer  die  Vorstellung  des  Unentzieh- 
baren,  dem  nicht  durch  beliebige  Eingriffe  oder  Handlungen 
Dritter  oder  durch  Ereignisse,  die  bei  Dritten  eintreten,  ein  Ende 
gemacht  werden  kann.  Solche  schwankenden  und  unsicheren 
Rechtsstellungen  sind  keine  Machtstellungen.  Darum  ist  z.  B. 
auch  der  Ausdruck  Vollmacht  im  juristischen  Sinne  nicht  ganz 
glücklich,  denn  die  Vollmacht  kann  grundsätzlich  jeden  Augen- 
blick widerrufen  werden,  ist  also  alles  andere  eher  als  echte  Macht. 

Andere  haben  mit  der  Annahme  einer  gesteigerten  Erwerbs- 
fähiskeit  des  Erwerbers  zu  helfen  versucht.  Diese  Vorstellung 
scheitert  daran,  daß  sie  mit  unseren  Kausalitätsvorstellungen 
nicht  vereinbar  ist.  Der  Erwerber  soll  deshalb  eine  gesteigerte 
Erwerbsfähigkeit  haben,  weil  dem  Veräußerer  etwas  an  seinen 
Befugnissen  abgeht.  Eine  merkwürdige  Gedankenverbindung,  die 
uns  nicht  darüber  aufklärt,  wieso  es  kommt,  daß  ein  ausgesprochener 
rechtlicher  Mangel  bei  dem  Veräußerer  eine  solche  verstärkende 
Einwirkung  auf  die  rechtlichen  Fähigkeiten  des  Erwerbers  haben 
soll.  Ist  es  schon  unvorstellbar,  daß  Umstände,  die  bei  dem  Ver- 
äußerer vorliegen,  überhaupt  die  Rechtsstellung  oder  die  recht- 
lichen Fähigkeiten  des  Erwerbers  sollen  beeinflussen  können,  so 
streitet  es  noch  mehr  gegen  unsere  Vorstellung,  daß  ein  Rechts- 
mangel beim  Veräußerer  ausgerechnet  eine  die  Fähigkeiten  des 
Erwerbers  steigernde  Wirkung  haben  soll.    Die  Germanisten  haben 


j20  Krückmann: 

sich  geholfen,  indem  sie  Wort  und  Begriff  des  Rechtsscheins  ein- 
führten. Damit  geben  sie  eine  äußere  Beschreibung,  aber  keine 
juristische  Analyse,  erklären  überdies  nicht,  was  der  bloße  Schein 
für  Kräfte  und  Fähigkeiten  haben  soll,  um  dem  Nichteigentümer 
die  Veräußerung  einer  fremden  Sache  zu  ermöglichen.  Wir  ge- 
raten mit  diesen  Erörterungen  über  die  Kräfte  und  Fähigkeiten 
des  Rechtsscheins  schon  in  die  Fiktionen  hinein,  es  bleibt  uns 
aber  nichts  anderes  übrig,  denn  auch  die  sonstigen  Erklärungs- 
versuche arbeiten  ebenfalls  mit  Fiktionen.  Die  handgreiflichste 
und  widerspruchsvollste  ist  die  Verfügungsmacht  des  Nichteigen- 
tümers, nicht  besser  ist  die  gesteigerte  Erwerbsfähigkeit,  be- 
friedigender ist  schon  der  Rechtsschein,  aber  auch  er  reicht  nicht 
hin.  Einmal  gibt  es  Fälle,  wo  der  Rechtsschein  offenkundig  falsch 
ist,  aber  doch  funktioniert,  wir  werden  im  Familienrecht  der- 
artiges noch  kennen  lernen,  sodann  sagt  der  Schein  als  Schein, 
daß  eben  das  positive  juristische  Etwas,  das  die  Wirkungen  des 
Rechtserwerbes  im  guten  Glauben  rechtfertigen  soll,  noch  immer 
fehlt. 

Andernfalls  kommt  man  zu  dem  wissenschaftlichen  Bank- 
bruch, der  aber  auch  schon  vorgekommen  ist,  anzunehmen,  daß 
für  die  Wirkungen  gar  nicht  das  vollgültige  Rechtsgeschäft  nötig 
wäre,  sondern  immer  und  überall  nur  das  Schcinrechtsgeschäft. 
Damit  würden  wir  aber  die  oberste  Grundlage  aller  unserer  juri- 
stischen Vorstellungen  aufgeben.  Wir  können  nun  einmal  den 
Satz  nicht  entbehren,  daß  niemand  mehr  Rechte  übertragen  kann, 
als  er  hat,  und  nur  der  Rechte  übertragen  kann,  der  sie  hat.  Nur 
mit  diesen  beiden  Sätzen  können  wir  Ordnung  in  die  Dogmatik 
und  in  das  praktische  Rechtsleben  bringen.  In  gewissen  Fällen 
kann  aber  auch  ein  Nichteigentümer  an  den  gutgläubigen  Er- 
werber das  Eigentum  übertragen.  Also  —  folgerten  einige  — 
ist  der  Satz:  Nemo  plus  iuris  transferre  potest  quam  ipse  habet 
und  sein  Gegenstück  falsch  oder  mindestens  entbehrlich  und  das 
Eigentum  wird  auf  den  Erwerber  überhaupt  nicht  deswegen  über- 
tragen, weil  der  Veräußerer  es  hat;  es  ist  entbehrlich,  um  den 
Eigentumserwerb  des  Erwerbers  zu  erklären.  Damit  schüttete 
man  das  Kind  mit  dem  Bade  aus,  denn  es  wird  doch  niemand 
zweifeln,  daß  der  Kaufmann,  der  mir  einen  Strohhut  übereignet, 
mir  deshalb  das  Eigentum  verschaffen  kann  und  verschafft,  weil 
er  selber  Eigentümer  ist  und  kraft  seines  Eigentums  die  Befugnis 
hat,    mir  sein    Eigentum   zu    übertragen.     Wir   würden   uns   allen 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  1 2  I 


sicheren  Boden  unter  den  Füßen  fortziehen,  wollten  wir  die  Vor- 
stellung aufgeben,  daß  überall  dort,  wo  der  Verfügende  Inhaber 
des  vollen  Rechtes  ist,  seine  Verfügung  auf  dieses  sein  Vollrccht 
zurückzuführen  ist. 

Dann  muß  aber  die  Verfügung  des  Scheinberechtigten  auf 
mehr  als  einen  bloßen  Schein  zurückgeführt  werden.  Der  Schein 
ist  das  Nichts  und  aus  nichts  kommt  für  uns  Juristen  nichts. 
Das  ist  das  Denkgerät,  mit  dem  wir  arbeiten  und  so,  wie  die  Dinge 
nun  einmal  liegen,  auch  arbeiten  müssen.  Also  muß  zwischen  dem 
Nichts  und  dem  vollwirksamen  Rechtsverhältnis,  dem  vollwirk- 
samen Rechtsgeschäft  noch  ein  Drittes  in  der  Mitte  sein,  das  wir 
nur  äußerlich  beschreiben,  aber  nicht  juristisch  analysieren,  wenn 
wir  es  als  Rechtsschein  bezeichnen.  Dieses  Mittelding  hat  mit 
dem  wahren  Recht  und  dem  vollwirksamen  Rechtsverhältnis  das 
Rätselhafte  gemeinsam,  daß  es  wohl  Dauerwirkungen  äußern 
kann,  selber  aber  nichts  Dauerndes  zu  sein  braucht. 
Was  bei  dem  wahren  Berechtigten  unentziehbare  rechtliche 
Befugnis  ist,  ist  dem  Scheinberechtigten  entziehbare  bloße 
Möglichkeit.  In  der  Tat  liegt  in  den  Worten  Befugnis  und 
Möglichkeit  der  eigentliche  Unterschied  beschlossen. 

Man  muß  von  dem  normalen  Fall  der  Veräußerung  ausgehen, 
wo  der  Veräußerer  das  volle  Recht  hat  und  es  voll  übertragen  kann 
und  will.  Dies  geschieht  durch  Ausübung  der  in  jedem  Eigentums- 
rechte enthaltenen  Verfügungsbefugnis.  Das  Eigentum  läßt  sich 
in  folgende  Gruppen  von  Befugnissen  zerlegen. 

1.  Die  Befugnis  zu  körperlicher  Einwirkung  als  solche,  z.  B. 
Verbrennen  des  erhaltenen  Briefes.  Eine  solche  wird  meistens 
fahrlässig  ausgeübt:  Der  Eigentümer  zerbricht  seinen  Teller,  stößt 
die  Fensterscheibe  ein,  brennt  sich  mit  der  Zigarre  ein  Loch  in 
seinen  Rock,  stößt  die  Flasche  mit  Tinte  um. 

2.  Die  Nutzungsbefugnis.  Die  eigentliche  und  hauptsächlichste 
Befugnis,  in  deren  Dienst  alle  anderen  stehen.  Der  Eigentümer 
sitzt  auf  dem  Stuhl,  schläft  in  dem  Bett,  ißt  mit  der  Gabel,  trinkt 
aus  dem  Glase,  trägt  seine  Kleidung,  benutzt  sein  Rad  usw.  Am 
vielseitigsten  sind  die  Nutzungsbefugnisse  bei  Grundstücken,  da 
hier  die  Nutzungshandlungen  am  vielseitigsten  sind :  gehen,  stehen, 
fahren,  Vieh  treiben,  reiten,  graben,  pflügen,  ernten,  wohnen. 
Steine  brechen,  Lehm,  Kies,  Mergel,  Sand,  Torf  graben,  Wasser 
schöpfen  und  leiten.  Entsprechend  zerlegt  man  auch  die  eine 
große    Nutzungsbefugnis    in    Unterarten,    die   aus    dem   römischen 


122 


Krückmann ; 


Rechte  als  die  verschiedenen  Dienstbarkeiten  bekannt  sind:  ser- 
vitus  itineris,  actus,  viae,  aquaehaustus,  aquacductus,  pecoris  ad 
aquam  appulsus,  ne  luminibus  officiatur,  ne  prospcctui  officiatur  usw. 

3.  Verfügungsbefugnis.  Sie  steht  aus  eigenem  Rechte  nur 
dem  Eigentümer  und  dem  Pfandgläubiger  zu.  Der  Pfandgläubiger 
kann  fremdes  Eigentum  übertragen,  aber  zu  diesem  Bchufe  ist 
ihm  ausdrücklich  ein  besonderes  Recht  gegeben,  eben  die  im 
Eigentum  enthaltene  Verfügungsbefugnis. 

4.  Schutzbefugnis,  als  Klage  des  Eigentümers  auf  Heraus- 
gabe der  Sache,  Klage  des  nicht  besitzenden  Eigentümers  gegen 
den  besitzenden  Nichteigentümer,  §§985 ff.;  ferner  Klage  des  be- 
sitzenden Eigentümers  wegen  Störung,  z.  B.  durch  Anmaßung 
einer  Weide-,  Wege-,  Wassergerechtigkeit,   §  1004. 

Von  diesen  vier  Gruppen  kommt  für  uns  die  dritte  in  Betracht. 
Wenn  der  veräußernde  Nichteigentümer  an  den  gutgläubigen  Er- 
werber das  Eigentum  überträgt,  so  ist  dies  gar  nicht  anders  juri- 
stisch erklärbar  als  durch  die  Vorstellung,  daß  man  sagt,  der  ver- 
äußernde Nichteigentümer  übe  die  Verfügungsbefugnis  des  Eigen- 
tümers aus.  Dann  muß  ihm  aber  die  Ausübungsmöglichkeit  für 
diese  ihm  fremde  Befugnis  zustehen  und,  wenn  wir  dies  annehmen, 
gewinnen  die  für  unsere  Vorstellung  unerläßliche  Möglichkeit,  ein 
positives  Etwas  als  Grund  für  die  rechtswirksame  Verfügung  des 
Nichtberechtigten  anzunehmen  und  auf  diese  Weise  ,, nachzuweisen". 
Es  ist  ein  von  uns  selber  erst  geschaffener  Kunstgriff,  die  Ver- 
fügungsbefugnis als  Bestandteil  des  Eigentums  zu  denken,  so- 
dann hierfür  eine  gesonderte  Ausübungsmöglichkeit  vorzustellen 
und  zuletzt  diese  gesonderte  Ausübungsmöglichkeit  auch  dem 
Nichtberechtigten  zu  geben.  Damit  gewinnen  wir  den  Vorteil, 
die  positiven  Rechtswirkungen  der  Verfügung  auf  ein  positiv 
,, wirkendes"  Etwas  zurückzuführen,  vermeiden  zugleich  die  un- 
durchführbare Vorstellung,  daß  dem  Nichtberechtigten  eine  echte 
Verfügungsmacht  zustehe,  w'ie  sie  nur  dem  Eigentümer  und  dem 
Pfandgläubiger  zukommen.  Analysiert  man  den  Rechtsschein  der 
Germanisten  schärfer  und  holt  man  das,  was  hinter  ihm  steckt 
und  was  für  uns  Juristen  schlechterdings  unentbehrlich  ist,  hervor, 
so  stoßen  wir  zuletzt  auf  eine  bloße  Ausübungs möglich keit, 
die  deshalb,  weil  sie  bloße  Möglichkeit  ist,  auch  vor  dem  bösen 
Glauben  des  Erwerbers  in  nichts  zusammensinkt  und  wirkungslos 
sich  restlos  auflöst.  Zugleich  vermeiden  wir  mit  der  auf  die  Ver- 
fügungsbefugnis beschränkten   Ausübungsmöglichkeit,   dem  Nicht- 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht. 


123 


berechtigten  weitere  Eigentumsbefugnissc  zu  geben,  die  ihm 
zweifellos  nicht  zustehen,  ihm  auch  nicht  gegeben  werden  sollen, 
z.  B.  Nutzungsbefugnisse. 

III.  Da  es  sich  um  eine  ganz  allgemeine  Erscheinung  handelt, 
muß  noch  etwas  tiefer  gegraben  werden.  Die  Uncntziehbarkeit 
der  Rechtsstellung  bedeutet,  daß  der  Berechtigte  sich  in  der  Inne- 
habung  dieser  Rechtsstellung  selber  behaupten  kann.  Beweis 
hierfür  ist  die  Klage  des  nichtbesitzenden  Eigentümers  gegen 
den  besitzenden  Nichteigentümer  auf  Herausgabe  der  Sache, 
§§  985 ff.,  nicht  minder  die  Klage  des  besitzenden  Eigentümers 
gegen  den  Störer,  der  sich  eine  Dienstbarkeit,  etwa  ein  Wege- 
recht, an  dem  Grundstück  des  Klägers  anmaßt,  §  1004.  In  der 
Aufzählung  der  im  Eigentum  enthaltenen  verschiedenen  Befugnisse 
ist  unter  Nr.  4  die  Schutzbefugnis  aufgeführt;  sie  macht  das  Eigen- 
tum erst  zum  richtigen  Recht,  denn  sie  sichert  ihm  seine  Rechtsy 
Stellung.  Mit  ihr  zieht  er  die  Sache  immer  wieder  an  sich  heran, 
wenn  sie  ihm  abhanden  gekommen  ist,  er  behauptet  sich  mit  ihr, 
sie  gibt  die  Selbstbehauptungsfähigkeit  aus  eigener  Kraft,  aus 
eigenem  Recht.  Das  letzte  unzerstörbare  Merkmal  echten  Rechts 
ist  diese  vom  Staate  gewährte  und  gewährleistete  Selbstbehauptungs- 
fähigkeit aus  eigenem  Rechte,  die  Uncntziehbarkeit  der  Rechts- 
stellung. Dem  Gläubiger  kann  sein  Forderungsrecht  gegen  seinen 
Willen  nicht  entzogen  werden  und  er  macht  seine  Selbstbehauptungs- 
fähigkeit  aus  eigenem  Rechte  dadurch  geltend,  daß  er  den  Schuldner, 
der  nicht  zahlen  will  oder  der  die  Zahlungspflicht  leugnet,  verklagt, 
ein  obsiegendes  Urteil,  d.  h.  eine  behördliche  Feststellung  seines 
Rechtes  durchsetzt  und  nunmehr  unter  behördlicher  Hilfe  mittels 
der  Zwangsvollstreckung  die  Leistung  erzwingt.  Nirgendwo  mehr 
bewährt  es  sich,  daß  echtes  Recht  auch  zugleich  echte  rechtliche 
Macht  ist.  Macht  aber  kann  sich,  eben  weil  sie  Macht  ist,  durch 
sich  selbst  behaupten.^)  Dies  hat  bei  dem  Forderungsrecht  noch 
eine  ganz  besondere  Seite.  Jede  Forderung  richtet  sich  nur  gegen 
eine  ganz  bestimmte  Person  oder  gegen  eine  ganz  bestimmte  und 
genau  begrenzte  Gruppe  von  Personen,  gegen  den  Schuldner 
oder  gegen  die  Schuldner  (z.  B.  wenn  einer  oder  wenn  mehrere 
zusammen  für  den  angerichteten   Schaden  haftbar  sind).      Darin 


^)  Entsprechend  ist  es  falsch,  den  Zivilprozeß  immer  nur  als  Schutzmittel 
für  den  Gläubiger  zu  betrachten,  er  ist  auch  ein  Hindernis:  Der  Gläubiger  muß 
sein  Recht  prüfen  lassen. 


124 


Krückmann ; 


spricht  sich  die  Relativität  des  Forderungsrechtes  aus.  Es  hat 
aber  auch  eine  absolute  Wirkung  gegen  jedermann,  und  diese 
zeigt  sich  im  Prätendentenstreit,  wenn  dem  Gläubiger  das  For- 
derungsrecht von  einem  anderen,  der  Gläubiger  zu  sein  behauptet, 
bestritten  wird.  Dann  kann  der  Gläubiger  sein  Forderungsrecht 
gegen  jeden,  der  ihm  die  Zuständigkeit  bestreitet  und  sie  für  sich 
selber  in  Anspruch  nimmt,  feststellen  lassen  und  sich  dergestalt 
in  der  Innehabung  der  Forderung  gegen  jedermann  behaupten. 
Hierin  zeigt  sich  nur  dieselbe  Selbstbehauptungsfähigkeit  aus 
eigener  Kraft,  die  gegen  den  widerstrebenden  Schuldner  durch- 
schlägt und  ihr  Seitenstück  in  der  Durchschlagskraft  der  Eigcntums- 
klagen  gegen  die  Nichteigentümer  hat. 

Das  eigentliche  Rätsel  besteht  darin,  daß  ein  Etwas,  dem  jede 
Fähigkeit  zur  unbedingten  Selbstbehauptung  abgeht,  dieselben 
Dauerwirkungen  äußern  kann  wie  das  echte  Recht.  Denn  das 
ist  das  Eigentümliche,  daß  die  einmal  eingetretenen  Wirkungen 
erhalten  bleiben,  als  ob  sie  von  dem  echten  Recht  ausgegangen 
wären.  Dieses  Rätsel  darf  aber  um  so  weniger  schrecken,  als  wir 
ja  schon  längst  mit  unseren  Vorstellungen  vom  wirkenden  Etwas, 
Selbstbchauptungsfähigkeit  aus  eigener  Kraft,  mitten  im  bloß 
Bildhaften  oder  in  der  Fiktion  drinstecken.  Es  handelt  sich  für 
uns  doch  nur  darum,  die  Folgerungen  einer  selbstgeschaffenen 
Fiktion  wieder  abzustoßen.  Die  Selbstbehauptungsfähigkeit  aus 
eigener  Kraft  ist  eine  Fiktion,  die  wirkende  Kraft  ist  eine  Fiktion, 
die  Folgerung,  daß  nur  die  Ausübung  echter  Rechte  vollwirksam 
sein  könnte,  ist  Folgerung  aus  einer  Fiktion  und  wird  abgeschnitten 
dadurch,  daß  wir  einen  neuen  Aushilfsbegriff  erfinden,  die  bloße 
Möglichkeit,  insbesondere  die  bloße  Ausübungsmöglichkeit.  Diese 
aber  wieder  läßt  sich  auf  einen  anderen  Begriff  der  Rechtswissen- 
schaft zurückführen,  auf  den  umstrittensten  und  rätselhaftesten 
von  allen,  der  schließlich  aber  doch  der  einfachste  und  elemen- 
tarste ist,  den  jedes  Reche  kennt  und  als  ersten  verwendet. 

IV.  Die  dem  Nichtberechtigten  zustehende  Ausübungsmöglich- 
kcit  in  Ansehung  der  Verfügungsbefugnis  gründet  sich  auf  seinen 
Besitz,  auf  die  äußerlich  sichtbare,  sinnlich  wahrnehmbare  Tat- 
sache des  tatsächlichen  Habens,  §§  929ff.  Was  das  besagen  will, 
kann  jeder  selber  ermessen,  wenn  er  nur  seine  eigenen  täglichen 
Beobachtungen  juristisch  schärfer  nachprüft.  Wenn  auf  der  Land- 
straße eine  Person  in  bäuerlicher  KJeidung  ein  Bauernfuhrwerk 
fährt,  kann  niemand  mit   Gewißheit  sehen  und  sagen,    der  Fuhr- 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I25 

mann  sei  der  Eigentümer,  er  kann  auch  das  Gegenteil  nicht  sagen. 
Er  wird  sich  aber  doch  immer  an  die  bloße  Tatsache  des  äußerlich 
erkennbaren  tatsächlichen  Habens  halten  und  wird  dieser  Tat- 
sache vertrauen,  er  wird  freilich  nicht  wissen,  ob  sein  Vertrauen 
richtig  ist.  Nach  dem,  was  er  wahrnimmt,  wird  er  den  Fuhrmann 
für  den  Eigentümer  halten,  denn  gewöhnlich  pflegt  der  Bauer 
selber  zu  fahren.  Sitzt  aber  ein  siebzehnjähriger  Mensch  auf 
dem  Wagen,  wird  man  ihn  schon  nicht  mehr  für  den  Eigentümer 
halten,  sondern  sich  sagen,  daß  er  wahrscheinlich  in  fremdem 
Auftrage  das  Fuhrwerk  lenke.  Noch  deutlicher  wird  es,  wenn 
ein  herrschafthches  Fuhrwerk  von  einem  Kutscher  in  Kutscher- 
kleidung gelenkt  wird.  Es  wird  niemand  auf  Eigentum  des  Kutschers 
schließen,  obgleich  in  der  Stadt  die  sogenannten  unnummerierten 
Droschken  häufig  genug  von  den  Fuhrherren  selber  in  Kutscher- 
kleidung gefahren  werden. 

Dem  Reiter  sieht  man  nicht  an,  daß  er  kein  Eigentümer  ist. 
Anders,  wenn  es  der  bekannte  Stößer  aus  dem  Leihstall  ist,  auf 
dem  die  Sonntagsreiter  ihre  Verdauung  aufbessern.  Von  dem 
Studenten  und  der  Studentin  nimmt  man  an,  daß  die  von  ihnen 
getragene  Mappe  ihnen  gehört,  ihr  Eigentum  ist;  von  der  Ordon- 
nanz, dem  Kassenboten,  dem  Gerichtsdiener,  dem  Universitäts- 
pedellen weiß  man  das  Gegenteil. 

Die  Verkäuferin  vom  Lande,  die  mit  Butter,  Eiern,  Geflügel, 
Gemüse  zum  Wochenmarkt  kommt,  wird  jeder  auch  für  die  Eigen- 
tümerin   des    Korbinhaltes    halten,    besser    Unterrichtete    werden 
aber  oft  wissen,  daß  sie  es  nicht  ist,  sondern  daß  sie  im  Auftrage 
anderer   kommt  und  fremde   Sachen  mit  Einwilligung  des  Eigen- 
tümers  verkauft.     Andererseits   ist  sich   über   die    Rolle   des   ein- 
kaufenden Dienstmädchens  mit  der  weißen  Schürze  jedermann  klar. 
Läßt    sich    also    zuweilen   unter   besonderen   Voraussetzungen 
leicht  ersehen  und  feststellen,  daß  der  Besitzer  der  Sachen  nicht 
ihr  Eigentümer  sein  kann,   so  bleibt  doch  in  den  meisten  Fällen 
die  Wahrheit  für  die  große  Menge  verborgen.     Diese  hält  sich  er- 
fahrungsgemäß an  das,  was  sie  mit  den  Sinnen  wahrnimmt,  und 
behandelt   dementsprechend    den    bloßen    Besitzer    der    Sache    so 
lange   als   Eigentümer,    bis   ihr   das    Gegenteil   klar   geworden   ist. 
Dem  trägt  das   BGB.    Rechnung  und   gibt  dem  bloßen   Besitzer 
innerhalb    der    angegebenen    Grenzen   die    Möglichkeit,    zugunsten 
des  gutgläubigen  Dritten  über  das  Eigentum  zu  verfügen.     Dann 
ist  es  aber  auch  nur  folgerichtig,  von  einem  bloßen  Besitz  an  der 


1 26  Krückmann : 

Verfügungsbefugnis  zu  sprechen.  Dieser  Besitz  ist  das  tatsächliche 
Haben  der  Verfügungsbefugnis  im  Gegensatz  zum  rechthchen 
Haben,  dem  Eigentum  und  dem  Pfandrecht.  In  dem  bloß  tat- 
sächlichen Haben  liegt  seine  Natur  als  einer  in  Wirklichkeit  recht 
unsicheren  Rechtsstellung  beschlossen.  Wenn  der  Prüfungskandidat 
mit  dem  gemieteten  „glückbringenden"  Examenszylinder  dem 
Prüfungsgebäude  zustrebt  und  der  Wind  ihm  seinen  Glücksbringer 
entführt,  so  ändert  sich  an  dem  Eigentum  nichts,  wohl  aber  sehr 
leicht  einmal  Erheblichstes  an  dem  Besitz,  wenn  z.  B.  der  Hut 
in  den  hochgehenden  Fluß  fällt  und  der  Prüfling  ihm  aus  Mangel 
an  Zeit  nicht  weiter  nachgehen  kann.  Das  unsichtbare  Recht 
ist  fest,  sicher,  unentziehbar,  dafür  aber  auch  schwer  erkennbar, 
der  Besitz  als  das  tatsächliche  Haben  ist  umgekehrt  leicht  er- 
kennbar, aber  auch  sehr  leicht  zerstört.  Das  hindert  nun  nicht, 
daß  er,  solange  er  da  ist,  dem  Eigentum  empfindlichen  Wett- 
bewerb macht,  ja  dem  Eigentum  unmittelbar  gefährlich  werden 
kann.  Aber  er  versagt,  sobald  er  mit  dem  Eigentum  zusammen- 
stößt und  der  Eigentümer  seinen  Herausgabeanspruch  aus  §§  985  ff. 
geltend  macht.  Dann  stürzt  die  ganze  Rechtsstellung  des  Be- 
sitzers zusammen. 

Im  Sinne  des  Rechtes  müssen  wir  also  sagen:  Die  Fiktion 
des  Nichteigentümers  als  Eigentümer  wird  juristisch  aufgelöst  in 
die  Vorstellung  des  Besitzes  des  Nichteigentümers  an  gewissen, 
im  Eigentum  enthaltenen  Befugnissen.  Dieser  Besitz  ist  nichts 
anderes  als  die  Möglichkeit,  diese  Befugnisse  auszuüben. 

Für  uns  schiebt  sich  also  zwischen  volles  Recht  und  volles 
Nichtrecht  noch  ein  Drittes  ein,  die  bloße  Ausübungsmöglichkeit 
als  solche,  die  je  nach  dem  Verkehrsbedürfnis  auch  Nichtberechtigten 
verliehen  wird,  die  aber  wegen  ihrer  leichten  Entziehbarkeit  eben 
nur  eine  Möglichkeit,  nicht  aber  eine  uncntziehbare  Befugnis  im 
Sinne  echten  Rechtes  sein  kann  (s.  oben  II,   S.  19). 

Man  spricht  in  solchen  Fällen  auch  von  einer  Legitimation, 
nicht  unrichtig.  Doch  wird  über  die  Legitimation  an  anderer 
Stelle  besser  gesprochen. 

V.  Der  Rechtserwerb  im  guten  Glauben  kommt  auch  bei 
Grundstücken  vor  und  hier  hat  sich  schon  ganz  von  selber  in  der 
Wissenschaft  der  Ausdruck  ,, Buchbesitzer"  für  den  in  das  Grund- 
buch eingetragenen  Nichteigentümer  eingebürgert.  Der  Buch- 
besitzer kann  das  Eigentum  an  dem  Grundstück  auf  den  gut- 
gläubigen Erwerber  übertragen,  nicht,  wie  bei  beweglichen  Sachen, 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht.  127 

der  körperliche  Sachbesitzer.  Man  kann  körperhcher  Sachbesitzer 
sein  ohne  Buchbesitzer  zu  sein,  regelmäßig  wird  beides  zusammen- 
treffen. Die  Grundlage  für  die  wirksame  Veräußerung  an  den 
gutgläubigen  Dritten  ist  bei  beweglichen  Sachen  der  körperliche 
Sachbesitz,  erworben  durch  Erwerb  der  tatsächlichen  Gewalt  über 
die  Sache.  Denn  nur  der  Sachbesitzer  kann  die  körperliche  Über- 
gabe, ohne  die  kein  Eigentum  übergeht,  bewirken.  Dagegen  bei 
Grundstücken  kann  nur  der  Buchbesitzer  übertragen.  Mit  Fug, 
denn  die  Veräußerung  vollzieht  sich  nicht  durch  Übergabe  der 
Sache  an  den  Erwerber  wie  bei  beweglichen  Sachen,  §§  929ff., 
sondern  durch  grundbuchliche  Veräußerung.  Diese  fordert  einmal 
Auflassung,  d.  h.  die  in  Anwesenheit  von  Veräußerer  und  Er- 
werber vor  dem  Gericht  abgegebene  Erklärung,  daß  das  Eigentum 
übergehen  solle,  dazu  die  Erklärung  des  Erwerbers,  daß  er  das 
Eigentum  erwerben  wolle  und  erwerbe,  §  925.  An  die  Auflassung 
schließt  sich  als  zweiter  Bestandteil  des  Übertragungsaktes  die 
Eintragung  in  das  Grundbuch  an,  §  873.  Selbstverständlich  kann 
nur  der  eine  wirksame  Veräußerung  an  den  gutgläubigen  Er- 
werber vornehmen,  der  imstande  ist,  die  äußeren  Veräußerungs- 
formen zu  erfüllen,  und  auch  nur  für  den  Buchbesitz  gelten  die 
Vermutungen  der  §§  891,  892. 

§  891.  ,,Ist  im  Grundbuch  für  jemand  ein  Recht  eingetragen, 
so  wird  vermutet,  daß  ihm  das  Recht  zustehe. 

Ist  im  Grundbuch  ein  eingetragenes  Recht  gelöscht,  so  wird 
vermutet,  daß  das  Recht  nicht  bestehe." 

§  892.  ,, Zugunsten  desjenigen,  welcher^)  ein  Recht  an  einem 
Grundstück  oder  ein  Recht  an  einem  solchen  Recht ^)  durch  Rechts- 
geschäft^) erwirbt,  gilt  der  Inhalt  des  Grundbuches  als  richtig,  es 
sei  denn,  daß  ein  Widerspruch  gegen  die  Richtigkeit  eingetragen 
oder  die  Unrichtigkeit  dem  Erwerber  bekannt  ist.  Ist  der  Be- 
rechtigte in  der  Verfügung  über  ein  im  Grundbuch  eingetragenes 
Recht    zugunsten   einer   bestimmten    Person    beschränkt*),    so    ist 

^)  Künftig  wird  der  Ausdruck  des  BGB.:  derjenige,  welcher  usw.  vermieden 
und  durch  besseres  Deutsch  von  mir  ersetzt  werden. 

*)  Verpfändung  der  Hypothek  gibt  ein  Pfandrecht  an  der  Hypothek;  es  kommt 
auch  Verpfändung  des  Nießbrauchs  an  einem  Grundstück  vor. 

')  Gegensatz  ist  der  Erwerb  durch  richterliche  Verfügung,  z.  B.  Eintragung 
einer  Sicherungshypothek  für  einen  pfändenden  Gläubiger  auf  richterliche  Anordnung. 

*)  Der  Gemeinschuldner  ist  infolge  der  Eröffnung  des  Konkurses  den  Konkurs- 
gläubigern gegenüber  in  der  Verfügung  über  sein  dem  Konkurse  anheimgefallenes 
Vermögen  beschränkt. 


128  Krückmann: 

die   Beschränkung  dem   Erwerber   gegenüber   nur  wirksam,   wenn 
sie  aus  dem  Grundbuch  ersichtlich  oder  dem  Erwerber  bekannt  ist." 

VI.  Der  Rechtserwerb  im  guten  Glauben  vermag  außer  dem 
Eigentum  noch  alle  sonstigen  Rechte  an  körperlichen  Sachen  zu 
übertragen:  Nießbrauch  an  beweglichen  Sachen  und  an  Grund- 
stücken, Pfandrecht  an  beweglichen  Sachen,  Hypothek  und  Grund- 
schuld an  Grundstücken,  Dienstbarkeiten  aller  Art,  als  Wasser-, 
Weide-,  Wegegerechtigkeiten  usw.,  §§  1032,  11 38,  I140,  1207,  1257. 

Rechtserwerb  im  guten  Glauben  kann  praktisch  werden,  wenn 
der  Scheineigentümer  Pfandrecht,  Nießbrauch,  Dienstbarkeit  über- 
trägt; ebenso  wichtig  sind  die  Fälle,  wo  ein  Scheinhypotheken- 
gläubiger, ein  Scheinpfandgläubiger,  ein  Scheindienstbarkeitsberech- 
tigter  sein  ihm  scheinbar  zustehendes  Recht  überträgt.  Dies  ist 
für  den  Fall  des  Pfandrechtes  an  beweglichen  Sachen  ausdrücklich 
geregelt,  §  1244,  versteht  sich  bei  Grundstücken  kraft  der  all- 
gemeinen Fassung  des  §  892  von  selber. 

Entsprechendes  wie  für  das  Pfandrecht  an  Grundstücken 
gilt  für  Schiffspfandrecht  an  eingetragenen  Schiffen,  vgl.  §§  1260, 
1262,   1272. 

VII.  Veranlassung  zum  Rechtserwerb  im  guten  Glauben  liegt 
nicht  bloß  dann  vor,  wenn  der  Veräußerer  jeglichen  Rechtes  er- 
mangelt. Es  kann  auch  sehr  wohl  vorkommen,  daß  er  zwar  das 
volle  Recht  hat,  daß  ihm  aber  die  Veräußerung  oder  Verfügung 
verboten  ist.  Sie  wird  dann  regelmäßig  für  unwirksam  erklärt. 
Aber  der  gute  Glaube  kann  auch  diese  Unwirksamkeit  heilen. 

§  135-  „Verstößt  die  Verfügung  über  einen  Gegenstand  gegen 
ein  gesetzliches  Veräußerungs verbot,  das  nur  den  Schutz  be- 
stimmter Personen  bezweckt,  so  ist  sie  nur  diesen  Personen  gegen- 
über unwirksam.^)  Der  rechtsgeschäftlichen  Verfügung  steht  eine 
Verfügung  gleich,  die  im  Wege  der  Zwangsvollstreckung^)  oder  der 
Arrestvollziehung  erfolgt.^) 


^)  Typischer  Fall:  Die  Konkursgläubiger  brauchen  sich  eine  nach  der  Konkurs- 
eröffnung durch  den  Gemeinschuldner  vorgenommene  Veräußerung  nicht  gefallen 
zu  lassen.  Der  Konkursverwalter  muß  sogar  die  Unwirksamkeit  geltend  machen, 
§§  7.  8,  15  der  Konkursordnung.  Der  Vorerbe  soll  gewisse  Veräußerungen  nicht 
zuungunsten  des  Nacherben  vornehmen,  §§2113,  21 14;  während  der  Testaments- 
vollstreckung kann  der  Erbe  über  keinen  Nachlaßgegenstand  verfügen,   §2211. 

*)  Pfandungspfand:   ein    Gläubiger  pfändet  die   Möbel  des   Gemeinschuldners. 

■)  Arrest  ist  ebenfalls  Pfändung  der  Sache  oder  der  Person,  aber  sie  ist  nicht 
grundsätzlich  endgültig,  sondern  etwas  grundsätzlich  Vorläufiges. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I29 

Die  Vorschriften  zugunsten  derer,  die  Rechte  von  einem 
Nichtberechtigten  herleiten,  finden  entsprechende  Anwendung." 

§  136  stellt  ein  gerichtliches  oder  sonstiges  behördliches  Ver- 
gußerungsverbot  dem  gesetzlichen  Veräußerungsverbot  gleich.  Ein 
eerichtlichcs  Veräußerungsverbot  kann  ergehen  auf  Grund  einer 
äinstweiligen  Verfügung  im  Prozesse,  indem  einer  Partei  die  Ver- 
äußerung der  Sache,  deren  Herausgabe  der  Kläger  verlangt,  ver- 
boten wird,  Zivilprozeßordnung  §  938  II. 

Es  kann  auch  vorkommen,  daß  jemand  nicht  das  volle  Recht 
insofern  hat,  als  sein  Recht  nur  bedingt  oder  betagt  ist,  §§  161,  163. i) 

VIII.  Eine  Klausel  zugunsten  des  gutgläubigen  Erwerbers 
enthält  §366  des  Handelsgesetzbuches:  ,, Veräußert  oder  ver- 
pfändet ein  Kaufmann  im  Betriebe  seines  Handelsgewerbes  eine 
ihm  nicht  gehörige  bewegliche  Sache,  so  finden  die  Vorschriften 
des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  zugunsten  derer,  die  Rechte  von 
einem  Nichtberechtigten  herleiten,  auch  dann  Anwendung,  wenn 
der  gute  Glaube  des  Erwerbers  die  Befugnis  des  Veräußerers  oder 
Verpfänders,  über  die  Sache  für  den  Eigentümer  zu  verfügen, 
betrifft. 

Ist  die  Sache  mit  dem  Rechte  eines  Dritten  belastet,  so  finden 
die  Vorschriften  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  zugunsten  derer, 
die  Rechte  von  einem  Nichtberechtigten  herleiten,  auch  dann 
Anwendung,  wenn  der  gute  Glaube  die  Befugnis  des  Veräußerers 
oder  Verpfänders,  ohne  Vorbehalt  des  Rechtes  über  die  Sache 
zu  verfügen,  betrifft."  (Die  Bank  veräußert  die  dem  A.  verpfändeten 
Wertpapiere  des  B.) 

Gewisse  Kaufleute  haben  wegen  ihrer  Forderungen  an  die 
Gegenpartei  ein  Pfandrecht  an  den  Sachen  der  Gegenpartei,  die 
auf  Grund  des  Geschäftes  in  ihre  Hände  gekommen  smd,  z.  B. 
Spediteure,  Frachtführer.  Ihr  gesetzliches  Pfandrecht  ist  durch 
§  366  III  des  Handelsgesetzbuches  einem  durch  Vertrag  erworbenen 
Pfandrecht  gleichgestellt. 

Für  den  Laien  mag  es  belehrend  sein,  um  die  bunte  Mannig- 
faltigkeit des  Lebens  zu  würdigen,  v/enn  daran  erinnert  wird,  daß 


1)  Die  Wirkungen  von  Bedingung  und  Befristung  näher  zu  erklären,  würde 
hier  zu  weit  führen.  Der  Leser,  der  der  Sache  näher  nachgehen  will;  findet  das 
Nötige  in  meinen  Institutionen  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  (4.  Aufl.);  S.  848  ff., 
bemerkt,  wo  ich  alles  ausführlich  dargestellt  habe. 

Annalen  der  Philosophie.    1.  9 


130 


Krückmann : 


der  Veräußerer  eine  Sache  veräußern  kann,  an  der  kein  Pfand- 
recht, kein  Nießbrauch,  kurz  keinerlei  Recht  an  fremder  Sache 
besteht.  Es  kann  sich  aber  auch  um  Sachen  handeln,  an  denen 
außer  dem  Eigentümer  auch  noch  Dritte  durch  Pfandrechte, 
Nießbrauch,  sonstige  Dienstbarkeiten  usw.  berechtigt  sind.  Auch 
diese  Rechte  an  fremder  Sache  fallen  vor  dem  Rechtserwerb  im 
guten  Glauben  hin.  Überhaupt  werden  alle  Rechte  an  der  Sache 
zerstört,  soweit  als  der  gute  Glaube  reicht.  Das  ergibt  sich  für 
grundbuchliche  Veräußerungen  aus  §  892  von  selber,  ist  für  be- 
wegliche Sachen  in  §  936  ausdrücklich  vorgeschrieben. 

IX.     Schließen  wir  ab,  so  ergibt  sich:   Der  Nichteigentümer 

wird  sehr  oft  als  Eigentümer  behandelt  oder  doch  als  einer,  dem 

der   Eigentümer  die   Erlaubnis   gegeben  hat,    über  das   Eigentum 

zu   verfügen    (§  366  des   Handelsgesetzbuches).      Ebenso  wird   der 

Nichtpfandgläubiger  sehr  oft  als   Pfandgläubiger  behandelt,   ohne 

es   doch  zu  sein.      Immer  spricht  zugunsten  des  so   Behandelten 

ein   äußerer,    sinnlich   wahrnehmbarer   Tatbestand,    der   im   Volke 

den   Glauben  erweckt,  der  Nichtberechtigte  habe  das  Recht,  das 

er    nicht    hat.      Dieses    unmittelbare    Behandeltwerden    ,,als    ob" 

ist   natürlich   ein  juristisches   Behandeltwerden   und   kann  es   nur 

dadurch  sein,   daß  der  betreffende   Scheinberechtigte  gewisse  ihm 

an  sich  nicht  zustehende  Befugnisse  vollwirksam  auszuüben  vermag. 

Diese   vollwirksame   Ausübung   ist   aber  etwas   anderes   als   bloße 

Rechtsanmaßung.    Wenn  der  Besitzer  einer  gestohlenen  Sache  sie 

veräußert,  so  ist  dies  höchstens  ein  Ausübungsversuch  und  immer 

eine  bloße  Rechtsanmaßung,  denn  sie  hat  nicht  die  Wirkung,  das 

Eigentum   zu   übertragen.      Rechtsausübung    besteht    gerade 

darin,   daß  genau   die  Wirkungen   herbeigeführt  werden, 

die   der  wahre    Berechtigte   herbeiführen   kann.     Dann  ist 

der   Erwerber  auch   nicht   betrogen,    denn   er   braucht   die    Sache 

nicht  herauszugeben  und  bekommt  für  sein  gutes  Geld  auch  gute 

Ware.     Wo   er   geschädigt    ist,    liegt   auch    keine    Rechtsausübung 

vor,   vielfach  sogar,    z.  B.   bei   der   Veräußerung  durch   Dieb   und 

Hehler,  echter  Betrug. 

§  3.    Sonstige  dingliche  Scheinberechtigungen, 

I.  Tritt  die  Scheinberechtigung  auch  bei  der  Verfügungs- 
befugnis besonders  deutlich  hervor,  so  ist  sie  doch  nicht  die  einzige. 
Es  wurde  schon  darauf  hingewiesen,  daß  der  Nichteigentümer  die 
Sache    ersitzen    kann.      Ersitzung   setzt   sogenannten    Eigenbesitz 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht,  I^I 

voraus,  §  937  I.  Eigenbesitzer  ist,  wer  eine  Sache  als  ihm  ge- 
hörend besitzt,  §  872.  Mieter,  Entleiher,  Verwahrer,  Pfand- 
gläubiger, Nießbraucher  sind  keine  Eigenbesitzer,  solange  sie 
sich  innerhalb  der  Grenzen  ihres  Rechtes  halten.  Wohl  aber  ist 
Eigenbesitzer,  wer  die  Sache  dauernd  wie  ein  Eigentümer  für 
sich  haben  und  behalten  will  oder  wer  sie  zum  Zwecke  der  Aus- 
übung des  Eigentums  für  sich  behält.^) 

Der  gutgläubige  Eigenbesitz  macht  sich  als  Scheinrecht  nach 
zwei  Richtungen  hin  geltend. 

1.  Er  befreit  den  Besitzer  von  der  Haftung  für  Sach- 
beschädigung. Wenn  der  gutgläubige  Eigenbesitzer  in  der  Mei- 
nung, eine  eigene  Sache  vor  sich  zu  haben,  die  Sache  beschädigt, 
ist  an  sich  seine  Handlung  rechtswidrig,  denn  sie  verstößt  gegen 
das  Eigentum  des  wahren  Eigentümers.  Dennoch  wird  der  Eigen- 
besitzer nicht  haftbar,  er  haftet  erst  von  dem  Augenblick  an  für 
verschuldete  Beschädigung,  wo  die  Klage  auf  Herausgabe  der 
Sache  gegen  ihn  rechtshängig  geworden  ist,  §  989.  Er  kann  also 
die  in  §  2,  H  unter  Nr.  i  aufgeführte  Befugnis  zu  körperlicher 
Einwirkung  bis  dahin  ohne  Verantwortlichkeit  ausüben. 

2.  Der  gutgläubige  Eigenbesitzer  erwirbt  das  Eigentum  an 
den  Früchten  der  Sache  wie  ein  Eigentümer,  und  zwar  ohne 
weiteres  mit  der  Trennung,  §  955.  Dies  ist  sonst  nur  Vorrecht 
des  Eigentümers  oder  des  Nießbrauchers,  hier  wird  es  auch  dem 
zugestanden,  der  keinerlei  Recht  an  der  Sache  für  sich  einzuwerfen 
hat.  Gewissermaßen  übt  das  Gesetz  das  Eigentum  für  ihn  aus, 
indem  es  ihm  das  Eigentum  an  den  Früchten  ohne  weiteres  in 
den  Schoß  wirft. 

n.  Dem  Nichteigentümer  stehen  aber  auch  die  Schutz- 
befugnisse des  Eigentümers,  die  Klage  auf  Herausgabe  und  die 
Klage  wegen  Störung  zu.  Hier  ist  das  Wesen  der  dem  Nicht- 
eigentümer zustehenden  Rechtsstellung  zuerst  und  am  klarsten 
erkannt  worden,  indem  als  eigentliche  Grundlage  dem  Begriff 
und  dem  Ausdruck  nach  der  Besitz  als  Grundlage  dieser  Aus- 
übungsmöglichkeit seit  jeher  unbestritten  anerkannt  worden  ist. 
Der  bloße  Besitzer  hat,  wenn  ihm  die  Sache  ohne  seinen  Willen 
durch  verbotene  Eigenmacht  entzogen  worden  ist,  eine  Klage 
auf  Herausgabe,  und  hat,  wenn  er  im  Besitze  gestört  wird,  eine 


^)  Dies  mag  hier  genügen,  völlige  Übereinstimmung  herrscht  über  diese  Formela 
nicht. 

9* 


132 


Krückmann : 


Klage  \vegen  Störung,  §§  858,  861,  862.  Es  wird  nicht  gefordert, 
daß  der  Besitzer  Scheineigentümer  sei,  es  kann  vielmehr  ganz 
klar  und  offenbar  sein,  daß  er  kein  Eigentümer  ist,  er  hat  die 
Besitzklagcn  dennoch.  Sie  stehen  ihm  zu,  wenn  er  Mieter,  Ent- 
leiher, Verwahrer  usw.  ist,  wenn  er  selber  gar  kein  Hehl  daraus 
macht,  daß  ihm  das  Eigentum  fehlt.  Ja  sogar  der  Dieb  hat  sie, 
wenn  ihm  die  Sache  wieder  gestohlen  wird,  und  er  kann  auf  Vor- 
halten, daß  er  ja  gestohlen  habe,  erwidern,  das  sei  richtig,  er  habe 
aber  dem  Beklagten  nicht  gestohlen  und  der  Beklagte  dürfe  sich 
nur  auf  einen  Diebstahl  berufen,  den  er,  der  Kläger,  gegen  den 
Beklagten  verübt  habe,  §§  861  II,  862  11.^)  Hier  sind  die  Vor- 
stellungen von  Rechtsschein  und  Scheinberechtigung  ganz  ab- 
gestreift und  der  körperliche  Sachbesitz  als  die  alleinige  Grund- 
lage der  Ansprüche  anerkannt. 

Die  Klagrechte  des  Besitzers  ermangeln  der  eigentlichen 
Merkmale  echten  Rechtes,  denn  sie  fallen  sofort  zusammen, 
sobald  der  Eigentümer  sein  Eigentum  geltend  macht  und  dem 
Besitzer  die  Sache  wieder  abnimmt.  Darum  sind  sie  auch  nur 
Ausübungsmöglichkeiten  für  die  Klagrechte  des  Eigentümers  mit 
all  den  Mängeln  der  bloßen  Ausübungsmöglichkeiten. 

Der  Grund  ist  heute:  Der  tatsächliche  Besitzstand  ist  die 
nun  einmal,  ob  zu  Recht  oder  zu  Unrecht,  bestehende,  äußere 
Ordnung  der  Dinge,  und  diese  äußere  Ordnung  der  Dinge  soll 
niemand  durch  verbotene  Eigenmacht  in  ihr  Gegenteil  verkehren 
können,  selbst  wenn  er  ein  Recht  darauf  hat,  daß  diese  zurzeit 
bestehende  Ordnung  der  Dinge  zu  seinen  Gunsten  geändert  werde. 
Der  nichtbesitzende  Eigentümer  soll  klagen,  aber  nicht  gewaltsam 
wegnehmen,  und  nimmt  er  gewaltsam  w^'g,  kann  der  Besitzer 
sich  jedenfalls  zunächst  die  Sache  mit  der  Besitzklage  wieder  ver- 
schaffen. Dadurch  sichert  er  sich  die  günstige  Beweislage:  Der 
Eigentümer  muß  sein  Eigentum  beweisen,  nicht  der  Besitzer,  §  1006. 

§  4.    Scheiiigläubiger  und  Scheiuschuldner. 

A.    Scheingläubiger. 

I.  Oberster  Grundsatz  des  Schuldrechtes  ist,  daß  der  Schuldner 
nur  dann  befreit  wird,  wenn  er  seine  Leistung  an  den  Gläubiger 
erbringt.    Wer  einem  Schwindler  anheimfällt,  der  ihm  vorlügt,  er 


*)  Näheres  über  den  Besitz  in  meinen  Institutionen,  S.  479ff.,  ferner  in  meiner 
Einführung  in  das  Recht,  §§  3,  4. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I^j 

habe  Auftrag,  das  Geld  für  den  Gläubiger  einzuholen,  wird  nicht 
frei,  muß  nochmal  zahlen  und  ist  auf  seinen  Ersatzanspruch  gegen 
den  Schwindler  angewiesen.  Also  Zahlung  an  den  Nichtgläubiger 
befreit  nicht.  Aber  auch  dies  läßt  sich  nicht  uneingeschränkt 
durchführen  und  so  wird  gar  nicht  selten  der  Schuldner  durch 
^Zahlung  an  einen  Nichtgläubiger  frei.  Nicht  durch  Zahlung  an 
jeden  beliebigen  Nichtgläubiger,  sondern  durch  Zahlung  an  einen 
fingierten  Gläubiger,  an  einen  Nichtgläubiger,  der  als  Gläubiger 
aus  bestimmten  Gründen  fingiert  wird.  Dies  geht  natürlich  auf 
Kosten  des  wahren  Gläubigers,  aber  ,, einer  muß  den  Schaden 
tragen",  entweder  der  wahre  Gläubiger  oder  der  ahnungslose 
Schuldner.  Zwei  verschiedene  Belange  stoßen  zusammen  und 
da  werden  unter  Umständen  die  Belange  des  ahnungslosen 
Schuldners  den  Belangen  des  Gläubigers  vorangesetzt.  Grund 
ist  die  Verkehrssicherheit. 

II.  Die  schon  aus  der  Erörterung  über  den  Rechtserwerb 
im  guten  Glauben  bekannten  Bestimmungen  geben  noch  nach 
anderer  Richtung  etwas  her. 

Nach  §  891  wird  vermutet,  daß  dem,  der  in  das   Grundbuch 
eingetragen   ist,    auch   das   eingetragene    Recht   zustehe.      Ist  ein 
Nichteigentümer  eingetragen,  der  das   Grundstück  vermietet  oder 
verpachtet  hat,  Arbeiten  daran  oder  darauf  ausführen  läßt,  einem 
anderen  ohne  Entgelt  erlaubt,  darüber  zu  fahren,  Vieh  zu  treiben  usw., 
so  ist  er  an  sich  nicht  der  eigentlich  Berechtigte,  der  einen  etwaigen 
am   Grundstück  angerichteten   Schaden  beizutreiben  hat.     Er  ist 
nicht    geschädigt,    denn    nicht    sein    Grundstück    ist    beschädigt, 
sondern   das    Grundstück  eines   anderen.     Also    müßte   eigentlich 
nur  dieser  andere  klagen  können,  er  tut  es  aber  nicht,  weil  er  um 
sein  Eigentum  nicht  weiß.     Das  führt  von  selber  dazu,  daß  der 
als  Eigentümer  geltende  Nichteigentümer  muß  auf  Ersatz  klagen 
können  und  daß  Ersatzleistung  an  ihn  den  Schädiger  auch  gegen- 
über dem  wahren  Eigentümer  befreien  muß.    Der  Ausgleich  zwischen 
Eigentümer  und  Nichteigentümer  geschieht  dann  später  in  der  Art, 
daß  der  Nichteigentümer  den  Ersatz  für  die  Beschädigung  an  den 
Eigentümer  herausgeben  muß.     Entweder  ist  die  Sache  (das  Haus, 
die  Gartenmauer,  der  Brunnen,  die  Pumpe,  das  Wehr)  mit  Hilfe 
der   Ersatzleistung  ausgebessert  worden,   dann  erhält   der   Eigen- 
tümer, wenn  ihm  später  die   Sache  herausgegeben  wird,   zugleich 
mit  der  Sache  auch  den  Ersatz.     Oder  die  Ersatzleistung  ist  nicht 
zur  Ausbesserung  verwertet,  dann  ist  der  Besitzer  um  das   Geld 


134 


Krückmann : 


ungerechtfertigt  bereichert  und  muß  diese  ungerechtfertigte  Be- 
reicherung nach  §§  8i2ff.  herausgeben.-^)  Auf  diese  Weise  können 
die  beiden  Bedürfnisse  befriedigt  werden,  einmal  daß  der  Schädiger 
durch  Ersatzleistung  an  den  in  das  Grundbuch  eingetragenen 
Kläger  auch  dem  wahren  Geschädigten  gegenüber  befreit  wird^ 
ferner,  daß  die  Ersatzleistung,  wenn  auch  auf  einem  Umwege, 
doch  schließlich  in  die  Hand  des  Eigentümers  kommt. 

Gleiches  gilt  bei  beweglichen  Sachen,  wo  nach  §  1006  vermutet 
wird,  daß  die  Sache  dem  Besitzer  gehöre.  Auch  diese  Vermutung 
gilt  nicht  etwa  bloß  für  den  Fall,  daß  besitzender  Nichteigentümer 
und  nichtbesitzender  Eigentümer  miteinander  prozessieren,  wem 
das  Eigentum  zusteht;  sie  gilt  gleichfalls  für  die  Ersatzklage  gegen- 
über einem  Sachschädiger. 

Beide,  der  bloße  Buchbesitzer  bei  Grundstücken  und  der 
Besitzer  beweglicher  Sachen  haben  ein  gleiches  Interesse  wie  der 
Schädiger  selber,  daß  alles  zwischen  ihnen  und  dem  Schädiger 
endgültig  geregelt  werden  könne.  Der  gutgläubige  Besitzer  muß 
wegen  seines  eigenen  guten  Glaubens  so  behandelt  werden,  als 
ob  er  der  wahre  Eigentümer  wäre,  der  Schädiger  aber  muß  eben- 
falls so  behandelt  werden,  als  ob  der  Besitzer  Eigentümer  wäre. 
Das  BGB.  hat  diese  Fälle  ausdrückhch  geregelt  in  §  851,  der  sich 
auf  bewegliche  Sachen  bezieht  und  dem  körperlichen  Sachbesitzer 
eine  Legitimation  gibt,  wie  sie  dem  Buchbesitzer  nach  §  891  zusteht. 

§851.  ,, Leistet  der  wegen  der  Entziehung  oder  Beschädigung 
einer  beweglichen  Sache  zum  Schadensersatz  Verpflichtete  den 
Ersatz  an  den,  in  dessen  Besitze  sich  die  Sache  zur  Zeit  der  Ent- 
ziehung oder  der  Beschädigung  befunden  hat,  so  wird  er  durch 
die  Leistung  auch  dann  befreit,  wenn  ein  Dritter  Eigentümer  der 
Sache  war  oder  ein  sonstiges  Recht  an  der  Sache  hatte,  es  sei  denn, 
daß  ihm  das  Recht  des  Dritten  bekannt  oder  infolge  grober  Fahr- 
lässigkeit unbekannt  ist." 

Einen  ähnlichen  Gedanken  enthält  §  969.  ,,Der  Finder  wird 
durch  Herausgabe  der  Sache  an  den  Verlierer  (das  Dienstmädchen) 


^)  Der  Besitzer  ist  in  allen  Fällen  ungerechtfertigt  bereichert,  denn  er  hat 
eine  Ersatzleistung  erhalten,  die  nicht  ihm,  sondern  dem  Eigentümer  zukommt. 
Verwendet  er  aber  das  Erhaltene  auf  die  Sache,  so  tilgt  er  die  Bereicherung  wieder 
und  führt  das  Erhaltene  unmittelbar  in  das  Vermögen  des  Eigentümers  über.  Un- 
gerechtfertigt bereichert  ist,  wer  auf  Kosten  fremden  Vermögens  etwas  erhält,  ohne 
daß  es  juristisch  gerechtfertigt  crsclieint,  daß  er  das  Erhaltene  auch  behalte.  Dies 
mag  hier  genügen,  wir  kommen  darauf  noch  zurück. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht. 


135 


auch  den  sonstigen  Empfangsberechtigten  (der  Herrschaft)  gegen- 
über befreit."     Der  Verherer  ist  Scheingläubiger. 

III.  Ziemhch  rein  stellt  sich  die  Scheingläubigerschaft  nach 
§  1058  dar.  Den  Nießbraucher  treffen  verschiedene  Pflichten 
gegenüber  dem  Eigentümer:  Er  hat  die  Sache  instand  zu  halten, 
§  1041;  Zerstörungen  und  Beschädigungen  anzuzeigen,  §  1042; 
die  Vornahme  von  Ausbesserungen  durch  den  Eigentümer  zu 
dulden,  §  1043;  die  Versicherungsgebühren,  §  1043,  und  die  öffent- 
lichen Lasten  zu  übernehmen,  §  1047;  haftet  für  Verschulden, 
§  1050;  hat  die  Sache  zurückzugeben,  §  1055.  Als  Gläubiger 
erscheint  er  mit  seinem  Anspruch  auf  Ersatz  von  nicht  geschuldeten 
Verwendungen  und  mit  seinem  Wegnahmerecht,  §  1049.  Offenbar 
tritt  aber  seine  Gläubigerrolle  hinter  der  Schuldnerrolle  zurück, 
und  darum  hat  §  1058  überwiegend  Bedeutung  für  die  Schein- 
gläubigerschaft und  nicht  für  die  Scheinschuldnerschaft  des  Be- 
stellers des  Nießbrauchs:  ,,Im  Verhältnis  zwischen  dem  Nießbraucher 
und  dem  Eigentümer  gilt  zugunsten  des  Nießbrauchers  der  Be- 
steller als  Eigentümer,  es  sei  denn,  daß  der  Nießbraucher  weiß, 
daß  der  Besteller  nicht  Eigentümer  ist."  Das  hat  zur  Folge,  daß 
der  Nießbraucher  mit  der  Leistung  an  den  Besteller  frei  wird,  mag 
dieser  auch  nicht  der  Eigentümer  sein.  Die  Bedeutung  des  §  1058 
besteht  darin,  daß  die  Vermutung  dem  Nießbraucher  zugute  kommt, 
die  Vermutungen  zugunsten  des  Bestellers  sind  in  §§  891,  1006 
enthalten. 

IV.  Eine  ähnliche  Bedeutung  wie  das  Grundbuch  hat  das 
Aktienbuch.  Dies  ist  anzulegen,  wenn  Aktien  auf  Namen  lauten, 
§  222  des  Handelsgesetzbuchs.  Nach  §  223  III  gilt  im  Verhältnis 
zur  Aktiengesellschaft  nur  der  als  Aktionär  der  Namenaktie,  der 
als  solcher  im  Aktienbuch  verzeichnet  ist.  Die  Rechte  des  Aktionärs 
gehen  aber  über  ein  bloßes  Forderungs-,  ein  Gläubigerrecht,  noch 
hinaus,  denn  der  Aktionär  hat  außer  dem  Anspruch  auf  den  Gewinn- 
anteil auch  Mitgliedschaftsrechte:  Stimmrecht,  Anfechtungsrecht, 
aber  der  gläubigerschaftlichen  Elemente  sind  genug  da,  um  auch 
§  223  hier  anführen  zu  können. 

Für  Interimsscheine  gilt  dasselbe  wie  für  die  Namenaktien, 
§  224,  Bei  ihnen  tritt  auch  die  Schuldnerseite  hervor,  denn  der 
Zwischenschein  wird  vor  Vollzahlung  der  Aktie  gegeben  und  der 
Inhaber  muß  noch  Zahlungen  leisten.  Da  der  Interimsschein 
auf  den  Namen  des  Zeichners  lautet,  bezeichnet  er  immer  den 
Schuldner  der  noch  ausstehenden  Zahlungen. 


136 


Krückmann: 


V.  Um  reine  Gläubigerschaft  handelt  es  sich  bei  Inhaber- 
papieren,  §  793.  Wenn  der  Dieb  die  bei  einem  Einbruch  erbeuteten 
fähigen  Zinsscheine  von  deutscher  Kriegsanleihe,  sonstigen  bundes- 
staatlichen oder  Reichsschuldverschrcibungen  der  Zahlungsstelle 
vorlegt,  erhält  er,  solange  die  Nummern  noch  nicht  bekannt  ge- 
worden sind,  anstandslos  Zahlung.  Der  Schuldner,  das  Reich, 
der  Bundesstaat,  wird  frei.  Als  die  Reichsbanknoten  noch  in 
Gold  eingelöst  werden  mußten,  konnte  täglich  ein  gleiches  mit 
den  Hundertmarkscheinen  vorkommen.  Legte  der  Taschendieb 
den  Schein  der  Reichsbank  vor,  erhielt  er  darauf  hundert  Mark 
in  Gold.  Dies  war  ebenfalls  echte  Schuldtilgung. ^)  Wer  auf  eine 
gestohlene  Einlaßkarte  Eintritt  zum  Theater,  Konzert,  zum  Rennen, 
zum  Vortrag  erhält,  nimmt  damit  eine  ihm  nicht  geschuldete 
Leistung  entgegen  und  dennoch  wird  der  Schuldner  frei,  §  807. 
Er  hat  sich  bei  der  Ausgabe  der  Schuldverschreibungen  und  der 
Einlaßkarten  das  Recht  vorbehalten,  dem  Vorzeiger  die  Leistung 
mit  schuldtilgender  Kraft  erbringen  zu  dürfen,  und  dies  geht  nun 
zu  Lasten  des  Wahren  Gläubigers,  wenn  dieser  sich  die  Karte  oder 
die  Urkunde  stehlen  läßt.  Dem  Schuldner  soll  die  Notwendigkeit 
abgenommen  werden,  jedesmal  die  Berechtigung  des  Vorzeigers 
prüfen  zu  müssen  und  diesem  Bedürfnis  fällt  oft  genug  das  Recht 
des  wahren  Gläubigers  zum  Opfer. 

VI.  I.  Nach  §  398  geht  bei  der  Forderungsabtretung  (Zession) 
die  Forderung  sofort  mit  der  Abrede,  daß  der  neue  Gläubiger  die 
Forderung  haben  solle,  auf  den  Erwerber  über.  Die  Worte:  Ich 
trete  dir  meine  Forderung  auf  173,50  Mark  Kaufpreis  gegen 
Müller  &  Co.  ab,  genügen.  Sobald  der  andere  Teil  gesagt  hat: 
Einverstanden,  ist  er  Gläubiger,  die  Forderung  vollständig  aus 
dem  Vermögen  des  Abtretenden  ausgeschieden  und  ebenso  voll- 
ständig in  das  Vermögen  des  Neugläubigers  übergegangen.  Also 
müßte  nach  aller  Regel  der  Schuldner  nur  noch  durch  Zahlung 
an  den  Neugläubiger  befreit  werden  können,  aber  zum  Schutze 
des  ahnungslosen  Schuldners  ist  bestimmt,  §  407,  daß  der  Schuldner 
mit  schuldtilgender  Wirkung  so  lange  an  den  Altgläubiger  leisten 
kann,  als  er  noch  nichts  von  der  Abtretung  weiß.     Ja,  der  Alt- 


^)  Die  Reichsbanknoten  waren  ursprünglich  kein  Geld,  denn  sie  mußten  bis 
dahin  nicht  von  jedermann  jederzeit  genommen  werden.  Sie  waren  nur  Schuld- 
verschreibungen, die  Forderung  mit  dem  Vorzeigen  der  Urkunde  fällig.  Schuldner 
war  die  Reichsbank,  die  also  eine  echte  Schuld  bezahlte,  wenn  sie  die  Scheine  ein- 
löste.    Mit  dem  Annahmezwang  hat  die  Banknote  Geldnatur  erhalten. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I37 

gläubiger  kann  trotz  der  Abtretung  noch  mit  dem  Schuldner  pro- 
zessieren und  nach  der  Verurteilung  dem  Schuldner  mit  Gewalt 
die  Leistung  abnehmen,  wenn  der  Schuldner  bei  Erhebung  der 
Klage  von  der  Abtretung  nichts  weiß.  Entsprechendes  gilt,  wenn 
der  Neugläubiger  seine  Forderung  an  einen  weiteren  Rechts- 
nachfolger abtritt,   §  408. 

Nicht  genug  hiermit,  der  Schuldner  wird  auch  dann  geschützt, 
wenn  die  Forderung  nicht  durch  Abtretung,  sondern  ohne  weiteres 
kraft  Gesetzes  auf  den  Neugläubiger  übergeht,  §  412.^) 

2.  Gleiches  gilt  auch  von  allen  anderen  Rechten,  z.  B.  Patent- 
rechten, Verlagsrechten,  wenn  nicht  vom  Gesetze  das  Gegenteil 
bestimmt  ist,   §  413. 

3.  Sehr  umfänglich  ist  der  Schutz  des  ahnungslosen  Schuldners 
im  Hypothekenrechte  und  dementsprechend  bei  Grund-  und  Renten- 
schulden und  Reallasten  durchgeführt,  §§1156,  I158,  II59,  HO?, 
I192,  1199  I,  1200  I.  Dies  gilt  insbesondere  von  Verfügungen  über 
Hypotheken-  und  Grundschuldzinsen,  über  einzelne  Gefälle  bei 
der  Reallast  und  bei  der  Rentenschuld,  die  der  Neugläubiger 
gegen  sich  gelten  lassen  muß. 

Vn.  Das  Gegenstück  enthalten  die  folgenden  Bestimmungen: 
I.  §  25  I,  n  des  Handelsgesetzbuches.  ,,Wer  ein  unter 
Lebenden  (durch  Kauf)  erworbenes  Handelsgeschäft  unter  der 
bisherigen  Firma  mit  oder  ohne  Beifügung  eines  das  Nachfolge- 
verhältnis andeutenden  Zusatzes  fortführt,  haftet  für  alle  im  Be- 
triebe des  Handelsgeschäftes  begründeten  Verbindlichkeiten  des 
früheren  Inhabers.  Die  in  dem  Betriebe  begründeten  For- 
derungen gelten  den  Schuldnern  gegenüber  als  auf  den 
Erwerber  übergegangen,  falls  der  bisherige  Inhaber  oder  seine 
Erben  in  die  Fortführung  gewilligt  haben. 

Eine  abweichende  Vereinbarung  ist  einem  Dritten  gegenüber 
nur  wirksam,  wenn  sie  in  das  Handelsregister  eingetragen  und 
bekannt  gemacht  oder  von  dem  Erwerber  oder  dem  Veräußerer 
dem  Dritten  mitgeteilt  worden  ist." 


1)  Dies  ist  vorgesehen  in  den  §§  268,  426,  571,  581,  738,  774,  999,  "43,  "S", 
1225,  1249,  1266,  1438,  1519,  1549,  1607,  1709;  Handelsgesetzbuch  §§  411,  441, 
804;  Konkursordnung  §  225.  Hervorgehoben  sei  der  Eintritt  des  Hauskäufers  in 
die  Mietsverträge  des  Verkäufers:  Kauf  bricht  nicht  Miete,  mit  allen  seinen  Aus- 
gestaltungen, §§  571  ff.,  und  seinen  weiteren  Anwendungen  in  rechtsverwandten 
Fällen,  §§  1056,  1663,  2135;  Gesetz  über  die  Zwangsversteigerung  und  Zwangs- 
verwaltung, §  57. 


138 


Krückmann : 


2.  §  28.  ,, Tritt  jemand  als  persönlich  haftender  Gesellschafter 
oder  als  Kommanditist  in  das  Geschäft  eines  Einzclkaufmanns  ein, 
so  haftet  die  Gesellschaft^),  auch  wenn  sie  die  frühere  Firma  nicht 
fortführt,  für  alle  im  Betriebe  entstandenen  Verbindlichkeiten  des 
früheren  Geschäftsinhabers  Die  in  dem  Betriebe  begründeten 
Forderungen  gelten  den  Schuldnern  gegenüber  als  auf 
die  Gesellschaft  übergegangen. 

Eine  abweichende  Vereinbarung  ist  einem  Dritten  gegenüber 
nur  wirksam,  wenn  sie  in  das  Handelsregister  eingetragen  und 
bekannt  gemacht  oder  von  einem  Gesellschafter  dem  Dritten  mit- 
geteilt worden  ist." 

3.  Ein  weiteres  Gegenstück  ist  der  Fall,  wo  eine  Abtretung 
nicht  vorliegt,  aber  der  allgemeine  Rechtsgrundsatz  zu  Raum 
kommt,  daß  niemand  sich  in  Widerspruch  zu  seinen  ernstlichen 
oder  als  ernstlich  anzunehmenden  Willenserklärungen  setzen  soll. 
Wir  werden  ähnliches  noch  bei  der  Vollmacht  kennen  lernen. 

§409.  „Zeigt  der  Gläubiger  dem  Schuldner  an,  daß  er  die 
Forderung  abgetreten  habe,  so  muß  er  dem  Schuldner  gegenüber 
die  angezeigte  Abtretung  gegen  sich  gelten  lassen,  auch  wenn  sie 
nicht  erfolgt  oder  nicht  wirksam  ist.  Der  Anzeige  steht  es  gleich, 
wenn  der  Gläubiger  eine  Urkunde  über  die  Abtretung  dem  in  der 
Urkunde  bezeichneten  neuen  Gläubiger  ausgestellt  hat  und  dieser 
sie  dem  Schuldner  vorlegt. 

Die  Anzeige  kann  nur  mit  Zustimmung  dessen  zurückgenommen 
werden,  der  als  der  neue  Gläubiger  bezeichnet  worden  ist." 

4-  §  576-  ,, Zeigt  der  Vermieter  dem  Mieter  an,  daß  er  das 
Eigentum  an  dem  vermieteten  Grundstück  auf  einen  Dritten 
übertragen  habe,  so  muß  er  in  Ansehung  der  Mietzinsforderung 
die  angezeigte  Übertragung  dem  Mieter  gegenüber  gegen  sich 
gelten  lassen,  auch  wenn  sie  nicht  erfolgt  oder  unwirksam  ist. 

Die  Anzeige  kann  nur  mit  Zustimmung  dessen  zurückgenommen 
werden,  der  als  der  neue  Eigentümer  bezeichnet  worden  ist." 

VIII.  I.  Eine  tief  eingreifende  Veränderung  mit  der  For- 
derung, die  auch  auf  die  Rechtsstellung  des  Schuldners  zurück- 
wirkt, vollzieht  sich  an  der  Forderung,  wenn  sie  aus  ungebundenem 
Privatvermögen  in  ein  gebundenes  Sondervermögen  eintritt.  Der- 
artiges findet  statt,  wenn  mehrere  Personen  eine  Gesellschaft 
miteinander  eingehen,  z.  B.  Geld  zusammenbringen,  um  gemeinsam 


*)  Sie  entsteht  durch  den  Zutritt  des  neuen  Beteiligten. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht.  I  39 

auf  Spekulation  ein  Grundstück  zu  kaufen,  das  sie  später  mit 
Gewinn  wieder  verkaufen  wollen.  Bringt  in  die  gemeinschaftliche 
Kasse  der  eine  Gesellschafter  statt  baren  Geldes  eine  Forderung 
ein,  so  wird  sie  natürlich  gemeinsam  und  den  gemeinsamen  Ver- 
fügungen unter\vorfen,  jedenfalls  seiner  alleinigen  Verfügung  ent- 
zogen. Derartiges  wirkt  nun  gegen  den  Schuldner  ähnlich,  als 
wenn  der  Gläubiger  seine  Forderung  ganz  abtritt,  und  das  Schutz- 
bedürfnis für  den  ahnungslosen  Schuldner  ist  hier  nicht  minder 
groß  wie  bei  der  gewöhnlichen  Abtretung.  Dem  trägt  §  720 
Rechnung,  in  dem  bestimmt  ist,  daß  der  Schuldner  die  Zugehörig- 
keit der  Forderung  zu  dem  Gesellschaftsvermögen  erst  dann  gegen 
sich  gelten  zu  lassen  braucht,  v.-enn  er  davon  Kenntnis  erlangt. 
Er  kann  also  bis  dahin  den  Gläubiger,  der  längst  kein  Allein- 
gläubiger mehr  ist,  als  Alleingläubiger  behandeln  und  wird  durch 
Leistung  an  ihn  frei,  obgleich  der  Gläubiger  die  Leistung  nicht 
mehr  ?llein,  sondern  nur  gemeinsam  mit  den  anderen  Gesell- 
schaftern annehmen  kann.  Die  anderen  Gesellschafter  werden 
also  als  Nichtgläubiger  behandelt. 

2.  Entsprechendes  kommt  im  Familiengüterrecht  vor,  wo 
das  Gesamtgut  beider  Gatten  ebenfalls  ein  Sondervermögen  bildet, 
so  daß  der  einzelne  Gatte,  dessen  Forderung  in  dies  Gesamtgut 
übergegangen  ist,  seine  Stellung  als  allein  verfügungsberechtigter 
Gläubiger  verliert.  Bei  der  allgemeinen  Gütergemeinschaft,  der 
Errungenschaftsgemeinschaft  und  der  Fahrnisgemeinschaft  haben 
die  Gatten  ein  Sondervermögen  gemeinsam,  das  Gesamtgut.  Aus 
der  Zugehörigkeit  zum  Gesamtgut  folgt,  daß  die  zum  Gesamtgut 
gehörende  Forderung  nicht  der  unbeschränkten  Verfügung  des 
einzelnen  Gatten  unterliegt.  So  kann  die  Frau  eine  zum  Gesamt- 
gut gehörende  Forderung  gar  nicht  erlassen,  der  Mann  kann  es 
nicht  schenkungsweise  tun,  §  1446.  Das  bedeutet,  daß  die  Frau 
immer  und  der  Mann  zu  Schenkungen  die  Zustimmung  des  anderen 
Gatten  haben  muß.  Aber  auch  hier  hat  die  Kraft  der  Wahrheit 
ihre  Grenzen  an  dem  menschlichen  Wissen;  der  Schuldner  braucht 
die  Zugehörigkeit  der  Forderung  zum  Gesamtgut  nur  dann  gegen 
sich  gelten  zu  lassen,  wenn  er  davon  weiß,  §§  1473,   ^497  H»  1524, 

1550  II. 

3.  Eine  Sonderstellung  nehmen  auch  die  Forderungen  ein, 
die  zu  einer  unverteilten  Erbschaft  gehören,  da  über  die  Erbschafts- 
gegenstände die  Erben  nur  gemeinsam  verfügen  können.  Der 
Schuldner   wird   wie    bei    Gesellschaft    und    Gesamtgut   geschützt, 


140 


Krückmann; 


§§201911,  2041,  21 II,  und  braucht  die  Zugehörigkeit  gewisser 
Forderungen  zur  Erbschaft  nur  dann  gegen  sich  gelten  zu  lassen, 
wenn  er  um  die  Zugehörigkeit  weiß. 

4.  Zuweilen  vermeidet  das  BGB.  diesen  Zwiespalt  zwischen 
der  wahren  Sachlage  und  der  menschlichen  Unkenntnis,  indem 
es  verfügt,  daß  gewisse  Rechtsveränderungen  nur  bei  Kenntnis 
auch  der  drittbeteiligten  Personen  eintreten.  Das  gilt  z.  B.  von 
der  Verpfändung  und  Pfändung  von  Forderungen,  die  nur  dann 
wirksam  sind,  wenn  der  Schuldner  von  ihnen  benachrichtigt  wird. 
Verpfändung  und  Pfändung  ist  beschränkte  Übertragung  der 
Forderung  auf  den  Pfandgläubiger,  ist  Übertragung  zu  Pfand- 
rechtszwecken, hat  auch  nur  umfänglich  beschränkte  Wirkungen. 
Aber  diese  Wirkungen  treten  abweichend  von  der  Vollübertragung 
nicht  schon  mit  dem  Abschluß  des  Übertragungsvertrages  ein, 
sondern  sie  treten  erst  dann  ein,  wenn  der  Schuldner  benach- 
richtigt ist,  §  1280,  und  Zivilprozeßordnung  §  829  III,  Gesetz  über 
die  Zwangsversteigerung  und  Zwangsverwaltung  §  22  II. 

5.  Unter  Umständen  hat  ein  Nichtgläubiger  Legitimation 
nicht  bloß  gegenüber  dem  Schuldner,  sondern  auch  gegenüber 
Dritten.  Dann  muß  die  Legitimation  aber  auch  besonderer  Art 
sein.  Das  trifft  zu  in  folgenden  Fällen :  §893,  §  1138,  I155;  Grund- 
buchordnung §  40;  Wechselordnung  Art.  36;  Handelsgesetzbuch 
§§222,  365;  Scheckgesetz  §8  11. 

Legitimation  gegenüber  Dritten  hat  der  Hypothekengläubiger 
kraft  der  Eintragung  in  das  Grundbuch.  Der  öffentliche  Glaube 
des  Grundbuchs  schützt  auch  seine  Stellung  als  Forderungs- 
gläubiger. So  kann  der  als  Hypothekengläubiger  eingetragene 
Nichtgläubiger  wirksam  über  die  Hypothek  verfügen,  indem  er 
sie  abtritt,  erläßt,  eine  Rangbesserung  erreicht,  eine  Rangver- 
schlechterung bewilligt.^)  In  derselben  Lage  ist  jemand,  der  auf 
dem  Hypothekenbriefe  als  Gläubiger  verzeichnet  steht,  wenn  er 
sein  Recht  auf  einen  im  Grundbuch  eingetragenen  Hypotheken- 
gläubiger zurückführen  kann  und  alle  Abtretungserklärungen,  des 
ersten  an  den  zweiten,  des  zweiten  an  den  dritten  usw.,  öffent- 
lich beglaubigt  sind,  §  11 55.  Dann  kann  folgendes  vorkommen. 
Steht  im  Grundbuch  und  im  Hypothekenbrief  als  erster  Gläubiger 
Heinrich  Schulz  und  folgen  von  da  an  in  öffentlicher  Beglaubigung 
Friedrich   Schmidt   (II.),    Karl   Müller   (III.),   Werner  Egger   (IV.), 


»)  Vgl.  II,  s.  133. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I4I 

dann  kann  durch  den  öffentlichen  Glauben,  den  diese  öffentlich 
beglaubigten  Abtretungen  genießen,  eine  etwaige  innere  Mangel- 
haftigkeit der  Abtretung  in  Ordnung  kommen.  Angenommen, 
Schmidt  war,  als  er  die  Hypothek  erwarb  und  als  er  sie  veräußerte, 
geisteskrank,  so  konnte  Müller  die  Hypothek  nicht  erwerben. 
Daß  sie  dem  Heinrich  Schulz  noch  immer  zustand,  wäre  zu  über- 
winden, denn  für  diese  Fälle  haben  wir  den  Rechtserw^erb  im  guten 
Glauben;  aber  der  gute  Glaube  hilft  nur  gegen  den  Mangel  im 
Rechte  des  Veräußerers,  aber  nicht  gegen  den  Mangel  an  Handlungs- 
fähigkeit. Darum  wird  Müller  trotz  seines  guten  Glaubens  kein 
Hypothekengläubiger.  Wohl  aber  erwirbt  er  die  Legitimation  als 
Hypothekengläubiger  und  dadurch  kommt  alles  wieder  in  Ordnung, 
wenn  er  an  den  gutgläubigen  Egger  weiter  veräußert.  Schulz  ist 
noch  immer  Hypothekengläubiger,  aber  Müller  als  Inhaber  der 
Legitimation  kann  an  den  gutgläubigen  Egger  vollwirksam  die 
Hypothek  übertragen  und  dadurch  kommt  der  Hypothekenbrief 
wieder  in  Übereinstimmung  mit  der  tatsächlichen  Lage.  Das 
Recht  hat  sich  selber  verbessert. 

Ähnliche  Grundsätze  gelten  bei  Wechseln  und  überhaupt  bei 
allen  Orderpapieren;  guter  Glaube  und  äußerlich  einwandfreie 
Indossamente  machen  das  Unwahre  wieder  wahr.^)  Dies  kann 
aber  nur  geschehen,  indem  dem  Unwahren  Wirkungen  beigelegt 
werden,  die  an  sich  nur  das  Wahre  hat. 

6.  Eine  besondere  Legitimationswirkung,  die  zugleich  eine 
eigenartige  Ausübungsmöglichkeit  ist,  enthalten  §§  172  V  und 
217  I  des  Handelsgesetzbuchs.  Wer  unberechtigt  eine  ihm  nicht 
zukommende  Leistung  erhalten  hat,  muß  sie  wieder  herausgeben, 
§§  8i2ff.  Dies  ist  die  Haftung  auf  die  ungerechtfertigte  Be- 
reicherung, die  sich  auf  die  bloße  objektive  Tatsache  stützt,  daß 
aus  dem  einen  Vermögen  etwas  in  das  andere  Vermögen  gelangt 
ist,  ohne  daß  dieser  Übergang  sich  genügend  juristisch  rechtfertigen 
läßt.  Für  jede  Vermögensverschiebung  muß,  soll  sie  vom  Rechte 
anerkannt  und  geschützt  werden,  ein  juristischer  Rechtfertigungs- 
grund da  sein,  nach  überkommener  Terminologie  causa  genannt. 
Eine  solche  causa  ist  der  Kauf,  die  Schenkung,  das  Darlehn  usw. 
Stellt  sich   heraus,   daß  der  abgeschlossene   Kauf,   die  vollzogene 


1)  Art.  36  der  Wechselordnung;  §222  111  des  Handelsgesetzbuches;  §8  11 
des  Scheckgesetzes.  Nur  der  Vollständigkeit  halber  angeführt;  Erklärungen,  die 
schon  sehr  eingehend  sein  müßten,  können  hier  wegen  Raummangels  nicht  ge- 
bracht werden. 


142 


Krückmann : 


Schenkung,  der  abgeschlossene  Darlehnsvcrtrag  nichtig  sind,  weil 
Verkäufer,  Schenker  oder  Darlehnsgcbcr  geisteskrank  sind,  so 
muß  der  Empfänger  zurückgeben,  was  er  hat,  weil  es  an  der  juri- 
stischen causa  fehlt,  die  Vermögensverschiebung  juristisch  nicht 
gerechtfertigt  ist,  eine  sogenannte  ungerechtfertigte  Bereicherung 
vorliegt.  Aber  die  Haftung  auf  die  ungerechtfertigte  Bereicherung 
beschränkt  sich  auf  die  wirkliche  Bereicherung,  d.  h.  auf  das,  was 
der  Empfänger  von  der  Leistung  noch  hat  oder  was  an  die  Stelle 
des  Empfangenen  getreten  ist.  Darum  brauchte  in  folgendem 
Falle-^)  der  Student  der  Bank  nichts  herauszuzahlen.  Er  hatte 
sein  kleines  Erbteil  auf  der  Bank  und  bei  Abschluß  der  Studien 
noch  ein  Guthaben  von  400  Mark.  Er  wollte  es  abheben  und 
erhielt  4000  Mark  zugewiesen.  Auf  seine  Einwendung,  es  müßte 
ein  Irrtum  vorliegen,  kam  die  Antwort,  die  Bank  irre  sich  nie, 
er  habe  4000  Mark  zu  fordern.  Erfreut  machte  er  darauf  eine 
Reise  nach  Ägypten  und  erhielt  dort,  als  er  nur  noch  das  Geld 
zur  Heimreise  hatte,  einen  Brief  der  Bank,  es  liege  doch  ein  Irrtum 
vor,  er  möge  3600  Mark  zurückzahlen.  Er  verweigerte  es,  denn 
er  habe  die  3600  Mark  schon  ausgegeben,  und  zWar  auf  eine  Aus- 
gabe, die  er  sonst  nicht  gemacht  haben  würde.  Er  war  im  Recht, 
denn  er  brauchte  nur  herauszugeben,  was  er  hatte.  Insofern  hatte 
ihm  die  Zahlung  der  Bank  eine  Ausübungsmöghchkeit  gegeben, 
die  ihn  quantitativ  von  seiner  Haftung  befreite.  So  gehört  schon 
die  normale  Haftung  auf  die  ungerechtfertigte  Bereicherung  mit 
unter  die  Fälle,  wo  jemand  als  wahrer  Gläubiger  fingiert  wird. 
Dem  Empfänger  wird  in  gewissem  Umfange  die  Möglichkeit  ge- 
geben und  gesetzlich  anerkannt,  über  das  Erhaltene  wie  ein  wahrer 
Gläubiger,  dem  eine  juristischer  Rechtfertigungsgrund  für  das  Be- 
halten zur  Seite  steht,  zu  verfügen.  Er  erhält  die  Ausübungs- 
möglichkeit an  einer  gar  nicht  oder  nicht  in  diesem  Umfange  be- 
stehenden Forderung,  an  einem  vollen  juristischen  Nichts.^) 

Diese   Ausübungsmöglichkeit  ist  in  gewissen  Fällen  noch  ge- 
steigert:  §  217  I  des  Handelsgesetzbuchs.     ,,Die  Aktionäre  haften 


^)  Der  Fall  ist  ein  offenbar  fingierter  Schulfall;  ein  solche^  Irrtum  einer  Bank 
ist,  wenn  man  die  früheren  Abschlüsse  in  Betracht  zieht,  nicht  gut  denkbar. 

*)  Zu  allem  lassen  sich  Seitenstücke  finden,  die  Rechtslage  bei  der  ungerecht- 
fertigten Bereicherung  ist  ähnlich,  wenn  auch  nicht  genau  dieselbe,  wie  bei  der 
Sachbeschädigung  durch  den  gutgläubigen  Besitzer.  Gläubiger  und  Eigentümer 
müssen  sich  die  Verminderung  des  herauszugebenden  Etwas  gefallen  lassen,  s.  obeu 
§  2,  II,  Nr.  I. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht. 


143 


für  die  Verbindlichkeiten  der  Gesellschaft,  soweit  sie  den  Vor- 
schriften dieses  Gesetzbuchs  entgegen  Zahlungen  von  der  Ge- 
sellschaft empfangen  haben.  Was  ein  Aktionär  in  gutem  Glauben 
als  Gewinnanteil  oder  als  Zinsen  bezogen  hat,  ist  er  in  keinem 
Falle  zurückzuzahlen  verpflichtet."  Werden  auf  Grund  gefälschter 
Bilanz  von  der  Aktiengesellschaft  Gewinne  ausgezahlt,  die  gar 
nicht  gemacht  sind,  so  wird  auf  nicht  vorhandene  Gewinnansprüche 
hin  geleistet.  Dem  Aktionär  fehlt  also  jedes  Behaltungsrecht, 
jeder  juristische  Rechtfertigungsgrund  für  das  Behalten  des  emp- 
fangenen angeblichen  Gewinnanteils,  oder,  wie  wir  auch  sagen, 
ihm  fehlt  jeder  Rechtstitel.  Er  wird  aber  so  behandelt,  als  ob 
ihm  ein  Rechtstitel  zur  Seite  stünde;  der  Rechtstitel  wird  fingiert 
oder,  juristisch  gesprochen,  es  wird  ihm  die  Ausübungsmöglichkeit 
an  einem  gar  nicht  vorhandenen  Rechte  auf  Gewinnauszahlung 
gegeben.  Unbeschränkt  im  Gegensatz  zur  gewöhnlichen  ungerecht- 
fertigten Bereicherung,  über  deren  Grundsätze  noch  hinaus. 

Ein  ähnliches  gilt  kraft  §  172  V  von  dem  Kommanditisten 
einer  Kommanditgesellschaft.  ,,Was  ein  Kommanditist  auf  Grund 
einer  im  guten  Glauben  errichteten  Bilanz  als  Gewinn  bezieht, 
ist  er  in  keinem  Falle  zurückzuzahlen  verpflichtet."^) 

B.    Scheinschuldner. 

I.  Belege  für  die  Scheinschuldnerschaft  enthalten  die  schon 
behandelten   §§  25  I,   28,   223,   224  des  Handelsgesetzbuchs,  sowie 

§  176  daselbst.  Ebenso  §  1058.  Nur  tritt  in  diesen  Bestimmungen 
die  Scheinschuldnerschaft  erheblich  hinter  der  Scheingläubiger- 
schaft zurück. 

II.  Reiner  tritt  die  Scheinschuldnerschaft  in  folgenden  Fällen 
hervor. 

§  830.  ,, Haben  mehrere  durch  eine  gemeinschaftlich  be- 
gangene unerlaubte  Handlung  einen  Schaden  verursacht,  so  ist 
jeder  für  den  Schaden  verantwortlich.  Das  gleiche  gilt,  wenn 
sich  nicht  ermitteln  läßt,  wer  von  mehreren  Beteiligten  den  Schaden 
durch  seine  Handlung  verursacht  hat." 

III.  Sie  geht  offenbar  weiter  als  die  Scheingläubigerschaft.  Diese 
setzte    doch    immer   eine    wirklich    bestehende    Forderung   voraus 


^)  Man  beachte  den  Unterschied.  Die  Anforderungen  an  den  Kommanditisten 
sind  strenger,  denn  er  kann  nach  §  i66  die  Richtigkeit  der  Bilanz  unter  Einsicht 
der  Bücher  und  Papiere  prüfen.    Dies  Recht  steht  dem  einzelnen  Aktionär  nicht  zu. 


144 


Krückmann : 


und  kennt  nur  einen  Wettbewerb  verschiedener  Zuständigkeiten. 
Die  Scheinschuldnerschaft  ist  daher  bei  Lichte  besehen  etwas 
Außerordenthches  und  doch  nur  eine  Bewährung  des  Satzes,  daß 
niemand  sich  in  Widerspruch  setzen  soll  mit  seinen  ernstlichen 
oder  als  ernstlich  anzunehmenden  Willenserklärungen. 

§  405.  ,,Hat  der  Schuldner  eine  Urkunde  über  die  Schuld 
ausgestellt,  so  kann  er  sich,  wenn  die  Forderung  unter  Vorlegung 
der  Urkunde  abgetreten  wird,  dem  neuen  Gläubiger  gegenüber 
nicht  darauf  berufen,  daß  die  Eingehung  oder  Anerkennung  des 
Schuldverhältnisses  nur  zum  Schein  erfolgt  sei  oder  daß  die  Ab- 
tretung durch  Vereinbarung  mit  dem  ursprünglichen  Gläubiger 
ausgeschlossen  sei,  es  sei  denn,  daß  der  neue  Gläubiger  bei  der 
Abtretung  den  Sachverhalt  kannte  oder  kennen  mußte." 

An  sich  kann  der  Schuldner  nach  §  404  dem  neuen  Gläubiger 
alles  das  entgegenhalten,  was  er  dem  Altgläubiger  würde  entgegen- 
halten können.  Dies  ist  unerläßlich,  damit  nicht  der  Gläubiger 
die  Möglichkeit  erhält,  einseitig,  ohne  den  Schuldner  zu  fragen, 
dessen  Rechtslage  durch  die  Abtretung  zu  verschlechtern.  Es 
gehört  zu  den  obersten  Grundsätzen  unseres  Rechtes,  daß  keine 
Partei  durch  ihre  einseitige  Handlung  die  rechtliche  Lage  der 
Gegenpartei  soll  verbessern  oder  verschlechtern  können.  Ich 
kann  niemand  ohne  seinen  Willen  ein  Geschenk  aufdrängen,  ihm 
nicht  gegen  seinen  Willen  seine  Schuld  erlassen,  ich  kann  aber 
auch  seine  Lage  nicht  dadurch  verschlechtern,  daß  ich  ihm  einen 
Gläubiger  aufdränge,  ohne  daß  er  diesem  neuen  Gläubiger  gegen- 
über alle  Verteidigungsmittel  geltend  machen  kann,  die  dem 
Schuldner   mir  gegenüber   zustehen.^)     Die   Forderung  geht   über 


^)  Das  bürgerliche  Recht  geht  grundsätzlich  von  Gleichheit  der  Menschen 
aus,  wenigstens  von  der  Gleichheit  in  ihren  bürgerlich-rechtlichen  Verhältnissen 
und  in  ihrer  bürgerlich-rechtlichen  Betätigung.  Dies  ist  der  Unterschied  vom 
öffentlichen  Recht,  vgl.  meine  Einführung  in  das  Recht,  S.  24ff.  Diesem  Grund- 
satz entspricht  es,  daß  Eigentum  nur  dann  übergeht,  wenn  der  Erwerber  die  Sache 
annimmt;  daß  eine  Schuld  nicht  einseitig  erlassen  werden  kann,  sondern  der  Schuldner 
sich  mit  dem  Erlaß  einverstanden  erklären  muß;  daß  der  Gläubiger  einwilligen  muß, 
wenn  ein  anderer  als  der  ursprüngliche  Schuldner  die  Schuld  übernehmen  will 
(Schuldübernahme  im  Gegensatz  zur  Forderungsabtretung).  Die  Achtung  vor  der 
Freiheit  der  Persönlichkeit  geht  so  weit,  daß  der  Beschenkte,  der  durch  Täuschung 
zur  Annahme  der  Schenkung  bewogen  worden  ist,  die  Schenkung  anfechten  kann, 
dem  Schenker  also  die  Behauptung  unmöglich  wird,  er  habe  dem  anderen  etwas 
geschenkt,  §  123.  Die  Schenkung  wird  dann  nicht  bloß  tatsächlich  wirtschaftlich, 
durch  Rückgabe  der  Sache,  sie  wird  auch  juristisch  aus  der  Welt  geschafft. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  145 

mit  allen  ihren  Vorzügen,  aber  auch  mit  allen  ihren  Mängeln  und 
Schwächen.  Ein  Mangel  ersten  Grades  ist  es,  daß  sie  nur  zum 
Schein  begründet  ist,  z.  B.  um  dem  Scheingläubiger  den  Anschein 
der  Zahlungsfähigkeit  zu  verschaffen.  Eine  solche  nicht  ernst- 
haft gemeinte  Schuld  ist  nichtig,  §117.  Sie  wird  auch  nicht  voll- 
wirksam durch  die  Abtretung,  aber  der  neue  Gläubiger  kann  sie 
als  vollwirksam  behandeln. 

IV.  Nicht  mehr  rein  schuldrechtlich  sind  folgende  Bestim- 
mungen : 

1.  §1141.  ,, Hängt  die  Fälligkeit  der  Forderung  (d.h.  der 
dem  Hypothekengläubiger  neben  der  Hypothek  zustehenden  Dar- 
lehnsforderung,  für  die  die  Hypothek  bestellt  worden  ist)  von 
einer  Kündigung  ab,  so  ist  die  Kündigung  für  die  Hypothek  nur 
wirksam,  wenn  sie  von  dem  Gläubiger  dem  Eigentümer  oder  von 
dem  Eigentümer  dem  Gläubiger  erklärt  wird.  Zugunsten  des 
Gläubigers  gilt  der,  der  im  Grundbuch  als  Eigentümer  eingetragen 
ist,  als  der  Eigentümer."  Dem  Nichteigentümer,  der  darum  auch 
kein  Hypothekenschuldner  sein  kann,  wird  die  Rolle  des  Hypo- 
thekenschuldners zugewiesen,  damit  der  Gläubiger  sich  auf  eine 
vollwirksame  Kündigung  berufen  kann.  Diese  Schuldnerrolle  wird 
dem  eingetragenen  Nichteigentümer  auch  noch  zu  anderen  Zwecken 

auferlegt. 

2.  §1148.  ,, Bei  der  Verfolgung  des  Rechtes  aus  der  Hypothek 
gilt  zugunsten  des  Gläubigers,  wer  im  Grundbuch  als  Eigentümer 
eingetragen  ist,  als  der  Eigentümer." 

Entsprechendes  kehrt  wieder  beim  Faustpfand  an  beweglichen 

Sachen. 

3.  §  1248.  ,,Bei  dem  Verkaufe  des  Pfandes  gilt  zugunsten 
des  Pfandgläubigers  der  Verpfänder  als  der  Eigentümer,  es  sei 
denn,  daß  der  Pfandgläubiger  weiß,  daß  der  Verpfänder  nicht 
der  Eigentümer  ist." 

Streng  genommen  macht  der  Jurist  eine  Unterscheidung 
zwischen  §  1148  und  §  1248,  die  wir  aber  hier  vernachlässigen, 
denn  §1148  bezieht  sich  im  wesenthchen  lediglich  auf  sachen- 
rechtliche Wirkungen,  dagegen  §  1248  auch  auf  bedeutsame  schuld- 
rechtliche Wirkungen.  Der  Pfandgläubiger  aus  einem  Faustpfand 
an  einer  beweghchen  Sache  muß  dem  Eigentümer  den  Verkauf 
androhen,  §  1234;  muß  ihm  Zeit  und  Ort  der  Versteigerung  an- 
zeigen, §  1237;  muß  Nachricht  von  dem  vollzogenen  Verkaufe 
geben,    §  1241;    kann   das    Gebot   des    Eigentümers   zurückweisen, 

Annalen  der  Philosophie.    I.  XO 


I  ^6  Krückraann : 

wenn  der  Betrag  nicht  bar  erlegt  wird,  §  1239  II;  kann  mit  ihm 
eine  abweichende  Art  des  Verkaufes  vereinbaren,  §  1245;  hat  ihm 
den  erziehen  Überschuß  aus  dem  Erlöse  hcrauszuzahlen,    §  1247, 

Systematisch  ist  das  Bild  nicht  rein,  denn  es  gehen  Pflichten 
und  Rechte  des  Pfandgläubigers  durcheinander,  und  §  1248  hätte 
auch  unter  der  Scheingläubigerschaft  behandelt  werden  können. 
Aber  entscheiden  muß,  daß  der  Verpfänder  durch  die  Verpfändung 
doch  dem  Pfandgläubiger  gegenüber  sachenrechtlich  in  eine  Stellung 
hineinkommt,  die  schuldrechtlich  am  meisten  Ähnlichkeit  mit  der 
Schuldncrstellung  hat, 

V.  Etwas  Ähnliches  enthalten  die  §§  109  und  405.  Schließt 
ein  Minderjähriger  von  über  sieben  Jahren  oder  ein  wegen  Ver- 
schwendung oder  Trunksucht  oder  Geistesschwäche  Entmündigter 
oder  ein  vorläufig  Bevormundeter  einen  Vertrag  ohne  Einwilligung 
des  Vormundes,  so  ist  dem  Vormund  vorbehalten,  den  Vertrag 
nachträglich  zu  genehmigen,  der  andere  Teil  kann  dem  aber  zuvor- 
kommen, indem  er  den  Vertragschluß  widerruft,  vgl.  §§  106,  114, 
108.^)  Aber  hiervon  gibt  es  nun  Ausnahmen  und  von  dieser  Aus- 
nahme wieder  eine  bezeichnende  Ausnahme. 

§  109.  ,,Bis  zur  Genehmigung  des  Vertrags  ist  der  andere 
Teil  zum  Widerrufe  berechtigt.  Der  Widerruf  kann  auch  dem 
Minderjährigen  gegenüber  erklärt  werden. 

Hat  der  andere  Teil  die  Minderjährigkeit  gekannt,  so  kann 
er  nur  widerrufen,  wenn  der  Minderjährige  der  Wahrheit 
zuwider  die  Einwilligung  des  Vertreters  behauptet  hat; 
er  kann  auch  in  diesem  Falle  nicht  widerrufen,  wenn  ihm  das 
Fehlen  der  Einwilligung  bei  dem  Abschlüsse  des  Vertrages  bekannt 
war."  Typischer  Fall:  Der  Obertertianer  lügt  dem  Fahrradhändler 
vor,  er  habe  die  Erlaubnis,  sich  das  Fahrrad  zu  kaufen.  Der  Ver- 
käufer darf  dies  als  wahr  behandeln  und  danach  widerrufen.*) 


^)  Kinder  unter  sieben  Jahren,  Geisteskranke,  wegen  Geisteskrankheit  Ent- 
mündigte sind  vollständig  geschäftsunfähig,  sie  können  keinerlei  juristische  Wir- 
kungen erzeugen.  Die  anderen  sind  beschränkt  geschäftsfähig,  d.  h.  aus  ihrem 
Vertrage  kann  noch  etwas  Wirksames  werden,  der  gesetzliche  Vertreter  kann  die 
Gegenpartei  dabei  festhalten  durch  Genehmigung.  Vorläufig  bevormundet  werden 
Personen,  deren  Entmündigung  beantragt  und  noch  in  der  Schwebe  ist,  wenn 
schleuniges  Eingreifen  nötig  scheint,  §  1906. 

*)  Wenn  der  Vormund,  der  zu  gewissen  Rechtsgeschäften  die  Einwilligung 
des  Vormundschaftsgerichtes  braucht,  §§  1812,  1818 — 1822,  der  Gegenpartei  gegen- 
über der  Wahrheit  zuwider  die  Genehmigung  des  Vormundschaftsgerichtes  be- 
hauptet, ist  der  andere  Teil  ,jbis  zur  Mitteilung  der  nachträglichen   Genehmigung 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I^jr 

§  5.    Güterrechtsregister  und  §  1435. 

I.  Eine  ähnliche  Wirkung  wie  das  Grundbuch  hat  das  Güter- 
rechtsregister.  Normalerweise  herrscht  in  jeder  Ehe  die  sogenannte 
Verwaltungsgcmeinschaft,  auch  Verwaltungscinheit  genannt.^)  Der 
Mann  hat  Verwaltung  und  Nutznießung  vom  Frauenvermögen, 
nur  einzelnes  ist  davon  ausgenommen,  das  Vorbehaltsgut  (Kleider, 
Schmucksachen,  Arbeitsgeräte;  Erwerb  aus  einem  selbständig  be- 
triebenen Erwerbsgeschäft,  etwa  als  Gesang-,  Klavierlehrerin, 
Malerin,  Handelsfrau;  alles,  was  durch  Ehevertrag  für  Vorbehalts- 
gut erklärt  ist  und  was  sie  als  Erbschaft  oder  als  Geschenk  nach 
der  Bestimmung  des  Zuwendenden  als  Vorbchaltsgut  erwirbt, 
§§  1366  ff.).  Das  übrige  Vermögen  heißt  Eingebrachtes  und  wird 
von  dem  Manne  verwaltet  und  genutzt. 

Die  Gatten  können  aber  auch  allgemeine  Gütergemeinschaft, 
Errungenschaftsgemeinschaft,  Fahrnisgemeinschaft  bei  sich  ein- 
führen und  können  völlige  Gütertrennung  vereinbaren.  Auf  diese 
Abweichungen  braucht  aber  niemand  gefaßt  zu  sein,  vielmehr 
darf  jeder  annehmen,  daß  in  jeder  Ehe  Verwaltungsgemeinschaft 
besteht.  Das  will  sagen:  Er  kann  verlangen,  daß  die  Gatten  so 
behandelt  werden,  als  bestände  zwischen  ihnen  eine  Verwaltungs- 
gemeinschaft, die  vielleicht  nicht  besteht.  Zwar  nicht  nach  allen 
Richtungen,  aber  doch  in  sehr  wesentlichen  Beziehungen.  Der 
Mann  kann  nach  §  1377  verbrauchbare  Sachen  der  Frau  für  sich 
verbrauchen  oder  veräußern^),  z.  B.  Lebens-  und  Genußmittel, 
und  der  Erwerber,  dem  es  bekannt  ist,  daß  die  Frau  die  veräußerten 
Sachen  in  die  Ehe  gebracht  hat,  darf  annehmen,  daß  der  Mann 
kraft  Verwaltungsgemeinschaft  zur  Veräußerung  befugt  ist.  Ebenso 
kann  der  Mann  mit  rechtlicher   Wirkung  prozessieren,  als  ob  ihm 


■des  Vormundschaftsgerichtes  zum  Widerruf  berechtigt,  es  sei  denn,  daß  ihm  das 
Fehlen  der  Genehmigung  bei  dem  Abschlüsse  des  Vertrages  bekannt  war",  §  1830. 
Hierin  steckt  ein  anderer  Gedanke  als  die  Fiktion.  Der  Gegner  ist  über  eine  wesent- 
liche Voraussetzung  des  Geschäftes  getäuscht  und  gewinnt  ein  Widerrufsrecht,  was 
er  an  sich  nicht  hat.  Grund:  Er  muß  wissen,  zu  welchen  Geschäften  das  Vormund- 
schaftsgericht seine  Genehmigung  zu  geben  hat. 

^)  Sie  ist  der  sogenannte  gesetzliche  Güterstand,  d.  h.  das  Güterrecht,  das 
von  Gesetzes  wegen  eintritt,  weim  die  Gatten,  wie  es  in  der  erdrückenden  Mehr- 
zahl aller  Fälle  zutrifft,  über  das  eheliche  Güterrecht  nichts  miteinander  ausgemacht 
haben. 

*)  Wenn  sie,  wie  es  die  Regel  ist,  zum  eingebrachten  Gut  gehören,  an  dem  er 
•die  Verwaltung  und  Nutznießung  hat. 

lo* 


148 


Krückmann: 


die  Prozeßführungsbefugnis  nach  §  1380^)  zustände.  Natürlich 
hp.bcn  alle  diese  Möglichkeiten  ihr  Ende  an  dem  Wissen  der  Gegen- 
partei. 

§  M35-  „Wird  durch  Ehevertrag  die  Verwaltung  und  Nutz- 
nießung des  Mannes  ausgeschlossen  oder  geändert,  so  können 
einem  Dritten  gegenüber  aus  der  Ausschließung  oder 
der  Änderung  Einwendungen  gegen  ein  zwischen  ihm 
und  einem  der  Ehegatten  vorgenommenes  Rechts- 
geschäft oder  gegen  ein  zwischen  ihnen  ergangenes 
rechtskräftiges  Urteil  nur  hergeleitet  werden,  wenn 
zur  Zeit  der  Vornahme  des  Rechtsgeschäftes  oder  zur 
Zeit  des  Eintritts  der  Rechtshängigkeit  die  Aus- 
schließung oder  die  Änderung  in  dem  Güterrechts- 
register des  zuständigen  Amtsgerichts  eingetragen  oder 
dem  Dritten   bekannt  war. 

Das  gleiche  gilt,  wenn  eine  in  dem  Güterrechtsregister  ein- 
getragene Regelung  der  güterrechtlichen  Verhältnisse  (z.  B.  Ein- 
führung der  allgemeinen  Gütergemeinschaft)  durch  Ehevertrag 
aufgehoben  oder  geändert  wird." 

Diese  Bestimmung  ist  deshalb  notwendig  geworden,  weil  ab- 
weichend vom  Grundbuch  die  Eheverträge  den  Güterstand  ohne 
Verlautbarung  im  Güterrechtsregister  ändern,  während  nach  Grund- 
buchrecht grundsätzlich  zu  jeder  Rechtsänderung  die  Eintragung 
in  das  Grundbuch  notwendig  ist. 

II.  Eine  von  den  Frauenrechtlerinnen  mit  ziemlicher  Hitze 
erörterte  Frage  spielt  in  die  Wirkungen  des  Güterrechtsiegisters 
ebenfalls  hinein. 

Das  eingebrachte  Gut  der  Frau,  d.  h.  praktisch  ihr  ganzes 
\  (.rmögen  mit  Ausnahme  des  für  gewöhnlich  nur  sehr  geringen 
\orbehaltsgutes,  haftet  für  alle  vorehelichen  Schulden  der  Frau 
unbedingt,  für  die  ehelichen  aber  nur  dann,  wenn  der  Mann  seine 
Einwilligung  gegeben  hat.  Diese  Einwilligung  wird  praktisch 
bedeutsam  bei  einem  von  der  Frau  selbständig  betriebenen  Erwerbs- 
geschäft, das  auch  die  Begründung  von  Geschäftsschulden  mit 
sich  bringt   (Kaufladen,   Grünhandel).     Da  ist  es  nicht  nötig,  daß 


)  ,,Dcr  Mann  kann  ein  zum  eingebrachten  Gute  gehörendes  Recht  im  eigenen 
Namen  gerichtlich  geltend  machen",  er  prozessiert  also  über  fremdes  Recht,  aber 
ohne  Vollmacht. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


149 


<ier  Mann  zu  jedem  einzelnen  Geschäft  der  Frau  seine  Einwilligung 
gibt,  es  genügt  seine  allgemeine  Einwilligung  zu  dem  Erwerbs- 
geschäft. 

§  1405.  Erteilt  der  Mann  der  Frau  die  Einwilligung  zum 
selbständigen  Betriebe  eines  Erwerbsgeschäftes,  so  ist  seine  Zu- 
stimmung zu  solchen  Rechtsgeschäften  und  Rechtsstreitigkeiten 
nicht  erforderlich,  die  der  Geschäftsbetrieb  mit  sich  bringt. 

Der  Einwilligung  des  Mannes  in  den  Geschäftsbetrieb  steht 
es  gleich,  wenn  die  Frau  mit  Wissen  und  ohne  Einspruch  des 
Mannes  das  Geschäft  betreibt. 

Dritten  gegenüber  ist  ein  Einspruch  und  der  Widerruf  der 
Einwilhgung  nur  nach  Maßgabe  des  §  1435  wirksam." 

Dieser  Grundsatz  ist  durch  andere  Vorschriften  auf  andere 
eheliche  Güterrechte:  allgemeine  Gütergemeinschaft,  Errungen- 
schafts-und  Fahrnisgemcinschaft,  ausgedehnt,  §§1452,  1519  II,  1549. 

III.  Zum  Teil  liegen  die  Wirkungen  aber  versteckt,  wenn 
z.  B.  ein  Gatte,  d.  h.  wesentlich  ist  nur  die  Frau  dazu  berechtigt, 
sich  ein  Vorbeho  Itsgut  an  Gegenständen  ausbedungen  hat,  die 
an  sich  nicht  in  das  Vorbehaltsgut  fallen  würden.  Dies  wirkt 
Dritten  gegenüber  ebenfalls  nur  nach  Maßgabe  des  §  1435-  Das 
heißt,  der  ahnungslose  Dritte  kann  in  bezug  auf  Rechtsgeschäfte 
und  Prozesse  das  Vorbehaltsgut  als  nicht  vorhanden  behandeln, 
§§  1371,  1368,  1441,   1526  II,   1549- 

IV.  Zwischen  dem  gebundenen  Gesamtgut  bei  der  Errungen- 
schafts- und  der  Fahrnisgemcinschaft  und  dem  ganz  ungebundenen 
Vorbehaltsgut  steht  in  der  Mitte  das  eingebrachte  Gut  dieser 
Güterstände.  Wenn  ihm  Gegenstände  zugewiesen  werden,  die 
ihm  an  sich  nicht  zufallen  würden,  entstehen  dieselben  Unsicher- 
heiten, als  wenn  der  Umfang  des  Vorbehaltsgutes  über  die  gesetz- 
lichen Grenzen  hinaus  ausgedehnt  wird.  Immer  wieder  springt 
der  §  1435  ein. 

V.  I.  Außer  der  freiwilligen  rechtsgeschäftlichen  Aufhebung 
der  Verwaltungsgemeinschaft  durch  die  Gatten  und  der  frei- 
willigen Einführung  der  Gütertrennung,  der  allgemeinen  Güter- 
gemeinschaft, der  Errungenschafts-  und  Fahrnisgemcinschaft 
kommt  vor,  daß  Gütertrennung  durch  das  Gesetz  eingeführt 
oder  die  bestehende  Gütergemeinschaft  auf  Klage  eines  Gatten 
aufgehoben  wird.  Dies  setzt  natürlich  nicht  normale  eheliche 
Verhältnisse  voraus.  So  wird  z.  B.  die  Verwaltung  und  Nutz- 
nießung  des    Mannes    ausgeschlossen,    wenn   er   ohne    den    Willen 


ISO 


Krückmann : 


des  Vaters  oder  der  Mutter  oder  des  Vormundes  ein  minderjähriges 
Mädchen  heiratet,  §  1364.  Wer  sich  als  so  unzuverlässig  erweist, 
dem  soll  das  Frauenvermögen  auch  nicht  in  die  Hand  gegeben 
werden.  Die  Frau  kann  aber  auch  unter  Umständen  auf  Auf- 
hebung der  Verwaltungsgemeinschaft  klagen,  z.  B.  wenn  durch 
das  Verhalten  des  Mannes  die  Besorgnis  begründet  wird,  daß  die 
Rechte  der  Frau  in  einer  das  eingebrachte  Gut  erheblich  gefährdenden 
Weise  verletzt  werden;  wenn  der  Unterhalt  der  Kinder  infolge 
Pflichtwidrigkeit  des  Mannes  gefährdet  wird;  wenn  der  Mann 
entmündigt  ist,  zur  Besorgung  seiner  eigenen  Vcrmögensangelegen- 
heiten  einen  Pfleger  erhalten  hat,  weil  er  selber  ihnen  allein  nicht 
mehr  gewachsen  ist;  wenn  der  Mann  abwesend,  verschwunden 
ist,  vermißt  wird,  und  für  ihn  ein  Abwcsenheitspfleger  bestellt 
ist;  wenn  er  in  Konkurs  verfallen  oder  für  tot  erklärt  ist,  §§  141 8 
bis  1420. 

2.  Aus  ähnlichen  Gründen  kann  auf  Aufhebung  der  ver- 
schiedenen Gütergemeinschaften  geklagt  werden,  hauptsächlich  von 
der  Frau,  aber  auch  vom  Manne,  §§  1468,  1469,  1542,  1549.  Ebenso 
endigt  die  Errungenschaftsgemeinschaft  infolge  von  Konkurs  des 
Mannes  oder  Todeserklärung  eines  Gatten  ohne  weiteres  von  selber, 
ipso  iure,  §  1543- 

Alle  diese  Veränderungen  wirken  gegenüber  Dritten  aber  nur 

nach  Maßgabe  des  §1435,  vgl.  §§1431,  1470  11,  1545  H,  1548  II,  1549- 

3.  Unter  Umständen  kann  der  Mann  Wiederherstellung  der 
Verwaltungsgcmeinschaft  verlangen,  §  1425,  oder  der  Gatte 
Wiederherstellung  der  Errungenschaftsgemeinschaft,  §  1547.  Dann 
erheben  sich  dieselben  praktischen  Fragen  und  werden  mit  Hilfe 
von   §  1435   in  derselben   Weise   gelöst,    §  1431,    1548  II. 

4.  Welche  Verwicklungen  das  Leben  mit  sich  bringt,  ist  an 
der  mit  Rücksicht  auf  die  Katholiken  eingeführten  Aufhebung 
der  ehelichen  Lebensgemeinschaft  zu  ersehen.  Jeder  scheidungs- 
berechtigte Gatte  kann  statt  auf  Scheidung  auf  Aufhebung  der 
ehelichen  Gemeinschaft  klagen.  Diese  hat  alle  Wirkungen  der 
Scheidung  und  kann  auch  von  jedem  Gatten  jederzeit  in  die  volle 
Scheidung  übergeführt  werden,  §§  1575,  1576,  1586.  Sie  erlaubt 
aber  den  Gatten  die  eheliche  Lebensgemeinschaft  formlos  wieder 
herzustellen,  W^iederholung  der  Heirat  ist  nicht  nötig.  Das  ehe- 
liche Güterrecht  der  wiederhergestellten  Ehe  ist  aber  die  Güter- 
trennung, wenn  nicht  eben  die  Gatten  etwas  anderes  vereinbaren. 
Diese    Gütertrennung  braucht    nun   auch    nicht  bekannt   zu   sein, 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I  c  i 

wenn   die    Gatten   ihren    Wohnsitz   in    neuer    Umgebung   nehmen, 
da  muß  auch  hier  §  1435  helfen. 

VI.  Nicht  normale  eheliche  Verhältnisse  führen,  wie  die  Zeitungs- 
anzeigen ergeben,  oft  genug  dazu,  daß  der  Mann  seiner  Frau  die 
Schlüsselgewalt  entzieht.  Das  geschieht  durch  die  bekannten 
Anzeigen:  ,,Ich  warne,  meiner  Frau  auf  meinen  Namen  etwas 
zu  borgen,  da  ich  für  nichts  hafte."  Durch  solche  Bekanntmachung 
wird  ja  meistens  den  Anforderungen  an  die  Öffentlichkeit  genügt, 
aber  doch  nicht  immer,  und  darum  wird  auch  hier  zu  raten  sein, 
daß  der  Mann  die  Entziehung  der  Schlüsselgewalt,  falls  er  sie 
wirkhch  dauernd  aufrecht  erhalten  will,  in  das  Güterrechtsregister 
eintragen  lasse.  Andernfalls  wird  sein  Verbot  sich  nicht  immer 
durchsetzen  lassen,   §§  1357,   1435- 

VII.  Als  Gegenstück  zu  den  angeführten  Bestimmungen  ist 
zu  vergleichen  §  1404,  wo  entgegen  allen  Bedürfnissen  der  Verkehrs- 
sicherheit die  Wahrheit  uneingeschränkt  durchgesetzt  wird.  Bei 
dem  gesetzlichen  Güterstande  der  Verwaltungsgemeinschaft  wird 
die  Frau  mit  Rücksicht  auf  die  Verwaltung  und  Nutznießung 
des  Mannes  in  der  Verfügung  über  ihr  Eingebrachtes  gebunden. 
Dazu  bestimmt  §  1404:  ,,Die  Beschränkungen,  denen  die  Frau 
nach  den  §§  1395 — 1403  unterliegt,  muß  ein  Dritter  auch  dann 
gegen  sich  gelten  lassen,  wenn  er  nicht  gewußt  hat,  daß  die  Frau 
eine  Ehefrau  ist."  Das  bedeutet  vor  allem,  daß  jeder  Rechts- 
erwerb im  guten  Glauben  ausgeschlossen  ist. 

§  6.    Scheinehe. 

1.  Das  BGB.  erklärt  in  gewissen  Fällen  eine  Ehe  für  nichtig, 
kann  aber  doch  an  der  Tatsache  nicht  vorüber,  daß  eine  äußerlich 
einwandfreie  Eheschließung  in  den  vorgeschriebenen  Formen  statt- 
gefunden hat  und  daß  dritte  Personen,  die  außerstande  sind,  dies 
zu  erkennen,  in  ihrer  Ahnungslosigkeit  unter  der  Nichtigkeit  nicht 
leiden  dürfen.  Theoretisch  ist  die  nichtige  Ehe  vollständig  wirkungs- 
los, müßte  es  wenigstens  sein,  praktisch  aber  ist  sie  nicht  wirkungslos 
und  kann  aus  zwingenden  rechtspolitischen  Gründen  auch  gar  nicht 
vollständig  wirkungslos  sein.  Man  spricht  dann  auch  von  formell 
gültigen,materiell  nichtigen  Ehen.^)  Doch  trifft  dies  gleich  auf 
den  ersten  Fall  nur  eingeschränkt  zu. 

§  1324.  Eine  Ehe  ist  nichtig,  wenn  die  vorgeschriebene  Form 
nicht  beobachtet  worden  ist.      Sie   wird  aber  trotzdem  nicht    als 


*)  Vgl.  zu  dem  Folgenden  meine  Institutionen  des  BGB.  (4.  Aufl.),   S.  594 ff. 


152 


Krückmann : 


ein  juristisches  Nichts  behandelt,  wenn  sie  in  das  Heiratsregister 
eingetragen  N\-urde. 

Eine  Ehe  ist  nichtig,  wenn  einer  der  Ehegatten  zur  Zeit  der 
Eheschheßung  geschäftsunfähig  war  (geisteskrank,  wegen  Geistes- 
krankheit entmündigt)  oder  bewußtlos  oder  vorübergehend  in 
der  Geistestätigkeit  gestört  (berauscht),  §  1325. 

Doppelehe  macht  die  zweite  Ehe  nichtig,   §  1326. 

Ebenso  Blutschande,  §  1327. 

Nichtig  ist  die  Ehe  zwischen  Genossen  desselben  Ehebruches, 
vorausgesetzt,  daß  die  frühere  Ehe  wegen  dieses  Ehebruches  ge- 
schieden ist,  §  1328. 

II.  Die  Tatsache,  daß  ein  äußerlich  einwandfreier  Eheschluß 
vorliegt,  wirkt  zunächst  so  stark,  daß  die  Nichtigkeit  der  Ehe 
nicht  beliebig  und  bei  jedem  Anlaß  geltend  gemacht  werden  kann, 
daß  vielmehr  eine  ausschließlich  auf  die  Nichtigkeitserklärung  ge- 
richtete Klage  erhoben  und  erfolgreich  durchgeführt  sein  muß, 
damit  man  sich  beliebig  auf  die  Nichtigkeit  der  Ehe  berufen  kann, 
§  1329.  Mit  anderen  Worten,  der  äußerliche  Akt  der  Eheschheßung 
muß  durch  einen  ebenso  äußerlichen  und  ebenso  öffentlichen  Akt 
ausdrücklich  seiner  Wirkungen  entkleidet  sein,  um  vollständig  aus 
der  Welt  zu  verschwinden.  Es  geht  z.  B.  nicht,  daß  der  auf  Unter- 
halt verklagte  Ehegatte  dem  Kläger  gegenüber  einwendet,  die  Ehe 
sei  nichtig.  Will  er  sich  auf  die  Nichtigkeit  stützen,  muß  erst  ein 
reiner  Nichtigkeitsprozeß,  der  nichts  ist  als  Nichtigkeitsprozeß, 
vorhergegangen  sein.  Bis  dies  geschehen  ist,  äußert  die  Ehe  alle 
Wirkungen  einer  vollen  Ehe.  Ja,  es  kann  dazu  kommen,  daß 
eine  solche  nichtige  Ehe  wegen  Ehebruches  geschieden  werden 
kann  und  der  schuldige  Gatte  wegen  Ehebruches  bestraft  wird. 
Dem  verletzten  Gatten  steht  es  zu,  die  Ehe  für  nichtig  erklären 
zu  lassen;  er  kann  aber  auch  daraus,  daß  sie  äußerlich  zu  Recht 
besteht,  die  entsprechenden  Folgerungen  ziehen. 

III.  Entsprechendes  gilt  von  der  anfechtbaren  Ehe.  Eme 
Ehe  ist  anfechtbar  aus  den  Gründen  der  §§  1330  ff.  z.  B.  wegen 
Täuschung,  wegen  Irrtums  über  wcsentliclie  Eigenschaften  (Un- 
fruchtbarkeit der  Frau),  wegen  Drohung  (die  Tochter  opfert  sich 
für    den    mit    Strafanzeige    bedrohten    Vater). ^)      Die    Anfechtung 


')  Vgl.  Institutionen,  S.  602 ff.  Der  Unterschied  ist:  Bei  der  Anfechtbarkeit 
bleibt  es  dem  Gatten  vorbehalten,  ob  die  Ehe  unnichtig  werden  soll,  bei  der  Nichtig- 
keit nicht. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht 


153 


muß  in  einem  eigenen  Anfechtungsprozessc  geschehen  und  führt 
dann  zur  Nichtigerklärung.  Nach  dieser  wird  alles  so  gehalten 
wie  bei  der  von  Anfang  an  nichtigen  Ehe,  §§  1341,   1343- 

IV.  Eine  besondere  Nichtigkeit  gilt  bei  unrichtiger  Todes- 
erklärung. Heiratet  nach  unrichtiger  Todeserklärung  der  andere 
Gatte  wieder,  so  treten  nun  keineswegs  die  Wirkungen  der  Doppel- 
ehe ein,  obgleich  eine  richtige  Doppelehe  vorliegt,  sondern  durch 
den  Abschluß  der  zweiten  Ehe  wird  die  erste  aufgelöst,  §  1348  II, 
und  bleibt  auch  dann  aufgelöst,  wenn  die  Todeserklärung  infolge 
einer  Anfechtungsklage  aufgehoben  wird,  §  1348  II.  Hier  schlägt 
der  öffentliche,  wenn  auch  materiell  unrichtige  Akt  der  Todes- 
erklärung durch.  Aber  die  neue  Ehe  kann  von  jedem  Gatten 
der  neuen  Ehe  angefochten  werden,  §  1350.  Dem  öffentlichen 
Akt  der  ersten  Eheschließung  stehen  gegenüber  die  ebenfalls  öffent- 
lichen Akte  der  Todeserklärung  und  der  zweiten  Eheschließung, 
die  aber  beide  materiell  ungerechtfertigt  sind.  Die  Todeserklärung 
und  die  zweite  Eheschließung  werden  durch  zwei  gesonderte  An- 
fechtungsklagen aus  der  Welt  geschafft.^) 

Die  zweite  Ehe  ist  nur  dann  nichtig,  wenn  beide  Teile  bei 
dem  Eheschluß  wissen,  daß  der  für  tot  erklärte  Gatte  der  früheren 
Ehe  die  Todeserklärung  überlebt  hat,  §  1348  I.  Hier  bewirkt  ihr 
böser  Glaube,  daß  das  wahre  Rechtsverhältnis  anerkannt  wird, 
soweit  dies  gegenüber  den  einmal  vollzogenen  Heiratsformen 
möglich  ist. 

V.  Ein  tatsächlicher  möglicher  Fall  ist  vom  BGB.  übersehen 
worden.  Bekanntlich  täuschen  weibliche  Zwitter  oft  männliche 
Erscheinung  vor  und  so  konnte  es  kommen,  daß  ein  Mann  an 
einer  rätselhaften  Krankheit  starb,  die  bei  der  Öffnung  als  Gebär- 
mutterkrebs erkannt  wurde.  Schließt  ein  solcher  Zwitter  eine 
Ehe,  so  ist  sie  nichtig,   nicht  anders  als  sonstige  nichtige  Ehen. 

Die  eigentlich  belehrenden  Wirkungen  der  nichtigen  Ehe  sind 

folgende. 

Anläßlich  des  Zwitterfalles  wurde  die  Frage  aufgeworfen,  ob 
das  gemeinschaftliche  Testament  dieser  Frau,  das  sie  mit  der 
anderen  Frau  gemacht  hatte,  rechtswirksam  war,  denn  nach 
§  2265    kann    ein    gemeinschaftliches    Testament    nur    von    Ehe- 


^)  Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  in  diesem  Kriege  vorgekommenen  Fall, 
daß  die  Frau  auf  Grund  unrichtiger  amtlicher  Todesnachricht  wieder  heiratet. 
Die  zweite  Ehe  ist  nichtig,  §  1325. 


154 


Krückmann : 


galten  errichtet  werden.  Man  wird  die  Frage  ohne  weiteres  be- 
jahen und  sie  nur  verneinen,  wenn  man  den  Beteiligten  bösen 
Glauben  nachweisen  könnte.  Diese  Entscheidung  muß  aus  all- 
gemeinen Erwägungen  heraus  getroffen  werden,  da  eine  ent- 
sprechende Bestimmung  im  BGB.  fehlt.  Sie  entspricht  aber 
seinem  Geiste  und  Sinne  und  dies  wird  an  anderen  Fällen  be- 
stätigt, wo  das  BGB.  ausdrückliche  Bestimmungen  getroffen  hat. 
VI.  Dritten  kann  die  Nichtigkeit  der  Ehe  nicht  entgegen- 
gehalten werden,  es  sei  denn,  daß  sie  um  den  Nichtigkeitsgrund 
wußten,  also  z.  B.  wußten,  daß  sich  beide  Ehebrecher  ohne  Be- 
freiung von  dem  Ehehindernis  geheiratet  hatten,   §  1344. 

1.  Dies  gilt  nun  nicht  uneingeschränkt,  sondern  nur  bei 
Rechtsgeschäften,  z.  B.  der  Dritte  zahlt  an  den  Mann  eine  Schuld 
auf  eine  Forderung,  die  die  Frau  gegen  ihn  hat.  Der  Mann  über- 
eignet dem  Dritten,  der  eine  der  Frau  gehörende  Sache  von  ihr 
gekauft  hat,  diese  Sache.  Dies  kann  er  bei  der  Verwaltungs- 
gemeinschaft tun,  §  1376,  wenn  die  Frau  die  Sache  vor  der  Ehe- 
schließung ohne  seine  Einwilligung  oder  nach  der  Eheschließung 
mit  seinem  Einverständnis  verkauft  hatte,  §  1376,  3.  An  sich 
würde  der  Satz  durchgreifen,  daß  niemand  mehr  Rechte  über- 
tragen kann,  als  er  hat,  denn  wegen  Mangels  einer  gültigen  Ehe 
besteht  zwischen  den  Gatten  auch  keine  Verwaltungsgemeinschaft ^), 
und  weil  keine  Verwaltungsgemeinschaft  besteht,  hat  der  Mann 
nicht  die  Nutznießung  und  Verwaltung  am  eingebrachten  Gut, 
d.  h.  regelmäßig  am  ganzen  Vermögen  der  Frau. 

2.  Ferner  wirkt  die  nichtige  Ehe  auch  in  Prozessen.  Der 
Mann  kann  bei  der  Verwaltungsgemcinschaft,  die  das  normale 
eheliche    Güterrecht   ist,   ein  zum  eingebrachten   Gute   gehörendes 

.Recht  der  Frau  im  eigenen  Namen  geltend  machen,  §  1380.  Nach 
§  1344  kann  gegen  das  zwischen  ihm  und  seinem  Prozeßgegner 
ergangene  rechtskräftige  Urteil  keine  Einwendung  aus  der  Nichtig- 
keit der  Ehe  hergeleitet  werden. 

VII.  Im  Verhältnis  der  Gatten  zueinander  bewirkt  die  nichtige 
Ehe,  daß  der  gutgläubige  Gatte  den  bösgläubigen  nach  der  Nichtig- 
keitserklärung oder  der  Auflösung  der  Ehe  vermögensrechtlich 
(Unterhaltspflicht)  so  behandeln  kann,  als  sei  die  Ehe  wegen  Ver- 
schuldens   des    bösgläubigen    Gatten    geschieden    worden,    §  1345- 


')   Verwaltungsgemcinschaft    ist    der    sogenannte    ,, gesetzliche      Güterstand" 
%\c  tritt  ein,   wenn  sie  nicht  zweifelsfrei  ausgeschlossen  wird. 


"Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


155 


Der    gutgläubige    Teil    kann    aus    drr    nichtigen    Ehe    Unterhalts- 
ansprüche herleiten. 

Dasselbe  Recht  steht  bei  anfechtbarer  und  durch  Anfechtung 
nichtig  gewordener  Ehe  dem  anfechtungsberechtigten  Gatten  zu, 
§  1346.  Macht  also  die  zur  Ehe  durch  die  Drohung,  den  Vater 
wegen  strafbaren  Vergehens  anzeigen  zu  wollen,  gezwungene  Frau 
nach  dem  Tode  des  Vaters  die  Anfechtbarkeit  geltend,  so  kann 
sie  verlangen,  vermögensrechtlich  als  unschuldig  geschiedene  Frau 
behandelt  zu  werden. 

VIII.  Noch  deutlicher  sind  die  §§  löggii.  Kinder  aus  nich- 
tigen Ehen  gelten  als  ehelich,  sofern  nicht  beide  Gatten  bei  der 
Eheschließung  die  Nichtigkeit  gekannt  haben,  §  1699.  Sie  führen 
den  Namen  des  Vaters,  haben  gesetzliches  Erbrecht  gegen  die 
Eltern,  haben  Anspruch  auf  Unterhalt  wie  eheliche  Kinder.  Freilich 
hat  der  bösgläubige  Vater  nicht  die  aus  seiner  Vaterschaft  sich 
ergebenden  Rechte,  also  insbesondere  nicht  Erbrechte  und  väter- 
liche Gewalt,  §  1701,  und  die  bösgläubige  Mutter  hat  nur  die  Rechte 
einer  bei  Ehescheidung  für  schuldig  erklärten  Frau,  §  1702. 

Obgleich  danach  ein  Kind  unehelich  ist,  wenn  beide  Eltern 
bösgläubig  sind,  so  kann  es  doch  von  dem  Vater,  solange  er  lebt, 
Unterhalt  wie  ein  eheliches  Kind  verlangen,  §  1703.  Insofern 
hebt  die  Eheschließung  diese  Gruppe  von  unehelichen  Kindern 
deutlich  von  anderen  unehelichen  Kindern  ab.  Diese  haben  nur 
Anspruch  auf  einen  Unterhalt,  wie  er  dem  Stande  der  Mutter  ent- 
spricht, und  nur  bis  zum  vollendeten  sechzehnten  Lebensjahre, 
es  sei  denn,  daß  körperliche  oder  geistige  Gebrechen  das  Kind 
auch  weiter  bedürftig  machen,  §  1708. 

IX.  Blickt  man  zurück,  wird  man  die  Gerechtigkeit  der  ge- 
troffenen Bestimmungen  nicht  leugnen  können.  Insbesondere  die 
Berücksichtigung  der  Kinder  wird  sicher  allgemein  als  angemessen 
empfunden  werden.  Sic  erscheint  selbstverständlich,  ist  es  auch. 
Aber  juristisch-wissenschaftlich  stößt  sie  mit  der  Tatsache,  daß 
die  Ehen  nun  einmal  nichtig  sind,  zusammen.  Nach  der  Formel: 
Aus  nichts  wird  nichts,  sind  diese  Erscheinungen  natürlich  nicht 
erklärbar.  Man  hat  sich  in  der  Wissenschaft  mit  dem  Ausdruck 
Scheinehe  im  Gegensatz  zur  Nichtehe  beholfen.  Das  hilft  zwar 
nicht  viel  weiter,  aber  dem  liegt  eine  richtige  Beobachtung  zu- 
grunde. Wenn  die  Formvorschriften  (Abschluß  vor  dem  Standes- 
beamten) nicht  gewahrt  sind  und  die  Ehe  auch  nicht  in  das  Heirats- 
register eingetragen  ist,  so  fehlt  es  an  jedem  äußeren  Tatbestand, 


156 


Krückmann : 


aus  dem  ein  NichtcingcAvcihter  schließen  könnte  und  dürfte,  es 
liege  eine  vollgültige  Ehe  vor.  Es  liegt  dann  ein  vollständiges 
tatsächliches  und  rechtliches  Nichts  vor,  eine  Nichtehe,  deren 
Nichtvorhandensein  jederzeit,  von  jedermann,  bei  jeder  Gelegen- 
heit geltend  gemacht  werden  kann.  Eine  Nichtigkeitsklage  ist 
nicht  vonnötcn,  denn  die  Nichtigkeit  ist  —  hierauf  kommt  es  an  — 
offenbar.  In  den  Fällen  der  Scheinehe  ist  sie  aber  nicht  offenbar, 
sondern  muß  erst  durch  eine  Nichtigkeitsklage  offenbar  gemacht 
werden.^)  Die  äußerliche  und  offenkundige  Tatsache,  daß  die 
beiden  Gatten  vor  dem  Standesbeamten  einen  äußerlich  einwand- 
freien Eheschließungsakt  vorgenommen  haben,  daß  ihre  Ehe  in 
das  Heiratsregister  eingetragen  ist,  erweckt  natürlich  den  Schein, 
daß  eine  vollgültige  Ehe  abgeschlossen  sei  und  bestehe.  Nach 
diesem  Schein  richten  sich  naturgemäß  alle,  die  die  Wahrheit 
nicht  kennen,  und  verlangen,  sich  danach  richten  zu  dürfen. 
Mit  Reclit  trägt  dem  das  Gesetz  Rechnung,  und  so  kommt  es, 
daß  eine  weitverbreitete  Gruppe,  die  vorzüglich  von  der  germa- 
nistischen Rechtsforschung  ausgeht,  den  Ausdruck  Scheinehe  ver- 
wendet und  hierin  starke  Nachfolge  findet.  Es  soll  gegen  diesen 
Ausdruck  nichts  gesagt  werden,  da  ein  anderer  nicht  zur  Ver- 
fügung steht,  der  den  äußerlichen  Unterschied  im  Tatbestand 
mit  gleicher  Kürze  angäbe.  Es  ist  aber  auch  hier  nicht  richtig, 
wenn  die  Germanisten  nun  verallgemeinernd  von  einem  Rechts- 
schein sprechen  und  damit  das  Problem  zu  erklären  suchen.  Denn 
das,  was  wirkt,  juristische  Wirkungen  äußert,  ist  nicht  der  bloße 
Schein  eines  gar  nicht  vorhandenen,  und  wenn  vorhanden,  nur 
in  der  Vorstellung  bestehenden  Rechtsverhältnisses,  sondern  ein 
wirklich  und  tatsächlich  vorhandener  äußerer  Tatbestand 
der  Außenwelt,  der  allerdings  in  den  meisten,  wenn  auch  nicht 
in  allen  Fällen,  den  Anschein  eines  vorhandenen  Rechtsverhältnisses 
erweckt.  Aber  nach  richtiger  Betrachtungsweise  ist  nicht  dieser 
Anschein  das  eigentlich  Wirkende,  denn  dieser  Anschein  ist  Vor- 
täuschung eines  Gedankengebildes,  sondern  das  Wirkende  2)  ist 
der  äußere,  sinnlich   wahrnehmbare  Tatbestand  selbst.     Der  An- 


*)  Dies  ist  die  ganze  Wirkung  der  Nichtigkeitsklage.  Durch  sie  wird  die  Ehe 
nicht  materiell  nichtig,  das  ist  sie  schon  von  Anfang  an  durch  Spruch  des  Gesetzes. 

*)  Unsere  juristische  Betrachtungsweise  ist:  Das  Gesetz  legt  den  Tatbeständen 
ihre  Wirkung  bei.  Dafür  wird  kürzer,  aber  ungenauer,  gesagt:  Die  Tatbestände 
wirken,  haben  Wirkungen,  haben  rechtliche,  gesetzliche  Wirkungen.  In  diesem 
Sinne  bitte  ich  den  Text  zu  verstehen.     Natürlich  ist  dieses  ,, Wirken"  auch  etwas 


Wahrheit  und  Unwahrheit   im   Recht.  I  -  n 

schein  eines  vermeintlich  vorhandenen  Rechtsverhältnisses  ist 
auch  hier  nur  der  rechtspolitische  Grund,  weshalb  diesem  äußeren 
Tatbestande  bestimmte  Wirkungen  vom  Gesetz  beigelegt  werden. 
Es  ist  eine  merkwürdige  und  ganz  unnötige  Verirrung,  statt 
die  eintretenden  Wirkungen  als  Wirkungen  des  nun  einmal  vor- 
handenen äußeren  Tatbestandes  zu  begreifen,  sie  sich  als  Wir- 
kungen des  nur  gedachten  Scheines  eines  gedachten  Rechtsverhält- 
nisses vorzustellen.  Unsere  herrschende  Lehre,  wenn  man  über- 
haupt davon  sprechen  kann,  da  bisher  eigentlich  nur  die  Germa- 
nisten das  Wort  ergriffen  haben,  die  Romanisten  und  Publizisten 
sich  an  die  Frage  noch  nicht  recht  heranwagen,  unsere  herrschende 
Lehre  übersieht,  daß  im  günstigsten  Falle  sie  von  zwei  relativ 
möglichen  Betrachtungsweisen  die  unwirklichste  aussucht  und  mit 
ihr  die  in  Frage  kommenden  Erscheinungen  zu  erklären  versucht. 
Der  Grund  ist  natürlich  in  der  geistigen  Kontinuität  zu  suchen, 
kraft  derer  die  ersten  Erklärungen  von  dem  ihren  Ausgang  nahmen, 
was  bisher  geläufig  und  Grundlage  aller  Betrachtung  war,  von 
dem  wirklich  geltenden  und  in  diesem  Sinne  als  vorhanden  vor- 
gestellten Rechtsverhältnis.  Man  vergißt  dabei,  daß  wir  es  mit 
äußeren  Tatbeständen,  Veränderungen  in  der  Außenwelt,  zu  tun 
haben,  die  je  nach  ihrer  Natur  auch  verschiedene  Wirkungen  haben 
müssen.  Da  sollten  nun  die  anomalen  Tatbestände  dadurch  erklärt 
werden,  daß  man  sie  sich,  soweit  möglich,  als  Tatbestände  der 
normalen  Rechtsverhältnisse  vorstellte,  und  dies  geschah  wieder 
in  der  Weise,  daß  man  den  Tatbestand  möglichst  im  Hintergrund 
ließ  und  lediglich  auf  das  (bloß  gedachte)  Rechtsverhältnis  sah. 
Also:  Vom  Standpunkte  der  Vollehe  aus  betrachtet  liegt  eine 
Scheinehe  vor,  vom  Standpunkte  des  äußeren  Geschehens  in  der 
Außenwelt  her  betrachtet  liegt  ein  selbständiger  äußerer  Tat- 
bestand mit  selbständigen  Wirkungen  vor.  Es  ist  klar,  daß 
nur  mit  der  letzteren  Betrachtungsweise  das  geringere  Maß 
von  Unwirklichkeiten  zur  ,, Erklärung"  aufgeboten  wird.  Tat- 
sächlich gewinnen  wir  mit  dem  Scheinrechtsverhältnis,  dem  Rechts- 
schein, auch  nur  eine  Scheinerklärung,  eine  Scheinerkenntnis. 
Solange  sich  die  Rechtswissenschaft  nicht  klar  darüber  ist,  daß 
Rechtsschein,    Scheinrechtsverhältnis    nur    Worte   sind,    bleibt    sie 


Fragwürdiges.  Wie  tief  die  Rechtswissenschaft  in  das  Unwirkliche  verstrickt  ist, 
läßt  sich  aus  der  bloßen  Zusammenstellung:  ,, Wirkung"  des  ,, Rechtsverhältnisses" 
und  nun  gar  des  ,, Scheinrechtsverhältnisses"  sehen. 


I  c3  Krückmann: 

unnötig  tief  in  der  Fiktion  verstrickt.  Der  gedachte  Schein  eines 
gedachten  Rechtsverhältnisses,  höher  geht  es  eigenthch  nicht. 

Will  man  juristisch  diesen  Erscheinungen  einwandfrei  bei- 
kommen, muß  man  von  der  Tatsache  ausgehen,  daß  der  äußerlich 
einwandfreie,  innerlich  fehlerhafte  Eheschluß  eben  nicht  gänzlich 
wirkungslos  ist,  seine  eigenen  selbständigen,  aber  viel  schwächeren 
und  abgewandelten  Wirkungen  hat,  als  der  äußerlich  und  inner- 
lich einwandfreie  Eheschluß.  Er  erzeugt  ganz  bestimmte  positive 
Wirkungen,  wenn  auch  nicht  die  Wirkungen  einer  einwandfreien  Ehe. 

Diese  Wirkungen  macht  man  sich  am  besten  und  einfachsten 
verständlich,  wenn  man  sie  mit  ihrem  Vorbild,  den  Wirkungen 
einer  vollgültigen  Ehe,  vergleicht.  Da  ergibt  sich  denn  ein  Mehr- 
faches. Einmal  sind  die  Wirkungen  der  Scheinehe  umfänglich 
erheblich  beschränkter  als  die  Wirkungen  der  Vollehe  und  sind 
meistens  auch  andere,  §§  1345,  1701,  1702,  1703,  ferner  aber  —  und 
das  ist  das  eigentlich  Wichtige  ■ —  sind  sie  ohne  Standfestigkeit, 
denn  der  Scheinehe  kann  ein  Ende  gemacht  werden,  sobald  die 
Wahrheit  geltend  gemacht  wird.  Gewiß  haben  die  Gatten  einer 
Scheinehe  eine  bestimmte  Rechtsstellung  auf  Grund  der  Scheinehe; 
aber  diese  Rechtsstellung  unterscheidet  sich  von  der  Rechtsstellung 
auf  Grund  einer  vollwirksamen  Ehe  dadurch,  daß  sie  entziehbar, 
zerstörbar  ist,  daß  ihr  die  Selbstbehauptungsfähigkeit  aus  eigener 
Kraft  fehlt. 

Jeder  Gatte  einer  Vollehe  kann  sich  sowohl  gegenüber  dem 
anderen  Gatten,  wie  gegen  dessen  Verwandten,  aber  auch  gegen 
jeden  Dritten  vermöge  der  dem  echten  Rechte  eigentümlichen 
Selbstbehauptungsfähigkeit  aus  eigener  Kraft  in  der  Rechtsstellung 
als  Gatte  einer  voll  wirksamen  Ehe  behaupten.  Seine  Rechts- 
stellung ist  unentziehbar,  unzerstörbar.  Diese  Sicherheit  mangelt 
der  Rechtsstellung  des  Gatten  einer  nichtigen  Ehe.  Darum  darf 
man  sie  aber  nicht  als  ein  bloß  Vorläufiges  betrachten,  denn  das 
Eigentümliche  ist,  daß  diese  so  unsichere  Rechtsstellung,  genau 
wie  beim  Rechtserw'erb  im  guten  Glauben  usw.,  doch  Dauer- 
wirkungen äußert,  die  nicht  zusammenfallen,  auch  wenn 
die  Rechtsstellung  als  Gatte  zusammengefallen  ist. 
Diese  Dauerwirkungen  sind  das  eigentlich  Rätselhafte.  Eine 
Dauerwirkung  ist  es,  wenn  die  von  dem  Scheinehegatten  vor- 
genommenen Rechtsgeschäfte  oder  die  von  ihm  geführten  Prozesse 
dauernd  genau  solche  Wirkung  haben,  als  seien  sie  von  einem 
vollwirksam    verheirateten    Gatten     vorgenommen    oder    geführt, 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I  eg 

§  1344.  Eine  Dauerwirkung  ist  es,  wenn  der  gutgläubige  Gatte 
den  bösgläubigen  Gatten  nach  der  Nichtigkeitserklärung  wie  einen 
für  schuldig  erklärten  Gatten  bei  Ehescheidung  behandeln  darf, 
§  1345,  noch  ausgesprochener  sind  die  Dauerwirkungen  zugunsten 
der  Kinder  aus  nichtigen  Ehen,  §§  1699  ff. 

Daraus      ergibt      sich     die     Folgerung:       Alles,     was 
auf    Grund   der    Scheinehe   von   den    Gatten   oder   gegen- 
über  den    Gatten   vorgenommen   wird    (Rechtsgeschäfte, 
Prozesse,    Zeugung    von    Kindern)    hat    gewisse    Dauer- 
wirkungen, die  meistens  sogar  ebenso  stark  und  ebenso 
umfänglich    sind,    wie    die  Wirkungen    der    echten    Ehe. 
Unser   Kausalitätsbedürfnis  aber  fordert  auch  hier,   daß  wir   uns 
als  Ursache  dieser  positiven  Wirkungen  ein  positives  Etwas  vor- 
stellen.    Dies  kann  auch  hier  nur  sein  die  äußerliche  tatsächliche 
Stellung  als  Ehegatten,  d.  h.  der  Besitz  an  der  Rechtsstellung 
als  vollwirksam  verheiratete  Gatten,  kurz  der  Ehebesitz. 
Es  kommt  immer  darauf  an,  von  welcher  Seite  her  man  die  Frage 
betrachtet.     Sieht  man  darauf,  daß  keine  wirkliche  Ehe  vorliegt, 
wird   man  von  fingierter   Ehe  reden,   sieht   man  darauf,   daß  im 
Rechte   alle    W^irkungen   sich   an   äußere    Tatbestände   anknüpfen 
und  daß  hier  ein  bestimmter  äußerer  Tatbestand  sui  generis  vor- 
liegt, so  wird  man  ihm  auch  seine  eigenen  Wirkungen  zuschreiben. 
Dann  gilt  es  aber,  diesen  Tatbestand  selbständig  zu  erfassen,  und 
das  geschieht  mit  Wort  und  Begriff  der  Scheinehe  allerdings  nicht. 
Dies  ist  zu  negativ  und  muß  in  etwas  Positives  umgesetzt  werden, 
um  für  unsere  Vorstellung  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
herstellen  zu  können.     Dann  bleibt  aber  nichts  anderes  übrig  als 
der  Ehebesitz. 

§  7.    Rechtsstellung  des  Kindes. 

I.  Ausgesprochen  auf  Fiktion  beruht  die  Rechtsstellung  des 
Kindes.  Ganz  natürlich.  Als  das  BGB.  geschaffen  wurde,  kannte 
man  die  Blutsprobe  noch  nicht  und  es  ist  auch  heute  noch  zweifel- 
haft, ob  sich  genügend  verläßlich  mit  ihr  wird  arbeiten  lassen,  um 
die  Abstammung  des  Kindes  sicher  festzustellen.  Das  Gesetz 
geht  jedenfalls  von  der  nahezu  vollständigen  geschichtlichen  Un- 
erweislichkeit  der  Abstammung  aus.  Das  zwingt  notwendig  zum 
Rechtsbehelf  mittels  Fiktionen.  Jedes  Vaterrecht  ist  auf  diese 
Fiktionen  angewiesen:  Pater  est,  quem  nuptiae  demonstrant. 
Folgerichtig   ist   allein   das   Mutterrecht,    das   die   Verwandtschaft 


j^Q  Krückmann: 

nach  dem  Mutterschoß  berechnet.  Die  Abstammung  aus  einem 
bestimmten  Mutterschoß  kann  nie  bezweifelt  werden,  nie  un- 
sicher sein,  wenn  nicht  absichthch  Verwirrung  angestrebt  wird.^) 
Der  Vater  wird  nur  mit  Hilfe  von  Vermutungen  und  Fiktionen 
,, nachgewiesen". 

§  1591.  „Ein  Kind,  das  nach  der  Eingehung  der  Ehe  ge- 
boren wird,  ist  ehehch,  wenn  die  Frau  es  vor  oder  während  der 
Ehe  empfangen  und  der  Mann  innerhalb  der  Empfängniszeit  der 
Frau  beigewohnt  hat.  Das  Kind  ist  nicht  ehelich,  wenn  es  den 
Umständen  nach  offenbar  unmöglich  ist,  daß  die  Frau  das  Kind 
von  dem  Manne  empfangen  hat. 

Es  wird  vermutet,  daß  der  Mann  innerhalb  der  Empfängnis- 
zeit der  Frau  beigewohnt  habe.  Soweit  die  Empfängniszeit  in 
die  Zeit  vor  der  Ehe  fällt,  gilt  die  Vermutung  nur,  wenn  der  Mann 
gestorben  ist,  ohne  die  Ehelichkeit  des  Kindes  angefochten  zu 
haben."  2) 

§  1592.  ,,Als  Empfängniszeit  gilt  die  Zeit  von  dem  181.  bis 
zum  302.  Tage  vor  dem  Tage  der  Geburt  des  Kindes,  mit  Einschluß 
sowohl  des  l8l.  als  des  302.  Tages. 

Steht  fest,  daß  das  Kind  innerhalb  eines  Zeitraums  emp- 
fangen worden  ist,  der  weiter  als  302  Tage  vor  dem  Tage  der  Geburt 
des  Kindes  zurückliegt,  so  gilt  zugunsten  der  Ehelichkeit  des  Kindes 
dieser  Zeitraum  als  Empfängniszeit." 

Folgende  Möglichkeiten  bestehen: 

1.  Das  Kind  ist  während  der  Ehe  gezeugt  und  geboren;  es 
ist  ehelich,  es  sei  denn,  daß  es  offenbar  unmöglich  ist,  daß  es  von 
dem  Manne  gezeugt  sein  kann  (der  Mann  ist  seit  Jahren  ver- 
schollen). 

2.  Das  Kind  ist  vor  der  Ehe  gezeugt  und  in  der  Ehe  geboren; 
es  ist  ehelich,  es  sei  denn,  daß  .  .  .  wie  unter  l. 

a)  Voraussetzung  zu  l.  und  2.  ist  Beiwohnung  durch  den  Mann 
während  der  Empfängniszeit.     Diese  wird  aber  vermutet.     Es  er- 

*)  Man  erinnere  sich  an  den  Prozeß  Kwilccki.  Kulturgeschichtlich  interessant 
ist  der  Bericht  bei  Herodot  4,  180,  daß  die  im  Hetärismus,  der  Gesamtehe,  lebenden 
Auseer  sich  jeden  dritten  Mond  versammelt  und  die  Vaterschaft  der  Kinder  fest- 
gestellt hätten.  Sie  sei  nach  der  Ähnlichkeit  festgestellt  worden  und  ein  neuerer 
Schriftsteller  wollte  vor  etwa  20  Jahren  uns  eine  Wissenschaft  der  Patrosemeiologie, 
Erforschung  der  Vaterähnlichkeit,  empfehlen.  Vgl.  ferner  die  weiteren  Zitate  bei 
Wilutzky,  Vorgeschichte  des  Rechts,   S.  24,  Anm.  2 — 4. 

*)  Die  verschiedenen  Möglichkeiten,  die  in  §  1591  vorgesehen  sind,  sind  aus- 
gerechnet und  dargestellt  in  meinen   Institutionen  (4.  Aufl.),  S.  68off. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  l5l 

hellt,  wie  wenig  sicher  der  geschichtliclie  Beweis  der  Ehelichkeit 
des  Kindes  ist.  Trotzdem  steigert  das  BGB.  die  Wirkung  seiner 
Fiktion  dahin,  daß  es  erklärt:  Das  Kind  ist  ehelich.  Es  begnügt 
sich  nicht,  zu  sagen,  das  Kind  gelte  als  ehelich. 

b)  Alle  diese  Fiktionen  versagen,  wenn  die  Schwangerschaft 
ausnahmsweise  lange  dauert,  der  Beweis  des  Zeitpunktes  der  Emp- 
fängnis geführt  werden  und  der  Mann  innerhalb  der  normalen 
Empfängniszeit  der  Frau  offenbar  nicht  beigewohnt  haben  kann. 

c)  Noch  eine  weitere  Fiktion  baut  das  BGB.  zum  Schutze 
der  Ehelichkeit  des  Kindes  auf,  indem  es  die  Anfechtung  der 
Ehelichkeit  erschwert. 

§  1593.  ,,Die  Unehelichkeit  eines  Kindes,  das  während  der 
Ehe  oder  innerhalb  302  Tagen  nach  Auflösung  der  Ehe  geboren 
ist,  kann  nur  geltend  gemacht  werden,  wenn  der  Mann  die  Ehe- 
lichkeit angefochten  hat  oder,  ohne  das  Anfechtungsrecht  verloren 
zu  haben,  gestorben  ist,  vgl.  §§  1594 — 1597. 

Ferner  nimmt  die  Anfechtungsbefugnis  nach  einem  Jahre 
ein  Ende  und  hilft  das  BGB.  mit  der  freiwilligen  Anerkennung 
der   Ehelichkeit,    durch   die   die   Anfechtung  ausgeschlossen   wird, 

§§1594,   1598,   1599- 

3.  Noch  verwickelter  wird  die  Sachlage,  wenn  das  Kind  nach 
der  Ehe  geboren  wird.^)  Doch  führt  die  Darstellung  der  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  zu  weit. 

III.  Jedenfalls  ergibt  sich  aus  dem  Bisherigen  zweierlei  mit 
Sicherheit.  Einmal  der  große  Einfluß,  den  der  Mann  durch  Unter- 
lassung der  Anfechtung  auf  die  Rechtsstellung  des  Kindes  hat, 
ferner  die  Bedeutungslosigkeit  des  Ehebruches  der  Frau.  Selbst 
wenn  die  Ehe  wegen  Ehebruches  der  Frau  geschieden  wird,  wird 
deshalb  das  aus  der  Zeit  des  ehebrecherischen  Verkehrs  stammende 
Kind  noch  nicht  unehelich,  es  sei  denn,  daß  es  offenbar  unmöglich 
ist,  daß  es  von  dem  Ehemann  gezeugt  sein  kann  und  daß  daraufhin 
von  ihm  die  Ehelichkeit  angefochten  wird.  Bloßer  Ehebruch  der 
Mutter  in  der  kritischen  Zeit  nimmt  dem  Kinde  also  die  Stellung 
als  eheliches  Kind  nicht.  Im  Zweifel  gehen  alle  Fälle  der  Un- 
gewißheit über  die  Ehelichkeit  zugunsten  des  Kindes.  Um  das 
Kind  sicherzustellen,  genügt  es,  daß  die  Ehebrecherin  nur  einmal 
während  der  kritischen  Zeit  mit  ihrem  Manne  verkehrte. 


^)  Vgl.  meine  Institutionen,   S.  682  ff. 
Annalen  der  Philosophie.    1.  *^ 


j  52  Krückmann : 

IV.  Bestritten  ist  der  Fall  der  doppelten  Ehelichkeit.  Wenn 
eine  Frau  in  der  irrigen  Meinung,  ihre  erste  Ehe  sei  aufgelöst,  sich 
wieder  verheiratet  und  in  dieser  zweiten  Ehe  ein  Kind  gewinnt, 
ist  das  Kind  nach  dem  Ausgeführten  eheliches  Kind  der  ersten 
Ehe  und  die  Ehelichkeit  kann  auch  nur  vom  Gatten  der  ersten 
Ehe  angefochten  werden;  es  ist  aber  auch  gemäß  §  1699  ehe- 
liches Kind  der  zweiten  Ehe.  Derartiges  ist  in  diesem  Kriege 
durch  irrige  Todesbescheinigungen  der  Militärbehörden  möglich 
geworden.  Es  kann  aber  auch  vorkommen,  wenn  eine  Frau  be- 
wußt Doppelehe  begeht  und  ihr  zweiter  Mann  im  guten  Glauben 
ist,  s.  das  über  die  Scheinehe  Bemerkte. 

Die  Folgen  doppelter  Ehelichkeit,  doppelter  Vaterschaft,  sind 
natürlich  nicht  zu  tragen.  Welchen  Namen  soll  das  Kind  führen."* 
Wie  steht  es  mit  dem  Erbrecht,  mit  der  elterlichen  Gewalt,  der 
Verwaltung  des  Kindes  Vermögens,  der  Nutznießung  an  ihm,  der 
persönlichen  Vertretung  des  Kindes  ?  Was  soll  nun  gelten,  die 
formelle  Vaterschaft  des  Nichtvaters  oder  die  natürliche  Vater- 
schaft des  natürlichen  Vaters }  In  Widerspruch  miteinander  stehen 
wirkliche,  gültige  Ehe  und  Scheinehe  oder  Ehe  und  Ehebesitz. 
Da  wird  die  echte  Ehe  durch  die  Scheinehe  geschlagen:  Das  Kind 
gehört  dem  zweiten  Manne  und  tritt  in  alle  Rechte  der  Kinder 
aus  Scheinehen  ein. 

V.  Dieselbe  Verwicklung  von  Wahrheit  und  Unwahrheit  tritt 
noch  in  weiteren  Fällen  ein. 

1.  Der  für  tot  erklärte  Ehemann  kehrt  zurück,  nachdem  die 
Frau  sich  wieder  verheiratet  und  Kinder  gewonnen  hat.  Die  Frau 
ficht  die  zweite  Ehe  an,  durch  die  Anfechtung  wird  —  handgreif- 
liche Fiktion  —  die  zweite  Ehe  mit  rückwirkender  Kraft  aufgelöst 
und  zu  einer  von  Anfang  an  nichtigen  Ehe  gemacht.  Als  eine 
von  Anfang  an  nichtige  Ehe  kann  sie  aber  die  Wirkung  nicht  äußern, 
daß  mit  ihrem  Abschluß  die  erste  Ehe  aufgelöst  werde,  denn  nur 
eine  wirksame  und  nicht  rückwirkend  wieder  aufgelöste  Ehe  konnte 
die  erste  Ehe  auflösen;  die  erste  Ehe  besteht  also  nach  wie  vor 
und  die  Frau  hat  die  von  dem  zweiten  Manne  gewonnenen  Kinder 
in  volhvirksamer  Ehe  mit  dem  ersten  Manne  geboren.  Unterläßt 
der  Mann  der  ersten  Ehe  die  Anfechtung  der  Ehelichkeit  der  Kinder 
der  zweiten  Ehe,  dann  sind  sie  ehelich!  Trotzdem,  als  Kinder 
der  zweiten,  der  Scheinehe,  sind  sie  auch  Kinder  dieser  Ehe. 

2.  Oder  der  Mann  kehrt  zwar  zurück,  aber  die  zweite  Ehe 
wird  nicht  angefochten  und  die  Frau  hat  innerhalb  302  (genauer 


Wahrheit  und   Unwahrheil  im   Recht.  l5^ 

270)  Tagen  nach  Abschluß  der  zweiten  Ehe  ein  Kind  geboren. 
Die  erste  Ehe  wird  erst  durch  den  Abschluß  der  zweiten  Ehe  auf- 
gelöst, da  die  Todeserklärung  unrichtig  war,  §  1348  II.  Auf  das 
Kind  treffen  daher  die  Fiktionen  beider  Ehen  zu,  §  1591  I,  da 
nach  §  1600  bei  Wiederverheiratung  der  Frau  nach  Auflösung 
der  ersten  Ehe  ein  innerhalb  von  270  Tagen  geborenes  Kind  als 
Kind  des  ersten  Mannes  gilt.  Das  Kind  ist  also,  wenn  es  inner- 
halb 270  Tagen  nach  dem  Eheschluß  geboren  wird,  eheliches  Kind 
beider  Männer. 

3.  Oder  die  Frau  gebiert  in  der  Abwesenheit  des  Mannes  un- 
eheliche Kinder.  Diese  wären  kraft  gesetzlicher  Fiktion  ehelich, 
wenn  der  Mann  die  Ehelichkeit  nicht  anficht.  Also  wenn  der  im 
Auslande  befindliche  Mann  sich  ein  Jahr  versäumt,  nachdem  er 
von  der  Geburt  erfahren  hat,  §  1594  II,  ist  das  Kind  ehelich. 

Die  Rechtswissenschaft  müht  sich  zurzeit  damit  ab,  die  aus 
den  gesetzlichen  Fiktionen  und  aus  der  Vorschrift,  daß  der  Mann 
durch  seine  Anfechtung  der  Ehelichkeit  über  die  Rechtsstellung 
der  Kinder  allein  zu  entscheiden  hat,  entsprungenen  Schwierig- 
keiten zu  lösen,  die  tatsächliche  Wahrheit  gegenüber  den  gesetz- 
lichen Fiktionen  durchzusetzen,  zu  einer  Einigkeit  ist  es  bisher 
aber  noch  nicht  gekommen.  Man  wird  so  viel  sagen  müssen,  daß 
die  Versäumung  der  Anfechtung  durch  gegenteilige  Akte  über- 
wunden werden  kann,  wenn  es  offenbar  unmöglich  ist,  daß  das 
Kind  von  dem  Manne  erster  Ehe  gezeugt  sein  kann.  Solche  Akte 
sind  Abschluß  der  zweiten  Ehe  in  Verbindung  mit  der  Anerkennung 
der  Ehelichkeit  durch  den  zweiten  Mann  oder  bei  unehelichen 
Kindern  einfach  die  Anerkennung  der  Vaterschaft  allein,  §§  1598, 
1718.1) 

VI.  Die  uneheliche  Geburt  während  formell  fortdauernder 
erster  Ehe,  obgleich  es  offenbar  unmöglich  ist,  daß  das  Kind  von 
dem  Ehemann  gezeugt  sein  kann,  führt  zu  der  weiteren  Verwicklung, 
daß  das  uneheliche  Kind,  wenn  man  die  Fiktion  der  Ehelichkeit 
festhält,  keinen  Unterhaltsanspruch  gegen  den  unehelichen  Er- 
zeuger gewinnt.     Es  kann  doch  kein  Zweifel  sein,  daß  auch  ein 


1)  Man  kann  über  das  einzelne  streiten.  Der  Anerkennung  der  Ehelichkeit 
steht  die  Nichtanfechtung  der  Ehelichkeit  durch  den  Mann  der  zweiten  Ehe  gleich. 
Mindestens  aber  muß  bei  unehelichen  Kindern  die  Anerkennung  der  Vaterschaft 
zusammen  mit  der  Legitimation  durch  nachfolgende  Ehe  ausreichende  Sicherheit 
über  den  Stand  des  Kindes  schaffenj  §§  17 19  ff. 

II* 


164  Krückmann: 

solcher  zur  Stolle  gcschafit  werden  muß,  denn  es  sind  Fälle  denkbar, 
wo  es  zwar  offenbar  unmöglich  ist,  daß  das  Kind  von  dem  Ehe- 
manne gezeugt  sein  kann  (er  ist  seit  mehreren  Jahren  abwesend), 
wo  aber  für  eine  Todeserklärung,  die  normalerweise  eine  zehn- 
jährige Verschollenhcit  fordert,  §  14,  kein  Raum  ist,  auch  die 
Scheidung  wegen  böslicher  Verlassung  bisher  versäumt  worden  ist. 
Der  Ehemann  ist  unerreichbar,  meistens  auch  unbemittelt,  der 
uneheliche  Vater  ist  zur  Stelle  und  auch  genügend  leistungsfähig, 
ja,  er  erkennt  sogar  seine  Vaterschaft  ausdrücklich  an,  §§  171 8, 
171 7.  Hier  würde,  wenn  man  sich  an  den  Wortlaut  des  Gesetzes 
hielte,  die  Fiktion  die  Wahrheit  totschlagen.  Ein  Musterfall,  wie 
das  Leben  uns  zwingt,  ausdrückliche  Gesetzesbestimmungen  mit 
Hilfe  von  allgemeinen  wissenschaftlichen  Grundsätzen  auszuschalten 
und  unschädlich  zu  machen. 

Man  wird  den  Entschluß  dazu  um  so  leichter  finden,  wenn 
man  sich  vor  Augen  hält,  daß  in  aller  Form  Rechtens  ein  Kind 
mehrere  uneheliche  Väter  haben  kann  und  daß  dies  auch  gar  nicht 
weiter  beklagenswert  ist.     Zwar  steht  dem  als   Erzeuger  in  An- 
spruch   Genommenen    die    exceptio    plurium    concumbentium    zu, 
aber  einmal  braucht  der   Beklagte  nicht  darum  zu  wissen,   oder 
er  läßt  sich  verurteilen,  ohne  sie  geltend  zu  machen.     Dies  kann 
nun    unabhängig    voneinander    bei    mehreren    Männern    zutreffen. 
Mehrere  Männer,  die  mit  der  Frau  verkehrt  haben,  können  aber 
auch  freiwillig  die  Vaterschaft  anerkennen  oder  das   Kind  kann, 
nachdem  der  eine  freiwillig  die  Vaterschaft  anerkannt  hat,  gegen 
einen   anderen,    der   vielleicht   wohlhabender   ist,    mit    Erfolg   auf 
Anerkennung  der  Vaterschaft  klagen.     Diese   Fiktionen  sind  ver- 
hältnismäßig unschädlich  und  werden  auch  hingenommen,  da  bei 
unehelichen  Kindern  ein  Zusammenstoß  verschiedener  Rechte  nicht 
möglich   ist.      Das   Kind   hat   dann  eben   verschiedene    Schuldner. 
Wichtig  wird  die  Frage  unter  Umständen  allerdings  später,  wenn 
das   uneheliche    Kind   mit   einem   anderen  ehelichen   oder   unehe- 
lichen Kinde  eines  seiner  sogenannten  unehelichen  Väter  zur  Ehe 
schreiten  will.    Man  wird  da  von  Fall  zu  Fall  helfen.    An  sich  wirkt 
die  Anerkennung  der  Vaterschaft  nicht  absolut  gegen  jedermann, 
denn  dann  wäre  eine  mehrfache  Anerkennung  der  Vaterschaft  nicht 
möglich  und  zulässig,  folglich  ergibt  sich  auch  an  sich  aus  ihr  nicht 
notwendig  das  Ehehindernis  der  Verwandtschaft  und  folglich  ist 
von  Fall  zu  Fall  zu  prüfen,  ob  eine  ehehindernde  Verwandtschaft 
wirklicli  vorliegt. 


Wahrheit  und  Unwahrheit   im  Recht.  165 

Die  Anerkennung  der  Vaterschaft  wirkt  nur  für  und  gegen 
die  beiden  Personen.  Auch  dies  gehört  zum  Gegenstand  der  Be- 
handlung als  ob.  Entweder  ist  A.  Vater  oder  er  ist  es  nicht,  er 
kann  aber  nicht  im  Verhältnis  zum  Kinde  Vater  sein,  im  Ver- 
hältnis zu  Dritten  nicht.  Dies  ist  unvorstellbar.  Wohl  aber  kann 
A.  im  Verhältnis  zum  Kinde  unmittelbar  so  behandelt  werden, 
als  wäre  er  der  Vater,  während  er  im  Verhältnis  zu  Dritten  nicht 
so  behandelt  wird  oder  nicht  so  behandelt  zu  werden  braucht. 

§8.    Erbrecht. 

I.  Im  Erbrecht  tauchen  ganz  gleiche  Schwierigkeiten  auf. 
Wer  ist  Erbe .''  Mehrere  streiten,  einer  hat  die  Erbschaft  tatsächlich 
schon  in  Besitz,  die  anderen  behaupten  aber,  zu  Unrecht,  es  sei 
ein  neueres  Testament  da,  das  die  Erbschaft  anders  verteile.  Der 
Erbschaftsbesitzer  bestreitet  dies  und  erklärt  das  Testament  für 
unecht.  Es  braucht  zu  einer  solchen  Zuspitzung  gar  nicht  zu 
kommen.  Es  genügt  schon,  daß  heute  jemand  unbestritten  als 
nächster  Erbe  kraft  Gesetzes  oder  kraft  Testamentes  die  Erb- 
schaft in  Besitz  nimmt,  die  Außenstände  beitreibt,  die  Schulden 
zahlt,  die  Grundstücke  veräußert,  andere  Werte  dafür  wieder 
erwirbt,  und  daß  morgen  ein  anderer  auftritt,  ein  neueres  Testa- 
ment beibringt,  daraufhin  freiwillig  als  Erbe  anerkannt  wird  und 
nunmehr  die  Frage  entsteht,  wie  es  mit  allen  Verfügungen  des 
Nichterben  gehalten  werden  soll.  Auch  hier  wieder  die  Frage: 
Soll  der  ahnungslose  Dritte  darunter  leiden,  daß  die  wahre  Rechts- 
lage erst  so  spät  bekannt  wurde?  Zu  diesem  Behufe  schlägt  das 
Gesetz  einen  Mittelweg  ein.  Es  verlangt  nicht  von  den  gesetzlich 
oder  letztwillig  berufenen  Erben,  daß  sie  ihr  Erbrecht  vollständig 
nachweisen  mit  der  Gewißheit,  daß  niemand  anders  Erbe  sein 
kann.  Es  verlangt  aber,  daß  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit 
für  ihr  Erbrecht  begründet  wird.  Ist  dies  geschehen,  wird  dem 
Erben  sein  Erbrecht  vom  Gerichte  bescheinigt  und  auf  Grund 
dieser  Bescheinigung,  Erbschein,  kann  der  Nichterbc  nun  alle 
juristischen  Handlungen  so  vornehmen,  als  ob  er  der  richtige  Erbe 
wäre.  Er  ist  aus  einem  Nichterben  zum  Scheinerben  geworden 
und  hat  durch  den  Erbschein  eine  Möglichkeit  juristischen  Handelns 
erhalten,  die  ihm  bis  dahin  abging.  Der  Erbschein  wird  auf  Antrag 
erteilt  von  dem  Nachlaßgericht,  d.  h.  dem  Amtsgericht,  in  dessen 
Bezirk  sich  der  Wohnsitz  des  Erblassers  befand,   §  2353.     Dieser 


j56  Krückmann: 

Erbschein  hat  seine  Vorteile  auch  für  den  wahren  Erben,  denn 
im  Besitze  eines  Erbscheins  braucht  er  nicht  mehr  gegenüber 
jedem  einzelnen  Schuldner,  von  dem  er  Nachlaßschulden  bei- 
treibt, immer  wieder  im  Prozesse  sein  Erbrecht  nachzuweisen, 
sondern  kann  sich  einfach  auf  den  Erbschein  berufen.  Die  Prüfung 
seiner  Erbansprüche  durch  das  Nachlaßgericht  spart  die  Prüfung 
seiner  Ansprüche  durch  das  Prozeßgericht.  Trotzdem  kann  es 
natürlich  ein  Nachlaßschuldner  auf  einen  Prozeß  ankommen  lassen 
und  kann  den  Nachweis  unternehmen,  daß  der  Erbschein  un- 
richtig ausgestellt  sei,  aber  schon  in  dieser  Verteilung  der 
Beweislast  spricht  sich  aus,  welchen  Vorteil  der  Erbe  von  dem 
Erbschein  hat. 

Darum  wird  es  mit  der  Prüfung  vor  dem  Nachlaßgericht  auch 
nicht  ganz  leicht  genommen.  Der  Bewerber  um  den  Erbschein 
muß  angeben,  wann  der  Erblasser  gestorben  ist,  ferner,  ob  er  der 
nächste  gesetzliche  Erbe  ist  oder  ob  er  sich  auf  ein  Testament 
beruft;  muß  angeben,  ob  und  welche  letztwilligen  Verfügungen 
des  Erblassers  vorhanden  sind,  ob  und  w^elche  Personen  vorhanden 
sind,  die  näher  zum  Erbrechte  sind  oder  mit  denen  er  teilen  müßte. 
Ist  ein  näherer  Erbe  fortgefallen,  muß  der  Bewerber  angeben,  in 
welcher  Weise  dieser  fortgefallen  ist,  ob  durch  Ausschlagung,  Ver- 
zicht, Entziehung  des  Pflichtteils,  Unwürdigkeit,  Anfechtung.  Ver- 
schiedenes ist  durch  öffentliche  Urkunden  nachzuweisen,  anderes 
ist  durch  eidesstattliche  Versicherung  vor  Gericht  oder  Notar  zu 
bekräftigen,  §§2355,  2356. 

Durch  diese  Beweisauflagen  wird  erklärlich,  daß  nach  §  2365 
eine  Vermutung  für  das  Erbrecht  des  in  dem  Erbschein  Bezeichneten 
angeordnet  ist  und  diese  Vermutung  gilt  zugunsten  aller  derer  als 
richtig,  die  von  dem  Erbscheinsinhaber  etwas  aus  der  Erbschaft 
erwerben,  an  ihn  etwas  leisten,  §§  2366,  2367.  Der  Nichterbe  kann 
an  den  gutgläubigen  Erwerber  Erbschaftssachen  übertragen,  kann 
von  dem  Nachlaßschuldner  mit  schuldtilgender  Kraft  Zahlungen 
entgegennehmen  usw.  Kurz,  er  kann  Erbrechte  ausüben,  die  er 
nicht  nur  nicht  hat,  die  vielmehr  in  Wahrheit  gar  nicht  bestehen. 
Angenommen,  der  Erbe  macht  Erbrechte  aus  einem  Testamente 
vom  7.  Februar  1904  geltend,  in  dem  er  als  Alleinerbe  eingesetzt 
ist.  Später  stellt  sich  iieraus,  daß  er  in  einem  Testamente  vom 
18.  April  191 1  mit  mehreren  nachgeborenen  Verwandten  zusammen, 
also  auf  einen  Bruchteil,  eingesetzt  ist.  Dann  ist  nach  unserer 
juristischen   Vorstellung  sein  Alleinerbrecht  vom  7.  Februar   1904 


Wahrheit  vind  Unwahrheit  im  Recht. 


167 


etwas  anderes  als  sein  Miterbrecht  vom  18.  April  191 1.  Dieses 
Alleinerbrecht  besteht  gar  nicht  und  dennoch  hat  der  Erbscheins- 
inhaber  die  Möglichkeit,  dieses  gar  nicht  bestehende  Erb- 
recht auszuüben.  Man  kann  dieser  Betrachtung  auf  folgende 
Weise  auszuweichen  versuchen.  Der  Erbscheinsinhaber  hat  die 
rechtlich  anerkannte  Möglichkeit,  die  den  Miterben  zusammen 
zustehenden  Erbrechte  allein  auszuüben.  Aber  unsere  Vorstellung 
stößt  sich  immer  wieder  daran,  daß  ein  am  8.  Februar  1904  an- 
geordnetes Erbrecht  ausgeübt  wird,  nicht  ein  am  18.  April  191 1 
angeordnetes.  Es  wird  kaum  etwas  anderes  übrig  bleiben  als  das 
Zugeständnis,  daß  vermöge  des  Erbscheins  ein  gar  nicht  vorhandenes 
Erbrecht  ausgeübt  werden  kann.  Noch  deutlicher  würde  dies 
werden,  wenn  der  Erbe  des  ersten  Testamentes  im  zweiten  Testa- 
mente von  der  Erbschaft  ausgeschlossen  wäre,  also  gar  keine  Erb- 
berechtigung hätte. 

II.     Ein   Seitenstück  zu   dem   Erbschein   ist  das   Zeugnis  für 
den    Testamentsvollstrecker,    §  2368,    das    ebenso    behandelt    wird 
wie     der    Erbschein.       Dem    wahren     Testamentsvollstrecker     ist 
dies  Zeugnis  nützlich,   weil  es  ihn  in  jedem  Einzelfalle  der  Not- 
wendigkeit überhebt,  den  Beweis  seiner  Stellung  als  Testaments- 
vollstrecker ausdrücklich  zu  erbringen.     Dem,  der  kein  Testaments- 
vollstrecker ist,  gibt  es  die  Möglichkeit,  alle  Befugnisse  eines  Testa- 
mentsvollstreckers   auszuüben.      Die    dem    Scheinvollstrecker    ge- 
währte  Ausübungsmöglichkeit   erstreckt   sich   auf   Befugnisse,    die 
es  gar  nicht  gibt.     Es  verhält  sich  hier  wie  mit  dem  Erbrecht  des 
Erbscheinsinhabers,    und   dies  erhellt,   wenn   man  unterstellt,   daß 
der  Testamentsvollstrecker,  wie  es  ja  zulässig  ist,  erweiterte  oder 
verengerte    Befugnisse    haben    kann.      Ist    in    dem    älteren    oder 
später    widerrufenen   Testament     die    Befugnis    des    Vollstreckers 
erweitert,    in    dem    jüngeren    die    Befugnis    des   an   seiner    Statt 
ernannten   aber   eingeschränkt,    so    liegt    für    uns    Juristen    nach 
unserer  Betrachtung  eine    ganz    verschiedene    Rechtsstellung    vor 
und    der    Vollstrecker    des    älteren    Testamentes    gewinnt    durch 
das   Zeugnis   die  Möglichkeit,   eine  gar  nicht  vorhandene  Rechts- 
stellung auszuüben. 

Wie  ein  Erbschein  wirkt  auch  die  Todeserklärung.  Der  Erb- 
lasser ist  für  tot  erklärt,  hat  aber  den  als  Zeitpunkt  seines  Todes 
angenommenen  Tag  überlebt  oder  aber  er  ist  vorher  gestorben, 
jedenfalls,  die  Todeserklärung  ist  unrichtig.  Inzwischen  hat  aber 
auf  Grund  der  Todeserklärung  der  im  Augenblick  des  angenommenen 


j  ^g  Krückmann : 

Todestages  nächste  Erbe  die  Erbschaft  an  sich  genommen.  Er  ist 
nicht  der  wahre  Erbe,  denn  zur  Zeit  der  wahren  Todesstunde  des 
Erblassers  stand  zwischen  ihm  und  dem  Erblasser  ein  anderer, 
dem  allein  die  Erbschaft  zukam.  Die  Todeserklärung  in  Ver- 
bindung mit  dem  Umstände,  daß  zur  angenommenen  Todeszeit 
kein  anderer  als  besserer  Erbe  in  Frage  kam,  macht  aus  dem  Nicht- 
erben  einen  Scheinerben,  dem  alle  die  Vorteile  zugute  kommen, 
die  sich  an  die  Erteilung  eines  Erbscheins  knüpfen,  §  2370. 

III.     Gleiche    Wirkungen   wie    der    Erbschein    hat    auch    das 
Zeugnis    über    die    fortgesetzte    Gütergemeinschaft,    §  1507.      Bei 
allgemeiner    Gütergemeinschaft    wird    das    Erbrecht    in    gewisser 
Weise  durch  das  Familiengüterrecht  ausgeschaltet.     Angenommen, 
der  Mann  bringt  in  das   Gesamtgut  etwa   30000  Mark,   die   Frau 
lOOOO  Mark,   dann   macht   die   Frau  sofort   mit   dem   Beginn  der 
allgemeinen     Gütergemeinschaft     einen    dauernden     Gewinn    von 
lOOOO  Mark,    denn   sie    erhält    bei    Beendigung   der    Gemeinschaft 
ebensoviel  wie  der  Mann  oder  dessen  Erben  aus  dem  Gesamtgut, 
d.  h.  die  Hälfte.     Mit  dem  Tode  des  Mannes  bleibt  ihr  zunächst 
ihre  Hälfte  erhalten,  auf  die  andere  Hälfte  wird  die  Erbnachfolge 
eröffnet   und   die   Frau  erbt  von  dieser  zweiten   Hälfte   abermals 
ihren   Erbanteil,   also,    wenn   Kinder   da   sind,    ein   Viertel.      Dies 
geschieht  aber  dann  nicht,  wenn  die  fortgesetzte  Gütergemeinschaft 
eintritt,  §  1483.     Dann  erhält  die  Frau  ihre  Hälfte  und  setzt  mit 
den  Kindern  die   Gütergemeinschaft  fort,  die  Kinder  erhalten  die 
andere  Hälfte  voll,  die  Frau  erbt  an  dieser  Hälfte  nicht  mit.     Die 
Kinder  erben  aber  auch  nicht,  denn  sie  erhalten  die  Hälfte  ihres 
Vaters  nicht  eigentlich  kraft  Erbrechtes,  sondern  kraft  Familien- 
güterrechtes.     Ob   fortgesetzte    Gütergemeinschaft   eintritt,    hängt 
davon   ab,    ob   die    Gatten   sie    durch    Elievertrag   ausgeschlossen 
haben,  oder  unter  Umständen  der  vorversterbende  Gatte  sie  ein- 
seitig durch   Testament   ausschließen   kann   und   ausschließt   oder 
der  überlebende  Gatte  sie  ablehnt,  §§  1508,  1509,  1484.     Geschieht 
von  alledem  nichts,  so  bleibt  es  bei  der  fortgesetzten  Gütergemein- 
schaft und  der  überlebende   Gatte  erhält  den  Kindern  gegenüber 
die  Rechtsstellung  des  Mannes  gegenüber  der  Frau,   §  1487.     Auf 
seinen  Antrag  ist  ihm  von  dem  Naclilaßgericht  ein  Zeugnis  über 
die  fortgesetzte  Gütergemeinschaft  zu  erteilen,  das  dieselbe  Wirkung 
wie  der  Erbschein  hat,  §  1507.    Verschweigt  der  überlebende  Gatte, 
daß  die  fortgesetzte  Gütergemeinschaft  ausgeschlossen  ist,  so  erlangt 
er  durch  das  Zeugnis  die  rechtliche  Möglichkeit,  alle  die  Befugnisse 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  I(j^ 

auszuüben,   die  er  haben  würde,   wenn  fortgesetzte   Gütergemein- 
schaft eingetreten  wäre.^) 

IV.  Die  ganze  bisher  behandelte  Gruppe  ist  so  belehrend, 
weil  hier  Befugnisse  ausgeübt  werden  können,  die  gar  nicht  vor- 
handen sind.  Wenn  der  Altgläubiger  das  Forderungsrecht  des 
Neugläubigers,  der  Dieb  des  Inhaberpapiers  das  Forderungsrecht 
des  Eigentümers,  der  Besitzer  das  Eigentum  des  Eigentümers 
ausübt,  so  wird  doch  immer  ein  tatsächlich  vorhandenes  Recht 
ausgeübt.  Hier  wird  etwas  ausgeübt,  was  nach  juristischer  Auf- 
fassung gar  nicht  da  ist.  Dieselbe  Beobachtung  kehrt  in  der 
folgenden  Gruppe  wieder,  ist  hier  sogar  noch  zwingender. 

§  9.    PersoiieiiYertretimg,  Verwaltuugsrecht. 

I.  Nicht  mehr  zu  den  Scheinberechtigungen,  wohl  aber  zu 
den  Scheinlegitimationen  gehört  §  370.  ,,Der  Überbringer  einer 
Quittung  gilt  als  ermächtigt,  die  Leistung  zu  empfangen,  sofern 
nicht  die  dem  Leistenden  bekannten  Umstände  der  Annahme 
einer  solchen  Ermächtigung  entgegenstehen."  Das  bedeutet,  der 
Schuldner  wird  durch  Leistung  an  den  Überbringer  der  echten 
Quittung  frei.  Vorlegung  einer  gefälschten  Quittung  ist  keine 
Rechtsausübung,  sondern  lediglich  Betrug,  nur  die  Vorlegung  der 
echten,  wenn  auch  unrechtmäßig  erworbenen  Quittung  ist  Aus- 
übung der  durch  diese  Quittung  gegebenen  Legitimation.  Die 
Quittung  gibt  kein  Recht  zur  Empfangnahme,  denn  der  Quittungs- 
träger als  solcher  hat  niemals  ein  Klagerecht  darauf,  daß  ihm  ge- 
leistet werde;  sie  gibt  nur,  wie  das  BGB.  richtig  sagt,  eine  Er- 
mächtigung, d.  h.  sie  verschafft  dem  Überbringer  die  rechtliche 
Möglichkeit,  mit  schuldtilgender  Kraft  die  Leistung  entgegen- 
zunehmen. Diese  Möglichkeit,  mit  schuldtilgender  Kraft  die 
Leistung  entgegenzunehmen,  ist  unmittelbar  die  Ausübungs- 
möghchkeit  in  Ansehung  des  Forderungsrechtes,  allerdings  eine 
Ausübungsmöglichkeit  in  fremdem  Namen,  anders  als  bei  den 
gestohlenen  Zinsscheinen,  den  gestohlenen  Inhaberpapieren.  Hier 
gibt  der  Besitz  der  Urkunde  die  Ausübungsmöglichkeit  im  eigenen 
Namen,    d.  h.    der    Empfänger   wird   sofort    Eigentümer    des    Ge- 

1)  Praktisch  wird  solche  Fälschung  kaum  vorkommen,  denn  die  Belange  des 
überlebenden  Gatten  verweisen  ihn  auf  das  Gegenteil.  Er  steht  sich  ohne  fort- 
gesetzte Gütergemeinschaft  besser,  da  er  bei  fortgesetzter  Gütergemeinschaft  keinen 
Erbanteil  an  dem  Anteil  des  verstorbenen  Gatten  erhält. 


170 


Krückmann : 


leisteten,  die  Quittung  gibt  nur  Ausübungsmöglichkeit  im  fremden 
Namen,  d.  h.  im  Namen  des  Gläubigers,  und  darum  geht  das 
Eigentum  an  dem  Geleisteten  zunächst  auf  den  Gläubiger,  nicht 
auf  den  Quittungsträger,  über.  Man  wird  jetzt  verstehen,  daß 
Legitimation  der  Besitz  an  all  den  äußeren,  sinnlich  wahrnehm- 
baren Merk-  und  Kennzeichen  ist,  aus  denen  die  Zuständigkeit 
eines  Rechtes  oder  einer  Rechtsstellung  erschlossen  wird  oder 
nach  Vorschrift  des  Gesetzes  erschlossen  werden  soll.  In  weiterem 
Sinne  ist  Legitimation  die  durch  den  Besitz  an  diesen  Kennzeichen 
begründete  Ausübungsmüglichkcit  an  gewissen  Rechten  und  Rechts- 
stellungen. Also  bald  Ixgitimationsmittel,  bald  Legitimations- 
wirkung. Der  Quittungsträger  gewinnt  durch  den  Besitz  an  dem 
Legitimationsmittel,  dem  Schein,  die  Legitimation  als  Empfangs- 
ermächtigter, die  Ausübungsmöglichkeit  für  das  Forderungsrecht 
als  Ausübungsmöglichkeit  in  fremdem  Namen.  Er  gilt  nicht  als 
Gläubiger,  sondern  als  Bevollmächtigter,  genauer  als  Empfangs- 
bevollmächtigter, Vertreter  des  Gläubigers. 

II.     Die    Vollmacht   erlischt    mit    dem    Rechtsverhältnis,    auf 
dem  sie  beruht,  aus  dem  sie  hervorgegangen  ist,  §  i68.    Wird  der 
Handlungsgehilfe  entlassen,  erhscht  mit  dem  Dienstvertrag  auch 
seine    Vollmacht,      Dies   macht   keine    Schwierigkeiten,    wenn   der 
Bevollmächtigte  etwa  im  Laden  tätig  war.     Außerhalb  des  Ladens 
hat  er  keine  Vollmacht  und  so  können  Irrtümer  und  Mißbräuche 
kaum  vorkommen.     Anders,  wenn  der  Bevollmächtigte  Geschäfts- 
reisender   ist,    und    hier    sind    wiederholt    Täuschungen    versucht 
worden.     Soll  nun  der  gutgläubige   Geschäftskunde  den   Schaden 
tragen   oder   der    Geschäftsherr.?      Nach   strenger    Folgerichtigkeit 
müßte  der  Kunde  leiden,  denn  er  hat  sich  mit  jemand  eingelassen, 
der  keine  Vollmacht  mehr  hatte.     Gegen  diese  und  ähnliche  Ge- 
fahren schützen  verschiedene   Bestimmungen,   die   in  ihrem  sach- 
lichen  Gehalt  alle  darauf  hinauslaufen,  daß  ein  Bevollmächtigter 
unter  Umständen  eine  gar  nicht  mehr  bestehende  oder  gar  nicht 
entstandene    Vollmacht    ausüben    kann.      Der    gutgläubige    Dritte 
wird  geschützt,  es  sei  denn,  daß  er  das  Erlöschen  der  Vollmacht 
kennen  muß,  §  173. 

Hiernach  erklären  sich  die  nachstehenden  Bestimmungen  sehr 
leicht. 

§  170.  ,,\Vird  die  Vollmacht  durch  Erklärung  gegenüber  einem 
Dritten  erteilt,  so  bleibt  sie  diesem  Dritten  gegenüber  in  Kraft, 
bis  ihm  das  Erlöschen  von  dem  Vollmnehtgeber  angezeigt  wird." 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  j  7 1 

Die  Vollmacht  kann  auf  zweierlei  Weise  erteilt  und  entzogen  werden, 
unter  vier  Augen  zwischen  Vollmachtgeber  und  Bevollmächtigtem 
oder  durch  Mitteilung  an  den  Dritten.  Dann  ist  diese  Mitteilung 
selber  erst  die  Bevollmächtigung,  nicht  etwa  bloß  Nachricht  von 
einer  schon  vollzogenen  Bevollmächtigung,  §  170.  In  §  1 70  werden 
beide  Fälle  umfaßt.  Das  bedeutet  praktisch:  Die  unter  vier  Augen 
entzogene  Vollmacht  ist  damit  an  sich  erloschen,  aber  der  ahnungs- 
lose Dritte  kann  sie  als  fortbestehend  behandeln. 

§  171.  Hat  jemand  durch  besondere  Mitteilung  an  einen 
Dritten^)  oder  durch  öffentliche  Bekanntmachung  kundgegeben, 
daß  er  einen  anderen  bevollmächtigt  habe,  so  ist  dieser  auf  Grund 
der  Kundgebung  im  ersteren  Falle  dem  Dritten  gegenüber,  im 
letzteren  Falle  jedem  Dritten  gegenüber  zur  Vertretung  befugt. 

Die  Vertretungsmacht  bleibt  bestehen,  bis  die  Kundgebung 
in  derselben  Weise,  wie  sie  erfolgt  ist  widerrufen  wird."  Also 
auch  dann,  wenn  eine  Vollmacht  überhaupt  nicht  oder  ungültiger- 
weise oder  in  beschränktem  Umfange  erteilt  worden  ist,  vgl.  die 
schon  besprochenen  §§  409,   576,  o.  §  4,  A.  VII,  3,  4. 

§  172.  ,,Der  besonderen  Mitteilung  einer  Bevollmächtigung 
durch  den  Vollmachtgeber  steht  es  gleich,  wenn  dieser  dem  Ver- 
treter eine  Vollmachtsurkunde  ausgehändigt  hat  und  der  Ver- 
treter sie  dem  Dritten  vorlegt. 

Die  Vertretungsmacht  bleibt  bestehen,  bis  die  Vollmachts- 
urkunde dem  Vollmachtgeber  zurückgegeben  oder  für  kraftlos 
erklärt  wird." 

III.    Rechtsähnlich  sind  folgende  Fälle: 

I-  §  674.  ,, Erlischt  der  Auftragt)  in  anderer  Weise  als  durch 
Widerruf,  so  gilt  er  zugunsten  des  Beauftragten  gleichwohl  als 
fortbestehend,  bis  der  Beauftragte  von  dem  Erlöschen  Kenntnis 
erlangt  oder  das  Erlöschen  kennen  muß."  Das  hat  zur  Folge, 
daß  der  Beauftragte,  der  z.  B.  für  den  Auftraggeber  eine  Ware 
kaufen,  eine  Mitteilung  an  einen  anderen  überbringen  sollte,  recht 
daran  tut,  die  Ware  zu  kaufen,  die  Mitteilung  an  den  Empfänger 
abzugeben,  mag  dem  Auftraggeber  damit  auch  nicht  gedient  sein. 


^)  Die  Geschäfte  pflegen  an  ihre  Kunden  Rundschreiben  mit  faksimilierter 
Unterschrift  des  neuen  Prokuristen  usw.  zu  versenden. 

^)  Auftrag  und  Vollmacht  unterscheiden  sich  dadurch,  daß  kraft  Auftrages 
jemand  etwas  tun  soll,  kraft  Vollmacht  etwas  tun  kann,  nämlich  im  fremden  Namen 
handeln.  Der  Beauftragte  kann  bevollmächtigt  sein  und  ist  es  vielfach,  notwendig 
ist  es  aber  nicht,  s.  das  Folgende. 


1/2 


Krückmann : 


Der   Beauftragte   kann   nicht   haftbar  gemacht   werden  etwa   mit 
der  Begründung,  daß  er  seinen  Auftrag  überschritten  habe. 

2.  Dies  ist  in  §  23  der  Konkursordnung  wiederholt.  Ein 
Auftrag  des  Gemeinschuldners  erlischt  mit  der  Eröffnung  des 
Konkurses,  aber  dem  Beauftragten  kommt  §  674  zugute. 

3.  Wenn  mehrere  zu  gemeinsamen  Zwecken  einen  Gcsellschafts- 
vertrag  geschlossen  haben  und  einen  Gesellschafter  mit  der  Geschäfts- 
führung beauftragt  haben,  entsteht  daraus  zunächst  nur  die  Pflicht, 
gewisse  Handlungen  vorzunehmen,  es  entsteht  daraus  aber  noch  nicht 
das  Recht  und  die  Pflicht,  sie  im  Namen  der  Gesellschafter  vorzu- 
nehmen. Gesetzt,  A.,  B.,  C.  vereinigen  sich,  auf  gemeinsame  Kosten 
ein  Haus  zu  kaufen,  um  es  später  mit  Gewinn  wieder  zu  verkaufen, 
so  können  sie  gemeinsam  den  Kaufvertrag  abschließen;  sie  können 
aber  auch  den  A.  beauftragen,  allein  den  Kaufvertrag  abzuschließen. 
Der  Auftrag  kann  nun  wieder  dahin  gehen,  daß  A.  im  eigenen  Namen 
kaufen  und  sich  allein  in  das  Grundbuch  eintragen  lassen  soll, 
oder  daß  A.  im  Namen  aller  drei  kiufen  soll  und  daß  alle  drei  in 
das  Grundbuch  als  Miteigentümer  eingetragen  werden  sollen.  Im 
letzten  Falle  liegt  Auftrag  und  Vollmacht  vor,  im  zweiten  Falle 
bloßer  Auftrag,  im  ersten  Falle  weder  das  eine  noch  das  andere. 
Nach  §  714  enthält  die  Übertragung  der  Geschäftsführung  im 
Zweifel  auch  eine  Vollmacht  für  den  Geschäftsführer,  und  diese 
Befugnis  zur  Geschäftsführung  gilt  zugunsten  des  Geschäftsführers 
als  weiter  fortbestehend,  wenn  die  Gesellschaft  in  anderer  Weise 
als  durch  Kündigung  aufgelöst  wird,  z.  B.  durch  Tod  eines  Ge- 
sellschafters oder  Eröffnung  des  Konkurses  über  das  Vermögen 
eines  Gesellschafters,  §§  727,  728.  Diese  Fiktion  des  Fortbestandes 
kommt  dem  Geschäftsführer  aber  dann  nicht  zugute,  wenn  er  die 
Auflösung  der  Gesellschaft  kennt  oder  kennen  muß,  §  729  Satz  2. 

Aus  den  §§  674,  729  zieht  nun  §  169  die  Folgerung  zugunsten 
des  Dritten,  der  Gegenpartei,  die  sich  mit  dem  Geschäftsführer 
eingelassen  hat.  Auch  ihm  gegenüber  gilt  die  Vollmacht  als  weiter 
bestehend,  es  sei  denn,  daß  er  bei  der  Vornahme  des  Rechtsgeschäftes 
mit  dem  Geschäftsführer  das  Erlöschen  kennt  oder  kennen  muß. 

4.  Nach  §§  54 — 56  des  Handelsgesetzbuches  wirken  Be- 
schränkungen in  der  Handlungsvollmacht  gegen  Dritte  nur, 
wenn  der  Dritte  sie  kannte  oder  kennen  mußte. 

5.  Es  sei  auch  erinnert  an  die  Beschränkung  der  Schlüssel- 
gewalt der  Frau  und  ihre  Wirkung  gegen  Dritte,  §  1357  H,  s.  oben 
§5,  VI. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht.  j^^ 

6.  Wird  der  Vercinsvorstand  geändert,  so  kann  dies  denen, 
die  sich  noch  mit  dem  alten  Vorstand  eingelassen  haben,  nur  dann 
entgegengesetzt  werden,  wenn  der  Personenwechsel  ihnen  bekannt 
oder  wenn  er  in  das  Vereinsregister  eingetragen  ist.  Andernfalls 
darf  die  Gegenpartei  den  früheren  Vorstand  noch  immer  als  den 
richtigen  Vertreter  des  Vereins  behandeln,   §  68. 

Entsprechendes  gilt,  wenn  der  Vorstr.nd  zwar  nicht  entlassen, 
aber  in  seiner  Vertretungsbefugnis  beschränkt  wird,  §  70. 

7.  Genossenschaftsgesetz  §  29.  ,,Eine  Änderung  des  Vor- 
standes, eine  Beendigung  der  Vertretungsbefugnis  eines  Vorstands- 
mitgliedes, sowie  eine  Änderung  des  Statuts  rücksichtlich  der  Form 
für  Willenserklärungen  des  Vorstandes  kann,  solange  sie  nicht 
in  das  Genossenschaf tsregistcr  eingetragen  und  öffentlich  bekannt 
gemacht  ist,  von  der  Genossenschaft  einem  Dritten  nicht  ent- 
gegengesetzt werden,  es  sei  denn,  daß  dieser  von  der  Änderung 
oder  Beendigung  Kenntnis  hatte. 

Nach  der  Eintragung  und  Bekanntmachung  muß  der  Dritte 
die  Änderung  oder  Beendigung  gegen  sich  gelten  lassen,  es  sei 
denn,  daß  er  sie  weder  kannte  noch  kennen  mußte." 

IV.  Eine  sehr  rechtsähnliche  Gruppe  ist  die  folgende.  Es 
handelt  sich  in  ihr  nicht  eigentlich  um  Vollmacht,  eine  andere 
Person  in  deren  Namen  zu  vertreten,  um  das,  was  der  Jurist 
zweckmäßigerweise  Personalvertretung  nennt,  vielmehr  kommt 
hier  eine  Erscheinung  in  Betracht,  die  den  Laien  äußerlich 
täuschen  kann,  aber  von  allen  Vollmachtsverhältnissen  streng 
zu  scheiden  ist:  die  Verwaltungsbefugnis  aus  eigenem  Rechte. 
Vollmacht  ist  niemals  ein  eigenes  Recht  des  Bevollmächtigten, 
ist  sie  doch  grundsätzlich  jederzeit  entziehbar.  Verwaltungs- 
befugnis aus  eigenem  Rechte  aber  ist  grundsätzlich  uncntziehbar, 
denn  sie  ist  echtes  Recht  und  das  Merkmal  echten  Rechtes  be- 
steht, wie  schon  ausgeführt,  in  seiner  Unentziehbarkeit,  in  seiner 
—  man  beachte  die  gesteigerte  Fiktion,  die  aber  doch  am  zu- 
treffendsten das  Wesen  der  Sache  angibt  —  Sclbstbehauptungs- 
fähigkeit  aus  eigener  Kraft. 

I.  Solche  Verwaltungsbefugnis  aus  eigenem  Rechte  hat  im 
ehelichen  Güterrechte  der  Mann  am  Eingebrachten  der  Verwaltungs- 
gemeinschaft,  des  gesetzlichen  Güterstandes,  ferner  am  Eingebrach- 
ten der  Errungenschafts-  und  der  Fahrnisgemeinschaft  und  am 
Sondergut  der  allgemeinen  Gütergemeinschaft.  Er  hat  sie  weiter 
an  jeglichem   Gesamtgut   bei   allgemeiner   Gütergemeinschaft,   Er- 


174 


Krückmann : 


rungcnschafts-    und     Fahrnisgemcinschaft,    vgl.     §§  1373  ff.,     1525, 
1550  II.   1439,   I443ff-,   1519  II,   1549- 

Dies  vorausgeschickt,  erklären  sich  die  nachfolgenden  Be- 
stimmungen von  selber. 

§  1424.  ,,Der  Mann  ist  auch  nach  der  Beendigung  der  Ver- 
waltung und  Nutznießung  zur  Fortführung  der  Verwaltung  be- 
rechtigt (die  Frau  stirbt  plötzlich  auf  einer  Reise  und  die  Nach- 
richt erreicht  den  Mann  verspätet),  bis  er  von  der  Beendigung 
Kenntnis  erlangt  oder  sie  kennen  muß.  Der  Dritte  kann  sich  auf 
diese  Berechtigung  nicht  berufen,  wenn  er  bei  der  Vornahme  eines 
Rechtsgeschäftes  die  Beendigung  der  Verwaltung  und  Nutznießung 
kennt  oder  kennen  muß. 

Endigt  die  Verwaltung  und  Nutznießung  infolge  des  Todes 
der  Frau,  so  hat  der  Mann  diejenigen  zur  Verwaltung  gehörenden 
Geschäfte,  mit  deren  Aufschub  Gefahr  verbunden  ist,  zu  besorgen, 
bis  der  Erbe  anderweit  Fürsorge  treffen  kann." 

§  1472  I.  ,,Die  Verwaltung  des  Gesamtgutes  steht  bis  zur 
Auseinandersetzung  beiden  Ehegatten  gemeinschaftlich  zu  (falls 
die  Gütergemeinschaft  aufgelöst  wird).  Die  Vorschriften  des 
§  1424  finden  Anwendung." 

§  1497  I-  ,,Nach  der  Beendigung  der  fortgesetzten  Güter- 
gemeinschaft findet  in  Ansehung  des  Gesamtgutes  die  Auseinander- 
setzung statt. 

Bis  zur  Auseinandersetzung  bestimmt  sich  das  Rechtsverhältnis 
der  Teilhaber  am  Gesamtgute  nach  den  §§  1442,   1472,   1473."^) 

§  1546.  ,,Nach  der  Beendigung  der  Errungenschaftsgemein- 
schaft findet  in  Ansehung  des  Gesamtguts  die  Auseinandersetzung 
statt.  Bis  zur  Auseinandersetzung  bestimmt  sich  das  Rechts- 
verhältnis der  Ehegatten   nach  den  §§  1442,   1472,   1473. 

Auf  das  eingebrachte  Gut  der  Frau  finden  die  für  den  Güter- 
stand der  Verwaltung  und  Nutznießung  (Verwaltungsgcmeinschaft, 
gesetzlicher  Güterstand)  geltenden  Vorschriften  der  §§  1421 — 1424 
Anwendung." 

Den  schon  mehrfach  angeführten  §  1549  setze  ich  als  bekannt 
voraus. 

2.  Um  ganz  ähnliche  Fälle  handelt  es  sich  bei  der  Verwaltungs- 
befugnis,    die    dem    Inhaber   der   elterlichen    Gewalt   aus   eigenem 

')  Typisches  Beispiel  für  die  allgemein  als  unglücklich  empfundene  Ver- 
schachtclung  des  BGB.:  §  1497  II  verweist  auf  §  1472,  und  §  1472  I  verweist  auf 
§  1424.     Vgl.  §§  1546,  1549. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht,  I  7  c 

Rechte  an  dem  Kindesvermögen  zusteht,  solange  die  clterHche 
Gewalt  dauert.  Das  Kind  steht,  solange  es  minderjährig  ist,  unter 
elterlicher  Gewalt,  also  bis  zum  vollendeten  21.  Lebensjahre  oder 
bis  zu  seiner  Volljährigkeitserklärung,  die  nach  Vollendung  des 
18.  Lebensjahres  zulässig  ist,  §§  1626,  2,  3.  Der  Inhaber  der  elter- 
lichen Gewalt  kann  sie  aber  in  besonderen  Fällen  auch  schon  vor 
der  Volljährigkeit  des  Kindes  verlieren.^) 

§  1682.  ,,Der  Vater  ist  auch  nach  der  Beendigung  seiner  elter- 
lichen Gewalt  zur  Fortführung  der  mit  der  Sorge  für  die  Person 
des  Kindes  und  das  Vermögen  des  Kindes  verbundenen  Geschäfte 
berechtigt,  bis  er  von  der  Beendigung  Kenntnis  erlangt  oder  sie 
kennen  muß.  Ein  Dritter  kann  sich  auf  diese  Berechtigung  nicht 
berufen,  wenn  er  bei  der  Vornahme  eines  Rechtsgeschäftes  die 
Beendigung  der  elterlichen  Gewalt  kennt  oder  kennen  muß. 

Diese  Vorschriften  finden  entsprechende  Anwendung,  wenn 
die  elterliche  Gewalt  des  Vaters  ruht  oder  aus  einem  anderen 
Grunde  seine  Vermögensverwaltung  aufhört."^) 

§  1686.  ,,Auf  die  elterliche  Gewalt  der  Mutter  finden  die  für 
die  elterliche  Gewalt  des  Vaters  geltenden  Vorschriften  Anwendung, 
soweit  sich  nicht  aus  den  §§  1687 — 1697  ein  anderes  ergibt." 

V.    Eine  weitere  Rechtsähnlichkeit  enthält  die  Vorerbschaft. 
Früher  behalf  man  sich  meistens  damit,  daß  man  der  Witwe  den 
Nießbrauch    an    einem    erheblichen    Teile    des    Nachlasses    sicher- 
stellte, heute  greift  man  mehr  zur  Vorerbschaft.     Man  kann  prak- 
tisch in  beiden  Formen  annähernd  dasselbe  erreichen.     Der  Unter- 
schied besteht  in  folgendem:  Wenn  der  Erblasser  seiner  Frau  die 
Fortführung  des  Lebens  in  der  gewohnten  Umgebung  (Haus  mit 
Einrichtung,    Landgut)    ermöglichen    will,    kann   er   diese    Sachen 
seinen    Kindern   verschreiben,    seiner    Frau   aber   den   Nießbrauch 
vorbehalten.      Dann   werden    in   das    Grundbuch    als    Eigentümer 
die  Kinder  eingetragen  oder  das  Kind,  dem  bei  der  Erbauseinander- 
setzung das    Grundstück  zugewiesen  wird;   zugleich  wird   für  die 
Xlutter  der  Nießbrauch  eingetragen.     Die  Mutter  ist  nicht  Eigen- 
tümerin des   Grundstückes.     Oder  aber  die  Mutter  wird  als  Vor- 
erbin eingesetzt  und  es  wird  bestimmt,  daß  bei  der  Erbauseinander- 


1)  Vgl.  hierüber  das  einzelne  in  meinen  Institutionen  des  BGB.  (4.  Aufl.), 
S.  688 ff.,  695. 

2)  Vgl.  zur  Sorge  für  die  Person,  zum  Ruhen  der  elterlichen  Gewalt,  zur  Be- 
endigung bloß  der  Vermögensverwaltung  ohne  Beendigung  der  gesamten  elter- 
lichen Gewalt  meine  Institutionen   (4.  Aufl.),  S.  688 ff.,  690;;   693f.,    694!.,    6906. 


176 


Krückmann : 


Setzung  ihr  das  Grundstück  als  Vorerbin  zugewiesen  werden  soll. 
Dann  wird  die  Mutter  als  Eigentümerin  eingetragen,  aber  mit 
dem  Zusatz  kraft  Vorerbschaft.  Das  will  besagen,  daß  jeder 
damit  zu  rechnen  hat,  daß  die  Frau  nicht  unbeschränkt  über 
das  Grundstück  verfügen  kann,  sondern  die  Rechte  der  Nach- 
erben, d.  h.  derer,  die  nach  dem  Willen  des  Mannes  und  Vaters 
das  Grundstück  später  haben  sollen,  achten  muß.  Die  Mutter 
erhält  also  kein  volles,  freies,  ungebundenes  Eigentum,  sondern 
ein  durch  die  Nacherbschaft  gebundenes  Eigentum,  und  diese 
Gebundenheit  wird  durch  eine  Eintragung  in  das  Grundbuch 
vcrlautbart.  In  diesem  Beispiel  endet  die  Vorerbschaft  mit  dem 
Tode  der  Mutter,  sie  kann  aber  auch  schon  bei  Lebzeiten  des 
Vorerben  enden,  wenn  der  Erblasser  etwas  Derartiges  bestimmt 
hat,  und  der  Grund  für  die  Beendigung  kann  sehr  verschieden  sein. 
So  kann  die  Vorerbschaft  ohne  weiteres  durch  die  Geburt  eines 
Nacherben  beendet  werden,  sie  soll  dann  eben  nur  so  lange  dauern, 
als  ein  Nacherbe  noch  nicht  vorhanden  ist.  Also,  der  Vater  enterbt 
rechtswirksam  sein  unverheiratetes  Kind,  setzt  als  Vorerben  einen 
ihm  nahestehenden  Freund  ein,  mit  der  Maßgabe,  daß  eheliche 
Kinder  des  Enterbten  Nacherben  sein  sollen,  und  zwar  sofort  von 
dem  Augenblick  der  Geburt  an.  Bei  solcher  Bestimmung  kann 
die  Nacherbschaft  fällig  werden,  ohne  daß  der  Vorerbe  oder  die 
mit  ihm  verhandelnden  Gegenparteien  etwas  davon  erfahren.  Dem 
trägt  §  2140  Rechnung: 

,,Der  Vorerbe  ist  auch  nach  dem  Eintritt  der  Nacherbfolge 
zur  Verfügung  über  die  Nachlaßgegenstände  in  dem  gleichen  Um- 
fange berechtigt  wie  vorher,  bis  er  von  dem  Eintritt  Kenntnis 
erlangt  oder  ihn  kennen  muß.  Ein  Dritter  kann  sich  auf  diese 
Berechtigung  nicht  berufen,  wenn  er  bei  der  Vornahme  eines  Rechts- 
geschäftes den  Eintritt  kennt  oder  kennen  muß." 

Dem  Vorerben  kann  aber  schon  während  der  Dauer  seiner 
Vorerbschaft  zwar  nicht  die  Nutznießung,  wohl  aber  die  Ver- 
waltung entzogen  werden,  wenn  sein  Verhalten  oder  seine  un- 
günstige Vermögenslage  die  Besorgnis  einer  erheblichen  Ver- 
letzung der  Rechte  der  Nacherben  begründet.  In  diesem  Falle 
kann  der  Nacherbe  Sicherheitsleistung  verlangen^),  §  2128.  Ist 
der    Vorerbe    zur    Sicherheitsleistung    rechtskräftig    verurteilt,    so 


*)  Durch   Hinterlegung  von   Geld  oder   Wertpapieren,  Verpfändung  von   For- 
derungen, beweglichen  Sachen,  Bestellung  von  Hypotheken  usw.,  vgl.  §  232. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


177 


kann  der  Nacherbe  statt  der  vielfach  gar  nicht  zu  erbringenden 
Sicherheit  verlangen,  daß  die  Ausübung  der  Vorerbrechtes  für 
Rechnung  des  Vorerben  einem  gerichtlich  zu  bestellenden  Ver- 
walter übertragen  wird,  §§  2128  II,  1052.  Daraus  zieht  §  2129 
die  praktischen  Folgerungen: 

,,Wird  dem  Vorerben  die  Verwaltung  nach  den  Vorschriften^) 
des  §  1052  entzogen,  so  verliert  er  das  Recht,  über  die  Erbschafts- 
gegenstände zu  verfügen.^)  Die  Vorschriften  zugunsten  derer,  die 
Rechte  von  einem  Nichtberechtigten  herleiten,  finden  entsprechende 
Anwendung.  Für  die  zur  Erbschaft  gehörenden  Forderungen  ist 
die  Entziehung  der  Verwaltung  dem  Schuldner  gegenüber  erst 
wirksam,  wenn  er  von  der  getroffenen  Anordnung  Kenntnis  erlangt 
oder  wenn  ihm  eine  Mitteilung  von  der  Anordnung  zugestellt  wird.') 
Das  gleiche  gilt  von  der  Aufhebung  der  Entziehung." 

VI.  An  sich  mehr  an  die  Vollmacht  als  an  das  Verwaltungs- 
recht aus  eigenem  Rechte  gehört  die  Rechtsstellung  des  Vor- 
mundes, aber  sie  ist  vom  Gesetz  unter  die  §§  1682,  1683  gestellt 
worden,  §  1693  I,  so  daß  auch  der  gewesene  Vormund  bis  zur 
Kenntnis  seiner  Entlassung  usw.  die  Rolle  als  Vormund  weiter 
spielen  kann. 

§  10.    Rückwirkende  Kraft. 

I.  Eine  ausgesprochene  Fiktion  enthält  die  für  den  Juristen 
unentbehrliche  rückwirkende  Kraft. 

Sie  ist  das  Merkmal  aller  Anfechtung,  ob  nun  ein  Kauf  wegen 
Irrtums  über  wesentliche  Eigenschaften  der  Ware,  oder  ein  An- 
stellungsvertrag wegen  Irrtums  über  wesentliche  Eigenschaften  des 
Angestellten  angefochten  wird,  oder  ob  ein  Gatte  aus  den  gesetzlich 
zugelassenen  Gründen  die  Ehe  anficht.  Immer  soll  alles  so  ge- 
halten werden,  als  ob  das  Rechtsverhältnis  von  Anfang  an  nichtig 
gewesen  sei,  §§119—124,   142,   1330— 1335,   1343,   1350. 


1)  Eine  der  vielen  Schwerfälligkeiten  des  BGB.,  die  leider  auch  in  die  Sprache 
unserer  Gerichte  übergegangen  ist.     Einfacher  hätte  es  geheißen:  nach  §  1052! 

*)  Dieses  Recht  hat  er  überhaupt  nur  in  sehr  beschränktem  Maße,  vgl.  §§  21 12  ff. 

3)  Die  Verwandtschaft  mit  §  407  springt  in  die  Augen,  aber  es  ist  doch  ein 
Unterschied.  Die  Abtretung  der  Forderung  entzieht  dem  Altgläubiger  die  For- 
derung ganz,  die  gerichtliche  Verwaltung  nimmt  dem  Vorerben  die  Forderung  nicht, 
entzieht  ihm  nur  die  Ausübungsmöglichkeit;  vgl.  die  in  §  4,  A.  VIII,  4  ange- 
führten §  1280,  Zivilprozeßordnung  §  829  III,  Gesetz  über  die  Zwangsversteigerung 
und  die  Zwangsverwaltung    §  22  II. 

Annalen  der  Philosophie,    i.  12 


178 


Krückmann : 


Dies  erklärt  sich  daraus,  daß  das  Anfechtbare  dem  wahren 
Willen  des  Erklärenden  nicht  entspricht,  ihm  niemals  entsprochen 
hat.  Es  wird  angefochten  auf  Grund  von  Tatumständen,  die 
schon  bei  Abgabe  der  Erklärung  vorliegen,  nicht  erst  später  ein- 
treten. Dies  ist  der  Unterschied  von  der  Kündigung.  Die  Kündigung 
soll  und  will  nur  ex  nunc  wirken  und  dem  Rechtsverhältnis  für  die 
Zukunft  ein  Ende  machen,  die  Anfechtung  will  es  auch  für  die 
Vergangenheit  auslöschen,  ex  tunc,  weil  der  Auslöschungsgrund 
schon  von  Anfang  an  bestanden  hat,  nur  nicht  früher  zur  Geltung 
gekommen  ist.  Man  kann  dies  besonders  deutlich  an  den  Gründen, 
die  die  Anfechtung  der  Ehe  rechtfertigen,  sehen:  beschränkte 
Geschäftsfähigkeit  bei  Eheschluß,  Irrtum  bei  Eheschluß,  arg- 
hstige  Täuschung  und  Drohung  bei  Eheschluß,  §§  1330 ff.  Man 
erkennt  die  Bedeutung  dieser  Tatumständc  richtig,  wenn  man  sie 
mit  den  Scheidungsgründen  vergleicht.  Scheidung  ist  richtige 
Kündigung  ex  nunc,  geschieht  auf  Grund  von  Tatumständen, 
die  sich  nach  dem  Eheschluß  ereignet  haben,  setzt  für  die  Scheidungs- 
gründe einen  vollzogenen  Eheschluß  als  geschichtliches  Prius  voraus. 
Dagegen  fallen  Anfechtungsgründe  und  Eheschluß  geschichtlich 
in  denselben  Augenblick  notwendig  zusammen. 

II.  I.  So  erklärt  sich  die  Rolle,  die  die  Anfechtung  bei  der 
Erbeinsetzung  spielt.  Jeder  Erblasser  kann  sein  Testament  be- 
liebig widerrufen  und  dadurch  auslöschen,  zuweilen  aber  gelangt 
der  Erblasser  nicht  mehr  rechtzeitig  zum  Widerruf,  und  doch  ist 
nichts  sicherer,  als  daß  das  Testament  seinem  wahren  Willen 
widerspricht.  So  kommt  es,  daß  unter  Umständen  Dritte  das 
nachholen  können,  wozu  der  Erblasser  nicht  mehr  imstande  war. 
Was  bei  dem  Erblasser  aber  freier  Widerruf  ist,  muß  bei  anderen 
zur  Anfechtung  werden,  d.  h.  zur  begründeten  Anfechtung. 

Nach  §  2078  ist  Anfechtung  einer  letztwilligcn  Verfügung 
gestattet,  wenn  der  Erblasser  über  den  Inhalt  seiner  Erklärung 
im  Irrtum  war  oder  eine  Erklärung  dieses  Inhaltes  überhaupt 
nicht  abgeben  wollte  und  anzunehmen  ist,  daß  er  sie  bei  Kenntnis 
der  Sachlage  nicht  abgegeben  haben  würde.  Wer  die  Kinder  seiner 
vollbürtigen  Geschwister  allein  einsetzen  will  und  dies  mit  den 
Worten  tut:  Ich  setze  meine  gesetzlichen  Erben  ein,  der  setzt 
damit  gegen  seinen  Willen  zugleich  auch  die  Kinder  seiner  halb- 
bürtigen Geschwister  ein,  denn  auch  diese  erben  zugleich  mit  den 
vollbürtigen  Geschwistern,  allerdings  zu  einem  geringeren  Teile. 
Ihre  Einsetzung  entspricht  aber  nicht  dem  Willen  des  Erblassers 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


179 


und,  wenn  nachgewiesen  werden  kann,  daß  der  Erblasser,  ver- 
anlaßt durch  eine  unrichtige  Auskunft  der  Gemeindevorstehers, 
unter  gesetzlichen  Erben  nur  die  vollbürtigen  Geschwister  und 
deren  Kinder  verstanden  hat,  kann  die  Einsetzung  der  halb- 
bürtigen Geschwisterkinder  angefochten  werden,  denn  sie  waren 
unter  dem  Ausdruck  ,, gesetzliche  Erben"  nicht  mitgemeint. 

2.  In  §  2079  taucht  neben  der  Rückwirkung  aber  noch  eine 
zweite  Fiktion  auf:  Dem  Erblasser  wird  ein  Wille  unterstellt,  den 
er  gar  nicht  gehabt  hat,  den  er  aber  gehabt  haben  würde,  wenn 
er  richtig  unterrichtet  gewesen  wäre  und  alles  bedacht  hätte.  Sein 
,, richtiger"  Wille  wird  fingiert.  Das  Gesetz  geht,  an  sich  auch 
zutreffend,  davon  aus,  daß  kein  Erblasser  ohne  Not  seine  Pflicht- 
teilserben übergehen  wird.  Dies  kann  aber  unter  Umständen 
ganz  unfreiwillig  vorkommen,  wenn  nämlich  der  Erblasser  nicht 
weiß,  daß  Pflichtteilserben  da  sind.  Der  Erblasser,  in  Unkenntnis, 
daß  der  totgesagte  und  totgeglaubte  Sohn  doch  noch  lebt,  erwähnt 
ihn  gar  nicht  im  Testament  und  setzt  nun  seine  Heimatstadt  ein. 
Nach  seinem  Tode  erscheint  der  Sohn  wieder.  An  sich  steht  ihm 
das  Recht  auf  seinen  Pflichtteil  zu;  als  einziges  Kind  des  ver- 
witweten Vaters  würde  er  die  Hälfte  der  Erbschaft  als  Pflicht- 
teil fordern  können.  Das  Gesetz  geht  aber  noch  weiter  und  sagt: 
Der  Vater  würde,  wenn  er  von  dem  Leben  seines  Sohnes  gewußt 
hätte,  ihm  die  ganze  Erbschaft  hinterlassen  haben,  also  kann  der 
Sohn  das  Testament  anfechten.  Die  Stadt  geht  leer  aus  und  der 
Sohn  erhält  die  ganze  Erbschaft,  es  sei  denn,  daß  anzunehmen 
ist,  daß  der  Vater  auch  bei  Kenntnis  der  Sachlage  seine  Verfügung 
getroffen  haben  würde.  Es  muß  also  nicht  bewiesen  werden,  daß 
der  Vater  dem  Sohn  das  Ganze  zugewendet  haben  würde,  sondern 
es  ist  zu  beweisen,  daß  er  es  ihm  nicht  zugewandt  haben  würde. 
Nicht  der  Sohn  ist  für  das  Positive,  sondern  die  Stadt  ist  für  das 
Negative  beweispflichtig.  Die  Fiktion  hat  also  ihren  sehr  guten 
praktischen  Zweck,  vgl.  §  2079: 

,,Eine  letztwillige  Verfügung  kann  angefochten  werden,  wenn 
der  Erblasser  einen  zur  Zeit  des  Erbfalls  vorhandenen  Pflichtteils- 
berechtigten übergangen  hat,  dessen  Vorhandensein  ihm  bei  der 
Errichtung  der  Verfügung  nicht  bekannt  war  oder  der  erst  nach 
der  Errichtung  geboren  oder  pflichtteilsberechtigt  geworden  ist. 
Die  Anfechtung  ist  ausgeschlossen,  soweit  anzunehmen  ist,  daß 
der  Erblasser  auch  bei  Kenntnis  der  Sachlage  die  Verfügung  ge- 
troffen haben  würde." 

12* 


j  Qq  Krückmann : 

III.  Gleiche  Wirkung  hat  clic  Erklärung  der  Erbunwürdigkeit. 
Der  Mörder  des  Erblassers,  wer  den  Erblasser  durch  Gewalt,  arg- 
listige Täuschung,  Drohung  an  der  Erklärung  seines  letzten  Willens 
verhindert,  wer  eine  letztwilligc  Verfügung  vernichtet  hat  usw., 
vgl.  §  2339,  sie  alle  sind  erbunwürdig  und  ihr  Erbschaftserwerb 
kann  durch  die  angefochten  werden,  denen  der  Wegfall  des  Un- 
würdigen zugute  kommt,   §§  2340,  2341. 

,,Ist  ein  Erbe  für  unwürdig  erklärt,  so  gilt  der  Anfall  an  ihn 
als  nicht  erfolgt",  §  2344. 

Die  praktische  Folge  ist,  daß  die  Erbschaft  dem  gegeben  wird, 
der  im  Augenblick  des  Todes  des  Erblassers  der  Nächstberechtigte 
gewesen  wäre,  nicht  dem,  der  im  Augenblick  der  Rechtskraft  des 
die  Erbunwürdigkeit  aussprechenden  Urteils  der  Nächstberechtigte 
ist.      So  kommen  §2342  II:  ,,Die  Wirkung  der  Anfechtung  tritt 
erst  mit  der  Rechtskraft  des  Urteils  ein",  und  §  2344  II  in  Ein- 
klang: ,,Der  Anfall  (an  den  Nächstberechtigten  zur  Zeit  des  Todes 
des  Erblassers)  gilt  als  mit  dem  Eintritt  des  Erbfalls   (dem  Tode 
des  Erblassers)  erfolgt."     Der  Gedanke  ist,  daß  der,  dem  der  Erb- 
unwürdige  für  den   Erwerb  der   Erbschaft   im  Wege  stand,   oder 
seine  Erben,  die  Erbschaft  haben  sollen,  denn  tatsächlich  ist  doch 
nur   er  der  eigentlich    Geschädigte,   da  ohne  den  Dazwischentritt 
des  Erbunwürdigen  doch  gerade  er  die  Erbschaft  erhalten  haben 
würde.     Mit  der   Erbunwürdigkeit  wird  ein  Mangel  der   Rechts- 
stellung des  Unwürdigen  geltend  gemacht,  der  schon  im  Augen- 
blick des  Anfalls  der  Erbschaft  an  ihn  bestand,   folglich  ist  aus 
praktischen  Gründen  auch  hier  die  Rückwirkung  unentbehrlich. 

IV.  Entsprechendes  gilt  für  die  Anfechtung  der  Ehelichkeit 
eines  Kindes,  §§  I593ff.,  die  Anfechtung  der  Einwilligung  zur 
Ehelichkeitserklärung  oder  des  Antrages  auf  Ehelichkeitserklärung, 
§1731,  die  Anfechtung  der  Annahme  an  Kindesstatt  oder  Ein- 
willigung hierzu,  §  1755.  Es  kann  auch  nicht  gut  anders  sein, 
denn  es  ist  z.  B.  unvorstellbar,  daß  ein  Kind  eine  Zeit  hindurch 
ehelich  gewesen  sein  sollte,  später  aber  nicht  mehr.  In  gewissen 
Fragen  stehen  wir  vor  der  Wahl  des  Niemals  oder  Immer,  kommen 
dann  aber  natürlich  in  die  Schwierigkeiten  der  Rückwirkung  un- 
mittelbar hinein. 

V.  So  erklärt  es  sich,  daß  auch  die  bloße  Ausschlagung  der 
Erbschaft  rückwirkende  Kraft  hat.  Wer  ausschlägt,  soll  so  be- 
handelt werden,  als  ob  er  niemals  Erbe  geworden  wäre.  Nach 
dem   BGB.   wird   man  aber  Erbe   ipso   iure,   ohne  weiteres.     Um 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im   Recht.  jgj 

die  Erbschaft  zu  erwerben,  ist  eine  Annahmeerklärung  nicht  nötig, 
sie  bewirkt  nur,  daß  das  Ausschlagungsrecht  verloren  geht,  hat 
also  mehr  die  Wirkung  einer  Bestätigung  des  schon  vollzogenen 
Erbschaftserwerbes.  Entsprechend  wird  durch  die  Ausschlagung 
nicht  der  Erwerb  der  Erbschaft  verhindert,  das  ist  unmöglich, 
denn  er  ist  nun  einmal  ipso  iure  vollzogen,  aber  der  vollzogene 
Erbschaftserwerb  wird  nachträglich  mit  rückwirkender  Kraft  rück- 
gängig gemacht,  vgl.  §  1953.  ,,Wird  die  Erbschaft  ausgeschlagtn, 
so  gilt  der  Anfall   an  den   Ausschlagenden   als   nicht  erfolgt." 

Die  praktische  Folge  ist,  daß  die  Erbschaft  dem  anheimfällt, 
der  zur  Zeit  des  Todes  des  Erblassers  der  nächste  Erbe  ist,  nicht 
dem,  der  es  zur  Zeit  der  Ausschlagungserklärung  ist. 

VI.  Rückwirkende  Kraft  hat  auch  die  Aufrechnung  von 
Förderung  gegen  Gegenforderung.  Sie  wirkt  auf  den  Zeitpunkt 
zurück,  in  dem  sich  beide  aufrechnungsfähig  gegenübertraten, 
§  389.  Das  hat  zur  Folge,  daß  auch  mit  einer  verjährten  For- 
derung aufgerechnet  werden  kann,  wenn  sie  nur  einen  Tag  später 
verjährte,  als  die  Gegenforderung  entstand.  Forderungen  ver- 
jähren meistens  in  der  Neujahrsnacht.^)  Entstand  also  die  Gegen- 
forderung am  31.  Dezember,  so  kann  auch  dann  noch  aufgerechnet 
werden,  wenn  die  eigene  Forderung  an  dem  folgenden  i.  Januar 
verjährte. 

VII.  I.  Erbteil  des  römischen  Rechtes  ist  die  rückwirkende 
Kraft  der  Genehmigung,  §§  184,  185.  Ein  am  i.  August  im  Namen 
des  A.  geschlossenes  Geschäft,  zu  dem  A.  aber  keine  Vollmacht 
gegeben  hatte,  wird  durch  die  am  15.  August  erteilte  Genehmigung 
für  und  gegen  ihn  wirksam,  und  zwar  mit  dem  Datum  vom  l .  August, 
nichc  mit  dem  Datum  vom  15.  August.  Wirkung  ex  tunc,  im  Gegen- 
satz zur  Wirkung  ex  nunc.  Oder  eine  am  i.  August  vollzogene, 
am  15.  August  von  dem  Eigentümer  genehmigte  Eigentumsüber- 
tragung durch  einen  Nichtberechtigten  wird,  wenn  der  Erwerber 
um  die  Notwendigkeit  der  Genehmigung  wußte,  also  nicht  im 
guten  Glauben  war,  am  15.  August  wirksam,  aber  mit  dem  Datum 
vom  I.  August. 

Praktisch  ist  diese  für  uns  Juristen  unentbehrliche  Wirkung 
ex  tunc  das  einfachste  der  Welt,  aber  sie  ist  eine   Rückwirkung 


^)  Der  Rechtssicherheit  halber  läuft  die  Verjährung  in  den  meisten  Fällen 
nicht  von  einem  Datum  mitten  im  Jahre,  sondern  vom  Schlüsse  des  Jahres  an, 
in  dem  die  Forderung  entstand.  Damit  wird  der  Streit  um  Tag  und  Monat  ab- 
geschnitten, §  201. 


l32  Krückmann: 

und  kann  daher  juristisch  auch  nur  dazu  führen,  daß  die  Parteien 
so  behandelt  werden,  als  sei  Rückwirkung  eingetreten,  die  natürlich 
für  uns  Juristen  genau  so  unvorstellbar  ist  wie  für  andere. 

2.  Eine  rückwirkende  Bestätigung  kennt  auch  die  nichtige 
Ehe,  wenn  die  Nichtigkeit  auf  Geschäftsunfähigkeit,  Bewußtlosigkeit 
oder  vorübergehender  Störung  der  Geistestätigkeit  eines  Gatten  im 
Augenblick  der  Eheschließung  beruht. 

§  1325  II.  ,,Die  Ehe  ist  als  von  Anfang  an  gültig  anzusehen, 
wenn  der  Ehegatte  sie  nach  dem  Wegfalle  der  Geschäftsunfähigkeit, 
der  Bewußtlosigkeit  oder  der  Störung  der  Geistestätigkeit  bestätigt, 
bevor  sie  für  nichtig  erklärt  oder  aufgelöst  worden  ist.  Die  Be- 
stätigung bedarf  nicht  der  für  die  Eheschließung  vorgeschriebenen 
Form."     Sie  kann  durch  bewußtes  eheliches  Verhalten  geschehen. 

VIII.  Eine  gesetzliche  Erstarkung  eines  Rechtsverhältnisses 
tritt  mit  rückwirkender  Kraft  in  folgenden  Fällen  ein: 

1.  §  1324.  ,,Eine  Ehe  ist  nichtig,  wenn  bei  der  Eheschließung 
die  in  §1317  vorgeschriebene  Form  nicht  beobachtet  worden  ist. 

Ist  die  Ehe  in  das  Heiratsregister  eingetragen  worden  und 
haben  die  Ehegatten  nach  der  Eheschließung  10  Jahre  oder,  falls 
einer  von  ihnen  vorher  gestorben  ist,  bis  zu  dessen  Tode,  jedoch 
mindestens  3  Jahre  als  Ehegatten  miteinander  gelebt,  so  ist  die 
Ehe  als  von  Anfang  an  gültig  anzusehen.  Diese  Vorschrift  findet 
keine  Anwendung,  wenn  bei  dem  Ablaufe  der  10  Jahre  oder  zur 
Zeit  des  Todes  des  einen  Ehegatten  die  Nichtigkeitsklage  er- 
hoben ist." 

2.  §  1328.  ,,Eine  Ehe  ist  nichtig,  wenn  sie  wegen  Ehebruchs 
nach  §  1321  verboten  war. 

Wird  nachträglich  Befreiung  von  der  Vorschrift  des  §1312 
bewilligt,  so  ist  die  Ehe  als  von  Anfang  sn  gültig  anzusehen." 

Daß  es  von  der  höchsten  Bedeutung  sein  kann,  wenn  die  Ehe 
rückwirkend  vollgültig  wird,  liegt  auf  der  Hand.  Man  braucht 
nur  an  die  Rechtsstellung  der  vor  der  Befreiung  geborenen  Kinder 
zu  denken.  Da  beide  Gatten  im  bösen  Glauben  sind,  kommt  den 
Kindern  nichts  von  den  Vorrechten  einer  nichtigen  Ehe  zugute, 
sie  werden  aber  trotz  des  bösen  Glaubens  der  Eltern  vollehelichc 
Kinder  mit  Rückwirkung  auf  das  Datum  ihrer  Geburt,  sobald 
die  beiden  Ehebrecher  von  dem  Ehchindernis  des  Ehebruchs  be- 
freit werden.  Erinnert  sei  auch  an  die  weiteren  Folgen  für  das 
gegenseitige  Erbrecht  der  Eltern  und  Kinder,  die  elterliche  Nutz- 
nießung am  Kindesvermögen,  das  eheliche  Güterrecht  usw. 


4 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


183 


IX.  Die  Bedeutung  der  Rückwirkung  erhellt  deutlich  an  dem 
Gegenstück  des  §  313.  Grundstücksverkäufe  müssen,  um  wirksam 
zu  sein,  gerichtlich  oder  notariell  beurkundet  werden.  Sind  die 
beiden  Parteien  aber  zuverlässige  Personen,  die  sich  gegenseitig 
kennen,  so  können  sie  die  mit  der  Beurkundung  verbundenen 
Kosten  dadurch  sparen,  daß  sie  mündlich  oder  privatschriftlich 
abschließen  und  einfach  ihr  Wort  halten.  Erfolgt  später  die  Auf- 
lassung und  die  Eintragung,  so  wird  hierdurch  der  Vertrag  gültig, 
aber  ohne  rückwirkende  Kraft.  Das  hat  praktische  Bedeutung  für 
die  Gewährschaftsansprüche  wegen  Mängel,  z.  B.  Hausschwamm. 
Wird  der  Kauf  abgeschlossen  am  20.  Februar  und  zieht  der  Käufer 
am  I.  Juli  ein,  erfolgen  Auflassung  und  Eintragung  aber  erst  am 
10.  November,  so  beginnen  die  Ansprüche  des  Käufers  wegen 
Hausschwamms  erst  am  10.  November  zu  verjähren,  aber  nicht 
schon  am  l.  Juli  oder  gar  schon  am  20.  Februar.  Da  die  Ver- 
jährungsfrist nach  §  477  I  nur  ein  Jahr  beträgt,  ist  die  Fest- 
stellung dieses  Datums  wichtig,  denn  Hausschwamm  wird  oft  erst 
sehr  spät  erkannt.  Die  Fiktion  der  Rück\\irkung  würde  den 
Käufer  erheblich  beschränken. 

Nach  dem  Gesagten  wird  man  §  Ii6  verstehen.^) 
,,Ein  von  dem  Minderjährigen  ohne  Zustimmung  des  gesetz- 
lichen Vertreters  geschlossener  Vertrag  gilt  als  von  Anfang  an 
wirksam,  wenn  der  Minderjährige  die  vertragsmäßige  Leistung 
mit  Mitteln  bewirkt,  die  ihm  zu  diesem  Zwecke  oder  zu  freier 
Verfügung  von  dem  Vertreter  oder  mit  dessen  Zustimmung  von 
einem  Dritten  überlassen  worden  sind",  z.  B.  Taschengeld.  Die 
bare  Zahlung  heilt  die  Ungültigkeit  des  Vertrages  mit  rückv^'irkender 
Kraft.  Die  Folge  für  die  Verjährung  etwaiger  Mangelansprüchc, 
z.  B.  wenn  der  Minderjährige  sich  ein  Fahrrad  gekauft  hat,  liegt 
auf  der  Hand. 

X.  Ganz  auf  Rückwirkung  eingestellt  ist  die  sogenannte  Un- 
vordenklichkeit. Sie  ist  keine  Ersitzung  irgendeines  Rechtes,  ist 
aber  auch  keine  Rechtsbeschränkung  durch  Verjährung.  Beide 
wirken  ex  nunc  von  dem  Zeitpunkt  an,  wo  die  Ersitzungs-  oder 
aber  die  Verjährungsfrist  abgelaufen  ist.  Die  Unvordenklichkeit 
wirkt  ex  tunc  und  begründet  die  Vermutung,  daß  das  betreffende 
Recht,  z.  B.  der  Adel  einer  Familie,  seit  jeher  zu  Recht  bestehe. 
Das  BGB.  hat  den  Mißgriff  begangen,  die  Unvordenklichkeit  aus- 


^)  Vgl.  §  263  und  dazu  meine  Institutionen.   S.  3i2ff. 


i84 


Krückmann : 


merzen  zu  wollen,  und  so  steht  es  in  allen  Lehrbüchern  und  Kom- 
mentaren; die  Unvordenklichkeit  wird  aber  schon  wiederkommen 
und  von  selber  ihre  Lebenskraft  erweisen.  Seit  unvordenklicher 
Zeit  bestehende  Fischcreigerechtsame  müssen  geachtet  werden, 
auch  w^enn  sich  ihre  urkundliche  Anerkennung  nicht  nachweisen 
läßt.  Es  war  ein  Mißgriff  der  Regierung,  als  sie  vor  Jahren  den 
vorpommerschen  und  rügcnschen  Fischern  ihre  altüberkommenen 
Fischereigerechtsame  bestritt  und  tatsächlich  auch  in  den  dicscr- 
halb  entstandenen  Prozessen  entriß.  Derartiges  hätte  einfach 
anerkannt  werden  müssen.  Solche  tatsächlich  seit  langer  Zeit, 
ohne  daß  man  von  dem  Gegenteil  weiß,  ausgeübten  Rechte  haben 
die  Vermutung  für  sich,  daß  sie  seinerzeit  zu  Recht  begründet 
worden  sind,  und  gelten  als  seit  alters  her  zu  Recht  bestehend. 
Unvordenkliche  Fischereigerechtigkeit  ist  wie  unvordenklicher  Adel 
alte  Gerechtigkeit,  alter  Adel,  nicht  neue  Gerechtigkeit  und  neuer 
Adel.  Natürhch  in  unendlich  vielen  Fällen  kraft  Fiktion,  aber 
kraft  einer  sehr  wohltätigen  Fiktion.      Quieta  non  movere! 

XI.  Die  folgende  Gruppe  ist  in  gewisser  Weise  ein  Gegen- 
stück und  nach  dem  Gesagten  ohne  weitere  Bemerkungen  ver- 
ständlich. 

1.  Eine  anfechtbare  Ehe  ist  durch  Klage  anzufechten.  ,,Wird 
die  Klage  zurückgenommen,  so  ist  die  Anfechtung  als  nicht  erfolgt 

anzusehen",  §  134^- 

2.  Die  Verjährung  wird  durch  Erhebung  der  Klage  unter- 
brochen, §  209.  Die  Unterbrechung  gilt  als  nicht  erfolgt,  wenn 
die  Klage  zurückgenommen  wird,  §  212  I.  ,, Erhebt  der  Berechtigte 
binnen  6  Monaten  von  neuem  Klage,  so  gilt  die  Verjährung  als 
durch  die  Erhebung  der  ersten  Klage  unterbrochen",  §  212  II, 
vgl.  §§213,  214  II,  215,  216. 

§  11.    Absolute  riigcwißheit. 

Zuweilen  liegt  die  Sache  so,  daß  wir  uns  über  die  Unrichtigkeit 
des  Vorgehens  gar  nicht  im  unklaren  sind,  aber  infolge  vollständiger 
Unkenntnis  der  wahren  Sachlage  doch  einen  Tatbestand  mindestens 
vorübergehend  regeln  müssen. 

I.  Nach  §  1773  II  erhält  ein  Minderjähriger  einen  Vormund 
aucli  dann,  wenn  sein  Familienstand  nicht  zu  ermitteln  ist.  Dies 
wird  meistens  auf  uneheliche  Kinder  zutreffen,  für  die  ohnehin 
ein  Vormund  eingesetzt  werden  müßte.  Es  kann  sich  aber  unter 
Umständen  iiuch  um  eheliche  Kinder  handeln,  deren  Eltern  nicht 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht,  1 8  C 

ermittelt  werden  können,  wenn  z.  B.  die  Flüchtlinge  aus  einem 
von  dem  Feinde  besccztcn  Gebiet  durch-  und  auseinander  ge- 
raten sind.  Dann  wird  das  Kind  behandelt,  als  ob  es  unehelich 
oder  elternlos  wäre. 

II.  Ebenso  steht  es  mit  der  behördlichen  Namengebung  an 
das  Findelkind.  Kraft  zwingender  Vorschrift  hat  das  uneheliche 
Kind  der  Näherin  Weiß  den  Namen  Weiß,  §  1706  I,  und  wenn 
die  Behörde  es,  weil  es  in  einem  Kornfeld  gefunden  worden  ist, 
auf  den  Namen  Kornfeld  benennt,  so  gibt  ihm  die  Behörde  einen 
unrichtigen  Namen.  Mit  diesem  unrichtigen  Namen  kann  der 
Findling  aber  alle  Urkunden  richtig  unterzeichnen  und  wird  mit 
ihm  auch  richtig  bezeichnet. 

III.  Nach  §  984  wird  eine  Sache,  die  so  lange  verborgen  ge- 
wesen ist,  daß  ihr  Eigentümer  nicht  mehr  zu  ermitteln  ist  (Schatz), 
als  herrenlos  behandelt.    Wird  sie  gefunden  und  infolge  der  Ent- 
deckung in  Besitz  genommen,  so  wird  das  Eigentum  zur  Hälfte 
von  dem  Entdecker,  zur  Hälfte  von  dem  Eigentümer  der  Sache 
(Haus,  Schreibtisch  mit  Geheimfach)  erworben,  in  der  der  Schatz 
verborgen  war.     Es  ist  sehr  fraglich,  ob  der  Hildesheimer  Silber- 
fund,  den   bekanntlich    Seeck   in  einer   höchst   geistreichen   Ver- 
mutung  mit    dem    Nibelungenhort    in    Verbindung   gebracht    hat, 
herrenlos  war.     Überhaupt  dürfte  es  nahezu  gar  keine  herrenlosen 
Erbschaften  geben,  so  lange  als  die  Erbschaft  bis  zu  den  letzten 
Seitenverwandten    geht.      Es    müßte    wunderbar    zugehen,    wenn 
nicht  jeder,  auch  der  scheinbar  ganz  einsam  und  verlassen  in  der 
Welt  dastehende  Mensch  doch  noch  irgendeinen  Blutsverwandten 
hätte.     In  rohesten  Zeiten  kann  Derartiges  vorkommen,  wo  ganze 
Stämme  ausgerottet  wurden,  aber  schon  bei  den  aus  dem  Mittel- 
alter stammenden  Funden  kann  man  ruhig  annehmen,  daß  kein 
Schatz  herrenlos  ist.     Man  hat  sich  den  Vorgang  folgendermaßen 
vorzustellen.     Der  Eigentümer,  der  in  Kriegsnot  oder  vor  Antritt 
einer  Reise,  eines  Kriegszuges,  den  Schatz  verborgen  hat,  hinter- 
läßt irgendwelche  Erben,  wenn  auch  keine  Abkömmlinge,  so  doch 
Vorfahren  oder  Abkömmlinge  von  Vorfahren.    Unter  diesen  vererbt 
sich  der  Schatz  als  Bestandteil  der  Erbschaft  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht    auf    Abkömmlinge    und    Seiten  verwandte,    aber    auch 
Vorfahren  und  Seitenverwandte,  w^eiter,  und  wird  nicht  etwa  mit 
dem  Erwerb  der  bergenden  Sache  zugleich  mit  er^^■orben,  vielmehr 
gehen   Schatz  und  bergende   Sache  durchaus  ihre  eigenen   Wege. 
Bei  der  Zersplitterung  des  Erbrechtes  werden  die  Anteile  unendlich 


lS6  Krückmann: 

klein  und  zahlreich,  aber  immer  noch  vorhanden  sein.  Über  sie 
alle  sieht  man  hinweg,  weil  man  über  sie  hinwegsehen  muß,  und 
so  wird  eine  nicht  herrenlose  Sache  als  herrenlos  behandelt. 

Unter  Umständen  liegen  die  Fälle  auf  der  Grenze.  Nach 
Zeitungsnachrichten  ging  von  einem  Hause,  wenn  ich  nicht  irre, 
in  Dortmund,  seit  jeher  die  Überlieferung,  daß  in  ihm  ein  Schatz 
verborgen  sei.  Es  sollen  auch  wiederholt  Nachforschungen  an- 
gestellt worden  sein.  Als  es  vor  etwa  lO  Jahren  abgerissen  wurde, 
fand  sich  wirklich  der  Schatz.  Möglicherweise  hätten  sich  aus  dem 
Prägejahr  der  Münzen  und  den  städtischen  Akten  der  frühere 
Eigentümer  und  damit  die  heutigen  Erben  doch  feststellen  lassen. 

IV.  Teils  in  diesem  Zusammenhang,  teils  unter  §  9  gehören 
die  folgenden  beiden  Fälle. 

§  1884  I.  ,,Ist  der  Mündel  verschollen,  so  endigt  die  Vor- 
mundschaft erst  mit  der  Aufhebung  durch  das  Vormundschafts- 
gericht. Das  Vormundschaftsgericht  hat  die  Vormundschaft  auf- 
zuheben, wenn  ilim  der  Tod  des  Mündels  bekannt  wird. 

Wird  der  Mündel  für  tot  erklärt,  so  endigt  die  Vormundschaft 
mit  der  Erlassung  des  die  Todeserklärung  aussprechenden  Urteils." 

Die  Vormundschaft  endigt  also  nicht  mit  der  Volljährigkeit 
und  auch  nicht  mit  dem  Todestage  des  Mündels,  sondern  erst 
dann,  wenn  sie  aufgehoben  wird.  Bis  dahin  wird  sie  über  den 
Volljährigen  und  den  Toten  weiter  fortgeführt,  als  ob  er  noch 
minderjährig  wäre  oder  noch  lebte.  Auch  über  den  in  der  Todes- 
erklärung angenommenen  Todestag  hinaus,  denn  die  Todeserklärung 
ist  erst  dann  zulässig,  wenn  dieser  angenommene  Todestag  schon 
verstrichen  ist,  also  schon  in  der  Vergangenheit  liegt.  Wenn  heute 
das  Urteil  ergeht,  wird  vermutet,  daß  der  Verschollene  bei  der 
gewöhnlichen  Vcrschollenheit  in  dem  Zeitpunkt  gestorben  sei,  in 
dem  die  Todeserklärung  zulässig  geworden  ist.  Bei  der  gewöhn- 
lichen Verschollenheit  ist  sie  zulässig,  wenn  seit  10  Jahren  keine 
Nachricht  von  dem  Verschollenen  eingegangen  ist.  Sie  darf  aber 
nicht  vor  dem  Schlüsse  des  Jahres  erfolgen,  in  dem  der  Verschollene 
das  31.  Lebensjahr  vollendet  haben  würde.  Ein  Verschollener  da- 
gegen, der  das  70.  Lebensjahr  vollendet  haben  würde,  kann  für 
tot  erklärt  werden,  wenn  seit  fünf  Jahren  keine  Nachricht  von 
seinem  Leben  eingegangen  ist. 

Der  Zeitraum  von  10  und  5  Jahren  beginnt  mit  dem  Schlüsse 
des  letzten  Jahres,  in  dem  der  Verschollene  den  vorhandenen  Nach- 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 


187 


richten  zufolge  noch  gelebt  hat,  §  14.  Die  Verschollenen  sterben 
in  der  Neu jahrsnacht !     Aus  Gründen  der  Verkehrssicherheit. 

Der  Antrag  auf  Todeserklärung  fordert  nach  §  963  der  Zivil- 
prozeßordnung, daß  die  zur  Begründung  des  Antrages  erforder- 
lichen Tatsachen  glaubhaft  gemacht  werden,  also  muß  die  töd- 
liche Neujahrsnacht  schon  vorüber  sein.  Die  Aufgebotsfrist  beträgt 
nach  §  960  a.  a.  O.  mindestens  6  Monate,  also  ergeht  das  Urteil 
mindestens  ein  halbes  Jahr  später  und  setzt  dann  als  Todeszeit 
die  vergangene  Neujahrsnacht  an. 

Beruht  also  schon  die  ganze  Todeserklärung  auf  Fiktion,  so 
wird  diese  Fiktion  notgedrungenerweise  noch  übersteigert  in  §  1884, 
indem  die  Vormundschaft  nicht  zu  Neujahr,  sondern  erst  am  Tage 
des  Urteils  endigt. 

§  12.    Sprachliche  Fiktion. 

Eine  andere,  außerordentlich  viel  angewandte  Fiktion  dient 
zu  dem  Zwecke,  um  die  für  einen  Tatbestand  (a)  erlassenen  Vor- 
schriften auf  einen  anderen  Tatbestand  {b)  anwendbar  zu  machen. 
Dann  wird  der  Tatbestand  b  als  Tatbestand  a  fingiert.  Doch  ist 
dies,  wie  leicht  zu  sehen,  ein  sprachlicher  Notbehelf,  der  um 
der  bequemeren  Ausdrucksweise  willen  eingeführt  worden  ist. 
Das  weitschichtige  Material  kann  hier  aus  Gründen  des  Raumes 
nicht  gebracht  "werden,  aber  einige  Stichproben  werden  das  Ge- 
sagte schon  genügend  erhärten. 

I.  §  9.  ,,Eine  Militärperson  hat  ihren  Wohnsitz  am  Garnison- 
orte. Als  Wohnsitz  einer  Militärperson,  deren  Truppenteil  im 
Inlande  keinen  Garnisonort  hat,  gilt  der  letzte  inländische  Garnison- 
ort des  Truppenteils." 

Für  die  kurzzeitige  Kriegsverschollenheit  gilt  als  Angehöriger 
der  bewaffneten  Macht  auch,  wer  sich  in  einem  Amts-  oder  Dienst- 
verhältnis oder  zum  Zwecke  freiwilliger  Hilfeleistung  bei  der  be- 
waffneten Macht  befindet,  §  15  H. 

§  24.  ,,Als  Sitz  eines  Vereins  gilt,  wenn  nicht  ein  anderes 
bestimmt  ist,  der  Ort,  an  dem  die  Verwaltung  geführt  wird",  vgl. 
§  80,  S.  3. 

§  49  II.  ,,Der  Verein  gilt  bis  zur  Beendigung  der  Liquidation 
als  fortbestehend,  soweit  der  Zweck  der  Liquidation  es  erfordert." 

§  50  I,  S.  3.  ,,Die  Bekanntmachung  (von  der  Auflösung  des 
Vereins  usw.)  gilt  mit  dem  Ablaufe  des  zweiten  Tages  nach  der 
Einrückung  oder  ersten  Einrückung  (in  die  Zeitung)  als  bewirkt." 


jgg  Krückmann: 

Es    sei    noch    verwiesen    auf    §§  io8  II  S.  2,     113  IV,    119  II, 
121  I  S.  2,   123  I,   149,   150,  177  II  S.  2  usw.  usw. 

Die  sprachliche  Fiktion  hat  mit  der  echten  Fiktion  gemeinsam, 
daß  sie  ein  unmittelbares  Behandeln  als  ob  verfügt.  Um  den  einen 
Tatbestand  unter  die  Regel  des  anderen  bequemlicherweise  stellen 
zu  können,  fingiert  man  ihn  sprachlich  als  diesen  anderen  Tat- 
bestand, statt  umständlicher,  aber  folgerichtiger  zu  sagen,  der 
zweite  Tatbestand  werde  unter  die  Regeln  des  ersten  gestellt. 
Ein  technisch  schon  seit  jeher  von  den  Juristen,  insbesondere  von 
den  Römern  ausgenutzter  Kunstgriff.  Im  einzelnen  kann  es  zweifel- 
haft sein,  ob  eine  rein  sprachliche  Fiktion  vorliegt,  oder  eine  sach- 
liche. Zuweilen  finden  sich  beide  zusammen,  z.  B.  in  §  iio:  Der 
Vertrag  des  Minderjährigen  gilt  als  von  Anfang  an  wirksam  .  .  ., 
s.  oben  §  10,  IV.  Hierin  stecken  zwei  Fiktionen:  ,,von  Anfang  an" 
und  ,,gilt  als  wirksam".  Diese  zweite  ist  an  sich  nur  sprachlich, 
wird  aber  wegen  des  ,,von  Anfang  an"  zur  sachhchen  Fiktion. 

II.  In  anderen  Fällen  ist  es  wieder  zw^eifelhaft,  ob  überhaupt 
eine  Fiktion  vorliegt,  ob  nicht  hinter  der  fingierten  Ausdrucks - 
weise  sich  eine  unmittelbare  normale  juristische  Wirksamkeit 
versteckt.  So  z.  B.,  wenn  in  §§  673,  674  verfügt  worden  ist,  daß 
der  Auftrag  als  fortbestehend  gilt. 

§  673.  „Der  Auftrag  erlischt  im  Zweifel  durch  den  Tod  des 
Beauftragten.  Erlischt  der  Auftrag,  so  hat  der  Erbe  des  Be- 
auftragten den  Tod  dem  Auftraggeber  unverzüglich  anzuzeigen 
und,  wenn  mit  dem  Aufschübe  Gefahr  verbunden  ist,  die  Be- 
sorgung des  übertragenen  Geschäftes  fortzusetzen,  bis  der  Auftrag- 
geber anderweit  Fürsorge  treffen  kann;  der  Auftrag  gilt  insoweit 
als  fortbestehend." 

§  674.  ,, Erlischt  der  Auftrag  in  anderer  Weise  als  durch  Wider- 
ruf, so  gilt  er  zugunsten  des  Beauftragten  gleichwohl  als  fort- 
bestehend, bis  der  Beauftragte  von  dem  Erlöschen  Kenntnis  er- 
langt oder  das  Erlöschen  kennen  muß." 

In  §  674  wird  anzunehmen  sein,  daß  der  Auftrag  wirklich 
erloschen,  aber  als  fortbestehend  fingiert  wird^),  dagegen  in  §673 
wird  man  richtigerweise  sagen  müssen,  daß  der  Auftrag  eben  nicht 
ganz  erlischt,  sondern  noch  gewisse  Wirkungen  behält.  Unzweifel- 
haft trifft  dies  von  der  Anzeigepflicht  zu.  Diese  ist  eine  Neben- 
pflicht neben  der  Hauptpflicht  und  setzt  einen  gültigen  und  wirk- 


»)  S.  o.  §  9,  HI. 


Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht.  i8q 

samcn  Auftrag  voraus.  Der  erste  Satz  des  §  673  wird  durch  den 
zweiten  Satz  sachlich  wieder  eingeschränkt,  §  673  wäre  daher 
richtigerweise  etwa  folgendermaßen  zu  fassen:  „Durch  den  Tod 
des  Beauftragten  erlischt  der  Auftrag  insofern,  als  der  Erbe  des 
Beauftragten  dessen  Tod  dem  Auftraggeber  anzeigen  soll  und 
das  übernommene  Geschäft  nur  dann  fortzusetzen  hat,  w^-nn  mit 
dem  Aufschübe  Gefahr  verbunden  ist."  Also  nicht  unbeschränktes 
Erlöschen  und  fingiertes  Weiterfortbestehen,  sondern  beschränktes 
Erlöschen,  aber  vom  BGB.  sprachlich  dargestellt  als  fingiertes 
Fortbestehen  des  fingiert  gänzlich  erloschenen  Auftrages. 

Entsprechendes  gilt  von  §  672.  ,,Der  Auftrag  erlischt  im 
Zweifel  nicht  durch  den  Tod  oder  den  Eintritt  der  Geschäfts- 
unfähigkeit des  Auftraggebers.  Erlischt  der  Auftrag,  so  hat  der 
Beauftragte,  wenn  mit  dem  Aufschübe  Gefahr  verbunden  ist, 
die  Besorgung  des  übertragenen  Geschäftes  fortzusetzen,  bis  der 
Erbe  oder  der  gesetzliche  Vertreter  des  Auftraggebers  anderweit 
Fürsorge  treffen  kann;  der  Auftrag  gilt  insoweit  als  fortbestehend." 
In  Wahrheit  ist  der  Auftrag  auch  in  diesem  Falle  nicht  vollständig 
untergegangen,  sondern  hat  noch  immer  einige  beschränkte  Wir- 
kungen behalten  und  diese  werden  als  Wirkungen  des  unter- 
gegangenen aber  fingiert  fortbestehenden  Auftrages  vor-  und 
dargestellt. 

