ANMALEN
^'/ DER
PHILOSOPHIE
— ' — / ' -
Mit besonderer Rücksicht auf die
Probleme der Als -Ob -Betrachtung
In Verbindung mit
KARL HEIM, D. theol., Dr. phil,, o. Prof. der Theologie an der Universität Münster,
PAUL KRÜCKMANN, Dr. jur.. Geh. Justizrat, o. Prof. der Rechte an der Universi-
tät Münster, EMIL ABDERHALDEN, Dr. med., Dr. phil. h, c, Geh. Medizinalrat,
o. Prof. der Physiologie an der Universität Halle 1= MORITZ PASCH, Dr. phil.,
Geh. Hofrat, o. Prof. der Mathematik an der Universität Gießen, PAUL VOLKMANN,
Dr. phil., Geh. Regierungsrat , o. Prof. der Physik an der Universität Königsberg,
ADOLF HANSEN, Dr. phil., Geh. Hofrat, o. Prof. der Botanik an der Universität
Gießen, LUDWIG POHLE, Dr. phil., Dr. h. c. der Staatswissenschaften, Geh. Regie-
rungsrat, o. Prof. der Nationalökonomie an der Universität Leipzig, KONRAD LANGE,
Dr. phil., o. Prof. der Kimstgeschichte und Ästhetik an der Universität Tübingen 1=
ERICH BECHER, Dr. phil,, o. Prof. der Philosophie imd Psychologie an der Universi-
tät München, ERNST BERGMANN, Dr. phil., a. o. Prof. der Philosophie an der
Universität Leipzig, HANS CORNELIUS, Dr. phil.. Geh. Regierungsrat, o. Prof der
Philosophie an der Universität Frankfurt, KARL GROOS, Dr. phil., o. Prof der Philo-
sophie an der Universität Tübingen, KURT KOFFKA, Dr. phil., a. o. Prof der Philo-
sophie und Psychologie an der Universität Gießen, ARNOLD KOWALEWSKI,
Dr. phil., Prof., Privatdozent der Philosophie an der Universität Königsberg
herausgegeben von
HANS VAIHINGER und RAYMUND SCHMIDT
-ß^
/
Erster Band
v:
LEIPZIG :: VERLAG VON FELIX MEINER :: 1919
ß
Copyright 1919 by Felix Meiner in Leipzig.
i) r 3'
Druck von MeUijer & Wittig in I-cip^ig-
Programm der Zeitschrift.
Die ,, Philosophie des Als-Ob", die IQII in erster, 1913 in
zweiter, 191 8 in dritter Auflage erschienen ist, hat die Aufmerk-
samkeit weiter Kreise auf sich gezogen. Hervorgegangen aus
einer methodischen Überschau über die verschiedensten Wissens-
und Lebensgebiete hat sie so vielfache Beachtung gefunden, daß
es angezeigt erscheint, die Diskussion über sie, die nicht bloß in
Fachkreisen, sondern auch bei den Vertretern der Einzelwissen-
schaften mannigfach eingesetzt hat, fortan in einem eigenen Organ
zu vereinigen. Was als Einzeläußerung unter der Fülle der Gegen-
wartserscheinungen leicht verloren gehen kann, soll hier in frucht-
baren Zusammenhang gestellt werden und so Gelegenheit finden,
sich in Wirkung und Gegenwirkung abzurunden und womöglich
sich mit verwandten Bestrebungen zu einem neuen Ganzen zu-
sammenzufügen.
Es handelt sich in erster Linie darum, die in der Als-Ob-
Betrachtung zum Ausdruck kommende Methode zu untersuchen,
sie auf ihren logischen Wert und ihre psychologische Grundlage
hin zu prüfen, und Umfang und Grenzen ihrer Anwendbarkeit
in Wissenschaft, Leben und Weltanschauung festzustellen.
Aus dieser Prüfung sollen die Resultate hervorgehen. Es
sollen kritische Resultate sein. Der Standpunkt der Philosophie
des Als-Ob soll nicht dogmatisch und dogmatisierend die Beiträge
der Mitarbeiter binden oder beeinflussen, sondern soll vielmehr
selbst erst zur eigentlichen Vollendung gebracht, und wenn es die
Sachlage ergibt, bis zur Überwindung durch einen höheren
Standpunkt weitergeführt werden.
Es besteht also für die Mitarbeiter der ,,Annalen" keinerlei
Verpflichtung auf irgendeine feststehende Formel. Auch der
Widerspruch kann die Entwicklung fördern; so ist den Heraus-
gebern die objektive Kritik der Als-Ob-Betrachtung ebenso
willkommen wie die positive Mitarbeit am Ausbau ihrer Prin-
zipien.
Ein weiteres Gebiet von Aufgaben eröffnet sich im Hinblick
auf die Vergangenheit. Hier ist zu untersuchen, in welchem Um-
IV Programm der Zeitschrift.
fange die Geschichte der Philosophie Spuren einer der Als-Ob-
Lehre verwandten oder gleichartigen Betrachtung aufweist. Natür-
lich wird in dieser Richtung auf strengste wissenschaftliche Sach-
lichkeit gesehen werden, denn nichts liegt den Herausgebern
ferner, als der Geschichte der Philosophie in irgendeinem Punkte
Gewalt antun zu wollen.
In bezug auf die Probleme der Weltanschauung sucht die
,, Philosophie des Als-Ob" einen Mittelweg zwischen Idealismus
und Positivismus, deren schroffer Gegensatz unsere Zeit so zwie-
spältig macht. Und so wird denn auch die Tendenz der ,,An-
nalen", obwohl sie keinen bestimmten Weg vorschreiben, auf
die Überwindung dieses Gegensatzes gerichtet sein.
Dieses Interesse ist durch die Zeitlage unterstützt. Die außer-
ordentlichen Ereignisse der letzten Jahre haben viele zu der Über-
zeugung geführt, daß der ältere Idealismus in seinen bisherigen
Formen zu wenig die rohe, vernunftlose und vernunftwidrige
Tatsächlichkeit berücksichtigte, und zu einseitig eingestellt war
auf die Macht des Geistigen und die Herrschaft der Vernunft;
diesen antirealistischen Neigungen entsprach ein dogmatischer,
und darum vielfach irreführender metaphysischer Wirklichkeits-
begriff. Die in ihrer Weise großartige Unterschätzung des Realen,
welche von diesem Idealismus ausgegangen ist, entspricht nicht
der Welt, mit der wir zu rechnen haben. Die volle Anerkennung
des Wirklichen ist vielmehr selbst ein Stück Idealismus, und zwar
nicht nur, insofern sie sich als eine Forderung des Wahrheits-
ideals erweist, sondern vor allem auch deshalb, weil sie die grund-
legende Voraussetzung ist für jede ideelle Beherrschung des Wirk-
lichen.
Andererseits wird es dem Positivismus, der diese Beherrschung
als eine lediglich technische versteht, niemals gelingen, ein Ge-
schlecht oder ein Volk zu jener geistigen Erhebung über das
Wirkliche zu befähigen, die der Anfang aller inneren Größe ist.
Auch hierin haben die Erfahrungen der letzten Jahre als Lehr-
meister gewirkt: Viele, die sich bis dahin nur an das Tatsächliche,
also ausschließlich an die empirische Wirklichkeit, gehalten hatten,
fanden durch ihr äußeres und inneres Erleben den Zugang zu der
Überzeugung, daß überall ideale Werte mitwirken, die der mensch-
liche Wille sich selbst setzt und setzen muß, und so suchte ihr
Positivismus von selbst nach einer Ergänzung durch den Idea-
lismus. Blindheit gegen die geistigen Werte, die jenseits des
Programm der Zeitschrift, V
technischen Könnens hegen, ist ein Zustand, gegen dessen zer-
setzende Wirkungen alle Kräfte einer charalrtervollen Philosophie
aufgeboten werden müssen.
Was der Idealismus eines Kant und Fichte, eines Hegel
und Schleiermacher, eines Lotze und Windelband dauernd
Wertvolles geschaffen hat, muß erhalten bleiben, aber nicht
minder auch dasjenige, was an den realistischen Ergänzungen,
die ein Herbart, ein Schopenhauer und E. v. Hartmann zu
jenem Idealismus hinzufügten, überzeugend ist. Dies muß ver-
bunden werden mit dem, was der Positivismus eines Laas und
Schuppe, eines Mach und Avenarius an Brauchbarem er-
arbeitet hat.
So bedürfen beide Richtungen, Idealismus und Positivis-
mus, gerade weil sie sich gegenwärtig zum Teil so verständnislos
gegenüberstehen, einer neuen, durchgreifenden Aufklärung ihrer
Beziehungen; ihr Ausgleich kann sich nur vollziehen unter gründ-
licher Berücksichtigung der Psychologie, wie sie in den letzten
Jahrzehnten sich entwickelt hat.
Diese Arbeit im weitesten Sinne zu leisten, haben sich Heraus-
geber und Mitarbeiter der ,,Annalen" entschlossen. Tatsachen und
Ideale, Wirklichkeiten und Werte, Gegebenes und Aufgegebenes
in inneren Einklang miteinander zu setzen oder einem solchen
wenigstens entgegen zu führen, ist eines der Hauptziele, worauf
sie hinarbeiten.
So stellen die vorstehenden Ausführungen kein Bekenntnis
dar, sondern vielmehr lediglich ein Programm, eine Aufgabe, an
deren Lösung sich im Interesse der wissenschaftlichen Gesamtheit
nun auch die wissenschaftliche Gesamtheit beteiligen soll.
Bisher hat es an einer fruchtbaren Wechselwirkung zwischen
Einzelwissenschaften und Philosophie gefehlt. Wohl haben ge-
legentlich und mehr zufällig solche gegenseitige Förderungen statt-
gefunden, aber es fehlte an einem gemeinsamen Platze, auf dem
Philosophen einerseits und Vertreter der einzelnen Fachwissen-
schaften andererseits zusammen kommen und zusammen arbeiten
konnten. In diesem Sinne sind als Mitwirkende an dieser Zeit-
schrift am Kopfe derselben nicht bloß Vertreter der Philosophie
aufgezählt, sondern auch je ein Vertreter der Theologie, der Juris-
prudenz und der Medizin, die in traditioneller Reihenfolge der
Fakultäten den Reigen eröffnen; darauf folgt ein Mathematiker,
je ein Vertreter der unorganischen und der organischen Natur-
VI Programm der Zeitschrift.
Wissenschaften, ferner ein Nationalökonom und dazu tritt ein
Kunsthistoriker resp. Ästhetiker. Diesem folgen die Philosophen
im engeren Sinne, die die Reihe schließen. Diese auf dem Titel
aufgezählten Gelehrten stimmen diesem Programm der Zeitschrift
zu, wobei sie noch besonderen Wert darauf legen, hier zum Aus-
druck zu bringen, daß sie damit keine direkte oder indirekte Zu-
stimmung zu den in der ,, Philosophie des Als-Ob" ausgesprochenen
Anschauungen erklären wollen, daß sie aber die in dem genannten
Werke behandelten Probleme für solche halten, die durch weitere
wissenschaftliche Diskussion zur Klärung gebracht werden müssen.
Eine Verantwortung für den Inhalt der einzelnen Beiträge in der
Zeitschrift übernehmen sie nicht.
Um die Erreichung unserer Ziele nach Möglichkeit zu fördern,
haben sich die ,,Annalen" zur Aufgabe gemacht, durch entsprechende
Abhandlungen aus allen Gebieten der Philosophie und der ein-
schlägigen positiven Wissenschaften, sowie durch Besprechung
wertvoller Neuerscheinungen die gegenseitige Aussprache zu be-
leben und das philosophische Interesse zu fördern.
Halle und Leipzig, im Januar 1919.
Hans Vaihinger. Raymund Schmidt.
Vorbemerkungen der Redaktion zum ersten Bande.
Die Herausgabe dieses ersten Bandes, zu der wir uns im
dritten Jahre des Weltkrieges entschlossen und die während seines
vierten Jahres durchgeführt wurde, ist natürlich durch die Stürme
dieser Zeit mannigfach gestört worden. Unsere Dispositionen
mußten wir daher während des Druckes öfters ändern. So ist der
jetzige Einführungsartikel über die allgemeine Bedeutung der Philo-
sophie des Als Ob der Stellvertreter für eine viel umfangreichere
und umfassendere, tiefer bohrende und höher zielende Abhand-
lung, die uns in Aussicht gestellt worden war. Auch andere fest ver-
sprochene Beiträge riß der schreckliche Gott des Krieges uns aus
den Händen. So ist es auch gekommen, daß von einem und dem-
selben Autor zwei Beiträge gebracht werden mußten, wodurch dieser
Band allerdings eine sachlich wertvolle Bereicherung erfahren hat.
Auch die Anordnung der einzelnen Beiträge ist durch jene
Hindernisse beeinflußt worden, so daß wir nicht durchaus die
wissenschaftlich zweckmäßigste Gruppierung treffen konnten. So
mußte ein Beitrag, der an die vierte Stelle gehört hätte, an den
Schluß gesetzt werden.
Trotz dieser Störungen ist es uns gelungen, diesen Band noch
zum Schluß des Jahres 1918 fertigzustellen, und wir können un-
gesäumt an die Herausgabe des zweiten Bandes gehen, zu dem
uns schon wertvolles Material zugegangen ist.
Entsprechend unserem vorstehend abgedruckten Programme
nehmen wir auch unbedenklich Beiträge auf, welche gegen einzelne
Ausführungen der Philosophie des Als Ob oder auch gegen deren
prinzipielle Grundlegungen gerichtet sind. Wir betrachten es
aber nicht als unsere Aufgabe, derartige kritische Ausführungen
selbst unsererseits nachzuprüfen und unsere eigene Stellungnahme
dagegen zum Ausdruck zu bringen. Die weitere Entwicklung
der Wissenschaft wird schon von selbst dazu führen, daß un-
genügend motivierte und zu weitgehende Negationen wieder ihre
Korrektur finden. In diesem Sinne bitten wir, unser Stillschweigen
zu kritischen Ausführungen durchaus nicht etwa als Zustimmung
oder gar etwa als Zugeständnis der Unmöglichkeit der Widerlegung
unsererseits zu betrachten, sondern erinnern ausdrücklich daran,
daß alle Beiträge unter ausschließlicher Verantwortung der ein-
zelnen Verfasser selbst erscheinen. Daher wird die Redaktion nur
in ganz besonderen Fällen zu einer Antikritik das Wort nehmen.
Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes.
Seite
Programm der Zeitschrift III
Vorbemerkungen der Redaktion zum ersten Bande VTI
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. Von Ottmar Dittrich,
Dr., Prof, a. d. Univ. Leipzig i
Die Religionsphilosophie des Als-ob. Von Heinrich Scholz, Dr. phil. et
theol., ord. Prof. a. d. Univ. Breslau 27
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. Von Prof. Krückmann, Dr. jr.,
Geh. Justizrat, o, Professor der Rechte an der Univ. Münster . . . 113
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft.
Von Marine-Oberassistenzarzt d. R. Dr. Carl Coerper 191
Das „Als-Ob" in der Molekularphysik. Von Dr. Otto Lehmann, Geh. Rat,
Prof. d. Physik a. d. Techn. Hochschule in Karlsruhe 203
Die mathematischen Fiktionen und ihre Bedeutung für die menschliche Er-
kenntnis. Von Ernst Tischer, Dr. phil., Studienrat, Prof. in Leipzig 231
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. Eine psychologische
Untersuchung. Von Richard Müller-Freienfels 270
Grundzüge einer neufti "Wertlehre. Von Richard Müller-Freienfels 319
Philosophie der Tat. Grundriß einer autonomistischen Rechenschaft und Ethik.
Von Dr. Anton Wesselsky-Wien 382
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. Von Konrad Lange, Dr. phil.,
o. Professor der Kunstgeschichte und Ästhetik an der Univ. Tübingen 424
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. Von Prof. Dr. Julius
Schultz-Berlin 473
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. Eine Studie
über den elften Band der neuen Gesamtausgabe der Werke Schopen-
hauers („Genesis des Systems"). Von Karl Gjellerup 495
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. Von Arnold Kowalewski,
Dr. phil., Prof., Privatdozent der Philosophie an der Univ. Königsberg 518
Die Philosophie des „Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule.
Von Jörgeji Jörgensen-Kopenhagen 596
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. Mit besonderer Berücksichtigung von
Vaihingers Philosophie des Als Ob. Von Dr. HansKelsen,a. ö. Prof.
a. d. Univ. Wien 630
Bücherbesprechung:
Richard Müller-Freienfels, Das Denken und die Phantasie. Von
Prof. Martin Havenstein 659
Zur Metajurispnidenz und Rechtsphilosophie (Somlo, Nelson, Sturm).
Von Dr. Rolf Mallachow 664
Otto Gramzow, Praktische Erziehungskunst für das neue deutsche Volk.
Von Dr. Raymund Schmidt 675
Zum Gedächtnis von Dr. Fritz Sommerlad 677
Eingegangene Bücher 681
/
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob.
Von
Ottmar Dittrich,
Dr., Prof. a. d, Univ. Leipzig.
Inhaltsübersicht.
I. Die Unfruchtbarkeit des ,, reinen" Erkennens führt zur Philosophie des
Als-ob als Philosophie des Handelns. II. Das Handeln ruht auf dem „praktischen
Gegensatz" der bisherigen zu einer neuen Tatsachen-Wirklichkeit. Der Zweck
des Handelns, Herbeiführung dieser neuen Wirklichkeit, ist erreichbar nur durch
eine Fiktion. III. Die Philosophie des Als-ob ist also Fiktionalismus, die Fiktion
.^Methode der antagonistischen Operationen". IV. Sie entspricht so, für jedes
Handeln unentbehrlich, V. als Methode dem ,, praktischen Gegensatz", und greift
auch auf das Erkennen zweckmäßig hinüber, indem sie als dessen Methode zu wissen-
schaftlich-praktischen Ergebnissen führt. So zeigt denn die Philosophie des Als-ob
auch hauptsächlich auf, wie man von alter gegensatzvoller zu neuer relativ gegen-
satzloser Einzel- und schließlich Gesamtwirklichkeit gelange an der Hand von
Idealerfüllungen, die in Ideen als regulativen Prinzipien verankert sind. VI. Daher
ihr Charakter als positivistischer, Tatsachen und Ideale nach Maßgabe von Ideen
zu vereinigen suchender Idealismus, und ihre Bestimmung, sich zufolge ihrer natür-
lichen Befassung mit Problemstellungen aller möglichen Gebiete immer vollkommener
als ,, System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Mensch-
heit" darzustellen.
I.
Ein uralcer Satz der Erkenntnistheorie lautet: „Gleiches kann
nur durch Gleiches erkannt werden."
Daran ist richtig, daß die Methode des Erkennens dem
Gegenstande des Erkennens entsprechen muß.
Die Methode des Erkennens ist das Urteil. Wie verhält es
sich also — psychologisch • — zu seinem Gegenstande ? Man kann
in Kürze sagen, folgendermaßen.^)
Der Ausgangspunkt des Urteilsprozesses ist allemal ein Un-
bestimmtes, ein X, ein Diskurrendum, dem infolge eines Diskursus
des (darum diskursiven) Denkens irgendeine Bestimmung ä, b, c usw.
^) Vgl. zum Folgenden 0. Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie
[1913] S. 57j und Grundzüge der Sprachpsychologie I (1903) § I483ff.
Annalen der Philosophie, I. I
2 Ottmar Dittrich:
zucrtcilt wird. Der Diskursus erfolgt von dem x zum a, von da
mit dem d zurück zum X, sodann wieder von x zu b, mit diesem
abermals zurück zu x, endlich etwa nochmals von x zu a und b
und mit diesen beiden zurück zu x. Das Resultat sind beispiels-
weise drei Urteile: ,,Er zittert.", ,,Er ist kalt.", ,,Er zittert vor
Kälte (Kaltscin)."
Man sieht, x ist im Diskursus eine relative Konstante ge-
worden, die in jedem der Urteile als Subjekt auftritt; a und b
dagegen (,, zittert" und ,,kalt") wurden je eine relative Variable,
die in dem Urteil ,,Er zittert." die Rolle des Prädikates, in dem
Urteil ,,Er ist kalt." die des Apprädikates zum Prädikatkern
,,ist" spielt (denn sie macht ja mit ihm zusammen das Prädikat
,,ist kalt" aus).^) Ist jedoch einmal in solchen mehrfachen Dis-
kursen und daraus erfolgenden Urteilen die Rolle des x', also
irgendeines Unbestimmten, als relative Konstante und zugleich
Diskurrendum festgelegt, so vermag auch schon der Denkvorgang
etwa ,,von x znc und mit diesem zurück zu x" als Diskursus zu gelten,
aus dem das Urteil ,,x ist t" resultiert. Ebenso darf x jedesmal
am Ende eines Urtcilsprozesses ,,x ist ö" oder ,,x ist b" oder ,,x
ist c" usw. als ein relatives Diskursum gelten, nur natürlich nicht
als ein absolutes Diskursum. Natürlich, weil die Reihe der mög-
lichen Bestimmungen ,,a, b, c ..." ja prinzipiell unendlich, und
X als Diskurrendum daher eine Quelle von unendlich vielen mög-
lichen Denkprozessen (Diskursen) und damit Urteilen ,,über" x ist.
Daraus folgt, daß der Gegenstand des Erkennens weder durch
ein Urteil noch durch eine Reihe von Urteilen jemals erschöpft
werden kann. Alles Erkennen ist also, da es außer dem Urteil
keine Methode des Erkennens gibt, eine von vornherein unvollend-
bare Aufgabe. Glaubt jemand, irgendeinen Gegenstand vollkommen
erkennen oder ,, begreifen" zu können, so gibt er sich einer Illusion
hin. Denn ,, Begreifen" ist ja nichts Geringeres als ,, etwas in seinem
ganzen Zusammenhange, also nach seinem Wesen, seinem Zweck,
seinen Ursachen und seinen Beziehungen verstehen lernen. Be-
griffen ist eine Sache nur dann, wenn wir nicht nur wissen, was
sie ist, sondern warum sie so ist und wozu sie dient und wie sie
*) Es ist durchaus unzweckmäßig, „kalt" in dem Satze „Er ist kalt." als
;, Prädikat" zu bezeichnen, ebenso unzweckmäßig wie die Bezeichnung des Prädikat-
kerns ,,ist" als Kopula", was offenbar dem Grundcharakter des Urteils als einer
dichotomischen Funktion widerspricht. Vgl. zum Gesamtsystem der syntaktischen
Bezeichnungen 0. Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie S. 6off.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. r
mit allen anderen Dingen zusammenhängt."^) Dies zu erreichen,
ist aber prinzipiell unmöglich. Es ist immer nur so, als ob man
,, begriffen" hätte. Alles Begreifen ist nur ein Scheinbegreifen.
Hier setzt die ,, Philosophie des Als-ob" ein. ,,Muß es", so
fragt sie nicht ausdrücklich, wohl aber ihrem ganzen Sinne nach, —
,,muß es bei der Unbcfriedigung bleiben, welche so allem Er-
kennen, vollends allem Begreifen für jeden anhafter, der sich
dieser Sachlage bewußt ist ^ Kann einem eine solche von vorn-
herein unlösbare Aufgabe überhaupt zugemutet sein.-* Die ent-
weder zu laxem Sichbescheiden bei einem unvollkommenen Re-
sultate oder zur Verzweiflung treibt } Ist es endlich das Wahre,
die Wahrheit, was auf diese Weise, durch bloßes Erkennen, er-
reicht wird?"
Alle diese Fragen beantwortet die Philosophie des Als-ob
mit einem entschiedenen Nein. Es muß nicht bei der Un-
bcfriedigung durch Erkennen und Begreifen bleiben. Dem
Menschen sind andere als unlösbare Aufgaben zugemutet. Er
darf sich nicht bei unvollkommenen Resultaten bescheiden und
braucht nicht zu verzweifeln. Das Wahre, die Wahrheit, wird
nicht durch bloßes Erkennen erreicht, sondern — von da an wird
die Philosophie des Als-ob positiv — durch Handeln. Nicht
das ist, wie man zu sagen pflegt, ,,das Wahre", daß man bei der
sogenannten, rein erkenntnismäßigen ,, Wahrheit" stehen bleibe,
die da z. B. lautet: ,,Er zittert vor Kälte." Sondern ,,das Wahre"
ist erst, daß man daraus die praktische Folge zieht, daß man dem
vor Kälte Zitternden hilft. ,,Der eigentliche Zweck des Denkens
(und das Erkennen ist ja Denken) ist nicht das Denken und seine
Produkte selbst, sondern das Handeln und in letzter Linie das
ethische Handeln."^) Was aber ist nun das Handeln selbst .f*
Und wodurch kommt es — wiederum psychologisch — zustande ^
n.
Auch hier gehen wir zunächst von Bestimmungen aus, die
nicht ausdrücklich in der ,, Philosophie des Als-ob" stehen.
Handeln, so sagen wir, ist willentlich oder aus dem Willen
heraus wirken. Wirken heißt, die bisherige Wirklichkeit ver-
ändern. Was aber ist Wille .''
*) Kirchner-Michaelis, Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe
3. Y. Begreifen.
^ Vaih(inger), Die Philosophie des Als-ob [2. Aufl. 1913] S. 93.
I»
A Ottmar Dittrich :
,, Wille", so heißt ts bei Rohmkc ^), ,,ist die Seele in solehcn
Augcnblieken, in denen dieses gegenständliehc, zuständliehe und
denkende Bewußtsein sieh ursächlieh auf eine im Lichte der Lust
vorgestellte Veränderung bezieht, d. h. .ursächliches' Bewußtsein
ist." Das ist im allgemeinen richtig, aber ganz reicht es doch
nicht zu. Einmal wird man, ohne dem Hcdonismus zu verfallen,
nicht sagen dürfen ,,im Lichte der Lust", sondern nur ,,im Lichte
der Befriedigung". Dies aber liängt wieder aufs engste damit
zusammen, daß die ,,im Lichte der Befriedigung" vorgestellte
Veränderung nicht eine solche schlechthin, sondern eine ganz
bestimmte Veränderung bedeuten muß, um als Willensziel oder
Zweck fungieren zu können. Und endlich wird es angemessen
sein, in der Definition auch auf das Motiv des Willens hinzudeuten,
so daß sich aus alledem die Fassung ergibt: ,, Wille ist die Seele
in solchen Augenblicken, in denen sie, von der gegenwärtigen
Wirklichkeit unbefriedigt und eine zukünftige Wirklichkeit im
Lichte der Befriedigung vorstellend, sich ursächlich auf die be-
friedigende Veränderung dieses Gegensatzes bezieht."^)
Diese modifizierte Begriffsbestimmung ist für uns vor allem
dadurch wertvoll, daß in ihr der ,, praktische Gegensatz"^) zum
Ausdruck gebracht ist, der den Gegenstand der Seele als Wille
bildet. Denn indem die Seele die gegenwärtige Wirklichkeit un-
befriedigt wahrnimmt und eine zukünftige im Lichte der Be-
friedigung vorstellt, wird sie sich auch dieses Gegensatzes bewußt,
hat sie ihn zum Gegenstand. Sie wird dadurch, durch dieses Motiv,
auch erst zum Willen, und dieser führt seinerseits zur Praxis, zum
Handeln, indem er ,, Handelnwollendes'*") ist.
,, Willensmotiv [nämlich] ist jener praktische Gegensatz in
der Seele, insofern er die unumgängliche Bedingung bedeutet
dafür, daß die Seele wollendes Bewußtsein wird, also der Grund
ist, daß sich die Seele auf die im Lichte der Be^friedigung vor-
*) J. Rehmke. Die Willensfreiheit [1911] S. 33.
*) Diese Fassung kommt der von Rehmke selbst (S. 13) sehr nahe: „Die
Tatsache ,ich will dies' enthalt... immer folgendes: ,Ich, der ich eine im Lichte
der Lust stehende Veränderung vorstelle und zugleich an besonderem Gegenständ-
lichem dieses meines Augenblicks Unlust habe, beziehe mich aus diesem Gegen-
satze heraus auf die im Lichte der Lust stehende Veränderung". Man sieht aber
wohl, weshalb wir auch diese Fassung nicht ohne weiteres annehmen können.
3) Rehmke, Die Willensfreiheit S. 11 ff., bes. 13 u. 21.
■•) Rehmke S. 13, vgl. zi.
A
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. C
gestellte Veränderung jenes Gegensatzes ursäehlich bezieht." i)
Und von hier aus geht es durch den Zweck zum Handeln, zur
Verwirklichung des Zwecks. Denn ,,was wir .Willcnszwcck' oder
, Zweck' schlechthin nennen, ist in jedem einzelnen Falle die im
Lichte der Befriedigung vorgestellte Veränderung jenes prak-
tischen Gegensatzes in der Seele, die [d. h. sofern sie] Wille ist;
mit anderen Worten, , Zweck' heißt die gewollte Veränderung
oder kurz das Gewollte oder das, was [ich d. h.^)] die Seele will.
Das also, was sich als Zweck des Willens (der wollenden Seele)
darstellt, gehört stets zu dem praktischen Gegensatze, findet sich
demnach in dem ,Willcnsmotiv' der Seele als die im Lichte der
Befriedigung vorgestellte Veränderung [dieses Gegensatzes]. Die
Gleichung , Gewolltes = Zweck' trifft [also] überall zu, wenn Be-
wußtsein als Wille in Frage kommt. Gewolltes nennen wir aber
, Zweck', um es damit insbesondere als ein durch den Willen zu
Verwirklichendes, auf das er , zielt', hervorzukehren; das Wort
, Zweck' läßt uns in der Tat immer hinausblicken in die Zukunft,
in der das Gewollte zu verwirklichen ist."^) Wie aber geschieht
nun diese Verwirklichung?
Nicht sowohl direkt durcli den Willen geschieht sie, wie es
nach dieser letzten Äußerung den Anschein haben könnte, sondern
eben durch das Handeln. Dies erfordert aber endlich, um es ver-
ständlich zu machen, ein Zurückgreifen auf das früher gegebene
Beispiel.
Wir setzen den Fall, ich sitze, mit einer angenehmen Lektüre
beschäftigt, am Fenster meines behaglich durchwärmten Zimmers,
Da fällt mein Blick hinaus auf die Strafie auf einen Mann draußen
im naßkalten, stürmischen Wetter. Das Resultat ist zunächst,
daß ich dem ,,vor Kälte Zitternden" helfen will. Wie kommt es
dazu }
Der seelische Hergang des Ganzen ist nach allem Bisherigen
folgender. Während ich bislang befriedigt am Fenster saß, be-
friedigt mich die mir gegenwärtige Wirklichkeit nicht mehr, seit-
dem ich auf Grund der Wahrnehmung jenes Mannes geurteilt
^) Rehmke S. 21, mit den durch unsere bisherigen Ausführungen gebotenen
Modifikationen. Auch die folgenden Zitate sind so modifiziert.
*) Zu dieser Identifikation des Ich mit der Seele vgl. Rehmke S. I2f.
*) Rehmke S. 2if.
5 Ottmar Dittrich:
habe: „Er zittert vor Kälte." „Der nicht mehr vor Kälte zit-
ternde Mann" wird nun von mir im Lichte der Befriedigung vor-
gestellt, und zugleich im Gegensatz zu der unbefriedigenden Wahr-
nehmung, die ich immer noch von dem ,,vor Kälte zitternden
Manne" habe. In dem Augenblicke, wo dies eintritt, erfahre ich
aber auch die Umschaltung vom Nichtwollenden zum Wollenden^
vom NichtWillen zum Willen, auf Grund dieses Gegensatzes,
dieses (Willens-) Motivs. Ich will nunmehr diesen Gegensatz,
weil er mit Unbefriedigung verbunden ist, loswerden, indem ich
ihn zweckmäßig verändere. Mein Zweck aber ist der von mir
im Lichte der Befriedigung vorgestellte ,, nicht mehr vor Kälte
zitternde Mann", und diesen Zweck gilt es zu verwirklichen. Dann
wird auch der Gegensatz zweckmäßig verändert sein, d. h. ich
werde den ,,vor Kälte zitternden Mann" nur noch als irrelevante
Erinnerungsvorstellung haben. Diese wird meine Befriedigung
durch die Wahrnehmung des ,, nicht mehr vor Kälte zitternden
Mannes" nicht stören. Die Wirklichkeit, die mir unbefriedigend
war, wird zweckmäßig entwirklicht und durch eine neue, be-
friedigende, ersetzt sein.
Aber so ganz unmittelbar ist dies nicht zu erreichen. Zuvor
muß der ,, einfache Zweck" (der im Lichte der Befriedigung vor-
gestellte ,, nicht mehr vor Kälte zitternde Mann") zum ,, Reihen-
zweck" ^) gestaltet werden. Dies geschieht, indem aus dem , .ein-
fachen Zweck" die zu seiner Verwirkhchung nötige Folge ge-
zogen wird. ,,Will ich", sage ich mir, ,, meinen Zweck verwirk-
lichen, so muß ich den Mann aus dem bösen Wetter hereinholen.
Denn Winken und Rufen hat mir nichts geholfen, und zum Schicken
habe ich niemand." Ich muß also das ,, Mittel zum Zweck", das
Handeln, wodurch dieser allein von mir zu verwirklichen ist, mit-
wollen. Ich muß es mitwollen als Anfangsglied des von mir über-
haupt Gewollten. Der ,, eigentliche" Zweck darf im ,, Reihenzweck""
nur als Endglied dastehen.
Dies alles aber, worin ich mich auch schon ursächlich auf die
Verwirklichung des ,,eigenthchen" Zweckes durch mein Handeln
beziehe, kann nur sein durch eine — Fiktion. Ich muß ,, denken",
daß die Vcrv^'irklichung meines ,, eigentlichen" Zweckes allein von
meinem Willen und Handeln abhänge. Sonst würde ich mich
darauf verlassen, sie geschehe irgendwie ohnedies, und würde
•) Vgl. Rchmkc S. 25ff.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. 7
überhaupt nicht zum Handchi gelangen. Handeln ist also nicht
möglich ohne Fiktion.
III.
Damit stehen wir auf dem Punkte, der als das Um und Auf
der ,, Philosophie des Als-ob" bezeichnet werden muß. Sie ist
Fiktionalismus. Wie aber bestimmt sie nun selbst die Fiktion.?
Dabei stoßen wir zunächst auf eine Reihe von paradoxen
Behauptungen.
,,Das Bestreben der Wissenschaft", so heißt es da z. B.^),
,,geht darauf aus, die Vorstellungswelt, die nur subjektiv, fiktiv,
falsch, Irrtum ist, zu einem immer brauchbareren Instrument
der Berechnung und des Handelns zu machen; also ist diese Vor-
stellungswelt, welche aus diesem Bestreben resultiert, und welche
man gewöhnlich Wahrheit nennt, nur der zweckmäßigste Irrtum,
d. h. diejenige Vorstellungsweise, welche am raschesten, elegan-
testen, sichersten und am wenigsten mit irrationalen Elementen
besetzt, Handeln und Berechnen am meisten ermöglicht." Oder,
wie man es auch noch ausdrücken kann, Wahrheit ist ,,nur der
zweckmäßigste Grad des Irrtums, und Irrtum der unzweckmäßigste
Grad der Vorstellung, der Fiktion".^)
Fiktionen also sollen uns, indem sie immer zweckmäßiger
werden, zur Wahrheit, auch und vor allem zur ,, eigentlichen",
der Wahrheit durch Handeln, führen, und Fiktionen sind — ,, in-
adäquate, subjektive, bildliche Vorstellungsweisen, deren Zusammen-
treffen mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist".^)
„Ihr Charakter ist innerer Widerspruch, logische Unmöglichkeit
und Gewaltsamkeit der Annahme."*) Sie sind ,, falsche Faktoren
in der Rechnung"^), ,, falsche, unmögliche Begriffe um eines prak-
tisch-wissenschaftlichen Zweckes willen"*), ,, wissenschaftlich er-
laubte oder gebotene Erdichtungen"'), ,, illegitime Auskünfte",
,, Versündigungen gegen das eigene logische Grundprinzip der
Psyche", ,, Umwege, Listen, hinterlistige Schleichwege, mit denen
1) Vaih. S. 193.
*) Ebenfalls Vaih. S. 193.
») Vaih. S. 606.
«) Vaih. S. 607.
») Vaih. S. 769.
•) Vaih. S. 521.
7) Vaih. S. 257, vgl. S. 65.
8 Ottmar Dittrich:
das Denken die Wirklichkeitsschwicrigkeiten — und sich selbst
überlistet, um freilich am Ende vielleicht auf die niederschlagende
Erkenntnis zu kommen, daß es mit all diesem künstlichen Tun
doch nicht viel erreicht habe, . . . daß durch diese Fiktionen neue
Schwierigkeiten geschaffen werden, Fragen, Probleme, an denen
das Denken sich vergeblich abmüht".^) ,,Denn das diskursive
Denken weicht einerseits von der Wirklichkeit ab bis zur Ver-
fälschung derselben, und es gerät andererseits mit sich selbst in
logische Konflikte."^)
Wie kann es nun aber — so fragen wir wohl mit Recht ver-
wundert — sein, daß ein so grundfalsches Mittel, wie es die Fik-
tion nach der ,, Philosophie des Als-ob" selbst ist, doch zu wahren,
auch und vor allem zu ethisch -praktisch wahren Resultaten
führt? Wie kann es sein, daß, ,,wenn das Denken in den Fik-
tionen der Wirklichkeit widerspricht, und wenn es sogar sich
selbst widerspricht, es trotz dieser bedenklichen Handlungsweise
sein Ziel erreicht, nämhch die Wirklichkeit zu treffen"?^) Ja,
sogar durch das Handeln eine neue, befriedigende Wirklichkeit
zu schaffen ?
Die Antwort gibt eine sich nicht mehr in den obigen, zunächst
nicht recht verständlichen Paradoxien bewegende praktische Be-
griffsbestimmung der Fiktion, zu der uns wiederum ein Beispiel
hinleiten mag. —
Die wissenschaftlich-praktische Aufgabe sei, den Inhalt eines
Kreises aus dessen gegebenem Radius r zu berechnen. Dazu
genügt die gewöhnliche Kreisdefinition, wonach der Kreis von
einer in sich zurückkehrenden krummen Linie begrenzt ist, deren
jeder Punkt vom Kreismittelpunkt den Abstand r hat, in keiner
Weise.
Ich sage mir nun — für den Dreieckinhalt habe ich die Formel
h h
Y — , vielleicht komme ich zu dem gewünschten Ergebnis, wenn
ich den Kreisinhalt als eine Summe von Dreiecksflächen auffasse,
in denen h ^- r ist, während b, die Summe der Basen jener Drei-
ecke, gleich u, dem Umfang des Kreises wäre. Aber auch diesen
kann ich aus der gewöhnlichen Kreisdefinition nicht gewinnen.
Also versuche ich es zuerst mit b = 6r, d. h. dem Umfang des
dem Kreise eingeschriebenen regelmäßigen Sechseckes. Ich finde
>) Vaih. S. i39f.
*) Vaih. S. i6o.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. q
jedoch, daß die Abweichung vom Kreisumfang sehr groß ist. Näher
komme ich ihm schon, wenn ich den Umfang des eingeschriebenen
Zwölfeckes als b annehme, noch näher mit dem eingeschriebenen
24-, 48-, 96-Eck. Mit dem letzteren und indem er dessen Unter-
schied vom umgeschriebenen 96-Eck mit in Betracht zog, kam
bereits Archimedes auf tc (d. h. das Verhältnis m: 2r als Korrektur
von h — 6r — 2) ' 2r) größer als 3^°/7i und kleiner als 377- Die
grundlegende Formel i = f^n (aus 2r7i • rj2) war damit gefunden.
Denn auch h konnte nun mit sehr geringem Fehler als = r an-
gesehen werden.
Die Annäherung, die mit n an den Kreisumfang gegeben ist,
kann ich nun beliebig weit treiben. Ludolf van Ceulen hat
aus dem 1073741 284-Eck n auf 35 Dezimalen genau berechnet.
Shanks ist unter Anwendung moderner Infinitesimalmethoden
bis auf 700 Dezimalen gegangen und fußt dabei, wie bereits Vega
(mit 140 Dezimalen), mit auf der Voraussetzung, auf die es uns
hier vor allem ankommt, auf einer neuen, von Johannes Kepler^)
aufgestellten Kreisdefinition. ,,Der Kreis", so lautet diese in
ihrer vollständigsten, für uns brauchbarsten Form, ,,ist so zu
betrachten und zu behandeln, wie er zu betrachten und zu be-
handeln wäre, wenn er ein Vieleck von unendlich vielen unendlich
kleinen Seiten wäre." Oder, etwas kürzer: ,,Der Kreis ist so zu
betrachten und zu behandeln, als ob er ein Vieleck von unendlich
vielen unendlich kleinen Seiten wäre."
Diese Definition, die offenbar in der Linie des archimedischen
Verfahrens liegt, ist nun schon eine ,, echte Fiktion" im wissen-
schaftlichen Sinne. Wie stellt sich ihre logische Struktur
und demzufolge ihr Wert für das Erkennen und Handeln dar .?
In ersterer Hinsicht gilt folgendes. Das ,, fiktive Urteil",
in dem die Fiktion, beispielsweise also die ,,neue" Kreisdefinition,
ausgesprochen wird, ist zunächst eine Vorschrift. Aber keine
unbedingte, kategorische, vielmehr eine — nicht ,, hypothetische " ^),
sondern — bedingte, konditionale.
Bedingt durch zweierlei: einen Vergleich und eine Bedingung
im engeren Sinne des Wortes.
Der Vergleich wird — um noch einmal an das Beispiel an-
zuknüpfen — angestellt zwischen dem Kreis {A) und dem Viel-
1) Vgl. Vaih. S. 536.
*) Auf das Verhältnis der Fiktion zur Hypothese kommen wir noch zurück.
Vgl. im übrigen für das „fiktive Urteil" bes. Vaih. S. I54ff., 592ff.
O Ottmar Dittricli :
eck von unendlich vielen unendlich kleinen Seiten {B). Das
Tertium comparationis ist die Seitenzahl. Dieses aber wird zu-
gleich durch den „irrealen" Bedingungssatz ,,\venn er [A) ein
Vieleck von unendlich vielen unendlich kleinen Seiten [B] wäre"
in die Sphäre des Unwirklichen, ja Unmöglichen verwiesen. Der
Vergleich ist damit, soweit die Wirklichkeiten ,, Kreis [A)" und
,, Vieleck (ß)" in Betracht kommen, zur Unmöghchkcit gestempelt.
Man weiß ganz genau: Der Kreis, eine stetig gekrümmte Linie,
kann in keiner Wirklichkeit eine winkelig gebrochene Gerade sein;
er kann darum auch keine Seiten und folgerichtig keine Seiten-
zahl haben, sei sie endlich oder unendlich, — ganz abgesehen von
den im Begriffe des Unendlichen an sich gelegenen W^idersprüchen.
Dennoch vollzieht man den Vergleich; warum? Fordert man
von einer Definition, daß sie reinen Erkenntniswert haben soll,
so besitzt diese Kreisdefinition sicherlich keinen. Man weiß jetzt
nur, daß der Kreis kein Vieleck ist, auch keines von unendlich
vielen unendlich kleinen Seiten. Was ist er also eigentlich.'' Das
sagt uns die Definition nicht. Sie hat an sich keinen Erkenntniswert.
Aber vielleicht hat sie desto größeren Wert für das Handeln .-*
Das ist in der Tat der Fall. Man erfülle nur die in der Fiktion
enthaltene Forderung, und man wird sehen, es ist so. Man setze
nur einmal versuchsweise den unmöglichen Fall, ,,der Kreis ist
ein Vieleck von unendlich vielen unendlich kleinen Seiten" als
wirkhch an und ziehe daraus die notwendigen Folgen.^)
Man sage: ,,Wenn der Kreis ein solches Vieleck ist — und ich
will einmal annehmen, er ist es wirklich — , dann unterliegt er
den Gesetzen für die Inhaltsberechnung solcher (regelmäßiger)
Vielecke", und man ist auf dem Wege zu der Formel i = r^Ti.
Deren — und indirekt der Fiktion, aus der sie erwachsen —
praktischer Wert aber ist sichtlich sehr bedeutend. Nicht nur,
daß mir damit eine Regel für die ohne Fiktion unmöglich ge-
wesene Berechnung des Kreisumfangs {2r7i) und Kreisinhalts
{r^n) für alle möglichen Fälle von r gegeben ist. Auch die Ober-
fläche und den Rauminhalt des geraden Zylinders^) kann ich nun
für alle Fälle von r und H nach den Formeln o = 2r^7t + 2rnH
und 7 =- r^TiH berechnen, sobald ich nur die weitere Fiktion
mache: ,,Der gerade Zylinder ist ein Prisma von unendlich vielen
•) Vgl. Vaih. S. 585/.
*) Selbstverständlich ist der Zylinder mit Kreis als Grundfläche gemeint.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. I j
unendlich kleinen Seiten." Schiefer Zylinder, Kegel, Kegelstutz usw.
folgen durch weitere Deduktion und Fiktion leicht nach; was
für den Kreiszylinder, gilt analog für den Ellipsenzylinder, -kegel
usw. usw. Kurz, die praktische Tragweite der fiktiven Methode
ist in diesem Falle geradezu enorm, besonders wenn man bedenkt,
daß damit Gerade und Krumme überhaupt als infinitesimal kom-
mensurabel hingestellt sind.
Und dieser praktische Wert der Fiktion wird offenbar auch
dadurch nicht beeinträchtigt, daß das hier mittelst ihrer erreichte
Resultat immer nur ein annäherndes ist und sein kann. Denn
schon mit n = 3,14159265 reicht man nach dem Urteil von Mathe-
matikern ,, überall aus"^), wie denn überhaupt gilt, ,,daß in der
größeren Zahl der Fälle es nötig oder vorteilhaft ist, sich mit dem
Aufsuchen annähernder Lösungen zu begnügen*', sobald sie nur
,, systematische Annäherung" bedeuten.^)
Diese aber leisten die sämtlichen vorerwähnten Fiktionen und
muß jede Fiktion leisten, die auf wissenschaftlich-praktischen Wert
Anspruch machen soll, somit, da die Wissenschaft immerhin ein
Lebensnerv jeder höheren Praxis bleibt, überhaupt jede Fiktion.
,, Fiktionen sind in unserem Sinne: wissenschaftlich erlaubte oder
gebotene Erdichtungen"^), der Satz erscheint jetzt minder paradox.
Und die ,, wissenschaftliche Fiktion" oder ,, wissenschaftliche Er-
dichtung zu praktischen Zwecken"^) ist so deutlich abgegliedert
von der ,, lügnerischen Erfindung", der ,, poetischen" oder ,, my-
thischen Erdichtung" sowie der ,, irrigen Annahme". 5)
Aber wie ? Die Fiktion, wissenschaftliche Fiktion natürlich,
soll doch auch nach ihrer strengen, nicht paradoxalen Definition
nur eine ,, bewußte zweckmäßige Abweichung von der Wirk-
lichkeit"®) sein! Wie kann sie dann jemals das leisten, was hier
in Form der ,, Annäherung" von jeder wissenschaftlichen Fiktion
gefordert wird }
Die Antwort lautet: Abweichung, bewußte, zweckmäßige Ab-
weichung von der Wirklichkeit ist die Fiktion freilich ebenfalls.
^) So Fr. Engel in Meyers Konversationslexikon, 6. Aufl. XI S. 626.
*) Die Zitate aus F. Enriques, Fragen der Elemeritargeometrie, deutsch
von H. Fleischer [1907] II S. 337.
') Vaih. S. 257; daher auch das folgende Zitat.
*) Vaih. S. 65.
*) Vgl. Vaih. S. 257.
6) Vaih. S. 174.
12 Ottmar Dittrich:
Aber sie ist nicht dies allein; die zuletzt reproduzierte Definition
ist in dieser Hinsicht zu weit. Und dies führt uns endlich in den
„eigentlich logischen Kern der Fiktion"^) hinein.
Die Fiktion ist Abweichung von der Wirklichkeit. Aber doch
nur zu dem Zwecke, um aus der alten, unzweckmäßigen, eine neue,
zweckmäßige Wirklichkeit theoretisch-praktisch zu gestalten. Und
sie weicht zweckmäßig ab zu diesem Zwecke, indem sie ihn der
neuen Wirklichkeit so weit annähert, daß er möglichst ohne
Schwierigkeit darein verwirklicht werden kann. Wie wird dies
aber erreicht }
Offenbar ist die Abweichung von der ,, Wirklichkeit ohne
Kreisinhaltsformel" zu dem Zwecke, ,, mittelst des Vieleckes die
Kreisinhaltsformel zu finden", ein Fehler. Also muß, um zur
,, Wirklichkeit mit Kreisinhaltsformel " zu gelangen, dieser Fehler
rückgängig gemacht werden. Dies, und damit die Annäherung
an die neue Wirklichkeit, geschieht durch die fiktive Gleich-
setzung ,,der Kreis ist ein Vieleck von unendlich vielen unendhch
kleinen Seiten". Aber auch darin steckt ein, wenngleich dem
vorigen groben gegenüber sehr feiner Fehler und außerdem die
neue Fiktion des unendlich Kleinen. Dem fiktiven Zwecke kann
demzufolge, bei dieser ,, Methode der entgegengesetzten
Fehler"^), nur eine annähernde Verwirkhchung entsprechen;
wir erhalten nur eine ,, Wirklichkeit mit annähernder Krcisinhalts-
formel", keine ,,mit Kreisinhaltsformel (schlechthin)".
Anders, wenn sich die ,, Methode der entgegengesetzten Fehler"
zur ,, Methode der antagonistischen Operationen"^) aus-
weitet.
Ein mathematisches Beispiel wird hier abermals lehrreich
sein. Wir geben es direkt mit den Worten von Vaihinger*):
,,Es ist die Aufgabe, eine Linie a solle in zwei Teile x und ä — x
geteilt werden, so daß x^ {a — x) ein Größtes sei. Diese historisch
gestellte Aufgabe schien lange unlösbar, bis Fermat sie durch
») Vaih. s. 217.
*) Vgl. Vaih. S. i94ff., auch zum lolgenden.
») Vaih. S. 2i7f.
*) Vaih. S. aooff. Wir vermögen nicht zu sehen, inwiefern Läpp (Die Wahr-
heit, 1913) an Vaihi ngc rs Wiedergabe des Fermatschen Satzes hätte Kritik üben
sollen (was E. Boernia, Über die Philosophie des Als-ob, 1916, S. 51 Anm. zu § i,
verlangt). DaßVaihinger die Division durch e übergeht, ist doch für das Resultat
belanglos; die «^-Glieder fallen auch durch Nullsetzung des e sämtlich fort.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. i 3
folgenden Kunstgriff löste. Fcrmat setzt statt x den Teil x -\- e,
also einen ganz willkürlichen Teil, der größer ist, als der verlangte.
Dadurch verwandelt sich jener Ausdruck x'^ (a — x) in folgenden :
{x -\- e)^ • {a — X — e). Diesen Ausdruck vergleicht er mit jenem,
als wenn beide gleich groß wären, ob sie es gleich nicht sind. [Denn
der Wert des einen und des anderen ist offenbar verschieden;
z. B. 62 (9 - 6) gibt 108; dagegc-n (6 + 1)2 (9 - 6 - i) gibt 98.]
Diese Vergleichung nennt er eine adäequalitas (Diophanti nagi-
aörrjq). Fermat setzt also folgende Gleichungen:
(I) x^ {a — x) =^ x^a — x^,
(II) {x + e)^ [a — X — e) = [x^ -\- 2ex + e^) [a — x — e) =
ax^ + 2aex + ae^ — x^ — 2ex^ — e^x — ex^ — 2e^x — e^.
Er setzt nun, wie bemerkt, (I) = (II); daraus folgt:
(III) x^a — %^ = ax'^ + 2aex + ae^ — x^ — 2ex^ — e^x
— ex^ — 2e^x — e^
2aex + ae^ = '^ex^ + 2)^^^ + ^^
2ax -\- ae — t,x^ -\- ^xe + e^-
Wie aber nun weiter .'' }
Hier macht nun Fermat einfach den oben begangenen Fehler
dadurch wieder rückgängig, daß er sagt: Jenes x -\- e war eine
bloI3e Fiktion zur Einfädelung der Rechnung. Faktisch soll ja
doch (I) = (II) sein; das ist aber nur möglich, wenn ^ = 0 ist^);
also fallen alle Glieder mit e heraus. Das gibt:
2ax ^ $x^ ,
2a = 3x,
2a
T ~~
Beispiel: Die Linie a habe die Länge I2; so ist x = 8, a — x =^ 4;
nur in diesem Falle ist x^ {a — x) ein Größtes; d. h. 8^ (4) = 256.
^) Man nehme an, der Unterschied zwischen x und x + e, also eben die Größe
sei sehr klein, so wäre die Gleichsetzung beinahe richtig. Man nehme an, der
Unterschied sei so minimal wie möglich, so wird die Gleichsetzung immer richtiger.
Nimmt man aber e = unendlich klein, so wird die Differenz unendlich klein; setzt
man endlich e = o, so wird die Differenz auch = 0. Die Größe e wird also, obgleich
sie Nichts ist, als ein Etwas fingiert; ein Irreales wird eingeschoben und als real
angenommen. Dies ist auch ein Vorspiel der Differentialrechnung.
14
Ottmar Dittrich:
Jede andere Teilung gibt ein kleineres Resultat: z. B. 7^ (5) = 245;
62(6) = 216; 52(7) = 175, usw.
In diesem merkwürdigen Beispiel hat man ein typisches Bild
alles fiktiven, alles diskursiven Denkens. Der Gedankengang
Fermats war folgender: Die fingierte Größe x -\- e ist nicht
gleich mit der Größe x, wenn e real ist; sie ist aber gleich, wenn
e = O ist. Die ganze Rechnungs weise beruht auf einer quaternio
terminorum, indem e zuerst = real, dann = o genommen wird.
Eine Gleichsetzung der beiden Größen x"^ [a — x) und [x -\- e)^
{a — X — e) ist gar nicht möglich; darum nennt sie Fermat eine
adaequälitas, eine approximative Gleichheit, keine vollständige.
Gleichwohl rechnet er, als ob die Gleichheit vollständig wäre,
obwohl nach dem strengen Kodex der Mathematik und Logik
X nimmermehr = a: + ß ist.
Und doch wird durch diese Rechnungsweise das Resultat erreicht !
Durch die eingeschobene Fiktion x-j-e und ihre Gleichsetzung mit x\
Was tat also Fermat.'' Den zuerst begangenen Fehler nahm
er im Verlauf wieder zurück, indem er die Hilfsgröße e einfach
herausfallen läßt. Jetzt ist die Gleichheit der Schlußgleichung
keine erdichtete mehr, wie die erste, sondern sie ist eine faktische.
Durch die Erdichtung, durch die Methode der entgegengesetzten
Operationen ist also hier ein äußerst wichtiges Resultat erreicht."
Hier ist es mithin kein Fehler mehr, der dem zuerst begangenen
Fehler entgegengesetzt wird, sondern eine wirkliche Korrektur.
An Stelle von x = x -\- e, was fehlerhaft ist, tritt im Verlaufe
der Rechnung x = x -\- o oder x = x, was richtig ist. Das Re-
sultat X = — wird dadurch exakt, die Fiktion x — x -{- e war
3
vollkommen zweckmäßig, die Annäherung an die neue Wirklich-
keit führte bis zur Adäquatheit, nicht bloß Adäqualität. Und
die Fiktion x = x + e ist fortan historisch wie logisch entbehr-
lich, da man das exakte Resultat der Aufgabe kennt, also nun
damit rechnen kann. Nur für analoge Aufgaben^), deren Re-
*) Vgl. z. B. M. Cantor, Vorles. üb. Gesch. d. Mathematik II» S. 784: ,,Das
erste Beispiel Fermats verlangt B in zwei Teile zu zerlegen, welche das größte Pro-
dukt geben, die erste Annahme wählt die Teile A und B - A, die zweite A + E
und B - A - E. Man muß also A{B - A) ^ {A + E){B - A - E) setzen oder
0= E{B - 2A - E). Nach Division durch E entsteht B = 2 A ■¥ E. Nun elidatur E,
80 bleibt 2 A = B, A = ^ B. Vgl. über das Allgemeine der Methode noch S. 783,
\F{A + E)-F(A)-\
ro sie auf die Formel
= o reduziert ist.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. I 5
sultat sich aus jenem nicht direkt ableiten läßt, bleibt sie natür-
lich weiterhin von Wert; die Methode weitet sich auch hier wieder
zur Fcrmatschen „Methode der Maxima und Minima" aus.
IV.
Soweit ist aus den mathematischen Beispielen dargetan, daß
der ,, echten Fiktion" im allgemeinen folgende Merkmale zu-
kommen^) :
1. Es findet dabei stets eine Abweichung von der bisherigen
Wirklichkeit statt, jedoch nur zu dem Zwecke, sich einer künftigen
geforderten Wirklichkeit mit minimal fehlerhafter oder völliger
Korrektur bis zur Verwirklichung selbst anzunähern. Die Fiktion
führt also durch Abweichung und Annäherung von Wirklichkeit
zu Wirkhchkeit.
2. In der Abweichung und deren Konsequenzen ist ein Wider-
spruch mit der Wirklichkeit gegeben, der sich bis zum Selbst-
widerspruch in der fiktiv-begrifflichen Auffassung dieser Wirklich-
keit steigert. Dieser Widerspruch soll durch die antagonistische
Annäherung an das geforderte Resultat beseitigt und so die Fiktion
historisch, womöglich auch logisch überflüssig gemacht werden.
3. Dazu bedarf es aber erst einmal des Bewußtseins, daß
jene Auffassung eine theoretisch unmögliche und nur zum Zwecke
der sonst unmöglichen praktischen Lösung der vorliegenden Auf-
gabe zugelassen sei. Das Bewußtsein der Fiktivität des dazu
nötigen Gedankenprozesses, eben der Fiktion, muß da sein.
4. Erst dann erscheint die Fiktion als das, was sie allein ist,
nicht Selbstzweck, sondern ein womöglich zu absoluter Zweck-
mäßigkeit zu steigerndes bloßes Mittel zu praktischem Zweck.
Sie ist dann etwas, das sich eben durch diese Zweckmäßigkeit
erst zu justifizieren, zu rechtfertigen hat, an sich aber keine
Existenzberechtigung besitzt. —
Wie aber, wenn die so bestimmte Fiktion im strengen, wissen-
schaftlichen Sinne des Wortes nur auf einem verhältnismäßig
sehr beschränkten Gebiete anwendbar wäre .'' Bis jetzt haben
wir sie ja eigentlich nur auf mathematischem Boden kennen ge-
lernt. Würde dann den Fiktionalismus als ,, Philosophie des
Als-ob" hinzustellen nicht einen höchst überspannten Anspruch
bedeuten ?
^) Vgl. dazu auch Vaih. S. 171 ff.
l5 Ottmar Dittrich:
In der Tat heißt es in der „Philosophie des Als-ob" selbst:
„Als eigentliche Fiktionen im strengsten Sinne des Wortes stellen
sich solche Vorstcllungsgebilde dar, welche nicht nur der Wirk-
lichkeit widersprechen, sondern auch in sich selbst widerspruchs-
voll sind (z. B. der Begriff des Atoms, des Dinges an sich). Von
ihnen zu unterscheiden sind solche Vorstellungsgebilde, welche
nur der gegebenen Wirklichkeit widersprechen, bzw. von ihr ab-
weichen, ohne schon in sich selbst widerspruchsvoll zu sein (z. B.
die künstliche Einteilung). Man kann die letzteren als Halb-
fiktionen, Scmifiktionen bezeichnen."^)
Aber dies macht sichtlich für das Wesen der Fiktion über-
haupt nichts aus. Echte Fiktionen im Sinne der ,, wissenschaft-
lichen Fiktion" sind auch die Halbfiktionen. Ob sich die Ab-
weichung von der ,, gegebenen" Wirklichkeit bis zum Selbstwider-
spruch steigert oder nicht, ist verhältnismäßig unerheblich. Von
wesentlicher Bedeutung ist nur, daß die Abweichung und die
übrigen Merkmale der Fiktion da seien, und das trifft auch auf
die ,, Halbfiktion" zu.
Wir werden also trotzdem die Behauptung aufrecht erhalten
dürfen, mindestens die ,, Halbfiktion", also auch die ,, echte Fik-
tion" im allgemeinen sei für jedes Handeln unentbehrlich.
Nur wird natürlich die Fiktion, die Verwirklichung meines ,, eigent-
lichen" Zweckes hänge allein von meinem Willen und Handeln
ab, dem experimentum crucis standhalten müssen, daß sich an
ihr die wesentlichen Fiktionsmerkmale nachweisen lassen.
Das tut sie aber, und es tritt sogar dabei noch ein besonders
enger Zus; mmenhang des Handelns mit der Fiktion deutlich hervor.
,,Es ist, als ob die Verwirklichung meines , eigentlichen' Zweckes
allein von meinem Willen und Handeln abhinge", mit dieser Be-
hauptung weiche ich offenbar von der ,, gegebenen" Wirklichkeit
ab. So manche Erfahrung hat mir gezeigt, daß, was ich will,
einerseits auch ohne mich verwirklicht, andererseits durch fremde
Wirks. mkeit an der ,, Verwirklichung durch mich" verhindert
werden kann. Ich bin mir also der Fiktivität meiner Behauptung,
soweit sie Abweichung von der Wirklichkeit bedeutet, voll be-
wußt. Trotzdem vollziehe ich nun die antagonistische Operation
zu dieser Abweichung, indem ich mein Handeln als Anfangsglied
in den ,, Reihenzweck" einstelle, und nähere mich, es mitwollend,
*) Vaih. S. 24.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. ij
in dieser Verwirklichungsabsicht wieder der Wirkhchkeit an. Und
leiste endlich, indem ich infolgedessen wirklich handle, auch noch
das letzte, was zur Fiktion gehört: Ich erfülle die Forderung,
daß sie wenigstens historisch überflüssig gemacht werde, indem
sie sich justifizicrt. Habe ich der Fiktion gemäß gehandelt, so
ist es nicht mehr ,,als ob die Verwirklichung meines , eigentlichen'
Zweckes allein von meinem Willen und Handeln abhinge". Die
Verwirklichung hat allein davon abgehangen, und die so justi-
fizierte Fiktion fällt bis auf weiteres als historisch überflüssig ge-
worden aus. Sie war ja auch nur als Mittel zum praktischen
Zwecke da.
Das Mitwollen des Handelns ist also die fiktiv-antagonistische
Annäherungsoperation bei der Vorbereitung des Handelns, und
dieses ist mithin jedesmal wieder fiktiv bedingt. Die Fiktion ist
Methode des Handelns wie das Urteil Methode des Erkennens.
Ja, sie ist sogar ,,die" Methode des Handelns wie das Urteil ,,die"
Methode des Erkennens. Sie gleicht jener auch darin, daß sich
der These: ,,Die Methode des Erkennens muß dem Gegenstande
des Erkennens entsprechen" die andere an die Seite stellen läßt:
,,Die Methode des Handelns muß dem Gegenstande des Handelns
entsprechen", und daß sie dieser These genügt. Denn der Gegen-
stand des Handelns ist wie der des Willens der ,, praktische Gegen-
satz", und diesem entspricht auf Seiten der Fiktion der Gegen-
satz der antagonistischen Operationen, wodurch jener praktische
Gegensatz aufgehoben wird.
Endlich reicht aber die Fiktion als Methode sogar grund-
legend mit in das Erkennen hinein. Sie ist nämlich die Methode
des Urteils. Denn dieses stellt sich uns jetzt genau besehen
ebenfalls als eine Folge fiktiv-antagonistischer Operationen dar.
Urteilen ist Kategorisieren, Katcgorisieren ist Fingieren.^) Es
heißt ursprünglich einen Gegenstand der Wahrnehmung gewisser-
maßen durch die Brille der Substantialität, Qualität, Modalität
(Aktivität, Passivität), Kausalität, Finalität usw. betrachten, ihm
,, ansehen", was er ist, wie er ist, wie er sich (tuend, leidend) ver-
hält, wodurch, wozu er ist, und dies in einem Urteil von ihm aus-
sagen [xaxrjYOQüv). Wie durch das Vergrößerungsglas ins Reich
1) Vgl. Vaih. S. 297 ff., 97 f.
A»nalen der Philosophie. I.
j«; Ottmar Dittrich:
der unwirklichen Größe, so wird dabei der VVahrnehmungsgegen-
stand in die Sphäre der unwirklichen Gedankendinge, der ,, Auf-
fassungsformen" Substantialität usw. entrückt. Aber diese Ab-
weichungsoperation, wodurch das wirkhche Diskurrendum erst
(allgemein) begrifflich faßbar wird, ist im Urteile alsbald gefolgt
von einer Annäherungsoperation: man wählt die kategorialen
Bestimmungen a, b, c usw. immer wieder in möglichst strengem
Hinblick auf ihren wirklichen Gegenstand x. Und es resultiert
so schließlich etwa das Urteil: ,,Er ist ein armer \or Kälte zitternder
Mann".
Auch Methode des Erkcnnens ist mithin die Fiktion
— als Urteil — , und sogar ,,die" Methode des Erkennens, denn
Urteil und Fiktion sind, wie wir nun sehen, eins. Es gehen darum
dem Urteil auch die beiden letzten Grundmerkmale der Fiktion
nicht ab. Wer nüchtern urteilt, ist sich, wenn er überhaupt darauf
reflektiert, genau bewußt, daß es immer nur so ist, als ob er durch
ein Urteil oder eine Reihe von Urteilen mit dem Erkennen zu
Ende käme, und das Urteil macht sich selbst überflüssig, indem
es sich als praktisch zweckmäßig ausweist, justifiziert. Indem es
dazu dient, wissenschaftlich- oder sonstwie praktische Auf-
gaben zu lösen, die sonst unlösbar wären, und so doch zu einem
— auf rein erkenntnismäßigem, theoretischem Gebiete unmög-
lichen — Endergebnis zu gelangen.
Indessen begegnet gerade dies, daß man auf diese Weise jedes-
mal zu einem Endergebnis, der befriedigenden Verwirklichung
des ,, eigentlichen" Zweckes durch das Handeln gelangt, einem
erheblichen. Erkennen wie Handeln betreffenden Bedenken.
Es sind, so scheint es, immer nur ,, zufällige Ansichten", auf
Grund deren im einzelnen Falle gehandelt wird. ,,x kann be-
trachtet, angesehen werden, als ob es a, als ob es b (so oder so)
wäre", also ,,die Betrachtung des x unter der Form des a, b ist
für das x zufällig".^) Und es scheint weiter, als brauchten, wenn
nur der jeweilige Zweck immer wieder verwirklicht wird, diese
einzelnen Ansichten und davon abhängenden Zwecksetzungen
untereinander keinerlei notwendigen, organischen Zusammenhang
zu haben.
Aber dies zu glauben und den Fiktionalismus auf diese Art
zu einem ,, Perspektivismus" stempeln zu wollen, hieße doch ein
') Vgl. Vaih. S. 275.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. ig
letztes, bisher nicht erwähntes, wesentliches Merkmal des Han-
delns übersehen.-') Alles Handeln ist ja nämlich zuletzt Handeln
gemäß einem Ideal, dem zu verwirklichenden ,, eigentlichen"
Zweck, und ,, Ideal" hängt zusammen mit ,,Idec".
Ideen aber wiederum, das dürfen wir nicht vergessen, sind
,, notwendige Gedanken, nämlich Aufgaben, Maximen, welche"
auch schon ,, unserer Erkenntnis Regeln geben und sie vereinheit-
lichen: sie sind" zwar ,, nicht konstitutive", wohl aber ,, regu-
lative Prinzipien". 2) ,,So ist die Idee der Seele" nur ,,der ge-
dachte Einheitspunkt für die inneren, die des Wcltganzen der für die
äußeren Erscheinungen, die Idee Gottes der für alle Dinge überhaupt.
Diese Regeln der Forschung dürfen" also jedenfalls ,, nicht — wozu
eine verhängnisvolle Neigung in unserer Vernunft liegt — für
gegebene Gegenstände genommen und die Forderung, die Bruch-
stücke unseres Wissens einem System der Erkenntnis einzu-
gliedern, nicht als dogmatische Behauptung über das Wirkliche
gedeutet werden." Sondern ,,die Ideen haben bloß eine hode-
getische Bedeutung, sie geben bloß Fingerzeige, die uns anleiten,
wie Erkenntnisse zu suchen und die gefundenen zu vervollständigen
seien". ^)
Als solche Fingerzeige sind sie aber maßgebend nicht nur
für das Erkennen und den systematischen Zusammenhang der
einzelnen Erkenntnisse. Sie weisen — und dadurch werden sie
erst eigentlich wichtig — darüber hinaus, indem sie wie für das
Erkennen so für das Handeln überhaupt fiktive Regeln ab-
geben. ,,Das einzelne Handeln", heißt es demzufolge, ,,ist so ein-
zurichten, als ob ein jemals Wahrnehmbares, also Wirkliches,
existierte, von dem aus dessen Übereinstimmung mit allem übrigen
Handeln geboten wäre." Wir wissen genau, daß uns ein solches
Einheitsprinzip, die Seele, die Welt, Gott, in keiner Wahrnehmung
jemals gegeben sein kann; trotzdem gilt uns die Forderung, die
in der fiktiven Annahme eines derartigen Prinzips eingeschlossen
ist. Ja sie gilt uns sogar so weit, daß sich uns die eben genannten
^) Perspektivismus" ist der Fiktionalismus durchaus nur in der Hinsicht,
daß eben jede Fiktion notwendig auch eine ,, Perspektive", ein Sehen der Dinge
ist, als ob sie dies oder jenes, so oder so wären, vgl. Vaih. S. 783, anläßlich von
Nietzsches , .Perspektivismus ■.
^) Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft S. 536f. [441 Vorländer].
*) Die Zitate aus Falckenberg, Hilfsbuch zur Gesch. d. Philos. seit Kant
[2. Aufl. 1907] S. i6f.
9*
20 Ottmar Dittrich:
drei Einheitsprinzipien abermals in ein, nun allumfassendes Ein-
heitsprinzip vereinigen, von dem aus sich dann wieder die Be-
ziehungen der Ideale und damit der einzelnen Fälle des Handelns
zueinander regeln.
Denn Einheit ist relative Gegensatzlosigkeit, und der
Wille tendiert auf Grund des vorgefundenen ,, praktischen Gegen-
satzes" auf Schaffung solcher Gegensatzlosigkeit mittels des Han-
delns. Das Ideal aber, in dem jene Gegensatzlosigkeit als künftig
wirklich vorgestellt wird, ist nichts als der jeweilig besondere Aus-
fluß jener Einheitsidee, jenes Einheitsprinzips.
Von diesem aus wird also das Ideal zuletzt oder, wenn man
will, zuerst bestimmt. Und zwar geschieht dies nicht nur in der
Hinsicht ,,von alter gegensatzvollcr zu neuer gegensatzloser Einzel-
wirklichkeit", sondern auch in der Richtung ,, Zukommen auf
eine relativ gegensatzlose Gesamt Wirklichkeit durch jedes ein-
zelne sein Ideal verwirklichende Handeln". Damit ist selbst-
verständlich nicht gesagt, daß das einzelne Handeln immer direkt
zu solcher Gegensatzlosigkeit beitragen müßte oder könnte. Es
kann vielmehr oft vom Standpunkte der Idee aus zweckmäßiger
sein, zunächst sogar schärfere Gegensätze in der Wirklichkeit zu
schaffen, als sie bisher vorhanden waren. Um nämlich dadurch
eine desto stärkere Motivation künftigen Willens zu erlangen, die
dann doch zur, nur sehr viel weiter reichenden, Vereinheitlichung
der Wirklichkeit durch Handeln führt. So ist etwa der Krieg zu
verstehen, sofern er den sonst nicht erlangbaren allgemeinen Willen
zu friedlicher Gegensatzschlichtung motivieren hilft.
VI.
Die Philosophie des Als-ob ist mithin, so könnte es scheinen,
schließlich reiner Ideismus oder, um den geläufigen Fachausdruck
anzuwenden, reiner Idealismus. Und diese Meinung würde ge-
stützt dadurch, daß sich der Begriff der Idee in ihr keineswegs
auf die von Kant angenommenen Ideen i. e. S. beschränkt. Nicht
nur die Hauptideen wie die der Seele, der Welt und Gottes nebst
den Ideen der Freiheit und Unsterblichkeit ^) gelten ihr als — fik-
tive — regulative Prinzipien. Auch die Kategorien (Substantialität,
') Vgl. dazu bes. Kant, Kritik der reinen Vernunft S. 39off. [Vorländer
331 ff.] (System der transzendentalen Ideen).
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. 21
Akzidentalität, Kausalität, Finalität, Einheitlichkeit usw.) sowie
die Anschauungsformen (Räumlichkeit und Zeitlichkeit) sind ihr
darin enthalten, ja sogar alle ,, Verstandesbegriffe" überhaupt.
Aber würde man die Einreihung der Philosophie des Als-ob
unter die philosophischen Grundrichtungen m dieser Weise vor-
nehmen, so geschähe ihr genau so schweres Unrecht wie mit der
Behauptung, sie sei ,, Positivismus", sei es auch ,, kritischer
Positivismus". Sie selbst will jedenfalls anders genommen sein.
,;Die zusammenfassende Erkenntnis", so heißt es in den
, Vorbemerkungen zur Einführung' in die , Philosophie des Als-ob'^),
— ,,die zusammenfassende Erkenntnis, die in der Einsicht in die
Notwendigkeit bewußter Fiktionen als unentbehrlicher Grund-
lagen unseres wissenschaftlichen Forschens, unseres ästhetischen
Genießens, unseres praktischen Handelns besteht, nimmt den
Namen eines idealistischen Positivismus für sich in Anspruch, in
welchem die beiden Dinge, auf welche es überhaupt ankommt,
gleichermaßen zur Geltung kommen: Tatsachen und Ideale. In-
sofern dieser Standpunkt 2) auch bereits bei Kant sich findet, und
insofern die Darstellung der , Philosophie des Als-ob' durch eme
ausführliche Darstellung des Kan tischen Systems sich rechtfertigt,
könnte sie sich nach Kant nennen; sie ist aber nicht von Kant
selbst ausgegangen, und zieht den ihrer Entstehung mehr ent-
sprechenden Namen eines .idealistischen Positivismus' voi*: sie ist
Positivismus, indem sie mit aller Entschiedenheit und Offenheit
einzig und allein im Gegebenen fußt, in den empirischen Emp-
findungsinhalten, und bewußt und bestimmt alles nicht etwa be-
zweifelt (sie ist darum auch nicht Skeptizismus), sondern direkt
leugnet, was darüber hinaus noch etwa auf Grund angeblicher
intellektueller oder ethischer Bedürfnisse als ,rear angenommen
werden mag; aber die .Philosophie des Als-ob' ist andererseits
doch Idealismus, indem sie die aus jenen intellektuellen und ethi-
schen Bedürfnissen entstandenen , Ideen' anerkennt und herüber-
nimmt als nützliche, wertvolle Fiktionen der Menschheit, ohne
deren , Annahme' das menschliche Denken, Fühlen und Handeln
verdorren müßte; in diesem Sinne ist sie eine , Phänomenologie'
des ideenbildcnden, fingierenden Bewußtseins. In solchem ,idea-
1) Vaih. S. XVI. mit Hereinnahme des Stückes „Einsicht in . . . praktischen
Handelns" von S. XV in das Zitat.
*) In der vorher erwähnten beschränkteren Ausdehnung.
22 Ottmar Dittrich:
listischen Positivismus' sind ja auch die beiden Richtungen ver-
treten, welche Kant in seinem Kritizismus vereinigen wollte. Hier
treten diese aber in einer etwas anderen Kombination auf, welche
den Anspruch erhebt, mindestens ebenso berechtigt zu sein, wie
die anderen philosophischen Richtungen der Gegenwart. Ja, man
wird ohne Überhebung sagen dürfen, daß ein solcher idealistischer
Positivismus (oder wenn man lieber will: ein solcher posi-
tivistischer Idealismus) auch darum die Zukunft für sich
hat, weil er eben Tatsachen und Ideale in sich vereinigt, und
zwar nicht nur derart, daß hier ein System der Erkenntnistheorie
geboten wird, sondern derart, daß hierin auch die Keime zu einer
vollbefricdigenden Welt- und Lebensanschauung enthalten sind."
Und darin, daß die Philosophie des Als-ob Erkennen und
zum Handeln führendes Wollen in einer, beiderseitig ihrem Gegen-
stande völlig angemessenen und ihn kritisch behandelnden Methode
— der Fiktion — zusammenschließt, wird man in der Tat den
Kern ihrer allgemeinen Bedeutung zu erblicken haben. Denn
sie ist so wohl auch erkenntnistheoretischer Idealismus, jedoch
nur zum Zwecke des Handelns und daher in letzter Linie prak-
tischer Idealismus. Und führt als solcher zugleich die Kantische
These ,, Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Be-
griffe sind blind" weiter zu der These: ,, Erkennen ohne Han-
deln ist leer, Handeln ohne Erkennen ist blind."
Will man sie also, ein ,, System der theoretischen, praktischen
und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idea-
listischen Positivismus" ^), zu einer Art ,, Pragmatismus" und
,,Utilitarismus" stempeln, so mag man es tun. Auch Sokrates
war in diesem Sinne Pragmatist und Utilitarier. Aber man ent-
ziehe ihr nicht in einem Atem das kritische Moment, das in
ihrem Wesen als Fiktionalismus gelegen ist, und wolle sie nicht,
wie es mit ihrer Bezeichnung als ,, reiner" Positivismus oder Idea-
lismus allerdings geschähe, zugleich auf Hypothese oder Dogma
als eine ihrer Grundmethoden stellen.
Denn keine dieser Methoden, weder die dogmatische noch
die hypothetische, geht prinzipiell von der Erfahrung aus, um
diese, sofern sie unbefriedigend, nach Maßgabe eines Ideals be-
friedigend neu zu gestalten. Sondern das Dogma setzt ohne
weiteres, die Hypothese unter dem Vorbehalt der ,, Verifikation"
^) So der Untertitel des ,, Philosophie des Als-ob".
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. 23
an der Erfahrung, Ideen, d. h. Gegenstände der Ideation*) als
wirklich voraus, nach Maßgabe deren die unbefriedigende Er-
fahrung befriedigend, neu zu gestalten sei. 2) Davon weiß aber
die Philosophie des Als-ob schlechterdings nichts. Sie sieht ja
gerade auch die Ideen i. e. S. als Fiktionen an und bewahrt sich
also auch ihnen gegenüber durchaus ihren kritischen Sinn. Es
ist ihr immer nur so ,,als ob die Ideen wirklich, d. h. als Gegen-
stände jemals möglicher Wahrnehmung existierten".
Mit dieser — fiktiven — Grundposition findet die Philosophie
des Als-ob ilir Auslangen. Sie genügt ihr dazu, die Ideen nicht
nur, sondern überhaupt ,,die ganze Vorstellungswelt" als ein
— regulatives — Instrument zu betrachten. ,,Um sich leichter
[und immer leichter] in der Wirklichkeit zu orientieren" 3),
d. h. um das in jeder, zuletzt auch in ästhetischer, ethischer und
rehgiöser Hjnsicht Richtige faktisch, also im Handeln auf die
Wirklichkeit zu treffen, — dazu und nur dazu ist sie da. Und
darum erscheint sie auch zugleich als ,,das letzte und höchste
Resultat der ganzen organischen Entwicklung", als ,,die letzte
Blüte gleichsam des ganzen kosmischen Geschehens"^), insofern
sie in Ideale umgesetzt und durch Handeln verwirkUcht wird.
Ist dies nun ,, Biologismus " .'' Gewiß kann man es so nennen
und auch dafür in der ,, Philosophie des Als-ob" so manche ge-
wichtige Stütze finden.
,,Der Organismus ist hineingestellt in eine Welt voll wider-
sprechender Empfindungen, er ist den Begriffen einer ihm feind-
lichen Außenwelt bloßgestellt, und um sich zu erhalten, wird er
gezwungen, sowohl von außen als innen alle möglichen Hilfsmittel
zu suchen. An der Not und am Schmerz entzündet sich die gei^
stige Entwicklung, am Widerspruch und Gegensatz erwacht das
Bewußtsein, und der Mensch schuldet seine geistige Entfaltung
mehr seinen Feinden als seinen Freunden."^)
Allgemein: der praktische Gegensatz drängt zum Wollen und
Handeln. Aber schon der weitere Satz, es sei ein ,, Faktum, daß
die Seele nach Aus- und Vcrgleichung strebt und sich in den Fik-
^) Vgl. unten S. 25.
*) Vgl. zu dem Unterschied von Fiktion, Hypothese und Dogma bes. Vaih.
S. 2i9{f, 143«-, 603ff.
») Die Zitate nach Vaih. 22.
*) Vgl. Vaih. S. 22f.
») Vaih. S. 19.
24
Ottmar Dittrich:
tionen die Mittel schafft, diese Vergleichungen immer weiter aus-
zudehnen"^), paßt nicht mehr in das Schema des landläufigen
Biologismus. Wenn für die ,, Philosophie des Als-ob ,,die Seele
nach Selbsterhaltung strebt in demselben Sinne, wie der [leibliche]
Organismus nach Selbsterhaltung strebt", so hat dies Streben^
das die gesamte ,, psychische und logische Entwicklung beherrscht" ^),
gewiß nicht den Charakter, von außen her verursacht, wenn-
gleich von da her veranlaßt zu sein. ,,Aus sich selbst spinnt die
Psyche diese Hilfsmittel heraus; denn die Seele ist erfinderisch;
den Schatz an Hilfsmitteln, der in ihr selbst liegt, entdeckt sie,
gezwungen^) von der Not, gereizt von der Außenwelt", ,,die
fiktive Fähigkeit der Seele ist eine Äußerung der psychischen
Grundkräfte, die Fiktionen sind [im Grunde spontane] psychische
Gebilde".^) Und sie sind, als regulative Prinzipien, wie wir sie
kennen gelernt haben, keineswegs auf reine Abwehr des Angriffs
von Fall zu Fall, auch keineswegs auf einen ,, Kampf ums Dasein"
im gewöhnlichen Sinne des Wortes gerichtet.
Kurzum, das Problem ist nicht Antithese auf Kosten des
Feindes, so daß dieser vernichtet wird und — nach einer Zeit des
Scheinfriedens — einem neuen gleichartigen Feinde Platz macht.
Synthese ist das Problem, Vereinbarung und dadurch Selbst-
erhaltung der beiden, von nun an Freunde, und daß der Mensch
schließlich seine geistige Entfaltung mehr seinen Freunden schulde
als seinen Feinden. Deren es freilich immer wieder gibt, nicht
nur unter den Mitmenschen, sondern auch in der übrigen Außen-
welt und im eigenen Innern. Jede Aufgabe, sei es selbst eine
rein wissenschaftliche, enthält einen solchen Feind in Form des
praktischen Gegensatzes, der Veränderung heischt, und sie wird
befriedigend erst, wenn die Spannung, die in ihr liegt, nicht zur
Beiseiteschiebung der Aufgabe verwendet wird, sondern zu deren
Lösung. Lösung, die aber wiederum nur erfolgen kann in Form
der Verwirklichung des Ideals, das aus dem praktischen Gegensatz
abgeleitet wird nach Maßgabe einer regulativen Idee, einer Fik-
tion. Auch diese jedoch ruht, ,, psychisches Gebilde", das sie ist,
und , .Äußerung der psychischen Gnmdkräfte", ursprünglich auf
») Vaih. S. 158.
*) Die Zitate nach Vaih. S. 182.
*) Den Ausdruck ..gezwungen" wird man dem ganzen Zusammenhang nach
nicht pressen dürfen.
«) Vaih. S. i8f.
Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob. 2 5
dem praktischen Gegensatz primitivster Art: „Den Schatz an
Hilfsmitteln, der in ihr selbst ruht, entdeckt die Seele [zunächst]
gezwungen von der Not, gereizt von der Außenwelt". Und zieht
daraus ihre Ideale ab, ebenfalls als ,, psychische Gebilde".
So zeigt sich denn in diesem ,, Biologismus" der Philosophie
des Als-ob vollends, wie fest sie auf dem Boden der These ,,von
Wirklichkeit zu Wirklichkeit" steht, wie wenig sie sich haltlosen
Phantasien, Illusionen hingibt, die doch nur von Wirkhchkeit
zu Unwirklichkeit führen können.^) Denn es ist nun klar: auch
das Ideieren und infolgedessen Idealisieren, das Setzen von Ideen
und Idealen ist ihr ein Glied der Wirklichkeit. Es ist ihr Tatsache
als Akt. Und es tritt ihr dadurch in Gegensatz zum Gegenstand
des Ideierens und Idealisierens, zum Resultat des Aktes, der Idee
und dem Ideal selbst. Denn diese allerdings sind ihr — was das
Ideal angeht, zunächst noch — Unwirkliches, jedoch — abermals
was das Ideal betrifft — zu Verwirklichendes.
Aber ist dies auch ,,in Wirklichkeit" so? Unbefangene Be-
obachtung wird es wohl bestätigen und so zugleich den prak-
tischen Grundgegensatz aufdecken, der, blickt man nur tief
genug, sich als Motiv jedes Handelns nicht nur, sondern natür-
lich auch schon jedes dazu nötigen Problemsteilens ergibt, den
Gegensatz von Tatsache und Ideal. Aus diesem Grundgegen-
satze heraus das Problem, das Ideal des besonderen Falles stellen,
ist Sache des Willens, es lösen heißt Handeln. Und das allgemeine,
in jedem Sonderfalle immer wieder zu lösende Problem ist: Ver-
wirkhchung des Ideals, auf daß Tatsache mit Tatsache sich
vergleiche im Rahmen einer neuen, zuletzt ethisch und religiös
befriedigenden Wirklichkeit.
Daraus aber folgt am Ende unmittelbar: Ein idealistischer
Positivismus, der in dieser Weise nicht sowohl die Erkenntnis
der Tatsachen um ihrer selbst willen, als vielmehr die Setzung
neuer Tatsachen um der ethisch-religiösen Entwicklung willen
zum Gegenstande seines Interesses macht, muß sich grundsätz-
lich auch mit den Problemstellungen aller dafür in Betracht
kommenden Gebiete befassen. Das sind aber nicht nur die Ge-
biete der Philosophie und Einzelwissenschaft, sondern auch Kunst,
1) Wir halten es darum auch für unzweckmäßig, den Ausdruck ., Illusion"
als Synonymum von „Fiktion" zu gebrauchen. Die ,, Philosophie des Als-ob" ist
nichts weniger als ,. Illusionismus".
26 Ottmar Dittrich: Die allgemeine Bedeutung der Philosophie des Als-ob.
,, bildende" wie , .redende" und , .mimische" und ,, tönende", sowie
das i. e. S. sogenannte praktische Leben. Man braucht nur an
die Kapitel Politik und Moral, Industrie und Gesellschaft, Krieg
und Frieden, an die ,, Geschichte" im ganzen zu denken, um zu
sehen, welche Problcmreihen sich da auftun. Die Philosophie des
Als-ob ist prinzipiell allumfassend.
Indes führt uns dies schon in Einzelheiten hinein, und diese
zu behandeln, müssen wir den ,,Annalen" selbst überlassen. Auch
daß dabei kritisch zu der Philosophie des Als-ob Stellung genommen
werde, haben wir von ihnen zu erwarten. Denn gerade im Sinne
dieser Philosophie liegt es vielleicht mehr als in dem aller andern,
was Her bar t einmal so schön sagt: ,,Die Wahrheit liegt nicht
hinter uns, sondern vor uns; und wer sie sucht, der schaue vor-
wärts, nicht rückwärts!"^) Unsere Absicht war nur, die Schöpfung
Vai hingers als einen dazu besonders geeigneten Ausgangspunkt
nachzuweisen, und diese Aufgabe hoffen wir in einer auch der
Philosophie des Als-ob angemessenen Weise erfüllt zu haben.
^) Herbarts Philos. Hauptschriften, hrsg. v. Flügel u. Fritzsch, Bd. 1, Leit-
spruch auf s. n.
e
Die Religionsphilosophie des Als -ob.
Von
Heinrich Scholz,
Dr. phil. et theol., ord. Prof. a. d. Univ. Breslau.
Inhaltsübersicht.
Einleitung: Ableitung des Aufbaus aus dem durch Vai hinger erregten drei-
fachen Interesse an der Entstehung, dem gegenwärtigen Bestände und der Bedeutung
der Religionsphilosophie des Als-ob. — Grundlegende systematische Unterscheidungen :
eigentliche und uneigentliche Als-ob-Lehre.
I. Die Entstehung der Religionsphilosophie des Als-ob.
(I) Die durch den unkantischen Begriff der Pflichtreligion bedingte Schöpfung
der Keligionsphilosophie des Als-ob durch den Kantianer Forberg.
1^2) Die durch Vaihingers Untersuchungen bedingte Nachprüfung des Verhält-
nisses der Kan tischen Religionsphilosophie zur Religionsphilosophie des
Als-ob. Der durch das Interesse am Dasein Gottes bestimmte Artunter-
schied zwischen Kant und Forberg. Der erkenntniskrilische Sinn des
Kan tischen „Als-ob". Nachprüfung und Kritik der von Vaihinger ange-
führten Hauptbeweisstellen für den Anteil Kants an der Grundlegung der
eigentlichen Religionsphilosophie des Als-ob.
Erstes Stück.
In seiner „Philosophie des Als-ob" (iQii; zweite, mit der
ersten gleichlautende, um eine Vorrede vermehrte Ausgabe 1913)
hat Vaihinger den Versuch gemacht, ein System der geistigen
Werte zu liefern, das lediglich auf praktischen Gesichtspunkten
beruht und folglich auch nur in praktischer Hinsicht aufrecht
erhalten werden kann.
Ein integrierender Bestandteil dieses Systems ist die Religions-
philosophie des Als-ob.
Unter der Religionsphilosophie des Als-ob ist eine Theorie zu
verstehen, die das Wesen der Religion in ihren praktischen Charakter
verlegt und alle theoretischen Ansprüche vom Anteil an ihrer Wesens-
bestimmung ausschließt. Religion ist nach dieser Auffassung ein
praktisches Verhalten, das ohne Bezug auf die Wirklichkeit
Gottes lediglich an der Gottes idee orientiert ist. Sie besteht
also weder in der Überzeugung, daß es ein höchstes Wesen gibt,
noch in einem Verhalten, das dieser Überzeugung entspringt oder
sie zur Folge hat, sondern in einer Lebensführung der Art, als
ob es ein höchstes Wesen gäbe. Zu denken ist dieses als ein Wesen,
das unbedingt das Gute will; denn darin besteht der religiöse Cha-
28 Heinrich Scholz:
rakter des Menschen nach dieser praktischen Auffassung der Re-
ligion, daß er dem Guten mit einer Gesinnung dient, als ob es
von Gott befohlen und zur Herrschaft über das Böse bestimmt
wäre.
Religion ist also, diesem Ansatz zufolge, eine eigentümliche
Art und Weise, die absolute Bedeutung des Guten zu empfinden.
Eine solche Empfindung ist nun freilich in allen höheren Religionen
anzutreffen; insofern deckt sich die neue Religion mit dem, was
man sonst unter diesem Namen versteht. Die praktische Schätzung
des Guten ist es, die sie mit der am Bestände des Göttlichen inter-
essierten Religion verbindet. Aber sonst ist sie etwas ganz anderes
als diese. Die am Bestände des Göttlichen interessierte Religion
greift über die praktische Schätzung des Guten in eigentümlicher
Weise hinaus. Wir verstehen unter ihr eine Lebens Verfassung, die
durch den Lebens Zusammenhang mit dem Göttlichen bedingt ist
und hierin ihre wesentliche Bestimmung hat. Für diese Religion
ist das Göttliche eine Realität, die zwar die Schätzung des Guten
zur Folge hat, aber durchaus nicht mit dieser zusammenfällt.
Vielmehr erfolgt in diesem Zusammenhange die eigentümliche
Schätzung des Guten erst auf Grund der erlebten Wirklichkeit
Gottes. Zwar kann sich die Anerkennung des Guten als eines
sittlichen Prinzips auch innerhalb der religiösen Lebens-
verfassung sehr wohl ohne ausdrückliche Beziehung auf Gott
aus der unmittelbaren Einsicht in die Bedeutung des Guten
erzeugen. Wo aber der religiöse Mensch das Gute in der
ihm eigentümlichen Weise, nämlich als göttlichen Wert, empfindet,
geschieht es unter der Voraussetzung, daß das Göttliche ist,
und daß es im Guten lediglich in der uns be zwingendsten
Ausprägung erscheint.
Die Probe auf die Richtigkeit dieser Interpretation liegt in
der Tatsache, daß der religiöse Mensch das Gute keineswegs als
die einzige Ausstrahlung des Göttlichen empfindet, daß er viel-
mehr, je religiöser er ist, um so mehr auch im ,, Bösen" die Spuren
des Göttlichen aufzufinden sucht. Mit Recht; denn wenn das
Göttliche mehr ist als das Gute, wenn es unabhängig von diesem
,, besteht", so braucht es nicht nur in ihm zu ,, erscheinen", sondern
kann sich auch im Bösen manifestieren. In diesem Sinne hat
Goethe recht: die höchste Leistung der Religion drückt sich
in der Anerkennung des Göttlichen aus, wo und wie es sich offen-
bare; und alle Versuche einer Theodizee, sie mögen sich in der
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 29
Ausführung noch so weit von den Gesichtspunkten des rehgiösen
Bewußtseins entfernen, hängen durch das Interesse am „Bestände"
des Göttlichen eng mit der ReHgion zusammen.
Die ReHgion des Als-ob kennt ein solches Interesse nicht.
Im Gegenteil, sie zieht sich von ihm zurück, weil sie Verwirrung
von ihm befürchtet. Für sie ist die Religion überhaupt nicht
ein Verhältnis zum ,, Göttlichen", sondern lediglich ein bestimmtes
Verhältnis zum Guten, und zwar ein solches, wodurch das Gute
in die Werthöhe des Göttlichen emporgehoben wird. Ob das
Göttliche selbst existiert, ist eine Frage, mit der sie sich gar nicht
beschäftigt; es genügt ihr, das Gute so zu empfinden, daß es nicht
stärker empfunden werden könnte, wenn es ein höchstes Wesen
gäbe, dessen Wirkhchkeit sich erweisen ließe.
Der Unterschied der Religion des Als-ob von der sonst so
genannten Religion ist also in Folgendem zu erblicken. Die Re-
ligion im eigentlichen Sinne des Wortes leitet die religiöse Schätzung
des Guten vom ,, Bestände" des Göttlichen ab; die Religion des
Als-ob fällt mit einer praktisch gleichartigen Schätzung des Guten
zusammen, ohne auf den ,, Bestand" des GöttHchen zu reflektieren.
Die eigentlich so genannte Religion ist stets eine Aussage über
das Göttliche: Gott ist, und zwar ist er in seiner erhebendsten
Offenbarung das transzendente Prinzip des Guten. Er kann aber
auch im ,, Bösen" gegenwärtig sein; und die Idee der Allgegen-
wart nötigt sogar, ihn auch in diesem anzuerkennen. Die Religion
des Als-ob ist dagegen vielmehr eine Aussage über die Bedeutung
des Guten: das Gute ist das Göttliche; und zwar ohne Bezug
auf die Frage, ob das Göttliche an sich existiert oder nicht. Das
Göttliche ist in dieser Konzeption zu einem von allen Daseins -
fragen unabhängigen Prädikat des Guten geworden, während es
in der Sphäre der eigentlich so genannten Religion vielmehr das
in seinem Dasein bejahte und anerkannte Subjekt aller Prädikate
ist. Und während die eigentlich so genannte Religion Raum hat
für die religiöse Beurteilung des Bösen, darf eine konsequente
Religion des Als-ob sich auf eine solche auch nicht einmal ein-
lassen wollen; denn wenn das Gute das Göttliche ist, so kann
das Böse nur das Ungöttliche sein.
So erscheint als der entscheidende Zug an der eigentlichen
Religion des Als-ob die Uninteressiertheit am Bestände des
Göttlichen. In dieser Qualität kann die Religion des Als-ob
sich in zwei Gestalten ausprägen. Wenn das Dasein des Gott-
JO Heinrich Scholz:
liehen für die Substanz des religiösen Bewußtseins belanglos ist,
so kann die Frage, ob Gott existiert, entweder ausdrücklich offen
gelassen oder geradezu verneint werden. Es kann heißen: Der
Mensch hat Religion, insofern er sich so verhält, als ob es ein
höchstes Wesen gäbe, während er in dem Bewußtsein handelt,
daß die Existenz eines solchen zweifelhaft ist. Es kann aber
auch heißen: Der Mensch hat Religion, insofern seine Handlungen
in Analogie zu den Handlungen eines Menschen stehen, der an
das Dasein Gottes glaubt, während er selbst von dem Gegenteil
überzeugt ist und an der Nichtcxistenz des Göttlichen festhält.
Wir können die erste dieser beiden Religionsformen, die das Dasein
Gottes im Ungewissen läßt, als die skeptische bezeichnen. Die
zweite, die auf das Dasein Gottes verzichtet und dasselbe aus-
drücklich verneint, mag die paradoxe heißen.
Indessen, unter einer Religion des Als-ob kann man noch
etwas ganz anderes verstehen. Man kann eine Religion darunter
verstehen, die gleich der eigentlich so genannten Religion am Be-
stände des Göttlichen interessiert ist und durch das ,, Als-ob"
nur ausdrücken will, daß es über diesen Bestand eine intellek-
tuelle Gewißheit nicht geben könne. Eine derartige Religion
käme auf eine Lx;bcns Verfassung hinaus, deren Subjekt sich so
verhält, als ob es wüßte, in der Form der Demonstration,
daß es ein höchstes Wesen gibt, während es dieses Wesen
in Wirklichkeit nur unter gewissen Bedingungen kennt, die
zwar genau bestimmt werden können, aber des logischen
Zwanges entbehren. Handeln, als ob es ein höchstes Wesen
gäbe, wäre alsdann ein verkürzter Ausdruck für ein Handeln
der Art, als ob das Dasein eines solchen Wesens intellektuell
erweislich wäre.
Wir können diese Art von Religion als die uneigentliche
Religion des Als-ob und die ihr entsprechende Religionsphilo-
sophie als die kritische bezeichnen. Sie verdient diesen Namen
insofern, als sie zwischen dem Dasein des Göttlichen und der Art
unseres Bewußtseins von Gott unterscheidet und durch das ,, Als-
ob" nur diese Bewußtscinsart genauer zu bestimmen unternimmt.
Durch ihr Interesse am Bestände des Göttlichen ist sie von der
eigentlichen Religion des Als-ob nicht nur dem Grade, sondern
der Art nach verschieden. Wenn sie dennoch hier eingesetzt
wird, so geschieht es aus einem doppelten Grunde: einmal
wegen ihrer formalen Identität mit der eigentlichen Religion
Die Religionsphilosophie des Als-ob. % I
des Als-ob, sodann wegen der sachlichen und systematischen
Bedeutung, die sie im Verlauf der folgenden Untersuchungen
erlangen wird.
Es ist nämlich Vai hinger darum zu tun, die Religion des
Als-ob in der paradoxen Gestalt einer Religion ohne Gott nicht
nur für sein eigenes System, sondern auch für Kant in Anspruch
zu nehmen. Eine Durcharbeitung des ganzen in Betracht kom-
menden Materials unter dem von ihm selber vertretenen Gesichts-
punkt soll diesen Anspruch realisieren.^) Eine ganz neue Auf-
fassung Kants ist der Ertrag dieser Untersuchung. Dieser Auf-
fassung gemäß ist die Kantische Religionsphilosophie nicht das,
wofür sie gewöhnlich gehalten wird — eine durch sittliche Er-
wägungen bestimmte Grundlegung des Glaubens an das Dasein
Gottes — , sondern etwas ganz anderes, nämlich eine neue Kon-
zeption des Begriffs der Religion. Die herrschende Kant auf fassung
nimmt an, daß Kant in seiner Religionsphilosophie an dem In-
halt des religiösen Bewußtseins nichts geändert habe. Dieser
bestehe auch nach Kant in der Überzeugung vom Dasein Gottes,
mithin in einem Existentialurteil, das sich auf die transsubjektive
Wirklichkeit Gottes bezieht. Nur die Ableitung dieses Existential-
urteils, folghch des religiösen Bewußtseinsinhaltes, sei durch Kant
eine andere geworden. An die Stelle der logischen Deduktion
sei die ethische Begründung getreten, an die Stelle der intel-
lektuellen Beweisführung die moralische Argumentation. Die
durch die Kritik der theoretischen Vernunft entwerteten Stützen
des religiösen Bewußtseins seien auf Grund der neu gewonnenen
Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft durch mora-
lische Stützen ersetzt worden. Hierauf • — und hierauf allein —
beruhe die Umwälzung des rcligionsphilosophischen Denkens durch
Kant, mithin die eigentümliche religionsphilosophische Leistung
des Kritizismus. Die kritische Religionsphilosophie bedeute die
Wendung zu einer neuen Ableitung des religiösen Bewußtseins;
nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Substanz nach bleibe
das religiöse Bewußtsein durch den Kritizismus unangetastet.
Dieser Auffassung stellt Vaihinger eine Auslegung entgegen,
die die Substanz des religiösen Bewußtseins berührt und den
Schwerpunkt der Kantischen Rehgionsphilosophie in die Inter-
^) Vgl. die Philosophie des Als-ob, S. 613 — 733.
2 2 Heinrich Scholz:
pretation des religiösen Bewußtseins verlegt. Nach Vaihinger
fordert der konsequente Kritizismus den Verzicht auf jegliche
Art von Religion, die sich als Glaube an das Dasein Gottes emp-
findet. Eine genaue Musterung der Stellen, in denen sich Kant
vom Standpunkt des konsequenten Kritizismus aus über das
Dasein Gottes ausspricht, führe zu dem Ergebnis, ,,daß ihm die
Existenz eines höchsten Geistes im üblichen Sinne des Existierens
nicht bloß nicht wahrscheinlich, sondern höchst unwahrscheinlich,
ja direkt unglaubhaft wird bis zur Unmöglichkeit". Und zwar
bewegen sich die hierfür in Betracht kommenden Stellen nach
Vaihinger ,,vom Unwahrscheinlichen bis zum Unmöglichen in
verschiedenen Abstufungen, unter Vermeidung des . . . Ausweges
des Agnostizismus, welcher lehrt, das Gebiet der Dinge an sich
sei unbekannt, dieses unbekannte Gebiet könnte aber wohl eine
Welt von Geistern mit einem höchsten Geist an der Spitze sein.
Ein solcher Agnostizismus . . . erscheint als ein schwächlicher
Kompromiß gegenüber dem Radikalismus der Stellen, in denen
Kant seinen Sitz auf der äußersten Linken des philosophischen
Parlaments nimmt: ihm sind alle transzendenten Vorstel-
lungen nichts als , selbstgemachte Ideen'." Um noch deut-
licher zu machen, worum es sich handelt, unterscheidet Vaihinger
drei Möglichkeiten. Erstens : die Vorstellungen einer transzendenten
Welt sind uns aus dieser selbst gegeben, und damit ein Beweis
derselben. Zweitens: Jene Vorstellungen sind von uns selbst
gemacht und tragen durch ihre Entstehung in sich selber den
Gegenbeweis gegen die Existenz der durch sie gedachten Welt.
Drittens: Jene Vorstellungen sind zwar von uns selbst gemacht;
aber es entspricht ihnen trotzdem eine Welt transzendenter Reali-
täten. Diese dritte MögHchkeit ist es, die Vaihinger ausdrücldich
ausschließen möchte. ,, Einen solchen Kompromiß", erklärt er
mit Nachdruck, ,, schließt unser Kant nicht . . .: für ihn sind
jene Vorstellungen schlechterdings ideae a nohis factae, daher
ideae jiciae.'' ^)
Den Beweis dafür liefern Vaihinger zahlreiche dahingehende
Äußerungen Kants, die über sein ganzes Schrifttum zerstreut
sind, und deren Sammlung zu den wesentlichsten Verdiensten
der Vaihinger sehen Untersuchung gehört. Von besonderem Be-
lang ist für Vaihinger eine Stelle aus der Methodenlehre der
*) Vgl. zu diesem ganzen Abschnitt die Philosophie des Als-ob S. 734.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 22
Kritik der reinen Vernunft, in der die Gottesidec unter theore-
tischem Gesichtspunkt als „heuristische Fiktion", mithin als eine
zweckvolle Erdichtung, oder, wie Vai hinger interpretiert (S. 638
unten), als eine ,, bewußte Selbsttäuschung" bezeichnet wird.
Vaihinger nennt diese Stelle klassisch und bemerkt dazu: ,, Würde
man diese klassische Stelle immer vor Augen gehabt haben, so
hätte man die ganze Ideenlehre von vornherein besser verstanden"
(S. 620). Man würde sie — das ist Vaihingers Meinung — dann
nicht als eine Lehre von an sich möglichen, nur theoretisch nicht
erweislichen Gegenständen höherer Ordnung verstanden haben,
sondern als das, was sie in Wirklichkeit sein will, nämlich eine
Lehre von der praktischen Brauchbarkeit gewisser Ideen, die
notorisch nicht mehr als Ideen sind — Geschöpfe der mensch-
lichen Einbildungskraft, ohne reellen Hintergrund.
Wenn diese Kantauffassung zutrifft, so ist es undenkbar,
daß die Kantische Religion in dem Glauben an das Dasein Gottes
besteht; denn es ist sinnlos, an das Dasein eines Wesens zu glauben,
von dessen Nichte xistenz man überzeugt ist. Vielmehr kann die
Religion unter dieser Voraussetzung nur durch eine völlige Um-
schmelzung ihres substantiellen Gehaltes für das Bewußtsein ge-
rettet werden. Sie muß das Dasein Gottes preisgeben und in ein
praktisches Verhalten umschlagen, das lediglich an der Gottes-
idee orientiert ist. An die Stelle des unmöghch gewordenen
Existcntialurteils muß eine Maxime des Handelns treten,
nämlich die Regel, so zu handeln, als ob es ein höchstes Wesen
gäbe — während wir wissen, daß es ein solches nicht gibt. Religion
ist also nach den Prinzipien' des konsequenten Kritizismus ihrer
inhaltlichen Bedeutung nach etwas ganz anderes, als ein Urteil
über das Dasein Gottes; sie ist die Selbstbeziehung des handelnden
Subjektes auf die von ihm selbst erzeugte Gottes idee, mit anderen
Worten: ein an der Gottesidee orientiertes, vom Be-
stände des Göttlichen völlig abstrahierendes praktisch-
sittliches Verhalten.
Mit der Entdeckung dieses Religionsbegriffes glaubt Vaihinger
den bisher übersehenen Kern der Kantischen Religionslehre er-
gründet zu haben. Nach abermaliger sorgfältiger Zusammen-
fassung aller in diesem Sinne lautenden Stellen — und es sind
ihrer mehr, als man a priori für möglich hält — kommt Vaihinger
zu folgendem Ergebnis: Nach den Prinzipien des echten, kon-
sequenten Kritizismus ist ,, Glaube so viel wie die Annahme, als
Annalen der Philosophie. I. 3
34
Heinrich Scholz:
ob etwas wäre, was nicht wirklich ist und nicht wirklich sein kann"
(S. 638). ,,Im Kantischen Sinne, im Sinne der kritischen Philo-
sophie heißt der Ausdruck ,ich glaube an Gott' nichts anderes
als: ,ich handle so, als ob es einen Gott wirklich gäbe'; indem
der kantisch und kritisch Denkende sittlich handelt, handelt er
so, als ob das Gute einen unbedingten Wert in der Welt hätte,
derart, daß es das Entscheidende in der Welt wäre; und das Gute
wäre das Entscheidende in der Welt, wenn es eine Wcltregierung
gäbe, welche das Gute auch letztlich zum Siege führen würde.
Trotzdem mir meine theoretische Vernunft verbietet, eine solche
moralische Weltordnung anzunehmen — ein solcher Begriff ist
gänzlich leer — , so handle ich doch so, als ob es eine solche mora-
lische Weltordnung geben würde, da mir meine praktische Ver-
nunft gebietet, das Gute unbedingt zu tun" (S. 684).
Weiter. Kant hat die Bestimmung: ,, Religion ist die Erkenntnis
aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote" gelegentlich in die
Form gekleidet: Alle Religion besteht darin, daß wir Gott für alle
unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber
ansehen. Hierzu bemerkt Vaihinger: ,,Der Ton liegt und ist zu
legen auf , ansehen'; wir sehen es so an, als ob es einen Gott gäbe,
und als ob dieser Gott die Moralgesetze uns geboten hätte — in
dieser zweifachen Fiktion liegt das Wesen der religiösen
Betrachtungsweise" (S. 663).
Eine von Vaihinger selbst schon gezogene Konsequenz dieses
Standpunktes ist die völlige Koinzidenz von Moralität und Re-
ligion. ,, Sittlich handeln heißt, entgegen den empirischen Be-
dingungen so handeln, als ob das Gute einen unbedingten Wert
hätte, als ob es die Macht hätte, in eine überempirische Welt
hineinzureichen, in der ein oberster Weltherrscher für die Har-
monie des Guten und des Bösen sorgte. In diesem Sinne ist
gutes Handeln identisch mit dem Glauben an Gott und
Unsterblichkeit. . . . Jedes sittliche Handeln schließt
die Fiktion von Gott und Unsterblichkeit in sich ein —
dies ist der Sinn des praktischen Vernunftglaubens an
Gott und Unsterblichkeit" (S. 685).
Eine weitere Konsequenz ist die Möglichkeit einer Religion
ohne Gott. Sie ergibt sich mit innerer Folgerichtigkeit aus dem
Verzicht auf die Wirklichkeit Gottes. ,,Auch der Atheist, der
theoretisch mit dem Munde Gott und Unsterblichkeit leugnet,
glaubt, wenn er sittlich handelt, praktisch an beides. Praktischer
Die Religionsphilosophie des Als-ob. ßC
Glaube an Gott und Unsterblichkeit heißt für Kant . . .: sich
praktisch so verhalten . . ., als ob man theoretisch an jene
Dinge glauben würde" (S. 685 f.).
Vai hinger weiß und betont es ausdrücklich, daß dies nicht
die ganze Lehre Kants ist. Er weiß, daß Kant sich oft genug
auch für das Dasein Gottes erklärt hat und seinen Ideen einen
Ausdruck verleiht, der der herrschenden Auffassung recht gibt.
Die ,,Prolegomena" und die Kritik der praktischen Vernunft sind
die Haupt quellen dieser realistischen Ausprägung des Kantischen
Religionsbegriffs.
Indessen hierauf ist erstlich zu erwidern, daß diese realistischen
Formeln sehr leicht als Nachwirkungen eines Religionsbegriffs ver-
ständlich gemacht werden können, der bis auf Kant fast aus-
schließlich geherrscht hat und mit dem Kant selber aufgewachsen
ist. Daß solche Begriffe ihre Spuren zurücklassen, ist nur allzu
begreiflich und hindert nicht, daß sie prinzipiell überwunden sind.
Es ist sehr wohl denkbar, daß der realistische Religionsbegriff in
die dem Geist des Kritizismus entsprechende ideologische Religions-
konstruktion eingedrungen ist, ohne sachlich mehr zu bedeuten,
als das Rudiment einer grundsätzlich überwundenen Anschauung.
Der religiöse Realismus würde alsdann in dieselbe Beleuchtung
rücken, wie bei Fichte und seinen Nachfolgern der erkenntnis-
theoretische Realismus Kants. Er wäre eine im konsequenten
System des Kritizismus unerträgliche Inkonsequenz.
Was diesen Realismus im besonderen betrifft, so wird er
zweitens noch dadurch eingeschränkt, daß Kant fast an keiner
Stelle versäumt, den praktischen Charakter desselben zu betonen.
Immer wieder hat Kant die Realität des Göttlichen als eine prak-
tische bezeichnet, und Vaihinger ist geneigt, diese praktische
,, Realität" mit praktischer Bedeutung gleichzusetzen (S. 653
Anm.). Wenn diese Auslegung zutrifft, so schränkt sich die Rea-
lität der Gottesidee auf ihre praktische Bedeutung und Brauch-
barkeit ein; und dem Realismus ist auch von dieser Seite her für
die Religionsphilosophie nichts abzugewinnen.
Drittens macht Vaihinger mit Recht darauf aufmerksam,
daß einige der beweisendsten Stellen für die AIs-ob-Betrachtung
der Religion sich in den spätesten Schriften finden — also in
Schriften, von denen man annehmen kann, daß sie den kriti-
zistischen Standpunkt in seiner reifsten Ausprägung vertreten.
Diese späten Zeugnisse sind wichtige Stützpunkte für eine Psycho-
se
36
Heinrich Scholz:
logische Konstruktion der Kantischen Rcligionsphilosophie in der
von Vai hinger angenommenen Richtung auf eine reine Theorie
des Als-ob. Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn Vaihinger
bemerkt: ,,Es ist psychologisch leicht verständhch, daß bei Kant
die mildere (nur die Erkennbarkeit des Daseins Gottes ausschließende)
Form der Religion des Als-ob die ursprüngliche gewesen ist" (S. 750
Anm.). ,,Erst später" — meint Vaihinger — ,,kam Kant da-
hinter, daß auch schon der Begriff der Gottheit selbst . . . fiktiver
Natur sei. Während so viele andere bedeutende Geister ... im
Alter in dieser Hinsicht zu einem schwächlichen Kompromiß
herabglitten, hat Kant sich, je älter und erfahrener er wurde,
desto mehr befreit und sich schließlich zu einem konsequenten,
entschiedenen Standpunkt durchgerungen" (a. a. O.).
Wenn also auch nicht behauptet werden kann, daß sich die
ganze Lehre Kants auf die Theorie des Als-ob zurückführen
lasse, so läßt sich nach Vaihinger doch so viel erweisen, daß die
ideologische Religionskonstruktion die durch die reifsten Schriften
Kants bezeugte richtige Lehre des Kritizismus ist. Alle anders
lautenden Stellen sind entweder als Vorstufen oder als inkonsequente
Durchkreuzungen dieser richtigen Lehre anzusehen und nach den
Ergebnissen derselben zu korrigieren. Mag auch der sogenannte
liistorische Kant in Hinsicht auf seine Rcligionsphilosophie noch
so sehr zwischen Realismus und Pragmatismus hin und her
schwanken: der ideelle Kant ist eine eindeutige Erscheinung
— eindeutig im Sinne des Pragmatismus — und nur an ihm hat
die Nachwelt Interesse.
Unzweifelhaft verhält es sich so. Um so nötiger erscheint
eine Nachprüfung dieser eigentümlichen, die Kantauffassung eines
ganzen Jahrhunderts umstoßenden Interpretation. Erwägt man,
wie eng die religionsphilosophische Arbeit der Gegenwart, zumal
auf theologischem Gebiete, noch immer mit Kant und den Prin-
zipien des Kritizismus verknüpft ist, so sieht man leicht, daß die
von Vaihinger geforderte Umdeutung, wenn sie sich als berechtigt
erwiese, auch in systematischer Hinsicht von den bedeutendsten
Folgen sein müßte. Eine positive Anknüpfung an Kant könnte
dann entweder überhaupt nicht mehr stattfinden oder nur noch
unter der mißlichen Bedingung, daß man Kant nicht nur
Ix'sser, sondern ganz anders zu verstehen sucht, als er sich
selbst verstanden hat.
Die Religionsplülosophie des Als-ob. 57
Hierdurch entsteht nun zunächst die Notwendigkeit, die Frage
nach dem Anteil Kants an der Entstehung der Rehgionsphilo-
sophie des Als-ob in die folgenden Untersuchungen einzubeziehen.
Es wird nötig sein, diese Frage im Hinblick auf die Prinzipien
des Kritizismus und mit besonderer Beziehung auf Vai hingers
Beweisstücke noch einmal gründlich zu diskutieren.
Nun ist aber noch unmittelbarer als Kant der durch Vai-
hinger der Vergessenheit entzogene Kantianer Forberg an der
Entstehung der Religionsphilosophie des Als-ob beteiligt. Es
wird also nicht zu umgehen sein, auch dessen Position hier ein-
zureihen; denn erstens ist Forberg als Religionsphilosoph eine
noch nicht ausgeschöpfte, originelle Erscheinung, zweitens ist
sein Religionsbcgriff ein so wesentliches Hilfsmittel zur Präzisierung
des Kantischen, daß er schon aus diesem Grunde hier nicht ent-
behrt werden kann.
In einem ähnlichen Verhältnis wie Forberg zu Kant steht
die Religionsphilosophie des Pragmatismus zur Vai hinger sehen
Rehgionsphilosophie des Als-ob. Und so wenig wie Forberg
in einer Untersuchung über die Entstehung der Religionsphilo-
sophie des Als-ob neben Kant zu entbehren ist, so wenig ist die
Religionsphilosophie des Pragmatismus neben der Vaihingerschen
in einer Arbeit zu entbehren, die über den gegenwärtigen Stand
der Religionsphilosophie des Als-ob orientieren w^ill. Denn
auch der Pragmatismus legt, wie schon sein Name anzeigt, ein
ganz besonderes Gewicht auf die praktische Bedeutung der Re-
ligion; ja, er versucht, gleich Vaihinger, das Wesen der Religion
mit diesem Schlüssel zu erschließen. Um so lehrreicher wird es
sein, die Unterschiede festzustellen, die zwischen beiden Theorien
bestehen, und diese durch die Aufklärung der unterscheidenden
Merkmale selbst genauer zu präzisieren.
Zu einer abschließenden Betrachtung gehört aber noch mehr
als ein kritischer Überblick über den gegenwärtigen Stand der
Religionsphilosophie des Als-ob. Es entspricht der Bedeutung,
die sie sich beimißt und unter der Form des Pragmatismus auch
schon erlangt hat, daß diese selbst der Prüfung unterworfen und
unter den beiden entscheidenden Gesichtspunkten, die für ein
religionsphilosophisches System in Betracht kommen, dem philo-
sophischen und dem religiösen, erwogen wird.
Die folgende Untersuchung wird demnach aus drei Haupt-
stücken bestehen, von denen das erste die Entstehung, das zweite
38
Heinrich Scholz:
den gegenwärtigen Stand, das dritte die Bedeutung der Religions-
philosophie des Als-ob zum Gegenstande hat.
I.
Die Entstehung der Religionsphilosophie des Als-ob.
(Forberg und Kant.)
Die I^ntische Religionskonstruktion ist durch Vaihingers
Analyse ein so kompliziertes Gebilde geworden, daß es sich emp-
fiehlt, die Frage nach der Entstehung der Religionsphilosophie
des Als-ob nicht unmittelbar an Kant anzuknüpfen, sondern an
die Arbeit des Mannes, den Vai hinger selbst in Hinsicht auf sein
Verhältnis zur Theorie des Als-ob als den konsequentesten aller
Kantianer bezeichnet hat. Dieser Mann ist der aus der Geschichte
des Atheismusstreites bekannte Friedrich Carl Forberg. ^)
Forberg hat im ersten Heft des von Fichte und Niet-
hammer herausgegebenen Philosophischen Journals von 1798
einen höchst interessanten Aufsatz über den Begriff der Religion
veröffentlicht. Dieser Aufsatz umschließt, wie Vai hinger zuerst
gesehen hat, ein ganzes System von originellem Charakter; und
es ist für unsere Zwecke sehr wichtig, diesem System auf die Spur
zu kommen.^)
^) Vgl. über Forberg (1770 — 1848) das Kapitel bei Vaihinger: Forberg, der
Veranlasser des Fichteschen Atheismusstreites und seine Religion des Als-ob (a.a.O.,
S- 733 bis 753). — Ferner die wertvolle, außerordentlich genau gearbeitete Untersu-
chung von A.Wesselsky, Forberg und Kant, Studien zur Geschichte der Philosophie
des Als-ob und im Hinblick auf eine Philosophie der Tat, 191 3. — Für die Erkenntnis
von Forbergs persönlichem Entwicklungsgang ist von großer Bedeutung der von
ihm selbst verfaßte ,, Lebenslauf eines Verschollenen", Hildburghausen und Meiningen,
Verlag der Keßelringschen Hofbuchhandlung, 1840. Ich besitze eine Abschrift
dieses außerordentlich seltenen, nach den Ermittlungen der Auskunftsstelle der
deutschen Bibliotheken (bei der Kgl. Bibliothek zu Berlin) nur noch auf den Herzog-
lichen Bibliotheken zu Gotha und Meiningen vorhandenen Büchleins (im Umfang
von 61 Seiten) durch die Güte des Herrn Dr. Hans Lindau, Bibliothekar an der
Kgl. Bibliothek zu Berlin.
-) Forbergs ..Entwicklung des Begriffs der Religion" ist neuerdings zweimal
herausgegeben worden, zuerst von Fritz Medicus, sodann von Hans Lindau. —
Fichte und Forberg, Die philosophischen Schriften zum Atheismusstreit, neu
herausgegeben und eingeleitet von Fritz Medicus 1910 (im Verlag der Philo-
sophischen Bibliothek von Meiner in Leipzig). — Die Schriften zu J. G. Fichtes
Atheismusstreit, herausgegeben von Hans Lindau 1912 (München bei Georg
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 29
Es entspricht der Zeitlage, in der Forbergs Aufsatz ent-
standen ist, daß der kritische RationaHsmus die Konstruktion
seines Religionsbegriffes völHg beherrscht. Dies tritt sofort in
der Kritik der Quellen des religiösen Bewußtseins zutage. Für
Fichte war 1791 das Offenbarungsprinzip noch ein Problem;
für Forberg ist es ein überwundener Standpunkt. Er gedenkt
desselben mit keinem Worte, sondern wendet sich sofort zu den
natürlichen Quellen des religiösen Bewußtseins: Erfahrung, Speku-
lation und Gewissen.
Aus der Erfahrung kann die ReHgion offenbar nicht ent-
springen; denn diese führt nirgend auf Gott. Um auf Gott zu
führen, müßte sie eine nach moralischen Gesichtspunkten auf-
gebaute Welt antreffen, d. i. eine Welt, ,,in der es den Guten am
Ende gelingt, und den Bösen am Ende mißlingt".^)
Allein gerade dies sehen wir in der Erfahrung eben nicht vor
Augen, und es ist die alte Klage aller Rechtschaffenen von jeher ge-
wesen, daß die böse Sache so oft über die gute triumphiert. Eher ließe
sich aus der Erfahrung das Gegenteil folgern, nämlich daß die Welt
nicht moralisch regiert werde, oder daß wenigstens ein böser Genius
Müller). — Die Ausgabe von Lindau ist zwar die vollständigere; doch glaube ich,
nach der Ausgabe von Medicus, als der verbreiteteren, zitieren zu sollen.
Ein außerordentlich wichtiger Kommentar zu Forbergs Aufsatz ist die leider
noch nicht wieder neu gedruckte ..Apologie meines angeblichen Atheismus" (Gotha,
Perthes, 1799). Exemplare dieses gleichfalls recht seltenen Büchleins befinden
sich auf der Kgl. Bibliothek zu Berlin, sowie auf den Universitätsbibliotheken
Breslau, Halle, Marburg, Göttingen, Kiel, Königsberg. — Dagegen ist das (auf der
Großherzoglichen Bibliothek zu Darmstadt vorhandene) Schriftchen ..Von den
Pflichten des Gelehrten" (Gotha, Perthes, 1801) nichts als eine an Fichtes Jenaer
Vorlesimgen angelehnte ,, moralische Rede, gehalten auf dem Lyzeum zu Saalfeld
den 28. März i8oi", und nimmt (gegen Wesselskys Vermutung S. 31) auf den
Atheismusstreit in keiner Weise Bezug.
1) Also nicht eine Welt, in der der Gute ..belohnt", der Böse „bestraft" wird,
wie noch Kant, wennschon unter strengster Kritik aller Eudämonisierung der
Moralität, in Anknüpfung an den Eudämonismus der Aufklärung gelehrt hatte.
Die Ablösung dieses kritischen, an die Bedingung der Moralität geknüpften Eudä-
monismus durch die idealistische Konzeption einer moralischen Welt, in der nicht
sowohl auf die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen, als vielmehr
auf das Gelingen des Guten und das Mißlingen des Bösen, also überhaupt nicht
eigentlich auf das Schicksal von Personen, sondern auf das Schicksal der sittlichen
Idee und ihres Widerspiels gerechnet ist — dieser wichtige, in Anbetracht seiner
Bedeutung mit einer geradezu auffallenden Geräuschlosigkeit erfolgende Übergang
ist zweifellos eines der Motive gewesen, die Fichte auf Forbergs Seite geführt
haben .
40
Heinrich Scholz:
mit einem guten um die Herrschaft der Welt streite. . . . Wer die
Gottheit außer sich, im Lauf der Dinge sucht, der wird sie niemals
finden. ,, Werke des Teufels" werden ihm auf allen Seiten begegnen;
aber nur selten, und immer schüchtern und zweifelnd, wird er sagen
können: „Hier ist Gottes Finger!"^)
Aber auch auf die Spekulation kann die Religion sich nicht
stützen. Eine scharfe und ungemein anschauliche Kritik des
ontologischen und des kosmologischen Argumentes leitet die Dis-
kussion dieses Punktes ein. Den Höhepunkt aber erreicht diese
Kritik in der Zersetzung des teleologischen Argumentes, das Kant
bekanntlich noch in der Kritik der Urteilskraft mit einer gewissen
Wärme vorgetragen hat. Hier ist von Wärme nichts mehr zu
spüren; eine eigentümliche Kälte ist an ihre Stelle getreten, deren
ironische Schärfe an Hume und Schopenhauer erinnert.
Ordnung, sagen noch andere, ist ohne einen ordnenden Geist
nicht möglich. — Und warum nicht.? Darum nicht, weil wir kein
anderes Prinzip der Ordnung kennen, außer den Verstand ? Aber
seit wann ist die Grenze unserer Kenntnis die Grenze des Mög-
lichen geworden.? Und wo findet sich denn in der Welt die Ord-
nung so unverkennbar, daß sich auf das Dasein einer Gottheit mit
Sicherheit schließen ließe? Im Physischen.? Aber ein geschickter
Baumeister ist noch bei weitem kein Weltregent, ein großer Künstler
noch lange kein Gott! Im Moralischen? Aber würde eine Lobrede
auf die moralische Ordnung einer Welt, „die im Argen liegt", nicht
eher wie eine Satire auf die Gottheit, als wie eine Demonstration
ihres Daseins lauten? Könnte es in der Welt wohl schlimmer aus-
sehen . . ., wenn ein böses, wenn ein feindseliges, wenn ein übel-
wollendes Wesen die Herrschaft der Welt führte, oder sich wenigstens
darein mit einem guten Genius teilte? Würde eine Verteidigung
des Satans wegen Zulassung des Guten wohl weniger gründlich aus-
fallen, als die Verteidigungen der Gottheit wegen Zulassung des Bösen
bisher ausgefallen sind ? Und wäre der Schluß von dem Dasein einer
lasterhaften Welt auf das Dasein eines heiligen Gottes nicht zum
mindesten sehr ungewöhnlich, sehr unnatürlich ?2)
') Atheismusschriften, Ausgabe Medicus, S. 20. — Ich gebe hier und im
Folgenden absichtlich wörtliche Auszüge in größerem Umfange, erstens weil For-
bergs Aufsatz verhältnismäßig noch immer wenig bekannt ist, zweitens — und
das ist der entscheidende Grund — weil die Kenntnis des Ethos dieser Abhandlung
auch für die Beurteilung ihres logischen Gehaltes sehr wichtig ist.
*) a. a. 0. S. 21 f. — Auch diese Kritik hat Fichte in seinem Begleitaufsatz
„über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung" adoptiert und
in den schärfsten Ausdrücken wiederholt. ,,Eine Erklärung der Welt und ihrer
Formen aus Zwecken einer Intelligenz ist, inwiefern nur wirklich die Welt und ihre
Formen erklärt werden sollen . ., totaler Unsinn." (Atheismusschriften, S. 6).
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 4I
So bleibt als die einzige Quelle der Religion nur noch die
sittliche Gesinnung übrig. Unter sittlicher Gesinnung ist eine
solche zu verstehen, die an der Hegemonie des Guten interessiert
ist. Dieses Interesse drückt sich zunächst in der Form eines herz-
haften Wunsches aus. Es ist der ,, Wunsch des guten Herzens,
daß das Gute in der Welt die Oberhand über das Böse erhalten
möge". Aus diesem Wunsche — und ,, einzig und allein" aus
ihm — entsteht nach Forberg die Religion.^)
^) a. a. 0. S. 22. — Bei Fichte entsteht sie vielmehr aus der Überzeugung,
daß das Gute die Oberhand behalten müsse. ..Der entscheidende Punkt ... ist
der, daß jener Glaube . . . nicht etwa vorgestellt werde als eine willkürliche
Annahme, die der Mensch machen könne oder auch nicht, nachdem es ihm be-
liebe, als ein freier Entschluß, für wahr zu halten, was das Herz wünscht,
weil es dasselbe wünscht als eine Ergänzung oder Ersetzung der unzureichenden
Überzeugungsgründe durch die Hoffnung. Was in der Vernunft gegründet
ist, ist schlechthin notwendig; und was nicht notwendig ist, ist ebendarum
vernunftwidrig" (S. 5). ,,Es ist hier nicht ein Wunsch, eine Hoffnung . , ., ein
freier Entschluß, etwas anzunehmen, dessen Gegenteil man wohl auch für möglich
hält. Jene Annahme ist unter Voraussetzung des Entschlusses, dem Gesetze in
seinem Innern zu gehorchen, schlechthin notwendig; sie ist unmittelbar in
diesem Entschlüsse enthalten, sie selbst ist dieser Entschluß" (a. a. O. S. 9). Diese
Differenz in Bezug auf den positiven Ausgangspunkt bezeichnet die grundlegende
Abweichung Fichtes von Forberg, aus der sich alle weiteren Differenzen als
Folgerungen ergeben. Sie beantwortet auch die von der bisherigen Forschung
noch kaum mit der erreichbaren Klarheit beantwortete Frage, inwiefern der For-
bergsche Aufsatz der Fi cht eschen Überzeugung ,, nicht sowohl entgegen ist, als
nur dieselbe nicht erreicht" (S. 4). Er erreicht sie nicht, insofern er mit einem
,, Wunsch" und einem ,, Mögen" beginnt, wo nach Fichte mit einer Überzeugung
und einem Müssen begonnen werden muß. Der idealistische Optativ ist durch einen
kategorischen Indikativ zu ersetzen „Nicht entgegen", ja, „in vielen Rücksichten
mit Fichtes eigenen Überzeugungen übereinstimmend" (S. 3) aber ist der For-
bergsche Aufsatz insofern, als er (i) jede theoretische Religionskonstruktion ab-
lehnt, (2) die Religion zum Vorrecht und ausschließlichen Eigentum des ,, guten
Herzens" macht. ,,In einem bösen Herzen ist kein Wunsch der Art vorhanden"
(S. 22). — Beides ist Fichte aus der Seele gesprochen.
Als ein drittes gemeinsames Motiv könnte man die Ablehnung der Kantischen
„Schlußform" (Religion das Ergebnis eines Schlusses von den Bedingungen des
sittlichen Idealzustandes auf den göttlichen Vollstrecker desselben) ansehen, wenn
diese Ablehnung bei Fichte nicht einen ganz anderen Sinn als bei Forberg hätte.
Nach Fichte sind sittliches Handeln und Glaube an Gott (bzw. an eine subsistierende,
nicht etwa bloß imaginierte moralische Weltordnung) nicht zwei verschiedene (durch
eine Art von Syllogismus verbundene) Funktionen, sondern ,,ein und derselbe un-
teilbare Akt des Gemüts" (S. 9). Oder, wie es in der ,, Appellation an das Publikum"
heißt: „Moralität ohne Religion mag wohl ein äußerer ehrbarer Lebenswandel sein. . . .
Aber sobald man sich zum Wollen der Pflicht . . . erhebt . . ., also durch seine Denk-
A2 Heinrich Scholz:
Und zwar so, daß dieser Wunsch sich zum Glauben steigert.
Zum Glauben, daß derselbe kein leerer Wahn — oder, wie For-
berg selbst sich ausdrückt, nicht ,,eine bloße und leere Schimäre"^) —
sondern eine durch die sittliche Weltordnung selbst verbürgte Hoff-
nung ist. Mit einer Wärme, die an Fichte erinnert und eines
Fichte würdig wäre, tritt Forberg für diesen Glauben ein.
Glaube, daß nichts Gutes, was du tust, oder auch nur entwirfst,
sei es auch noch so klein und unmerklich und unscheinbar, verloren
gehe in dem regellosen Laufe der Dinge! Glaube, daß dem Laufe
der Dinge ein, dir freilich unübersehbarer, Plan zum Grunde liegt,
in dem auf das endliche Gelingen des Guten gerechnet ist! Glaube,
daß das Reich Gottes, das Reich der Wahrheit und des Rechts,
kommen wird auf die Erde, und trachte du nur danach, daß es
komme! Glaube, daß eben auf das Trachten von dir einzelnem alles
berechnet ist, und daß ein erhabener Genius über das Schicksal waltet,
der alles, was du beginnst, vollendet, vielleicht erst nach Jahrhunderten
vollendet! Glaube, daß auf jeden Schritt, den du um der guten Sache
willen tust, scheint er dir auch noch so verloren, im Plane der Gott-
heit von Ewigkeit gerechnet ist, daß du jeden deiner Tage für die
Ewigkeit lebst, und daß es bloß von dir abhängt, jeden Tag für das
Beste der Welt auf ewig zu gewinnen, oder auf ewig zu verlieren!
Es ist wahr, du kannst von dem allen nicht szientifisch beweisen,
daß es so sein müsse; aber genug, dein Herz sagt dir, du sollst so
handeln, als ob es so wäre, und wenn du so handelst, so zeigst du
eben dadurch, daß du Religion hast. 2)
Religion ist demnach ,, nichts anderes, als Glaube an das
Gelingen der guten Sache, so wie Irreligion dagegen nichts
anderes ist, als Verzweiflung an der guten Sache". ^)
In dieser Bestimmung ist zwar von Gott nicht die Rede. In-
dessen, als Urheber und Vollstrecker der Weltordnung, ohne die
art sich selbst in eine andere Welt versetzt, drängt sich uns sogleich unwiderstehlich
der Geist und die Gewißheit dieser anderen Welt auf" (a. a. 0. S. 51). — Für Fichte
bedeutet also der Verzicht auf die Schlußform eine Steigerung des religiösen Rea-
lismus (bzw. Objektivismus). Für Forberg dagegen bedeutet er die Aufrichtung
des absoluten religiösen ,, Idealismus" (bzw. Illusionismus). Über Kant hinaus
wollen sie beide; aber der von Fichte beabsichtigten Verstärkung des spezifisch
religiösen Bewußtseins steht bei Forberg eine ebenso dezidierte Abschwächung
dieses Bewußtseins gegenüber. Unter einem spezifisch religiösen Bewußtsein ver-
stehen wir im Anschluß an den natürlichen Sprachgebrauch die Überzeugung vom
Dasein und objektiven Bestände des Göttlichen.
') a. a. 0. S. 25 Mitte.
*) a. a. O. S. 26f.
») a. a. O. S. 28 oben.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. a\
ein solcher Glaube unmöglich erscheint, steht er wenigstens im
Hintergrunde dieser Religionskonstruktion. ,,Es gibt eine mora-
lische Weltregierung, und eine Gottheit, die die Welt nach
moralischen Gesetzen regiert; — wer dies glaubt, der hat
Religion."^)
Enthielte der Forbergsche Aufsatz nichts weiter als die an-
geführten Sätze, so käme er für die eigentliche Religionsphilosophie
des Als-ob überhaupt nicht in Betracht; er würde vielmehr nur
als ein beredter Ausdruck der ,, kritischen", also ,, uneigentlichen"
Form dieser Religionsphilosophie zu gelten haben. Die Worte:
,,Du sollst handeln, als ob es so wäre", könnten dann nur so inter-
pretiert werden: ,,Du sollst handeln, als ob du wüßtest, daß es
so wäre, während du davon in Wirklichkeit nur als moralisches
Subjekt überzeugt bist."
Dem widerspricht auch nicht die Bemerkung, daß der religiöse
Mensch es, ,,wenn er spekuliert, dahingestellt sein lassen könne",
ob es ein höchstes Wesen gibt oder nicht. ^i Denn die Spekulation,
^) a. a. 0. S. 20 oben. — Man kann also den Ausdruck „Gottesreich" in
diesem Zusammenhange wenigstens nicht ohne weiteres als Metapher verstehen. —
Durch die Abhebung der Gottesidee von der moralischen Weltordnung geht For-
berg sogar über Fichte ., hinaus". Fichte hat in seinem berühmten Begleit-
aufsatz aus erkenntnistheoretischen Gründen die volle Identifizierung dieser beiden
Ideen gefordert und dadurch den Atheismusstreit heraufbeschworen. Denn nicht
die Kritik des spekulativen Eudämonismus, wie Fichte in der ..Appellation an
das Publikum" annimmt, sondern die pantheistische Interpretation der moralischen
Weltordnung ist als das eigentliche Moment des Anstoßes an seinem Aufsatz emp-
funden worden; und Vaihinger hat vollkommen recht, wenn er (S. 752 Anm. i)
den entfesselten Streit als einen Pantheismusstreit beaeichnet. Ein solcher ist
auch der 1811/1812 zwischen Jacobi und Schelling ausgefochtene religions-
philosophische Konflikt, der ebenfalls, auf Grund einer damals noch verzeihlichen
Gleichsetzung von Pantheismus und Atheismus, dem Namen nach als Atheismus-
streit bekannt ist.
2) a. a. 0. S. 27 zweiter Abschnitt, Mitte. — Vgl. die erste der dem thetischen
Teil des Aufsatzes angehängten „verfänglichen" Fragen: Ist ein Gott? Antwort:
Es ist und bleibt ungewiß (a. a. 0. S. 29). — Gegen diesen vom Standpunkt des
Kritizismus aus vollkommen gerechtfertigten theoretischen Agnostizismus hat
Fichte in seinem Begleitaufsatz lebhaft protestiert, nicht etwa, weil er ihn nicht
geteilt hätte, sondern weil er mit einem feinen Gefühl für die Logik der Sache die
einseitige Hervorhebung dieses negativen Momentes an dieser Stelle und in diesem
Zusammenhang als eine Art von Irreführung empfand. Für den auf sittlicher
Basis urteilenden Menschen ist, trotz des theoretischen Agnostizismus, der völlig
unangetastet bleibt, die Realität des Göttlichen nach Fichte ..gar nicht zweifel-
haft, sondern das Gewisseste, was es gibt" (a. a. 0. S. 13 unten). Mit Recht; denn
AA Heinrich Scholz:
auf die hier gezielt wird, ist die des intellektuellen Subjektes;
und daß diese die Religion nicht zu tragen vermöge, hat sich bereits
aus der Kritik der rationalen Gottesbeweise ergeben.
Indessen, zwei Sätze stehen dieser ,, realistischen" Auslegung
der Forbergschen Religionskonstruktion schon innerhalb des auf-
bauenden Teiles seines Aufsatzes entgegen. Der erste dieser beiden
Sätze bezieht sich zwar unmittelbar nur auf das zur Verdeutlichung
der religiösen Position herangezogene Reich der Wahrheit, wie es
dem Forscher als letzter Ertrag aller Forschung vorschwebt; doch
verdient schon diese Analogie wegen ihrer Beziehung zum Gottes-
reich unsere besondere Aufmerksamkeit. Jenes Reich der Wahr-
heit wird als der ,, Endzweck aller denkenden Menschen" beschrieben,
und zwar so, daß der Glaube an dieses Reich mit dem Trachten
nach seinem Kommen zusammenfällt. ,, Trachte du nur nach
dem Reich der Wahrheit, so wird dir das übrige, nämlich der
Erfolg, schon von selbst zu allen. "^) Und nun stoßen wir auf
die überraschenden Worte :
Das Reich der Wahrheit ist indessen ein Ideal. Denn es ist
bei der unendlichen Verschiedenheit der Fähigkeiten, in der sich die
Natur so sehr gefallen zu haben scheint, niemals zu erwarten,
■wenn diese Realität die objektive Mitbedingung des durch die praktische Vernunft
geforderten sittlichen Endzweckes ist, dieser aber nicht imaginär werden kann,
ohne das sittliche Streben selbst in den Abgrund des Imaginären zu stoßen, so
kann die Realität des Göttlichen dem sittlich strebenden Menschen nicht weniger
gewiß sein, als die verpflichtende Kraft des kategorischen Imperativs.
^) a. a. 0. S. 23. — Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß For-
berg schon an dieser Stelle anfängt, undeutlich zu werden. Der hier in Anspruch
genommene „Erfolg" kann nach dem Zusammenhang eigentlich nur in der durch
das Zusammenwirken der forschenden Subjekte bewirkten Entstehung eines ob-
jektiven Reiches der Wahrheit erblickt werden. Der Sinn wäre dann dieser, daß
man die Gewißheit von der Existenz jenes Reiches nicht durch grübelnde Speku-
lation, sondern durch tätige Mitarbeit an seinem Aufbau erwirbt. Es würde sich
also um eine Art von erkenntnistheoretischer Bedingung für die „Einsicht" in den
objektiven Bestand dieses Reiches handeln. Etwa so, daß eine Erklärung wie diese
herauskäme: Nicht durch Spekulation, sondern durch lebendige persönliche Teil-
nahme an der Forschung erwirbt man sich die Überzeugung, daß es ein Reich der
Wahrheit gibt, welches auch jenseits der forschenden Subjekte besteht. — Allein
der Forbergsche Satz kann auch als eine Ablenkung des Interesses an dem objek-
tiven Bestände dieses Reiches verstanden werden — „Kümmere dich überhaupt
nicht um diesen objektiven Bestand, sondern halte nur den subjektiven Wahrheits-
und Forschungsdrang immerfort in dir lebendig!" — und in Hinsicht auf die fol-
genden Sätze muß er sogar so verstanden werden.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. ac
daß je ein Einverständnis aller Menschen in allen Urteilen statt-
finden werde. Das Reich der Wahrheit wird also zuver-
lässig niemals kommen, und der Endzweck der Republik
der Gelehrten wird allem Ansehen nach in Ewigkeit nicht
erreicht werden.^) Gleichwohl wird das in der Brust jedes denkenden
Menschen unvertilgbare Interesse für Wahrheit in Ewgkeit fordern,
dem Irrtum aus allen Kräften entgegenzuarbeiten und Wahrheit von
allen Seiten zu verbreiten, das heißt, geradeso zu verfahren, als ob
der Irrtum einmal gänzlich aussterben könnte und die Alleinherrschaft
der Wahrheit zu erwarten wäre. Und eben dies ist der Charakter
einer Natur, die, wie die menschliche, bestimmt ist, ins Unendliche
sich Idealen zu nähern. 2)
Überträgt man diese Sätze auf das ,, Gottesreich", so ergibt
sich als Formel der Religion der merkwürdige Imperativ: Handle
so, als ob du an das Kommen des Gottesreiches glaubtest, wie-
wohl es niemals kommen wird — auch nicht in einer transzendenten
Ordnung der Dinge; denn von einer solchen wissen wir nichts,
und die Ausmalung einer solchen Ordnung ist eine ,, müßige Speku-
lation".^) Nun hat freilich Forberg innerhalb des thetischen Teils
seines Aufsatzes einen solchen Imperativ nicht aufgestellt, so wenig
wie er die Bemerkungen über den imaginären Charakter des Reiches
der Wahrheit ausdrücklich auf das Gottesreich übertragen hat;
aber dem aufmerksamen Leser drängt diese Beziehung und jener
Imperativ sich so unwiderstehlich auf, daß ein ganz neues Religions-
bild entsteht — nämlich das Bild einer Religion des Als-ob im
eigentlichsten und paradoxesten Sinne des Wortes.^)
Eine Verschärfung erleidet dieses Bild durch den zweiten aus
dem ,, Realismus" herausführenden Satz: ,, Religion ist nichts anderes
^) Vielleicht doch — am Ende aller Geschichte! Wie, wenn das „Ideal" des
Reiches der Wahrheit als eine transzendente Realität zu denken wäre ? Aber diesen
Gedanken hat Forberg, soweit ich sehe, nirgend auch nur flüchtig gestreift —
wiewohl nicht einzusehen ist, was unter Voraussetzung des Kritizismus gegen einen
solchen Gedanken einzuwenden wäre.
2) a. a. 0. S. 23f.
») a. a. 0. S. 28 oben.
*) Ausdrücklich hervorgehoben hat Forberg den imaginären Charakter seines
„Gottesreiches" in der „Apologie seines angeblichen Atheismus" 1799, S. 163, wo
er zusammenfassend sagt: „Nicht das Glauben, daß ein Reich Gottes komme,
ist Religion, sondern das Trachten danach, daß es komme, selbst wenn man glaubt,
daß es niemals kommen werde, ist einzig und allein Religion."
46
Heinrich Scholz:
als ein praktischer Glaube. "i) Das könnte zwar heißen: Re-
ligion ist ein praktisch, also sitthch fundierter Glaube an das
Dasein Gottes; aber schon das nachdrückliche ,, nichts anderes
als" weist in eine andere Richtung. Diese wird zwar in dem Auf-
satz selbst nicht so sichtbar, wie es zu wünschen wäre; aber sie
wird immerhin angedeutet. Forberg nennt diesen Glauben
,, praktisch", weil er IcdigUch als die ,, Maxime" gewisser Hand-
lungen gedacht ist.-) Er ist also nicht eine auf sittlicher Ge-
sinnung aufruhende und von dieser verschiedene Überzeugung vom
Dasein Gottes, sondern ein an diesem ganz uninteressiertes, erst
nachträglich in die religiöse Ideenwelt hineinprojiziertes rein sitt-
liches Verhalten. Forbergs ,, Religion" ist eine Rchgion ohne
Gott; man kann Atheist sein, ohne gegen sie zu verstoßen.
In einer der ,, verfänglichen Fragen", mit denen Forberg
seinen Aufsatz beschlossen hat, wird das ausdrücklich festgestellt.
Kann ein Atheist Religion haben.? Antwort: Allerdings. (Von
einem tugendhaften Atheisten kann man sagen, daß er denselben
Gott im Herzen erkennt, den er mit dem Munde verleugnet. Prak-
tischer Glaube und theoretischer Unglaube auf der einen, so wie auf
der anderen Seite theoretischer Glaube, der aber dann Aberglaube
ist, und praktischer Unglaube können ganz wohl beisammen bestehen.)^)
Ist das überhaupt noch ,,Rehgion" und ,, Glaube" in einem
ernst zu nehmenden Sinne des Wortes? Forberg erwidert:
Die Antwort auf diese verfängliche Frage überläßt man billig
dem geneigten Leser selbst, und damit zugleich auch das Urteil, ob
der Verfasser des gegenwärtigen Aufsatzes am Ende auch wohl mit
ihm nur habe spielen wollen!*)
*) Die Eingangsworte des ganzen Aufsatzes. >
-) a. a. 0. S. 28 oben.
') a. a. 0. S. 30 unten.
*) Eine berichtigende Erklärung dieser allerdings sehr ,, verfänglichen" Antwort
hat Forberg selbst am Schluß der „Apologie seines angeblichen Atheismus" (1799)
geliefert. Sie lautet: „Der Verfasser war weit entfernt, zu behaupten, es sei mit
dem Begriff eines praktischen Glaubens bisher überhaupt niemandem Ernst, und
dieser Begriff wirklich nur eine Maske des Atheismus gewesen. Er wollte nicht
beschuldigen, sondern vielmehr entschuldigen. Es sollte eine sanftere Wendung
philosophischer Polemik sein. Eigentlich wollte er sagen, der Begriff eines prak-
tischen Glaubens, nach der gewöhnlichen, noch immer viel zu theoretischen Dar-
Die Keligionsphiloisophie des Als-ob. 47
Zur Aufklärung dieses seltsamen Ergebnisses bedarf es vor
allem einer genauen Verdeutlichung dessen, was Forberg unter
einem „praktischen Glauben" versteht. Sagt er doch selbst in der
, .Apologie seines angebhchen Atheismus" (S. 196): ,,Es war die
Tendenz der ganzen Abhandlung, eine neue und Mißverständnissen
Stellung, sei ein höchst unphilosophischer Begriff und ein gefährlicher Irrtum, und
eine Hintertür, um jeden Unsinn, den die theoretische Philosophie mit Mühe los-
geworden, durch die praktische wieder hereinzulassen; und es sei zur Ehre der
Pfleger jenes Begriffs zu hoffen, daß es ihnen nicht überhaupt völliger Ernst ge-
wesen." (S. 175 f-)
Wenn Forberg das hat sagen wollen, so hat er sich zum mindesten sehr un-
geschickt ausgedrückt. Er will, wenn wir seiner ,. Erklärung" folgen, den das
Dasein Gottes umfassenden Glauben treffen, spricht aber im Text mit keiner Silbe
von diesem, sondern ausschließlich von seinem eigenen, das Dasein Gottes auf-
hebenden Glauben. Das ist ein flagranter Widerspruch, den keine nachträgliche
Erklärung zudecken kann, zumal wenn sie so umständlich und gewunden heraus-
kommt, wie im vorliegenden Falle.
Forberg versteht es im allgemeinen sehr gut, seinen Gedanken die Farbe
zu geben, die er für seine Zwecke braucht. Wenn er in diesem Falle genötigt ist,
eine Erklärung abzugeben, die den Text geradezu aufhebt, so liegt die Vermutung
nahe, daß es ihm mit dieser Erklärung selbst nicht Ernst gewesen ist.
Diese Vermutung wird durch ein späteres offenherziges Bekenntnis For-
bergs zum ,, Atheismus" bestätigt. Forberg war von Haus aus eine nüchterne,
rationale Natur und hatte, wie wir aus dem ..Lebenslauf eines Verschollenen"
(s. oben S. ßSf. Anm. 2) erfahren, schon in seinem zwölften Jahre mit dem Offen-
barungsglauben gebrochen. Eichhorns ,, Einleitung in das Alte Testament", die
sein Vater ihm 1782 kaufte, machte Epoche in seinem Leben. ,.Ich verschlang",
so erzählt er (S. i6f.), ..dieses Buch, worin mir alles neu war und unzählige Dinge
zur Sprache kamen, die mich aufs höchste interessierten und meinem philologischen
und kritischen Sinn ein unermeßliches Feld eröffneten. Zudem war darin nie von
der Bibel als von einer Offenbarung die Rede, wodurch mir ein schwerer Stein vom
Herzen fiel. Denn daß Wunder, Weissagungen, Offenbarungen immer um so mehr
Glauben finden, je finsterer die Zeiten, und um so weniger, je heller diese werden,
war mir schon lange bedenklich gewesen. Manche Wundergeschichten, wie die
als Mauern stehenden Fluten des Roten Meeres und des Jordans bei dem Durch-
gang der Israeliten, Josuas Befehl an die Sonne, stillzustehen, Bileams redende
Eselin, des Teufels Gespräch mit Jesus und dessen Zank mit dem Erzengel Michael
über den Leichnam Mosis, vermochte ich auf keine Weise zu verdauen. Verwarf
ich aber eine, so war der Kredit aller, mithin auch der Bibel als göttliche Offenbarung
dahin."
Diesem frühzeitigen Bruch mit der Offenbarungsreligion folgte später der
Bruch mit der Religion überhaupt. Forberg ist für seine Person gewiß schon zur
Zeit des Atheismusstreites wirklicher ..Atheist" gewesen, wenn anders die Über-
zeugung vom Dasein Gottes in irgendeinem realen Sinne zum Wesen der Re-
ligion gehört. Wir haben aus späterer Zeit ein briefliches Bekenntnis an seinen
^8 Heinrich Scholz:
weniger unterworfene und wahrhaft praktische Ansicht jenes Glau-
bens in Vorschlag zu bringen und dadurch den Kantischen, bei
weitem nicht immer gehörig gefaßten Begriff in sein gehöriges
Licht zu stellen." Den Begriff eines solchen Glaubens hat For-
berg nun bereits zwei Jahre vor der Veröffentlichung seines Auf-
satzes über den Begriff der Religion in einer Arbeit über die Per-
fektibilität der Menschengattung aufgestellt und verhältnismäßig
alten Jenaer Freund, den nachmaligen Heidelberger Theologen Paulus, in welchem
es heißt: ..Die Welt hat seit meinen atheistischen Händeln nichts mehr von mir
vernommen und dabei wohl auch nichts verloren. . . . Des Glaubens habe ich in
keiner Lage meines Lebens bedurft, und gedenke, in meinem entschiedenen Un-
glauben zu verharren bis ans Ende, was für mich ein totales Ende ist." (Brief vom
20. Juli 1821, abgedruckt bei v. Reichlin-Meldegg, Heinrich Ebarhard Gottlob
Paulus und seine Zeit, H, 1853, S. 268 f.)
Mit Fichte kam Forberg, der als dezidierter Reinholdianer begonnen hatte
(vgl. Wesselsky, Forberg und Kant, S. 23f.), 1794 gleich nach dessen Ankunft
in Jena in nahe und freundschaftliche Beziehungen, da er vorübergehend Teil-
haber des Gablerschen Verlages war, in welchem der erste Entwurf der ,, Wissen-
schaftslehre" erschien. Auch war er seit 1791 Privatdozent der Philosophie in
Jena, und las, als Fichte kam, vor einem ., nicht unansehnlichen Auditorium".
1796 wurde er durch Fichtes Übergewicht zur Aufgabe dieses unbesoldeten Postens
genötigt — ein Schlag, den er so vorbildlich getragen hat, wie das Schicksal des
völligen Vergessenwerdens in dem berühmten Atheismusstreit. Er macht über-
haupt in seiner Selbstbiographie den Eindruck eines vornehmen Menschen, der
genau über die Grenzen seines Könnens Bescheid weiß und frei ist von aller Eitel-
keit und aller persönlichen Empfindlichkeit.
Es mag sein, daß der Hang zum Skeptizismus durch den Atheismushandel,
aus dem er übrigens, im Gegensatz zu Fichte, ohne ,. Maßregelung" hervorging,
noch verschärft worden ist. Jedenfalls hat Forberg sich später auch literarisch
als perfekten Skeptiker zu erkennen gegeben. Dies ist geschehen bei der Heraus-
gabe eines der ausschweifendsten und zügellosesten Humanistenbücher, des
Hermaphrodiiiis des Antonio Beccadelli (verfaßt um 1425): Antonii Panormitae
H ermaphroditus , primus in Germania edidit et apophoreta adiecit F. C. Forberg.
Coburg 1824. (Ein sekretiertes Exemplar auf der Berliner Kgl. Bibliothek; daselbst
auch eine als Privatdruck bei A. Weigel in Leipzig 1908 erschienene neue Ausgabe:
Antonii Panormitae H ermaphroditus. Lateinisch nach der Ausgabe von C. Fr. (!) For-
berg {Coburg 182^, nebst einer deutschen metrischen Übersetzung und der deutschen
Übersetzung der Apophoreta von C. Fr. Forberg, besorgt und herausgegeben von Fr. Wolf f.)
— Forbergs Ausgabe, das Ergebnis eines exemplarischen Gelehrtenfleißes, der wohl
einer besseren Sache würdig gewesen wäre, ist nach des Verfassers eigenen Worten
aus einer Art von Überdruß an der Philosophie entstanden: ,,philosophia, in qua
olim quasi labernaculum vitae collocare putabamus, nunc iacente." „An Höret", fügt
der Skeptiker hinzu, ,,cuius quaeque prope dies nova videt dogmata cito peritura pul-
lulare, ut quot philosophi, tot fere hodie philosophiae , seciae nullae, pro cohorte sin-
gulares exstare mdeanturV
Die Religionsphilosophie des Als-ob. ^o
eingehend entwickelt.^) Es heißt dort, in ausdrücklicher An-
knüpfung an Kant^):
Man kann ein an sich ungewisses (problematisches) Urteil,
welches aber als Behauptung (Assertion) vorausgesetzt werden muß,
um auf einen Zweck hinarbeiten zu können, auf den man notwendig
hinarbeiten will, ein Postulat, und das Fürwahrhalten eines solchen
Postulats einen praktischen Glauben nennen. Diese Begriffe
gehören zu den herrlichsten Geschenken, welche Kant der
Philosophie gemacht hat. Sie sind von unendlichem Gebrauche,
aber eben darum auch mannigfaltigem Mißbrauche ausgesetzt. Einige
haben sich die Sache so vorgestellt, als käme es nur auf Prämissen
moralischen Inhalts an, um eine Überzeugung, die daraus hervorgeht,
einen praktischen Glauben zu nennen. Allein was aus moralischen
Prinzipien geschlossen wird, das wird ebensogut theore-
tisch gewußt, als was aus physischen oder psychologischen
Prinzipien nur immer geschlossen werden mag. Alles, was
auf dem Wege der Schlüsse zu erhalten steht, ist theore-
tisch; und nur das ist praktisch, was nirgends außer dem
Gebiete der Maximen zu finden ist. Praktisch glauben ist daher
überhaupt kein Zustand der Betrachtung, sondern der Entschließung.
... Es soll überhaupt nicht geschlossen, sondern es soll entschlossen
werden. . . , Praktisch heißt dieser Glaube nicht sowohl, weil er sich
auf praktische Prinzipien gründet, als vielmehr, weil er unmittelbar
Praxis ist. Wer etwas mehr in ihm sucht, als ein Verfahren, als ob
ein ungewisser Satz gewiß wäre — wobei indessen das „Als-ob"
nur dem Auge des Beurteilers^) sichtbar wird — der verkennt ihn!
Diese wichtige Erklärung des praktischen Glaubens spricht
zwar nur von der praktischen Anerkennung einer an sich nicht
erweislichen Wahrheit; aber Forberg ist später noch weiter ge-
gangen, und es ist mindestens Eine wichtige Stelle aus der ,, Apo-
logie seines Atheismus" hervorzuheben, wo der Forbergsche
^) Diese Arbeit ist anonym erschienen im ersten Bande des von Carl Christian
Erhard Schmid herausgegebenen Philosophischen Magazins. Jena 1796. S. 8iff.