Der  Laie  muß  sich  in  die  sehr  häufige  Erfahrung  der  Juristen 
hineinversetzen,  daß  wir  vielfach  ein  Rechtsverhältnis  nicht  voll- 
ständig erlöschen  lassen  können,  sondern  erhebliche  Nachwirkungen 
anzuerkennen  haben.    Wenn  die  Mietzeit  abgelaufen  ist,  muß  der 
Mieter  ausziehen.     Diese  Pflicht,  zu  räumen,  übernimmt  er  durch 
den  Abschluß  des  Vertrages,  §  556  I.     Das  bedeutet,  daß  der  Ver- 
mieter den  Mieter  kraft  dieser  vertraglich  übernommenen  Pflicht 
aus  der  Wohnung  weisen  kann,  und  nicht  auf  das  Eigentum  an 
der  Mietsache  zurückzugreifen,  also  nicht  die  Klage  kraft  §§  985 ff. 
anzustellen  braucht.     Dies  ist  wichtig  für  die  so  unendlich  häufige 
Aftermiete,  wo  ein  Nichteigentümer  vermietet  und  ohne   §  55^  I 
den  Mieter  gar  nicht  aus  der  Wohnung  würde  entfernen  können. 
Aber   auch   weitere    Ansprüche    stehen   dem    Vermieter    nach 
Beendigung   des    Mietverhältnisses    zu,    z.  B.    wegen    schuldhafter 
Beschädigung    der    Wohnung.      Es    ist    überhaupt    nahezu    allen 
unseren    Schuldverhältnissen    eigentümlich,    daß    sie    neben    dem 
Hauptanspruch   auf   Erfüllung,   d.  h.   auf   Erbringung  der   eigent- 
lichen,  der   Hauptleistung,   auch  noch   mancherlei   Nebenpflichten 


I QO  Krückmann :  Wahrheit  und  Unwahrheit  im  Recht. 

erzeugen,  die  als  solche  nach  der  Beendigung  des  Rechtsverhältnisses 
wirken.  Wenn  wir  also  sagen:  Der  Mietvertrag  ist  abgelaufen,  so 
meinen  wir  damit  nur,  daß  der  Mieter  nicht  weitere  Überlassung 
der  Wohnung  verlangen  darf,  verneinen  also  eigentlich  nur  die 
Hauptleistungspflicht  des  Vermieters,  verneinen  bei  nachträglicher 
Mietzahlung  nicht  einmal  die  Hauptleistungspflicht  des  Mieters 
vollständig,  da  dieser  mindestens  noch  die  letzte  fällige  Rate  zu 
zahlen  hat.  Man  darf  daher  solche  Worte  wie:  Das  Rechts- 
verhältnis erlischt,  nicht  auf  die  Goldwage  legen,  sondern  muß 
immer  von  Fall  zu  Fall  feststellen,  welche  Tragweite  sie  haben. 
Ein  Merkzeichen  hierfür  ist,  ob  die  Nachwirkungen  an  das  Kennen 
oder  Kennenmüssen  des  Unterganges  des  Rechtsverhältnisses  ge- 
knüpft sind,  §  674.  Kennen  oder  Kennenmüssen  des  Unterganges 
setzt  den  Untergang  des  Rechtsverhältnisses  logischerweise  voraus 
und  kann  daher  gar  nicht  anders  erklärt  werden,  als  durch  Unter- 
stellung eben  des  wirklichen  und  vollständigen  Unterganges.  Es 
wäre  auch  merkwürdig,  wieso  der  Untergang  eines  Rechtsverhält- 
nisses, der  schon  nach  den  normalen  Untergangsgründen  voll- 
ständig gerechtfertigt  wird,  in  besonderen  Ausnahmefällen  noch 
an  das  Kennen  oder  Kennenmüssen  geknüpft  sein  sollte.  Logische 
Ordnung  bringt  man  in  die  betreffenden  Bestimmungen  nur  dann 
hinein,  wenn  man  die  Kenntnis  und  das  Kennenmüssen  so  ver- 
steht, wie  sie  sonst  allgemein  verstanden  werden  müssen,  nämlich 
dahin,  daß  ein  Gegenstand  des  Kennens  oder  Kennenmüssens 
zur  Zeit  des  Kennens  und  des  Kennenmüssens  schon  vorhanden 
ist.  Dann  muß  aber  der  Untergang  des  Rechtsverhältnisses  schon 
Tatsache  sein  und  das  Rechtsverhältnis  wird  mit  Rücksicht  auf 
das  Nichtkennenmüssen  der  Gegenpartei  als  fortbestehend  fingiert 
oder,  juristisch  gesprochen:  Die  Parteien  werden  unmittelbar  so 
behandelt,  als  ob  .  .  . 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die 
'  medizinische  Wissenschaft 

Vorläufige  Mitteilung. 
Von 

Marine-Oberassistenzarzt  d.  R.  Dr.  Carl  Coerper. 

Inhaltsübersicht. 

1.  Im  Verlaufe  empirischer  Forschung  wird  die  medizinische  Wissenschaft 
endlich  doch  auf  erkenntnistheoretische  Probleme  geführt,  so  vor  allem  auf  die 
beiden  Probleme:  a)  Warum  entsprechen  die  in  der  Medizin  aufgestellten  (erdachten) 
Regeln  nicht  der  Tatsächlichkeit?  b)  Weshalb  ist  eine  Tatsachensammlung  ohne 
erklärende  Regelmäßigkeit  zwecklos  ? 

2.  Die  mögliche  Lösung  dieser  Probleme  wird  gegeben  an  Hand  einer  zu- 
nächst lediglich  formal  bestimmten  Einteilung  der  ärztlichen  Forschung  nach  ihren 
verschiedenartigen  Inhalten  in  Zustandsforschung,  Vorgangsforschung  und  Erklärungs- 
forschung (lediglich  zum  leichteren  Verständnis  und  zur  Einführung  so  benannt). 
Die  medizinische  Wissenschaft  hat  versucht,  nur  mit  den  ersten  beiden  Formen 
auszukommen.  Das  ist  deshalb  unmöglich,  weil  die  dritte  Form  von  den  beiden 
ersten  niemals  getrennt  werden  kann. 

3.  Die  Erklärungsforschung  umfaßt  die  von  Vaihinger  gefundene  fiktionale 
Form  unseres  Denkens. 

4.  Es  wird  der  Nachweis  geführt,  daß  Erklärungen  (in  diesem  Sinne  auf- 
gefaßt) bereits  in  der  Medizin  gebräuchlich  sind,  ohne  daß  man  sich  dessen  in  vollem 
Maße  bewußt  gewesen  ist.  Erklärungen  (Fiktionen)  sind  u.  a.  der  Normalmensch, 
die  Normalzelle,  die  ,, klassischen"   Krankheitsbilder. 

5.  Die  Betrachtungsweise  eines  Krankheitsfalles  von  den  drei  Gesichtspunkten: 
der  speziellen  Krankheit,  der  besonderen  Konstitutionsform  und  der  vorliegenden 
psychischen  Komponente  aus  ist  lediglich  eine  gedankliche  Trennung  mit  dem 
Zwecke  der  Erklärung  einer  komplexen  Erscheinung. 

6.  An  weiteren  Beispielen  fiktionalen  Denkens,  an  den  gegensätzlichen  An- 
schauungen der  Zellularpathologie  und  der  Humoralpathologie,  des  Mechanismus 
und  des  Vitalismus,  der  Allopathie  und  Homöopathie  wird  gezeigt,  wie  die  Un- 
kenntnis des  fiktionalen  Einschlages  unseres  Denkens  zu  Scheinproblemen  führen 
muß.  In  Verbindung  mit  diesen  Ausführungen  wird  dargelegt,  daß  die  Fiktionen 
die  „heuristischen  Hypothesen"  enthalten,  ferner,  wie  die  Fiktionen  wissenschaft- 
lich wertvoll  bleiben. 

7.  In  Ansehung  der  fiktionalen  Bedingtheit  unseres  Denkens  bleibt  jede 
Erkenntnis  eine  relative.  Die  Kenntnis  des  Fiktionalen  befreit  die  Medizin  wirklich 
erst  von  ihren  metaphysischen  Fesseln. 

Nachdem  für  längere  Zeit  alle  erkenntnistheoretisch-methodo- 
logischen Fragen  aus  dem  wissenschaftlichen  Betriebe  der  Medizin 
ausgeschaltet    waren,    scheint    sich    seit    den    letzten    Jahren    vor 


jg2  Carl  Coerper : 

dem  Kriege  eine  weniger  energische  Ablehnung  aller  Probleme, 
die  mit  philosophischen  Arbeiten  in  Zusammenhang  stehen,  vor- 
bereitet zu  haben.  Einen  einzigen  Umstand  hierfür  ursächlich 
aufzuweisen,  ist  wohl  nicht  möglich.  Doch  scheint  ein  Begriff 
der  klinischen  Medizin  von  wesentlichem  Einfluß  gewesen  zu  sein: 
der  Begriff  der  Konstitution. 

Man  hat  versucht,  besonders  in  der  Zeit  der  bakteriologischen 
Ära,  einige  Gebiete  der  Klinik  exakt  gesetzmäßig  zu  begründen. 
Dieser  Versuch  ist  mißlungen.  Man  fand  keine  Gesetze,  sondern 
nur  Regeln,  bei  denen  nunmehr  gerade  die  Ausnahmen  inter- 
essieren mußten.  Die  Ausnahmen  suchte  man  zu  erklären  durch 
den  Begriff  der  Konstitution.  Die  Konstitution  war  die  indivi- 
duelle Komponente  des  krankhaften  Geschehens,  die  erfahrungs- 
gemäß oftmals  gesetzmäßig  erwartete  klinische  Erscheinungen 
vermissen  ließ.  Daraus  entsprangen  praktische  und  theoretische 
Schwierigkeiten.    Diesen  suchte  man  verschieden  zu  begegnen. 

Die  einen  leugneten  die  individuelle  Komponente.  Sie  werden 
wohl  die  bakteriologischen,  serologischen  Dogmatiker  genannt. 
Die  anderen  suchten  in  einem  Relativismus  das  Heil.  Ohne  Frage 
haben  die  letzteren  das  Feld  behauptet,  obwohl  sie  ihre  Waffen 
längst  nicht  immer  geschickt  und  vollständig  ausgenutzt  haben. 
Lehnt  man  die  Einseitigkeit,  die  jeder  Dogmatismus  mit  sich 
bringt,  zunächst  ab  und  nimmt,  in  bescheidener  Wertung  der 
bisherigen  Ergebnisse,  den  Relativismus  an,  der  jede  Erscheinung 
als  eine  besondere  Gestaltung  variabler  Verhältnisse  auffaßt,  so 
ist  dennoch  wenig  gewonnen.  Die  Verhältnisbeziehungen,  die  das 
organische  Lx)ben  voraussetzt,  sind  praktisch  unendliche.  Es  be- 
steht deshalb  die  Gefahr,  daß  über  der  Fülle  der  erkennbaren 
Relationen  die  klare  Einsicht  und  Ordnung,  kurz  gesagt  die  kon- 
struierbare Regelmäßigkeit,  nach  der  sich  jene  zu  richten  scheinen, 
vergessen  wird.  Es  ist  also  eine  Notwendigkeit,  daß  wir  einen 
gewissen  Dogmatismus  wiederum  in  unsere  Gedankenoperationen 
aufnehmen. 

Aus  diesen  Irrwegen  muß  ein  Ausweg  gesucht  werden.  Dieser 
Ausweg  liegt  nun  nicht  in  einer  weiteren  Erkenntnis  des  Tat- 
sächlichen (d.  i.  der  Zustände  und  Vorgänge  des  Organischen). 
Im  Gegenteil,  jede  neue  Kenntnis  von  Tatsächlichem  erschließt 
weitere  Probleme,  die  vorher  noch  nicht  bekannt  waren.  So  not- 
wendig zunächst  und  vor  allem  die  Erforschung  des  Tatsäch- 
lichen ist,    zu    irgendeinem    endgültigen   Schlußresultate  kann  sie 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die  medizinische  Wissenschaft.       j  g  7 

nicht    kommen,    welches    cic    oben   erwäl  nten    Irrwege   .-.uf   einen 
Ausweg  hinzuleiten  vermöchte. 

Es  ist  von  großer  Wichtigkeit,  einzusehen,  daß  hier  erkenntnis- 
theoretische Fragen  vorliegen,  deren  Kenntnis  zu  einem  gedeih- 
lichen Fortgange  wissenschafthcher  Arbeit  durchaus  notwendig  ist. 

Das  Problem  ist  dieses:  Weshalb  deckt  sich  erdachte  Regel- 
mäßigkeit nicht  mit  Tatsächlichkeit  ?  Weshalb  ist  andererseits 
eine  reine  Tatsachensammlung  in  Form  von  Relationen  ohne  er- 
klärende Regelmäßigkeit  zwecklos } 

Exemplifizierend  könnten  wir  auch  fragen:  Warum  erkrankt 
nicht  jeder,  der  der  tuberkulösen  Infektion  ausgesetzt  ist,  an 
Tuberkulose }  Warum  ist  andererseits  eine  Beschreibung  patho- 
logisch-anatomischer oder  klinischer  Symptome  ohne  Deutung 
durch  eine  gewisse  Regelmäßigkeit,  ohne  Abstraktion  von  Einzel- 
heiten zu  einer  Diagnose,  wie  beispiels\^^isc  der  der  Tuberkulose 
nicht  zu  gebrauchen } 

Die  erste  Frage  könnte  etwa  folgendermaßen  beantwortet 
werden:  Die  gedanklich  gebildete  Voraussetzung  unserer  Frage, 
das  Gesetz,  die  Regel:  der  Tuberkelbazillus  bringt  die  tuberkulöse 
Erkrankung  hervor,  bestätigt  sich  in  dieser  Form  nicht.  Die 
zweite  Frage  könnte  etwa  folgendermaßen  beantwortet  werden: 
Die  Beschreibung  von  Tuberkulosefällen  setzt  bereits  gedankliche 
Vergleichung,  Zuordnung,  Trennung  der  Erscheinungen  nach  Ge- 
sichtspunkten voraus.  Diese  Gesichtspunkte  sind  die  Vorstufen 
für  Gesetze  und  Regeln.  Die  Regeln  ihrerseits  werden  aber, 
wie  oben  dargelegt,  in  der  Wirklichkeit  nicht  bestätigt.  Die 
Wirklichkeit    wird   nur   durch   Regeln  erklärt,   nicht  erkannt. 

Diese  antithetische  Gegenüberstellung  kennzeichnet  die  Pro- 
bleme als  erkenntnistheoretische.  Eine  unabsehbare  Fülle  von 
medizinisch-wissenschaftlichen  Differenzen  ließe  sich  auf  ähn- 
liche Antithesen  zurückführen.  Eine  absolut  befriedigende  Auf- 
lösung dieser  Antithesen,  die  für  die  Theorie  wie  für  die  Praxis 
der  Medizin  wünschenswert  wäre,  ist  nicht  möglich;  wohl  aber 
ist  die  Erkenntnis,  daß  diese  Antithesen  sich  notwendigermaßen 
immer  wieder  einstellen,  möglich  und  wertvoll.  Die  Erkenntnis, 
die  nötig  wäre,  ist  diese,  daß  das  Denken  seinen  Inhalt,  sein 
Material  verändern  muß,  will  es  anders  fortschreiten.  Mit  anderen 
Worten:  es  ergibt  sich  immer  wieder  eine  Differenz  zwischen 
Tatsache   und  Erkenntnis.    Die   Erkenntnis   ist   immer    allgemein, 

Annakn  der  Philosophie.    I.  Ij 


jQ^  Carl  Coerper: 

die    Tatsache    immer    individuell.      Dies    ist    seit    langem    in   der 
Philosophie  bekannt. 

Es  ist  nun  aber  ein  wesentlicher  Fortschritt,  daß,  nicht  lange 
vor  dem  Kriege,  diese  Fragen  durch  die  ,,als  ob"-Philosophic 
Vaihingers  eine  ganz  neuartige  Beleuchtung  gefunden  haben.. 
Vaihinger  sagt:  Wir  bilden  bei  unserem  Denken  willkürliche 
Annahmen,  Fiktionen,  derart,  daß  wir  sagen  können,  wir  denken 
immer  so,  als  ob  das  Denken  dem  Wirklichen  entspricht.  Ver- 
gessen wir  dies  nicht,  so  behalten  unsere  Erkenntnisse  ihren, 
allerdings  beschränkten,  Wert.  Übersehen  wir  aber  diese  Ein- 
schränkung, dieses  ,,als  ob",  so  verfallen  wir  dem  Irrtum.  Sagen 
wir:  Es  scheint  so,  als  ob  der  Tuberkelbazillus  jeden,  der  ihm 
ausgesetzt  ist,  affiziert;  sagen  wir  ebenso:  Es  scheint  so,  als  ob 
eine  beschriebene  Gruppe  von  Erkrankungen  mit  einer  gewissen 
Regelmäßigkeit  den  Tuberkelbazillus  zur  Voraussetzung  habe,  so 
vermeiden  wir  den  Irrtum  und  bleiben  im  Bereiche  exakter  For- 
schung. 

Freilich  verlieren  wir  hiermit  die  Möglichkeit  absoluter  Er- 
kenntnisse. Absolute  Erkenntnis  erstrebt  die  Medizin  aber, 
seitdem  sie  beobachtend  und  experimentell  forscht.  An 
anderer  Stelle  wird  versucht  werden,  die  erreichbaren  exakten 
Grundlagen  ärztlicher  Erkenntnis  aufzuweisen.  Sie  bestehen  in 
einer  Zustandsforschung  und  einer  Vorgangsforschung.  Zu  der 
Zustandsforschung  wird  die  beschreibende  Darlegung  von  be- 
obachteten Verhältnisbeziehungen  gerechnet;  zu  der  Vorgangs- 
forschung die  in  der  Form  des  Bcdingungsschlusses  gegebenen 
experimentellen  Ergebnisse  der  Forschung.  So  spröde  diese  ver- 
wickelten Verhältnisse  von  Wissenschaftspsychologie  und  Erkenntnis- 
theorie für  eine  klärende  Darlegung  auch  sein  mögen,  eins  springt 
indessen  dennoch  in  die  Augen,  daß  in  diesen  beiden  Formen  der 
Forschung  notwendigermaßen  eine  dritte  Form  miteingeschlossen 
ist:  die  Erklärungsforschung.  Die  Erklärungsforschung  nun  ist 
bisher  übersehen  worden.  Man  hat  sich,  ohne  es  zu  wissen,  um 
Erklärungen  gestritten,  in  dem  Glauben,  sich  um  exakt  bestimm- 
bare Verhältnisse  zu  streiten.  Es  ist  deshalb  überaus  wichtig, 
dem  etwas  nachzugehen,  was  als  Erklärungen  in  der  Medizin  zu 
gelten  hat. 

Eine  Erfindung  der  Erklärungsforschung  ist  beispielsweise  der 
Normal  mensch.  Anatomie  und  Physiologie  erfordern  dieses  ab- 
strakte  Gebilde  gedanklicher  Arbeit.    Wie  der  Normalmcnsch,   so 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die  medizinische  Wissenschaft.      ig- 

ist  ferner  jeder  Durchschnittsbegriff  einzelner  Teile  des  mensch- 
lichen Organismus  eine  Erfindung,  die  durch  Abstraktion  ge- 
funden ist,  so  das  typisch  normale  Herz,  Gehirn,  die  typisch 
normale  Lunge,  Leber,  Niere.  Man  hat  sich  unmerklich  schon 
so  weit  in  den  Relativismus  hineingefunden,  daß  man  die  Organe 
meist  in  Relationen  zueinander  stehend  auffaßt.  Doch  wird  man 
bei  dem  Nachdenken  der  Entstehung  dieser  unserer  Erkenntnis- 
formen auf  Figuren  zurückkommen,  die  der  anatomische  Atlas 
der  ersten  Semester  oder  ein  gutes  Phantom  dem  Gedächtnis 
eingeprägt  hat.  Diese  Gebilde  sind,  soweit  sie  der  Natur  ent- 
nommen sind,  im  Sinne  einer  mittleren  Konstanten  korrigiert,  die 
teils  mehr,  teils  weniger  von  der  Wirklichkeit  abgerückt  ist.  Das 
nämliche  hat  statt  bei  der  die  Organe  zusammensetzenden  Ein- 
heit, der  Zelle.  Hier  tritt  m.  E.  der  schöpferische  Gedanke  noch 
deutlicher  zutage.  Ganz  allgemein  von  der  Zelle  morphologisch 
Aussagen  zu  machen,  ist  nur  möglich,  wenn  man  eine  Idealzelle 
konstruiert,  wie  sie  jedem  Mediziner  geläufig  ist.  Wie  schwer  es 
ist,  diesen  künstlichen  Begriff  mit  allen  Eigenschaften,  die  Zellen 
überhaupt  haben,  auszustatten,  ist  allgemein  bekannt.  Und  doch 
hat  man  —  und  m.  E.  nicht  nur  didaktisch  —  diese  Abstraktion 
sehr  nötig.  —  Jede  spezifische  Zelle  der  einzelnen  Organe  muß 
nun  ihrerseits  wiederum  idealisiert  dargestellt  werden.  Ohne  Frage 
steht  solch  eine  spezifizierte  Organzelle  der  Wirklichkeit  näher 
als  die  allgemeine  Idealzelle.  Exakte  Wirklichkeit  enthält  sie  aber 
auch  nicht.  Die  Fülle  der  Variationen  von  Zellen  im  mikroskopischen 
Bilde  eines  Organcs  muß  jedesmal  überraschen.  Es  ist  notwendig, 
immer  wieder  die  Idealzelle  des  Organes  zum  Vergleich  heran- 
zuziehen, um  erklären  zu  können.  An  dem  Bilde  der  durch  Ab- 
straktion gewonnenen  Organzelle  orientiert  sich  die  Diagnose  ver- 
mittelst Beschreibung  und  Deutung. 

Unser  Erkennen  auf  diesen  Gebieten  besteht  also  im  wesent- 
lichen in  unwirklichen  Idealbildern. 

Geht  man  auf  das  Gebiet  der  Physiologie  über,  so  sind  hier 
an  Stelle  der  zu  erforschenden  Zustände  Vorgänge,  darzustellen. 
Auch  diese  werden,  sobald  sie  wissenschaftlich  erfaßt  werden 
sollen,  mehr  oder  weniger  idealisiert  umgeformt.  Die  Herzaktion, 
wie  sie  als  typisch  normal  bezeichnet  wird,  findet  sich  in 
Wirklichkeit   niemals. 

Übersieht   man   das    Gebiet   der    Klinik,   so   stößt   man   nicht 
seltener  auf  Abstraktionen.    Man  spricht  von  klassischen  Krank- 
es* 


ig(5  Carl  Coerper: 

hcitsbildcrn  und  versteht  darunter  Symptomgruppen,  die  voll- 
zählig oder  gleichwertig  in  der  Wirklichkeit  nicht  vorkommen. 
Der  Krankheitsbegriff  selbst  ist  ein  Gebilde,  das  als  eine 
Erfindung  angesehen  werden  muß.  Denn  eine  Krankheit  an 
sich  existiert  nicht.  Wäre  sie  etwas  Gegenständliches,  dann 
deckte  sie  sich  beispielsweise  mit  dem  Bazillus,  der  sie  erregt, 
den  wir  nach  seinen  Eigenschaften  zuständlich  erforschen  können. 
Nun  sind  die  Krankheiten  aber  nichts  Gegenständliches,  sondern 
durch  Verallgemeinerungen  gewonnene  Bilder  von  Vorgängen. 
Daß  jeder  Sonderfall  einer  Krankheit  durch  seine  besonderen  Be- 
dingungen von  dem  klassischen  Krankheitsbilde  abweicht,  ist 
eine  alltägliche  ärztliche  Erfahrung.  Man  darf  wohl  sagen:  Wer 
in  jedem  Krankheitsfalle  den  Beweis  für  die  Wirklichkeit  der 
klassischen  Krankheitsbilder  sieht,  dessen  Beobachtung  entgeht 
Wesentliches,  der  begeht  den  Fehler,  daß  er  wohl  das  Ideelle  zu 
erkennen  vermag,  nicht  aber  das  Reale.  Wie  weittragende  thera- 
peutische Folgen  das  haben  muß,  wie  der  Schematismus  als  not- 
wendige Folge  hieraus  erwächst,  liegt  auf  der  Hand.  Die  konse- 
quente Folgerung  dieses  Denkfehlers  ist  der  Glaube  an  die  Möglich- 
keit einer  Panazee.  Die  Einsicht,  daß  es  eine  Panazee  nicht  gibt, 
ist  m.  E.  ursprünglich  der  Anlaß  zur  Aufstellung  des  Begriffes 
der  Konstitution  gewesen,  der  wiederum,  wie  eingangs  berührt, 
zu  einer  Revision  der  gedanklichen  Forschung  Anlaß  gegeben  hat. 
Man  müht  sich  nun  ab,  den  Begriff  der  Konstitution  einer 
exakten  Forschung  zugänglich  zu  machen.  Bleibt  man  sich  dessen 
bewußt,  daß  es  ein  Sammelname  ist,  der,  künstlich  gebildet, 
eine  unabsehbare  Anzahl  von  Spezialfällen  in  sich  faßt,  so  wird 
man  sich  davor  hüten,  ihn,  wie  vordem  den  Krankheitsbegriff, 
als    etwas    Zuständliches    aufzufassen. 

Der  begriffliche  Charakter  von  Krankheit  und  Konstitution 
wird  vielleicht  noch  deutlicher,  wenn  man  daran  erinnert,  daß 
beide  in  Wirklichkeit  bei  einem  Vorgange  verbunden  sind,  ledig- 
lich zum  Zwecke  der  Erforschung  begrifflich  getrennt  werden. 
Man  kann  und  muß  einen  pathologischen  Vorgang  sowohl  mit 
dem  zugehörigen  klassischen  Krankheitsbild  wie  mit  dem  zu- 
gehörigen Spezialfälle  der  Konstitution  verbinden,  um  wirkliche 
Erkenntnis  fördern  zu  können.  So  wird  es  auch  wohl  praktisch 
meist  gehalten.  Der  scharf  umrissene  Krankheitsbegriff  kenn- 
zeichnet die  Beziehungen  der  Schädlichkeiten  (exogener  wie  endo- 
gener   Natur)    zu    den   als    normal    vorausgesetzten    Organen   und 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die  medizinische  Wissenschaft.      1 07 

ihren  Funktionen,  der  Konstitutionsbegriff  die  Beziehungen  von 
der  Norm  abweichender  Typen,  die  an  sich  noch  nicht  unter  den 
Begriff  ,, Krankheit"  fallen,  zu  weiteren  Verschiebungen  dieser 
Verhältnisbczichungen  durch  die  Krankheit. 

Die  Willkürlichkeit  der  Trennung  dieser  beiden  Begriffe,  die 
in  der  Erscheinung  immer  nur  zusammen  vorkommen,  wird  hier- 
durch klar  ersichtlich.  Eine  komplexe  Größe,  wie  sie  jeder  krank- 
hafte Prozeß  darstellt,  erfordert  aber  eine  solche  Trennung,  will  man 
anders  Wissenschaft  treiben.  Die  angeführte  Trennung  hat  sich 
als  zweckmäßig  erwiesen.  Ob  man  weitere  Gesichtspunkte  suchen, 
weitere  Trennungen  vornehmen  muß,  entzieht  sich  der  referierenden 
Darlegung. 

Unerwähnt  darf  nicht  bleiben,  daß  man,  offenbar  unter  dem 
Eindrucke  der  Kriegsverhältnisse,  bei  einzelnen  Erkrankungen, 
besonders  auf  dem  psychischen  Gebiete,  dem  W^illen  wiederum 
besondere  Aufmerksamkeit  schenkt.  E^  soll  hier  nicht  in  die 
Frage  eingegriffen  werden,  inwieweit  die  Psychologie  diesen  Be- 
griff fordert  oder  ausschließt.  Es  wird  aber  allgemein  zugegeben, 
daß  der  Wille  aufs  engste  mit  anderen  psychischen  wie  physischen 
Erscheinungen  verbunden  ist.  M.  E.  ist  deshalb  die  Beantwortung 
der  Frage,  ob  man  den  Willen  in  Genese  und  Symptomatologie 
von  Krankheiten  begrifflich  verwerten  will,  nicht  davon  abhängig, 
ob  man  den  Willen  gemäß  seiner  begrifflichen  Konstruktion  rest- 
los in  der  Wirklichkeit  nachweisen  kann,  sondern  davon,  ob  man 
durch  den  Begriff  ,, Willen"  Erscheinungen  nach  einer  Seite  hin 
zweckmäßig  erklären  kann.  Dem  möchte  ich  persönlich  zustimmen. 
Weitere  Ausführungen  hierüber  müssen  auf  später  verschoben 
werden.  Bei  der  Betrachtung  pathologischer  Prozesse  gäbe  es 
also  bereits  drei  Gesichtspunkte,  von  denen  aus  man  den  Er- 
scheinungen gerecht  zu  werden  sucht :  zunächst  die  Krankheit, 
dann  die  Konstitution,  endlich  das  psychische  Moment  in  der 
Form  des  Willens.  Diese  Trennung  ist  eine  willkürliche,  gewalt- 
same, sie  ist  zweckmäßig,  brauchbar;  ihre  Berechtigung  muß  sich 
freilich  immer  erst  erweisen.  Es  hat  Zeiten  gegeben,  wo  man 
nicht  in  dieser  Art  trennte;  es  wird  auch  wohl  Zeiten  geben,  wo 
man  anders  trennen  wird. 

Es  handelt  sich  hier  also  um  vergängliche  Erkenntnisformen. 
Es  wäre  unrichtig,  m  ihnen  das  Wesentliche  der  Forschung  zu 
erblicken.  Das  Wesentliche  liegt  m.  E.  in  der  Zustands-  und 
Vorgangsforschung,  nicht  in  dieser  Erklärungsforschung. 


jQ§  Carl  Coerper: 

Übersieht  man  die  bisherigen  Ausführungen,  so  kann  man 
zusammenfassend  etwa  folgendes  sagen:  In  der  Medizin  werden 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  Begriffe  gebraucht,  die  bald 
mehr,  bald  weniger,  jedenfalls  aber  niemals  völlig  der  Wirklich- 
keit entsprechen.  Sie  unterscheiden  sich  von  den  Entdeckungen, 
die  gemacht,  von  den  Tatsachen,  die  gefunden  sind,  dadurch, 
daß  sie  im  Gegensatze  zu  diesen  veränderlich  sind,  der  Zweck- 
mäßigkeit unterliegen,  mit  ihrer  Brauchbarkeit  stehen  und  fallen, 
sich  Umänderungen  gefallen  lassen  müssen  durch  die  Tatsachen, 
die  selbst  an  sich  gleich  bleiben. 

Solche  Begriffe  nennt  Vaihinger  Fiktionen.  Vaihinger  er- 
kennt durchaus  an,  daß  Fiktionen  verschiedene  Grade  einer  will- 
kürlichen, gewaltsamen  Veränderung  des  Tatsächlichen  verur- 
sachen können.  Wesentlich  bleibt  nur,  daß  das  Denken  unter 
allen  Umständen  seinen  ursprünglichen  Inhalt  irgendwie  ver- 
ändern muß. 

Dies  ist  auch  bei  dem  medizinischen  Denken  der  Fall.    Wenn 
nunmehr  zu   weiteren   Beweisen  hierfür  dazu   übergegangen  wird, 
andere  Fiktionen,  die  in  der  Medizin  gebräuchlich  sind,  aufzuzeigen, 
so  ist  eine  Vollständigkeit  unmöglich.    Es  sollen  nur  noch  einige 
wenige  Fiktionen  kurz  berührt  werden:   Fiktionen  sind  die  Lehr- 
gebäude   der    Zellularpathologie    und    der    Humoralpathologie.     Es 
ist  überaus  zweckmäßig,  die  Zelle  als  Grundlage  aller  materiellen 
Prozesse  der  Organismen  anzusprechen.    Die  Ordnung  der  patho- 
logischen wie  normalen  Zustände  nach  Maßgabe  der  Zellverfassung 
ist   wissenschaftlich  sehr  ergiebig  gewesen.     Diese  Anschauung  ist 
aber  die  einseitig  betonte,   isolierte   Vorstellung,   als  ob  die   Zelle 
der  wesentlichste,  einzigste  Faktor  für  das  Zustandekommen  krank- 
hafter Prozesse  sein  müsse.    Ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Zelle 
selbst   ein   überaus   kompliziertes    Gebilde   ist,    das   einer   kausalen 
Erklärung    viel     zu     viel    Möglichkeiten    offen    läßt,     den    patho- 
logischen   Vorgang    im    speziellen    zu    erklären,    haben    die    Ent- 
deckungen der  Serologie  den  Anteil  des  Humor  an  der  Entstehung 
pathologischer   Prozesse   derartig  aufgedeckt,   daß  es  überaus  ein- 
seitig wäre,  die  Serologie  gegenüber  der  Pathologie  zurückzustellen. 
Umgekehrt  wäre  es  ebensowenig  richtig,  die  Serologie  der  Zellular- 
pathologie vorzuziehen.    Der  lange  Zeit  über  diese  Frage  geführte 
Streit  zeigt,  wie  die  Verkennung  des  fiktionalen  Einschlags  unseres 
iJenkens   zu    Schcinproblemen   führen    muß.      Sind    Humoral-    und 
Solida rpathoiogie    zwei    die    komplexen     Grölkn    der    organischen 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die  medizinische  Wissenschaft,     j  qq 

Prozesse  verschiedenartig,  in  sich  aber  folgerichtig,  unter  Be- 
tonung einer  Sondererscheinungsform  (d.  i.  der  Zelle  bzw.  des 
Chemismus  des  Humor)  erklärende  Schematismen  im  Sinne  unserer 
obigen  Darlegung,  so  gilt  es,  beide  zu  fördern,  um  beide  zu  Resul- 
taten zu  führen,  die  in  Summa  der  verwickelten,  vielgestaltetcn 
Wirklichkeit  näher  kommen.  Ist  aber  die  Lehre  von  der  Zelle 
als  dem  Elementarorganismus  das  korrekte,  gedankliche  Abbild 
der  Wirklichkeit,  so  ist  der  Streit  ein  berechtigter.  Nach  dem 
Tatsachenmaterial  der  heutigen  Medizin  ist  die  Zelle  nicht  der 
ausschließliche  Faktor  pathologischer  Zustände.  Dies  anzuerkennen, 
d.  h.  den  Tatsachen  ihr  Recht  lassen,  ist  sehr  viel  leichter,  wenn 
man  eingesehen  hat,  daß  die  Zellularpathologie  die  angeführten 
fiktionalen  Gedanken  in  ihren  dogmatischen  Grundlehren  enthält, 
als  wenn  man  dies  sich  nicht  vergegenwärtigt.  Das  Entsprechende 
gilt  für  die  Serologie.  Die  Erkenntnis  des  fiktionalen  Beitrages 
zu  jedem  wissenschaftlichen  Denken  würde  den  Fortschritt  un- 
geheuer erleichtern.  Es  wäre  möglich,  daß  der  Dogmatismus  hin- 
fällig würde,  der  in  Verkennung  unserer  erkenntnistheoretischen 
Bedingtheit  den  Fortschritt  so  leicht  hemmt.  So  wichtig  die  Er- 
klärung vorübergehend  ist,  so  ist  sie  doch  nicht  das  Wesentliche 
und  Bleibende  der  Forschung.  Unvergänglich  ist  nur  eine  richtige 
Beobachtung  von  Zuständen  und  ein  wiederholbares  Experiment 
bei  Vorgängen. 

Ein  weiteres  Beispiel  fiktionalen  Denkens  in  der  Medizin  ist 
die  Seitenkettentheorie  Ehrlichs.  Die  Grundlage  derselben  ist  die 
Konstitutionsformel.  Diese  ist  eine  willkürliche  Annahme,  deren 
Tatsächlichkeit  in  der  Erscheinung  noch  niemand  gezeigt  hat. 
Es  bleibt  durchaus  offen,  ob  dies  in  irgendeiner  Art  nicht  doch 
noch  möglich  wird.  Jedenfalls  ist  der  Gedanke,  der  sich  an  dies 
formale  Bild,  das  erfunden  (nicht  entdeckt)  ist,  anschließt,  ganz 
gleichgültig,  ob  er  sich  materiell  bestätigt  oder  nicht,  äußerst 
fruchtbar  gewesen.  Wir  sehen  also  heute  ein  großes  Gebiet  medi- 
zinisch-wissenschaftlicher Forschung  vor  uns,  das  sich  auf  einer 
rein  gedanklichen  Basis  gründet.  Man  hat  diese  gedanklichen 
Wegweiser  heuristische  Hypothesen  genannt.  Daß  es  sich  hier 
nicht  um  Hypothesen  handelt,  d.  h.  um  eine  Darlegung  als  wahr- 
scheinlich erkannter  Regelmäßigkeiten  \on  Vorgängen,  sondern  in 
erster  Linie  um  gedankliche  Gebilde,  Erfindungen,  soll  an  anderer 
Stelle  ausführlicher  gezeigt  werden.  Wenn  man  sachlich  aussagen 
soll,  was  denn  die  Serologie  gefunden  hat,  so  ergeben  sich  Hypo- 


20O  ^^^^  Coerper : 

thescn,  d.  h.  wahrscheinliche  Folgebeziehungen,  die  sich  auf  ganz 
andere  chemisch-physikalische  Befunde  stützen  als  auf  die  theo- 
retische Voraussetzung  derselben,  die  chemische  Konstitutions- 
formel. Heuristische  Annahmen  sind  echte  Fiktionen.  Der  Anteil 
des  Tatsächlichen  an  diesen  willkürlichen  Gebilden  ist  verschieden 
groß,  in  diesem  Falle  zunächst  auffallend  klein. 

Bei  einer  anderen  Frage  ist  die  Kenntnis  des  Fiktionalen 
von  grundsätzlicher  Bedeutung.  Die  Ablehnung  der  Homöopathie 
wird  in  einer  Weise  betrieben,  die  m.  E.  den  diesbezüglichen 
Fragen  meist  nicht  an  entscheidender  Stelle  begegnet.  Die  Grund- 
these der  Homöopathie  ist  diese:  Die  Reaktionen  des  Organismus 
auf  pathologische  Reize  sind  zweckmäßige,  also  heißt  heilen, 
diese  Reaktionen  steigern.  Zweckmäßigkeit  ist  indessen  kein  Be- 
griff, der  in  der  Wirklichkeit  nachzuweisen  ist.  Er  ist  ein  Begriff 
des  reinen  Denkens,  der  Kernbegriff  des  Fiktionalen.  Wenn  man 
eine  Funktion  zweckmäßig  nennt,  so  unterlegt  man  ihr  willkürlich 
etwas,  was  ihr  durchaus  fremd  ist.  Zweckmäßig  bzw.  unzweck- 
mäßig sind  unsere  Gedanken,  niemals  aber  Tatsachen.  Die  wissen- 
schaftliche Kritik  der  Homöopathie  hat  also  derart  vorzugehen^ 
daß  sie  beobachtend  und  experimentell  Zustände  und  Vorgänge 
des  Organismus  zu  erfassen  versucht.  Dabei  wird  sich  erweisen, 
ob  tatsächlich  durch  Steigerung  pathologischer  Prozesse  mit  Wahr- 
scheinlichkeit eine  Abnahme  derselben  zu  erreichen  ist,  d.  h.  ob 
die  Fiktion  zweckmäßig  ist,  die  krankhaften  Reaktionen  als  Heil- 
faktoren aufzufassen.  Dieser  Beweis  scheint  nicht  möglich  zu 
sein.  Danach  müßte  jene  Fiktion  als  eine  unzweckmäßige  für 
unser  wissenschaftliches  Denken  fallen  gelassen  werden.  Sie  wäre 
einer  unwissenschaftlichen  Fiktion  gleich. 

Solche  unwissenschaftliche  Fik-tionen  werden  auch  Speku- 
lationen genannt.  Da  jedes  Denken  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
der  Spekulation  vermittelst  Phantasie  bedarf,  so  muß  also  prin- 
zipiell das  wissenschaftliche  Denken  durch  einschränkende  Be- 
stimmungen in  seinem  fiktionalen  Teile  begrenzt  werden.  Wie 
dies  möglich  ist,  soll  in  der  Darlegung  über  Zustands-  und  Vor- 
gangsforschung für  die  Medizin  versucht  werden.  Diese  Darlegung 
wird  den  Nachweis  führen,  wie  sich  das  Denken  in  der  Wissen- 
schaft an  die  Tatsachen  (Zustände  und  Vorgänge)  binden  muß. 
Die  Geschichte  der  Medizin  ist  voll  von  Beispielen  dafür,  daß 
jedesmal,  wenn  diese  Bindung  gelockert  oder  gelöst  wurde,  die 
Spekulation  überwucherte. 


Die  Bedeutung  des  fiktionalen  Denkens  für  die  medizi  nische  Wissenschaft.     2  O I 

Es  ist  notwendig,  noch  eine  wesentliche  Fiktion  des  medizinisch- 
wissenschafthchen  Denkens  aufzuführen.  Das  ist  der  Mechanismus 
als  Anschauungsform  alles  Geschehens.  Die  mechanistische  Auf- 
fassung hat  sich  als  sehr  zweckmäßig  erwiesen.  E^  steht  zu  wün- 
schen, daß  sie  konsequent  auf  allen  Gebieten  durchgeführt  wird. 
Es  ist  nun  interessant,  zu  sehen,  daß  sich  vor  allem  in  der  Psy- 
chiatrie, aber  auch,  wie  erwähnt,  in  der  inneren  Medizin  eine 
Bewegung  geltend  macht,  die  neben  dem  Mechanismus  noch 
andersartig  gestaltete  Funktionen  kennt.  Man  versucht,  das  Seelen- 
leben dem  Mechanismus  der  festen  Masse  zu  entziehen  und  eigenen 
Gesetzen,  vor  allem  der  Teleologie,  folgen  zu  lassen.  Dies  erscheint 
mir  durchaus  nicht  unmöglich.     Nur  schließt  es  jenes  nicht  aus. 

Daß  der  Mechanismus  tatsächlich  manches  Problem  des  Orga- 
nischen nicht  vollständig  und  befriedigend  aufklärt,  das  zeigen 
die  ernsthaften  Versuche  der  Vitalisten,  diesem  Mangel  abzu- 
helfen. Diese  Versuche  gelingen  freilich  nicht;  denn  der  Vitalismus 
ist  der  Versuch,  mechanistische  und  teleologische  Anschauungs- 
weise vollständig  zur  Deckung  zu  bringen.  Das  ist  unmöglich, 
da  beide  von  verschiedenen,  wie  mir  scheint,  gleicherweise  be- 
rechtigten Voraussetzungen  ausgehen.  Der  Vitalismus  in  dieser 
Form  ist  sogar  wissenschaftlich  unzweckmäßig,  d.  h.  eine  leere 
Spekulation,  da  er  das  noch  Unerforschte  lediglich  durch  eine 
Benennung,  z.  B.  Lebenskraft,  Dominante,  meint  sachlich  ge- 
klärt zu  haben.  Es  mischt  sich  in  ihm  Tatsächliches  und  Fiktionales, 
letzteres  als  solches  unerkannt,  zu  einer  Einheit.  Das  muß  Un- 
klarheit mit  sich  bringen.  Die  Vitalismuslehren  sind  typische 
unwissenschaftliche  Fiktionen,  wie  sie  die  Spekulationen  der 
früheren  Medizin  darstellen;  sie  sind  unzweckmäßig,  lassen  sich 
deshalb  als  wissenschaftliche  Annahmen  nicht  rechtfertigen. 

Die  von  uns  gegebenen  Darlegungen  des  fiktionalen  Denkens 
in  der  Medizin  bedingt  nun  freilich  folgenden  gewichtigen  Um- 
schwung in  dem  gesamten  Wissenschaftsbetriebe:  durch  Denken 
ist  keine  absolute  Wirklichkeitswahrheit  zu  gewinnen.  Unser 
Denken  gestaltet  die  zu  erkennende  Welt  um.  Jede  Erklärung 
enthält  ein  ,,als  ob",  d.  h.  die  Annahme,  als  ob  das  Objekt  durch 
die  gegebene  Gedankenform  erklärt  werde.  Und  doch  kommt 
das  Denken  nur  immer  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der  Wirk- 
lichkeit nahe.  Das  Reich  der  Gedanken  bietet  die  Möglichkeit 
unendlich  vieler  ideeller  Zuordnungen,  das  Reich  der  Tatsächlich- 
keit lediglich  eindeutig  bestimmte  Verhältnisbeziehungen. 


202      Carl  Cocrper:   Die  Beclcutunj^  des  fiktionalen  Denkens  f.  d.  med,  Wissenschaft, 

Diesen    Unterschied     zu     machen,     lehrt    die  Erkenntnis    des 
fiktionalen  Einschlages  unseres  Denkens. 

Noch  weiter  führt  das  Fiktionale :  es  ermöglicht,  was  mir 
überaus  wichtig  erscheint,  die  Trennung  der  Weltanschauungs- 
fragcn  von  den  Fragen  der  exakten  Wissenschaft.  Es  ist  hier 
nicht  der  Ort,  das  nachzuweisen.  Der  Mediziner  kann  die  ver- 
schiedensten allgemeinen  Weltanschauungen  vertreten.  Die  Welt- 
anschauung kennzeichnet  ihn  als  Arzt  und  Mensch.  Als  Mediziner  I 
aber  hat  er  die  Begrenzung  und  Einseitigkeit  des  wissenschaft- 
lichen Betriebes  mit  dem  Verzicht  auf  absolute  Wahrheit  zu  er- 
tragen. E^  würde  scnr  viel  Kraft,  die  der  Tatsachenforschung 
nottut,  gespart  werden,  wenn  man  sich  darüber  klar  wäre,  was 
an  der  Wissenschaft  lediglich  fiktional  ist.  In  diesem  Sinne  be- 
rührt die  Erkenntnis  des  Fiktionalen  wie  eine  Befreiung  für  die 
Wissenschaft. 

Die  Philosophie  hat  oftmals  die  Medizin  in  ihre  metaphysische, 
ontologische  Fessel  geschlagen.  Die  Philosophie  des  Fiktionalen 
zerstört  diese  metaphysischen  Formen  und  eröffnet  gangbare  Wege 
zu  einer  Erkenntnis,  die  sich,  wenn  auch  nicht  als  absolute,  so 
doch  als  brauchbare  erweist.  Eine  derartige  Erkenntnis  ist  dem 
Tatbestande  nach  heute  das  Ergebnis  aller  unserer  Arbeit.  Was 
bleibt,  sind  die  Ergebnisse  der  Zustands-  und  Vorgangsforschung. 
Diese  Forschungsform  liegt  für  die  Medizin  in  der  Richtung  dessen, 
was  man  ,,das  quantitative  Denken"  (Krehl)  genannt  hat.  Den 
Weg  zu  diesem  bleibenden  Wertvollen  eröffnet  aber  die  Erkenntnis 
des  Fiktionalen,  die  bewußte  Benutzung  dieser  bisher  noch  nicht 
entdeckten  Denkform. 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik. 

Von 

Dr.  Otto  Lehmann, 

Geheimer  Rat,  Professor  der  Physik  an  der  Technischen  Hochschule  in  Karlsruhe. 

I  nhaltsübersicht. 

Verstehen  oder  Begreifen  eines  Vorganges  bedeutet  die  Fähigkeit,  ihn  in  Ge- 
danken sich  abspielen  zu  lassen.  Verständliche  Beschreibung  erfordert  deshalb 
Angabe  von  wirkenden  Wesen,  welche  durch  ihre  Kräfte  die  Erscheinung  hervor- 
bringen, an  deren  Stelle  wir  in  Gedanken  unsere  Person  setzen  können,  deren 
durch  Muskeln  ausgeübte  Wirkung  wir  als  Kraflleistung  empfinden.  Weil  uns 
unser  Ich  dabei  als  etwas  Unteilbares  erscheint,  erfordert  deshalb  Erkenntnis 
des  , .Wesens"  der  Erscheinungen  Annahme  von  ,, Individuen"  oder  ,, Atomen" 
als  Urheber  derselben. 

Auch  das  durch  eine  Kraft  Bewegte  kann  nur  gedacht  werden  als  Aggregat 
von  mit  Trägheit  (Masse)  begabten  Atomen,  weil  wir  beim  Versuche,  unseren 
Körper  zu  bewegen,  dessen  Widerstand  als  Trägheit  empfinden. 

Im  Grunde  sind  deshalb  die  Atome  Phantasiegebilde,  gewissermaßen  Nach- 
folger der  Dämonen  des  Altertums,  aber  ohne  Bewußtsein  und  ohne  freien  Willen. 
Ihre  Beseitigung  aus  der  Wissenschaft  wäre  dieses  h>-pothetischen  Charakters  wegen 
erwünscht;  doch  zeigt  das  Beispiel  der  Lösung  von  Mischkristallen,  daß  bei  Ver- 
zicht auf  die  Atomh>-pothese  nicht  nur  die  Verständlichkeit  der  Beschreibung  auf- 
hören würde,  sondern  überhaupt  deren  Möglichkeit,  da  alsdann  der  Wortschatz 
der  Sprache  unzureichend  wäre  und  unendlich  viele  neue  Worte  ersonnen 
werden  müßten. 

Setzen  wir  die  Existenz  von  Atomen  voraus,  so  müssen  wir,  um  die  Erschemungen 
der  leblosen  Natur  deuten  zu  können,  ihre  Zahl  pro  Kilogramm  zu  l,M-640  Qua- 
drillionen annehmen,  wenn  A  das  Verhältnis  des  Gewichts  eines  solchen  Atoms  zu 
dem  eines  Wasserstoffatoms  bedeutet.  Wir  müssen  ferner  jedem  Atom  je  nach 
seiner  Art  einen  mehr  oder  minder  komplizierten  Aufbau  aus  zum  Teil  mit  rasender 
Geschwindigkeit  kreisenden  Elektrizitätsatomen  (Elektronen)  zuschreiben,  umgeben 
von  elektrischen,  magnetischen  und  anderen  Kraftfeldern,  deren  Grenze  bestandig 
mit  300  Millionen  Meter  pro  Sekunde  Geschwindigkeit  in  den  leeren  Raum  hinaus- 
eilt und  die  sich  gegenseitig  durchdringen,  ohne  sich  irgendwie  zu  stören,  soweit 
sie  nicht  mit  Elektronen  zusammentreffen. 

Erklärung  der  Erscheinungen  in  der  belebten  Natur  erfordert  ferner  nach 
der  einfachsten,  der  monistischen  Theorie,  daß  wir  den  Atomen,  also  auch  den 
Elektronen  und  Kraftfeldern  unveränderliche  seelische  Eigenschaften  wie  Emp- 
findung, Erinnerung  und  Willen  zuschreiben,  wobei  diese  Fähigkeiten  sich 
in  außerordentlichem  Maße  steigern,  wenn  die  Atome  in  geeigneter  Weise  in  Ver- 
bindung treten.  Diese  seelischen  Tätigkeiten  von  Atomverbänden  müßten  wieder 
neue  Empfindungen  und  Vorstellungen  erwecken,  wie  die  des  selbstbewußten 
und  zielbewußten  Handelns,  ähnlich  wie  Luftwellen  die  Empfindung  Schall  und 
elektromagnetische    Wellen    die    Empfindung    Licht    hervorbringen    können.      Die 


204  Otto  Lehmann: 

scheinbare  Zweckmäßigkeit  der  Gestaltung  und  der  Tätigkeit  bei  Lebewesen  wäre 
lediglich  die  Folge  zwecklos  wirkender  Ursachen,  worunter  die  Erinnerung  an  frühere 
Lust-  und  Unlustgefühle  und  die  dadurch  geweckten  Reflexe,  sowie  die  Vererbung 
erworbener  Eigenschaften  eine  besondere  Rolle  spielen. 

Nach  der  dualistischen  Theorie  ist  die  Seele  ein  neben  dem  Stoff  bestehendes 
Wesen,  welches  freilich  keine  Masse  besitzen,  doch  aber  Kräfte  ausüben  soll,  wenn 
auch  nur  zur  Auslösung  von  Energieumwandlungen,  in  Widerspruch  zu  den  Natur- 
gesetzen. Zudem  soll  sie  willkürlich  eingreifen  zur  Erreichung  eines  Zweckes, 
während  den  Naturgesetzen  zufolge  alles  aus  Ursachen  zwecklos  geschehen 
müßte.  Nach  Glaubenslehren  besitzt  im  besonderen  der  Mensch  noch  außerdem 
eine  unteilbare^  unveränderliche,  unsterbliche,  mit  Vernunft  begabte 
Seele,  welche  für  ihre  Handlungen  verantwortlich  ist. 

Auch  bei  Annahme  aller  dieser  Voraussetzungen  der  einen  oder  anderen  Theorie 
bleibt  uns  doch  ein  Begreifen  der  gesamten  Welt  versagtj  denn  wir  können  weder 
unendlich  Großes  noch  unendlich  Kleines  in  Gedanken  erfassen,  weil  solches 
endlose   Abänderung   der   Vorstellung,   also   unendlich  lange   Zeit   erfordern   würde. 

Glücklicherweise  ist  für  die  Zwecke  der  Naturwissenschaften  solches  Ver- 
stehen des  , .Wesens"  der  Erscheinungen  und  Begreifen  des  ,, ganzen"  Weltgeschehens 
durchaus  unnötig.  Dem  Biologen  z.  B.  würde  genügen,  nachzuweisen,  daß  ein 
Lebewesen  künstlich  aus  flüssigen  Kristallen  aufgebaut  werden  kann,  gleichgültig, 
ob  wir  imstande  sind,  deren  Eigenschaften  aus  ihrer  atomistischen  Zusammensetzung 
abzuleiten  oder  nicht,  ob  wir  den  Atomen  eine  Seele  zuschreiben  und  ob  wir  dieselben 
selbst  wieder  als  Welten  aus  kleineren  Atomen  denken  und  diese  aus  noch  kleineren 
in  infinitum.  Physikalische  Berechnungen  können  bei  Systemen,  welche  sowohl 
nach  der  Seite  des  unendlich  Großen  wie  des  unendlich  Kleinen  abgegrenzt  sind, 
immer  durchgeführt  werden  und  erfordern  nicht  einmal  Kenntnis  aller  Teile,  ja 
diese  können  durch  andere  ersetzt  gedacht  werden,  so  wie  der  ,, Kalkulator"  die 
wirklichen  Dinge,  die  er  abzählt,  durch  Steinchen  ersetzt.  Das  Zählen  ist  ein  auf 
Erinnerung  beruhender  Vorgang  in  den  Organen  des  Gehirns,  der  sich  immer  in 
gleicher  Weise  abspielen  muß,  da  diese  dieselben  bleiben.  Im  Falle  die  Beschrei- 
bung ohne  Atome  zu  unendlich  vielen  Gleichungen  führen,  also  unmöglich  würde, 
kommt  der  Molekularphysiker  über  die  Schwierigkeit  mit  Leichtigkeit  hinweg,  in 
dem   er  sich  so  ausdrückt,  die  Vorgänge  verlaufen  so,  ,,als  ob"  Atome  existierten. 

Durch  Studien  über  die  Beziehungen  zwischen  den  Eigen- 
schaften kleinster  Kristalle  und  niedrigster  Lebewesen,  mit  welchen 
ich  mich  bereits  1872  beschäftigte  [wesentlich  angeregt  durch 
E.  Haeckels  Schriften  über  die  Beziehungen  zwischen  lebloser 
und  belebter  Materie^)],  war  ich  dazu  geführt  worden,  den  Versuch 
einer  möglichst  einwandfreien,  auch  die  einschlägigen  Erschei- 
nungen bei  Organismen  behandelnden  Darstellung  der  Molekular- 
physik zu  machen,  die  sich  hauptsächlich  auf  eigene  Prüfung  der 
Vorgänge  mittels  meines  speziell  dazu  konstruierten  Kristalli- 
sationsmikroskops ^)  stützen  sollte.     Der  Versuch  fiel  in  eine  Zeit, 


')  Siehe  z.B.  E.  Haeckel,  Die  Radiolarien,  1862;  Beiträge  z.  Gesch.  der 
Hydromedusen,  1865;  Generelle  Morphologie  der  Organismen,  1866;  Natürliche 
Schöpfungsgeschichte,  1868;  Jenaische  Zeitschr.  f.  Naturw.  4,  64,  1868  (11.  6,  23, 
1877);  Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Siphonophoren,  1869;  Studien  über  Moneren 
und  andere  Protisten,  1870;  Das  Leben  in  den  größten  Meerestiefen,  1870;  Die 
Kalkschwämine,   1872. 

')  ().  Lehrnann,  Das  Kristallisationsmikroskop,  Braunschweig  1910. 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  20t; 

als  durch  Cl.  Maxwell^)  und  G.  Kirchhoff 2)  als  Hauptaufgabe 
der  Physik  hingestellt  war,  die  Erscheinungen  ex£ikt  zu  beschreiben 
und  zu  berechnen,  unter  tunlichster  Vermeidung  aller  unsicheren 
Hypothesen,  wozu  in  erster  Linie  die  Molekularhypothese  gerechnet 
wurde.  Mein  Buch  Molekularphysik^)  strebte  deshalb  eine  rein 
phänomenologische  Beschreibung  der  Molekularerscheinungen  an, 
unter  völliger  Vermeidung  der  Zuziehung  von  Molekularhypothesen; 
selbst  das  Wort  ,, Molekül"  findet  sich  erst  in  einem  kleinen  Schluß- 
kapitel, welches  der  Vollständigkeit  wegen  auch  die  Deutung  der 
Erscheinungen  durch  Molekularhypothesen  erwähnt,  d.  h.  die  Ver- 
suche, in  das  ,, Wesen  der  Naturerscheinungen"  einzudringen. 

Die  Beschäftigung  mit  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft 
und  seinen  Ansichten  über  Mathematik  und  Naturwissenschaften 
sowie  mit  F.  A.  Langes  Geschichte  des  Materialismus  im  Jahre  1874 
(auf  Veranlassung  meines  Lehrers  Laas)  mochte  gleichfalls  die 
große  Vorsicht  Hypothesen  gegenüber  veranlaßt  haben*),  ohne 
daß  ich  mir  dessen  bewußt  wurde,  da  ich  es  sonst  in  dem  Buche 
Molekularphysik  erwähnt  hätte. 

In  meiner  Antrittsrede  bei  Übernahme  des  elektrotechnischen 
Lehrstuhls  an  der  technischen  Hochschule  in  Dresden  1888^)  habe 
ich  die  Atome  als  Nachfolger  der  alten  Naturgottheiten,  als  Ge- 
bilde unserer  Phantasie  behandelt,  die  wir  uns  selbst  schaffen, 
um  die  Naturerscheinungen  begreifen  oder  verständlich  be- 
schreiben zu  können. 

Während  noch  H.  Hertz  an  der  von  H.  Helmholtz^)  be- 
gründeten Auffassung  festhielt,  auch  die  elektrodynamischen  Vor- 
gänge  könnten  mechanisch   gedeutet,   also  begreiflich  beschrieben 

^)  Cl.  Maxwell,  A  treatise  on  electricity  and  magnetism,  1873. 

*)  G.  Kirchhoff,  Vorlesungen  über  mathematische  Physik,  Leipzig,  Teubner 
1876.     Ähnlich  zuvor    E.   Mach,    später  W.    Ostwald. 

»)  O.Lehmann,  Molekularphysik,  Bd.  i,   1888;  Bd.  2,   1889. 

*)  Siehe  H.  Vaihinger,  Die  Philosophie  des  ,. Als-Ob",  Berlin  1911,  Vorwort 
S.  VII;  Das  Atom  als  Fiktion,  S.  lOi;  Das  Ding  an  sich,  S.  109;  Die  Fiktion  der 
Kraft,  S.  376;  Naturkräfte  und  Naturgesetze  als  Fiktionen;  Die  Atomistik  als 
Fiktion,  S.  429;  Kants  Gebrauch  der  Als-Ob-Betrachtung,  S.  613.  Nach  Kant 
(Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  471)  ist  das  Dasein  von  Atomen  eine  „kosmo- 
logische  Idee".  Nach  Lange  (Beiträge  51)  sind  Atome  Mittel  empirischer  Natur- 
betrachtung und  Orientierung. 

5)  0.  Lehmann,  Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Naturerscheinungen,  Natur\r. 
Rundschau  4,  53,  1888. 

•5)  Siehe  O.Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  26,  102,  Anm.  i,  1916, 
u.   ebenda   XVII.     Nachdem   Rob.  Mayer   bewiesen  hatte,   daß   die   Wärme  eine 


2q5  Otto  Lehmann: 

werden*),  kamen  andere  zu  dem  Ergebnis,  die  prinzipielle  Un- 
möglichkeit solcher  Deutung  lasse  sich  streng  beweisen^),  ja,  man 
müsse  umgekehrt  die  Mechanik  auf  die  Theorie  der  Elektrizität 
und  des  Magnetismus  begründen.^)  Ich  selbst  nahm  Anstoß  an 
mechanischer  Deutung  der  elektrischen  Erscheinungen  wegen  der 
Notwendigkeit  der  Beiziehung  der  Atomhypothese.*)  Einige  Stellen 
jener  Schrift  mögen  hier  zur  Klarstellung  wörtlich  wiedergegeben 
werden.  Unter  Hinweis  darauf,  daß  uns  das  Wesen  von  Elek- 
trizität und  Magnetismus  völlig  rätselhaft  ist,  wird  bemerkt: 

,,Wohl  kann  man  sagen,  daß  die  Beschreibung  der  Erschei- 
nungen, wenige  Punkte  abgerechnet,  eine  sehr  vollkommene  ge- 
worden ist,  daß  uns  die  mathematische  Verarbeitung  des  empirisch 
gewonnenen  Stoffes  in  den  Stand  gesetzt  hat,  mit  aller  Präzision 
im  gegebenen  Falle  auszusagen,  was  vorgeht,  w^as  geschehen  ist 
und  geschehen  wird  —  allein  dennoch  fehlt  uns  etwas,  wir  ver- 
missen etwas,  wir  sind  nicht  befriedigt,  alles  ist  seltsam,  fremd- 
artig, wunderbar. 

Und  in  der  Tat,  wie  sollte  uns  eine  einfache  trockene,  wenn 
auch  noch  so  exakte  Beschreibung  völlig  befriedigen  können,  be- 
sitzen wir  doch  nicht  allein  die  Fähigkeit,  Naturerscheinungen 
w^ahrzunehmen,  sondern  nicht  minder  die  W'eitere  wichtige 
Fähigkeit,  sie  durch  eigene  Kraft  hervorzurufen! 

Ich  bin  imstande,  durch  die  Kraft  meines  Armes  Körper  in 
Bewegung  zu  versetzen,  ich  bin  imstande.   Schall,   Licht,  Wärme, 


Form  von  Bewegung  ist,  versuchte  H.  Helmholtz  gleiches  auch  für  andere  Energie- 
formen, insbesondere  für  die  elektrische  und  magnetische  Energie,  zu  beweisen  und 
sein  Schüler  H.  Hertz  bezeichnete  es  geradezu  als  die  Aufgabe  der  Physik, 
diese  und  andere  rätselhafte  Energieformen  auf  verborgene  unsicht- 
bare   Bewegungszustände    zurückzuführen.      Ähnlich    Kelvin    u.    Boltz- 


mann. 


1)  Siehe  auch  A.  Korn,  Phys.  Zeitschr.  18,  323,  341,  504,  539,  581,  191?; 
19,  10,    201,    234,    1918;    G.Helm,  ebenda   18,   456,    I9i7- 

2)  H.  Witte,  Phys.  Zeitschr.  7,  779,  1906;  Ann.  d.  Phys.  26,  235,  1908;  32, 
382,  1910;  Elektrotechn.  Zeitschr.  1909,  Heft  48. 

3)  \V.  Ostwald,  Zeitschr.  phys.  Chem.  18,  305.  1895;  W.Wien,  Ann.  d. 
Phys.  5,  507,  1901;  G.  Mie,  Moleküle,  Atome,  Weltäther,  3.  Aufl.  1911;  Physik. 
Zeitschr.  18,  551,  574,596,  1917;  P.  Debye,  Sitzb.  d.  Münch.  Akad.  191 5 ;W.  Nernst, 
Ber.  d.  D.  Phys.  Ges.  18,  83,  1916. 

*)  Über  die  Einführung  des  ,, Elektrons"  siehe  mein  Buch  ,,Die  elektrischen 
Lichterscheinungen",  Halle  1898,  518  u.  ff.;  R.  A.  Millikan,  Ann.  d.  Phys.  60, 
729,  1916;  dagegen  F.  Ehrenhaft,  Phys.  Zeitschr.  18,  352,  1917,  Ann.  d.  Phys. 
56,  I,  1918;   L.  Flamm,  ebenda,   515;    J.  Parankiewicz,   ebenda,   567. 


Das  ,,Als-Ob"  in  Molekularphysik.  207 

ja  selbst  Elektrizität  und  Magnetismus  zu  erzeugen  — ,  was  aber 
immer  der  Erfolg  meiner  Tätigkeit  sein  mag,  stets  habe  ich  davon 
die  gleiche  Empfindung,  die  einer  Muskeltätigkeit,  einer  Kraft- 
leistung; direkte  Erzeugung  irgendeiner  anderen  Energie- 
form als   Bewegung  ist   uns  versagt. 

Darum  ist  es  uns  auch  ganz  unmöglich,  als  Ursache  einer 
Naturerscheinung  etwas  anderes  zu  denken  als  eine  Kraftleistung 
—  nur  als  Wirkung  von  Kräften  sind  Naturerscheinungen  für 
uns  begreiflich.^) 

Den  Gang  eines  Uhrwerkes,  die  Tätigkeit  der  Maschinerie 
einer  Fabrik,  eines  Bergwerks  haben  wir  dann  und  nur  dann  be- 
griffen, wenn  wir  imstande  sind,  jedes  beliebige  Glied  der  Kette 
durch  unser  eigenes  Ich  zu  ersetzen,  wenn  wir  die  Wirkung,  die 
es  ausübt,  durch  die  Kraft  unserer  Gliedmaßen,  die  luftverdichtendc 
Kraft  unserer  Lungen,  wenn  nicht  in  Wirklichkeit,  so  wenigstens 
doch  in  der  Einbildung  hervorzubringen  vermögen. 

Und  wenn  wir  diesem  Gedanken  weiter  nachgehen,  so  wird 
sofort  ein  Zweites  klar.  Eine  Kraft  allein  genügt  uns  ebenfalls 
nicht  zum  Verständnis  der  Naturerscheinungen,  es  muß  auch 
irgend  etwas,  ein  Ding,  ein  Individuum  da  sein,  welches  die  Kraft 
ausübt,  sowie  ich  es  bin,  der  die  Kraft  ausübt,  wenn  ich  einen 
Körper  in  Bewegung  setze.  Nur  als  Willensäußerungen  von  Indivi- 
duen, von  Wesen,  die  ebenso  unteilbar  sind,  wie  unser  eigenes 
Ich,  werden  Naturerscheinungen  begreif  lieh. 2) 

Im    Altertum   waren    es    Naturgottheiten,    Dämonen,    welche 


1)  Hier  könnte  die  Stelle  aus  meiner  Schrift:  Flüssige  Kristalle  und  die  Theorien 
des  Lebens,  2.  Aufl.,  Leipzig,  Barth  1908,  S.  6,  eingefügt  sein:  ,,Ein  Knabe  betrachtet 
staunend  die  Arbeit  eines  Schmiedes.  Er  wird  versuchen,  sie  zu  begreifen.  Wann 
hat  er  sie  vollkommen  begriffen  ?  Dann,  wenn  er  in  der  Lage  ist,  sich  wenigstens 
in  Gedanken  an  die  Stelle  des  Schmiedes  zu  stellen  und  durch  die  Muskelkraft  seines 
eigenen  Armes  das  Eisen  in  gleicher  Weise  zu  formen."  Ausführlicher  in  J.  Frick 
und  O.Lehmann,  Physik.  Technik  7,  Aufl.  I  (2),  631,  1903.  VöUig  anders  muß 
natürlich  das  ,, Begreifen"  aufgefaßt  werden  nach  E.  Mach,  G.  Kirchhoff  usw.; 
nämlich  als  Unterordnung  des  Einzelfalles  unter  einen  allgemeinen  ,, Begriff".  So 
begriff  H.  Hertz  das  Licht  als  eine  elektromagnetische  Wellenerscheinung.  Siehe 
H.  Helmholtz,  Vorl.  über  theoret.  Physik  1,  1;  J.  Petzoldt,  Handwörterb.  d. 
Naturw.  7,  82,  1912. 

*)  Wenn  der  Bogenschütze  einen  Pfeil  abschießt,  löst  er  dessen  Bewegung 
nur  aus.  Ebenso,  wenn  unser  Wille  die  Muskelkraft  betätigt,  löst  er  Umsetzung 
chemischer  Energie  in  Bewegungsenergie  aus.  Dabei  kommen  zum  Teil  dieselben 
Gehirnorgane  in  Tätigkeit  wie  bei  der  Wahrnehmung.  Die  Auslösung  beruht  auf 
molekularen  Bewegungen. 


2o8  Otto  Lehmann: 

man  sich  als  Träger  der  Naturkräfte  dachte,  bis  zu  gewissem  Grade 
mit  freiem  Willen  begabt,  doch  nur  innerhalb  eng  umschriebener 
Grenzen   mächtig.       Je   weiter   die   Naturerkenntnis   durch   Beob- 
achtung und   Experiment  voranschritt,   um  so  enger  wurden  die 
Schranken,  die  der  Willkür  der  Dämonen  gesetzt  wurden,  um  so 
größer  auch  deren  Anzahl,  und  heute  können  wir  ihnen  auch  nicht 
das   mindeste   Maß  von  Willensfreiheit   mehr  zuerkennen,   sie  ge- 
horchen unabänderlichen  Naturgesetzen,  unerbittlicher  Notwendig- 
keit,   und    ihre    Zahl    ist    Legion.       Sie   heißen   auch    nicht    mehr 
Dämonen,    Götter,    sondern  Atome,    welcher  griechische  Ausdruck 
genau   dasselbe   bedeutet,    wie   das   lateinische   Wort    Individuum, 
ein  Ding,  was  sich  ebensowenig  teilen  läßt,  wie  unser  eigenes  Ich." 
Nicht  minder  denn  als  Urheber  der  Bewegungserscheinungen 
sind    die    Atome   nötig   zu    deren  Verständnis    als   das    Bewegte. 
Ebenso  wie  ich  meinen  eigenen  Körper,  mich  selbst  bewege,  ver- 
mag ich  eine  andere  Person  oder  eine  Sache  ^)  bewegen,  an  deren 
Stelle  ich  mein  eigenes  Ich  gesetzt  denken  kann,  auch  wenn  es  sich 
nur  um  einen  Massenpunkt  handelt.    Beschreibung  eines  Bewegungs- 
vorganges  ohne  Angabc  dessen,    was  sich  bewegt,    ist  unmöglich. 
Unsere  Empfindung  lehrt,  daß  dem  Bewegten,  also  dem  aus 
Atomen  bestehenden  Stoff^),  Trägheit  zukommt,  daß  die  Körper 
ihren  Zustand  der  Bewegung  (oder  der  Ruhe)  nicht  ändern,  falls 
wir  nicht  eine  Muskelanstrcngung  (Energieumwandlung)  betätigen, 
die  uns  das  Gefühl  einer  Kraftleistung  erzeugt.       Zum  erstenmal 
AÄOirde  dieser  Zusammenhang  klar   ausgesprochen  durch   Galileis 
Trägheitsgesetz,    welches    aussagt,    der    Bewegungszustand    eines 
Körpers    bleibe    immer   erhalten,    bis   eine   Kraftwirkung  eintritt. 
Dieser  Satz  ist  der  Ausgangspunkt  geworden  zu  Robert  Mayers 
,, Gesetz   der    Erhaltung  der  Kraft ".^) 


*)  Elektrizität,  Licht  und  andere  Energieformen  gelten  dem  Juristen  nicht 
als  Sachen,  weil  er  unter  Sachen  Dinge  versteht,  die  man  berühren  kann,  die 
undurchdringlich  sind,  weshalb  früher,  ehe  ein  besonderes  diesbezügliches  Gesetz 
(Reichsges.  v.  9.  April  1900)  geschaffen  war,  der  Diebstahl  von  Elektrizität  (rich- 
tiger elektrischer  Energie)  nicht  bestraft  werden  konnte,  da  nach  §  242  des  Straf- 
gesetzbuchs nur  Sachen  gestohlen  werden  können. 

^  Nach  den  neueren  Forschungen  auch  der  Elektrizität  und  den  elektrischen 
und  magnetischen  Kraftfeldern,  also  dem  Licht;  vgl.  A.  Einstein,  Kultur  der 
Gegenwart  III  (3),  Bd.  i,  S.  703,  1915;  Ann.  d.  Phys.  49,  769,  1916.  0.  Lehmann, 
Nullpunktsenergie  u.  Gravitation,    Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  26,   129,  1916. 

')  Siehe  0.  Lehmann,  Zum  100.  Geburtstag  von  Robert  Mayer,  Verh. 
d.  Karlsr.  nat.  Ver.  26,  83,   1916. 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  20Q 

Vermöge  seiner  Trägheit  kann  ein  bewegter  Körper,  (z.  B. 
eine  Kanonenkugel,  das  auf  ein  Wasserrad  treffende  bewegte 
Wasser  usw.)  scheinbar  selbst  eine  Kraft  (Stoßkraft)  ausüben. 
Während  aber  wahre  Kräfte  (wie  unsere  Muskelkraft,  die  Kraft 
einer  gespannten  Feder  usw^)  immer  zwei  Angriffspunkte  haben, 
wobei  Wirkung  und  Gcgenwirl-aing  einander  gleich  sind,  kommt 
solchen  Trägheitskräften,  zu  welchen  auch  die  Zentrifugalkraft, 
der  Gasdruck,  der  Lichtdruck  usw.  gehören,  anscheinend  nur  ein 
Angriffspunkt  zu.^)  In  W^irklichkeit  ist  (z.  B.  beim  Zusammen- 
stoß elastischer  Kugeln)  nicht  die  Bewegung  die  Kraft,  sondern 
die  durch  diese  hervorgebrachte  elastische  Reaktion  der  defor- 
mierten Kugeln,  ein  Spannungszustand,  welcher  an  Stelle  des 
Bewegungszustandes  getreten  ist  und  wieder  solchen  erzeugen, 
d.  h.  ,, Arbeit  leisten"  kann.  Ohne  Zusammenstoß  würde  nach 
Galileis  Trägheitsgesetz  die  Bewegung  erhalten  bleiben.  Infolge 
des  Zusammenstoßes  geht  sie  in  Spannung  oder  Kraft  über,  kann 
aber  aus  dieser  in  unveränderter  Menge  zurückerhalten  werden, 
so  daß  die  Kraft  nur  als  eine  andere  Form  der  Bewegung  erscheint 
und  Galileis  Satz  in  Robert  Mayers  Satz  von  der  Erhaltung 
der  Kraft  übergeht.  Richtiger  sagt  man  nach  heutigem  Sprach- 
gebrauch, Bewegungsenergie  kann  sich  in  Kraftenergie ^) 
verw^andeln  und  umgekehrt,  denn  das  Wort  ,, Kraft"  bedeutet 
auch  anderes,  z.  B.  den  ,, Intensitätsfaktor  der  Kraftenergie",  den 
wir  bei  unserer  Muskelanstrengung  schätzen  nach  dem  ,,Kraft- 
geführ*,  welches  entsteht  durch  Nervenreizung  infolge  des  Ver- 
brauchs an  chemischer  Energie.  Die  Höhe  des  letzteren  pro 
Sekunde  ist  aber  nicht  allein  maßgebend,  für  die  Empfindung,  diese 
hängt  auch  ab  von  dem  Ernährungs-,  Ermüdungs-  und  Gesund- 
heitszustand unserer  Muskeln  und  Nerven,  sowie  von  psychischen 
Vorgängen,  welche  uns  die  Tätigkeit  mehr  oder  weniger  erwünscht 
sein  lassen,  auch  gibt  es  dafür  ebenso  wie  für  andere  Empfindungen 
keine  Methode  absoluter  Messung. 

Galilei  hat  zuerst  gelehrt,  wie  sich  dieser  Intensitätsfaktor 
der  Kraftenergie,  von  ihm  kurz  ,, Kraft"  genannt,  in  Zahlen  be- 
stimmen läßt.  Das  Mittel  dazu  bietet  sein  Superpositionsgesetz: 
Wirken  zwei  oder  mehr  Kräfte  auf  denselben  Körper,  so  stören 
sie  sich  gegenseitig  nicht  (d.  h.  die  Kraftenergien  addieren  sich 
algebraisch).    Demnach  sind  zwei  entgegengesetzt  gerichtete  Kräfte 

1)  Siehe  J.  Frick  und  0.  Lehmann,  Phys.  Technik,  7.  Aufl.  1(2),  665,  1905. 
^)  Dieses  Wort  benutze  ich  als  deutsche  Bezeichnung  für  ,, potentielle  Energie". 
Annalen  der  Philosophie.    I.  H 


2IO  Otto  Lehmann: 

gleich  Stark  (ihre  Intensitätsfaktoren  sind  gleich),  wenn  sich  ihre 
Wirkungen  aufheben,  d.  h.  wenn  Gleichgewicht  besteht.^)  Zwei 
gleiche  Kräfte  von  gleicher  Richtung  wirken  wie  eine  Kraft  von 
doppelter  Größe  usw.  Hiernach  fällt  es  nicht  schwer,  einen  Kraft- 
messer (Dynamometer,  Federwage)  zu  eichen,  nachdem  eine  Kraft- 
einheit festgesetzt  ist,  wozu  die  Stärke  der  Kraft  dienen  kann, 
durch  welche  die  Masse  i  kg  in  der  Sekunde  einen  Geschwindigkeits- 
zuwachs von  I  m  pro  Sekunde  erhält,  die  ,,Dezimegadyne'*  oder 
das  „Kop".2) 

Auch  die  Größe  der  ,, Masse"  eines  Körpers  kommt  uns  zu- 
nächst nur  durch  das  Gefühl  zum  Bewußtsein.  Unser  Wille,  der 
die  Energieumwandlung  bei  der  Muskeltätigkeit  auslöst,  begegnet 
einem  Hindernis,  das  wir  als  ,, Trägheit"  des  Körpers  auffassen. 
Bewegen  wir  nicht  unseren  eigenen,  sondern  einen  fremden  Körper, 
wozu  Berührung  desselben  nötig  ist,  so  läßt  uns  das  ,, Tastgefühl", 
die  Empfindung,  welche  die  Deformation  der  Nervenendigungen 
in  dem  bewegenden  Gliede  (richtiger  die  dadurch  hervorgebrachte 
Störung  ihrer  Molekularstruktur)  hervorbringt,  die  Größe  der 
Trägheit  oder  der  ,, Masse"  des  Körpers  schätzen.  Galilei  hat 
gefunden,  wie  auch  die  Masse  in  exakter  Weise  gemessen  werden 
kann.  Betrachtet  man  l  kg  als  die  Masse  von  I  Liter  Wasser,  so 
haben  2,  3,  4  .  .  .  Liter  Wasser  naturgemäß  die  Massen  2,  3, 
4  .  .  .  Kilogramm.  Wie  groß  aber  die  Masse  eines  Liters  Petroleum 
oder  eines  Liters  Quecksilber  wäre,  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  er- 
kennen. Nach  Galilei  und  Newton  ist  nun  für  dieselbe  Masse 
die  Beschleunigung  der  Kraft  proportional,  für  dieselbe  PCraft  bei 
verschiedenen  gleichartigen  Massen  umgekehrt  proportional  der 
Masse,  so  daß  somit  in  diesem  Fall,  wenn  k  die  Kraft,  m  die 
Masse  und  g  die  Beschleunigung  bedeuten,  k=m-g  ist.  Weiter 
stellte  Galilei  fest,  daß  alle  Körper  gleich  schnell  fallen,  welches 
auch  ihre  Masse  sein  mag.  Daß  zwei  oder  mehr  verbundene  Kilo- 
gramme aus  gleichartigem  Stoff,  z.  B.  Eisen,  ebenso  schnell  fallen, 

^)  Sie  leisten  aber  nicht  Arbeit  (wie  etwa  die  Schwere  bei  Beschleunigung 
eines  Körpers)  ohne  sich  zu  stören,  denn  die  tatsächliche  Verschiebung  des  Angriffs- 
punktes ist  Null,  nicht  gleichzeitige  Verschiebung  nach  entgegengesetzten  Rich- 
tungen, welche  doppelte  Arbeit  bedingen  würde. 

*)  Siehe  J.  Frick  und  O.  Lehmann,  Phys.  Technik  I  (2),  734;  0.  Lehmann, 
Zeitschr.  f.  Instrumentenkunde  1913,  279.  Neuerdings  ist  in  Frankreich  statt  dieses 
Mcter-Kilogramm-Sekundcnsystems  das  Meter-Tonnen-Sekundensystem  gesetzlich 
eingeführt  worden  in  welchem  die  Krafteinheit  1000 mal  so  groß  ist,  somit  als  ,,Hekto- 
nicgadyne"  zu  bezeichnen  wäre  oder  als  Sten  entsprechend  dem  französischen  Stine. 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  2  I  I 

wie  jedes  einzelne,  ist  selbstverständlich.  Wenn  ein  Stück  Blei, 
das  von  der  Erde  stärker  angezogen  wird  als  ein  gleichgroßes 
Eisenstück  dennoch  gleichschnell  fällt,  wie  dieses,  so  kann  seine 
größere  Schwere  nicht  durch  stärkere  Kraftwirkung  der  Erde  auf 
Blei  als  auf  Eisen  erklärt  werden,  denn  in  solchem  Falle  müßte  es 
schneller  fallen,  es  kann  nur  seine  Masse  entsprechend  größer  sein. 
Träge  und  schwere  Masse  sind  also  identisch;  die  ge- 
wöhnliche Wage,  durch  welche  wir  direkt  nur  Kräfte  (Gewichte) 
vergleichen,  eignet  sich  auch  zur  Messung  der  Massen.  Freilich 
stoßen  wir  auf  Schwierigkeiten,  wenn  wir  etwa  das  Gewicht  einer 
gegebenen  Elektrizitätsmenge  oder  eines  Lichtstrahls  bestimmen 
wollten.  Indirekt  kann  man  aber  ermitteln,  daß  ein  Elektron 
(das  Elektrizitätsatom  =  0,156  Trilliontel  Coulomb)  1,56  Quin- 
tilliontel  Kilogramm  wiegt;  i  cbm  Sonnenlicht  53  Quadrilliontel 
Kilogramm,  die  Strahlung,  die  i  qm  einer  absolut  schwarzen 
Fläche  pro  Sekunde  bei  T-Grad  nach  absoluter  Skala  aussendet, 
0,59"^*  Quadrilliontel  Kilogramm.* 

Daß  zwei  verschiedenartige  Stoffe,  z.  B.  Wasser  und  Queck- 
silber, bei  gleichem  Rauminhalt  sehr  verschiedene  Massen  haben, 
dachte  man  sich  zunächst  von  dem  Standpunkte,  es  gebe  nur  eine 
Art  Stoff,  durch  verschiedene  Porosität  bedingt,  weshalb  die  Masse 
pro  Kubikmeter  die  Bezeichnung  ,, Dichte"  erhielt.  Die  Atom- 
hypothese würde  eine  sehr  anschauliche  Vorstellung  der  Dichte 
ergeben,  wenn  man  in  solcher  Art  annehmen  könnte,  alle  Atome 
seien  gleich.  Dies  ist  aber  unmöglich,  auch  den  Atomen  muß 
verschiedene  blasse  zugeschrieben  werden,  die  abhängig  ist  von 
ihrem  Energieinhalt. 

Merlovürdigerweise  gibt  es  Körper,  deren  Dichte  stetig  von 
einem  Punkt  zum  andern  sich  ändert,  z.  B.  ein  an  einem  Ende  er- 
hitzter Stab.  Auch  dies  wäre  leicht  vom  Standpunkt  der  Mole- 
kulartheorie zu  deuten;  ohne  diese  stößt  man  aber  bei  Beschreibung 
der  Erscheinungen  auf  Schwierigkeiten.  Muß  nicht  ein  solcher 
Stab  als  Aggregat  von  unendlich  vielen  Körpern  betrachtet  werden? 
In  diesem  Sinne  habe  ich  mich  notgedrungen  in  der  Einleitung 
zu  meiner  Molekularphysik^)  ausgesprochen.     Es  heißt  dort: 

„Im  Sinne   der  Molekularphysik  ist   ein  Ding   nur   dann  ein 


*)  Siehe  M.Planck,  Vorl.  über  Theorie  d.  Wärmestrahlung,  1906;  0.  Leh- 
mann, Leitfaden  der  Physik,  1907,  252;  A.Einstein,  a.a.O.;  G.  Mie,  Elster- 
Geitel-Festschrift,  251,  1915;  H.  Reißner.'Phys.  Zeitschr.  16,  179,  1915  "•  a. 

*)  O.Lehmann,  Molekularphysik  1,  2,  1888. 

14* 


212  Otto  Lehmann : 

Körper,  wenn  es  physikalisch  homogen  ist,  d.  h,  an  judcm  Punkte 
genau  dieselben  physikalischen  Eigenschaften  besitzt.  Da,  wo  die 
Homogenität  aufhört,  befindet  sich  die  Oberfläche  des  Körpers." 
In  meiner  Antrittsrede  bei  Übernahme  des  physikalischen  Lehr- 
stuhls in  Karlsruhe^)  bezieht  sich  darauf  folgende  Stelle: 

,,Fast  alle  organischen  Stoffe  sind  .  .  .  ,  wie  die  mikroskopische 
Analyse  lehrt,  .  .  .  Aggregate  sehr  kleiner  Kriställchen  ...  Da 
sie  ...  sich  im  Innern  allenthalben  gleich  beschaffen,  homogen 
erweisen,  so  möchte  es  ,  .  .  als  passend  erscheinen,  als  einheitlichen 
leblosen  Körper  einen  solchen  zu  definieren,  welcher  an  allen  seinen 
Punkten  vollkommen  dieselben  Eigenschaften  besitzt,  so  daß, 
wenn  wir,  in  Gedanken  von  einem  Punkte  im  Innern  desselben 
ausgehend,  ohne  Unterlaß  seine  physikalischen  Eigenschaften 
prüfen,  diese  sich  allenthalben  gleich  ergeben,  bis  wir  die  Ober- 
fläche erreicht  haben,  wo  wir  in  den  angrenzenden  fremden  Körper 
eintreten. 

So  einfach  und  klar  auch  diese  Definition  erscheint,  so  be- 
gegnet sie  nichtsdestoweniger  den  größten  Schwierigkeiten. 

Jeder,  auch  der  homogenste  Körper,  gerät  bei  ungleichmäßiger 
Erwärmung  oder  Pressung  in  einen  Zustand,  in  welchem  seine 
Eigenschaften  auch  nicht  längs  der  kürzesten  meßbaren  Strecke 
konstant  bleiben,  sondern  sich  anscheinend  von  Punkt  zu  Punkt 
ganz  kontinuierlich  ändern,  so  daß  er  nun  der  Definition  gemäß 
nicht  mehr  ein  Körper  wäre,  sondern  ein  Aggregat  unendlich  vieler 
unendlich  kleiner  Elemente.  Unser  Ich  vermag  sich  nun  zwar  in 
Gedanken  auf  einen  sehr  kleinen  Raum  zu  konzentrieren,  einen 
unendlich  kleinen  Körper  können  wir  uns  aber  doch  nicht  vor- 
stellen, eben  weil  der  Begriff  verlangt,  daß  wir  die  Vorstellung,  die 
wir  davon  zu  bilden  versuchen,  ohne  Ende  abändern.  Zudem 
würde  die  merkwürdige  Umwandlung  schon  durch  die  geringste 
Änderung  der  Temperatur  und  des  Druckes  hervorgebracht  und 
ebenso  wieder  rückgängig  gemacht  werden  können. 

Auf  eine  andere  Schwierigkeit  stoßen  wir  bei  Betrachtung 
der  Lösungserscheinungen. 

Ein  Alaunkristall  ist  anscheinend  homogen,  eine  Quantität 
Wasser,  welche  etwa  in  einem  Glase  enthalten  gedacht  werden 
mag,  ebenfalls.  Bringen  wir  beide  Körper  zusammen,  so  ver- 
schmelzen sie  zu  einer  einzigen,  anscheinend  ebenfalls  homogenen 


*)  Derselbe,  Über  die  Teilbarkeit  der  Körper.    Die  Natur,  1889,  Nr.  32. 


Das  ,,Als-Ob"  in  Molekularphysik.  2  I  3 

Masse,  zur  sogenannten  Alaunlösung.  Wie  sollen  wir  uns  diesen 
Vorgang  erklären  ?  Zwei  Menschen  können  sich  nie  und  nimmer 
zu  einem  einzigen  dritten  Menschen  verschmelzen,  darum  wird 
uns  der  Vorgang  der  Lösung  stets  ebenso  unbegreiflich  bleiben, 
wie  der  der  Kopulation  bei  niederen  Tieren  und  einzelligen 
Pflanzen,  falls  wir  eben  Alaun  und  Wasser  als  wirklich  einheitliche 
Körper,  als   Individuen  betrachten. 

Was  nun  aber  dem  Einzelnen  unmöglich  ist,  gelingt  leicht 
der  Vielheit.  Ohne  die  mindeste  Schwierigkeit  kann  man  sich 
zwei  Vereine  oder  Staaten  zu  einem  einzigen  größeren  Vereine 
oder  Staate  verschmolzen  denken,  und  ebenso  wird  der  Vorgang 
der  Lösung  völlig  begreiflich,  wenn  man  annimmt,  Alaun  und 
Wasser  seien  ebenfalls  nicht  wirklich  einheitlich,  sondern  nur 
scheinbar,  in  der  Tat  vielmehr  Aggregate  sehr  vieler,  sehr  kleiner 
und  ihrer  Kleinheit  halber  unsichtbarer  Individuen,  von  Mole- 
külen .... 

Betrachten  wir  eine  weitere  Erscheinung.  Mischen  wir  eine 
Lösung  von  gewöhnlichem  farblosen  Thonerdealaun  und  Lösung 
von  dunkelviolettem  Chromalaun  und  bringen  das  Gemenge  zur 
Kristallisation. 

Schon  die  hellviolette  Färbung  der  prächtigen  klaren  Misch- 
kristalle, noch  mehr  die  Übereinstimmung  ihres  Gewichtes  mit 
der  Summe  der  Gewichte  der  ursprünglich  aufgelösten  Mengen 
beider  Alaune  macht  es  wahrscheinlich,  daß  die  Kristalle  nicht 
homogen  sind,  sondern  Mischungen  aus  beiden  kristallisierbaren 
Substanzen.  Und  doch  erscheinen  sie  auch  bei  sorgfältigster  mikro- 
skopischer Untersuchung  völlig  gleichmäßig  beschaffen,  müssen  also, 
wenn  wir  trotz  aller  Gegengründe  der  Definition  strenge  folgen 
wollen,  notwendig  als  einheitliche  Körper  betrachtet  werden. 

Die  Molekularhypothese  würde  ebenso  wie  im  ersten  Falle 
die  Schwierigkeiten  beseitigen,  wir  könnten  besonders  auch  be- 
greifen, wie  es  möglich  ist,  daß  bei  stetiger  Änderung  des  Mischungs- 
verhältnisses der  Lösungen  während  der  Kristallbildung  Misch- 
kristalle entstehen,  deren  Kern  aus  dunkelviolettem  Chromalaun 
besteht,  während  die  umgebende  Masse  in  steigendem  Maße  ge- 
wöhnlichen Alaun  enthält  und  schließlich  in  der  Rindenschicht 
in  reinen  farblosen  Thonerdealaun  übergeht;  Körper  also,  welche 
der  Definition  gemäß  als  Aggregate  unendlich  vieler,  unendlich 
kleiner  Körper  betrachtet  werden  müßten,  ähnlich  denjenigen, 
welche  durch  Druck  oder  Wärme  ihre  Homogenität  verloren  haben. 


21 A  Otto  Lehmann : 

Es  Wäre  freilich  noch  näher  aufzuklären,  inwiefern  die  Einlagerung 
fremder  Moleküle,  vielleicht  von  sehr  abweichender  Form  und 
Gröl3e,  in  den  durchaus  regelmäßigen  Kristallbau,  ohne  denselben 
zu  stören,  möglich  ist,  zumal  wenn  wir  berücksichtigen,  daß  die 
Teilchen  der  Erklärung  der  Wärmeerscheinungen  halber  in  fort- 
währender lebhafter  Bewegung  begi"iffen  gedacht  werden  müssen, 
jene  Störung  der  Lagerung  also  um  so  größere  Folgen  nach  sich 
ziehen  muß. 

Bedenken  dieser  Art  erscheinen  ohne  Bedeutung,  wenn  wir 
nach  einen  Schritt  weitergehen  und  den  Vorgang  der  Lösung 
von  Mischkristallen  in  Betracht  ziehen,  da  hier  ohne  Bei- 
ziehung der  Molekularhypothese  schon  die  einfache  Be- 
schreibung  der   Tatsachen   auf   Schwierigkeiten  stößt. 

Tatsache  ist  nämlich,  daß  wir  durch  Lösung  eines  Alaun- 
mischkristalles  dieselbe  hellviolette  Flüssigkeit  erhalten,  wie 
durch  ^lischung  der  dunkelvioletten  Lösung  des  Chromalauns 
einerseits  und  der  farblosen  des  gewöhnlichen  Ab  uns  andererseits. 
Wie  soll  nun  diese  Flüssigkeit  genannt  werden,  wenn  sie  wirklich 
einheitlich  ist:  Lösung  des  Mischkristalls  oder  Mischung  der  Lö- 
sungen der  einfachen  Alaune  ?  Oder  soll  etwa  für  sie  eine  neue, 
ganz  selbständige  Bezeichnung  ersonnen  und  einfach  angegeben 
werden,  daß  diese  so  und  so  benannte  Flüssigkeit  auf  dem  einen 
oder  anderen  Wege  zu  erhalten  ist .? 

Scheinbar  wäre  mit  letzterem  die  Vieldeutigkeit  der  Be- 
zeichnung beseitigt,  allein  der  Mischungsverhältnisse  sind  eben  in 
Wirklichkeit  unendlich  viele,  so  daß  eine  einzige  neue  Bezeichnung 
durchaus  unzureichend  wäre;  wir  müßten  schon  zur  Beschreibung 
dieses  einen  Faktums  unendlich  viele  neue  Namen  erfinden, 
d.  h.  die  Beschreibung  wäre  überhaupt  unmöglich;  wir  können 
uns  ohne  Beiziehung  der  Molekularhypothese  über 
diesen   Fall   überhaupt   nicht   aussprechen! 

Hierzu  kommt,  daß  alles  Rätselhafte  und  Unbegreifliche  sofort 
verschwindet,  sobald  wir  die  Hypothese  akzeptieren;  denn  ein 
Gemenge  verschiedener  Körper  wird  naturgemäß  in  verschiedener 
Weise  zu  erhalten  sein,  je  nachdem  wir  seine  Bestandteile  in 
flieser  oder  in  jener  Reihenfolge  mischen. 

Man  sieht,  wie  solcher  Art  der  Physiker,  ohne  es  zu  wollen, 
einzig  geleitet  durch  Rücksichten  auf  Möglichkeit  der  Natur- 
beschreibung, in  das  Bereich  der  Hypothesen  gelangt,  zur 
Annahme  einer  beschränkten  Teilbarkeit   der  Materie,   d.  h.  einer 


Das  ,,Als-Ob"  in  Molekularphysik.  2  I  ij 

Zusammensetzung  derselben  aus  Molekülen,  welche  man  physika- 
lische nennt,  weil  speziell  physikalische  Erscheinungen  zu  dieser 
Annahme  nötigen." 

Nehmen  wir  nun  die  Existenz  der  Atome  an,  so  ergeben  sich, 
wie  den  neueren  physikalischen  Untersuchungen  zufolge  mehr 
als  ein  Viertelhundert  Methoden,  die  Zahl  der  Moleküle  in 
der  Masse  l  kg  zu  bestimmen^)  —  Diese  Zahl  beträgt  etwa 
640  Ouadrillionen,  dividiert  durch  das  Molekulargewicht  der  be- 
treffenden Substanz  — ,  ja  man  hat  vielfach  Anhaltspunkte  über 
die  Feinstnaktur  der  Atome  und  die  Art  ihrer  Zusammenlagerung 
gewonnen,  insbesondere  durch  das  Studium  der  Erscheinungen 
der  Radioaktivität,  der  Spektralerscheinungen  und  der 
Röntgenstrahleninterferenzen  in  Kristallen,  sowie  in  Flüssig- 
keiten.- Auch  das  Verhalten  der  flüssigen  Kristalle  läßt 
weitere  Schlüsse  darüber  zu.^) 

Kristalltropfen  haben  übrigens  mit  Lebewesen  das  gemein,  daß 
sie  fremde  Stoffe  nicht  oder  nur  schwer  aufnehmen,  so  daß  halb- 
be  gre  n  zte  Kristalltropfen*J  ebensowenig  beobachtet  werden  können, 
wie  halbbegrenzte  Lebewesen.  Wohl  gehen  zwar  die  leblosen  Teile 
der  Haare,  Fingernägel  usw.  allmählich  in  die  lebenden  über,  unser 
Ich  können  wir  aber  nicht  nach  einer  Richtung  in  leblosen 
Stoff  allmählich  zerfließend  denken. 

Auch  Mischung  amorpher  Stoffe  ist  nur  denkbar  als  Mischung 
von  Atomen,  deren  jedes  scharf  begrenzt  ist  wie  unser  Ich,  wie 
schon  angedeutet  wurde.  Freilich  ist  über  die  tatsächlichen 
Grenzen  der  Atome  sehr  wenig  bekannt.  Nach  den  Ergebnissen 
('er  neueren  physikalischen  Forschung  müssen  sie  gedacht  werden 
■c  !s  Aggregate  in  Bewegung  befindlicher  Elektrizitätsteilchen, 
negativer  Elektronen  und  positiver  Archionen,  die  aber 
selbst  wieder  nur  singulare  Stellen  5)  (Anhäufungen  von  Kraft- 
linienenden)   von    Kraftfeldern   sind,    die   auch   im   leeren    Räume 


1)  Siehe  0.  Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  25,  41.  1912;  26,  105,  1916. 

»)  Siehe  insbesondere  P.  Debye,  Nachr.  d.  Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  Göttingen, 
27.  Febr.  1915;  Phys.  Zeitschr.  17,  277,  1916;  18,  219,  277,  483,  1917-  Nach  meiner 
Theorie  der  molekularen  Isomerie  (Molekularphysik  1,  703,  1888;  2,  443.  1889; 
Flüssige  Kristalle  1904,  210  usw.)  entstehen  die  Kristalle  allerdings  nicht  direkt 
durch  Zusammenlagerung  von  Atomen,  wie  man  aus  den  Röntgenstrahleninter- 
ferenzen geschlossen  hat,  sondern  von  Molekülen. 

')  Siehe  O.  Lehmann,  Die  neue  Welt  der  flüssigen  Kristalle,  1911,  343  u.  ff. 

*)  Vgl.  O.Lehmann,  Halbbegrenzte  Tropfen,  Wied.  Ann.  43,  516,  1891. 

*)  Siehe  J.  Stark,  Atomdynamik,  1,  1910;  2,  1911;  3,  1915;  G.  Mie  1.  c. 


2i6       '  Otto  Lehmann: 

existieren  und  sich  ohne  jede  Störung  gegenseitig  durchdringen 
können  gemäß  Galileis  Superpositionsprinzip.  Die  Grenze  eines 
Kraftfeldes  ist  nicht  fest,  sondern  schreitet  mit  der  sich  stets 
gleichbleibenden  Geschwindigkeit  von  300  Millionen  Meter  pro 
Sekunde  in  den  Raum  hinaus  fort.  Bei  rascher  Bewegung  der 
Elektronen  schnüren  sich  Teile  dieser  Kraftfelder  mit  ringförmig 
in  sich  zurücklaufenden  Kraftlinien,  also  elektronenfreie  Felder, 
ab,  welche  mit  derselben  Geschwindigkeit  sich  immer  weiter  aus- 
breiten und  das  Wesen  der  Licht-  und  Wärmestrahlung,  sowie  der 
Röntgenstrahlung  und  der  elektromagnetischen  Strahlung  der 
drahtlosen  Telegraphie  ausmachen. i)  Gegenseitig  durchdringen  sich 
natürlich  auch  die  elektronenfreicn  Kraftfelder  ohne  Störung; 
treffen  sie  aber  auf  elektronenhaltige,  so  werden  deren  Elektronen 
in  Bewegung  versetzt,  Kraftenergie  wandelt  sich  in  Bewegungs- 
energie um  und  veranlaßt  so  die  ,, Undurchdringlichkeit"  der  Körper, 
sowie  auch  den  sogenannten  Strahlungsdruck.  Die  ,, Masse", 
welche  bei  Berechnung  der  Bewegungsenergie  in  letzterem  Fall  in 
Betracht  zu  ziehen  ist,  ist  bedingt  durch  die  Energie  der  Kraft- 
felder, Das  Gesetz  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung 
erfordert,  daß  das  stoßende  Kraftfeld  eine  Verzögerung  erleidet, 
in  seinem  Fortschreiten  aufgehalten  wird.  Tatsächlich  wird  ihm 
seine  ganze  Geschwindigkeit,  welche  300  Millionen  Meter  pro 
Sekunde  beträgt,  entzogen,  und  das  halbe  Quadrat  dieser  Ge- 
schwindigkeit, multipliziert  mit  der  ,, Masse"  des  verschwindenden 
Kraftfeldes,  ergibt  die  erzeugte  Bewegungsenergie,  obschon  die 
Ausbreitungsgeschwindigkeit  nicht  eine  Geschwindigkeit  in  ge- 
wöhnlichem Sinne  ist,  d.  h.  der  pro  Sekunde  zurückgelegte  Weg 
eines  unveränderlichen  Körpers,  denn  das  Fortschreiten  des 
Kraftfeldes  beruht  auf  fortgesetzter  Verwandlung  von  elektrischer 
in  magnetische  Energie  und  umgekehrt,  wobei  die  neue  Energie- 
form immer  an  eine  im  Sinne  der  Ausbreitung  verschobenen 
Stelle  zum  Vorschein  kommt.  Sind  die  Atome  aber  nur  Elektronen 
und  Kraftfelder,  so  gilt  gleiches  auch  für  die  gewöhnhche  Bewegung. 
Sonnenlicht,  welches  senkrecht  auf  eine  i  qm  große,  absolut  schwarze 
Fläche  trifft,  drückt  auf  diese  mit  einer  Kraft  von  4,65  Millionstel 
Dezimegadynen.  Licht,  welches  im  leeren  Räume  auf  einen  Spiegel 
trifft,  übt  einen  Druck  auf  diesen  aus,  so  daß  er  in  immer 
schnellere     Bewegung     kommt ,     bis     er    gleiche     Geschwindigkeit 


*)  Siehe  0.  Lehmann,  \irli.  d.  Karbr.  nat.  Ver.  26,   I,   1914- 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  217 

wie  der  Lichtstrahl  erlangt  hat,  worauf  der  Dru«ck  (und  die 
weitere  Geschwindigkeitszunahme)  aufhört.  Ist  der  Spiegel  warm, 
d.  h.  strahlt  er  selber,  so  fällt  die  Beschleunigung  unter  gleichen 
Umständen  um  so  kleiner  aus,  je  höher  seine  Temperatur,  er  ver- 
hält sich  so,  als  ob  mit  der  Temperatur  seine  Masse  größer  würde. 
Die  Masse,  die  er  beim  absoluten  Nullpunkt  besitzt,  ist,  wie  die 
jedes  anderen  Körpers,  durch  den  Bewegungszustand  der  Elek- 
tronen in  seinen  Atomen  bedingt  und  deren  Felder.  Sie  erscheint 
ebenso  wie  die  Schwere  als  eine  Eigenschaft  dieser  Energien  in 
den  Atomen,  welche  die  Nullpunktsencrgie  ausmachen,  d.  h.  der 
Energie,  die  nicht  durch  den  thermischen  Bewegungszustand  der 
Atome  bedingt  ist,  diesen  also  noch  bei  Abkühlung  bis  zum  ab- 
soluten Nullpunkt  verbleiben  würde.  Die  ständige  Selbsterwärmung 
des  Radiums  erfolgt  auf  Kosten  dieser  Nullpunktsenergie,  die 
chemische  Reaktions-  oder  Verbrennungswärme  ist  nach  W. 
Kernst  ebenfalls    in  Wärme  umgewandelte  Nullpunktsenergie. 

Bei    der    Ausstrahlung    von    Kraftfeldern   erfolgt    diese    nicht 
gleichmäßig,  sondern  stoßweise,  in  ,, Energiequanten",  deren  Größe 

Y  *  3  •  10    Joule^)  beträgt,   wenn  A  die  Wellenlänge  der  Strahlung 

in  Metern  und  h  das  sogenannte  Wirkungsquantum  6,55  •  io~^. 
Man  hat  diese  Energie quanten  wohl  auch  als  ,, Lichtatome" 
bezeichnet  und  den  Lichtdruck  als  ihre  Stoßkraft,  wie  wenn  sie 
mit  der  Lichtgeschwindigkeit  den  Raum  durcheilend  plötzlich 
angehalten  oder  zurückgeworfen  würden,  da  i  Joule  eine  Masse 
von    IIOO  Trillionstel   Kilogramm  darstellt,   so   daß  die    Stoßkraft 

"*  •  I O 

eines  Lichtatoms  =  0,72  •  lO"^^  •  ^-y~-    Dezimegadyncn  wäre,  worin 

z.  B.  für  gelbes  Licht  2  =  0,56  •  lO"^  Meter  bedeuten  würde.  Indes 
ist  ein  solches  Lichtatom  nicht  etwas  Unveränderliches  in  dem 
Sinne,  wie  wir  ein  Atom  als  etwas  Unveränderliches  uns  vor- 
stellen, insofern  wir  es  mit  unserem  Ich  vergleichen,  von  dessen 
Unveränderhchkeit  wir  überzeugt  sind.^) 

Nehmen  wir  nun  an,   im  Laufe  der  Zeit  werde  es  gelingen. 


^)  I  Joule  ==  Energie  bei  Arbeit  von  i  Dezimegadyne  auf  i  Meter.  Im  M-T-S- 
System  (s.  S.  210  Anm.  2)  ist  die  Energieeinheit  das  Kilojoule  und  die  Leistungs- 
einheit das  Kilojoule  pro  Sekunde,  kürzer  Kilowatt  genannt. 

*)  Die  Literatur  siehe  in  O.Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  24,  273, 
1912;  26,  129,  1916  und  L.  Flamm,  Physik.  Zeitschr.  19,  116,  1918.  Bei  der 
großen  Zahl  von  Atomen,  also  unbekannten  Größen,  können  nur  Mittelwerte  sta- 
tistisch berechnet  werden,  z.  B.  die  Temperatur    =   mittlere  Atomenergie. 


2l8  Otto  Lehmann: 

alle  Erscheinungen  der  leblosen  Natur  auf  Grund  der  Atom- 
hypothese zu  beschreiben,  so  bleibt  immer  noch  das  große  Reich 
der  Lebewesen.  Als  deren  charakteristische  Eigenschaft  be- 
trachtet man,  daß  ihre  Tätigkeit  nicht  durch  Ursachen  be- 
stimmt ist,  sondern  zur  Erreichung  bestimmter  Zwecke  aus 
freiem  Willen  erfolgt,  z.  B.  zum  Zwecke  des  Wohlbefindens, 
der  Selbsterhaltung  oder  der  Fortpflanzung. 

E.  Haeckel^)  hält  diesen  Unterschied  nur  für  einen  schein- 
baren, für  eine  Täuschung,  hervorgerufen  durch  das  Übersehen 
der  inneren  Ursachen,  welche  die  Tätigkeit  bestimmen,  wie 
Lust-  und  Unlustgefühle,  Erinnerungen,  Hoffnungen  usw.,  hervor- 
gerufen durch  äußere  Ursachen,  wie  Belohnungen,  Bestrafungen  usw., 
so  daß  wir  selbst  die  Handlungen  eines  Menschen  genau  voraus- 
berechnen könnten,  wenn  uns  Einsicht  in  alle  diese  Ursachen  und 
ihre  gegenseitige  Abhängigkeit  und  Wirkung  zu  Gebote  stände. 
Daß  trotzdem  in  der  Welt  des  Lebendigen  sich  kein  wirres  Durch- 
einander zeigte,  sondern  ein  Streben  nach  Vervollkommnung, 
erklärt  sich  nach  den  Grundsätzen  der  Deszendenzlehre  durch 
Vererbung  erstorbener  Eigenschaften,  Unterliegen  der  Schwächeren 
im  Kampfe  ums  Dasein,  ähnlich  den  Dissoziationen  und  Asso- 
ziationen bei  chemischen  Gleichgewichten  usw.,  und  die  schein- 
bare Harmonie  der  Welt  ist  ebenso  eine  Folge  der  ewig  gültigen 
Naturgesetze,  wie  etwa  die  Symmetrie  der  Kristallformen. 

Nach  E.  Ha  eckeis  monistischer  Theorie  sind  die  Atome  aller- 
dings beseelt.  Eine  Erklärung  der  biologischen  Erscheinungen,  das 
Auftreten  von  Empfindung,  Vorstellung,  Gedächtnis,  Bewußtsein, 
Wille  usw.  ist  nicht  möglich  auf  Grund  der  einfachen  mechanischen 
und  elektromagnetischen  Sätze  der  Physik,  da  diese  solche  Begriffe 
gar  niciit  enthalten  und  aus  mathematischen  Deduktionen  niemals 
<  twas  qualitativ  anderes  herausgeholt  werden  kann,  als  was  man  mit 
den  gemachten  Voraussetzungen  hineingebracht  hat.  Wollen  wir 
1  ns  also  nicht  auf  den  Standpunkt  der  gewöhnlichen  dualistischen 


^)  Siehe  die  auf  S.  204  Anni.  i  zitierten  Schriften  von  E.  Haeckel,  fernir: 
Anthropogenie,  1874;  Ziele  und  Wege  der  heutigen  Entwicklungsgeschichte,  1875; 
Die  Perigenesis  der  Plastidule,  1876;  Das  Protistenreich,  1878;  Das  System  der 
Medusen,  1880;  Monographie  der  Siphonophoren,  1888;  Der  Monismus,  1892;  Syste- 
matische Phylogenie  der  Protisten,  1894;  Die  Welträtsel,  1899;  Kunstformen  der 
Natur,  1899;  Gesammelte  Vorträge  über  Entwicklungslehre,  1902;  Die  Lebens- 
wunder,  1906;  Das  Menschenproblem,  1907;  Gott-Natur  1914,  u.  besonders:  Kristall- 
seelen, Studien  über  das  anorganische  Leben,  Alfr.   Körners  Verlag,  Leipzig  191 7. 


Das  ,,Als-Ob''  in  Molekularphysik.  2  10 

Theorie  stellen,  welche  eine  ,, Seele"  neben  der  Materie  im  be- 
lebten Stoff  annimmt,  die  Vorgänge  auslösen,  also  (in  Widerspruch 
mit  dem  Gesetz  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung) 
Massen  in  Bewegung  setzen  kann,  ohne  selbst  Masse  zu  besitzen, 
die  auch  willkürlich  in  den  Verlauf  der  physikalischen  Vorgänge 
eingreifen,  also  die  Naturgesetze,  durch  welche  der  Verlauf  der 
Erscheinungen  bedingt  wäre,  abändern  oder  außer  Kraft  setzen 
kann,  so  bleibt  nur  übrig,  jeder  Materie,  also  auch  den  Atomen 
.eine    Seele  zuzuschreiben.^) 

Frcihch  wären  auch  damit,  daß  wir  ähnlich  den  Epikureern 
die  Atome  für  kleine  Lebewesen  ansehen,  noch  nicht  alle 
Schwierigkeiten   beseitigt. 

In  meiner  oben  erwähnten  Dresdener  Antrittsrede  schrieb  ich: 
„Und  doch!  Wie  glänzend  auch  die  Erfolge  der  Molekular-  und 
Atomtheorie  sein  mögen,  ganz  vermag  sie  die  Erscheinungen  nicht 
zu  erklären.  Mögen  wir  auch  annehmen,  daß  eine  elastische  Feder 
aus  zahllosen  Molekülen  bestehe,  welches  sind  die  Organe,  ver- 
mittelst deren  sich  die  Atome  gegenseitig  aneinander  klammern.? 
Wie  sollen  wir  uns  bei  einer  chemischen  Verbindung  die  Atome 
vereinigt  denken?  Besitzen  sie  Hände  und  Füße,  Fangarme  oder 
Saugnäpfe,  vermittelst  deren  sie  sich  gegenseitig  festhalten? 

1)  Siehe  auch  0.  Lehmann,  Die  scheinbar  lebenden  Kristalle,  Eßlingen  a.  N., 
J.F.Schreiber,  1907;  Flüssige  Kristalle  und  die  Theorien  des  Lebens,  2.  Aufl., 
Leipzig,  J.A.Barth,  1908;  Die  neue  Welt  der  flüssigen  Kristalle,  Leipzig,  Akad. 
Verlagsges.,  1911;  Die  Lehre  von  den  flüssigen  Kristallen  und  ihre  Beziehung  zu 
den  Problemen  der  Biologie  in  den  Ergebnissen  der  Physiologie  von  L.  Asher  und 
K.  Spiro,  16,  255—509.  1917  (mit  572  Abb.  im  Text),  auch  als  Sonderabdruck  bei 
J.  F.  Bergmann  in  Wiesbaden;  Die  Hauptsätze  der  Lehre  von  den  flüssigen 
Kristallen,  Physik.  Zeitschr.  19,  73-  88.  191S,  eine  Zusammenstellung  der  ganzen 
Literatur   enthaltend. 

Haeckel  ging  au.^  von  Goethes  Ausspruch:  ,,Die  Materie  kann  nie  ohne 
Geist,  der  Geist  nie  ohne  Materie  existieren  und  wirksam  sein'*  und  von  den  Er- 
gebnissen der  Zellularpsychologie,  gemäß  welcher  jeder  Zelle  eines  Lebewesens 
eine  Seele  zukommt.  Hierdurch  gelangte  er  (Welträtsel,  V.-A.,  1903,  S.  14).  zu  der 
..Überzeugung,  daß  auch  schon  den  Atomen  die  einfachste  Form  der  Empfindung 
und  des  Willens  innewohnt  —  oder  besser  gesagt:  der  Fühlung  (Ästhesis)  und  der 
Strebung  (Tropesis)  —  also  eine  universale  .Seele'  von  primitivster  Art  (—  noch 
ohne  Bewußtsein!  — )."  In  der  Schrift  ,, Kristallseelen",  S.  109,  spricht  er  von 
Molekülseelen,  S.  in  von  Albuminseelen  usw.  Selbst  die  Gravitation  läßt  sich 
(s.  Lebenswunder,  V.-A..  S.  124)  „auf  die  .Massenempfindung'  der  gegenseitig  sich 
anziehenden  Atome  zurückführen"  und  (S.  125)  vermöge  seiner  ,, Schnellkraft  oder 
Federkraft  reagiert  der  elastische  Metallstab  gegen  die  Druckwirkung  der  Kraft, 
die  ihn  gebogen  hat". 


220  Otto  Lehmann: 

Man  hat  geglaubt,  die  Lücke  durch  die  Annahme  einer  Ferne- 
wirkung ausfüllen  zu  können.  Die  Erfahrung  lehrt  in  der  Tat, 
daß  eine  Wirkung  aus  der  Ferne  (scheinbar)  möglich  ist;  wir  sehen 
einen  Stein  aus  jeder  beliebigen  Entfernung  der  Anziehung  der 
Erde  folgen,  den  Planeten  der  Sonne,  den  Trabanten  den  Planeten, 
Alles  dies  sind  indes  nur  Tatsachen,  die  auch  nicht  den  Schatten 
einer  Erklärung  bieten,  vielmehr  selbst  einer  solchen  bedürfen. 
Sind  wir  selbst  ja  doch  niemals  anders  als  durch  Berührung  zu 
wirken  imstande,  wie  sollten  wir  also  die  Vorstellung  einer  unmittel- 
baren Wirkung  in  die  Ferne  gewinnen  können,  da  uns  eine  solche 
völlig  versagt  ist! 

So  hat  man  denn  naturgemäß  vielfach  versucht,  die  Tat- 
sache der  Gravitation  durch  die  Existenz  eines  Zwischenmediums 
zwischen  den  Wcltkörpcrn,  des  sogenannten  Weltäthers,  zu 
erklären,  und  ganz  analog  die  Kohäsion,  die  chemische  Affinität, 
die  elektrische,  magnetische  und  elektrodynamische  Fernwirkung. 
Aus  denselben  Gründen  aber,  um  derentwillen  ein  Gas  notwendig 
aus  Atomen  bestehend  gedacht  werden  muß,  muß  auch  der  Welt- 
äther notwendig  aus  Atomen,  die  wir  etwa  solche  zweiter  Ordnung 
nennen  können,  bestehen,  und  diese  Atome  müssen  sich  ganz 
ebenso  wie  die  Gasatome  in  unaufhaltsamer,  äußerst  lebhafter 
Bewegung  befinden^),  denn  direkte  Wirkung  in  die  Ferne  ist  un- 
möglich, nur  durch  Berührung,  durch  Zusammenstoß,  können  sie 
den  materiellen  Atomen  die  Beschleunigungen  erteilen,  die  uns 
als  Wirkungen  der  Schwere  oder  einer  der  anderen  in  Frage  stehen- 
den Naturkräfte  erscheinen. "2) 

1)  Vgl.  hierzu  L.  Zehnder,  Ber.  d.  D.  phys.  Ges.  18,  i8i,  1916. 

2)  Dazu  kommt,  daß  ohne  die  Annahme  einer  Atomstruktur  des  Äthers  die 
dielektrische  und  magnetische  Polarisation  im  Vakuum,  die  auf  Scheidung  ent- 
gegengesetzter Elektrizitäten  bzw.  Magnetismen  in  den  Atomen  beruhen  müßte, 
völlig  unverständlich  bleibt  (siehe  0.  Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  28, 
I,  1916).  Nach  W.  Planck  widerspricht  die  Annahme  der  Existenz  des  Äthers 
dem  Relativitätsprinzip.  Nach  der  mechanischen  Wellentheorie  des  Lichtes  sollte 
der  den  leeren  Raum  erfüllende  Äther  weit  härter  als  Diamant  sein,  entsprechend 
der  großen  Geschwindigkeit  des  Lichtes;  nach  W.  Nernst  müßte  er  bedeutend 
schwerer  sein  als  der  schwerste  bekannte  Stoff,  um  die  Nullpunktsenergie  zu  er- 
klären (siehe  O.Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  26,  129,  1916).  Daß  der 
leere  Raum,  durch  welchen  sich  die  Himmelskörper  bewegen  ohne  merklichen  Wider- 
stand zu  finden,  mit  einem  so  harten  oder  so  schweren  Medium  erfüllt  sein  soll,  er- 
scheint nicht  glaubhaft.  Die  oben  erwähnten  Versuche,  die  elektromagnetischen 
Erscheinungen  durch  Bewegungszustände  des  Äthers  zu  erklären  (V.  Bjerkness, 
H.Hertz,    A.  Korn,    G.  Helm,    a.a.O.)    beseitigen    die    Schwierigkeiten    nicht. 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  22  1 

Nachdem  dies  als  unwahrscheinlich  hingestellt   ist,   fälirt  der 
Text  fort: 

.  „Mit  Recht  kann  man  deshalb  fragen,  ist  denn  unsere  funda- 
mentale Forderung,  daß  alle  Naturerscheinungen  uns  begreiflich 
seien,  welche,  wie  wir  gesehen  haben,  darauf  hinauskommt,  daß 
sie  Kraftwirkungen  von  Individuen  unserer  Art,  von  Kräften  wie 
unsere  Muskelkraft  seien,  zulässig,  oder  lassen  sich  nicht  viel- 
leicht schon  hiergegen  Bedenken  erheben  ?  .  .  .  Sollten  diese 
Schwierigkeiten  nicht  ihren  letzten  Grund  darin  finden,  daß  ganz 
allgemein  der  Begriff  der  Individualität  bei  Auffassung  der 
Naturerscheinungen  von  uns  hineingetragen  wird,  während  er 
tatsächlich  ganz  bedeutungslos  ist  ?  ^) 

Auf  wie  schwachen  Füßen  die  Anwendung  des  Begriffes  der 
Individualität  bei  Ergründung  von  Naturvorgängen  überhaupt 
steht,  wie  völlig  subjektiv  und  unübertragbar  dieser  Begriff  ist, 
das  zeigt  sich  sehr  deutlich,  wenn  wir  unter  Aufrechterhaltung 
desselben  den  Entwicklungsprozeß  eines  Organismus  verfolgen. 

Nehmen  wir  beispielsweise  einen  ganz  einfachen  Organismus, 
eine  einzellige  Alge,  ein  Infusorium,  ein  Bakterium.  Jedes  dieser 
Wesen  hat  bekanntlich  die  Eigenschaft,  sich  in  zwei  Teile  spalten 
zu  können,  von  denen  jeder  alsbald  wieder  zur  Größe  und  Form 
des  ursprünglichen  Individuums  auswächst.  Liegt  nicht  schon 
hier  ein  vollendeter  Widerspruch!  Ein  Individuum,  ein  unteil- 
bares  Wesen,   soll   die   Eigenschaft   haben,   sich   zu  teilen?      Und 


1)  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  A  671,  B  699  sagt:  Der  psychologischen 
Idee  gemäß  ,, wollen  wir  alle  Erscheinungen,  Handlungen  und  Empfänglichkeit 
unseres  Gemüts  an  dem  Leitfaden  der  inneren  Erfahrung  so  verknüpfen,  als  ob 
dasselbe  eine  einfache  Substanz  wäre,  die  mit  persönlicher  Identität  beharrlich 
existiert."  .  .  .  „Das  erste  Objekt  einer  solchen  Idee  bin  ich  selbst."  Siehe  ferner 
R.  Avenarius,  Kritik  der  reinen  Erfahrung,  2. Aufl.,  Leipzig  1907/08;  J.  Petzoldt 
Einführung  in  die  Philosophie  der  reinen  Erfahrung,  Leipzig  1900/04;  Das  Welt- 
problem vom  Standpunkt  des  relativistischen  Positivismus,  2.  Aufl.,  Leipzig   1912. 

Nach  Haeckel  ist  das  Bewußtsein,  also  auch  das  Selbstbewußtsein,  eine 
Funktion  von  Gehirnnervenzellen,  welche  infolge  der  Tätigkeit  der  anderen  Nerven 
diesen  Eindruck  hervorbringen,  wie  etwa  gereizte  Sehnerven  den  Eindruck  von 
Licht,  gereizte  Hörnerven  die  Empfindung  Schall.  In  Wirklichkeit  gibt  es  weder 
Licht  noch  Schall,  sondern  nur  elektromagnetische  Kraftfelder  bzw.  Luftwellen, 
welche  die  Empfindungen  verursachen.  Es  liegt  deshalb  nahe,  anzunehmen,  es 
gebe  nur  eine  durch  die  Reizung  bestimmter  Nerven  infolge  der  Tätigkeit  der  übrigen 
hervorgebrachte  Vorstellung  des  ,,Ich",  aber  kein  wirkliches  Ich.  Dasselbe 
erscheine  unveränderlich,  weil  die  Art  der  Nerventätigkeit  naturgemäß  immer  die- 
selbe bleibt. 


222  Otto  Lehmann: 

mag  der  Teilungsvorgang  von  Lust-  oder  Schmerzgefühl  begleitet 
sein,  wer  empfindet  dieses  Gefühl,  Mutter-  oder  Tochterzellen  ?  ^j 
Gerade  umgekehrt  können  ebensogut  zwei  Zellen  zu  einer 
einzigen  verschmelzen,  zwei  Individuen  sich  zu  einem  einzigen 
vereinigen,  ja  dieser  Vorgang  bildet  nicht  nur  bei  den  niedrigsten, 
sondern  ebensogut  oder  in  noch  höherem  Grade  bei  den  kom- 
pliziertesten und  höchst  entwickelten  Organismen  den  fundamen- 
talen Akt  jeder  Fortpflanzung.^)  Und  betrachten  wir  endlich 
geradezu  ein  hochentwickeltes  Wesen,  welches  aus  Millionen  ein- 
zelner Zellen  besteht,  ist  nicht  jede  einzelne  derselben  Individuum, 
das    Ganze  also  eine    Staatenbildung  sehr  vieler    Individuen,    nur 

^)  Fr.  Kuhn,  „Aus  dem  Tagebuche  eines  Bakteriums"  in  Für  alle  Welt  13, 
196,  1907,  schreibt  sehr  anschaulich:  „Während  ich  (das  Bakterium)  diese  Zeilen 
schreibe,  habe  ich  mich  schon  einige  hundert  Male  gespalten,  so  daß  ich  gar  nicht 
mehr  weiß,  ob  ich  noch  Ich  bin  oder  ein  anderer.  Daß  dieses  Sichspalten  kein  sehr 
angenehmer  Vorgang  und  mit  mancherlei  Unbehaglichkeit  verbunden  ist,  kann 
sich  nur  der  vorstellen,  der  selbst  schon  einmal  mitten  durchgeschnitten  worden 
ist.  Man  wächst,  dehnt  sich  in  die  Länge,  dann  kommt  ein  Gefühl  von  Engigkeit, 
als  wenn  man  platzen  sollte,  und  plötzlich  gibt  es  einen  Knacks:  Eben  war  man 
noch  einer,  auf  einmal  ist  man  zwei.  Ehe  man  Zeit  zur  Überlegung  hat  und  sich 
in  diese  neue  Rolle  des  doppelten  Bewußtseins  recht  hineinfinden  kann,  geht  das 
Spiel  schon  wieder  von  neuem  an."  In  meiner  Schrift:  Die  neue  Welt  der  flüssigen 
Kristalle,  Leipzig,  Akad.  Verlagsges.,  1911,  S.  303  füge  ich  dem  bei:  ,, Indes  nicht 
nur  die  Selbstteilung  kommt  in  Betracht,  auch  nicht  allein  die  Teilung  niedrigster 
Lebewesen.  Wir  haben  beispielsweise  im  Garten  einen  Regenwurm  ausgeschaufelt 
und  zufällig  mit  dem  Spaten  entzweigeschnitten.  Beide  Hälften  kriechen  fort  und 
heilen  wieder  zu  normalen  Würmern  aus.  Welche  Hälfte  enthält  nun  die  Seele  ? 
Ist  die  Seele,  falls  sie  kein  Stoff  ist,  durch  das  stoffliche  Werkzeug,  den  Spaten, 
ebenfalls  entzweigeschnitten  worden  ?  Oder  —  wir  schneiden  mit  dem  Messer  einen 
Zweig  von  einem  Weidenbaum  und  pflanzen  ihn  in  die  Erde.  Er  wächst  zu  einem 
neuen  Baume  aus.  Haben  wir  mit  dem  Zweig  auch  ein  Stück  der  Baumseele  ab- 
geschnitten und  ist  diese  mit  dem  Zweig  gewachsen  und  wovon,  falls  sie  nicht 
Materie  ist  ?" 

K.  Driesch,  Die  „Seele"  als  elementarer  Naturfaktor,  Leipzig  1903,  sagt: 
„Von  Bedeutung  ist  .  .  .,  daß  sie  (die  Seele)  sich  mit  der  Zertrennung  ...  bei  künst- 
lichen Teilungen  zugleich   teilt,  aber  dabei  ,ganz'  bleibt." 

*)  In  dem  Buche:  Die  neue  Welt  der  flüssigen  Kristalle,  1911,  schrieb  ich: 
„Es  bietet  keine  Schwierigkeit,  einen  Zweig  eines  Baumes  auf  einen  anderen  zu 
pfropfen.  Verschmelzen  dabei  die  beiden  Baumseelen  ?  Man  kann  Teile  zweier 
verschiedener  Würmer  zu  einem  Individuum  aneinander  heilen,  selbst  solche  ver- 
schiedener Arten.  ...  H.  Przibram  gelang  es,  die  Hälften  von  roten  und  gelben 
Haarsternen  (Polypen)  zusammenzuheilen.  Harrison  konnte  durch  Ancinander- 
heilen  der  Hälften  von  Kaulquappen  verschiedener  Arten  bei  der  Umwandlung 
dieser  zusammengesetzten  Froschlarven  .  .  .  halb  grüne,  halb  braune  Frösche  er- 
halten, und  zwar  war  die  Vereinigung  der  Hälften  eine  dauernde  und  vollständige." 


Das  „Als-Ob''  in  Molekularphysik.  22^ 

scheinbar  ein  einheitliches  Wesen?  Man  kann  wohl  einwenden, 
die  einzelnen  Zellen  seien  nicht  gleichartig,  könnten  nicht  isoliert 
weiterleben.  Indes  erinnern  wir  uns  nur  des  oft  so  wunderbaren 
Reproduktionsvermögens,  wie  dem  beispielsweise  ein  abgeschnittener 
Stengel,  ja  selbst  ein  Blatt,  ein  Stück  eines  Blattes,  im  Prinzip  selbst 
eine  einzige  Zelle  des  Blattstücks  imstande  ist,  die  ganze  Pflanze 
mit  all  ihren  sonderbar  geformten  Blättern,  Wurzeln  und  Blüten 
wieder  zu  reproduzieren;  da  müssen  wir  zugeben,  daß  im  Grunde 
alle  Zellen  gleichartig,  nur  bald  mit  mehr,  bald  mit  weniger  Ent- 
wicklungsfähigkeit ausgestattet  sind,  daß  jede  wenigstens  theoretisch 
unter  günstigen  Bedingungen ')  das  Ganze  reproduzieren  kann,  sowie 
jedes  Splitterchen  eines  Kristalls,  in  gesättigte  Lösung  gebracht, 
wieder  zum  vollkommenen  Kristall  heranwächst. 

Aber  wenn  dem  so  ist,  wie  ist  es  möglich,  daß  alle  diese  In- 
dividuen lediglich  infolge  ihrer  Aneinanderlagerung  einheitlich  als 
ein  Individuum  fühlen  und  handeln? 

Wir  sehen  deutlich,  hier  liegt  eine  fundamentale  Schwierig- 
keit vor,  die  nur  darin  begründet  sein  kann,  daß  wir  den  Begriff 
der  Unteilbarkeit,  der  nur  füi-  uns  selbst  gilt^),  auf  Dinge  anderer 

^)  Vor  allem  kommt  die   Möglichkeit  ausreichender   Ernährung  in    Betracht. 

*)  a.  a.  0.  S.  311  schrieb  ich:  „Die  Theologie  beruft  sich  auf  das  unantast- 
bare Dogma,  daß  der  Mensch  eine  unteilbare,  mit  anderen  Seelen  nicht  vermisch- 
bare, unsterbliche,  mit  Vernunft  und  freiem  Willen  begabte  Seele  besitzt,  welche 
für  ihre  Handlungen  vor  Gott  und  Gesetz  verantwortlich  ist.  .  .  .  Die  obige  moni- 
stische Anschauung  würde  also  mit  den  theologischen  Dogmen  wohl  verträglich 
sein,  solange  streng  daran  festgehalten  wird,  daß  sie  sich  nur  auf  Pflanzen-  und 
Tierseelen  bezieht,  bezüglich  deren  es  überhaupt  keine  theologischen  Dogmen  gibt. 
Ein  unlösbarer  Widerspruch  tritt  aber  sofort  hervor,  wenn  man  im  Sinne  von 
E.  Haeckel  eine  Entwicklung  der  Menschenseele  aus  der  Tierseele 
annimmt,  sei  es  im  Laufe  geologischer  Epochen  in  Form  der  Lehre  der  Ab- 
stammung des  Menschen  von  einem  affenähnlichen  vorweltlichen  Tiere,  oder  Ent- 
wicklung aus  einer  tierischen  Seele  beim  Heranwachsen  des  Menschen  aus 
dem  Embryonalzustand."  Descartes  hielt  bekanntlich  die  Fähigkeit,  zu 
empfinden  und  zu  denken,  für  den  klarsten  Beweis  der  Existenz  einer  Seele:  Co- 
gito,  ergo  sum!  Nach  Hume  ist  dagegen  das  „Ich"  lediglich  ,,ein  Bündel  von 
Vorstellungen".  Noch  drastischer  äußert  sich  Fr.  Mauthner,  ein  Vertreter  des 
Hylozoismus  in  seinen  „Beiträgen  zur  Kritik  der  Sprache",  2.  Aufl.,  1906,  S.  661 : 
.  .  .  ,.Das  Ichgefühl  ist  eine  Täuschung,  ist  die  Täuschung  der  Täuschungen.  Ist 
aber  das  Ichgefühl,  ist  die  Individualität  eine  Lebenstäuschung,  dann  bebt  der 
Boden,  auf  welchem  wir  stehen,  und  die  letzte  Hoffnung  auf  eine  Spur  von  Welt- 
erkenntnis bricht  zusammen.  .  .  .  Wir  werden  mit  unserer  armen  Muttersprache 
die  Frage  der  Individualität  nicht  lösen."  Vgl.  auch  J.  Frick  und  0.  Lehmann, 
7.  Aufl.,  11(2),  S.  1834,  1909  und  J.  Petzoldt,  Handwörterb.  d.  Naturw.  7j  86, 
1912    wo  sich  auch  weitere  Literaturangaben  finden. 


224.  ^^^^  Lehmann: 

Art  übertragen.  Ist  nun  schon  hier  im  Bereiche  der  Organismen 
die  Übertragung  des  Individualitätsbegriffes  eine  unzulässige, 
dann  gilt  dies  in  noch  weit  höherem  Maße  im  Bereiche  der  leb- 
losen  Natur. 

Besonders   deutlich   zeigt   dies   wieder  das   oben    (S.  214)   be- 
trachtete Beispiel  der  Lösung  von  Mischkristallen.     Schreiben  wir 
mit  Haeckel  jedem  Kristall  eine  Seele  zu,  also  auch  einem  Ton- 
erde- und  einem  Chromalaunkristall,  so  müssen  wir  einem  Misch- 
kristall   aus    beiden    Stoffen    eine    ,, Mischseele"    zuschreiben,    die 
z.  B.  im  Kern  eine  andere  Zusammensetzung  haben  kann  als  in 
der   Rinde.     Lösungen  der   Kristalle  müßten   ebenso   Mischseelen 
mit  der  Seele  des  Lösungsmittels  besitzen.    Nun  ist  aber  die  Lösung 
des  Mischkristalls  identisch  mit  der  Mischung  der  Lösungen  seiner 
Bestandteile.     Wie  gezeigt,  läßt  sich  dies  nur  so  verstehen,  daß 
es  sich   um   eine  Mischung  von   Molekülen  handelt.     Demgemäß 
könnte  es  keine  Kristallseelen  geben,  sondern  höchstens  Molekül- 
bzw. Atomseelen,  die  in  den  Kristallen  sowie  in  deren  Lösungen 
in  keiner  Verbindung  miteinander  stehen.    Nehmen  wir  (entgegen 
Ha  eckeis  Auffassung)  einen  Unterschied  von  belebtem  und  totem 
Stoff  an,  so  könnten  wir  ihn  darin  sehen,  daß  in  letzterem  die 
Atomseelen   ohne   jede   Verbindung   miteinander  sind,   so   daß 
sie    nicht    zur   Wirkung   gelangen   können,    ähnlich   wie   etwa   ein 
Wald  als  solcher  nicht  als  ein  Lebewesen  bezeichnet  werden  kann, 
obschon  die  einzelnen  Bäume  leben.     Im  Lebewesen  bestände  eine 
Verbindung  der  Atomseelen,  welche  ein  Zusammenwirken  derselben 
ermöglicht,  ähnlich  wie  die  einzelnen  Zellen  eines  vielzelligen  Lebe- 
wesens miteinander  in  Verbindung  stehen,  auch  verschiedenartige, 
was  die  komplizierte  Arbeitsteilung  ermöglicht. 

Der  Tod  hebt  diese  Verbindungen  auf  und  Wieder- 
herstellung derselben  ist  nach  dem  Satz  von  der  Unmöglichkeit 
der  Urzeugung  ohne  Mitwirkung  eines  Keimes  ausgeschlossen, 
ebenso  wie  die  Rückbildung  von  Radium  aus  seinen  Zerfalls- 
produkten unmöglich  ist.  Der  Lebensprozeß  ist  somit  ein  nicht 
umkehrbarer  (irreversibler)  Vorgang  und  es  scheint  unmöglich, 
künstlich  Gebilde  aus  leblosem  Stoff  herzustellen,  welche  auch 
nur  den  einfachsten  Lebewesen  vergleichbar  wären.  Immerhin 
wäre  in  Hinblick  darauf,  daß  die  meisten  eigentlichen  (festen) 
chemischen  Verbindungen  irreversibel  sind,  daneben  aber  auch 
lockere  (molekulare)  reversible  Verbindungen  auftreten,  dennoch 
denkbar,  ähnliches   sei   auch   bei  Lebewesen   möglich.     In  der  Tat 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  22  5 

zeigen  die  „scheinbar  lebenden  Kristalle"  in  ihrem  Verhalten 
manche  Älmlichkeit  mit  einfachen  Lebewesen,  namentlich  hinsicht- 
lich der  gestaltenden  und  bewegenden  Kräfte,  so  daß  Haeckels 
Annahme,  es  komme  ihnen  wirklich  eine  Art  primitives  Leben 
zu,  nicht  von  vornherein  als  unmöglich  bezeichnet  werden  kann. 
Nach  Haeckel  ist  weder  die  Kristallseele  noch  die  Seele 
eines  Menschen  ein  Individuum,  so  wenig  wie  etwa  ein  Volk  eine 
einzige  Seele  hat,  sondern  das,  was  wir  als  dessen  Willen  be- 
trachten, nur  durch  Zusammenwirken  einzelner  Personen  entsteht. 
Eine  Verbindung  zwischen  den  Atomseelen  besteht  auch  bei  Lebe- 
wesen nicht.  Die  scheinbar  lebenden  flüssigen  Kristalle  smd, 
sofern  sie  nicht  wachsen  und  sich  bewegen,  ebenso  wie  starre 
Kristalle  scheintot.  Von  den  eigentlichen  Lebewesen  unterscheiden 
sie  sich  durch  den  Mangel  eines  Bewußtseins,  weil  dieses  durch 
eine  bestimmte  Art  von  Nerven  erzeugt  wird,  die  sie  nicht  be- 
sitzen. 

E.  HaeckeP)  betont  mit  Recht,  daß,  wenn  man  Atomen 
eine  Seele  zuschreibt,  damit  gesagt  wird,  daß  auch  Kraftfelder, 
somit  Energie quanten  Seelen  besitzen;  müssen  wir  also  darum 
weiter  annehmen,  daß  auch  die  Seelen  sich  ebenso  durchdringen 
können  wie  Kraftfelder,  ohne  sich  gegenseitig  zu  stören,  und  daß 
selbst  Wasser  Luft  und  Sonnenlicht  beseelt  sind? 

Von  einer  Individualität  der  Energie  quanten,  Kraftfelder  und 
Strahlungen  im  Sinne  der  Unteilbarkeit  unseres  Ich  ist  natür- 
hch  keine  Rede.  Bei  dem  Versuche,  diese  Verhältnisse  zu  be- 
greifen, stoßen  wir  deshalb  auf  größte  Schwierigkeiten,  selbst 
wenn  wir  die  Frage  der  wirklichen  Existenz  ganz  beiseite  lassen 
und  uns  mit  Beiziehung  von  Gleichnissen  begnügen. 

Meine  Dresdener  Antrittsrede  schloß  deshalb  mit  dem  Satze: 
„Das  Ergebnis  unserer  Betrachtung  kommt  darauf  hinaus: 
Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Naturerscheinungen  ist 
nicht  berechtigt.  —  Mögen  Atome,  wie  sie  Gastheorie  und 
chemische  Theorie  annehmen,  existieren  oder  nicht,  es  sind  nicht 
Wesen  (Individuen)  unserer  Art,  welche  die  Naturerscheinungen 
erzeugen,  und  darum  werden  wir  sie  nie  und  nimmer  begreifen. 
Begreiflich  sind  für  uns  nur  Wirkungen  solcher  Art,  wie  wir 
sie  selbst  hervorbringen  können." 

Ob   wir   uns   im   Sinne  der  dualistischen   Theorie   mit   Recht 


^)  E.  Haeckel,  Kristallseelen,  1917,  S.  105. 
Annalen  der  Philosophie.    I.  •* 


226  Otto  Lehmann: 

für    Individuen  halten,   oder  im  nmonistischen   Sinne  zu  Unrecht, 
ist  dabei  gleichgültig. 

Ein  Elektron,  welches  sich  auf  ein  gleichartiges  zu  bewegt, 
wird  in  seiner  Bewegung  gehemmt.  Nach  Haeckel  müßte  man 
sagen,  daß  die  beiden  Kraftfelder  die  Annäherung  mit  Unlust 
empfinden  und  sie  deshalb  zu  hindern  suchen.  Der  Kraftlinien- 
druck, der  nach  Farad ay  die  Abstoßung  bedingt,  wäre  Willens- 
äußerung auf  Grund  von  Erinnerung  und  muß  deshalb  stets  dem 
Coulombschen  Gesetze  folgen.  Wird  ein  Elektron  als  Kathoden- 
strahlteilchen  mit  großer  Geschwindigkeit  fortgeschleudert,  so  er- 
zeugt sein  elektrisches  Kraftfeld,  um  die  ihm  unbequeme  Störung 
zu  hindern,  auf  eine  uns  unverständliche  Weise  (gemäß  Maxwells 
Gleichungen)  ein  magnetisches  Feld,  dieses  wieder  ein  elek- 
trisches usw.,  und  durch  diese  fortgesetzten  Empfindungs-  und 
Willensakte  entsteht  die  geradlinige  Bewegung,  die  uns  als  Folge 
seiner  Trägheit  oder  Masse  erscheint.  Kommt  das  Elektron  hierbei 
an  einem  Magnetpol  vorbei,  so  würde  es  durch  diesen  gezwungen, 
eine  Kreisbahn  zu  durchlaufen,  wenn  der  Pol  fest  stände.  Da 
es  aber  im  leeren  Räume  keinen  festen  Punkt  gibt,  muß  auch 
der  Magnetpol  das  Elektron  umkreisen  usw. 

A.  Drews^)  wendet  gegen  Haeckel  ein,  Empfindung  sei 
immer  ,, bewußt"  und  von  Bewußtsein  könne  bei  Kraftfeldern 
natürlich  keine  Rede  sein  (vgl.  S.  219).  Man  kann  dem  entgegen- 
halten, daß  z.  B.  ein  ausgeschnittenes  Froschherz,  welches  bei 
geeigneter  Ernährung  noch  wochenlang  weiter  pulsiert,  sicher 
auch  kein  Bewußtsein  hat,  aber  doch  Empfindung,  denn  die  Pul- 
sationen sind  Folge  (Reflex)  von  solcher.  Ebenso  Galvanis 
elektrisch  in  Zuckung  versetzte  Froschschenkcl  und  der  geköpfte 
sich  kratzende  Frosch  von  F.  Goltz.  ^) 

Die  beständige  Wanderung  der  Grenzen  der  Kraftfelder,  ins 
Unendliche  bringt  uns  übrigens  zum  Bewußtsein,  daß  die  Welt 
unendlich  ist,  daß  sie  als  Ganzes  nie  ,, begriffen"  werden  kann. 
Vielleicht  ist  sogar  die  für  uns  erkennbare  Sternenwelt  nur 
ein  Atom  einer  weit  größeren  Welt,  die  selbst  wieder  ein  Atom 
einer  noch  i^rößeren  ist.  Es  erscheint  auch  nicht  undenkbar,  daß 
die  winzigen  Atome,  von  welchen  z.  B.  bei  Wasserstoff  640  Qua- 
drillionen   auf    I   kg    gehen,    bei    außerordentlicher   Vergrößerung 

')  A.  Drcws,  Delbrücks  Preuß.  Jahrb.  172,   i8o,   1918. 

•)  F.  Goltz,   Beitr.   z.   Lehre   v.   d.   Funkt,   d.   Nervenz.   d.   Frosches,   Berlin 
1869,   118. 


„Das  Als-Ob"   in  Molekularphysik.  227 

betrachtet,  selbst  als  solche  Welten  erscheinen,  die  wieder  aus 
noch  kleineren  Atomen  bestehen  und  so  weiter  in  infinitum. 
Nehmen  wir  ferner  hinzu,  daß  wir  keinen  festen  Punkt,  keine 
feste  Richtung  im  Räume  haben,  keinen  festen  Anfangspunkt  der 
Zeitrechnung,  daß  Länge  und  Zeit,  auch  Masse,  Energie  usw.  nur 
relative  Begriffe  sind^),  so  möchte  fast  scheinen,  die  Bestreb- 
ungen der  Naturwissenschaft,  die  Wahrheitzu  erkennen,  seien 
vergeblich.  Indes  erstrecken  sich  diese  Bestrebungen  ja  nicht  auf 
das  Absolute  und  Unendliche,  sondern  auf  abgegrenzte  Systeme, 
auf  das,  was  wir  wahrnehmen  und  uns  vorstellen  können.  Die 
Naturwissenschaft  hat  ihren  Zweck  erreicht,  wenn  sie  aus  dem 
Gegebenen  das  Unbekannte  berechnen  kann. 

Daß  die  Rechnung  zutreffen  muß,  wenn  Rechenfehler  ver- 
mieden werden,  ergibt  sich  aus  dem  Wesen  der  Rechnung.  Wenn 
wir  z.  B.  mittelst  des  Rechenbretts  finden,  daß  2  x  -  =  4  ist, 
so  muß  dies  jederzeit  zutreffen,  denn  die  Multiplikation  unter- 
scheidet sich  von  der  Addition  nur  dadurch,  daß  wir  beim  Zu- 
sammenzählen der  vier  Einheiten  das  einemal  eine  Pause  machen, 
nachdem  2  gezählt  ist,  das  anderemal  nicht,  was  natürlich  für 
die  Benennung  des  Endresultats  gleichgültig  ist,  ebenso  wie  der 
Umstand,  ob  es  wirkliche  oder  nur  vorgestellte  Dinge  sind,  da 
das  Zählen  durch  die  Gehirnorgane  auf  Grund  der  Erinnerung 
erfolgt,  also  lediglich  von  der  Organisation  des  Gehirns  abhängt, 
so  wie  die  Empfindung  Licht  von  der  der  Sehnerven. 

Ebenso  ist  die  Zuverlässigkeit  geometrischer  Betrachtungen 
unanfechtbar.  Denken  wir  uns  z.  B.  aus  Papier  zahlreiche  kon- 
gruente Dreiecke  ausgeschnitten,  so  müssen  sich  diese,  eben  wegen 
der  Gleichheit  ihrer  Seitenlängen,  in  abwechselnd  umgewendeter 
Lage  lückenlos  zu  einer  ebenen  Fläche  aneinanderfügen  lassen, 
wobei  um  jeden  Netzpunkt  alle  drei  Dreieckswinkel  doppelt  an- 
geordnet sind  und  zusammen  360^  bilden.  Denken  wir  uns  diese 
längs  der  einen  dieser  Dreieckseitenrichtungen  zusammengefaltet, 
so  muß  die  entstehende  Kante  eine  gerade  Linie  sein,  weil  sich 

^)  A.Einstein,  Ann.  d.  Phys.  17,  891;  18,  639,  1905;  M.Laue,  Das  Rela- 
tivitätsprinzip, 1911;  O.Lehmann,  Verh.  d.  Karlsr.  nat.  Ver.  23,  51,  1910;  28, 
129,  1916;  M.  Schlick,  Raum  u.  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik,  Berlin  1917. 
Ohne  weiteres  läßt  sich  nicht  entscheiden  ob  sich  die  Erde  dreht  oder  die 
Sternenwelt,  wohl  aber  mit  Rücksicht  auf  das  Prinzip  der  Gleichheit  von  Wirkung 
und  Gegenwirkung,  da  der  Erde  als  der  kleineren  Masse  die  größere  Geschwindigkeit 
zukommen  muß;  auch  darauf,  daß  die  Achsen  der  verschiedenen  Planeten  nicht 
streng  parallel  sind. 

15' 


228  *-****'  Lehmann: 

kein  Rechts  und  Links  daran  unterscheiden  läßt,  [weshalb  sie  in 
ihrer  Richtung  gesehen  wegen  der  geradhnigen  Fortpflanzung 
des  Lichtes  zum  Punkt  verkürzt  erscheint].  Da  auf  der  einen 
Seite  derselben  drei  verschiedene  Dreieckswinkcl  zusammenstoßen^ 
muß  also  deren  Summe  zwei  Rechte  betragen.^)  Indem  wir  diese 
Manipulationen  im  Geiste  vollziehen,  sind  wir  sicher,  mit  der  Er- 
fahrung in  Übereinstimmung  zu  bleiben,  denn  die  Vorgänge  im 
Gehirn  sind  dieselben,  wie  wenn  wir  die  Manipulationen  in  natura 
vornehmen  und  beobachten  würden.  Letzteres  ist  nur  mittels 
unseres  Denkorgans  möglich,  welches  durch  die  Sehnerven  zu  seiner 
Tätigkeit  angeregt  wird,  und  sogar,  wie  Illusionen  und  Halluzina- 
tionen beweisen,  umgekehrt  diese  zur  Betätigung  reizen  kann.  An 
wirklichen  Dreiecken  brauchen  wir  deshalb  nicht  zu  experimentieren. 

Gleiches  gilt  für  die  Vorausberechnung  des  Zusammentreffens 
der  beiden  Uhrzeiger,  wobei  wir  nur  zu  weissen  brauchen,  daß  sich 
der  eine  Zeiger  öomal  schneller  bewegt  als  der  andere,  während 
das  Vorhandensein  einer  Uhr  sowie  die  Kenntnis  ihrer  Umgebung 
oder  ihres  inneren  Mechanismus  durchaus  überflüssig  sind.  Die 
Rechnung  bleibt  richtig,  solange  die  gemachte  Voraussetzung 
über  die  Verschiedenheit  der  Geschwindigkeiten  zutrifft. 

Bei  solchen  mathematischen  und  kinematischen  Betrachtungen 
spielen  allerdings  physikalische  Begriffe  wie  Masse  und  Kraft  keine 
Rolle.  In  der  Physik,  wo  diese  wesentlich  werden,  scheint  nun 
nach  dem  oben  Dargelegten  die  Hinzunahme  der  Hypothesen  oder 
Fiktionen  über  die  Existenz  von  Atomen  und  deren  Struktur  nötig. 

Wie  also,  wenn  die  Physik  ohne  Hinzunahme  solcher  zweifel- 
hafter Hypothesen  überhaupt  nicht  existieren  kann.»*  Verlieren 
dann  nicht  alle  physikalischen  Sätze  ihre  Zuverlässigkeit  und 
strenge  Gültigkeit? 

Indem  ich  hierüber  weiter  nachdachte,  kam  ich  zu  dem  Er- 
gebnis, die  ganze  Schwierigkeit  lasse  sich  mit  einem 
Schlage  beseitigen,  indem  man  an  Stelle  der  Hypothese  ein 
Gleichnis  setzt,  d.  h.  indem  man  sich  so  ausdrückt,  die  Er- 
scheinungen vollziehen  sich  so,  ,,als  ob"  Atome  exi- 
stierten. 2) 


^)  Die  nichteuklidische  Geometrie  zieht  allerdings  Räume  in  Betracht,  für 
uclchc  der  Satz  nicht  gilt,  da  sie  den  Beweis  nicht  als  streng  erachtet. 

')  J.  Frick  und  O.Lehmann,  Phys.  Technik,  6.  Aufl.  1,  134 — 140,  1890; 
7.  Aufl.,  Bd.  I  (2),  S.  739,  1905;  Die  scheinbar  lebenden  Kristalle,  Eßlingen, 
J.  F.  Schreiber,     1907,     S.  62;    Flüssige   Kristalle  und    die  Theorien    des  Lebens, 


Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik.  220 

Bedenken  hiergegen  lassen  sich  um  so  weniger  geltend  machen, 
als  die  sprachlichen  Bezeichnungen  der  von  uns  wahrgenommenen 
Objekte  und  Erscheinungen  im  Grunde  immer  auf  Gleichnissen 
beruhen.^) 

Ebenso  können  wir  uns  deshalb  bei  Beschränkung  auf  das 
direkt  Wahrnehmbare  immer  durch  Gleichnisse  helfen,  durch  den 
Ausspruch,  die  Erscheinungen  verlaufen  so,  als  ob  die  Stoffe  aus 
Atomen  von  bestimmter  Umgrenzung  beständen  usw.  Wir  verfahren 
dabei  wie  der  ,, Kalkulator",  der  an  Stelle  der  wirklichen  Dinge 
,, Steinchen"  gesetzt  denkt,  mit  diesen  rechnet  und  schließlich  das 
Resultat  wieder  auf  die  wahrnehmbaren  Dinge  überträgt.  Vor- 
aussichtlich wird  es  auf  Grund  dieser  Gleichnisse  allmählich  ge- 
lingen, sehr  viele  Erscheinungen  aufzuklären  und  ihre  Gesetze 
mathematisch  abzuleiten,  ähnlich  wie  die  kinetische  Gastheorie 
mit  großem  Erfolge  von  der  Atomtheorie  Gebrauch  gemacht  hat. 
Die  Grundprobleme  sind  damit  aber  nicht  gelöst,  sowenig  wir  in 
dieser  Hinsicht  einen  Fortschritt  erzielen,  wenn  wir  etwa  die 
Einrichtung  einer  kompliziert  gebauten  Taschenuhr  ohne  nähere 
Kenntnis  ihrer  atomistischen  Zusammensetzung  ermittelt  haben 
und  dadurch  in  den  Stand  gesetzt  sind,  deren  Funk-tion  in  allen 
Teilen  genau  zu  übersehen  und  zu  berechnen. 

Die  Lösung  dieser  Probleme  ist  häufig  für  den  Physiker  un- 
nötig. Indem  Newton  die  Bewegung  des  Mondes  als  die  eines 
geworfenen  Steins  erkannte,  war  für  ihn  die  Erscheinung  ,, er- 
klärt", d.  h.  auf  Bekanntes  zurückgeführt. 

Auch  die  Aufklärung  der  Beziehungen  zwischen  lebloser  und 
belebter  Materie,  welche  in  das  Gebiet  der  Physiologie  gehört, 
kann  bis  zu  gewissem  Grade  geschehen  ohne  Beiziehung  von 
Molekülen.  Ließen  sich  z.  B.  die  Vorgänge  bei  Lebewesen  oder 
wenigstens  ein  Teil  derselben  experimentell  im  Gebiete  der  flüs- 
sigen Kristalle  nachahmen,  könnten  wir  eine  Art  künstliches  Lebe- 
wesen aus  flüssig-kristallinischen  Materien  konstruieren,  so  wie 
der  Mechaniker  eine  Maschine  aus  Holz  und  Metall,  wenn  auch 
nur  ein  pulsierendes  Herz  oder  elektrisch  zuckende  Froschschenkel, 
so  wäre  der  Biologe  davon  vollkommen  befriedigt. 


3.  Aufl.;   1908,   S.  8;   Leitfaden  der  Physik.    Braunschweig,   Fr.  Vieweg  u.  S.,  1907, 
S. 9  usw. 

1)  Siehe  E.  Schröder,  Über  das  Zeichen,  Rektoratsrede,  Karlsruhe,  1890; 
Vorlesungen  über  die  Algebra  der  Logik,  Leipzig,  i?90/9i;  Fr.  Mauthner;  Bei- 
träge zu  einer  Kritik  der  Sprache,   Stuttgart.  Cotta,   1906. 


2  30  Otto  Lehmann:   Das  „Als-Ob"  in  Molekularphysik. 

Die  Bestrebungen  von  W.  Planck,  A.  Einstein,  G.  Mie 
und  anderer  heutiger  Physiker  gehen  deshalb  dahin,  einfach 
Gleichungssystemc  zwischen  empirisch  zu  bestimmenden  Zahlen- 
größen ähnlich  den  Maxwellschen  Gleichungen  aufzustellen. 
J.  Petzoldt^)  sagt:  ,,Zwei  Vorurteile  müssen  überwunden  werden, 
die  in  feinen  Ausläufern  die  heutige  Wissenschaft  noch  durch- 
ziehen: die  der  materiellen  und  der  immateriellen  Substanz." 
Ob  das  aber  möglich  ist,  erscheint  fraglich.  Meßbare  Größen 
sind  immer  solche,  von  welchen  wir  uns  eine  Vorstellung  machen 
können.  Wohl  können  wir  eine  Masse  nach  E.  Mach  messen  durch 
die  Gegenbeschleunigung  gegen  l  kg,  ebenso  eine  Kraft  durch 
die  Beschleunigung,  die  sie  l  kg  erteilt,  wir  können  auch  diese 
Zahlenwerte  durch  mathematische  Formelzeichen  ausdrücken  und 
so  scheinbar  die  Begriffe  Masse  und  Kraft  vermeiden;  indem  wir 
aber  von  Beschleunigung  sprechen,  denken  wir  an  ein  Ding,  welches 
beschleunigt  wird  und  an  ein  anderes,  welches  die  Beschleunigung 
hervorruft,  und  in  vielen  Fällen  müssen  wir  uns  diese  Dinge  als 
Aggregate  von  Atomen  denken,  um,  wie  auf  S.  214  dargelegt, 
unendlich  viele  Worte  zu  vermeiden. 

So  erweisen  sich  die  Atome  und  Kräfte  als  ungebetene  Gäste, 
die,  durch  eine  Tür  vertrieben,  zu  einer  anderen  verkleidet  wieder 
hereinkommen.  Die  Philosophie  des  ,,Als  Ob"  erscheint  aber 
geeignet,  ihre  Störungen  zu  vereiteln.  Die  Zuziehung  des  Kunst' 
griff  es,  zu  sagen,  die  Naturerscheinungen  verlaufen  so,  als  ob 
sie  durch  Atome  hervorgebracht  würden,  die  wir  als  beseelte  Wesen 
nach  Art  unseres  Ich  uns  vorstellen,  hilft  uns  meist  über  die 
Schwierigkeiten  hinweg  und  läßt  uns  zugleich  völlige  Freiheit,  ob 
wir  die  monistische  oder  dualistische  Theorie  annehmen  wollen 
oder  irgendwelche  Glaubenssätze.  Freilich  sind  die  Ergebnisse 
der  Rechnung  nur  insoweit  zuverlässig,  als  das  Gleichnis  wirk- 
lich zutrifft.  Die  Lehre  von  den  flüssigen  Kristallen  beispiels- 
weise will  zurzeit  noch  nicht  zu  den  bestehenden  Molekular- 
theorien passen'^),  es  wird  somit  Aufgabe  der  Physik  sein,  die 
Atom-  und  Molekularmodelle  soweit  zu  vervollkommnen,  bis 
quantitative  Ableitung  der  Tatsachen  aus  der  Theorie  möglich 
wird.  In  anderen  Gebieten  der  Physik  scheint  solches  überhaupt 
unmöglich  zu  sein. 

*)  J-  Petzold,   Handwörterb.  d.  Naturw.  7,  50  (siehe  auch  S.  66  u.  83),  1912. 
»)  0.  Lehmann,  Physik.  Zeitschr.  19,  73,  88,   1918. 


Die  mathematischen  Fiktionen  und  ihre  Bedeutung 
für  die  menschliche  Erkenntnis. 

Kritische  Bemerkungen  in  Rücksicht  auf  den  am   2.  Juni    191 7  in  der  Jahressitzunt; 

der  Kaiserl.  Akad.  der  Wissenschaften  zu  Wien  gehaltenen  Vortrag  von  Emil  Müller 

über:   „Bedeutung  und  Wert  der  mathematischen  Erkenntnisse". 

Von 

Ernst  Tischer, 

Dr.  phil.,  Sludienrat,  Professor  in  Leipzig. 

Inhaltsübersicht. 

Wertung  mathematischer  Erkenntnisse  durch  große  Denker  früherer  Jahr- 
hunderte; ihr  Einfluß  auf  deren  philosophische  Denkweise S.  231 

Die  Fiktion  eines  durchgängigen  notwendigen  Zusammenhanges  aller  Er- 
scheinungen als  Bedingung  aller  Erfahrung.  Der  mathematische  Charakter  dieses 
Zusammenhanges  und  die  dadurch  bedingte  Form  der  Naturgesetze  in  ihrem 
exakten  Ausdrucke S.  236 

Die  Fiktionen  als  Vermittler  zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  .     .     S.  238 

Kritische  Bemerkungen  zur  Fiktivität  mathematischer  Begriffe  und  zur  All- 
gemeingültigkeit mathematischer  Sätze.  Wechselwirkung  zwischen  Fiktion  und 
Wirklichkeit S.  240 

Anlaß,  Aufgabe  und  Zweck  des  erkennenden  Denkens  in  seiner  Anwendung 
auf  die  Ethik S.  248 

Der  Vortrag  von  E.  Müller  und  die  Einstimmigkeit  seiner  Grundgedanken 
mit  Vaihingcr  und  Kant S.  251 

Die  Abschätzung  der  Bedeutung  und  des  Wertes  mathema- 
tischer Erkenntnisse  ist,  mathematisch  gesprochen,  eine  Funktion 
des  Intellekts,  des  Geschmacks,  des  Bildungsniveaus  des  Schätzen- 
den, seines  gesamten  Geisteszustandes.  Je  höher  das  Bildungs- 
niveau, um  so  höher  diese  Einschätzung.  Darum  sind  es  die 
geistigen  Riesen  der  Menschheit,  ein  Plato,  ein  Leonardo  da 
Vinci,  Descartes,  Leibniz  und  Kant,  die  einstimmig  die 
Mathematik  als  das  Höchste  bewerten,  was  den  menschlichen 
Intellekt  angeht,  was  Erkenntnis  und  Wissenschaft  heißt. 

Im  7.  Buch  seiner  Politeia  preist  Plato  die  Geometrie  als 
die  Wissenschaft  des  immer  Seienden  im  Gegensatz  zu  der  Ver- 
gänglichkeit und  Wandelbarkeit  der  Sinnenerkenntnis;  als  die 
Führerin   zur   Wahrheit,    die   uns    befähigt,    die    Idee   des    Guten, 


2  ?  2  Ernst  Tischer : 

das  liöchstc  Erkennbare,  leichter  zu  sehen;  als  die  Wissenschaft, 
die  die  Seele  nötigt,  sich  nach  jener  Gegend  hinzuwenden,  wo 
das  Seligste  von  allem  sich  befindet  und  welches  sie  auf  jede  Weise 
sehen  soll.  Er  weist  mit  Geringschätzung  auf  das  Urteil  der  Beruf s- 
geometer:  ,,Denn  das  wird  wohl  niemand,  der  nur  ein  Weniges 
von  Geometrie  versteht,  bestreiten,  daß  diese  Wissenschaft  ganz 
anders  ist,  als  die,  welche  sie  bearbeiten,  darüber  reden.  Sie 
reden  nämlich  gar  lächerlich.  Denn  es  kommt  so  heraus,  als  ob 
sie  des  Geschäftes  wegen  quadrierten,  verlängerten  und  was  sie 
sonst  für  Ausdrücke  haben.  Die  ganze  Sache  wird  aber  bloß  der 
Erkenntnis  wegen  betrieben."  —  Wert  hat  die  Mathematik  für 
Plato  nur,  sofern  sie  nötigt,  das  Sein  zu  schauen.  Wo  alles  fließt, 
alles  unserem  betrachtenden  Blick  entschwindet,  sich  ineinander 
entgegengesetzten  Bestimmungen  widerstrebt,  da  ist  es  die  schlichte 
Zahl  in  Verbindung  mit  der  Einheit,  dem  ro  Iv,  in  der  die  Seele, 
die  das  wahrhaft  Seiende  schauen  möchte,  Stütze  und  Halt  findet, 
und  die  Welt  verstehen  lernt.  Das  Mathematische  im  Menschen 
ist  ihm  das  Zug-  und  Leitungsmittel  aus  der  Sklaverei  der  Sinn- 
lichkeit und  des  Eigennutzes  zum  sittlich  und  geistig  geläuterten 
Menschen.  Denn  die  Mathematik  bleibt  nicht  bei  der  bloßen 
Wahrnehmung  stehen,  sondern  ruft  auf  alle  Weise  die  Vernunft 
herbei,  um  das  Erkennbare  vom  Sichtbaren,  das,  was  der  Geist 
sieht,  von  dem,  was  das  sinnliche  Auge  sieht,  zu  scheiden.  Nach 
Plato  muß  ein  Mann  mathematisch  denken  können,  wenn  er 
ein  Mensch  sein  will.  Nicht  in  der  Erwirkung  praktischen  Nutzens 
beim  Kauf  und  Verkauf,  oder  im  Militärwesen,  oder  in  der  Schiff- 
fahrt und  im  Ackerbau,  in  der  Sternkunde  und  in  der  Zeitmessung 
sieht  Plato  den  wahren  Wert  der  Mathematik,  sondern  ,,das  ist 
die  Sache  und  für  die  Menge  schwer  zu  begreifen,  daß  durch  jede 
mathematische  Erkenntnis  ein  Sinn  der  Seele  gereinigt  und  er- 
weckt wird,  der  unter  anderen  Beschäftigungen  erblindet,  während 
doch  an  seiner  Erhaltung  mehr  liegt  als  an  lOOOO  Augen;  denn 
durch  ihn  allein  wird  die  Wahrheit  gesehen."  Mit  einem  Worte: 
Wert  hat  die  Mathematik  für  Plato  nur  als  Bildungsmittel  philo- 
sophischer Einsicht,  als  Führcrin  in  das  Reich  der  Ideen.  Es  ist 
der  Ewigkcitsgehalt,  der  alle  Zeiten  überdauert  und  der  für  alle 
Räume  gilt,  der  den  Wert  der  Mathematik  ausmacht.  —  .,Uber 
die  ursprüngliche  Beschaffenheit  derjenigen  Eigenschaften  an  den 
Dingen,  welche  zu  entdecken  wir  all(T  Erfahrung  entbehren  können, 
und    über  das  daraus  sich  ergebende  Vermögen  des    Gemüts,  die 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     233 

Harmonie  der  Wesen  aus  ihrem  übersinnlichen  Prinzip  schöpfen 
zu  können,  geriet  Plato  in  die  Begeisterung,  welche  ihn  über  alle 
Erfahrungsbegriffe  zu  Ideen  erhob,  die  ihm  nur  durch  eine  intel- 
lektuelle Gemeinschaft  mit  dem  Ursprünge  aller  Wesen  erklärlich 
zu  sein  schien."  (Kant,  Urteilskraft,  §62.)  Kein  Wunder,  daß 
er  den  der  Geometrie  Unkundigen  aus  seiner  Schule  verwies. 

Leonardo   da   Vinci,    der  von   keinem   überragte   Künstler 
und  Forscher  des   15.  und   16.  Jahrhunderts,  der  unberülirt  blieb 
von  aller  dialektischen  Vernünftelei  und  sich  frei  hielt  von  leeren 
philosophischen  Begriffsgespinsten  und  überschwenglichen  Worten, 
der  sein  Schaffen  und  Urteilen  nur  auf  die  Sinneswahrnehmungen 
gründete,  er  ruft  warnend :  Keiner  wage  mich  zu  lesen,  der  nicht 
mathematisch  denken  mag!     Der  Mann,  der  nicht  mathematisch 
denken  mag,  nährt  sich  von  Konfusionen.     Denn  in  den  mathe- 
matischen   Wissenschaften    ist    die    Wahrheit    enthalten    und    die 
Möglichkeit,  zu  wissen.    Beobachtung  und  Experiment,  also  Sinnes- 
wahrnehmung, ist  die  gemeinsame  Mutter  aller  Kunst  und  Wissen- 
schaft;   aber   freilich   nur   die   durch   die   Mathematik   geläuterte, 
geklärte   und   veredelte  Wahrnehmung.      Keine   menschhche   For- 
schung führt  zu  wahren  wissenschaftlichen  Ergebnissen,  bevor  sie 
nicht  die  Prüfung  mathematischer  Bew^eisführung  und  Darstellung 
bestanden   hat:   ,,s'essa   non   passa   per   le   mathematiche   dimon- 
strationi."    —   Reichlich    lOO  Jahre    nach    Leonardo    fühlt   sich 
Descartes,   nachdem  er  alle  Wissenschaften  seiner  Zeit  studiert 
hatte,  in  einem  Meere  von  Zweifeln  und  Unwissenheit.    Erfrischung 
aber  reicht  ihm  die  Mathematik  mit  der  Gewißheit  und  Evidenz 
ihrer  Begründungen.     In  ihrer  Methode  erkennt  er  den  Ursprung 
und  die    Quelle  aller  Wahrheiten.  —  ,,Das  Wesen  unserer  Seele 
ist    Harmonie;    aber    Harmonie    erzeugt   sich    (s'ingenera)    nur    in 
Augenblicken,    in   denen    die    Verhältnisse,    die    Proportionen    der 
Dinge    zueinander    wahrgenommen    und    erkannt    werden",    hatte 
Leonardo    gesagt.      Descartes    findet    die    Hoffnung,    aus    der 
Disharmonie  seiner  Zweifel  herauszukommen,  indem  er  sich  sagt: 
,, Unter    allen,    die    vor    mir    wissenschaftliche    Wahrheit    gesucht 
haben,    haben    einzig    und    allein   die    Mathematiker   sichere    und 
evidente    Begründungen    ihrer    Wahrheiten    finden    können;    und 
wenn    ich    von    der    Mathematik   zunächst    auch    keinen    anderen 
Nutzen  erhoffte,   so  doch  den,   daß  sie  meinen    Geist   gewöhnte, 
sich  von  wirklichen   Wahrheiten   zu   nähren   und   sich    nicht   mit 
falschen   Gründen   und   Meinungen  zufrieden  zu  geben.     Und  da 


234 


Ernst  Tischer: 


sie  bei  aller  reichen  Verschiedenheit  ihrer  Gegenstände  allgemeine 
Beziehungen  und  Proportionen  zwischen  denselben  erkennen  läßt, 
so  sagte  ich  mir,  daß  es  gälte,  der  geometrischen  und  algebraischen 
Analyse  das  Beste  zu  entlehnen,  die  Mängel  der  einen  durch 
die  andere  zu  verbessern  und  so  zu  einfachen,  klaren  und  all- 
gemein anwendbaren  Erkenntnismethoden  auch  für  die  anderen 
Wissenschaften  zu  gelangen.  Ich  fühlte  (sentais),  daß  in  Befolgung 
dessen,  was  das  Wesen  des  mathematischen  Denkens  ausmacht, 
mein  Geist  sich  gewöhnen  würde,  ^  conccvoir  plus  nettement  et 
plus  distinctement  ses  objets,  auch  wenn  sie  anderen  Wissenschaften 
angehörten." 

,,Das  Buch  der  Natur  ist  in  mathematischer  Sprache  ge- 
schrieben", sagt  Galilei.  Und  Leibniz  erklärt:  „Einzig  und 
allein  die  Geometrie"  —  d.  i.  schon  die  kartesianische  Geometrie, 
also  die  Geometrie  im  Sinne  von  Mathematik  überhaupt,  d.  h. 
das  auf  die  Anschauung  angewandte  Denken,  die  auf  Anschauung 
angewandte  Logik  und  Arithmetik  —  ,, betrachtet  jene  für  sich 
bestehenden  und  ewigen  Formen  zwischen  den  vergänglichen 
materiellen  Dingen,  deren  Ideen  unserem  Geiste  innewohnen 
und  nicht  vergehen  (perire)  können,  auch  wenn  alle  historische 
und  Experimentalwissenschaft  verloren  ginge  (extingueretur).  Die 
Physik  (Naturwissenschaft),  soweit  sie  den  Geist  vervollkommnen 
(perficere)  kann,  mündet  in  die  Geometrie.  Denn  nicht  eher  er- 
langen wir  wissenschaftliche  Einsicht  in  die  Erscheinungen  der 
Körperwelt  (intelligimus),  als  bis  wir  sie  auf  die  Grundideen  der 
Konfiguration,  der  B';wegung  und  der  Maßverhältnisse  zurück- 
geführt haben.  Ein  Geist,  der  der  mathematischen  Beweisführung 
unzugänglich  ist,  ist  unfähig  zu  jeder  metaphysischen  und  gött- 
lichen, d.  h.  auf  das  Ganze  gehenden  Betrachtung,  d.  i.  der  Be- 
trachtung, welche  zur  wahren  und  bleibenden  Vervollkommnung 
unseres  geistigen  Seins  führt,  und  zu  welcher  die  Geometrie  all- 
mählich erhebt.  Denn  einen  Leitfaden  in  dem  Labyrinth  der 
Zusammensetzung  des  Stetigen,  des  Ununterscheidbaren  und 
Unendlichen  gibt  nur  die  Geometrie  an  die  Hand,  und  zu  einer 
soliden  Wissenschaft  kann  niemand  gelangen,  der  nicht  durch 
das  Medium  der  Geometrie  hindurchgegangen  ist.  Nicht  das, 
was  das  Gedächtnis  füllt  (locuplctat),  entwickelt  den  Geist,  sondern 
das,  "was  die  Fähigkeit  zu  denken  übt.  Und  das  tut  die  Geometrie 
in  wunderbarer  Weise  (quod  mirifice  facit  geometria)".  Die  Gott- 
heit in   ihrer  Allwissenheit  denkt  sich   Leibniz  unter  dem   Bilde 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     235 

des  vollkommenen  Geometers,  der  alle  Zusammenhänge  und 
Funktionalbcziehungcn  der  Dinge  in  jedem  Augenblicke  über- 
schaut und  durchschaut,  während  wir  Menschen  nur  unendlich 
kleine  Teile  derselben  in  einem  Augenblicke  ins  Bewußtsein  fassen 
können,  um  uns  mühsam  von  Teil  zu  Teil  wie  an  einem  Faden 
fortzuspinnen. 

Selbst  Goethe,  so  sehr  er  sich  über  die  Mathematiker  von 
Fach  oder  Beruf  ärgerte,  w^enn  sie  seiner  Optik  nicht  zustimmten, 
überträgt  doch  darum  diesen  Ärger  nicht  auf  die  Mathematik, 
sondern  bekennt:  ,, Niemand  kann  die  Mathematik  höher  schätzen 
als  ich,  da  sie  gerade  das  leistet,  was  mir  zu  bewirken  völlig  ver- 
sagt worden  ist."  —  Daß  es  aber  Meister  des  Wortes  und  des 
Wortwitzes  gibt,  denen  zeitlebens  das  Mathematische  im  Menschen, 
trotz  ihres  geistreichen  Gebrauches  der  Sprache,  eine  terra  in- 
cognita  blieb,  über  das  sie  aber  in  dem  Gefühl  ihrer  eigenen  Hoch- 
schätzung gerade  darum  laienhaft  witzelten,  das  beweisen  Schopen- 
hauer und  Voltaire.  Voltaire  gibt  sich  mit  Befriedigung  selbst 
das  Zeugnis:  ,,Ich  habe  immer  gefunden,  daß  die  Geometrie  den 
Geist  da  läßt,  wo  sie  ihn  findet."  —  Und  nach  Schopenhauer 
hätten  Leonardo  und  Albrecht  Dürer,  diese  enorm  mathema- 
tisch beanlagten  und  ihre  Kunst  auf  Mathematik  gründenden 
Künstler,  kein  Anrecht  darauf,  als  Künstler  verehrt  zu  werden, 
weil  nach  Schopenhauer  mathematische  und  künstlerische  Be- 
anlagung,  ja  Mathematik  und  Genie  überhaupt,  einander  aus- 
schließen. Und  weil  das  Lesepublikum  des  19.  Jahrhunderts, 
sofern  es  sich  mit  Philosophie  befaßt  hat,  in  Schopenhauer 
nicht  nur  einen  Philosophen,  sondern  den  Philosophen  sieht, 
so  gilt  es  bis  heute  noch  bei  den  ,, literarisch  Gebildeten"  als  ein 
Kennzeichen  ,, höherer  und  wahrer  Bildung",  von  Mathematik 
nichts  zu  wissen.  — 

Was  waren  doch  all  die  Männer  wie  Pia to,  Leonardo,  Dürer, 
Descartes,  Leibniz,  der  Staatsminister  Baco  von  Verulam, 
Lord  Brounker,  der  Rechtsgelehrte  Huygens,  die  Bürgermeister 
Otto  von  Guerickc  von  Magdeburg  und  Johann  Hudde  von 
Amsterdam  (1670),  der  Arzt  Vieta  (1580),  der  Staatsmann  Ben- 
jamin Franklin  (1760),  und  Frauen  wie  die  erste  Königin  von 
Preußen,  Sophie  Charlotte,  die  Schülerin  von  Leibniz,  oder 
Fürsten  wie  Gustav  Adolph  von  Schw^eden,  der  Schüler  Gali- 
leis —  was  waren  diese  Menschen  des  17.  oder  16.  Jahrhunderts 
doch  für  ungebildete  Leute  im  Vergleich  zu  den  Lesern  Schopen- 


236 


Ernst  Tischer: 


hauers  des  19.  Jahrhunderts,  da  sie,  jene  Menschen  des  17.  und 
16.  Jahrhunderts,  sich  neben  ihren  eigentlichen  Berufsgeschäften 
in  ihrem  Drange  nach  Veredelung  ihres  Geistes  mit  Mathematik 
beschäftigten  und  sich  an  mathematischen  Entdeckungen  und 
Erkenntnissen  erhoben! 

Und  nun  gar  erst  unser  Kant,  der  eindringlich  das  wieder- 
holt, was  Leonardos  unerschütterliche  Überzeugung  war:  keine 
Gewißheit,  außer  wo  sie  sich  mathematisch  begründen  läßt.    ,,Ich 
behaupte"  —  sagt  er  in  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der 
Naturwissenschaft  — ,    ,,daß  in   jeder   besonderen  Naturlehre   nur 
so  viel  eigentliche  Wissenschaft  angetroffen    werden    könne,    als 
darin  Mathematik  anzutreffen  ist."  —  Nach  Kant  gehört  zu  der 
apodiktischen    Gewißheit    eines    wirklichen    Wissens    etwas    mehr, 
als   empirische  Wahrnehmung.     Dieses  Etwas,    der  ,, reine  Teil  der 
Wissenschaft"  —  ist  gerade  jene  innere  menschliche  Gesetzgebung, 
welche,    sofern    sie    die    Anschauung    betrifft,    Mathematik   heißt. 
Die  Natur  gibt  uns  die  Tatsachen;  die  Gesetze  gibt  der  mensch- 
liche  Verstand.      ,,Wie   ist    Erfahrung   möglich.?"   das   ist   ja   die 
große  Frage   Kants.      Ohne  Erfahrung  kein  Wissen;   aber  keine 
Erfahrung  ohne  die  mathematischen   Kategorien  des   Verstandes. 
Wie  bei  Plato  und  Descartes,  so  gründet  sich  auch  bei  Kant 
die  Überzeugung,   daß  der  Mensch  zu  sicherem  Wissen  gelangen 
könne,    auf    das    Vorhandensein    der    Mathematik,    diesem    ,, Stolz 
der  menschlichen  Vernunft",  wie  Kant  sie  nennt.     Die  Tatsache 
des    Vorhandenseins    der    Mathematik,    d.  h.    der    mathematischen 
Funktion  des  menschlichen  Verstandes,  ist  das   Positive,  auf  das 
sich  der  Kritizismus  Kants  und  der  kritische  Idealismus  stützt.  — 
Woher  die  Mathematik .''     Das  ist  wohl  nicht  nur  eine  transzenden- 
tale,   sondern    eine    überschwengliche,    eine   transzendente    Frage. 
Genug,   sie  ist  da,   mit   ihrer  Allgemeingültigkeit  nach  der   Seite 
des  Subjekts  wie  nach  der  Seite  des  Objekts.     Und  eben  aus  dieser 
doppelten  Allgemeingültigkeit  zog  Kant  die   Folgerung,   daß  die 
Mathematik    nicht    Erfahrungswissenschaft   sein    kann;    denn   alle 
Erfahrung  ist,  so  wie  sie  uns  entgegentritt,  zufällig,  nicht  not- 
wendig, ist  eine  zufällige  Folge  von  Vorgängen  in  der  Zeit  und 
ein  zufälliges  Nebeneinander  der  Dinge  im  Raum.     Der  Gedanke 
der  Notwendigkeit  des  Geschehens  und  der  räumlichen  Ordnungen, 
und   der    Gedanke  der   notwendigen    und   immer   gültigen   Natur- 
gesetze ist  keine  Erfahrung,  sondern  eben  ein  Gedanke,  eine  Idee, 
oder,   um  in  der   Sprache  der  Als- Ob-Philosophie  Vaihingers  zu 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     237 

reden:  die  große  Fiktion,  auf  der  sich  alle  Wissenschaft,  d.  h.  alles 
gestaltete,  zusammenhängende,  vom  Satz  des  Grundes  getragene 
Wissen  aufbaut.  Die  Fiktion  eines  notwendigen  Zusammenhanges 
und  einer  unabänderlichen,  konstanten  Abhängigkeit  aller  Er- 
scheinungen untereinander  ist  nun  aber  nicht  eine  willkürliche 
Setzung  einer  frei  schaffenden  Phantasie.  Wir  haben  nicht  die 
Freiheit,  sie  zu  setzen  oder  nicht  zu  setzen,  sondern  wir  setzen 
sie  unwillkürlich  mit  innerer  Notwendigkeit  und  sofern  wir  ver- 
nünftige Wesen  sind,  weil  aller  Vernunftgebrauch  mit  dieser  Fiktion 
beginnt  und  in  dem  Streben  nach  Zusammenfassung  aller  Vielheit 
zu  systematischer  Einheit  besteht.  Man  kann  diese  innere  Nötigung 
unseres  Denkens  zu  der  Fiktion  eines  durchgängigen  notwendigen 
Zusammenhanges  aller  Erscheinungen  ja  eine  Tatsache  der  inneren 
Erfahrung  nennen,  die  Tatsache,  durch  welche  die  Verknüpfung 
des  Ich  an  sich  mit  dem  Ich  der  Erscheinung,  zwischen  dem  tran- 
szendenten und  dem  empirischen  Ich  sich  kundgibt,  d.  h.  für  uns 
in  Erscheinung  tritt. 

Diese  Erfahrung,  diese  Erscheinung  ist  der  Anfang  aller  anderen 
Erfahrungen,  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  aller  anderen  Er- 
scheinungen und  Erfahrungen  für  unser  Bewußtsein.    W'as  treibt 
das  drei-  und  vierjährige  Kind  an,  seine  Eltern  unermüdlich  nach 
dem  Warum  und  Woher  einer  jeden  neuen  Erscheinung  zu  fragen  } 
Es  ist  das   ihm  innewohnende   Kontinuitätsgesetz,   das  schon  im 
Kindesgemüt,  und  in  ihm  mehr  wie  in  dem  mit  Vorurteilen  be- 
lasteten   Erwachsenen,    Lückenlosigkeit    fordert    und    Zusammen- 
hang und  Einheit  verlangt,  wo  die  Erfahrung  ihm  zufällige  Einzel- 
heiten in  den  W^eg  stellt.      Sobald  der  Mensch  zum  Denken  er- 
wacht,  regelt  er  das  Verhältnis  seines   Denkens   zu  der  Mannig- 
faltigkeit der  Erscheinungen  oder  zu  den  sogenannten  Erfahrungs- 
tatsachen gemäß  der  Fiktion,  als  ob  die  Mannigfaltigkeit  hervor- 
gegangen  sei    und   immer   von  neuem  hervorgehe  aus   einer   ins 
Unendliche    gesteigerten     Intelligenz,    einer    ins    Unend- 
liche  gesteigerten  Macht    und    einem   ins  Unendliche  ge- 
steigerten    sittlichen     Willen.        Die     Dreifaltigkeit     seines 
ureigensten  Wesens,  d.  i.  seines  Wissens  oder  seines  Erkennens, 
seines    Könnens    oder    Vermögens    und    seines    Wollens    macht 
er  zu  dem  Schema  seiner  Weltanschauung.     Durch  dieses  Schema 
sucht   er   sich  die  Welt  assimilierbar,  verständlich  und   zu   eigen 
zu  machen   in  Wissenschaft,    Kunst   und  Religion.     Wissen- 
schaft   aber    und    ihre  Voraussetzung,    d.  i.    Intelligenz    und    Er- 


238 


Ernst  Tischer: 


kenntnis,  sind  im  innersten  Grunde  identisch  mit  Mathematik, 
wie  CS  auch  in  dem  griechischen  Worte  zum  Ausdruck  kommt. 
Das  ist  wohl  die  kürzeste  Formel  für  den  Wert  und  die  Bedeutung 
der  Mathematik.  Die  Intelligenz  webt  Gedankenfäden  in  Form 
von  Fiktionen  zwischen  den  disparaten  und  heterogenen  Sinnes- 
wahrnchmungen  und  assimiliert  sie  dadurch  dem  Denken.  Wenn 
Ernst  Mach  lehrt,  das  wissenschaftliche  Denken  sei  Anpassung 
der  Gedanken  an  die  Tatsachen,  oder  wenn  Kant  lehrt,  die  Er- 
fahrung sei  kategoriale  Unterscheidung  und  Verknüpfung  des  uns 
durch  die  Sinne  vermittelten  Realen  der  Wahrnehmung,  An- 
passung der  Sinncsqualitäten  an  die  Kategorien  des  Verstandes 
und  unseres  Erkenntnisvermögens,  so  kennzeichnen  beide  ein  und 
dasselbe  Verhältnis  zwischen  Denken  und  Sein,  zwischen  Subjekt 
und  Objekt;  aber  der  eine  betrachtet  es  von  links  nach  rechts, 
der  andere  von  rechts  nach  links.  Denn  Erfahrungstatsachen 
und  Verstandeskategorien  und  Allgemeinbegriffe  stehen  in  Wechsel- 
wirkung, schleifen  sich  aneinander  ab,  keines  ist  unabhängig  vom 
anderen,  und  die  Erfahrungstatsachen  sind  Erscheinungen  und 
nicht  Dinge  an  sich.  Dieser  Satz  Kants  wird  in  Geltung  bleiben. 
Aber  zwischen  diesem  Rechts  und  Links  bilden  die  mathematischen 
Fiktionen  der  Größe,  der  Einheit,  jenes  wunderbaren  Etwas,  von 
dem  Plato  bemerkt,  das  wir  ein  und  dasselbe  Ding  zugleich  als 
eines  und  unendlich  vieles  sehen,  ferner  die  Fiktionen  der  Zahl,  des 
ruhenden  Raumes,  der  gleichmäßig  fließenden  Zeit  und  der  Kon- 
tinuität und  Unendlichkeit  die  vermittelnden  Glieder.  Diese 
mathematischen  Fiktionen  bilden  das  transzendentale  Zwischen- 
gebiet zw^ischen  Sinnlichkeit  und  Verstand,  zwischen  Anschauung 
und  Denken.  Darum  haben  wir  nicht  eher  das  Gefühl  des  Wissens 
und  der  Erkenntnis,  als  bis  die  Qualitäten  umgegossen  sind  in 
Quantitäten  und  durch  das  Gesetz  der  Einheit  und  der  Zahlen 
verknüpft  sind;  darum  nimmt  ein  sogenanntes  exaktes  Natur- 
gesetz in  unserem  Urteil  schließlich  die  Form  einer  Gleichung 
zwischen  den  Maßzahlen  verschiedenartiger,  in  besonders  ein- 
fachen Fällen  auch  gleichartiger  Größen  an.  Darum  meint  der 
Chemiker,  im  Innersten  erkannt  zu  haben,  was  Wasser  eigentlich 
sei,  wenn  er  es  unter  dem  mathematischen  Schema :  Wasser  = 
HjO  denkt;  darum  beruhigt  sich  der  Erkenntnistrieb  des  Astro- 
physikers, wenn  das  zwischen  den  Weltkörpern  waltende   Gesetz 

in  seinem  Denken  die  Form    '",  '"'  =  konstant  annimmt,  wo  r  die 

Zahl  der  Längeneinheiten  zwischen  zwei  gewissen  fingierten  Punkten 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     239 

des  Weltraums,  w  und  m^  die  Zahlen  der  Masseneinheiten  in  diesen 
Punkten    und    k  die   Zahl   der    Krafteinheiten   ist,    mit   der   diese 
Punkte   einander   zustreben.      Sein    Erkenntnistrieb   beruhigt   sich 
bei  der  Subsumtion  des  mechanischen  Weltgeschehens  unter  dieses 
mathematische  Schema,  weil  es  ihn  befähigt,  gewissermaßen  auto- 
nom, kraft  der  Kontinuität  der  Logik  seines  Denkens,  d.  h.  hier 
des   mathematischen   Rechnens,    und   gestützt   auf  die    Fiktionen 
des    Beharrungsgesetzes,    der   unendlich    kleinen    Größen   und   des 
Parallelogrammes    der    Beschleunigungen,    die    relativen    Bahnen 
und    Bewegungen   jener   Massenpunkte  gegeneinander  aus  seinem 
Geiste    herauszuspinnen    und    Ereignisse    vorauszuberechnen,    die 
sich,  wenn  die  Zeit  erfüllt  ist,  den  Tatsachen  völlig  angepaßt  er- 
weisen,   d.  h.    durch   die    Erfahrung   bestätigt   werden.      Und   der 
Physiker   meint,    trotz    Goethe,    erkannt   zu   haben,    was    Licht, 
ja  was  Farbe  sei,  wenn  er  bei  dem  Worte  Farbe  gar  nicht  mehr 
an   Farbe  denkt,   sondern  dafür  das   mathematische   Schema   ge- 
setzt hat,  das  in  Form  von  Gleichungen  eine  Reihe  von  Beziehungen 
und    Abhängigkeiten   zwischen   den    Maßzahlen    einer    Reihe   ver- 
schiedenartiger   Größen,    der    Elastizität,    der    Schwingungsdauer, 
Wellenlänge,  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  von  Punkten  des  fin- 
gierten Weltäthers  zum  Ausdruck  bringt,  sich  selbst  und  anderen 
mitteilbar  macht,  um  damit  rechnen,  d.  h.  aus  gewissen  Aussagen 
neue  Aussagen  ableiten  zu  können.    Wenn  der  auf  Kant  fußende 
kritische    Idealismus    und   der   mit   den    Physikern   des    19.  Jahr- 
hunderts   marschierende   Empirismus   einander   befehden,   so   sind 
beide  doch  völlig  einig  in  der  Bewertung  und  vor  allem  in  der 
Ausnutzung  der  mathematischen  Methode  und  der  mathematischen 
Begriffe.      Hat  doch  der   Denker,   der  alle  Aprioritätsphilosophie 
ablehnt    und    auf   den   sich   die   dem   einseitigen    Empirismus    er- 
gebenen   Erfahrungsphilosophen  so   gern   berufen,    Ernst   Mach, 
die    Begriffe   der    Substanz    und    der    Kausalität   sich    durch    das 
Medium  des   Begriffs  der  mathematischen   Funktion  verständlich 
zu  machen  gesucht.     Denn  beharrend  sind  für  ihn  immer  nur 
die   Beziehungen  seiner   mysteriösen    und   metaphysischen  Ele- 
mente zueinander   und  das  Gesetz  dieser   Beziehungen;    und  der 
Kausalbegriff  wird  von  ihm  nach  Elimination  der  Zeit  durch  den 
mathematischen  Funktionsbegriff  ersetzt. 

So  sind  kritischer  Idealismus  und  Empirismus  beide  einig  in 
dem  Gedanken,  daß  im  intellektuellen  Sinne  —  nicht  im  Sinne 
des  bloßen  Sichbewußtwerdens  eines  Sinneseindrucks  — erkennbar 


2AO  Ernst  Tischer: 


nur  dasjenige  ist,  was  durch  das  Medium  der  mathematischen  Kate- 
gorien gesehen  und  beurteilt  werden  kann.  Alles  andere  gehört 
entweder  zu  den  ewig  unenthüllbarcn  Geheimnissen  oder  bleibt 
für  uns  ein  zufälliges  und  regelloses  Nacheinander,  Nebeneinander 
und  Ineinander  von  Bildern,  Sinnesqualitäten,  Trieben,  Strebungen 
und  Stimmungen,  in  welch  letztere  die  sittlichen  Ideen  Richtung 
und  Ordnung  und  Ziel  bringen  können,  die  aber  keine  Gegenstände 
der  Erkenntnis,  keine  Gegenstände  der  theoretischen  Vernunft  sind, 
außer  insofern,  als  diese  letztere  sich  mittels  des  Zweckbegriffs  in 
den  Dienst  der  praktischen  Vernunft  stellt. 


Diese   Erinnerungen   sollen   uns   auf   den    Standpunkt   heben, 
von  dem  aus  sich  das,  was  Emil  Müller  uns  in  seinem  Vortrage 
sagen   will,    leichter    übersehen    und    würdigen    läßt.     Wir   wollen 
bei  dieser  Würdigung  auch  noch  dessen  eingedenk  bleiben,   daß 
vor  mehr  als  200  Jahren  der  deutsche  Idealist  Leibniz  den  eng- 
lischen Sensualisten  den  Satz  entgegenstellte:  „Nihil  est  in  intel- 
lectu,   quod  non  fuerit  in  sensu,  nisi  intellectus  ipse";  und  daß  er 
die  Stellung  der  Mathematik  als  einer  apriorischen,  oder,  wenn 
man   will,    idealisierenden,    oder   einer   fiktiven,    kurz,    einer 
reinen  Geisteswissenschaft  gegenüber  den  anderen  Wissenschaften 
kennzeichnet  mit  den  Worten:  ,,Didici  in  mathematicis  ingenio, 
in  natura  expcrimentis,  in  legibus  divinis  humanisque  auctoritate, 
in  historia  testimoniis  nitendum  esse".    Nach  den  drei  mathema- 
tisch   denkenden    Philosophen    Plato,    Leibniz    und    Kant    ist 
Mathematik  ein  reines  Geisteserzeugnis,  das  aber  auf  Anschauung 
und  damit  auf  die  wirklichen  Dinge  bezogen  wird,  oder  richtiger: 
auf  das  die  Objekte  der  Anschauung  bezogen  werden.     ,, Unsere 
Erörterung",  sagt  Kant,  ,, lehrt  die  Realität,  d.  i.  die  objektive 
Gültigkeit  des  Raumes  in  Ansehung  alles  dessen,   was  äußerlich 
als  Gegenstand  uns  vorkommen  kann,  aber  zugleich  die  Idealität 
des  Raumes  in  Ansehung  der  Dinge,  wenn  sie  durch  die  Vernunft 
an  sich  selbst  erwogen  werden,  d.  i.  ohne  Rücksicht  auf  die  Be- 
schaffenheit unserer  Sinnlichkeit  zu  nehmen.     Wir  behaupten  also 
die  empirische  Realität  des  Raumes  (in  Ansehung  aller  mög- 
lichen Erfahrung),  ob  wir  zwar  die  transzendentale  Idealität 
desselben,  d.  i.  daß  er  nichts  sei,  sobald  wir  die  Bedingung  der 
Möglichkeit   aller    Erfahrung   weglassen    und    ihn   als    etwas,    was 
den  Dingen   an   sich   selbst   zum  Grunde   liegt,   annehmen."    Die 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutun«:  für  die  menschl.  Erkenntnis.     24  l 

Mathematik  baut  sich  danach  auf  Konstruktionen  der  reinen  An- 
schauung auf,  also  auf  Ideen  oder  Fiktionen.  Während  also  Natur- 
wissenschaft, Rechtswissenschaft  und  Geschichtswissenschaft  ihre 
Stützen  und  Grundlagen  von  außen  empfangen  und  suchen  müssen, 
erwächst  die  Mathematik  aus  dem  Inneren  dessen,  was  wir  Seele, 
Geist,  Ingenium  nennen. 

Welches    ist    nun    das    Ergebnis    der    ,, Gewissensforschung", 
der  Emil  Müller  die  Mathematik  zu  unterwerfen  unternimmt? 

Zugleich  mit  den  Naturwissenschaften  aus  dem  Kampfe  um 
die  menschlichen  materiellen  Bedürfnisse  heraus  geboren,  erwuchs 
die  Mathematik  unter  der  Pflege  der  Griechen  zu  der  Freiheit 
eines  rein  geistigen  Eigenlebens.  Aber  bis  in  die  Mitte  des 
19.  Jahrhunderts,  sagt  Müller,  ,, wurden  die  Erkenntnisse  der 
Mathematik  mehr  oder  weniger  naiv  als  auf  die  wirklichen 
Dinge  sich  beziehend  aufgefaßt.  Erst  in  den  letzten  fünf  Jahr- 
zehnten wurde  man  sich  klar  bewußt,  daß  die  Mathematik  nicht 
über  wirkliche  Dinge  der  Außenwelt,  sondern  über  fiktive, 
vom  menschlichen  Geiste  geschaffene,  d.  h.  über  idealisierte 
Dinge  Aussagen  macht.  Nur  durch  die  fiktiven  Annahmen 
des  Punktes,  der  Geraden,  der  Ebene,  des  Kreises  usw. 
erhalten  die  Sätze  der  Geometrie  ihre  apodiktische 
Gewißheit  und  Allgemeingültigkeit." 

Das  klingt  so,  als  ob  ein  Plato,  Leibniz  und  Kant  nie 
gelebt  und  gelehrt  hätten,  und  als  ob  uns  die  Griechen  nicht  eine 
Mathematik  hinterlassen  hätten,  die  sich  als  reines  Geisteserzeugnis 
darstellt,  herausgewachsen  aus  der  Lust  und  Freude  der  Griechen 
an  der  Schönheit  und  Harmonie  nicht  nur  an  Gegenständen  der 
Plastik  und  der  sprachlichen  Gestaltung,  sondern  nicht  minder 
an  anschaulichen  Gegenständen  des  reinen  begrifflichen  Denkens, 
wie  sie  ihre  Geometrie  bietet.  ,,Allc  Kegelschnitte  für  sich", 
sagt  Kant  (Urteilskraft,  §62),  ,,und  in  Vergleichung  miteinander, 
sind  fruchtbar  an  Prinzipien  zur  Auflösung  möglicher  (nicht 
den  „wirklichen"  Dingen  entstammender)  Probleme,  so  einfach 
auch  ihre  Erklärung  ist,  welche  ihren  Begriff  bestimmt.  Es  ist 
eine  wahre  Freude,  den  Eifer  der  alten  Geometer  anzusehen,  mit 
dem  sie  den  Eigenschaften  der  Linien  dieser  Art  nachforschten, 
ohne  sich  durch  die  Frage  eingeschränkter  Köpfe  irre  machen 
zu  lassen,  wozu  denn  diese  Kenntnis  nützen  sollte."  Die  Kegel- 
schnittslinien der  Griechen  hatten  mit  den  sogenannten  ,, wirk- 
lichen" Dingen,  d.h.  mit  der  faktischen  materiellen  Erfüllung 

Annalen  der  Philosophie.     I. 


242 


Ernst  Tischer: 


von  Raumtcilcn  nichts  zu  tun  und  sind  nicht  als  auf  solche  fak- 
tische Erfüllung  sich  beziehend  aufgefaßt  worden,  sondern  als 
durch  den  Verstand  gegebene  Formen  möglicher  Erfüllung  oder 
möglicher  Einhaltung  durch  wirkliche  Vorgänge  Die  Natur  gibt 
Tatsachen,  d.  h.  Erscheinungen;  der  menschliche  Verstand  gibt 
Regeln,  Begriffe  und  Gesetze.  Jeder  Allgemeinbegriff  ist  vom 
menschlichen  Geiste  geschaffen  und  hat  teil  an  der  Idealisierung 
der  Dinge.  Der  alte  Realismus,  welcher  behauptete:  universalia 
sunt  realia,  ist  nicht  erst  seit  fünf  Jahrzehnten,  sondern  seit  Jahr- 
hunderten begraben,  womit  nicht  gesagt  ist,  daß  sein  Gegner, 
der  Nominalismus,  recht  behalten  hätte  mit  seiner  Behauptung: 
universalia  sunt  nomina.  —  Begriffe  sind  Regeln,  Gedanken,  Ideen, 
Fiktionen,  d.  h.  sie  sind  viel  mehr,  als  bloße  Namen.  Sie  sind 
die  Denkformen,  die  Denkeinheiten,  die  Schemata,  auf  die  wir 
die  Einzelerscheinungen  beziehen,  um  sie  denken  zu  können  Das 
Denken  bezieht  nicht  den  Begriff  auf  das  Reale  der  Er- 
scheinung, sondern  umgekehrt  das  Reale  der  Erschei- 
nungen, die  sogenannten  Tatsachen  und  wirklichen 
Dinge,  auf  die  Begriffe.  Die  Ellipse  mußte  mit  ihren  Eigen- 
schaften dem  menschlichen  Geiste  schon  geläufig  sein,  ehe  er 
durch  Kepler  die  Marsbahn  auf  sie  beziehen  konnte;  und  die 
Parabel  mußte  schon  im  menschlichen  Geiste  existieren,  bevor  die 
Wurflinie  eines  schweren  Körpers  auf  sie  bezogen  werden  konnte. 
Wir  können  es  daher  nicht  als  eine  Erleuchtung  der  Denker 
der  letzten  fünf  Jahrzehnte  anerkennen,  sich  der  Idealität  oder 
Fiktivität  und  damit  zugleich  des  Grundes  der  apodiktischen 
Gewißheit  und  Allgemeingültigkeit  der  Sätze  der  Geometrie  be- 
wußt geworden  zu  sein,  sondern  müssen  aus  den  uns  hinterlasscnen 
Schriften  unserer  Väter  schließen,  daß  diese  seit  länger  als  zwei 
Jahrtausenden  sich  dieser  Idealität  bewußt  waren.  Damit  wird 
nicht  bezweifelt,  daß  der  Durchschnitt  der  gelehrten  und  un- 
gelehrten mathematischen  Laien  noch  gegenwärtig  dem,  was  ein 
Plato,  Leibniz  und  Kant  so  klar  und  deutlich  sagten,  ver- 
ständnislos gegenüberstehen  und  die  geometrischen  Begriffe  und 
Erkenntnisse  in  der  Tat  als  auf  die  wirklichen  Dinge  sich  be- 
ziehend auffassen.  Für  die  Praxis  des  Handwerkers  ist  das  auch 
genügend.  Der  schöpferische  Erfinder  in  Wissenschaft,  Kunst 
und  Technik  ist  sich  von  selbst,  ohne  Belehrung  durch  andere, 
des  umgekehrten  Verhältnisses  zwischen  Wirklichkeit  und  geo- 
metrischen Formen  bewußt. 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  mtnschl.  Erkenntnis.     243 

Weil  uns  die  Erfahrung  keine  genaue  materielle  Gerade,  d.  li. 
keinen  physischen  Körper  mit  genau  geradlinigen  Kanten,  keinen 
mit   genauer   Kreisgrenze   liefert   und   liefern   kann,   weil   sie   uns 
keine  genaue  materielle   Kugel   mit  einem   Durchmesser  =  20  cm 
und  einem  durchgängigen  spezifischen  Gewicht  von  genau  =  7,86 
liefert,  deshalb,  so  lese  ich  bei  Emil  Müller  (S.  7),  sei  der  Schluß 
der  Arithmetik,  daß  eine  Stahlkugel  von  20  cm  Durchmesser  und 
vom    spezifischen    Gewicht  =  7,86    ein    Gewicht    von    32,924  kg 
habe,    nur   angenähert    richtig,    und    daraus    folge,    daß   ,,die 
mathematischen  Erkenntnisse  nicht  aus  einer  besonderen  geistigen 
Quelle,  etwa  Kants  , reiner  Anschauung  a  priori'  fließen,  sondern 
daß  ihre   Eigenart  darin   bestehe,   daß  sie  sich   auf  vollkommen 
ideelle  Dinge  beziehen".  —  Mein  logisches  Gewissen  zwingt  mich 
zum   umgekehrten    Schlüsse:    Jener    Schluß   der   Arithmetik   ist 
absolut  richtig;  er  gilt,  wenn  die  Prämissen  gelten.    Weil  sich 
aber  die  mathematischen  Erkenntnisse  in  ihrer  Reinheit  nur  auf 
ideelle  Dinge  beziehen  und   nur  für  solche  gelten;   weil   uns  die 
Erfahrung  keine   Gerade,  keine  Ebene,  keinen  Kreis  usw.  liefern 
kann,  sondern  weil  wir  umgekehrt  die  ,, wirklichen"  Dinge,  d.h.  die 
Erscheinungen,  fiktiverweise  in  die  mathematischen  Formen,  deren 
Ideen  uns,  wie  Leibniz  sagt    insitae  sind  und  darum  nicht  ver- 
gehen können,  auch  wenn  alle  historische  und  ErfahrungsWissen- 
schaft  ausgelöscht   würde,   hineindenken  und  hineinsehen,  darum 
eben  fließen  die  mathematischen  Erkenntnisse  aus  einer  besonderen 
geistigen  Quelle,  und  darum  müssen  wir  mit  Kant  auf  die  Apriorität 
der  reinen  Anschauung  schließen.  —  Die  Geometrie,  sagt  Leibniz, 
betrachtet  ihre  Formen  als  per  se  subsistentes,  und  mit  ihm  haben 
die  schöpferischen   Mathematiker   wohl   nie   eine   andere   Auf- 
fassung von  ihren   Gebilden  gehabt,  als  die,  daß  es  Denkgebilde 
sind,  bei  deren  rein  geistiger  Betrachtung  es  ohne  Belang  ist,  ob 
man  sie  mit  Materie  erfüllt  denkt  oder  nicht.    Diese  Fähigkeit  des 
Denkens,  bei  der  Betrachtung  der  Raumformen  völlig  von  der  er- 
füllenden Materie  abstrahieren  zu  können,  und  unser  Unvermögen, 
die  Raumformen  aus  der  Welt  der  Außenobjekte  wegzudenken,  ist 
ja   für  Kant   der  Beweis   dafür,    daß  die  Raumanschauung  ihren 
Weg   nicht   von   außen    nach   innen,   sondern   von  innen    nach 
außen  nimmt,   und  daß  nur  dadurch  die  Möglichkeit  der  Geo- 
metrie als  einer  synthetischen  Erkenntnis  a  priori  und  die  Möglich- 
keit ihrer  Konstruktionen  a  priori,  sowie  die  Möglichkeit  der  apo- 
diktischen Gewißheit  der  geometrischen  Grundsätze  begreiflich  wird. 

16* 


244 


Ernst  Tischer: 


E.  Müller  sagt:  „Definiert  man  in  irgendeiner  anderen 
Wissenschaft  ideale  Gebilde  auf  ähnliche  Weise  (wie  in  der  Mathe- 
matik), indem  man  ihnen  gewisse  Eigenschaften  als  ausnahmslos 
und  genau  gültig  zuschreibt,  so  kann  man  mit  ihnen  ein  der 
Mathematik  ähnliches  Gedankengebäude  aufbauen,  dessen  Gesetze 
ebenfalls  strenge  Allgemeingültigkeit  in  diesem  Ideallande  haben."  — 

,,Was  du  ererbt  von  deinen  Vätern  hast,  erwirb  es,  um  es  zu 
besitzen!"  Beherzigen  wir  diese  Mahnung  Goethes,  so  finden 
wir  bei  Kant  inbezug  auf  obige  Meinung  E.  Müllers  die  Lehre 
(Reine  Vernunft,  Ausgabe  Kirchmann,  S.  567):  ,,Im  Räume  eine 
Anschauung  a  priori  zu  bestimmen  (Gestalt),  die  Zeit  zu  teilen 
(Dauer),  oder  bloß  das  Allgemeine  der  Synthesis  von  einem  und 
demselben  in  der  Zeit  und  im  Räume,  und  die  daraus  entspringende 
Größe  einer  Anschauung  überhaupt  (Zahl)  zu  erkennen,  das  ist 
ein  Vernunftgeschäft  durch  Konstruktion  der  Begriffe  und 
heißt  mathematisch.  Das  große  Glück,  welches  die  Vernunft 
vermittelst  der  Mathematik  macht,  bringt  natürlicherv^'eise  die 
Vermutung  zuwege,  daß  es,  wo  nicht  ihr  selbst,  so  doch  ihrer 
Methode,  auch  außer  dem  Felde  der  Größen  gehngen  werde,  indem 
sie  alle  ihre  Begriffe  auf  Anschauungen  bringt,  die  sie 
a  priori  geben  kann,  und  wodurch  sie,  sozusagen,  Meister  über 
die  Natur  wird;  da  hingegen  reine  Philosophie  mit  diskursiven 
Begriffen  a  priori  in  der  Natur  herumpfuscht,  ohne  die  Realität 
derselben  a  priori  anschaulich  und  eben  dadurch  beglaubigt  machen 
zu  können."  —  Ferner:  ,,Es  bleiben  keine  anderen  Begriffe  übrig, 
die  zum  Definieren  taugen,  als  solche,  die  eine  willkürliche  Syn- 
thesis enthalten,  welche  a  priori  konstruiert  werden  kann. 
Mithin  hat  nur  die  Mathematik  Definitionen.  Denn 
den  Gegenstand,  den  sie  denkt,  stellt  sie  auch  a  priori  in  der  An- 
schauung dar."  Die  sogenannten  Definitionen  anderer  Wissen- 
schaften sind  nur  Expositionen,  Explikationen  und  Deklarationen. 
Sie  enthalten  nicht  das  Moment  der  Freiheit  des  Denkens,  auto- 
nom zu  konstruieren.  Sie  gelangen  von  außen  nach  innen,  nicht, 
wie  die  mathematischen  Begriffe,  von  innen  nach  außen.  Darum 
ist  es  unmöglich,  in  irgendeiner  anderen  Wissenschaft  ideale 
Gebilde  auf  ähnliche  Weise  zu  definieren,  wie  in  der  Mathe- 
matik, und  darum  gibt  es  kein  anderes  Idealland,  als  das  der 
Mathematik,  in  welchem  allgemeingültige  synthetische  Sätze 
gelten.  Wollten  wir  in  irgendeiner  anderen  Wissenschaft  so 
verfahren,    wie    E.  Müller    angibt,     so   würde    das    entstehende 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis,     245 

Gedankengebäude  aus  lauter  leeren  Tautologien  zusammengesetzt 
sein  und  nicht  eine  einzige  Erkenntnis  vermitteln,  wie  ja  bis  jetzt 
auch  noch  keine  andere  Wissenschaft,  als  angewandte  Mathematik, 
die  Probe  auf  ein  solches  Experiment  bestanden  hat,  und  wie  es 
die    vergeblichen    Bemühungen    aller    philosophischen    und    meta- 
physischen Systeme,  die  sich  nur  auf  Dialektik  stützen,  beweisen. 
Denn    Gedanken    ohne    anschaulichen    Inhalt    sind    leer.      Diesen 
Satz  Kants  darf  die  Menschheit  in  allen  folgenden  Jahrtausenden 
als   erste  Wahrheit  bei  allem   Philosophieren  gelten  lassen.     Die 
feinste  Logik,  für  sich  allein,  ist  unfruchtbar,  wenn  sie  sich  nicht 
mit    Konstruktionen  der   reinen   Anschauung  oder   mit  den  Tat- 
sachen der  Erfahrung  befaßt,  sondern  auf  logische   Formeln  be- 
schränkt,   denen    kein    Gegenstand    der    Anschauung    entspricht. 
Die  sogenannten  exakten  Naturwissenschaften  sind  eben  nur  an- 
gewandte  Mathematik;    und    nur   insofern   eine   Wissenschaft   an- 
gewandte Mathematik  sein  kann,   nur   insofern  sie  die  Definiton 
von   Maßeinheiten   und    Synthesen   aus    Maßeinheiten   zuläßt,   die 
sie  entweder  direkt  oder  in  ihren  Wirkungen  anschaulich  machen 
kann,    hat   sie   synthetische    Sätze   von   allgemeiner    Gültigkeit, 
d.  h.  diese  Allgemeingültigkeit  ist  immer  wieder  nur  eine  mathema- 
tische.     Allgemeingültig   ist   also    nur   dasjenige   an   den   Wissen- 
schaften, was  in  ihnen  mathematisch  ist,  alles  andere  kann  uns 
gar  nicht  anders  als  zufällig  gewiß  sein.    Alle  Erfahrungstatsachen 
haben   in   ihrem   Verhältnis   zu   unserer   Erkenntnis   nur   zufällige 
Gi^wißheit.     Eine  verite  de  fait  ist  verschieden  von  der  verite  de 
raison.     Eine  verite  de  raison  hat  nur  bedingte  Geltung;  sie  steht 
und  fällt  mit  den  Prämissen,  aus  denen  sie  gefolgert  ist.     Für  uns 
endliche  Wesen  kann  die   Reihe  der    Bedingungen  der   logischen 
oder    Vernunftwahrheiten    nicht    ins     Unendliche    zurückverfolgt 
werden.     Wir   brauchen    einen   Anfang,    wir   brauchen   eine   erste 
und    eine   zweite   Wahrheit    von   allgemeiner    Gültigkeit,    bei   der 
das  Denken  beginnt,   wenn  wir  von  allgemeingültiger  Gewißheit 
mit  Recht  sprechen  wollen.     Diese  ersten  Wahrheiten  oder  Prin- 
zipien  oder  Grundsätze   können   also    nur  Tatsachen  sein,    nicht 
wieder  logische  Wahrheiten.     Zu  den  ersten  Tatsachen  nun,  von 
der  alle   Geometrie  ausgeht,  gehört  die  Bewußtseinstatsache,  daß 
ich  mir  jeden  äußeren  Gegenstand  als  in  einen  unendlichen  Raum 
hineingestellt  denken  muß,  ihn  nicht  anders  denken  kann.    Eine 
zweite   Bewußtseinstatsache   ist   das    Bewußtsein   meiner   Freiheit, 
diesen  Raum  nach  meinem  Belieben  durch  Flächen  zu  teilen,  und 


246 


Ernst  Tischer: 


diese  Flächen  wieder  durch  Linien  und  die  Linien  durch  Punkte 
zu  teilen.  Sodann  die  Tatsache,  daß  meiner  Freiheit,  zu  teilen, 
mit  dem  Punkte  ein  Ende  gesetzt  ist;  daß  ich  aber  dieses  Wunder- 
wesen, das  Raumnichts,  den  Punkt,  gleichwohl  als  Individuum 
denken  und  mit  einem  Namen  belegen  und  in  dem  Räume  be- 
wegen, d.  h.  ihn  auf  stetige  und  nur  auf  stetige  Weise  im  Laufe 
der  Zeit  mit  immer  anderen  und  anderen  Punkten  des  ruhenden 
Raumes  zur  Deckung  bringen  kann,  usw.  usw.  So  beruht  die 
Sicherheit  meines  geometrischen  Wissens  auf  der  Paarung  zweier 
unendlicher  Gegensätze.  Einmal  auf  dem  Bewußtsein  eines  unend- 
lichen Zwanges,  mir  den  Raum  denken  zu  müssen,  d.  h.  auf 
der  unendlichen  Unfreiheit,  mir  die  Dinge  nicht  anders  denken 
zu  können  als  hineingestellt  in  einen  unendlichen  Raum;  sodann 
aber  auf  dem  Bewußtsein  einer  unendlichen  Freiheit  und 
eines  unendlichen  Vermögens,  in  diesem  Räume  Flächen,  Linien, 
Punkte  zu  setzen  und  zu  konstruieren  und  zu  bewegen  und  zu 
gestalten,  zu  formen,  zu  bilden,  schöpferisch  tätig  zu  sein. 
Auf  dem  Bewußtsein  dieser  unendlichen  Freiheit  beruht  mein 
Schluß,  daß  die  Eigenschaften,  die  ich  z.  B.  an  diesem  Kreise 
entdecke,  auch  für  jeden  anderen  gelten,  ganz  gewiß  gelten, 
usw.  usw. 

Es  ist  wohl  Pfhcht  des  Denkens,  solche  ursprüngliche  Be- 
wußtseinstatsachen von  den  für  unser  Bewußtsein  zufälligen 
Erfahrungstatsachen  zu  unterscheiden  und  beide  nicht  mit- 
einander zu  vermengen.  Was  würde  wohl  Aristoteles  in  seinem 
Gefühl  als  Begründer  der  Logik  dazu  sagen,  daß  man  nach  mehr 
als  zweitausend  Jahren  nach  seinem  Scheiden  aus  dem  Kreise 
der  lebenden  Menschen  den  logischen  Grundsatz  des  Wider- 
spruchs als  Erfahrungstatsache  bewertet  (Müller,  S.  9), 
wohl  nur,  um  die  Formel  von  der  Anpassung  all  unseres  Denkens 
an  die  Tatsachen  als  überall  geltend  zu  retten.  In  gleichem  Be- 
streben wird  wohl  auch  alles  Rechnen  und  Denken  und  geo- 
metrische Konstruieren  ein  ,, Experimentieren"  genannt.  Doch 
sind  das  Dinge  des  intellektuellen  Geschmacks,  über  die  man 
nicht  streiten  soll.  Jeder  hat  die  Freiheit,  sich  seine  Erfahrung 
zu  gestalten  und  mit  Meinungen  und  Fiktionen  zu  durchsetzen, 
wie  es  seinem  Wesen  und  seinem  Standpunkt  entspricht.  Das 
ist  ohne  Belang  für  das  produktive,  zu  Erkenntnissen  führende 
wissenschaftliche  Arbeiten.  Eben  der  logische  Widerspruch,  die 
Stimme  des  logischen   Gewissens,  stellt  sich  ein,   unabhängig  von 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     247 

unserem  Willen,  warnend,  läuternd,  berichtigend,  zurechtweisend, 
und  bestimmt  uns,  das  Gespinst  unserer  Fiktionen,  in  die  wir 
alle  unsere  Erfahrungen,  Tatsachen  und  Wirklichkeiten  beständig 
einwickeln  und  einwickeln  müssen,  weil  wir  auf  andere  Weise 
einer  Wirklichkeit  nicht  habhaft  werden  können,  zu  ändern.  Neue 
Erfahrungen,  neue  Tatsachen  fordern  das  Denken  zu  neuen  Fik- 
tionen heraus.  Denn  ,, nihil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit  in 
sensu,  nisi  intellectus  ipse".  Die  verknüpfenden  Fäden  zwischen 
Intellekt  und  Sinnesreiz,  das  sind  die  Fiktionen.  Wenn  nun  neue 
Fiktionen  den  früheren  widersprechen  und  wenn  wir  belehrbar 
sind,  dann  nennen  wir  die  alten  Fiktionen  Vorurteile  und  Irr- 
tümer und  schicken  sie  in  die  Wüste,  um  neuen  Platz  zu  schaffen. 
Darin  besteht  die  Anpassung  des  Denkens  an  die  Tatsachen.  Denn 
was  heißt  Anpassung  der  Gedanken  an  Tatsachen  ?  Doch  nichts 
anderes  als  Widerspruchsfreiheit  und  Zusammenstimmung  zwischen 
beiden.  Wer  aber  sagt  uns,  ob  unser  Denken  mit  den  Tatsachen 
zusammenstimme  ?  Das  tut  der  Satz  des  Widerspruchs,  d.  h. 
das  tun  die  Kategorien  der  Qualität,  der  Bejahung  und  Ver- 
neinung und  Begrenzung,  der  Setzung  von  Identitäten  und  Unter- 
schieden. Diese  Kategorien  sind  da,  wirken  in  uns,  von  innen 
nach  außen,  regeln  und  ordnen  unsere  Fiktionen  und  gestalten 
unsere  Erfahrung,  gemäß  der  ,,unnachlaßlichen  Forderung  der 
Vernunft,  irgendein  Etwas  als  unbedingt  notwendig  existierend 
anzunehmen,  an  welchem  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  gar  nicht 
mehr  unterschieden  werden  sollen"  (Kant,  Urteilskraft,   ^y6.) 

,,Eine  intuitive  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  mathe- 
matischer Sätze  ist  nach  meiner  Erfahrung  ein  psychologischer 
Irrtum.  Man  ist  nur  überzeugt,  daß  sie  gelten",  sagt  E.  Müller 
(S.  II).  Was  heißt  aber  „Überzeugung",  wenn  sie  nicht  den 
Charakter  der  Notwendigkeit  hat.?  Sind  nicht  Überzeugung 
und  Denknotwendigkeit  ein  und  dasselbe.?  Und  hat  uns  nicht 
Kant  deutlich  genug  gezeigt,  daß  es  für  uns  gar  keine  andere 
Notwendigkeit  geben  kann  als  Denknotwendigkeit  gemäß 
unserem  Erkenntnisvermögen.?  Daß  jede  metaphysische,  tran- 
szendente Notwendigkeit  nichts  weiter  ist  als  eine  Idee,  aber  eine 
transzendente  Idee,  die  wir  gar  nicht  auf  unsere  ,,Wirkhchkeiten" 
beziehen,  und  die  für  die  Welt  der  Erscheinungen  nur  insofern 
ins  Spiel  kommt,  als  wir  uns  unserer  Erfahrungen  als  Erscheinungen 
bewußt  werden  und  dessen,  daß  diese  Erscheinungen  nicht  Dinge 
an  sich  sind,  und  nicht  sein  können  ?  Die  apodiktische  Notwendigkeit 


248 


Ernst  Tischer: 


der  mathematischen  Sätze  ist  eine  Funktion  der  Organisation 
unseres  Erkenntnisvermögens.  Eine  andere  Notwendigkeit  kann 
es  für  uns  nicht  geben.  Gewiß  haben  wir  von  der  Notwendigkeit 
mathematischer  Sätze  meist  keine  unmittelbare,  sondern  nur  eine 
mittelbare  Überzeugung.  Unmittelbar  haben  wir  diese  Über- 
zeugung nur  von  den  Grundsätzen.  Das  Blickfeld  unseres  Be- 
wußtseins ist  im  Vergleich  zu  dem  von  der  Vernunft  geforderten 
All  unendlich  klein.  Unsere  Vorstellungen  verwirren  sich  in- 
einander bei  dem  Versuche,  eine  größere  Anzahl  derselben  gleich- 
zeitig zu  apperzipieren.  Daher  sind  wir  auch  im  Gebiet  des  mathe- 
matischen Erkennens  auf  das  Mittel  des  diskursiven  Denkens  und 
Fortschreitens  von  Vorstellung  zu  Vorstellung  angewiesen,  d.  h, 
wir  müssen  rechnen  oder  logische  Schlußreihen  durchlaufen,  um 
von  den  unmittelbar  anschaulich  als  notwendig  erkannten  Grund- 
sätzen und  Grundbegriffen  zu  den  verzweigten  mathematischen 
Zusammenhängen  aufzusteigen;  und  wir  sind  bei  der  Schwäche 
unseres  Gedächtnisses  und  unserer  Apperzeptionsfähigkeit  auf 
Schritt  und  Tritt  der  Gefahr  ausgesetzt,  uns  zu  verrechnen  und 
zu  verspekulieren.  Darum  mißtrauen  wir  mit  Recht  den  Er- 
gebnissen unseres  Rechnens  und  logischen  Denkens,  bevor  wir 
nicht  dasselbe  Ergebnis  nach  Wiederholungen  der  Rechnung  und 
nach  Abänderung  der  Rechnungsmethoden  erreicht  haben.  Nur 
in  diesem  Sinne  kann  auch  das  Rechnen  und  logische  Denken 
ein  Experimentieren  heißen.  Wir  machen  das  Experiment,  den 
Versuch,  auch  in  der  Mathematik,  ob  wir  nicht  bei  willkürlicher 
Umänderung  unserer  Methode  des  Denkens,  des  Konstruierens 
und  des  Gedankenganges,  zu  demselben  Ergebnis  kommen.  Niemand 
hat  diese  Einschränkung  unserer  Erkenntnisfunktion  deutlicher  ge- 
fühlt, als  Leibniz.  Das  Bestreben,  sie  zu  einem  Teile  zu  über- 
winden, führte  ihn  zu  seiner  Infinitesimalrechnung.  Diese  Er- 
findung entstand  aus  seinem  Protest  gegen  die  Schullogik  und 
die  schulmäßige  mathematische  Beweisführung.  Sie  entstand  aus 
dem  Verlangen,  auf  die  Idee  der  Kontinuität  gestützt,  mit  einem 
Blicke  Zusammenhänge  übersehen  und  als  notwendig  erkennen 
zu  können,  die  die  bisherige  Methode  entweder  gar  nicht  oder  nur 
nach  langen,  mühsamen,  ermüdenden  Gedankenketten  enthüllte 
oder  auch  nur  als  Endpunkt  langer  Gedankenreihen  darzustellen 
vermochte,  ohne  von  diesem  Punkte  aus  einen  anschaulichen 
Überblick  über  den  durchlaufenen  Gedankenweg  zu  gestatten. 
Zum    Glück    für   das    Denken    ist    aber   die    Kontinuität    der 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     249 

mathematischen    Zusammenhänge    nicht    einem    eindimensionalen 
Faden,    sondern    einem    vieldimensionalen    Geflecht    vergleichbar, 
in  dem  das  Denken  von  irgendeinem  Punkte  aus  nach  unzählig 
vielen  möglichen  Richtungen  und  auf  unzählig  vielen  Wegen  den 
stetigen   Übergang  von   einem   Punkte  zum  anderen  suchen   und 
finden  kann.      In  diesem   Geflecht  die  aussichtsreichsten  Bahnen 
und    Wege    zu    erschließen,    die    Standpunkte    zu    gewinnen,    von 
denen  aus  möglichst  viel  intuitiv  mit  einem  Blick  als  notwendig, 
d.  h.    als    stetig    zusammenhängend    erkannt    werden    kann,    von 
denen  aus  der  Mensch  schauen  kann  und  des  mühsamen  diskursiven 
Denkens  überhoben  ist,  um  zu  erkennen,  das  ist  die  Aufgabe  der 
reinen  Mathematik.     Ihr  Wert    für   die   Kultur    aber    macht 
sich    da    geltend,    wo    der    Mensch    ,, strebt,    sich    Ideal- 
zuständen   praktisch    zu    nähern,    vor    allem    auf    tech- 
nischem Gebiete  in  der  allgemeinsten  Auffassung  dieses 
Namens",  um,  wie  ich  im  Anschluß  an  Kant  hinzufügen  möchte, 
mehr    und    mehr   dazu   zu   gelangen,    daß   der   Mensch   in 
seiner    Freiheit   die    Naturkräfte    der    Idee   der    Sittlich- 
keit   und    Menschenwürde    dienstbar    macht.     Dieses  sich 
Hinaufarbeiten   in   das   ideale    Reich   der   Zwecke,    wie   es    Kant 
nennt,  wird  dem  Menschen  aber  nur  möglich  durch  Idealisierungen, 
d.  h.  durch  die  gestaltende  Kraft  seiner  Fiktionen  im  großen  und 
kleinen.     Alles   Streben  und  Ringen  nach  Erkenntnis  wird  ge- 
tragen von  dem  Glauben  oder  von  der  großen  Fiktion,  als  ob  es 
konstante,  zuverlässige  Gesetze  gebe,  nach  denen  sich  die  Natur- 
vorgänge folgen  müssen,  und  das  Erkenntnismittel  und  die  Aus- 
drucksform der  Erkenntnis  dieser  Naturgesetze  ist  mathematisch, 
es  ist  die    Gleichung  zwischen  den  Maßzahlen  verschiedenartiger 
oder  gleichartiger  stetig  veränderlicher  Größen,  mit  anderen  Worten, 
es  ist  die  Form  des  mathematischen  Funktionalzusammenhanges. 
Alles   Streben  und   Ringen  auf  praktischem   Gebiete  aber  wird 
getragen  von   der  anderen   Fiktion,    daß  es   möglich  sein   müsse, 
Ideale  zu  verwirklichen. 

So  hat  uns  E.  Müller  am  Schlüsse  seines  gehaltvollen  Vor- 
trages aus  der  erkenntniskritischen  Wertung  der  Mathematik  an 
die  Schwelle  des  ethischen  Gebietes  geleitet.  Die  Frage  nach  Wert 
und  Bedeutung  der  Mathematik  und  ihrer  Methode  für  das  Er- 
kennen wird  abgelöst  von  der  Frage  nach  ihrer  Wirkung  auf 
unseren  sittlichen  Willen.  Sind  die  mathematischen  Objekte  und 
ihre    Beziehungen    zueinander    einmal    als     Idealisierungen    oder 


250 


Ernst  Tischer: 


Fiktionen,  als  Produkte  unserer  Spontaneität,  erkannt,  so  ist  das 
Verhältnis   zwischen   Mathematik   und    Ethik,    zwischen   Erkennen 
und   Wollen,    nicht    mehr    irrational,    nicht    mehr    dasjenige    mit- 
einander unvergleichbarer   Größen  oder  Kräfte.    Beide  wurzeln  in 
der  fiktiven  und  gestaltenden  Tätigkeit  unserer  Psyche,  beide  haben 
ein  Ziel.     Dieses  Ziel  heißt  allgemeine  Harmonie.     Das  ist  ein 
Gedanke,    der    in    den    tiefsten    Geistern    der    Menschheit,    einem 
Plato,  Leibniz,   Kant,   immer  lebendig  und  wirksam  gewesen  ist. 
Die   Frage  nach   dem   Woher   und   Was  der   mathematischen   Er- 
kenntnis,   nach   dem   Ursprung   des   an   ihr   haftenden   Charakters 
der    Notwendigkeit    und    Allgemeingültigkeit,    die    Frage,    ob    die 
mathematischen  Objekte  der  Erfahrung  entnommen  sind  oder  aus 
unserer    Geistesanlage  fließen,   ob  sie   Ergebnisse  des   Experimen- 
tierens    oder    des    ideahsierenden    und    fiktiven    Denkens,    ob    sie 
Wirklichkeiten  oder    Idealisierungen  und   Fiktionen  sind,   wird  in 
dem  Gedankengange  von  E.  Müller  schließlich  der  höheren  Frage 
nach   dem   Wozu   aller   Erkenntnis    und   somit   auch   der   mathe- 
matischen Erkenntnis  im  Dienste  des  sittlichen  Handelns   unter- 
geordnet.    Wie  bei  Kant,  so  erhält  auch  bei  E.  Müller  die  prak- 
tische  Vernunft  das   Primat   über  die  theoretische.      Die   letztere 
tritt  in  den  Dienst  der  ersteren.    Wir  lesen  das  zwischen  den  Zeilen 
aus  dem  Satze  (S.  i6):  ,,Die  Mathematik  scheint  für  den  Menschen 
überall  da  besonders  wertvoll  zu  werden,  wo  er  strebt,  sich  Ideal- 
zuständen praktisch  zu  nähern,  vor  allem  auf  technischem  Gebiete 
in  der  allgemeinsten  Auffassung  dieses  Namens."     Das  verstehen 
wir   so:   Soll    die  Technica    naturalis    (Kant,    Urteilskraft,    §72), 
d.  h.    das    produktive    Vermögen    der    Natur,    sofern   es    mit   dem 
Mechanismus  der  Natur  identisch  ist,  vom  Menschen  in  den  Dienst 
einer  Technica    intentionalis,    nach    Absichten    menschlicher 
Weisheit   und  des  sittlichen  Willens  gestellt  werden,  so  wird  das 
um  so  besser  und  eher  gelingen,  je  mehr  ,,die  Mathematik  gleich 
anderen  theoretischen  Wissenschaften  auf  Vorrat,  für  die  Zukunft, 
gearbeitet  hat"  (S.  17).     Denn  ,,der  Hauptwert  der  Mathematik", 
sagt  Müller,  ,, scheint  mir  darin  zu  liegen,  daß  sie  neue  Begriffe, 
Denkmittel  und  Denkmethoden  schafft,  wenn  diese  auch  erst  nach 
Jahrhunderten     praktische     Anwendung    finden."        Damit    wird 
zwischen   den    Zeilen   die   Anpassung   der    Gedanken   an   die   Tat- 
sachen, d.  i.  alle  Experimentalwissenschaft  und   Forschung,  sowie 
die    Anpassung    der     Gedanken    aneinander,    d.  i.    alle    rationale 
Klärung,    Systcmatisicrung   und    Gestaltung   unserer    Vorsteilungs- 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  lur  die  menschl.  Erkenntnis.     25  I 

weit  und  unserer  die  Vorstellungen  verknüpfenden  und  zusammen- 
webenden Fiktionen  nicht  der  letzte  Zweck  der  wissenschaftlichen 
Bemühungen  der  Menschheit,  sondern  das  Mittel  zu  einem  höheren 
Zwecke,  dem  der  schließlichen  Anpassung  der  Tatsachen  an  die 
Gedanken,  nämlich  an  die  vom  sittlichen  Willen  gesetzten  Zwecke. 
Der  durch  Experimentalforschung,  Mathematik  und  Philosophie 
in  die  Schatzkammern  der  Erkenntnis  geförderte  und  geborgene 
Bestand  an  verites  de  fait  und  verites  de  raison  soll  im  Vertrauen 
darauf,  oder  auf  Grund  der  großen  Fiktion,  daß  die  Natur  zu- 
verlässig und  treu  arbeitet  und  feste  Gesetze  unverbrüchlich  ein- 
hält, vom  sittlichen  Willen  verwertet  und  im  ethisch-praktischen 
Interesse  ausgenutzt  werden. 

Wir   haben   in   obigem  in  loser  Folge  einen  kleinen  Teil  der 
Gedankenreihen  flüchtig  skizziert,  zu  denen  wir  uns  durch  E.  Mül- 
lers Vortrag  angeregt  fühlten,  insbesondere  in  der  Richtung  einer 
Ergänzung   oder   weiteren    Ausführung   dessen,    was    uns    in   dem 
Vortrage   nur  in  knappen   Worten   andeutungsweise  entgegentrat. 
Wer  diesen  gehaltvollen  und  gedankendichten  Vortrag  nicht  nur 
flüchtig  überliest,  wer  sich  jeden  seiner   Sätze  zu  deutlicher  und 
scharfer  Apperzeption  zu  bringen  und  durch  seine  Worte  hindurch 
zu   den   ihnen    entsprechenden    Anschauungen    und    Gedankenver- 
kettungen zu  dringen  sucht,   der  stößt  auf  die   Probleme,  denen 
das    philosophische    Denken    der    Menschheit    seit    Jahrtausenden 
nachgegangen  ist,  und  denen  es,  solange  es  philosophisch  denkende 
Menschen   geben   wird,    immer   nachgehen   wird,    ohne   sich   doch 
restlos  mit  ihnen  abfinden  zu  können,  weil  doch  nun  einmal  die 
Beurteilung   des    Objekts    durch    das    urteilende    Subjekt    bedingt 
ist;  weil  die  Frage  nach  dem  Wahrheitsgehalt  der  Erkenntnis  von 
Objekten  das  Problem  der  Selbsterkenntnis  des  erkennenden  Sub- 
jekts erzeugt  und  weil  die  Eigenerkenntnis  es  wieder  fordert,  daß 
das  Subjekt  sich  inbezug  auf  sich  selbst  zum  Objekt  mache,  eine 
Forderung,   der  niemals   in  der  Weise  genügt   werden   kann,   daß 
das  Ich  als  Subjekt  und  das   Ich  als  Objekt  identisch  seien.     Es 
sind  die   Probleme,   die  wegen  der   Unmöglichkeit  ihrer  restlosen 
Lösung  für  jede  neue,  jede  junge   Generation  der  Menschheit  den 
Reiz  der   Neuheit   haben,    und   jeder   neuen    Generation,   die   sich 
ihnen  zuwendet,  neue  Entdeckerfreuden  zufließen  lassen,  wenn  es 
ihr  gelingt,   neue   Worte,   neue   Einkleidungen,   neue    Standpunkte 
der  Betrachtung,  neue  Hilfsbegriffe  und  Fiktionen  zu  finden,  mit 
denen  das  Denken  in  die  Probleme  einzudringen  sucht.     Denn  da 


252 


Ernst  Tischer: 


unser  Denken  an  Begriffe,  Worte,  Zeichen,  Bilder,  Gleichnisse  und 
Analogien  geheftet  ist,  so  entsteht  die  Illusion,  der  beglückende 
Schein,  als  ob  mit  neuen  Worten  und  Wendungen  auch  neue  Ge- 
danken oder  gar  Lösungen  gefunden  wären,  wo  doch  nur  alte, 
immer  wieder  von  neuem  in  den  aufeinanderfolgenden  Menschen- 
gehirnen auftauchende  Gedanken  in  neues  Gewand  gekleidet,  auf 
eine  andere  Seite  gelegt  und  in  eine  neue  Stellung  zu  anderen  Ge- 
danken gebracht  werden.  Wir  begehren  das  unendliche  All  zu 
ermessen  und  zu  begreifen,  und  können  bei  unserer  Bewußtseinsenge 
doch  immer  nur  einen  unendlich  kleinen  Teil  und  diesen  nur  in 
einseitiger  und  unzulänglicher  Beleuchtung  in  das  Blickfeld  unseres 
Bewußtseins  bringen.  Was  Wunder,  daß  sich  die  Objekte  in  ver- 
schiedenen Menschen  und  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden 
darstellen.  Was  der  eine  im  Lichte  sieht,  steht  für  den  anderen 
im  Schatten,  je  nach  der  Stellung  des  Urteilenden  zum  Objekte; 
denn  das  Objekt  erhält  seine  Beleuchtung  für  jeden  ja  gerade  von 
dieser  Stellung  aus. 

Wie  alle  tief  denkenden  Menschen  beim  Suchen  nach  Wahrheit, 
so  kommt  auch  E.  Müller  am  Schlüsse  seiner  erkenntniskritischen 
Gewissensforschung  in  Hinsicht  auf  den  Wert  der  Mathematik  zu 
dem  Ergebnis  (S.  19):  ,,Wir  haben  entsagen  und  uns  bescheiden 
gelernt.  Wir  sind  zu  der  Einsicht  gekommen,  daß  wir  in  das 
mystische  Wesen  der  Dinge  nie  eindringen  werden."  Das  ist,  wie 
mir  scheint,  volle  Übereinstimmung  mit  dem  Ergebnis  der  Kant- 
schen  Kritik  unseres  Erkenntnisvermögens,  daß  der  Erkenntnis- 
trieb, der  ins  Unendliche  strebt,  sich  dennoch  bescheiden  muß  mit 
der  bewußten  Anerkennung  seiner  Grenzen,  und  zufrieden  sein 
muß,  wenn  er  an  der  Grenze  des  Erkennens  ein  ewig  Unbekanntes 
und  Unerforschliches,  das  Ding  an  sich,  setzen  kann  in  Form  ,,der 
letzten,  aber  auch  notwendigsten  Fiktion:  denn  ohne  diese  An- 
nahme eines  Dinges  an  sich  ist  uns  die  Vorstcllungswclt  un- 
begreiflich" (Vaihingcr,  Philosophie  des  Als  Ob;  1913;  S.  113); 
wenn  er  zu  der  klaren  Erkenntnis  über  das  Verhältnis  zwischen 
Subjekt  und  Objekt  kommt,  daß  ,,im  Ding  an  sich  die  logische 
Funktion  des  diskursiven  Denkens  ihren  Gipfel  erreicht"  (Vai- 
hingcr, ebenda);  wenn  er  sich  mit  Kant  und  Vaihinger  sagen 
kann:  ,,Man  muß  das  wirkliche  Sein  so  betrachten,  als  ob  es  Dinge 
an  sich  gebe,  welche  auf  uns  wirken,  und  dann  die  Vorstellung  der 
Welt  in  uns  hervorbringen."  In  Übereinstimmung  damit  stellt 
sich  E.  Müller  gleich  am  Anfange  seines  Vortrages  (S.  4)  auf  die 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     253 

Annahme:    „daß    es    außerhalb    unseres    Bewußtseins    von    uns 
unabhängige  Gegenstände  und  Ereignisse  gibt,  die  wir  die  Außen- 
welt nennen,  und  daß  die  Welt  ganz  anders  ist,  als  sie  dem  Men- 
schen erscheint,  und  daß  wir  vieles  in  die  Welt  hineinlegen"  — 
also  objektivieren,  —  ,,was  von  unserer  körperlichen  und  geistigen 
Organisation  herstammt."  —  All  unser  Erkennen,  die  Welt  unserer 
Vorstellungen,    ist    ein    Produkt    unserer    Rczeptivität    und    Spon- 
taneität   zugleich.       Je    nachdem    man    den    Nachdruck    auf    die 
Rczeptivität  oder  Spontaneität  legt,  gelangt  man  auf  den  Stand- 
punkt des  Empirismus  oder  des  Ideahsmus.    Aber  die  rechte  Mischung 
beider   ist   wohl   erst   wahre   Philosophie.      Liegt   der   Unterschied 
zwischen  dem  Erfahrungsphilosophen  Ernst  Mach  und  dem  Be- 
gründer des  kritischen    Idealismus,   Kant,   in  etwas  anderem,  als 
daß  der  eine  diese,  der  andere  jene  Seite  des  Erkenntnisvorganges 
nachdrücklicher    betont?       Und    ist    der    Satz    E.Müllers:    ,,Die 
mathematischen   Erkenntnisse  fließen   nicht   aus   einer  besonderen 
geistigen    Quelle,  etwa  Kants  reiner  Anschauung  a  priori"  (S.  7) 
wirkhch  vereinbar  mit  seinem  anderen  Satze  (S.  6):  ,,Man  \\Tirde 
sich  klar  bewußt,  daß  die  Geometrie  nicht  Aussagen  über  wirkliche 
Dinge  der  Außenwelt  macht,  sondern  über  fiktive,  vom  mensch- 
lichen   Geiste  geschaffene,   oder,   wie  man  zutreffender  sagt,   über 
ideahsierte  Dinge."  —  ,,Nur  durch  diese  fiktiven  Annahmen"  — 
der  geometrischen  Objekte  —  ,, erhalten  die   Sätze  der   Geometrie 
ihre  apodiktische  Gewißheit  und  Allgemeingültigkeit."? 

Was  bei  Kant  unter  dem  Namen  einer  Kategorie  oder  eines 
reinen  Verstandesbegriffes  a  priori,  im  Bunde  mit  reiner  An- 
schauung a  priori,  und  bei  Vai hinger  als  Fiktion,  als  fiktives 
Denkmittel,  auftritt,  das  tritt  bei  Müller  unter  dem  Namen  einer 
idealisierten  Erscheinung  auf.  Bei  Kant  liegt  der  Nach- 
druck auf  der  Apriorität  der  logischen  Formen  unserer  Urteile  und 
unserer  logischen  wie  anschaulichen  Verknüpfung  von  Vorstellungen 
zu  Urteilen  und  Gegenständen,  denen  sich  das  durch  die  Smne 
gelieferte  oder  vermittelte  Reale  der  Wahrnehmung  zu  fügen  und 
anzupassen  hat;  bei  Vai  hinger  liegt  der  Nachdruck  auf  dem 
Charakter  der  Fiktionen  als  von  der  Spontaneität  geschaffenen 
und  erdichteten  Hilfsvorstellungen  zum  Zwecke  der  Ermöglichung 
und  Ingangsetzung  („Einfädelung")  eines  fruchtbringenden  ver- 
knüpfenden Denkens,  also  in  dem  methodologischen  Charakter 
und  Wert  gewisser  willkürhch  geschaffener  ,, Vorstellungsgebilde"; 
bei  E.  Müller  hegt  der  Nachdruck  auf  der  Bearbeitung  des  uns 


2CA  Ernst  Tisclier: 

von  außen  Gegebenen  im  Sinne  einer  Uniformicrung  großer  Gruppen 
von  untereinander  nicht  vollständig  übereinstimmenden  Vorstellungen 
oder  Erscheinungen  unter  eine  einheithche  Form,  die  dann  ideali- 
sierte Erscheinung  heißt  und  die  der  Ökonomie  der  Denkarbeit 
zu  dienen  hat.     Wir  nennen  z.  B.  eine  große  Menge  von  Erschei- 
nungen nach  ihrer  räumlichen  Form   Kreise,   obgleich  sie  keine 
genauen  Kreise  sind;  wir  nennen  eine  große  Menge  von  Begren- 
zungen oder  Anordnungen  geradlinig,  obwohl  sie  es  streng  ge- 
nommen doch  nicht  sind.  Die  Technik  behilft  sich  zur  Beherrschung 
und  Erzeugung  der  unübersehbaren  Menge  von  Formen  ihrer  Er- 
zeugnisse   mit    wenigen    Elementarformen;    sie    idealisiert    die    ge- 
gebenen oder  erzeugten  Formen  im  Denken  um  in  Kombinationen 
von  Ebenen,  Zylindern,  Kegeln,  Kugeln  und  anderen  Drehflächen. 
• —  Wo  Kant  bei  der  forschenden  Arbeit  des  Geometers  den  Nach- 
druck auf  die  Konstruktion,  die  Synthese  und  die  Deduktion 
legt,  da  legt  Müller  den  Nachdruck  auf  das  Experiment  und  die 
Induktion.    Wenn  einer  einen  Kreis  und  darin  zwei  Durchmesser 
zieht   und   die   Endpunkte  der   Durchmesser  geradlinig  verbindet, 
und   durch   Vcrgleichung  der  dadurch   entstandenen    Gebilde   mit 
gewissen   bereits   bekannten   geometrischen   Erkenntnissen   zu   der 
Einsicht   kommt,   daß  die   Winkel   des   so   entstandenen   Vierecks 
rechte  sind,  obgleich  sie  nicht  absichtlich  als  solche  konstruiert 
wurden,   so   nennt    Kant  diese   Einsicht   ein   Ergebnis   der   Kon- 
struktion und  des  synthetischen  Denkens,  welches,  insofern  dabei 
logische  Subsumtionen  ausgeführt  werden,  also  das  Vermögen  der 
Urteilskraft,  und  zwar  der  bestimmenden  und  nicht  der  reflek- 
tierenden Urteilskraft  in  Anspruch  genommen  wird,   Deduktion 
heißt.       E.  Müller    dagegen    erscheint    diese    Erkenntnis    als    die 
Frucht  von  Experimenten  an  idealisierten  geometrischen 
Objekten  in  Verbindung  mit  dem  induktiven  Denken.    Wo  nach 
Kant  die  Synthese  von  einem  zu  einem  und  demselben  aus  einer 
Einheit  A  einer  gewissen  Größenart  eine  neue  Größe  B  derselben  Art 
aufbaut  und  die  Größe  dieser  Größe  durch  eine  Zahl  z,  d.  i.  durch 
die  Maßzahl  von  B  in  bezug  auf  A  denkt,  und  wo  das  Experiment 
schließlich  dem  induktiven  Denken  die  Einsicht  in  den  Zusammen- 
hang zwischen  den  Maßzahlen  x,  y,  z,  . . .  verschiedenartiger  Größen 
bei  einem  Naturvorgang  in  Form  einer  Gleichung  /  {x,  y,  z,  .  .  .)  =  0 
erschließt,    da   sagt    E.  Müller    (S.  15):    ,,Man   bemüht   sich,    alle 
Zustände  als  meßbare  Größen  aufzufassen  und  qualitative  Unter- 
schiede auf  quantitative  zurückzuführen.    Man  mißt  verschieden- 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  raenschl.  Erkenntnis.     255 

artige  Größen,  wie  mechanische  Arbeit,  Wärme,  Elektrizitätsmengen, 
elektrische   Spannungen   usw.,   indem  man  den   Erscheinungen  oft 
auf   ziemlich    künstliche    Weisen    Zahlen    zuordnet",    und 
macht  dadurch  die  Anwendung  der   Rechnung,    insbesondere  der 
Infinitesimalrechnung    möglich,    welche    Anwendungen    ,,die    groß- 
artigsten Erfolge  bewirkt  und  das  naturwissenschaftliche  Denken 
umgestaltet"  haben.     Aber  ,,all  diese  wertvollen  Anwendungen  der 
Mathematik  beziehen  sich  nicht  auf  gegebene,  sondern  vom  Men- 
schen künstlich  geänderte  und  gleichzeitig  idealisierte  Verhältnisse". 
Beleuchten  Kant  und  Müller  mit  diesen  und  ähnlichen  Worten 
nicht  eine  und  dieselbe  Sache,  einen  und  denselben  Gedanken  nur 
von  verschiedenen    Seiten  oder  gar   nur    mit    verschiedenfarbigen 
Lichtern?     Und  gesellen  sich  nicht  als  dritte  im  Bunde  dazu  die 
Fiktionen    Vaihingers?        Diese    Fiktionen,    die    keine    Voraus- 
setzungen sind  im  Sinne  von  Hypothesen,  sondern  methodologische 
Hilfsvorstellungen,  Werkzeuge  des  Geistes;  Bergstöcke  des  Geistes, 
^  um  sich  auf  einen  höheren   Standpunkt  der  Einsicht  und   Über- 
sicht hinaufzuarbeiten;  Spaten,  um  in  die  Tiefe  zu  graben;  Fern- 
gläser, um  ein  in  der  Ferne  erscheinendes  Gewirr  von  Vorstellungs- 
gcbilden  in  seine  Einzelheiten  auflösen  und  deutlicher  scheiden  zu 
können }     Je  genialer  ein  Geist  ist,  um  so  erfinderischer  wird  er  in 
der  Schaffung  solcher  Werkzeuge  seines  Geistes  sein,  um  so  bessere 
Fiktionen   wird   er   sich   erdichten.      Das   deutlichste   Beispiel   für 
diesen  Charakter  der  Fiktionen  im  Sinne  Vaihingers  ist  die  In- 
finitesimalgröße, sind  die  Fiktionen,  mit  denen  Leibniz  wie  mit 
einem   Schlage    Probleme   meisterte,    die   vor   ihm   übermenschlich 
schwer  zu  sein  schienen.      Sie  gaben   Leibniz  Engelsflügel  zum 
Durchmessen   des    Reiches    mathematischer    Erkenntnis.       Ebenso 
schuf  Faraday  der  wissenschaftlichen  Forschung  mit  seiner  Fiktion 
der  Kraftlinien  und  Kraftfelder  und  der  Kraftliniendichte 
ein  Mittel,  das  dem  Denken  mit  einem  Schlage  Einheit  und  Klar- 
heit  über  eine   vorher   unübersehbare   und   verworrene    Fülle   von 
Einzelheiten  ermöglichte   und   zugleich   den  leeren  Raum  und  die 
Vorstellung  einer   Wirkung  durch  leeren   Raum,   die  beide  schon 
Leibniz  als  undenkbar  bezeichnet  hatte,  beseitigte. 

Ob  ich  nun  damit  den  Sinn  dessen  treffe,  was  der  Autor  der 
Philosophie  des  Als  Qb  und  der  philosophischen  Bearbeitung  der 
Fiktionen  unter  letzteren  verstanden  wissen  will,  weiß  ich  nicht. 
Aber  um  mir  diesen  Autor  verständlich  zu  machen,  habe  ich  jene 
Fiktion  über  die  Fiktionen  nötig. 


2i;6  Ernst  Tischer* 

E.  Müller  widerlegt  mit  Nachdruck  die,  wie  er  sagt  (S.  7), 
„immer  wieder  auftauchende  Behauptung,  daß  alle  mathematischen 
Erkenntnisse  durch  bloße  logische  Deduktion  aus  den  Axiomen 
folgten",  oder  ,,daß  die  mathematischen  Erkenntnisse  bloß  auf 
Grund  der  logischen  Gesetze  gewonnen  werden"  (S.  9).  Daß 
solche  Behauptung  fast  140  Jahre  nach  dem  Erscheinen  von 
Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft  noch  möghch  ist,  zeigt  die 
Größe  des  Beharrungsvermögens  alter  Vorurteile.  Solchem  Be- 
harrungsvermögen gegenüber  hat  Kant  vergeblich  gezeigt,  daß 
alle  mathematischen  Urteile,  wie  alle  Urteile,  die  eine  Erkenntnis 
aussagen,  synthetisch  sind,  und  daß  aus  bloß  logischer  Deduktion 
keine  neue  Erkenntnis  gewonnen  wird,  wenn  nicht  eine  Synthesis 
anschaulicher  Elemente,  die  den  der  Logik  unterworfenen  Be- 
griffen entsprechen,  nebenher  geht.  Nach  Kant  gibt  es  ja  keinen 
mathematischen  Beweis  aus  bloßen  Begriffen  allein,  sondern  die 
Beweiskraft  liegt  in  den  nebenhergehenden  Konstruktionen  von 
Objekten  der  Anschauung.  Die  Mathernatik  enthält  eben  gerade 
deshalb  Demonstrationen,  weil  sie  ihre  Erkenntnisse  nicht  aus 
Begriffen,  sondern  aus  der  Konstruktion  derselben,  d.  i.  der 
Anschauung,  die  den  Begriffen  entsprechend  a  priori  gegeben  wird, 
ableitet  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  S.  574).  ,,Ein  synthetischer 
Satz  aus  bloßen  Begriffen  ist  ein  Dogma"  und  daher  eine  un- 
beweisbare Behauptung,  ,, dagegen  ein  dergleichen  Satz  durch 
Konstruktion  der  Begriffe  ein  Mathema  (S.  575)",  d.  h.  der  Aus- 
druck einer  beweisbaren  Erkenntnis. 

Daß  die  verborgene  Kunst,  durch  welche  das  schöpferische 
mathematische  Denken  zu  neuen  Erkenntnissen  gelangt  und  das 
mathematische  Wissen  erweitert,  nicht  in  der  bewußten  Anwendung 
der  Vorschriften  der  formalen  Logik  und  ihrer  syllogistischen 
Formeln  besteht,  mit  dieser  Einsicht  befindet  sich  E.  Müller, 
außer  mit  Kant,  auch  in  Übereinstimmung  mit  den  beiden  philo- 
sophischen Denkern  der  nachchristlichen  Zeit,  die  den  Schatz  des 
mathematischen  Wissens  am  meisten  bereichert  und  das  Instrument 
der  mathematischen  Forschung  am  meisten  geschärft  haben:  mit 
Descartes  und  Leibniz.  Descartes  unterläßt  in  seinem  Dis- 
cours de  la  m^thode  nicht,  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Syllogismen 
und  Vorschriften  der  formalen  Logik  wohl  gut  dazu  seien,  anderen 
das  klar  zu  machen  (expliquer),  was  man  selbst  weiß,  sowie  auch 
dazu,  über  Dinge,  von  denen  man  nichts  w^eiß,  urteilslos  zu  reden 
(ä  parier  sans  jugement  des  choses  qu'on  ignore),  nicht  aber  dazu, 


I 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     2^7 

neue  Wahrheiten  zu  finden.  Und  wenn  uns  auch  Leibniz  erzählt 
(Guhraucr:  G.  W.  Leibniz,  Breslau  1846,  S.  9) :  „Sobald  ich  die 
Logik  anfing,  zu  hören,  fand  ich  mich  sehr  gerührt  durch  die  Ver- 
teilung und  Ofdnung  der  Gedanken,  die  ich  wahrnahm.  Ich 
begann  gleich  zu  merken,  daß  ein  Großes  dahinter  stecken  müsse, 
soviel  etwa  ein  Knabe  von  13  Jahren  an  dergleichen  merken  kann;" 
und  wenn  er  dieses  Urteil  über  den  Wert  der  Logik  für  eine  durch- 
sichtige und  klare  Gedankenordnung  auch  bis  in  sein  Alter  be- 
wahrt hat,  so  erkannte  er  nicht  minder  klar  die  Grenze,  wo  die 
Logik  in  der  Form  des  scholastischen  Betriebes  aufhört,  dem 
Erkennen  wertvolle  Dienste  zu  leisten,  ,,Ich  war",  so  erzählt 
er,  ,,in  das  Gebiet  der  Scholastiker  weit  eingedrungen,  als  die 
Mathematik  und  die  neueren  Schriftsteller  (Descartes,  Kepler, 
Galilei)  mich  schon  in  früher  Jugend  davon  abzogen.  Deren 
schöne  Weise,  die  Natur  zu  erklären,  entzückte  mich,  und  ich  ver- 
achtete nun  das  Verfahren  jener,  welche  nur  Formen  aufstellen, 
aus  denen  man  nichts  lernt."  — 

Gleichwohl  wird  man  die  beiden  großen  Bereicherungen  der 
mathematischen  Erkenntnismethoden  durch  Descartes  und  Leib- 
niz, die  Koordinatengeometrie  und  die  Infinitesimalrechnung,  als 
Erzeugnis  der  beiden  Denkern  immanenten  logischen  Kraft  oder 
Energie  bewerten  müssen,  der  lebendigen  logischen  Kraft,  die 
unbewußt  von  innen  nach  außen  treibt,  nicht  aber  der  erst  nach- 
träghch  aus  den  Schöpfungen  des  lebendigen  logischen  Triebes 
abstrahierten  und  darum  toten  logischen  Formen,  so  wenig,  wie  die 
Kenntnis  der  aus  der  vorhandenen  lebendigen  Sprache  abstrahierten 
grammatischen  Regeln  allein  schon  dazu  befähigt,  einen  guten  Stil 
zu  schreiben,  oder  so  wenig,  wie  die  Zerlegung  eines  Gedichtes, 
wie  es  im  Schulunterricht  geschieht,  allein  schon  die  Gabe  zu 
dichterischem  Schaffen  verleiht.  —  Weil  es  unmöglich  ist,  daß 
das  Ich  sich  selbst  restlos  objektiviere,  ist  uns  auch  der  Einblick 
in  das  geheimste  Getriebe  in  der  Werkstatt  des  schöpferischen 
logischen  Denkens  verschlossen.  Wir  müssen  uns  mit  Ahnungen, 
Gleichnissen,  Analogien  behelfen.  So  z.  B.,  wenn  wir  fragen:  Was 
ist  Leben?  Und  antworten:  Leben  ist  zweckmäßig  gestaltende 
Kraft.  Mit  solchen  Umschreibungen  stillen  wir  vorübergehend 
unser  Verlangen  nach  tieferem  Einblick  in  das  Wesen  der  Dinge, 
des  Geschehens,  des  Tuns  und  des  Denkens.  Und  bei  glücklicher 
Wahl  der  Analogien  und  Gleichnisse  kommen  wir  wohl  auch  dieser 
Einsicht  näher  und  näher.    Dieses  zu  erstreben,  das  ist  doch  wohl 

Annalen  der  Philosophie.    1.  ^7 


258 


Ernst  Tischer: 


die  Aufgabe,  die  sich  Vaihingcr  in  seiner  Philosophie  des  Als  Ob 
und  in  seiner  Theorie  der  Fiktionen  stellt.  Er  sieht  in  dem 
logischen  Denken  mit  anderen  Forschern  „eine  organisch  zweck- 
mäßige Verarbeitung  des  Empfindungsmaterials",  ,,eine  organische 
Funktion  der  Psyche".  Die  Psyche  ist  ihm  ,,eine  organische 
Gestaltungskraft",  welche  das  von  außen  auf  sie  Wirkende 
,, zweckmäßig  verändert  zu  dem  doppelten  Zwecke:  i.  das  Fremde 
sich  anzupassen,  2.  sich  selbst  allem  Fremden  und  Neuen  an- 
zupassen". Zu  diesem  Zwecke  ,, umspinnt  die  Psyche  das  Wahr- 
genommene mit  ihren  aus  ihr  selbst  heraus  entwickelten  Kate- 
gorien" (Vaihinger,   S.  3). 

Kehren   wir   zurück   zu   der   auch    von    E.  Müller   gestellten 
Frage,  welchen  Anteil  die  Logik,  insbesondere  die  Deduktion  an 
den    Entdeckungen    neuer    mathematischer    Erkenntnisse    hat,    so 
muß  uns   in   obigem   Zitat  von   Leibniz  gerade  die    Gegenüber- 
stellung von  scholastischer  Logik  und  Mathematik  als  zweier  Gegen- 
sätze auffallen.    Die  Mathematik  war  es,  die  ihn  von  der  Scholastik 
abzog.      Also   kann   es   nicht   die   logische    Beweisführung   mathe- 
matischer Wahrheiten  nach  den  Vorschriften  der  logischen  Syllo- 
gistik  gewesen  sein,  die  ihm  die  Mathematik  wert  machte  und  ihn 
zu  seinen   Forschungen  und   Entdeckungen  darin  leitete  und  be- 
geisterte, sondern  etwas  anderes,  was  unabhängig  von  der  logischen 
Deduktion   ein   wesentliches    Element   der   Mathematik   ausmacht. 
Und   Descartes   unterscheidet   das   Verfahren  der  geometrischen 
und  der  algebraischen  Analyse  scharf  voneinander  und  von  dem 
Verfahren   der   Logik,    und   kommt   nach   ihrer   gegenseitigen   Ab- 
wägung  zu   dem   Entschluß,   eine  andere,   eine   neue   Methode   zu 
suchen,  welche  alle  Vorteile  jener  drei  enthalte,  aber  frei  von 
ihren   Fehlern  sei.      Was   Descartes   vor   anderen  auszeichnet, 
ist    also    das,    daß    er    weder    einseitig    nur    Philosoph,    noch    nur 
Mathematiker  war;  daß  er  sich  nicht  einseitig  einschränkt,  sondern 
auf  das   Ganze  geht  und  sieht.     Logik  allein  ist  ihm  zu  leer; 
Geometrie  allein,  nach  der  Methode  der  Alten,  bindet  den  Geist 
zu  einseitig  an  die  Betrachtung  der  Figuren,  ermüdet  dadurch  die 
,,imagination"   und   übt   das   eigentliche   Denken,   den    Geist,   den 
Verstand    (rcntendcmcnt)    zu    wenig.       Die    algebraische    Analysis 
allein  ist  ihm  zu  abstrakt.     Aber  indem  er  aus  jeder  dieser  drei 
Disziplinen  nur  das  Beste  herausnimmt  und  die  Mängel  der  einen 
durch  das   Gute  der  anderen  ausgleicht,  schafft  er  sich  seine  neue 
Methode.      Der   Geometrie  entnimmt  er  die  einfachsten  anschau- 


Die  mathemalischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl,  Erkenntnis.     25Q 

liehen  Elemente,  die  einfachsten  anschauhchen  Denkeinheiten, 
nämlich  die  Strecken,  a  cause  ijue  je  ne  trouvais  rien  de  plus 
simple  ni  que  je  pusse  plus  distinctement  reprcsenter  ä  mon 
imagination  et  ä  mes  sens.  Der  Algebra  entnimmt  er  die  Zahl  als 
die  Denkform  der  ratio  zweier  gleichartigen  Größen,  also  auch 
zweier  Strecken,  sowie  die  Gleichung  als  die  einfachste  und  doch 
zugleich  fruchtbarste  und  geschmeidigste  Denkform  der  gegen- 
seitigen Abhängigkeit  veränderlicher  Werte;  der  Logik  entnimmt 
er  die  Begründung  des  rechnerischen  Verfahrens  —  denn  alles 
Rechnen  ist  logische  Deduktion,  ist  angewandte  Logik. 