(Vorhanden auf der Marburger Universitätsbibliothek.) — Forbergs Autorschaft
ist endgültig erwiesen durch das Zeugnis im ,, Lebenslauf eines Verschollenen",
S. 45-
^) a. a. O. S. 96 ff. — Schon Wesselsky hat diese wichtige Stelle bemerkt
und hervorgehoben (S. 52 f.).
3) Also des Erkenntnistheoretikers und Religionsphilosophen — der „Laie"
braucht diese Reflexion nicht anzustellen; ihm ist es nach Forberg augenschein-
lich erlaubt, das ,, Als-ob" für eine verschränkte Wirklichkeitsposition zu halten.
Hier spricht aus Forberg der Aufklärungsphilosoph, den seine Metaphysik nicht
hindert, auf die Stimmung des ,, Volkes" einzugehen.
Annalen der Philosophie. I. 4
50
Heinrich Scholz:
,, Glaube" geradezu zur praktischen Anerkennung einer notorischen
Unwahrheit wird. „Man könnte", heißt es an dieser Stelle, „ganz
wohl wissen, daß ein Reich Gottes oder ein ewiger Friede oder
eine Welt voll Engel Unmöglichkeiten wären und blieben,
und man könnte dennoch ohne Unvernunft fortfahren, zu handeln,
als ob man sie möglich machen sollte. Eis wären Ideale, die man
im Auge, aber nie in der Nähe haben sollte, unendliche Auf-
gaben, nicht um sie zu lösen, sondern um ins Unendliche an
ihnen zu lösen." ^)
Hier ist also die Religion zum Glauben an das erweislich Un-
wirkliche geworden; und dieser paradoxe Religionsbegriff ist das
tatsächliche, wenn auch nur mit Einschränkungen zugestandene
Ergebnis der Forbergschen Religionskonstruktion.
Wie ist Forberg auf diesen Begriff gekommen? Die Ant-
wort liegt in folgender Beobachtung. Für Forberg existiert
die Religion überhaupt nur als pflichtmäßiges Verhalten. Ein
anderer Religionsbcgriff als dieser tritt gar nicht in den Gesichts-
kreis seiner Betrachtungen; sein Aufsatz ist eine scharfsinnige
Abhandlung über den Begriff einer Pf licht religion. Daß dieser die
Untersuchung beherrscht, geht aus vielen Äußerungen Forbergs
hervor. Der Aufsatz selbst enthält hierüber folgende Erklärung:
Religion ist keine gleichgültige Sache, mit der man es halten
kann, wie man will, sondern ist Pflicht. Es ist Pflicht, zu glauben
an eine solche Ordnung der Dinge in der Welt, wo man auf das end-
liche Gelingen aller guten Pläne rechnen kann, und wo das Bestreben,
das Gute zu befördern und das Böse zu hindern, nicht schlechter-
dings vergeblich ist; oder, welches eins ist, an eine moralische Welt-
regierung, oder an einen Gott, der die Welt nach moralischen Ge-
setzen regiert. Nur ist dieser Glaube keineswegs insofern Pflicht,
wiefern er theoretisch, das heißt, eine müßige Spekulation ist,
sondern bloß und allein insofern, wiefern er praktisch, das heißt,
wiefern er Maxime wirklicher Handlungen ist. Mit anderen Worten:
Es ist nicht Pflicht, zu glauben, daß eine moralische Weltregierung
oder ein Gott, als moralischer Weltregent, existiert, sondern es ist
bloß und allein dies Pflicht, zu handeln, als ob man es glaubte.*)
Über die Tendenz des Forbergschen Aufsatzes kann hier-
nach um so weniger ein Zweifel entstehen, als Forberg diese in
^) Apologie S. 142 f.
•) Atheismusschriften, herausgegeben von Medicus, S. 2ji.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. c [
seiner ,, Apologie" durch seine eigenen Worte klargelegt hat. ,,Ich
habe im Philosophischen Journale den Versuch gemacht, den
Glauben an das Dasein Gottes von einer Seite darzustellen, von
welcher er ganz gewiß Pflicht ist, mithin auf den Namen
der Religion ganz unstreitig Anspruch machen kann."^)
Religion und Pflichtreligion sind also für Forberg identische
Begriffe. Diese überaus wichtige Gleichung wird noch durch
folgende Aussage bestätigt ^) :
Meine Abhandlung im Philosophischen Journale war zu nichts
anderm bestimmt, als den Begriff der Religion zu entwickeln. Ich
hatte also einen Begriff der Religion zu suchen. Um einen solchen
zu finden, mußte ich einen Leitfaden haben, der mich sicherte,
daß das Gefundene auch in der Tat Religion sei. Dieser Leitfaden
war mir nun die Voraussetzung, Religion müsse ein Glaube
sein, der Pflicht ist, ein Glaube, den man jedem zumuten darf,
nicht aber ein solcher, den man haben und nicht haben k^in, je
nachdem es uns beliebt. Ich konnte nicht zweifeln, daß ich
in dieser Voraussetzung alle Stimmen auf meiner Seite
haben würde.
Aus diesen V^orten geht noch einmal hervor, daß Religion
in der vollen Bedeutung des Wortes und Pflichtreligion für For-
berg zusammenfallen; und zwar mit solcher Evidenz, daß For-
berg gar nicht das Bedürfnis empfindet, diese Gleichsetzung zu
rechtfertigen oder zu begründen, sondern a priori auf die Zu-
stimmung der philosophierenden Zeitgenossen rechnet.^)
^) Apologie S. 117.
*) Apologie S. 92 f.
*) Nur als ein unzulänglicher Ansatz zur Rechtfertigung des Begriffs der
Pflichtreligion kann die gelegentliche Bemerkung gelten, daß ,,man jedem Menschen
Religion zumute und mit dem Urteil der Irreligiosität eine Beschuldigung verknüpfe"
(Apologie S. 94f.); denn es könnte ja sein, daß jene Zumutung und diese Beschuldigung
auf irrigen Voraussetzungen beruhen, also falsch sind. Diese Möglichkeit aber hat
Forberg überhaupt nicht diskutiert, und damit eine Unterlassung begangen, die
einem so strengen Kritizisten lieber nicht hätte zustoßen sollen. Forberg ist un-
zweifelhaft ein origineller Denker gewesen, von dessen Scharfsinn und Konsequenz
man nur mit der größten Hochachtung sprechen kann; aber man überschätzt ihn
auf Kosten Fichtes, wenn man seinen Austritt aus der philosophischen Bewegung
des Zeitalters mit Wesselsky (Forberg und Kant S. 34; vgl. S. 65 ff.) als ,,das
eigentliche große Unglück bei der ganzen Atheismuskatastrophe" bezeichnet. Der
ungleich Tiefere von beiden ist so unzweifelhaft Fichte gewesen, daß Forberg
das Angemessene tat, als er freiwillig hinter Fichte zurück trat.
4*
C2 Heinrich Scholz:
Fällt aber die Religion unter den Pflichtbegriff, so kann sie
nicht Spekulation sein wollen, auch nicht sittlich fundierte Speku-
lation über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele;
denn Spekulation ist Spekulation, gleichviel auf welchen Prin-
zipien sie ruht. „Ich habe", sagt Forberg, ,, niemals begreifen
können, warum eine Spekulation darum im mindesten weniger
Spekulation sein soll, weil sie von moralischen, als darum, weil
sie von physischen oder metaphysischen Prinzipien ausgeht."^)
Zur Spekulation indessen ist niemand verpflichtet, kann auch
niemand verpflichtet werden. ,,Abcr die Religion ist Pflicht
und hat eben darum mit zufälliger und ungewisser
Spekulation nichts zu schaffen. Die Religion ist keine
Spekulation, sie enthält höchstens für die Vernunft eine Auf-
forderung zur Spekulation, eine Veranlassung, den praktischen
Glauben der Religion in einen theoretischen, d. i. in Theologie
zu verwandeln — etwas, womit sich die Religion nicht im min-
desten zu befassen braucht, sondern dem Wechsel theologischer
Systeme, als einem bloßen Spielwerke menschlicher Wiß-
begierde, ruhig zusehen kann."^)
^) Apologie S. 96. — Dies ist auch Fichtes Überzeugung gewesen. Deshalb
sucht er in dem Aufsatz über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Welt-
regierung die subjektive sittliche Lebensverfassung und den Glauben an eine ob-
jektive sittliche Weltordnung in einen Akt zusammenzufassen. ,,Es ist hier nicht
eigentlich ein Erstes und ein Zweites, sondern es ist absolut Eins; beides sind in
der Tat nicht zwei Akte, sondern ein und ebenderselbe unteilbare Akt des Gemüts."
Und weiter: ,,Es ist hier nicht ein Wunsch, eine Hoffnung, eine Überlegung und
Erwägung von Gründen für und wider, ein freier Entschluß, etwas anzunehmen,
dessen Gegenteil man wohl auch für möglich hält. Jene Annahme ist unter Voraus-
setzung des Entschlusses, dem Gesetz in seinem Innern zu gehorchen, schlechthin
notwendig, sie ist unmittelbar in diesem Entschlüsse enthalten, sie selbst ist dieser
Entschluß." (Atheismusschriften S. 9.)
*) Apologie S. 91 f. — Theologie ist hiernach die von der religiösen (d. i. mora-
lischen) Lebensverfassung wohl zu unterscheidende Weltanschauung, die
durch Reflexion auf die zur Verwirklichung der sittlichen Ideale erforderlichen
Realitäten entsteht. Zu solcher Reflexion kann selbstverständlich niemand ver-
pflichtet werden. Insofern ist sie eine ..spekulative Theorie, welche zur Religion
zufällig hinzukommt". Indessen ist durch die Struktur des menschlichen Geistes
dafür gesorgt, daß sie gleichwohl „niemals ausbleibt" (Apologie S. 131). ,, Könnten
wir uns der Spekulation völlig cntschlagcn, so wäre von Theologie sofort keine Rede;
und zu fragen, ob ein Gott sei, käme niemand in Versuchung. Aber das hat keine
Gefahr. Kraft und Trieb sind überall unzertrennlich. Vernunft, so gewiß sie Ver-
nunft ist, vernünftelt. — Die Religion kann, so gewiß sie diesen Namen verdienen
soll, kein theoretischer Glaube an Gott sein. Aber sie führt zu einem theoretischen
Die Religionsphilosophie des Als-ob. e-*
Eine zur Spekulation, d. i. zum Glauben an das Dasein
Gottes erweiterte Religion könnte nur dann eine Pflichtreligion
sein oder als eine solche gedacht werden, wenn das pflichtmäßige
Glauben an Gott, d. i. zu einer Theologie. Die Theologie fängt an, wo die Religion
aufhört, oder vielmehr, die Theologie ist das, was die Religion sichtbar
macht. Ohne Theologie gäbe es zwar Religion, aber nur für einen möglichen
Beobachter. Alle wirklichen indessen sähen nichts von Religion und könnten
nichts davon sehen. Sie sähen nur Moralität. Religion und Theologie
sind also unzertrennlich (!). Die Theologie ist nichts als das (sym»
bolische) Bewußtsein der Religion selbst. — Es ist nicht Pflicht, und also
auch nicht Religion, theoretisch an Gott zu glauben und sich dieses Glaubens be-
wußt zu werden. Es ist nur Pflicht, den Eigennutz zu beschränken und das all-
gemeine Wohl unablässig vor Augen zu haben. Aber in dieser Pflicht ist für die
Spekulation eine Aufforderung enthalten, eine Gottheit zu suchen, und wiefern
diese Aufforderung in ihr enthalten ist, erscheint sie als Religion. Wäre diese
Aufforderung nicht in ihr enthalten, so wäre es bloße Moralität,
und so etwas, wie der Begriff der Religion ist, käme uns gar nicht
in den Sinn." (Apologie S. I32f.)
Die Theologie hat also zunächst durch Analyse des Pflichtbegriffes den Glauben
an das Dasein Gottes zu begründen. Dies ist ihr analytisches Geschäft: die
Konstruktion des Gottesbegriffes durch Analysierung des Begriffes der Moralität,
Ihre zweite Aufgabe ist die symbolische Darstellung dieses Begriffes zum Zweck
der für die lebendige Mitteilung unerläßlichen Anschaulichkeit. Hier finden sich
sehr feine Bemerkungen zur Rechtfertigung eines kritischen Anthropomorphismus.
Im System des abstrakten Pantheismus , ,wird ein Gott gelehrt, der denkt, aber
nicht, wie der Mensch denkt; der will, aber nicht, wie der Mensch will; der ist, aber
nicht, wie der Mensch ist — von dessen Eigenschaften man sorgfältig alles Beschränkte
und Endliche absondert, und durch das Nichts, was zuletzt übrig bleibt, das Un-
endliche gedacht zu haben wähnt. Es kommt da ein Verstand zum Vorschein,
der nicht denkt, weil alles Denken . . . nur durch die Einschränkung möglich
ist, daß man nicht alles denkt . . ., ein Wille, der nichts will, weil alles Wollen
ein Streben ist nach einem Zustand, der erst werden soll, mithin offenbar einen
Fortschritt zum Vollkommeneren in sich schließt — ein Dasein, das vom Nicht-
sein durchaus nicht zu unterscheiden ist: denn es ist das Dasein eines Dinges, das
fürs erste nirgends ist (weil es sonst entweder irgendwo, mithin auf einen Teil
des Raumes eingeschränkt, oder überall sein müßte, wo aber nicht abzusehen
wäre, wo für die Welt noch Platz bleiben sollte), das aber auch fürs andere niemals
ist, noch war, noch sein wird (weil eine sukzessive Existenz entweder ohne innere
Veränderungen gedacht werden müßte, wo aber die lästige Besorgnis Lessings
eintritt, daß eine solche unendliche Existenz wohl nichts anderes als unendliche
Langeweile sein möchte; oder mit inneren Veränderungen, so daß also die Ge-
danken und Entschließungen der Gottheit nicht stehende, sondern wechselnde
Zustände wären, wo aber ein Aufhören und Anfangen von VoUkonmienheiten,
mithin ein Gott zum Vorschein kommen würde, der niemals alle Vollkommen-
heiten zugleich besäße, sondern in jedem Augenblicke noch göttlicher sein könnte,
als er in der Tat ist). — Alle diese Widersprüche sind unvermeidlich in einem Systeme,
54
Heinrich Scholz:
sittliche Handeln ohne die Existenz eines höchsten Wesens nicht
denkbar wäre. Das ist aber nach Forberg nicht der Fall. Man
welches einen Begriff von der Gottheit aufstellt, der etwas anderes sein soll, als ein
Symbol eines völlig Unbekannten, von dem nur das Eine bekannt ist, daß es das
Prinzip des Weltlaufs sei, aber unbekannt, wie es das sei. Übrigens ist dies keine
neue Lehre. Man hat längst bemerkt, daß wir alles, was wir von der Gottheit be-
haupten, nur nach einer Analogie behaupten, daß jede Eigenschaft, die wir der
Gottheit beilegen, ihr nicht an sich zukomme, daß wir gar nicht wissen, was die
Gottheit an sich sei, sondern daß wir uns nur, so gut wir können, ausdrücken, um
doch etwas zu sagen, wo es wohl besser wäre, gar nichts zu sagen." (Apologie S. 1 52 ff.)
Um aber auf die wichtige Funktion der Theologie in Forbergs System zurück-
zukommen, so ist die (auf den Tatsachen des sittlichen Bewußtseins aufruhende)
,, theologische" Spekulation nach Forbergs eigenen wiederholten Versiche-
rungen (siehe oben) nichts Geringeres als das Selbstbewußtsein der
Religion. Erst durch die theologische Spekulation wird die Religion überhaupt
ein phaenomcnon sui generis, mit anderen Worten eine Erscheinung, die von
der Moralität unterschieden werden kann. Ohne die theologische Speku-
lation sähe man ,,nur Moralität", und ,,so etwas, wie der Begriff der Religion ist,
käme uns gar nicht in den Sinn". (Apologie S. 132 unten und S. 133.) Daraus
folgt aber gegen Forberg:
(i) Daß die theologische Spekulation offenbar nichts weniger als eine ,, müßige"
Spekulation ist; denn es ist unzulässig, eine Funktion als ,, müßig" zu bezeichnen,
von der man hernach gestehen muß, daß sie die Unterscheidung von Religion und
Moralität überhaupt erst möglich mache.
(2) Dann ist es offenbar aber auch unerlaubt, den Zusammenhang von Re-
ligion und Theologie einen ,, zufälligen" zu nennen (S. 131 unten: ,,sie ist eine speku-
lative Theorie, welche zur Religion zufällig hinzukommt"') oder die Theologie, wie
oben im Text (Apologie S. 92), als etwas zu bezeichnen, ,, womit sich die Religion
nicht im mindesten zu befassen braucht". Vielmehr wird sich die Religion einer
solchen ,, Theologie" im Interesse ihrer Selbsterfassung sehr ernstlich hinzugeben
haben; und Forberg korrigiert sich selbst, wenn er an einer späteren Stelle, freilich
ohne den Widerspruch zu bemerken, erklärt: ,, Religion und Theologie sind also
unzertrennlich. Die Theologie ist nichts als das (symbolische) Bewußtsein der Re-
ligion selbst." (Apologie S. 133 oben.)
(3) aber wird nun auch klar, und zwar durch Forbergs eigenes Geständnis,
daß der von ihm so hoch gestellte praktische Glaube nichts anderes ist als ein anderer
Name für Moralität; und die ,, verfängliche Frage", ob der ganze Begriff des ,, prak-
tischen Glaubens" nicht am Ende ein spielender sei, wird von hier aus noch einmal
sehr ernst. Es handelt sich wirklich um eine Mystifikation, wenn man
unter Religion eine Erscheinung versteht, die von den übrigen Ge-
halten des geistigen Lebens, insbesondere von der Moralität, noch
irgendwie unterschieden ist. Forberg hat die Pflichtmäßigkeit der Re-
ligion auf Kosten ihrer Eigenart entwickelt, und zwar so konsequent, daß man
annehmen muß, er habe unter dem Vorwande, das Höchste zu wollen — eine Re-
ligion, auf die man verpflichtet werden kann — in Wahrheit vielmehr die völlige
Entwurzelung des religiösen Bewußtseins beabsichtigt.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 5 5
kann auf der Basis des Kritizismus nach Forbergs außerordentlich
treffenden Darlegungen die hypothetische Notwendigkeit des Zu-
sammenhanges der Existenz eines höchsten Wesens mit der Idee
der Moralität auf eine doppelte Weise konstruieren: nämlich ent-
weder durch eine eudämonistische oder durch eine idealistische
Spekulation.
Der eudämonistischen Spekulation zufolge bedarf der sittlich
handelnde Mensch eines Gottes, um für sein Wohlverhalten ent-
schädigt zu werden. Indessen, es ist leicht zu sehen, daß diese
Kombination die Kritik nicht bestehen kann. Denn auch eine
verdiente Glückseligkeit bleibt in der Sphäre des Eudämonismus;
und auch die Qualitätserhöhung dieses Eudämonismus ändert
nichts an seiner moralischen Untauglichkeit. Es wäre dann so,
daß ,,alle Opfer, die die Pflicht verlangt, eigentlich nur als auf-
geschobener, nicht als aufgehobener Genuß anzusehen wären.
Diese Gesinnung sogar durch die Religion unterstützen, und nur
deshalb einen Gott glauben wollen, damit der Eigennutz auch
bei der Uneigennützigkeit seine Rechnung finde, wäre ohne Zweifel
so viel, als die Moralität völlig vernichten und das menschliche
Verderben verewigen; und ein Gott, der in diesem Systeme ge-
glaubt würde, wäre ganz eigentlich und nach dem treffenden Aus-
druck eines tiefsinnigen, nur hin und wieder etwas
kühnen Philosophen^) der Fürst dieser Welt, mit dem das
gute Prinzip in der menschlichen Natur unaufhörlich zu kämpfen
hat, und der überwunden werden muß, wenn anders nicht die
Tugend lauter Heuchelei, und nichts als eine zwar etwas weit-
läufigere, aber nur desto gewissere Methode sein soll, den Eigen-
nutz zu befriedigen."^)
1) Hier ist natürlich Fichte gemeint. Vgl. die ,, Appellation an das Publikum"
(W. W. V. 219): ,,Wer da Genuß will, ist ein sinnlicher, fleischlicher Mensch, der
keine Religion hat und keiner Religion fähig ist; die erste wahrhaft religiöse Emp-
findung ertötet in uns auf immer die Begierde. Wer Glückseligkeit sucht, ist ein
mit sich selbst und seiner ganzen Anlage unbekannter Tor; es gibt keine Glück-
seligkeit, es ist keine Glückseligkeit möglich; die Erwartung derselben, und ein
Gott, den man ihr zufolge annimmt, sind Hirngespinste. Ein Gott, der der Begier
dienen soll, ist ein verächtliches Wesen; er leistet einen Dienst, der selbst jedem
erträglichen Menschen ekelt. Ein solcher Gott ist ein böses Wesen; denn er unter-
stützt und verewigt das menschliche Verderben und die Herabwürdigung der Ver-
nunft. Ein solcher Gott ist ganz eigentlich ,der Fürst der Welt', der schon
längst durch den Mund der Wahrheit . . . gerichtet und verurteilt ist."
*) Apologie S. i04f.
56
Heinrich Scholz:
Läßt man, um dieser Kritik zu entgehen, das Postulat der
Entschädigung fallen und wendet man durch eine idealistische
Spekulation die Idee der moralischen Weltordnung dahin, daß
sie die Weltverfassung bedeutet, durch die der objektive Erfolg
des Guten, der in keines Menschen Gewalt steht, verbürgt wird,
so ist der Eudämonismus zwar überwoinden und ein Gedanke
angeregt, der des Nachdenkens würdig ist; es ist auch die Form
der Moraltheologie gewonnen, die nach Forbergs ansprechender
Deutung ,,dem Sinn des Urhebers der kritischen Philosophie am
nächsten zu kommen" scheint.^) Nur Religion soll dieser Gedanken-
gang nach Forberg nicht sein, ,,wenn anders Religion, sei sie
übrigens, was sie wolle, doch auf jeden Fall etwas sein soll, was
Pflicht ist".^) ,,Wäre der Glaube an Gott, selbst wie ihn die
.Moraltheologie begründet, Religion, so wäre Religion eine speku-
lative Theorie, die man niemandem zumuten könnte, da man
doch Religion in der Tat jedermann zumutet."^) Denn ,, zugegeben,
was unstreitig zugegeben werden muß, daß wir dem Endzweck
der Vernunft*) nicht mit Vernunft nachstreben können, ohne die
Möglichkeit dieses Endzwecks vorauszusetzen, so ist es doch ebenso
unstreitig, daß die Pflicht nur das Nachstreben fordere, das
Urteil aber, wie das Ziel dieses Nachstrebens möglich sei, gänzlich
der Spekulation überlasse. . . . Die Untersuchung, wie die voll-
ständige Realisierung des Endzwecks der Vernunft möglich sei,
ist der Moralität vollkommen gleichgültig, die ohnehin schon genug
zu tun hat mit Untersuchung dessen, was jeder seines Orts zur
Realisierung jenes Endzwecks beizutragen habe. Sonach wäre die
Annahme eines Gottes, als eines Prinzips, um daraus die Möglich-
keit eines Endzwecks, der für uns Pflicht ist^), zu erklären, zwar
eine mögliche, auch wohl die einzig mögliche Annahme; nur so
etwas überhaupt anzunehmen . . ., das ist ganz zufällig und
willkürlich*) und zur Pflichterfüllung ebenso entbehrlich, als
dem Schiffer zum Gebrauch des Kompasses auf der See alle Theorien
*) Apologie S. III.
•) a. a. 0.
•) Apologie S. 113. — Nach Fichte ist der Glaube an den objektiven Er-
folg des Guten vielmehr eine das sittliche Handeln beständig begleitende und vou
diesem gar nicht abtrennbare Intuition.
*) Der Objektivierung des Guten.
*) Die Objektivierung des Guten.
•) Vgl. hierzu die kritische Bemerkung S. 54 Anm.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 57
der magnetischen Kraft vollkommen entbehrlich sind: es ist nichts
als Befriedigung spekulativer Wißbegierde. "i)
Aber wird nicht das sittliche Handeln selbst sinnlos, wenn
es des objektiven Erfolges nicht nur nicht gewiß werden kann,
sondern sogar im Gegenteil mit der Möglichkeit seiner völligen
Erfolglosigkeit rechnen muß? Fichte hat diese Frage entschlossen
bejaht und auf Grund dieser Bejahung den unbedingten Glauben
an eine göttliche Weltregierung gefordert. 2) Die Unerträglichkeit
des Gedankens, daß das sitthche Handeln ein zweckloses sein
könne, ist für ihn geradezu der ,, Grund unsers Glaubens an eine
göttliche (d.i. in seinem Sinne: die Objektivierung des Guten
verbürgende) Weltregierung" gewesen. Forberg ist dieser Fol-
gerung ausgewichen, und zwar durch eine Interpretation des sitt-
lichen Strebens, die durch ihre ,, Ziellosigkeit", oder vielmehr durch
die Art und Weise, wie sie das Streben zum Selbstzweck erhebt,
an den Idealismus der Marburger Schule erinnert.^)
,,Ohne Zweifel" wird auch nach Forberg, bei Abwesenheit
einer moralischen Weltordnung, die die Erhaltung der sittlichen
Werte verbürgt, das sittliche Handeln selbst unvernünftig, ,,wenn
der Erfolg der Zweck des Strebens, wenn das Ziel der
Zweck des Laufens ist".
Aber wie, wenn das Streben an sich selbst Zweck wäre .?*) Wenn
es gar kein Ziel zu erreichen gäbe, oder, welches für die Kämpfer
eins ist, nur ein Ziel in unendlicher Ferne? Wenn nicht gegangen
würde um des Zieles willen, sondern ein Ziel gesetzt würde
ufn des Gehens willen, damit man die Richtung, nicht aber das
Ende des Weges erfahre? Wenn das Gebot der Vernunft gar nicht
den Sinn hätte, zu gehen, damit man das Ziel erreiche, sondern nur
1) Apologie S. III ff.
«) Vgl. die , .Appellation an das Publikum" (W. W. V. zogt): „Diejenigen,
welche sagen: Die Pflicht muß schlechthin, ohne Rücksicht auf irgendeinen Zweck,
geschehen, drücken sich nicht genau aus. ... Es ist schlechthin unmöglich, daß
der Mensch ohne Aussicht auf einen Zweck handle. Indem er sich zum Handeln
bestimmt, entsteht ihm der Begriff eines Zukünftigen, das aus seinem Handeln
folgen werde, und dies ist eben der Zweckbegriff. Jener durch die pflichtmäßige
Gesinnung zu erreichende Zweck ist nur kein Genuß — das wollen sie sagen, und
darin haben sie recht; er ist die Behauptung der der Vernunft gebührenden
Würde."
») Vgl. hierzu den Vortrag von Paul Natorp, Kant und die Marburger
Schule, 191 2.
♦) Wird es dann nicht eine Art von Sport, und ist solcher sittlicher Sport im
Grunde wertvoller als irgendeine andere gymnastische Übung?
cß Heinrich Scholz:
SO, als ob man es erreichen wollte? Man könnte dann ganz wohl
wissen, daß ein Reich Gottes oder ein ewiger Friede oder eine Welt
voll Engel Unmöglichkeiten wären und blieben; und man könnte
dennoch ohne Unvernunft^) fortfahren, zu handeln, als ob man sie
möglich machen sollte. Es wären Ideale^), die man im Auge, aber
nie in der Nähe behalten sollte, unendliche Aufgaben^), nicht,
um sie zu lösen, sondern ins Unendliche an ihnen zu lösen.*)
Wir sind nun in der Lage, zusammenzufassen und die Frage
zu beantworten, welche Motive bei Forberg den Übergang von
der uneigentlichen, am objektiven Bestände des Göttlichen inter-
essierten, zur eigentlichen, diesem Bestände gegenüber interesselos
gewordenen Religionsphilosophie des Als-ob bewirkt haben, und
innerhalb dieser wiederum den Übergang von der skeptischen,
das Dasein Gottes bezweifelnden Form zur paradoxen Religion
ohne Gott. Die Motive, die wir gesucht haben, ziehen sich in
ein einziges zusammen. Es ist der Begriff der Pflichtreligion
Aus ihm erklären sich restlos alle Verschiebungen innerhalb der
Forbergschen Religionsphilosophie. Eine Pflichtreligion kann
unter Voraussetzung des Rationalismus nur Momente enthalten,
die die Vernunft zu ihrer Annahme verpflichten. Pflicht aber im
strengsten und eigentlichsten Sinne ist immer wieder nur die mora-
lische Lebensverfassung; alles übrige ist höchstens ein Recht, zu
dessen Gebrauch man zwar befugt, aber niemals verpflichtet sein
kann. Oder, mit Forberg selbst zu sprechen:
Es ist nicht Pflicht, zu glauben, daß eine moralische Welt-
regierung oder ein Gott, als moralischer Weltregent, existiert, sondern
es ist bloß und allein dies Pflicht, zu handeln, als ob man es
glaubte. In den Augenblicken des Nachdenkens oder des Dis-
putierens kann man es halten, wie man will, man kann sich für den
Theismus oder für den Atheismus erklären, je nachdem man es vor dem
Forum der spekulativen Vernunft verantworten zu können meint; denn
hier ist nicht die Rede von Religion, sondern von Spekulation, nicht
von Recht und Unrecht, sondern von Wahrheit und Irrtum.^)
*) Aber um den Preis einer mehr als erklügelten, beinahe sophistischen Kon-
struktion !
*) Vielmehr Idole!
*) Vielmehr unendliche Träume!
*) Apologie S. 142/.
') Entwicklung des Begriffs der Religion (Atheismusschriften S. 28). — Es
ist kaum nötig, darauf aufmerksam zu machen, wie nahe sich diese Formulierung
der Religion mit der des modernen Pragmatismus berührt.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 5^
Dieser Gedankengang ist in sich so klar und konsequent, daß
es nur noch darauf ankommt, das Ergebnis abschheßend auszu-
sprechen. Es besteht aus folgenden Stücken.
(i) Die Forbergsche Rehgion ist ihrer Tendenz nach eine
Rehgion ohne Gott. Im ersten Entwurf noch theologisch gefärbt,
hat sie sich in der späteren, durch die „Apologie" vertretenen
Fassung zu einer durch keine Einschränkungen gemilderten Re-
ligion ohne Gott entwickelt; und zwar insofern mit logischer Kon-
sequenz, als der schon im ersten Entwurf vorausgesetzte Begriff
einer Pflichtreligion eine solche Entwicklung gebieterisch fordert.
Denn der Glaube an das Dasein Gottes kann niemals Moment
einer Pflichtrcligion sein, da die Pflicht nur sittliche Aufgaben
umspannt, die auch ohne das Dasein Gottes gelöst werden müssen.
Die realistisch gefärbten Gedankengänge Forbergs sind dem-
nach als inkonsequente Vorstufen einer rein ideologischen Religions-
konstruktion zu betrachten; und es ist mindestens irreführend,
wenn Forberg auch noch in der ,, Apologie", wo er sich selbst
übersehen konnte, seine Lehre als eine solche bezeichnet, die ,,die
Gottheit nicht leugnet, sondern ausdrücklich behauptet, und nur
in der Form abweicht, wie sie sie behauptet". i) Denn sie leugnet
wirklich das Göttliche, wenn anders die Anerkennung des Gött-
lichen die Bejahung seiner Wirklichkeit in sich schließt.
(2) Gewonnen wird der Inhalt der Pflichtreligion nach For-
bergs eigenem Geständnis durch die restlose Preisgabe alles dessen,
was die Religion von den übrigen Erscheinungen des menschlichen
Geisteslebens, insbesondere von der Moralität unterscheidet, also
um den Preis ihrer Eigenart in jedem, auch dem bescheidensten
Sinne. 2) Eine Religion aber, die von der Moralität überhaupt
nicht mehr unterschieden werden kann, hat aufgehört, Religion
zu sein. Es ergibt sich also, daß die Forbergsche Konstituierung
der Pflichtreligion den Verzicht auf die Religion zur Folge hat
und mit diesem schließlich zusammenfällt. Der ,, praktische Glaube"
Forbergs ist nichts als ein anderer, umständlicherer Name für
,, Moralität"; er ist insofern in der Tat ein „spielender Begriff ".»)
(3) Man kann das Ergebnis der Forbergschen Rehgions-
philosophie auch so ausdrücken: Was an der Religion Pflicht ist,
*) Apologie S. 86 oben.
*) Siehe oben S. 54 Anm,
') Siehe oben S. 46 Anm.
6o Heinrich Scholz:
ist nicht Religion — nicht ein wie immer bedingter Glaube an
die Realität des Göttlichen; und was an der Rehgion Religion
ist, also Glaube an die Realität des Göttlichen, ist nicht Pflicht,
sondern Spekulation. Forberg sagt: müßige Spekulation. So-
weit damit die Ausschließung einer solchen aus dem Begriff der
Pflichtreligion ausgesprochen werden soll, kann dieser Ausdruck
hingenommen werden. Er wirkt aber insofern irreführend, als
Forberg selbst zuzugeben genötigt ist, daß erst durch solche
Spekulation die Religion zu einer von der Moralität innerlich
unterschiedenen Größe wird. Ist es aber so, dann kann diese
Spekulation auch nicht als ,, müßig" bezeichnet werden, um so
weniger, als sie auch nach Forbergs Urteil eine durchaus be-
gründete ist.^) Sie ist vielmehr vom Standpunkt der Religion aus
— und dieser kommt der Religionsphilosophie zu — als grund-
legend und schöpferisch zu bezeichnen.
(4) Den Grundbegriff der Pflichtreligion, aus dem sich alle
weiteren Positionen ergeben, hat Forberg nirgends zu begründen
versucht. Er setzt ihn vielmehr als begründet voraus, indem er
sich auf die Tatsache beruft, daß Rehgion im bürgerlichen Leben
als ein Vorzug, der Atheismus hingegen als ein Gebrechen emp-
funden werde.
(5) Die Frage, ob die Forbergsche Lehre nicht wenigstens
die konsequenteste auf der Basis des Kritizismus mögliche Religions-
philosophie sei, kann schon jetzt mit Bestimmtheit verneint werden,
sofern es sich dabei um die Idee der Pflichtreligion handelt. Denn
eine solche ist durch die Prinzipien des Kritizismus in keiner Weise
innerlich gefordert und demgemäß auch von Kant nie aufgestellt
worden.^)
^) Vgl. S. 1 1 1 der ,, Apologie": ,,Ich halte diese (moralphilosophische) Be-
gründung (des Gottesglaubens), in ihren gehörigen Schranken (d. i. sofern die
Moralität dadurch nicht wieder theologisch fundiert werden soll), für unwider-
leglich."
*) Über Fi cht es Verhältnis zu Forberg ist abschließend Folgendes zu sagen.
A. Beide sind einig
(i) in der strikten Ablehnung jeder spekulativen Religionskon-
struktion. Sie verwerfen in Hinsicht auf die Begründung der Religion sowohl
die theoretisch-teleologische, wie die praktisch-eudämonistische, aber auch — und
dies ist das Neue, was sie besonders Kant gegenüber verbindet — die ethische
Spekulation, die die Religion aus der Reflexion auf die transsubjektiven Bedingungen
für die erfolgreiche Objektivierung des Guten entstehen läßt.
2) in der inhaltlichen Definition der Religion: Religion ist der Glaube
an das unbedingte Gelingen des Guten, jedoch mit dem wichtigen Unterschied,
Die Religionsphilosophie des Als-ob, 6l
Der Bogriff einer Pflichtrcligion ist dem Kantischen Denken
fremd. ,,Was darf ich hoffen?", so lautet die berühmte, über
die Funktion der Rehgion im System des Kritizismus entscheidende
Frage der Kritik der reinen Vernunft. ,,Was darf ich hoffen?"
und nicht: ,,Was soll ich glauben?" Die Religion erscheint also
nicht als etwas, was der Mensch zu besitzen verpflichtet ist, sondern
daß bei Forberg der Ton auf dem Glauben, bei Fichte vielmehr auf dem Ge-
lingen liegt.
B. Sie trennen sich
(i) in Hinsicht auf die durch diese Tonverschiebung bedingte Stellung zur
Realität des Göttlichen. Forbergs vom tatsächlichen Gelingen des Guten
abstrahierender ,, Glaube" ist an der Realität des Göttlichen so uninteressiert, daß-
er sich mit dem „Atheismus" verbinden kann. Fichtes am tatsächlichen Ge-
lingen des Guten aufs stärkste interessierter Glaube ist auch an der dieses Ge-
lingen verbürgenden Realität des Göttlichen so stark interessiert, daß er mit dieser
steht und fällt.
(2) in Hinsicht auf die Frage nach dem positiven Grunde der Religion.
Nach Forberg ist dieser (wie später bei Feuerbach) ein frommer Wunsch.
, .Religion entsteht einzig und allein aus dem Wunsche des guten Herzens, daß
das Gute in der Welt die Oberhand über das Böse erhalten möge." (Entw. der
Begr. der Rel. Atheismusschr. S. 22.) — Nach Fichte ist der Grund der Religion
vielmehr eine mit dem sittlichen Handeln selbst unmittelbar verbundene Intuition,
der anschauliche Glaube an den objektiven Erfolg des Guten, mit anderen Worten:
die von der charaktervollen Ausübung des Guten gar nicht zu trennende Über-
zeugung von der Erhaltung des sittlichen Kraftaufwandes. ,,Es ist hier nicht ein
Wunsch, eine Hoffnung, eine Überlegung und Erwägung von Gründen für und
wider, ein freier Entschluß, etwas anzunehmen, dessen Gegenteil man wohl auch
für möglich hält. Jene Annahme ist unter Voraussetzung des Entschlusses, dem
Gesetze in seinem Innern zu gehorchen, schlechthin notwendig; sie ist unmittelbar
in diesem Entschlüsse enthalten; sie selbst ist dieser Entschluß." (Über
den Grund unseres Glaubens usf. Atheismusschr. S. 9.)
(3) in Hinsicht auf die Frage nach der Qualität des religiösen Bewußt-
seins. Nach Forberg ist dieses lediglich eine Maxime des Handelns, eine das
Handeln begleitende Voraussetzung, die aber sehr wohl falsch sein kann. Nach.
Fichte ist es eine dem sittlichen Handeln immanente und an der Evidenz des-
selben teilnehmende Überzeugung vo!i unumstößlicher Gewißheit und
Objektivität. „Der entscheidende Punkt ... ist der, daß jener Glaube . . .
nicht etwa vorgestellt werde als eine willkürliche Annahme, die der Mensch
machen könne oder auch nicht, nachdem es ihm beliebe, als ein freier Entschluß,
für wahr zu halten, was das Herz wünscht. . . . Was in der Vernunft
gegründet ist, ist schlechthin notwendig; und was nicht notwendig ist,
ist eben darum vernunftwidrig. Das Fürwahrhalten desselben ist Wahn und
Traum, so fromm auch etwa geträumt werden möge." (Über den Grund usf.
S. 5.) ,,Es ist daher ein Mißverständnis, zu sagen: es sei zweifelhaft, ob ein
Gott sei, oder nicht. Es ist gar nicht zweifelhaft, sondern das Gewisseste,
was es gibt, ja der Grund aller anderen Gewißheit, das einzige ab-
Ö2 Heinrich Scholz:
als ein Recht, von dem er Gebrauch machen darf, wenn er seine
Pflicht getan hat. ,,Was darf ich hoffen, wenn ich getan habe,
was ich soll?" Dies ist die genaue und erschöpfende Formel der
Religion im System des Kritizism.us. ,,Ein Glaube, der geboten
Avird, ist ein Unding", heißt es treffend in der Kritik der prak-
tischen Vernunft.^)
solut gültige Objektive." (a. a. 0. S. 13.) ,,Daß das Kantsche ,Als-ob' gegen
mein System ist, ist wahr und klar." (22. April 1799 an Reinhold; Fichtes Leben
und literarischer Briefwechsel, IP, 1862, S. 253.)
Fragt man (4), wie Fichte sich zu der Forbergschen Idee einer Pflicht-
religion verhält, so ist zu antworten, daß er zu dieser Idee überhaupt nicht aus-
drücklich Stellung genommen hat, daß er sie indessen durch seinen ganz anders-
artigen Aufriß implicite ablehnt. Sein Grundbegriff ist der der Vernunftreligion;
und was ,,in der Vernunft gegründet ist, ist schlechthin notwendig" (siehe oben),
ohne daß man deshalb geradezu von einer Pflicht zur Anerkennung desselben zu
sprechen braucht. Der Glaube (des sittlich handelnden Menschen) an eine mora-
lische Weltordnung ist vernunftgemäß und vernunftnotwendig; wer ihn ablehnt,
setzt sich aus der Vernunftordnung heraus und weigert sich, zu denken, was er
mitdenken muß (den zur Durchsetzung des Guten in der Welt erforderlichen trans-
subjektiven Faktor), um vernünftigerweise sittlich handeln zu können.
^) S. 184 der Vorländerschen Ausgabe. — Hiermit erledigt sich auch die Be-
hauptung, die Niethammer, der Herausgeber des Philosophischen Journals,
schon 1796, also zwei Jahre vor Forberg, im ersten Heft des vierten Bandes seiner
Zeitschrift, in den ,, Philosophischen Briefen über Religions- Indifferentismus und
einige damit verwandte Begriffe", vorgetragen hat. ,,In der kritischen Philosophie
geht die Religionswissenschaft von der Überzeugung, als ihrem Fundamente,
aus: daß Religion Pflicht sei." Freilich, ,,was hier als Pflicht gefordert wird,
ist nicht Religion in der dogmatizistischen . . . Bedeutung. Nach der kritischen
Philosophie bedeutet Religion in jener Forderung nichts anderes als die Ge-
sinnung, seine Pflichten als Gebote der Gottheit zu betrachten.
Diese Gesinnung ist Pflicht, ehe noch jene Überzeugung, welche das Dasein Gottes
betrifft, in Frage kommt. Die Pflichtvorschrift fordert also hier auch nicht diese
Überzeugung, sondern lediglich jene Gesinnung, bei der es ganz und gar nicht
darauf ankommt, zu wissen, ob die Pflichten wirklich Gebote der Gottheit seien,"
(a. a. 0. S. 52.) ,, Unsere Pflichten uns als Gebote der Gottheit vorzustellen
und diese Vorstellung zur bleibenden Gesinnung in uns zu erhöhen, das ist unsere
Religion." (a. a. O. S. 59.) Es ist zugleich die ,,Idee", mit der wir ,,das ganze
Pflichtgebiet umfassen". ,,Von diesem Standpunkt aus erblicke ich das Ideal,
welches ich mir als das Ziel meines gesamten Handelns vorgeschrieben habe — das
Ideal des höchsten Gutes — in seiner ganzen Reinheit und in seiner höchsten Voll-
endung. Zu dieser Idee mich zu erheben, ist Pflicht; und der Glaube, den meine
Philosophie postuliert, betrifft die praktische Realität dieser Idee, d.h. den
Glauben, daß jenes Ideal, nach dem ich streben soll, keine Schimäre sei. Von
einer theoretischen Realität ist aber hier in keiner Rücksicht die Rede. Wer
hier für die Erkenntnis des Daseins Gottes oder auch selbst für die theoretische
Realität jener Idee des höchsten Gutes etwas zu gewinnen hofft, muß einen ganz
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 5»
Daß es sich wirklich so verhält, ergibt sich aus einem Über-
blick über das Gefüge des Kritizismus. Wir geben dieser Über-
schau absichtlich eine freiere Gestalt, um die innere Struktur des
Kantischen Lehrgebäudes, wie sie sich, losgelöst von den Zufällig-
keiten seiner äußeren Entstehung, dem Auge des nachschaffenden
Beobachters darstellt, möglichst rein hervortreten zu lassen, i)
irrigen Begriff vom praktischen Glauben haben. Ob das Ideal des höchsten
Gutes jemals (in irgendeiner Zeit) von mir werde erreicht werden, weiß ich
nicht und kann ich nicht wissen; dies kann ich also auch nicht (als etwas, das ge-
schehen wird) glauben. Aber das weiß ich, daß ich danach streben soll, es zu
erreichen; und darum glaube ich, daß es erreichbar für mich (d. h. es mir zur
Aufgabe zu machen, nicht Schwärmerei) sei." (a. a. 0. S. 53.)
Dieser Niethammersche Gedankengang ist eine so offenbare Antezipation
des Forbergschen Programms, daß trotz der immanenten Logik, die unter Voraus-
setzung des Begriffes der Pflichtreligion einen solchen Gedankengang nötig macht,
eine Beeinflussung Forbergs durch diesen Aufsatz wahrscheinlich ist. Um so
mehr, als Forberg schon damals zu den Mitarbeitern (und also wohl auch zu den
aufmerksamen Lesern) des Journals gehörte. Vgl. seinen Aufsatz ,,Über den Ur-
sprung der Sprache" im zweiten Heft des dritten Bandes 1795; ferner die Ab-
handlung über die Verbindung der Seele mit dem Körper, im dritten Heft des
vierten Bandes 1796; Briefe über die neueste Philosophie, im ersten Heft des sechsten
Bandes 1797; Über den Geist des Lutheranismus, im dritten Heft des sechsten
Bandes 1797; Briefe über die neueste Philosophie (zweiter Teil) und Versuch einer
Deduktion der Kategorien, im vierten Heft des siebenten Bandes 1797.
Wenn Forberg seinen Religionsbegriff unter Niethammers Einfluß kon-
zipiert hat, so erklärt es sich auch nachträglich, warum er den Begriff der Pflicht-
religion ohne nähere Begründung als den dem System des Kritizismus allein ent-
sprechenden vorausgesetzt hat. Er lag sozusagen in der Luft, wenigstens in der
Luft des Kreises, dem Forberg angehörte und für den er in erster Linie geschrieben
hat. — Jedenfalls ist der umfangreiche Niethammersche Aufsatz,
von dem hier nur eine Probe gegeben werden konnte, das erste,
dem Forbergschen um mehrere Jahre vorausgehende Dokument einer
konsequenten Religionsphilosophie des Als-ob.
^) Es muß wohl jeder, der sich ernsthaft und eindringend mit Kants Religions-
philosophie beschäftigt hat, zu der Überzeugung gelangen, daß ,,die Religionsphilo-
sophie des kritischen Idealismus in keiner Kantischen Schrift in voller Konsequenz
dargestellt ist" (A. Schweitzer in seiner nicht genügend beachteten Arbeit über
die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Re-
ligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1899, S. 314). Vaihingers
Analyse in der ,, Philosophie des Als-ob" ist der beste und lehrreichste Kommentar
zu diesem Urteil. Aus diesem Grunde versuche ich zunächst, die unzweifelhaften
Grundgedanken des Kritizismus in ihrer inneren Konsequenz bis zu den religions-
philosophischen Ergebnissen zu entwickeln, und zwar unter Bevorzugung des ein-
fachsten Ausdrucks und unter möglichstem Verzicht auf den Kantischen Sprach-
gebrauch, durch dessen beständige Wiederholung die Aufklärung der Kantischen
Gedanken nicht gefördert wird.
64
Heinrich Schok:
Man bestimmt die Aufklärungsrcligion nicht genau genug,
wenn man sie bloß als Vernunftrcligion bezeichnet. Denn eine
Vernuiiftschöpfung durch und durch ist auch die von Kant ins
Auge gefaßte Rehgion. Sie ist — oder will es wenigstens sein —
eine Schöpfung der reinen Vernunft. ,, Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" ist schon ein Zugeständnis an die
Geschichte, hier an die Herrschaft des Christentums, dem man
durch die Unterscheidung von Form und Gehalt und durch An-
näherung an die Religion der reinen Vernunft die innere Bedeutung
verschaffen kann, die seiner äußeren Machtstellung entspricht.
Indessen, die hiermit ergriffene Aufgabe ist schon mehr ein Stück
praktischer Religionspolitik als ein Problem der eigentlichen Re-
ligionsphilosophie. Diese hat nur eine einzige Aufgabe : die Kon-
struktion der reinen Vernunftreligion.
In dieser Hinsicht ist Kant dezidierter Rationalist. Es gibt
wohl kein größeres Mißverständnis der Vernunftkritik, als die
immer noch verbreitete Annahme, daß der zur Ablösung des
,, Wissens" bestimmte ,, Glaube" etwas über alle Vernunft Hinaus-
liegendes sei. Er ist eine Vernunftschöpfung, so gut wie das Wissen;
und man braucht sich nur an die beiden Abhandlungen: ,,Was heißt :
sich im Denken orientieren.''" und über den ,, vornehmen Ton in der
Philosophie" zu erinnern, um einzusehen, in welchem Grade Kant
auch als Religionsphilosoph konsequenter Rationalist gewesen ist.
Freilich, es ist eine andere als die am Aufbau des ,, Wissens"
beteiligte Vernunft, aus der der Kantische ,, Glaube" entspringt.
Fjs ist nicht die Vernunft, die das Denken erzeugt und den Er-
kenntnisprozeß beherrscht, sondern die Vernunft, die den Willen
erregt und sich durch diesen in Handlungen ausdrückt. Eine
Funktion dieser Vernunft ist der Kantischc Glaube. Er ist ein
ethisch fundiertes Vernunftphänomen; durch die ethische Fun-
dicrung unterscheidet er sich von dem Glauben der Aufklärungs-
religion, der ein logisch fundierter Vernunftglaube sein will. Ver-
nunftprodukte sind beide Religionen; insofern ist Kant der Voll-
ender der Aufklärung, auch auf religionsphilosophischem Gebiet.^)
') Es ist daher auch nicht richtig, ihn mit Mendelssohn den All zermalm er
zu nennen; denn das ist er nur in Hinsicht auf den unkritischen Vernunftgebrauch^
keineswegs aber in Hinsicht auf den Vemunftgebrauch überhaupt gewesen. Viel-
mehr hat er den latenten Umfang der reinen Vernunft einerseits in seiner Theorie
der Erfahrung, andererseits in seiner Ethik mit einer Eindringlichkeit nachgewiesen,
deren Ergebnis vielmehr als eine Stärkung und Steigerung des Systems der pro-
duktiven Vernunft zu bezeichnen ist.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 65
Mit der Aufklärung teilt er auch die starken metaphysischen und
weltanschaulichen Interessen; und man kann sein Werk in einer
nachschaffenden Betrachtung vielleicht nicht besser verständlich
machen, als indem man es, anstatt immer wieder an die synthe-
tischen Urteile a priori anzuknüpfen, vielmehr als einen mit den
außerordentlichsten Folgen für die Wissenschaftslehre verknüpften
Versuch einer weltanschaulichen Neuorientierung auf kritischer
Grundlage interpretiert. i)
Aber die sittlich schöpferische Vernunft, auf der der Kantische
Glaube aufruht, ist von der theoretischen nach Kant nicht nur
dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Jene ist in ihrer
Funktion an das Dasein von Dingen gebunden, wenn anders sie
mehr sein will als ein mit sich selbst und seinen Gebilden beschäf-
tigtes Denken, wenn sie der Erleuchtung des Wirklichen dienen
will, und nicht nur der Aufklärung dessen, was wahr ist, ohn-
wirklich zu sein oder wirklich sein zu müssen. Anders die prak-
tische Vernunft. Sie ist in ihrer Gesetzgebung unbedingt. Sie
fragt nicht, ob der Wille, dem sie gebietet, auch zu gehorchen im-
stande ist ; sie fordert vielmehr, daß er kann, was er soll, aus keinem
anderen Grunde, als weil er es soll, und weil er dadurch — und
dadurch allein — zu einem reinen, freien und guten Willen wird.
Rein, frei und gut sind hier eigentlich nur drei verschiedene Namen
für eine und dieselbe Sache. Der Wille heißt rein, insofern er dem
Vernunftprinzip unterworfen ist. Ein gefühlsmäßig bestimmter
Wille würde im Kantischen Sinne auch dann ein ,, unreiner" Wille
sein, wenn er in Hinsicht auf seine sittliche Qualität untadelig
wäre. Der reine, d. i. der vernunftbestimmte Wille ist aber zu-
gleich ein freier Wille, insofern die Abhängigkeit von der Vernunft
die Unabhängigkeit von allem in sich befaßt, was nicht mit dieser
Vernunft identisch ist. Und dieser Wille ist schließlicli gut, nicht
weil er zu bestimmten Zwecken tauglich ist, sondern weil er die
Vernunftqualität des Menschen, also das, was ihn nach Kant
von allen übrigen Weltwesen der Art nach unterscheidet, auf
ihrer höchsten, zwar immer noch sinnlich beschränkten, aber nicht
mehr sinnlich bedingten Stufe offenbart. So dienen alle drei
1) Daß die Kritik der Aufklärungsmetaphysik das eigentliche Thema der
Vemunftkritik ist und demgemäß der Aufbau dieser Metaphysik den Schlüssel
zur Struktur der Vernunftkritik liefert, hat neuerdings — nach Riehl — Benno
Erdmann erleuchtend gezeigt in seiner schönen Akademieabhandlung über die
Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1917.
Annalen der Philosophie. I. 5
56 Heinrich Scholz:
Prädikate dazu, die Unbcdingtheit der praktischen Vernunft ins
Liciht zu setzen und dieser selbst eine Würde zu erteilen, an der
dann auch die Spekulationen, die sich an ihre Gesetzgebung an-
schließen, in eigentümlicher Weise teilnehmen. Durch diese tief-
sinnigen Entdeckungen ist Kant der Überwinder der Auf-
klärung geworden; und zwar hat er die Aufklärung nicht, wie die
gleichzeitigen Gcfühlsphilosophen und hernach die Romantiker,
durch eine Abschwächung der Vernunft, sondern durch eine Ver-
tiefung und Staffelung derselben überwunden.
Diese Staffelung hat in dem berühmten Theorem vom Primat
der praktischen Vernunft ihren klassischen Ausdruck gefunden.
Dieser Primat bedeutet nicht, was auch heute noch ausdrücklich
bemerkt werden muß, daß wir im Leben annehmen dürfen, was
wir im Denken verwerfen müssen — einen so groben und brüchigen
Dualismus hätte man Kant nie unterstellen sollen. Er bedeutet
auch nicht eine Überordnung des Wertvollen über das Wirkhche,
wie eine feinere Auslegung annimmt; denn das Wertvolle kann
dadurch allein, daß es wertvoll ist, ebensowenig wirklich werden,
wie das Denknotwendige dadurch allein, daß es denknotwendig
ist. Der Primat der praktischen Vernunft muß etwas anderes
bedeuten; und es ist bei einiger Überlegung nicht schwer, zu sehen,
was er bedeutet. Er bedeutet den Vorrang der sittlich schöpfe-
rischen vor der intellektuellen Vernunft in Hinsicht auf die Fragen
der Weltanschauung.
Die Kritik der reinen Vernunft hat gezeigt, daß die Inhalte
des religiösen Bewußtseins sich durch logische Spekulation nicht
hervorbringen lassen. Sie lassen sich deshalb nicht hervorbringen,
weil keine Logik imstande ist, den Gegenständen ihrer Begriffe
durch bloße Zergliederung Existenz zu verschaffen, falls unter
Existenz die objektive, bewußtseinsunabhängige Daseinsform ver-
standen wird. Diese ist vielmehr stets etwas Gegebenes, etwas,
was sich in der Anschauung vorfindet und nur durch einen Wahr-
nchmungsakt erfaßt, aber nicht durch Begriffe erzeugt werden
kann. Insofern, also in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum reinen
Denken, sind alle Existentialurteile syntlictisch. Sie setzen etwas
voraus, was nur anschaulich wahrgenommen, aber nie logisch
erzeugt werden kann.^)
*) Nur unter Voraussetzung dieses freilich heiß umstrittenen ,, Realismus"
ist es möglich, den Kantischen Stoß gegen die Aufklärungsmetaphysik überhaupt
Die Reli^ionsphüosapbie des Ali-ob. 07
Über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit der Gegenstände
des religiösen Bewußtseins ist hiermit offenbar noch gar nichts
entschieden, man müßte denn den Umfang des Wirklichen mit
dem des sinnlich Gegebenen gleichsetzen; indessen, dies ist unter
dem Gesichtspunkt des Kritizismus eine unkritische, weil un-
beweisbare Einschränkung des Wirklichen. Fs kann wohl sein,
daß der Positivismus recht hat und daß das Wirkliche überhaupt
mit dem sinnhch Gegebenen zusammenf älh ; aber ein Wissen hier-
über besitzen wir nicht, und es ist vom Standpunkt des Kritizismus
aus nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, die MögUchkeit,
daß der Umkreis des Wirklichen über die Sphäre des sinnlich Ge-
gebenen hinausreicht, beständig im Auge zu behalten — mag diese
MögUchkeit für die empirische Forschung auch noch so leer und
bedeutungslos sein. Entschieden ist durch die Kantische Kritik
der Aufklärungsmetaphysik vielmehr nur dies, daß wir uns durch
reines Denken allein von der Wirklichkeit der Gegenstände des
religiösen Bewußtseins niemals überzeugen können. ,, Widerlegt**
ist die Wirklichkeit dieser Gegenstände damit nicht im geringsten;
sie bleiben vielmehr auch nach dieser Kritik, wie KaTttsich einmal
glückhch ausgedrückt hat, ,, Gedanken, in denen nichts Unmög-
hches ist".^
Dann fragt es sich, ob wir Ursache haben, aus anderen Gründen
von der Wirklichkeit der Gegenstände des religiösen Bewußtseins
überzeugt zu sein. Diese Frage kann nur durch eine Untersuchung
der Qualität dieser Gründe entschieden werden. Wenn es über-
haupt solche Gründe gibt, so werden sie folgendermaßen beschaffen
verständlich tu machen; denn wenn das Denken imstande ist, den Gegenstand
der Erkenntnis zu ,, schaffen", so ist nicht einzusehen, warum es in seinen Schöp-
fungen auf sinnliche Gegenstände eingeschränkt sein soll. Es ist dann sogar nur
folgerichtig, über diese Grenze hinauszugehen und den empirischen Wirklichkeit»-
schöpfungen solche von metaphysischer Qualität zur Seite zu stellen. Spinota
und die deutschen Idealisten hätten recht, und die kühnste Metaphysik würde Tom
Standpunkt des Kritizismus aus unangreifbar geworden sein. So wichtig sind die
realistischen Voraussetzungen für die Stoßkraft des Kritizismus. Es wäre eine
lohnende Aufgabe, einmal die ganze Kritik der reinen Vernunft unter diesem Gesidits-
punkt durchzuinterpretieren — einmal zu fragen, was diese Vemunftkritik sein
mu6, um die Aufklärungsmetaphysik zertrümmern zu können.
*) Kritik der praktischen Vernunft, Ausgabe Vorländer, S. 17a. — Ich be-
merke hier ein für allemal, daß, wenn nichts anderes bemerkt ist, Stellen aus der
Vemunftkritik, der Kritik der Urteibkraft und der , Religion innerhalb" nach den
Seitenzahlen der zweiten Ausgabe, die übrigen Werke nach den Seitenzahlen der
Vorländerschen Ausgaben in der Philosophischen Bibliothek angeführt sind.
^g Heinrich Scholz:
sein müssen: es werden erstens Vernunft gründe sein müssen, und
zweitens solche, die, da die intellektuelle Vernunft versagt hat,
in den Tatsachen des sittlichen Bewußtseins verankert sind.
Das sind sie; und zwar durch eine Überlegung, die sich auf
die objektiven, d. i. nicht mehr vom Willen des sittlichen Sub-
jekts abhängigen Folgen des Guten bezieht. Es unterliegt nämJich
nicht nur das sogenannte Naturgeschehen, sondern auch das sitt-
liche Handeln der Betrachtung unter dem Gesichtspunkt von
Grund und Folge. Unter dem Einfluß dieser Betrachtung zerlegt
sich das sittliche Tun in einen doppelten Faktor, einen subjektiven
und einen transsubjektiven. Der subjektive Faktor ist der Wille;
er ist der erzeugende Grund des sittlichen Handelns. Der trans-
subjektive Faktor ist der Inbegriff der Gewalten, die den Erfolg
des sittlichen Handelns bestimmen. Hieraus ergibt sich, daß stets
nur ein Teil des sittlichen Gesamtprozesses in der Gewalt unseres
Willens steht. Es ist die Richtung auf das sittliche Handeln;
der Erfolg ist an Bedingungen geknüpft, die wir entweder über-
haupt nicht beherrschen oder nur zufällig und in einem Umfange,
der nur in den seltensten Fällen befriedigt. Hier setzen vielmehr
die transsubjektiven Mächte ein, die über den Erfolg unseres
Handelns entscheiden.
Nun ist es gewiß, daß der sittliche Wille an und für sich nie
durch die Rücksicht auf den Erfolg bestimmt sein kann. Nicht
einmal ein Mitbestimmungsrecht darf dieser für sich in Anspruch
nehmen; denn der sittliche Wille ist als ein solcher definiert, der
aus dem Vernunftquell entspringt und dem Vernunftgesetz gemäß
ist. Diese Bestimmung ist un\\iderruflich, und nur, insofern sie
als eine solche empfunden wird, ist der durch sie bestimmte Wille
ein sittlicher. Sobald die Rücksicht auf den Erfolg — und wäre
dieser noch so erhebend — an die Stelle des souveränen Vernunft-
gebots tritt, ist der Wille schon nicht mehr ,,rein", also auch nicht
mehr sittlich gut. Der subjektive Faktor des sittlichen Handelns
ist also durch die Souveränetät der Vernunft ein für allemal fest-
gelegt. Dieser Gedankengang ist in sich so konsequent und von
Kant so vielseitig eingeschärft worden, daß die wenigen anders
lautenden Stellen demgegenüber völUg bedeutungslos werden.
Sie sind Nachklänge einer grundsätzlich überwundenen Denkart,
wie sie uns bei allen grofJen Überwindern begegnen — nichts weitt r.
Gleichwohl liegt es im Wesen der Vernunft, nach den Folgen
des sittlichen Handelns zu fragen. Es ist dies, wie Kant sich aus-
Die Religionsphiloaiophie des AL>-ob. 6q
drückt, ein unabweisliches Vernunft bedürfnis, das man zwar sub-
jektiv unterdrücken, aber nicht objektiv ausrotten kann. Denn
erstens ist die Betrachtung der Dinge unter dem Gesichtspunkt
von Grund und Folge eine an sich der Vernunft gemäße Betrachtungs-
art. Kant hat das zwar in diesem Zusammenhange nicht aus-
drücklich eingeschärft; aber ein Gedanke vric dieser hat ihm un-
zweifelhaft vorgeschwebt, wenn er das hier obwaltende Vemunft-
interesse immer wieder so stark betont. Es ist also keinesfalls
eine Schwäche der menschlichen Vernunft, die in der Frage nach
den Folgen- des sittlichen Handelns zum Ausdruck kommt. Es
ist vielmehr gleichsam das Wesen der V^ernunft. Von einer Schwäche
würde nur dann zu reden sein, wenn das Nachdenken über die
Folgen des sittlichen Handelns auf den Grund dieses Handelns
bestimmend zurückwirkte; dieser Fall aber ist ausgeschlossen.
Nicht die Rücksicht auf die Folgen setzt den sittlichen Willen . -•
in Bewegung, sondern umgekehrt: die zum sittlichen Handeln'
drängende Vernunft bringt erst die Frage nach den Folgen in
Gang. Und hier stoßen wir auf einen zweiten Punkt, der für die
weitere Entwicklung wichtig ist. Das Beispiel der Stoiker beweist,
daß die Frage nach den Folgen des sittlichen Handelns allerdings
unterdrückt werden kann. Soweit dies zum Zweck der Rein-
erhaltung des Willens geschieht, ist eine solche Unterdrückung
ein sittlicher Akt und die erste sittliche Tat des Menschen. Aber
nicht darüber hinaus. Sobald der sittliche Wille gestählt, das
sittliche Handeln gesichert ist, ist die Frage nach den Folgen
nicht nur berechtigt, sondern selbst gewissermaßen eine sittliche
Frage. Es kann uns nach Kant gar nicht gleichgültig sein, was
aus dem sittlichen Handeln folgt, wenn dieses seiner Idee ent-
spricht; eine Gleichgültigkeit gc^en diese Frage würde nicht auf
srttliche Stärke hindeuten, sondern eher auf eine Art von Mangel
an klarer ethischer Reflexion. Denn das sittliche Prinzip ist ein
unbedingt gebietendes Vernunftprinzip. Was aber die Vernunft
gebietet, muß selbst wieder vernünftig, und was sie unbedingt
gebietet, muß demgemäß auch unbedingt vernünftig sein. Ist
aber das sittliche Handeln ein erfolgloses oder auch nur in alle
Ewigkeit fort durch unberechenbare Gegenwirkungen eingeschränkt
und dem Zufall ausgeliefert, so ist es wenigstens für unsere Ver-
nunft — und eine andere kennen wir nicht — eine Art von un-
vernünftigem Handeln. Nun läßt sich freilich der Ausweg ge-
winnen, daß unser Vertrauen zu den Forderungen jener unbedingt
70
Heinhck Scholz:
gebietenden Vernunft selbst ein unbedingtes ist. Dann gewinnen
wir den Standpunkt jenes heroischen Idealismus, der sich der im
Sittlichen durchbrechenden Vernunft mit einer Art von blindem
Vertrauen ergibt. Dieses Vertrauen ist schön; aber ein wirklich
konsequenter Rationalist, wie Kant es im höchsten Sinne ge-
vvesen ist, wird über das blinde Vertrauen auch dann hinaus-
zukommen suchen, wenn es sich auf die Vernunft bezieht. Er
wird, und durchaus mit Recht, versuchen, es in ein vernünftiges
Vertrauen zu verwandeln.
Das kann aber nur durch eine Spekulation über die Folgen
<ies sittlichen Handelns, mithin durch eine Betrachtung über die
transsubjektiven Faktoren dieses Handelns geschehen. Das Er-
gebnis diesei" Spekulation ist die Religion im Kantischen Sinne,
die ethisch fundierte Vernunftreligion.
Und zwar kann diese Spekulation eine doppelte Richtung nehmen.
Sie kann sich entweder auf das sittliche Subjekt oder auf die sitt-
liche Funktion beziehen. Bezieht sie sich auf das sittliche Sub-
jekt, so entsteht eine Welt, in der Charakter und Schicksal, sitt-
liche Kultur und Lebensgefühl — Kant sagt mit der Aufklärung
,, Glückseligkeit" — in genauem Einklang stehen, mit anderen
Worten eine Welt, in der das Gesamtbefinden des sittlichen Sub-
jektes, also das, was nicht in der Macht seines Willens steht*),
seinem Charakter und der Höhe seiner sittlichen Kultur, also dem,
was von seinem Willen abhängt, im genauesten Verhältnis ent-
spricht. Eine solche Welt ist für uns transzendent. Sie kann
nur als das Werk eines allmächtigen sittlichen Wcltschöpfers ge-
dacht werden; und das sittliche Subjekt kann sich nur unter
Voraussetzung der Unsterblichkeit als lebendiges Glied dieser
Weltordnung denken. Die eudämonistische Klangfarbe, die dieser
Gedankengang bei Kant infolge der reichlichen Verwendung des
GlückseUgkeitsmotivs unzweifelhaft angenommen hat, hat zwar
') Wie Kant sehr fein gegen die Stoiker bemerkt, freilich wiederum in der
Sprache der Aufklärung, die von Glückseligkeit spricht, wo wir heute richtiger
. Lebensgefahr* sagen. Kritik der praktischen Vernunft, S. I43f. ..Man muß
bedauern, daß die Scharfsinnigkeit dieser Männer . . . unglücklich angewandt war,
zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der
Tugend, Identität zu ergrübein." Die Konzentration des Lebcnsgefühls auf das
Selbstbewußtsein dir Tugendhaftigkeit ist und bleibt eine Reduktion, und zwar
nnc solche, die der tiefsten Erfahrung des Lebens widerspricht. Der religiöse
Verheißungsgedanke ist das mit Unrecht so oft zurückgewiesene, weil mißverstandene
Korrektiv dieser Einseitigkeit.
Die Religionsphilosciphie des Aii-ob. 7 I
von Anfang an mit Recht die Kritik der dezidierten Idealisten
hcrvorgemfeu; aber sie liegt vielleicht doch nur an der Oberfläche.
Denn die moralische Wek ist nach Kant als eine solche zu denken,
die "wir, wie Kant einmal fein bemerkt hat, auf Grund unserer
sittlichen Urteilskraft „ganz parteilos" fordern, selbst auf die
Gefahr hin, daß wir uns ihrer nicht würdig fühlen und Ursache
haben, uns von dem Genuß ihrer Güter auszuschließen.*) Es
ist also mindestens der Idee nach eine Welt, die den höchsten
sittlichen Ansprüchen genügt, mag auch der Gehalt, den Kant
ihr durch die Reflexion auf das sittliche Subjekt erteilt hat, dieser
Idee nicht angemessen sein. Man hat diesen wichtigen Unter-
schied von Anfang an nicht genügend beachtet und daher mit
Unrecht geglaubt, durch Nachweisung jenes eudämonistischen
Gehaltes die Kantische Spekulation als solche entwurzeln zu
können. Sie mag aus anderen Gründen anfechtbar sein (worüber
hier nicht zu urteilen ist): aus diesem Grunde ist sie es nicht,
wenigstens nicht im Prinzip — und darauf kommt es hier an.*)
Es ist aber auch möglich, in der Diskussion der Folgen des
sittlichen Handelns vom sitthchen Subj<kt ganz abzusehen und
sich auf die sittliche Funktion zu beschränken. So hat es Fichte
später gemacht, und bei Kant finden sich wenigstens bedeutsame
Ansätze zu einer solchen Betrachtungsart.*) Die Unbcdingtheit,
Fiiit der das Gute sich durch Vermittelung der Vernunft unserm
Willen aufdrängt, läßt dieses als höchsten WVrt erscheinen. Ist
*) Religion innerhalb, S. IX.
*) Kant bat diese Form seiner Religionskonstruktion, die einzige, die er
wirklich durchgebildet hat, bekanntlich in der Kritik der praktischen Vernunft,
als Lehre vom höchsten Gut, entwickelt; präziser und idealistischer, als moralischen
Beweis des Daseins Gottes, in § 87 der Kritik der Urteilskraft.
■) Vgl. die ausführliche und lehrreiche, aber durch übertreibenden Scharf-
sinn entstellte Arbeit von A. Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants von
der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloBcn
Vernunft, 1899, besonders S. 4iff., S. i88ff., S. 292ff.. S. 297 ff-, S. 3ioff. — Das
bjgebnis des Scbweitzerschen Buches ist die Feststellung ..des Nebeneinander«
zweier großer Gedankengänge, welche in dem . . . Verlauf der Eüitwicklung der
Kantischen Religionsphilosophie in immer schärfiren l'mrissen sich voneinander
abheben. Der erste derselben, welcher auf die generelle Betrachtungsweise an-
Kcl^ ist und die moralische Menschheit als solche zum Subjekt hat, erscheint
«ieder in der Kritik der Urteilskraft und vollendet sich in der Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft. Der zweite Gedankengang, welcher das iso-
lierte moralische Wesen zum Subjekt hat, entwickelt sich zu »einer vollen
Konsequenz und Einseitigkeit in der . . . Kritik der praktischen Vernunft" (S. 312 f.).
«2 Heiorich Scholz:
fs aber der höchste Wert, so hat es auch ein Anrecht darauf, die
höchste Macht in der Welt zu sein. Mit anderen W^orten: der
Erfolg des sittlichen Handelns, objektiv vorgestellt, kann nur
;ils die allmähhche und schließlich endgükige Überwindung
des Nichtguten durch das Gute gedacht werden. Wie man
sich diesen Prozeß nun :tuch vorstellen mag, jedenfalls ist er nur
•/u denken, wenn das Gute nicht wirkungslos geschieht; und das
sittliche Bewußtsein unrd sich sogar erst dann befriedigt fühlen,
wenn der objektive Erfolg des Guten in einem genauen Verhältnis
7X1 dem subjektiven sittlichen Kraftaufwand steht. Dieser von
Kant, wie bemerkt, nur angedeutete Gedankengang führt aber-
mals auf eine Welt, die nur als das Werk <ines allmächtigen sitt-
lichen Wcltschöpfers gedacht werden kann, und an der der sitt-
liclie Mensch ebenfalls nur als unsterbliches Wesen teilzunehmen
x'crmag.*^
') Man vgl. besonders das dritte Hauptstück der ,, Religion innerhalb", mit
der charakteristischen Überschrift: Der Sieg des guten Prinzips über das Böse und
dir Gründung eines Reiches Gottes auf Erden. Daß es sich in der Religionskon-
siruktion dieses Stückes, trotz der ersichtlichen und vielfach störenden Anlehnung
an den biblisch-christlichen Sprachgebrauch und Voi^tellungskreis, um die Aus-
fomiung tiefsinniger, aus einem echt Kantischen Interesse an der Objektivierung
des Guten entspringender Ideen handelt, kann bei genauer Betrachtung nicht
zweifelhaft sein. Das höchste Gui ist hier der mit dem Siege des guten Prinrips
iiber das Böse verknüpfte sittlich»- Idealzustand; und der Gottesglaiibe entspringt
hier ,, eigentlich . . . nur . . . aus dem Vemunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen,
welche den sittlichen Gesetzen den ganzen in einer Welt möglichen . . . Effekt ver-
schaffen kann" (S. M?)- Die Art, wie Kant aus diesem neuen Begriff des höchsten
(Jutes den Glauben an das Dasein Gottes ableitet (S. i3Qff.), ist zwar sehr mystisch
und unbestimmt, und man muß sich darüber wundem, daß Schweitzers oft über-
treibender Scharfsinn an der logischen Inzulänglichkeit dieser Ableitung keinen
.Anstoß genommen hat, sondern dieselbe ..naturlich" (S. iqi) findet und als einen
wunderbar tiefen Gedanken" preist (S. 170): indessen, das Ziel des ganzen Ge-
dankenganges ist gleichwohl durch Kant klar vorgezeichnet. ,,Weil der Mensch
t^ie mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des
liochsten Gutes . . . nicht selbst realisieren kann, ... so findet er sich zum Glauben
an die Mit»-irkung oder Veranstaltung eines moralischen Welturhcbers hingezogen,
ikodurch dieser Zweck allein möglich ist" (S. 210). Gegeben ist also (l) der Aus-
gangspunkt: die Konzeption einer moralischen Welt, in der das Gute die alles be-
herrschende Macht ist; (2) der Zielpunkt; die Erkenntnis, daß eine solche Welt
aus den Anstrengungen der sittlichen Subjekte allein nicht hervorgehen, sondern
nur durch Gott realisiert werden kann. Es bleibt also nur die unter solchen Um-
standen verhiiltnismäßig untergeordnete Frage kontrovers, warun> eine solche
Welt nur unter der Mitwirkung Gottes zustande kommen kann. Diese Frage habe
ich im Text, unter reinlicher .\uisrheidung «les für diesen Gedankengang durch
Die Religionsphilo- iphie de» Als-r)b. j -t
Religion im Kiintischcn Sinne ist Jso der auf dem Ver-
nunftinteiesse an den Folgen dos sittlichen Handelns
aufruhende Glaube an das Dasein Gottes und die mit
diesem Glauben verknüpfte Hoffnung auf Unsterblich-
keit.») F:s ist m der Anh-.ge diescT Religionskonstruktion be-
gründet, daß Gott in ihr als Vollstrecker der sittlichen Weltordnung
gedacht "wird; denn hierauf Ix-raht und hierin erschöpft sich zu-
gleich die Bedeutung seiner Existenz für das sittliche Interesse.
Der sittliche Mensch bedarf des Gottlichen nur in Hinsicht auf
das mit dem sittlichen Handeln verknüpfte Interesse an der Exi-
stenz einer sittlichen Welt; darüber hinaus hat das Dasein Gottes
für ihn keinen Wert. Entspringt aber das religiöse Interesse aus
den metaphysischen Konsequenzen des Pflichtbewußtseins und
dient das Dasein Gottes dem Zweck, diese Konsequenzen zu reali-
sieren, so liegt es nahe, beide Gesichtspunkte miteinander zu ver-
knüpfen und das höchste Wesen als ein solches zu denken, das,
indem es für die Folgen des Sittlichen einsteht, auch die Voraus-
setzung demselben, mithin das Pflichtbewußtsein, in unmittelbarer
Beziehung zu seinem Willen empfindet. Dann erscheint die Pflicht
als göttliches Gebot und Religion als eine Deutung des Sitten-
gesetzes unter dem Gesichtspunkt des Göttlichen, oder, \;^ie'Kant
sich ausgedrückt hat. als die Erkenntnis aller unserer Pflichten
als goiilicLcr Gebote.
Es ist aber wichtig, festzustellen, daß diese berühmte De-
finition als sekundär zu betrachten ist. Denn jene Deutung hat
nur dann einen Wert, wenn sie nicht als eine willkürliche, auch
"ieine Abwesenheit charakteristischen Glückseligkeitsniotivs. mit freier Verwendung
Ficbtescher Gedanken möglichst schlicht zu beantworten gesucht. Es scheint
mir ein Vorzug dieser Antwort zu sein, daß sie zugleich das Unsterblichkeitsmotiv
aufnimmt, das bei Kant schon im Titel — ..Die Gründung eines Reiches Gottes
auf Erden" — und vollends hernach in der Ausführung zu kurz kommt, während
es andererseits gleichwohl heißt daß ,,ohne Glauben an em künftiges Leben g*r
keine Religion gedacht werden kann" (S. 187). Man wird also die im Text ver-
suchte Vermittelung zwischen dem Weltreich de» Guten und den Ideen von Gott
und Unsterblichkeit nicht als one Fichtianisicrung Kants bezeichnen dürfen,
sondern höchstens als einen im Interesse der Klarlegung unternommenen Versuch,
Kant ,, besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat". Daß es ohne solche
Versuche eine über den Buchstaben hinauskomn>ende Kantauslegung nicht gibt,
darf heute als allgemein zugestanden gelten.
') Eis ist wohl kaum nötJg. ausdrücklich zu bemerken, daß Kant unter Un-
■^terblichkeit «mmer nur die Fortdauer der vernünftigen Persönlichkeit versteht
(Kritik der praktischen Vernunft, S. 156).
-A Heinrich ScboU:
nicht als eint- auf d<r hloßtn Lebhaftigkeit der sittlichen Emp-
findung beruhende, sondern als eine objektiv Ix-gründete, im
Dasein Gottes wurzelnde erscheint.^) Es ist ein Mißverständnis
Kants, wenn man sagt: Wir glauben im Kantischen Sinne an
Gott, um ein Wesen zu haben, auf das wir unsere Pflichten bt-
/ieh<n können. Das l^mgckehrte ist der Fall ; wir Inziehen nach
Kant unsere Pflichten auf Gott, weil wir Ursache haben, von
seiner Existenz iibirzxugt zu sein. Diese Ursach<- aber liegt nach
Kant in der metaphysischen Struktur der aus dem Pflichtbewußt-
sein gefolgerten sittlichen Weltanschauung.
Es ist eine Eigentümlichkeit dieser Welt, nschauung, da.ß sie
nur unter gewissen metaphysischen \'orausset Zungen konsequent
zu Ende gedacht werd< n kann. l)u- Anerkennung riieser Voraus-
s<-tzurTgen, genau gesprochen die Ül)erzeugung von ihrer Realität,
ist di:T eigentliche Gehalt der Kantischen Religion. Religion
im Kantischen Sinne ist demnach der durch die met;-
physischen Konsequenzen der sittlichen Weltanschauung
geforderte Vernunft glaube an das Dasein (iottes und die
mit diesem Glauben verknüpftt- Hoffnung .aif l'nsterb-
lichkeit.
Sie ist ihrem Gehalt nach Glauln ..n dv.s Dasein Gottes,
wie Kant es nicht nur in der Kritik der praktischen Vi rnunfl,
sondern auch in der Kniik der Uneilskraft ausdrücklich aus-
gesprochen hat.*) l\nn nur wenn (^lott ist, kann die sittliche
Weltordnung wirklich w<rden. D.iß sie is .ib<^r werde, ist für
die Vernunft \on fler größten Wichtigkeit ; denn wenn wir nicht
auf sie rechmn dürlen. so ist d« r sittliclu Idealismus zwar immer
'; Die gtligeiiüichr Abltitimg dei Kelipm aus dem iiictaphysi>chen Charakter
der Pflichteiupfiiidung. aii.statt aus den nietaphv«i5chtn Konsequenzen derselben
(t. B. KritiW der Urteilskraft ^ Hh Anm.). i*t eine niethf>di5ch iinj^enaue, sachlich
nichts bedeutende Verkürzung des echten Kantischen Gedankenganges.
*) Kritik der praktischen Vernunft, S. 158: Das Dasein Gottes als ein Postulat
der reinen Vernunft. Kritik der Urteilskraft, § S7: Von dem moralischen Beweise
für das Dasein Gottes. Vgl. auch folgende Stellen aus der durch ihre Klarheit aus-
gezeichneten .Abhandlung von 1786: Was heifJt: sich im Denken orientieren? ..Drr
Bejriff von Gott und "^elb<t die l'T>er7.eugung von seinem Dasein kann nur allein
in der Vcniur'i angetrofi»n werden." f Kleine Schriften. II. 157.) ..Wenn der
Vernunft m machen, weicht übersinnliche Gegenstande betreffen, als das Dasein
(iottes und du künftige Welt, das ihr zustehende Recht, zuerst zu sprechen, be-
striiuii wird, M' i^t aller "ch^jrmerei . . eine weite Pforte geöffnet."
Die RclipoDsphilosophie des AU-ol . re
noth ein«, orhabtne Gesinnung, alxr im ticfst-n Grunde doch
schließlich ein ziel- und aussichtsloses Streben. M
Der Form nach ist die Kantische Religion das Ergebnis einer
ethischen Spekulation. Sie ist. trotz Vaihiir^er, der das Gegen-
teil behaupte. t *), in ihrer originalen und konsequenten Gestalt
ein theoretischer Schluß aus p/aktischen Prämissen. Kant selber
hat sich darüber im 85. Paragraphen der Kritik der Urteilskraft
mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit ausgedrücki. ,,Die
) Vgl. die Exemplifikation auf Spinoza, am Schluß des § S7 der Kritik der
l rteibkraft (S. 427 f.): ,,\Vir können . . . einen rechtschaffenen Mann (wie et^a
den Spinoza) annehmen, der sich fest überredet halt, es sei kein Gott und . . .
auch kein künftiges Leben; wie wird er seine eigene innere Zweckbestimmung durch
das moralische Gesetz, v^elrhes er tutig verehrt, beurteilen? Er verlangt von Be-
folgung desselben für sich keinen Vorteil, weder in die-scr noch in einer anderen
Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz
allen seinen Kräften die Richtung <jibt. Aber sein Bestreben ist begrenzt, txnd
von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber
eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln . . . eintreffende Zusammenstimmung
zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und an-
getrieben fühlt. . . . Den Zweck also, den dieser Wohlgesinnte in Befolgung der
moralischen Gesetze vor .\ugen hatte und haben sollte, müßte er allerdings als
unmöglich aufgeben: oder will er auch hierin dem Rufe seiner sittliche!) inneren
Bestimmung anhänglich bleiben und die Achtung, welche das «ittliche
(iesetz ihm unmittelbar zum fJehorchen einflößt, nicht durch die
Nichtigkeit des einzigen, ihrer hohen Forderung angemessenen idea-
iischen Endzwecks schwächen (welches ohne einen der moralischen
Gesinnung widerfahrenden Abbruch nicht geschehen kann), so muß
ir . . . das Dasein eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes annehmen."
*) Philosophie des Als-ob, S. 681 : ,,Der erhte und eigentliche Kantische Kriti-
zismus zieht überhaupt keine theoretischen Schlüsse, sondern lehrt: Du mußt so
handeln, als ob es einen Gott usw gäbe." — Noch schärfer S. 742: ,,Nach dem
N'ulgärkantianismus ist Kants moralischer Gottesbeweis ein theoretischer Schluß
aus moralischen Tatsachen, während der echte Kritizismus den moralischen Gottes-
beweis so versteht: Wer nach dem kategorischen Imperativ handelt, handelt so,
als ob die Pflicht Gebot eines Gottes wäre; er glaubt also in diesem Sinne an Gott,
und das moralische Handeln ist in diesem Sinne ein Gottesbeweis." — Es ist schwer,
sich diese moralische .Dtmonstratior gegen das Da."-ein (iottis' als iine Form
des moralischen Gottesbeweises verstandlich zu machen. Soweit ich sehe, hat
Kant (im Einklang mit dem natürlichen Sprachgebrauch) unter einem Gottes-
beweis nie etwas anderes verstanden als einen Beweis für das Dasein Gotte«. So
nötig es ist, zwischen Kant und dem Kantiani.^mus zu unterscheiden: hier ist
diese Unterscheidung nirlit anfjebratht: und man kunnte \ulleicht mit n >rh besserem
Kechte. als Vaihinger. der der von ihm verteidigten Gottesfiktion den Charakter
eines Gottesbeweises beilegt, diese Art von Gottesbeweisen als offenbare
Fiktionen betrachten
76 Heinrich Scholz:
Physikothcologic", so heii3t es daselbst, ,,ist der Versuch der Ver-
nunft, aus den Zwecken der Natur auf die oberste Ursache der
Natur und ihre Eigenschaften zu schließen. Eine Moraltheologie
wäre der Versuch, aus dem moralischen Zwecke vernünftiger Wesen
in der Natur auf jene Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen.**
Genau genommen, handelt es sich sogar um einen doppelten Schluß,
nämhch erstens aus der Eigemirt des Guten auf die Beschaffenheit
der ihm zukommenden Folgen; zweitens aus der Eigenart dieser
Folgen auf das Dasein und die Beschaffenheit Gottes, sowie auf
die zum persönlichen Anteil an dem durch ihn gestifteten ,, Gottes-
reich*' erforderliche UnstL-rbliclikcit.
Der Hebel dieser Religion ist nicht eigentlich ein Wunsch,
auch nicht ein sogenannter frommer Wunsch, sondern, wie Kant
sich ausdrückt, ein Vernunftbedürfnis, d. h. eine aus dem Vernunft-
interesse entspringende Forderung von ganz eigener Qualität und
Bedeutsamkeit.*' In Hinsicht auf diesen Ursprung heißen die
Realitäten der Kantischen Religion Postulate. Sie sollen dadurch
nicht zu bloßen Ideen, noch weniger zu Fiktionen herabgestimmt
werden. Denn ,, bloße Ideen" sind sie schon unter dem Gesichts-
punkt der logischen Spekulation; und wenn sie durch diese ,, wider-
legt" werden könnten, so gäbe es überhaupt keine Religionsphilo-
sophie im Kantischen Sinne. Sondern indem sie als Postulate
bezeichnet werden, soll damit lediglich der Grund angegelxn
werden, warum wir von der Realität dieser ,, Ideen" überzeugt
sind oder überzeugt zu sein Ursache haben; .ibcr es ist nicht daran
zu denken, daß sie selbst diese Realität vertreten oder zu ihrer
Erzeugung dienen. Sie sind Dascinsforderungen, nicht Daseins-
schöpfungen; und nirgends ist Kant so unkritisch gewesen,
die Daseinsforderung als solche mit einem Dascinsbeweis zu
verwechseln. Diese Verwechslung ist vielmehr eine Tat des Kan-
tianismus, an welcher Kant selbst unschuldig ist. Hier ist der
Punkt, wo es nötig wird, zwischen Kant und dem Kantianismus
genau zu unterscheiden und eine scharfe Grenze zwischen beiden
zu ziehen. Kant hat gewußt und keinen Zweifel daran gelassen,
daß das Dasein immer etw.ts Gegebenes ist, also etwas von unserer
Vernunft in 5<>inem Bestände völlig Unabhängiges. Ej hat ge-
M Vgl. den Abschnitt der Kritik der praktischen Vernunft, der überschrieben
ist: Vom Fur*ahrhaltcn aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft (S. 180 ff.).
Hier wird das sittlich fimdierte \ernunftbediirfnis ausdrücklich vom bloßen Wunsch
unterschieden 'S \Si).
Die Religionsphilosophie des Ab-ob. 77
wüßt, daß sittliche Dcnknotwendigkeittn ebensowenig wie logische
jtnials etwas zu erschaffen vermögen, was nicht unabhängig von
(inserm Denken für sich besteht. Die ganze Energie seines kri-
tischen Realismus wirkt hier in die Religionsphilosophie hin-
über.^)
Der Vorzug, den die praktische Vernunft vor der theoretischen
\oraus hat, besteht also nicht etwa darin, daß sie durch ihre Postu-
l.ite etwas ins Dasein zu rufen vermag, was für die theoretische
Vernunft nicht existiert, sondern darin, und darin allein, ist dieser
\orzug zu suchen, daß sie eine Wirklichkeitserwartung be-
gründet, die die theoretische Vernunft als solche nicht zu erzeugen
vermag. Sie tut das, indem sie den Glauben an Gott, den die
logische Spekulation nie über die Stufe einer H^-pothese, und rwar
« iner unsicheren und entbehrlichen Hypothese, zu erheben vermag,
in eine Art von sittlicher Denknotwendigkeit verwandelt und
dadurch aus der Sphäre der Unsicherheit und Entbehrlichkeit
heraushebt. Wenn wir sagen: Die praktische Vernunft verwandelt
den Gottesglauben in eine Art von sittlicher Denknotwendigkeit,
so soll damit ein Doppeltes zum Ausdruck gebracht werden.
Erstens noch einmal: Diese Denknotwendigkeit ist nicht von
der Art, daß sie das Pflichtbewußtsein als solches berührte. Der
gute Wille muß jeden Einfluß dieser Spekulation, so begründet
') Vaihingen drückt dieses realistische Ergebnis des Kritizismus mustci-
haft aus, wenn er sagt: ..Man kann den tiefsten Unterschied des Kritizismus Kants
vom Dogmatismus so formulieren: Kant hat im Gegensatze zum rationalistischen
Dogmatismus gelehrt: Was notwendig gedacht werden muß. darf darum doch noch
nicht für existierend ausgegeben werden; oder: Notwendigkeit des Gedachtwerdens
schließt nicht Notwendigkeit des Existierens ein." (Kant ein Metaphj'siker ? In
der Sigwartfestschrift, 1901, S. 145.) — Man kann und muß aber zur Ergänzung
hinzufügen: Was (aus logischen und) ethischen Gründen notwendig als existierend
gedacht werden muß, dessen Existenz rückt auf die höchste uns zugängliche Stufe
der Glaubhaftigkeit empor. Durch diesen Zusatz unterscheidet sich der kritische
Positivismus Kants von dem absoluten Positivismus Comtes und des 19. Jahr-
hunderts. Kant und Comte stimmen darin überein, daß sie das Wirkliche mit
dem Gegebenen zusammenfallen lassen; aber während Comte und der eigentliclie
Positivismus das Wirkliche mit dem natürlich Gegebenen identifiziert, läßt Kant
ausdrücklich die Möglichkeit offen, daß der Umfang des Wirklichen über die Sphäre
des natürlich Gegebenen hinausreicht. Gleichzeitig gibt er die Gründe an, die
eine solche Erweiterung des Wirklichkeitsbegriffs veranlassen, und nennt die Kri-
terien, die es der Vernunft ermöglichen, zu diesem erweiterten Wirklichkeitsbegriff
wenigstens indirekt Stellung zu nehmen.
78 Heinrich Schob:
sie auch stin mag, auf sein Zustandekommen ablehnen, weil er
sonst nicht mehr „rein", also auch nicht mehr gut sein würde.*)
Zweitens ist diese Spekulation auch insofern nicht absolut, als
die ihr innewohnende Denknotwendigkeit nur vom Standpunkt
unserer Vernunft aus ersichthch ist. Es könnte sein, daß eine
absolute Vernunft eine andere Lösung bereitstellen kann. In-
dessen, eine solche kennen wir nicht und sind daher auch nicht
in der Lage, von dieser Möglichkeit praktisch Gebrauch zu
machen.
Es ist also freihch im strengsten Sinne ein Vertrauensurteil,
das hier gefällt wird. Aber es ist ein Vertrauensurteil auf der
ausgezeichnetsten Grundlage. Unser Glaube an Gott ist eigentlich
nichts anderes als ein zur Konsequenz erhobener Ausdruck des
Glaubens an die metaphysische Bedeutung der praktischen Ver-
nunft — eines Glaubens, der uns durch die übersinnliche Qualität
und den kategorischen Charakter dieser Vernunft gleichsam ab-
genötigt wird. Wenn ein in hypothetischen Spekulationen be-
stehender Glaube in religiöser Hinsicht mit Recht als unzulänglich
empfunden wird, ja als unbegründet bezeichnet werden darf, so
ist ein auf ethische Postulate gestützter Glaube um so besser be-
gründet. Ja, er ist der bestbegründete, der bei der Krintischen
Schätzung des Sittlichen überhaupt gedacht werden kann. Ein
Irrtum kann er trotzdem sein, wenn nämlich Gott nicht existiert;
aber da es ein unmittelbares Verfahren, sich von der Existenz
oder Nichtexistenz eines höchsten Wesens zu überzeugen, nicht
gibt, so bleibt nur der Ausweg, die Gründe zu prüfen, die für oder
^) Hier tritt eine Spannung ein. die Kant nicht völlig zu lösen vermocht hat.
Zwar daß der gute Wille von jener Spekulation, falls sie lutrifft, das heißt, falls
die durch sie geforderten Realitäten wirklich sind, nicht beeinflußt werden darf,
ohne an seiner Reinheit Schaden zu nehmen, ist wohl zu begreifen, da jene Rea-
litäten ja so gedacht sind, daß die mit ihnen verknüpften Güter nur dem Subjekt
des reinen Willens zuteil werden. Aber daß jene Spekulationen auch in dem Falle,
daß sie nichts bedeuten, dem sittlichen Willen nichts anhaben sollen, ist schwer
zu verstehen. Denn wenn das sittliche Streben zwar einerseits unbedingt geboten,
andererseits aber in Hinsicht auf seinen objektiven Erfolg völlig dem Spiel des
Zufjüls unterworfen ist, so entsteht ein Konflikt, an dem nicht etwa die Sentimen-
talität, sondern gerade der sittlich ertüchtigte Mensch sich innerlich zerreiben kann.
Darum hat Fichte den Vorsehungsglauben — den Glauben, daß nichts Gutes
vergeblich geschehe — in das sittliche Handeln einbezogen und mit diesem analytisch
verknüpft. Er hat damit eine Tat getan, die eine von Kant hintcrlassene Lücke
im Smne des edelsten Idealismus konsequent und charaktervoll ausfüllt.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. jq
gegen eine solche Annahme sprechen.^) Hierbei zeigt es sich,
daß die Gründe, die für eine solche Annahme in Betracht kommen,
moralische Gründe erster Ordnung sind. Der Gottesglaube in dieser
Gestalt ist also, um mit Leibniz zu sprechen, ein phaenomenon
bene, ja opiime fundatum.
Aber wenn auch die Postulate nie das Dasein selbst erzeugen,
sondern nur den Daseins glauben begründen können — einen
Glauben, der gegen die Möglichkeit des Irrtums nie völlig sicher-
zustellen ist — , so ist es andererseits ebenso nötig, zu betonen
daß es ein Daseinsglaube ist, der durch diese Postulate begründet
wird. Freilich ist Gott nicht, weil wir ihn denken müssen, auch
nicht, weil seine Existenz zur Realisierung gewisser sittlich be-
gründeter Denkinhalte erforderlich ist; aber er muß sein, wenn
anders die durch das sittliche Denken in Aussicht genommene
moralische Welt ihrerseits wirkhch werden soll. Denn das ist der
Sinn des Postulates; es fordert das Dasein eines Wesens, dessen
Wirklichkeit dafür einsteht und allein dafür einstehen kann, daß
der von der Anspannung unseres Willens unabhängige Koeffizient
der morahschen Welt und damit zugleich diese selbst wirklich wird.
Kant unterscheidet hier sehr genau zwischen Ideal und Wirk-
lichkeit. Unter Voraussetzung des Daseins Gottes ist die mora-
lische Welt ,, nicht mehr bloße Idee", sondern sie erhält dadurch
,, wahre Realität".^) Oder, wie es ein andermal von der Statu-
ierung des Göttlichen heißt: sie dient dazu, ,,um dem Begriffe
^) Vß!- liierzu die erleuchtenden Worte aus der Vorrede der Kritik der prak-
tischen Vernunft: ,,Es wäre allerdings befriedigender für unsere spekulative Ver-
nunft, ohne diesen Umschweif jene Aufgaben für sich aufzulösen und sie als Ein-
sicht zum praktischen Gebrauche aufzubewahren; allein es ist nun einmal mit
unserem Vermögen der Spekulation nicht so gut bestellt." (S. 5.) — An die Stelle
der direkten religiösen Orientierung, die un^ nach den Prinzipien des Kritizismus
versagt ist und auf Grund der Struktur des menschlichen Geistes immer versagt
bleiben wird, muß also der Versuch einer indirekten Orientierung treten; und
es ist das doppelte, bei dieser Problemlage nicht hoch genug zu schätzende Ver-
dienst des Kritizismus, diesen Versuch nicht nur gewagt, sondern, durch Bezug
auf die Konsequenzen der praktischen Vernunft, auf eine sichere methodische
Grundlage gestellt zu haben. In diesem Versuch einer in direkten religiösen
Orientierung tritt nicht nur das religiöse Interesse Kants, sondern auch der tief-
greifende Artunterschied zwischen Kritizismus und Agnostizismus zutage. Der
Agnostizismus leitet aus der Unmöglichkeit einer direkten Stellungnahme zum
religiösen Problem im Gegensatze zum Kritizismus erstens (theoretisch) die re-
ligionsphilosophische Skepsis, zweitens (praktisch) den religiösen Indifferensismus ab.
^) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 66.
3o Heinrich Scholz:
vom höchsten Gut objektive Realität zu geben, d. i. zu ver-
hindern, daß es zusamt der ganzen Sitthchkeit nicht bloß für ein
bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existierte,
dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet". i)
Man drückt sich also nicht richtig aus, wenn man sagt: Re-
ligion, im Kantischen Sinne, ist die Anerkennung der Gottes-
idee. Sie ist nicht Anerkennung einer Idee, sondern Glaube
an das Dasein Gottes, oder, wie Kant sich auch ausgedrückt
hat, .an die objektive Realität des Göttlichen. Zwar versteht es
sich von selbst, daß das Göttliche unmittelbar nur als Idee
gegeben ist — als Idee, d. h. als ein Begriff, dem man ,,die ob-
jektive Realität theoretisch nicht sichern kann".^) Aber gerade
darin besteht die eigentümliche Leistung der ethisch fundierten
Spekulation, daß sie über diese unmittelbare, rein ideelle Ge-
gebenheit des Göttlichen hinausführt, indem sie Gründe aufweist,
die uns berechtigen, von der mehr-als-idcellen Gegebenheit
des Göttlichen, von seiner objektiven Realität überzeugt zu sein.
Nicht als ob durch diese Gründe das Göttliche selbst zu objek-
tiver Realität ,, erhoben" werden könnte. Entweder besitzt es
diese Realität unabhängig von allen unseren Spekulationen, oder
es wird sie durch keine dieser Spekulationen erlangen. Wohl aber
wird, in Ermangelung jeder Möglichkeit, sich vom Dasein oder
Nichtsein des Göttlichen durch unmittelbare Anschauung zu über-
zeugen, die Stellung zu dieser wichtigen Frage durch die Ergebnisse
der ethischen Spekulation wenigstens indirekt so weit geregelt,
daß eine Entscheidung zugunsten des Daseins Gottes mit guten
Gründen erfolgen kann. Der nachdenkende sittliche Mensch
muß sich gleichsam für dieses Dasein entscheiden, er ,,muß"
die Gottesidee ,,als real anerkennen", ,,um nicht mit sich selbst
in Widerspruch zu kommen".^)
') Was heißt: sich im Denken orientieren? (Kleine Schriften, II, 154.) —
Man sieht aus diesen beiden Stellen, namentlich aber aus der letzten, was als das
Gegenstück dieser objektiven Realität zu denken ist. Es ist die ideelle, gedanken-
hafte Realität, die eigentlich gar nicht Realität heißen sollte, das scholastische
Esse in iniellectu, im Gegensatz zum Esse in re. Die objektive Realität, von der
hier die Rede ist, ist also eine reelle Objektivität — ich glaube, diese Auffassung
behaupten zu müssen auch gegen die Kantauslegung der Marburger Schule, die
hierin einen Rest von unüberwundenem Dogmatismus erblicken wird.
0 Kritik der Urteilskraft, S. 459.
=) Kritik der Urteilskraft^ S. 461, Anm. Schluß.
Die Religionsphilosophie des Als-ob, g I
Hierauf also beruht der Vorzug der ethisch fundierten Speku-
lation vor der logischen, daß sie eine metaphysische Entscheidung
ermöglicht, die die logische Spekulation für sich allein nicht herbei-
zuführen vermag. Sie begründet das metaphysische Existential-
urteil: Gott ist; denn daß es möglich ist, daß Gott existiert,
muß auch der reine Logiker zugeben. Und zwar nicht nur aus
dem mageren Grunde, weil er das Gegenteil nicht beweisen kann.
Kant hat für die Gotteshypothese auch eine Art von theoretischer
Deduktion geliefert. Der Nerv dieser eigentümlichen Deduktion
liegt in einer ungemein tiefsinnigen Betrachtung über das Ver-
hältnis der Wirklichkeit zu unserm Verstände.
Es handelt sich dabei um folgenden Gedankengang. Daß
uns die Wirklichkeit an und für sich in begreiflicher Form ge-
geben sein muß, um überhaupt erkannt zu werden, ist nach Kants
Erkenntnistheorie aus dem Begriff der Erkenntnis a priori ab-
zuleiten. Wir würden von der Welt überhaupt nichts wissen,
wenn sie nicht in die anschauHchen und intellektuellen Auffassungs-
formen unseres Geistes einginge. Und wir wissen von ihr auch
nur soviel, als uns in diesen Formen von ihrem Wesen ,, erscheint".
Darum kennen wir sie einerseits nur als ,, Erscheinung"; anderer-
seits sind wir imstande, zu behaupten, daß sie die Formen unseres
Geistes annehmen muß, sofern wir sie als ,, Erscheinung", d. i.
als Gegenstand unseres Bewußtseins denken.
Indessen, die Welt, mit der wir es im Erkennen zu tun haben,
ist nicht nur in diesem allgemeinsten Sinne begreiflich. Sie ent-
spricht nicht nur den auf Begreiflichkeit überhaupt gerichteten
Mindestforderungen unseres Verstandes, sondern ist uns auf eine
Weise gegeben, die über die allgemeine BegreifHchkeit hinaus-
reicht und un3 befähigt, sie nicht nur in isolierten Einzelerkennt-
nissen, sondern in einem Erkenntnissystem zu erfassen. Dadurch
erst sind wir instand gesetzt, uns in der Welt zu orientieren und
diejenige Erkenntnisstufe zu erreichen, die uns zur Weltbeherr-
schung verhilft, und die wir tatsächlich überall meinen, wo von
Erkenntnis die Rede ist. Die vom Verstände a priori geforderte
Welt könnte trotz ihrer Gesetzlichkeit doch insofern anarchisch
sein, als zwar jeder Einzelfall auf das genaueste determiniert, aber
zugleich so für sich geregelt wäre, daß wir zwar eine unübersehbare
Zahl von Einzelregeln, aber keine eigentlichen Gesetze, also keine
Regeln für eine beliebige Zahl von gleichartigen Fällen, aufstellen
könnten. Denken wir uns diesen Zustand verwirklicht, so würden
Annalen der Philosophie. I. 6
g2 Heinrich Scholz:
wir, bei aller prinzipiellen Begreiflichkeit der Welt, auf einen pro-
duktiven Gebrauch unseres Verstandes verzichten müssen. Oder,
um mit Kant selbst zu sprechen: ,,Wäre unter den Erscheinungen,
die sich uns darbieten, eine so große Verschiedenheit . . ., daß
auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vcrgleichung
der einen mit der anderen nicht die mindeste Ähnlichkeit aus-
findig machen könnte (ein Fall, der sich wohl denken läßt), so
würde ... sogar kein Verstand stattfinden."^) Umgekehrt ist
die ,, größte systematische . . . Einheit" die ,, Schule, und selbst
die Grundlage der Möglichkeit des größten Gebrauchs
der Menschenvernunft. Die Idee derselben ist also mit dem
Wesen unserer Vernunft unzertrennlich verbunden".^)
Nun ist uns die Welt in der Tat so gegeben, daß unser Ver-
stand sie nicht nur überhaupt begreifen, sondern sich in ihr orien-
tieren, also sie übersehen kann. Das heißt: sie steht zu unserm
Verstand in einem Verhältnis, das wir nur als zweckmäßig be-
zeichnen können. In dieser Hinsicht dürfen wir sie also als eine
Art von objektivem Vernunftsystem betrachten, folglich auch als
das Werk einer Intelligenz, die sie — zwar nicht auf unsern Nutzen,
wie die Teleologie der Aufklärungsmetaphysik gelehrt hatte —
wohl aber auf unsern Verstand hin geschaffen hat.
Eine ,, Erkenntnis" ist das freilich nicht — zu einer solchen
fehlt ihr der unerläßliche objektive Koeffizient, nämlich die an-
schauliche Gegebenheit des Göttlichen; wohl aber haben wir es
hier mit einer berechtigten, zum mindesten mit einer erlaubten
Hypothese zu tun. Die Idee einer solchen Welt ist in Hinsicht
auf den uns zustehenden produktiven Verstandesgebrauch für
uns geradezu ,, gesetzgebend; und so ist es sehr natürlich, eine
ihr korrespondierende gesetzgebende Vernunft . . . anzunehmen,
von der alle systematische Einheit der Natur . . . abzuleiten sei".^)
Wir dürfen also von der Idee eines höchsten Wesens ,,in der
vernünftigen Weltbetrachtung Gebrauch machen"; und
es darf hinzugefügt werden, daß diese Idee auf einen solchen
Gebrauch eigentlich angelegt zu sein scheint.^) Fragt man also:
,,ob es etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund
der Wcltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen
') Kritik der reinen Vernunft, S. 68if.
-) Kritik der reinen Vernunft, S. 722 f.
-) Kritik der reinen Vernunft^ S. 723.
*) Kritik der reinen Vernunft, S. 726 Ende.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 3^
Gesetzen enthalte, so ist die Antwort: ohne Zweifel".^) Nur
darf nicht vergessen werden, daß diese Antwort noch kein ,, Beweis"
für das Dasein Gottes ist. Denn sie stützt sich zwar auf die ,, syste-
matische und zweckmäßige Ordnung des Weltbaues", ist also
,,r espektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz
gegründet. Wollten wir ihr aber schlechthin objektive Gültig-
keit erteilen, so würden wir vergessen, daß es lediglich ein
Wesen in der Idee ist, das wir denken" und dem wir das Dasein
zuerkennen; wir würden also aus dem Kritizismus in den Dogma-
tismus zurückfallen.^)
Indessen, auch diese tiefsinnig begründete Annahme eines
Göttlichen aus theoretischen Gründen reicht nach Kant noch
nicht hin, um den Vernunftglauben an sein Dasein hinreichend
zu fundieren. Denn es fehlt ihr die eigentümliche, der Möglichkeit
eines Andersdenkens entrückte Notwendigkeit, die sie haben müßte,
um einer solchen Anforderung zu genügen. Die Kongruenz zwischen
der homogenen Beschaffenheit des Wirklichen und den Postulaten
^) Kritik der reinen Vernunft, S. 724 Anfang.
*) Kritik der reinen Vernunft, S. 726. — Es wird kaum erforderlich sein, zu
bemerken, wie nahe sich diese Erinnerung an die Spuren einer theoretischen Meta-
physik auf der Basis des Kritizismus mit Paulsens Kantauffassung berührt. Ich
bin genötigt, Paulsens Abhandlung über Kants Verhältnis zur Metaphysik, 1900,
in Kombination mit den überaus feinen Einschränkungen Vai hingers (Kant —
ein Metaphysiker ? Sigwart-Festschrift, 1900), die ich mir völlig aneignen kann,
für eine der lehrreichsten Korrekturen der üblichen Kantauslegung zu halten. Die
herrschende Auffassung, wonach diese metaphysischen Spuren Reste eines vor-
kritischen Denkens sind, ist m. E. nicht aufrecht zu erhalten. Kant hat wirklich
die Idee einer konstruktiven Metaphysik auf kritischer Grundlage konzipiert, wenn
er sie auch nie zur Ausführung gebracht und in gewissen Augenblicken, aus Rück-
sicht auf die Gefahren eines neuen Dogmatismus, selbst zurückgenommen hat.
In Hinsicht auf das Ideal einer solchen Metaphysik sind die großen Nachkantianer
die echten Erben des Kantischen Geistes gewesen, so sehr sie auch in der Methode
gefehlt haben mögen; und noch immer können sich diejenigen auf Kant berufen,
die eine kritische Metaphysik des Geistes erwarten. Eine solche Metaphysik
wäre gleichsam der Text zu dem schönen und tiefsinnigen Worte Kants: ,,Die
Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit dem-
jenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig
halten würden, nämlich dem moralischen . . . zusammenstimmen soll." (Kritik
der reinen Vernunft, S. 843 f.) Setzt man an die Stelle des moralischen den pro-
duktiven Vernunftgebrauch — und der moralische Vemunftgebrauch ist ja doch
nur (nach Kantischer Auffassung, der man nicht unbedingt zuzustimmen braucht)
die höchste Form des produktiven — , so gibt es vielleicht kein schöneres Vorwort
zu einer kritischen Metaphysik des Geistes als dieses.
6*
§4 Heinrich Scholz:
unseres Verstandes kann sich vielleicht auch anders erklären,
sie kann vielleicht auch auf „Zufall" beruhen; und vor allem:
eine unbedingte Nötigung, sich über diesen Zusammenhang
Gedanken zu machen, liegt nicht vor. Ein auf solchen Voraus-
setzungen auf ruhender Vernunftglaube kann also ,,zwar noch mit
starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen
sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müßte, unterstützt
werden".^)
Wenn es sich aber so verhält, so kann der angestrebte Ver-
nunftglaube erst recht nicht mit einem so mageren Ausweis wie
der Tatsache seiner Unwiderleglichkeit vor dem Richterstuhl des
Kritizismus bestehen. Ein Glaube, der lediglich deshalb geglaubt
wird, weil er nicht widerlegt werden kann, der die Wirklichkeit
Gottes nur deshalb annimmt, weil sie nicht unmöglich ist, ver-
dient unter dem Gesichtspunkt des Kritizismus überhaupt nicht
ernst genommen zu werden. Für die Ansprüche, die an die Posi-
tionen eines solchen Glaubens zu stellen sind, genügt es durchaus
nicht, ,,daß kein positives Hindernis dawider ist; und es kann
uns nicht erlaubt sein, Gedankenwesen, welche alle unsere Be-
griffe übersteigen . . ., auf bloßen Kredit der ihr Geschäft gern
vollendenden spekulativen Vernunft als wirkliche und bestimmte
Gegenstände einzuführen".^) Nein, der erstrebte Glaube muß so
beschaffen sein, daß er, nachdem er aufgehört hat, sich als ein
^) Kritik der reinen Vernunft, S. 857.
*) Kritik der reinen Vernunft, S. 701. — Es ist mir selbstverständlich nicht
unbekannt, daß Kant sich über diesen kritischen Punkt vielfach auch lässiger
ausgedrückt und dadurch selbst den Anschein erweckt hat, als ob der von ihm
erstrebte Vernunftglaube sich wesentlich auf das negative Bewußtsein seiner Un-
widerleglichkeit gründe. Indessen, es verhält sich mit diesem Schein nicht anders,
als mit der qualitativ verwandten, nur noch ärgeren Behauptung, daß nach Kant
das subjektive Bedürfnis nach Gott der Beweis für das Dasein Gottes sei. Eine
größere Irrung ist nicht leicht denkbar; dennoch taucht sie in gröberen oder feineren
Gestalten immer wieder auf, meistens dann freilich mit einer vernichtenden Kritik,
die ebenso gerecht wie — unbillig ist. Ich bemerke an dieser Stelle noch einmal,
daß meine Darstellung nichts anderes beabsichtigt, als die Religionsphilosophie
des Kritizismus in ihrer reifsten Gestalt zur Anschauung zu bringen,
und daß eine etwa zu erwartende Kritik, auf die jeder Versuch dieser Art gefaßt
sein muß, sich an diesem Ziel zu orientieren haben würde. Mit dem bloßen Zu-
geständnis, daß Kant gelegentlich auch so gedacht habe, wie ich es hier darstelle,
würde mir nicht geholfen sein.
Die Religionspbilosophie des Als-ob. gc
Wissen zu gebärden, dennoch eine Sprache zu sprechen vermag,
die vor der schärfsten Vernunft gerechtfertigt werden kann.^)
Das kann er aber nur, wenn er sich auf Tatsachen gründet,
also nicht nur von dem Bewußtsein seiner Möghchkeit lebt. ,,Auf
Tatsache muß sich alles Fürwahrhalten . . . gründen, wenn es
nicht völlig grundlos sein soll."^) Und zwar muß es im strengsten
Sinne eine metaphysische Tatsache sein; denn nur aus ihr können
die metaphysischen Konsequenzen gezogen werden, aus denen die
Religion besteht. Hier wird erst ganz klar, warum die tiefsinnige
Spekulation über die logische Struktur des Weltgefüges zur vollen
Begründung eines probehaltigen Vernunftglaubens doch schließlich
nicht ausreicht; der Schluß von logischen Tatsachen auf meta-
physische Realitäten ist unter dem Gesichtspunkt des Kritizismus
nicht bindend genug. Er ist noch immer der ,, Zweifelsucht" aus-
gesetzt. Im strengsten Sinne kann nur aus metaphysischen Tat-
sachen auf metaphysische Realitäten geschlossen werden. Eine
solche Tatsache ist nun, wie Kant oft genug wiederholt hat, die
Freiheit. Sie ist ,,die einzige unter allen Ideen der reinen Ver-
nunft, deren Gegenstand Tatsache ist und unter die scibiUa ge-
rechnet werden muß".^) Darum also, weil sie, obschon über-
sinnlich, dennoch zugleich, als moralisches Phänomen, eine un-
umstößliche Tatsache ist, dürfen Schlüsse aus ihr gezogen werden,
die selbst ins Übersinnliche hinausreichen.*)
^) Man erinnere sich hier an die wichtige, aber selten hinreichend beachtete
Ergänzung des berühmten Satzes von der Aufhebung des Wissens durch den Glauben
(Kritik der reinen Vernunft, S. XXX der Vorrede zur zweiten Auflage). Diese
Ergänzung besteht in der Forderung eines Glaubens, der dem Wissen an Qualität
nicht nachsteht. ,,Das, was hierbei streitig wird, ist nicht die Sache, sondern
der Ton. Denn es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Ver-
nunft gerechtfertigte Sprache emes festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich
die des Wissens habt aufgeben müssen." (Kritik der reinen Vernunft, S. 772f-)
Der Kantische Glaube hat mit dem Wissen gemein, daß er, gleich diesem, eine
Vernunftschöpfung ist. Nur innerhalb dieses gemeinsamen Quellgebietes be-
deutet der Übergang vom Wissen zum Glauben bei Kant eine (xeiaßaaig sie
lillo fjfävoz.
*) Kritik der Urteilskraft, S. 468.
2) Kritik der Urteilskraft, S. 457.
*) Vgl. hierzu den ganzen wichtigen § 91 der Kritik der Urteilskraft: ,,Von
der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben", besonders aber
S. 465ff. — Auf Vaihingers Deutung der Freiheit als Fiktion brauche ich unter
Hinweisung auf diesen klassischen Paragraphen nicht näher einzugehen.
g5 Heinrich Scholz:
Das Resultat dieser Schlüsse, Gott und Unsterblichkeit, ist
der Inhalt der Kantischen Religion. Und nun stehen wir an dem
Punkte, wo es möglich ist, die Qualität des Kantischen ,, Glaubens"
abschließend zu bestimmen, i) Daß dieser ein exklusiver Vernunft-
glaube sein muß, um der Glaube eines aufgeklärten 2^italters zu
sein, ist über jeden Zweifel gewiß. Es versteht sich ebenso, wie
es sich versteht, daß er im Gegensatz zum Glauben der Aufklärungs-
metaphysik ein ethisch fundierter Vernunft glaube ist. Denn das
ist der einzig mögliche Sinn des vielfach mißdeuteten und auch
nicht glücklichen Ausdrucks ,, praktischer Glaube". ,, Praktisch"
ist gleichbedeutend mit ,, ethisch fundiert", und bedeutet nichts
weniger als etwa dies: ,,zum Zweck der Lebensführung ersonnen".
Ejn solcher Glaube wäre pragmatisch, und ein innerer Beweg-
grund zur Einführung eines solchen ist in den Konsequenzen des
Kritizismus nicht nur nirgends angedeutet, sondern wird durch
diese sogar ausgeschlossen. Denn dann wäre die sittliche Lebens-
führung nicht mehr das unverfälschte Ergebnis des kategorischen
Imperativs, sondern gleichsam das kombinierte Resultat von
diesem und einigen Optativen, die sich unbefugt in die Gesetz-
gebung des Willens eingedrängt haben. Auch der wohltätige
Zweck könnte dieses Mittel nicht heiligen. Dazu kommt, daß
ein solcher pragmatischer Glaube im Kantischen Sinne nie zum
Vernunftglauben aufsteigen könnte; er wäre vielmehr ein Phänomen,
das die reine Vernunft zu überwinden hätte und höchstens als
Durchgangspunkt zulassen könnte.
Daß der Kantische Glaube das Dasein Gottes und nicht
etwa nur die Gottes idee zum Gegenstande hat, folgt mit Not-
wendigkeit aus seiner Funktion. Denn das Dasein Gottes ist die
Voraussetzung für die Realität der moralischen Welt, wie das
Dasein und der Gebrauch der Freiheit für die Konzeption dieser
Welt die Voraussetzung ist. Nun ist aber der Kantische Glaube
nichts anderes als die im Gottcsglaubcn fixierte Überzeugung
von der Realität dieser sittlichen Welt; er ist im engsten und
eigentlichsten Sinne das Postulat des Daseins Gottes als der zur
Durchsetzung dieser Realität erforderlichen objektiven Grund-
bedingung. Dem entspricht die klassische Definition des Postu-
lates in der Kritik der praktischen Vernunft: ,,Ein Postulat ist
^) Vgl. hierzu die freilich über die Stufe einer guten Materialsammlung nicht
wesentlich hinausgeführte Arbeit von E. Sänger, Kants Lehre vom Glaubenj 1903.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 37
ein theoretischer . . . Satz, sofern er einem a priori unbedingt
geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt" (S. 156).
Nicht — um dieses noch einmal zu sagen — nicht als ob durch
ein solches Postulat das Dasein Gottes in irgendeiner Form, in
irgendeinem Sinne erzeugt werden könnte. Das kann durch
Postulate so wenig geschehen, wie durch irgendeinen Vernunft -
begriff, der der logischen Spekulation angehört. An sich ist das
Dasein Gottes nie mehr, als eine bloße Möglichkeit, und keine
Vernunft ist imstande, diese Möglichkeit durch einen Macht -
Spruch in Wirklichkeit zu verwandeln. Wenn Kant sich gelegent-
lich so auszudrücken scheint, so hat er sich ungenau ausgedrückt.
Erzeugt werden kann durch sittliche Besinnung immer nur das
Interesse an der Wirklichkeit Gottes, niemals diese Wirklichkeit
selbst. Wohl aber kann sie, durch Vermittlung dieses Inter-
esses, wofern sich dasselbe auf Tatsachen stützt, aus der Sphäre
einer Möglichkeit, die uns gleichgültig läßt, in die einer Wahr-
scheinlichkeit emporgehoben werden, die das Urteil ,,Es ist ein
Gott" zwar immer noch als ein mit der Möglichkeit des Irrtums
verknüpftes Wagnis, aber nicht mehr als Willkür erscheinen läßt.
Denn das ,, Bedürfnis", aus dem heraus wir so urteilen, ist
,, nicht etwa ein hypothetisches einer beliebigen Absicht der
Spekulation, daß man etwas annehmen müsse, wenn man zur
Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Spekulation hinauf-
steigen will, sondern ein gesetzliches, etwas anzunehmen,
ohne welches nicht geschehen kann, was man sich zur Absicht
seines Tuns und Lassens unnachlaßlich setzen soll".-^) Darum,
und darum allein, weil das hier vorliegende Bedürfnis erstens
über alle Willkür hinausragt, und weil e-> zweitens nicht sowohl
mit einer Schwäche der menschlichen Natur, als vielmehr mit
einer eigentümlichen Stärke und Kraft der sittlichen Gesinnung
verknüpft ist — darum ist es nach Kant erlaubt, aus der Energie
dieses Bedürfnisses auf die objektive Realität des durch dasselbe
geforderten höchsten Wesens zu ,, schließen".^)
*) Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, S. 5.
*) Also wiederum: zu schließen! Man vgl. die für die Aufklärung des Ver-
hältnisses von Postulat und Existentialurteil höchst wichtige Auseinandersetzung
Kants mit Wizenmann, Kritik der praktischen Vernunft, S. 183, Anm. Der
Sinn dieser Auseinandersetzung ist dieser: So wenig aus irgendeinem beliebigen
Bedürfnis auf die Existenz des geforderten Gegenstandes geschlossen werden darf,
so zulässig ist dieser Schluß in dem vorliegenden Falle. Die unvergleichbare Qua-
88 Heinrich Scholz:
Wohlgcmerkt : Es ist erlaubt! Von einer Pflicht ist bei
Kant hier nirgend die Rede. Lediglich von einem Recht. Noch
die Kritik der Urteilskraft schärft ausdrücklich ein, daß dieser
Glaube ein ,, freies Fürwahrhalten" ist.^)
An der Tatsache, daß das Dasein Gottes der Inhalt des
l\antischen Glaubens ist, ändert auch der Umstand nichts, daß
Kant die objektive Realität des Göttlichen in genauerer De-
termination gern als eine praktische bezeichnet. Das könnte
freilich an und für sich soviel bedeuten, wie eine zu bestimmten
Zwecken lediglich vorgestellte Realität. Es kann aber im
Zusammenhang seiner Gedanken nur bedeuten: eine aus be-
stimmten Gründen glaubhaft gewordene Realität. Diese
Gründe sind ,, praktisch", insofern sie nicht logischer, sondern
moralphilosophischer Natur sind.^)
Ebensowenig bedeutet es einen Einwand gegen die Richtig-
keit dieser Interpretation, wenn Kant sich wiederholt in dem
Sinne ausdrückt, daß die Vernunft Gott ,, schaffe" oder ,, mache".
Denn das, was sie ,, schafft" oder ,, macht", ist nicht Gott, sondern
lediglich die Gottesidee. In Hinsicht auf diese Idee ist die Ver-
nunft nach Kant freilich schöpferisch. Sie hat durch sich selbst
und allein zu bestimmen, wie das Wesen beschaffen sein muß,
das den Namen Gottes verdient.^) Aber daraus kann nicht ge-
folgert werden, daß die Religion im Kantischen Sinne sich im
Denken des richtigen Gottesgedankens erschöpft. Noch weniger
ist daraus zu schließen, daß die Kantische Religion sich auf die
lität des moralischen Interesses — beweist nicht etwa das Dasein Gottes; aber sie
rechtfertigt eine Annahme, die in jedem anderen Falle zu verwerfen wäre, nämlich
die Annahme, daß der durch dieses Interesse geforderte Gegenstand existiert. Man
darf bei der Kritik der Kantischen Postulatentheorie nie die von Kant voraus-
gesetzte Qualität seiner Postulate vergessen. Es ist kaum fraglich, es ist nahezu
gewiß, daß Kant die Qualität seiner Postulate überschätzt hat; aber eine Kritik,
die Kant treffen will, muß hier und nicht bei den Folgerungen einsetzen.
^) Vgl. Kritik der Urteilskraft, S. 463 und die wichtige Anm. zu S. 458.
-) Gegen Vaihinger, S. 653 Anm.
*) Man vgl. hierzu die Selbstauslegung Kants in der großen Anmerkung des
Schriftchens über den vornehmen Ton (Kleine Schriften, IV, 17 f.). ,,Aus dem
moralischen Gesetz. . . geht der Begrif f(!) von Gott hervor, welchen uns selbst zu
machen die praktische reine Vernunft nötigt. Wenn daher einer (mit dem Plato-
niker Schlosser, gegen den das Schriftchen bekanntlich gerichtet ist) . . . sagt,
er verachte denjenigen, der sich seinen Gott zu machen denkt", so ist ihm nicht
zu helfen. ,,Denn es ist für sich selbst klar, daß ein Begriff(!), der aus
unserer Vernunft hervorgehen muß, von uns selbst gemacht sein
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 89
Fiktion des Göttlichen beschränkt. Das Schaffen, von dem .hier
die Rede ist, ist im Kantischen Sinne überhaupt nicht Religion,
sondern eine formale Leistung der Vernunft im Dienste der Re-
ligion, mithin ein Stück Religionsphilosophie. Die Religion im
Kantischen Sinne hat das Dasein Gottes zum Gegenstände.^)
Freilich, da uns das Dasein Gottes in keiner Form gegeben
ist, so ist auch die Qualität des religiösen Existcntialurteils eine
andere, als die von empirischen oder moralischen Existential-
sätzen. Diese sind, weil und soweit die durch sie bestimmten
Erscheinungen gegeben sind, objektiv gewiß. Das religiöse
Existentialurteil kann, da sein Gegenstand nicht gegeben ist,
auch nie gegeben sein kann, in Hinsicht auf seine Kausalität
auch nicht objektiv gewiß sein. Es hat seinen unmittelbaren
Grund nicht in einer erweislichen Tatsache, sondern in der auf
eine solche gestützten Reflexion des sittlichen Subjektes; es ist
also subjektiv gewiß. ^) Dies und nur dies soll durch die Kantische
Lehre von der Subjektivität der religiösen Existentialurteile zum
Ausdruck gebracht werden. Nicht, daß diese Urteile „nur" sub-
jektiv und deshalb ohne objektive Bedeutung wären, sondern
sie sind allerdings von objektivem Gehalt, nämlich echte Existential-
urteile, aber als solche, wenigstens unmittelbar, nicht durch den
Zwang von erweislichen Tatsachen, sondern durch sittliche Denk-
notwendigkeiten, also subjektiv motiviert. Oder, um mit Kant
selbst zu sprechen: die religiöse ,, Überzeugung ist nicht logische,
sondern moralische Gewißheit; und da sie auf subjektiven
Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht
einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei usw., sondern:
ich bin moralisch gewiß". Das heißt, wie Kant erläuternd fort-
fährt: ,,Der Glaube an einen Gott und an eine andere Welt ist
mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, sowenig ich
müsse. Hätten wir ihn von irgendeiner Erscheinung abnehmen wollen, so wäre
unser Erkenntnisgrund empirisch und zur Gültigkeit für jedermann . . . untauglich.
Vielmehr müßten wir eine Weisheit, die uns persönlich erschiene, zuerst an jenen
von uns gemachten Begriff als das Urbild halten, um zu sehen, ob diese Person
auch dem Charakter jenes selbstgemachten Urbildes entspreche." Deutlicher kann
man wohl nicht sagen, worauf es an dieser Stelle ankommt: daß die schöpferische
Funktion der Vernunft sich ausschließlich auf die Erzeugung der Gottesidee bezieht.
^) Gegen Vaihinger, S. 687 u. 704.
^) Daß die Freiheit im Kantischen Sinne erweislich, wenn schon nicht er-
klärlich ist, darf nach den überaus zahlreichen Aussprüchen, die sich auf diesen
Punkt beziehen, hier vorausgesetzt werden.
90
Heinrich Scholz:
Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebensowenig besorge ich,
daß mir der erste jemals entrissen werden könne. "^)
Man kann diesen in erkenntnistheoretischer Hinsicht außer-
ordentHch wichtigen, die Qualität des Glaubens im System des
Kritizismus auf das Genaueste bestimmenden Satz noch dahin
ergänzen, daß man hinzufügt: Eis ist unter dem Gesichtspunkt
einer rein logischen Spekulation sogar ungewiß, ob Gott existiert,
weil das Dasein Gottes in dieser Hinsicht lediglich eine Möglich-
keit bedeutet, die zwar nicht widerlegt, aber auch durch nichts
,, bewiesen" werden kann. Die Brücke zur moralischen Gewißheit
ist damit keineswegs abgebrochen. Sie entsteht vielmehr durch
die dem Gleichgewicht der Gründe und Gegengründe entsprechende
Umkehrung der Akzente, die dadurch zustande kommt, daß das-
selbe Dasein Gottes, theoretisch betrachtet, eine Möglichkeit dar-
stellt, die zwar nicht ,, bewiesen", aber auch durch nichts ,, wider-
legt" werden kann. Wenn es sich aber so verhält, so fragt es sich,
ob vielleicht Gründe vorhanden sind, die die Vernunft bestimmen
könnten, der Bejahung dieser Möglichkeit vor ihrer Verneinung
den Vorzug zu geben. Nach Kant sind solche Gründe nun wirklich
vorhanden, und zwar liegen sie in den Konsequenzen der Moralität.
Nicht unmittelbar in dieser selbst — dann wären sie objektiv mora-
lisch gewiß — ,wohl aber in den Ergebnissen einer Reflexion, die
sich an das sittliche Selbstgefühl anschließt und durch Entwicklung
der Konsequenzen desselben das religiöse Existentialurteil sub-
jektiv moralisch gewiß macht. Oder, um noch einmal mit Kant
zu reden: ,,Das moralische Argument soll keinen objektiv gültigen
Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben, nicht dem Zweifel-
gläubigen beweisen, daß ein Gott sei, sondern daß, wenn er mora-
liscli konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes
unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse. — •
Es soll damit auch nicht gesagt werden: es ist zur Sittlichkeit
notwendig . . ., sondern: es ist durch sie notwendig." In diesem
Sinne ist es ein ,, subjektiv, für moralische Wesen hinreichendes
Argument ".2)
Die von Kant so nachdrücklich betonte Subjektivität des
religiösen Existentialurteils bezieht sich also lediglich auf die Art
seiner Ej-zeugung, genauer auf die seiner Motivitation, nicht aber
') Kritik der reinen Vernunft, S. 857.
*) Kritik der Urteilskraft, S. 424 Anm.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. gi
auf seine Bedeutungsqualität. Motivation ist nicht Intention.
Die „Intention" des religiösen Urteils ist nach Kant eine durch
und durch objektive, wie seine Motivation eine subjektive ist;
und man kann den Kantischen Standpunkt in Hinsicht auf die
Bedeutung des religiösen Urteils nur als den eines objektiven
Intentionalismus bezeichnen. Das religiöse Existcntialurteil wird
nach Kant allerdings durch Ideen erzeugt; aber es besteht
nicht selbst in Ideen, sondern in einer Daseinsbehauptung. Nicht
in der Form : Gott ist, weil er sein muß, sondern so : Wir sind be -
rechtigt zu sagen: Gott ist, weil und sofern wir genötigt sind,
zu sagen: er muß sein. Hier wird nicht, wie in der Aufklärungs-
metaphysik, aus der Notwendigkeit der Gottesidee auf das Dasein
Gottes geschlossen, sondern lediglich auf das Recht zur vertrauens-
vollen Bejahung dieses Daseins, die objelctiv freilich immer mit
der Möglichkeit des Irrens verknüpft bleibt. Das ist ein großer
Unterschied. Es ist die Distanz, die Kant von der Aufklärung
und allem Dogmatismus trennt. Es ist zugleich einer der großen
Schritte, die Kant über die Aufklärung hinaus getan hat.
Insofern heißt es und muß es heißen — nicht: es ist gewiß,
sondern: ich bin gewiß. Aber ,,ich bin gewiß" bedeutet nun doch
nichts weniger als soviel wie: ,,ich stelle mir vor" oder ,,ich bilde
mir ein". Von solchen ,, Vorstellungen" oder ,, Einbildungen" hat
Kant seinen ,, Vernunftglauben" nicht nur aufs strengste ge-
schieden, sondern es ist geradezu der alles beherrschende Zweck
seiner Religionsphilosophie, den Glauben ein für allemal über
diese Stufe des ,,Schwärmens" hinauszuheben; und alle Ein-
schränkungen und Korrekturen, die die Religion in seinem System
erleidet, sind unter diesem nur Gesichtspunkt zu verstehen.
Denn die Gewißheit seines ,, Glaubens" ist der des ,, Wissens"
nicht etwa nachstehend, sondern vollkommen ebenbürtig. Die
Unterscheidung der Glaubens- und der Wissensgewißheit ist nicht
im Sinne einer Abstufung, sondern lediglich in dem einer kritischen
Auseinanderhaltung zu verstehen; denn auch hier ist jener ,, Ver-
wirrung" zu steuern, die entsteht, wenn man die Grenzen der
unter sich so verschiedenen Gewißheitsarten ineinanderlaufen
läßt. Der Kantische Glaube ist nicht Vorstufe des Wissens
— denn er kann sich nie in ein Wissen verwandeln — , sondern
da. wohlfundierte Gegenstück zu diesem.^) Er ist, wie Kant
^) Vgl. hierzu die wichtigen Ausführungen über den Begriff der ,, Glaubens-
sachen", § 91, 3 der Kritik der Urteilskraft.
92
Heinrich Scholz:
selbst sich ausgedrückt hat, dem Grade nach keinem Wissen
nachstehend, wiewohl der Art nach völlig von ihm unterschieden.^)
Religion im Kantischen Sinne ist also
A) in Hinsicht auf ihren Gehalt: ein Urteil über das Dasein
Gottes (und die Unsterblichkeit der Seele), hingegen Deutung
unserer Pflichten nur insofern, als diese auf jenem Existential-
urteil auf ruht;
B) in Hinsicht auf ihre Form:
(i) ein exklusives Vernunfturteil ;
(2) innerhalb dieser Kategorie: ein ethisch fundiertes
Vernunfturteil ;
C) in Hinsicht auf ihre Gewißheit: ein subjektiv begründetes
Urteil, das aber in Bezug auf seine Evidenz den objektiv begründeten
Erkenntnisurteilcn nicht nachsteht;
D) in Hinsicht auf ihre Wahrheit: ein zwar unbeweisbares
und insofern mit der Möglichkeit des Irrens verknüpftes, aber
um so besser begründetes und insofern auf die Unwahrschein-
lich keit des Irrens hindeutendes Urteil über das Dasein Gottes.
Nach diesen Ergebnissen erscheint es als ausgeschlossen, Kant
für die Religionsphilosophie des Als-ob in Anspruch zu nehmen.
Das Interesse am Bestände des Göttlichen, das die
Kantische Religionsphilosophie beherrscht, schließt ihre
Deutung im Sinne der eigentlichen Als-ob-Lehre aus.
Denn diese hat, wie gezeigt worden ist, die Auflösung
des Interesses am Bestände des Göttlichen zur Voraus-
setzung.^) Die Kantische Religionsphilosophie ist also
in ontologischer Hinsicht, in Hinsicht auf ihr Interesse
am Dasein Gottes, von der eigentlichen Als-ob-Lehre
grundsätzlich verschieden. Nur in logisch-erkenntnis-
theoretischer Hinsicht, also im uncigentlichen Sinne,
kann sie als eine Als-ob-Lehre bezeichnet werden.
Und zwar genau in dem Umfange, in welchem sie nicht
sowohl unter dem primären Gesichtspunkt des Glaubens,
als unter den sekundären Gesichtspunkten der Pflicht
und des sittlichen Verhaltens konstruiert wird. Das
heißt: sie ist eine Religionsphilosophie des Als-ob,
') Was heißt: sich im Denken orientieren? (Kleine Schriften, II, 157).
*) Siehe oben S. 29.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. g^
insofern sie (i) verstanden wird als Erkenntnis aller
unserer Pflichten als göttlicher Gebote, und insofern
sie (2) interpretiert werden kann als ein Verhalten von
der Art, als ob es ein höchstes Wesen gäbe.
Denn unsere Pflichten sind an sich keine göttlichen Gebote,
sondern Imperative der reinen Vernunft. Göttliche Gebote sind
sie nur insofern, als wir Gründe haben, sie auf Gott zu beziehen.
Als moralisch handelnde Wesen haben wir solche Gründe nicht,
wohl aber auf Grund der Weltanschauung, die sich aus solchem
Handeln ergibt. Unter dem Gesichtspunkt der bloßen Moralität
ist also die religiöse Deutung der Pflicht wirklich nur ein affekt-
volles Als-ob, dem keine wesenhafte Bedeutung zukommt. Erst
unter dem Gesichtspunkt der sittlichen Weltanschauung wird die
Deutung unserer Pflichten als göttlicher Gebote eine ernst zu
nehmende Interpretation; denn die sittliche Weltanschauung kommt
erst im Glauben an das Dasein Gottes zum Abschluß. Und es
kann nicht fehlen, daß dieser Glaube nun hinterher auch auf die
Empfindung unserer Pflichten zurückwirkt; ist es doch dieselbe
Vernunft, die den kategorischen Imperativ und die sittliche Welt-
anschauung mit ihren metaphysischen Konsequenzen erzeugt. In
diesem Sinne und unter dieser Bedingung ist die Erkenntnis unserer
Pflichten als göttlicher Gebote eben so ernst und real zu nehmen
wie etwa die Definition der Erfahrung als Erkenntnis der Dinge
unter der Form der Erscheinung.
Was aber den zweiten Ausdruck betrifft: Religion ein Ver-
halten, als ob es ein höchstes Wesen gäbe, so ist die Meinung
Kants nicht diese: wir wissen zwar, daß es kein höchstes Wesen
gibt; aber wir müssen so handeln, als ob es so wäre, sondern: wir
wissen zwar nicht, ob es ein höchstes Wesen gibt; aber wir müssen
so handeln, als ob wir wüßten, daß es so ist, während wir in Wahr-
heit nur durch einen Glaubensakt davon überzeugt sind. Kant
selbst hat sich einmal ausdrücklich so ausgelegt, und die Stelle,
an der er es getan hat, ist auch bei Vaihinger angeführt. i)
1) In der aus dem Anfang der 90 er Jahre stammenden, leider Fragment ge-
bliebenen Arbeit über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolf
heißt der Glaube einmal in einer ungewöhnlich glücklichen Formulierung eine
,, praktisch gültige und in dieser Absicht hinreichende Belehrung, so zu handeln,
als ob wir wüßten, daß diese Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit) wirklich
wären" (Kleine Schriften, III, 129). — Vgl. Vaihinger, S. 679. — Auf die sach-
liche Bedeutung des Kantischen Fragmentes hat schon K. Oesterreich in seiner
94
Heinrich Scholz:
Um SO auffallender ist es, daß Vai hinger trotzdem eine ganz
andere Kantauffassung vertritt — eine Auffassung, die Kant in
seinen besten Momenten zum radikalen Als-ob-Philosophen und
Forberg zu seinem konsequentesten Fortbildner macht. Nach
Vaihinger ist die Kantische Rechtfertigung der religiösen Ideen
,,eine rein fiktive". Hierin bestehe der ,, unermeßliche Unter-
schied" zwischen der Kantischen Rechtfertigung dieser Ideen
und aller vor- und nachkantischen. Kant betrachte dieselben
lediglich als ,, praktisch zweckmäßige Fiktionen". Ganz un-
kantisch sei daher der Kanlianismus vulgaris, ,,nach welchem
Kant die religiösen Hauptideen rechtfertigen soll auf Grund
von moralischen Tatsachen".^) ,,Im Kantischen Sinne, im Sinne
der kritischen Philosophie heißt der Ausdruck ,ich glaube an Gott'
nichts anderes als: ,ich handle so, als ob es einen Gott wirklich
gäbe' .... Trotzdem mir meine theoretische Vernunft ver-
bietet, eine . . . moralische Weltordnung anzunehmen . . ., so
handle ich doch so, als ob es eine solche moralische Weltordnung
geben würde, da mir meine praktische Vernunft gebietet,
das Gute unbedingt zu tun. Indem ich diesem Gebot der prak-
tischen Vernunft folge, handle ich, streng genommen, theoretisch
unvernünftig; denn meine theoretische Vernunft sagt mir, daß
eine solche moralische Weltordnung nur ein leerer, wenn auch
schöner Begriff ist."^)
Ehe wir fragen, auf welche Stellen diese Kantauffassung sich
stützt, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zu dieser Aus-
legung einzuschalten. Es ist zunächst hervorzuheben, daß Vai-
hinger seine Interpretation durchaus nicht als die einzig erweis-
liche vorträgt. Er hat im Gegenteil klar gesehen, daß der Tat-
bestand des Kantischen Schrifttums auch eine ganz andere Aus-
legung zuläßt, und er hat selbst die Hauptstellen angedeutet,
auf denen eine solche Auslegung fußen könnte. Es ist also auch
nicht anzunehmen, daß er die in dieser Arbeit vorgetragene Kant-
Arbeit über Kant und die Metaphysik 1906 mit Recht nachdrücklich hingewiesen. —
Im übrigen habe ich mich bei der Ausarbeitung des Apparates und der Rekonstruktion
der Kantischen Religionsphilosophie absichtlich auf die gedruckten Schriften be-
schränkt, weil diese allein für eine nachschaffende Darstellung seiner Gedanken-
welt in Betracht kommen können.
') Vaihinger, S. 68of.
*) S. 684.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. OC
auffassung als unerweislich ablehnen würde; aber er sieht in ihr
allerdings den Niederschlag eines Kantianismus vulgaris, der an
die letzten Absichten Kants an keinem entscheidenden Punkte
heranreicht. Und das genügt; denn unsere Darstellung erhebt
den Anspruch, aus der Idee des Kritizismus geflossen zu sein —
also aus derselben Quelle, aus der auch Vai hinger seine Auf-
fassung ableitet. In dieser Hinsicht aber scheint mir die ein-
gestandene ,, Unvernunft" der von ihm herauspräparierten Re-
ligion für die objektive Beurteilung entscheidend zu sein. Wenn
unter Bezug auf die Idee des Kritizismus irgend etwas voraus-
gesetzt werden darf, so ist es dies, daß Kant eine Vernunft-
religion angestrebt hat. Die von Vaihinger für den Kritizismus
in Anspruch genommene Religion nähert sich aber in bedenk-
lichster Weise dem Gegenteil einer solchen. Dieses Ergebnis scheint
mir grundsätzlich gegen die Richtigkeit seiner Kantauslegung zu
entscheiden, und zwar gerade unter dem als maßgebend an-
erkannten Gesichtspunkt der Idee des Kritizismus.
Es ist auch nicht richtig, wenn Vaihinger, zwischen einem
gemäßigten und einem radikalen Kritizismus unterscheidend, in
Hinsicht auf das Verhältnis dieser beiden zueinander bemerkt:
,,Für den gemäßigten Kritizismus ist alle Erkenntnis des Über-
sinnlichen vollständig eingebildet, für den radikalen Kritizismus
ist das Übersinnliche selbst bloße Einbildung" (S. 748). Denn
diesen radikalen Kritizismus würde Kant vielmehr als negativen
Dogmatismus, also als Ausdruck einer unkritischen Denkart be-
zeichnet haben, wie er auch die Religion der bewußten ,, Un-
vernunft", der Vaihinger zusteuert, schwerlich als kritisch an-
erkannt haben würde. Die dogmatische Leugnung des Über-
sinnlichen ist ein Merkmal des Positivismus und bezeichnet den
metaphysischen Punkt, an dem sich der Kritizismus vom Posi-
tivismus ersichtlich trennt. Der ,, gemäßigte" Kritizismus ist also
selbst schon der konsequente, und die Unterscheidung zwischen
ihm und einem radikalen Kritizismus hält der Prüfung
nicht stand.
Aber auch die Formel für den gemäßigten Kritizismus er-
scheint mir schon als zu positivistisch gefärbt. Für den Kriti-
zismus ist keineswegs alle Erkenntnis des Übersinnlichen voll-
ständig eingebildet. Die ethisch fundierte Erkenntnis desselben,
wie sie in der Bestimmung Gottes als des moralischen Welturhebers
zutage tritt, ist im Sinne dieses Kritizismus ganz und gar nicht
q5 Heinrich Scholz :
eingebildet. Sie mag inadäquat sein und nur einen symbolischen
Geltungswert haben; aber ,, inadäquat" ist nicht „eingebildet",
sondern drückt die bei grundsätzlich unerreichbarer objektiver
Zulänglichkeit erreichbare subjektive Zulänglichkeit einer Er-
kenntnisart aus.^)
Was aber den Kantianismus vulgaris betrifft, so scheint es
mir richtiger, ihn auf folgende Vergröberungen des Kritizismus
einzuschränken. Erstens auf die Behauptung: Religion im Kan-
tischen Sinne sei die praktische Annahme eines theoretisch wider-
legten Gottesglaubens. Zweitens auf den Satz: die Kantischen
Postulate seien als praktische Beweise für das Dasein Gottes zu
verstehen. Beide Sätze sind Deutungen, die sich mit der Idee
des Kritizismus in keiner Weise vertragen und darum ausdrück-
lich zurückzuweisen sind. Religion im Kantischen Sinne ist nicht
die praktische Annahme eines theoretisch widerlegten Existential-
urteils, sondern die ethisch fundierte Annahme einer logisch nicht
(hinreichend) fundierbaren Wirklichkeitsbehauptung. Und die
Postulate sind nicht praktische Beweise für das Dasein Gottes,
sondern ethisch fundierte Daseinsforderungen, die den Glauben
an das Dasein Gottes begründen. Indem unsere Darstellung diese
beiden Punkte heraushebt und im Gegensinne des Kantianismus
vulgaris interpretiert, rückt sie über die Vermutung hinaus, ein
Ausdruck dieses Kantianismus vulgaris zu sein.
Indessen, mit diesen kritischen Bemerkungen ist Vaihingers
Kantauffassung noch nicht widerlegt. Denn nicht nur, daß diese
Auffassung sich auf eine Reihe von Stellen stützt, die einer be-
sonderen Auslegung bedürfen, sie ist auch mit gewissen Momenten
der Kantischen Ideenlehre in einer so eigentümlichen und scharf-
sinnigen Weise verknüpft, daß auch hier eine Nachprüfung er-
forderlich ist.
Wir betrachten zunächst die wichtigsten Stellen, an denen
Kant nach Vaihingers Urteil sich zur konsequenten Als-ob-
Lehre bekennt. Es ist ein Verdienst der Vaihingerschen Unter-
suchung, diese Stellen hervorgehoben und so aufeinander be-
zogen zu haben, daß ihre Bedeutung erst klar ersichtlich wird.
*) Vgl. noch einmal die wichtige Abhandlung: Was heißt: sich im Denken
orientieren ?
Die Religionsphilosophie des Als-ob. gy
Außerdem hat schon Vaihingcr bemerkt, daß es vorwiegend
die Altersschriften sind, in denen Kant die Als-ob-Lehre vor-
trägt — also Schriften, in denen man eher die Rückkehr zu einer
konservativeren Betrachtung erwartet. Das Gegenteil scheint hier
der Fall zu sein, und die Vermutung liegt wirklich nahe, daß es
sich um den konsequentesten Ausdruck der Kantischen Religions-
philosophie handelt.
Die erste der in Betracht kommenden Stellen ist schon von
Forberg hervorgehoben worden.^) Sie findet sich in der gegen
den Schlosserschen Piatonismus gerichteten ,, Verkündigung des
nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philo-
sophie" (1796) und lautet:
Es gibt etwas in der menschlichen Vernunft, was . . . seine Realität
und Wahrheit in Wirkungen beweist, die . . . schlechterdings können
geboten werden. Dieses ist der Begriff der Freiheit und das von
dieser abstammende Gesetz des kategorischen . . . Imperativs* Durch
dieses bekommen Ideen, die für die bloß spekulative Vernunft
völlig leer sein würden, ob wir gleich durch diese zu ihnen ... un-
vermeidlich hingewiesen werden, eine obzwar nur moralisch-
praktische Realität: nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre
Gegenstände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (prak-
tischen) Rücksicht postulieren darf, gegeben wären. ^)
Hierzu gehört als eine Art von Erläuterung folgende An-
merkung über den Begriff des Postulates:
Postulat ist ein a priori gegebener . . . , keines Beweises fähiger,
praktischer Imperativ. Man postuliert also nicht Sachen oder über-
haupt das Dasein irgendeines Gegenstandes, sondern nur eine Maxime
der Handlung eines Subjekts.^)
Hiernach, und ganz besonders nach dieser Erläuterung, scheint
die Kantische Religion in der Tat nichts anderes zu sein, als ein
vom Dasein Gottes ausdrücklich abstrahierendes Verhalten prak-
tischer Art, Indessen, hierzu ist Folgendes zu bemerken:
^) Apologie meines Atheismus, S. igöf. — Vgl. Vaihinger, S. 682, Anm i
*) Kleine Schriften, IV, 32f.
^) rbidem S. 35, Anm.
Annalen der Philosophie. I. 7
98
Heinrich Scholz:
(i) Es kommt für die Auslegung alles darauf an, wie man
den Kantischen Text akzentuiert. Und da Kant selbst keine
Akzente gesetzt hat, müssen sie aus dem Zusammenhang erschlossen
werden. Man kann akzentuieren, wie es, zugunsten der konsequen-
ten Als-ob-Lehre, aber ohne Ermächtigung durch Kant, oben ge-
schehen ist: Religion ein Verhalten, als ob Gott gegeben wäre. Man
kann aber auch akzentuieren: Religion ein Verhalten, als ob Gott
gegeben, also erweislich wirklich wäre, und nicht nur — für
unsere, der Anschauung des Übersinnlichen unfähige Ver-
nunft — die objektiv immer problematische Wirklichkeit eines
moralischen Vertrauensurteils hätte. Und diese Akzentuierung
scheint mir die richtige zu sein. Denn es ist vorher ausdrücklich
von der bloß spekulativen, also unvollständigen, der Ergänzung
fähigen und bedürftigen Vernunft die Rede, mithin von einer
Vernunft, deren Urteil allein nichts entscheiden kann; und außer-
dem heißt es von dieser Vernunft ausdrücklich, daß wir durch
sie auf die Idee (des Daseins) Gottes unvermeidlich hingewiesen
werden. Wenn aber die logische Spekulation so erstens als frag-
mentarisch, zweitens als über sich hinausweisend dargestellt wird,
so bleibt kaum eine andere Auslegung übrig, als die, die den Ton
auf die Gegebenheit legt und die Religion im Kantischen Sinne
demgemäß als ein Verhalten interpretiert, als ob Gott erweislich
gegeben wäre. Denn man kann
(2) auch nicht sagen, daß ,, gegeben" hier einfach soviel wie
,, wirklich" bedeute. Freilich kann man sich für diese Gleichung
auf eine auch von Vaihinger (S. 683) hervorgehobene Stelle aus
dem unserer Kundgebung zeitlich und sachlich ganz nahestehenden
Schriftchen über den vornehmen Ton in der Philosophie berufen,
wo es heißt:
An Gott moralisch-praktisch glauben, heißt nicht: seine Wirk-
lichkeit vorher theoretisch für wahr annehmen, damit man den [durch
das Sittengesetz gebotenen] Zweck ... zu bewirken Triebfedern be-
komme — denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich ob-
jektiv hinreichend — , sondern um nach dem Ideal jenes Zwecks so
zu handeln, als ob eine solche Weltregierung wirklich wäre.^)
*) Kleine Schriften, IV 13, Anm.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 99
Indessen, auch dieser Satz ist nicht durchschlagend; denn
Kant sagt hier nicht: der praktische Glaube im Sinne des Kritizis-
mus ist ein vom Dasein Gottes abstrahierendes Verhalten, sondern
die klar ersichtliche Tendenz seines Satzes ist diese: einzuschärfen,
daß der Glaube an das Dasein Gottes nie das Motiv des sittlichen
Handelns werden darf, weil dieses durch eine solche Motivierung
gleichsam verunreinigt werden würde. Es handelt sich hier also
eigentlich gar nicht um die Wirklichkeitsfrage, sondern um die
von Kant so oft und immer identisch entschiedene Frage nach
dem Verhältnis des Glaubens an das Dasein Gottes zur
Moralität. Und es ist, als ob Kant hätte sagen wollen: Selbst
wenn das Dasein Gottes erweislich wäre, so dürfte es auf die Be-
gründung der Moral keinen Einfluß haben. Der Satz klingt so
freilich ein wenig paradox; aber man darf nicht vergessen, gegen
wen er gerichtet ist. Gegen einen Platoniker, der die reine Ver-
nunft durch intellektuelle Anschauungen und mystische Er-
leuchtungen überbieten will, und der in platonisierender Form
das Transzendenzprinzip wieder in Kraft setzt, um die Autonomie
der Moral zu zertrümmern. Kant kämpft hier für das Palladium
seiner Philosophie, nämlich für die Autonomie der Moral; darum
drückt er sich hier so negativ aus. Der ganze Satz ist antithetisch
zu verstehen, wie das aus den ,,Prolegomenen" bekannte ,, frucht-
bare Bathos der Erfahrung" und die sich daran anschließende
Kriegserklärung gegen die Metaphysik, die ebenfalls antithetisch
gemeint ist und höchstens die Hälfte des Ganzen zum Ausdruck
bringt. Sachlich sind zu unserer Stelle die Schlußworte aus der
Kritik der Urteilskraft mit ihrer lehrreichen Gegenüberstellung
von Ethikotheologie und theologischer Ethik zu vergleichen:
,,Es ist also wohl eine Ethikotheologie möglich; denn die Moral
kann zwar mit ihrer Regel, aber nicht mit der Endabsicht, welche
ebendieselbe auferlegt, ohne Theologie bestehen. . . . Aber eine
theologische Ethik ist unmöglich, weil Gesetze, die nicht die Ver-
nunft ursprünglich selbst gibt . . ., nicht moralisch sein können."
Genau derselbe Gedanke scheint mir in dem hier vorliegenden
Satze zum Ausdruck zu kommen; er sagt dasselbe — nur in anti-
thetisch verschärfter Form.
Als ein weiteres lehrreiches Beispiel für solche formalen Aus-
drucksverschiebungen, denen eine sachliche Bedeutung nicht zu-
kommt, kann folgende, auf die religiöse Deutung des Sitten-
gesetzes bezügliche Gegenüberstellung gelten:
7*
ICO
Heinrich Scholz ;
Setzt einen Menschen in den
Augenblicken der Stimmung seines
Gemüts zur moralischen Empfin-
dung. Wenn er sich, umgeben von
einer schönen Natur, in einem
ruhigen, heiteren Genüsse seines
Daseins befindet, so fühlt er in sich
ein Bedürfnis, irgend jemand dafür
dankbar zu sein. Oder er sehe
sich ein andermal in derselben
Gemütsverfassung im Gedränge von
Pflichten, denen er nur durch frei-
willige Aufopferung Genüge leisten
kann und will, so fühlt er in sich
ein Bedürfnis, hiermit zugleich etwas
Befohlenes ausgerichtet und einem
Oberherrn gehorcht zu haben. Oder
er habe sich etwa unbedachtsamer-
weise wider seine Pflicht vergangen,
wodurch er doch eben nicht Men-
schen verantwortlich geworden ist,
so werden die strengen Selbst-
verweise dennoch eine Sprache in
ihm führen, als ob sie die Stimme
eines Richters wären, dem er dar-
über Rechenschaft abzulegen
hätte. Mit einem Worte: er bedarf
einer moralischen Intelligenz, um
für den Zweck, wozu er existiert,
ein Wesen zu haben, welches diesem
gemäß von ihm und der Welt
die Ursache sei. ... Es ist also
wenigstens möglich und auch der
Grund dazu in moralischer
Denkungsart gelegen . . ., die
Existenz eines (solchen) Wesens
sich vorzustellen. (Kr. d. U. § 86
Anm.)
Die verschleierte Göttin, vor der
wir beiderseits unsere Knie beugen,
ist das moralische Gesetz in uns in
seiner unverletzlichen Majestät. Wir
vernehmen zwar ihre Stimme und
verstehen auch gar wohl ihr Gebot,
sind aber beim Anhören im Zweifel,
ob sie von dem Menschen, aus der
Machtvollkommenheit seiner eige-
nen Vernunft selbst, oder ob sie
von einem anderen, dessen Wesen
ihm unbekannt ist und welches zum
Menschen durch seine eigene Ver-
nunft spricht, herkomme. Im Grun-
de täten wir vielleicht besser,
uns dieser Nachforschung gar
zu überheben, da sie bloß speku-
lativ ist und, was uns zu tun ob-
liegt, immer dasselbe bleibt, man
mag eines oder das andere Prinzip
zum Grunde legen; nur daß das
didaktische Verfahren, das mora-
lische Gesetz in uns auf deutliche
Begriffe nach logischer Lehrart zu
bringen, eigentlich allein philo-
sophisch, dasjenige aber, jenes
Gesetz zu personifizieren und
aus der moralisch gebietenden
Vernunfteine verschleierte Isis
zu machen . . ., eine ästhetische
[in Kants Sprachgebrauch gleich-
bedeutend mit: sinnlich-unphilo-
sophische, modern gesprochen „my-
thische"] Vorstellungsart ebendes-
selben Gegenstandes ist; deren man
sich wohl hintennach, wenn durch
erstere die Prinzipien schon ins
Reine gebracht worden, bedienen
kann, um durch sinnliche, obzwar
nur analogische Darstellung jene
Ideen zu beleben, doch immer mit
einiger Gefahr, in schwärme-
rische Visionen zu geraten,
die der Tod aller Philosophie
sind. (Vom vornehmen Ton; Kl.
Sehr. IV. 22 f. Vgl. dazu den ,, prak-
tischen Schluß" aus den „Träumen
eines Geistersehers").