Was  in  der  Sprache  der  formalen  Logik  eine  unmittelbare 
Folgerung  heißt,  das  ist  in  der  Sprache  der  Algebra  die  Um- 
formung einer  Gleichung.  Was  in  der  Sprache  der  Logik  ein 
Schluß  heißt,  das  ist  im  mathematischen  Rechnen  die  Ableitung 
einer  neuen  Gleichung  aus  zwei  gegebenen  Gleichungen  durch 
Elimination  einer  jenen  beiden  Gleichungen  gemeinsamen  Größe. 
Wenn  nach  Kant  die  mathematischen  Erkenntnisse  das  Er- 
gebnis einer  Synthesis  von  Elementen  der  reinen  Anschauung 
gemäß  solcher  Begriffe  sind,  die  durch  freie  Konstruktion  an- 
schaulich dargestellt  werden  können,  so  haben  wir  in  der  Schöpfung 
der  kartesianischen  Geometrie  eines  der  bewundernswertesten  Bei- 
spiele dieses  schöpferischen  synthetischen  Denkens  vor  uns. 

Das  gesamte   Denkverfahren  der  sogenannten   ,, analytischen" 
Geometrie,  das  Umgießen  von  Gebilden  der  räumlichen  Anschauung 
mit  Hilfe  von  Elementareinheiten  und  Zahlen  in  Gleichungen,  die 
Ableitung   neuer    Gleichungen   aus   gegebenen   und   schließlich   die 
Rückdeutung  der  neuen    Gleichungen  in   Objekte  der  räumlichen 
Anschauung  und  ihrer  Beziehungen  zueinander,  also  die  Schöpfung 
neuer   geometrischer    Erkenntnisse    und    Einsichten    aus    alge- 
braischen   Verkettungen    ist    ein    verwickelt    durcheinander    ge- 
schlungenes   Geflecht    von    Analysis    und    Synthese    im    Sinne 
Kants,  viel  mehr  aber  Synthese  und  Konstruktion,  als  Analysis. 
Erst  durch  das  synthetische  und  konstruktive  Moment  wird  dieses 
Verfahren   schöpferisch,    wozu   freilich   umgekehrt   die   Analysis 
nicht   entbehrt   werden   kann.      Analyse   und    Synthese  sind   Ab- 
straktionen; sie  können  einzeln,  isoliert,  gar  nicht  bestehen,  sondern 
setzen  einander  voraus;  sie  sind  nur  die  fiktiven  oder  abstrakten 
Teile  eines  an  sich  unteilbaren  organischen  Ganzen,  einer  organi- 
schen   Zwecktätigkeit.       Der    Name    ,, analytische"    Geometrie    ist 
unzutreffend  und  irreführend.     Eine  bloß  analytische   Geometrie 

17* 


200  Ernst  Tischer: 

kann   es   ebensowenig   geben,    wie   eine   bloß   synthetische.      Wir 
haben  da  einen  verworrenen  Gebrauch  der  Sprache  vor  uns. 

In  diesen  von  Descartes  vorgezeichneten  Bahnen  arbeitete 
Leibniz  weiter.  Auch  er  ging  auf  das  Ganze  und  hütete  sich 
vor  Einseitigkeit.  Auch  er  verschmolz  geometrische  Anschauung, 
allgemeine  Arithmetik  und  Logik  zu  einem  einheitlichen  Verfahren. 
Die  algebraischen  Zeichen  werden  sichtbare  Vertreter  allgemeiner 
Begriffe,  die  algebraischen  Rechnungsoperationen  treten  an  Stelle 
der  logischen  Wort-  und  Satzgefüge  beim  Schließen  und  Dedu- 
zieren, die  Einbildungskraft  wird  von  der  Nötigung,  eine  Fülle 
von  durcheinander  geflochtenen  Objekten  der  Anschauung  im  Be- 
wußtsein frisch  zu  erhalten  und  eben  dadurch  zu  schnell  zu 
ermüden,  befreit.  Er  sagte  sich,  ,,Instrumentum  inventionis 
humanae  generale  esse  characteros  aptos;  mens  enim  filo  quasi 
quodam  sensibili  regenda  est,  ne  vagetur  in  labyrintho,  et  cum 
multa  simul  complecti  distincte  nequeat,  adhibitis  signis 
pro  rebus,  imaginationi  parcit  (Leibnizens  mathematische  Schriften, 
VII,  17).  Indem  sich  Leibniz  die  Fiktion  der  unendlich  kleinen 
Größen  schuf  und  indem  er  das  ,, Gedankenexperiment"  wagte, 
unendhch  kleine  Größen  aneinander  zu  messen,  und  die  Verhält- 
nisse unendlich  kleiner  Größen  zueinander  ebenso  durch  das  Denk- 
mittel der  Zahlen  festzulegen  und  auszudrücken,  wie  seither  die 
Verhältnisse  gleichartiger  endlicher  Größen  zueinander  in  Form 
von  Zahlen  gedacht  worden  waren,  gelang  ihm  die  folgenreichste 
Erfindung  im  Gebiete  mathematischer  Erfindungs-  und  Erkenntnis- 
mittel, die  je  gemacht  Werden  konnte,  gelang  ihm  seine  neue  Ars 
inveniendi.  Aber  sowohl  jene  fiktiven  Vorstellungsgebilde  unendlich 
kleiner  Größen,  wie  sein  Experiment,  mit  ihnen  zu  rechnen,  waren 
nicht  nur  ,, zufällige  Ansichten",  sondern  wurden  mit  innerer  Not- 
wendigkeit hervorgetrieben  aus  seinem  in  der  reinen  Anschauung 
a  priori  wurzelnden  Kontinuitätsgesetz,  von  dem  sein  ganzes  Denken 
getragen  war. 

Neben  der  Betonung  und  Wertung  der  Fiktivität  der  mathe- 
matischen Objekte,  oder,  wie  er  vorzieht  zu  sagen,  der  Ideali- 
sierungen der  mathematischen  Formen,  und  neben  dem  Hinweis 
darauf,  daß  H.  Vaihinger  in  seiner  so  beachtenswerten  ,, Philo- 
sophie des  Als  Ob"  (S.  13)  zeigt,  daß  unser  ganzes  Denken  von 
Fiktionen  beherrscht  wird,  macht  E.  Müller  besonders  eindringlich 
darauf  aufmerksam,  daß  der  Fortschritt  in  aller  Erkenntnis  auf  dem 
Experimente  beruht,  und  daß  auch  das  Denkverfahren,  das  in 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     26 1 

der    reinen    Mathematik    zu    neuen    Entdeckungen    führt,    in    Ge- 
dankenexperimenten besteht. 

Die  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung  durch  Leibniz  bildet 
hierzu  in  der  Tat  einen  der  besten  Belege. 

Sofern   das   logische    Schließen   zu   Erkenntnissen,    also,    nach 
Kants    Sprechweise,   zu  synthetischen   Urteilen   führt,    und   nicht 
bloß  zu   Selbstverständlichkeiten   und   ,, Binsenwahrheiten",   ist  es 
nach  E.  Müller  ein  Experimentieren  mit   Gedanken,  ist  es 
die    Durchführung    von    Gedankenexperimenten    mit    bestimmten 
Klassen  von  Dingen  (S.  12).     In  der  Geometrie  ist  das  Schließen 
die     Durchführung     von     Gedankenexperimenten     mit     fiktiven 
Dingen   (S.  lO).      Ein  mathematischer  Beweis  besteht  darin,  daß 
man    für    eine  behauptete   ,, Tatsache    eine    lückenlose   Kette  von 
Gedankenexperimenten    angibt,    durch    die    der    Leser    zur    An- 
erkennung der  Richtigkeit  gezwungen  wird"  (S.  II).     Hinsichtlich 
seines  Zweckes  besteht  das  Schließen  darin,  ,, Beziehungen  zwischen 
den    wirklichen    Dingen    aus    ihren    geistigen    Bildern    zu    finden" 
(S.  8).      Dem   liegt   also   eine   metaphysische   Annahme   zugrunde, 
nämlich  die  Annahme,  ,,daß  die  Dinge  und  Vorgänge  der  Außen- 
welt auf  unsere  Vorstellungen  abgebildet  sind",  d.h.  ,,daß  eine 
mehr  oder  weniger  eindeutige  Zuordnung  zwischen  dem  einen  und 
anderen  Gebiete  besteht"  (S.  8),  eine  metaphysische  Voraussetzung, 
die  an  Leibniz  erinnert,  wenn  dieser  sagt  (Monadologie  78):  ,,Das 
Seelische  folgt  seinen  eigenen    Gesetzen   und  ebenso  das   Körper- 
liche den  seinigen.    Aber  beide  begegnen  sich  vermöge  der  zwischen 
allen  Substanzen  vorher  bestimmten  Harmonie,   weil  sie  sämtlich 
Darstellungen  desselben  einen  Universums  sind."     So  gut  stimmen 
metaphysische    Hypothesen    moderner    Erfahrungsphilosophen    mit 
denen  fast  vergessener  Idealisten  früherer  Jahrhunderte  zusammen  1 
Der   ansprechende    Gedanke    der    Subsumtion    des    mathema- 
tischen  Denkens   und   selbst   des   logischen    Schließens   unter  den 
Oberbegriff   des    Experiments    bei    E.  Müller    veranlaßt    uns,    zu 
fragen,  was  denn  Experimentieren  eigentlich  sei?     Beim  Experi- 
mentieren setzt  man  irgendwelche  willkürlichen  Bedingungen  und 
wartet  die  Folgen  ab.     Man  gibt  gewissen   Größen  oder  Verhält- 
nissen von  Größen  oder  Zuständen  willkürlicherweise  gewisse  Werte 
und  wartet  ab,  welche  Werte  gewisse  andere  Größen  oder  Verhält- 
nisse von   Größen  oder  Zuständen,  die  von  jenen  abhängig  sind, 
darauf  folgen.     Wer  oder  was  aber  treibt  aus  den  von  mir  will- 
kürlich   gesetzten    Bedingungen    die    Folgen    hervor?       Entweder 


252  Ernst  Tischer: 

eine  mir  verborgene  Ursache,  die  ich  eben  durch  das  Experiment 
zu  entschleiern  oder  doch  näher  zu  umschreiben  beabsichtige.  Das 
ist  der  Fall  bei  dem  physikalischen,  chemischen  und  physiologischen 
Experiment.  Oder  die  Folge  wird  aus  der  Bedingung  hervor- 
getricbcn  durch  die  logische  Funktion  meines  Denkens.  Das  ist 
der  Fall  beim  logischen  Schließen,  beim  Spekulieren  aller  Art,  bei 
aller  Dialektik  und  beim  mathematischen  Rechnen.  Aus  mehreren 
Urteilen  mit  zum  Teil  gemeinsamen  Begriffen  wird  durch  die 
Elimination  gemeinsamer  Begriffe  eine  vorher  nicht  klar  apper- 
zipierbare  Abhängigkeit  oder  Beziehung  zwischen  den  übrigen 
Begriffen  der  Prämissen  als  Folge  der  Bedingungen  erkannt, 
d.  h.  zu  deutlicher  Apperzeption  erhoben.  —  So  gewinnt  z.  B.  das 
Denken  aus  den  beiden  Urteilen: 

1.  Die  Geschwindigkeitsänderung  eines  Körpers  von  der  Masse 
m,  auf  welche  eine  konstante  Kraft  k  in  konstanter  Richtung  ein- 
wirkt, ist  proportional  der  Zeitdauer  t  der  Einwirkung,  proportional 
der  Kraftstärke,  und  umgekehrt  proportional  der  Größe  der  Masse; 

2.  der  während  der  Einwirkung  vom  Körper  durchlaufene 
Weg  s  ist  ebenso  groß,  als  ob  der  Körper  sich  ohne  Krafteinwirkung, 
also  mit  unveränderter  Geschwindigkeit  bewegte,  nämlich  mit  der 
mittleren  Geschwindigkeit  aus  der  Anfangs-  und  Endgeschwindig- 
keit, den  neuen  Satz: 

3.  die  dabei  von  der  Kraft  geleistete  Arbeit  ist  gleich  dem 
Gewinn  der  Masse  des  Körpers  an  kinetischer  Energie. 

Freilich  dürfte  es  der  logischen  Funktion  bei  bloßem  Ge- 
brauch der  Wortsprache  schwer  werden,  diese  Leistung  zu  voll- 
bringen, aus  den  Sätzen  (i)  und  (2)  den  Satz  (3)  herauszuziehen. 
Aber  mit  dem  Werkzeug  der  mathematischen  Zeichensprache  voll- 
zieht das  Denken  diesen  Schluß  leicht  zunächst  durch  eine  einfache 
Rechnung.  An  Stelle  der  Sätze  (i)  und  (2)  treten  bei  geeigneter 
Wahl  der  Größeneinheiten  die   Gleichungen: 

i)  v-v^  =  —  •  ^;     2)  .y  =  y  (z;  +  v^) '  t. 

Die  Elimination  von  /  liefert  eine  neue  Gleichung,  die  kraft 
der  logischen  Operationen  des  algebraischen  Rechnens  in  die  Form 

^)  —  niv^ mvJ'  =  k'  s 

gebracht  werden  kann,  welche  Gleichung  dann  von  dem  schöp- 
ferischen synthetischen  Denken  als  die  im  Satz  (3)  formulierte 
neue  Erkenntnis  gedeutet  wird,  d.  h.  aus  welcher  Gleichung  dann 
dem    Auge   des   schöpferischen   synthetischen    Denkens   das    Licht 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     263 

einer    neuen    und    folgenreichen    Erkenntnis    entgcgcnstrahlt,    der 
Erkenntnis,  die  ihrerseits  die  wichtigste  Etappc  ist  auf  dem  Wege 
zur  Erkenntnis  des  Prinzips  der  Erhaltung  der  Energie.  —  Endlich 
kann   die    Folge   willkürlich   gesetzter   Bedingungen   auch   bewirkt 
werden  durch  die  Eigenart  meiner  Raumanschauung;  das  ist  der 
Fall  beim  geometrischen   Konstruieren.      Ziehe  ich  z.  B.  in  einer 
Ebene  zwei  gerade  Linien,  so  ist  die  Folge  entweder  ein  Schnitt- 
punkt und  vier  Winkel;  oder  kein  Schnittpunkt  und  drei  bestimmt 
geformte,   nämlich  parallel  laufende  Teile  der  Ebene.      Daß  wir 
aber  fragen:  W^as  treibt  die  Folge  aus  einer  Bedingung  hervor?, 
das    befiehlt  der   Satz  vom   zureichenden    Grunde,    der  all   unser 
Denken  beherrscht.    Und  das  von  uns  zwischen  zwei  sich  folgende 
Zustände    oder    Vorstellungen    gesetzte    Dritte    nennen    wir    den 
Grund   davon,    daß   die   eine    Vorstellung   auf   die   andere   folgt. 
Dieser  Grund  heißt  nun  in  dem  ersten  der  drei  obigen  Fälle  die 
Ursache,  oder  der  Kausalnexus,  oder  Grund  des  Werdens  oder  Ge- 
schehens,  oder  Principium  rationis  sufficientis  fiendi;   im  zweiten 
Falle  der  Erkenntnisgrund  oder  logische  Grund,  Principium  rationis 
sufficientis    cognoscendi;    im   dritten    Falle,    nach   der    Schopen- 
hauerschen    Terminologie,    der    (metaphysische)    Seinsgrund    der 
reinen  Anschauung  (nach  Kant  müßte  er  wohl  der  transzendentale 
Seinsgrund  heißen),  das  Principium  rationis  sufficientis  essendi. 

Aber  nur  das  Ergebnis  der  ersten  Art  von  Experimenten  nennt 
man  eine  empirische  Wahrheit,  das  der  zweiten  eine  logische 
Wahrheit,  das  der  dritten  eine  unmittelbare,  unabweisbare  Be\Mißt- 
seinstatsache  unserer  Raumanschauung,  eine  unmittelbar  anschau- 
liche Wahrheit,  vor  der  wir  wohl  staunend  und  in  Verwunderung 
fragend  stehen  bleiben,  für  die  wir  aber  keine  Erklärung,  keinen 
weiter  zurückliegenden  Grund  angeben  können,  wenn  wir  nicht 
Transzendentalphilosophie  oder  gar  transzendente  Philosophie  treiben 

wollen. 

Aber  nicht  bloß  die  anschauliche  Seins  Wahrheit,  auch  die 
empirische  Wahrheit,  das  Ergebnis  der  ersten  Art  des  Ex- 
perimentes, führt  auf  transzendentale  Fragen.  Die  empirische 
Wahrheit  gibt  uns  keine  Erkenntnis  der  Ursache.  Nicht  in  das 
Wesen  des  problematischen  Etwas,  das  die  Folge  aus  der  Be- 
dingung hervortreibt,  erhalten  wir  durch  das  Experiment  Einsicht, 
sondern  nur  eine  gewisse  Einsicht  in  den  Verlauf  ihrer  Wirkung. 
Wir  erhalten  überhaupt  keine  Erkenntnis,  sondern  bloß  Kennt- 
nis, nämlich   Kenntnis  von  einer  gewissen  konstanten  Beziehung 


26a  Ernst  Tischer: 

zwischen  den  Bedingungen  und  den  Folgen;  welche  Beziehung, 
wenn  wir  sowohl  die  Bedingungen  wie  die  Folgen  als  Größen 
denken  und  durch  Zahlen  ausdrücken  können,  uns  am  deutlichsten, 
fruchtbarsten  und  ergiebigsten  ist,  wenn  sie  in  Form  einer  Gleichung 
zwischen  diesen  Zahlen  gedacht  werden  kann.  Die  Art  des 
fingierten  Kausalnexus  wird  durch  die  Gleichung  umschrieben. 
Die  Ursache  selbst  zieht  sich  beständig  hinter  alle  Erfahrung 
zurück;  weicht  aller  Erfahrung  aus  und  hält  sich  auch  gegen  alle 
Angriffe  der  ,, Vernunft"  gedeckt.  Trotzdem  läßt  unser  Denken 
von  der  Fiktion  einer  Ursache  nicht  los.  Warum  nicht  ?  Das  eben 
ist  eine  transzendentale  Frage,  die  durch  keine  Erfahrung  und 
durch  kein  Experiment  beantwortet  werden  kann. 

Es  hat  nun  jeder  die  Freiheit,  die  willkürliche  Setzung  von 
Bedingungen  und  das  darauffolgende  Abwarten  der  Folgen  im 
allgemeinen  Experimentieren  zu  nennen.  Er  hat  aber  auch 
die  Freiheit,  den  Begriff  des  Experimentes  auf  den  ersten  der  oben 
genannten  drei  Fälle  einzuschränken,  das  zweite  Verfahren  aber 
Denken,  Deduzieren,  Folgern,  Rechnen  oder  Schließen,  das  dritte 
endlich  Konstruieren  zu  nennen,  und  nur  im  Sinne  einer  Analogie 
oder  eines  Gleichnisses  mit  Experimentieren  zu  bezeichnen.  Das 
unterliegt  keinen  zwingenden  Gesetzen,  sondern  ist  freie  Sache 
des  Geschmacks. 

Man  kann  aber  auch  hier  wieder  bemerken,  daß  unser  ab- 
strahierendes Denken  uns  zu  Verdinglichungen  von  bloßen  Ab- 
straktionen verführt.  Das  Experimentieren  im  engeren  Sinne,  das 
bloße  Abwarten  der  Folgen  allein  bei  vorausgegangener  Setzung 
gewisser  äußerer  Tatsachen  als  Bedingungen  führt  zu  keiner 
Erkenntnis.  Diese  ist  immer  erst  der  Abschluß  eines  synthetischen 
Denkaktes,  und,  wie  mir  scheinen  will,  ist  dieser  Akt  ohne  bewußte 
oder  unbewußte  Mitwirkung  von  Fiktionen,  von  hinzugedachten 
Verallgemeinerungen,  d.  h.  schließlich  soviel  wie  ohne  apriorische 
Elemente  und  Zutaten,  ohne  Kategorien,  gar  nicht  möglich.  Ex- 
perimentieren setzt  Intelligenz  voraus,  d.  h.  die  Fähigkeit  der 
Ausdeutung  und  Verknüpfung  der  durch  das  bloße  Experiment 
erster  Art  gegebenen  Tatsachen  zu  neuen  Denkeinheiten.  Experi- 
mentieren ist  also  wieder  ein  organisches  Ganze,  eine  organische 
Zwecktätigkeit,  die  mit  der  Registrierung  und  Aufzählung  sinn- 
licher Wahrnehmung  nicht  erschöpft  ist,  und  die  das  Denken  in 
seiner  analytischen  wie  in  seiner  synthetischen  Funktion  in  An- 
spruch nimmt.     Es  gibt  keinen  Empirismus  ohne  stillschweigende 


Die  mathematischen  Fiktionen  u,  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     265 

Mitwirkung  des  rationellen  Denkens,  und  es  gibt  keinen  Rationalis- 
mus ohne  stillschweigende  Mitwirkung  des  Empirismus.  Beide 
arbeiten  ineinander  und  miteinander.  Keiner  von  beiden  kann 
aus  sich  allein  leben;  beide  können  nur  in  der  Abstraktion  isoliert 
voneinander  gedacht  werden.  Keiner  kann  ohne  die  Hilfe  von 
Fiktionen  einen  Schritt  vorwärts  tun. 

Halten  wir  uns  an  ein  Beispiel.  Galileis  Fall  versuche  auf 
der  schiefen  Ebene  liefern  zu  einer  abgemessenen  Reihe  von  Zeit- 
längen ti  t2  t^  .  .  .  .  eine  zugeordnete  Reihe  von  Wegelängen  5^  ^2  ^"3  .  .  . 
Schon  diese  Maßzahlen  i  und  5  und  die  ihnen  entsprechenden 
Größen  sind  ohne  die  Funktion  des  synthetischen  Denkens  — 
eben  nicht  denkbar.  Nun  bemächtigt  sich  die  reflektierende  Urteils- 
kraft dieser  Zahlenreihen  s  und  t  und  fingiert  dabei,  daß  jedes  t 
und  sein  zugeordnetes  s  einer  festen  Beziehung  oder  einer  und 
derselben  Gleichung  genügen.  Von  dieser  Fiktion  getragen,  wird 
sie  zu  Versuchen  (Experimenten)  mit  diesen  Zahlen  geführt.  Das 
Experiment  s/t^  =  }  ergibt  für  s/t^  nahezu  eine  und  dieselbe  Zahl. 
Das  induktive  Denken  macht  aus  dem  empirischen  ,, nahezu" 
sofort  ein  ,, vollkommen  genau",  und  verallgemeinert  auch  die 
Gültigkeit  der  Gleichung  s/t^  =  konstant,  oder  s  =  y  •  t^,  wo  y 
konstant,  für  gar  nicht  gemessene  t  und  s.  Die  Neigung  der 
schiefen  Ebene  und  das  Gewicht  der  bewegten  Kugel  werden  ge- 
ändert. Die  Zahl  s/t^  zeigt  sich  durch  das  Experiment  von  der 
Neigung  abhängig,  vom  Gewicht  der  Kugel  aber  unabhängig.  So 
findet  das  Denken  mit  Hilfe  des  Experimentes  aus  Messungen  und 
Rechnungen  ein  ,, ehernes"  Naturgesetz  in  Form  einer  bestimmten 
Geleichung  zwischen  einer  veränderlichen  Streckenmaßzahl,  einer 
veränderlichen  Zeitmaßzahl  und  einer  nach  Belieben  konstanten 
oder  veränderlichen  Zahl,  durch  welche  die  Neigung  der  schiefen 
•Ebene  bestimmt  wird.  Ist  z.  B.  v  der  Neigungswinkel  der  schiefen 
Ebene  gegen  die  Horizontebene,  so  lautet  die  Gleichung^:  (<^.sini/)  = 
konstant  bei  aller  Veränderung  von  v,  t  und  s,  d.  h.  bei  beliebig 
gewähltem  t  und  v;  aber  nicht  bei  beliebigem  Experimentalort  auf 
der  Erde  oder  im  Räume.  Diese  ,, empirische  Wahrheit" 
5:(i2sini/)  =  konstant,  die  ich  aber  nur  für  eine  verhältnismäßig 
kleine  Anzahl  von  Werten  für  t,  v  und  s  empirisch  erprobt  habe, 
trotzdem  aber  für  den  unendlich  großen  Rest  von  möglichen 
Werten  für  t  und  v  als  gültig  annehme,  gibt  mir  keine  Einsicht  in 
das  Wesen  der  Ursache  der  Bewegung,  der  wirkenden  Kraft,  die  ich 
ll   in    Übertragung    der    inneren    Erfahrung    meines    eigenen    un- 


256  Ernst  Tischer: 

geteilten  Ich  auf  Dinge  außer  mir  fingiere,  indem  ich  nach 
Analogie  schließe,  daß  da,  wo  nicht  ich  selbst  etwas  bewege,  es 
ein  anderes  Ich,  ein  anderes  mit  einem  Substantivum  zu  be- 
nennendes einheitliches  Etwas  sein  muß,  das  die  Bewegung  unter- 
hält. Als  solche  Ursache  oder  wirkende  Kraft  fingiere  ich,  wieder 
infolge  von  Analogie  und  Übertragung  innerer  Erfahrung  auf 
Dinge  außer  mir,  den  von  meinem  Muskelsinn  als  real  empfundenen 
Druck  auf  meine  Hand,  wenn  ich  mit  der  Hand  die  Bewegung 
hindere.  Ich  schätze  a  priori  die  Größe  der  treibenden  Ursache 
nach  der  Größe  dieses  Druckes  und  ich  erwarte,  daß  mit  diesem 
Druck  auch  die  Zahl  s:{t'.sinv)  wachse.  Das  wird  von  vornherein 
mit  solcher  Sicherheit  erwartet,  daß  man  es  gar  nicht  für  nötig 
erachtet,  über  das  wirkliche  Eintreffen  der  Erwartung  das  Experi- 
ment zu  fragen.  Je  schwerer  ein  Körper  ist,  um  so  geschwinder 
fällt  er.  Das  war  seit  Aristoteles  bis  zu  Galilei  eine  selbstverständ« 
liehe  Wahrheit  a  priori.  Was  war  es  nun,  das  Galilei  an  dieser 
Wahrheit  zweifeln  Heß?  Sollten  es  nicht  rationale  Erwägungen 
in  Anknüpfung  an  gewisse  Beobachtungstatsachen  gewesen  sein, 
die  diesen  Zweifel  in  ihm  weckten  und  erst  hinterher  zu  dem  Zwecke 
der  Überzeugung  seiner  Mitmenschen  das  Experiment  ausführen 
ließen,  das  seine  Zweifel  als  begründet  bestätigen  sollte?  Wahr- 
scheinlich würde  uns  Gralilei  hierauf  selbst  nicht  antworten  können, 
wenn  er  noch  lebte.  Die  Psyche  wirkt  in  ihrer  logischen  Funktion 
geheimnisvoll,  auch  im  Unbewußten.  Genug,  das  Experiment 
widerlegt  jene  vermeintlich  selbstverständhche  Wahrheit,  erweist 
sie  als  einen  Irrtum,  als  ein  Vorurteil  des  wissenschaftlichen  oder 
philosophischen  Denkens  von  Jahrtausenden.  Einerlei,  ob  ich  den 
durch  sein  Eigengewicht  getriebenen  Körper  schwer  oder  leicht 
wähle,  die  Zahl  s:(/^.  sin  ;■)  bleibt  unverändert.  Große  Verlegenheit 
des  Geistes !  Aristoteles  hat  doch  nicht  irren  können !  ?  Aber  Tat- 
sache ist  Tatsache!  Jetzt  heißt  es,  die  Jahrtausende  alten  falschen 
Gedanken  an  die  neue  Tatsache  5  :(f  2. sin  1»)  =  konstant  anzupassen  I 
Dieses  Anpassungsbestreben  der  Psyche  trieb  aus  dem  Denken 
den  Begriff  oder  die  Fiktion  der  Masse  in  ihrer  wissenschaftlichen 
Bedeutung,  und  die  Fiktion  des  Bcharrungsprinzips  hervor. 
Aber  logische  Analyse  und  schöpferische  Synthese  im  Bunde  mit 
der  Fiktion  unendlich  kleiner  Zeiten  und  Wege  verhalfen  zu  den 
Begriffen  exakt  definierbarer  und  aneinander  meßbarer  Geschwindig- 
keiten und  Beschleunigungen  und  ergaben  als  eine  rationale 
Folge,  nicht  als  eine  Folge  erneuter  empirischer  Wahrnehmung, 


Die  mathemalischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     267 

aus  der  empirischen  Wahrheit  s=yl^,  wo  y  bei  unverändertem  v 
eine  konstante  Zahl  ist,  die  Erkenntnis,  daß  die  Geschwindig- 
keit des  bewegten  Körpers  proportional  der  Zeit  wächst.  In  der 
Sprache  von  Leibniz  ergibt  sich  dieser  Schluß  auf  dem  aller- 
kürzesten Wege.  Denn  aus  s  =  y  •  t^  folgt  ds/dt  =  ^  y  •  t,  d.  h. 
y  /  =  konstant,  wenn  v  die  Geschwindigkeitsmaßzahl  am  End- 
punkt der  Zeit  t  bezeichnet.  Galilei  fand  den  Weg  zu  diesem 
Schlüsse  noch  nicht  so  glatt  geebnet.  Er  mußte  sich  diesen  Weg 
erst  durch  geniale  Zwischenstationen  und  Analogien  bahnen.  Aber 
er  fand  auf  seine  Weise  aus  der  empirischen  Wahrheit  s  =y  •  t^ 
durch  logische  Deduktion  das  Gesetz  v/t  =  konstant.  Und  aus 
dieser  Folgerung  konnte  das  rationale  Denken  ebenfalls  das  Be- 
harrungsprinzip ableiten;  denn  die  reflektierende  Urteilskraft  kann 
rückschließend  das  Gesetz  z;/i  =  konstant  als  eine  Folge  des 
Beharrungsprinzipa  erkennen,  also  umgekehrt  das  Beharrungs- 
prinzip als  die  Bedingung  des  vorher  durch  Experiment  ge- 
fundenen Bewegungsgesetzes  s  =  y  -  t^  einsehen.  Die  Anpassung 
der  Gedanken  an  die  Tatsachen  war  vollzogen,  und  das  Genie 
eines  Newton  konnte  daraus  die  weiteren  Folgerungen  ziehen, 
die  Kraft  seiner  Gedankenexperimente  zur  Geltung  bringen,  ohne 
auf  Schritt  und  Tritt  zu  unmittelbaren  Tatsachenexperimenten 
zu  greifen. 


Wir  haben  bemerken  können,  daß  die  Ausführungen  und  die 
knappen  Andeutungen  der  Grundgedanken  E.  Müllers  bei  seiner 
,, Gewissensforschung  im  Gebiete  der  Mathematik"  mit  der  Fik- 
tionenlehre und  der  Als- Ob-Philosophie  Vaihingers  mehrfach  zu- 
sammenstimmen. Die  Anhänger  und  Bekcnner  dieser  Philosophie 
haben  daher  Ursache,  die  Darlegungen  Müllers  dankbar  und 
freudig  zu  begrüßen.  Die  Zusammenstimmung  zwischen  beiden 
Denkern  wird  sich  uns  noch  deutlicher  zeigen,  wenn  wir  versuchen, 
das  Ergebnis  der  Müller  sehen  Darlegungen  kurz  zusammenzufassen. 

Vieles  von  dem,  was  dem  Menschen  in  seiner  Jugend  als  volle 
Wirklichkeit  gilt  und  eben  dadurch  die  Macht  über  ihn  bekommt, 
sein  Denken  und  Handeln  zu  bestimmen,  belächelt  er  im  Alter 
als  Jugendideale  (S.  18),  oder  als  Fiktionen,  denen  keine  Wirklich- 
keit entspricht.  Gleichwohl  handelt  er  noch  immer  so,  ,,als  ob 
diese  Ideale  Wirklichkeiten  wären".  So  auch  galten  am  Anfange 
des   erwachten  wissenschaftlichen  Bewußtseins   den  Menschen  die 


208  Ernst  Tisclier: 

Objekte  der  Mathematik  als  Realitäten,  und  nur  bevorzugte  Geister 
erkannten  sie  schon  früh  als  Idealisierungen,  als  nur  gedachte 
Dinge,  als  Produkte  des  bloßen  Denkens,  als  Fiktionen  der  reinen 
Anschauung,  denen  keine  wirklichen  Gegenstände  entsprechen. 
Allmählich  durchdringt  diese  Erkenntnis  das  gesamte  mathematische 
Denken  und  Urteilen.  Gleiches  gilt  von  naturwissenschaftlichen 
Vorstellungsgebilden.  Atome,  Moleküle,  Ionen,  Elektronen,  der 
Weltäther  usw.  werden  zuerst  als  Wirklichkeiten  aufgefaßt,  dann 
aber  mehr  und  mehr  als  Fiktionen  erkannt.  Hieraus  entspringt 
dann  die  weitere  Einsicht,  daß  die  ,, ehernen"  Naturgesetze  in  der 
üblichen  Auffassung  ,, wieder  nur  eine  vom  Menschengeist  ge- 
schaffene Idealisierung  sind,  entsprossen  den  mathematischen  und 
naturwissenschaftlichen  Idealisierungen"  (S.  i8).  Gleichwohl  arbeitet 
die  Wissenschaft,  vollkommen  bewußt,  auf  Fiktionen  zu  bauen, 
so  weiter,  ,,als  ob  strenge  Gesetze,  genaue  funktionelle  Abhängig- 
keiten zwischen  den  Erscheinungen  beständen,  also  ganz  ähnlich, 
wie  der  Mathematiker  bewußt  mit  seinen  ideahsierten  Gebilden 
arbeitet".  In  der  Mathematik  wird  die  Fiktivität  oder  Idealität 
der  behandelten  Objekte  zuerst  erkannt.  Und  so  ist  es  die 
Mathematik,  durch  die  es  zuerst  angebahnt  wird,  daß  der  Mensch- 
heit die  Idealität  der  gesamten  Weltanschauung  zum  Bewußtsein 
kommt,  wie  sich  das  ja  schon  bei  Flato  zeigt,  und  wie  es  ja  die 
Tatsache  des  Vorhandenseins  der  Mathematik  gewesen  ist,  die  die 
feste  Grundlage  für  Kants  kritischen  Idealismus  im  Gebiete  des 
Erkennens  gebildet  hat.  Wenn  aber  die  Fiktionen,  mit  deren  Hilfe 
der  Mensch  sein  Weltbild  gestaltet,  diese  gestaltende  Kraft  haben, 
ein  harmonisches  Weltganzes  aufzubauen,  so  folgt  daraus  die 
ethische  Forderung,  mit  diesen  Fiktionen  auf  das  sittliche  Gebiet 
überzugreifen  in  dem  Sinne,  wie  wir  das  bereits  S.  249 f.  angedeutet 
haben. 

Anpassung  unserer  Gedanken  an  die  Tatsachen,  das  ist  das 
erste.  Anpassung  der  Gedanken  aneinander,  das  ist  das  zweite. 
Aber  es  darf  ein  Drittes  nicht  fehlen,  wenn  diese  Anpassung  Zweck 
und  Wert  haben  soll.  E^  darf  nicht  abgelassen  werden  von  dem 
praktischen  Ziele  der  Anpassung  der  Tatsachen  an  die  durch  die 
Tatsachen  geläuterten  und  von  der  sittlichen  Idee  getragenen 
Gedanken.  Nur  wenn  dieses  Dritte  dazukommt,  dann  kann, 
wie  E.  Müller  wünscht  und  hofft,  die  erwartete  Friedenszeit 
rascher  als  sonst  auch  Umwertungen  geistiger  Werte  bewirken 
und  uns  die  ,, natürlichen  Grundlagen  und  Notwendigkeiten  unseres 


Die  mathematischen  Fiktionen  u.  ihre  Bedeutung  für  die  menschl.  Erkenntnis.     269 

persönlichen,  staatlichen,  wirtschaftlichen  und  wissenschschaft- 
lichen  Lebens  höher  einschätzen  lehren  als  eingebildete  Bedürf- 
nisse oder  wirkliche  Vorurteile",  sie  kann  uns  befähigen,  die  auf 
positive  Erkenntnis  und  wahrhaft  ethisches  Gemeinschaftsleben 
gerichteten  Fiktionen  und  Ideen  zu  den  leitenden  zu  machen  und 
deutlich  zu  scheiden  von  denen,  die  die  Wissenschaft  und  Sitt- 
lichkeit trüben  und  hemmen.  Der  Geist  muß  es  sein,  der  sich 
den  Körper  baut.  Aus  solchem  Geiste,  der  sich  den  Körper  zu 
bauen  vermag,  der  die  Fähigkeit  und  den  Willen  hat,  aus  den 
Erfahrungen  der  Vergangenheit  zu  lernen,  sich  zu  neuen  Ideen 
zu  erheben  und  diese  neuen  Ideen  zu  verwirklichen,  möge  nach 
der  Niederringung  der  höllischen  Mächte  der  Lüge  und  des  kurz- 
sichtigsten und  kleinlichsten  Eigennutzes,  die  diesen  Weltkrieg 
entzündet  haben  und  nähren,  der  Menschheit  der  reine  Frieden 
in  einer  neuen  Körperlichkeit  alles  dessen,  was  den  Völkern  als 
materielle  Grundlage  ihrer  Existenz  und  ihrer  harmonischen 
Wirkungsfreiheit  zu  dienen  hat,  erwachsen. 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion. 

Eine  psychologische  Untersuchung. 

Von 

Richard  Müller-Freienfels. 

Inhaltsübersicht. 

Einleitung.    Das  Problem. 

Kap.  I.  Das  Irrationale  der  Individualität,  i.  Die  Abgrenzung  gegen 
das  Nichtindividuelle.  2.  Die  Unterscheidung  vom  Überindividuellen.  3.  Die 
Wandlungen  der  Individualität.  4.  Die  Spaltungen  der  Individualität.  5.  Die 
Schwankungen  der  Individualität.  6.  Die  Individualität  als  Erscheinung.  7.  Zu- 
sammenfassung. 

Kap.  II.  Rationale  Elemente  der  Individualität,  i.  Negative  Gründe 
für  das  Übersehen  der  Wandelbarkeit.  2.  Die  Kontinuität  des  Leibes.  3.  Die 
Kontinuität  der  Seele.  4.  Das  „Ich"  als  allgemeiner  Kern  der  Persönlichkeit. 
5.  Die  Struktur  der  Individualität.  6.  Das  „spezifische  Lebensgefühl"  als  sub- 
jektive Identitätsgrundlage.  7.  Die  einheitliche  Willensrichtung.  8.  Zusammen- 
fassung. 

Kap.  III.  Die  Identität  der  Persönlichkeit  als  Forderung,  i.  Soziale 
Forderung.  2.  Ethische  Forderung.  3.  Ästhetische  Forderung.  4.  Theoretische 
Forderung.     5.    Religiös-metaphysische  Forderung.     6.    Das  „Idealich". 

Kap.  IV.  Die  Individualität  als  fiktive  Konstruktion,  i.  Der  Begriff 
der  Fiktion.  2.  Die  Fiktion  einer  rationalen  Individualität  als  Substanz  und  wirkende 
Ursache.     3.    Die  Fiktion  und  die  Forderungen. 

Kap.V.  Die  begriffliche  Fixierung  der  Individualität,  i.  Die  drei 
Versuche.  2.  Das  „Charakterbild".  3.  Die  biographische  Methode.  4.  Die  psycho- 
graphische  Methode.     5.    Zusammenfassung. 

Kap.  VI.  Der  fiktive  Individualitätsbegriff  in  der  Wissenschaft. 
I.  Die  Geschichte  als  fiktive  Konstruktion.  2.  Die  Bedeutung  der  Individualitäten 
in  der  Geschichte.     3.    Der  Erkenntniswert  der  fiktiven   Individualitätsbegriffe. 

Kap.  VII.  Der  Persönlichkeitsbegriff  in  der  Kunst,  i.  Die  Persön- 
lichkeitsdarstellung in  der  bildenden  Kunst.  2.  Die  Persönlichkeitsdarstellung  in 
der  Dichtung. 

Kap.  VIII.  Der  Individualitätsbegriff  in  Ethik  und  Religion,  i.  Der 
Individualitätsbegriff  als  Träger  von  Ehre  und  Ruhm.  2.  Die  Unsterblichkeit  des 
Individuums. 

Abschluß. 

Einleitung.    Das  Problem. 

Das  Problem  der  Individualität  oder  —  wie  wir  mit 
geringer  Schattierung  ebenfalls  sagen  —  das  Problem  der  Per- 
sönlichkeit ist  trotz  seiner  außerordentlichen  Wichtigkeit  und 
Verzweigtheit    von    der    Wissenschaft    bisher   sehr   stiefmütterlich 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  271 

behandelt  worden.    Die  Philosophen,  bis  auf  wenige  Ausnahmen, 
sahen  meist  vollkommen  darüber  hinweg.     Nur  das  ,, allgemeine" 
Ich,    das    ,, erkenntnistheoretische    Subjekt"    oder    sonst    ein    ab- 
straktes  Gebilde  vertrat  für  ihre   Forschungen  die   Stelle  der  in- 
dividuellen,   lebendigen    Persönlichkeit    in    ihrer    konkreten    Viel- 
spältigkeit.   —  Um  so   mehr   Hochachtung  erwiesen  die  älteren 
Historiker    den     Individualitäten.      Sie    sahen    darin    eine    Art 
Mysterium,    letzte    Gegebenheiten,   denen   gegenüber   jede   wissen- 
schaftliche ,, Erklärung"  versagen  müsse  und  denen  sie  das  ganze 
Weltgeschehen  aufbürdeten.  —  Die  Historiker  neueren  Schlages, 
besonders  wenn  sie  von  naturwissenschaftlichen  Methoden  be- 
einflußt waren,  erwiesen  den   Individualitäten  bedeutend  weniger 
Reverenz.     Sie  behandelten  dieselben  nicht  als  unnahbare  Wesen- 
heiten transzendenten  Ursprungs,  sondern  gingen  ihnen  keck  mit 
allerlei  Erklärungsprinzipien  zu   Leibe.     Aber  einerlei,  ob  sie  aus 
der    „Rasse",    der    ,, Vererbung",    dem    , .Milieu",    aus    wirtschaft- 
lichen  oder    psychologischen    Zeitverhältnissen    die    Persönlichkeit 
erklären  zu  können  glaubten,  es  erwies  sich  doch,  daß  ihre  Prin- 
zipien viel  zu  allgemein  und  schematisch  waren,  um  etwas  so  un- 
endlich  Kompliziertes,   wie   es   jede    Individualität   ist,   restlos  er- 
schöpfen zu  können.  —  Das  neueste  Verfahren,  der  Individualität 
beizukommen,   tritt  wesenthch  bescheidener  auf.     Die  differen- 
tielle  Psychologie  will  zunächst  nicht  , .erklären",  sondern  vor 
allem  ,, beschreiben"  und  das  Gefundene  in  Typengruppen  ,, ordnen". 
Es  ist  kein  Zweifel,  daß  diese  Methode  das  Problem  am  meisten 
zu   fördern   verspricht,    und    wir   werden   oftmals   ihre    Ergebnisse 
zu   Rate    ziehen.      Indessen    geht  auch   die    differentiellc  Psycho- 
logie   von    Voraussetzungen    aus,    die    vorher    prinzipiell    erörtert 
werden  müssen.    Vor  allem  setzt  sie  stillschweigend  voraus,   daß 
die  Individualität  überhaupt  begrifflich  zu  fassen  sei.    Und  damit 
kommen   wir   zu    unserer    Stellung   des    Problems.     Wir   beginnen 
mit   dem   Nachweis,    daß   jede    Individualität   letzten    Endes   eine 
irrationale    Größe    ist,    die    sich    einer    erschöpfenden    begriff- 
lichen  Fassung  überhaupt  entzieht.     Des  weiteren  erörtern  wir, 
inwieweit   dennoch   von  einer   Rationalisierung  der    Individualität 
gesprochen  werden   kann;   wir  prüfen  die   Möglichkeiten   und   die 
bisherigen    Lösungsversuche,    denen   wir   eine   eigene    Lösung   ent- 
gegenstellen,  und  wir  unternehmen  es  zum  Schluß,  die  Anwend- 
barkeit dieser  Lösung  auf  die  verschiedensten  Lebensgebiete  dar- 
zutun. 


272 


Richard  Müller-Freienfels : 


Als  ,, rational"  bezeichnen  wir  dabei  einen  Begriff,  der  sich 
scharf  umgrenzen  läßt  und  mit  sich  selbst  identisch  bleibt,  kurz, 
der  den  Anforderungen  der  traditionellen  Logik  entspricht.  ,,  Ir- 
rational" dagegen  heißt  uns  ein  Tatbestand,  der  sich  jenen  An- 
forderungen entzieht.  Fußend  auf  der  Selbstanalysc  und  dem 
Nachweis  der  objelctivcn  Widersprüche,  in  die  man  sich  überall 
bei  dem  Versuch,  die  Individualität  als  rationalen  Begriff  zu 
fassen,  verwickelt,  stellen  wir  zunächst  die  Irrationalität  des 
gemeinten  Tatsachenkomplexes  fest,  um  dann  zu  untersuchen, 
wie  man  trotzdem  dazu  gelangt,  eine  aus  mannigfachen  Gründen 
geforderte  Rationalisierung  vorzunehmen.  Hinter  dem  so  er- 
örterten Einzelfall  wird  sich  uns  dabei  das  allgemeinere,  erkenntnis- 
theoretische Problem  erheben,  ob  und  wie  weit  es  überhaupt  mög- 
lich ist,  das  irrationale  Sein,  innerhalb  dessen  die  als  ,, individuell" 
bezeichneten  Tatsachen  nur  einen  Ausschnitt  darstellen,  in  ratio- 
nale Begriffe  cinzufangen.  Insofern  wird  sich  unsere  Lösung  des 
Einzclproblcms  zu  prinzipieller  Bedeutung  ausweiten. 

Kapitel  I.     Das  Irrationale  der  Indiyidaalität. 

I.  Versuchen  wir  es,  diejenigen  Tatbestände,  die  man  gemein- 
hin, ohne  die  Berechtigung  dazu  nachzuprüfen,  als  ,, individuell", 
ansieht,  gegen  diejenigen  abzugrenzen,  die  keinen  Anspruch  darauf 
haben,  in  den  Kreis  des  Individualitätsbcgriffs  einbezogen  zu 
werden,  so  stoßen  wir  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten. 

Selbst  wenn  wir,  was  zuweilen  geschieht,  unsere  Individualität 
gleichsetzen  mit  unserer  leiblichen  Individualität  und  eine  geistige 
Individualität  nur  so  weit  gelten  lassen,  als  sie  von  der  leiblichen 
getragen  wird,  selbst  dann  ist  die  Grenze  (in  diesem  Falle  die  Haut 
unseres  Körpers)  bedeutend  abstrakter,  als  es  auf  den  ersten  Blick 
scheint.  Denn  der  so  umgrenzte  Sachbestand  kann  zwar  von  be- 
stimmten Umgebungen  isoliert  werden,  keineswegs  aber  von  einer 
Umgebung  überhaupt.  Nur  abstrakt  kann  er  als  Absolutum 
gelten,  realiter  bildet  er  stets  einen  Teilbestand  größerer  Zusammen- 
hänge, letzten  Endes  der  Welt,  mit  denen  er  in  beständiger  und 
notwendiger  Wechselbeziehung  steht.  Das  Bestehen  unserer  leib- 
lichen Persönlichkeit  ist  daran  geknüpft,  daß  unablässig  Atem, 
Speise  und  Trank  durch  sie  hindurchgehen,  daß  sie  einen  Boden 
hat,  auf  dem  sie  fußt,  daß  beständige  Reize  ihre  Sinnesorgane  wach- 
halten und  daß  hundert  andere  Beziehungen  zur  Außenwelt  vor- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  2  73 

handen  sind.     Die  Ausschaltung  nur  eines  Teiles  derselben  würde 
die  Vernichtung  des  Leibes  bedeuten. 

Mit  unserer  geistigen  Persönlichkeit  ist's  aber  nicht  anders. 
Verstehen   wir   darunter   zunächst    nur   den   an   unseren    Leib   ge- 
bundenen Bewußtseinskomplex,  so  ergibt  sich,  daß  sich  auch  um 
ihn  höchstens  eine  abstrakte  und  in  jedem  Augenblick  wechselnde 
Grenze  ziehen  läßt.     Die  Körperhaut  kann  hier  noch  weniger  als 
beim    Leibe    als    Scheidewand    dienen.      Denn   sind    nicht    bereits 
unsere     Sinnesempfindungen    jenseits    der    Haut    lokalisiert,    zu- 
gleich  als   unser  Erleben  und   als  etwas   außer   uns  Liegendes 
charakterisiert .''      Nehme    ich    einen    Stock    zur    Hand    und   taste 
ich   mit   seiner    Spitze   einen    Gegenstand   ab,    so    ist   mein    Emp- 
finden in  der  Spitze  des  Stockes  lokalisiert.     Nehme  ich  ein  Fern- 
rohr zur  Hand  und  erschaue  ich  damit  einen   Stern  in  der  Tiefe 
des    Himmelsraumes,    so   beziehe    ich   diesen    Stern   gleichsam   ein 
in    meine    Individualität,    sein    Licht    wird    meine    Empfindung, 
meine    Individualität  reicht  sozusagen  bis  zu  jenem   Stern.     Man 
hat   daher   geistreich   die    Werkzeuge   als    Verlängerungen    unserer 
Sinnesorgane  bezeichnet;  man  könnte  sie  auch  als  Ausdehnungs- 
möglichkeiten unserer  Individualität  ansehen.     Denn  sie  erweitern 
die   Möglichkeit,    das   hypothetische    Zentrum   unserer    Persönlich- 
keit mit  der  Außenwelt  in  Beziehung  zu  setzen,  und  in  Wirklich- 
keit besteht  ja  unsere  Persönlichkeit  fast  ausschließlich  aus  solchen 
Beziehungen.      Auch    unsere    Gedanken,    unsere    Gefühle,    unsere 
Willenshandlungen  sind  zum  größten  Teil  solche  Beziehungen  zur 
Außenwelt,  die  diese  gleichsam  aufnehmen  in  den  Kreis  des  Per- 
sönlichen.     Die    Kleider,    die   wir  tragen,   das   Haus,   das  wir  be- 
wohnen, das  Weib,  das  wir  lieben,  empfinden  wir  als  verbunden 
mit  unserer  Persönlichkeit.     Ich  spreche  von  , .meinem"  Freunde, 
wie    ich    von    ,, meinem"    Herzen    spreche.      Die    Vorstellung    des 
Malers  ist  ein  Teil  seines   Selbst,  sie  bleibt  es  auch,  wenn  er  sie 
zum  Bilde   gestaltet.    Wir  sagen,   ,, seine   Persönlichkeit  stecke   in 
seinem  Werke".     Stirbt  uns  ein  lieber  Mensch,  so  haben  wir  das 
Gefühl,  ein  Teil  unserer  eigenen  Persönlichkeit  führe  mit  ihm  in 
die  Grube,  und  das  ist  mehr  als  eine  bloße  Metapher.     Denn  noch 
weniger  als  unsere  leibliche  ist  unsere  geistige  Persönlichkeit  von 
der   äußeren    Körperhaut    umschlossen,    sie    hat    überhaupt    keine 
bestimmte  Grenze.     Sie  steht  in  beständigem  Zusammenhang  mit 
wechselnden  Teilen  der  Welt,  die  ebenso  gut  oder  ebenso  schlecht 
isolierbar   sind    wie   sie   selbst.      Kurz,    höchstens   durch   Ab- 

1 8 
Annalen  der  Philosophie.    I.  v 


274 


Richard  Müller-Freien fels : 


straktion,  niemals  realiter,  läßt  sich  unsere  Persön- 
lichkeit, die  geistige  so  wenig  wie  die  leibliche,  um- 
grenzen. 

Nur  ganz  kurz  sei  hier  das  Problem  des  Verhältnisses  der  leib- 
lichen zur  geistigen  Persönlichkeit  gestreift,  ohne  daß  wir  uns  an  die 
schwierigen  metaphysischen  Fragen,  die  sich  an  dieses  Problem  knüpfen, 
zu  verwickeln  gedenken.  Einerlei,  ob  man  sich  für  den  Parallelismus 
oder  die  Wechselwirkung  entscheidet,  zugeben  muß  man,  daß  enge  Be- 
ziehungen zwischen  leiblicher  und  seelischer  Persönlichkeit  bestehen, 
zugleich  aber,  daß  die  geistige  PersönUchkeit  viel  weiter  reicht  als  die 
leibliche.  Das  zeigt  sich  vor  allem  daran,  daß  die  geistige  Persönlich- 
keit den  leiblichen  Tod  zu  überdauern  vermag.  Wir  meinen  das  hier 
nicht  im  Sinne  einer  transzendenten  Unsterblichkeitslehre,  sondern 
bleiben  ganz  im  Diesseits,  wenn  wir  konstatieren,  daß  die  Persönlich- 
keiten Christi,  Luthers,  Goethes  noch  heute  lebendig  sind  und  wirken, 
obwohl  die  körperlichen  Träger  schon  lange  dahin  sind,  ja  zum  Teil 
■ —  wie  bei  Christus  —  in  ihrer  Existenz  überhaupt  bezweifelt  werden. 
Dabei  ist  diese  weiterlebende  geistige  Persönlichkeit  keineswegs  nun 
fest  in  sich  begrenzt,  sondern  auch  sie  wächst  noch  weiter,  ändert  sich 
und  breitet  sich  aus.  Man  denke  nur,  wie  die  Persönlichkeit  Christi 
nach  seinem  Tode  an  Größe,  Würde  und  Universalität  noch  immer 
gewonnen  hat  und  auch  heute  noch  weiter  sich  wandelt.  Oder  welche 
Wandlungen  auch  jetzt  noch  die  Persönlichkeit  Goethes  durchmacht! 
Denn  die  Wirkungen  der  Individualität  gehören  zu  ihr  selber  wie  die 
Strahlen  der  Sonne  zur  Sonne  gehören.  Eine  feste  Grenze  zu  ziehen, 
ist  da  nirgends.  Die  Peripherie  der  Persönlichkeit  ist  nirgends  fest- 
zustellen. Man  wende  nicht  ein,  daß  es  sich  um  eine  bloße  Metapher 
handele,  wenn  wir  von  einer  Fortdauer  der  Persönlichkeit  im  eben  aus- 
geführten Sinne  reden.  Wir  handeln  hier  über  den  ,, Begriff"  der 
Persönlichkeit,  und  dieser  ist  nicht  an  die  reale  Existenz  gebunden. 
Indessen  wollen  wir  im  weiteren  Verlauf  unserer  Untersuchungen  das 
Thema  nicht  so  weit  ausdehnen  und  sprechen  auch  von  geistiger  Per- 
sönlichkeit nur  in  dem  Sinne,  daß  wir  damit  die  Bewußtseinssphäre 
des  noch  lebenden  Menschen  meinen,  und  unser  Hauptproblem  ist  die 
Möglichkeit,  diese  begrifflich  zu  fassen. 

2.  Noch  in  anderer  Hinsicht  ist  es  unmöglich,  eine  feste  Grenze 
unserer  Individualität  zu  ziehen.  Nicht  nur  gegen  das  Außer- 
individuelle, auch  innerhalb  des  Überindividuellen,  also  dessen, 
was  zu  gleicher  Zeit  vielen  Individualitäten  gemeinsam  ist,  gibt 
es  keine  feste  Grenze.  Vieles,  was  wir  als  Element  unserer  In- 
dividualität ansehen,  haben  wir  nichtsdestoweniger  gemein  mit 
anderen  Individualitäten.  Auch  das  gilt  vom  Leiblichen  wie  vom 
Geistigen.  Unsere  äußere  Gestalt,  unser  ganzer  Körper,  ist  nur 
ein  Teilglied  einer  Kette,  die  aus  grauestcr  Vorzeit  'in  dunkle  Zu- 
kunft   hinüberglcitet.     Vieles,    was    wir    als    Allerpcrsönlichstes    in 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  2/5 

unserer   physischen   Konstitution   ansehen,    ist    Erbe   von   unseren 
Ahnen   und  geht  weiterhin  über  auf  unsere   Nachfahren.     Durch 
die   Zeugung  sind  wir  physisch  Teile  eines  überindividuellcn  Zu- 
sammenhangs. —  Und  geistig  sind  wir  das  nicht  minder.    Wir  sind 
Träger  von  Gedanken  und  Willensströmungen,  die  keineswegs  nur 
uns   angehören,   sondern  die   wir   gemeinsam  mit   Tausenden  von 
anderen  Individuen  haben.    Und  selbst  unsere  Gefühle,  die  scheinbar 
ganz  aus  dem  Innern  unserer  Persönlichkeit  stammen,  können  in 
seltsamen  Konnex  mit  denen  anderer  Menschen  treten.     Bei  so- 
genannten   Massensuggestionen    hört    die    Individualität    plötzlich 
auf,  Individualität  zu  sein,  sie  ist  nur  Teil  einer  Masse,  fühlt  und 
handelt    durchaus    als    Glied    eines    überindividuellcn    Komplexes. 
Was  in  solchen   Fällen  besonders  grell  heraustritt,   ist  aber  auch 
sonst  allenthalben  der   Fall.     Auch  wo  wir  uns  dessen  nicht  be- 
wußt werden,  fühlen,  wollen,  handeln  wir  durchaus  als  Teile  von 
überindividuellcn  Ganzen,   mögen  diese   nun  die  Familie  oder  die 
Berufskaste  oder  der  Staat  oder  die  Menschheit  sein.     Unser  Be- 
wußtsein täuscht  uns  da  oft  über  den  wahren  Sachverhalt.    Mancher 
Mensch,  der  glaubt,  nur  für  seine  individuellen  Interessen  zu  handeln, 
besorgt  gerade  damit  die  Geschäfte  der  Allgemeinheit.     Auch  die 
stärksten    Individualitäten    der    Geistesgeschichte    erscheinen,    aus 
größerer   Entfernung  betrachtet,    durchaus    als    Angehörige    ihres 
Zeit-  und  Nationaltypus.     Ja,  ihre  scheinbar  individuelle  Leistung 
stellt  sich,  historisch  gesehen,  oft  als  die  notwendige  Konsequenz 
zeitlich    gegebener  Vorbedingungen   dar.     Michelangelo    oder  Cor- 
reggio    führen    den   Renaissancestil,    indem   sie   als  Vollender   von 
gewissen   immanenten  Tendenzen  desselben  erscheinen,    kraft  ihrer 
Individualität     in    das     Barock    hinüber.     Daher     erscheint    für 
manche    Geschichtsphilosophen    das    Individuum    nur    als    Träger 
allgemeiner  Ideen.     Die  Berechtigung  einer  solchen  Betrachtungs- 
weise  werden   wir   später   beleuchten.     Vorläufig   stellen   wir    nur 
fest,    daß    jede    Individualität    zum   mindesten    zum    Teil 
in    überindividuelle    Zusammenhänge    hineingehört,    ja, 
daß   es    schier    unmöglich    ist,    Individuelles    und    Über- 
individuelles einander  entgegenzusetzen.     Die  von  Goethe 
halb  scherzhaft  aufgeworfene  Frage:  ,,Was  ist  denn  an  dem  ganzen 
Kerl  original  zu  nennen.?"  birgt  sehr  weitschichtige  psychologische 
und  philosophische  Probleme. 

3.    Aber  selbst  wenn  wir  von  diesen  Schwierigkeiten  absehen 
und  unsere   Individualität,  wie  es  in  der  Praxis  des  Lebens  viel- 

18* 


276 


Richard  Müller-Freienfels  ; 


fach  geschieht,  als  isolierbares  Etwas  ansehen,  so  sind  damit  nicht 
alle  Fragen  gelöst.  Wir  stehen  dann  vor  dem  Zwiespalt,  daß  die 
Individualität  einerseits  als  etwas  Konstantes,  mit  sich  selbst 
Identisches  angesehen  wird,  daß  aber  andererseits  mannigfache 
Tatsachen  diese  Konstanz  und  Identität  in  Frage  stellen.  —  Be- 
trachten wir  zunächst  die  eine  Seite  dieses  Widerspruchs!  Keine 
Individualität  ist  konstant  mit  sich  selbst  identisch,  jede  ist  eine 
sich  beständig  wandelnde  Variable!  Da  sind  zunächst  die  ,, ty- 
pischen" Abwandlungen:  Aus  dem  unmündigen  Kinde  wird  der 
Jüngling  (oder  die  Jungfrau),  es  folgt  das  Alter  der  Reife  und  die 
Zeit  des  Hinsinkens  im  Greisenalter.  Wir  bezeichnen  diese  Wand- 
lungen als  die  Stufen  der  Reifung.  Zum  Teil  mit  ihnen  eng 
verknüpft  und  doch  nicht  identisch  damit  ist  die  Erscheinung 
der  geschlechtlichen  Differenzierung;  das  allmähliche  Hervor- 
treten (und  spätere  Zurücktreten)  der  sexuellen  Funktionen  kann 
als  selbständiges  Sondermoment  innerhalb  des  Gesamtphänomens 
der  Reifung  angesehen  werden.  Derartiger  Sondererscheinungen 
können  wir  indessen  noch  andere  unterscheiden.  Denn  fast  alle 
seelischen  Funktionen  sind  nach  ihrem  Hervortreten  und  Zurück- 
treten Teilfaktoren  der  Reifung.  Nur  einige  typische  Fälle 
können  hier  genannt  werden:  der  Überschwang  des  Gefühls  und 
der  Phantasie  im  Jünglings-  (bzw.  Jungfrauen-)  Alter,  das  Über- 
wiegen der  ruhigen  Überlegung  im  Mannesaltcr,  das  allmähliche 
Erlöschen  der  Leidenschaften  im  Greisenalter  sind  solche  Teil- 
erscheinungen der  Reifung.  Zu  diesen  Änderungen  der  seelischen 
Funktionen  kommen  die  Einflüsse  der  von  außen  in  die  Seele 
eintretenden  Inhalte.  So  ist  das  allmähliche  Anwachsen  des 
Erfahrungsschatzes  (zunächst  bloß  nach  seiner  quantitativen  Seite) 
ebenfalls  ein  Wandlungsphänomen;  denn  die  Erfahrungen,  die  wir 
machen,  sind  nicht  bloß  äußerlich  aufgenommene  Materialien,  die 
wir  mitführen  wie  ein  Wagen  seine  Ladung:  Sie  bilden  unsere 
Persönlichkeit  um,  indem  sie  auf  die  erlebende  Individualität 
zurückwirken.  Ferner  kommen  mannigfache  Anpassungs- 
erscheinungen  hinzu:  man  lernt  Leidenschaften  beherrschen, 
man  bildet  spezifische  Organe  aus,  man  stellt  sich  ein  auf  be- 
stimmte Lebensverhältnisse.  Die  Berufswahl  z.  B.  ist  eine  typische 
derartige  Einstellung. 

Neben  diesen  typischen,  d.  h.  in  jedem.  Menschenleben  auf- 
zeigbaren Wandlungen  steht  die  unübersehbare  Fülle  der  in- 
dividuelkn.     Hat  doch  im  einzelnen  Falle  schon  jede  der  typi- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion. 


277 


sehen  Wandlungen  ihr  individuelles  Gesicht,  insofern  als  die 
Phänomene  der  Reifung  oder  der  sozialen  Anpassung  sich  bei 
jedem  Menschen  in  verschiedener  Weise  vollziehen.  Erwägt  man 
nicht  nur  die  Menge  der  Erfahrungen,  sondern  ihre  unendlichen 
qualitativen  Variationsmöglichkeiten,  so  steigt  die  Wandelbar- 
keit der  Individualität  ins  Ungeheure.  Bestimmte  Erlebnisse, 
eine  Liebe,  eine  Freundschaft,  eine  Willensreizung,  können  tief- 
eingreifend den  ganzen  Charakter  beeinflussen.  Krankheiten, 
besonders  solche  des  Nervensystems,  können  den  Menschen  um- 
wandeln, einen  Saulus  zu  einem  Paulus  machen.  Wechsel  der 
klimatischen,  landschaftlichen,  sozialen  Umgebung  kön- 
nen abfärben  auf  die  Individualität.  Das  Horazische:  ,,Coclum 
non  animum  mutant  qui  trans  mare  currunt"  ist  nur  zum  Teil 
richtig.  Sehr  oft  finden  wir,  daß  ein  Wechsel  der  Umgebung 
(und  sei  es  nur  ein  zeitweiser)  auch  einen  Wechsel  in  der  Indivi- 
dualität mit  sich  zieht:  Wievielen  Deutschen  ist  Italien  zum  ,, Er- 
lebnis", also  zum  charakterumbildenden  Faktor,  geworden,  d.  h. 
sie  kamen  als  ganz  andere  wieder,  denn  als  sie  hinabgezogen  waren. 
Und  zwar  ist  ein  solcher  Einfluß  nicht  immer  ein  einfaches  Über- 
nehmen fremder  Einwirkungen,  oft  handelt  es  sich  auch  um  eine 
Reaktion  des  bisherigen  Ich  gegen  die  neue  Umwelt,  so  daß  das 
Resultat  des  Zusammentreffens  gerade  der  Richtung  des  Ein- 
flusses entgegengesetzt  ausfällt.  Oft  hat  sich  der  Deutsche  in 
der  Fremde  erst  selber  gefunden,  gerade  durch  den  Widerspruch! 
Ich  nenne  eine  solche  Einwirkung  eine  reaktive.  Sie  gilt  auch 
von  der  Beeinflussung  durch  andere  Menschen.  Nur  allzuoft  ist  in 
den  Geisteswissenschaften  übersehen  worden,  daß  dort,  wo  man  von 
Einwirkungen  einer  Persönlichkeit  auf  eine  andere  spricht,  nicht  die 
Wirkung  der  Ursache  adäquat  ist.  Die  Einwirkung  hat  oft  einen  ihrer 
ursprünghchen  Tendenz  gerade  entgegengesetzten  Erfolg.  Es  ist  ganz 
falsch,  in  diesem  Falle  von  „Mißverstehen"  zu  sprechen.  Wenn 
Kant  auf  Fichte  einwirkt  in  einer  Richtung,  die  er  selbst  als  adäquat 
nicht  anerkennen  kann,  so  bleibt  es  doch  eine  oberflächliche  Beurteilung, 
wenn  man  glaubt,  das  Ganze  als  ein  „Mißverständnis"  von  Seiten 
Fichtes  abtun  zu  können.  Einerlei,  ob  man  Fichtes  Philosophie,  wie 
sie  sich  unter  dem  Anstoß  durch  die  Kantsche  Philosophie  heraus- 
gebildet hat,  als  Fortschritt  oder  Rückschritt  ansieht:  abstreiten  kann 
man  nicht,  daß  etwas  ganz  Neues  entstanden  ist.  Der  Einfluß  der 
fremden  Individualität  ist  hier  derart  gewesen,  daß  die  eigene  sich  unter 
Anregung  von  selten  der  fremden  weiterentwickelt  hat,  aber  nicht  in 
der  Richtung  des  Anstoßes,  sondern  in  der  ihr  innewohnenden  eigenen 
Richtung,  die  jenem  Anstoß  ganz  unadäquat  war.  Nicht  immer  wird 
diese    Richtungsverschiedenheit    den    beteiligten    Persönlichkeiten    klar. 


278 


Richard  Müller-Freienfels : 


Gar  \nele  Lehrer  haben  nie  erkannt,  daß  ihr  Einfluß  den  Schüler  keines- 
wegs in  der  vom  Lehrer  gewollten  Richtung  förderte,  und  mancher 
Jünger  hat  nie  gewußt,  daß  er  den  Anstoß  des  Meisters  ganz  umbog. 
Paulus  hat  sicher  immer  geglaubt,  den  Gedanken  Christi  in  dessen 
Richtung  weiterzudenken,  wählend  wir  heute  der  Meinung  sind,  er 
habe  ihn  sehr  wesentlich  umgedacht.  Der  Einfluß  der  Positivisten, 
vor  allem  Langes  und  P.  Rees,  auf  Nietzsche  konnte  diesen  wohl  eine 
Weile  ablenken  von  seiner  ursprünglichen  Bahn,  forderte  dann  aber 
dessen  eigentliche  Tendenz  zur  Reaktion  heraus,  sodaß  Nietzsche 
gerade  in  der  Bekämpfung  des  Positivismus  sich  selber  fand,  freilich 
aber  als  einen  durch  den  erkannten  Gegensatz  reicher  und  stärker  Ge- 
wordenen. Wir  könnten  in  diesem  Sinne  die  äußeren  Beeinflussungen 
der  Individuahtäten  unterscheiden  in  solche,  die  in  der  gleichen  Rich- 
tung des  Anstoßes  fortwirken,  solche,  die  in  anderer  Richtung  ver- 
laufen und  solche,  die  direkten  Widerspruch  und  Gegensatz 
hervorrufen.  Ja,  so  kompliziert  liegen  die  Verhältnisse,  daß  mehrere 
dieser  Fälle  nebeneinander  oder  nacheinander  in  Erscheinung  treten 
können.  Immerhin,  auch  dort,  wo  die  Individualität  sich  im  Wider- 
spruch gegen  Fremde  in  ihrer  eigenen  Richtung  bewußter  findet  und 
sich  bereichert,  wandelt  sie  sich:  sie  bleibt  im  gleichen  Typus,  aber 
ändert  sich  doch  innerhalb  dieses  Kreises, 

4.  Bei  den  bisher  erörterten  ,, Wandlungen"  der  Individualität 
hatten  wir  es  mit  Fällen  zu  tun,  in  denen  sich  die  scheinbare  Iden- 
tität in  ein  Nacheinander  mehrerer  Individualitäten  auflöste. 
Merkwürdiger  noch  sind  die  Spaltungen  der  Individualität,  bei 
denen  es  sich  nicht  um  ein  Nacheinander,  sondern  um  ein  Neben- 
einander handelt,  wo  also  zwei  Seelen  in  der  gleichen  Brust  leben. 
Dieses  ,, Nebeneinander"  kann  eine  tatsächliche  Verdoppelung  sein. 
Meist  handelt  es  sich  jedoch  um  ein  rasches  Alternieren  zweier 
Zustände.  Wir  denken  dabei  nicht  an  jene  vorübergehenden 
,, Schwankungen",  von  denen  wir  später  sprechen  werden:  Wir 
haben  jene  Fälle  im  Auge,  wo  dauernd  nebeneinander  gleichsam 
zwei  (oft  noch  mehr)  verschiedene,  ja  entgegengesetzte  Sphären 
der  Persönlichkeit  im  gleichen  Menschen  bestehen. 

Ein  besonders  häufiger  Fall  ist  der,  daß  sich  der  Verstand  in  schnell- 
stem Tempo  entwickelt,  während  das  Gefühlsleben  fast  auf  derselben 
Stufe  stehen  bleibt,  auf  der  es  in  früherem  Lebensalter  stand,  so  daß 
zwei  verschiedene  Persönlichkeiten  entstehen,  je  nachdem  der  Verstand 
oder  das  Gefühl  den  Ton  angibt.  Gar  mancher  Gelehrte,  der  auf  die 
Entstehung  der  Arten  im  Sinne  Darwins  schwört  und  lange  den  geo- 
zentrischen Standpunkt  in  der  Astronomie  zum  alten  Eisen  geworfen 
hat,  hält  doch  gefühlsmäßig  am  Kinderglauben  fest.  Entweder  ist  ei 
sich  dieser  Spaltung  zwischen  Verstand  und  Gefühl  bewußt  und  ver- 
wendet dann  wohl  gelegentlich  seinen  Scliarfsinn  dazu,  durch  dialektische 
Künste  den  Zwiespalt  zu  überbrücken  oder  zu  beweisen,  daß  das  Gefühl 


Der  BegriflF  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion, 


279 


doch  recht  habe.  Oder  aber  es  laufen  die  beiden  verschiedenen  Per- 
sönhchkeiten,  die  aufgeklärte  wssenschaftliche  und  die  kindergläubige, 
getrennt  nebeneinander  her.  Oberflächliche  Menschenbeurteilung  spricht 
in  diesem  Falle  oft  von  Heuchelei.  Indessen,  um  gerecht  zu  sein,  wird 
man  diesen  Begriff  nur  dort  verwenden  können,  wo  es  sich  um  ein  be- 
wußtes Vorspiegeln  einer  anderen  Persönlichkeit  handelt.  So  ist 
z.  B,  im  englischen  „cant",  der  dem  Nichtengländer  vielfach  als  Heu- 
chelei vorkommt,  diese  sicherlich  vielen  Briten  nicht  als  solche  bewußt: 
Es  stecken  in  ihm  nur  zwei  Persönlichkeiten  nebeneinander,  der  brutale 
Geschäftsmann  des  Werktags  und  der  puritanische  Fromme  des  Sonn- 
tags. Weniger  grell,  aber  dennoch  vorhanden,  besteht  eine  solche  Spal- 
tung der  Persönlichkeit  bei  jedem  Menschen.  Wir  alle  haben  eine  Sonntags- 
und eine  Werktagspersönlichkeit,  die  oft  nur  in  losem  Konnex  stehen. 
Typisch  ist  auch  die  Spaltung  zwischen  Berufspersönlichkeit  und  bürger- 
licher Persönlichkeit.  Derselbe  im  Beruf  ehern  strenge  Beamte  oder 
Offizier  ist  im  Familienkreise  vielleicht  ein  weicher,  zarter  Vater  und 
Gatte.  Liest  man  z.  B.  Bismarcks  Briefe  an  seine  Braut  und  spätere 
Gattin,  so  wird  man  nicht  leichtes  Spiel  haben,  das  dort  sich  ergebende 
Persönlichkeitsbild  mit  dem  vom  ,, eisernen"  Kanzler  zu  vereinigen. 
Bei  Dichtern  gehört  die  Fähigkeit  zur  ,, Spaltung"  der  Persönlichkeit 
zu  den  Voraussetzungen  ihrer  Begabung.  Man  hat  oft  darauf  hingewiesen, 
daß  Faust  wie  Mephistopheles,  Tasso  wie  Antonio  gleichsam  ,, Spaltungen" 
der  Individualität  Goethes  sind. 

Besonders  grell  treten  solche  Bewußtseinsspaltungen  in  ge- 
wissen, neuerdings  oft  beschriebenen  pathologischen  Fällen 
hervor.  Derartige  sind  von  Ribot,  Janet,  Binet,  Sollier, 
Kr  is  ha  her,  Oesterreich  und  anderen  beschrieben  und  analysiert 
worden.^)  Hier  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  ein  Abwechseln 
zweier  Persönlichkeiten,  sondern  um  eine  wirklich  gleichzeitige 
Spaltung  oder  auch  Verdoppelung.  Die  Kranken  äußern  sich, 
sie  seien  ,, doppelt",  sie  hätten  ,,zwei  Iche",  es  wäre  noch  ein 
,, zweites  Persönlichkeitsgefühl"  in  ihnen. 

Solche  pathologischen  Fälle  offenbaren  nur  in  besonderer 
Zuspitzung  Erscheinungen,  die  auch  der  Normalmensch  in  sich 
erlebt.  Die  meisten  ethischen  und  religiösen  Schriftsteller  kennen 
solche  Spaltungserscheinungen,  wenn  sie  von  inneren  Konflikten 
reden,  in  denen  sich  zwei  Persönlichkeiten  im  gleichen  Menschen 
um  die  Oberherrschaft  streiten.  Jedenfalls  wird  man  sich  nach 
Erkenntnis   dieser  Tatbestände  sehr  ernsthaft  fragen   müssen,   ob 


^)  Ribot,  Les  iMaladies  de  la  personalite.  Krishaber,  De  la  nevropathie 
c^r^brocardiaque.  1873.  P-  Janet,  Les  Obsessions  et  la  Psychasthenie.  1903. 
Oesterreich,  Die  Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt.  Journ.  f.  Psych,  u. 
Neurol.   VII.     Derselbe,  Phänomenologie  des  Ich.    191 1.    besonders  S.  379ff. 


2 So  Richard   Müller-Freienfels: 

der  Begriff  der  Individualität,  wenn  man  seinen  Grundsinn  der 
,,Ungeteilthoit"  dabei  mitdenkt,  noch  zu  Recht  bestehen  kann. 

5.  Neben  die  dauernden  ,, Wandlungen"  der  Persönlichkeit 
und  die  ebenfalls  eine  gewisse  Dauer  zeigenden  ,, Spaltungen" 
der  Persönlichkeit  stellen  wir  als  dritte  Erscheinungsgruppe  die 
,,  Schwankungen",  die  sich  deutlich  als  bloß  vorübergehend 
kennzeichnen.  Auch  bei  diesen  Schwankungen  kann  man  typische, 
allen  oder  wenigstens  sehr  vielen  Menschen  gemeinsame  aufzeigen, 
und  individuelle,  die  sich  aus  der  besonderen  Konstellation  des 
Einzelmenschen  ergeben,  davon  unterscheiden. 

Zu  den  typischen  rechne  ich  z.  B.  alle  jene  Schwankungen, 
die  durch  den  Wechsel  der  Tages-  oder  der  Jahreszeit  bedingt 
sind.  Fast  alle  Menschen  sind  des  Morgens  anders  gestimmt  als 
des  Abends,  im  Frühling  anders  als  im  Herbst.  Ausgcschlafen- 
heit  oder  Müdigkeit,  Ärger  oder  Verliebtheit  und  tausend  andere 
vorübergehende  Stimmungen  bringen  auch  Schwankungen  des 
gesamten  persönlichen  Verhaltens  mit  sich,  Schwankungen,  die 
doch  gewisse  typische  Gleichmäßigkeiten  aufweisen. 

Indessen  selbst  innerhalb  dieser  typischen  Schwankungen 
zeigen  sich  individuelle  Besonderheiten.  Jeder  Mensch  hat 
seine  besondere  Art,  verliebt  oder  geärgert  zu  sein.  Der  Alkohol- 
oder der  Nikotingenuß  erzeugen  zwai  gewisse  typische  Wirkungen, 
daneben  aber  auch  durchaus  individuelle.  Dasselbe  Musikstück 
kann  den  einen  Menschen  erheitern,  den  anderen  aufregen;  ja, 
es  kann  auch  in  demselben  Menschen  ganz  verschiedene  Stimmungs- 
schwankungen, je  nach  der  zufälligen  Disposition,  hervorrufen. 
Auch  hier  kommt  die  oben  gekennzeichnete  Dreiheit  der  Wirkungs- 
möglichkeiten in  Betracht:  die  in  gleicher  Richtung  bewegende, 
die  in  andere  Richtung  treibende  und  die  eine  direkte  Reaktion 
hervorlockende. 

Auch  gradweise  unterliegen  die  verschiedenen  Individualitäten 
solchen  Schwankungen  in  verschiedenem  Ausmaße.  Nervöse  Menschen, 
Künstler,  Frauen,  Kinder,  sind  solchen  Schwankungen  besonders  zu- 
gänglich, sowohl  was  die  Häufigkeit  als  auch  was  die  Stärke  der  Schwan- 
kung anlangt.  Es  gibt  Fälle,  in  denen  die  Schwankung  so  stark  ist, 
daß  das  Individuum  selber,  wenn  es  in  den  normalen  Zustand  zurück- 
gekehrt ist.  gar  nicht  mehr  begreifen  kann,  wie  es  zu  den  in  jenem 
Schwankungszustand  begangenen  Handlungen  gekommen  ist.  Wieder- 
holen sich  diese  Schwankungszustände  in  gewisser  Regelmäßigkeit  in 
gleicher  Weise,  so  nähert  sich  die  Erscheinung  der  oben  beschriebenen 
,, Spaltung"  der  Persönlichkeit.  Solche  Schwankungen  werden  oft 
durch    die    äußere    Umgebung    hervorgerufen.       Bewegliche     Menschen 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  28  I 

geben  sich  im  Verkehr  mit  jedem  anderen  Menschen  als  besondere  In- 
dividuaHtäten,  reagieren  auf  jeden  ganz  anders.  Liest  man  z.  B.  den 
Briefwechsel  Richard  Wagners  und  vergleicht  man,  wie  grundverschieden 
er  sich  oft  am  selben  Tage  in  seinen  Briefen  an  Mathilde  Wesendonk 
und  Liszt  gibt^  so  zweifelt  man  oft  an  der  Identität  des  Briefschreibers. 
Ebenso  pflegt  die  Lektüre  eines  wirksamen  Buches  oft  zeitweise  „einen 
ganz  anderen  Menschen"  aus  einem  empfänglichen  Leser  zu  machen. 
Die  ganze  Art  des  Denkens  und  Fühlens  scheint  sich  unter  dem  Ein- 
fluß des  Kunstwerks  zu  ändern.  Das  ist  gradweise  verschieden.  Es 
gibt  jedoch  einen  ganz  bestimmten  Typus  von  Kunstgenießenden,  den 
ich  an  anderer  Stelle  als  den  „Mitspieler"  bezeichnet  habe,  der  sich 
Kunstwerken  gegenüber  seiner  eigenen  PersönUchkeit  fast  ganz  ent- 
äußert, während  „der  Zuschauer"  weit  mehr  er  selbst  bleibt. i) 

6.  Noch  ein  Weiteres  kommt  hinzu,  die  Variabilität  des  In- 
dividualitätsbegriffs ins  Unendliche  zu  steigern.  Im  Leben  handelt 
es  sich  ja  nicht  um  die  Individualität  ,,an  sich",  sondern  um  die 
,, Erscheinung"  derselben,  d.h.  die  Spiegelung  im  eigenen  Be- 
wußtsein oder  dem  anderer  Individualitäten.  Bedenken  wir  nun, 
daß  keiner  dieser  Spiegel  ,, objektiv"  ist,  sondern  aus  den  ver- 
schiedensten Gründen  mehr  oder  weniger  das  zu  spiegelnde  Bild 
einseitig  auffaßt  und  verzerrt,  so  scheinen  wir  uns  einer  fast  bur- 
lesken Phantasmagorie  gegenüber  zu  finden. 

Die  Gründe,  aus  denen  jeder  Mensch  eine  fremde  Individualität 
nicht  getreu  ,, spiegelt",  sind  teils  intellektueller,  teils  emotionaler 
Natur.     Da  nur  ganz  geringe  feste  Anhaltspunkte  gegeben  sind, 
in   der   Hauptsache  sich   unsere   Vorstellung  von   anderen    Indivi- 
dualitäten auf  Schlüssen  mancherlei  Art  aufbaut,  so  ist  ganz  klar, 
daß  schon  ein  starker  Intellekt  dazu  gehört,  um  hier  eine  richtige 
Schlußkette  zu  bilden.     Dazu  urteilen  wir  in  den  meisten  Fällen 
sehr  aus   der   Ferne,   sehen  nur  gröbste   Umrisse.      Kein   Wunder 
also,  daß  die  meisten  Vorstellungen,  die  wir  von  anderen  haben, 
grobe,    ganz   allgemeine    Schemata   sind,    die    voll   von    Irrtümern 
stecken.      Da   zudem  jede   Vorstellung  und   jeder   Begriff  danach 
strebt,  etwas  Dauerndes,  Konstantes  zu  sein,  das  Objekt  der  Vor- 
stellung und  des  Begriffs  in  unserm  Falle  aber  ein  beständig  sich 
wandelndes  Etwas  ist,  so  ergibt  sich,  daß  selbst  das,  was  vor  einem 
Jahre  annähernd  richtig  war,   heuer  ganz  falsch  sein   kann.     Es 
ist    z.  B.    bekannt,    daß    Eltern   selten   richtige    Bilder    von    ihren 
Kindern    haben,    weil    die    einmal    geprägten    Vorstellungen    aus 
früheren   Zeiten   immer   wieder   sich    vordrängen,    so   daß   sie    die 

^)  Vgl.  meine  Psychologie  der  Kunst.    Bd.  I.    Kap.  IV  (1912). 


282  Richard  Müller-Freienfels: 

unbefangene  Erkenntnis  versperren.  Handelt  es  sich  um  eine 
hervorragende,  außerordentliche  Persönlichkeit,  so  wird  die  Sache 
vollends  schlimm.  „Comprendre  c'est  egaler!"  Wir  nehmen 
letzten  Endes  alle  Maßstäbe  für  andere  aus  uns  selber.  Reichen 
diese  nicht  aus,  so  werden  die  Dimensionen  falsch.  Bedenken 
wir  nur,  was  harmlose  Pedanten  und  enge  Köpfe  für  Bilder  von 
eroßen  Genies  entworfen  haben!  Wie  ist  da  alles  banalisiert 
und  ins  kleine  herabgezogen!  Mit  vollem  Rechte  erwidert  Hegel 
auf  den  bekannten  Satz,  daß  niemand  vor  seinem  Kammerdiener 
ein  Held  sei,  —  das  sei  nicht  deshalb  so,  weil  der  Held  kein  Held, 
sondern  weil  der  Kammerdiener  ein  Kammerdiener  sei! 

Zu  diesen  intellektuellen  Schwierigkeiten  treten  die  emotio- 
nalen! Nichts  färbt,  entstellt  und  verzerrt  unsere  Vorstellungen 
von  anderen  Menschen  so  sehr  als  unsere  Gefühle.  Die  Liebe 
verklärt,  der  Haß  verhäßlicht.  Nicht  nur  von  Wallenstein  gilt, 
was  Schiller  von  ihm  sagt,  daß  sein  Charakterbild  von  der  Parteien 
Gunst  und  Haß  entstellt  in  der  Geschichte  schwanke.  Die  Nach- 
welt urteilt  ebenso  subjektiv  wie  die  Mitwelt,  nur  auf  Grund 
anderer  Gefühle.  Wenn  schon  die  Weltgeschichte  das  Weltgericht 
ist,  so  gilt  doch  auch  von  ihr,  daß  keines  ihrer  Urteile  endgültig 
ist.  Wie  hat  sich  z.  B.  gerade  Schillers  Bild,  der  jenen  Satz 
geprägt,  im  Urteil  der  Nachwelt  gewandelt,  und  welche  Wand- 
lungen wird  es  noch  weiter  erfahren!  Wie  sehr  hat  sich  unser 
Begriff  von  Boecklin  z.  B.  im  Laufe  des  letzten  Menschenalters 
gewandelt.  Erst  war  er  ein  seltsamer  Sonderling,  dann  ein  über- 
ragendes Genie,  dann  ein  mittelmäßiger  Mahr,  der  das  Wesen 
seiner  Kunst  gar  nicht  erfaßte!  Bei  alledem  handelt  es  sich  nicht 
um  bloße  gefülilsmäßige  Werturteile,  nein,  um  ganz  greifbare 
Sachurteile!  Denn  nicht  nur  die  Werturteile  werden  durch  die 
sachlichen  Urteile  bedingt,  sondern  mindestens  ebensosehr  hängen 
die  Sachurteile  von  den  Werturteilen  ab.  Die  meisten  Menschen 
sind  blind  für  die  Vorzüge  ihrer  Feinde  und  die  Fehler  ihrer  Freunde. 
So  kommt  es  denn,  daß  es  genau  soviel  Vorstellungen  von  einer 
Persönlichkeit  gibt,  als  es  vorstellende  Personen  gibt! 

Aber  nicht  allein  die  anderen  Menschen  haben  keine  adäquaten 
Begriffe  von  unserer  Individualität — wir  selber  haben  sie  in  der 
Regel  nicht.  Eine  völlige  Erkenntnis  vom  eigenen  Ich  ist  un- 
möglich !  Gewiß,  unsere  einzelnen  Seelenerrcgungen  erleben  wir 
unmittelbar,  sobald  wir  aber  über  das  Momentanerlebnis  hinaus 
eine  Vorstellung  oder  einen  Begriff  unseres  Selbst  zu  bilden  ver- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  28^ 

suchen,  verarbeiten  wir  das  unmittelbar  Erlebte  unter  Zuhilfe- 
nahme mannigfacher  Kategorien  und  heben  so  jene  Unmittelbar- 
keit vollkommen  auf.  Dazu  treten  emotionale  Färbungen.  Jeder 
Mensch  spielt  mehr  oder  weniger  vor  sich  selbst  Theater,  unbewußt, 
aber  auch  zuweilen  bewußt.  Man  sieht  sich  so,  wie  man  sich  sehen 
möchte!  Jeder  Mensch  trägt  ein  Idealbild  von  sich  selbst  im 
Herzen  und  modifiziert  danach  seine  Realvorstellung  von  sich. 
Vor  allem  handelt  es  sich  dabei  um  Wertverhältnisse,  die  aber 
auch  die  rein  tatsächlichen  Gegebenheiten  verschieben!  Die  Ge- 
schichte erzählt,  welch  seltsame  Vorstellungen  manche  Menschen 
von  sich  selber  hatten!  Selbst  ein  so  glänzender  Selbstbeobachter 
wie  Goethe  hat  sich  —  so  urteilt  die  Nachwelt  auf  Grund  von 
Tatsachen  —  über  sich  selber  in  vielen  Punkten  getäuscht.  Wie 
unendlich  viel  mehr  muß  das  bei  schlechten  Selbstbeobachtern 
der  Fall  sein! 

7.  Wir  haben,  ohne  Vollständigkeit  auch  nur  anzustreben, 
an  bezeichnenden  Beispielen  aufzuzeigen  versucht,  wie  außer- 
ordentlich schwer  faßbar  die  ,, Individualität"  ist.  Sic  erscheint 
als  ein  Komplex,  der  kein  festes  Zentrum  und  noch  weniger  eine 
feste  Peripherie  hat,  der  sich  mit  anderen  verv^^andten  Komplexen 
kreuzt  und  schneidet,  der  seine  Art  beständig  wandelt,  der  sich 
zu  spalten  scheint,  und  von  dem  zwar  zahlreiche  Erscheinungs- 
formen existieren,  von  dem  aber  außerordentlich  schwer  fest- 
zustellen ist,  was  er  denn  wirkhch  und  ,,an  sich"  ist.  Man  muß 
sich  angesichts  dieser  Tatsachen  wundern,  daß  dennoch  im 
Leben  überall  stillschweigend  eine  Faßbarkeit  und  konstante  Iden- 
tität der  Persönlichkeit  angenommen  wird.  Man  redet  von 
jenem  Knaben  J.  W.  Goethe,  der  seines  Vaters  Geschirr  zum 
Fenster  hinauswarf,  und  jenem  Greis,  der  den  ,, Chorus  mysticus" 
schrieb,  als  ,, demselben"  Menschen.  Und  jener  andere,  der 
für  deutsche  Gotik  schwärmend  das  Straßburger  Münster  er- 
klomm, und  jener  andere,  der  sich  in  Rom  als  Römer  fühlte,  und 
jener,  der  Frau  von  Stein  liebte  und  bald  darauf  Christiane  Vulpius 
heiratete,  war  das  immer  , .dieselbe"  Individualität?  Ist  es  nicht 
eine  noch  größere  Willkür,  wenn  wir  hier  von  ,,  Identität"  sprechen, 
als  wenn  wir  ein  paar  Gletscherbäche  am  St.  Gotthard  und  den 
breiten,  trüben  Strom,  der  durch  Hollands  Deiche  flutet,  mit  dem- 
selben Namen  als  ,, Rhein"  bezeichnen? 

Nein,   täuschen  wir   uns   nicht   darüber!      Die    Individualität, 
wie  sie  sich  einer  genaueren  Analyse   darstellt,   ist  etwas  durch- 


I 


284 


Richard  Müller- Freienfels: 


aus  Irrationales.  Sic  entzieht  sich  der  logischen  Fassung,  weil 
sie  weder  scharf  umgrenzt  werden  kann,  noch  eine  konstante 
Identität  aufzuweisen  hat.  Und  dabei  haben  wir  ans  in  unseren 
Betrachtungen  nur  auf  dem  Boden  der  Erfahrung  bewegt!  Alles 
Transzendente  und  Metaphysische  schieden  wir  streng  aus,  obwohl 
unter  diesen  Gesichtspunkten  das  Irrationale  der  Persönlichkeit 
noch  stärker  hervortreten  würde.  Indessen  wollen  wir  auch 
weiterhin  im  wesentlichen  allein  uns  an  die  psychologische  Ana- 
lyse halten  und  allein  unter  diesen  Gesichtspunkten  das  Problem 
erörtern. 

Kapitel  II.    Rationale  Elemente  der  Individualität. 

I.  Angesichts  dieser  unbestreitbaren,  durch  Selbstanalyse  wie 
durch  objektive  Feststellungen  erweisbaren  Irrationalität  des  im 
Individualitätsbegriff  bezeichneten  Tatbestandes  muß  es  fast 
wundernehmen,  daß  man  trotzdem  überall  im  Leben  und  auch 
in  der  Wissenschaft  die  Individualität  wie  eine  umgrenzbare, 
konstante  Größe  behandelt.  Man  hat  sie  wohl  als  ,, Monade", 
als  ,,Entelechie"  oder  ähnlich  bezeichnet  und  durch  oft  seltsame 
dialektische  Manöver  die  sich  aufdrängenden  Widersprüche  zu 
beseitigen  gesucht.  Man  ging  dabei  —  bewußt  oder  unbewußt  — 
von  der  Annahme  aus,  daß  es  innerhalb  des  Gesamtphänomens 
gleichsam  einen  festen  Kern  gäbe,  der  im  Wechsel  beharrte  und 
neben  dem  alles  sich  Wandelnde  nur  ,,akzidentieH"  wäre.  In 
einem  solchen  hypothetischen  ,,Kern"  der  Individualität  glaubte 
man  den  inneren  Grund  für  die  Handlungen  und  die  Denkweise 
eines  jeden  Menschen  erfassen  zu  können.  In  diesem  Sinne  heißt's 
in  Schillers  Wallenstein  (Wallensteins  Tod   II,  3): 

,,Hab  ich  des  Menschen  Kern  erst  untersucht. 
So  weiß  ich  auch  sein  Wollen  und  sein  Handeln." 

Letzten  Endes  steckt  auch  in  diesem  Einzelproblem  die  alte 
metaphysische  Vorstellung  der  Substanz  mit  ihren  Akzidentien, 
die  von  jeher  gerade  bei  der  Anwendung  auf  Singuläres  ihre  Wider- 
sprüchlichkeit offenbarte.  Ohne  dem  hier  nachzugehen,  suchen 
wir  nur  die  Anhaltsmomente  zu  ergründen,  die  den  Glauben  an 
einen  solchen  ,,Kern"  der  Individualität  psychologisch  möglich 
machten.  Und  zwar  scheinen  drei  Tatsachen  hierbei  zusammen- 
gewirkt zu  haben.  Erstens  läßt  sich  innerhalb  des  mannigfachen 
Wechsels    dennoch    eine    gewisse    Kontinuität    feststellen,    die 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  28  t; 

man  irrtümlicherweise  als  „Identität"  nahm.  Zweitens  gibt  es 
innerhalb  der  sich  wandelnden  Tatbestände  solche,  die  sich  sehr 
langsam  wandeln,  so  daß  man  immerhin  von  einer  relativen 
Konstanz  bei  ihnen  reden  könnte.  Und  drittens  besteht  in  der 
Seele  ein  subjektives  Bewußtsein  einer  Identität  der  Persön- 
lichkeit, das  sich  trotz  aller  es  widerlegenden  Tatsachen  erhält. 
Auf  diese  drei  Momente  baut  sich  jeder  Versuch  auf,  die  Indivi- 
dualität zu  rationalisieren,  d.  h.  innerhalb  der  unumgrenzbaren, 
sich  wandelnden  Mannigfaltigkeit  einen  faßbaren,  identischen  Tat- 
bestand herauszulösen  und  ihn  als  das  Wesen  der  Individualität 
dem  sich  Wandelnden  als  dem  Zufälligen  und  Nebensächlichen 
gegenüberzustellen. 

Zu  Hilfe  kommt  solchen  Versuchen  als  negativer  Grund  noch  der 
Umstand,  daß  wir  in  der  Praxis  des  Lebens  den  Wandlungen  der  In- 
dividualität wenig  Beachtung  schenken,  ja,  daß  sie  überhaupt  schwer 
festzustellen  sind.  Das  ist  nicht  nur  gegenüber  anderen  der  Fall,  deren 
geistige  Verhältnisse  wir  stets  nur  auf  Grund  sehr  minimaler  Anhalte 
erschließen,  es  gilt  auch  von  uns  selbst.  Wir  werden  uns  der  eigenen 
Wandlungen  in  der  Regel  wenig  bewußt,  weil  das  frühere  Stadium  im 
späteren  aufgeht,  nicht  ihm  als  Gegenwärtiges  konfrontiert  werden 
kann.  Auch  das  Gedächtnis  ist  da  eine  zweifelhafte  Hilfe;  d.  nn  unsere 
Erinnerungen  wandeln  sich  mit  uns,  bleiben  nicht  unverändert  wie 
Akten  im  Schranke  in  den  Ganglienzellen  des  Hirns  verstaut,  sondern 
nehmen  Farbe  und  Form  der  späteren  Lebensepochen  an.  Selbst  wenn 
wir  uns  die  größte  Mühe  geben,  können  wir  als  Vierzigjährige  nicht 
denken  und  fühlen,  wie  wir  als  Fünfzehnjährige  gedacht  und  gefühlt 
haben.  Kommt  uns  einmal  ein  wirkliches  Dokument  aus  unserer  Ver- 
gangenheit, etwa  ein  Brief,  den  wir  vor  Jahren  geschrieben  haben,  zur 
Hand,  dann  erst  bemerken  wir  mit  Erstaunen,  wie  sehr  wir  uns  ge- 
wandelt haben.  In  der  Regel  sehen  wir  auch  die  eigene  Vergangenheit 
durch  die  Brille  der  Gegenwart  und  legen,  wenn  wir  uns  eine  Vorstellung 
von  uns  selbst,  wie  wir  einstmals  waren,  machen,  ganz  unbewußt  unsere 
jetzigen  Gefühle  und  Denkweisen  unter.  Außerdem  verstärkt  ein  perio- 
disches Wiederkehren  früherer  Stimmungen  und  Gedanken  in  uns  das 
Gefühl,  daß  sie  —  wenn  auch  zeitweilig  ausgeschaltet  --  doch  immer 
unverändert  weiter  dauerten.  Trotzdem  dürfen  alle  diese  Momente 
nicht  darüber  täuschen,  daß  es  in  der  Seele  nichts  wirklich  Kon- 
stantes gibt;  höchstens  relativ  konstante,  d.  h.  langsam  und  kon- 
tinuierhch  sich  wandelnde  Tatbestände  gibt's  in  der  Seele  innerhalb 
des  kaleidoskopartigen  Durcheinanderrinnens  der  Gesamtheit  des  psy- 
chischen Lebens,  und  diese  relativ  konstanten  und  kontinuieriichen 
Dinge  seien  darum  zunächst  herausgearbeitet. 

2.    Als  sichtbarer,  äußerer  Vertreter  einer  mit  sich  selbst  iden- 
tischen Persönlichkeit  gilt  in  der  Regel  die  äußere  Erscheinung, 


286  Richard  Müllcr-Frcienfels : 

d.  h.  der  Leib.  Handelt  es  sich  dabei  im  Hinblick  auf  die  Gesamt- 
heit der  Individualität  nur  um  eine  konkrete  Repräsentation,  so 
ist  doch  der  Leib  als  lokalisierbares,  physisch  notwendiges  Zentrum 
der  mannigfach  ausstrahlenden  Persönlichkeitsbeziehungen  immer- 
hin wichtig  genug,  so  daß  Maohs  oft  angeführte  scherzhafte 
,, Zeichnung  des   Ich"  nicht  ganz  sinnlos  ist.*) 

Indessen  ist  auch  der  Leib  keineswegs  eine  konstante  Iden- 
tität. Wie  er  nur  durch  Abstraktion  isolierbar  ist  von  seiner  Um- 
gebung, so  ist  er  auch  nur  durch  Abstraktion  von  sehr  zahlreichen 
Wandlungen  als  Konstante  anzusehen.  In  Wirklichkeit  besteht 
sein  Leben  in  einem  ununterbrochenen  Ersatz  der  sich  ver- 
brauchenden Baustoffe  durch  neue.  Nach  wenigen  Jahren  ist 
material  von  dem  heute  vorhandenen  Leibe  nichts  mehr  vor- 
handen, obwohl  äußerlich  die  Form  einigermaßen  geblieben  ist. 
Sehr  geistreich  vergleicht  Lotze  das  Beharren  des  Leibes  mit 
dem  eines  Wirbels,  den  ein  besonders  gestaltetes  Hindernis  im 
Flußbett  eines  Stromes  erzeugt.  ,, Solange  die  Form  des  Fluß- 
betts dieselbe  sein  und  solange  die  Wellen  zuströmen  werden, 
wird  unaufhörlich  sich  dies  Spiel  der  Bewegung  erneuern,  in  immer 
gleicher  Gestalt,  scheinbar  unverändert,  obwohl  es  doch  von  Augen- 
blick zu  Augenblick  andere  Fluten  sind,  die  kommend  es  erzeugen 
und  gehend  es  verlassen. "2)  —  Aber  selbst  die  Form  des  Leibes 
ist  nicht  wirklich  dauernd.  Oft  ändern  sich  die  Menschen  äußer- 
lich in  wenigen  Jahren  derart,  daß  sie  von  ihren  besten  Freunden 
nicht  wiedererkannt  werden,  wenn  diese  die  Wandlungen  nicht 
allmählich  miterlebt  haben.  Trotzdem  nimmt  man  in  der  Praxis 
des  Lebens  die  allmähliche,  kontinuierliche  Wandlung  als  relative 
Identität  hin. 

3.  Ähnhch  ist's  mit  der  geistigen  Persönlichkeit.  Bei  ihr 
gehen  die  Wandlungen  sogar  viel  rascher  und,  wenn  man  bei  ihr 
von  Kontinuierlichkeit  reden  will,  so  muß  man  eine  nur  erschlicßbare 
Latenzzeit  des  Bestehens  annehmen.  Das  tun  wir  denn  auch  in 
der  Regel  und  nehmen  an,  daß  die  Vorstellungen,  die  wir  als  Dauer- 
bestände der  Seele  ansehen,  im  Unterbewußtsein  oder  als  Dis- 
position ein  kontinuierliches,  wenn  auch  latentes  Dasein  führen 
und  nur  zuweilen,  wie  ein  mitgewirbeltes  Holz  in  stark  bewegtem 


')  Vgl.  Analyse  der  Empfindungen.     Kap.  II. 
^  Lotze,  Mikrokosmus.     I.    S.  154. 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  28/ 

Strome,  an  die  Oberfläche  tauchen.  ^)     Höchstens  in  diesem  Sinne 
wäre   von  einer  materialen   Identität  der  geistigen   Persönhchkeit 
zu  reden.     Ihr  Träger  wäre  vor  allem  das  Gedächtnis.     Indessen 
zeigt  genaues  Betrachten,  daß  das  Gedächtnis  ein  sehr  undichter 
Behälter  ist,  der  nicht  nur  beständig  beträchtliche  Mengen  seines 
Inhalts  entweichen  läßt,  der  auch  diesen  Inhalt  selber  keineswegs 
unverändert    bewahrt.      Der    Bestand    unserer    Gedächtnisinhalte 
wechselt    unablässig,    wir    lernen    und    erfahren    Neues,    vergessen 
Altes,  und  das,  was  bewahrt  bleibt,  ändert  sich  doch  sehr  wesentlich. 
Das    Gedächtnis    in   seiner    Gesamtheit    kann   also   kaum   als 
dauernder   Kern   der    Seele   angesehen   werden.      Dagegen   scheint 
es   innerhalb  des  Gedächtnisses    einen    Teilbestand    zu    geben,    der 
sich  als  ruhender  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht  vielleicht  be- 
wahrt.    Das  wären  vor  allem  die  ganz  persönlichen  Erinne- 
rungen, die  wir  einerseits  nur  für  uns  allein  haben,  die  wir  anderer- 
seits  treu   bis   ins   höchste   Alter   bewahren.      Indessen  sind   auch 
diese    Dinge    keineswegs   unveränderlich,    vor   allem   aber   machen 
sie  in  der   Gesamtheit  der   Persönlichkeit  doch  nur  einen  so  ge- 
ringen Teilbestand  aus,  daß  man  sie  vielleicht  als  einen  Ariadne- 
faden ansehen  kann,   an  dem  man  sich  in  die  eigene  Vergangen- 
heit  zurücktasten   kann,    der   aber   weit   davon   entfernt    ist,    die 
Gesamtheit   dieser   Vergangenheit   selber   zu   sein.     Was   als    Er- 
innerung in  uns  dauert,  ist  nur  ein  so  geringer  Bruchteil  unseres 
Gesamterlebens,   dazu  so  schematisiert  und  entstellt,   daß  er  un- 
möglich als  v/irklicher  Kern  der  Persönlichkeit  gelten  kann. 

4.  Wenn  also  auch  ein  kleiner  Besitz  relativ  dauernden  Ge- 
dächtnisinhalts in  unserem  Leben  mitgleitet,  wie  ein  paar  Eis- 
schollen in  beständig  sich  erneuerndem  und  wachsendem  Strome, 
so  ist  dieser  Besitz  doch  nicht  imstande,  eine  wirkliche  Identität 
der  Persönlichkeit  begründen  zu  können.  Da  diese  also  nicht 
material  ist,  so  versucht  man,  sie  vielleicht  in  funktionalen 
Tatsachen  zu  sehen.  Vielleicht,  so  meint  man,  daß  zwar  der  In- 
halt der  Seele  wechsle,  daß  jedoch  jenseits  dieses  Inhalts  das 
Gefäß,   das   ihn  umschließt,   der  Träger,   der  ihn  mit  sich  führt, 

beharrt. 

Nun  pflegt  man  seit  alters  in  ethischen,  religiösen  und  philo- 
sophischen   Schriften    innerhalb    der    mannigfachen    Erscheinungs- 


^)  Vgl.  zu  diesem  und  dem  Folgenden   Kap.  I  meines   Buches:   Das   Denkea 
und  die  Phantasie,  191 6. 


2S8  Richard  Müller- F'reienfels: 

formen  der    Individualität  ein   Etwas  auszusondern,   das  man  als 
,,das  wahre   Ich"  des  Menschen  ansieht.     Soweit  es  sich  dabei 
nicht  um  ein  geistiges  Destillat,  eine  bewußte  Aussonderung  unter 
den    Möglichkeiten    der     Individualität    handelt    (es    wird    davon 
später  die   Rede  sein),   meint   man  damit  das   Substrat  der   Per- 
sönlichkeit,   den    materiellen    oder    metaphysischen    Träger    der 
wechselnden     Erscheinungsformen     der     Persönlichi:eit.       Manche 
Autoren  sehen  als  diesen  Träger  oder  dies  Substrat  den  Leib  an; 
das  tun  vor  allem  die  Parallelisten.     Andere  nehmen  eine  Seelen- 
substanz an,  die  mit  dem  Leibe  nur  in  Wechselwirkung  stehe.  ^) 
Wir  gedenken  uns  nicht  in  eine   Diskussion  dieser   Probleme 
einzulassen,  da  uns  hier  nur  eine  Teilfrage  derselben  interessiert, 
die   nämlich:    Ist   die    Individualität  bereits  mit  diesem  ,, Träger" 
oder   diesem    ,, Substrat"    gegeben   oder   sind    diese    ,, Träger"    der 
Individualitäten  bei  allen  Menschen  gleich .''     Da  ich  diese  Fragen 
an    anderer    Stelle    ausführlich    behandelt    habe,    so    verweise    ich 
darauf^),   rekapituliere    nur   ganz   kurz  das   Wichtigste,   soweit   es 
für    unsere    Fragestellung   in    Betracht    kommt.    —    Gewiß   ist   es 
möglich,  ein  solches  ,, funktionales  Ich",  ein  ,, erkenntnistheoretisches 
Subjekt",    das   einen  festen   Kern  jeder    Individualität   bildet,   zu 
erschliei3en.    Aber  einerseits  bleibt  es  ein  in  abstracto  Erschlossenes, 
andererseits  ist  es  als  der  allen  menschlichen   Seelen  gemeinsame 
funktionale    Kern    gerade    der    Ausschluß    jeder    Individualität. 
Es  kann  sehr  wertvoll  sein,  die  Funktion  des  Empfindens  dem 
Inhalt    des    Empfindens,    also    dem    ,, Empfundenen"    gegenüber- 
zustellen und  ebenso  die  Funktionen  des  Vorstellens,  des  Denkens 
usw.  vom  Vorgestellten,   vom  Gedachten  zu  unterscheiden.    Aber 
man    gerät   dabei   in  ein   Dilemma:   Entweder   nimmt   man   jenes 
funktionale    Ich   so   allgemein,    daß  es   bei   allen   Menschen   gleich 
ist:  dann  sagt  es  nichts  zu   unserem  Thema.     Oder  man  nimmt 
auch    innerhalb    der    Träger    bereits    Verschiedenheiten    an:    dann 
ist  das   Problem  der    Individualität   etwas  verschoben,   ohne   daß 
wir   doch    eine    Lösung   des    gesamten    Problems   davon   erwarten 
dürfen. 

Wir  stellen  hier  also  fest,  daß  mit  der  Annahme  eines  Ich- 
substrats an  sich  ein  fester  Kern  innerhalb  der  Wandlungen  der 

*)  Von  neueren  Forschern  behandeln  diese  Probleme  vor  allem  Th.  Lipps, 
Oesterreich,  Becher  u.  a. 

*)  In  meinem  Buche  ,, Persönlichkeit  und  Weltanschauung".  Teubner  (in 
Vorbereitung). 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  28Q 

Individualität,  der  eine  Identität  derselben  begründete  und  doch 
gestattete,  die  verschiedenen  Individuahtäten  voneinander  zu 
scheiden,  nicht  zu  gewinnen  ist,  auch  darum  nicht,  weil  die  In- 
halte des  Geistes  ebenfalls  sehr  wesentlich  für  die  Persönlich- 
keit sind. 

5.    Tiefer   in  dies   Problem  führt   uns  die   Methode   der  dif- 
ferentiellen    Psychologie,    die    sich    nicht    mit    der    Ermittlung 
eines  allgemeinen  Ichsubstrats  genügen  läßt,  sondern  die  Struk- 
tur der  konkreten  Individualitäten  untersucht  und  miteinander 
vergleicht.     Sie  kommt  dabei  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  einzelnen 
seelischen  Funktionen  nicht  bei  allen  Menschen  im  gleichen  Ver- 
hältnis zueinander  stehen.     Auf  diesen  Unterschied  der  Funktions- 
verhältnisse baut  sie  ihre  Sonderung  der  Individualitäten  in  Typen- 
gruppen auf.    Dieses  Prävalenzverhältnis  der  Funktionen  nun, 
das  als   Unterscheidungsmerkmal  zwischen  den  verschiedenen   In- 
dividuen  gilt,    kann   auch    als    durchgehendes    Ubereinstimmungs- 
merkmal  für  die  einzelnen  Phasen  derselben  Individualität  heran- 
gezogen werden.     Natürlich  steht  mit  dem  Hervor-  bzw.  Zurück- 
treten einzelner  seelischer   Funktionen  auch   ein   Hervor-   bzw. 
Zurücktreten  einzelner   Gebiete  seelischer   Inhalte  in  engem  Zu- 
sammenhang.      Ein    absolutes,     unw^andelbares     und    unfehlbares 
Kennzeichen    ist    damit    aber    keineswegs    gegeben.      Denn    jenes 
Prävalenzverhältnis    kann    sehr    wechseln.      Eine    Dosis    Alkohol 
bewirkt  in  jedem  Menschen  in  kürzester  Frist  eine  radikale  Ver- 
schiebung.    Die   Wahrnel.mungs-   und   Urteilsfähigkeit  wird  stark 
herabgesetzt,   die   Hemmungen  werden  geringer,   das   Begehrungs- 
leben   entfesselt.      Neuere    Untersuchungen    haben    uns    über    die 
Wirkung  verschiedenster  Toxine  nach  dieser  Richtung  interessante 
Feststellungen    erbracht. i)      Auch    andere    äußere    Einwirkungen 
können  das  Verhältnis  verschieben.     Ein  Mensch,   in  dem  jahre- 
lang  das   erotische    Leben   zurücktrat,    kann   plötzlich   durch   ein 
erotisches    Erlebnis   auf    Jahre   hinaus   völlig   verwandelt   werden, 
so  daß  er  zum  Erstaunen  seiner  Umgebung  bisher  heiß  erstrebte 
Ziele  fahren  läßt,   nur  um  in  den  Besitz  der  begehrten  Frau  zu 
kommen.    Vor  allem  aber  das  oben  besprochene  typische  Phäno- 
men  der   „Reifung"   bedingt   in   jedem   Menschen   typische,    aber 
keineswegs    bei    allen    Individuen    ganz    parallele    Verschiebungen 
der  seelischen  Prävalenzverhältnisse,  wofür  wir  oben  bereits  Bei- 


^)  Vgl.  besonders  die  Untersuchungen  Kräpelins  und  seiner  Schule, 
Annalen  der  Philosophie,    I.  9 


290 


Richard  Müller-Freienfels: 


spiele  crbnicht  haben.  Kurz,  ein  absolutes  Merkmal  der  Über- 
einstimmung zwischen  verschiedenen  Phasen  der  Individualität 
haben  wir  auch  im  Prävalenzverhältnis  der  Funktionen  nicht. 

Die  differentielle  Psychologie  schlägt  einen  mittleren  Weg  zwischen 
der  ganz  schematischen  allgemeinen  Psychologie  und  einer  ganz  kon- 
kreten Individualpsychologie  ein.^)  Ihre  Typen  sind  ein  Mittleres  zwischen 
dem  allgemeinen  Ichsubstrat  und  der  Buntbewegtheit  der  konkreten 
Einzelseele.  Indem  die  differentielle  Psychologie  individuelle  Ver- 
schiedenheiten berücksichtigt,  ordnet  sie  dieselben  doch  in  Gruppen, 
Schon  darum  können  die  Typen  der  differentiellen  Psychologie  nicht  als 
wirklich  individuelle  Feststellungen  gelten. 

Immerhin  gehören  die  Besonderheiten  der  seelischen  Struktur, 
wozu  auch  die  erlernten  Gewohnheiten  neben  angeborenen  An- 
lagen zu  rechnen  sind,  zu  den  für  die  Rationalisierung  der  In- 
dividualitäten wichtigsten  Anhalten.  Sind  sie  auch  nicht  ein 
wirklich  dauernder  Kern  der  Seele  von  monadenhafter  Isoliert- 
heit und  Konstanz,  so  ermöglichen  sie  doch  eine  gewisse  Voraus- 
berechnung aus  der  Vergangenheit  für  die  Zukunft.  Auf  sie  vor 
allem  gründet  sich  der  Glaube  an  einen  festen,  dauernden  Charakter, 
und  ihre  Erforschung  ist  daher  ohne  Zweifel  ein  wertvolles  Ziel 
der  Wissenschaft. 

6.  Nun  hat  man  darauf  hingewiesen,  daß  man  —  da  sich 
ein  objektiver  Anhalt  für  die  Identität  der  Persönlichkeit  nicht 
findet  —  doch  in  dem  spezifischen  Lebensgefühl  jedes  Menschen 
einen  subjektiven  Kitt  für  die  Mannigfaltigkeit  der  seelischen  Phäno- 
mene sehen  dürfe.  Dies  spezifische  Lebensgefühl  soll  der  gemein- 
same Untergrund  sein,  über  dem  die  einzelnen  Gefühle  und  Af- 
fekte, wie  sie  die  Berührung  mit  der  Außenwelt  in  uns  hervor- 
ruft, nur  die  wechselnden  Wellen  seien.  Nun  hat  bereits  Oester- 
reich,  der  eine  ausführliche  Analyse  dieses  Gemeingefühls  ge- 
geben hat,  mit  Recht  bemerkt,  daß  auch  dies  Gemeingefühl  nur 
ein  Zustand  des  Ich,  nicht  das  Ich  selber  sei.^)  Für  unsere  Zwecke 
aber  kommt  vor  allem  der  Umstand  in  Betracht,  daß,  selbst  wenn 
man  das  Dasein  und  die  repräsentative  Bedeutung  dieses  Ich- 
gefühls in  weitestem  Umfange  zugibt,  es  doch  für  die  Rationa- 
lisierung gar  keinen  Anhalt  gibt.     Als   Gefühl  ist  es  für  die  be- 


*)  Über  Methoden  und  Prinzipien  der  differentiellen  Psychologie  gibt  den 
"besten  Überblick  W.  Stern,  Die  differentielle  Psychologie,  191 1.  Dazu  Müller- 
Freicnfels,  Persönlichkeit  und  Weltanschauung,  I.  Buch. 

*)  Vgl.  Ocsterreich,  Phänomenologie  des  Ich,  S.  3i9ff. 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  201 

griffliche  Erfassung  ziemlich  inkommensurabel.  Und  dabei  kann 
man  seine  reale  Existenz  noch  in  Zweifel  setzen  und  sehr  ernst- 
haft fragen,  ob  es  nicht  eine  abstrakte  Verallgemeinerung  oder 
Verwaschung  der  Einzelzustände  der  Seele  sei. 

7.  Vielleicht  könnte  man  geneigt  sein,  eine  dominierende 
Willensrichtung  als  Identitätsmoment  anzuführen.  Man  könnte 
darauf  hinweisen^  daß  bei  manchen  Menschen  das  ganze  Leben  von 
einem  einheitlichen  Willensziel  beherrscht  gewesen  sei.  Man  könnte 
auf  Roh.  Mayer  verweisen,  dessen  ganzes  Dasein  auf  die  Bezwingung 
des  einen  Problems  der  Erhaltung  der  Energie  gerichtet  scheint;  man 
könnte  an  Richard  Wagner  erinnern,  dessen  Leben,  Schaffen  und  Denken 
ganz  in  dem  Zentralgedanken  des  ,, Musikdramas"  zu  gipfeln  scheint^ 
Allerdings  sage  ich  mit  Absicht  „scheint".  Denn  genaueres  Hinsehen 
zeigt,  daß  selbst  bei  Monomanen  eine  derartige  Einheit  des  Lebens- 
willens nur  scheinbar  ist,  weil  sie  stark  in  die  Augen  fällt.  Sie  ist  eine 
ziemlich  zusammenhängende  und  stark  hervortretende  Strömung  in 
dem  mannigfachen  Fluten  des  individuellen  Lebens,  aber  nie  auch  an- 
nähernd dessen  ganzer  Gehalt.  Man  darf  überhaupt  Einheit  nicht  mit 
Identität  verwechseln.  „Einheit"  kann  überhaupt  verschiedenes  be- 
deuten. Gewiß  ist  die  Seele  in  jedem  Augenblick  eine  Einheit  in  dem 
Sinne,  daß  sie  nur  auf  eine  Hauptaktion  zur  selben  Zeit  sich  zu  kon- 
zentrieren pflegt,  aber  von  einer  Dauer  dieser  Einheit  kann  keine  Rede 
sein;  im  Gegenteil,  Konzentration  ist  nur  bei  wechselndem  Verhalten 
der  Seele  denkbar.  Wir  erwähnten  schon  an  anderer  Stelle,  daß  von 
Dauer  nur  im  Sinne  eines  öfteren  Wiederkehrens  in  der  Seele  die  Rede 
sein  kann.  Zweitens  kann  aber  mit  „Einheit"  auch  das  äußere  Ziel, 
die  dominierende  Idee,  gemeint  sein.  Aber  diese  ist  in  den  von  uns  er- 
wähnten Fällen  höchstens  eine  Richtung,  kein  fertiges  Objekt.  Das 
soll  sie  ja  durch  die  Tätigkeit  des  Individuums  erst  werden.  Sie  ist 
eine  ungefähre  „Einstellung",  die  sich  jedoch  beständig  wandelt  und 
die  wohl  innerhalb  der  Vielheit  der  seelischen  Phänomene  eine  domi- 
nierende Stellung  einnimmt,  aber  auch  selbst  im  extremsten  Falle  nicht 
die  ganze  Vielheit  in  sich  schließt.  Soweit  eine  solche  einseitige  und 
einheitliche  Willensrichtung  in  der  Struktur  der  Seele  bedingt  ist,  ge- 
hört sie  unter  die  Betrachtung  der  Prävalenz  der  seelischen  Funktionen^i 
Eine  konstante  Identität  der  Seele  kann  eine  solche  dominierende  Willens- 
richtung niemals  begründen. 

8.  Alles  in  allem  können  wir  in  der  irrationalen  Fülle  der 
Persönlichkeitsphänomene  zwar  einige  hervorheben,  die  eine  ge- 
wisse Kontinuierlichkeit  aufweisen  und  deren  Wandlungen  so 
langsam  vor  sich  gehen,  daß  sie  als  relativ  feste  Bestandteile  im 
Wechsel  angesehen  werden  und  daher  zu  Anhalten  einer  un- 
gefähren Rationalisierung  dienen  können.  Indessen  geht  wohl 
gerade  aus  der  Betrachtung  dieser  relativ  dauernden  Dinge  hervor, 
^'ie   wenig  sie  wirklich  imstande  sind,   die   Totalität  der   Persön- 

19» 


202  Richard  Müller-Freienfels: 

lichkcit  za  umspannen.    Wir  wollen  gewiß  die  Individualität  nicht 
als  sinnloses  Chaos  hinstellen:  Es  gibt  in  ihr  genug,  was  sie  dar- 
über erhebt.     Aber  gerade   diese   ordnenden   Momente   sind   zum 
Teil  allgemein-menschlich,    d.  h.   nicht   individuell,   zum   Teil  sind 
sie  doch  viel  zu  zerfließend,  um  feste  Fundamente  für  einen  streng 
logischen  Aufbau  zu  bieten.    Was  die   Struktur  der  individuellen 
Seele  anlangt,  so  ist  zwar  eine  gewisse  Besonderheit  der  Proportion 
ihr  eigen,  die  aber  keineswegs  völlige  Verschiebungen  ausschließt. 
Im    Gegenteil,    es    ist    festzustellen,    daß   jedes    Individuum   trotz 
einer    gewissen    Prävalenz    doch    auch    (von    pathologischen    Aus- 
fällen abgesehen)  die  nichtprävalierenden  Funktionen  besitzt,   die 
gelegentlich    doch    zur    Vorherrschaft    gelangen    können,    so    daß 
jedes   Individuum  ganz  unberechenbare  Möghchkeiten  birgt.    Und 
was  die  ,, Inhalte"  der  Seele  anlangt,  so  besteht  zwar  ein  gewisser 
,,  Stamm",  aber  auch  hier  sind  die  Möglichkeiten  ganz  unberechenbar 
und  es  gibt   kaum  einen   Inhalt,   der  prinzipiell  nicht   von   jeder 
Individualität  umfaßt  werden  könnte.    Jedenfalls  sind  diese  wenigen 
relativ    ,, festen"    Bestandteile    der    Individualität    nicht    im    Ent- 
ferntesten   als    monadenhafte    Substanz    anzusehen,    in    der    man 
eine    immanente    Kausalität    der    individuellen    Lebensäußerungen 
zu  suchen  hätte.     Im  Gegenteil,  keine  einzige  menschliche  Hand- 
lung ist  aus   einer  solchen  rationalen   Monade   heraus   zureichend 
zu    determinieren.     Von    groben   Verallgemeinerungen    abgesehen^ 
ist  jede  menschliche   Handlung  irrational,   d.  h.   ihre   kausale   Be- 
dingtheit ist  niemals  aus  einer  hypothetischen  Monade  abzuleiten. 
Es  gibt  prinzipiell  kaum  etwas,  was  nicht  in  den  Umkreis  einer 
Persönlichkeit  eintreten  könnte,   es  gibt  auch  keine   Regung  und 
kein    Erlebnis,    das   prinzipiell   innerhalb   einer    Individualität   un- 
möglich wäre.     Nicht  nur  von  dem  einzelnen  Menschen,  auf  den 
es  gemünzt  war,  für  jeden  anderen  gilt  das  Wort  C.  F.  Meyers: 
,,Ich  bin  kein  ausgeklügelt  Buch;  ich  bin  ein  Mensch  mit  seinem 
Widerspruch."     Das  eben   ist   das    Irrationale   der    Individualität, 
daß  der  Satz  des  Widerspruchs  auf  sie  nicht  angewendet  werden  kann. 

Kapitel  III.    Die  Identität  der  Persöulicbkeit  als  Forderung. 

Allen  den  bisher  angeführten  Tatsachen,  die  die  Identität 
der  Persönlichkeit  zum  mindesten  als  höchst  problematisch  er- 
scheinen lassen,  steht  nun  die  andere  Tatsache  gegenüber,  daß 
im  Leben  von  den  verschiedensten   Standpunkten  aus  die    Idcn- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  203 

tität  der  Individualität  gefordert  wird.  In  Ibsens  „Peer  Cynt" 
hat  diese  Forderung:  „Mensch,  sei  dir  selber  treu!"  eine  poetische 
Gestaltung  gefunden,  was  an  dem  negativen  Excmpel  des  ewig 
schwankenden  Helden  vorgeführt  wird. 

1.  Betrachten  wir  zunächst  die  Identität  der  Individualität 
als  soziale  Forderung!  Wie  eine  Rechnung  mit  lauter  variablen 
Größen  eine  Unmöglichkeit  ist,  so  ist  ein  soziales  Leben  aus- 
geschlossen, wenn  nicht  eine  gewisse  Konstanz  der  Individuen 
vorausgesetzt  werden  kann.  Jeder  Verk  hr,  jede  Freundschaft, 
jede  Berufsstellung,  jeder  geschäftliche  Kredit,  kurz  alle  mensch- 
lichen Beziehungen  setzen  die  Identität  der  Individualität  voraus. 
Ein  völlig  unberechenbarer  Mensch  wäre  unbrauchbar  für  jedes 
soziale  Leben.  Wir  müssen  in  unserem  geselligen  und  geschäft- 
lichen Verkehr  mit  den  Charakteren  unserer  Mitmenschen  als 
mit  konstanten  Größen  rechnen  können,  denen  man  zwar  gewisse 
Unberechenbark?iten  (die  jedoch  durch  einen  überwiegenden  Kern 
von  Festem  kompensiert  sein  müssen)  zugeben  kann.  Je  näher 
die  Beziehungen  sind,  um  so  mehr  wird  diese  Konstanz  der  In- 
dividualität Erfordernis. 

Hysterische  Frauen  mit  ihrem  wetterwendischen  Temperament 
können  für  einen  nicht  nahen  Umgang,  eine  vorübergehende  gesell- 
schaftliche Berührung,  gerade  infolge  ihrer  Unberechenbarkeit  reizvoll 
sein:  Für  die  Ehe  taugen  sie  nicht  und  machen  den  Mann,  der  sich  mit 
ihnen  verbindet,  in  der  Regel  sehr  unglücklich.  Gewiß  braucht  diese 
Identität  der  Persönlichkeit  keine  absolute  zu  sein;  eine  gewisse  Plasti- 
zität ist  ebenso  erforderlich;  aber  als  erste  Voraussetzung  pflegt  man 
doch,  wenigstens  vom  erwachsenen  Menschen,  zu  verlangen,  daß  man 
mit  ihm  als  einer  festen  Größe  rechnen  kann.  Auch  juristisch  wird 
so  verfahren,  indem  man  die  Identität  voraussetzt,  wenn  auch  das 
„Verjähren"  von  Strafen,  die  Zubilligung  von  verminderter  Zurechnungs- 
fähigkeit bei  manchen  Delikten  als  Konzession  an  die  Wandelbarkeit 
der  Persönlichkeit  aufgefaßt  werden  können. 

2.  Infolge  dieser  hervorragenden  sozialen  Bedeutung  ist  die 
Konstanz  der  Individualität  auch  eine  ethische  Forderung  vor- 
nehmster Art  geworden.  Als  ,, Treue",  als  ,, Beständigkeit",  als 
„Zuverlässigkeit"  und  unter  dem  Namen  vieler  anderer  Tugenden 
wird  sie  umgeben  von  allem  Glanz  ethischer  Wertung.  ,, Charakter" 
haben  ist  schlechthin  gleichbedeutend  geworden  mit  ,, Konstanz 
der  Individualität"  besitzen. 

Infolgedessen  läuft  auch  ein  gut  Teil  aller  Erziehung  auf 
Unterdrückung     von     Individualitätsschwankungen     hinaus.      Wir 


294 


Richard  Müller-Freienfels: 


lernen  es  von  früh  auf,  vorübergehende  Launen  zu  bezwingen, 
Stimmungsschwankungen  zu  beherrschen,  Leidenschaften  zu  hem- 
men :  alles,  um  einen  möglichst  geschlossenen,  gleichmäßigen  Charak- 
ter zu  gewinnen.  Aber  nicht  nur  die  vorübergehenden  Schwan- 
kungen, auch  die  tiefergreifenden  Wandlungen  der  Persönlichkeit 
sucht  man,  da  ihre  völlige  Unterbindung  weder  tunlich  noch 
wünschenswert  ist,  durch  die  Erziehung  zu  leiten.  Das  Bestreben 
der  Pädagogik  ist:  der  sich  entwickelnden  Persönlichkeit  einen 
solchen  Kurs  zu  geben,  daß  von  außen  eingreifende  Einflüsse  die 
Richtung  nicht  ernsthaft  gefährden  können.  Immer  wird  die 
Identität  der  Persönlichkeit  mit  einer  besonderen  ethischen  Würde 
umkleidet,  die  ihr  Halt  geben  soll  im  Wandel  des  Lebens. 

3.  Zum  Teil  auf  ähnhchcr  Basis  beruht  die  ästhetische 
Forderung  der  Einheit  der  Persönlichkeit.  Man  verlangt  von 
jedem  Menschen  einen  gewissen  ,,Stil",  d.  h.  eine  Einheithchkeit 
aller  seiner  Lebensäußerungen,  und  findet  ein  zu  starkes  Schwanken 
und  unvermutete  Wandlungen  ,, unschön".  Aus  diesem  Grunde 
verlangt  man  vom  wohlerzogenen  Menschen,  daß  er  jene  Ab- 
weichungen vom  Stil  unterdrücke.  Der  Aristokrat  unterscheidet 
sich  vom  Plebejer  durch  festere  Ausprägung  seiner  Persönlichkeit, 
betonten  Stil  in  a.Mcn  Lebensäußerungen.  Der  Plebejer  ,,läßt 
sich  gehen",  er  gibt  seinen  Launen,  seinen  Schwächen,  seinen 
Einfällen  nach.  Der  vornehme  Mensch  erscheint  von  gleichmäßiger 
Beherrschtheit,  von  einer  in  sich  ruhenden  Würde,  die  ästhetisch 
wohltuend  absticht  von  der  rastlosen  Hast,  Unruhe  und  Wandel- 
barkeit des  Plebejers.  Kulturell  kann  diese  konservative  Ge- 
schlossenheit ein  Mangel  sein,  ästhetisch  ist  sie  meist  von  großem 
Reize. 

4.  Auch  als  theoretische  Forderung  tritt  die  nach  kon- 
stanter Identität  der  Persönlichkeit  auf.  Es  wäre  eine  maßlose 
Vergeudung  von  seelischer  Energie,  aller  Denkökonomie  entgegen, 
wollte  man  jede  Individualität  als  absolutes  Novum,  das  dazu 
sich  beständig  wandelt,  ansehen.  Man  verlangt,  daß  es  sich  ein- 
ordnen lasse  in  Typengruppen.  Nur  so  ist  es  möglich,  sich  unter 
den  Menschen  einigermaßen  zurechtzufinden.  Dafür  aber  ist  es 
notwendig,  daß  man  einerseits  die  Individualität  als  einigermaßen 
konstante  Einheit  faßt,  andererseits  aber  auch,  daß  man  sie  mit 
anderen  zusammenordnen  kann,  was  wiederum  jene  Konstanz 
und  Einheitlichkeit  zur  Voraussetzung  hat.  Völlig  variable  Größen 
kann   man  niemals  klassifizieren  oder  vergleichen.     Eine  Wissen- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  2915 

Schaft  der  Geschichte  wäre  unmögHch,  wenn  man  nicht  feste  Be- 
griffe von  den  einzelnen  Persönhchkciten,  die  darin  auftreten, 
zu  bilden  vermöchte.  Aus  einem  beständig  unter  den  Händen 
zerrinnenden  Material  kann  man  nicht  greifbare  Gebilde  gestal^en. 
Infolgedessen  macht  die  Geschichte  die  —  von  ihr  selber  in  ihrer 
Problematik  wenig  beachtete  —  Voraussetzung,  daß  die  Persön- 
lichkeiten als  konstante   Identitäten  sich  begreifen  lassen. 

5.  Als  letzte  Forderung  einer  Identität  der  Individualität 
begegnet  uns  die  religiös-metaphysische.  Man  betonte  diese 
Einheit  so  stark,  daß  man  sie  selbst  mit  dem  Tode  nicht  erlöschen 
lassen  wollte.  Vor  allem  jene  Lehren,  die  die  Unsterblichkeit  des 
Einzelich  vertreten,  haben  eben  die  Identität  der  Persönlichkeit 
als  Voraussetzung;  denn  der  Begriff  der  Unsterblichkeit  verliert 
seinen  ursprünglichen  Sinn,  sobald  man  nicht  die  Unsterblichkeit 
des  individuellen  Ich  meint.  Der  oft  angeführte  Eskimo,  der  die 
Unsterblichkeit  ohne  Walrosse  und  Harpunen  dankend  ablehnte, 
hat  von  seinem  Standpunkt  aus  ganz  recht;  denn  eine  Unsterblich- 
keit, die  nicht  eine  Verlängerung  des  irdischen  Individuums  mit 
all  seinen  Besonderheiten  ist,  ist  strenggenommen  überhaupt  keine. 
Besonders  im  Christentum  ist  die  Lehre  vom  unendlichen  Wert 
der  Einzelseele  stark  hervorgetreten,  wenn  auch  die  Beziehungen 
dieser  Einzelseele  zur  allumfassenden  Gottheit  kaum  jemals  ganz 
klar  herausgearbeitet  worden  sind. 

6.  Freilich  ist  damit,  daß  aus  all  diesen  Gründen  die  identische 
Persönlichkeit  gefordert  wird,  noch  keineswegs  gesagt,  daß  diese  For- 
derung erreichbar  sei.  Auch  wäre  eine  vollkommene  Erfüllung  derselben 
wiederum  ein  Übel,  das  unter  allen  den  aufgezählten  Gesichtspunkten 
auch  seine  Nachteile  hätte.  Indessen  als  „Ideal",  als  jenseits  restloser 
Erfüllungsmöglichkeit  liegender  Zielpunkt  behält  die  geforderte  kon- 
stante Identität  der  Persönlichkeit  ihren  Wert.  Jeder  Mensch  hat  von 
sich  eine  Idealvorstellung,  wie  er  sein  möchte.  Er  bildet  innerhalb  des 
Umkreises  seiner  seelischen  MögHchkeiten  einen  Persönlichkeitsbegriff, 
der  oft  sehr  stark  von  der  Wirklichkeit  abweicht.  Auch  Räuber  und 
Mörder  pflegen  solche  ,, Ideale"  von  sich  zu  haben,  wenn  diese  auch 
von  sonst  üblichen  Wertungen  stark  differieren.  Unkritische  Naturen 
identifizieren  sich  wohl  mit  diesem  ,, Idealich",  ihre  Taten  aber  be- 
weisen ihnen  oft  genug,  daß  ihr  ,, wirkliches"  Ich  sehr  weit  abweicht 
von  jenem.  Das  ,,Ideahch"  kann  ein  Ausschnitt  der  Persönlichkeit 
sein,  es  kann  auch  eine  „Ergänzung"  derselben  sein.  Wirklich  den 
gesamten  Umkreis  der  tatsächlichen  Persönlichkeit  ausfüllend  ist  es 
nie.  Selbst  bei  solchen  Asketen,  die  zum  Zwecke  einer  geistigen  „Wieder- 
geburt" sich  vom  Leben  zurückzogen,  machte  sich  oft  der  „alte  Adam" 
neben  dem  neuen  Idealich  stark  bemerklich.     Auch   bei   den  edelsten 


2g6  Richard  Müller-Freienfels: 

Heroen  und  Heiligen  lassen  sich  Stunden  und  Gelegenheiten  nach- 
weisen, wo  sie  ihrem  Ideal  untreu  wurden,  das  heißt,  wo  sich  jenes 
Idealich  nicht  stark  genug  erwies,  alle  anderen  Möglichkeiten  der  In- 
dividualität zu  unterdrücken. 

Wir  stellen  also  fest,  daß  selbst  dort,  wo  bewußt  eine  konstante 
Individualität,  die  allen  Forderungen  entspräche,  also  eine  Idealpersön- 
lichkeit, angestrebt  wird,  diese  doch  niemals  dem  gesamten  Umkreis  der 
Individualität  kongruent  ist,  sondern  neben  ihr  pflegen  immer  noch 
zahlreiche  andere  Möglichkeiten  weiter  zu  bestehen,  so  daß  die  schwan- 
kende Umgrenzung  und  die  Variabilität  durch  das  Vorhandensein  eines 
solchen  „Ideals"  zwar  vermindert,  aber  nicht  aufgehoben  werden. 


Kapitel  IV.    Die  Indiyidualität  als  üktiTe  Konstruktion. 

I.  Nach  allem,  was  wir  bisher  erörtert  haben,  befinden  wir 
uns  mit  unserem  Problem  in  einer  seltsamen  Lage.  Zunächst 
erkannten  wir,  daß  die  Individualität  ein  außerordentlich  vages, 
schwer  zu  fassendes  und  beständigen  Wandlungen  unterworfenes 
Gebilde  ist;  zweitens  stellten  wir  fest,  daß  sich  allerdings  einige 
greifbarere  Tatsachen  innerhalb  jenes  variablen  Komplexes  auf- 
zeigen lassen,  daß  diese  jedoch  nicht  ausreichen,  um  eine  wirk- 
liche Identität  der  Individualität  zu  begründen,  und  drittens 
fanden  wir,  daß  dcmungcachtet  dennoch  vom  sozialen,  ethischen, 
denkökonomischen,  ästhetischen  und  religiösen  Standpunkt  aus 
die  mit  sich  selbst  identische  Persönlichkeit  gefordert  wird,  ohne 
daß  die  Erfüllbarkeit  dieser  Forderung  nachgewiesen  wäre.  Und 
nun  können  wir  zu  der  weiteren  Feststellung  schreiten,  daß  das 
I^ben  sich  fast  durchgehend  so  verhält,  als  ob  die  Menschen  mit 
sich  selbst  identische  Individualitäten  wären. 

Wir  verkehren  mit  Unseresgleichen  durchaus,  als  blieben  sie 
im  wesentlichen  dieselben  Menschen;  wir  gehen  mit  ihnen  Ver- 
träge ein,  schließen  Freundschaften,  Bündnisse,  Ehen,  die  alle 
die  Konstanz  der  Individualität  zur  Voraussetzung  haben;  wir 
bestrafen  einen  Menschen  für  Handlungen,  die  er  zu  ganz  anderer 
Zeit,  in  ganz  anderer  Verfassung  begangen  hat;  wir  haben  eine 
Wissenschaft  der  Geschichte,  in  der  die  handelnden  Persönlich- 
keiten als  klar  umrissene  Faktoren  auftreten;  die  Religion  lehrt 
die  Unsterblichkeit  der  Einzelpcrsönlichkcit,  alles,  als  ob  die  Iden- 
tität der  Individualität  eine  klar  erwiesene  Tatsache  wäre.  Mit 
anderen  Worten:  Wir  machen,  obwohl  die  schwerwiegendsten 
Bedenken    gegen    die    Identität    ims    mehr    oder    weniger    bewußt 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  207 

sind,  dennoch  überall  im  Leben  die  Fiktion,  daß  diese   Identität 
tatsächlich  bestände. 

Auf  den  ersten  Blick  muß  dieser  Tatbestand,  dem  wir  damit 
ins  Auge  schauen,  verwundern,  ja  er  kann  zu  schweren  Bedenken 
Anlaß  geben.  Heißt  es  nicht,  den  Bankerott  aller  der  ausgedehnten 
Lebensverhältnisse  ansagen,  wenn  wir  den  für  sie  so  wesentlichen 
Begriff  der  Individualität  für  eine  Fiktion  erklären.^  Wird  dieser 
Begriff  nicht  zu  einem  Hirngespinst,  einem  Trug?  Müssen  wir 
nicht  überall  mit  der  so  anders  gearteten  Wirklichkeit  in  Kon- 
flikt geraten.? 

Wir  antworten:  Nein!  Wenn  wir  die  Identität  der  Persön- 
lichkeit als  Fiktion  bezeichnen,  so  sind  wir  damit  weit  davon 
entfernt,  den  Wert  dieser  Fiktion  zu  leugnen.  Gewiß  ist  eine 
Fiktion  kein  adäquates  Abbild  einer  an  sich  bestehenden  Wirklich- 
keit, aber  sie  ist  darum  noch  lange  nicht  ein  bloßes  Hirngespinst 
oder  eine  vage  Hypothese.  Im  Gegenteil,  die  Fiktion  einer 
konstanten,  mit  sich  identischen  Persönlichkeit  ist 
zwar  eine  bewußte  Umformung  der  tatsächlichen  Ge- 
gebenheiten, aber  als  solche  ein  Denkmittel  von  größter 
Wichtigkeit,  das  sich  praktisch  mannigfach  bewährt 
und  in  der  Tat  eine  ganze  Reihe  der  oben  aufgestellten 
Forderungen  zu  erfüllen  gestattet. 

Wir  treten  damit  auf  den  Boden  von  Vaihingers  ,, Philo- 
sophie des  Als-Ob".i)  In  diesem  hochbedeutsamen  System  ist 
es  unternommen,  den  Fiktionen,  die  bisher  zwar  vielfach  ver- 
wendet, aber  selten  in  ihrer  Wichtigkeit  erkannt  worden  waren, 
volles  Bürgerrecht  im  Bereich  der  Wissenschaft  zu  erkämpfen. 
Ja,  das  Ergebnis  des  ganzen  Werkes  ist,  daß  fast  unser  gesamtes 
Denken  eine  fiktive  Verarbeitung  des  Gegebenen  ist,  so  daß  die 
hier  angestrebte  Fassung  des  Persönlichkeitsbegriffs  gr.r  nicht 
herausfällt  aus  der  Art  des  menschlichen  Denkens  überhaupt. 
Denn  da  alle  Allgemeinvorstellungen  und  -begriffe  letzten  Endes 
Fiktionen  sind,  so  ist  auch  der  Begriff  der  Individualität  eine 
solche. 

Vaihinger  selbst  hat  in  seinem  reichen  Werke  die  Anwendung 
seines  Prinzips  auf  die  hier  in  Frage  stehenden  Probleme  in  ex- 
tenso  nicht   erbracht;    nur   gelegentliche    Anregungen    lassen    ver- 

1)  Vaihinger,  Die  Philosophie  des  Als-Ob.  System  der  theoretischen,  prak- 
tischen und  religiösen  Fiktionen  der  Menschheit.     1911.     2.  Aufl.     1913. 


2q8  Richard  Müller-Freienfels: 

muten,  daß  er  auch  die  hier  beleuchteten  Möghchkciten  ins  Auge 
gefaßt  hat. 

Wir  glauben  daher  ganz  in  seinem  Sinne  zu  sprechen,  wenn 
wir  unsere  Lösung  des  Individualitätsproblems  formulieren:  Eine 
konstante  Identität  der  Persönlichkeit  im  absoluten  Sinne  besteht 
nicht;  dagegen  verhalten  wir  uns  im  Leben  allenthalben  durchaus 
so,  als  ob  eine  solche  konstante  Identität  unserer  Persönlichkeit 
bestünde,  und  wir  verkehren  mit  unseren  Nebenmenschen,  als 
ob  auch  sie  alle  konstante  und  mit  sich  identisch  bleibende 
Individualitäten  wären. 

Des  näheren  werden  wir  die  Fiktion  der  einheitlichen,  iden- 
tischen Individualität  einreihen  können  in  die  Gattung  der  ab- 
straktiven  (oder  neglektiven)  Fiktionen.  Diese  entstehen  so,  daß 
man  nur  einen  Teil  der  gegebenen  Tatsachen  hervorhebt,  einen 
anderen  dagegen  als  unwesentlich  beiseite  läßt.  Eine  solche  Ab- 
straktion ist  naturgemäß  immer  eine  gewisse  Willkürlichkeit,  aber 
nicht  etwa  eine  plan-  und  sinnlose,  sondern  eine  solche,  die  sich 
als  brauchbar  für  das  Leben  erweist.  In  dieser  Hinsicht  berührt 
sich  die  Philosophie  des  Als -Ob  mit  dem  Pragmatismus. 

Die  Fiktion  der  einheitlichen,  identischen  Persönlichkeit  kommt 
also  so  zustande,  daß  man  alle  einheitsbildenden  Momente  verstärkt, 
alle  die  Einheit  aufhebenden  zurücktreten  läßt.  Das  Verfahren  ist 
etwa  dem  eines  Künstlers  zu  vergleichen,  der  unter  der  Fülle  der  Mög- 
lichkeiten nur  diejenigen  betont,  die  ihm  im  Interesse  seiner  einheit- 
lichen Anschauung  als  wesentlich  erscheinen.  Das  Bild,  das  durch 
eine  solche  neglektive  Abstraktion  entsteht,  ist  natürhch  keine  Wahr- 
heit ,,an  sich",  es  ist  sogar  in  gewisser  Hinsicht  eine  Fälschung,  aber 
immerhin  eine  unter  bestimmtem  Gesichtspunkt  vorgenommene  Fäl- 
schung, deren  Wert  in  der  praktischen  Bewährung  liegt.  Verzichtet 
man  nun  von  vornherein  auf  den  unmöglichen  Anspruch,  daß  unser 
Denken  uns  eine  „absolute"  Wahrheit  erschheßen  könne,  geht  man 
davon  aus,  daß  all  unser  Denken  Hilfsmittel  des  Lebens  ist,  so  wird 
man  eine  solche  Lösung  nicht  beklagen,  sondern  aus  ihrer  praktischen 
Bewährung  ihren  Wert  zu  erweisen  suchen. 

Demnach  besitzt  die  Fiktion  der  konstanten  Individualität  alle 
Kennzeichen,  die  von  jeder  echten  Fiktion  zu  verlangen  sind.  Sie  ist 
eine  gewaltsame  Umgestaltung  der  Wirklichkeit,  die  aber  ihren  Wert 
durch  ihre  Zweckmäßigkeit  erweist.  Sie  sollte,  wie  jede  andere  Fiktion, 
stets  von  dem  Bewußtsein  begleitet  sein,  daß  sie  nur  eine  verfälschte 
Wirklichkeit  ist,  die  jedesmal  einer  Korrektur  bedarf  und  womöglich 
schließlich  eliminiert  werden  sollte.  Daß  das  nicht  immer  geschieht, 
daß  die  Fiktion  vielfach  für  Wirkhchkeit  genommen  wird,  auch  dieses 

')  Vgl.  Vaihinger,  a.  a.  0.  S.  171  ff. 


Der  BegriflF  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion. 


299 


Schicksal  teilt  sie  mit  den  meisten  anderen  P'iktioncn.  Gerade  dem 
entgegen  zu  arbeiten,  gehört  zu  den  Hauptabsichten  des  gegenwärtigen 
Aufsatzes. 

2.  Die  so  fingierte  ,, Individualität"  ist  zunächst  also  sozu- 
sagen ein  substantielles  Hypokeimcnon,  das  im  Wechsel  der 
Zustände  als  dauernd  beharrt  und  mit  sich  identisch  bleibt.  Sie 
ist  aber  noch  mehr;  die  Fiktion  geht  noch  weiter  und  leiht  diesem 
Hypokeimcnon  gleichsam  Kräfte.  Denn  das  Wesen  der  fingierten, 
konstanten  Individualität  erschöpft  sich  nicht  in  ihrem  Trägersein, 
sie  gilt  auch  als  wirkende  Ursache,  die  —  wenigstens  als  ein 
Faktor  neben  anderen  —  die  wechselnden  Zustände  mitbedingt. 
Auch  diese  neue  Fiktion  ist  psychologisch  sehr  interessant.  Erst 
errechnet  man  aus  den  wechselnden  Zuständen  sozusagen  einen 
Durchschnittszustand,  der  in  seiner  schematischen  Mittelschlächtig- 
keit  zwar  kaum  jemals  wirklich  real  ist,  dem  man  aber  doch  eine 
gewisse  psychophysische  Substantialität  verleiht.  Darüber  hinaus 
aber  gibt  man  dieser  Fiktion  auch  noch  verursachende  Kraft, 
aus  der  man  die  Handlungen  und  anderen  Wesensäußerungen 
des  Menschen  ,, erklärt".  Man  erhebt  die  Durchschnittlichkeit 
der  Verhaltungsweisen  eines  Menschen  zu  einer  nczessitierenden 
Macht,  und  wenn  man  ihren  Auswirkungen  i.dlein  Wahrscheinlich- 
keit, nicht  Notwendigkeit,  zuschreibt,  so  tut  man  das  nur,  weil 
man  sehr  oft  wahrnimmt,  daß  äußere  Einflüsse  durchkreuzend 
mitwirken.  Wenn  man  z.  B.  in  der  Geschichte  vom  ,, Charakter" 
Napoleons  spricht,  wenn  man  von  der  Eigenart  des  Goetheschen 
,, Genius"  redet,  so  ist  man  sich  nicht  immer  bewußt,  daß  man 
in  Wirklichkeit  mit  solchen  fiktiven  Begriffen  nur  einen  schema- 
tischen Durchschnitt  meinen  kann,  sondern  man  verfährt  mit 
jenen  Begriffen  so,  als  hätte  man  wirklich  in  ihnen  jenen  ,,Kern" 
des  Menschen  erfaßt,  der  als  wirkende  Ursache  im  Zentrum  der 
Persönlichkeit  säße.  Und  wenn  dann  die  Historiker  uns  vor- 
rechnen, daß  Napoleon  auf  Grund  seines  Charakters  so  und  so 
handeln  ,, mußte",  so  ist  man  sich  selten  nur  bewußt,  daß  man 
damit  niemals  eine  wirkliche  Notwendigkeit  konstatieren  kann, 
sondern  im  besten  Falle  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit.  Ebenso 
wie  die  Substantialisierung  ist  auch  die  Einführung  der  Indivi- 
dualität als  wirkende  Ursache  eine  Fiktion,  allerdings  aber,  wie 
wir  wieder  hinzufügen  können,  ebenfalls  eine  sehr  nützliche  Fiktion, 
die  gestattet,  eine  pauschale  Kausalität  des  psychischen  Geschehens 
anzunehmen.      In  Wirklichkeit  ist  natürlich  eine   Kausalität  vor- 


•^OO  Richard  Müller-Freienfels: 

banden,  sie  ist  aber  längst  nicht  so  einfach  und  regelmäßig,  wie 
jene  Fiktion  uns  glauben  machen  will.  Diese  macht  die  Gescheh- 
nisse ,, denkbar",  ist  jedoch  sehr  weit  entfernt  von  einer  wirk- 
lichen, auf  Notwendigkeit  beruhenden  ,, Erklärung". 

3.  Als  Fiktion  entspricht  unser  Individualitätsbegriff  den  ver- 
schiedenen Forderungen,  die  wir  oben  aufgeführt  haben. 

Als  Fiktion  genügt  er  zunächst  der  sozialen  Forderung.  Alles 
soziale  Leben  verläuft,  als  ob  die  es  lebenden  Individuen  einheitliche 
Identitäten  wären.  Im  Grunde  wissen  wir,  daß  wir  selbst  sowohl  wie 
unsere  Partner  bei  Geschäften,  bei  freund-  und  verwandtschaftlichen  Be- 
ziehungen, in  jeder  Art  sozialem  Verhältnis,  den  mannigfachsten  Wand- 
lungen unterhegen  können:  Wir  handeln  jedoch,  „als  ob"  allen  eine 
konstante  Identität  zukäme.  Wir  wissen,  daß  oft  genug  Enttäuschungen 
vorkommen;  trotzdem  ist  soziales  Leben  nur  auf  Grund  jener  Fiktion 
möglich. 

Indem  aber  die  soziale  Fiktion  mit  einer  sittlichen  Würde  bekleidet 
wird,  erhebt  sie  sich  zu  gleicher  Zeit  zur  ethischen  Fiktion.  Wir  ver- 
urteilen Schwankungen  und  Wandlungen  der  Identität  des  Charakters 
als  sittliche  Fehler.  Das  kann  zu  groben  Ungerechtigkeiten  führen, 
indem  eine  innere  Wandlung,  die  aus  Notwendigkeit  erfolgt  ist,  den 
Ewiggestrigen  als  Schwäche,  ja  als  Abfall  und  Verbrechen  erscheint. 
Und  doch  sind  solche  Wandlungen  gar  nicht  zu  vermeiden,  ja,  sie  sind 
Notwendigkeiten  des  Lebens,  die  sogar  ihrerseits  ethischen  Wert  haben 
können.  Trotzdem  sucht  man  jene  Fiktion  aufrecht  zu  erhalten,  als 
beharrte  die  gleiche  Individualität.  Oft  genug  behält  man  deshalb 
wenigstens  als  Maske  die  Fiktion  eines  früheren  Standpunkts  bei, 
während  man  sich  in  der  Tat  längst  weiterentwickelt  hat.  Viele  Menschen 
scheuen  sich,  aus  der  christlichen  Kirche  auszutreten,  obwohl  sie  längst 
die  wesentlichen  Kirchenlehren  nicht  mehr  befolgen.  Es  ist  das  nicht 
immer  Heuchelei,  oft  wissen  die  Betreffenden  selber  nicht,  wie  sehr  sie 
sich  gewandelt  haben,  und  halten,  ohne  es  zu  merken,  eine  veraltete 
Fiktion  aufrecht.  Hinter  allen  solchen  unbewußten  Maskeraden  steckt 
die  ethische  Würde,  mit  der  die  Fiktion  der  Identität  der  Persönlich- 
keit bekleidet  ist.  Die  Macht  des  Konservativismus  gegenüber  allem 
Fortschritt  beruht  auf  dieser  ethischen  Betonung  der  fiktiven  Identität 
und  kann  so  oft  genug  zum  kulturellen  Hemmnis  werden. 

Auch  als  ästhetischer  Wert  ist  die  Identität  der  Persönlichkeit, 
der  feste  ,,Stir',  nur  eine  Fiktion.  Natürlich  ist  auch  der  völlig  be- 
herrschte Aristokrat  den  mannigfachsten  Wandlungen  imd  Schwan- 
kungen unterworfen:  Er  weiß  sie  jedoch  zu  unterdrücken  oder  wenig- 
stens zu  verbergen.  Letzteres  genügt  durchaus  für  die  ästhetische 
Wirkung;  für  diese  ist  es  gleichgültig,  ob  einer  eine  geschlossene  In- 
dividualität ist  oder  bloß  scheint.  Er  muß  sich  nur  benehmen,  ,,als 
ob"  er  es  wäre.  Gewiß  besteht  ein  Zusammenhang  zwischen  Schein 
und  Sein.  Oft  bringt  eine  scheinbare,  geschauspielerte  Haltung  die 
wirkliche,  entsprechende  mit  sich.  Indem  wir  uns  den  Anschein  geben, 
rlaß  w:r  unsere  Affekte  beherrschten,  beherrschen  wir  sie  wirklich,  eine 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  oq  j 

Tatsache,  die  aus  der  physio-psychologischen  Natur  der  At'tekte  gut  zu 
erklären  ist.  Für  die  ästhetische  Wirkung,  die  ja  überall  auf  dem  ,, Schein" 
beruht,  ist  es  jedoch  genügend,  wenn  die  Identität  und  Einheit  der  Per- 
sönlichkeit nur  fingiert  ist. 

Das  Bedürfnis,  die  Individualität  auch  theoretisch  als  Einheit  und 
Identität  zu  erfassen,  beruht  zum  Teil  mit  auf  den  bisher  besprochenen 
Forderungen,  darüber  hinaus  jedoch  ist  es  auch  ein  rein  intellektuelles 
Bedürfnis  nach  Klarheit  und  scharfer  Begriffsbildung,  wenn  man  die 
Individuen  als  konstante  Einheiten  erfassen  will.  Aus  diesem  Grunde 
prägen  wir  allerlei  Schemata  (Typenbegriffe)  aus,  denen  wir  die  Indivi- 
duen unterordnen.  Daß  wir  dabei  die  Individualität  nicht  bloß  als 
Träger,  auch  als  causa  efficiens  ansehen,  tritt  besonders  bei  ihrer  theo- 
retischen Verwendung  heraus,  wenn  auch  gerade  hierbei  stets  das  Be- 
wußtsein der  Fiktivität  mitsch\\-ingen  sollte. 

Nicht  nötig,  ja  dem  Zweck  entgegenarbeitend  würde  dies  Bewußt- 
sein freilich  bei  allen  religiösen  Lehren  sein,  die  die  konstante  Indivi- 
duahtät  sogar  über  den  Tod  hinaus  noch  verlängern.  Daß  aber  die 
Realität  der  Individualität  keine  Conditio  sine  qua  non  der  Religio- 
sität ist,  daß  gerade  die  Fiktivität  der  Individualität  aufs  stärkste  zu 
religiösen  Zwecken  betont  werden  kann,  offenbaren  am  besten  solche 
Glaubensformen  wie  der  Buddhismus,  die  so  weit  gehen,  daß  sie  im  Er- 
löschen der  Individualität  das  höchste  Gut  sehen. 


Kapitel  V.    Die  begriffliche  Fixierung  der  Individualität, 

1.  Da  unser  Hauptziel  nicht  eine  Erforschung  der  ,, Persön- 
lichkeit an  sich"  ist  (was  ein  metaphysisches  Unternehmen  wäre), 
sondern  da  wir  nur  rein  psychologisch  die  Möglichkeit  erörtern, 
die  individuelle  Persönlichkeit  begrifflich  und  wissenschaftlich  zu 
fixieren,  so  betrachten  wir  nunmehr  zunächst  die  Versuche,  die  man 
zu  diesem  Zwecke  unternommen  hat.  Alle  diese  Versuche  sind 
nur  möglich,  wenn  man  den  objektiven  Tatbestand  in  fiktiver 
Weise  vereinfacht  und  schematisiert.  Als  wichtigste  Versuche, 
die  Individualität  begrifflich  zu  erfassen,  finden  wir  die  folgen- 
den drei: 

1.  Das  Charakterbild, 

2.  die  Biographie, 

3.  das   Psychogramm. 

2.  Von  diesen  dreien  ist  das  ,, Charakterbild"  praktisch 
der  verbreitetste,  wissenschaftlich  der  dürftigste  Versuch,  eine 
Individualität  zu  erfassen.  Analysieren  wir,  was  man  im  Leben 
von  seinem  Nebenmenschen  für  Begriffe  hat,  so  behalten  wir  in 
der  Regel  recht  wenig  Festes  in  der  Hand.     Man  hat  eine  mehr 


302 


Richard  MüUer-Freienfels: 


oder  weniger  verschwommene  visuelle  Vorstellung  des  Äußeren 
der  Persönlichkeit,  man  ordnet  den  Charakter  gewissen  vagen 
Typen  unter,  die  nach  Besonderheiten  des  Temperaments,  des 
Gefühls  oder  Geistes  aufgestellt  sind  und  meist  nur  eine  oder  die 
andere  hervortretende  Eigenschaft  festhalten.  Dazu  treten  allerlei 
Gefühlswertungen,  die  uns  zwar  oft  in  der  Praxis  mit  erstaun- 
licher, instinktmäßiger  Sicherheit  leiten,  aber  meist  weit  von  be- 
grifflicher Klarheit  entfernt  sind.  Diese  vagen  Vorstellungen  von 
anderen  Individualitäten  sind  —  wie  gesagt  —  für  das  Leben 
sehr  wichtig,  trotz  ihrer  Unbestimmtheit,  vielleicht  auch  gerade 
wegen  dieser.  Denn  eben  diese  Plastizität,  Verschwommenheit 
und  mangelnde  Abgrenzung  der  Vorstellung  läßt  die  Unadäquat- 
heit  mit  der  vielfältigen,  sich  wandelnden  Tatsächlichkeit  nicht 
so  sehr  ins  Bewußtsein  treten,  zumal  durch  Gefühl  und  Instinkt 
das  intellektuelle  Manko  reichlich  aufgewogen  wird. 

Das  ,, Charakterbild",  dessen  sich  vor  allem  die  Geschichts- 
wissenschaft bedient,  ist  im  Grunde  nur  eine  kritischere  und  durch 
sachliche  Belege  gestützte  Bearbeitung  solcher  vorwissenschaftlicher 
,, Charakterbilder".  Dabei  ist  trotzdem  bezweifelbar,  ob  man  bei 
diesem  Verfahren  der  Historiker  noch  von  Wissenschaft  im  exakten 
Sinne  reden  kann.  So  bewundernswert  die  ,, Charaktergemälde" 
sind,  mit  denen  die  großen  Historiker  ihre  Werke  schmücken,  sie 
verdienen  diese  Bewunderung  doch  wohl  mehr  als  Kunstwerke, 
denn  als  rein  wissenschaftliche  Leistungen.  Im  Grunde  ist  das  Ver- 
fahren durchaus  dem  des  Malers  gleich,  der  die  äußere  Persön- 
lichkeit durch  eine  Auswahl  der  ihm  besonders  wichtig  scheinenden 
Züge  in  bezeichnendem  Bilde  wiedergibt.  Beim  Maler  wie  beim 
Schriftsteller  entscheidet  letzten  Endes  die  künstlerische  Intuition 
darüber,  welche  Züge  und  in  welchem  Grade  sie  betont  werden 
sollen.  Und  wenn  auch  der  Wissenschaftler  meist  eine  Anzahl 
Belege  für  seine  Auswahl  mitzugeben  pflegt,  erschöpfend  kann 
dies  Belegmaterial  niemals  sein.  Es  garantiert  höchstens  eine 
gewisse  Wahrscheinlichkeit  der  Darstellung,  niemals  ihre  apo- 
diktische Notwendigkeit. 

Bei  alledem  macht  der  Gestalter  von  Charaktergemälden  die 
fiktive  Voraussetzung,  daß  es  überhaupt  möglich  sei,  die  un- 
geheure Masse  von  Tatbeständen,  als  welche  sich  der  Umkreis 
jeder  einigermaßen  erforschbaren  Persönlichkeit  darstellt,  so  zu- 
sammenzufassen, daß  das  Gestaltete  repräsentative  Bedeutung  hat. 
Das  ist  aber,  wie  gesagt,  eine  Fiktion,  die  den  Tatsachen  Gewalt 


Der  BegrüT  der  Individualität  als  fiktive  Konslruktion. 


303 


antut.  Denn  einerseits  ist  der  Umfang  der  sich  wandelnden,  suk- 
zedierenden  Tatsachen  viel  zu  groß,  als  daß  er  auf  eine  annähernde 
Simultaneität  zurückgeführt  werden  könnte.  Infolgedessen  sehen 
sich  die  meisten  Charakterbilder  genötigt,  auch  die  Wandlungen 
der  Persönlichkeit  wenigstens  anzudeuten:  In  diesem  Falle  aber 
nähert  sich  das  ,, Charakterbild"  der  ,, Biographic".  —  Anderer- 
seits nimmt  es  bei  der  Aufzählung  der  gleichzeitigen  Züge  eine 
starke  Auswahl  unter  bestimmten  Gesichtspunkten  vor.  Damit 
aber  leidet  die  wissenschaftliche  Exaktheit^  denn  der  Umkreis 
der  Persönlichkeit  ist  auf  diese  Weise  nicht  zu  erschöpfen;  ver- 
sucht das  Charakterbild  jedoch  den  ganzen  Umkreis  der  Persön- 
lichkeit in  einem  bestimmten  Zeitraum  zu  umspannen,  so  nähert 
es  sich  dem  Psychogramm. 

So  stellt  sich  also  das  „Charakterbild"  als  ein  nur  halbwissenschaft- 
licher Versuch  dar,  die  Individualität  zu  umspannen.  Es  macht  die 
Fiktion,  daß  es  möglich  sei,  aus  den  unzähligen  sukzedierenden  und 
simultanen  Momenten  die  wesentlichsten  herauszuheben,  ein  Verfahren, 
das  stets  nur  auf  Grund  künstlerischer  Intuition  möglich  wäre.  Um 
es  wissenschaftlich  zu  machen,  müßten  entweder  biographische  oder 
psychographische  Methoden  verwandt  werden,  und  je  nachdem  würde 
das  Charakterbild  dann  eine  Biographie  oder  ein  Psychogramm.  Wir 
werden  uns  also  an  diese  Methoden  halten  müssen,  wenn  wir  die  Ver- 
suche, die  Individualität  wissenschaftlich  zu  erfassen,  beurteilen  wollen. 
Dem  Charakterbild  als  solchem  kommt  zwar  oft  hoher  künstlerischer 
Wert  zu,  aber  nicht  wissenschaftliche  Exaktheit.  Diese  setzt  voraus, 
daß  die  fingierten  Voraussetzungen  wenigstens  etwas  reduziert  werden, 

3.  Von  den  beiden  wissenschaftlichen  Versuchen,  die  In- 
dividualität in  der  Mannigfaltigkeit  ihrer  Aspekte  zu  fassen,  be- 
dient sich  die  Biographie  der  historischen  Methode,  sie  stellt 
das  Nacheinander  in  den  Vordergrund  und  legt  gleichsam  einen 
Längsschnitt  durch  den  Tatsachenkomplex.  Sie  geht  von  dem 
Satz  aus,  daß  eines  Mannes  Charakter  seine  Geschichte  sei.  In 
der  Tat  wird  man  anerkennen  müssen,  daß  auf  diese  Weise  immer- 
hin ein  beträchtlicher  Teil  der  Variabilitäten  gefaßt  wird,  aber 
eben  doch  nur  ein  Teil.  Denn  die  Individualität  umschließt  nicht 
nur  eine  sukzessive,  nein  auch  eine  simultane  Mannigfaltigkeit. 
Gesetzt  nun  auch,  es  gelänge  einer  Biographie,  die  crsterc  fest- 
zuhalten, so  muß  sie  stets  große  Lücken  in  der  letzteren  lassen. 
Denn  jede  Biographie,  so  ausführlich  sie  sei,  muß  vereinfachen, 
muß  auswählen  und  weglassen.  Betrachtet  man  das  biographische 
Verfahren  genauer,  so  wird  man  erkennen,  daß  es  ein  annähernd 
einheitliches  Nacheinander  nur  so  zuwege  bringt,  daß  alles  unter 


■3QA  .  Richard  Müller-Freienfels: 

gewissen  vereinheitlichenden,  abstrahierenden  Gesichtspunkten  be- 
trachtet wird.  Das  aber  bedingt  eine  künstHche  Vereinfachung, 
eine  Ausscheidung  alles  dessen,  was  von  jenen  Gesichtspunkten 
aus  als  ,, unwesentlich"  erscheint.  So  pflegt  man  die  Biographie 
eines  Künstlers  unter  dem  Gesichtspunkt  zu  schreiben,  wie  sich 
eben  die  Entwicklung  der  künstlerischen  Begabung  herausgebildet 
hat.  Alles  nicht  mit  dieser  direkt  oder  indirekt  Zusammenhängende 
wird  nebenher  oder  gar  nicht  behandelt.  Ebenso  wird  eine  Bio- 
graphie eines  Staatsmannes  in  erster  Linie  das  Politische  betonen. 
Damit  werden  aber  nicht  nur  die  zahlreichen  simultanen  Mannig- 
faltigkeiten beschnitten,  auch  im  Nacheinander  werden  große 
Lücken  gelassen.  Zwar  entsteht  dadurch  eine  einheitliche  Ent- 
wicklungslinie, aber  diese  ist  künstlich,  ist  durch  Abstraktion 
gewonnen,  ist  eine  Fiktion.  Freilich  versucht  jede  gute  Bio- 
gr;iphie  neben  dem  Längsschnitt  auch  hier  und  da  die  behandelten 
Tatsachen  in  einer  gewissen  Breite  zu  sehen:  durchzuführen  ist 
dies  Verfahren  nirgends  vollständig.  Immer  bleibt  die  Biographie 
bei  der  Fiktion  stehen,  daß  das  Wesen  der  Individualität  durch 
ein  einheitliches  Nacheinander  zu  fassen  sei,  ein  Nacheinander, 
das  dadurch  gewonnen  wird,  daß  man  nach  gewissen  einseitigen 
Gesichtspunkten  ausscheidet,  also  eine  vereinfachende  Fiktion 
vornimmt. 

Halten  wir  uns  an  die  Biographien,  die  uns  die  historischen 
Wissenschaften  bisher  geschenkt  haben.  Wir  werden  dabei  mit 
ehrlicher  Bewunderung  den  Fleiß  in  der  Sammlung  von  Akten 
und  Fakten  anerkennen  können,  wir  werden  mit  gleicher  Be- 
wunderung die  oft  starke  künstlerische  Fähigkeit  feststellen,  mit 
der  diese  zahlreichen  Einzelzüge  zu  fester  Gestaltung  gebracht 
sind.  Wir  werden  aber  trotzdem  sagen  müssen,  daß  auch  die 
besten  Biographien,  die  wir  besitzen,  noch  weit  davon  entfernt 
sind,  adäquate  Begriffe  von  der  gesamten  Individualität  der  Dar- 
gestellten zu  geben.  Das  aber  liegt  an  gewissen  Grundmängeln 
der  historischen  Methodik,  die  kurz  aufgezeigt  seien. 

Den  ersten  haben  wir  bereits  erwähnt,  daß  nämlich  die  bio- 
graphische Methode  gewaltsam  auswählt  und  vereinheitlicht,  also 
stets  nur  einen  künstlichen  Ausschnitt  gibt.  Wir  schieben  die 
Diskussion  dieses  Punktes  noch  zurück,  da  wir  später  ihn  be- 
sonders beleuchten. 

Zweitens  aber  arbeiten  die  meisten  Biographien  mit  völlig 
ungeklärten  Kausalitätsbegriffen.     Das  gilt  in  gleicher  Weise  von 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion. 


305 


den  „naturwissenschaftlichen"  Theorien  wie  von  den  ,, philo- 
sophischen". Einerlei,  ob  man  das  ,, Milieu"  oder  die  , .Ver- 
erbung" oder  die  „Rasse",  oder  ob  man  eine  übcrindividuclle 
„Idee"  oder  eine  ,,Entclechie"  als  individualitätsbildende  Agenzien 
einführt:  betrachtet  man  diese  Dinge  genauer,  so  zeigt  sich,  daß 
auch  sie  entweder  ganz  unzureichend  sind,  ziemlich  grobschläch- 
tige Vereinfachungen  oder  unbekannte  Größen,  mit  denen  man 
irreführenderweise  als  mit  erkannten  operiert. 

Drittens  aber  liefern  für  eine  klare,  psychologische  Begriffs- 
bildung die  Biographien  in  der  Regel  zwar  interessantes  Roh- 
material, aber  so  gut  wie  nirgends  deutlich  greifbare  Erkenntnisse. 
So  reich  wir  an  Darstellungen  des  Lebens  unserer  großen  Dichter, 
Staatsmänner,  Forscher  sind:  Wo  erhalten  wir  einen  wirklich 
klaren  Begriff  ihrer  Individualität,  der  uns  ermöglichte,  ihre 
seelische  Eigenart,  das  Verhältnis  und  die  Stärke  ihrer  seelischen 
Fähigkeiten  auf  eine  sichere  Formel  zu  bringen }  Oft  scheint 
sich  durch  das  Studium  von  Biographien  die  Möglichkeit  einer 
begrifflichen  Formel  für  die  Individualität  eher  zu  verringern 
als  zu  vergrößern.  Auch  das  Hilfsmittel  der  Periodenbildung, 
d.  h.  der  Versuch,  durch  scharfe  Einschnitte  in  die  sich  wandelnde 
Kontinuität  Klarheit  zu  bringen,  bleibt  doch  rein  fiktiv,  da  eine 
solche  Periodenbildung  überall  gewaltsame  Brüche  einführt,  wo 
in  Wahrheit  unmerkliche  Übergänge  stattfinden. 

4.  Neben  der  biographischen  Methode  hat  die  Individualitäts- 
forschung neuerdings  eine  andere  in  den  Vordergrund  geschoben: 
die  psych ographische.  Diese  Methode  sucht  die  gerügten 
Mängel  der  biographischen  zu  vermeiden,  und  zwar  in  folgender 
Weise.  Erstens  will  sie  nicht  wie  die  biographische  die  Persön- 
lichkeit unter  einem  Hauptgesichtspunkt  erfassen,  sondern  sucht 
der  ganzen  Breite  derselben  gerecht  zu  werden.  Sie  beachtet 
daher  auch  solche  seelischen  Äußerungen,  die  dem  Biographen 
als  ,, unwesentlich"  erscheinen.  Statt  eines  Ausschnitts  soll  hier 
also  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Individualität  erfaßt  werden. 
Zweitens  beschränkt  sich  der  Biograph  auf  Feststellung  von 
nachweisbaren  und  nachprüfbaren  Tatsachen,  er  ver- 
zichtet bewußt  auf  alle  jene  hypothetischen  Erklärungshilfen, 
die  der  Biograph  verwendet.  Er  sucht  nicht  eine  hypothetische 
Kausalität,  arbeitet  nicht  mit  verkappten  Unbekannten,  wie 
,, Rasse",  ,, Vererbung"  usw^,  sondern  sucht  nur  zu  ergründen, 
was  wirklich  ist.     Drittens  aber  geht  er  auf  die  psychologische 

Annalen  der  Philosophie.    I.  20 


3o6 


Richard  Müller-Freienfels: 


Struktur  des  Individuums  aus,  die  der  Biograph  nur  sehr 
rudimentär  zu  erkennen  vermag.  In  der  psychographischen  Methode 
hat  man  ein  Mittel,  nicht  nur  die  Struktur  der  einzelnen  Persön- 
lichkeit festzustellen,  man  kann  sie  auch  leicht  mit  den  Ergeb- 
nissen von  anderen  Individuen  vergleichen  und  damit  neue  Wert- 
volle Gesichtspunkte  gewinnen. 

Die  psychographische  Methodik  ist  erst  in  neuester  Zeit  gründlich 
durchgebildet  worden  und  steht  noch  in  ihren  Anfängen.^)  Man  hat 
die  verschiedenartigsten  Schemata  ausgearbeitet,  um  allen  Möglich- 
keiten der  seelischen  Mannigfaltigkeit  gerecht  zu  werden.  Es  kann 
hier  weder  eine  Darstellung  noch  eine  Kritik  dieser  Methoden  im  ein- 
zelnen unser  Ziel  sein:  Wir  weisen  allein  nach,  daß  auch  das  Psycho- 
gramm  auf  fiktiven  Voraussetzungen  fußt. 

Wir  sind  geneigt,  die  Möglichkeiten  der  psychographischen 
Methode  sehr  hoch  einzuschätzen  und  erhoffen  vieles  von  ihr. 
Trotzdem,  von  dem  hier  in  Frage  stehenden  Gesichtspunkt  aus 
müssen  wir  auch  gegen  sie  ein  gewichtiges  Bedenken  erheben. 
Diese  Methode  nämlich  setzt  stillschweigend  gerade  das  voraus, 
was  wir  hier  in  seiner  ganzen  Problematik  aufzudecken  suchen: 
die  konstante  Identität  der  Persönlichkeit.  Das  im  Psychogramm 
festgelegte  Verhalten  soll  ja  nicht  bloß  für  den  Augenblick  gelten, 
es  soll  eine  Allgemeinerkenntnis  sein,  die  gestattet,  auch  für 
andere  Fälle  das  Verhalten  des  Individuums  zu  berechnen.  Das 
aber  ist  nur  dann  möglich,  wenn  die  Individualität  sich  dauernd 
identisch  verhält.  Gerade  das  aber  wird  von  uns  bestritten  und, 
da  die  Psychographik  selber  uns  recht  geben  muß,  so  wird  der 
Wert  ihrer  Ergebnisse  nur  sehr  relativ  sein  können.  Sie  wird 
daher  nicht  mit  einzelnen  Psychogrammen  sich  begnügen  können, 
sondern  durch  eine  große  Anzahl  unter  verschiedenen  Konstel- 
lationen aufgenommener  Psychogramme  dem  Wandel  der  In- 
dividualität Rechnung  tragen  müssen.  Auf  diese  Weise  kann 
die  psychographische  Methode  zwar  ein  durchschnittliches,  typisches 
Verhalten  errechnen,  indessen  kann  auch  diesem  nie  eine  völlige 
Gewißheit,  höchstens  eine  ziemliche  Wahrscheinhchkeit  zukommen. 
Auf  diese  Weise  aber  wird  der  ganze  Apparat  ungeheuer  kom- 
pliziert, und  erst  durch  Kombination  sehr  vieler  Psychogramme 
wird  es  möglich  sein,  zu  Aufstellungen  zu  gelangen,  die  über  rein 


*)  Man  vgl.  besonders  W.  Stern,  Die  differentielle  Psychologie  in  ihren  metho- 
dischen Grundlagen.  191 1.  Daselbst  auch  ausführliche  Literaturangaben  über  die 
bisherigen  psychographischen  Untersuchungen. 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  ^q  7 

zufällige  Feststellungen  sich  erheben.  So  wird  auch  die  psycho- 
graphische  Methode  sich  einschränken  müssen  auf  bestimmte 
Gesichtspunkte,  wird  das  Nacheinander  nicht  ganz  außer  acht 
lassen  können  und  wird  in  der  Praxis  sich  doch  auch  der  bio- 
graphischen Methode  in  manchem  annähern,  wenn  sie  eben  dem 
Wandel  der  Individualität  gerecht  werden  will. 

Die  psychographische  Methode  vermeidet  also  die  fiktive 
Vereinheitlichung,  die  wir  oben  bei  der  biographischen  aufgezeigt 
haben,  daß  sie  nämlich  unter  allen  gleichzeitigen  Tatsachen  nur 
einzelne  als  wesentlich  hervorhebt.  Sie  macht  aber  eine  andere 
Fiktion,  die  den  Tatsachen  kaum  weniger  Gewalt  antut,  die  näm- 
lich, daß  es  möglich  wäre,  an  einem  beliebigen  Querschnitt  der 
Individualität  deren  innerste  Struktur  festzuhalten,  eine  Annahme, 
die  wiederum  durch  die  biographische  Erkenntnis  sehr  unwahr- 
scheinlich gemacht  wird. 

5.  So  ergibt  sich  also,  daß  sov/ohl  die  biographische  wie  die 
psychographische  Methode  allein  nie  imstande  sein  werden,  die 
ganze  Fülle  einer  Individualität  zu  erfassen,  da  jede  von  ihnen 
in  ihren  fiktiven  Voraussetzungen  den  Tatsachen  zu  viel  Gewalt 
antut.  Das  Ideal  wäre  eine  Vereinigung  beider  insofern,  daß  aus 
sehr  vielen  verschiedenen  Lebensphasen  Psychogramme  aufge- 
nommen und  diese  nun  historisch  aneinandergereiht  und  in  ein- 
heitlicher Darstellung  vereinigt  würden.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  diese  Kombination  der  beiden  Methoden  auch  nicht  annähernd 
durchführbar  ist  und  daß  selbst  bei  der  denkbar  ausgedehntesten 
Anwendung  immer  noch  Lücken  und  Fehler  bestehen  bleiben 
müßten. 

So  kommen  wir  also  zur  Erkenntnis,  daß  jeder  Versuch,  die 
Individualität  wissenschaftlich  zu  erfassen,  gezwungen  ist,  mit 
fiktiven  Voraussetzungen  zu  arbeiten.  Das  Resultat  wird  also 
immer  nur  den  Wert  einer  Fiktion  haben,  allerdings,  wenn  es 
geschickt  aufgebaut  ist,  den  Wert  einer  Fiktion,  die  außerordent- 
lich brauchbar  sein  kann.  Denn  da  unser  Denken  überhaupt  be- 
ständig mit  fiktiven  Elementen  arbeitet,  so  würde  auch  die  Fiktion 
fester  Persönlichkeitsbegriffe  nicht  aus  seinem  Rahmen  fallen. 

Es  ist  nicht  das  Ziel  unserer  Untersuchung,  die  durch  jene 
Methoden  gewonnenen  Begriffe  dadurch  zu  entwerten,  daß  wir 
sie  als  Fiktionen  erweisen.  Nein,  wir  möchten  ihnen  auch  als 
Fiktionen  alle  wissenschaftlichen  Ehren  gönnen;  indem  wir  aber 
ihren   fiktiven    Charakter   zum   Bewußtsein   brmg^n,    glauben   wir 


20 


308 


Richard  Müller-Freienfels : 


ihren  wahren  Erkenntniswert  noch  zu  erhöhen.  Denn  es  kann 
auch  ein  logischer  Wert  sein,  wenn  man  die  Grenzen  erkennt,  die 
einem  Dcnkrcsultat  zukommen,  und  es  wäre  ein  falsches  Ver- 
fahren, wollte  man  sich  freiwillig  über  die  Beschränkung  unseres 
Begriffsvermögens  hinwegtäuschen. 


Kapitel  VI.    Der  fiktive  liidividualitätsbegriff  in  der 

Wisseiiscliai't. 

I.  Wenn  also  alle  Versuche,  Persönlichkeiten  begrifflich  zu 
fassen,  sich  als  Fiktionen  ergeben,  so  ist  offenbar,  daß  alle  Wissen- 
schaften, die  die  Darstellung  von  Persönlichkeiten  erfordern,  damit 
einen  fiktiven  Charakter  bekommen. 

Das  gilt  vor  allem  von  den  historischen  Wissenschaften, 
die  es  hauptsächlich  mit  Persönliclikciten  zu  tun  haben.  Gewiß 
ist  der  Wert,  den  man  den  Individualitäten  für  die  Ausprägung 
der  historischen  Geschehnisse  zumißt,  verschieden  groß  gewesen. 
Besonders  alle  jene  Bestrebungen,  die  die  historische  Methode 
der  naturwissenschaftlichen  annähern  wollen,  haben  es  versucht, 
die  Bedeutung  der  Einzelpersönlichkeit  herabzudrücken.  Ganz 
können  jedoch  auch  sie,  wenn  sie  nicht  vor  wichtigen  Tatbeständen 
die  Augen  verschließen  wollen,  der  Berücksichtigung  einzelner  Per- 
sönlichkeiten und  ihres  Einflusses  nicht  entraten.  Damit  aber 
kommt,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  irrationales  Element  in  die 
Wissenschaft  hinein,  das  nur  fiktionsweise  zu  einem  rationalen 
gemacht  werden  kann. 

Indessen  ist  das,  genau  besehen,  nicht  so  schhmm,  denn  ohne  fiktive 
Denkmittel  kommt  keine  Geschichtsauffassung  auf.  Keine  Geschichts- 
darstellung kann  sich  einbilden,  sie  vermöge  auch  nur  im  entferntesten 
ein  getreues  Abbild  der  darzustellenden  Tatbestände  zu  sein.  Ein 
solcher  Anspruch  verlangte  ein  erkenntnistheoretisch  und  logisch  Un- 
mögliches. Gegeben  ist  ein  ungeheurer,  unendlich  verflochtener  und 
in  allen  Einzelheiten  unübersehbarer  Zusammenhang  von  Geschehnissen. 
Aufgabe  der  Geschichte  ist  nun,  da  ein  getreues  Abbild  dieser  Gegeben- 
heit unmöglich  ist,  eine  Darstellung,  die  wenigstens  symbolhaft  die 
Hauptzüge  des  Geschehens  festhält  und  in  eine  gewisse  Ordnung  bringt. 
So  wird  natürlich  keine  absolute  Wahrheit  erzielt,  wohl  aber  eine  Be- 
herrschung des  Stoffes,  die  eine  allgemeine  Orientierung  gestattet.  Die 
Geschichte  als  Darstellung  der  Haupttatsachen  in  ihrem  Kausalnexus 
ist  also  ein  fiktives  Gebilde,  das  wir  als  Ersatz  für  die  damit  gemeinte 
Realität  nehmen  und  das  den  denkökonomischen,  kausalen,  und  daneben 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  oqq 

auch  allerlei  ethischen  Ansprüchen  genügt.  Auch  der  kleinste  histo- 
rische Komplex  setzt  eine  fiktive  Vereinfachung  und  Zurechtmachung 
voraus. 

2.  Die  Gesichtspunkte  nun,  unter  denen  ausgewählt  wird, 
können  die  allerverschiedensten  sein.  Ebenso  aber  auch  die 
Ordnungsprinzipien,  unter  denen  man  die  ausgewählten  Tat- 
sachen in  Zusammenhang  bringt.  Welche  es  aber  auch  sein 
mögen,  sie  bleiben  fiktiver  Natur;  denn  immer  sind  sie  Ver- 
einfachungen und  Abstraktionen  des  ungeheuren,  unübersehbaren 
Rohmaterials. 

Die  frühere  Geschichtsschreibung  hat  meist  Geschichte  so 
dargestellt,  als  sei  sie  das  Werk  bewußt  handelnder  Persönlich- 
keiten. Sie  nahm  die  Individuen  als  die  festen  Einheiten  und 
erklärte  das  Weltgeschehen  als  Beziehungen  zwischen  diesen.  Es 
ist  nun  nach  unseren  bisherigen  Ausführungen  offenbar,  daß  wir 
diesen  Standpunkt  nicht  unbedingt  teilen  können.  Da  uns  die 
Individualitäten  sich  nur  als  Fiktionen  darstellen,  so  werden  wir 
uns  hüten  müssen,  in  solchen  Fiktionen  letzte  Realitäten  zu  sehen. 
Wir  werden  indessen  auch  die  Geschichte,  die  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Individualität  geschrieben  ist,  nicht  völlig  verwerfen, 
sondern  ihr  einen  relativen  Wert  lassen;  denn  wir  können  wohl 
anerkennen,  daß  die  Individualität  als  fiktives  Ordnungsprinzip 
sehr  wertvoll  sein  kann. 

Infolgedessen  werden  wir  keineswegs  mit  fliegenden  Fahnen 
zur  anderen  Partei  übergehen,  die  alles  Geschehen  so  darstellt, 
als  sei  es  ein  Produkt  gewisser  überindividueller  Mächte,  und  die 
alle  Persönlichkeiten  zu  zufälligen  Trägern  solcher  Mächte  macht. 
Einerlei,  ob  man  ,, Ideen"  als  letzte  Einheiten  des  Weltgeschehens 
ansieht  oder  materielle  Notwendigkeiten  oder  irgendwelche  Zeit- 
strömungen, als  wirkhche  Realitäten  vermögen  wir  auch  diese 
Dinge  nicht  gelten  zu  lassen,  nur  als  fiktive  Ordnungsprinzipe. 
Alle  diese  Theorien  haben  rein  fiktiven  Wert,  sie  sind  nur  andere 
Kategorien,  die  zur  Ordnung  der  Tatsachen  dienen.  Entscheiden 
in  diesem  Streit  wird  allein  die  praktische  Bewährung:  d.  h. 
diejenige  Fiktion  wird  die  beste  sein,  die  gestattet,  eine  mög- 
lichste Fülle  von  Tatsachen  in  möglichst  einfache  Ordnung  zu 
bringen.  Absoluten  Wahrheitswert  kann  aber  keine  einzige  davon 
haben. 

3.  Wie  jedoch  bereits  gesagt:  Ganz  wird  keine  Geschichts- 
schreibung um  die   Notwendigkeit,    Persönlichkeiten  zu  gestalten, 


3IO 


Richard  Müller-Freienfels: 


herumkommen.  Denn,  auch  wenn  übcrindividuclle  Tatsachen  als 
eigenthche  Agenticn  der  Geschichte  gefaßt  werden,  zur  Wirkung 
kommen  sie  doch  meist  und  vor  allem  in  Individualitäten.  Es 
muß  also  der  Versuch  gemacht  werden,  die  Persönlichkeiten  be- 
grifflich zu  fassen,  und  zwar  so,  daß  sie  als  die  wirklichen  Angel- 
punkte des  Geschehens  erscheinen.  Wie  man  das  aber  auch  an- 
fassen mag,  die  so  erzielbaren  Gestaltungen  bleiben  doch  schema- 
tisierte Fiktionen^),  die  dem  menschlichen  Kausalbedürfnis  genug- 
tun. Diese  Kausalität  der  Geschichtswissenschaften  kann  jedoch 
nie  die  der  Naturwissenschaft  sein  und  also  erhärten,  daß  alles 
so  hat  geschehen  müssen;  die  historische  Kausalität  zeigt  immer 
nur,  daß  etwas  so  hat  kommen  können.  Daher  vermögen  auch 
die  von  der  Geschichte  zu  liefernden  Begriffe  von  Individualitäten 
nur  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit,  niemals  die  Notwendigkeit 
des  historischen  Zusammenhanges  zu  erweisen.  Solange  die  Per- 
sönlichkeitsbegriffe nicht  mit  offensichtlichen  Tatsachen  in  Wider- 
spruch geraten,  gelten  sie  als  ,, richtig"  oder  ,,wahr".  Fiktive 
Begriffe  bleiben  sie  jedoch  trotzdem.  Letzten  Endes  unterscheiden 
sich  auch  die  glänzendsten  Charakteristiken  eines  Mommsen  und 
eines  Treitschke  nur  gradweise  nicht  wesentlich  von  der  popu- 
lären Legendenbildung,  die  im  legendären  ,, eisernen  Kanzler" 
den  Schöpfer  des  neuen  Deutschen  Reiches  erblickt.  Nur  mit 
verfeinerter  Methode,  mit  viel  gründlicherer  Berücksichtigung 
aller  Einzeltatsachen  schaffen  jene  wie  hier  die  Popularintelli- 
genz  sich  Persönlichkeitsbegriffe,  die  geeignet  sind,  als  Denk- 
mittel für  die  Erklärung  der  Geschehnisse  zu  dienen.  Fiktiv 
aber  sind  sie  alle. 

Die  Einzclwissenschaft,  deren  Ziel  es  ist,  die  Tatsachen  nach 
dem  Prinzip  der  Denkökonomic  und  unter  anderen  mehr  oder 
minder  praktischen  Gesichtspunkten  zu  ordnen,  mag  sich  mit 
solchen  Fiktionen  zufrieden  geben.  Die  psychologisch-philosophische 
Betrachtung  der  gleichen  Tatbestände  wird  sich  stets  des  fiktiven 
Charakters  aller  auf  jene  Weise  erreichten  Erkenntnisse  und  damit 
des  letzten  Endes  irrationalen  Charakters  des  eigentlichen  Tat- 
bestandes bewußt  sein. 


')  Dies  ist  z.  B.  auch  für  die  Rickertschc  Auffassung  der  historischen  Me- 
thode zu  bedenken.  Zugegeben,  daß  die  Verallgemeinerung  der  Naturwissenschaften 
für  die  Geschichte  nicht  anwendbar  ist,  so  darf  man  doch  nicht  vergessen,  daß  auch 
die  Geschichte  mit  Verallgemeinerungen  arbeitet,  wofür  der  schematisierte  Indivi- 
dualitätsbegriff  das  beste  Beispiel  bietet. 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  ?  I  [ 

Kapitel  VII.    Der  Persönlichkeitsbegriff  in  der  Kunst. 

I.  Der  Persönlichkeitsbegriff,  mit  dem  die  Kunst  arbeitet, 
hat  sehr  viel  Ähnlichkeit  mit  dem  der  historischen  Wissenschaften. 
Auch  die  Kunst  macht  überall  dort,  wo  sie  es  auf  Darstellung  von 
Individualitäten  abgesehen  hat,  die  Fiktion,  daß  es  möglich  sei, 
die  irrationale  Gegebenheit  in  annähernd  adäquater  Weise  mit 
rationalen  Mitteln  zu  gestalten.  Der  Maler  oder  Bildhauer,  der 
eine  Porträtdarstellung  geben  will,  geht  von  der  Voraussetzung 
aus,  daß  eine  Formgebung  möglich  sei,  die  in  repräsentativer 
Weise  die  Gesamtheit  der  Persönlichkeit  festzuhalten  gestattet. 
Dabei  ergibt  sich  dann  die  den  Laien  zunächst  überraschende 
Tatsache,  daß  oft  die  naturalistische  Moment  wiedergäbe  nicht  im 
entferntesten  so  überzeugend  wirkt  als  eine  bewußt  fiktive  Um- 
gestaltung. Wir  sind  überzeugt,  daß  Dürers  Münchener  Selbst- 
porträt, Schlüters  ,, Großer  Kurfürst",  Klingers  ,, Nietzsche"  durch- 
aus freie  Umgestaltungen  sind,  und  dennoch  werden  sie  als  echter, 
lebendiger  und  ,, wahrer"  empfunden  als  andere,  naturalistischere 
Darstellungen.  Der  Grund  dafür  ist  derjenige,  daß  kein  einzelnes 
Moment  aus  der  Vielheit  der  wirklichen  Aspekte  eine  annähernd 
adäquate  Reproduktion  der  Gesamtpersönlichkeit  ist,  daß  aber 
wohl  der  Künstler  die  Möglichkeit  hat,  freischaffend  ein  fiktives 
Gebilde  zu  gestalten,  das  als  repräsentativ  für  die  wesentlichen 
Elemente  der  Persönlichkeit  gilt.  So  ist  es  ,,wahr"  im  Sinne  einer 
überzeugenden  Fiktion,  also  in  ähnlichem  Sinne,  wie  die  ,, Charakter- 
bilder" der  großen  Historiker  ,,wahr"  sind. 

Trotzdem  bestehen  große  Unterschiede  in  der  künstlerischen  Dar- 
stellung, die  man  am  besten  durch  den  Gegensatz  etwa  eines  Raffael- 
schen  und  eines  Rembrandtschen  Porträts  illustriert  und  die  letzten 
Endes  auf  tiefe,  rassepsychologische  Unterschiede  zurückgehen.  Gibt 
Raffael  sozusagen  eine  typische  Gestaltung,  in  der  die  Seele  des  Dar- 
gestellten in  einem  typischen,  durchschnittlichen  Ausdruck  erfaßt  zu 
sein  scheint,  der  jenseits  aller  zeitUchen  Bedingtheit  ein  abstraktes 
Sein  darstellt,  so  faßt  Rembrandt  den  seehschen  Ausdruck  gern  in 
einem  Moment,  der  nicht  durchschnittlich  zu  sein  braucht,  der  aber 
gewisse,  besonders  charakteristische  seelische  Gegebenheiten  besonders 
markant  zum  Ausdruck  bringt.  Jener  stellt  die  Persönhchkeit  im  ge- 
wöhnhchen  Zustand,  dieser  gerade  im  außergewöhnlichen  dar:  Bei 
beiden  handelt  es  sich  natürlich  um  fiktive  Vereinheitlichung  des  Mannig- 
faltigen. Indessen  ist  jenes  Verfahren  bedeutend  rationaler,  letzteres 
geht  mehr  auf  das  Irrationale  der  Persönlichkeit.  —  Indessen  lassen  sich 
diese  Dinge  hier  nur  andeuten,  nicht  ausführlich  begründen. 


312 


Richard  Müller-Freienfels : 


2.  In  höherem  Grade  als  die  bildende  Kunst  hat  es  die 
Dichtung  in  der  Hand,  Persönlichkeiten  zu  gestalten.  Sie  ist 
nicht  darauf  angewiesen,  eine  einzelne  Erscheinungsmöglichkeit 
herauszugreifen,  die  alle  anderen  zu  repräsentieren  hat.  Sie  kann, 
da  sie  das  Nacheinander  festzuhalten  vermag,  eine  Vielheit  der 
Erscheinungsweisen  geben,  kann  die  Variabilität  der  Persönlich- 
keit wenigstens  einigermaßen  fassen,  obwohl  es  natürlich  auch 
bei  ihr  stets  eine  Auswahl  bleiben  wird,  was  sie  zu  geben  vermag. 

Indessen  ist  die  künstlerische  Absicht  der  verschiedenen  Dichter 
nicht  immer  gleich:  Während  die  einen  sich  bestreben,  die  Charak- 
tere als  möglichst  einheitliche,  klare  und  durchsichtige  Gebilde 
zu  geben,  wollen  andere  gerade  der  Mannigfaltigkeit  und  Irratio- 
nalität gerecht  werden.  Beides  kann  künstlerische  Reize  haben, 
wenn  es  geschickt  durchgeführt  wird.  Freilich,  die  Vereinfachung 
aller  Charaktere  in  Engel  und  Teufel,  wie  sie  die  niedere  Literatur 
liebt,  ist  eine  Fiktion,  die  aui  den  anspruchsvolleren  Leser  meist 
ihre  Wirkung  verfehlt.  Indessen  liegt  das  Bestreben  vieler  Dichter, 
ihre  Gestalten  in  klarer  Plastik  und  voller  psychologischer  Durch- 
sichtigkeit auszuarbeiten,  prinzipiell  auf  derselben  Linie.  Zum 
Beispiel  die  Figuren  der  klassischen  französischen  Kunst  arbeiten 
durchaus  mit  der  Fiktion  des  einheitlichen  Charakters.  Die  Ge- 
stalten, in  einigen  Hauptzügen  scharf  gekennzeichnet,  handeln 
ganz  konsequent  nach  diesem  festen  Charakter.  Sie  erhalten 
dadurch  oft  etwas  Maschinenhaftes,  aber  die  von  ihnen  getragene 
Handlung  gewährt  dafür  dem  Beschauer  den  Anblick  konsequenter 
Klarheit  und  Logik.  Das  kann  von  hohem  ästhetischen  Reize 
sein,  ist  aber  natürlich  eine  fiktive  Umgestaltung  der  Welt,  eine 
Rationalisierung  des  Irrationalen,  die  dem  französischen  Geiste 
durchaus  entspricht  und  die  wir  auch  in  der  französischen  Philo- 
sophie finden. 

Diese  zu  weit  getriebene  Rationalisierung  kann  daher  verstimmen, 
und  in  der  Tat  hat  sie  oft  Widerspruch  hervorgerufen.  Ich  lasse  z.  B. 
Strindberg  zu  Worte  kommen,  der  sich  bestrebt,  das  ,, Automaten- 
hafte" dieser  Art  der  Charakteristik  zu  vermeiden.  Er  schreibt:  „Der 
bürgerliche  Begriff  von  der  Unveränderlichkcit  der  Seele  wurde  dann 
aufs  Theater  übertragen,  wo  ja  das  Bürgerliche  immer  geherrscht  hat. 
Ein  Charakter  war  dort  ein  Herr,  welcher  fix  und  fertig  war,  welcher 
unveränderlich  als  Betrunkener,  als  Spaßmacher,  als  Betrübter  auf- 
trat. —  Bei  dieser  Art  und  Weise,  die  Menschen  einseitig  aufzufassen, 
bleibt  sogar  noch  der  große  Moli^re  stehen.  Harpagon  ist  nur  geizig, 
obgleich  Hurpagon  hätte  geizig  und  zugleich  ein  ausgezeichneter  Finan- 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  5  i  ■? 

zier,  ein  prächtiger  Vater,  ein  guter  Bürger  sein  können.  —  — "  Im 
Gegensatz  dazu  erklärt  Strindberg:  ,, Meine  Seelen  (Charaktere)  sind 
Konglomerate  von  vergangenen  Kulturgraden  und  Brocken  der  an- 
gehenden Zeit,  welche  aus  Büchern  und  Zeitungen  entlehnt  wurden, 
Stücke  von  Menschen,  abgerissene  Fetzen  von  Feiertagskleidern,  welche 
zu  Lumpen  geworden  sind,  ganz  wie  die  Seele  zusammengeflickt 
ist.'i) 

Indessen  können  wir  feststellen,  daß  jeder  Dichter  die  Fiktion 
einer  gewissen  Identität  und  Konstanz  der  Charaktere  machen 
muß.  In  der  Hauptsache  jedoch  scheint  uns  bei  Strindberg  und 
fast  allen  großen  Dichtern  germanischer  Rasse  die  Rationalisierung 
der  Persönlichkeit  lange  nicht  so  weit  getrieben  zu  sein  wie  etwa 
bei  den  typischen  Franzosen.  Freilich,  eine  gewisse  Festigkeit 
der  Charaktere  geben  auch  sie,  die  an  sich  noch  gar  nicht  mit 
der  Wirklichkeit  in  Widerspruch  zu  stehen  braucht.  Man  kann 
es  aber  als  besondere  Kunst  der  ganz  großen  Dichter  wie  Shake- 
speare und  Goethe  hervorheben,  daß  sie  jenseits  der  Deutlichkeit 
der  Individualitätsvorstellung,  die  sie  vermitteln,  doch  noch  eine 
Ahnung  des  Irrationalen  der  Persönlichkeit  geben.  Man  kann  die 
Gestalten  Shakespeares  und  Goethes  nicht  wie  die  Racines  auf 
eine  Formel  bringen,  man  hat  das  Gefühl,  von  ihnen  noch  mehr 
zu  wissen,  als  direkt  gezeigt  wird;  in  ihrem  Bilde  sind  stets  eine 
Fülle  von  Linien,  die  irgendwie  ins  Unendhche  verlaufen.  Viel- 
leicht ist  dies  die  einzige  Möglichkeit,  dem  Irrationalen  der  In- 
dividualität gerecht  zu  werden,  daß  ein  großer  Dichter  hinter 
dem  Faßbaren  wenigstens  andeutungsweise  und  symbolhaft  die 
irrationalen  Nebentöne  mitzugeben  vermag. 


Kapitel  VIII.    Der  Individualitätsbegriff  in  Etliik  und  Religion. 

Die  Erkenntnis,  daß  die  Individualität  eine  nicht  umgrenz- 
bare, beständig  sich  wandelnde  Irrationale  ist  und  daß  jeder  Be- 
griff, den  wir  davon  bilden,  ungeachtet  seiner  praktischen  Brauch- 
barkeit, inadäquat  zu  der  damit  gemeinten  Tatsächlichkeit  ist, 
kann  auf  fast  allen  Lebensgebieten  zu  fruchtbarer  Anwendung 
gebracht  werden.  Wir  versuchen  eine  solche  Anwendung  hier 
nur  noch  auf  dem  Gebiete  von  Ethik  und  Religion. 

Wir  begegneten  schon  an  früherer  Stelle  der  ethischen  For- 
derung eines  konstanten  Persönlichkeitsbegriffs,  der  besonders  als 

^)  Vorwort  zu  dem  Drama  „Fräulein  Julie". 


•?  I  j  Richard  Müller-Freienfels : 

Pcrsönlichkcitsidoal,  das  die  einzelnen  Möglichkeiten  richtung- 
gebend überragt,  von  hohem  Werte  sein  kann.  Trotzdem  er- 
kannten wir  bereits,  daß  eine  völlige  Adäquatheit  zwischen  ethi- 
schem Ideal  und  tatsächlicher  Individualität  restlos  nicht  durch- 
führbar ist,  ohne  daß  das  Ideal  darum  an  Bedeutung  zu  verlieren 
braucht. 

Wir  weisen  hier  nun  auf  die  ethische  Auswertung  der  Er- 
kenntnis hin,  daß  jeder  feste  Persönlichkeitsbegriff,  wie  er  in 
sozialen  Gemeinschaften  sich  bildet,  nicht  ein  reales  Abbild  der 
Wirklichkeit,  sondern  eine  Fiktion  ist.  Auch  als  solche  kann  jener 
fiktive  Persönlichkeitsbegriff  als  Gegenstand  der  Ehre  und  des 
Ruhms  ein  mächtiger  Beweger  des  Lebens  sein.  Daneben  aber 
besteht  die  Inkongruenz  zwischen  dem  Persönlichkeitsbegriff,  der 
Gegenstand  der  Ehre  und  des  Ruhms  ist,  und  der  Wirklichkeit 
nicht  minder,  so  daß  letzten  Endes  Ehre  und  Ruhm  sich  doch 
als  trügerische  Gebilde  erweisen.  Nicht  nur,  daß  die  Ehre  oder 
der  Ruhm  selten  wirklich  der  Individualität,  meist  nur  dem  Standes- 
typus oder  dem  abstrakten  Vollbringer  irgendwelcher  Taten  gelten, 
auch  da,  wo  sie,  wie  bei  Künstlern,  Entdeckern,  Philosophen, 
wirklich  die  Individualität  selber  meinen,  ist  doch  der  Ruhm  oft 
ein  völlig  inadäquates  Gebilde,  das  mit  der  wirklichen  Leistung 
sehr  wenig  zu  tun  hat.  Der  moderne  Romandichter  Heinrich 
Mann  definiert  einmal  den  Ruhm  ,,als  weitverbreitetes  Miß- 
verständnis über  unsere  Person".  Das  ist  die  paradoxe  Zuspitzung 
eines  richtigen  Gedankens.  Wir  haben  oben  die  Gründe  aufgeführt, 
die  eine  richtige  Erkenntnis  fremder  Individualitäten  so  schwer 
machen.  Man  prüfe  nun  die  Geschichte  nach  und  sehe,  um  welcher 
Dinge  oft  die  größten  Persönlichkeiten  geehrt  und  gerühmt  wurden! 
Welche  erstaunlichen  Zerrbilder  hat  die  Welt  von  Christus  verehrt! 
L-nd  ist's  in  geringerem  Maße  nicht  mit  jeder  berühmten  histo- 
rischen Persönlichkeit  ebenso.''  Infolgedessen  gerät  jede  Ethik, 
die  ,,das,  was  einer  vorstellt"  (um  mit  Schopenhauer  zu  reden), 
in  den  Mittelpunkt  des  Lebens  stellt,  auf  Abwege.  Daher  rührt 
das  Don-Quichottchafte  jeder  Moral,  die  sich  auf  die  ,,Ehre" 
basiert.  Sie  nimmt  einen  verzerrten  Schatten  für  die  wahre 
Realität ! 

2.  In  anderer  Weise  läßt  sich  auf  religiösem  Gebiete  dartun, 
in  welch  seltsame  Widersprüche  man  gerät,  wenn  man  die  fiktive 
Identität  der  Persönlichkeit  als  Realität  nimmt,  ja  sie  sogar  ins 
Transzendente  hinaus  verlängert! 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  ß  I  5 

Man  muß  die  Vorstellung  einer  Unsterblichkeit  des  Individuums 
nur  klar  durchdenken,  um  allenthalben  auf  Unmöglichkeiten  zu 
stoßen.  Soll  wirklich  der  Mensch,  der  er  hier  auf  Erden  "war, 
mit  all  seinen  Begierden  und  Unklarheiten,  seinen  Titeln  und 
sozialen  Beziehungen,  in  Ewigkeit  fortleben?  Und  welche  Phase 
seines  Lebens  wird  dann  weiterbestehen?  Der  müde  Greis,  der 
zuletzt  an  Altersschwäche  dahinsinkt  ?  Oder  wenn  einer  als  Säug- 
ling stirbt,  wird  er  dann  als  Säugling  unsterblich?  Alles  das  ist 
zu  absurd,  um  ernsthaft  gedacht  zu  werden,  und  doch  gerät  man 
unweigerlich  in  diese  Gedankenwirrnis,  wenn  man  konsequent  ist 
in  der  Forderung  der  individuellen  Unsterblichkeit. 

Andererseits,  wenn  man  sagt,  nur  das  innerste  Wesen  der 
Persönlichkeit  bestehe  verklärt  im  Jenseits  w^eitcr,  so  ist  damit 
die  Individualität  in  ihrer  Breite  schon  aufgehoben:  Man  erklärt 
damit  eine  Fiktion  für  unsterblich  und  zwar  eine  Fiktion,  die 
sich  keineswegs  mit  der  entsprechenden  Realität  deckt.  Wenn 
nicht  August  Schulze,  der  in  der  Friedrichstraße  einen  Zigarren- 
laden besitzt,  unsterblich  ist,  sondern  nur  sein  innerstes  Wesen, 
so  ist's  eben  nicht  mehr  August  Schulze,  der  weiterlebt,  sondern 
ein  fiktiver  Begriff  von  ihm.  Man  steht  also  vor  dem  Dilemma, 
entweder  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  unabgegrenzten, 
sich  beständig  wandelnden  Phasen,  die  zusammen  die  reale  Grund- 
lage des  Individualitätsbcgriffs  ausmachen,  alle  miteinander  in 
ihrer  ganzen  Buntscheckigkeit  für  unsterblich  zu  erklären  oder 
aber  ein  fiktives  Gebilde,  irgendeine  Abstraktion  aus  jener  Mannig- 
faltigkeit. Da  man  die  erstere  Möglichkeit  nicht  ausdenken  kann, 
die  zweite  aber  nicht  mehr  als  Fortbestehen  der  realen  Indivi- 
dualität angesehen  werden  kann,  so  muß  man  den  Gedanken  der 
individuellen  Unsterblichkeit  preisgeben. 

Uns  scheint,  daß  das  vom  Standpunkt  einer  geistigen  Re- 
ligion nicht  einmal  zu  bedauern  ist.  Wenn  anders  echte  Religion 
nur  diejenige  ist,  die  das  Menschliche  emporhebt  zum  Göttlichen, 
also  einem  Transzendenten,  Überpersönlichen,  Unendlichen,  dann 
ist  die  Lehre  einer  individuellen  Unsterblichkeit  wahrer  Religio- 
sität gerade  entgegen.  Denn  durch  diese  Lehre  wird  nicht  das 
Menschliche  vergöttlicht,  sondern  das  Göttliche  gerade  vermensch- 
licht. Erst  wenn  man  einsieht,  daß  die  Individualität  eine  fiktive 
Abstraktion  ist,  daß  jedoch  unser  wahres  Sein  schon  auf  Erden 
Überpersönliches  einschließt  und  nicht  in  eng  umschreibbare 
Grenzen  gebannt  ist,  daß  wir  immer  und  überall  bereits  teilhaben 


3i6 


Richard  Müller-Freienfels: 


an  einem  Unendlichen  und  Ewigen,  dann  erst  können  wir,  ohne 
in  unlösbare  logische  Widersprüche  zu  geraten,  jenes  Gefühl  der 
Gemeinsamkeit  mit  dem  Weltganzen  verspüren,  das  das  innerste 
Wesen  echter  Religiosität  ist.  In  dieser  Hinsicht  ist  der  Bud- 
dhismus, der  die  Individualität  als  Täuschung  ansieht,  mit  der 
Logik  bedeutend  leichter  zu  vereinigen,  als  die  Lehre  der 
christlichen  Kirche  —  die  übrigens  in  diesem  Punkte  Stützen  aus 
den  unmittelbaren  Worten  ihres  Stifters  kaum  finden  dürfte.  Es 
wäre  der  Gesamttendenz  Christi  durchaus  zuwider,  die  Ewigkeit 
der  Individualität  in  der  Art  des  handfesten  Köhlerglaubens  zu 
proklamieren. 

Abschluß. 

Vielleicht  sieht  unser  Ergebnis  auf  den  ersten  Blick  nicht 
sehr  verheißungsvoll  aus.  Die  Individualität  in  ihrer  erlebten 
Tatsächlichkeit  ergibt  sich  uns  als  irrationale  Größe,  die  weder 
eine  feste  Umgrenzung  gestattet  noch  dem  Identitätsprinzip  unter- 
worfen werden  kann.  Alle  Versuche,  sie  begrifflich  zu  fassen, 
erweisen  sich  als  fiktive  Gebilde,  die  jener  irrationalen  Tatsächlich- 
keit durchaus  inadäquat  sind.  Nun  hatten  wir  zwar  zu  erweisen 
gesucht,  daß  auch  als  Fiktionen  sich  jene  inadäquaten  Begriffe 
in  mannigfacher  Hinsicht  sehr  brauchbar  erweisen.  Indessen 
könnte  trotzdem  unser  Standpunkt  als  ganzer  als  negativer 
Skeptizismus  angesehen  werden. 

Dieser  Vorwurf  träfe  nicht  nur  unsere  Ausführungen,  sondern 
die  gesamte  Als-Ob-Philosophie  und  verwandte  Standpunkte  mit. 
Wir  glauben,  daß  er  zu  Unrecht  erhoben  wird.  Wenn  wir  auch 
weiter  nichts  feststellen  könnten  als  die  Irrationalität  der  Welt, 
so  wäre,  wenn  diese  Feststellung  den  Tatsachen  entspricht,  diese 
Erkenntnis  als  solche  schon  unendlich  viel  wertvoller  als  jeder 
Standpunkt,  der  fälschlich  die  restlose  Rationalisierbarkeit  der 
Welt  verträte.  Außerdem  ist  ja  die  rationale  Erkenntnis  nicht 
die  einzige,  die  uns  möglich  ist.  Gerade  an  unserem  Problem 
zeigte  es  sich,  daß  die  innere  Erfahrung,  ein  unmittelbares  Er- 
lebnis, neben  der  begrifflichen  steht,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
wir  auch  durch  die  Widersprüche  der  Begriffe  untereinander  ihre 
Unzulänglichkeit  feststellen  konnten.  Auch  die  Erkenntnis  dieser 
Unzulänglicl.keit  des  begrifflichen  Denkens  ist  ein  durchaus  posi- 
tiver  Erkenntniswert,    neben   dem  als  weiterer  positiver   Wert   die 


Der  Begriff  der  Individualität  als  fiktive  Konstruktion.  3I7 

trotzdem  bestehende  praktische  Bewährung  des  rationalen,  wenn 
auch  fiktiven  Denkens  steht.  Wir  behaupten  also,  daß  unser 
Standpunkt,  selbst  wenn  er  vieles  scheinbar  Feste  ins  Wanken 
bringt,  darum  keineswegs  bloß  negativ  ist.  Er  setzt  nur  an  Stelle 
der  scheinbar  konstanten  Größen  erkannt  variable.  Dadurch  ist 
die  Welt  vielleicht  weniger  bequem  zu  erfassen,  aber  immerhin 
ist  Bequem.lichkeit  noch  nicht  das  einzige  Kriterium  für  die  Wahrheit. 

Wir  lassen  vielmehr  die  fiktive  Rationalisierung  der  Welt  für 
den  täglichen  Gebrauch  bestehen,  wir  versuchen  nur,  als  Philo- 
sophen einen  Standpunkt  zu  gewinnen,  von  dem  sich  uns  die 
rationalisierte  Welt  nicht  mehr  als  ganze  Wahrheit  darstellt. 
Nein,  hinter  dem  System  des  begrifflichen  Denkens  sehen  wir 
noch  die  diesem  unzugängliche  irrationale  Tiefe  des  Seins.  Und 
uns  scheint,  daß  auch  an  ästhetischer  Erhabenheit  und  innerer 
Würde  dieser  Standpunkt  jenem  anderen,  der  sich  über  die  eigene 
Unzulänglichkeit  der  Ratio  täuscht  und  allem  mit  ihr  nicht  Er- 
faßbaren schlechtweg  das  Daseinsrecht  abstreitet,  mindestens 
gleich  ist.  Statt  des  starren  Begriffsskeletts  von  der  Wirklichkeit, 
das  der  Rationalismus  allein  festhält,  suchen  wir  auch  das  bewegte, 
ewig  wechselnde  Leben  in  seiner  Irrationalität  als  Tatsache  an- 
zuerkennen. Wir  bilden  uns  nicht  ein,  mit  unseren  armseligen 
menschlichen  Schöpfgefäßen  den  unendlichen  Ozean  der  Welt 
restlos  ergründen  zu  können,  wir  freuen  uns  nur,  daß  wir  in  unserm 
Denken  ein  Mittel  haben,  uns  gleichsam  in  sicherem  Kahne  hindurch - 
steuern  zu  können,  während  war  uns  das  volle  Bewußtsein  zu  be- 
wahren suchen  dafür,  daß  wir  ringsum  umgeben  sind  von  einem 
Ozean  irrationalen  Seins. 

Auf  unser  Problem  der  Individualität  angewandt,  würde  das 
alles  besagen,  daß  wir  zwar  fortfahren  werden  und  fortfahren 
müssen,  uns  von  den  Persönlichkeiten,  die  uns  entgegentreten, 
Begriffe  zu  bilden.  Aber  wir  wissen  zugleich,  daß  diese  nur  fik- 
tiven  Wert  haben,  und  wir  bestreben  uns  daher,  des  hinter  lenen 
Fiktionen  flutenden  irrationalen  Seins  stets  bewußt  zu  bleiben, 
weil  zur  wahren  Erkenntnis  nicht  nur  die  Feststellung  des  Ratio- 
nalen, sondern  auch  die  Anerkennung  des  Irrationalen  gehört. 
Und  in  diesem  Sinne  ist  die  Analyse  der  menschlichen  Indivi- 
dualität nur  ein  besonders  bezeichnender  Sonderfall  der  philo- 
sophischen Erkenntnis  in  unserm  Sinne  überhaupt.  Möglich, 
daß  den  Landratten  unter  den  Denkern,  allen  jenen,  die  sich 
die  Wahrheit  und  die  Erkenntnis  nur  als  statische,  unverrückbare 


5  I  3     Richard  Müller-Freienl'cls :  Der  Begriff  d.  Individualität  als  fiktive  Konstruktion. 

Wesenheiten  deuten  können  und  die  sich  vor  der  flüssigen  irra- 
tionalen Welt  fürchten,  weil  sie  ,, keine  Balken"  hat,  unser  Ergebnis 
gefährlich  dünkt!  Sei  es  darum:  Eine  Fiktion  hört  darum  nicht 
auf,  eine  Fiktion  zu  sein,  weil  man  sie  in  eine  absolute  Wahrheit 
umlügt !  Und  wenn  unsere  Wahrheit  gefährlich  erscheint  ?  Nun, 
es  ist  noch  nie  ein  Ruhmestitel  für  Denker  gewesen,  daß  sie  die 
Gefahr  dadurch  zu  parieren  glaubten,  daß  sie  wie  der  Vogel  Strauß 
ihren  Kopf  im  Sande  verbargen. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre. 

Von 

Richard  Müller-Freienfels. 

Inhaltsübersicht. 

Kap.  I.  Psychologie  der  Wertung,  i.  Wertgrundlage  und  Wertsetzung. 
2.  Möglichkeit  und  Notwendigkeit  dieser  Scheidung.  3.  Die  Wertgrundlage  als 
„Stellungnahme".  4.  Die  Wertsetzung  als  „sekundäre  Stellungnahme".  5.  Er- 
lebte und  übernommene  Wertsetzung.     6.    Abschluß. 

Kap.  II.  Psychologie  des  Wertsubjekts,  i.  Die  Spaltung  des  Subjekts 
als  allgemeines  Phänomen.  2.  Die  Spaltung  zwischen  ,,Momentan"subjekt  und  „Ein- 
heits"subjekt  der  Wertung.  3.  Das  .,Normar'subjekt  und  das  „absolute  Subjekt". 
4.  Räumlich  und  zeitlich  begrenzte  überindividuelle  Subjektivität.  5.  Die  sozialen 
Subjekte.    6.   Die  „Einfühlung"  in  fremde  Wertsubjekte.    7.  Abschluß. 

Kap.  III.  Psychologie  des  Wertgegenstandes,  i.  Der  psychische  Wert- 
gegenstand und  der  Wertträger.  2.  Formen  des  Wertgegenstandes.  3.  Der  „Ein- 
heits"wertgegenstand.  4.  Der  „NormaV'wertgegenstand.  5.  Die  Absolutierung 
der  Werte.  6.  Die  relativen  Allgemeinwerte.  7.  Die  sozialen  Allgemeinwerte. 
8.  Abschluß. 

Kap.  IV.  Wertrichtigkeit  und  Wertrang.  i.  Wertrichtigkeit  und  Wert- 
rang als  psychologische  Probleme.  2.  Die  biologischen  Prinzipien  für  die  Wert- 
richtigkeit. 3.  Die  Prinzipien  für  die  Rangordnung  der  Wertungen.  4.  Die  Prin- 
zipien für  die  Rangordnung  der  Wertsubjekte.  5.  Die  Prinzipien  für  die  Rang- 
ordnung der  Wertgegenstände.  6.  Die  Relativität  der  tertiären  Wertsetzung  und 
ihre  fiktive  Bedeutung. 

Kap.  V.  Die  absolutistischen  Werttheorien.  i.  Die  Prinzipien  des 
Absolutismus.  2.  Münsterbergs  System  der  Werte.  3.  Die  Einzelergebnisse  seiner 
Lehre.     4.  Die  Absolutsetzung  der  Werte  als  Fiktion. 

Einleitung. 

Das  Wertproblem  wird  in  der  neueren  Wissenschaft  in  zwei- 
facher, prinzipiell  geschiedener  Weise  behandelt.  Entweder  man 
sucht  die  Werte,  die  die  äußere  Erfahrung  darbietet,  psycho- 
logisch zu  erklären  oder  man  sucht  nach  den  Werten  als  aprio- 
ristischen,  aller  Erfahrung  vorausgehenden  Wesenheiten.  Im 
ersteren  Falle  erscheinen  die  Werte  als  relativ,  im  zweiten  Fall 
als  absolut.  Es  ergeben  sich  so  zwei  verschiedene  Wertsphären, 
die  ohne  Bindeglieder  nebeneinander  bestehen.  Wir  gehen  für 
unsere  Untersuchung  von  den  relativen  Werten  aus,  stützen  uns 
zugleich  auf  die  äußere  (historische)  Erfahrung  und  auf  die  psycho- 


■I20  Richard  Müller-Frcienfels: 

logische  Analyse.  Von  hier  aus  versuchen  wir  dann  auch  die 
Forderung  nach  absoluten  Werten  zu  verstehen  und  den  auch  vom 
psychologischen  Standpunkt  nicht  wegzuleugnenden  Behauptungen 
einer  Absolutheit  der  Werte  dem  von  diesem  Standpunkt  aus  ge- 
recht zu  werden. 

Im  einzelnen  weicht  die  hier  vertretene  Werttheorie  wesent- 
lich auch  von  vielen  der  bisher  aufgestellten  relativistischen  Wert- 
lehren ob.  Der  psychologische  Vorgang  der  Wertung  wird  von 
uns  anders  analysiert  und  nicht  als  einfacher  Vorgang,  sondern 
als  ein  in  zwei  deutlich  kennbare  Prozesse  zerfallender  erwiesen. 
Des  weiteren  weichen  wir  von  früheren  Untersuchungen  sehr  er- 
heblich in  der  Analyse  sowohl  des  Wert  Subjekts  wie  des  Wert- 
gegenstandes  ab,  indem  wir  nachweisen,  wie  stark  beide  Be- 
griffe fiktiven  Ausgestaltungen  unterw'orfen  sind.  Auch  die 
Prinzipien  für  Richtigkeit  oder  Falschheit  der  Werte  ebenso 
die  für  eine  Rangordnung  der  Werte  untersuchen  wir  und 
zeigen  dabei,  wie  stark  auch  hier  mit  Fiktionen  verschiedener  Art 
gearbeitet  wird.  Auf  diese  Weise  gelangen  wir  zwar  nicht  zu 
einem  System  von  Werten,  das  den  Anspruch  absoluter  Gültig- 
keit erhebt,  wohl  aber  hoffen  wir,  Verständnis  zu  erzielen  für  den 
lebendig  bewegten  Wechsel  der  Wertungen,  die  uns  Geschichte  und 
Leben  darbieten,  und  die  Prinzipien  zu  durchschauen,  nach  denen 
diese  Wertungen  zustande  kommen. 

Kapitel  I.    Psychologie  der  Wertung. 

I.  Bei  der  Analyse  des  Wertphänomens  müssen  wir  zunächst 
unterscheiden  das  Wertende  Subjekt,  für  das  etwas  von  Wert 
ist,  und  das  Objekt,  das  ge wertet  wird.  Wir  bezeichnen  jenes 
kurz  als  das  ,, Wertsubjekt"  und  dieses  als  den  „Wertgegen- 
stand". Die  großen  Schwierigkeiten,  die  in  diesen  beiden  Begriffen 
liegen,  werden  in  besonderen  Kapiteln  behandelt. 

Zwischen  Wertsubjekt  und  Wertgegenstand  spielt  sich  der 
Prozeß  der  Wertung  ab.  Diese  ist  ein  psychologischer  Vor- 
gang, wodurch  jenes  eben  zum  .Wert Subjekt",  dieses  zum  ,,Wcrt- 
gegenstand"  wird. 

Soweit  stimmen  fast  alle  psychologischen  Werttheorien  überein, 
Sie  gehen  erst  auseinander  bei  der  weiteren  Besprechung  des 
Wertungsprozesses.  Und  zwar  können  wir  drei  Hauptformen  der 
psychologischen     Werttheorie    unterscheiden:     erstens    diejenigen, 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  221 

die  die  Wertung  als  Gefühl  ansprechen,  zweitens  diejenigen,  die 
das  Werten  mit  dem  Begehren  zusammenbringen,  und  drittens 
diejenigen,  die  im  Werten  einen  seelischen  Prozeß  eigner  Art 
sehen  wollen. 

Als  Typus  für  die  Gefühlstheorie  des  Wertes  gilt  uns  Kreibig, 
der  den  Wert  definiert  als  „die  Bedeutung,  welche  ein  Empfindungs- 
oder Denkinhalt  vermöge  des  mit  ihm  unmittelbar  oder  assoziativ  ver- 
bundenen aktuellen  oder  dispositionellen  Gefühls  für  ein  Subjekt  hat".^) — 
Ähnlich,  wenn  auch  enger,  faßt  Meinong  das  Werten  als  ein  ,, Lust- 
gefühl an  der  Existenz  des  Gegenstandes".  Das  Wertgefühl  beruht 
auf  einem  Urteil  über  die  Existenz  des  Gewerteten. 2)  Außer  diesen 
stehen  noch  zahlreiche  ältere  und  neuere  Denker,  die  hier  nicht  alle  ge- 
nannt werden  können,  auf  verwandtem   Boden. 

Die  Zurückführung  des  Wertes  auf  das  Begehren  hat  am  kon- 
sequentesten von  Ehrenfels  unternommen.  Nach  ihm  ist  der  Wert 
eines  Dinges  seine  ,,Begehrbarkeit".3)  Auch  diese  Anschauung  ist  sehr 
verbreitet,  wenn  schon  statt  „Begehren"  oft  „Streben"  oder  „Wille" 
gesagt  wird. 

Als  Vertreter  derjenigen  Anschauung,  die  im  Werten  einen  spezi- 
fischen Vorgang  eigener  Art  sehen  will,  nenne  ich  H.  Schwarz. 
Nach  ihm  ist  Werten  gleich  „Gefallen"  und  dieses  ein  Element  des 
Willens.  Indessen  verspüren  wir  Güter  wie  Lust,  Ehre,  Wahrheit  als 
spezifische  Werte  und  hierfür  wird  ein  besonderer  Prozeß  des  Wert- 
haltens festgestellt.  Dieses  ist  keine  Lust  mit  Intensitätsunterschieden, 
sondern  kennt  nur  Sättigungsunterschiede.*)  — 

Ohne  uns  auf  eine  Kritik  dieser  Lehren  im  einzelnen  ein- 
zulassen, können  wir  feststellen,  daß  keine  derselben  dem  ganzen 
Phänomen  der  Wertung  gerecht  wird,  daß  jede  vielmehr  nur  ein- 
zelne, wenn  auch  an  sich  richtig  beobachtete  Seiten  hervorhebt. 
Sie  begehen  fast  alle  den  Fehler,  daß  sie  den  Prozeß  der  Wertung 
für  einen  einfachen  seelischen  Vorgang  ansehen,  während  in 
Wirklichkeit  kompliziertere  Verhältnisse  bestehen.  Der  Umstand, 
daß  etwas  mein  Gefühl  oder  mein  Begehren  erregt,  ist  an  sich 
keineswegs  eine  Wertung,  sondern  nur  ein  Teilphänomen  dieser 
oder  (wie  wir  sagen)  die  Grundlage  derselben.  Es  muß  zu  dem 
grundlegenden   Gefühl  oder  Begehren  noch  ein  weiterer  seelischer 


1)  Krfibig,  Psychol.  Grundlegung  eines  Systems  der  Werttheorie,  1902,  S.  3ff. 

*)  Meinong,  Psychol.-ethische  Untersuchungen  zur  Werttheorie,  1894.  — 
„Über  Annahmen",  1902. 

3)  V.  Ehrenfels,  System  der  Werttheorie,  I,  1897.  Ferner  z.  B.  Tb.  Lipps, 
Vom  Fühlen,  Denken,  Wollen,  1908. 

*)  H.  Schwarz,  Glück  und  Sittlichkeit,  S.  6.    Psychologie  des  Willens,  1901, 

S.  34- 

Annalen  der  Philosophie.    I.  ** 


■3  22  Richard  Müller-Freienfels: 

Akt  hinzukommen,  den  wir  als  die  Wertsetzung  bezeichnen. 
Worin  diese  Wertsetzung  besteht,  werden  wir  später  erörtern; 
vorläufig  können  wir  sie  als  ein  Bejahen,  Anerkennen  oder  ähnlich 
bezeichnen.  Jedenfalls  kommt  erst  durch  diese  Doppelheit  eine 
wirkliche  Wertung  zustande:  erstens  muß  das  Subjekt  zu 
dem  Gegenstand  in  eine  Beziehung,  die  meist  emotional, 
d.  h.  gefühlsmäßig  oder  willensmäßig  ist,  eintreten, 
zweitens  muß  aber  diese  Beziehung  als  solche  bejaht, 
anerkannt,  d.  h.  als  Wert  gesetzt  werden.  Nur  dort 
liegt  eine  vollständige  Wertung  vor,  wo  diese  Doppelheit  des 
grundlegenden  Erlebnisses  (der  Wcrtgrundlage)  und  der 
Wertsetzung  besteht.  Allerdings  verschmelzen  beide  für  die 
oberflächliche  Selbstbeobachtung  meist  in  eins,  wodurch  sich  er- 
klärt, daß  die  Doppelheit  des  Prozesses  oft  übersehen  wurde. ^) 
Genauere  Analyse  jedoch  muß  sie  stets  erkennen  lassen.  Damit 
aber  gewinnen  wir  eine  Möglichkeit,  die  verschiedenen,  oben  ge- 
kennzeichneten Theorien  zu  einer  Synthese  zu  führen,  da  wir 
finden  werden,  daß  die  Wertgrundlage  meist  ein  Gefühl  oder  ein 
Begehren  ist,  daß  aber  dazu  noch  ein  sekundärer  Prozeß  kommen 
muß,  eben  die  Wertsetzung. 

2.  Es  sei  zunächst  die  Notwendigkeit  der  Scheidung  von 
Wertgrundlage    und    Wertsetzung    durch    einige    Beispiele    belegt. 

Wäre  nämlich  der  Prozeß  der  Wertung  ohne  weiteres  identisch 
mit  Lustgefühl,  so  müßte  jedes  irgendwie  erregte  Lustgefühl  als 
Wert  anzusprechen  sein.  Das  ist  jedoch  nicht  der  Fall.  Ich  habe 
täglich  eine  Menge  Lustgefühle,  die  ich  nicht  im  geringsten  als 
,, Werte"  gelten  lasse.  Ich  erlebe  auf  einem  Spaziergang  durch 
mich  streifenden  Blütenduft  oder  herübergewehte  musikalische 
Klänge  zahlreiche  flüchtige  Lustgefühle,  die  ich  jedoch  keineswegs 
als  ,, Werte"  anspreche.  Ich  kann  sogar  eine  solche  herüber- 
klingende Melodie  angenehm  empfinden  und  trotzdem  sie  als 
,,ganz  gemeinen  Gassenhauer"  negativ  bewerten,  was  offenbar 
keine  Identität  von  Lustgefühl  und  Wert  darstellt.  Es  muß  also 
zu  dem  Lustgefühl  noch  eine  besondere  Stellungnahme  meiner- 
seits hinzukommen.  Das  Lustgefühl  kann  eine  Wertgrundlage 
sein,  ist  aber  noch  nicht  das  Werten  selber. 

')  Ich  berühre  mich  in  dieser  Trennung  vielfach  mit  der  scharfsinnigen  Dis- 
sertation von  Walter  Strich,  Das  Wertproblem  in  der  Philosophie  der  Gegen- 
wart (Berlin  1909),  wenn  ich  auch  in  den  psychologischen  Grundlagen  und  in  der 
Fassung  im  einzelnen  stark  von  ihm  abweiche. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  %2X 

Ähnlich  ist  es  mit  dem  Begehren,  dem  Wollen,  die  ebenfalls 
Wertgrundlage  sein  können,  ohne  jedoch  in  jedem  Fall  einen  Wert 
zu  konstituieren.  Sehr  oft  erregen  Dinge  mein  Begehren,  obwohl 
ich  mir  vollkommen  bewußt  bin,  daß  die  begehrten  Dinge  wertlos, 
ja  ausgesprochen  ,, Unwerte"  sind.  Damit  das  Begehrte  als  ,,Wert" 
erscheint,  muß  noch  eine  besondere  innere  Stellungnahme  hinzu- 
treten, die  wir  eben  als  ,, Wertsetzung"  bezeichnen. 

Es  bedeutet  also  nicht  jede  Lust  oder  jedes  Begehren  einen 
Wert ;  wohl  aber  können  sie  Grundlage  eines  solchen  werden,  sobald 
eine  Wertsetzung  hinzutritt. 

Indessen  gibt  es  auch  Wertsetzungen,  denen  kein  Lustgefühl 
oder  Begehren  voraufgegangen  ist.  Ich  kann  eine  Bach  sehe  Fuge 
als  Wert  anerkennen,  ohne  daß  sie  in  meiner  momentanen  Stimmung 
mir  Lust  erregte  oder  daß  sie  mein  Begehren,  sie  zu  hören,  er- 
weckte. Allerdings  besteht  auch  in  diesem  Falle,  wie  ich  später 
zeigen  werde,  eine  Beziehung  zu  solchen  emotionalen  Erlebnissen: 
indessen  gilt  es  uns  hier  nur  zu  zeigen,  daß  die  Wertsetzung  auch 
für  sich,  als  ein  von  unmittelbar  erlebter  Lust  oder  ebensolchem 
Begehren  unabhängiger  Vorgang  besteht. 

Kommen  also  auch  diejenigen  Erscheinungen,  die  eine  Wert- 
grundlage bilden  können,  und  die  Wertsetzungen  getrennt  vor, 
so  geben  sie  doch  erst  dort,  wo  sie  gemeinsam  auftreten,  eine 
vollständige,  erlebte  Wertung  in  unserem  Sinne  ab.  Ein  voll- 
gültiges Werterlebnis  liegt  nur  dort  vor,  wo  beides, 
die  Wertgrundlage  wie  die  Wertsetzung,  nachzuweisen 
sind. 

Der  hier  als  Wertsetzung  beschriebene  Prozeß  kann  isoliert, 
d.  h.  ohne  erlebte  Grundlage  niemals  eine  wirkliche  Wertung  kon- 
stituieren. Er  stellt  nur  eine  unvollständige,  oder  wie  wir  auch  sagen 
können,  eine  übernommene  Wertung  vor,  die  im  Gegensatz  zur 
erlebten  Wertung  steht,  d.  h.  einer  solchen,  bei  der  eine  wirk- 
liche Wertgrundlage  vorhanden  ist.  Bei  einer  übernommenen 
Wertung  (wenn  ich  z.  B.  das  Urteil,  die  Fuge  von  Bach  sei  ein 
künstlerischer  Wert,  nachrede,  ohne  das  erleben  zu  können), 
handelt  es  sich  nicht  um  wirkliche  Werte.  Wir  werden  später  auf 
diesen  Gegensatz  zwischen  erlebten  und  übernommenen  Werten 
noch  zurückkommen,  betonen  jedoch  schon  hier,  daß  überall,  wo 
etwas  als  Wert  gesetzt  wird,  ein  Subjekt  hinzugedacht  werden 
muß,  dem  der  Wert  ein  wirkliches  Erlebnis  ist. 

3.   Was  nun  dies  Erlebnis,  die  Wertgrundlage  anlangt,  so 

21* 


^24  Richard  Müller-Freienfels: 

gaben  wir  zu,  daß  sowohl  Gefühle  als  Begehrungen  eine  solche 
bilden  können.  Wir  möchten  jedoch  den  Kreis  noch  weiter  ziehen 
und  ganz  allgemein  sagen,  daß  die  Wcrtgrundlage  stets  ein 
emotionales  Erlebnis  im  weitesten  Sinne  ist,  ein  Beziehungs- 
bewußtsein des  Wertsubjekts  zu  dem  Wertgegenstande,  oder  — 
wie  ich  kurz  mit  einem  von  mir  an  anderem  Orte  ausführlich  er- 
örterten Begriffe  sagen  werde:  eine  ,, Stellungnahme*'.^)  Zu 
den  Stellungnahmen  rechne  ich  alle  Gefühle  und  Be- 
gehrungen, darüber  hinaus  jedoch  noch  weitere  unten 
zu  besprechende  seelische  Tatbestände. 

Die  Psychologie  dieser  Begriffe,  zum  mindesten  die  Termino- 
logie ist  bekanntlich  sehr  schwankend.  Wir  können  an  dieser 
Stelle  nicht  eine  prinzipielle  Erörterung  derselben  beginnen,  müssen 
uns  vielmehr  auf  ungefähre  Absteckungen  beschränken.  Der  Be- 
griff des  Gefühls  wird  oft  auf  das  sehr  abstrakte  Begriffspaar 
,, Lust-Unlust"  eingeschränkt,  die  als  leere,  schattenhafte  Begleit- 
erscheinungen anderer  seelischer  Prozesse  bestimmt  werden.  Die 
so  gefaßten  schemenhaften  Begriffe  ,,Lust"  und  ,, Unlust"  greifen 
die  Gegner  der  psychologischen  Werttheorien  gern  auf,  um  diese 
ad  absurdum  zu  führen,  was  z.  B.  Münsterberg 2)  getan  hat. 
Wir  geben  nun  gern  zu,  daß  mit  einem  Lustbegriff,  der  derselbe 
sein  soll,  ob  er  beim  Genuß  eines  Glases  Münchener  Bieres  oder 
beim  Anhören  einer  Symphonie  oder  in  religiöser  Ergriffenheit 
erlebt  wird,  wenig  anzufangen  ist.^)  Aber  an  so  vage  Schemen 
halten  wir  uns  nicht,  vielmehr  fassen  wir  ,,Lust"  als  Sammel- 
begriff für  unendlich  verschiedene,  sehr  differenzierte 
seelische  Stellungnahmen,  die  stets,  wenn  auch  nicht 
auf   der    Oberfläche,    ein   Willenselement   enthalten.*) 

Damit  schlagen  wir  eine  Brücke  zu  den  ,, Begehr ungen"  und 
vereinen  so  die  beiden  ersten  oben  unterschiedenen  Werttheorien. 
Wir  sagen,  daß  in  allen  Gefühlen  ein  Willcnselement  steckt,  daß 
Lust  das  Bewußtwerden  eines  erfüllten  Triebes,   Unlust 


*)  Vgl.  hierzu  Müller-Freienfels,  Das  Denken  und  die  Phantasie,  1916, 
S.  22  und  passim. 

*)  Münsterberg,  Philosophie  der  Werte,  1908,  S.  22  und  S.  ößff. 

*)  Diesen  paradoxen  Begriff  verteidigt  allen  Ernstes  Titchener  im  „Lehr- 
buch der  Psychologie",  I,  S.  257. 

*)  Für  genauere  Darlegung  der  hier  angedeuteten  Lehren  über  das  Wesen 
der  Gefühle  verweise  ich  auf  meine  Abhandlungen  „Zur  Analyse  und  Begriffs- 
bestimmung der  Gefühle",  Zs.  f.  Psychol.  68  und  „Zur  Psychol.  u.  Biologie  der 
Gefühle",   Naiurw.  Wochenschr.    1917. 


Grundzüge  einer  neuen  WerÜehre. 


325 


das  Bewußtwerden  eines  gehemmten  oder  unbefriedigten 
Triebes  ist.  Die  spezifische  Färbung  der  Lust  wird  eben  durch 
den  Willensgehalt  desselben  bedingt.  Es  kann  natürlich  nur  an 
einigen  Beispielen  erläutert  werden,  wie  das  zu  denken  ist.  Wir 
müssen  uns  klar  sein,  daß  jedes  Organ  das  Bedürfnis  hat,  erregt 
zu  werden,  daß  also  in  jedem  Organ  ein  ,, Reiztrieb"  steckt.  Wird 
das  Organ  adäquat  erregt,  so  wird  dieser  Reiztrieb  befriedigt,  und 
das  Bewußtsein  dieser  adäquaten  Betätigung  ist  die  Lust.  Unlust 
ist  das  Bewußtsein  inadäquater  Betätigung  (d.  h.  einer  solchen, 
der  kein  Trieb  entgegenkam).  Das  sind  die  einfachen  Funktions- 
gefühle.  Bei  den  ,, Affekten"  handelt  es  sich  um  spezifischere 
Triebe.  Auch  deren  Befriedigung  bringt  ein  Lustgefühl  mit  sich. 
So  läßt  sich  (unter  Anlehnung  an  Schopenhauers  bekannte 
Theorie)  sagen,  daß  ein  weiblicher  Körper  unser  Schönheitsgefühl 
erregt,  wenn  er  (obgleich  nur  latent)  unser  Begehren  erweckt, 
nicht  etwa,  daß  wir  ihn  deshalb  begehren,  weil  er  schön  ist.  Die 
landläufige  Gefühlstheorie  verschiebt  dieses  Verhältnis.  So  ist's  mit 
allen  Gefühlen  und  Begehrungen.  Das  Gefühl  ist  nicht  die  Ur  - 
Sache  des  Willens,  sondern  ist  eine  Begleiterscheinung,  ein  Teil- 
phänomen des  Willens.  So  ist  z.  B.  die  Lust  an  Speisen  ein  Be- 
gleitgefühl des  Hungers,  nicht  etwa  dessen  Ursache.  Sind  wir  über- 
sättigt, so  vermag  auch  die  sonst  lockendste  Speise  uns  keine  Lust- 
gefühle zu  erregen,  was  das  Sprichwort  formuliert,  daß  Hunger 
der  beste  Koch  sei.  Allgemeiner  ausgedrückt  heißt  das,  daß  das 
Gefühl  ein  Bewußtwerden  der  Befriedigung  oder  Hemmung  eines 
Triebes  ist.  Die  Abstraktion  eines  allgemeinen  Lustgefühls  aus 
den  komplexeren  emotionalen  Prozessen,  deren  Kern  ein  Trieb 
ist,  führt  ganz  in  die  Irre  und  erklärt  gar  nichts.  Es  ist  so,  als 
wollte  man  behaupten,  ein  gesättigtes  Rot,  ein  gesättigtes  Blau, 
ein  gesättigtes  Gelb  seien,  was  ihre  ,, Gesättigtheit"  anlange, 
einander  gleich.  Die  ,, Gesättigtheit"  an  sich  gibt  es  so  wenig  als 
realen  isolierbaren  Faktor  wie  eine  ,,Lust  an  sich".  Lust  und  Un- 
lust sind  stets  nur  Seiten  oder  Färbungen  komplexerer  seelischer 
Stellungnahmen,  deren  Wesen  ,,willenshaft"  ist.  Wir  lehnen  also 
die  Definition  der  Gefühle  als  ,, Eigenschaften  der  Empfindungen" 
oder  als  ,,Zustandsbewußtsein"  ab,  und  fassen  die  Gefühle  als 
Bewußtseinsanzeichen  dafür,  ob  ein  Trieb  befriedigt 
wird  oder  nicht.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  schwindet  die 
prinzipielle  Kluft  zwischen  Gefühlen  und  Begehrungen,  welch 
letztere  sich  von  den  Gefühlen  nur  durch  Hinzutreten  von  Tätig- 


326 


Richard  Müller-Freienfels: 


keitsbcwußtsein,  also  letzten  Endes  motorischen  Einstellungen, 

unterscheiden. 

Vielleicht  könnte  man,  wie  einige  Forscher  es  versucht  haben,  die 
Wertgrundlage  auch  außerhalb  des  Bewußtseins  in  einem  Bedürfnis 
suchen.  Das  ist  nur  eine  geringe  Verschiebung,  die  mit  unserer  An- 
schauung zu  vereinen  ist.  Denn  wirklich  zur  Wertgrundlage  wird  das 
Bedürfnis  doch  erst  dort,  wo  es  bewußt  wird,  d.  h.  als  Begehren  er- 
scheint. Zuzugeben  ist,  daß  dies  Begehren  (was  später  an  Beispielen 
genauer  erläutert  wird)  von  anderen  Subjekten  unterlegt  werden  kann. 
So  kann  man  sagen,  einer  Pflanze  sei  ein  Regen  nach  Trockenheit  von 
Wert.  Indessen  liegt  in  diesem  Falle  ein  ,, eingefühltes"  Bewußtsein 
der  Wertung,  die  letzten  Endes  doch  unsere  eigene  ist,  zugrunde.  Davon 
genauer  im  zweiten  Kapitel. 

Indessen  ist  der  Begriff  der  ,, Stellungnahmen",  die  die  Grund- 
lage der  Wertsetzung  sein  können,  nicht  erschöpft  mit  den  Lust- 
Unlustgefühlen  und  den  Begehrungen.  Es  gehören  dazu  noch  eine 
ganze  Reihe  anderer  seelischer  Erlebnisse,  die  von  der  Mehrzahl 
der  Psychologen  wenig  behandelt  werden  und  von  jenen  Forschern, 
die  sie  nicht  übersehen,  zum  Teil  auch  als  ,,  Gefühle",  zum  Teil 
als  ,, Charaktere"  oder  anders  bezeichnet  werden.  Ich  denke  an 
alle  jene  Stellungnahmen,  durch  die  wir  einen  Vorstcllungsinhalt 
als  ,,neu",  als  ,, fremd",  als  ,,groß",  als  ,, erhaben",  als  ,, wirklich", 
als  ,, unreal",  als  ,, denselben"  usw^  charakterisieren.  Die  Psycho- 
logie aller  dieser  seelischen  Attitüden  ist  noch  sehr  wenig  erforscht. 
Als  Tatsache  können  wir  jedoch  schon  heute  feststellen,  daß  alle 
diese  Charakterisierungen  Stellungnahmen  des  Ich  zu  einem  in- 
tellektuellen Inhalt  sind,  und  daß  sie  (das  ist  die  Hauptsache  für 
uns)  in  die  Grundlagen  für  Wertungen  eingehen  können.  Daß 
etwas  ,,neu"  oder  ,,alt"  ist,  kann  öfters  ganz  verschiedene  Be- 
wertungen bedingen,  je  nachdem  die  ,, Neuheit"  oder  das  ,, Alter" 
erwünscht  sind.  Denn  auch  diese  Stellungnahmen  verquicken  sich 
mit  Begehrungen.  Ebenso  können  ,, Wirklichkeit"  wie  ,,Unwirk- 
lichkeit"  als  Grundlage  der  Wertsetzung  dienen.  Daß  etwas 
,,wirkHch"  oder  ,, unwirklich"  ist,  ist  niemals  in  der  Empfindung 
oder  der  Vorstellung  gegeben,  ist  vielmehr  eine  Charakterisierung 
derselben  durch  das  Ich,  eine  ,, Stellungnahme".  In  all  diesen 
Fällen  käme  unser  Begriff  der  Stellungnahme  etwa  auf  eine  psycho- 
logische Erklärung  des  erkenntnistheoretischen  Begriffs  der  ,, Kate- 
gorie" hinaus.^) 

Zu   diesen    Stellungnahmen  gehören   auch   jene   Zustände   wie 

')   Vgl.   dazu    mein    Buch:    „Das    Denken   und  die  Phantasie",    1916. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  327 

die  Aufmerksamkeit,  das  Interesse  und  verwandte  Phäno- 
mene, die  die  intcllektualistische  Psychologie  ganz  falsch  als 
assoziative  Erscheinungen  deutet.  In  Wirklichkeit  sind  sie 
,, Stellungnahmen",  d.  h.  Reaktionen  des  Ich.  Gerade  sie  sind 
geeignet,  die  äußerst  komplizierte  Natur  der  Stellungnahmen  zu 
illustrieren;  denn  sie  enthalten  meist  nebeneinander  Gefühle,  Be- 
gehrungen und  sonstige  Stellungnahmen  wie  die  der  Neuheit,  der 
Fremdheit,  der  Überraschung  usw. 

Wir  können  uns  hier  nicht  weiter  auf  diese  Dinge  einlassen. 
Hier  muß  die  Feststellung  genügen,  daß  die  subjektiven 
Reaktionen  des  Ich  auf  die  gegebenen  Inhalte,  also  die 
Stellungnahmen,  stets  sehr  komplizierter  Natur  sind, 
und  daß  die  fundamentale  Sonderung  in  Gefühle, 
Wollungen  usw.  irreführend  ist.  Die  Stellungnahmen 
enthalten  stets  sowohl  Gefühle  wie  Willenselemcnte 
und  darüber  hinaus  noch  weitere  reaktive  Phänomene, 
die  alle  zusammen  in  ein  Ganzes  verschmelzen.  Und 
eben  diese  Stellungnahmen  sind  die  Grundlage  der 
Wertung.^) 

Es  sei  dabei  noch  einem  Einwand  begegnet,  der  die  Sachlage  hin- 
stellen könnte,  als  sei  der  ,,Wert"  als  etwas  Objektives  das  Primäre, 
die  Stellungnahme,  also  z.  B.  das  Gefühl  oder  das  Wollen,  das  Sekun- 
däre. Das  ist  ganz  falsch.  Wir  begehren  niemals  etwas,  weil  es  ein 
,,Wert  an  sich"  wäre,  sondern  erst  dadurch,  daß  wir  etwas  begehren, 
wird  es  uns  zum  Werte.  Ebenso  erregt  niemals  etwas  unsere  Lust, 
weil  es  „schön  an  sich"  wäre,  sondern  wir  nennen  etwas  schön,  weil 
es  so  beschaffen  ist,  daß  es  unser  Lustgefühl  erregt,  d.  h.  unseren  Apper- 
zeptionsmögHchkeiten  adäquat  ist.  Auch  darauf  kommen  wir  später 
zurück,  heben  jedoch  schon  hier  hervor,  daß  im  Wertungsphänomen 
das  Subjektive  das  Prius  vor  dem  Objektiven  hat. 

4.  Indessen  ist,  wie  bereits  gesagt,  die  Stellungnahme  stets 
nur  die  Grundlage  der  Wertung,  nicht  die  Wertung  selber.  Zu 
dieser  gehört  noch  ein  weiteres  Phänomen:  die  Wertsetzung. 

Was  ist  nun  die  Wertsetzung?  Vielleicht  ist  man  geneigt,  in 
ihr  ein  Urteil  zu  sehen.  Freilich  kommt  es  dabei  auf  die  Defini- 
tion dieses  sehr  verschieden  gefaßten  Begriffes  an.  Für  uns  ist  ein 
Urteil  nur  die  Formulierung  einer  Stellungnahme  in  einem  Satze. 


1)  Unser  Begriff  der  „Stellungnahme"  deckt  sich  in  vielem  mit  dem  Begriff 
des  „Aktes",  den  zahlreiche  neue  Psychologen  eingeführt  haben.  Während  jedoch 
der  „Akt"  als  rein  intellektualistischer  Vorgang  gefaßt  ist,  charakterisiert  sich  die 
„Stellungnahme"  als  emotional,  willensmäßig,  mit  starkem  motorischem  Einschlag. 


328 


Richard  Müller-Freienfels: 


Nun  kann  die  Wertsetzung  gewiß  in  einem  Satz  formuliert  werden, 
indessen  ist  diese  Formulierung  weder  nötig  noch  in  allen  Fällen 
nachweisbar.  Es  gibt  Wertsetzungen,  die  sich  rein  gefühlsmäßig 
oder  rein  begehrungsmäßig  vollziehen,  ohne  urteilsmäßige  Formu- 
lierung. 

Damit  aber  sind  wir  bereits  an  die  richtige  Erklärung  heran- 
gekommen: auch  die  Wertsetzung  nämlich  ist  eine 
Stellungnahme,  die  ebenfalls  je  nachdem  mehr  gefühls-  oder 
willensmäßig  sein  kann,  jedenfalls  aber  immer  eine  Stellung- 
nahme zu  einer  Stellungnahme  ist.  Es  ist  damit  offenbar, 
daß  wir  in  der  Wertsetzung  ein  Urteil  sehen  können,  wenn  man 
dies,  wie  manche  Forscher  tun,  als  Willensakt  auffaßt.  Für  uns 
ist  das  Urteil  nur  die  Formulierung  einer  Stellungnahme  und  eben 
diese  Stellungnahme,  nicht  die  Formulierung,  ist  das  Wesen  der 
Wertsetzung. 

Also  eine  Stellungnahme  zu  einer  Stellungnahme  ?  Dieses 
Ergebnis  scheint  sehr  paradox,  ist  es  jedoch  durchaus  nicht,  sondern 
in  der  Selbstbeobachtung  leicht  festzustellen.  Ich  nenne  diesen 
Tatbestand  auch  ,, sekundäre  Stellungnahme".  Es  ist  näm- 
lich gar  nicht  zu  bestreiten,  daß  das  Ich  nicht  nur  zu  Empfindungen 
und  Vorstellungen  Stellung  nimmt,  sondern  auch  zu  Gefühlen  und 
Begehrungen,  die  selbst  Stellungnahmen  zu  jenen  Inhalten  sind. 
Einige  Beispiele  solcher  sekundärer  Stellungnahmen  mögen  das 
dartun.  Eine  solche  sekundäre  Stellungnahme  ist  z.  B.  das  ,, Ge- 
nießen". Im  Genießen  nehme  ich  nicht  Stellung  zu  der  objektiven 
Gegebenheit,  sondern  zu  dem  Lustgefühl,  das  die  Empfindung 
auslöst.     Es  tritt  eine  Art  Verdoppelung  des  Ich  ein. 

Besonders  deutlich  zeigt  sich  das  bei  dem  sogenannten  ,, sentimen- 
talen Typus",  der  alle  seine  Gefühle  nochmals  ,, genießt".  Dieser  nimmt 
nicht  zu  den  Gegenständen  Stellung,  sondern  stets  zu  den  subjektiven 
Gefühlen,  die  ihm  jene  auslösen,  so  daß  ein  solcher  Mensch  sogar  seine 
eigene  Unlust,  seinen  Schmerz,  seine  Trauer  sekundär  als  Lust  erleben 
kann.  Gewiß  ist  dieser  Fall  eine  Art  Pervertierung  des  natürlichen 
Laufs  der  Dinge,  indessen  (wie  pathologische  Fälle  oft)  sehr  geeignet 
zur  Illustration  normaler  Tatbestände,  in  diesem  Falle  also  der  sekun- 
dären SteHungnahme. 

Eine  solche  sekundäre  Stellungnahme  ist  die  Wertsetzung. 
Wir  erleben  die  primären  Gefühle,  Begehrungen  zunächst  einfach 
als  Tatsachen.  Ein  Gegenstand  erweckt  unsere  Lust  oder  unser 
Begehren,  das  sind  einfache  Erlebnisse,  noch  keine  Wertungen. 
Zu  solchen  werden  sie  erst,  wenn  wir  zu  diesen   Stellungnahmen 


Grundzüge   einer  neuen  Wertlehre.  '?2Q 

wieder  Stellung  nehmen,  d.  h.  wenn  wir  z.  B.  die  Lust  als  ge- 
wollte anerkennen  oder  das  Begehren  als  ein  ,, richtiges"  oder 
„schönes"  Begehren  bejahen.  Die  Wertsetzung  ist  sozusagen 
eine  Stellungnahme  zweiter  Instanz. 

Es  tritt  gleichsam  eine  Spaltung  des  Ich  ein.  Das  primäre 
Ich  erlebt  Lust  oder  Begehren,  d.  h.  die  Wertgrundlage.  Das  sekun- 
däre Ich,  die  höhere  Instanz,  bejaht  oder  verwirft  jene  primäre 
Stellungnahme,  d.  h.  sie  setzt  sie  als  Wert  oder  nicht.  Ein  Bild 
gefällt  uns,  erregt  unsere  Lust:  das  ist  die  primäre  Stellungnahme. 
Zum  ästhetischen  Wert  wird  jedoch  die  Lust  (und  damit  auch  das 
sie  erregende  Bild)  erst,  indem  ich  jener  Lust  meine  Aufmerksam- 
keit zuwende,  sie  bejahe,  kurz  wiederum  Stellung  nehme.  Der 
negative  Fall  offenbart  die  Doppelheit  des  Prozesses  am  deut- 
lichsten. Jenes  Bild  erregte  vielleicht  nur  meine  sinnliche  Lust, 
schmeichelte  niederen  Instinkten  und  wird  darum  in  sekundärer 
Stellungnahme  als  ,, Kitsch"  verworfen.  Die  ästhetische  Wertung 
wird  also  erst  vollzogen  durch  Hinzutreten  dieser  sekundären 
Stellungnahme. 

Wir  schieben  für  unsere  Untersuchung  alle  jene  Probleme, 
die  durch  die  ,, Spaltung  des  Ich"  gesetzt  werden,  zurück  und  be- 
handeln sie  im  folgenden  Kapitel.  Hier  gilt  es  uns  nur  die  Fest- 
stellung, daß  die  sekundäre  Stellungnahme,  die  Wert- 
setzung, als  Prozeß  sich  ebenfalls  als  ein  emotionaler 
Vorgang  darstellt.  Wie  wir  ihn  auch  bezeichnen,  als  ein  Be- 
jahen oder  Verneinen,  als  ein  Anerkennen  oder  Verwerfen,  stets 
tritt  deutlich  der  emotionale  Charakter,  der  Willensakt  oder  die 
Gefühlsbetonung  heraus.  Gewiß  sind  die  sekundären  Stellung- 
nahmen oft  abstrakter  als  die  primären,  das  hängt  jedoch  mit 
dem  oft  abstrakteren  Charakter  des  sekundären  Subjekts  zu- 
sammen und  wird  daher  später  erörtert. 

Ganz  falsch  wäre  es  jedenfalls,  die  Wertsetzung  als  einen  intel- 
lektuellen Prozeß  anzusehen.  Gewiß  kann  sie  sich  auf  intellektuelle 
Gründe  stützen;  solange  sie  jedoch  ein  bloßes  Wissen  bleibt,  nicht  zu 
einer  emotionalen  Stellungnahme  wird,  ist  sie  tot.  Hinter  jeder  Wert- 
setzung muß  ein  lebendiges  Gefühl  oder  ein  Wollen  stehen,  sonst  fehlt 
ihr  jede  Überzeugungskraft.  Es  gehört  zum  Wesen  des  Alexandriner- 
tums,  des  Historismus  jener  trockenen,  von  Nietzsche  entlarvten 
Art,  daß  sie  die  Kraft  des  Wertens  verloren  haben.  Der  Intellektualist 
erlernt  gewisse  Werte  als  trockene  Tatsachen,  ohne  sie  in  sein  Leben 
als  zeugende  Kräfte  einführen  zu  können.  Die  Werte  hören  damit  auf, 
Werte  zu  sein. 


330 


Richard  Müller-Freienfcls: 


Für  unsere  Zwecke  genügt  an  dieser  Stelle  die  allgemeine 
Feststellung,  daß  die  Wertsetzung  eine  sekundäre  Stellungnahme 
zu  einer  primären  ist.  Die  Wertung  in  ihrer  Gesamtheit  ist  also 
eine  emotionale  Reaktion  des  Ich  plus  einer  sekundären  Stellung- 
nahme zu  dieser. 

Im  einzelnen  wechselt  der  psychologische  Charakter  der  sekun- 
dären Stellungnahme.  Man  kann  sie,  wenn  man  will,  als  ein  Er- 
lebnis sui  generis  beschreiben.  Indessen  muß  man  bedenken,  daß 
sie  nicht  mehr  besondere  Art  hat  als  andere  Stellungnahmen  auch, 
deren  qualitative  Besonderheit  wir  oben  erörterten.  Im  übrigen 
verquickt  sie  sich  mit  den  verschiedensten  anderen  Stellung- 
nahmen, sie  kann  die  verschiedensten  Gefühls-  und  Affekt- 
färbungen annehmen  und  entzieht  sich  somit  einer  ganz  einheit- 
lichen Charakterisierung. 