Die Religionsphilosophie des Als-ob. I O I
Hier haben wir zwei Lesarten vor uns, von denen die zweite
offenbar als die kritischere zu betrachten ist. Aber nicht so, daß
die erste durch sie ,, widerlegt" und als ,, unkritisch" aufgehoben
wird; vielmehr handelt es sich in beiden um denselben Gedanken,
nämlich um das kritisch begründete und begrenzte Recht zur
religiösen Deutung des Sittengesetzes. Jener spricht die Be-
gründetheit, dieser die Begrenztheit dieses Rechtes aus; und zwar
ist es beiden Stücken eigentümlich, daß sie das Maximum dessen
ausdrücken, was in den Grenzen des Kritizismus gesagt werden
kann — das erste Stück in positiver, das zweite in negativer Hin-
sicht. Sie stellen gleichsam die äußersten Endpunkte der kriti-
zistischen Linie dar; aber diese Linie ist wirklich der Kritizismus,
und es ist weder nötig noch möglich, ihn auf einen dieser beiden
Punkte zu konzentrieren. Jeder große Gedanke ist mehrerer
Ausdrucksweisen fähig, je nach dem Gesichtspunkt, der die Aus-
einandersetzung beherrscht. Es ist ein Unterschied, ob es sich
darum handelt, die unantastbaren Rechte der Religion zu ver-
treten oder unberechtigte Übergriffe der Religion abzuwehren.
Und es ist nicht zulässig, aus den hierdurch bedingten Modi-
fikationen des Ausdrucks auf Brüche im System zu schließen.
(3) Die Bestimmung des Postulates als einer von allen Daseins-
spekulationen abgelösten Gesinnungsforderung widerspricht der
durch die Logik und den Geist des Systems geforderten klassischen
Definition desselben so sehr, daß man berechtigt ist, von ihr zu
abstrahieren. Denn wenn das Postulat im Grunde nichts anderes
ist, als die Forderung einer Handlungsmaxime, so fällt es mit dem
kategorischen Imperativ zusammen und verliert jede selbständige
Bedeutung neben diesem. Dann sind ,, Postulat" und ,, katego-
rischer Imperativ" völlig kongruente Begriffe. Das können sie
aber offenbar nicht sein, wenn das Postulat neben dem katego-
rischen Imperativ einen Sinn haben soll; und sie sind es auch
nicht, wenn man die Postulate, wie es durch Kant selbst ge-
schehen ist, als Daseinsforderungen definiert, die auf der Geltung
des kategorischen Imperativs aufruhen. Dann, aber auch nur
dann, ist die Unterscheidung von Postulat und kategorischem
Imperativ berechtigt und der Grund ihrer Differenzierung er-
sichtlich.
Fragt man, was Kant zu der im Zusammenhang seines Denkens
nicht vorgesehenen, pragmatischen Bestimmung des Postulates ver-
anlaßt haben könne, so wird die Antwort in jenem unkritisch-
I02 Heinrich Scholz:
platonisicrcndcn Realismus zu suchen sein, der das Dasein Gottes
als eine erwiesene Tatsache auffaßt. Von diesem Realismus ab-
zurücken, hat Kant allerdings die stärksten Gründe gehabt;
denn wenn das Dasein Gottes eine erweisliche Tatsache ist, so
gibt es eine Erkenntnis des Übersinnlichen, folglich auch eine
theoretische Metaphysik, für deren Existenz es gleichgültig ist,
ob sie auf begrifflichen Spekulationen oder auf intellektuellen
Anschauungen beruht. Eine solche Metaphysik würde die Grund-
lagen des Kritizismus umstoßen; vielmehr sind ihr selbst die Grund-
lagen durch den Kritizismus entzogen. Nun haben freilich auch
die Postulate in ihrer klassischen Formulierung das Dasein Gottes
zum Gegenstande, aber nur als Daseinsforderungen. Um diesen
entscheidenden Punkt hervorzuheben, um zu verhüten, daß die
Postulate als Daseinserkenntnisse aufgefaßt werden, hat Kant
sie an dieser Stelle im Widerspruch mit sich selbst von jeder
Daseinsbeziehung losgelöst und sie in Gesinnungsforderungen ver-
wandelt, die uns ein Verhalten vorschreiben, als ob es ein höchstes
Wesen gäbe, und nicht nur einen Grund, an sein Dasein zu
glauben.
Denn daß der Inhalt des religiösen Bewußtseins durch diese
ungenaue und inkonsequente Auslegung der Postulate keine Än-
derung erlitten hat, ergibt sich aus der auch von Vaihinger be-
merkten unmittelbaren Fortsetzung der angeführten Stelle. Sie
lautet: ,,Wenn es nun Pflicht ist, zu einem gewissen Zweck (dem
höchsten Gut) hinzuwirken, so muß ich auch berechtigt sein,
anzunehmen, daß die Bedingungen da sind, unter denen allein
diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinn-
lich sind und wir (in theoretischer Rücksicht) keine Er-
kenntnis derselben zu erlangen vermögend sind." Hier ist also
die Religion wieder ganz unzweideutig der Glaube an das Dasein
Gottes. Vaihinger glaubt diese Erklärung, die seine Auffassung
gleichsam entwurzelt, als nachträglichen Zusatz zurückweisen zu
können-; es ist hierzu jedoch zu bemerken, daß einer solchen
Interpretation jeder objektive Anhaltspunkt fehlt.
Indessen, es sind in diesem Zusammenhange noch zwei Stellen
zu diskutieren, die noch bestimmter als die bisher betrachteten
von der Idee des AJs-ob beherrscht zu sein scheinen. Sie finden
») S. 683.
Die Religionsphilosopliie des Als-ob. IO3
sich in der „Metaphysik der Sitten" vom Jahre 1797. Die erste
der beiden in Betracht kommenden Stellen bezieht sich auf die
Interpretation des Gewissens. Die eigentümliche Duplizität, die
der Mensch in sich vorfindet, wenn das Gewissen ihn warnt oder
straft, erzeugt nach einer Vorstellung, die Kant nicht mißbilligt,
die Idee eines zweiten Selbst, das dem Subjekt des empirischen
Lebens wie eine erhabene Person gegenübersteht und als eine
Art von göttlicher Autorität empfunden wird. Es handelt sich
nun für Kant darum, die Bedeutung dieser Vorstellungsart im
Sinne des Kritizismus aufzuklären.
Was bedeutet die mit dem Erlebnis des Gewissens verknüpfte
Vorstellung einer göttlichen Stimme im Menschen? Kant ant-
wortet :
Dieses will nicht so \ael sagen, als : der Mensch, durch die Idee,
zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidhch leitet, sei berechtigt,
noch weniger aber: er sei durch dasselbe verbunden, ein . . . höchstes
Wesen außer sich als wirklich anzunehmen; denn sie wird ihm
nicht objektiv, durch theoretische, sondern bloß subjektiv^ durch
praktische, sich selbst verpflichtende Vernunft, ihr angemessen zu
handeln, gegeben; und der Mensch erhält vermittelst dieser nur nach
der Analogie mit einem Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen
eine bloße Leitung, die Gewissenhaftigkeit (welche auch religio ge-
nannt wird) als Verantwortlichkeit vor einem von uns selbst unter-
schiedenen, aber uns doch innigst gegenwärtigen heiligen Wesen
(der m.oralisch-gesetzgebenden Vernunft) sich vorzustellen und dessen
Willen den Regeln der Gesetzlichkeit zu unterwerfen. Der Begriff
von der Religion überhaupt ist hier dem Menschen bloß „ein Prinzip
der Beurteilung aller seiner Pf Hebten als göttlicher Gebote".^;
Wie ist diese Stelle zu interpretieren? Der Schlüssel zu ihrer
richtigen Deutung scheint mir in dem ,,hier" zu liegen. ,,Hier",
nämlich unter dem Gesichtspunkt der Interpretation des Gewissens,
ist die Religion in der Tat nichts anderes, als die Beurteilung aller
unserer Pflichten nach der Analogie von göttlichen Geboten.
Was heißt das ? Es heißt nicht : Die Religion der reinen Vernunft
ist nicht mehr als eine vom Bestände des Göttlichen abstrahierende
Beziehung unserer Pflichten auf die Idee des Göttlichen. Kant
will hier vielmehr etwas ganz anderes sagen. Er will sagen, daß
das Gewissen als solches, die Stimme der sittlich gebietenden
Vernunft, ohne den Bezug auf das Schicksal der sittlichen Werte
^) Kants Werke, herausgegeben von Ernst Cassirer, VII, 1916, S. 252.
jQ^ Heinrich Scholz:
nicht über die bloße Idee des Göttlichen hinausführt. Er will,
um CS anders auszudrücken, der kritiklosen Personifikation des
Gewissens steuern und damit eine Beurteilung abwehren, deren
Unangemessenheit sich unter kritischem Gesichtspunkt von selber
versteht. Die ganze Stelle ist also ein Beitrag zur kritischen
Interpretation des Gewissens und hat auf die Religion im eigent-
lichen Sinne gar keinen unmittelbaren Bezug — man müßte denn
den Vernunftglaubcn Kants in die Personifikation des Gewissens
verlegen und alles vergessen, was aus seinen klassischen Dar-
legungen über den wahren Gehalt seines Vernunftglaubens zu
lernen ist.
Also scheidet auch diese Stelle aus ; und es bleibt nur noch eine
einzige übrig, die ernstlich beachtet zu werden verdient. Sie lautet:
Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei
der Inbegriff aller Pflichten als {instar) göttlicher Gebote, gehört
zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der
Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, aus-
gedrückt wird; und eine Religionspflicht wird alsdann noch nicht
zur Pflicht gegen {r/ga) Gott als ein außer unserer Idee existierendes
Wesen gemacht, indem wir hierbei von der Existenz desselben noch
abstrahieren.^)
Die richtige Auslegung dieses Stückes scheint mir an zwei
Punkten zu hängen. Erstens hat man das ,,noch" zu beachten,
das dem letzten Satz ausdrücklich beigefügt ist. Kant sagt nicht:
die Religion des Kritizismus abstrahiert überhaupt vom Dasein
Gottes. Er sagt vielmehr: Solange wir die Religion nur als In-
begriff unserer Pflichten als göttlicher Gebote denken, abstrahieren
wir noch vom Dasein Gottes. Das ist nun nichts weniger als
eme neue Erkenntnis, die über das bisher betrachtete Gefüge des
Kritizismus hinausführt. Vielmehr ordnet sie sich diesem voll-
kommen ein und darf als ein nachträglicher wichtiger Beleg für
die unsere Kantdarstellung beherrschende Grundauffassung an-
gesehen werden, daß die Auslegung der Religion im Sinne einer
Deutung unserer Pflichten als göttlicher Gebote, trotz des häufigen
Auftretens dieser Formel bei Kant, nicht als die primäre, sondern
durchaus als die sekundäre Definition des religiösen Bewußtseins
aus dem Geiste des Kritizismus heraus zu betrachten ist.-i
') Kants Werke, herausgegeben von Ernst Cassirer, VII, S. 303.
*) Siehe oben S. 73!.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. lOs
Auch das ist nichts Unerhörtes bei Kant. Die neueste For-
schung hat erwiesen, daß auch die berühmte Frage, wie synthetische
Urteile a priori mögHch sind, trotz der von Kant für sie in An-
spruch genommenen Klassizität nicht die Kernfrage der Vernunft-
kritik ist. ^) Daß aber die Beurteilung unserer Pflichten als gött-
licher Gebote, solange die Überzeugung vom Dasein Gottes nicht
durch die aus den Prinzipien des Kritizismus gefolgerte sittliche
Weltanschauung fundiert ist, nur eine analogische sein kann,
versteht sich von selbst; denn erst, wenn das Dasein Gottes
gewiß ist, kann dieser Bezug als ein realer gedacht werden. Das
Dasein Gottes wird aber zur Gewißheit — nicht durch die meta-
physische Interpretation unserer Pflichten, sondern durch die Re-
flexion auf die metaphysischen Konsequenz;en der auf der im-
manenten Deutung des Pflichtbegriffs auf ruhenden sittlichen Welt-
anschauung. Man kann die ganze Stelle demnach auch als einen
Beitrag zur Erleuchtung der Motive betrachten, aus denen die
Kantische Vernunftreligion entspringt. Sie entspringt nicht, wie
es manchmal bei Kant erscheint und im Anschluß an gewisse
Äußerungen dargestellt wird, aus der metaphysischen Empfindung
des Pflichtbewußtseins, sondern aus der Vertiefung in die meta-
physischen Konsequenzen, die eine am Leitfaden dieses Pflicht-
bewußtseins entwickelte Weltanschauung in sich enthält.
W^ill man dennoch die ganze Stelle im Sinne einer kritischen
Reduktion des Kantischen Religionsbegriffs verstehen, so ist diese
Auslegung zwar unmotiviert, kann aber gleichwohl ohne Bruch
dem hier aufgestellten Gefüge des Kritizismus angeschlossen werden.
Es ist nämlich zweitens zu bemerken, daß die ganze Stelle in
einem Zusammenhang erscheint, in welchem die religiöse Ge-
sinnung selbst unter dem Gesichtspunkt der Pflicht betrachtet
wird. Die religiöse Gesinnung, als ein Teil der Moral,
oder, um mit Kant selbst zu sprechen, die ,, Religions-
lehre, als ein integrierender Teil der allgemeinen
Pflichtenlehre betrachtet"^), ist das Thema des Ab-
schnittes, aus dem unsere Stelle herausgenommen ist.
Nun ist zwar wiederholt und mit Nachdruck betont worden, daß
Kant, im Unterschied und Gegensatz zu Forberg, eine Pflicht-
^) Vgl. die schon einmal (oben S. 65, Anm. i genannte) Akaderaieabhandlung
von B. Erdmann über die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1917.
2) Kants Werke, herausgegeben von Ernst Cassirer, VII, S. 303 oben.
I06 Heinrich Scholz:
religion als solche nicht kennt^); es versteht sich indessen von
selbst, daß es ihm freistand, seine an sich ganz anders orientierte
Religion auch einmal unter diesen Gesichtspunkt zu stellen —
zumal in einer Metaphysik der Sitten, in der sich, bei der damals
noch so lebendig empfundenen Verknüpfung von Religion und
Moral, dieser Gesichtspunkt gleichsam von selber aufdrängte.
Dann aber konnte Kant gar nicht anders, als sich so ausdrücken,
wie er sich ausgedrückt hat. Denn da das Dasein Gottes, wie
in dieser Darstellung immer wieder betont worden ist, objektiv
unerweislich ist und auch durch kein Postulat ,, erwiesen" werden,
sondern immer nur glaubhaft gemacht werden kann, so kann
auch die Religion, als Pflicht betrachtet, im Sinne des Kritizismus
nie mehr sein, als eine Auffassung unserer Pflichten, als ob sie
göttliche Gebote wären. Zu einer solchen Auffassung sind wir
nach Kant verpflichtet; dagegen stellt sich der reale Bezug
unserer Pflichten auf Gott als eine Auffassung dar, zu der wir
nur berechtigt sind ■ — und auch dieses erst dann, wenn uns
das Dasein Gottes, aus Gründen weltanschaulicher Art, zur
moralischen Gewißheit geworden ist.
Die Nachprüfung der wichtigsten und entscheidendsten Stellen,
die für die Als-ob-Auffassung in Anspruch genommen werden können,
hat also zu einem negativen Ergebnis geführt. Was im Sinne
der Als-ob-Lehre gedeutet werden kann, bezieht sich
bei Kant nicht auf die Religion, sofern sie in ihrer
Eigenart gesehen und nicht als Antezipation des Ge-
wissens oder als Pflichtbestandteil gedacht ist; und
was sich bei Kant auf die Religion bezieht, enthält
keine Hindeutung auf die Theorie des Als-ob im Sinne
eines vom Dasein Gottes abstrahierenden Verhaltens.
Dieses Ergebnis trifft nicht nur Vai hingers Resultate, es
ist vielmehr auch auf die Schlüsse zu beziehen, die schon am An-
fange des 19. Jahrhunderts ein Denker wie Reinhold aus den
beiden soeben untersuchten Stellen der Metaphysik der Sitten
gezogen hat. Reinhold ist bei seiner Abrechnung mit der Rcligions-
philosophie des Kritizismus in der ,, Anleitung zur Kenntnis und
Beurteilung der Philosophie in ihren sämtlichen Lehrgebäuden"
(Wien 1805) unter Bezug auf unsere Stellen zu demselben Er-
gebnis wie Vaihingcr gelangt. Der Glaube an Gott, den die
') Siehe oben S. 61 und S.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. 107
Kritik durch die praktische Vernunft postuhercn läßt, besteht
auch nach Reinhold ,, keineswegs in einem Fürwahrhalten, daß
Gott ist . . ., sondern vielmehr in dem Tun und Lassen, dem
Handeln . . ., als ob . . . Gott wäre". ,,Wie könnte auch", fährt
Reinhold fort, ,,von einem Sein Gottes ... in einer Kritik der
Vernunft die Rede sein, welche die Möglichkeit und Wirklich-
keit für bloße Formen des Denkens . . . erklärt und ... die
Wirklichkeit sonach aus der Spontaneität des vorstellenden
Subjektes hervorgehen läßt."^)
Hier ist offenbar die Daseinskategorie mit der Daseins-
position als solcher verwechselt. Die Tatsache, daß das Dasein
im Urteilsakt als ein nicht nur an sich gegebenes, sondern zu-
gleich gedachtes erscheint, ist zu der Behauptung übersteigert,
daß das Dasein an sich eine Gedankenschöpfung, also überhaupt
nur eine Denklcistung sei. Für diese Verwechslung ist Kant
nicht verantwortlich zu machen. Kant hat vielmehr im Gegen-
teil die Daseinsposition von der Daseinskategorie auf das
Genaueste unterschieden; seine ganze Kritik der Metaphysik steht
und fällt mit dieser Unterscheidung. Dann aber fallen auch die
Konsequenzen dahin, die Reinhold aus seiner irrtümlichen
Gleichung ableitet. Aus der Vernunft kritik als solcher wird
niemals ein Beweis gegen das Dasein Gottes im Sinne der be-
wußtseinsunabhängigen Wirklichkeit des höchsten Wesens zu
führen sein. W^as aber die Auslegung der beiden kritischen Stellen
aus der ,, Metaphysik der Sitten" betrifft, die nun allein noch
übrig bleiben, so wird sie durch die Erkenntnisse widerlegt, die
unsere Nachprüfung aufgewiesen hat.
Indessen, Vaihinger hat seine Kantauffassung durch gewisse
Momente der Kantischen Ideenlehre in so scharfsinniger Weise zu
stützen gesucht, daß auch dieser Punkt noch der Nachprüfung
bedarf. Diese Ideenlehre ist verwickelt und aus mehreren Gedanken-
gängen zusammengewoben. Unter ihnen sind zwei von besonderer
Wichtigkeit. Der eine liefert die Umrisse zu einer logisch fun-
dierten religiösen Metaphysik. Er ist an einer früheren Stelle
dieser Arbeit gewürdigt worden.-' In diesen ersten Gedanken -
^) a. a. 0. S. I25ff. — Die Stelle ist schon von Wesselsky bemerkt worden
(Forberg und Kant, S. 20 u. S. 11). — Schon in seinem Briefe an Fichte vom
16. April 1799 nennt Reinhold Forbergs Religion des Als-ob eine Kantische
Idee (Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 11", 1862, S. 246).
2) Siehe oben S. Siff.
lo8 Heinrich Scholz:
gang Spielt nun beständig .ein zweiter hinein, der ganz andere
Tendenzen verfolgt. Vaihingcr hat auf diesen Gedankengang
mit stärkstem Nachdruck aufmerksam gemacht und sich dadurch
ein Verdienst um die Kantforschung erworben. Es handelt sich
um die regulative Bedeutung der Kantischen Ideen. ^)
Aber welcher Art sind diese Ideen ? Scheinbar sind es die
bekannten drei: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Indessen, der
Zusammenhang zeigt unwidersprechlich, daß es sich hier in Wahr-
heit um drei ganz andere Ideen handelt, nämlich erstens um die Idee
der Substantialität, zweitens um die Idee der unendlichen Kausal-
reihe, drittens um die Struktur einer alle kompossiblen Gesichts-
punkte in sich befassenden theoretischen Weltbetrachtung. Den
Beweis für die Richtigkeit dieser Interpretation wird die folgende
Hauptstelle erbringen. ,,Wir wollen", sagt Kant, ,,den genannten
Ideen als Prinzipien zufolge erstlich (in der Psychologie) alle
Erscheinungen . . . unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren
Erfahrung so verknüpfen, als ob dasselbe eine einfache Substanz
wäre, die mit persönlicher Identität beharrlich (wenigstens im
Leben) existiert. . . . Wir müssen zweitens (in der Kosmo-
logie) die Bedingungen der inneren sowohl als der äußeren Natur-
erscheinungen in einer solchen nirgend zu vollendenden Unter-
suchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich und ohne
ein erstes und oberstes Glied sei. . . . Endlich und drittens müssen
wir (in Ansehung der Theologie) alles, was nur immer in den
Zusammenhang der möglichen Erfahrung gehören mag, so be-
trachten, als ob diese eine absolute . . . Einheit aus-
mache, doch aber zugleich, als ob der Inbegriff aller Erscheinungen
(die Sinnenwelt selbst) einen einzigen obersten und allgenugsamen
Grund außer ihrem Umfange habe, nämlich eine . . . schöpferische
Vernunft, in Beziehung auf welche wir allen empirischen Ge-
brauch unserer Vernunft in seiner größten Erweiterung so richten,
als ob die Gegenstände selbst aus jenem Urbildc aller Vernunft
entsprungen wären."-)
Diese Sätze sind in der Tat sehr bemerkenswert. Vaihinger
hebt sie aufs stärkste hervor. Er nimmt die notwendigen Er-
gänzungen S. 798 der zweiten Ausgabe hinzu, wo die angeführten
i
*) Vgl. die übersichtliche und zusammenfassende Darstellung bei Vaihinger,
S.6i9ff.
*) Kritik der reinen Vernunft, S. 700.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. Iqq
Vernunft begriffe als heuristische Fiktionen bezeichnet werden, und
sagt: „Würde man diese klassische Stelle immer vor Augen gehabt
haben, so hätte man die ganze Ideenlehre von vornherein besser
verstanden." ^)
Indessen, um es noch einmal zu sagen, die hier diskutierten
Ideen sind etwas ganz anderes, als Gott, Freiheit und Unsterb-
lichkeit. Von der Unsterblichkeit ist überhaupt nicht die Rede;
denn die Substantialität der Seele, die die erste Fragestellung
beherrscht, wird ausdrücklich auf die Verhältnisse ,,in diesem
Leben" eingeschränkt. Es handelt sich also gar nicht um ein
Glaubensobjekt, sondern um ein Erkenntnisprinzip. Die Freiheit
scheidet ebenfalls aus; in der zweiten kosmologischen Frage wird
lediglich das Kausalitätsproblem unter einem bestimmten, mit
der Freiheit in gar keinem Zusammenhang stehenden Gesichts-
punkt erwogen. Immerhin scheint der Gottesgedanke übrig zu
bleiben; und dieser Schein wird verstärkt durch den im Schema-
tismus der Vernunftkritik begründeten, hier aber ganz unpassenden
Zusatz: in der Theologie. Denn wovon ist eigentlich hier die
Rede } Gar nicht von Gott, sondern von der Welt, genauer,
wie schon oben bemerkt, von einer alle kompossiblen Gesichts-
punkte in sich befassenden theoretischen Weltbetrachtung. Es
kommen zwei Hauptgesichtspunkte in Betracht: der mechanische
und der teleologische. Dem Ideal des Mechanismus gemäß ist
die Welt als eine in sich geschlossene Einheit, ohne jeden Bezug
auf eine absolute Vernunft, zu betrachten. Gleichzeitig aber darf
sie nach Kant unter teleologischem Gesichtspunkt als eine über
sich selbst hinausweisende, auf eine absolute Vernunft bezogene
Einheit angesehen werden. Beweisbar im strengen Sinne des
Wortes ist keine der beiden Betrachtungsarten, weil beide mit
ihren Voraussetzungen über die Erfahrung hinausgreifen. Da
beide sich bei richtigem Gebrauch als erkenntnisfördernd be-
weisen, so ist es falsch, zu sagen: sie schließen sich aus. Vielmehr
sind sie einander zur Ergänzung bestimmt, und zwar so, daß die
theoretische Weltbetrachtung um so vollkommener sein wird, je
mehr es ihr gelingt, von beiden Idealen in der richtigen Weise
und an der richtigen Stelle Gebrauch zu machen. Sie sind, wie
die Idee der Substantialität und die der unendlichen Kausalreihe,
wertvolle ,, heuristische Fiktionen".
^) Vaihinger, a. a. 0. S. 620.
1 1 0 Heinrich Scholz :
In dieser Hinsicht hat Vaihinger vollkommen recht; aber
er übersieht, daß es sich gar nicht um religiöse Ideen, sondern
um ein bestimmtes Erkenntnisideal handelt. Es ist — der Aus-
druck ist nicht zu modern — das Erkenntnisideal des Monismus.
Man vergegenwärtige sich noch einmal, worum es sich handelt: um
die Einheit der seelischen Funktionen, um die unbegrenzte Ein-
heit der Kausalität, und um die Einheit des Weltgefüges in
mechanischer und in teleologischer Beziehung. Alle drei Ein-
heiten gehen schließlich zurück auf den Einheitstrieb der er-
kennenden Vernunft; und sofern sie auf ihn zurückgehen, steht
dieser im Mittelpunkt der Betrachtung. Der ganze untersuchte
Gedankengang ist eine Kritik dieses Einheitstriebes, und die ihm
zugehörigen Bestimmungen lassen sich gleichsam a priori ab-
leiten, sobald man diese Absicht erkannt hat. Es handelt sich
für Kant darum, diesen Einheitstrieb in die Grenzen zu schließen,
in denen er die Erkenntnis befruchten kann. Die bewunderungs-
würdige Besonnenheit Kants tritt auch hier wieder hell zutage.
Er lehnt diesen Trieb nicht einfach ab, weil er über die Erfahrung
hinausreicht, sondern er weist ihm den Spielraum zu, den er inner-
halb der Erfahrung für sich beanspruchen kann. Er ist zwar
kein konstitutives Prinzip, wie der dogmatische Monismus noch
heute behauptet, wohl aber ein regulatives, heuristisches Prinzip —
ein Prinzip, das der Erfahrung in dem Umfange vorgreifen darf,
in welchem es nachträglich durch sie bestätigt wird.
Nur das ist noch einmal entschieden zu betonen, daß die
kritisierten Ideen rein szicntifischen Ursprungs sind und gar nichts
mit Religion zu tun haben. Wir fügen zur Bestätigung noch eine
spätere Ausführung aus demselben Gedankengange, wenige Seiten
nach der eben besprochenen Hauptstelle, hinzu. Hier heißt es
vom psychologischen Substanzbegriff: Die Vernunft hat hierbei
,, nichts anderes vor Augen, als Prinzipien der systematischen
Einheit in Erklärung der Erscheinungen der Seele, näm-
lich alle Bestimmungen als in einem einigen Subjekte, alle Kräfte,
soviel möglich, als abgeleitet von einer einigen Grundkraft, allen
Wechsel als gehörig zu den Zuständen eines und desselben be-
harrlichen Wesens zu betrachten".^' Von der angenommenen
Grundkraft aber heißt es zuvor: ,,Die Idee einer Grundkraft, von
welcher die Logik gar nicht ausmittelt, ob es dergleichen gebe,
») S. 710.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. III
ist wenigstens das Problem einer systematischen Vorstellung der
Mannigfaltigkeit von Kräften. Das logische Vernunftprinzip er-
fordert, diese Einheit soweit als möglich zustande zu bringen;
und je mehr die Erscheinungen der einen und anderen Kraft
unter sich identisch gefunden werden, desto wahrscheinlicher
wird es, daß sie nichts als verschiedene Äußerungen einer und
derselben Kraft sein, welche (komparativ) ihre Grundkraft heißen
kann."^) ,,Die komparativen Grundkräftc müssen wiederum unter-
einander verglichen werden, um sie dadurch, daß man ihre Ein-
helligkeit entdeckt, einer einzigen radikalen, d. i. absoluten Grund-
kraft nahe zu bringen. Diese Vernunfteinheit aber ist bloß
hypothetisch. Man behauptet nicht, daß eine solche in der
Tat angetroffen werden müsse, sondern daß man sie zugunsten
der Vernunft . . . suchen, und, wo es sich tun läßt, auf solche
Weise systematische Einheit ins Erkenntnis bringen
müsse." ^)
Nichts anderes als eine kritische Exposition dieses monistischen
Erkenntnisideals ist auch die folgende, wegen ihres Als -ob -Charakters
in diesen Zusammenhang gehörige Würdigung der sogenannten
Gottesidee. ,,Den Gegenstand dieser Idee", sagt Kant an der
in Betracht kommenden Stelle, ,, haben wir nicht den mindesten
Grund, schlechthin anzunehmen (an sich zu supponieren) ; denn
was kann uns wohl dazu vermögen oder auch nur berechtigen,
ein Wesen von der höchsten Vollkommenheit ... zu glauben . . .,
wäre es nicht die Welt, in Beziehung auf welche diese Supposition
allein notwendig sein kann; und da zeigt es sich klar, daß die
Idee desselben, so wie alle spekulativen Ideen, nichts weiter
sagen wolle, als daß die Vernunft gebiete, alle Verknüpfung
der Welt nach Prinzipien einer systematischen Einheit
zu betrachten, mithin als ob sie insgesamt aus einem einzigen
ailbefassenden Wesen als oberster und allgenugsamer Ursache
entsprungen wären."") Die Gottesidee ist in diesem Zusammen-
hange jedes religiösen Charakters entkleidet; sie erscheint hier
lediglich als ein metaphysisches Symbol für die Einheit der das
Weltgefüge umspannenden Kausalität. Kant selbst hat die
oberste Weltursache des kosmologischen Beweises, ja selbst den
^) a. a. 0. S. 677,
2) S. 677 f.
®) Kritik der reinen Vernunft, S. 714.
112 Heinrich Scholz :
erhabenen Wcltbaumeister des teleologischen Argumentes sehr
genau von dem Gott des religiösen Bewußtseins unterschieden.
Er hat gezeigt, wie viel ihnen zu diesem fehlt. Wir machen also von
seiner eigenen Erkenntnis Gebrauch, wenn wir der an dieser Stelle
erscheinenden Gottesidee den religiösen Charakter absprechen.
Das Ergebnis unserer Nachprüfung ist also dieses. Die der
Als-ob-Richtung angehörigen Partien der kritischen Ideenlehre
beziehen sich gar nicht auf die Religion, sondern auf die Ideale
des intellektuellen Monismus. Sie beziehen sich auf Ideen, deren
Bedeutung darin besteht, ,,den Verstand zu einem gewissen
Ziele zu richten", nämlich, ihm ,,dic größte Einheit neben der
größten Ausbreitung zu verschaffen".^) Dagegen fehlt diesen
Ideen jeder Bezug auf die sittliche Weltanschauung, also das,
was sie im Sinne des Kritizismus überhaupt erst zu religiösen
Ideen macht. Die deduzierten Ideen sind nicht religiös, und die
religiösen Ideen sind nicht deduziert, d. i. sie sind in diesen Partien
überhaupt nicht in Betracht gezogen. Der religiöse Schein stammt
lediglich aus der irreführenden Beibehaltung des Ausdrucks ,,Gott",
die sich, wie bemerkt, aus dem allgemeinen Schematismus der
Vernunftkritik erklärt.
Wo aber die religiösen Ideen wirklich theoretisch diskutiert
werden, da sind sie nach Kant nichts weniger als ,, heuristische
Fiktionen" ohne objektive Bedeutung, sondern ,, fehlerfreie Ideale",
deren ,, objektive Realität" auf dem Wege der logischen Speku-
lation ,,zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden
kann". ,,Und wenn es", fährt Kant bedeutsam fort, ,,eine Moral-
theologic geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so be-
weist alsdann die vorher nur problematische transzendentale Theo-
logie ihre Unentbchrlichkeit durch Bestimmung ihres Begriffs und
unaufhörliche Zensur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten
und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft."^)
Und auch darauf kann Vai hinger nicht zurückgreifen, daß
Kant in seiner Philosophie des Christentums gewisse christliche
Dogmen und Ideen, wie die der Jungfrauengeburt, der Genug-
tuung, des jüngsten Gerichtes, als Symbole gelten läßt. ^) Selbst-
^) Kritik der reinen Vernunft, S. 672.
*) Kritik der reinen Vernunft, S. 669.
=>) Vaihinger, S. 735.
Die Religionsphilosophie des Als-ob. I I ■?
verständlich bedeutet das nicht eine Anerkennung des meta-
physischen Tatbestandes, den diese Dogmen und Ideen ursprüng-
lich auszudrücken bestimmt waren. Es bedeutet vielmehr, wie
Vai hinger selbst einmal fein und überaus zutreffend bemerkt
hat, eine Wendung vom Metaphysischen ins Metaphorische. Aber
die Anerkennung der Gottesidee ist eine von dieser völlig ver-
schiedene. Sie ist auch nicht mit der klassischen Interpretation
des religiösen Anthropomorphismus zu vergleichen. Eine solche
Vergleichung würde vielmehr eine irreführende Verwechslung be-
deuten. Der Anthropomorphismus des religiösen Sprachgebrauchs
ist im Sinne des Kritizismus wirklich nur von subjektiver Be-
deutung. Von einer anderen Bedeutung kann er gar nicht sein;
denn er drückt immer nur aus, wie wir Gott sehen und moralisch
zu sehen genötigt sind, nicht aber, wie Gott an sich beschaffen ist.
Indessen, die Vorstellung des höchsten Wesens ist etwas
ganz anderes, als die Tatsache seines Daseins. Man kann die
bildliche Auffassung Gottes so entschieden zurückweisen, wie es
die großen Mystiker und hernach Spinoza und Fichte getan
haben, und doch, wie diese, aufs unbedingteste von der objektiven
Realität des Göttlichen überzeugt sein.^) Nicht anders liegen die
Dinge bei Kant. Auch er unterscheidet auf das genaueste zwischen
dem Dasein Gottes als solchem und der Art, wie wir es uns vor-
stellen. Die Vorstellung bleibt immer inadäquat, auch wenn das
Dasein des höchsten Wesens aus adäquaten Gründen gewiß ist;
und es ist nicht zulässig, aus dem Als-ob-Charaktcr der Gottes-
vorstellung auf die Als-ob-Natur seines Daseins zu schließen.
^) Besonders lehrreich in diesem Zusammenhange ist auch die merkwürdige
Äußerung eines so dezidierten religiösen Realisten wie Lavater gegen Jacob i
vom 13. Dezember 1787: „Der Gott, der sich zeigen kann, der persönliche Gott
als solcher, ist, wenn ich so sagen darf, nur eine Silhouette Gottes, des unschau-
baren, weltentragenden — nur ein relativer Gott! Ein Gott für Personen —
ein Ich für Ichheiten." (Vgl. meine Ausgabe der Hauptschriften zum Pantheismus-
streit zwischen Jacobi und Mendelssohn, 1916, Einleitung, S. CXXV.)
Annalen der Philosophie. I.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht
Von
Professor Krückmann-Münster i. W.
Inhaltsübersicht.
§ I. Einleitung. Täuschung durch das sinnhch Wahrgenommene. Un-
bewußte Abweichung von der Wahrheit. Diese vielfach nach und trotz besserer
Erkenntnis aufrecht erhalten mit Rücksicht auf die Verkehrssicherheit.
§2. Rechtserwerb im guten Glauben. „Nemo plus iuris transferre potest
quam ipse habet" oberster Grundsatz des Rechtes. Durchbrochen, um den gut-
gläubigen Erwerber zu schützen. Übereinstimmung zwischen Rechtsstand und
Besitzstand angestrebt, Ergänzung durch Ersitzung und Verjährung der Eigentums-
klage. Rechtserwerb im guten Glauben gilt nicht bei gestohlenen, verlorenen oder
abhanden gekommenen Sachen. Wo du deinen Glauben gelassen hast, sollst du
ihn wieder suchen, Hand wahre Hand. Keine Veräußerungsmacht des Veräußerers,
keine gesteigerte Erwerbstätigkeit des Erwerbers, aber auch kein grundsätzliches
Aufgeben des Satzes: ,,Nemo plus iuris . . .". Scheinrecht nur Beschreibung, keine
Erklärung, Grund der Wirkung die dem Scheinberechtigten zustehende, hinter
dem Scheinrecht sich versteckende Ausübungsmöglichkeit des Nichtberechtigten
in Ansehung fremder Rechte. Die verschiedenen Befugnisse des Eigentums. Unter-
schied von Recht und Möglichkeit der Rechtsausübung, Unentziehbarkeit der Rechts-
stellung, Selbstbehauptungsfähigkeit des Rechtes. Ausübungsmöglichkeit gründet
sich auf Besitz, das äußerlich sichtbare tatsächliche Haben im Gegensatz zum un-
sichtbaren rechtlichen Haben. Buchbesitzer — Sachbesitzer. Rechtserwerb im
guten Glauben überträgt Eigentum, Nießbrauch, Pfandrecht, überhaupt alle ding-
lichen Rechte. Der gute Glaube deckt nicht bloß Mangel an Recht, auch Mangel
an Verfügungsbefugnis oder Verfügungserlaubnis.
§3. Sonstige dingliche Scheinberechtigungen. Gutgläubiger Eigen-
besitz, keine Haftung für Beschädigung, Fruchterwerb, Besitzklagen.
§4. Scheingläubiger und Scheinschuldner. A. Scheingläubiger.
Oberster Grundsatz des Rechtes: Der Schuldner wird nur durch Leistung an den
wahren Gläubiger frei. Durchbrochen im Interesse der Verkehrssicherheit. Schuldner
wird unter Umständen auch frei durch Leistung an fingierten Gläubiger: Buch-
besitzer, Sachbesitzer, Besteller des Nießbrauchs, Aktienbuch, Papierinhaber, Alt-
gläubiger (Patent, Verlagsrecht, Hypothek). Verkauf eines Handelsgeschäftes,
Eintritt in Geschäft eines Einzclkaufmanns, Anzeige von der angeblichen Ab-
tretung. Ungebundenes Privatvermögen — gebundenes Sondervermögen (Ge-
sellschaft, Gütergemeinschaft, Erbschaft). Anders Verpfändung und Pfändung
von Forderungen. Legitimation des Scheingläubigers gegenüber Dritten (Hypo-
thek, Wechsel, Orderpapiere). Bereicherung, Gewinnanteil der Aktionäre und
Kommanditisten .
B. Scheinschuldner. Scheinmissetäter. Abtretung der Forderung unter
Vorlegung der Schuldurkunde, Kündigung usw. der Hypothek gegen den ein-
getragenen Eigentümer, Verpfänder als Eigentümer. Unwahre Angaben des Minder-
jährigen über die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters.
§5. Güterrechtsregister. Eintragung der Änderung des Güterstandes
in das Register. Erwerbsgeschäft der Frau, vertragsmäßiges Vorbehaltsgut. Ein-
gebrachtes bei Errungenschafts- und Fahrnisgemeinschaft. Gütertrennung. Auf-
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I I c
hebung der Gütergemeinschaft. Wiederherstellung des früheren Gaterstandes.
Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft. Entziehung der Schlüsselgewalt.
Uneingeschränkte Durchsetzung der Wahrheit bei Verfügungen der Frau in gesetz-
lichem Güterstande.
§ 6. Scheinehe. Nichtigkeit, Anfechtbarkeit. Nichtigkeit bei unrichtiger
Todeserklärung. Zwitter. Schutz Dritter. Schutz des gutgläubigen Gatten.
Schutz der Kinder. Wesen der Nichtigkeitsklage. Wirkungen der Scheinehe sind
Wirkungen eines geschichtlich vorhandenen äußeren Vorganges, eines tatsächlich
vorhandenen Tatbestandes. Keine Wirkungen des gedachten Scheines eines ge-
dachten Rechtsverhältnisses. Dauerwirkungen wie bei echter Ehe. Ehebesitz.
§ 7. Rechtsstellung des Kindes. Beruht nur auf Fiktion. Einzelfälle,
eheliches, uneheliches Kind. Anfechtung der Ehelichkeit. Unterlassung der An-
fechtung. Doppelte Ehelichkeit, doppelte Vaterschaft. Unterhaltsanspruch des
fingiert ehelichen Kindes gegen den unehelichen Erzeuger. Streitfragen. An-
erkennung der Vaterschaft.
§ 8. Erbrecht. Erbe, Nichterbe, Erbrechtsbesitzer, Erbscliaftsbesitzer, Erb-
schein, Zeugnis des Testamentsvollstreckers. Unrichtige Todeserklärung. Zeugnis über
fortgesetzte Gütergemeinschaft. Ausübung gar nicht vorhandener Befugnisse.
§ 9. Personenvertretung, Verwaltungsrecht. Quittung. Vollmacht.
Auftrag. Geschäftsführung bei der Gesellschaft. Handlungsvollmacht. Schlüssel-
gewalt. Vereinsvorstand. Genossenschaftsvorstand. Verwaltungsbefugnis aus
eigenem Recht im ehelichen Güterrecht, kraft elterlicher Gewalt, kraft Vorerbschaft.
Vormund.
§ 10. Rückwirkende Kraft. Anfechtung von Rechtsgeschäften unter
Lebenden, von Testamenten. Erbunwürdigkeit. Anfechtung der Ehelichkeit
eines Kindes. Ausschlagung der Erbschaft. Genehmigung. Bestätigung der
Ehe. Erstarkung der Ehe. Gegenstück des Grundstückkaufs. Erstarkung des
Vertrages eines Minderjährigen. Unvordenklichkeit. Rücknahme der Eheanfech-
tungsklage. Unterbrechung der Verjährung.
§ II. Absolute Ungewißheit. Unbekannter Familienstand eines Minder-
jährigen. Findelkind. Schatzfund. Verschollenheit des Mündels.
§ 12. Sprachliche Fiktion. Zweifel beim Auftrag. Restwirkungen eines
untergegangenen Rechtsverhältnisses. Teilweiser Untergang im Gegensatz zu
yölligem Untergang.
§ 1. Eiuleituii
o»
Erfahrene Anwälte pflegen den Parteien gern zu sagen: Recht
bekommt im Prozesse nicht der, der es hat, sondern der, der es
beweisen kann. Darin ist für die praktische Leistung des Rechtes
das eigentliche und Hauptproblem beschlossen. Von anderer Seite
her faßt die Theorie dieses selbe Problem an, indem sie lehrt, daß
für das Recht nur der von der Partei geäußerte Wille in Betracht
komme, ein nicht geäußerter Wille unberücksichtigt bleiben müsse.
So unsinnlich die Rcchtswelt ist, ihre Äußerungen bewegen sich
alle im Gebiet des sinnlich Wahrnehmbaren und nur das Wahr-
genommene kann für die rechtlichen Entscheidungen der Parteien,
des Richters, des Gesetzgebers maßgebend sein. Das sinnlich
Wahrgenommene täuscht nun oft ein Bild vor, das der wahren
Rechtslage nicht entspricht, und da sehen sich Gesetz, Gericht
und Parteien oft genug genötigt, das Unwahre für wahr zu nehmen,
8*
I l(5 Krückmann:
CS als wahr zu behandeln, und müssen und wollen dabei auch dann
bleiben, wenn sich nachträglich herausstellt, daß das für wahr
Gehaltene unwahr war. Das unbewußt als unwahr behandelte
Wahre oder als wahr behandelte Unwahre wird vielfach aus
zwingenden praktischen Gründen auch nachher noch weiter als
unwahr oder wahr behandelt. Aus der unbewußten Abweichung
von der Wahrheit wird eine bewußte und bei ihr soll es sein Be-
wenden haben. Grund ist die Sicherheit des gutgläubigen Rechts-
verkehrs, die Unmöglichkeit, eine objektiv wahre Entscheidung
mit Sicherheit zu treffen, aber auch die Erwägung, daß andern-
falls Personen, die keinen Schutz verdienen, besser behandelt
werden würden als viel würdigere, und daß gewisse Schutzmaß-
nahmen strafrechtlicher Natur unter Umständen vollständig ver-
sagen würden, wenn wir uns statt an die Unwahrheit, d. h. richtiger
an den Schein der Wahrheit, vielmehr an die Wahiheit selber
halten würden.
Ein Rundgang durch das Recht wird dies bestätigen. Mir
als dem Zivihsten liegt natürlich das bürgerliche Recht am nächsten,
es liefert auch die feinsten Belege. Aus Gründen des Raumes
muß ich mich darauf beschränken, indem ich weiteres anderen
Beiträgen vorbehalte.
Dem Leser sei empfohlen, das Bürgerliche Gesetzbuch zur
Hand zu nehmen und die bloß zitierten, aber nicht ausgeschriebenen
Bestimmungen nachzulesen. Hätte ich alles ausschreiben wollen,
wäre die Abhandlung auf den dreifachen Umfang angewachsen.
Die Zitate ohne nähere Angabe sind Zitate aus dem Bürgerlichen
Gesetzbuch, BGB., sonst sind die Titel der angeführten Gesetze
immer voll ausgeschrieben.
Selbstverständlich mußte auf eine gewisse Auswahl gesehen
werden, erschöpfend ist der Stoff nicht gebracht, denn manche
Bestimmungen setzen derart eingehende Einführung voraus, daß
Rücksichten auf den Raum es verboten, sie überhaupt zu erwähnen.
Der Wert des Beispiels wäre zu teuer erkauft worden, zumal diese
mehr oder weniger versteckten Fälle im Leben doch nicht so
häufig vorkommen, daß sie als wirkungskräftiges Beispiel ein-
geschätzt werden könnten.
Eine gelegentliche Abrundung, die ich eingeflochten habe,
soll dem Leser den Stoff interessanter machen oder sein weiter-
gehendes Kausalitätsbedürfnis befriedigen, damit er nicht mit
ungelösten Fragen von der Lesung scheidet.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. 117
§ 3. Rechtserwerb im guten Ulaubeii.
I. Oberster Grundsatz unseres Rechtes ist, daß niemand
mehr Rechte übertragen kann als er hat. Logischer Zwang führte
schon die Römer zur Formulierung dieses Grundsatzes: Nemo
plus iuris transferre potest quam ipse habet. Wir haben uns dar-
über hinweggesetzt und so beobachten wir täglich die Folge-
widrigkeit, daß jemand Rechte übertragen kann, die ihm gar nicht
gehören. An sich ist die Übertragung fremder Rechte nichts
Wunderbares, es muß dann aber Vollmacht oder Erlaubnis des
wahren Berechtigten vorliegen, der zu der Veräußerung durch
den Nichtberechtigten seine Einwilligung gibt. Das Eigentümliche
bei dem Rechtserwerb im guten Glauben ist, daß hier die Rechts-
übertragung ohne und gegen den Willen des wahren Berechtigten
erfolgt, §§932ff.
Die rechtspolitische Erwägung ist einfach: Einer muß den
Schaden tragen, der Eigentümer oder der gutgläubige Erwerber,
der die Sache voll bezahlt hat. Außerdem besteht ein Bedürfnis,
daß Eigentums- und Besitzordnung nicht zu lange miteinander in
Widerspruch stehen. Um den Widerstreit zwischen Eigentums-
und Besitzordnung auszugleichen, sind Rechtserwerb im guten
Glauben, Ersitzung und Verjährung der Eigentumsklage ein-
geführt, denn einmal muß sich schließlich auch ein rechtswidriger
Besitzstand gesetzlich legalisieren, muß aus einem unrechtmäßigen
zu einem rechtmäßigen werden, muß den gesetzlichen Schutz er-
halten, weil er sich tatsächlich zu behaupten gewußt hat.
Man kann nun drei Abstufungen beobachten und je nachdem
tritt die Übereinstimmung zwischen Eigentumsordnung und Besitz-
ordnung früher oder später ein.
Der Eigentümer verleiht Bücher an einen Freund, der dar-
über hinwegstirbt. Die Erben lassen die Bücherei ihres Vaters
versteigern oder verkaufen sie unter der Hand an einen Antiquar.
Dieser erwirbt im guten Glauben alle Bücher und wird sofort mit
der Übereignung Eigentümer auch der fremden, §§ 932ff.
Dem Eigentümer sind Schmucksachen, oder bei einem Ge-
schäfte Lebensmittel, wertvolle Stoffe, Pelzwaren, Schuhe usw.
gestohlen, der Käufer erwirbt, weil die Sachen zu den ge-
stohlenen, verlorenen oder sonst abhanden gekommenen Sachen
gehören, trotz guten Glaubens kein Eigentum, § 935. Aber er
j I g Krückmann :
kann, weil er gutgläubig ist, ersitzen, und ersitzt in lO Jahren,.
§§ 937"-
Ist er nicht gutgläubig, d. h. es ist ihm bekannt oder infolge
grober Fahrlässigkeit unbekannt, daß die Sache nicht dem Ver-
äußerer gehört, § 932 II, dann ist Rechtserwerb im guten Glauben
wie Ersitzung ausgeschlossen und es bleibt nur noch die Ver-
jährung des Herausgabcanspruches des Eigentümers, §§ pSsff.,
195, 222. Der Eigentümer kann wegen Verjährung seines Heraus-
gabeanspruches die Sache nicht von dem Diebe oder dem bös-
gläubigen Käufer herausfordern, §§ 195, 222. Er behält sein Eigen-
tum, kann es aber gegenüber der Verjährungseinrede nicht geltend
machen. Das praktische Ergebnis überrascht vielleicht, aber dem
Bösgläubigen soll aus Unrecht kein Recht erwachsen.
Alle diese Bestimmungen erweisen eines: Das Recht erkennt
die zwingende praktische Notwendigkeit an, den tatsächlichen
äußeren Zustand der Dinge, nämlich die Tatsache, daß der bloße
Besitzer die Sache tatsächlich, wenn auch nicht rechtlich, hat,
schließlich doch in einen Rechtszustand überzuführen, sei er auch
noch so unvollkommen. Es kann auch nicht anders sein. Recht
und Besitz müssen sich nach Möglichkeit immer in derselben
Hand zusammenfinden, und es kann auf die Dauer der Zustand
nicht aufrecht erhalten werden, daß dem Eigentumsrechte nicht
auch der wahre Besitzstand entspricht. Theoretisch ist an sich
das normale Mittel, die wünschenswerte Übereinstimmung zwischen
Rechtsstand und Besitzstand herbeizuführen, die Eigentumsklage,
die Klage auf Herausgabe der Sache, die der nichtbesitzende
Eigentümer gegen den besitzenden Nichteigentümer anstrengen
kann, §§ 985ff. Aber darauf können wir nicht immer warten
und wir wollen darauf auch nicht immer warten, sondern schützen
aus zwingenden Gründen der Verkehrssicherheit den gutgläubigen
Besitzer, versagen also die Klage aus § 985 ff. Nicht bloß der
Besitz soll zum Eigentum gezogen werden, sondern der Besitz
zieht umgekehrt auch das Eigentum an sich.
Aber nicht immer. Gestohlene, verlorene oder sonst ab-
handen gekommene Sachen können nicht auf Grund des bloßen
guten Glaubens erworben werden, § 935. Der Grund ist, daß
sie ohne den Willen des Eigentümers in den menschlichen Ver-
kehr geraten sind. Wer seine Sache wissentlich und willentlich
einem Mieter, einem Entleiher, einem Verwahrer, einem Hand-
werker, einer Fabrik anvertraut, muß nehmen, was danach kommt^
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. ng
wenn diese an gutgläubige Dritte weiter veräußern. Er muß sich
an den halten, der sein Vertrauen betrogen hat: Wo du deinen
Glauben gelassen hast, sollst du ihn wieder suchen. Oder: Hand
wahre Hand. Gutgläubige Dritte sollen nicht darunter leiden,
daß der Eigentümer sein Vertrauen einem Menschen schenkte,
der es nachher enttäuscht. Strafrechtlich zugespitzt heißt dies:
§ 935 gewährt wohl Schutz gegen den Diebstahl, aber nicht gegen
die Unterschlagung.
H. Man hat über die juristische Konstruktion dieser Er-
scheinung gestritten. Die einen behaupteten, der Veräußerer
hätte eine besondere Veräußerungsmacht, kraft deren er fremde
Sachen wirksam veräußern könnte. Die Unhaltbarkcit ergibt
sich aus dem bekannten Wort Regelsbergcrs, was dies denn
für eine Macht sei, die vor dem bösen Glauben des Erwerbers
hinschmölze wie die Butter an der Sonne. In der Tat, das, was
wir Juristen unter Macht, insbesondere rechtlicher Macht, ver-
stehen, kann der Veräußerer nicht haben, denn mit dem Begriff
der Macht verbinden wir immer die Vorstellung des Unentzieh-
baren, dem nicht durch beliebige Eingriffe oder Handlungen
Dritter oder durch Ereignisse, die bei Dritten eintreten, ein Ende
gemacht werden kann. Solche schwankenden und unsicheren
Rechtsstellungen sind keine Machtstellungen. Darum ist z. B.
auch der Ausdruck Vollmacht im juristischen Sinne nicht ganz
glücklich, denn die Vollmacht kann grundsätzlich jeden Augen-
blick widerrufen werden, ist also alles andere eher als echte Macht.
Andere haben mit der Annahme einer gesteigerten Erwerbs-
fähiskeit des Erwerbers zu helfen versucht. Diese Vorstellung
scheitert daran, daß sie mit unseren Kausalitätsvorstellungen
nicht vereinbar ist. Der Erwerber soll deshalb eine gesteigerte
Erwerbsfähigkeit haben, weil dem Veräußerer etwas an seinen
Befugnissen abgeht. Eine merkwürdige Gedankenverbindung, die
uns nicht darüber aufklärt, wieso es kommt, daß ein ausgesprochener
rechtlicher Mangel bei dem Veräußerer eine solche verstärkende
Einwirkung auf die rechtlichen Fähigkeiten des Erwerbers haben
soll. Ist es schon unvorstellbar, daß Umstände, die bei dem Ver-
äußerer vorliegen, überhaupt die Rechtsstellung oder die recht-
lichen Fähigkeiten des Erwerbers sollen beeinflussen können, so
streitet es noch mehr gegen unsere Vorstellung, daß ein Rechts-
mangel beim Veräußerer ausgerechnet eine die Fähigkeiten des
Erwerbers steigernde Wirkung haben soll. Die Germanisten haben
j20 Krückmann:
sich geholfen, indem sie Wort und Begriff des Rechtsscheins ein-
führten. Damit geben sie eine äußere Beschreibung, aber keine
juristische Analyse, erklären überdies nicht, was der bloße Schein
für Kräfte und Fähigkeiten haben soll, um dem Nichteigentümer
die Veräußerung einer fremden Sache zu ermöglichen. Wir ge-
raten mit diesen Erörterungen über die Kräfte und Fähigkeiten
des Rechtsscheins schon in die Fiktionen hinein, es bleibt uns
aber nichts anderes übrig, denn auch die sonstigen Erklärungs-
versuche arbeiten ebenfalls mit Fiktionen. Die handgreiflichste
und widerspruchsvollste ist die Verfügungsmacht des Nichteigen-
tümers, nicht besser ist die gesteigerte Erwerbsfähigkeit, be-
friedigender ist schon der Rechtsschein, aber auch er reicht nicht
hin. Einmal gibt es Fälle, wo der Rechtsschein offenkundig falsch
ist, aber doch funktioniert, wir werden im Familienrecht der-
artiges noch kennen lernen, sodann sagt der Schein als Schein,
daß eben das positive juristische Etwas, das die Wirkungen des
Rechtserwerbes im guten Glauben rechtfertigen soll, noch immer
fehlt.
Andernfalls kommt man zu dem wissenschaftlichen Bank-
bruch, der aber auch schon vorgekommen ist, anzunehmen, daß
für die Wirkungen gar nicht das vollgültige Rechtsgeschäft nötig
wäre, sondern immer und überall nur das Schcinrechtsgeschäft.
Damit würden wir aber die oberste Grundlage aller unserer juri-
stischen Vorstellungen aufgeben. Wir können nun einmal den
Satz nicht entbehren, daß niemand mehr Rechte übertragen kann,
als er hat, und nur der Rechte übertragen kann, der sie hat. Nur
mit diesen beiden Sätzen können wir Ordnung in die Dogmatik
und in das praktische Rechtsleben bringen. In gewissen Fällen
kann aber auch ein Nichteigentümer an den gutgläubigen Er-
werber das Eigentum übertragen. Also — folgerten einige —
ist der Satz: Nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet
und sein Gegenstück falsch oder mindestens entbehrlich und das
Eigentum wird auf den Erwerber überhaupt nicht deswegen über-
tragen, weil der Veräußerer es hat; es ist entbehrlich, um den
Eigentumserwerb des Erwerbers zu erklären. Damit schüttete
man das Kind mit dem Bade aus, denn es wird doch niemand
zweifeln, daß der Kaufmann, der mir einen Strohhut übereignet,
mir deshalb das Eigentum verschaffen kann und verschafft, weil
er selber Eigentümer ist und kraft seines Eigentums die Befugnis
hat, mir sein Eigentum zu übertragen. Wir würden uns allen
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. 1 2 I
sicheren Boden unter den Füßen fortziehen, wollten wir die Vor-
stellung aufgeben, daß überall dort, wo der Verfügende Inhaber
des vollen Rechtes ist, seine Verfügung auf dieses sein Vollrccht
zurückzuführen ist.
Dann muß aber die Verfügung des Scheinberechtigten auf
mehr als einen bloßen Schein zurückgeführt werden. Der Schein
ist das Nichts und aus nichts kommt für uns Juristen nichts.
Das ist das Denkgerät, mit dem wir arbeiten und so, wie die Dinge
nun einmal liegen, auch arbeiten müssen. Also muß zwischen dem
Nichts und dem vollwirksamen Rechtsverhältnis, dem vollwirk-
samen Rechtsgeschäft noch ein Drittes in der Mitte sein, das wir
nur äußerlich beschreiben, aber nicht juristisch analysieren, wenn
wir es als Rechtsschein bezeichnen. Dieses Mittelding hat mit
dem wahren Recht und dem vollwirksamen Rechtsverhältnis das
Rätselhafte gemeinsam, daß es wohl Dauerwirkungen äußern
kann, selber aber nichts Dauerndes zu sein braucht.
Was bei dem wahren Berechtigten unentziehbare rechtliche
Befugnis ist, ist dem Scheinberechtigten entziehbare bloße
Möglichkeit. In der Tat liegt in den Worten Befugnis und
Möglichkeit der eigentliche Unterschied beschlossen.
Man muß von dem normalen Fall der Veräußerung ausgehen,
wo der Veräußerer das volle Recht hat und es voll übertragen kann
und will. Dies geschieht durch Ausübung der in jedem Eigentums-
rechte enthaltenen Verfügungsbefugnis. Das Eigentum läßt sich
in folgende Gruppen von Befugnissen zerlegen.
1. Die Befugnis zu körperlicher Einwirkung als solche, z. B.
Verbrennen des erhaltenen Briefes. Eine solche wird meistens
fahrlässig ausgeübt: Der Eigentümer zerbricht seinen Teller, stößt
die Fensterscheibe ein, brennt sich mit der Zigarre ein Loch in
seinen Rock, stößt die Flasche mit Tinte um.
2. Die Nutzungsbefugnis. Die eigentliche und hauptsächlichste
Befugnis, in deren Dienst alle anderen stehen. Der Eigentümer
sitzt auf dem Stuhl, schläft in dem Bett, ißt mit der Gabel, trinkt
aus dem Glase, trägt seine Kleidung, benutzt sein Rad usw. Am
vielseitigsten sind die Nutzungsbefugnisse bei Grundstücken, da
hier die Nutzungshandlungen am vielseitigsten sind : gehen, stehen,
fahren, Vieh treiben, reiten, graben, pflügen, ernten, wohnen.
Steine brechen, Lehm, Kies, Mergel, Sand, Torf graben, Wasser
schöpfen und leiten. Entsprechend zerlegt man auch die eine
große Nutzungsbefugnis in Unterarten, die aus dem römischen
122
Krückmann ;
Rechte als die verschiedenen Dienstbarkeiten bekannt sind: ser-
vitus itineris, actus, viae, aquaehaustus, aquacductus, pecoris ad
aquam appulsus, ne luminibus officiatur, ne prospcctui officiatur usw.
3. Verfügungsbefugnis. Sie steht aus eigenem Rechte nur
dem Eigentümer und dem Pfandgläubiger zu. Der Pfandgläubiger
kann fremdes Eigentum übertragen, aber zu diesem Bchufe ist
ihm ausdrücklich ein besonderes Recht gegeben, eben die im
Eigentum enthaltene Verfügungsbefugnis.
4. Schutzbefugnis, als Klage des Eigentümers auf Heraus-
gabe der Sache, Klage des nicht besitzenden Eigentümers gegen
den besitzenden Nichteigentümer, §§985 ff.; ferner Klage des be-
sitzenden Eigentümers wegen Störung, z. B. durch Anmaßung
einer Weide-, Wege-, Wassergerechtigkeit, § 1004.
Von diesen vier Gruppen kommt für uns die dritte in Betracht.
Wenn der veräußernde Nichteigentümer an den gutgläubigen Er-
werber das Eigentum überträgt, so ist dies gar nicht anders juri-
stisch erklärbar als durch die Vorstellung, daß man sagt, der ver-
äußernde Nichteigentümer übe die Verfügungsbefugnis des Eigen-
tümers aus. Dann muß ihm aber die Ausübungsmöglichkeit für
diese ihm fremde Befugnis zustehen und, wenn wir dies annehmen,
gewinnen die für unsere Vorstellung unerläßliche Möglichkeit, ein
positives Etwas als Grund für die rechtswirksame Verfügung des
Nichtberechtigten anzunehmen und auf diese Weise ,, nachzuweisen".
Es ist ein von uns selber erst geschaffener Kunstgriff, die Ver-
fügungsbefugnis als Bestandteil des Eigentums zu denken, so-
dann hierfür eine gesonderte Ausübungsmöglichkeit vorzustellen
und zuletzt diese gesonderte Ausübungsmöglichkeit auch dem
Nichtberechtigten zu geben. Damit gewinnen wir den Vorteil,
die positiven Rechtswirkungen der Verfügung auf ein positiv
,, wirkendes" Etwas zurückzuführen, vermeiden zugleich die un-
durchführbare Vorstellung, daß dem Nichtberechtigten eine echte
Verfügungsmacht zustehe, w'ie sie nur dem Eigentümer und dem
Pfandgläubiger zukommen. Analysiert man den Rechtsschein der
Germanisten schärfer und holt man das, was hinter ihm steckt
und was für uns Juristen schlechterdings unentbehrlich ist, hervor,
so stoßen wir zuletzt auf eine bloße Ausübungs möglich keit,
die deshalb, weil sie bloße Möglichkeit ist, auch vor dem bösen
Glauben des Erwerbers in nichts zusammensinkt und wirkungslos
sich restlos auflöst. Zugleich vermeiden wir mit der auf die Ver-
fügungsbefugnis beschränkten Ausübungsmöglichkeit, dem Nicht-
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
123
berechtigten weitere Eigentumsbefugnissc zu geben, die ihm
zweifellos nicht zustehen, ihm auch nicht gegeben werden sollen,
z. B. Nutzungsbefugnisse.
III. Da es sich um eine ganz allgemeine Erscheinung handelt,
muß noch etwas tiefer gegraben werden. Die Uncntziehbarkeit
der Rechtsstellung bedeutet, daß der Berechtigte sich in der Inne-
habung dieser Rechtsstellung selber behaupten kann. Beweis
hierfür ist die Klage des nichtbesitzenden Eigentümers gegen
den besitzenden Nichteigentümer auf Herausgabe der Sache,
§§ 985 ff., nicht minder die Klage des besitzenden Eigentümers
gegen den Störer, der sich eine Dienstbarkeit, etwa ein Wege-
recht, an dem Grundstück des Klägers anmaßt, § 1004. In der
Aufzählung der im Eigentum enthaltenen verschiedenen Befugnisse
ist unter Nr. 4 die Schutzbefugnis aufgeführt; sie macht das Eigen-
tum erst zum richtigen Recht, denn sie sichert ihm seine Rechtsy
Stellung. Mit ihr zieht er die Sache immer wieder an sich heran,
wenn sie ihm abhanden gekommen ist, er behauptet sich mit ihr,
sie gibt die Selbstbehauptungsfähigkeit aus eigener Kraft, aus
eigenem Recht. Das letzte unzerstörbare Merkmal echten Rechts
ist diese vom Staate gewährte und gewährleistete Selbstbehauptungs-
fähigkeit aus eigenem Rechte, die Uncntziehbarkeit der Rechts-
stellung. Dem Gläubiger kann sein Forderungsrecht gegen seinen
Willen nicht entzogen werden und er macht seine Selbstbehauptungs-
fähigkeit aus eigenem Rechte dadurch geltend, daß er den Schuldner,
der nicht zahlen will oder der die Zahlungspflicht leugnet, verklagt,
ein obsiegendes Urteil, d. h. eine behördliche Feststellung seines
Rechtes durchsetzt und nunmehr unter behördlicher Hilfe mittels
der Zwangsvollstreckung die Leistung erzwingt. Nirgendwo mehr
bewährt es sich, daß echtes Recht auch zugleich echte rechtliche
Macht ist. Macht aber kann sich, eben weil sie Macht ist, durch
sich selbst behaupten.^) Dies hat bei dem Forderungsrecht noch
eine ganz besondere Seite. Jede Forderung richtet sich nur gegen
eine ganz bestimmte Person oder gegen eine ganz bestimmte und
genau begrenzte Gruppe von Personen, gegen den Schuldner
oder gegen die Schuldner (z. B. wenn einer oder wenn mehrere
zusammen für den angerichteten Schaden haftbar sind). Darin
^) Entsprechend ist es falsch, den Zivilprozeß immer nur als Schutzmittel
für den Gläubiger zu betrachten, er ist auch ein Hindernis: Der Gläubiger muß
sein Recht prüfen lassen.
124
Krückmann ;
spricht sich die Relativität des Forderungsrechtes aus. Es hat
aber auch eine absolute Wirkung gegen jedermann, und diese
zeigt sich im Prätendentenstreit, wenn dem Gläubiger das For-
derungsrecht von einem anderen, der Gläubiger zu sein behauptet,
bestritten wird. Dann kann der Gläubiger sein Forderungsrecht
gegen jeden, der ihm die Zuständigkeit bestreitet und sie für sich
selber in Anspruch nimmt, feststellen lassen und sich dergestalt
in der Innehabung der Forderung gegen jedermann behaupten.
Hierin zeigt sich nur dieselbe Selbstbehauptungsfähigkeit aus
eigener Kraft, die gegen den widerstrebenden Schuldner durch-
schlägt und ihr Seitenstück in der Durchschlagskraft der Eigcntums-
klagen gegen die Nichteigentümer hat.
Das eigentliche Rätsel besteht darin, daß ein Etwas, dem jede
Fähigkeit zur unbedingten Selbstbehauptung abgeht, dieselben
Dauerwirkungen äußern kann wie das echte Recht. Denn das
ist das Eigentümliche, daß die einmal eingetretenen Wirkungen
erhalten bleiben, als ob sie von dem echten Recht ausgegangen
wären. Dieses Rätsel darf aber um so weniger schrecken, als wir
ja schon längst mit unseren Vorstellungen vom wirkenden Etwas,
Selbstbchauptungsfähigkeit aus eigener Kraft, mitten im bloß
Bildhaften oder in der Fiktion drinstecken. Es handelt sich für
uns doch nur darum, die Folgerungen einer selbstgeschaffenen
Fiktion wieder abzustoßen. Die Selbstbehauptungsfähigkeit aus
eigener Kraft ist eine Fiktion, die wirkende Kraft ist eine Fiktion,
die Folgerung, daß nur die Ausübung echter Rechte vollwirksam
sein könnte, ist Folgerung aus einer Fiktion und wird abgeschnitten
dadurch, daß wir einen neuen Aushilfsbegriff erfinden, die bloße
Möglichkeit, insbesondere die bloße Ausübungsmöglichkeit. Diese
aber wieder läßt sich auf einen anderen Begriff der Rechtswissen-
schaft zurückführen, auf den umstrittensten und rätselhaftesten
von allen, der schließlich aber doch der einfachste und elemen-
tarste ist, den jedes Reche kennt und als ersten verwendet.
IV. Die dem Nichtberechtigten zustehende Ausübungsmöglich-
kcit in Ansehung der Verfügungsbefugnis gründet sich auf seinen
Besitz, auf die äußerlich sichtbare, sinnlich wahrnehmbare Tat-
sache des tatsächlichen Habens, §§ 929ff. Was das besagen will,
kann jeder selber ermessen, wenn er nur seine eigenen täglichen
Beobachtungen juristisch schärfer nachprüft. Wenn auf der Land-
straße eine Person in bäuerlicher KJeidung ein Bauernfuhrwerk
fährt, kann niemand mit Gewißheit sehen und sagen, der Fuhr-
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I25
mann sei der Eigentümer, er kann auch das Gegenteil nicht sagen.
Er wird sich aber doch immer an die bloße Tatsache des äußerlich
erkennbaren tatsächlichen Habens halten und wird dieser Tat-
sache vertrauen, er wird freilich nicht wissen, ob sein Vertrauen
richtig ist. Nach dem, was er wahrnimmt, wird er den Fuhrmann
für den Eigentümer halten, denn gewöhnlich pflegt der Bauer
selber zu fahren. Sitzt aber ein siebzehnjähriger Mensch auf
dem Wagen, wird man ihn schon nicht mehr für den Eigentümer
halten, sondern sich sagen, daß er wahrscheinlich in fremdem
Auftrage das Fuhrwerk lenke. Noch deutlicher wird es, wenn
ein herrschafthches Fuhrwerk von einem Kutscher in Kutscher-
kleidung gelenkt wird. Es wird niemand auf Eigentum des Kutschers
schließen, obgleich in der Stadt die sogenannten unnummerierten
Droschken häufig genug von den Fuhrherren selber in Kutscher-
kleidung gefahren werden.
Dem Reiter sieht man nicht an, daß er kein Eigentümer ist.
Anders, wenn es der bekannte Stößer aus dem Leihstall ist, auf
dem die Sonntagsreiter ihre Verdauung aufbessern. Von dem
Studenten und der Studentin nimmt man an, daß die von ihnen
getragene Mappe ihnen gehört, ihr Eigentum ist; von der Ordon-
nanz, dem Kassenboten, dem Gerichtsdiener, dem Universitäts-
pedellen weiß man das Gegenteil.
Die Verkäuferin vom Lande, die mit Butter, Eiern, Geflügel,
Gemüse zum Wochenmarkt kommt, wird jeder auch für die Eigen-
tümerin des Korbinhaltes halten, besser Unterrichtete werden
aber oft wissen, daß sie es nicht ist, sondern daß sie im Auftrage
anderer kommt und fremde Sachen mit Einwilligung des Eigen-
tümers verkauft. Andererseits ist sich über die Rolle des ein-
kaufenden Dienstmädchens mit der weißen Schürze jedermann klar.
Läßt sich also zuweilen unter besonderen Voraussetzungen
leicht ersehen und feststellen, daß der Besitzer der Sachen nicht
ihr Eigentümer sein kann, so bleibt doch in den meisten Fällen
die Wahrheit für die große Menge verborgen. Diese hält sich er-
fahrungsgemäß an das, was sie mit den Sinnen wahrnimmt, und
behandelt dementsprechend den bloßen Besitzer der Sache so
lange als Eigentümer, bis ihr das Gegenteil klar geworden ist.
Dem trägt das BGB. Rechnung und gibt dem bloßen Besitzer
innerhalb der angegebenen Grenzen die Möglichkeit, zugunsten
des gutgläubigen Dritten über das Eigentum zu verfügen. Dann
ist es aber auch nur folgerichtig, von einem bloßen Besitz an der
1 26 Krückmann :
Verfügungsbefugnis zu sprechen. Dieser Besitz ist das tatsächliche
Haben der Verfügungsbefugnis im Gegensatz zum rechthchen
Haben, dem Eigentum und dem Pfandrecht. In dem bloß tat-
sächlichen Haben liegt seine Natur als einer in Wirklichkeit recht
unsicheren Rechtsstellung beschlossen. Wenn der Prüfungskandidat
mit dem gemieteten „glückbringenden" Examenszylinder dem
Prüfungsgebäude zustrebt und der Wind ihm seinen Glücksbringer
entführt, so ändert sich an dem Eigentum nichts, wohl aber sehr
leicht einmal Erheblichstes an dem Besitz, wenn z. B. der Hut
in den hochgehenden Fluß fällt und der Prüfling ihm aus Mangel
an Zeit nicht weiter nachgehen kann. Das unsichtbare Recht
ist fest, sicher, unentziehbar, dafür aber auch schwer erkennbar,
der Besitz als das tatsächliche Haben ist umgekehrt leicht er-
kennbar, aber auch sehr leicht zerstört. Das hindert nun nicht,
daß er, solange er da ist, dem Eigentum empfindlichen Wett-
bewerb macht, ja dem Eigentum unmittelbar gefährlich werden
kann. Aber er versagt, sobald er mit dem Eigentum zusammen-
stößt und der Eigentümer seinen Herausgabeanspruch aus §§ 985 ff.
geltend macht. Dann stürzt die ganze Rechtsstellung des Be-
sitzers zusammen.
Im Sinne des Rechtes müssen wir also sagen: Die Fiktion
des Nichteigentümers als Eigentümer wird juristisch aufgelöst in
die Vorstellung des Besitzes des Nichteigentümers an gewissen,
im Eigentum enthaltenen Befugnissen. Dieser Besitz ist nichts
anderes als die Möglichkeit, diese Befugnisse auszuüben.
Für uns schiebt sich also zwischen volles Recht und volles
Nichtrecht noch ein Drittes ein, die bloße Ausübungsmöglichkeit
als solche, die je nach dem Verkehrsbedürfnis auch Nichtberechtigten
verliehen wird, die aber wegen ihrer leichten Entziehbarkeit eben
nur eine Möglichkeit, nicht aber eine uncntziehbare Befugnis im
Sinne echten Rechtes sein kann (s. oben II, S. 19).
Man spricht in solchen Fällen auch von einer Legitimation,
nicht unrichtig. Doch wird über die Legitimation an anderer
Stelle besser gesprochen.
V. Der Rechtserwerb im guten Glauben kommt auch bei
Grundstücken vor und hier hat sich schon ganz von selber in der
Wissenschaft der Ausdruck ,, Buchbesitzer" für den in das Grund-
buch eingetragenen Nichteigentümer eingebürgert. Der Buch-
besitzer kann das Eigentum an dem Grundstück auf den gut-
gläubigen Erwerber übertragen, nicht, wie bei beweglichen Sachen,
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. 127
der körperliche Sachbesitzer. Man kann körperhcher Sachbesitzer
sein ohne Buchbesitzer zu sein, regelmäßig wird beides zusammen-
treffen. Die Grundlage für die wirksame Veräußerung an den
gutgläubigen Dritten ist bei beweglichen Sachen der körperliche
Sachbesitz, erworben durch Erwerb der tatsächlichen Gewalt über
die Sache. Denn nur der Sachbesitzer kann die körperliche Über-
gabe, ohne die kein Eigentum übergeht, bewirken. Dagegen bei
Grundstücken kann nur der Buchbesitzer übertragen. Mit Fug,
denn die Veräußerung vollzieht sich nicht durch Übergabe der
Sache an den Erwerber wie bei beweglichen Sachen, §§ 929ff.,
sondern durch grundbuchliche Veräußerung. Diese fordert einmal
Auflassung, d. h. die in Anwesenheit von Veräußerer und Er-
werber vor dem Gericht abgegebene Erklärung, daß das Eigentum
übergehen solle, dazu die Erklärung des Erwerbers, daß er das
Eigentum erwerben wolle und erwerbe, § 925. An die Auflassung
schließt sich als zweiter Bestandteil des Übertragungsaktes die
Eintragung in das Grundbuch an, § 873. Selbstverständlich kann
nur der eine wirksame Veräußerung an den gutgläubigen Er-
werber vornehmen, der imstande ist, die äußeren Veräußerungs-
formen zu erfüllen, und auch nur für den Buchbesitz gelten die
Vermutungen der §§ 891, 892.
§ 891. ,,Ist im Grundbuch für jemand ein Recht eingetragen,
so wird vermutet, daß ihm das Recht zustehe.
Ist im Grundbuch ein eingetragenes Recht gelöscht, so wird
vermutet, daß das Recht nicht bestehe."
§ 892. ,, Zugunsten desjenigen, welcher^) ein Recht an einem
Grundstück oder ein Recht an einem solchen Recht ^) durch Rechts-
geschäft^) erwirbt, gilt der Inhalt des Grundbuches als richtig, es
sei denn, daß ein Widerspruch gegen die Richtigkeit eingetragen
oder die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt ist. Ist der Be-
rechtigte in der Verfügung über ein im Grundbuch eingetragenes
Recht zugunsten einer bestimmten Person beschränkt*), so ist
^) Künftig wird der Ausdruck des BGB.: derjenige, welcher usw. vermieden
und durch besseres Deutsch von mir ersetzt werden.
*) Verpfändung der Hypothek gibt ein Pfandrecht an der Hypothek; es kommt
auch Verpfändung des Nießbrauchs an einem Grundstück vor.
') Gegensatz ist der Erwerb durch richterliche Verfügung, z. B. Eintragung
einer Sicherungshypothek für einen pfändenden Gläubiger auf richterliche Anordnung.
*) Der Gemeinschuldner ist infolge der Eröffnung des Konkurses den Konkurs-
gläubigern gegenüber in der Verfügung über sein dem Konkurse anheimgefallenes
Vermögen beschränkt.
128 Krückmann:
die Beschränkung dem Erwerber gegenüber nur wirksam, wenn
sie aus dem Grundbuch ersichtlich oder dem Erwerber bekannt ist."
VI. Der Rechtserwerb im guten Glauben vermag außer dem
Eigentum noch alle sonstigen Rechte an körperlichen Sachen zu
übertragen: Nießbrauch an beweglichen Sachen und an Grund-
stücken, Pfandrecht an beweglichen Sachen, Hypothek und Grund-
schuld an Grundstücken, Dienstbarkeiten aller Art, als Wasser-,
Weide-, Wegegerechtigkeiten usw., §§ 1032, 11 38, I140, 1207, 1257.
Rechtserwerb im guten Glauben kann praktisch werden, wenn
der Scheineigentümer Pfandrecht, Nießbrauch, Dienstbarkeit über-
trägt; ebenso wichtig sind die Fälle, wo ein Scheinhypotheken-
gläubiger, ein Scheinpfandgläubiger, ein Scheindienstbarkeitsberech-
tigter sein ihm scheinbar zustehendes Recht überträgt. Dies ist
für den Fall des Pfandrechtes an beweglichen Sachen ausdrücklich
geregelt, § 1244, versteht sich bei Grundstücken kraft der all-
gemeinen Fassung des § 892 von selber.
Entsprechendes wie für das Pfandrecht an Grundstücken
gilt für Schiffspfandrecht an eingetragenen Schiffen, vgl. §§ 1260,
1262, 1272.
VII. Veranlassung zum Rechtserwerb im guten Glauben liegt
nicht bloß dann vor, wenn der Veräußerer jeglichen Rechtes er-
mangelt. Es kann auch sehr wohl vorkommen, daß er zwar das
volle Recht hat, daß ihm aber die Veräußerung oder Verfügung
verboten ist. Sie wird dann regelmäßig für unwirksam erklärt.
Aber der gute Glaube kann auch diese Unwirksamkeit heilen.