5.  Man  unterscheidet  bei  aller  Wertung  eine  positive  und 
eine  negative,  wie  man  bei  allen  Stellungnahmen  Positivität  und 
Negativität  findet.  Maßgebend  dafür,  ob  die  Wertung  positiv 
oder  negativ  ist,  pflegt  allein  die  sekundäre  Stellungnahme  zu 
sein.  Ein  Lustgefühl,  das  mir  in  zweiter  Instanz  als  Unwert  er- 
scheint, ist  damit  ein  Unwert,  selbst  wenn  die  Wertgrundlage, 
als  solche  genommen,  positiven  Charakter  hat.  Ebenso  wird  ein 
sinnliches  Begehren,  so  positiv  es  als  solche  erscheinen  mag,  doch 
zum  negativen  Wert,  wenn  die  zweite   Instanz  es  verwirft. 

Immerhin  jedoch  ist  die  Sache  nicht  ganz  so  einfach.  Hat  die 
zweite  Instanz  nicht  das  gleiche  ,, Vorzeichen"  wie  die  erste  Stellung- 
nahme, so  haben  wir  einen  Wertkonflikt.  Hier  ist  die  Wertung 
kein  einheitlicher  Prozeß,  sondern  höchstens  als  Problem,  als  Auf- 
gabe erscheint  eine  wirklich  erlebte  Wertung  gefordert.  Wenn  mich 
in  einer  ungünstigen  Stimmung  eine  Bach  sehe  Fuge  langweilt, 
ich  diese  Langeweile  jedoch  als  einen  ,, Wertirrtum"  verwerfe,  so 
besteht  die  wahre,  d.  h.  die  einheitliche  Wertung  als  Aufgabe. 
Wirkliche  Wertung  als  echtes  Erlebnis  liegt  deshalb  nur  dort  vor, 
wo  Werteinheit  besteht,  d.  h.  dort,  wo  die  sekundäre  Instanz 
die  primäre  Stellungnahme  anerkennt.  Wird  also  eine  Wertsetzung 
von  außen  her  irgendwie  übernommen,  so  wird  sie  erst  dann  , .er- 
füllt", wenn  ihr  die  primäre  Stellungnahme  des   Ich  entspricht. 

Wir  kehren  damit  zu  dem  oben  bereits  erwähnten  Gegensatz 
zwischen  erlebter  und  übernommener  Wertung  zurück. 
Nur  jene  erkannten  wir  als  vollständige  an,  da  nur  in  ihr  der  Wert 
als  solcher  erlebt  wird.     Bei  der  übernommenen  Bewertung  fehlt 


Grundzüge  einer  neuen   Wertlehre.  231 

das  primäre  Erlebnis,  nur  die  sekundäre  Stellungnahme,  die  Wert- 
setzung allein  tritt  auf  Grund  fremder  Einflüsse  ein,  während 
die  primäre  Stellungnahme,  die  Wertgrundlage  entweder  nur  ge- 
fordert oder  fingiert  wird.  Zu  einem  wirklichen  Werterlebnis 
kommt  es  in  solchem  Falle  erst,  wenn  das  Individuum  sich  mit 
seiner  primären  Stellungnahme  der  übernommenen  Wertsetzung 
anpaßt. 

Derartiger  übernommener  Wertsetzungen  gibt  es  unendlich 
viele.  Man  kann  sogar  sagen,  daß  das  Individuum,  das  in  einer 
gebildeten  Umgebung  aufwächst,  die  meisten  seiner  Wertungen 
nicht  selber  original  erlebt,  sondern  von  anderen  übernimmt.  So 
sind  z.  B.  die  religiösen  Wertungen  für  die  meisten  Menschen 
einfach  übernommene  Wertungen,  ebenso  die  moralischen  Wer- 
tungen. Es  besteht  hier  die  scheinbar  paradoxe  Tatsache,  daß 
die  Wertsetzung  der  Wertgrundlage  vorausgeht,  insofern  als  zu- 
nächst fremde  Wertsetzungen  einfach  als  unerlebte  Tatsachen 
übernommen  werden,  denen  sich  dann  die  primären  Stellung- 
nahmen allmählich  anpassen. 

Ein  Beispiel  mag  das  illustrieren.  Das  Kind  übernimmt  die  mora- 
lische Wertsetzung,  daß  es  eine  unedle  Handlung  sei,  ein  Tier  zu  quälen, 
von  anderen,  ohne  zunächst  die  Wertgrundlage  selber  zu  erleben,  die 
zu  dieser  Wertsetzung  geführt  hat.  Diese  Wertgrundlage  ist  eine  auf 
Einfühlung  beruhende  Stellungnahme,  das  Bewußtsein  davon,  daß 
das  gequälte  Tier  leidet.  Diejenigen,  die  jene  Wertsetzung  erlebt  haben, 
fühlten  den  fremden  Schmerz  als  einen  eigenen  mit  und  setzten  darauf- 
hin die  Tierquälerei  als  moralischen  Unwert.  Derartige  moralische 
Wertsetzungen  werden  nun  auf  das  Kind  übertragen,  bereits  zu  einer 
Zeit,  wo  dieses  aus  Mangel  an  Einfühlungsfähigkeit  und  Phantasie- 
ausbildung noch  gar  nicht  fähig  ist,  selbständig  jene  Wertgrundlage 
zu  erleben.  Sein  Gefühlsleben  paßt  sich  jedoch  allmählich  den  über- 
nommenen Wertsetzungen  an,  und  so  wird  die  übernommene  Wert- 
setzung nachträglich  zu  einer  erlebten. 

Die  Fähigkeit  zum  originalen  Selbstcrlcbcn  von  Werten  ist 
viel  geringer  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Wirkliche  Origi- 
nalität des  Werterlebens  ist  wohl  so  selten  wie  geniale  Schöpfer- 
kraft, ja  ein  wesentlicher  Bestandteil  dieser.  Denn  ,, Schaffen  ist 
Schätzen",  um  mit  Nietzsche  zu  reden.  Die  großen  Neuschöpfer 
in  Religion,  in  Moral,  in  Kunst,  kurz  auf  allen  Wertgebieten,  sind 
Menschen  gewesen,  die  den  konventionellen  und  oft  erstarrten  Wert- 
setzungen gegenüber  ein  eigenes  Wertleben  und  darauf  gegründete 
neue  Wertsetzungen  durchgeführt  haben. 


332 


Richard  Müller-Freienfels: 


Der  Unterschied  zwischen  erlebten  und  übernommenen  Wertungen 
sei  auch  für  die  Kunst  noch  kurz  erörtert.  Neuere  Philosophen  haben 
die  „Autonomie",  das  heißt  die  „Erlebtheit"  der  Kunstwerte  zu  er- 
weisen gesucht,  und  in  der  Tat  haben  die  echten  Kunstgenießenden 
die  Fähigkeit,  fremde  Kunstwerke  ohne  die  Beeinflussung  durch  dritte 
Personen  autonom  nachzuerleben.^)  Indessen  selbst  die  besten  Kunst- 
genießenden haben  zuweilen  solchen  Werten  gegenüber,  die  sich  später 
als  echt  und  dauernd  erwiesen  haben,  versagt.  Unmittelbare  Wert- 
erlebnisfähigkeit setzt  wohl  eine  Art  prästabilierter  Harmonie  zwischen 
dem  Schöpfer  und  dem  Genießenden  voraus,  die  auch  bei  größter 
Schwingungsweite  des  wertenden  Subjekts  unmöglich  allen  fremden 
Individualitäten  gegenüber  sich  bewähren  kann.  So  tritt  dann  die 
Übernahme  fremder  Wertsetzungen  mit  nachfolgender  Anpassung  des 
eigenen  Erlebens  helfend  ein.  Es  war  für  die  weitaus  meisten  Europäer 
ein  adäquates  Werterleben  der  ostasiatischen  Kunst  gegenüber  aus- 
geschlossen. Was  sie  zunächst  dafür  aufbringen  konnten,  war  lediglich 
Kuriositätswertung.  Dann  kamen  einzelne  sehr  wertempfindhche  In- 
dividuen, wie  z.  B.  die  Brüder  Goncourt,  die  eine  eigene  ästhetische 
Stellungnahme  diesen  Bildern  gegenüber  fanden,  wenn  diese  auch  in 
ihrer  Anähnlichung  an  die  impressionistische  Wertung  nicht  ganz  ad- 
äquat war.  Erst  allmählich,  durch  gründliches  Studium  der  im  Lande 
selber  üblichen  Wertsetzung  und  durch  Anpassung  des  eigenen  Er- 
lebens an  dies,  haben  neuerdings  anfangs  einzelne,  dann  mehr  Europäer 
die  Wertsetzung  nachzuerleben  gelernt,  die  dem  Kunstwollen  der  ost- 
asiatischen Künstler  adäquat  ist,  das  nicht  ,, impressionistisch"  ist, 
sondern  eine  sehr  bewußtes  Stilgefühl  eigener  Art.  —  So  ist  es  in  der 
Kunst  vielfach.  Ein  einigermaßen  originales  Werterleben  haben  die 
meisten  Menschen  nur  der  Kunst  gegenüber,  die  ihrer  Zeit  entsprungen 
ist,  häufiger  noch  derjenigen  gegenüber,  die  schon  ein  wenig  zurück- 
liegt. Die  ganz  neuen  Kunstwerte  ebenso  wie  die  meisten  der  ent- 
fernteren Vergangenheit  müssen  erst  durch  Anpassung  an  übernommene 
Wertsetzungen  allmählich  in  den  Kreis  der  Erlebnisfähigkeit  einbezogen 
werden. 

Man  wird  es  ehrlicherweise  aussprechen  müssen,  daß  die  meisten 
der  Werte,  welche  Kunst-,  Literatur-  und  Musikwissenschaft  aufstellen, 
für  die  Mehrzahl  der  Menschen  nicht  erlebte,  sondern  übernommene 
Wertsetzungen  sind.  Allen  diesen  Wertsetzungen  liegt  die  Fiktion 
zugrunde,  daß  in  der  Tat  alle  Menschen  fähig  wären,  jene  Werte  wirklich 
zu  erleben.  Gewiß  können  Anpassung  und  Erziehung  ein  solches  Er- 
leben vielfach  erzielen;  trotzdem  ist  jene  Wertsetzung  oft  eine  leere 
Forderung,  wenn  nicht  häufig  Selbsttäuschung  oder  Heuchelei. 

Die  Form,  in  der  sich  übernommene  Wertsetzungen  geltend 
machen,  ist  die  des  Sollcns.  Im  Sollen  ordnet  sich  eine  fremde, 
autoritative  Wertsetzung  dem  eigenen   Erleben   über.      Derjenige, 

^)  Ich  verweise  für  diese  Fragen  auf  die  „Philosophie  der  Kunst"  von  B.  Chri- 
stiansen,   1907. 


Grundzüge  einer  neuen  Werllehre.  ß^j^ 

der  beim  ersten  Betrachten  der  Dürerschcn  Apokalypse  die  krause 
Linienführung  als  bizarr  und  unperspektivisch  empfindet,  aber  doch 
weiß,  daß  er  diese  von  Kennern  hochgeschätzten  Blätter  als 
,, schön"  und  ,, bedeutend"  empfinden  müßte,  gehorcht  einem 
solchen  Sollen.  Besonders  innerhalb  sozialer  Komplexe,  im  Staat 
z.  B.  erhalten  die  zu  übernehmenden  Werte  oft  Zwangscharakter. 
So  z^\'ingt  der  Staat  die  Bürger  oft  zur  Übernahme  ganz  bestimmter 
religiöser  und  ethischer  Wertungen,  selbst  wenn  diese  dem  Einzel- 
menschen gegen  sein  Gewissen  gehen.  Davon  wird  später  die 
Rede  sein. 

6.  Fassen  wir  nochmals  kurz  zusammen,  was  uns  die  Analyse 
des  Wertprozesses  ergab. 

Die  Wertung,  soweit  sie  ein  wirkliches  Erleben  ist,  setzt  sich 
aus  zwei  trennbaren,  wenn  auch  meist  in  eins  verschmelzenden 
Vorgängen  zusammen:  der  erlebten  Wertgrundlage  und  der  Wert- 
setzung. 

Die  Wertgrundlage  ist  eine  emotionale  Stellungnahme  einem 
Gegenstand  gegenüber,  in  der  bald  das  Gefühl,  bald  der  Willen, 
d.  h.  eine  Tätigkeitseinstellung  des  Subjekts,  stärker  hervortreten. 
Die  Wertsetzung  ist  ein  von  der  Wertgrundlage  trennbarer 
sekundärer  Akt  und  zwar  ebenfalls  eine  emotionale  Stellung- 
nahme zu  jener  grundlegenden  Stellungnahme.  Das  wertgrund- 
legendc  Gefühl  oder  der  wertgrundlegende  Wille  werden  ihrer- 
seits durch  sekundäre  Gefühle  oder  Wollungen  anerkannt  oder 
verworfen,  und  eben  in  diesem  sekundären  Akt  beruht  das  Wesen 
der  Wertsetzung.  Die  Wertsetzung  ist  also  eine  Stellungnahme 
zu  einer  Stellungnahme,  So  widerspruchsvoll  diese  Spaltung  des 
Prozesses  zunächst  erscheint,  so  wird  sie  doch  weitere  Klärung 
finden,  wenn  wir  den  Begriff  des  Wertsubjektes  analysieren,  in 
dem  eben  die  Möglichkeit  dieser  Spaltung  vorbedingt  ist. 

Über  das  Verhältnis  von  Wertgrundlage  und  Wertsetzung 
zueinander  konnten  wir  noch  feststellen,  daß  nicht  immer  die 
Wertgrundlage  der  Wertsetzung  vorausgeht.  Dies  ist  nur  bei 
„erlebten"  Werten  der  Fall.  Oft  finden  wir  Wertsetzungen,  die 
aus  Konvention  oder  Tradition  stammen,  deren  Grundlage  nicht 
erlebt  ist  und  die  wir  als  übernommene  Wertungen  charakteri- 
sieren. In  solchen  Fällen  tritt  oft  eine  Anpassung  des  Erlebens 
an  die  Wertung  nachträglich  ein,  so  daß  auch  die  übernommenen 
Wertsetzungen  nicht  ohne  weiteres  als  Lüge  oder  Selbsttäuschung 
anzusehen  sind,  sondern  sehr  wohl  echte  Werte  werden  können. 


"i-iA  Richard  Müller-Freienfels: 


Kapitel  IL    Psychologie  des  Wertsubjekts. 

I.  Es  liegt  im  Begriff  des  Wertes  (wenigstens  so  wie  die 
Sprache  dieses  Wort  verwendet),  daß  er  ein  Wert  für  ein  Sub- 
jekt ist.  Wo  von  Wert  die  Rede  ist,  muß  ein  wertendes  Subjekt 
vorhanden  sein  oder  wenigstens  stillschweigend  angenommen 
werden.  Ein  ,,Wert  an  sich",  ein  Wert,  der  von  niemand  als  Wert 
erlebt  wird,  ist  ein  Unding.  (Wir  werden  allerdings  später  von 
dem  Versuch  einiger  Philosophen  sprechen,  doch  einen  solchen 
absoluten  Wert,  einen  Wert  an  sich,  aufzustellen.)  Vorläufig  steht 
für  uns  fest,  daß  der  Wert  als  empirische  Tatsache  stets  ein 
relativer  Wert,  ein  Wert  für  jemand  ist.  Dies  Subjekt,  für 
das  etwas  von  Wert  ist,  heißt  das  Wertsubjekt. 

Nun  ist  uns  bereits  in  den  bisherigen  Untersuchungen  ent- 
gegengetreten, daß  das  stellungnehmende  Subjekt  für  Wertgrund- 
lage und  Wertsetzung  nicht  immer  dasselbe  ist,  und  in  der  Tat 
besteht  eine  solche  Spaltung  des  Wertsubjekts  sehr  häufig.  Diese 
aber  ist  nur  ein  Spezialfall  einer  allgemeineren,  nicht  auf  das 
Wertungsphänomen  allein  beschränkten  psychologischen  Tatsache: 
der    Spaltung  der    Subjektivität   überhaupt.^) 

Das  Verständnis  dieser  so  überaus  häufigen,  wenn  auch  in  der 
Wissenschaft  verhältnismäßig  wenig  beachteten  Tatsache  ist  un- 
umgängliche Voraussetzung  für  das  Verständnis  der  Wcrtprobleme. 
Sie  besteht,  kurz  gesagt,  darin,  daß  im  gleichen  ,,  Individuum" 
nicht  immer  die  gleiche  Subjektivität  wirksam  ist,  daß  vielmehr 
sowohl  nacheinander  als  nebeneinander  ganz  verschiedene  Sub- 
jektivitäten im  gleichen  Individuum  bestehen  können.  Man  redet 
bei  jenen  pathologischen  Fällen,  in  denen  sich  das  Spaltungs- 
phänomen besonders  scharf  ausprägt,  von  sukzedierender  und 
simultaner  Spaltung.  Indessen  ist  zu  beachten,  daß  auch  im 
normalen  Seelenleben  derartige  Spaltungsphänomene  beständig  in 
Erscheinung  treten. 

Unsere  Subjektivität  nämlich  ist  fortwährendem  Wechsel 
unterworfen.  Fast  in  jedem  Augenblick  wandelt  sie  sich  und  nicht 
nur  der  Inhalt  ihres  Fühlens  und  Begehrens  wechselt,  auch  die 
Art   desselben.     Infolgedessen   können  wir  sehr  wohl  sagen,   daß 

')  Aus  der  neueren  Literatur  über  die  pathologischen  Spaltungsphänomene 
verweise  ich  vor  allem  auf  Oesterreich,  Phänomenologie  des  Ich,  1911.  Da- 
neben auf  Ribot,  Les  Maladies  de  la  Personalitd.  Janet,  L'Automatisme  psy- 
chologique   etc. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  79c 

es  verschiedene  Erlebnissubjekte  sind,  die  innerhalb  der  gleichen 
Individualität  sich  folgen.  Nur  sehr  grobschlächtige  Selbstbeob- 
achtung kann  finden,  daß  wir  am  Abend  genau  so  erlebten  wie  am 
Morgen,  daß  wir  bei  gutem  Wetter  die  gleichen  Gefühle  und  Be- 
gehrungen hätten  wie  bei  schlechtem.  Feinere  Analyse  wird  stets 
feststellen,  daß  eine  absolute  Gleichheit  der  Persönlichkeit  zu 
verschiedenen  Zeiten  niemals  besteht.  Und  selbst  im  gleichen 
Augenblick  ringen  oft  ganz  verschiedene  Stellungnahmen  um  die 
Herrschaft;  wir  schwanken  oft  zwischen  Wollen  und  Nichtwollen, 
zwischen  Lust  und  Unlust,  was  alles  nur  darauf  zurückzuführen 
ist,  daß  verschiedene  Subjektszuständc  innerhalb  der  gleichen 
Individualität  nebeneinander  bestehen.  Wir  nennen  diese  rasch 
wechselnden,  einander  ablösenden  und  bekämpfenden  Zustände  des 
Ich:  Momentansubjekte. 

Dabei  brauchen  wir  jede  dieser  Momentansubjektivitäten  nicht 
immer  als  unsere  ,, eigenen"  zu  erleben,  wir  können  unserem  eigenen 
Ich  fremde  Ichvorstellungen  wie  Maskengewänder  überziehen  und 
nun  aus  diesem  fremden  Persönlichkeitsbewußtsein  heraus  fühlen 
und  werten.  Beim  Lesen  einer  Dichtung  z.  B.  identifizieren  sich 
viele  Leser  oft  so  vollständig  mit  einer  oder  gar  mehreren  Per- 
sonen des  Kunstwerks,  daß  sie  sogar  im  Leben  noch  dem  fremden 
Persönlichkeitsbewußtsein  unterliegen.  Alle  die  zahlreichen,  neuer- 
dings als  ,, Einfühlungsphänomene"  beschriebenen  Tatsachen  ge- 
hören hierher.  Oft  fühlen  wir  unsere  Subjektivität  in  fremde  Iche 
und  selbst  in  Gegenstände  ein,  ebenso  wie  wir  fremde  Subjektivi- 
täten in  uns  selbst  verlegen. 

Oft  auch  abstrahieren  wir  von  einem  Teil  unseres  Ich.  Wir 
fühlen  in  manchen  Augenblicken  nur  als  Deutsche  oder  nur  als 
Angehörige  eines  Standes,  einer  Religion,  einer  Partei.  Wir  ver- 
mögen uns  auch  nur  als  „Menschen  schlechthin",  ja  als  ,, erkenntnis- 
theoretische Subjekte"  zu  denken  und  zu  fühlen.  Besonders  wichtig 
ist  dabei  jene  fiktive  Ichvorstellung,  die  wir  unseren  momentanen 
Zuständen  als  Einheit  überordnen,  die  uns  später  als  Einheits- 
subjekt oder  Idealsubjekt  genauer  beschäftigen  wird. 

Jede  dieser  mannigfachen  Subjektivitäten  äußert  sich  nun 
in  ihren  eigenen  Stellungnahmen.  Je  nach  der  gerade  dominierenden 
Subjektivität  fühlt,  will,  handelt  der  ,, gleiche"  Mensch  völlig  ver- 
schieden. Kein  Wunder  also,  daß  auch  die  Wertungsphänomene 
diesem  Wechsel  unterliegen  und  nur  begriffen  werden  können,  wenn 
man  den  Spaltungserscheinungen  Rechnung  trägt. 


0ß6  Richard  Müller-Freienfels: 

Wir  können  von  den  zahllosen  Möglichkeiten,  die  sich  auf 
diese  Weise  ergeben,  natürlich  nur  einige  besonders  hervor- 
tretende und  typische  Fälle  herausheben,  von  denen  aus  sich 
auch  auf  die  übrigen  Fälle  Licht  ergießt. 

2.  Beginnen  wir  mit  dem  am  häufigsten  vorkommenden  Falle: 
der  Spaltung  des  Persönlichkeitsbewußtseins  in  das 
Momentansubjekt  einerseits  und  das  Einheitssubjekt, 
das  auch   das    Idealsubjekt   sein   kann,   anderseits. 

Was  ist  dieses  ijEinheitssubjekt".!^  Es  ist  die  Vorstellung,  die 
jeder  Mensch,  mehr  oder  weniger  deutlich,  sich  von  sieh  selbst 
bildet,  die  Vorstellung  eines  einheitlichen,  im  Wechsel  beharrenden 
,, wahren"  Ich,  das  neben  oder  (wenn  man  will)  über  den  Momentan- 
subjekten besteht.  Ich  habe  an  anderer  Stelle  nachgewiesen,  daß 
die  streng  durchgeführte  Analyse  ein  solches  ,,Einheitssubjekt" 
als  Realität  nicht  nachweisen  kann,  daß  dieses  nur  eine  Fiktion, 
allerdings  eine  für  das  Leben  äußerste  wichtige  Fiktion  ist.  Denn 
sie  gestattet  es  dem  Individuum,  sich  selber  als  Konstante  zu 
nehmen.  Daß  dieses  Einheitssubjekt  dem  ,, substantiellen  Ich", 
dem  realen  ,, Träger"  aller  Erlebnisse  entspreche,  ist  natürlich 
ebenfalls  nur  eine  Fiktion. 

Dieses  ,, Einheitssubjekt"  ist  jedoch  keineswegs  ein  ,, Durch- 
schnittssubjekt", das  aus  einer  Zusammenfassung  der  Momentan- 
subjekte errechnet  wäre;  im  Gegenteil,  es  unterscheidet  sich  von 
diesen  realen  Zuständen  sehr  wesentlich  dadurch,  daß  es  ,, ideali- 
siert" ist,  d.  h.  jeder  trägt  ein  Bild  dessen,  was  er  sein  möchte, 
als  Einheitsvorstellung  mit  sich  herum.  Wirkliche  Selbsterkenntnis 
ist  bei  der  Fülle  der  Zustände  gar  nicht  durchführbar:  in  jener 
schillernden  und  schemenhaften  Vorstellung,  die  jeder  Mensch 
von  sich  bildet,  mischen  sich  daher  oft  in  grotesker  Weise  Züge 
dessen,  wozu  die  Grundlagen  wirklich  vorhanden  sind,  und  solche 
Züge,  deren  Grundlagen  eben  nicht  vorhanden  sind,  sondern  gerade 
darum  erstrebt  werden.  Dieses  ,, wahre"  Ich  ist  meist  sehr  stark 
durch  Wünsche  gefärbt,  was  auch  der  Sinn  des  bekannten  Aus- 
spruches ist,  daß  man  nirgends  soviel  zu  lügen  pflege  als  vor  dem 
eigenen  Spiegel.  Wir  gehen  jedoch  diesem  Problem  des  ,, wahren" 
Ich  hier  nicht  weiter  nach,  obwohl  sich  eine  Menge  seltsamer  Kom- 
plikationen daran  knüpfen.^) 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz:  Über  den  „Begriff  der  Individualität  als  Fiktion" 
in    dieser    Zeilschrift. 


II 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  2^7 

Für  uns  ist  nur  wesentlich,  daß  gerade  dies  ,, Einheitssubjekt" 
für  den  DuaHsmus  zwischen  Wertgrundlage  und  Wertsetzung  be- 
sonders bedeutsam  ist,  da  der  typischste  Fall  dieses  Dualismus 
eben  der  ist,  daß  wir  die  Wert  gr  und  läge  mit  unserem  Mo- 
mentansubjekt erleben,  während  wir  aus  dem  Einheitssubjekt 
heraus  den  Wert  setzen.  Es  kann  nun  sein  (und  das  ist  der  Fall 
der  einheitlichen  Wertung),  daß  die  Wertsetzung  des  Idealich 
die  Wertgrundlage,  die  das  Momentansubjekt  erlebt,  bejaht.  Das 
ist  jedoch  keineswegs  immer  der  Fall.  Sehr  oft  kommt  es  vor,  daß 
das  Idealich  die  Stellungnahme  des  Momentanich  verurteilen 
muß.  Hierfür  ist  typisch  der  moralische  Wertkonflikt.  Auch  der 
tugendhafteste  Mensch  erlebt  in  sich  Zustände,  aus  denen  heraus 
er  eine  verbotene  Frucht  begehrt.  Dies  Begehren  ist  die  Stel- 
lungnahme des  Momentansubjekts.  Von  dem  Idealsubjekt  kann 
jedoch  dies  Begehren  nicht  anerkannt  werden.  Aus  einge- 
prägter Gewohnheit  oder  angeborenem  moralischem  Takt  heraus 
lehnt  das  ideale  Einheitssubjekt  das  Begehren  des  Momentan- 
subjekts ab. 

Bekanntlich  will  Kant,  wenigstens  so  wie  ihn  Schillers  Distichon 
versteht^  nur  jene  Handlung  als  moralisch  gelten  lassen,  wo  die  Wert- 
setzung des  Idealsubjekts  über  das  Momentansubjekt  nach  einem  Kon- 
fhkt  triumphiert.  Eine  nichtrigoristische  Anschauung  wird  gerade  um- 
gekehrt urteilen,  daß  derjenige  Mensch  der  wahrhaft  moralische  sei, 
bei  dem  solche  Wertkonflikte  möglichst  selten  eintreten,  weil  seine 
Momentanzustände  nicht  so  sehr  von  dem  Idealsubjekt  differieren, 
vorausgesetzt  natürlich,  daß  er  seine  Wertsetzungen  überhaupt  durch 
ein  Idealich  empfängt  und  nicht  jeder  Momentanstimmung  widerstands- 
los unterliegt. 

Es  wäre  indessen  ganz  falsch,  das  ,, Einheitssubjekt"  für  den 
reinen  Ausdruck  der  Individualität  anzusehen.  Im  Gegenteil, 
soweit  es  Zusammenfassung  und  Verkörperung  dessen  ist,  was 
das  Individuum  sein  möchte,  nimmt  es  vieles  Nichtindividuelle 
und  Anderindividuelle  auf.  Denn,  wie  war  schon  sahen,  ist  gerade 
dies  Einheitssubjekt  auch  Träger  übernommener  Wertsetzungen. 
Indem  es  ,,  Idealsubjekt"  ist,  gründet  es  sich  gerade  auf  Unter- 
drückung der  vom  Momentansubjekt  erlebten  Gefühle  und  Be- 
gehrungen, denen  es  andere  Wertungen  überordnet. 

3.  Indem  also  im  fiktiven  ,, Einheitssubjekt"  die  individuellen 
Momentanwertungen  zurückgedrängt  werden,  nähert  sich  das 
Einheitssubjekt  dem  ,, Normalsubjekt",  das  völlig  jenseits  aller 
individuellen  Besonderungen  steht.    Man  beachte  dabei  den  Doppel- 

AnDalen  der  Philosophie.    I.  ^* 


338 


Richard  Müller-Freienfels : 


sinn,  der  dem  Begriffe  „Norm"   und   „Normal"  anhaftet:    einmal 
bedeuten  diese  Begriffe  dasjenige,  was  sein  soll,  andererseits  aber 
auch  das,   was  als  Allgemeinheit  jenseits  aller  Individuation  ist. 
Indem    wir    behaupten,    jeder    Mensch    solle    allgemeingültig    so 
werten,  wie  wir  es  in  allgemeinen  Wertsetzungen  fordern,  machen 
wir  die  Voraussetzung,  daß  er  auch  so  werten  könne,  d.  h.  daß 
der  Möglichkeit  nach  in  ihm  ein  Wertsubjekt  bestünde,    das  die 
Wcrtgrundlage  jener  Wertsetzungen  zu  erleben  vermöchte.     Ohne 
daß  man  immer  daran  denkt,   setzt    jedes  allgemeine  Werturteil 
die   Existenz   eines   allgemeinen    ,, Normalsubjekts"   voraus.      Be- 
kanntlich  nähert   die  Kantsche  Ethik  das  ,,Ideahch"  sehr  stark 
dem  ,, Normalich"   an,   worauf  schon  die  Formulierung  des  kate- 
gorischen   Imperativs  hinweist,  die  eben  das  moralisch   Wertvolle 
den  allgemeingültigen  Wertsetzungen  entsprechen  läßt,  die  natür- 
lich nur   Sinn  haben,    wenn  sie  als   Fortsetzungen  eines  Normal - 
Subjektes,  das  in  jedem  Individuum  als  vorhanden  gedacht  wird, 
in  Erscheinung  treten.    Desgleichen  haben  die  ,, allgemeingültigen" 
ästhetischen  Wertsetzungen  nur  dann  Sinn,  wenn  auch  ein  ,, all- 
gemeines", d.  h.  ein  Normalsubjekt  hinzugedacht  wird. 

Bei  der  Formuherung  solcher  ,, allgemeingültigen"  Urteile  ist 
jedoch  wohl  niemals  nachgeprüft  worden,  ob  das  vorauszusetzende 
,, Normalich"  auch  existiert,  ob  also  wirkhch  jeder  Mensch  in  sich 
die  Wertgrundlagen  solcher  ,, allgemeinen"  Wertsetzungen  auch  zu 
erleben  vermag.  Gehen  wir  dieser  Frage  nach,  so  müssen  wir  fest- 
stellen, daß  das  nicht  der  Fall  ist,  daß  ein  solches  ,, Normalich" 
eine  Abstraktion  ist,  aber  keine  Wirklichkeit.  Als  Abstraktion 
kann  es  wohl  den  Charakter  einer  brauchbaren  Fiktion  haben, 
aber  nicht  mehr. 

Daß  die  allgemeingültigen  Wertsetzungen  Forderungen  ins 
Leere  hinaus  sind,  ist  leicht  schon  durch  die  Tatsache  zu  erweisen, 
daß  jeder  solchen  Wertsetzung  entgegengesetzte,  mit  dem  gleichen 
Anspruch  auf  Allgemeingültigkcit  auftretende  gegenüberzustellen 
sind,  und  daß  es  außerdem  für  jede  eine  Unzahl  von  Individuen 
gibt,  die  nicht  die  Wcrtgrundlage  dazu  erleben  können. 

Historisch-psychologisch  läßt  sich  ferner  erweisen,  daß  fast 
alle  , .allgemeingültigen"  Wertungen  unverkennbar  sich  als  Aus- 
wirkungen individueller  Besonderheiten  zu  erkennen  geben,  wenn 
diese  auch  meist  etwas  verwischt  sind.  Alle  historisch  bisher  auf- 
gestellten Allgcmeingültigkeiten  stellen  sich,  aus  gewisser  Distanz 
gesehen,  nur  -As  Verallgemeinerungen  ganz  bestimmter  Subjektivi- 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  3  3  Q 

täten  dar,  die  stets  nur  eine  relative,  niemals  eine  absolute  All- 
gemeingültigkeit erreichen. 

Wenn  wir  die  Kunst  des  Phidias  als  „wertvoll"  beurteilen,  so  meinen 
wir  nicht,  daß  sie  nur  für  unsere  Individualität  allein  (auch  nicht  bloß 
für  das  fiktive  ,, Einheitssubjekt"  unserer  Zustände)  wertvoll  sei.  Als 
wertendes  Subjekt  denken  wir  dabei  eben  nicht  die  Individualität, 
weder  die  momentane  noch  die  typisierte,  sondern  ein  jenseits  aller 
Individualitäten  bestehendes  Normalsubjekt,  ein  allgemein  mensch- 
liches Ich.  Daß  ein  solches  allgemeines  Subjekt  jedem  allgemeinen 
Werturteil  zugrunde  liegt,  wird  oft  völlig  übersehen.  So  hielt  die 
traditionelle  Ästhetik  z.  B.  die  klassische  Wertung  und  damit  das  klas- 
sische Idealsubjekt  für  das  normierende  Allgemeinich  und  übersah, 
daß  damit  nur  eine,  wenn  auch  verbreitete  Besonderheit  fälschhch 
verallgemeinert  wurde.  Daher  kamen  denn  jene  grotesken  Ungerechtig- 
keiten, die  alle  nichtklassischen  Stile,  etwa  die  Gotik  oder  das  Barock, 
verdammten,  weil  diese  eine  ganz  andere  Subjektivität  für  ihre  Wer- 
tungen voraussetzten.  Man  muß  sich  endlich  darüber  klar  werden, 
daß  die  klassische  Kunst  wertvoll  nur  für  die  klassische  Subjektivität, 
eine  bestimmte  Erlebnisweise,  ist,  für  die  die  gotische  Kunst  oder  die 
Barockkunst  Rembrandts  strenggenommen  keine  Werte  sein  können. 
Andererseits  sind  die  gotischen  oder  die  barocken  Kunstwerke  Werte 
ganz  eigener  Art,  und  zwar  für  Subjektivitäten,  die,  ohne  klassisch 
oder  „normal''  zu  sein,  doch  sehr  verbreitet  waren,  und  an  Verbreitung 
und  innerer  Geschlossenheit  der  klassischen  Subjektivität  keineswegs 
nachstehen.  Daß  die  Relativität  der  klassischen  Wertung  übersehen 
werden  konnte,  liegt  zum  Teil  darin  begründet,  daß  jedes  Ich  eine  ge- 
wisse Schwingungsweite  hat  und  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  in 
fremde  Subjektivitäten  einzuleben  vermag,  also  auch  die  klassische 
Wertung  nacherleben  kann.  Man  darf  jedoch  nicht  vergessen,  daß 
es  auch  Zeiten  hoher  künstlerischer  Kultur  gegeben  hat,  welche  die 
klassische  Wertung  niemals  zu  übernehmen  vermochten. 

Wir  finden  ähnUches  auf  dem  Gebiete  der  Ethik.  Auch  die  ethischen 
Werte  sind  Werte  nur  für  Subjekte,  und  zwar  nur  für  solche  Individuen, 
die  ihr  Erleben  den  übernommenen  Wertsetzungen  anpassen.  Wenn 
die  ethische  Wertung  des  Christentums,  sagen  wir  genauer  die  der  Berg- 
predigt, verallgemeinert  wird  und  der  Anspruch  erhoben  wird,  diese 
Wertungen  seien  die  ethischen  Wertungen  schlechthin,  so  übersieht 
man  dabei,  daß  es  Individuen  gibt,  die  sich  ihrer  ganzen  Art  nach  jene 
Wertung  unmöglich  zu  eigen  machen  können.  Der  ,, Christ"  als  wer- 
tender Typus  ist  keineswegs  das  Normalsubjekt;  vielmehr  ist  die  Ge- 
schichte des  Christentums  der  beste  Beweis,  daß  sich  innerhalb  der 
traditionellen  christHchen  Wertung  beständig  Umwertcr  geregt  haben, 
d.  h.  PersönUchkeiten  ganz  unchristlicher  Art,  die  aller  Tradition  zum 
Trotz  ihre  Wertung  durchgesetzt  haben.  Es  ist  ganz  richtig,  daß  man, 
um  die  christliche  Wertung  ganz  zu  eigen  zu  haben,  aufs  neue  geboren 
werden,  d.  h.  ein  Mensch  des  „christHchen"  Typus  werden  muß.  Aber 
es  ist  eine  ganz  andere  Frage,  ob  das  möglich  ist,  ob  wirklich  der  „Christ" 

22* 


-iAQ  Richard  Müller-Freienfels: 

das  Normalsubjekt  ist,  das  aus  jeder  menschlichen  Persönlichkeit  heraus- 
destilliert werden  kann.  Uns  scheint,  die  Geschichte  hat  bereits  zur 
Genüge  die  Unmöglichkeit  erwiesen,  aus  jedem  Menschen  einen  Christen 
zu  machen,  oder  vielmehr  den  vorausgesetzten  christusähnlichen  Kern 
in  jeder  menschlichen  Persönlichkeit  herauszuarbeiten. 

Wir  ziehen  aus  dem  allen  den  Schluß,  daß  es  ein  unmögliches 
Verfahren  ist,  ein  allgcmeinmenschliches  Wertsubjekt,  das  als 
,, normal"  gelten  könne,  de  facto  herauszuarbeiten.  Allerdings 
kann  jede  Persönlichkeit  gewisse  individuelle  Besonderheiten  zurück- 
drängen, kann  aus  einer  Subjektivität  heraus  werten,  die  in  ge- 
wissem Sinne  entindividualisiert  ist.  Wir  zeigten  in  der  „klassischen", 
der  ,, gotischen",  der  ,, barocken"  Subjektivität  bereits  typische 
Fälle  solcher  überindividuellcn  Wertsubjekte  auf.  Ein  wirkliches, 
allgemeinmenschliches  Normalsubjekt  wird  auf  diese  Weise  jedoch 
nicht  erreicht.  Im  Gegenteil,  es  läßt  sich  nachweisen,  daß  auch 
noch  die  abstraktesten  Allgemeinwertungen  sich  als  nur  zu  Un- 
recht verallgemeinerte  individuelle  Wertungen  erweisen  lassen. 
Selbst  die  Ethik  Kants,  die  mit  bewundernswerter  Energie  bis  zu 
einer  allgemein  menschlichen,  alles  Individuelle  hinter  sich 
lassenden  Wertung  vordringen  will,  kann  doch  ihren  anthropo- 
logischen Ursprung  nicht  verleugnen,  und  der  kategorische  Im- 
perativ weist  unverkennbar  die  Züge  der  Individualität  ihres  Ur- 
hebers ebenso  wie  die  Züge  seiner  Nation  und  seiner  Zeit  auf. 

Von  dem  ,, Normalsubjekt"  aus  schreitet  die  Abstraktion 
häufig  noch  weiter  bis  zu  einem  absoluten  Subjekt.  Wenn  näm- 
lich alle  Subjekte  im  tiefsten  gleich  sind,  so  scheint  es  möglich, 
sie  aus  der  Rechnung  überhaupt  auszuschalten.  Wenn  es  Dinge 
gibt,  die  allen  Subjekten  notwendig  gefallen  müssen,  so  braucht 
man  das  Subjekt  überhaupt  nicht  mehr  in  die  Rechnung  zu  setzen; 
es  fällt  als  eine  Selbstverständlichkeit  heraus.  Man  kann  dann 
die  Schönheit  als  eine  von  jeglichem  Subjekt  unabhängige  ,, Eigen- 
schaft der  Dinge"  hinstellen.  In  der  Tat  wird  dieser  Schritt  von 
der  Normalisierung  zur  Absolutsetzung  der  Werte  oft  genug  voll- 
zogen. Er  bleibt  aber  doch  ein  logischer  Fehler,  weil  eben  die 
vorausgesetzte  Gleichheit  der  Subjekte  faktisch  gar  nicht  besteht. 
Im  einzelnen  unterscheiden  sich  übrigens  die  absoluten  Wert- 
theorien voneinander.  Während  manche  Theoretiker  den  Subjekt- 
begriff ganz  ausschalten  und  nur  in  einem  unpersönlichen,  ab- 
strakten ,,  Sollen"  die  Werte  verwurzelt  finden,  gehen  andere  Ab- 
solutistcn    nicht   ganz   soweit,    sondern   führen  ein  hypothetisches 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  ^  4  I 

,, Überich"  ein,  das  ,, Willen"  ist  und  zwar  ein  „Allwillen",  der 
sich  in  der  Menschheit  verwirklicht.  Darauf,  daß  in  diesem  Begriff 
des  ,, Überich"  ein  abstraktes  ,, Menschheitich"  und  ein  noch  über 
das  Menschliche  hinaus  greifendes  ,, Allich"  zusammengeworfen 
werden,  kommen  wir  später  zurück,  wie  denn  überhaupt  die  Fragen 
der  Wertabsolutierung  uns  noch  oft  beschäftigen  werden.  Hier  galt 
es  uns  nur,  von  der  Subjektseite  aus  den  psychologischen  Prozeß 
der  Absolutsetzung  verständlich  zu  machen,  den  wir  als  fiktive 
,, Einklammerung"  des  Subjektsbegriffes  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  gelten  lassen  können,  der  jedoch  zum  groben  logischen  Fehler 
wird,  wenn  man  jene  ,, Einklammerung"  für  eine  wirkliche  Aus- 
schaltung nimmt. 

4.  Wenn  wir  daher  auch  bestreiten,  daß  sich  ein  allgeniein- 
menschliches  Wertsubjekt  als  ,, Normalsubjekt"  herstellen  läßt, 
so  erkennen  wir  doch  an,  daß  es  überindividuelle  Subjektivitäten 
gibt,  die  zwar  nicht  Normalcharakter  haben,  aber  doch  sehr  ver- 
breitete, individuelle  Wertungen  begründen.  Als  solche  ergeben  sich 
uns  vor  allem  die  national  und  die  zeitlich  verbreiteten 
Wertungen,  die  sich  in  den  nationalen  oder  zeitHchen  Sitten- 
begriffen, den  nationalen  oder  zeitlichen  Schönheitsbegriffen  usw. 
kristallisieren.  In  jedem  Individuum  besteht  neben  oder  über  seiner 
individuellen  Erlebnisweise  ein  solches  Subjekt,  das  die  Wert- 
setzungen seiner  Zeit  und  seiner  Nation  übernommen  hat  und  aus 
dieser  nationalen  oder  zeitlichen  Subjektivität  heraus  wertet.  Auch 
die  ausgesprochensten  Persönlichkeiten  sind  doch  Kinder  ihrer 
Zeit,  d.  h.  sie  übernehmen  Wertsetzungen,  die  sie  nicht  als  In- 
dividuen, die  sie  als  Angehörige  ihres  Jahrhunderts  bilden.  Es 
greift  gleichsam  ein  überindividuelles  Subjekt  durch  die  Einzel- 
subjekte hindurch.  Natürlich  handelt  es  sich  um  eine  bloße  Fiktion, 
nicht  um  eine  reale  Einheit,  wenn  wir  von  derartigen  überindivi- 
duellen Subjekten  reden,  aber  sie  lassen  sich  doch  ziemlich  genau 
bestimmen,  ähnlich  wie  individuelle  Charaktere. 

So  kann  man  von  ,,dem  Deutschen",  ,,dem  Franzosen",  ,,dem 
Engländer"  sprechen,  fiktiven  Überpersönlichkeiten,  deren  Stellung- 
nahmen und  Wertungen  sich  in  den  meisten  Individuen  ihres 
Bereichs   geltend  machen. 

Auch  für  zeitlich  umschriebene  Zusammenhänge  hat  man  solche 
fiktiven  Subjekte  konstruiert.  So  wird  es  neuerdings  immer  mehr 
Brauch,  von  „dem  antiken  Menschen",  ,,dem  mittelalterhchen 
Menschen",    ,,dem    Renaissancemenschen"    zu   reden.       Und    jede 


342 


Richard  .Müller-Freienfels: 


dieser  Fiktionen,  die,  wenn  auch  keine  Substanzialität,  so  doch 
eine  Wirkungsrealität  haben,  prägt  ihre  eigenen  Wertungen  aus, 
die  sich  in  fast  allen  ihr  zugehörigen   Individuen  wiederfinden. 

Als  Beispiel  eines  solchen  überindividuellen  Subjekts  können  auch 
Typen  dienen,  wie  sie  W.  Sombart  z.  B.  in  seinem  „Bourgeois"  be- 
schrieben hat.  Er  bezieht  nämlich  die  einzelnen  Züge,  die  es  im  Wirt- 
schaftsleben beobachtet,  auf  ein  „gedachtes  Wirtschaftssubjekt",  und 
kennzeichnet  damit  einen  bestimmten  Typ,  dem  die  einzelnen  Be- 
wußtseinsinhalte oder  der  Komplex  von  Bewußtseinsinhalten  als  psycho- 
logische Eigenschaften  von  uns  verliehen  werden.^) 

Derartige  Fiktionen  scheinen  uns  bedeutsamer  zu  sein  als  die 
allzu  blasse  und  konsequent  niemals  durchgeführte  Fiktion  des 
,, Normalmenschen",  die  wir  oben  ablehnten. 

5.  Bei  allen  bisher  erörterten  Wertungen,  die  wir  als  überindivi- 
duell ansprachen,  handelte  es  sich  um  eine  Überwindung  der 
Individualität  in  dem  Sinne,  daß  einzelne  Züge  zurückgedrängt 
werden,  daß  aber  trotz  allem  die  Individualität  nicht  ganz  auf- 
gehoben wurde,  sondern  in  ihrer  Selbständigkeit  erhalten  blieb. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  einem  Typus  von  Wertungen  und 
Wertsubjekten,  bei  dem  das  Individuelle  noch  viel  stärker  zurück- 
gedrängt wird  und  die  Individuen  unselbständige  Teile  werden 
von  Gemeinschaften,  in  denen  sie  wirklich  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  aufgehoben  sind.  Wir  meinen  die  sozialen  Wertungen 
und  die  sozialen  Subjekte.  Handelte  es  sich  bei  den  bisher  be- 
sprochenen Fällen  um  eine  Summierung  von  Individuen,  wobei 
diese  erhalten  bleiben,  so  handelt  es  sich  jetzt  um  Neubildungen, 
in  denen  das  Individuelle  wirklich  aufgeht,  ähnlich  wie  die  Ele- 
mente in  einer  chemischen  Verbindung. 

Die  sozialen  Subjekte,  die  wir  meinen,  sind  Gebilde  mit  Be- 
dürfnissen, Begehrungen  und  Stellungnahmen,  die  nicht  in  den 
jene  Gebilde  zusammensetzenden  Individuen  zentriert  sind,  sondern 
in  etwas,  was  ,, zwischen"  diesen  liegt.  Natürlich  sind  auch  diese 
, .sozialen  Subjekte"  nicht  metaphysisch  zu  denken.  Die  Sub- 
jektivität ist  fiktiv.  Indessen  wirken  sie,  ,,als  ob"  einheitliche 
Subjekte  hinter  ihnen  stünden. 

Wenn  wir  von  solchen  sozialen  Subjekten  sprechen,  so  meinen 
wir  Einheiten,  die  zwar  aus  Individuen  bestehen,  in  denen  jedoch 
die   Individuen   in  solcher   Weise  zusammengeschlossen  sind,   daß 


')  W.  .Sombart,  Der  Bourgeois.     Zur  Geistesgeschichte  des  modernen  Wirt- 
schaf tsmcnschcn.     1913. 


Grundzüge  einer  neuen  Werüehre.  04? 

ein  Granzes  entsteht,  das  ein  eigenes  Leben  mit  eigenen  Lebens- 
bedingungen führt,  die  denen  der  in  das  Ganze  eingehenden 
Individuen  nicht  gleich  sind,  sich  ihnen  vielmehr  überordnen,  so 
daß  sie  sogar  die  der  Individuen  unterdrücken  können.  Als  solche 
überindividuclle  Subjekte  gelten  uns  alle  Vergesellschaftungen; 
die  Ehe,  die  Familie,  der  Clan,  der  Staat,  die  über- 
staatliche Kulturgemcinschaft.  Sie  können  ein  bloßes  räum- 
liches Nebeneinander  umfassen,  umspannen  aber  in  der  Regel 
auch  ein  zeitliches  Nacheinander  von  Individuen. 

Wir  können  an  dieser  Stelle  natürlich  nicht  in  die  Besprechung 
der  mannigfachen  Theorien  eintreten,  die  man  über  das  Wesen  der 
Vergesellschaftungen  aufgestellt  hat.  Wie  weit  die  Bezeichnung  „Orga- 
nismus" für  eine  Gesellschaft  Geltung  haben  kann,  soll  hier  nicht  ent- 
schieden werden.  Wir  stellen  nur  fest,  daß  jede  Gesellschaft  im  oben 
umrissenen  Sinne  ihre  besonderen  Willenstendenzen  und  Bedürfnisse 
hat  und  somit  als  wertsetzendes  Subjekt  gelten  kann. 

Doch  soll  hier  nicht  für  jede  Gesellschaftsform  ihre  Wertung 
analysiert  werden.  Nur  an  einem  typischen  Falle  werden  wir  das 
Verhältnis  der  überindividuellen  Wertungen  zu  den  Wertungen 
der  Individuen  beleuchten.  Und  zwar  wählen  wir  zu  diesem 
Zwecke  den  ,, Staat". 

Gerade  beim  Staate  tritt  ja  die  Überordnung  der  sozialen 
Wertungen  über  die  individuellen  am  deutlichsten  hervor,  da  hier 
sogar  die  Opferung  des  Einzellebens  zugunsten  der  sozialen  Werte 
rücksichtslos  gefordert  wird.  Gerade  an  diesem  Beispiel  zeigt  es 
sich  auch  am  deutlichsten,  daß  die  Gesellschaft  nicht  bloß  eine 
Summe  von  Individuen  ist  und  daß  also  auch  die  soziale  Wertung 
nicht  bloß  die  Summierung  individueller  Wertungen  sein  kann. 
Es  wäre  vollkommen  irrtümlich,  die  Lebensbedürfnisse  des  Staates 
auf  die  Lebensbedürfnisse  der  Individuen  zurückführen  zu  wollen, 
wie  das  manche  Theoretiker  versucht  haben.  Gewiß  sind  die  ein- 
zelnen Staaten  nicht  ganz  gleich  darin,  in  welchem  Grade  sie  die 
Unterordnung  der  Individuen  unter  das  Staatsintercsse  verlangen; 
aber  auch  der  ,, liberalste"  Staat,  d.  h.  derjenige,  der  den  indivi- 
duellen Wertungen  die  größten  Rechte  zubilligt,  ist  in  seiner  Ge- 
samtheit doch  etwas  anderes  als  die  Summe  seiner  Staatsbürger 
und  kann  in  Lagen  kommen,  wo  er  ebenfalls  das  Opfer  des  Lebens 
seiner  Bürger  verlangen  muß. 

So  ist  England,  das  im  Frieden  dem  Individuum  verhältnismäßig 
große  Rechte  einräumte,  durch  den  jetzigen  Krieg  gezwungen  worden, 


■IAA  Richard  Müller-Freienfels: 

fast  alle  jene  Beschränkungen  und  Unterdrückungen  der  individuellen 
Wertungen  eintreten  zu  lassen,  die  weniger  „liberale"  Staaten,  wie 
Deutschland  z.  B.,  immer  geübt  hatten. 

Bleiben  wir  bei  Deutschland,  so  zeigt  sich  hier  deutlich,  wie  die 
staatlichen  Bedürfnisse  und  Willenstendenzen  sich  denen  der  Individuen 
überordnen  und  zu  Wertungen  eigener  Art  führen.  Daß  Deutschland 
seinen  ,, Platz  an  der  Sonne"  behauptet,  daß  es  das  freie  Meer  gewinnt, 
daß  es  Elsaß-Lothringen  besitzt,  alles  das  sind  Werte,  die  für  die  weitaus 
größte  Mehrzahl  seiner  Bürger  individuell  ziemlich  gleichgültig  sind. 
Es  wäre  durchaus  denkbar,  daß  die  Mehrzahl  der  Bürger  auch  ohne 
Elsaß-Lothringen  und  ohne  Kolonien  individuell  ebensogut  bestehen 
und  sich  entwickeln  könnte;  diejenigen,  deren  Existenz  durch  jene 
Errungenschaften  persönlich  direkt  oder  indirekt  gefördert  wird,  sind 
auf  jeden  Fall  eine  Minderheit.  Und  dennoch  sind  jene  Wertungen 
notwendig  bedingt,  müssen  durch  Opferung  von  Millionen  Individuen 
verteidigt  oder  erstritten  werden.  Wenn  manche  Theoretiker,  die  die 
Staatsidee  in  ihren  überindividuellen  Lebensbedingungen  nicht  be- 
greifen und  anerkennen  wollen,  das  ausrechnen  und  unter  Hinweis  auf 
die  individuelle  Wertung  es  abändern  wollen,  so  zeigt  das,  daß  sie  die 
überindi\'iduelle  Wesenheit  des  Staates  eben  nicht  begriffen  haben. 
Jene  Wertungen  sind  keineswegs  Willkürlichkeiten  einiger  beherrschenden 
Indi\aduen,  nein,  diese  scheinbar  herrschenden  Individuen  sind  vielmehr 
die  Träger  von  Tendenzen  ganz  überindividueller  Natur,  welche  sich 
ihrerseits  andere  Träger  schaffen  würden,  selbst  wenn  jene  herrschenden 
Individuen  sich  ihnen  entziehen  wollten. 

Der  .  Grund  liegt  darin,  daß  der  Staat  in  seiner  Gesamtheit 
seine  eigenen,  den  individuellen  Bedürfnissen  übergeordnete  Be- 
dürfnisse und  Willenstendenzen  hat,  die  nicht  der  Willkür  einzelner 
Menschen  entspringen,  sondern  den  Lebensbedingungen  eben  jener 
Gesamtheit.  Diese  Bedürfnisse  und  Tendenzen  aber  schaffen  auch 
ihre  eigenen  Werte. 

Es  mag  zu  Propagandazwecken  nützlich  sein,  diese  sozialen  Werte 
individuell  zu  begründen;  man  mag  also  den  Leuten  vorrechnen,  es 
wäre  für  jeden  Einzelnen  wertvoll,  daß  Elsaß-Lothringen  oder  Kurland 
deutsch  würden;  die  wahre  Begründung  trifft  man  natürlich  nicht  durch 
solche  Erörterungen.  Diese  ist  vielmehr  die,  daß  nicht  der  Einzelbürger, 
daß  der  Staat  in  seiner  Gesamtheit  jene  Grenzlande  braucht,  wobei 
wir  natürlich  zugeben,  daß  auch  diese  Wertungen  irrtümlich  sein  können, 
daß  sie  dem  wahren  Interesse  des  Staates  in  Wirklichkeit  mehr  schaden 
als  nützen  können;  aber  auch  das  ist  nicht  durch  individuelle  Wertungen 
zu  begründen,  nur  aus  den  Interessen  der  Gesamtheit  heraus.  Wir 
können  hier  die  Notwendigkeit  jener  staatlichen  Wertung  nicht  in 
den  Einzelheiten  darlegen,  wir  können  nur  hindeuten  darauf,  daß  jeder 
Staat  als  Ganzes  Rücksichten  zu  nehmen  hat  auf  die  anderen  Staaten, 
die  ebenfalls  ihre,  mit  den  seinen  vielfach  konkurrierenden  Bedürfnisse 
haben.     Diese   Rücksichten   können  in  der   Sicherung  der   Grenzen,  in 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  345 

einer  Mehrung"  der  eigenen  Macht  und  einer  eben  dadurch  bedingten 
Minderung  der  Macht  des  Konkurrenten  liegen  (der  Fall  Elsaß-Loth- 
ringen), sie  können  in  der  Erwerbung  von  Auswanderungsgebieten  und 
Rohstoffe  produzierender  Länder  liegen  (das  Problem  der  Kolonien), 
sie  können  ganz  allgemein  in  der  Bewegungs-  und  Erwerbsfreiheit  liegen 
(die  Frage  der  Seeherrschaft).  Stets  sind  jedoch  diese  Wertungen  nur 
aus  dem  Lebenswillen  des  ganzen  Staates,  nicht  aber  aus  dem  aller 
oder  auch  nur  der  Mehrzahl  seiner  Bürger  zu  begründen.  Es  ist  das 
überindividuelle  Subjekt  ,, Staat",  nicht  die  Summe  der  individuellen 
Subjekte,  das  jene  Wertsetzungen  bedingt.  Und  es  ist  dabei  auch  zu 
bedenken,  daß  der  Staat  nicht  bloß  das  gegenwärtige  Nebeneinander 
der  zeitgenössischen  Individuen  umfaßt;  er  handelt  zugleich  auch  im 
Interesse  seiner  eigenen  Zukunft,  da  er  auch  eine  in  der  Dimension 
der  Zeit  ausgedehnte  Wesenheit  ist  und  auch  in  dieser  Hinsicht  über 
die  Bedürfnisse  des  Einzelmenschen  hinausschreitet. 

Die  sozialen  Wertsetzungen  sind  aber  für  das  erlebende  In- 
dividuum stets  übernommene  Wertsetzungen.  Es  kann  sein,  daß 
die  individuelle  Wertgrundlage  der  sozialen  parallel  läuft  (grob 
gesprochen:  im  Fall  des  Munitionsfabrikanten),  es  kann  aber 
auch  zum  Konflikt  kommen  und  in  diesem  Fall  pflegt  sich  die 
soziale  Wertsetzung  mit  Zwang  durchzusetzen  und  dieser  Zwangs- 
charakter ist  sehr  charakteristisch  für   die  sozialen  Werte. 

Sehr  oft  aber  kommt  es  auch  vor,  daß  ein  Individuum  ganz  in 
einem  sozialen  Subjekt  aufgeht,  so  sehr,  daß  es  gleichsam  nur  aus  diesem 
heraus  erlebt.  So  wird  für  den  richtigen  Unternehmer  seine  Unter- 
nehmung ein  anderes  Ich,  für  das  allein  er  lebt,  oft  unter  größten  eigenen 
Entsagungen.  So  wird  dem  Künstler  sein  Werk,  dem  echten  Staats- 
mann der  Staat,  dem  er  dient,  zu  einer  höheren  Subjektivität,  in  der 
er  aufgeht.  Ein  solches  Individuum  wird  nicht  sagen:  L'Etat  c'est 
moi;  er  wird  gleichsam  die  Sache  umkehren  und  sagen  können:  „Mein 
Ich  ist  der  Staat!" 

6.  Alle  die  bisherigen  Ergebnisse  zeigen  deutlich,  daß  das 
Wertsubjekt  kein  konstanter,  sondern  ein  sehr  variabler  Begriff 
ist,  daß  es  die  verschiedensten  Wertsetzungen  übernehmen  und 
sich  in  seinen  Erlebnissen  ihnen  anpassen,  d.  h.  sich  ändern  kann. 
Gewiß  ist  auch  diese  Elastizität  des  Subjekts  nicht  bei  allen  In- 
dividuen gleich:  es  gibt  unzählige  Zwischenstufen  zwischen  mono- 
manischer Starrheit  und  amorpher  Charakterlosigkeit.  Als  Ideal 
wird  in  der  Regel  eine  gewisse  Einheitlichkeit  bei  ansehnlicher 
Beweglichkeit  angesehen. 

Indessen  müssen  wir  uns  im  Leben  nicht  nur  beständig  über- 
individuellen Wertsetzungen  anpassen,  wir  müssen  uns  auch  in  die 
Wertungsw^eise  fremder  Einzelmenschen  hineinleben.    Wir  ge- 


346 


Richard  Müller-Freienfels : 


dachten  bereits  oben  dieser  ,,Einfühlungs"-Phänomene,  die  eben 
darin  bestehen,  daß  wir  fremde  Wertungen  als  unsre  eigenen  in 
fiktiver  Weise  erleben. 

Aller  soziale  Verkehr  beruht  auf  solchem  „Verständnis" 
fremder  Wertungen,  das  allerdings  nicht  ein  intellektuelles  Begreifen, 
sondern  ein  wirkliches  Nacherleben  sein  muß.  Nur  derjenige  wird 
wirklich  mit  Kindern  umgehen  können,  der  sich  in  die  kind- 
liche Wertungsweise  hinein  versetzen  kann,  d.  h.  der  selbst  zum 
Kinde  zu  werden  vermag.  Frauen  pflegen  diese  Gabe  in  höherem 
Grade  zu  haben  als  Männer.  Vor  allem  zum  Wesen  des  Dichters 
gehört  eine  solche  Fähigkeit,  sich  in  fremde  Individualitäten  ein- 
zuleben und  aus  deren  Wertsubjektivität  heraus  zu  erleben.  Von 
hier  aus  gewinnt  auch  der  Satz  ,,Tout  comprendre  c'est  tout  par- 
donner" seinen  tiefsten  Sinn;  denn  es  soll  sich  dabei  nicht  um 
ein  äußerliches  Verfahren,  sondern  um  ein  Hineinversetzen  in 
die  innersten  Beweggründe  handeln. 

Wie  mannigfach  verflochten  diese  Phänomene  sind,  erhellt  auch 
aus  dem  Umstand,  daß  wir  unser  Wertsubjekt  fremden  Individuen 
unterlegen,  die  selber  gar  nicht  fähig  sind,  die  Wertungen  zu  vollziehen. 
Wir  sagen,  eine  Tracht  Prügel  sei  für  ein  ungezogenes  Kind  von  Wert, 
obwohl  dies  selbst  nicht  davon  zu  überzeugen  ist.  Wir  unterlegen  ihm 
in  diesem  Falle  unser  Wertsubjekt.  Das  oben  herangezogene  Beispiel, 
daß  wir  sogar  unbewußten  Dingen,  wie  einer  Pflanze,  ein  Wertsubjekt 
unterlegen,  gehört  ebenfalls  hierher. 

7.  Was  wir  in  diesem  Kapitel  zu  zeigen  versuchten,  war  die 
oft  sehr  merkwürdige  Mannigfaltigkeit,  die  durch  die  Wandelbarkeit 
und  Spaltung  des  Wertsubjekts  in  die  Wertungsphänomene  hinein- 
kommt. Das  Werten  wäre  eine  sehr  einfache  Sache,  wenn  es  stets 
das  gleiche  Subjekt  wäre,  das  die  Wertgrundlage  erlebte  und  sie 
;j1s  Wert  bejahte.  In  Wirklichkeit  ist  das  ein  gar  nicht  sehr  häufiger 
Fall.  Gerade  aber  die  anderen  Fälle  enthüllen  erst  die  Problematik 
des  Phänomens  und  machen  es  zu  einem  Zentralgegenstand  der 
Philosophie. 

Nicht  die  ganze  Fülle  der  Möglichkeiten  vermochten  wir  zu 
entrollen:  nur  von  einigen,  besonders  wichtigen  Fällen  aussuchten 
wir  die  hierhergehörigen  Fragen  zu  beleuchten.  Und  zwar  fanden 
wir,  daß  man  dem  wechselnden  Momentansubjekt  allerlei  fiktive 
Subjekte  überordnete,  um  die  Wertsetzung  zu  verallgemeinern. 
Als  solche  Fiktionen  fanden  wir  das  Einheitssubjekt,  das  allerdings 
sehr  oft  in  das  ,,  Idealsubjekt"  überging.  Von  hier  aus  führte  uns 
der   Weg   zum   ,,Norm;dsubjekt",    bei   dem   freilich,    wie  sich    uns 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  3^.7 

ergab,  die  Abstraktion  so  weit  getrieben  ist,  daß  diese  Fiktion  für 
die  Praxis  des  Lebens  sich  weniger  brauchbar  erweist,  als  ge- 
meinhin angenommen  wird.  Dafür  fanden  wir  andere  fiktive  Sub- 
jekte von  relativer  Allgemeinheit,  die  eher  fruchtbare  Erkenntnis 
versprechen.  Auch  die  sozialen  Subjekte  stellten  sich  uns  mit  einer 
eigenen  Problematik  dar.  Und  gar  durch  die  ,, Einfühlung"  in 
fremde  Einzelsubjekte  wächst  die  Zahl  der  Möglichkeiten  ins  Un- 
begrenzte. 

Alle  diese  Probleme  kehren  wieder  in  der  Problematik  des 
Wertgegenstandes;  denn  jedem  Wertsubjekt  entspricht  ein 
ihm  adäquater  Wertgegenstand.  Und  zur  Problematik  der  Wert- 
gegenstände gehen  wir  nunmehr  über. 


Kapitel  III.    Psychologie  des  Wertgegenstandes. 

I.  Bei  den  bisherigen  Untersuchungen  war  unter  ,,Wert" 
stets  an  die  Wertung,  d.  h.  einen  recht  komplexen  psychologischen 
Vorgang  gedacht.  Der  gewöhnlichen  Sprache  ist  jedoch  bei  dem 
Worte  Wert  die  Beziehung  auf  den  Wertgegenstand,  das  ge- 
wertete Objekt,  noch  geläufiger.  Auch  dieser  Begriff  birgt  eine 
Fülle  von  Problemen,  die  zum  Teil  denen  des  Wertsubjekts  parallel 
gehen. 

Wirscheiden  dabei  metaphysisch-erkenntnistheoretische  Erörterungen 
aus.  Wir  fragen  also  nicht,  inwieweit  es  in  diesem  Sinne  möghch  ist, 
überhaupt  von  einem  „Gegenstand"  als  von  etwas  dem  Bewußtsein 
nicht  Immanentem  zu  reden.  Da  unsere  Untersuchung  zunächst  rein 
psychologisch  ist,  so  behalten  wir  den  in  fast  aller  Psychologie  als  er- 
kenntnistheoretischen Standpunkt  üblichen  Realismus  bei,  daß  unseren 
Sinneswahrnehmungen  eine  Außenwelt  mit  räumlichen  Dingen  ent- 
spricht. Mag  das  auch  nicht  mehr  als  eine  Arbeitshypothese  sein,  so 
hat  sie  sich  für  die  Praxis  des  Lebens  und  desgleichen  in  fast  allen  Wissen- 
schaften seit  Jahrtausenden  bewährt.  Unter  diesem  Vorbehalt  unter- 
scheiden wir  die  physischen  Dinge  als  die  ,, Träger"  von  den  eigent- 
lichen psychischen  Gegenständen. 

Der  gewertete  ,, Gegenstand"  als  psychische  Gegebenheit  ist 
keineswegs  das  ,,Ding".  Wenn  ich  ein  Rembrandtsches  Bild 
ästhetisch  werte,  so  meine  ich  zunächst  nicht  die  mit  Ölfarben 
bedeckte,  in  einen  Rahmen  gespannte  Leinwand,  sondern  nur 
meinen  Eindruck,  den  psychischen  ,, Gegenstand".  Das  physische 
,,Ding"  (in  diesem  Fall  Leinwand,  Farben  usw.)  kann  zwar  ebenfalls 
Gegenstand  der  Wertung  sein,  etwa  der  geschäftliche  eines  Kunst- 


348 


Richard  Müller-Freienfels : 


Händlers ;  doch  handelt  es  sich  in  diesem  Fall  um  einen  anderen 
Wertgegenstand  als  in  der  rein  ästhetischen  Wertung.  Wir  be- 
zeichnen das  physische  „Ding"  auch  als  den  Wertträger.  Als 
solcher  ist  er  die  Voraussetzung,  die  Ermöglichung  der  psychischen 
Gegenstände  der  mannigfachsten  Wertungen  und  wird  eben  als 
Voraussetzung  —  aber  auch  noch  in  anderer,  später  zu  erörternder 
Hinsicht  oft  mit  dem  psychischen  Gegenstand  gleichgesetzt.  Zu- 
nächst gilt  jedoch  festzuhalten,  daß  der  psychische  Gegenstand 
nicht  identisch  ist  mit  seinem  Träger. 

2.  Für  die  Wertung  als  seelischen  Vorgang  ist,  wie  gesagt, 
der  Gegenstand  nur  Bewußtseinsinhalt.  Er  kann  uns  als 
,, reine"  Empfindung  gegeben  sein  (als  Ton  in  der  Musik 
oder  Farbe  in  der  bildenden  Kunst),  obwohl  wir  natürlich  be- 
denken müssen,  daß  die  ,, Reinheit"  dieser  Empfindungen  nur  durch 
einen  Abstraktionsprozeß  erreicht,  nicht  etwa  ,, gegeben"  ist.  — 
Er  kann  uns  als  konkrete  Wahrnehmung  gegeben  sein  in  allen 
jenen  Fällen,  wo  Dinge,  zu  denen  auch  Personen  gehören,  ge- 
wertet werden.  —  Er  kann  auch  bloße  Vorstellung  sein,  wenn 
wir  z.  B.  dichterische  Gestaltungen  oder  Luftschlösser  werten.  — 
Auch  Begriffe  können  Wertungsobjekte  sein.  Unsere  Ideale 
z.  B.  sind  solche  gewerteten  Begriffe.  —  Ferner  können  auch  die 
Relationen  zwischen  all  diesen  Inhalten  Gegenstand  der  Wertung 
sein.  Vor  allem  menschliche  Handlungen  und  die  Beziehungen 
zwischen  Menschen  untereinander  oder  zu  Dingen  werden  ge- 
wertet, wobei  das  Wertsubjekt  zugleich  Gegenstand  seines  Wertens 
sein  kann. 

Indessen  geht  es  nicht  an,  die  aufgezählten  intellektuellen 
Inhalte  (also  die  Empfindungen,  Wahrnehmungen,  Begriffe)  nun 
als  ,,rein  objektive"  Gegenstände  der  Wertung  anzusehen.  Ganz 
abgesehen  davon,  daß  sie  auch  rein  als  intellektuelle  Inhalte  nur 
Konventionen  sind,  daß  z.  B.  der  Begriff  ,, Paris"  im  Kopfe  eines 
französischen  Advokaten,  eines  englischen  Reisenden,  eines  deut- 
schen Malers  eine  jeweilig  völlig  verschiedene  Wesenheit  ist,  und 
nur  durch  konventionelle  Fiktion  als  ,, derselbe"  gilt,  auch  ab- 
gesehen davon  erfährt  jeder  Gegenstand  in  der  Wertung  noch 
eine  weitere  Veränderung.  Die  Wertgrundlage  verschmilzt  näm- 
lich sozusagen  mit  dem  intellektuellen  Inhalt,  geht  mit  ihm  eine 
untrennbare  Verbindung  ein,  und  erst  diese  ist  der  ganze  Gegen- 
stand der  Wertung,  während  der  intellektuelle  Inhalt  nur  eine 
Abstraktion    ist.     Indem   ich    eine    Dichtung   als    poetischen  Wert 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  349 

erlebe,  ist  es  bereits  nicht  mehr  ,, dieselbe"  Dichtung,  die  ich  etwa 
zum  Gegenstand  metrischer  Untersuchungen  mache.  Der  voll- 
ständige Gegenstand  der  Wertung  ist  also  der  intellektuelle 
Inhalt  plus  der  wertgrundlegenden  Stellungnahme.  Wohl  kann 
ich  den  intellektuellen  Inhalt  künstlich  abstrahieren;  er  ist 
jedoch  dann  bereits  wieder  etwas  anderes.  Wenn  Faust  mit 
Mephistos  Trank  im  Leibe  ,, Helena"  in  seinem  Gretchen  sieht, 
so  sieht  er  eben  ein  anderes  Gretchen  als  ohne  diesen  Trank. 
Der  ,, Gegenstand"  seiner  Wertung  ist  also  nichts  Objektives, 
sondern  abhängig  vom  Subjekt  und  zwar  von  dem  oben  erörterten 
Momentansubjekt.  Es  entsprechen  also  den  zahllosen  Momentan- 
subjekten ebenso  zahllose  Momentanobjekte,  und  in  diesem  Sinne 
ist  jeder  WVrtgegenstand  einzig  in  seiner  Art,  eben  auch  nur 
,,  momentan". 

Vielleicht  kommt  an  dieser  Stelle  der  Gedanke  auf,  daß  es  in  der 
psychischen  Welt  überhaupt  nur  „Werte"  gäbe,  da  jede  Wahrnehmung, 
jeder  Begriff  überhaupt  erst  durch  Stellungnahmen  des  Subjekts  (seine 
Aufmerksamkeit  usw.)  zustande  kämen.  Wir  werden  diese  Grund- 
anschauung der  voluntaristischen  Denkweise,  daß  alle  intellektuellen 
Inhalte  Setzungen  des  Willens  seien,  nicht  von  der  Hand  weisen,  be- 
tonen dagegen  jedoch,  daß  „Wert"  in  unserm  Sinne  nicht  eine  ein- 
fache Stellungnahme,  sondern  eine  doppelte  voraussetzt,  daß  der 
den  Gegenstand  setzende  Willensakt  selber  wieder  Gegenstand  einer 
Stellungnahme  sein  muß,  um  zum  Wert  zu  werden.  Sind  also  auch 
jede  Wahrnehmung  und  jede  Begriffsbildung  Willensakte,  so  werden 
sie  doch  zu  Werten  erst,  wenn  das  Willenselement  als  solches  als  Wert 
gesetzt  wird.  Es  ist  richtig,  daß  ich  in  einer  Landschaft  nur  solche 
Gegenstände  apperzipiere,  die  mein  ,, Interesse",  also  eine  emotionale 
Stellungnahme  erregen;  sie  werden  indessen  erst  zu  Werten,  wenn  ich 
diese  emotionale  Stellungnahme  besonders  bejahe.  Bei  der  nicht- 
wertenden  Wahrnehmung  ist  das  nicht  der  Fall,  da  bleibt  der  Willens- 
oder Gefühlsakt  ganz  im  Hintergrund  der  Seele.  Erst  dadurch,  daß 
ich  die  emotionale  Beziehung  zu  jenem  Gegenstand  selber  einbeziehe 
in  eine  übergeordnete  Stellungnahme,  werden  die  wahrgenommenen 
Inhalte  zu  Werten.  Ein  Haus,  ein  Baum,  die  ich  wahrnehme,  weil  sie 
(ohne  daß  ich  mir  dessen  bewußt  bin)  meine  ästhetische  Stellungnahme 
provozieren,  sind  noch  keine  Werte;  sie  werden  es  erst,  wenn  ich  eben 
diese  Stellungnahme  zu  ihnen  bejahe,  d.  h.  sie  als  Wert  setze. 

Wir  gedenken  an  dieser  Stelle  auch  noch  einer  Unterscheidung 
bei  den  Wertgegenständen,  die  nicht  übersehen  werden  darf:  der 
zwischen  Eigenwerten  und  Mittelwerten.  Bei  jenen  liegt  der 
Wert  im  Erlebnis  selber,  bei  diesen  ist  der  Wertgegenstand  nur 
Mittel,  um  zu  einem  Eigenwert  zu  gelangen.  Die  ästhetischen  Werte 


350 


Richard  Müller-Freienfels : 


sind  in  der  Hauptsache  Eigenwerte,  die  ethischen  waren  ursprüng- 
lich vielfach  Mittelwerte,  die  jedoch  zu  Eigenwerten  werden  können, 
ein  Übergang,  der  sich  sehr  oft  findet  und  am  deutlichsten  bei  der 
Schätzung  des  Geldes  eingesehen  wird,  das  ursprünglich  ein 
typischer  Mittelwert  ist,  jedoch  dem  Habgierigen  und  Geizigen 
zum  Eigenwert  wird. 

3.  Nun  sind  die  meisten  Wertungen,  wie  wir  schon  oben 
sahen,  keineswegs  bloß  Anerkennungen  von  Momentanerlebnissen: 
im  Gegenteil,  die  meisten  Wertsetzungen  streben  über  das  Momen- 
tane hinaus,  indem  sie  nicht  vom  Momentansubjekt,  sondern  von 
fiktiven  Subjclrten  größerer  Extensität  ausgehen.  Das  heißt  aber, 
daß  die  meisten  Wertungen  auch  über  den  momentanen  hinaus 
auf  einen  dauernderen  Wertgegenstand  zielen. 

Als  das  nächstliegende  der  nichtmomentanen  Subjekte  fanden 
wir  oben  das  Einheitssubjekt,  das  oft  mit  dem  fiktiven  , .sub- 
stantiellen Ich"  gleichgesetzt  wird.  Diesem  einheitlichen  Wert- 
subjekt entsprechen  auch  fiktive  Einheitswertgegenstände.  Das 
heißt,  wenn  wir,  aus  unserem  Einheitssubjekt  heraus  urteilend, 
ein  Rembrandtbild  als  ,,Wcrt"  setzen,  so  machen  wir  die  Fiktion, 
daß  wir  auch  stets  den  gleichen  Wertgegenstand  zu  erleben  ver- 
möchten, d.  h.  nicht  nur  den  gleichen  objektiven  Inhalt,  sondern 
auch  die  gleiche  ihm  zugeordnete  Wertgrundlage.  Daß  das  nicht 
der  Fall  ist,  weiß  jeder  Kunstfreund,  der  sich  ein  wenig  selber  beob- 
achtet. Jeder  Mensch  hat  Tage,  wo  ihm  auch  seine  liebsten  Bilder, 
seine  liebsten  Bücher  ,, nichts  zu  sagen"  haben,  wo  er  gar  nicht 
begreift,  daß  und  warum  er  sie  zu  anderen  Zeiten  als  Werte  emp- 
finden konnte.  Trotzdem  abstrahieren  wir  in  der  vereinheit- 
lichenden Wertung  von  diesen  Schwankungen  und  sprechen  von 
dem  Wertgegenstand  als  einem  konstanten  Etwas.  Es  ist  das 
natürlich  ein  rein  fiktives  Verfahren,  das  jedoch  von  praktischer 
Bedeutung  ist,  weil  es  gestattet,  eine  gewisse  Einheit  in  unser 
ganzes  Leben  zu  bringen.  Wie  wir  für  die  Lebenspraxis  das  fiktive 
Einheitssubjekt  benötigen,  so  brauchen  wir  auch  fiktive  Einheits- 
gegenstände und  Einheits werte. 

Das  Verfahren  dieser  Vereinheitlichung  ist  psychologisch  sehr 
interessant.  Ich  nenne  es  die  Objektivierung.  Man  kennt  sie 
auch  als  Objektivierung  intellektueller  Erlebnisse.  Ich  nenne  ein 
Ding,  etwa  das  Buch,  das  vor  mir  liegt,  ,,grün",  weil  es  in  den 
meisten  Fällen  bei  Tageslicht  so  aussieht,  obwohl  es  bei  Lampen- 
licht blau,  in  der  Dämmerung  grau  und  bei  verschiedenen  Beleuch- 


Gnindzüge  einer  neuen  Wertlehre.  4  c  I 

tungen  wieder  anders  aussieht.  Trotzdem  schreibe  ich  dem  Bucli 
meine  „durchschnitthche"  Grünempfindung  als  eine  Eigenschaft 
zu,    ich  „objektiviere"  sie. 

Das  Merlcwürdige  ist  nun,  daß  sich  diese  Objektivierung  auch 
bei  den  Stellungnahmen  findet,  deren  subjektiver  Charakter  viel 
ausgeprägter  ist  als  der  der  Empfindungen.  Ich  nenne  etwas 
,, schön"  und  schreibe  die  Schönheit  einem  Ding  als  Eigenschaft 
zu,  obgleich  keineswegs  immer  das  gleiche  Gefühl  bei  seinem  An- 
blick in  mir  entsteht.     Ich  objektiviere  also  auch  meine  Gefühle. 

Damit  werden  die  Gefühle  des  Subjekts  gleichsam  Eigen- 
schaften nicht  nur  des  psychischen  Gegenstandes,  sondern  sogar 
des  ,, Trägers",  was  bis  zur  ,, Absolutsetzung"  des  Gegenstandes 
führt,  einem  weiteren  Prozeß,  den  wir  später  behandeln. 

4.  Die  Fiktivität  der  Objektivierung  tritt  noch  deutlicher 
hervor,  wenn  wir  die  auch  für  fremde  Subjekte  geltenden  Kon- 
ventionen mit  einbeziehen.  Denn  wir  schaffen  in  fiktiver  Weise 
nicht  nur  eine  Vereinheitlichung  für  unser  Einheitssubjekt,  sondern 
für  alle  anderen  Subjekte,  die  fiktiverweise  also  alle  als  gleich 
angesehen  werden.  Wir  kennen  bereits  diesen  Übergang  vom 
,, Einheitssubjekt"  zum  ,, Normalsubjekt". 

Dem  entspricht  der  Übergang  vom  Einheitsgegenstand 
zum  Normalgegenstand.  Unsere  fiktive  Einheitswahrnehmung 
wird  als  Normalwahrnehmung  proklamiert.  Wir  nennen  ein  Buch 
,,grün"  und  erklären  diese  ,, Eigenschaft"  als  ,, normal",  ohne  daran 
zu  denken,  daß  auch  bei  gleicher  Beleuchtung  zahlreiche  In- 
dividuen (die  Farbenschwachen  und  Farbenblinden)  das  Buch 
anders  sehen.  Kraft  der  Majorität  jedoch  gilt  das  ebenso  reale  Er- 
leben jener  als  ,, falsch". 

In  gleicher  Weise  werden  die  Wertungen  normalisiert.  Wenn 
auch  nicht  stets  mit  Erfolg,  proklamiert  man  die  eigenen  Wertungen 
für  ,, normal"  und  spricht  von  ,, schönen"  Dingen  und  ,, guten" 
Handlungen,  als  bestünde  wirklich  jenes  Normalsubjekt.  Auf 
diese  Weise  entstehen  also  ,, objektive"  Wertgegenstände,  die 
natürlich  genau  solange  nur  als  solche  haltbar  sind,  als  sie  von 
der  sie  begründenden  Konvention  getragen  werden.  Die  Ge- 
schichte beweist,  daß,  sowenig  die  fiktiven  Normalsubjekte  ewig 
bestanden,  ebensowenig  die  fiktiven  Normalwerte  von  ewiger 
Dauer  waren.  Sie  zeigt,  daß  die  höchsten  Werte  der  einen  Zeit 
in  der  folgenden  geringgeschätzt,  ja  verworfen  wurden,  woraus 
wir  den  Erweis  der  durchaus  fiktiven  Natur  aller  Objektivierung 


Tr2  Richard  Müller-Freienfels: 

ableiten.       Als    psychologisch    und    praktisch    ungeheuer    wichtige 
Tatsachen  bleibt  jedoch  die  Objektivierung  bestehen. 

Haben  wir  damit  die  überindividuellc  Bedeutung  der  fiktiven 
Wertobjektivierung  in  weitem  Umfang  zugegeben,  so  wollen  wir 
doch  auch  die  Kehrseite  nicht  verschweigen.  Die  Objektivierung 
bedeutet  für  das  wirkliche  Werterleben,  d.  h.  also  die  Echtheit 
der  Wertgrundlage,  eine  große  Gefahr,  indem  sie  zu  Heuchelei, 
zu  bewußter  oder  unbewußter  Selbsttäuschung  zu  führen  pflegt. 
Die  Unterordnung  des  Individuums  unter  die  objektivierten  Wer- 
tungen geschieht  oft  so,  daß  es  nur  die  äußerliche  Wertsetzung 
übernimmt,  ohne  sich  um  die  Wertgrundlagc  zu  bemühen,  die 
allein  erst  die  Lebendigkeit  des  Wertes  verbürgt.  Es  kommt  zu 
einer  Erstarrung  des  Wertlebens,  einem  toten  Formalismus.  Man 
nimmt  den  leeren  Wertträger  für  den  erlebten  Wertgegenstand  hin. 

Diese  Gefahr  besteht  auf  allen  Wertgebieten.  Auf  dem  Gebiete 
der  Kunst  glaubt  man  entweder  ganz  grob  mit  dem  äußeren  Besitz 
des  Kunstwerks  dieses  zu  „haben",  oder  aber  man  vermeint,  mit  einer 
intellektualistischen  Apperzeption  den  ästhetischen  Wert  zu  fassen. 
Beides  ist  falsch.  Durch  die  schärfste  intellektuelle  Analyse  wird  man 
des  ästhetischen  Wertes  nicht  habhaft,  solange  das  Gefühl  schweigt. 
Nur  wo  das  Gefühlsleben  mitspricht,  wo  das  Kunstwerk  „mit  dem 
Herzen"  erlebt  wird,  bestehen  ästhetische  Werte,  die  eine  Wertgrundlage 
haben.  —  Auch  auf  dem  Gebiete  der  logischen  Werte  besteht  diese 
Werterstarrung.  Hier  äußert  sie  sich  im  Anhäufen  von  allerlei  totem 
Wissen,  dem  Mitführen  von  unbrauchbarem  Ballast,  der  keine  innere 
Beziehung  zum  lebendigen  Subjekt  hat.  Diese  Gefahr  der  zu  weit  ge- 
triebenen Objektivierung  meinte  Goethe,  wenn  er  äußerte:  ,, Übrigens 
ist  mir  alles  verhaßt,  was  mich  bloß  belehrt,  ohne  meine  Tätigkeit  an- 
zuregen." Und  Nietzsche  hat  gegen  diese  Gefahr  seine  feurigste 
Jugendschrift  geschrieben.  —  Auf  religiösem  Gebiet  liegt  die  Gefahr 
der  Objektivnerung  darin,  daß  Dogmen  und  Begriffe  als  religiöse  Werte 
weitergegeben  und  übernommen  werden,  ohne  daß  sie  wirklich  zum 
Erlebnis  werden.  So  schleppen  heute  fast  alle  Konfessionen  eine  Menge 
hergebrachter  Dogmen  und  mythologischer  Vorstellungen  mit,  die  den 
jetzigen  Menschen  ganz  unmöglich  mehr  zu  positiver  religiöser  Stellung- 
nahme veranlassen  können. 

Ähnlich  äußert  sich  in  der  Ethik  die  zu  weit  getriebene  Objek- 
tivierung. Ethische  Wertungen  können  sich  nicht  verdinglichen;  sie 
formen  sich  in  Gebote  und  Gesetze.  Die  Wertübernahme  dieser  Objek- 
tivierungen bestätigt  sich  in  äußerlicher  Erfüllung  ohne  innere  Anteil- 
nahme. Daher  haben  alle  großen  Ethiker  betont,  daß  ein  wahrhaft 
sittlicher  Wert  nur  diejenige  Handlung  sei,  die  nicht  allein  aus  formaler 
Gesetzeserfüllung,  sondern  aus  innerer  Gefühlsanteilnahme  erfolge, 
kurz,  bei  der  die  Wertgrundlage  miterlebt  wird. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  ^  c  ß 

Indem  nun  die  objektivierten  Werte  bedeutsame  Faktoren 
des  sozialen  Lebens  werden,  ohne  die  dies  überhaupt  kaum  mög- 
lich ist,  erhalten  sie  Forderungscharaktcr.  Indem  jemand 
öffentlich  etwas  als  ,,gut"  und  ,, schön"  verkündet,  will  er  nicht 
bloß  einen  objektiven  Tatbestand  feststellen,  er  erhebt  auch,  wenn 
auch  unbewußt,  damit  eine  Forderung.  Dieser  Übergang  vollzieht 
sich  sehr  leicht  und  fast  unmerklich.  Es  liegt  wohl  in  der  Natur 
des  Menschen,  daß  er  geneigt  ist,  seine  individuellen  Wertungen, 
besonders  wenn  sie  Widerhall  bei  einer,  wenn  auch  kleinen  Um- 
gebung finden,  als  allgemeine  Forderungen  aufzustellen.  Wenigstens 
können  wir  diese  Entwicklung  an  sehr  vielen  Lebensläufen  beob- 
achten. 

Die  meisten  Denker  oder  Künstler  verkünden  in  ihrer  Jugend  ihre 
Neuwerte  mehr  oder  weniger  unter  Berufung  auf  ihre  IndividuaUtät, 
deren  relatives  Recht  sie  gegen  herrschende  Wertungen  betonen.  In 
dem  Maße  jedoch,  als  sie  Erfolg  haben  und  ihre  Wertung  Echo  bei 
anderen  findet,  pflegen  sie  die  indi\iduelle  Herkunft  ihrer  Wertungen 
zu  vergessen  und  diese  als  etwas  „Objektives"  zu  empfinden.  Gewisse 
Erstarrungen  des  Seelenlebens,  Begleiterscheinungen  des  zunehmenden 
Alters,  kommen  hinzu.  So  finden  wir  bei  Führern  auf  allen  Kultur- 
gebieten diesen  Übergang  von  jugendhchem  Subjektivismus  zu  späterer 
Objektivierung,  die  sich  in  Dogmatismus  zu  äußern  pflegt.  In  der 
Religion  mag  z.  B.  Schleiermacher  diese  Erscheinung  illustrieren, 
für  den  in  der  Jugend  die  religiösen  Werte  wesentlich  subjektiv  bedingt 
waren,  der  jedoch  im  Alter  immer  „objektiver"  wurde.  In  der  Kunst 
bietet  Goethe  eine  interessante  Illustration,  der  bewußt  die  Subjek- 
tivität seiner  jugendUchen  Wertung  zu  immer  größerer  „Objektivität" 
umzubilden  strebte,  wobei  er  jedoch  nicht  sowohl  sein  eigenes  jugend- 
Hches  Erleben  objektivierte,  als  vielmehr  sich  der  „klassischen  Wert- 
setzung", die  er  für  „objektiv"  hielt,  unterordnete.  In  seinem  Alter 
hat  er  jedoch  oft  Äußerungen  getan,  die  beweisen,  daß  er  sich  der  Re- 
lativität aller  Wertung  genau  bewußt  war. 

5.  Wir  sahen  schon  oben,  daß  die  Objektivierung  sehr  leicht 
noch  weiter  zur  Absolutsetzung  des  Gegenstandes  führt.  Die  Linie 
von  der  individuellen  Wertung  zur  Objektivierung  läßt  sich  jedoch 
noch  über  diese  hinaus  verfolgen.  Ist  der  Übergang  von  der  in- 
dividuellen zur  objektivierten  Wertung  dadurch  gekennzeichnet, 
daß  an  Stelle  des  individuellen  Wertsubjektes  ein  ,,Normal"- 
wertsubjekt  tritt,  so  führt  das  zuletzt  dahin,  daß  von  jedem  Wert- 
subjekt überhaupt  abstrahiert  wird  und  die  Werte  als  „Werte 
an  sich"  proklamiert  werden. 

Diese  Absolutierung  der  Werte  ist  ein  psychologischer  Vor- 
gang,   der    ganz    unbewußt    eintritt,    besonders    dann,    wenn    bei 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3 


'ICA  Richard  MüUer-Freienfeis: 

Nichtbeachtung  individueller  Wertungsverschiedenheiten  die  Sub- 
jektivität der  Wertung  überhaupt  vergessen  wird.  Man  übersieht 
dann,  daß  es  nur  Sinn  hat,  von  „Schönheit"  zu  reden,  wennMenschen 
hinzugedacht  werden,  deren  Organisation  so  beschaffen  ist,  daß 
sie  gewisse  Formgegebenheiten  ästhetisch  zu  erleben  vermögen. 
Man  formuliert  die  Lehre  von  einer  absoluten  Schönheit  z.  B.  so, 
daß  man  sagt,  die  Venus  von  Milo  sei  ein  ästhetischer  Wert,  auch 
wenn  das  ganze  Menschengeschlecht  ausgestorben  sei.  Derartige 
Behauptungen  sind  natürlich  absurd;  denn  die  so  sprechen,  denken 
doch  unausgesprochenerweise  stets  einen  Beschauer  von  mensch- 
licher oder  menschenähnlicher  Organisation  hinzu.  Auch  die  an- 
geblich absoluten  Wertungen  enthüllen  sich  bei  genauem  Hin- 
sehen doch  als  verkappte  Anthropologismen  (was  wir  später  noch 
dartun  werden). 

Eine  scheinbare  Stütze  erhalten  die  absolutierten  Wertungen  da- 
durch, daß  man  einzelne  der  objektivierten  Wertungsanhalte  in  „Ge- 
setze" formulieren  kann  oder  wenigstens  zu  können  glaubt.  Um  beim 
ästhetischen  Wertungsgebiete  zu  bleiben,  so  kann  man  darauf  hinweisen, 
daß  sich  ästhetische  Werte  auch  in  der  vormenschlichen  Natur  finden. 
So  existieren  z.  B.  Symmetrie  und  wohlgefällige  Farbenkombinationen 
bei  Insekten^  ja  bei  Kristallen.  Das  ist  zuzugeben,  ohne  daß  man  daraus 
einen  absoluten  Schönheitssinn  in  der  nichtmenschHchen  Natur  an 
zunehmen  braucht.  Denn  daß  diese  Tatbestände  ästhetische  Wirkung 
haben  können,  beweist  natürlich  nicht  das  Geringste  dafür,  daß  sie 
ihrem  Wesen  nach  ästhetischen  Ursprungs  sind.  Die  letztere  Be- 
hauptung wäre  eine  anthropozentrische  Unterschiebung.  Die  Sym- 
metrie tierischer  Formen  hat  ihren  wahren  Ursprung  vermutlich  nicht 
in  ästhetischer  Teleologie,  sondern  ist  durch  das  Gleichgewicht  be- 
dingt. Auch  setzt  ihre  ästhetische  Wirkung  eine  menschliche  Organi- 
sation voraus,  die  Doppelheit  des  Sehorgans  wie  des  gesamten,  bei  der 
Symmetriewahrnehmung  stark  beteiligten  motorischen  Apparats.  Es 
ist  sinnlos,  zu  behaupten,  daß  Wesen  von  einer  ganz  anderen  Kon- 
stitution als  der  Mensch  ebenfalls  die  Symmetrie  ästhetisch  genießen 
könnten. 

Im  übrigen  ist  die  beste  Widerlegung  der  Beweiskraft  „absoluter" 
ästhetischer  Gesetze  der  Umstand,  daß  sie  meist  recht  leere  Formeln 
sind,  deren  dürftiger  Sinn  sich  wohl  psychologisch  deuten  läßt,  die 
aber  einen  Wert  jenseits  ihres  psychologisch-ästhetischen  Gehaltes  nicht 
besitzen.  Man  nehme  als  Beispiel  die  vielberedete  Lehre  vom  goldenen 
Schnitt.  Gewiß  hat  man  diese  (ihrem  Ursprung  nach  rein  metaphysische) 
Konstruktion  in  den  Tatsachen  wiederfinden  wollen;  das  war  jedoch 
nur  möglich  durch  so  viel  Gewaltsamkeiten  und  Erschleichungen,  daß 
ein  konsequenter  Versuch  der  Durchführung  diese  Konstruktion  ad 
absurdum  führen  muß.  Nur  kunstfremde  Theoretiker  können  der- 
artiges behaupten.     Die  Formel  des  „goldenen  Schnitts"  ist  weit  davon 


Grundzüge  einer  neuen  Werüehre. 


355 


entfernt,  ein  absolutes  ästhetisches  Gesetz  zu  sein,  und  daher  kann 
man  auch  keine  absoluten  Wertungen  darauf  aufbauen.  —  Ähnlich 
verhält  es  sich  mit  dem  Versuch,  in  der  Musik  durch  mathematische 
Formeln  absolute  ästhetische  Werte  erreichen  zu  wollen.  Daß  die 
ästhetische  Subjektivität  gewisse  objektiv  berechenbare  Tatbestände 
zu  genießen  und  zu  werten  vermag,  beweist  nicht  das  Geringste  dafür, 
daß  diese  ihrem  Wesen  nach  ästhetische  Werte  seien. 

Wir  haben  diese  Dinge  darum  herangeführt,  um  darzutun,  daß 
die  Versuche,  eine  absolute  Wertgesetzlichkeit  in  der  Welt  nachweisen 
zu  wollen,  ganz  irrtümlich  sind.  Die  Natur  ist  niemals  „an  sich"  schön, 
nur  für  menschliche  Apperzeption.  Und  so  ist's  mit  allen  anderen 
scheinbar  absoluten  Werten  auch. 

6.  Können  wir  also  auch  eine  absolute  Allgemeinheit  von 
Wertgegenständen  nicht  zugeben,  so  besteht  doch  eine  relative 
Allgemeinheit  der  Werte  insofern,  als  es  Wertgegenstände  gibt, 
die  sehr  verbreiteten  Gemeinsamkeiten  der  Subjektivität  entgegen- 
kommen. Eine  solche  finden  wir  in  den  räumlich  oder  zeitlich 
begrenzten  Zusammenhängen,  als  welche  wir  oben  die  Völker 
oder  die  Zeitperioden  kennen  lernten.  Innerhalb  dieser  Kreise 
bildet  sich  in  der  Tat  eine  Angleichung  der  seelischen  Verhältnisse 
heraus,  die  annähernd  gleiche  Erlebnismöglichkeiten  verbürgt.  In- 
sofern sind  z.  B.  die  religiösen  und  ethischen  Anschauungen,  die 
Kunststile,  die  Moden  und  Verwandtes,  relative  Allgemeinwerte,  in 
die  die  individuelle  Subjektivität  so  hineinwächst,  daß  sie  sich 
meist  gar  nicht  bewußt  wird,  daß  auch  diesen,  in  ihrem  Kreis 
, .allgemeinen"  Werten  nur  beschränkte  Geltung  zukommt.  Der 
über  seine  vier  Pfähle  kaum  hinausschauende  Bürger  hält  in  der 
Regel  seine  Werte  für  schlechthin  allgemeingültig.  Je  weitere 
Horizonte  ein  Mensch  hat,  um  so  mehr  pflegt  ihm  die  Relativität 
der  Werte  zum  Bewußtsein  zu  kommen.  Er  sieht  dann,  daß  ,,der" 
Deutsche  andere  Werte  hat  als  ,,der"  Franzose,  daß  wiederum 
für  ,,den  modernen  Menschen"  andere  Werte  gelten  als  für  den 
,, Renaissancemenschen".  Daß  eine  gewisse  Anpassungsfähigkeit 
besteht,  die  ein  Hinauskommen  über  die  eigene  Erlebnissphäre 
gestattet,  muß  dabei  zugestanden  werden,  obwohl  die  Werte  darum 
noch  nicht  schlechthin  allgemeingültig  werden,  weil  man  sich 
ihnen  anpassen  kann.  Gewiß  kann  ein  Deutscher  Mussetsche 
Gedichte  genießen  und  ein  Franzose  sich  an  Eichendorff  er- 
freuen; ob  sich  ihnen  jedoch  der  ganze  Wert  so  erschließt  wie  den 
Landsleuten  dieser  Dichter,  bleibt  eine  offene  Frage. 

7.  Als  Subjekte  besonderer  Art  lernten  wir  oben  die  Ver- 
gesellschaftungen   kennen,    welche    Bedürfnisse    und    Stellung- 

23' 


1S6 


Richard  Müller-Freienfels : 


nahmen  haben  jenseits  der  in  der  Individualität  ihrer  Mitglieder 
wurzelnden.  Wir  sahen  oben  bereits,  daß  diese  Wertungen  für 
den  einzelnen  oft  Zwangs  Charakter  annehmen.  Wir  suchten  das 
am  Beispiel  des  Staates  durchzuführen.  In  der  Tat  ist  es  oft  für 
den  einzelnen  kaum  möglich,  sich  die  Wertungen  des  Staates 
ganz  zu  eigen  zu  machen.  Dann  setzt  der  Zwang  ein  und  so  be- 
kommen die  sozialen  Wertungen  einen  besonderen  Charakter,  wo- 
durch oft  die  individuellen  Werte  ganz  unterdrückt  werden. 
,, Absolut"  sind  darum  jene  Werte  jedoch  auch  nicht. 

Eine  besondere  Art  von  sozialen  Werten  sind  die  von  der  Gesell- 
schaft geprägten  allgemeinen  Tauschwerte,  vor  allem  das  Geld,  das 
sehr  oft  durch  Zwangskurs  gehalten  werden  muß.  Für  den  Einzel- 
menschen ist  das  Geld  zunächst  kein  Eigenwert,  nur  ein  Mittelwert; 
es  wird  jedoch  oft  infolge  dieser  eigentümlichen  Gefühlsverschiebung 
zum  Eigenwert,  d.  h.  das  Individuum  ordnet  sich  dem  sozialen  Wert 
so  weit  unter,  daß  es  die  Realisierung  desselben  im  eigenen  Erleben 
ganz  beiseite  läßt. 

8.  Zusammenfassend  können  wir  über  den  Wertgegenstand 
also  ähnliche  Feststellungen  machen  wie  über  das  Wertsubjekt. 
Das,  was  im  Leben  in  der  Regel  als  Wertgegenstand  gilt,  ist  nur 
sehr  selten  Gegenstand  einer  realen  Wertung,  meist  nur  die  Mög- 
lichkeit oder  Wahrscheinlichkeit  solcher  Erlebnisse.  In  diesem 
Sinne  wird  der  psychische  Wertgegenstand  mit  dem  physischen 
Träger  identifiziert.  Um  jedoch  den  Wertungsprozeß  empor- 
zuheben über  das  Momentane  des  Erlebens,  bedient  man  sich 
mannigfacher  Fiktionen.  Vermittelst  des  auch  sonst  zu  beob- 
achtenden Vorganges  der  ,, Objektivierung"  wird  eine  künstliche 
Einheitlichkeit  und  Übersubjektivität  des  Erlebens  geschaffen,  eine 
oft  recht  gewaltsame  Schematisierung,  die  sich  jedoch  dem  be- 
ständig wechselnden  Strom  der  Erlebnisse  als  eine  zweite  Realität 
überbaut  und  sich  kraft  ihrer  sozialen  Bedeutung  durchsetzt. 
Von  der  Objektivierung  gelangt  man  dann  zur  Absolutsetzung  des 
Gegenstandes,  das  heißt  einer  fiktiven  Abstraktion  von  jeglicher 
Subjektivität  überhaupt.  Konnten  wir  auch  die  Existenz  und 
selbst  die  fiktive  Bedeutung  einer  absoluten  Allgemeinheit  von 
Wertungen  nicht  einräumen,  so  gaben  wir  doch  eine  relative 
Wertallgemeinheit  zu,  vor  allem  diejenige  innerhalb  räumlicher 
und  zeitlicher  Zusammenhänge.  Auch  daß  die  sozialen  Gemein- 
schaften überindividuelle  Wertgegenstände  eigner  Art  ausprägen, 
konnten  wir  dartun.  Bei  all  diesen  fiktiven  Allgemeinheiten  ist 
jedoch  festzuhalten,  daß  sie  wirkliche  Wcrterlcbnissc  von  sich  aus 


Grundzüge  einer  neuen  WerÜebre.  357 

noch  nicht  verbürgen,  daß  sie  erst  dann  zu  solchen  werden,  wenn 
sich  das  emotionale  Leben  des  Einzelsubjckts  den  in  jenen  All- 
gemeinwerten  enthaltenen  Forderungen  anpaßt,  was  insoweit  ge- 
schehen kann,  als  jene  Allgemeinwcrte  für  den  einzelnen  eine 
VVertmöglichkeit  bedeuten. 


Kapitel  IV,    Wertrichtigkeit  und  Wertrang. 

1.  Das  Wertproblem  birgt  noch  weitere  Fragen,  die  sich 
allerdings  angeblich  der  psychologischen  Behandlung  entziehen. 
Es  besteht  die  Tatsache,  daß  überall  die  Werte  als  richtige  oder 
falsche  Werte  beurteilt  und  ferner  einander  über-  und  unter- 
geordnet werden.  Nun  ist  gewiß  zuzugeben,  daß  es  eine  Über- 
schreitung der  Methode  des  Psychologen  wäre,  wollte  er  freihändig 
ein  Prinzip  für  jene  Rangordnung  oder  für  die  Richtigkeit  der 
Werte  aufstellen,  da  der  Psychologe  nur  beschreibt,  zergliedert 
und  erklärt.  Indessen  kann  er  auch  mit  diesen  Methoden  an 
jenen  Tatbestand  herantreten,  und  zwar  insofern,  als  er  nach- 
prüfen kann,  nach  welchen  Prinzipien  jene  Urteile  über  Wert- 
richtigkeit und  Wertrang,  die  er  im  Leben  vorfindet,  tatsächlich 
vorgenommen  werden.  Mit  dieser  Untersuchung  bleibt  er  ganz 
in  seinem  Arbeitskreise.  Er  würde  ihn  erst  überschreiten,  wenn 
er,  statt  jene  Prinzipien  rein  beschreibend  festzustellen,  sie  selber 
wieder  bewerten  wollte.  Das  ist  nicht  unsere  Absicht.  Wir  be- 
trachten auch  die  Wertungen  nur  als  Tatsachen,  die  das 
Leben  wie  die  Geschichte  darbieten;  so  überschreitet 
die  Psychologie  keineswegs  die  ihr  durch  ihren  Cha- 
rakter als  beschreibender  und  erklärender  Tatsachen- 
-wissenschaft  gesetzten   Grenzen. 

2.  Urteile  über  Richtigkeit  und  Rangordnung  der  Werte 
sind,  genau  besehen,  eine  Bewertung  der  Werte,  ergeben  sich 
also  unserer  Analyse  als  ,, tertiäre"  Stellungnahmen,  d.h. 
Stellungnahmen  zu  Wertsetzungen,  die,  wie  wir  erkannten,  sekun- 
däre Stellungnahmen  sind.  Das  ist  psychologisch  durchaus  be- 
greiflich, und  solche  Bewertungen  von  Wertsetzungen  finden  wir 
in  der  Tat  überall.  Wir  sehen  zunächst  von  jenen  ab,  die  sich  mit 
philosophischer,  ,, kritischer"  Begründung  als  absolut  geben;  wir 
halten  uns  an  die  im  Leben  selber  üblichen,  mehr  oder  weniger 
unkritischen   Richtigkeits-   und   Rangurteile   und   prüfen   nach,   ob 


358 


Richard  Müller-Freienfels : 


ihnen    ein    einheitliches    Prinzip    zugrunde    liegt,    das    ihnen    eine 
höhere  Berechtigung  verleiht. 

Wenn  ich  von  „richtigen"  und  „falschen"  "Werten  spreche, 
öo  denke  ich  dabei  nicht  an  jene  „unvollständigen"  Wertungen, 
die  ich  oben  behandelte,  solche  also,  bei  denen  die  Wertsetzung 
keine  entsprechende  Grundlage  im  Erlebnis  hat.  Hier  stehen  für 
uns  jene  Wertungen  in  Frage,  die  vollständig  erlebt  und  dennoch, 
sei  es  von  fremden  Individuen,  sei  es  von  einem  eigenen  Subjekts- 
zustand aus,  als  ,, falsch"  abgelehnt  werden.  Es  sei  z.  B.  ein  Buch 
ein  ästhetischer  Wert,  müßte  jedoch  vom  religiösen  Standpunkt 
aus  als  verderblich  bezeichnet  werden.    Was  ist  da  der  Prüfstein  ? 

Anders  gewandt  kann,  die  Frage  auch  heißen:  Kann  ein  Wert, 
der  als  solcher  erlebt  wird,  zu  gleicher  Zeit  ein  Unwert  sein .''  Ab- 
gesehen von  der  Tatsache,  daß  jede  Wertgrundlage  verschiedenen 
Wertsetzungen  untergeordnet  werden  kann,  kommt  hier  vor  allem 
in  Betracht,  daß  jedes  Erlebnis  nicht  nur  in  sich  beruht,  sondern 
auch  Folgen  hat,  sei  es  auch  nur  insofern,  als  es  Gewöhnungen 
einleitet.  Jede  Wertgrundlage  kann  als  Eigenwert  oder  als  ,, Mittel- 
wert" betrachtet  werden;  das  heißt:  Die  Folgen  können  anderen 
Charakter  haben  als  das  Erlebnis  selbst.  Dieser  Fall  ist  überaus 
häufig  und  beeinflußt  die  Einschätzung  der  Wertungen  selber. 
Es  müssen  dann  der  Eigenwert  und  der  W^ert  der  Folgen  gegen- 
einander abgewogen  werden,  was  aber  sehr  oft  kaum  möglich  ist, 
da  die  Folgen  nicht  immer  berechnet  werden  können. 

Indessen  nicht  diesen  Urteilen,  die  stets  nur  beschränkte 
Gültigkeit  haben  und  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten 
gefällt  werden  können,  gehen  wir  hier  nach.  Wir  möchten  er- 
mitteln, ob  es  doch  vielleicht  einen  letzten  Grundwert  gibt,  an 
dem  sich  alle  andere  Wertsetzung  orientieren  könnte,  eine  Voraus- 
setzung also,  von  der  alle  übrigen  Werte  abhängen. 

Neuerdings  hat  man,  besonders  für  einzelne  Wertsphären, 
versucht,  das  Leben  als  einen  solchen  Grundwert  zu  erweisen, 
das  heißt,  alle  anderen  Werte  danach  abzuschätzen,  was  sie  für 
die  Lebenserhaltung  bedeuten.  Mit  anderen  Worten,  man  hat 
versucht,  alle  Wertsetzungen  letzten  Endes  als  biologische  zu 
erweisen.  So  liegt  z.  B.  dem  Pragmatismus,  der  alle  logischen 
Werte  auf  ihre  praktische  Bedeutung  prüft,  die  biologische  Wert- 
setzung zugrunde.  So  hat  man  neuerdings  vielfach  in  der  Ethik, 
besonders  seit  Nietzsche,  versuch!:,  die  ethischen  Werte  auf  die 
Biologie  zu  gründen,  so  hat  W.  James  die  religiösen  Werte  ähnlich 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre:  350 

fundieren  wollen,  und  manche  Forscher,  darunter  ich  selber,  haben 
auch  für  das  ästhetische  Gebiet  das  biologische  Wertprinzip  nutzbar 
zu  machen  gesucht. 

Ich  möchte  auch  heute  dies  Prinzip  nicht  geringschätzen. 
Denn  in  der  Tat  ist  das  Leben  für  fast  alle  Wertungen  die  still- 
schweigende Voraussetzung:  In  einer  Welt,  in  der  es  kein  Leben 
gäbe,  hätte  es  keinen  Sinn,  von  Werten  zu  sprechen.  Das  Lebens- 
prinzip liegt  selbst  solchen  Wertungen,  die  (wie  das  Christentum) 
das  irdische  Leben  geringschätzen,  zugrunde;  denn  auch  die  christ- 
lichen Wertungen  geschehen  doch  im  Hinblick  auf  ein  höheres 
Leben.  „Wer  sein  Leben  hingibt  um  meinetwillen,  der  wird  es 
gewinnen.** 

Trotzdem  glaube  ich  nicht,  daß  in  der  Praxis  das  Leben  wirklich 
einen  letzten  Prüfstein  für  alle  Einzelwerte  abgeben  kann.  Viele 
Wertungen  haben  sich  so  weit  von  dieser  Basis  entfernt,  daß  sie 
unmöglich  direkt  mehr  darauf  zurückgeführt  werden  können. 
Unser  tatsächhches  Gefühls-  und  Willensleben  ist  so  merkwürdig 
verflochten,  so  seltsam  durchkreuzt  von  hunderterlei  Tendenzen, 
daß  es  nicht  möglich  ist,  sie  alle  unter  einen  einheitlichen  Gesichts- 
punkt zu  bringen.  Gar  oft  würde  man  durch  Ausschaltung  eines 
Unwerts  in  einer  Hinsicht  andere  Werte  mit  ausrotten.  Man 
würde  z.  B.  durch  konsequente  Durchführung  ethischer  Prinzipien, 
die  allein  das  Ziel  möglichster  Lebenserhaltung  und  Lebens- 
ausbreitung im  Auge  hätten,  sehr  viele  ästhetische  Werte  ver- 
nichten. Es  kommt  hinzu,  daß  nicht  jede  Lebensschädigung 
zugleich  zur  Vernichtung  des  Lebens  führt;  im  Gegenteil,  sie 
kann  oft  leicht  ausgeglichen  werden.  Man  kann  z.  B.  die  Extase, 
in  die  Wagners  Tristan  seine  Verehrer  zu  versetzen  pflegt,  als 
,, ungesund"  und  damit  als  biologisch  schädlich  bezeichnen.  Aber 
sind  nicht  solche  Lebensschädigungen  oft  zugleich  wieder  höchste 
Lebensstimulantia }  Kann  nicht  ein  Gift  zur  Gesundung  führen  ? 
Würde  nicht  unser  Leben  verarmen  durch  Ausschaltung  alles  im 
biologischen  Sinne  Wertlosen  und  Schädlichen.?  Wir  wissen  es 
längst,  daß  ein  stets  ethischer  Mensch  im  Leben  unerträglich  sein 
kann.  Die  Ver^vicklung  der  Wertproblcme  ist  so  merkwürdig 
und  unberechenbar,  daß  selbst  Unwerte  zu  Werten  werden  können, 
wie  gar  mancher  Mensch  gerade  durch  seine  Fehler  liebenswert  er- 
scheint. Mag  das  biologische  Prinzip  als  theoretisches  Grundprinzip 
zu  Recht  bestehen,  seine  konsequente  Überführung  ins  Leben 
würde  eine  heillose  Pedanterie  und  Verarmung  des  Daseins  bedeuten 


"ißo  Richard  Müller-Freienfels: 

Das  biologische  Prinzip  ist  jedoch  keineswegs  auf  die  Lebens- 
erhaltung beschränkt.  Wir  pflegen  allem  Leben  auch  eine  imma- 
nente Entwicklungstendenz  zuzuschreiben:  Leben  bedeutet  uns 
nicht  nur  Selbsterhaltung,  sondern  auch  Selbstentfaltung,  Steigerung 
des  Lebens,  Emporwachsen  zu  ,, höheren"  Formen.  Damit  wäre 
also  ein  Wertprinzip  gegeben?  Und  in  der  Tat  sind  die  meisten 
biologischen  Werttheorien  zugleich  Entwicklungswertungen. 

So  bestechend  dieser  Gedanke  ist,  so  können  wir  ihn  doch 
nicht  ohne  Bedenken  hinnehmen.  Ist  wirklich  allem  Leben  ein 
solches  Entwicklungswertprinzip  immanent,  so  ist  es  auch  un- 
abhängig von  unserer  Anerkennung  oder  Nichtanerkennung;  dann 
wird  es  sich  sowieso  durchsetzen,  und  wir  brauchten  nur  einfach, 
ohne  Wertsetzungen,  darauf  loszuleben,  um  den  rechten  Weg  zu 
gehen.  Vor  einem  solchen  Naturalismus  der  Wertgebung  könnte 
jedoch  der  größte  Teil  unserer  Kulturwcrte  nicht  bestehen;  denn 
unsere  ethischen,  religiösen,  ästhetischen  Werte  sind  zum  guten  Teil 
antinaturalistisch,  suchen  die  Natur  zu  meistern  und  umzubiegen. 
Sie  alle  müßten  demnach  fallen,  eine  Konsequenz,  die  man  sicher 
nur  ungern  ziehen  wird. 

Ferner  kann  man  das  Bedenken  haben,  ob  der  Wertbegriff, 
den  man  der  Entwicklung  unterlegt,  wirklich  in  ihr  selber  steckt, 
ob  er  nicht  fälschlich  in  die  Natur  hineingetragen  ist.  Ist  wirklich 
immer  die  spätere  Entwicklungsstufe  die  höhere.?  Und  wenn 
schon,  unter  welchem  Gesichtspunkt  ist  sie  das  ?  Warum  sollen 
die  komplizierteren  Lebensgebilde  die  wertvolleren  sein.?  Fällen 
wir  da  nicht  sehr  anthropozentrische  Urteile,  die  aus  der  Natur 
selber  nicht  abgeleitet  werden  können }  Außerdem  zeigt  ja  die 
Beobachtung  der  Natur,  daß  die  ,, niederen"  Lebewesen  keines- 
wegs mit  dem  Auftreten  der  ,, höheren"  schwinden,  sondern  fort- 
bestehen, ja  oft  ,, höhere"  überdauern! 

Des  weiteren  ist  die  ,, Entwicklung"  in  der  Natur  keineswegs 
so  eindeutig,  wie  manche  Forscher  annehmen.  Kann  man  nicht 
sehr  verschiedene  Entwicklungsreihen  in  der  Natur  nachweisen.? 
Erscheinen  einerseits  die  Ameise,  die  Biene,  der  Mensch  z.  B.  als 
Höhepunkte  einer  auf  soziales  Leben  gerichteten  Entwicklung,  so 
kann  man  den  Löwen  oder  den  Tiger  als  Endglieder  einer  anti- 
sozialen Entwicklungsreihe  deuten,  die  in  mancher  Hinsicht  ,, voll- 
kommener" sind  als  jene  sozialen  Wesen.  So  hat  man  auch,  je 
nachdem  man  die  soziale  oder  individualistische  Entwicklungs- 
tendenz in  den  Vordergrund  schob,  zu  gleicher  Zeit  den  Sozialismus 


Gnmdzüge  einer  neuen  Wertlehre.  36 1 

wie  die  Nietzschesche  Hcrrenmoral  als  Ziel  der  biologischen 
Entwicklungstendenz  ansehen  können.  Erwägen  wir  diese  Dinge, 
so  muß  es  sehr  zweifelhaft  scheinen,  ob  wirklich  „die  Entwicklung" 
jenes  Grundprinzip  abgeben  kann,  an  dem  alle  Einzelwertungen 
zu  messen  sind. 

Vor  allem  aber  steht  allen  derartigen  ,,  Grundprinzipien"  eins 
entgegen.  Selbst  wenn  man  imstande  wäre,  daran  die  Richtigkeit 
der  Werte  abzumessen,  so  fehlte  diesen  Grundprinzipien  doch 
die  Macht,  sich  durchzusetzen.  Denn  sind  nicht  Wertungen,  wie 
die  des  Buddhismus,  ganz  unbiologisch  und  haben  sich  doch  bei 
Hunderten  von  Millionen  Menschen  durch  Jahrtausende  hindurch 
gehalten.?  Angesichts  dieser  Tatsachen  wird  man  eingestehen 
müssen,  daß  vermutlich  ein  so  abgeleitetes  Urteil  über  die  ,, Rich- 
tigkeit" der  Werte  sicher  nur  sehr  schwer  über  theoretische  Fest- 
stellungen hinausgelangen  könnte.  Es  wäre  somit  der  biologische 
Wert  solcher  biologischen  Wertprinzipien  recht  gering.  Es  würde 
also  von  solchen  Wertsetzungen  gelten,  was  von  jeder  Recht- 
sprechung gilt,  die  nicht  die  Macht  hat,  sich  durchzusetzen:  sie 
würde  unbeachtet  bleiben. 

Auch  die  biologischen  Wertprinzipien  sind  daher  nicht  als  ab- 
solute Kriterien  für  die  Wertrichtigkeit  anzusehen,  und  wir  kommen 
zu  dem  Schlüsse,  daß  es  solche  Kriterien  überhaupt  nicht  gibt. 
3.  Gilt  nun  schon  von  den  Urteilen  über  die  Richtigkeit  der 
Werte,  daß  sie  ohne  ein  einhatliches  Grundprinzip  unter  sehr 
wechselnden  Gesichtspunkten  gefällt  werden,  so  gilt  das  noch 
mehr  von  jeder  Rangordnung  der  Werte,  die  strenggenommen 
die  Erkenntnis  über  die  Richtigkeit  voraussetzt. 

Trotzdem  begegnen  wir  überall  solchen  Ranggebungen.  Wir 
nehmen  auch  sie  als  Tatsachen  hin  und  prüfen  auch  hier  nur  die 
Prinzipien,  unter  denen  sie  vorgenommen  werden.  Und  zwar 
vergleicht  man  sie  teils  in  Rücksicht  auf  die  Werterlebnisse 
selber,  teils  in  Rücksicht  auf  die  Wertsubjekte,  teils  in  Rück- 
sicht auf  die  Wertgegenstände.  Unter  diesem  Gesichtspunkt 
gewinnen  wir  zugleich  ein  Einteilungsprinzip  für  unsere  Unter- 
suchung. 

Was  zunächst  die  Rangordnung  der  Wertungen,  d.  h.  der 
Wertgrundlagen,  untereinander  anlangt,  so  kann  man  wiederum 
zwei  Gruppen  unterscheiden,  je  nachdem  Wertungen  derselben 
Wertrichtung  gegeneinander  abgewogen  oder  Wertungen  ver- 
schiedener Richtungen  miteinander  verglichen  werden. 


362 


Richard  Müller-Freienfels : 


Für  den  Vergleich  der  Wertgrundlagen  der  gleichen  Richtung, 
also  etwa  der  ästhetischen  Wertungen  untereinander,  scheint  zu- 
nächst die  Intensität  des  Werterlebnisses  in  Betracht  zu  kommen. 
Es  scheint  von  zwei  ästhetischen  Genüssen  oder  zwei  religiösen 
Erschütterungen  die  stärkste  die  wertvollste  zu  sein.  Freilich 
melden  sich  hier  Bedenken:  Gibt  es  nicht  mindestens  zwei 
Steigerungsgrade  des  Gefühls  ?  Neben  der  Stärke  die  Innigkeit  ? 
Ja  ist  es  nicht  überhaupt  mit  den  Intensitätsunterschieden  der 
seelischen  Erlebnisse  eine  zweifelhafte  Sache?  Hat  nicht  am 
Ende  Bergson  recht,  wenn  er  alle  Quantitätsunterschiede  bei 
seelischen  Erlebnissen  auf  Qualitäten  zurückführt  ?  ^)  Handelt  es 
sich  also,  wenn  ich  sage,  ein  Quartett  von  Beethoven  verschaffe 
mir  intensivere  Lustgefühle  als  ein  Quartett  von  Haydn,  nicht 
am  Ende  gar  nicht  um  Quantitäts-,  nur  Qualitätsunterschiede, 
die  sich  der  Einordnung  in  eine  Reihe  entziehen  ?  Nach  unserer 
oben  skizzierten  Gefühlstheorie  ist  diese  qualitative  Verschiedenheit 
ogar  von  größter  Wichtigkeit,  und  wir  können  daher  unmöglich 
eine  abstrakte  Quantitätsstufe  zum  Rangprinzip  zulassen,  mag 
auch  oft  genug  schlechte  Beobachtung  die  Qualitäten  als  Quan- 
titäten ansprechen. 

Ganz  verkehrt  wäre  es,  den  Intensitätsbegriff  dadurch  quantitativ 
machen  zu  wollen,  daß  man  etwa  seinen  Gehalt  an  Lustgefühlen 
zum  Maßstab  zu  nehmen  versucht.  Wäre  die  Massenhaftigkeit  der 
Lust  maßgebend,  so  stünden  die  gröbsten,  sinnlichen  Werte  hoch  über 
den  geistigen.  In  der  Tat  zeigt  jedoch  die  traditionelle  Werthierarchie, 
etwa  die  der  Kunstgeschichte,  dai3  alle  auf  bloß  quantitative  Lusteffekte 
hinstrebende  Kunst  gering  gewertet  wird,  daß  vielmehr  die  höchsten 
Werte  oft  ganz  leise,  zarte  Wirkungen  erzielen,  die  „quantitativ"  sicher 
zurückstehen.  Für  uns  ist  die  ganze  Frage  schon  darum  nicht  diskutierbar, 
weil  wir  —  wie  oben  dargelegt  —  zwischen  Lust  und  Lust  Qualitäts- 
unterschiede machen  und  daher  die  Quantitätsabschätzung  von  vorn- 
herein dahinfällt. 

Statt  des  Intensitätsprinzips  habe  ich  früher  (Psychologie  der 
Kunst  II)  die  Extensität  in  den  Vordergrund  geschoben.  Und 
zwar  habe  ich  dort  die  inner  individuelle  Extensität  (also  Dauer 
und  Wiederholbarkeit  der  Werterlebnisse  im  gleichen  Individuum) 
mit  der  zwischenindividuellen  Extensität  (Majorität,  Wiederhol- 
barkeit bei  verschiedenen  Individuen)  einander  nebengeordnet. 
Ich  möchte  das  hier  nicht  tun  und  spreche  nur  von  der  inner - 
individuellen  Extensität,  während  ich  die  andere  erst  später,  beim 

*)  Bergson,  Lts  donndes  itnm^diates  de  la  consciencc,  chap.  I. 


Grundzüge  einer  neuen  AVertlehre.  ^5^ 

Vergleich  der  Wertsubjekte,  behandele.  Nun  ist  gewiß  Dauer 
und  Wiederholbarkeit  des  Wcrterlebnisses  im  gleichen  Individuum 
für  die  Rangordnung  sehr  wichtig,  kann  jedoch  nur  eine  Rang- 
ordnung für  diesen  Einzelmenschen  begründen  und  ist  auch  ab- 
hängig von  der  Dauer  und  der  Wiederkehr  derselben  Subjektivität 
in  dem  betreffenden  Individuum,  kann  also  ebenfalls  als  all- 
gemeines Rangprinzip  nicht  gelten.  Denn  wenn  wir  von  Dauer 
und  Wiederholbarkeit  desselben  Erlebnisses  sprechen,  so  über- 
sehen wir  oft  die  Verschiedenheiten  über  einer  gewissen  Ähnlich- 
keit, d,  h.  auch  hier  gewinnen  wir  ein  scheinbares  Quantitäts- 
prinzip auf  Kosten  von   Qualitäten. 

Zudem  wird  die  Extensität  durchkreuzt  durch  ein  entgegen- 
gesetztes Rangprinzip,  die  Einzigkeit  oder  Exklusivität.  Manche 
Werterlebnisse  werden  gerade  darum  besonders  hochgeschätzt,  weil 
sie  ganz  selten  sind,  weil  sie  eben  nicht  wiederholbar  sind.  Die 
höchsten  Ekstasen  des  Gefühls  haben  gerade  diesen  Einzigkeits- 
charakter, der  natürlich  dem  Extensitätsprinzip  strikte  entgegen- 
gesetzt ist. 

Eher  scheint  es  vielleicht  möglich,  Wertgrundlagen  ver- 
schiedener Richtung  abzustufen.  Man  kann  also  die  ästhe- 
tischen Wertungen  den  ethischen  und  diese  wieder  den  religiösen 
unterordnen.  Indessen,  vergleicht  man  hier  wirklich  die  Er- 
lebnisse rein  als  solche.''  Hat  es  wirklich  einen  Sinn,  zu  sagen, 
die  Versenkung  in  eine  bedeutende  Dichtung  sei  ein  geringerer 
Wert  als  die  Freude  an  einer  guten  Handlung.-^  Vergleicht  man, 
wenn  man  diese  Gefühle  zu  vergleichen  meint,  nicht  in  Wahrheit 
ganz  andere  Dinge,  etwaige  Folgen  oder  die  Beziehungen  jener 
Gefühle  zu  anderen  Lebenssphären  ?  Nachzuweisen  ist  derartiges 
natürlich  sehr  schwer,  da  alle  solche  Rangstufen  im  einzelnen 
Falle  kaum  restlos  auf  ihren  psychologischen  Ursprung  zurück- 
zuführen sind.  Zu  denken  gibt  jedoch,  daß  die  oben  gekennzeichnete 
Abstufung  keineswegs  allgemein  gilt,  dsß  heute  (im  Gegensatz  zum 
Mittelalter)  vielfach  das  religiöse  Gefühl  sehr  gering  geschätzt 
und  den  ethischen,  logischen  und  ästhetischen  Erlebnissen  weit 
untergeordnet  wird. 

So  glauben  wir,  daß  auch  die  ,, Werthöhe",  die  Oesterreich^) 
annimmt^  keine  primäre  Qualität  der  Gefühle  und  Wollungen  ist,  sondern 
zusammenhängt  mit  Wertsetzungen,  die  nicht  in  diesen  Wertgrundlagen 
selber  wurzeln.   Wenn  z.  B.  ein  Mystiker  seinen  Ekstasen  eine  besondere 

^)  Oesterreich,  Die  religiöse  Erfahrung  als  philos.  Problem,  1915,  S.  20. 


304 


Richard  Müller-Freienfels: 


Werthöhe  zuerkennt,  so  ist  das  mitbestimmt  durch  die  Seltenheit,  das 
Überraschende,  das  der  Mehrzahl  der  Menschen  Unbekannte  des  Er- 
lebnisses, andererseits  auch  durch  die  traditionelle  Wertsetzung  des 
Wertgegenstandes,  d.  h.  Gottes,  der  Welteinheit  oder  wie  der  Mystiker 
den  Wertgegenstand  seines  Erlebnisses  nennt.  Begrifflich  faßbar  oder 
sonstwie  deutlich  wird  die  ,, Werthöhe"  jedenfalls  auch  bei  Oester- 
reich  nicht.  Zum  mindesten  bedürfte  es  noch  weiterer  Untersuchungen, 
um  die  „Werthöhe",  selbst  wenn  man  sie  prinzipiell  nicht  ablehnen 
mag,  zu  erläutern. 

Nach  alledem  ist  offenbar,  daß  ein  einheitliches  Rangprinzip 
im  Werterlebnis  (der  Wertgrundlage)  nicht  gesucht  werden  kann. 
Es  gibt  kein  quantitatives  Prinzip  für  emotionale  Erlebnisse,  das 
ihre  Anordnung  in  Reihen  gestattete.  Außerdem  stehen  die  Wcrt- 
grundlagen  in  engster  Beziehung  zu  den  Wertsubjekten  und  Wert- 
gegenständen, so  daß  vieles,  was  wir  als  Rangordnung  der  Wert- 
erlebnisse ansehen,  in  Wahrheit  eine  Rangordnung  der  Wert- 
subjekte oder  der  Wertgegenstände  ist. 

4.  Vielleicht  ist  es  jedoch  möglich,  in  den  Wertsubjekten 
ein  Prinzip  für  die  Rangordnung  der  Werte  zu  finden.^  Es  ist 
offenbar,  daß  sich  die  landläufigen  Wertstufungen  vielfach  so 
begründen.  Wie  der  Einzelmensch  die  Wertungen  seines  ,, Ideal- 
subjekts" den  Wertungen  flüchtiger  Augenblicke  in  der  Regel 
überordnet,  so  pflegt  man  auch,  wo  es  sich  um  mehrere  Individuen 
handelt,  die  Wertungen  ,, autoritativer"  Personen,  d.  h.  solcher, 
die  im  allgemeinen  einen  hohen  Rang  haben,  höher  einzuschätzen 
als  die  irgend  jemandes. 

Freilich  ergibt  eine  Prüfung  dieser  ,, Autorität"  sehr  bald, 
daß  sie  keineswegs  auf  einem  einheitlichen  Wertprinzip  beruht, 
sondern  das  Ergebnis  vieler,  sehr  unsachlicher  und  sich  kreuzender 
Wertsetzungen  ist.  Die  Autorität  der  Wertsubjekte  ist  oft  ein 
Produkt  übernommener  Wertsetzungen  heterogenster  Art  ohne 
tatsächliche  Grundlage.  Vor  allem  die  unberechtigte  Übertragung 
eines  Autoritätsgrades  von  einem  Gebiete  auf  andere  spielt  da 
eine  keineswegs  sachlich  begründete  Rolle.  So  wirkt  die  Autorität 
von  Fürsten  oft  auf  Gebiete  hinüber,  von  denen  sie  gar  nichts 
verstehen.  Selbst  Künstler  fühlen  sich  geschmeichelt,  wenn  ein 
Mächtiger,  mag  er  noch  so  kunstfremd  sein,  ihr  Werk  lobt  und 
durch  Titel  oder  Orden  belohnt.  Aber  auch  abgesehen  von  solch 
groben  Fällen  ist  Autorität  keineswegs  eine  Bürgschaft  für  eine 
allgemeingültige  Rangordnung  der  Werte.  Bedenken  wir,  daß 
selbst  Goethe  auf  einem  Gebiete,  wo  er,  wenn  je  einer,  Autorität 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  355 

war,  dem  der  Dichtung,  höchst  merlovürdigc  Urteile  gefällt  hat 
(wenn  er  z.  B.  einen  Kleist  ablehnte).  Oder  bedenken  wir,  wie 
oft  große  Autoritäten  der  Wissenschaft  bedeutsame  Entdeckungen 
verkannt  haben!  Ich  erinnere  an  Newtons  Stellung  zu  Huygens, 
an  Vi  rc  ho  WS  Stehung  zur  Hypnose.  Rangordnung  der  Leistungs- 
fähigkeit bedeutet  noch  nicht  Rangordnung  der  Wertungsfähigkeit. 

Vielfach,  auch  von  Philosophen,  ist  die  Allgemeingültigkeit 
der  Wertungen  als  Rangprinzip  angenommen  worden,  was,  wie  wir 
oben  sahen,  gleichbedeutend  ist  mit  der  Allgemeinheit  des 
Wertsubjekts.  Es  wäre  also  diejenige  Wertung  höheren  Ranges, 
die  allgemeingültiger  wäre,  d.  h.  einer  möglichst  extensiven  Sub- 
jektivität entspränge. 

Wir  kommen  also  wieder  zum  Begriff  der  Extensität  zurück, 
die  wir  diesmal  als  Extensität  des  Subjektbegriffs  fassen.  Danach 
wäre  also  die  Extensität  der  Wertsubjektivität  das  Rangprinzip 
für  die  Wertungen. 

Freilich  müssen  wir  auch  hier  wieder  eine  doppelte  Extensität 
unterscheiden,  eine  konkrete  und  eine  abstrakte.  Jene  beruht  auf 
der  Zahl  der  Individuen,  welche  eine  Wertung  zu  eigen  haben; 
diese  behauptet  schlechthin  allgemein  zu  sein,  also  auf  einer 
gemeinsamen  Anlage  in  allen  Menschen  zu  beruhen. 

Die  konkrete  Extensität  muß  zunächst  als  ,, Majorität"  auf- 
gefaßt werden.  Daß  eine  solche  jedoch  nicht  bindend  ist,  dürfte 
weithin  zugestanden  werden.  Sonst  wären  z.  B.  die  epidemisch 
sich  ausbreitenden  Gassenhauer  die  höchsten  Kunstwerte  der 
Musik.  Vielleicht  aber  ist  die  Extensität  in  der  Zeit,  d.  h.  die 
Dauer,  maßgebend  .'*  Gewiß  ist  die  Dauer  für  die  historische 
Wertgeburg  wichtig.  Ein  einheitliches  Prinzip  ist  sie  jedoch 
auch  nicht.  Die  Dauer  ist  nicht  die  Ursache  der  Wertschätzung, 
sondern  selber  eine  Wirkung  sehr  verschiedener  Ursachen.  Auch 
alle  Dauer  ist  nur  relativ  und  die  Ursachen  der  Dauer  sind  es 
noch  viel  mehr.  Wenn  wir  heute  Shakespeare  schätzen,  so  liegt 
in  der  Tat  eine  ganz  andere  Wertung  vor,  als  diejenige  es  war, 
die  das  17.  und  auch  das  18.  Jahrhundert  seinen  Werken  ent- 
gegenbrachte. Es  handelt  sich  hier  nur  um  eine  Dauer  des  Wert- 
trägers, gar  nicht  um  die  Extensität  des  Wertsubjekts,  denn  die 
Subjekte  werten  heute  auf  ganz  andere  Grundlagen  hin  als  jene 
früheren.  Man  kann  aus  der  Zahl  der  Wertsubjekte  schon  darum 
kein  einheitliches  Wertprinzip  machen,  weil  diese  Wertsubjekte 
und  damit  auch  die  Wertungen  selber  außerordentlich  verschieden 


366 


Richard  Müller-Freientels . 


sind  und  nur  bei  ganz  oberflächlicher  Beobachtung  zusammen- 
gebracht werden  können.  Die  dauernde  Wertschätzung  eines 
Gegenstandes  beruht  also  weder  auf  der  Extensität  der  Wert- 
subjektivität noch  auf  der  Extensität  der  Wertung.  Die  konkrete 
Extensität  der  Wertsubjektivität,  die  große  Zahl  der  sie  ergebenden 
Individuen  ist  also  kein  einheitliches  Prinzip. 

Es  bliebe  daher  noch  die  auch  von  Philosophen  oft  betonte 
abstrakte  Subjektsextensität.  Danach  wären  diejenigen  Werte 
die  ranghöchsten,  die  sich  an  das  allgemeine,  in  allen  Menschen 
vorhandene  Normalsubjckt  wendeten  und  daher  notwendig  allen 
Menschen  genugtun  müßten.  Das  ist  letzten  Endes  der  Sinn 
aller  jener  Wertbeurteilungen,  die  in  der  Allgemeingültigkeit  einer 
Wertung  den  Erweis  ihres  hohen  Ranges  sehen.  —  Indessen  sahen 
wir  oben,  daß  dies  Normalsubjekt  eine  blasse  Abstraktion  und 
ganz  ungeeignet  ist,  die  konkreten  Wertungen  zu  erklären.  Eis 
wäre  ganz  falsch,  anzunehmen,  die  antike  Poesie  habe  darum  den 
verschiedensten  Jahrhunderten  genug  getan,  weil  sie  etwa  der 
allen  Menschen  gemeinsamen  Normalsubjektivität  besonders  ent- 
gegenkam. Nur  grobe  historische  Unkenntnis  kann  das  meinen. 
In  Wahrheit  hat  jedes  Jahrhundert  nach  seiner  eigenen,  besonderen 
Subjektivität  gewertet,  die  oft  der  der  anderen  konträr  entgegen- 
gesetzt war.  Die  abstrakte  Extensität  der  Subjekte  ist  ein  leerer 
Schemen. 

Dazu  wird  auch  diese  Extensität  durch  die  Exklusivität 
der  Wertung  durchkreuzt,  da  manche  Subjekte  ihre  Wertung 
gerade  darum  für  besonders  hohen  Ranges  halten,  weil  sie  anders 
ist  als  die  der  großen  Zahl.  Oft  wird  das  Aparte,  Absonderliche 
gerade  darum  hochgeschätzt,  weil  es  auf  Wertgrundlagen  zurück- 
geht, die  nicht  allen  zugänglich  sind.  Die  Wertung  der  Eso- 
teriker  aller  Gebiete  geht  auf  dies  Prinzip  der  Exklusivität  zurück, 
letzten  Endes  also  auf  die  Qualität  der  Subjekte  im  bewußten 
Gegensatz  zur  quantitativen  Extensität. 

Alles  in  allem  sehen  wir,  daß  für  die  tatsächlich  bestehende 
Rangordnung  der  Werte  die  Subjektivität  schwer  ins  Gewicht 
fällt,  daß  aber  keineswegs  ein  einheitliches  Prinzip  in  ihr  zu  er- 
kennen ist.  Im  Gegenteil,  zahlenmäßige  und  qualitative,  echte 
und  übernommene  Momente  durchkreuzen  sich;  die  Rangstufen 
der  Werte,  auch  von  der  Subjektseite  aus  gesehen,  ergeben  sich 
als   Produkte  höchst  heterogener  Einflüsse. 

5.    Es  blieben  also  noch  die  Wertgegenstände!     Vielleicht 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  35? 

läßt  sich  in  ihnen  das  gesuchte  Rangordnungsprinzip  entdecken  ? 
Man  wird  darauf  hindeuten,  daß  es  doch  möghch  sei,  durch  ob- 
jektive Analyse  zu  erweisen,  daß  z,  B.  der  ,, Faust"  mehr  wert 
sei  als  ,,Uriel  Akosta"!  Indessen,  dieser  Beweis  hält  nicht  stand; 
denn  die  Analyse,  die  Aufzählung  der  Einzelvorzüge,  die  den 
Wsrtra.ig  rechtfertigen  sollen,  zerlegt  nur  den  Gesamtwert  in  Teil- 
werte, die  ihrerseits  wieder  dieselben  Probleme  bieten  wie  der  Ge- 
samtwert, d.  h.  zurückgefülirt  werden  müssen  auf  Wertsubjekte 
und  Werterlebnisse.  Wir  sehen  uns  daher  bei  der  Betrachtung  der 
Wertgegenstände  vor  derselben  Erscheinung,  die  wir  oben  hatten: 
daß  nämlich  das  Problem  des  Wertrangs  von  einer  Instanz  der 
anderen  zugleitet,  so  daß  wir  uns  im  Kreise  drehen,  wenn  wir  die 
Begründung  des  Wertranges  immer  in  den  anderen  Teilphänomenen 
als  dem  gerade  aufgegriffenen  suchen. 

Das  wird  besonders  offenbar,  wenn  wir  den  oben  besprochenen 
Unterschied  zwischen  Wertgegenstand  und  Wertträger  bedenken. 
Wir  fanden  dabei,  daß  der  Wertgegenstand  eine  Variable  ist,  die 
in  funktionaler  Abhängigkeit  von  der  ebenfalls  variablen  Wert- 
subjektivität steht.  Man  ordnet  also,  wenn  man  glaubt,  objektive 
Wertgegenstände  in  Rangordnung  zu  bringen,  nur  die  ,, Träger" 
ein.  Sagt  man  also,  die  Bibel  sei  zu  allen  Zeiten  ein  Wert  hohen 
Ranges  gewesen,  so  übersieht  man,  daß  sie  niemals  ein  Wert- 
gegenstand, nur  die  Möglichkeit  für  sehr  viele  verschiedene  Wert- 
gegenstände gewesen  ist,  je  nach  der  Subjektivität  der  Wertenden. 
Der  psychische  Wertgegenstand  ist  daher  ,, objektiv"  gar  nicht  zu 
fassen,  kann  also  auch  nicht  Grundlage  einer  ,, objektiven"  Rang- 
ordnung werden,  zumal  er  stets  auf  das  Werterlebnis  und  das 
Wertsubjekt  zurückweist,  für  die  wir  jene  Unmöglichkeit  schon 
nachgewiesen  haben. 

Wenn  man  nun  darauf  hinweist,  daß  in  der  Kunstgeschichte  z.  B. 
doch  eine  Wertungsordnung  gelte,  so  ist  zunächst  zu  erwidern,  daß 
nur  die  ,, Wertträger",  gar  nicht  die  Wertgegenstände  in  unserem  Sinne 
eingeordnet  sind.  Wenn  z.  B.  der  ,, Faust"  höher  rangiert  als  ,,Uriel 
Akosta",  so  liegt  hier  nicht  ein  einheitliches  Wertprinzip  zugrunde, 
sondern  sehr  verschiedene.  Neben  ästhetischen  Wertungen  spielen 
ethische,  religiöse,  philosophische  Momente  mit,  ferner  rein  historische 
Tatsachen,  die  mit  dem  Werk  an  sich  gar  nichts  zu  tun  haben.  Aber 
selbst  die  rein  ästhetische  Wertung  ist  nicht  einheitlich.  Unter  dem 
Gesichtswinkel  der  traditionellen  Dramaturgie  ist  der  „Uriel  Akosta" 
vielleicht  sogar  ein  geschlosseneres  Bühnenstück  als  der  „Faust".  Die 
extensive  Wirkung  des  ,, Faust"  beruht  zudem  keineswegs  allein  auf 
der  Gesamtwirkung  der  Dichtung,  sondern  zum  Teil  auf  der  Buntheit 


368 


Richard  Müller-Freienfels: 


der  Einzelheiten,  weil  er,  wie's  im  „Vorspiel  auf  dem  Theater"  verraten 
wird,  „Vieles  bringt  und  darum  manchem  etwas  bringt". 

Der  Wertlang  der  Kunstgeschichte  kommt  vui  Grund  der 
mannigfachsten  Umstände  zusammen.  Die  Kunstgeschichte  re- 
gistriert nur  den  Effekt,  die  Tatsache  der  Wirkung  der  Wert- 
träger,  und  nur  zum  Teil  die  Ursachen.  Häufig  liegt  der  Fall 
nicht  so,  daß  bei  der  Nachwelt  die  Wertträger  nicht  darum  hoch 
im  Werte  stehen,  weil  sie  wirklich  unmittelbare  Werterlebnisse 
vermittelten,  sondern  umgekehrt,  weil  sie  überlieferterweise  hoch 
im  Range  stehen,  müht  sich  die  Nachwelt  darum,  sich  mit  ihrem 
Erleben  anzupassen. 

Wir  bestreiten  also  keineswegs,  daß  es  eine  historisch  ver- 
wurzelte Rangordnung  gibt;  wir  bestreiten  nur,  daß  ihr  ein  ein- 
heitliches, überhistorisches  Prinzip  zugrunde  liegt.  Auch  die  ob- 
jektivierten Rangordnungen  der  Wertträger  sind  durchaus  relativ. 

6.  Die  historisch  aufzeigbaren  Rangordnungen  ergeben  sich 
also  bei  genauerem  Betrachten  als  Konglomerate  der  heterogensten 
Wertungen  und  sind  weder  logisch  faßbar  noch  von  realer  Dauer, 
vielmehr  beständigen  Schwankungen  unterworfen.  Extensitäts- 
und Exklusivitäts Wertungen,  Autoritäts-  und  Kuriositätswertungen 
durchkreuzen  sich  in  der  seltsamsten  Weise.  Vernunft  wird  Unsinn, 
Wohltat  Plage!  Warum  im  einzelnen  Falle  etwas  zum  Range 
hohen  Wertes  erhoben  worden  ist,  kann  restlos  selten  festgestellt 
werden  und  unterliegt  beständig  weiterem  Wechsel.  Die  Ge- 
schichte notiert  die  Werte,  die  zu  den  verschiedenen  Zeiten  ge- 
golten haben,  und  versucht,  ein  Verständnis  für  die  Wertprinzipien 
zu  vermitteln,  ohne  indessen  selber  von  einheitlichen  Wertprinzipien 
geleitet  zu  werden.  Selbst  dort,  wo  sie  Entwicklungsreihen  kon- 
struiert, sind  diese  nur  zum  Teil  durch  Prinzipien  zu  erschöpfen, 
vielmehr  oft  durchkreuzt  durch  irrationale  Einflüsse,  die  sich  einer 
begrifflichen  Schematisierung  entziehen. 

Sind  nun  die  historisch  gegebenen  Rangordnungen  deshalb 
zu  verwerfen  .?  Wir  glauben  :  Nein !  Als  fiktive  Gebilde  können 
sie  von  hoher  praktischer  Bedeutung  sein,  obwohl  oder  vielleicht 
gerade  weil  ihre  logische  Unzulänglichkeit  eingesehen  wird.  Sie 
erschließen  keine  Notwendigkeit  der  Wertwirkung,  wohl  aber  die 
Möglichkeit  der  Wert  Wirkung.  Indem  sie,  ohne  es  prinzipiell 
zu  begründen,  dartun,  was  zu  hoher  Wertwirkung  gelangt  ist, 
geben  sie  Hinweise  für  die  Möglichkeit,  Werterlebnisse  zu  finden. 
Daß  der   Glaube  an  die  olympischen    Götter  ein  religiöser  Wert 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  369 

war,  beweist  nicht,  daß  er  es  noch  heute  sein  muß;  das  Bekannt - 
sein  dieser  Tatsache  kann  jedoch  auch  solchen  Wertsubjekten,  die 
nicht  in  jener  Wertsphäre  aufgewachsen  sind,  zum  Hinweis  werden, 
daß  hier  eine  WertmögHchkeit  vorlag  und  wenigstens  der  ästhe- 
tische, wenn  auch  nicht  der  religiöse  Zauber  jener  Götterwelt  auch 
späteren  Menschen  noch  nacherlebbar  geworden  ist.  Überhaupt 
ist  für  das  ästhetische  Gebiet  die  Rangordnung  der  Werte,  so 
fiktiv  sie  sein  mag,  doch  von  besonderer  Bedeutung,  weil  sie  die 
Aufforderung  enthält,  sich  in  fremde  Wertungen  einzuleben  und 
so  die  eigene  Wertsphäre  gewaltig  zu  erweitern.  Es  ist  ein  Irrtum, 
zu  glauben,  daß  die  Werte  Dürerscher  Griffelkunst  oder  Bachscher 
Fugenmusik  jedem  Heutigen  sich  mit  elementarer  Gewalt  auf- 
zwingen müßten.  Aber  der  Umstand,  daß  sie  in  der  fiktiven 
Rangordnung  ästhetischer  Werte  hervorragende  Stellen  innehaben, 
bringt  doch  für  sehr  viele  Menschen  auch  heute  noch  den  Anreiz 
mit  sich,  sich  einzuleben  in  die  fremde  Wertung  und  so  das  eigene 
Erleben  zu  bereichern. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  mag  die  Geschichte  fortfahren, 
die  Wertungen  der  verschiedenen  Zeiten  und  Völker  zu  sammeln 
und  zu  vergleichen.  Zu  absoluten  Werten  wird  sie  niemals  vor- 
dringen. Sie  mag  auch  Entwicklungsreihen  aufzeigen,  Höhe-  und 
Tiefpunkte  unterscheiden,  auch  diese  Wertungen  jedoch  werden 
stets  relativ  bleiben.  E^  ist  nicht  richtig,  wenn  von  neueren  Philo- 
sophen behauptet  wird,  Geschichte  sei  nur  Wissenschaft,  wenn 
sie  unter  absoluten  Wertgesichtspunkten  betrieben  wird.  Im 
Gegenteil:  Alle  wahre  Geschichtsforschung  ist  gerade 
Feststellung  der  Relativität  der  Wertungen.  Nur  dann, 
wenn  der  Geschichtsforscher  sich  in  die  verschiedenartigsten  Er- 
lebnisweisen und  Subjekte  hineindenken  kann,  wird  er  den  Geist 
der  Geschichte  erfassen.  Wenn  die  Geschichte  der  Künste,  der 
Religionen,  der  ethischen  Anschauungen  ,, objektive"  Urteile  über 
Richtigkeit  und  Rangordnung  der  Werte  fällt,  so  mag  das  als 
fiktives  Verfahren  seine  Berechtigung  haben,  aber  diese  Fiktionen 
haben  selber  nur  praktischen  Wert,  keine  tiefere  philosophische 
Bedeutung.  Die  philosophische  Erkenntnis  beginnt  vielmehr  erst 
dort,  wo  jene  Fiktionen  durchschaut  werden. 

Wir  ständen  also  der  Tatsache  gegenüber,  daß  es  weder  für 
die  Richtigkeit  noch  für  die  Rangordnung  der  Werte  ein  einheit- 
liches Prinzip  gibt,  daß  die  ,, tertiären"  Stellungnahmen  genau  so 
relativ  bleiben  müssen  wie  die  sekundären  und  primären.     Alles 

Anoalen  der  Philosophie.    I.  -4 


370 


Richard  Müller- Fi eienfels: 


Suchen  nach  einem  solchen  absoluten  Werlprinzip  müssen  wir  als 
falsch  gestelltes  Problem  ablehnen  wie  den  „Stein  der  Weisen". 

Heißt  das  nun  nicht,  uns  in  ewige  Dunkelheit  hinausstoßen  ? 
Heißt  das  nicht,  das  Chaos  proklamieren?  Wir  antworten: 
Nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als  das  Leben  selber  Chaos  und 
Dunkelheit  ist!  Solange  es  Menschen  gibt,  wird  es  verschiedene 
Wertungen  und  Kampf  der  Wertungen  geben!  Immer  wieder 
werden  sich  Wertsetzungen  mit  dem  Anspruch  auf  absolute  Gültig- 
keit erheben,  immer  wieder  aber  werden  sie  als  verkappte  Rela- 
tivitäten entlarvt  werden.  Das  scheint  uns  kein  Grund  zur  Trauer; 
im  Gegenteil,  wir  glauben,  daß  aller  Reiz  des  Lebens  aus  dem 
Widerstreit  der  Werte  kommt.  Eine  Welt,  in  der  alle  Werte  über 
denselben  Leisten  geschustert  würden,  müßte  unerträglich  lang- 
weilig und  öde  sein,  ein  Ideal  für  Schulfüchse  und  enge  Dogma- 
tiker,  aber  für  jeden  lebendigen  Menschen  qualvollste  Enge.  Es 
setzte  nicht  nur,  wie  wir  gezeigt  haben,  völlige  Gleichheit  der 
Individuen  voraus,  es  setzte  auch  voraus,  daß  jedes  Individuum 
stets  sich  selber  gleich  wäre.  Über  Ideale  ist  schwer  zu  streiten! 
Man  möge  sich  aber  ein  Forum  vorstellen,  das  die  Macht  hätte, 
seine  Werte,  und  wären  es  wirklich  die  ,, ewigen"  und  ,, absoluten" 
Werte,  durchzusetzen:  Welcher  lebendige  Mensch  würde  im  Ernst 
geneigt  sein,  sich  dem  unterzuordnen  ? 

Kapitel  V.    Die  absolutistischen  Werttheorien. 

I.  Es  besteht  nun  neben  der  psychologischen  Wertlehre  eine 
Wertphilosophie,  die  aufs  entschiedenste  die  psychologische  Ver- 
wurzelung der  Werte  bestreitet,  dagegen  für  deren  Absolutheit 
eintritt.  Im  Gegensatz  also  zum  Sprachgebrauch  behauptet  diese 
Lehre,  es  gäbe  Werte  an  sich,  Werte,  die  nicht  abhängig  seien 
von  ihrer  Anerkennung  durch  dies  oder  jenes  Subjekt,  die  viel- 
mehr ,, absolut"  gälten.  Bezeichnen  wir  die  bisher  von  uns  be- 
sprochenen psychologischen  Werte  als  ,, bedingte"  Werte,  so  stünde 
ihnen  ein  Reich  ,, unbedingter"  oder  ,, absoluter"  Werte  gegenüber. 

In  die  Terminologie  unserer  bisherigen  Ausführungen  über- 
tragen, würde  diese  Lehre  bedeuten,  daß  es  Wertsetzungen  gäbe, 
die  jenseits  aller  Wertgrundlagen  in  unserem  Sinne  stünden,  viel- 
mehr a  priori  in  der  Seele  vorgebildet  wären.  Während  wir  die 
Wertsetzungen  (auch  die  abstrakten  und  übertragenen)  genetisch 
ableiteten,  wird  von  den  Absolutisten  gerade  diese  psychologische 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  271 

Genesis  bestritten,  ja  meist  verächtlich  zu  machen  gesucht.  Ob 
der  Mensch  psychologisch  in  solch  absoluten  Wertsetzungen  sich 
einzuleben  vermag,  ist  für  diese  Lehre  Nebensache.  Als  Haupt- 
sache gilt  durchaus  die  Ermittlung  der  unbedingten,  apriorischen 
Wertsetzungen. 

Nehmen  wir  zunächst  an,  es  gäbe  neben  den  von  uns  auf- 
gezeigten bedingten  Werten  eine  Welt  der  unbedingten,  so  hätten 
wir  nebeneinander  zwei  unvereinbare  Welten,  die  nur  künstlich 
und  recht  mangelhaft  einander  nahegebracht  werden  können. 
Es  wird  also,  wenn  man  diesen  Dualismus,  der  zudem  keineswegs 
eine  allgemeine  Erfahrung  ist,  vermeiden  will,  notwendig  sein, 
eine  der  beiden  Welten  in  ihrer  Selbständigkeit  auszuscheiden. 
In  der  Tat  haben  fast  alle  Anhänger  der  absoluten  Wertlehre 
diesen  Schritt  getan,  und  zwar  so,  daß  sie  die  Welt  ihrer  absoluten 
Werte  den  bedingten  überordneten  und  diese  letzteren  mehr  oder 
weniger  beiseite  ließen,  wobei  man  sich,  da  sie  in  ihrer  derben  Tat- 
sächlichkeit nicht  einfach  wegzuretuschieren  waren,  des  Verfahrens 
bediente,  sie  als  verächtlich,  armselig  und  lächerlich  hinzustellen, 
ein  Verfahren,  dessen  Wissenschaftlichkeit  an  sich  nicht  sehr  im- 
ponierend ist. 

In  der  äußeren  Erfahrung  aufzeigbar  sind  nur  relative  Werte. 
Wo  immer  Wertungen  mit  dem  Anspruch  auf  Absolutheit  auf- 
getreten sind,  sind  sie  längst  durch  die  Geschichte  als  relativ  er- 
wiesen. Ein  Daseinsgrund  kann  also  für  eine  absolute  Wertung 
nicht  erbracht  werden.  Man  konstituiert  daher  auch  eine  be- 
sondere Kategorie  für  die  Werte,  die  der  Geltung.  Absolute  Werte 
existieren  nicht,  sie  ,, gelten".  Statt  aus  der  äußeren  Erfahrung 
leitet  man  sie  aus  der  inneren  Erfahrung  ab.  Man  entdeckt  in 
sich  die  Forderung  nach  absoluten  Werten,  und  aus  dieser  For- 
derung leitet  man  ihre  Notwendigkeit  ab. 

Man  hat  also,  um  diese  ,, absoluten"  Werte  zu  verstehen,  eine 
besondere  Erkenntnistheorie  oder  Metaphysik  nötig,  und  zwar  eine 
solche,  die  im  Grunde  eine  Welt  außerhalb  des  Bewußtseins  nicht 
anerkennen  kann.  Das  Bewußtsein  hat  durch  seine  eigenen  Be- 
dingungen möglicher  Erfahrung  ihre  wirklichen  Formen  im 
voraus  bestimmt.  Das  System  der  Werte  erschließt  ein  Reich 
des  Transzendenten,  aber  nicht  eines  transzendent  ,, Seienden". 
Das  Wesen  des  Wertes  aber,  das  also  vom  Sein  unabhängig  ge- 
dacht wird,  sucht  man  in  einem  absoluten  Sollen  oder  einem  ab- 
soluten Wollen. 

24* 


372 


Richard  MüUer-Freienfels: 


Es  ist  offensichtlich,  daß  wir  hier  nicht  in  Kürze  eine  Kritik 
eines  so  ausgedehnten  und  geistvollen  Systems,  wie  es  das  hier 
gemeinte  ist,  unternehmen  können.  Das  könnte  nur  in  einer 
Auseinandersetzung  geschehen,  die  weit  über  den  Rahmen  dieser 
Abhandlung  hinausgreifen  müßte. ^) 

Der  Gesichtspunkt,  unter  dem  wir  die  absolutistische  Wert- 
theorie prüfen,  wird  also  nicht  der  sein,  daß  wir  ihre  Fundamente 
oder  Wurzeln  auf  ihre  Tragfähigkeit  untersuchen:  Wir  versuchen 
umgekehrt,  das  System  nach  seinen  Früchten  zu  beurteilen.  Wir 
stellen  die  Frage  nach  den  letzten  Ergebnissen  jener  Lehre,  d.  h. 
wir  fragen,  welche  Werte  denn  auf  solchem  Wege  ermittelt  worden 
sind.-*  Indem  wir  die  so  gefundenen,  angeblich  überempirischen, 
absoluten  Werte  mit  den  in  der  Erfahrung  geltenden,  von  uns 
erörterten  relativen  Werten  vergleichen,  muß  sich  uns  —  so  können 
wir  annehmen  —  die  Möglichkeit  eröffnen,  die  angeblich  arm- 
selige und  beschränkte  Wertung  des  Lebens  nach  einer  unfehl- 
baren Norm  zu  korrigieren.  Vertrauen  wir  uns  also  den  Absolu- 
tisten  an,  glauben  wir  ihnen,  daß  sie  wirklich  eine  Methode  haben, 
die  ew^igen  Werte  zu  ermitteln,  und  sehen  wir  zu,  was  sich  uns 
an  überlegener  Erkenntnis  erschließt! 

Nun  ist  es  von  vornherein  eine  bedenkliche  Tatsache,  daß 
viele  dieser  wertphilosophischen  Untersuchungen  bei  allgemeinen 
Betrachtungen  über  die  Absolutheit  der  Werte  stehen  bleiben, 
ohne  mit  der  Durchführung  des  Prinzips  im  einzelnen  Ernst  zu 
machen.  Wir  werden  uns  daher  an  Münsterberg  halten,  der 
zwar  nicht  der  originellste  dieser  Denkergruppe  ist,  auch  in  wesent- 
lichen Punkten  in  der  Grundfassung  des  Wertprinzips  von  seinen 
Geistesverwandten  abweicht,  der  jedoch  das  geschlossenste  System 
der  absoluten  Werte  ausgearbeitet  hat  und  daher  für  unsere  Zwecke 
am  brauchbarsten  ist. 

Nur  ein  Bedenken  prinzipieller  Natur^  mit  dem  man  uns  kommen 
könnte,  sei  kurz  berührt.  Man  könnte  uns,  die  wir  das  Material  für 
unsere  Wertuntersuchungen  der  äußeren  Erfahrung  entnommen  haben, 
einwenden,  daß  die  Absolutheit  der  Werte  eben  eine  innere  Erfahrung 
sei.  Gibt  es  nicht  in  der  Tat  in  der  Seele  jedes  Menschen  Wertsetzungen, 
die  a  priori  sind,  deren  absolute  Geltung  eine  innere  Gewißheit  uns 
verbürgt?  Wir  antworten:  Nein!  Wenn  wir  Wertsetzungen  in  uns 
vorfinden,  deren   psychologische   Verwurzelung   uns   nicht   bewußt    ist, 

')  Ich  verweise  unter  den  zahlreichen  Ablehnungen,  die  die  absolutistische 
Wcrtlehre  gefunden  hat,  z.  B.  auf  die  Frischeisen-Köhlers  (Wissenschaft  und 
Wirklichkeit,  1910),  der  ich  weitgehend  zustimmen  kann. 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  373 

SO  ist  damit  noch  keineswegs  erwiesen,  daß  eine  solche  niemals  vor- 
handen gewesen  wäre.  Wir  übernehmen  auch  als  Erwachsene  sehr 
leicht  fremde  Wertungen,  ohne  daß  wir  uns  des  Prozesses  dieser  Über- 
nahme immer  bewußt  würden.  (Man  denke  an  die  Modewertungen^ 
denen  wir  uns  meist  unbewußt  anpassen!) 

Die  meisten  allgemeinen  Wertsetzungen  religiöser,  ethischer,  auch 
ästhetischer  Art  gehen  jedoch  bis  in  die  Kindheit  zurück,  wo  uns  der 
Übertragungsprozeß  naturgemäß  noch  weniger  zum  Bewußtsein  kam. 
Aus  dem  Fehlen  der  Bewußtheit  ist  daher  der  Schluß  auf  das  Nicht- 
vorhandensein einer  Übertragung  von  anderen  her  nicht  abzuleiten, 
Wohl  aber  läßt  sich  historisch  und  psychologisch  fast  jede  Wertung, 
die  mit  dem  Anspruch  auf  Absolutheit  aufgetreten  ist,  als  nicht  a  priori 
vorhanden  erweisen.  Darauf,  daß  das  Beiseiteschieben  der  psycho- 
logischen Begründung  selber  ein  Wert  sein  kann,  werde  ich  weiter  unten 
zu  sprechen  kommen. 

2.  In  seiner  ,, Philosophie  der  Werte"  legt  Münster- 
berg ein  sehr  ausgeführtes  System  der  Werte  vor,  das  sich  mit 
der  Regelmäßigkeit  einer  militärischen  Formation  gruppiert.  Man 
wird  gern  den  Geist  und  den  Scharfsinn  anerkennen  mit  dem 
das  alles  durchgeführt  ist.  Aber  die  übersichtliche  Anordnung 
der  24  Wertgruppen  ist  nicht  (ebensowenig  wie  es  die  Zwölfzahl 
von  Kants  Kategorientafel  war)  ein  Beweis  für  ihre  innere  Not- 
wendigkeit. Derartige  ästhetische  Vorzüge  der  Systematik  werden 
meist  durch  Gewaltsamkeit  erzielt,  und  in  der  Tat  ergibt  sich 
denn  auch  bei  genauerem  Hinsehen  vieles  in  Münsterbergs 
Wertetafel  als  gekünstelt. 

So  sind  z.B.  die  ästhetischen  „Einheitswerte":  Harmonie,  Liebe, 
Glück,  ersichtlich  nur  dem  mathematischen  Grundschema  zuliebe  so 
formuliert  worden,  und  daß  z.  B.  von  den  Schönheitswerten,  welche 
„Gegenstand  der  Hingebung"  sind,  die  bildende  Kunst  der  Außenwelt, 
die  Dichtung  der  Mitwelt,  die  Musik  der  Innenwelt  entspricht,  ist  nur 
als  eine  sehr  schematische  Geistreichelei  anzusprechen,  zergeht  jedoch 
wie  Nebel,  sobald  man  fester  zugreift. 

Dasjenige  nun,  worauf  Münsterberg  besonders  stolz  ist, 
und  worin  er  auch  einen  Vorzug  seiner  Wertlehre  gegenüber  der 
Rickertschen  erblickt,  ist  die  Ermöglichung  einer  einheitlichen 
Zusammenfassung  aller  Werte.  Und  zwar  findet  Münster- 
berg diese  im  Prinzip  der  Identität.  Der  absolute  Wille, 
der  auf  die  absoluten  Werte  gerichtet  ist,  zielt  nämlich  auf  die 
Bejahung  einer  unabhängigen  Welt  ab,  die  notwendig  alle  anderen 
Werte  einschheße.  Schlechthin  wertvoll  aber  sei  die  Beziehung 
der  Identität  zwischen  den  wechselnden  Erlebnissen.  Nur  insofern, 
als  solche  Identität  sich  darbiete,  sei  die  Welt  schlechthin  wertvoll. 


374 


Richard  Müller- Freienfels : 


Aus  diesem  Grundprinzip  leitet  Münsterberg  alle  einzelnen  Werte 
ab.  Sie  teilen  sich  in  Werte  der  Erhaltung,  Werte  der  Übereinstimmung, 
Werte  der  Betätigung  und  Werte  der  Vollendung.  Jeder  dieser  Be- 
griffe wird  oft  recht  sophistisch  aus  dem  Grundprinzip  der  Identität 
deduziert.  So  wird  die  Betätigung  z.  B.  gedeutet  als  „Identität  im 
Anderswerden"  und  darunter  unter  anderem  die  Werte  des  Fortschritts, 
der  Wirtschaft,  des  Rechtes  einbegriffen!  Daß  es  bei  all  diesen  Dingen 
keineswegs  immer  in  erster  Linie  auf  Identität  ankommt,  daß  das  Wesen 
des  Fortschritts  oder  der  Sittlichkeit  nicht  im  geringsten  durch  den 
Begriff  der  Identität  erschöpft  wird,  braucht  kaum  bewiesen  zu  werden. 

Es  liegt  uns  hiernicht  ob,  dieMünsterbergschen  Deduktionen 
im  einzelnen  zu  kritisieren.  Es  kommt  uns  nur  auf  das  Grund- 
prinzip an,  das  sich  eben  als  nichtabsolut,  vielmehr  durchaus  als 
relativ  erweist.  Wie  gesagt,  geht  Münsterberg  davon  aus,  daß 
eine  wirkliche  Welt  und  damit  eine  Weltanschauung  nur  möglich 
seien,  wenn  absolute  Werte  angenommen  würden.  Die  Welt  des 
Relativismus,  der  bedingten  Werte,  ist  für  Münsterberg  über- 
haupt keine  Welt,  nur  ein  wertloses,  sinnloses  Zufallsgewirr. 
Münsterberg  behauptet,  daß  jeder  Zweifel  an  absoluten  Werten 
sich  schließlich  selbst  vernichte,  als  Gedanke  sich  selbst  wider- 
spräche, als  Tat  sich  selbst  vereitle,  als  Glaube  sich  selbst  schließ- 
lich aufgäbe.  ,,Kein  Weg  führt  von  dort  zur  Wirklichkeit  der 
anderen  Wesen;  ja,  nicht  einmal  zur  Anerkennung  des  eigenen 
Selbst  jenseits  des  einen  augenblicklichen  Aktes.  Alles  Streben 
und  Streiten  hat  dann  sein  Ziel  verloren."^) 

Man  sieht  leicht  ein,  daß  die  Wahl,  vor  die  Münsterberg 
seinen  Leser  stellt  oder  vielmehr  schon  nicht  mehr  stellt,  nicht 
logisch  entschieden  werden  soll,  sondern  durch  einen  Akt  des 
Glaubens,  und  zwar  erklärt  Münsterberg  gleich  jeden  anders- 
artigen Glauben  für  unmöglich  und  Schlimmeres !  Strenggenommen 
ist  da  nicht  zu  diskutieren.  Aber  dennoch  möchten  wir  wenigstens 
für  jeden  Leser,  der  sich  nicht  selbst  jeden  anderen  Weg  ver- 
rammelt, die  Behauptung  wagen,  daß  doch  auch  andere  Über- 
zeugungen möglich  sind,  ja,  wir  behaupten  sogar,  daß  es  sehr  viele 
Menschen  gibt,  die  in  dieser  anderen  Welt  leben  und  sich  auch 
eine  daran  orientierte  Weltanschauung  bilden. 

Münsterbergs  Forderung  stellt  sich  nämlich  als  Auswirkung 
eines  ganz  individuellen  Temperaments  dar,  eines  psycho- 
logischen Typus,  den  ich  an  anderer  Stelle  als  den  des  ,,  Statikers" 


•)  .Mimsterberg,  a.  a.  0.   S.  38. 


Grtmdzüge  einer  neuen  Wertlehre.  37  c 

bezeichnet  habe.  Ein  solcher  denkt  gemäß  seiner  psychologischen 
Veranlagung  die  ganze  Welt  als  fest,  ruhend,  identisch.  Nur 
Identitäten  sind  für  ihn  Wirklichkeiten.  Für  Münsterberg  ist 
das  Wiederkehren  des  Identischen  die  grundsätzliche  Bedingung 
jeder  Bewertung. 

Es  beweist  aber  die  Geschichte  der  Philosophie  und  des  mensch- 
lichen Geisteslebens  überhaupt,  daß  der  Typus  des  Statikers  nicht 
der  einzige  ist,  daß  es  vielmehr  von  Heraklit  an  bis  Bergson 
stets  auch  ,, Dynamiker"  gegeben  hat,  die  die  Welt  nicht  als  ruhendes 
Gerüst  unverrückbarer  Identitäten  empfunden  haben;  vielmehr 
erschien  sie  ihnen  als  ein  lebendiges  Fließen,  ein  unaufhörlicher 
Wechsel,  eine  bewegte  Unendlichkeit,  und  gerade  dieses  Erleben 
bejahten  sie.  Solche  Denker  bestreiten  den  Wert  der  Identität 
und  kommen  trotzdem  nicht  bei  einem  Chaos  an.  Wenn  Münster- 
berg glaubt,  diesen  Denktypus  mit  verächtlicher  Geste  abschieben 
zu  können,  so  irrt  er.  Selbst  die  Würde,  die  Größe  und  Erhaben- 
heit, die  der  Absolutismus  gern  für  sich  allein  in  Anspruch  nimmt, 
fehlt  dieser  Weltanschauung  nicht.  Oder  sind  wirklich  die  Mannig- 
faltigkeit, die  Bewegtheit,  die  Unendlichkeit  so  viel  geringer  als  die 
starre  Identität,  die  Ruhe,  die  Einheit }  Mag  die  dynamische 
Weltanschauung  auch  nur  auf  einem  Glauben,  einer  Überzeugung, 
auf  individueller  psychologischer  Anlage  beruhen,  so  ist  sie  damit 
doch  nur  in  derselben  Lage  wie  die  statische.  Und  ihre  Frucht- 
barkeit für  das  Leben  ist  darum  nicht  geringer;  denn  es  läßt  sich 
dartun,  daß  die  moderne  Physik,  die  moderne  Entwicklungswissen- 
schaft, die  moderne  Geschichte  und  fast  alle  anderen  Kulturgebiete 
auf  einer  dynamischen  Weltanschauung  beruhen,  und  daß  sich  alle 
diese  Tendenzen  immer  weiter  von  der  allein  seligmachenden  Iden- 
tität entfernen.  Das  ist  keine  subjektive  Annahme,  das  ist  eine 
nachweisbare  Tatsache.^) 

Damit  aber,  daß  wir  neben  der  Identität  noch  andere 
Grundwerte  anerkennen,  und  indem  wir  nachweisen,  daß  es  Welt- 
anschauungen gibt,  die  sich  nicht  in  erster  Linie  auf  jenem  Prinzip 
aufbauen,  ist  bereits  Münsterbergs  Grundposition  erschüttert. 
Seine  Wertung  ist  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ  und  in  einer 
durchaus  persönlichen  Erlebnisweise  verwurzelt. 


^)  Genauere  Analysen  der  Typen  des  ,, Statikers"  und  des  ,, Dynamikers" 
findet  man  in  meinem  demnächst  erscheinenden  Buche;  Persönlichkeit  und  Welt- 
anschauung (Verlag  von  B.  G.  Teubner   1918). 


376 


Richard  Müller-Freieniels: 


3.  Aber  vielleicht  ergibt  das  absolutistische  Verfahren,  wenn 
auch  die  Systematik  im  ganzen  nicht  hält,  in  seinen  Einzelergebnissen 
eine  wesentliche  Förderung?  Gibt  Münsterberg  uns  Klarheit 
in  den  Konflikten  der  Wertung,  lehrt  er  die  echten  von  den  falschen 
Werten  sondern,  erschließt  er  neue  Werte  ? 

Betrachten  wir  also  die  Resultate  der  apriorischen  Grund- 
anschauung! Vermutlich  werden  sie  ganz  andere  sein,  als  die 
psychologisch  bedingten  (verächtlichen)  Werte  des  Lebens  ?  So 
sollte  man  meinen!  Man  wird  jedoch  nicht  wenig  erstaunt  sein, 
wenn  man,  nachdem  man  die  Spekulationen  über  Ewigkeit  und 
Absolutheit  hinter  sich  hat,  sich  plötzlich  wieder  in  der  Welt  der 
bedingten  Werte  befindet,  die  nur  ein  wenig  maskiert  sind.  Das 
einzige  nämlich,  wodurch  sich  die  Werte  Münsterbergs  von 
den  bedingten  Werten  des  Lebens  unterscheiden,  sind  die  neuen 
Namen,  die  sie  bekommen  haben.  Im  übrigen  haben  sie  nur  noch 
die  Besonderheit,  daß  sie  zu  grauen,  leeren  Schemen  verwandelt 
sind,  zu  Abstraktionen  aus  der  bunten  Welt  der  Wirklichkeit, 
die  —  weil  sie  jeder  Mannigfaltigkeit  gerecht  werden  sollen  — 
für  keinen  Einzelfall  mehr  etwas  bedeuten. 

Was  die  neuen   Formeln  für  die  alten  Tatsachen  angeht,  so 
wird   man  auch  hier  Münsterbergs  starker  systematischer   Be- 
gabung alle  Bewunderung  zollen.     Es  liegt  viel  Bestechendes  darin, 
daß  die  scheinbar  so  verworrene  Problematik,  der  wir  uns  sonst 
in    Natur    wie    Kultur    gegenüberfinden,    hier    auf    ganz    einfache 
Formeln  gebracht  ist.     So  definiert  Münsterberg  mit  glänzender 
Dialektik    die    logischen    Werte    als    Daseinswerte    einerseits    und 
(soweit  sie  Kulturwerte,  d.  h.  zielbewußt  geschaffene  Werte  sind) 
Zusammenhangswerte    andererseits.      So    gliedern    sich    ihm,    um 
nur  das  als   Beispiel  zu   erwähnen,   die  ethischen   Werte  in   Ent- 
wicklungswerte einerseits   und   Leistungswerte  andererseits.     Jede 
dieser    Gruppen   unterliegt    wieder   einer   Dreiteilung,    je   nachdem 
ihre  Werte  sich  auf  Außenwelt,  Mitwelt  oder  Innenwelt  erstrecken. 
Sehr  geistreich,  aber  doch  ein   Netz,  dessen  groben  Maschen  die 
tausendfältige  Wirklichkeit  überall  entschlüpft!     Denn  so  bequem 
trennbar,  wie  es  hier  scheinen  will,  sind  die  Wertgebiete  im  Leben 
nicht.    So  verblüffend  einfach  manches  bei  Münsterberg  zunächst 
wirkt,  so  gewaltsam  und  erzwungen  stellt  sich  diese  Einfachheit 
bei  näherem  Betrachten  dar.    Man  liest  da  z.  B.,  daß  die  ,,Leistungs- 
wertc",  soweit  sie  auf  die  Außenwelt  bezogen  sind,  die  Wirtschaft 
ergeben,  soweit  sie  auf  die  Mitwelt  bezogen   werden,   das  Recht, 


Grundzüge  einer  neuen  Wertlehre.  377 

und  soweit  sie  auf  die  Innenwelt  bezogen  werden,  die  Sittlichkeit. 
Aber  hat  es  wirklich  das  Recht  nur  mit  der  Mitwelt,  die  Sittlich- 
keit nur  mit  der  Innenwelt  zu  tun  ?  Gibt  es  nicht  unzählige 
Übergangs-  und  Zwischenwerte,  die  die  Bedeutung  einer  solchen 
Parzellierung  der  Welt  als  leeren  Schematismus  erscheinen  lassen  } 
Und  gerade  solche  Übergangs-  und  Zwischenwerte  geben  die 
schwierigsten  Probleme  auf,  die  allerdings  durch  derartige  pau- 
schale Grenztrennung  nicht  im  geringsten  gefördert  werden.  Aber 
auch  die  neuen  Formeln  für  die  alten  Wertungen  sagen  teils  nichts 
Neues,  teils  sind  sie  schief.  So  ist  die  Erklärung  des  ,, Glückes" 
als  Einheitswert  der  Innenwelt  zum  mindesten  sehr  dürftig.  Die 
Deutung  der  Schönheitswerte  als  ,, Gegenstand  der  Hingebung" 
ist  geradezu  falsch. 

Abgesehen  von  der  Namengebung  kennzeichnet,  wie  gesagt, 
noch  die  ins  Extrem  getriebene  Verallgemeinerung  die  M uns t er- 
ber gschen    Werte.     Wir    begegnen    dabei    dem    schon    oben    auf- 
gedeckten   Denkfehler   wieder,    daß    man    das    tiefste    Wesen   der 
Einzelwertungen    dadurch    auffinden    könne,    daß    man    das    allen 
Gemeinsame  daraus  loslöst.     Als  ob  nicht  das  Wesen  der  Einzel- 
werte meist  gerade  in  ihrer  Verschiedenheit  beruhte!     Gewiß  weist 
Münsterberg  ausdrücklich   die   Absicht   von   sich,   daß   er   etwa 
—  wenn  er  von  der  bildenden   Kunst  spricht  —  eine  wirkliche 
Ästhetik   geben    wolle.      Aber    ist    eine   solche   beabsichtigte    und 
durch  die  Problemstellung  bedingte  Beschränkung  nicht  das  Ein- 
geständnis der  Lebensfremdheit  und  Leerheit  jener  absolutistischen 
Wertformeln }     Was  helfen  uns  die  prachtvollsten  Formulierungen, 
wenn  wir  sie  nicht  anwenden  können .''     Heißt  das  nicht  Nektar 
und  Ambrosia  bieten  für  menschliche  Organismen,   die  sie  nicht 
verarbeiten    können }      Die    bedingte    Wertung    der    Psychologie 
kann    uns    die    interessantesten    Aufschlüsse    darüber    geben,    auf 
Grund  welcher  spezifischen  Einstellungen  die  monumentale  Kunst 
der  alten  Ägypter,   die  zierliche  Anmut   des   Rokoko,   der   Über- 
schwang und  die  abstrakte  Ekstase  der  Hochgotik  und  die  nervöse 
Mystik   des    Symbolismus    entstehen    und    wirken    konnten.      Die 
absoluten  Werte,  äie  Münsterberg  liefert,  versagen  allen  solchen 
Problemen  gegenüber.     Und  selbst  wenn  er  behauptet,  daß  es  gar 
nicht  auf  die  Varietäten,  nur  die  innerste  Einheit  der  Kunst  an- 
käme   (was    man   sehr   energisch    bestreiten    kann),    so   geben   die 
absolutistischen   Abstraktionen   recht   wenig,    um  sie   zu   erhellen. 
Denn   daß   in   der   Kunst   diese   letzte    Gemeinsamkeit,    nicht   die 


378 


Richard  Müller-Freienfels ; 


vielgestaltige  Verschiedenheit  das  Wesentliche  ist,  wird  nicht  be- 
wiesen; wohl  aber  beweist  die  Wirklichkeit  und  die  Geschichte 
der  Kunst  das  Gegenteil. 

Und  ist's  in  der  Ethik,  in  der  Religion  anders  ?  Finden  wir 
nicht,  daß  jede  Lehre,  die  mit  dem  Anspruch  auf  absolute  Gültig- 
keit auftrat,  stets  den  besonderen  Bedingungen  der  Völker  und 
Individuen  angepaßt  werden  mußte,  um  zu  einem  wirklichen 
Werte  zu  werden  ?  Was  ist  irgendeinem  lebendigen  Menschen 
mit  abstrakten  Formeln  geholfen,  sei's  in  Ethik,  sei's  im  Recht 
oder  sonstwo  wenn  sie  nicht  seinen  spezifischen  Bedingungen 
Rechnung  tragen?  Ein  Wert  der  nicht  in  Beziehung  zu  setzen 
ist  mit  den  konkreten  Einzelsubjekten  ist  für  diese  überhaupt 
kein  Wert. 

Dabei  ist  Münsterberg  konsequent  genug,  um  einzusehen, 
daß  diese  abstrakten  Werte  nicht  für  konkrete  Subjekte,  nur  für 
ein  abstraktes  Übersubjekt  Geltung  haben.  In  der  Tat  gipfeln 
in  einem  solchen  Münsterbergs  Entwicklungen.  Aber  ist  dies 
Überich  wirklich  so  absolut,  wie  er  meint .''  Haften  nicht  auch 
diesem  --ehr  bedenkliche  anthropomorphe  Züge  an?  Denn  der 
absolute  Weltwille  ,, verwirklicht  seine  Aufgabe  durch  die  Mensch- 
heit".^) Dieses  tiefere  Wollen  kann  das  Einzelich  als  LT^erzeugung 
in  seinem  eigenen  Erlebnis  finden.  ,, Durch  eigene  Tat  erweitert 
es  sich  zum  Überich!"  Alles  das  ist  weit  davon  entfernt,  wirklich 
absolute  Erkenntnis  zu  sein!  Es  ist  ein  etwas  abstrakter,  aber 
unverkennbarer  Anthropomorphismus  und  schon  darum  schwer 
verträglich  mit  unseren  sonstigen  Erkenntnissen,  die  dem  Menschen 
längst  jene  zentrale  Stellung  in  der  Welt  genommen  haben,  die 
hier  unter  abstrakter  Verkappung  wieder  eingeführt  wird. 

Nein,  betrachten  wir  die  Werte  Münsterbergs  bei  Tages- 
licht, so  ergibt  sich,  daß  sie  gar  nichts  anderes  sind  als  die  psycho- 
logisch ebenfalls  verständlichen  Werte  des  Lebens,  nur  so  ver- 
allgemeinert, daß  alle  individuellen  Züge  davon  abgestreift  sind. 
Einem  solchen  Verfahren  gegenüber  muß  man  doch  die  Frage  auf- 
werfen, ob  es,  wenn  man  durch  ganz  einfache  Abstraktion  von 
den  Gegebenheiten  zu  dem  gleichen  Resultat  gelangen  kann,  nicht 
ein  unnützes  Bemühen  ist,  auf  dem  Umweg  über  eine  sehr  vage 
Ewigkeit  zum  gleichen  Resultate  zu  kommen.  Ist  dies  Verfahren 
nicht  am  Ende  dem  jener  Alchimisten  gleich,   die  ihr   Gold  aus 

*)  Münsterberg,  a.  a.  0.   S.  471. 


Grundzüge  einer  neuen  Wcrtlehre.  370 

solchen  Substanzen  gewannen,  die  vorher  Gold  enthielten,  indes 
doch  angegeben  wurde,  das  Gold  sei  eine  Neuschöpfung  ? 

4.  Trotz  aller  Bedenken,  die  wir  gegen  den  Absolutismus  als 
Basis  der  gesamten  Weltanschauung  vorgebracht  haben  und  die 
sich  leicht  noch  sehr  vermehren  ließen,  wollen  wir  die  Absolu- 
tierung  der  Werte  nicht  ganz  verwerfen.  Wir  erkennen  an,  daß 
die  Absolutsetzung  bedingter  Werte  auf  den  verschiedensten  Kultur- 
gebieten oft  von  hoher  Bedeutung  gewesen  ist.  Wir  haben  auf 
dem  Gebiet  der  Religion,  der  Sittlichkeit,  der  Ästhetik,  der  Wissen- 
schaften, kurz,  fast  überall  als  historisches  Faktum  die  Tatsache 
zu  buchen,  daß  relative  Werte  für  absolut  angesehen  wurden, 
und  daß  für  viele  Menschen,  denen  der  Sinn  für  die  Würde  und 
Größe  einer  ,, dynamischen"  Welt  abging,  die  relativen  Werte 
durch  diese  Absolutsetzung  an  Würde  und  Größe  gewannen.  Wie 
wir  schon  oben  darlegten,  ist  es  stets  ein  Irrtum,  wenn  man  be- 
dingte Werte  (denn  um  solche  handelt  es  sich  immer)  zu  absoluten 
macht.  Aber  auch  ein  logischer  Irrtum  kann,  wie  neuerdings 
Vaihinger  ausführlich  dargetan  hat,  von  Wert  sein  und  in  Vai- 
hingers  Sinne  sehen  wir  in  dem  Begriff  des  absoluten  Wertes 
eine  Fiktion,  allerdings  eine  Fiktion  von  hoher  praktischer  Be- 
deutung.^) 

Wir  kommen  also  zu  der  scheinbar  paradoxen  Formulierung: 
Die  Absolutsetzung  der  Werte  ist  selber  ein  relativer  Wert,  der 
eben  darin  besteht,  daß  sie  zwar  mit  der  Wirklichkeit  im 
Widerspruch  steht,  also  fiktiv  ist,  daß  aber  diese  Fiktion  prak- 
tische Bedeutung  hat,  zweckmäßig  unter  den  verschiedensten 
Gesichtspunkten  ist.  Der  Charakter  der  Absolutierung  als  Fiktion 
kann  und  muß  von  der  Wissenschaft  eingesehen  werden;  denn 
ein  Irrtum  kann  wohl  eine  Zeitlang  nü  zlich  sein,  er  muß  auf  die 
Dauer  jedoch  durchschaut  werden,  wenn  der  Schaden  nicht  den 
Nutzen  überwiegen  soll.  Die  Absolutsetzung  ist  kein  Eigenwert, 
nur  ein  Mittelwert,  um  die  Würde  derjenigen  Werte,  die  absolut 
gesetzt  werden,  zu  steigern.  Sie  hört  daher  auf,  ein  Wert  zu  sein, 
sobald  diese  anderen  Werte  außer  Kurs  geraten.  In  solchem  Fall 
ist  es  eine  notwendige  Arbeit  der  Philosophie,  den  Nimbus  der 
Absolutheit  zu  zerstören  und  deren  fiktiven  Charakter  darzutun. 

Nur  ganz  kurz  sei  der  relative  Wert  der  fiktiven  Absolutierung 
auf  den  verschiedenen   Kulturgebieten  dargelegt.      Es  sei  jedoch 


^)   Vgl.  Philosophie  des  Als-Ob,    191 1. 


3So 


Richard  Müller-Freienfels: 


crleich   bemerkt,    daß   meist   nur   für   Ungebildete  die   Absolutheit 
der  Wertungen  notwendig  ist,  um  an  diese  zu  glauben. 

Zunächst  in  der  Religion!  Es  ist  nicht  ganz  leicht  einzusehen, 
daß  alle  Vorstellungen  und  Begriffe,  die  sich  der  Mensch  vom 
Transzendenten,  von  der  Gottheit  oder  wie  man  immer  die  letzte 
religiöse  Wesenheit  nennen  will,  bildet,  notwendig  nur  symbolisch 
sind,  daß  sie  also  niemals  buchstäblich  wahr  sein  können.  Erst 
eine  gewisse  historische  und  psychologische  Bildung  läßt  das  ein- 
sehen, obwohl  diese  Überzeugung  keineswegs  den  religiösen  Sinn 
und  das  religiöse  Gefühl  aufzuheben  braucht;  im  Gegenteil,  sie 
ist  vielleicht  der  beste  Weg,  die  Religiosität  mit  der  Erkenntnis 
zu  vereinen.  Der  gemeine  Mann  jedoch  will  in  der  Religion  die 
absolute  Wahrheit,  und  so  mag  man  es  verstehen,  wenn  die  Priester 
fast  aller  Religionsformen,  um  das  Volk  beim  Glauben  zu  er- 
halten, ihre  religiösen  Lehren  als  absolut  wahr  und  gut  hinge- 
stellt  haben. 

Ähnlich  wie  in  der  Religion  steht  es  in  der  Ethik.  Auch 
hier  braucht  der  gemeine  Mann  den  Nimbus  von  Würde,  den  in 
seinen  Augen  die  Absolutheit  dem  ethischen  Werte  gibt.  Infolge- 
dessen sind  die  meisten  ethischen  Forderungen  als  absolute  auf- 
getreten, und  zwar  die  allerverschiedensten !  Es  gibt  keine  ethische 
Wertung,  für  die  sich  nicht  eine  kontradiktorisch  entgegengesetzte 
finden  ließe.  Mag  es  bei  den  meisten  Völkern  als  absolute  For- 
derung gelten,  das  Alter  zu  ehren,  so  steht  dem  entgegen,  daß 
bei  den  Fidschiinsulanern  es  eine  ebenso  absolute  Forderung  für 
Greise  ist,  daß  sie  sich  lebendig  begraben  lassen,  um  den  Söhnen 
Platz  zu  machen.  Mag  bei  den  meisten  Kulturvölkern  die  Jung- 
fräulichkeit der  in  die  Ehe  tretenden  Frau  ethischer  Wert  höchsten 
Ranges  sein,  so  steht  dem  entgegen,  daß  bei  vielen  Kulturvölkern 
des  Altertums  die  Tempelprostitution  mit  der  höchsten  religiösen 
und  ethischen  Würde  umkleidet  war. 

Es  gibt  keine  ethische  Wertung,  die  an  sich  den  Charakter 
der  Absolutheit  hätte,  wohl  aber  pflegen  alle  ethischen  Wertungen, 
welcher  Art  sie  auch  seien,  sich  in  den  Nimbus  der  Absolutheit 
zu  hüllen.  Diese  ist  nach  unserer  Lehre  eine  Fiktion,  aber  eine 
sehr  nützliche.  Denn  eine  gewisse  Einheit  der  Wertungen  ist 
Voraussetzung  für  jedes  soziale  Zusammenleben,  und  nur  dadurch 
kann  sich  eine  Wertung  durchsetzen,  daß  sie  sich  als  absolute 
gibt.  So  triumphiert  sie  über  die  ihr  entgegengesetzten  Wertungen, 
die  sich  notwendig  überall  geltend  machen.     .A.llerdings  muß  dieser 


Gnindzüge  einer  neuen  Wertlehre.  38 1 

Triumph  nie  so  völlig  sein  (und  ist  es  in  der  Tat  auch  nie),  daß 
er  alle  anderen  Wertungen  unterdrückte. 

Auch  für  ästhetische  Werte  kann  die  Fiktion  ihrer  Absolut- 
heit Erfordernis  sein.  Dem  schaffenden  Künstler  leiht  der  Glaube, 
daß  er  ewige  und  allgemeingültige  Werte  hervorbrächte,  eine  erhöhte 
Kraft.  Daher  finden  wir  gerade  bei  Künstlern  oft  diese  Blindheit 
gegen  die  Relativität  ihrer  Schöpfungen.  Ein  Richard  Wagner 
war  überzeugt,  daß  er  nicht  nur  ,,ein"  Kunstwerk  schaffe,  nein, 
für  ihn  war  sein  Musikdrama  ,,das"  Kunstwerk,  und  aus  dieser 
Überzeugung  zog  er  jene  übermenschliche  Kraft,  sein  Werk  zu 
Ende  zu  führen.  Fast  jede  Kunstrichtung  tritt  mit  der  Überzeugung 
auf,  die  wahre  und  richtige  Kunst  zu  bringen.  Liest  man  die 
Manifeste  der  ,, klassischen",  der  ,, romantischen",  der  ,, natura- 
listischen" Schulen,  überall  blitzt  das  Bewußtsein  durch,  daß 
man  die  ,, wahre"  Kunst  vertrete.  Daher  rührt  auch  der  Glaube 
der  Künstler  an  ihre  ,, Sendung",  an  ihre  göttliche  Berufung.  Mag 
auch  sehr  bald  die  Geschichte  diesen  Nimbus  zerstören,  sein  prak- 
tischer Erfolg  wird  dadurch  nicht  geschmälert. 

Und  auch  der  Kunstgenießende  unterliegt  dem  Zauber  solcher 
Ansprüche.  Auch  ihm  wird  der  Wert  seines  Genusses  erhöht, 
wenn  er  die  Überzeugung  hat,  es  sei  nicht  eine  beliebige,  es  sei 
eine  ewige  Schönheit,  die  sich  ihm  da  erschließt.  Mit  einem  ge- 
wissen Recht  hat  man  daher  darauf  hingewiesen,  daß  die  Kunst- 
geschichte, mit  ihrer  Aufdeckung  der  Relativität  aller  Schönheits- 
begriffe, die  naive  Genußfähigkeit  herabmindern  könne. 

Natürlich  gilt  von  all  diesen  Absolutsetzungen,  daß  sie  auch 
zu  schweren  Schädigungen  werden  können,  sobald  die  Bedingungen 
ihrer  Wertwirkung  sich  ändern.  Vernunft  wird  Unsinn,  Wohltat 
Plage!  Mag  die  Absolutsetzung  geltender  Werte  zuweilen  ein 
relativer  Wert  sein,  so  ist  die  Zerstörung  dieses  Nimbus  unter 
anderen  Verhältnissen  oft  ein  ebenso  großer  Wert.  Davon  haben 
wir  oben  gesprochen.  Die  Aufgabe  einer  wissenschaftlichen  Philo- 
sophie kann  es  nicht  sein,  mit  dialektischen  Künsten  ein  unmög- 
liches System  absoluter  Werte  aufzubauen!  Ihre  wahre  Aufgabe 
liegt  in  der  Erkenntnis  gerade  der  Relativität  der  Wertungen  und 
eine  solche  Erkenntnis  braucht  an  Würde  nicht  zurückzustehen 
hinter  jenen  trügerischen  Gebilden,  die  eine  trügerische  Ewigkeit 
für  sich  in  Anspruch  nehmen ! 


Philosophie  der  Tat 

Grundriß  einer  autonomistischen  Rechenschaft  und  Ethik. 
(Unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Philosophie  des  Als  Ob.) 

Von 

Dr.  Anton  Wesselsky-Wien. 

Inhaltsübersicht. 

I.  Die   Philosophie   Kants. 

Humes  Erschütterung  des  Kausalitätsprinzipes.  —  Kants  großes  Problem 
von  der  transzendentalen  Synthese.  —  Das  Erwachen  zur  Mündigkeit  und 
die  Befreiung  vom  metaphysischen  Dogmatismus.  —  Kants  Postulaten- 
theorie.  —  Der  höchste  Standpunkt  der  Transzendentalphilosophie. 

II.  Die  allgemeine  Antinomie. 

Der  Einwand  Schulze-Aenesidems.  —  Er  untergrub  Kants  Einfluß.  — 
Aber  er  widerlegt  nicht  dessen  Philosophie.  —  Der  Nachweis  der  allgemeinen 
Antinomie.  —  Die  Unmöglichkeit  letzter  Erkenntnis. 

III.  Der   Zwang  zur  Fiktion. 

Anantinomie  und  Diantinomie.  —  Das  Selbstbewußtsein.  —  Die  Finalität 
und  Fiktionalität  des  Wissens.  —  Vaihingers  Philosophie  des  Als  Ob.  — 
Ihre  sittliche  Bedeutung.  —  Die  gegenteilige  des  Pragmatismus.  —  Nicht 
Wahrheit,  sondern  Wirklichkeit.  —  Das  Denken  als  Tat. 

IV.  Das  autonome  Maß  und  Ziel. 

Von  der  Fiktion  zum  fingierenden  Menschen.  —  Das  metaphysische  Be- 
dürfnis. —  Goethe,  Schopenhauer,  Novalis.  ^  Der  Maßstab  unserer 
Kritik  als  autonome  Gegebenheit.  —  Die  Hüter  des  heiligen  Feuers  der 
Menschheit.  —  Antwort  an  Leopardi.  —  Die  Entdeckung  des  Menschen.  — 
Autonomie  und  Mystik.  —  Dionysius  Areopagita.  —  Schopenhauers 
Metaphysik.  —  Atman.  —  Maja  und  Unrecht.  —  Unser  besseres  Selbst. 

V.  Die  Wirklichkeit  des  Wirkens. 

Die  Tat  als  unsere  Wirklichkeit.  —  Ihr  Einfluß  auf  uns.  —  Auch  Selbst- 
verneinung ist  Willensbejahung.  —  Die  Lüge  als  Willensverneinung.  — 
Cato.  —  Friedrich  der  Große.  —  Die  Tat  als  Antwort  auf  das  metaphysische 
Bedürfnis.  —  Der  Eros  des  Parmenides  und  des  Plato.  —  Piatos  esoterische 
Philosophie.  —  Die  Tat  als  menschliche  Tatsache. 

VI.  Die  subjektive  absolute  Ethik. 

Das  Gebiet  der  Unverbrüchlichkeit  der  Logik  und  des  absoluten  Wissens.  — 
Die  Lebenswesentlichkeit  der  Wahrhaftigkeit.  —  Moralpredigt  und  Ethik.  — 
Das  Denken  als  Tat.  —  Das  Gewissen.  —  Induktive  Gesichtspunkte.  — 
Charakter  und  Geschichte,  Schönheit,  Abstammung.  —  Das  Kind.  — 
Die  Etliik  als  Schutz  und  Zucht.  —  Die  ethische  Hauptaufgabe  der  Päda- 
gogik. —  Fichte.  —  Das  autonome  Wunder.  —  Blutzeugen  nicht  der  Wahr- 
heit, sondern  der  Wahrhaftigkeit.  —  Der  autonome  absolute  Wert  der  Ethik. 


Philosophie  der  Tat.  ^83 

VII.  Das  Als  Ob  in  der  Ästhetik. 

Die  Probe  für  das  autonome  Maß  und  Ziel.  —  Das  Schöne  als  finales  Symbol.  — 
Der  Schluß  vom  Symbol  auf  das  Symbolisierte.  —  Finale  Erklärung  des 
Ästhetischen  in  Natur  und  Leben.  —  Dionysos  und  Apollo.  —  Die  Ästhetik 
als  Fall  der  Philosophie  des  Als  Ob.  —  Der  Weg  vom  Idol  zum  Ideal. 

VIII.  Der    Gang  ins  Unbekannte. 

Tod  und  Tat.  —  Die  Philosophie  der  Geschichte.  —  Der  autonome  Sinn 
der  Geschichte.  —  Die  Entsagungskatastrophe.  —  Geschichtsauffassungen 
und  ihre  Konsequenzen.  —  Haiders  und  Höders  Versöhnung.  —  Der  Weg 
der  Mündigkeit. 


I.  Die  Philosophie  Kants. 

Als  Hume  mit  meisterhaften  Argumenten  die  Geltung  des 
allbeherrschenden  Gesetzes  der  Kausalität  und  die  Realität  des 
Substanzbegriffes  erschütterte,  da  hat  er,  um  Kants  Worte  zu 
gebrauchen,  ein  Erwachen  aus  dem  dogmatischen  Schlummer, 
aber  auch  überhaupt,  wie  wir  hoffen,  eine  philosophische  Rechen- 
schaft angebahnt,  wie  sie  vorausgehen  muß,  wenn  es  dem  Menschen 
gelingen  soll,  mündig  zu  werden.  Vielleicht  geht  man  nicht  zu 
weit,  wenn  man  mit  jenem  Erwachen  den  Anfang  der  neuen  Zeit 
in  Verbindung  bringt  und  für  jenes  Mündigwerden  den  Beginn 
wirklicher  Kultur  voraussieht. 

Aber  trotz  Humes  Einwendung  war  das  Kausalitätsprinzip 
doch  vorhanden  und  nur,  gleichwie  das  logische  Prinzip  überhaupt, 
nicht  aus  der  Erfahrung  zu  schöpfen.  Hume  hat  aber  seine 
Argumentation  von  der  Zufälligkeit  der  Erfahrung  in  dieser  Rich- 
tung nicht  ergänzt  und  ist  so  zu  seiner  Art  von  Skeptizismus  ge- 
langt. Wenn  auch  seine  negative  Beweisführung  unwiderleglich 
war,  so  war  von  ihm  doch  bei  seiner  Ableitung  des  Kausalitäts- 
begriffes aus  der  Gewohnheit  in  dem  subjektiven  Zustandekommen 
dieser  Ableitung  selbst  wieder  eine  Kausalität  vorausgesetzt  worden, 
die  durch  das  Post  hoc  nicht  erklärt  werden  kann,  das  ja,  wie  er 
selbst  feststellt,  von  dem  Propter  hoc  wesentlich  verschieden  ist. 
Übrigens  hätte  auch  die  Tatsache,  daß  ein  Irrtum  in  der  Erfahrung 
überhaupt  eintreten  kann,  dazu  führen  können,  den  Zusammen- 
hang der  Kausalität  mit  unserer  Subjektivität  in  den  Vordergrund 
zu  rücken.^) 

1)  Die  dem  Hume  sehen  Standpunkt  nicht  fernstehenden  Bestrebungen 
Machs  und  anderer,  durch  den  mathematischen  Funktionsbegriff  die  Kausalität 
zu  ersetzen,  verlieren  ihre  entscheidende  Bedeutung  angesichts  der  Unmöglichkeit^ 
das  Zwingende  der  Logik  ebenso  zu  behandeln.  Übrigens  hat  dieser  Funktions- 
begriff   etwas  direkt  Metaphysisches    an    sich,   das    angesichts   seiner  Eigenschaft 


•jgj^  Anton  Wesselsky: 

Kant  war  es  nun,  der,  Humcs  Bedeutung  würdigend,  doch 
die  skeptische  Erschütterung  von  Urteilen,  die  klar  als  zwingende 
erkannt  werden,  nicht  hinzunehmen  vermochte,  eine  Erschütterung, 
die  sich  vor  allem  auf  das  Gesamtgebiet  der  Mathematik  beziehen, 
aber  schließlich  auf  das  logisch  Zwingende  überhaupt  erstrecken 
mußte,  das  ja  die  Erfahrung  ebensowenig  bietet.  In  seiner  tief- 
schürfenden Besonnenheit  stellte  Kant  nun  die  Frage  nach  der 
Erklärung  der  für  ihn  feststehenden  Tatsache  zwingender  synthe- 
tischer Urteile.  Humes  Kritik  drängte  zu  dem  Schlüsse,  daß 
die  Synthese  a  priori  geschehe,  was,  nebenbei  bemerkt,  wie  be- 
kannt, nicht  einen  Vorgang  vor  aller  Erfahrung  bedeutet.  In 
der  transzendentalen  Lösung  und  Beantwortung  dieser  Frage,  wie 
synthetische  Urteile  a  priori  möglich  seien,  hat  nun  aber  Kant 
nicht  nur  die  rätselhafte  Erscheinung  zwingender  synthetischer 
Urteile  erklärt  und  implicite  für  die  Mathematik  die  vollständige 
Lösbarkeit  aller  ihr  wirklich  angehörenden  Probleme  erwiesen, 

Kant  hat  damit  noch  mehr  getan.  Er  hat  die  Menschheit 
mit  seiner  Transzendentalphilosophie  ein  für  allemal  von  der  dog- 
matisierendcn  Metaphysik  sowohl  wie  auch  vom  metaphysierenden 
Dogmatismus  befreit,  zu  welcher  Befreiung  der  Skeptizismus  nie 
genügen  kann,  wie  z.  B.  Bayles  und  Huets  Werke  zur  Ge- 
nüge beweisen  und  wofür  vielleicht  auch  Wahl  es  moderne  Schriften 
herangezogen  werden  können. 

Bedarf  es  einer  Würdigung  dieser  Befreiung }  Ihre  Bedeutung 
geht  aus  der  einfachen  Erwägung  des  unheilvollen  Verhängnisses 
hervor,  das  darin  liegt,  daß  der  Mensch,  statt  in  seiner  Sphäre 
an  jenem  Reiche  zu  wirken,  dessen  Idee  sein  Inneres  erfüllt,  sein 
Trachten  und  Sehnen  in  einem  außerhalb  des  Lebens  Liegenden 
materialisiert.  Er  nimmt  dann  sein  wichtigstes,  edelstes  Be- 
streben als  in  einem  Außerlebendigen  erfüllt  vorweg  und  schafft 
sich  so  eine  absolute  Hypostase,  die  lähmend  seinem  Bereiche 
gegenübersteht.  Er  fühlt  sich  dann  losgelöst  vom  Volke  und  von 
der  Menschheit.^)  Seine  Blicke  sind  dann  abgewendet  von  der  Tat, 
vom  Leben,  in  dem  allein  ihm,  wie  wir  noch  näher  sehen  werden. 


klar  zum  Ausdruck  kommt,  daß  er  zur  Umkehrbarkeit  in  der  Zeit  führt.  —  Vgl. 
Comte,  Cours  de  philosophie  positive  (I.  Bd.,  S.  113):  ,,Toute  question  peut  sans 
deute  etrc  congue  comme  reductiblc  ä  une  pure  question  de  nombres." 

')  Das  Streben  nach  Individualerlösung  oder  nach  individueller  Willens- 
verneinung zu  besprechen,  ist  hier  nicht  der  Ort,  doch  ist  hier  darauf  hinzuweisen, 
daß  ihm  Solidarität,  Mitleid  und  Liebe  entgegenstehen. 


Philosophie  der  Tat.  385 

eine  Antwort  gegeben  ist  auf  die  drängende  Unruhe,  die  für  ihn 
aus  dem  Gegensatze  seines  Wesens  zu  der  Antinomie  entsteht, 
in  deren  Grenzen  ihm  alle  Umwelt  erscheint  und  alle  Erkenntnis 
gehüllt  ist.  Wir  wollen  jene  Hypostasierung,  jene  verhängnis- 
volle Selbsttäuschung,  die  sich  durch  die  Epochen  der  Zivilisation, 
durch  die  Ären  der  Religionen,  durch  die  Äonen  der  Geschichte 
und  durch  die  Etappen  der  Philosophie  in  immer  neuen  Varianten 
nachweisen  und  verfolgen  läßt,  wir  wollen  sie  ein  für  allemal, 
um  sie  vom  Anthropomorphismus  im  guten  Sinne  zu  unterscheiden, 
mit  dem  lateinisch  gebildeten  Worte  Hominismus  benennen. 

Allerdings  ist  es  richtig,  daß  Kant  zeitweilig  auf  dem  Wege 
der  Annahme  theoretischer  Bedeutung  praktischer  Postulate  einen 
Glauben  einführte,  der  freilich  hinwiederum  in  seiner  Wirkung 
gemildert  war  durch  den  Pflichtrigorismus  und  durch  eben  jenes 
Vorangehen  der  Moralität,  auf  die  er  erst  den  Glauben  gegründet  hat. 
Es  ist  bekannt,  daß  Schopenhauer  dieser  Postulatenphilo- 
sophie  ähnliche  Beschwichtigungsmotive  für  zugrundeliegend  hält, 
wie  dem  Bestreben  Humes,  seine  Dialoge  über  die  natürliche 
Religion  als  bloße  Wortstreitübung  zu  erklären.  Schopenhauer 
fährt  dann  über  Kants  Postulatentheorie  weiter  fort  wie  folgt: 
,, Seine  Darstellung,  wenn  wohlverstanden,  besagt  nichts  anderes, 
als  daß  die  Annahme  eines  nach  dem  Tode  vergeltenden  Gottes 
ein  brauchbares  und  ausreichendes  regulatives  Schema  sei  zum 
Behuf  der  Auslegung  der  gefühlten  ernsten  ethischen  Bedeutsam- 
keit unseres  Handelns,  wie  auch  der  Leitung  dieses  Handelns  selbst ; 
also  gewissermaßen  eine  Allegorie  der  Wahrheit,  so  daß  in  dieser 
Hinsicht,  auf  welche  allein  es  doch  zuletzt  ankommt,  jene  An- 
nahme die  Stelle  der  Wahrheit  vertreten  könne,  wenn  sie  auch 
theoretisch  oder  objektiv  nicht  zu  rechtfertigen  sei." 

Kant  hat  die  von  Schopenhauer  hier  dargelegte  fiktive 
Natur  des  Vernunftglaubens  in  seinen  Schriften  der  neunziger 
Jahre  tatsächlich  zum  Ausdruck  gebracht.  Von  vornherein  galt 
ihm  jedoch  eine  Als-Ob-Auffassung  als  bezüglich  der  psycho- 
logischen, kosmologischen  und  theologischen  Ideen  zu  Recht  be- 
stehend, die  er,  wie  ja  dem  Abschnitt  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft über  die  Endabsicht  der  natürlichen  Dialektik  ohne  weiteres 
zu  entnehmen,  im  Sinne  heuristischer  Begriffe  oder  regulativer 
Prinzipien  verstanden  wissen  will. 

In  seinen  nachgelassenen  Schriften  ist  nun  Kant  nicht  nur 
noch  weiter  gegangen  in  seiner  Als-Ob-Auffassnng,  sondern  er  hat 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3 


^86  Anton   Wesselsky: 

dort  unseres  Erachtens  in  letzter  Entfaltung  seines  Urproblems  von 
der  transzendentalen  Synthese  jene  große  Frage  erledigt,  die  schon 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  als  unbegreiflich  hingestellt 
und  später  der  Gegenstand  des  so  verhängnisvoll  gewesenen  Ein- 
wands  Jacobis  und  Schulze-Acnesidcms  geworden  ist.  Es  ist 
das  die  mit  dem  Apriori  der  Kausalität  zusammenhängende  Frage 
nach  der  Verbindung  der  menschlichen  Erkenntnis  mit  der  Außen- 
welt oder,  nach  innen  gewendet,  die  Frage  der  Verbindung  der 
heterogenen  Elemente  des  Denkens  und  der  Anschauung,  der 
antinomistischen  Extreme  von  Form  und  Inhalt,  in  der  diese 
Außenwelt  in  letzter  Linie  sich  bietet,  oder  endlich  überhaupt 
die  Frage  nach  unserer  Antwort  auf  die  für  unsere  Erkenntnis 
ebenso  unerträgliche  als  unvermeidliche  Antinomie.  Diese  pro- 
jiziert sich  im  Sinne  von  Form  und  Inhalt,  oder  von  Geist  und 
Stoff  in  einem  doppelten  Ansich^)  und  dieses  ist  hinwiederum 
jenes  doppelte  Extrem,  das  Kant  in  seinen  nachgelassenen  Schriften 
als  Gott  und  als  Welt  bezeichnet. 

Der  höchste  Standpunkt  der  Transzcndentalphilosophie  ist  es, 
den  Kant  in  seinjm  letzten  Werke  zum  Gegenstande  und  zum 
Titel  nahm  und  er  bezeichnet  ihn  expressis  verbis  als  ein  auto- 
nomes System  von  Gott  und  der  Welt  und  vom  Menschen,  der 
beide  Ideen  synthetisch  vereinigt.  Diese  beiden  Ideen,  die  der 
Mensch  sich  selber  schaffe,  seien  im  höchsten  Grade  heterogen, 
die  eine  der  ganze  übersinnliche,  die  andere  der  ganze  Sinnen- 
gegenstand. Diese  beiden  heterogenen  Objekte  vereinigt  der 
Mensch  in  seinem  Subjekte.^) 


^)  Hier  und  soweit  in  diesem  Abschnitte  die  Antinomie  in  Frage  kommt,  sei 
auf  den  nächsten  verwiesen. 

^  Es  ist  klar,  daß  der  Kantianismus  vulgaris  zu  solcher  Auffassung  nicht 
gelangt  ist.  Es  gelingt  ihm  dies  nicht  besser  mit  der  Würdigung  von  Kants  Philo- 
sophie des  Als  Ob.  Forberg  hat  sie  erfaßt  und  Vaihinger  nennt  ihn  in  seiner 
Philosophie  des  Als  Ob  (S.  752)  nach  einem  Vergleich  mit  Fichte  mit  Recht  den 
Genialeren  und  Konsequenteren.  Seit  Forberg  aber  war  jene  Philosophie  im 
großen  und  ganzen  geradeso  verschollen,  wie  das  ungeprägte  Gold  von  Kants 
philosophischem  Nachlaß.  Für  manche  starke  Seelen  hat  auch  Vaihingers  Philo- 
sophie des  Als  Ob  nicht  genügt  zu  einer  Erfassung  ihrer  Bedeutung.  Man  könnte 
fast  sagen,  daß  die  traditionelle  Auffassung  von  Kants  Philosophie  selbst  ein  Be- 
weis sei  für  die  Kraft  der  Fiktion,  die  an  die  Stelle  der  Wirklichkeit  tritt  und  über 
die  CS  gilt,  sich  Rechenschaft  zu  geben. 

Was  nun  die  hier  dargelegte  Auffassung  Kants  anbelangt,  so  ist  sie  in  meinem 
Buche  ,, Forberg  und  Kant.  Studien  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Als  Ob 
im  Hinblick  auf  eine  Philosophie  der  Tat.    Leipzig  und  Wien  1913"  dargelegt,  dem 


Philosophie  der  Tat.  ^87 

So  liegt  die  wohlvorbcreitete  Kulmination  der  Philosophie 
Kants  in  der  Auffassung,  daß  der  Mensch,  zwar  keineswegs  meta- 
physisch, wohl  aber  praktisch  autonom  sich  selber  seinem  Wesen 
gemäß  die  Antwort  schaffen  soll  auf  die  wesentlichen  in  ihm 
liegenden,  nicht  zu  lösenden  Fragen,  auf  sein  immer  wieder  zur 
Bescheidenheit  mahnendes  metaphysisches  Bedürfnis.  Und  so 
zielt  der  letzte  Schluß  der  Transzendentalphilosophie  auf  die 
autonome  Freistellung  des  Menschen  zum  aufrechten  Gang  in 
eine  unbekannte  Zukunft. 


U.  Die  allgemeine  Antinomie. 

Die  letzten  wichtigen  Gedankengänge  der  Kantschen  Philo- 
sophie sind  seinerzeit  unter  dem  Drucke  der  Angriffe  gegen  die 
Theorie  von  der  Affizierung  der  Sinnlichkeit  durch  das  Ding  an 
sich,  da  doch  nach  derselben  Lehre  Kausalität  nur  auf  die  tran- 
szendentale Erscheinung  bezogen  werden  könne,  unbeachtet  ge- 
blieben. Der  schon  bestandene  weitreichende  Einfluß  der  Philo- 
sophie Kants  wurde  gebrochen^),  diese  für  unhaltbar  gehalten 
und  die  Bahn  freigemacht  für  metaphysische  Systembildungen, 
die  später  zur  langjährigen  Diskreditierung  der  Philosophie  selbst 
und  ihrer  kulturentscheidenden  Aufgabe  geführt  haben,  sich  mündig 
Rechenschaft  zu  geben  über  die  Lage  des  Menschen. 

In  letzter  Linie  liegt  aber  in  dem  eben  dargelegten  sogenannten 
Einwand  des  Aenesidem  keineswegs  eine  Widerlegung  der  Kant- 
schen Philosophie  und  es  ist  schade,  daß,  wie  es  ursprünglich 
Jacobi  geraten  und  wie  es  alsbald  in  der  Ficht  eschen  Rezension 
des  Schulzeschen  Aenesidem,  der  übrigens  ursprünglich  Reimarus 
zugeschrieben  wurde,  geschah,  damals  jene  Richtung  zur  Geltung 
gelangte,  die  dann  den  ganzen  oben  erwähnten  Verlauf  der  philo- 
sophischen Entwicklung  ermöglicht  hat. 

ich  diese  Stelle  ungefähr  entnahm  und  auf  das  ich  insbesondere  auch  in  Hinsicht 
auf   Kants  Opus  postumuni  verweise. 

Die  Annahme  einer  lebendigen,  in  der  Tat  bestehenden  Synthese  heterogener 
Extreme  steht  natürlich  im  vollen  Gegensatz  zu  dem  metaphysisch-hoministischen 
Unternehmen,  solche  Extreme  dadurch  zu  vereinen,  daß  man  dieselben  zum  At- 
tribut einer  metaphysischen,  erkennbaren  Substanz  macht. 

*)  Schon  in  dem  ersten,  nicht  zu  unterschätzenden  Versuche  einer  Geschichte 
der  kritischen  Philosophie,  der  zusammen  mit  einem  eingehenden  Literaturverzeichnis 
der  Materialsammlung  von  Hausius  (Leipzig,  1793)  vorangeschickt  ist,  tritt  das 
ziemlich  deutlich  in  die  Erscheinung. 

25' 


^83  Anton  Wesselsky: 

Kant  hatte  also  die  Kausalität  und  die  Substanz  als  tran- 
szendentale Kategorien  erklärt,  so  daß  wir  uns  keine  Veränderung 
ohne  einen  kausalen  Vorgang  denken  können.  Aber  diese  An- 
nahme bedeutet  gar  nicht  eine  Feststellung  für  Vorgänge  außer 
uns,  möge  dabei  von  Affizierung  unserer  Sinnlichkeit  gesprochen 
werden  oder  nicht.  ,,Ihre  (der  Sinnlichkeit)  Beziehung  auf  ein 
Objekt,  und  was  der  transzendentale  Grund  dieser  Einheit  sei, 
liegt  ohne  Zweifel  zu  tief  verborgen,  als  daß  wir,  die  wir  sogar 
uns  selbst  nur  durch  inneren  Sinn,  mithin  als  Erscheinung  kennen, 
ein  so  unschickliches  Werkzeug  unserer  Nachforschungen  dazu 
brauchen  könnten,  etwas  anderes  als  immer  wieder  Erscheinungen 
aufzufinden,  deren  nichtsinnliche  Ursache  wir  doch  gern  erforschen 
wollten."  So  sagt  Kant  selbst  schon  in  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft^)  und  ferner  ,,Über  die  berüchtigte  Frage  wegen  der 
Gemeinschaft  des  Denkenden  und  Ausgedehnten"  ebenda:  ,,Auf 
diese  Frage  aber  ist  es  keinem  Menschen  möglich,  eine  Ant- 
wort zu  finden,  und  man  kann  diese  Lücke  unseres  Wissens 
niemals  ausfüllen,  sondern  nur  dadurch  bezeichnen,  daß  man  die 
äußeren  Erscheinungen  einem  transzendentalen  Gegenstande  zu- 
schreibt, welcher  die  Ursache  dieser  Art  Vorstellungen  ist,  den 
wir  aber  gar  nicht  kennen,  noch  jemals  einen  Begriff  von  ihm 
bekommen  werden."^) 

Das  Kommerzium  mit  dem,  was  wir  Außenwelt  nennen,  geht 
eben  aller  Erfahrung  voraus  und  Jacobi-Schulzes  Einwand 
trifft  ins  Leere.  Es  ist  uns  beispielsweise  gar  nicht  möglich,  die 
Wirkung  einer  Masse  auf  eine  andere  uns  überhaupt  vorzustellen. 
Eine  Masse  befindet  sich  nach  unserer  Vorstellung  in  einem  Räume 
und  in  diesem  kann  sie  nicht  auf  eine  andere  wirken  und  außer- 
halb dieses  Raumes  ebensowenig.  Gleichzeitig  muß  hierbei  an  die 
eleatischen  Argumentationen  gegen  die  Bewegung  und,  wie  im 
Achillesschlusse,  gegen  die  Kontinuität  erinnert  werden.  Die 
Kausalität  ist  außerhalb  unseres  Denkens  ebenso  lahmgelegt,  wie 
innerhalb  desselben  unvermeidlich.  Wir  suchen  uns,  wie  wir  so- 
eben sahen,  mit  dem  Substanzbegriff  zu  helfen  und  fingieren  für 
die  Außenwelt  das  Ding  an  sich,  bezüglich  dessen  nicht  übersehen 
werden  darf,  daß  Kant  es  in  seinem  Opus  postumum  in  aller 
Klarheit  als  Fiktion  bezeichnet.    Wir  dürfen  aber  solcher  Fiktion 


')  2.  Aufiage  S.  334. 
*;  1 .  Auflage  S.  392. 


Philosophie  der  Tat.  ^89 

nicht  unterliegen,  und  wir  dür{.cn,  wollen  wir  logisch  bleiben, 
Existenzfragen  im  Sinne  des  Bcrkeleyschen  Idealismus  gar  nicht 
stellen.  Für  jenes  ganz  und  gar  üabekannte  außer  uns,  auf  das 
wir  unsere  Begriffe  von  Sein  und  Wahrheit  gar  nicht  anwenden 
sollen,  bleibt  uns  allein  nur  das  ignorare. 

Daß  unsere  rationale  Tätigkeit  zu  einem  erschöpfenden  Ver- 
ständnis  der  äußeren  Vorgänge  gar  nicht  gelangen   kann,   ergibt 
sich    übrigens   von   vornherein   aus   folgender   Erwägung.      Unsere 
Begriffe  sind  untereinander  verbunden  und  geschieden  nach  Um- 
fang und  nach  Inhalt  und  können  weder  des  einen  noch  des  anderen 
entbehren.     Die  denkende  Erfassung  der  Außenwelt  würde,  logisch 
gesprochen,   die  Bildung  von  Begriffen  mit  letztem,   größtem   In- 
halt bedingen,  die  zugleich,  um  alle  verbunden  werden  zu  können, 
größten  Umfang  haben  müßten.    Es  ist  klar,  daß  eines  das  andere 
ausschließt  und  daß  Umfang  und   Inhalt  unserer  Begriffe  im  ent- 
gegengesetzten Verhältnisse  stehen.     Schon  die  Tatsache  des  Be- 
stehens von  Umfang  und   Inhalt  in  unserer  Begriffswelt  bedeutet 
also  den  Du  lismus.     Sie  entspricht  dem  Dualismus  von  Denken 
und  Anschauung  bei   Kants   transzendentaler   Synthese.     Wollen 
wir  zum  letzten  Extrem  schreiten,  so  gelangen  wir  nur  zu  einem 
Duplum,    einerseits    einer   alles    umfangenden,    jedes    Inhaltes    bar 
gewordenen    Form,    andererseits    einer    alles    beinhaltenden,    jedes 
Umfanges    entbehrenden    Artung.      Gott    und    Welt,     Geist    und 
Stoff    mag    man    diese    Extreme    nennen,*)     Nach    ihnen    bilden 
sich    die    einseitigen    Weltanschauungen    des    Spiritualismus    und 
des    Materialismus,    die    beide    nur    insofern    monistisch    sind,    als 
sie     neben     der     dogmatischen     Naivetät     ihres     Bestandes     das 
gleiche     Recht     oder     richtiger     Unrecht     der     entgegengesetzten 
Weltanschauung  übersehen.     Wo  immer  die  Wissenschaft  glaubt, 
einen     endgültigen     Halt     gewonnen     zu     haben,     da     schwindet 


^)  Was  Kant  über  diese  Extreme  einerseits  und  den  Menschen  andererseits 
im  Opus  postumum  gesagt  hat,  wurde  schon  besprochen.  Jetzt  sei  daraus  (Con- 
vol.  VI,  2)  folgende  Stelle  zitiert:  ,,Hier  müssen  wir  uns  erinnern,  daß  wir  den  end- 
lichen, nicht  den  unendlichen  Geist  vor  uns  haben.  .  .  .  Ein  solcher  Geist  wird  mit 
dem  Triebe  nach  Form  und  nach  dem  Absoluten  einen  Trieb  nach  Stoff  oder  nach 
Schranken  verbinden,  als  welche  die  Bedingungen  sind,  ohne  welche  er  den  ersten 
Trieb  weder  haben,  noch  befriedigen  könnte.  Inwiefern  in  demselben  Wesen  zwei 
so  entgegengesetzte  Tendenzen  zusammen  bestehen  können,  ist  eine  Aufgabe,  die 
zwar  den  Metaphysiker,  nicht  aber  den  Transzendentalphilosophen  in  Verlegenheit 
setzen  kann." 

In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  heißt  es  (2.  Aufl.  S.  682):  ,,Dem  logischen 


■iQO  Anton  Wesselsky: 

zuletzt  der  Boden  unter  den  Füßen. ^)  Absolute  Naturgesetze 
sind  uns  verschlossen.  Letztes,  einhelliges,  widerspruchsloses,  ob- 
jektives, ruhiges  Wissen  ist  uns  nicht  möglich.  Wir  müssen  uns 
mit  Fiktionen  behelfen.  Eine  durchgängige  Antinomie  beherrscht 
unser  Erkennen. 


Prinzip  der  Gattungen,  welches  Identität  postuliert,  steht  ein  anderes,  nämlich 
das  der  Arten  entgegen,  welches  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der  Dinge 
unerachtet  ihrer  Übereinstimmung  unter  derselben  Gattung  bedarf  und  es  dem 
Verstände  zur  Vorschrift  macht,  auf  diese  nicht  weniger  als  auf  jene  aufmerksam 
zu  sein.  .  .  .  Die  Vernunft  zeigt  hier  ein  doppeltes,  einander  widerstreitendes  Inter- 
esse: Einerseits  das  Interesse  des  Umfanges  (der  Allgemeinheit)  in  Ansehung  der 
Gattungen,  andererseits  des  Inhaltes  (der  Bestimmtheit)  in  Absicht  auf  die  Mannig- 
faltigkeit der  Arten,  weil  der  Verstand  im  ersteren  Falle  zwar  viel  unter  seinen  Be- 
griffen, im  zweiten  aber  desto  mehr  in  denselben  denkt." 

Kant  meint  (Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.  S.  29),  daß  die  zwei  Stämme 
der  menschlichen  Erkenntnis  ,, vielleicht  aus  einer  gemeinschaftlichen,  aber  uns 
unbekannten  Wurzel  entspringen".  Ausdrücklich  sagt  er  aber  (ebenda,  S.  694ff.), 
daß  das  dadurch  begründete,  zwiefache  Interesse  der  Vernunft,  daß  deren  Maximen, 
die  in  entgegengesetzter  Richtung,  nämlich  in  Hinsicht  auf  Mannigfaltigkeit  und 
Einheit  bestehen,  einen  Widerstreit  bedeuten,  so  wie  sie  nicht  bloß  regulativ,  sondern 
konstitutiv  und  in  Hinsicht  auf  objektive  Einsicht  genommen  werden.  — 

Wenn  auch  Hegels  Lösung  der  allgemeinen  Antinomie  durch  seine  meta- 
physische Logik  im  absoluten  Geiste  nicht  hierher  gehört,  so  ist  doch  sein  folgender 
Ausspruch  (Enzyklopädie,  §48)  zu  zitieren:  ,,Die  Hauptsache,  die  zu  bemerken 
ist,  ist,  daß  nicht  nur  in  den  vier  besonderen,  aus  der  Kosmologie  genommenen 
Gegenständen  die  Antinomie  sich  befindet,  sondern  vielmehr  in  allen  Gegenständen 
aller  Gattungen,  in  allen  Vorstellungen,  Begriffen  und  Ideen.  Dies  zu  wissen  und 
die  Gegenstände  in  dieser  Eigenschaft  zu  erkennen,  gehört  zum  W^esentlichen  der 
philosophischen  Betrachtung." 

Vgl.  auch  Plato,  Politeia,  507  (VI.  18):  Über  Protagoras:  Diog.  Laert.  IX.  51. 
tJber  die  Pythagoräer  und  Alkmänn:   Aristoteles.  Metaphysik   I.  5. 

^)  Nichts  ist  bezeichnender  für  die  Labilität  anscheinend  festgefügter  natur- 
wissenschaftlicher Lehren,  als  die  Leichtigkeit,  mit  der  sie  erschüttert  werden  können. 
Die  Wirkung,  die  die  Lorentz-Einstein-Minkowskischen  Relativitätstheorien 
in  dieser  Richtung  hatten,  die  durch  sie  in  gewissem  Sinne  herbeigeführte  Krise 
in  der  modernen  Naturwissenschaft  und  deren  plötzliche  Orientierung  in  der  Rich- 
tung einer  zum  Teil  gewiß  nicht  ungesunden  Relativität,  das  alles  ist  ein  drastisches 
Beispiel  für  jene  Labilität. 

Die  Relativitätstheorien  schließen  sich  eng  an  Hume  an  und  müssen  im 
Skeptizismus  untergehen,  wenn  sie  im  Meere  der  bloßen  Beziehungen  das  Steuer 
des  eigenen  zentralen,  wenn  auch  keineswegs  metaphysischen  Parameters  übersehen. 

Die  oben  bezeichneten  Relativitätstheorien  gründen  sich  eigentümlicher- 
weise auf  ein  angeblich  absolutes  Geschwindigkeitsmaximum  (des  Lichtes),  was 
nicht  nur  ihrem  Namen  gründlich  widerspricht,  sondern  auch  von  vornherein  ebenso 
fraglich  erscheint,  wie  die  von  diesen  Theorien  geübte  Ersetzung  logischer  Einsicht 
durch  mathematische  Formeln. 


Philosophie  der  Tat.  29 1 

III.  Der  Zwang  zur  Fiktion. 

Der  Mensch  vereinigt  synthetisch,  wie  ausgeführt,  die  anti- 
nomistischen  Gegensätze,  er  unterhegt  ihnen  nicht,  er  schaltet 
sie  aus  auf  seinem  eigenen  Gebiete;  jedoch  aus  der  Welt  zu  schaffen 
vermag  er  sie  nicht.  Von  einem  antinomielosen  Zustande,  von 
einer  einhelligen,  metaphysischen  Erkenntnis  kann  keine  Rede 
sein.  Der  Mensch  hat  keine  Erkenntnis  im  Sinne  einer  notio 
utriusque,  sondern  nur  eine  Kenntnis  inter  utrumque.  Es  kann 
nicht  von  einer  Anantinomie,  wohl  aber  darf  von  einer  Dianti- 
nomie  gesprochen  werden.  Dieser  Begriff  soll  des  weiteren  zur 
Bezeichnung  der  Sachlage  dienen.^) 

Die  Diantinomie  liegt  im  Sinne  der  oben  vorhergegangenen 
Ausführungen  in  der  vorrationalen  Verbindung  des  Denkenden 
mit  dem  Ausgedehnten,  von  der  anderen  Seite  genommen  des 
Erkennenden  mit  dem  ,, Erkannten".  Zwischen  der  vegetativen 
Bindung  des  Stoffes  in  unserem  Leibe  und  unserer  mehr  oder 
weniger  willkürlichen  Einflußnahme  auf  Leib  und  Außenwelt  ist 
dabei  ein  Unterschied  nur  dem  Grade  nach  anzunehmen.  Im 
Selbstbewußtsein  ist  aber  jene  Verbindung  des  Erkennenden  mit 


Auch  der  Konsequenzenj  die  die  Entdeckung  der  Radioaktivität  in  den  physi- 
kalischen Doktrinen,  zum  Teil  vorübergehend,  zum  Teil  andauernd  mit  sich  ge- 
bracht hat,  ist  an  dieser  Stelle  zu  gedenken. 

Endlich  darf  vielleicht  auch  angemerkt  werden,  daß  die  Newtonsche  Gravi- 
tationstheorie neben  der  modernen  sogenannten  Elektronentheorie  nur  dann  be- 
stehen kann,  wenn  die  Anziehung  der  ungleichen  Elektronen  größer  angenommen 
wird,  als  die  Abstoßung  der  gleichen  (positiven  oder  negativen).  Hierbei  ist  an 
die  Theorien  von  Boscovich  über  die  Abstoßung  und  Anziehung  und  von  Kant 
zu  erinnern  über  das  verschiedene  Wachsen  von  Anziehung  und  Abstoßung  bei  sich 
ändernder  Entfernung. 

Angesichts  der  Rolle,  die  beim  Gesetze  von  der  Erhaltung  der  Energie  die 
sogenannte  tote  potentielle  Kraft  spielt,  wird  es  notwendig  sein,  ein  Gesetz  von 
der  Erhaltung  der  Bewegung  einzuführen,  aus  welchem  sich  dann  abermals  Labi- 
litäten der  Doktrinen  ergeben  müssen. 

Labilisiert  wird,  was  keine  Stabilität  besitzt.  Sich  von  dogmatischen  Auf- 
fassungen zu  befreien,  die  in  der  Natur  der  Sache  nicht  begründet  sind,  ist  aber 
auch  in  Hinsicht  auf  die  technische  Beherrschung  der  Umwelt  durch  Entdeckungen 
und  Erfindungen  zweifellos  sehr  wichtig.  Die  letzte  Verknüpfung  der  äußeren 
Vorgänge  mit  unserer  Erkenntnis  derselben  bleibt  uns  freilich  nach  wie  vor  ebenso 
Geheimnis,  wie  das  Wesen  dieser  Vorgänge  selbst. 

1)  Dahlmann  (Nirwana,  S.  6i)  sagt:  Das  Ideal,  das  in  Nirwana  ausgemalt 
wird,  läßt  sich  in  das  eine  Wort  nirdvandva,  ,, losgelöst  von  allen  Gegensätzen", 
zusammenfassen . 


2Q2  Anton  Wesselsky: 

dem  Erkannten  in  der  Form  der  Identität  gegeben.  Schopen- 
hauer wird  nicht  müde,  diese  Identität  das  Wunder  kat'  exochen 
zu  nennen.^)  Wir  haben  darüber  schon  oben  gesprochen  und 
wollen  Wiederholungen  vermeiden,  so  daß  der  Hinweis  genügen 
muß.  Genug,  im  Selbstbewußtsein  liegt  der  Fall  unmittelbaren 
Wissens  von  jener  vorrationalen  Verbindung  vor.  Doch  immer 
nur  eine  Kenntnis  des  Daß  ohne  Erkenntnis  des  Was,  die  nicht 
ausreicht  zur  Hypostasierung  der  menschlichen  Diantinomie  im 
Sinne  eines  metaphysischen  Voluntarismus. 

Der  Sinn  der  Erforschung  der  Umwelt  muß  angesichts  der 
allgemeinen  Antinomie  ein  anderer  sein,  als  der  der  objektiven 
Wahrheit,  die  uns  verhüllt  bleibt,  ja,  die  wohl  selber  nur  ein 
finaler  Begriff  ist.  Wir  suchen  uns  die  Natur  dienstbar  zu  machen, 
ohne  sie  erkennen  zu  können.  Wir  treten  ihr  in  unserem  Sinne 
gegenüber  und  fingieren,  um  uns  überhaupt  betätigen  zu  können, 
Widerspruchslosigkeit,  wo  nur  Oberflächlichkeit  vorliegt.  So  be- 
kommt der  banale  Spruch,  daß  Wissen  Macht  ist,  einen  gar  tiefen 
Inhalt.  Es  handelt  sich  freilich  in  Wirkhchkeit  nicht  um  ein 
Wissen,  sondern  um  ein  Wirken  unseres  eigenen  Wesens  in  der 
uns  umgebenden  Welt,  um  kein  Begreifen  im  erkennenden  Sinne, 
sondern   im    Sinne   eines    Zurechtfindens    in   der  Außenwelt. 

Der  naive  Mensch  nimmt  Kenntnis  für  Erkenntnis  und  be- 
ruhigt sich  und  fühlt  sich  wohl  dabei,  bis  er  nach  langem  Ringen 
mit  den  nicht  zu  überwindenden  Widersprüchen  zur  bescheidenen 
Einsicht  gelangt,  und  nach  abermaliger  Frist  dann  seinen  eigenen 
Maßstab  ^^iirdigt,  der  ihn  diese  Widersprüche  überhaupt  erkennen 
läßt.  So  hat  er  zuerst  auch  die  Erde  als  Zentrum  des  Weltalls 
genommen  und  dieses  als  für  den  Menschen  geschaffen.  So  hat 
er  das  Allerhöchste  für  selbstverständlich  gehalten  und  das  Ge- 
waltigste als  erreicht.  Wenn  aber  sein  Wesen  hart  an  den  Wider- 
sprüchen sich  stieß,  dann  hat  er  sich  mit  jenen  transzendenten 
Hypostasen  betäubt,  die  wir  Hominismus  nannten,  und  hat  immer 
wieder  die  Augen  davor  geschlossen,  auf  sich  selbst  gestellt  zu 
sein.  Er  wehrt  sich,  seine  Kenntnis  anders  denn  als  Erkenntnis, 
sondern  als  seine  Waffe,  sein  Wissen  anders  denn  als  Gewißwissen, 
sondern  als  ein  finales  und  symbolisches  im  Sinne  seines  eigenen 

^)  Z.  B.  Satz  vom  Grunde,  §  42:  .  .  .  ,,eine  wirkliche  Identität  des  Erkennenden 
mit  dem  als  wollend  Erkannten,  also  des  Subjektes  mit  dem  Objekte  ist  unmittelbar 
gegeben.  Wer  aber  das  Unerklärliche  dieser  Identität  sich  recht  vergegenwärtigt, 
wird  sie  mit  mir  das  Wunder  kat'  exochen  nennen.'" 


Philosophie  der  Tat.  ^q'J 

Wesens  zu  nehmen,  als  ein  Wissen,  dessen  Fiktionen  nicht  mehr 
für  wahr  zu  halten  eine  Vorbedingung  ist  für  seine  Mündigkeit 
und  für  die  Entdeckung  seiner  Heimat,  das  ist  seiner  selbst. 

So  enthält  die  Nachweisung  der  allgemeinen  Antinomie  von 
vornherein  auch  die  Nachweisung  des  Als-Ob-Charakters  unserer 
Erkenntnis. 

Es  ist  nun  eine  sittliche  Aufgabe  ohnegleichen,  sich  Rechen- 
schaft zu  geben  über  den  Charakter  dessen,  was  man  gewohnt 
war,  als  Erkenntnis  hinzunehmen  ohne  daß  es  Erkenntnis  ist. 
Diese  Rechenschaft  gewährt  bis  ins  einzelne  Vai hingers  Philo- 
sophie des  Als  Ob.  Mit  ihr  geht  es  aber  ähnlich,  wie  mit  der 
Philosophie  überhaupt.  Oberflächlich  betrieben,  führt  diese  so 
leicht  zum  materialistischen  oder  spiritualistischen,  doch  immer 
monistischen  Dogmatismus  in  der  Richtung  des  einen  oder  des 
anderen  antinomistischen  Extrems,  und  oberflächlich  angesehen, 
hat  die  Philosophie  des  Als  Ob  für  die  Erkenntnistheorie  zu  Auf- 
fassungen geführt,  wie  sie  für  die  Ethik  der  Pragmatismus  und 
ähnliche  Lehren  mit  sich  bringen,  die  in  der  letzten  Zeit  durch 
den  bekannten  Esprit  de  corps  die  ebenfalls  bekannte  Eintags- 
und Journalkarriere  gemacht  haben.  Der  Pragmatismus,  dem 
die  Nützlichkeit  von  Fall  zu  Fall  das  Sittengesetz  ist,  der  von 
,, philosophischen  Kassenwerten"  spricht  usw.,  gleicht  einem  Bau- 
meister, der  die  Regeln  des  Baues  dem  Hause  entnehmen  will, 
das  er  zu  erbauen  hat,  und  ist  eine  Lehre  der  Dekadenz  und  des 
Parasitismus.  Ein  Volk,  das  dem  Pragmatismus  gemäß  für  wahr 
hielte,  was  ihm  ,, moralische  Ferien"  gewährt, i)  das  ginge  dem  Ver- 
falle entgegen  und  setzte  den  Profit  der  Stunde  an  die  Stelle  des 
Erfolges  der  Tat.  ,, Jedoch  sollen  hier  keineswegs  als  über  ein  in- 
auditum  nefas  die  Götter  angerufen  werden:  ist  doch  dies  alles 
nur  eine  Szene  des  Schauspiels,  welclie  wir  zu  allen  Zeiten,  in 
allen  Künsten  und  Wissenschaften  vor  Augen  haben,  nämlich 
den  alten  Kampf  derer,  die  für  die  Sache  leben,  mit  denen,  die 
von  ihr  leben,  oder  derer,  die  es  sind,  mit  denen,  die  es  vorstellen."*) 
.,Alle  falsche  Kunst,  alle  eitle  Weisheit  dauert  ihre  Zeit;  denn 
endlich  zerstört  sie  sich  selbst,  und  die  höchste  Kultur  derselben 
ist  zugleich  der  Zeitpunkt  ihres  Unterganges."^ 

^)  Die  zitierten  Ausdrücke  sind  entnommen  aus  James,  Pragmatismus,  deutsch 
von  Jerusalem,   1907. 

*)  Schopenhauer,  Parerga  I.  S.  141. 
')  Kant,  Prolegomera,  Ak.-A.,  S.  366, 


^Qj^  Anton  Wesselsky: 

Die  Philosophie  des  Als  Ob  dient  der  Wahrhaftigkeit.  Sie 
ist  ein  lebendiger  Trieb  aus  der  echten  Wurzel  der  Kantischen 
Philosophie  und  nicht  dazu  da,  um  das  zu  stützen,  dessen  Halt- 
losigkeit sie  selber  begründet.  Sie  ist  eine  Rechenschaft  über  den 
fiktiven  und  weitgehend  autonomen  Charakter  unserer  Erkenntnis. 

Indem  sie  die  Fiktion  als  das  bezeichnet,  was  sie  ist,  wird 
sie  aber  auch  zur  Förderin  der  Mündigkeit. 

Wenn  wir  sehen,  daß  die  Logik  nur  in  Hinsicht  auf  die  Ethik 
unverbrüchlich  ist,  so  wird  uns  die  Philosophie  des  Als  Ob  in  ähn- 
lichem Sinne,  wie  Kant  meinte,  daß  er  ,,das  Wissen  aufheben 
mußte,  um  zum  Glauben  Platz  zu  bekommen",  zur  Waffe  im 
Kampfe  der  Ethik  gegenüber  der  überragenden  Rolle  angeblicher 
Metaphysik,  im  Kampfe  des  Lebens  und  der  Tat  gegenüber  dem 
überragenden  Einflüsse  des  Intellektualismus.  Doch  ist  von  all 
dem  später  zu  sprechen,  vor  allem  auch  davon,  daß  wir  fort- 
schreiten müssen  von  der  Finalität  zum  Subjekte  derselben,  vom 
Fingere  zum  Fingens,  vom  Leben  zum  Lebendigen,  von  der  Fiktion 
zu  dem,  der  sich  ihrer  bedient. 

Hier  aber  muß  es  genügen,  das  Fazit  zu  ziehen  und  darauf 
zu  verweisen,  daß  es  unserem  Verstand  nicht  verstattet  ist,  mit 
Wahrheiten,  sondern  nur  mit  Fiktionen,  im  übrigen  aber  mit 
Wirklichkeiten  zu  arbeiten,  daß  das  Erkennen  final  und  daß  seine 
Wirklichkeit  das  Wirken  ist;  das  Denken  selber  aber  eine  Tat. 

IV.  Das  autonome  MalJ  und  Zieh 

So  gelangen  wir  nun  von  der  Fiktion  zu  uns  selbst  als  fingierenden 
Menschen.  Wir  sehen,  daß  wir  nichts  wissen  können.  Wir  wandeln 
in  einem  großen  Geheimnis.  Wir  finden  nur  überall  Widerspruch, 
der  ins  menschliche  Dasein  hineingreift,  trostloses  Stückwerk, 
lastende  Unbegreiflichkeit.  Seit  die  Menschheit  zu  denken  ver- 
mag, ist  ihr  erschreckendes  Vermissen  zuteil,  und  nicht  minder 
von  Jugend  auf  dem  einzelnen  Menschen.  Er  erkennt  sein  Leben 
als  einen  Augenblick  mit  einer  Ewigkeit  vorher  und  einer  Ewig- 
keit nachher.  Fragen  in  allen  Sprachen  und  in  allen  Formen  nach 
dem  Woher  und  Wohin  und  Warum  und  Wozu,  und  keine  Ant- 
wort, als  die  die  Menschheit  sich  selber  gibt.  Die  Lohe  dieser 
Unruhe  ist  stärker  als  alle  löschenden  Taufgewässer.  Die  Stimme 
dieser  Bangigkeit  ist  unüberhörbar,  wie  nächstes,  eindringlichstes 
Fliistern,    wie    tobende,    tosende    Sturmflutbrandung,    die    schließ- 


Philosophie  der  Tat.  395 

lieh  alles  mit  sich  reißt.  In  den  weihevollen  Tempeln  herrscht 
der  ,, totenstille  Lärm"  der  metaphysischen  Not,  die  nach  dem 
Erwachen  aus  der  Betäubung  immer  wieder  wie  mit  Feuerzungen 
hindurchspricht. 

Denn  unser  Selbst  ist  es,  aus  dem  diese  Sprache  sich  durch- 
ringt, unser  ureigenes  Wesen  ist  es,  aus  dem  diese  Flamme  hervor- 
bricht. Wie  Goethe  in  der  Farbenlehre  den  alten  Mystiker  (Plotin) 
übersetzt:  ,,Wär'  nicht  das  Auge  sonnenhaft,  die  Sonne  könnt  es 
nieerbhcken;  lag'  nicht  in  uns  des  Gottes  eigne  Kraft,  wie  könnt' 
uns  Göttliches  entzücken?"  Schopenhauers  so  scharfe  Beob- 
achtung, daß  ältere  Gesichter  den  Ausdruck  des  Disappointement, 
der  enttäuschten  Hoffnung,  an  sich  tragen^),  ist  eine  interessante 
Bestätigung  für  den  Maßstab,  den  der  Mensch  mit  sich  in  die 
Welt  bringt,  und  im  Gegensatz  zu  welchem  ihn  diese  mit  unerträg- 
lichem Widerspruch  anschreit.  Unser  nach  Einhelligkeit  dürstendes, 
lechzendes  Wesen,  das  ganze  Kerkerempfinden,  mit  dem  wir  der 
Antinomie  gegenüberstehen,  beweist,  daß  wir  in  unserem  ureigen- 
sten Wesen,  in  unserem  besseren  Selbst,  ein  Tertium  comparationis 
haben,  das  unsere  Kritik  erst  möglich  macht  und  eine  Bürgschaft 
ist,  die  eben  dieser  Kritik  als  ihre  Quelle  und  als  ihr  Ausgangspunkt 
stand  hält  und  gleichzeitig  einen  unverrückbaren  Maßstab  be- 
deutet für  unser  Verhalten.  ^) 

Es  darf  hier  die  epigrammatische  Antwort  zitiert  werden, 
die  der  Inschrift  am  Standbild  der  verschleierten  Isis,  wie  sie 
Plutarch  mitgeteilt  und  Schiller  nachgedichtet  hat,  Novalis 
entgegenhält:  ,, Einem  gelang  es,  er  hob  den  Schleier  der  Göttin 
von  Sais.  Aber  was  sah  er  ?  Er  sah,  W'under  des  Wunders,  sich 
selbst."  Oder  wie  Angelus  Silesius  anders  sagt:  ,,Ich  weiß, 
daß  ohne  mich  Gott  nicht  ein  Nu  kann  leben;  werd  ich  zunicht, 
er  muß  vor  Not  den  Geist  aufgeben." 

Mit  unserem  Maßstab  erst,  mit  dieser  autonomen  Gegebenheit, 
mit  dieser  subjektiven  ,, Metaphysik"  haben  wir  angesichts  der  uns 
umgebenden  Jammerwelt  unsere  Heimat  gefunden  als  eingeborene 
Söhne  des  Hohen  und  Hehren,  des  Edlen  und  Guten  in  uns.  Dieser 
Maßstab  ist  streng;  je  besser  der  Mensch,  desto  besser  hat  er 
ihn  inne,  und  wer  auf  ihn  verzichtet  hat,  hat  auf  sich  selbst 
verzichtet.  Mag  es  noch  so  richtig  sein,  daß  die  menschhehe 
Gesellschaft  oben  voll  Selbstsucht,   in  der  Mitte  voll  Feigheit  und 

1)  Welt  als  Wille  II  (Reclam),  S.  748. 

^  Vgl.  Seneca,  Ad  Lucilium  XLI.  —  Bhagavadgita   III.  33. 


2q5  Anton  Wesselsky: 

unten  voll  Gemeinheit  sei,  so  hüten  doch  jene  Menschen  das 
heilige  Feuer  der  Menschheit,  die  innerlich  der  Resignation  nicht 
anheimgefallen  sind. 

Der  Pessimist  Leopardi  ruft  in  den  Versen  ,,An  sich  selbst" 
seinem  und  damit  zugleich  dem  Menschenherzen  zu:  ,, Nichts  lebt, 
das  würdig  wäre  deiner  Regungen."  Aber  die  lebendigen  Regungen 
dieses  Herzens  sind  ihrer  selbst  würdig  und  wertvoll.  Gilt  es  nicht 
diesen  edlen  Regungen  }'^)  Mit  solcher  fruchtbaren  Zielsetzung  ist 
gleichsam  erst  eine  Entdeckung  des  Menschen  gegeben,  und  Pes- 
simismus und  ebenso,  da  es  sich  um  finale  Dinge  handelt,  Opti- 
mismus, beide  im  Sinne  metaphysischer  Betrachtungsweise,  fallen 
wie  öde  Schalen  von  einer  reifen  Frucht  zu  Boden.  Aller  Ein- 
wand selber  wird  zum  .\rgument  für  eine  subjektive,  einhellige, 
finale  monistische  Gegebenheit,  die  hoministisch  zu  projizieren  und 
zu  hypostasieren  wir  aber  kein  Recht  haben,  und  die  wir  uns  hüten 
müssen,  objektiv  zu  metaphysieren.  Sie  ist  autonom  und  unser 
Maß  und  Ziel.  Ihre  Wirklichkeit  ist  das  Wirken,  ihr  Zeichen  ist 
die  Liebe  und   ihrer  Weisheit  letzter  Schluß  die  Tat. 

Nur  geht  es,  nochmals  gesagt,  nicht  an,  diese  monistische 
Gegebenheit  für  eine  absolute,  anantinomistische,  freie,  metaphy- 
sische zu  nehmen.  Sie  ist  nicht  frei  oder  unfrei,  oder  beides  zu- 
gleich, sondern  weder  das  eine,  noch  das  andere.  Sie  hat  über- 
haupt mit  antinomistischen  Extremen  nichts  zu  tun.  Sie  ist 
menschlich  und  lebendig.  Sie  ist  subjektiv  und  autonom  und 
lebt  und  stirbt  mit  uns,  soweit  wir  wissen.  Sie  ruft  uns  zur 
Betätigung  auf  und  zur  Durchsetzung  auf  dem  Wege  der  Wahr- 
haftigkeit und  der  Tat.  Nicht  geheimnisvolle  Verschwommenheit 
zeichnet  sie  aus,  vielmehr  helle,  apollinische  Klarheit. 

Anders  steht  es  mit  der  Mystik,  die  hier  kurz  Erörterung 
finden  muß.  Als  Justinian  feige  die  Philosophie  verbot  und 
habsüchtig  die  Schule  von  Athen  aufhob,  deren  Scholarchen  seit 
Plato  eine  ununterbrochene  Aurea  catena  gebildet  hatten,  da 
hatte  Damaskios,  der  letzte  derselben,  die  Ergebung  in  das 
Nichtwissen  proklamiert;  denn  es  sei  dem  ohnmächtigen  Men- 
schen versagt,  zur  Erkenntnis  zu  gelangen.  So  endete  die 
gewaltige    griechische    Philosophie    mit    dem    Bekenntnis    ratlosen 


*)  Ähnliche  Antwort  läßt  sich  der  Schrift  Innocens  III.  De  miseria  con- 
ditionis  humanae  und  den  Sonnetten  Michelangelos  oder  den  Versen  der  Vi  ttoria 
Colonna-Pcscara  geben. 


Philosophie  der  Tat.  907 

Schweigens.^)  Vorhergegangen  war  eine  Epoche  des  Skeptizismus, 
der  auch  das  Nichtwissen  in  Zweifel  zog,  und  des  Neuplatonismus, 
der  eine  innediche  ekstatische  Vereinigung  mit  dem  metaphysischen 
Urwesen  als  möglich  hinstellte.  Die  Stimmung  in  dieser  Epoche 
des  Sterbens  der  Antike  und  die  geistige  Unzulänglichkeit  der 
Zeit  führten  zu  rEntsagungskatastrophe.  Diese  Stimmung  war 
echt  und  die  ersten  Christen  waren  keine  feilen  Diener  der  Macht.  ^) 
So  haben  sie  auch  die  Macht  erworben.  Der  Inhalt  der  bedeutenden, 
gegen  die  Christen  gerichteten  Schriften  überstieg  das  Niveau  der 
christlichen  Masse.  Später  wurden  diese  Bücher  verschwinden 
gemacht  und  über  die  Bekenner  siegte  die  Organisation  der  Priester- 
schaft. Da  tauchte  aus  neuplatonischen  Abgründen  unter  den 
dem  Dionysius  Areopagita  zugeschriebenen  Werken,  von  den 
Kirchen  als  der  heiligen  Schrift  zunächst  geachtet,  die  ,, mystische 
Theologie"  empor.  ,,  Siehe  aber",  so  heißt  es  dort,  ,,daß  keiner 
von  denen,  die  mit  unserer  Religion  nicht  vertraut  sind,  das  höre. 
Und  damit  meine  ich  jene,  .  .  .  die  glauben,  daß  sie  ihn,  der  im 
Dunkeln  waltet,  mit  ihrer  Erkenntnis  erfassen  können."  (I.) 
,,Je  höher  wir  gelangen,  desto  mehr  schwinden  die  Worte  und 
endlich  weicht  die  noch  so  kurze  Rede  dem  Schweigen."  (II.) 
,,Wir  sagen,  daß  Gott  weder  Geist  sei,  noch  Verstand,  noch  Er- 
scheinung, noch  Meinung,  noch  Vernunft,  nicht  Bewegung,  noch 
Ruhe,  nicht  Leben,  nicht  Tod,  nicht  Licht,  nicht  Finsternis,  nicht 
Vater,  nicht  Sohn,  nicht  Einheit,  nicht  Allheit,  weder  Irrtum, 
noch  Wahrheit,  weder  Ja,  noch  Nein.  .  .  ."  (V.)  Das  ist  des 
Dionysius  negative  Theologie.  Nur  hat  der  Mystizismus  nach 
dem  Versagen  der  rationalen  Erkenntnis,  weil  ja  das  seiner  be- 
wußte Selbst  dem  Ansich  angehören  müsse,  eine  innere  irrationale 
Verzückung  hinzugefügt,  eine  ekstatische  Kontemplation,  die  aber 
doch  nur  eine  in  der  Zeit  liegende  Hingabe  an  unser  eigenstes 
innerstes  Wesen  sein  kann  und  die,  sofern  es  sich  bei  solcher  Ek- 
stase um  Erkenntnis  handeln  soll,  als  Contradictio  in  adjecto  gelten 
muß.  Dieser  rauschartige  Zustand  entrückter  Versunkenheit,  der, 
der  Vergleich  sei  verziehen,  wie  ein  elektrischer  Kurzschluß  licht- 
verlöschend von  aller  Spannung  erlöst,  führt  naturgemäß  zur 
Lähmung,   zur   Passivität,    zum  Quietismus,    der  allerdings  keines 

^)  Damaskios,  De  principiis  7:  Tt  neoas  iarai  tov  lö^ov  nXrjv  atfTJg  otfirj- 
/nvov  xai  d^oloyias  lov  jXTjöäv  yivwaxeiv,  wv  ixrjde  {Hfiig  uSvväiOiv  ovzav  eig 
yvvtaiv  iX&Elv\ 

^)  ArrJarij  Diatribae  Epicteti  IV,  7. 


398 


Anton  Wcsselsky: 


erlösenden  Vermittlers  bedarf,  und  daher  auch  keiner  kirchlichen 
Vermittlerin  der  Vermittlung.  Pura  contemplatio  absquc  acti- 
vitate  et  sollicitudine,  sagt  F^n61on  in  seinen  Placitis  sanctorum. 
Diese  verzückte  Wunscherfülltheit,  in  der  Theoria  des  Plotin, 
in  der  Theosis  des  Areopagiten,  in  der  Vergottung  Eckharts,  in 
der  quietistischen  Versunkenheit  des  Molinos  und  der  Guyon 
liegt  abseits  von  aller  Moralität. 

Schopenhauers    Metaphysik    setzt    ein    beim    Wunder    des 
Selbstbewußtseins    und    versucht    von    hier    aus    den    „Übergang 
von  der  Erscheinung  zum  Ding  an  sich".     Schopenhauer  geht 
den   Weg   zum   Ansich   von    innen,    in   unmittelbarer,    wenn   auch 
der  Zeit  unterworfener  Erfassung.    Das  so  erfaßte  ist  unser  Wille. 
Es  ist  das  uns  Eigene,  allem  für  uns  Vorangehende.  —  Aber  selbst 
mit  der  Welt  identifiziert,   ist  dieser  Wille   ja  doch   nicht  trans- 
zendent,    nicht     Gott    sozusagen,     sondern     ,, gleichsam    der     ge- 
kreuzigte  Heiland,   oder  aber  der  gekreuzigte    Schacher,   je   nach- 
dem   er    sich    entscheidet."      Schopenhauers    Weg    führt    doch 
nicht  zum  Ansich.    Andernfalls  wären  die   Fragen  berechtigt,   die 
er  zum  Teile  selbst  berührt,  warum  der  Wille,  der  frei  ist,   sich 
zu    bejahen,    sich   verneinen   solle,    oder   weshalb    er   sich    bejahte 
und  die  Ruhe  des  seligen  Nichts  verließ,  und  ob  er  es  nicht  nach 
der    Verneinung    wieder    verlassen    werde;    woher    die    Täuschung 
der  Maja,  woher  der  Mißton  des  Leidens  komme,  aber  auch  woher 
unsere  Kritik  dieses  Zustandes  usw. 

Nach  dem  indischen  Vedanta  endlich  ist  das  Atmanwissen, 
also  das  Wissen  von  der  Identität  unseres  Selbst  mit  dem  Brahman, 
dem  Prinzip  aller  Dinge,  selber  schon  die  Erlösung.  Diese  Lehre 
nimmt  die  Mystik  sozusagen  intellektuell  vorweg  und  ist  fern, 
wie  diese  vom  ,, Wunder  der  Moralität",  von  mündiger  Ethik. 
Dort  heißt  es  von  dem,  der  das  Atmanwissen  hat:  ,,Ihn  fürwahr 
quälen  nicht  mehr  die  Fragen :  Welches  Gute  habe  ich  unterlassen  ? 
Welches  Böse  habe  ich  begangen  P^)  Aber  auch  dieser  Stand- 
punkt schafft  die  Frage  nach  der  Entstehung  des  Irrtums,  der 
Maja,  des  Unrechts,  des  Leidens  nicht  aus  der  Welt. 

Wir  können  übrigens  nichts  wissen  von  all  diesen  metaphysischen 
Dingen.  Darüber  sich  in  Behauptungen  zu  ergehen,  wäre  ein  Saltus 
in  dcmonstrando  und  hieße,  wie  Kant  warnt,  ,, Vernunft  unter 
F:rdichtungcn  und  Blendwerken  ersäufen".     Doch  kennen  wir  klar 


')   Di-ussen,  die   Philosophie  der  Upanischads.  XV. 


Philosophie  der  Tat.  •jgg 

das  Gute  in  uns,  dem  wir  uns  ebenbürtig  erweisen  durch  die  Über- 
einstimmung unseres  Willens  mit  unserem  besseren  Selbst.  Dieses 
ist  uns  zum  Ziele  gegeben,  zum  Motiv  die  Liebe  und  zum  Vollzuge 
die  Tat. 

Kann  ein  Gott  diese  ungeschehen  machen }  Den  erlittenen 
unsagbaren  Schmerz  unerlittcn  >  Angestiftetes  Unrecht  gerecht .? 
Was  hilft  gegen  solch  kapitale  Erwägungen  das  Atmanwissen  des 
Vedanta  }     Es  gehört  zur  Maja  der  Metaphysik. 

Das  Wirken  ist  dagegen  unsere  Wirklichkeit,  der  Schoß  der 
Tatsachen  die  Tat. 


V.  Die  Wirklichkeit  des  Wirkens. 

Wir  können  und  dürfen  das  große  Geheimnis  nicht  unter- 
schätzen, in  dem  wir  walten.  Dieses  ist  nicht  nur  die  Antinomie 
selber,  die  uns  alle  objektive  Kenntnis  verschließt,  weil  Wahrheit 
nur  einhellig  sein  kann;  sondern  viel  mehr  noch  ist  das  Geheimnis 
in  dem  Gegensatz  unseres  Wesens  eben  zu  jener  Antinomie  ge- 
legen, zu  dem  Widerspruche,  der  uns  umgibt.  Dieser  Gegensatz 
ist  die  große  Folie  für  unser  Wesen,  er  verleiht  ihm  das  stärkste 
Relief,  und  er  ist  die  große  Verweisung  desselben  auf  den  Weg 
der  Tat,  auf  die  alleinige  Wirklichkeit  unseres  Wirkens. 

Wir  haben  nur  die  Gegenwart;  aber  die  Tat  macht  sie  uns 
zur  Tochter  der  Vergangenheit  und  zum  Schöße  der  Zukunft. 
Hier  spüren  wir  den  Boden,  wo  wir  heimisch  sind.  ,,Die  wahre 
Unsterblichkeit  ist",  wie  Schiller  in  seinen  philosophischen  Briefen 
sagt,  ,,die,  wo  die  Tat  lebt  und  weitereilt,  wenn  auch  der  Name 
ihres  Urhebers  hinter  ihr  zurückbleiben  sollte."^)  Haben  wir  unsere 
Entschließung  einmal  dem  dunkel  schaffenden  Schöße  der  Zeit 
anvertraut,  dann  wirkt  sie  fort,  sei  sie  bejahend  oder  verneinend, 
und  sei  sie  auch  eine  bloße  Säumnis  gewesen,  unzurückführbar, 
unaustilgbar.  Jener  oberflächliche  sogenannte  Intellektualismus, 
der,  weit  entfernt  von  mündiger  Kritik  und  Rechenschaft,  von 
Ethik  nicht  gern  hört  und  sie  am  liebsten  lächerlich  macht,  muß 
erschauern  vor  dieser  Größe  der  Tat. 

Diese   hat   noch   eine   ebenso    unabsichtliche,    wie   wesentliche 


^)  Vgl.  Goethe:  Die  Tat  ist  alles,  nichts  der  Ruhm.  (Faust  II.  T.).  Nietzsche: 
Diese  Münze,  mit  der  alle  Welt  bezahlt,  Ruhm,  mit  Handschuhen  fasse  ich  diese 
Münze  aUj  mit  Ekel  trete  ich  sie  unter  mich. 


^OO  Anton  Wcsselsky: 

und  bedeutungsvolle  Wirkung  auf  den  Täter  selbst.  Mit  seiner 
Tat  schafft  sich  der  Täter  neu  und  um.  Wie  jeder  Gedanke,  jedes 
Gefühl,  jeder  Wille  im  Antlitz  eine  untilgbare  Spur  zurückläßt, 
wie  jeder  frivole  Beleidiger  sich  selbst  beleidigt  und  jeder  Betrüger 
zuerst  ein  Selbstbetrügcr  ist,  so  stärkt  und  stählt  den  Menschen 
die  rechtschaffene  wahrhaftige  Tat. 

Es  war  ein  Urteil  aus  gereifter  Lebenserfahrung  und  tiefer 
Besonnenheit,  als  in  der  Weisheit  seines  Alters  Friedrich  der 
Große  an  den  todkranken  D'Alembert  jenen  Brief  schrieb, 
der  ihn  nicht  erreichte,  und  darin  sagte:  ,,I1  me  semble,  que  l'homme 
est  plustot  fait  pour  agir,  que  pour  connaitre;  les  principes  des 
choses  se  derobcnt  ä  nos  plus  perseverantes  recherches."^) 

Goethe  ging  noch  weiter,  als  er  sagte:  ,,Es  ist  mir  alles  ver- 
haßt, was  mich  bloß  belehrt,  ohne  meine  Tätigkeit  zu  vermehren 
oder  unmittelbar  zu  beleben."  Nietzsche  ist  es,  der  sich  den 
Inhalt  dieser  Worte  im  Eingange  seiner  unzeitgemäßen  Betrachtung 
vom  Nutzen  und  Nachteil  der  Historie  für  das  Ixben  zu  eigen 
macht.  Und  Kant  erachtet  ,,die  letzte  Absicht  der  weislich 
uns  versorgenden  Natur  bei  der  Einrichtung  unserer  Vernunft 
eigentlich  nur  aufs  Moralische  gestellt". 

Die  Tat  ist  der  bewußte  Vollzug  des  geheimnisvollen  Com- 
merciums  innerhalb  der  Antinomie  nach  innen  und  nach  außen, 
und  ihre  Bedeutung  für  den  mündigen  Menschen  kann  natürlich 
nur  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  seiner  vernünftigen  Einsicht 
liegen.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann  eine  Handlung 
unser  besseres  Selbst  bewähren  und  in  diesem  Sinne  ist  es  kein 
Paradoxon,  zu  behaupten,  daß  auch  die  Durchführung  der  Willens - 
Verneinung  eine  Willcnsbejahung  wäre.^) 


^)  Der  Brief  ist  datiert  vom  30.  September  1783.  D'Alembert  ist  am 
29.  Oktober  desselben  Jahres  gestorben.  Oeuvres  posthumes  de  Fr6d6ric  II. 
Vol.  XII,  S.  33.  —  Vgl.  Hindenburg,  Aufruf  zur  Zeichnung  der  achten  Kriegs- 
anleihe, 1918:  ,,Die  Tat  ist  die  Verkörperung  des  Willens.  Sie  fordert  den  Einsatz 
der  Persönlichkeit.  Verantwortung  und  Gewissen  bestimmen  sie.  Nur  sie  über- 
windet die  Hindernisse  und  führt  zum  Ziel.  Die  Tat  wohnt  nicht  bei  Kleingläubigen 
und  Zaghaften.    Sie  ist  der  Deutschen  stolzestes  Wort." 

*)  In  dem  letzten  Bande  von  Deussens  so  lehrreicher  Geschichte  der  Philo- 
sophie (S.  579)  sagt  dieser  berufene  Interpret  Schopenhauerscher  Philosophie 
übtr  die  Askese  als  Weg  der  Verneinung  des  Willens:  ,, Niemand  wird  sich  der  Er- 
kenntnis verschließen,  und  Schopenhauers  Leben  ist  selbst  ein  großes  Beispiel 
dafür,  daß  die  edelste  Form  der  Askese  in  einer  angestrengten,  ohne  Absicht  auf 
Lohn  unternomnienen  und  heroisch  durchgeführten  Lebensarbeit  besteht."   Deussen 


Philosophie  der  Tat,  401 

Über  seine  Tat  ist  der  Mensch  Herr  und  damit  auch  autonom, 
sofern  er  jene  Übereinstimmung  mit  seinem  besten  Wissen  nicht 
verhert.  Cato  in  Utica,  das  Schwert  an  der  Seite,  war  mehr  sein 
eigener  Herr  als  Juhus  Cäsar,  der  dort  siegte  und  später  seine  Anti- 
catones  schrieb.  Von  Cato  spricht  Lucanus,  wenn  er  Rom  zu- 
ruft: ,,Ecce  parens  verus  patriae,  dignissimus  aris  —  Roma,  tuis; 
per  quem  nunquam  iurare  pudcbit  —  et  quem,  si  steteris  unquani 
cervice  soluta,  —  tunc  ohm  factura  deum."  Rom  stand  nie  mehr 
,,cervice  soluta",  ungebeugten  Nackens.  Für  Cato  aber  gelten  die 
Worte  Lucans. 


ist  dabei  durchaus  im  Einklang  mit  Schopenhauers  eigenen  Worten  (Neue  Para- 
lipomena,  Reclamsche  Ausgabe,  §  635,  aus  dem  verlorenen  Werke:  Über  sich  selbst): 
„Mein  Leben  in  der  wirklichen  Welt  ist  ein  bittersüßer  Trank.  Es  ist  nämlich, 
wie  mein  Dasein  überhaupt,  ein  stetes  Erwerben  von  Erkenntnis,  Gewinnen  von 
Einsicht,  das  hier  diese  wirkliche  Welt  und  mein  Verhältnis  zu  ihi*betrifft.  Der 
Gehalt  dieser  Erkenntnis  ist  traurig  und  niederschlagend :  aber  die  Form  der  Er- 
kenntnis überhaupt,  das  Gewinnen  an  Einsicht,  das  Eindringen  in  die  Wahrheit, 
ist  durchaus  erfreulich  und  mischt  fortwährend  seine  Süßigkeit  in  jene  Bitterkeit, 
seltsamerweise." 

Deussens  und  Schopenhauers  W^orte  sind  im  Grunde  ein  bedeutsames 
Dokument  zum  machtvollen  Grundgedanken  der  hier  dargelegten  Philosophie 
der  Tat. 

Den  Selbstmord  erkennt  Schopenhauer  ohne  weiteres  als  Bejahung  des 
Willens  zu  leben  an.  Es  ist  auch  klar,  daß  diese  Herrschaft  des  Menschen  über 
sein  Leben,  dieser  freie  Zutritt  zum  Tode,  dem  Allerbarmer,  der  stärkstem  Leid 
und  Jammer  endlich  Grenzen  setzt,  ein  wesentliches  Moment  der  menschlichen 
Autonomie  ist.  Schopenhauer  sagt  sehr  richtig,  der  Wille  bejahe  sich  im  Selbst- 
mord, weil  er  sich  anders  nicht  mehr  bejahen  kann  (W.A.W.  I,  S.  473).  Über 
den  vernünftigen  Gedanken,  qualvolles,  minden^^ertig  gewordenes  Leben  freiwillig 
abzukürzen  —  vollwertiges,  mündiges  Leben  ist  bedingt  durch  die  Sterbensbereit- 
schaft —  und  über  bezügliche  Gebräuche  im  Altertum  müssen  hier  Quellenangaben 
genügen:  Heraclides  Ponticus,  De  rebus  publicis  IX.  Aelianus  Var.  IIL  37.  Strabo, 
X,  5,  S.  487.  Valerius  Maximus,  II,  6.  Menander,  Fragm.  incert.  202.  Stephanos 
Byz,  Joulis.  Lucretius,  III,  1052 ff.  Xenophon  Memorabil.,  IV,  Ende.  Anderer- 
seits ist  auf  die  Theorie  und  Praxis  der  Stoiker  zu  ver^veisen. 

Der  Wille,  sich  zu  verneinen,  ist  ein  positiver  Wille.  Als  Buddha  den  Kranken 
und  die  Leiche  sah  und  in  das  Sichversenken  sich  zurückzog,  oder  als  Ranc^  oder 
Raimundus  Lullus,  deren  Bekehrung  Schopenhauer  ebenfalls  heranzieht,  der 
Welt  entsagten,  da  taten  sie,  was  sie  für  richtig  erkannten  und  bejahten  damit 
ihren  Willen.  Jede  ethische  Tat  ist  eine  Willensbejahung.  Es  gibt  nur  eine 
Willensverneinung:  die  Lüge. 

Vielleicht  darf  hier  darauf  hingewiesen  werden,  daß  Kant  und  Schopenhauer 

dem  Verfasser  nach  langer,  nur  dem  Interesse  an  der  Sache  geltender  philosophischer 

Beschäftigung  als  die  hervorragendsten  unter  den  ganz  großen  Philosophen  gelten. 

Beide  großen  Philosophen  sind  leider  in  posthumen  Werken  zum  Teil  sehr  spät, 

Aonalen  der  Philosophie.    I.  2** 


A02  Antou  Wesselsky; 

Der  große  Weg  des  Menschen  ist  ein  Weg  der  Tat..  Diese  ist 
(\\v  allerverstandenste  unter  den  menschlichen  Sprachen.^)  Die 
einzige  Antwort  auf  die  Frage,  die  einzige  Lösung  der  KolHsion, 
die  angesichts  der  uns  umgebenden  Antinomie  unser  innerstes 
Wesen  uns  auferlegt,  ist  dessen  eigene  Betätigung.  Darum  habe 
ich  diese  Weltanschauung  Philosophie  der  Tat  genannt. 2) 

Auf  die  Ethik  wird  später  zurückzukommen  sein,  und  auch 
:iuf  ihr  Verhältnis  zum  Denken  als  Tat. 

Hier  obliegt  es  nur,  kurz  in  Hinsicht  auf  den  Weg  der  Tat 
noch  näher  auf  den  Schoß  derselben,  auf  jenes  zugrundeliegende, 
diantinomistische,  im  Selbstbewußtsein  uns  offenbare  Wesen  ein- 
zugehen, das  wir  unser  besseres  Selbst  genannt  haben. 

Schon  Parmenidcs  hat  darauf  hingewiesen,  daß  ein  Gegen- 
satz die  Welt  der  Erscheinung  beherrsche.^)  Als  Lösung  dieses 
Gegensatzes  hat  er  den  Eros  verstanden^),  und  dieser  ist  in  letzter 
Linie  das  Leben.  ,,Haec  est  genitalis  vis,"  fügt  Karsten  bei^), 
,,quae  contraria  rerum  elementa  ut  marem  et  feminam  coniugavit." 
Dieses  finale,  zielstrebige  Wesen  beherrscht  das  psychologische  wie 


zum  Teil  gar  nicht  zu  Worte  gekommen.  Kants  Opus  postumum  hat  es  nur  dem 
vereinsamt  gebliebenen  Interesse  Reickes  zu  verdanken,  daß  es,  fast  80  Jahre 
nach  Kants  Tode,  zum  größeren  Teile  und  diplomatisch  genau  veröffentlicht  wurde. 
Trotzdem  soll  diese  Veröffentlichung  in  die  Akademieausgabe  nicht  aufgenommen 
•werden !  Der  Rest  ist  infolge  des  römisch  rechtlichen  Geistes  unseres  Gesetzes  un- 
zugänglich, weil,  trotzdem  daran  längst  kein  Urheberrecht  mehr  besteht,  das  Eigen- 
tum am  Handschriftexemplare  die  Verfügung  über  den  Inhalt  dem  Eigentümer 
des  Exemplares  vorbehält.  Schopenhauers  nachgelassenes  Werk  ,,Über  sich 
selbst",  dessen  Bedeutung  wir  daraus  schließen  können,  daß  der  Verfasser  denselben 
Titel  wählte,  wie  Marc  Aurel  für  seine  Selbstbetrachtungen,  und  daß  er  auf  Stellen 
daraus  in  den  beabsichtigten  Ergänzungen  seiner  Werke  verwies,  ist  vom  Testaments- 
vollstrecker Gwinner  vernichtet  worden,  der  sich  auf  eine  mündliche  Anordnung 
Schopenhauers  berief.  Auf  die  bezügliche  spätere  Polemik  kann  hier  nicht  ein- 
gegangen werden. 

^)  Vielleicht  darf  bei  dieser  Gelegenheit  aufmerksam  gemacht  werden,  daß 
die  Passivbegriffe  des  Fühlens,  des  Leidens  und  Sterbens  in  den  meisten  der  uns 
nahestehenden  Sprachen  aktiv  ausgedrückt  werden,  so  im  Deutschen,  im  Eng- 
lischen, Französischen,  Italienischen  und  Altgriechischen.  Ja,  im  Französischen 
und  Italicnischen  wird  auch  das  Geborenwerden  aktiv  ausgedrückt. 

")  Siehe  des  Verfassers  Philosophie  der  Tat,  Entwurf  einer  Weltanschauung 
und  Ethik,  Wien,  igogf. 

^)  Karsten  112.  Diels  8,  53:  Moqcpug  Y"Q  "ore^eTo  ovo  j'*'a>/i«ff  oro- 
fia'i^tir. 

*)  Karsten  131.    Diels  13.  Hqüiiaiov  n  ev"EQ(t}xa  d^eüv  ^irjiiaato  nhvxav. 

')  Karsten,  Parmenides,  S.  23  . 


I 


Philosophie  der  Tat.  40^ 

das  physiologische  Gebiet;  es  ist  das  Wesen  der  Tat.  Piaton 
seinerseits  hat  den  Eros  als  besten  Helfer  zur  wahren  Tugend 
erklärt.!) 

Fs  ist  interessant,  daß  gerade  dieses  Gebiet  des  Guten  es  war, 
das  er  seiner  esoterischen  Philosophie  vorbehielt. 2) 


^)  Symposion   212:  Das  Ende  der   Rede  des  Sokrates.    Vgl.  auch  Staat  490. 

')  Suidas,  Agathon  Daimonos:  , .Aristoteles  etiam  librum  de  bono  composuit, 
in  quo  Piatonis  sententias  scriptis  non  mandatas  describit.    Vgl.  auch  Phaedros  275 ff. 

Zu  Pia  tos  esoterischer  Philosophie  ist  ebenso  wie  zur  Echtheit  wenigstens 
des  siebenten  Briefes  darauf  zu  verweisen,  daß  übermäßige  literarische  Skepsis  auf 
keiner  höheren  Stufe  steht,  als  übermäßige  Leichtgläubigkeit.  Bezüglich  des  7.  Briefes 
sei  noch  auf  Cicero  Tusc.  V,  35  verwiesen,  wo  dieses  Schreiben  als  praeclara  epi- 
stola  Piatonis  hervorgehoben  wird.  Was  die  esoterische  Philosophie  Piatos  an- 
belangt, so  kann  hier  außer  auf  diesen  wichtigen  Brief,  gegen  dessen  Echtheit  kaum 
etwas  Ernstliches  vorgebracht  werden  kann,  und  obige  Stelle  des  Suidas  etwa 
noch  auf  Aristoteles  Natur,  ausc.  IV,  4,  über  den  Unterschied  des  Timaeus  von 
den  ungeschriebenen  Lehren  und  auf  Symplicius  Phys.  Fol.  32  B  104,  nicht  aber 
auf  die  mannigfaltigen  weiteren  dafür  sprechenden  Momente  verwiesen  werden. 
Das  würde  viel  zu  weit  führen.  Immerhin  sei  sich  auf  Tennemann  und  Krug 
bezogen.  Grote  (Plato  I,  S.  2i6f.)  sagt  klar  und  überzeugend:  ,,But  Plato  was 
not  merely  a  composer  of  dialogues.  He  was  lecturer,  and  chief  of  a  school,  besides. 
The  presidency  of  that  school,  commencing  about  386  B.  C.  and  continued  by  hini 
with  great  celebrity  for  the  last  half  (nearly  forty  years)  of  his  life  was  his  mosl 
important  function.  Among  his  contemporaries  he  must  have  exercised  greater 
influence  through  his  school  than  through  his  writings.  Yet  in  this  Charakter  of 
school-theacher  and  lecturer,  he  is  almost  unknown  to  us:  for  the  few  incedental 
allusions  which  have  descendet  to  us,  through  the  Aristotelian  commentators,  only 
raise  curiosity  without  satisfying  it.  The  little  information  which  we  possess  re- 
specting  Piatos  lectures  relates  altogether  to  those  which  he  delivered  upon  the 
Ipsum  Bonum  or  Summum  Bonum  at  some  time  after  Aristotle  became  his  pupil  — 
that  is  during  the  last  eighteen  years  of  Piatos  life."  Grote  nimmt  auch  die  Echt- 
heit von  Piatos  Briefen  an,  geradeso  wie  schon  hundert  Jahre  nach  Piatos  Tod 
Aristophanes,  der  dessen  Schriften  ordnete. 

Es  ist  eine  mit  der  Entwicklung  einer  Philosophie  bei  ihrem  Schöpfer  selbst 
zusammenhängende,  für  die  Vollendung  und  Kulmination  der  Lehre  wichtige  Frage, 
zu  welcher  Schlußauffassung  jener  gelangt  ist.  Wir  finden  nun  eine  gewisse  Par- 
allelerscheinung zwischen  Kant  und  Plato.  Auch  dieser  scheint  zuletzt  bei  einer 
Art  Finalität  der  Ideen  angelangt  zu  sein,  die  sich  bekanntlich  für  Kant  aus  ihrer 
regulativen  Bedeutung  ergab  und  deren  Grundgedanken  er  später  ein  soviel  weiteres 
Gebiet  zugewiesen  hat.  So  nähert  sich  das  Wesen  der  Kantischen  und  der  Plato- 
nischen Ideen.  Ähnlich  erhält  der  Sokratisch-Platonische  Satz,  daß  Wissen  Tugend 
sei,  eine  gewisse  Farbe  durch  den  oben  erörterten  Charakter  der  Logik,  wonach  sie 
für  das  Gebiet  der  Tat  bestimmt  ist.  Bei  der  Entwicklung  seiner  Ideenlehre  ist 
Plato  wohl  angesichts  der  Labilität  der  sinnlichen  Erkenntnis  (vgl.  Aristoteles 
Metaphys.  I,  6)  von  der  Bewunderung  der  Reinheit  und  Unverletzlichkeit  der  Ab- 
straktion  und   der   die    Körperwelt   beherrschenden    Gesetze   ausgehend,   im    Sinne 

26* 


.qä  Anton  Wesselsky: 

Eros,  das  ist  das  zielstrebige  Leben,  das,  im  Menschen  be"wußt 
geworden,  die  mündige  Tat  hervorbringt^)  und  das,  im  anderen 
sich  selber  erkennend,  als  Agape,  als  Liebe,  Solidarität  und  Mit- 
leid sich  betätigt.  So  sind  Liebe  und  Tat,  die  eine  dem  Leben, 
dem  Menschen,  dem  edlen  zumal,  die  andere  auch  der  Umwelt  zu- 
gewendet, ebenbürtige  Geschwister.^)  Durch  ihre  mündige  Macht 
kann  sich  das  Leben,  was  es  zu  vermissen  bedauert,  jedoch  als 
Quell  seiner  Kritik  in  sich  selber  birgt,  zum  Ziele  setzen,  im  ein- 
zelnen sterbend,  in  seinen  Generationen  die  Majestät  des  Todes 
mitumfassend.  An  uns  selbst  sind  die  Postulatc  unseres  Wesens 
gerichtet.  Unser  Reich  ist  keineswegs  das  Unerkannte,  nicht 
zu  Erkennende;  unser  Reich  ist  das  Gebiet  des  Lebens,  unsere 
Wahrheit  ist  mit  dem  Worte  ,, Tatsache"  oder  ,,In  der  Tat"  am 
besten  bezeichnet,  und  der  Weg  des  Lebens  ist  der  Weg  der  Wirk- 
lichkeit des  Wirkens. 

Ich  schließe  hier  mit  einem  Zitate  aus  der  philosophischen 
Einleitung  einer  jugendlichen  Denkschrift,  deren  Gedankengänge 
schon  getragen  waren  von  der  hier  vertretenen  Weltanschauung 
und  Ethik^) :  ,,  Quälende  Fragen  ringender  Jahrtausende,  die  ganze 


von  Erwägungen,  wie  sie  den  späteren  scholastischen  Realismus  kennzeichnen  (uni- 
versalia  ante  res)  zur  Hypostasierung  geschritten,  hat  diese  aber  bekanntlich  schließ- 
lich unter  Zuhilfenahme  mathematisch-pythagoraischer  Zahlensymbolik  zu  einer 
geschlossenen  Einheit,  wie  die  Mathematik  sie  bietet,  aber  auch  zu  einer  Art  Symbol 
zurückzuführen  gesucht.  Indem  er  nun  aber  andererseits  das  Bonum  zur  höchsten 
Idee  proklamierte,  erscheint  diese  nunmehr  als  geltender  Maßstab  einer  Zielsetzung. 
Leider  sind  die  über  das  Gute  von  Plato  aufgestellten  ,,sententiae  scriptis  non 
mandatae"  nicht  erhalten.  Immerhin  hat  er  in  seinen  späteren  Werken  das  Näher- 
kommen an  die  Idee  des  Guten  in  der  Welt  vertreten.  Vgl.  auch  Staat.  VI.  20. 
(508  f.). 

^)  Plato,  S>Tnposion,  182:  ,, Durch  die  Tat  aber  haben  dieses  die  hiesigen 
Tyrannen  erfahren.  Denn  des  Aristogeiton  und  des  Harmodios  zu  einer  festen 
Freundschaft  gediehene  Liebe  zerstörte  ihre  Herrschaft"  (Schleiermacher). 

Ebenda,  202,  ist  auseinandergesetzt,  wie  Eros,  der  Sohn  des  Porös  (d.  i.  des 
Weges,  zum  Ziele  zu  gelangen),  das  Streben  nach  dem  Schönen  und  Guten  selbst 
bedeutet. 

^  Schopenhauers  Gegensatz  zwischen  Eros  und  Agape  ist  im  selben  Sinne 
gebildet,  wie  zwischen  Willensbejahung  und  Verneinung.  Geradeso,  wie  die  Selbst- 
vcrncinung  des  Willens  im  Grunde  eine  Durchsetzung  des  Wollens,  eine  Willens- 
bcjahung  ist,  was  ja  doch  mit  der  theoretischen  Ansicht  über  das  Ziel  dieser  Durch- 
stizuiig  nichts  zu  tun  hat,  geradeso  ist  die  Agape  eine  Projektion  des  Eros  im  Sinne 
der  Einheit  des  Lebens. 

^)  Östcrrcichtrtum,  Wien,  1896.  Nach  der  Beschlagnahme  2.  Auflage.  Diese 
Denkschrift  war  der  während   des  Weltkrieges   so   aktuell  gewordenen    Frage   der 


Philosophie  der  Tat.  ^qc 

Dekadenz  wissenschaftlicher  Überhebung,  den  frivolen  Epheme- 
rismus der  Zerrissenheit,  das  resignierende  Elend  der  Weltflucht 
und  der  Selbstbelügung  lösen  wir  aus  durch  die  bescheidene,  aber 
erhabene  und  fruchtbare  Harmonie  der  Durchsetzung  unseres 
Wesens.  Nach  aufwärts  führt  sich  seine  Kraft.  Die  Brücke 
über  die  ungelösten  Rätsel,  über  die  nicht  zu  erfüllende  Sehn- 
sucht ist  allein  die  Wahrhaftigkeit  seines  Werdens.  Dieses  lag 
darnieder,  dieses  wird  mündig  in  uns.     0  Taten!  Taten!  Taten!" 


VI.  Die  subjektive  absolute  Etliik. 

Wir  haben  oben  vom  besseren  Selbst  des  Menschen  gesprochen. 
Was  ist  des  Menschen  schlechteres  Selbst  .-*  Offenbar  die  Abtrünnig- 
keit von  jener  subjektiven  Gegebenheit,  die  wir  kennen  lernten 
und  die  die  Autonomie  ermöglicht.  Der  innere  Zerfall,  die  Dis- 
harmonie, das  Aufgeben  seiner  selbst^),  die  echte  Resignation, 
die  vvahre  Willcnsverneinung,  die  Lüge. 

In  dieser  Richtung  tritt  der  Mensch  sich  selber  gegenüber, 
hier  steht  ihm  keine  Antinomie  entgegen.  Hier  ist  vielmehr  das 
ethische  Gebiet  der  Unverbrüchlichkeit  der  Logik  und  der  ab- 
soluten Erkenntnis  unseres  Gewissens  über  die  Harmonie  zwischen 
Einsicht  und  Betätigung.  Metaphysische  Extreme  können  auf 
diesem  ethischen  Gebiete  nicht  in  Betracht  kommen,  weder  Frei- 
heit, noch  Unfreiheit,  noch  beide  zugleich.^)  Aber  Einhelligkeit  ist 
hier  möglich  und  diese  ist  entweder  da  oder  nicht.  Hier  kann  es  nur 
ein  rigoristisches  Entweder-Oder  geben,  Wahrhaftigkeit  oder  Lüge. 
Ein  Mittelweg  ist  hier  durch  die  Natur  der  Sache  ausgeschlossen. 

Autonomie  und  des  Zusammenschlusses  der  mitteleuropäischen  Nationen  gewidmet, 
eine  Frage,  die  ich  anfangs  1915  in  der  Tatflugschrift  ,, Europäische  Ideen" 
(Jena,    Diederichs)    neuerlich   zur    Diskussion   gestellt   habe. 

^)  ,,Es  liegt  in  jedem  Menschen  auch  eine  Neigung  zur  Wahrheit,  die  bei 
jeder  Lüge  erst  überwunden  werden  muß",  sagt  Schopenhauer  mit  Recht  (Welt 
als  Wille,  I,  S.  292).  Kant  weist  in  seiner  Frage,  ob  das  menschliche  Geschlecht 
im  beständigen  Fortschreiten  sei,  darauf  hin,  daß  der  Enthusiasmus  an  moralischen 
Handlungen,  z.  B.  an  der  französischen  Revolution,  der  bei  allen  unbeteiligten 
Zuschauern  festzustellen  war,  ein  Beweis  ist  für  die  moralische  Tendenz  des  Menschen- 
geschlechtes. Nur  für  das  rein  Moralische  und  Ideale  sei  beim  Menschen  wirklicher 
Enthusiasmus  möglich.  Geldbelohnung  könne  zwar  Eifer,  aber  keine  Begeisterung 
mit  sich  bringen. 

*)  Es  ist  bezeichnend,  daß  die  Verfechter  des  Determinismus  gewöhnlich  zu- 
gleich Verfechter  der  politischen  Freiheit,  die  Vertreter  des  Indeterminismus  aber 
gleichzeitig  solche  der  politischen  Bevormundung  sind. 


4o6 


Anton   Wesselskv 


Zwisclun  der  Willkürlichkcit  des  Indeterminismus  und  der 
mechanisehen  F'atalität  des  Determinismus  liegt  liier  das  Gc* 
biet  des  nach  Gründen  wägenden  Wollens.  Daß  diese  Be- 
stimmung ungebrochen  vor  sich  gehe,  darauf  berulit  der  Erfolg 
desselben,  und  gleichzeitig  die  Mündigkeit  und  Autonomie.  Die 
innere  Lüge  verzichtet  somit  auf  den  Wert  des  Menschen  und 
macht  sein  Tun  und  Lassen  erfolglos.  Die  Wahrhaftigkeit  ist 
Icbens wesentlich.  Die  innerliche  Wertlosigkeit  führt  früher  oder 
später  zum  Untergange.  Niemand  hat  es  zwar  in  der  Hand,  einen 
anderen  schlecht  zu  machen;  v;ohl  aber  sich  selber.  Mit  bekannten 
modernen  Worten  gesagt:  Niemand  ist  jenseits  von  Gut  und  Böse 
oder,  wie  es  Nietzsche  richtig  stellen  will,  jenseits  von  Gut  und 
Schlecht.  1) 

Ein  Blick  auf  die  Geschichte  lehrt,  daß  in  menschlichen  Dingen 
schließlich  der  Charakter  entscheidet  und  daß  die  Korruption,  das 
Unrechtsprinzip  und  der  bloße  Intellektualismus  zum  Untergange 
und  zum  toten  Leben  des  Parasitismus  führen.^)     Die  Wahrhaftig- 

^)  Nietzsche,  Genealogie  der  Moral,  S.  37:  ,, Jenseits  von  Gut  und  Böse, 
das  heißt  zum  mindesten  nicht:  jenseits  von  Gut  und  Schlecht. 

*)  Wir  wollen  nicht  Montesquieu,  Gibbon,  Ferguson,  Drumann  über 
den  Aufstieg  und  Verfall  des  Römcrrciches  resümieren.  Ein  Römer  aus  der  Zeit 
des  begonnenen  Verfalles,  Cicero,  sagt  (De  re  publica  V):  ,,Nostris  enim  vitiis,  non 
rasu   aliquo,  rem  publicam   verbo  retinemus;   reapse  vero  jam  pridem   amisimus." 

Nur  aus  dem  Schöße  der  Wahrhaftigkeit  wird  jene  Zivilcourage  geboren,  die 
die  Quelle,  aber  auch  die  Bürgschaft  der  Freiheit  und  des  Rechtes  ist.  Andernfalls 
tritt  eine  Begünstigung  des  Schlechten  und  dessen  Auslese  ein.  In  feiler  Selbst- 
erniedrigung wird  die  Tugend  verspottet  und  ironisiert.  Träger  edler  Gesinnungen 
werden  totgeschwiegen  oder  gehen  wie  die  Gracchen  zugrunde.  Die  äußerlich  beste 
Organisation  nützt  dann  nichts  mehr,  gleichwie  die  beste  Unfallversicherung  die 
l'flichtversäumnisse  nicht  beseitigt,  die  die  Unfälle  steigern.  Wo  der  Satz  befolgt, 
ja  auch  nur  liingenommcn  w'ird,  daß  in  der  Politik,  die  doch  von  Menschen  gemacht 
wird,  die  Kthik  nicht  gelten  soll,  dort  herrscht  sicher  Knechtschaft,  Zuchtlosigkeit, 
Parasitismus.  Man  kann  an  dem  Untergang  der  Antike  verfolgen,  wie  das  lus 
datum  sceleri  in  die  Privatverhältnissc  eingreift;  wie  der  Bessergebliebene  sich 
stolz  auf  seine  inrrerc  Freiheit  zurückzieht;  ja  wie  er  mit  Lucretius  meint:  .,Ne 
qnaquam  nobis  divinitus  esse  crcatam  naturam  mundi,  quae  tanta  est  praedita 
I  ulpa"  (II,  175;  V,  200);  wie  ein  Caligula  die  hcrabgekommene  Verderbtheit  so 
sehr  empfand,  daß  er  den  bekannten  Ruf  ausstieß:  .,Utinam  populus  Romanus 
iinam  cervicem  habcret"  (Sueton,  IV,  30);  wie  das  Ruere  in  servitium  immer  größeren 
Umfang  annahm  (Tacitus,  Annalen  I);  wie  endlich  die  gar  nicht  mehr  römische 
Masse  einer  Entsagungskatastropho  verfiel,  die  voll  eschatologischer  Gedanken 
dem  Kultus  statutarischer  Satzungen,  der  Gunstbuhlerei  um  jenseitige  Belohnung 
oder  aber  einem  Taumel  S'ch  anheimgab,  von  dem  der  Zeitgenosse  Salvianus 
CDe  vcro  iudirjo  dri,  VTl)  mit   den   so   charakteristischen    Worten   spricht:   ,,Quis 


Philosophie  der  Tat.  407 

keit  alkin  kennl  ckn  lebendigen  fruchtbaren  Tod.  Weder  frei 
noch  unfrei  im  metaphysischen  Sinne,  entspricht  sie  unserem 
diantinomistischen  Wesen  und  befähigt  uns,  aufrecht  und  freudig 
ins  Ungewisse  weiter  zu  schreiten. 

Ein  sittlicher  Konflikt  muß  nach  dem  bisher  Gesagten  ganz 
unmöglich  sein.  Er  ist  es  auch.  Ethik  ist  nicht  Moral.  Moral- 
predigt ist  Sache  der  Sünder,  Ethik  aber  ist  ein  schicksalvolles 
Problem  der  menschlichen  Rechenschaft.  Es  gibt  nur  eine  Wahr- 
haftigkeit, die  zu  allen  Zeiten  und  unter  allen  Umständen  dieselbe 
ist.  Sie  ist  das  mit  unserem  Wesen  gegebene  Prinzip.  Ihr  Ge- 
biet ist  die  wahre  Bestimmung  der  Logik;  denn  hier  versagt  diese 
nicht,  hier  ist  sie  abschließend  und  unverbrüchlich :  nicht  in  Hin- 
sicht auf  Wahrheit,  sondern  auf  Wahrhaftigkeit,  nicht  in  Hinsicht 
auf  ein  Wissen,  sondern  auf  das  Gewissen.  Die  so  begründete 
l^thik  ist  also  ebenso  subjektiv  als  absolut. 

Wenn  nun  die  subjektive  Ethik  aber  wirklich  gilt,  dann  muß 
sie  auch  auf  dem  Wege  der  Beibringung  von  Tatsachen  sozusagen 
induktiv  bewährt  werden  können.  Diese  Tatsachen  werden  zu- 
gleich sehr  lehrreich  sein. 

Wir  schlössen  den  Abschnitt  von  der  Fiktion  mit  der  Fol- 
gerung: Das  Denken  sei  eine  Tat.  Für  die  Tat  gilt  die  Ethik, 
die  Übereinstimmung  mit  der  Einsicht.  Für  das  Denken  ist  diese 
Einsicht  im  logischen  Gesetz  gegeben  und  die  Übereinstimmung 
mit  demselben  auf  das  klarste  geboten.  Die  Unverbrüchlichkeit 
der  LüSfik  ist  hier  außer  Diskussion.  Sie  stellt  das  Gesetz  des 
Denkens    auf    und    beinhaltet    gleichzeitig    die    Notwendigkeit    der 


metuit  mortem  et  irridet  ?  Nos.  Et  in  metu  captivitatis  ludimus  et  positi  in 
mortis  tiniorc  ridemus.  .Sardonicis  quodammodo  herbis  omnem  Romanum  populum 
putes  saturatum.     Moritur  et  ridet." 

Hier  darf  noch  folgendes  aus  dem  unermeßlichen  Materiale,  das  zur  Ver- 
fügung steht,  hervorgehoben  werden.  Das  größte  Zeugnis,  das  Shakespeare 
einer  seiner  dramatischen  Personen  ausgestellt  hat,  ist  das  der  bedingungslosen, 
subjektiven  Wahrhaftigkeit.  Es  gilt  dem  Helden  seines  ,, Julius  Cäsar"  gennnten 
Dramas,  dem  Marcus  Biutus.  Den  Antonius  sowohl  wie  den  Octavianus  läßt  er 
es  aussprechen:  ,,Dies  war  der  beste  Römer  unter  allen.  Nur  er  verband  aus  reiner 
guter  Absicht  (honest  thought)  und  zum  gemeinen  Wohl  sich  mit  den  andern,  .  .  . 
Dies  war  ein  Mann." 

Nietzsche  hat  recht,  wenn  er  in  der  ,, Fröhlichen  Wissenschaft"  meint: 
,,Was  sagt  dein  Gewissen?     Du  sollst  der  werden,  der  du  bist." 

Auch  auf  die  tausendfältige  Erscheinung  des  bescheidenen  Alltags  soll  hier 
hingewiesen  werden,  daß  angesichts  des  Todes  nicht  der  Haß  in  den  Vordergrund 
tritt,  sondern  die  Liebe. 


^o8  Anton  Wesselsky: 

Kinhaltung  dieses  Gesetzes.  Für  das  Finden  einhelliger  Wahr- 
heit stehen,  wie  wir  sahen,  dem  logischen  Prinzip  Hindernisse 
entgegen,  nicht  aber  für  die  Wahrhaftigkeit,  für  die  Erreichung 
einhelliger  Tat.  Das  Gebiet  des  Denkens  ist  zugleich  das  der 
klarsten  Wahrhaftigkeit.  Nirgends  wird  klarer  als  auf  diesem 
(iebiete,  daß  die  Lüge  Selbstbelügung  ist.  Das  Denken,  als  Tat 
betrachtet,  ist  ein  offensichtlicher  Beweis  für  die  Ethik. 

Und  nun  das  Gewissen.  Es  ist  das  einzige  Gewißwissen  des 
Menschen.  Wer  es  bestreitet,  dem  wird  man  kaum  Glauben  bei- 
messen können,  denn  er  ist  gewissenlos.  In  diesem  Gewißwissen 
ist  der  Mensch  über  sich  selber  Richter  und  Vollzieher  zugleich. 
Er  kann  sich  höchstens  betäuben;  aber  zu  sich  gekommen,  kann 
er  nicht  einmal  Erlösung  wollen  aus  seiner  Reue.  Bei  den  Starken, 
die  auf  sich  selbst  nicht  verzichtet  haben,  wendet  es  sich  vorwärts 
als  guter  Vorsatz.  ,,Sua  qucmque  fraus",  sagt  Cicero  in  seiner 
Rede  pro  Roscio  Amerino,  ,,et  suus  terror  maxime  vexat;  suum 
quemque  scelus  maxime  vexat;  suum  quemque  scelus  agitat  amen- 
tiaque  afficit.  Suae  malac  cogitationes  conscientiaeque  animae 
terrent.  Hacc  sunt  impiis  assiduae  domesticaeque  furiae."  Das 
Gewissen  ist,  wie  Lessing  in  ,,Mif5  Sarah  Sampson"  sagt,  eine 
verklagende  Welt.  Nur  vor  ihm  gibt  es,  nach  Abälard,  eine 
Sünde.  Der  Gewissenlose  ist  ein  Kadaver  bei  lebendigem  Leibe; 
sein  Angesicht  und  sein  Gehaben  sind  Dokumente,  an  denen  nichts 
radiert  werden  kann.  Der  äußere  Untergang  folgt  früher  oder 
später  dem  inneren,  wenn  auch  nicht  im  Sinne  einer  Theodizee, 
so  doch  im  Sinne  Kants,  der  in  seiner  Abhandlung  über  das 
Ende  aller  Dinge  nachweist,  daß  dieses  für  die  Menschen,  da  es 
m  moralischen  Dingen  keine  Neutralität  gibt,  im  moralischen 
Zusammenbruch  liegt.  Solche  Zusammcngebrochenheit  annehmend 
und  vom  metaphysischen  Standpunkte  ansehend,  gelangte  Plato 
dazu,  die  Erde  für  eine  Art  Exil  oder  Zuchthaus,  Valentinianus 
sie  als  eine  Fehlgeburt,  Marcion,  den  Gott,  der  auf  Erden  herrscht, 
für  einen  minderwertigen,  zornbeherrschten  und  racheheischenden 
zu  erklären.  Ähnlich  wird  dem  Hamlet  Dänemark  zum  Kerker. 
,,An  sich",  sagt  Shakespeare  (Hamlet  H,  2),  ,,ist  nichts  weder 
gut  noch  böse,  das  Denken  macht  es  erst  dazu."  In  uns  selber 
haben  wir  den  Maßstab  für  unsere  Kritik  und  das  Urteil  für  unser 
Handeln.  Kultur  und  Gedeihen  stehen  im  einfachen  Verhältnis 
zur  Wahrhaftigkeit.  Kein  anderer  als  Nietzsche  ist  es,  der  in 
si:mer  zweiten   unzeitgemäßen   Betrachtung  darauf  hinweist,   ,,daß 


Philosophie  der  Tat.  409 

es  die  höhere  Kraft  der  sittlichen  Natur  war,  durch  die  den  Griechen 
der  Sieg  über  alle  anderen  Kulturen  gelungen  ist  und  daß  jede 
Vermehrung  der  Wahrhaftigkeit  auch  eine  vorbereitende  För- 
derung der  wahren  Bildung  sein  muß:  Mag  diese  Wahrhaftigkeit 
auch  gelegentlich  der  gerade  in  Achtung  stehenden  Gebildetheit 
ernstlich  schaden,  mag  sie  selbst  einer  ganzen  dekorativen  Kultur 
zum  Falle  verhelfen  können."^) 

Darwin  preist  das  moralische  Gefühl  als  das  edelste  aller 
Attribute  des  Menschen^)  und  folgert:  ,,Dann  kann  er  sagen,  ich 
bin  der  oberste  Richter  meines  eigenen  Betragens,  oder  mit  dem 
Worte  Kants,  ich  will  in  meiner  eigenen  Person  nicht  die  Würde 
der  Menschheit  verletzen." 

Nun  ein  anderer  induktiver  Gesichtspunkt.  Edler  Charakter 
führt  zur  Schönheit.  Die  innere  Ruhe,  die  Einigkeit  mit  sich 
selbst,  die  Selbstbeherrschung,  das  Wohlwollen,  die  Tatkraft 
leuchten  hervor  aus  welchem  Gesichte  immer.  ,, Denket  nicht", 
so  sagt  uns  Lava t er,  ,,den  Menschen  zu  verschönern  ohne  ihn 
zu  verbessern."  Das  einfache  Aschenbrödel  stellt  jene  Damen 
in  Schatten,  deren  Diamanten  und  Perlen  den  unedlen  Ausdruck 
in  ihrem  Gesicht  nicht  beseitigen  können.  Plotin  sagt  von  seinem 
höchsten  Guten:  Die  ihm  hingegeben  sind,  macht  es  schön  und 
liebenswürdig.   (I,  6,  7.)    Mit  ihrer  Sonnigkeit  wirken  sie  Wunder. 

Umgekehrt  spricht  die  Wahrhaftigkeit  für  edle  Abstammung. 
Piaton  stellt  sich  für  die  Athener  in  die  Bresche,  da  Dion  von 
zweien  solchen  schändlich  verraten  war,  und  weist,  um  die  Ehre 
seines  Volkes  zu  retten,  auf  sich  selber  hin.  (VII.  Brief.)  Wir 
wollen  aber  noch  ein  sehr  bezeichnendes  Beispiel  erwähnen  aus 
dem  Lande  der  Kasten  weit,  aus  Indien.  Dem  Chandogya-Upa - 
nishad  de  Samaveda  (4,  4,  Deussenscher  Ausgabe)  sei  folgende 
in  ihrer  Einfachheit  beredte  Episode  entnommen.  Satyakama 
sprach  zu  seiner  Mutter:  Ich  will  als  Brahmanschüler  eintreten; 
sage  mir,  aus  welcher  Familie  ich  bin.     Sie  sprach  zu  ihm:  Das 

*)  Wie  groß  die  Wahrhaftigkeit  bei  den  Griechen  war,  die  Nietzsche  hervor- 
kebt,  das  lehrt  das  Beispiel  des  philosophischen  Rhapsoden  Xenophanes,  der, 
mehr  als  ein  halbes  Jahrtausend  vor  unserer  Zeitrechnung,  gegen  die  Betrügereien 
der  Götter  in  Homers  Gedichten,  der  griechischen  Bibel.  Stellung  nahm  (Diels,  11) 
und  darauf  hinwies  (Diels,  15),  daß  die  Ochsen  einen  ochsenähnlichen  Gott  haben 
würden  und  daß  nur  Täuschung,  Schein,  Maja  (dokos,  dokesis),  über  alles  gebreitet 
sei  (Diels,  34.    Karsten,  14). 

-)  Abstammung  des  Menschen,  4.  Kapitel. 


^IQ  Anton  Wesselsky: 

weiß  ich  niclit,  mein  Junge;  in  meiner  Jugend  kam  ich  viel  herum 
als  Magd  und  da  habe  ich  dich  bekommen.  Da  ging  er  zu  Hari- 
drumata.  Er  sprach  zu  ihm :  Aus  welcher  Familie  bist  du,  mein 
Lieber?  Er  sprach:  Das  weiß  ich  nicht,  Herr  Lehrer;  ich  habe 
die  Mutter  gefragt,  die  hat  mir  geantwortet:  In  meiner  Jugend 
kam  ich  viel  herum  als  Magd,  da  habe  ich  dich  bekommen.  Er 
sprach  zu  ihm:  Nur  ein  Brahmane  kann  so  offen  sprechen.  Ich 
werde  dich  aufnehmen,  weil  du  nicht  von  der  Wahrheit  abgegangen 

bist.">) 

Ethik  macht,  wie  wir  sehen,  auch  gleich.  Die  Ethik  bedeutet 
die  Auslese  der  Tüchtigen,  den  Schutz  gegen  die  Versuchung  und 
Dekomposition,  den  die  besten  Gesetze  nicht  gewähren  können; 
die  Unterstützung,  ja  die  Erwerbung  besserer  Anlage,  den  Auf- 
stieg des  Einzelnen  und  die  Wiederbelebung  des  Volkes.  Sie  ge- 
währt vielleicht  weniger  Freuden,  aber  mehr  Freude.  Sie  macht 
frisch  und  tatenlustig;  sie  ist  wie  in  einem  beständigen  Feste,  wo 
immer  es  sei;  jeden  Tag  macht  sie  zum  ungcrufenen  Glück.  Die 
Frage  nach  der  Ethik  ist  die  Frage,  ob  ein  Leben  groß  sei  oder 
aber  eine  erbärmlich  elende  Sache. 

Wichtig  ist  die  Tatsache,  die  unser  Sprichwort  festlegt :  Kinder 
sprechen  die  Wahrheit.  Das  Kind  glaubt  treuherzig  und  kennt 
die  Lüge  noch  nicht.  Fichte  sagt  in  der  lO.  seiner  Reden  an  die 
Deutsche  Nation:  ,,Das  Kind  ohne  alle  Ausnahme  will  recht  und 
gut  sein."^) 

Aber  gerade  die  zuletzt  erwähnte  Artung  der  Kinder  zwingt 
dazu,  hier  kurz  auch  von  der  ethischen  Hauptaufgabe  der  Päda- 
gogik zu  sprechen.  Fichte  ist  es,  der  es  in  derselben  Rede  mit  so 
vielef  in  diesen  Zeiten  doppelt  bestehender  .Aktualität  als  die  aller- 
größte Vergehung  erklärt,  daß  schlechtes  Beispiel  die  Verderbnis 
der  Kinder  mit  sich  bringt.  ,,Das  dem  Kinde  in  seinem  Innern 
inbgehende.  Bewußtsein  stellt  sich  ihm  äußerlich  und  verkörpert 
dar  an  dem  Urteile  der  erwachsenen  Welt.     Bis  in  ihm  selbst  ein 

')  Vgl.  Seneca,  De  vita  beata  13:  Quisqiiis  ad  virtuteni  accessit,  dedit 
generosae  indolis  spem. 

2)  Goethe  sagt  in  den  Büchern  aus  seinem  Leben  (II):  ,, Wüchsen  die  Kinder 
in  der  Art  auf.  wie  sie  sich  andeuten,  so  hätten  wir  lauter  Genies."  Juvenal  hat- 
in  seiner  bekannten,  gegen  das  böse  Beispiel  gerichteten  14.  Satire  die  Knaben  m' 
grandioser  Weise  in  Schutz  genommen.  Nach  dem  Evangelium  Matthäi  (18)  rief- 
Jesus  ein  Kind  herbei,  stellte  es  unter  seine  Jünger  und  sprach:  Wahrlich,  ich  sage 
euch,  wenn  ihr  nicht  werdet  wie  die  Kinder,  werdet  ihr  nicht  in  das  Reich  Gottes 
eingehen. 


Philosophie  der  Tat.  4I  I 

verständiger  Richter  sich  entwickle,  wird  es  durch  einen  Natur- 
trieb an  diese  verwiesen  und  so  ihm  ein  Gewissen  außer  ihm  ge- 
geben, bis  in  ihm  selber  sich  eins  erzeuge."  Man  muß  es  langsam 
lesen,  was  Fichte  weiter  sagt:  ,,Bis  jetzt  ist  in  der  Regel  diese 
Unbefangenheit  und  die  kindliche  Gläubigkeit  der  Unmündigen 
an  die  höhere  Vollkommenheit  der  Erwachsenen  zum  Verderben 
derselben  gebraucht  worden."^) 

Es  ist  das  Hauptziel  der  Pädagogik:  den  heranwachsenden 
Menschen  vor  dem  Verzichte  auf  sich  selbst  zu  bewahren.  Nur 
dann  hat  alle  weitere  Tradition  und  aufgehäufte  Erfahrung  guten 
Sinn,  nur  dann  hat  das  unschätzbare  Gut,  das  die  Menschheit 
in  der  Wiedergeburt  hat,  seinen  Wert.  Diese  Wiedergeburt  ist 
zwar  die  große  Quelle  der  Naivetät  und  des  Vonvornanfangens, 
über  auch  der  große  Born  der  Hoffnung  auf  endliche  Mündigkeit. 

Es  darf  sich  nicht  verhehlt  werden,  daß  dem  Wahrhaftigen 
ein  Meer  von  Lüge  gegenübersteht.  Die  Befolgung  der  Ethik 
ist  aber  trotzdem  mit  der  unbedingten  Befriedigung  und  Genug- 
tuung verbunden,  die  einem  absoluten  Gute  auch  ohne  äußere 
Belohnung  zukommt.  2)  Und  daß  die  subjektive  Ethik  so  hoch 
steht,  ist  keineswegs  ein  Wunder,  wie  manche  meinen;  diese  Tal- 
sache  ist  eben  das  Bestehen  unseres  besseren  vSelbst,  jener  sub- 
jektiven ,, Metaphysik",  die  wir  oben  besprochen  haben.  Sie  ist 
kein  anderes  Wunder,  als  wir  es  mii  dem  Diantinomismus  unseres 
Wesens  überhaupt  gegeben  finden. 

Niemand  kommt  über  die  subjektive  Ethik  ohne  Selbst- 
verstümmelung hinweg.  Selbst  die  Lächerlichmachung  der 
Tugend,  die  sich  täglich  vor  unseren  Augen  aus  Tausenden  von 
Preßerzeugnissen  über  die  Kulturmenschheit  ergießt,  muß  doch 
bei  ihren  Lesern  Glauben  zu  erwecken  versuchen  und  ist  damit 
ad  absurdum  geführt.  Selbst  im  allgemeinen  Zusammenbruch 
bleibt  die  Wahrhaftigkeit  noch  immer  in  der  Macht  des  Einzelnen. 


^)  Die  Dichterin  Ebncr-Eschenbach  weist  in  einem  energischen  Aphorismus 
darauf  hin.  daß  es  ein  todeswürdiges  Verbrechen  sei,  in  Gegenwart  der 
Kinder  zu  spotten  oder  zu  lügen. 

Das  kostbarste   Erbe,   das  Eltern    einem    Kinde   hinterlassen    können,   ist   ein 

gutes  Beispiel. 

-)  Kant,  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  I:  ,,Es  ist  überall  nichts 
in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch  außer  derselben  zu  denken  möglich,  was  ohne  Ein- 
schränkung für  gut  könnte  gehalten  werden,  als  allein  ein  guter  Wille."  Vgl.  ebenda  II  : 
,, Autonomie  ist  also  der  Grund  der  Würde  der  menschlichen  und  jeder  vernünftigen 
Natur." 


>j2  Anton   Wesselsk)': 

Sic  bleibt  in  ihrem  Wirken  nach  dem  Tode  noch  lebendig  und 
ist  die   Quelle  für  alle  Propaganda  der  Tat.^) 

Ich  kann  diesen  Abschnitt  über  das  ethische  Problem  nicht 
anders  schließen,  als  mit  folgenden  Sätzen  aus  dem  bezüglichen 
IV.  Essay  meines  seinerzeitigen,  obenerwähnten  Entwurfes  einer 
Philosophie  der  Tat:  ,,Blut  ist  nicht  Zeuge  der  Wahrheit,  aber 
der  Wahrhaftigkeit.  Diese  allein  hat  ihre  Märtyrer,  seien  sie  nun 
häretisch  oder  orthodox.  Sie  alle  sind  lachende  Zeugen  der  Wahr- 
haftigkeit, mögen  sie  auch  geglaubt  haben,  daß  sie  das  Leben  ver- 
achten; sie  w^aren  stark  und  voll  blühenden  Lebens  im  Tode.  Sie 
sind  vvahre  Herren  des  Lebens  gewesen,  echte  Könige,  Menschen, 
die  ihren  Lohn  in  sich  selber  haben,  und  nach  dem  Tode  sind  sie 
wie  erloschene  Sonnen  am  Himmel,  unsichtbar,  doch  voll  der 
Bedeutung.  Neben  ihnen  spreizen  sich  vergebens  die  Hoch- 
stapler der  Geschichte,  die  um  des  Heldentums,  um  des  Ge- 
nusses, um  des  Ruhmes  willen  handeln,  tot  schon  zur  Zeit  ihres 
Lebens. 

Sucht  Menschen,  die  auf  sich  selbst  nicht  verzichtet  haben, 
die  innerlich  nicht  resigniert  sind,  die  frei  geblieben  sind  und  un- 
abhängig sich  erhalten  haben  im  Glücke  oder  unter  den  Schlägen 
des    Schicksals,    sucht    Menschen,    die    lebensstark    und    tatenfroh 


^)  Es  sei  hier  an  Fausts  Wort  erinnert:  ,,Doch  werdet  ihr  nie  Herz  zu  Herzen 
schaffen,  wenn  es  euch  nicht  vom  Herzen  geht."  Oder  an  Quintilians  Satz: 
,,Oratorem  autem  instituimus  illum  perfectuni,  qui  esse  nisi  vir  bonus  non  potest  .  .  . 
neque  enim  hoc  concesserini,  rationem  rectae  honestaeque  vitae  (ut  quidem  puta- 
verunt)  ad  philosophos  relegandam  .  .  ."  (Institutio  I.  Prooem.). 

Godwin  in  seiner  wunderbaren  ,,Inquiry  concerning  political  justice"  (i79S, 
I.  S.  233)  sagt  einfach:  ,,Virtue  allone  is  happines."  Ein  Satz,  über  den  auch  das 
V.  Buch  von  Ciceros  Tusculanen  gelesen  zu  werden  verdient.  Vgl.  auch  des  So- 
krates  klaren  Ausspruch  in  Piatons  Gorgias,  470 e. 

Hier  soll  sich  endlich  auf  einige  Sätze  berufen  werden  aus  Klingers,  des 
Freundes  Goethes,  den  Deutschen  gewidmeten,  tiefgründigen  ,, Betrachtungen 
und  Gedanken",  die  die  Deutschen  tief  unterschätzt  haben:  ,,Wer  edel,  uneigen- 
nützig, großmütig  denkt,  ist  überall  frei;  wer  niederträchtig,  eigennützig,  kriechend 
denkt,  ist  überall  Sklave.  Der  Mann,  der  sich  in  seinem  Innern  selbst  konstituiert 
hat,  hängt  nicht  mehr  von  der  äußeren  Form  ab,  er  steht  auf  seiner  eigenen  Magna 
Charta,  die  ihm  keine  Macht  auf  Erden  nehmen  kann."  ,,Um  in  jeder  Lage  tugend- 
haft zu  sein  und  gewissenhaft  zu  handeln,  dazu  gehört  mehr  Mut,  als  Schlachten 
beizuwohnen."  ,,Der  Mensch  kann  vielleicht  alles  vergessen,  die  Liebe,  die  Freund- 
schaft, die  schuldige  Dankbarkeit,  alle  Pflichten,  ja  selbst  alles  Gute,  das  er  getan 
hat;  was  er  aber  nie  vergessen,  dem  er  nie  ausweichen  kann,  was  nie  in  ihm  schläft, 
das,  wenn  es  auch  schlummern  könnte,  doch  durch  das  kleinste  Ereignis  plötzlich 
erweckt  würde,  ist  sein  eigenes  l^rteil  über  seinen  Wert  und  sein  geführtes  Leben." 


Philosophie  der  Tat.  413 

geblieben  sind,  und  dann  sucht  bei  allen  diesen  die  Wurzel  ihrer 
herrlichen  Höhe,  und  ihr  werdet  in  der  Praxis  finden,  wonach 
wir  hier  in  der  Theorie  zu  forschen  ausgegangen." 

Die  Ethik  ist  nicht  Sache  eines  Sittengesetzes,  sondern  unseres 
Wesens.  Sie  ist  gegeben  mit  der  logischen  Funktion.  Sie  ist  unter 
keinen  Gesichtspunkt  objektiver  Zwecke  zu  fassen.  Sie  ist  sub- 
jektiv und  absolut  zugleich. 


TII.  Das  Als  Ob  in  der  Ästhetik. 

Die  Gebiete,  mit  denen  der  Mensch  zu  tun  hat,  scheiden  sich 
nach  der  allgemeinen  Antinomie  in  das  Gebiet  der  Natur  und  in 
das  des  Geistes,  während  die  Diantinomie  das  Leben  als  solches 
umfaßt.  Demgemäß  ergeben  sich  auch  die  Wissensgebiete  und 
es  entstehen  die  Gruppen  der  Naturwissenschaften  im  weitesten 
Sinne,  ebenso  der  Geisteswissenschaften  und  endlich  der  Lebens - 
Wissenschaften.  Schon  die  alte  griechische  Philosophie  hat  sich 
ähnlich  in  Physik,  Logik  und  Ethik  geschieden,  ebenfalls  das 
ganze  Wissengebiet  umfassend. 

Die  Ästhetik  gehört  in  die  Gruppe  der  Lebenswissenschaften 
und  bietet,  wie  wir  sehen  wollen,  eine  bedeutsame  Probe  für  die 
subjektive  Gegebenheit,  für  das  autonome  Maß  und  Ziel  im  Sinne 
der  oben  dargelegten  Auffassung,  eine  Bewährung  für  die  finale 
und  ethische  Artung  unseres  Wesens. 

Die  Trilogie  vom  Wahren,  Guten  und  Schönen,  wie  sie  von 
Plato^)  bis  zu  HaeckeP)  sich  findet,  ist  keine  systematische, 
sondern  einfach  von  dem  Gesichtspunkte  aus  gebildet,  was  für 
den  Menschen  besonders  wichtig  oder  bedeutsam  sei.  Anderer- 
seits weist  das  hellenisch-aristokratische  Ideal  des  Kaloskagathos 
direkt  auf  einen  Zusammenhang  des  Schönen  mit  der  ethischen 
Bewährung,  auf  der  dabei  überdies  das  Hauptgewicht  liegt. 2) 
Die  ethische  wird  zugleich  zu  einer  ästhetischen  Bewährung. 

Wir  lieben  uneigennützig  die  Schönheit  und  wir  hassen,  es 
liegt  das  schon  im  Worte  ausgedrückt,  die  Häßlichkeit.   Wir  können 


^)  Phaidros,  246 d:  tö  de  &eiov  xalbv,  aocpbv  ufuftöv. 

*)  Welträtsel,  i.  Aufl.,  S.  388:  ,,Die  wahre  Dreieinigkeit  des  neunzehnten 
Jahrhunderts,  die  Trinität  des  Wahren,  Guten  und  Schönen." 

*)  Gorgias,  470 e:  Tbv  (ikv  yaq  xaXbv  xai  uya&bv  revöga  xai  ywuixa  evÖal- 
fjiova  eivai  (pfj^i,  jbv  da  udixov  xai  novrjobv  u&}.ioi\ 


.  j  .  Antou  Wesselsky : 

über  nur  würdigen,  was  unserem  Wesen  gemäß  ist^),  nur  bchätzen, 
was  unserem  besseren  Selbst  entspricht.    Die  Wirkung  des  Schönen 
wird   verständlich   als   die   eines    Symboles   der   unserem   besseren 
Selbst  final   entsprechenden   Harmonie,   und  so   können  wir  vom 
Symbole  auf  das   Symbolisierte  schließen  und  in  der   Schönheit, 
im  Kunstwerk,   ein   Symptom  sehen  für    unser  Ziel,   in  dem  un- 
befangenen  Schönheitsgefühl  eine  Bekräftigung  ethischer  Lebens- 
auffassung.    So  ist  uns  die  Schönheit  der  Eindruck  der  im  Einzel- 
falle erreichten  Harmonie  als  Gleichnis  letzten  menschlichen  Zieles, 
so  ergibt  sie  sich  uns  nicht  als  ein  metaphysisch-mystischer  Wert, 
sondern  als  ein  lebendiges  Symbol.     Und  so  läßt  sich  die  Schön- 
heit  vom   Standpunkt   zielstrebiger   Auffassung   begreifen  als   das 
Ergebnis   einer   finalen    Fiktion,    in   der   Musik,   in   der   bildenden 
Kunst,   in  der   Dichtung,   im  Menschenwesen,   im  Menschenleben. 
Die   Verfolgung   dieser   ästhetischen    Symbolik   auf   einzelnen    Ge- 
bieten  mag  eine   Probe  für  die   Richtigkeit  dieses    Standpunktes 
ergeben. 

Für  den  Menschen  sind  das  schöne  Angesicht,  die  ebensolche 
Gestalt,  die  edle  Gehabung,  die  mündige  Lebensführung  Zeichen 
eines  wertvollen  Wesens.  Ohne  weiteres  klar  ist  die  Bedeutung, 
die  der  Schönheit  auf  dem  Gebiete  der  Geschlechtsliebe  —  vom 
sogenannten  Heiratsmarkt  ist  hier  natürlich  nicht  die  Rede  — 
zukommt. 

Nur  durch  finale,  anthropomorphische  Betrachtung  des  Ge- 
waltigen im  Hinblick  auf  unsere  kleine  ephemere  Existenz  ist 
der  Eindruck  des  Sternenhimmels,  des  bewegten  Meeres,  des 
Hochgebirges  zu  erklären.  Nur  so  auch  die  unbeschreibliche 
Schwermut,  die  die  Natur  dort  hervorruft,  wo  ihre  Leblosigkeit 
anregungslos  in  den  Vordergrund  tritt.  Von  Haller  zu  St.  Pierre 
und  Rousseau,  von  Hesiod  zu  Humboldt  und  Macpherson, 
von  Vergil  zu  Goethe  belehren  uns  alle  Naturschilderungcn  dar- 
über. ,,Der  Dinge  Wert  ist,  was  wir  davon  empfinden",  sagt  schon 
der  Erstgenannte  in  seinen  Alpen. 

Lag  nun  der  ästhetische  Eindruck  auf  anorganischem  Ge- 
biete in  der  finalen  Auffassung  der  Kausalität,  so  handelt  es 
sich  nun  auf  dem  anderen  von  vornherein  finalen  Gebiete  lebendiger 

*)  Vgl.  Plotin  (ZZf^t  xov  x«/.oü  pag.  57);  ov  'jfuQ  nn  nünore  eiÖev  dq}&aX- 
fibg  ijhov,  T/XtoeiSfjg  firf  j'ej'evi^^ueyoc  ovde  lö  xaXby  av  1601  tpvx>/,  firj  xnXrj  fsvo- 
fiivr].  Vgl.  Plato,  Politeia,  508  (VI,  19):  'AXX'  r'iXioeiöeiTiaiov  j'S  olfiai  jüv  nsQi 
Tf'tg  uiffd^rjaeig  öq^üvcov. 


Philosophie  der  TaL  4 1  5 

Vorgänge  um  eine  ethische  Betrachtung  der  Finahtät.  Überall 
aber  läßt  sich  die  ästhetische  Wirkung  als  die  eines  Symbolcs  in 
Hinsicht  auf  die  vom  Menschen  in  letzter  Linie  erstrebte  lebendige 
Harmonie  verstehen. 

Was  nun  aber  das  Gebiet  des  Lebens  selber  anbelangt,  so  ist 
das  Drama  das  höchste  Symbol  des  Lebens  und,  wirklich  dichterisch 
gestaltet,  das  höchste  ästhetische  Symbol.  E^  wäre  konsequenter 
gewesen,  wenn  die  französische  Revolution  1793,  statt  einen  statu- 
tarischen Kultus  der  Vernunft  einzuführen,  die  öffentliche  Auf- 
führung edler  Dramen  beschlossen  hätte.  Die  Konfliktslösungen 
des  Dramas  sind  ethisch  final  verständlich.  Das  Unterliegen  der 
ihrer  selbst  nicht  klaren  Minderwertigkeit  ist  komisch,  und  die 
Anschauung,  die  darauf  anwendbar  ist,  ist  die  des  Humors.  Das 
Unterliegen  der  unbewußten  Vollwertigkeit  ist  rührend.  Die  dem- 
entsprechende  Anschauungsw^eise  ist  die  der  Sentimentalität.  Das 
Unterliegen  der  bewußten  mündigen  Vollwertigkeit  ist  tragisch. 
Da  es  aber  für  solche  Mündigkeit  ein  inneres  Unterliegen  nicht 
geben  kann,  so  erscheint  ihr  Verhalten  erhaben.  Der  Sieg  der 
Minderwertigkeit,  der  mit  dem  Erliegen  des  Vollwertigen  ver- 
bunden ist,  ist  satirisch,  da  ihr  innerer  Sieg  unmöglich  ist.  Der 
Sieg  der  unbewußten  Vollwertigkeit  ist  anmutig-idyllisch,  der  der 
mündigen  würdig  und  dramatisch  schlechthin.  Ihm  steht  das 
Unterliegen  der  bewußten  Minderwertigkeit  gegenüber  im  Schau- 
spiel, der  unbewußten  in  der  Komödie.  Das  innere  Unterliegen 
der  Vollwertigkeit  kommt  nicht  vor  und  wäre  auch  eine  Contra- 
dictio  in  adjecto. 

Reines,  losgelöstes  Symbol  der  Einhelligkeit,  aber  auch  des 
Weges  zu  ihr,  der  Tat,  ist  mit  ihrer  Harmonie  und  Melodie  und 
ihrem  Rhythmus  die  Musik.  Mit  ihr  werden  daher  die  Krieger 
zum  lebeneinsetzenden  Kampfe  geleitet.  Die  Musik  ist  beherrscht 
vom  Gesetz  der  Harmonie  und  daher  fühlt  jeder  beim  Anhören 
einer  großen  Musik,  wie  schon  Schopenhauer  sagt,  was  er  im 
ganzen  wert  ist  oder  vielmehr,  was  er  w^rt  sein  könnte.  ,,Das 
unaussprechlich  Innige  aller  Musik,  vermöge  dessen  sie  als  ein 
so  ganz  vertrautes  und  doch  ewig  fernes  Paradies  an  uns  vor- 
überzieht, so  ganz  verständlich  und  doch  so  unerklärlich  ist,  be- 
ruht daraiif,  daß  sie  alle  Regungen  unseres  innersten  Wesens  wieder- 
gibt, aber  ganz  ohne  die  Wirklichkeit  und  fern  von  ihrer  Oual."^) 


^)  Neue  Paralipomena  (Reclam),  S.  398.    Welt  als  Wille,  I,  S.  312t 


j  j5  Anton   Wesselsky: 

So  ergibt  sich  allenthalben  eine  einfache  Erklärung  der  ästhe- 
tischen Erscheinungen,  nicht  im  Sinne  des  Seins,  sondern  des 
Werdens,  nicht  metaphysisch,  sondern  final. 

Es  liegt  nahe,  sich  hier  mit  Nietzsches  Duplizität  des  Diony- 
sischen und  Apollinischen  auseinanderzusetzen.  Man  kann  das 
Dionysische  als  das  dem  Leben  zugrunde  liegende  Vorrationale, 
als  das  ,, ewige  Ja  des  Seins",  wie  Nietzsche  sagt,  als  ,, große 
Vernunft"  gegenüber  der  bewußtgewordenen  kleinen  bezeichnen, 
oder,  um  mit  Kant  zu  reden,  als  ein  Corpus  mysticum,  das  durch 
seine  Betätigung  besteht  und  mit  dieser  von  vornherein  final  ist. 
Diese  Finalität,  aus  der  Region  des  Instinktes  in  die  der  Mündigkeit 
erhoben,  wird  apollinisch.  An  die  Stelle  des  barbarischen  Dionysos 
tritt  der  hellenische  Apollo,  Phoibos,  der  Lichtgott,  der  Reine, 
der  Musagete,  auf  dessen  delphischem  Heiligtum  der  Spruch  stand 
vom  ,, Kenne  dich  selbst".  Schiller  sagt  mit  vielem  Recht  in 
seiner  Abhandlung  über  naive  und  sentimentalische  Dichtung: 
,, Fürchte  dich  nicht  vor  der  Verwirrung  außer  dir,  aber  vor  der 
Verwirrung  in  dir,  strebe  nach  Einheit,  aber  suche  sie  nicht  in 
der  Einförmigkeit,  strebe  nach  Ruhe,  aber  durch  das  Gleichgewicht, 
nicht  durch  den  Stillstand  deiner  Tätigkeit.  Jene  Natur,  die  du 
dem  Vernunftlosen  beneidest,  ist  keiner  Achtung,  keiner  Sehn- 
sucht wert.  Sie  liegt  hinter  dir,  sie  muß  ewig  hinter  dir  liegen. 
Verlassen  von  der  Leiter,  die  dich  trug,  bleibt  dir  jetzt  keine 
andere  Wahl  mehr,  als  mit  freiem  Bewußtsein  und  Willen  das 
Gesetz  zu  ergreifen,  oder  rettungslos  in  eine  bodenlose  Tiefe  zu 
fallen." 

Es  wird  auf  ästhetischem  Gebiete  eine  bestimmte  Har- 
monie als  Harmonie  an  sich  fingiert.  Die  Unwillkürlichkeit 
solcher  Fiktion  vermag  an  ihrem  Wesen  nichts  zu  ändern.  Und 
unwillkürlich  wird  diese  Fiktion  wieder  ausgeschieden  und  das 
Wohlgefallen  teilt  sich  zwischen  der  anregenden  speziellen  und 
der  symbolisierten,  allgemeinen  Harmonie.  Es  liegt  dabei  sozu- 
sagen eine  unabsichtliche  Absicht  vor^),  den  speziellen  Fall  zum 
Idol  zu  machen,  um  alsbald  beim  symbolisierten  Ideal  anzulangen. 
Das  ästhetische  Gebiet  erscheint  so  als  ein  Spezialfall  der  Philo- 
sophie des   Als    Ob,    deren   Wesen   gerade   hier   zur  selbständigen 

')  Kant  verweist  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  an  zahlreichen  Stellen  in 
ähnlicher  Hinsicht  auf  eine  ,, Zweckmäßigkeit  ohne  Zweck"  und  sagt  direkt  (S.  6i): 
,, Schönheit  ist  Form  der  Zweckmäßigkeit  eines  Gegenstandes,  sofern  sie  ohne  Vor- 
stellung eines  Zweckes  an  ihm  wahrgenommen  wird." 


Philosophie  der  Tat.  417 

Geltung  gelangt,  während  sie  auf  dem  Gebiete  des  Wissens  ein 
Faute  de  mieux  bedeutet. 

Der  Weg  vom  Idol  zum  Ideal  ist  der  Weg  des  Als  Ob,  aut- 
richtig, wahrhaft,  wenn  auch  fiktiv  oder  symbolisch.  Der  Weg 
dagegen  vom  Ideal  zum  Idol  ist  der  der  Hypostase,  des  Homi- 
nismus,  des  Selbstbetruges. 

Einen  solchen  Weg  schlägt  die  Theorie  ein  von  der  ,, Kunst 
für  die  Kunst",  des  l'art  pour  l'art,  deren  Haltlosigkeit  durch  die 
Kadaverkultur  und  den  selbstgefälligen  Snobismus  der  Nurästheten 
(pourvu  quc  le  geste  seit  beau)  genügend  gekennzeichnet  ist. 

Die  symbolische  Ästhetik  aber  ist  in  ihrer  Herrlichkeit  ein 
mächtiger  Beweis  für  die  finale  und  ethische  Lebensauffassung, 
ein  Beweis,  geführt  durch  die  Schönheit  für  das  autonome  Maß 
und  Ziel  und  für  das  Gute,  eine  Bewährung  des  Symbolisierten 
durch  das  Symbol. 

Vin.    Der  Gang  ins  Unbekannte. 

Es  gilt  hier  nicht  die  Frage,  ob  der  Tod  für  uns  ein  Ende 
bedeute,  oder  das  Leben  einen  Anfang,  in  das  wir  oft  aus  nicht 
ganz  würdigem,  von  uns  übrigens  unabhängigem  Anlaß  einge- 
treten sind.^)  Wir  wissen  über  diese  Frage  auch  dann  nichts, 
wenn  wir  sie  auf  die  ganze  Menschheit,  ja  auf  das  Leben  als  solches 
ausdehnen.  Der  Idee  der  Ewigkeit  gegenüber  ist  die  Geringfügigkeit 
eines  Lebensalters  kaum  elender  als  die  einer  Jahrmilliarde.  Die 
Einsicht  in  diese  Dinge  ist  uns  antinomistisch  verschlossen  und 
unser  Wesen  verlangt  dennoch  nach  einer  auflösenden  Antwort. 

Wir  gehören  der  Menschheit,  ja  dem  ganzen  großen  Leben  an, 
von  dem  wir  keinen  Anfang  kennen  und  kein  Ende  und  das  für 
uns  ins  Unbekannte  weiterschreitet.     In  dieses  Leben  greifen  wir 


^)  Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  2.  Aufl.,  S.  807,  weist  darauf  hin.  daß 
„die  Zufälligkeit  der  Zeugungen,  die  beim  Menschen  wie  bei  dem  vernunftlosen 
Geschöpf  von  der  Gelegenheit,  überdem  aber  auch  oft  vom  Unterhalte,  von  der 
Regierung,  deren  Launen  und  Einfällen,  oft  sogar  vom  Laster  abhängt,  eine  große 
Schwierigkeit  macht  wider  die  Meinung  der  auf  Ewigkeiten  sich  erstreckenden  Fort- 
dauer eines  Geschöpfes,  dessen  Leben  unter  so  unerheblichen  und  unserer  Freiheit 
so  ganz  und  gar  überlassenen  Umständen  zuerst  angefangen  hat".  —  Von  der  Ein- 
heit des  Lebens  ausgehend,  kann  man  auch  bezüglich  der  vernunftlosen  Geschöpfe 
die  Frage  der  Unsterblichkeit  stellen  und  sich  dabei  vorstellen,  daß  wir  diesen  Lebe- 
wesen nicht  anders  gegenüberstehen,  als  vielleicht  uns  selbst  gegenüber  höher  ge- 
artete Wesen  auf  anderen  Planeten. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  27 


AlS  Anton  Wesselsky : 

ein  mit  unserer  Tat.  Sie  ist  unsere  Antwort  auf  unsere  großen 
Fragen,  wofern  sie  gemäß  unserem  innersten  We^en  geschieht, 
in  dessen  Sinne  die  Fragen  gestellt  sind.  Mit  der  finalen  Tat 
antworten  wir  auf  die  große  finale  Frage  des  Wozu  und  machen 
unsere  Sehnsucht  zu  einer  Hoffnung. 

Diese  Antwort  ist  bedeutsam  und  doch  so  bescheiden,  wie 
unser  Treiben  auf  Erden.  Nur  muß  sie  edel  sein,  das  heißt,  unserem 
besten  Wissen  entsprechend.  Für  unsere  Person  ist  mit  dem  Adel 
der  Tat  die  Frage  erledigt;  die  Ethik  ist  die  Realisierung  für  uns. 

Was  aber  das  Volk  und  die  Menschheit  betrifft,  so  handelt 
es  sich  um  das  Thema  der  Philosophie  der  Geschichte  und  um 
die  Frage  der  Geschichtsauffassung. 

Der  Weg,  den  die  Menschheit,  schicksalsvollem  Zufall  aus- 
gesetzt, ins  Unbekannte  zieht,  ist  einstweilen  mit  der  Etappe 
des  von  ihr  selbst  zu  verantwortenden  Weltkrieges  gekennzeichnet, 
mit  der  Abnahme  der  Zivilisation  und  der  sporadisch  vertretenen 
Kultur.  Die  große  Frage  der  Verblutung  der  Kulturmenschheit 
und  der  Umstand,  daß  nicht,  wie  beim  Zusammenbruche  der 
Antike,  neue,  schöpferische  Völkerreserven  zur  Verfügung  stehen, 
läßt  Ausblicke,  wie  Gobineau-^)  sie  prägte,  naheliegend  erscheinen. 
Was  für  die  Deutschen  der  Dreißigjährige  Krieg  bedeutet  hat,  das 
vermöchte  in  dieser  Richtung  für  die  europäische  Menschheit  der 
Weltkrieg  zu  werden.  Es  soll  nicht  kommen  wie  nach  dem  Unter- 
gange  Griechenlands  und  Roms,  doch  sind  die  Blicke  unwillkürlich 
auf  die  Entsagungskatastrophe  gerichtet,  die  damals  über  die 
Menschheit  hereingebrochen  ist.  Nicht  so  sehr  übrigens  auf  die  Kata- 
strophe selbst  und  auf  die  chaotische  Masse,  die,  von  Kriegsschlägen 
und  Bürgerkämpfen  zermürbt,  sich  mit  Enthusiasmus  der  christ- 
lichen, alexandrinisch-judäisch  fermentierten  eschatologischen  Fas- 
sung heraklitisch-platonischer  Jenseitslehren  ergab.  ^)     Wir  blicken 


^)  Essai  ,,Sur  l'in^galite  des  races  humaines",  Conclusion  g6n6rale:  ,,La  Pro- 
vision attristante,  ce  n'est  pas  la  mort,  s'est  la  certitudc,  de  n'y  arriver  que  degrad6." 

^  Vgl.  Bruno  Bauer,  Christus  und  die  Cäsaren,  2.  Aufl.,  Berlin,  1879,  und 
andere  seiner  Werke. 

Wieweit  den  nicht  mehr  stoischen  Epiktet  seine  Lehre  des  Entsagens  und 
Ertragens  trieb,  geht  aus  den  rein  demütigen  Worten  desselben  hervor:  ,,Hat  jemand 
Böses  von  dir  gesagt,  so  danke  ihm,  weil  er  dich  nicht  geschlagen  hat;  hat  jemand 
dich  verwundet,  so  danke  ihm*  weil  er  dich  nicht  tötete."  Vgl.  auch  Encheiridion 
XXXIII,  'Env  rig. 

Vgl.  übrigens  zur  Sachlage  auch  Pauli  cpist.  ad  Cor.,  I,  i. 

Daß  die  das  Christentum  vorbereitende  Literatur  beim  Erstarken  des  christlich- 


Philosophie  der  Tat.  419 

auch  nicht  auf  die  Anhänger  der  alten,  längst  vcrlorenL-n  Sache 
der  Götterkulte,  für  deren  Erhaltung  in  Rom  noch  zuletzt  der 
Stadtpräfekt  Symmachus  auftrat,  der  in  seiner  bekannten  Re- 
lation an  Theodosius  und  Valentinianus,  die  Herrscher  des  Ostens 
und  Westens,  darauf  verweist,  daß  in  religiösen  Dingen  die  Ver- 
nunft versage  und  der  sich  dagegen  auf  das  FIcrkommen  beruft, 
das  Rom  groß  gemacht  habe.  Symmachus  nimmt  immer  wieder 
Anlaß,  darauf  hinzuweisen,  ,, hominis  culpam  esse,  non  saeculi"; 
für  eine  Besserung  fehle  es  nicht  an  den  Zeiten,  nur  an  den 
Menschen.^)  Unser  Blick  richtet  sich  vielmehr  auf  jene  Einzelnen, 
die  in  ihrer  Zurückgezogenheit  vor  der  Macht  und  vor  dem  Ruhme 
ihre  Persönlichkeit  voll  wahrten  und  in  ihrer  Selbstgenügsamkeit 
die  wahren  Herren  gewesen  sind,  um  deren  Stirn  sich  sozusagen 
der  Königsreif  des  inneren  Adels  schlang,  die  Stoiker.  Sie,  die 
allein  unter  allen  ohne  Belohnung  Gutes  wollten,  wären  wahr- 
scheinlich damals  die  Träger  der  Zukunft  gewesen,  hätte  ihre 
Weltanschauung  Zukunftsgedanken  enthalten.  Denn  sie  waren 
Helden  und  sie  taten,  wie  sie  dachten.  Die  große  Überzahl  jener, 
die  anders  meint  und  anders  handelt,  wenn  Leidenschaft  oder 
Eigennutz  sprechen,  die  kommt  nur  als  Ballast  in  Betracht  und 
ist  der  Nährboden  für  Cäsarismus  und  Ochlokratie.  Das  Schicksal 
aber  wird  von  jener  Minorität  getragen,  die  wohl  nur  im  idealen 
Falle  zur  Majorität  werden  kann  und  die  im  Sinne  mündiger 
Rechenschaft  und  Ethik  handelnd,  den  Zukunftsgedanken,  der 
Menschheit  bewahrt  und  betätigt. 

Die  Wahrheit  ist  ein  starker  Trank.  Überblickt  man  nach 
genauerer  Kenntnis  der  Menschengeschichte  ihren  gesamten  Verlauf, 
so  kommt  man  unerachtet  herrlicher  Details  wohl  zu  dem  Schlüsse, 
daß  ihre  bisherige  Entwicklung  gar  nicht  sehr  würdevoll  gewesen 
ist  und  gar  nicht  viel  von  einer  Kultur  erkennen  läßt.  Von  einem 
transzendenten  Sinn  zu  sprechen,  wäre  freilich  überhaupt  und 
unter  allen  Umständen  ein  imbeziler  Optimismus.  Jedoch  auch 
in  Hinsicht  auf  mündige  Entfaltung  kann  bisher  nur  von  bloßen 

kirchlichen  Selbstbewußtseins  verdächtigt  und  vernichtet  wurde,  darüber  vgl. 
Pfleiderer,  Die  Philosophie  des  Heraklit,  S.  48if.,  wo  geradezu  der  Satz  als 
geltend  gebrandmarkt  wird:  Pereant,  qui  ante  nos  nostra  dixerunt.  Dort  wird  auch 
auf  Johann.,  X,  8,  und  auf  die  für  das  Verschwinden  der  antiken  Literatur  sehr 
charakteristische  Stelle  Apostelgeschichte,  XIX,  19,  verwiesen. 

^)  Symmachus,  Epistolae,  X,  54,  15;  III,  43.  —  Die  tüchtigen  und  schöpfe- 
rischen Elemente  waren  längst  der  kriegerischen  Verblutung,  den  Proskriptionen 
und  in  der  Kaiserzeit  der  Ausmordung  zum  Opfer  gefallen. 

27* 


420 


Anton  Wesselsky 


Ansätzen  gesprochen  werden,  die  hier  und  da  im  ganzen  Laufe 
der  Geschichte  zu  bemerken  sind,  wobei  wohl  nicht  zuletzt  der 
klassischen  Antike  gedacht  werden  muß. 

Daß  aber  die  Menschengeschichtc  kein  blindes,  zweckloses 
Geschehen  sei,  das  herbeizuführen,  das  in  sie  hineinzutragen, 
liegt  an  uns.  Die  Tugend  ist  nicht,  wie  Schopenhauer  meint, 
ein  Fremdling  und  ein  Wunder  auf  Erden;  denn  nochmals  sei  es 
festgestellt,  ihre  Heimat  sind  die  Herzen  tugendhafter  Menschen 
und  deren  Wesen  selber  ist  das  autonome  Wunder  der  Menschheit. 

Jeder  Einzelne  hat  eis  in  der  Hand,  in  seinem  Bereich  den 
großen  Weg  im  Sinne  des  besseren  Selbst  der  Menschheit  ein- 
zuschlagen und  zu  fördern,  den  Weg  der  Liebe,  der  Ethik  und 
der  Tat  ins  Unbekannte. 

Dieser  Weg,  dieses  Schreiten  auf  der  Bahn  der  Durchsetzung 
menschlichen  Maßes  und  Zieles  ist  der  autonome  Sinn  der  Ge- 
schichte der  Menschheit.  Und  dieser  Sinn  ist  der  einzig  mög- 
liche. Je  besser  der  Mensch  selber  ist,  um  desto  gewaltiger  wird 
für  ihn  der  Sinn  der  Geschichte.  Und  desto  unabweislicher  die 
Bewährung  ausdauernder  Tatkraft,  mündiger  Bescheidenheit,  wahr- 
haftiger Entschlossenheit. 

Da  alles  Menschenwerk  der  Ethik  unterliegt,  so  gilt  das  auch 
von  der  Politik,  sow'ohl  in  Hinsicht  auf  den  einzelnen  Staat  und 
das  einzelne  Volk,  als  auch  in  Hinsicht  auf  das  Zusammenleben 
der  Staaten  und  Völker.^)  Die  Lüge  hat  in  der  Geschichte  keinen 
Bestand.  Mögen  wahre  Taten  leider  selten  sein:  Scheinaktionen 
und  lügende  Taten  führen  zur  Haltlosigkeit  der  Werke. 

Nach  dem  Thema  von  der  Philosophie  und  vom  Sinn  der  Ge- 
schichte noch  einige  Worte  zur  Frage  der  Geschichtsauffassung.^) 
Sie  ist  eine  Folge  der  Weltanschauung  und  leider  haben  bei  ihr  wie 
bei  dieser  die  Einseitigkeiten  überwogen.  Die  Geschichtsauffassung 
ist  von  größter  Bedeutung  für  die  Fragen  der  wirklichen  Organisation 
und  damit  für  die  Ermöglichung  einer  Chance  der  Guten  und  Hoff- 
nungsvollen statt  einer  solchen  der  Schlechten.  Wir  sahen,  daß 
der  Bereich  der  menschlichen  Betätigung  auf  das  Gebiet  des 
Geistigen  und  des  Stofflichen  und  dann  des  diantinomistisch 
Lebendigen  sich   erstreckt.     Es   ist   leicht   einzusehen,   daß  jedem 

*)  Vgl.  dagegen   Spinoza,  Tractatus  politicus,  III,  14. 

*)  Die  Soziologie  als  Wissenschaft  vom  sozialen  Leben  unterliegt  der  Wür- 
digung vom  Standpunkte  philosophischer  Rechenschaft  nicht  weniger  und  nicht 
mehr  als  die  Geschichte. 


Philosophie  der  Tat.  ^21 

dieser  Gebiete  eine  Ordnung  im  Leben  entspricht.  Um  es  gleich 
vorwegzunehmen:  dem  geistigen  die  Ungebundenheit,  der  Anar- 
chismus; dem  stofflichen  die  Gebundenheit,  der  SoziaHsmus;  dem 
lebendigen  die  autonome  Organisation. 

Wie  auf  dem  Gebiete  der  Weltanschauung,  so  hat  sich  auch 
hier  der  einseitige  Dogmatismus  eines  jeden  der  beiden  anti- 
nomistischen  Extreme  der  übrigen  Gebiete  bemächtigt,  sei  es  der 
spiritualistische,  sei  es  der  materialistische  Dogmatismus,  jeder  in 
seiner  Weise. 

Betrachten  wir  zuerst  die  ökonomische  Geschichtsauffassung, 
die   der   materialistischen   Weltanschauung   entspricht.      Auf   dem 
ihr    zugehörigen    Gebiete   der    Wirtschaft    besteht   sie    zu    Recht. 
Das    wirtschaftliche    Gedeihen    kann    nur    eintreten,    wenn    auch 
volle    Gebundenheit    und    Gleichheit   eintritt.     Wie   unrationell   es 
ist,   die  wirtschaftliche   Produktion  dem  Zufall,   der   Spekulation, 
der  Regellosigkeit  und  den  Krisen  zu  überlassen,  das  liegt  wohl 
auf  der  Hand.     Nicht  minder,  wieviel  unnötig  vergeudete  Arbeits- 
kraft  zumal  auch   an   dem   komplizierten  Apparate  der   heutigen 
vermögensrechtlichen  Organisation  erspart,  wieviel  Verschwendung 
wirtschaftlicher   Güter   vermieden,    welche   Höhe   der    äußerlichen 
Zivilisation  dann  erreicht   werden   kann.^)     Nicht  genug  an  dem. 
Wenn  jeder  erst  wirtschaftlich  außer  Sorge  gestellt  ist,  dann  ist 
erst   jeder   auch   äußerlich   frei.     Dann   erst    ist  ein  jeder  in  der 
Lage,   seine  beste   Kraft   zu  widmen.    Dann   erst   kann   auch   die 
werktätige  Liebe,  des  Lebens  wahrer  goldener  Baum,  freien  Spiel- 
raum bekommen,  der  heute  überwuchert  wird  durch  das  System 
der    karitativen    Almosengnade,    sowie    durch    das    gleichgesinnte 
Gnadensystem    der    auf    gute    Taten    zugesagten    transzendenten 
Belohnung.     Dann  erst   kann  auch  die   übergroße  Bedeutung  der 
Gattenwahl    in    gutem    Sinne    zur    Geltung    kommen   usw.     Der 
ethisch  Minderwertige  andererseits  würde  dann  erst,   soweit  heute 
seine  wirtschaftliche  Übermacht  in  Frage  kommt,  entwaffnet  sein 
und   die    Bahn  in  derselben  Hinsicht  frei  sein  für  die  Tüchtigen. 

^)  Wenn  in  der  heutigen  wirtschaftlichen  Organisation  irgendwo  im  großen 
Arbeitskraft  erspart  wird,  so  tritt  jedesmal  statt  einer  Verbesserung  der  allgemeinen 
wirtschaftlichen  Lage  eine  wirtschaftliche  Krise  und  eine  Katastrophe  für  die 
„Arbeitnehmer"  ein.  An  der  Stelle  der  gesellschaftlichen  Produktion  von  Ge- 
brauchswerten sehen  wir  die  private  und  rücksichtslose  Finanzierung  des  Kapitals 
zu  ausbeuterischen  Zwecken  mittels  des  Geldes  als  einer  bloßen  Abstraktion  vor 
Tauschwerten. 


j^22  Anton  Wcsselsky: 

Wird  aber  hinwiederum  dieser  Grundsatz  der  Gebunden- 
heit auf  die  Gebiete  des  Intellektes  und  der  Autonomie  über- 
tragen, so  entsteht  eine  geistige  Reglementierung  und  per- 
sönliche Unfreiheit,  sowie  ein  Ouietismus  und  Fatalismus  in 
Hinsicht  auf  die  mündige  Ordnung,  wie  sie  ja  der  bckanntcir 
marxistischen  ökonomischen  Geschichtsauffassung  tatsächlich  an- 
hängen und  in  ihrer  Doktrin  vom  unaufhaltsamen,  mechanisch- 
automatischen,  gesellschaftlichen  Prozesse  eine  Reinkultur  ge- 
funden  haben. 

Die  intcllektualistische  Geschichtsauffassung  andererseits  führt 
mutatis  mutandis  zu  gleichen  Erscheinungen  und  Folgen,  nur 
kommen  dabei  die  umgekehrten  Extreme  in  Frage.  Auf  geistigem 
Gebiete  betätigt  diese  Geschichtsauffassung  mit  Recht  die  schranken- 
loseste Freiheit.  Im  übrigen  sei  aber  nur  an  das  wirtschaftliche 
Laisser  faire  erinnert  und  an  •  die  daraus  entspringende  Über- 
antwortung der  einzelnen  an  die  minderwertigen  Nutznießer  der 
Korruption  und  der  Ausbeutung. 

Wir  sehen  m  Wirklichkeit  tatsächlich  zwei  mächtige  Richtungen 
am  Werke,  die  den  beiden  extremen  Geschichtsauffassungen  ent- 
sprechen, deren  aber  jede  das  ihr  entgegengesetzte  Gebiet  in  Be- 
schlag zu  nehmen  sucht.  Einerseits  die  kapitalistische  Richtung, 
die  vom  wirtschaftlichen  Anarchismus  ausgehend  durch  Not  und 
Überfluß  die  Geister  beherrschen  will,  und  andererseits  die  in- 
tellektuelle Richtung,  die,  vom  geistigen  Sozialismus  ausgehend, 
Gedanken  vorzuschreiben,  zu  reglementieren,  zu  dogmatisieren 
und  durch  geistige  Hörigkeit  die  wirtschaftliche  Unterjochung 
herbeizuführen  trachtet.  Fast  nur,  was  diesen,  jede  auf  falschem 
Standpunkte  stehenden,  auf  falschem  Wege  gehenden  Mächten 
dienlich   ist,  gelangt  zur  Geltung. 

Inmitten  aber  wartet  das  Volk  und  warten  die  Völker.  In- 
mitten ist  das  Gebiet  des  Menschen  selber,  das  Leben.  Seinem 
Wesen  ist  nicht  die  ökonomische  und  nicht  die  intellektuelle,  ihm 
ist  nur  die  lebendige  Geschichtsauffassung  angemessen. 

Der  lebendigen  Geschichtsauffassung  entspricht  es,  daß  die 
Ökonomisierung  auf  das  ökonomische  Gebiet  sich  beschränke, 
und  daß  die  Intellektualisierung  allein  auf  geistigem  Gebiete  sich 
betätige.  Vor  allem  anderen  aber,  daß  der  lebendige  Bereich,  der 
zwischen  jenen  entgegengesetzten  Gebieten  gelegen  ist,  nicht  zum 
Opfer  werde,  sei  es  der  Ökonomisierung,  sei  es  der   Intellektuah- 


Philosophie  der  Tat.  423 

sierung.     Auf  diesem  lebendigen    Gebiete  gilt  es  Autonomie  und 
Solidarität  zugleich.^) 

Doch  ist  hier  nicht  der  Ort,  in  solcher  Richtung  weiteres  zu 
erörtern. 2)  Es  durfte  sich  nur  darum  handeln,  auch  in  Hinsicht 
auf  die  Geschichtsauffassung  die  Grundsätze  dieser  Philosophie 
und  ihre  Fruchtbarkeit  zur  Geltung  zu  bringen.  — 

Die  Frage  der  Mündigkeit  ist  zur  Lebensfrage  geworden. 
Die  formelle  Aufhebung  unehrenhafter  und  beschämender  Hörig- 
keit gehört  zwar  zur  äußeren  Autonomie,  sie  bedeutet  jedoch 
keineswegs  die  Mündigkeit  selbst.  Mündigkeit  ist  nur  durch 
Rechenschaft  und  Ethik  möglich.  Ihr  Weg  geht  ins  Unbekannte 
und  ist  von  heute  auf  morgen.  Doch  ist  er  ein  wertvoller  Weg. 
Dürftig  und  unbescheiden  zugleich  nimmt  sich  die  prinzipielle 
Entsagung  aus  dagegen.  Und  er  ist  der  Weg  der  Arbeit,  der  Auto- 
nomie, der  Liebe,  des  Lebens.  Es  braust  ein  Ruf,  so  wird  es  in- 
mitten zukunftsreich  bleibender  Völker  gelten  müssen,  es  braust 
ein  Ruf  nach  Mündigkeit,  nach  Rechenschaft,  nach  Ethik  und 
nach  Tat. 


^)  Unschwer  lassen  sich  diese  Grundsätze  auch  auf  den  völkerrechtlichen 
Bereich,  z.  B.  in  Hinsicht  auf  großes  Wirtschaftsgebiet  und  nationale  Autonomie 
übertragen. 

*)  Darum  unterbleibt  auch  die  Darlegung  eines  Zustandes,  wie  er  nach  vor- 
liegender Geschichtsauffassung  jenem  nach  der  Götterdämmerung  entspräche: 
daß  Lokes  Einfluß  gebrochen  und  Balders  Genie  und  Höders  heilige  Einfalt  ver- 
söhnt sind. 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker. 

Von 

Konrad  Lange. 

Inhaltsübersicht. 

Die  Illusionsästhetik  und  die  Philosophie  des  Als-ob.  Vaihingers  Urteil 
über  jene.  Kurze  Rekapitulation  der  Illusionstheorie:  Künstlerische  Illusionen  und 
Jahrmarktsillusionen.  Wegfall  der  wirklichen  Täuschung  in  der  Kunst.  Die  Wachs- 
plastik. J.  von  Schlosser.  Täuschungfördernde  und  täuschunghindernde  Elemente. 
Die  zwei  Vorstellungsreihen.  Bedingtheit  der  Natumachahmung.  Wichtigkeit  des 
persönlichen  Stils  für  die  Anschauung  des  Kunstwerks.  Extreme,  d.  h.  unkünstle- 
rische Arten  der  Kunstanschauung.  Gleichzeitiges  und  gleichstarkes  Erleben  der 
zwei  Vorstellungsreihen  als  Vorbedingung  des  künstlerischen  Genusses.  Widerlegung 
des  erkenntnistheoretischen  Einwands.  Vereinbarkeit  der  Illusionstheorie  sowohl 
mit  dem  philosophischen  Idealismus  als  auch  mit  dem  kritischen  Realismus. 
Größere  Vollständigkeit  der  Natur  im  Vergleich  mit  dem  Kunstwerk.  Die  ver- 
schiedenen Illusionen.     Die  Illusiousspiele.     Das  Freiheitsgefühl. 

Die  Kritik  Meumanns.  Ihre  Form.  Ihr  Inhalt.  Verdrehung  meiner  Be- 
hauptungen. Künstlerisches  Banausentum  Meumanns.  Seine  Widerlegung  der 
Illusion  als  wirklicher  Täuschung.  Seine  Widerlegung  der  Illusion  als  bewußter 
Selbsttäuschung.  Unentwirrbare  Gedankenkonfusion.  Banalität  des  Kontemplations- 
stindpunktes,  Einseitigkeit  der  Inhaltsästhetik.  Verhältnis  von  Form  und  Inhalt. 
Wechsel  der  Vorstellungsreihen.  Falscher  Einwand  Ludwig  Goldsteins  da- 
gegen. Bild  vom  Pendel.  Meumanns  Polemik  dagegen.  Sein  völliges  Aufgehen 
im  Inhalt  =  volle  Selbsttäuschung.  Notwendigkeit  des  Täuschungsbewußtseins. 
Freiheitsgefühl.  Wie  Kinder  imd  Ungebildete  die  Kunstwerke  genießen.  Angebliche 
Unmöglichkeit  des  Vorstellungswechsels.  Versuch  Meumanns,  die  täusch ung- 
hindemden  Momente  als  Störungen  des  Kunstgenusses  nachzuweisen.  Ihre  unvoll- 
ständige Aufzählung.  Der  Stil  als  täuschunghinderndes  Element.  Panoramen  und 
Panoptiken.  Ablehnendes  und  ungehöriges  Schlußurteil  Meumanns  über  die 
Illusionstheorie. 

Gegenüberstellung  zustimmender  Urteile  über  die  Elusionstheorie:  Janitsch, 
Schaumkell,   Gregori. 

Die  Kritik  Streiters.  Kunsthistorische  und  psychologische  Methode. 
Streiters  Polemik  gegen  den  Terminus  ,,bewußtc  Selbsttäuschung".  Nachweis, 
daß  er  zutreffend  ist.  Berufung  auf  Lipps.  Dessen  Kritik  der  bewußten  Selbst- 
täuschung. Unverständlichkeit  seiner  Beweisführung.  Die  „ästhetische  Realität". 
Unklarheit  der  Begriffe  „reale  Welt"  und  ,. ästhetischer  Schein".  Klarheit  des 
Begriffs  ,, bewußte  Selbsttäuschung*'.  Streiter  gegen  die  Farbenillusion.  Diese 
nachgewiesen  am  Verhalten  Böcklins.  Kritik  der  Einfühlungstheorie.  Falsche 
Auffassung  der  architektonischen  Wirkung.  Die  täuschunghindernden  Elemente  in  der 
Baukunst.  Unhaltbarkeit  meiner  Begriffe  „Anschauungsillusion"  und  ,, Scheingefühl". 
Dadurch  gewonnener  neuer  Beweis  für  die  Zweiheit  der  Vorstellungsreihen,  „Gefühls- 
vorslellung,"  „Vorstellungsgefühl."  Persönliches.  Bildlliche  Redeweise  der  „wissen- 
schaftlichen" Psychologie.  Streiters  Polemik  gegen  den  Wechsel  der  beiden  Vor- 
stellungsreihen. Einheitliche  und  zusammengesetzte  Gefühle.  Gregori  über  die 
zwei  Vorstellungsreihen.  Goethes  „Hin-  und  Herfallen  zwischen  Angst  und  Bewunde- 
rung". Seine  „selbstbewußte  Illusion".  Meumann  und  Streiter  contra  Goethe. 
Einwand  Paps  gegen  die  Herbeiziehung  Goethes.  Das  Komische.  Die  Illusions- 
spiele. Ästhetische  Anschauung  der  Natur.  Die  umgekehrte  Illusion.  Das  Häß- 
liche.    Streiters  Einwand  in  dieser  Beziehung  als  hinfällig  nachgewiesen. 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  425 


I. 

Seit  dem  Erscheinen  meines  „Wesens  der  Kunst"  ^)  ist  die 
von  mir  vertretene  Illusionstheorie  sehr  oft  zum  Gegenstande 
kurzer  polemischer  Bemerkungen  und  eingehender  kritischer  Unter- 
suchungen gemacht  worden.  Wollte  ich  mich  mit  allen  meinen 
Kritikern  auseinandersetzen,  so  müßte  ich  ein  neues  Buch  schreiben, 
mindestens  ebenso  groß  wie  das  erste.  Ob  ich  noch  dazu  komme, 
hängt  nicht  von  meinem  Willen  ab.  Wenn  man  die  Sechzig  über- 
schritten hat,  kann  man  nicht  mehr  auf  Jahre  hinaus  über  seine 
Zeit  verfügen.  Auch  interessiert  mich  gegenwärtig  ein  anderer  lite- 
rarischer Plan  mehr  als  das  ästhetische  Problem,  das  ich  als  erster 
eingehend  behandelt  habe. 

Dennoch  glaubte  ich  mich  dem  Wunsche  des  Herrn  Heraus- 
gebers, an  dieser  Stelle  eine  kurze  Darlegung  meiner  Theorie  und 
eine  Kritik  der  dagegen  vorgebrachten  Haupteinwände  zu  geben, 
nicht  entziehen  zu  sollen.  Denn  es  war  mir  eine  große  Freude, 
in  dem  Vorworte  seiner  Als -ob  -  Philosophie^)  das  Urteil  zu 
lesen:  ,,In  der  Ästhetik  hat  die  Philosophie  des  Als-ob  eben- 
falls schon  ihre  Vertretung.  Denn  die  Ästhetik  hat  das  Glück, 
ein  grundlegendes  Werk  zu  besitzen,  in  welchem  die  Fiktion,  die 
Als-ob-Betrachtung  unter  dem  Namen  der  , bewußten  Selbst- 
täuschung' als  Prinzip  des  künstlerischen  Schaffens  und  Genießens 
dargestellt  worden  ist:  Es  ist  dies  Konrad  Langes  , Wesen  der 
Kunst',  eine  mustergültige  Darstellung  des  Als-ob  in  der  Ästhetik 
oder  der  Ästhetik  des  Als-ob."  So  will  ich  mich  denn  dem  mir 
ausgesprochenen  Wunsche  nicht  entziehen,  obgleich  ich  mir  wohl 
bewußt  bin,  daß  meine  ästhetischen  Überzeugungen  nicht  wichtig 
genug  sind,  um  eine  so  umfassende  philosophische  Weltanschauung 
wie  die  Als-ob-Philosophie  bestätigen  oder  unterstützen  zu  können. 
Dem  Vorschlag  einer  kritischen  Darstellung  entsprechend  sollen 
hier  zunächst  die  Einwände  der  beiden  Schriftsteller  behandelt 
werden,  deren  ablehnendes  Urteil  vor  allem  die  Ursache  gewesen 
ist,  daß  so  viele  Kunsthistoriker  und  Ästhetiker  sich  mit  der 
Illusionstheorie  nicht  haben  befreunden  können. 


1)  Berlin,  G.  Grotesche  Verlagsbuchhandlung,  1901,  2  Bände.  Die  zweite 
AuHage  in  einem  Bande  (1907)  ist  eine  völlige  Umarbeitung  der  ersten. 

*)  Die  Philosophie  des  Als-ob,  herausgegeben  von  H.  Vai hinger.  Berlin 
1911,  S.  XII. 


A2Ö  Konrad  Lange: 

Die  künstlerische   Illusion. 

Ich  schicke  eine  kurze  Rekapitulation  meiner  Lehre  voraus, 
um  dem  Leser,  der  mein  Buch  nicht  zur  Hand  hat,  die  Haupt- 
punkte derselben  in  Erinnerung  zu  bringen. 

Illusion  im  künstlerischen  Sinne  ist  nicht  wirkliche  Täuschung. 
Denn  wir  werden  durch  ein  gutes  Kunstwerk  niemals  wirklich 
getäuscht.  Jahrmarktillusionen  wie  Panoramen,  Panoptiken,  höhere 
Magie,  Taschenspielerei,  Jonglcurkunst  u.  dgl.,  die  auf  Sinnes- 
täuschung hinauslaufen,  sind  keine  künstlerischen  Betätigungen  im 
höheren  Sinne.  Auch  bei  einigen  echten  Künsten,  wie  der  Archi- 
tektur, der  Musik,  der  Poesie  und  dem  Tanze  kann  von  Täuschung 
keine  Rede  sein.  Nur  bei  den  sogenannten  nachahmenden  Kün- 
sten, nämlich  der  Schauspielkunst,  der  Malerei  und  Plastik, 
kann  uns  allenfalls  der  Gedanke  kommen,  daß  es  sich  um  Täuschung 
handle.  Aber  auch  da  sind  w^ir  uns  während  der  Anschauung 
immer  bewoißt,  daß  die  Darstellung  mit  dem  Dargestellten  nicht 
identisch  ist.  Es  fällt  uns  nicht  ein,  in  einem  Landschaftsgemälde 
ein  wirkliches  Stück  Natur,  in  einer  Porträtbüste  eine  lebendige 
Person,  in  dem  Schauspieler,  der  den  Wallenstein  gibt,  den  histo- 
rischen Wallenstein  zu  sehen.  Was  wir  sehen,  ist  für  uns  viel- 
mehr ein  Surrogat  der  Natur,  eine  Nachahmung  der  Wirk- 
lichkeit, die  sich  offen  und  ehrlich  als  solche  gibt.  Jeder  Versuch, 
eine  wirkliche  Täuschung  hervorzubringen,  ist  deshalb  im  künstle- 
rischen Sinne  zu  verwerfen.  Nicht  nur  dann,  wenn  er  gelingt, 
sondern  auch  dann,  wenn  die  Täuschung  infolge  technischer  Mängel 
unvollkommen  bleibt.  Denn  ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln 
kann  niemals  befriedigen.  Deshalb  beruhen  die  sogenannten 
Illusionsanekdoten  des  Altertums  und  der  Renaissance  (die  Trauben 
des  Zeuxis,  die  Schwalben  Lionardos  usw.)  auf  einer  falschen  Auf- 
fassung der  Kunst.  Deshalb  sind  Wachsfiguren  mit  echten  Kleidern 
und  echten  Haaren,  auch  wenn  sie  gut  ausgeführt  sind,  unkünst- 
lerisch^),  Panoramen  mit  Vermischung  natürlicher  und  künstlicher, 


^)  Anders  J.  von  Schlosser,  Geschichte  der  Porträtbildnerei  in  Wachs, 
Jahrbuch  der  Kunstsammlungen  des  Allerhöchsten  Kaiserhauses,  XXIX,  1910/11, 
S.  171  ff.  Seine  Einwendungen  gegen  meine  Auffassung  haben  mich  nicht  über- 
zeugt. Ich  gebe  zu,  daß  es  bessere  und  schlechtere  Wachsbüsten  mit  echten  Haaren 
und  Ocwandcrn  gibt.  Aber  mir  ist  keine  bekannt,  die  nicht  einen  schreckhaften 
Eindruck  machte.  Ich  sehe  deshalb  in  der  Wachsplastik  eine  einseitige  Über- 
>.pannung  des  Illusionsprinzips  und  erkläre  mir  daraus,  daß  diese  Gattung  in 
der  Geschichte  der  Kunst  eine  so  geringe  Rolle  gespielt  hat. 


Die  ästhetische   Illusion  und  ihre  Kritiker.  ^2/ 

plastischer    und    malerischer    Elemente    zum    Zwecke    der    Sinnes- 
täuschung verwerflich. 

Daß  die  wahre  Kunst  uns  nicht  wirklich  täuscht,  beruht  darauf, 
daß  sie  neben  den  täuschungfördernden  Elementen  (Naturwahrheit, 
Naturanalogie)  auch  täuschunghinderndc  Elemente  hat.  Dazu  ge- 
hören :  in  der  Malerei  der  Rahmen,  in  der  Plastik  das  Postament,  in  der 
Schauspielkunst  das  Podium  der  Bühne  mit  Kulissen  und  Soffiten, 
in  der  Poesie  der  Reim  und  das  Metrum,  m  der  Musik  der  Rhyth- 
mus und  die  Harmonie,  in  allen  Künsten  aber  der  Stil  als  Aus- 
druck einerseits  des  verw^endeten  Materials,  andererseits  der  Persön- 
lichkeit des  Künstlers,  der  dieses  Material  zum  Kunstwerk  ge- 
staltet hat.  Diese  täuschunghindernden  Elemente  sind  aber  nicht 
nur  vorhanden,  worüber  ja  kein  Zweifel  bestehen  kann,  sondern  wir 
nehmen  sie  auch  bei  der  Anschauung  des  Kunstwerks  wahr.  Sie 
sind  während  dieser  Anschauung  in  unserem  Bewußtsein,  sie  ge- 
hören als  integrierender  Bestandteil  zu  unserem  ästhetischen  Ge- 
nüsse. Das  wird  eben  durch  die  unkünstlerische  Wirkung  aller 
Jahrmarktillusionen  bewiesen,  in  denen  diese  täuschunghindern- 
den Elemente  ausgeschaltet  sind. 

Ist  das  aber  richtig,  so  besteht  unsere  ästhetische  Anschauung 
in  einem  Erleben  zweier  Vorstellungsreihen.  Die  eine  der- 
selben enthält  die  täuschungfördernden,  die  andere  die  täuschung- 
hindernden Elemente.  Oder  mit  anderen  Worten:  die  eine  bezieht 
sich  auf  den  Inhalt,  die  andere  auf  die  Form  der  Darstellung. 
Der  Inhalt  ist  das,  was  schon  vor  der  künstlerischen  Gestaltung 
da  war,  und  was  durch  mehr  oder  weniger  freie  Nachahmung  in 
das  Kunstwerk  übertragen  worden  ist.  Also:  Menschen,  Tiere, 
leblose  Gegenstände,  Himmel,  Wasser,  Gedanken,  Gefühle  und 
Stimmungen  der  Menschen;  alles  Wirklichkeiten,  die  im  Leben, 
auch  ohne  Hinblick  auf  die  künstlerische  Darstellung  vorhanden 
•  sind.  Die  Form  dagegen  ist  das,  was  der  Künstler  zu  diesem 
Inhalt  hinzubringt,  die  Art,  wie  er  die  Natur  auswählt,  die  ihr 
entnommenen  Elemente  zusammenstellt,  sein  Vorbild  vereinfacht, 
akzentuiert,  ins  richtige  Licht  setzt  usw. 

Denn  die  Nachahmung  der  Natur  kann  in  der  Kunst  nur  eine 
sehr  bedingte  sein.  Das  gilt  selbst  von  denjenigen  Künsten,  die 
man  gewöhnlich  als  ,, nachahmende"  bezeichnet,  d.  h.  von  der  Schau- 
spielkunst, der  dramatischen  und  epischen  Poesie,  der  Malerei  und 
Plastik.  Hier  richtet  sie  sich  zunächst  nach  der  Art  des  Materials 
und   der   Technik,    die   der   Nachahmung   gewisse    Schwierigkeiten 


^28  Konrad  Lange: 

in  den  Weg  legen,  weiterhin  nach  gewissen  optischen  und  akustischen 
Forderungen,  die  in  den  Darstellungsmitteln  der  Kunst  begründet 
sind,  endlich  und  vor  allem  nach  der  Individualität  des  Künstlers, 
der  seine  besondere  Vorliebe  für  gewisse  Erscheinungen  der  Wirk- 
lichkeit und  eine  bestimmte  Art  der  künstlerischen  Gestaltung  hat. 

Obwohl  nun  unser  ästhetisches  Phantasieerlebnis  darin  besteht, 
daß  wir  das  Kunstwerk  in  Natur  umdeuten,  ein  Gemälde  z.  B.  ver- 
möge unserer  Phantasie  in  die  Wirklichkeit  übersetzen,  ist  es  doch 
ganz  selbstverständlich,  daß  wir  in  einem  Kunstwerk,  wenn  wir 
es  überhaupt  künstlerisch  anschauen,  nicht  nur  die  in  ihm  dar- 
gestellte Natur,  also  z.  B.  Menschen,  Tiere,  Bäume,  Haß,  Zorn 
oder  Liebe,  sondern  daneben  auch  die  Mittel  sehen,  die  der  Künstler 
angewendet  hat,  um  diesen  Elementen  eine  künstlerische  Form  zu 
geben.  Das  will  heißen,  daß  wir  bei  der  Anschauung  des  Kunstwerks 
auch  den  persönlichen  Stil  seines  Schöpfers  im  Bewußtsein  haben. 
Für  einen  künstlerisch  gebildeten  Menschen  bedarf  diese  Tatsache 
keines  BewxMses.  Außerdem  ist  es  selbstverständlich,  daß  wir 
die  materiellen  Gegebenheiten  des  Kunstwerks,  den  Rahmen  des 
Bildes,  seine  Flächenhaftigkeit,  seine  auf  die  Leinwand  aufgetragenen 
Ölfarben,  das  weiße  Korn  des  Marmors,  das  Postament  der  Statue  usw. 
wahrnehmen.  Die  Folge  dieses  Wahrnehmens  ist  es  ja  eben,  daß 
wir  uns  durch  das  Kunstwerk  nicht  wirklich  täuschen  lassen.  Was 
wir  bei  seinem  Anblick  erleben,  ist  also  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  eine  Täuschung.  Es  ist  eine  solche  und  ist  es  doch 
wieder  nicht.  Die  Täuschung,  der  wir  uns  hingeben,  bleibt  uns 
als  solche  während  der  Anschauung  immer  bewußt.  Mit  einem 
Worte:    Es  ist  eine  ,, bewußte  Selbsttäuschung". 

Diese  bewußte  Selbsttäuschung  besteht  aus  zwei  streng- 
genommen einander  ausschließenden  Vorstcllungsreihen,  deren  eine 
sich  auf  den  Inhalt,  die  andere  auf  die  Form  bezieht.  Oder,  wie 
man  auch  sagen  könnte,  deren  eine  sich  auf  die  gedachte  Natur, 
die  andere  auf  die  wahrgenommene  Kunst  bezieht.  Jene  ist,  wie 
man  zu  sagen  pflegt,  ,, gegenständlicher",  diese  künstlerischer  Art. 
Die  ästhetische  Gesamtanschauung  besteht  also,  daran  ist  streng 
festzuhalten,  weder  in  dem  Erleben  der  einen,  noch  auch  in  dem 
Erleben  der  anderen  Vorstellungsreihc.  Sondern  sie  besteht  in 
dem  Erleben  beider  Vorstellungsreihen  zusammen.  Sie  wird 
erst  dadurch  ästhetisch,  daß  wir  die  beiden  Vorstellungsreihen 
gleichzeitig,  und  zwar  ungefähr  in  gleicher  Stärke  erleben.  In 
letzterer  Beziehung    handelt    es    sich    freilich    um   einen   Idcalfall, 


Die  ästhetische  Illusion  und   ihre  Kritiker.  429 

der  nur  selten  eintreten  wird.  In  den  meisten  Fällen  überwiegt 
nämlich  die  eine  Vorstellungsreihe.  So  sieht  z.  B.  der  Laie  in 
der  Regel  fast  nur  den  Inhalt  des  Bildes,  d.  h.  er  läßt  sich  durch 
die  in  ihm  dargestellte  Natur  zu  den  Gefühlen  anregen,  zu  denen 
eben  diese  Natur,  wenn  sie  Wirklichkeit  wäre,  ihn  anregen 
würde.  Der  Künstler  dagegen,  oder  der  mit  allen  Hunden  ge- 
hetzte Ästhet  oder  Kunstkritiker  sieht  vielleicht  nur  oder  fast 
nur  die  Form,  d.  h.  das  künstlerische  Problem,  das  in  dem  Kunst- 
werk gelöst  ist.  Beide  Arten  der  Anschauung  sind  einseitig.  Das 
Wahre,  d.  h.  die  ideale  Anschauung  liegt  in  der  Mitte.  Sie  ist 
durch  das  gleichzeitige  und  womöglich  gleichstarke  Er- 
leben der  beiden  Vorstellungsreihen  gekennzeichnet. 
In  gewisser  Weise  stellt  sich  dieses  gleichzeitige  Erleben  als  eine 
Vergleichung  dar.  Wir  vergleichen  unwillkürlich  das  Kunstwerk 
mit  der  Natur.  Und  unser  ästhetischer  Genuß  hängt  wenigstens 
zum  Teil  von  dem  Grade  der  Übereinstimmung  beider  ab. 

Man  könnte  gegen  diese  Auffassung  den  erkenntnistheoretischen 
Einwand  erheben,  daß  das,  was  wir  Natur  oder  Wirklichkeit  nennen, 
tatsächhch  gar  keine  Wirklichkeit  ist,  da  wir  ja  nur  über  die  Er- 
scheinung der  Dinge  zu  urteilen  vermögen.  Und  man  könnte 
daraus  schließen,  daß  es  unmöglich  sei,  das  Kunstwerk  mit  der 
Natur  zu  vergleichen  oder  es  gar  phantasiemäßig  in  die  Wirk- 
lichkeit zu  übersetzen.  Aber  dieser  Einwand  würde  die  Illusions- 
theorie nicht  treffen.  Denn  abgesehen  davon,  daß  der  erkenntnis- 
theoretische Idealismus  eine  bestimmte  Weltanschauung  voraus- 
setzt, der  die  Weltanschauung  des  (nicht  nur  naiven,  sondern 
auch  kritischen)  Reahsmus  gegenübersteht,  würde  die  Illusions- 
theorie  auch  dann  ihre  Geltung  behalten,  wenn  man  genötigt  wäre, 
die  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  zu  leugnen.  Denn  es  ist 
psychologisch  ganz  einerlei,  ob  ich  sage:  Beim  Anblick  des 
Kunstwerks  entwickle  ich  mir  in  der  Phantasie  aus  der  Wirk- 
lichkeit ,, Kunstwerk"  die  Wirklichkeit  ,, Natur",  oder  ob  ich  sage: 
Ich  entwickle  mir  aus  der  Vorstellung  ,, Kunstwerk"  die  Vor- 
stellung ,, Natur".  Ebenso  ist  es  einerlei,  ob  ich  sage:  Bei  der 
ästhetischen  Anschauung  vergleiche  ich  die  Wirklichkeit  ,, Kunst- 
werk" mit  der  Wirklichkeit  ,, Natur",  oder  ob  ich  sage:  Ich  ver- 
gleiche die  Vorstellung  ,, Kunstwerk"  mit  der  Vorstellung  ,, Natur". 
Im  einen  Falle  sind  es  zwei  Dinge,  im  anderen  zwei  Vorstellungen, 
die  miteinander  verglichen  werden.  Das  ist  für  die  Tatsache  der 
Vergleichung  ganz  einerlei.    Denn  diese  beiden  Dinge  oder  Vorstel- 


430 


Konrad  Lange: 


lungon  müssen  zusammen  in  unserem  Bewußtsein  sein.  Wenn  man 
zwei  Dinge  oder  Vorstellungen  miteinander  vergleichen  will,  muß 
man  sie  notwendig  beide  zusammen  im  Bewußtsein  haben. 

l'm  diese  Zweiheit,  d.  h.  die  Verschiedenheit  dieser  Vorstel- 
lungen nun  ganz  zu  verstehen,  muß  man  sich  vor  allem  klar 
machen,  daß  die  Natur  immer  viel  vollständiger  ist  als  das 
Kunstwerk.  Ein  Porträt  ist  ein  totes,  stummes,  flächenhaftes  und 
bewegungsloses  Abbild  einer  Person,  das  keine  Gedanken,  keine  Ge- 
fühle, keinen  Charakter  hat :  Ölfarben  auf  Leinwand.  Die  Person  aber, 
die  in  ihm  dargestellt  ist,  und  die  dem  Maler  in  den  meisten  Fällen 
selbst  Modejl  gesessen  hat,  ist  ein  lebendiges,  im  Räume  sich  be- 
wegendes Wesen,  das  spricht  und  handelt,  Gedanken  und  Gefühle 
hat  und  solche  äußert.  Wenn  wir  also  sagen:  Das  Porträt  ist 
,, sprechend",  es  versetzt  uns  in  die  Illusion  der  betreffenden  Person, 
so  meinen  wir  damit  nichts  anderes  als:  Es  regt  uns  zu  der  Vor- 
stellung einer  Natur  an,  die  viel  vollständiger,  vielseitiger  und  um- 
fassender ist  als  das  Abbild  von  ihr,  welches  wir  vor  uns  haben. 
Was  bei  der  Wahrnehmung  in  uns  entsteht,  sind  lediglich  optische 
Vorstellungen.  Was  wir  aber  in  der  Phantasie  erleben,  sind 
nicht  nur  optische,  sondern  auch  akustische  und  taktile  Vor- 
stellungen, außerdem  Gedanken  und  Gefühle  der  allerverschieden- 
sten  Art. 

Es  gibt  nämlich  verschiedene  Illusionen,  je  nach  dem  Sinnes- 
gebiet,  dem  eine   Kunst  angehört,   und  je  nach  den  Materialien, 
aus    denen    sie    ihre    Werke    herstellt.      In    der    Malerei    sind    es 
die   Stoff illusion   und   die  Raumillusion,    in   der  Plastik  die  orga- 
nische und  die  Bewegungsillusion,  in  der  Baukunst  die  Kraftillusion 
(Vorstellung  des    Tragens  usw.),   in  der   Poesie   die    Gefühls-   und 
Stimmungsillusion,    in  der  Musik  die    Geräusch-,   die   Bewegungs- 
und die  Stimmungsillusion,  die  an  erster  Stellt;  stehen.    Kurz,  man 
kann  alle  Künste  unter  den  Begriff  der  Illusion  bringen,  wenn  man 
sich  nur  klar  macht,  daß  die  Illusion  sich  auf  ganz  verschiedene  Seiten 
der  Natur,  auf  ganz  verschiedene   Erscheinungsformen  der  Wirk- 
lichkeit beziehen  kann.     Hieraus  vor  allem  ist  eben  zu  schließen, 
daß  die    Illusion  das  eigentliche   Kennzeichen  der  höheren  Kunst 
ist.     Und   eine   Bestätigung  dafür  ergibt  sich   aus   der  Tatsache, 
daß  alle  niederen  Künste,  sowie  alle  nicht  künstlerischen  Tätigkeiten 
des  Menschen  die  Illusion,  wenigstens  in  der  Form  der  bewußten 
Selbsttäuschung,   nicht  kennen.     Allerdings  mit  einer  Ausnahme, 
das  ist  nämlich  das  Spiel.     Die   Illusionsspiele,  die  wir  sowohl 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  43  I 

bei  Kindern  wie  bei  Tieren  finden,  sind  nichts  anderes  als  eine 
primitive  Vorstufe  der  Kunst.  Man  kann  diese  geradezu  als  ein  ver- 
feinertes, ins  Geistige  emporgehobenes  Spiel  bezeichnen.  Spiel 
ist  der  allgemeine,  Kunst  der  besondere  Begriff.  Nicht  jedes 
Spiel  ist  Kunst,  aber  jede  Kunst'  ist  Spiel.  Dadurch  wird  die 
Kunst  keineswegs  herabgesetzt.  Denn  auch  das  Spiel  hat  einen 
wichtigen  Beruf  im  menschlichen  Leben.  Kunst  und  Spiel  sind 
nicht  nur  eine  Erholung,  nicht  nur  Lust  und  Vergnügen.  Sondern 
sie  sind  auch  Mittel  zu  einem  höheren  Zweck,  nämlich  zur  Er- 
gänzung unseres  lückenhaften  Daseins  und  zur  Erzeugung  jenes 
Freiheitsgcfühls,  ohne  welches  wir  uns  geistig  der  Welt  gegen- 
über nicht  behaupten  könnten. 

Ich   wende  mich    nun    zu   den   Kritikern  der  Illusionstheorie. 

I.    Meumann. 

Die  ungünstigste  Rezension,  die  meine  Theorie  erfahren  hat, 
ist  die  von  Ernst  Meumann.^)     Ein  Sohn  von  mir,  der  sich  als 
Leutnant   in   einem  französischen    Gefangenenlager    befindet,    und 
dem    dort    durch    Zufall    das    30.  Bändchen    von    ,, Wissenschaft 
und     Bildung"    in    die    Hände    fiel,    schrieb    mir,    er    habe    sich, 
als   er   das   betreffende    Kapitel   gelesen,   seines   Vaters   geschämt. 
Die   Form  der  Polemik  ist  allerdings  etwas  ungewöhnlich.     Aber 
man  weiß  ja,  daß  da,   wo  die  Argumente  am  schwächsten  sind, 
der    Mund    am   vollsten   genommen   wird.      Schelten   tut   nur  ein 
Kritiker,  der  nichts  zu  sagen  weiß.     Und  die  Gründe,  die  Meu- 
mann  vorbringt,   sind   wirklich  so  schwach,    daß   man  den   Ein- 
druck gewinnt,  er  habe  das  ,, Wesen  der  Kunst"  überhaupt  nicht 
gelesen.     So  heißt  es  gleich  zu  Anfang:  ,,Den  Kunstinstinkt  faßt 
Lange  auf  als  das  Bedürfnis  des  Menschen  nach    Illusion   (Täu- 
schung)."    Ich  traute  meinen  Augen  kaum,  als  ich  das  las.     Das 
Wort  Illusion  wird  in   der  Klammer  durch  ,, Täuschung"  erklärt, 
während  doch  gerade  ich  den  bindenden  Nachweis  geführt  hatte, 
daß  die  künstlerische   Illusion  keine  Täuschung,   ja  geradezu  das 
Gegenteil  einer  solchen  sei.     Es  wäre  für  Meumann  ein  Leichtes 
gewesen,     statt    „Täuschung"     zu    schreiben:     ,, bewußte     Selbst- 
täuschung".    Aber  nein,  der  Leser  mußte  zunächst  einmal  gegen 
meine   Theorie   eingenommen   werden.     Und   dazu   diente   die  er- 

^)  Ernst  Meumann,    Einführung    in    die    Ästhetik    der    Gegenwart,    1908, 
S.  66ff. 


432 


Konrad  Lange: 


wähnte  Verwechslung,  die  nach  meiner  Erfahrung  allen  begegnet, 
die  zum  erstenmal  von  der  Illusionstheorie  hören.  Es  handelt  sich 
also  hier  um  eine  bewußte  Irreführung  des  Lesers. 

Ich  hatte  zum  Beweise  für  die  Behauptung,  daß  der  Mensch 
ein  angeborenes  Bedürfnis  nach  Illusion  habe,  die  Spiele  der  Kinder 
angeführt,  die  ja  bekanntlich,  wie  Groos  nachgewiesen  hat,  zum 
großen  Teil  Illusionsspiele  sind.  Wenn  ein  Kind  in  einem  Sofa- 
kissen ein  Baby  oder  in  einem  Stiefelknecht  eine  Geige  sieht, 
wenn  Knaben  leidenschaftlich  mit  Bleisoldaten,  Mädchen  mit 
Puppen  spielen,  so  tun  sie  das  gewiß  nicht,  weil  sie  kein  an- 
geborenes Illusionsbcdürfnis  haben.  Meumann  ist  anderer  Ansicht. 
,,Es  ist  unrichtig",  sagt  er,  ,,daß  die  Menschheit  ein  angeborenes 
Illusionsbedürfnis  hat.  Von  einem  Bedürfnis  nach  Illusion  kann 
man  höchstens  bei  einzelnen,  besonders  phantastisch  ver- 
anlagten Individuen  (!)  sprechen,  oder  bei  gewissen  Schichten 
der  Bevölkerung  und  bei  primitiven  Völkern  und  niederen  Kultur- 
stufen. Ich  selbst  weiß  mich  von  jeder  Art  von  Illusions- 
bedürfnis frei." 

Ich  habe  Meumann  nicht  persönlich  gekannt.  Doch  zweifle 
ich  nicht  an  der  Richtigkeit  dieser  vernichtenden  Selbstkritik. 
Ein  Mensch,  der  sich  von  jeder  Art  des  Illusionsbedürfnisses  frei 
weiß  und  dabei  über  Kunst,  sogar  über  die  Kunst  der  Kinder 
schreiben  will,  ist  gewiß  eine  Merkwürdigkeit!  Ja,  ich  vermute 
sogar,  daß  Meumann  sich  von  jedem  Bedürfnis  nach  Kunst 
frcM  fühlte,  und  daß  er  z.  B.  bei  der  Anschauung  eines  Porträts 
von  Rembrandt  entweder  nie  an  die  Person,  die  in  ihm  dar- 
gestellt ist,  gedacht,  oder  daß  er  eben  nur  an  diese  Person  ge- 
dacht hat.  Man  kann  ja  ein  Bild  entweder  als  Anhäufung  von 
Ölfarbe  auf  Leinwand  ansehen,  oder  man  kann  in  ihm  nur  die 
Natur,  die  es  darstellt,  sehen.  Der  letztere  Fall  liegt  offenbar 
bei  Meumann  vor.  In  beiden  Fällen  bedarf  man  natürlich  der 
Illusion  nicht.  Beide  Fälle  haben  aber  auch  mit  Kunst  nichts 
zu  tun. 

Weiter:  ,,Wcnn  aber  ein  Illusionsbedürfnis  in  der  Mensch- 
heit vorhanden  wäre,  so  dient  dem  alles  andere  besser  als  die 
Kunst  (soll  heißen:  so  würde  dem  alles  andere  besser  dienen  als 
die  Kunst),  z.  B.  —  der  Aberglaube,  die  Zauberkünste,  die  Taschen- 
spielerei, auch  manche  Hoffnungen  und  Ideale  der  Menschen,  die 
keine  Verwirklichung  zulassen."  Wiederum  war  ich  bei  der  Lektüre 
dieser  Worte  starr  vor   Staunen.      Mir,   der  ich  ausführlich  nach- 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker. 


433 


gewiesen  hatte,  daß  die  höhere  Magie  und  Taschenspielerei  keine 
künstlerischen  Illusionen  sind,  weil  sie  es  auf  wirkliche  Täuschung, 
d.  h.  auf  Sinnestäuschung,  abgesehen  haben,  wagt  man  entgegen- 
zuhalten, daß  das  Bedürfnis  nach  Illusion  —  nach  meiner  Il- 
lusion —  durch  die  Jahrmarktkünstc  erfüllt  werden  könnte!  Und 
wie  schön  nimmt  sich  dann  die  sittliche  Entrüstung  des  Kritikers 
aus,  wenn  er  schreibt:  ,,Aber  es  heißt  doch  die  Kunst  herab- 
würdigen, wenn  man  sie  mit  Aberglauben  und  Zauberei  auf  die 
gleiche  Stufe  stellt"  (!)  —  gerade  als  ob  ich  das  getan  hätte, 
während  ich  doch  alles  Nichtkünstlerische  aufs  schärfste  —  und 
zwar  als  erster  —  aus  der  Kunst  ausgeschieden  und  auf  eine  tiefere 
Stufe  gestellt  habe !  Die  Entrüstung  des  Lesers  über  mich  muß  aber 
geradezu  ihren  Höhepunkt  erreichen,  wenn  er  "weiter  liest :  ,,Und  wenn 
wir  nun  das  andere  Merkmal  hinzunehmen,  daß  die  Kunst  nur  dem 
Vergnügen  dient  (was  nebenbei  gesagt  außer  mir  auch  Schiller  und 
-'\ristoteles  geglaubt  haben),  so  paßt  die  Langesche  Definition  am 
besten  auf  die  Tätigkeit  eines  —  Salontaschenspielers,  Dieser  befrie- 
digt das  Bedürfnis  seiner  Zuschauer  rein  um  des  Vergnügens  willen." 
Man  kann  in  Zweifel  sein,  ob  es  mehr  Bösw-illigkeit  oder  Dumm- 
heit ist,  was  den  Anlaß  zu  dieser  Verdrehung  meines  Gedanken- 
ganges gegeben  hat.  Optische  Täuschung,  Irrtum,  Illusion,  Aber- 
glaube, bewußte  Selbsttäuschung,  alles  das  geht  in  dem  logisch 
offenbar  ganz  ungeschulten  Kopfe  des  verstorbenen  Professors 
der   Philosophie  kunterbunt  durcheinander. 

Aber  nein,  ich  will  ihm  nicht  unrecht  tun.  Nachdem  er  bis 
dahin  meine  angebliche  Überzeugung,  daß  die  Illusion  eine  wirk- 
liche Täuschung  oder  ein  wirklicher  Irrtum  sei,  weidlich  lächer- 
lich gemacht  und  damit  seinen  Zweck,  mich  in  den  Augen  des 
Lesers  herabzusetzen,  seiner  Meinung  nach  erreicht  hat,  fällt  ihm 
plötzlich  ein,  daß  ich  ja  unter  Illusion  gar  nicht  Täuschung,  sondern 
etwas  ganz  anderes,  nämlich  ,, bewußte  Selbsttäuschung",  ver- 
stehe. Flugs  ändert  er  seine  Gedankenrichtung  und  bekämpft 
nun  diese  Theorie.  Er  denkt  offenbar:  Doppelt  genäht  hält 
besser.  Widerlegen  wir  zuerst  die  Täuschungstheorie  und  nach- 
her die  Theorie  der  bewußten  Selbsttäuschung.  So  gewinnen  wir 
ein  paar  Argumente  mehr  und  haben  jedenfalls  den  Vorteil,  daß 
kein  gutes  Haar  an  der  Illusionstheorie  bleibt.  Gewiß  ein  sehr 
philosophisches  und  außerdem    auch  —  sehr  loyales  Verfahren ! 

Wie  widerlegt  nun  Meumann  die  Annahme  der  bewußten 
Selbsttäuschung.?     ,,Der  Ausgangspunkt  und  das  Fundament  der 

Annalen  der  Philosophie.    L  28 


A->A  Konrad  Lange: 

Theorie  liegt  in  der  Gegenüberstellung  von  Kunstwerk  und  Wirk- 
lichkeit. Es  ist  leicht  einzusehen,  daß  diese  Gegenüberstellung 
eine  unlogische  ist.  Denn  auch  das  Kunstwerk  ist  Wirklichkeit, 
und  zwar  sowohl  das  Werk  selbst  als  der  Eindruck,  den  es  auf 
den  Zuschauer  macht." 

Sehr  richtig.  So  richtig,  daß  man  es  fast  banal  nennen  könnte. 
Daß  Ölfarbe  und  Marmor  Wirklichkeit  sind,  hat  wohl  noch  nie 
jemand  bestritten,  wenigstens  kein  Anhänger  des  kritischen  Realis- 
mus, wie  es  Meumann  war  und  wie  ich  es  bin.  Auch  daß  der 
Genuß  an  einem  Kunstv\^erk  ein  wirkliches  Erlebnis  ist,  läßt  sich 
gewiß  nicht  leugnen.  Was  sich  leugnen  läßt  und  was  ich  ge- 
leugnet habe,  ist  nur,  daß  das  Kunstwerk  die  Wirkhchkeit  ist, 
die  es  darstellt.  Oder  sollte  Meumann  glauben,  daß  ein 
Porträt  Bismarcks  von  Lenbach  die  Wirklichkeit  Bismarck  wäre.-* 
Dann  würden  viele  Bismarcks  in  der  Welt  herumlaufen  und  wir 
brauchten   uns   nicht   um  einen   deutschen   Frieden  zu  sorgen. 

Sehr  schön  nimmt  sich  nun  der  philosophische  Schulmeister- 
ton   in   folgendem  aus:    ,, Lange  verwechselt  hierbei  den  Unter- 
schied zwischen  einer  dargestellten  und  nicht  dargestellten  Wirk- 
lichkeit   mit    dem    von   etwas    Wirklichem    und    Nichtwirklichem, 
was  natürlich  zw^ei  ganz  verschiedene  Dinge  sind."     Welche   Ge- 
dankenkonfusion steckt   in  diesen  wenigen  Werten!     Der    Gegen- 
satz einer  dargestellten   und    einer  nicht  dargestellten  Wirklichkeit 
ist    es   nämlich    gar    nicht,    was    Meumann    meint.     Denn    das 
würde  etwa  heißen:  der  Gegensatz  zwischen  Bismarck,  den  Lenbach 
dargestellt,  und  Meumann,  den  er  nicht  dargestellt  hat.     Davon 
ist  aber  gar  nicht  die  Rede.    Hier  kam  es  viclmeh^r  auf  einen  ganz 
anderen  Gegensatz  an,  nämlich  den  zwischen  der  Natur,    die  bei 
der  Kunstanschauung    nicht   selbst   vorhanden,    sondern   nur    ge- 
dacht ist,  und   dem   Kunstwerk,   das   zwar  nur  ein  Abbild,   eine 
Nachahmung  dieser  Natur,  als  solche  aber  wirklich  ist.     Zu  dieser 
Erkenntnis    scheint     Meumann    nicht    durchgedrungen    zu    sein. 
Lange  ,, verwechselt"  also  tatsächlich  gar  nichts.     Lange  unter- 
scheidet vielmehr  ganz  scharf  und  deutlich  die  außerkünstlerische 
Wirklichkeit,  die  schon  vor   dem  Kunstwerk  vorhanden  war,    und 
die   bei   der   ästhetischen  Anschauung   nur   vorgestellt   wird,    und 
die    künstlerische    Wirklichkeit,     die     erst    mit     dem    Kunstwerk 
in   die  Erscheinung  tritt,   dann   aber   real  vorhanden  ist.      Lange 
hat    niemals   bestritten,   daß  Ölfarbe  und  Marmor  und  Ziegel  und 
musikalische  Töne  Wirklichkeit  sind.      Er   hat  nur  bestritten,    daß 


Die  ästhetische  Illusion   und   ihre  Kritiker.  4^5 

Kunstwerke  wirkliche  Menschen,  Tiere,  Pflanzen,  Leben,  Kraft, 
Gefühl  und  Stimmung  sind.  Und  dabei  wird  es  wohl  auch  trotz 
Meumanns  Gedankenkonfusion  bleiben.  Das,  was  der  Künstler 
darstellt,  nachahmt,  gestaltet,  umbildet  oder  wie  man  sich  sonst 
ausdrücken  will,  ist  der  Inhalt  der  Kunst.  Dieser  Inhalt  ist  von 
der  Form  ganz  scharf  zu  unterscheiden.  Er  ist  nämlich  das 
Vorkünstlerische,  d.  h.  das,  was  vor  der  Entstehung  des  Kunst- 
werks vorhanden  war,  sei  es  nun  Natur  oder  Gefühlsleben  oder 
Sage  oder  was  immer.  Die  Form  dagegen  ist  der  Komplex 
aller  derjenigen  Eigenschaften,  die  das  Kunstwerk  zum  Kunstwerk, 
d.  h.  zu  einer  materiellen  Schöpfung  von  Menschenhand  machen. 
Natürlich  ist  das  Kunstwerk  Wirklichkeit.  Aber  in  bezug  auf 
das,  was  es  darstellt,  ist  es  nicht  Wirklichkeit.  Das 
ist  alles  ganz  klar  und  eindeutig.  Nur  die  unklare  Psychologie 
Meumanns  hat  es  verwirrt.  Und  es  gibt  gewiß  Leser,  die 
diese  Gedankenkonfusion  nicht  erkannt  haben.  Sie  sind  dabei 
vielleicht  von  der  Meinung  ausgegangen,  ein  Professor  der 
Philosophie  müsse  zum  mindesten  klar  denken  können. 

Aber  schließlich  scheint  doch  selbst  Meumann  ein  gewisses 
schwaches  Verständnis  für  das,  was  ich  gemeint  habe,  aufgebracht 
zu  haben.  Wenigstens  sagt  er:  ,, Vielleicht  hat  Lange  mit  seinem 
Illusionsbegriff  gemeint,  daß  uns  in  der  Kunst  eine  dargestellte 
Wirklichkeit  gleichwertig  mit  dem  Erleben  eines  nicht  Dar- 
gestellten wird."  Das  ,, Vielleicht"  war  überflüssig,  denn  was 
ich  gemeint  habe,  habe  ich  deutlich  gesagt.  Freilich  ist  es  nicht 
das,  was  Meumann  mir  unterlegt.  Denn  auch  hier  wird  der 
klare  Tatbestand  durch  die  Konfusion  des  Philosophen  verwirrt. 
Eine  ,, dargestellte  Wirklichkeit"  kann  mit  dem  Erleben  eines 
,, nicht  Dargestellten"  niemals  „gleichwertig"  sein.  Das  eine  kann 
nur  —  in  der  Form  der  Illusion  —  zum  Erleben  des  anderen 
anregen.  Und  was  Meumann  ,, dargestellte  Wirkhchkeit"  nennt, 
ist  vielmehr  ,, wirkliche  Darstellung  einer  nur  gedachtem  Wirk- 
lichkeit". Denn  Meumann  meint  tatsächhch  gar  nicht  die  dar- 
gestellte Wirklichkeit,  sondern  vielmehr  die  künstlerische 
Darstellung  einer  (nachgeahmten  oder  gedachten)  Wirklichkeit. 
Und  er  will  sagen,  daß  die  Wirklichkeit  des  Kunstwerks  mit  der 
Wirklichkeit  des  in  ihm  dargestellten  Inhalts  gleichwertig  sei. 
Aber  auch  das  ist  nicht  richtig.  Das  Wort  ,, gleichwertig"  trifft 
die  Sache  nicht,  da  die  Natur,  wie  schon  erwähnt,  bedeutend 
vielseitiger   in   ihren   Erscheinungsformen   ist   als   das   Kunstwerk. 

28* 


436 


Konrad  Lange: 


Dieses  ist  eben  nur  ein  Surrogat  der  Natur.  Als  solches  muß  es 
hinter  der  Natur  zurückstehen.  Dagegen  gewinnt  es  wieder  einen 
Ix^sonderen  Wert,  und  zwar  einen  höheren,  dadurch,  daß  es  die 
Fähigkeit  hat,  die  Phantasie  des  Genießenden  anzuregen.  Ein 
sicherer  Beweis,  daß  eben  die  Phantasietätigkeit  das  Ausschlag- 
gebende und  Wertvolle  in  der  Kunst  ist.  Denn  was  könnte  es 
wohl  für  einen  Zweck  haben,  ein  Abbild  oder  Surrogat  der  Natur 
herzustellen,  das  in  so  vielen  Beziehungen  hinter  seinem  Vorbild  zu- 
rückbleibt, wenn  dieses  Surrogat  nichj  eben  durch  seine  Illusions- 
kraft die  Fähigkeit  hätte,  die  Phantasie  der  Menschen  in  wert- 
voller Weise  anzuregen  ? 

Meumann  meint  nun,  der  Vorgang,  den  ich  im  Auge  habe,  sei 
,,in  keinem  Falle  eine  Illusion  oder  eine  Täuschung,  vielmehr 
werde  dieser  Tatbestand  durch  den  Begriff  der  Kontemplation 
oder  der  vollständigen  Versenkung  in  das  Kunstwerk  viel  rich- 
tiger bezeichnet".  Man  achte  darauf,  daß  hier  wieder  der  Be- 
griff der  Illusion  durch  das  Wort  Täuschung  erläutert,  also  in 
das  Gegenteil  dessen  verkehrt  wird,  was  ich  darunter  verstehe. 
Im  übrigen  ist  diese  Bemerkung  wieder  ganz  banal  und  nichts- 
sagend. Denn  was  ist  ,, Kontemplation"  oder  ,, Versenkung  in  das 
Kunstwerk"?  Kontemplation  heißt  Betrachtung,  besonders  ruhige 
gesammelte  Betrachtung.  Natürlich  gehört  die  zur  Kunst.  Man 
muß  man  das  Kunstwerk  ruhig  betrachten,  wenn  man  es  geniefkn 
will.  Das  brauchte  Meumann  der  staunenden  Welt  nicht  mit- 
zuteilen.- Natürlich  muß  man  sich  in  dasselbe  versenken,  wenn 
man  die  Absichten  des  Künstlers  verstehen  will.  Das  ist  allen, 
die  etwas  von  Kunst  verstehen,  geläufig.  Für  den  Philosophen  aber 
handelt  es  sich  darum,  worin  diese  Betrachtung  besteht, 
d.  h.  was  man  bei  der  Anschauung  erlebt.  Nach  der 
Illusionstheorie  erlebt  man  sowohl  den  Inhalt  als  auch  die 
Form  des  Kunstwerks.  Das  ist  der  wesentliche  Punkt,  durch 
den  sie  sich  von  allen  anderen  Theorien  unterscheidet.  Und  der 
Inhalt,  d.  h.  der  dargestellte  Gegenstand,  der  Stoff,  wie  man 
früher  zu  sagen  pflegte,  ist  mehr  als  man  gewöhnlich  denkt.  Er 
Ix'Steht  nicht  nur  aus  der  Natur  nach  ihrer  äußeren  Erscheinung 
—  was  sollte  sonst  die  Poesie  oder  die  Musik  wohl  anfangen.''  — , 
sondern  er  schließt  auch  alle  Gedanken  und  Gefühle  ein,  welche 
die  dargestellten  Personen  erleben  können.  Diese  Gedanken  und 
Gefühle  kann  man  sich  aber  nicht  vorstellen,  ohne  sie  selbst  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  zu  denken  oder  zu  fühlen. 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  437 

Ich  will  das  an  einem  Beispiel  erläutern.  Wir  sehen  beim 
Anblick  der  Statue  eines  zürnenden  Achill  nicht  nur  Körper- 
formen  von  bestimmter  Art,  nicht  nur  Nacktes  von  bestimmten 
Umrissen  und  Waffen  von  bestimmter  Form,  wir  sehen  nicht  nur 
weißen  Marmor  und  Komposition,  sondern  wir  sehen  auch  Zorn, 
d.  h.  den  Ausdruck  des  Zornes.  (Denn  der  Zorn  ist  für  den  Bild- 
hauer nur  insoweit  darstellbar,  als  er  durch  Bewegungen  des  Körpers 
und  der  Gesichtszüge  veranschaulicht  werden  kann.)  Zorn  sehen 
heißt  aber  psychologisch  nichts  anderes  als  Zorn  fühlen.  Dieses 
Gefühl  ist  allerdings  dem  Zorn,  den  W'ir  im  Leben  bei  gegebenem 
Anlaß  fühlen  würden,  nicht  gleich.  Und  zwar  deshalb  nicht,  weil 
wir  ja  selbst  keine  Veranlassung  zum  Zorn  haben,  sondern  nur  die 
Darstellung  eines  Menschen  sehen,  von  dem  die  Sage  berichtet, 
daß  er  zornig  gewesen  sei.  Immerhin  erleben  wir  etwas  Ähn- 
liches wie  Zorn,  ein  wenig  Zorn,  eine  Vorstellung  von  Zorn, 
oder  wie  man  es  nennen  will.  Und  genau  so  ist  es  mit  allen 
Gefühlen,  die  der  Künstler  darstellt.  Haß  und  Liebe,  Furcht 
und  Mitleid,  Freude  und  Trauer,  alles  das  erleben  wir  —  am 
stärksten  in  der  Poesie  und  Musik  ^,  aber  wir  erleben  es  nur 
in  der  Form  der  Vorstellung,  gewissermaßen  spielend.  Denn  die 
Vorstellungsreihe  Form  hindert  uns,  uns  diesen  Gefühlen  ganz 
hinzugeben.  Wir  tun  nur  so,  ,,als  ob"  wir  zürnten,  haßten, 
liebten,  fürchteten  usw.  Das  ist  der  Punkt,  wo  die  Illusions- 
ästhetik sich  mit  der  Als-ob-Philosophie  berülirt. 

Andererseits  umfaßt  aber  die  Vorstellungsreihe  Kunst  oder 
Form  auch  eine  ganze  Anzahl  von  Gefühlen,  die  sich  an  die 
sinnliche  Wahrnehmung  anschließen,  von  elementaren  Gefühlen, 
wie  sie  durch  Farben,  Töne,  Harmonien,  Wortklänge,  Rhyth- 
men, Reime  und  dergleichen  hervorgebracht  werden,  unter  Um- 
ständen auch  Unlustgefühle,  wie  diejenigen,  welche  gewisse 
Dissonanzen,  gewisse  graue  oder  schmutzige  Farbentöne  erzeugen. 
Alles  das  habe  ich  im  Wesen  der  Kunst  ausführlich  dargelegt. 
Man  wird  mir  danach  kaum  zum  Vorwurf  machen,  daß  ich  das 
ästhetische  Erlebnis  einseitig  aufgefaßt  hätte,  daß  es  sich  nach 
meiner  Theorie  dürftig  oder  unvollkommen  ausnehme. i)     Es  gibt 

1)  Nur  ein  Schüler  von  mir  hat  diesen  Vorwurf  ausgesprochen,  nänüich  Ludwig 
Goldstein  in  seinem  sonst  lesenswerten  Buche:  Moses  Mendelssohn  und  die 
deutsche  Ästhetik,  Königsberg  i.  P.,  1904,  S.  138:  ,,0b  sich  wirklich  der  ganze  Vor- 
gang des  Kunst-  und  Naturgenusses  auf  den  klappernden  Mechanismus  wech- 
selnder Vorstellungsreihen  zurückführen  läßt  ?    Ob  die  selbstvergessene  Begeisterung, 


^«g  Konrad  Lange: 

im  Gegenteil  wohl  keine  ästhetische  Theorie,  die  allen  M^lich- 
keiten  des  Erlebens  in  der  Kunst  so  restlos  gerecht  würde,  wie  die 
Illusionstheorie.  Alles,  aber  auch  alles,  was  wir  beim  Genuß  eines 
Kunstwerks  erleben  körmen,  ist  in  den  zwei  Vorstellungs-  und 
Gefühlsreihen  enthalten.  Im  Gegensatz  dazu  stützen  sich  sowohl 
die  Form-  als  auch  die  Inhaltsästhetik,  sowohl  die  Einfühlimgs- 
als  auch  die  Assoziationsästhetik  immer  nur  auf  einzelne  Formen 
des  Erlebens,  Formen,  die  an  sich  wohl  möglich  sind  und  auch  von 
mir  gar  nicht  geleugnet  werden,  bei  deren  einseitiger  Her\or- 
kehrung  aber  gerade  das.  v^orauf  es  ankommt,  nämlich  das  spezi- 
fisch Ästhetische  unerklärt  bleibt. 

Eher  könnte  man  mir  zum  \'orwurf  machen,  daß  ich  mir  die 
ästhetische  Anschauung  zu  \-ielseitig  gedacht,  daß  ich  die  beiden 
\'orstelluns5reihen  mit  zu  viel  Einzelerlebnissen  überlastet  habe. 
Diesem  Vorwurf  glaubte  ich  mich  dadurch  sm  besten  zu  entziehen, 
daß  ich  das  Ejleben  dieser  \orstellüngen  und  Gefühle  als  ein 
sukzessives  oder  wechselndes  schilderte.  Gerade  dieser  Punkt 
ist  nun  von  meinen  Kritikern  besonders  oft  als  .Angriffs- 
punkt benutzt  worden.  Und  doch  gibt  es  nichts  Klareres,  als 
daß  wir  nicht  gleichzeitig  Erlebnisse  haben  können,  die  einander 
entgegengesetzt  sind,  sich  inhaltlich  geradezu  ausschließen.  So 
können  vrir  z.  B.  nicht  gleichzeitig  die  Vorstellung  haben,  die 
schattierte  Zeichnung  einer  Kugel  sei  ein  Flächenbild,  und  sie  sei 
eine  Kugel.  Denn  das  eine  schließt  das  Andere  geradezu  aus.  Wenn 
wir  also  sagen:  ..Das  schattierte  Flächenbild  versetzt  uns  in  die 
Illusion  einer  Kugel',  d.  h.  eines  runden  plastischen  Körpers,  so  kann 
das  vernünftigerweise  nur  heißen:  Wir  täuschen  uns  vorüber- 
gehend vor,  daß  das,  was  wir  da  sehen,  eine  Kugel  sei.  „Vorüber- 
gehend", d.  h.  eben  abwechselnd  mit  der  Anschauung  der  Zeich- 
nung als  Flächenbild.  NMr  sehen  die  Zeichnung  einmal  als  flächen- 
haftes  Gebilde,  d.h.  als  Kreidezeichnung  auf  Papier,  und  einmal  als 
Kugel,  d.  h.  als  plastischen  Körper  im  Raum.  Gerade  zu  diesem 
Spiel  der  Vorstellungen  wollte  uns  ja  der  Zeichner  an- 
regen. Und  wer  jemals  einen  Bleistift  in  der  Hand  gehabt  hat. 
weiß,  vie  stolz  er  darauf  war,  mit  seinen  Mitteln,  d.  h.  mit  den 

in  die  uns  ein  meisterfaaft  vorgetragenes  Tonstück,  ein  hhireiBendes  Tbeatererlebnis 
versetzen  kann,  allein  aas  der  für  uns  kontrrilierbaren  Pcndelbevcgung  unseres 
Bewußtseins  zvis<diai  Spid  und  Ernst,  zvisd>en  Sdiein  und  Wirklicbkeit  zu  er- 
klären ist?"  Goldstein  hat  hier  fälschlicbersreis«  die  Form  des  Erlebens  mit  dem 
Inhalt  des  sehr  komplizierten  Gefühlskomplexes  gleid^csetzt. 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker,  439 

technischen  Mitteln  der  Zeichnung  sich  selbst  und  anderen  dieses 
Spiel  der  Vorstellungen  verschafft  zu  haben.  Jeder  Urheber  einer 
solchen  Zeichnung  will,  daß  wir  das  Werk  seiner  Hand  gut  finden, 
er  will  vor  allem  selbst  dadurch  befriedigt  sein.  Das  kann  er  aber 
doch  nur,  wenn  er  die  Zeichnung  als  Zeichnung  auffafit,  was  er 
ja  schon  deshalb  tut,  weil  er  sie  selbst  gemacht  hat.  Und  auch 
wir  können  in  seiner  Zeichnung  eine  Kugel  nur  dann  sehen, 
wenn  wir  uns  bei  ihr,  obwohl  sie  nur  eine  Zeichnung  ist,  dennoch 
einer  wirklichen  Kugel  erinnern  und  uns  vermöge  dieser  Erinne- 
rung in  die  Illusion  einer  plastischen  Kugel  versetzen.  Beides  tun 
wir  auch  tatsächlich,  und  zwar  abwechselnd,  wie  schon  aus  unserem 
abwechselnden  Öffnen  und  Zukneifen  der  Augen  hervorgeht. 

Ebensowenig  können  wir  gleichzeitig  Trauer  und  sinnliche 
Lust  fühlen.  Wenn  wir  z.  B.  in  der  Musik  die  Harmonien  und 
Rhythmen  eines  Trauermarsches  hören,  so  können  wir  nicht 
gleichzeitig  die  Trauer  erleben,  die  seinen  Inhalt  bildet,  und  die 
Lust  fühlen,  die  der  sinnliche  Reiz  der  Harmonien  und  Rhythmen 
in  uns  auslöst.  Wir  müssen  diese  Gefühle  vielmehr  nacheinander 
oder  abwechselnd  miteinander  erleben.  Das  ist  so  sicher,  wie  nur 
irgendeine  psychologische  Wahrheit. 

Ich  habe  nun  in  meiner  Antrittsvorlesung  über  ,,Die  bewußte 
Selbsttäuschung  als  Kern  des  ästhetischen  Genusses"  (Leipzig 
1895)  und  in  der  ersten  Auflage  des  Wesens  der  Kunst  (1901)  zur 
Veranschaulichung  dieses  seelischen  Vorganges  das  Bild  eines 
Pendels  gebraucht,  d.  h.  ich  habe  die  ästhetische  Anschauung 
mit  einem  Hin-  und  Herpendeln  oder  -oszillieren  oder  Hin-  und 
Herschaukeln  zwischen  Natur  und  Kunst,  Inhalt  und  Form, 
Original  und  Nachahmung  verglichen.  Diese  Unvorsichtigkeit 
habe  ich  schwer  büßen  müssen.  Denn  die  ganze  Schar  meiner 
jugendlichen  Gegner  hat  sich  auf  diese  Pendeltheorie  gestürzt 
wie  der  Stier  auf  das  rote  Tuch,  und  hat  allen  Ernstes  geglaubt, 
wenn  sie  dieses  Bild,  diesen  Vergleich  —  denn  mehr  sollte  es  ja 
nicht  sein  —  für  unpassend  erklärte,  damit  die  ganze  Illii'?ions- 
theorie  widerlegt  zu  haben. 

So  auch  Meumann.  ,,Es  ist  nicht  richtig,  daß  wir  beim 
Genießen  eines  Kunstwerks  zwischen  Sehern  und  Wirklichkeit 
oder  überhaupt  zwischen  irgendwelchen  Vorstellungsreihen  hin 
und  her  pendeln,  das  ist  einfach  praktisch  unrichtig,  wie  jeder 
aufmerksame  Betrachter  an  sich  feststellen  kann.  Im  Gegenteil 
müssen    wir    sagen:    Beim    ästhetischen    Genießen    versenken    wir 


AAO  Konrad  Lange: 

uns  ganz  in  das  Kunstwerk  selbst  und  wir  vergessen  die  ganze 
übrige  Wirklichkeit,  und  es  ist  ganz  unmöglich,  während 
einer  tieferen  ästhetischen  Konzentration  auf  ein  Kunstwerk  uns 
immer  vorzureden  (!)*  das  alles  ist  nur  Schein  und  keine  Wirk- 
lichkeit. Gerade  dieser  Gedanke  schwindet  uns  völlig  aus 
dem  Bewußtsein.  Ein  Schauspiel,  eine  Oper  oder  eine  Lektüre 
eines  stimmungsvollen  Gedichtes  vermag  uns  vollständig  zu  fesseln 
und  läßt  den  Gedanken  daran,  daß  wir  eine  bloß  dar- 
gestellte Wirklichkeit  vor  uns  haben,  gar  nicht  auf- 
kommen. Eben  infolge  dieser  völligen  Versenkung  in  das  Kunst- 
werk wird  uns  das  Dargestellte  zu  einem  Äquivalent  der  nicht 
dargestellten  Wirklichkeit  (soll  heißen:  wird  uns  das  Kunstwerk 
zu  einem  Äquivalent  der  in  ihm  dargestellten  Wirklichkeit!). 
Das  ist  die  ganz  eigenartige  ästhetische  Wirklichkeit,  die  aber 
etwas  total  anderes  ist  als  Täuschung  oder  als  ,bew^ußtes  Sich- 
selbsttäuschen'." 

Ähnliche  Argumentationen  kehren  sehr  häufig  in  der  Polemik 
gegen  die  Illusionstheorie  wieder.  Sie  stammen  durchweg  von 
Philosophen  her,  die  auf  dem  Standpunkt  der  Inhaltsästhetik 
stehen,  d.  h.  die  das  Wesen  der  Kunstwirkung  im  Inhalt  allein 
erblicken.  Ich  weiß  nicht,  ob  Meumann  sich  der  Tragweite  seiner 
Beweisführung  klar  bewußt  gewesen  ist.  Sie  bedeutet  nämlich,  wenn 
sie  auf  Selbstbeobachtung  beruht,  nicht  mehr  und  nicht  weniger, 
als  daß  er  selbst  das  Kunstwerk  gar  nicht  als  Kunstwerk 
anzuschauen  gewohnt  war.  Nun  zweifle  ich  ja  keinen  Augen- 
blick daran,  daß  Leute  von  seinem  Schlage  ein  Kunstwerk  nicht 
als  Kunstwerk  auffassen  können.  Lesen  sie  doch  einen  Roman 
ungefähr  so  wie  ein  junges  Mädchen,  das  sich  ganz  in  denselben 
, .verliest",  sich  mit  der  Heldin  identifiziert,  in  den  Helden  ver- 
liebt ist,  Angst  und  Hoffnung,  Trauer  und  Freude,  Haß  und  Liebe 
ebenso  erlebt,  wie  es  diese  Gefühle  in  der  Wirklichkeit  erleben 
würde.  Oder  wie  ein  junger  Fabrikarbeiter,  der  im  Kino  die  Aben- 
teuer eines  Detektivs  oder  eines  Einbrechers  so  anschaut,  als  wäre 
er  selbst  dieser  Mensch,  dem  solche  aufregenden  Dinge  passieren. 
Oder  wie  eine  Bauersfrau,  die  ein  Bild  nur  daraufhin  ansieht,  was 
es  darstellt,  ob  die  dargestellte  Person  gerade  gew^achsen  oder  buck- 
lig ist,  ob  sie  einen  liebenswürdigen  oder  unliebenswürdigen  Aus- 
druck hat  usw.  Das  ist  das  schöne  Vorrecht  der  Jugend  und  — 
der  Ungebildeten,  kurz  aller  Leute,  die  nichts  von  Kunst  ver- 
stehen.   Ob  auch  das  Vorrecht  der  Philosophen,  das  ist  eine  andere 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  ^^I 

Frage.  Der  Philosoph  muß  nämlich,  auch  wenn  er  selbst  nichts 
von  Kunst  versteht,  wenigstens  mit  der  Ansicht  derer  rechnen, 
die  etwas  davon  verstehen.  Er  muß  sich  auf  den  Standpunkt 
derer  versetzen  können,  die  ein  Kunstwerk  als  Kunstwerk  an- 
schauen, d.  h.  sich  für  das  Problem  der  Form  interessieren,  das 
in  ihm  gelöst  worden  isb.  Es  gehört  die  ganze  Harmlosigkeit 
eines  künstlerisch  ungebildeten  Menschen,  eines  ästhetischen  Ba- 
nausen dazu,  zu  glauben,  daß  wir  beim  Genuß  eines  Kunstwerks 
nur  dessen  Inhalt  erlebten,  dagegen  nicht  an  die  Persönlichkeit 
des  Künstlers,  an  seinen  Stil,  an  das  Material,  die  Technik,  die 
Komposition  usw.  dächten. 

Meumann  ist  sehr  empört  darüber,  daß  ich  das  Wesen  der 
Kunst  in  etw.is  so  Niedrigem  wie  einer  Täuschung  sehe.  Er  ist  sich 
nicht  nur  im  unklaren  darüber  geblieben,  daß  meine  Illusion  gar  keine 
Täuschung  ist,  sondern  er  hat  auch  nicht  erkannt,  daß  er  selbst 
das  Wesen  der  Kunst  in  einer  Täuschung  erblickt.  Denn 
•wenn  ich  mich  in  den  Inhalt  eines  Kunstwerks  so  versenke,  daß 
ich  ,,die  ganze  übrige  Wirklichkeit  vergesse",  daß  mir  ,,die  Schein- 
haftigkeit  des  Kunstwerks  ganz  aus  dem  Bewußtsein  schwindet", 
daß  ich  das  Kunstwerk  als  ,, Äquivalent  der  Wirklichkeit"  nehme, 
dann  lasse  ich  mich  eben  wirklich  täuschen.  Jedes 
Erleben  nur  der  einen  Vorstellungsreihe  Inhalt  ist  eine  wirklicht- 
Selbsttäuschung.  Wenn  ein  Fieberkranker  nachts  aufw'acht  und 
in  der  Erregung  sein  im  Winde  bewegtes  Handtuch  für  eine  weiß- 
gekleidete, durch  das  Zimmer  schwebende  Gestalt  nimmt,  oder 
•^enn  der  Knabe  in  Goethes  Erlkönig  in  den  grauen  Weiden 
die  Töchter  des  Erlkönigs  sieht,  so  erleben  diese  Menschen  gewiß 
nur  eine  Vorstellungsreihe.  Ihre  Anschauung  ist  eine  durchaus 
einheitliche.  Sie  fühlen  sich  ganz  in  das,  was  sie  sehen,  ein.  Aber 
ihre  Anschauung  ist  ganz  gewiß  keine  ästhetische.  Einfach  des- 
halb nicht,  weil  ihr  das  Korrektiv  des  Täuschungsbewußtseins 
fehlt.  Dieses  Korrekti\'  ist  es  aber,  was  dem  Menschen  das  Gefühl 
der  ästhetischen  Freiheit  gibt,  indem  es  ihn  über  die  be- 
ängstigende und  bedrückende  Wirklichkeit  emporhebt.^) 

Auf  der  anderen  Seite:  Wenn  ein  moderner  Expressionist  oder 
Kubist  oder  Futurist  wde  Picasso,  Kandinsky  oder  Severini  in  seinen 
Bildern  auf  jede  Ähnlichkeit  mit  der  Natur  verzichtet,  das  Gegen- 
ständliche nur  ganz  von  ferne  anklingen  läßt  oder  versteckt  an- 


^)  K.  Lange,  Über  den  Zweck  der  Kunst,  Stuttgart  1912. 


ÄAf  Konrad  Lange: 

deutet  dagegen  sich  im  Wesentlichen  mit  nichtssagenden  Linien, 
einer  geometrischen  Einteilung  der  Malf lache  und  mosaikartig 
nebeneinandergestellten  Farbenflecken  begnügt,  so  erzeugt  er 
damit  freilich  keine  Illusion.  Aber  sein  Werk  ist  auch  kein 
Kunstwerk.  Denn  es  ist  dann  nur  Form,  es  entbehrt  der 
Natur  mit  ihren  reichen  und  mannigfaltigen  Gefühlswirkungen. 
Das  sind  die  beiden  extremen  Fälle  einer  Anschauung,  die  mit 
Unrecht  als  künstlerisch  bezeichnet  wird.  Und  sie  haben  mit- 
einander gemein,  daß  sie  —  einheitliche  Anschauungen  sind, 
d.  h.  daß  die  Anschauung  bei  ihnen  aus  einer  Vorstellungsreihe 
besteht.     Sapienti  sat. 

Dem  Philosophen  Meumann  freilich  genügt  es  nicht.  Nach 
ihm  ,,hört  der  ästhetische  Genuß  sofort  auf,  wenn  wir  uns  einmal 
darauf  besinnen,  daß  wir  es  bloß  mit  etwas  Dargestelltem  zu  tun 
haben  (soll  heißen:  mit  einer  Darstellung,  d.  h.  einer  Nachahmung). 
Jedes  Pendeln  zwischen  zwei  Vorstellungsreihen  bezeichnet  daher 
gerade  das  Aufhören  des  eigentlichen  Kunstgenusses."  Hier  ist 
also  klar  und  deutlich  gesagt,  daß  Meumann  das  Kunstwerk 
gar  nicht  als  Kunstwerk  ansieht,  weil  er  es  gar  nicht  als  solches 
ansehen  will.  Denn  wenn  wir  uns  bei  der  Anschauung  nicht 
darüber  klar  werden  dürfen,  daß  wir  es  nur  mit  einer  Darstellung 
zu  tun  haben,  so  heißt  das  doch  eben  nichts  anderes  als:  Wir 
dürfen  uns  nicht  darüber  klar  werden,  daß  wir  ein  Kunstwerk 
anschauen,  wir  müssen  das  Kunstwerk  für  Wirklichkeit  nehmen. 
Wir  müssen  also  z.  B.  in  der  Poesie  die  Spannung  lediglich  als 
stofflichen  Reiz  erleben,  also  gerade  das  tun,  was  nicht  nur  Goethe 
und  Schiller  als  unkünstlcrisch  verwarfen,  sondern  was  auch  jeder 
moderne  Kunstkritiker,  der  etwas  von  Kunst  versteht,  weit  von 
sich  weisen  wird.  Wenn  irgend  etwas  in  der  Ästhetik  sicher  und 
unbestritten  ist,  so  ist  es  doch  die  banale  Tatsache,  daß  das 
einseitige  Erleben  des  stofflichen  Reizes  keine  ästhetische  An- 
schauung ist.  Ein  Künstler,  der  darauf  hinarbeitet,  versündigt 
sich  am  Geiste  der  Kunst.  Und  ein  Beschauer  oder  Leser,  der 
diesem  Reiz  unterliegt,  genießt  nicht  künstlerisch  im  eigent- 
lichen  Sinne,   sondern  wie  ein  kunstloser  roher  Barbar. 

Nach  diesen  Proben  kann  man  sich  schon  denken,  \^lcher 
.■\rt  die  Argumente  sind,  die  Meumann  sonst  noch  gegen  die 
Illusionstheorie  vorzubringen  weiß.  Zunächst  die  Behauptung, 
daß  ein  Ericben  zweier  Vorstellungsreihen  im  Wechsel  miteinander 
Unlust  erregen   müsse:   ,,Ein    Irrtum   ist  es  ferner,  daß  überhaupt 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  44^ 

jemals  durch  ein  Hin-  und  Hcrpcndeln  zwischen  zwei  Vorstcllungs- 
rcihen,  die  sich  ausschließen  (wie  Schein  und  Wirklichkeit),  ein 
Genuß  entstehen  könne,  vielmehr  ist  ein  solcher  Zustand  stets 
die  Ursache  von  Unlust,  und  es  ist  einer  der  größten  Fehler  eines 
Künstlers,  wenn  er  uns  nicht  gestattet,  in  seinem  Kunstwerk  ge- 
nießend aufzugchen,  sondern  wie  (soll  heißen:  wenn)  wir  fort- 
während oder  auch  nur  einige  Male  in  der  ästhetischen  Kontem- 
plation gestört  werden." 

Dieses  Argument,  das  ebenfalls  zu  dem  eisernen  Bestände 
der  Polemik  gegen  die  Illusionstheorie  gehört,  habe  ich  nun  so 
oft  widerlegt,  daß  man  mir  wohl  erlassen  wird,  hier  noch  einmal 
in  extenso  darauf  einzugehen.  Ich  begnüge  mich  deshalb,  zum 
so  und  so  vielten  Male  zu  wiederholen,  daß  jedes  Wortspiel,  jedes 
komische  Erlebnis,  jeder  Witz,  jede  Ironie,  jede  Allegorie,  jedes 
poetische  Bild  nur  in  der  Form  zweier  gleichzeitig  oder  in  raschem 
Wechsel  miteinander  sich  bildender  Vorstellungsreihen  erlebt  werden 
kann.  Ein  paar  Beispiele:  ,, Warum  hat  Zar  Nikolaus  den  Namen 
Petersburg  in  Petrograd  geändert.'*"  Antwort:  ,,Weil  ihm  , hinten 
Burg'  unangenehm  war."  Da  haben  wir  die  zwei  Vorstellungsreihen: 
I.  hinten  Burg,  2.  Hindenburg.  Oder:  ,,Die  Engländer  haben 
Irland  glücklich  gemacht."  Da  haben  wir  wieder  die  zwei  Vor- 
stellungsreihen: I.  die  Lüge  der  englischen  Staatsmänner  über 
die  zivilisatorische  Mission  Englands,  2.  die  Tatsache  der 
irischen  Unterdrückung,  die  von  Casement  enthüllt  worden  ist. 
Oder:  ,,Der  Morgen  kam,  es  scheuchten  seine  Tritte  den  leisen 
Schlaf,  der  mich  gelind  umfing."  Wieder  die  zwei  Vorstellungs- 
rcihen:  i.  das  aufdämmernde  Morgenlicht,  2.  der  Jüngling,  der 
sich  dem  Schläfer  nähert  und  mit  seinen  Tritten  den  diesen  um- 
fangenden Schlafgott  verscheucht.  Man  hat  niemals  gehört,  daß 
das  Erleben  der  zwei  Vorstellungsrcihen  die  Lust  an  solchen  Wort- 
spielen, ironischen  Bemerkungen,  poetischen  Bildern  usw.  be- 
einträchtigt hätte.  Im  Gegenteil,  wenn  man  sieht,  wie  oft  gerade 
diese  Zweiheit  der  Vorstellungsrcihen  in  Fällen  einer  schönen  oder 
sonstwie  erfreulichen  Wirkung  vorkommt,  dann  wird  es  sogar  sehr 
wahrscheinlich,  daß  eben  auf  ihr  das  Lustgefühl  beruht,  das,  all- 
gemein gefaßt,  nichts  anderes  als  geistiges  Freiheitsgefühl  ist. 

Weiter:  ,,Wenn  Lange  behauptet,  illusionsstörende  Momente 
müssen  im  Kunstwerk  sein,  so  ist  das  unrichtig;  das  Kunstwerk 
darf  vielmehr  überhaupt  keine  illusionsstörenden  Momente  ent- 
halten, vielmehr  dürfen  solche  Momente  nur  in  dem  Beiwerk  sein, 


AAA  Konrad  Lange: 

nicht  in  dem  Kunstwerk  selbst,  also  z.  B.  in  dem  Rahmen  eines 
Bildes,  den  Zuschauern  eines  Theaters,  also  in  lauter  nebensäch- 
lichem Beiwerk,  das  mit  dem  wahren  Charakter  des  Kunstwerks 
gar  nichts  zu  tun  hat." 

Aber  darum  handelt  es  sich  ja  gerade,  ob  die  täuschung- 
lundernden  Momente  nur  dem  Beiwerk  angehören,  oder  ob  sie  für 
die  ästhetische  Wirkung  ausschlaggebend  sind.  Was  den  Rahmen 
in  der  Malerei  betrifft,  so  ist  es  Tatsache,  daß  jeder  gute  Maler 
auf  die  Flächenteilung  innerhalb  desselben  großes  Gewicht  legt. 
Zum  Teil  wird  die  Komposition  des  Bildes  geradezu  durch 
sie  bestimmt.  Und  woher  kommt  es  denn,  daß  ausgerechnet  das 
Panorama,  wo  der  Rahmen  weggelassen  ist,  unkünstlerisch  wirkt  ? 
Wenn  das  Postament  in  der  Plastik  nur  gleichgültiges  Beiwerk 
ist,  warum  stellt  man  dann  die  Statuen  nicht  unmittelbar  auf 
den  Erdboden  wie  die  Wachsfiguren  eines  Panoptikums,  wodurch 
<loch  offenbar  die  Täuschung  verstärkt  wird  ?  Und  wie  kommt 
es,  daß  Meumann  bei  der  Bühnenkunst  nur  die  Umgebung  des 
Genießenden  im  Zuschauerraum  als  täuschunghinderndes  Element 
nennt,  nicht  aber  das  Podium  und  den  Rahmen  der  Bühne,  die 
etwa  dem  Rahmen  in  der  Malerei  und  dem  Postament  in  der 
Plastik  entsprechen  }  Wie  kommt  es  ferner,  daß  er  das  Metrum  und 
den  Reim  in  der  Poefeie,  den  Rhythmus  und  die  Harmonie  in  der 
Musik  nicht  nennt,  daß  er  überhaupt  in  allen  Künsten  die  Verände- 
rungen der  Natur,  die  ich  eingehend  behandelt  habe,  unberücksichtigt 
läßt,  mit  einem  Worte  den  Stil  vergißt.''  Ich  will  es  dem  Leser 
\-erraten:  Weil  er  ganz  genau  weiß,  aber  nicht  zugeben  darf,  daß 
diese  Elemente,  die  doch  alle  von  der  Natur  wegführen, 
für  die  künstlerische  Wirkung  von  ausschlaggebender  Bedeutung  sind. 

Auf  den  Stil  als  Ausdruck  der  Persönlichkeit  des  Künstlers 
möchte  ich  ganz  besonderen  Wert  legen.  Ich  glaube  gern,  daß 
es  Menschen  gibt,  die  ihn  im  Kunstwerk  nicht  sehen.  Das  sind 
dieselben,  die  ein  Bild  dann  am  schönsten  finden,  wenn  es  am 
meisten  wie  eine  Photographie  aussieht,  d.  h.  am  stillosesten  ist. 
Und  ein  solcher  war  gewiß  auch  Meumann.  Der  Stil  bedeutet 
immer  eine  mehr  oder  weniger  starke  Abweichung  von  der  Natur- 
vorstellung des  Beschauers.  Denn  der  Fall  ist  gewiß  selten,  daß 
der  persönliche  Stil  eines  großen  Künstlers  mit  der  Nacurvorstellung 
der  meisten  Menschen  übereinstimmt.  Selbst  beim  tolerantesten 
Kunstkenner  wird  immer  ein  gewisser  Rest,  eine  gewisse 
.Sp.mnung     übrig    bleiben.      Künstlerisch     ungebildete     Menschen 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  445 

empfinden  diese  Spannung  unangenelim,  künstlerisch  gebildete 
sehen  gerade  in  ihr  einen  besonderen  Reiz.  Es  ist  also  klar,  daß 
sie  den  Stil  während  der  ästhetischen  Anschauung  im  Bewußt- 
sein haben  und  daß  dies  auch  zum  wahren  Kunstgenuß  gehört. 

Mein  Haupt  beweis  für  die  Notwendigkeit  der  täuschung- 
hindernden Elemente  waren  aber,  wie  schon  angedeutet,  die  Pan- 
oramen und  Panoptiken.  Es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß  bei  diesen 
Jahrmarktillusionen  fast  alle  täuschunghindernden  Elemente  fehlen. 
Sie  werden  offenbar  mit  Bewußtsein  weggelassen,  absichtlich  aus- 
geschaltet, weil  die  Absicht  der  Hersteller  auf  wirkliche  Täuschung 
geht.  Und  das  Ergebnis  ist  denn  auch:  eine  durchaus  unkünstle- 
rische Wirkung.  Diese  gibt  sogar  Meumann  zu.  Nur  will  er  ihre 
Ursache  nicht  in  der  Aufhebung  der  täuschunghindernden  Elemente 
erblicken.  ,, Nicht  die  Vollständigkeit  der  Illusion  (soll  heißen:  die 
Absicht  wirklicher  Täuschung)  ist  es,  was  diese  Kunstw^erke  minder- 
wertig macht,  sondern  die  unkünstlerischen  Mittel,  mit  denen  die 
Illusion  erreicht  wird,  d.  h.  die  physikalisch-optischen  Kunstgriffe, 
die  also  nicht  mehr  zur  künstlerischen  Darstellungsweise  gehören." 
Gemeint  ist  z.  B.  die  Unkenntlichmachung  des  Übergangs  von  den 
plastisch  ausgeführten  zu  den  nur  gemalten  Teilen  im  Panorama, 
Ob  diese  zur  ,, künstlerischen  Darstellungsweise"  gehört,  hängt 
davon  ab,  ob  sie  als  Kuiistmittel  erkannt  wird  oder  nicht. 
Und  das  ist  eben  nicht  der  Fall.  Daraus  aber,  daß  die  ent- 
stehende Täuschung  eine  unkünstlerischc  ist,  muß  man  schließen, 
daß  die  täuschunghindernden  Elemente  nötig  sind,  daß  also  die 
ästhetische  Anschauung  aus  zwei  Vorstellungsreihen  besteht. 

Das  übrige,  was  Meumann  gegen  die  Illusionstheorie  vor- 
bringt, ist  noch  haltloser  und  nichtssagender  als  das,  was  ich  im 
vorigen  widerlegt  habe.  Es  lohnt  sich  also  nicht,  näher  darauf 
einzugehen.  Man  wird  danach  auch  beurteilen  können,  was  es 
für  eine  Bedeutung  hat,  wenn  Meumann  schließlich  sein  Urteil 
in  die  Worte  zusammenfaßt:  ,,Die  ganze  Theorie  Langes  ist 
nicht  ernst  zu  nehmen.  Ich  stehe  nicht  an,  sie  als  die  schlechteste 
Theorie  des  ästhetischen  Gefallens  zu  bezeichnen,  die  in  der  Gegen- 
wart aufgetreten  ist." 

Ich  will,  um  dieses  Urteil  zu  beleuchten,  drei  Kritiker  zitieren, 
die  sich  meiner  Theorie  angeschlossen  haben,  einen  Kunsthistoriker, 
einen  Theologen  und  einen  Schauspieler.  Der  Kunsthistoriker  ist 
Dr.  Julius  Janitsch,  Direktor  des  schlesischen Provinzialmuseums 
in  Breslau.     Er  schreibt  in  der  ,, Schlesischen  Zeitung",  27.  März 


446 


Konrad  Lance: 


1902,  S.  217:  ,,Ich  bin  der  Überzeugung,  daß  die  Langesche 
lllusionslelire  geradezu  als  befreiend  empfunden  werden  wird. 
Endlich  eine  Ästhetik,  die  auch  der  Künstler  mit  Nutzen  zur 
Hand  nehmen  kann!" 

Der  Theologe  ist  Liz.  E.  Schaumkell  (Ludwigslust),  der 
sich  im  ,, Literarischen  Zentralblatt"  von  1902,  Nr.  16,  S.  533, 
so  vernehmen  läßt:  ,, Durch  das  Erscheinen  dieses  Buches  ist  die 
Kunstwissenschaft  um  ein  bedeutendes  Werk  vermehrt,  das  wie 
kein  zweites  geeignet  ist,  ein  tieferes  Verständnis  der  Kunst  und 
ihrer  Aufgaben  weiteren  Kreisen  zu  vermitteln.  .  .  .  Ein  besonderer 
Vorzug  ist  die  Vielseitigkeit  der  Beweisführung.  .  .  .  Daß  Lange 
mancherlei  Widerspruch  erfahren  hat,  erklärt  sich  dem  Referenten 
daraus,  daß  seine  Theorie  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  nicht 
verstanden  worden  ist.  Nach  Ansicht  des  Referenten  ist  die 
, bewußte  Selbsttäuschung'  der  zentrale  Punkt,  von  dem  allein 
aus  sich  die  mannigfaltigen  Probleme  der  Kunst  lösen  lassen.  .  .  . 
Es  gibt  keine  Frage  der  Kunst,  die  hier  nicht  mit  überzeugender 
Deutlichkeit  behandelt  würde.  .  .  .  Lange  hat  sein  Werk  mit  der 
doppelten  Absicht  geschrieben,  eine  wissenschaftliche  Ästhetik  zu 
liefern  und  dem  nach  Kunstverständnis  suchenden  Laien  eine 
populäre  Kunstlehre  vorzulegen.  Daß  dieses  Ziel  erreicht  ist, 
wird  nach  des  Referenten  Ansicht  dem  nicht  zweifelhaft  sein, 
der  ohne  Voreingenommenheit  an  das  Studium  des  Werkes  geht. 
Dann  möchte  Referent  noch  zum  Schluß  rühmend  hervorheben: 
Langes  Werk  zeigt  wieder,  daß  man  tiefgehende  Probleme  der 
Wissenschaft  behandeln  und  doch  allen  verständlich  machen  kann. 
Es  ist  in  dem  ganzen  umfangreichen  Werke  kein  einziger 
Gedanke,  der  für  den  aufmerksamen  Leser  unklar 
bleibt." 

Vergleicht  man  mit  dieser  letzten  Bemerkung  die  vielen 
Fragezeichen  und  Ausrufungszeichen,  die  Meumann  (und  Streiter) 
meinen  Bemerkungen  hinzufügen,  so  muß  man  doch  wohl  den 
Eindruck  gewinnen,  daß  die  Unklarheit  nicht  bei  mir  zu  suchen  ist. 
Der  Schauspieler  ist  der  früher  am  Burgtheater  in  Wien  tätig 
gewesene  Theaterintendant  in  Mannheim,  jetzt  Lehrer  der  Schau- 
spielkunst am  Deutschen  Theater  in  Berlin,  Ferdinand  Gregori. 
Er  sagt  im  ,, Bücherfreund",  einem  Beiblatt  zum  ,, Volkserzieher", 
4.  Jan.  1903,  2.  Jahrg.,  S.  I — 4:  ,, Konrad  Lange  hat  das  Wesen 
der  Kunst  wahrscheinlich  für  alle  Zeiten  grundsätzlich  festgelegt. 
So  revolutionierend  sein  Werk  in  den  Reihen  der  Gelehrten  wirken 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  447 

mag,  die  Künstler  kann  es  nur  festigen.     Das  ist  Langes  Größe: 
Alle    echte    Kunstübung,    die    wir    kennen,    findet    Unterkunft    in 
seinem   Hause,   das  viele   Wohnungen  hat,   und   in  aller   Zukunft 
werden  alle  Entdeckungen  neuen  Kunstbodens  sich  organisch  an- 
gliedern  können.     Wir   fühlen,    daß   die    Kunst    nicht   wegen   der 
Ästhetik  da  ist,  sondern  die  Ästhetik  um  der  Kunst  willen.     Das 
Buch  war  mir  dreifältig  wertvoll:  Es  brachte  mir  Wiederholungen, 
Bestätigungen,   Offenbarungen;  Wiederholungen  von  Urteilen,   die 
ich  da  und  dort  im   Sinne   Langes  abgegeben,   ohne  doch  seine 
Erklärungen  gekannt  zu  haben;  Bestätigungen  noch  ungemünzter 
Gefühle;    Offenbarungen,   die   meinen    Gesichtskreis   in   die   Weite 
dehnten.     Er  spricht  menschlich  zu  den  Menschen.     Seine  Rede 
ist  nicht  nur  ja,  ja,  nein,  nein,  sondern  sie  klingt  auch  vertraut 
wie  die  eines  Freundes.  .  .  .  Der  Vortrag  hat  etwas  Selbstverständ- 
liches,   wie    er's    überall    haben    wird,    wo    eine    unerschütterliche 
Wahrheit  verkündet  wird.    Dabei  ist  dem  Führer  das  pädagogische 
Talent,   ein   Ding  von   vielen    Seiten   zu   betrachten,    in  seltenem 
Maße  eigen.    Wir  stoßen  von  allen  möglichen  Wegen  aus,   dank 
seiner  klugen   Führung,   immer  wieder  auf  den  ruhenden  Mittel- 
punkt. .  .  .  Ziemlich  früh  gibt  Lange  schon  eine  Definition.     Aber 
noch   nie   habe   ich  ein   Buch   nach   der   eigentlichen   Abwicklung 
des  Themas  so  fruchtbar  gefunden  wie  dieses.    Was  folgt,  ist  im 
einzelnen  voll  beglückender  Gedanken.  Was  an  dem  Werke  Langes 
entzückt,  ist  der  Reichtum  seiner  eigenen  Gedanken  und  Anregungen. 
Er  verbreitet  sich  über  Schauspielkunst  und  Tanz  mit  nicht  geringerer 
Sachkenntnis  als  über  Malerei  und  Bildhauerei.    So  erstickt  er  selbst 
den  leisesten  Widerspruch.     Ich  kann  mir  einen  Ästhetiker  denken, 
der  das  Problem  der  bewußten  Selbsttäuschung  aufdeckt,  ohne  im 
einzelnen  unwiderlegbar  zu  sein.     Je  seltener  aber  dem  Leser  ein 
Mangel  an   Sachkenntnis   im  einzelnen  begegnet,    um  so  sicherer 
wird  er  seinem  Führer  auch  im  großen  folgen.     So  hier.     Ich  habe 
beispielsweise  auf  dem  Gebiet,  das  mir  am  geläufigsten  ist,  in  der 
Schauspielkunst,  Langes  Ausführungen  mit  allem  Einverständnis 
gutheißen   können.  .  .  .    Goldene  Worte  findet  er,   wo   er  die  drei 
feindlichen    Brüder    Idealismus,    Realismus    und    Naturalismus    zu 
vereinigen  trachtet.  .  .  .  Wenn  ich  das  Werk  Langes  noch  einmal 
durchblättere,    so   sehe    ich   noch   viele    Randstriche,    die    ich   un- 
berücksichtigt gelassen  habe.     Es  ist  mir  die  Erinnerung  ein  un- 
verlierbarer Schatz." 


aaS  Konrad   Lange: 

2.    Streiter. 

Ungefähr  ebenso  ablehnend  wie  die  Kritik  Meumanns,  nur 
viel  ausführlicher,  ist  die  Besprechung  meines  Buches  von  Richard 
Streiter.  Sie  ist  zuerst  in  der  Beilage  zur  „Allgemeinen  Zeitung" 
<'rschienen,  dann  in  den  nach  seinem  Tode  herausgegebenen  aus- 
gewählten Schriften  wieder  abgedruckt  worden.^)  Kurz  nach 
ihrem  ersten  Erscheinen  erhielt  ich  eine  anonyme  Postkarte,  in 
der  mir  —  von  wem,  weiß  ich  bis  auf  diesen  Tag  nicht  —  mitgeteilt 
wTirde,  die  Streitersche  Kritik  habe  den  Absender  vollkommen 
von  der  Richtigkeit  meiner  Theorie  überzeugt.  Es  scheint  danach, 
daß  die  Beweisführung  meines  Gegners  nicht  ganz  durchschlagend 
gewesen  ist,  ja,  daß  er  mit  ihr  zuweilen  sogar  das  Gegenteil  von 
dem  erreicht  hat,  was  er  erreichen  wollte.  Die  philosophischen 
Fachgenossen  freilich  haben  sich  durch  diese  Kritik  und  diejenige 
von  Lipps,  auf  die  sie  Bezug  nimmt,  wesentlich  in  ihrem  Urteil 
bestimmen  lassen.  Streiter  war  nämlich,  obgleich  seines  Zeichens 
ursprünglich  Architekt,  später  als  Ästhetiker  ein  Schüler  von 
Lipps  geworden,  und  dieser  hatte,  wie  war  sehen  werden,  mit 
unhaltbaren  Gründen  meine  Theorie  abgelehnt.  Die  große  Be- 
geisterung für  seinen  Lehrer,  dessen  ästhetische  Anschauungen 
schon  bei  seinen  Lebzeiten  stark  angefochten  worden  sind  und 
nach  seinem  Tode  vollends  an  Ansehen  verloren  haben,  mag  der 
Grund  gewesen  sein,  daß  Streiter,  der  im  Unterschied  von 
Meumann  wenigstens  ein  klarer  Kopf  war,  sich  mit  der  Illusions- 
theoric  nicht  befreunden  konnte.  Jedenfalls  sind  die  Einwände, 
die  er  gegen  sie  vorbringt,  durchaus  unhaltbar. 

Auf  die  methodologische  Frage  will  ich  hier  nicht  näher 
eingehen.  Ich  habe  bekanntlich  als  Kunsthistoriker  der  histo- 
rischen Methode  neben  der  psychologischen  eine  gewisse  Be- 
deutung beigemessen.  2)  D,  h.  ich  habe  mich  bemüht,  aus  einer 
Vergleichung  der  Kunstleistungen  der  verschiedensten  Zeiten,  Völ- 
ker und  Richtungen  das  Gemeinsame,  also  Ausschlaggebende  des 
künstlerischen  Triebes  zu  ermitteln  und  glaube  damit  der  Selbst- 


*)  Richard  Streiter,  ,, Illusionsästhetik".  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung, 
München,  1902,  10.  Juni,  Nr.  131 ;  11.  Juni,  Nr.  r^2;  12.  Juni,  Nr.  133.  Richard 
Streiter,  Ausgewählte  Schriften  zur  Ästhetik  und  Kunstgeschichte,  1913,  S.  324. 
bi«  359- 

*)  Vgl.  K.  Lange,  Über  die  Methode  der  Kunstphilosophie.  Zeitschrift  für 
Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane,  1904,  Bd.  36,  S.  382 — 416. 


Die  ästhetische  Dlusion  und  ihre  Kritiker. 


449 


bcobachtung,  die  sonst  vollkommen  in  der  Irre  gehen  würde,  die 
Wege  gewiesen  zu  haben.  Das  hat  mich  z.  B.  zu  dem  Nachweis 
geführt,  daß  der  Inhalt  nicht  das  Ausschlaggebende  in  der  Kunst 
sein  kann,  weil  es  Perioden  gibt,  in  denen  die  Künstler  gar  keinen 
Wert  auf  den  Inhalt  gelegt  haben.  Ferner,  daß  die  Kunst  nicht 
,, Darstellung  des  Schönen"  sein  kann,  weil  es  Perioden  gibt,  in 
denen  mit  Vorliebe  das  Häßliche  dargestellt  worden  ist.  Ich  glaube, 
gegen  derartige  Schlußfolgerungen  kann  man  nichts  Triftiges  ein- 
wenden. Die  Frage  nach  dem  künstlerisch  Schönen  läßt  sich  eben 
durch  psychologische  Selbstbeobachtung  allein  nicht  lösen.  Denn  es 
ist  nur  zu  natürlich,  daß  der  eine  Ästhetiker  sich  mehr  für  den  Inhalt, 
der  andere  mehr  für  die  Form  interessiert,  der  eine  mehr  Sinn  für 
das  Schöne,  d.  h.  Normale,  der  andere  mehr  für  das  Häßliche, 
d.  h.  Anormale  hat.  Mit  welchem  Recht  will  nun  der  Einzelne 
behaupten,  daß  gerade  seine  Art,  die  Kunst  anzuschauen,  die 
richtige,  d.  h.  die  eigentlich  künstlerische  sei }  Es  ist  gewiß  merk- 
würdig, daß  gerade  ein  Kunsthistoriker  wie  Streiter  die  kunst- 
historische Methode  so  unterschätzen  konnte.  Jedenfalls  hat  er 
nicht  behaupten  können,  daß  ich  es  mit  der  psychologischen 
Methode  ebenso  mache.  Im  Gegenteil,  er  mußte  zugeben, 
es  handle  sich  in  meinem  Buche  trotz  aller  historischen  Beweis- 
gründe ,,von  Anfang  bis  zu  Ende  um  nichts  anderes  als  am  das 
Glaubhaftmachen  einer  psychologisch  gefaßten  Theorie",  die  ganze 
Menge  kunstgeschichtlicher  Beispiele  sei  nur  zusammengebracht, 
um  eine  einzige  psychologische  Gedanjcenreihe  zu  stützen.  Das 
ist  ganz  richtig.  Meine  Methode  besteht  eben  in  einem  doppelten 
Weg,  einem  historischen  und  einem  psychologischen.  Ihr  Unterschied 
von  derjenigen  Streiters  ist  einfach  der,  daß  er  seine  Beweis- 
führung lediglich  auf  die  psychologische  Selbstbeobachtung  gründet, 
ich  dagegen  auf  die  psychologische  Selbstbeobachtung  und  das 
kunsthistorische  Material.  Ich  kann  dem  Leser  das  Urteil  darüber 
anheimgeben,  welches  dieser  beiden  Verfahren  die  größere  Sicher- 
heit verbürgt. 

Was  nun  die  psychologische  Begründung  meiner  Theorie 
betrifft,  so  findet  Streiter,  daß  weder  die  Bezeichnung  ,, be- 
wußte Selbsttäuschung"  noch  auch  der  psychische  Vorgang 
(Streiter  sagt:  psychologische  Vorgang),  den  ich  damit  meine, 
klar  sei:  ,, Bewußte  Selbsttäuschung  sagt  soviel  wie  Feuer,  das 
nicht  brenne."  Aber  gerade  dieser  scheinbare  Widerspruch  sollte 
ja  den  Gegensatz,  um  den  es  sich  handelt,  zum  Ausdruck  bringen. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  2g 


^rg  Konrad  Lange: 

Gerade  damit  wollte  ich  ja  sagen,  daß  wir  im  Kunstwerk  Natur  an- 
schauen und  doch  wieder  nicht  anschauen,  Gefühle  erleben  und  doch 
wieder  nicht  erleben,  uns  in  eine  ideale  Welt  versenken  und  doch 
wieder  auf  dem  festen  Boden  der  Wirklichkeit  stehen.  Kann  man 
diesen  merkwürdigen  und  scheinbar  widerspruchsvollen  Zustand  besser 
ausdrücken  als  durch  den  merk^vürdigcn  und  scheinbar  widerspruchs- 
vollen Terminus  ,, bewußte  Selbsttäuschung"?  Das  Wort  Illusion 
ist  zweideutig  und  irreführend,  das  haben  wir  ja  bei  Meumann 
gesehen.  Es  ist  außerdem  ein  Fremdwort.  Engels  riet  mir  einmal, 
statt  dessen  ,, Einspielung"  zu  sagen.  Ich  habe  mich  aus  nahe- 
liegenden Gründen  nicht  dazu  entschließen  können.  Gibt  es  nun 
in  der  ganzen  deutschen  Sprache  zwei  Wörter,  die  den  Sachverhalt 
klarer  ausdrückten  als  die  Wörter  ,, bewußt"  und  ,, Selbsttäuschung"  .'* 
Wer  solche  findet,  den  bitte  ich  dringend,  sie  mir  mitzuteilen. 
Ich  bin  sofort  bereit,  sie  anzunehmen  und  an  die  Stelle  meines 
Künstausdrucks  zu  setzen.  Vorläufig  muß  man  mir  schon  gestatten, 
diesen  stehen  zu  lassen.  Denn  er.  wäre  ja  nur  dann  falsch,  wenn  ich 
behauptete,  es  solle  damit  gesagt  sein,  daß  wir  uns  gleichzeitig 
täuschen  und  doch  wieder  nicht  täuschen  ließen.  Das  behaupte 
ich  aber  gar  nicht.  Im  Gegenteil,  gerade  ich  habe  ja  den  Vor- 
gang als  einen  Wechsel  zwischen  zwei  Vorstellungsreihen  be- 
schrieben. Die  eine  Vorstellungsreihe  wird  durch  das  Wort  be- 
wußt, die  andere  durch  das  Wort  Selbsttäuschung  bezeichnet. 
Etwas  Klareres  kann  es  wohl  nicht  geben. 

Aber  gerade  diesen  Wechsel  leugnet  Streiter  ebenso  wie 
Meumann.  Er  beruft  sich  dabei  auf  Lipps,  der  offenbar  für 
ihn  und  Meumann  in  dieser  Beziehung  die  höchste  Autorität 
darstellt.  Lipps  führt  in  seiner  Rezension  meiner  Antrittsvorlesung 
folgendes  aus:  ,,Was  Lange  sucht,  ist  der  Begriff  der  künstlerischen 
und  ästhetischen  Illusion.  Diese  Illusion  ist  nun  in  der  Tat  ein 
Mittelzustand  zwischen  Gcbundenscin  an  die  Wirklichkeib  und 
freiem  Spiel  mit  Phantasiegcbildcn.  Sie  ist  ein  Hingegebensein 
an  Realität;  nicht  an  die  erkannte  (soll  heißen:  wahrgenommene), 
sondern  an  eine  davon  durchaus  verschiedene  Realität,  mit  einem 
Worte  an  die  —  ästhetische  Realität  (der  Gedankenstrich 
und  die  Sperrung  sind  von  mir).  Worin  aber  diese  besteht,  das 
sehen  wir,  wenn  wir  beachten,  worauf  sie  beruht.  Was  das  Kunst- 
werk vorstellt,  ist  —  ein  Dargestelltes,  d.  h.  eine  ideelle  Welt, 
eine  Welt  unserer  Phantasie.  Und  es  ist  —  beim  echten  Kunst- 
werk —  nicht  nur  eine  solche  ideelle  Welt,  sondern  es  erscheint 


Die  ästhetische  IlUision  und  ihre  Kritiker.  45  I 

auch  SO,  durchaus,  ohne  Schwanken,  mit  absoluter  Selbstverständ- 
lichkeit, so  daß  auch  nicht  einmal  die  Frage  in  uns  entsteht,  ob 
CS  sich  so  verhalte.  Zugleich  ist  doch  diese  ideelle  Welt  aufs  Un- 
mittelbarste gebunden  an  das  in  sinnlicher  Realität  vor  uns  stehende 
Kunstwerk.  Demzufolge  nimmt  sie  teil  an  dem  Charakter  der 
Objektivität,  der  diesem  eignet.  Wir  schaffen  die  ideelle  Welt  des 
Kunstwerks  nicht  frei,  sondern  sie  ist  uns  durch  das  reale  Kunst- 
werk gegeben,  von  außen  aufgenötigt.  .  .  .  Eben  dies  Ideelle,  das 
für  uns  in  keinem  Momente  etwas  anderes  ist  als  ein  Inhalt  der 
Phantasie,  ist  zugleich  in  jedem  Moment  für  uns  ein  ästhetisch 
Reales,  d.  h.  es  ist  ein  Phantasieinhalt  mit  dem  Charakter  der 
Objektivität.  Es  bedarf  keines  Schwankens  und  es  ist  kein  Schwan- 
ken möglich,  weil  diese  mit  dfem  Charakter  der  Objektivität  aus- 
gerüstete Idealität  oder  diese  ästhetische  Realität,  weit  entfernt, 
in  sich  Wirklichkeit  und  Phantasie  zu  vereinigen,  keines  von 
beiden  ist,  sondern  beiden  gegenüber  jenes  klare  und  in  sich  eigen- 
artige Neue  darstellt.  Wenn  wir  die  Sache  von  anderer  Seite  her 
betrachten:  Es  gibt  eine  eigenartige,  in  sich  einheitliche,  darum 
vollkommen  klare,  ruhige  und  sichere  ästhetische  Anschauung. 
Ohne  diese  gäbe  es  keine  Kunst.  Nicht  als  schaffte  sie  auch  den 
wertvollen  Inhalt  des  Kunstwerks.  Aber  sie  ist  Bedingung  seines 
Genusses."^)  Dem  fügt  Streiter  noch  hinzu:  ,, Dieser  scharf- 
gefaßte (!)  Einwand  war  Lange  offenbar  zu  philosophisch.  Er 
hat  ihn  zwar  nicht  widerlegt  —  das  konnte  er  nicht  wohl  — ,  er 
hat  aber  trotzdem  seine  Theorie  aufrecht  erhalten." 

Warum  ich  diesen  Einwand  von  Lipps  damals  nicht  wider- 
legt habe,  will  ich  dem  Leser  gern  verraten:  Ich  habe  ihn  nämlich 
nicht  verstanden.  ,,Mir  war  bei  alledem  so  dumm,  als  ging' 
mir  ein  Mühlrad  im  Kopf  herum."  Und  dieses  Gefühl  hat  sich 
bei  mir  immer  wieder  eingestellt,  so  oft  ich  diesen  qualligen  Ge- 
dankenbrei wieder  zu  verstehen  gesucht  habe.  Er  ist  ein  charak- 
teristisches Beispiel  für  die  völlige  Hilflosigkeit,  mit  der  die 
zünftige  Ästhetik  vor  dem  Erscheinen  meines  ,, Wesens  der  Kunst" 
dem  Problem  der  künstlerischen  Illusion  gegenüberstand.  Das 
hindert  freilich  nicht,  daß  die  Kritik  von  Lipps  auch  gegenwärtig 
noch  viele  Gläubige  findet.  Es  sei  mir  deshalb  gestattet,  ein  wenig 
in  ihre  geistigen  Tiefen  hineinzuleuchten. 


^)    Theodor    Lipps,    Dritter    ästhetischer    Literaturbericht,    im    Archiv    für 
systematische  Philosophie,  IV.  Bd.,  Berlin  1898,  S.  480 — 482. 

29* 


iro  Konrad  Lange: 

Lipps  erkennt,   das   muß  zunächst  festgehalten  werden,   den 
Zustand  der  Illusion  als  solchen  an  und  gibt  sogar  zu,  daß  er  ein 
Mittelzustand"  sei.     Es  fragt  sich  nur,  zwischen  welchen  Zu- 
ständen er  in  der  Mitte  liegt,  und  was  das  heißt :  in  der  Mitte  liegen. 
Nach   der    Illusionsthcorie   kann   das   nicht   zweifelhaft  sein.      Der 
eine   Zustand  ist  die  Wahrnehmung  des   Kunstwerks  als  mate- 
rieller Schöpfung,  d.  h.  eines  Gebildes  aus  Ölfarbe,  Marmor,  Tönen, 
Rhythmen,  Harmonien  usw.     Der  andere  ist  die  Vorstellung  der 
Natur,  des  Lebens,  der  Menschen,   Bäume,   Gefühle  usw.,  die  den 
Inhalt  des   Kunstwerks  bilden.     Das    Indermitteliegen,  wie  ich  es 
auffasse,    besteht    nun    darin,    daß    der    Genießende    abwechselnd 
das  eine  und  das  andere  erlebt.    Genauer  gesagt,  daß  er  abwechselnd 
mehr  das   eine   und   mehr   das   andere    erlebt.      Denn   man   darf 
den  Wechsel  natürlich  nicht  so  auffassen,  als  ob  mit  dem  Erleben 
der  einen  Vorstellungsreihe  die  andere  völlig  aus  dem  Bewußtsein 
verschwände.      Im    Gegenteil,   sie   wirkt   ■ —  schon   durch    die    Er- 
innerung —  in  die  andere  Vorstellungsreihe  hinein.     Sie  läßt,  wie 
man  jetzt  zu  sagen  pflegt,  ihre  ,, Spuren"  im  Bewußtsein  zurück 
und    kann   deshalb   jederzeit    reproduziert   werden.      Der   Wechsel 
erfolgt    in    der  Form,     daß   einmal    mehr   die  eine,   ein  andermal 
mehr   die   andere    Vorstcllungs-   und    Gefühlsreihe   in   den   ,, Blick- 
punkt des   Bewußtseins"  tritt.     Man   kann   das,   wenn  man  will, 
als  einen  ,, Mittelzustand"  bezeichnen. 

Welches    sind    nun    aber   nach    Lipps   die    beiden   Zustände, 

zwischen   denen    die    Illusion    in    der  Mitte    steht  ?     Das   eine    ist 

der    Zustand     des    ,, Gebundenseins     an     die     Wirklichkeit",    das 

andere     das    ,, freie    Spiel     mit    Phantasiegebilden".       Schon    das 

ist  völlig  unklar  und   schief   ausgedrückt.      Heißt   ,, Gebundensein 

un    die    Wirklichkeit":    Erleben    der    Wirklichkeit?      Und    welche 

Wirklichkeit    ist    damit    gemeint.-*      Die    Wirklichkeit    des    Kunst- 

Aserks,   das  da  vor  mir  steht,   oder  die   Wirklichkeit  des  Lebens, 

das  der  Künstler  kannte  und  aus  dem  er  die   Elemente  für  sein 

Kunstwerk  genommen  hat }    Das  ist  doch  durchaus  nicht  dasselbe. 

Und  was  ist  das  ,, freie   Spiel  mit  Phantasiegebildcn" .?      Ist  nicht 

der  ganze  Zustand  der  ästhetischen   Illusion  ein  ,, freies  Spiel  mit 

Phantasiegebilden"  ?    Wie  kann  also  die   Illusion  ein  Mittelzuständ 

zwischen  sich  selbst  und    einer  Wirklichkeit  sein,   von  der  nicht 

einmal  gesagt  wird,  ob  es  die  Wirklichkeit  des   Kunstwerks  oder 

die  rler  zugrunde  liegenden  Natur  ist.? 

Weiter:    I)i(     Illusion    ist    ein    ,,Hingegebenscin    an    Realität". 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker, 


453 


Was  ist  das  für  eine  Realität?     Man  sollte  denken,  Lipps  meinte 
damit   die    Realität   des    Kunstwerks.      Aber   nein,    diese    Realität 
ist  ,, nicht  die  erkannte  (d.  h   wahrgenommene),  sondern  eine  davon 
durchaus  verschiedene   Realität,   mit  einem  Worte    die  —  ästhe- 
tische   Realität".       0    heiliger    Konfuzius!      Unter    ,, ästhetischer 
Realität"  kann   Lipps  doch  wohl  nur  den  ästhetischen   Zustand 
als  solchen,  d.  h.  also  den  Zustand  des  ästhetischen  Genusses  ver- 
stehen.   Er  kann  also  damit  nur  meinen,  daß  der  Mensch,  wenn  er 
ästhetisch  genießt,  sich  eben  diesem  Genüsse  vollkommen  hingibt. 
Das  ist  freilich  richtig.     Aber  es  ist  auch  eine  ganz  banale  Wahr- 
heit, über  die  uns  Lipps  nicht  zu  belehren  brauchte.    Auch  handelt 
es   sich   hier   gar   nicht   um   den    Grad   der   Versenkung,   sondern 
um   die   Art,    wie    die   Versenkung    stattfindet.     Lipps    vertraut 
es    uns    denn    auch    an:    ,,Was   das    Kunstwerk   vorstellt,    ist  — 
ein  Dargestelltes."      Wie    geistreich!     Warum  sagt    aber    Lipps 
nicht:   ein  Vorgestelltes?      Oder  warum  sagt  er  nicht:   Was   das 
Kunstwerk  darstellt,  ist  ein  Dargestelltes?     Das  wäre  doch  wenig- 
stens logisch.      Und   was  ist   dieses   Dargestellte  denn  eigentlich? 
Es    ist    ,,eine  ideelle   Welt,   eine   Welt  unserer  Phantasie".     D.  h. 
also  doch:  Es  ist  der  Inhalt  des  Kunstwerks,  der  ja  während  der 
Anschauung  keine  Realität  hat,  weil  er  nur  in  unserer  Phantasie 
existiert.     Das  Entscheidende  ist  nun  aber  die  Frage,  in  welchem 
Verhältnis    diese    ideelle    Welt    zu    dem   realen    Kunstwerk   steht. 
Gerade    davon    sagt    Lipps    kein    Sterbenswörtchen,    außer,    daß 
diese  ideelle  Welt  an  das  Kunstwerk  ,, gebunden"  sei.    Dieses  ,, Ge- 
bundensein", was  nur  ein  Bild  ist,  drückt  die  Illusionsästhetik  eben 
damit  aus,  daß  sie  den  ästhetischen  Zustand  als  ein  Schweben  oder 
Schaukeln  zwischen  der  Realität  des  Kunstwerks  und  der  ideellenWelt 
seines    Inhaltes  erklärt.     Lipps  dagegen  sagt:    ,,Die   ideelle  Welt 
ist  nicht  nur  eine  solche,  sondern  sie  erscheint  auch  so,  durch- 
aus   ohne    Schwanken,     mit    absoluter    Selbstverständlichkeit,    so 
daß  auch  nicht   einmal   die  Frage  in  uns  entsteht,    ob  es  sich  so 
verhalte." 

Daß  wir  den  Inhalt  emes  Kunstwerks  so  anschauen  können, 
daran  habe  ich  natürlich  niemals  gezweifelt.  Nur  das  eine  habe 
ich  geleugnet,  daß  dann  die  ästhetische  Anschauung  des  Kunst- 
werks bestehe.  Versenke  ich  mich'  ganz  m  den  Inhalt,  so  erlebe 
ich  natürlich  nur  die  Vorstellungsreihe  ,,  Inhalt".  Zwischen  dieser 
einen  Vorstellungsreihe  kann  mein  Bewußtsein  natürlich  nicht  hin 
und  her  schwanken.  Denn  zwischen  einem  Erlebnis  und  demselben 


AiA  Konrad  Lange: 

Erlebnis  gibt  es  kein  Hin  und  Her.  Ein  solches  ist  erst  zwischen 
zwei  verschiedenen  Erlebnisreihen  möglich.  Und  das  ist  hier  der  Fall. 
Denn  die  ideelle  Welt  und  das  Kunstwerk  sind  ja,  wie  Lipps  selbst 
zugibt,  zwei  verschiedene  Dinge,  und  jene  ist  an  dieses,  d.  h.  an  die 
reale  Welt  des  Kunstwerks  ,, gebunden".  Dieses  Gebundcnscin  be- 
steht aber  während  der  ganzen  Dauer  der  ästhetischen  Anschauung. 
D.  h.  unsere  Anschauung  kehrt  immer  wieder  zum  Kunstwerk  zu- 
rück. Das  nenne  ich  eben  „Wechsel  der  Vorstellungen."  Lipps 
dagegen  deutet  dieses  Gebundensein  so:  Die  ideelle  Welt  des  In- 
halts ,, nimmt  teil  an  dem  Charakter  der  Objektivität,  der  diesem, 
d.  h.  dem  realen  Kunstwerk,  eignet".  W^as  heii3t  das  nun  aber, 
,, nimmt  teil"?  Das  ist  wieder  ein  Bild,  besagt  also  nichts.  Es 
kann  damit  doch  psychologisch  nichts  anderes  gemeint  sein  als: 
Es  wird  gleichzeitig  oder  im  Wechsel  damit  erlebt. 

Nach  Lipps  handelt  es  sich  hier  nun  um  ein  einheitliches 
psychisches  Erlebnis.  Das  Ideelle,  d.  h.  der  Inhalt  unserer  Phan- 
tasie, ist  in  jedem  Moment  für  uns  ein  ästhetisch  Reales,  d.  h. 
ein  Phantasieinhalt  mit  dem  Charakter  der  Objektivität".  Das 
ist,  mit  Verlaub  zu  sagen,  —  Unsinn.  Ein  Phantasieinhalt,  d.  h. 
eine  nicht  vorhandene,  sondern  nur  vorgestellte  Sache,  ist  immer 
etwas  Ideales.  Das  Objektive,  d.  h.  das  Reale  dabei  ist  eben  nicht 
der  Phantasieinhalt,  sondern  das  reale  Kunstwerk.  Und  was  soll  das 
heißen:  ein  ,, ästhetisch  Reales".'*  Damit  ist  ein  völlig  neuer  Begriff 
in  die  Psychologie  eingeführt,  nämlich  der  der  ästhetischen  Re- 
alität. Bisher  war  man  immer  der  Ansicht,  es  gäbe  nur  eine 
Realität,  d.  h.  der  Inhalt  unserer  Vorstellungen  wäre  entweder  real 
oder  nicht  real.  Wenn  ich  einen  Menschen  vor  mir  stehen  sehe,  so 
ist  dieser  Mensch  —  im  Sinne  des  kritischen  Realismus,  dem  auch 
Lipps  huldigt  —  wirklich  da.  Der  Inhalt  meiner  Anschauung  ist 
also  Realität.  Wenn  ich  dagegen  einen  Menschen  im  Bilde  sehe, 
der  vielleicht  längst  tot  ist,  so  ist  dieser  nicht  wirklich  da.  Der  In- 
halt meiner  Anschauung  ist  dann  also  nicht  Realität.  Nun  erfahren 
wir  mit  einemmal,  daß  es  auch  ein  Mittelding  zwischen  Realität 
und  Nichtrealität  gibt,  nämlich  —  die  ,, ästhetische  Realität". 
Diese  ästhetische  Realität  von  Lipps'  Gnaden  ist  nicht  etwa 
die  Realität  des  Kunstwerks;  Gott  bewahre!  Sie  ist  auch  nicht 
die  Realität  Natur  (soweit  sie  schon  vor  elem  Kunstwerk  da  war). 
Durchaus  nicht !  Sondern  sie  ist  —  ja,  ich  weiß  wirklich  nicht,  was 
sie  ist  — sie  ist  eben  einfach  —  die  ,, ästhetische  Reahtät".  Diese 
ästhetische  Realität  ist  aber,  wenn  man  der  Sache  auf  den  Grund 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  455 

geht,  nichts  anderes  als  der  psychische  Zustand,  den  wir  als 
ästhetische  Anschauung  bezeichnen,  und  um  den  es  sich  gerade 
handelt.  Und  auf  diesen  Unsinn  baut  Streiter  seine  Polemik 
gegen  die  Illusionsästhetik  auf! 

Gewiß  ist  die  Illusion  ein  ,, Mittelzustand"  oder  ein  ,, Zwischen-^ 
zustand",  oder  wie  man  sie  sonst  nennen  will.    Nur  sind  die  beiden 
Zustände,  zwischen  denen  sie  in  der  Mitte  steht,  die  Wahrnehmung 
des  realen  Kunstwerks  und  die  Vorstellung  des  nicht  realen,  sondern 
nur  gedachten  Inhalts.    Das  ist  vollkommen  klar  und  unanfechtbar, 
sobald  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  kritischen  Realismus  stellt. 
Was  Lipps  das  ,, Gebundensein"  an  die  Realität  des  Kunstwerks 
nennt,    ist   nichts   anderes   als   die    Notwendigkeit,    immer   wieder 
zur  Anschauung  des  Kunstw^erks  zurückzukehren,  um  aus  ihr  den 
Antrieb   zur  Vorstellung   des   nur  gedachten   Inhalts  zu  schöpfen. 
Dieser   Zustand    setzt    sich    also   aus   zwei   Elementen   zusammen, 
tr   ist   folglich   kein   einheithcher.      Natürlich   gibt   es   Mittel,    um 
diese    beiden    Elemente    doch    wieder    zu    einer   gewissen    Einheit 
zusammenzubinden.      Das  wichtigste  davon  ist,   daß  die  Form  in 
eine  ganz  bestimmte  Beziehung  zum  Inhalt  gebracht  wird.    Wenn 
z.  B.  der    Inhalt    traurig    ist,    so  darf  die  Form  nicht  lustig  oder 
neckisch  sein.     Dies   zu   verhindern,  ist  eben  Aufgabe  des  Künst- 
lers.   Das  ist  es  eben,  was  wir  Kunst  nennen.    Wir  haben  es  also 
hier,    wie    so    oft,    mit    einer    ,, Einheit    in   der    Mannigfaltigkeit" 
zu   tun.      Ob  man  nun  mehr  diese   Einheit  des  ganzen  Zustandes 
oder  mehr  seine  Zusammensetzung  aus  zwei  Teilen   betonen   will, 
das   hängt   natürlich   von   der   Art   des   Kunstwerks   und   von   der 
persönlichen    Disposition    des    Genießenden    ab.      Der    Philosoph 
kann   nur  feststellen,   daß  der  Gesamtzustand,  auch  wenn  er  ver- 
hältnismäßig einheitlich  ist,  aus  zwei  im  Wechsel  miteinander  er- 
lebten Einzelzuständen  besteht. 

Sehen  wir  nun,  wie  Streiter,  auf  diesem  ,, scharf  gefaßten"  (!) 
Einwand  von  Lipps  fußend,  die  Illusionstheorie  weiter  bekämpft. 
Er  hält  es  für  möglich,  daß  ich  mit  der  be\^aißten  Selbsttäuschung 
den  ,, ästhetischen  Schein"  oder  die  ,, ästhetische  Reahtät"  ge- 
meint habe,  da  ich  ja  die  Jahrmarktillusionen  verwerfe.  Dann 
aber  handele  es  sich  nur  um  Worte,  um  einen  Wortstreit,  der 
durch  den  übel  gewählten  Ausdruck  ,, bewußte  Selbsttäuschung" 
veranlaßt  sei.  Aber  was  ich  mit  diesem  meine,  habe  ich,  wie  ich 
glaube,  ganz  deutlich  gesagt.  Man  kann  den  klaren  Ausdruck 
„bewußte    Selbsttäuschung"   nicht  durch   die   unklaren  Ausdrücke 


456 


Koniad  Lange: 


„ästhetischer  Schein"  oder  ,, ästhetische  Realität"  erklären.  In- 
wiefern sind  diese  beiden  Ausdrücke  nun  unklar  ?  Nach  meinem 
nicht  durch  die  Lippsschc  Schule  gegangenen  gesunden  Menschen- 
\erstande  sind  ästhetischer  Schein  und  ästhetische  Realität 
;in  sich  schon  Gegensätze.  Denn  Schein  ist  das  Gegenteil  von 
Realität.  Da  sowohl  das  Kunstwerk  als  auch  der  ästhetische 
Zustand  selbst,  d.  h.  der  Genuß  am  Kunstwerk,  zweifellos  Reali- 
tät sind,  kann  der  Begriff  Schein  sich  nur  auf  den  Inhalt  beziehen, 
der  eben  keine  Realität  ist.  Wenn  nun  Streiter  sagt,  vielleicht 
meine  ich  mit  der  bewußten  Selbsttäuschung  den  ästhetischen 
Schein  oder  die  ästhetische  Realität,  so  kann  ich  darauf  ganz 
einfach  antworten:  Ich  meine  damit  beides,  nämlich  den  In- 
halt, der  nur  Schein,  und  das  Kunstwerk,  das  nur  Realität  ist. 
l'nd  wenn  Streiter  mir  den  guten  Rat  gibt,  lieber  von  ,, Wahr- 
nehmung eines  Bildes"  oder  ,, Auffassung  einer  künstlerischen 
Darstellung"  zu  sprechen,  so  rät  er  mir  wiederum,  einen  klaren, 
unzweideutigen  Ausdruck  durch  zwei  unklare  und  verschwom- 
mene und  dabei  ganz  banale  und  nichtssagende  zu  ersetzen. 
Es  ist  gewiß  em  Übelstand,  daß  ich  das  Wort  Illusion  nicht 
gänzlich  aus  meiner  Darstellung  habe  streichen  können.  Ich 
konnte  mich  dazu  nicht  entschließen,  weil  es  nun  einmal  der 
hergebrachte  ästhetische  Terminus  ist.  Schon  Lessing,  Moses 
Mendelssohn,  Goethe  usw.  haben  ihn  gebraucht.  Ebenso  brauchen 
ihn  moderne  französische  Ästhetiker  wie  Souriau  und  Lalö,  die  auf 
dem  Boden  meiner  Ästhetik  stehen.  Auch  Julius  Pap  hat  das  Wort 
Illusion  in  dem  Titel  seines  unten  S.  466  Anm.  i  zitierten  Buches 
gebraucht.  Meine  Abweichung  von  meinen  Vorgängern  besteht  nur 
darin,  daß  ich  den  bis  dahin  herrschenden  verschwom- 
menen Begriff  der  Illusion  durch  den  klaren  Begriff 
der  bewußten  Selbsttäuschung  ersetzt  habe.  Ich  glaubte, 
mir  damit  den  Dank  der  philosophischen  Ästhetiker  zu  verdienen. 
Statt  dessen  sind  sie  mir  bitterböse,  daß  ich  etwas  Licht  in  das 
Halbdunkel  ihrer  Gedanken  gebracht  habe  und  etwas  unsanft  in 
das  verschwommene  Chaos  ihrer  Begriffe  hineingefahren  bin. 

Sodann  wendet  sich  Streiter  gegen  meine  Behauptung, 
daß  wir  bei  der  ästhetischen  Anschauung  das  tote  Scheinbild, 
genannt  Kunstwerk,  in  unserer  Phantasie  mit  Leben  begaben, 
d.  h.  ins  Leben  übersetzen.  Ich  nahm  dabei  als  selbstverständlich 
an,  daß  wir  uns  den  toten  Marmor  als  Fleisch  und  Blut,  das  flächen- 
hafte   Gemälde  als   Raum  von  bestimmter  Tiefe,   die   toten   Bau- 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  457 

Steine  eines  Gebäudes  als  organischen,  kraftbegabten  Stoff,  die 
gefühllose  Materie  als  mit  Gefühl  begabt  vorstellen.  Überdies 
habe  ich  diese  Tatsache  durch  unzählige  Zeugnisse  sowohl  antiker 
Philosophen  und  Rhetoren  als  auch  italienischer  Theoretiker  der 
Renaissance  und  moderner  Künstler  erhärtet.  Ich  brauche  darauf 
hier  nicht  näher  einzugehen,  zumal  da  mein  geplantes  Werk  die 
Beweise  dafür  in  überwältigender  Fülle  beibringen  wird.  Jüngere 
Ästhetiker  wie  Alfred  Werner  haben  schon  die  bisher  von  mir 
vorgebrachten  Zeugnisse  zu  einer  ,,animistischcn  Ästhetik"  weiter- 
zubilden gesucht.  1) 

Streiter  ist  m  dieser  Beziehung  anderer  Ansicht.  ,, Ver- 
hält es  sich  in  Wahrheit  so.?"  fragt  er.  ,,Ich  glaube,  Lange  würde 
sehr  erstaunt  sein,  wenn  ihn  jemand  fragen  würde,  ob  er  sich  den 
Apoll  von  Belvedere  mit  schwarzen  oder  blonden  Locken,  ob  er 
das  Gewand  von  Dürers  Melancholia  blau  oder  grün  oder  braun 
vorstelle.  Und  sicher  wird  Lange  zugestehen,  daß  bei  Betrachtung 
einer  nackten  Bronzestatue  in  seiner  Vorstellung  die  Farbe  der 
Bronze  nie  auch  nur  einen  Augenblick  durch  die  natürliche  Haut-- 
färbe  verdrängt  wird." 

Hier  handelt  es  sich  also  um  das,  was  ich  Farben  Illusion  nenne. 
Auf  Streiters  Einwand  möchte  ich  zunächst  folgendes  erwidern:  ich 
habe  niemals  behauptet,  daß  der  Beschauer  sich  notwendig  im_mer 
die  ganze  Wirklichkeit  in  dem  Abbild  vorstellen  müsse,  also  z.B. 
auch  die  Farbe  jedes  einzelnen  Teiles.  Aber  daß  ersieh  die  wesent  - 
liehen  Elemente  der  Wirklichkeit  vorstellen  müsse,  vor  allen  Dingen 
das  organische  Leben,  darüber  habe  ich  keinen  Zweifel  gelassen. 
Bei  den  spätgriechischen  Rlietoren  und  den  Dichtern  der  Antho- 
logie war  die  Gegenüberstellung  des  kalten  und  starren  Marmors 
und  des  warmen,  pulsierenden  Fleisches  geradezu  eine  Art  Schul - 
thema,  das  in  unendlichen  Formen  variiert  wurde.  Hans  von 
Marees  schreibt  in  einem  seiner  Briefe  von  den  Sklaven  Michel- 
angelos im  Louvre:  ,,Was  besonders  in  die  Augen  fällt,  ist  die 
Glaubwürdigkeit  der  Darstellung.  Man  erkennt  sofort,  wo 
die  knochigen  und  wo  die  fleischigen  Teile  sind.  Dadurch 
vergißt  man  das  Material,  das  Handwerk,  und  sieht  Leben- 
diges." Auch  Hildebrands  ,, Problem  der  Form"  läuft  seinem 
richtigen  Kern  nach  auf  die  beiden  Illusionen:  Raumillusion 
(,, Tiefenvorstellung")  und  Kraftillusion  (,, Funktionsausdruck")  hin- 

^)  Alfred  Werner,  Zur  Begründung  einer  animistischen  Ästhetik,  Zeitschrift 
für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft,  Bd.  IX,  1914,  S.  392 — 432. 


458 


Konrad  Lange: 


aus.  Was  sjx'zicll  "  die  Farbcnillusion  betrifft,  so  wird  dieselbe 
bei  verschiedenen  Beschauern  je  nach  ihrer  Farbenbegabung  ver- 
schieden stark  sein.  Bei  Böcklin  z.  B.  war  sie  sehr  stark,  i)  Die 
Frage,  ob  man  sich  den  Apoll  von  Bclvedere  mit  schwarzen 
oder  blonden  Locken  zu  denken  habe,  ist  wahrscheinlich  schon 
im  Altertum  dadurch  entschieden  worden,  daß  die  Haare  —  ent- 
weder schwarz  oder  blond,  wahrscheinlich  blond,  bemalt  waren. 
Und  diese  Tatsache  der  plastischen  Polychromie  allein  würde 
wohl  zu  dem  Beweise  ausreichen,  daß  zum  mindesten  die  antiken 
Bildhauer  ein  Bedürfnis  hatten,  sich  auch  bei  plastischen  Werken 
die  Farben  der  Natur  hinzuzudenken.  Sonst  hätten  sie  sie  wohl 
nicht  teilweise  — -  nämlich  bis  auf  das  Nackte  —  selber  hinzugefügt. 
Bei  den  graphischen  Künsten,  deren  meiste  Gattungen  ja  bekannt- 
lich auf  die  Farbe  verzichten,  ist  es  allgemein  bekannt,  daß  man 
z.  B.  guten  Radierungen  ein  besonderes  Lob  damit  zollt,  daß 
man  sagt,  sie  wirkten  ,, ordentlich  farbig".  Sogar  von  den  Stechera 
der  Rubensschule  und  den  französischen  Stechern  des  17.  Jahr- 
hunderts wird  allgemein  gerühmt,  daß  sie  die  Verschiedenheit' 
der  Farben  durch  eine  verschiedene  Stichelführung  zu  suggerieren 
suchten.  Und  wenn  nun,  sowohl  im  Holzschnitt  als  auch  im  Kupfer- 
stich zuweilen  sogar  die  wirklichen  Farben  angewendet  worden  sind, 
so  beweist  das  wohl  am  schlagendsten,  daß  selbst  die  Techniken, 
die  der  Anwendung  der  Farbe  grofk  Schwierigkeiten  entgegen- 
setzen, eine  Tendenz  zur  Farbigkeit  haben,  was  doch  ein  Bedürf- 
nis nach  Farbe,  also  —  beim  Verzicht  auf  die  Farbe  —  nach 
Farbenillusion  voraussetzt. 

Streiter  bricht  dann  eine  Lanze  für  die  Einfühlungs- 
ästhetik,  indem  er  behauptet,  die  ästhetische  Beseelung,  die. 
ich    z.  B.    in   der   Architektur    für    das    eigentlich    Künstlerische 

*)  Albert  Fleincr.  Mit  Arnold  Böcklin,  1915,  S.  154  erzählt  von  einem 
Besuche,  den  er  mit  Böcklin  in  den  Uffizien  zu  P'lorenz  gemacht  habe:  ., Plötz- 
lich blieb  er  vor  einem  römischen  Frauenkopf  stehen  und  frug:  ,Sind  die  Maare 
blond,  braun  oder  schwarz?'  .  .  .  Wir  kamen  überein,  daß  es  sich  um  dunkle  Haare 
handle,  die  im  Nacken  einen  Stich  ins  Blonde  hätten."  Aber  Böcklin  erlebte 
beim  Anblick  eines  antiken  Kopfes  nicht  nur  Farbenillusion,  sondern  auch  Geräusch- 
illusion. Fleiner.  S.  176  erzählt:  ,,So  wurde  nun  auch  besclilossen.  daß  der  seit 
zweitausend  Jahren  vermoderte  Inhaber  des  Kopfes,  von  dem  die  treffliche  römische 
Büste  in  den  Uffizien  zu  sehen  war,  durchaus  eine  ziemlich  hohe,  etwas  näselnde, 
ein  wenig  heisere  Stimme  mit  einem  Riß  gehabt  haben  müsse."  Ein  Künstler  stellt 
sich  eben  manches  bei  einem  Kunstwerk  vor,  wovon  sich  ein  Gelehrter  nichts  träumen 
läßt. 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  459 

erklärt  hatte,  sei  besonders  von  den  Vertretern  dieser  Theorie 
psychologisch  eindringend  untersucht  worden.  Es  sei  deshalb 
ein  Fehler  von  mir,  daß  ich  ihre  Ergebnisse  ablehne,  während 
ich  doch  selbst  hier  und  da  von  ,, Einfühlung"  spreche.  Eine 
eingehende  Kritik  der  Einfühlungstheorie  liegt  zwar  außerhalb 
der  Zwecke  dieser  Abhandlung.  Doch  will  ich  wenigstens  kurz 
andeuten,  was  mich  von  ihr  trennt,  zumal  da  ich  diese  Frage  m 
meiner  Antrittsvorlesung  und  der  ersten  Auflage  meines  ,, Wesens 
der  Kunst",  die  Streiter  allein  vorlagen,  noch  nicht  ausführlich 
behandelt  hatte. 

Mein    Haupteinwand    gegen    diese    Theorie    ist,    daß    sie    den 
täuschunghindernden  Elementen   nicht   genügend  Rechnung   trägt, 
vielmehr   die   ästhetische   Anschauung  auf  die   eine  Vorstellungs- 
reihe ,,  Inhalt"  beschränken  möchte.     Es  ist  allerdings  richtig,  daß 
die  Einfühlungsästhctik  ein  ,, Hineinsehen  von  Kraft  und  Bewegungs- 
vorstellungen   in    die    anorganischen    Formen",    z.  B.    der    Archi- 
tektur,   annimmt.      Aber    sie    tut    das    genau    in    derselben 
Weise  wie  der  Natur  gegenüber.     Nach  ihr  ist  die  ästhetische 
Anschauung  einer  Säule    und   eines  Baumes  prinzipiell  ganz   das- 
selbe.     In  beiden  Fällen  „fühlen  wir  uns  in  die  aufwärtsstrebende 
Kraft  des   Gebildes  ein".     Diese  Kraft  ist  nun  aber  in  der  Säule 
tatsächlich  nicht  vorhanden,  denn  die  Säule  wächst  nicht  wirklich 
empor,   sondern  lastet  wie   alle  Steine  des  Gebäudes  nach   unten. 
Der  Baum  dagegen  wächst,    wenn  auch  langsam,  wirklich  empor. 
Die    ästhetische    Anschauung   einer    Säule    ist    also    Illusion,    die 
,, ästhetische"  Anschauung  des  Baumes  —  soweit    sie  sich  auf  die 
organische  Kraft  bezieht   —  ist  keine  Illusion.     Der  Natur  gegen- 
über kann  ich   nicht  die   Illusion  der  Natur  erleben,  denn  sie  ist 
ja  wirklich  Natur,   d.  h.  —  nach  meiner  Auffassung  —  Wirklich- 
keit.    Dem  Kunstwerk  gegenüber  muß  ich  Illusion  erleben.     Denn 
es  ist  ja  nur  seinen   materiellen  Eigenschaften  nach  Wirklichkeit, 
nicht  in  bezug  auf  die  organische  Kraft,  d.  h.  das  Emporwachsen, 
das  in  ihm  dargestellt  ist.    Kurz  und  gut,  die  Einfühlungsästhetik 
macht  den  Fehler,   das  Kunstwerk  wie   Natur  anzuschauen,   d.  h. 
.nur  das   Erleben  der  einen  Vorstellungsreihe,    nämhch   ,, Kraft", 
,, organisches  Wachstum"  usw.  als  ästhetisches  Erlebnis  gelten  zu 
lassen. 

Gerade    bei    der  Architektur    ist  aber  die   Zweiheit  der  Vor- 
.   Stellungsreihen  besonders  deutlich.-    Alles,  was  in  ihr  rein  geome- 
trischen Charakter  hat,  z.  B.  die  Geradlinigkeit,  Regelmäßigkeit  und 


a6o  Konrad  Lange: 

Synimctrif,  außerdem  das  praktisch  Notwendige,  d.  h.  die  Festig- 
keit und  Zweckmäßigkeit,  gehört  der  Vorstellungsreihe  Kunst  an. 
Alles  dagegen,  was  eine  organische  Vorstellung  in  sich  schließt, 
gehört  der  Vorstcllungsreihe  Natur  an.  Gerade  daß  wir  bei  der 
Architektur  nicht  von  einer  Nachahmung  der  Wirklichkeit  sprechen 
können,  sondern  daß  sie  eine  gewisse  Distanz  von  der  Natur 
hält,  ist  ein  sicherer  Beweis  für  die  Verschiedenheit  der  beiden 
Vorstellungsreihen,  also  für  die   Illusionstheorie. 

Streiter  freilich  leugnet,  daß  bei  der  Säule  Naturanalogien 
im  Spiele  seien.  Er  bleibt  uns  aber  die  Erklärung  dafür  schuldig, 
an  w^as  denn  der  zylindrische  Schaft  derselben  anders  erinnern 
soll,  als  an  den  Baumstamm  oder  meinetwegen  den  nackten  mensch- 
lichen Arm  oder  das  Bein.  An  w^as  die  Schwellung  des  Schaftes 
anders  erinnern  soll,  als  an  ähnliche  Erscheinungen  der  orga- 
nischen Natur,  d.  h.  menschliche  und  pflanzliche  Anschwellungen. 
An  was  die  Kanellierung  anders  erinnern  soll  als  an  die  Riefelung 
gewisser  Pflanzenstengel.  Er  hat  in  dieser  Beziehung  Adolf 
Bot t icher  nicht  widerlegt:  Es  ist  also  vollkommen  unrichtig, 
wenn  er  behauptet,  an  der  dorischen  Säule  finde  sich  keine 
einzige  Form,  die  dem  Pflanzenleben  entlehnt  wäre. 

Auch  das  ist  falsch,  was  die  Einfühlungstheorie  behauptet, 
nämhch  es  handle  sich  bei  der  ,,' Einfühlung"  immer  um  ein  Ein- 
fühlen des  eigenen,  d.  h.  des  menschlichen  Körpers  in  das 
künstlerische  Gebilde.  Dazu  hat  nur  das  schiefe  Bild  ,, Einfühlung" 
Veranlassung  gegeben.  So  wissen  wir  z.  B.  nicht  nur  vom  korin- 
thischen Kapitell,  sondern  durch  neuere  Forschungen  auch  vom 
ionischen,  daß  es  aus  der  Blatt volute,  d.  h.  dem  überhängenden 
und  umgebogenen  Blatt,  also  aus  vegetabilischen  Vorbildern,  ent- 
standen ist.  Streiter  muß  das  natürlich  leugnen.  Wenn  er 
aber  betont,  daß  bei  dem  Volutenpolster  niemand  auch  nur  im 
entferntesten  an  eine  Pflanzenform  erinnert  werde,  so  ist  das 
natürlich  kein  Gegenbeweis.  Denn  diese  Form  ist  aus  dem  Sattel- 
holz, also  aus  der  Technik,  hervorgegangen.  Wohl  niemals  hat 
aber  ein  Mensch  bestritten,  daß  viele  Formen  der  Architektur 
rein  praktische  Bedeutung  haben.  Auch  das  Dreieck  des  Giebels 
t  rinnert  ja  nicht  an  eine  Pflanzenform,  sondern  ist  aus  der 
Form  des  Satteldaches  hervorgegangen.  Derartige  Formen  be- 
weisen eben  schlagend,  daß  auch  in  der  Baukunst  außer  den 
täuschungfördernden  Elementen,  d.  h.  den  organischen  Analogien, 
täuschunghinderndc    Elemente,    d.  h.    geometrische   oder   technisch 


i 

1 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  46 1 

bedingte  Formen  vorhanden  sind.  Diesen  Formen  der  zweiten 
Vorstellungsreihe  gegenüber  versagt  die  Einfühlungs- 
theorie vollständig.  Und  doch  gehören  auch  sie  zur  Schön- 
heit der  Architektur.  Das  wird  wohl  heutzutage  in  der  Zeit  der 
Zweckmäßigkeitsarchitektur  kein  Mensch  mehr  bezweifeln.*) 

Merkwürdigerweise  haben  weder  Meumann  noch  Streiter 
den  Hauptfehler  meiner  früheren  Darstellung  gemerkt,  nämlich 
den  Begriff  der  ,, Anschauungsillusion".  Man  kann  die  ver- 
schiedenen Illusionen  nur  nach  den  Inhalten  unterscheiden,  auf 
die  sie  sich  beziehen.  Das  heißt  man  kann  sie  nur  nach  den  ver- 
schiedenen Seiten  der  Wirklichkeit  einteilen,  die  sich  der  Beschauer 
beim  Anblick  des  Kunstwerks  vorstellt.  Danach  unterscheide 
ich  jetzt  Stoffillusion  (Materialillusion),  Raumillusion,  Bewegungs- 
illusion, Kraftillusion,  Gefühlsillusion  usw.  Dabei  sind  die  Seiten 
der  Natur,  auf  die  sich  die  Illusion  bezieht,  die  also  den  Inhalt 
der  Illusion  bilden,  als  Eigenschaften  des  Gegenstandes 
oder  des  lebenden  Wesens  gedacht,  von  dem  sich  der  Be- 
schauer beim  ästhetischen  Zustand  eine  Vorstellung  macht.  In 
diesem  Sinne  gibt  es  natürlich  keine  Anschauungsillusion.  Viel- 
mehr ist  jede  Illusion  Anschauungsillusion,  insofern  sie  auf  An- 
schauung beruht,  durch  Anschauung  hervorgebracht  wird. 

Während  man  diesen  Fehler  bisher  nicht  erkannt  hat,  ist  der 
Begriff  des  ,,  Scheingefühls"  vielfach  angefochten  worden.  Und 
zwar,  wie  ich  jetzt  glaube,  mit  Recht.  Denn  das  Wort  könnte  den 
Anschein  erwecken,  es  gebe  Gefühle,  die  keine  Wirklichkeit  sind, 
was  natürlich  Unsinn  ist.  Gefühle  sind  vielmehr  immer  Gefühle 
und  haben  als  solche  Realität.  Sie  können  stärker  oder  weniger 
stark,  deutlicher  oder  weniger  deutlich  sein,  aber  sie  sind  immer 
wirklich  vorhanden.  In  der  Tat  habe  ich  auch  unter  ,, Schein- 
gefühl" nicht  etwas  verstanden,  was  kein  Gefühl  wäre,  sondern  viel- 
mehr ein  Gefühl,  das  sich  auf  einen  Schein,  auf  ein  nur  ästhetisch 
Vorgestelltes  bezieht  und  infolgedessen  nur  von  geringer  Stärke 
sein  kann.  Dieser  Begriff  des  ,, ästhetischen  Scheins"  war,  als  ich 
mit  meiner  Theorie  zum  erstenmal  hervortrat,  in  der  Ästhetik 
allgemein  gebräuchlich,  und  auch  der  Begriff  der  ,,Scheingcfühle" 
war  längst  von  Eduard  von  Hartmann  und  anderen  Ästhe- 
tikern in  die  wissenschaftliche  Sprache  eingeführt  worden.  Das 
war    also    einer   der   wenigen    Fälle,    in    denen    ich    mich    an    die 


^)  Vgl.  K.  Lange,   Schön  und  praktisch,  Führer  zur  Kunst.    Eßlingen   1908. 


402 


Konrad  Lange: 


zünftige  Psychologie  angeschlossen  hatte.  Daß  ich  damit  schlecht 
fuhren  würde,  hätte  ich  voraussehen  können.  Und  es  ist  sehr 
charakteristisch,  daß  man  jetzt  gerade  mir  die  Benutzung  dieses 
Begriffes,  der  doch  gar  nicht  von  mir,  sondern  von  der  philo- 
sophischen Ästhetik  stammt,  zum  besonderen  Vorwurf  macht. 

Ich  bin  den  Herren  Lipps  und  Streiter  sehr  dankbar  dafür, 
daß  sie  den  Begriff  des  Scheingefühls  zerstört  haben.  Denn  sie 
haben  mir  damit,  ohne  es  zu  wissen,  einen  großen  Gefallen 
getan,  indem  sie  mir  einen  neuen  Beweis  für  den 
Wechsel  der  Vorstellungsreihen  an  die  Hand  gegeben 
haben.  Das  Wort  ,, Scheingefühl"  konnte  man  nämlich  allen- 
falls so  auffassen,  als  ob  es  sich  dabei  um  etwas  Einheitliches 
handelte,  ein  Gefühl,  das  zwar  durch  ein  Scheinbild  hervorgerufen, 
aber  als  Gefühl  Wirklichkeit,  und  zwar  einheitliche  Wirklichkeit 
sei.  Wenn  nun  aber  ein  Gefühl  immer  als  solches  Wirklichkeit 
ist,  dabei  aber  doch  die  ästhetischen  Inhaltsgefühle  von  den  Ge- 
fühlen des  wirklichen  Lebens  verschieden  sind,  so  kann  das  nur 
darauf  beruhen,  daß  jene,  d.  h.  die  Gefühle,  die  der  Inhalt  des 
Kunstwerks  auslöst,  fortwährend  durch  andere  Gefyhle,  die 
wir  im  Wechsel  damit  erleben,  durchkreuzt  werden.  Die 
Tatsache,  daß  ein  Gefühl  immer  ein  Gefühl  ist,  beweist  also 
schlagend,  daß  das  Wesen  der  ästhetischen  Anschauung  nur  im 
Wechsel  der  Vorstellungen  (und  Gefühle)  bestehen  kann.  Denn 
daüber  kann  ja  natürlich  kein  Zweifel  sein,  daß  mein  Gefühl 
beim  Anblick  einer  Statue  eines  zürnenden  Achill  kein  wirklicher 
Zorn  im  gewöhnlichen  Sinne  ist.  Man  kann  hier  bestenfalls  von 
einem  ästhetischen  Surrogat  des  Zornes  sprechen,  das  als 
solches  eine  Abschwächung  bedeutet.  Diese  Abschwächung  ist  aber 
einfach  die  Folge  davon,  daß  zu  dem  Zorngefühl,  das  der  Inhalt 
fordert,  noch  die  ganze  Reihe  der  täuschunghindernden  Vorstellungen 
und  der  aus  ihnen  entstehenden  Gefühle  hinzukommt,  die  den 
Inhalt  der  zweiten  Vorstellungsrcihe  bilden.  In  der  Musik  z.  B. 
setzt  sich  die  ästhetische  Stimmung,  in  die  mich  ein  Trauermarsch 
versetzt,  zusammen:  i.  aus  wirklicher  Trauer,  2.  aus  den  Lust- 
gefühlen, die  durch  die  sinnliche  Schönheit  der  Töne,  die  Rhyth- 
men, Harmonien  usw.  hervorgerufen  werden.  Indem  diese  im 
Wechsel  mit  jener  auftreten,  modifizieren  sie  dieselbe  natürlich, 
schwächen  sie  sie  ganz  wesentlich  ab.  Daher  kommt  es,  daß  viele 
Menschen  durchaus  leugnen,  beim  Anhören  eines  Trauermarsches 
wirkliche  Trauer   zu  empfinden.      Ob   man  nun  statt  dessen  von 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  463 

,,  Gefühlsvorstellung"  oder  von  „Vorstellungsgcf  ühl"  oder 
sonst  von  irgend  etwas  sprechen  will  —  die  Ästhetiker  haben  ver- 
schiedene Benennungen  vorgeschlagen  — ,  ist  im  Grunde  ziemlich 
gleichgiltig.  Genug,  daß  es  ein  Gefühl  ist,  welches  durch  gleich- 
zeitiges Erleben  zweier  Vorstcllungsreihen  zustande  kommt. 

Bei  dieser  Gelegenheit  kann  ich  eine  persönliche  Bemerkung 
nicht  unterdrücken.  Lipps  sowohl  wie  Streiter  und  Meu- 
mann  bemängeln  wiederholt  meine  Anwendung  der  Worte  ,, Ge- 
fühl", ,, Empfindung"  usw.  und  sehen  in  dem  schwankenden  Ge- 
brauch solcher  Worte  einen  Beweis  für  meine  unzulängliche  psycho- 
logische Schulung.  Streiter  drückt  das  durch  zahlreiche  Frage- 
zeichen oder  Ausruf ungszeichen  aus,  die  er  hinter  die  Zitate  meiner 
Ausführungen  setzt.  Ich  habe  deren  im  ganzen  in  seiner  Ab- 
liandlung  etwa  40  gezählt!  Daß  ich  kein  Psycholog  im  schul- 
mäßigen Sinne  bin,  habe  ich  niemals  gcläugnet.  Als  ich  meine 
Antrittsvorlesung  hielt,  stand  aber  auch  die  wissenschaftliche 
Psychologie  erst  in  ihren  Anfängen.  Und  wie  sie  bei  ihren  Ge- 
dankenbildungen in  der  Irre  gehen  konnte,  glaube  ich  schon 
früher  und  auch  in  diesem  Aufsatz  wieder  genügend  bewiesen  zu 
liaben.'  Wiederholt  hat  man  mir  zum  Vorwurf  gemacht,  daß  ich 
mich  statt  strenger  psychologischer  Analyse  zuweilen  eines  Bildes 
bediene,  das  nichts  besage,  sondern  nur  den  psychischen  Tat- 
bestand verdunkele.  Ich  kann  darauf  nur  erwidern,  was  ich  schon 
an  anderer  Stelle  ausgeführt  habe:  Auch  die  wissenschaftliche 
Psychologie  arbeitet  fortwährend  mit  Bildern.  Die  „Schwelle  des 
Bewußtseins",  der  ,, Blickpunkt  des  Bewußtseins",  die  ,,Enge  des 
Bewußtseins",  die  ,, monarchische  Einrichtung  des  Bewußtseins", 
die  „Einfühlung",  die  ,, Assoziation"  (,, Vergesellschaftung"),  sind 
das  nicht  alles  bildliche  Ausdrücke.''  Vor  allen  Dingen  aber: 
Ich  habe  durch  Analyse  einiger  Beweisführungen  der  ge- 
nannten drei  Psychologen  nachgewiesen,  daß  unter  Umständen 
selbst  Fachphilosophen,  die  sich  eines  gewissen  Ansehens  er- 
freuen, schiefe  und  konfuse  Gedankengänge  entwickeln  können. 
Es  scheint  mir  immer  noch  verdienstvoller,  klare  Gedanken  zu 
haben  und  sie  hie  und  da  etwas  salopp  oder  burschikos  auszu- 
drücken, als  unklare  Gedanken  zu  haben  und  sie  —  außerdem 
unklar  auszudrücken. 

Als  den  eigentlichen  Kern  der  Illusionstheorie  betrachtet 
Streiter  mit  Recht  den  Wechsel  der  beiden  Vorstellungsreihen. 
Gegen    diesen   führt   er   denn   auch   das   schwere    Geschütz   seiner 


A^A  *  Konrad  Lange: 

Fachpsychologk-  ins  Feld  (S.  245 ff.).  Er  hält  diese  Theorie  für 
einen  ..Knäuel  von  dichtverschlungenen  Widersprüchen  und 
psychologischen  Unmüglichkciten".  Die  Beweise  für  diese  Be- 
hauptung bestehen  —  in  den  Fragezeichen  und  Ausrufungszeichen, 
von  denen  ich  eben  gesprochen  habe.  So  ist  z.  B.  Streiter  einmal 
sehr  empört  darüber,  daß  ich  sage,  eine  Vorstellung  ,, setze  sich 
in  Gefühle  um".  Er  bemerkt  dazu:  ,,Ein  Umsetzen  von  Vor- 
stellungen in  Gefühle  gibt  es  nicht,  gemeint  ist  wohl  auch  nur, 
daß  die  Vorstellungen  Gefühle  erwecken."  Sehr  richtig,  das  war 
in  der  Tat  meine  Meinung.  Wenn  ich  dann  aber  an  anderer 
Sielle  sage,  wir  ,, erlebten"  mit  der  Vorstellung  der  Natur,  die  den 
Inhalt  des  Bildes  ausmache,  gleichzeitig  die  Gefühle,  zu  denen 
uns  die  entsprechenden  Dinge  anregen  würden,  wenn  wir  sie  in 
der  Wirklichkeit  sähen,  so  wird  hinter  ,, erlebten"  wieder  ein 
Ausruf ungszeichen  gesetzt.  Also  auch  so  ist  es  nicht  richtig. 
Wie  soll  man  sich  nun  eigentlich  ausdrücken  ? 

Wichtiger  ist,  was  Streiter  über  die  Theorie  des  Vorstellungs- 
wechsels überhaupt  sagt.  Es  stimmt  ungefähr  mit  dem  überein, 
was  man  von  Lipps  schon  vorher  gehört  hatte,  und  was  Meu- 
mann  und  andere  Ästhetiker  ihm  später  zur  Ermüdung  oft  nach- 
gesprochen haben.  Und  es  ist  ebenso  unhaltbar:  ,, Gegen  diese  An- 
sicht spricht  vor  allem  unsere  unmittelbare  innere  Erfahrung. 
Solange  wir  uns  ganz  und  rein  dem  ästhetischen  Genießen  hin- 
geben, fühlen  wir  uns  psychisch  durchaus  einheitlich,  in  einem 
Zustand  vollster  ruhigster  Sicherheit,  , versunken'  im  ästhetischen 
Schein,  in  der  ästhetischen  Realität  (vgl.  oben  S.  451),  ohne  jedes 
Schwanken  zwischen  Schein  und  Wirklichkeit,  da  ja  die  Frage 
nach  der  Wirklichkeit  überhaupt  gar  nicht  auftaucht." 

Was  das  ,, Versunkensein  in  die  ästhetische  Realität"  be- 
trifft, so  verweise  ich  auf  das,  was  ich  oben  S.  454  g<-'gcn  Lipps 
gesagt  habe.  Im  übrigen  ist  dieses  Urteil  Streiters  eine 
persönliche  Meinungsäußerung,  die  sich  auf  Selbstbeobachtung 
gründet.  Sie  hat  also,  wie  alle  aus  der  Selbstbeobachtung 
gewonnenen  Erkenntnisse,  lediglich  subjektiven  Wert.  Überdies 
ist  der  Begriff  des  einheitlichen  und  zusammengesetzten  Gefühls 
ein  relativer.  Ein  Gefühl  kann  sich  aus  mehreren  Einzelgefühlen 
zusammensetzen  und  doch  verhältnismäßig  einheitlich  sein, 
wenn  diese  Gefülile  nämlich  in  einer  inneren  gesetzlichen  Be- 
ziehung zueinander  stehen.  Das  ist  aber  bei  der  guten  Kunst 
immer   der   Fall,    weil    j.i    die    Form   zum    Inhalt    in   einem   ganz 


Die  ästhetische  Ilhision  und  ihre  Kritiker.  ^55 

bestimmten  gesetzlichen  Verhältnis  stehen  muß.  Deshalh  wäre 
es  immerhin  möglich,  daß  die  beiden  Gefühlsreihen  sich  im 
Bewußtsein  bis  zu  einem  gewissen  Grade  voneinander  sonderten. 
Daß  Streiter  selbst  bei  der  Anschauung  eines  Kunstwerks 
die  beiden  Vorstellungsreihen  nicht  erlebt  oder  sich  wenigstens 
dieses  Erlebens  nicht  bewußt  ist,  will  ich  ihm  natürlich  nicht 
abstreiten.  Doch  stehen  seiner  Selbstbeobachtung  andere  gegen- 
über, die  das  Gegenteil  besagen.  So  erklärt  z.  B.  der  erwähnte 
Schauspieler  Ferdinand  Gregori,  der  sich  durch  mehrere  sehr 
gute  Schriften  über  die  Bühnenkunst  literarisch  bekannt  gemacht 
hat,  in  der  oben  S.  446  zitierten  Rezension  meines  ,, Wesens  der 
Kunst"  in  bezug  auf  die  Klingerschen  Radierungen:  ,,Wie  leb- 
haft spielen  bei  ihrer  Betrachtung  die  beiden  Lange- 
schen Vorstellungsreihen  auf  und  ab,  herüber  und  hin- 
über! Es  ist  eine  Wollust,  einen  großen  Mann  verstehen  zu  lernen." 
Schon  mehrmals  habe  ich  auf  das  Zeugnis  Goethes  hingewiesen, 
der  in  einem  Gespräche  mit  Eckermann  zum  Lobe  von  Manzonis 
Promessi  sposi  sagt:  ,,Manzoni  löst  die  Angst,  die  der  Leser 
um  die  Helden  seiner  Dichtung  empfindet,  in  Rührung  auf  und 
führt  uns  durch  diese  Empfindung  zur  Bewunderung.  Rührung 
und  Bewunderung,  das  seien  die  beiden  Gefühle,  in  die  man  bei 
der  Lektüre  des  Romans  abwechselnd  versetzt  werde.  Der  Ein- 
druck beim  Lesen  ist  derart,  daß  man  immer  von  der  Rührung 
in  die  Bewunderung  fällt  und  von  der  Bewunderung  in 
die  Rührung,  so  daß  man  aus  einer  von  diesen  großen  Wirkungen 
gar  nicht  herauskommt.  Ich  dächte,  höher  könnte  man  es  nicht 
treiben."  Und  später  erklärt  er  das  noch  etwas  näher,  indem 
er  ausführt,  daß  die  Angst  sich  auf  den  Inhalt  der  Dichtung, 
die  Bewunderung  aber  auf  den  Dichter  als  den  Schöpfer  des 
Werkes  beziehe.  ,,Das  Gefühl  der  Angst  ist  stoffartig  (d.  h.  in- 
haltlich) und  wird  in  jedem  Leser  entstehen.  Die  Bewunderung 
aber  entspringt  aus  der  Einsicht,  wie  vortrefflich  sich  der  Autor 
in  jedem  Falle  benahm,  und  nur  der  Kenner  wird  mit  dieser  Emp- 
findung beglückt  werden."  Und  triumphierend  fügt  er  hinzu: 
,,Was  sagen  Sie  zu  dieser  Ästhetik?  Wäre  ich  jünger,  so  würde 
ich  nach  dieser  Theorie  etwas  (d.  h.  wahrscheinlich  eine  Dichtung) 
schreiben." 

Ich  will  dahingestellt  sein  lassen,  ob  Goethe  den  Vorgang 
mit  diesen  Worten  einwandfrei  beschrieben  hat,  und  ob  der  Aus- 
druck Rührung  glücklich  gewählt  war,-   Sicher  ist  jedenfalls  so  viel, 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3*^ 


Af)ß  Konrad  Lange: 

<iaß  er  seihst  die  beiden  Vorstellungen  bzw.  Gefühle  erlebt  hat,  und 
daß  er  hier  eine  höhere  Art  der  Kunstanschauung  von  einer 
niederen  unterscheidet.  Die  niedere  besteht  nach  ihm  in  dem 
einfachen  Erleben  des  Inhalts,  d.  h.  der  einen  Gcfühlsreihe 
,-\ngst".  Die  höhere  dagegen  in  dem  Erleben  zweier  Gefühls- 
reiiien,  Angst  und  Bewunderung.  Die  letztere  ist  natürlich  seine 
eigene.  Das  Erleben  dieser  beiden  Gefühlsreihen  aber  beschreibt 
Goethe  als  ein  ,,Hin-  und  Herfallen"  aus  der  einen  in  die 
andere,  und  gerade  darin  sieht  er,  selbstverständlich  unter  der 
Voraussetzung,  daß  beide  sehr  stark  erlebt  werden,  die  eigent- 
liche Ursache  des  ästhetischen  Genusses.  Dieses  ,,Hin-  und  Her- 
fallen" hat  mit  meinem  ,,Hin-  und  Herpendeln"  eine  merk\\mrdige 
Ähnlichkeit.  An  einer  anderen  Stelle,  in  dem  Kapitel  ,,Frauen- 
rnllen  auf  römischen  Theatern",  in  der  italienischen  Reise,  sagt 
Goethe  geradezu,  die  Darstellung  solcher  Frauenrollen  durch 
Männer  erhalte  bei  dem  Beschauer  das  Gefühl  der  Nachahmung, 
der  Kunst  lebendig  (wir  würden  sagen,  sie  sei  ein  täuschung- 
lunderndcs  Element),  und  sie  versetze  dadurch  den  Beschauer 
in  eine  Art  von  ,, selbstbewußter  Illusion".  Natürlich  meint 
Goethe  damit  das  gleiche  wie  ich  mit  der  ,, bewußten  Selbst- 
täuschung". Nur  daß  der  letztere  Ausdruck  besser  ist,  als  der 
Goethesche,  weil  bei  ihm  der  Doppclsinn  des  Wortes  ,, selbst- 
bewußt" vermieden  wird.^) 

Meumann  und  Streiter  haben  offenbar  keine  ähnlichen 
Selbstbeobachtungen  wie  Goethe  gemacht.  Sie  haben  auch,  wie 
es  scheint,  keinen  Menschen  gekannt  oder  befragt,  der  sie  gemacht 
hätte.  Streiter  begnügt  sich  auch  hier,  in  verba  magistri  zu 
schwören,    d.  h.    auf  Lipps    zu  verweisen,    der  gesagt  habe,    daß 

^)  Ich  verdanke  den  Hinweis  auf  diese  Äußerung  Goethes  Herrn  Dr.  Hey- 
f  eldcr.  Vgl.  K.  Lange,  Goethes  selbstbewußte  Illusion,  Beilage  zur  Allgemeinen 
Zeitung,  1904,  Nr.  15,  16  und  19.  Erich  Heyfelder,  Die  Dlusionstheorie  und 
Goethes  Ästhetik,  II.  Heft  der  ästhetischen  Studien,  1904,  S.  8iff.  Julius  Pap 
(Kunst  und  Illusion,  S.  142)  hat  gegen  unsere  Berufung  auf  Goethe  eingewendet, 
daß  diese  Äußerungen  aus  der  mittleren  und  späteren  Lebensperiode  des  Dichters 
stammen,  während  er  in  seiner  Jugend  die  Kunst  anders,  d.  h.  einheitlich,  genossen 
habe.  Das  ist  wohl  richtig.  Aber  Goethe  war  sich,  wie  eine  Äußerung  über 
Herder  beweist,  dieser  Entwicklung  seiner  ästhetischen  Anschauungsweise  sehr 
wohl  bewußt.  Und  wenn  er  später  die  Bewußtheit  der  Täuschung  geradezu  als 
die  Ursache  des  Kunstgenusses  auffassen  zu  müssen  glaubte,  so  wird  man  daraus 
?<chlicß(n  dürfen,  daß  dies  die  richtige  Ansicht  war,  und  daß  auch  die  ver- 
hältnismäßig einheitliche  Anschauung  seiner  Jugend  doch  die  beiden  Vor- 
stcllungsreihcn  bis  zu  einem  gewissen  Grade  schon  enthielt. 