§ 135- „Verstößt die Verfügung über einen Gegenstand gegen
ein gesetzliches Veräußerungs verbot, das nur den Schutz be-
stimmter Personen bezweckt, so ist sie nur diesen Personen gegen-
über unwirksam.^) Der rechtsgeschäftlichen Verfügung steht eine
Verfügung gleich, die im Wege der Zwangsvollstreckung^) oder der
Arrestvollziehung erfolgt.^)
^) Typischer Fall: Die Konkursgläubiger brauchen sich eine nach der Konkurs-
eröffnung durch den Gemeinschuldner vorgenommene Veräußerung nicht gefallen
zu lassen. Der Konkursverwalter muß sogar die Unwirksamkeit geltend machen,
§§ 7. 8, 15 der Konkursordnung. Der Vorerbe soll gewisse Veräußerungen nicht
zuungunsten des Nacherben vornehmen, §§2113, 21 14; während der Testaments-
vollstreckung kann der Erbe über keinen Nachlaßgegenstand verfügen, §2211.
*) Pfandungspfand: ein Gläubiger pfändet die Möbel des Gemeinschuldners.
■) Arrest ist ebenfalls Pfändung der Sache oder der Person, aber sie ist nicht
grundsätzlich endgültig, sondern etwas grundsätzlich Vorläufiges.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I29
Die Vorschriften zugunsten derer, die Rechte von einem
Nichtberechtigten herleiten, finden entsprechende Anwendung."
§ 136 stellt ein gerichtliches oder sonstiges behördliches Ver-
gußerungsverbot dem gesetzlichen Veräußerungsverbot gleich. Ein
eerichtlichcs Veräußerungsverbot kann ergehen auf Grund einer
äinstweiligen Verfügung im Prozesse, indem einer Partei die Ver-
äußerung der Sache, deren Herausgabe der Kläger verlangt, ver-
boten wird, Zivilprozeßordnung § 938 II.
Es kann auch vorkommen, daß jemand nicht das volle Recht
insofern hat, als sein Recht nur bedingt oder betagt ist, §§ 161, 163. i)
VIII. Eine Klausel zugunsten des gutgläubigen Erwerbers
enthält §366 des Handelsgesetzbuches: ,, Veräußert oder ver-
pfändet ein Kaufmann im Betriebe seines Handelsgewerbes eine
ihm nicht gehörige bewegliche Sache, so finden die Vorschriften
des Bürgerlichen Gesetzbuches zugunsten derer, die Rechte von
einem Nichtberechtigten herleiten, auch dann Anwendung, wenn
der gute Glaube des Erwerbers die Befugnis des Veräußerers oder
Verpfänders, über die Sache für den Eigentümer zu verfügen,
betrifft.
Ist die Sache mit dem Rechte eines Dritten belastet, so finden
die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zugunsten derer,
die Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, auch dann
Anwendung, wenn der gute Glaube die Befugnis des Veräußerers
oder Verpfänders, ohne Vorbehalt des Rechtes über die Sache
zu verfügen, betrifft." (Die Bank veräußert die dem A. verpfändeten
Wertpapiere des B.)
Gewisse Kaufleute haben wegen ihrer Forderungen an die
Gegenpartei ein Pfandrecht an den Sachen der Gegenpartei, die
auf Grund des Geschäftes in ihre Hände gekommen smd, z. B.
Spediteure, Frachtführer. Ihr gesetzliches Pfandrecht ist durch
§ 366 III des Handelsgesetzbuches einem durch Vertrag erworbenen
Pfandrecht gleichgestellt.
Für den Laien mag es belehrend sein, um die bunte Mannig-
faltigkeit des Lebens zu würdigen, v/enn daran erinnert wird, daß
1) Die Wirkungen von Bedingung und Befristung näher zu erklären, würde
hier zu weit führen. Der Leser, der der Sache näher nachgehen will; findet das
Nötige in meinen Institutionen des Bürgerlichen Gesetzbuches (4. Aufl.); S. 848 ff.,
bemerkt, wo ich alles ausführlich dargestellt habe.
Annalen der Philosophie. 1. 9
130
Krückmann :
der Veräußerer eine Sache veräußern kann, an der kein Pfand-
recht, kein Nießbrauch, kurz keinerlei Recht an fremder Sache
besteht. Es kann sich aber auch um Sachen handeln, an denen
außer dem Eigentümer auch noch Dritte durch Pfandrechte,
Nießbrauch, sonstige Dienstbarkeiten usw. berechtigt sind. Auch
diese Rechte an fremder Sache fallen vor dem Rechtserwerb im
guten Glauben hin. Überhaupt werden alle Rechte an der Sache
zerstört, soweit als der gute Glaube reicht. Das ergibt sich für
grundbuchliche Veräußerungen aus § 892 von selber, ist für be-
wegliche Sachen in § 936 ausdrücklich vorgeschrieben.
IX. Schließen wir ab, so ergibt sich: Der Nichteigentümer
wird sehr oft als Eigentümer behandelt oder doch als einer, dem
der Eigentümer die Erlaubnis gegeben hat, über das Eigentum
zu verfügen (§ 366 des Handelsgesetzbuches). Ebenso wird der
Nichtpfandgläubiger sehr oft als Pfandgläubiger behandelt, ohne
es doch zu sein. Immer spricht zugunsten des so Behandelten
ein äußerer, sinnlich wahrnehmbarer Tatbestand, der im Volke
den Glauben erweckt, der Nichtberechtigte habe das Recht, das
er nicht hat. Dieses unmittelbare Behandeltwerden ,,als ob"
ist natürlich ein juristisches Behandeltwerden und kann es nur
dadurch sein, daß der betreffende Scheinberechtigte gewisse ihm
an sich nicht zustehende Befugnisse vollwirksam auszuüben vermag.
Diese vollwirksame Ausübung ist aber etwas anderes als bloße
Rechtsanmaßung. Wenn der Besitzer einer gestohlenen Sache sie
veräußert, so ist dies höchstens ein Ausübungsversuch und immer
eine bloße Rechtsanmaßung, denn sie hat nicht die Wirkung, das
Eigentum zu übertragen. Rechtsausübung besteht gerade
darin, daß genau die Wirkungen herbeigeführt werden,
die der wahre Berechtigte herbeiführen kann. Dann ist
der Erwerber auch nicht betrogen, denn er braucht die Sache
nicht herauszugeben und bekommt für sein gutes Geld auch gute
Ware. Wo er geschädigt ist, liegt auch keine Rechtsausübung
vor, vielfach sogar, z. B. bei der Veräußerung durch Dieb und
Hehler, echter Betrug.
§ 3. Sonstige dingliche Scheinberechtigungen,
I. Tritt die Scheinberechtigung auch bei der Verfügungs-
befugnis besonders deutlich hervor, so ist sie doch nicht die einzige.
Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der Nichteigentümer die
Sache ersitzen kann. Ersitzung setzt sogenannten Eigenbesitz
Wahrheit und Unwahrheit im Recht, I^I
voraus, § 937 I. Eigenbesitzer ist, wer eine Sache als ihm ge-
hörend besitzt, § 872. Mieter, Entleiher, Verwahrer, Pfand-
gläubiger, Nießbraucher sind keine Eigenbesitzer, solange sie
sich innerhalb der Grenzen ihres Rechtes halten. Wohl aber ist
Eigenbesitzer, wer die Sache dauernd wie ein Eigentümer für
sich haben und behalten will oder wer sie zum Zwecke der Aus-
übung des Eigentums für sich behält.^)
Der gutgläubige Eigenbesitz macht sich als Scheinrecht nach
zwei Richtungen hin geltend.
1. Er befreit den Besitzer von der Haftung für Sach-
beschädigung. Wenn der gutgläubige Eigenbesitzer in der Mei-
nung, eine eigene Sache vor sich zu haben, die Sache beschädigt,
ist an sich seine Handlung rechtswidrig, denn sie verstößt gegen
das Eigentum des wahren Eigentümers. Dennoch wird der Eigen-
besitzer nicht haftbar, er haftet erst von dem Augenblick an für
verschuldete Beschädigung, wo die Klage auf Herausgabe der
Sache gegen ihn rechtshängig geworden ist, § 989. Er kann also
die in § 2, H unter Nr. i aufgeführte Befugnis zu körperlicher
Einwirkung bis dahin ohne Verantwortlichkeit ausüben.
2. Der gutgläubige Eigenbesitzer erwirbt das Eigentum an
den Früchten der Sache wie ein Eigentümer, und zwar ohne
weiteres mit der Trennung, § 955. Dies ist sonst nur Vorrecht
des Eigentümers oder des Nießbrauchers, hier wird es auch dem
zugestanden, der keinerlei Recht an der Sache für sich einzuwerfen
hat. Gewissermaßen übt das Gesetz das Eigentum für ihn aus,
indem es ihm das Eigentum an den Früchten ohne weiteres in
den Schoß wirft.
n. Dem Nichteigentümer stehen aber auch die Schutz-
befugnisse des Eigentümers, die Klage auf Herausgabe und die
Klage wegen Störung zu. Hier ist das Wesen der dem Nicht-
eigentümer zustehenden Rechtsstellung zuerst und am klarsten
erkannt worden, indem als eigentliche Grundlage dem Begriff
und dem Ausdruck nach der Besitz als Grundlage dieser Aus-
übungsmöglichkeit seit jeher unbestritten anerkannt worden ist.
Der bloße Besitzer hat, wenn ihm die Sache ohne seinen Willen
durch verbotene Eigenmacht entzogen worden ist, eine Klage
auf Herausgabe, und hat, wenn er im Besitze gestört wird, eine
^) Dies mag hier genügen, völlige Übereinstimmung herrscht über diese Formela
nicht.
9*
132
Krückmann :
Klage \vegen Störung, §§ 858, 861, 862. Es wird nicht gefordert,
daß der Besitzer Scheineigentümer sei, es kann vielmehr ganz
klar und offenbar sein, daß er kein Eigentümer ist, er hat die
Besitzklagcn dennoch. Sie stehen ihm zu, wenn er Mieter, Ent-
leiher, Verwahrer usw. ist, wenn er selber gar kein Hehl daraus
macht, daß ihm das Eigentum fehlt. Ja sogar der Dieb hat sie,
wenn ihm die Sache wieder gestohlen wird, und er kann auf Vor-
halten, daß er ja gestohlen habe, erwidern, das sei richtig, er habe
aber dem Beklagten nicht gestohlen und der Beklagte dürfe sich
nur auf einen Diebstahl berufen, den er, der Kläger, gegen den
Beklagten verübt habe, §§ 861 II, 862 11.^) Hier sind die Vor-
stellungen von Rechtsschein und Scheinberechtigung ganz ab-
gestreift und der körperliche Sachbesitz als die alleinige Grund-
lage der Ansprüche anerkannt.
Die Klagrechte des Besitzers ermangeln der eigentlichen
Merkmale echten Rechtes, denn sie fallen sofort zusammen,
sobald der Eigentümer sein Eigentum geltend macht und dem
Besitzer die Sache wieder abnimmt. Darum sind sie auch nur
Ausübungsmöglichkeiten für die Klagrechte des Eigentümers mit
all den Mängeln der bloßen Ausübungsmöglichkeiten.
Der Grund ist heute: Der tatsächliche Besitzstand ist die
nun einmal, ob zu Recht oder zu Unrecht, bestehende, äußere
Ordnung der Dinge, und diese äußere Ordnung der Dinge soll
niemand durch verbotene Eigenmacht in ihr Gegenteil verkehren
können, selbst wenn er ein Recht darauf hat, daß diese zurzeit
bestehende Ordnung der Dinge zu seinen Gunsten geändert werde.
Der nichtbesitzende Eigentümer soll klagen, aber nicht gewaltsam
wegnehmen, und nimmt er gewaltsam w^'g, kann der Besitzer
sich jedenfalls zunächst die Sache mit der Besitzklage wieder ver-
schaffen. Dadurch sichert er sich die günstige Beweislage: Der
Eigentümer muß sein Eigentum beweisen, nicht der Besitzer, § 1006.
§ 4. Scheiiigläubiger und Scheiuschuldner.
A. Scheingläubiger.
I. Oberster Grundsatz des Schuldrechtes ist, daß der Schuldner
nur dann befreit wird, wenn er seine Leistung an den Gläubiger
erbringt. Wer einem Schwindler anheimfällt, der ihm vorlügt, er
*) Näheres über den Besitz in meinen Institutionen, S. 479ff., ferner in meiner
Einführung in das Recht, §§ 3, 4.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I^j
habe Auftrag, das Geld für den Gläubiger einzuholen, wird nicht
frei, muß nochmal zahlen und ist auf seinen Ersatzanspruch gegen
den Schwindler angewiesen. Also Zahlung an den Nichtgläubiger
befreit nicht. Aber auch dies läßt sich nicht uneingeschränkt
durchführen und so wird gar nicht selten der Schuldner durch
^Zahlung an einen Nichtgläubiger frei. Nicht durch Zahlung an
jeden beliebigen Nichtgläubiger, sondern durch Zahlung an einen
fingierten Gläubiger, an einen Nichtgläubiger, der als Gläubiger
aus bestimmten Gründen fingiert wird. Dies geht natürlich auf
Kosten des wahren Gläubigers, aber ,, einer muß den Schaden
tragen", entweder der wahre Gläubiger oder der ahnungslose
Schuldner. Zwei verschiedene Belange stoßen zusammen und
da werden unter Umständen die Belange des ahnungslosen
Schuldners den Belangen des Gläubigers vorangesetzt. Grund
ist die Verkehrssicherheit.
II. Die schon aus der Erörterung über den Rechtserwerb
im guten Glauben bekannten Bestimmungen geben noch nach
anderer Richtung etwas her.
Nach § 891 wird vermutet, daß dem, der in das Grundbuch
eingetragen ist, auch das eingetragene Recht zustehe. Ist ein
Nichteigentümer eingetragen, der das Grundstück vermietet oder
verpachtet hat, Arbeiten daran oder darauf ausführen läßt, einem
anderen ohne Entgelt erlaubt, darüber zu fahren, Vieh zu treiben usw.,
so ist er an sich nicht der eigentlich Berechtigte, der einen etwaigen
am Grundstück angerichteten Schaden beizutreiben hat. Er ist
nicht geschädigt, denn nicht sein Grundstück ist beschädigt,
sondern das Grundstück eines anderen. Also müßte eigentlich
nur dieser andere klagen können, er tut es aber nicht, weil er um
sein Eigentum nicht weiß. Das führt von selber dazu, daß der
als Eigentümer geltende Nichteigentümer muß auf Ersatz klagen
können und daß Ersatzleistung an ihn den Schädiger auch gegen-
über dem wahren Eigentümer befreien muß. Der Ausgleich zwischen
Eigentümer und Nichteigentümer geschieht dann später in der Art,
daß der Nichteigentümer den Ersatz für die Beschädigung an den
Eigentümer herausgeben muß. Entweder ist die Sache (das Haus,
die Gartenmauer, der Brunnen, die Pumpe, das Wehr) mit Hilfe
der Ersatzleistung ausgebessert worden, dann erhält der Eigen-
tümer, wenn ihm später die Sache herausgegeben wird, zugleich
mit der Sache auch den Ersatz. Oder die Ersatzleistung ist nicht
zur Ausbesserung verwertet, dann ist der Besitzer um das Geld
134
Krückmann :
ungerechtfertigt bereichert und muß diese ungerechtfertigte Be-
reicherung nach §§ 8i2ff. herausgeben.-^) Auf diese Weise können
die beiden Bedürfnisse befriedigt werden, einmal daß der Schädiger
durch Ersatzleistung an den in das Grundbuch eingetragenen
Kläger auch dem wahren Geschädigten gegenüber befreit wird^
ferner, daß die Ersatzleistung, wenn auch auf einem Umwege,
doch schließlich in die Hand des Eigentümers kommt.
Gleiches gilt bei beweglichen Sachen, wo nach § 1006 vermutet
wird, daß die Sache dem Besitzer gehöre. Auch diese Vermutung
gilt nicht etwa bloß für den Fall, daß besitzender Nichteigentümer
und nichtbesitzender Eigentümer miteinander prozessieren, wem
das Eigentum zusteht; sie gilt gleichfalls für die Ersatzklage gegen-
über einem Sachschädiger.
Beide, der bloße Buchbesitzer bei Grundstücken und der
Besitzer beweglicher Sachen haben ein gleiches Interesse wie der
Schädiger selber, daß alles zwischen ihnen und dem Schädiger
endgültig geregelt werden könne. Der gutgläubige Besitzer muß
wegen seines eigenen guten Glaubens so behandelt werden, als
ob er der wahre Eigentümer wäre, der Schädiger aber muß eben-
falls so behandelt werden, als ob der Besitzer Eigentümer wäre.
Das BGB. hat diese Fälle ausdrückhch geregelt in § 851, der sich
auf bewegliche Sachen bezieht und dem körperlichen Sachbesitzer
eine Legitimation gibt, wie sie dem Buchbesitzer nach § 891 zusteht.
§851. ,, Leistet der wegen der Entziehung oder Beschädigung
einer beweglichen Sache zum Schadensersatz Verpflichtete den
Ersatz an den, in dessen Besitze sich die Sache zur Zeit der Ent-
ziehung oder der Beschädigung befunden hat, so wird er durch
die Leistung auch dann befreit, wenn ein Dritter Eigentümer der
Sache war oder ein sonstiges Recht an der Sache hatte, es sei denn,
daß ihm das Recht des Dritten bekannt oder infolge grober Fahr-
lässigkeit unbekannt ist."
Einen ähnlichen Gedanken enthält § 969. ,,Der Finder wird
durch Herausgabe der Sache an den Verlierer (das Dienstmädchen)
^) Der Besitzer ist in allen Fällen ungerechtfertigt bereichert, denn er hat
eine Ersatzleistung erhalten, die nicht ihm, sondern dem Eigentümer zukommt.
Verwendet er aber das Erhaltene auf die Sache, so tilgt er die Bereicherung wieder
und führt das Erhaltene unmittelbar in das Vermögen des Eigentümers über. Un-
gerechtfertigt bereichert ist, wer auf Kosten fremden Vermögens etwas erhält, ohne
daß es juristisch gerechtfertigt crsclieint, daß er das Erhaltene auch behalte. Dies
mag hier genügen, wir kommen darauf noch zurück.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
135
auch den sonstigen Empfangsberechtigten (der Herrschaft) gegen-
über befreit." Der Verherer ist Scheingläubiger.
III. Ziemhch rein stellt sich die Scheingläubigerschaft nach
§ 1058 dar. Den Nießbraucher treffen verschiedene Pflichten
gegenüber dem Eigentümer: Er hat die Sache instand zu halten,
§ 1041; Zerstörungen und Beschädigungen anzuzeigen, § 1042;
die Vornahme von Ausbesserungen durch den Eigentümer zu
dulden, § 1043; die Versicherungsgebühren, § 1043, und die öffent-
lichen Lasten zu übernehmen, § 1047; haftet für Verschulden,
§ 1050; hat die Sache zurückzugeben, § 1055. Als Gläubiger
erscheint er mit seinem Anspruch auf Ersatz von nicht geschuldeten
Verwendungen und mit seinem Wegnahmerecht, § 1049. Offenbar
tritt aber seine Gläubigerrolle hinter der Schuldnerrolle zurück,
und darum hat § 1058 überwiegend Bedeutung für die Schein-
gläubigerschaft und nicht für die Scheinschuldnerschaft des Be-
stellers des Nießbrauchs: ,,Im Verhältnis zwischen dem Nießbraucher
und dem Eigentümer gilt zugunsten des Nießbrauchers der Be-
steller als Eigentümer, es sei denn, daß der Nießbraucher weiß,
daß der Besteller nicht Eigentümer ist." Das hat zur Folge, daß
der Nießbraucher mit der Leistung an den Besteller frei wird, mag
dieser auch nicht der Eigentümer sein. Die Bedeutung des § 1058
besteht darin, daß die Vermutung dem Nießbraucher zugute kommt,
die Vermutungen zugunsten des Bestellers sind in §§ 891, 1006
enthalten.
IV. Eine ähnliche Bedeutung wie das Grundbuch hat das
Aktienbuch. Dies ist anzulegen, wenn Aktien auf Namen lauten,
§ 222 des Handelsgesetzbuchs. Nach § 223 III gilt im Verhältnis
zur Aktiengesellschaft nur der als Aktionär der Namenaktie, der
als solcher im Aktienbuch verzeichnet ist. Die Rechte des Aktionärs
gehen aber über ein bloßes Forderungs-, ein Gläubigerrecht, noch
hinaus, denn der Aktionär hat außer dem Anspruch auf den Gewinn-
anteil auch Mitgliedschaftsrechte: Stimmrecht, Anfechtungsrecht,
aber der gläubigerschaftlichen Elemente sind genug da, um auch
§ 223 hier anführen zu können.
Für Interimsscheine gilt dasselbe wie für die Namenaktien,
§ 224, Bei ihnen tritt auch die Schuldnerseite hervor, denn der
Zwischenschein wird vor Vollzahlung der Aktie gegeben und der
Inhaber muß noch Zahlungen leisten. Da der Interimsschein
auf den Namen des Zeichners lautet, bezeichnet er immer den
Schuldner der noch ausstehenden Zahlungen.
136
Krückmann:
V. Um reine Gläubigerschaft handelt es sich bei Inhaber-
papieren, § 793. Wenn der Dieb die bei einem Einbruch erbeuteten
fähigen Zinsscheine von deutscher Kriegsanleihe, sonstigen bundes-
staatlichen oder Reichsschuldverschrcibungen der Zahlungsstelle
vorlegt, erhält er, solange die Nummern noch nicht bekannt ge-
worden sind, anstandslos Zahlung. Der Schuldner, das Reich,
der Bundesstaat, wird frei. Als die Reichsbanknoten noch in
Gold eingelöst werden mußten, konnte täglich ein gleiches mit
den Hundertmarkscheinen vorkommen. Legte der Taschendieb
den Schein der Reichsbank vor, erhielt er darauf hundert Mark
in Gold. Dies war ebenfalls echte Schuldtilgung. ^) Wer auf eine
gestohlene Einlaßkarte Eintritt zum Theater, Konzert, zum Rennen,
zum Vortrag erhält, nimmt damit eine ihm nicht geschuldete
Leistung entgegen und dennoch wird der Schuldner frei, § 807.
Er hat sich bei der Ausgabe der Schuldverschreibungen und der
Einlaßkarten das Recht vorbehalten, dem Vorzeiger die Leistung
mit schuldtilgender Kraft erbringen zu dürfen, und dies geht nun
zu Lasten des Wahren Gläubigers, wenn dieser sich die Karte oder
die Urkunde stehlen läßt. Dem Schuldner soll die Notwendigkeit
abgenommen werden, jedesmal die Berechtigung des Vorzeigers
prüfen zu müssen und diesem Bedürfnis fällt oft genug das Recht
des wahren Gläubigers zum Opfer.
VI. I. Nach § 398 geht bei der Forderungsabtretung (Zession)
die Forderung sofort mit der Abrede, daß der neue Gläubiger die
Forderung haben solle, auf den Erwerber über. Die Worte: Ich
trete dir meine Forderung auf 173,50 Mark Kaufpreis gegen
Müller & Co. ab, genügen. Sobald der andere Teil gesagt hat:
Einverstanden, ist er Gläubiger, die Forderung vollständig aus
dem Vermögen des Abtretenden ausgeschieden und ebenso voll-
ständig in das Vermögen des Neugläubigers übergegangen. Also
müßte nach aller Regel der Schuldner nur noch durch Zahlung
an den Neugläubiger befreit werden können, aber zum Schutze
des ahnungslosen Schuldners ist bestimmt, § 407, daß der Schuldner
mit schuldtilgender Wirkung so lange an den Altgläubiger leisten
kann, als er noch nichts von der Abtretung weiß. Ja, der Alt-
^) Die Reichsbanknoten waren ursprünglich kein Geld, denn sie mußten bis
dahin nicht von jedermann jederzeit genommen werden. Sie waren nur Schuld-
verschreibungen, die Forderung mit dem Vorzeigen der Urkunde fällig. Schuldner
war die Reichsbank, die also eine echte Schuld bezahlte, wenn sie die Scheine ein-
löste. Mit dem Annahmezwang hat die Banknote Geldnatur erhalten.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I37
gläubiger kann trotz der Abtretung noch mit dem Schuldner pro-
zessieren und nach der Verurteilung dem Schuldner mit Gewalt
die Leistung abnehmen, wenn der Schuldner bei Erhebung der
Klage von der Abtretung nichts weiß. Entsprechendes gilt, wenn
der Neugläubiger seine Forderung an einen weiteren Rechts-
nachfolger abtritt, § 408.
Nicht genug hiermit, der Schuldner wird auch dann geschützt,
wenn die Forderung nicht durch Abtretung, sondern ohne weiteres
kraft Gesetzes auf den Neugläubiger übergeht, § 412.^)
2. Gleiches gilt auch von allen anderen Rechten, z. B. Patent-
rechten, Verlagsrechten, wenn nicht vom Gesetze das Gegenteil
bestimmt ist, § 413.
3. Sehr umfänglich ist der Schutz des ahnungslosen Schuldners
im Hypothekenrechte und dementsprechend bei Grund- und Renten-
schulden und Reallasten durchgeführt, §§1156, I158, II59, HO?,
I192, 1199 I, 1200 I. Dies gilt insbesondere von Verfügungen über
Hypotheken- und Grundschuldzinsen, über einzelne Gefälle bei
der Reallast und bei der Rentenschuld, die der Neugläubiger
gegen sich gelten lassen muß.
Vn. Das Gegenstück enthalten die folgenden Bestimmungen:
I. § 25 I, n des Handelsgesetzbuches. ,,Wer ein unter
Lebenden (durch Kauf) erworbenes Handelsgeschäft unter der
bisherigen Firma mit oder ohne Beifügung eines das Nachfolge-
verhältnis andeutenden Zusatzes fortführt, haftet für alle im Be-
triebe des Handelsgeschäftes begründeten Verbindlichkeiten des
früheren Inhabers. Die in dem Betriebe begründeten For-
derungen gelten den Schuldnern gegenüber als auf den
Erwerber übergegangen, falls der bisherige Inhaber oder seine
Erben in die Fortführung gewilligt haben.
Eine abweichende Vereinbarung ist einem Dritten gegenüber
nur wirksam, wenn sie in das Handelsregister eingetragen und
bekannt gemacht oder von dem Erwerber oder dem Veräußerer
dem Dritten mitgeteilt worden ist."
1) Dies ist vorgesehen in den §§ 268, 426, 571, 581, 738, 774, 999, "43, "S",
1225, 1249, 1266, 1438, 1519, 1549, 1607, 1709; Handelsgesetzbuch §§ 411, 441,
804; Konkursordnung § 225. Hervorgehoben sei der Eintritt des Hauskäufers in
die Mietsverträge des Verkäufers: Kauf bricht nicht Miete, mit allen seinen Aus-
gestaltungen, §§ 571 ff., und seinen weiteren Anwendungen in rechtsverwandten
Fällen, §§ 1056, 1663, 2135; Gesetz über die Zwangsversteigerung und Zwangs-
verwaltung, § 57.
138
Krückmann :
2. § 28. ,, Tritt jemand als persönlich haftender Gesellschafter
oder als Kommanditist in das Geschäft eines Einzclkaufmanns ein,
so haftet die Gesellschaft^), auch wenn sie die frühere Firma nicht
fortführt, für alle im Betriebe entstandenen Verbindlichkeiten des
früheren Geschäftsinhabers Die in dem Betriebe begründeten
Forderungen gelten den Schuldnern gegenüber als auf
die Gesellschaft übergegangen.
Eine abweichende Vereinbarung ist einem Dritten gegenüber
nur wirksam, wenn sie in das Handelsregister eingetragen und
bekannt gemacht oder von einem Gesellschafter dem Dritten mit-
geteilt worden ist."
3. Ein weiteres Gegenstück ist der Fall, wo eine Abtretung
nicht vorliegt, aber der allgemeine Rechtsgrundsatz zu Raum
kommt, daß niemand sich in Widerspruch zu seinen ernstlichen
oder als ernstlich anzunehmenden Willenserklärungen setzen soll.
Wir werden ähnliches noch bei der Vollmacht kennen lernen.
§409. „Zeigt der Gläubiger dem Schuldner an, daß er die
Forderung abgetreten habe, so muß er dem Schuldner gegenüber
die angezeigte Abtretung gegen sich gelten lassen, auch wenn sie
nicht erfolgt oder nicht wirksam ist. Der Anzeige steht es gleich,
wenn der Gläubiger eine Urkunde über die Abtretung dem in der
Urkunde bezeichneten neuen Gläubiger ausgestellt hat und dieser
sie dem Schuldner vorlegt.
Die Anzeige kann nur mit Zustimmung dessen zurückgenommen
werden, der als der neue Gläubiger bezeichnet worden ist."
4- § 576- ,, Zeigt der Vermieter dem Mieter an, daß er das
Eigentum an dem vermieteten Grundstück auf einen Dritten
übertragen habe, so muß er in Ansehung der Mietzinsforderung
die angezeigte Übertragung dem Mieter gegenüber gegen sich
gelten lassen, auch wenn sie nicht erfolgt oder unwirksam ist.
Die Anzeige kann nur mit Zustimmung dessen zurückgenommen
werden, der als der neue Eigentümer bezeichnet worden ist."
VIII. I. Eine tief eingreifende Veränderung mit der For-
derung, die auch auf die Rechtsstellung des Schuldners zurück-
wirkt, vollzieht sich an der Forderung, wenn sie aus ungebundenem
Privatvermögen in ein gebundenes Sondervermögen eintritt. Der-
artiges findet statt, wenn mehrere Personen eine Gesellschaft
miteinander eingehen, z. B. Geld zusammenbringen, um gemeinsam
*) Sie entsteht durch den Zutritt des neuen Beteiligten.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I 39
auf Spekulation ein Grundstück zu kaufen, das sie später mit
Gewinn wieder verkaufen wollen. Bringt in die gemeinschaftliche
Kasse der eine Gesellschafter statt baren Geldes eine Forderung
ein, so wird sie natürlich gemeinsam und den gemeinsamen Ver-
fügungen unter\vorfen, jedenfalls seiner alleinigen Verfügung ent-
zogen. Derartiges wirkt nun gegen den Schuldner ähnlich, als
wenn der Gläubiger seine Forderung ganz abtritt, und das Schutz-
bedürfnis für den ahnungslosen Schuldner ist hier nicht minder
groß wie bei der gewöhnlichen Abtretung. Dem trägt § 720
Rechnung, in dem bestimmt ist, daß der Schuldner die Zugehörig-
keit der Forderung zu dem Gesellschaftsvermögen erst dann gegen
sich gelten zu lassen braucht, v.-enn er davon Kenntnis erlangt.
Er kann also bis dahin den Gläubiger, der längst kein Allein-
gläubiger mehr ist, als Alleingläubiger behandeln und wird durch
Leistung an ihn frei, obgleich der Gläubiger die Leistung nicht
mehr ?llein, sondern nur gemeinsam mit den anderen Gesell-
schaftern annehmen kann. Die anderen Gesellschafter werden
also als Nichtgläubiger behandelt.
2. Entsprechendes kommt im Familiengüterrecht vor, wo
das Gesamtgut beider Gatten ebenfalls ein Sondervermögen bildet,
so daß der einzelne Gatte, dessen Forderung in dies Gesamtgut
übergegangen ist, seine Stellung als allein verfügungsberechtigter
Gläubiger verliert. Bei der allgemeinen Gütergemeinschaft, der
Errungenschaftsgemeinschaft und der Fahrnisgemeinschaft haben
die Gatten ein Sondervermögen gemeinsam, das Gesamtgut. Aus
der Zugehörigkeit zum Gesamtgut folgt, daß die zum Gesamtgut
gehörende Forderung nicht der unbeschränkten Verfügung des
einzelnen Gatten unterliegt. So kann die Frau eine zum Gesamt-
gut gehörende Forderung gar nicht erlassen, der Mann kann es
nicht schenkungsweise tun, § 1446. Das bedeutet, daß die Frau
immer und der Mann zu Schenkungen die Zustimmung des anderen
Gatten haben muß. Aber auch hier hat die Kraft der Wahrheit
ihre Grenzen an dem menschlichen Wissen; der Schuldner braucht
die Zugehörigkeit der Forderung zum Gesamtgut nur dann gegen
sich gelten zu lassen, wenn er davon weiß, §§ 1473, ^497 H» 1524,
1550 II.
3. Eine Sonderstellung nehmen auch die Forderungen ein,
die zu einer unverteilten Erbschaft gehören, da über die Erbschafts-
gegenstände die Erben nur gemeinsam verfügen können. Der
Schuldner wird wie bei Gesellschaft und Gesamtgut geschützt,
140
Krückmann;
§§201911, 2041, 21 II, und braucht die Zugehörigkeit gewisser
Forderungen zur Erbschaft nur dann gegen sich gelten zu lassen,
wenn er um die Zugehörigkeit weiß.
4. Zuweilen vermeidet das BGB. diesen Zwiespalt zwischen
der wahren Sachlage und der menschlichen Unkenntnis, indem
es verfügt, daß gewisse Rechtsveränderungen nur bei Kenntnis
auch der drittbeteiligten Personen eintreten. Das gilt z. B. von
der Verpfändung und Pfändung von Forderungen, die nur dann
wirksam sind, wenn der Schuldner von ihnen benachrichtigt wird.
Verpfändung und Pfändung ist beschränkte Übertragung der
Forderung auf den Pfandgläubiger, ist Übertragung zu Pfand-
rechtszwecken, hat auch nur umfänglich beschränkte Wirkungen.
Aber diese Wirkungen treten abweichend von der Vollübertragung
nicht schon mit dem Abschluß des Übertragungsvertrages ein,
sondern sie treten erst dann ein, wenn der Schuldner benach-
richtigt ist, § 1280, und Zivilprozeßordnung § 829 III, Gesetz über
die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung § 22 II.
5. Unter Umständen hat ein Nichtgläubiger Legitimation
nicht bloß gegenüber dem Schuldner, sondern auch gegenüber
Dritten. Dann muß die Legitimation aber auch besonderer Art
sein. Das trifft zu in folgenden Fällen : §893, § 1138, I155; Grund-
buchordnung § 40; Wechselordnung Art. 36; Handelsgesetzbuch
§§222, 365; Scheckgesetz §8 11.
Legitimation gegenüber Dritten hat der Hypothekengläubiger
kraft der Eintragung in das Grundbuch. Der öffentliche Glaube
des Grundbuchs schützt auch seine Stellung als Forderungs-
gläubiger. So kann der als Hypothekengläubiger eingetragene
Nichtgläubiger wirksam über die Hypothek verfügen, indem er
sie abtritt, erläßt, eine Rangbesserung erreicht, eine Rangver-
schlechterung bewilligt.^) In derselben Lage ist jemand, der auf
dem Hypothekenbriefe als Gläubiger verzeichnet steht, wenn er
sein Recht auf einen im Grundbuch eingetragenen Hypotheken-
gläubiger zurückführen kann und alle Abtretungserklärungen, des
ersten an den zweiten, des zweiten an den dritten usw., öffent-
lich beglaubigt sind, § 11 55. Dann kann folgendes vorkommen.
Steht im Grundbuch und im Hypothekenbrief als erster Gläubiger
Heinrich Schulz und folgen von da an in öffentlicher Beglaubigung
Friedrich Schmidt (II.), Karl Müller (III.), Werner Egger (IV.),
») Vgl. II, s. 133.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I4I
dann kann durch den öffentlichen Glauben, den diese öffentlich
beglaubigten Abtretungen genießen, eine etwaige innere Mangel-
haftigkeit der Abtretung in Ordnung kommen. Angenommen,
Schmidt war, als er die Hypothek erwarb und als er sie veräußerte,
geisteskrank, so konnte Müller die Hypothek nicht erwerben.
Daß sie dem Heinrich Schulz noch immer zustand, wäre zu über-
winden, denn für diese Fälle haben wir den Rechtserw^erb im guten
Glauben; aber der gute Glaube hilft nur gegen den Mangel im
Rechte des Veräußerers, aber nicht gegen den Mangel an Handlungs-
fähigkeit. Darum wird Müller trotz seines guten Glaubens kein
Hypothekengläubiger. Wohl aber erwirbt er die Legitimation als
Hypothekengläubiger und dadurch kommt alles wieder in Ordnung,
wenn er an den gutgläubigen Egger weiter veräußert. Schulz ist
noch immer Hypothekengläubiger, aber Müller als Inhaber der
Legitimation kann an den gutgläubigen Egger vollwirksam die
Hypothek übertragen und dadurch kommt der Hypothekenbrief
wieder in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Lage. Das
Recht hat sich selber verbessert.
Ähnliche Grundsätze gelten bei Wechseln und überhaupt bei
allen Orderpapieren; guter Glaube und äußerlich einwandfreie
Indossamente machen das Unwahre wieder wahr.^) Dies kann
aber nur geschehen, indem dem Unwahren Wirkungen beigelegt
werden, die an sich nur das Wahre hat.
6. Eine besondere Legitimationswirkung, die zugleich eine
eigenartige Ausübungsmöglichkeit ist, enthalten §§ 172 V und
217 I des Handelsgesetzbuchs. Wer unberechtigt eine ihm nicht
zukommende Leistung erhalten hat, muß sie wieder herausgeben,
§§ 8i2ff. Dies ist die Haftung auf die ungerechtfertigte Be-
reicherung, die sich auf die bloße objektive Tatsache stützt, daß
aus dem einen Vermögen etwas in das andere Vermögen gelangt
ist, ohne daß dieser Übergang sich genügend juristisch rechtfertigen
läßt. Für jede Vermögensverschiebung muß, soll sie vom Rechte
anerkannt und geschützt werden, ein juristischer Rechtfertigungs-
grund da sein, nach überkommener Terminologie causa genannt.
Eine solche causa ist der Kauf, die Schenkung, das Darlehn usw.
Stellt sich heraus, daß der abgeschlossene Kauf, die vollzogene
1) Art. 36 der Wechselordnung; §222 111 des Handelsgesetzbuches; §8 11
des Scheckgesetzes. Nur der Vollständigkeit halber angeführt; Erklärungen, die
schon sehr eingehend sein müßten, können hier wegen Raummangels nicht ge-
bracht werden.
142
Krückmann :
Schenkung, der abgeschlossene Darlehnsvcrtrag nichtig sind, weil
Verkäufer, Schenker oder Darlehnsgcbcr geisteskrank sind, so
muß der Empfänger zurückgeben, was er hat, weil es an der juri-
stischen causa fehlt, die Vermögensverschiebung juristisch nicht
gerechtfertigt ist, eine sogenannte ungerechtfertigte Bereicherung
vorliegt. Aber die Haftung auf die ungerechtfertigte Bereicherung
beschränkt sich auf die wirkliche Bereicherung, d. h. auf das, was
der Empfänger von der Leistung noch hat oder was an die Stelle
des Empfangenen getreten ist. Darum brauchte in folgendem
Falle-^) der Student der Bank nichts herauszuzahlen. Er hatte
sein kleines Erbteil auf der Bank und bei Abschluß der Studien
noch ein Guthaben von 400 Mark. Er wollte es abheben und
erhielt 4000 Mark zugewiesen. Auf seine Einwendung, es müßte
ein Irrtum vorliegen, kam die Antwort, die Bank irre sich nie,
er habe 4000 Mark zu fordern. Erfreut machte er darauf eine
Reise nach Ägypten und erhielt dort, als er nur noch das Geld
zur Heimreise hatte, einen Brief der Bank, es liege doch ein Irrtum
vor, er möge 3600 Mark zurückzahlen. Er verweigerte es, denn
er habe die 3600 Mark schon ausgegeben, und zWar auf eine Aus-
gabe, die er sonst nicht gemacht haben würde. Er war im Recht,
denn er brauchte nur herauszugeben, was er hatte. Insofern hatte
ihm die Zahlung der Bank eine Ausübungsmöghchkeit gegeben,
die ihn quantitativ von seiner Haftung befreite. So gehört schon
die normale Haftung auf die ungerechtfertigte Bereicherung mit
unter die Fälle, wo jemand als wahrer Gläubiger fingiert wird.
Dem Empfänger wird in gewissem Umfange die Möglichkeit ge-
geben und gesetzlich anerkannt, über das Erhaltene wie ein wahrer
Gläubiger, dem eine juristischer Rechtfertigungsgrund für das Be-
halten zur Seite steht, zu verfügen. Er erhält die Ausübungs-
möglichkeit an einer gar nicht oder nicht in diesem Umfange be-
stehenden Forderung, an einem vollen juristischen Nichts.^)
Diese Ausübungsmöglichkeit ist in gewissen Fällen noch ge-
steigert: § 217 I des Handelsgesetzbuchs. ,,Die Aktionäre haften
^) Der Fall ist ein offenbar fingierter Schulfall; ein solche^ Irrtum einer Bank
ist, wenn man die früheren Abschlüsse in Betracht zieht, nicht gut denkbar.
*) Zu allem lassen sich Seitenstücke finden, die Rechtslage bei der ungerecht-
fertigten Bereicherung ist ähnlich, wenn auch nicht genau dieselbe, wie bei der
Sachbeschädigung durch den gutgläubigen Besitzer. Gläubiger und Eigentümer
müssen sich die Verminderung des herauszugebenden Etwas gefallen lassen, s. obeu
§ 2, II, Nr. I.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
143
für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft, soweit sie den Vor-
schriften dieses Gesetzbuchs entgegen Zahlungen von der Ge-
sellschaft empfangen haben. Was ein Aktionär in gutem Glauben
als Gewinnanteil oder als Zinsen bezogen hat, ist er in keinem
Falle zurückzuzahlen verpflichtet." Werden auf Grund gefälschter
Bilanz von der Aktiengesellschaft Gewinne ausgezahlt, die gar
nicht gemacht sind, so wird auf nicht vorhandene Gewinnansprüche
hin geleistet. Dem Aktionär fehlt also jedes Behaltungsrecht,
jeder juristische Rechtfertigungsgrund für das Behalten des emp-
fangenen angeblichen Gewinnanteils, oder, wie wir auch sagen,
ihm fehlt jeder Rechtstitel. Er wird aber so behandelt, als ob
ihm ein Rechtstitel zur Seite stünde; der Rechtstitel wird fingiert
oder, juristisch gesprochen, es wird ihm die Ausübungsmöglichkeit
an einem gar nicht vorhandenen Rechte auf Gewinnauszahlung
gegeben. Unbeschränkt im Gegensatz zur gewöhnlichen ungerecht-
fertigten Bereicherung, über deren Grundsätze noch hinaus.
Ein ähnliches gilt kraft § 172 V von dem Kommanditisten
einer Kommanditgesellschaft. ,,Was ein Kommanditist auf Grund
einer im guten Glauben errichteten Bilanz als Gewinn bezieht,
ist er in keinem Falle zurückzuzahlen verpflichtet."^)
B. Scheinschuldner.
I. Belege für die Scheinschuldnerschaft enthalten die schon
behandelten §§ 25 I, 28, 223, 224 des Handelsgesetzbuchs, sowie
§ 176 daselbst. Ebenso § 1058. Nur tritt in diesen Bestimmungen
die Scheinschuldnerschaft erheblich hinter der Scheingläubiger-
schaft zurück.
II. Reiner tritt die Scheinschuldnerschaft in folgenden Fällen
hervor.
§ 830. ,, Haben mehrere durch eine gemeinschaftlich be-
gangene unerlaubte Handlung einen Schaden verursacht, so ist
jeder für den Schaden verantwortlich. Das gleiche gilt, wenn
sich nicht ermitteln läßt, wer von mehreren Beteiligten den Schaden
durch seine Handlung verursacht hat."
III. Sie geht offenbar weiter als die Scheingläubigerschaft. Diese
setzte doch immer eine wirklich bestehende Forderung voraus
^) Man beachte den Unterschied. Die Anforderungen an den Kommanditisten
sind strenger, denn er kann nach § i66 die Richtigkeit der Bilanz unter Einsicht
der Bücher und Papiere prüfen. Dies Recht steht dem einzelnen Aktionär nicht zu.
144
Krückmann :
und kennt nur einen Wettbewerb verschiedener Zuständigkeiten.
Die Scheinschuldnerschaft ist daher bei Lichte besehen etwas
Außerordenthches und doch nur eine Bewährung des Satzes, daß
niemand sich in Widerspruch setzen soll mit seinen ernstlichen
oder als ernstlich anzunehmenden Willenserklärungen.
§ 405. ,,Hat der Schuldner eine Urkunde über die Schuld
ausgestellt, so kann er sich, wenn die Forderung unter Vorlegung
der Urkunde abgetreten wird, dem neuen Gläubiger gegenüber
nicht darauf berufen, daß die Eingehung oder Anerkennung des
Schuldverhältnisses nur zum Schein erfolgt sei oder daß die Ab-
tretung durch Vereinbarung mit dem ursprünglichen Gläubiger
ausgeschlossen sei, es sei denn, daß der neue Gläubiger bei der
Abtretung den Sachverhalt kannte oder kennen mußte."
An sich kann der Schuldner nach § 404 dem neuen Gläubiger
alles das entgegenhalten, was er dem Altgläubiger würde entgegen-
halten können. Dies ist unerläßlich, damit nicht der Gläubiger
die Möglichkeit erhält, einseitig, ohne den Schuldner zu fragen,
dessen Rechtslage durch die Abtretung zu verschlechtern. Es
gehört zu den obersten Grundsätzen unseres Rechtes, daß keine
Partei durch ihre einseitige Handlung die rechtliche Lage der
Gegenpartei soll verbessern oder verschlechtern können. Ich
kann niemand ohne seinen Willen ein Geschenk aufdrängen, ihm
nicht gegen seinen Willen seine Schuld erlassen, ich kann aber
auch seine Lage nicht dadurch verschlechtern, daß ich ihm einen
Gläubiger aufdränge, ohne daß er diesem neuen Gläubiger gegen-
über alle Verteidigungsmittel geltend machen kann, die dem
Schuldner mir gegenüber zustehen.^) Die Forderung geht über
^) Das bürgerliche Recht geht grundsätzlich von Gleichheit der Menschen
aus, wenigstens von der Gleichheit in ihren bürgerlich-rechtlichen Verhältnissen
und in ihrer bürgerlich-rechtlichen Betätigung. Dies ist der Unterschied vom
öffentlichen Recht, vgl. meine Einführung in das Recht, S. 24ff. Diesem Grund-
satz entspricht es, daß Eigentum nur dann übergeht, wenn der Erwerber die Sache
annimmt; daß eine Schuld nicht einseitig erlassen werden kann, sondern der Schuldner
sich mit dem Erlaß einverstanden erklären muß; daß der Gläubiger einwilligen muß,
wenn ein anderer als der ursprüngliche Schuldner die Schuld übernehmen will
(Schuldübernahme im Gegensatz zur Forderungsabtretung). Die Achtung vor der
Freiheit der Persönlichkeit geht so weit, daß der Beschenkte, der durch Täuschung
zur Annahme der Schenkung bewogen worden ist, die Schenkung anfechten kann,
dem Schenker also die Behauptung unmöglich wird, er habe dem anderen etwas
geschenkt, § 123. Die Schenkung wird dann nicht bloß tatsächlich wirtschaftlich,
durch Rückgabe der Sache, sie wird auch juristisch aus der Welt geschafft.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. 145
mit allen ihren Vorzügen, aber auch mit allen ihren Mängeln und
Schwächen. Ein Mangel ersten Grades ist es, daß sie nur zum
Schein begründet ist, z. B. um dem Scheingläubiger den Anschein
der Zahlungsfähigkeit zu verschaffen. Eine solche nicht ernst-
haft gemeinte Schuld ist nichtig, §117. Sie wird auch nicht voll-
wirksam durch die Abtretung, aber der neue Gläubiger kann sie
als vollwirksam behandeln.
IV. Nicht mehr rein schuldrechtlich sind folgende Bestim-
mungen :
1. §1141. ,, Hängt die Fälligkeit der Forderung (d.h. der
dem Hypothekengläubiger neben der Hypothek zustehenden Dar-
lehnsforderung, für die die Hypothek bestellt worden ist) von
einer Kündigung ab, so ist die Kündigung für die Hypothek nur
wirksam, wenn sie von dem Gläubiger dem Eigentümer oder von
dem Eigentümer dem Gläubiger erklärt wird. Zugunsten des
Gläubigers gilt der, der im Grundbuch als Eigentümer eingetragen
ist, als der Eigentümer." Dem Nichteigentümer, der darum auch
kein Hypothekenschuldner sein kann, wird die Rolle des Hypo-
thekenschuldners zugewiesen, damit der Gläubiger sich auf eine
vollwirksame Kündigung berufen kann. Diese Schuldnerrolle wird
dem eingetragenen Nichteigentümer auch noch zu anderen Zwecken
auferlegt.
2. §1148. ,, Bei der Verfolgung des Rechtes aus der Hypothek
gilt zugunsten des Gläubigers, wer im Grundbuch als Eigentümer
eingetragen ist, als der Eigentümer."
Entsprechendes kehrt wieder beim Faustpfand an beweglichen
Sachen.
3. § 1248. ,,Bei dem Verkaufe des Pfandes gilt zugunsten
des Pfandgläubigers der Verpfänder als der Eigentümer, es sei
denn, daß der Pfandgläubiger weiß, daß der Verpfänder nicht
der Eigentümer ist."
Streng genommen macht der Jurist eine Unterscheidung
zwischen § 1148 und § 1248, die wir aber hier vernachlässigen,
denn §1148 bezieht sich im wesenthchen lediglich auf sachen-
rechtliche Wirkungen, dagegen § 1248 auch auf bedeutsame schuld-
rechtliche Wirkungen. Der Pfandgläubiger aus einem Faustpfand
an einer beweghchen Sache muß dem Eigentümer den Verkauf
androhen, § 1234; muß ihm Zeit und Ort der Versteigerung an-
zeigen, § 1237; muß Nachricht von dem vollzogenen Verkaufe
geben, § 1241; kann das Gebot des Eigentümers zurückweisen,
Annalen der Philosophie. I. XO
I ^6 Krückraann :
wenn der Betrag nicht bar erlegt wird, § 1239 II; kann mit ihm
eine abweichende Art des Verkaufes vereinbaren, § 1245; hat ihm
den erziehen Überschuß aus dem Erlöse hcrauszuzahlen, § 1247,
Systematisch ist das Bild nicht rein, denn es gehen Pflichten
und Rechte des Pfandgläubigers durcheinander, und § 1248 hätte
auch unter der Scheingläubigerschaft behandelt werden können.
Aber entscheiden muß, daß der Verpfänder durch die Verpfändung
doch dem Pfandgläubiger gegenüber sachenrechtlich in eine Stellung
hineinkommt, die schuldrechtlich am meisten Ähnlichkeit mit der
Schuldncrstellung hat,
V. Etwas Ähnliches enthalten die §§ 109 und 405. Schließt
ein Minderjähriger von über sieben Jahren oder ein wegen Ver-
schwendung oder Trunksucht oder Geistesschwäche Entmündigter
oder ein vorläufig Bevormundeter einen Vertrag ohne Einwilligung
des Vormundes, so ist dem Vormund vorbehalten, den Vertrag
nachträglich zu genehmigen, der andere Teil kann dem aber zuvor-
kommen, indem er den Vertragschluß widerruft, vgl. §§ 106, 114,
108.^) Aber hiervon gibt es nun Ausnahmen und von dieser Aus-
nahme wieder eine bezeichnende Ausnahme.
§ 109. ,,Bis zur Genehmigung des Vertrags ist der andere
Teil zum Widerrufe berechtigt. Der Widerruf kann auch dem
Minderjährigen gegenüber erklärt werden.
Hat der andere Teil die Minderjährigkeit gekannt, so kann
er nur widerrufen, wenn der Minderjährige der Wahrheit
zuwider die Einwilligung des Vertreters behauptet hat;
er kann auch in diesem Falle nicht widerrufen, wenn ihm das
Fehlen der Einwilligung bei dem Abschlüsse des Vertrages bekannt
war." Typischer Fall: Der Obertertianer lügt dem Fahrradhändler
vor, er habe die Erlaubnis, sich das Fahrrad zu kaufen. Der Ver-
käufer darf dies als wahr behandeln und danach widerrufen.*)
^) Kinder unter sieben Jahren, Geisteskranke, wegen Geisteskrankheit Ent-
mündigte sind vollständig geschäftsunfähig, sie können keinerlei juristische Wir-
kungen erzeugen. Die anderen sind beschränkt geschäftsfähig, d. h. aus ihrem
Vertrage kann noch etwas Wirksames werden, der gesetzliche Vertreter kann die
Gegenpartei dabei festhalten durch Genehmigung. Vorläufig bevormundet werden
Personen, deren Entmündigung beantragt und noch in der Schwebe ist, wenn
schleuniges Eingreifen nötig scheint, § 1906.
*) Wenn der Vormund, der zu gewissen Rechtsgeschäften die Einwilligung
des Vormundschaftsgerichtes braucht, §§ 1812, 1818 — 1822, der Gegenpartei gegen-
über der Wahrheit zuwider die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes be-
hauptet, ist der andere Teil ,jbis zur Mitteilung der nachträglichen Genehmigung
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I^jr
§ 5. Güterrechtsregister und § 1435.
I. Eine ähnliche Wirkung wie das Grundbuch hat das Güter-
rechtsregister. Normalerweise herrscht in jeder Ehe die sogenannte
Verwaltungsgcmeinschaft, auch Verwaltungscinheit genannt.^) Der
Mann hat Verwaltung und Nutznießung vom Frauenvermögen,
nur einzelnes ist davon ausgenommen, das Vorbehaltsgut (Kleider,
Schmucksachen, Arbeitsgeräte; Erwerb aus einem selbständig be-
triebenen Erwerbsgeschäft, etwa als Gesang-, Klavierlehrerin,
Malerin, Handelsfrau; alles, was durch Ehevertrag für Vorbehalts-
gut erklärt ist und was sie als Erbschaft oder als Geschenk nach
der Bestimmung des Zuwendenden als Vorbchaltsgut erwirbt,
§§ 1366 ff.). Das übrige Vermögen heißt Eingebrachtes und wird
von dem Manne verwaltet und genutzt.
Die Gatten können aber auch allgemeine Gütergemeinschaft,
Errungenschaftsgemeinschaft, Fahrnisgemeinschaft bei sich ein-
führen und können völlige Gütertrennung vereinbaren. Auf diese
Abweichungen braucht aber niemand gefaßt zu sein, vielmehr
darf jeder annehmen, daß in jeder Ehe Verwaltungsgemeinschaft
besteht. Das will sagen: Er kann verlangen, daß die Gatten so
behandelt werden, als bestände zwischen ihnen eine Verwaltungs-
gemeinschaft, die vielleicht nicht besteht. Zwar nicht nach allen
Richtungen, aber doch in sehr wesentlichen Beziehungen. Der
Mann kann nach § 1377 verbrauchbare Sachen der Frau für sich
verbrauchen oder veräußern^), z. B. Lebens- und Genußmittel,
und der Erwerber, dem es bekannt ist, daß die Frau die veräußerten
Sachen in die Ehe gebracht hat, darf annehmen, daß der Mann
kraft Verwaltungsgemeinschaft zur Veräußerung befugt ist. Ebenso
kann der Mann mit rechtlicher Wirkung prozessieren, als ob ihm
■des Vormundschaftsgerichtes zum Widerruf berechtigt, es sei denn, daß ihm das
Fehlen der Genehmigung bei dem Abschlüsse des Vertrages bekannt war", § 1830.
Hierin steckt ein anderer Gedanke als die Fiktion. Der Gegner ist über eine wesent-
liche Voraussetzung des Geschäftes getäuscht und gewinnt ein Widerrufsrecht, was
er an sich nicht hat. Grund: Er muß wissen, zu welchen Geschäften das Vormund-
schaftsgericht seine Genehmigung zu geben hat.
^) Sie ist der sogenannte gesetzliche Güterstand, d. h. das Güterrecht, das
von Gesetzes wegen eintritt, weim die Gatten, wie es in der erdrückenden Mehr-
zahl aller Fälle zutrifft, über das eheliche Güterrecht nichts miteinander ausgemacht
haben.
*) Wenn sie, wie es die Regel ist, zum eingebrachten Gut gehören, an dem er
•die Verwaltung und Nutznießung hat.
lo*
148
Krückmann:
die Prozeßführungsbefugnis nach § 1380^) zustände. Natürlich
hp.bcn alle diese Möglichkeiten ihr Ende an dem Wissen der Gegen-
partei.
§ M35- „Wird durch Ehevertrag die Verwaltung und Nutz-
nießung des Mannes ausgeschlossen oder geändert, so können
einem Dritten gegenüber aus der Ausschließung oder
der Änderung Einwendungen gegen ein zwischen ihm
und einem der Ehegatten vorgenommenes Rechts-
geschäft oder gegen ein zwischen ihnen ergangenes
rechtskräftiges Urteil nur hergeleitet werden, wenn
zur Zeit der Vornahme des Rechtsgeschäftes oder zur
Zeit des Eintritts der Rechtshängigkeit die Aus-
schließung oder die Änderung in dem Güterrechts-
register des zuständigen Amtsgerichts eingetragen oder
dem Dritten bekannt war.
Das gleiche gilt, wenn eine in dem Güterrechtsregister ein-
getragene Regelung der güterrechtlichen Verhältnisse (z. B. Ein-
führung der allgemeinen Gütergemeinschaft) durch Ehevertrag
aufgehoben oder geändert wird."
Diese Bestimmung ist deshalb notwendig geworden, weil ab-
weichend vom Grundbuch die Eheverträge den Güterstand ohne
Verlautbarung im Güterrechtsregister ändern, während nach Grund-
buchrecht grundsätzlich zu jeder Rechtsänderung die Eintragung
in das Grundbuch notwendig ist.
II. Eine von den Frauenrechtlerinnen mit ziemlicher Hitze
erörterte Frage spielt in die Wirkungen des Güterrechtsiegisters
ebenfalls hinein.
Das eingebrachte Gut der Frau, d. h. praktisch ihr ganzes
\ (.rmögen mit Ausnahme des für gewöhnlich nur sehr geringen
\orbehaltsgutes, haftet für alle vorehelichen Schulden der Frau
unbedingt, für die ehelichen aber nur dann, wenn der Mann seine
Einwilligung gegeben hat. Diese Einwilligung wird praktisch
bedeutsam bei einem von der Frau selbständig betriebenen Erwerbs-
geschäft, das auch die Begründung von Geschäftsschulden mit
sich bringt (Kaufladen, Grünhandel). Da ist es nicht nötig, daß
) ,,Dcr Mann kann ein zum eingebrachten Gute gehörendes Recht im eigenen
Namen gerichtlich geltend machen", er prozessiert also über fremdes Recht, aber
ohne Vollmacht.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
149
<ier Mann zu jedem einzelnen Geschäft der Frau seine Einwilligung
gibt, es genügt seine allgemeine Einwilligung zu dem Erwerbs-
geschäft.
§ 1405. Erteilt der Mann der Frau die Einwilligung zum
selbständigen Betriebe eines Erwerbsgeschäftes, so ist seine Zu-
stimmung zu solchen Rechtsgeschäften und Rechtsstreitigkeiten
nicht erforderlich, die der Geschäftsbetrieb mit sich bringt.
Der Einwilligung des Mannes in den Geschäftsbetrieb steht
es gleich, wenn die Frau mit Wissen und ohne Einspruch des
Mannes das Geschäft betreibt.
Dritten gegenüber ist ein Einspruch und der Widerruf der
Einwilhgung nur nach Maßgabe des § 1435 wirksam."
Dieser Grundsatz ist durch andere Vorschriften auf andere
eheliche Güterrechte: allgemeine Gütergemeinschaft, Errungen-
schafts-und Fahrnisgemcinschaft, ausgedehnt, §§1452, 1519 II, 1549.
III. Zum Teil liegen die Wirkungen aber versteckt, wenn
z. B. ein Gatte, d. h. wesentlich ist nur die Frau dazu berechtigt,
sich ein Vorbeho Itsgut an Gegenständen ausbedungen hat, die
an sich nicht in das Vorbehaltsgut fallen würden. Dies wirkt
Dritten gegenüber ebenfalls nur nach Maßgabe des § 1435- Das
heißt, der ahnungslose Dritte kann in bezug auf Rechtsgeschäfte
und Prozesse das Vorbehaltsgut als nicht vorhanden behandeln,
§§ 1371, 1368, 1441, 1526 II, 1549-
IV. Zwischen dem gebundenen Gesamtgut bei der Errungen-
schafts- und der Fahrnisgemcinschaft und dem ganz ungebundenen
Vorbehaltsgut steht in der Mitte das eingebrachte Gut dieser
Güterstände. Wenn ihm Gegenstände zugewiesen werden, die
ihm an sich nicht zufallen würden, entstehen dieselben Unsicher-
heiten, als wenn der Umfang des Vorbehaltsgutes über die gesetz-
lichen Grenzen hinaus ausgedehnt wird. Immer wieder springt
der § 1435 ein.
V. I. Außer der freiwilligen rechtsgeschäftlichen Aufhebung
der Verwaltungsgemeinschaft durch die Gatten und der frei-
willigen Einführung der Gütertrennung, der allgemeinen Güter-
gemeinschaft, der Errungenschafts- und Fahrnisgemcinschaft
kommt vor, daß Gütertrennung durch das Gesetz eingeführt
oder die bestehende Gütergemeinschaft auf Klage eines Gatten
aufgehoben wird. Dies setzt natürlich nicht normale eheliche
Verhältnisse voraus. So wird z. B. die Verwaltung und Nutz-
nießung des Mannes ausgeschlossen, wenn er ohne den Willen
ISO
Krückmann :
des Vaters oder der Mutter oder des Vormundes ein minderjähriges
Mädchen heiratet, § 1364. Wer sich als so unzuverlässig erweist,
dem soll das Frauenvermögen auch nicht in die Hand gegeben
werden. Die Frau kann aber auch unter Umständen auf Auf-
hebung der Verwaltungsgemeinschaft klagen, z. B. wenn durch
das Verhalten des Mannes die Besorgnis begründet wird, daß die
Rechte der Frau in einer das eingebrachte Gut erheblich gefährdenden
Weise verletzt werden; wenn der Unterhalt der Kinder infolge
Pflichtwidrigkeit des Mannes gefährdet wird; wenn der Mann
entmündigt ist, zur Besorgung seiner eigenen Vcrmögensangelegen-
heiten einen Pfleger erhalten hat, weil er selber ihnen allein nicht
mehr gewachsen ist; wenn der Mann abwesend, verschwunden
ist, vermißt wird, und für ihn ein Abwcsenheitspfleger bestellt
ist; wenn er in Konkurs verfallen oder für tot erklärt ist, §§ 141 8
bis 1420.
2. Aus ähnlichen Gründen kann auf Aufhebung der ver-
schiedenen Gütergemeinschaften geklagt werden, hauptsächlich von
der Frau, aber auch vom Manne, §§ 1468, 1469, 1542, 1549. Ebenso
endigt die Errungenschaftsgemeinschaft infolge von Konkurs des
Mannes oder Todeserklärung eines Gatten ohne weiteres von selber,
ipso iure, § 1543-
Alle diese Veränderungen wirken gegenüber Dritten aber nur
nach Maßgabe des §1435, vgl. §§1431, 1470 11, 1545 H, 1548 II, 1549-
3. Unter Umständen kann der Mann Wiederherstellung der
Verwaltungsgcmeinschaft verlangen, § 1425, oder der Gatte
Wiederherstellung der Errungenschaftsgemeinschaft, § 1547. Dann
erheben sich dieselben praktischen Fragen und werden mit Hilfe
von § 1435 in derselben Weise gelöst, § 1431, 1548 II.
4. Welche Verwicklungen das Leben mit sich bringt, ist an
der mit Rücksicht auf die Katholiken eingeführten Aufhebung
der ehelichen Lebensgemeinschaft zu ersehen. Jeder scheidungs-
berechtigte Gatte kann statt auf Scheidung auf Aufhebung der
ehelichen Gemeinschaft klagen. Diese hat alle Wirkungen der
Scheidung und kann auch von jedem Gatten jederzeit in die volle
Scheidung übergeführt werden, §§ 1575, 1576, 1586. Sie erlaubt
aber den Gatten die eheliche Lebensgemeinschaft formlos wieder
herzustellen, W^iederholung der Heirat ist nicht nötig. Das ehe-
liche Güterrecht der wiederhergestellten Ehe ist aber die Güter-
trennung, wenn nicht eben die Gatten etwas anderes vereinbaren.
Diese Gütertrennung braucht nun auch nicht bekannt zu sein,
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I c i
wenn die Gatten ihren Wohnsitz in neuer Umgebung nehmen,
da muß auch hier § 1435 helfen.
VI. Nicht normale eheliche Verhältnisse führen, wie die Zeitungs-
anzeigen ergeben, oft genug dazu, daß der Mann seiner Frau die
Schlüsselgewalt entzieht. Das geschieht durch die bekannten
Anzeigen: ,,Ich warne, meiner Frau auf meinen Namen etwas
zu borgen, da ich für nichts hafte." Durch solche Bekanntmachung
wird ja meistens den Anforderungen an die Öffentlichkeit genügt,
aber doch nicht immer, und darum wird auch hier zu raten sein,
daß der Mann die Entziehung der Schlüsselgewalt, falls er sie
wirkhch dauernd aufrecht erhalten will, in das Güterrechtsregister
eintragen lasse. Andernfalls wird sein Verbot sich nicht immer
durchsetzen lassen, §§ 1357, 1435-
VII. Als Gegenstück zu den angeführten Bestimmungen ist
zu vergleichen § 1404, wo entgegen allen Bedürfnissen der Verkehrs-
sicherheit die Wahrheit uneingeschränkt durchgesetzt wird. Bei
dem gesetzlichen Güterstande der Verwaltungsgemeinschaft wird
die Frau mit Rücksicht auf die Verwaltung und Nutznießung
des Mannes in der Verfügung über ihr Eingebrachtes gebunden.
Dazu bestimmt § 1404: ,,Die Beschränkungen, denen die Frau
nach den §§ 1395 — 1403 unterliegt, muß ein Dritter auch dann
gegen sich gelten lassen, wenn er nicht gewußt hat, daß die Frau
eine Ehefrau ist." Das bedeutet vor allem, daß jeder Rechts-
erwerb im guten Glauben ausgeschlossen ist.
§ 6. Scheinehe.
1. Das BGB. erklärt in gewissen Fällen eine Ehe für nichtig,
kann aber doch an der Tatsache nicht vorüber, daß eine äußerlich
einwandfreie Eheschließung in den vorgeschriebenen Formen statt-
gefunden hat und daß dritte Personen, die außerstande sind, dies
zu erkennen, in ihrer Ahnungslosigkeit unter der Nichtigkeit nicht
leiden dürfen. Theoretisch ist die nichtige Ehe vollständig wirkungs-
los, müßte es wenigstens sein, praktisch aber ist sie nicht wirkungslos
und kann aus zwingenden rechtspolitischen Gründen auch gar nicht
vollständig wirkungslos sein. Man spricht dann auch von formell
gültigen,materiell nichtigen Ehen.^) Doch trifft dies gleich auf
den ersten Fall nur eingeschränkt zu.
§ 1324. Eine Ehe ist nichtig, wenn die vorgeschriebene Form
nicht beobachtet worden ist. Sie wird aber trotzdem nicht als
*) Vgl. zu dem Folgenden meine Institutionen des BGB. (4. Aufl.), S. 594 ff.
152
Krückmann :
ein juristisches Nichts behandelt, wenn sie in das Heiratsregister
eingetragen N\-urde.
Eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der
Eheschheßung geschäftsunfähig war (geisteskrank, wegen Geistes-
krankheit entmündigt) oder bewußtlos oder vorübergehend in
der Geistestätigkeit gestört (berauscht), § 1325.
Doppelehe macht die zweite Ehe nichtig, § 1326.
Ebenso Blutschande, § 1327.
Nichtig ist die Ehe zwischen Genossen desselben Ehebruches,
vorausgesetzt, daß die frühere Ehe wegen dieses Ehebruches ge-
schieden ist, § 1328.
II. Die Tatsache, daß ein äußerlich einwandfreier Eheschluß
vorliegt, wirkt zunächst so stark, daß die Nichtigkeit der Ehe
nicht beliebig und bei jedem Anlaß geltend gemacht werden kann,
daß vielmehr eine ausschließlich auf die Nichtigkeitserklärung ge-
richtete Klage erhoben und erfolgreich durchgeführt sein muß,
damit man sich beliebig auf die Nichtigkeit der Ehe berufen kann,
§ 1329. Mit anderen Worten, der äußerliche Akt der Eheschheßung
muß durch einen ebenso äußerlichen und ebenso öffentlichen Akt
ausdrücklich seiner Wirkungen entkleidet sein, um vollständig aus
der Welt zu verschwinden. Es geht z. B. nicht, daß der auf Unter-
halt verklagte Ehegatte dem Kläger gegenüber einwendet, die Ehe
sei nichtig. Will er sich auf die Nichtigkeit stützen, muß erst ein
reiner Nichtigkeitsprozeß, der nichts ist als Nichtigkeitsprozeß,
vorhergegangen sein. Bis dies geschehen ist, äußert die Ehe alle
Wirkungen einer vollen Ehe. Ja, es kann dazu kommen, daß
eine solche nichtige Ehe wegen Ehebruches geschieden werden
kann und der schuldige Gatte wegen Ehebruches bestraft wird.
Dem verletzten Gatten steht es zu, die Ehe für nichtig erklären
zu lassen; er kann aber auch daraus, daß sie äußerlich zu Recht
besteht, die entsprechenden Folgerungen ziehen.
III. Entsprechendes gilt von der anfechtbaren Ehe. Eme
Ehe ist anfechtbar aus den Gründen der §§ 1330 ff. z. B. wegen
Täuschung, wegen Irrtums über wcsentliclie Eigenschaften (Un-
fruchtbarkeit der Frau), wegen Drohung (die Tochter opfert sich
für den mit Strafanzeige bedrohten Vater). ^) Die Anfechtung
') Vgl. Institutionen, S. 602 ff. Der Unterschied ist: Bei der Anfechtbarkeit
bleibt es dem Gatten vorbehalten, ob die Ehe unnichtig werden soll, bei der Nichtig-
keit nicht.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht
153
muß in einem eigenen Anfechtungsprozessc geschehen und führt
dann zur Nichtigerklärung. Nach dieser wird alles so gehalten
wie bei der von Anfang an nichtigen Ehe, §§ 1341, 1343-
IV. Eine besondere Nichtigkeit gilt bei unrichtiger Todes-
erklärung. Heiratet nach unrichtiger Todeserklärung der andere
Gatte wieder, so treten nun keineswegs die Wirkungen der Doppel-
ehe ein, obgleich eine richtige Doppelehe vorliegt, sondern durch
den Abschluß der zweiten Ehe wird die erste aufgelöst, § 1348 II,
und bleibt auch dann aufgelöst, wenn die Todeserklärung infolge
einer Anfechtungsklage aufgehoben wird, § 1348 II. Hier schlägt
der öffentliche, wenn auch materiell unrichtige Akt der Todes-
erklärung durch. Aber die neue Ehe kann von jedem Gatten
der neuen Ehe angefochten werden, § 1350. Dem öffentlichen
Akt der ersten Eheschließung stehen gegenüber die ebenfalls öffent-
lichen Akte der Todeserklärung und der zweiten Eheschließung,
die aber beide materiell ungerechtfertigt sind. Die Todeserklärung
und die zweite Eheschließung werden durch zwei gesonderte An-
fechtungsklagen aus der Welt geschafft.^)
Die zweite Ehe ist nur dann nichtig, wenn beide Teile bei
dem Eheschluß wissen, daß der für tot erklärte Gatte der früheren
Ehe die Todeserklärung überlebt hat, § 1348 I. Hier bewirkt ihr
böser Glaube, daß das wahre Rechtsverhältnis anerkannt wird,
soweit dies gegenüber den einmal vollzogenen Heiratsformen
möglich ist.
V. Ein tatsächlicher möglicher Fall ist vom BGB. übersehen
worden. Bekanntlich täuschen weibliche Zwitter oft männliche
Erscheinung vor und so konnte es kommen, daß ein Mann an
einer rätselhaften Krankheit starb, die bei der Öffnung als Gebär-
mutterkrebs erkannt wurde. Schließt ein solcher Zwitter eine
Ehe, so ist sie nichtig, nicht anders als sonstige nichtige Ehen.
Die eigentlich belehrenden Wirkungen der nichtigen Ehe sind
folgende.
Anläßlich des Zwitterfalles wurde die Frage aufgeworfen, ob
das gemeinschaftliche Testament dieser Frau, das sie mit der
anderen Frau gemacht hatte, rechtswirksam war, denn nach
§ 2265 kann ein gemeinschaftliches Testament nur von Ehe-
^) Nicht zu verwechseln mit dem in diesem Kriege vorgekommenen Fall,
daß die Frau auf Grund unrichtiger amtlicher Todesnachricht wieder heiratet.
Die zweite Ehe ist nichtig, § 1325.
154
Krückmann :
galten errichtet werden. Man wird die Frage ohne weiteres be-
jahen und sie nur verneinen, wenn man den Beteiligten bösen
Glauben nachweisen könnte. Diese Entscheidung muß aus all-
gemeinen Erwägungen heraus getroffen werden, da eine ent-
sprechende Bestimmung im BGB. fehlt. Sie entspricht aber
seinem Geiste und Sinne und dies wird an anderen Fällen be-
stätigt, wo das BGB. ausdrückliche Bestimmungen getroffen hat.
VI. Dritten kann die Nichtigkeit der Ehe nicht entgegen-
gehalten werden, es sei denn, daß sie um den Nichtigkeitsgrund
wußten, also z. B. wußten, daß sich beide Ehebrecher ohne Be-
freiung von dem Ehehindernis geheiratet hatten, § 1344.
1. Dies gilt nun nicht uneingeschränkt, sondern nur bei
Rechtsgeschäften, z. B. der Dritte zahlt an den Mann eine Schuld
auf eine Forderung, die die Frau gegen ihn hat. Der Mann über-
eignet dem Dritten, der eine der Frau gehörende Sache von ihr
gekauft hat, diese Sache. Dies kann er bei der Verwaltungs-
gemeinschaft tun, § 1376, wenn die Frau die Sache vor der Ehe-
schließung ohne seine Einwilligung oder nach der Eheschließung
mit seinem Einverständnis verkauft hatte, § 1376, 3. An sich
würde der Satz durchgreifen, daß niemand mehr Rechte über-
tragen kann, als er hat, denn wegen Mangels einer gültigen Ehe
besteht zwischen den Gatten auch keine Verwaltungsgemeinschaft ^),
und weil keine Verwaltungsgemeinschaft besteht, hat der Mann
nicht die Nutznießung und Verwaltung am eingebrachten Gut,
d. h. regelmäßig am ganzen Vermögen der Frau.
2. Ferner wirkt die nichtige Ehe auch in Prozessen. Der
Mann kann bei der Verwaltungsgemcinschaft, die das normale
eheliche Güterrecht ist, ein zum eingebrachten Gute gehörendes
.Recht der Frau im eigenen Namen geltend machen, § 1380. Nach
§ 1344 kann gegen das zwischen ihm und seinem Prozeßgegner
ergangene rechtskräftige Urteil keine Einwendung aus der Nichtig-
keit der Ehe hergeleitet werden.
VII. Im Verhältnis der Gatten zueinander bewirkt die nichtige
Ehe, daß der gutgläubige Gatte den bösgläubigen nach der Nichtig-
keitserklärung oder der Auflösung der Ehe vermögensrechtlich
(Unterhaltspflicht) so behandeln kann, als sei die Ehe wegen Ver-
schuldens des bösgläubigen Gatten geschieden worden, § 1345-
') Verwaltungsgemcinschaft ist der sogenannte ,, gesetzliche Güterstand"
%\c tritt ein, wenn sie nicht zweifelsfrei ausgeschlossen wird.
"Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
155
Der gutgläubige Teil kann aus drr nichtigen Ehe Unterhalts-
ansprüche herleiten.
Dasselbe Recht steht bei anfechtbarer und durch Anfechtung
nichtig gewordener Ehe dem anfechtungsberechtigten Gatten zu,
§ 1346. Macht also die zur Ehe durch die Drohung, den Vater
wegen strafbaren Vergehens anzeigen zu wollen, gezwungene Frau
nach dem Tode des Vaters die Anfechtbarkeit geltend, so kann
sie verlangen, vermögensrechtlich als unschuldig geschiedene Frau
behandelt zu werden.
VIII. Noch deutlicher sind die §§ löggii. Kinder aus nich-
tigen Ehen gelten als ehelich, sofern nicht beide Gatten bei der
Eheschließung die Nichtigkeit gekannt haben, § 1699. Sie führen
den Namen des Vaters, haben gesetzliches Erbrecht gegen die
Eltern, haben Anspruch auf Unterhalt wie eheliche Kinder. Freilich
hat der bösgläubige Vater nicht die aus seiner Vaterschaft sich
ergebenden Rechte, also insbesondere nicht Erbrechte und väter-
liche Gewalt, § 1701, und die bösgläubige Mutter hat nur die Rechte
einer bei Ehescheidung für schuldig erklärten Frau, § 1702.
Obgleich danach ein Kind unehelich ist, wenn beide Eltern
bösgläubig sind, so kann es doch von dem Vater, solange er lebt,
Unterhalt wie ein eheliches Kind verlangen, § 1703. Insofern
hebt die Eheschließung diese Gruppe von unehelichen Kindern
deutlich von anderen unehelichen Kindern ab. Diese haben nur
Anspruch auf einen Unterhalt, wie er dem Stande der Mutter ent-
spricht, und nur bis zum vollendeten sechzehnten Lebensjahre,
es sei denn, daß körperliche oder geistige Gebrechen das Kind
auch weiter bedürftig machen, § 1708.
IX. Blickt man zurück, wird man die Gerechtigkeit der ge-
troffenen Bestimmungen nicht leugnen können. Insbesondere die
Berücksichtigung der Kinder wird sicher allgemein als angemessen
empfunden werden. Sic erscheint selbstverständlich, ist es auch.
Aber juristisch-wissenschaftlich stößt sie mit der Tatsache, daß
die Ehen nun einmal nichtig sind, zusammen. Nach der Formel:
Aus nichts wird nichts, sind diese Erscheinungen natürlich nicht
erklärbar. Man hat sich in der Wissenschaft mit dem Ausdruck
Scheinehe im Gegensatz zur Nichtehe beholfen. Das hilft zwar
nicht viel weiter, aber dem liegt eine richtige Beobachtung zu-
grunde. Wenn die Formvorschriften (Abschluß vor dem Standes-
beamten) nicht gewahrt sind und die Ehe auch nicht in das Heirats-
register eingetragen ist, so fehlt es an jedem äußeren Tatbestand,
156
Krückmann :
aus dem ein NichtcingcAvcihter schließen könnte und dürfte, es
liege eine vollgültige Ehe vor. Es liegt dann ein vollständiges
tatsächliches und rechtliches Nichts vor, eine Nichtehe, deren
Nichtvorhandensein jederzeit, von jedermann, bei jeder Gelegen-
heit geltend gemacht werden kann. Eine Nichtigkeitsklage ist
nicht vonnötcn, denn die Nichtigkeit ist — hierauf kommt es an —
offenbar. In den Fällen der Scheinehe ist sie aber nicht offenbar,
sondern muß erst durch eine Nichtigkeitsklage offenbar gemacht
werden.^) Die äußerliche und offenkundige Tatsache, daß die
beiden Gatten vor dem Standesbeamten einen äußerlich einwand-
freien Eheschließungsakt vorgenommen haben, daß ihre Ehe in
das Heiratsregister eingetragen ist, erweckt natürlich den Schein,
daß eine vollgültige Ehe abgeschlossen sei und bestehe. Nach
diesem Schein richten sich naturgemäß alle, die die Wahrheit
nicht kennen, und verlangen, sich danach richten zu dürfen.