Die  ästhetische  Illusion  uad  ihre  Kritiker.  407 

,,ein  Gefühl  des  Schwankens  und   Schwabens,  des  Hin-  und  Her- 
pendelns  nur  ein  Gefühl  der  Unklarheit  und  Unruhe,  der  Unlust 
und  der  Qual  sein  könne,  wie  es  aus  jedem  Hin-  und  Hergezogen- 
werden  zwischen    Betrachtungsweisen,    die    gleichzeitig   ihr    Recht 
fordern   und    doch   inhaltlich   sich   ausschließen,    nach   einem   all- 
gemeinen psychologischen  Gesetz  sich  ergeben  müsse".     Eis  scheint, 
daß  Goethe,  der  alte,  ruhige  und  abgeklärte  Goethe,  dieses  ,,Hin- 
und  Herfallen"   zwischen  zwei  Vorstellungsreihcn  (,, Betrachtungs- 
weisen"   ist    doppelsinnig    und    deshalb    unpassend)    nicht    gerade 
als   besondere    Qual  empfunden  hat.     Und   der    Grund   dafür   ist 
auch  leicht  einzusehen.     Offenbar  denkt  Lipps  dabei  an  ethische 
oder  wissenschaftliche  Zweifel,  von  denen  man  ja  wohl  sagt:  Wer 
die  Wahl  hat,  hat  auch  die  Qual.    Aber  gerade  von  einem  ,, Zweifel" 
ist  bei  der  Kunstanschauung  durchaus  nicht  die  Rede.     Und  zwar 
deshalb  nicht,  weil  es  sich  dabei  um  ein  freiwilliges   Spiel  der 
Vorstellungen  handelt.     Daß  intermittierende  Gefühle,   die  aus 
Unsicherheit  oder  Zweifel  entstehen,   Unlust  erzeugen,   kann  man 
Külpe,  auf  den  sich   Streiter  beruft,  gern  zugeben.     Aber  das 
freie    Schweben  zwischen   Schein  und   Wirklichkeit,    Original   und 
Kopie,  Inhalt  und  Form,  das  die  bewußte  Selbsttäuschung  charak- 
terisiert, steht  eben,  weil  es  ein  freies   Schweben  ist,  auf  einem 
ganz   anderen  Blatte.      Und   wenn    Streiter   sich    durch    meinen 
Hinweis  auf  das  Komische  als  Beispiel  eines  lusterregenden  Wechsels 
zweier  Vorstellungsreihen   (s.  oben  S.  443 ;  zu  der  Bemerkung  ver- 
anlaßt sieht:  ,,Dann  müßte  also  aller  künstlerische  Genuß  komisch 
sein",  so  ist  das  —  nicht  sehr  geistreich.    Denn  ich  brauche  wohl 
nicht    zu  wiederholen,    daß    das  Tertium    comparationis  zwischen 
Witz  und  Kunst,  nach  meiner  Auffassung,  lediglich  das  Freiheits- 
gefühl ist.-^) 

Daß  Streiter  bei  seiner  ablehnenden  Haltung  gegenüber 
der  Illusion  auch  die  Illusionsspiele,  die  Groos  eingehend 
behandelt  hat,  einfach  leugnet,  ist  selbstverständlich.  Man  sieht 
daraus  nur,  zu  welch  unhaltbaren  Konsequenzen  sein  Stand- 
punkt führt.  Der  Genuß  der  Knaben  beim  Räuber-  und  Indianer- 
spielen besteht  nach  ihm  nicht  in  der  Illusion  als  solcher, 
sondern  darin,  daß  ,,die  Knaben  in  einer  bestimmten  Weise 
sich  betätigen".  Daraus  würde  sich  aber  doch  nur  der  Ge- 
nuß  des   Siegers,    nicht    des   Besiegten,   erklären.      Denn   welchen 


*)  K.  Lange,  Über  den  Zweck  der   Kunst.   Stuttgart   1912,   S.  47,  Anm.  19, 


30* 


468 


Konrad  Lauge; 


Genuß  kann  den  Knaben  das  Bewußtsein,  besiegt,  gefangen  und 
bestraft  zu  werden,  gewähren,  wenn  es  nicht  der  Genuß  des 
Rollenbewußtseins  ist?  Groos  und  ich  leugnen  natürlich 
nicht,  daß  schon  die  Betätigung  an  sich  eine  gewisse  Lust  her- 
vorruft, ebensowenig  w-ie  wir  leugnen,  daß  das  Erleben  von  Ge- 
fühlen in  der  Kunst  an  sich  schon  befriedigend  für  den  Alenschen 
ist.  Wir  finden  nur,  daß  das  Ausschlaggebende  bei  der  Kunst 
die  Form  ist,  in  der  sich  diese  Betätigung  vollzieht,  und  daß 
dies  die  Illusionsform,  d.  h.  die  bewußte  Selbsttäuschung  ist. 
Auch  Streiter  sagt  ja:  ,,Daß  bei  dem  Sichhineinversetzen  in  ein 
Vorgestelltes,  in  eine  Rolle,  wie  es  bei  vielen  Kinderspielen  dem 
Tun  und  Treiben  zugrunde  gelegt  wird,  etwas  Ähnliches  vorliegt, 
wie  bei  dem  Hingegebensein  der  Erwachsenen  an  die  Welt  des 
künstlerischen  Scheins,  bestätigt  allerdings  eine  gewisse  Verwandt- 
schaft von  Spiel  und  Kunst."  Aber  er  meint  doch,  der  Genuß 
der  Kinder  bestehe  z.  B.  bei  den  Kampfspielen  nicht  darin,  daß 
sie  sich  einbilden,  sie  seien  Feinde,  während  sie  es  doch  in  Wirk- 
lichkeit nicht  sind,  nicht  auf  dem  Tun  als  ob  bei  ihrem  Vor- 
stellungsverlauf, sondern  vielmehr  auf  der  Einfühlung.  Nach  dem 
Gesagten  brauche  ich  diese  Meinung  wohl  nicht  eingehend  zu 
widerlegen. 

Die  ästhetische  Anschauung  der  Natur  hatte  ich  ebenfalls 
auf  die  Illusion  zurückgeführt,  indem  ich  nachzuweisen  suchte, 
daß,  während  der  naive  Mensch  die  Natur  nur  entw'eder  sinnlich 
genießt  oder  praktisch  zu  beherrschen  sucht,  der  ästhetisch  ge- 
bildete, fein  empfindende  Kulturmensch,  d.  h.  der  Mensch  auf 
höherer  geistiger  Entwicklungsstufe,  der  genau  mit  der  Kunst 
vertraut  ist,  sie  als  Bild  anschaut.  Sowie  der  Beschauer  eines 
Gemäldes  dieses  unwillkürlich  in  die  Natur  übersetzt,  so  übersetzt 
der  ästhetisch  gebildete  Beschauer  die  Natur  unwillkürlich  in 
ein  Bild.  Ich  nannte  das  ,, umgekehrte  Illusion"  und  führte  als 
Beweis  dafür  u.  a.  eine  Äußerung  Goethes  an,  wonach  dieser  nach 
der  Besichtigung  der  Dresdener  Galerie  in  jeder  Schusterw'erkstatt, 
in  die  er  eintrat,  einen  Ostadc  zu  sehen  geglaubt  habe.  Auf  diesen 
und  ähnliche  Beweise  — sie  sind  Legion —  geht  Streiter  nicht  ein. 
Dagegen  behauptet  er,  auch  ein  von  jeder  Kunst  unberührtes  Kind, 
bei  dem  also  von  umgekehrter  Illusion  nicht  die  Rede  sein  könne, 
sei  fähig,  die  Natur  zu  genießen.  Daran  habe  ich  natürlich  niemals 
gezweifelt.  Nur  ist  dieser  Genuß  meiner  Meinung  nach  eben  kein 
ästhetischer,  sondern  ein  sinnlicher.     Und  ich  glaube,  jedes  Kind 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  460 

würde  sich  wundern,  wenn  man  es  fragen  wollte,  ob  es  die 
Natur  im  Sinne  der  Illusion,  also  als  Bild,  oder  im  Sinne  der 
Einfühlungstheorie  genieße,  d.  h.  sich  in  einen  Baum  oder  in  eine 
Hügelkette  ,, einfühle". 

Von  den  vielen  Einwendungen,  die  Streiter  im  einzelnen 
gegen  meine  Behauptungen  macht,  will  ich  nur  die  wichtigsten 
kurz  erwähnen.  Daß  Symmetrie,  Reihung  und  Rhythmus  aus 
den  praktischen  Bedürfnissen  des  Kunstgewerbes  und  der  Arbeit, 
d.  h.  aus  der  technischen  Konstruktion  und  der  gesellschaft- 
lichen Bewegung  hervorgegangen  sind,  will  ihm  durchaus  nicht 
einleuchten.  Ebensowenig,  daß  die  lineare  oder  geometrische 
Ornamentik  aus  abgekürzten  und  schematisierten  Naturformen 
entstanden  ist.  Für  beides  sind  seitdem  so  viel  Beweise  bei- 
gebracht worden,  daß  Streiters  Zweifel  daran  als  erledigt  gelten 
können. 

Für  die  Art  der  Polemik  Streiters  ist  besonders  charak- 
teristisch die  Erörterung  über  das  Häßliche  (S.  257).  Ich  hatte 
nachgewiesen,  daß  häßliche  Gegenstände  oder  Personen  nur  des- 
halb in  der  Kunst  darstellbar  sind,  weil  sie  hier  in  den  ,, ästhe- 
tischen Schein"  eintreten,  d.  h.  weil  sie  nicht  als  Wirklichkeit 
angeschaut  werden.  Der  Genuß  den  wir  an  der  künstlichen  Dar- 
stellung eines  häßlichen  Inhalts  haben,  besteht  ja  nach  der  Illusions- 
theorie nicht  in  dem  Genuß  an  diesem  Inhalt,  sondern  in 
dem  Genuß  an  der  Darstellung  als  solcher,  bzw.  der  Phantasie- 
tätigkeit, die  sich  an  die  Anschauung  des  Kunstwerks  knüpft. 
Natürlich  schließt  das  nicht  aus,  daß  Künstler  und  ästhetisch 
Feingebildete  das,  was  den  meisten  Menschen  in  der  Natur  häß- 
lich scheint  (z.  B.  runzelige  Gesichter,  dürre  Bäume,  schmutzige 
Straßen  usw.)  schon  in  der  Natur  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
,, schön"  finden  können.  Sie  stellen  sich  dann  eben  auf  den  künst- 
lerischen Standpunkt,  d.  h.  sie  vergegenwärtigen  sich,  wie  dieses 
Häßliche,  aber  Charakteristische  in  die  Kunst  übersetzt  wirken 
würde. 

Hier  glaubt  nun  Streiter  mich  bei  einem  Widerspruch  ertappen 
zu  können.  ,, Merkwürdig  ist",  so  sagt  er,  ,,daß  Lange  sich  die  — 
für  seine  Theorie  allerdings  verhängnisvolle  —  Frage  nicht  gestellt 
hat:  Wie  kommen  wir  überhaupt  dazu,  etwas  häßlich  zu  finden.^ 
Das  Schöne  in  der  Natur  soll  es  ja  doch  nur  insoweit  sein,  als  man 
dabei  ,an  die  Kunst  denkt'.  Nun  kann  man  aber  bei  allem,  was 
Lange  als  Stoff  der  Kunst  häßlich  nennt,  auch  an  die  Kunst  denken; 


4/0 


Konrad  Lanpe: 


OS  müßte  also  all  das  von  diesem  Augenblick  an  nicht  mehr  häßlich, 
sondern  schön  sein.  Alles  übrige  aber,  bei  dem  man  nicht  an  die 
Kunst  denkt,  würde  weder  schön  noch  häßlich,  sondern  indifferent 
sein!  Etwas  Häßliches  kann  also  nach  Langes  Theorie  über- 
haupt nicht  vorhanden  sein;  wenigstens  nicht  in  der  Natur.  Auch 
wohl  nicht  in  der  Kunst.  Denn  sobald  nur  immer  der  Wechsel 
zweier  Vorstellungsreihen  gegeben  ist  —  und  das  ist  ja  nach  Lange 
bei  jedem  künstlerischen  Erzeugnis  der  Fall  — ,  soll  doch  als 
Ergebnis  des  Hin-  und  Ilerpendclns  der  ästhetische  Genuß  sich 
einstellen.  Auf  Grund  welches  psychischen  Vorgangs  müßte  dies 
anders  sein,  wenn  wir  bei  künstlerischen  Werken  nicht  Lust, 
sondern  Unlust  empfinden,  wenn  wir  sie  als  mißlungen  oder  als 
häßlich  bezeichnen.''  Daß  wir  solche  ästhetische  Unlust  fühlen, 
ist  doch  —  leider  —  sehr  häufig.  Und  zwar  gerade  bei  Werken,, 
die  recht  wahrheitsgetreu  sind!  Dieser  Gegenbeweis  e  contrario, 
aus  der  Unmöglichkeit  einer  psychologischen  Begründung  der 
—  nicht  individuell  bedingten  —  ästhetischen  Abneigung,  bringt 
die   Illusionstheorie  mit  einem  Schlage  zu  Fall." 

Ich  gestehe,  daß  mir  selten  ein  sclilimmerer  Rattenkönig  von 
Mißverständnissen,  Irrtümern  und  Unterstellungen  vorgekommen 
i  St.  Nur  die  völlige  Neuheit  und  Ungewohntheit  meiner  Gedanken- 
gänge zu  der  Zeit,  als  sie  publiziert  wurden,  kann  diese  Hilflosig- 
keit der  Kritik  einigermaßen  entschuldigen.  Gehen  wir  diese  Be- 
liauptungen  einmal  Satz  für  Satz  durch  und  \'ergleichen  sie  mit 
dem,  was  ich  wirklich  gesagt  habe. 

Zunächst  die  Kunst.  Es  ist  durchaus  unrichtig,  daß  es  nach 
meiner  Theorie  etwas  Häßliches  in  der  Kunst  eigentlich  gar  nicht 
geben  könne,  weil  der  Wechsel  der  beiden  Vorstellungsreihen  nach 
ihr  ja  bei  jedem  künstlerischen  Erzeugnis  möglich  sei.  Gerade 
das  ist  eben  nicht  der  Fall.  Es  ist  allerdings  richtig,  daß  wir  jedes 
Bilfl  —  schon  am  Rahmen  —  als  Bild  erkennen  und  uns  des- 
halb nicht  dadurch  täuschen  lassen.  Aber  darum  können  den- 
noch die  zwei  Vorstellungsreihen,  die  zur  ästhetischen  Anschauung 
gehören,  unter  Umständen  nicht  zustande  kommen.  Als  Beispiel 
dafür  will  ich  nur  ein  Porträt  nennen,  in  welchem  die  Natur 
.so  sklavisch  und  geistlos  nachgeahmt  ist,  daß  es  wie  eine  über- 
malte Photographie  au.ssieht.  In  einem  solchen  Bilde  schaut  der 
Beschauer  tatsächlich  nur  die  Natur  an,  weil  die  künstlerische 
D;irstellung,  d.  h.  die  Form  gleichgültig,  charakterlos  und  un- 
persönlich ist.     Das  heißt  nlso:  Der  Beschauer  erlebt  nur  die  eine 


Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker.  47  I 

Vorstc-llungsrcihe  („Natur"),  während  die  andere  („Kunst")  auf 
Äußerlichkeiten  beschränkt,  d.  h.  verkümmert,  ja  geradezu  aus- 
geschaltet ist.  Und  zwar  deshalb,  weil  der  Stil,  die  persönliche 
Auffassung  des  Malers  fehlt. 

Derselbe  Fall,  nur  umgekehrt,  hegt  vor,  wenn  ein  Maler  das 
Porträt  einer  Person,  die  ihm  Modell  sitzt,  dieser  und  überhaupt  der 
Natur  absichtlich  unähnlich  macht,  den  Kopf  und  das  Gesicht  z.  B. 
aus  lauter  geometrischen  Figuren  zusammensetzt,  wie  es  die  Futu- 
risten tun.  Dann  erlebt  der  Beschauer  zwar  die  Vorstellungsreihe 
,, Kunst",  ,, Flächenbild",  ,, geometrische  Abstraktion",  aber  er  erlebt 
nicht  die  Vorstellung  ,, Natur".  In  diesem  Falle  ist  die  letztere  ver- 
kümmert oder  ausgeschaltet.  Das  sind  beides  Beispiele  des  künst- 
lerisch Häßlichen.  Die  Häßlichkeit  besteht  hier  nicht  darin,  daß 
das  Gesicht  häßlich  ist,  sondern  darin,  daß  die  eine  der  beiden 
Vorstellungsreihen  unterdrückt  wird  oder  nur  in  ganz  ver- 
kümmerter Form  vorhanden  ist.  Künstlerisch  schön  dagegen  . 
ist  ein  Werk,  das  beide  Vorstellungsreihen  erzeugt,  d.  h.  das  zu- 
gleich natürlich  wirkt  und  einen  ausgesprochenen  persönlichen 
Stil  zeigt.  Das  ist  dann  eben  ein  Kunstwerk,  d.  h.  ein  Werk, 
das  —  im  künstlerischen  Sinne  —  Illusion  erzeugt.  Das  Kenn- 
zeichen der  künstlerischen  Schönheit  ist  also  die   Illusions kraft. 

Sodann    die    Natur.      Die    Behauptung    Streiters,    daß    es 
nach  meiner  Theorie  etwas  Häßliches  eigentlich  auch  in  der  Natur 
nicht  geben  könne,  weil  man  dabei  doch  immer  an  Kunst  denken 
könne,     ist    ebenso    falsch.       Ich    habe    nachgewiesen,    daß    man 
nicht   bei   allen   Naturerscheinungen  an   künstlerische   Darstellung 
denken  kann,   sondern   nur  bei  solchen,    die   sich   dieser   leicht 
und    bequem    darbieten.      Welche    das   sind,  weiß  jeder,  der 
etwas    von    Kunst    versteht,     auch    der    Laie,    der    eine    größere 
Zahl   von   künstlerischen    Darstellungen   der    Natur    gesehen    hat. 
Es    sind    bekanntlich    gerade    nicht    die,    welche    im    landläufigen 
Sinne    als    ,, schön"    gelten,    z.   B.  nicht    glatte    Mädchengesichter, 
regelmäßige      Gartenanlagen,      gerade       Straßen,      schöne      neue 
Häuser  usw.      Es   sind    vielmehr   diejenigen,    die    im   landläufigen 
Sinne    häßlich   genannt   werden,    z.  B.    runzlige    Gesichter,    dürre, 
vertrocknete  Bäume,  unregelmäßige  Wege,  verfallene  Hütten  usw. 
Die    Schönheit  solcher   Motive   besteht   lediglich   in   ihrer  künst- 
lerischen Darstellbarkeit,  d.h.  darin,  daß  sie,  in  die  Kunst 
übersetzt,     z.  B.    als     Flächenbild    dargestellt,     Illusion    erzeugen 
bürden.     Daneben  gibt  es  aber  noch  eine  andere  Naturschönheit, 


A']2  Konrad  Lauge:  Die  ästhetische  Illusion  und  ihre  Kritiker. 

die  \'on  ilir  scharf  zu  unterscheiden  ist.  Das  ist  die  Schönheit 
des  Gesunden,  Normalen,  Regelmäßigen  usw.,  die  Kindern  und 
künstlerisch  l^ngebildeten  gefällt.  Man  sieht  sofort,  daß  diese 
zwei  Arten  von  Schönheit  auf  zwei  ganz  verschiedenen  Einstel- 
lungen des  Bewußtseins  beruhen.  Bei  der  einen  wird  die  Natur 
nur  als  Natur  angeschaut,  d.  h.  mit  den  sinnlichen  und  praktischen 
Interessen  des  Menschen  in  Beziehung  gebracht.  Bei  der  anderen 
wird  die  Natur  nur  im  Hinblick  auf  ihre  künstlerische  Darstell- 
l)arkeit  angeschaut,  d.  h.  unwillkürlich  zur  Kunst  in  Beziehung 
gebracht. 

Wenn  also  Streiter  behauptet,  nach  meiner  Theorie  solle 
das  Schöne  in  der  Natur  es  nur  insoweit  sein,  als  man  dabei  an 
die  Kunst  denkt,  so  ist  das  falsch,  denn  er  hat  dabei  nur  die  eine 
Form  des  Naturschönen  in  meiner  Theorie  im  Auge,  während  er  die 
andere  unterdrückt.  Ich  unterscheide  aber  ganz  klar  und  deut- 
lich die  landläufige  oder  populäre  Schönheit  der  Natur,  die  auch 
Kindern  und  Ungebildeten  zugänglich  ist,  von  der  höheren  künst- 
lerischen Schönheit  der  Natur,  die  nur  der  Künstler  und  der 
künstlerisch  Gebildete  empfinden  kann.  Wenn  ich  also  sage:  Die 
Kunst  kann  auch  das  Häßliche  darstellen,  so  meine  ich  dabei 
natürlich  das  Häßliche  im  landläufigen  Sinne,  nicht  das'  Häß- 
liche im  künstlerischen  Sinne.  Denn  das,  was  liäßhch  im  künst- 
lerischen Sinne  ist,  ist  ja  künstlerisch  nicht  darstellbar.  Das 
alles  ist  vollkommen  klar  und  überdies  jedem  künstlerisch  be- 
gabten und  ästhetisch  gebildeten  Menschen  geläufig.  Welche 
Stumpfheit  und  Unempfindlichkeit  für  künstlerische  Fragen  ge- 
hört dazu,  um  alles  das  nicht  zu  verstehen,  alles  das,  wie  es  Streiter 
tut,  in  sein   Gegenteil  zu  verkehren! 

Ich  glaube  danach  bewiesen  zu  haben,  daß  die  Einwendungen 
Mcumanns  sowohl  wie  Streiters  gegen  meine  Theorie  samt 
und  sonders  unhaltbar  sind.  Ich  habe  sie  zwar  der  Sache  nach 
schon  in  der  zweiten  Auflage  des  Wesens  der  Kunst  widerlegt. 
Da  ich  aber  dort  keine  persönliche  Polemik  treiben  wollte,  ist 
der  Leser  vielleicht  über  die  Scharfsinnigkeit  und  —  Loyalität 
meiner  Gegner  nicht  so  aufgeklärt  worden,  wie  es  im  Interesse 
der  Wahrheit  wünschenswert  wäre.  Diese  Lücke  ist  im  vorher- 
gehenden,   wie    ich    hoffe,   ausgefüllt   worden. 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems. 

Von 

Prof.  Dr.  Julius  Schultz -Berlin. 

Inhaltsübersicht. 

1.  Das  parallelistische  Theorem  als  eine  von  zwei  Möglichkeiten,  das 
psychophysische  Geschehen  zu  erklären. 

2.  Es  parallel isi er t  mit  den  nervösen  Vorgängen  psychische  Vorgänge,  nicht 
deren  Inhalte.  —  3.  Inhalte  als  Abstraktionen  aus  den  Vorgängen.  —  Bechers 
Argument  gegen  den  Parallclismus.  4.  Mannigfaltigkeit  der  Inhalte  und  der 
Vorgänge.  Dricschs  und  Laskers  Argument  gegen  den  Parallelismus.  5.  Gültig- 
keit der  Inhalte.  6.  Sinn  der  Inhalte  —  und  Einsinnigkeit  des  psycho- 
physischen  Geschehens.  Liebmanns  Argument  gegen  den  Parallelismus. 
7.  Hypothesen  zur  Konstruktion  einer  leiblichen  Parallele  für  logische  Akte.  — 
Die  Logik  der  Dinge. 


Die  Grundfrage  der  Metaphysik,  die  nach  dem  Zusammenhang 
von  Leib  und  Seele,  glauben  auch  heute  noch  manche  Philosophen 
(und  sogar  Kimtschüler)  auf  wissenschaftlichem  Wege  eindeutig 
beantworten  zu  können.  Und  doch  kann  die  Erfahrung  nur  dieses 
lehren:  Mit  einigen  nervösen  Prozessen  ist  Bewußtsein  verbunden; 
mit  vielen  Bewußtseinsveränderungen  nervöse  Prozesse.  Denken 
wir  uns  die  Forschung  beliebig  weit  vorwärts  schreitend,  so  möchte 
sie  erstlich  feststellen,  daß  allen  Bewußtseinsveränderungen  ohne 
Ausnahme  ein  Geschehen  im  Gehirn  entspricht,  und  zweitens  die 
Art  dieses  Geschehens  für  jeden  einzelnen  Fall  psychischer  Regung 
klarlegen.  Das  wäre  das  Ideal;  w^äre  es  erreicht,  so  könnte  die 
psychophysische  Wissenschaft  Sabbat  feiern.  Ob  jedoch  die  funk- 
tionelle Bindungf  als  Wechselwirkung  oder  parallelistisch  zu  inter- 
pretieren wäre,  das  kann  nie  unter  eine  erdenkliche  Beobachtung 
fallen,  also  nie  wissenschaftlich  bestimmt  werden. 

Sollen  aber  ermittelte  Tatsachen  einheitlich  verstanden  werden, 
so  bedarf  es  erklärender  Annahmen,  und  sofern  diese  mit  den 
Tatsachen  sich   überhaupt  vertragen   (und   überhaupt  nur  logisch 


^-j^  Julius  Schultz: 


richtig  gebaut  sind),  sind  sie  alle  gleich  ,,\vahr",  gleich  „unwahr", 
stehen  mithin  alle  jenseits  des  Begriffsgegensatzes  „Wahr-Un-wahr", 
sind  Fiktionen  in  Vaihingers  Sinne,  denn  nur  Logik  und  „Tat- 
sachen" können  Sätze  „verifizieren". 

Von  einer  guten  Fiktion  nun  verlangt  man  fünferlei.     Zum 
ersten  muß  sie  de'n  sämtlichen  Tatsachen,   die  sie  erklären  soll, 
sich  anpassen,  sonst  ist  sie  —  nicht  ,, unwahr",  aber  ,, ungenügend". 
Eine  ungenügende  psychologische  Fiktion  ist  z.  B.  die  vom  Geiste, 
der  sich  des  Leibes  als  seines  Instrumentes  bedient;  denn  sie  deckt 
nicht  die  besonderen  Erfahrungen  der  Psychiater.     Zweitens  muß 
eine  rechtschaffene  Fiktion  das  zu  Erklärende  auch  wirklich  er- 
klären; sonst  ist  sie  ,, müßig".     Müßig  würde  ich  die  Lehre  vom 
Bewußtsein  als  einem  ,,Epiphänomenon"  der  leiblichen  Vorgänge 
nennen;  sie  stimmt  zrwar  mit  dem  wirklich  Stattfindenden  überein, 
aber  niemand,  der  sie  annimmt,  begreift  dadurch  den   Sinn  und 
das  Wesen  des  Geistigen  im  mindesten;  die  Ansicht  läßt  uns  weiter 
in  schwarze   Rätsel  starren.      Drittens:    die  richtige   Fiktion  soll 
so  einfach  sein,  wie  sich's  mit  ihrer  Aufgabe  irgend  verträgt.    Ein- 
fachheit ist  zwar  nicht  Siegel  der  Wahrheit,  wohl  aber  Adelsbrief 
der  Fiktion.     „Überlastet"  scheint  mir  der  Spinozismus  in  seiner 
echten    Form,    denn    eine    psychische    Letztwirklichkeit,    die   sich 
den  Sinnen  als  Körperlichkeit  offenbart,  ist  eine  schlichtere  An- 
nahme  als   jene    Substanz   mit    unendlich   vielen   Attributen    und 
Modi  —  und  erläutert  alles,  was  erläutert  werden  soll,  genau  so 
wohl  —  und  obendrein  genau  im  gleichen  Sinne.    Weiter,  Punkt 
vier!      Die    richtig   konstruierte    Fiktion    (in    Vaihingers    Sinne) 
muß   mit   allen   übrigen    Fiktionen   der   Erkenntniswelt   sich   ver- 
tragen;   dadurch    erst    erhält   sie   den    Rang   eines    „Theorems" 
(in   meinem    Sinne,    vgl.    meine   ,, Maschinentheorie   des    Lebens" 
[1909],    S.  iff.);    und    eben   das    ist   die   eigentliche    Aufgabe   der 
Metaphysik,  zwischen  ,, Theoremen"  und  ,, Fiktionen"  (in  meinem, 
im  engeren  Sinne)  zu  scheiden.    Eine  Fiktion  ohne  Theoremcharakter 
ist    z.  B.    der   ursprüngliche   Cartesianismus ;    er   erklärt   wohl   die 
psychophysischen     Beobachtungen    leidlich,    aber    streitet    gegen 
anfkrc    Theoreme,    die    der    allgemeinen    Lebenslehre    notwendig 
sind.  —  Endlich,  zu  fünft:  Theoreme  müssen  aus  den  unveränder- 
lichen,   unentrinnbaren,    alle    Menschen    zwingenden    Forderungen 
unserer  geistigen  Organisation  hervorwachsen,  müssen  axiomatisch 
fundiert  sein.     Diese  Bedingung  würde  beispielsweise  die  Doktrin 
von  der  prästabilierten  Harmonie,  in  den  übrigen  vier  Hinsichten 


Ein  Mißverständnis  des  parallel  istischen  Theorems.  47  5 

tadellos,  nur  schlecht  erfüllen.  —  Aber  ergeben  denn  die  Postulate 
unseres  Denkens,  auf  Erfahrung  angewendet,  auch  jederzeit  ein- 
deutig bestimmte  Theoreme?  Keineswegs!  Ihre  Folgerungen 
führen  vielfach  an  Scheidewege,  wo  die  Wahl  des  Pfades  dem 
Denker  frei  bleibt;  da  entspringen  die  Antinomien,  die  an  den 
Wurzeln  aller  Wissenschaften  zehren.  So  geht  es  auch  in  der 
Psychophysik;  ihr  metaphysisches  Urproblem  hat  eine  monistische 
und  eine  dualistische  ,, richtige"  Lösung;  kein  erdenkliches  For- 
schungsergebnis könnte  für  diese  oder  jene  je  entscheiden;  denn 
beide  Lösungen  vereinigen  sich  gleich  leicht  mit  jenem  vorweg- 
genommenen Idealerfolge  möglicher  Zukunftswissenschaft;  und 
beide  lassen  sich  aus  axiomatischen  Voraussetzungen  ableiten. 
Dem  entschlossenen  Dualisten  bleibt  die  Lehre  von  der  ewig  mit 
dem  Stoffe  in  Wechselwirkung  arbeitenden  ,,Entelechie"  erlaubt; 
dem  entschlossenen  Monisten  dagegen  diejenige  Form  des  Par- 
allelismus, die  das  Psychische  für  ,, Wesen",  das  Leibliche  für 
,, Erscheinung"  ansieht.  Das  näher  zu  begründen,  ist  hier  nicht 
der  Ort,  denn  nur  mit  einer  besonderen  Gruppe  jüngst  vorgebrachter 
Einwürfe  gegen  die  letzte  Annahme  will  ich  mich  jetzt  beschäftigen; 
anderes  Für  und  Wider  ist  von  anderen  ausführlich  genug  erörtert 
worden. 


Das  Theorem  des  parallclistischen  Psychomonismus 
zerfällt  in  folgende  Fiktionen: 

I.  Fiktion  vom  Unbewußten.  Das  psychische  Ansich 
ist  als  Sein  schlechthin  unbewußt  und  erscheint  bewußten  Anderen 
als  Leiblichkeit;  seine  Veränderungen  werden  unter  ganz  besonderen 
Bedingungen  (die  als  Nerven-  und  Hirnlebcn  erscheinen)  bewußt; 
.soweit  das  nicht  der  Fall,  sind  sie  völlig  unvorstellbar  und  müssen 
es  ewig  bleiben;  denn  ein  r.nderes  Erleben  als  das  bewußte  kennen 
wir  nicht;  und  erscheinen  kann  uns  das  unterbewußte  seelische 
Geschehen  nur  als  körperlicher  Vorgang.  —  2.  Fiktion  von 
der  zweiseitigen  Organisation.  Das  psychische  Ansich  ist 
durch  die  ganze  Welt  hin  sinnvoll  organisiert;  der  ,, Charakter" 
einer  Menschenpersönlichkeit  ist  eine  solcher  Organisationen; 
dieser  ruhende  Sinn  das  Daseins  ,, erscheint"  als  Form:  der  Elek- 
trone,  Atome,  Kristalle,  Pflanzen,  Tiere,  Planeten;  mein  geistiges 
Wesen  als  meine  organisierte  Menschengestalt.  —  3.  Fiktion 
von  der  zweiseitigen   Zusammensetzung  der   Elementar- 


Ay^  Julius  Schultz: 

prozessi'.  Mannigfaches  psychisches  Einzelgeschehcn  vereinigt 
sich  durch  Synthese  zu  stufenweise  immer  höherem  Geschehen; 
schon  die  einfachsten  Akte  des  tierischen  Bewußtseins  bilden  da 
eine  sehr  hohe  Staffel  der  Komposition,  die  des  menschlichen 
Selbstbewußtseins  die  allerhöchste  unter  den  uns  bekannten.  Das 
durch  seelische  Synthese  erzeugte  Ergebnis  vieler  gleichzeitiger 
Elementarprozesse  wird  als  unlösliche  Einheit  erlebt:  so  ist  die 
Eigenart  alles  bewußten  Erlebens.  Dem  Ansich  der  seelischen 
Synthese  entspricht  in  der  Erscheinung  die  mechanische  Sum- 
mierung körperlicher  Vorgänge  zu  Resultanten. 

Man  beachte  wohl:  Die  drei  Fiktionen  sind  nicht  etwa  will- 
kürliche Nebenannahmen  zur  parallelistischen  Lehre,  sondern  kon- 
stituieren diese  als  ihre  notwendigen  Glieder;  sie  fällt  sofort  in 
völligen  Widersinn  dahin,  wenn  man  eines  davon  wegschneidet.  • — 
Was  also  mit  den  leiblichen  Prozessen  parallelisiert  wird,  ist  ein 
Geschehen,  dessen  schlichtere  Modulationen,  uns  unausdenkbar, 
wir  als  ,, Kraftwirkungen"  oder  ,, innere  Zustände"  (Lotze)  der 
Dinge  erahnen  mögen,  dessen  reichste  Melodien  wir  bewußt  er- 
fahren. Mit  diesem  seelischen,  insbesondere  dem  bewußten  Ge- 
schehen dürfen  nun  dessen  Inhalte  nicht  verwechselt  werden. 
Aus  solcher  Verwechslung  entspringen  mißverstehende  Argumente 
gegen  den  Parallelismus,  mit  deren  Widerlegung  ich  es  zu  tun 
habe;  sie*sind  schon  widerlegt,  sobald  der  Unterschied  der  beiden 
Begriffe  wirklich  geklärt  ist. 

Der  Inhalt  eines  psychischen  Vorganges  ist  dessen  quali- 
tative Bestimmtheit.  Ist  also  Abstraktion  einer  einzelnen  Seite 
wirklichen  Geschehens. 

Wovon  sehe  ich  ab,  wenn  ich  den  Inhalt  an  einem  Bewußtseins- 
nxomente  heraushebe?  Erstens  von  dessen  lebendiger  Erlebtheit. 
Mein  Empfinden  des  Scharlachs,  meine  Wahrnehmung  dieses 
Teppichs,  meine  Vorstellung  der  Chimära,  mein  Urteilen,  daß 
^  =  3.M  •■  -,  mein  Kopfschmerz:  all  das  sind  Äußerungen  meiner 
Persönlichkeit;  so  reagiert  sie  auf  diese  und  diese  wirksam  ihr 
bt-gegncnden  Reize.  Die  Inhalte  aber  ,, Scharlach",  ,, Teppich", 
..Chimära",  ,,7r  =  3,14  .  .  .",  ,,Weh  der  und  der  Beschaffenheit" 
haben  als  Inhalte  weder  mit  Ich  und  Du  zu  schaffen  noch  mit 
den  -Anlässen,  die  ihr  Hervortreten  in  die  Erfahrung  bewirken; 
die  könnten  ganz  verschiedene  sein,  der  Inhalt  der  gleiche  bleiben; 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  477 

'  beispielsweise  bleibt  dasselbe  Scharlach  dasselbe  Scharlach,  ob 
nun  Erregung  der  Netzhaut  durch  Lichtwcllen  oder  Erregung 
der  optischen  Zentren  durch  krankhafte  Hirnaffektion  es  erzeugt. 
Der  in  sich  gleiche  hihalt  n  kann  durch  die  mannigfaltigsten 
Denkprozesse  erweckt  werden  —  bei  dir  so  gut  wie  bei  mir.  Anderer- 
seits könnte  ein  und  derselbe  Anlaß  den  verschiedensten  Inhalten 
rufen,  je  nach  der  augenblicklichen  Abstimmung  der  menschlichen 
Organisationen.  —  Die  parallelistische  Lehre  nun  bindet  leibliche 
an  seelische  Organisation,  leibliches  an  seelisches  Geschehen; 
erlaubt  mithin  für  jenes  inhaltlich  eine  .t,  jenes  inhaltlich  eine 
Scharlach  zahlreiche  Arten  körperlicher  Begleitung;  und  wieder, 
veränderliche  Zustände  des  nervösen  Systems  vorausgesetzt,  für 
zahlreiche  Inhalte  eine  einzige  Art  körperlicher  Abwandlung.  — 
Daraus  folgt,  dai3  jede  Darstellung,  die  Inhalte  Nervenprozessen 
zuordnet,  den  Parallelismus  fälscht. 

Und  das  Zw^eite  hängt  damit  zusammen.  Der  Inhalt  hat 
mit  keiner  genetischen  Betrachtung  das  Geringste  zu  tun.  Im 
Ansich  der  Seelensubstanz  könnte  etwa  folgendes  sich  ereignen 
(nach  den  drei  in  §  2  formulierten  Fiktionen),  damit  ein  geistiger 
Inhalt  höheren  Ranges,  sagen  wir  ein  mathematischer  Satz,  z.  B. 
TT  =  3,14  .  .  .,  mir  bewußt  werde:  Eine  Erinnerung  tritt  auf,  daß  • 
ich  diese  Wahrheit  einst  abgeleitet  habe;  zugleich  das  befriedigte 
Kraftgefühl:  ,,Ich  könnte"  —  die  Ableitung  wiederholen,  wenn 
ich  w'ollte;  dazu  das  optische  Bild  eines  Kreises  mit  einem  aus- 
gezeichneten Radius;  ein  Bewegungsimpuls:  den  Radius  nehmen, 
biegen,  der  Peripherie  entlang  messen;  ein  Antrieb  zum  Zählen; 
,,Eins,  zwei,  drei  —  dann  bleibt  noch  ein  Rest";  ein  Klangbild: 
,,3,14  .  .  ."  oder  eine  entsprechende  Innervationstendenz;  eine 
den  Glauben  an  die  Formel  ausdrückende  motorische  Einstellung. 
Das  wären  sieben  Elemente,  jedes  einzelne  selber  eine  hoch- 
komplizierte Synthese  in  sich  schließend.  Aber  keines  von  ihnen 
braucht  stark  genug  zu  sein,  um  vor  den  anderen  sich  hinaus- 
zuheben; flüchtig,  für  eines  Augenblickes  Dauer,  treten  sie  auf; 
alle  gleichzeitig;  und  gleichzeitige  Elemente  verschmilzt  das  Be- 
wußtsein immer  zur  Einheit.  Das  ist  noch  der  Fall,  wo  die  Teile 
sich  am  allerdeutlichsten  sondern  lassen;  ein  Rot  neben  einem 
Grün  präsentiert  sich  anders  als  dasselbe  Rot  neben  Gelb,  als 
dasselbe  Rot  isoliert;  die  psychische  Synthese  arbeitet  sogar  an 
diesen  einfachsten  Kombinationen  ,, schöpferisch"  (in  Wundts 
Sinne);   und   das   Ergebnis   wird   ein    Ganzes,   wird   also   jederzeit 


tn^  Julius  bchullz: 

zur  Einlic'il.  Die  Einheil  vollends  aus  sieben  heterogenen  Ele- 
nu-nlen,  von  denen  zwei  mehr  oder  minder  der  empfindenden, 
\icr  tler  wollenden  Tätigkeit  angehören,  während  eines  (die  Er- 
innerung) beiderlei  Tun  umfaßt  — :  diese  Einheit  läßt,  zumal 
wenn  ihre  Bestandteile  für  sich  undeutlich  und  verschwommen 
ausfallen,  keinen  davon  mehr  einzeln  erkennen;  sie  wird  zur  un- 
definierbaren ,, Bewußtseinslage",  zum  bloßen  ,, Gedanken"  an  n; 
fragt  ein  sogenannter  ,, Experimentator"  mich,  was  mir  bei  diesem 
Gedanken  denn  eigentlich  vorschwebte :  beim  besten  Willen  vermag 
ich  nichts  auszusagen  —  außer  etwa  ich  nenne  eines  oder  das 
andere  der  Elemente,  das  zufällig  ein  wenig  klarer  als  die  übrigen 
sich  darbot;  und  daß  diese  Klarheit  ein  bloßer  Zufall,  merke  ich 
alsbald;  das  Wesentliche  scheint  ein  Nichts,  das  dennoch  ein  be- 
stimmtes Etwas  sein  muß,  denn  der  Gedanke  an  ti  muß  sich 
irgendwie  doch  von  dem  Gedanken  an  r  oder  2r  •  n  unterscheiden. 

So  steht  es  nun  —  wenn  der  psychomonistische  Parallelismus 
Wert  und  Recht  behalten  soll  —  überall.  Das  Leben  der  seelischen 
Substanz  ist  ein  ins  Unendliche  mannigfaltiges  Spiel;  das  Bewußt- 
sein indessen  wird  zum  Bewußtsein  eben  durch  die  Notwendigkeit, 
gleichzeitiges  Viel  in  Eins  zu  fassen;  in  ein  neues  Eins,  aus  dem  auch 
scharfsinnige  Analyse  hinterher  selten  mehr  die  Bestandteile  reinlich 
löst.  Das  qualitative  Resultat  aber  der  schöpferischen  Synthese, 
dessen  wir  uns  als  einer  Einheit  bewußt  werden,  ist  der  ,,  Inhalt" 
des  bewußten  Vorganges.  W^ollte  nun  die  parallelistische  Lehre 
diesen  Inhalt  mit  leiblichen  Vorgängen  verkoppeln,  so  hätte  Erich 
Becher  mit  seinem  Argumente  völlig  recht:  ein  so  kompliziertes 
Geschehen  wie  ein  Prozeß  im  Großhirn  könnte  unmöglich  einem 
schlechthin  Einfachen,  wie  es  beispielsweise  ein  Ton  ist,  entsprechen 
(Gehirn  und  Seele  [iQii],  S.  354ff.;  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos. 
Krit.,  i6i,  S.  65).  Aber  natürlich:  es  entspricht  nach  unserer 
Auffassung  jenem  komplizierten  psychischen  Getriebe,  aus  dem 
die  Synthese  des  Bewußtseins  die  Einheit  allererst  schafft.  Und 
die  Synthese  selber  spiegelt  sich  im  organisierten  Zusammenwirken 
der  Gehirnteile. 

Die  Betrachtung  läßt  sich  noch  verallgemeinern.  Wovon  ich 
beim  geistigen  Vorgange  absehe,  wenn  ich  ,,  Inhalt"  sage,  ist  das 
räumliche  Hier-Dort  der  bewußten  Persönlichkeiten  und  jede 
Zeitbestimmung;  also  das  Prinzip  der  Einzelung.  Diese  Farbe, 
diese  Formel,  dieser  Satz  bleibt  als  Inhalt  ewig  der  Eine,  mit  sich 
.selber  identische;  mag  er  als  Vorgang  noch  so  oft  und  vielerorts 


Ein  Mißverständnis  des  parallelisdschen  Theorems.  47Q 

sich  wiederholen.  Seine  zerebrale  Begleiterscheinung  aber  wieder- 
holt sich  vielerorts  und  oft;  sie  hat  es  also  mit  dem  Inhalt  niemals, 
immer  nur  mit  dem  lebendigen  Prozeß  in  der  Seele  zu  tun. 


4- 

Daß  die  Mannigfaltigkeit  möglicher  Inhalte  größer  ist  als  die 
Mannigfaltigkeit  möglicher  Hirnveränderungen,  ist  jüngst  zwei 
Gegnern  der  parallelistischen  Lehre  aufgefallen,  ohne  daß  einer 
vom  anderen  wußte.  In  der  Tat:  man  braucht  nur  jede  erdenk- 
liche Hirnveränderung  selber  als  möglichen  ,,  Inhalt"  eines  Menschen- 
gedankens zu  fassen,  so  sind  durch  diese  geometrisch-mechanischen 
Inhalte  die  möglichen  leiblichen  Parallelen  gedeckt;  und  für  alle 
übrigen  Inhalte  des  Bewußtseins  bleibt  keine  Deckung  übrig. 
..Das  physische  Ding",  sagt  Hans  Driesch  (Leib  und  Seele  [1916] 
S.  74),  ,,ist  in  jedem  Falle  ein  bestimmtes  Beieinander  von  in 
ganz  wenig  Arten  zerfallenden,  vielleicht  sogar  von  gleichartigen 
Urdingen;  das  psychische  Ding  weist  eine  große  Anzahl  verschiedener 
Arten  von  psychischen  Urdingen  auf.  Und  dazu  kommt,  daß  im 
Physischen  alle  Beziehungen  zwischen  den  Urdingen,  von  ihrem 
Wirken  abgesehen,  Abwandlungen  der  Beziehung  Neben  sind, 
während  unter  den  psychischen  Letztheiten  eine  große  Fülle  ver- 
schiedenartiger Beziehlichkeiten  besteht.  .  .  .  Wie  sollte  da  das 
psychische  Ding  im  Reiche  der  physischen  Dinge  seine  Abbildung 
Ünden  können?"  Die  parallelistische  Lehre  [yy)  ,, übersieht,  daß 
die  Fülle  der  besonderen  physischen  Raumesbeziehungen  ...  im 
Psychischen  ihr  Gegenstück  auf  einem  ganz  besonderen  Einzel- 
gebiete bereits  hat,  also  nicht  als  physisches  Gegenstück  für  die 
Mannigfaltigkeit  des  Psychischen  überhaupt  gelten  kann.  Die 
Fülle  der  physischen  Raumesbeziehungen  als  eine  besondere  Art 
physischer  Mannigfaltigkeit  ist  eben  .  .  .  für  ein  Sondergebiet 
des  Psychischen  seiner  Sondermannigfaltigkeit  nach  bereits  ver- 
geben." 

Ahnlich  meint  Emanuel  Lasker  (Das  Begreifen  der  Welt 
[1913],  S.  222):  ,,daß  die  Mittel  der  Darstellung  von  Bahnen  und 
Vorgängen  durch  kausal  wirkenden  Stoff,  obwohl  sehr  mannig- 
faltig, nicht  ausreichen,  um  die  viel  umfassendere  Mannigfaltigkeit 
der  Erinnerungen  darzustellen".  (225)  ,, Betrachten  wir  die  Menge 
aller  denkbaren  Erinnerungen.  Darunter  befindet  sich  u.  a.  jedes 
beliebige  Zeichen.     Denn  das  Gehirn  könnte  sich  ja  erinnern,  ein 


tjjQ  Julius  Schultz: 

Dinc.  welches  immer,  mit  diesem  Zeichen  versehen  zu  haben."  — 
hii  folgenden  Avird  dann  ausführlich  bewiesen,  (233)  ,,daß  die 
Menge  iUlcr  kausalen  Vorgänge  der  Menge  aller  möglichen  Zeichen 
keineswegs  äquivalent  ist",  sondern  daß  die  Menge  mathematisch 
denkbarer  Zeichen  immer  größer  sein  muß  als  die  Menge  denk- 
barer verschiedener  Gehirnvorgänge.  Und  nun:  ,,Man  kann  von 
linem  Studenten  der  Mathematik  erwarten,  daß  er  sich  jedes 
linzeine  der  Zeichen  der  Menge  klar  mache,  welches  er  auch  wolle." 
-Also  hat  mindestens  jeder  Mathematiker  sehr  viel  mehr  Denk- 
möglichkeiten in  seinem  Geiste  als  Veränderungsmöglichkeiten  in 
seinem  Gehirne.  ,,Es  besteht  somit  keine  umkehrbar  eindeutige 
Beziehung  zwischen  der  Menge  der  kausalen  Prozesse  im  Gehirn 
und  jener  Menge  von  Zeichen." 

Gesetzt,  wir  Parallelisten  gäben  die  logische  Richtigkeit  der 
Erörterungen  Laskers  und  Drieschs  zu:  wir  wären  immer  noch 
nicht  geschlagen.  Wir  könnten  nämlich  ruhig  erklären,  daß  unser 
Geist  auf  keinem  Gebiete  fähig  wäre,  soviele  verschiedene  Vor- 
stellungen tatsächlich  zu  bilden  wie  ihrer  theoretisch  denkbar  sind. 
Das  Spektrum  hat  unendlich  viele  Farbnuancen;  wir  unterscheiden 
aber  nur  eine  beschränkte  Zahl;  es  gibt  beliebig  viele  verschiedene 
Rechtecke,  aber  verhältnismäßig  wenige  Unterschiede  vorstellender 
Möglichkeit;  denn  eines,  dessen  Seiten  sich  verhalten  wie,  sagen 
wir  400 :  44  sieht  mir  gleich  aus  wie  eines,  dessen  Proportion 
400:45  beträgt.  Die  Zahlenreihe  ist  unbegrenzt;  aber  bei  lOOi 
stelle  ich  kaum  etwas  anderes  vor  als  bei  1002;  nur  daß  zwei  ge- 
sonderte Wörter  die  vage  Vorstellung  der  Vielheit  begleiten.  Die 
psychische  Unterschiedsschwelle,  mit  anderen  Worten,  verhindert, 
daß  der  unserer  Seele  möglichen  Inhalte  faktisch  so  viele  sind. 
wie  die  Logik  fordert;  ihre  Zahl,  binnen  jeder  einzelnen  Mannig- 
faltigkeit im  Prinzip  grenzenlos,  ist  in  Wirklichkeit  binnen  einer 
jeden  endlich.  Während  die  möglichen  Gehirnvorgänge,  durch 
keine  Schwelle  dezimiert,  im  vollen  Wortsinne  unendlich  viele 
sind;  so  daß  die  geringere  Anzahl  ihrer  Mannigfaltigkeiten  nichts 
ausgibt. 

Indessen,  dieser  Verteidigung  bedarf  unsere  Lehre  noch  nicht 
einmal.  Wir  erkennen  die  Beweisführung  der  Widersacher  vom 
Beginne  aus  gar  nicht  an.  Denn  die  schieben  uns  den  Unsinn 
in  die  Schuhe,  als  wollten  wir  alle  Möglichkeiten  der  Inhalte 
allen  Möglichkeiten  physischer  Prozesse  zuordnen,  während  wir 
diesen  nur  die  Möglichkeiten  psychischer  Prozesse  parallelisieren; 


Ein  Mißverständnis  des  parallel  istischen  Theorems.  ^8  I 

und  die  Anzahl  möglicher  psychischer  Prozesse  hat  mit  der  An- 
zahl möglicher  Inhalte  überhaupt  nichts  zu  schaffen. 

„Überhaupt  nichts  ?  Aber  wenn  doch  jeder  besondere  psychische 
Prozeß  auf  seinen  besonderen  Inhalt  geht!.'"' 

Überhaupt  nichts.  Darum  nichts,  weil  nach  unserer  Grund- 
fiktion die  psychischen  Prozesse  zusammengesetzt  sind,  während 
die  resultierenden  Inhalte  als  einfach  sich  geben.  Wie  ich  aus 
26  Buchstaben  und  10  Ziffern  beliebig  viele  Wörter  und  Formeln 
bauen  und  mit  hunderttausend  Wörtern  beliebig  viele  Gedanken 
ausdrücken  kann,  denke  ich  aus  ein  paar  Millionen  von  verschiedenen 
elementaren  Rindenvorgängen  beliebig  viele  Parallelen  zu  ver- 
schiedenen Wahrnehmungen,  Vorstellungen,  Willensentscheidungen 
—  und  binnen  jedes  Menschenlebens  aus  höchstens  einer  Milliarde 
so  zusammengesetzter  Rindenvorgänge  beliebig  viele  Parallelen  zu 
verschiedenen  Inhalten  oberer  Staffeln  gebildet.  Den  Mannig- 
faltigkeiten aber  des  seelischen  begegnen  die  Mannigfaltigkeiten 
des  leiblichen  Lebens  also:  den  Empfindungen  entsprechen  Er- 
regungen der  Projektionsfelder  der  Sinnesorgane,  den  Elementen 
des  Willens  und  Denkens  solche  der  motorischen  Zentren.  Im 
einzelnen  läßt  sich  die  Qualität  der  Empfindung  —  vielleicht  — 
der  Form  oder  Frequenz  einer  Schwingung  innerhalb  der  Nerven- 
substanz zuordnen;  die  Intensität  alsdann  der  Stärke  der  Schwin- 
gung; die  flächenhafte  Lokalisation  der  Lage  der  Nervenenden 
in  tastender  Haut  und  in  Retina;  die  Tiefe  den  Innervationen 
des  Auges  und  der  beim  Tasten  tätigen  Muskeln;  Lückenhaftigkeit 
und  Schwäche  der  Reizung  sowie  Nichtbeteiligung  des  beim  Emp- 
finden tätigen  motorischen  Apparats  repräsentieren  den  Unter- 
schied des  Vorstellens  vom  Wahrnehmen;  Traum  und  Halluzination 
stellen  die  hiernach  geforderten  Übergänge  dar.  Für  die  leibliche 
Abbildung  der  Willensseite  der  Seele  haben  wir  drei  elementare 
Mannigfaltigkeiten  zur  Verfügung:  ein  motorisches  Zentrum  kann 
so  stark  gereizt  sein,  daß  Innervation  des  zugehörigen  Muskels 
erfolgt;  die  Innervationsschwelle  kann  unerreicht  bleiben  und 
dennoch  der  für  Gliedbewegung  zu  schwachen  Regung  in  den 
motorischen  Zellen  ein  seelischer  Vorgang  entsprechen;  endlich 
kann  die  Innervationsschwelle  zwar  überschritten  sein,  die  Be- 
wegung aber  infolge  der  Gegenwirkung  von  anderen  motorischen 
Zentren  aus  verhindert  werden.  Diese  drei  leiblichen  Mannig- 
faltigkeiten bieten  uns  die  ,, Erscheinungen"  für  die  Elemente 
zuerst  des  Willens,  zu  zweit  des  Denkens  und  der  ,,Gestaltquahtät", 

Aonalen  der  Philosophie.    I.  3^ 


^g-»  Julius  Schultz: 

ZU  dritt  der  ,,Bcwußtscinslagc".  Dies  also  die  Buchstaben  des 
Alpluibcts.  Es  gehören  aber  im  ■\\'irklichen  Leben  immer  min- 
destens zwei  zusammen:  zum  Reize  die  Reaktion,  zur  Reaktion 
der  Reiz;  jeder  zentripetale  Vorgang  im  Gehirn  fordert  seine 
zentrifugale  Ergänzung;  jede  Empfindung  ihre  motorische  Folge; 
und  so  verschmilzt  unaufhörhch  Bild  mit  Vohtion;  kein  Wahr- 
nehmen, nicht  die  flüchtigste  Vorstellung  ohne  Gesellschaft  eines 
Wollens;  aber  auch  kein  Denkakt  ohne  Vorstcllungsgrundlagc, 
und  wäre  sie  noch  so  bleich;  diese  ursprünglichste  Synthese  zwischen 
Empfängnis  und  Handlung,  der  auf  der  körperlichen  Seite  das 
Durchlaufen  eines  hochdifferenzierten  Rcflexbogens  entspricht,  be- 
deutet dem  Psychologen  dasselbe,  was  der  Erkenntnistheoretiker 
ausdrückt,  wenn  er  den  Unterschied  und  dennoch  die  immer- 
währende Einung  von  Stoff  und  Form  in  jedem  Bestandteil  unseres 
Erkcnnens  betont. 

Der  Aufbau  geht  nun  etwa  folgendermaßen  vonstatten.  Erste 
Stufe:  Reizung  einer  sensorischen  Zelle  —  Empfindungselement; 
einer  motorischen  —  Volitionselement ;  beides  unbewußt  (,,Petite 
perception").  Zweite  Stufe:  Reizung  von  Zellkomplcxen  im 
Sensorium  —  Einzelcmpfindung;  Reizungen  im  Motorium  und 
Ansätze  zu  Zuckungen  einzelner  Muskeln  oder  zu  Aderinnervationen 
in  einzelnen  Zcntraldistrikten  ■ —  Einzclvolition;  noch  unterbewußt. 
Dritte  Stufe:  Verbindung  von  zentripetaler  und  zentrifugaler 
Erregung  —  Synthese  von  Empfindung  und  Volition;  psychisches 
Element;  noch  unterbewußt.  —  Vierte  Stufe:  mehrere  Elemente 
der  dritten  Stufe  treten  zusammen;  vereinigt  sich  damit  ein  psycho- 
physischer  Prozeß,  der  der  Adaptierung  eines  Sinnesorganes  ent- 
spricht, so  entsteht  auf  seelischer  Seite  die  Wahrnehmung,  im 
anderen  Falle  die  Vorstellung,  die  ein  ,,Bild"  wird,  wenn  die  sen- 
siblen, eine  Richtungsvorstellung,  wenn  die  motorischen  Elemente 
vorwiegen;  all  das  immer  noch  unterbewußt.  —  Fünfte  Stufe: 
mit  Wahrnehmung  verschmilzt  Vorstellung  —  und  dementsprechend 
die  entsprechenden  leiblichen  Prozesse;  es  entspringt  die  elementare 
Apperzeption;  eine  mit  äußerst  zahlreichen  Vorstellungsrudimenten 
verbundene  ,,BcwußLseinslagc"  ergibt  das  Ichgefühl.  Jetzt  erst 
kann  man  von  aufdämmernder  Bewußtheit  reder.  —  Sechste 
Stufe:  die  psychophysischen  Prozesse  der  fünften  Stufe,  sehr 
energisch  eingeübt,  verlaufen  schneller  und  schneller,  daher  immer 
flürhtigcr;  es  bilden  sich  Gedankenelemente,  Gestaltqualitäten, 
Stimmungen.   —   Erst    i>.ui   der   siebenten    Stufe   der   geistigen 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  48  'l 

Synthese  einerseits,  der  Kombination  leiblicl.er  Wandlungen  anderer- 
seits kann  man  von  primitivem  geistigen  Leben  reden. 

Die  ersten  beiden  Stufen  würden  etwa  das  Seelenleben  der 
Urtiere,  die  dritte  das  der  niederen,  die  vierte  das  der  höheren 
Tierwelt  darstellen;  Stufe  fünf  führt  bis  an  die  Schwelle  des  menschen- 
kindlichen Bewußtseins,  Stufe  sechs  würde  ungefähr  unserem  dritten 
oder  vierten  Lebensjahre  entsprechen;  das  erwachte  Kind  steht 
auf  der  siebenten  Stufe. 

So  betrachtet,  wird  die  Besorgnis,  ob  auch  wohl  alle  geistigen 
Inhalte  in  leiblichem  Geschehen  ihre  ausreichende  Deckung  finden 
könnten,  der  ängstlichen  Frage  jenes  Druckcrlehrlings  gleich: 
Genügen  denn  die  paar  Lettern  hier  auch,  um  alles,  alles  zu  drucken, 
was  so  ein  Gelehrter  weiß.? 

5- 

Eine  besondere  Art  von  Inhalten  sind  die  gültigen  Urteile, 
seien  es  nun  Wertungen  oder  Wahrheiten.  Zwar,  die  all- 
gemeinen Eigenschaften  aller  Inhalte  teilen  auch  sie:  Unwirklich- 
keit,  Indifferenz  gegenüber  allen  Fragen  nach  ihrer  Genese,  Ort- 
losigkeit,  Zeitentrücktheit,  Ewigkeit.  Und  hier  heißt  es  nicht 
verwechseln:  Ein  Urteil  kann  über  den  kürzesten  Moment  des 
Weltlaufs  aussagen;  sein  Inhalt  bleibt  dennoch  unveränderlich, 
wie  er  einmal  ist;  daß  ich  in  diesem  Augenblick  den  Buchstaben 
,,B"  — nein,  jetzt  ,,u",  schreibe,  ist  für  alle  Äonen  ,, gültig".  Aber 
eben  dieses  ,, Gelten"  scheint  einen  Unterschied  gegenüber  be- 
liebigen Inhalten  auszumachen,  der  denn  auch  in  der  Parallelismus- 
frage seine  Rolle  gespielt  hat.    Was  bedeutet  das  Wort } 

Es  sagt:  Der  Inhalt  des  gültigen  Urteils  ist  von  der  urteilenden 
Einzelpersönlichkeit  unabhängig.  Und  diese  Bestimmung  wieder 
umfaßt  dreierlei.  Erstens  kommt  es  für  die  Geltung  eines  Satzes 
gar  nicht  darauf  an,  ob  er  je  ausgesprochen  wurde  oder  wird ;  eine 
nie  entdeckte  Wahrheit  bleibt  doch  Wahrheit;  ja,  eine  von  Menschen 
nie  entdeckbare  ebenfalls:  Notizen  über  die  Lebewelt  der  Sirius- 
planeten oder  die  Lösung  des  N-Körperproblems.  Wohl  findet 
sich  für  solche  Sätze  kein  Geist,  der  sie  denkt,  kein  Mund,  der  sie 
äußert;  dennoch  bestehen  sie  als  ,, Sätze  an  sich"  (Bolzano, 
Wissenschaftslehre  I  [1837]).  Wie  könnten  sie  denn  nun  Ab- 
straktionen aus  wirklich  gefällten  Urteilen  sein  ?  — •  Aber  man 
vergleiche  sie  mit  anderen  Inhalten!  Was  sollen  wir  denken 
über   einen    Geschmack,    der   nie   geschmeckt   wird    (weil   die    be- 

31* 


A^A  Julius  Schultz : 

sondere  Frucht,  die  ihn  an  sich  hat,  auf  der  Venus  wächst)  ?  Über 
einen  Affekt,  der  in  seiner  Besonderheit  nie  erlebt  wird  (weil  der 
besondere  Anbhck,  der  ihn  nährte,  nur  auf  dem  Monde  sich  böte)  ? 
Wir  würden  diese  Inhalte  unverwirklichte  und  unverwirklichbare 
Möglichkeiten  des  Fühlens  oder  Empfindens  nennen.  Nun 
gut:  machen  wir  aus  dem  ,,Satz  an  sich"  eine ,, Möglichkeit  gültigen 
Urteils",  so  haben  wir  zwar  den  Begriff  der  Gültigkeit  wieder 
ungeklärt  in  den  Händen;  aber  die  scheinbare  Seltsamkeit  einer 
Abstraktion  ohne  Gegenstand,  von  dem  abstrahiert  wird,  fällt 
dahin:  wir  lernen  einfach,  daß  der  Begriff  des  gültigen  Urteils 
neben  wirklichen  auch  mögliche  Urteile  umfaßt.  —  Aber  zweitens: 
die  Gültigkeit  des  Urteils  hängt  nicht  von  der  reaktiven,  der 
Willcnsseite  unserer  individuellen  Seelen  ab.  Ein  gültiges  Urteil 
wird  uns  vielmehr  von  den  Gegenständen  aufgenötigt:  es  ist 
,, objektiv".  Diese  Eigenschaft  teilt  es  mit  Empfindungen, 
Wahrnehmungen,  Erinnerungen;  weshalb  denn  auch  immer  wieder 
mißbräuchlich  in  derlei  Vorgänge  wahre  ,, Urteile"  hineingedeutet 
werden.  Wir  nun  halten  daran  fest:  Zum  Urteil  gehört  der  prä- 
dikative Charakter;  und  da  außerhalb  des  Urteilens  die  Begriffe 
wahr  und  unwahr  gegenstandslos  werden,  wird  eine  Wahrnehmung 
oder  Erinnerung  erst  durch  die  Foriri  möglicher  Mitteilung  wahr. 
per  ganz  isolierte  und  also  sprachlose  Einsiedler,  noch  so  hirn- 
begabt, mag  die  schönsten  Beobachtungen  machen:  seine  in- 
tuitive Erkenntnis  darf  dennoch  ,, Wahrheit"  nicht  heißen;  zur 
Wahrheit  würde  ihm  das  Ergebnis  einsamen  Schauens  erst  durch 
Selbstgespräch  (ob  auch  tonloses).  Um  gültig  sein  zu  können, 
muß  demnach  ein  Inhalt  mitteilbar  sein;  und  so  wird  Gültigkeit 
ein  sozialer  Begriff.  Mitteilung  aber  will  überzeugen;  und  gültig 
ist  jeder  Satz,  der,  in  diesem  dritten  Sinne  das  individuelle  Denken 
überfliegend,  alle  ihn  Verstehenden  zur  Anerkennung  zwingt. 
(Alle  verstehenden  Vernunftwesen  oder  alle  verstehenden  Menschen  ? 
Da  wir  kein  anderes  Vernunftwesen  als  den  Menschen  kennen, 
ist  die  vielumstrittene  Frage  eigentlich  ziemlich  sinnleer.) 

Danach  hätten  wir  die  Begriffsbestimmung  der  Gültigkeit 
gewonnen:  gültig  sind  mögliche  Urteile,  die,  persönlicher  Willkür 
entrückt,  jeden  normalen  Menschengeist  (ich  ziehe  diese  Fassung 
vor),  der  ihren  Sinn  nur  überhaupt  einsieht,  zur  Einstimmung 
nötigen.     Die  Mittel  der  Nötigung  nennen  wir  Kriterien. 

Aber  noch  bleibt  eine  Unklarheit  zurück.  Jene  unerforsch- 
b.ircn  Wahrheiten  nötigen  doch  nie  jemanden  zur  Einstimmung; 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  ^85 

denn  sie  haben  kein  Kriter.  Ich  brauchte  vorhin  mit  Fleiß  die 
harte  Wendung  von  ,,unver\Virkhchbarcn  Möghchkeiten";  sind 
nun  das  nicht  eher  „Unmöghchkeiten"  ?  Es  ist  unmöghch,  daß 
jemals  jemand  mit  Gründen  den  Sätzen  beipflichten  sollte:  im 
Erdmittelpunkte  stecke  ein  Klumpen  Platins  —  oder:  vor  gerade 
achtzig  Millionen  von  Jahren  sei  der  Saurierstamm  aus  einer 
Larvenform  entsprungen.  Und  doch  sind  entweder  diese  Sätze 
oder  ihre  kontradiktorischen  Gegensätze,  für  die  ebensowenig 
Kriterien  heranzuschaffen  wären,  notwendig  ,,wahr",  also  gültig. 
Um  unsere  Definition  der  Gültigkeit  festzuhalten  und  zugleich 
zu  säubern,  bedienen  wir  uns  hier  einer  von  mehreren  Fiktionen. 
Die  erste  ist  die  des  idealen  Beobachters  und  Denkers.  Wir 
stellen  einen  Menschen  unserer  Organisation  vor,  der  sich  aber 
in  beliebige  Zeiten  und  Räume  versetzen  könnte:  ,,Wenn  ich 
damals  gelebt  hätte  —  — ";  ,,wenn  ich  ein  Übermikroskop  be- 
säße   ";  ,,wenn  ich  im  Aldebaran  stände ":  dann  würde 

ich  den  und  den  Satz  mittels  menschlicher  Kriterien  verifizieren. 
Ein  andermal  tut  die  Fiktion,  ,,als  ob"  ihr  Modell  geistige  Zu- 
sammenhänge festhalten  könnte,  an  deren  Kompliziertheit  das 
empirisch  sich  bietende  Hirnmaterial  erschlafft.  Das  3-,  ja  das 
n-Körperproblem  ,,hat"  ja  doch  seine  Lösung,  so  gewiß  es  auf 
eine  eindeutige  Formel  hinauslaufen  muß ;  nur  vermag  kein  leben- 
diger Mathematiker  sie  zu  überschauen,  so  verwickelt  fällt  sie 
aus;  aber  unser  idealer  Mathematiker  vermag's;  ohne  daß  er  des- 
wegen aus  den  Denkformen  menschlicher  Organisation  hinaus- 
geriete. —  Die  zweite  Fiktion  ist  die  des  ,,  Bewußtseins  über- 
haupt". Wir  denken  uns,  ,,als  ob"  alle  Erdenklichkeiten  von 
BewTißtseinsinhalten  in  einem  umfassenden  Bewußtsein  verwirk- 
licht wären;  darunter  alle  Erdenkhchkeiten  gültiger  Urteile;  wie 
viele  davon  wir  armen  Einzelsubjckte  fällen  oder  verifizieren 
dürfen,  das  soll,  so  dekretieren  wir,  für  die  Wahrheitsfrage  un- 
beträchtlich sein.  Ist  jemandem  diese  Fiktion  nicht  plastisch 
genug,  so  mag  er  für  den  verschwommenen  Ausdruck  auf  gut 
platonisch  ,,Gott"  setzen.  —  Oder  endlich,  drittens:  wir  fingieren 
eine  unendliche  Aufgabe  (ohne  Aufgebenden),  deren  vorweg- 
genommene, aber  niemals  zu  erreichende  Lösung  das  System  der 
Gültigkeiten  darstellt.  Hier  werden  jene  ideellen  Möglichkeiten 
wahrer,  wiewohl  für  Menschen  unerreichbarer  Urteile  in  ideelle 
Zeitferne  geschoben;  allmählich,  mit  dem  Fortschritte  der  Wissen- 
schaften, wachsen  ihnen  ihre  Kriterien  entgegen. 


^g,^  Julius  Schultz: 

Hiernach  modifizieren  wir  unsere  Definition  und  sagen  so: 
Gültig  sind  mögliche  Urteile,  die,  persönlicher  Willkür  entrückt, 
jeden  normalen  Menschengeist,  der  ihren  Sinn  nur  überhaupt 
einsähe,  zur  Einstimmung  nötigen  würden,  wenn  er  in  der  Lage 
wäre,  alle  Kriterien,  die  Zeit,  Raum  oder  Unzulänglichkeit  des 
Gedächtnisses  und  der  Aufmerksamkeit  ihm  vorenthalten,  sich 
zu  verschaffen;  wenn  er  mit  anderen  Worten  ein  idealer  Beob- 
achter oder  ein  letzter  Abschließer  alles  erreichbaren  Menschen- 
wissens wäre  —  oder  wenn  er  sein  persönliches  zu  einem  all- 
umfassenden Bewußtsein  zu  erweitern  vermöchte. 


So  wird  die  Gültigkeit  Funktion  eines  fiktiven  Uberbewußt- 
seins;  und  dieses  hat,  selbstverständlich,  kein  Gehirn  und  kein 
Gehirnlebcn  zur  Seite.  Welche  Beziehung  kann  denn  nun  Gültig- 
keit, Wahrheit,  logischer  Zusammenhang  zu  unserem  empirischen 
Gehirnlebcn  haben  ?  Der  erste,  der  in  dieser  Frage  eine  Schwierig- 
keit für  die  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus  sah,  war, 
denke  ich,  Otto  Liebmann  (Zur  Analysis  der  Wirklichkeit  [1876], 
S.  489ff.;   Gedanken  und  Tatsachen  II   [1904],  S.  193). 

Packen  wir  das  Problem  im  einzelnen.  Ein  System  steht 
vor  unserem  Geiste,  sei  es  z.  B.  die  Ordnung  der  Säugetiere;  sind 
da  unsere  Hirnzellen  etwa  ebenfalls  zoologisch-systematisch  ge- 
ordnet wie  ein  Museum,  mit  besonderen  Vitrinen  gleichsam  für 
Vorstellungen  von  Affen,  von  Insektivoren  usw.  ?  Ich  gehe  eine 
Darstellung  römischer  Geschichte  durch:  gibt  es  dafür  im  Ge- 
hirne ein  Zellenband,  in  dem  die  Engramme  für  Romulus,  Numa, 
Tullus  bis  zum  Romulus  Augustulus  hintereinanderweg  eingetragen 
sind  und  hintereinanderweg  absurren,  gleich  den  Tönen  eines  Gram- 
mophons ?  Ich  deklamiere  ein  Gedicht :  warum  stelle  ich  die  Wörter 
nicht  beliebig  um.''  Es  könnte  doch  gar  zu  leicht  begegnen,  daß 
der  Hirnteil,  dessen  Stichw^ort  ,, Rittersmann  oder  Knapp"  lautet, 
einmal  vor  dem,  der  auf  ,,Wer  wagt  es"  hört,  einschnappt!  Ich 
denke  einen  logischen  Zusammenhang,  z.  B.  ,,3  -f  15  =  18": 
muß  nun  da  das  Gehirn  eine  Rechenmaschine  enthalten,  nach 
den  Gesetzen  der  reinen  Logik  statt  nach  denen  der  Physiologie 
gebaut,  um  die  Parallele  übernehmen  zu  können? 

Die  Verlegenheit  verschwindet  sofort  in  Rauch  und  Dunst, 
wenn    wir    uns    erinnern:    die    Inhalte   haben    mit    dem    psycho- 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  487 

physischen  ParallcHsmus  gar  nichts  zu  schaffen,  nicht  das  Alier- 
mindeste.  Nein,  unser  Nervengebäude  ist  kein  Mikrokosmus  in 
dem  Sinne,  daß  das  ganze  Weltgebäude  in  all  seinen  Anordnungen 
seine  herbarschrankhafte  Vertretung  darin  fände;  nein,  die  Zeit- 
folgen der  Wirklichkeit  liegen  da  nicht  wie  Filmstreifen  zum  Ab- 
rollen parat;  nein,  die  Logik  begegnet  da  keinem  Symbol,  wirklich 
nicht.  Sondern  die  seelischen  Vorgänge,  die  sich  auf  all  diese 
Inhalte  beziehen,  werden  von  leibhchen  gedeckt.  Es  sei  mir  ge- 
stattet, noch  ein  wenig  auszuführen,  wie  wir  uns  das  etwa  denken 
können:  eine  mehr  oder  minder  fiktive  Skizze,  die  einer  anderen 
Platz  machen  wird,  sobald  künftige  Wissenschaft  eine  andere 
nahelegt.  (Man  vergleiche  zum  folgenden  u.a.:  Spencer,  Prin- 
ciples  of  psychology,  §381;  Horwicz,  Psycholog.  Analysen  II,  l 
[  1875],  S.  82;  Stricker,  Studien  über  Assoziation  der  Vorstellungen 
[1883];  Setschenoff,  zit.  bei  Münsterberg,  Beitr.  z.  exper. 
Psych.  II  [1889],  S.  lOl;  Ribot,  Psych,  de  l'attention  [1889], 
S.  89;  Sully,  The  human  mind  [1892]  I,  S.  390;  Fouillee,  La 
psychol.  des  idees-forces  [1893];  J.  M.  Baldwin,  Die  Entwicklung 
des  Geistes  beim  Kinde  und  bei  der  Rasse  [deutsch  1898],  S.  304; 
Storch,  Versuch  einer  psychophysiolog.  Darstellung  des  Bewußt- 
seins [1902];  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum  [1905],  S.  21; 
R.Müller-Freienfels,  Arch.  f.  d.  ges.  Psych.  23  [1912],  S.334;  27 
[1913],  S.  410;  Zeitschr.  f.  Psychol.  60  [1912],  S.  390,  430; 
64  [191 3],  S.  386ff. ;  Das  Denken  und  die  Phantasie  [1916]; 
A.  Philip,  The  dynamic  foundation  of  knowledge  [1913],  S.  104; 
Nie.  Kostyleff,  Le  mecanisme  cerebral  de  la  pensee  [1914]; 
Julius   Schultz,  Arch.  f.  d.  ges.  Psych.  31    [1914],   S.  69ff.) 

Was  wir  bei  den  räumlichen,  zeitlichen,  logischen  Beziehungen, 
beim  Aussprechen  von  Konjunktionen,  Präpositionen,  Pronominen 
tatsächlich  erleben,  sind  motorische  Regungen,  Ansätze  zum  Inner- 
vieren —  nicht  etwa  kinästhetische  Empfindungen,  deren  leibliche 
Parallele  zentripetal  verläuft;  sondern  psychische  Elemente,  die 
von  zentrifugalen  Rindenprozessen  begleitet  werden.  Ich  nenne 
solche  kurz  ,,Volitionen"  und  betrachte  sie  als  die  eine  Halb- 
schicht aller  seelischen  Vorgänge  —  die  zu  der  anderen  Halb- 
schicht, der  des  Empfindens,  so  notwendig  gehört,  wie  die  Re- 
aktion zum  Reize  beim  Reflex.  (Die  angeblichen  ,, Beweise"  gegen 
das  Vorkommen  von  ,,Innervationsempfindungen"  treffen  meine 
Hypothese  gar  nicht.) 

Gegen  die  Empfindungen  charakterisieren  sich  die  Volitionen 


aSS  Julius  Schultz: 

durch  fulgendc  Merkmale.  Sie  tragen  jenen  eigenartigen,  un- 
vergleichbaren, darum  unbeschreibbaren,  aber  dem  Erlebenden 
unverkennbaren  Zug  von  Aktivität  an  sich,  der  dem  bloßen  Emp* 
findeji  mangelt;  überall,  wo  dieses  ihn  verrät,  ist  es  bereits  mit 
Volitionen  verkoppelt.  —  Sie  werden  nicht  verräumlicht,  auch 
nicht  (wie  Töne  oder  Geschmäcke)  mittelbar.  Dies  unterscheidet 
sie  ganz  scharf  von  den  Muskelempfindungen.  —  Sie  werden  nicht 
erinnert;  von  den  Empfindungen  heben  sich  deren  erinnerte  Nach- 
klänge durch  Mattigkeit  und  durch  den  Mangel  hinzutretender 
Organempfindungen  ab;  diese  fehlen  bei  den  zentrifugalem  Hirn- 
vorgang entsprechenden  Volitionen;  und  was  deren  Intensität  be- 
trifft, so  gibt  es  dafür  nur  eine  Grenzscheide:  die  stärkeren  gehen 
mit  Muskelzuckung  einher,  die  schwächeren  nur  mit  zentraler  Er- 
regung, die  unter  der  Innervationsschwelle  bleibt.  Die  Erinnerung 
an  eine  Volition  würde  also  selber  nichts  weiter  als  eine  schwache 
Volition  darstellen.  Deshalb  können  Volitionen  niemals  beob- 
achtet werden:  denn  Selbstbeobachtung  ist  nur  im  Erinnern 
möglich  (wiewohl  vielleicht  im  Erinnern  des  eben  verflossenen 
Augenblicks).  Kant  würde  sagen:  Die  Volitionen  fallen  nicht 
unter  den  ,, inneren  Sinn"  und  also  nicht  in  die  ,, Erfahrung". 
Darum  bleibt  bei  den  sogenannten  ,, Experimenten"  über  das 
Denken  die  Antwort  jedesmal  aus,  was  denn  beim  Denkakte 
eigentlichst  erlebt  werde;  und  doch  muß  notwendig  bei  jedem 
etwas  Besonderes  erlebt  werden,  denn  es  ist  ja  wirklich  ein  Unter- 
schied des  Erlebens,  ob  ich  ,,A  =  B"  oder  ,,A  =  Nicht-B"  denke, 
ob  ich  2  oder  20  im  Sinne  habe;  ob  ich  ,, durch  deine  Hilfe"  oder 
,,ohne  deine  Hilfe"  meine;  ein  Unterschied,  der  durch  Empfindungen 
nicht  gedeckt  wird;  deren  Hinzutritt  hat  etwas  Zufälliges,  wie 
alle  Dcnkpsychologen  auch  ganz  richtig  betonen. 

Nun  sind  nicht  nur  Empfindungen  mit  Empfindungen,  sondern 
ebensowohl  Empfindungen  mit  Volitionen  und  Volitionen  mit  Voli- 
tionen zu  Kdmplexen  verkettet.  Oder,  dasselbe  physiologisch  aus- 
gedrückt: Bahnen  sind  so  gut  zwischen  motorischen  und  senso- 
rischen Zentren  wie  innerhalb  der  Zentren  ,, ausgeschliffen".  Und 
in  den  ausgeschliffenen  Bahnen  verlaufen  die  Reproduktionen  dort 
wir  hier. 

Aber  ein  Unterschied  besteht  —  und  der  ist  entscheidend 
für  die  Erklärung  der  physischen  Parallele  zum  Denken.  Die 
Reproduktionen  von  Bildern  gehen  in  beliebiger  Reihenfolge  vor 
sich:  A  erinnert  an  B  —  und  ebensowohl  auch  B  an  A,  nachdem 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  489 

einmal    die    Assoziation    hergestellt    ist.      Dagegen    verlaufen    die 
Wege  von   Bild   zu   Bewegung   und   von   Bewegung  zu   Bild   ein- 
sinnig.     Daß    dies    notwendig,    zeigt    eine    einfache    Betrachtung. 
Ein  Gegenstand  soll  Signal  geworden  sein  für  einen  Griff:  so  muß 
seine  Rückkunft  diesen  Griff  herbeiführen  können;  dagegen  hätte 
es  keinerlei  vitalen   Zweck,    wenn  der  anderweitig  herbeigcfülirte 
Griff  das  ihm  ehedem  vorangegangene  Signal  wieder  ins  Bewußt- 
sein heraufzöge.    Vollends  klar  wird  die   Sache  an  den  Ketten - 
reflexen;    und    jede    kompliziertere    Bewegung    darf    als    solcher 
gelten.      Eine    Reizung   des   kinästhetischen   Zentrums    (dem   eine 
Muskelempfindung   parallel   läuft)   setzt   eine    Bewegung   in    Gang 
(welchem  Prozeß  eine  Volition  entspricht);    an  deren   Ende  liegt 
eine  neue  muskuläre  Situation;  sie  erzeugt  eine  Umstimmung  des 
kinästhetischen    Zentrums,    und    diese    reizt    zu    abermaliger    Be- 
wegung;   aber    natürlich    nicht    zu   der   bereits    abgelaufenen,    die 
ist  ja  von  der  geänderten  Lage  aus  überhaupt  nicht  mehr  möglich, 
sondern  bloß  zu  der  gerade  an  diese  Lage  sich  schließenden.    So 
übt  jedes  Tun  sich  ein:  auf  die  Stellung  a,  die  durch  eine  zentri- 
petale Meldung  A  verkündet  ward,  folgt  die  Bewegung  c/.\   darauf 
die  Stellung  h,  die  entsprechende  Meldung  B  und  nun  wieder  die 
Bewegung  ß\   in  der  Seele  entspricht  dem  eine  Abwechslung  von 
Muskelempfindungen  und  Volitionen;  in  wie  rasendem  Tempo  sich 
das  ablöst,   wird  uns  deutlich,  wenn  wir  an  irgendeine  virtuosen- 
hafte    Geschicklichkeit,    ans    Musizieren,    ans    Schreiben    —    ans 
Sprechen   denken.     Und    innerhalb    noch   der  längsten  derartigen 
Reihe   bleibt    die  Richtung   immer  streng  ein  und  dieselbe.      Ich 
nehme  an:  die  Brücken  von  den  motorischen  zu  den  sensorischen 
Zellen  verlaufen  außerhalb  der  Zentren  (als  kollaterale  Nervenäste), 
die  von  den  sensorischen  zu  den  motorischen  dagegen  unmittelbar 
von  Zelle  zu  Zelle;   und  diese  Brücken  sind  derartig  gebaut,  daß 
der   nervöse   Prozeß  sie   nur   in   einem   Sinne  beschreitet:   immer 
von  Abflutung  des  zentrifugalen  Dranges  nach  außen  zu  Iqnästhe- 
tischer   Reizung;    immer  von   kinästhetischer   Reizung  zur  ersten 
Geburt   des    Innervationsdranges.     Auch  für  den   Fall   noch   hält 
die    Anschauung    Stich,    daß   die    Innervation    nicht   wirklich    zur 
Ausführung    kommt,    denn    mindestens    eine    Strecke   weit    gegen 
den  Muskelansatz  verbreitet  sich  auch   bei   unterschwelligen   An- 
trieben zur  Bewegung  der  zentrifugale  Prozeß  und  kann  also  durch 
seitlich  verbindende  Nervenäste  von  außen  her  das  kinästhetische 
Zentrum  anregen,  wie  die  Hypothese  das  fordert. 


490 


Julius  Schultz: 


Nun  gut :  wir  halten  jeden  Gedanken  für  die  geistige  Seite 
eines  höchst  zusammengesetzten  Kettenreflcxes  und  erklären  so 
die  Eindeutigkeit  der  logischen  Wegrichtung.  Nicht  weniger  als 
vit.r  Reihen  können  dabei  einander  begleiten.  Ein  Bild  weckt 
eine  besondere. Tendenz  der  Begegnung  in  den  motorischen  Zellen, 
die  die  Körpermuskulatur  innervieren;  solcher  Ansatz  zur  Bereit- 
schaft, solche  Annäherung  an  ,, Attitüden"  reproduziert  kinästhe- 
tische  Erinnerungen  —  und  durch  sie  neue  Bilder  —  die  ihrer- 
seits neuen  Ansätzen  zur  Bewegung  rufen.  Daneben  ein  sprach- 
licher Ablauf.  Drittens  ein  ebenso  zu  deutendes  Spiel  in  der 
Innervation  der  Hirnartcricn.  Viertens  unter  Umständen  viszerale 
Alterationen.  Das  Zusammen  der  viererlei  Prozesse  werde  nun 
so  eingeübt,  daß  immer  Glied  dem  Gliede  entspricht;  und  so  blitz- 
haft schnell  verlaufe  schließlich  alles,  daß  nur  Ergebnisse  flüchtig 
der  Selbstbeobachtung  erscheinen,  die  Bestandteile  aber  des  Ge- 
schehens im  einzelnen  in  tiefste  Nacht  vergleiten. 

Wie  aber  kommt  es  denn,  daß  die  Einsinnigkeit  dieses  Er- 
lebens der  Einsinnigkeit  gerade  der  Logik  entspricht.''  —  Sehr 
einfach:  Die  sinnvollen  Reihen  sind  uns  von  frühester  Kindheit 
eingedrillt,  die  widersinnigen  uns  abgewöhnt  worden;  und  persön- 
liche Erfahrung  hat  da  weiter  gesichtet  und  gesiebt.  Es  handelt 
sich  grundsätzlich  hier  um  nichts  anderes  als  da,  wo  ein  Tier  zu 
bestimmten  Reihen  von  Handlungen  sich  dressieren  läßt.  Aber 
warum  dressiert  uns  die  Menschheit  in  Gestalt  unserer  Erzieher 
eben  zu  diesen,  nicht  zu  andersartigen  Handlungsreihen  ?  Weil 
sich  eben  diese  Äonen  hindurch  bewährt  haben  und  durch  einen 
langen  Selektionsprozeß  ausgeworfclt  sind.  Vergleichen,  identifi- 
zieren, verursächlichen:  das  sind  Gewohnheiten,  auf  Eindrücke 
zu  reagieren  —  wie  Nestbau  und  Brutpflege,  nur  daß  bei  jenen 
die  sichtbaren  Gliederbewegungen  ausbleiben  und  daß  sie  tausend- 
mal verwickelter  sind,  tausendmal  größere  Geschwindigkeiten  im 
Umher  von  Motion  zu  Kinästhese  entwickeln.- 

Einsinnige,  für  die  Erhaltung  und  Entfaltung  der  Art  not- 
wendige Abläufe  im  Hirne  also  entsprechen  einsinnigem  Gedanken- 
erleben; beides  aber  der  aus  diesem  Erleben  abstrahierten  Logik 
oder  Wertgeltung  gcradesowenig  wie  überhaupt  das  lebendige 
Bewußtsem  den  aus  ihm  abstrahierten  Inhalten.  Genau  wie  die 
kittende  Tätigkeit  der  Bienen  zu  der  kunstvollen  Geometrie  der 
Wabe  —  wie  die  Flugbewegungen  der  wilden  Gänse  zum  regulären 
Dreieck  ihres  Wanderzuges  —  wie  die   Griffe  der  Maskenkrabbe 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  ^gi 

zur  sinnvollen  Larvierung:  verhalten  sich  die  gereihten  Abläufe 
im  Menschengehirn  —  und  die  ihnen  parallelen  Serien  \on  psy- 
chischen Elementarprozessen  zu  dem  logisch  oder  ästhetisch  ge- 
ordneten Resultat,  das  als  der  „Inhalt"  ihrer  Gesamtheit  sich 
ergibt.  Auf  die  Frage,  ob  das  Gehirn  denn  eine  nach  logischen 
statt  einer  nach  physiologischen  Gesetzen  konstruierten  Maschine 
sei,  antworten  wir  mit  der  Gegenfrage:  ob  etwa  ein  tierischer 
Bauinstinkt  aus  den  Prinzipien  der  Ästhetik  statt  aus  denen  der 
Biologie  hergeleitet  werden  solle.  Und  auf  die  andere  Frage: 
was  motorische  Elemente  mit  Gedankeninhalten  zu  schaffen  hätten, 
setzen  wir  die  Antwort :  so  viel  und  so  wenig  wie  Buchstaben  mit 
dem  Sinne  der  Texte,  die  aus  diesen  Buchstaben  komponiert  sind. 


7. 

Ein  paar  Beispiele,  um  noch  deutlicher  zu  sein.  Wohlverstanden, 
ich  gebe  Parallelen,  die  bestehen  könnten;  es  wäre  Überhebung, 
auch  nur  ernstlich  zu  vermuten,  sie  beständen  wirklich;  denn  was 
wissen  wir  von  den  Einzelheiten  des  Gehirnlebens }  Unter  diesem 
Vorbehalt  gelte  folgende  Liste  logischer  Elemcntarvorgänge  und 
ihrer  Begleitungen.  Wer  sie  recht  interpretieren  will,  darf  nur  eines 
nicht  vergessen :  daß  bei  aller  Begriffsbildung  die  Begleitung  des 
seelischen  Vorganges  durchs  Sprechen  eine  Hauptrolle  spielt; 
überall  im  folgenden  denke  man  Erregungen  der  Sprechzentren 
einerseits,  Wortbilder  andererseits  neben  dem  ausgemalten  psy- 
chischen Geschehen  herlaufend.  Die  Universalia  sind  wirklich 
,, Flatus  vocis". 

I.  Physische  Seite:  Die  Symphonie  der  bei  einem  Prozeß 
beteiligten  nervösen  Elemente,  die  Bahnleitung,  die  Bereitschaft 
der  Zellen  zur  Tätigkeit,  die  Blutversorgung  der  betroffenen  Zentren, 
geht  leicht  vonstatten  oder  ist  erschwert.  Psychische  Seite  (in 
der  Hauptsache  dem  neunten  Sinne,  dem  ,,Gemeingeführ'  an- 
gehörend): lustbetonte  Empfindung  von  Erleichterung  oder  unlust- 
betonte Empfindung  von  Schwierigkeit;  Bekanntheit-  oder  Un- 
bekanntheitqualität (vgl.  H.  Hoff  ding,  ,, Psychologie  in  Umrissen" 
[2.  Aufl.,  1893];  meine  ,, Psychologie  der  Axiome"  [1899]).  Lo- 
gischer Inhalt:  Gleich-Ungleich.  Nichts,  was  der  Kategorie 
Gleich-Ungleich  entspricht,  geht  im  Gehirne  vor;  aber  auch  nicht 
in  der  Seele;  so  wenig,  wie  dem  Bilde  eines  Hundes  eine  hunde- 
ähnlichc    Seelentätigkeit   oder   ein   Hundephotogramm   in   der   op- 


^Q2  Julius  Schultz: 

tischen  Rinde  entspricht;  sondern  das,  was  wir  beim  Wortsignal 
,,gleicli"  tatsächHch  cr](ahrcn,  ist  jenes  eigene  Erleichterungsgefühl 
und  dem  antwortet  die  leibliche  Parallele. 

2.  Physische  Seite:  Erregung  eines  Hirnteiles  versetzt 
einen  anderen  in  einen  kommende  Erregung  vorbereitenden  Zu- 
stand; die  sekundäre  Erregung  tritt  entweder  wirklich  ein  oder 
bleibt  aus,  so  daß  ein  bereits  begonnenes  Geschehen  rückgängig 
gemacht  wird.  Psychische  Seite:  lustbetonte  Empfindung  er- 
füllter und  unlustbetonte  Empfindung  unerfüllter  Erwartung;  ge- 
glückte oder  mißlungene  ,, Induktion".  Logischer  Inhalt: 
,, Voraussage  eingetroffen!"  —  oder  nicht. 

3.  Physische  Seite:  Eine  lange  Kette  äußerst  schwacher 
Reflexe  läuft  ab;  und  zwar,  da  sie  sehr  gut  eingeübt  ist,  ungemein 
schnell,  mit  Überspringung  oder  bloßer  Andeutung  vieler  Glieder; 
fast  augenblicks  wird  sie  abgebrochen;  dabei  bleiben  alle  oder 
fast  alle  motorischen  Impulse  unterhalb  der  Innervationsschwelle. 
Psychische  Seite:  ,,Möglichkeitsgeführ'  (s.  meine  ,, Psych,  der 
Axiome");  d.  h.  Erlebnis:  ,,Ich  könnte"  —  die  Kette  nämlich 
ausführlich  und  unter  klarem  Bewußtsein  all  ihrer  Ringe  repro- 
duzieren. Darauf  beruht  das  ,, Verstehen"  eines  Zusammenhanges; 
ich  blicke  in  ein  Buch;  ein  Wort  dient  als  Signal;  eine  Serie  von 
Vorstellungen  und  Volitionen  will  sich  abrollen;  aber  sie  kommt 
gar  nicht  erst  zur  Entfaltung;  ich  empfinde  nur:  ,,Das  läuft!" 
Also  — aha!  —  ,,ich  weiß  schon,  ich  weiß!"  Und  weiter!  Logi- 
scher Inhalt:  ,,Das  ist  klar." 

4.  Physische  Seite:  Ein  im  Zentrum  auftauchender  Anreiz 
setzt  eine  leibliche  Bereitschaft  zur  passenden  Reaktion  in  Gang  — 
mag  sie  nun  bis  zur  wirksamen  Innervation  gedeihen  oder  nicht. 
Psychische  Seite:  Ich  nehme  die  Haltung  an,  als  ob  ich  irgend- 
ein Benehmen  einer  Vorstellung  gegenüber  nötig  hätte  —  und 
wäre  es  auch  nur  im  Namen  eines  Längstverstorbenen  oder  Künf- 
tigen, in  den  ich  mich  hineinversetze.  Ich  nehme  mit  anderen 
Worten  die  Haltung  an,  als  ob  der  Vorstellung  ein  Wirkhches 
entspräche.      Logischer    Inhalt:    Ich   ,, glaube"   die   Vorstellung, 

Ich  ,, urteile". 

5.  Physische  Seite:  Zwei  Bereitschaften  der  Art  4  heben 
sich  gegenseitig  auf  —  es  tendiere  beispielsweise  die  eine  zum 
V(»rdringcn,  die  andere  zum  Rückzug.  Sie  treten  hart  hinter- 
einander ein,  folgen  einander  immer  schneller  und  schneller,  bis 
der   Moment   kommt,   wo   die  eine  die  andere   unmöglich   macht. 


Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems.  493 

Ein  abermaliger  Prozeß  der  Art  4  tritt  hinzu,  nebst  den  entsprechen- 
den Erregungen  des  Wortzentrums.  Psychische  Seite:  Die  Un- 
verträghchkeit  eines  Widerspruchs  wird  empfunden,  unter  Unlust- 
gefühl.     Logischer  Inhalt:  Der  Widerspruchssatz. 

6.  a)  Urerlebnis.  Physische  Seite:  Verschiedene  optische 
und  akustische  Reizungen  werden  verbunden  mit  zwei,  dann  drei, 
dann  vier  .  .  .  motorischen  Impulsen;  weitere  Reizungen  des  aku- 
stischen und  des  motorischen  Wortzentrums  gesellen  sich  hinzu; 
die  ganze  Verbindung  wird  eingeübt.  Psychische  Seite:  Die 
Wortsighale  ,,zwei  Äpfel",  ,,zwei  Strümpfe",  ,,zwei  Punkte"  — 
,, drei  Äpfel"  usw.  werden  geläufig,  b)  Zweites  Stadium.  Phy- 
sische Seite:  Die  motorischen  Impulse  treten  auch  ohne  die 
in  a)  sie  veranlassenden  optischen  und  akustischen  Reizungen 
auf;  der  in  3.  skizzierte  Vorgang  gesellt  sich  dazu  und  ersetzt  zum 
Teil  die  Reizungen  der  Wortzentren.  Psychische  Seite:  Die 
Zahlnamen  lösen  sich  allmählich  von  bestimmten  Vorstellungen 
gezählter  Gegenstände  und  werden  zu  Begriffen;  das  eigentliche 
Zählen  wird  eingeübt,  c)  Drittes  Stadium.  Physische  Seite: 
Vier  motorische  Impulse,  dann  nochmals,  dann  nochmals  vier 
werden  mit  optischen  Reizungen  verbunden ;  diese  mit  einer  laufenden 
Reihe  von  zwölf  motorischen  Impulsen;  Reizung  eines  der  Wort- 
zentren tritt  dazu;  und  ein  Vorgang  von  der  4.  beschriebenen  Art. 
Psychische  Seite:  Die  drei  Vierergruppen  werden  (vielleicht 
sehr  dämmrig)  als  Punktreihen  oder  ähnlich  geschaut,  gezählt, 
das  Identitätsurteil  ,,3-4=12"  gelernt,  d)  Viertes  Stadium. 
Physische  und  psychische  Seite  nach  l.  und  3.  zu  inter- 
pretieren. Der  Satz  wird  geläufig  und  damit  zur  ,, Einheit",  ver- 
wendbar als  Baustein  für  höhere  Bauten. 

Ist  nun  das  Gehirn  deswegen  Rechenmaschine  geworden  oder 
nach  logischen  (statt  nach  physiologischen)  Rezepten  konstruiert? 
Nicht  im  mindesten.  Es  ist  vielmehr  eine  Maschine  für  Reflexe 
und  Verkettung  von  Reflexen;  soweit  aber  solche  sich  häufigen 
Anreizen  gegenüber  bewähren,  werden  sie  zu  Gewohnheiten;  und 
diesen  leiblichen  Gewohnheiten  entsprechen  geistige.  Nun  be- 
währen sich  nur  diejenigen  Hirnvorgänge,  deren  psychische  Par- 
allelen logische  Inhalte  haben;  man  mag  sich  deren  Aussiebung 
unter  allem  möglichen  nervösen  Geschehen  nach  Jennings'  ,,Tri- 
alanderror"-Modell  malen  (Journ.of  exp.  Zoology  3  [1906],  S.  449). 
Folglich  ist  das  Hirn  nicht  auf  logisches  Denken  hin  von  vorn- 
herein   gebaut,    sondern    auf    Denkverbindungen    überhaupt;    nur 


404        Julius  Schultz:  Ein  Mißverständnis  des  parallelistischen  Theorems, 

daß  die  nichtlogischcn  im  Lebenslaufe  teils  der  Art  und  Ri.sse,  teils 
der  Individuen  sich  selber  ausmerzen.  Kraft  der  wählenden  Logik 
<ier  Dinge. 

Wo  aber  steckt  denn  die  Logik  der  Dinge.-* 

Im  geistigen  Sinne  des  Alls.  Um  den  freilich  kommen  wir 
nicht  herum,  wenn  wir  Parallelisten  bleiben  wollen.  Der  orga- 
nisierte Leib  als  Parallele  der  Seele;  und  die  Weltseele,  die  un- 
sägliche, unendliche,  umfassende  als  Parallele  eines  sinnvollen 
Weltorganismus:  so  gehören  die  Theoreme  zusammen.  Lassen 
wir  nun  das  Zusammengehörige  nicht  auseinanderflattern,  so  wird 
die  Generalfiktion  gut,  ein  echtes  und  rechtes  Grundtheorem; 
grenzenlos  modifizierbar  durch  fortschreitende  Wissenschaft;  aber 
ihren  Stamm  wird  keine  rivalisierende  Fiktion  je  erschüttern  können. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen 

Philosophie. 

Eine  Studie  über  den  elften  Band  der  neuen  Gesamtansgabe  der  Werke 
Schopenhaners  („Genesis  des  Systems"). 

Von 

Karl  Gjellerup. 

Inhaltsübersicht. 

Der  II.  Band  der  interessanteste  Teil  der  großen  Ausgabe.  —  Nichterfüllte 
Erwartungen.  —  Fehlen  des  ersten  Stadiums  (Göttinger  Aufzeichnungen).  —  Cha- 
rakter jener  Aphorismen.  —  „Das  bessere  Bewußtsein."  —  Von  diesem  BegriflF 
zu  dem  der  Verneinung  des  Willens  zum  Leben.  —  Die  Willensmetaphysik  am 
Anfange  des  Journals  nicht  vorhanden.  —  Etappenstation:  „Der  Leib  der  sichtbar 
gewordene  Wille."  —  Durchbruch  (Sommer  1814).  —  Die  Verneinung  (negative 
Bezeichnung,  keine  Umwertung).  —  Verhältnis  zu  Kants  Kategorienlehre.  —  Zum 
Kantischen  Als  Ob.  —  Zu  Kants  Ding  an  sich.  —  Schlußbetrachtung. 

Als  im  Juni  191 6  die  Schopenhauer- Gesellschaft  in  Dresden 
tagte,  überreichte  bei  dem  feierlichen  Empfang  in  der  Aula  der 
Technischen  Hochschule  Geheimrat  Professor  Paul  Deussen  den 
Vertretern  der  Königlichen  sowie  der  Städtischen  BibHotheken, 
ferner  dem  Rektor  der  Technischen  Hochschule  sowie  dem  Be- 
gründer und  Geschäftsführer  der  Kant- Gesellschaft  je  ein  Exemplar 
des  soeben  erschienenen  elften  Bandes  der  unter  seinen  Auspizien 
entstehenden  großen  Gesamtausgabe  der  Werke  Schopenhauers 
(Piper  &  Co.,  München). 

Von  diesem  imponierenden  Monumentalwerke  dürfte  dieser 
nach  mehr  als  jahrelangem  Warten  endlich  herausgegebene  Band 
in  einem  gewissen  Sinne  der  interessanteste  Teil  sein,  insofern,  als 
sein  Inhalt  in  seiner  Gesamtheit  völlig  neu  ist  —  abgesehen  nämlich 
von  einzelnen  Paragraphen,  die  in  recht  willkürlicher  Auswahl  und 
ohne  Ordnung  von  Frauenstädt  veröffentlicht,  von  Grisebach 
im  vierten  Nachlaßband  abgedruckt  sind.  Dies  gilt  nun  freilich 
auch  von  den  schon  vor  Jahren  herausgegebenen  Bänden  IX  und  X, 
welche  die  Vorlesungen  Schopenhauers  enthalten.     Allein  diese 


aqS  Karl  Gjellerup: 

Vorlesungen  (.ntstammcn  den  allerersten  Jahren  nach  dem  Er- 
scheinen des  Hauptwerkes  und  decken  sich  demnach,  wiewohl 
ausführlicher  in  der  Darstellung^),  inhaltlich  so  ziemlich  mit  diesem. 
Die  Aufzeichnungen  des  vorliegenden  Bandes  hingegen  rühren 
von  den  letzten  sechs  Jahren  vor  dem  Hauptwerke  her  und  sind 
die  Vorarbeiten  zu  dieser  entscheidenden  Leistung.  Daher  der 
Titel  ,,Die  Genesis  des  Systems".  „Wir  können  hier",  sagt  der 
Herausgeber  (Prof.  Dcussen),  ,, schrittweise  verfolgen,  wie 
Schopenhauer  von  Stufe  zu  Stufe  fortgeschritten  ist,  wie  sich 
im  Geiste  des  Philosophen  die  Gedanken  nach  und  nach  gestaltet 
haben  und  zu  einem  System  zusammengewachsen  sind."  Auch 
der  Bearbeiter,  Erich  Hochstetter,  der  mit  der  peinhchen 
philologischen  Genauigkeit,  welche  diese  ganze  Gesamtausgabe  zu 
einem  Musterwerke  ihrer  Art  macht,  eine  ungemein  schwierige 
Aufgabe  gelöst  hat,  spricht  in  den  Vorbemerkungen  es  aus,  daß 
diese  Manuskripte  uns  einen  Einblick  in  die  Genesis  des  Systems 
gewähren.  Ihnen  schließt  sich  Schopenhauer  selber  an  mit 
folgenden,  im  Jahre  1849  niedergeschriebenen  Worten:  ,, Diese  zu 
Dresden  in  den  Jahren  1814 — 18  geschriebenen  Bogen  zeigen  den 
Gärungsprozeß  meines  Denkens,  aus  dem  damals  meine  ganze 
Philosophie  hervorging,  sich  nach  und  nach  daraus  hervorhebend, 
wie  aus  dem  Morgenncbel  eine  schöne  Gegend.  Bemerkenswert 
ist  dabei,  daß  schon  im  Jahre  1814  (meinem  27.  Jahre)  alle  Dogmen 
meines  Systems,  sogar  die  untergeordneten,  sich  feststellen." 

Hierdurch  könnten  nun  allerdings  in  einer  Richtung  Er- 
wartungen geweckt  werden,  die  durch  die  Lesung  des  Werkes 
nicht  ganz  erfüllt  werden.  Die  Vorstellung  liegt  nahe,  daß  man 
in  den  ersten  Jahrgängen  dieses  philosophischen  Tagebuches  einen 
anderen  Schopenhauer  werde  kennen  lernen,  als  derjenige,  der 
uns  in  ,,Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  begegnet,  und  zwar 
einen  weniger  entschiedenen  Pessimisten  —  da  ein  entschiedenerer 
doch  kaum  zu  erwarten  ist.  Ja,  diese  Vorstellung  ist  um  so  be- 
rechtigter, als  es  jedem,  der  sich  eingehender  mit  Schopenhauer 
und  seiner  Entwicklung  beschäftigt  hat,  bekannt  genug  ist,  daß 
der  Hauptbegriff  seiner  Lehre,  ,,die  Verneinung  des  Willens  zum 
I-eben",  ursprünglich  bei  ihm  unter  dem  viel  versöhnlicher  klingen- 
den Namen  ,,das  bessere  Bewußtsein"  auftrat. 

Mehr  noch:  Diese  Annahme  findet  eine  starke  Stütze  in  dem 

)  Und  abgesehen  von  einzelnen  Exkursen,  wie  die  glänzende,  hundert  Seiten 
umfaisendc  Darstellung  der  formellen  Logik. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  407 

Umstände,  daß  wir  in  den  ersten  philosophischen  Gedanken 
Schopenhauers,  die  sich  schon  von  den  Göttinger  Studenten- 
tagen herschreiben,  und  welche  Gwinner  in  der  Biographie 
(später  auch  Grisebach  in  der  seinigen)  mitgeteilt  hat,  ein  Do- 
kument besitzen,  aus  dem  wir  ein  solches  Stadium  seiner  Ent- 
wicklung zu  erkennen  vermögen. 

In  jenen  Aufzeichnungen  meint  der  junge  Schopenhauer, 
aller  Trost  der  Philosophie  liefe  darauf  hinaus,  daß  eine  Geistes- 
welt ist,  und  daß  wir  in  derselben  allen  Erscheinungen  der  Außen- 
welt ,,von  einem  erhabenen  Sitz  mit  größter  Ruhe  und  ohne  Teil- 
nahme zusehen  können,  wenn  unser  der  Körperwelt  gehörende 
Teil  auch  noch  so  sehr  in  ihr  herumgerissen  wird".  Wenn  wir  nun 
hier  einerseits  schon  die  echt  Schopenhauersche  Lehre  von 
dem  reinen  Subjekt  des  Erkennens  vorgebildet  finden,  die  sich 
im  Zeichen  der  Upanishads  entwickeln  sollte,  so  gemahnt  jedoch 
die  Ausdrucksweise  (,,eine  Geisterw^elt"  usw.)  vielmehr  an  eine 
metaphysische  Licblingsvorstellung  Kants,  die  sich  nicht  etwa 
nur  in  dessen  vorkritischer  Periode  findet,  da  er  noch  am  Schluß 
der  achtziger  Jahre  Swedenborgs  Lehre  von  der  Doppelwelt 
(einer  Geisterwelt  und  einer  materiellen),  der  das  menschliche 
Wesen  gleichzeitig  angehört,  eine  ,, erhabene"  nennt.  Die  Be- 
merkung, tief  im  Menschen  liege  das  Vertrauen,  daß  etwas  außer 
ihm  sich  seiner  bewußt  ist  wie  er  selber,  ja  das  Gegenteil  sei  ein 
schrecklicher  Gedanke,  hat  noch  einen  wesentlich  theistischen 
Anstrich,  womit  freilich  nicht  gesagt  sein  soll,  daß  durch  dies 
,, etwas"  ein  persönlicher  Gott  gemeint  wäre;  nur  ist  der  Stimmungs- 
gehalt noch  in  dieser  Richtung  orientiert.  Über  die  Tragödie 
äußert  er,  daß  ein  Gefühl,  das  uns  viel  näher  liegt  als  die  Speku- 
lation der  Vernunft,  uns  sagt,  daß  alle  unsere  Not  eigentlich  gar 
keine  ist,  sondern  nur  ein  Bild  eines  in  der  Ewigkeit  vorhandenen 
wirklichen  Übels.  „Dies  Bild  macht  eben  das  Trauerspiel  deutlich." 
Von  diesem  ,, ursprünglichen,  positiven  Übel  (die  Schuld  der  Welt)" 
wird  auch  in  einem  anderen  Bruchstücke  gesprochen:  Die  große 
Masse  der  Übel  in  der  Welt  entstehe  dadurch,  daß  jenes  ursprüng- 
liche Übel  durch  egoistisches  Weiterschieben  vermehrt  werde.  Denn 
das  Leiden,  welches  ich  von  mir  weg  und  auf  einen  anderen  schiebe, 
werde  dadurch  vergrößert  (wie,  ist  nicht  recht  ersichtlich).  Nur 
durch  freiwilliges  Aufladen  und  Ansichziehen  des  Übels  werde  es 
zur  möglichsten,  vielleicht  unendlichen  Verringerung  gelangen  und 
so  das  Reich  Gottes  kommen. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3^ 


AQi^  Karl  Gjellerup: 

Diese  Lehre-  vf)n  einem  metaphysischen  Übel  und  Weltschuld, 
vun  der  es  rein  platonisch  heißt,  daß  wir  sie  durch  innere  An- 
schauung erkennen  „oder  uns  erinnern",  mutet  mehr  Hartmannisch 
als  Sehopenhauerisch  an,  ist  wohl  aber  am  besten  als  christlich- 
gnostisch  zu  bezeichnen;  wobei  nicht  einmal  besonderes  Gewicht 
auf  den  theistisch  klingenden  Ausdruck  ,,das  Reich  Gottes"  z\i 
legen  ist.  Diesen  finden  wir  auch  in  unserem  Band,  nur  ein  paar 
Jahre  später,  als  Synonym  des  Moralgesetzes  (,,der  große  Unter- 
schied zwischen  äußerem  und  innerem  Gesetz  [Staat  und  Reich 
Gottes]").  —  Ganz  in  dieser  Richtung  zeigt  auch  die  Bemerkung, 
wir  müssen  angesichts  dieser  Welt  neben  dem  guten  Willen  einem 
bösen  Willen  Gewalt  zugestehen,  der  jenen  zu  Umwegen  zwingt. 
Das  bedeutendste  dieser  Gedankenfragmente  des  Göttinger  Studen- 
ten und  zugleich  das,  womit  er  das  tiefste  Problem  seiner  späteren 
Philosophie  mit  großer  Klarheit  faßt  und  formuliert,  dürfte  das 
folgende  sein:  ,,0b  wohl  dieses  Leben  nur  für  dieses  Leben  Weisheit 
erwecken  könne,  d.  h.  ob  die  Änderungen,  die  mein  Wille  durch 
die  Tiaidevatg  des  Lebens  in  seinem  innersten  Grunde,  gleichviel, 
ob  zum  Bösen  oder  zum  Guten,  erleidet,  meinen  Willen  doch  nur 
bestimmen,  insofern  diese  Sinnenwelt  seine  Sphäre  ist;  oder  ob 
jene  Änderungen  mein  ganzes  unendliches  Dasein  mitempfindet, 
und  folglich  die  Endlichkeit  kausal  wird  für  die  Unendlichkeit, 
wie  umgekehrt  bei  jeder  tugendhaften  Handlung  die  Unendlich- 
keit kausal  wird  für  die  Endlichkeit?  Nehmen  wir  es  nicht  an, 
so  fragt  sich:  Wozu  das  Possenspiel  der  Welt?" 

Wir  sehen  in  diesen  Aphorismen  des  Studenten  eine  kleine, 
in  sich  ziemlich  zusammenhängende  Gedankenwelt  ihren  Umrissen 
nach  andeutungsweise  punktiert.  Sie  berührt  sich  überall  mit 
der  späteren  großen  ,,Welt  als  Wille  und  Vorstellung",  jedoch  so, 
daß  sie  sich  dadurch  auch  von  ihr  abgrenzt.  Sehr  bezeichnend 
ist  es,  daß  die  drei  großen  Probleme,  die  auch  später  seine  Philo- 
sophie beherrschen,  schon  hier  den  Zwanzigjährigen  beschäftigen: 
die  ästhetische  Frage  der  Tragödie,  die  ethische  der  selbstlosen 
Handlung,  die  religiöse  der  Heiligkeit.  Die  Fassung,  womit  er 
ihnen  beizukommen  versucht,  liegt  auch  schon  auf  der  Linie  der 
späteren  Durchfülirung,  ist  jedoch  noch  weit  entfernt  von  der 
schroffen  Negativismus,  der  den  fertigen  Philosophen  auszeichnet. 
Die  Möglichkeit  eines  ganz  anderen  Schopenhauer  liegt  dort 
noch  embryonisch  bereit,  günstiger  Lebensbedingungen  gewärtig. 
Bekanntlich  ist  es  nicht  dazu  gekommen,  und  sicher  ist  die  Philo- 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  4QQ 

Sophie  damit  am  besten  gefahren.  Da  die  Echtheit  jener  Auf- 
zeichnungen nicht  anzuzweifeln  ist  und  ihre  Bedeutung  ebenso- 
wenig, so  ist  es  nicht  recht  ersichtlich,  warum  sie  nicht  am  An- 
fange dieses  Bandes,  wo  sie  durchaus  hingehören,  ihren  Platz 
gefunden  haben.  Sie  würden  dort  ein  würdiges  Portal  gebildet 
und  die  Vertiefung  der  Perspektive  gebracht  haben,  die  —  wenig- 
stens in  solcher  Ausstreckung  —  jetzt  dem  Bilde  fehlt. 

Eine  höchst  wichtige  negative  Eigenschaft  zeichnet  jene  Göt- 
tingen-Aphorismen aus:  der  Ausdruck,  der  das  Schiboleth  für 
die  nächste  Phase  seiner  Entwicklung  ist,  jenes  ,, bessere  Bewußt- 
sein", fehlt  hier.  Wenn  der  Student  sich  über  die  Wirkung  der 
Tragödie  notiert:  ,,Wir  sollen  nicht  grünen  und  blühen  wie  die 
Pflanzen  der  Erde:  das  sagt  uns  jedes  Trauerspiel;  also  wohl  etwas 
Besseres,  sagt  sich  der  Zuschauer,  und  sieht  mit  Genuß  zertrümmert 
alles,  was  ihm  oft  das  Wünschenswerteste  schien"  —  so  würde 
er  ein  paar  Jahre  später  nicht  versäumt  haben,  zu  bemerken,  daß 
es  ,,das  bessere  Bewußtsein"  ist,   das  im  Zuschauer  also  spricht. 

Das  neue  Schlagwort  begegnet  uns  zum  erstenmal  auf  der 
8.  Seite  des  ersten  Berliner  Bogens  (i8l2,  dem  ein  paar  undatierte 
Bogen  vorausgehen),  wobei  es  sofort  als  ein  bekannter  Ausdruck 
auftritt.  In  einem  Zusatz  heißt  es:  ,,In  Jacobis  Göttlichen 
Dingen,  p.  i8,  findet  sich  eine  Vermischung  des  besseren  Bewußt- 
seins mit  dem  Instinkt,  durch  einen  Synkretismus,  dessen  nur 
ein  so  unphilosophischer  Geist  als  Jacobi  fähig  ist."  In  dem 
3.  Band  der  Gesamtausgabe  der  Werke  Jacobis,  der  mir  zu- 
gänglich ist,  kann  diese  Hinweisung  nicht  mit  Bestimmtheit  veri- 
fiziert werden;  sicher  ist  es,  daß  Jakobi  den  Ausdruck  in  dieser 
Schrift  nicht  gebraucht;  er  spricht  aber  in  verschiedenen  Wen- 
dungen von  etwas  anderem  als  die  Natur,  das  im  Menschen  da 
ist  und  sich  zeigt  als  ein  Höheres,  Übersinnliches  und  Übernatür- 
liches, und  von  dem  Bewußtsein  eines  Vermögens  und  eines  Triebes, 
sich  über  alles,  was  bloß  Natur  ist,  zu  erheben  (S.  272 — 273). 
Schopenhauer  scheint  also  doch  diesen  Ausdruck  selber  geprägt 
zu  haben,  und  zwar  im  Anschluß  an  seinen  geliebten  Plato,  von 
welchem  er  §  346  sagt:  ,,Er  würdigt  die  Welt  und  das  Leben  als 
etwas  Nichtiges  und  Leeres  herab,  spricht  von  einem  anderen 
Bewußtsein"  (vgl.:  ,,eine  andere  und  bessere  Welt"). 

Im  Verhältnis  zu  seiner  klassischen  Nachfolgerin,  der  Ver- 
neinung, klingt  dieser  Ausdruck  recht  positiv  und  scheint  so  ziemlich 
auf  den  metaphysischen  Standpunkt  der  Göttinger  Zeit  zu  passen. 

3=" 


CQQ  Karl  Gjellerup: 

Immerlun  gebärdet  sich  dieser  Begriff  jedoch  radikaler  und  in- 
tninsigenter,  als  man  es  dem  Wortlaut  nach  erwarten  konnte; 
im  ganzen  deckt  er  das  Übergangsstadium,  das  jedoch  der  voll- 
endeten Schopenhauerschen  Philosophie  näher  steht  als  jenem 
Göttinger  Präludium,  wie  es  ja  auch  in  unserem  Bande  unmittelbar 
in  dieselbe  einmündet.  Jede  Vermittlung  zwischen  den  beiden 
Sphären,  dem  besseren  Bewußtsein  und  dem  empirischen,  wird 
rigoristisch  abgewiesen:  eine  mathematische  Linie  ohne  Breite 
trennt  sie;  es  läßt  sich  auf  dieser  Grenze  nicht  wandeln;  haben 
wir  das  eine  Gebiet  betreten,  so  haben  wir  das  andere  verlassen; 
zu  verbinden  ist  nichts,  nur  zu  wählen   (§  184  und  öfters). 

Mitunter  freilich  werden  auch  Saiten  aufgezogen,  die  noch 
stark  an  die  Göttinger  Stimmungen  gemahnen.  So  heißt  es  einmal 
in  1813  ((im  §61,  S.  31):  ,, Meine  Hoffnung  und  Glaube  ist,  daß 
dieses  bessere  (übersinnlich  außerzeitliche)  Bewußtsein  mein  einziges 
werden  wird."  Darum,  fügt  er  charakteristisch  hinzu,  hoffe  ich, 
es  ist  kein  Gott  (weil  nämlich  ,, dieses  Bewußtsein  mich  in  eine 
Welt  erhebt,  wo  es  keine  Persönlichkeit  gibt").  Will  man  den 
Ausdruck  Gott  für  dies  Bewußtsein  ,, symbolisch"  gebrauchen, 
so  möge  man  das  tun  —  ,,doch,  dächte  ich,  nicht  unter  Philosophen". 
Und  ein  wenig  später  (noch  in  demselben  Jahre)  heißt  es,  wenn 
dies  Bewußtsein  die  Oberhand  habe,  sehne  man  sich  nach  dem 
Tode;  denn  ,,es  freut  sich  mit  Recht  auf  die  Lösung  des  geheimnis- 
vollen Bandes,  durch  welches  es  mit  dem  empirischen  Bewußt- 
sein in  die  Identität  eines  Ichs  verknüpft  ist".  Denn  ,,das  Zeit- 
liche in  uns  gehört  der  Zeit  und  muß  in  ihr  vergehen.  Nur  das 
Ewige  kann  durch  Selbstbejahung,  das  ist  Tugend,  sich  retten. 
Durch  vollkommene  Askese  würde  sogar  das  Menschengeschlecht 
aussterben,  das  bessere  Bewußtsein  sich  also  rein  affirmieren." 
Wie  sehr  nun  auch  der  letzte  Satz  an  Schopenhauers  spätere 
Ausführungen  erinnert,  so  ist  es  doch  auffallend,  daß  hier  sowohl 
wie  an  mehreren  ähnlichen  Stellen  schon  der  Tod  als  solcher  als 
Erlöser  auftritt.  Der  tragische  Riß  klafft  noch  nicht  heraus,  die 
tiefernste  religiös-ethische  Forderung  des  Brechens  des  natür- 
lichen Willens  steht  noch  nicht  gebieterisch  im  Vordergrunde, 
wenn  sie  sich  auch  schon  am  Anfange  dieses  Journals  nicht  un- 
deutlich ankündigt:  ,,Es  ist  entsetzlich  zu  denken:  Du  kannst 
nicht  Geistesruhe  haben,  wenn  du  nicht  entschlossen  bist,  nötigen- 
falls dich  und  d.  h.  alle  Natur  für  dich  zu  zerstöhren"  (§27).  Weil 
aber   das    Ganze   wesentlich    auf    intellektuelle    Basis    gestellt   ist, 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  cqi 

vollzieht  sich  die  Bewegung  in  glätteren  Bahnen.  Die  ästhetische 
Seite  des  besseren  Bewußtseins  hat  noch  das  Übergewicht  über 
die  ethische.  „Der  gewöhnliche  Mensch",  bemerkt  er  einmal  sehr 
charakteristisch,  ,, betrachtet  das  Leben  nur  von  der  moralischen 
Seite  ernstlich;  den  genialen  hingegen  spricht  mehr  die  ästhetische 
Seite  an:  "durch  das  ihm  überall  entgegentretende  Alltägliche 
und  Gemeine  wird  ihm  das  Leben  zur  Last,  er  empfindet  den 
Druck  der  Atmosphäre  und  blickt  aufwärts  nach  Freiheit.  Ihm 
ist  die  Erlösung  gleichsam  zum  voraus  beigegeben,  wie  der  Edel- 
mann das  porte-epee  in  der  Wiege  erhält." 

Hier  hat  Schopenhauers  Stimme  noch  einen  etwas  anderen 
Klang,  als  sie  später  annahm;  die  Atmosphäre  ist  mehr  platonisch, 
weniger  buddhistisch  und  auch  weniger  christlich  (paulinisch)  als 
in  den  Hauptwerken. 

Als  Leitfaden  zur  Verfolgung  des  Entwicklungsganges  der 
Schopenhauerschen  Philosophie  in  dieser  entscheidenden  Periode 
bietet  sich  nun  von  selber  die  Linie  dar,  die  durch  die  beiden  Namen 
desselben,  nur  wenig  modifizierten  Hauptbegriffes,  ,,das  bessere 
Bewußtsein"  und  ,, Verneinung  des  Willens  zum  Leben", 
als  Endpunkte  bezeichnet  wird. 

Es  ist  nun  von  vornherein  klar,  daß  der  letztere  Name  den 
deutlich  festgestellten  und  benannten  Lehrbegriff  ,,der  Wille  zum 
Leben"  und  damit  die  ganze  Schopenhauersche  Willensmeta- 
physik zur  Voraussetzung  hat.  Somit  entsteht  die  Frage,  ob  diese 
schon  am  Anfange  der  Bewegung  vorhanden,  also  schon  in  den 
ersten  Bogen  unseres  Bandes  zu  finden  ist  ?  Und  wenn  nicht, 
wo  und  wie  sie  sich  zuerst  zeigt,  und  wo  sie  vollendet  und  bewußt 
dasteht  ? 

Die  erste  Frage  ist  nun  ganz  bestimmt  zu  verneinen.  Zwar 
könnte  man  wohl  versucht  sein,  schon  in  §  5  (erstem  undatierten 
Bogen)  in  dem  Satze,  daß  die  Begebenheiten  der  Welt  keine  Re- 
alität haben  anders  als  durch  den  Willen,  den  sie  bezeichnen,  eine 
Spur  der  Willensmetaphysik  zu  entdecken;  aber  erstens  zeigt  eine 
genauere  Betrachtung  des  Kontextes,  daß  davon  kaum  die  Rede 
sein  kann;  zweitens  handelt  es  sich  sogar  um  einen  Zusatz,  der 
also  bestenfalls  nichts  beweisen  würde.  Nicht  viel  anders  steht 
es  mit  §24  (zweiter  Bogen  des  Jahres  1812): 

,, Zwischen  den  beiden  grundverschiedenen  Kräften  des  Men- 
schen, die  Kant  fälschlich,  sie  für  zwei  Äußerungen  derselben 
Fähigkeit   haltend,    durch   denselben   generischen    Namen   vereint, 


CQ2  Karl  Gjellciup: 

und  thcorctist  hc  und  praktische  Vernunft  genannt  hat,  ist 
der  liauptunterschied  \vohl  der,  daß  jene  durch  das  Leben  der 
Menschen  bedingt  ist,  diese  nicht." 

Nehmen  wir  nun  an,  daß  Schopenhauer  hier  als  den  rich- 
tigen Namen  der  ,, fälschlich"  getauften  praktischen  Vernunft 
,, Charakter"  oder  geradezu  ,, Wille"  bezeichnet  hätte,  so  ist  nun 
hier  zwar  gesagt,  daß  dieser  nicht  durch  das  Leben  bedingt  sei; 
was  freilich,  da  es  sich  doch  jedenfalls  um  den  intelligiblen  Charakter 
(Willen)  handelt,  ohne  weiteres  einleuchtet;  es  ist  aber  nicht  gesagt, 
daß  das  Leben  durch  ihn  und  zwar  ausschließlich  durch  ihn  be- 
dingt sei.  Erst  dadurch  würden  wir  uns  aber  auf  dem  Wege 
'/ur  Willensmetaphysik  befinden,  jedoch  —  da  es  noch  ganz 
im  individuellen  Kreise  bleibt  —  eben  doch  auch  nur  auf  dem 
Wege. 

Dieser  Schritt  wird  zwei  Jahre  später  in  §  139  unternommen: 
.,Das  Leben  ist  das  Sichtbarwerden  des  intelligiblen  Charakters". 
Wenn  nun  auch  diese  Stelle  sich  ganz  innerhalb  des  Individuellen 
hält  und  wenn  dieser  Satz  auch  eigentlich  bloß  die  charaktero- 
logischc  Absicht  hat,  zu  zeigen,  daß  der  intelligible  Charakter 
sich  ini  Leben  nicht  ändert  (wohl  aber  außer  demselben,  infolge 
der  durch  dies  gegebenen  Selbsterkenntnis),  so  können  wir  in 
derselben  doch  einen  merklichen  Fortschritt  in  der  Richtung  der 
Willensmetaphysik  erkennen.  Dieser  kann  uns  um  so  weniger 
wundernehmen,  als  wir  uns  hier  (Anfang  1814  in  Weimar)  sowieso 
schon  im  Vorhof  ihres  Tempels  befinden,  indem  wir  dem  ruhigen 
Gang  unserer  Untersuchung  vorausgeeilt  sind. 

Wenn  wir  jedoch,  diese  wieder  aufnehmend,  uns  nach  dem 
Gegenstück  des  besseren  Bewußtseins  umsehen,  in  der  Erwartung, 
;ils  seinem  Antagonisten  einem  sich  bejahenden  Lebenswillen  zu 
begegnen,  so  werden  wir  enttäuscht.  Statt  seiner  stellen  sich 
lauter  Intellektualbestimmungen  ein:  die  Vernunft  (§  15),  das 
dem  Satze  vom  Grunde  folgende  empirische  Bewußtsein,  der  in 
der  Sinnlichkeit  gefangene  Verstand.  In  §  27,  über  die  Natur- 
j)hilosophen,  heißt  es,  freilich  müsse  es  ,,ein  schönes  Gerät  sein, 
mit  dem  das  große  Experiment  des  Lebens  —  was  auch  das  Leben 
sei  —  gemacht  werden  konnte".  Der  Verfasser  ist  also  selber 
noch  nicht  im  Besitze  des  Rätselwortes  der  Sphinx  gegenüber. 
Von  der  Natur  —  eben  diesem  Gerät  —  heißt  es  aber  dann,  sie 
sei  als  das  schlechthin  Notwendige  eben  der  Gegensatz  des 
Willens,  ,,der  irren  können  muß".     Der  Begriff  des  Willens  ist 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerscheu  Philosophie.  503 

somit   hier   für    Schopenhauer   ganz  selbstverständlich   auf  den 
bewußten  Willen  beschränkt. 

Ein  wichtiges  argunmiUiui  e  silentio  bietet  uns  §  38  über  den 
Selbstmord.  Dieser  sei  deshalb  verwerflich,  weil  der  Selbstmörder 
durch  seine  Tat  zeigt,  daß  er  das  Leben  als  Ernst  nimmt  und  sich 
als  ein  meauvais  joueur  zeigt.  Das  Argument,  daß  er  nur  die  Er- 
scheinung des  Willens,  nicht  diesen  selbst  treffe,  und  somit  nichts 
Wesentliches  erreiche,  liegt  also  dem  Verfasser  noch  ganz  fern. 

In  §  41  wird  Seele  =  Bewußtsein  (anstatt  =  Wille)  gesetzt. 
Laut  dem  59.  Paragraphen  hat  ,,die  WV^lt  (d.  h.  unser  empirisches, 
sinnliches,  verständiges  Bewußtsein  in  Raum  und  Zeit)  ihr  Ent- 
stehen nur  durch  das,  was  nach  dem  Ausspruch  unseres  besseren 
Bewußtseins  nicht  sein  sollte,  sondern  die  verkehrte  Richtung  ist". 
Was  dasjenige,  das  hier  nur  negativ  bezeichnet  wird  (als  das,  was 
nicht ^sein  sollte,)  —  jene  metaphysische  Wurzel  der  Welt  • — 
positiv  ausgedrückt  heißt,  weiß  der  Verfasser  noch  nicht  (wie 
er  dies  später  weiß),  ansonst  er  mit  seinem  Wissen  nicht  zurück- 
gehalten hätte. 

In  dem  höchst  interessanten  71.  Paragraphen  rücken  wir  nun 
aber  der   Beantwortung  jener  Frage  um  ein   Bedeutendes  näher. 

Schopenhauer  macht  hier  die  Bemerkung,  daß  an  den 
Tagen  und  Stunden,  wo  der  Trieb  zur  Wollust  am  stärksten  ist, 
auch  das  bessere  Bewußtsein  zur  höchsten  Tätigkeit  bereit  ist. 
Er  stellt  deshalb  diese  beiden  als  entgegengesetzte  Pole  einander 
gegenüber.  Da  nun  der  Wollusttrieb  offenbar  der  Brennpunkt 
des  Lebenswillens  ist,  so  haben  wir  hier  den  ersten  Anlauf,  dem 
,, besseren  Bewußtsein"  einen  positiven  Gegner  zu  geben,  und  zwar 
einen  solchen,  der  nicht  der  intellektuellen,  sondern  der  Willens- 
scite  unserer  Natur  angehört,  und  sie  als  zwei  entgegengesetzte 
Prinzipien  einander  gegenüberzustellen,  die  zwar  voneinander 
nicht  wissen,  von  welchen  jedoch  die  Vernunft  ,, historische 
Kenntnis  hat,  wodurch  die  Wahl,  d.  h.  die  Freiheit  möglich  ist. 
Die  dadurch  bedingte  Änderung,  der  Übergang  vom  Reich  der 
Finsternis  ins  Reich  des  Lichtes  ist  unendlich  schwer  und  un- 
endlich leicht"  —  was  durch  ein  schönes,  dichterisches  Symbol 
veranschaulicht  wird. 

Und  hier  schließt  sich  nun  ein  Zusatz  an,  der  für  uns,  die  wir 
auf  der  Suche  des  Willens  sind,  höchst  bedeutungsvoll  und  ver- 
heißungsreich khngt: 

,, Wollen!  großes  Wort!    Zunge  in  der  Wage  des  Weltgerichts! 


-Qi  Karl  Gjellerup: 

Brüikc  zwisclKü  Ilinimel  und  Hölle!  Vernunft  ist  nicht  das  Licht, 
das  aus  dem  Hinimel  glänzt,  sondern  nur  ein  Wegweiser,  den  wir 
selbst  hinstellen,  nach  dem  gewählten  Ziel  ihn  richtend,  daß  er 
die  Richtung  zeige,  wenn  das  Ziel  selbst  sich  verbirgt.  Aber 
richten   kann  man  ihn  nach  der  Hülle  wie  nach  dem  Himmel." 

IsJingt  dies  nun  als  ein  chorus  mysticus  aus  dem  Allerheiligsten 
des  Tempels  uns  entgegen,  so  mutet  uns  das  unmittelbar  folgende 
Stück,  der  ergreifende  literar-biographische  Monolog,  fast  als  ein 
Beethovensches  Gebet  an:  ^. Unter  meinen  Händen  und  viel  mehr 
in  meinem  Geiste  erwächst  ein  Werk,  eine  Philosophie,  die  Ethik 
und  Metaphysik  in  Einem  sein  soll,  da  man  sie  bisher  trennte, 
so  fälschlich  als  den  Menschen  in  Seele  und  Körper.  Das  Werk 
wächst,  konkresziert  allmählich  und  langsam  wie  das  Kind  im 
Mutterleibe:  ich  weiß  nicht,  was  zuerst  und  was  zuletzt  entstanden 
ist,  wie  beim  Kind  im  Mutterleibe:  ich,  der  ich  hier  sitze  und  den 
meine  Freunde  kennen,  begreife  das  Entstehen  des  Werkes  nicht, 
wie  die  Mutter  nicht  das  des  Kindes  in  ihrem  Leibe  begreift.  Ich 
seh'  es  an  und  spreche  wie  die  Mutter:  Ich  bin  mit  Frucht  gesegnet. 
.  .  .  Zufall,  Beherrscher  dieser  Sinnenwelt!  laß  mich  leben  und 
Ruhe  haben  noch  wenige  Jahre!  denn  ich  liebe  mein  Werk  wie 
(iie  Mutter  ihr  Kind:  wenn  es  reif  und  geboren  sein  wird:  dann 
übe  dein  Recht  an  mir  und  nimm  Zinse  des  Aufschubs.  —  Gehe 
ich  aber  früher  unter  in  dieser  eisernen  Zeit-^),  oh,  so  mögen  diese 
unreifen  Anfänge,  diese  meine  Studien,  der  Welt  gegeben  werden 
Avie  sie  sind  und  als  was  sie  sind :  dereinst  erscheint  vielleicht  ein 
verwandter  Geist,  der  die  Glieder  zusammenzusetzen  versteht  und 
die  Antike  restauriert." 

Würde  man  nun  voraussetzen,  daß,  als  diese  literarisch  so 
iiochwichtige  Stelle  niedergeschrieben  wurde,  doch  gewiß  die  Haupt - 
lehre  dieses  Systems,  eben  die  Willensmetaphysik  schon  klar 
konzipiert  sein  müsse,  so  zeigt  sich  dies  als  ein  Irrtum.  Wir  be- 
finden uns  noch  bei  den  Vorarbeiten  zur  Dissertation,  in  welcher 
ja  auch  von  dem  Hauptdogma  sich  noch  keine  Spur  findet.  Diese 
nehmen  die  nächsten  Bogen  in  Anspruch.  Danach  wird  dann 
mit  den  alten  Begriffen  —  den  beiden  Bewußtseinen  —  weiter 
(«periert.  §76  fragt  nach  der  Relation  zwischen  beiden:  wie  es 
zu  einem  empirischen  Bewußtsein  je  habe  kommen  können.  Die 
Frage  wird  als  transzendent  abgewiesen.     Die  Relation  selber  ist 

»)  1813. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  505 

ein  transzendentaler,  aber  unvermeidlicher  Schein  und  wird  vom 
Sündenfall  mythisch  ausgedrückt.  Auch  §  79  beschäftigt  sich 
mit  dem  „unerklärbaren  Bestehen  des  zeitlichen  Bewußtseins 
neben  dem  besseren",  welches  durch  vollkommene,  allgemein 
geübte  Askese  nicht  mehr  statthaben,  das  bessere  sich  also  rein 
affirmieren  würde. 

Als  Basis  des  Lebens  wird  im  89.  Paragraphen  die  Lange- 
weile, das  Leere,  Öde,  das  uns  bisweilen  in  der  Einsamkeit  über- 
fällt, bestimmt.  Eine  andere  Basis  kann  das  Leben  nicht  haben, 
da  es  selbst  nur  ist  durch  einen  Mißgriff,  Fehltritt,  durch  das, 
was  nicht  sein  sollte.  Die  völlige  Diversität  beider  Bewußtseins 
wird  im  108.  Paragraphen  scharf  hervorgehoben:  Auf  dem  harten 
Boden  des  empirischen  Bewußtseins  verläßt  uns  das  bessere  wie 
der  Priester  den  Hinzurichtenden  am  Schafott;  der  übernächste 
bringt  ein  schönes  Bild  (Orchesterklänge  vor  dem  Anfang  des 
Musikstückes)  vom  bruchstückweisen,  ahnungweckenden  Herein- 
tönen eines  Seligkeitszustandes. 

Daß  wir  uns  noch  innerhalb  des  Intellektuellen  befinden, 
zeigt  uns  §  124  durch  seine  Erklärung,  meine  Endlichkeit  be- 
stehe nicht  darin,  daß  ich  einen  Leib,  sondern  ursprünglich  darin, 
daß  ich  einen  Verstand  habe.  Dagegen  wirkt  es  als  eine  Lüftung 
aus  entgegengesetzter  Himmelsrichtung,  wenn  es  im  vorhergehenden 
(übrigens  im  Zeichen  der  beiden  Bewußtseine  stehenden)  Para- 
graphen heißt:  ,, Zeitliches  Dasein  wollen  und  immerfort  wollen, 
ist  Leben." 

Ein  ganzer,  segclschwellender  Luftstoß  aus  dieser  Richtung 
erfolgt  dann  bald  in  jenen,  schon  oben  besprochenen  Worten  des 
139.  Paragraphen:  ,,Das  Leben  ist  das  Sichtbarwerden  des  intel- 
ligiblen  Charakters."  Von  hier  aus  ist  nur  ein  Schritt  zu  der 
wichtigsten  Etappe  auf  dieser  ganzen  Wegstrecke. 

Aber  noch  bevor  er  geschieht,  ist  eine  kleine  Bemerkung  zu 
notieren,  die  sogar  über  diese  Etappe  hinausweist:  Wir  haben, 
heißt  es  (§  157),  eigentlich  nichts  anderes  zu  tun,  als  die  Plato-, 
nische  Idee  des  Ganzen  des  Lebens  zu  erfassen  und  zu  entscheiden, 
ob  wir  dies  Ganze  wollen  oder  nicht.  ,, Diese  Wahl  ist  das  einzige, 
was  wirklich  vorgeht."  Das  Gewicht  ist  hier  von  dem  Intellektuellen 
auf  die  Willensseite  übergegangen. 

In  §  171  erreichen  wir  dann  jene  Etappenstation:  ,,Der  Leib 
ist  nichts   als  der  sichtbar  gewordene  Wille." 

Dieser   ,, Hauptsatz  meiner   Philosophie",   wie  ihn    Schopen- 


CQ^  Karl  Gjellerup: 

haucr  nennt,  enthält  zwar  noch  beileibe  nicht  die  eigentliche 
WiUcnsmctaphysik.  Er  hat  aber  eine  Bewegung  in  sich,  die  mit 
innerer  Notwendigkeit  über  ihn  selber  und  mitten  in  jene  hinein- 
führt. Isoliert  ist  jener  Satz  nämlich  völlig  unhaltbar.  Das  Aus- 
strecken meines  Armes  ist  nur  die  Sichtbarkeit  meines  Willens 
zum  Armausstrecken.  Aber  mein  Arm  ist  paralysiert,  und  trotz 
meinem  Willen  streckt  er  sich  nicht  aus.  Nun  zu  sagen,  ich  ,, wolle 
nicht  wirklich",  ist  die  reinste  petitio  principii.  Carpenter  erzählt 
in  seiner  Physiologie  von  einem  Manne,  bei  dem  die  sensorische 
Nervenverbindung  vom  Bein  zum  Gehirn  unterbrochen  war.  Auf 
einen  äußeren  Reiz  hin  erfolgte  Reflexbewegung  im  Beine.  Be- 
fragt, ob  er  es  fühle,  antwortete  der  Mann  so  naiv  wie  richtig: 
,,Ich  nicht,  aber  Sie  sehen,  daß  mein  Bein  es  tut."  Ebenso  müßte 
der  Paralysierte  hier  antworten:  ,,Ich  will  zwar,  aber  mein  Arm 
will  nicht."  In  dem  Satze:  ,,Mein  Leib  ist  mein  sichtbar  gewordener 
Wille",  liegt  die  Zweideutigkeit  in  ,,mein",  wodurch  nach  gewöhn- 
licher Ausdrucksweise  die  Angehürigkcit  an  das  Subjekt  des  Gehirn- 
bewußtseins ausgesagt  wird.  Nun  gibt  es  aber  auch  das  Willens- 
subjekt des  ,, Sonnengeflechtes";  jede  Verbindung  von  Gefühlsnerv, 
Bewegungsnerv  und  Ganglion  ist  wiederum  ein  solches;  es  gibt 
ein  ganzes  System  von  einander  überlagerten  Individuen  in  jedem 
Leibe,  ja  schließlich  gibt  es  so  viele  Willen  wie  Zellen.  Erst  wenn 
alles  dies  in  dem  ,,mein"  einbefaßt  wird,  und  dann  die  Willens- 
metaphysik hinzutritt,  mit  der  Erklärung,  daß  die  ganze  orga- 
nische Welt  (denn  von  der  unorganischen  kann  in  diesem  Zusammen- 
hang abgesehen  werden)  nur  Objektivation  des  Willens  sei:  dann 
ist  jener  Satz  (von  dem  gew^ollt  ungenauen  Effektausdruck  ,, Sicht- 
barkeit"^) abgesehen)  allerdings  richtig;  besagt  dann  aber  auch 
gar  nichts  mehr  als  was  die  Willensmetaphysik  schon  gesagt  hat. 
Er  unterliegt  also  der  Fatalität,  entweder  unhaltbar  oder  nichts- 
sagend zu  sein.*) 

')  Es  ist  höchst  charakteristisch,  daß  Schopenhauer  zuerst  an  jener  Stelle 
(§  '7  0  geschrieben  hatte:  „der  Objekt  gewordene  Wille";  dann  aber  diesen  rich- 
tigen Ausdruck  durchgestrichen  und  den  ungenauen  ;, sichtbar  gewordene"  ein- 
gesetzt, der  seiner  Lieblingsvorstellung  von  der  Traunihaftigkeit  des  Lebens  mehr 
Vorschub  leistet. 

•)  Die  Sclbstbewegung  dieses  Gedankenganges  hat  Schopenhauer  auch 
selber  später  in  Parcrga  (I,  §  12,  Deussens  Gesamtausgabe  IV,  S.  89,  34  ff.)  kurz 
jngcdcutct.  Die  Kantischc  Lehre,  daß  das  Wesen,  welches  sowohl  den  Körpern 
als  d«n  Seelen  zum  Grunde  liegt,  an  sich  selbst  gar  wohl  eines  und  dasselbe  sein 
n.aj,  ..bahnte  mir  den  Weg  zu  der  Einsicht,  daß  der  eigene  Leib  eines  jeden  nur 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie. 


0^/ 


Somit  muß,  wer  diesen  Satz  aufstellt,  notwendigerweise  zur 
eigentlichen  Willensmetaphysik  fortschreiten. 

Dies  tut  denn  Schopenhauer  auch  sehr  bald,  indem  es  in 
§  193  heißt:  ,,Das  Wollen,  dessen  Objektivierung  oder  Erscheinung 
die  W>lt  ist."  Einige  Monate  später  findet  sich  dann  auch  der 
neue  terminus  technicus  ein,  und  zwar  sofort  mit  der  echt  Schopen- 
hauerschen Wendung  (§253):  ,,Dem  Willen  zum  Leben  ist  das 
Leben  immer  gewiß;  denn  es  ist  nichts  als  jener  Wille  selbst,  oder 
vielmehr  nur  sein  Spiegel."  Da  es  sich  jedoch  auch  hier  lediglich 
um  die  individuelle  Linie  handeln  könnte,  ist  es  von  Wichtigkeit, 
daß  schon  vier  Seiten  weiter  hin  (§  258)  ausdrückhch  gesagt  wird: 
,,Die  Welt  als  Ding  an  sich  ist  ein  großer  Wille,  der  nicht  weiß, 
was  er  will;  denn  er  weiß  nicht,  sondern  will  bloß,  eben  weil  er 
ein  Wille  ist  und  nichts  anderes."  Und  es  wird  hinzugefügt:  ,,Da 
ich  selber  jene  Identität  (des  Subjekts  des  Erkennens  und  des 
Subjekts  des  Wollens)  bin,  kann  ich  mit  gleicher  Wahrheit  sagen: 
Die  Welt  ist  meine  Vorstellung:  und  die  Welt  ist  lauter  Wille." 

Der  Titel  des  Hauptwerkes  ist  schon  vorausgegriffen. 

Da  nun  in  den  ersten  Dresdener  Bogen  immer  nur  vom  in- 
dividuellen Willen  und  vom  Leib  die  Rede  war,  kann  man  als 
den  Zeitpunkt  für  den  Durchbruch  der  Willensmetaphysik  bei 
Schopenhauer  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  Grenze  zwischen 
Frühjahr  und  Sommer  181 4  feststellen. 

Und  nun  geschieht  es  hier,  wie  wenn  ein  Schiff  beim  Lavieren 
über  Stag  geht.  Es  legt  sich  auf  die  andere  Seite  und  segelt  mit 
demselben  Winde  in  entgegengesetzter  Richtung,  und  doch,  genau 
betrachtet,  eigentlich  in  derselben  Richtung,  denn  es  steuert  noch 
immer  dem  alten  Ziele  zu. 

Schopenhauer  war  vom  metaphysischen  Sein  ausgegangen, 
vom  Ewigen,  vom  „Reiche  Gottes",  vom  Frieden  Gottes  (S.  loi), 
von  dem,  wovon  das  bessere  Bewußtsein  spricht  —  lauter  positive 
Bezeichnungen.  Sein  Gegensatz,  das  Empirische,  wird  demgemäß 
negativ,  als  Irrung,  Fehltritt,  Abfall  vom  wahren  Sein,  ja  als  das, 
was  nicht  sein  sollte,  bestimmt.  Nun  ist  der  junge  Philosoph 
diesem  Nichtseinsollenden  auf  den  Leib  gerückt,  um  zu  sehen, 
was  es  denn,  abgesehen  davon,  daß  es  nicht  sein  sollte,  eigentlich 
ist.    Er  findet,  daß  es  durch  und  durch  Wille  zum  Leben  ist.    Damit 

die  in  seinem  Gehirn  entstehende  Anschauung  seines  Willens  ist,  welches  Verhältnis 
sodann,  auf  alle  Körper  ausgedehnt,  die  Auflösung  der  Welt  in  Wille  und  Vorstellung 
ergab. 


-Qg  Karl  Gjellenip: 

ist  (.s  }x»sitiv  bestimmt  worden,  und  von  diesem  Standpunkt  aus 
muß  nun  ilas  vorherige  Positive,  das  Ewige,  neu  betrachtet,  neu 
benannt  werden,  wenn  auch  die  Wertung  dieselbe  bleibt.  So  wird 
CS  ntgativ,  und  zwar  voluntaristisch-ncgativ  bestimmt,  als  Wcn- 
dunL;,  Aufhebung  eben  dieses  Lebenswillens. 

Es  ist  eine  wichtige  Erkenntnis,  die  durch  unseren  Band  sehr 
gefördert  wird,  daß  die  scheinbare  Negativität  der  Metaphysik 
Schopenhauers  im  Vergleich  zu  der  Fichtes  und  Hegels, 
welche  ihr  in  tlen  Augen  vieler  Kurzsichtigen  so  nachteilig  ge- 
wesen ist,  nicht  auf  einer  ursprünglichen  Richtung  seines  Geistes 
beruhe,  sondern  vielmehr  nur  darauf,  daß  er  aus  der  unfrucht- 
baren, rein  metaphysischen  Sphäre,  die  seiner  durchaus  konkreten 
Denkweise  auf  die  Dauer  zu  luftleer  war,  immer  entschiedener 
in  die  fruchtbare  Ebene  des  empirischen  Bewußtseins  umsiedelte 
und  sogar  mehr  als  zur  ?Iälfte  Naturphilosoph  wurde;  von  diesem 
Standpunkt  aus  nun  aber  das  von  ihm  ursprünglich  positiv  Be- 
zeichnete negativ  bezeichnen  mußte,  ohne  freiHch  dadurch  eine 
Umwertung  vorzunehmen. 

Wir  haben  also  die  aufgeworfene  Frage  beantwortet,  wo  und 
wif  die  Willensmetaphysik  zuerst  bewußt  auftritt.  Der  Rest 
unserer  Untersuchung  bietet  keine  Schwierigkeit.  Mit  dem  Be- 
griff des  Willens  zum  Leben,  als  des  Prinzips  der  Erscheinungs- 
wclt,  ist  die  Bedingung  für  jenen  berühmten  Namen,  den  das 
bessere  Bewußtsein  in  der  reifen  Periode  annimmt,  gegeben.  In 
(i«-r  Tat  verschwindet  jene  ältere  Bezeichnung  fast  sofort.  An- 
statt deren  treten,  wie  schon  angedeutet,  negative  Ausdrücke, 
wie  Willenswendung,  Aufgeben,  Aufhebung  des  Willens,  auch 
,, Brechen  des  Willens",  das  jedoch  eigentlich  eine  nicht  immer 
notwendige  Vorstufe  bedeutet. 

Diese  Bezeichnungen  kehren  immer  wieder,  gelegentlich  auch : 
NiehtwoUen  des  Lebens,  Willenslosigkcit,  Abwendung  des  Willens 
vom  Leben,  Erlöschen,  Ertötung,  Absterben  des  Willens.  Zwar 
taucht  verhältnismäßig  früli  in  1815  der  Doppelterminus  ,, Be- 
jahung und  Verneinung"  auf,  jedoch  nur  verbunden  mit  ,, Leben" 
oder  ,,Leib";  gegen  den  Schluß  von  1816  lesen  wir  aber:  ,,die 
Welt  zu  verneinen,  den  Willen  aufzugeben",  und  im  folgenden 
Jahre:  ,, vermöge  welcher  er  den  Willen  aufgibt  und  verneint"; 
noch  in  1816  wiederum:  ,,Ihr  (der  Welt)  Wesen  ist  eben  der  Wille, 
nicht  seine  Verneinung",  und  endlich,  wenige  Seiten  vor  dem 
Schluß  (181 8):  ,,das,  was  für  den  Willen  selbst  seine  eigene  Wen- 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  509 

dung,  Verneinung  ist".  Wir  sehen  somit  die  für  den  Hauptbegriff 
seines  Systems  klassische  Bezeichnung  um  seine  Feder  flattern, 
sich  versuchsweise  aufs  Papier  niederzulassen,  erst  verbal,  dann 
substantivisch,  aber  noch  immer  mit  den  älteren  Ausdrücken 
verschiedentlich  verflochten,  bis  sie  dann  in  dem  Hauptwerk 
selbst  sich  endgültig  fixiert,  ^vo  es  nun  bestimmt  und  volltönend 
heißt:  , .Vollkommene  Keuschheit  ist  der  erste  Schritt  in  der 
Askese  oder  der  Verneinung  des  Willens  zum  Leben." 

Die  Aufgabe,  die  ich  mir  am  Anfange  dieses  Aufsatzes  ge- 
stellt habe,  könnte  hiermit  als  abgeschlossen  betrachtet  werden. 
Bei  der  hohen  Bedeutung,  welche  Schopenhauers  Verhältnis 
zu  Kant  hat,  erscheint  es  jedoch  geboten,  in  kurzen  Zügen  dar- 
zustellen, wie  dies  Verhältnis  sich  in  diesen  Übergangsjahren  ge- 
staltet; um  so  mehr,  als  die  Wandlung  wenigstens  auf  einem 
Punkt  (Kategorien)  von  ausschlaggebender  Bedeutung  für  die 
dogmatisch-monistische  Gestaltung  des  Systems  wurde. 

Es  ist  bemerkt  worden  (so  von  dem  Belgier  A.  Boss  er  t), 
daß  Schopenhauer  in  seinen  jungen  Jahren  sich  mehr  von 
Plato  als  von  Kant  angezogen  fühlte.  In  der  Tat  fanden  wir 
diese  Platonische  Richtung  in  den  Göttinger  Aphorismen  vor- 
herrschend, und  auch  in  den  ersten  Jahrgängen  dieses  philo- 
sophischen Journals  ist  sie  durch  das  überwiegende  intellektua- 
listisch-ästhetische  Moment  stark  vertreten;  ja,  der  Hauptbegriff, 
der  uns  so  viel  beschäftigt  hat,  sogar  in  seinem  Namen  Platonisch, 
weht  so  recht  wie  ihre  Fahne  über  diesen  Blättern.  Dies  Ver- 
hältnis Schopenhauers  zu  den  beiden  Torhütern  seiner  Dis- 
sertation, dem  ,, göttlichen  Plato  und  dem  erstaunlichen  Kant", 
hat  sich  nun  freilich  glücklicherweise  immer  mehr  ins  Entgegen- 
gesetzte verändert,  und  gerade  der  wachsende  Einfluß  Kants, 
der  ihm  bei  der  ersten  Bekanntschaft  fast  unheimlich  war,  muß 
als  ein  Hauptfaktor  seiner  Entwicklung  betrachtet  werden.  Zumal 
für  die  scharfe  Prägung  seines  Pessimismus  war  diese  Bewegung 
wichtig;  denn  der  etwas  versteckte  Pessimismus  Kants  ist  viel 
radikaler  als  der  schwärmerische  Pia  tos.  Nichtsdestoweniger 
finden  wir  in  der  ersten  Hälfte  unseres  Bandes  den  jungen  Philo- 
sophen eher  im  Begriffe,  von  Kant  abzurücken,  dergestalt,  daß 
wichtige  Kantische  Lehren,  die  später  verworfen  werden,  hier 
in  den  ersten  Jahren  noch  in  voller  Geltung  bestehen. 

Dies  gilt  vor  allem  von  den  Kategorien.  Damit  erfahren 
wir  freilich   nichts   Neues,   denn   mit   ihnen  wird   ja  noch  in  der 


-  jQ  Karl  Gjellerup: 

Dissertation  operiert  (\V.  111,  S.  32,  34,  22,  34,  37,  27,  52,  2).  Es 
gehört  gerade  zu  den  vielen  Verdiensten  dieser  großen  Ausgabe, 
<lie  Dissertation  voll  zum  Abdruck  gebracht  zu  haben.  Aber  auch 
Kants  Antinomien,  die  er  in  seinem  Hauptwerk  bekanntlich 
"iinzlich  verwirft,  werden  hier  (S.  122  und  138)  unbedenklich  als 
7.U  Recht  bestehend  angenommen. 

Gegen  die  Kategorien  regt  sich  ein  Zweifel  etwa  am  Schluß 
des  Jahres  1814  (§  302).  Im  Texte  selbst  wird  freilich  nur  gegen 
die  Kategorien  der  Modalität  Verwahrung  eingelegt,  weil  Not- 
wendigkeit und  Wirklichkeit  'mit  Kausalität  zusammenfallen, 
Möglichkeit  aber  die  Erkenntnis  des  Satzes  vom  Grunde  in  ab- 
strakten Begriffen  sei.  Dagegen  wendet  sich  ein  Zusatz  auch  gegen 
die  Kategorie  der  Substanz  sowie  gegen  die  der  beiden  ersten 
Urteilsgruppcn,  gegen  die  erstere  freilich  noch  zaghaft  und  zweifelnd : 
,,Ich  entdecke  dabei  aber  keine  eigentliche  Verstandesfunktion." 
Wann  dieser  Zusatz  hinzugefügt  wurde,  ist  nicht  zu  ermitteln; 
er  ist  aber  nicht  als  ,, später  Zusatz"  bezeichnet;  jedenfalls  ist  er 
früher  niedergeschrieben  als  der  etwa  aus  dem  Frühjahr  1816 
herstammende  §  533,  der  gegen  Gewohnheit  eine  Überschrift 
trägt:  ,, Gegen  Kants  Kategorien"  und  eine  detailherte  Kritik 
dieses  berühmten  Lehrstückes  enthält,  das  ihm  nunmehr  zur 
„bloßen  Flause"  hinabgesunken  ist.  In  Wirklichkeit  richtet  diese 
Kritik  sich  jedoch  nur  gegen  die  Berechtigung  der  Kantischen 
Auffindung  der  Kategorien  und  ihre  Ableitung  aus  den  Urteils- 
formcn,  und  trifft  keineswegs  den  Kern  der  Frage:  ob  man  es 
in  den  Kategorien  mit  abstrakten  Begriffen  der  reflektierenden 
Vernunft  zu  tun  habe,  oder  aber  mit  ursprünglichen  unbewußten 
Verstandesfunktionen,  ohne  welche  das  anschauliche  Weltbild 
nicht  aus  dem  rohen  Empfindungsmaterial  aufgebaut  werden 
könnte.  In  der  Dissertation  hieß  es  darüber  ausdrücklich  (§  27, 
S.  52,  2):  Diese  (die  Begriffe)  sind  daher  durchaus  nicht  mit  den 
Funktionen  des  Verstandes,  den  Kategorien,  welche  Raum  und 
Zeit,  die  wahrnehmbar  geworden,  vereinigen,  besonders  nicht, 
wie  oft  geschehen,  mit  der  Kategorie  der  Einheit,  zu  verwechseln 
(während  er  schon  ein  Jahr  nachher  ,, darin  keine  eigentliche 
Verstandesfunktion  entdecken  kann",  und  diese  Anschauung  ihm 
jetzt  sogar  eine  Flause  ist).  Und  §  24  (S.  37,  27)  hatte  er  damals 
sehr  richtig  gelehrt:  ,,Ja  sogar  das  unmittelbare  Objekt  selbst 
wird  erst  durch  die  Anwendung  der  Kiitegorien  der  Subsistenz, 
Rralität,  Einheit  usw.  zum  Objekt." 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  511 

Es  ist  gewiß  nicht  bedeutungslos,  genau  den  Zeitpunkt  fest- 
stellen zu  können,  an  welchem  Schopenhauer  sich  mit  Ent- 
schiedenheit von  der  Kategorienlehre  abwendet,  um  sie  von 
dann  ab  heftig  zu  bekämpfen.  Dieser  Schritt  ist  nämlich  die 
notwendige  Voraussetzung  für  den  Monismus  seiner  Willensmeta- 
physik, wenigstens  nach  ihrer  Form  und  Begründung.  Der  Fehl- 
schluß, daß,  wo  die  Zeit-  und  Raumform  nicht  gilt,  die  Vielheit 
ausgeschlossen  und  damit  die  metaphysische  Einheit  des  Willens 
bewiesen  sei,  wäre  natürlich  unmöglich,  solange  die  Kategorien 
der  Quantität  als  solche  anerkannt  werden,  die  über  dem  Ge- 
biet der  Erfahrung  hinaus  keine  Anwendung  oder  auch  nur  Be- 
deutung haben. 

Kein  Wunder  also,  daß  er  jetzt  eifrig  bemüht  ist,  diese  Kan- 
tische Hauptlehre  zu  refutieren.  Ist  doch  jener  Paragraph  nur 
wenige  Seiten  von  den  Anfängen  des  Hauptwerkes  entfernt. 

Man  weiß,  mit  welcher  Heftigkeit  sich  Schopenhauer  gegen 
Kants  Verwendung  des  Wortes  Idee  wendet,  die  auch  hier 
(S.  403,  34)  als  ein  ,, abscheulicher  Mißbrauch  eines  Platonischen 
Wortes"  gebrandmarkt  wird.  Dagegen  im  Dezember  181 3,  auf 
einem  Weimarer  Bogen,  äußert  er  sich  nicht  nur  sehr  ruhig  dar- 
über, daß  Plato  und  Kant  mit  dem  Wort  Idee  verschiedene 
Vorstellungen  verknüpfen  und  stellt  sie  als  gleichberechtigt  neben- 
einander; sondern  er  schlägt  selber  das  Wort  Idee  vor  als  Aus- 
druck ,, eines  ganz  ausgezeichneten  und  unvergleichlichen  Gegen- 
standes unseres  Erkenntnisvermögens:  nämlich  ein  Objekt,  ent- 
weder Begriff  oder  einzelnes  Objekt,  welches  wir  mit  dem  besseren 
Bewußtsein  eng  und  unaufhörlich  verknüpft  haben".  Als  Bei- 
spiele werden  angeführt:  die  Religion  jedes  Gläubigen,  die  Vater- 
landsliebe, das  gelobte  Land  (Idee  der  Kreuzzüge)  —  ,, einigen  ist 
die  Geliebte  eine  solche  Idee".  Offenbar  steht  er  aber  mit  solchem 
Gebrauch  des  Wortes  Kant  viel  näher  als  dem  Plato. 

Da  wir  mit  dieser  Stelle  schon  das  praktische  Ideal  berühren, 
so  mag  in  diesem  Zusammenhang  die  Stellungnahme  Schopen- 
hauers im  Anfang  des  Jahres  dreizehn  gegenüber  der  Moral- 
theologie Kants  betrachtet  werden. 

,, Kants  Annahme"  —  heißt  es  §  62  (S.  31)  —  ,,des  Daseins 
Gottes  und  der  Unsterblichkeit  der  Seele  zum  praktischen  Behuf, 
welche  nicht  für  objektive  Erkenntnis  auszugeben  er  sich  an- 
gelegentlich verwahrt,  hat  ungefähr  (und  kaum)  so  viel  Grynd 
[und  dasselbe  Verhältnis  zur  Wahrheit]  als  in  der  Physik  die  An- 


.  .  -,  Karl  Gjellerup : 

nähme  eines  Wärmestoffs  oder  eines  +  E  und  —  E,  oder  eines 
magnetischen  Stoffs  [oder  Tobias  Meyers  Hypostasis  eines 
100  Meilen  vom  Mittelpunkt  der  Erde  liegenden  unendlich  kleinen 
Magnets,  aus  dem  sich  die  Abweichungen  der  Nadel  an  verschiedenen 
Orten  der  Erde  erklären  lassen  u.  n.  m.]:  ihre  Existenz  behauptet 
kein  gründlicher  Physiker:  aber  als  Leitfaden  beim  Experimen- 
tieren (zum  praktischen  Behuf),  zur  Verknüpfung  der  Erscheinungen 
und  zur  Erkenntnis  der  Gesetze,  denen  gemäß  sie  erfolgen,  ist  die 
.\nnahme  sehr  tauglich,  und  man  kann,  auf  sie  gestützt,  die  Ge- 
setze ebenso  richtig  auffassen,  die  Erscheinungen  in  ihrer  Ver- 
bindung erkennen,  vorhersagen,  richtig  Versuche,  die  die  Gesetze 
vollständiger  angeben,  anstellen  [technische,  medizinische  und 
chemische  Anwendungen  dieser  Naturkräfte  machen],  als  ob  man 
die  Wahrheit  selbst  erkannte.  Also  ist  die  Annahme  für  das 
Praktische  vollkommen  hinreichend."^) 

Es  muß  jedem  auffallen,  wie  vollkommen  der  junge  Schopen- 
hauer hier  in  seiner  Auffassung  dieses  Teiles  der  Kantischen  Lehre 
mit  Vaihinger  übereinstimmt.  Als  ich  den  Philosophen  des 
,,Als  Ob"  auf  diese  Stelle  in  dem  ihm  bei  der  anfangs  erwähnten 
Schopenhauer-Tagung  überreichten  elften  Bande  aufmerksam  ge- 
macht hatte,  schrieb  er  mir  über  ,, diese  wichtige  Schopenhauer- 
stelle": ,,Sein  umfassender  und  eindringender  Geist  wird  auch 
dadurch  wieder  hell  beleuchtet,  daß  er  die  Als-Ob-Auffassung 
Kants  richtig  erkannte  und  erfaßte".  Auch  später  schrieb  er 
mir  darüber:  ,, Dieser  Paragraph  ist  in  der  Tat  eine  überaus  inter- 
essante Stelle,  welche  Sic  da  bei  Schopenhauer  gefunden  haben, 
und  ein  sehr  wertvoller  Beitrag  zur  Geschichte  der  Als-Ob-Be- 
trachtung.  Historisch  und  systematisch  ist  die  Stelle  von  großem 
Interesse." 

Bei  solcher  Bedeutung  unseres  Paragraphen  dürfte  es  wohl 
—  zumal    in    philosophischen    Studien,    w^elche   die   Als-Ob-Philo- 

')  Es  verdient  hier  bemerkt  zu  werden,  daß  die  in  eckige  Klammern  gesetzten 
Worte  und  Satzteile  spätere  Zusätze  sind;  und  zwar  stammen  der  erste  und  der 
letzte  Zusatz  aus  derselben  Zeit  wie  der  Text,  während  der  große,  mittlere,  vom 
sehr  sorgfältigen  Herausgeber  als  „wahrscheinlich  späterer  Zusatz"  angegeben  wird. 
Diese  späteren  Zusätze  stammen  (wie  er  in  der  Einleitung  erläutert)  meistens  von 
der  Zeit  vor  der  Italienreise  (1818)  her,  keiner  aber  von  der  nach  1835.  Dies  ist 
insofern  von  Bedeutung,  als  es  zeigt,  daß  es  sich  nicht  um  ein  einmaliges  Apercu 
bandelt,  sondern  um  einen  Gedanken,  an  welchen  er  öfters  zurückkehrt,  um  ihn 
weiter  auszubauen  und  zumal  durch  Parallelen  zu  verdeutlichen,  die  alle  der  natur- 
wissenschaftlichen  Sphäre  entnommen  sind. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  e  i  ? 

Sophie  besonders  berücksichtigen  —  gerechtfertigt  erscheinen, 
wenn  ich  auf  diese  Stelle  etwas  genauer  eingehe. 

Mancher  wird  vielleicht  versucht  sein,  ihre  Originalität  insofern 
zu  beeinträchtigen,  als  er  darin  eine  Einwirkung  von  "Forberg 
sehen  wird.  Es  ist  ja  keine  zu  dreiste  Annahme,  daß  der  ,,AtVveismus- 
streit",  der  nicht  weit  über  zehn  Jahre  in  der  Zeit  zurücklag,  und 
damit  Forbergs  Schrift  ,,Über  die  Entwicklung  des  Begriffs 
der  Religion"  dem  jungen  angehenden  Philosophen,  der  sich  für 
alle  solche  Fragen  besonders  lebhaft  interessierte,  bekannt  ge- 
wesen wäre.  Von  dieser  Seite  kann  kein  Einwand  erhoben  werden. 
Gegen  eine  solche  Abhängigkeit  spricht  nun  zunächst,  daß  For- 
berg  weder  in  der  Stelle  selbst,  noch  sonstwo  — •  etwa  wie  ge- 
legentlich des  besseren  Bewußtseins  Jacobi  —  genannt  wird. 
Wenn  es  nun  dem  Charakter  Schopenhauers  überhaupt  fern 
lag,  ein  solches  Verhältnis  zu  vertuschen,  so  fehlt  auch  jedes  Motiv 
dafür  in  solchen  ganz  privaten,  für  die  Öffentlichkeit  nicht  be- 
stimmten Aufzeichnungen.  Wozu  noch  kommt,  daß  nicht  das 
Geringste  an  die  Ausdrucksweise  Forbergs  erinnert.  Entscheidend 
aber  ist,  daß  der  Gesichtspunkt  ein  ganz  anderer  ist.  Bei  For- 
berg  liegt  das  ganze  Gewicht  auf  der  ethischen  Würde  der  Hand- 
lung. Diese  scheint  ihm  nur  dann  völlig  gewahrt,  wenn  der  Mensch 
handelt,  als  ob  es  einen  Weltrichter  gäbe  —  gerade  darin  besteht 
der  echte  Glaube  — ,  selbst  wenn  er  aus  theoretischen  Gründen 
die  Existenz  eines  solchen  nicht  annimmt.  Nichts  liegt  ihm  ferner, 
als  das  Heranziehen  mathematischer  und  naturwissenschaftlicher 
methodologischer  Fiktionen  als  Parallele,  was  bei  Schopenhauer 
gerade  das  Charakteristische  ist.  Denn  dieser  sieht  in  Kants 
Annahme  des  Daseins  Gottes  zum  praktischen  Behuf  nur  ,, einen 
Leitfaden"  zur  richtigen  Verknüpfung  moralischer  Phänomene 
und  zur  Auffindung  ihrer  Gesetze,  während  es  ihm  andererseits 
nicht  einfällt,  in  der  theoretischen  Ungültigkeit  der  Idee  eine 
Garantie  für  die  Echtheit  der  moralischen  Gesinnung  zu  suchen. 
Schopenhauers  beliebter  Ausdruck  ,,toto  coeJo  verschieden", 
läßt  sich  somit  sehr  wohl  auf  diese  beiden  Als  Ob  Betrachtungen 
anwenden,  so  sehr  sie  auch  im  Resultat  übereinstimmen. 

Vergleichen  wir  nun  aber  unsere  Stelle  mit  Schopenhauers 
späterer  Auffassung  der  Kantischen  Moraltheologie,  so  zeigt  sich 
allerdings  —  und  gerade  das  macht  uns  §  62  so  interessant  — 
ein  Unterschied,  der  fast  einer  Frontveränderung  gleichkommt. 

Diese  spätere  Stellungnahme  finden  wir  am  deutlichsten  aus- 

Annalen  der  Philosophie.    I.  33 


r\i  Karl  Gjellerup: 

gedrückt  in  Parerga  (I,  §  13,  S.  127,  Ed.  Piper).     Nachdem  Kant 
der   spekulativen    Theologie   den    Todesstoß   gegeben    hat,    mußte 
er    ein    Bcsänftigungsmittel    darauf    legen.      Dies    geschah    durch 
ein    Postulat    der    praktischen    Vernunft     und    die    daraus    ent- 
stehende   Moraltheologie,    welche    ohne    allen    Anspruch    auf   ob- 
jektive  Gültigkeit   für  das  Wissen  volle   Gültigkeit  in  Beziehung 
;iuf   (las    Handeln   oder  für  die  praktische  Vernunft  haben  sollte 
—  ,, damit    die   Leute    doch    nur    etwas    in    die   Hand    kriegten". 
Dies   besagt  jedoch   nichts   anderes,    als   daß  die  Annahme   eines 
nach  dem  Tode  vergeltenden,  gerechten  Gottes  ,,ein  brauchbares 
regulatives   Schema  sei  zum  Behuf  der  Auslegung  der  gefühlten, 
ernsten,  ethischen  Bedeutsamkeit  unseres  Handelns  wie  auch  der 
Leitung    dieses    Handelns    selbst,    also    gewissermaßen    eine    Alle- 
gorie  der  Wahrheit".      Kant   selbst   durfte   sich   freihch   nicht  so 
unumwunden  ausdrücken,  ,, sondern,  indem  er  das  Monstrum  einer 
theoretischen    Lehre    von    bloß    praktischer    Gültigkeit    auf- 
stellte, hat  er  bei  den  Klügeren  auf  das  granum  salis  gerechnet". 
Daß  eine  gewisse  Übereinstimmung  der  beiden  Betrachtungs- 
weisen stattfindet,    soll   nicht   geleugnet   werden.      Sie   gehen   ein 
wesentliches    Stück   Hand   in   Hand,    indem  sie  jede   theoretische 
Gültigkeit   der   Moraltheologie   leugnen,    und   zwar   in   dem    Sinne 
leugnen,    daß    Kant    auch    nicht    eine   solche   beabsichtigt   haben 
soll;    während    doch    die    gewöhnliche    Auffassung    die    war,    daß 
Kant  mit  moralischen  Prinzipien  ein  theoretisches  Dogma  gestützt 
habe.     Aber   beim   eigentlichen    Gesichtswinkel    trennen   sie   sich. 
Die  Parergastelle  geht  auf  Akkommodation  und  Allegorie  aus ;  unsere 
hingegen  auf  Methodologie  und  heuristische  Fiktion.     Nach  dem 
jungen  Schopenhauer  hat  Kant  in  seiner  Moraltheologie  keine 
,, theoretische  Lehre"  aufgestellt,  sondern  lediglich  eine  Fiktion 
gleich  dem  Wärmestoff,  ,, dessen  Existenz  kein  gründlicher  Physiker 
behauptet". 

Es  ist  also  offenbar,  daß  Schopenhauer  zu  der  Zeit  (Anfang 
181 3),  als  er  diesen  Paragraphen  niederschrieb,  der  Kantischen 
Rcligionsphilosophie  freundlicher  gegenüberstand,  als  dies  später 
der  Fall  war;  denn  mit  der  Akkommodationsauffassung  ist  immer 
eine  gewisse  Mißbilligung  verbunden. 

Die  entgegengesetzte  Bewegungsrichtung  zeigt  sich  —  wenig- 
stens äußerlich  betrachtet  — ,  wenn  wir  zum  Hauptbegriff  der 
Kantischen  Philosophie,  dem  Ding  an  sich,  übergehen.  Dieser 
wird   hier  auf  den   Bogen  aus  den   JahrdTi  dreizehn   und   Anfang 


II 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  5  i  5 

vierzehn  abgewiesen  und  als  ganz  undenkbar  (§  73),  ja  sogar  als 
der  größtmögliche  Widerspruch  (§  151)  bezeichnet,  was  uns  aller- 
dings nicht  wundernehmen  kann,  da  dies  ja  auch  in  der  Dissertation 
geschieht.  Jedoch  schon  wenige  Monate  später  (§  208)  findet  er 
die  wesentliche  Übereinstimmung  dieses  Kantischen  Lehrbcgriffcs 
mit  der  Ideenlehre  Pia  tos,  und  erklärt  in  einem  (freilich  weit 
späteren)  Zusatz,  diese  Identität  müsse  eine  Hauptstütze  seiner 
Philosophie  werden.  Solchermaßen  platonisiert  und  adoptiert 
wird  das  Ding  an  sich  bald  danach  auf  den  Namen  ,, Wille"  ge- 
tauft, in  der  schon  zitierten  Stelle  (§  258):  ,,Die  Welt  als  Ding  an 
sich  ist  ein  großer  Wille,  der  nicht  weiß,  was  er  will."  Gleich 
nachher  (§  285)  wird  die  jetzt  gewonnene  Dreieinigkeit  ausdrücklich 
proklamiert:  ,,Die  Platonische  Idee,  das  Ding  an  sich  und  der 
Wille  (denn  dies  alles  ist  eins)."  Endlich  heißt  es  (§  422,  etwa 
Mitte  1815):  ,,Dcr  Wille  ist  Kants  Ding  an  sich."  Richtiger 
hätte  er  geschrieben:  ,,Der  Wille  ist  mein  Ding  an  sich."  Kants 
Dine  an  sich  ist  im  Grunde  ein  rein  erkenntnistheoretischer  Be- 
grifft),  erhält  aber  unleugbar  an  vielen  Stellen  metaphysische 
Bedeutung  und  Dignität.  Schopenhauer  nimmt  ihn  nun  von 
dieser  Seite  auf,  und  zw^ar  so  ausschließlich,  daß  der  Begriff  bei 
ihm  seine  erkenntnistheoretische  Rolle  völlig  verlernt,  wiewohl 
sein  Existenzrecht  auf  dieser  beruht.  Deshalb  ist  die  Annäherungs- 
richtung, die  hier  so  augenscheinlich  vorliegt,  vielleicht  doch,  wenn 
man  genauer  zusieht,   mehr  äußerlicher  und  am  Worte  hängend, 

als  mnerlicher  Art. 

Es  ist  ein  verhältnismäßig  enger  Problemkreis,  in  welchem 
sich  die  hier  lose  aneinander  gereihten  Aufsätze,  Gedankenschnitzel, 
Apergus  und  philosophischen  Selbstgespräche  bewegen,  immer 
wieder  und  wieder  nach  demselben  Punkt  zurückkehrend  und 
dieselbe  Sache  zu  neuer  Beleuchtung  aufnehmend:  hauptsächlich 
die  ethisch-religiösen  und  die  ästhetischen  Grundfragen,  einzeln 
und  in  ihren  gegenseitigen  Beziehungen.  Daß  die  naturwissen- 
schaftliche Seite,  die  in  den  fertigen  Schriften  eine  so  große  und 
wohltuende  Rolle  spielt,  hier  fast  gänzlich  zurücktritt,  dürfte 
wohl  der  Umstand  sein,'  der  am  meisten  zu  dieser  auffallenden 
Verengung  des  Kreises  und  dadurch  zur  Monotonie  beiträgt.  Und 
es  ist  wohl  wiederum  eine  natürliche  Wirkung  daraus,  daß  —  wie 

^)  Näheres  darüber  findet  sich  in  Vai hingers  „Philosophie  des  Als-Ob", 
S.  83ff.,  I09ff.,  266 ff.,  722—724,  wo  die  fiktive  Bedeutung  des  Begriffes  ,,Ding 
ah  sich"  erörtert  wird. 

33* 


c  1 5  ^^""^  Gjellerup : 

mir  \vcnigstcns  scheint  —  Schopenhauers  souveräne  Einseitig- 
keit nirgends  so  aufdringlich  hervortritt  wie  gerade  in  diesem 
Buche,  indem  sie  fcbcn  durch  die  unaufhörhche  Wiederholung 
geradezu  Einem  eingehämmert  wird.  Vor  allem  ist  dies  auf  dem 
ästhetischen  Gebiete  der  Fall,  wo  die  Unzulänglichkeit  der  rein 
negativistischen  Wertung^)  wohl  am  allerleichtesten  nachzuweisen 
wäre.  Immer  wieder  muß  man  sich  selbst  daran  erinnern,  daß 
diese  oft  fast  an  Blindheit  grenzende  Einseitigkeit  erforderlich 
sei,  um  neue,  uroriginelle  und  höchst  bedeutsame  Gedankenposi- 
tionen zu  gewinnen;  ja,  daß  sie  zum  Selbsterhaltungstrieb  des 
Genies  gehöre,  und  es  überall  bei  solchem  heroischen  Ringen  des 
Gedankens  mit  dem  Wirklichkeitsstoff  nicht  so  sehr  darauf  an- 
komme, allseitig  richtige  und  unanfechtbare  Wahrheiten  zutage 
zu  fördern,  als  vielmehr  darauf,  neue,  entscheidende  und  frucht- 
bare Gesichtspunkte  zu  erreichen,  möge  das  Erreichen  auch  manch- 
mal ein  wenig  per  fas  et  nefas  und  auf  verbotenen  Pfaden  gelingen. 
Ich  habe  schon  bemerkt,  daß  die  energische  Ablehnung  der 
Kantischen  Kategorien  sich  unmittelbar  vor  dem  Eintritt  in  das 
eigentliche  Gebiet  des  Hauptwerkes  befinde.  Manchen  Leser 
wird  wohl  nun  ein  leiser  Schauer  durchrieseln,  wenn  er  plötzlich, 
mitten  in  den  Aufzeichnungen  von  Anno  sechzehn,  liest:  ,,§  i. 
,Die  Welt  ist  meine  Vorstellung'  muß  jeder  zu  sich  sagen,  sobald 
er  ernstlich  unternimmt,  sich  zu  besinnen,  et  sie  porro'  —  und 
bald  danach:  ,,Ich  möchte  z.  B.  so  anheben:  ,Die  Welt  ist  meine 
Vorstellung'  kann  jeder  sagen  und  muß  jeder  sagen,  der  sich 
ernstlich  besinnt.  —  ,Die  Welt  ist  mein  Wille'  ist  die,  wenn  auch 
nicht  jedem  erschreckliche,  so  doch  höchst  bedenkliche  und  sehr 
ernste  Wahrheit,  die  dem  deutlich  geworden  sein  wird,  der  in  den 
Sinn  dieses  Buches  vollkommen  eingedrungen  sein  wird." 

')  Ich  verstehe  darunter  die  bekannte  Schopenhauersche  Lehre,  daß  bei 
der  ästhetischen  Betrachtung  die  Wirkung  des  schönen  Objekts  sich  darin  erschöpft, 
dem  Intellekt  das  Joch  des  Willens  abzunehmen  und  das  reine  Subjekt  des  Er- 
kenncns  in  frei  schwebenden  Seligkeitszustand  zu  versetzen.  Es  genügt  eine  Hin- 
weisung auf  die  Kasinaübungen  des  buddhistischen  Mönches,  um  die  Verkehrtheit 
dieser  Lehre  nachzuweisen.  Diese  auf  tausendjährigen  Erfahrungen  beruhenden 
methodisch  betriebenen  mentalen  Übungen  bezwecken  nämlich  nichts  anderes,  als 
jenen  willenlosen  Zustand  des  Intellektes,  wodurch  dieser  nur  Träger  des  Objekts 
wird,  zu  erreichen  und  beliebig  herbeizuführen.  Hierzu  braucht  man  also  kein 
«.chönts  Objekt.  Folglich  kann  dies  auch  nicht  die  spezifisch  ästhetische  Wirkung 
der  Schönheit  sein.  Womit  nicht  gesagt  sein  soll,  daß  nicht  eine  wichtige  Seite 
der  ästhetischen  Freude  höchst  wirkungsvoll  von  Schopenhauer  beleuchtet  und 
uns  zum    Bewußtsein  gebracht  werde. 


Zur  Entwicklungsgeschichte  der  Schopenhauerschen  Philosophie.  517 

Ihm  wird  feierlich  zumute  werden,  wie  jemandem,  der,  nachdem 
er  durch  mannigfaches  blühendes  und  auch  oft  dorniges  Gebüsch, 
über  Schonungen,  durch  Pflanzschulen  und  niedrigen  Tännicht 
gegangen  ist,  nun  zwischen  die  ersten  Stämme  des  Hochwaldes 
hineintritt  und  sich  von  dessen  kühlem,  großem  Schatten  umgeben 
fühlt. 

,,Da  steht  im  Wald  geschrieben  ein  stilles,  ernstes  Wort"  — 
so  singt  unser  herrlicher  Eichendorf  f.  Ja,  und  wer  da  sagen 
kann:  ,,Ich  habe  treu  gelesen,  und  durch  mein  ganzes  Wesen 
ward's  unaussprechlich  klar"  —  der  wird  auch  gern  diese  vor- 
gelagerte Strecke  durchwandern.  Drinnen  im  Schatten  des  Hoch- 
waldes —  das  weiß  er  —  wohnt  der  Panische  Schrecken;  wie 
wir  es  ja  hörten:  Diese  Wahrheit  ist  jedem  bedenklich,  manchem 
erschrecklich.  Ihm  aber  ist  das  keine  zurückscheuchende  Drohung, 
vielmehr  zieht  es  ihn  mit  Faustischem  Verlangen  an:  ,,Das  Schaudern 
ist  der  Menschheit  bestes  Teil."  Und  vollends  mehr  einladend  als 
abweisend  tönt  ihm  hier  aus  einem  Gebüsch  die  herbe  Dryaden- 
stimme entgegen: 

,, Meint  ihr  denn,  die  Philosophie  werde  nicht  sein  wne  jedes 
echte  Kunstwerk,  das  unerreichbare  Maß,  an  dem  jeder  seine 
eigene  Größe  mißt?" 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer. 

Von 

Arnold  Kowalewski. 

Inhaltsübersicht. 

Verschiedene  fiktionsfeindliche  Kundgebungen  Schopenhauers.  „Fiktion"  — 
ein  philosophisches  Schimpfwort.  Seine  zahlreichen  Synonyma.  Trotzdem  aber 
auch  positive  Berührungspunkte  mit  dem  Fiktionalismus. 

I.  Fiktionalistische  Gedanken  in  den  ,, Erstlingsmanuskripten" 
Schopenhauers  (1812 — 1818).  1.  Eine  fiktionalistische,  aber  noch  sehr  negativ 
gehaltene  Formel  für  die  Religion.  2.  ,,Gott"  als  erlaubter  symbolischer  Ausdruck 
bei  Nichtphilosophen.  3.  Positive  Würdigung  der  kantischen  Postulate  ,,Gott" 
imd  ,, Unsterblichkeit".  4.  Kantische  Postulate  —  Philistereien.  5.  Widerspruchs- 
voller Charakter  der  geometrischen  Kongruenz.  6.  Widerspruchsvolle,  aber  un- 
vermeidliche Relation  zwischen  dem  „besseren"  und  empirischen  Bewußtsein. 
7.  „Gott"  als  leerer  Name.  8.  Bedeutung  der  Ideen.  9.  Philosophische  Aus- 
legung von  Adams  Sündenfall  und  Jesu  Opfertod.  10.  Rechtfertigung  der  Dogmen 
von  der  jungfräulichen  Geburt  und  dem  Scheinleib  Jesu.  11.  Zweck  des  Lebens  — 
ligürlich  für  „Wesen  des  Lebens  oder  der  Welt".  12 — 14.  Andere  Fassungen  des 
gleichen  Gedankens.  15.  Der  Instinkt  —  ein  Handeln  wie  nach  Zweckbegriffen. 
16.  Phantasma  als  bewußt  zufälliger  Begriffsrepräsentant.  17.  Bescheidenheit  als 
notwendige  Heuchelei.  18.  Erste  Magiefiktion.  Ihr  späteres  Schicksal  im 
Zusammenhang  mit  Schopenhauers  wachsender  Anteilnahme  an  dem  Studium 
okkultistischer  Phänomene.  19 — 22.  Ergänzende  Belege  für  die  dogmatische 
Fixierung  der  Magiefiktion.  23.  Formeln  und  Rechnungen  der  Mathematik  ohne 
I  igentlich  theoretischen  Wert.  24.  Analoge  Verhältnisse  in  der  Mechanik.  25.  Be- 
wußte Unzulänglichkeit  der  Begriffe.  26.  Moralische  Systeme  und  religiöse  Dogmen 
—  eigentlich  Isotbehelf  der  Vernunft.  27.  Abstrakte  Hilfsmittel  in  der  praktischen 
Musik  und  Mechanik.  28.  Gewaltsame  und  listige  Überwältigung  fremder  Willens- 
irscheinungen.  29.  Der  fingierte  Charakter  des  Pedanten.  30.  Künstliche  Zu- 
sammenstellung der  Begriffe  in  der  Poesie.  31.  Das  „Verhältnis"  des  Willens  zur 
N'orstcllung  —  nvu-  metaphorisch.  32.  Dogmen  des  Edlen  —  nicht  ernst,  bloß  der 
Vernunft  hingeworfene  Befriedigung.  33.  Spielendes  Sprechen.  34.  Fiktionalistische 
Deutung  der  ästhetischen  Reizbarkeit  für  die  Pflanzenwelt.  35.  Künstliches  System 
zu  lexikographischem  Zweck.  36.  Seelenwanderung  als  Dogma  und  Mythos. 
37.  Luthers  Lehre  vom  seligmachenden  Glauben  als  Gewand  philosophischer 
Wahrheit.  38.  Selbstaufhebung  des  Willens  als  summum  bonum.  39.  Tugend- 
übung nach  philosophisch-vernünftigem  Dogma  —  Blendwerk,  aber  teilweise  doch 
gut.  40.  Abstrakte  Formeln  als  Hilfsmittel  konfliktfähiger  Motive.  41.  Das  Auf- 
geben des  Willens  —  ein  Zustand  im  metaphorischen  Sinne.  —  Zusammenfassung. 
Zwei  Haupttypen:  erkeniitnistheoretische  Fiktionen  und  prophetische.  Ihr  Zu- 
sammenhang mit  den  beiden  philosophischen  Ahnherren  Schopenhauers. 

II.  Fiktionalistische  Gedanken  in  den  Werken,  Briefen  und  Ge- 
•■prachcn  Schopenhauers.  42.  Nutzen  der  Begriffe.  43.  Der  empirische 
(  haraktcr  als  Erscheinung  eines  außerzeitlichen  gleichsam  permanenten  Zustandes 
oder   universalen  Willcnsakts.     44.    Kontrasticrung  der  tierischen   Kunsttriebe  und 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  5^9 

des  magnetischen  Hellschens.  45.  Die  Insekten  gewissermaßen  natürliche  Som- 
nambulen. 46.  Der  Wahncharakter  des  Instinkts.  47.  Symbolische  Auslegung 
der  Bewußtseinsgrade  in  der  Richtung  von  innen  nach  außen.  48.  Ablegung  der 
Hilfsmittel  nach  geleistetem  Dienst.  Hinweis  auf  eine  ,, Pädagogik  des  Als  Ob". 
49.  Als-Ob-Betrachtung  über  das  ,, Urtier".  50.  Das  Dogma  von  der  Vorsehung 
als  allegorische  Wahrheit.  51.  Hypothese  zum  schematischen  oder  analogischen 
Verständnis  des  ,.Magnetisierens".  52.  Die  geologischen  Vorgänge  —  eine  Art 
Bildersprache.  53.  Der  Begriff  der  „Handlungen  von  moralischem  Wert"  —  eine 
,, bloße  Spielmarke".  54.  „Ich  noch  einmal"  als  tropische  Wendung.  55.  Ein 
erkenntnisloser,  aber  doch  nicht  bewußtloser  Zustand  —  problematisch  gemeint. 
56.  Fiktionalistische  Abwehr  des  Einwandes,  daß  eine  Vernichtung  der  Willens- 
substanz angenommen  werde.  57.  Absichtliche  Irrationalität  im  Transzendenten. 
58.    Ein  Gleichnis  als  Abwehr  eines  metaphysischen  Einwandes. 

Schlußwort.  Charakteristische  Häufung  apologetischer  Fiktionen  beim 
alten  Schopenhauer.  Wichtigkeit  einer  fiktionalistischen  Interpretation  des  Schopen- 
hauerschen  Systems. 

Bei  Schopenhauer  Ansätze  zum  Fiktionalismus  zu  suchen, 
scheint  ein  wenig  aussichtsvolles  Unternehmen.  Wesentliche  Grund- 
überzeugungen des  Danziger  Philosophen  sind  mit  jedem  Fiktio- 
nalismus schlechthin  unvereinbar. 

Schopenhauer  hat  eine  starke,  aufrichtige  Begeisterung  für 
die  Wahrheit  als  Selbstzweck.  Er  wird  nicht  müde,  die 
Hoheit  dieses  Ideals  in  prächtiger  Bildersprache  zu  preisen  und 
zu  predigen. 

,,Auf  hohen,  abschüssigen,  kahlen  Felsen"  liege  der  ,, Tempel 
der  Wahrheit".  Wie  sollte  man  ihn  erreichen,  wenn  man  ,,seit- 
abwärts"  blickt.  Nur  wessen  Intellekt  vom  Willensdienste  frei 
geworden  sei,  dürfe  den  ,, Ehrentitel  cpiXoaocfoq''  beanspruchen. 
Denn  dieser  Titel  ., besagt,  man  liebe  die  Wahrheit  ernstlich  und 
von  ganzem  Herzen,  also  unbedingt,  ohne  Vorbehalt,  über  alles, 
ja,  nötigenfalls,  allem  zum  Trotz".  So  tönt  es  uns  aus  dem  tem- 
peramentvollen Anhang  zur  ,, Skizze  einer  Geschichte  vom  Idealen 
und  Realen"  entgegen. 

Diese   erhabene    Wahrheit    kann   sich    der    Philosoph    nur   als 
.  eine  einzige  denken.     In  dem   Kapitel   ,,Über   Universitätsphilo- 
sophie" heißt  es  sinnig:  ,,Es  gibt  vielerlei   Schönheit,  aber  nur 
eine  Wahrheit,  wie  viele  Musen,  aber  nur  eine  Minerva". 

Alle  falschen  Zutaten  zur  Wahrheit  werden  auf  das 
Entschiedenste  abgelehnt.  ,,Denn  das  Wahre  kann,  auf  die  Länge, 
doch  nur  in  seiner  Lauterkeit  bestehen:  mit  Irrtümern  versetzt, 
wird  es  ihrer  Hinfälligkeit  teilhaft;  wie  der  Granit  zerfällt,  wenn 
sein  Feldspat  vergattert,  obgleich  Quarz  und  Glimmer  solcher 
Verwitterung  nicht  unterworfen  sind.  Es  steht  also  schlimm  um 
die  Surrogate  der  Wahrheit"  (Parerga  u.  Paralipomena   II,   §  134). 


r-yQ  Arnold  Kowalewski: 

Zu  solchem  schwärmerischen  Wahrheitsglauben  paßt  nun  und 
nimmer  die  nüchterne  fiktionalistische  Denkart,  die  gerade  die 
äußeren  Zweckbeziehungen  beim  Erkennen  scharf  betont  sowie 
die  Wandelbarkeit,  Mannigfaltigkeit  und  Unlauterkeit  des  so- 
genannten Wahren  kritisch  aufzeigt. 

Das  natürliche  Seitenstück  zu  dem  schwärmerischen  Wahr» 
heitsglauben  Schopenhauers  ist  ein  fanatischer  Haß  gegen 
den  Irrtum.  ,, Obwohl  oft  gesagt  worden,  daß  man  der  Wahr- 
heit nachspüren  soll,  auch  wo  kein  Nutzen  von  ihr  abzusehen, 
weil  dieser  mittelbar  sein  und  hervortreten  kann,  wo  man  ihn 
nicht  erwartet,  so  finde  ich  hier  doch  noch  hinzuzusetzen,  daß 
man  auch  ebensosehr  bestrebt  sein  soll,  jeden  Irrtum  aufzudecken 
und  auszurotten,  auch  wo  kein  Schaden  von  ihm  abzusehen,  weil 
auch  dieser  sehr  mittelbar  sein  und  einst  hervortreten  kann,  wo 
man  ihn  nicht  erwartet:  denn  jeder  Irrtum  trägt  ein  Gift  in 
seinem  Innern.  Ist  es  der  Geist,  ist  es  die  Erkenntnis,  welche 
den  Menschen  zum  Herrn  der  Erde  macht,  so  gibt  es  keine 
unschädlichen  Irrtümer,  noch  weniger  ehrwürdige,  heilige 
Irrtümer"  (Welt  als  Wille  u.  Vorst.  I,  §  8).  Noch  drastischer 
kommt  dieselbe  Stimmung  im  Ergänzungsband  des  Hauptwerkes 
zum  Ausdruck.  ,, Jeder  Irrtum  muß  früher  oder  später  Schaden 
stiften,  und  desto  größeren,  je  größer  er  war.  Den  individuellen 
Irrtum  muß,  wer  ihn  hegt,  einmal  büßen  und  oft  teuer  bezahlen: 
das  Selbe  wird  im  großen  von  gemeinsamen  Irrtümern  ganzer 
Völker  gelten.  Daher  kann  nicht  zu  oft  wiederholt  werden,  daß 
jeder  Irrtum,  wo  man  ihn  auch  antreffe,  als  ein  Feind  der  Mensch- 
heit zu  verfolgen  und  auszurotten  ist,  und  daß  es  keine  privi- 
legierte oder  gar  sanktionierte  Irrtümer  geben  kann.  Der  Denker 
soll  sie  angreifen;  wenn  auch  die  Menschheit,  gleich  einem 
Kranken,  dessen  Geschwür  der  Arzt  berührt,  laut  dabei  aufschriee" 
(ebenda   II,   Kap.  6). 

Wer  so  redet,  der  dürfte  für  das  fiktionalistische  Paradoxon 
von  den  ,, nützlichen  Irrtümern"  kein  empfängliches  Ohr 
haben. 

Nieht  einmal  im  Reiche  des  reinen  Denkens  scheint  der  ge- 
strenge Wahrheitseiferer  die  geringste  Normwidrigkeit  zu  dulden. 
Alle  B<.griffsbildungen,  die  vor  ihm  Gnade  finden  sollen,  müssen 
selbstverständlich  widerspruchsfrei  sein.  ,,Contradictio  in  ad- 
jecto"  ist  eine  beliebte  Verdammungsformel,  mit  der  Schopen- 
hauer 7..  B.  Begriffe  wie  ,, causa  prima",  „causa  sui",  „unbedingte 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  52  I 

Notwendigkeit",  „absolutes  Sollen",  „Zweck  an  sich",  ,, absoluter 
Wert"  ohne  lange  Verhandlung  abtut.  Die  praktischen  Assozia- 
tionen, die  diesen  Begriffen  einen  ehrwürdigen  Charakter  ver- 
leihen, werden  nicht  nur  rücksichtslos  beiseite  geschoben,  sondern 
sogar  teilweise  aufs  grimmigste ..  bis  zur  Blasphemie  verhöhnt. 
Man  lese  einmal  die  unduldsamen  kritischen  Ergüsse  nach,  die 
in  der  zweiten  Auflage  der  Doktordissertation  (§§  8,  20,  49)  und 
in  der  Preisschrift  über  die  Grundlage  der  Moral  (§§  4,  8)  vor- 
kommen. 

Bei  solcher  schroffen  Haltung  ist  kaum  zu  erwarten,  daß 
Schopenhauer  für  die  ,, bewußten  Widersprüche"  des  Fiktio- 
nalismus jemals  Sympathie  hegen  könnte. 

In  seinem  Sprachgebrauche  figuriert  ,, Fiktion"  geradezu  als 
philosophisches  Schimpfwort.  Wenn  es  gilt,  irgendeinen  Be- 
griff oder  Gedankengang  in  seiner  Haltlosigkeit  und  Nichtigkeit 
zu  brandmarken,  greift  Schopenhauer  vielfach  zu  diesem  Worte. 
Einige  Beispiele  mögen  das  illustrieren. 

Im  Rückblick  auf  die  philosophische  Entwicklung  von  Des- 
cartes  bis  Leibniz  spricht  sich  Schopenhauer  einmal  (Parerga  u. 
Paralipomena  I,  Fragm.  z.  Gesch.  d.  Philos.  §  12)  folgendermaßen 
aus:  ,, Überhaupt  aber  sehen  wir  bei  dieser  ganzen  Verkettung 
seltsamer  dogmatischer  Lehren  stets  eine  Fiktion  die  andre  als 
ihre  Stütze  herbeiziehen;  geradeso  wie  im  praktischen  Leben 
eine  Lüge  viele  andere  nötig  macht.  Zum  Grunde  liegt  des  Car- 
tesius  Spaltung  alles  Daseienden  in  Gott  und  Welt,  und  des  Men- 
schen in  Geist  und  Materie,  welcher  letzteren  auch  alles  übrige 
zufällt.  Dazu  kommt  der  diesen  und  allen  je  gewesenen  Philo- 
sophen gemeinsame  Irrtum,  unser  Grundwesen  in  die  Erkenntnis, 
statt  in  den  Willen,  zu  setzen,  also  diesen  das  Sekundäre, 
jene  das  Primäre  sein  zu  lassen.  Dies  also  waren  die  Ur-  Irrtümer, 
gegen  die  bei  jedem  Schritt  die  Natur  und  Wirklichkeit  der  Dinge 
Protest  einlegte  und  zu  deren  Rettung  alsdann  die  Spiritus 
animales,  die  Materialität  der  Tiere,  die  gelegentlichen  Ursachen, 
das  Alles-in-Gott-Sehen,  die  prästabilierte  Harmonie,  die  Monaden, 
der  Optimismus  und  was  des  Zeuges  mehr  ist,  erdacht  werden 
mußten."  Und  mit  stolzem  Behagen  setzt  er  hinzu:  ,,Bei  mir 
hingegen,  als  wo  die  Sachen  beim  rechten  Ende  angegriffen 
sind,  fügt  sich  alles  von  selbst,  jedes  tritt  ins  gehörige  Licht, 
keine   Fiktionen   sind   erfordert,  und  simplex  sigillum  veri." 

In  dem  der  Kantkritik  gewidmeten  Anhang  zu  seinem  Haupt- 


{•'.2  Arnold  Kowalewski: 

Avcrk  bekämpft  der  Philosoph  u.  a.  die  auf  alter  Tradition  be- 
ruhende irrige  Bestimmung  des  Notwendigen  und  Zufälligen  und 
gibt  folgende  genetische  Analyse  der  einschlägigen  Dialektik: 
.,Es  war  offenbar,  daß  das,  dessen  Grund  gesetzt  ist,  unausbleib- 
lich folgt,  (1.  h.  nicht  nichtsein  kann,  also  notwendig  ist.  An 
iliese  letzte  Bestimmung  aber  hielt  man  sich  ganz  allein  und  sagte: 
notwendig  ist,  was  nicht  anders  sein  kann,  oder  dessen  Gegenteil 
unmöglich.  Man  ließ  aber  den  Grund  und  die  Wurzel  solcher 
Notwendigkeit  aus  der  Acht,  übersah  die  daraus  sich  ergebende 
Relativität  aller  Notwendigkeit  und  machte  dadurch  die  ganz 
undenkbare  Fiktion  von  einem  absolut  Notwendigen,  d.  h, 
von  einem  Etwas,  dessen  Dasein  so  unausbleiblich  wäre,  wie  die 
Folge  aus  dem  Grunde,  das  aber  doch  nicht  Folge  aus  einem 
Grunde  wäre  und  daher  von  nichts  abhinge;  welcher  Beisatz  eben 
eine  absurde  Petition  ist,  weil  sie  dem  Satz  vom  Grunde  wider- 
streitet. Von  dieser  Fiktion  nun  ausgehend  erklärte  man,  der 
Wahrheit  diametral  entgegen,  gerade  alles,  was  durch  einen  Grund 
gesetzt  ist,  für  das  Zufällige,  indem  man  nämlich  auf  das  Relative 
seiner  Notwendigkeit  sah  und  diese  verglich  mit  jener  ganz  aus 
der  Luft  gegriffenen,  in  ihrem  Begriffsich  widersprechenden 
absoluten  Notwendigkeit." 

In  der  zweiten  Auflage  der  Doktordissertation  heißt  es  (§  34) 
nach  Darlegung  des  richtigen  Vernunftbegriffes:  ,, Hingegen 
eine,  materielle  Erkenntnisse  aus  eigenen  Mitteln  liefernde,  uns 
daher  über  alle  Möglichkeit  der  Erfahrung  hinaus,  positiv  be- 
lehrende Vernunft,  als  welche  dazu  angeborene  Ideen  enthalten 
inüßte,  ist  eine  reine  Fiktion  der  Philosophieprofessoren  und 
ein  Erzeugnis  der  durch  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  in 
ihnen  hervorgerufenen  Angst." 

Ich  zitiere  die  obigen  Beispiele  in  extenso,  damit  jeder  Leser 
die  fragliche  Wortbedeutung  genau  und  bequem  nachprüfen  kann. 
Sie  bietet  offenbar  keine  Brücke  zu  einer  wohlwollenden  Ein- 
schätzung  fiktiver    Gebilde,    wie    sie    dem    Fiktionalismus    eignet. 

Zahlreich  sind  übrigens  die  synonymen  Ausdrücke  für  ,, Fik- 
tion" bei  Schopenhauer.  Folgende  Proben  mögen  genügen:  Un- 
dinge, Ungedanken,  beliebig  gewählte  abstrakte  Begriffe,  wunder- 
liche Hegriffskombinationen,  Algebra  mit  bloßen  Begriffen,  Hirn- 
gespinste, leere  Hülsen,  Phantasmen,  bloße  metaphysische  Phan- 
tasie, spitzfindig  erfundener  LückenbüfJir,  Flickwerk,  lügenhaftes 
Vorgehen,  absurdes  Märchen,   Stelzen,   Krücken,  terminus  ad  hoc, 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  523 

Deus  ex  machina.  Alle  diese  Ausdrücke  sind  bei  dem  Danziger 
Philosophen  in  tadelndem  Sinne  gemeint,  auch  diejenigen,  welche 
der  Fiktionalismus  entgegengesetzt  bewertet. 

Trotz  solchen  entmutigenden  Vorerwägungen  habe  ich  mich 
doch  bemüht,  positive  Berührungspunkte  zwischen  Schopenhauer 
und  dem  Fiktionalismus  aufzuspüren.  Es  ist  keine  leichte  Arbeit 
gewesen,  da  mir  hierbei  die  gewöhnliche  Fachliteratur  so  gut  wie 
nichts  helfen  konnte.  Nirgends  fand  ich  jene  wichtige  Beziehung 
ernstlich  berührt  oder  auch  nur  in  Frage  gestellt.  Selbst  Gustav 
Friedrich  Wagners  sonst  so  schätzbares  ,, Enzyklopädisches 
Register  zu  Schopenhauers  Werken"  (Karlsruhe '  1909)  ver- 
sagt in  puncto  ,, Fiktion".  Der  ganze  mich  interessierende  Begriffs- 
kreis ist  vollkommen  unberücksichtigt  geblieben.  So  mußte  ich 
mich  in  der  Hauptsache  auf  eigene  Durchmusterung  Schopen- 
hauers verlassen.  Für  die  entwicklungsgeschichtliche  Gruppierung 
meiner  Funde  bot  mir  vor  allem  die  monumentale  Deussensche 
Ausgabe  mit  ihrem  musterhaften  philologischen  Apparat  nützliche 
Winke.  Namentlich  konnte  die  mühselige  Vergleichung  der  ver- 
schiedenen Auflagen  großenteils  erspart  werden.  Schade  nur,  daß 
die  Ausgabe  noch  nicht  abgeschlossen  vorliegt.  Für  die  noch 
fehlenden  Stücke  habe  ich  Grisebachs  und  Schemanns  bekannte 
Publikationen  benutzt.  Die  Ergebnisse  meiner  Nachforschung 
sollen  in  diesem  Aufsatze  kurz  dargestellt  werden. 


I.  Fiktionalistische  (xedankeii 
in  den  „Erstlingsmanuskripten  Schopenhauers  (1813—1818). 

Es  ist  ungeheuer  reizvoll,  die  Niederschriften  zu  durchmustern, 
mit  denen  sich  der  große  Danziger  Philosoph  zu  den  Höhen  seiner 
,,Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  allmählich  emporgerungen  hat. 
Längere  Aufzeichnungen  wechseln  mit  aphoristischen  Bemerkungen, 
und  auch  inhaltlich  herrscht  die  größte  Buntheit.  Der  Genius 
verschmähte  offenbar  jede  technische  Absichtlichkeit  und  folgte 
ganz  den  glücklichen  Eingebungen  der  Stunde.  Spätere  Korrek- 
turen und  Zusätze  lassen  erkennen,  welche  Gedanken  den  jungen 
Philosophen  nachhaltiger  bewegt  haben.  Mehrfach  finden  wir 
auch  Verweisungen  von  einer  Niederschrift  auf  andere  damit  sach- 
lich zusammengehe  rige.  Schopenhauer  hat  sogar  ein  Register  zu 
seinen  Manuskripten  angefertigt,  um  wenigstens  nachträglich  eine 
gewisse  Ordnung  in  das  verwirrende  Chaos  der  Einfälle  zu  bringen. 


COA  Arnold  Kowalewski: 

Am  interessantesten  aber  ist,  zu  verfolgen,  wieviel  von  den  bunt- 
scheckigen Erstlingsmanuskripten  Aufnahme  in  die  Werke  fand 
und  damit  sozusagen  kanonisiert  wurde.  Eine  größere  Zahl  von 
Benutzungsfällen  hat  Schopenhauer  in  seinen  Manuskripten  durch 
Randvermerke  (hinc,  haec,  hactenus)  oder  Durchstreichungen 
kenntlich  gemacht.  Den  vollen  Umfang  der  Benutzung  können 
wir  bequem  aus  dem  zweiten  Anhange  zur  Deussenschen  Ausgabe 
der  Erstlingsmanuskripte  (Band  XI  der  Gesamtausgabe,  München 
1916)  ersehen. 


1.    Eine  fiktionalistische,   aber  noch  sehr  negativ  ge- 
haltene  Formel  für  die   Religion.    . 

Gleich  eines  dfer  frühesten,  181 2  zu  Berlin  konzipierten  Stücke 
(§  12)  in  den  Erstlingsmanuskripten  überrascht  uns  mit  einer  emi- 
nent fiktionalistischen  Formel  für  die  Religion.  Die 
weitere  Ausführung  dieser  Formel  zeigt  aber,  daß  der  junge  Denker 
noch  nicht  die  positive  Seite  des  Fiktiven  zu  würdigen  weiß.  Ihm 
schwebt  der  Ersatz  aller  Religion  durch  Philosophie  als  Zukunfts- 
ideal vor.    Hören  wir  ihn  selbst ! 

,, Religion  ist  ein  willkürlich  angenommener  und  bild- 
lich dargestellter  (welches  beides  auseinander  folgt  und 
unzertrennlich  ist)  Zusammenhang  der  Schcinwelt  mit 
der  wahren  (der  sinnHchen^  mit  der  übersinnlichen). 

Verstandes bildung  ist  Erkenntnis  der  Sinnenwelt  in  ihrem 
Zusammenhange.  Je  weiter  diese  fortschreitet,  desto  mehr  zeigt 
sie  das  Willkürliche  Ungegründete  jenes  [Zz.]^)  mit  der  über- 
sinnlichen Welt  angenommenen  Zusammenhangs  auf:  ein  durch 
fremde  Willkür  gegebenes  Bild  will  keiner  stehen  lassen, 
er  kann  es  für  ein  mere  fictum  erklären. 

Die  Religion  wird  nun  durch  fortschreitende  Verstandesbildung 
zurückgedrängt,  wird  abstrakter,  und  da  ihr  Wesen  Bildlich- 
keit ist,  muß  sie,  sobald  ein  gewisser  Grad  von  Verstandesbildung 
allgemein  geworden,  ganz  fallen. 

Dadurch  stehn  sinnliche  und  übersinnliche  Welt  getrennt: 
CS  zeigt  sich,  daß  beide  kein  continuum  sind.  Der  Verstand  sieht, 
daß,    wo   man  eine  Verbindung   gesetzt  hatte,    keine   sein   kann.". 


')  [Zz]  ztigi  in  dtr  Deussenschen  Ausgabe  einen  „Zusatz"  an.     Dieser  selbst 
ist  in   kleineren    Typen  gedruckt. 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  525 

Den  hierauf  folgenden  längeren  Passus,  der  das  oben  er- 
wähnte Zukunftsideal  darlegt,  können  wir  beiseite  lassen. 

Eine  wörtliche  Benutzung  des  Ganzen  ist  in  Schopenhauers 
Werken  nicht  nachweisbar.  Doch  stimmt  der  religionsfeindliche 
Kerngedanke  dieses  fiktionalistischen  Nihilismus  mit  ähnlichen 
Äußerungen  des  Meisters  überein,  z.  B.  in  den  Parerga  u.  Para- 
lipomena  (II,   §  l8l). 


2.   ,,Gott"   als  erlaubter  symbolischer  Ausdruck 
bei  Nichtphilosophen. 

Seine  persönliche  Überzeugung  von  einer  übersinnlichen  Rea- 
lität, die  zugleich  das  religiöse  Bedürfnis  befriedigt,  hat  der  junge 
Denker  in  dem  sinnigen  Ausdrucke  ,,das  bessere  Bewußtsein" 
terminologisch  fixiert. 

Vom  Standpunkte  dieses  ,, besseren  Bewußtseins"  aus  ver- 
mag er  sich  mit  dem  Gottesbegriff,  dem  Personalität  und  Kausalität 
anhaften,  nicht  zu  befreunden. 

,,Ich  aber  sage",  so  bekennt  er  feierlich  (§  61),  ,,in  dieser 
zeitlichen,  sinnlichen,  verständlichen  Welt  gibt  es  wohl  Persön- 
lichkeit und  Kausalität,  ja  sie  sind  sogar  notwendig.  —  Aber  das 
bessere  Bewußtsein  in  mir  erhebt  mich  in  eine  Welt,  wo  es 
weder  Persönlichkeit  und  Kausalität  noch  Subjekt  und  Objekt 
mehr  gibt.  [Zz.]  Meine  Hoffnung  und  mein  Glaube  ist,  daß  dieses 
bessere  (übersinnliche,  außerzeitliche)  Bewußtsein  mein  einziges  werden 
wird:  darum  hoffe  ich,  es  ist  kein  Gott.  —  Will  man  aber  den  Aus- 
druck Gott  symbolisch  gebrauchen  für  jenes  bessere  Bewußtsein 
selbst  oder  für  manches,  das  man  nicht  zu  sondern  und  zu  benennen 
weiß,  so  mag's  sein:  doch  dächte  ich,  nicht  unter  Philosophen." 

Der  symbolische  Gebrauch,  von  dem  Schopenhauer  spricht, 
ist  echt  fiktionalistisch.  Die  nihilistische  Tendenz  erscheint  in- 
sofern gemildert,  als  dieser  Gebrauch  wenigstens  außerhalb  des 
Philosophenkreises  geduldet  sein  soll. 

^.   Positive  Würdigung  der   kantischen   Postulate  ,,Gott" 

und  ,, Unsterblichkeit". 

Ein  sonderbarer  Zufall  hat  in  unmittelbarste  Nachbarschaft 
hiermit  eine  Aufzeichnung  gerückt,  die  endlich  auch  die  positive 
Seite    des    Fiktiven    gerade    für   das    religiös -ethische    Gebiet    aufs 


r -,(3  Arnold  Kowalewski: 

unzweideutigste  betont.  Es  ist  zugleich  die  erste  eigentliche 
Als-Ob-Betrachtung  des  jungen  Schopenhauer,  die  bezeich- 
nenderweise an  Kant  anknüpft.  Ich  muß  die  klassische,  aus  dem 
Jahre  1813  stammende  Stelle  (§62)  vollständig  zitieren. 

,, Kants  Annahme  des  Daseins  Gottes  und  [der]  Unsterb- 
lichkeit der  Seele  zum  praktischen  Behuf,  welche  nicht  für 
objektive  Erkenntnis  auszugeben  er  sich  angelegentlich  verwahrt, 
hat  ungefähr  (und  kaum)  so  viel  Grund  [Zz.]  und  dasselbe  Ver- 
hältnis zur  Wahrheit  als  in  der  Physik  die  Annahme  eines  Wärme- 
stoffs oder  eines  -\-E  oder  —E  oder  [eines]  magnetischen  Stoffs 
[w.  sp.  Zz.]^)  oder  Tobias  Meyers  Hypostasis  eines  loo  Meilen  vom 
Mittelpunkt  der  Erde  liegenden  unendlich  kleinen  Magnets,  aus  dem 
sich  die  Abweichungen  der  Nadel  an  verschiedenen  Orten  der  Erde  er- 
klären lassen  u.  a.  m.  [:]  ihre  Existenz  behauptet  kein  gründ- 
licher Physiker:  aber  als  Leitfaden  beim  Experimentieren 
([zum]  praktischen  Behuf),  zur  Verknüpfung  der  Erschei- 
nungen und  zur  Erkenntnis  der  Gesetze,  denen  gemäß  sie 
erfolgen,  ist  die  Annahme  sehr  tauglich,  und  man  kann, 
auf  sie  gestützt,  die  Gesetze  ebenso  richtig  auffassen,  die  Er- 
scheinungen in  ihrer  Verbindung  erkennen,  vorhersagen,  richtig 
Versuche,  die  die  Gesetze  vollständiger  angeben,  anstellen,  [Zz.] 
technische,  medizinische  und  chemische  Anwendungen  dieser  Natur- 
kräfte machen,  als  ob  man  die  Wahrheit  selbst  erkannte.  Also 
ist  die  Annahme  für  das  Praktische  vollkommen  hin- 
reichend." 

Hiernach  hat  der  Danziger  Philosoph  ein  wenn  auch  etwas 
zögerndes,  aber  doch  im  ganzen  wohlwollendes  Verständnis  für 
die  eigentliche  Bedeutung  von  zwei  wichtigen  Postulaten  Kants. 
Interessant  ist  besonders,  daß  zugleich  mehrere  physikalische 
Fiktionen  als  Parallelen  herangezogen  werden.  Die  wesentlichen 
Momente  des  Fiktiven  sind  klar  und  sicher  erfaßt.  Wir  können 
daraus  einen  günstigen  Schluß  auf  die  Gediegenheit  von  Schopen- 
hauers naturwissenschaftlicher  Schulung  machen.  Wer  es  so  weit 
gebracht  hat,  daß  er  die  naturwissenschaftlichen  Hilfsbegriffe 
nicht  für  starre  Dogmen  hält,  sondern  in  ihrer  lebendigen  metho- 
di.<^chen  Funktion  vollkommen  durchschaut,  der  ist  mit  der  Arbeits- 
vmd  Denkweise  des  Naturforschers  wirklich  vertraut.  Die  nach- 
träglichen Zusätze,  die  diese  Als-Ob-Betrachtung  aufweist,  lassen 
erkennen,  daß  es  sich  nicht  um  einen  flüchtigen  spielenden  Ein- 

')  [^^'-  sp-  Zz.]  =  Wahrscheinlich  späterer  Zusatz 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  C27 

fall  handelt,  sondern  um  einen  dauerhaften  ernsten  Gedanken. 
Eine  wörtliche  Benutzung  scheint  auch  dieser  gehaltvolle  Apho- 
rismus in  den  Werken  Schopenhauers  nicht  gefunden  zu  haben. 
Eine  Stelle  in  der  Griseb achschen  Ausgabe  der  Parerga  und 
Paralipomena  (II,  S.  414)  bringt  allerdings  eine  treffliche  Varia- 
tion der  gleichen  Als-Ob-Betrachtung.  Sie  mag  sogleich  angeführt 
werden,  da  sie  bemerkenswerte  neue  fiktionalistische  Einzelheiten 
aufweist. 

,, Statt  die  Wahrheit  der  Religionen  als  sensu  allegorico  zu 
bezeichnen,  könnte  man  sie,  wie  eben  auch  die  Kantische  Moral- 
theologie, Hypothesen  zu  praktischem  Zwecke  oder  hod- 
egetische  Schemata  nennen.  Regulative,  nach  Art  physi- 
kalischer Hypothesen  von  Strömungen  der  Elektrizität  zur  Er- 
klärung des  Magnetismus  oder  von  Atomen  zur  Erklärung  der 
chemischen  Verbindungsproportionen  usw.^),  welche  man  sich 
hütet  als  objektiv  wahr  festzustellen,  jedoch  davon  Gebrauch 
macht,  um  die  Erscheinungen  in  Verbindung  zu  setzen,  da  sie 
in  Hinsicht  auf  das  Resultat  und  das  Experimentieren  ungefähr 
das  Selbe  leisten,  als  die  Wahrheit  selbst.  Sie  sind  Leit- 
sterne für  das  Handeln  und  die  subjektive  Beruhigung  beim 
Denken." 

Die  Bezeichnung  ,, Hypothesen  zu  praktischem  Zwecke" 
wird  freilich  der  Philosoph  des  Als  Ob  im  Interesse  der  begriff- 
lichen Eindeutigkeit  beanstanden  müssen.  Das  klassische  Kap.  XXI 
der  ,, Philosophie  des  Als  Ob"  hat  den  ,, Unterschied  der  Fik- 
tion von  der  Hypothese"  definitiv  klargestellt.  Ich  hebe  nur 
folgende  wichtige  Sätze  daraus  hervor: 

,,Die  Leistung  und  FunJction  der  Hypothese  ist  eine  ganz 
andere  als  die  der  Fiktion.  Aus  der  Verschiedenheit  der  Leistung 
muß  die  Verschiedenheit  der  methodologischen  Regeln 
folgen. 

Eine  Fiktion  ist  dann  gerechtfertigt,  wenn  sie  dem  Denken 
wirkliche  Dienste  leistet,  wenn  sie  es  fördert:  eine  Hypothese 
aber  muß  bewahrheitet  werden;  Fiktionen  können  niemals 
verifiziert  w^erden,  weil  in  ihrem  Begriff  die  Abweichung  von 
der  Wirklichkeit  eingeschlossen  ist."  (Vaihinger,  Die  Philo- 
sophie des  Als  Ob.    2.  Aufl.    S.  150.) 

Übrigens  kennt  auch  Schopenhauer  die  intime  Beziehung  der 

^)  ,, Sogar  die  Pole,  Äquator  und  Parallelen  auf  dem  Firmament  sind  dieser 
Art:  am  Himmel  ist  nichts  dergleichen:  er  dreht  sich  nicht." 


528 


Arnold  Kowalewski: 


Hypothoso  zur  Wirklichkeit.    In  seinem  Hciuptwerke  (II,  Kap.  12) 
heißt  es  z.  B.  : 

,,Eine  richtige  Hypothese  ist  nichts  weiter,  als  der  wahre 
und  vollständige  Ausdruck  der  vorliegenden  Tatsache,  welche 
der  Urheber  derselben  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  und  innern 
Zusammenhang  aufgefaßt  hatte.  Denn  sie  sagt  uns  nur,  was  hier 
eigentlich  vorgeht." 

Wenn  Schopenhauer  auch  solche  Annahmen  ,, Hypothesen" 
nennt,  die  eigentlich  etwas  Nichtwirkliches  bedeuten  und  keinen 
Anspruch  auf  Verifizierung  machen,  so  tut  er  das  nur,  weil  ihm 
ein  geeigneter  Ausdruck  dafür  fehlt.  Das  Wort  ,, Fiktionen"  ist 
in  seinem  Sprachgebrauche  leider  —  wie  wir  schon  wissen  —  zu 
übel  beleumundet,  als  daß  es  in  Betracht  kommen  könnte.  Immer- 
hin meint  der  Danziger  Philosoph  mit  dem  inkorrekten  Ausdrucke 
,, Hypothesen,  welche  man  sich  hütet  als  objektiv  wahr  fest- 
zustellen, jedoch  davon  Gebrauch  macht,  um  die  Erscheinungen 
in  Verbindung  zu  setzen"  zweifellos  echte  Fiktionen  im  Sinne 
der  Philosophie  des  Als  Ob.  Es  ist  sehr  interessant,  zu  ver- 
nehmen, daß  er  dazu  nicht  nur  die  Hilfslinien  der  Astronomen 
rechnet,  sondern  sogar  die  Atome  der  Chemiker.  Außer  der  an- 
fechtbaren Formel  ,, Hypothesen  zu  praktischem  Zwecke",  die 
sich  ungefähr  mit  dem  modernen  Ausdrucke  ,,Arbeitshypotheseii" 
zu  decken  scheint,  steuert  Schopenhauer  zum  fiktionalistischen 
Sprachschatze  wenigstens  ein  paar  brauchbare  Bezeichnungen 
(hodegetische  Schemata,  Regulative,  Leitsterne  für  das  Handeln)  bei. 

Wie  schön  wäre  es,  wenn  wir  die  abgeklärte  gehaltvolle  Parerga- 
stelle,  in  der  auch  der  zögernde  Ton  der  früheren  Kundgebung 
nicht  mehr  zu  spüren  ist,  für  eine  unmittelbare  Fortwirkung  der 
ersten  Als-Ob-Betrachtung  halten  dürften.  Könnte  der  Danziger 
Denker  jene  erste  Als-Ob-Betrachtung  nicht  selbst  bei  der  Durch- 
sicht seiner  Jugendmanuskripte  als  geeigneten  Beitrag  zu  seinem 
popularphilosophischen  Werke  ausgewählt  und  entsprechend  um- 
geformt haben.''  Liegt,  mit  anderen  Worten,  nicht  die  Wahr- 
scheinlichkeit einer  direkten  freien  Benutzung  vor? 

Ixider  macht  uns  die  gründliche  Textkritik  Paul  Deussens 
in  seiner  Parergaausgabe  einen  grausamen  Strich  durch  die 
Rechnung.  Die  fragliche  verbesserte  Als-Ob-Bctrachtung  ent- 
stammt nämlich,  wie  der  Herausgeber  anmerkt,  dem  Manuskript - 
buche  Cogitata,  das  Schopenhauer  erst  seit  1830  begann.  Diese 
handschriftliche   Quelle  liegt  also  recht  weit  ab  von  den  Erstlings- 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  520 

manuskripten,  so  daß  ein  unmittelbarer  Zusammenhang  der  beider- 
seitigen fiktionalistischen  Reflexionen  nicht  mehr  annehmbar    ist. 

Genug  hiervon.    Setzen  wir  unsere  Musterung  fort ! 

Bald  auf  die  erste  Tollwertige  Als-Ob-Betrachtung  §  62  folgt 
in  den  Erstlingsmanuskripten  wieder  eine  Kraftprobe  des  fiktio- 
nalistischen Nihilismus,  ein  Seitenstück  zu  dem  analogen  Vor- 
spiel, das  §  61  darbot. 


4.   Kantische   Postulate  —  Philistereien. 

Schopenhauer  regt  sich  in  §  65  darüber  auf,  daß  man  die 
Vernunft  so  auszeichnet.  Sie  erscheint  ihm  vielmehr  als  „Ouelle 
alles  Irrtums".  Er  verweist  u.  a,  auf  die  Kantischen  Antinomien. 
Die  Vernunft  „will  immer  weilen",  während  ,,die  übrige  sinn- 
liche Natur,  dem  Geiste  der  Zeitlichkeit  getreu,  immer  weiter 
und  weiter  strebt".  Zu  den  drei  theoretischen  Vernunftideen 
Kants  möchte  der  junge  Denker  ,,auch  im  Praktischen  eine 
transzendentale  Idee"  annehmen,  die  Idee  der  ,, Glückseligkeit". 
,,Wie  die  theoretischen  Ideen  völhge  Abgeschlosssenheit  und  Be- 
friedigung in  Hinsicht  auf  Erkenntnis  im  Umkreis  dieser  Erfah- 
rungswelt und  im  Verfolg  ihrer  Gesetze  vorspiegeln,  so  spiegelt 
die  Idee  der  praktischen  Vernunft  vollendete  Befriedigung  aller 
Wünsche  unserer  sinnlichen  Natur  [Zz.j  und  gänzliche  Zufrieden- 
heit im  Zustande  der  Zeitlichkeit  ohne  weitere  Sehnsucht  vor:  Wir- 
kung dieser  Idee  ist  alle  Zivilisation,  Staat  usw.  —  Wer  ganz  ihr 
hin[ge]geben  wäre,  würde  der  vollendete  Philister  sein  .  .  ." 
Dafür  streicht  Schopenhauer  das  ,, bessere  Bewußtsein"  heraus, 
das,  über  alle  Vernunft  erhaben,  sich  im  Handeln  als  Heiligkeit 
darstellt,  die  wahre  Welterlösung  ist  und  in  der  Kunst  des  Genies 
zum  Trost  für  die  Zeitlichkeit  erscheint.  Er  erörtert  dann  noch 
kurz  das  Trauerspiel,  den  ,, wahren  Gegensatz  aller  Philisterei", 
da  hier  die  gänzliche  Unzulänglichkeit  der  praktischen  Vernunft 
zum  Ausdruck  kommt,  und  schließt  mit  dem  wegwerfenden 
Satze:  ,, Daher  sind  auch  alle  Theodizeen,  Hiobs  vernünftelnde 
Freunde,  Kants  Postulate  eines  belohnenden  Gottes  und  einer 
belohntwerdcnden  unsterbhchen  Seele  —  Philistereien." 

Das  ist  ein  starkes  Stück.  Schopenhauers  vielverheißender 
Ansatz  zu  einer  positiven  Würdigung  bedeutsamer  Kantischer 
Postulate  in  §  62  scheint  nicht  nur  zurückgenommen,  sondern 
in  sein    Gegenteil   verkehrt    zu   sein.     Jedem   Philistertum   haftet 

Annalen  der  Philosophie.     I.  j4 


-  ■jQ  Arnold  Kowalcwski: 

nun  einmal  der  Makel  der  niedrigen,  gemeinen  Gesinnung  an. 
Es  ist  geradezu  ungeheuerlich,  die  aus  lautersten  ethischen  Ge- 
danken geborenen  Postulate  Kants  zu  Philistereien  zu  stempeln. 
Der  übelgelaunte  Kritiker  übersieht  in  seinem  blinden  Eifer,  daß 
die  eigentliche  ethische  Deduktion  der  Seelenunsterblichkeit  des 
Königsberger  Weisen  nicht  das  Lohnprinzip  benutzt.  Der  Kantische 
Mensch  will  nicht  unsterblich  sein,  um  Lohn  zu  empfangen,  son- 
dern um  sich  weiter  sittlich  vervollkommnen  zu  können.  Diese 
edle  Strebsamkeit  hat  wahrhaftig  nichts  mit  behaglichem,  sattem 
Philistertum  zu  schaffen.  Nur  ein  paar  geringfügige  Zeilen  sind 
aus  der  langen  bissigen  Aufzeichnung  in  das  Hauptwerk  über- 
nommen worden.  Wir  dürfen  sie  mit  Stillschweigen  übergehen, 
da  sie  nicht  das  Fiktive  berühren.  Interessant  ist  immerhin,  zu 
beobachten,  wie  früh  (die  Skizze  gehört  dem  Jahre  1813  an)  sich 
schon  der  Danziger  Philosoph  mit  der  typischen  Figur  des  Philisters 
zu  beschäftigen  beginnt,  deren  umfassende  satirische  Analyse 
nachmals  eines  der  glänzendsten  Kapitel  in  den  Parerga  und 
Paralipomena  geworden  ist. 

5.  Widerspruchsvoller  Charakter  der  geometrischen 

Kongruenz. 

Nur  kurz  berühre  ich  eine  apokryphe  Stelle  aus  dem  be- 
trächtlichen §  75,  der  für  einige  Seiten  der  Doktordissertation 
die  Quelle  bildet.    Sie  lautet: 

,, Unter  den  Axiomen  der  Geom[etrie]  ist  auch,  daß  Figuren, 
die  sich  decken,  gleich  sind.  Aber  zu  dessen  Brauchbarkeit 
müßte  unter  den  Postulaten  auch  das  sein,  ,,eine  Figur  auf  die 
andere  zu  legen":  was  indes  auf  eine  Überzeugung  wirkende 
Weise  unmöglich  ist:  denn  physisch  ist  eine  völlig  regelmäßige 
Figur  unmöglich,  also  kann  man  sich  durch  Aufeinanderlegen 
wirklicher  Figuren  nie  überzeugen,  daß  sie  [d]^)  (sie)  [Korr.]^) 
[die  durch  sie  vorgestellten  rein-geometrischen  |  gleich  sind.  In 
der  Einbildungskraft  geht  es  gar  nicht  an,  beide  Figuren  auf- 
einander zu  legen  und  sie  doch  als  zwei  verschiedene  zu  erhalten 
und  zu  vergleichen." 

Sehr  drastisch  enthüllt   Schopenhauer  hier  den  widerspruchs- 

)  [^]  =  durchstrichen,  bezieht  sich  auf  das  Eingeklammerte  daneben. 
*)  [Korr.]  =  Korrektur,   bezieht  sich   auf  das   mit    |   .  .  .   |   abgeteilte    Stück, 
das  Schopenhauer  für  (sie)  eingesetzt  hat. 


iVnsätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  5^1 

vollen  Charakter  geometrischer  Kongruenz.  Er  läßt  sich  dadurch 
leider  zu  einem  voreiligen  Verwerfungsurteil  über  diese  trotzdem 
wertvolle  Fiktion  verleiten.  Es  fehlt  sozusagen  der  fiktionalistische 
Mut.  Die  Bemerkung  blieb  vermutlich  unbenutzt,  weil  der  Autor 
selbst  damit  nicht  ins  reine  gekommen  ist. 

6.  Widerspruchsvolle,   aber  unvermeidliche   Relation 
zwischen    dem  ,, besseren"    und    empirischen  Bewußtsein. 

Bedeutender  ist  die  Aufzeichnung  §  ^d,  die  uns  in  die  Region 
der  metaphysischen  Fiktionen  entrückt.  Die  Sonderung  des  ,, besseren 
Bewußtseins"  und  des  ,, empirischen"  veranlaßt  den  jungen  Denker, 
die  Frage  ,,nach  der  Relation  zwischen  beiden"  aufzuwerfen, 
,, nämlich,  wie  es  zum  empirischen  Bewußtsein  je  habe  kommen 
können".  Bei  genauerer  Überlegung  stellt  sich  heraus,  daß  man 
dabei  widerspruchsvolle  Voraussetzungen  macht  (eine  zeitliche 
Folge  des  empirischen  Bewußtseins  auf  das  bessere  oder  ein  ur- 
sächliches oder  sonstiges  Verhältnis  zwischen  beiden,  während 
doch  alle  solche  Bestimmungen  ausschließlich  im  empirischen 
Bewußtsein  gelten).  ,,Die  Frage  nach  obiger  Relation  hat  also 
gar  keinen  Sinn:  denn  sie  hebt  das  empirische  Bewußtsein 
auf  und  fragt  nach  Relation,  die  doch  nur  mit  jenem  Bewußtsein 
gesetzt  wird.  Dennoch  ist  dieser  transzendentale  Schein 
unvermeidlich  und  nicht  zu  heben:  wir  können  gar  nicht 
umhin,  besagte  Relation  zu  denken:  der  Sündenfall 
drückt  sie  mythisch  aus.  Man  kann  sagen,  wenn  man  durch- 
aus von  dieser  Relation  reden  will,  sie  sei  eine  schlechthin  und  in 
alle  Ewigkeit  unerkennbare.  Denn  das  bessere  Bewußtsein  denkt 
und  erkennt  nicht,  da  es  jenseits  des  Subjekts  und  Objekts  liegt : 
das  empirische  Bewußtsein  aber  kann  keine  Relation  erkennen, 
deren  eines  Glied  es  selbst  ist,  die  also  über  seine  Sphäre  hinaus 
liegt  und  diese  selbst  einschließt.  Wenn  man  aber  so  spricht,  so 
setzt  man  etwas  in  sich  Widersprechendes  und  Undenk- 
bares als  gedacht  voraus,  nämlich  besagte  Relation,  die  ein 
bloßer  transzendentaler  Schein  ist." 

Man  beachte,  daß  Schopenhauer  einerseits  den  widerspruchs- 
vollen Charakter,  andererseits  die  Unentbehrlichkeit  des  fraglichen 
transzendentalen  Relationsgedankens  behauptet,  mithin,  wenn  auch 
ohne  terminologisches  Bewußtsein,  eine  waschechte  Fiktion  fest- 
stellt, sogar  unter  Hinweis  auf  eine  besondere  mythologische  Aus- 

34* 


-72  Arnold   Kowalewski: 

(Iruckslorm.  Die  gediegene  Aufzeichnung  ist  in  den  Werken 
nicht  verwertet  worden.  Zusätze  bzw.  Korrekturen  fehlen  voll- 
kommen. Daraus  darf  man  wohl  auch  schließen,  daß  der  Denker 
dieses  Stück  später  nicht  mehr  nachgelesen  imd  nachgeprüft  hat. 

7.  ,,Gott"  als   leerer  Name. 

Der  gleichfalls  ungeänderte  und  unbenutzte  satirische  Satz 
§  95  stellt  gleichsam  den  Giftextrakt  aus  der  fiktionalistischen 
Kritik  des  Gottesbegriffes  in  §  61  dar.  Er  bedarf  keines  Kom- 
mentars. 

,,Gott  ist  in  der  neuen  Philosophie,  was  die  letzten  fränkischen 
Könige  unter  den  Majores  Domus,  ein  leerer  Name,  den  man 
beibehält,  um  bequem  und  unangefochtener  sein  Wesen  treiben 
zu  können." 

8.   Bedeutung  der   Ideen. 

Erfreulicher  ist  §  99,  wo  Schopenhauer  mit  einfühlender 
Analyse  die  praktische  Bedeutung  der  Ideen  behandelt.  Er  kommt 
dem  positiven  Fiktionalismus  sehr  weit  entgegen,  statuiert  aber 
für  den  Philosophen  doch  wieder  eine  Ausnahme.  Es  seien  wenig- 
stens die  Kernsätze  aus  diesem  Aphorismus  zitiert. 

,, Durch  Idee  schlechthin  könnte  man,  dächte  ich,  sehr  füg- 
lich folgendes  bezeichnen,  das  als  ein  ganz  ausgezeichneter  und 
unvergleich[lichjer  Gegenstand  unscrs  Erkenntnisvermögens  eines 
eignen  Ausdrucks  bedarf. 

Ein  Objekt,  entweder  Begriff  oder  einzelnes  Objekt,  welches 
wir  mit  dem  bessern  Bewußtsein  eng  und  unauflöslich 
verknüpft  haben.  So  ist  jedem  Gläubigen  seine  Religion  eine 
Idee,  nämlich  ein  Ganzes  von  Begriffen,  das  seiner  Vernunft  das 
bessere  Bewußtsein  repräsentiert,  welches  er  daher  von  jenem 
flurchaus  nicht  trennen  kann.  Für  eine  Idee  (nicht  jeder 
ist  einer  fähig)  stirbt  man  gern,  und  solcher  Tod  ist  höchste  Tugend, 
sei  die  Idee  auch  abgeschmackt:  denn  sie  repräsentiert  das 
iK'ssere  Bc-\\-ußtsein,  und  was  man  für  sie  tut,  hat  man  für  das 
bessere  Bewußtsein,  für  dessen  Bejahung  und  Behauptung  getan." 

Es  folgen  nun  mehrere  Beispiele  von  Aufopferung  für  die  Idee. 
Auch  wird  gezeigt,  daß  die  Ehre  (im  ritterlichen  Sinne)  keine 
„Idee"  sei,  sondern  nur  ,,das  irdische  Nachbild  derselben".  Nach- 
dem endlich  norh  <inm:d  die  feste  Verknüpfung  der  echten   Idee 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  c  3  7 

mit  dem  besseren  Bewußtsein  durch  das  Analogen  einer  chemischen 
Verbindung  erläutert  ist,  kommt  der  frostige  Schluß: 

,,Der  Philosoph,  der  Entwirrer  aller  Erscheinungen  des 
Ix^bens,  gleicht  dem  scheidenden  Chemiker:  er  befreit  das  bessere 
Bewußtsein  von  allem,  woran  es  gebunden  sein  kann  [Zz.j  und 
erhält  es  frei  und  rein.  Der  Philosoph  kann  daher  keine  Ideen  haben." 

Dieser  Aphorismus  ist  wiederum  nicht  in  die  Schopenhauer- 
schen  Werke  aufgenommen,  muß  aber  den  Denker  trotzdem  nach- 
haltiger beschäftigt  haben,  wie  die  eingefügten  Zusätze  bekunden. 
Die  rigoristische  Schlußsentenz,  daß  der  Philosoph  keine  Ideen 
haben  könne,  fordert  mit  andern  Worten  Fiktionslosigkeit. 
Das  erinnert  an  die  in  der  Einleitung  angeführte  Parergastelle, 
wo  Schopenhauer  stolz  erklärt,  daß  bei  ihm  ,, keine  Fiktionen 
erfordert"  seien.  Wir  werden  noch  mehrfach  Gelegenheit  haben, 
zu  prüfen,  ob  der  Danziger  Philosoph  in  seinem  eigenen  System 
wirklich  dieses  stolze  Wort  genau  erfüllt. 


9.   Philosophische  Auslegung  von  Adams  Sündenfall 

und   Jesu   Opfertod. 

Zwei  Hauptdogmen  des  Christentums  sucht  der  junge  Denker 
in  einer  zu  Weimar  1814  niedergeschriebenen  Reflexion  (§  125) 
philosophisch  zu  deuten.  Trotz  der  knappen  Formulierung  muß 
er  sich  sehr  gründlich  mit  der  Sache  beschäftigt  haben,  da  zahl- 
reiche Zusätze  historische  Belegstellen  aus  der  Bibel  und  aus 
Kirchenschriftstellern  beibringen.  Es  handelt  sich  um  Adams 
Sündenfall  und  Jesu  Opfertod,  die  beide  nach  der  Lehre  des 
Christentums  einschneidende  Bedeutung  für  die  Welt  haben.  En- 
thusiastisch nennt  Schopenhauer  diese  Lehre  ,,eine  im  strengsten 
Sinne  wahre,  unübertreffliche,  höchst  tiefsinnige"  und  läßt  auch 
im  weiteren  Verlaufe  der  Aufzeichnung  nicht  den  leisesten  Mißton 
durch  irgend  eine  kritisierende  Zwischenbemerkung  laut  werden. 
Seine  philosophische  Auslegung  ist  nun  folgende: 

,,Wenn  .  .  .  wir  die  Platonische  Idee  des  Menschen  betrachten, 
so  sehen  wir,  daß  Adams  Sündenfall  die  endliche,  tierische,  sündige 
Natur  des  Menscheri  ausspricht,  indem  er  von  derselben  ein  un- 
leugbares Zeugnis  ablegt:  von  dieser  Seite  betrachtet,  ist  also 
der  Mensch  ein  der  Endlichkeit,  der  Sünde,  dem  Tode  anheim- 
gefallenes  Wesen.     Jesu    Christi   Wandel,    Lehre  und   Tod  spricht 


-  ■>  ,  Arnold  Kowalewski : 

digigrn  die  ewige,  übernatürliche  Seite,  die  Freiheit,  die  Er- 
lösung des  Menschen  aus,   ist  ein  unleugbares  Zeugnis  derselben. 

Wer  nun  Mensch  ist,  ist  als  solcher  nicht  nur  Adam,  sondern 
er  ist  auch  Jesus:  er  kann  sich  als  jener,  aber  auch  als  dieser 
betrachten:  je  nachdem  er  sich  betrachtet  (nicht  in  der  Reflexion, 
sondern  im  Sein,  das  sich  durch  Handeln  ausspricht,  ist 
er  verdammt  und  dem  Tode  anheimgefallen,  oder  er  ist  erlöst 
und  im  ewigen  Leben.  —  Also :  den  Menschen  (in  der  Platonischen 
Idee)  hat  Adam  der  Sünde  und  dem  Tode  zugesprochen,  und 
Jesus  hat  ihn  erlöst." 

Der  Herausgeber  der  Manuskripte  merkt  an,  daß  der  ganze 
§  125,  von  dem  wir  nur  die  letzten  .Kernsätze  wiedergegeben 
haben,  ,,ohne  die  Zitate"  in  den  Ergänzungsband  des  Haupt- 
werkes aufgenommen  sei.  Tatsächlich  besteht  eine  weitgehende 
wörtliche  Kongruenz  zwischen  dieser  Aufzeichnung  und  der  Welt 
als  Wille  und  Vorstellung  H,  Kap.  48,  gegen  Schluß.  Ein  ähn- 
licher Gedankengang  kommt  aber  auch  in  der  editio  princeps 
(S.  473 f.  und  581)  vor  und  hat  sich  von  dort  aus  im  ersten  Bande 
der  späteren  Auf k' gen  des  Hauptwerkes  (teilweise  mit  Zusätzen) 
fortgeerbt  (I,  §  60  und  §  70).  Hier  findet  man  auch  großenteils 
die  vom  Herausgeber  vermißten  Zitate  des  Manuskripts.  Die 
gedruckten  Darkgungen  unterscheiden  sich  dadurch  von  dem 
handschriftlichen  Original,  daß  sie  auch  äußerlich,  am  schärfsten 
der  Zusatz  der  3.  Auflrge,  den  symbolischen  Charakter  der  Dog- 
men herv'orheben  und  die  bekannten  Kategorien  des  Systems 
(,, Bejahung  des  Willens  zum  Leben"  =  Adam,  ,, Verneinung  des 
Willens"  =  Erlöser)  benutzen.  Jedenfalls  ist  es  interessant,  zu 
beobachten,  wie  früh  der  junge  Denker  sich  um  eine  positive 
Würdigung  religiöser  Ide<.n  bemühte,  und  zugleich  seiner  Philo- 
sophie einen  wichtigen  Resonanzboden  schuf.  Entwicklungs- 
geschichtlich sei  noch  erwähnt,  dvS  mit  der  zunehmenden  Ver- 
schärfung der  Fiktion  in  den  späteren  Schriften  zugleich  die  Un- 
duldsamkeit des  Philosophen  gegen  den  kindlichen  historischen 
Glauben  immer  schroffer  wird  und  zuletzt  in  Blasphemie  ausartet. 

10.    Rcchtfcrtii:iung   der   Dogmen  von   der  jungfräulichen 
Geburt  und   dem  Scheinleib   Jesu. 

Noch  ^inc  überraschende  Probe  von  positiver  Deutungskunsi 
auf   dem   gleichen    Gebiete   gibt    uns    Schopenhauer   in   einer   Auf- 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  c^r 

Zeichnung  desselben  Jahres  und  Ortes  (§  i68),  die  er  selbst  mit 
der  früheren  verglichen  wissen  will.  Er  sucht  das  Dogma  von 
der  jungfräulichen  Geburt  Jesu  zu  rechtfertigen,  wieder  unter  Bei- 
bringung historischer  Belegstellen. 

„Wenn  wir  annehmen  (was  sich  ziemlich  gewiß  ergibt,  so- 
bald man  die  Evangelien  als  in  der  Hauptsache  ganz  wahr  an- 
sieht), daß  Jesus  Christus  ein  Mensch  gewesen  sei,  ganz  frei 
von  allem  Bösen  und  von  allen  sündigen  Neigungen;  so  muß 
(da  mit  dem  Leibe  sündige  Neigungen  eigentlich  notwendig  ge- 
setzt sind,  ja  der  Leib  nichts  ist  als  die  verkörperte  sichtbar  ge- 
wordene sündige  Neigung)  —  Jesu  Leib  allerdings  nur  ein  Schein - 
leib  genannt  werden.  Einen  solchen  von  aller  sündigen  Neigung 
ganz  freien  Menschen,  einen  solchen  Träger  eines  Scheinleibs, 
sich  als  von  einer  Jungfrau  geboren  zu  denken,  ist  ein 
vortrefflicher  Gedanke.  Selbst  physisch  läßt  sich,  davon  eine, 
wiewohl  entfernte,  Möglichkeit  aufzeigen." 

Dann  erwähnt  er  entsprechende  Fälle  von  Parthenogenesis 
bei  Tieren  und  schließt  die  ganze  Aufzeichnung  mit  den  Worten: 

,,Daß  dieses  ein  einziges  Mal  beim  Menschen  eingetreten 
sei,  ist  nicht  so  unwahrscheinlich  zu  denken,  als  daß  es  einen 
wirklich  sündenfreien  Menschen  gegeben  habe,  und  sobald  wir 
letzteres  annehmen,  kann  jenes,  bei  der,  aller  Vernunft  unerreich- 
baren, Harmonie  zwischen  der  Korporisation  und  dem  intelli- 
giblen  Charakter  jedes  lebenden  Wesens  [Zz.]  und  der  Erblich- 
keit vieler  Neigungen  und  Charakterzüge,  sehr  wohl  angenommen 
werden.' 

Dies  ist  ein  verwickelter  Fall,  eine  Verschmelzung  von  Fiktion 
und  Hypothese.  Aus  dem  ersten  Stücke  möchte  man  vorwiegend 
eine  Fiktion  herauslesen.  Der  jun;:^e  Philosoph  spricht  vorsichtig, 
daß  man  den  fraglichen  Leib  nur  ,, Scheinleib  nennen"  müsse. 
Das  Dogma  selbst  heißt  ein  ,, vortrefflicher  Gedanke",  was  gleich- 
falls wenig  realistisch  klingt.  Aber  der  letzte  Satz  des  Stückes 
deutet  auf  eine  empirische  Bestätigungsmöglichkeit  hin.  Damit 
ist  die  Umbiegung  der  Fiktion  in  eine  Hypothese  unzweideutig 
gegeben.  Der  Schlußsatz  scheint  diese  Hypothese  als  definitives 
Votum  zu  präzisieren.  Ist  die  vorstehende  Analyse  zutreffend,  so 
haben  wir  hier  innerhalb  eines  einzigen  Gedankenganges 
,, Ideenverschiebung"  im  Sinne  des  Vaihingerschen  Gesetzes  kon- 
statiert. Was  am  Anfang  des  Gedankenganges  Fiktion  ist,  ver- 
wandelt sich  am  Ende  desselben  in  eine  Hypothese. 


536 


Arnold  Kowalewski: 


WtlilK's  Scliicksal  liat  nun  diese  Aufzeichnung  in  der  litera- 
rischen Öffenthchkeit  gehabt?  Sie  ist  tatsächlich  im  Hauptwerke 
wrwertet  worden.  Aber  wie?  Sie  ist  auf  S.  581  mit  der  schon 
erwähnten  Reflexion  über  Sündenfall  und  Erlösung  verwoben 
worden,  unter  stärkster  Verkürzung.  Die  symbolische  Form,  die 
nach  den  einleitenden  Worten  „symbolisiert  Gnade,  die  Ver- 
neinung des  Willens  im  menschgewordenen  Gotte,  der  usw."  dem 
Ganzen  aufgeprägt  ist,  läßt  jetzt  keine  Umbiegung  in  die  Hypo- 
these mehr  zu.  Schopenhauer  unterdrückt  ganz  den  Hinw^eis  auf 
eine  empirische  Bestätigungsmöglichkeit  des  Dogmas  (Partheno- 
gencsis  bei  Tieren),  bringt  aber  die  hauptsächhchsten  historischen 
Belege  für  den  Doketismus  (Annahme  eines  Scheinleibes)  aus  dem 
Manuskript.  Diese  Belege  beziehen  sich  bloß  auf  eine  Feststellung 
des  dogmatischen  Lehrbestandes  und  seiner  Schriftgemäßheit.  An 
eine  Erörterung  der  materiellen  Wahrheit  ^^'ird  auch  bei  der  Schein- 
leibfrage nicht  im  geringsten  gedacht.  Aus  der  Verschmelzung 
\on  Fiktion  und  Hypothese  ist  also  in  der  gedruckten  Deutung 
der  Jungfrauengeburt  und  des  Scheinleibes  eine  reine  Fiktion 
geworden.  Diese  reine  Fiktion  hat  sich  auch  durch  die  späteren 
Auflagen  des  Hauptwerkes  hindurch  fest  behauptet.  Man  möchte 
liierbci  an  eine  parallele  Als-Ob-Betrachtung  Kants  erinnern,  der 
Vai hinger  in  seiner  ,, Philosophie  des  Als  Ob"  eine  treffliche 
Anidyse  gewidmet  hat  (a.  a.  O.  S.  661  und  721).  Auch  der 
Königsberger  Weise  tritt  nicht  nur  in  seinem  religionsphilosophischen 
Werke,  sondern  sogar  noch  in  seinem  Nachlaßmanuskript  für  die 
,,Idee"  der  jungfräulichen  Geburt  Christi  ein.  Es  fehlt  aber  durch- 
aus das  doketistische  Motiv.  Darum  schon  dürfte  Schopenhauers 
fiktionalistische  Charakteristik  ganz  unabhängig  von  Kantischem 
Einfluß  sein.  Für  ihre  Selbständigkeit  sprechen  auch  die  indi- 
viduellen Kategorien  des  Systems  (Willensbejahung  —  Willens- 
vcrneinung),  mit  denen  der  Danzigor  Philosoph  operiert.  Als  Be- 
sonderheit möchte  ich  noch  nachträglich  hervorheben,  daß  in  der 
gedruckten  Darstellung  zuerst  die  jungfräuliche  Geburt  und  dann 
erst  der  Scheinleib  gerechtfertigt  wird,  während  im  Manuskript 
die  umgekehrte  Reihenfolge  herrscht.  Es  handelt  sich,  genau  ge- 
nommen, um  zwei  Fiktionen,  die  aber  für  Schopenhauer  eng 
zusammengehören. 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  C5j 

II.   Zweck  des   Lebens  —  figürlich  für  ,, Wesen  des 
Lebens  oder  der  Welt'  . 

§  209  (aus  dem  Jahre  1814)  enthält  eine  interessante,  aber 
unbenutzt  gebliebene  Polemik  gegen  die  üblichen  Lobpreisungen 
.  der  Unschuld.  Gleich  der  Anfang  dieser  Polemik  muß  unsere 
Aufmerksamkeit  erregen. 

,,Die  Unschuld  ist  wesentlich  dumm.  Dies  daher,  v^'eil  der 
Zweck  des  Lebens  (ich  bediene  mich  dieses  Ausdrucks  eigent- 
lich nur  figürlich  und  könnte  sagen  das  Wesen  des  Lebens 
oder  der  Welt)  der  ist,  daß  wir  unsern  eignen  bösen  Willen  er- 
kennen, [Zz.]  daß  er  Objekt  für  uns  werde,  und  wir  demnach 
uns  im  Innersten  bekehren." 

Hier  wird  ein  ganz  harmloser  Ausdruck,  den  man  tagtäglich 
ohne  Bedenken  im  Munde  führt,  ,,der  Zweck  des  Lebens"  sozu- 
sagen mit  einer  fiktionalistischen  Entschuldigung  vorgestellt.  Man 
soll  ihn  also  nicht  ernst  nehmen,  wenn  er  ,, eigentlich  nur  figürlich" 
gilt,  und  daneben  ist  sogleich  ein  einwandfreier  Ersatz  genannt, 
,, Wesen  des  Lebens  oder  der  Welt".  Schopenhauer  nimmt  an 
de'm  gewöhnlichen  Ausdrucke  offenbar  darum  Anstoß,  weil  seine 
ganze  metaphysische  Betrachtungsweise  über  die  durch  den  Satz 
vom  Grunde  beherrschte  Erscheinungssphäre,  wo  das  Warum  und 
Wozu  allein  Bedeutung  haben,  hinausstrebt.  ,, Alles  falsche  Philo- 
sophieren", so  heißt  es  in  einer  anderen  Aufzeichnung  (§  370), 
,,hat  sein  Wesen  darin,  daß  es  den  Satz  vom  Grund  für  ab- 
solut hält  und  nach  ihm  die  Welt  erklärt."  Außerdem  mißfällt 
dem  jungen  Philosophen  wohl  auch  das  optimistische  Vorurteil, 
das  dem  Ausdrucke  ,,der  Zweck  des  Lebens"  anzuhaften  scheint. 
Trotzdem  wird  nicht  der  mitgenannte  Ersatzausdruck  gewählt. 
Wie  kommt  das?  Die  Sache  liegt  einfach  so.  Schopenhauer 
möchte  seine  Lehre  von  der  Willensverneinung  (hier  populär 
,, Bekehrung"  genannt)  rasch  auf  eine  faßliche  Formel  bringen, 
die  zugleich  einen  praktischen  Impuls  gibt.  Dazu  ist  augenschein- 
lich der  starre,  gleichgültige,  theoretische  Ausdruck  ,, Wesen  des 
Lebens  oder  der  Welt"  ganz  ungeeignet.  Der  eigentlich  ungültige, 
mit  trügerischem  Nebensinn  belastete  Ausdruck  ,, Zweck  des  Lebens" 
birgt  aber  sozusagen  eine  geheime  protreptische  Kraft,  die  sich 
auch  in  einem  außerordenthchen  Falle  bequem  nutzen  läßt.  Merk- 
x^ürdig    ist    jedenfalls,    daß   das    fundamentale    Philosophem 


;3S 


Arnold  Kowalewski: 


von    der    Willonsvcrneinung    in    dem    bescheidenen    Ge- 
wände einer   Fiktion  erscheint. 

Sehen  wir  sofort  zu,  ob  dieses  bescheidene  Gewand  sich  auch 
bei  weiteren  Gelegenheiten  zeigt. 

12.   Zweck  des   Lebens  —  gleichniswcise. 

Die  nächste  Gelegenheit  bietet  §  254,  eine  umfassendere  tief- 
sinnige, fast  ganz  unbenutzt  gebliebene  Skizze  (auch  aus  dem 
Jahre  1814),  die  sich  um  eine  Aufklärung  der  dunkeln  Erlösungs- 
lehre bemüht.    Mitten  darin  lesen  wir: 

,,Der  Zweck  des  Lebens  (ich  brauche  hier  einen  nur  gleichnis- 
weise wahren  Ausdruck)  ist  die  Erkenntnis  des  Willens.  Das 
Leben  ist  der  Spiegel  des  Willens,  dessen  in  innerer  Entzweiung 
bestehendes  Wesen  darin  Objekt  wird,  durch  welche  Erkenntnis 
der  Wille  sich  wenden  kann  und  Erlösung  möglich  ist." 

Nur  der  früher  mitgenannte  ,,eigentHche"  Ausdruck  fehlt. 
Sonst  ist  alles  beim  alten  geblieben.  Die  Fiktion  ,, Zweck  des 
Lebens"  hat  nicht  die  geringste  Verschiebung  erlitten. 

13.  Zweck  der  Welt  —  dogmatisch? 

Schon  die  (noch  aus  dem  Jahre  1814  stammende)  glänzende 
ethische  Analyse  Bonapartes  (§  306),  von  der  im  Hauptwerke 
(I,  §  64),  sogar  in  dessen  ed.  princeps  (freilich  ohne  Nennung; 
des  gefürchteten  Namens)  teilweise  Gebrauch  gemacht  ist,  über- 
rascht uns  aber  mit  folgenden  Sätzen: 

,,Eben  dies  aber,  daß  erkannt  werde,  mit  welchem  namenlosen 
Jammer  der  Wille  zum  Leben  verknüpft  und  eigentlich  Eins  ist, 
ist  der  Zweck  der  Welt.  Bonapartes  Erscheinung  trägt  also 
viel  zu  diesem  Zweck  bei.  Daß  die  Welt  ein  fades  Schlaraffen- 
land sei,  ist  nicht  ihr  Zweck;  sondern  dies,  daß  sie  ein  Trauerspiel 
sei,  in  welchem  der  Wille  zum  Leben  sich  ei'kenne  und  wende. 
Bonaparte  ist  nur  ein  gewaltiger  Spiegel  des  Willens  zum  Leben." 

Hier  redet  Schopenhauer  in  naiv  dogmatischem  Tone  vom 
,, Zweck  der  Welt"  und  bestimmt  diesen  Zweck  sogar  nicht  nur 
im  allgemeinen  durch  die  Formel  ,, Selbsterkenntnis  und  Wendung 
(d.  h.  Verneinung)  des  Willens",  sondern  auch  nach  seiner  be- 
sonderen Beschaffenheit  genauer  durch  Exemplifizierung  auf  den 
Fall  Bonaparte    Nicht  eine  Silbe  von  fiktiona listischer  Abschwächung 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  "530 

des  Ausdruckes  ist  aus  dem  übrigen  Inhalte  des  kleinen  Aufsatzes 
zu  entnehmen.  Daß  „Welt"  für  „Leben"  eingesetzt  ist,  macht 
natürlich  keinen  Unterschied,  sagte  doch  Schopenhauer  zuerst 
selbst  ,, Wesen  des  Lebens  oder  der  Welt".  Er  brauchte  an  dieser 
Stelle  ein  Ersatzwort  für  ,, Leben"  wegen  der  gleichzeitig  ein- 
geführten Formel  ,, Wille  zum  Leben".  Die  Abkgung  des  offi» 
ziellen  Gewandes  der  Fiktion  ist  wohl  aus  der  populären  halb- 
paränetischen  Situation  der  ganzen  Aufzeichnung  zu  erklären. 
Gerade  der  uns  hier  interessierende,  oben  zitierte  Passus  ist  nicht 
in  die  gedruckten  Werke  übergegangen. 