Mit Reclit trägt dem das Gesetz Rechnung, und so kommt es,
daß eine weitverbreitete Gruppe, die vorzüglich von der germa-
nistischen Rechtsforschung ausgeht, den Ausdruck Scheinehe ver-
wendet und hierin starke Nachfolge findet. Es soll gegen diesen
Ausdruck nichts gesagt werden, da ein anderer nicht zur Ver-
fügung steht, der den äußerlichen Unterschied im Tatbestand
mit gleicher Kürze angäbe. Es ist aber auch hier nicht richtig,
wenn die Germanisten nun verallgemeinernd von einem Rechts-
schein sprechen und damit das Problem zu erklären suchen. Denn
das, was wirkt, juristische Wirkungen äußert, ist nicht der bloße
Schein eines gar nicht vorhandenen, und wenn vorhanden, nur
in der Vorstellung bestehenden Rechtsverhältnisses, sondern ein
wirklich und tatsächlich vorhandener äußerer Tatbestand
der Außenwelt, der allerdings in den meisten, wenn auch nicht
in allen Fällen, den Anschein eines vorhandenen Rechtsverhältnisses
erweckt. Aber nach richtiger Betrachtungsweise ist nicht dieser
Anschein das eigentlich Wirkende, denn dieser Anschein ist Vor-
täuschung eines Gedankengebildes, sondern das Wirkende 2) ist
der äußere, sinnlich wahrnehmbare Tatbestand selbst. Der An-
*) Dies ist die ganze Wirkung der Nichtigkeitsklage. Durch sie wird die Ehe
nicht materiell nichtig, das ist sie schon von Anfang an durch Spruch des Gesetzes.
*) Unsere juristische Betrachtungsweise ist: Das Gesetz legt den Tatbeständen
ihre Wirkung bei. Dafür wird kürzer, aber ungenauer, gesagt: Die Tatbestände
wirken, haben Wirkungen, haben rechtliche, gesetzliche Wirkungen. In diesem
Sinne bitte ich den Text zu verstehen. Natürlich ist dieses ,, Wirken" auch etwas
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I - n
schein eines vermeintlich vorhandenen Rechtsverhältnisses ist
auch hier nur der rechtspolitische Grund, weshalb diesem äußeren
Tatbestande bestimmte Wirkungen vom Gesetz beigelegt werden.
Es ist eine merkwürdige und ganz unnötige Verirrung, statt
die eintretenden Wirkungen als Wirkungen des nun einmal vor-
handenen äußeren Tatbestandes zu begreifen, sie sich als Wir-
kungen des nur gedachten Scheines eines gedachten Rechtsverhält-
nisses vorzustellen. Unsere herrschende Lehre, wenn man über-
haupt davon sprechen kann, da bisher eigentlich nur die Germa-
nisten das Wort ergriffen haben, die Romanisten und Publizisten
sich an die Frage noch nicht recht heranwagen, unsere herrschende
Lehre übersieht, daß im günstigsten Falle sie von zwei relativ
möglichen Betrachtungsweisen die unwirklichste aussucht und mit
ihr die in Frage kommenden Erscheinungen zu erklären versucht.
Der Grund ist natürlich in der geistigen Kontinuität zu suchen,
kraft derer die ersten Erklärungen von dem ihren Ausgang nahmen,
was bisher geläufig und Grundlage aller Betrachtung war, von
dem wirklich geltenden und in diesem Sinne als vorhanden vor-
gestellten Rechtsverhältnis. Man vergißt dabei, daß wir es mit
äußeren Tatbeständen, Veränderungen in der Außenwelt, zu tun
haben, die je nach ihrer Natur auch verschiedene Wirkungen haben
müssen. Da sollten nun die anomalen Tatbestände dadurch erklärt
werden, daß man sie sich, soweit möglich, als Tatbestände der
normalen Rechtsverhältnisse vorstellte, und dies geschah wieder
in der Weise, daß man den Tatbestand möglichst im Hintergrund
ließ und lediglich auf das (bloß gedachte) Rechtsverhältnis sah.
Also: Vom Standpunkte der Vollehe aus betrachtet liegt eine
Scheinehe vor, vom Standpunkte des äußeren Geschehens in der
Außenwelt her betrachtet liegt ein selbständiger äußerer Tat-
bestand mit selbständigen Wirkungen vor. Es ist klar, daß
nur mit der letzteren Betrachtungsweise das geringere Maß
von Unwirklichkeiten zur ,, Erklärung" aufgeboten wird. Tat-
sächlich gewinnen wir mit dem Scheinrechtsverhältnis, dem Rechts-
schein, auch nur eine Scheinerklärung, eine Scheinerkenntnis.
Solange sich die Rechtswissenschaft nicht klar darüber ist, daß
Rechtsschein, Scheinrechtsverhältnis nur Worte sind, bleibt sie
Fragwürdiges. Wie tief die Rechtswissenschaft in das Unwirkliche verstrickt ist,
läßt sich aus der bloßen Zusammenstellung: ,, Wirkung" des ,, Rechtsverhältnisses"
und nun gar des ,, Scheinrechtsverhältnisses" sehen.
I c3 Krückmann:
unnötig tief in der Fiktion verstrickt. Der gedachte Schein eines
gedachten Rechtsverhältnisses, höher geht es eigenthch nicht.
Will man juristisch diesen Erscheinungen einwandfrei bei-
kommen, muß man von der Tatsache ausgehen, daß der äußerlich
einwandfreie, innerlich fehlerhafte Eheschluß eben nicht gänzlich
wirkungslos ist, seine eigenen selbständigen, aber viel schwächeren
und abgewandelten Wirkungen hat, als der äußerlich und inner-
lich einwandfreie Eheschluß. Er erzeugt ganz bestimmte positive
Wirkungen, wenn auch nicht die Wirkungen einer einwandfreien Ehe.
Diese Wirkungen macht man sich am besten und einfachsten
verständlich, wenn man sie mit ihrem Vorbild, den Wirkungen
einer vollgültigen Ehe, vergleicht. Da ergibt sich denn ein Mehr-
faches. Einmal sind die Wirkungen der Scheinehe umfänglich
erheblich beschränkter als die Wirkungen der Vollehe und sind
meistens auch andere, §§ 1345, 1701, 1702, 1703, ferner aber — und
das ist das eigentlich Wichtige ■ — sind sie ohne Standfestigkeit,
denn der Scheinehe kann ein Ende gemacht werden, sobald die
Wahrheit geltend gemacht wird. Gewiß haben die Gatten einer
Scheinehe eine bestimmte Rechtsstellung auf Grund der Scheinehe;
aber diese Rechtsstellung unterscheidet sich von der Rechtsstellung
auf Grund einer vollwirksamen Ehe dadurch, daß sie entziehbar,
zerstörbar ist, daß ihr die Selbstbehauptungsfähigkeit aus eigener
Kraft fehlt.
Jeder Gatte einer Vollehe kann sich sowohl gegenüber dem
anderen Gatten, wie gegen dessen Verwandten, aber auch gegen
jeden Dritten vermöge der dem echten Rechte eigentümlichen
Selbstbehauptungsfähigkeit aus eigener Kraft in der Rechtsstellung
als Gatte einer voll wirksamen Ehe behaupten. Seine Rechts-
stellung ist unentziehbar, unzerstörbar. Diese Sicherheit mangelt
der Rechtsstellung des Gatten einer nichtigen Ehe. Darum darf
man sie aber nicht als ein bloß Vorläufiges betrachten, denn das
Eigentümliche ist, daß diese so unsichere Rechtsstellung, genau
wie beim Rechtserw'erb im guten Glauben usw., doch Dauer-
wirkungen äußert, die nicht zusammenfallen, auch wenn
die Rechtsstellung als Gatte zusammengefallen ist.
Diese Dauerwirkungen sind das eigentlich Rätselhafte. Eine
Dauerwirkung ist es, wenn die von dem Scheinehegatten vor-
genommenen Rechtsgeschäfte oder die von ihm geführten Prozesse
dauernd genau solche Wirkung haben, als seien sie von einem
vollwirksam verheirateten Gatten vorgenommen oder geführt,
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I eg
§ 1344. Eine Dauerwirkung ist es, wenn der gutgläubige Gatte
den bösgläubigen Gatten nach der Nichtigkeitserklärung wie einen
für schuldig erklärten Gatten bei Ehescheidung behandeln darf,
§ 1345, noch ausgesprochener sind die Dauerwirkungen zugunsten
der Kinder aus nichtigen Ehen, §§ 1699 ff.
Daraus ergibt sich die Folgerung: Alles, was
auf Grund der Scheinehe von den Gatten oder gegen-
über den Gatten vorgenommen wird (Rechtsgeschäfte,
Prozesse, Zeugung von Kindern) hat gewisse Dauer-
wirkungen, die meistens sogar ebenso stark und ebenso
umfänglich sind, wie die Wirkungen der echten Ehe.
Unser Kausalitätsbedürfnis aber fordert auch hier, daß wir uns
als Ursache dieser positiven Wirkungen ein positives Etwas vor-
stellen. Dies kann auch hier nur sein die äußerliche tatsächliche
Stellung als Ehegatten, d. h. der Besitz an der Rechtsstellung
als vollwirksam verheiratete Gatten, kurz der Ehebesitz.
Es kommt immer darauf an, von welcher Seite her man die Frage
betrachtet. Sieht man darauf, daß keine wirkliche Ehe vorliegt,
wird man von fingierter Ehe reden, sieht man darauf, daß im
Rechte alle W^irkungen sich an äußere Tatbestände anknüpfen
und daß hier ein bestimmter äußerer Tatbestand sui generis vor-
liegt, so wird man ihm auch seine eigenen Wirkungen zuschreiben.
Dann gilt es aber, diesen Tatbestand selbständig zu erfassen, und
das geschieht mit Wort und Begriff der Scheinehe allerdings nicht.
Dies ist zu negativ und muß in etwas Positives umgesetzt werden,
um für unsere Vorstellung das Verhältnis von Ursache und Wirkung
herstellen zu können. Dann bleibt aber nichts anderes übrig als
der Ehebesitz.
§ 7. Rechtsstellung des Kindes.
I. Ausgesprochen auf Fiktion beruht die Rechtsstellung des
Kindes. Ganz natürlich. Als das BGB. geschaffen wurde, kannte
man die Blutsprobe noch nicht und es ist auch heute noch zweifel-
haft, ob sich genügend verläßlich mit ihr wird arbeiten lassen, um
die Abstammung des Kindes sicher festzustellen. Das Gesetz
geht jedenfalls von der nahezu vollständigen geschichtlichen Un-
erweislichkeit der Abstammung aus. Das zwingt notwendig zum
Rechtsbehelf mittels Fiktionen. Jedes Vaterrecht ist auf diese
Fiktionen angewiesen: Pater est, quem nuptiae demonstrant.
Folgerichtig ist allein das Mutterrecht, das die Verwandtschaft
j^Q Krückmann:
nach dem Mutterschoß berechnet. Die Abstammung aus einem
bestimmten Mutterschoß kann nie bezweifelt werden, nie un-
sicher sein, wenn nicht absichthch Verwirrung angestrebt wird.^)
Der Vater wird nur mit Hilfe von Vermutungen und Fiktionen
,, nachgewiesen".
§ 1591. „Ein Kind, das nach der Eingehung der Ehe ge-
boren wird, ist ehehch, wenn die Frau es vor oder während der
Ehe empfangen und der Mann innerhalb der Empfängniszeit der
Frau beigewohnt hat. Das Kind ist nicht ehelich, wenn es den
Umständen nach offenbar unmöglich ist, daß die Frau das Kind
von dem Manne empfangen hat.
Es wird vermutet, daß der Mann innerhalb der Empfängnis-
zeit der Frau beigewohnt habe. Soweit die Empfängniszeit in
die Zeit vor der Ehe fällt, gilt die Vermutung nur, wenn der Mann
gestorben ist, ohne die Ehelichkeit des Kindes angefochten zu
haben." 2)
§ 1592. ,,Als Empfängniszeit gilt die Zeit von dem 181. bis
zum 302. Tage vor dem Tage der Geburt des Kindes, mit Einschluß
sowohl des l8l. als des 302. Tages.
Steht fest, daß das Kind innerhalb eines Zeitraums emp-
fangen worden ist, der weiter als 302 Tage vor dem Tage der Geburt
des Kindes zurückliegt, so gilt zugunsten der Ehelichkeit des Kindes
dieser Zeitraum als Empfängniszeit."
Folgende Möglichkeiten bestehen:
1. Das Kind ist während der Ehe gezeugt und geboren; es
ist ehelich, es sei denn, daß es offenbar unmöglich ist, daß es von
dem Manne gezeugt sein kann (der Mann ist seit Jahren ver-
schollen).
2. Das Kind ist vor der Ehe gezeugt und in der Ehe geboren;
es ist ehelich, es sei denn, daß . . . wie unter l.
a) Voraussetzung zu l. und 2. ist Beiwohnung durch den Mann
während der Empfängniszeit. Diese wird aber vermutet. Es er-
*) Man erinnere sich an den Prozeß Kwilccki. Kulturgeschichtlich interessant
ist der Bericht bei Herodot 4, 180, daß die im Hetärismus, der Gesamtehe, lebenden
Auseer sich jeden dritten Mond versammelt und die Vaterschaft der Kinder fest-
gestellt hätten. Sie sei nach der Ähnlichkeit festgestellt worden und ein neuerer
Schriftsteller wollte vor etwa 20 Jahren uns eine Wissenschaft der Patrosemeiologie,
Erforschung der Vaterähnlichkeit, empfehlen. Vgl. ferner die weiteren Zitate bei
Wilutzky, Vorgeschichte des Rechts, S. 24, Anm. 2 — 4.
*) Die verschiedenen Möglichkeiten, die in § 1591 vorgesehen sind, sind aus-
gerechnet und dargestellt in meinen Institutionen (4. Aufl.), S. 68off.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. l5l
hellt, wie wenig sicher der geschichtliclie Beweis der Ehelichkeit
des Kindes ist. Trotzdem steigert das BGB. die Wirkung seiner
Fiktion dahin, daß es erklärt: Das Kind ist ehelich. Es begnügt
sich nicht, zu sagen, das Kind gelte als ehelich.
b) Alle diese Fiktionen versagen, wenn die Schwangerschaft
ausnahmsweise lange dauert, der Beweis des Zeitpunktes der Emp-
fängnis geführt werden und der Mann innerhalb der normalen
Empfängniszeit der Frau offenbar nicht beigewohnt haben kann.
c) Noch eine weitere Fiktion baut das BGB. zum Schutze
der Ehelichkeit des Kindes auf, indem es die Anfechtung der
Ehelichkeit erschwert.
§ 1593. ,,Die Unehelichkeit eines Kindes, das während der
Ehe oder innerhalb 302 Tagen nach Auflösung der Ehe geboren
ist, kann nur geltend gemacht werden, wenn der Mann die Ehe-
lichkeit angefochten hat oder, ohne das Anfechtungsrecht verloren
zu haben, gestorben ist, vgl. §§ 1594 — 1597.
Ferner nimmt die Anfechtungsbefugnis nach einem Jahre
ein Ende und hilft das BGB. mit der freiwilligen Anerkennung
der Ehelichkeit, durch die die Anfechtung ausgeschlossen wird,
§§1594, 1598, 1599-
3. Noch verwickelter wird die Sachlage, wenn das Kind nach
der Ehe geboren wird.^) Doch führt die Darstellung der ver-
schiedenen Möglichkeiten zu weit.
III. Jedenfalls ergibt sich aus dem Bisherigen zweierlei mit
Sicherheit. Einmal der große Einfluß, den der Mann durch Unter-
lassung der Anfechtung auf die Rechtsstellung des Kindes hat,
ferner die Bedeutungslosigkeit des Ehebruches der Frau. Selbst
wenn die Ehe wegen Ehebruches der Frau geschieden wird, wird
deshalb das aus der Zeit des ehebrecherischen Verkehrs stammende
Kind noch nicht unehelich, es sei denn, daß es offenbar unmöglich
ist, daß es von dem Ehemann gezeugt sein kann und daß daraufhin
von ihm die Ehelichkeit angefochten wird. Bloßer Ehebruch der
Mutter in der kritischen Zeit nimmt dem Kinde also die Stellung
als eheliches Kind nicht. Im Zweifel gehen alle Fälle der Un-
gewißheit über die Ehelichkeit zugunsten des Kindes. Um das
Kind sicherzustellen, genügt es, daß die Ehebrecherin nur einmal
während der kritischen Zeit mit ihrem Manne verkehrte.
^) Vgl. meine Institutionen, S. 682 ff.
Annalen der Philosophie. 1. *^
j 52 Krückmann :
IV. Bestritten ist der Fall der doppelten Ehelichkeit. Wenn
eine Frau in der irrigen Meinung, ihre erste Ehe sei aufgelöst, sich
wieder verheiratet und in dieser zweiten Ehe ein Kind gewinnt,
ist das Kind nach dem Ausgeführten eheliches Kind der ersten
Ehe und die Ehelichkeit kann auch nur vom Gatten der ersten
Ehe angefochten werden; es ist aber auch gemäß § 1699 ehe-
liches Kind der zweiten Ehe. Derartiges ist in diesem Kriege
durch irrige Todesbescheinigungen der Militärbehörden möglich
geworden. Es kann aber auch vorkommen, wenn eine Frau be-
wußt Doppelehe begeht und ihr zweiter Mann im guten Glauben
ist, s. das über die Scheinehe Bemerkte.
Die Folgen doppelter Ehelichkeit, doppelter Vaterschaft, sind
natürlich nicht zu tragen. Welchen Namen soll das Kind führen."*
Wie steht es mit dem Erbrecht, mit der elterlichen Gewalt, der
Verwaltung des Kindes Vermögens, der Nutznießung an ihm, der
persönlichen Vertretung des Kindes ? Was soll nun gelten, die
formelle Vaterschaft des Nichtvaters oder die natürliche Vater-
schaft des natürlichen Vaters } In Widerspruch miteinander stehen
wirkliche, gültige Ehe und Scheinehe oder Ehe und Ehebesitz.
Da wird die echte Ehe durch die Scheinehe geschlagen: Das Kind
gehört dem zweiten Manne und tritt in alle Rechte der Kinder
aus Scheinehen ein.
V. Dieselbe Verwicklung von Wahrheit und Unwahrheit tritt
noch in weiteren Fällen ein.
1. Der für tot erklärte Ehemann kehrt zurück, nachdem die
Frau sich wieder verheiratet und Kinder gewonnen hat. Die Frau
ficht die zweite Ehe an, durch die Anfechtung wird — handgreif-
liche Fiktion — die zweite Ehe mit rückwirkender Kraft aufgelöst
und zu einer von Anfang an nichtigen Ehe gemacht. Als eine
von Anfang an nichtige Ehe kann sie aber die Wirkung nicht äußern,
daß mit ihrem Abschluß die erste Ehe aufgelöst werde, denn nur
eine wirksame und nicht rückwirkend wieder aufgelöste Ehe konnte
die erste Ehe auflösen; die erste Ehe besteht also nach wie vor
und die Frau hat die von dem zweiten Manne gewonnenen Kinder
in volhvirksamer Ehe mit dem ersten Manne geboren. Unterläßt
der Mann der ersten Ehe die Anfechtung der Ehelichkeit der Kinder
der zweiten Ehe, dann sind sie ehelich! Trotzdem, als Kinder
der zweiten, der Scheinehe, sind sie auch Kinder dieser Ehe.
2. Oder der Mann kehrt zwar zurück, aber die zweite Ehe
wird nicht angefochten und die Frau hat innerhalb 302 (genauer
Wahrheit und Unwahrheil im Recht. l5^
270) Tagen nach Abschluß der zweiten Ehe ein Kind geboren.
Die erste Ehe wird erst durch den Abschluß der zweiten Ehe auf-
gelöst, da die Todeserklärung unrichtig war, § 1348 II. Auf das
Kind treffen daher die Fiktionen beider Ehen zu, § 1591 I, da
nach § 1600 bei Wiederverheiratung der Frau nach Auflösung
der ersten Ehe ein innerhalb von 270 Tagen geborenes Kind als
Kind des ersten Mannes gilt. Das Kind ist also, wenn es inner-
halb 270 Tagen nach dem Eheschluß geboren wird, eheliches Kind
beider Männer.
3. Oder die Frau gebiert in der Abwesenheit des Mannes un-
eheliche Kinder. Diese wären kraft gesetzlicher Fiktion ehelich,
wenn der Mann die Ehelichkeit nicht anficht. Also wenn der im
Auslande befindliche Mann sich ein Jahr versäumt, nachdem er
von der Geburt erfahren hat, § 1594 II, ist das Kind ehelich.
Die Rechtswissenschaft müht sich zurzeit damit ab, die aus
den gesetzlichen Fiktionen und aus der Vorschrift, daß der Mann
durch seine Anfechtung der Ehelichkeit über die Rechtsstellung
der Kinder allein zu entscheiden hat, entsprungenen Schwierig-
keiten zu lösen, die tatsächliche Wahrheit gegenüber den gesetz-
lichen Fiktionen durchzusetzen, zu einer Einigkeit ist es bisher
aber noch nicht gekommen. Man wird so viel sagen müssen, daß
die Versäumung der Anfechtung durch gegenteilige Akte über-
wunden werden kann, wenn es offenbar unmöglich ist, daß das
Kind von dem Manne erster Ehe gezeugt sein kann. Solche Akte
sind Abschluß der zweiten Ehe in Verbindung mit der Anerkennung
der Ehelichkeit durch den zweiten Mann oder bei unehelichen
Kindern einfach die Anerkennung der Vaterschaft allein, §§ 1598,
1718.1)
VI. Die uneheliche Geburt während formell fortdauernder
erster Ehe, obgleich es offenbar unmöglich ist, daß das Kind von
dem Ehemann gezeugt sein kann, führt zu der weiteren Verwicklung,
daß das uneheliche Kind, wenn man die Fiktion der Ehelichkeit
festhält, keinen Unterhaltsanspruch gegen den unehelichen Er-
zeuger gewinnt. Es kann doch kein Zweifel sein, daß auch ein
1) Man kann über das einzelne streiten. Der Anerkennung der Ehelichkeit
steht die Nichtanfechtung der Ehelichkeit durch den Mann der zweiten Ehe gleich.
Mindestens aber muß bei unehelichen Kindern die Anerkennung der Vaterschaft
zusammen mit der Legitimation durch nachfolgende Ehe ausreichende Sicherheit
über den Stand des Kindes schaffenj §§ 17 19 ff.
II*
164 Krückmann:
solcher zur Stolle gcschafit werden muß, denn es sind Fälle denkbar,
wo es zwar offenbar unmöglich ist, daß das Kind von dem Ehe-
manne gezeugt sein kann (er ist seit mehreren Jahren abwesend),
wo aber für eine Todeserklärung, die normalerweise eine zehn-
jährige Verschollenhcit fordert, § 14, kein Raum ist, auch die
Scheidung wegen böslicher Verlassung bisher versäumt worden ist.
Der Ehemann ist unerreichbar, meistens auch unbemittelt, der
uneheliche Vater ist zur Stelle und auch genügend leistungsfähig,
ja, er erkennt sogar seine Vaterschaft ausdrücklich an, §§ 171 8,
171 7. Hier würde, wenn man sich an den Wortlaut des Gesetzes
hielte, die Fiktion die Wahrheit totschlagen. Ein Musterfall, wie
das Leben uns zwingt, ausdrückliche Gesetzesbestimmungen mit
Hilfe von allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätzen auszuschalten
und unschädlich zu machen.
Man wird den Entschluß dazu um so leichter finden, wenn
man sich vor Augen hält, daß in aller Form Rechtens ein Kind
mehrere uneheliche Väter haben kann und daß dies auch gar nicht
weiter beklagenswert ist. Zwar steht dem als Erzeuger in An-
spruch Genommenen die exceptio plurium concumbentium zu,
aber einmal braucht der Beklagte nicht darum zu wissen, oder
er läßt sich verurteilen, ohne sie geltend zu machen. Dies kann
nun unabhängig voneinander bei mehreren Männern zutreffen.
Mehrere Männer, die mit der Frau verkehrt haben, können aber
auch freiwillig die Vaterschaft anerkennen oder das Kind kann,
nachdem der eine freiwillig die Vaterschaft anerkannt hat, gegen
einen anderen, der vielleicht wohlhabender ist, mit Erfolg auf
Anerkennung der Vaterschaft klagen. Diese Fiktionen sind ver-
hältnismäßig unschädlich und werden auch hingenommen, da bei
unehelichen Kindern ein Zusammenstoß verschiedener Rechte nicht
möglich ist. Das Kind hat dann eben verschiedene Schuldner.
Wichtig wird die Frage unter Umständen allerdings später, wenn
das uneheliche Kind mit einem anderen ehelichen oder unehe-
lichen Kinde eines seiner sogenannten unehelichen Väter zur Ehe
schreiten will. Man wird da von Fall zu Fall helfen. An sich wirkt
die Anerkennung der Vaterschaft nicht absolut gegen jedermann,
denn dann wäre eine mehrfache Anerkennung der Vaterschaft nicht
möglich und zulässig, folglich ergibt sich auch an sich aus ihr nicht
notwendig das Ehehindernis der Verwandtschaft und folglich ist
von Fall zu Fall zu prüfen, ob eine ehehindernde Verwandtschaft
wirklicli vorliegt.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. 165
Die Anerkennung der Vaterschaft wirkt nur für und gegen
die beiden Personen. Auch dies gehört zum Gegenstand der Be-
handlung als ob. Entweder ist A. Vater oder er ist es nicht, er
kann aber nicht im Verhältnis zum Kinde Vater sein, im Ver-
hältnis zu Dritten nicht. Dies ist unvorstellbar. Wohl aber kann
A. im Verhältnis zum Kinde unmittelbar so behandelt werden,
als wäre er der Vater, während er im Verhältnis zu Dritten nicht
so behandelt wird oder nicht so behandelt zu werden braucht.
§8. Erbrecht.
I. Im Erbrecht tauchen ganz gleiche Schwierigkeiten auf.
Wer ist Erbe .'' Mehrere streiten, einer hat die Erbschaft tatsächlich
schon in Besitz, die anderen behaupten aber, zu Unrecht, es sei
ein neueres Testament da, das die Erbschaft anders verteile. Der
Erbschaftsbesitzer bestreitet dies und erklärt das Testament für
unecht. Es braucht zu einer solchen Zuspitzung gar nicht zu
kommen. Es genügt schon, daß heute jemand unbestritten als
nächster Erbe kraft Gesetzes oder kraft Testamentes die Erb-
schaft in Besitz nimmt, die Außenstände beitreibt, die Schulden
zahlt, die Grundstücke veräußert, andere Werte dafür wieder
erwirbt, und daß morgen ein anderer auftritt, ein neueres Testa-
ment beibringt, daraufhin freiwillig als Erbe anerkannt wird und
nunmehr die Frage entsteht, wie es mit allen Verfügungen des
Nichterben gehalten werden soll. Auch hier wieder die Frage:
Soll der ahnungslose Dritte darunter leiden, daß die wahre Rechts-
lage erst so spät bekannt wurde? Zu diesem Behufe schlägt das
Gesetz einen Mittelweg ein. Es verlangt nicht von den gesetzlich
oder letztwillig berufenen Erben, daß sie ihr Erbrecht vollständig
nachweisen mit der Gewißheit, daß niemand anders Erbe sein
kann. Es verlangt aber, daß eine gewisse Wahrscheinlichkeit
für ihr Erbrecht begründet wird. Ist dies geschehen, wird dem
Erben sein Erbrecht vom Gerichte bescheinigt und auf Grund
dieser Bescheinigung, Erbschein, kann der Nichterbc nun alle
juristischen Handlungen so vornehmen, als ob er der richtige Erbe
wäre. Er ist aus einem Nichterben zum Scheinerben geworden
und hat durch den Erbschein eine Möglichkeit juristischen Handelns
erhalten, die ihm bis dahin abging. Der Erbschein wird auf Antrag
erteilt von dem Nachlaßgericht, d. h. dem Amtsgericht, in dessen
Bezirk sich der Wohnsitz des Erblassers befand, § 2353. Dieser
j56 Krückmann:
Erbschein hat seine Vorteile auch für den wahren Erben, denn
im Besitze eines Erbscheins braucht er nicht mehr gegenüber
jedem einzelnen Schuldner, von dem er Nachlaßschulden bei-
treibt, immer wieder im Prozesse sein Erbrecht nachzuweisen,
sondern kann sich einfach auf den Erbschein berufen. Die Prüfung
seiner Erbansprüche durch das Nachlaßgericht spart die Prüfung
seiner Ansprüche durch das Prozeßgericht. Trotzdem kann es
natürlich ein Nachlaßschuldner auf einen Prozeß ankommen lassen
und kann den Nachweis unternehmen, daß der Erbschein un-
richtig ausgestellt sei, aber schon in dieser Verteilung der
Beweislast spricht sich aus, welchen Vorteil der Erbe von dem
Erbschein hat.
Darum wird es mit der Prüfung vor dem Nachlaßgericht auch
nicht ganz leicht genommen. Der Bewerber um den Erbschein
muß angeben, wann der Erblasser gestorben ist, ferner, ob er der
nächste gesetzliche Erbe ist oder ob er sich auf ein Testament
beruft; muß angeben, ob und welche letztwilligen Verfügungen
des Erblassers vorhanden sind, ob und w^elche Personen vorhanden
sind, die näher zum Erbrechte sind oder mit denen er teilen müßte.
Ist ein näherer Erbe fortgefallen, muß der Bewerber angeben, in
welcher Weise dieser fortgefallen ist, ob durch Ausschlagung, Ver-
zicht, Entziehung des Pflichtteils, Unwürdigkeit, Anfechtung. Ver-
schiedenes ist durch öffentliche Urkunden nachzuweisen, anderes
ist durch eidesstattliche Versicherung vor Gericht oder Notar zu
bekräftigen, §§2355, 2356.
Durch diese Beweisauflagen wird erklärlich, daß nach § 2365
eine Vermutung für das Erbrecht des in dem Erbschein Bezeichneten
angeordnet ist und diese Vermutung gilt zugunsten aller derer als
richtig, die von dem Erbscheinsinhaber etwas aus der Erbschaft
erwerben, an ihn etwas leisten, §§ 2366, 2367. Der Nichterbe kann
an den gutgläubigen Erwerber Erbschaftssachen übertragen, kann
von dem Nachlaßschuldner mit schuldtilgender Kraft Zahlungen
entgegennehmen usw. Kurz, er kann Erbrechte ausüben, die er
nicht nur nicht hat, die vielmehr in Wahrheit gar nicht bestehen.
Angenommen, der Erbe macht Erbrechte aus einem Testamente
vom 7. Februar 1904 geltend, in dem er als Alleinerbe eingesetzt
ist. Später stellt sich iieraus, daß er in einem Testamente vom
18. April 191 1 mit mehreren nachgeborenen Verwandten zusammen,
also auf einen Bruchteil, eingesetzt ist. Dann ist nach unserer
juristischen Vorstellung sein Alleinerbrecht vom 7. Februar 1904
Wahrheit vind Unwahrheit im Recht.
167
etwas anderes als sein Miterbrecht vom 18. April 191 1. Dieses
Alleinerbrecht besteht gar nicht und dennoch hat der Erbscheins-
inhaber die Möglichkeit, dieses gar nicht bestehende Erb-
recht auszuüben. Man kann dieser Betrachtung auf folgende
Weise auszuweichen versuchen. Der Erbscheinsinhaber hat die
rechtlich anerkannte Möglichkeit, die den Miterben zusammen
zustehenden Erbrechte allein auszuüben. Aber unsere Vorstellung
stößt sich immer wieder daran, daß ein am 8. Februar 1904 an-
geordnetes Erbrecht ausgeübt wird, nicht ein am 18. April 191 1
angeordnetes. Es wird kaum etwas anderes übrig bleiben als das
Zugeständnis, daß vermöge des Erbscheins ein gar nicht vorhandenes
Erbrecht ausgeübt werden kann. Noch deutlicher würde dies
werden, wenn der Erbe des ersten Testamentes im zweiten Testa-
mente von der Erbschaft ausgeschlossen wäre, also gar keine Erb-
berechtigung hätte.
II. Ein Seitenstück zu dem Erbschein ist das Zeugnis für
den Testamentsvollstrecker, § 2368, das ebenso behandelt wird
wie der Erbschein. Dem wahren Testamentsvollstrecker ist
dies Zeugnis nützlich, weil es ihn in jedem Einzelfalle der Not-
wendigkeit überhebt, den Beweis seiner Stellung als Testaments-
vollstrecker ausdrücklich zu erbringen. Dem, der kein Testaments-
vollstrecker ist, gibt es die Möglichkeit, alle Befugnisse eines Testa-
mentsvollstreckers auszuüben. Die dem Scheinvollstrecker ge-
währte Ausübungsmöglichkeit erstreckt sich auf Befugnisse, die
es gar nicht gibt. Es verhält sich hier wie mit dem Erbrecht des
Erbscheinsinhabers, und dies erhellt, wenn man unterstellt, daß
der Testamentsvollstrecker, wie es ja zulässig ist, erweiterte oder
verengerte Befugnisse haben kann. Ist in dem älteren oder
später widerrufenen Testament die Befugnis des Vollstreckers
erweitert, in dem jüngeren die Befugnis des an seiner Statt
ernannten aber eingeschränkt, so liegt für uns Juristen nach
unserer Betrachtung eine ganz verschiedene Rechtsstellung vor
und der Vollstrecker des älteren Testamentes gewinnt durch
das Zeugnis die Möglichkeit, eine gar nicht vorhandene Rechts-
stellung auszuüben.
Wie ein Erbschein wirkt auch die Todeserklärung. Der Erb-
lasser ist für tot erklärt, hat aber den als Zeitpunkt seines Todes
angenommenen Tag überlebt oder aber er ist vorher gestorben,
jedenfalls, die Todeserklärung ist unrichtig. Inzwischen hat aber
auf Grund der Todeserklärung der im Augenblick des angenommenen
j ^g Krückmann :
Todestages nächste Erbe die Erbschaft an sich genommen. Er ist
nicht der wahre Erbe, denn zur Zeit der wahren Todesstunde des
Erblassers stand zwischen ihm und dem Erblasser ein anderer,
dem allein die Erbschaft zukam. Die Todeserklärung in Ver-
bindung mit dem Umstände, daß zur angenommenen Todeszeit
kein anderer als besserer Erbe in Frage kam, macht aus dem Nicht-
erben einen Scheinerben, dem alle die Vorteile zugute kommen,
die sich an die Erteilung eines Erbscheins knüpfen, § 2370.
III. Gleiche Wirkungen wie der Erbschein hat auch das
Zeugnis über die fortgesetzte Gütergemeinschaft, § 1507. Bei
allgemeiner Gütergemeinschaft wird das Erbrecht in gewisser
Weise durch das Familiengüterrecht ausgeschaltet. Angenommen,
der Mann bringt in das Gesamtgut etwa 30000 Mark, die Frau
lOOOO Mark, dann macht die Frau sofort mit dem Beginn der
allgemeinen Gütergemeinschaft einen dauernden Gewinn von
lOOOO Mark, denn sie erhält bei Beendigung der Gemeinschaft
ebensoviel wie der Mann oder dessen Erben aus dem Gesamtgut,
d. h. die Hälfte. Mit dem Tode des Mannes bleibt ihr zunächst
ihre Hälfte erhalten, auf die andere Hälfte wird die Erbnachfolge
eröffnet und die Frau erbt von dieser zweiten Hälfte abermals
ihren Erbanteil, also, wenn Kinder da sind, ein Viertel. Dies
geschieht aber dann nicht, wenn die fortgesetzte Gütergemeinschaft
eintritt, § 1483. Dann erhält die Frau ihre Hälfte und setzt mit
den Kindern die Gütergemeinschaft fort, die Kinder erhalten die
andere Hälfte voll, die Frau erbt an dieser Hälfte nicht mit. Die
Kinder erben aber auch nicht, denn sie erhalten die Hälfte ihres
Vaters nicht eigentlich kraft Erbrechtes, sondern kraft Familien-
güterrechtes. Ob fortgesetzte Gütergemeinschaft eintritt, hängt
davon ab, ob die Gatten sie durch Elievertrag ausgeschlossen
haben, oder unter Umständen der vorversterbende Gatte sie ein-
seitig durch Testament ausschließen kann und ausschließt oder
der überlebende Gatte sie ablehnt, §§ 1508, 1509, 1484. Geschieht
von alledem nichts, so bleibt es bei der fortgesetzten Gütergemein-
schaft und der überlebende Gatte erhält den Kindern gegenüber
die Rechtsstellung des Mannes gegenüber der Frau, § 1487. Auf
seinen Antrag ist ihm von dem Naclilaßgericht ein Zeugnis über
die fortgesetzte Gütergemeinschaft zu erteilen, das dieselbe Wirkung
wie der Erbschein hat, § 1507. Verschweigt der überlebende Gatte,
daß die fortgesetzte Gütergemeinschaft ausgeschlossen ist, so erlangt
er durch das Zeugnis die rechtliche Möglichkeit, alle die Befugnisse
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. I(j^
auszuüben, die er haben würde, wenn fortgesetzte Gütergemein-
schaft eingetreten wäre.^)
IV. Die ganze bisher behandelte Gruppe ist so belehrend,
weil hier Befugnisse ausgeübt werden können, die gar nicht vor-
handen sind. Wenn der Altgläubiger das Forderungsrecht des
Neugläubigers, der Dieb des Inhaberpapiers das Forderungsrecht
des Eigentümers, der Besitzer das Eigentum des Eigentümers
ausübt, so wird doch immer ein tatsächlich vorhandenes Recht
ausgeübt. Hier wird etwas ausgeübt, was nach juristischer Auf-
fassung gar nicht da ist. Dieselbe Beobachtung kehrt in der
folgenden Gruppe wieder, ist hier sogar noch zwingender.
§ 9. PersoiieiiYertretimg, Verwaltuugsrecht.
I. Nicht mehr zu den Scheinberechtigungen, wohl aber zu
den Scheinlegitimationen gehört § 370. ,,Der Überbringer einer
Quittung gilt als ermächtigt, die Leistung zu empfangen, sofern
nicht die dem Leistenden bekannten Umstände der Annahme
einer solchen Ermächtigung entgegenstehen." Das bedeutet, der
Schuldner wird durch Leistung an den Überbringer der echten
Quittung frei. Vorlegung einer gefälschten Quittung ist keine
Rechtsausübung, sondern lediglich Betrug, nur die Vorlegung der
echten, wenn auch unrechtmäßig erworbenen Quittung ist Aus-
übung der durch diese Quittung gegebenen Legitimation. Die
Quittung gibt kein Recht zur Empfangnahme, denn der Quittungs-
träger als solcher hat niemals ein Klagerecht darauf, daß ihm ge-
leistet werde; sie gibt nur, wie das BGB. richtig sagt, eine Er-
mächtigung, d. h. sie verschafft dem Überbringer die rechtliche
Möglichkeit, mit schuldtilgender Kraft die Leistung entgegen-
zunehmen. Diese Möglichkeit, mit schuldtilgender Kraft die
Leistung entgegenzunehmen, ist unmittelbar die Ausübungs-
möghchkeit in Ansehung des Forderungsrechtes, allerdings eine
Ausübungsmöglichkeit in fremdem Namen, anders als bei den
gestohlenen Zinsscheinen, den gestohlenen Inhaberpapieren. Hier
gibt der Besitz der Urkunde die Ausübungsmöglichkeit im eigenen
Namen, d. h. der Empfänger wird sofort Eigentümer des Ge-
1) Praktisch wird solche Fälschung kaum vorkommen, denn die Belange des
überlebenden Gatten verweisen ihn auf das Gegenteil. Er steht sich ohne fort-
gesetzte Gütergemeinschaft besser, da er bei fortgesetzter Gütergemeinschaft keinen
Erbanteil an dem Anteil des verstorbenen Gatten erhält.
170
Krückmann :
leisteten, die Quittung gibt nur Ausübungsmöglichkeit im fremden
Namen, d. h. im Namen des Gläubigers, und darum geht das
Eigentum an dem Geleisteten zunächst auf den Gläubiger, nicht
auf den Quittungsträger, über. Man wird jetzt verstehen, daß
Legitimation der Besitz an all den äußeren, sinnlich wahrnehm-
baren Merk- und Kennzeichen ist, aus denen die Zuständigkeit
eines Rechtes oder einer Rechtsstellung erschlossen wird oder
nach Vorschrift des Gesetzes erschlossen werden soll. In weiterem
Sinne ist Legitimation die durch den Besitz an diesen Kennzeichen
begründete Ausübungsmüglichkcit an gewissen Rechten und Rechts-
stellungen. Also bald Ixgitimationsmittel, bald Legitimations-
wirkung. Der Quittungsträger gewinnt durch den Besitz an dem
Legitimationsmittel, dem Schein, die Legitimation als Empfangs-
ermächtigter, die Ausübungsmöglichkeit für das Forderungsrecht
als Ausübungsmöglichkeit in fremdem Namen. Er gilt nicht als
Gläubiger, sondern als Bevollmächtigter, genauer als Empfangs-
bevollmächtigter, Vertreter des Gläubigers.
II. Die Vollmacht erlischt mit dem Rechtsverhältnis, auf
dem sie beruht, aus dem sie hervorgegangen ist, § i68. Wird der
Handlungsgehilfe entlassen, erhscht mit dem Dienstvertrag auch
seine Vollmacht, Dies macht keine Schwierigkeiten, wenn der
Bevollmächtigte etwa im Laden tätig war. Außerhalb des Ladens
hat er keine Vollmacht und so können Irrtümer und Mißbräuche
kaum vorkommen. Anders, wenn der Bevollmächtigte Geschäfts-
reisender ist, und hier sind wiederholt Täuschungen versucht
worden. Soll nun der gutgläubige Geschäftskunde den Schaden
tragen oder der Geschäftsherr.? Nach strenger Folgerichtigkeit
müßte der Kunde leiden, denn er hat sich mit jemand eingelassen,
der keine Vollmacht mehr hatte. Gegen diese und ähnliche Ge-
fahren schützen verschiedene Bestimmungen, die in ihrem sach-
lichen Gehalt alle darauf hinauslaufen, daß ein Bevollmächtigter
unter Umständen eine gar nicht mehr bestehende oder gar nicht
entstandene Vollmacht ausüben kann. Der gutgläubige Dritte
wird geschützt, es sei denn, daß er das Erlöschen der Vollmacht
kennen muß, § 173.
Hiernach erklären sich die nachstehenden Bestimmungen sehr
leicht.
§ 170. ,,\Vird die Vollmacht durch Erklärung gegenüber einem
Dritten erteilt, so bleibt sie diesem Dritten gegenüber in Kraft,
bis ihm das Erlöschen von dem Vollmnehtgeber angezeigt wird."
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. j 7 1
Die Vollmacht kann auf zweierlei Weise erteilt und entzogen werden,
unter vier Augen zwischen Vollmachtgeber und Bevollmächtigtem
oder durch Mitteilung an den Dritten. Dann ist diese Mitteilung
selber erst die Bevollmächtigung, nicht etwa bloß Nachricht von
einer schon vollzogenen Bevollmächtigung, § 170. In § 1 70 werden
beide Fälle umfaßt. Das bedeutet praktisch: Die unter vier Augen
entzogene Vollmacht ist damit an sich erloschen, aber der ahnungs-
lose Dritte kann sie als fortbestehend behandeln.
§ 171. Hat jemand durch besondere Mitteilung an einen
Dritten^) oder durch öffentliche Bekanntmachung kundgegeben,
daß er einen anderen bevollmächtigt habe, so ist dieser auf Grund
der Kundgebung im ersteren Falle dem Dritten gegenüber, im
letzteren Falle jedem Dritten gegenüber zur Vertretung befugt.
Die Vertretungsmacht bleibt bestehen, bis die Kundgebung
in derselben Weise, wie sie erfolgt ist widerrufen wird." Also
auch dann, wenn eine Vollmacht überhaupt nicht oder ungültiger-
weise oder in beschränktem Umfange erteilt worden ist, vgl. die
schon besprochenen §§ 409, 576, o. § 4, A. VII, 3, 4.
§ 172. ,,Der besonderen Mitteilung einer Bevollmächtigung
durch den Vollmachtgeber steht es gleich, wenn dieser dem Ver-
treter eine Vollmachtsurkunde ausgehändigt hat und der Ver-
treter sie dem Dritten vorlegt.
Die Vertretungsmacht bleibt bestehen, bis die Vollmachts-
urkunde dem Vollmachtgeber zurückgegeben oder für kraftlos
erklärt wird."
III. Rechtsähnlich sind folgende Fälle:
I- § 674. ,, Erlischt der Auftragt) in anderer Weise als durch
Widerruf, so gilt er zugunsten des Beauftragten gleichwohl als
fortbestehend, bis der Beauftragte von dem Erlöschen Kenntnis
erlangt oder das Erlöschen kennen muß." Das hat zur Folge,
daß der Beauftragte, der z. B. für den Auftraggeber eine Ware
kaufen, eine Mitteilung an einen anderen überbringen sollte, recht
daran tut, die Ware zu kaufen, die Mitteilung an den Empfänger
abzugeben, mag dem Auftraggeber damit auch nicht gedient sein.
^) Die Geschäfte pflegen an ihre Kunden Rundschreiben mit faksimilierter
Unterschrift des neuen Prokuristen usw. zu versenden.
^) Auftrag und Vollmacht unterscheiden sich dadurch, daß kraft Auftrages
jemand etwas tun soll, kraft Vollmacht etwas tun kann, nämlich im fremden Namen
handeln. Der Beauftragte kann bevollmächtigt sein und ist es vielfach, notwendig
ist es aber nicht, s. das Folgende.
1/2
Krückmann :
Der Beauftragte kann nicht haftbar gemacht werden etwa mit
der Begründung, daß er seinen Auftrag überschritten habe.
2. Dies ist in § 23 der Konkursordnung wiederholt. Ein
Auftrag des Gemeinschuldners erlischt mit der Eröffnung des
Konkurses, aber dem Beauftragten kommt § 674 zugute.
3. Wenn mehrere zu gemeinsamen Zwecken einen Gcsellschafts-
vertrag geschlossen haben und einen Gesellschafter mit der Geschäfts-
führung beauftragt haben, entsteht daraus zunächst nur die Pflicht,
gewisse Handlungen vorzunehmen, es entsteht daraus aber noch nicht
das Recht und die Pflicht, sie im Namen der Gesellschafter vorzu-
nehmen. Gesetzt, A., B., C. vereinigen sich, auf gemeinsame Kosten
ein Haus zu kaufen, um es später mit Gewinn wieder zu verkaufen,
so können sie gemeinsam den Kaufvertrag abschließen; sie können
aber auch den A. beauftragen, allein den Kaufvertrag abzuschließen.
Der Auftrag kann nun wieder dahin gehen, daß A. im eigenen Namen
kaufen und sich allein in das Grundbuch eintragen lassen soll,
oder daß A. im Namen aller drei kiufen soll und daß alle drei in
das Grundbuch als Miteigentümer eingetragen werden sollen. Im
letzten Falle liegt Auftrag und Vollmacht vor, im zweiten Falle
bloßer Auftrag, im ersten Falle weder das eine noch das andere.
Nach § 714 enthält die Übertragung der Geschäftsführung im
Zweifel auch eine Vollmacht für den Geschäftsführer, und diese
Befugnis zur Geschäftsführung gilt zugunsten des Geschäftsführers
als weiter fortbestehend, wenn die Gesellschaft in anderer Weise
als durch Kündigung aufgelöst wird, z. B. durch Tod eines Ge-
sellschafters oder Eröffnung des Konkurses über das Vermögen
eines Gesellschafters, §§ 727, 728. Diese Fiktion des Fortbestandes
kommt dem Geschäftsführer aber dann nicht zugute, wenn er die
Auflösung der Gesellschaft kennt oder kennen muß, § 729 Satz 2.
Aus den §§ 674, 729 zieht nun § 169 die Folgerung zugunsten
des Dritten, der Gegenpartei, die sich mit dem Geschäftsführer
eingelassen hat. Auch ihm gegenüber gilt die Vollmacht als weiter
bestehend, es sei denn, daß er bei der Vornahme des Rechtsgeschäftes
mit dem Geschäftsführer das Erlöschen kennt oder kennen muß.
4. Nach §§ 54 — 56 des Handelsgesetzbuches wirken Be-
schränkungen in der Handlungsvollmacht gegen Dritte nur,
wenn der Dritte sie kannte oder kennen mußte.
5. Es sei auch erinnert an die Beschränkung der Schlüssel-
gewalt der Frau und ihre Wirkung gegen Dritte, § 1357 H, s. oben
§5, VI.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. j^^
6. Wird der Vercinsvorstand geändert, so kann dies denen,
die sich noch mit dem alten Vorstand eingelassen haben, nur dann
entgegengesetzt werden, wenn der Personenwechsel ihnen bekannt
oder wenn er in das Vereinsregister eingetragen ist. Andernfalls
darf die Gegenpartei den früheren Vorstand noch immer als den
richtigen Vertreter des Vereins behandeln, § 68.
Entsprechendes gilt, wenn der Vorstr.nd zwar nicht entlassen,
aber in seiner Vertretungsbefugnis beschränkt wird, § 70.
7. Genossenschaftsgesetz § 29. ,,Eine Änderung des Vor-
standes, eine Beendigung der Vertretungsbefugnis eines Vorstands-
mitgliedes, sowie eine Änderung des Statuts rücksichtlich der Form
für Willenserklärungen des Vorstandes kann, solange sie nicht
in das Genossenschaf tsregistcr eingetragen und öffentlich bekannt
gemacht ist, von der Genossenschaft einem Dritten nicht ent-
gegengesetzt werden, es sei denn, daß dieser von der Änderung
oder Beendigung Kenntnis hatte.
Nach der Eintragung und Bekanntmachung muß der Dritte
die Änderung oder Beendigung gegen sich gelten lassen, es sei
denn, daß er sie weder kannte noch kennen mußte."
IV. Eine sehr rechtsähnliche Gruppe ist die folgende. Es
handelt sich in ihr nicht eigentlich um Vollmacht, eine andere
Person in deren Namen zu vertreten, um das, was der Jurist
zweckmäßigerweise Personalvertretung nennt, vielmehr kommt
hier eine Erscheinung in Betracht, die den Laien äußerlich
täuschen kann, aber von allen Vollmachtsverhältnissen streng
zu scheiden ist: die Verwaltungsbefugnis aus eigenem Rechte.
Vollmacht ist niemals ein eigenes Recht des Bevollmächtigten,
ist sie doch grundsätzlich jederzeit entziehbar. Verwaltungs-
befugnis aus eigenem Rechte aber ist grundsätzlich uncntziehbar,
denn sie ist echtes Recht und das Merkmal echten Rechtes be-
steht, wie schon ausgeführt, in seiner Unentziehbarkeit, in seiner
— man beachte die gesteigerte Fiktion, die aber doch am zu-
treffendsten das Wesen der Sache angibt — Sclbstbehauptungs-
fähigkeit aus eigener Kraft.
I. Solche Verwaltungsbefugnis aus eigenem Rechte hat im
ehelichen Güterrechte der Mann am Eingebrachten der Verwaltungs-
gemeinschaft, des gesetzlichen Güterstandes, ferner am Eingebrach-
ten der Errungenschafts- und der Fahrnisgemeinschaft und am
Sondergut der allgemeinen Gütergemeinschaft. Er hat sie weiter
an jeglichem Gesamtgut bei allgemeiner Gütergemeinschaft, Er-
174
Krückmann :
rungcnschafts- und Fahrnisgemcinschaft, vgl. §§ 1373 ff., 1525,
1550 II. 1439, I443ff-, 1519 II, 1549-
Dies vorausgeschickt, erklären sich die nachfolgenden Be-
stimmungen von selber.
§ 1424. ,,Der Mann ist auch nach der Beendigung der Ver-
waltung und Nutznießung zur Fortführung der Verwaltung be-
rechtigt (die Frau stirbt plötzlich auf einer Reise und die Nach-
richt erreicht den Mann verspätet), bis er von der Beendigung
Kenntnis erlangt oder sie kennen muß. Der Dritte kann sich auf
diese Berechtigung nicht berufen, wenn er bei der Vornahme eines
Rechtsgeschäftes die Beendigung der Verwaltung und Nutznießung
kennt oder kennen muß.
Endigt die Verwaltung und Nutznießung infolge des Todes
der Frau, so hat der Mann diejenigen zur Verwaltung gehörenden
Geschäfte, mit deren Aufschub Gefahr verbunden ist, zu besorgen,
bis der Erbe anderweit Fürsorge treffen kann."
§ 1472 I. ,,Die Verwaltung des Gesamtgutes steht bis zur
Auseinandersetzung beiden Ehegatten gemeinschaftlich zu (falls
die Gütergemeinschaft aufgelöst wird). Die Vorschriften des
§ 1424 finden Anwendung."
§ 1497 I- ,,Nach der Beendigung der fortgesetzten Güter-
gemeinschaft findet in Ansehung des Gesamtgutes die Auseinander-
setzung statt.
Bis zur Auseinandersetzung bestimmt sich das Rechtsverhältnis
der Teilhaber am Gesamtgute nach den §§ 1442, 1472, 1473."^)
§ 1546. ,,Nach der Beendigung der Errungenschaftsgemein-
schaft findet in Ansehung des Gesamtguts die Auseinandersetzung
statt. Bis zur Auseinandersetzung bestimmt sich das Rechts-
verhältnis der Ehegatten nach den §§ 1442, 1472, 1473.
Auf das eingebrachte Gut der Frau finden die für den Güter-
stand der Verwaltung und Nutznießung (Verwaltungsgcmeinschaft,
gesetzlicher Güterstand) geltenden Vorschriften der §§ 1421 — 1424
Anwendung."
Den schon mehrfach angeführten § 1549 setze ich als bekannt
voraus.
2. Um ganz ähnliche Fälle handelt es sich bei der Verwaltungs-
befugnis, die dem Inhaber der elterlichen Gewalt aus eigenem
') Typisches Beispiel für die allgemein als unglücklich empfundene Ver-
schachtclung des BGB.: § 1497 II verweist auf § 1472, und § 1472 I verweist auf
§ 1424. Vgl. §§ 1546, 1549.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht, I 7 c
Rechte an dem Kindesvermögen zusteht, solange die clterHche
Gewalt dauert. Das Kind steht, solange es minderjährig ist, unter
elterlicher Gewalt, also bis zum vollendeten 21. Lebensjahre oder
bis zu seiner Volljährigkeitserklärung, die nach Vollendung des
18. Lebensjahres zulässig ist, §§ 1626, 2, 3. Der Inhaber der elter-
lichen Gewalt kann sie aber in besonderen Fällen auch schon vor
der Volljährigkeit des Kindes verlieren.^)
§ 1682. ,,Der Vater ist auch nach der Beendigung seiner elter-
lichen Gewalt zur Fortführung der mit der Sorge für die Person
des Kindes und das Vermögen des Kindes verbundenen Geschäfte
berechtigt, bis er von der Beendigung Kenntnis erlangt oder sie
kennen muß. Ein Dritter kann sich auf diese Berechtigung nicht
berufen, wenn er bei der Vornahme eines Rechtsgeschäftes die
Beendigung der elterlichen Gewalt kennt oder kennen muß.
Diese Vorschriften finden entsprechende Anwendung, wenn
die elterliche Gewalt des Vaters ruht oder aus einem anderen
Grunde seine Vermögensverwaltung aufhört."^)
§ 1686. ,,Auf die elterliche Gewalt der Mutter finden die für
die elterliche Gewalt des Vaters geltenden Vorschriften Anwendung,
soweit sich nicht aus den §§ 1687 — 1697 ein anderes ergibt."
V. Eine weitere Rechtsähnlichkeit enthält die Vorerbschaft.
Früher behalf man sich meistens damit, daß man der Witwe den
Nießbrauch an einem erheblichen Teile des Nachlasses sicher-
stellte, heute greift man mehr zur Vorerbschaft. Man kann prak-
tisch in beiden Formen annähernd dasselbe erreichen. Der Unter-
schied besteht in folgendem: Wenn der Erblasser seiner Frau die
Fortführung des Lebens in der gewohnten Umgebung (Haus mit
Einrichtung, Landgut) ermöglichen will, kann er diese Sachen
seinen Kindern verschreiben, seiner Frau aber den Nießbrauch
vorbehalten. Dann werden in das Grundbuch als Eigentümer
die Kinder eingetragen oder das Kind, dem bei der Erbauseinander-
setzung das Grundstück zugewiesen wird; zugleich wird für die
Xlutter der Nießbrauch eingetragen. Die Mutter ist nicht Eigen-
tümerin des Grundstückes. Oder aber die Mutter wird als Vor-
erbin eingesetzt und es wird bestimmt, daß bei der Erbauseinander-
1) Vgl. hierüber das einzelne in meinen Institutionen des BGB. (4. Aufl.),
S. 688 ff., 695.
2) Vgl. zur Sorge für die Person, zum Ruhen der elterlichen Gewalt, zur Be-
endigung bloß der Vermögensverwaltung ohne Beendigung der gesamten elter-
lichen Gewalt meine Institutionen (4. Aufl.), S. 688 ff., 690;; 693f., 694!., 6906.
176
Krückmann :
Setzung ihr das Grundstück als Vorerbin zugewiesen werden soll.
Dann wird die Mutter als Eigentümerin eingetragen, aber mit
dem Zusatz kraft Vorerbschaft. Das will besagen, daß jeder
damit zu rechnen hat, daß die Frau nicht unbeschränkt über
das Grundstück verfügen kann, sondern die Rechte der Nach-
erben, d. h. derer, die nach dem Willen des Mannes und Vaters
das Grundstück später haben sollen, achten muß. Die Mutter
erhält also kein volles, freies, ungebundenes Eigentum, sondern
ein durch die Nacherbschaft gebundenes Eigentum, und diese
Gebundenheit wird durch eine Eintragung in das Grundbuch
vcrlautbart. In diesem Beispiel endet die Vorerbschaft mit dem
Tode der Mutter, sie kann aber auch schon bei Lebzeiten des
Vorerben enden, wenn der Erblasser etwas Derartiges bestimmt
hat, und der Grund für die Beendigung kann sehr verschieden sein.
So kann die Vorerbschaft ohne weiteres durch die Geburt eines
Nacherben beendet werden, sie soll dann eben nur so lange dauern,
als ein Nacherbe noch nicht vorhanden ist. Also, der Vater enterbt
rechtswirksam sein unverheiratetes Kind, setzt als Vorerben einen
ihm nahestehenden Freund ein, mit der Maßgabe, daß eheliche
Kinder des Enterbten Nacherben sein sollen, und zwar sofort von
dem Augenblick der Geburt an. Bei solcher Bestimmung kann
die Nacherbschaft fällig werden, ohne daß der Vorerbe oder die
mit ihm verhandelnden Gegenparteien etwas davon erfahren. Dem
trägt § 2140 Rechnung:
,,Der Vorerbe ist auch nach dem Eintritt der Nacherbfolge
zur Verfügung über die Nachlaßgegenstände in dem gleichen Um-
fange berechtigt wie vorher, bis er von dem Eintritt Kenntnis
erlangt oder ihn kennen muß. Ein Dritter kann sich auf diese
Berechtigung nicht berufen, wenn er bei der Vornahme eines Rechts-
geschäftes den Eintritt kennt oder kennen muß."
Dem Vorerben kann aber schon während der Dauer seiner
Vorerbschaft zwar nicht die Nutznießung, wohl aber die Ver-
waltung entzogen werden, wenn sein Verhalten oder seine un-
günstige Vermögenslage die Besorgnis einer erheblichen Ver-
letzung der Rechte der Nacherben begründet. In diesem Falle
kann der Nacherbe Sicherheitsleistung verlangen^), § 2128. Ist
der Vorerbe zur Sicherheitsleistung rechtskräftig verurteilt, so
*) Durch Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren, Verpfändung von For-
derungen, beweglichen Sachen, Bestellung von Hypotheken usw., vgl. § 232.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
177
kann der Nacherbe statt der vielfach gar nicht zu erbringenden
Sicherheit verlangen, daß die Ausübung der Vorerbrechtes für
Rechnung des Vorerben einem gerichtlich zu bestellenden Ver-
walter übertragen wird, §§ 2128 II, 1052. Daraus zieht § 2129
die praktischen Folgerungen:
,,Wird dem Vorerben die Verwaltung nach den Vorschriften^)
des § 1052 entzogen, so verliert er das Recht, über die Erbschafts-
gegenstände zu verfügen.^) Die Vorschriften zugunsten derer, die
Rechte von einem Nichtberechtigten herleiten, finden entsprechende
Anwendung. Für die zur Erbschaft gehörenden Forderungen ist
die Entziehung der Verwaltung dem Schuldner gegenüber erst
wirksam, wenn er von der getroffenen Anordnung Kenntnis erlangt
oder wenn ihm eine Mitteilung von der Anordnung zugestellt wird.')
Das gleiche gilt von der Aufhebung der Entziehung."
VI. An sich mehr an die Vollmacht als an das Verwaltungs-
recht aus eigenem Rechte gehört die Rechtsstellung des Vor-
mundes, aber sie ist vom Gesetz unter die §§ 1682, 1683 gestellt
worden, § 1693 I, so daß auch der gewesene Vormund bis zur
Kenntnis seiner Entlassung usw. die Rolle als Vormund weiter
spielen kann.
§ 10. Rückwirkende Kraft.
I. Eine ausgesprochene Fiktion enthält die für den Juristen
unentbehrliche rückwirkende Kraft.
Sie ist das Merkmal aller Anfechtung, ob nun ein Kauf wegen
Irrtums über wesentliche Eigenschaften der Ware, oder ein An-
stellungsvertrag wegen Irrtums über wesentliche Eigenschaften des
Angestellten angefochten wird, oder ob ein Gatte aus den gesetzlich
zugelassenen Gründen die Ehe anficht. Immer soll alles so ge-
halten werden, als ob das Rechtsverhältnis von Anfang an nichtig
gewesen sei, §§119—124, 142, 1330— 1335, 1343, 1350.
1) Eine der vielen Schwerfälligkeiten des BGB., die leider auch in die Sprache
unserer Gerichte übergegangen ist. Einfacher hätte es geheißen: nach § 1052!
*) Dieses Recht hat er überhaupt nur in sehr beschränktem Maße, vgl. §§ 21 12 ff.
3) Die Verwandtschaft mit § 407 springt in die Augen, aber es ist doch ein
Unterschied. Die Abtretung der Forderung entzieht dem Altgläubiger die For-
derung ganz, die gerichtliche Verwaltung nimmt dem Vorerben die Forderung nicht,
entzieht ihm nur die Ausübungsmöglichkeit; vgl. die in § 4, A. VIII, 4 ange-
führten § 1280, Zivilprozeßordnung § 829 III, Gesetz über die Zwangsversteigerung
und die Zwangsverwaltung § 22 II.
Annalen der Philosophie, i. 12
178
Krückmann :
Dies erklärt sich daraus, daß das Anfechtbare dem wahren
Willen des Erklärenden nicht entspricht, ihm niemals entsprochen
hat. Es wird angefochten auf Grund von Tatumständen, die
schon bei Abgabe der Erklärung vorliegen, nicht erst später ein-
treten. Dies ist der Unterschied von der Kündigung. Die Kündigung
soll und will nur ex nunc wirken und dem Rechtsverhältnis für die
Zukunft ein Ende machen, die Anfechtung will es auch für die
Vergangenheit auslöschen, ex tunc, weil der Auslöschungsgrund
schon von Anfang an bestanden hat, nur nicht früher zur Geltung
gekommen ist. Man kann dies besonders deutlich an den Gründen,
die die Anfechtung der Ehe rechtfertigen, sehen: beschränkte
Geschäftsfähigkeit bei Eheschluß, Irrtum bei Eheschluß, arg-
hstige Täuschung und Drohung bei Eheschluß, §§ 1330 ff. Man
erkennt die Bedeutung dieser Tatumständc richtig, wenn man sie
mit den Scheidungsgründen vergleicht. Scheidung ist richtige
Kündigung ex nunc, geschieht auf Grund von Tatumständen,
die sich nach dem Eheschluß ereignet haben, setzt für die Scheidungs-
gründe einen vollzogenen Eheschluß als geschichtliches Prius voraus.
Dagegen fallen Anfechtungsgründe und Eheschluß geschichtlich
in denselben Augenblick notwendig zusammen.
II. I. So erklärt sich die Rolle, die die Anfechtung bei der
Erbeinsetzung spielt. Jeder Erblasser kann sein Testament be-
liebig widerrufen und dadurch auslöschen, zuweilen aber gelangt
der Erblasser nicht mehr rechtzeitig zum Widerruf, und doch ist
nichts sicherer, als daß das Testament seinem wahren Willen
widerspricht. So kommt es, daß unter Umständen Dritte das
nachholen können, wozu der Erblasser nicht mehr imstande war.
Was bei dem Erblasser aber freier Widerruf ist, muß bei anderen
zur Anfechtung werden, d. h. zur begründeten Anfechtung.
Nach § 2078 ist Anfechtung einer letztwilligcn Verfügung
gestattet, wenn der Erblasser über den Inhalt seiner Erklärung
im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhaltes überhaupt
nicht abgeben wollte und anzunehmen ist, daß er sie bei Kenntnis
der Sachlage nicht abgegeben haben würde. Wer die Kinder seiner
vollbürtigen Geschwister allein einsetzen will und dies mit den
Worten tut: Ich setze meine gesetzlichen Erben ein, der setzt
damit gegen seinen Willen zugleich auch die Kinder seiner halb-
bürtigen Geschwister ein, denn auch diese erben zugleich mit den
vollbürtigen Geschwistern, allerdings zu einem geringeren Teile.
Ihre Einsetzung entspricht aber nicht dem Willen des Erblassers
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
179
und, wenn nachgewiesen werden kann, daß der Erblasser, ver-
anlaßt durch eine unrichtige Auskunft der Gemeindevorstehers,
unter gesetzlichen Erben nur die vollbürtigen Geschwister und
deren Kinder verstanden hat, kann die Einsetzung der halb-
bürtigen Geschwisterkinder angefochten werden, denn sie waren
unter dem Ausdruck ,, gesetzliche Erben" nicht mitgemeint.
2. In § 2079 taucht neben der Rückwirkung aber noch eine
zweite Fiktion auf: Dem Erblasser wird ein Wille unterstellt, den
er gar nicht gehabt hat, den er aber gehabt haben würde, wenn
er richtig unterrichtet gewesen wäre und alles bedacht hätte. Sein
,, richtiger" Wille wird fingiert. Das Gesetz geht, an sich auch
zutreffend, davon aus, daß kein Erblasser ohne Not seine Pflicht-
teilserben übergehen wird. Dies kann aber unter Umständen
ganz unfreiwillig vorkommen, wenn nämlich der Erblasser nicht
weiß, daß Pflichtteilserben da sind. Der Erblasser, in Unkenntnis,
daß der totgesagte und totgeglaubte Sohn doch noch lebt, erwähnt
ihn gar nicht im Testament und setzt nun seine Heimatstadt ein.
Nach seinem Tode erscheint der Sohn wieder. An sich steht ihm
das Recht auf seinen Pflichtteil zu; als einziges Kind des ver-
witweten Vaters würde er die Hälfte der Erbschaft als Pflicht-
teil fordern können. Das Gesetz geht aber noch weiter und sagt:
Der Vater würde, wenn er von dem Leben seines Sohnes gewußt
hätte, ihm die ganze Erbschaft hinterlassen haben, also kann der
Sohn das Testament anfechten. Die Stadt geht leer aus und der
Sohn erhält die ganze Erbschaft, es sei denn, daß anzunehmen
ist, daß der Vater auch bei Kenntnis der Sachlage seine Verfügung
getroffen haben würde. Es muß also nicht bewiesen werden, daß
der Vater dem Sohn das Ganze zugewendet haben würde, sondern
es ist zu beweisen, daß er es ihm nicht zugewandt haben würde.
Nicht der Sohn ist für das Positive, sondern die Stadt ist für das
Negative beweispflichtig. Die Fiktion hat also ihren sehr guten
praktischen Zweck, vgl. § 2079:
,,Eine letztwillige Verfügung kann angefochten werden, wenn
der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteils-
berechtigten übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der
Errichtung der Verfügung nicht bekannt war oder der erst nach
der Errichtung geboren oder pflichtteilsberechtigt geworden ist.
Die Anfechtung ist ausgeschlossen, soweit anzunehmen ist, daß
der Erblasser auch bei Kenntnis der Sachlage die Verfügung ge-
troffen haben würde."
12*
j Qq Krückmann :
III. Gleiche Wirkung hat clic Erklärung der Erbunwürdigkeit.
Der Mörder des Erblassers, wer den Erblasser durch Gewalt, arg-
listige Täuschung, Drohung an der Erklärung seines letzten Willens
verhindert, wer eine letztwilligc Verfügung vernichtet hat usw.,
vgl. § 2339, sie alle sind erbunwürdig und ihr Erbschaftserwerb
kann durch die angefochten werden, denen der Wegfall des Un-
würdigen zugute kommt, §§ 2340, 2341.
,,Ist ein Erbe für unwürdig erklärt, so gilt der Anfall an ihn
als nicht erfolgt", § 2344.
Die praktische Folge ist, daß die Erbschaft dem gegeben wird,
der im Augenblick des Todes des Erblassers der Nächstberechtigte
gewesen wäre, nicht dem, der im Augenblick der Rechtskraft des
die Erbunwürdigkeit aussprechenden Urteils der Nächstberechtigte
ist. So kommen §2342 II: ,,Die Wirkung der Anfechtung tritt
erst mit der Rechtskraft des Urteils ein", und § 2344 II in Ein-
klang: ,,Der Anfall (an den Nächstberechtigten zur Zeit des Todes
des Erblassers) gilt als mit dem Eintritt des Erbfalls (dem Tode
des Erblassers) erfolgt." Der Gedanke ist, daß der, dem der Erb-
unwürdige für den Erwerb der Erbschaft im Wege stand, oder
seine Erben, die Erbschaft haben sollen, denn tatsächlich ist doch
nur er der eigentlich Geschädigte, da ohne den Dazwischentritt
des Erbunwürdigen doch gerade er die Erbschaft erhalten haben
würde. Mit der Erbunwürdigkeit wird ein Mangel der Rechts-
stellung des Unwürdigen geltend gemacht, der schon im Augen-
blick des Anfalls der Erbschaft an ihn bestand, folglich ist aus
praktischen Gründen auch hier die Rückwirkung unentbehrlich.
IV. Entsprechendes gilt für die Anfechtung der Ehelichkeit
eines Kindes, §§ I593ff., die Anfechtung der Einwilligung zur
Ehelichkeitserklärung oder des Antrages auf Ehelichkeitserklärung,
§1731, die Anfechtung der Annahme an Kindesstatt oder Ein-
willigung hierzu, § 1755. Es kann auch nicht gut anders sein,
denn es ist z. B. unvorstellbar, daß ein Kind eine Zeit hindurch
ehelich gewesen sein sollte, später aber nicht mehr. In gewissen
Fragen stehen wir vor der Wahl des Niemals oder Immer, kommen
dann aber natürlich in die Schwierigkeiten der Rückwirkung un-
mittelbar hinein.
V. So erklärt es sich, daß auch die bloße Ausschlagung der
Erbschaft rückwirkende Kraft hat. Wer ausschlägt, soll so be-
handelt werden, als ob er niemals Erbe geworden wäre. Nach
dem BGB. wird man aber Erbe ipso iure, ohne weiteres. Um
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. jgj
die Erbschaft zu erwerben, ist eine Annahmeerklärung nicht nötig,
sie bewirkt nur, daß das Ausschlagungsrecht verloren geht, hat
also mehr die Wirkung einer Bestätigung des schon vollzogenen
Erbschaftserwerbes. Entsprechend wird durch die Ausschlagung
nicht der Erwerb der Erbschaft verhindert, das ist unmöglich,
denn er ist nun einmal ipso iure vollzogen, aber der vollzogene
Erbschaftserwerb wird nachträglich mit rückwirkender Kraft rück-
gängig gemacht, vgl. § 1953. ,,Wird die Erbschaft ausgeschlagtn,
so gilt der Anfall an den Ausschlagenden als nicht erfolgt."
Die praktische Folge ist, daß die Erbschaft dem anheimfällt,
der zur Zeit des Todes des Erblassers der nächste Erbe ist, nicht
dem, der es zur Zeit der Ausschlagungserklärung ist.
VI. Rückwirkende Kraft hat auch die Aufrechnung von
Förderung gegen Gegenforderung. Sie wirkt auf den Zeitpunkt
zurück, in dem sich beide aufrechnungsfähig gegenübertraten,
§ 389. Das hat zur Folge, daß auch mit einer verjährten For-
derung aufgerechnet werden kann, wenn sie nur einen Tag später
verjährte, als die Gegenforderung entstand. Forderungen ver-
jähren meistens in der Neujahrsnacht.^) Entstand also die Gegen-
forderung am 31. Dezember, so kann auch dann noch aufgerechnet
werden, wenn die eigene Forderung an dem folgenden i. Januar
verjährte.
VII. I. Erbteil des römischen Rechtes ist die rückwirkende
Kraft der Genehmigung, §§ 184, 185. Ein am i. August im Namen
des A. geschlossenes Geschäft, zu dem A. aber keine Vollmacht
gegeben hatte, wird durch die am 15. August erteilte Genehmigung
für und gegen ihn wirksam, und zwar mit dem Datum vom l . August,
nichc mit dem Datum vom 15. August. Wirkung ex tunc, im Gegen-
satz zur Wirkung ex nunc. Oder eine am i. August vollzogene,
am 15. August von dem Eigentümer genehmigte Eigentumsüber-
tragung durch einen Nichtberechtigten wird, wenn der Erwerber
um die Notwendigkeit der Genehmigung wußte, also nicht im
guten Glauben war, am 15. August wirksam, aber mit dem Datum
vom I. August.
Praktisch ist diese für uns Juristen unentbehrliche Wirkung
ex tunc das einfachste der Welt, aber sie ist eine Rückwirkung
^) Der Rechtssicherheit halber läuft die Verjährung in den meisten Fällen
nicht von einem Datum mitten im Jahre, sondern vom Schlüsse des Jahres an,
in dem die Forderung entstand. Damit wird der Streit um Tag und Monat ab-
geschnitten, § 201.
l32 Krückmann:
und kann daher juristisch auch nur dazu führen, daß die Parteien
so behandelt werden, als sei Rückwirkung eingetreten, die natürlich
für uns Juristen genau so unvorstellbar ist wie für andere.
2. Eine rückwirkende Bestätigung kennt auch die nichtige
Ehe, wenn die Nichtigkeit auf Geschäftsunfähigkeit, Bewußtlosigkeit
oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit eines Gatten im
Augenblick der Eheschließung beruht.
§ 1325 II. ,,Die Ehe ist als von Anfang an gültig anzusehen,
wenn der Ehegatte sie nach dem Wegfalle der Geschäftsunfähigkeit,
der Bewußtlosigkeit oder der Störung der Geistestätigkeit bestätigt,
bevor sie für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist. Die Be-
stätigung bedarf nicht der für die Eheschließung vorgeschriebenen
Form." Sie kann durch bewußtes eheliches Verhalten geschehen.
VIII. Eine gesetzliche Erstarkung eines Rechtsverhältnisses
tritt mit rückwirkender Kraft in folgenden Fällen ein:
1. § 1324. ,,Eine Ehe ist nichtig, wenn bei der Eheschließung
die in §1317 vorgeschriebene Form nicht beobachtet worden ist.
Ist die Ehe in das Heiratsregister eingetragen worden und
haben die Ehegatten nach der Eheschließung 10 Jahre oder, falls
einer von ihnen vorher gestorben ist, bis zu dessen Tode, jedoch
mindestens 3 Jahre als Ehegatten miteinander gelebt, so ist die
Ehe als von Anfang an gültig anzusehen. Diese Vorschrift findet
keine Anwendung, wenn bei dem Ablaufe der 10 Jahre oder zur
Zeit des Todes des einen Ehegatten die Nichtigkeitsklage er-
hoben ist."
2. § 1328. ,,Eine Ehe ist nichtig, wenn sie wegen Ehebruchs
nach § 1321 verboten war.
Wird nachträglich Befreiung von der Vorschrift des §1312
bewilligt, so ist die Ehe als von Anfang sn gültig anzusehen."
Daß es von der höchsten Bedeutung sein kann, wenn die Ehe
rückwirkend vollgültig wird, liegt auf der Hand. Man braucht
nur an die Rechtsstellung der vor der Befreiung geborenen Kinder
zu denken. Da beide Gatten im bösen Glauben sind, kommt den
Kindern nichts von den Vorrechten einer nichtigen Ehe zugute,
sie werden aber trotz des bösen Glaubens der Eltern vollehelichc
Kinder mit Rückwirkung auf das Datum ihrer Geburt, sobald
die beiden Ehebrecher von dem Ehchindernis des Ehebruchs be-
freit werden. Erinnert sei auch an die weiteren Folgen für das
gegenseitige Erbrecht der Eltern und Kinder, die elterliche Nutz-
nießung am Kindesvermögen, das eheliche Güterrecht usw.
4
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
183
IX. Die Bedeutung der Rückwirkung erhellt deutlich an dem
Gegenstück des § 313. Grundstücksverkäufe müssen, um wirksam
zu sein, gerichtlich oder notariell beurkundet werden. Sind die
beiden Parteien aber zuverlässige Personen, die sich gegenseitig
kennen, so können sie die mit der Beurkundung verbundenen
Kosten dadurch sparen, daß sie mündlich oder privatschriftlich
abschließen und einfach ihr Wort halten. Erfolgt später die Auf-
lassung und die Eintragung, so wird hierdurch der Vertrag gültig,
aber ohne rückwirkende Kraft. Das hat praktische Bedeutung für
die Gewährschaftsansprüche wegen Mängel, z. B. Hausschwamm.
Wird der Kauf abgeschlossen am 20. Februar und zieht der Käufer
am I. Juli ein, erfolgen Auflassung und Eintragung aber erst am
10. November, so beginnen die Ansprüche des Käufers wegen
Hausschwamms erst am 10. November zu verjähren, aber nicht
schon am l. Juli oder gar schon am 20. Februar. Da die Ver-
jährungsfrist nach § 477 I nur ein Jahr beträgt, ist die Fest-
stellung dieses Datums wichtig, denn Hausschwamm wird oft erst
sehr spät erkannt. Die Fiktion der Rück\\irkung würde den
Käufer erheblich beschränken.
Nach dem Gesagten wird man § Ii6 verstehen.^)
,,Ein von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetz-
lichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt als von Anfang an
wirksam, wenn der Minderjährige die vertragsmäßige Leistung
mit Mitteln bewirkt, die ihm zu diesem Zwecke oder zu freier
Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von
einem Dritten überlassen worden sind", z. B. Taschengeld. Die
bare Zahlung heilt die Ungültigkeit des Vertrages mit rückv^'irkender
Kraft. Die Folge für die Verjährung etwaiger Mangelansprüchc,
z. B. wenn der Minderjährige sich ein Fahrrad gekauft hat, liegt
auf der Hand.