14.   Zweck  des   Menschen  —  parabolisch. 

In  §  328  (ebenfalls  aus  dem  Jahre  1814)  bekämpft  Schopen- 
hauer die  Ansicht,  ,,der  Staat  habe  zur  Absicht  Beförderung  des 
moralischen  Zwecks  des  Menschen".  Viel  eher  sei  das  Gegenteil 
wahr.    Und  in  der  Begründung  dieser  paradoxen  These  heißt  es: 

,,Der  Zweck  des  Menschen  (ein  parabolischer  Ausdruck) 
ist  nicht,  daß  er  so  oder  anders  handele,  denn  alle  opera  operata  sind 
an  sich  gleichgültig.  Sondern  daß  der  Wille,  davon  jeder  Mensch 
ein  vollständiges  specimen,  ja  dieser  Wille  selbst  ist,  sich  wende, 
wozu  nötig  ist,  daß  der  Mensch  (der  Verein  von  Erkennen  und 
Wollen)  diesen  Willen  erkenne,  das  Entsetzliche  dieses  Willens 
erkenne,  sich  spiegele  in  seinen  Taten  und  deren  Greuel.  Der 
Staat,  dem  es  nur  aufs  Wohlsein  aller  abgesehen  ist,  hemmt  die 
Äußerungen  des  bösen  Willens,  keineswegs  den  Willen,  was  un- 
möglich wäre.  Dadurch  geschieht  es,  daß  höchst  selten  ein  Mensch 
seine  ganze  Entsetzlichkeit  im  Spiegel  seiner  Taten  sieht." 

Und  ein  Zusatz,  der  nach  einigen  Zwischenbemerkungen  das 
Ganze  beschließt,  erklärt  pointierend : 

,,Der  Staat  bezweckt  ein  Schlaraffenland,  das  dem  wahren 
Zweck  des  Lebens,  der  Erkenntnis  des  Willens  in  seiner  Furchtbar- 
keit, grade  entgegensteht." 

Die  vorstehenden  Gedanken  sind  natürlich  in  mehrfacher  Be- 
ziehung wertvoll.  Uns  erscheint  besonders  auffällig  der  fiktio- 
nalistische  Index,  mit  dem  der  harmlose  Begriff  ,, Zweck  des  Men- 
schen" erscheint.  Dieser  Begriff  ist  offenbar  nur  eine  neue  syno- 
nyme Nebenform  zu  den  früheren  Ausdrücken  ,,Zw^eck  des  Lebens" 
und  ,, Zweck  der  Welt".  Nach  der  letzten  dogmatisierenden 
Zwischenphase  hat  also  hiermit  eine  Rückkehr  zur  Fiktion  statt- 


r4Q  Arnold  Kowalevvski: 

gefunden.  Es  wäre  Pedanterie,  einen  Widerspruch  darin  zu  sehen, 
daß  der  junge  Philosoph  selbst  in  dem  abschließenden  Zusätze 
den  Ausdruck  „wahrer  Zweck  des  Lebens"  gebraucht,  der  gleich- 
falls eine  fiktionalistische  Einschränkung  fordert.  Die  Vorerklärung 
sollte  eben  auch  für  das  Folgende  mitgelten.  Die  Fiktion  fungiert 
hier  zugleich  als  dialektische  Prävcntivmaßregel.  Sie  schneidet 
eine  ganze  Reihe  von  Erörterungen  ab,  die  nur  dann  in  Frage 
kommen,  wenn  der  Begriff  ,, Zweck  des  Menschen"  im  eigent- 
lichen Sinne  genommen  wird.    Ein  geschickter  methodischer  Kniff. 

Eine  wörtliche  Benutzung  von  §  328  vermag  ich  in  den  ge- 
druckten Schriften  nicht  nachzuweisen.  Doch  findet  man  ähn- 
liche Gedanken  über  den  Staat  im  Hauptwerke  (I,  §  62),  wenn 
auch  in  etwas  gemilderter  Form.  Der  fragliche  Passus  ist  sogar 
Erbgut  aus  der  editio  princeps. 

Im  großen  und  ganzen  müssen  wir  —  um  auf  unseren  eigent- 
lichen Fragepunkt  zurückzukommen  —  sagen,  daß  Schopenhauer 
den  Ausdruck  ,, Zweck  des  Lebens"  und  die  Synonyma  davon  in 
den  Erstlingsmanuskripten  fiktionalistisch  auffaßt.  Ist  dieselbe 
Auffassung  nun  auch  in  den  gedruckten  Werken  zu  beobachten  ? 
Da  die  oben  besprochenen  Manuskriptstellen  ganz  oder  fast  ganz 
unbenutzt  geblieben  sind,  müssen  wir  an  der  Hand  sachlicher 
Berührungspunkte  in  dem  Lehrstoffe  der  Schopenhauerschen 
Schriften  freie  Umschau  halten.  Wo  das  menschliche  Leben,  die 
Nichtigkeit  des  Glückes,  die  Wichtigkeit  der  pessimistischen  Ein- 
sicht und  der  Willensverneinung  erörtert  wird,  da  liegt  die  An- 
wendung des  Ausdruckes  ,, Zweck  des  Lebens"  doch  wohl  am 
nächsten.  Die  Nachforschung  ist  der  Zeitfolge  der  Schriften  an- 
zupassen. Hierbei  kann  Wagners  Register  gute  Helferdienste 
leisten.  Denn  die  Stichwörter,  die  hier  in  Betracht  kommen, 
haben  in  seinem  Register  Berücksichtigung  gefunden.  Sogar  dem 
,, Leben"  ist  ein  besonderer  Artikel  gewidmet.  In  den  ersten 
Schriften  Schopenhauers  bis  zur  naturphilosophischen  Abhand- 
lung vom  Jahre  1836  scheint  der  Danziger  Denker  von  ,, Zweck 
<les  Lebens"  u.  dgl.  überhaupt  nicht  gesprochen  zu  haben.  Wagner 
verzeichnet  allerdings  zu  dem  Satze:  ,,Der  Zweck  des  Lebens  ist 
kein  intellektueller,  sondern  ein  moralischer"  eine  Belegstelle  aus 
dem  ersten  Bande  des  Hauptwerkes  neben  solchen  aus  dem  zweiten 
Bande  und  der  naturphilosophischen  Abhandlung.  Schlägt  man 
aber  dies<:  Stellen  auf.  so  zeigt  sich,  daß  nur  die  aus  Band  II 
flcs   Hauptwerkes   den   zitierten    Satz   wörtlich   bietet.     Die    Stelle 


Ansätze  zum   Fil;tionalismus  bei  Schopenhauer.  541 

aus  Band  I,  §  66,  aber  lautet;  „Es  wäre  auch  sehr  schhmm,  wenn 
die  Hauptsache  des  menschlichen  Lebens,  sein  ethischer, 
für  die  Ewigkeit  geltender  Wert,  von  etwas  abhinge  usw."  Das 
Wort  ,, Zweck"  ist  vermieden.  Analog  verhält  es  sich  mit  der 
Stelle  aus  der  Abhandlung  ,,Übcr  den  Willen  in  der  Natur".  Diese 
ist  besonders  interessant,  weil  sie  den  Ausdruck  mehrfach  variiert 
und  doch  ohne  ,, Zweck"  auskommt.  Es  heißt  da  nämlich  (zu 
Anfang  des  Abschnittes  ,, Hinweisung  auf  die  Ethik"):  ,,.  .  .  .daß 
das  Wichtigste,  ja  allein  Wesentliche  des  ganzen  Daseins,  das, 
worauf  alles  ankommt,  die  eigentliche  Bedeutung,  der  Wende- 
punkt, die  Pointe  (sit  venia  verbo)  desselben,  in  der  Moralität 
des  menschlichen  Handelns  liege."  Die  mit  einem  fiktionalistischcn 
Index  ausgezeichnete  ,, Pointe"  des  Daseins  scheint  übrigens  äna^ 
}.s'/ö(jievov  bei  Schopenhauer  geblieben  zu  sein.  Sic  kommt  dem 
Ausdrucke  ,, eigentlicher  Zweck"  wohl  etwas  nahe,  kann  aber 
damit  doch  nicht  gleichgesetzt  werden.  Man  versteht  darunter 
mehr  das  Wesentliche  im  Gegensatze  zum  Nebensächlichen,  worauf 
ja  auch  die  Zusammenstellung  mit  den  verwandten  Bezeichnungen 
in  dem  Zitate  hindeutet.  Daß  Schopenhauer  in  seinen  frühesten 
Druckschriften  den  Ausdruck  ,, Zweck  des  Lebens"  nicht  benutzt, 
hängt  vielleicht  z.  T.  mit  der  Nachwirkung  der  fiktionalistischcn 
Kautelen  zusammen,  die  wir  in  den  Erstlingsmanuskripte«  kennen 
lernten.  Es  fehlt  ja  auch  nicht  an  einwandfreien  Ersatzausdrücken 
(die  Hauptsache,  das  Wesentliche).  Diese  werden  daher  gebraucht. 
So  bleibt  auch  der  Philosoph  der  relationslosen  Einstellung  seines 
metaphysischen  Der.kes  treu,  die  er  im  Hauptwerke  besonders 
energisch  herauskehrt.  Sie  ist  uns  gleichfalls  nicht  neu.  Gegen 
Ende  von  §  53  in  Band  I  z.  B.  heißt  es: 

,,Die  echte  philosophische  Betrachtungsweise  der  Welt,  d.  h. 
diejenige,  welche  uns  ihr  inneres  Wesen  erkennen  lehrt  und  so 
über  die  Erscheinung  hinausführt,  ist  gerade  die,  welche  nicht 
nach  dem  Woher  und  Wohin  und  Warum,  sondern  immer  und 
überall  nur  nach  dem  Was  der  Welt  fragt  ..."  Und  für  das 
ethische  Gebiet  weist  der  Philosoph  noch  ganz  besonders  den 
Anspruch  zurück,  irgendwelche  Vorschriften  zu  machen,  Pflichten 
aufzustellen  u.  dgl.  ,,Es  ist  doch  wohl  handgreiflicher  Wider- 
spruch, den  Willen  frei  zu  nennen  und  doch  ihm  Gesetze  vorzu- 
schreiben, nach  denen  er  wollen  soll .  .  .  Unser  philosophisches 
Bestreben  kann  bloß  dahin  gehen,  das  Handeln  des  Menschen, 
die  so  verschiedenen,  ja  entgegengesetzten  Maximen,  deren  leben- 


-  4  f  Arnold  Kowalewski : 

(ligor  Ausdruck  es  ist,  zu  deuten  und  zu  erklären,  ihrem  innersten 
Wesen  und  Gehalt  nach  ..."  (Ebenda  zu  Anfang.)  Der  relations- 
lüs  deutenden  Metaphysik  gemäß  läßt  darum  auch  Schopenhauer 
den  ,, Erdgeist"  schon  in  dem  pathetischen  Schlußpassus  von  §  35 
in  Band  I  des  Hauptwerkes  erklären:  ,,Der  Wille  allein  ist:  er, 
das  Ding  an  sich,  er,  die  Quelle  aller  jener  Erscheinungen.  Seine 
Selbsterkenntnis  und  darauf  sich  entscheidende  Bejahung  oder 
Verneinung  ist  die  einzige  Begebenheit  an  sich."  Genug. 
Wir  begreifen  einigermaßen  die  Situation  des  Sprachgebrauches. 
Später  lockerte  sich  die  durch  das  System  geforderte  Disziplin. 
Namentlich  in  den  erläuternden  Ausführungen  des  Ergänzungs- 
bandes zum  Hauptwerke  und  in  den  lose  aneinandergereihten 
Aufsätzen  der  Parerga  und  Paralipomena  war  ein  Wechsel  der 
Betrachtungsart  nicht  nur  erlaubt,  sondern  sogar  geboten.  Der 
hiermit  inaugurierte  laxere  philosophische  Stil  kam  auch  dem 
zurückgesetzten  harmlosen  Ausdrucke  ,, Zweck  des  Lebens"  zugute. 
Dieser  wird  nunmehr  häufiger  gebraucht,  und  zwar  ohne  fiktio- 
nalistische  Entschuldigungsworte.  Ich  führe  nur  ein  paar  Proben 
an.  Aus  dem  Ergänzungsbande  des  Hauptwerkes:  ,,....  jede 
Individualität  nur  ein  spezieller  Fehltritt,  etwas,  das  besser  nicht 
wäre,  ja  wovon  uns  zurückzubringen  der  eigentliche  Zweck 
des  Lebens  ist."  (S.  577,  ed.  Griseb.)  ,,Als  Zweck  unseres 
Daseins  ist  in  der  Tat  nichts  anderes  anzugeben,  als  die  Er- 
kenntnis, daß  wir  besser  nicht  da  wären."  (S.  713.)  ,,....  daß 
je  mehr  man  leidet,  desto  eher  der  wahre  Zweck  des  Lebens 
erreicht  wird  ..."  (S.  748.)  ,,.  .  .  daß  gerade  Schmerz  und  Trüb- 
sal auf  den  wahren  Zw^eck  des  Willens,  die  Abwendung  des 
Willens  von  demselben,  hinarbeiten."  (S.  749.)  Aus  den  Parerga 
und  Paralipomena:  ,,Wenn  nicht  der  nächste  und  unmittel- 
barste Zweck  unsers  Lebens  das  Leiden  ist;  so  ist  unser 
Dasein  das  Zweckwidrigste  auf  der  Welt."  (II,  S.  303,  ed. 
Griseb.) 

Genug   davon.     Wenden   wir    uns    zurück   zu    Schopenhauers 
Erstlingsmanuskripten ! 

15-    Der    Instinkt  —  ein   Handeln  wie   nach   Zweck- 
begriffen. 

Eine    bescheidene*  positive  Als-Ob-Betrachtung   steckt    in   der 
gedankenreichen  Aufzeichnung  §  233.    Der  junge  Philosoph  stößt 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  c^^ 

hier  u.  a.  auf  das  Problem  des  tierischen  Instinktes  und  gibt 
folgende  fiktionalistisch  gefärbte  Erklärung  dazu  ab: 

„Der  Instinkt  ist  ein  Handeln  nach  Zwecken  ohne  Wissen 
derselben:  d.  h.  ein  Handeln,  das  wie  ein  vernünftiges  nach 
Zweckbegriffen  ausfällt,  und  es  doch  nicht  ist:  es  ge- 
schieht dennoch  mit  Verstand,  nach  dem  Kausalitätsgesetz:  es 
bedarf  einer  weiteren  Erörterung  und  ist  wichtig  und  geheimnisvoll." 

Eine  wörtliche  Benutzung  dieser  Stelle  hat  in  den  Werken 
nicht  stattgefunden.  Doch  gehört  die  mehrfach  variierte  fiktio- 
nalistische  Charakteristik  des  Instinkts  zu  den  feststehenden  Lehr- 
stücken des  Schopenhauerschen  Systems.  Sie  hat  ja  auch  nichts 
Außerordentliches,  wenn  wir  uns  der  naheliegenden  Anregung 
seitens  der  Kantischen  Naturteleologie  erinnern.  Von 'den  zahl- 
reichen späteren  Formulierungen  will  ich  nur  eine  besonders  prä- 
gnante und  zugleich  erweiterte  aus  dem  Hauptwerke  als  Parallele 
zitieren : 

,,Denn  wie  der  Instinkt  ein  Handeln  ist,  gleich  dem  nach 
einem  Zweckbegriff,  und  doch  ganz  ohne  denselben,  so  ist  alles 
Bilden  der  Natur  gleich  dem  nach  einem  Zweckbegriff,  und  doch 
ganz  ohne  denselben."   (I,  §28,  auch  schon  in  der  ed.  princ.  S.  234.) 

16.    Phantasma  —  als   bewußt  zufälliger  Begriffs- 
repräsentant. 

Beachtung  verdient  ein  Passus  in  §  241,  der  die  fiktive  Seite 
des  begrifflichen  Denkens  streift.    Er  lautet: 

,,Daß  ein  Phantasma  (unadäquater  Repräsentant  des  Be- 
griffs) zur  Idee  (adäquatem  Repräsentant  des  Begriffs)  erhoben 
werden  kann,  kommt  daher,  daß  in  dem  Begriff  jeder  sicht- 
baren Form  der  Natur  auch  dies  liegt,  daß  Zufälliges  und  Un- 
bestimmtes (sei  es  auch  nur  in  der  Stellung  und  Ansicht)  in  ihr 
sein  muß:  dieser  Begriff  von  Zufälligkeit  und  Unbestimmtheit 
•wird  nun  ebenfalls  repräsentiert  durch  irgend  etwas  zwar  Be- 
stimmtes, dem  aber  die  Reflexion  anhängt,  daß  es  auch 
anders  sein  könnte,  ohne  sich  vom  Begriff  zu  entfernen. 
[Sp.  Zz.]  D.  h.  im  Repräsentanten  des  Begriffs  hat  auch  das  Zufällige 
seinen  Repräsentanten." 

Wie  uns  eine  Anmerkung  der  Deussenschen  Ausgabe  be- 
lehrt, hat  Schopenhauer  selbst  diesen  Passus  noch  einmal  mit 
einigen  Abänderungen  in  das  Handexemplar  der  ,,Welt  als  Wille 


-  4  .  Arnold  Kowalewski: 

und  Vorstellung"  11,  1844,  eingetragen.  Vielleicht  beabsichtigte  er 
eine  Benutzung  desselben,  kam  aber  davon  ab.  Tatsächlich  finden 
wir  alx'r  eine  ähnliche,  wesentlich  verbesserte  und  mit  Beispielen 
illustrierte  Darlegung  des  gleichen  Gedankens  schon  in  der  ersten 
Auflage  der  Doktordissertation,  und  zwar  unter  dem  Titel  ,,Re- 
])räsentanten  der  Begriffe"  (§29).    Es  heißt  hier: 

,,Auch  dann  aber  ist  das  Phantasma  vom  Begriff  zu  unter- 
scheiden, wenn  es  als  Repräsentant  eines  Begriffs  gebraucht 
wird.  Dies  geschieht,  wenn  man  die  Vorstellung,  deren  Vorstellung 
der  Begriff  ist,  selbst  und  diesem  entsprechend  haben  will,  was 
allemal  unmöglich  ist:  denn  z.  B.  von  Hund  überhaupt,  Farbe 
überhaupt,  Triangel  überhaupt,  Zahl  überhaupt  gibt  es  keine 
Vorstclluil^,  kein  diesen  Begriffen  entsprechendes  Phantasma. 
Alsdann  ruft  man  das  Phantasma  z.  B.  irgendeines  Hundes 
hervor,  der,  als  Vorstellung,  durchweg  bestimmt,  d.h.  von  irgend- 
einer Größe,  bestimmter  Form,  Farbe,  usw.  sein  muß,  da  doch 
der  Begriff,  dessen  Repräsentant  er  ist,  alle  solche  Bestim- 
mungen nicht  hat.  Beim  Gebrauch  aber  eines  solchen  Re- 
präsentanten eines  Begriffs  ist  man  sich  immer  bewußt,  daß 
er  dem  Begriff,  den  er  repräsentiert,  gar  nicht  adäquat,  sondern 
voll  willkürlicher   Bestimmungen  ist." 

Wie  wichtig  dem  Philosophen  diese  Darlegung  erschien,  sehen 
wir  daraus,  daß  er  bereits  in  der  editio  princeps  (ebenso  wie  in 
den  späteren  Auflagen)  des  Hauptwerkes  ausdrücklich  darauf  ver- 
weist und  noch  hinzufügt:  ,,mit  dem  dort  Gesagten  ist  zu  ver- 
gleichen, was  Hume  im  I2ten  seiner  Philosophical  essays,  p.  244, 
und  was  Herder  in  der  Metakritik  (einem  übrigens  schlechten 
Buch),  Teil  I,  p.  274,  sagt."  Die  zweite  Auflage  der  Doktorr 
dissertation  (1847)  hat  dann  auch  diese  literarische  Notiz  auf- 
genommen. Jedoch  ist  Herder  und  seine  Metakritikstelle  ge- 
strichen und  durch  ,, Rousseau,  sur  Torigine  de  l'inegalite,  pars  i 
in  der  Mitte"  ersetzt.  Dies  weitere  Herumdoktern  bestätigt  gleich- 
falls das  intensive  Interesse,  das  der  Philosoph  an  dem  fraglichen 
Gedankengange  hatte. 

1/.   Bescheidenheit  als  notwendige   Heuchelei. 

Zu  dem  von  Vaihinger  selir  treffend  als  ,, höfliche  Fiktion" 
bezeichneten  Typus  können  wir  aus  §  280  eine  nette  Illustration 
lierauslcsen.    Es  handelt  sich  um  die  Bescheidenheit,  über  die  der 


Ansätze  /um   Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  54: 

junge  Philosoph  zunächst  etwas  ironisch  spricht)  um  dann  in  einem 
nachträghchcn  Zusätze  folgende  ernste  Erklärung  abzugeben: 

,,Die  Erbärmlichkeit  der  Mehrzahl  zwingt  die  wenigen  Genialen 
oder  Verdienten  sich  zu  stellen,  als  ignorierten  sie  selbst  ihren 
Wert  und  folglich  andrer  Unwert:  denn  nur  unter  dieser  Bedingung 
kann  der  Haufen  sich  dazu  verstehn,  Verdienste  zu  dulden.  Aus 
dieser  Not  nun  hat  man  eine  Tugend  gemacht,  die  Be- 
scheidenheit heißt.  Sie  ist  eine  Heuchelei,  die  durch  fremde 
Erbärmlichkeit,  welche  geschont  sein  will,  entschuldigt  wird." 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  späteren  gedruckten  Äuße- 
rungen Schopenhauers  über  diese  heikle  Frage  fast  zusehends 
eine  boshaftere  Form  angenommen  haben.  Verhältnismäßig  milde 
klingt  noch  die  Expektoration  der  editio  princeps  des  Haupt- 
werkes, S.  339.  Sie  erhält  dann  beim  zweiten  Drucke  nicht  nur 
einen  unmittelbaren  gepfefferten  Zusatz,  sondern  sogar  noch  eine 
besondere  Extraauf  läge  in  dem  parallelen  Kapitel  des  Ergänzungs- 
bandes. Und  die  Parerga  drücken  sich  z.  T.  am  gröbsten  aus. 
Die  Einzelheiten  sind  nur  psychologisch  interessant.  Wir  können 
sie  daher  übergehen. 

18.   Erste  Magic-Fiktion. 

Nunmehr  ist  eine  äußerst  instruktive  (in  Dresden,  1814,  kon- 
zipierte) Aufzeichnung  zu  betrachten  (§  285),  in  der  der  junge 
Denker  zum  ersten  Male  eines  seiner  nachmaligen  paradoxesten 
Philosopheme  als  schüchterne  Fiktion  formuliert. 

,,Die  Platonische  Idee,  das  Ding  an  sich,  der  Wille  (denn 
dies  alles  ist  Eins)  ist  keineswegs  der  Grund  der  Erscheinung: 
denn  so  wäre  sie  (die  Idee)  die  Ursach,  und  als  solche  eine  Kraft, 
als  solche  aber  erschöpflich.  Es  ist  aber  für  die  Idee  kein 
Unterschied,  ob  sie  sich  in  Einem  Ding  oder  in  Millionen  aus- 
spricht. Z.  B.  ob  die  Idee  des  Eichbaums  sich  in  Einer  Eiche 
oder  in  Tausenden  darstelle,  ob  die  Idee  der  Bosheit  in  Einem 
oder  Millionen  Menschen  und  Tieren  sich  ausspreche,  ist  für  die 
Idee  Eins,  und  dieser  Unterschied  liegt  schon  innerhalb  der  Phä- 
nomene und  gehört  dem  Phänomen  an:  denn  er  ist  durch  Zeit 
und  Raum  bedingt.  Ich  würde  in  Hinsicht  hierauf  sagen,  die 
Idee  ist  magisch,  womit  man  etwas  bezeichnet,  das,  ohne 
Natur  kraft  zu  sein  und  folglich  die  Grenzen  der  Naturkraft  zu 
haben,    dennoch   über  die  Natur  Gewalt  ausübt,    [Zz.l    welche   Ge- 

Annalen  der  Philosophie.    I.  35 


,  ./'  Arnold  Kowalewski: 

540 

wall  daher  unerschöpflich,  unendlich,  ewig,  d.  i.  außerzeitlich  ist. 
Aber  (las  Wort  magisch  ist  aus  dem  Aberglauben  entstanden, 
ist  unbestimmt  und  in  schlechtem  Ruf." 

Daß  Schopenhauer  noch  Platonische  Idee,  Ding  an  sich  und 
Wille  für  Eins  erklärt,  während  er  später  bekanntlich  zwischen, 
diesen  drei  metaphysischen  Faktoren  wesentliche  Unterschiede 
hervorzuheben  weiß,  hat  für  unsere  Untersuchung  weniger  Inter- 
esse. Eine  entsprechende  Berichtigung  ist  übrigens  schon  vom 
Meister  selbst  hierzu  handschriftlich  nachgetragen.  Die  Haupt- 
sache ist,  daß  der  junge  Philosoph  mit  vollem  Bewußtsein  als 
Bezeichnung  für  den  unerschöpflichen,  unendlichen,  ewigen  Cha- 
rakter seines  transzendenten  Prinzipes  ein  Wort  benutzt,  das 
etwas  ganz  Unglaubliches  bedeutet.  Das  Magische  soll  ,,ohne 
Naturkraft  zu  sein  und  folglich  die  Grenzen  der  Naturkraft  zu 
haben,  dennoch  über  die  Natur  Gewalt  ausüben."  Schopenhauer 
erschrickt  offenbar  selbst  darüber,  daß  er  durch  dieses  Wort  mit 
dem  abenteuerlichen  Gedankenkreise  der  Zauberei  in  Berührung 
kommt.  Er  sieht  noch  nicht  die  Möglichkeit,  daß  seine  Willens- 
metaphysik die  Zauberei  geradezu  philosophisch  rechtfertigen 
kann.  Umfassendere  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  des  Okkul- 
tismus haben  ihm  damals  vermutlich  gefehlt.  So  ist  es  ganz  be- 
greiflich, daß  das  kühne  Wort  sofort  wieder  zurückgenommen 
wird.  Trotzdem  bleibt  schon  der  bloße  Versuch  bedeutsam  genug. 
Nicht  Dogma  noch  Hypothese,  sondern  Fiktion  ist  die 
früheste  Auffassung  Schopenhauers  von  dem  geheimnis- 
vollen Walten  des  Weltwillens  gewesen. 

Es  fehlt  in  Deussens  Ausgabe  jede  Notiz  über  eine  etwaige 
VcPÄ'ertung  dieser  merkwürdigen  Niederschrift.    Sollte  der  Danziger 
Philosoph  wirklich  gar  nicht  darauf  zurückgekommen  sein?     Der 
eingefügte  Zusatz  läßt  doch  schon  eine  intensivere  Beschäftigung 
mit  dem  reizvollen   Gedanken  erkennen.     Ich  forschte  darum  ge- 
nauer  nach   und   fand   zu   meiner  großen   Freude   auf    S.   l8yi   in 
der  editio    princeps    des    Hauptwerkes    die    erste   gedruckte   Fort- 
wirkung der   Fiktion   mit   dem   ,, Magischen".   .Von  einer   mecha- 
nischen Benutzung  kann  keine  Rede  sein.    Es  tritt  uns  eine  wesent- 
lich verbesserte  Darstellung  desselben  Gedankens  entgegen.    Aber 
üiiercinstimmcnde    Satzstücke    bezeugen    noch    äußerlich   den  tat- 
sächlichen   Zusammenhang    zwischen    den    beiden    Gestalten    der 
Magic-Fiktion.     Alles    Weitere    mag   der   Text   selbst    lehren,    den 
•wir  der  Wichtigkeit  halber  unverkürzt  wiedergeben  wollen. 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  caj 

,, Diese  Eigenschaft  des  Willens,  daß  für  ihn  die  Zahl  der 
Individuen,  in  welchen  irgendeine  Stufe  seiner  Objektität  aus- 
gedrückt ist,  sie  mögen  nach-  oder  nebeneinander  da  sein,  völlig 
gleichgültig  ist,  ihre  unendliche  Zahl  ihn  nimmer  erschöpft  und 
andrerseits  eine  Erscheinung  in  Hinsicht  auf  seine  Sichtbarwerdung 
so  viel  leistet  als  tausende:  diese  Eigenschaft  möchte  ich  durch 
ein  zwar  seltsames,  auch  unbestimmtes,  ja  in  schlechtem  Ansehn 
stehendes,  jedoch  grade  für  eine  Eigenschaft,  in  welcher  der  Wille 
als  Ding  an  sich  allen  Naturdingen  ganz  entgegengesetzt  ist,  pas- 
sendes Wort  bezeichnen  und  sie  die  Magie  des  Willens  nennen; 
weil  in  diesem  Begriff  etwas  gedacht  wird,  das,  ohne  irgendeine 
Naturkraft  zu  sein  und  folglich  ohne  den  Gesetzen  der  Natur 
unterworfen  und  durch  sie  beschränkt  zu  sein,  dennoch  über  die 
Natur  eine  innere  Gewalt  ausübt,  wie  eben  der  Wille  als  Ding 
an  sich  sie  äußert,  indem  er,  gleich  einem  Zauberer,  Dinge  in  die 
Sichtbarkeit  hervorruft,  die  für  uns  von  der  größten  Realität  sind, 
in  Hinsicht  auf  ihn  aber  nur  Abspiegelungen  seines  Wesens, 
—  gleich  dem  Bilde  der  Sonne  in  allen  Tautropfen,  —  welche  er 
alle  belebt,  ohne  irgendeinen  Teil  seiner  Kraft  dadurch  zu  ver- 
lieren, und  deren  Zahl  nur  für  den  Zuschauer,  nicht  für  ihn  da  ist.  — 
Übrigens  ist  dieser  Gebrauch  des  Wortes  Magic  nur  eine  ganz 
beiläufige  Vergleichung,  auf  welche  weiter  kein  Gewicht  zu  legen, 
noch  davon  ferner  Gebrauch  gemacht  werden  soll." 

Die  Fiktion  hat  hier  offenbar  eine  breitere  Ausmalung  ge- 
funden. Ihre  Zweckmäßigkeit  ist  ausdrücklich  betont.  Schopen- 
hauer spricht  von  einem  ,, passenden  Wort",  verschweigt  aber 
auch  nicht  dessen  Schattenseiten:  Seltsamkeit,  Unbestimmtheit, 
schlechtes  Ansehen.  Seltsamkeit  ist  ein  milderer  Ersatz  für  den 
früheren  Hinweis  auf  die  Entstehung  aus  dem  Aberglauben.  Die 
Magie  des  Willens  stellt  jetzt  jedenfalls  eine  vollwertige  Fiktion 
dar.  Trotzdem  wird  die  Bedeutung  dieser  Fiktion  zum  Schlüsse 
zwar  nicht  ganz  annulliert,  wie  im  Manuskripte,  aber  doch  be- 
trächtlich eingeschränlct.  Ängstlichen  Gemütern,  die  etwa  eine 
Weiterspinnung  des  ominösen  Magiegedankens  erwarten  möchten, 
erklärt  der  Philosoph  gewissermaßen  zur  Beruhigung,  daß  es  sich 
nur  um  eine  ganz  beiläufige  Vergleichung  —  also,  modern 
gesprochen,  um  eine  analogische  Fiktion  —  handle,  von  der  kein 
weiterer  Gebrauch  gemacht  werden  solle.  Aus  dieser  Erklärung 
dürfen  wir  vielleicht  auch  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  schließen, 
daß    Schopenhauer  diesmal  selbst   noch   nicht   an  eine   Verwand- 


548 


Aniold  Kowalcwoki: 


lung   seiner    Magio-Fiktion    in    eine    ernste    metaphysische    Hypo- 
these glaubt. 

Was  ist  nun  aber  mit  dieser  Magie-Fiktion  in  der  zweiten 
Auflage  des  Hauptwerkes  geschehen  ?  Welche  Umgestaltung  tritt 
uns  da  entgegen?  Wir  sind  sehr  gespannt.  Eine  große  Über- 
raschung kommt.  Es  stellt  sich  heraus,  daß  Schopenhauer  den 
fiktionalistischcn  Passus  einfach  fortgelassen  und  die  so  ent- 
standene Lücke  durch  eine  ganz  andersartige  Betrachtung  aus- 
gefüllt hat. 

Was  bedeutet  das.^ 

Wir  müssen  Schopenhauers  Entwicklung  in  der  Zwischenzeit 
berücksichtigen.  Es  ist  eine  sehr  lange  Zwischenzeit.  Denn  die 
erste  Auf  Inge  des  Hauptwerkes  erschien  1819,  die  zweite  erst  1844. 
Die  wichtigste  Wendung,  die  sich  bei  dem  Danziger  Philosophen 
zwischen  1819  und  1844  beobachten  läßt,  ist  das  energische  Streben, 
dem  unbeachtet  gebliebenen  System  durch  eine  umfassende  Samm- 
lung von  empirischen  Instanzen  einen  breiteren  Resonanzboden  zu 
geben.  Der  reine  Künstlerphilosoph  wird  mehr  und  mehr  zum 
Gelehrten.  Der  erste  bedeutende  literarische  Niederschlag  dieser 
Gelehrsamkeit  tritt  uns  in  der  Schrift  ,,Über  den  Willen  in  der 
Natur"  entgegen  (1836).  Bezeichnend  war  auch  schon,  daß 
Schopenhauer  sich  1830  gedrungen  fühlte,  eine  lateinische  Neu- 
bearbeitung seiner  Farbenlehre  für  ein  wissenschaftliches  Sammel- 
werk vorzunehmen,  sowie  er  um  jene  Zeit  die  Übersetzung  der 
Kantischen  Hauptwerke  ins  Englische  ernstlich  geplant  hat.  Und 
bald  nach  der  Veröffentlichung  des  naturphilosophischen  Werkes 
(1836)  beteiligte  er  sich  sogar  fleißig  an  der  Lösung  ausländischer 
akademischer  Preisaufgaben.  Die  von  Naturforschern  und  Ärzten 
bald  nach  dem  Jahre  1819  lebhaft  erörterten  Erscheinungen  des 
sogenannten  animalischen  Magnetismus  führten  dem  Philosophen 
eine  besonders  wichtige  Anregung  zu.  Wie  gründlich  er  die  Sache 
nahm,  können  wir  am  besten  aus  seiner  eigenen  Schilderung  in 
einem  Gespräche  mit  Karl  Bahr  entnehmen  (Gespr.  u.  Bricfw. 
mit  Arth.  Schopenhauer.  Aus  d.  Nachl.  v.  Karl  Bahr,  herausg.  von 
Ludw.  Schemann,  Leipzig  1894,  S.  37).  Schon  als  Privat- 
dozent in  Berlin  habe  er  durch  den  dortigen  Prof.  Dr.  Wohl- 
fahrt Zutritt  zu  den  ,, Schlaf sälen  der  Somnambulen"  (es  handelt 
sich  um  eine  ma  nctische  Heilanstalt)  gehabt,  mit  einer  vierzig- 
jaiirigen  Somnambulen  dort  lange  Gespräche  geführt,  eine  andere 
Somnambule  durch  Anblicken  in  Krämpfe  versetzt.    ,,Wenn  eine 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer. 


549 


solche  Somnambule",  fügte  er  noch  in  Erinnerung  an  jene  Zeit 
wörtlich  hinzu,  ,,im  Schlafe  daliegt  und  hellsehend  wird,  so  be- 
kommen ihre  Gesichtszüge  eine  Erhabenheit,  ihre  Sprache  wird 
edler,  als  sie  sonst  ist.  Man  steht  vor  ihr,  wie  vor  der  Natur  selbst; 
denn  sie  antwortet  nur,  wenn  man  fragt,  und  bloß,  was  zur  Sache 
ist.  Ich  habe  selbst  einmal  von  einer  Somnambule  mir  eine  2k>it 
festsetzen  lassen,  wo  ich  fragen  durfte.  Sie  h^^te  die  Zeit  vier 
Wochen  vorher  bestimmt  und  dabei  ausgemacht,  daß  ich  meine 
goldene  Brille  ablegen  müsse  und  daß  ihr  auf  jedes  Auge  ein  Blatt 
gelegt  werde.  Als  die  Stunde  da  war,  konnte  ich  meine  Fragen 
nicht  lange  fortsetzen,  weil  ich  verabsäumt  hatte,  mir  vorher  die 
Gegenstände  zu  überlegen,  über  die  ich  fragen  wollte."  Diese 
Studien  wurden  dann  auch  in  Frankfurt  fortgesetzt.  Die  kritische 
Durchsicht  der  einschlägigen  Literatur  bot  zunächst  ein  Chaos 
z.  T.  phantastischer  Vermutungen.  Allerlei  materielle  Prinzipien 
wurden  zur  Erklärung  herangezogen,  so  daß  noch  jede  Beziehung 
zur  Willensmetaphysik  fernlag.  Schließlich  aber  brach  sich  die 
voluntaristische  Hypothese  Bahn.  Man  erkannte,  daß  der  Wille 
des  Magnetiseurs  jene  wunderbaren  Leistungen  hervorruft,  die  den 
Naturgesetzen  zu  widersprechen  scheinen  und  darum  lange  be- 
zweifelt worden  sind.  Diese  Erkenntnis  mußte  den  Danziger 
Philosophen  um  so  freudiger  überraschen,  als  sie  ihm  fix  und  fertig 
entgegentrat  bei  Theoretikern  und  Praktikern,  die  von  seiner 
Willensmetaphysik  nichts  wissen  konnten.  Der  Wille  ist  also  das 
eigentliche  Agens  einer  Klasse  von  außerordentlichen  Erscheinungen, 
Das  muß  natürlich  zu  Analogieschlüssen  reizen,  zumal  bei  einem 
Philosophen.  Wenn  schon  der  animalische  Magnetismus  sozusagen 
„praktische  Metaphysik"  ist,  dann  werden  auch  andere  wunder- 
bare Leistungen,  die  man  seit  alten  Zeiten  unter  dem  verrufenen 
Sammeltitel  ,, Magie"  zusammengefaßt  hat,  nicht  so  ganz  un- 
glaublich sein.  Sollte  der  Wille  nicht  mannigfache  Mittel  und 
Wegt  finden,  um  seine  Überlegenheit  über  die  gewöhnlichen  Natur- 
kräfte zu  offenbaren.''  Als  unbezweifelbare  Fälle  von  Magie  er- 
schienen dem  Philosophen  jedenfalls  die  sogenannten  sympathe- 
tischen Kuren,  als  mögliche  zum  mindesten  die  dem  animalischen 
Magnetismus  und  den  sympathetischen  Kuren  ähnlichen  böswilligen 
Akte,  also  viele  Hexereien.  Der  Ausdruck  ,, magische  Wirkung"  hat 
für  Schopenhauer  jetzt  einen  ernsten  realistischen  Sinn  ange- 
nommen. Eine  besondere  Kapitelüberschrift  des  Werkes  ,,Über  den 
Willen  in  der  Natur"  lautet ,,  Animalischer  Magnetismus  und  Magie". 


r"r\  Arnold  Kowalewski: 

Nunmehr  begreifen  wir  vollkommen,  daß  Schopenhauer  die 
Stelle  mit  der  Magic-Fiktion  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  konnte. 
Sic  setzte  den  Unglauben  an  ein  msgisches  Wirken  voraus,  von 
dem  sich  der  Philosoph  inzwischen  unter  dem  Drucke  neuer  Er- 
fahrun;4en  bekehrt  hat.  Die  Magie  des  Willens  hat  Seltsamkeit, 
Unbestimmtheit  und  übles  Ansehen  verloren,  jene  Züge,  die  sie 
zur  bloßen  Fiktion  stempelten.  Eine  Umgießung  des  Gedankens 
in  die  sachlich  allein  angemessene  hypothetische  Form  hätte  rricht 
in  den  Zusammenhang  gepaßt.  Es  war  dort  eben  nur  eine  fiktive 
Erläuterung  beabsichtigt.  Darum  mußte  die  ganze  Stelle  ge- 
strichen und  anders  ausgefüllt  werden.  Übrigens  entwickelte 
Schopenhauer  in  der  naturphilosophischen  Schrift  vom  Jahre  1836 
bereits  eine  bestimmte  Theorie  der  magischen  Willenswirksamkeit. 
Sogar  die  Nebenumstände  werden  an  der  Hand  einschlägiger  Fälle 
sachkundig  berücksichtigt.  Damals  war  also  für  Schopenhauer 
die  magische  Wirkung  des  Willens  eine  glaubhafte  Hypothese  zur 
Erklärung  gewisser  außerordentlicher  Erscheinungen  und  das  Ganze 
zugleich  eine  wichtige  empirische  Bestätigung  seiner  Willens- 
metaphysik. Der  Magiegedanke  woirzelt,  so  meinte  der  Philosoph, 
,,in  dem  inneren  Gefühle  der  Allmacht  des  Willens  an  sich, 
jenes  Willens,  welcher  das  innere  Wesen  der  Menschen  und  zu- 
gleich der  ganzen  Natur  ist,  und  in  der  sich  daran  knüpfenden 
Voraussetzung,  daß  jene  Allmacht  wohl  einmal,  auf  irgendeine 
Weise,  auch  vom  Individuum  geltend  gemacht  werden  könnte". 
Die  ,, abenteuerlichen  Zeichen  und  Akte  nebst  den  sie  begleitenden 
sinnlosen  Worten,  welche  für  Beschwörungs-  und  Bindemittel  der 
Dämonen  gelten",  sind  demgemäß  nichts  anderes  als  ,, bloße  Vehikel 
und  Fixüerungsmittcl  des  Willens,  wodurch  der  Willensakt,  der 
magisch  wirken  soll,  aufhört,  ein  bloßer  Wunsch  zu  sein  und  zur 
Tat  wird".  Soviel  zur  Charakteristik  der  Art,  wie  die  Willens- 
magie in  der  Schrift  ,,Über  den  Willen  in  der  Natur"  behandelt 
wird.  Einen  überraschend  frühen  handschriftlichen  Vorsteß  in 
diesen  Problemkreis  werden  wir  übrigens  auch  noch  kennen  lernen. 

Während  der  späteren  Zeit  hat  Schopenhauer  die  okkid- 
1  istischen  Erscheinungen  fortgesetzt  im  Auge  behalten.  Er  sam- 
melte alle  nur  irgendwie  bedeutsamen  Berichte  darüber  für  sein 
,, philosophisches  Archiv".  Einen  literarischen  Niederschlag  dieser 
Ik-mühungen  sehen  wir  vor  allem  in  z^vei  merkwürdigen  Ab- 
.schnittcn  der  1851  gedruckten  Parerga  und  Paralipomena 
(„transzendente  Spekulation  über  die  anscheinende  Absichtlichkeit 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  C  c  I 

im  Schicksale  des  Einzelnen"  und  „Versuch  über  das  Geister- 
sehn  und  was  damit  zusammenhängt"). 

Als  das  Tischrücken  aufkam,  erkannte  der  Philosoph  so- 
fort die  Wichtigkeit  dieser  neuen  okkultistischen  Instanz  und 
schrieb  an  seinen  „Dr.  indefatigabilis",  Ernst  Otto  Lindner,  am 
17.  April  1853: 

,,Wenn  es  Ihnen  .  .  .  Ernst  damit  ist,  in  Ihren  Artikeln  auf 
meine  Philosophie  zurückzukommen,  wie  Sie  ja  vermelden;  nun, 
so  ist  eben  jetzt  dazu  eine  Gelegenheit  ohnegleichen:  nämlich 
das  Tischrücken,  an  welchem  meine  Philosophie  einen 
rechten  Triumph  erleben  wird.  Ich  bin  nämlich  überzeugt, 
daß  die  hierin  wirkende  Kraft  keineswegs  Elektrizität,  sondern 
der  Wille  ist,  der  sich  hier  in  seiner  magischen  Eigenschaft, 
d.  h.  ganz  unmittelbar  auf  fremde  Körjjer,  wie  sonst  nur  auf 
den  eigenen  Leib  wirkend  erzeigt.  Dies  erhellt  besonders  aus 
einem  Schreiben  aus  Bonn  vom  9.  April,  welches  aus  der  Köl- 
nischen Zeitung  im  hiesigen  Konversationsblatt  der  Postzeitung 
vom  12.  April  abgedruckt  ist:  ,Der  Tisch  bewegte  sich  nach  dem 
einmxütigen  Willen  seiner  Berührer;  er  marschierte  wie  der  pünkt- 
lichste Soldat,  auf  Kommando,  geradeaus,  rechts,  links,  rück- 
wärts, und  stieg  sogar,  so  gut  er  konnte,  aufwärts'  usw.  Der 
Artikel  ist  höchst  lesenswert.  Auch  hier  habe  ich  schon  münd- 
liche Bestätigungen  vernommen,  daß  der  Tisch  durch  das 
innere  Wollen  der  Berührer  gelenkt  wird.  E^  wird  sich 
überall  so  herausstellen,  und  dann  ist  die  Sache  ein  starker  und 
augenfälliger  Beleg  zu  dem,  was  ich  im  ,, Willen  in  der  Natur" 
und  zwar  im  Kap.  ,, Animalischer  Magnetismus  und  Magie" 
gesagt  habe,  wie  zu  meiner  Metaphysik  überhaupt.  Ich 
wünschte,  daß  Sie  jenes  Kapitel  aufmerksam  durchlesen  wollten: 
dahin  gehört  auch  in  Parerga  Bd.  I,  S.  295  (Schopenhauer  meint 
einen  Passus  in  dem  ,, Versuch  über  das  Geistersehn  und  was 
damit  zusammenhängt").  Im  Tischrücken  zeigt  sich  der  Wille 
in  seiner  ursprünglichen  Allmacht:  lenkt  er  die  Bewegung, 
so  ist  er  auch  der  Beweger.  Daß  man  sogleich  an  Elektrizität 
gedacht  hat,  ist  bloß,  weil  man  gewohnt  ist,  alles,  was  man  nicht 
zu  erklären  weiß,  auf  die  Elektrizität  zu  schieben,  weil  sie  selbst 
unerklärlich  und  ein  offenes  Geheimnis  ist." 

Man  beachte,  wie  der  Danziger  Philosoph  hier  schon  ganz 
im  dogmatischen  Tone  von  der  ,, magischen  Eigenschaft"  des 
Willens  spricht,    und   das   aus   Anlaß  einer  okkultistischen   Pro- 


-  -  -,  Arnold  Kowalewski : 

5?- 


z<.-clur,  dio  ihm  zunächst  nur  durch  gedruckte  Berichte  und  münd- 
liche Bestätigung  fremder  Personen  zugängHch  gewesen  ist.  Aber 
or  liat  sicli  ilann  auch  rcdhch  bemüht,  das  geheimnisvolle  Phä- 
nomen immer  gründlicher  kennen  zu  lernen.  Dabei  war  ihm  Adam 
\on  Doss  ein  wertvoller  Helfer.  Dieser  stellte  vielfache  Tischrück- 
c-xperimente  an,  sogar  unter  klug  ersonnenen  Vorsichtsmaßregeln. 
Seine  Schilderung  des  Ganzen  ist  uns  noch  in  einem  interessanten 
Briefe  an  den  Meister  erhalten.  (Vgl.  Schopenhauer- Briefe,  heraus- 
gegeben von  Schemann,  S.  258ff.)  Manches  davon  wurde  w^ahr- 
scheinlich  als  Material  für  die  zweite  Auflage  des  naturphilosophischen 
Werkes  benutzt.  Mehrfach  mutzte  der  Meister  seinem  ,,Erz- 
cvangelisten  Frauenstädt"  den  Unglauben  ans  Tischrücken  als 
., mechanische  Ketzerei"  auf.  Am  drolligsten  ist  folgende  er- 
munternde Apostrophe  in  einem  Briefe  vom  28.  Januar  1854: 
,, Immer  hoffte  ich,  Sie  würden  noch  ein  Bissei  Tisch  rücken; 
ist  aber  nicht.  Und  dieses  Experiment  hat  doch,  in  Beziehung 
auf  meine  Sache  (eine  von  den  Lumpen  abgehetzte  Redensart  zu 
gebrauchen)  eine  ., unberechenbare  Tragweite".    Ich  singe: 

Der  Wille,  der  die  Welt 
Gemacht  hat  und  erhält, 
Er  kann  sie  auch  regieren:  — 
Die  Tische  gehn  auf  Vieren.' 

(Schopenhauers   Briefe,  h.  v.   Grisebach,   S.  252.) 

Endlich  war  der  Philosoph  so  glücklich,  das  Tischrücken  aus 
eigener  Erfahrung  kennen  zu  lernen.  Am  4.  Februar  1854  mußte 
er  noch  an  Frauenstädt  schreiben: 

,,Habe'  damit  (dem  Tischrücken)  einen  mißlungenen  Versuch 
gemacht,  mit  4  kleinen  Mädchen:  sie  waren  wohl  zu  jung."  (Ebenda, 
S.  256.)  Aber  schon  im  nächsten  Briefe  konnte  er  einen  positiven 
Bericht  erstatten: 

,,Das  besagte  Tischrücken  wurde  vor  mir  und  einigen  Gelehrten 
von  einer  jungen,  überaus  kindlichen,  offenherzigen  und  liebens- 
würdigen jungen  Frau  ganz  allein  vollzogen,  welche  dazu  die  Be- 
gabung hat:  es  -ging  nach  zwei  Minuten.  Der  Physiker  Wagner 
behauptet  fortwährend,  es  sei  mechanisch.  Auch  ist  es  schwer  zu 
«ntschciden;  da  er  mechanisch  das  Selbe  leistete.  Aber  während 
zweistündiger  Versuche  habe  ich  mich  überzeugt,  daß  es  seine 
Richtigkeit  damit  hat.  Der  Unterschied  ist  sichtbar,  wiewohl 
fein."    (Ebenda,  S.  257.) 

Das   klingt   etwas   frostig  objektiv.     In   der   Darstellung,    die 
der  Meister  am    11.  März    1854  über  den  gleichen   Fall  Adam  von 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  c  r  5 

Doss  mitteilte,  hat  das  Ganze  durch  zwei  kleine  Modifikationen 
eine  etwas  überzeugendere  Färbung  erhalten  (vgl.  ebenda,  S.  ^6^). 
Die  Aussagepsychologie  findet  hier  ein  interessantes  Beispiel  zur 
Anal^'se.  Schopenhauer  behauptet  im  zweiten  Berichte,  die  junge 
Frau  habe  ,, sogleich  und  unfehlbar"  den  Tisch  gerückt  (also  nicht 
erst  ,,nach  zwei  Minuten");  zugleich  verschweigt  er,  daß  dei  für 
eine  mechanische  Erklärung  eintretende  Physiker  ,, mechanisch 
das  Selbe  leistete",  also  eine  experimentelle  Gegendemonstration 
machen  konnte,  weshalb  es  ,, schwer  zu  entscheiden"  war. 

Genug,  subjektiv  stand  für  Schopenhauer  nach  alledem  die 
magische  Wirkung  des  Willens  beim  Tischrücken  als  eine  un- 
bezweifelbare  Tatsache  fest. 

Dazu  kamen  um  jene  Zeit  noch  auffrischende  Eindrücke  aus 
dem  Reiche  des  animalischen  Magnetismus.  Im  Winter  1854  gab 
der  italienische  Magnetiseur  Regazzoni  in  Frankfurt  Vorstellungen, 
denen  Schopenhauer  mit  größtem  Interesse  beiwohnte.  Ihm  schrieb 
der  Philosoph  ein  bestätigendes  Zeugnis  ins  Album.  Er  brauste 
zornig  auf,  als  14  Frankfurter  Ärzte  die  Darbietungen  dieses  Ma- 
gnetiseurs  öffentlich  für  Betrug  erklärten.  1856  erschien  noch  ein 
französischer  Magnetiseur,  Brunct  de  Balan.  Bei  diesem  wirkte 
Schopenhauer  sogar  in  einem  öffentlichen  Experimentalvortrage 
persönlich  als  Versuchsperson  mit,  worüber  er  humoristisch  an 
Frauenstädt  schreibt  (ebenda,   S.  322): 

,,Habe  auch  mitgespielt,  zu  großer  Belustigung  des  Publikums, 
mit  einem  14jährigen  Bauernjungen  aus  der  Nähe,  der  mit  mir 
in  Rapport  gesetzt  war,  jede  meiner  Bewegungen  (im  tiefen  Schlaf 
stehend  und  gehend)  nachmachte,  alles,  was  ich  in  5  Sprachen 
laut  sagte,  genau  nachsagte:  nun  setze  ich  mich,  und  da  packte 
er  mich  stark,  riß  mich  gewaltsam  vom  Stuhl  und  setzte  sich  darauf. 
Geweckt,  wußte  er  keine  Silbe  davon.  Bis  dahin  aber  war  er  wie 
mein  Schatten,  nicht  von  mir  loszukriegen.  Ganz  behext!  — 
Jubel  des  Publikums!  — "  Dieser  französische  Magnetiseur  ver- 
suchte auch  das  taube  linke  Ohr  Schopenhauers  zu  heilen.  Die 
Kur  war  freilich  erfolglos.  Doch  ließ  sich  der  Meister  hierdurch 
nicht  im  Glauben  an  die  magische  Kraft  des  Willens  irre  machen. 

Wir  haben  hier  mit  reichen  Details  die  Entwicklungsphasen 
eines  Gedankens  verfolgt,  die  genau  dem  Vai  Ringer  sehen  Gesetze 
der  Ideenverschiebung  entsprechen.  Die  erste  Fassung  der  Willens - 
magie  ist  fiktiv  gewesen.  Sie  wurde  darauf  von  einer  hypothetischen 
Formulierung  abgelöst.    Endlich  kam  die  Erstarrung  zum  Dogma. 


rcA  Arnold  Kowalewski: 

Daß  für  den  greisen  Denker  eine  Fortsetzung  dieses  Prozesses  in 
rückläufiger  Richtung,  wie  sie  nach  dem  voHen  Gesetze  zu  erwarten 
ist  (vgl.  Vaihinger,  Die.  Philosophie  des  Als  Ob,  2.  Aufl.,  S.  219), 
praktisch  ausgeschlossen  bleibt,  bedarf  keiner  besonderen  Recht- 
fertigung. 

Nun  weisen  die  Erstlingsmanuskripte  noch  mehrere  Stücke 
auf,  die  sich  mit  dem  Magieproblem  beschäftigen.  Wir  wollen 
diese  —  wegen  der  sachlichen  Zusammengehörigkeit  —  sofort 
herausgreifen  und  mit  der  erstbesprochenen  Magiestelle  vergleichen. 

19.   Dogmatische   Fixierung  der  Magie-Fiktion. 

Mitten  in  einer  Erörterung  der  verschiedenen  Naturstufen,  die 
allesamt  Erscheinungen  eines  Willens  sein  sollen  (§  35 1  aus  dem 
Jahre  1815),  wird  fast  wie  ein  selbstverständliches  Axiom,  der 
Satz  ausgesprochen: 

,,Denn  der  Wille  ist  magisch,  d.  h.  wesentlich  ist  es  für 
ihn  gleichgültig,  ob  er  sich  in  Millionen  oder  in  einer  Erscheinung 
offenbart,  da  Mannigfaltigkeit,  Vielheit  nur  durch  Zeit  und  Raum 
entsteht,  diese  aber  schon  der  Erscheinung  angehören,  nicht  dem 
Willen  selbst." 

Der  Anfang  ist  von  Schopenhauer  selbst  am  Rande  mit  Blei- 
stift angestrichen  und  noch  durch  den  späteren  Zusatz:  ,,Conf: 
Piaton:  Parmenides  p.  80 — 90  [ed.  Bip.]"  ergänzt  worden,  ein 
Zeichen,  daß  der  Philosoph  den  Gedanken  jedenfalls  nachgeprüft 
hat  und  Gewicht  darauf  legte.  Um  so  erstaunlicher  erscheint  der 
Kontrast  mit  der  ersten  fiktiven  Anwendung  des  Magischen,  die 
zeitlich  nur  ein  Jahr  zurückliegt.  Damals  hatte  Schopenhauer 
im  Tone  einer  bewußten  Fiktion  die  Idee  (die  für  ihn  mit  dem 
Willen  zusammenfiel)  magisch  genannt,  und  er  nahm  die  Fiktion 
eigentlich  sofort  wieder  zurück.  Jetzt  ist  ihm  das  ominöse  Wort 
schon  ein  feststehender  terminus,  dessen  Bedeutung  nur  ganz 
kurz  umschrieben  wird.  Jeder  Hinweis  auf  den  fiktiven 
Charakter  fehlt.  Nach  dem  Wortlaut  müssen  wir  annehmen, 
•  laß  der  Philosoph  dogmatisch  urteilt.  Das  ist  binnen  Jahres- 
frist eine  gewaltige  Ideenverschiebung.  Von  einer  schüchternen 
Fiktion  zum  Dogma! 

Dieser  dogmatisierte  Satz  von  der  Magie  des  Willens  soll  nun 
nach  einer  Notiz  des  Herausgebers  der  Manuskripte  (XI,  S.  559) 
in    dem    uns    wohlbekannten,    später    getilgten    Magie-Passus    des 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  555 

Hauptwerkes  benutzt  worden  sein.  Das  stimmt  aber  nicht.  Die 
fiktive  und  dogmatische  Fassung  hegen  zu  weit  auseinander.  Auch 
fehlen  die  sprachhchen  Berührungspunkte.  Wir  haben  bereits  oben 
—  hoffentlich  überzeugend  —  in  der  ältesten  Magie -Reflexion  der 
Erstlingsmanuskripte  (§  285)  das  richtige  Original  aufgedeckt, 
so  daß  hierüber  jede  weitere  Erörterung  unnötig  ist. 

Zu  der  dogmatischen  Fassung  der  Willensmagie  paßt  sehr 
gut  die  kecke  lakonische  Äußerung  §358  (aus  dem  Jahre   181 5): 

„Bisher  haben  die  Philosophen  sich  viele  Mühe  gegeben,  die 
Freiheit  des  Willens  zu  lehren:  ich  aber  werde  die  Allmacht 
des  Willens  lehren." 

Dies  war  vielleicht  die  erste  Konzeption  der  nachmals  so  be- 
liebten Formel  ,, Allmacht  des  Willens",  deren  Gebrauch  bei 
Schopenhauers  Interpretation  der  okkultistischen  Phänomene  wir 
übrigens  bereits  oben  in  unserer  entwicklungsgeschichtlichen  Skizze 
kennen  lernten. 

20.   Noch  eine  dogmatische  Fixierung  der  Magie-Fiktion. 

In  §  367  heißt  es  wieder  vom  Willen  ebenso  dogmatisch, 
wie  in  §  351,  nur  ein  wenig  abstrakter: 

,,Er  ist  magisch,  d.  h.  die  Zahl  seiner  Erscheinungen  ist 
für  ihn  ohne  Bedeutung." 

Nach  dem  Zusammenhange  denkt  Schopenhauer  hier  an  ver- 
schiedenartige Erscheinungen.  Demgemäß  hat  sein  Satz  auch 
einen  gesteigerten  metaphysischen  Sinn  im  Vergleich  mit  der 
früheren    Erklärung. 

21.  Verklausulierte  dogmatische   Fixierung 
der  Magie-Fiktion. 

Eine  wesentlich  verklausulierte  Charakteristik  der  Willens - 
magie  bietet  aber  §  467  (auch  noch  aus  dem  Jahre  181 5):  ,,Das 
Streben  nach  Zauberei  hat  seinen  Grund  in  dem  Bewußtsein, 
daß  wir  [Zz.]  und  auch  die  ganze  Welt  neben  unsrer  [Zz.]  und  ihrer 
zeitlichen  Natur,  noch  eine  außerzeitliche  haben,  von  welcher  aus 
der  Weg  nach  jedem  Punkt  in  Raum  und  Zeit,  folglich  auch  nach 
jeder  Materie,  gleich  kurz  ist.  Nun  aber  entsteht  die  Superstition 
durch  die  Amphibolie  der  Begriffe,  daß  wir  übersehn,  daß  alles 
Wirken  und  Handeln  schon  in  der  Zeit  ist,  folglich  keine  Zauberei 


556 


Arnold  Kowalewski : 


abgeben  kann,  uml  wiewohl  der  Wille  selbst  magisch  ist  (wie 
oft  v(in  mir  gesagt)  dennoch  seine  Erscheinung  es  nie  ist: 
jener  gesuchte  Weg  von  unsrer  außerzeitlichen  Wesenheit  zu 
jedem  Punkt  in  der  Zeit  ist  zwar  für  den  Willen  offen,  aber  nicht 
für  seine  Erscheinung,  das  Individuum:  er  führt  also  durch  den 
Tod.  Dennoch  scheint  es  beinah,  daß  im  magnetischen 
Schlaf  ein  solcher  Weg  gefunden  sei,  der  den  Tod  umgeht: 
auch  entspricht  die  clairvoyancc  dem  Begriff  der  Zauberei." 

Man  merkt  dem  jungen  Denker  hier  eine  gewisse  Abneigung 
gegen  den  Zauberciglauben  an.  Im  allgemeinen  wird  der  Willens- 
erscheinung das  magische  Wirken  aberkannt,  weil  sie  nicht 
mehr  überzeitlich  ist,  wie  der  magische  Wille  selbst.  Der  Zusatz: 
,,wie  oft  von  mir  gesagt  worden",  bekundet,  daß  der  magische 
Wille  als  eingewurzeltes  Dogma  gilt.  Der  Philosoph  stützt  sich 
damit  gewissermaßen  auf  Selbstautorität,  die  übrigens  eigentlich 
fiktiven  Charakter  hat.  Denn  wie  kann  meine  eigene  frühere 
Meinung  der  jetzigen  neues  Ansehen  geben?  Mein  Ich  läßt  sich 
nicht  in  mehrere  Zeugen  spalten.  Doch  das  nebenbei.  Überraschend 
ist,  daß  nur  mit  problematischen  Ausdrücken  auf  die  Ausnahme- 
fälle des  magnetischen  Schlafs  und  Hellsehens  hingewiesen  wird. 
Vermutlich  hatte  sich  Schopenhauer,  als  er  dies  niederschrieb, 
noch  nicht  volle  Klarheit  über  jenes  geheimnisvolle  Tatsachen- 
gebiet verschafft. 


22.   Hypothetischer  Ausbau  der  Magie-Fiktion 
für  die  Theorie  des  tierischen  Magnetismus. 

Seine  Nachforschungen  in  der  emschlägigen  Fachliteratur  er- 
möglichten ihm  aber  nicht  lange  darauf,  die  längere  ,, Andeutung 
einer  Erklärung  des  tierischen  Magnetismus"  aufzusetzen.  Sie 
bildet  §  482  der  Erstlmgsmanuskripte.  Schopenhauer  gibt  in 
einem  Zusätze  selbst  an,  daß  er  dabei  Anregungen  ,, einer  sehr 
guten  Abhandlung  von  Reil  über  das  Ganglien-  und  Zerebral- 
system (im  7.  Bande  seines  Archivs)"  folgt.  Es  sei  nur  das  Kern- 
stück seiner  Theorie  angefülirt. 

,,Die  Tätigkeit  des  Gangliensystems,  welche  das  vegetative 
Ix'bcn  ist,  kommt  im  normalen  Zustande  gar  nicht  ins  Bewußt- 
sein, d.  li.  sie  ist  nicht  Vorstellung,  nicht  Objektität  des  Willens, 
sf)ndern  unmittelbar  der  Wille  selbst:  dieser  ist  frei  vom  principio 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  -  r  7 

individuationis,  daher  kennt  er  keinen  Unterschied  der  Individuen 
und  ist  in  allen  Einer. 

Jedoch  weil  alles  Materielle  Vorstellung  ist  und  den  Gesetzen 
der  Vorstellungen  unterworfen,  so  ist  auch  der  unmittelbare  materielle 
Repräsentant  des  Willens  wieder  dem  principio  individuationis  unter- 
worfen und  von  sich  selbst  in  jedem  Individuo  isoliert.  Eine 
materielle  unmittelbare  Aufhebung  dieser  Isolation  ist  aber  das 
Magnet isieren.  Es  depotenziert  das  Gehirn  und  potenziert  aus- 
schließlich das  Gangliensystem.  Insofern  nun  dieses  dem  prin- 
cipio individuationis  nicht  unterworfen  ist,  ist  das  ins  Sonnen- 
geflecht verlegte  Bewußtsein  frei  von  aller  Beschränkung  der 
Individualität:  daher  erkennt  der  Somnambul  ebensogut,  was 
in  andern  Individuen  und  selbst  in  großer  Entfernung  vorgeht, 
als  was  in  ihm  selbst  vorgeht." 

Die  fiktionalistisch  nicht  uninteressanten  Ausdrücke  ,, depoten- 
zieren" und  ,, potenzieren"  sind  auf  das  Konto  der  Schellingschen 
Naturphilosophie  zu  setzen.  Schopenhauer  übernimmt  sie  un- 
mittelbar von  Rcil.  Im  übrigen  hat  er  in  das  physiologische  Schema 
der  Vorlage  mit  großem  Geschick  seine  eigene  Willensmetaphysik 
eingebaut.    Über  allem  schwebt  das  Dogma  vom  magischen  Willen. 

Eine  positive  Verwertung  dieser  physiologisch-metaphysischen 
Konstruktion  sucht  man  in  den  gedruckten  Werken  vergebens.. 
In  dem  ,, Versuch  über  das  Geistersehn  und  was  damit  zusammen- 
hängt" (Parerga  und  Paralipomena  I,  S.  269ff.)  wird  allerdings 
die  Reilsche  ,, Hypothese"  zur  Erklärung  des  somnambulen  Zu- 
standes  ausdrücklich  erwähnt.  Der  Philosoph  widerlegt  sie  aber 
jetzt  in  längerer  Kritik,  um  dann  eine  neue  eigene  ,, Hypothese" 
zu  entwickeln,  die  manche  fiktiven  Elemente  enthält.  Wir  wollen 
darauf  an  späterer  Stelle  ausführlicher  zurückkommen.  Hier  sei 
nur  kurz  festgestellt,  daß  die  fiktiven  Elemente  auch  diesmal  das 
allgemeine  Dogma  der  Willensmagie  nicht  im  geringsten  unsicher 
machen. 

Der  Entwicklungsprozeß,  den  die  Idee  der  Willensmagie  so- 
zusagen im  ,, Unreinen"  der  Erstlingsmanuskripte  privatim  durch- 
lief, zeigt  eine  bemerkenswerte  Verwandtschaft  mit  dem  Entwick- 
lungsprozeß, der  sich  publice  in  den  gedruckten  Werken  des 
Meisters  vollzog.  Beiderseits  haben  wir  einen  fiktiven  Ansatz  und 
eine  Tendenz  zum  Dogmatisieren.  Daß  gerade  der  fiktive  An- 
satz aus  dem  Manuskript  die  umfassendste  öffentHche  Be- 
nutzung   fand    und    den     Impuls    zu    weiteren    einschneidenden 


538 


Arnold  Kowalewski: 


schriftstellerischen  Dispositionen  gab,  ist  ein  unzweideutiger 
Beweis  für  die  Fruchtbarkeit  des  fiktiven  Denkens. 

Doch  zurück  zu  unserer  Musterung,  die  wir  nach  dieser  Extra- 
tour wiederum  an  dem  natürlichen  zeitlichen  Leitfaden  der  Auf- 
zeichnungen fortsetzen  wollen. 

Mannigfache  Proben  fiktionalistischer  Weisheit  bietet  §  324, 
der  18 14  zu  Dresden  konzipiert  wurde. 

23.   Formeln  und   Rechnungen  der  Mathematik  ohne 
eigentlich  theoretischen  Wert. 

Der  junge  Philosoph  äußert  sich  zunächst  über  die  Methode 
der  Geometrie.  Seine  starke  Betonung  des  rein  Anschaulichen 
nötigt  ihn  zu  einer  entsprechenden  Umwertung  des  bloß  Be- 
grifflichen. 

,,Die  reinsinnliche  Anschauung  einer  Parabel,  Hyperbel, 
Spirale  usw.  offenbart  uns  die  ganze  Beschaffenheit  und  Gesetz- 
mäßigkeit derselben.  Diese  nun  aber  für  die  Vernunft  in  abstrakte 
Begriffe  (Zahlen  und  Formeln)  zu  fassen,  ist  sehr  schwer:  aber 
alle  diese  Formeln  und  Rechnungen  der  Kurve  geben  uns  über 
ihr  Wesen  nicht  mehr  Aufschluß,  als  die  Anschauung.  Jene  For- 
meln und  Rechnungen  haben  daher  keinen  eigentlich  theore- 
tischen Wert,  da  sie  die  Erkenntnis  nicht  ausdehnen,  wohl  aber 
praktischen,  indem  zur  Anwendung  nötig  ist,  daß  die  Erkenntnis 
in  abstrakten  Begriffen  fixiert  und  gleichsam  niedergeschlagen  ist." 

24.  Analoge  Verhältnisse  in  der  Mechanik. 

Ein    Zusatz   hierzu    versucht    sofort,    den    gleichen    Gedanken 

auch  für  den  begrifflichen  Apparat  der  Mechanik  auszuführen. 

,,Wie  bei  der  reinen  Mathematik  die  reine  Sinnlichkeit,  so 
faßt  hier  der  Verstand  die  Verhältnisse  der  Erscheinung  in  einer 
Vollkommenheit  auf,  die  die  Vernunft  nie  erreichen  kann.  Durch  die 
Anschauung  eines  tätigen  Hebels,  Flaschenzuges,  Kammrades  erhält 
der  Verstand  allein  genügenden  Aufschluß  über  die  Art  seines  Wirkens. 
Allein  der  Verstand  kann  nicht  lange  und  komplizierte  Erscheinungen 
fassen,  er  bleibt  immer  beim  Nächsten  stehn,  weil  die  Anschauung 
eigentlich  nur  ein  Objekt  zur  Zeit  hat.  Daher  reicht  der  Verstand  zur 
Erfindung  und  Konstruktion  komplizierter  Maschinen  nicht  hin.  Da 
muß  die  Vernunft  an  die  Stelle  der  Anschauungen  abstrakte  Begriffe 
setzen,  nach  diesen  verfahren,  und  waren  sie  richtig,  so  trifft  der  Er- 
folg ein." 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  CCq 

Beide  Betrachtungen  erinnern  durchaus  an  Gedanken  der 
sogenannten  ökonomischen  Erkenntnistheorie,  die  eine  bewährte 
Stütze  des  Fiktionahsmus  ist.  Für  die  erste  Betrachtung  hat  der 
Herausgeber  der  Manuskripte  bereits  die  Benutzung  im  Haupt- 
werke richtig  nachgewiesen.  Einige  Abänderungen  sind  vor- 
genommen. Statt  ,,rein  sinnhche  Anschauung"  heißt  es  ,, reine 
Anschauung",  die  Schwierigkeit,  Anschauliches  in  abstrakte  Be- 
griffe zu  fassen,  wird  in  diesem  Zusammenhange  verschwiegen. 
Dafür  kommt  ein  gelehrterer  Ton  herein  durch  besondere  Er- 
wähnung der  ,,Fluxionsrechnung"  (wofür  in  den  späteren  Auf- 
lagen ,, Differentialrechnung"  eingesetzt  wird).  Die  fiktionalistische 
Tendenz  erleidet  in  dieser  Redaktion  nicht  den  geringsten  Abbruch. 

Auch  die  zweite  Betrachtung  ist,  was  der  Herausgeber  der 
Manuskripte  übersah,  ziemlich  vollständig  und  wörtlich  in  das 
Hauptwerk  übernommen  worden.  Man  vergleiche  den  Anfang 
von  §  12  im  ersten  Bande.  Zu  ,, Hebel,  Flaschenzug,  Kammrad" 
wird  ,,das  Ruhen  eines  Gewölbes  in  sich  usw.",  zu  ,, Maschinen" 
noch  ,,und  Gebäuden"  hinzugefügt,  während  ,, Erfindung"  ge- 
strichen ist.  Von  den  ,, abstrakten  Begriffen"  heißt  es  ausdrück- 
lich, daß  die  Vernunft  sie  ,,zur  Richtschnur  des  Wirkens  nehmen 
muß".  Die  Nützlichkeit  der  begrifflichen  Fiktionen  ist  also 
in  der  gedruckten  Formulierung,  die  in  allen  Auflagen  konstant 
blieb,  sogar  noch  deutlicher  markiert. 

25.   Bewußte  Unzulänglichkeit  der  Begriffe. 

Noch  weiter  spinnt  der  junge  Denker  in  jener  Aufzeichnung 

seinen   Zusatz   fort.     Für   uns   ist   vor   allem  eine   grundsätzliche, 

gleichfalls   im   Hauptwerke   nachwirkende   Bemerkung   interessant, 

die  gelegentlich  eines  Verwerfungsurteils  über  die  ,, Physiognomik  in 

abstracto"  fällt. 

„Denn  die  Vernunft  mit  ihren  Begriffen  verhält  sich  zur  An- 
schauung durch  Sinne  und  Verstand  wie  ein  Bild  in  Mosaik  zu  einem 
van  der  Werft:  Begriffe  haben  wie  Steine  bestimmte  Grenzen: 
man  mag  die  Steine  noch  so  klein  nehmen,  nie  fließen  sie  ineinander 
über;  so  erreichen  die  Begriffe,  so  sehr  man  sie  auch  durch  nähere  Be- 
stimmungen sondert,  nie  die  Anschauung.  Dieser  Unzulänglichkeit 
der  Begriffe  ist  sich  jeder  bewußt,  der  Ungelehrte  noch  mehr, 
als  der  Gelehrte." 

Der  letzte  Satz  ist  eigentlich  kein  günstiges  Zeugnis  über  die 

fiktionalistische  Einsicht  des  Gelehrten. 


560 


Arnold  Kowalewski: 


26.   Moralische    Systeme   und   religiöse   Dogmen  — 
eigentlich   Notbehelf  der  Vernunft. 

Für  Schopenhauer  bildet  der  Satz  den  Stützpunkt  zu  einer 
neuen  Reflexion,  die  freilich  mit  der  früheren  Betonung  der  prak- 
tischen   Bedeutsamkeit    der    Begriffe    stark    konstrastiert.      Die 

Fortsetzung  lautet  nämlich: 

» 

,, Darum  bestimmen  die  Menschen  ihr  Handeln  auch  nicht  nach 
Begriffen  (nämlich  das  Moralische  ihres  Handelns),  sondern  nach  un- 
aussprechlichen Maximen  (nach  Gefühlen,  sagen  sie,  d.  h.  eben  nur 
nicht  nach  Begriffen),  so  absurd  daher  auch  die  moralischen  Systeme 
und  rehgiösen  Dogmen  meistens  sind  und  von  Himmel  und  Hölle  lehren, 
so  werden  diese  doch  eigentlich  nur  als  Notbehelf  der  Vernunft 
aufgestellt  und  beim  eigentlichen  Handeln  beiseite  gesetzt,  und  zu 
jeder  Zeit  und  bei  jedem  Volk  war  die  gute  Tat  mit  unaussprechlicher 
Zufriedenheit,  die  böse  mit  unendlichem  Grausen  begleitet,  weil  die 
Hauptsache,  das  Wesentliche  im  Leben  von  den  kümmerlichen 
und  meist  falschen  Begriffen  unabhängig  bleibt." 

Daß  diese  Reflexion  über  die  ethische  Bedeutungslosigkeit 
der  Begriffe  —  mit  wörtlichen  Anlehnungen  —  im  Hauptwerke 
vorkommt,  ist  dem  Herausgeber  der  Manuskripte  wiederum  ent- 
gangen. Sie  steht  im  letzten  Absätze  des  bereits  zitierten  §  12 
und  geht  konstant  durch  alle  Auflagen.  Der  Ausdruck  ist  freilich 
gemildert.  Es  heißt  nur  ,, meistens  nicht  nach  Begriffen,  sondern 
nach  unausgesprochenen  Maximen"  statt  ,, nicht  nach  Be- 
griffen, sondern  nach  unaussprechlichen  Maximen",  ,,wic  ver- 
schieden auch"  statt  ,,so  absurd  .  .  .  auch".  Der  Hinweis  auf 
'die  Lehren  von  ,, Himmel  und  Hölle"  ist  ganz  unterdrückt,  auch 
die  schroffe  Wendung  ,,von  den  kümmerlichen  und  meist  falschen 
Begriffen".  Dagegen  erkennt  eine  besondere  Hinzufügung  eigens 
die,  wenn  auch  untergeordnete,  relative  praktische  Wichtigkeit 
der  Vernunftfunktion  auf  sittlichem  Gebiete  an.  Schopenhauer 
sagt  nämlich : 

,,  Jedoch  soll  hiedurch  nicht  geleugnet  werden,  daß  bei  der 
l^urchführung  eines  tugendhaften  Wandels  Anwendung  der 
V'ernunft  nötig  sei:  nur  ist  sie  nicht  die  Quelle  desselben;  son- 
dern ihre  Funktion  ist  eine  untergeordnete,  nämlich  die  Bewah- 
rung gefaßter  Entschlüsse,  das  Vorhalten  der  Maximen,  zum  Wider-, 
.stand  gegen  die  Schwäche  des  Augenblicks  und  zur  Konsequenz 
des  Handelns." 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  56 1 

Dieser  berichtigende  Zusatz  bringt  sozusagen  fiktionalistische 
Konzinnität  in  den  Gedankengang.  Wir  können  ihn  als  einen 
erfreuhchen  Fortschritt  begrüßen. 

l"].   Abstrakte    Hilfsmittel   in   der  praktischen  Musik 

und   Mechanik. 

§  332  kommt  noch  einmal  auf  denselben  Gedanken  zurück. 
Schopenhauer  hebt  selbst  den  Zusammenhang  durch  Rückweis 
hervor.  Diesmal  wird  die  Bedeutung  abstrakten  Wissens  für  Musik, 
logische  Praxis  und  Mechanik  erwogen. 

,,Im  allgemeinen",  meint  der  junge  Philosoph,  ,, finden  wir 
in  dieser  Hinsicht,  daß  zur  Unterscheidung  des  Richtigen  vom 
Falschen,  also  zur  Beurteilung,  nirgends  ein  Wissen,  d.  h.  ab- 
strakte Begriffe  der  Regel  nötig  sind:  wohl  aber  sind  sie  es 
meistens  für  die  eigne  Produktion  und  Wirkungsweise.  — 
In  der  Logik  eben  nicht:  jeder  Mensch  denkt  richtig.  —  In  der 
Musik  kann  man  es  ohne  abstraktes  Wissen  sehr  weit  bringen 
und  es  läßt  sich  nicht  bestimmen  wie  weit:  doch  möchte  schwer- 
lich ein  Mozart  oder  Beethoven  ohne  abstraktes  Wissen  der  Musik, 
d.  i.  ohne  Generalbaß,  möglich  sein.  In  der  Mechanik  bringen 
es  einige  sehr  weit  ohne  Wissenschaft,  d.  i.  ohne  abstrakte  Kenntnis 
der  Gesetze:  doch  sehr  komplizierte  Maschinen  und  Gebäude 
lassen  sich  wohl  nicht  ohne  abstrakte  Begriffe,  meistens  durch 
Zahlen  vorgestellt  und  ausgedrückt,  hervorbringen." 

Hier  haben  wir  offenbar  die  handschriftliche  Quelle  für  die 
zuletzt  angeführte  mildere  Formulierung  eines  wohlbekannten 
Passus  im  Hauptwerk.  Die  Herkunft  der  ,,  Gebäude",  die  dort 
neben  den  ,, Maschinen"  auftauchen,  ist  nun  auch  aufgeklärt. 
Daß  Schopenhauer  damals  noch  mit  der  ganzen  Frage  nicht  recht 
ins  reine  gekommen  war,  bekunden  am  besten  die  beiden  Schluß- 
sätze seiner  in  Dresden  18 14  konzipierten  Aufzeichnung. 

,,Es  bedarf  überhaupt  noch  einer  Bestimmung  und  sorgfältigen 
Betrachtung,  wieweit  und  wieweit  nicht  man  überall  ohne  ab- 
straktes Wissen  kommen  kann  und  alsdann,  warum  es  für  alles 
Praktische,  von  der  also  gefundenen  Grenze  an,  notwendig  wird. 

Am  interessantesten  wird  diese  Betrachtung  bei  der  Moral: 
ob  nämlich  irgendein  Mensch  so  gut  sein  könnte,  daß  er,  auch 
ohne  sich  für  sein  Handeln  abstrakte  Maximen  zu  bilden,  nach 
denen  er,  wie  nach  toten  Gesetzen,  und  oft  gleichsam  wider  Willen 

Annalen  der  Philosophie.    I.  3" 


562 


Arnold  Kowalewski; 


(d.  h.  wider  den  Impuls  des  Augenblicks)  gleichsam  als  Maschine, 
handelt,  —  ob  einer,  sage  ich,  auch  ohne  dies  immer  gut  und, 
ohne  sich  Reue  zu  bereiten,  handeln  könnte." 

28.   Gewaltsame  und  listige  Überwältigung  fremder 
Willenserscheinungen. 

Aus  §  409  geht  hervor,  daß  der  junge  Philosoph  in  dem 
Ivampfe  der  verschiedenen  Willenserscheinungen,  der  das  Grund- 
schema seiner  Naturphilosophie  bildet,  ursprünglich  zwei  besondere 
Typen  der  ,,Überw^ältigung"  hat  unterscheiden  wollen.  Die  ,, ge- 
waltsame" Überwältigung  gilt  ihm  als  der.  häufigste  Typus. 

,,Aber  außer  dieser  gewaltsamen  Überwältigung  der  fremden 
Willenserscheinungcn  (welche  in  der  innren  Teleologie  des  Organism 
erscheint,  w^eil  er  die  Erscheinung  eines  einzigen  in  sich  konse- 
quenten Willens  ist)  gibt  es  noch  eine  ganz  andre,  die  man  eine 
Überwältigung  durch  List  nennen  könnte;  bei  der  näm- 
lich eben  die  fremde  Kraft  für  jene  sie  überwältigende  arbeitet, 
und  es  aussieht,  als  benutzte  jene  diese  listig.  Ein  ganz  ein- 
faches Beispiel  ist  dies:  die  Schwere  zieht  den  Samen  vom  Baum 
zur  Erde:  und  eben  dieser  Same  erzeugt  eine  Pflanze,  die  nachher 
die  Schwere  und  andere  Naturgesetze  so  gewaltsam  überwältigt. 
Jede  völlig  äußerliche  teleologische  Erscheinung  gibt  ein 
Beispiel  dieser  Art.  Eigentlich  ist  dies  eben  nur  der  Zufall, 
der  die  Erscheinung  des  Organism  begünstigt:  Organismen,  die 
irgend  so  einer  Gunst  bedürfen  und  sie  nicht  erhalten,  gehn  unter, 
und  sollte  es  auch  gleich  nach  ihrem  ursprünglichen  Entstehn 
sein:  ihre  Existenz  hängt  also  allerdings  von  so  einem  Zufall  ab: 
bloß  weil  er  da  ist,  sind  die  Organismen  da  [Zz.]  haben  ihre  Spezies 
erhalten  können,  und  nun  erscheint  uns  der  Zufall  als  be- 
rechneter Zweck,  als  äußerliche  Teleologie." 

Die  beiden  oben  angedeuteten  Überwältigungstypen  stellen 
einen  apokryplicn  Entwurf  zur  Naturphilosophie  dar.  Öffentlich 
hat  sich  Schopenhauer  mit  dem  allgemeinen  Schema  des  Streites 
begnügt  und  diesem  gerade  nur  alle  düsteren  Naturerscheinungen 
untergeordnet.  Innere  und  äußere  Naturzweckmäßigkeit  fallen 
also  aus  diesem  Schema  heraus.  Zweckmäßigkeit  und  Streit  er- 
scheinen sogar  als  ausgesprochene  Gegensätze.  Es  kommt  dadurch 
ein  Dualismus  in  die  Schopenhauersche  Naturbetrachtung.  Diese 
und     andere     Schwierigkeiten     habe     ich     in     meinem     Schopen- 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  S^3 

hauerbuch  (,, Arthur  Schopenhauer  und  seine  Weltanschauung". 
Halle  1908.  S.  io8ff.)  kritisch  analysiert.  Viele  treffende  Be- 
merkungen enthält  auch  die  schöne  Programmabhandlung  von 
Keutel,  ,,Ubcr  die  Zweckmäßigkeit  in  der  Natur  bei  Schopen- 
hauer" (Leipzig  1897,  2.  Stadt.  Realschule). 

Wie  \^ainderbar,  daß  eine  Fiktion  die  beiden  in  der  gedruckten 
Darstellung  kontrastierten  Prinzipien  miteinander  zur  friedlichen 
Versöhnung  bringt!  Die  gewaltsame  Überwältigung  erscheint  als 
Urheberin  der  inneren,  die  listige  als  Urheberin  der  äußeren 
Zweckmäßigkeit.  Nur  bei  der  Einführung  des  listigen  Überwälti- 
gungstypus hält  es  der  junge  Denker  für  nötig,  den  fiktiven  Cha- 
rakter ausdrücklich  zu  betonen.  Zu  dem  gewaltsamen  Typus  ließe 
sich  noch  vielleicht  aus  der  nachmaligen  Formel  ,, überwältigende 
Assimilation"  eine  gewisse  Nachwirkung  herauslesen.  Vom  Fort- 
leben des  listigen  Typus  scheint  dagegen  jede  Spur  zu  fehlen. 
Wir  begreifen  aber  durchaus,  daß  es  so  kommen  mußte.  Denn 
List  setzt  eben  raffinierte  Intelligenz  voraus,  darf  also  dem  blinden 
Willen  am  allerwenigsten  zugemutet  werden.  Übrigens  lernen  wir 
später  doch  noch  eine  gewisse  Nachwirkung  des  Listprinzips  in 
Schopenhauers  Metaphysik  der  Gcschlcchtsliebe  und  der  darauf 
fußenden  Wahntheorie  kennen. 


29.   Der  fingierte   Charakter  des  Pedanten. 

Ein  gewisses  fiktionalistisches  Interesse  hat  die  Analyse  der 
Pedanterie,  die  Schopenhauer  als  Zusatz  zu  seiner  ,, Theorie  des 
Lächerlichen"  in  §  418  niederschrieb.  Sie  fußt  auf  der  uns  schon 
bekannten  Bemerkung,  daß  Begriffe  sich  zum  Leben  verhalten, 
wie  Mosaik  zur  Malerei.  Eben  deswegen  „kommt  man  für  die 
Klugheit  immer  zu  kurz,  wenn  man  sich  genau  an  Begriffe  hält  und 
bloß  nach  ihnen  handelt,  dabei  entsteht  dann  hier  das  Lächerliche  der 
Pedanterie." 

Wir  möchten  interpretierend  anmerken,  daß  der  Fehler  der 
pedantischen  Unklugheit  im  buchstäblichen  Ernstnehmen  der  be- 
grifflichen Fiktionen  wurzelt,  also  in  einer  Auslöschung  des  kritischen 
Geistes,  der  allen  echten  Fiktionen  innewohnt.  Besondere  Be- 
achtung verdient  noch,  was  Schopenhauer  über  Pedanterie  auf 
moralischem  Gebiete  sagt. 

„In  der  Moral  bringt  nur  der  außerzeitliche  intelligible  Charakter 
Tugend  hervor:  er  muß  sich  dabei  zwar  der  Begriffe  als  Werkzeug 
notwendig  bedienen,  allein  auch  hier  läßt  sich  das  unendlich  Nuan- 

36* 


564 


Arnold   Kowalewski: 


cicrti-  des  Lebens  nicht  unter  Begriffe  bringen,  und  immer  kommen 
Fälle,  über  die  sich  der  Wille  unmittelbar  entscheiden  muß^  ohne  sie 
erst  auf  Begriffe  und  Afaximen  zurückführen  zu  wollen.  Will  man  aber 
dieses  durchaus,  so  ist  man  ein  moralischer  Pedant.  Man  macht 
sich  einen  Charakter  aus  abstrakten  Maximen,  deren  Anwendung 
nachher  teils  falsche  Resultate  gibt,  weil  sie  nicht  genau  zum  Falle 
paßten,  teils  sich  nicht  ausführen  läßt^  indem  der  Mensch  seinem  eigent- 
lichen Willen  vergebens  entgegen  zu  handeln  sucht.  Der  wahre  Cha- 
rakter besteht  nicht  in  abstrakten  Maximen,  sondern  ist  der  durch 
intuitive  Erkenntnis  des  Lebens,  d.  h.  der  [durch]  Ideen  bestimmte 
und  eigentlich  entwickelte  intelligible  Charakter." 

Die  Notwendigkeit  begrifflicher  Hilfsmittel  wird  zwar  in 
gewissem  Umfange  zugestanden,  aber  doch  läuft  die  ganze  Er- 
klärung auf  ein  scharfes  Mifibilligungsvotum  hinaus.  Daß  der 
Pedant  sozusagen  mit  einem  aus  abstrakten  Maximen  fingier- 
ten Charakter  arbeitet  und  dabei  teils  Fehlgriffe  macht,  teils 
Unausführbares  plant,  ist  ein  sehr  feines  Apergu.  Leider  ist 
die  Schattenseite  des  fingierten  Charakters  zu  einseitig  betont. 
Ohne  abstrakte  Maximen  dürfte  wohl  kaum  ein  großzügiges  und 
konsequentes  sittliches  Handeln  möglich  sein.  Schopenhauer  hat 
selbst  seine  Kritik  der  moralischen  Pedanterie  im  Hauptwerke 
(I,  §  13,  auch  schon  in  der  editio  princeps)  durch  verschiedene 
Klauseln  wesentlich  gemildert.  ,, Nicht  überall"  könne  ein  sitt- 
licher Vorsatz  nach  abstrakten  Maximen  ausgeführt  werden.  ,,In 
vielen  Fällen"  erfordere  ,,dic  unendlich  fein  nuancierte  Beschaffen- 
heit der  Umstände"  eine  Wahl,  die  ,, unmittelbar  aus  dem  Charakter" 
hervorgeht,  ,, indem  die  Anwendung  bloß  abstrakter  Maximen 
teils,  weil  sie  nur  halb  passen,  falsche  Resultate  gibt,  teils  nicht 
durchzuführen  ist,  weil  sie  dem  individuellen  Charakter  des  Han- 
delnden fremd  sind  und  dieser  sich  nie  ganz  verleugnen  läßt: 
daher  dann  Inkonsequenzen  folgen."  Die  Hauptsache  aber  ist, 
daß  Schopenhauer  die  herausfordernde  Idee  eines  künstlich  selbst 
gemachten  Charakters  fallen  ließ.  Ich  sage:  herausfordernde  Idee. 
Vielleicht  bedeutet  Schopenhauers  Annahme  eines  fingierten  Cha- 
rakters beim  Pedanten  als  sein  eigener  Akt  auch  eine  Fiktion, 
so  daß  im  ganzen  zwei  Fiktionen  vorliegen.  Die  erste  Fiktion 
begeht  der  Pedant  praktisch,  insofern  er  sich  künstlich  aus  Ab- 
straktionen einen  Charakter  ausdenkt  und  danach  handelt.  Die 
zweite  Fiktion  macht  der  Philosoph  theoretisch,  insofern  er  diese 
praktische  Fiktion  als  Schema  der  moralischen  Pedanterie  über- 
haupt aufgreift  und  kritisch  ad  absurdum  zu  führen  sucht.  Ich 
müciite  diese  zweite  Fiktion  eine  polemische  nennen. 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Scho]ienhauer.  c6c 

30.    Künstliche   Zusammenstellung  der   Begriffe 

in  der   Poesie. 

§  428  entwickelt  zum  ersten  Male  jene  paradoxe  Ansicht 
vom  dichterischen  Schaffen,  die  Schopenhauer  seitdem  mit  größter 
Zähigkeit  festgehalten  hat.  Danach  sollen  die  mit  Worten  be- 
zeichneten abstrakten  Begriffe  den  Stoff  der  Poesie  bilden.  Die 
Kunst  besteht  nun  darin,  durch  die  Begriffe  ,, Phantasmen"  zu 
erregen,  die  dem  Hörer  die  vom  Dichter  erkannten  ,, Ideen  des 
Lebens"  vermitteln.  Die  besondere  Technik  muß  uns  der  junge 
Denker  selbst  schildern.    Er  sagt: 

„Die  Art  aber,  wie  durch  abstrakte  Begriffe  Phantasmen, 
also  eine  ganz  andre  Art  von  Vorstellungen,  hervorgerufen  werden, 
ist  die  künstliche  Zusammensetzung  der  Begriffe,  in  der 
jeder  Begriff  so  die  Sphäre  des  andern  schneidet,  daß  keiner  in 
seiner  Abstraktheit  bleiben  kann,  sondern  das  Phantasma  hervor- 
gerufen wird.  Wie  in  der  Chemie  völlig  durchsichtige  Flüssig- 
keiten durch  das  Zusammengießen  Niederschläge  geben;  so  wird 
in  der  Poesie  aus  der  abstrakten  Allgemeinheit  der  Begriffe, 
durch  ihre  Zusammenfügung,  das  Besondre,  Individuelle,  d.  h. 
die  anschauliche  Vorstellung,  das  Phantasma,  gefällt.  Die  Meister- 
schaft in  der  Poesie  aber  wie  in  der  Chemie  besteht  darin,  grade 
den  Niederschlag  zu  erhalten,  den  man  braucht." 

Diese  sonderbare  Ansicht  ist  teilweise  wörtlich  in  das  Haupt- 
werk übernommen  und  geht  dann  unverändert  durch  alle  Auf- 
lagen. (Vgl.  den  Anfang  von  §  51  in  Bd.  I.)  Sie  reizt  förmlich 
zu  einer  sachlichen  Kritik,  wofür  ich  aber  auf  die  einschlägigen 
Bemerkungen  meines  Schopenhauerbuches  verAveisen  muß  (a.  a.  O. 
S.  132).  Hier  fragt  sich,  was  an  dem  Ganzen  fiktionalistisch 
bedeutsam  ist.  Der  fiktive  Charakter  des  eingeflochtenen  che- 
mischen Gleichnisses  bedarf  natürlich  keiner  Worte.  Es  scheint 
so,  daß  Schopenhauer  die  Annahme  einer  ,, künstlichen  Zusammen- 
stellung der  Begriffe"  durchaus  ernst  meint,  mithin  als  Hypo- 
these. Er  setzt  dabei  voraus,  daß  alle  Worte  Begriffe  bezeichnen, 
d.  h.  eine  unanschauliche  Bedeutung  haben.  Eben  deswegen  sollen 
mehrere  Begriffe  in  der  Zusammenstellung  einander  schneiden, 
man  kann  sagen  einander  determinieren,  so  daß  eine  anschauliche 
Vorstellung  zustande  kommt.  Offenbar  arbeitet  Schopenhauer 
mit  einem  Schema  aus  der  formalen  Logik.  Man  pflegt  Begriffs- 
umfängc  durch   Kreise  zu  symbolisieren,   wobei  die  wechselseitige 


;66 


Arnold  Kowalewski: 


Kreuzung  (Schneidung)  bekanntermaßen  in  dem  kongruierenden 
Umfangsstück  etwas  Konkreteres  bestimmt,  nämlich  dasjenige, 
welches  sowohl  die  Merkmale  des  einen  als  auch  die  des  anderen 
hat.  Darf  nun  aber  diese  logische  Symbolisicrungsweise  zu  einem 
wirklichen  seelischen  Prozeß  gestempelt  werden?  Wie  soll  man 
sich  wohl  einen  solchen  Prozeß  denken?  Etwa  nach  dem  Muster 
des  Hemmungsmechanismus,  wie  ihn  Herbart  für  gleichzeitige 
Vorstellungen  annimmt  ?  Mit  psychologischen  Hypothesen  soll 
man  aber  sehr  vorsichtig  sein.  Gerade  Herbarts  Hemmungs- 
hypothese hat  sich  in  der  Hauptsache  als  irrig  erwiesen.  Ich  er- 
innere vor  allem  an  die  schönen  und  wichtigen  experimentellen 
Untersuchungen  des  hervorragenden  ungarischen  Psychiaters  und 
Psychologen  Paul  Ranschburg,  wonach  gleichzeitige  heterogene 
Reize  besser  aufgefaßt  werden,  als  gleichzeitige  homogene.  Die 
ganze  Schwierigkeit  fiele  fort,  wenn  Schopenhauers  Konstruktion 
nur  als  Fiktion  aufzufassen  wäre.  Ich  bin  so  kühn,  diese  Auf- 
fassung für  wahrscheinlich  zu  halten.  Das  Symbol  der  einander 
schneidenden  Begriffssphären  ist  doch  wahrhaftig  keine  Real- 
erklärung des  Zusammenwirkens  der  Worte  in  der  Seele.  Schopen- 
hauer braucht  dieses  Symbol  als  eine  geläufige  Hilfsvorstellung, 
um  uns  die  Leistung  des  Dichters  faßlich  zu  machen.  Es  liegt 
eine  analogische  Fiktion  vor.  Da  auf  diese  zarte  Fiktion  zugleich 
noch  durch  das  chemische  Gleichnis  eine  zweite  gröbere  gepfropft 
ist,  wird  begreiflich,  daß  der  schwächere  Teil  nicht  zur  Geltung 
kommt  und  sein  fiktiver  Charakter  scheinbar  verschwindet.  Solche 
Fälle  sind  gewiß  auch  sonst  nicht  selten. 

31.   Das  ,, Verhältnis"   des  Willens   zur  Vorstellung  — 

nur  metaphorisch. 

An  den  unter  Nr.  6  besprochenen  Gedankengang,  der  die 
Relation  zwischen  ,, besserem"  und  empirischem  Bewußtsein  fik- 
tionalistisch  charakterisierte,  erinnert  zurück  eine  aus  dem  Jahre  1816 
herrührende  kurze  markige  Reflexion  (§  501). 

,,Was  die  Dinge  sind  außerdem,  daß  sie  unsre  Vorstellung 
sind?  was  sie  unabhängig  von  dieser,  was  sie  an  sich  sind?  — 
Eben  das,  was  wir  in  uns  als  Wille  erkennen.  Dies  ist  der  Kern 
aller  Dinge,  dies  ist  es,  ,,was  die  Welt  im  Innersten  zusammen- 
hält". —  Das  Verhältnis  des  Willens  zur  Vorstellung  aber  ist  toto 
genere  verschieden  von  allen  Verhältnissen  der  Vorstellungen  zu- 


Ausätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  cß~ 

einander,  d.  h.  ist  nicht  gemäß  dem  Satz  vom  Grunde.  Es  kann 
daher  auch  nur  metaphorisch  ein  Verhältnis  genannt  werden. 
Hier  liegt  das  eine  große  Mysterium  der  Objektität  des  Willens." 
Da  haben  wir  sozusagen  die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
in  nuce.  Die  fiktionalistische  Scheu,  mit  der  Schopenhauer  jetzt 
das  Verhältnis  des  Willens  zur  Vorstellung  betrachtet,  hinderte 
ihn  sonst  nicht,  dasselbe  trotzdem  nach  verbotenen  Analogien 
genauer  zu  bestimmen,  wie  das  bunte  Stufenreich  der  Willens- 
objektivationen  in  seiner  Naturphilosophie  zeigt.  Bezeichnender- 
weise hat  jene  kritische  Reflexion  keinen  Platz  in  den  Druck- 
,schriften  des  Danziger  Denkers  gefunden. 


32.   Dogmen  des   Edlen  —  nicht  ernst,   bloß  der  Ver- 
nunft  hingeworfene   Befriedigung. 

Eine  längere,  mehr  populär  stilisierte  Betrachtung  §  553 
greift  wieder  in  den  ethischen  Problemkreis  ein.  Sie  bemüht  sich 
um  die  Interpretation  selbstloser  Handlungsweise.  Der  ,, gewöhn- 
liche Mensch"  denkt  nicht  daran,  fremde  Übel  durch  teilweise 
Übernahme  zu  mildern;  er  macht  also  ,, zwischen  sich  und  andern 
einen  großen  Unterschied".  Dieser  Unterschied  beruht  ,, eigent- 
lich auf  dem  principio  individuationis"  und  betrifft  ,,nur  die  Er- 
scheinung". Der  ,,edle"  Mensch  dagegen  ist  ,, gleichsam  vom  prin- 
cipio individuationis  weniger  erfüllt".  Das  fremde  Leiden  ,,geht 
ihm  fast  so  nahe  als  sein  eignes,  er  tut  vieles,  um  das  Gleich- 
gewicht herzustellen,  versagt  sich  Genüsse,  übernimmt  Entbeh- 
rungen". Dieser  Edle,  meint  Schopenhauer,  vermag,  ,,wenn  er 
nicht  etwa  Philosoph  ist",  sein  Tun  nicht  weiter  zu  rechtfertigen. 
,,Mit  den  etw^anigen  Dogmen,  die  er  damit  in  Verbindung  zu 
bringen  sucht,  ist  es  ihm  eigentlich  nicht  Ernst,  diese 
sind  nur  da,  um  seiner  Vernunft  auf  ihr  beständiges  Rechen- 
schaftsfordern  eine  Befriedigung  hinzuwerfen:  an  sich  hat 
sein  edles  Handeln  keinen  Grund,  es  ist  die  Erscheinung  der 
Modifikation,  die  sein  Willen  durch  die  Erkenntnis  der  Ideen  er- 
litten hat." 

Die  kleine  fiktionalistische  Wendung,  daß  der  Edle  ,, gleichsam 
weniger  vom  principio  individuationis  erfüllt"  sei,  wollen  wir  nicht 
besonders  urgieren.  Immerhin  sei  angemerkt,  daß  die  im  Haupt- 
werke gedruckte  Darstellung,  die  sich  dem  handschriftlichen  Ent- 
würfe   sonst    stark   anschließt,    in    diesem    Punkte    abweicht.     Es 


568 


Arnold  Kowalewski : 


hcißl  ohne-  fiktiüiialistischcn  Index:  „das  principium  individua- 
tionis,  die  Form  der  Erscheinung,  befängt  ihn  nicht  mehr  so  fest". 
(I,  §  66.  pter  Absatz,  auch  schon  ed.  princ.  S.  537.)  Wichtiger 
ist  die  Unterstellung,  daß  die  etwaigen  Rechtfertigungsversuche 
durch  Dogmen  von  dem  Edlen  selbst  nicht  ernst  genommen  werden, 
sondern  nur  seiner  Vernunft  ,,eine  Befriedigung  hinwerfen"  sollen. 
Sie  findet  sich  nicht  an  der  vom  Manuskriptherausgeber  ver- 
zeichneten Stelle  des  Hauptwerkes,  sondern  ist  anderswohin  ge- 
raten, und  zwar  nach  S.  532  der  ed.  princ.    Dort  lesen  wir: 

,,Bei  guten  Taten,  deren  Ausüber  sich  auf  Dogmen  beruft, 
muß  man  aber  immer  unterscheiden,  ob  diese  Dogmen  auch  wirk- 
lich das  Motiv  dazu  sind,  oder  ob  sie,  wie  ich  oben  sagte,  nichts 
weiter,  als  die  scheinbare  Rechenschaft  sind,  durch  die  jener  seine 
eigene  Vernunft  zu  befriedigen  sucht,  über  eine  aus  ganz  andrer 
Quelle  fließende  gute  Tat,  die  er  vollbringt,  weil  er  gut  ist,  aber 
nicht  gehörig  zu  erklären  versteht,  weil  er  kein  Philosoph  ist, 
und  dennoch  etwas  dabei  denken  möchte.  Der  Unterschied  ist 
aber  sehr  schwer  zu  finden,  weil  .er  im  Innern  des  Gemütes  liegt. 
Daher  können  wir  fast  nie  das  Tun  anderer  und  selten  unser  eigenes 
ethisch  richtig  beurteilen." 

Man   sieht,    daß   nur   eine    freie    Benutzung   stattfand.     Doch 
sind   wörtliche   Anklänge   an  das   Manuskript   unverkennbar.     Die 
beiden  letzten  bescheidenen  Sätze  nehmen  der  Reflexion  jeglichen 
Stachel.     Die    Stelle,    auf    welche    Schopenhauer    selbst    zurück- 
verweist, sei  auch  gleich  angeführt.    Es  kann  nur  folgender  Satz 
S-  530/31   der  ed.   princ.   gemeint  sein:   ,,Die   Dogmen  haben  für 
die  Moralität  bloß  den  Wert,   daß  der  aus  anderweitiger,   bald   zu 
erörtender   Erkenntnis  schon  Tugendhafte   an   ihnen  ein   Schema, 
ein  Formular  hat,   nach  welchem  er  seiner  eigenen  Vernunft  von 
seinem   nichtegoistischen  Tun,    dessen   Wesen  sie,    d.  i.   er  selbst, 
nicht  begreift,  eine  meistens   nur  fingierte  Rechenschaft  ab- 
legt,  bei  welcher  er  sich  gewöhnt  hat,  sich   zufrieden  zu   geben." 
Eine   gewisse    Verwandtschaft   mit    unserem   Manuskriptpassus   ist 
auch  hier  noch  zu  spüren.    Man  beachte  indessen,  daß  von  einer 
,, meistens    nur    fingierten    Rechenschaft"    gesprochen    und    auf 
den  Faktor  gewohnheitsmäßiger  Befriedigung  hingedeutet  wird. 
Das    sind    wieder    erhebliche    Milderungen    der    handschriftlichen 
Konzeption,    deren   oben    hervorgehobene    Unterstellung   eine   fast 
iKileidigendc   Schärfe  hatte.    Der  unmittelbar  folgende   Satz  S..531 
der  ed.   princ.   kann   in  gleichem   Sinne  als   Konzession  verstanden 


Ausätze  /um  Fiktionalismus  bei   Schopenhautr.  56q 

werden:  ,,Zwar  auf  das  Handeln,  das  äußere  Tun,  können  die 
Dogrtien  starken  Einfluß  haben,  wie  auch  Gewohnheit  und  Beispiel 
.  .  .,  aber  damit  ist  die  Gesinnung  nicht  geändert".  Uns  erinnert  das 
<ianze  an  eine  frühere,  unter  Nr.  26  analysierte  Aufzeichnung  des 
jungen  Schopenhauer  über  die  ethische  Bedeutungslosigkeit  der 
Begriffe,  derzufolge  „moralische  Systeme  und  religiöse  Dogmen" 
für  bloßen  ,, Notbehelf  der  Vernunft"  erklärt  wurden.  Auch  dort 
ließ  sich  eine  maßvollere  Formulierung  des  Gedankens  in  der 
Redaktion  für  das  Hauptwerk  konstatieren. 


33.    Spielendes  Sprechen. 

Ein  kleines  Scherflcin  zur  Ästhetik  des  Als  Ob  steuert  der 
unbenutzte  Aphorismus  §  577  bei,  der  einen  bekannten  Spiel- 
typus echt  fiktionalistisch  interpretiert.  ,,Ich  rede  bisweilen  mit 
Menschen,  so  wie  das  Kind  mit  seiner  Puppe  redet:  es  weiß  zwar, 
daß  die  Puppe  es  nicht  versteht;  schafft  sich  aber,  durch  eine 
angenehme  wissentliche  Selbsttäuschung,  die  Freude  der 
Mitteilung." 

34.   Fiktionalistischc   Deutung  der  ästhetischen   Reiz- 
barkeit für  die   Pflanzenwelt. 

Mehr  als  ein  zufälliges  Gleichnis  ist  eine  eigenartige  Reflexion, 
die  §  587  bringt.  Schopenhauer  sucht  sich  klarzumachen,  weshalb 
die  ästhetische  Beschauung  durch  Eindrücke  aus  dem  Pflanzen- 
und  Mineralreiche  leichter  erregt  werde,  als  durch  solche  aus  der 
Tierwelt.  Er  meint:  ,,Es  ist,  als  dränge  sich  die  Pflanzenwelt  der 
Beschauung  auf,  als  verlange  sie  nach  dem  Beschauer,  weil,  da 
sie  selbst  nicht  unmittelbares  Objekt  ist,  sie  mittelbares  werden 
möchte,  durch  fremde  Hilfe.  Der  Gedanke  ist  sehr  gewagt,  aber 
bei  inniger  hingebender  Betrachtung  der  Natur  wird  man  seine 
Wahrheit  erkennen." 

Das  ist  eine  hübsche  illustrative  Fiktion,  die  der  junge  Denker 
selbst  aber  mit  einer  Hypothese  zu  verwechseln  scheint.  Denn 
der  Schlußsatz  deutet  auf  eine  Bestätigung  ihrer  ,, Wahrheit"  hin. 
Bemerkenswert  ist  nun,  daß  die  ganze  Betrachtung  im  Haupt- 
werke I,  §  39  zu  Anfang,  auch  schon  in  der  ed.  princ.  S.  290, 
Verwertung  gefunden  hat.  Dabei  w^ird  das  fiktive  Moment  etwas 
stärker  betont  und  die  Aufstellung  zuletzt  fast  zurückgenommen. 


C'-Q  Arnold  Kowalewski: 

Es  sei  aus  tlcm  etwas  schwülstig  geratenen,  mit  ,, gleichsam" 
und  ,,man  möchte  sagen"  gespickten  Passus  nur  der  charak- 
teristische Schlußsatz  angeführt:  „Ich  lasse  übrigens  diesen  ge- 
wagten und  vielleicht  an  Schwärmerei  grenzenden  Gedanken  ganz 
und  gar  dahingestellt  sein,  da  nur  eine  sehr  innige  und  hingebende 
Betrachtung  der  Natur  ihn  erregen  oder  rechtfertigen  kann". 
,, Schwärmerei"  ist  bei  Schopenhauer  ein  Ausdruck  für  ,, Fiktion" 
im  üblen  Sinne.  Das  ,, rechtfertigen"  paßt  ja  übrigens  gerade  zur 
eigentlichen  Fiktion,  wie  die  ,, Philosophie  des  Als  Ob"  lehrt, 
nicht  das  ,, bestätigen". 


35.   Künstliches  System  zu   lexikographischem   Zweck. 

Ein  hoher   Grad  von  fiktionalistischer   Klarheit   leuchtet  aus 
der  Skizze  §  607  hervor.    Schopenhauer  erörtert  da  die  Leistungs- 
fähigkeit   der    Naturwissenschaften    im    Hinblick    auf    das    philo- 
sophische Bedürfnis.    Eine  richtige  Darstellung  der  ,, verschiedenen 
Potenzen    der    Objektivierung    oder    Manifestation    des    Willens" 
ist    nur    auf    Grundlage   eines    ,, natürlichen    Systems"   erreichbar. 
,, Nötig",   namentlich  für  ,, manche  praktische   Zwecke  der  Natur- 
wissenschaft" erscheint  dem  jungen  Denker  auch  ,,ein  vollständiges 
sicheres    Verzeichnis    aller    Naturwesen",     ,,ein    Lexikon    der 
Natur,    in   welchem  aber  jedes  Wesen   durch   die   sichersten,    un- 
zweideutigsten,  exaktesten   Kennzeichen   bestimmt    ist    [Zz.]    bloß 
damit   man  immer   genau   wisse,   wovon  die  Rede  ist.    Hiezu  wird 
das  künstliche  System  wohl  immer  große  Vorzüge  haben: 
weil  man  möglichst  die  Zahl  dabei  zu  Hilfe  nehmen  muß,  indem 
alle   andern   Begriffe   teils   zu   unbestimmte    Grenzen   haben,   teils 
zu  weit  sind:  und  andrerseits  die  Übergänge  der  Naturwesen  auch 
meist  ohne  scharfe  Grenzen  sind,  die  zudem  nicht  mit  denen  der 
Begriffe  zusammenfallen".   Bei  dieser  Gelegenheit  verweist  Schopen- 
hauer auf  die  frühere  Aufzeichnung  §  324  über  die  Unzulänglich- 
keit  der   Begriffe   und   fährt   dann   folgendermalJen  fort:   ,, Künst- 
liches und  natürliches  System  werden  schwerlich  je  zu  vereinigen 
sein:   weil   das,    was   in   dem   einen   eine   unbedeutende   Änderung 
macht     [Zz.]    z.    B.    ein    Staubfaden    mehr   oder    weniger,    in    dem 
andern   eine  sehr   bedeutende   verursacht,    und   die    Natur    sehr 
gesetzmäßig,    aber   nicht    pedantisch  ist.    Das   künstliche 
System    muß,    zu    seinem   löblichen   Zweck,    das   Lächer- 
liche einer  [Zz.]  aus  einer  willkürlichen   Rürksicht  (nämlich   Überein- 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  'ji 

Stimmung  zwischen  der  freien  Natur  und  den  bestimmten  Begriffen)  ent- 
springenden Pedanterie  nicht  scheuen  und  daher  so  verfahren, 
wie  Linn6  verfahren  ist.  Jeder  Zweig  der  beschreibenden  Naturlehrc 
muß  also  zwei  Systeme  haben,  ein  natürhches  zum  philosophischen 
Zweck  und  ein  künstliches  zum  lexikographischen  Zweck." 
Sonderbarerweise  sind  diese  vortrefflichen  Ausführungen  Scho- 
penhauers apokryph  geblieben.  Sic  liefern  einen  schönen  Beitrag 
zur  gerechten  Würdigung  jener  wichtigen  ,, Halbfiktionen",  die  in 
allen  künstlichen  Einteilungen  stecken.  Der  ,,lexikographioche 
Zweck"  ist  ein  sehr  glückliches  Schlagwort.  Wenigstens  eine 
indirekte  Nachwirkung  der  Reflexion  über  das  ,, künstliche  System" 
läßt  sich  vielleicht  aus  einem  Gleichnis  der  Parerga  und  Para- 
lipomena  entnehmen.  Dort  heißt  es  (Bd.  II,  §  127):  ,,Des  Lin- 
naeus  künstliches  und  arbiträr  gewähltes  Pflanzensystem  kann 
durch  kein  natürliches  ersetzt  werden,  so  sehr  auch  ein  solches 
der  Vernunft  angemessen  wäre,  und  so  vielfach  es  auch  versucht 
worden;  weil  nämlich  ein  solches  nie  die  Sicherheit  und  Festig- 
keit der  Bestimmungen  gewährt,  die  das  künstliche  und  arbiträre 
hat.  Ebenso  nun  kann  die  künstliche  und  arbiträre  Grundlage 
der  Staatsverfassung  .  .  .  nicht  ersetzt  werden  durch  eine  rein 
natürliche,  welche,  die  besagten  Bedingungen  verwerfend,  an  die 
Stelle  der  Vorrechte  der  Geburt  die  des  persönhchen  Wertes,  an 
die  Stelle  der  Landesreligion  die  Resultate  der  Vernunftforschung  usf. 
setzen  wollte;  weil  eben,  so  sehr  auch  dieses  alles  der  Vernunft 
angemessen  wäre,  es  demselben  doch  an  derjenigen  Sicherheit 
und  Festigkeit  der  Bestimmungen  fehlt,  welche  allein  die  Stabilität 
des  gemeinen  Wesens  sichern."  Eine  fiktionalistische  Recht- 
fertigung  konservativer  Politik. 


36.    Seelenwanderung  als  Dogma  und  Mythos. 

Das  religiöse  Gebiet  berührt  wieder  einmal  die  gehaltvolle  Auf- 
zeichnung §  626.    Es  seien  wenigstens  die  Kernsätze  daraus  zitiert. 

,,Eine  Seelenwanderung  als  Dogma  aufgestellt,  wäre  ein 
falsches  Dogma,  nämlich  eine  eigentliche  Verwechselung  der  Er- 
scheinung mit  dem  Ding  an  sich",  was  Schopenhauer  noch 
genauer  erkenntnistheoretisch  begründet.  ,, Seelenwanderung  aber 
als  Mythos  aufgestellt,  ist  vortrefflich,  als  Abbild  der  Wahr- 
heit, der  Erkenntnis  nach  dem  Satz  vom  Grunde  akkommodiert, 
zum  praktischen   Gebrauch,   nämlich  als  Regulativ  des  Handelns, 


rj-^  Arnold  Kowalewski : 

von  dessen  Bedeutung  dieser  Mythos  der  Spiegel  ist.  Ganz  analog 
dem  Mythos  von  einem  Eintritt  des  Individui  durch  den  Tod  in 
eine  ganz  andre  Welt,  in  der  es  Vergeltung  seiner  Taten  durch 
einen  serechten  Richter  findet,  welchen  Mythos  Kant  als  den 
einzig  passenden  zur  Erläuterung  der  moralischen  Bedeutung  der 
Handlungen  und  als  Regulativ  derselben  aufstellte  und  prak- 
tischen Vernunftglaubcn  nannte,  [Zz.]  indem  er  ihn  zugleich  als 
Dogma  leugnete  und  widerlegte.  Der  indische  Mythos  hat  jedoch 
große  Vorzüge  vor  diesem:  teils  weil  er  der  Wahrheit  sich  enger 
anschließt,  teils  v:ei\  er  weniger  transzendent  ist",  welches  letztere 
der  junge  Philosoph  durch  eine  Reihe  von  Details  illustriert.  Diese 
Aufzeichnung  ist  mit  teilweise  wörtlicher  Anlehnung  in  §  63  von 
Bd.  I  des  Hauptwerkes  wiederzufinden,  auch  bereits  in  der  ed. 
princ.  S.  512.  Das  wohlwollende  Referat  über  Kant  macht  die 
frühere  sjitirische  Brandmarkung  der  Postulate  als  Philistereien 
reichlich  wieder  gut.  Doch  gerade  dies  fehlt  in  der  gedruckten 
Darstellung.  Nur  die  technische  Bezeichnung  des  Königsberger 
Philosophen  ,, Postulat  der  praktischen  Vernunft"  wird  erwähnt, 
um  ausschließlich  auf  den  indischen  Mythos  Anwendung  zu  finden. 

37.  Luthers   Lehre  vom  seligmachenden  Glauben 
als  Gewand  philosophischer  Wahrheit. 

In  §  645  sucht  Schopenhauer  Luthers  Lehre,  ,,daß  nicht 
die  Werke,  sondern  der  Glaube  selig  mache"  philosophisch  aus- 
zulegen, indem  er  die  dabei  vorausgesetzte  Erlösungsbedürftigkeit 
mit  der  Willensverneinung  in  Zusammenhang  bringt.  Er  schließt 
die  subtile  Dialektik  mit  den  fiktionalistischen  Worten:  ,,So  ist 
also  jenes  echt  evangelische  Dogma,  das  der  rohen  und  platten 
Ansicht  als  eine  Absurdität  erscheinen  muß,  das  Gewand,  in 
welchem  die  vollkommene  philosophische  Wahrheit,  sehr 
künstlich,  vorgetragen  wurde".  Auch  diese  Reflexion  ist  mit 
wörtlichen  Anlehnungen  in  das  Corpus  des  Hauptwerkes  auf- 
genommen (I,  §  70  gegen  Schluß,  auch  schon  ed.  princ.  S.  582 f.). 
Ihr  fiktidualistisrher  Charakter  liegt  auf  der  Hand. 

38.    Selbst  auf  hebung  des  Willens   als  summum  bonum. 

Ein  in  Dresden  181 7  konzipierter  Aphorismus  §  647  erinnert 
an  die  Relativität  dessen,  was  man  ,,gut"  nennt.  Es  befriedige 
den  Willen  nie  so  vollkommen,  daß  sein  Begehren  aufhöre.    Und 


Ansätze  zum  F"iktionalismus  bei  Schopenhauer.  ^7^ 

nun  wird  demgegenüber  die  Selbstaufhebung  des  Willens  betont 
und  folgendermaßen  illustriert:  ,,Weil  aber  diese  Selbstaufhebung 
(sc.  des  Willens)  die  völlige  und  absolute  Beruhigung  des  Willens 
ist,  so  könnte  man  sie  bildlich  und  im  Vergleich  mit  den  be- 
dingten und  zeitlichen  Beruhigungsmitteln  des  Willens,  die  wir  alle 
gut  nennen,  das  absolute  Gut,  höchste  Gut,  summum  bonum 
nennen". 

Man  bedenke,  ein  höchstes  Gut  ist  ja  im  eigentlichen  Sinne 
unmöglich.  Der  Pessimismus  Schopenhauers  gräbt  diesem  Ideal 
die  Wurzel  ab.  Trotzdem  wird  die  Bezeichnung  davon  festgehalten 
und  auf  etwas  übertragen,  das  in  der  entgegengesetzten  Richtung 
liegt,  wie  alle  gewöhnlichen  Güter.  Diese  Fiktion  ist  wieder  ein 
geschickter  methodischer  Kniff.  Denn  dadurch  erhält  der  un- 
bestimmte,  schwer  schätzbare  Begriff  der  Willensverneinung  Anteil 
an  dem  nachwirkenden  Wertnimbus  des  ehemaligen  Ideals.  Die 
gedruckte  Formulierung  des  Aphorismus,  die  uns  im  Hauptwerke 
(I,  §  65,  Absatz  4,  auch  schon  in  der  ed.  princ.  S.  521  f.)  be- 
gegnet, gibt  der  Fiktion  noch  mehr  Gravität  und  eine  neue,  sehr 
feine  Nuance.  ,,Er  (sc.  der  Wille)",  so  heißt  es  hier,  ,,ist  das  Faß 
der  Danaiden:  es  gibt  kein  höchstes  Gut,  kein  absolutes  Gut  für 
ihn;  sondern  stets  nur  ein  einstweiliges.  Wenn  es  indessen  be- 
liebt, um  einem  alten  Ausdruck,  den  man  aus  Gewohn- 
heit nicht  ganz  abschaffen  möchte,  gleichsam  als  emeritus, 
ein  Ehrenamt  zu  geben;  so  mag  man,  tropischerweise  und 
bildlich,  die  gänzliche  Seibstaufhebung  und  Verneinung  des 
Willens,  die  wahre  Willenslosigkeit,  als  welche  allein  den  Willcns- 
drang  für  immer  stillt  und  beschwichtigt,  allein  jene  Zufrieden- 
heit gibt,  die  nicht  wieder  gestört  werden  kann,  allein  welterlösend 
ist  .  .  .  —  das  absolute  Gut,  das  summum  bonum  nennen  .  .  ." 

39.   Tugendübung  nach   philosophisch-vernünftigem 
Dogma  —  Blendwerk,   aber  teilweise   doch  gut. 

Wieder  einmal  berührt  Schopenhauer  in  der  Aufzeichnung 
§  653  die  Bedeutung  des  begrifflichen  Faktors  für  die  ethische 
Praxis.  Man  wird  an  manche  Gedanken  der  unter  Nr.  29  (Der 
fingierte  Charakter  des  Pedanten)  besprochenen  Reflexion  zurück- 
erinnert, doch  hat  das  Ganze  ein  eigenartiges  Gepräge,  das  Auf- 
merksamkeit verdient.  Nachdem  Schopenhauer  eine  Tugendübung 
im  Hinblick   auf  ein  besseres   Jenseits  kurz  als  ,, bloße  Klugheit" 


r^ 


c';  I  Arnold  Kowalewski: 

gcbrandmarkt,  fährt  er  folgendermaßen  fort:  „Wer  dasselbe  tut, 
bewogen  durch  irgendein  philosophisch-vernünftiges  Dogma,  z.  B. 
die  Leiire  von  der  Vollkommenheit  oder  den  kategorischen  Im- 
perativ; der  macht  eigentlich  sich  selbst  ein  Blendwerk 
\or,  darin  er  besser  scheint,  als  er  ist:  denn  seine  innerste  Ge- 
sinnung ist  nicht  verändert  und  sein  Tun  nicht  aus  ihr  hervor- 
gehend noch  ein  Abbild  derselben:  denn  sie  widerspricht  seinem 
Tun,  welches  er  nur  durch  einen  Zwang,  nach  einem  Begriff, 
leistet.  Auch  wird  solcher  Zwang  meistens  nicht  von  Dauer  sein 
und  der  Charakter,  der  unveränderliche,  sein  Recht  wieder  geltend 
machen.  Doch  hat  jener  Zwang  das  Gute,  daß  eben  er  bei- 
tragen kann,  die  echte  Gesinnung  herbeizuführen,  d.  h.  seinen 
Willen  zum  Leben  zu  brechen."  Hier  wird  ähnlich  wie  im  Falle 
des  Pedanten  sozusagen  eine  künstliche  Aufmachung  des  Charak- 
ters angenommen,  die  zunächst  unzweideutige  Mißbilligung  erfährt, 
zuletzt  aber  doch  als  relativ  nützlich  erscheint,  insofern  sie  die 
Willcnsverneinung  vorbereiten  könne.  Die  Kriterien  der  echten 
Fiktion  sind  danach  zweifellos  erfüllt.  Das  positive  Moment  hat 
allerdings  nur  einen  matten  Ausdruck  gefunden.  Gerade  der  hier 
herausgehobene  fiktionalistische  Passus  der  in  den  übrigen  Teilen 
vielfach  benutzten  längeren  Aufzeichnung  ist  merkwürdigerweise 
apokryph  geblieben.  Vielleicht  hat  er  aber  indirekt  mildernd  mit- 
gewirkt bei  der  definitiven  Redaktion  ähnlicher  Gedanken. 

40.    Abstrakte    Formeln    als    Hilfsmittel   konfliktfähiger 

Motive. 

Noch  einen  weiteren  Ansatz  zur  ethischen  Würdigung  des 
Abstrakten  unternimmt  der  junge  Denker  in  der  Skizze  §  664. 
Es  wird  hier  betont,  daß  die  Motive  in  abstracto  vergegenwärtigt 
sein  müssen,  damit  es  zu  einem  Kampfe  unter  ihnen  kommen 
kann  und  das  siegende  Motiv  die  Beschaffenheit  unseres  Willens 
bekundet.  ,, Hierauf  beruht  eigentlich  der  Wert  [Zz.]  und  Nutzen 
aller  Ethik  überhaupt,  sei  sie  religiös  oder  philosophisch:  denn 
die  unmittelbare  Wirkung  ethischer  Motive  ist  ebenfalls  an  die 
Anschauung  gebunden,  aber  an  Anschauung  der  Idee  des  Lebens..." 
,, Diese  anschauliche  Erkenntnis  haben  und  sie  so  wie  ich"  —  sagt 
Schopenhauer  stolz  —  „rein  philosophisch  in  abstracto  aussprechen, 
ist  aber  zweierlei:  letzteres  ist  sogar  noch  nie  der  Fall  gewesen: 
aber    irgendeine     abstrakte    Formel    mußte   man   immer  für 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  c  7 :: 

jene  Erkenntnis  haben,  eine  philosophische  oder  mythische, 
z.  B.  kateg[orischer]  Imperativ  oder  Vollkommenheit  oder  Wille 
Gottes  oder  irgendeine:  erst  nachdem  das  ethische  Motiv, 
eigentlich  Quietiv,  an  so  eine  Formel  gebunden  ist, 
kann  es  jederzeit  mit  egoistischen  Motiven  in  Konflikt 
treten,  welcher  Konflikt  für  die  Vernunft  und  in  abstr[acto]  vor 
sich  geht."  Das  ist  eine  für  ethische  Abstraktionen  aller  Art  ziem- 
lich günstige  Auffassung,  die  positiven  Fiktionalismus  bekundet. 
Leider  bringt  der  nächste  Satz  einen  Mißton  in  die  schöne 
Harmonie.  ,,Die  fortschreitende  Aufklärung  vernichtet  aber  all- 
mählich jede  falsche  Formel,  und  soll  dann  nicht  auch  ihr 
ethischer  Gehalt  für  falsch  gelten,  so  muß  eine  richtigere  an 
ihre  Stelle  treten:  die  letzte,  von  mir  ausgesprochene,  als  die 
der  vollendeten  philosophischen  Erkenntnis  —  hier  regt  sich  der 
titanische  Trotz  Schopenhauers  —  kann  nicht  falsch  befunden 
werden,  setzt  aber  die  höchste  Besonnenheit  der  Menschheit 
voraus,  den  Gipfel  der  Aufklärung  und  Philosophie]."  Dies  ist 
nach  dem  fiktionalistischen  Ansätze  eine  fieräßccaig  slg  äXXo  yevog. 
Denn  wenn  abstrakte  Formeln  bloß  Hilfsmittel  für  die  ethische 
Motivbildung  sein  sollen,  kommt  ihnen  wohl  Zweckmäßigkeit  oder 
Unzweckmäßigkeit,  aber  nicht  Wahrheit  oder  Falschheit  zu. 
Übrigens  scheint  diese  Skizze  in  den  Werken  des  Philosophen  gar 
nicht  verwertet  worden  zu  sein. 

41.   Das  Aufgeben  des  Willens  —  ein   Zustand 
im  metaphorischen  Sinne. 

Ein  merk\vürdiges  Geständnis  macht  Schopenhauer  in  der 
Aufzeichnung  §  676  (aus  dem  Jahre  1817).  ,, Würde  gefragt  nach 
einer  positiven  Darstellung  des  Zustandes,  der  als  Resultat  meiner 
Ethik  nur  negativ  ausgesprochen  ist,  Aufgeben  des  Willens;  so 
ist  die  Antwort,  daß,  weil  wir  Wille  zum  Leben  sind,  jener  Zu- 
stand (auch  das  Wort  ist  hier  ganz  und  gar  Metapher)  für 
uns  Nichts  und  wir  für  ihn  Nichts  sind  und  der  alte  Satz  der 
Pythagoreer,  daß  nur  Gleiches  von  Gleichem  erkannt  wird,  grade 
hier  die  Erkenntnis  unmöglich  macht,  wie  er  sie  bei  allem,  was 
Wille  zum  Leben  ist,  unmöglich  macht."  Die  fiktionalistischc 
Kautele,  die  der  junge  Denker  beim  Gebrauche  des  Wortes  ,, Zu- 
stand" beobachtet,  beweist,  wie  vorsichtig  er  sich  damals  dem 
metaphysischen    Mysterium    zu    nahen    sucht.     Sachlich    ist    klar, 


^_g  Arnold  Kowalcwski: 

ilaß  \on  Zuständen  streng  genommen  nur  in  der  Erscheinung^- 
sphärc  gesprochen  werden  darf,  über  die  aber  eben  die  Willens - 
Verneinung  hinausgeht.  Geschieht  es  trotzdem,  so  erscheint  nur 
ein  metaphorischer  Gebrauch,  des  verbotenen  Wortes  angemessen, 
Avic  wir  bei  Schopenhauer  sehen.  Die  Aufzeichnung  hat  ihre  Spuren 
belassen  mitten  in  §  /i  von  Bd.  I  des  Hauptwerkes  (auch  schoxi 
in  der  cd.  princ.  auf  S.  587).  Es  wird  aber  hier  das  Wort  ,, Zustand" 
ohne  fiktionalistischc  Kautelc  gebraucht  und  nur  angedeutet,  daß 
jener  geheimnisvolle  Zustand  nicht  Erkenntnis  sein  kann,  weil  er 
nicht  mehr  die  Form  von  vSubjekt  und  Objekt  hat.  Das  wollen 
wir  nicht  zum  Beleg  für  das  Vaihingersche  Gesetz  pressen  und 
eine  Dogmatisierung  der  Fiktion  belvaupten.  Indirekt  verrät  sich 
nämlich  doch  die  Nachwirkung  der  fiktionalistischen  Kautele, 
insofern  ja  vor  einer  voreiligen  Auslegung  des  ,,Zustandcs"  gleich- 
sam durch  ein  abschreckendes  schematisches  Beispiel  gewarnt  wird 
und  sich  an  jener  Stelle  sonst  die  Neigung  bemerkbar  macht, 
das  ominöse  Wort  durch  ein  abstrakteres  zu  ersetzen. 


Zusamiiieiifassuiig. 

Nachdem  die  lange  Durchmusterung  der  Schopenhauerschen 
Erstlingsmanuskripte  beendigt  ist,  wollen  wir  noch  einmal  einen 
Überschlag  über  die  Hauptergebnisse  machen. 

Schon  rein  quantitativ  dürften  die  fiktionalistischen  Gedanken 
des  jungen  Schopenhauer  überraschen.  Ihre  Häufigkeitsziffer  be- 
trägt etwa  40.  Denn  wenn  bei  der  fortlaufenden  Numerierung 
der  einzelnen  Reflexionen  im  vorstehenden  Abschnitte  auch  einige 
Male  dogmatische  bzw.  hypothetische  Umformungen  miteinbegriffen 
sind,  so  läßt  sich  doch  andererseits  auch  noch  mancher  Ersatz 
auftreiben,  der  die  Lücken  reichlich  ausfüllt.  In  mehreren  Fällen, 
die  formal  unverkennbar  fiktionalistische  Färbung  hatten,  war 
ich  im  Zweifel,  ob  sie  sachlich  bedeutsam  genug  wären,  und  ließ 
sie  beiseite.  Die  Häufigkeitsziffer  40  dürfte  mithin  nicht  zu  hoch 
gegriffen  sein. 

Wenn  man  nun  die  vierzig  Fälle  selbst  noch  schärfer  siebt 
und  ähnliche  Fälle  nur  als  einen  Fall  zählt,  so  bleibt  trotzdem 
eine  stattliche  Zahl  übrig.  Eine  unbestreitbare  untere  Grenze 
stellen  die  tatsächlichen  äna^  voovfisva  dar.  Deren  gibt  es  18. 
I^nn  kommen  also  22  auf  das  Konto  der  Fälle  mit  Varianten 
oder    Parallelen.     Diesen    22    dürften    mindestens    6    verschiedene 


Ansätze  zum  Fiklionalismus  bei  Schopenhauer.  577 

Sammcltilcl  entsprechen.  Demgemäß  würde  die  obere  Grenze  bei 
verschärfter  Zählung  24  betragen. 

Aber  man  soll  die  Stimmen  wägen  und  nicht  zäiilen. 

Im  allgemeinen  bearbeitet  das  fiktive  Denken  des  jungen 
Schopenhauer  gerade  Begriffe,  die  zu  wichtigen  Grundpfeilern  des 
nachmaligen  Systems  geworden  sind:  Willensmagie,  Willensver- 
neinung, ästhetische  Kontemplation,  Mythos,  Kampf  der  Willcns- 
objektivationen,  um  nur  die  bedeutendsten  zu  nennen.  Meist 
konnten  wir  positive,  z.  T.  wörtliche,  Nachwirkungen  der  ein- 
zelnen Fiktionen  in  den  gedruckten  Werken  nachweisen.  Sonst 
machten  sich  wenigstens  indirekte  Spuren  davon  bemerkbar.  Man 
darf  wohl  sagen,  daß  von  der  fiktionalistischen  Jugendweisheit 
des  Denkers  nichts  Wesentliches  verloren  gegangen  ist. 

Besonders  interessant  war  es,  die  Umbildungen  zu  studieren, 
die  die  ursprünglichen  Fiktionen  bei  ihrem  Übergange  in  die  lite- 
rarische Öffentlichkeit  erfuhren.  Einerseits  besteht  eine  Tendenz 
zur  Dogmatisierung,  wofür  die  Miigic-Fiktion  wohl  das  lehrreichste 
Beispiel  war,  andererseits  regt  sich  auch  ein  Trieb  zur  Verschärfung 
des  fiktiven  Charakters,  die  schon  im  sprachlichen  Ausdruck  viel- 
fach unverkennbar  hervortrat.  Die  ööul;  üvo)  und  die  ödog  xdrto  des 
Vaihingerschen  Gesetzes  von  der  Ideenverschiebung  sind  gleicher- 
maßen bestätigt  worden.  Sogar  innerhalb  der  Manuskripte  konnten 
wir  einige  ,, Ideenverschiebungen"  demonstrieren. 

Wenn  wir  die  ganze  Schar  der  Fiktionen  in  den  Erstlings- 
manuskripten noch  einmal  überschauen,  so  heben  sich  vor  unsern 
Blicken  zwei  Haupttypen  ziemlich  deutlich  voneinander  ab.  Der 
eine  Haupttypus  ist  sozusagen  erkenntnistheoretischer 
Gewissenhaftigkeit  entsprungen.  Der  junge  Philosoph  scheint 
überhaupt  —  wohl  unter  dem  Einfluß  des  Gedankenkreises  der 
Doktordissertation  —  auf  peinliche  Strenge  im  Gebrauche  der 
Begriffe  bedacht  zu  sein.  Sobald  ihm  eine  Bezeichnung  aufstößt, 
die  irgendwie  unangemessen  erscheint,  vermerkt  er  den  Mangel 
sofort.  Hält  er  sie  trotzdem  fest,  weil  ein  passender  Ersatz  nicht 
zu  beschaffen  ist,  so  muß  er  sie  eben  als  Fiktion  nehmen.  Man 
erinnere  sich  an  jene  Fälle,  wo  meist  nur  kurz  der  metaphorische 
Sinn  gewisser,  an  sich  harmloser  termini  betont  wurde.  Das  ist 
der  eine  Haupttypus. 

Der  andere  Haupttypus  wurzelt  gewissermaßen  in  pro- 
])hetischer  Begeisterung.  Schopenhauer  möchte  seine  philo- 
sophische Lehre  nicht  nur  in  abstracto  vortragen,  sondern  auch 

Annalen  der  Philosopliie.    I.  37 


57^^ 


Arnold  Kowalewski: 


in  concreto  predigen,  damit  sie  zur  volleren  Wirkung  gelange. 
Dabei  ergibt  sich  von  selbst  das  Bedürfnis  nach  einer  packenden 
mythischen  Darstellungsform.  Statt  nun  neue  Mythen  zu  er- 
finden, deutet  er  seine  Ideen  in  altüberlieferte  Mythen  hinein. 
Davon  haben  wir  mehrere  sehr  eindrucksvolle  Proben  kennen 
gelernt.  Der  warme  enthusiastische  Ton,  der  bei  diesen  prophe- 
tischen Fiktionen  —  wie  ich  sie  nennen  möchte  —  anklingt, 
macht  schon  äußerlich  ihre  Eigenart  kenntlich  im  Gegensatze  zu 
den  kühlen  erkenntnistheoretischen  Fiktionen. 

Diese  Fiktionentypen  scheinen  mir  zugleich  ein  getreues  Spiegel- 
bild der  beiden  philosophischen  Ahnherren  zu  sein,  die  Schopen- 
hauer selbst  mit  Stolz  für  sich  in  Anspruch  nahm.  Die  prophe- 
tischen Fiktionen  ähneln  den  Mythen,  in  die  Piaton  seine  letzte 
Weisheit  zu  kleiden  liebte.  Die  erkenntnis theoretischen  Fiktionen 
atmen  durchaus  den  Geist  des  Vernunftkritikers  Kant. 


II.  Fiktionalistische  Gedanken  in  den  Werken,  Briefen  und 

(xesprächen  Scliopenhauers. 

Der  Leser  erschrecke  nicht  vor  dieser  Überschrift.  Nun  soll 
nicht  eine  ebensolange  oder  gar  noch  längere  Berichterstattung 
folgen  als  im  ersten  Abschnitte.  Eine  große  Masse  von  Fiktionen 
ist  dadurch  schon  vorweggenommen,  daß  ich  allemal  die  Nach- 
wirkungen der  Manuskriptrcflexionen  in  den  Werken  verfolgte. 
Die  bloß  weitergesponnenen  Fiktionen  bleiben  also  jetzt  beiseite. 
Es  kommen  nur  die  neuen  Ansätze  in  Betracht.  Und  selbst  von 
diesen  sollen  nur  auserlesene  Exemplare  demonstriert  werden, 
denen  eine  gewisse  typische  Bedeutung  eignet. 

42.  Nutzen  der  Begriffe. 

Aus  dem  Erstdruck  der  Doktordissertation  (1813)  möchte  ich 
gleich  eine  hübsche  Bemerkung  über  den  Nutzen  der  Begriffe  er- 
wähnen. Sie  bezieht  sich  —  wenn  auch  ohne  terminologisches 
Bewußtsein  —  auf  das,  was  die  ,, Philosophie  des  Als-Ob"  treffend 
,,ncglektive  Fiktion"  nennt. 

,,Ebcn  dadurch  aber",  so  heißt  es  (§  28),  ,,daß  Begriffe  weniger 
Ml  sicli  enthalten  als  die  Vorstellungen,  davon  sie  wieder  Vor- 
stellungen sind,  sind  sie  leichter  zu  handhaben  als  diese  und 
Verhalten  sich  /.u   ihnen  ungefähr  wie  die  Formeln  in  der  Arith- 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  cjq 

metik  zu  den  Denkoperationen,  aus  denen  sie  hervorgegangen 
sind  und  die  sie  vertreten.  Sie  enthalten  von  vielen  Vorstellungen, 
deren  Vorstellungen  sie  sind,  grade  nur  den  Teil,  den  man  eben 
braucht,  statt  daß,  wenn  man  die  Vorstellungen  selbst  durch 
die  Phantasie  vergegenwärtigen  wollte,  man  gleichsam  eine  Last 
von  Unwesentlichem  mitschleppen  müßte  und  dadurch  leicht  ver- 
wirrt würde:  jetzt  aber,  durch  Anwendung  von  Begriffen,  denkt 
man  nur  die  Teile  und  Beziehungen  aller  dieser  Vorstellungen, 
die  der  jedesmalige  Zweck  erfordert."  In  der  zweiten  Auflage 
(1847)  hat  Schopenhauer  die  Betrachtung  noch  weiter  ausgebaut, 
namentlich  auch  durch  illustrative  Zutaten,  die  das  Ganze  wirkungs- 
voller machen.  Unmittelbar  auf  das  oben  zitierte  Stück  läßt  er 
z.  B.  den  Satz  folgen:  ,,Ihr  (sc.  der  Begriffe)  Gebrauch  ist  dem- 
nach dem  Abwerfen  unnützen  Gepäckes  oder  auch  dem 
Operieren  mit  Quintessenzen,  statt  mit  den  Pflanzenspezies 
selbst,  mit  der  Chininc  statt  der  China,  zu  vergleichen".  (§  27, 
die  Paragraphierung  der  2.  Auflage  ist  nämlich  eine  andere.) 

43.   Der  empirische   Charakter  als   Erscheinung  eines 
außerzeitlichen,  gleichsam  permanenten  Zustandes    oder 

universalen  Willensaktes. 

Die  interessanteste  fiktionalistisch  gefärbte  Äußerung  der 
Doktordissertation  steht  in  dem  langen  §  46,  der  merkwürdiger- 
weise in  der  zweiten  Auflage  ganz  gestrichen  worden  ist.  Er 
handelt  über  Motiv,  Entschluß,  empirischen  und  intclligiblen  Cha- 
rakter.   Die  für  uns  wichtige  Stelle  lautet: 

,,Da  diese  Äußerungen  des  empirischen  Charakters  zerstückelt 
sind,  aber  auf  Einheit  und  Unveränderlichkeit  desselben  deuten, 
muß  er  als  Erscheinung  eines  gar  nicht  erkennbaren,  außer  der 
Zeit  hegenden  gleichsam  permanenten  Zustandes  des  Sub- 
jekts des  Willens  gedacht  werden.  Ich  sage  gleichsam  perma- 
nenten Zustandes,  denn  Zustand  und  permanent  sind  nur  in 
der  Zeit,  aber  für  das  Außerzeitlichc  ist  kein  Ausdruck  mög- 
lich. Vielleicht  bezeichne  ich  das  Gemeinte  besser,  obwohl  auch 
bildlich,  wenn  ich  es  einen  außer  der  Zeit  liegenden  uni- 
versalen Willensakt  nenne,  von  dem  alle  in  der  Zeit  vor- 
kommenden Akte  nur  das  Heraustreten,  die  Erscheinung  sind. 
Kant  hat  dieses  den  intclligiblen  Charakter  genannt  (viel- 
leicht hieße  es  richtiger  der  inintelligible)  .  .  ." 

37* 


58o 


Arnold  Kowalewski : 


Dksc  Reflexion  erinnert  z.  T.  an  die  unter  Nr.  40  besprochene 
Aiifzeielinung   der    Erstlingsmanuskripte,    wo    ,,das    Aufgeben   des 
Willens"    auch   nur   im   metaphorischen    Sinne    „Zustand"    heißen 
sollte.    Hier  erfahren  wir,  daß  der  —  sozusagen  —  unaufgegebenc 
Wille    für    unser    Begreifen    mindestens    die    gleiche    Schwierigkeit 
bietet.     Genau    genommen    enthält    der    Ausdruck    ,, permanenter 
Zustand"   zwei    Fiktionen:   denn   nicht   bloß   ,, Zustand",   sondern 
auch    ,, permanent"    gilt    ausschließlich    für    die    zeitliche    Sphäre. 
Darum  versieht  Schopenhauer  den  zwiefach  unzulässigen  Ausdruck 
mit  der  fiktionalistischen   Schutzmarke  ,, gleichsam".    Er  ist  aber 
selbst  nicht  zufrieden  und  schlägt  sofort  noch  einen  Ersatzausdruck 
vor,  der  besser,  obwohl  auch  bildlich  sei,  also  eine  verbesserte 
Fiktion.    So  haben  wir  eine  faßliche  Formel  für  Kants  ,,intelli- 
giblen    Charakter",    der    nach    Schopenhauers    witziger    Zwischen- 
bemerkung   eigentlich    ,,inintelligibler"    heißen    müßte.     Welchen 
Wert  der  Danziger  Philosoph  auf  seine  Formel  später  legte,  zeigt 
am  besten  die  Tatsache,  daß  das  Hauptwerk  (durch  alle  Auflegen) 
eigens    diesen    ,,in   der   einleitenden    Abhandlung    (=  Dissertation) 
gebrauchten  besten  Ausdruck"  für  ,,das  Verhältnis"  der  beiden 
Chanktere  —  allerdings  ein  wenig  modifiziert  — wiederholt:  es  heißt 
näml  ch,  ..daß  der  intelligible  Charakter  des  Menschen  als  ein  außer- 
zeitlicher, daher  unteilbarer  und  unveränderlicher  Willensakt 
zu   betrachten  sei,   dessen  in  Zeit   und   Raum  und   allen   Formen 
des  Satzes  vom  Grunde  entwickelte  und  auseinandergezogene  Er- 
scheinung   der    empirische    Charakter    ist"    (I,    §  55).     Die    editio 
prineeps    nennt   sogar    S.  416   noch   den    nachmals   unterdrückten 
§  46.     Wir    können    zugleich    konstatieren,    daß    sieh    der    fiktive 
Index  der  fraglichen  Formel,  wenn  auch  in  etwas  weitbauschigerer, 
zarterer  Einkkidung  (,, bester  Ausdruck,  um  das  Verhältnis  beider 
faßlich  zu  machen",   ,,als  .  .  .  zu  betrachten"),  erhalten  hat.    Die 
genaue   Formel  der   Doktordissertation  ist   übrigens   in  den  Vor- 
lesungen Schopenhauers  benutzt  worden,  wie  wir  aus  der  Deuscn- 
schen   Ausgabe   des   Mc  nuskripts    (X,    S.  46)   entnehmen   können, 
sogar   mit   teilweise   wörtlicher   Anlehnung   an   die    umrahmenden 
Ausdrücke,    Auch  die  vorläufige  Fassung  ist  dort  erwähnt.    Dazu 
ckr  Zusatz:  ,, Gleichsam  permanenten   Zustandes,  ist  meta- 
phorisch".    Bei    der   genauen    Formel   fehlt   ein   deutlicher   fiktio- 
nalistischer  Index.    Doch  klingt  er  vielleicht  in  der  Wendung  ,,so 
müssen  wir   uns  ...  denken    als"   an.     Möglich   wäre   auch,   daß 
Schope-nhaucr    im    Vorlesungstone    sich    dogmatischer    ausdrückte, 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  cßl 

als  er  dachte,  um  den  Hörern  etwas  Bestimmtes  und  Sicherem  zu 
bieten.  Die  modifizierte  Formel  endlich  (,,ein  außerzeitlicher, 
daher  unteilbarer  und  unveränderlicher  Willensakt")  kommt  an 
einer  anderen  Stelle  der  Vorlesungen  (S.  392)  gleichfalls  vor. 
Wichtiger  aber  ist  folgendes. 

Noch  im  hohen  Alter  fand  der  Danziger  Philosoph  eine  außer- 
ordentliche Gelegenheit,  seine  Fiktion  eines  außerzeitlichen  Willens- 
aktes selbst  als  solche  zu  verteidigen.     Es  war  der  scharfsinnige 
Johann    August    Becker,    der    am    10.  September    1844    u.  a. 
die    Undenkbarkeit    einer    Willensverneinung    bei    Annahme    eines 
außerzeitlichen   Willensaktes   dem   Meister   brieflich   vorhielt.     Die 
Antwort,  die  darauf  erfolgte,  beweist  klar,  daß  Schopenhauer  die 
fragliche  Annahme  nach  wie  vor  nur  fiktionalistisch  verstand  und 
verstanden  wissen  wollte.     Sie  ist  zugleich  eine  glänzende  Recht- 
fertigung der  fiktiven  Methode.    Schopenhauer  erklärte:  ,,Daß  der 
intelligible   Charakter  eines  Menschen  ein  außerzeitlicher  Willens- 
akt  sei,    habe   ich   nicht    als    objektive    Wahrheit,    oder   als 
adäquaten    Begriff    des    Verhältnisses    zwischen    Ding   an    sich 
und    Erscheinung    dargestellt;    vielmehr    bloß    als    Bild    und 
Gleichnis,    als   figürlichen  Ausdruck  der   Sache,    indem  ich   sagte, 
man  könne,  um  sich  die  Sache  faßlich  zu  machen,  sie  so  denken. 
Wir  bedürfen  nämlich   für  alle  unsre  Erkenntnisse,  so  abstrakt 
sie   auch   sein   mögen,    der    Grundlage    eines    anschaulichen 
Schemas:  ein  solches  aber  hat  stets  Raum  und  Zeit  zur  Form. 
Hingegen  wirkliche   Vorgänge   im  Dinge   an  sich   zu   beschreiben, 
wäre  transzendent:  ich  aber  bleibe  überall  immanent."    (Schopen- 
hauers Briefe,  ed.    Grisebach,    S.  lOOf.)    Das  war  eine  geschickte 
apologetische    Ausnutzung   der    Fiktion.     Wir   werden   bald    noch 
ähnliche    Fälle   kennen   lernen.     Einstweilen   wollen  wir   aber   erst 
das  Hauptwerk  ein  wenig  durchmustern. 

44.   Kontrastierung  der  tierischen   Kunsttriebe   und 
des  magnetischen  Hellsehens. 

Im  naturphilosophischen  Teile  des  Hauptwerkes  (I,  §  27 
gegen  Schluß,  auch  schon  in  der  ed.  princ.  S.  219  f.)  kontrastiert 
Schopenhauer  zwei  Erscheinungen,  die  auf  einem  sonderbaren  In- 
einanderwirken  von  Gegensätzen  beruhen  sollen.  Der  fiktive  Cha- 
rakter der  Konstruktion  ist  unverkennbar.  Wir  haben  sogar  im 
buchstäblichen  Sinne  eine  .AJs-Ob-Betrachtung  vor  uns.  ,,Es  scheint," 


;82 


Arnold  Kowalewski: 


sagt  der  Philosoph,  ,,.ils  ob  diese  vernunftlose  Erkenntnis  nicht 
in  allen  Fällen  hinreichend  zu  ihrem  Zwecke  gewesen  sei  und  bis- 
weilen gleichsam  einer  Nachhilfe  bedurft  habe.  Denn  es  bietet 
sich  uns  die  sehr  merkwürdige  Erscheinung  dar,  daß  das  blinde 
Wirken  des  Willens  und  das  von  der  Erkenntnis  erleuchtete,  in 
zwei  Arten  von  Erscheinungen,  auf  eine  höchst  überraschende 
Weise,  eines  in  das  Gebiet  des  andern  hinübergreifen.  Einmal 
nämlich  finden  wir,  mitten  unter  dem  von  der  anschaulichen  Er- 
kenntnis und  ihren  Motiven  geleiteten  Tun  der  Tiere,  ein  ohne 
diese,  also  mit  der  Notwendigkeit  des  blindwirkenden  Willens 
vollzogenes,  in  den  Kunsttrieben,  welche,  durch  kein  Motiv,  noch 
Erkenntnis  geleitet,  das  Ansehen  haben,  als  brächten  sie  ihre 
Werke  sogar  auf  abstrakte,  vernünftige  Motive  zustande.  Der 
andere  diesem  entgegengesetzte  Fall  ist  der,  wo  umgekehrt  das 
Licht  der  Erkenntnis  in  die  Werkstätte  des  blindwirkenden  Willens 
eindringt  und  die  vegetativen  Funktionen  des  menschlichen  Orga- 
nismus beleuchtet:  im  magnetischen  Hellsehen  (ed.  princ. :  im 
tierischen  Magnetismus)."  Neu  ist  hieran  natürlich  nicht  die  fik- 
tive Charakteristik  der  tierischen  Kunsttriebe  als  vernunftartiger 
Akte,  sondern  die  Zusammenstellung  mit  dem  entgegengesetzten 
Falle  des  magnetischen  Hellsehens.  Einerseits  liegt  sozusagen  eine 
bewußtlose  Form  von  Vernunftleistungen  vor,  andererseits  eine 
bewußte  Form  sonst  blindwirkender  Prozesse.  Das  denkt  sich 
Schopenhauer  als  ein  konkurrierendes  Hinübergreifen  des  Bewußten 
in  den  Bereich  des  blinden  Wirkens  und  umgekehrt  des  blinden 
Willens  in  den  Bereich  des  bewußten  Wirkens.  Ich  möchte  dies 
eine  fiktive  Kontrastierung  nennen.  Es  läßt  sich  sogar  noch  ihr 
handschriftliches  Embryostadium  nachweisen,  in  Gestalt  eines 
kleinen  Zusatzes  zu  §  512  der  Erstlingsmanuskripte.  Wir 
nahmen  bei  unserer  Musterung  davon  nicht  besonders  Notiz,  da 
die  dortige  Formulierung  keinen  fiktionalistischen  Hintergedanken 
/.u  haben  scheint.  Es  wird  sozusagen  mit  naivem  Dogmatismus 
ein  Ineinandergreifen  des  blinden  Wirkens  des  Willens  und  des 
von  der  Erkenntnis  begleiteten  behauptet.  Selbst  die  auffälligen 
I  I.mdlungen  der  Tiere  sind  filctionslos  charakterisiert.  ,,So  finden 
wir",  heißt  CS  nämlich  (a.  a.  O.  §  512),  ,, besonders  unter  den  der 
Erkenntnis  bedürfenden  Erscheinungen  noch  einige,  die  ohne  diese 
geschehen,  obgleich  sonst  jenen  ganz  ähnlich,  dies  sind  die  Hand- 
lungen der  Tiere  aus  Instinkt."  Hiernach  ist  aus  einer  naiv  dog- 
matischen Knnzoption  in  der  gedruckten  Ausarbeitung  eine  Fiktion 


Ansätze  zum  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  583 

geworden.  Diese  Fiktion  behauptet  sich  durch  alle  Auflagen  des 
Hauptwerkes,  hat  aber  noch  im  Ergänzungsbande  eine  weitere 
päralk'l  kiufende  Nebenbetrachtung  angeregt.  Eine  k^hrreichc  Probe 
von  der  Fruchtbarkeit  des  fiktiven  Denkens.  In  der  Nebenbetrach- 
tung ist  offenbar  aus  der  fiktiven  Antithese  der  ursprünglichen 
Kontrastierung  eine  fiktive  Synthese  entwickelt  worden,  die  auf 
nichts  Geringeres  hinausläuft,  als  eine  somnambulistische  Theorie 
des  tierischen  Instinktes. 


45.   Die    Insekten  gewissermaßen  natürliche 
Somnambulen. 

Nachdem  Schopenhauer  die  Wichtigkeit  des  Gangliensystems 
für  alle  instinktiven  Akte  genauer  auseinandergesetzt  hat,  fährt 
er  (a.  a.  O.  II,  Kap.  27,  Abs.  2)  folgendermaßen  fort:  ,,Eben  weil 
das  instinktive  Tun  und  die  Kunstverrichtungen  der  Insekten 
hauptsächlich  vom  Gangliensystem  aus  geleitet  werden,  gerät 
man,  wenn  man  dieselben  als  allein  vom  Gehirn  ausgehend  be- 
trachtet und  demgemäß  erklären  will,  auf  Ungereimtheiten,  indem 
man  alsdann  einen  falschen  Schlüssel  anlegt.  Der  selbe  Umstand 
sibt  aber  ihrem  Tun  eine  bedeutsame  Ähnlichkeit  mit  dem  der 
Somnambulen,  als  welches  ja  ebenfalls  daraus  erklärt  wird,  daß, 
statt  des  Gehirns,  der  sympathische  Nerv  die  Leitung  auch  der 
äußeren  Aktionen  übernommen  hat:  die  Insekten  sind  demnach 
gewissermaßen  natürliche  Somnambulen.  Dinge,  denen 
man  geradezu  nicht  beikommen  kann,  muß  man  sich  durch  eine 
Analogie  faßlich  machen  ..."  Das  ist  ein  fiktionalistischer 
Schlao-er,  wenn  man  dem  Philosophen  auch  nur  bis  hierher  folgt. 

Aber  er  spinnt  die  geistreiche  fiktive  Theorie  noch  weiter 
aus,  so  daß  sie  immer  konkretere  Form  annimmt.  Unter  anderem 
wird  das,  was  man  heute  posthypnotischc  Suggestion  nennt,  in 
einem  besonderen  Falle  herangezogen  und  zur  Aufhellung  des 
instinktiven  Mechanismus  der  Insekten  geschickt  verwertet.  Man 
möchte  meinen,  daß  die  in  der  letzten  Auflage  noch  beträchtlich 
ergänzten  empirischen  Instanzen  die  Fiktion  in  eine  Hypothese  ver- 
wandeln sollen.  Der  Philosoph  erklärt  aber  selbst,  wohl  um  solcher 
Interpretation  seiner  Darlegungen  vorzubeugen,  zum  Schluß  dieser 
Nachträge  vorsichtig,  daß  dies  alles  ,,uns  den  Schlüssel  zu  einem  ana  - 
logischen  Verständnis  des  Instinkts  und  der  Kunsttriebe"  liefere. 
Der  Sachverhalt  ist  so  klar,  daß  sich  jede  weitere  Analyse  erübrigt. 


-gj  Arnold  Kowalcwski: 

46.   Der  Wahncharaktcr  des   Instinkts. 

Schopenhauer  hat  das  Instinktproblem  noch  in  einer  tieferen 
Weise  behandelt,  die  gerade  fiktionalistisch  von  größtem  Interesse 
ist.  Ich  meine  das  berühmte  Kapitel  „Metaphysik  der  Geschlechts- 
liebe" im  Ergänzungsbande  des  Hauptwerkes,  zu  dem  der  Philo- 
soph nachmals  noch  einen  längeren  Zusatz  machte  —  ein  Zeichen 
(l:ifür,  wie  wichtig  ihm  der  ganze  Gedankenkreis  erschien.  Die 
Analyse  des  menschlichen  Sexualinstinkts  ist  hier  mit  bewunderns- 
wertem Geschick  zu  einer  allgemeinen  Instinkttheorie  erweitert. 
Für  uns  genügen  die  Kernsätze  der  Theorie.  ,,Zwar  hat  die  Gat- 
tung auf  das  Individuum  ein  früheres,  näheres  und  größeres  Recht, 
als  die  hinfällige  Individualität  selbst:  jedoch  kann,  wann  das 
Individuum  für  den  Bestand  und  die  Beschaffenheit  der  Gattung 
tätig  sein  und  sogar  Opfer  bringen  soll,  seinem  Intellekt,  als  welcher 
bloß  auf  individuelle  Zwecke  berechnet  ist,  die  Wichtigkeit  der 
Angelegenheit  nicht  so  faßlich  gemacht  werden,  daß  sie  derselben 
gemäß  wirkte.  Daher  kann,  in  solchem  Falle,  die  Natur  ihren 
Zweck  nur  dadurch  erreichen,  daß  sie  dem  Individuo  einen  ge- 
wissen Wahn  einpflanzt,  vermöge  dessen  ihm  als  ein  Gut  für  sich 
selbst  erscheint,  was  in  Wahrheit  bloß  eines  für  die  Gattung  ist, 
so  daß  dasselbe  dieser  dient,  während  es  sich  selber  zu  dienen 
wähnt;  bei  welchem  Hergang  eine  bloße,  gleich  darauf  ver- 
schwindende Chimäre  ihm  vorschwebt  und  als  Motiv  die  Stelle 
einer  Wirklichkeit  vertritt.  Dieser  Wahn  ist  der  Instinkt  (II, 
Kap.  44,  8.  Absatz)."  Die  Innenseite  des  instinktiven  Wahns  er- 
fahren wir  allein  an  uns  selbst,  was  nun  Schopenhauer  an  dem 
Beispiel  des  Sexualinstinkts  genauer  darlegt.  Dann  kommt  der 
Schluß  auf  die  Verhältnisse  bei  den  Tieren.  ,,Ohne  Zweifel  sind 
auch  diese  von  einer  Art  Wahn,  der  ihnen  den  eigenen  Genuß 
vorgaukelt,  befangen,  während  sie  so  emsig  und  mit  Selbst- 
verleugnung für  die  Gattung  arbeiten,  der  Vogel  sein  Nest  baut, 
das  Insekt  den  allein  pa.ssenden  Ort  für  die  Eier  sucht,  oder  gar 
Jagd  auf  Raub  macht,  der,  ihm  selber  ungenießbar,  als  Futter 
für  die  künftigen  Larven  neben  die  Eier  gelegt  werden  muß,  die 
Biene,  flic  Wespe,  die  Ameise  ihrem  künstlichen  Bau  und  ihrer 
höchst  komplizierten  Ökonomie  obliegen.  Sie  alle  leitet  sicher- 
lich ein  Wahn,  welcher  dem  Dienste  der  Gattung  die  Maske 
eines  egoistischen  Zweckes  vorsteckt.  Um  uns  den  Innern 
odtT  subjcktivt-n  Vorgang,  der  den  Äußerungen  des  Instinkts  zum 


Ansätze  zum  Fiktionali<imus  bei  Schopenhauer.  ^85 

Grunde   liegt,   faßlich    zu    machen,   ist   dies  wahrscheinlich   der 
einzige    Weg"    (II,     Kap.  44,     9.  Absatz).     Nach    dem    letzten 
Satze    ist    Schopenhauers    Übertn  gung    des    Wahngedankens    auf 
den  tierischen   Instinkt   nur  als   Fiktion  gemeint.     Schon  insofern 
haben  wir  diese  Konstruktion  zu  beachten  und  in  unsere  Samm- 
lung aufzunehmen.    Aber  auch  das  Wahnprinzip  selbst    ist   ein 
folgenreicher    Ansatz    zum    Fiktionalismus,    regt    sich    doch    darin 
die    dunkle    Ahnung,    daß    es    zweckmä.jige    Irrtümer    gibt,    von 
denen  die  Erhaltung  des  Lebens  wesentlich  abhängt.    Denken  wir 
uns  solche  Irrtümer  mit  Bewußtsein  gesetzt  und  bejaht,  so  befinden 
wir  uns  auf  der  Höhe  eigentlicher  Fiktionen.    Von  dieser  Richtung 
her   mag  besonders   Nietzsches    Fiktionalismus    Impulse   erhalten 
haben,    worauf  Vaihinger    bereits    auf    S.  771    der    ,, Philosophie 
des    Als     Ob"    mit    Recht    hindeutete.     Es   ließe  sich   zudem  die 
ganze  Wahntheorie    als    ein    Stück  von  Metaphysik    des    Fik- 
tiven auffassen.     Schopenhauer    zeigt   gleichsam,    daß   der  schaf- 
fende Lebenswille   selbst    Fiktionen   braucht,    um  indirekt   gewisse 
Ziele    zu    erreichen,    die    auf    direktem    Wege    unerreichbar    sind. 
Natura    fictrix!     Mit    diesem    Stichworte    bezeichnen    wir    am 
besten  diese  wichtige  Erkenntnis.    Wieweit    übrigens   der  Danziger 
Philosoph  selbst    in   der   Ausmalung  der   natura   fictrix  gegangen 
).st,  beweist  u.  a.  der  merkwürdige  Versuch,  sogar  die  Päderastie 
zu  einem  zweckmäßigen  Vorbeugungsmittel  im  Interesse  der  Spezies 
zu  stempeln.    Das  Laster  findet  sich  nämlich  gerade  bei  der  ab- 
sterbenden   sowie    bei    der    unreifen    Zeugungskraft,    ,,%TClche    der 
Spezies    Gefahr    drohen."     Und    nun   spricht    Schopenhauer    ganz 
fiktionalistisch :  ,,....  wiewohl  sie  alle  beide  aus  moralischen  Grün- 
den pausieren  sollten;  so  war  hierauf  doch  nicht  zu  rechnen;  da 
überhaupt  die  Natur  das  eigentlich  Moralische  bei  ihrem  Treiben 
nicht    in    Anschlag   bringt.      Demnach    griff    die,     infolge     ihrer 
tigenen  Gesetze,   in  die  Enge    getriebene    Natur,   mittels  Ver- 
kehrung des  Instinkts,  zu  einem  Notbehelf,  einem  Strategem, 
ja  man  möchte  sagen,  sie  bauete  sich  eine  Eselsbrücke,  um  .  .  . 
von   zweien   Übeln   dem   größern   zu   entgehen.     Sie   hat   nämlich 
den   wichtigen   Zweck  im  Auge,    unglücklichen   Zeugungen  vorzu- 
beugen, welche  allmählich  die  ganze  Spezies  depravieren  könnten, 
und  da  ist  sie  .  .  .  nicht  skrupulös  in  der  Wahl  der  Mittel  (ebenda, 
vorletzter  Absatz)". 


586 


Arnold  Kowalewski: 


47.    Symbolische  Auslegung  der  Bewußtseinsgrade 
in  der   Richtung  von  innen  nach  außen. 

Sehr  lehrreich  ist  das  Kapitel  25  im  Ergänzungsbande  zum 
Hauptwerke,  das  ,, transzendente  Betrachtungen  über  den  Willen 
als  Ding  an  sich"  enthält.  Der  Philosoph  stößt  hier  u.  a.  auf 
folgende  Frage:  „Warum  ist  unser  Bewußtsein  heller  und  deut- 
licher, je  weiter  es  nach  außen  gelangt,  wie  denn  seine  größte 
Klarheit  in  der  sinnlichen  Anschauung  liegt,  welche  schon  zur 
Hälfte  den  Dingen  außer  uns  angehört,  —  wird  hingegen  dunkler 
nach  innen  zu,  und  führt,  in  sein  Innerstes  verfolgt,  in  eine  Finsternis, 
in  der  alle  Erkenntnis  aufhört  (a.  a.  O.,  letzter  Absatz).?"  Die 
Beantwortung  dieser  Frage  bewegt  sich  durchaus  in  Bildern  und 
Gleichnissen.  Am  genauesten  ist  das  Gleichnis  der  Kugel  aus- 
geführt. Das  Begreifliche  unseres  Bewußtseins  soll  auf  der  Ober- 
fläche der  Kugel  liegen.  Dem  Zusammenfallen  der  Individualitäten 
und  der  Auslöschung  des  Bewußtseins  entspricht  die  Vereinigung 
der  Kugelradien  im  Zentrum.  Schopenhauer  erläutert  an  diesem 
Kugelmodell  sogleich  mehrere  andere  Philosopheme.  ,, Unsterb- 
lichkeit des  Individui  ließe  sich  dem  Fortfliegen  eines  Punktes 
der  Oberfläche  in  der  Tangente  vergleichen;  Unsterblichkeit,  ver- 
möge der  Ewigkeit  des  Wesens  an  sich  der  ganzen  Erscheinung 
aber,  der  Rückkehr  jenes  Punktes  auf  dem  Radius,  zum  Zentro, 
dessen  bloße  Ausdehnung  die  Oberfläche  ist.  Der  Wille  als  Ding 
an  sich  ist  ganz  und  ungeteilt  in  jedem  Wesen,  wie  das  Zentrum 
ein  integrierender  Teil  eines  jeden  Radius  ist :  während  das  peri- 
pherische Ende  dieses  Radius  mit  der  Oberfläche,  w^elche  die  Zeit 
und  ihren  Inhalt  vorstellt,  im  schnellsten  Umschwünge  ist,  bleibt 
das  andere  Ende,  am  Zentro,  als  wo  die  Ewigkeit  liegt,  in  tiefster 
Ruhe,  weil  das  Zentrum  der  Punkt  ist,  dessen  steigende  Hälfte 
von  der  sinkenden  nicht  verschieden  ist."  Und  der  Philosoph 
selbst  bemerkt  noch,  gleichsam  zur  Entschuldigung:  ,, Freilich  ge- 
raten wir  hier  in  eine  mystische  Bildersprache:  aber  sie  ist 
die  einzige,  in  der  sich  über  dieses  völlig  transzendente  Thema 
noch  irgend  etwas  sagen  läßt."  Dann  folgt  sogleich  noch 
eine  neue  Gleiehnisrede  über  dasselbe  Thema,  die  wir  aber  bei- 
seite lassen.  Für  uns  ist  besonders  die  grundsätzliche  Erklärung 
Schopenh:iuers  ein  wichtiger  Fingerzeig.  Nun  wissen  wir,  wo 
die  natürlichen  Häufungsstellen  für  Fiktionen  in  seinem 
System  zu  suchen  sind.    In  dieser  Hinsicht  ist  auch  eine  andere 


Ansätze  zum  Fiküonalisnuis  bei  Schopenhauer.  cgy 

Erklärung  in  Kapitel  7  des  Ergänzungsbandes  beachtenswert,  wo 
Schopenhauer  gesteht,  daß  die  Philosophie  ,,bisweilen  und  im  Not- 
falle in  solche  Erkenntnisse  auslaufen  darf ",  die  bloß  in  abstracto 
denkbar,  aber  durch  keine  Anschauung  bclegbar  sind. ,, Erkenntnisse 
dieser  Art  werden  freilich  auch  nur  halbe  Erkenntnisse  sein; 
sie  zeigen  gleichsam  nur  den  Ort  an,  wo  das  zu  Erkennende  liegt; 
aber  es  bleibt  verhüllt."  Als  Beispiele  führt  er  an  den  ,, Begriff 
eines  Seins  außer  der  Zeit"  und  den  Satz:  ,,die  Unzerstörbarkeit 
unseres  wahren  Wesens  durch  den  Tod  ist  keine  Fortdauer  desselben". 


48.   Ablegung  der   Hilfsmittel  nach   geleistetem  Dienst. 

Aus  dem  eben  erwähnten  Kapitel  7  möchte  ich  noch  folgende 
fiktionalistisch  bedeutsame  Reflexion  hervorheben. 

,,Dem  .  .  .  der  studiert,  um  Einsicht  zu  erlangen,  sind  die 
Bücher  und  Studien  bloß  Sprossen  der  Leiter,  auf  der 
er  zum  Gipfel  der  Erkenntnis  steigt:  sobald  eine  Sprosse  ihn  um 
einen  Schritt  gehoben  hat,  läßt  er  sie  liegen.  Die  vielen  hingegen, 
welche  studieren,  um  ihr  Gedächtnis  zu  füllen,  benutzen  nicht 
die  Sprossen  der  Leiter  zum  Steigen,  sondern  nehmen  sie  ab  und 
laden  sie  sich  auf,  um  sie  mitzunehmen,  sich  freuend  an  der  zu- 
nehmenden Schwere  der  Last.  Sie  bleiben  ew^ig  unten,  da  sie  das 
tragen,  was  sie  hätte  tragen  sollen."  Dies  ist  einmal  eine  aus- 
gezeichnete symbolische  Erläuterung  des  in  der  ,, Philosophie 
des  Als-Ob"  so  gründlich  analysierten  Eliminierens  von  Hilfs- 
größen. Außerdem  scheint  mir  der  Danzigcr  Philosoph  vorahnend 
auf  das  neue  Arbeitsfeld  einer  ,, Pädagogik  des  Als-Ob"  hin- 
zudeuten. Beim  Unterricht  und  beim  selbständigen  Studium  ist 
es  wichtig,  die  bloß  dienenden  vorübergehenden  Hilfsmittel  als 
solche  richtig  einzuschätzen  und  demgemäß  zu  behandeln.  Die 
meisten  Pedantereien  des  Schulwesens  würden  verschwinden,  wenn 
diese  Einsicht  beherzigt  würde,  die  durchaus  den  Prinzipien  des 
Fiktionajismus  entspricht.  Genauere  und  umfassendere  Erörterungen 
des  hier  berührten  Problemkreises  wird  meine  demnächst  erscheinende 
Abhandlung  ,, Ideen  zu  einer  Pädagogik  des  Als  Ob"  bringen. 

49.  Als-Ob-Betrachtung  über  das  ,, Urtier". 

Eine  echte  Als-Ob-Betrachtung  bietet  die  Schrift  ,,Über  den 
Willen  in  der  Natur"  in  dem  der  ,, vergleichenden  Anatomie"  ge- 


5  SS 


Arnold  Kowalewski: 


widmeten  Abschnitt.  Sic  bezieht  sich  auf  die  Idee  des  Urtiers, 
<l(.ren  nictaphysisch-voluntaristische  Auslegung  bei  Schopenhauer 
freilich  doch  den  zweifellos  fiktiven  Ansatz  zu  trüben  scheint. 
,,\Vtnn  wir  nun",  so  heißt  es  da,  ,,nach  allen  diesen  Betrachtungen 
über  die  genaue  Übereinstimmung  zwischen  dem  Willen  und  der 
Organisation  jedes  Tieres,  und  von  diesem  Gesichtspunkt  aus, 
ein  wohlgeordnetes  osteologisches  Kabinett  durchmustern;  so  wird 
es  uns  wahrscheinlich  vorkommen,  als  sehen  wir  ein  und 
dasselbe  Wesen  (jenes  Urtier  de  Lamarcks,  richtiger  den  Willen 
zum  Leben)  nach  Maßgabe  der  Umstände  seine  Gestalt  verändern 
und  aus  derselben  Zahl  und  Ordnung  seiner  Knochen,  durch  Ver- 
längerung und  Verkürzung,  Verstärkung  und  Verkümmerung  der- 
selben, diese  Mannigfaltigkeit  von  Formen  zustande  bringen." 
Im  Anschluß  hieran  wird  auch  die  Konstanz  der  Zahl  und  Ordnung 
der  Knochen  bei  allen  Wirbeltieren,  das  sogenannte  ,, anatomische 
Element"  Geoffroy  Saint-Hilaires  erwähnt,  was  Schopenhauer 
,,der  Beharrlichkeit  der  Materie  unter  allen  physischen  und  che- 
mischen Veränderungen  vergleichen  möchte".  Und  es  folgt  an 
der  Hand  schematischer  Beispiele  eine  längere  Schilderung  der 
Umwandlungen  des  Wirbeltierkörpcrs  durch  den  ,, Willen",  der 
,,mit  ursprünglicher  Kraft  und  Freiheit"  die  jeweilige  besondere 
Form  ,,nach  Maßgabe  der  Zwecke,  welche  die  äußeren  Umstände 
ihm  vorschrieben",  bestimmen  soll.  Diese  Schilderung  hat  für 
uns  fiktiven  Charakter.  Schopenhauer  selbst  aber  denkt  dabei 
wohl  an  eine  ernste  naturphilosophische  Hypothese. 

50.   Das  Dogma   von  der  Vorsehung  als  allegorische 

Wahrheit. 

Die  tiefsinnige  ,, Transzendente  Spekulation  über  die  anschei- 
nende Absichtlichkeit  im  Schicksale  des  Einzelnen",  die  zu  den 
Glanzstücken  des  ersten  Bandes  der  ,,Parerga  und  Paralipomena" 
gehört,  nötigte  den  Philosophen  naturgemäß  zu  einem  freieren 
Gebrauche  des  fiktiven  Denkens.  Nachdem  er  mehrere  Analogien 
gesammelt  hat,  um  die  Idee  einer  geheimnisvollen  lenkenden  Macht 
aufzuhellen,  legt  er  folgendes  fiktionalistische  Bekenntnis  ab: 
,,Dies  angenommen,  könnte  das  Dogma  von  der  Vorsehung, 
als  durchaus  anthropomorphistisch,  zwar  nicht  unmittelbar  und 
sensu  proprio  als  wahr  gelten;  wohl  aber  wäre  es  der  mittelbare, 
allegorische    und    mythische    Ausdruck    einer    Wahrheit, 


Ansät/e  zum  P'iktionalismus  bei  Schopenhauer.  58q 

und  daher,  wie  alle  religiösen  Mythen,  zum  praktischen  Behuf 
und  zur  subjektiven  Beruhigung  ausreichend,  in  dem  Sinne 
wie  z.  B.  Kants  Moralthcologie,  die  ja  auch  nur  als  ein  Schema 
zur  Orientierung,  mithin  allegorisch,  zu  verstehen  ist: 
—  es  wäre  also,  mit  Einem  Worte,  zwar  nicht  wahr,  aber  doch 
so   gut  wie  wahr." 


51.   Hypothese  zum  sch.ematischen  oder  analogischen 
Verständnis  des  ,,Magnetisiercns". 

Wie  wir  bereits  aus  unserer  entwicklungsgeschichtlichcn  Nach- 
forschung über  die  Magic-Fiktion  wissen,  hat  Schopenhauer  in 
seinem,  gleichfalls  im  ersten  Bande  der  Parerga  enthaltenen  ,, Ver- 
such über  Geistersehen  und  was  damit  zusammenhängt"  die  Reil- 
sche  Hypothese  zur  Erklärung  des  animalischen  Magnetismus 
nicht  nur  kritisiert,  sondern  durch  eine  neue,  eigene  ersetzt.  Diese 
Ersatzhypothese  muß  nun  an  dieser  Stelle  genauer  betrachtet 
werden.  Sic  bedient  sich  des  damals  üblichen  Schemas  der  Polarität. 
Das  Gehirn,  nebst  den  ihm  anhängenden  Organen  der  Bewegung, 
soll  den  positiven  und  bewußten  Pol,  der  sympathische  Nerv,  mit 
seinen  Ganglicngeflechten,  den  negativen  und  unbewußten  Pol 
darstellen.  Der  Hergang  beim  Magnetisieren  wird  folgendermaßen 
beschrieben:  ,,Es  ist  ein  Einwirken  des  Gchirnpols  (also  des  äußeren 
Nervenpols)  des  Magnetiseurs  auf  den  gleichnamigen  des  Patienten, 
wirkt  demnach,  dem  allgemeinen  Polaritätsgesetze  gemäß,  auf 
diesen  repellierend,  wodurch  die  Nervenkraft  auf  den  andern 
Pol  des  Nervensystems,  den  innern,  das  Bauchgangliensystem, 
zurückgedrängt  wird."  Aus  dieser  ,, Hypothese"  sucht  Schopen- 
hauer noch  verschiedene  Einzelheiten  abzuleiten,  wie  z.  B.  das 
sogenannte  Baquet,  bei  dem  ungleichnamige  Pole  aufeinander 
wirken,  so  daß  hier  ein  ,,attrahierendes  Magnetisieren"  vor- 
zuliegen scheint,  zuletzt  die  Steigerung  des  Rapports  in  den  höheren 
Graden  des  Somnambulismus.  Für  uns  ist  das  Schlußgeständnis 
am  wichtigsten.  ,,Das  sind  freilich",  sagt  der  Philosoph,  ,,sehr 
gewagte  Annahmen:  aber  bei  so  durchaus  unerklärten  Dingen, 
wie  die,  welche  hier  unser  Problem  sind,  ist  jede  Hypothese, 
die  zu  irgend  einem,  wenn  auch  nur  schematischen,  oder 
analogischen  Verständnis  derselben  führt,  zulässig".  Die 
vermeinthche  ,, Hypothese"  kann  demnach  —  im  modernen  Sinne 
gesprochen  —  nur  eine  Fiktion  sein. 


cgO  Arnold  Kowalewski: 

52.  Die   geologischen  Vorgänge  —  eine   Art  Bilder- 

sprache. 

Noch  eine  fiktionalistische  Mustcrleiscung  sei  aus  dem  zweicen 
Bande  der  Parerga  angeführt.  Sie  hängt  mit  der  einen  von  d  n 
beiden  Schopenhauerschen  Ersatzantinomien  zusammen,  die  ich 
die  „geologische"  nennen  möchte  (vgl.  mein  Schopenhauerbuch 
S.  61  f.).  Ich  zitiere  nur  einen  Passus  aus  der  späteren  Ergänzung, 
die  der  Philosoph  aus  den  ,,Spicilegia"  zur  Ausschmückung  des 
Gedankens  bestimmt  hat,  wie  wir  aus  Deussens  Parergaausgabe 
ersehen  können  (V,  S.  151).  ,,Wenn  wir  sagen,  anfangs  sei  ein 
leuchtender  Urnebel  gewesen,  der  sich  zur  Kugelform  geballt  und 
zu  kreisen  angefangen  habe,  dadurch  sei  er  linsenförmig  geworden, 
und  sein  äußerster  Umkreis  habe  sich  ringförmig  abgesetzt,  dann 
zu  einem  Planeten  geballt,  und  das  Selbe  habe  sich  abermals 
wiederholt,  und  so  fort,  —  die  ganze  Laplacesche  Kosmogonie;  — 
und  wenn  wir  nun  ebenfalls  die  frühesten  geologischen  Phänomene 
bis  zum  Auftreten  der  organischen  Natur  hinzufügen;  so  ist  alles, 
was  wir  da  sagen,  nicht  im  eigentlichen  Sinne  wahr,  son- 
dern eine  Art  Bildersprache.  Denn  es  ist  die  Beschreibung 
von  Erscheinungen,  die  als  solche  nie  dagewesen  sind:  denn 
es  sind  räumliche,  zeitliche  und  kausale  Phänomene,  welche  als 
solche  schlechterdings  nur  in  der  Vorstellung  eines  Gehirns  exi- 
stieren können,  welches  Raum,  Zeit  und  Kausalität  zu  Formen 
seines  Erkennens  hat,  folglich  ohne  ein  solches  unmöglich  und 
nie  dagewesen  sind;  daher  jene  Beschreibung  bloß  besagt,  daß, 
wenn  damals  ein  Gehirn  existiert  hätte,  alsdann  besagte  Vor- 
gänge sich  darin  dargestellt  haben  würden."  Diese  Betrachtung 
ist  für  einen  erkenntnistheoretischen  Idealisten,  der  die  Schule 
Kants  durchgemacht  hat,  eigentlich  nichts  Außerordentliches, 
Merkwürdigerweise  sucht  man  sie  aber  bei  dem  Königsberger 
Philosophen  selbst  vergebens. 

53.  Der  Begriff  der  ,, Handlungen  von  moralischem 

Wert"  —  eine  ,, bloße  Spielmarke". 

Wir  wollen  jetzt  im  Briefwechsel  Schopenhauers  nach  fik- 
tionalistischen  Gedanken  fahnden. 

Da  nahm  der  scharfsinnige  Becker  in  einem  Briefe  vom 
20.  November  1844  an  dem  Begriffe  von  ,, Handlungen,  die  einen 
moralischen    Wert    haben",    wie    ihn    die    nichtgekrönte    ethische 


•  Ansätze  zum  Fiktionalisiiius  bei  Schopenhauer.  cgi 

Preisschrift  gebraucht,  Anstoß.  Er  meinte,  daß  diesem  Begriffe 
der  gleiche  Mangel  anhafte  wie  Kants  Imperativ,  dessen  kritik- 
lose Einführung  in  die  philosophische  Gesellschaft  Schopenhauer 
selbst  gerügt  habe.  Des  Meisters  Beantwortung  dieses  Anklage- 
punktes lautet  folgendermaßen:  ,,Es  ist  freilich  wahr,  daß  in 
meiner  Ethik  der  Begriff  der  ,,  Handlungen  von  moralischem  Wert" 
als  eine  Voraussetzung  auftritt.  Jedoch  ist  diese  eine  bloße 
Spielmarke,  mit  der  ich  einstweilen  antrete,  um  sie  nachher 
einzulösen.  Mit  dem  kateg.  Imperativ  ist  solche  durchaus  nicht 
zu  vergleichen,  da  sie  keineswegs,  wie  dieser,  ein  Daus  ex  machina 
ist  und  auch  nicht  von  ferne  die  Prätension  macht,  selbst 
ein  Letztes  und  ein  Erklärungsgrund  zu  sein.  Es  ver- 
hält sich  damit  nämlich  so :  Von  irgend  etwas  muß  man  ausgehn, 
an. etwas  anknüpfen,  sein  Gewebe  anzetteln:  denn  aus  nichts 
wird  nichts.  Wenn  ich  einen  Kranz  flechte,  steht  ein  Stengel 
heraus,  bis  ich  herumgekommen  bin.  Diesen  Anknüpfungspunkt 
gab  mir  schon  die  Preisfrage  an  die  Hand  ..." 

Ich  habe  hier  nicht  nachzuprüfen,  ob  solche  Erwiderung  den 
eigentlichen  Fragepunkt  auch  genau  trifft:  denn  daß  man  über- 
haupt einen  Ausgangsbegriff  benutzen  müsse,  wird  ja  wohl  von 
Becker  nicht  bezweifelt.  Es  handelt  sich  um  die  Qualifikation 
eines  besonderen  Ausgangsbegriffes.  Bemerkenswert  ist  vor  allem, 
daß  Schopenhauer  den  beanstandeten  Begriff  für  eine  Fiktion 
erklärt.  Denn  eine  bloße  Spielmarke,  mit  der  man  einstweilen 
antritt,  um  sie  nachher  einzulösen,  ist  eben  nichts  anderes,  als 
eine  Fiktion,  die  man  vorläufig  benutzt,  um  sie  aus  der  Denk- 
rechnung schließlich  zu  eliminieren,  ganz  im  Sinne  der  klassischen 
Charakteristik  in  der  ,, Philosophie  des  Als  Ob".  ,, Spielmarke" 
bedeutet  übrigens  eine  dankenswerte  Bereicherung  des  fiktiona- 
listischen  Sprachschatzes.  Auch  die  sonstigen  Ausdrücke,  die  der 
Danzigcr  Philosoph  bei  der  Beschreibung  seines  fiktiven  Ver- 
fahrens braucht,  sind  sehr  treffend.  Man  beachte  übrigens,  daß 
echt  fiktionalistisch  der  Anspruch  einer  Erklärung  abgelehnt  wird: 
d.  h.  der  fragliche  Begriff  soll  keine  Hypothese  sein,  ganz  im 
Sinne  der  strengen  Lehre  der  ,, Philosophie  des  Als  Ob". 

54.  ,,Ich  noch  einmal"  als  tropische  Wendung. 

Noch  ein  anderer  Einwand  des  oben  erwähnten  Beckerschen 
Briefes  veranlaßte  den  Meister  zu  einer  fiktionalistischen  Abwehr- 


rq-»  Arziold  Kowalcwbki: 

maßrcgcl.  „Beruht",  so  schrieb  der  Kritiker,  ,,dic  morahsclio 
Triebfeder  (das  Mitleid)  auf  der  Einsicht,  daß  der  Andere  cigent- 
Hch  mein  ,,Ich  noch  einmal"  ist,  so  ist  zuletzt  mein  Interesse  für 
den  Andern  eben  auch  ein  Interesse  für  das  Ich,  also  wieder 
Egoismus  und  folglich  dem  letzten  Grunde  nach  doch  nicht  spe- 
zifisch verschieden."  Schopenhauer  dagegen:  ,,Dies  Argument  be- 
ruht aber  nur  darauf,  daß  Sic  den  Ausdruck  ,,Ich  noch  einmal" 
buchstäblich  nehmen  wollen,  während  er  eigentlich  docii 
nur  eine  tropische  Wendung  ist.  Denn  mit  Ich  wird  im 
eigentlichen  Sinn  stets  nur  das  Individuum  bezeichnet,  nicht 
aber  das  metaphysische  Ding  an  sich,  welches,  direlct  unerkenn- 
bar, in  den  Individuen  erscheint,  also  über  diese  hinaus  liegt, 
hinsichtlich  auf  welches  daher  die  Ichheit  aufhört;  und 
unter  Egoismus  versteht  man  den  exklusiven  Anteil  am  eigenen 
Individuo,  als  in  welchem  allein  der  Wille  z.  L.  sich  zunächst  und 
unmittelbar  erkennt."  Hiernach  ist  also  das  schöne  Philosophen! 
vom  Wiedererkennen  des  Ich  im  Anderen  mit  einem  fiktiven 
Element  behaftet.  Der  Danziger  Philosoph  muß  das  offen  be- 
kennen, um  lästige  Kritik  abzuschneiden. 

55.   Ein  erkenntnisloser,   aber  doch  nicht  bewußtloser 
Zustand  —  problematisch  gemeint. 

Frauenstädt  fand  eine  Parergastelle  bedenklich,  nach  der 
Schopenhauer  einen  erkenntnislosen,  aber  doch  nicht  bewußtlosen 
Zustand  beim  Tode  eintreten  läßt.  ,,  Er  kenntnislos"  sei  mit  , .be- 
wußtlos" identisch.  Schopenhauer  paraphrasierte  die  angegriffene 
Stelle  in  seinem  Antwortbriefe  vom  30.  Oktober  1851:  ,, Obgleich 
wir  (Sie  mit)  einen  nicht  bewußtlosen  Zustand  uns  nicht  anders 
vorstellen  können,  als  daß  er  ein  erkennender  sei,  so  mag, 
außerhalb  der  Erscheinung,  also  in  der  Welt  der  Dinge  an  sich, 
sich  dies  doch  anders  verhalten  und  es  einen  Zustand  geben,  der 
ohne  ein  erkennender  (also  in  Subjekt  und  Objekt  gespaltener) 
zu  sein,  doch  nicht  bewußtlos  wäre."  Dazu  bemerkte  er  noch: 
,,Es  heißt  daselbst  ,,so  mag":  also  ist  der  ganze  Satz  ein  proble- 
matischer. Dies  muß  er  sein,  weil  der  ganze  Gegenstand  trans- 
zendent ist"  (Schop.  Briefe,  ed.  Griseb.  S.  185). 

Was  Schopenhauer  in  seiner  Erwiderung  ., problematisch" 
nennt,  ist  tatsächlich  fiktiv.  Ihm  fehlt  offenbar  nur  ein  passender 
Ausdnuk    für    eine    widerspruchsvolle,    aber    trotzdem    nützliche 


Ansätze  zwm  Fiktionalismus  bei  Schopenhauer.  ^go 

Idee.     Er  hätte    übrigens,    analog  wie   früher,   sich   auf   den   bloß 
metaphorischen    Sinn    des    Wortes    ,, bewußtlos"    berufen    können. 


56.   Fiktionalistische  Abwehr  des   Einwandes,   daß  eine 
Vernichtung  der  Willenssubstanz  angenommen  werde. 

Fort  läge  hatte  in  der  ,,  Genetischen  Geschichte  der  Philo- 
sophie seit  Kant"  (Leipzig  1852)  Schopenhauers  ,, philosophisch 
kaum  introduzierbaren  Begriff  einer  Vernichtung  der  Willens- 
substanz" bemängelt.  Dazu  teilte  Frauenstädt  dem  Meister  wider- 
legenAi  Zitate  mit,  worauf  dieser  sich  selbst  zu  der  Sache  äußerte, 
in  einem  Briefe  vom  12.  Juli  1852.  ,,In  fheinem  Hauptwerk  Bd.  2, 
p.  204  steht  allerdings  ,,der  Wille  ist  die  Substanz  des  Menschen"; 
aber  dabei  steht  auch,  daß  dies  ,, bildlich  und  gleichnisweise"  zu 
verstehen  sei  (a.  a.  O.  S.  198)."  Wir  sehen  die  gleiche  Tendenz 
wie  früher.  Der  fiktive  Index  dient  sozusagen  als  Schutzpanzer. 
Nur  daß  der  Schutzpanzer  diesmal  schon  fertig  vorlag  und  nicht 
neu  beschafft  zu  werden  brauchte. 

57.  Absichtliche    Irrationalität   im  Transzendenten. 

In  einem  Briefe  vom  12.  September  1852,  den  der  Philo- 
soph an  Frauenstädt  richtete,  bekennt  er  sich  gewissermaßen 
grundsätzlich  zu  bewußt  widerspruchsvollen  Behauptungen,  also 
zu  Fiktionen  im  Transzendenten.  ,,Bei  einem  gewissen  Punkt, 
dem  des  Velle  und  Nolle,  der  Bejahung  und  Verneinung,  angelangt, 
müssen  wir  nicht  demselben  noch  eine  Substanz  zum  Grunde 
legen,  sondern  die  Schranken  der  menschlichen  Erkenntnis  er- 
reicht zu  haben,  anerkennen,  ja,  es  dadurch,  daß  wir  gegen 
dieselben  anschlagen,  recht  an  den  Tag  legen.  Das  ist 
hier  die  alleinige  Weisheit  .  .  ."  (a.  a.  0.  S.  2i6f.).  Dies  Be- 
kenntnis erinnert  an  eine  gewichtige  Äußerung  im  Ergänzungs- 
bande des  Hauptwerkes  (Kap.  17),  daß  ,, einige  völlige  Wider- 
sinnigkeiten, einige  wirkliche  Absurditäten,  ein  wesentliches  In- 
gredienz einer  vollkommenen  Religion  seien",  eben  als  ,,der  Stempel 
ihrer  allegorischen  Natur",  mithin  auch  ,,begreifHch  sei,  wie 
Tertullian,  ohne  zu  spotten,  sagen  konnte:  Prorsus  credibile 
est,  quia  ineptum  est: certum  est,  quia  impossibile". 

Um  endlich  noch  Schopenhauers  Gespräche  in  Betracht  zu 
ziehen,   deren  spärhche   Überreste   Grisebach  gesammelt  hat,  so 

Annalen  der  Philosophie-    I.  3° 


cq^  Arnold  Kowalewski: 

sind  auch  da  manche  fiktionalistischen  Gedanken  bemerkbar. 
Wir  sind  aber  jetzt  nach  allem,  was  uns  bisher  an  solchen  Ge- 
danken entgegentrat,  ein  wenig  anspruchsvoll  geworden.  Nicht 
jede  Kleinigkeit  kann  uns  Eindruck  machen.  Indessen  sei  wenig- 
stens ein  sehr  charakteristisches  Beispiel  fiktionalistischer  Denk- 
art aus  einem   Gespräche  des  Meisters  mit   Frauenstädt  erwähnt. 


58.   Ein   Gleichnis  als  Abwehr  eines   metaphysischen 

Einwandes. 

Frauenstädt  konnte  nicht  begreifen,  daß  der  sekundäre*  Intel- 
lekt den  Willen  aufheben  soll.  ,,Wie  kommt  .  .  .",  so  fragte  er, 
,,der  Diener,  das  Werkzeug  dazu,  sich  über  seinen  Herrn  und 
Schöpfer  so  zu  erheben,  daß  er  ihn  sogar  aufhebt }  Setzt  dieser 
höhere  Intellekt  nicht  einen  höheren  Willen  voraus.?"  (Schopen- 
hauers Gespräche  und  Selbstgespräche,  ed.  Grisebach,  S.  20.) 
Diese  Frage  müßte  nun  doch  eigentlich  genauere  metaphysische 
Erörterungen  über  das  Verhältnis  von  Wille  und  Intellekt  aus- 
lösen. Aber  nichts  von  alledem.  Der  Meister,  der  einen  doppelten 
Willen  ablehnte,  erwiderte:  ,,Was  Ihren  Einwurf  betrifft,  so  ist 
die  Sache  einfach  diese.  Ein  Wanderer  verfolgt,  mit  einer  Laterne 
in  der  Hand,  einen  Weg;  plötzlich  sieht  er  sich  an  einem  Abgrund 
steWen  und  kehrt  um.  Der  Wanderer  ist  der  Wille  zum  Leben, 
die  Laterne  der  Intellekt;  beim  Lichte  dieser  sieht  der  Wille,  daß 
er  auf  einem  Irrsvegc  sich  befindet,  an  einem  Abgrunde  steht, 
und  er  wendet  sich,  er  kehrt  um"  (a.  a.  O.  S.  21). 

Was  bedeutet  das .''  Die  Gleichnisrede,  mit  der  der  Meister 
antwortet,  bekundet  wiederum  die  apologetische  Fruchtbarkeit 
des  fiktiven  Denkens.  Sensu  proprio  ist  offenbar  keine  befriedigende 
Charakteristik  der  Willensverneinung  möglich.  Darum  bietet 
Schopenhauer  sogleich  einen  allegorischen  Ersatz  auf,  um  sein 
paradoxes  Philosophem  vor  dem  kritischen  Frager  zu  retten. 

Schlußwort. 

Wir  stehen  am  Ende  unserer  Arbeit.  Fast  alle  Aggregat- 
zustände der  Schopenhauerschen  Lehre  sind  durchforscht  worden. 
Wenn  diese  Durchforschung  sich  bei  den  Werken,  Briefen  und 
Gesprächen  aus  bekannten  Gründen  nicht  so  ausdehnen  konnte, 
wie    bei    den    Erstlingsmanuskripten,    so    hat    sie    doch    jedenfalls 


Ansätze  zum  Fiktionalisinus  bei  Schopeuhauer.  595 

wiederum  zur  Genüge  gezeigt,  daß  fiktionalistische  Gedanken  bei 
Schopenhauer  keine  zufällige  äußerliche  Dekoration  sind,  sondern 
ein&  wesentliche  Lebensader  des  Systems  bedeuten.  Am  inter- 
essantesten waren  zuletzt  die  sich  häufenden  apologetischen 
Fiktionen,  mit  denen  der  Meister  verschiedene  strittige  Lehrstücke 
zu  retten  suchte.  Dieser  Typus  mußte  begreiflicherweise  mit  der 
fortschreitenden  dogmatischen  Festigung  des  Systems  stärker 
hervortreten.  Er  charakterisiert  am  besten  den  alten  Schopen- 
hauer, wie  der  vorsichtige  Typus  der  erkenntnistheoretischen 
Fiktionen  den  jungen. 

Der  Meister  selbst  hat  hiermit  überhaupt  eine  fiktiona- 
listische Interpretation  seines  Systems  angeregt,  die  ern- 
steste Beachtung  und  Nacheiferung  verdient.  Immer  wieder  und 
wieder  tauchen  vorwitzige  Kritiker  Schopenhauers  auf,  die  sich 
pedantisch  an  den  Buchstaben  seiner  Lehre  klammern  und  dann 
natürlich  mit  größter  Leichtigkeit  lauter  schlimme  Widersprüche 
entdecken.  Möchten  ihnen  fortan  die  Schopenhauerfreunde  mit 
fiktionalistischer  Interpretationskunst  entgegentreten!  Das  wäre 
ein  schöner  Erfolg  dieser  Aibeit. 

Noch  mehr  aber  würde  ich  mich  freuen,  wenn  die  große 
Schopenhauergemeinde  nun  auch  regsten  und  innigsten  Anteil 
nehmen  möchte  an  Vaihingers  ,, Philosophie  des  Als  Ob",  die 
uns  das  wissenschaftliche  Rüstzeug  zu  allem  dem  geschenkt  hat, 
die  den  Fiktionalismus  als  System  schuf  und  sich  eben  anschickt, 
ihre  Kulturmission  in  umfassendster  Weise  auszuwirken. 


3«' 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte 
der  Marburger  Schule. 

Von 

Jörgen  JÖrgensen -Kopenhagen. 

Inhaltsübersicht. 

I.  Einleitung:  Die  Philosophie  und  speziell  die  der  Marburger  Schule  findet 
hrc  Grundlage  in  den  exakten  Naturwissenschaften.  —  Vitalistische  und  mecha- 
nische Biologie  als  Stütze  der  Philosophie.  —  Die  Philosophie  des  Als  Ob  der  Typus 
einer  biologischen  Erkenntnistheorie.  —  Grundlegender  Fehler  des  biologiscben 
Standpunktes  und  seine  prinzipielle  Widerlegung.  —  Nichtigkeit  des  amerikanischen 
Pragmatismus.  —  Versuche  Vaihingers,  Widersprüche  des  Pragmatismus  zu  über- 
winden. 

II.  Das  Wesen  der  Fiktion  (das  fiktive  Urteil):  Die  Fiktion  als  bewußte 
zweckmäßige,  aber  falsche  Annahme.  —  Die  Fiktion  als  ein  Mittelbegriff  zwischen 
Irrtum  und  Hypothese.  —  Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung.  —  Grundform  des 
fiktiven  Urteils  als  einer  besonderen  Art  von  Urteilen.  —  Das  fiktive  Urteil  in  der 
Tafel  der  Urteile.  —  Anwendung  der  Fiktion  in  der  Mathematik  (der  Kreis  als 
Polygon,  der  Begriff  des  Unendlich  Kleinen),  Logik  (die  Allgemeinbegriffe),  Physik 
(der  absolute  Raum,  Atome,  Kräfte),  Nationalökonomie  (Adam  Smith'  national- 
ökonomische Fiktion),  Ethik  (Willensfreiheit).  —  Berufung  auf  Kant,  Forberg, 
Lange,  Nietzsche. 

III.  Die  erkenntnistheoretischen  Konsequenzen:  Die  Empfindungen 
als  das  unmittelbar  Gegebene.  —  Die  Kategorienpaare  als  Fiktion.  —  Erläuterung 
am  Kategorienpaar:  Ding  und  Eigenschaft.  —  Die  Kategorie  als  analogische  Fiktion. 
—  Das  gesamte  Denken,  eine  systematische  Anwendung  von  Fiktionen.  • — ■  Das 
Denken  bewegt  sich  im  Widerspruch  zur  Wirklichkeit.  —  Erreichung  richtiger 
Resultate  durch  die  Methode  der  entgegengesetzten  Fehler.  —  Das  syllogistische 
Schließen  ist  fiktiv.  —  Aufdeckung  der  entgegengesetzten  Fehler  in  den  mathe- 
m.atischen,  logischen,  nationalökonomischen  Fiktionen.  —  Die  Fiktion  der  Willens- 
freiheit unter  diesem  Gesichtspunkte. 

IV.  Die  Voraussetzungen  der  Fiktionstheorie:  Vorausgesetzt  werden 
,, Seelen",  die  einen  Maßstab  zur  Beurteilung  des  Wahren  und  Falschen  besitzen 
und  bewußt  einem  Ziele  zustreben.  —  Metaphysische  Zweckmäßigkeit  einer  solchen 
Organisation.  —  Weitere  Voraussetzung  eines  besonderen  Wahrheitsbegriffes.  — 
Verschwommenheit  desselben  bei  Vai hinger. 

V.  Kritik:  Zwei  widerspruchsvolle  Gesichtspunkte  auf  dem  Grunde  der 
Vaihingerschen  Theorie.  —  Die  Fiktionstheorie  als  Fiktion.  —  Die  Methode  der 
entgegengesetzten  Fehler  beweist,  daß  das  Denken  dieselben  Wege  verfolgt  wie  die 
Wirklichkeit.  —  Übereinstimmung  der  Gesetze  des  Denkens  mit  denen  des  Daseins.  — 
Widtrsprüche  in  der  entgegengesetzten  Behauptung.  —  Die  Kategorien  sind  Vor- 
aussetzungen jeder  vernünftigen  Theorie  der  Phänomene,  können  also  nicht 
Fiktionen  sein.  —  Mensch  und  Tier.  —  Operiert  das  Tier  mit  Fiktionen  ?  —  Die 
Fiktionstheorie  ist  bedingt  und  vereinzelt  richtig;  in  der  Beziehung  auf  das  gesamte 
Denken  jedoch  widerspruchsvoll.  —  Zusammenfassung  der  kritischen  Bedenken.  ■ — 
Die  absolute  NVahrhtit  und  die  Marburger  Schule. 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       ^gy 

Parmenides  hat  g.sagt:  „man  denkt  das  n'cht, 
was  nicht  ist''  —  wir  sind  am  anderen  End:  und 
sagen:  ,,was  gedacht  werden  kann,  muß  sicherlich 
eine  Fiktion  snn."  Friedrich  Nietzsche. 

I.  Einloitunj;. 

Die  Philosophie  hat  stets  ihre  Glanzperioden  gehabt,  wenn 
sie  im  innigen  Kontakt  mit  den  Naturwissenschaften  stand.  Ein 
ganz  flüchtiger  Blick  auf  die  Geschichte  der  Philosophie  im  Umriß 
beweist  das.  Als  solche  Perioden  lassen  sich  anführen:  das  grie- 
chische Altertum,  die  Epoche  vom  l6.  bis  l8.  Jahrhundert  und 
die  neueste  Zeit.  Als  Verfall-  oder  Stagnationsperioden  dagegen 
müssen  betrachtet  werden:  die  mittelalterliche  Scholastik,  wo  die 
Philosophie  sich  mehr  und  mehr  der  Theologie  näherte,  ja  schließ- 
lich zur  ,,ancilla  thcologiae"  wurde,  —  und  die  Romantik,  wo 
auch  in  der  Philosophie  eine  mehr  oder  minder  ausschweifende 
Phantasie  die  Vernunft  um  die  Macht  beraubt  hatte.  Aber  seit 
ungefähr  etwas  mehr  als  50  Jahren  hat,  wie  gesagt,  die  Philo- 
sophie sich  mehr  und  mehr  den  Naturwissenschaften  genähert 
und  ist  mit  ihnen  in  eine  Verbindung  getreten,  die  sie  hoffentlich 
nicht  wieder  lösen  wird. 

Indessen,  Naturwissenschaft  und  Naturwissenschaft  ist  nicht 
immer  einerlei.  Nicht  alle  Naturwissenschaften  bieten  der  Philo- 
sophie die  gleichen  Stützpunkte.  Hierin  unterscheidet  si  :h  ganz 
entschieden  die  Mathematik  von  den  jedenfalls  im  großen  und 
ganzen  auf  einer  abgeklärten  Prinzipgrundlage  ruhenden  exakten 
Naturwissenschaften  und  den  biologischen  Wissenschaften,  die, 
was  Methoden  und  Prinzipien  betrifft,  noch  tastend  ihren  Weg 
suchen.  Dieser  Unterschied  innerhalb  der  Wissenschaften  poten- 
ziert sich  zu  einem  Gegensatz  innerhalb  der  philosophischen 
Systeme,  die  sich  darauf  stützen.  Als  Endpunkte  können  gelten 
der  stattliche  und  festgefügte  Bau,  den  die  Marburger  Schule 
mit  Cohen  an  der  Spitze  auf  Basis  der  exakten  Naturwissen- 
schaften errichtet  hat  —  und  als  Gegensatz  dazu  das  allerdings 
phantasievolle  und  in  den  Einzelheiten  oft  scharfsinnige,  aber 
unbestimmte  und  romantische  System,  das  Bergson  auf  Grund- 
lage einer  pseudophilosophischen,  vitalistischen  Biologie  ent- 
worfen hat.  Hier  stehen  sich  Vernunft  und  Intuition  einander 
gegenüber. 

Neben  der  vitalistischen  gibt  es  indessen  auch  eine  mecha- 


cg3  Jörfjen  Jörpensen: 

nischc  Biologie,  deren  größter  Repräsentant  Darwin  ist.  Unter 
den  Naturforschern,  die  auf  die  moderne  Weltanschauung  einen 
entscheidenden  Einfluß  ausgeübt  haben,  nimmt  er  ja  eine  hervor- 
ragende Stellung  ein.  Seine  Entwicklungshypothese  hat  denn 
auch  die  moderne  Philosophie  bedeutend  beeinflußt^),  was  —  um 
uns  an  ein  äußeres  Kennzeichen  zu  halten  —  bereits  die  Termino- 
logie beweist.  Es  wimmelt  in  der  modernen  philosophischen  Lite- 
ratur von  Ausdrücken  wie:  Entwicklung,  Variationen,  Anpassung, 
Zweckmäßigkeit,  Selektion,  Kampf  ums  Dasein  usw.  usw.  Jedoch 
hiermit  ist  es  gegangen  wie  es  so  oft  geht,  nämlich,  daß  ein  an 
und  für  sich  wertvoller  Gedanke  allmählich  schädlich  wirkt  da- 
durch, daß  er,  selbst  wenn  er  nur  für  ein  bestimmtes  Gebiet  Gültig- 
keit besitzt,  überall  durchzuführen  gesucht  wird.  Meiner  Ansicht 
nach  liegt  z.  B.  ein  solcher  Mißbrauch  vor,  wenn  man  den  Ent- 
wicklungsgedanken als  Unterlage  für  die  Erkenntnistheorie  wählt. 
Von  diesen  Versuchen  gibt  es  in  neuester  Zeit  nicht  gar  so  wenige. 
Sie  lassen  sich  zusammenfassen  unter  der  Bezeichnung  ,,die  bio- 
logische Erkenntnistheorie",  und  als  einer  ihrer  eigentümlichen 
Repräsentanten  muß  auch  Vai  hinger  in  seiner  ,, Philosophie 
des  Als  Ob"  betrachtet  werden.  Da  nun  im  folgenden  wesentlich 
vom  ,, biologischen"  Gesichtspunkt  aus  dieses  Werk  wiedergegeben 
und  untersucht  werden  soll,  so  wird  es  gewiß  nicht  ganz  unangebracht 
sein,  das  Grundschema  für  den  Gedankengang  der  biologischen 
Erkenntnistheorie  zu  skizzieren  und  den  prinzipiellen  Fehler 
darin  nachzuweisen. 

Die  biologische  Erkenntnistheorie  gründet  sich  im  großen 
und  ganzen  auf  dem  von  Darwin  dargestellten  Entwicklungs- 
gedanken, indem  sie  ihn  auf  die  menschliche  Erkenntnis  anwendet 
und  diese  als  eine  Waffe  im  ,, Kampfe  ums  Dasein"  auffaßt.  Die- 
jenigen Individuen,  welche  die  Umgebungen,  in  denen  sie  leben, 
erkennen  können,  werden  größere  Chancen  haben  sich  durch- 
zuschlagen als  diejenigen,  denen  diese  Erkenntnis  fehlt.  Und 
die  Chancen  werden  um  so  größer  sein,  je  richtiger,  d.  h.  je  mehr 
auf  die  Umwelt  abgestimmt  diese  Erkenntnis  ist.  Ja,  die  Richtig- 
keit der  Erkenntnis  bedeutet  eigentlich  schließlich  nichts  anderes 
als  ihre  Brauchbarkeit  im  Daseinskampfe.  Die  Erkenntnis 
an    sich    hat    keinen  Wert;    sie    ist   nur  Mittel   und  Werk- 

')  Siehe  hierzu  z.  B.  H.  Höffding,  ,, Charles  Darwin  and  the  philosophy" 
in  der  in  Cambridge  herausgegebenen  Festschrift  ,, Darwin  and  Modern  Science" 
(1909). 


Die  „Philosophie   des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       ^qq 

zeug  zur  Handlung.  Und  ihre  Richtigkeit  bedeutet 
nichts  anderes  als  ihre  Zweckmäßigkeit  in  der  Ent- 
wicklung der  Organismen.  Diejenigen  Urteile,  welche  zu 
nützlichen  (zweckdienlichen)  Handlungen  führen,  sind  richtig," 
während  diejenigen,  welche  zu  schädlichen  Handlungen  führen, 
falsch  sind.  Das  Hauptkriterium  der  Richtigkeit  eines  Urteils 
ist  also  die  Zweckmäßigkeit  der  auf  Grundlage  dieses  Urteils  aus- 
geführten Handlungen.  Und  umgekehrt  nimmt  man  an,  daß 
die  vorliegende,  faktisch  von  uns  als  richtig  angesehene  Erkenntnis 
nur  ein  Entwicklungsprodukt  ist,  das  durch  Selektion  der  un- 
zähligen, im  Verlaufe  der  Entwicklung  gefällten  Urteile  gebildet 
ist.  Diese  Erkenntnis  ist  der  Inbegriff  der  Urteile,  die  sich  für 
die  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  zweckmäßig  —  jeden- 
falls nicht  allzu  unzweckmäßig  —  erwiesen  haben.  Die  ,, wahren" 
oder  ,, richtigen"  Urteile  sind  nur  die  zweckmäßigsten 
Urteilsvariationen  überhaupt.  Das  Kriterium  der  Wahrheit 
einer  Erkenntnis  ist  also  ihr  Nutzen. 

Um  gleich  zu  dieser,  für  eine  oberflächliche  Betrachtung  ganz 
ansprechend  aussehenden  Auffassung  der  Erkenntnis    Stellung  zu 
nehmen,  will  ich  nur  auf  einen  Grundfehler  darin  hinweisen,  der 
mir  genügt,  um  sie  zu  verwerfen.     Die  Voraussetzung  der  ganzen 
Betrachtung  ist   nämlich,   daß  die   Entwicklungshypothese   richtig 
ist.     Aber  um  das  zu  entscheiden,    muß  man  die    Grundbegriffe, 
mit  denen  sie  operiert   (Individuum,   Art,   Variation,   Kampf  ums 
Dasein,   Selektion,  Zweckmäßigkeit  usw.)  erst  geschaffen  haben. 
Und     ferner      müssen     diese     Begriffe      so     zusammengestellt 
werden,    daß    daraus    ein    verständliches    Ganzes    entsteht,    sonst 
wird    nämlich    die    Entwicklungshypothese    sinnlos.      Aber    über 
den   Sinn  dieser  Zusammenstellung  und   über  ihre   Richtigkeit  in 
der  Bedeutung  von   Übereinstimmung  mit  der  Wirklichkeit  kann 
die  Entwicklung  selbst  mir  nichts  sagen.     Denn  die  Urteile,  aus 
denen  die  Entwicklungshypothese  selbst  besteht,   können  niemals 
irgendeine    praktische    Bedeutung    bekommen.       Sie     betreffen 
nämlich   gar  nicht  die  Umwelt,   mit  welcher  die    Individuen 
ihren  Kampf  ums  Leben  kämpfen,  sondern  sind  nur  eine  Dar- 
stellung   des   Verlaufes    eben    dieses    Kampfe?.      Da    aber 
nur  mit  der  Umgebung  Kampf  geführt  wird,  so  können  nur  die- 
jenigen Urteile,  welche  diese  Umgebung  betreffen,  den  Individuen 
zum  Nutzen  oder   Schaden   gereichen.     Deshalb   fordert  die   Ent- 
wicklungshypothese   —    die    eine    notwendige    Voraussetzung    der 


ÖOO  Jörgen  Jörgensen: 

„biologischen  Erkenntnistheorie"  ist  —  ein  anderes  Wahrheits- 
kriterium als  den  praktischen  Nutzen.  —  Dazu  kommt  noch, 
daß  es  faktisch  eine  Menge  Urteile  gibt,  denen  die  Richtigkeit 
abzusprechen  sinnlos  wäre,  und  die  dennoch  keine  Spur  prak- 
tischer Bedeutung  besitzen. 

Es  zeigt  sich  also,  daß  die  biologische  Auffassung  der  Er- 
kenntnis und  der  auf  dieser  Auffassung  begründeten  Erkenntnis- 
theorie nicht  nur  die  vorliegenden  Tatsachen  nicht  bewältigen 
kann,  sondern  sogar  auf  einer  Voraussetzung  (der  Entwicklungs- 
hypothese) ruht,  deren  Richtigkeit  nicht  durch  die  von  der  bio- 
logischen Erkenntnistheorie  als  einzig  berechtigt  angesehenen 
Kriterien  bewiesen  werden  kann.  Die  Entwicklungstheorie  ist 
ohne  Hilfe  der  Logik  nicht  zu  begründen,  und  deshalb  läuft  immer 
nur  im  Kreis  herum,  wer  die  Logik  durch  Hinweis  auf  die  Ent- 
wicklung begründen  oder  erklären  will.  Man  vermag  niemals 
etwas  logisch  zu  begründen,  was  nicht  logisch  ist. 
Und  die  Entwicklung  ist  nichts  Logisches.  Das  ist  dagegen  die 
Entwicklungshypothese,  aber  diese  setzt,  wie  alle  anderen  theo- 
retischen Gebilde,  die  Logik  voraus  und  taugt  deshalb  nicht  zur 
Begründung  der  Logik.  Der  Fehler  liegt  eben  darin,  daß  man 
eine  empirische  Begründung  des  Apriorischen  geben  will, 
trotzdem  das  Apriorische  eine  notwendige  Voraussetzung  aller 
wahren  Empirie  ist. 

Die  Entwicklung  oder  Entwicklungshypothesc  läßt  sich  also 
als  Grundlage  der  Erkenntnistheorie  nicht  brauchen,  und  ein 
jeder  Versuch  in  dieser  Richtung  muß  prinzipiell  zurückgewiesen 
werden.  Besonders  gilt  das  von  jener  Form,  d'e  diese  Versuche 
unter  dem  Namen  ,, Pragmatismus"  in  England  und  Amerika  an- 
genommen habe:  .  Außer  dem  oben  erwähnter  prinzipiellen 
Fehler  (das  Logische  durch  etwas  Nichtlogisches  begründen  zu 
wollen)  enthält  nämlich  der  Pragmatismus  eine  solche  Menge 
Unklarheiten  und  Sinnlosigkeiten,  daß  er  unter  keinen  Umständen 
innerhalb  der  Philosophie  geduldet  werden  darf.  Er  hat  über- 
haupt kein  philosophisches  Interesse.  —  Dies  kann  dagegen  nicht 
behauptet  werden  von  den  Formen,  unter  denen  die  Entwicklungs- 
hypothese in  der  deutschen  und  französischen  erkenntnistheoretischen 
Philosophie  auftritt.  Obgleich  meiner  Meinung  nach  die  ganze 
Tendenz  von  Grund  aus  verfehlt  ist,  so  finden  sich  doch  hier  Ver- 
suche zur  Überwindung  der  Schwierigkeiten  und  zur  wissenschaft- 
lichen   Durchführung    der    Theorie,    und    diese    Versuche    können 


Die  ,, Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       6oi 

allerdings    Anspruch    darauf    machen,    daß    man    sich    gründlicher 
mit  ihnen  auseinandersetzt. 

Mit  einem  von  ihnen  habe  ich  mich  also  im  folgenden  zu  be- 
schäftigen. Er  liegt  vor  in  einem  stattlichen  Werk  von  Hans 
Vaihinger  unter  dem  Titel:  „Die  Philosophie  des  Als  Ob. 
System  der  theoretischen,  praktischen  und  religiösen  Fiktionen 
der  Menschheit  aut  Grund  eines  idealistischen  Positivismus." 
Es  handelt  sich  um  eine  Jugendarbeit,  die  der  Verfasser  vor  etwa 
40  Jahren  geschrieben  hat.  Da  indessen  damals  der  Aufnahme 
und  Pflege  der  Vaihingerschen  Ideen  noch  nicht  der  Boden  be- 
reitet war,  zögerte  er  mit  der  Herausgabe  des  Werkes  mehr  als 
ein  Menschenalter.  Und  jetzt,  im  Jahre  1913^),  erscheint  es  in 
zweiter,  bedeutend  umgearbeiteter  und  erweiterter  Ausgabe.  Als 
Motto  trägt  es  einen  Ausspruch  F.  A.  Langes,  des  berühmten 
Verfassers  der  ,, Geschichte  des  Materialismus",  dem  Vaihinger 
in  seiner  Jugend  seinen  ersten  Entwurf  vorgelegt  hatte.  Dieser 
Ausspruch  lautet:  ,,Ich  bin  überzeugt,  daß  der  hier  hervorgehobene 
Punkt  einmal  ein  Eckstein  der  philosophischen  Erkenntnistheorie 
werden  wird."  Diese  Worte  einer  so  hervorragenden  Auioricät 
lassen  vermuten,  daß  wir  es  hier  mit  einem  wichtigen  und  be- 
deutungsvollen Werk  zu  tun  haben.  Und  diese  Vermutung  wird 
bestätigt  durch  das  Aufsehen,  das  es  erregt  hat,  und  durch  den 
Eifer,  mit  dem  es  diskutiert  worden  ist.  Es  dürfte  deshalb  auch 
für  dänische  Leser  nicht  ohne  Interesse  sein,  den  Grundgedanken 
dieses  eigentümlichen  Werkes  nachzugehen  und  zu  erforschen, 
ob  sie  haltbar  und  ob  sie  wirklich  geeignet  sind,  der  ,, Eckstein 
der  philosophischen  Erkenntnistheorie"  zu  werden. 


IL  Das  Wesen  der  Fiktion.     (Das  fiktive  Urteil.) 

,, System  der  theoretischen,  praktischen  und  rehgiöscn  Fik- 
tionen der  Menschheit"  —  so  lautet  der  Untertitel  des  Buches. 
Sein  Thema  sind  also  die  Fiktionen.  Aber  was  ist  eine  Fiktion.? 
Hierauf  antwortet  Vaihinger:  ,,Man  muß  immer  mit  , Fiktion' 
den  fest  bestimmten  Begriff  einer  wissenschaftlichen  Erdichtung 
zu  praktischen  Zwecken  verbinden"  (S.  65).  ,, Fiktion  nenne 
man  jede  bewußte,  zweckmäßige,  aber  falsche  Annahme"  (S.  130). 


^)  Diese  Abhandlung   wurde   im   Jahre    1914  in  der   dänischen   Monatsschrift 
",,Vor  Tid"  veröffentlicht. 


6o2  Jörgen  Jörgensen: 

Die  wesentlichsten  Merkmale  des  Begriffes  Fiktion  sind:  I,  Falsch- 
heit, die  zum  inneren  Widerspruch  im  Begriff  potenziert  werden 
kann;  2,  der  Nutzen  oder  die  Zweckmäßigkeit.  Hiermit  ist  der 
Betriff  „Fiktion"  charakterisiert  als  verschieden  sowohl  vom 
Begriff  „Versehen  oder  Irrtum",  als  auch  vom  Begriff  ,, Hypo- 
these". Denn  Versehen  oder  Irrtum  wird  nicht  nur  durch  seine 
Unrichtigkeit  oder  Falschheit  charakterisiert,  sondern  auch  durch 
Zwecklosigkeit  und  Schädlichkeit;  die  Hypothese  aber  ist  nicht 
nur  zweckmäßig,  sondern  erhebt  auch  den  Anspruch,  richtig  zu 
sein,  den  Ausdruck  für  etwas  Wirkliches  abzugeben,  verifiziert 
zu  werden.  Andererseits  herrscht  doch  auch  eine  gewisse  Gleich- 
heit zwischen  den  drei  Begriffen,  indem  Falschheit  das  gemeinsame 
Kennzeichen  der  Fiktion  und  des  Irrtums  sind,  weshalb  man 
auch  die  Fiktion  als  einen  ,, bewußten,  praktischen,  fruchtbaren 
Irrtum"  (S.  165)  betrachten  kann.  Und  gemeinsam  für  Fiktion 
und  Hypothese  ist  der  Begriff  Nützlichkeit  oder  Zweckmäßigkeit. 
Die  Fiktion  ist  also  eine  Art  Mittelding  zwischen  Irrtum  und  Hypo- 
these. Die  Ähnlichkeit  der  drei  Begriffe  zeigt  sich  deutlich  in  ihrem 
sprachlichen  Ausdruck.  Daher  haben  wir  nach  Vaihinger  ein 
Beispiel  für  eine  Fiktion,  wenn  wir  srgen:  ,,Der  Mensch  muß, 
wenigstens  im  Rechtsleben  und  in  der  moralischen  Beurteilung, 
so  behandelt  und  betrachtet  werden,  als  ob  er  frei  wäre"  (S.  167). 
Ein  Beispiel  für  einen  Irrtum  haben  wir,  wenn  wir  wie  Descartes 
die  Vorstellungen  von  Gott  und  dem  Absoluten  betrachten,  als 
ob  sie  angeboren  wären.  Und  endlich  haben  wir  ein  Beispiel  für 
eine  Hypothese,  wenn  wir  sagen:  ,,Es  scheint  mir,  als  ob  das  oder 
das  wäre"  (S.  166).  Das  Gemeinsame  aller  dieser  Ausdrücke  ist 
der  Partikelkompicx  ,,als  ob",  der  den  drei  Ausdrücken  eine  ge- 
wisse Ähnlichkeit  leiht  —  eine  Ähnlichkeit  zum  Verwechseln. 
Aber  in  einer  solchen  Verwechslung  liegt  gerade  einer  der  ärgsten 
Fehler,  den  der  Mensch  begehen  kann.  Namentlich  ist  die  Ver- 
wechslung von  Fiktion  und  Hypothese  verhängnisvoll,  und  ,,der 
eigentliche  Kern  des  ganzen  Buches"  ist  gerade  ,,der  methodo- 
logische Gegensatz  der  Fiktion  zur  Hypothese"  (S.  603).  Zum 
Beweise  dieses  Unterschiedes  beachte  man,  wie  sich  die  logischen 
Ausdrücke  für  diese  zwei  Betrachtungsweisen  eines  Dinges  ver- 
halten, d.  h.  das  Verhältnis  zum  fiktiven  Urteil  einerseits  und  zum 
problematischen  und  hypothetischen  andererseits.  Zuerst  wollen 
wir  doch  gleich  noch  berühren,  was  Vaihinger  ,,das  Gesetz  der 
Ideenverschiebung"  nennt.     Eine  ,, Vorstellungsverschiebung"  voll- 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"   vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       603 

zieht  sich,  teils  wenn  eine  Fiktion  dazu  übergeht,  als  eine  Hypo- 
these betrachtet  zu  werden  und  diese  als  ein  Dogma,  teils  wenn 
dieser  Prozeß  den  entgegengesetzten  Weg  verläuft.  Als  Beispiel 
für  den  zuerst  genannten  Übergang  kann  angeführt  werden,  daß 
bewußte  Mythen  im  Laufe  der  Zeit  sich  oft  in  ,, historische  Hypo- 
thesen" verwandelt  haben,  die  schließlich,  wofür  die  Religions- 
geschichte manche  Beispiele  liefert,  als  ,, historische  Dogmen" 
geendet  haben  (S.  224).  Entgegengesetzt  wird  verfahren,  wenn 
Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  Dogmen  auftauchen ;  sie  verwandeln 
sich  in  Hypothesen,  um  dann  zu  Fiktionen  zu  werden.  Dies 
hat  sich  z.  B.  innerhalb  des  Christentums  zugetragen:  ,,Die  ur-. 
sprünglichen  Dogmen  ^verden  bei  den  Philosophen  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  Hypothesen.  Was  sind  sie  aber  bei  Kant  und 
Schleiermacher?  Nur  Fiktionen!"  (S.  225).  Eigentlicherstrebt 
Vaihinger  in  seinem  Werke  nur  die  absolute  Durchführung  des- 
selben Prozesses. 

Er  geht  hierbei  von  einer  Untersuchung  ,,des  fiktiven  Urteils" 
aus.    Die  Grundform  dafür  ist  folgende:  ,,A  soll  betrachtet  werden, 
wie  wenn  es  B  wäre,  oder  A  ist  als  B  zu  betrachten  (obgleich  es 
nicht  B  ist)"  (S.  592).     Dieser  Ausdruck  enthält   nach  Vaihinger 
mehrere  verschiedene  Momente.     Zuerst  liegt  hier  ein  Urteil  vor; 
aber  in  dieses  Urteil  ist  zugleich  ein  Protest  gelegt  gegen  die  An- 
nahme seiner  objektiven  Gültigkeit,  deren  Annahme  jedoch  gleich- 
zeitig wegen  seiner  subjektiven  Bedeutung  gefordert  wird.     ,,Das 
Urteil  wird  mit  dem  Bewußtsein  der  Ungültigkeit  vollzogen,  aber 
es   wird    dabei    stillschweigend    vorausgesetzt,    daß   dieser   Vollzug 
für   das    Subjekt,    für   die   subjektive    Betrachtungsweise   zulässig, 
nützlich   und   zweckdienlich   ist"    (S.  593).      Das   Charakteristische 
an  diesem  fiktiven  Urteil  liegt  in  dem  Partikelkomplex:  ,,als  ob". 
Dieser  ,, dient  dazu,  ein  vorliegendes  Etwas  mit  den  Konsequenzen 
aus    einem    unwirklichen    oder   unmöglichen    Falle    gleichzusetzen" 
(S.  591).      Machen    wir    uns   das    klar   mit    Hilfe   eines    Exempels. 
Im  Anschluß  an   Vaihinger  können   wir  dazu   benutzen   Kants 
Urteil:  ,,Der  Mensch  muß  handeln  und  in  bczug  auf  seine  Hand- 
lungen beurteilt  werden,  {  "^als^'o'b "  }  "''  ^''^'   ''^^'■^•"  "^^^^^"g^^^ 
Analyse  dieses  Urteils  nimmt  sich  nun  folgendermaßen  aus:  ,,Der 
erste   Gedanke  ist   ...  einfach:  der  Mensch  muß  handeln,   genau 
so   wie   die   freien   Wesen   handeln.      Allein   diesem   primären    Ge- 
danken stellt   sich   ein   sekundärer   zur    Seite,   welcher  durch   den 


604  Jörgen  Jörgensen: 

Konditionalsatz  ausgedrückt  wird.  Die  Form  dieses  Konditional- 
satzes besagt,  daß  die  darin  aufgestellte  Bedingung  eine  unwirk- 
liche oder  unmögliche  ist.  ...  Der  notwendige  Zusammenhang 
der  Folge  mit  der  Bedingung  wird  mit  Bestimmtheit  ausgesprochen, 
zusrleich  aber  die  Erfüllbarkeit  der  letzteren  ausdrücklich  in  Ab- 
rede  gestellt,  so  daß  also  auch  der  Haupt-  oder  Nachsatz,  dessen 
Gültigkeit  an  jene  Bedingung  geknüpft  war,  und  der  mit  Not- 
wendigkeit aus  ihr  folgt,  etwas  nicht  Wirkliches  enthält.  .  .  .  Der 
Fall  wird  gesetzt,  aber  seine  Unmöglichkeit  ist  nackt  ausgesprochen. 
Dieses  Unmögliche  wird  aber  in  einem  solchen  Konditionalsatz 
momentan  als   möglich  oder  wirklich   angenommen  oder   gesetzt" 

(s.  585). 

Aber  nun  wird  diese  ganze  hypothetische  Verbindung  in 
einen  neuen  Zusammenhang  gebracht.  .  .  .  Während  .  .  .  die  Folge, 
wie  bemerkt,  im  Konditionalsatze  ein  Unwirkliches  ist  (weil  die 
Bedingung  unwirklich  ist),  wird  diese  unwirkliche  Folge  doch  als 
■der  Maßstab  gesetzt,  nach  dem  ein  vorliegendes  Wirkliches  zu 
messen  isc.  Somit  ist  damit  die  Gleichsetzung  einer  Sache  mit 
den  notwendigen  Folgen  eines  unmöglichen  oder  unwirklichen 
Falles  f  Order  ungs  weise  ausgesprochen.  Bei  dem  vorliegenden 
Beispiel  ist  I.  der  unmögliche  Fall:  die  Existenz  freier  Wesen 
oder,  kürzer,  die  Behauptung,  die  Menschen  seien  freie  Wesen. 
2.  Die  notwendigen  Folgen  (aus  diesem  unmöglichen  Falle): 
die  Gesetze,  nach  denen  freie  Wesen  handeln:  diese  folgen  mit 
Notwendigkeit  aus  der  Existenz  freier  Wesen.  3.  Die  Gleich- 
setzung einer  Sache  (mit  den  notwendigen  Folgen  [aus  dem 
unmöghchen  Falle]):  Die  Gesetze,  nach  denen  die  wirklich  exi- 
stierenden Menschen  handeln  sollen,  werden  gleichgesetzt  (for- 
derungsweise) mit  den  Gesetzen,  welche  notwendig  folgen  aus 
der  (unwirklichen  oder  unmöglichen)  Existenz  freier  Wesen" 
(S.  586). 

Durch  die  drei  genannten  Momente  sollen  sich  nun  die  fik- 
tiven Urteile  als  eine  besondere  Art  von  Urteilen,  als  eine  selb- 
ständige Modalitätsiorm  von  Urteilen  erweisen.  Nehmen  wir 
also  überhaupt  die  Modalität  der  Urteile  im  Vaihingerschen 
Sinne  etwas  genauer  in  Augenschein. 

Im  Anschluß  an  Kant  definiert  Vaihinger  die  Modalität 
der  Urteile  ,,als  eine  ganz  besondere  Form  derselben,  die  das 
Unterscheidende  an  sich  hat,  daß  sie  nichts  zum  Inhalte  des 
Urteils  beiträgt,  sondern   nur  den   Wert  der  Kopula  in  Beziehung 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom   Standpunkte  der  Marburger  Schule.       605 

auf  das  Denken  überhaupt  angeht"  (5.  592).  So  hat  z.  B.  ein 
Urteil  verschiedene  ModaHtät,  je  nachdem  die  Verbindung  von 
Subjekt  und  Prädikat  als  möghch,  als  wahrscheinlich  oder  als 
gewiß  bezeichnet  wird.  Desgleichen  ist  die  Modalität  verschieden, 
je  nachdem  die  Kopula  bejahend  oder  verneinend  ist.  —  Von 
der  oben  erwähnten  Modalitätsdefinition  aus  teilt  Vaihinger 
nun  die  Urteile  auf  folgende  Weise  ein.  Zuerst  in  primäre  und 
sekundäre  Urteile.  Ein  primäres  Urteil  ist  ein  Urteil,  das  einfach 
,,die  Gleichsetzung  von  A  und  B  nach  irgendeiner  Richtung" 
ausspricht,  es  sagt  aus,  ,,daß  zwischen  A  und  B  irgendeine  der 
möglichen  Urteilsrelationen  (Tätigkeit,  Eigenschaft,  Identität  usw.) 
bestehe"  (S.  593).  Es  ha :  die  Form:  A  ist  B.  —  Ein  sekundäres 
Urteil  ist  ein  Urteil,  in  welchem  der  Urteilsakc  ,,auf  irgendeine 
Weise  alteriert"  wird.  Nach  Vaihinger  gibt  es  drei  Arten. 
I.  Das  negative  Urteil;  es  ,,hebt  einen  schon  geschehenen  Urteils- 
vollzug auf  oder  weist  den  Versuch  zu  einem  solchen  zurück". 
Es  hat  die  Form:  A  ist  nicht  B.  2.  Das  problematische  Urteil 
ist  ein  Urteil,  in  welchem  der  Urteilende  eine  Unsicherheit  in  bezug 
auf  die  Gültigkeit  des  Urteils  ausdrückt.  Seine  Hauptform  ist: 
A  ist  vielleicht  (möglicherweise,  wahrscheinhch)  B;  oder:  A  ist 
vielleicht  (möglicherweise,  wahrscheinlich)  nicht  B.  Zu  diesen 
zwei  Arten  sekundärer  Urteile  fügt  Vaihinger  nun  3.  das  fiktive 
Urteil;  es  ist  ein  Urteil,  das  ,,mit  gleichzeitigem  Protest  gegen 
den  Gedanken  der  objektiven  Gültigkeit,  aber  mit  ausdrücklicher 
Wahrung  der  subjektiven  Bedeutung"  ausgesprochen  wird  (S.  593). 
Seine  Hauptform  ist  wie  bemerkt:  A  ist  zu  betrachten,  wie  wenn 
es  B  wäre.  Folgendes  Schema  gibt  eine  Übersicht  über  die  Urteile 
in  bezug  auf  ihre  Modalität: 

A.  Primäre  Urteile: 

1.  Kategorische  Urteile. 

2.  Assertorische  Urteile. 

B.  Sekundäre  Urteile. 

1.  Negative  Urteile, 

2.  Problematische  Urteile. 

3.  Fiktive  Urteile. 

Bei  diesen  Arten  von  Urteilen  liegt  die  Gefahr  einer  Ver- 
wechslung der  problematischen,  mit  den  fiktiven  besonders  nahe. 
Und  doch  ist  eine  solche  Ven;vechslung  ganz  außerordentlich  ver- 
hängnisvoll.    Dadurch,   daß  man  ein  fiktives  Urteil  als  ein  pro- 


6o6  Jörgen  Jörgensen: 

blematisches  auffaßt,  macht  man  nämlich  eine  Fiktion  zu  einer 
Hypothese,  was  soviel  sagen  will,  als  daß  man  eine  zweckmäßige, 
aber  falsche  Annahme  als  einen  mehr  oder  minder  sicheren  Aus- 
druck einer  Wirklichkeit  betrachtet.  Und  doch  liegt  es  gerade 
in  der  Natur  der  Fiktion,  daß  sie  eine  falsche  —  vielleicht  in  sich 
widerspruchsvolle  —  Annahme  ist.  Das  fiktive  Urteil  drückt 
also  aus:  ,,l.  Leugnung  objektiver  Gültigkeit,  d.  h.  die  Behauptung 
der  Unwirklichkeit  oder  Unmöglichkeit  des  im  Konditionalsatz 
Gesagten;  2.  eben  die  subjektive  Gültigkeit,  die  Behauptung, 
daß  dieses  Urteil  doch  subjektiv,  für  den  menschlichen  Betrachter 
zulässig  oder  gar  notwendig  sei"  (S.  167 — 168).  Die  Möglichkeit 
einer  Verwechslung  der  zwei  Urteilsarten  liegt  eben  darin,  daß, 
wie  schon  vorher  besprochen,  ihr  sprachlicher  Ausdruck  oft  der 
gleiche  ist.  Ja,  wegen  der  verkürzten  Ausdrucksweise  ist  sogar 
die  Verwechslung  des  fiktiven  Urteils  mit  einem  kategorisch- 
assertorischen möglich.  ,,Ein  fiktives  Urteil  hat  streng  genommen 
folgende  Form: 

Der  Kreis  ist  als  ein  Polygon  von  unendlich  vielen,  unendlich 
kleinen  Seiten  zu  betrachten. 

Aber  daraus  wird  dann  durch  eine  locutio  compendiaria: 
Der    Kreis   ist    ein    Polygon   mit    unendlich    vielen,    unendlich 
kleinen  Seiten. 

Und  schließlich  lautet  die  Verkürzung: 
Der  Kreis  ist  ein  Polygon"  (S.  601). 

Dieser  letzte   Satz  ist  nun  offenbar  falsch.     Denn  der  Unter- 
schied  zwischen  einem   Kreis   und  einem  Polygon  besteht   gerade 
darin,    daß   jener   von   einer   krummen   Linie   begrenzt   ist,    dieses 
von  mehreren  geraden  Linien.     Aber  da  nun  die  Begriffe  krumm 
und  gerade  einander  ausschließen,  so  enthält  das  zuletzt  genannte 
Urteil  einen  Widerspruch,  d.  h.  es  ist  falsch.    Wir  haben  hier  ein 
Beispiel    dafür,    wie    verhängnisvoll    die    erwähnte    Verwechslung 
sein    würde.      Denn    falls    wir    nicht    zwischen    dem   fiktiven    und 
kategorischen  oder  problematischen  Urteil  unterscheiden,  so  werden 
wir  genötigt  sein,  entweder  uns  selbst  zu  widersprechen  oder  das 
fiktive  Urteil  zu  verwerfen;  und  dieser  letzte  Ausweg  würde  nicht 
viel  besser  als  der  erste  sein,   indem  wir  uns  dadurch  eines  sehr 
wichtigen  Mittels  beraub' en,  nämlich  die  Wirklichkeit  zu  berechnen 
und    uns   darin    zu   orientieren.      Der   große    Nutzen   des   fiktiven 
Urteils  zeigt  sich  gerade  ausgeprägt  in  dem  genannten   Beispiel; 
denn  falls  wir  nicht  von  der  Annahme  ausgingen,  daß  der  Kreis 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       607 

als  ein  Polygon  mit  unendlich  vielen,  unendlich  kleinen  Seiten 
betrachtet  werden  kann,  so  würden  wir  seinen  Umfang  und  seinen 
Inhalt  nicht  zu  berechnen  imstande  sein.  Wir  sehen  also  hier, 
wie  eine  bewußt  falsche  Annahme  in  hohem  Grade  vorteilhaft 
und  zweckmäßig  sein  kann. 

Die  Frage  ist  nun:  Inwieweit  wenden  wir  nun  solche  falschen, 
aber  zweckmäßigen  Annahmen,  d.  h.  Fiktionen  an?  Ist  das  Bei- 
spiel mit  dem  Kreise  nicht  eine  Ausnahme  ? 

Hierauf  wird  Vaihinger  absolut  mit  Nein  antworten.  Weit 
davon  entfernt,  eine  Ausnahme  zu  sein,  ist  es  im  Gegenteil  be- 
zeichnend dafür,  daß  der  größte  Teil  unserer  Gedankenarbeit  mit 
solchen  Fiktionen  operiert.  Sowohl  Logik,  Mathematik  und  Physik, 
als  auch  Ethik,  Nationalökonomie,  Rechts-  und  Staatswissenschaft 
und  Theologie  sind  von  Fiktionen  durchwoben.  Einige  wenige 
der  vielen  von  Vaihinger  angeführten  Beispiele  mögen  das  be- 
weisen. 

Was  die  Logik  betrifft,  so  sind  die  Allgemeinbegriffe,  mit 
denen  sie  operiert,  Fiktionen.  Sie  sind  falsche,  aber  nützliche 
Begriffe.  Falsch:  denn  es  existiert  kein  Gegenstand  im  allgemeinen, 
es  gibt  nur  einzelne,  konkrete  Gegenstände:  dieses  bestim.mte 
Pferd,  jener  bestimmte  Stern.  Nützlich:  denn  sie  allein  ermög- 
lichen das  allgemeine  Urteil,  und  auf  diesem  beruht  ,, alles  Klas- 
sifizieren, Ordnen,  alles  Begreifen,  Beweisen  und  Schließen"  (S.  401). 
Die  Allgemeinbegriffe  sind  also  echte  Fiktionen. 

In  der  Mathematik  werden  eine  solche  Menge  Fiktionen  an- 
gewandt, daß  man  sozusagen  hier  einem  vollständigen  Fiktions- 
system gegenübersteht.  Eine  einzelne  Fiktion  haben  wir  bereits 
genannt:  die  Betrachtung  des  Kreises  als  Polygon.  Eine  andere 
Fiktion  besteht  darin,  den  Kreis  als  eine  Ellipse  zu  betrachten, 
in  welcher  der  Abstand  zwischen  den  Brennpunkten  =  0  ist. 
Hierdurch  wird  der  Kreis  zu  einem  Spezialfall  der  Ellipse  ge- 
macht und  dadurch  wird  erreicht,  daß  die  für  die  Ellipse  geltenden 
Sätze  auch  für  den  Kreis  gelten  (S.  514)-  Eine  dritte,  sehr  wichtige 
Fiktion  ist,  was  Vaihinger  nennt  ,,die  Fiktion  des  Unendlich 
Kleinen".  In  dem  Begriff  das  Unendlich  Kleine  „steckt  eben 
das  Nichts  und  das  Etwas  zugleich"  (S.  516).  Einerseits  müssen 
wir  durch  Verminderung  einer  Größe  ins  Unendliche  zuletzt  zum 
reinen  Nichts  gelangen,  während  wir  andererseits  dadurch,  daß 
wir  unendlich  viele,  unendlich  kleine  Größen  zusammenlegen, 
von  diesen  unendlich  kleinen  Größen,  die  eigentlich  keine  Größen 


6o8  Jörgen  Jörgensen: 

sind,  doch  zu  einer  endlichen  Größe  gelangen  können.  Die  Wider- 
sprüche liegen  darin,  daß  man  eine  Teilung  ins  Unendliche  an- 
nimmt, und  doch  zugleich  dieser  Teilung,  eine  Grenze  setzt,  indem 
man  das,  was  zurückbleibt,  als  Größen  betrachten  will,  was  —  selbst 
wenn  es  unendlich  kleine  Größen  sind  —  der  unendlichen  Teilung 
widerspricht.  Dieselben  Widersprüche  enthält  der  Begriff  das 
Unendlich  Große  (S.  517).  Es  fragt  sich  nun,  welchen  Vorteil 
wir  von  diesen  widersprechenden  Begriffen  haben.  Wir  haben 
den  Vorteil,  antwortet  Vai  hinger,  daß  wir  mit  ihrer  Hilfe  Ge- 
biete verbinden  können,  ,,die  ungleichartig  sind,  deren  Definition 
sie  einander  ausschließt,  weil  in  dem  Begriff  des  einen  ein  Element 
fehlt,  das  in  dem  anderen  enthalten  ist"  (S.  521).  So  sahen  wir 
vorher,  wie  wir  durch  die  Einführung  des  Begriffes  des  Unendlich 
Kleinen  den  Kreis  als  ein  Polygon  mit  unendlich  vielen,  unendlich 
kleinen  Seiten  betrachten  konnten,  und  wir  sahen  auch,  wie  nützlich 
diese  Auffassung  war.  Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  wir  den  Kreis 
als  eine  Ellipse  auffassen,  dessen  Brennpunkte  einen  unendlich 
kleinen  Abstand  voneinander  haben.  Diese  Beispiele  ließen  sich 
vermehren,  was  Vai  hinger  auch  getan  hat,  aber  hier  wollen  wir 
uns  mit"  den  angeführten  begnügen,  um  zur  Betrachtung  einiger 
sehr  wichtiger  Fiktionen  der  Physik  überzugehen. 

Zuerst:  ,,die  Fiktion  des  reinen,  absoluten  Raumes".  Der 
Begriff:  der  absolute,  mathematische  Raum  ist  eine  Fiktion,  denn 
er  enthält  die  Merkmale  der  Fiktivität:  innerer  Widerspruch  und 
Nützlichkeit.  Der  innere  Widerspruch  äußert  sich  darin,  daß 
dieser  Begriff  auf  dem  Gedanken  ruht  ,, einer  Ausdehnung  ohne 
Ausgedehntes,  eines  Außereinander  ohne  Dinge,  welche  außer- 
einander  sind".  Aber  ein  solcher  Gedanke  ist  ,,ein  Ungedanke, 
ist  absurd  und  unmöglich"  (S.  501).  Über  den  Ursprung  dieses 
Begriffes  sagt  Vai  hinger:  ,,Der  Begriff  des  reinen  Raumes  ent- 
steht, indem  das  Verhältnis  der  Dinge  festgehalten  wird,  während 
die  Dinge  selbst  weggedacht  werden;  während  wir  die  Materie 
und  ihre  Intensität  allmählich  bis  zu  Null  abnehmen  lassen,  be- 
halten wir  das  bloße  Verhältnis  der  materiellen  Dinge  zurück" 
(S.  501).  Der  innere  Widerspruch  dieses  Prozesses  ist  einleuchtend. 
Und  doch  ist  der  Begriff  des  reinen,  mathematischen  Raumes 
ungeheuer  zweckmäßig,  da  wir  ohne  diesen  Begriff  unsere  Mathe- 
matik gar  nicht  hätten  aufstellen  können  (S.  472).  Dasselbe  gilt 
vom  absoluten  Raum,  der  eine  so  große  Rolle  sowohl  in  der  Mathe- 
matik als  auch  in  der  Physik  spielt.     Auch  liegt  hier  ein  Wider- 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob''  vom  Stand[)unkte  der  Marburger  Schule.       ÖOQ 

Spruch  vor,  denn  jede  Ortsbestimmung  ist  relativ,  aber  dieser  Wider- 
spruch ist  zweckmäßig,  denn  nur  mit  seiner  Hilfe  können  wir  ab- 
solute Bewegung  nachweisen.  —  Andere  physische  Fiktionen  sind 
die  Begriffe:  Kraft  und  Atom.  Dem  Begriffe  ,, Kraft"  entspricht 
nichts  Wirkliches;  Kräfte  sind  erfundene  oder  hinzugedichtete 
Dinge.  Wir  sehen  sie  niemals;  was  wir  sehen,  sind  nur  die  Ver- 
änderungen des  einen  oder  anderen  Prozesses,  und  wenn  wir  keine 
Ursache  für  diese  Veränderung  nachweisen  können,  so  erdichten 
wir  eine,  die  wir  dann  als  jene  Kraft  bezeichnen,  welche  die  Ver- 
ärgerung hervorgebracht  hat.  Hierdurch  wird  ein  scheinbares 
Verständnis  erzielt,  ,, indem  wir  die  wirklichen  Phänomene  als 
schon  mögliche  ansehen,  und  diese  Möglichkeiten  und  Eigen- 
tümlichkeiten hypostasieren  und  als  reelle  Entitäten  loslösen" 
(S.  376).  ,,Was  die  Atome  betrifft,  so  sind  sie  ganz  wie  die  I^äfte 
erdichtete  Dinge,  die  niemand  gesehen  hat,  die  aber  dazu  dienen, 
,, unsinnlichen  Begriffen,  z.  B.  dem  der  Kraft,  eine  sinnliche  Grund- 
lage zu  geben  (die  Atome  sind  ,die  Träger'  der  Kräfte)  und  noch 
geheimnisvollere  Vorgänge,  z.  B.  chemische  Mischung,  Kohäsion, 
Kristallisation  usw.  in  der  Phantasie  vorstellig  zu  machen,  ohne 
daß  bei  dieser  Verwendung  aus  dem  subjektiv-methodologischen 
Hilfsmittel  eine  objektiv-metaphysische  Reahtät  gemacht  würde" 
(S.  450).  Die  Atomistik  ist  also  nach  Vaihinger  eine  Fiktion, 
die  zu   einer  Hypothese   zu  machen  man  sich  hüten  muß. 

Nach  diesen  Fiktionsbeispielen  innerhalb  der  exakten  Natur- 
wissenschaften wollen  wir  einen  Blick  auf  einige  Fiktionen  inner- 
halb der  Geisteswissenschaften  werfen.  Ein  Beispiel  für  die  National- 
ökonomie bietet  sich  uns  in  Adam  Smiths  ,,Inquiry  on  wealtli 
of  nations".  Die  von  Adam  Smith  hier  angewandte  Fiktion 
besteht  darin,  daß  er  ,,alle  wirtschaftlichen  Handlungen  der  Ge- 
sellschaft so  betrachtet,  als  ob  sie  einzig  und  allein  vom  Egoismus 
diktiert  wären;  er  sieht  dabei  ab  von  allen  anderen  Faktoren, 
z.  B.  Wohlwollen,  Sittlichkeit,  Gerechtigkeit,  Billigkeit,  Mitleiden, 
Gewohnheit,  Sitten  und  Gebräuchen  usw.  Auf  diese  Weise  ist 
LS  ermöglicht,  die  Erscheinungsweisen  der  menschlichen  Ver- 
hältnisse in  wirtschaftlicher  Hinsicht  auf  wenige  Grundgesetze 
zu  reduzieren.  Mit  sicherer  Hand  greift  er  dasjenige  Motiv  heraus, 
welches  am  häufigsten  und  stärksten  ist.  Es  stellt  jenen  fiktiven 
Satz  —  es  ist,  als  ob  alle  wirtschaftlichen,  geschäfthchen  Hand- 
lungen nur  vom  Egoismus  motiviert  wären  —  als  ein  Axiom  an 
die    Spitze    des    Systems    und    entwickelt    daraus    deduktiv,    mit 

Annalen  der  Philosophie.    I.  39 


6lO  Jörgen  Jörgensen: 

systematischer   Notwendigkeit,   alle  Verhältnisse   und    Gesetze  des 
Handels   und   Verkehrs   und   aller   Schwankungen   in  diesen  kom- 
plizierten   Gebieten"  (S.  343 — 344),     Daß  diese  Betrachtungsweise 
auf  einer   Fiktion  beruht,   ist   klar,   denn  der   Egoismus   ist   eben 
nur  einer  von  den  vielen  in  das  ökonomische  Leben  hineinspielenden 
Faktoren,  und  der  fingierte  Fall  entspricht  nicht  der  Wirklichkeit. 
Aber  nichtsdestoweniger  ist  dies  eine  außerordentlich  zweckmäßige 
Auffassung,    denn    nur    durch    Isolierung   der   einzelnen    Faktoren 
werden   die    Gesetze   gefunden,    deren    Zusammenspiel   das   außer- 
ordentlich komplizierte    Ganze  des   ökonomischen   Lebens  hervor- 
bringt.    Die  Gefahr  dabei  besteht  in  der  Verwechslung  der  Fiktion 
mit  einer  Hypothese;   denn  dadurch  macht   man  einen  einzelnen 
Faktor  (in  dem  angeführten  Fall :  den  Egoismus)  zu  dem  einzigsten 
Faktor,   und  das  Resultat  wird  daher  mit  der  Wirklichkeit  nicht 
übereinstimmen.       Ob    Adam     Smith     diesen    Fehler    begangen 
hat,  ist  zu  einer   Streitfrage  gemacht  worden.     F.  A.  Lange  und 
Lexis  meinen:  Ja.    Vai hinger  dagegen,  im  Anschluß  an  Buckle 
und  Stuart  Mill  behauptet,  daß  Adam  Smith  sich  voll  bewußt 
gewesen  ist,  mit  einer  Fiktion  zu  operieren.     Und  diese  Annahme 
stützt   sich    besonders    auf   sein    zweites    Hauptwerk:    ,,Theory   of 
moral  sentiments",  wo  die  Sympathie  als  die  wesentliche  Grund- 
lage der  menschlichen    Gesellschaft  angesehen  wird.      Die   beiden 
Werke  müssen  dann  als  zusammengehörende  Abteilungen  desselben 
Systems  genommen  werden,  so  daß  jedes  für  sich  die  bedeutungs- 
vollsten Faktoren  hervorhebt  (S.  347). 

Eine  ganz  ähnliche  Fiktion  wendet  Bentham  in  den  Staats- 
wissenschaften an.  Er  ,, gründet  die  allgemeine  Lehre  vom  Staat 
auf  die  umfassende  Voraussetzung,  daß  die  Handlungen  der  Menschen 
immer  durch  ihre  Interessen,  und  zwar  durch  ihre  rein  persön- 
lichen, selbstischen  Interessen  bestimmt  werden"  (S.  355)-  Von 
dieser  Voraussetzung  aus  deduziert  er  nun  seine  Theorie.  Aber 
der  wesentliche  Unterschied  zwischen  ihm  und  Adam  Smith 
ist,  daß  Bentham  im  Gegensatz  zu  Smith  seine  Voraussetzung 
nicht    als    eine    Fiktion,    sondern    als    eine    Hypothese    betrachtet 

(S.355). 

Bevor  wir  nun  diese  Übersicht  über  einige  der  wichtigsten 
Fiktionsbeispiele  und  ihre  Anwendung  abschließen,  wollen  wir 
noch  zu  einer  bereits  erwähnten  ethischen  Fiktion  zurückgreifen, 
nämlich  der  Freiheit.  Von  dieser,  ,,der  wichtigsten  praktischen 
Fiktion",   sagt   Vaihinger:   ,,Wir  betrachten  und   behandeln  uns 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       6l  I 

selbst  und  andere,  als  ob  die  menschlichen  Handlungen  frei  wären, 
obgleich  wir  theoretisch  doch  überzeugt  sind,  daß  alle  Funktionen 
der  Psyche  durch  unverbrüchliche  Gesetze  bedingt  und  bestimmt 
sind"  (S.  572).  Nur  durch  Anwendung  dieser  Fiktion  sind  Ver- 
antwortung und  Gewissensbisse  möglich.  Auch  hier  hilft  die 
Fiktion  aus  den  hierbei  auftauchenden  Bedenken:  Denn  nur, 
,,weil  der  Mensch  sich  für  frei  hält  nicht  aber,  weil  er  frei  ist, 
empfindet  er  Reue  und  Gewissensbisse"  (S.  573).  Wie  wir  bereits 
wissen,  ist  das  nach  Vaihingers  Meinung  auch  Kants  Ansicht, 
wenn  er  von  ,,der  Idee  der  Freiheit"  spricht.  Im  ganzen  genommen 
beruft  sich  Vaihinger  im  weitesten  Umfang  auf  Kant  als  seinen 
Vorgänger,  indem  er  nachzuweisen  sucht,  daß  die  Kan tischen 
Ideen  als  Fiktionen  in  der  hier  angegebenen  Bedeutung  aufzufassen 
sind,  d.  h.  als  falsche,  aber  nützliche  Vorstellungen.  Außer  Kant 
wird  im  dritten  Teil  des  Werkes  unter  dem  Titel:  ,, Historische 
Bestätigungen"  auch  Forberg  mit  seiner  ,, Religion  des  Als  Ob", 
F.  A.  Lange  mit  seinem  ,, Standpunkt  des  Ideals"  und  Friedrich 
Nietzsche  mit  seiner  Lehre  vom  ,, Willen  zum  Schein"  genannt. 
Näher  auf  diese  historischen  Betrachtungen  einzugehen,  würde 
hier  zu  weit  führen,  und  wir  müssen  nun  im  Rahmen  der  hier 
skizzierten  Voraussetzungen  uns  den  von  Vaihinger  aufgestellten 
erkenntnistheoretischen  Konsequenzen  der  Fiktionstheorie  zuwenden. 


in.  Die  erkenntnistheoretischeu  Konsequenzen. 

Im  vorigen  Abschnitt  erörterten  wir  einige  von  Vaihingers 
Beispielen  für  die  Anwendung  der  Fiktionen  in  den  verschiedenen 
Wissenschaften,  um  dadurch  das  Wesen  der  Fiktionen  im  all- 
gemeinen zu  veranschaulichen.  In  diesem  Abschnitt  werden  wir 
nun  einige  speziell  erkenntnistheoretische  Fiktionen  ins  Auge 
fassen,  um  klar  zu  werden  darüber,  wie  Vaihinger  seine  Haupt- 
•  frage  beantwortet:  ,,Wie  geht  es  zu,  daß  wir  mit  bewußt  falschen 
Vorstellungen  doch  das  Richtige  treffen.?"  (S.  VIII). 

Die  wichtigsten  aller  theoretischen  Fiktionen  sind  nach  Vai- 
hinger die  Kategorien;  denn  auf  ihnen  beruht  alle  menschliche 
Erkenntnis,  alle  Wissenschaft  des  Menschen,  ja  schließlich  alles 
menschhche  Leben.  Und  diese  Grundpfeiler  des  menschlichen 
Daseins  sind,  wie  Vaihinger  nun  beweisen  will,  nichts  anderes 
als  nur  Fiktionen.     Seine  Betrachtung  ist  folgende: 

Das  unmittelbar  Gegebene,  die  eigentliche  Wirklichkeit,  sind 

39* 


5i2  Jörgen  Jörgensen: 

die  Empfindungen  in  ihrem  Sukzessions-  und  Koexistenzverhältnis, 
Diese  liefern  das  Material,  woraus  wir  mit  Hilfe  der  „logischen 
Funktion"  —  um  Vaihingers  Ausdruck  zu  gebrauchen  —  unser 
Weltbild,  die  Vorstellungswelt,  aufbauen.  Um  das  tun  zu  können, 
müssen  wir  uns  gewisser  Kunstgriffe  bedienen.  Solche  sind  die 
Fiktionen,  und  die  wichtigsten  und  allgemeinsten  sind,  wie  gesagt, 
die  Kategorien.  Diese  werden  angewandt  bei  dem  ,, ersten  fik- 
tiven Denkprozeß",  der  darin  besteht,  daß  ,,die  logische  Funktion 
das  gegebene  Wirkliche,  aber  Unbegreifliche,  in  zwei  zusammen- 
gehörige Werte  zerlegt  und  dadurch  erreicht  erstens:  die  Mög- 
lichkeit praktischer  Berechnung,  zweitens  den  Schein  der  Be- 
greiflichkeit" (S.  117).  Solche  zusammengehörende  Paare  sind 
vor  allem  die  Kategorien: 


Einheit  und  Mannigfaltigkeit 
Ding  und  Eigenschaft  (Kraft) 
Ursache  und  Wirkung 
Möglichkeit  und  Wirklichkeit 


Subjekt  und  Objekt 
Inneres  und  Äußeres 
Materie  und  Kraft 
Ding  an  sich  und  Phänomen 


Subsistenz  und   Inhärenz. 

Diese  Kategorien  gehören  paarweise  zusammen  und  haben 
nur  Sinn  und  Wert,  wenn  sie  zusammen  betrachtet  werden; 
,, einzeln  führen  sie  durch  Isolation  auf  Sinnlosigkeit,  Wider- 
sprüche und  Scheinprobleme"  (S.  118).  Greifen  wir  ein  einzelnes 
Beispiel  dieser  kategorialen  Spaltung  heraus,  nämlich  das  Kate- 
gorienpaar: Ding  und  Eigenschaft. 

,,Ehe  die  Kategorie  des  Dinges  mit  seinen  Eigenschaften  ge- 
staltend eintritt,  besteht  jede  Anschauung  aus  einem  Zusammen- 
hang von  psychischen  Elementen,  aus  einer  mechanischen  Kon- 
glomeration, für  welche  eben  nur  die  gleichzeitige  Produktion 
verantwortlich  ist.  Die  Psyche  kann  diese  natürlichen  Emp- 
findungsverbindungen, welche  eben  rein  mechanisch  zusammen- 
geraten sind,  erst  im  Verlaufe  der  Erfahrung  als  zusammengehörige 
<.'ntdecken"  (S.  297). 

Um  ein  konkretes  Beispiel  zu  nehmen: 

Wir  beobachten  unmittelbar  eine  Empfindungsverknüpfung 
des  ,, Süßen"  und  des  ,, Weißen".  Indem  wir  nun  darauf  die 
Kategorie  des  Dinges  anwenden,  fassen  wir  ,,das  Süße"  als  eine 
Eigenschaft  auf  und  sagen:  ,, Zucker  ist  süß".  Hier  zeigt  sich 
noch  ,,das  Weiße"  als  das  Ding  und.,, das  Süße"  als  die  Eigen- 
schaft des   Dinges.     Wir  haben  aber  die  Empfindung  weiß  auch 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       f3l3 

in  anderen  Fällen,  z.  B.  bei  der  Beobachtung  eines  Stückes 
griechischen  Marmors.  Und  hier  betrachten  wir  ,,das  Weiße" 
als  eine  Eigenschaft  am  Marmor,  der  durch  die  Empfindung 
,,hart"  repräsentiert  ist.  Auf  diese  Weise  gelangt  ,,das  Weiße" 
dahin,  eine  Eigenschaft  zu  werden,  ebensowohl  wie  ,,das  Süße". 
Aber  jetzt  können  wir  ,,das  Süße"  nicht  mehr  als  eine  Eigenschaft 
am  ,, Weißen"  betrachten,  denn  dies  ist  selbst  eine  Eigenschaft. 
Aber  wessen?  Hier  kommt  die  Sprache  uns  zu  Hilfe,  und  indem 
sie  den  Namen  ,, Zucker"  dem  ganzen  Empfindungskomplex  leiht, 
ist  es  möglich,  die  einzelnen  Empfindungen  ,,süß"  und  ,,weiß" 
als  Eigenschaften  des  Dinges  ,, Zucker"  anzusetzen.  Aber  dieses 
Ding  können  wir  nicht  sinnlich  wahrnehmen,  denn  wir  nehmen 
nur  die  Eigenschaften  daran  wahr.  ,,So  rückt  das  Ding  aus  dem 
Kreis  der  wirklich  wahrgenommenen  Empfindungen  hinaus  und 
wird  jetzt  als  ein  besonderer  Träger  hinzugedacht"  (S.  300). 
„Der  Inhalt  der  Eigenschaften  wird  durch  die  Sinne  geliefert, 
das  Ding  als  der  Träger  der  Eigenschaften  ist  jetzt  ganz  hinzu- 
gedacht; daß  jene  an  den  Sinn  geheferten  Inhalte  ,, Eigenschaften" 
sind,  das  ist  eine  Bestimmung,  welche  jenen  Inhalten  erst  durch 
das  Bewußtsein  gegeben  wird"  (S.  300). 

Aber  durch  dieses  Setzen  von  ,,Ding"  und  ,, Eigenschaften" 
ist  die  Wirklichkeit  verfälscht  worden,  indem  sie  gleichsam  ver- 
doppelt woirde.  Wer  autorisierte  das  Denken,  zuerst  ,,das  Weiße" 
als  ,,das  Ding"  zu  setzen  und  ,,das  Süße"  als  seine  ,, Eigenschaft"? 
Und  wer  gab  ihm  dann  das  Recht,  sie  beide  als  ,, Eigenschaften" 
zu  setzen  und  ,,ein  Ding"  als  ihren  Träger  hinzuzudenken?  In 
dem  ursprünglich  Gegebenen  fand  sich  keine  Berechtigung  dazu. 
,, Jenes  Ding  ist  eine  Fiktion,  jene  Eigenschaft  ist  als  solche  eine 
Fiktion;  das  ganze  Verhältnis  ist  eine  Fiktion"  (S.  304).  Aber 
warum  haben  wir  denn  da  diese  Spaltung  eingeführt? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  dieselbe  wie  für  die  nach 
dem  Grunde  aller  Fiktionen:  Weil  wir  dadurch  „ein  Mittel  zu 
praktischem  Handeln"  von  sehr  hohem  Werte  haben,  trotzdem 
die  Fiktion  ,,gar  keinen  eigentlich  wissenschaftlichen  Erkenntnis- 
wert" besitzt  (S.  303).  Stellen  wir  einmal  genauer  fest,  was  wir 
durch  die  Spaltung  des  unmittelbar  Gegebenen  in  „Ding"  und 
,, Eigenschaft"  gewinnen. 

Erstens  haben  wir  dadurch  ermöglicht,  uns  einander  mit- 
zuteilen. Das  ist  nur  möglich  mit  Hilfe  des  Wortes.  Und  damit 
das   Wort  ein  Mitteilungsmittel   werden   kann,   muß  es  teils  den 


6l4  Jörgen  Jörgensen: 

ganzen  Empfindungskomplex  als  solchen,  teils  die  einzelnen  Teile 
dieses  Komplexes  ausdrücken.  Das  bedeutet:  Wir  müssen  nicht 
ein  Wort,  sondern  mehrere  Worte  anwenden:  eins  für  den  Emp- 
findungskomplex als  Ganzes,  d.  h.  das  Ding,  und  eins  für  jede 
einzelne  Empfindung,  die  wir  außerhalb  des  Komplexes  unter- 
scheiden können,  d.  h.  die  Eigenschaften.  Nur  mit  Hilfe  eines 
solchen  Wortvorrats  können  wir  uns  einander  mitteilen.  ■ —  Zweitens 
hilft  die  Kategorie  des  Dinges  bei  der  Ordnung  der  Empfindungen, 
was  teils  erhöhte  Erinnerungsmöglichkeit  bewirkt,  teils  ein  Hilfs- 
mittel zur  Orientierung  in  der  Umwelt  von  einem  ,, enormen  prak- 
tischen Wert"  ist;  ,,es  ist  gleichsam  der  Nagel,  an  welchen  die 
Empfindungen  als  Eigenschaften  gehängt  werden".  Ohne  An- 
wendung dieser  Kategorie  ,,wäre  es  dem  Denken  gar  nicht  möglich 
gewesen,  in  dem  Wirrwarr  der  Empfindungen  Ordnung  zu  schaffen" 
(S.  305 — 306).  —  Wir  sehen  also,  daß  das  Kategorienpaar:  Ding  — 
Eigenschaft  die  beiden  fiktiven  Merkmale  besitzt:  Falschheit  und 
Nützlichkeit. 

Auf  dieselbe  Art  ergeht  es  nun  all  den  genannten  Kategorien. 
Sie   sind    Fiktionen    und   sind,    nach    Vaihinger,    zugleich    ,,ana- 
logischc"   Fiktionen.     Mit   Hilfe  der   Kategorien  erfassen  wir  das 
gegebene  Empfindungsmaterial  nach  Analogien,  die  aus  der  inneren 
Erfahrung  stammen.     Am  deutlichsten   tritt   das   hervor  bei  den 
zwei   wichtigsten   Kategorien,   nämlich:    Ding  —  Eigenschaft   und 
Ursache  —  Wirkung.     ,,Das    Ding  und  seine   Eigenschaft  —  ist 
der  abstrakte  Ausdruck  des  primitivsten  Eigentumsverhältnisses" 
(S.  313).     Das  Din^  ,,hat"  die  Eigenschaften;  sie  sind  die  Eigen- 
schaften des  Dinges.     Und  ebenso  ist  Ursache  und  Wirkung  ,,der 
abstrakte   Ausdruck  für   Wille   und   Handlung"    (S,  317),   —  Wir 
begreifen  also  das  Dasein  so,  wie  es  unmittelbar  uns  entgegentritt, 
in  Analogie  mit  den   Prozessen,   die  wir  kennen  oder  zu  kennen 
glauben  aus  innerer  Erfahrung.     Hierdurch  wird  ein   Schein  von 
Begreiflichkeit  hervorgebracht,  aber  auch  nur  ein  Schein.    ,,Wenn 
wir  das   Vorhergehende   Ursache,   das   Folgende  Wirkung  nennen, 
so  ist  damit  im  Grunde  nichts  erreicht  als  ein  Anthropomorphismus" 
(S.  309).     Schließlich  soll  nur  noch  eine  sehr  wichtige   Kategorie 
e^^^'ähnt    werden,    nämlich:    Subjekt    —    Objekt.      Diese    Fiktion 
ist    ,,dic    Urfiktion,    von   der   alle   anderen   schließhch    abhängen" 
(S.  114).    Daß  sie  eine  Fiktion  ist,  kommt  daher,  daß  die  Scheidung 
des   Empfindungskomplcxcs    in    ,, Dinge   an  sich  =  Objekte"   und 
,, Dinge  an  sich  =   Subjekte"   ganz  unberechtigt  ist.      Sie  beruht 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.      6 1  5 

schließlich    auf    einer    anderen    Fiktion,    nämlich :    der    Ursachen- 
kategorie, indem  diese  unbefugt  angewandt  wird.     Um  ein  schein- 
bares   Verständnis   des    unmittelbar   gegebenen    Empfindungskom- 
plexes   zu   erlangen,    müssen   wir   ihn   als    Wirkung   von    ,, Dingen 
an  sich  =  Objekten"  auffassen.     Indessen  können  diese  als  solche 
nicht  eine  von  ihnen  verschiedene  Vorstellungswelt  hervorbringen. 
Daher   muß   man   eine    andere    Art    ,, Dinge   an   sich"    annehmen, 
nämlich    die    Subjekte.      Durch    Zusammenwirken    dieser    beiden 
Faktoren     glauben    wir     das    Entstehen     der    Welt    der    Phäno- 
mene  zu   begreifen,    da   wir   sie    nun   als    Wirkung   der   Ursachen 
Objekte  und  Subjekte  betrachten  (S.  112).     Aber  dieses  Begreifen 
ist,  wie  gesagt,  nur  ein  illusorisches;  denn  die  Ursachenkategorie 
ist  ja  eben  eine  Fiktion,  und  ihre  Anwendung  auf  das  Wirkliche 
ist  also  unberechtigt.      In   der  Natur  der   Fiktion  selbst   liegt  ja 
gerade,  daß  sie  nur  eine  subjektive  Vorstellung  oder  ein  subjek- 
tiver Begriff  ist,  und  wenn  das  fest  steht,  ,,isL  es  ein  Widerspruch, 
dem  eigentlich  Wirklichen  diese  Kategorie  zuzuschreiben"  (S.  IIl). 
Das  Nützliche  an  dieser  Fiktion  ist  jedoch,  daß  wir  mit  ihrer  Hilfe 
ein  scheinbares   Vrständnis   des    Daseins   erlangen.      Daß  es   nur 
ein   scheinbares   Verständnis   ist,    beruht   darauf,   daß  das  Dasein 
schheßlich  absolut  unbegreifhch  ist;  „denn  alles  Begreifen  besteht 
in  der  faktischen  oder  bloß  eingebildeten  Reduktion  auf  Bekanntes" 
(S.  311).     Aber  bei  einer  solchen  Reduktion  werden  wir  beständig 
weiter   gehen    können;    das    Bekannte   wird   sich   stets   schließlieh 
als    etwas    Unbekanntes    erweisen.      Daher    kann    man    nicht    die 
Welt  ,, verstehen",  sondern  nur  darüber  etwas  ,, wissen".    Schließ- 
lich   müssen    wir   immer    von    irgend    etwas    Unbekanntem    aus- 
gehen,    welches     im     entscheidenden     Augenblick    unverständlich 
ist:    ,,Die   Kategorien,    besonders    Ursache    (ebenso  Zweck),   haben 
nur     eine     zweckmäßige    Verwendung    innerhalb    des     gegebenen 
Empfindungsmaterials;     auf     das     Ganze    desselben    angewendet, 
verlieren    sie    jeden    praktischen,     so    auch    jeden    theoretischen 
Wert,    und    erzeugen    nur    Scheinprobleme,    wie    z.  B.    die    Frage 
nach'  der    Ursache     oder    auch    nach    dem    Zweck    des   Weltge- 
schehens" (S.  311). 

Wir  erkennen  also,  daß  unser  gesamtes  Denken  eine  syste- 
matische Anwendung  von  Fiktionen  ist.  Die  sich  nun  aufdrängende 
Frage,  die  sich  Vai hinger  am  Anfang  seines  Werkes  gestellt  hat, 
ist  nun:  „Wie  kommt  es,  daß  wir  mit  be\\'ußt  falschen  Vorstellungen 
doch  Richtiges  erreichen?"  (S.  VIII).     Diese  Frage  ist  das  Haupt- 


6i6 


Jörgen  Jörgensen: 


problem  innerhalb  der  Fiktionsthceorie.  Vaihingens  einfache  Ant- 
wort darauf  ist  folgende: 

,,Wenn  das  Denken  in  den  Fiktionen  der  Wirklichkeit  wider- 
spricht, und  wenn  es  sogar  sich  selbst  widerspricht,  und  wenn 
nun  aber  doch  trotz  dieser  bedenklichen  Handlungsweise  das 
Denken  sein  Ziel  erreicht,  nämlich  die  Wirklichkeit  zu  treffen, 
so  muß  —  dies  ist  eine  notwendige  Konsequenz  —  jene  Abweichung 
wieder  korrigiert,  so  muß  dieser  Widerspruch  wieder  gut  gemacht 
werden"  (S.  194).  Das  wird  erreicht  dadurch,  daß  man  einen 
neuen  Fehler  begeht,  aber  so,  daß  man  dadurch  den  ersten  auf- 
hebt, weshalb  Vaihinger  dieses  ganze  Verfahren  ,,die  Methode 
der  entgegengesetzten  Fehler"  nennt.  Zur  Beleuchtung  dieser 
Methode  wollen  wir  sie  auf  einige  der  vorher  erwähnten  Fiktionen 
anwenden. 

Eine  der  wichtigsten  war  die  Trennung  in  Ding  und  Eigen- 
schaften. Dabei  hatten  wir  die  gegebene  Empfindung  verdoppelt, 
indem  wir  sie  in  die  Zweiheit:  Ding  und  Eigenschaft  zerlegten. 
Sobald  wir  uns  einander  mitzuteilen  haben,  müssen  wir  uns  in 
Urteilen  ausdrücken,  und  hierdurch  wird  der  begangene  Fehler 
aufgehoben,  indem  wir  jetzt  wieder  die  geschiedenen  Faktoren 
im  Urteil  verbinden.  Wenn  wir  das  Urteil  aussprechen:  Der  Zucker 
ist  süß,  schmelzen  wir  ,,das  Ding"  (Zucker)  mit  ,,der  Eigenschaft" 
(süß)  zu  einem  Ganzen  zusammen,  wodurch  der  durch  die  Trennung 
begangene  Fehler  aufgehoben  wird  (S.  304). 

Wie  mit  dieser,  so  geht  es  mit  allen  anderen  Fiktionen:  Der 
Fehler  wird  korrigiert,  wenn  die  Fiktion  angewendet  werden  soll. 
Wir  haben  erwähnt,  wieso  die  Allgemeinbegriffe  Fiktionen  sind, 
und  doch  beruht  alles  syllogistische  Schließen  auf  ihnen.  Hier 
muß  also  eine  Korrektur  eingeführt  werden  —  und  eine  solche 
wird  auch  eingeführt. 

In  dem  Syllogismus: 

Der  Mensch  ist  sterblich; 
Sokrates  ist  ein  Mensch,    • 
also  ist  Sokrates  sterblich, 

haben  wir  einen  doppelten  Fehler  begangen.  Der  erste  besteht 
darin,  daß  wir  den  Allgemeinbegriff:  der  Mensch  gebildet  haben. 
Da  als  Allgemeinheit  kein  Mensch  existiert,  sondern  nur  als  dieser 
oder  jener  bestimmte  Mensch,  so  ist  der  Satz:  ,,Der  Mensch  ist 
sterblich"  —  streng  logisch   genommen  —  falsch;   denn   nur  die 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       6l7 

einzelnen  Menschen:  Herr  N.  N.,  Frau  A.  usw.  sind  sterblich, 
während  der  Mensch  als  Allgemeinheit  weder  sterblich  noch  un- 
sterblich ist,  da  er  überhaupt  nicht  existiert.  —  Jedoch  wird  der 
von  uns  im  Obersatze  begangene  Fehler  aufgehoben  durch  Ein- 
führung eines  korrespondierenden  Fehlers  im  Untersatze.  Dieser 
lautet:  ,,Sokrates  ist  ein  Mensch."  Aber  dies  ist  ein  falsches 
Urteil,  denn  darin  haben  wir  ein  individuelles  Wesen  mit  einem 
Allgemeinbegriff  identifiziert.  Sokrates  hat  viele  andere  Eigen- 
schaften als  ,,der  Mensch  im  allgemeinen".  Aber  durch  seine 
Identifizierung  mit  diesem  Allgemeinbegriff  haben  wir  den  im 
Obersatze  begangenen  Fehler  wieder  gut  gemacht,  und  das  Re- 
sultat ist  richtig.  ,, Eigentlich  ist  dieser  Schluß  eine  Hypothese 
nach  der  Analogie:  Weil  viele  Menschen,  d.  h.  alle  bekannten 
Menschen,  sterblich  gewesen  seien,  sei  auch  Sokrates  sterblich. 
Allein  diese  bloße  Analogie  —  und  faktisch  besteht  unser  ganzes 
Wissen  darin  —  wird  vermittelt  und  erleichtert  durch  den  Mittel- 
begriff Mensch.  Nachdem  das  Resultat  erreicht  ist,  fällt  der 
Mittelbegriff  heraus"  (S.  212—213). 

In   der   Mathematik   ist    die    Methode    der   entgegengesetzten 
Fehler  besonders   klar.     Wir  haben  früher  verschiedene   Beispiele 
für  mathematische  Fiktionen  angeführt.     Eine  von  diesen  bestand 
darin,  den  Kreis  als  eine  Ellipse  zu  betrachten,  deren  Brennpunkte 
den  Abstand  O  voneinander  haben   (die  Exzentrizität  =  o).     Hier 
haben    wir    einen    doppelten    Fehler    begangen;    erstens    dadurch, 
daß  wir  den  Kreis  als  eine  Ellipse  betrachten,  denn  der  Kreis  ist 
nicht  eine  Ellipse,  zweitens  dadurch,  daß  wir  einen  Abstand  =  O 
setzen,    denn    ein    solcher    ist    kein    Abstand    (S.  316—317)-      Ein 
anderes   Beispiel  war,   den   Kreis   als   ein   Polygon   mit   unendlich 
vielen,  unendlich  kleinen  Seiten  zu  betrachten.     Der  erste  Fehler 
besteht    hier    darin,    daß    man    den    Kreis    als    ein    Polygon    be- 
trachtet,   denn    der    Kreis    ist    kein    Polygon;    aber    der    Fehler 
wird    wieder    gut    gemacht    durch    Einführung    der    Fiktion    des 
Unendlichen.     Diese   Fiktion  wird    zweimal    eingeführt,    einerseits 
durch    die    Annahme,    daß    die    Seiten    des    Polygons    unendlich 
klein    sind,    andererseits    dadurch,    daß   es   eine    unendlich   große 
Anzahl    von    ihnen    gibt.      Durch    die    letzte  Annahme   wird  der 
Widerspruch,    daß   eine    unendliche    Größe  aus   unendlich   kleinen 
Teilen  bestehen  soll,   aufgehoben,   während   der  Widerspruch,    der 
Kreis   sei   ein   Polygon,    durch   die  Betrachtung   aufgehoben   wird, 
daß   die    Polygonseiten   unendlich    klein   seien;   dadurch   wird   der 


5 I 8  Jörgen  Jörgensen : 

Fehler,    den    Kreis   für    ein    Polygon    zu    halten,    unendlich    klein 

(s.  521—522). 

Nähern  wir  uns  der  Anwendung  der  Fiktionen  in  den  Geistes- 
wissenschaften, so  fällt  einem  zuerst  das  erwähnte  Beispiel  von 
Adam  Smiths  nationalökonomischer  Fiktion  ins  Auge.  Nach 
dieser  Fiktion  werden  alle  ökonomischen  Wirksamkeiten  der  Ge- 
sellschaft ausschließlich  vom  Egoismus  bedingt  und  diese  Fiktion 
wird  korrigiert  durch  die  Vergleichung  ihres  Resultates  mit  den 
Resultaten  anderer,  ebenso  einseitiger  Untersuchungen,  die  andere 
Momente,  wie  Wohlwollen,  Gerechtigkeit,  Gewohnheit  usw.,  als 
die  einzigen  Faktoren  betrachten.  In  einem  so  komplizierten 
Falle  wie  dieser  kann  ein  einzelner  Fehler  nicht  von  einem  anderen 
Fehler  aufgehoben  werden,  sondern  nur  dadurch,  daß  man  alle 
die  wirksamen  Faktoren  ineinander  spielen  läßt,  können  die  Fehler, 
die  durch  Isolierung  der  Faktoren  hervorgerufen  sind,  aufgehoben 
werden. 

Ganz  ebenso  geht  es  mit  Benthams  staatswissenschaftlicher 
Fiktion. 

Bei  der  Fiktion  der  Willensfreiheit  ist  diese  Methode  schwieriger 
—  wenn   nicht   unmöglich   —  durchzuführen.      Entweder   ist   der 
Mensch  ein  Wesen  mit  freiem  Willen,  und  dann  haben  die  Moral- 
begriffe:    Verantwortung,     Bestrafung    usw.     in    allgemeiner     Be- 
deutung einen  Sinn;  oder  auch  der  Mensch  ist  determiniert,  und 
dann  muß  die  Bedeutung  dieser  Begriffe  verändert  werden,  sonst 
sind   sie  sinnlos.     Falls  der  Mensch  nämlich  in  einem  gegebenen 
Augenblick  nicht  anders  handeln  konnte,  als  er  es  tat,  so  ist  es 
sinnlos,   ihn   für  seine   Handlung  verantwortlich  zu  machen,   und 
ein   Tadel    ist    nur   als    erzieherisches    und    vorbeugendes    Moment 
berechtigt.      Hier   scheint   doch   ein    unüberwindlicher   Widerstreit 
zwischen    den    beiden  Ansichten    zu   bestehen,   und  —  soweit  ich 
sehen  kann  —  läßt  hier  die  Methode  der  entgegengesetzten  Fehler 
im  Stich.    Vaihinger  hat  denn  auch  nirgends  angegeben,  wie  sie 
in  diesem  Falle  angewandt  werden  soll.     Entweder  muß  man  die 
Aufstellung  von   Fiktionen   unterlassen,   oder  auch   man   muß  die 
Ethik  auf  dieser  fiktiven    Grundlage   bauen,   wodurch   man  nach 
Vaihinger  zu  Resultaten  gelangen  muß,  die  mit  der  Wirklichkeit 
nicht  übereinstimmen. 

Wie  wir  nun  gesehen  haben,  ist  die  ganze  Welt,  wie  wir  sie 
uns  vorstellen,  von  Fiktionen  durchwoben.  Das  Denken  ist,  wie 
Vaihinger   sagt,    ,,ein  regulierter  Irrtum"  (S.  217).     Aber   gerade 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       619 

weil    er   reguliert    ist,    führt    er    uns    durch    ein    „antagonistisches 
Spiel"    von    Fiktionen    zu    richtigen,    d.  h.    mit    der    Wirklichkeit 
stimmenden   Resultaten.     Dieses   ,, antagonistische   Spiel"  ist  aus- 
gedrückt durch  ,,die  Methode  der  entgegengesetzten  Fehler",  die 
nur  in  einem  einzigen  Falle  im  Stiche  ließ,  was  ja  darauf  beruhen 
kann,  daß  die  eine  der  widerstreitenden  Ansichten:  Determinismus 
—  Indeterminismus  in  Übereinstimmung  mit  der  Wirklichkeit 
steht.      Gehen  wir  nun  von  derjenigen  Ansicht  aus,   die  mit  der 
Wirklichkeit  übereinstimmt,  so  werden  wir  zu  Resultaten  kommen, 
die   nicht    korrigiert    zu  werden   brauchen.      Gehen  wir   dagegen 
von    der   anderen    Ansicht    aus,    müssen    die    Resultate    korrigiert 
werden:  Aber  dies  ist  nur  möglich  durch  die  Annahme  der  ersten 
Ansicht.     Der  Fehler  kann  hier  nämlich  nur  einseitig  sein  und 
kann  daher  nur  aufgehoben  werden  dadurch,  daß  er  =  O  gesetzt 
wird,  was  so  viel  sagen  will,  als  daß  diese  Ansicht  verworfen  wird. 
Bei   den   anderen    Fiktionen   dagegen   konnte   sich    der   Fehler  in 
zwei  oder  mehrere   Richtungen   erstrecken,    und   er  konnte  daher 
in    entgegengesetzter   Richtung   durch   einen   oder  mehrere   Fehler 
von  derselben  Größe  aufgehoben  werden. 

Hiermit  liegt  nun  die  Fiktionstheorie  fertig  vor.  Es  bleibt 
also  noch  übrig,  die  Voraussetzungen  aufzudecken,  auf  denen 
sie  ruht. 


IV.  Die  Voraussetzungen  der  Fiktionstheorie. 

Die  Enthüllung  der  Voraussetzungen,  auf  denen  eine  Theorie 
ruht,  könnte  vielleicht  sonderbar  scheinen,  nachdem  die  Theorie 
selbst  dargestellt  worden  ist.  Aber  ein  solches  analytisches  Ver- 
fahren bietet  doch  den  großen  Vorteil,  daß  man  leichter  einsehen 
kann,  was  für  eine  Theorie  notwendig,  was  für  sie  nur  von  ge- 
ringerer Bedeutung  ist.  In  dem  vorliegenden  Falle  kommt  mir 
der  Vorteil  so  groß  vor,  daß  er  vollständig  die  hier  befolgte  ana- 
lytische Methode  rechtfertigt. 

Vaihinger  versteht,  wie  wir  wissen,  unter  einer  Fiktion  eine 
bewußt  falsche,  aber  zweckmäßige,  nützliche  Annahme.  Aus 
dieser  Definition  selbst  lassen  sich  leicht  die  Voraussetzungen 
herausfinden,  auf  die  sich  die  Fiktionstheorie  stützt.  Nehmen 
wir  Glied  für  Glied  uns  vor. 

Falls  irgendein  Sinn  in  der  Definition  der  Fiktion  als  einer 
bewußt  falschen  Annahme  stecken  soll,   muß  man  selbstbewußte 


620  Jörgen  Jöigensen: 

Wesen  voraussetzen,  die  einen  Maßstab  in  der  Beurteilung  dessen, 
was  wahr  und  was  falsch  ist,  besitzen.     Sollen  die  Fiktionen  außer- 
dem zweckmäßig  sein,  so  muß  man  wieder  Wesen  voraussetzen, 
die  nach  dem  einen  oder  anderen  Ziele  streben,  die  die  eine  odre 
die   andere   Absicht   haben.     Diese   Voraussetzungen   betont   Vai- 
hinger   auch   ausdrücklich.      Ihm   gilt   nämlich   alles    Seelenleben 
,,als    eine    weitere    Ausbildung    des    Reflexvorganges:    Einwirkung 
von    außen,     innere    Verarbeitung,    Wirkung    nach    außen.       Die 
inneren'  Verarbeitungen    dienen    nur    als    Überleitungen    für    die 
von  außen  kommende  Einwirkung  zu  der  nach  außen  sich   ent- 
ladenden   Tat.      Als    solche    inneren    Verarbeitungen    und    Über- 
leitungen erkannte  ich  die  Fiktionen,  die  eben  schließlich  nur  dem 
praktischen  Zwecke  dienen,  dem  Handeln"   (S.  II).     Das  Denken 
ist  also   ein  Mittel   zum  Handeln,   die   Fiktionen  sind   Hilfsmittel 
zu    unserer    Orientierung   in    der    Umwelt.      ,, Sobald    ein    äußerer 
Reiz   die    Seele   berührt,   welche,    wie   mit   zarten    Fühlfäden   aus- 
gestattet,   mit    Schnelligkeit    auf    denselben    antwortet,    beginnen 
innere    Prozesse,    beginnt    eine    psychische    Arbeitsleistung,    deren 
Resultat  die  zweckmäßige  Aneignung  des  Wahrgenommenen  ist" 
(S.  3).     Ob  die  dabei  angewandten  Fiktionen  irgendeinem  Objek- 
tiven   entsprechen,    so    daß   sie    ,,die    theoretische    Abbildung   der 
Umwelt  im  Spiegel  des  Bewußtseins"  sind,  wissen  wir  nicht,  da 
wir   außerstande   sind,    unsere    Vorstellungswelt    mit    einer   objek- 
tiven  Umwelt   zu   vergleichen.      Die   einzige   Art   und   Weise,    um 
zu  konstatieren,   ob  das   Denken  sein  Ziel  erreicht,   ist  die  durch 
eine  ,, praktische  Probe",  die  darauf  ausgeht,  zu  entscheiden,  ,,ob 
es  mögUch  sei,  mit  Hilfe  jener  logischen  Produkte,  die  ohne  unser 
Zutun  geschehenden  Ereignisse  zu  berechnen  und  unsere  Willens- 
impulse   nach    den    Direktiven    der    logischen    Gebilde    zweckent- 
sprechend auszuführen"  (S.  5).     Daß  eine  solche  praktische  Probe 
glücklich  ausfällt,  ist  um  so  merkwürdiger,  als,  nach  Vaihinger, 
Denken    und    Sein    absolut    ungleichartig    sind.      Rein    empirisch 
behauptet  er,   ,,daß  die   Wege  des   Denkens"   ganz  andere   ,,sind, 
als  die  des  Seins"   (S.  10),  und  daß  man  daher  acht  geben  muß, 
,,die  Wege  und   Umwege  des  Denkens  nicht  mit  dem  wirklichen 
Geschehen    zu    verwechseln"    (S.  11).      ,, Sonach    müssen    wir    die 
ganze    Vorstcllungswelt    erkenntnistheoretisch    für    ein    bloßes    In- 
strument  halten,   das   uns   dazu  dient,    uns   in  der  Wirklichkeits- 
welt besser  zu  orientieren"   (S.  23).     Des  Denkens  ,, Zweckmäßig- 
keit manifestiert  sich  gerade  darin,  daß  die  logischen  Funktionen, 


Die  J.Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       62  I 

wenn  sie  nach   ihren  eigenen   Gesetzen  arbeiten,   schheßhch  doch 
immer  wieder  mit  dem   Sein  zusammentreffen"   (S.  12).     Da  nun 
die  Wege  des  Denkens  ganz  andere  als  die  des   Daseins  sind,  er- 
hält  diese    Zweckmäßigkeit   einen   metaphysischen    Charakter,    sie 
muß  etwas  sein,  das  mit  zum  Dasein  gehört,  etwas,  das  im  Charakter 
des  Daseins  liegt.     Es  geht  hier  für  uns  also  deutlich  hervor,  wie 
Vai hinger    ,, Seelen"    voraussetzt,    die    in    einer   wirklichen    Welt 
handeln  sollen;   und   ihre   Handlungen   werden   durch   eine   meta- 
physische  Zweckmäßigkeit   ermöglicht,   die,   obgleich   Denken   und 
Wirklichkeit  heterogene   Wege  einschlagen,   sich  doch  durch   eine 
schließliche  Übereinstimmung  von  Denken  und  Wirklichkeit  äußert. 
Wir  bemerkten  dann  weiter,  daß  Vaihinger  diesen  ,, Seelen"  die 
Fähigkeit   beilegen   mußte,    zwischen   wahr   und   falsch    zu   unter- 
scheiden, d.  h,  zwischen  dem,  was  vollkommen  mit  der  Wirklich- 
keit übereinstimmt  und  dem,  was  mehr  oder  minder  davon  ab- 
weicht, —  da  er  sonst  niemals  dazu  gelangen  könnte,  die  Fiktionen 
als  falsche  Annahmen  zu  stempeln.     Selbst  wenn  er  nirgends  aus- 
drücklich  ,,den    Seelen"   diese   Fähigkeit   beilegt,   so   ist   sie   doch 
eine    absolut    notwendige   Voraussetzung   der    Fiktionstheorie.     Er 
bezeichnet  es  selbst  als  ,,den  eigentlichen  Kern  des  ganzen  Buches", 
„den    methodologischen    Gegensatz    der    Fiktion    zur    Hypothese" 
klarzulegen    (S.  603);    aber   wie    sollte    es    möglich    sein,    sie 
auseinander    zu    halten,    falls  wir    nicht   genau  wüßten, 
was    die    Wirklichkeit    ist.     Und   wir   bekommen   dann   auch 
wiederholt    zu    wissen,    daß   das    eigentlich    und    einzig   Wirkliche 
die  Empfindungen  in  ihrem  Sukzessions-  und  Koexistenzverhältnis 
sind:  Alles,  was  mit  ihnen  übereinstimmt,  ist  also  wahr,  was  von 
ihnen    abweicht,    ist    falsch.      Aber    diese    Abweichungen    können 
mehr  oder  minder  zweckmäßig  sein.     Sind  sie  sehr  zweckmäßig, 
werden  sie  Fiktionen  genannt,  sind  sie  weniger  zweckmäßig,  werden 
sie  Irrtümer  genannt.     Ganz  zuerst  gibt  es  also  für  Vaihinger 
einen   absoluten  Unterschied   zwischen  wahr   und  falsch, 
zwischen  Hypothese  und   Fiktion.     Aber  dieser  Unterschied  ver- 
wischt sich  allmählich  für  ihn  so,   daß  ,,wahr"  und   ,, falsch"   zu 
relativen  Begriffen  werden.     Diese  Verschwommenheit  hängt  teils 
damit  zusammen,  daß  er  den   Gegensatz  aufstellt:  Hypothese  — 
Fiktion,    als    entsprechend   dem    Gegensatz:   theoretisch   —  prak- 
tisch; teils  daher,  daß  er  eine  neue  Definition  der  Wahrheit  ein- 
führt.     „Diejenige   Vorstellung   ist   wahr",    sagt   er,    ,, welche   den 
Zweck  alles   Denkens   am   besten   erfüllt,    nämlich   das    Objektive 


622  Jürgen  Jörgensen: 

ZU    berechnen,    zu    begreifen"    (S.  136).      Nun    zielt    indessen    der 
Ausdruck  ,,zu  berechnen"  bei  Vaihinger  auf  die  praktische  Seite 
der  Sache  ab,  während  der  Ausdruck  ,,zu  begreifen"  etwas  Theo- 
retischem entspricht.     Nach  der  oben  angeführten  Definition  sind 
sowohl    Hypothesen    als    auch    Fiktionen    „wahr".      Deshalb    sind 
„zwischen  wahr  und  falsch  keine  so  schroffen  Grenzen,  wie  man 
gewöhnlich    anzunehmen    beliebt.       Irrtum    und    Wahrheit    fallen 
unter  den   gemeinsamen   Oberbegriff  des   Mittels   zur   Berechnung 
der   Außenwelt;    das    unzweckmäßige    Mittel   ist   der    Irrtum,    das 
zweckmäßige  heißt   man   Wahrheit"    (S.  193).     Mit   dieser  letzten 
Äußerung  ist  die  ganze   Betrachtungsweise  eine  andere  geworden 
als  sie  anfangs  war.    Wir  begannen  damit,  die  Wahrheit  zu  messen 
an  dem  Verhältnis  der  Vorstellungen  zu  den  gegebenen  Empfindungs- 
komplexcn;  jetzt  messen  wir  sie  an  dem  Nutzen,  den  wir  von  den 
Vorstellungen  haben,  wenn  wir  handeln  sollen.    Wie  dieser  Stand- 
punktswechsel mit  einem  Widerspruch  auf  dem  Grunde  der  Theorie 
selbst  zusammenhängt,  bestrebe  ich  mich,  im  nächsten  Abschnitt 
darzutun. 


V.  Kritik. 

Wenn  sich  dieser  Abschnitt  ,, Kritik"  nennt,  so  kann  damit 
natürlich  nicht  eine  durchgeführte  Untersuchung  aller  Einzel- 
heiten des  hier  behandelten  Werkes  gemeint  sein.  Obgleich  es 
an  vielen  Punkten  dazu  Veranlassung  gibt,  z.  B.  die  Urteils- 
einteilung, die  Atomistik  und  die  Freiheit,  muß  hier  doch  darauf 
verzichtet  werden,  da  eine  solche  Ausführlichkeit  an  dieser  Stelle 
allzu  umfangreich  wäre.  Ich  halte  mich  im  folgenden  also  aus- 
schließlich an  die  Hauptpunkte  der  Fiktionstheorie.  — 

Aus  dem  vorigen  Abschnitt  erhellt  es,  daß  im  tiefsten  Grunde 
diese  Theorie  sich  hauptsächlich  von  zwei  Gesichtspunkten  aus  in 
ihrer  Gesamtheit  berücksichtigen  läßt: 

A.  Es  gibt  selbstbewußte  Wesen  oder  ,, Seelen",  deren  Ziel 
ist,  zu  leben,  weshalb  sie  sich  in  der  Welt,  in  der  sie  leben,  zurecht- 
finden müssen.  Da  die  wesentlichste  Funktion  des  Lebens  das 
Handeln  ist,  muß  das  Denken,  .so  wie  es  bereits  Schopenhauer 
behauptete,  einen  sekundären  Platz  unter  den  psychisch-orga- 
nischen Funktionen  einnehmen.  Wenn  das  Denken  sich  selbst 
mißversteht  und  der  Erkenntnis  den  ei'sten  Platz  einräumt,  über- 
schätzt es  in  ,, theoretischer  Leidenschaft"  die  Mittel  im  Verhältnis 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       623 

zum  Zweck,  der  letzten  Endes  in  den  praktischen  Resultaten  zu 
finden  ist  (S.  179). 

B.  Die  eigentliche  Wirklichkeit  sind  die  unmittelbar  ge- 
gebenen Empfindungskomplexe.  Von  dieser  Wirklichkeit  weicht 
das  Denken  mehr  oder  minder  ab,  so  daß  Denken  und  Sein  sich 
auf  verschiedenen  Bahnen  bewegen.  Damit  jedoch  die  Resultate 
des  Denkens  Direktiven  für  ein  zweckmäßiges  Handeln  sein  können, 
muß  die  Zweckmäßigkeit  als  ein  metaphysisches  Prinzip  ange- 
nommen werden.  Sonst  wäre  die  faktische,  empirische  Zweck- 
mäßigkeit des  Denkens  unverständlich  und  unvereinbar  mit  dem 
empirisch  konstatierten  absoluten  Unterschied  zwischen  Denken 
und  Sein.  — 

Diese  zwei  Voraussctzungskomplexe  stehen  nun  offenbar  in 
Widerspruch  zueinander.  Denn  falls  wir  uns  an  Gruppe  B.  halten 
und  die  unmittelbar  gegebenen  Empfindungskomplexe  für  die 
eigentliche  Wirklichkeit  halten,  so  können  wir  nicht  gleichzeitig 
behaupten,  daß  zweckmäßig  ausgestattete  Wesen  existieren,  die 
in  einer  Umwelt  leben  sollen.  Die  Vorstellung  von  diesen 
Wesen  muß  dann  als  eine  Fiktion  angesehen  werden, 
und  die  Fiktionstheorie  selbst  gründet  sich  also  auf 
einer  solchen  und  muß  deshalb  dann  selbst  eine  Fiktion 
sein.  Andererseits,  wenn  die  ganze  Theorie  eine  Fiktion  ist,  so 
kann  die  Grundlage  richtig  sein,  und  also  kann  die  Theorie  richtig 
sein.  Hier  taucht  ein  Problem  auf,  bei  dem  einem  der  Kretenser 
einfällt,  der  behauptete,  daß  alle  Kretenser  lügen. 

Ein  anderer  Widerspruch  tritt  hervor,  wenn  wir  von  der 
Voraussetzung  ausgehen,  daß  Denken  und  Sein  absolut  ver- 
schieden sind,  und  wenn  wir  diese  Voraussetzung  zusammen- 
stellen mit  der  ,, Methode  der  entgegengesetzten  Fehler".  Diese 
Methode  zielte  ja  gerade  darauf  ab,  die  vom  Denken  begangenen 
Fehler  durch  Einführung  korrespondierender,  entgegengesetzter 
Fehler  zu  entfernen  oder  aufzuheben.  Nur  wenn  man  dieser 
Methode  folgte,  konnte  man  zu  Resultaten  gelangen,  die  mit  der 
Wirklichkeit  übereinstimmten.  Aber  die  Voraussetzung  für  die 
Richtigkeit  dieser  Methode  ist  ja  gerade,  daß  das  Denken 
—  jedenfalls  das  richtige,  logische  Denken  —  dieselben  Wege 
wie  die  Wirklichkeit  verfolgt.  Sonst  würde  es  un- 
verständlich sein,  warum  die  Fehler  aufgehoben  werden 
sollen.  In  den  formalen  Wissenschaften  wird  man  zu  richtigen 
Resultaten  gelangen,  falls  man  die  begangenen  Fehler  stets  durch 


624  Jörjjen  Jörgenscn: 

Einfülirung  entgegengesetzter  Fehler  aufzuheben  sucht.  So  ver- 
hält CS  sich  in  der  Mathematik  —  nach  Vaihingers  Meinung. i) 
Aber  hier  sind  auch  die  einzigen  Gesetze  eben  nur  die  Gesetze 
des  Denkens  und  die  logischen  Grundsätze  sind  hier  die  Norm. 
Anders  verhält  es  sich,  wenn  die  Berechtigung  der  Denkgesetze 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  vom  Denken  unabhängige  Wirklich- 
keit zu  beweisen  ist.  Zeigt  es  sich  hier,  daß  die  Resultate  des 
Denkens  stets  mit  der  Wirklichkeit  stimmen,  sobald  wir  dafür 
sorgen,  eventuelle  Fehler  aufzuheben,  so  müssen  wir  einräumen, 
daß  Gesetze  und  Wege  des  Daseins  und  Denkens  dieselben  sind. 
Hier  können  wir  indessen  die  unbedingte  und  ewige  Gültigkeit 
dieser  Übereinstimmung  nicht  beweisen,  und  ihre  Annahme  be- 
kommt daher  den  Charakter  eines  Postulats  oder  richtiger  einer 
Hypothese.  Aber  die  Übereinstimmung  der  Gesetze  des  Denkens 
und  Daseins  muß  in  jedem  Falle  behauptet  werden,  sowohl  aus 
praktischem  wie  aus  theoretischem  Interesse.  Fände  nämlich 
diese  Übereinstimmung  nicht  statt,  so  könnten  wir  weder  be- 
greifen noch  leben.  Nehmen  wir  eine  solche  Überein- 
stimmung an,  ist  es  auch  einleuchtend,  daß  die  Re- 
sultate des  Denkens  mit  dem  Dasein  übereinstimmen 
müssen,  während  die  Annahme  eines  absoluten  Unter- 
schiedes zwischen  den  Gesetzen  des  Denkens  und  Da- 
seins die  faktische  Übereinstimmung  in  den  Resultaten 
absolut  unverständlich  macht!  Greift  man  nun,  wie  Vai- 
hinger,  zu  dem  verzweifelten  Notbehelf,  die  Begreiflichkeit  des 
Daseins  zu  leugnen,  um  die  rätselhafte  Übereinstimmung  zwischen 
den  Resultaten  des  Denkens  und  der  Wirklichkeit  aufrecht  halten 
zu  können,  so  hat  man  sich  damit  auf  einen  absolut  unhaltbaren 
Standpunkt  gestellt,  was  sich  sehr  bald  durch  eine  ,, praktische 
Probe"  beweisen  lassen  wird.  Handelte  man  nämlich  von  dieser 
Anschauung  der  Unbegreifbarkeit  des  Daseins  aus,  so  würde  man 
sehr  schnell  merken,  daß  man  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes 
,, neben"  das  Dasein  und  in  Opposition  dazu  geraten  ist;  und 
wollte  man  festhalten  an  jener  Annahme,  aber  doch  handeln, 
,,als  ob"  das  Dasein  begreiflich  sei,  so  würde  man  schnell  dahinter 
kommen,    daß   dies    zu   verblüffend    guten    Resultaten   führt.      Es 

')  Ich  diskutiere  hier  die  Fragen  von  Vaihingers  eigenen  Voraussetzungen 
aus,  ohne  auf  eine  ausführlichere  Kritik  dieser  Voraussetzungen  einzugehen.  Das 
Prinzipielle  einer  solchen  Kritik  wird  jedoch  im  folgenden  berührt  werden  und 
ist  übrigens  schon  im  Kap.  I  angedeutet. 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standi)unkte  der  Marburger  Schule.       625 

läßt  sich  jedoch  schwer  denken,  daß  der  Unterschied  der  Re- 
sultate des  Handelns  von  der  verschiedenen  subjektiven  Be- 
trachtungsweise abhängt,  da  sich  nicht  annehmen  läßt,  daß  diese 
in  einem  nennenswerten  Grade  den  Gang  des  Daseins  beeinflussen 
kann;  und  die  einzig  annehmbare  Erklärung  ist  deshalb  die,  daß 
das  Denken  und  das  Dasein  denselben  Gesetzen  folgt.  Jedoch 
dies  ist,  wie  oben  bemerkt,  ein  Postulat  oder  eine  Hypothese, 
aber  die  Annahme  einer  solchen  Übereinstimmung  ist  so  wichtig, 
daß  —  wie  Hume  sagt  —  nur  der  Narr  oder  der  Wahnsinnige 
daran  zweifeln  wird.  Daß  Vaihinger  —  trotz  seiner  Voraus- 
setzungen —  es  ebenfalls  nicht  tut,  ergibt  ,,dic  Methode  der  ent- 
gegengesetzten Fehler".  Wenn  man  sagt,  daß  ,,die  subjektiven 
Prozesse  des  Denkens,  die  sich  auf  irgendeinen  äußeren  Vorgang 
oder  Prozeß  beziehen,  mit  diesem  selbst  nur  selten  eine  nachweis- 
bare x\hnhchkeit  haben"  (S.  10),  so  ist  das  psychologisch  ge- 
sehen richtig:  Der  Denkprozeß  als  psychologisches  Phänomen 
ähnelt  wirklich  nicht  den  äußeren  Prozessen,  über  die  gedacht 
wird.  Aber  erkenntnistheoretisch  gesehen,  müssen  wir  nach 
unserer  Darlegung  an  der  Behauptung  festhalten,  daß  die  zwei 
Prozesse  sich  nach  denselben  Gesetzen  entfalten,  da  sonst  die 
Übereinstimmung  in  ihren  Resultaten  absolut  unverständlich  ist. 
Vaihinger  gibt  die  Behauptung  dieser  Unbegreif barkeit  nicht 
preis,  und  ausschließlich  vermittelst  der  mystischen,  metaphysischen 
Zweckmäßigkeit  hält  er  sie  vereinbar  mit  der  Annahme  des  Denkens 
als  eines  nützlichen  Hilfsmittels  im  Daseins  kämpfe;  trotzdem  aber 
gilt  ihm  diese  Zweckmäßigkeit  als  eine  Fiktion,  wodurch  wir  wieder 
in  das  absolut  Unverständliche  geraten  sind  und,  wie  vorher  aus- 
einandergesetzt, in  Widerstreit  mit  allen  theoretischen  und  prak- 
tischen Erfahrungen,  so  daß  alle  weitere  Diskussion  ausgeschlossen 
ist.  Es  ist,  als  ob  jemand  sagte:  Es  gibt  keine  Wahrheit,  und 
doch  gleichzeitig  behauptet,  daß  dieser  Satz  wahr  ist.  Daß  Vai- 
hinger diesen  Widerspruch  nicht  gesehen  hat,  beruht  wahr- 
scheinlich darauf,  daß  er  die  unmittelbar  gegebenen  Empfindungs- 
komplexe als  die  eigentliche  Wirklichkeit  betrachtet.  Solange 
wir  uns  an  diese  Betrachtung  halten,  ist  das  Dasein  nämlich  ab- 
solut unverständlich  für  uns,  aber  solange  wird  das  Wirklich keits- 
problem  auch  gar  nicht  gestellt.  Falls  wir  ,,die  Fiktion"  auf- 
stellten, daß  es  ein  Wesen  gäbe,  das  mit  allen  menschlichen  Sinnen 
ausgestattet  ist,  aber  vollkommen  jedes  Denkvermögens  bar  wäre, 
so  würde  es  für  ein  solches  Wesen  gar  keine  Wirklichkeit  geben. 

Annalen  der  Philosophie.    I.  4^* 


626  Jörgen  Jör|ensen: 

,,Die  Wirklichkeit"  ist  eben  gerade  ein  Begriff,  der  dem  Denken 
zu  danken  ist  und  der  erst  entsteht,  wenn  man  die  Erfahrung 
macht,  daß  nicht  alle  die  unmittelbar  gegebenen  Empfindungen 
etwas  Wirklichem  entsprechen,  d,  h.  daß  sie  durch  ,,cine  praktische 
Probe"  sich  als  illusorisch  offenbaren.  Da  ist  es  dann  zu  unter- 
suchen nötig,  unter  welchen  Bedingungen  man  von  einem  un- 
mittelbar gegebenen  Empfindungskomplex  auf  einen  anderen  zu 
treffen  hoffen  kann,  wenn  man  auf  eine  bestimmte  Art  handelt. 
Und  hier  muß  man  umkehren  von  den  unmittelbaren  Empfindungen 
zu  der  sich  in  ihren  Koexistenz-  und  Sukzessionsverhältnissen 
äußernden  Gesetzmäßigkeit,  welche  die  eigentliche  Wirkhchkeit 
abbildet.  Aber  die  Erkenntnis  dieser  Gesetzmäßigkeit  verdankt 
man  gerade  dem  Denken,  und  sie  wird  daher  auch  von  Vaihinger 
konsequent  als  eine  Fiktion  betrachtet  (S.  417 — 423),  weshalb  er 
wieder  zu  den  unmittelbar  gegebenen  Empfindungskomplexen  als 
die  eigentliche  Wirklichkeit  seine  Zuflucht  nehmen  muß,  wo, 
wie  vorher  ausgeführt,  sein  Standpunkt  unhaltbar  ist. 

Entweder  muß  also  Vaihinger  die   Grundlage  der  Fiktions- 
theorie und  damit  diese  selbst  aufgeben  oder  er  gerät  in  lauter 
UnVerständlichkeiten,    wodurch    er    jede    weitere    Diskussion    ab- 
schneidet   und    gerade    dadurch    die    Absurdität    der    Theorie    be- 
weist.    Dies  liegt  zuletzt  daran,  daß  die  Kategorien,  die   Grund- 
prinzipien   der    Erkenntnis,     notwendige     Voraussetzungen     jeder 
vernünftigen  Theorie  der  Phänomene  sind;   und  verv^'andelt  man 
nun  diese  Voraussetzungen  selbst  in  Fiktionen,  so  muß  die  ganze 
Theorie   fiktiv   werden.      Aber    dann    hört    alles    auf;    denn    eine 
fiktive    Erkenntnis    ist     eben     keine    Erkenntnis!      Dies 
hat  Vaihinger  insofern  auch  eingesehen,   als  er  die   Möglichkeit 
der    Erkenntnis    leugnet    und    behauptet,    daß   die    Fiktionen    nur 
Wert  für  das  Handeln,  für  die  praktische  Seite  des  Lebens  haben. 
Aber  diese   Behauptung  führt  erstens   zu  der   Schwierigkeit,   daß 
sie  sich  nicht  begründen  läßt,   da  jede   Begründung  sich  auf  die 
,, fiktiven"    Kategorien   stützen    muß;    und   zweitens   führt   sie   zu 
dem     schwierigen     Dilemma     der     Auffassung    von     Tier 
und  Menschen.     Gibt  es  irgendwelche  Wesen,   die  ausschließlich 
praktisch  bestimmt  sind,  so  sind  es  wohl  die  Tiere.     Es  hat  also 
den  Anschein,   als  ob  die   Fiktionen  in  bezug  auf  die   Erhaltung 
des  Lebens  von  einer  rein  untergeordneten  Bedeutung  sind;  denn 
die  Tiere  wissen  sich  ja  recht  gut  zu  behelfen.    Oder  will  Vaihinger 
annehmen,  daß  die  Tiere  —  ebenso  wie  die  Menschen  —  mit  Fik- 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       627 

tionen  operieren,  mit  Kategorien,  Begriffen,  Urteilen  und  all  den 
anderen  ,, zweckmäßigen,  aber  falschen  Annahmen"?  Das  käme 
mir  doch  als  eine  allzu  barocke  Annahme  vor.  Im  ganzen  ge- 
nommen, wird  ,,die  biologische  Erkenntnistheorie",  wie  jede  andere 
Theorie,  die  das  Vernunfts-  und  Begriffsmäßige  als  das  wesent- 
liche Charakteristikum  des  Menschen  verwirft,  nur  schwer  dem 
Paradoxon  entgehen  können,  daß  die  Tiere  die  am  besten  ein- 
gerichteten Wesen  sind,  denen  zu  gleichen  man  soviel  als  möglich 
trachten  muß.  Der  Gedanke  ist  nur  ein  Umweg  im  Lebensprozeß 
und  es  kommt  daher  darauf  an,  ihn  auf  die  eine  oder  andere  Art 
unschädlich  zu  machen  —  z.  B.  entweder  durch  Bergsons  ,, In- 
tuition" oder  durch  Vaihingers  ,, Methode  der  entgegengesetzten 
Fehler". 

Aus    diesen    Gründen    kann    ich    nicht    umhin,    die    Fiktions- 
theorie für  ungeeignet  dazu  zu  halten,   ,,der  Eckstein  der  philo- 
sophischen   Erkenntnistheorie"    zu   werden.     Wenn   diese    Theorie 
•  trotzdem  so  großes  Aufsehen  erregt  hat,  so-  schuldet  sie  das  wohl 
nicht  allein  Vaihingers  angesehenem  Namen.     Der   Grund  muß 
sicherlich  darin  zu  suchen  sein,  daß  in  dieser  Theorie  doch  wert- 
volle Momente  stecken.     Und  das  ist  auch  meine  Ansicht;  aber 
dieser  Theorie   ist   es   leider  wie  den   meisten   anderen   ergangen: 
Die  grundlegenden  guten  Ideen  sind  Gegenstand  einer  unberechtigten 
Generalisation  geworden,  sie  sind  angewandt  worden  außerhalb  des 
Gebietes,   wo   sie    Gültigkeit   haben.     Und   dadurch   ist   ihr  Wert 
verschleiert  worden.     So  ist  es  —  meiner  Ansicht  nach  —  auch 
mit  der  Theorie  des  ,,  psycho -physischen  Parallclismus"  gegangen, 
mit    Darwins    Entwicklungstheorie,    mit    Bergsons    Theorie   des 
Gegensatzes    zwischen   den    ,, qualitativen    und    den    quantitativen 
Phänomenen",    mit   der    James -Langeschen    Gefühlstheorie   und 
mit  manchen  anderen  Theorien,   und  unter  ihnen  auch  mit  Vai- 
hingers   Fiktionstheorie.      Nach    der    Lektüre    von    Vaihingers 
ausgezeichnetem  Werke  wird  wohl  niemand   leugnen,   daß  wir  in 
den   Wissenschaften   und   im   täglichen   Leben   in   nicht   geringem 
Grade  mit  Fiktionen  operieren.    Aber  daß  unsere  gesamte  Denk- 
arbeit fiktiv  ist,  daß  alle  unsere  Begriffe  Fiktionen  sind,  —  dazu 
kann  ich  mich  nicht  verstehen. 

Es  ist  wohl  auch  eine  große  Frage,  ob  alle  die  von  Vai hinger 
angeführten  Beispiele  wirklich  die  die  Fiktionen  charakterisierenden 
Widersprüche  enthalten.  So  z.  B.  glaube  ich  kaum,  daß  viele 
Mathematiker    zugeben    werden,    daß    die    infinitesimalen    Größen 

40* 


528  Jörgen  Jörgensen: 

widerspruchsvoll  sind.  Und  in  den  modernen  Arbeiten  über  den 
,, Grenzbegriff"  und  die  „Mengelehre"  ist  denn  doch  auch  ein 
crroßer  Schritt  zur  Entfernung  der  scheinbaren  Widersprüche  dieser 
Begriffe  getan.  Aber  eine  genauere  Untersuchung  darüber  würde 
ein  ganzes  Buch  füllen  und  daher  kann  ich  mich  hier  darüber 
nicht  weiter  verbreiten.  — 

Unsere    kritischen    Bedenken    lassen    sich    also    zum    Schluß 
folgendermaßen  zusammenfassen : 

Vaihingers    Fiktionstheorie    hat    ihren    großen    Wert  «darin, 
daß  sie   I.  eine  klare  Definition  des  Begriffes  „Fiktion"  geliefert 
hat,  2.  daß  sie  nachgewiesen  hat,  in  welchem  Umfange  die  Menschen 
mit  Fiktionen  operieren,  3.  daß  sie  durch  die  Lehre  von  der  ,, Methode 
der  entgegengesetzten  Fehler"  das  Faktum  erklärt  hat,  daß  es  oft 
zweckmäßig  ist,   mit  Fiktionen  zu  operieren.     Hierdurch  hat  der 
deutsche  Philosoph   ein  ausgedehntes  und  bisher  allzu  wenig  be- 
achtetes Gebiet  dem  philosophischen  Forschen  erschlossen,  nämlich 
die  Untersuchung  der  Anwendung  der  Fiktionen  in  der  Wissenschaft. 
Aber  gerade  die  Tatsache,  daß  es  nötig  ist,  die  Anwendung  der 
Fiktionen  zu  begründen  und  zu  erklären,  ist  ein  Zeichen  dafür, 
(laß    die    Fiktionen    nicht    die    Grundlage    der    Erkenntnistheorie 
bilden   können.      Sie   geben  nur  gewisse,   vom   Denken  faktisch 
angewandte  Kunstgriffe,  aber  sie  können  niemals  die  Gültigkeit 
dieser  Kunstgriffe  begründen.     Sie  bezeichnen  daher  nur  ein  Pro- 
blem der  Erkenntnistheorie,   aber  sie  vermögen  kein  erkenntnis- 
theoretisches Problem  zu  lösen.     Dazu  sind  gerade  die  logischen 
Formen  erforderlich,   die   Kategorien,   die  selbst  nicht   Fik- 
tionen   sein    können,    da    sonst  jede  Theorie  • —  die  Fik- 
tionstheorie   mit    einbegriffen  —  dann    fiktiv  sein  mußt 
Die  Norm,  nach  welcher  zwischen  wahr  und  falsch  unterschieden 
wird,  kann  nicht  selbst  als  falsch  beglaubigt  werden  und  die  Wahr- 
heit  läßt  sich   daher  nicht  als   ,,der  zweckmäßigste    Irrtum"  de- 
finieren.     Oder   mit    Spinozas    Worten:    ,,Veritas   norma  sui   et 
falsi   est."     Nur  wenn   man  die  Wahrheit  kennt,   kann  man  die 
Irrtümer  nachweisen,   und   gerade  der   Begriff  der   Fiktion  selbst 
setzt  daher  eine  absolute  Wahrheit  voraus. 

Diese  absolute  Wahrheit  ist  indessen  ganz  formal,  d.  h.  sie 
gibt  nur  die  Kriterien  der  Wahrheit  an.  Ein  jedes  spezielles  Urteil 
über  irgend  etwas  ist  bedingt  und  relativ,  aber  die  Formen  der 
Erkenntnis  müssen  absolut  sein;  die  Grundrelationen  können 
nicht  selbst  relativ  sein,     Sie  sind  der  feste  ,, archimedische  Punkt", 


Die  „Philosophie  des  Als  Ob"  vom  Standpunkte  der  Marburger  Schule.       629 

von  dem  aus  das  Dasein  erkannt  werden  kann;  sie  definieren  den 
Begriff  selbst:  Erkenntnis.  Sie  sind  das  Sprungbrett,  von  wo 
die  Reflexion  hinausspringt  in  „die  70000  Klafter  Wasser",  um 
einen  Ausdruck  Sören  Kierkegaards  zu  gebrauchen.  Ist  die 
Reflexion  nämlich  einmal  in  Bewegung  gesetzt,  so  kann  sie  nicht 
mehr  innehalten,  ohne  dogmatisch,  d.  h.  borniert,  zu  werden: 
sie  muß  stets  weiter  und  tiefer  ausschweifen,  gemäß  dem  ,, Prinzip 
des  Ursprungs"  (Hermann  Cohen).  Aber  der  Kompaß,  dem  sie 
beständig  zu  folgen  hat,  falls  sie  sich  nicht  verirren  will,  muß 
sicher  und  unveränderlich  sein.  Und  dieser  Kompaß  sind  die 
ewigen  Vernunftgesetze,  auf  die  jede  Theorie  sich  aufbauen  muß. 
Ohne  sie  schießt  überhaupt  kein  Problem  auf,  worauf  die  aus- 
gezeichnete Marburger  Schule  wieder  und  wieder  hingewiesen  hat. 
Deshalb  ist  das  Problem  selbst  der  Fiktion  ein  Beweis  für  die 
Reahtät  der  Vernunft  und  damit  für  die  der  Erkenntnis  —  wenig- 
stens als  Aufgabe. 

(Autorisierte  Übersetzung  aus  dem  Dänischen  von  Mens.) 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen. 

Mit  besonderer  Berücksichtigung  von  Vaihingers  Philosophie  des  Als  Ob. 

Von 
Dr.  Hans  Eelsen, 

a,  ö.  Professor  an  der  Universität  in  Wien. 

Inhaltsübersicht. 

I.  Der  Begriff  der  Fiktion  und  der  Gegenstand  rechtswissenschaftlicher  Er- 
kenntnis. Der  Widerspruch  zur  ,, Wirklichkeit".  Die  Natur-Wirklichkeit  und  die 
Rechts-Wirklichkeit.  Die  Erweiterung  des  Vaihingerschen  Fiktionenbegriffes. 
Echte  Fiktionen  der  Rechtstheorie.     Das  Rechtssubjekt. 

II.  Die  sogenannten  ,, Fiktionen"  der  Rechtspraxis.  Die  Pseudofiktionen 
des  Gesetzgebers.  Ihr  prinzipieller  Unterschied  gegenüber  den  erkenntnistheo- 
retischen Fiktionen;  Mangel  des  Erkenntniszwecks  und  des  Widerspruchs  zur 
Wirklichkeit  der  Natur  wie  des  Rechtes.  Der  Art.  347  des  Deutschen  Handels- 
gesetzbuches.    Die   praesumptio   juris.     Die   prätorischen   Fiktionen. 

III.  Die  „Fiktionen"  der  Rechtsanwendung.  Die  Analogie.  Ihr  unkorrigier- 
barer Widerspruch  zur  Rechts-Wirklichkeit  und  ihre  juristische  Unzulässigkeit. 
Die  rechtlich  gebotene  Analogie. 

IV.  Rechtstheorie  und  Rechtspraxis.  Die  moralische  Fiktion  der  ,, Freiheit". 
Ihre  Entbehrlichkeit  bei  Aufhebung  des  fehlerhaften  Synkretismus  von  Seins-  und 
Sollens-Betrachtung.  Die  Fiktion  des  „Staatsvertrages".  Ihre  Entbehrlichkeit 
vom  Standpunkte  des  Rechtspositivismus. 

V.  Die  Souveränität  der  Rechtsordnung.  Die  Unabhängigkeit  des  Rechts 
von  der  Moral.  Der  angeblich  fiktive  Charakter  dieser  Isolierung.  Die  „prak- 
tischen" Fiktionen  Vaihingers.  Die  Rechtsnorm  und  die  Rechtspflicht  keine 
Fiktionen. 

I. 

Seine  bedeutende  Theorie  der  Fiktionen  hat  Vaihinger  nicht 
zum  geringsten  Teil  an  den  „juristischen"  Fiktionen  entwickelt. 
Die  juristische  Fiktion  erklärt  er  geradezu  für  einen  der  charak- 
teristischen Typen  dieses  Vorstellungsgebildcs.  Er  meint,  daß  es 
neben  der  Mathematik  fast  kein  Gebiet  gäbe,  das  zur  Deduktion 
logischer  Gesetze  und  Illustrierung  oder  Entwicklung  logischer 
Methoden  im  allgemeinen  und  der  Fiktionsmethode  im  besonderen 
passender  wäre,  als  gerade  das  Jus.  Und  er  bedauert,  daß  die 
Logiker  sich  gerade  die  juristische  Fiktion  haben  entgehen  lassen, 
weil  sie  überhaupt  nicht  einsahen,  daß  die  Logik  ihr  Material  aus 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  5^1 

der  lebendigen  Wissenschaft  zu  entnehmen  hiibe.^)  Für  Vai- 
hinger  ist  die  juristische  Fiktion  eine  , .wissenschaftliche"  Fik- 
tion^)  und  prinzipiell  identisch  mit  den  erkenntnistheoretischen. 3) 
Er  betont  ausdrücklich,  ,,die  formale  Identität  der  Vcrstandes- 
handlung  und  des  ganzen  Vorstellungszustandes  in  den  juridischen 
Fiktionen  mit  den  anderen  wissenschaftlichen  Fiktionen".'*)  — 

Unter  der  Bezeichnung  der  „juristischen  Fiktion"  werden 
jedoch  sehr  verschiedene  Erscheinungen  zusammengefaßt.  Nur 
ein  verhältnismäßig  kleiner  Teil  stellt  sich  als  Fiktion  in  der  eigent- 
lichen Bedeutung  des  Wortes,  als  Fiktion  im  Sinne  des  von  Vai- 
hinger  aufgestellten  Begriffes  dar.  Ja,  das  meiste,  was  Vai- 
hinger  selbst  als  ,, juristische  Fiktion"  behandelt  und  seiner  hoch- 
!  verdienstlichen  Theorie  zugrunde  gelegt  hat,  ist  gar  keine  Fiktion, 
ist  zumindest  nicht  das  Vorstellungsgebildc,  auf  welches^  jene 
charakteristischen  Merkmale  passen,  die  er  treffend  bestimmt  hat. 
So  rückhaltlos  den  prinzipiellen  Ergebnissen  der  Vaihingerschen 
Philosophie  des  Als  Ob  zugestimmt  werden  kann,  so  muß  doch 
gerade  die  von  Vaihinger  mit  besonderer  Vorliebe  herangezogene 
juristische  Fiktion  als  unzutreffendes  Argument  bezeichnet  werden. 

Die  Fiktion  charakterisiert  sich  nach  Vaihinger  ebensosehr 
durch  ihren  Zweck  wie  durch  das  Mittel,  mit  dem  sie  diesen  Zweck 
erreicht.  Der  Zweck  ist:  Erkenntnis  der  Wirklichkeit,  das  Mittel: 
eine  Fälschung,  ein  Widerspruch,  ein  Kunstgriff,  ein  Umweg  und 
Durchgangspunkt  des  Denkens.  Ein  Mittel  der  Logik,  wenn 
auch  ein  abnormales,  ist  die  Fiktion;  sie  hat  erkenntnistheo- 
retischen Charakter,  als  einem  Erkenntnismittel  kommt  ihr  Be- 
deutung zu.*^) 

Dabei  ist  es  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeit,  der  die  Fik- 
tion dient.  ,,Die  bewußte  Abweichung  von  der  Wirklichkeit  soll 
die  Erreichung  der  letzteren  vorbereiten."**)  Und  der  Wider- 
spruch zu  der  Wirklichkeit  ist  eines  der  Hauptmerkmale  der 
Fiktion.') 

Nun  muß  es  schon  von  vornherein  zweifelhaft  sein,  ob  man 


')  Die    Philosophie    des    Als-ob.      2.  Aufl.      S.  46. 

■')  a.  a.  0.  S.  257. 

•^)  a.  a.  0.  S.  447- 

*)  a.  a.  0.   S.  250. 

")  a.  a.  O.  S.  i75ff.  u-  passim. 

«)  a.  a.  O.  S.  27. 

')  a.  a.  0.  S.  171  ff. 


632 


Hans  Kelsen: 


Jioffen  kann,  m  einer  Wissenschaft  Fiktionen  anzutreffen,  die 
ihrem  Wesen  nach  gar  nicht  auf  Erkenntnis  der  Wirkhchkeit 
sjorichtet  sind.  Wenn  die  Fiktion  ein  eigenartiges  Mittel  ist,  die 
Reahtät  zu  erfassen,  dann  könnte  nur  eine  von  ihrem  Wege  gänz- 
hch  abgeirrte  rechtswissenschafthchc  Betrachtung  sich  einer  Fiktion 
in  diesem  Sinne  bedienen,  und  dann  kann  eine  Fiktion  rechts- 
wissenschafthchc Erkenntnis  niemals  —  auch  nicht  indirekt, 
auf  einem  Umwege  —  fördern.  Wenn  in  der  Fiktion  ein  Wirk- 
liches behauptet  wird  (im  Widerspruch  zur  Wirklichkeit  aller- 
dings), dann  kann  auf  dem  Gebiete  einer  Wissenschaft,  deren 
Erkenntnisse  nicht  auf  die  Wirklichkeit  bezogen  sind,  eine  Fik- 
tion stets  nur  eine  unzulässige  und  gänzlich  unnütze,  bloß  schäd- 
liche Entgleisung  sein. 

Und  Vai hinger  ist  sich  der  wahren  Natur  der  Rechtswissen- 
schaft durchaus  bewußt!  Er  betont  wiederholt,  daß  die  Juris- 
prudenz nicht  ein  Seiendes  zu  erkennen  habe.  ,,Bis  jetzt  fanden 
wir  als  einzig  wirkliche  wissenschaftliche  Fiktion  nur  die  juri- 
dische, allein  hier  ist  doch  zu  bemerken,  daß  die  Rechtswissenschaft 
nicht  eine  eigentliche  Wissenschaft  des  Seienden  ist,  sondern  eine 
Wissenschaft  menschlicher,  willkürlicher  Einrichtungen. "i)  Die 
Erkenntnis  der  Rechtswissenschaft  geht  auf  ein  Sollen;  ihr 
Gegenstand  ist  als  ,,menschhche  willkürliche  Einrichtungen"  nicht 
richtig  charakterisiert,  denn  auch  menschliche  willkürliche  Ein- 
richtungen sind  ein  Seiendes  und  können  Gegenstand  einer  Seins- 
wissenschaft, z.  B.  der  Soziologie,  sein. 

Indes  erwächst  gerade  aus  dieser  Richtung  kein  ernstlicher 
Einwand  —  nur  eine  allerdings  nicht  unwesentliche  Modifikation  — 
für  die  Vaihingersche  Fiktionentheorie.  Denn  die  Rechtswissen- 
schaft operiert  tatsächlich  mit  Fiktionen.  Welcher  Art  die  sind, 
und  daß  die  meisten  von  Vaihinger  als  ,, juristische  Fiktionen" 
angeführten  es  nicht  sind,  wird  später  noch  zu  zeigen  sein.  Hier 
sei  nur  bemerkt,  daß  der  Begriff  der  Vaihingerschen  Fiktion 
sich  dann  als  zu  eng  erweist,  wenn  man  die  Sinnenwirklich- 
keit als  den  einzigen  Gegenstand,  das  einzige  Ziel  oder  Produkt 
der  Erkenntnis  gelten  läßt.  Und  dies  ist  wohl  nicht  gut  möglich, 
wenn  man  neben  der  Naturwissenschaft  auch  andere  Wissen- 
schaften, etwa  Ethik,  vor  allem  aber  Rechtswissenschaft  aner- 
kennt.    Der  so   erweiterte  Fiktionsbegriff  ergibt  sich,   wenn  man 

';  a.  a.  0.   S.  257. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  633 

an  Stelle  der  „Wirklichkeit",  als  einen  speziellen  Gegenstand  der 
Erkenntnis,  diesen  Erkenntnisgegenstand  in  seiner  Allgemein- 
heit treten  läßt.  Und  eine  Fiktion  liegt  vor,  wenn  die  Erkenntnis 
— -  und  im  besonderen  auch  die  juristische  —  bei  ihrem  Be- 
mühen, ihren  Gegenstand  —  und  bei  der  juristischen,  der  Rechts- 
wissenschaft, ist  es  das  Recht,  die  Rechtsordnung,  das  recht- 
liche Sollen  —  einen  Umweg  macht,  bei  dem  sie  bewußt  in  einen 
Widerspruch  zu  diesem  ihrem  Gegenstand  gerät;  freilich  nur  zu 
dem  Zwecke,  um  ihn  dann  um  so  besser  zu  packen:  So  wie  ein 
Bergsteiger  sich  manchmal  gezwungen  sieht,  vorübergehend  in 
einer  dem  angestrebten  Gipfel  entgegengesetzten  Richtung  nach 
abwärts  zu  klettern,  um  einem  Hindernis  aus  dem  Wege  zu  gehen 
und  so  leichter  sein  Ziel  zu  erreichen. 

In  diesem  Sinne  gibt  es  echte,  d.  h.  erkenntnistheoretische 
Fiktionen  der  Rechtswissenschaft,  Fiktionen  des  auf  Erkenntnis 
des  Rechtes,  auf  geistige  Bewältigung  der  Rechtsordnung  ge- 
richteten Denkens.  Fiktionen  der  Rechtstheorie.  Eine  solche 
Fiktion,  ein  Hilfsbegriff,  eine  Hilfskonstruktion  ist  z.  B.  der 
Begriff   4es    Rechtssubjektes    oder   der    Begriff    des    subjektiven 

Rechtes. 

Es  kann  in  diesem  Zusammenhange  nicht  darauf  ankommen, 
den  Rechtsbegriff  des  Rechtssubjektes  oder  der  Person  allseitig 
zu  untersuchen.  Es  soll  lediglich  gezeigt  werden,  wie  fruchtbar 
Vai hingers  Philosophie  des  Als  Ob  auf  die  Fiktionen  der 
Rechtstheorie   angewendet  werden  kann. 

Die  Person  —  die  physische  wie  die  juristische  —  lebt  in  der 
Vorstellung  der  Juristen  als  ein  von  der  Rechtsordnung  verschiedenes, 
selbständig  existentes  Wesen,  das  für  gewöhnlich  als  ,, Träger"  von 
Pflichten  und  Rechten  bezeichnet  wird  und  dem  man  bald  mehr, 
bald  weniger  auch  ein  reales  Dasein  zuspricht.  Ob  man  diese 
Realität  auf  die  physische  Person  beschränkt  oder  —  wie  in  der 
organischen  Theorie  —  auch  auf  die  sogenannten  juristischen 
Personen  ausdehnt,  ist  hier  gleichgültig.  Es  genügt  die  Kon- 
statierung   der    ausgesprochenen    Tendenz    zur    Realsetzung    der 

Person. 

Wenn,  was  hier  nicht  näher  bewiesen  werden  kann,  das  Rechts- 
subjekt, das  physische  sowohl  wie  das  juristische,  sich  als  nichts 
anderes  herausstellt,  als  die  zum  Zwecke  der  Vereinfachung  und 
Veranschauhchung  vorgenommene  Personifikation  eines  Kom- 
plexes von  Normen,   d.  h.  der  Rechtsordnung  als   Ganzes  (die 


634 


Hans  Kelsen : 


Staatsperson)  oder  einzelner  Teilrechtsordnungen  (die  anderen 
physischen  und  juristischen  Personen),  dann  wäre  die  Vorstellung 
der  Person,  so  wie  sie  der  modernen  Jurisprudenz  geläufig  ist, 
ein  typisches  Beispiel  jener  Fiktionen,  deren  interessanten  und 
komplizierten  Denkmechanismus  Vaihinger  durchleuchtet  hat, 
E^s  wäre  ein  Denkgebilde,  bestimmt,  den  Gegenstand  der  Rechts- 
wissenschaft, die  Rechtsordnung,  gedanklich  zu  erfassen,  dabei 
aber  offenbar  aus  der  Phantasie  geschaffen  und  zu  dem  Er- 
kenntnisobjekt hinzugedacht,  den  Gegenstand  sozusagen  ver- 
doppelnd und  so  das  Erkenntnisbild  verfälschend.  Damit  tritt 
aber  dieser  Denkbehelf  zu  dem  Gegenstand,  der  spezifischen 
Rechtswirklichkeit,  in  einen  Widerspruch  und  wird,  wie  dies  jede 
Analyse  des  Personenbegriffs  zeigen  kann,  in  sich  selbst  wider- 
spruchsvoll. Und  wenn  die  Person,  die  ursprünglich  nur  als  ein 
spezifischer  Denkbehelf  zur  Erfassung  der  Rechtsordnung  dieser 
gegenüber  wie  ein  Gerüst  aufgebaut  wurde,  als  reales  Wesen, 
d.  h.  als  eine  Art  Naturding  behauptet  wird,  dann  bedeutet  eine 
so  gesteigerte  Fiktion  der  Person  sogar  einen  Widerspruch  zur 
Naturwirklichkeit,  was  nur  bei  der  argen  Grenzüberschreitung 
einer  Rechtstheorie  möglich  ist,  die  vermeint,  reale  Natur tatsachen 
zum  Gegenstand  zu  haben. 

Der  Begriff  des  Rechtssubjektes  ist  vor  allem  zu  jenen  Fik- 
tionen zu  rechnen,  die  Vaihinger  als  die  ,,personifikativen"  be- 
zeichnet. Sie  entstammen  dem  unserem  Vorstellungsapparat  von 
jeher  beherrschenden  anthropomorphistischen  Personifikationstrieb, 
jenem  ,, unverwüstlichen  Hange  des  Menschengeschlechtes"^),  alles 
rein  Gedankliche  in  der  Form  der  Person,  des  Subjekts,  zu  hypo- 
stasieren  und  so  zu  veranschaulichen.  „Das  gemeinsame  Prinzip 
ist  die  Hypostase  von  Phänomenen  in  irgendeiner  Hinsicht,  mag 
diese  Hypostasierung  sich  mehr  oder  w^eniger  an  das  Bild  der 
Persönlichkeit  anschließen.  Dies  letztere  ist  auch  der  eigentlich 
bestimmende  Faktor  in  der  Kategorie  des  Dinges."^)  ,,Das  Ur- 
schema  der  Substanzialität  ist  ja  die  Personalität."^)  Dies  trifft 
durchaus  auf  die  Personifikation  des  Rechtes  (d.  h.  der  Rechts- 
norm) zu,  als  welche  wir  das  Rechtssubjekt  erkennen  müssen. 
Es  ist  die  Hypostasierung  jenes  reinen  Gedankendinges,  als  das 
sich   die    Rechtsnorm,    das    Gesollt-Sein    menschlichen    Verhaltens 

')  a.  a.  O.  S.  391. 
*)  a.  a.  O.  S.  50. 
=")  a.  a.  O.  S.  391. 


Zur  Theoiie  der  juristischen  Fiktionen.  635 

darstellt.  Und  die  Erkenntnis,  daß  der  Dingbegriff  auch  eine 
personifikative  Fiktion  darstellt,  läßt  das  Rechtssubjekt  und  das 
als  ,,Ding"  gedachte  subjektive  Recht  als  durchaus  gleichartige, 
wenn  nicht  als  identische  Hypostasierungen  der  ,, objektiven" 
Rechtsnorm  erscheinen.  Es  kann  gar  nicht  nachdrücklich  genug 
hervorgehoben  werden,  daß  der  Begriff  des  Rechtssubjektes  von 
derselben  logischen  Struktur  ist,  wie  die  charakteristischste  ?ller 
personifikativen  Fiktionen,  der  Begriff  der  Seele,  oder  der  Begriff 
der  Kraft ^),  deren  logische  Unhaltbarkeit  nichts  gegen  ihre  tat- 
sächliche Praktikabilität  spricht.  Es  lohnte  sicherlich  den  Ver- 
such, in  dem  Rechtssubjekt  eine  Art  Rechtsseelc  zu  begreifen. 
Und  es  ist  nicht  überflüssig,  darauf  hinzuweisen,  daß  in  den  Be- 
griffen der  sittlichen  Persönlichkeit  und  des  ,, Gewissens"  durchaus 
die  gleichen,  der  Veranschaulichung  dienende  Personifikationen 
der  Moralnorm  vorliegen.  Die  Verdoppelung  des  Erkenntnis - 
Objekts,  die  mit  der  Fiktion  im  allgemeinen,  insbesondere  aber 
mit  der  Personifikation  vollzogen  wird,  charakterisiert  Vaihingen 
auf  das  Zutreffendste  und  man  könnte  jene  eigenartige  Dupli- 
kation des  Rechtes,  jene  Tautologie,  die  in  dem  Begriff  der  Rechts- 
person steckt,  kaum  besser  schildern,  als  mit  den  Worten  Vai- 
hingers,  der  selbst  dabei  nicht  den  Rechtsbegriff  der  Person, 
sondern  den  Kraftbegriff  im  Auge  hat:  ,, Solche  Begriffe  hat  ins- 
besondere das  17.  Jahrhundert  viele  geschaffen^)  in  allen  Wissen- 
schaften; damals  glaubte  man,  damit  wirklich  etwas  begriffen 
zu  haben;  aber  ein  solches  Wort  ist  nur  eine  Schale,  welche  den 
sachlichen  Kern  zusammenhalten  und  aufbewahren  soll.  Und 
wie  die  Schale  in  allen  ihren  Formen  sich  dem  Kerne  anschmiegt 
und  ihn  einfach  verdoppelt  äußerlich  wiedergibt,  so  sind  auch  . 
diese  Worte  oder  Begriffe  nur  Tautologien,  welche  die  eigentliche 
Sache  in  einem  äußeren  Gewände  wiederholen. "5) 

Die  Widersprüche,  die  mit  dem  Begriff  des  Rechtssubjekts 
gesetzt  sind,  das  ein  von  der  Rechtsnorm  (dem  , .objektiven  Recht") 
verschiedenes  Wesen  zu  sein  behauptet,  und  dennoch  nur  dessen 
Wiederholung  ist,  sie  werden  zwar  nicht  aufgelöst,  aber  sie  werden 
uns   begreiflich,    wenn    wir   wissen    (nachdem    es    uns    Vaihingen 


^)  a.  a.  O.  S.  50. 

*)  Hier  muß  daran  erinnert  werden,  daß  Schloßmann  (Persona  und  TiQoaamov 
im  Recht  und  im  christlichen  Dogma.  Kiel,  1906.)  auch  den  Begriff  der  Rechtsperson 
auf  die  Systematik  des  17.  Jahrhunderts  zurückführt. 

3)  a.  a.  O.  S.  52. 


^2,6 


Hans  Kelsen: 


gesagt  hat),  daß  es  das  Wesen  des  Denkweges  der  Fiktion  ist, 
sich  in  Widersprüche  zu  verwickehi.  ,,Das  Denken  führt  ganz 
von  selbst  auf  gewisse  Scheinbegriffe  hin,  ebenso  wie  das  Sehen 
auf  notwendige  optische  Täuschungen.  Wenn  wir  jenen  optischen 
Schein  als  notwendigen  erkennen,  wenn  wir  die  dadurch  gesetzten 
F'iktionen  mit  Bewußtsein  akzeptieren  und  sie  gleichzeitig  durch- 
schauen (z.  B.  Gott,  Freiheit  usw.),  so  können  wir  die  dadurch 
entstandenen  logischen  Widersprüche  als  notwendige  Produkte 
unseres  Denkens  ertragen,  indem  wir  erkennen,  daß  sie  not- 
wendige Folgen  des  inneren  Mechanismus  des  Denkorgans  selbst 
smd."i) 

Darum  kann  jene  an  sich  widerspruchsvolle  Fiktion  des  Rechts- 
subjekts wegen  des  Vorteils  der  Veranschaulichung  und  der 
Vereinfachung,  den  sie  mit  sich  bringt,  ohne  Schaden  für  die 
Rechtswissenschaft  stehen  gelassen  werden.  Allerdings  nur  insolange 
und  nur  insoweit,  als  man  sich  ihres  fiktiven  Charakters  und  der 
Verdoppelung  bewußt  bleibt,  die  mit  dem  Personenbegriff  voll- 
zogen wird.  Insolange  ist  auch  dasjenige  nicht  notwendig,  was 
Vaihinger  die  Korrektur  der  Fiktion  nennt.  ,,Ist  ein  Wider- 
spruch gegen  die  Wirklichkeit  da,  so  kann  die  Fiktion  eben  nur 
Wert  haben,  wenn  sie  provisorisch  gebraucht  ist.  Darum  muß 
auch  .  .  .  eine  Korrektur  eintreten."^)  ,,Der  Fehler  muß  rück- 
gängig gemacht  werden,  indem  das  fiktiv  eingeführte  Gebilde 
einfach  wieder  hinausgeworfen  wird."^)  Er  sagt  z\t^ar  ausdrück- 
lich: ,,Bei  den  juristischen  Fiktionen  dagegen  scheint  eine  solche 
Korrektur  gar  nicht  nötig  zu  sein;  und  sie  ist  es  auch  nicht.  Denn 
hier  handelt  es  sich  ja  nicht  um  exakte  Berechnung  eines  Wirk- 
lichen, sondern  um  Subsumtion  unter  ein  willkürliches  Gesetz, 
ein  Menschenwerk,  kein  Naturgesetz,  kein  Naturverhältnis."*) 
Allein  Vaihinger  denkt  dabei  eigentlich  nicht  an  jene  Art  von 
Fiktion,  als  welche  sich  der  Rechtsbegriff  der  Person  darstellt. 
Dieser  ist  von  der  Rechtswissenschaft,  von  der  Theorie  oder  der 
Erkenntnis  des  Rechtes  erzeugt.  Nicht  so  die  ,, juristischen"  Fik- 
tionen, deren  sich  der  Gesetzgeber  oder  der  Rechtsanwender  be- 
dient und  die  Vaihinger  —  obgleich  es  sich  hier  nicht  eigentlich 
um  der   Erkenntnis   dienende   Vorstellungsgebildc   und   somit   gar 

*)  a.  a.  O.  S.  223. 

*)  a.  a.  O.  S.  173- 

')  a.  a.  O.  S.  297. 

•*)  a.  a.  S.  S.  107. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  637" 

nicht  um  Fiktionen  im  logischen  Sinne  handelt  —  dennoch 
vornehmlich  im  Auge  hat.  hidcs  trifft  Vaihingcrs  Bemerkung 
gerade  auf  die  rechtstheoretische  Fiktion  des  Rechtssubjektes 
zu.  Nur  daß  das  Wesen  der  Rechtswissenschaft  zum  Unterschied 
von  der  Naturwissenschaft  bloß  negativ  richtig  charakterisiert  ist, 
wenn  gesagt  wird,  daß  es  sich  hier  nicht  um  Erfassung  der  Wirk- 
lichkeit handle.  Positiv  liegt  der  Rechtswissenschaft  die  Erfassung 
eines  Sollens,  die  Erkenntnis  von  Normen  ob. 

Solange  also  der  Begriff  der  Rechtsperson  als  das  genommen 
wird,  was  er  seiner  logischen   Struktur  nach  ist:  ein   Spiegelbild, 
kann  er  mit  Nutzen  verwendet  werden.     Allein  es  zeigt  sich,  daß 
er  die  mit  jeder  Personifikation  gesetzte  Gefahr  nicht  vermieden 
hat:  die  Hypostasierung  zu  einem  realen  Naturding.     Indem  die 
Theorie    ein   bloßes    Spiegelbild   als   reales   Ding  auffaßt,    steigert 
sie  den   Widerspruch,    in  dem  das    Recht   als    Subjekt    (d.  i.   das 
Rechtssubjekt)  zum  Recht  als  Objekt  (d.  i.  dem  objektiven  Recht) 
schon  an  und  für  sich   und   ohne   Realsetzung  steht,   zu  einem 
Widerspruch  zur  Wirklichkeit.     Mit  der  Rechtsperson  wird  eine 
natürliche  Realität  behauptet,  die  es  nie  und  nirgends  in  der  Wirk- 
lichkeit gibt.     Das  gilt  in  gleicher  Weise  für  die  ,, physische"  wie 
für  die  sogenannte  ,, juristische"  Person.     Treffend  vergleicht  Vai- 
hinger  die  fiktiven  Denkgebilde  mit ,, Knoten  und  Knotenpunkten", 
die  sich  das  Denken  selbst  aus  der  ihm  dargebotenen  Faden  knüpft, 
,,die  dem  Denken  Hilfsdienste  leisten,  die  aber  demselben  selbst 
zu  Fallstricken  werden,  wenn  diese  Knoten  als  etwas  genommen 
werden,    was   die   Erfahrung  selbst   objektiv   enthält". i)      Gerade 
diese  unzulässige  Realsetzung  der  Person  führt  aber  —  wie  dies 
Vaihinger  bei  anderen  Fiktionen  gezeigt  hat  —  zu  all  den  ,, Schein- 
problemen",   den    ,, künstlich   geschaffenen    Schwierigkeiten",    den 
, .selbst  erzeugten  Widersprüchen",  deren  die  Lehre  von  den  ,, juri- 
stischen" Personen  ebenso  voll  ist,  wie  alle  philosophischen  und 
wissenschaftlichen   Theorien,    die   sich    um   einen   fiktiven   Begriff 
bilden.  2) 

Hier  muß  allerdings   eine   ,, Korrektur"  einsetzen,   und   diese 
kann  auf  keine  andere  Art  erfolgen,  als  durch  eine  Reduktion  des 


1)  a.  a.  0.  S.  230. 

2)  ,,Eine  Lösung  des  sogenannten  Welträtsels  wird  es  nie  geben,  weil  das 
meiste,  was  uns  rätselhaft  erscheint,  von  uns  selbst  geschaffene  Widersprüche  sind, 
die  aus  der  spielenden  Beschäftigung  mit  den  bloßen  Formen  und  Schalen  der  Er- 
kenntnis entstehen."    Vaihinger,  a.  a.  0.  S.  52. 


638 


Hans  Kelsen: 


Personenbegriffs  auf  seine  natürlichen  Grenzen,  durch  Selbst- 
besinnung der  Rechtswissenschaft,  durch  das  Klarstellen  seiner 
lo<»ischen  Struktur.  Wenn  man  von  dem  Rechtsbegriff  der  Person 
niclit  mehr  verlangt  hätte,  als  er  kraft  seiner  Natur  leisten  kann, 
dann  wäre  jene  gänzlich  fruchtlose  Diskussion  zum  größten  Teile 
erspart  worden,  die  sich  über  den  Begriff  der  Person,  insbesondere 
aber  über  den  der  ,, juristischen"  Person  entwickelt  hat;  dann 
wären  jene  oft  geradezu  naiven  und  paradoxen  Entgleisungen  der 
juristischen  Theorie,  jene  nur  aus  der  irreführenden  Gewalt  der 
auch  wissenschaftliches  Denken  verblendenden  Fiktion  erklärlichen 
Ausschreitungen  der  organischen  Theorie,  die  sich  ja  geradezu  in 
einen  juristischen  Mystizismus  versteigen  mußte,  vermieden  worden. 

IL 

Deutlich  zu  scheiden  von  den  rechtstheoretischen  Fiktionen 
sind  die  sogenannten  ,,fictiones  juris",  sind  die  Fiktionen  der 
Rechtspraxis,  das  ist:  des  Gesetzgebers  und  Rechts- 
anwenders. Was  zunächst  die  ,, Fiktionen"  betrifft,  deren  sich 
der  Gesetzgeber  bedient,  die  Fiktionen  innerhalb  der  Rechts- 
ordnung, so  liegen  hier  überhaupt  keine  ,, Fiktionen"  im  Sinne 
Vaihingers  vor.  Zunächst  schon  deshalb  nicht,  weil  die  norm- 
setzende, die  gesetzgeberische  Tätigkeit  kein  Denkprozeß,  weil 
ihr  Ziel  nicht  Erkenntnis  ist,  sondern  weil  sie,  wenn  sie  über- 
haupt als  Prozeß  oder  Vorgang  ins  Auge  gefaßt  wird,  eine 
Willcnshandlung  darstellt.  Die  Rechtsordnung  ist  in  Worten 
ausgedrückt  und  diese  Worte  weisen  zweifellos  häufig  jene  Sprach- 
form auf,  hinter  der  sich  die  erkenntnistheoretische  Fiktion 
zu  verbergen  pflegt:  das  ,,Als  Ob".  Allein  mangels  jedes  Er- 
kcnntniszwcckcs  der  Rechtsordnung  —  die  ja  als  solche  Gegen- 
stand der  Erkenntnis,  nicht  Erkenntnis  oder  Ausdruck  der  Er- 
kenntnis ist  —  können  die  Worte  eines  Rechtsgesetzes  niemals 
eine  „Fiktion"  im  Sinne  Vaihingers  enthalten. 

Es  sei  gleich  dasjenige  Beispiel  untersucht,  das  Vaihinger 
in  dem  Kapitel  über  ,, juristische  Fiktionen"  heranzieht:  der 
Artikel  347  des  deutschen  Handelsgesetzbuches,  ,,wo  die  Be- 
stimmung getroffen  ist,  daß  eine  nicht  rechtzeitig  dem  Absender 
wieder  zur  Verfügung  gestellte  Ware  zu  betrachten  sei,  als  ob 
sie    vom    Empfänger    definitiv   genehmigt    und    akzeptiert   sei".*) 

')  a.  a.  0.  S.  46ff. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  639 

An  einem  solchen  Beispiel  sei  so  recht  die  prinzipielle   Identität 
der  analogischen  Fiktionen,  z.  B.  der  Kategorien,  mit  dieser  juri- 
stischen  Fiktion  zu  studieren.     Allein  in  den   Kategorien,   sowie 
in  allen  echten  Fiktionen,  will  der  menschliche   Geist  die  Wirk- 
lichkeit  oder  sonst   ein    Objekt   begreifen.      Mit   der    Fiktion  des 
Artikel  347    soll    weder    die    Wirklichkeit    oder    sonst    etwas    be- 
griffen,  erkannt,   sondern  geregelt,   soll  eine  Vorschrift  für  das 
Handeln  gegeben,  also  eigentlich  eine  Wirklichkeit  geschaffen 
werden.     Nun  besteht  ja  zwischen  dem  die  Welt  mit  den  Kate- 
gorien ordnenden   und  solcher  Art  —  als   geordnete  Einheit   — 
erst  schaffenden   Geist  der  Erkenntnis   und  dem  die   Rechtswelt 
regelnden    und    so    erzeugenden    Gesetz    eine    gewisse    Verwandt- 
schaft.    Allein  die  prinzipielle  Differenz  zwischen  der  erkenntnis- 
theoretischen und  der  juristischen  Fiktion  des  Gesetzgebers  zeigt 
sich  sofort  in  dem  Umstand,  daß  bei  der  letzteren  niemals  ein 
Widerspruch  zur  Wirklichkeit,  sei  es  der  Natur,  sei  es  der  Wirk- 
lichkeit des   Rechtes    (d.  i.   des   Rechtes  als    Gegenstand   der   Er- 
kenntnis)   eintreten    kann.      Dieser    Widerspruch    könnte    nur    in 
einem  Urteil  über  das,  was  ist   (und  wenn  man  den  hier  vorge- 
schlagenen erweiterten   Fiktionsbegriff  akzeptiert:   über  das,   was 
sein  soll)  enthalten  sein.    Allein  das  Gesetz  kann  ein  solches  Urteil 
gar  nicht  enthalten.     In  dem  Gesetz  werden  eben  keine  Erkennt- 
nisse geäußert.     Die  Sätze,  in  denen  sprachlich  das   Gesetz  zum 
Ausdruck  kommt,  sind  überhaupt  nicht  Urteile  in  diesem  eigent- 
lichen   Sinne.      Der   Artikel  347   sagt    keineswegs,    daß   die    nicht 
rechtzeitig  retournierte  Ware  vom  Empfänger  definitiv  genehmigt 
und  angenommen  sei.     Er  sagt  lediglich,   daß  für  den   Fall  der 
nicht    rechtzeitigen    Retournierung    dieselbe    Norm    gelten    solle, 
wie  für  den   Fall  der  Annahme,   daß  dem   Empfänger  und  dem 
Absender    dieselben    Pflichten    auferlegt,    dieselben    Rechte    ein- 
geräumt  werden,    wie   im   Falle   der   Annahme.      Der   Artikel  347 
trifft    die    Bestimmung,    daß    eine    nicht    rechtzeitig    retournierte 
Ware   ebenso   zu   behandeln   sei,    wie   eine   angenommene.      Die 
Sprachform  des  ,,Als  Ob"  ist  somit  gar  nicht  wesentlich,  sie  kann 
durch  das  ,, Ebenso  Wie"  ersetzt  werden.    Wenn  das  Gesetz  zwei 
verschiedene    Fälle   unter  dieselbe   Norm  stellt,    so   behauptet   es 
damit  keineswegs,  daß  beide  Fälle  gleich  —  im  Sinne  von  natur- 
gleich —  seien.     Sonst  wäre  ja  jede  generelle  Norm  eine  ,, Fik- 
tion", da  es  überhaupt  nicht  zwei  gleiche  Menschen,  zwei  gleiche 
Verhältnisse  gibt.     ,, Rechtlich"  sind  sie  aber  effektiv,  tatsächlich, 


640 


Hans  Kelsen: 


wirklich  gleich,  weil  durch  die  Rechtsordnung  gleich  gemacht. 
Der  Artikel  347  ist,  wie  jede  sogenannte  ,, Fiktion"  des  Gesetz- 
gebers, nichts  anderes  als  eine  abbrevierende  Ausdrucksweise. 
Das  Gesetz  will  für  einen  Fall  dasselbe  anordnen  wie  für  einen 
anderen.  Die  Formulierung  in  einer  einzigen  Norm  ist  zu  um- 
ständlich, zu  schwerfällig,  oder  es  wurde  nicht  gleich  auch  an  den 
zweiten  Fall  gedacht.  Alle  Vorschriften,  die  für  den  ersten  Fall 
schon  ausgesprochen  wurden,  beim  zweiten  Falle  noch  einmal 
zu  wiederholen,  ist  jedoch  überflüssig.  Der  Gesetzgeber  kann 
sich  mit  dem  Hinweis  begnügen,  daß  im  zweiten  Falle  dieselben 
Vorschriften  gelten  sollen  wie  im  ersten.  Es  ist  ein  Mißverständnis, 
zu"  glauben,  dieser  Effekt  werde  dadurch  erzielt,  daß  der  Rechts- 
anwender zu  der  Vorstellung  gezwungen  wird,  beide  Fälle  seien 
gleich,  d.  h.  unterscheiden  sich  in  ihren  Tatbeständen  nicht.  Daß 
sie  ,, rechtlich"  gleich  seien,  bedeutet  nichts  anderes,  als  daß  bei 
natüdicher  Verschiedenheit  des  Tatbestandes  die  gleiche 
Rechtsfolge  eintritt.  Und  diese  Verschiedenheit  des  Tatbestandes 
darf  bei  der  Rechtsanwendung  keineswegs  ignoriert  werden.  Der 
Richter  muß  durch  Tatsachenforschung  feststellen,  ob  die  Ware 
angenommen  oder  ob  sie  nicht  rechtzeitig  retourniert  wurde. 
Wenn  der  beklagte  Empfänger  behauptet:  Ich  habe  die  Ware 
nicht  angenommen,  muß  der  Beweis  geführt  werden,  daß  sie 
nicht  rechtzeitig  retourniert  wurde.  Wo  ist  der  Widerspruch  zur 
Wirklichkeit } 

Im  Zusammenhang  mit  einer  Unterscheidung  zwischen  der 
fictio  juris  (Fiktion  des  Gesetzgebers)  und  der  praesumptio  charak- 
terisiert Vaihinger  die  juristische  Fiktion  folgendermaßen:  ,,In 
der  praesumptio  wird  eine  Voraussetzung  so  lange  gemacht,  bis 
das  Gegenteil  bewiesen  ist.  Dagegen  ist  die  fictio  die  An- 
nahme eines  Satzes  bzw.  einer  Tatsache,  obwohl  das  Gegen- 
teil sicher  ist."  Als  Beispiel  führt  er  an:  ,,Wenn  ein  Ehegatte, 
dessen  Ehefrau  etwa  Ehebruch  begeht,  doch  als  Vater  des  dadurch 
erzeugten  Kindes  angesehen  wird,  wenn  er  zu  derselben  Zeit  im 
Lande  war:  Da  wird  er  betrachtet,  als  ob  er  der  Vater  wäre,  ob- 
gleich er  es  nicht  ist  und  obgleich  man  weiß,  daß  er  es  nicht  ist. 
Dieser  letztere  Zusatz  unterscheidet  die  praesumptio  von  der 
fictio."*)  Allein  so  richtig  es  ist,  zwischen  fictio  und  praesumptio 
zu  unterscheiden,  so  unrichtig  ist  in  diesem   Gegensatz  die  fictio 

')  a.  a.  O.  S.  258. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  64 1 

charakterisiert.     Das    Gesetz  behauptet   nicht,   daß  der   Ehegatte 
unter  gewissen   Voraussetzungen   der  Vater  —  d.h.   der  natür- 
liche  Vater,    Erzeuger    des   von  s^einer   Frau   im   Ehebruch   er- 
zeugten Kindes  ist.     Es  stellt  keinen  Satz  auf,  nimmt  keine  Tat- 
sache an,  obwohl  das  Gegenteil  sicher  ist.     Sondern  es  ordnet  nur 
aus  bestimmten   Gründen  und  zu  bestimmten  Zwecken  an:  Daß 
der  Ehegatte  unter  gewissen  Umständen  einem  von  seiner  Fn.u 
im   Ehebruch   erzeugten   Kinde  gegenüber,    und   daß  dieses   Kind 
dem  Ehegatten  gegenüber  dieselben  Pfhchten  und  Rechte  habe, 
wie  sie  zwischen  dem  Ehegatten  und  seinen  von  ihm  erzeugten 
ehelichen  Kindern  bestehen.    Wenn  sich  das  Gesetz  des  Ausdrucks 
bedient:    Der    Ehegatte   gilt    unter   den   bezeichneten    Umständen 
,,a]s  Vater"  des  im  Ehebruch  erzeugten  Kindes,  er  ist  anzusehen, 
,,als  ob"  er  der  Vater  wäre,  so  ist  dies  nichts  als  eine  abkürzende 
Formulierung   der   Rechtsnorm.      Ein   "Widerspruch    zur   Wirklich- 
keit   ist    damit    in    keiner  Weise    gesetzt.      Ja,    man    kann  sogar 
—  ohne  einen  solchen  Widerspruch  zur  Wirklichkeit  zu  begehen  ■ — 
rechtstheoretisch  behaupten:  Der  Ehegatte  ist  rechtlich  der  Vater, 
ist  der  ,, rechtliche"  ,, Vater"  des  im  Ehebruch  erzeugten  Kindes, 
wenn  man  mit ,, Vater"  einen  spezifischen  Rechtsbegriff,  nämlich  ein 
Subjekt  bestimmter  Pflichten  und  Rechte,   die  Personifikation 
eines  bestimmten  Normkomplexes  konstituiert.    Eine  Fiktion 
im   Sinne  eines  Widerspruches  zur  Wirklichkeit  vollzöge  sich  erst 
dann,    wenn    man    diesen    Rechtsbegriff    des    ,, Vaters"    mit    der 
Naturtatsache     des     so     benannten     männlichen     Erzeugers 
identifizierte.     Eine  solche  Fiktion  ist  allerdings  nur  falsch  und 
schädlich  und  gänzlich  überflüssig.     Es  wäre  die  gleiche  Fiktion 
wie  jene,  die  oben  in  der  Hypostasierung  der  Rechtsperson  zur 
Naturtatsache   des  Menschen   oder   des   ,, realen"  Organismus  ge- 
kennzeichnet wurde.     Und  dabei  wäre  es  eine  Fiktion  der  Rechts- 
theorie,   der    auf  Erkenntnis  des  Rechts  gerichteten  Tätigkeit, 
nicht    des    Gesetzgebers,    dessen   Tätigkeit    auf    Erzeugung    des 
Rechts  gerichtet  ist. 

Zu  den  großen  Verdiensten  der  Vaihingerschen  Unter- 
suchungen gehört  die  Erkenntnis  von  der  innigen  Verwandt- 
schaft der  mathematischen  Methode  mit  der  Begriffstechnik  der 
Rechtswissenschaft.  1)  Allein  gerade  die  völlige  Gleichsetzung  der 
gesetzgeberischen  Fiktion  mit  den  Fiktionen  der  Mathematik 


1)  a.  a.  O.  S.  80,  251,  6gi{.,  187. 
Annalen  der  Philosophie.    I.  4^ 


(5_^2  Hans  Kelsen: 

muß  als  verfehlt  bezeichnet  werden.  ,,Die  Ähnlichkeit  der  Methode 
beider  Wissenschaften  beschränkt  sich  nicht  nur  auf  die  Grund- 
begriffe, welche  in  beiden  Gebieten  rein  fiktiver  Natur  sind,  sondern 
zeigt  sich  auch  in  dem  ganzen  methodischen  Verfahren.  Was 
zuerst  das  letztere  betrifft,  so  handelt  es  sich  oft  in  beiden  Ge- 
bieten darum,  einen  einzelnen  Fall  unter  ein  Allgemeines  zu  sub- 
sumieren, dessen  Bestimmungen  nur  auf  jenes  Einzelne  angewendet 
werden  sollen.  Nun  aber  widerstrebt  das  Einzelne  dieser  Sub- 
sumtion. Denn  das  Allgemeine  ist  nicht  so  umfassend,  um  dieses 
Einzelne  unter  sich  zu  begreifen.  In  der  Mathematik  handelt  es 
sich  z.  B.  darum,  die  krummen  Linien  unter  die  geraden  zu  sub- 
sumieren; das  hat  ja  den  enormen  Vorteil,  dann  mit  denselben 
rechnen  zu  können.  In  der  Jurisprudenz  handelt  es  sich  darum, 
einen  einzelnen  Fall  unter  ein  Gesetz  zu  bringen,  um  dessen  Wohl- 
taten und  Straf bestimmungen  auf  jenen  Fall  anzuwenden.  In 
beiden  Fällen  wird  nun  dies  in  Wirklichkeit  nicht  her- 
zustellende Verhältnis  als  hergestellt  betrachtet:  So  wird 
z.  B.  die  krumme  Linie  als  gerade  betrachtet,  so  wird  der  Adoptiv- 
sohn als  der  wirkliche  Sohn  betrachtet.  Eine  krumme  Linie  ist 
niemals  gerade,  ein  Adoptivsohn  ist  niemals  ein  wirklicher  Sohn; 
oder  um  ein  anderes  Beispiel  zu  wählen:  Der  Kreis  soll  als  eine 
Ellipse  gedacht  werden;  in  der  Rechtswissenschaft  wird  der  nicht 
erschienene  Beklagte  betrachtet,  als  ob  er  die  Klage  zugestanden 
habe,  wird  der  eingesetzte  Erbe  im  Falle  der  Unwürdigkeit  be- 
trachtet, als  ob  er  vor  dem  Erblasser  gestorben  sei."^)  Allein 
Vaihinger  scheint  den  prinzipiellen  Unterschied  zu  übersehen, 
der  hier  zwischen  den  Gedankengängen  der  Mathematik  und  den 
Formulierungen  des  Gesetzgebers  besteht:  Gewiß,  in  beiden  Fällen 
soll  ein  Fall  unter  ein  Allgemeines  ■ —  hier  eine  Norm,  dort  ein 
Begriff  —  subsumiert  werden,  das  nicht  allgemein,  nicht  weit 
genug  ist,  um  das  Einzelne  zu  begreifen.  Was  aber  macht  der 
Gesetzgeber.?  Er  erweitert  einfach  die  Norm,  er  dehnt  sie 
—  ohne  jede  Fiktion,  ohne  jeden  Widerspruch  zur  Wirklichkeit  — 
auf  den  neuen  Fall  aus.  Der  neue  Fall  verhält  sich  zur  erweiterten 
Norm  nicht  anders,  als  jeder  Fall  zu  der  ihn  regelnden  Norm. 
Das  gewünschte  Verhältnis  ist  hergestellt,  es  ist  —  für  das  Gebiet 
des  Rechtes  —  nicht  ein  ,,in  Wirklichkeit  nicht  herzustellendes", 
es  ist  in  der  ,, Wirklichkeit"  des  Gesetzes  hergestellt.     Die  Mathe- 

^)  a.  a.  o.  S.  70. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  643 

matik  behauptet,  im  Widerspruch  zu  ihrer  Wirkhchkeit,  allerdings : 
Der  Kreis  ist  eine  Ellipse,  die  iNJumme  ist  gerad.  Allein  das 
Gesetz  behauptet  nicht  —  es  behauptet  ja  überhaupt  nichts  • — 
der  Adoptivsohn  ist  ein  wirklicher  Sohn,  der  nicht  erschienene 
Beklagte  hat  die  Klage  zugestanden,  der  unwürdige  Erbe  ist  vor 
dem  Erblasser  gestorben.  Sondern  es  , .behauptet",  d.  h.  es  be- 
stimmt —  und  diese  Bestimmung  steht  zu  nichts  in  einem  Wider- 
spruch — ,  daß  für  den  Adoptivsohn  dieselben  Normen  gelten 
sollen  wie  für  den  wirklichen  —  so  wie  es  bestimmt,  daß  gewisse 
Normen  für  Männer  und  Frauen  ohne  Rücksicht  auf  den  Geschlechts - 
unterschied  gelten  sollen  —  und  es  bestimmt,  daß  das  Nicht- 
erscheinen des  Beklagten  dieselben  Rechtsfolgen  haben  soll,  wie 
das  Zugeständnis  der  KJage  usw. 

Ebenso  liegt  keine  eigentliche  Fiktion  in  dem  von  Vai hinger 
allerdings  als  Beispiel  für  eine  solche  herangezogenen  Grundsatz 
des  englichsen  Rechts:  The  king  can  do  no  wrong.^)  Der  König 
kann  ,, wirklich"  kein  Unrecht  tun,  wenn  die  Rechtsnorm  ihre 
Geltung  ihm  gegenüber  zurückzieht.  ,, Unrecht"  ist  ja  keine 
Naturtatsache.  Ein  Tatbestand  ist  ,, Unrecht"  nur  durch  sein 
Verhältnis  zur  Rechtsordnung,  dadurch,  daß  er  als  Inhalt  einer 
verbietenden  Rechtsnorm  bzw.  als  Bedingung  in  eine  Strafe  oder 
Exekution  anordnende  Rechtsnorm  aufgenommen  ist.  W^enn  die 
Rechtsordnung  Handlungen  oder  Unterlassungen  des  Königs  nicht 
verbietet,  bzw.  nicht  zu  Bedingungen  füt  Strafe  und  Exekution 
macht,  gibt  es  kein  Unrecht  des  Königs.  Der  dem  englischen 
Rechtsgrundsatz  analoge  Rechtssatz  der  österreichischen  und 
deutschen  Verfassung:  Der  Monarch  ist  unverantwortlich,  schafft 
eben  jene  Rechtswirklichkeit,  zu  der  allein  der  die  juristische 
Fiktion  begründende  Widerspruch  einsetzen  könne.  Der  Irrtum, 
daß  Unrecht  eine  Naturtatsache  sei,  daß  ein  Mord  Unrecht  sei, 
auch  wenn  er  nicht  vom  Recht  verboten  bzw.  mit  Strafe  be- 
droht ist,  erzeugt  die  Meinung,  daß  die  erwähnten,  die  Geltung 
der  Rechtsordnung  nach  bestimmter  Richtung  einschränkenden 
Rechtssätze  Fiktionen  seien,  weil  sie  in  einen  Widerspruch  zur 
Wirklichkeit  geraten  könnten. 

Vaihinger  scheint  ja  die  Differenz,  die  zwischen  der  ,, Fik- 
tion" des  Gesetzgebers  und  der  mathematischen  Fiktion  besteht, 
empfunden   zu   haben.     Er   hat   sich   diesen  Unterschied    dadurch 


1)  a.  a.  0.  S.  697. 


41 


* 


C^i4  Hans  Kelsen: 

verdunkelt,  daß  er  zwar  der  mathematischen  Erkenntnis  richtig 
die  Rechtswissenschaft  gegenüber  gestellt  hat,  dar.n  iber  doch 
ein  Gebilde  des  Gesetzgebers,  nicht  der  Rechtswissenschaft,  be- 
handelt. Er  sagt:  ,,Die  Rechtswissenschaft  hat  es  bei  ihren  Fik- 
tionen indessen  viel  leichter  als  die  Mathematik:  Dort  sind  Fällr. 
denen  willkürliche  Gesetzesbestimmungen  gegenüberstehen;  da  ist 
also  eine  Übertragung  leicht  möglich.  Man  denkt  sich  die  Sache 
eben  einfach  so,  als  ob  sie  so  wäre."  Allein  hier  handelt  es  sich 
gar  nicht  um  eine  ,, Übertragung",  der  Gesetzgeber  —  und  mit 
ihm  der  Rechtsanwender  — ■  ,, denkt"  sich  nicht  die  Sache  so, 
als  ob  sie  irgendwie  wäre,  sondern  er  regelt  sie  so,  wie  er  es 
wünscht.  Dadurch  wird  die  ,, Sache"  wirklich,  d.  h.  rechtswirklich, 
so.  Der  Gesetzgeber  ist  —  in  seinem  Reiche  —  allmächtig,  weil 
seine  Funktion  in  nichts  anderem  besteht,  als  Rechtsfolgen  an 
Tatbestände  anzuknüpfen.  Eine  Fiktion  des  Gesetzes  wäre  etwa 
eberxÄO  unmöglich,  wie  eine  Fiktion  der  Natur.  Das  Gesetz  könnte 
ja  nur  zu  sich  selbst  —  d.  h.  zu  seiner  eigenen  Wirklichkeit  — 
in  Widerspruch  geraten.     Das  aber  ist  sinnlos. 

Der  mit  der  Fiktion  gesetzte  Widerspruch  kann  bei  den  Fik- 
tionen der  Rechtswissenschaft  (die  von  den  als  ,, Fiktionen"  be- 
zeichneten Abbreviaturen  der  Gesetzessprache  zu  unterscheiden 
sind)  zunächst  nur  gegenüber  der  Rechtsordnung,  dem  Rechte 
als  dem  Gegenstande  und  somit  der  ,, Wirklichkeit"  der  Rechts- 
wissenschaft, in  die  Erscheinung  treten.  Das  von  der  Rechtswissen- 
schaft konstituierte  Gebilde,  ihr  Hilfsbegriff,  muß,  in  ein  Urteil 
aufgelöst,  eine  Behauptung  enthalten,  die  der  Rechtsordnung 
widerspricht,  aus  der  Rechtsordnung  sich  nicht  ableiten  läßt. 
Ein  solcher  Fall  wurde  ja  oben  an  dem  Begriffe  der  Person  exem- 
plifiziert. Ein  Widerspruch  zur  Rechtsordnung  ist  natürlich  bei 
den  Fiktionen  des  Gesetzgebers  ausgeschlossen  oder  nur  ein  für 
oberflächliche,  an  den  Worten  haftende  Betrachtung  entstehender 
Schein. 

Daß  Vaihinger  bei  seinen  juristischen  Fiktionen  auch  an 
diesen  Widerspruch  zur  Rechtsordnung  gedacht  hat,  das  beweist 
sein  Beispiel  der  prätorischen  Fiktionen  des  römischen  Rechtes. 
Er  zitiert  die  Realcnzyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft 
vonPauly,  III,  S.  473:  ,,Fictio  nannten  die  Römer  eine  durch  das 
prätorianische  Recht  geschaffene  Erleichterung  einer  Rechts- 
umgehung, welche  darin  besteht,  daß  etwas,  was  das  strenge 
Rcclit  fordert,  unter  gewissen  Umständen  als  geschehen  oder  vor- 


Zur  Theorie  der  juristischen  P'iktionen.  645 

handen  angenommen  werden  soll,   wenn  es  auch  nicht  geschehen 
oder  vorhanden  ist.    „Dadurch  treten  gewisse  rechtliche  Wirkungen 
ein,   auch  wenn  die  vorausgesetzten  Verhältnisse  nicht   so  statt- 
finden, wie  es  das  Gesetz  vorschreibt."    Und  Vaihinger  bemerkt 
hierzu:   ,, Diese    Erklärung   paßt    mutatis    mutandis   vollständig 
auf    die    wissenschaftliche    Fiktion    im    engeren    Sinne;    auch 
hier  findet  eine   Erleichterung  und   Umgehung  der   Schwierigkeit 
statt,  welche  aber  auch  hier  wie  dort  Folge  der  verwickehen  Ver- 
hältnisse ist :  Auch  hier  wird  eine  Forderung  des  strengen  Rechtes 
der  Logik  umgangen  und  auch  hier  treten  Konsequenzen,  prak- 
tische Folgerungen  ein,  welche  stimmen,  obwohl  das  Voraus- 
gesetzte selbst  falsch  ist."     Allein  weder  ist  die  Paulysche 
Charakterisierung   der  ,,fictio",    noch    sind    die   daraus    gezogenen 
Schlüsse   Vaihingers   ganz  richtig.     Diese  letzteren  stehen   und 
fallen  mit  der  Tatsache,  daß  die  prätorianische  Fiktion  eine  ,, Rechts- 
umgehung" ist,  daß  sie  einen  Widerspruch  zu  demjenigen  setzt, 
was  das    Gesetz  vorschreibt.     Dies  ist  jedoch  deshalb  nicht  der 
Fall,    weil   der    Prätor   selbst    gesetzgebendes    Organ    ist,    weil   er 
—  und  zwar  verfassungsgemäß  —  das  Recht  nicht  bloß  an- 
wendet, sondern  auch  selbst  Rechtsnormen  statuiert.    Wenn  der 
Prätor  einem  peregrinus  gestattet,   eine  Klage,  die  nach  dem  jus 
strictum  nur  ein  civis  erheben  kann,   so  anzustellen,   als   ob   er 
ein  civis  wäre,  so  bedeutet  das  nichts  anderes,  als :  die  Statuierung 
eines   Rechtssatzes,    in   dem  gewisse   Rechte   und    Pflichten   des 
civis  auf  den  peregrinus  ausgedehnt  werden,  so  kann  diese  Rechts- 
norm  ohne   jedes    ,,Als    Ob"    und    ohne   jede    Fiktion   formuliert 
werden:    Der    peregrinus    darf  dieselbe  Klage   anstellen,    wie  der 
civis.      Die    ,, Konsequenzen    und    praktischen    Forderungen",    die 
hier    eintreten,     ,, stimmen"    nicht,    obwohl    das   Vorausgesetzte 
selbst  falsch  ist,  sondern  weil  auch  das  Vorausgesetzte  ,, richtig", 
d.  h.   rechtmäßig,   dem  neuen,   vom   Prätor  geschaffenen   Rechts- 
satz gemäß  ist.     Der   Irrtum,  der  hier  unterläuft,  besteht  darin, 
daß  das  strikte  jus  civile  als  der  einzige  Bestandteil  der  Rechts- 
ordnung vorausgesetzt   wird,   als   ob   nicht   auch   das   prätorische 
Recht  —  als  vollwertiges  objektives  Recht  —  dazu  gehörte.     Die 
Klagerhebung    durch     den    peregrinus    kann    der    Rechtsordnung 
nicht  widersprechen,  denn  sie  beruht  auf  einem  Satze  derselben! 
Allerdings   unterläuft   dabei   dennoch   eine   Fiktion:   Die  nämlich, 
daß  der  Prätor   nicht  Recht   setzt,   sondern  Recht   anwendet. 
Als  bloßer  Anwender  des  jus  civile  müßte  der  Prätor,  der  einem 


646 


Hans  Kelsen: 


percgrinus  eine  Klage  gewährt,  die  nur  dem  civis  zusteht,  einen 
Widerspruch  zu  dem  die  Rechtsordnung  allein  darstellenden  jus 
civile  setzen.  Und  dieser  in  der  Rechtsanwendung  vollzogene 
Widerspruch  zur  Rechtsordnung  müßte  sich  in  einer  Fiktion  ver- 
stecken. Diese  Fiktion  besteht  jedoch  nicht  in  der  Behauptung: 
Der  peregrinus  sei  ein  civis,  sondern  in  der  Behauptung:  Die  Rechts- 
ordnung gewähre  auch  dem  peregrinus  eine  Klage.  Der  Prätor 
leugnet  keineswegs  den  Unterschied  zwischen  civis  und  peregrinus 
überhaupt.  Er  leugnet  ihn  nur  —  sofern  er  sich  als  Rechtsanwender 
darstellt  —  nach  der  speziellen  Richtung  der  Klageberechtigung. 
D.  h.  er  behauptet:  auch  der  peregrinus  ist  klageberechtigt.  Allein 
diese  Fiktion  wird  in  demselben  Augenblicke  überflüssig,  ja  un- 
möglich, wo  jene  andere  Fiktion  wegfällt,  die  den  Prätor  als  bloßen 
Rechtsanwender  —  und  nicht  als  delegierten  Gesetzgeber  ■ —  gelten 
läßt. 

111. 

Schon  aus  dem  eben  Gesagten  ergibt  sich,  daß  in  bezug  auf 
die  Möglichkeit  einer  Fiktion  ■ —  die  von  der  Möglichkeit  eines 
Widerspruches  zu  der  Rechtsordnung  abhängt  —  die  Rechts- 
anwendung sich  von  der  Rechtssetzung  unterscheidet.  Der  Rechts- 
anwender befindet  sich  den  Rechtsnormen  gegenüber  tatsächlich 
in  einer  ganz  ähnlichen  Situation,  wie  das  mathematische  Denken 
gegenüber  den  Begriffen  des  Kreises,  der  Ellipse,  der  Krummen, 
der  Geraden  usw.  Der  Richter,  der  Geschäftsmann,  kann  die 
Normen  nicht  willkürlich  ausdehnen  oder  einschränken,  mit  anderen 
Worten:  er  kann  nicht  an  beliebige  Tatbestände  beliebige  Rechts- 
folgen knüpfen.  Wünscht  er  also  einen  Tatbestand  unter  eine 
Rechtsnorm  zu  subsumieren,  die  diesen  Fall  nicht  umfaßt,  dann 
ist  allerdings  die  Fiktion  nahegelegt :  Den  Fall  so  zu  betrachten, 
als  ob  er  unter  die  Rechtsnorm  fiele.  Bedroht  das  Gesetz  die 
Beschädigung  des  Staatstelegraphen  mit  Strafe,  läßt  es  aber  die 
'gleiche  Beschädigung  des  Staatstelephons  unbestraft,  oder  setzt 
es  auf  dieses  Delikt  eine  —  nach  Ansicht  des  Rechtsanwenders  — 
zu  milde  Strafe,  dann  bedeutet  es  eine  Fiktion,  wenn  der  Richter 
über  den  Telephonbeschädiger  Strafe  verhängt,  die  das  Gesetz 
dem  Telegraphenzerstörer  zugedacht  hat,  indem  er  die  den  Tele- 
graphen schützende  Norm  zum  Schutze  des  Telephons  verwendet; 
nicht  als  ob  Telegraph  und  Telephon  dasselbe  wäre,  das  behauptet 
ja  der  Richter  nicht  und  will  es  nicht  behaupten,  sondern  als  ob 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  647 

(las  Gesetz  den  jTelephünbcschädiger  mit  derselben  Straft-  be- 
drohte wie  den  Tclegraphenbeschädiger.  Die  juristische  Fiktion 
kann  nur  eine  fiktive  Rechtsbehauptung,  nicht  eine  fiktive 
Tatsachenbehauptung  sein.  Daß  ein  Telephon  und  nicht  ein 
Telegraph  beschädigt  wurde,  muß  der  Richter  ausdrücklich  fest- 
stellen und  darf  es  nicht  ignorieren.  Seine  im  Widerspruch  zur 
Rechtsordnung,  nicht  zur  Naturwirklichkeit  oder  Pliysik  stehende 
Behauptung  lautet:  Auch  das  Staatstelephon  darf  nicht  be- 
schädigt werden.  Diese  Behauptung  einer  —  nicht  geltenden  — 
generellen  Norm  ist  das  Mittel,  um  zu  dem  konkreten,  von  ihm 
gewünschten  Urteil  zu  gelangen.  Nicht  aber  die  Behauptung: 
Das  Telephon  ist  ein  Telegraph. 

Daß  die  Rechts anwen düng  Fiktionen  aufweisen  kann,  hängt 
damit  zusammen,  daß  sie  die  Rechtserkenntnis  voraussetzt  oder 
richtiger,  daß  in  dem  zusammengesetzten  Akt  der  Rechtsanwendung 
auch  ein  Stück  Rechtserkenntnis  steckt.  Indes  muß  fraglich 
bleiben,  ob  diese  Fiktionen  der  Reehtsanwendung  —  sie  sind 
identisch  mit  den  Fällen  der  Interpretation  durch  Analogie  — 
auch  darin  den  erkenntnistheoretischen  Fiktionen  gleichen,  daß 
sie  wie  diese  —  wenn  auch  durch  eine  bewußt  falsche  Vorstellung  — 
zu  einem  richtigen  Ergebnis  gelangen.  Denn  die  ,, Richtigkeit" 
der  Rechtsanwendung  kann  offenbar  nur  ihre  Rechtmäßigkeit, 
nicht  aber  ihre  Nützlichkeit  sein.  Es  ist  ein  mathematisch 
richtiges  Resultat,  zu  dem  die  Fiktion  fülirt,  daß  die  Krumme 
nur  eine  Gerade  sei.  Es  müßte  ein  rechtlich  richtiges,  also 
ein  rechtmäßiges  Ergebnis  sein,  das  im  Wege  einer  analo- 
gisch-fiktiven Interpretation  gewonnen  wird.  Allein  die  Recht- 
mäßigkeit dieses  Ergebnisses  kann  nur  an  der  Rechtsordnung 
gemessen  werden,  der  Widerspruch  zur  Rechtsordnung  ist  aber 
bei  der  fiktiv-analogischen  Rechtsanwendung  nicht  ein  bloß  pro- 
visorischer, korrigierbarer,  sondern  ein  definitiver,  der  im  weiteren 
Verlaufe  nicht  korrigiert  werden  kann.  Nun  betont  Vaihinger 
als  ein  Hauptmerkmal  der  Fiktion,  ,,daß  diese  (fiktiven)  Begriffe 
sei  es  historisch  wegfallen,  sei  es  logisch  wieder  ausfallen".  ,,Ist 
ein  Widerspruch  gegen  die  Wirklichkeit  da,  so  kann  die  Fiktion 
eben  nur  Wert  haben,  wenn  sie  provisorisch  gebraucht  ist  .  .  ." 
Und  speziell  von  den  Semif iktionen :  ,, Darum  muß  auch  .  .  .  eine 
Korrektur  eintreten;  denn  ohne  eine  solche  wären  sie  ja  nicht 
anwendbar   auf   die   Wirklichkeit."^)     Von   den   juristischen    Fik- 

1)  a.  a.  O.  S.  172/73.  ' 


548  Hans  Kelsen: 

lionen  behauptet  er  jedoch,  wie  bereits  früher  bemerkt,  daß  eine 
solclie  Korrektur  nicht  nötig  sei.     Denn  hier  handele  es  sich  ja 
nicht    um    exakte    Berechnung    der    WirkHchkeiten,    sondern    um 
Subsumtion    unter    ein    willkürHches    Gesetz,    ein    Menschenwerk, 
kein    Naturgesetz,    kein    Naturverhältnis. ^)      Allein   damit   ist   die 
Cberflüssigkeit   einer   Korrektur   bei  der   juristischen   Fiktion  der 
Rechtsanwendung  nicht  erwiesen!     Denn  es  handelt  sich  wohl 
bei  der  geistigen   Tätigkeit,   die  sich  juristischer   F'iktioncn   (Fik- 
tionen des  Gesetzgebers  und  der  Rechtsanw^endung)  bedient,  nicht 
um   Berechnung  der   Wirklichkeit.      Das   könnte   aber   nur   die 
Konsequenz  haben,  daß  zu  einem  Widerspruch  zur  Wirklichkeit, 
und    damit    zu    einer    erkenntnistheoretischen    Fiktion    im    Sinne 
Vaihingers    überhaupt    kein   Anlaß  ist.      Soweit   erkenntnistheo- 
retische Fiktionen  als  ,, juristische"  Fiktionen  möglich  sind,  können 
es  nur  Fiktionen  der  Rechtserkenntnis  sein.    Und  bei  diesen  richtet 
sich  der  das  Wesen  der  Fiktion  konstituierende  Widerspruch  gegen 
die  Rechtsordnung,  die  die  ,, Wirklichkeit",  der  Erkenntnisgegen- 
stand    der    Rechtswissenschaft    ist.       Dieser    Widerspruch    aber 
bedarf,  wie  oben  ausgeführt,   aus  denselben   Gründen  einer  Kor- 
rektur, wie  der  ihm  analoge  Widerspruch  bei  den  physikalischen, 
mathematischen  und  sonstigen  naturwissenschaftlichen  (im  weite- 
sten Sinne),  denn  ohne  eine  solche  Korrektur  wäre  die  juristische 
Fiktion   ebensowenig  auf  die   Rechtsordnung,    d.  i.   die   Wirklich- 
keit der  juristischen   Erkenntnis,   wie  die  anderen   Fiktionen  auf 
die  Wirklichkeit  der  Natur  anwendbar.     Die  Fiktion  der  Rechts- 
anwendung aber  —  d.  i.  die  analogische  Interpretation  —  setzt 
einen  unaufhebbaren  Widerspruch  zur  Rechtsordnung.     Sie  ist 
kein  Umweg,  der  schließlich  doch  zur  ,, Wirklichkeit"  des  Rechtes, 
sondern  ein  Abweg,  der  vielleicht  zu  demjenigen  führt,  was  der 
Fingierende  für  nützlich  und  zweckmäßig  hält,  niemals  aber  zum 
Gegenstand    der    Rechtswissenschaft:   dem    Recht.      Aus    diesem 
Grunde   muß  eine   Rechtfertigung  dieser  Art    von   juristischer 
Fiktion,    der  Fiktion   der  Rechtsanwendung,    theoretisch    für    un- 
möglich   erklärt    werden.      Dies    ist    mit    besonderem    Nachdruck 
angesichts  der  Tatsache  zu  betonen,  daß  Vaihinger  gerade  diese 
juristische  Fiktion  als  eine  gleichartige  und  gleichberechtigte 
Erscheinung  in  sein  System  und  seine  Theorie  der  Fiktionen  ein- 
bezogen hat,  die  ja  im  großen  und  ganzen  eine  Apologie  der  Fik- 
tionen sein  will. 
')  a.  a.  o.  s.  107. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  640 

Allerdings  muß  darauf  Bedacht  genommen  werden,  daß  eine 
derartig  unzulässige  Fiktion  tatsächlich  nur  dann  vorliegt,  wenn 
ein  unleugbarer  und  unbehebbarer  Widerspruch  zur  Rechtsordnung 
gesetzt  würde.  Dies  ist  in  allen  jenen  Fällen  der  analogischen 
Rechtsanwendung  nicht  der  Fall,  wo  die  Rechtsordnung  die 
Analogie  unter  gewissen  Bedingungen  zuläßt,  ja  anordnet.  Ob 
dies  in  einem  Gesetzesrechtssatz  ausdrücklich  normiert  ist,  wie 
etwa  im  §  7  des  österreichischen  bürgerlichen  Gesetzbuches,  oder 
ob  man  sich  dabei  nur  auf  eine  Gewohnheitsrechtsnorm  oder 
—  im  Falle  man  nicht  auf  positivistischer  Basis  steht  —  auf 
einen  natürlichen  Rechtsgrundsatz  beruft,  ist  gleichgültig,  denn 
ein  Widerspruch  zur  Rechtsordnung  —  und  damit  eine  Fiktion 
ist  ausgeschlossen,  sobald  die  Rechtsordnung  selbst  die  An- 
wendung der  Analogie  und  sohin  die  mit  Hilfe  der  Analogie 
getroffene  Entscheidung  anordnet.  Man  vergesse  auch  nicht, 
daß  jeder  Jurist,  der  die  Analogie  für  zulässig  erklärt,  nie  und 
nimmer  darauf  verzichten  wird,  die  mittels  analogischer  Inter- 
pretation gewonnene  Entscheidung  als  Recht  gelten  zu  lassen. 
Das  heißt  aber:  Der  Satz,  der  die  Analogie  fordert,  muß  als 
Rechtssatz  behauptet  werden.  Der  Nachweis  eines  solchen 
Rechtssatzes  ist  natürlich  eine  andere  Frage.  Rechts  theoretisch 
ist  somit  eine  Fiktion  des  Gesetzgebers  unmöglich,  eine  Fiktion 
des  Rechtsan Wenders  gänzHch  unzulässig,  weil  rechtszweck- 
widrig. 

IV. 

Zum  Nachweis,  daß  Fiktionen  der  Rechtsanwendung  gar 
nicht  in  das  Vaihingersche  System  der  Fiktionen  hineingehören, 
sei  schließlich  festgestellt,  daß  die  Rechtserkenntnis  —  die  allein 
zu  einer  echten  Fiktion  führen  kann  —  bei  der  Rechtsanwendung 
eine  untergeordnete  Rolle  spielt.  Sie  ist  nicht  das  Wesen,  der 
eigentliche  Sinn  und  Zweck  dieser  Tätigkeit,  sondern  nur  ihr 
Mittel.  Der  Rechtsanwendung  kommt  es  fast  ebenso  wie  der 
Rechtssetzung  nicht  eigentlich  auf  die  Erkenntnis  des  Rechts, 
sondern  auf  dessen  Verwirklichung,  auf  Willenshandlungen, 
an.  Die  Rechtserkenntnis,  die  Theorie  des  Rechts,  bereitet 
die  Praxis  des  Rechtes  nur  vor,  schafft  ihr  das  Handwerkszeug. 

Nun  hat  Vaihinger  wohl  selbst  zwischen  Rechts theorie 
und  Rechtspraxis  unterschieden.*)    Allein  er  hat  den  prinzipiellen 

1)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  257. 


650 


Hans  Kelsen: 


Unterschied  übersehen,  der  zwischen  den  echten  erkenntnistheo- 
retischen Fiktionen  der  Rechtswissenschaft  und  den  JPseudo- 
fiktionen  der  Rechtspraxis  besteht.  Vor  allem  aber  hat  Vai- 
hinger  fast  ausschließlich  die  sogenannten  „Fiktionen"  der  Rechts- 
praxis behandelt.  Doch  finden  sich  immerhin  bei  ihm  auch  rechts - 
theoretische  Fiktionen.  Leider  meist  nur  mit  einem  Schlagvsort 
angedeutet  und  ohne  Analyse  dieser  Gebilde.  So  die  Fiktion  der 
juristischen  Person  im  allgemeinen  und  der  Staatsperson  im  be^ 
sonderen.^)  Keine  rechtstheoretischen,  sondern  ethische  Fiktionen 
sind  die  Fiktionen  der  ,, Freiheit"  und  die  des  ,, Staatsvertrages", 
die  Vaihinger  zur  Begründung  des  staatlichen  Straf  rechtes  für 
notwendig  hält.  Das  ,, Recht"  des  Staates,  zu  strafen,  bedarf  einer 
moralischen,  keiner  juristischen  Rechtfertigung;  und  die  Freiheit 
des  Willens  als  Grund  dieses  Rechtes  ist  keine  notwendige 
ethische  Fiktion.  Denn  die  auch  von  Vaihinger  angeführte  General - 
Prävention  ist  eine  Begründung  der  Strafe,  die  ohne  jede  Freiheits- 
fiktion zu  Recht  besteht.  Die  ,, Fiktion"  der  Freiheit  entsteht 
sicherlich  nur  durch  die  irrige  Anwendung  der  normativen  Kate- 
gorie auf  die  —  kausal  determinierte  —  Naturwirklichkeit,  durch 
einen  unzulässigen  und  für  den  Bereich  juristischer  Erkenntnis 
zumindest  überflüssigen  Synkretismus  von  Sein  und  Sollen.  Der 
Mensch  handelt  oder  wird  in  bestimmter  Weise  handeln  (Seins- 
betrachtung), nur  wenn  er  so  handeln  kann,  bzw.  muß.  Das 
Urteil,  das  ein  Handeln  als  (zukünftig)  seiend  behauptet,  ob- 
gleich dieses  Handeln  als  unmöglich  erkannt  ist,  setzt  einen  Wider- 
spruch zu  eben  jenem  Objekt,  das  mit  diesem  Urteil  erfaßt  werden 
soll:  zur  Wirklichkeit;  ist  somit  unzulässig  und  wertlos.  Das 
Urteil:  der  Mensch  soll  in  bestimmter  Weise  handeln,  setzt  auch 
dann  keinen  Widerspruch  —  weder  zur  Wirklichkeit,  noch  zu 
sonst  einem  Erkenntnisobjekt  —  wenn  die  gesollte  Handlung 
als  seiende  unmöglich  erscheint.  Nur  wenn  man  den  Unterschied 
von  Sein  und  Sollen  (als  zweier  verschiedener  Erkenntnisformen) 
ignoriert  und  die  Seinsmöglichkeit  für  eine  Bedingung  der 
Sollurteile  hält,  entsteht  der  Schein,  als  ob  z\s'ischen  dem  Satze, 
der  einen  Inhalt  als  gesollt  setzt,  und  dem  Satze,  der  die  Un- 
möglichkeit dieses  Inhalts  in  der  Seinsform  behauptet,  ein  Wider- 
spruch besteht;  entsteht  der  Irrtum:  Der  Inhalt  (die  gesollte 
Handlung)  müsse  als  sei ns -möglich,   der  handelnde  Mensch  somit 

')  a.  a.  O.   S.  259. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  '  65 1 

als  frei  fingiert  werden,  damit  das  Sollurteil  und  mit  ihm  die 
Pflicht  zu  handeln  und  eventuell  anders  zu  handeln,  als  man 
wirklich  handelt,  handeln  muß  und  kann,  möglich  sei.  Ein  metho- 
discher Fehler  führt  zu  der  Fiktion  der  Freiheit,  die  mit  Erkenntnis 
dieses  Fehlers  überflüssig  wird.  Nur  so  ist  es  zu  erklären,  daß 
der  Widerspruch  zwischen  der  Freiheit  der  Ethik. und  Jurisprudenz 
und  der  Unfreiheit  der  Naturwissenschaft  überhaupt  möglich  wurde 
und  von  beiden  Seiten  ignoriert  werden  konnte.  Die  ethische 
Fiktion  der  Freiheit  ist  somit  nur  insolange  nützlich  und  notwendig, 
als  es  an  der  nötigen  methodischen  Einsicht  fehlt.  Und  insofern 
paßt  auf  sie  Vaihingers  zweites  Hauptmerkmal  der  Fiktion: 
.,Ist  ein  Widerspruch  gegen  die  Wirklichkeit  da,  so  kann  die 
Fiktion  eben  nur  Wert  haben,  wenn  sie  provisorisch  gebraucht 
wird.  Bis  die  Erfahrungen  bereichert  sind,  oder  bis  die  Denk- 
methoden so  geschärft  sind,  daß  jene  provisorischen  Methoden 
durch  definitive  ersetzt  werden  können."^) 

Die  Fiktion  des  Staatsvertrages  charakterisiert  Vaihingcr 
nicht  ganz  richtig,  wenn  er  behauptet:  ,,Der  Staat  will  sein  fak- 
tisch ausgeübtes  Strafrecht  nicht  auf  die  Macht  gründen,  auch 
nicht  bloß  utilitaristisch,  sondern  als  wirkliches  Recht  nachweisen : 
Das  ist  aber  nur  möglich  durch  Fiktion  eines  Vertrages:  Denn 
andere  Rechte  als  aus  Verträgen  hervorgegangene  kennt  der  Jurist 
nicht."  Die  Fiktion  des  Staatsvertrages  dient  wie  die  der  Freiheit 
nicht  eigentlich  zur  juristischen  Rechtfertigung  der  staatlichen 
Straf-  und  Zwangsfunktion.  Eine  solche  bedeutete  ja  nur:  Be- 
gründung auf  einen  Rechtssatz.  Es  gilt  vielmehr,  den  Rechtssatz, 
das  heißt  ja  nichts  anderes  als  die  zwangsanordnende  Norm  selbst 
zu  begründen.  Diese  Begründung  erfolgt  durch  eine  höhere  außer- 
rechtliche Norm:  Das  moralische  oder  ,, natürliche"  Grundprinzip: 
Pacta  sunt  servanda.  Darum  muß  ein  Vertrag  fingiert  werden, 
nicht  aber,  weil  der  Jurist  angeblich  keine  anderen  Rechte  kennt, 
als  solche,  die  aus  Verträgen  hervorgegangen  sind.  Das  ist  überdies 
ein  tatsächlicher  Irrtum.  Der  Vertrag  ist  nur  einer  der  vielen 
Tatbestände,  an  die  die  Rechtsordnung  Rechte  und  Pflichten  knüpft. 

Der  Staatsvertrag  ist  somit  eigentlich  keine  rechtstheoretische, 
sondern  eine  ethische  Fiktion,  die  Fiktion  einer  moralischen  Welt- 
anschauung. Eine  rechtstheoretische  Betrachtung  muß  gerade  diese 
Fiktion  —  mit  der  Vorstellung  einer  sittlichen  Begründung  des 
Rechts  —  fallen  lassen. 

1)  a.  a.  0.  S.  17. 


652 


Hans  Kelseii : 


Eine   Rechtswissenschaft  —  als   Erkenntnis  eines  besonderen 
Objektes  —  ist  nämlich  überhaupt  nur  möglich,  wenn  man  von 
der  Anschauung  einer  Souveränität  des  Rechtes  (oder,  was  das- 
selbe ist,  des  Staates)  ausgeht,  d  h.  wenn  man  die  Rechtsordnung 
als  ein  selbständiges  und  daher  von  keiner  höheren  Ordnung  ab- 
geleitetes Normensystem  erkennt.     Andernfalls  kann  es  nur  eine 
Moralwissenschaft  (Ethik)  oder  Theologie  geben,  je  nachdem  man 
das  Recht  als  Ausfluß  der  Moral  oder  der  Religion  gelten  läßt. 
(Von    einer    Naturwissenschaft    oder    Soziologie   des   Rechtes,    die 
natürlich  auch  keine  Rechtswissenschaft  wäre,  braucht  hier  nicht 
die  Rede  zu  sein,  solange  das  Recht  als   Ordnung,  als  Normen - 
komplex   aufgefaßt    wird.)      Nun    erblickt    Vaihinger    gerade    in 
dieser   Isolierung  des   Rechtes  von  der  Moral  eine  Fiktion.     Die 
,, fiktive  Isolierung",  die  bei  der  positivistischen  (d.  h.  das  Recht 
als  selbständige,  souveräne  Ordnung  voraussetzenden)  Betrachtung 
unterlaufe,  sei  ,,das  vorläufige  Abgehen  von  einem  integrierenden 
Teile   der    Wirklichkeit". i)      Für    den    Gesetzgeber    und    Juristen 
sei  die  Trennung  von  Recht  und  Moral  als  von  zwei  auseinander- 
fallenden Kreisen  von  hohem  Werte,  nur  dürfe  dabei  nicht  ver- 
gessen werden,  daß  hier  wiederum  das  ,,daß"  durch  ein  ,,Als  Ob" 
zu   ersetzen   sei.      ,,Denn   man   mag   das   Verhältnis   jener   beiden 
wichtigen  Lebensgebiete  näher  formulieren,  wie  man  will,  so  kann 
sich  dabei  nimmermehr  die  Meinung  geltend  machen,  daß  beides 
faktisch  nichts  miteinander  zu  schaffen  habe.     Es   :st  diese  Be- 
merkung darum  von  W'ichtigkeit,  weil  aus  Mangel  an  methodo- 
logischer   Einsicht    der    Fall    nicht   selten   ist,    daß    Juristen   jene 
Fiktion  für  das  wirkliche  Verhältnis  halten,   ein  verhängnisvoller 
und  schwerer  Irrtum.     Die  einseitige  Betrachtungsweise  kann  der 
Jurisprudenz  und  selbst  dem  praktischen  Rechtsleben  gute  Dienste 
leisten,  aber  es  wird  sich  immer  bald  der  Punkt  geltend  machen, 
wo    an    Stelle    der    vorläufig    gemachten    einseitigen    Abstraktion 
wieder  die  volle  Wirklichkeit  in  ihre  Rechte  eingesetzt  zu  werden 
vermag."  2)     Allein  dieser  Auffassung  kann  —  gerade  vom  Stand- 
punkte der  Vaihingcrschen  Fiktionentheorie  —  nicht  beigepflichtet 
werden.    Denn  in  der  Behauptung,  das  Recht  sei  ein  von  der  Moral 
unabhängiges  —  in  seiner  Sollgeltung  nicht  auf  die  sittliche  Ordnung 


')  a.  a.  O.  S.  375- 
2)  a.  a.  O.  S.  375. 


Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen.  65  > 

rückführbares  Normensystem,  kann  schon  darum  auch  kein  „vor- 
läufiges" Abgehen  von  einem  integrierenden  Teik»  der  Wirklichkeit 
liegen,  weil  weder  das  Recht  noch  die  Moral  —  beide  als  Normen- 
komplexe gedacht  —  in  der  Welt  jener  Wirklichkeit  stehen,  die 
Vaihinger  als  die  Linie  gilt,  von  der  die  Fiktion  abweicht,  und 
die  mit  der  Natur,  der  Sinnenwelt,  identisch  ist;  und  weil  weder 
Rechtswissenschaft  noch  Ethik  in  ihren  Objekten  jene  Wirklichkeit 
zu  fassen  suchen.     Das  Verhältnis  zwischen  Recht  und  Moral  ist 
überhaupt  nicht   ein  Verhältnis  zwischen  zwei   ,,LebensgebJeten", 
als  zwischen  zwei  Stücken  der  natürlichen  Realität.    Das  ,, wirk- 
liche" Verhältnis  zwischen  ihnen  ist  kein  Verhältnis  in  der  Wirk- 
lichkeit, d.  h.  der  von  der  Naturwissenschaft  im  weitesten  —  auch 
eine  Gesellschaftslehre  umfassenden  —  Sinne  ergreifbaren  Realität. 
Die  juristische  Betrachtung,  der  Vaihinger  eine  fiktive  Isolierung 
ziunutet,   kann  bei  Feststellung  des  Verhältnisses   ihres   Objektes 
zu  der  Moral  gar  nicht  von  einem  integrierenden  Teile  der  Wirk- 
lichkeit abgehen,  da  sie  die  Wirklichkeit  nicht  im  Auge  hat.    So- 
fern aber  Recht  und  Moral  als  —  soziale  —  Realitäten,  als  ,, wirk- 
liche"  Vorgänge  in  der  Natur  angesehen  werden   (ob  dies   über- 
haupt möglich  sei,  bleibe  hier  dahingestellt),  sind  sie  nicht  Gegen- 
stand der  spezifisch  juristischen  Erkenntnis  bzw.  der  normativen 
Ethik.     Und  insofern  kann  auch  jene  fiktive  Isolierung  gar  niclit 
vollzogen  werden.     Es  ist  für  sie  gar  kein  Anlaß  gegeben.     Für 
eine  auf  die  Wirklichkeit  des  sogenannten  Rechtserlebnisses,   die 
faktischen   Moralvorstellungen    und    durch    sie    bewirkten   ,, mora- 
lischen" Handlungen  gerichtete  Betrachtung  —  ihre  methodische 
Möglichkeit   überhaupt  zugegeben  —  ist   Recht   und  Moral  etwas 
völhg  anderes  als  das  gleiche  Wort  besagt,  das  den   Gegenstand 
der  normativen   Rechtswissenschaft   und   Ethik  bezeichnet.     Und 
für  diese  auf  die  wirklichen  Seelenvorgänge  und  Handlungen  ge- 
richtete Erkenntnis  dürfte  sich  überhaupt  keine  wesentliche  Dif- 
ferenz   zwischen    einer   als    ,, Recht"    und    einer   als    ,, Moral"   be- 
zeichneten  Wirklichkeit,    sicherlich    nicht    aber    die   Zweckmäßig- 
keit einer   wenn  auch   nur  provisorisch  fiktiven  Isolierung  beider 
ergeben.      Diese  ,, volle  Wirklichkeit"   kann   gegenüber  einer  juri- 
stischen Betrachtung  überhaupt   nicht  ,,in  ihre  Rechte  eingesetzt 
werden". 

Nun  erscheint  aber  die  Vorstellung  der  Rechtsordnung  —  als 
eines  Komplexes  von  Sollnormen  —  ebenso  wie  die  Vorstellung 
einer  Moralordnung  nach  Vaihinger  an  und  für  sich  schon  als 


<554 


ilans  Kelsen: 


eine  Fiktion.  Es  sind  die  praktischen  Fiktionen^),  unter  die  die 
Begriffe  der  Norm,  der  Pflicht,  des  Ideals  usw.  eingereiht  werden 
müßten.  Wenn  auch  Vaihinger  sich  nicht  in  extenso  mit  dem 
Begriff  der  Rechtsnorm  und  des  rechtlichen  Sollens,  der  Rechts- 
pflicht usw.  befaßt,  so  darf  doch  angenommen  werden,  daß  von 
ihnen  dasselbe  gelten  muß  wie  von  den  ethischen  Begriffen,  die 
als  Fiktionen  angesprochen  werden.  Man  könnte  im  Sinne  Vai- 
hingers  sagen:  Der  Jurist  betrachtet  das  Recht  so,  als  ob  es 
eine  Summe  von  Sollnormen  wäre.  Allein  wenn  dies  eine  Fiktion 
ist,  wenn  das  Recht  in  Wirklichkeit  keine  Sollnorm  ist,  was 
ist  dann  das  Recht  ,,in  Wirklichkeit".''  Und  weiter:  Was  ist 
eine  Sollnorm  ?  Mit  anderen  Worten :  Wenn  die  Annahme,  daß 
das  Recht  eine  Sollnorm  ist,  eine  Fiktion  sein  soll,  dann  muß  das 
Recht  etwas  anderes,  etwas  ,, Wirkliches"  sein  können,  und  dann 
muß  auch  die  ,, Sollnorm"  etwas  ,, Wirkliches",  nur  etwas  anderes 
ais  das  Recht  ,, wirklich  ist",  darf  Sollnorm  nicht  selbst  wieder 
eine  Fiktion  sein.  Denn  die  Fiktion  besteht  offenbar  in  einem 
Vergleich,  und  zwar  in  einer  falschen  Gleichsetzung  eines  Wirk- 
lichen mit  einem  anderen  Wirklichen,  In  der  Fiktionsformel: 
X  wird  so  betrachtet,  als  ob  es  Y  wäre  (obgleich  X  nicht  Y  ist), 
muß  sowohl  X  als  Y  etwas  Wirkliches  sein,  bzw-.  als  etwas  Wirk- 
liches behauptet  sein.  Fiktiv  ist  lediglich  die  Gleichsetzung.  Bei 
Vaihinger  heißt  es  von  der  Fiktionsformel  wörtlich:  ,, Demnach 
wird  in  dieser  Formel  ausgesprochen,  daß  das  gegebene  Wirk- 
liche, daß  ein  Einzelnes  verglichen  wurde  mit  einem  anderen, 
dessen  Unmöglichkeit  oder  Unwirklichkeit  zugleich  ausgesprochen 
wird  ...  z.  B.  in  der  juristischen  Fiktion  lautet  die  Formel  so: 
Dieser  Erbe  ist  so  zu  behandeln,  wie  er  zu  behandeln  wäre,  wenn 
er  vor  seinem  Vater,  dem  Erblasser,  gestorben  wäre,  d.  h.  er  ist 
zu  enterben."  Worauf  es  hier  ankommt,  ist  lediglich  die  Fest- 
.stellung,  daß  sowohl  ,,der  Erbe"  als  auch  ,,ein  vor  dem  Erblasser 
Gestorbener"  an  und  für  sich,  d.  h.  ohne  Rücksicht  auf  die  Stellung 
(lieser  Elemente  in  der  fiktiven  Beziehung  —  etwas  Wirkliches 
bedeuten.  Vaihinger  führt  auch  aus:  ,,Es  wird  also  hier  zu- 
nächst eine  Vergleich ung  ausgesprochen,  d.  h.  die  Aufforderung, 
eine  vergleichende  oder  subsumierende  Apperzeption  zu  vollziehen; 
ein  solcher  Satz  sagt  zunächst  nichts  anderes,  als  z.  B.  der  Satz: 
D;T  Mensch  ist  wie  ein   Gorilla  zu  betrachten,  und  warum .?  weil 

»)  a.a.  S.  59ff. 


Zur  Theorie:  der  juristischen  Fiktionen.  655 

11-  eben  ihm  ähnlich  ist.  Ebenso  in  allen  jenen  Fällen:  Es  wird 
die  Aufforderung  zu  einer  vergleichenden  Apperzeption  ausge- 
sprochen, allein  zugleich  mit  dieser  Aufforderung  wird  nun  in 
diesem  Falle  ausgesprochen,  daß  diese  Vergleichung  auf  einer 
unmöglichen  Bedingung  beruht;  anstatt  sie  aber  nun  zu 
unterlassen,  wird  sie  aus  anderen  Gründen  doch  vollzogen. "i) 
Die  Fiktion  besteht  in  der  Durchführung  eines  Vergleiches  zweier 
Wirklichkeiten,  trotz  der  Unmöglichkeit  dieses  Vergleiches. 

Nun  ist  aber  das  Recht  von  vornherein  überhaupt  nichts 
Wirkliches.  Es  gibt'  kein  Stück  der  NaturAvirklichkeit,  das  als 
Recht  angesprochen  werden  kann.  Aber  selbst  wenn  man  davon 
ubsähc:  Das  Recht  wird  betrachtet,  als  ob  es  eine  Sollnorm  wäre, 
ja  aber  was  ist  denn  eine  Sollnorm.?  Nichts  Wirkliches,  sondern 
selbst  eine  Fiktion,  die  Fiktion  besteht  hier  nicht  nur  in  dem 
,,.'ys-Ob"-Vergleiche,  sondern  auch  in  demjenigen,  womit  das 
Recht  fiktiv  verglichen  wird.  Die  Fiktion,  das  fiktive  Urteil, 
behauptet  aber  —  in  dem  mit  als  ob  eingeleiteten  Satze  —  eine 
Wirklichkeit  (wenn  auch  im  Widerspruch  zu  dieser).  Die  Ana- 
lyse der  Fiktion  muß  zu  —  allerdings  falsch  verknüpften  —  Wirk- 
lichkeitselementen führen,  die  Fiktion  muß  sich  auflösen  lassen, 
sonst  hängt  sie  überhaupt  in  der  Luft. 

Darum  will  es  scheinen,  als  ob  auf  das,  was  Vai hinger  die 
,, praktischen  Fiktionen"  nennt,  die  von  ihm  selbst  aufgestellten 
Merkmale  des  Fiktionsbegriffes  nicht  recht  passen.  Im  Grunde 
mußte  Vaihinger  alle  ethischen  Begriffe  als  Fiktionen  erklären. 
Er  tut  es  ausdrücklich  bei  den  Begriffen:  sittliche  Weltordnung, 
Pflicht,  Ideal  und  einigen  anderen.  Allein  bei  allen  diesen  Be- 
griffen muß  notwendig  gerade  jenes  Element  fehlen,  das  nach 
Vaihinger  der  Fiktion  wesentHch  ist:  Der  Widerspruch  zur  Wirk- 
lichkeit. Denn  ein  Widerspruch  zur  Wirklichkeit  kann  nur  vor- 
liegen, wenn  ein  Wirkliches  behauptet  wird,  überhaupt  erkannt 
werden  soll.  Vaihinger  sagt:  ,,Das  Ideal  ist  eine  in  sich  wider- 
spruchsvolle und  mit  der  Wirklichkeit  im  Widerspruch  stehende 
Begriffsbildung,,  welche  aber  ungeheuren,  weltüber^ändenden  Wert 
hat.  Das  Ideal  ist  eine  praktische  Fiktion. "2)  Das  kann  von 
jedem  ethischen  und  juristischen  Begriff  gelten.  Denn  es  gilt 
von  dem  Begriff  des  Sollens,  der  ja  mit  dem  formalen  Begriff 
des  Ideals  identisch  ist.     Allein  worin  kann  der  Widerspruch  zur 

1)  a.  a.  0.  S.  164/165. 

2)  a.  a.  O.'S.  67. 


656 


Hans  Kelseu: 


Wirklichkeit    bestehen,    der    in    irgendeinem    Sollsatze,    selbst    in 
jenem   vollzogen   wird,    der    Unmögliches    zum    Inhalt   hat  ?    Der 
das  Ideal,  die  Pflicht,  die  sittliche  Forderung  aussprechende  Satz: 
Der  A.  soll  wohltätig  sein,  und  der  die  Wirklichkeit  beschreibende 
Satz:   Der   A.   ist   nicht   wohltätig,    widersprechen   sich   in   keiner 
Weise.    Auch  wenn  man  zugibt  • —  und  man  muß  dies  zugeben  ■ — , 
alles,    was   geschieht,    muß  so  geschehen,    wie  es  geschieht,    und 
kann   nicht   anders   geschehen,   so   daß   jedes    Sollen,    das    einen 
anderen    Inhalt  hat  als  das   Sein,    Unmögliches  fordert,   so  ist 
damit   dennoch   keinerlei   Widerspruch   zwischen   Sein   und    Sollen 
dgegeben.    Dem  Sein  von  a  widerspricht  lediglich  das  Sein  von 
7ion  a,  nicht  aber  das  Sollen  von  non  a.    Es  wäre  denn,  man  löste 
den  Sollsatz  in  einen  Als -Ob- Seinsatz  auf,  und  behauptete:  Indem 
ich  a  als  gesollt  behaupte,  tue  ich  so,  als  ob  a  seiend  wäre.    Wenn 
ich  behaupte :  X.  soll  wohltätig  sein,  fingiere  ich  X.  (in  Gedanken) 
als  wirklich  wohltätig,  obgleich  er  in  Wirklichkeit  gar  nicht  wohl- 
tätig ist.     Das  Sollen  sei  ein  fingiertes  Sein.     Das  ist  aber  offen- 
bar unrichtig.     In  der  Vorstellung  des  Sollens  steht  uns  eben  eine 
von  der  Vorstellung  des  Seins  völlig  verschiedene  Form  zur  Ver- 
fügung,   die   jeden    beliebigen    Inhalt   aufnehmen   kann,   ohne    zu 
einer  Seinsvorstellung  mit  kontradiktorisch  entgegengesetztem  In- 
halt in  logischen  Widerspruch  zu  geraten.     Mit  demselben  Rechte, 
mit  dem  ich  das   Sollen  ein  fingiertes   Sein,  könnte  ich  das  Sein 
ein  fingiertes  Sollen  nennen.     Darum  kann  ein  normativer  Begriff 
wohl  in  sich  selbst  w^iderspruchsvoll  sein,   er  kann  aber  nie  zur 
Wirklichkeit  in  Widerspruch  geraten.     Denn  normative  Erkenntnis 
ist   überhaupt   nicht  auf  das    Sein  gerichtet.     Natürlich   kann  es 
auch   innerhalb   der   normativen   Erkenntnis    Fiktionen,   d.  h.    Be- 
griffe geben,   die  in  einem  Widerspruch  zu  dem  spezifischen  Er- 
kenntnisobjekt  stehen.      Dieses    Erkenntnisobjekt   selbst    und   die 
ganze  Erkenntnistätigkeit  kann  aber  nicht  als  Fiktion  bezeichnet 
werden.    Die  Begriffe  ,,Gott  und  Gewissen"  mögen  Fiktionen  sein. 
Das   ,, Sollen",    die   ,, Pflicht",    die   ,,Norm"   sind   es   gewaß   nicht. 
Das  zeigt  sich  deutlich,  wenn  man  die  ,, Fiktion'.'  der  Pflicht  in 
einem  Als- Ob- Satz  darzustellen  versucht.    Wir  sollen  so  handeln, 
als  ob  es  unsere  Pflicht  wäre,  so  zu  handeln.     Aber  schon  in  dem 
ersten  Satze:  Wir  sollen  so  handeln,  steckt  die  Behauptung  der 
Pflicht.    Wir  sind  verpflichtet,  so  zu  handeln,  als  ob  es  unsere 
Pflicht  wäre.     Pflicht  und   Sollen  sind  identisch.     Bedeutet  aber 
der  Satz:  Wir  sollen  so  handeln,  eine  Fiktion.?     Er  würde  es  be- 


Zur  Theorie  der  juristischen   i-iktionen.  Ö57 

deuten,  wenn  damit  behauptet  würde:  Wir  handeln  so,  obgleich 
wir  nicht  so  handeln.  Allein  gerade  diese  Behauptung  enthält 
er  nicht,  sondern  die:  Wir  sollen  so  handeln,  obgleich  wir  viel- 
leicht nicht  so  handeln.  ' 

Eine  andere  Frage  ist,  ob  und  wie  sich  die  in  Sollsätzen  auf- 
gestellten Behauptungen  beweisen  lassen,  ob  nicht  jedes  Normen- 
system letztlich  auf  einen  unbeweisbaren  Grundsollsatz  aufgebaut 
ist.  Das  kann  zugegeben  werden,  ohne  daß  damit  der  Charakter 
einer  Fiktion,  d.  h.  eines  Widerspruches  zur  Wirklichkeit  (als 
der  Natur-Wirklichkoit),   konzediert  wird. 

Der  Begriff  des  Sollcns  —  und  mit  ihm  die  Begriffe  der  Pflicht, 
der  Norm,  des  Ideals,  des  (objektiven)  Wertes  —  könnten  als 
Fiktion  bezeichnet  werden,  wenn  nicht  unter  Fiktion  ein  Vor- 
stellungsgebilde verstanden  würde,  das  der  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeit'  dient,  und  einen  Widerspruch  zu  eben  dieser  Wirk- 
lichkeit setzt.  Und  ,, Fiktionen"  sind  das  Sollen  —  das  sittliche 
wie  das  rechtliche  —  nur,  wenn  unter  Fiktionen  alles  verstanden 
wird,  was  nicht  Ausdruck,  und  zwar  widerspruchsloser  Ausdruck, 
der  Natur -Wirklichkeit  ist.  Wenn  man  Vaihinger  auch  zugeben 
kann,  daß  die  Rechtsnormen  —  so  wie  die  ganze  Welt  des  Sollens  — 
imaginative  Produkte  des  menschlichen  Geistes  sind,  Phantasic- 
gebilde  im  Verhältnis  zu  der  Sinnen-Welt  des  Natur-Seins^),  so 
ist  damit  noch  keineswegs  die  Notwendigkeit  eines  Widerspruches 
zu  dieser  Wirklichkeit  gegeben,  das  erste  seiner  ,, Hauptmerk- 
male", an  denen  ,,man  sofort  jede  Fiktion  erkennen"  kann.  2) 
Gerade  in  der  Kategorie  des  Sollens  ist  eine  Form  geschaffen, 
in  der  die  Phantasie  ohne  Widerspruch  zu  der  Wirklichkeit  des 
Seins  sich  entfalten  kann.  Andererseits  muß  die  Welt  des  Sollens 
als  ein,  wenn  auch  anderes,  so  doch  mit  der  Natur-Wirklichkeit 
gleichberechtigtes  Objekt  der  (ethischen  oder  juristischen)  Er- 
kenntnis, als  eine  eigene  Art  von  Wirklichkeit  gelten,  wenn 
es    hier   echte    Fiktionen  geben  soll. 


Gerade  diejenigen  juristischen  Fiktionen  (das  sind  die  der 
Gesetzgebung  und  Rechtsanwendung),  mit  Hilfe  deren  Vaihinger 
zum  großen  Teile  seine  glänzende  Theorie  dargestellt  hat,   haben 

1)  a.  a.  0.  S.  70. 

2)  a.  a.  0.  S.  171  ff. 

Annalen  der  Philosophie.     L  4^ 


(',eg  Hans  Kelsen:  Zur  Theorie  der  juristischen  Fiktionen. 

sich  bei  näherer  Betrachtung  gar  nicht  als  solche  Dcnkgebildc  er- 
wiesen, deren  Wesen  und  Erkenntniswert  zu  entdecken,  das  große 
Verdienst  Vaihingers  ist.  Dagegen  weist  die  Rechtswissenschaft 
andere,  durchaus  analoge  Hilfsbegriffe  auf.  Doch  fällt  das  Licht 
auf  diese  Fiktionen  nicht  eigentlich  aus  der  Rechtswissenschaft 
—  wie  Vaihinger  meint  — ,  sondern  umgekehrt:  Die  echten, 
theoretischen  Fiktionen  der  Rechtswissenschaft  werden  verständ- 
lich durch  die  Fiktionen  der  Mathematik  und  der  anderen  Wissen- 
schaften. Die  Fiktionen  der  Rechtstheorie  haben  gar  nichts  spezi- 
fisch Juristisches  an  sich,  sie  sind  keine  für  die  Jurisprudenz 
charakteristische  Methode. 


Bücherbesprechung. 

Richard    Müller-Freienfels:    Das    Denken    und    die    Phantasie. 

Psychologische  Untersuchungen  nebst  Exkursen  zur  Psychopatho- 
logie, Ästhetik  und  Erkenntnistheorie.  Leipzig  1916,  bei  Johann 
Ambrosius  Barth. 

Die  größte  und  folgenreichste  Entdeckung  der  gesamten  neueren 
Philosophie  ist,  wie  ich  meine,  die  Erkenntnis,  daß  das  Grundwesen  des 
Menschen  Wille  ist.  Sie  bhtzt  auf  in  Kants  Lehre  vom  Primat  der 
praktischen  Vernunft,  freilich  noch  stark  verschleiert  von  den  Nebeln 
der  überlieferten  intellektualistischen  Denkweise;  Schopenhauer  — 
um  nur  die  Hauptstationen  der  Entwicklung  zu  nennen  —  macht  sie 
zur  Sonne  seines  ganzen  Systems,  und  Nietzsche  leuchtet  mit  ihrem 
Licht  auch  in  die  mystisch  dämmerigen  Räume  hinein,  in  denen 
Schopenhauer,  seiner  eigenen  Lehre  widersprechend,  dem  Intellekt 
eine  selbständige  Stellung  gelassen  und  den  Diener  wieder  zum  Herrn 
gemacht  hatte. 

Die  wissenschaftliche  Forschung  ist  der  genialen  Intuition  dieser 
großen  Denker  nur  langsam  gefolgt.  Die  Jahrtausende  alte  intellek- 
tualistische  Tradition  hält  uns  in  den  Fesseln  der  Gewohnheit,  die  hier 
besonders  schwer  zu  zerreißen  oder  abzustreifen  sind.  Wie  geschickt 
weiß  sich  der  Wille,  der  Regisseur  der  umana  commedia,  verborgen  zu 
halten,  während  er  die  Puppen  an  seinen  unsichtbaren  Drähten  vor  uns 
tanzen  läßt!  Es  bedarf  einer  (von  der  ganz  auf  die  experimentelle 
Methode  eingeschworenen  Forschung  freilich  verpönten)  tiefen,  an- 
gestrengten Selbstschau,  eines  Hinabsteigens  gleichsam  in  die  psycho- 
logische Unterwelt  unseres  Seins,  um  die  dunklen,  nicht  intellektuellen 
Wurzeln  überhaupt  gewahr  zu  werden,  aus  denen  die  ganze  Gcisteswelt 
mit  ihren  tausend  Zweigen  und  Blüten  herauswächst.  Es  ist  nicht 
bequem,  hier  unten  in  den  finsteren  Abgründen  unseres  Wesens  herum- 
zuforschen,  während  an  der  Oberfläche  die  längst  gebahnten  Wege  der 
Erkenntnis  im  hellen  Lichte  liegen.  Wie  einladend  klar,  wie  einfach 
und  geschlossen  erscheint  die  überlieferte  intcllektualistische  Psychologie ! 
Wie  hübsch  baut  sich  hier  eins  auf  dem  anderen  auf,  entwickelt  sich 
eins  aus  dem  anderen,  aus  den  Empfindungen  die  Wahrnehmungen, 
aus  den  Wahrnehmungen  die  Vorstellungen,  aus  den  Vorstellungen  die 
Begriffe!  Diese  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  schwindet,  sobald  wir 
die  Bahnen  des  Intellektualismus  verlassen  und  auch  in  der  wissenschaft- 
lichen Psychologie  mit  jener  größten  Erkenntnis  der  neueren  Philosophie 


42* 


56o  Hücherbesprechunf,'. 

wirklich  Ernst  zu  machen  beginnen.  Alks,  was  schon  gelöst  und  erledigt 
schien,  wird  wieder  problematisch,  und  die  neuen  Probleme  sind  dunkler 
und  verwickelter,  als  die  alten  waren.  Natürlich,  das  Nicht-Intellektuelle, 
(las  wir  nun  , .hinter"  dem  Intellektuellen  suchen,  ist  schwerer  zu  fassen 
als  das  Intellektuelle  selbst.  Aber  die  Arbeit  muß  getan  werden,  und  sie 
lohnt  die  Mühe.  Was  wir  dabei  an  Klarheit  und  Einfachheit  verlieren, 
(las  gewinnen  wir  an  Tiefe  und  Wahrheit,  und  ich  meine,  das  ist  kein 
schlechter  Tausch.  Wer  einmal  einen  Schacht  in  diese  Tiefen  gegraben 
und  dabei  Entdeckungen  gemacht  hat,  der  sehnt  sich  nicht  zurück  an  die 
helle  Oberwelt  des  Intellektualismus.  Alles  rein  intellektualistische 
Philosophieren  erscheint  ihm  fortan  wie  die  Arbeit  eines  l^otanikers, 
der  an  den  Pflanzen  nur  das  beobachten  und  erforschen  wollte,  was 
von  ihnen  über  dem  Erdboden  sichtbar  wird. 

Von  den  Psychologen,  die  heute  an  den  Problemen  einer  volunta- 
ristischen  Psychologie  arbeiten,  ist  niemand  erfolgreicher  als  Müller- 
Freienfels.  Sein  aus  einer  Reihe  von  Einzeluntersuchungen  er- 
wachsenes Buch  ,,Das  Denken  und  die  Phantasie"  bedeutet  einen 
wirklich  großen  Fortschritt  auf  dem  oben  kurz  gekennzeichneten  Wege, 
den  größten,  wie  ich  meine,  der  seit  Vaihingers  ,, Philosophie  des  Als  Ob" 
auf  diesem  Wege  gemacht  worden  ist.  Sollte  die  geniale  Intuition 
Schopenhauers  und  Nietzsches  zu  gesicherter  Erkenntnis  werden, 
so  mußte  eine  mühselige  Arbeit  geleistet  und  dem  Intellektualismus 
Schritt  für  Schritt  das  Feld  abgewonnen  werden,  auf  dem  er  sich  noch 
immer  behauptete.  Daß  die  Gedanken  der  Religion,  das  Schaffen  des 
Künstlers  und  Philosophen  nicht  rein  intellektualistisch  zu  deuten  sind, 
daß  sich  vielmehr  stets  ein  irgendwie  geartetes  Fühlen  und  Streben, 
eine  persönliche  Stellungnahme  zu  Welt  und  Leben  darin  ausspricht, 
das  war  nachgerade  jedem  sichtbar  geworden,  der  es  sehen  wollte.  Nun 
aber  galt  es,  zu  zeigen,  daß  alles  Denken,  auch  das  gewöhnliche  und  das 
streng  wissenschaftliche,  ein  Ausdruck  der  Seite  unseres  Wesens  ist, 
die  Schopenhauer  zusammenfassend  ,, Wille"  nannte.  Und  dies  ist 
in  dem  ausgezeichneten  Werke  von  Müller-Freienfels  in  einer  Weise 
geschehen,  wie  es  bisher  noch  niemals  geschehen  war. 

Natürlich  kann  ein  solches  Buch  nicht  geschrieben  werden,  ohne 
(laß  ihm  viele  Denker  und  Forscher  vorgearbeitet  hätten.  Die  Probleme 
der  voluntaristischen  Psychologie  liegen  heute  „in  der  Luft",  seit  Jahren 
arbeiten  viele  gleichzeitig  daran.  Müller-Freienfels  ist  sich  dessen 
wohl  bewußt  und  macht  nirgends  ein  Hehl  daraus,  daß  er  von  anderen 
\ieles  gelernt  und  übernommen  hat.  Am  allermeisten,  scheint  es,  ver- 
dankt er  James,  Bergson  und  Nietzsche.  Von  ihnen  hat  er  wohl 
die  tiefsten  Anregungen  erfahren.  Daneben  nennt  er  Wundt,  Lipps, 
Avenarius  und  sehr  viele  andere,  denen  er  Dank  schuldig  geworden 
ist  oder  mit  denen  er  sich  berührt.  Nirgends  aber  hat  man  beim  Lesen 
seines  Buches  den  Eindruck,  daß  das  Aufgenommene  bei  ihm  ein 
Fremdes,  Unverarbeitetes  geblieben  wäre.  Seine  Leistung  ist  ohne  Zweifel 
.so  selbständig,  \vie  eine  solche  die  Forschungen  anderer  verwertende 
Leistung  es  übLrhaui)t  sein  kann.  Wie  schon  aus  seiner  vortrefflichen 
..Psychologie  der  Kunst"  spricht  auch  aus  dieser  Arbeit  sehr  deutlich 


Bücherbesprechuiig.  (S^  I 

lin  reicher  und  reger  Geist  von  bedeutender  Pruduktivität.  Die  Ge- 
danken strömen  ihm  von  überallher  im,  aus  eigenem  Erleben,  aus  der 
Selbstbeobachtung,  aus  den  Erzählungen  anderer,  aus  der  Lektüre,  und 
alles  das  faßt  er  zusammen  zu  einem  Ganzen  von  durchaus  eigenem, 
organischem,  lebendigem  Charakter. 

Müller-Freienfels  nennt  seine  Psychologie  des  Denkens  nicht 
voluntaristisch,  wiewohl  er  natürlich  gelegentlich  auch  diesen  Ausdruck 
braucht:  um  jede  Verwechselung  mit  dem  metaphysischen  Voluntarismus 
auszuschheßen,  redet  er  lieber  von  einer  aktivistischen  Deutung  der 
geistigen  Vorgänge.  Und  damit  ist  seine  Auffassung  auch  am  treffendsten 
bezeichnet.  , .Denken  ist  Handeln",  in  diesen  knappen  Satz  läßt  sich 
der  Hauptinhalt  seines  Buches  zusammendrängen.  Schon  die  Elemente 
des  Denkens  tragen  nach  ihm  diesen  aktivistischen  Charakter.  Die  Auf- 
merksamkeit, die  aus  dem  Chaos  der  Empfindungen  bestimmte  Komplexe 
heraushebt  und  so  die  ..Wahrnehmung"  ermöglicht,  ist  —  das  haben 
schon  andere  bemerkt  —  ein  Willensakt  und  stets  verbunden  mit 
affektiv-motorischen  Prozessen,  also  mit  Handlungen,  Handlungen  meist 
sehr  geringfügiger  Art,  z.  B.  Adaptionen  der  Organe,  in  denen  aber  doch 
das  eigentHche  Wesen  der  Aufmerksamkeit  zum  Ausdruck  kommt.  Auch 
die  „sjTithetische  Funktion"  der  Wahrnehmung,  die  Verdinglichung  und 
Typisierung  der  Empfindungskomplexe,  ist  nach  Müller-Freienfels 
nicht,  wie  die  Assoziationspsychologie  meint,  die  Wirkung  objektiver 
Reproduktionen,  sondern  subjektiver  Reaktionen:  ein  Ding,  z.  B.  eine 
Schlange  oder  eine  Rose  ist,  psychologisch  betrachtet,  eine  ,, Reaktions- 
einheit", d.  h.  ein  Komplex  von  Eindrücken,  auf  den  wir  mit  ganz  be- 
stimmten Gefühlen,  Bewegungen  und  Tätigkeitsdispositionen,  mit  einem 
Worte:  mit  einer  bestimmten  ,, Stellungnahme"  reagieren.  Ebenso- 
wenig ist  das  Wesen  des  Begriffs  psychologisch  in  den  im  Bewußtsein 
„mitschwingenden"  oder  , .latenten"  Vorstellungen  zu  suchen,  die  in 
ihm  logisch  zusammengefaßt  sind.  Auch  der  Begriff  ist  wesentlich  eine 
Einheit  von  Gefühlen  und  Tätigkeitsdispositionen,  nur  daß  er  in  seiner 
abstrakten  Form,  nicht  mehr  an  die  Empfindung  gebunden,  weniger 
eine  Rückwirkung  als  eine  Selbsttätigkeit  des  Subjekts  ausdrückt,  und 
also  nicht  als  Reaktionseinheit,  sondern  als  Aktionseinheit  zu  bezeichnen 
ist.  Wir  begreifen  etwas,  haben  einen  Begriff  daA-on,  wenn  \nr  wissen, 
wie  wir  uns  ihm  gegenüber  zu  verhalten  haben.  Natürlich  gibt  es  ein 
geistiges  Aufnehmen  und  Besitzen,  das  diesen  aktivistischen  Charakter 
fast  gänzlich  vermissen  läßt.  Aber  ein  solches  Lernen  und  Wissen  ist 
tot  und  wertlos.  Zum  wahren,  lebendigen  Wissen  gehört,  daß  es  umsetzbar 
ist  in  Tätigkeiten.  ,, Wahres  Wissen  ist  nicht  Erinnerung,  wahres  Wissen 
ist  Handeln,  Tätigkeit,  Wirksamkeit"  (von  Müller-Freienfels  ge- 
sperrt). 

Müller-Freienfels  gewinnt  diese  Ergebnisse  in  fortlaufender  Aus- 
einandersetzung mit  der  i^LSSoziationspsychologie,  als  deren  kon- 
sequentesten Vertreter  er  Ziehen  häufig  anführt.  Die  Assoziations- 
psychologie viird  das,  was  hier  gegen  sie  vorgebracht  wird,  nicht  un- 
berücksichtigt lassen  können,  daran  ist  kein  Zweifel.  Der  Baustein,  mit 
dem  sie  die  ganze  geistige  Welt  aufbaut,  die  Reproduktion,  wird  hier 


Af)',  Bücherbesprechung. 

(Kap.  I,  Analyse  der  Vorstellungen)  sehr  überzeugend  in  seiner  Brüehig- 
keit  erwiesen.  Und  daß  die  berühmten  Gesetze  der  Assoziation,  nach 
denen  die  so  fragwürdigen  Vorstellungen  sieh  zusammenfügen  sollen, 
<Tanz  und  gar  nicht  ausreichen,  um  den  Bau  der  geistigen  Welt  zu 
erklären,  das  macht  uns  das  vortreffliche  sechste  Kapitel  (Der  Verlauf 
des  Bewußtseins.  Kritik  der  Assoziationstheorie)  zur  Gewißheit.  Nicht 
die  Assoziation  der  Vorstellungen  oder  der  sie  ersetzenden  Bewußtseins- 
elemente,  das  zeigt  Müller-Freienfels  hier,  ist  das  Problem,  sondern 
ihre  Dissoziation,  die  Auswahl,  die  die  Seele  unter  den  zahlreichen 
Möglichkeiten  der  Verknüpfung  trifft.  In  der  Wahrnehmung  ist  stets 
eine  große  Vielheit  von  Eindrücken  zur  Einheit  verknüpft  und  wird 
als  solche  erlebt.  Wie  kommt  es,  daß  von  den  a  bis  n  Empfindungen, 
die  sich  gleichzeitig  zur  assoziativen  Verknüpfung  darbieten,  nur  a  und 
b  oder  b  und  c  in  der  Seele  erhalten  und  verknüpft  bleiben,  während 
alle  übrigen  daraus  entschwinden?  Dies  ist  die  Frage,  die  die  Psycho- 
loo^ie  des  Denkens  vor  allem  zu  beantworten  hat.  Sie  ist  auf  dem  Boden 
der  intellektualistischen  Psychologie  nicht  befriedigend  zu  beantworten. 
Nicht  in  dem  objektiven  Elemente  der  Wahrnehmung,  in  den  Emp- 
findungen, kann  die  Ursache  der  Auswahl,  die  die  Seele  trifft,  liegen  — 
sonst  würden  sich  bei  allen  Menschen,  die  objektiv  dasselbe  erleben, 
auch  dieselben  i\ssoziationen  bilden,  was  bekanntlich  durchaus  nicht 
der  Fall  ist  — ,  sondern  nur  in  der  verschiedenen  Reaktion  der  ver- 
schiedenen Subjekte  auf  die  gleichen  Eindrücke.  Was  hier  und  fast 
überall  in  dem  Buche  ausführlich  auseinandergesetzt  wird,  ist  im  Grunde 
die  tiefe  und  eigentlich  doch  so  selbstverständliche  Wahrheit,  daß  wir 
ein  Ganzes  sind,  eine  lebendige  Einheit,  was  immer  wir  tun,  nicht, 
säuberlich  geschieden,  bald  ein  denkendes,  bald  ein  fühlendes  und 
wollendes  Wesen;  daß  unS  das  Herz  aus  den  Augen  schaut  und  mit 
den  Ohren  in  die  Welt  hinaushorcht;  daß  unser  Sehen  und  Hören,  unser 
Denken  und  Wissen  —  abgesehen  höchstens  von  dem  rein  mechanisch 
und  nur  ,, auswendig"  Gelernten  —  durch  unser  ganzes  Wiesen  bedingt 
ist  und  daher  auch,  mehr  oder  weniger  deutUch,  von  unserem  ganzen 
Wesen  Kunde  gibt.  Die  Wissenschaft  schreitet  fort,  indem  sie  immer 
schärfer  scheidet,  was  in  Wirklichkeit  ungeschieden  ist,  aber  sie  muß 
sich  darüber  klar  werden,  daß  ihre  Scheidungen  künstlich  sind  und  der 
Wirklichkeit  nicht  entsprechen.  Daß  dies  auch  in  der  Psychologie  ge- 
schehe, dazu  gibt  das  vorliegende  Buch  einen  wirksamen  Anstoß. 

Ob  übrigens  Müller-Freienfels  in  seinem  aktivistischen,  anti- 
intellektuaUstischen  Eifer  nicht  zuweilen  zu  weit  geht,  diese  Frage  muß 
ich  bei  aller  Hinneigung  zu  seinem  Standpunkt  und  seiner  Methode 
doch  aufwerfen.  Mir  scheint,  er  schätzt  die  Bedeutung  der  objektiven 
Faktoren  für  das  Zustandekommen  der  Wahrnehmungen  und  Begriffe 
doch  zu  niedrig  ein;  mindestens  wählt  er  wiederholt  eine  Ausdrucksweise, 
die  zu  Mißverständnissen  Anlaß  gibt  und  zum  Widerspruch  herausfordert. 
Das  ist  z.  B.  der  Fall  auf  S.  98/99.  Wenn  er  da  behauptet,  die  ,. land- 
läufige Ansicht,  wir  stutzten,  weil  wir  etwas  UngewöhnHches  wahr- 
genommen hätten",  sei  falsch,  wir  nähmen  vielmehr  deshalb  etwas  wahr, 
weil  wir  stutzten,  so  ist  das  nur  dann  richtig,  wenn  ., wahrnehmen"  beide 


Bücherbcsprechung.  663 

Afale  in  dem  gleichen  psychologisch  strengen  Sinne  genommen  wird. 
Denn  erst  durch  das  Stutzen  und  die  dadurch  geweckte  Aufmerksam- 
keit erfolgt  die  Wahrnehmung  des  Raben  im  Birkcnwipfel,  der  mich 
als  schwarzer  Fleck  stutzen  machte.  Aber  niemand  kann  das  erste 
.^Wahrnehmen"  so  auffassen,  da  es  mit  dem  Begriff  der  Ungewöhnlich- 
keit  verknüpft  ist,  die  doch  gerade  an  der  Empfindung  (dem  großen 
schwarzen  Fleck  im  lichten  Grün)  haftet  und  mit  der  Wahrnehmung 
(der  Feststellung  des  schwarzen  Flecks  als  Raben)  verschwindet.  Ebenso 
anfechtbar  ist  die  Rolle,  die  Müller-Freien  fels  S.  138 — 140  die  sub- 
jektive Reaktion  bei  der  dingbildenden,  typisierenden  Wahrnehmung 
spielen  läßt.  Gewiß  gehört  zum  ,, Wahrnehmungsbegriff"  Kreuzotter 
eine  typische  Reaktion,  ein  Erschrecken,  verbunden  mit  gewissen  Tätig- 
keitsbereitschaften (Impulsen  zur  Flucht  oder  zur  Abwehr),  aber  be- 
griffen, erkannt  wird  das  gefährliche  Tier  durch  diese  Reaktion  doch 
nicht.  Diese  Reaktion  erfolgt  vielmehr  erst,  wenn  die  Kreuzotter  als 
Kreuzotter  bereits  erkannt  ist.  Dies  aber  geschieht  durch  Feststellung 
ihrer  unterscheidenden  objektiven  Merkmale,  der  Kopfform  und  der 
dunklen  Zickzacklinie  auf  dem  Rücken. 

Müller- Freienfels'  Untersuchungen  und  Darlegungen,  von  denen 
hier  natürlich  nur  eine  ganz  ungefähre  Vorstellung  gegeben  werden 
kann,  münden  aus  in  eine  Psychologie  der  schaffenden  Geistestätigkeit, 
die  geeignet  sein  dürfte,  das  Interesse  weiterer  Kreise  zu  erregen.  Der 
aktivistische  Charakter  des  Denkens  und  der  Phantasie  —  nach  Mülle r - 
Freienfels  sind  beide  kaum  zu  trennen  —  tritt  hier,  wo  es  sich  um 
das  ,, zielstrebige"  Denken  handelt,  natürlich  besonders  hervor.  Die 
.Vssoziationsgesetze,  heißt  es  S.  231,  „reichen  einigermaßen  aus,  um  das 
Geistesleben  eines  Verrückten  zu  erklären,  dessen  Gedankenverlauf  nach 
.Ähnlichkeit  und  Berührung  sich  beschreiben  läßt.  Für  den  geistig 
gesunden  Menschen,  der  Probleme  umkreist  und  Pläne  entwirft,  genügen 
jene  sogenannten  Gesetze  nicht".  Sicherlich,  alles  wertvolle  Denken 
ist  teleologisch,  verläuft  auf  einer  Bahn,  die  eine  besondere  Stimmung, 
eine  festgehaltene  Willenstendenz  bestimmt.  In  drei  Kapiteln  wird  dies 
unter  Anlehnung  an  Avenarius'  ,, Vitalreihenlehre"  in  einer  Weise  aus- 
geführt, die  jeden  fesseln  muß,  der  nicht  entrüstet,  sondern  erfreut  ist, 
wenn  er  in  einem  psychologischen  Werk  einmal  etwas  anderes  behandelt 
findet  als  die  ganz  elementaren,  experimentell  feststellbaren  Seelen- 
vorgänge. 

Wie  alles  ochte  Denken  ursächlich  verknüpft  ist  mit  der  Praxis, 
das  beweist  Müller-Freien  fels  nicht  nur  theoretisch,  sondern  auch 
praktisch,  indem  er  uns,  vielseitig  interessiert  und  unterrichtet,  wie  er 
ist,  wiederholt  den  Zusammenhang  deutlich  macht,  in  dem  die  neueste 
Psychologie  mit  der  neuesten  Pädagogik  steht.  Seine  aktivistische 
Deutung  der  seelischen  Vorgänge  wird  auf  Schritt  und  Tritt  bestätigt, 
man  kann  fast  sagen:  verifiziert  durch  die  pädagogischen  Bestrebungen, 
deren  Ziel  die  ,,i\rbeitsschule"  ist.  Die  „Lernschule"  entspricht  in  der 
Hauptsache  der  intellektualistischen,  die  ,Arbeitsschule"  der  aktivisti- 
schen oder  voluntaristischen  Psychologie.  Nietzsche  hat  dafür  die 
kürzeste,  treffendste  Formel  geprägt:  ..Nur  der  Täter  lernt." 


554  Bücherbesprechung. 

Der  innere  Zusununenhang  des  Werkes  mit  der  „Philosophie  des 
Als  Ob"  liegt  nach  allem,  was  gesagt  wurde,  auf  der  Hand.  Müller- 
Freienfels  teilt  mit  Vaihinger  die  grundsätzliche  Auffassung  von 
dem  teleologischen  Charakter  alles  Denkens,  Sein  Buch  bestätigt  auf 
jeder  Seite  die  Grundthese  der  „Philosophie  des  Als  Ob",  daß  das  Vor- 
stellen und  Denken  keine  Abbildung,  sondern  eine  Bearbeitung  der 
Wirklichkeit  zu  praktischen  Zwecken  ist.  Demgegenüber  hat  der  er- 
kenntnistheoretische Einwand,  den  Müller-Frei enfel^  in  dem  letzten 
Kapitel  gegen  Vai hingers  Positivismus  macht,  nicht  viel  zu  besagen. 

Wie  wir  hören,  ist  die  erste  Auflage  des  vortrefflichen  Werkes  — 
trotz  der  Kriegszeit  —  beinahe  schon  vergriffen.  Das  ist  hocherfreulich, 
auch  für  das  Buch  selbst.  Denn  es  bedarf  formell  einer  gründlichen 
Durcharbeitung,  die  ihm  in  der  zweiten  Auflage  hoffentlich  zuteil  werden 
wird.  In  der  Hauptsache  während  des  Krieges  geschrieben,  läßt  es  in 
Gliederung,  Gedankenfortschritt  und  Stil  an  vielen  Stellen  die  Sorgfalt 
vermissen,  die  auf  die  Darstellung  verwandt  sein  sollte.  Einige  Einzel- 
heiten seien  hier  angemerkt.  S.  4  wird  viermal  derselbe  Gedanke  wieder- 
holt (daß  das  Gesagte  nicht  metaphysisch  gemeint  sei),  S.  9  wird  der 
•Satz,  daß  ein  rein  zentrales  Denken  unmöglich  sei,  ganz  unzureichend 
durch  ein  einziges  Beispiel  bewiesen.  S.  18  Z.  12  von  unten  steht  fälsch- 
lich widerlegen  statt  beweisen,  S.  20  Z.  7  Komponente  statt  Korrelat  usw. 
Es  finden  sich  auch  ziemlich  viele  störende  Druckfehler,  z.  B.  auf  S.  106 
Lichtsinn  statt  Lichtschein,  unbeschlossenen  statt  eingeschlossenen, 
S.  107  Linie  statt  Linse.  Der  kleingedruckte  Abschnitt  S.  255  und  256 
gehört  in  das  einleitende  Kapitel  ,, Methodologische  Vorbemerkungen", 
und  die  doch  so  wichtigen  und  sachlich  wertvollen  Kapitel  VIII  und  IX 
machen  im  ganzen  den  Eindruck  einer  gewissen  Ermattung  des  Ver- 
fassers, sie  fallen  nach  den  vorangegangenen,  weit  besser  geschriebenen 
Kapiteln  merklich  ab.  Endlich  kann  ich  es  nicht  glücklich  finden,  daß 
s*)  vieles  an  Wichtigkeit  und  Wert  keineswegs  Zurückstehende  in  dem 
Buche  klein  gedruckt  ist.  Die  ,, methodologischen  Vorbemerkungen", 
das  letzte,  erkenntnistheoretische  Kapitel  und  mancher  andere  jetzt 
kleingedruckte  Abschnitt  sind  nach  meinem  Urteil  des  größeren  Druckes 
durchaus  würdig.  Das  alles  ^vird,  wie  wir  hoffen,  die  zweite  Auflage 
abstellen.  Müller-Freienfels  arbeitet,  glaube  ich,  ein  wenig  zu  rasch. 
Es  wäre,  deucht  mir,  seinen  Schriften  zum  Heile,  wenn  er  seine  Produk- 
tivität ein  wenig  zügelte  und  sich  zu  etwas  langsamerem  Arbeiten 
zwänge.  Wer  so  Gutes  zu  sagen  hat,  der  sollte  sich  eifrigst  bestreben, 
auch  alles  gut  zu  sagen. 

Martin  Havenstein. 


Zur  MetaJurisprudenz  und  Rechtsphilosophie.  Kritische  Besprech- 
ungen über  Somlö.  Nelson  und  Sturm  von  Dr.  jur.  Rolf 
Mallachow. 

I.    Kirn    (kr    Rechtswissenschaft   bildet   die  Lehre    vom  geltenden 
Rechte  —  mit  ihrer  historischen  Vertiefung  und  ihren  politischen  Forde- 


Bücherbesprechung.  565 

rungen.  Dabei  sucht  dieser  Rechtspositivismus  die  Kasuistik,  welche 
Entscheidung  ledigUch  von  Einzelfall  zu  Einzelfall  an  die  Hand  gibt. 
durch  Aufstellung  von  Allgemeinbcgriffen  einfacher  und  zusammen- 
gesetzter Art  zu  verdrängen,  bleibt  aber  auch  hierbei  Lehre  vom  Inhalte 
des  positiven  Rechts  der  Gegenwart,  Vergangenheit  oder  Zukunft,  da 
derartige  Allgemeinbegriffe  nur  innerhalb  bestimmter  Rechtsordnung 
gelten.  Dieses  Handwerk  muß  aber  eine  Methode  haben.  Die  Rechts- 
methodologie, deren  hermcneutisches  Zentralproblem  die  Frage  der 
Gesetzesanwendung  und  der  Stellung  des  Richters  zum  Gesetz  ist,  bildet 
jedoch  keinen  Teil  der  vorgedachten  positiven  Wissenschaft  von  den 
Rechtsinhalten,  sondern  der  sogenannten  Metajurisprudenz  oder  juristi- 
schen Grundlehre,  um  uns  eines  Ausdruckes  Jellineks  bzw.  Somlos^) 
zu  bedienen.  Auch  andere  Fragen,  die  gelegentlich  von  der  Rechts- 
anwendung und  Rechtslehre  aufgeworfen  werden  müssen,  sind  lediglich 
aus  den  positiven  Rechtsnormen  heraus  nicht  zu  lösen,  so  besonders 
auch  nicht  die  Frage  nach  der  Stellung  und  Abgrenzung  der  Jurisprudenz 
im  Systeme  der  Wissenschaften,  nach  dem  Wesen  und  dem  Ursprünge 
des  Rechts  selbst,  des  Völker-  und  Kirchenrechts  im  besonderen  sowie 
der  Gesellschaft  und  des  Staates  usw. 

Wie  zutage  liegt,  kann  diese  juristische  Grundlehre  von  der  Rechts- 
philosophie solange  nicht  allgemeingültig  abgegrenzt  werden,  väe  es  nicht 
eine  allgemeingültige  Begriffsbestimmung  von  dieser  letzten  gibt.  Hier- 
von sind  wir  aber  weit  entfernt,  so  bedeutsame  Versuche  auch  in  dieser 
Richtung  gerade  das  letzte  Menschenalter  aufzuweisen  hat.  Je  nach 
dem  Standpunkte  hierzu  wird  man  —  wie  auch  Somlo  (S.  131.)  im 
wesenthchen  treffend  ausführt  —  beide  Wissenschaftszweige  für  identisch 
oder  wesensungleich  halten  oder  die  juristische  Grundlehre  einen  Teil 
der  Rechtsphilosophie  nennen.  Müssen  wir  aber  —  wie  ich  überzeugt 
bin  —  die  Aufgaben  der  Rechtsphilosophie  darin  sehen,  daß  sie  die  Be- 
ziehungen aufweist  zwischen  dem  Recht  und  den  anderen  Arten  unserer 
bewußten  oder  unbewußten  Lebensinhalte  sowie  zwischen  dem  Recht 
und  dem  All  in  seiner  raumzeitlichen  Erscheinung:  so  werden  sich  uns 
Rechtsphilosophie  und  Metajurisprudenz  wie  zwei  sich  schneidende 
Kreise  darstellen,  die  trotz  grundsätzHch  anderer  Zentralprobleme  doch 
gewisse  Gebiete  gemeinsam  haben.  Ob  man  dabei  nicht  diese  gemein- 
samen Fragen  —  wie  die  nach  dem  Wesen  und  Ursprung  des  Rechts  — 
der  Rechtsphilosphie  vorbehalten  sollte,  bedeutet  m.  E.  nur  eine  Frage 
zweckmäßiger  Arbeitsteilung. 

IL  Somlö  ist  auf  eine  derartige  Scheidung  nicht  eingegangen. 
Denn  seine  Untersuchung  „unternimmt  den  Nachweis,  daß  es  Fragen 
gibt,  deren  Lösung  für  jede  Jurisprudenz  ganz  unerläßlich  ist,  aber  mit 
der  speziellen  juristischen  Methode  —  gemeint  ist  wohl  die  Methode 
der  Lehre  von  den  Rechtsinhalten,  der  sogenannten  positiven  Rechts- 
wissenschaft —  niemals  erhofft  werden  kann,  und  versucht  sodann  eine 
systematische   Behandlung  aller  hierher  gehörigen  Fragen  .  .  .  ."   (S.  2) 


^)  Felix  Somlo,  Professor  an  der  Universität  Kolozsvar:  Juristische  Grund- 
ehre (Leipzig  1917;  556  Seiten). 


(566  Bücherbesprechung, 

Da   mithin   das  Eingehen    aui  rerhtsphilosophische  Fragen  von  Sonnlö 
nicht  vermieden  ist,  kann  sein  Werk  um  so  mehr  auch  die  Aufmerksam- 
keit der  Philosophen  auf  sich  lenken  —  sofern  diese  überhaupt  aus  ihrer 
seit  Geschlechtern  auf  juridischem  Gebiete  beobachteten  Zurückhaltung 
heraustreten  wollen.     Eine  dahingehende  allgemeinere   Anteilnahme  der 
Fachphilosophen   aber  neu    zu   erwecken^,   wäre    das    Somlosche   Werk 
,iuch  aus  anderen  Gründen  wohl  geeignet.    Nicht  etwa,  als  ob  es  bislang 
an    anregenden    sogenannten    Einführungen    in   die    Rechtswissenschaft, 
juristischen   Prinzipienlehren  sowie  rechtsphilosophischen   Einzeldarstel- 
lungen und  Systemen  gemangelt  hätte;  nicht  auch,  als  ob  Somlö  um- 
stürzlerisch  an  Stelle  der  bisherigen  Lehren  ganz  Neues  stellen  wollte; 
endlich   auch   nicht,  als   ob  hier   überall   besonders   tief  geschürft  und 
ledigHch  schlackenfreies  Erz  zutage  gefördert  wäre !    Nein,  sein  bedeut- 
samer Wert  ruht  in  der  Darbietung  von  einem  abgeklärt  reifen  Lehr- 
system  eines   tüchtigen   und  gut  belesenen   Denkers   —  besonders  gut 
belesen:   denn   hier   werden   neben   juridischen   auch   soziologische   und 
psychologische  wie  allgemeinphilosophische  Werke  wertend  in  den  Kreis 
der  Betrachtungen  und  Nachweisungen  gezogen,   und  zwar  —  typisch 
für  die   kosmopolitische   Geistesrichtung  des   Ungarn  —  rücht  nur  der 
reichsdeutschen,    österreichischen    und    ungarischen    Literatur,    sondern 
zum  gut  Teil  sogar  des  englischen,  französischen  und  italienischen  Schrift- 
tums —  hierdurch  zugleich  auch  uns   Juristen  wertvolle  Hilfe  leistend. 
Nach  einer  plastischen  Darstellung 'von  dem  Wesen,  der  Abgrenzung 
und  der  Geschichte  der  juristischen  Grundlehre  wendet  sich  das  Werk 
im  ersten  seiner  beiden  Hauptteile  zunächst  dem  Begriffe  und  den  Arten 
der  Normen  zu,  wobei  er  unter  anderen  die  Streitfrage,  ob  die  Religion, 
die  Sittlichkeit,  die  Sitte  oder  das  Recht  zuerst  entstanden  sei,  treffend 
dahin  entscheidet,  keiner  von  diesen  Normenkreisen  sei  vor  dem  anderen, 
sondern   alle  seien  gemeinsam  entsprungen,  und   zwar  voneinander  so 
ungeschieden,   daß   die   einheitliche  Erscheinung    wohl   eines    Gattungs- 
namen  bedürfe   und   dafür  die   Bezeichnung    ..primitive   Umorm"   vor- 
geschlagen  werde   (88).  —  Hinsichtlich  des   Rechts  begriff  es   kommt 
Somlo   zum    bezeichnenden    Ergebnisse:    Recht    bedeutet   die    Normen 
einer    gewöhnlich    befolgten,    umfassenden    und    beständigen    höchsten 
Macht  (105).     Durch  seine  Klarheit  und  Sprache  reißt  dieses  Resultat 
gewiß  niemanden  mit  sich  fort.     Aber  auch  inhaltlich  ist  es  selbst  im 
Zusammenhange    mit   dem    zu   ihm    führenden    Erwägungen    nicht    be- 
anstandungsfrei; denn  zunächst  erweist  sich  der  Begriffsfaktor  von  der 
,, genügenden   Befolgung"  insofern  unzulänglich,  wie  er  bald  darauf  in 
Verschiebung   der   ßegriffsformel   unmittelbar   mit   der   Norm   selbst   in 
Verbindung   gesetzt    wird    und    dabei    aus    ihm    unbedingt   geschlossen 
werden   soll:  alles  was,  wie  das   Völkerrecht,  ,, nicht  genügend   befolgt 
wird",  ist  nicht  Recht  (166  u.  167),  kann  aber  doch  eine  Norm  —  z.  B. 
konventioneller  oder  überstaatlicher  Natur  (170)  —  sein.      Dieser  Ge- 
danke hält  nicht  Stich ;  denn  behauptet  man  von  irgendeiner  Normen- 
gruppe, von  irgendeiner  Regel,  daß  sie  als  Regel  regelmäßige  Befolgung 
voraussetze  und  —  trotz  des  Volksmundes  —  durch  jede  Durchbrechung, 
jede   Ausnahme   erschüttert,  ja   bei   dauernder   Außerachtlassung   über- 


Bücherbesprechung.  667 

haupt  als  Regel  aus  den  .Vngeln  gehohen  werde,  so  wird  man  dasselbe 
von  den  Rechtsregeln  zu  behaupten  haben.  Durch  das  Kriterium  der 
regelmäßigen  Befolgung  unterscheidet  sich  das  Recht  von  den  anderen 
Normengruppen  der  Sprachregeln,  der  Sitte  und  Sittlichkeit  nicht,  und 
ebensowenig  kann  eine  Norm  wegen  unregelmäßiger  Befolgung  zwar 
nicht  Rechtsnorm,  al)er  immerhin  Norm  konventionellen  oder  über- 
staatlichen Charakters  sein.  Jedoch  gehen  von  Somlös  Lehre,  man 
müsse  im  Völkerrecht  einen  Übergang  vom  Rechte  strengsten  Sinnes 
zur  Konventionalnorm  sehen,  wertvolle  Anregungen  aus.  Ferner  kann 
doch  z.  B.  im  (zusammengesetzten)  Bundesstaate  für  Verhältnisse,  die 
der  Landesgesetzgebung  vorbehalten  geblieben  sind,  der  einzelne  Glieder- 
staat auch  Recht  setzen,  trotzdem  er  nicht  „höchste  Macht"  oder  deren 
(delegierter)  Beauftragter  ist.  ein  Fu.ndamentalzustand,  dem  von  Somlo 
nirgends  Rechnung  getragen  wird. 

Endlich  sind  aber  an  diese  sogenannte  Rechtsmacht  moralisch 
von  Somlö  überhaupt  keine  Forderungen  gestellt.  Man  mißverstehe 
mich  nicht!  Will  man  zurzeit  bei  Bestimmung  des  Rechtsbegriffes  zu 
halbwegs  positiven  und  bündigen  Ergebnissen  gelangen,  so  muß  mau 
m.  E.  unter  diesen  Begriff  auch  das  Faustrecht  des  T}Tannen  —  also 
das  Unrecht,  sofern  es  nur  machtvolle  Gesetzessanktion  findet  —  ein- 
beziehen (ähnhch  wie  viele  schon  Hegels  Rechtsphilosophie,  Anm.  zu 
§§  3  und  212).  Um  so  stärker  aber  müssen  dann  die  näheren  Dar- 
legungen betonen,  daß  sich  auch  für  die  Rechtsmacht  das  Moralische 
immer  von  selbst  zu  verstehen  habe,  wenn  anders  sie  nicht  ihren 
Charakter  als  „sittHche  Substanz"  (Hegel)  verlieren  und  damit  ihren 
Handlungen  selbst  jede  Rechtfertigung  entziehen  will.  Von  derartigem 
finden  wir  aber  bei  Somlo  kein  Wort,  wenn  wir  nicht  etwa  hierhin  die 
dürftigen  Sätze  rechnen  wollen,  Macht  und  Recht  seien  nicht  einfach  (!) 
gleichzusetzen  (no)  und  es  könne  die  physische  Macht  mit  der  gei- 
stigen in  enge  Verbindung  treten  (109).  Im  Gegenteil  wirkt  geradezu 
köstlich  das  Erstaunen  in  dci  Schilderung,  wie  sich  einer  politischen 
Schrift  zufolge  die  Rechtsmacht  in  —  China  dem  Moralgesetze  zu  unter- 
werfen habe,  falls  ihr  nicht  das  Amtsgebäude  über  dem  Kopfe  ein- 
gerissen werden  soll  (115 f.).  Der  absolute  Richtigkeitsanspruch  ethischer 
Normen  bildet  dem  Verfasser  eben  nur  eine  andere  I3edeutung  des 
Wortes  Recht  (122),  an  die  sich  zwar  allerhand  philologische  Er- 
innerungen anknüpfen  lassen,  öer  aber  seine  juristische  Grundlehre  jede 
.\nalyse  versagen  und  d'e  mat^erielle  Bedeutung  absprechen  zu  müssen 
glaubt,  obschon  sie  selbst  die  ganze  Erscheinung  bald  darauf  (125)  als 
ein  anderes  Recht,  ein  Recht  in  einem  höheren  Sinne  bezeichnet! 
Hierbei  ist  Somlo  ganz  der  herrschenden  Lehre  zum  Opfer  gefallen, 
deren  moralischer  Defekt  sogleich  unter  IIL  besprochen  werden  wird. 
Der  andere  Teil  des  Somlöschen  W^erkes  ändert  bei  uns  eben- 
sowenig an  dessen  grundsätzlicher  Wertschätzung  wie  gelegentlicher 
Kritik,  die  wir  hier  —  um  von  seinem  uns  weltenfernen  Staatsrechte 
ganz  zu  schweigen  —  besonders  gegen  den  Schlußparagraphen  (524 f.) 
richten  müssen.  Nachdem  in  diesem  Exkurs  über  das  Wesen  der  so- 
genannten juristischen  Fiktion  —  in  Wiederholung  der  Fehler  der  herr- 


f.^Q  Biicherbesprechung, 

sihenden  Lehre  —  eine  mangelhafte  Begriffsbestimmung  der  Verweisung 
für  die  der  Fiktion  ausgegeben  ist'),  heißt  es  in  Anlehnung  an  Lehren 
der  Stammlerschen  Rechtstheorie  weiter:  Das  Gebiet  der  Fiktionen 
sei  Behauptungssätze;  Bestimmungssätze  —  wie  die  Rechtsnormen  — 
könnten  eigentlich  (!)  gar  keine  Fiktion  im  allgemeinwissenschaftlichen, 
nicht  juristischen  Sinne  enthalten;  Befehle  oder  Versprechen  böten  ihrer 
logischen  Bedeutung  nacli,  da  sie  sich  nicht  auf  Seinsbetrachtungen 
richteten,  keine  Möglichkeit  von  Fiktionen;  wie  diese  im  Rechte  nur 
dem  Ausdrucke,  nicht  dem  Wesen  nach  platzgreifen  könnten,  so  unter- 
schieden sie  sich  aucli  nur  dem  Ausdrucke,  der  Form,  nicht  aber  dem 
Wesen  nach  von  einer  Ausnahme  oder  Verweisung  und  ließen  sich  allemal 
in  einfache  Bestimmungsgrundsätze  auflösen;  man  könnte  doch  nicht 
jede  sprachliche  Metapher  als  wissenschaftliche  Fiktion  bezeichnen. 
Rückwärtsgehend  entgegnen  wir  dem:  Jede  wahre  sprachliche  Metapher 
ist  eine  Fiktion,  deren  Wesen  sich  logisch  und  erkenntnistheoretisch  — 
wie  Vai hingers  Philosophie  des  Als  Ob  radikal  dargelegt  hat  —  von  dem 
der  wissenschaftlichen  Fiktion  nicht  unterscheidet.  Juristische  Fiktionen 
weichen  gelegenthch  von  einer  Ausnahme  oder  Verweisung  nicht  nur 
ourch  Ausdruck  und  Form,  sondern  auch  durch  ihr  Wesen  ab,  wenn 
sich  dieses  nämhch  in  historischen  oder  von  mir  sogenannten  rück- 
wirkenden und  rechtsschöpfenden  Funktionen  offenbart.  (Vgl.  §§  9  und 
10  meiner  in  Anmerkung  i  genannten  Schrift.)  Es  ist  ferner  unmögHch, 
folgende  rückwirkende  Fiktionen  in  einfachere  Bestimmungssätze  auf- 
zulösen: Werden  anfechtbare  Rechtsgeschäfte  oder  anfechtbare  Ehen 
angefochten,  so  sind  sie  als  von  Anfang  an  nichtig  anzusehen  (BGB. 
§§  142  und  1343).  Vom  fiktiven  Ausdrucke  hängt  die  juristische 
Fiktion  nicht  ab;  ihr  Wesen  versteckt  sich  auch  manchmal,  wie  z.  B.  in 
BGB.  §§  1593  oder  1329,  der  lautet:  „Die  Nichtigkeit  einer  nach  den 
§§  1325  bis  1328  nichtigen  Ehe  kann,  solange  nicht  die  Ehe  für  nichtig 
erklärt  oder  aufgelöst  ist,  nur  im  Wege  der  Nichtigkeitsklage  geltend 
gemacht  werden.  Das  Gleiche  gilt  von  einer  nach  §  1324  nichtigen  Ehe, 
wenn  sie  in  das  Heiratsregister  eingetragen  worden  ist."  Es  bilden  also 
auch  Befehle  und  Versprechen,  die  sich  nicht  auf  ein  So-Sein,  sondern 
auf  ein  Sein-Sollen  richten,  Möglichkeiten  für  fiktive  Formen,  wie  ja 
von  Kant  der  kategorische  Imperativ  auch  einmal  in  die  fiktive  Form 
gekleidet  wurde:  ,, Handele  so,  als  ob  deine  Maxime  zugleich  zum 
allgemeinen  Gesetze  (aller  vernünftiger  Wesen)  dienen  sollte !"  Die  Mög- 
lichkeit normativer  Fiktionen  läßt  sich  füglich  also  ebensowenig  leugnen, 
wie  der  Wert  von  ihnen  als  gelegentlich  passendsten  Ausdrucksmitteln. 

in.  Wieviel  Anregung  davon  ausgehen  kann,  wenn  sich  endlich 
wieder  einmal  ein  Philosoph  von  Fach  den  juridischen  Begriffen  und 
Theorien  zuwendet,  lehrt  Nelsons  neuestes  Werk:  Die  Rechtswissen- 
schaft ohne  Recht.-)    Freilich  müßten  wir  hiernach  völlig  von  vorn  an- 


^)  Näheres  hierzu  in  §§  3  IV  und  4  111  meiner  demnächst  im  Verlage  von 
Felix  Meiner,  Leipzig,  erscheinenden  Monographie  ,, Rechtserkenntnistheorie  und 
Fiktionenlchre". 

-)  Ltonliard  Nelson:  Die   Rechtswissenschaft  ohne  Recht.      Kritische  Bt- 


Bücherbesprechung.  66q 

fangen.  Denn  viel  soll  von  den  herrschenden  Lehren  nach  dieser  Kritik 
keinen  Bestand  haben,  zum  wenigsten  aber  ihre  Grundlagen  und  Ziele. 
Was  fällt  ihr  alles  zum  Opfer!  Die  verbreitete  Begründung  des  Staats- 
und Völkerrechtes  durch  die  Jellinekschen  Lehren  von  dem  Staats- 
willen und  der  Souveränität  soll  lediglich  auf  wissenschaftlichen  Un- 
klarheiten, logischen  Selbstwidersprüclicn  und  politischen,  aber  nicht 
rechtlichen  Tendenzen  beruhen  (i.  und  2.  Kapitel).  Von  Liszts  und 
Ilubers  Lehren  von  den  völkerrechtlichen  Grundrechten  und  der  Gleich- 
heit der  Staaten  sei  jene  nur  durch  Wortkünste  zu  verdeckender  leerer 
Scholastizismus  und  die  daraus  abgeleiteten  Normen  seien  naturrechtliche 
Truggebilde,  diese  aber  laufe  darauf  hinaus,  die  kleinen  Staaten  um  so 
schutzloser  der  Willkür  der  Großmächte  auszuliefern,  je  verführerischer 
für  sie  der  Anschein  sei,  darin  ein  Palladium  ihrer  Freiheit  zu  besitzen, 
während  Oppenheims  viel  beachteter  Verfassungsentwurf  für  die 
Staatengemeinschaft  und  seine  Betrachtung  über  die  Zukunft  des  Völker- 
rechts mit  Blindheit  gegenüber  den  greifbarsten  und  dringendsten  Pro- 
blemen auf  diesem  Gebiete  geschlagen  sein  soll  (Kap.  3  bis  5).  Die 
geschichthche  und  philosophische  Begründung  des  Relativismus  durch 
Kohler  und  Radbruch  bedeutet  dem  Verfasser  nur  Sophistik  und 
Widersprüche  in  sich  (6  und  7).  Nicht  nur  die  folgerechte  Machttheorie 
Kaufmanns,  sondern  auch  Anschütz,  Zitelmann  und  Ileilborn 
wie  Triepel,  Nippold  und  Schoen  hätten  den  Rechtsbegriff  ignoriert; 
endlich  habe  Binding  mit  seiner  Lehre  von  der  fiktiven  Natur  der 
Rechtspfhcht  diesen  Nihilismus  auch  im  Privatrecht  erklärt  (8  bis  10). 

Ein  Herostratos  also,  der  lediglich  eitlen  Nachruhmes  willen  die 
Brandfackel  gegen  das  Wunderwerk  d.er  Kultur  schleudert  ?  Und  müssen 
wir  zu  diesem  Urteile  nicht  um  so  eher  gelangen,  als  auch  im  Tone  wieder- 
holt über  den  Wissenschaftler  der  leidenschaftliche  Agitator  derartig  die 
Oberhand  erringt, 'dai3  er  die  Sachlichkeit  verlierend,  die  iVngegriffenen 
persönlich  verletzen  muß,  ja  sogar  geeignet  ist,  deutsche  Wissenschaf  t 
und  deutsches  Wesen  vor  Freund  wie  Feind  mit  schändlichen  Unter- 
stellungen herabzusetzen?  Und  wenn  Nelson  z.  B.  (S.  65)  folgenschwer 
meint,  kein  Jurist  werde  die  Behauptung  wagen,  daß  das  Interesse  an 
der  Selbsterhaltung  den  einzelnen  berechtige,  sich  über  alle  seiner  Be- 
friedigung im  Wege  stehenden  Rechtsnormen  hinwegzusetzen,  da  das 
Recht  der  Menschen  wegen,  nicht  aber  die  Menschen  des  Rechtes  wegen 
da  seien  —  würden  hiergegen  die  Juristen  nicht  einstimmig  Widerspruch 
erheben  und  darauf  hinweisen,  wie  das  Lebensinteresse  im  Notwehr- 
und Notstandrecht  aller  Länder  wie  aller  Zeiten  sogar  gesetzlichen  Aus- 
druck gefunden  habe  ? 

Und  doch:  Wie  andererseits  jede  Seite  Zeugnis  für  die  ungewöhnHchen  , 
Fähigkeiten  und   Kenntnisse  Nelsons  ablegt,  wie   beispielsweise  allein 
durch  die  glänzenden  Ausführungen  auf  S.  60  der  Wortfetischismus  der 
Souveränität  als  Rechtsbegriff  für  immer  hinweggefegt  ist  —  so  bilden 
auch  die  Bruchstücke  positiver  Arbeit,  die  hier  und  da  aus  der  Stick- 


trachtungen  über  die  Grundlagen  des  .Staats-  und  Völkerrechts,  insbesondere  über 
die  Lehre  von  der  Souveränität.     (Leipzig  1917;  251  Seiten.) 


f^-Q  Uücherbesprechunc;. 

luft  zcrslörcmler  Polemik  liervorwachsen,  wichtige  Leuchtfeuer  an  der 
Kahrtrinne  der  Erkenntnis,  selbst  wenn  wir  über  sie  hinaus  sonnigeren 
Küsten  zustreben. 

Den  wabernden  Stoff  gibt  diesen  Feuerschiffen  die  Idee  der  Ge- 
rechtigkeit; die  Oriflamme  unserer  Zeit,  die  metaphysische  Sehnsucht, 
loht  hier  aus  der  kritischen  Philosophie  hervor:  Es  gilt  für  Nelson,  mit 
Ludwig  von  Bar,  seinem  gefeierten  Vorläufer  (Kap.  ii),  die  am  Anfang 
unseres  Jalirhunderts  vor  dem  politischen  IMachtstandpunkte  verblaßte 
Idee  des  Rechts  in  ihrer  Bedeutung  wieder  zu  erkennen.  ,,Was  kann 
das  für  ein  Gebot  sein,  das  nur  durch  die  Macht  des  Befehlenden  gilt 
und  das  also  nicht  durch  eine  ihm  selbst  innewohnende  Notwendigkeit, 
sondern  nur  vermöge  der  durch  jene  Macht  mit  seiner  Erfüllung  oder 
Verletzung  verbundenen  Folgen  zur  Befolgung  nötigt  ?  Ein  solches 
Gebot  ist  ein  hypothetisches,  aber  kein  kategorisches  Gebot,  d.  h.  es  ist 
für  die  ihm  Unterworfenen  ein  Gebot  der  Klugheit,  aber  keine  Rechts- 
norm." 

Nein!  Das  Recht  hängt  für  Nelson  von  willkürHcher  Festsetzung 
nicht  ab.  Seine  Normen  haben  als  solche  allgemeine,  aber  nicht  relative 
Gültigkeit;  anwendbar  werden  sie  allerdings  nur  dann,  wenn  einer  der 
Fälle,  für  die  sie  gelten,  wirklich  eintritt;  auch  wenn  sie  nicht  allgemein, 
(1.  h.  jederzeit  und  allerorten  anwendbar  sind,  so  sind  sie  doch  allgemein 
gültig.  Ihre  Objektivität  offenbart  sich  darin,  daß  sie  von  der  Vorstellung 
des  Menschen  unabhängig  sind.  Der  Geltungsgrund  eines  Gesetzes  kann, 
wenn  es  überhaupt  einen  gibt,  nur  \\äeder  in  einem  Gesetze  und  nie  in 
einem  Willen  liegen.  Die  Unabhängigkeit  vom  Willen  hegt  unmittelbar 
in  der  vom  Begriffe  des  Gesetzes  nicht  zu  trennenden  Allgemeingültig- 
keit. Rechtserkenntnis  ist  ihm  aber  treffend  praktische  Erkenntnis, 
und  diese  lasse  sich  nicht  auf  theoretische  Erkenntnis  zurückführen; 
das  Problem  des  Erkenntnisgrundes  des  Rechts  sei  also  —  hier  werden 
wir  auch  an  Fichte  erinnert  —  das  Problem  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft:  es  werde  gelöst  durch  die  psychologische  Auf- 
weisung einer  unmittelbaren  praktischen  Vernunfterkenntnis.  Von  dem 
durch  Kant  gelegten  und  mit  wissenschafthchster  Strenge  erneut  zu 
festenden  Grunde  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  aus  müsse  man 
zu  einer  ehrlichen  Metaphysik  des  Rechts  zurückkehren  und  damit  die 
Rechtslehre  in  wissenschaftUch  gesunde  und  zugleich  für  die  höchsten 
praktischen  Zwecke  des  Lebens  fruchtbare  Bahnen  zurücklenken. 

Wenn  auch  in  dem  uns  vorliegenden  Werke  diese  letzten  Probleme 
über  die  Erkenntnis  des  Rechts  und  ihr  Verhältnis  zur  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft  wegen  ihres  allzu  knappen  Vortrages  nicht  restlos 
überzeugen,  so  sind  sie  doch  nebst  vielen  anderen  für  das  Staats-  und 
Völkerrecht  von  den  angedeuteten  Gesichtspunkten  aus  gezogenen 
Folgerungen  zumindestens  so  anregend,  daß  wir  in  grundsätzlicher  Be- 
anstandung nur  gegen  das  Eine  vorgehen  wollen:  Die  dem  ganzen 
Werke  verhängnisvoll  gewordene  Vermengung  des  Begriffs  und  der 
Idee  des  Rechts.  Der  Begriff  des  Rechts  muß  m.  E.  auch  die  Gesetze 
des  Zwingherrn  unter  sich  begreifen  (vgl.  oben  Absatz  II.  unserer  Be- 
sprechungen); denn    wollte  man   mit   Nelson   unter  positivem   Rechte 


Bücherbesprc-chung.  6?  I 

die  für  ein  Volk  bestehende  Verbindlichkeit  der  in  ihm  durch  Ge- 
wohnheit und  Gesetzgebung  bestimmten  Verkehrsregeln  verstehen  (S.  20), 
so  entfiele  jede  Möglichkeit  zur  erstrebten  Abgrenzung  des  Rechts  .von 
den  anderen  Normengruppen  der  Sitte  und  Sittlichkeit,  da  sie  uns  dann 
auch  nur  als  ,, Verbindlichkeit  der  durch  Gewohnheit  bestimmten  Ver- 
kehrsregeln" erscheinen  müßten,  womit  wir  an  Stelle  des  durch  Nelson 
verpönten  politischen  Rechtsnihilismus  einen  moralischen  Rechtsnihilis- 
mus gesetzt  hätten.  Die  Idee  des  Rechts  hingegen  meint  —  wie  jüngst 
Rudolf  Stammler,  dieser  große  Anreger  moderner  Rechtsphilosophie, 
wieder  betont  hat  —  indessen  das  große  unwandelbare,  ewig  gültige 
Moralprinzip  der  Gerechtigkeit,  wie  es  schon  von  den  römischen  Juristen 
klassisch  ins  Irdische  übersetzt  worden  ist,  als  der  feste  Wille,  niemanden 
zu  verletzen  und  jedem  das  Seine  zu  geben.  Das  Seine:  also  nicht  das 
Gleiche!  Müssen  wir  doch  immer  der  besonderen  Lage  des  Einzelfalles 
Rechnung  tragen.  Auch  ist  beim  Zusammenstoße  von  Interessen  nicht 
der  Mächtigere  als  solcher  zu  begnaden,  sondern  der  schutzwürdigere 
Wert.  Das  Entscheidende  für  die  Abwägung,  das  Kriterium  der  Schutz- 
würdigkeit finden  wir  m.  E.  in  der  Erhaltung  und  Entwicklung  wahren 
Menschtums,  in  der  Festigung  und  Betätigung  des  Geistig-Sittlichen, 
im  Schutze  wie  in  der  Ausbreitung  und  Vertiefung  der  Kultur.  ,,Die 
Gewißheit  einer  Gesinnung,  die  mit  dem  moralischen  Gesetze  überein- 
stimmt, ist  aber  die  erste  Bedingung  des  Wertes  einer  Person"  (Kant). 
Wird  uns  mithin  das  Ideal  zu  einem  realen  Faktor  im  menschUchen 
Handeln,  so  muß  der  Ausgleich  der  von  Nelson  bekämpften  ,, Rechts- 
wissenschaft ohne  Gerechtigkeit"  mit  seinen  Ansichten  m.  E.  seiner 
grundsätzlichen  Bedeutung  halber  die  vornehmste  Aufgabe  künftiger 
Moral-  und  Rechtsphilosophie  bilden,  eine  Aufgabe,  deren  Richtung 
nicht  schöner  ausgedrückt  werden  kann  als  durch  das  Wort  des  großen 
Kantianers : 

Nehmt  die  Gottheit  auf  in  euren  Willen, 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthron. 

IV.  August  Sturm^),  der  seit  1883  wohl  vierzehn  metajuristische 
und  rechtsphilosophische  Werke  sowie  annähernd  ebenso\aele  fach- 
wissenschaftliche Schriften  veröffentlicht  hat,  hat  bislang  die  Wissen- 
schaft kaum  beeinflußt,  trotzdem  die  Zukunft  sicherlich  manchen  seiner 
Anregungen  nachgehen  wird. 

Das  Eigenartige  seiner  Rechtsphilosophie,  deren  Richtung  er  neuer- 
dings als  deutsch-psychologische  bezeichnet,  besteht  einmal  nach  ihm 
selbst  im  entwicklungsgeschichtlichen  Philosophieren  nach  Darwinscher 


1)  Justizrat  Dr.  August  Sturm:  Die  psychologischen  Grundlagen  des 
Rechts  (1910,  531  Seiten);  Grundlagen  und  Ziele  des  Rechts,  besonders  des  heutigen 
Völker-  und  Friedensrechts  (1916.  72  Seiten);  die  deutsch-psychologische  Grund- 
lage des  Rechts,  insbesondere  des  Völkerrechts  der  Gegenwart  als  Gegenstand  der 
Philosophie  (1917,  46  Seiten);  Recht  und  Völkerrecht  unserer  Zeit  im  Lichte  der 
deutschen  Rechtsphilosophie  (191 8,  48  Seiten)  —  diese  Schriften  -werden  oben  nach 
ihren  Erscheinungsjahren  angeführt  —  sowie  Fiktion  und  Vergleich  in  der  Rechts- 
wissenschaft (1915,  115  Seiten). 


<^-2  Bücherbesprechung. 

Weise  auch  im  Recht  (1918,  S.  24)  und  sodann  in  der  Begründung  des 
Rechts  auf  dem  Gefühle.  Diese  Gedanken  bilden  die  Grundlage  aller 
seiner  Schriften  und  werden  z.  B.  in  seinem  Hauptwerke  von  1910 
(S.  21)  bezeichnenderweise  wie  folgt  zusammengefaßt:  Jetzt  nach  meiner 
Theorie  ist  das  Recht  ein  in  allen  Menschen  als  durch  Zuchtwahl 
erworbenes  Rechtsgefühl,  das  durch  historisch  entwickelten  psycho- 
logischen Zwang  in  allen  Menschen  an  Gesetz  und  Übung  Rechtsgefühi 
geworden  ist,  waltende  Anpassung  im  exakten  Sinne  Darwins;  historisch 
notwendig,  final  entwickelt,  arterhaltend. 

Aufs  nachdrücklichste  betont  zu  haben,  we  Ursprung  und  Wachsen 
des  Rechts  aus  unserem  Gefühlsleben  hervorquillt,  bildet  m.  E.  eines 
der  beiden  Hauptverdienste  der  gesamten  Sturm  sehen  Lehre.  So  hat 
auch  Sturm  zur  Überwindung  der  seichten  Strömungen  mitgeholfen, 
die  im  Recht  nur  logische  Konstruktionen  sahen,  dabei  jedoch,  ähnlich 
wie  Stammler,  nicht  genügend  beachtet,  wie  stark  bei  der  Aufstellung 
von  Rechtssätzen  auch  unser  Intellekt,  unser  erkennendes  Bewußtsein 
mitarbeitet.  Den  zweiten  grundsätzlichen  Fortschritt,  den  Sturm 
l)ringt,  bildet  die  deszendenztheoretische  Betrachtung  des  Rechts  als 
rtwas  Arterhaltenden.  „Wir  nehmen  an,  daß  mit  dem  Menschen  in  seiner 
Mehrheit  Sprache  und  Recht  da  waren,  nachdem  sprach-  und  rechtlose 
Wesen  vorher  in  Jahrmillionen  sich  eijtwickelt,  weiter  gebildet  und  zum 
Teil  den  Untergang  erhtten  haben,  da  nur  das  Recht  die  Art  Mensch 
zu  erhalten  vermag,"  wobei  Sturm  unter  der  Art  Mensch  offenbar 
den  homo  sapiens  Linne  im  Gegensatze  zum  homo  alalus  primogenius 
Haeckeli  versteht.  Die  Unerläßlich keit  von  Rtch  seimichlungen  für  die 
menschliche  Gesellschaft  ist  zwar  schon  früher  gelegentHch  von  anderen, 
beispielsweise  von  Kant  sowie  von  Ihering  angedeutet  worden;  aber 
i^rst  der  von  Sturm  herbeigebrachte  Gesichtspunkt  von  der  Vererbung 
und  i\npassung  des  im  Kampf  ums  Dasein  höhergezüchteten  Rechts- 
triebes hat  m.  E.  volles  Licht  auf  den  Rechtsursprung  geworfen. 

Wenn  diese  beiden  begrüßten  Anregungen  auch  noch  des  systemati- 
schen Ausbaues  bedürfen,  so  möchte  ich  sie  doch  höher  schätzen  als 
viele  anderen  Folgerungen  Sturms.  Greifen  wir  von  diesen  nur  einige 
grundsätzHche  Lehren  heraus!  So  spricht  das  Werk  von  1918  viel  vom 
„psychologischen  Zwang  an  Gesetz  und  Übung";  früher  aber  meinte 
der  Verfasser  wiederholt,  das  Recht  zwänge  nie,  es  reagiere  nur  immer 
nachhinkend  (z.  B.  1916  S.  39).  Diese  beiden  Sätze  erscheinen  mir 
widerspruchsvoll,  da  nach  dem  ersten  auch  die  Seele  zur  Rechtsbefolgung 
gezwungen  wird,  nach  dem  zweiten  aber  ein  Zwang  nicht  stattfinden 
soll  und  die  frühere  Meinung  nicht  widerrufen,  sondern  durch  die  Lehre 
von  den  Rechtsreaktionen  auch  neuerdings  wiederholt  ist.  —  Nach 
dieser  ebenfalls  grundsätzlich  zu  beanstandenden  Theorie  von  den 
Rechtswirkungen  gibt  es  „fünf  in  der  Rechtsgeschichte  gewordene  Rechts- 
reaktionen": Zwangsvollstreckung,  Strafe,  Notwehr,  Duell  und  Krieg 
(1910  S.  i79f.,  1916  S.  2,  1917  S.  17,  1918  S.  21).  Setzen  wir  uns  über 
die  ernsten  Bedenken,  auch  Duell  und  Krieg  als  Recht.sreaktionen  an- 
zusehen, liinweg,  so  fällt  doch  noch  die  Unvollständigkeit  schwer  in  die 
Wage.     Denn  Einzieluing  der  Verbrechensgegenstände  —  beispielsweise 


Bücherbesprechung.  6?  ^ 

des  fremden  Jagdgewehres  —  und  Bußen  sind  ebenso  wie  Feststellungs- 
urteile^  Fürsorgeerziehung,  Ausweisungen  lästiger  Ausländer  u.  a.  m.  in 
der  Rechtsgeschichte  gewordene  Rechtsreaktionen,  fallen  aber  nicht 
unter  die  von  Sturm  aufgeführten  Gruppen. 

Ebensowenig  kann  ich  mich  zu  Sturms  Grundansichten  über  das 
Völkerrecht  bekennen.  Danach  erschöpft  sich  dieses  nämlich  im  so- 
genannten Friedensrecht;  ein  Kriegsrecht  soll  es  aber  nicht  geben.  Da 
jedoch  der  Krieg  in  Notwehr  nach  Sturm  selbst  Rechtsreaktion  ist, 
dieser  (z.  B.  1918  S.  28  u.  34)  auch  „Normen  über  den  Krieg,  Kriegs- 
regeln" anerkennt,  könnte  man  ebenso  unfruchtbar  .das  Strafrecht 
leugnen  und  lediglich  Normen  über  die  Strafe  gelten  lassen. 

Edler  Menschlichkeit  auf  nationaler  Grundlage  sind  die  Ziele  ent- 
sprungen, die  Sturm  dem  Völkerrechte  zuweist.  Nach  ihm  (1916  S.  57f.) 
muß  Mitteleuropa  mit  der  Durchdringung  des  deutschen  Friedens-  und 
Kulturgeistes  einen  Friedensbund  ohne  Haß  und  Neid  stiften,  dessen 
machtvolle  Ideen  sich  auch  die  Anderen  werden  anpassen  müssen.  Wenn 
er  jedoch  einen  Frieden  der  befreundeten,  aber  nicht  vereinigten  Staaten 
Europas  erhofft,  so  greift  er  damit  der  Entwicklung  für  absehbare  Zeit 
voraus,  hält  sich  indessen  von  weltfremdem  Pazifismus  doch  insoweit 
fern,  wie  er  einen  ewigen  Frieden  im  Sinne  Kants  für  unmöglich,  einen 
alle  Kulturwerte  bietenden  langen  Frieden  aber  als  erstrebenswert  be- 
zeichnet. Es  gilt  für  Sturm  nur,  das  Rechtsgefühl  in  uns  mit  seiner 
Friedensforderung  höherzuzüchten,  und  dafür  nennt  er  zwei  Haupte 
mittel:  einmal  den  Ausbau  der  zwischenstaatlichen  Schiedsgerichtsbar- 
keit königlich  gestellter  Richter  der  Nationen  und  zweitens  die  Errich- 
tung von  besonderen  Lehrstühlen  für  Rechtspsychologie.  Für  dieses 
Kolleg  schwebte  dem  Verfasser  noch  1916  (S.  17)  als  Gegenstand 
lediglich  eine  Art  angewandte  Psychologie  für  Juristen  vor,  wobei  er 
—  unter  Außerachtlassung  der  Psychologie  der  Zeugenaussage  —  nur 
Materien  nennt,  die  jetzt  m.  E.  durchaus  zweckentsprechend  grund- 
sätzlich teils  in  der  allgemeinen  Strafrechtslehre  und  teils  im  Kolleg 
über  Rechtsphilosophie,  ergänzend  auch  in  den  psychiatrischen  Vor- 
führungen für  Juristen  behandelt  werden;  in  den  letzten  Schriften  spricht 
Sturm  dagegen  von  einer  deutschen  Rechtspsychologie  als  Universi- 
tätsvorlesung, betont  dabei,  das  Recht  habe  als  Ausfluß  der  geschichtlich 
verschieden  gearteten  Volksseele  eine  nationale  Grundlage  (191 7  S.  46 
und  1918  S.  23),  und  kennzeichnet  die  Lage  treffend  wie  folgt:  ,, Völker- 
rechtsgefühle erstickt  der  Engländer  brutal  absichtlich;  diesen  Zweig 
des  Rechts  will  er  nicht  kennen.  Aber  gegen  das  Recht  wird  er  sich  nicht 
mit  Erfolg  auf  Dauer  wehren;  es  sind  auch  andere  Nationen  neben  ihm 
auf  der  Erde,  die  ihren  Besitz  haben,  die  der  Kolonien  bedürfen,  die 
sich  zu  schützen  wissen,  wie  die  Deutschen,  die  auch  durchsetzen  werden, 
daß  ihnen  die  Früchte  dieses  Krieges  bleiben,  die  nicht  im  Rechte  nach 
diesen  Weltgreueln  verzichten,  des  Blutes  der  Opfer  gedenkend.  —  Die 
Psychologie  der  Engländer  ist  eine  ganz  andere,  als  die  deutsche.  Die 
rein  egoistisch  beschränkte  Veranlagung  der  Engländer  ,  .  .  steht  der 
Jugendfrische  der  deutschen  Seele  .  .  .  schroff  gegenüber  .  . .  Der 
Hauptgrund  des  Gegensatzes  ist:  dem  Engländer  fehlt  jedes  Rechtsgefühl 

Annalen  der  Philosophie.    I.  43 


ßjA  Bücherbesprechung. 

gegen  Nichtengländer,  er  ersetzt  dort  Recht  durch  brutale  Gewalt/'  — 
oder  durch  gemeine  Heuchelei,  wie  wir  hinzufügen. 

Wenn  Sturm  es  hier  auch  an  positiven  Andeutungen  über  die 
britische  Vergewaltigung  des  Gedankens  der  Humanität  sowie  des 
Blockade-,  Konterbande-  und  Neutralitätsrechtes  fehlen  läßt,  so  stimmen 
wir  doch  rückhaltslos  seiner  Forderung  zu,  indem  wir  mit  ihm  und  der 
vor  Jahresfrist  gegründeten  Deutschen  Gesellschaft  für  Völkerrecht 
wünschen,  die  deutsche  Rechtsauffassung  bei  uns  wie  im  Auslande  zu 
fördern  sowie  den  moralischen  Druck  der  öffentlichen  Weltmeinung  zu 
unseren  Gunsten  zu  gewinnen  und  zu  stärken. 

Aus  der  Fülle  der  vielseitigen  und  anregenden  Gedankengänge,  die 
ausgearbeitet  schon  im  Hauptwerke  von  1910  dargeboten  werden,  uns 
aber  in  den  späteren  Heften  unter  nicht  immer  klaren  Verkürzungs- 
formen, zuweilen  auch  unter  bedenklich  erleichterter  Problemstellung 
wieder  begegnen,  muß  uns  hier  das  Erwähnte  genügen.  Einen  eigen- 
artigen, manchmal  freilich  weitschweifig-ermüdenden  Zug  erhalten  alle 
Schriften  durch  die  fortgesetzte  Stellungnahme  zum  älteren  und  neueren 
Schrifttum  der  verschiedensten  Wissenschaften.  Für  die  folgenschweren 
Mißverständnisse,  die  dabei  allerdings  gelegentlich  in  aller  Vorurteils- 
losigkeit unterlaufen,  sei  nur  ein  Beispiel  angeführt:  In  der  Ab- 
handlung über  Fiktion  und  Vergleich  in  der  Rechtswissenschaft,  wo 
sich  Sturm  angeregt  mit  Vaihingers  Philosophie  des  Als  Ob  aus- 
einandersetzt, bezeichnet  er  sich  (besonders  S.  i4f.)  insoweit  mit  diesem 
in  Übereinstimmung,  als  er  —  wie  Vaihinger  im  allgemeinen  —  so  für 
das  Recht  im  besonderen  die  Empfindung  als  Letztes  setze;  denn  die 
Rechtsempfindung  sei  ihm  der  Felsengrund  alles  Rechts,  Nun,  das 
Zurückgehen  auf  letzte  psychologische  Vorgänge  bildet  in  der  Tat  eine 
gewisse  Verwandtschaft  in  den  Grundanschauungen  und  Ausgangs- 
punkten beider  Forscher.  Aber  von  der  Anerkennung  einer  Rechts- 
empfindung bleibt  m.  E.  Vaihinger  weit  entfernt,  bedeutet  doch  für 
ihn  —  wie  für  die  gesamte  neuere  Fachpsychologie  ■ —  Empfindung  den 
Erfolg  eines  Reizes,  den  ein  Objekt  auf  unsere  Sinnesnerven  ausübt, 
aber  Gefühle  schlechthin  nicht  hervorzurufen  braucht,  wie  wir  ja  auch 
empfindungsleere  Gefühle  kennen.  Die  fortgesetzte  sachliche  wie  be- 
griffliche Vermengung  von  Empfindung  mit  Gefühl,  ja  sogar  mit  Trieb 
tut  dem  Erkenntniswerte  der  Rechtspsychologie  im  letztgenannten  Werke 
und  dem  von  1916  nicht  unerheblichen  Abbruch.  Wenn  übrigens  dort 
Sturm  ebenfalls  in  Anlehnung  an  Stammler  die  Bedeutung  der  Fiktion 
für  die  Willenswelt  des  Rechts  bestreitet,  so  verweisen  wir  demgegen- 
über auf  unsere  Ausführungen  oben  unter  II  am  Ende  und  unsere 
daselbst  angeführte  Einzeldarstellung;  die  Schlußbehauptung  aber,  einen 
fingierten  Willen  gäbe  es  nicht  (so  auch  1916  S.  32),  wird  schon  dadurch 
widerlegt,  daß  man  gelegentlich  nur  so  tut,  als  wollte  man  .  .  .  .,  sowie 
durch  die  schönen  Erfolge,  die  man  durch  eine  derartige  Finte  erreicht. 

Auf  die  metaphysische  Spekulation  des  Verfassers,  die  sich  z.  B.  in 
§  6  und  §  7  der  Schrift  von  1918  breit  auf  einer  Weltliebe  als  Gegen- 
seitigkeit von  Mensch  und  Welt  aufbaut,  das  Auge  sonnenhaft  und  die 
Sonne  augcnhaft  nennt  —  dabei  allerdings  die  ultra-roten  und  ultra- 


Bücherbesprechung.  675 

violetten  Strahlen  wohl  nicht  in  den  Kreis  der  Betrachtungen  gezogen 
wissen  will  — ,  nach  der  das  Menschenrecht  in  seiner  Weltliebe  soweit 
geht,  daß  es  alles  auf  den  Besitz  stützt,  und  wonach  auch  das  Atom, 
ehe  es  in  nichts  übergehe,  besitzt  (1916  S.  49):  darauf  brauchen  wir 
hier  nicht  näher  einzugehen.  Immer  aber  zeugen  die  Schriften  von 
tiefstem  sittlichen  Ernste  wie  von  einem  unermüdlichen  Streben  nach 
Erkenntnis  —  und  darin  hat  Sturm  ganz  recht:  Das  Herz  macht  den 
richtigen  Juristen! 


Praktische  Erziehungskunst  für  das  neue  deutsche  Volk.  Von 
Dr.  Otto  Gramzow.  188  S.  Charlottenburg  1917,  Georg  Bürkners 
Verlag. 

Aus  der  erzieherischen  Praxis  in  inniger  Berührung  mit  der  seelischen 
Eigenart  des  Kindes  gewonnen  und  getragen  von  einem  feinen  Ver- 
ständnis für  die  nationalen  und  kulturellen  Notwendigkeiten  unseres 
Volkes  bildet  Gramzows  Erziehungsbuch  eine  erfreulich  lebensnahe 
Erscheinung  unter  der  Hochflut  pädagogischer  VeröffentUchungen. 
Gramzow  will  mit  praktischen  Winken  der  häuslichen  Erziehung 
dienen  und  das  Verhältnis  zwischen  dieser  und  der  Schulerziehung  durch 
starke  Betonung  eines  eingehenden  Studiums  der  Menschen-  und  Kindes- 
natur organischer  gestalten.  Die  Pädagogik  ist  ihm  eine  Kunst,  das 
Wissen  von  ihr  eine  Kunstlehre.  So  stellt  er  die  Persönlichkeit  des 
Erziehers  in  den  Vordergrund.  Um  diese  und  seine  Tat  gruppiert  sich 
das  erzieherische  Vollenden.  Man  könnte  Gramzows  Werk  den  Ver- 
such einer  Erziehung  zur  Tat  durch  die  Tat  nennen.  Dennoch  wird  die 
Wirksamkeit  der  Ideale  in  der  Erziehung  nicht  verkannt.  Zwar  läßt 
es  sich  Gramzow  angelegen  sein,  auf  die  wirklichkeitsferne  Verstiegen- 
heit kosmopolitischer  Schwärmereien  hinzuweisen  und  vor  ihnen  dringend 
zu  warnen,  doch  ist  er  selbst  deswegen  nicht  jedes  Idealismus  bar.  Er 
gewinnt  vielmehr  seine  Erziehungsideale  in  richtiger  Einschätzung  der 
Wirklichkeit.  Er  leitet  die  Aufgabe  der  Erziehung  aus  den  Aufgaben 
ab,  die  Zeitlage  und  Umgebung  an  die  Nation  stellen  und  formuliert 
deshalb:  leibliche  und  geistige  Kraftbildung  bis  an  die  äußersten  Grenzen 
der  Möglichkeit,  Vertiefung  des  Sinnes  für  Hein>at  und  Volkstum.  —  Es 
ist  hier  nicht  der  Ort,  im  einzelnen  auf  die  Fülle  praktischer  Gesichts- 
punkte einzugehen,  die  Gramzow  mit  großer  Sorgfalt  und  Liebe  für 
das  Kind  und  mit  ausgeprägtem  realpolitischen  Verständnis  entwickelt. 
Es  sei  nur  festgestellt,  daß  wir  wenig  Werke  pädagogischen  Charakters 
kennen,  die  so  mitten  in  der  Sache  stehen  wie  das  seinige,  mag  man 
sich  zu  seinen  theoretischen  Begründungen  (auch  an  diesen  fehlt  es  nicht, 
obwohl  sie  bei  der  ausgesprochen  praktischen  Einstellung  des  Buches 
wenig  in  den  Vordergrund  treten)  verhalten  wie  man  will. 

Erwähnen  möchten  wir  bei  dieser  Gelegenheit,  daß  der  Verfasser 
(S.  96)  insofern  Stellung  zum  Fiktionalismus  nimmt,  als  er  die  Fiktion 
der   Willensfreiheit  für  die   praktischen   Wissenschaften   (Erziehung 

43* 


(576  Bücherbesprechung. 

und  Rechtspflege)  ablehnt.  „Die  Voraussetzung  der  Willensfreiheit  ist 
in  den  praktischen  Wissenschaften  keine  Fiktion  oder  bewußt  falsche 
Annahme,  wie  Hans  Vaihinger  in  seiner  Philosophie  des  Als  Ob 
zu  beweisen  gesucht  hat,  sondern  gründet  sich  einfach  auf  Erfahrung." 
So  einfach  erscheint  uns  die  Sache  nun  nicht.  Die  Willensfreiheit  kann 
nicht  Gegenstand  irgendeiner  Erfahrung  sein,  sie  stellt  vielmehr  in  der 
Geschichte  der  Erziehung  wie  der  Rechtslehre  ein  heiß  umstrittenes 
Dogma  dar.  Daß  dieser  Streit  um  leere  Worte  geht,  solange  es  sich  um 
die  „objektive  Tatsache"  der  Willensfreiheit  handelt,  und  daß  dieser 
Streit  nur  Sinn  hat,  wenn  er  um  die  ,, praktische  Brauchbarkeit"  der 
fiktiven  Annahme  einer  Willensfreiheit  geführt  wird,  dafür  hat  Vaihinger 
Verständnis  wachrufen  wollen.  Es  ist  ein  Mißverständnis,  wenn  man  den 
Fiktionalismus  ledigHch  so  interpretiert,  wie  es  Gr.  tut,  daß  man  den 
Ton  auf  die  ,, Falschheit"  einer  fiktiven  Annahme,  somit  auf  ihre  Ver- 
wandtschaft mit  dem  ,, Irrtum"  legt.  Der  viel  wichtigere  Gesichtspunkt, 
den  Gr.  scheinbar  ganz  aus  dem  Auge  verliert,  ist  die  „Nützlichkeit" 
einer  solchen.  Wenn  die  Willensfreiheit  von  Vaihinger  als  Fiktion 
angesprochen  wird,  so  liegt  darin  eine  Veredelung  des  „Irrtums".  Der 
Schein  wird  in  die  Sphäre  der  praktischen  Brauchbarkeit,  praktischen 
Notwendigkeit  erhoben.  Die  fiktive  Annahme  der  Freiheit  des  Willens 
ist  den  praktischen  Wissenschaften:  Erziehung  und  Rechtslehre  eine 
Notwendigkeit,  an  der  ihr  ganzer  Bestand  hängt.  Mag  die  Theorie  noch 
so  überzeugend  ein  Veto  gegen  die  Richtigkeit  einlegen,  mag  der  Streit 
um  die  Willensfreiheit  ein  Ende  nehmen,  welches  er  wolle,  für  die  prak- 
tischen Wissenschaften  ist  allein  seine  Brauchbarkeit  entscheidend. 
Da  ist  es  denn  kein  Wunder,  wenn  die  Rechtslehre  den  Willen  behandelt, 
,,als  ob"  er  beeinflußbar  wäre,  und  wenn  die  Erziehung  das  Gleiche  tut, 
d.  h.  wenn  sie  als  praktische  Wissenschaften  da  keine  Probleme  sehen, 
wo  sich  die  Menschen  theoretisch  „seit  Jahrtausenden"  streiten,  denn 
ohne  die  wenigstens  fiktive  Annahme  der  Beeinflußbarkeit  des  Willens 
ist  weder  Recht  noch  Erziehung  möglich. 

Raymund  Schmidt. 


Zum  Gedächtnis 


von 


Dr.  Fritz  Sommerlad 

Studienanstaltsdirektor  zu  Magdeburg 

geb.  i6.  Februar   1866 
gest.  2.  Mai  1918 


Dem  Andenken  dieses  durch  die  Kriegsentbehrungen 
allzu  früh  dahingerafften  Mannes  sei  dieses  Blatt  gewidmet. 
Sein  Name  darf  und  muß  hier  ehrenvoll  genannt  werden: 
War  er  doch  der  erste,  der  die  Begründung  dieser  Zeit- 
schrift als  ein  Bedürfnis  erkannte,  forderte  und  förderte. 
Nach  ihm  hat  dann  besonders  noch  Rudolf  Goldscheid 
und  mancher  andere  denselben  Gedanken  geäußert,  aber 
Sommerlad  war  der  erste.  Gerade  ihm  aber  war  es  nicht 
mehr  vergönnt,  das  Erscheinen  des  ersten  Bandes  zu  er- 
leben, an  dem  er  seine  besondere  Freude  gehabt  hätte. 
War  doch  gerade  in  ihm  der  Grundgedanke  der  Als-Ob- 
Betrachtung  zu  einer  lebendigen  Macht  und  zum  ent- 
scheidenden Ferment  seiner  Welt-  und  Lebensanschauung 
geworden.  Ihm  war  dieser  durch  Kant,  Schiller,  For- 
berg und  F.  A.  Lange  begründete  ,, Standpunkt  des  Ideals" 
zum  persönlichen  Besitz  und  zur  Grundlage  seiner  Persön- 
lichkeit geworden.  Schon  längst  hatten  seine  eigenen  Studien 
auf  naturwissenschaftlichem  und  philosophischem  Gebiet 
ihn   zu   ähnlichen  Überzeugungen  geführt,    die   ihm   durch 


678 


Zum  Gedächtnis  von  Dr.  Fritz  Sommerlad. 


die  „Philosophie  des  Als  Ob",  wie  so  vielen  anderen  nicht  erst 
gegeben,  sondern  nur  deutlich  zum  Bewußtsein  gebracht  wurden. 
So  wurde  er  nicht  von  außen  her,  sondern  von  innen  heraus  ein 
Bekcnner  der  Als  -  Ob -Auffassung  der  Ideale,  und  empfand  diesen 
Standpunkt  des  Als  Ob  als  ,, Erhebung  und   Befreiung". 

Das  Eigentümliche  des  seltenen  Mannes  hat  sein  Kollege^ 
Studienrat  Dr.  Koppe,  in  einer  (auch  im  Druck  erschienenen) 
Gedenkrede  anschaulich  geschildert.  Sein  früher  Hingang  hat  ihm 
die  Möglichkeit  abgeschnitten,  in  einem  eigenen  Werke  seine 
Anschauungen  darzulegen.  Aber  er  hat  doch  noch  eine  Ge- 
legenheit gefunden,  sich  öffentlich  zu  jenem  Standpunkt  zu  be- 
kennen. In  einer  Abschiedsrede  an  seine  Abiturientinnen  im 
Jahre  1916,  die  auch  im  damaligen  Jahresprogramm  der  Anstalt 
abgedruckt  wurde,  hat  er  seiner  Überzeugung  unzweideutigen 
Ausdruck  verliehen. 

Wir  teilen  aus  dem  Manuskript  folgende  schöne  Stelle  mit, 
die  teilweise  wie  ein  Programm  unserer  Zeitschrift  anmutet. 

,,Und  wenn  ich  Ihnen  nun  weiter  von  der  Weisheit  spreche, 

„so  verstehe  ich  unter  diesem  Worte  freilich  gar  mancherlei,  was 

„ich  eben  in  ein  Wort   zu  fassen  gesucht  habe.    Vielleicht  haben 

,, gewisse    Bemerkungen    Friedrich    Nietzsches  —  eines    großen 

,, Geistes,   das  soll  hier  doch  noch  einmal   mit    Nachdruck  ausge- 

,,sprochen   werden  —  dessen    Größe   und   Tiefe   man  immer   mehr 

,, erkennen    wird    —   mich   darauf   geführt,    in   diesem  Worte,    im 

,, Gegensatz    zu    Wissenschaft,     zusammenzufassen,    was    ich 

„meine.    —   Wir  haben  im  geistigen  Leben  nicht  nur  Wissen- 

„Schaft,   und   wenn  eine   neuere   philosophische   Auffassung  aus- 

, .spricht,  daß  letzte  und  höchste  Erkenntnisse  niemals  von  der 

„Wissenschaft   erbracht   und   geboten   würden,   so   müßten  wir  ja 

,, angesichts    dieser   Behauptung   mit   all   unserer  Wissenschaft  be- 

,, trübt    und   erschreckt   dastehen  —  wenn    die   Wissenschaft    die 

,, einzige  geistige  Betätigung  für  uns  wäre.     Aber  es  gibt  ja  noch 

,, andere  Kreise   menschlicher   Geistestätigkeit   —  auch  Sie  sind 

,,in  andere  Kreise  hier  in  der  Schule  eingeführt  worden:  Da  sind 

„die  großen  Gebiete  der  Kunst,  der  Sittenlehre,  der  Religion, 

,,dcr   philosophischen  Wcltbetrachtung.      Es    sind    die    Gc- 

„bicte,    wo    der   menschliche    Geist    nicht    mehr    Gegebenes    nur 


Zum  Gedächtnis  von  Dr.  Fritz  Sommerlad.  6  70 

trennend   und  verbindend  ordnet,  sondern  wo  er  selbst  formt. 


bildet,  gestaltet,  schöpferisch  tätig  wird. 

,,Das  aber  ist  Weisheit  im  weitesten  Sinne:  in  Über- 
schreitung des  wissenschaftlich  Festgestellten  oder  in 
Absehung  von  dem  wissenschaftlich  Festgestellten  — 
bewußt  oder  auch  unbewußt  —  ,, unbewußter  Weisheit  froh" 
heißt  es  von  den  Kindern  in  Rückerts  wundervollem  Gedicht: 
Aus  der  Jugendzeit"  —  das  ist  Weisheit:  selbsttätig  und 
selbständig  geistige  Gebilde  zu  schaffen,  die  den  Menschengeist 
als  Erkenntnisse  befriedigen,  die  ihn  erheben  und  über  der  ge- 
meinen Alltäglichkeit  halten,  die  ihn  zum  Handeln  zwingen,  die 
ihm  eine  andere,  besondere,  höhere  Welt  —  es  ist  die  Welt  des 
Ideals  —  ausgestalten.  Weisheit  ist  es,  wenn  der  Künstler 
sein  Idealbild,  losgelöst,  bew-ußt  oder  auch  unbewußt  losgelöst 
von  der  gegebenen  und  durch  Wissenschaft  geordneten  Welt  dahin- 
stellt—  Weisheit  ist  es,  wenn  der  Religionsstifter  seine  ideale 
Gotteswelt  gestaltet  und  hineinstellt  in  diese  Welt  ohne  Gott  aus 
seinem  tiefen  Religionsempfinden  heraus,  aus  seiner  Sehnsucht 
nach  der  großen  Allheit  in  und  über  dem  Leben  —  und  wenn  er 
die  anderen  Menschen  zu  dieser  Welt  führen  möchte  —  Weis- 
heit ist  es,  wenn  der  Philosoph  seine  Welt,  eine  Welt  aus- 
gestaltet mit  allen  seinen  Vernunftkräften,  in  seiner  Welt- 
anschauung als  die  wahre  Welt  darstellt;  — Weisheit  ist  es, 
wenn  der  Sittenlehrer,  der  Ethiker,  eine  Welt  dahinstellt,  frei 
und  unabhängig  von  dieser  unserer  Welt,  bestimmt  durch  innere, 
vom  Menschen  selbst  aus  sich  hineingetragene  Gesetze  —  und 
überall  ist  es  für  die  wahrhafte,  bewußte  Weisheit  dabei  so, 
daß  sie  sagt :  ich  gestalte  diese  meine  Welt,  die  künstlerische,  die 
religiöse,  die  sittliche,  die  philosophische  ohne  den  Beweis  an- 
zutreten, daß  der  Grund  und  Ausgang  dieser  Gestaltung  wirklich 
in  der  Welt  sei  —  wie  könnte  sie  das  beweisen?  —  sondern  wie 
wenn  er  da  sei,  als  ob  er  da  sei  —  und  auf  diesem  Grunde  baut 
er  auf,  nach  diesem  Maße  mißt  er  den  Bau  aus.  Es  entstehen  so 
überall  Welten  aus  Ideen  —  und  die  Ideen  sind  nicht  draußen 
da  sucht  sie  der  Tor"  —  sie  sind  in  dem  Menschen,  er  erzeugt  sie. 
Wie  Schiller,  der  diese  Weltauffassung  von  den  Früheren  vor 
nehmlich  ausgebildet  und  dichterisch  mitgeteilt  hat,  zu  uns  spricht: 


^gQ  Zum  Gedächtnis  von  Dr.  Fritz  Sommerlad. 

,,Drum,  cdlc  Seele,  entreiß  dich  den  Wahn 

Und  den  himmhschen  Glauben  bewahre. 

Was  kein  Ohr  vernahm,  was  die  Augen  nicht  sahn, 

Es  ist  dennoch  das  Schöne,  das  Wahre. 

Es  ist  nicht  draußen,  da  sucht  es  der  Tor, 

Es  ist  in  dir  —  du  bringst  es  ewig  hervor." 

,,Was  aber  die  Größesten  der  Menschen  hier  an  tiefster  Weis- 
,,heit  in  diesem  allgemeinsten  Sinne  geschaffen  haben,  teils  in 
,, klarstem  Bewußtsein,  daß  sie  selbst  allein  es  schufen,  teils  in 
,,dunkelem  unbewußten  Schaffenstrieb,  teils  auch  im  Glauben,  um 
„nicht  zu  sagen,  im  Wahne  an  die  äußere  Realität  dieser  Ideen: 
,,an  all  dem  haben  wir,  haben  Sie  Anteil  bekommen  und  jeder  darf 
,, daran  nach  seiner  Art  und  Kraft  weiter  bauen  —  und  niemand 
,,kann  ohne  diese  Begleiterin  Weisheit,  die  dem  Leben  erst 
„Inhalt  und  Wert  verleiht,  auskommen." 

HAVE,    PIA,  ANIMA, 

H.  V. 


c<ll 


Eingegangene  Bücher. 

(Für    nicht   eingeforderte  Schriften    wird   eine  Verpflichtung   zur  Besprechung    nicht 

übernommen.) 

i  Richard  MüUer-Freienfels,  Das  Denken  und  die  Phantasie.  Leipzig  1916. 
Johann  Ambrosius  Barth.     S.  660 ff. 

I  Felix  Somlö,  Juristische  Grundlehre,     Leipzig   1917.     Felix  Meiner.     S.  666ff. 

I  B  e  r  n  a  r  d  N  e  1  s  0  n ,  Die  Rechtswissenschaft  ohne  Recht.  Leipzig  i  q  1 7  •  Veit  &  Comp. 
S.  669  fl'. 

I  August  Sturm,  Die  psychologischen  Grundlagen  des  Rechts.  Honnover  1910. 
Helwing'sche  Verlagsbuchhandlung.     S.  672  f. 

t  Derselbe,  Grundlagen  und  Ziele  des  Rechts,  besonders  des  heutigen  Völker- 
und  Friedensrechtes.     Halle  a.  S.  1916.     Fritz  Maeunel.     S.  672  f. 

t  Derselbe,  Fiktion  und  Vergleich  in  der  Rechtswissenschaft.  Hannover  1915. 
Helwing'sche  Verlagsbuchhandlung.     S.  672 f. 

-j-  Otto  Gramzow,  Praktische  Erziehungskunst  für  das  neue  deutsche  Volk,  Char- 
lottenburg 191 7.     Georg  Brückners  Verlag.     S.  676. 

*  Johannes  Volkelt,  Gewißheit  und  Wahrheit.     München    1918.    C.  H.  Beck'sche 

Verlagsbuchhandlung. 
♦Derselbe,   Festschrift  zum    70.  Geburtstag.     München    1918.      C.  H.  Beck'sche 
Verlagsbuchhandlung. 

*  P.  F.  Lincke,   Grundfragen    der   Wahrnehmungslehre,      München    1918,      Ernst 

Reinhardt. 

*  Wilhelm  Koppelmann,  Zur  Logik  der  Gegenwart.    Bd.  I  u.  IL    Berlin  1913 

und   19 18.     Reuther  &  Reichardt. 

*  Paul   Deussen,    Allgemeine    Geschichte   der   Philosophie   11,3.      Leipzig    1917. 

F.  A.  Brockhaus. 

*  Kurt  Steruberg,  Der  Kampf  zwischen  Pragmatismus  und  Idealismus  in  Philo- 

sophie und  Weltkrieg.     Berlin   191 7.     Reuther  &  Reichardt. 
»Hermann   Otto,   Der   Prozeß   als  Spiel.     Dresden   J018.     A.  Dresseis  Akadem. 

Buchhandlung. 
♦Bruno  Bauch,  Immanuel  Kant.     Leipzig  1917.     Göschen. 

*  Wobbermin,   Die  religionsphilosophische  Methode  in  Religionswissenschaft  und 

Theologie.     Leipzig  191 5.     Hinrichs'sche  Buchhandlung. 

*  James  Wobbermin,  Die  Mannigfaltigkeit  der  religiösen  Erfahrung.    Leipzig  1917- 

Hinrichs'sche  Buchhandlung, 
»  Rehmke,  Logik  oder  die  Philosophie  als  Wissenslehre.    Leipzig  1918.    Quelle  & 

Meyer, 

•f  Besprochen  im  vorliegenden  Bande  der  Annalen. 
*  Besprechung  in  Vorbereitung. 


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3 

A55 
Bd.l 


Annalen  der  Philosophie  nnc 
philosophischen  Kritik 


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