X. Ganz auf Rückwirkung eingestellt ist die sogenannte Un-
vordenklichkeit. Sie ist keine Ersitzung irgendeines Rechtes, ist
aber auch keine Rechtsbeschränkung durch Verjährung. Beide
wirken ex nunc von dem Zeitpunkt an, wo die Ersitzungs- oder
aber die Verjährungsfrist abgelaufen ist. Die Unvordenklichkeit
wirkt ex tunc und begründet die Vermutung, daß das betreffende
Recht, z. B. der Adel einer Familie, seit jeher zu Recht bestehe.
Das BGB. hat den Mißgriff begangen, die Unvordenklichkeit aus-
^) Vgl. § 263 und dazu meine Institutionen. S. 3i2ff.
i84
Krückmann :
merzen zu wollen, und so steht es in allen Lehrbüchern und Kom-
mentaren; die Unvordenklichkeit wird aber schon wiederkommen
und von selber ihre Lebenskraft erweisen. Seit unvordenklicher
Zeit bestehende Fischcreigerechtsame müssen geachtet werden,
auch w^enn sich ihre urkundliche Anerkennung nicht nachweisen
läßt. Es war ein Mißgriff der Regierung, als sie vor Jahren den
vorpommerschen und rügcnschen Fischern ihre altüberkommenen
Fischereigerechtsame bestritt und tatsächlich auch in den dicscr-
halb entstandenen Prozessen entriß. Derartiges hätte einfach
anerkannt werden müssen. Solche tatsächlich seit langer Zeit,
ohne daß man von dem Gegenteil weiß, ausgeübten Rechte haben
die Vermutung für sich, daß sie seinerzeit zu Recht begründet
worden sind, und gelten als seit alters her zu Recht bestehend.
Unvordenkliche Fischereigerechtigkeit ist wie unvordenklicher Adel
alte Gerechtigkeit, alter Adel, nicht neue Gerechtigkeit und neuer
Adel. Natürhch in unendlich vielen Fällen kraft Fiktion, aber
kraft einer sehr wohltätigen Fiktion. Quieta non movere!
XI. Die folgende Gruppe ist in gewisser Weise ein Gegen-
stück und nach dem Gesagten ohne weitere Bemerkungen ver-
ständlich.
1. Eine anfechtbare Ehe ist durch Klage anzufechten. ,,Wird
die Klage zurückgenommen, so ist die Anfechtung als nicht erfolgt
anzusehen", § 134^-
2. Die Verjährung wird durch Erhebung der Klage unter-
brochen, § 209. Die Unterbrechung gilt als nicht erfolgt, wenn
die Klage zurückgenommen wird, § 212 I. ,, Erhebt der Berechtigte
binnen 6 Monaten von neuem Klage, so gilt die Verjährung als
durch die Erhebung der ersten Klage unterbrochen", § 212 II,
vgl. §§213, 214 II, 215, 216.
§ 11. Absolute riigcwißheit.
Zuweilen liegt die Sache so, daß wir uns über die Unrichtigkeit
des Vorgehens gar nicht im unklaren sind, aber infolge vollständiger
Unkenntnis der wahren Sachlage doch einen Tatbestand mindestens
vorübergehend regeln müssen.
I. Nach § 1773 II erhält ein Minderjähriger einen Vormund
aucli dann, wenn sein Familienstand nicht zu ermitteln ist. Dies
wird meistens auf uneheliche Kinder zutreffen, für die ohnehin
ein Vormund eingesetzt werden müßte. Es kann sich aber unter
Umständen iiuch um eheliche Kinder handeln, deren Eltern nicht
Wahrheit und Unwahrheit im Recht, 1 8 C
ermittelt werden können, wenn z. B. die Flüchtlinge aus einem
von dem Feinde besccztcn Gebiet durch- und auseinander ge-
raten sind. Dann wird das Kind behandelt, als ob es unehelich
oder elternlos wäre.
II. Ebenso steht es mit der behördlichen Namengebung an
das Findelkind. Kraft zwingender Vorschrift hat das uneheliche
Kind der Näherin Weiß den Namen Weiß, § 1706 I, und wenn
die Behörde es, weil es in einem Kornfeld gefunden worden ist,
auf den Namen Kornfeld benennt, so gibt ihm die Behörde einen
unrichtigen Namen. Mit diesem unrichtigen Namen kann der
Findling aber alle Urkunden richtig unterzeichnen und wird mit
ihm auch richtig bezeichnet.
III. Nach § 984 wird eine Sache, die so lange verborgen ge-
wesen ist, daß ihr Eigentümer nicht mehr zu ermitteln ist (Schatz),
als herrenlos behandelt. Wird sie gefunden und infolge der Ent-
deckung in Besitz genommen, so wird das Eigentum zur Hälfte
von dem Entdecker, zur Hälfte von dem Eigentümer der Sache
(Haus, Schreibtisch mit Geheimfach) erworben, in der der Schatz
verborgen war. Es ist sehr fraglich, ob der Hildesheimer Silber-
fund, den bekanntlich Seeck in einer höchst geistreichen Ver-
mutung mit dem Nibelungenhort in Verbindung gebracht hat,
herrenlos war. Überhaupt dürfte es nahezu gar keine herrenlosen
Erbschaften geben, so lange als die Erbschaft bis zu den letzten
Seitenverwandten geht. Es müßte wunderbar zugehen, wenn
nicht jeder, auch der scheinbar ganz einsam und verlassen in der
Welt dastehende Mensch doch noch irgendeinen Blutsverwandten
hätte. In rohesten Zeiten kann Derartiges vorkommen, wo ganze
Stämme ausgerottet wurden, aber schon bei den aus dem Mittel-
alter stammenden Funden kann man ruhig annehmen, daß kein
Schatz herrenlos ist. Man hat sich den Vorgang folgendermaßen
vorzustellen. Der Eigentümer, der in Kriegsnot oder vor Antritt
einer Reise, eines Kriegszuges, den Schatz verborgen hat, hinter-
läßt irgendwelche Erben, wenn auch keine Abkömmlinge, so doch
Vorfahren oder Abkömmlinge von Vorfahren. Unter diesen vererbt
sich der Schatz als Bestandteil der Erbschaft von Geschlecht zu
Geschlecht auf Abkömmlinge und Seiten verwandte, aber auch
Vorfahren und Seitenverwandte, w^eiter, und wird nicht etwa mit
dem Erwerb der bergenden Sache zugleich mit er^^■orben, vielmehr
gehen Schatz und bergende Sache durchaus ihre eigenen Wege.
Bei der Zersplitterung des Erbrechtes werden die Anteile unendlich
lS6 Krückmann:
klein und zahlreich, aber immer noch vorhanden sein. Über sie
alle sieht man hinweg, weil man über sie hinwegsehen muß, und
so wird eine nicht herrenlose Sache als herrenlos behandelt.
Unter Umständen liegen die Fälle auf der Grenze. Nach
Zeitungsnachrichten ging von einem Hause, wenn ich nicht irre,
in Dortmund, seit jeher die Überlieferung, daß in ihm ein Schatz
verborgen sei. Es sollen auch wiederholt Nachforschungen an-
gestellt worden sein. Als es vor etwa lO Jahren abgerissen wurde,
fand sich wirklich der Schatz. Möglicherweise hätten sich aus dem
Prägejahr der Münzen und den städtischen Akten der frühere
Eigentümer und damit die heutigen Erben doch feststellen lassen.
IV. Teils in diesem Zusammenhang, teils unter § 9 gehören
die folgenden beiden Fälle.
§ 1884 I. ,,Ist der Mündel verschollen, so endigt die Vor-
mundschaft erst mit der Aufhebung durch das Vormundschafts-
gericht. Das Vormundschaftsgericht hat die Vormundschaft auf-
zuheben, wenn ilim der Tod des Mündels bekannt wird.
Wird der Mündel für tot erklärt, so endigt die Vormundschaft
mit der Erlassung des die Todeserklärung aussprechenden Urteils."
Die Vormundschaft endigt also nicht mit der Volljährigkeit
und auch nicht mit dem Todestage des Mündels, sondern erst
dann, wenn sie aufgehoben wird. Bis dahin wird sie über den
Volljährigen und den Toten weiter fortgeführt, als ob er noch
minderjährig wäre oder noch lebte. Auch über den in der Todes-
erklärung angenommenen Todestag hinaus, denn die Todeserklärung
ist erst dann zulässig, wenn dieser angenommene Todestag schon
verstrichen ist, also schon in der Vergangenheit liegt. Wenn heute
das Urteil ergeht, wird vermutet, daß der Verschollene bei der
gewöhnlichen Vcrschollenheit in dem Zeitpunkt gestorben sei, in
dem die Todeserklärung zulässig geworden ist. Bei der gewöhn-
lichen Verschollenheit ist sie zulässig, wenn seit 10 Jahren keine
Nachricht von dem Verschollenen eingegangen ist. Sie darf aber
nicht vor dem Schlüsse des Jahres erfolgen, in dem der Verschollene
das 31. Lebensjahr vollendet haben würde. Ein Verschollener da-
gegen, der das 70. Lebensjahr vollendet haben würde, kann für
tot erklärt werden, wenn seit fünf Jahren keine Nachricht von
seinem Leben eingegangen ist.
Der Zeitraum von 10 und 5 Jahren beginnt mit dem Schlüsse
des letzten Jahres, in dem der Verschollene den vorhandenen Nach-
Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
187
richten zufolge noch gelebt hat, § 14. Die Verschollenen sterben
in der Neu jahrsnacht ! Aus Gründen der Verkehrssicherheit.
Der Antrag auf Todeserklärung fordert nach § 963 der Zivil-
prozeßordnung, daß die zur Begründung des Antrages erforder-
lichen Tatsachen glaubhaft gemacht werden, also muß die töd-
liche Neujahrsnacht schon vorüber sein. Die Aufgebotsfrist beträgt
nach § 960 a. a. O. mindestens 6 Monate, also ergeht das Urteil
mindestens ein halbes Jahr später und setzt dann als Todeszeit
die vergangene Neujahrsnacht an.
Beruht also schon die ganze Todeserklärung auf Fiktion, so
wird diese Fiktion notgedrungenerweise noch übersteigert in § 1884,
indem die Vormundschaft nicht zu Neujahr, sondern erst am Tage
des Urteils endigt.
§ 12. Sprachliche Fiktion.
Eine andere, außerordentlich viel angewandte Fiktion dient
zu dem Zwecke, um die für einen Tatbestand (a) erlassenen Vor-
schriften auf einen anderen Tatbestand {b) anwendbar zu machen.
Dann wird der Tatbestand b als Tatbestand a fingiert. Doch ist
dies, wie leicht zu sehen, ein sprachlicher Notbehelf, der um
der bequemeren Ausdrucksweise willen eingeführt worden ist.
Das weitschichtige Material kann hier aus Gründen des Raumes
nicht gebracht "werden, aber einige Stichproben werden das Ge-
sagte schon genügend erhärten.
I. § 9. ,,Eine Militärperson hat ihren Wohnsitz am Garnison-
orte. Als Wohnsitz einer Militärperson, deren Truppenteil im
Inlande keinen Garnisonort hat, gilt der letzte inländische Garnison-
ort des Truppenteils."
Für die kurzzeitige Kriegsverschollenheit gilt als Angehöriger
der bewaffneten Macht auch, wer sich in einem Amts- oder Dienst-
verhältnis oder zum Zwecke freiwilliger Hilfeleistung bei der be-
waffneten Macht befindet, § 15 H.
§ 24. ,,Als Sitz eines Vereins gilt, wenn nicht ein anderes
bestimmt ist, der Ort, an dem die Verwaltung geführt wird", vgl.
§ 80, S. 3.
§ 49 II. ,,Der Verein gilt bis zur Beendigung der Liquidation
als fortbestehend, soweit der Zweck der Liquidation es erfordert."
§ 50 I, S. 3. ,,Die Bekanntmachung (von der Auflösung des
Vereins usw.) gilt mit dem Ablaufe des zweiten Tages nach der
Einrückung oder ersten Einrückung (in die Zeitung) als bewirkt."
jgg Krückmann:
Es sei noch verwiesen auf §§ io8 II S. 2, 113 IV, 119 II,
121 I S. 2, 123 I, 149, 150, 177 II S. 2 usw. usw.
Die sprachliche Fiktion hat mit der echten Fiktion gemeinsam,
daß sie ein unmittelbares Behandeln als ob verfügt. Um den einen
Tatbestand unter die Regel des anderen bequemlicherweise stellen
zu können, fingiert man ihn sprachlich als diesen anderen Tat-
bestand, statt umständlicher, aber folgerichtiger zu sagen, der
zweite Tatbestand werde unter die Regeln des ersten gestellt.
Ein technisch schon seit jeher von den Juristen, insbesondere von
den Römern ausgenutzter Kunstgriff. Im einzelnen kann es zweifel-
haft sein, ob eine rein sprachliche Fiktion vorliegt, oder eine sach-
liche. Zuweilen finden sich beide zusammen, z. B. in § iio: Der
Vertrag des Minderjährigen gilt als von Anfang an wirksam . . .,
s. oben § 10, IV. Hierin stecken zwei Fiktionen: ,,von Anfang an"
und ,,gilt als wirksam". Diese zweite ist an sich nur sprachlich,
wird aber wegen des ,,von Anfang an" zur sachhchen Fiktion.
II. In anderen Fällen ist es wieder zw^eifelhaft, ob überhaupt
eine Fiktion vorliegt, ob nicht hinter der fingierten Ausdrucks -
weise sich eine unmittelbare normale juristische Wirksamkeit
versteckt. So z. B., wenn in §§ 673, 674 verfügt worden ist, daß
der Auftrag als fortbestehend gilt.
§ 673. „Der Auftrag erlischt im Zweifel durch den Tod des
Beauftragten. Erlischt der Auftrag, so hat der Erbe des Be-
auftragten den Tod dem Auftraggeber unverzüglich anzuzeigen
und, wenn mit dem Aufschübe Gefahr verbunden ist, die Be-
sorgung des übertragenen Geschäftes fortzusetzen, bis der Auftrag-
geber anderweit Fürsorge treffen kann; der Auftrag gilt insoweit
als fortbestehend."
§ 674. ,, Erlischt der Auftrag in anderer Weise als durch Wider-
ruf, so gilt er zugunsten des Beauftragten gleichwohl als fort-
bestehend, bis der Beauftragte von dem Erlöschen Kenntnis er-
langt oder das Erlöschen kennen muß."
In § 674 wird anzunehmen sein, daß der Auftrag wirklich
erloschen, aber als fortbestehend fingiert wird^), dagegen in §673
wird man richtigerweise sagen müssen, daß der Auftrag eben nicht
ganz erlischt, sondern noch gewisse Wirkungen behält. Unzweifel-
haft trifft dies von der Anzeigepflicht zu. Diese ist eine Neben-
pflicht neben der Hauptpflicht und setzt einen gültigen und wirk-
») S. o. § 9, HI.
Wahrheit und Unwahrheit im Recht. i8q
samcn Auftrag voraus. Der erste Satz des § 673 wird durch den
zweiten Satz sachlich wieder eingeschränkt, § 673 wäre daher
richtigerweise etwa folgendermaßen zu fassen: „Durch den Tod
des Beauftragten erlischt der Auftrag insofern, als der Erbe des
Beauftragten dessen Tod dem Auftraggeber anzeigen soll und
das übernommene Geschäft nur dann fortzusetzen hat, w^-nn mit
dem Aufschübe Gefahr verbunden ist." Also nicht unbeschränktes
Erlöschen und fingiertes Weiterfortbestehen, sondern beschränktes
Erlöschen, aber vom BGB. sprachlich dargestellt als fingiertes
Fortbestehen des fingiert gänzlich erloschenen Auftrages.
Entsprechendes gilt von § 672. ,,Der Auftrag erlischt im
Zweifel nicht durch den Tod oder den Eintritt der Geschäfts-
unfähigkeit des Auftraggebers. Erlischt der Auftrag, so hat der
Beauftragte, wenn mit dem Aufschübe Gefahr verbunden ist,
die Besorgung des übertragenen Geschäftes fortzusetzen, bis der
Erbe oder der gesetzliche Vertreter des Auftraggebers anderweit
Fürsorge treffen kann; der Auftrag gilt insoweit als fortbestehend."
In Wahrheit ist der Auftrag auch in diesem Falle nicht vollständig
untergegangen, sondern hat noch immer einige beschränkte Wir-
kungen behalten und diese werden als Wirkungen des unter-
gegangenen aber fingiert fortbestehenden Auftrages vor- und
dargestellt.
Der Laie muß sich in die sehr häufige Erfahrung der Juristen
hineinversetzen, daß wir vielfach ein Rechtsverhältnis nicht voll-
ständig erlöschen lassen können, sondern erhebliche Nachwirkungen
anzuerkennen haben. Wenn die Mietzeit abgelaufen ist, muß der
Mieter ausziehen. Diese Pflicht, zu räumen, übernimmt er durch
den Abschluß des Vertrages, § 556 I. Das bedeutet, daß der Ver-
mieter den Mieter kraft dieser vertraglich übernommenen Pflicht
aus der Wohnung weisen kann, und nicht auf das Eigentum an
der Mietsache zurückzugreifen, also nicht die Klage kraft §§ 985 ff.
anzustellen braucht. Dies ist wichtig für die so unendlich häufige
Aftermiete, wo ein Nichteigentümer vermietet und ohne § 55^ I
den Mieter gar nicht aus der Wohnung würde entfernen können.
Aber auch weitere Ansprüche stehen dem Vermieter nach
Beendigung des Mietverhältnisses zu, z. B. wegen schuldhafter
Beschädigung der Wohnung. Es ist überhaupt nahezu allen
unseren Schuldverhältnissen eigentümlich, daß sie neben dem
Hauptanspruch auf Erfüllung, d. h. auf Erbringung der eigent-
lichen, der Hauptleistung, auch noch mancherlei Nebenpflichten
I QO Krückmann : Wahrheit und Unwahrheit im Recht.
erzeugen, die als solche nach der Beendigung des Rechtsverhältnisses
wirken. Wenn wir also sagen: Der Mietvertrag ist abgelaufen, so
meinen wir damit nur, daß der Mieter nicht weitere Überlassung
der Wohnung verlangen darf, verneinen also eigentlich nur die
Hauptleistungspflicht des Vermieters, verneinen bei nachträglicher
Mietzahlung nicht einmal die Hauptleistungspflicht des Mieters
vollständig, da dieser mindestens noch die letzte fällige Rate zu
zahlen hat. Man darf daher solche Worte wie: Das Rechts-
verhältnis erlischt, nicht auf die Goldwage legen, sondern muß
immer von Fall zu Fall feststellen, welche Tragweite sie haben.
Ein Merkzeichen hierfür ist, ob die Nachwirkungen an das Kennen
oder Kennenmüssen des Unterganges des Rechtsverhältnisses ge-
knüpft sind, § 674. Kennen oder Kennenmüssen des Unterganges
setzt den Untergang des Rechtsverhältnisses logischerweise voraus
und kann daher gar nicht anders erklärt werden, als durch Unter-
stellung eben des wirklichen und vollständigen Unterganges. Es
wäre auch merkwürdig, wieso der Untergang eines Rechtsverhält-
nisses, der schon nach den normalen Untergangsgründen voll-
ständig gerechtfertigt wird, in besonderen Ausnahmefällen noch
an das Kennen oder Kennenmüssen geknüpft sein sollte. Logische
Ordnung bringt man in die betreffenden Bestimmungen nur dann
hinein, wenn man die Kenntnis und das Kennenmüssen so ver-
steht, wie sie sonst allgemein verstanden werden müssen, nämlich
dahin, daß ein Gegenstand des Kennens oder Kennenmüssens
zur Zeit des Kennens und des Kennenmüssens schon vorhanden
ist. Dann muß aber der Untergang des Rechtsverhältnisses schon
Tatsache sein und das Rechtsverhältnis wird mit Rücksicht auf
das Nichtkennenmüssen der Gegenpartei als fortbestehend fingiert
oder, juristisch gesprochen: Die Parteien werden unmittelbar so
behandelt, als ob . . .
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die
' medizinische Wissenschaft
Vorläufige Mitteilung.
Von
Marine-Oberassistenzarzt d. R. Dr. Carl Coerper.
Inhaltsübersicht.
1. Im Verlaufe empirischer Forschung wird die medizinische Wissenschaft
endlich doch auf erkenntnistheoretische Probleme geführt, so vor allem auf die
beiden Probleme: a) Warum entsprechen die in der Medizin aufgestellten (erdachten)
Regeln nicht der Tatsächlichkeit? b) Weshalb ist eine Tatsachensammlung ohne
erklärende Regelmäßigkeit zwecklos ?
2. Die mögliche Lösung dieser Probleme wird gegeben an Hand einer zu-
nächst lediglich formal bestimmten Einteilung der ärztlichen Forschung nach ihren
verschiedenartigen Inhalten in Zustandsforschung, Vorgangsforschung und Erklärungs-
forschung (lediglich zum leichteren Verständnis und zur Einführung so benannt).
Die medizinische Wissenschaft hat versucht, nur mit den ersten beiden Formen
auszukommen. Das ist deshalb unmöglich, weil die dritte Form von den beiden
ersten niemals getrennt werden kann.
3. Die Erklärungsforschung umfaßt die von Vaihinger gefundene fiktionale
Form unseres Denkens.
4. Es wird der Nachweis geführt, daß Erklärungen (in diesem Sinne auf-
gefaßt) bereits in der Medizin gebräuchlich sind, ohne daß man sich dessen in vollem
Maße bewußt gewesen ist. Erklärungen (Fiktionen) sind u. a. der Normalmensch,
die Normalzelle, die ,, klassischen" Krankheitsbilder.
5. Die Betrachtungsweise eines Krankheitsfalles von den drei Gesichtspunkten:
der speziellen Krankheit, der besonderen Konstitutionsform und der vorliegenden
psychischen Komponente aus ist lediglich eine gedankliche Trennung mit dem
Zwecke der Erklärung einer komplexen Erscheinung.
6. An weiteren Beispielen fiktionalen Denkens, an den gegensätzlichen An-
schauungen der Zellularpathologie und der Humoralpathologie, des Mechanismus
und des Vitalismus, der Allopathie und Homöopathie wird gezeigt, wie die Un-
kenntnis des fiktionalen Einschlages unseres Denkens zu Scheinproblemen führen
muß. In Verbindung mit diesen Ausführungen wird dargelegt, daß die Fiktionen
die „heuristischen Hypothesen" enthalten, ferner, wie die Fiktionen wissenschaft-
lich wertvoll bleiben.
7. In Ansehung der fiktionalen Bedingtheit unseres Denkens bleibt jede
Erkenntnis eine relative. Die Kenntnis des Fiktionalen befreit die Medizin wirklich
erst von ihren metaphysischen Fesseln.
Nachdem für längere Zeit alle erkenntnistheoretisch-methodo-
logischen Fragen aus dem wissenschaftlichen Betriebe der Medizin
ausgeschaltet waren, scheint sich seit den letzten Jahren vor
jg2 Carl Coerper :
dem Kriege eine weniger energische Ablehnung aller Probleme,
die mit philosophischen Arbeiten in Zusammenhang stehen, vor-
bereitet zu haben. Einen einzigen Umstand hierfür ursächlich
aufzuweisen, ist wohl nicht möglich. Doch scheint ein Begriff
der klinischen Medizin von wesentlichem Einfluß gewesen zu sein:
der Begriff der Konstitution.
Man hat versucht, besonders in der Zeit der bakteriologischen
Ära, einige Gebiete der Klinik exakt gesetzmäßig zu begründen.
Dieser Versuch ist mißlungen. Man fand keine Gesetze, sondern
nur Regeln, bei denen nunmehr gerade die Ausnahmen inter-
essieren mußten. Die Ausnahmen suchte man zu erklären durch
den Begriff der Konstitution. Die Konstitution war die indivi-
duelle Komponente des krankhaften Geschehens, die erfahrungs-
gemäß oftmals gesetzmäßig erwartete klinische Erscheinungen
vermissen ließ. Daraus entsprangen praktische und theoretische
Schwierigkeiten. Diesen suchte man verschieden zu begegnen.
Die einen leugneten die individuelle Komponente. Sie werden
wohl die bakteriologischen, serologischen Dogmatiker genannt.
Die anderen suchten in einem Relativismus das Heil. Ohne Frage
haben die letzteren das Feld behauptet, obwohl sie ihre Waffen
längst nicht immer geschickt und vollständig ausgenutzt haben.
Lehnt man die Einseitigkeit, die jeder Dogmatismus mit sich
bringt, zunächst ab und nimmt, in bescheidener Wertung der
bisherigen Ergebnisse, den Relativismus an, der jede Erscheinung
als eine besondere Gestaltung variabler Verhältnisse auffaßt, so
ist dennoch wenig gewonnen. Die Verhältnisbeziehungen, die das
organische Lx)ben voraussetzt, sind praktisch unendliche. Es be-
steht deshalb die Gefahr, daß über der Fülle der erkennbaren
Relationen die klare Einsicht und Ordnung, kurz gesagt die kon-
struierbare Regelmäßigkeit, nach der sich jene zu richten scheinen,
vergessen wird. Es ist also eine Notwendigkeit, daß wir einen
gewissen Dogmatismus wiederum in unsere Gedankenoperationen
aufnehmen.
Aus diesen Irrwegen muß ein Ausweg gesucht werden. Dieser
Ausweg liegt nun nicht in einer weiteren Erkenntnis des Tat-
sächlichen (d. i. der Zustände und Vorgänge des Organischen).
Im Gegenteil, jede neue Kenntnis von Tatsächlichem erschließt
weitere Probleme, die vorher noch nicht bekannt waren. So not-
wendig zunächst und vor allem die Erforschung des Tatsäch-
lichen ist, zu irgendeinem endgültigen Schlußresultate kann sie
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft. j g 7
nicht kommen, welches cic oben erwäl nten Irrwege .-.uf einen
Ausweg hinzuleiten vermöchte.
Es ist von großer Wichtigkeit, einzusehen, daß hier erkenntnis-
theoretische Fragen vorliegen, deren Kenntnis zu einem gedeih-
lichen Fortgange wissenschafthcher Arbeit durchaus notwendig ist.
Das Problem ist dieses: Weshalb deckt sich erdachte Regel-
mäßigkeit nicht mit Tatsächlichkeit ? Weshalb ist andererseits
eine reine Tatsachensammlung in Form von Relationen ohne er-
klärende Regelmäßigkeit zwecklos }
Exemplifizierend könnten wir auch fragen: Warum erkrankt
nicht jeder, der der tuberkulösen Infektion ausgesetzt ist, an
Tuberkulose } Warum ist andererseits eine Beschreibung patho-
logisch-anatomischer oder klinischer Symptome ohne Deutung
durch eine gewisse Regelmäßigkeit, ohne Abstraktion von Einzel-
heiten zu einer Diagnose, wie beispiels\^^isc der der Tuberkulose
nicht zu gebrauchen }
Die erste Frage könnte etwa folgendermaßen beantwortet
werden: Die gedanklich gebildete Voraussetzung unserer Frage,
das Gesetz, die Regel: der Tuberkelbazillus bringt die tuberkulöse
Erkrankung hervor, bestätigt sich in dieser Form nicht. Die
zweite Frage könnte etwa folgendermaßen beantwortet werden:
Die Beschreibung von Tuberkulosefällen setzt bereits gedankliche
Vergleichung, Zuordnung, Trennung der Erscheinungen nach Ge-
sichtspunkten voraus. Diese Gesichtspunkte sind die Vorstufen
für Gesetze und Regeln. Die Regeln ihrerseits werden aber,
wie oben dargelegt, in der Wirklichkeit nicht bestätigt. Die
Wirklichkeit wird nur durch Regeln erklärt, nicht erkannt.
Diese antithetische Gegenüberstellung kennzeichnet die Pro-
bleme als erkenntnistheoretische. Eine unabsehbare Fülle von
medizinisch-wissenschaftlichen Differenzen ließe sich auf ähn-
liche Antithesen zurückführen. Eine absolut befriedigende Auf-
lösung dieser Antithesen, die für die Theorie wie für die Praxis
der Medizin wünschenswert wäre, ist nicht möglich; wohl aber
ist die Erkenntnis, daß diese Antithesen sich notwendigermaßen
immer wieder einstellen, möglich und wertvoll. Die Erkenntnis,
die nötig wäre, ist diese, daß das Denken seinen Inhalt, sein
Material verändern muß, will es anders fortschreiten. Mit anderen
Worten: es ergibt sich immer wieder eine Differenz zwischen
Tatsache und Erkenntnis. Die Erkenntnis ist immer allgemein,
Annakn der Philosophie. I. Ij
jQ^ Carl Coerper:
die Tatsache immer individuell. Dies ist seit langem in der
Philosophie bekannt.
Es ist nun aber ein wesentlicher Fortschritt, daß, nicht lange
vor dem Kriege, diese Fragen durch die ,,als ob"-Philosophic
Vaihingers eine ganz neuartige Beleuchtung gefunden haben..
Vaihinger sagt: Wir bilden bei unserem Denken willkürliche
Annahmen, Fiktionen, derart, daß wir sagen können, wir denken
immer so, als ob das Denken dem Wirklichen entspricht. Ver-
gessen wir dies nicht, so behalten unsere Erkenntnisse ihren,
allerdings beschränkten, Wert. Übersehen wir aber diese Ein-
schränkung, dieses ,,als ob", so verfallen wir dem Irrtum. Sagen
wir: Es scheint so, als ob der Tuberkelbazillus jeden, der ihm
ausgesetzt ist, affiziert; sagen wir ebenso: Es scheint so, als ob
eine beschriebene Gruppe von Erkrankungen mit einer gewissen
Regelmäßigkeit den Tuberkelbazillus zur Voraussetzung habe, so
vermeiden wir den Irrtum und bleiben im Bereiche exakter For-
schung.
Freilich verlieren wir hiermit die Möglichkeit absoluter Er-
kenntnisse. Absolute Erkenntnis erstrebt die Medizin aber,
seitdem sie beobachtend und experimentell forscht. An
anderer Stelle wird versucht werden, die erreichbaren exakten
Grundlagen ärztlicher Erkenntnis aufzuweisen. Sie bestehen in
einer Zustandsforschung und einer Vorgangsforschung. Zu der
Zustandsforschung wird die beschreibende Darlegung von be-
obachteten Verhältnisbeziehungen gerechnet; zu der Vorgangs-
forschung die in der Form des Bcdingungsschlusses gegebenen
experimentellen Ergebnisse der Forschung. So spröde diese ver-
wickelten Verhältnisse von Wissenschaftspsychologie und Erkenntnis-
theorie für eine klärende Darlegung auch sein mögen, eins springt
indessen dennoch in die Augen, daß in diesen beiden Formen der
Forschung notwendigermaßen eine dritte Form miteingeschlossen
ist: die Erklärungsforschung. Die Erklärungsforschung nun ist
bisher übersehen worden. Man hat sich, ohne es zu wissen, um
Erklärungen gestritten, in dem Glauben, sich um exakt bestimm-
bare Verhältnisse zu streiten. Es ist deshalb überaus wichtig,
dem etwas nachzugehen, was als Erklärungen in der Medizin zu
gelten hat.
Eine Erfindung der Erklärungsforschung ist beispielsweise der
Normal mensch. Anatomie und Physiologie erfordern dieses ab-
strakte Gebilde gedanklicher Arbeit. Wie der Normalmcnsch, so
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft. ig-
ist ferner jeder Durchschnittsbegriff einzelner Teile des mensch-
lichen Organismus eine Erfindung, die durch Abstraktion ge-
funden ist, so das typisch normale Herz, Gehirn, die typisch
normale Lunge, Leber, Niere. Man hat sich unmerklich schon
so weit in den Relativismus hineingefunden, daß man die Organe
meist in Relationen zueinander stehend auffaßt. Doch wird man
bei dem Nachdenken der Entstehung dieser unserer Erkenntnis-
formen auf Figuren zurückkommen, die der anatomische Atlas
der ersten Semester oder ein gutes Phantom dem Gedächtnis
eingeprägt hat. Diese Gebilde sind, soweit sie der Natur ent-
nommen sind, im Sinne einer mittleren Konstanten korrigiert, die
teils mehr, teils weniger von der Wirklichkeit abgerückt ist. Das
nämliche hat statt bei der die Organe zusammensetzenden Ein-
heit, der Zelle. Hier tritt m. E. der schöpferische Gedanke noch
deutlicher zutage. Ganz allgemein von der Zelle morphologisch
Aussagen zu machen, ist nur möglich, wenn man eine Idealzelle
konstruiert, wie sie jedem Mediziner geläufig ist. Wie schwer es
ist, diesen künstlichen Begriff mit allen Eigenschaften, die Zellen
überhaupt haben, auszustatten, ist allgemein bekannt. Und doch
hat man — und m. E. nicht nur didaktisch — diese Abstraktion
sehr nötig. — Jede spezifische Zelle der einzelnen Organe muß
nun ihrerseits wiederum idealisiert dargestellt werden. Ohne Frage
steht solch eine spezifizierte Organzelle der Wirklichkeit näher
als die allgemeine Idealzelle. Exakte Wirklichkeit enthält sie aber
auch nicht. Die Fülle der Variationen von Zellen im mikroskopischen
Bilde eines Organcs muß jedesmal überraschen. Es ist notwendig,
immer wieder die Idealzelle des Organes zum Vergleich heran-
zuziehen, um erklären zu können. An dem Bilde der durch Ab-
straktion gewonnenen Organzelle orientiert sich die Diagnose ver-
mittelst Beschreibung und Deutung.
Unser Erkennen auf diesen Gebieten besteht also im wesent-
lichen in unwirklichen Idealbildern.
Geht man auf das Gebiet der Physiologie über, so sind hier
an Stelle der zu erforschenden Zustände Vorgänge, darzustellen.
Auch diese werden, sobald sie wissenschaftlich erfaßt werden
sollen, mehr oder weniger idealisiert umgeformt. Die Herzaktion,
wie sie als typisch normal bezeichnet wird, findet sich in
Wirklichkeit niemals.
Übersieht man das Gebiet der Klinik, so stößt man nicht
seltener auf Abstraktionen. Man spricht von klassischen Krank-
es*
ig(5 Carl Coerper:
hcitsbildcrn und versteht darunter Symptomgruppen, die voll-
zählig oder gleichwertig in der Wirklichkeit nicht vorkommen.
Der Krankheitsbegriff selbst ist ein Gebilde, das als eine
Erfindung angesehen werden muß. Denn eine Krankheit an
sich existiert nicht. Wäre sie etwas Gegenständliches, dann
deckte sie sich beispielsweise mit dem Bazillus, der sie erregt,
den wir nach seinen Eigenschaften zuständlich erforschen können.
Nun sind die Krankheiten aber nichts Gegenständliches, sondern
durch Verallgemeinerungen gewonnene Bilder von Vorgängen.
Daß jeder Sonderfall einer Krankheit durch seine besonderen Be-
dingungen von dem klassischen Krankheitsbilde abweicht, ist
eine alltägliche ärztliche Erfahrung. Man darf wohl sagen: Wer
in jedem Krankheitsfalle den Beweis für die Wirklichkeit der
klassischen Krankheitsbilder sieht, dessen Beobachtung entgeht
Wesentliches, der begeht den Fehler, daß er wohl das Ideelle zu
erkennen vermag, nicht aber das Reale. Wie weittragende thera-
peutische Folgen das haben muß, wie der Schematismus als not-
wendige Folge hieraus erwächst, liegt auf der Hand. Die konse-
quente Folgerung dieses Denkfehlers ist der Glaube an die Möglich-
keit einer Panazee. Die Einsicht, daß es eine Panazee nicht gibt,
ist m. E. ursprünglich der Anlaß zur Aufstellung des Begriffes
der Konstitution gewesen, der wiederum, wie eingangs berührt,
zu einer Revision der gedanklichen Forschung Anlaß gegeben hat.
Man müht sich nun ab, den Begriff der Konstitution einer
exakten Forschung zugänglich zu machen. Bleibt man sich dessen
bewußt, daß es ein Sammelname ist, der, künstlich gebildet,
eine unabsehbare Anzahl von Spezialfällen in sich faßt, so wird
man sich davor hüten, ihn, wie vordem den Krankheitsbegriff,
als etwas Zuständliches aufzufassen.
Der begriffliche Charakter von Krankheit und Konstitution
wird vielleicht noch deutlicher, wenn man daran erinnert, daß
beide in Wirklichkeit bei einem Vorgange verbunden sind, ledig-
lich zum Zwecke der Erforschung begrifflich getrennt werden.
Man kann und muß einen pathologischen Vorgang sowohl mit
dem zugehörigen klassischen Krankheitsbild wie mit dem zu-
gehörigen Spezialfälle der Konstitution verbinden, um wirkliche
Erkenntnis fördern zu können. So wird es auch wohl praktisch
meist gehalten. Der scharf umrissene Krankheitsbegriff kenn-
zeichnet die Beziehungen der Schädlichkeiten (exogener wie endo-
gener Natur) zu den als normal vorausgesetzten Organen und
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft. 1 07
ihren Funktionen, der Konstitutionsbegriff die Beziehungen von
der Norm abweichender Typen, die an sich noch nicht unter den
Begriff ,, Krankheit" fallen, zu weiteren Verschiebungen dieser
Verhältnisbczichungen durch die Krankheit.
Die Willkürlichkeit der Trennung dieser beiden Begriffe, die
in der Erscheinung immer nur zusammen vorkommen, wird hier-
durch klar ersichtlich. Eine komplexe Größe, wie sie jeder krank-
hafte Prozeß darstellt, erfordert aber eine solche Trennung, will man
anders Wissenschaft treiben. Die angeführte Trennung hat sich
als zweckmäßig erwiesen. Ob man weitere Gesichtspunkte suchen,
weitere Trennungen vornehmen muß, entzieht sich der referierenden
Darlegung.
Unerwähnt darf nicht bleiben, daß man, offenbar unter dem
Eindrucke der Kriegsverhältnisse, bei einzelnen Erkrankungen,
besonders auf dem psychischen Gebiete, dem W^illen wiederum
besondere Aufmerksamkeit schenkt. E^ soll hier nicht in die
Frage eingegriffen werden, inwieweit die Psychologie diesen Be-
griff fordert oder ausschließt. Es wird aber allgemein zugegeben,
daß der Wille aufs engste mit anderen psychischen wie physischen
Erscheinungen verbunden ist. M. E. ist deshalb die Beantwortung
der Frage, ob man den Willen in Genese und Symptomatologie
von Krankheiten begrifflich verwerten will, nicht davon abhängig,
ob man den Willen gemäß seiner begrifflichen Konstruktion rest-
los in der Wirklichkeit nachweisen kann, sondern davon, ob man
durch den Begriff ,, Willen" Erscheinungen nach einer Seite hin
zweckmäßig erklären kann. Dem möchte ich persönlich zustimmen.
Weitere Ausführungen hierüber müssen auf später verschoben
werden. Bei der Betrachtung pathologischer Prozesse gäbe es
also bereits drei Gesichtspunkte, von denen aus man den Er-
scheinungen gerecht zu werden sucht : zunächst die Krankheit,
dann die Konstitution, endlich das psychische Moment in der
Form des Willens. Diese Trennung ist eine willkürliche, gewalt-
same, sie ist zweckmäßig, brauchbar; ihre Berechtigung muß sich
freilich immer erst erweisen. Es hat Zeiten gegeben, wo man
nicht in dieser Art trennte; es wird auch wohl Zeiten geben, wo
man anders trennen wird.
Es handelt sich hier also um vergängliche Erkenntnisformen.
Es wäre unrichtig, m ihnen das Wesentliche der Forschung zu
erblicken. Das Wesentliche liegt m. E. in der Zustands- und
Vorgangsforschung, nicht in dieser Erklärungsforschung.
jQ§ Carl Coerper:
Übersieht man die bisherigen Ausführungen, so kann man
zusammenfassend etwa folgendes sagen: In der Medizin werden
auf den verschiedensten Gebieten Begriffe gebraucht, die bald
mehr, bald weniger, jedenfalls aber niemals völlig der Wirklich-
keit entsprechen. Sie unterscheiden sich von den Entdeckungen,
die gemacht, von den Tatsachen, die gefunden sind, dadurch,
daß sie im Gegensatze zu diesen veränderlich sind, der Zweck-
mäßigkeit unterliegen, mit ihrer Brauchbarkeit stehen und fallen,
sich Umänderungen gefallen lassen müssen durch die Tatsachen,
die selbst an sich gleich bleiben.
Solche Begriffe nennt Vaihinger Fiktionen. Vaihinger er-
kennt durchaus an, daß Fiktionen verschiedene Grade einer will-
kürlichen, gewaltsamen Veränderung des Tatsächlichen verur-
sachen können. Wesentlich bleibt nur, daß das Denken unter
allen Umständen seinen ursprünglichen Inhalt irgendwie ver-
ändern muß.
Dies ist auch bei dem medizinischen Denken der Fall. Wenn
nunmehr zu weiteren Beweisen hierfür dazu übergegangen wird,
andere Fiktionen, die in der Medizin gebräuchlich sind, aufzuzeigen,
so ist eine Vollständigkeit unmöglich. Es sollen nur noch einige
wenige Fiktionen kurz berührt werden: Fiktionen sind die Lehr-
gebäude der Zellularpathologie und der Humoralpathologie. Es
ist überaus zweckmäßig, die Zelle als Grundlage aller materiellen
Prozesse der Organismen anzusprechen. Die Ordnung der patho-
logischen wie normalen Zustände nach Maßgabe der Zellverfassung
ist wissenschaftlich sehr ergiebig gewesen. Diese Anschauung ist
aber die einseitig betonte, isolierte Vorstellung, als ob die Zelle
der wesentlichste, einzigste Faktor für das Zustandekommen krank-
hafter Prozesse sein müsse. Ganz abgesehen davon, daß die Zelle
selbst ein überaus kompliziertes Gebilde ist, das einer kausalen
Erklärung viel zu viel Möglichkeiten offen läßt, den patho-
logischen Vorgang im speziellen zu erklären, haben die Ent-
deckungen der Serologie den Anteil des Humor an der Entstehung
pathologischer Prozesse derartig aufgedeckt, daß es überaus ein-
seitig wäre, die Serologie gegenüber der Pathologie zurückzustellen.
Umgekehrt wäre es ebensowenig richtig, die Serologie der Zellular-
pathologie vorzuziehen. Der lange Zeit über diese Frage geführte
Streit zeigt, wie die Verkennung des fiktionalen Einschlags unseres
iJenkens zu Schcinproblemen führen muß. Sind Humoral- und
Solida rpathoiogie zwei die komplexen Grölkn der organischen
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizinische Wissenschaft, j qq
Prozesse verschiedenartig, in sich aber folgerichtig, unter Be-
tonung einer Sondererscheinungsform (d. i. der Zelle bzw. des
Chemismus des Humor) erklärende Schematismen im Sinne unserer
obigen Darlegung, so gilt es, beide zu fördern, um beide zu Resul-
taten zu führen, die in Summa der verwickelten, vielgestaltetcn
Wirklichkeit näher kommen. Ist aber die Lehre von der Zelle
als dem Elementarorganismus das korrekte, gedankliche Abbild
der Wirklichkeit, so ist der Streit ein berechtigter. Nach dem
Tatsachenmaterial der heutigen Medizin ist die Zelle nicht der
ausschließliche Faktor pathologischer Zustände. Dies anzuerkennen,
d. h. den Tatsachen ihr Recht lassen, ist sehr viel leichter, wenn
man eingesehen hat, daß die Zellularpathologie die angeführten
fiktionalen Gedanken in ihren dogmatischen Grundlehren enthält,
als wenn man dies sich nicht vergegenwärtigt. Das Entsprechende
gilt für die Serologie. Die Erkenntnis des fiktionalen Beitrages
zu jedem wissenschaftlichen Denken würde den Fortschritt un-
geheuer erleichtern. Es wäre möglich, daß der Dogmatismus hin-
fällig würde, der in Verkennung unserer erkenntnistheoretischen
Bedingtheit den Fortschritt so leicht hemmt. So wichtig die Er-
klärung vorübergehend ist, so ist sie doch nicht das Wesentliche
und Bleibende der Forschung. Unvergänglich ist nur eine richtige
Beobachtung von Zuständen und ein wiederholbares Experiment
bei Vorgängen.
Ein weiteres Beispiel fiktionalen Denkens in der Medizin ist
die Seitenkettentheorie Ehrlichs. Die Grundlage derselben ist die
Konstitutionsformel. Diese ist eine willkürliche Annahme, deren
Tatsächlichkeit in der Erscheinung noch niemand gezeigt hat.
Es bleibt durchaus offen, ob dies in irgendeiner Art nicht doch
noch möglich wird. Jedenfalls ist der Gedanke, der sich an dies
formale Bild, das erfunden (nicht entdeckt) ist, anschließt, ganz
gleichgültig, ob er sich materiell bestätigt oder nicht, äußerst
fruchtbar gewesen. Wir sehen also heute ein großes Gebiet medi-
zinisch-wissenschaftlicher Forschung vor uns, das sich auf einer
rein gedanklichen Basis gründet. Man hat diese gedanklichen
Wegweiser heuristische Hypothesen genannt. Daß es sich hier
nicht um Hypothesen handelt, d. h. um eine Darlegung als wahr-
scheinlich erkannter Regelmäßigkeiten \on Vorgängen, sondern in
erster Linie um gedankliche Gebilde, Erfindungen, soll an anderer
Stelle ausführlicher gezeigt werden. Wenn man sachlich aussagen
soll, was denn die Serologie gefunden hat, so ergeben sich Hypo-
20O ^^^^ Coerper :
thescn, d. h. wahrscheinliche Folgebeziehungen, die sich auf ganz
andere chemisch-physikalische Befunde stützen als auf die theo-
retische Voraussetzung derselben, die chemische Konstitutions-
formel. Heuristische Annahmen sind echte Fiktionen. Der Anteil
des Tatsächlichen an diesen willkürlichen Gebilden ist verschieden
groß, in diesem Falle zunächst auffallend klein.
Bei einer anderen Frage ist die Kenntnis des Fiktionalen
von grundsätzlicher Bedeutung. Die Ablehnung der Homöopathie
wird in einer Weise betrieben, die m. E. den diesbezüglichen
Fragen meist nicht an entscheidender Stelle begegnet. Die Grund-
these der Homöopathie ist diese: Die Reaktionen des Organismus
auf pathologische Reize sind zweckmäßige, also heißt heilen,
diese Reaktionen steigern. Zweckmäßigkeit ist indessen kein Be-
griff, der in der Wirklichkeit nachzuweisen ist. Er ist ein Begriff
des reinen Denkens, der Kernbegriff des Fiktionalen. Wenn man
eine Funktion zweckmäßig nennt, so unterlegt man ihr willkürlich
etwas, was ihr durchaus fremd ist. Zweckmäßig bzw. unzweck-
mäßig sind unsere Gedanken, niemals aber Tatsachen. Die wissen-
schaftliche Kritik der Homöopathie hat also derart vorzugehen^
daß sie beobachtend und experimentell Zustände und Vorgänge
des Organismus zu erfassen versucht. Dabei wird sich erweisen,
ob tatsächlich durch Steigerung pathologischer Prozesse mit Wahr-
scheinlichkeit eine Abnahme derselben zu erreichen ist, d. h. ob
die Fiktion zweckmäßig ist, die krankhaften Reaktionen als Heil-
faktoren aufzufassen. Dieser Beweis scheint nicht möglich zu
sein. Danach müßte jene Fiktion als eine unzweckmäßige für
unser wissenschaftliches Denken fallen gelassen werden. Sie wäre
einer unwissenschaftlichen Fiktion gleich.
Solche unwissenschaftliche Fik-tionen werden auch Speku-
lationen genannt. Da jedes Denken bis zu einem gewissen Grade
der Spekulation vermittelst Phantasie bedarf, so muß also prin-
zipiell das wissenschaftliche Denken durch einschränkende Be-
stimmungen in seinem fiktionalen Teile begrenzt werden. Wie
dies möglich ist, soll in der Darlegung über Zustands- und Vor-
gangsforschung für die Medizin versucht werden. Diese Darlegung
wird den Nachweis führen, wie sich das Denken in der Wissen-
schaft an die Tatsachen (Zustände und Vorgänge) binden muß.
Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen dafür, daß
jedesmal, wenn diese Bindung gelockert oder gelöst wurde, die
Spekulation überwucherte.
Die Bedeutung des fiktionalen Denkens für die medizi nische Wissenschaft. 2 O I
Es ist notwendig, noch eine wesentliche Fiktion des medizinisch-
wissenschafthchen Denkens aufzuführen. Das ist der Mechanismus
als Anschauungsform alles Geschehens. Die mechanistische Auf-
fassung hat sich als sehr zweckmäßig erwiesen. E^ steht zu wün-
schen, daß sie konsequent auf allen Gebieten durchgeführt wird.
Es ist nun interessant, zu sehen, daß sich vor allem in der Psy-
chiatrie, aber auch, wie erwähnt, in der inneren Medizin eine
Bewegung geltend macht, die neben dem Mechanismus noch
andersartig gestaltete Funktionen kennt. Man versucht, das Seelen-
leben dem Mechanismus der festen Masse zu entziehen und eigenen
Gesetzen, vor allem der Teleologie, folgen zu lassen. Dies erscheint
mir durchaus nicht unmöglich. Nur schließt es jenes nicht aus.
Daß der Mechanismus tatsächlich manches Problem des Orga-
nischen nicht vollständig und befriedigend aufklärt, das zeigen
die ernsthaften Versuche der Vitalisten, diesem Mangel abzu-
helfen. Diese Versuche gelingen freilich nicht; denn der Vitalismus
ist der Versuch, mechanistische und teleologische Anschauungs-
weise vollständig zur Deckung zu bringen. Das ist unmöglich,
da beide von verschiedenen, wie mir scheint, gleicherweise be-
rechtigten Voraussetzungen ausgehen. Der Vitalismus in dieser
Form ist sogar wissenschaftlich unzweckmäßig, d. h. eine leere
Spekulation, da er das noch Unerforschte lediglich durch eine
Benennung, z. B. Lebenskraft, Dominante, meint sachlich ge-
klärt zu haben. Es mischt sich in ihm Tatsächliches und Fiktionales,
letzteres als solches unerkannt, zu einer Einheit. Das muß Un-
klarheit mit sich bringen. Die Vitalismuslehren sind typische
unwissenschaftliche Fiktionen, wie sie die Spekulationen der
früheren Medizin darstellen; sie sind unzweckmäßig, lassen sich
deshalb als wissenschaftliche Annahmen nicht rechtfertigen.
Die von uns gegebenen Darlegungen des fiktionalen Denkens
in der Medizin bedingt nun freilich folgenden gewichtigen Um-
schwung in dem gesamten Wissenschaftsbetriebe: durch Denken
ist keine absolute Wirklichkeitswahrheit zu gewinnen. Unser
Denken gestaltet die zu erkennende Welt um. Jede Erklärung
enthält ein ,,als ob", d. h. die Annahme, als ob das Objekt durch
die gegebene Gedankenform erklärt werde. Und doch kommt
das Denken nur immer bis zu einem gewissen Grade der Wirk-
lichkeit nahe. Das Reich der Gedanken bietet die Möglichkeit
unendlich vieler ideeller Zuordnungen, das Reich der Tatsächlich-
keit lediglich eindeutig bestimmte Verhältnisbeziehungen.
202 Carl Cocrper: Die Beclcutunj^ des fiktionalen Denkens f. d. med, Wissenschaft,
Diesen Unterschied zu machen, lehrt die Erkenntnis des
fiktionalen Einschlages unseres Denkens.
Noch weiter führt das Fiktionale : es ermöglicht, was mir
überaus wichtig erscheint, die Trennung der Weltanschauungs-
fragcn von den Fragen der exakten Wissenschaft. Es ist hier
nicht der Ort, das nachzuweisen. Der Mediziner kann die ver-
schiedensten allgemeinen Weltanschauungen vertreten. Die Welt-
anschauung kennzeichnet ihn als Arzt und Mensch. Als Mediziner I
aber hat er die Begrenzung und Einseitigkeit des wissenschaft-
lichen Betriebes mit dem Verzicht auf absolute Wahrheit zu er-
tragen. E^ würde scnr viel Kraft, die der Tatsachenforschung
nottut, gespart werden, wenn man sich darüber klar wäre, was
an der Wissenschaft lediglich fiktional ist. In diesem Sinne be-
rührt die Erkenntnis des Fiktionalen wie eine Befreiung für die
Wissenschaft.
Die Philosophie hat oftmals die Medizin in ihre metaphysische,
ontologische Fessel geschlagen. Die Philosophie des Fiktionalen
zerstört diese metaphysischen Formen und eröffnet gangbare Wege
zu einer Erkenntnis, die sich, wenn auch nicht als absolute, so
doch als brauchbare erweist. Eine derartige Erkenntnis ist dem
Tatbestande nach heute das Ergebnis aller unserer Arbeit. Was
bleibt, sind die Ergebnisse der Zustands- und Vorgangsforschung.
Diese Forschungsform liegt für die Medizin in der Richtung dessen,
was man ,,das quantitative Denken" (Krehl) genannt hat. Den
Weg zu diesem bleibenden Wertvollen eröffnet aber die Erkenntnis
des Fiktionalen, die bewußte Benutzung dieser bisher noch nicht
entdeckten Denkform.
Das „Als-Ob" in Molekularphysik.
Von
Dr. Otto Lehmann,
Geheimer Rat, Professor der Physik an der Technischen Hochschule in Karlsruhe.
I nhaltsübersicht.
Verstehen oder Begreifen eines Vorganges bedeutet die Fähigkeit, ihn in Ge-
danken sich abspielen zu lassen. Verständliche Beschreibung erfordert deshalb
Angabe von wirkenden Wesen, welche durch ihre Kräfte die Erscheinung hervor-
bringen, an deren Stelle wir in Gedanken unsere Person setzen können, deren
durch Muskeln ausgeübte Wirkung wir als Kraflleistung empfinden. Weil uns
unser Ich dabei als etwas Unteilbares erscheint, erfordert deshalb Erkenntnis
des , .Wesens" der Erscheinungen Annahme von ,, Individuen" oder ,, Atomen"
als Urheber derselben.
Auch das durch eine Kraft Bewegte kann nur gedacht werden als Aggregat
von mit Trägheit (Masse) begabten Atomen, weil wir beim Versuche, unseren
Körper zu bewegen, dessen Widerstand als Trägheit empfinden.
Im Grunde sind deshalb die Atome Phantasiegebilde, gewissermaßen Nach-
folger der Dämonen des Altertums, aber ohne Bewußtsein und ohne freien Willen.
Ihre Beseitigung aus der Wissenschaft wäre dieses h>-pothetischen Charakters wegen
erwünscht; doch zeigt das Beispiel der Lösung von Mischkristallen, daß bei Ver-
zicht auf die Atomh>-pothese nicht nur die Verständlichkeit der Beschreibung auf-
hören würde, sondern überhaupt deren Möglichkeit, da alsdann der Wortschatz
der Sprache unzureichend wäre und unendlich viele neue Worte ersonnen
werden müßten.
Setzen wir die Existenz von Atomen voraus, so müssen wir, um die Erschemungen
der leblosen Natur deuten zu können, ihre Zahl pro Kilogramm zu l,M-640 Qua-
drillionen annehmen, wenn A das Verhältnis des Gewichts eines solchen Atoms zu
dem eines Wasserstoffatoms bedeutet. Wir müssen ferner jedem Atom je nach
seiner Art einen mehr oder minder komplizierten Aufbau aus zum Teil mit rasender
Geschwindigkeit kreisenden Elektrizitätsatomen (Elektronen) zuschreiben, umgeben
von elektrischen, magnetischen und anderen Kraftfeldern, deren Grenze bestandig
mit 300 Millionen Meter pro Sekunde Geschwindigkeit in den leeren Raum hinaus-
eilt und die sich gegenseitig durchdringen, ohne sich irgendwie zu stören, soweit
sie nicht mit Elektronen zusammentreffen.
Erklärung der Erscheinungen in der belebten Natur erfordert ferner nach
der einfachsten, der monistischen Theorie, daß wir den Atomen, also auch den
Elektronen und Kraftfeldern unveränderliche seelische Eigenschaften wie Emp-
findung, Erinnerung und Willen zuschreiben, wobei diese Fähigkeiten sich
in außerordentlichem Maße steigern, wenn die Atome in geeigneter Weise in Ver-
bindung treten. Diese seelischen Tätigkeiten von Atomverbänden müßten wieder
neue Empfindungen und Vorstellungen erwecken, wie die des selbstbewußten
und zielbewußten Handelns, ähnlich wie Luftwellen die Empfindung Schall und
elektromagnetische Wellen die Empfindung Licht hervorbringen können. Die
204 Otto Lehmann:
scheinbare Zweckmäßigkeit der Gestaltung und der Tätigkeit bei Lebewesen wäre
lediglich die Folge zwecklos wirkender Ursachen, worunter die Erinnerung an frühere
Lust- und Unlustgefühle und die dadurch geweckten Reflexe, sowie die Vererbung
erworbener Eigenschaften eine besondere Rolle spielen.
Nach der dualistischen Theorie ist die Seele ein neben dem Stoff bestehendes
Wesen, welches freilich keine Masse besitzen, doch aber Kräfte ausüben soll, wenn
auch nur zur Auslösung von Energieumwandlungen, in Widerspruch zu den Natur-
gesetzen. Zudem soll sie willkürlich eingreifen zur Erreichung eines Zweckes,
während den Naturgesetzen zufolge alles aus Ursachen zwecklos geschehen
müßte. Nach Glaubenslehren besitzt im besonderen der Mensch noch außerdem
eine unteilbare^ unveränderliche, unsterbliche, mit Vernunft begabte
Seele, welche für ihre Handlungen verantwortlich ist.
Auch bei Annahme aller dieser Voraussetzungen der einen oder anderen Theorie
bleibt uns doch ein Begreifen der gesamten Welt versagtj denn wir können weder
unendlich Großes noch unendlich Kleines in Gedanken erfassen, weil solches
endlose Abänderung der Vorstellung, also unendlich lange Zeit erfordern würde.
Glücklicherweise ist für die Zwecke der Naturwissenschaften solches Ver-
stehen des , .Wesens" der Erscheinungen und Begreifen des ,, ganzen" Weltgeschehens
durchaus unnötig. Dem Biologen z. B. würde genügen, nachzuweisen, daß ein
Lebewesen künstlich aus flüssigen Kristallen aufgebaut werden kann, gleichgültig,
ob wir imstande sind, deren Eigenschaften aus ihrer atomistischen Zusammensetzung
abzuleiten oder nicht, ob wir den Atomen eine Seele zuschreiben und ob wir dieselben
selbst wieder als Welten aus kleineren Atomen denken und diese aus noch kleineren
in infinitum. Physikalische Berechnungen können bei Systemen, welche sowohl
nach der Seite des unendlich Großen wie des unendlich Kleinen abgegrenzt sind,
immer durchgeführt werden und erfordern nicht einmal Kenntnis aller Teile, ja
diese können durch andere ersetzt gedacht werden, so wie der ,, Kalkulator" die
wirklichen Dinge, die er abzählt, durch Steinchen ersetzt. Das Zählen ist ein auf
Erinnerung beruhender Vorgang in den Organen des Gehirns, der sich immer in
gleicher Weise abspielen muß, da diese dieselben bleiben. Im Falle die Beschrei-
bung ohne Atome zu unendlich vielen Gleichungen führen, also unmöglich würde,
kommt der Molekularphysiker über die Schwierigkeit mit Leichtigkeit hinweg, in
dem er sich so ausdrückt, die Vorgänge verlaufen so, ,,als ob" Atome existierten.
Durch Studien über die Beziehungen zwischen den Eigen-
schaften kleinster Kristalle und niedrigster Lebewesen, mit welchen
ich mich bereits 1872 beschäftigte [wesentlich angeregt durch
E. Haeckels Schriften über die Beziehungen zwischen lebloser
und belebter Materie^)], war ich dazu geführt worden, den Versuch
einer möglichst einwandfreien, auch die einschlägigen Erschei-
nungen bei Organismen behandelnden Darstellung der Molekular-
physik zu machen, die sich hauptsächlich auf eigene Prüfung der
Vorgänge mittels meines speziell dazu konstruierten Kristalli-
sationsmikroskops ^) stützen sollte. Der Versuch fiel in eine Zeit,
') Siehe z.B. E. Haeckel, Die Radiolarien, 1862; Beiträge z. Gesch. der
Hydromedusen, 1865; Generelle Morphologie der Organismen, 1866; Natürliche
Schöpfungsgeschichte, 1868; Jenaische Zeitschr. f. Naturw. 4, 64, 1868 (11. 6, 23,
1877); Zur Entwicklungsgeschichte der Siphonophoren, 1869; Studien über Moneren
und andere Protisten, 1870; Das Leben in den größten Meerestiefen, 1870; Die
Kalkschwämine, 1872.
') (). Lehrnann, Das Kristallisationsmikroskop, Braunschweig 1910.
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 20t;
als durch Cl. Maxwell^) und G. Kirchhoff 2) als Hauptaufgabe
der Physik hingestellt war, die Erscheinungen ex£ikt zu beschreiben
und zu berechnen, unter tunlichster Vermeidung aller unsicheren
Hypothesen, wozu in erster Linie die Molekularhypothese gerechnet
wurde. Mein Buch Molekularphysik^) strebte deshalb eine rein
phänomenologische Beschreibung der Molekularerscheinungen an,
unter völliger Vermeidung der Zuziehung von Molekularhypothesen;
selbst das Wort ,, Molekül" findet sich erst in einem kleinen Schluß-
kapitel, welches der Vollständigkeit wegen auch die Deutung der
Erscheinungen durch Molekularhypothesen erwähnt, d. h. die Ver-
suche, in das ,, Wesen der Naturerscheinungen" einzudringen.
Die Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft
und seinen Ansichten über Mathematik und Naturwissenschaften
sowie mit F. A. Langes Geschichte des Materialismus im Jahre 1874
(auf Veranlassung meines Lehrers Laas) mochte gleichfalls die
große Vorsicht Hypothesen gegenüber veranlaßt haben*), ohne
daß ich mir dessen bewußt wurde, da ich es sonst in dem Buche
Molekularphysik erwähnt hätte.
In meiner Antrittsrede bei Übernahme des elektrotechnischen
Lehrstuhls an der technischen Hochschule in Dresden 1888^) habe
ich die Atome als Nachfolger der alten Naturgottheiten, als Ge-
bilde unserer Phantasie behandelt, die wir uns selbst schaffen,
um die Naturerscheinungen begreifen oder verständlich be-
schreiben zu können.
Während noch H. Hertz an der von H. Helmholtz^) be-
gründeten Auffassung festhielt, auch die elektrodynamischen Vor-
gänge könnten mechanisch gedeutet, also begreiflich beschrieben
^) Cl. Maxwell, A treatise on electricity and magnetism, 1873.
*) G. Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, Leipzig, Teubner
1876. Ähnlich zuvor E. Mach, später W. Ostwald.
») O.Lehmann, Molekularphysik, Bd. i, 1888; Bd. 2, 1889.
*) Siehe H. Vaihinger, Die Philosophie des ,. Als-Ob", Berlin 1911, Vorwort
S. VII; Das Atom als Fiktion, S. lOi; Das Ding an sich, S. 109; Die Fiktion der
Kraft, S. 376; Naturkräfte und Naturgesetze als Fiktionen; Die Atomistik als
Fiktion, S. 429; Kants Gebrauch der Als-Ob-Betrachtung, S. 613. Nach Kant
(Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 471) ist das Dasein von Atomen eine „kosmo-
logische Idee". Nach Lange (Beiträge 51) sind Atome Mittel empirischer Natur-
betrachtung und Orientierung.
5) 0. Lehmann, Die Frage nach dem Wesen der Naturerscheinungen, Natur\r.
Rundschau 4, 53, 1888.
•5) Siehe O.Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 26, 102, Anm. i, 1916,
u. ebenda XVII. Nachdem Rob. Mayer bewiesen hatte, daß die Wärme eine
2q5 Otto Lehmann:
werden*), kamen andere zu dem Ergebnis, die prinzipielle Un-
möglichkeit solcher Deutung lasse sich streng beweisen^), ja, man
müsse umgekehrt die Mechanik auf die Theorie der Elektrizität
und des Magnetismus begründen.^) Ich selbst nahm Anstoß an
mechanischer Deutung der elektrischen Erscheinungen wegen der
Notwendigkeit der Beiziehung der Atomhypothese.*) Einige Stellen
jener Schrift mögen hier zur Klarstellung wörtlich wiedergegeben
werden. Unter Hinweis darauf, daß uns das Wesen von Elek-
trizität und Magnetismus völlig rätselhaft ist, wird bemerkt:
,,Wohl kann man sagen, daß die Beschreibung der Erschei-
nungen, wenige Punkte abgerechnet, eine sehr vollkommene ge-
worden ist, daß uns die mathematische Verarbeitung des empirisch
gewonnenen Stoffes in den Stand gesetzt hat, mit aller Präzision
im gegebenen Falle auszusagen, was vorgeht, w^as geschehen ist
und geschehen wird — allein dennoch fehlt uns etwas, wir ver-
missen etwas, wir sind nicht befriedigt, alles ist seltsam, fremd-
artig, wunderbar.
Und in der Tat, wie sollte uns eine einfache trockene, wenn
auch noch so exakte Beschreibung völlig befriedigen können, be-
sitzen wir doch nicht allein die Fähigkeit, Naturerscheinungen
w^ahrzunehmen, sondern nicht minder die W'eitere wichtige
Fähigkeit, sie durch eigene Kraft hervorzurufen!
Ich bin imstande, durch die Kraft meines Armes Körper in
Bewegung zu versetzen, ich bin imstande. Schall, Licht, Wärme,
Form von Bewegung ist, versuchte H. Helmholtz gleiches auch für andere Energie-
formen, insbesondere für die elektrische und magnetische Energie, zu beweisen und
sein Schüler H. Hertz bezeichnete es geradezu als die Aufgabe der Physik,
diese und andere rätselhafte Energieformen auf verborgene unsicht-
bare Bewegungszustände zurückzuführen. Ähnlich Kelvin u. Boltz-
mann.
1) Siehe auch A. Korn, Phys. Zeitschr. 18, 323, 341, 504, 539, 581, 191?;
19, 10, 201, 234, 1918; G.Helm, ebenda 18, 456, I9i7-
2) H. Witte, Phys. Zeitschr. 7, 779, 1906; Ann. d. Phys. 26, 235, 1908; 32,
382, 1910; Elektrotechn. Zeitschr. 1909, Heft 48.
3) \V. Ostwald, Zeitschr. phys. Chem. 18, 305. 1895; W.Wien, Ann. d.
Phys. 5, 507, 1901; G. Mie, Moleküle, Atome, Weltäther, 3. Aufl. 1911; Physik.
Zeitschr. 18, 551, 574,596, 1917; P. Debye, Sitzb. d. Münch. Akad. 191 5 ;W. Nernst,
Ber. d. D. Phys. Ges. 18, 83, 1916.
*) Über die Einführung des ,, Elektrons" siehe mein Buch ,,Die elektrischen
Lichterscheinungen", Halle 1898, 518 u. ff.; R. A. Millikan, Ann. d. Phys. 60,
729, 1916; dagegen F. Ehrenhaft, Phys. Zeitschr. 18, 352, 1917, Ann. d. Phys.
56, I, 1918; L. Flamm, ebenda, 515; J. Parankiewicz, ebenda, 567.
Das ,,Als-Ob" in Molekularphysik. 207
ja selbst Elektrizität und Magnetismus zu erzeugen — , was aber
immer der Erfolg meiner Tätigkeit sein mag, stets habe ich davon
die gleiche Empfindung, die einer Muskeltätigkeit, einer Kraft-
leistung; direkte Erzeugung irgendeiner anderen Energie-
form als Bewegung ist uns versagt.
Darum ist es uns auch ganz unmöglich, als Ursache einer
Naturerscheinung etwas anderes zu denken als eine Kraftleistung
— nur als Wirkung von Kräften sind Naturerscheinungen für
uns begreiflich.^)
Den Gang eines Uhrwerkes, die Tätigkeit der Maschinerie
einer Fabrik, eines Bergwerks haben wir dann und nur dann be-
griffen, wenn wir imstande sind, jedes beliebige Glied der Kette
durch unser eigenes Ich zu ersetzen, wenn wir die Wirkung, die
es ausübt, durch die Kraft unserer Gliedmaßen, die luftverdichtendc
Kraft unserer Lungen, wenn nicht in Wirklichkeit, so wenigstens
doch in der Einbildung hervorzubringen vermögen.
Und wenn wir diesem Gedanken weiter nachgehen, so wird
sofort ein Zweites klar. Eine Kraft allein genügt uns ebenfalls
nicht zum Verständnis der Naturerscheinungen, es muß auch
irgend etwas, ein Ding, ein Individuum da sein, welches die Kraft
ausübt, sowie ich es bin, der die Kraft ausübt, wenn ich einen
Körper in Bewegung setze. Nur als Willensäußerungen von Indivi-
duen, von Wesen, die ebenso unteilbar sind, wie unser eigenes
Ich, werden Naturerscheinungen begreif lieh. 2)
Im Altertum waren es Naturgottheiten, Dämonen, welche
1) Hier könnte die Stelle aus meiner Schrift: Flüssige Kristalle und die Theorien
des Lebens, 2. Aufl., Leipzig, Barth 1908, S. 6, eingefügt sein: ,,Ein Knabe betrachtet
staunend die Arbeit eines Schmiedes. Er wird versuchen, sie zu begreifen. Wann
hat er sie vollkommen begriffen ? Dann, wenn er in der Lage ist, sich wenigstens
in Gedanken an die Stelle des Schmiedes zu stellen und durch die Muskelkraft seines
eigenen Armes das Eisen in gleicher Weise zu formen." Ausführlicher in J. Frick
und O.Lehmann, Physik. Technik 7, Aufl. I (2), 631, 1903. VöUig anders muß
natürlich das ,, Begreifen" aufgefaßt werden nach E. Mach, G. Kirchhoff usw.;
nämlich als Unterordnung des Einzelfalles unter einen allgemeinen ,, Begriff". So
begriff H. Hertz das Licht als eine elektromagnetische Wellenerscheinung. Siehe
H. Helmholtz, Vorl. über theoret. Physik 1, 1; J. Petzoldt, Handwörterb. d.
Naturw. 7, 82, 1912.
*) Wenn der Bogenschütze einen Pfeil abschießt, löst er dessen Bewegung
nur aus. Ebenso, wenn unser Wille die Muskelkraft betätigt, löst er Umsetzung
chemischer Energie in Bewegungsenergie aus. Dabei kommen zum Teil dieselben
Gehirnorgane in Tätigkeit wie bei der Wahrnehmung. Die Auslösung beruht auf
molekularen Bewegungen.
2o8 Otto Lehmann:
man sich als Träger der Naturkräfte dachte, bis zu gewissem Grade
mit freiem Willen begabt, doch nur innerhalb eng umschriebener
Grenzen mächtig. Je weiter die Naturerkenntnis durch Beob-
achtung und Experiment voranschritt, um so enger wurden die
Schranken, die der Willkür der Dämonen gesetzt wurden, um so
größer auch deren Anzahl, und heute können wir ihnen auch nicht
das mindeste Maß von Willensfreiheit mehr zuerkennen, sie ge-
horchen unabänderlichen Naturgesetzen, unerbittlicher Notwendig-
keit, und ihre Zahl ist Legion. Sie heißen auch nicht mehr
Dämonen, Götter, sondern Atome, welcher griechische Ausdruck
genau dasselbe bedeutet, wie das lateinische Wort Individuum,
ein Ding, was sich ebensowenig teilen läßt, wie unser eigenes Ich."
Nicht minder denn als Urheber der Bewegungserscheinungen
sind die Atome nötig zu deren Verständnis als das Bewegte.
Ebenso wie ich meinen eigenen Körper, mich selbst bewege, ver-
mag ich eine andere Person oder eine Sache ^) bewegen, an deren
Stelle ich mein eigenes Ich gesetzt denken kann, auch wenn es sich
nur um einen Massenpunkt handelt. Beschreibung eines Bewegungs-
vorganges ohne Angabc dessen, was sich bewegt, ist unmöglich.
Unsere Empfindung lehrt, daß dem Bewegten, also dem aus
Atomen bestehenden Stoff^), Trägheit zukommt, daß die Körper
ihren Zustand der Bewegung (oder der Ruhe) nicht ändern, falls
wir nicht eine Muskelanstrcngung (Energieumwandlung) betätigen,
die uns das Gefühl einer Kraftleistung erzeugt. Zum erstenmal
AÄOirde dieser Zusammenhang klar ausgesprochen durch Galileis
Trägheitsgesetz, welches aussagt, der Bewegungszustand eines
Körpers bleibe immer erhalten, bis eine Kraftwirkung eintritt.
Dieser Satz ist der Ausgangspunkt geworden zu Robert Mayers
,, Gesetz der Erhaltung der Kraft ".^)
*) Elektrizität, Licht und andere Energieformen gelten dem Juristen nicht
als Sachen, weil er unter Sachen Dinge versteht, die man berühren kann, die
undurchdringlich sind, weshalb früher, ehe ein besonderes diesbezügliches Gesetz
(Reichsges. v. 9. April 1900) geschaffen war, der Diebstahl von Elektrizität (rich-
tiger elektrischer Energie) nicht bestraft werden konnte, da nach § 242 des Straf-
gesetzbuchs nur Sachen gestohlen werden können.
^ Nach den neueren Forschungen auch der Elektrizität und den elektrischen
und magnetischen Kraftfeldern, also dem Licht; vgl. A. Einstein, Kultur der
Gegenwart III (3), Bd. i, S. 703, 1915; Ann. d. Phys. 49, 769, 1916. 0. Lehmann,
Nullpunktsenergie u. Gravitation, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 26, 129, 1916.
') Siehe 0. Lehmann, Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer, Verh.
d. Karlsr. nat. Ver. 26, 83, 1916.
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 20Q
Vermöge seiner Trägheit kann ein bewegter Körper, (z. B.
eine Kanonenkugel, das auf ein Wasserrad treffende bewegte
Wasser usw.) scheinbar selbst eine Kraft (Stoßkraft) ausüben.
Während aber wahre Kräfte (wie unsere Muskelkraft, die Kraft
einer gespannten Feder usw^) immer zwei Angriffspunkte haben,
wobei Wirkung und Gcgenwirl-aing einander gleich sind, kommt
solchen Trägheitskräften, zu welchen auch die Zentrifugalkraft,
der Gasdruck, der Lichtdruck usw. gehören, anscheinend nur ein
Angriffspunkt zu.^) In W^irklichkeit ist (z. B. beim Zusammen-
stoß elastischer Kugeln) nicht die Bewegung die Kraft, sondern
die durch diese hervorgebrachte elastische Reaktion der defor-
mierten Kugeln, ein Spannungszustand, welcher an Stelle des
Bewegungszustandes getreten ist und wieder solchen erzeugen,
d. h. ,, Arbeit leisten" kann. Ohne Zusammenstoß würde nach
Galileis Trägheitsgesetz die Bewegung erhalten bleiben. Infolge
des Zusammenstoßes geht sie in Spannung oder Kraft über, kann
aber aus dieser in unveränderter Menge zurückerhalten werden,
so daß die Kraft nur als eine andere Form der Bewegung erscheint
und Galileis Satz in Robert Mayers Satz von der Erhaltung
der Kraft übergeht. Richtiger sagt man nach heutigem Sprach-
gebrauch, Bewegungsenergie kann sich in Kraftenergie ^)
verw^andeln und umgekehrt, denn das Wort ,, Kraft" bedeutet
auch anderes, z. B. den ,, Intensitätsfaktor der Kraftenergie", den
wir bei unserer Muskelanstrengung schätzen nach dem ,,Kraft-
geführ*, welches entsteht durch Nervenreizung infolge des Ver-
brauchs an chemischer Energie. Die Höhe des letzteren pro
Sekunde ist aber nicht allein maßgebend, für die Empfindung, diese
hängt auch ab von dem Ernährungs-, Ermüdungs- und Gesund-
heitszustand unserer Muskeln und Nerven, sowie von psychischen
Vorgängen, welche uns die Tätigkeit mehr oder weniger erwünscht
sein lassen, auch gibt es dafür ebenso wie für andere Empfindungen
keine Methode absoluter Messung.
Galilei hat zuerst gelehrt, wie sich dieser Intensitätsfaktor
der Kraftenergie, von ihm kurz ,, Kraft" genannt, in Zahlen be-
stimmen läßt. Das Mittel dazu bietet sein Superpositionsgesetz:
Wirken zwei oder mehr Kräfte auf denselben Körper, so stören
sie sich gegenseitig nicht (d. h. die Kraftenergien addieren sich
algebraisch). Demnach sind zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte
1) Siehe J. Frick und 0. Lehmann, Phys. Technik, 7. Aufl. 1(2), 665, 1905.
^) Dieses Wort benutze ich als deutsche Bezeichnung für ,, potentielle Energie".
Annalen der Philosophie. I. H
2IO Otto Lehmann:
gleich Stark (ihre Intensitätsfaktoren sind gleich), wenn sich ihre
Wirkungen aufheben, d. h. wenn Gleichgewicht besteht.^) Zwei
gleiche Kräfte von gleicher Richtung wirken wie eine Kraft von
doppelter Größe usw. Hiernach fällt es nicht schwer, einen Kraft-
messer (Dynamometer, Federwage) zu eichen, nachdem eine Kraft-
einheit festgesetzt ist, wozu die Stärke der Kraft dienen kann,
durch welche die Masse i kg in der Sekunde einen Geschwindigkeits-
zuwachs von I m pro Sekunde erhält, die ,,Dezimegadyne'* oder
das „Kop".2)
Auch die Größe der ,, Masse" eines Körpers kommt uns zu-
nächst nur durch das Gefühl zum Bewußtsein. Unser Wille, der
die Energieumwandlung bei der Muskeltätigkeit auslöst, begegnet
einem Hindernis, das wir als ,, Trägheit" des Körpers auffassen.
Bewegen wir nicht unseren eigenen, sondern einen fremden Körper,
wozu Berührung desselben nötig ist, so läßt uns das ,, Tastgefühl",
die Empfindung, welche die Deformation der Nervenendigungen
in dem bewegenden Gliede (richtiger die dadurch hervorgebrachte
Störung ihrer Molekularstruktur) hervorbringt, die Größe der
Trägheit oder der ,, Masse" des Körpers schätzen. Galilei hat
gefunden, wie auch die Masse in exakter Weise gemessen werden
kann. Betrachtet man l kg als die Masse von I Liter Wasser, so
haben 2, 3, 4 . . . Liter Wasser naturgemäß die Massen 2, 3,
4 . . . Kilogramm. Wie groß aber die Masse eines Liters Petroleum
oder eines Liters Quecksilber wäre, ist nicht ohne weiteres zu er-
kennen. Nach Galilei und Newton ist nun für dieselbe Masse
die Beschleunigung der Kraft proportional, für dieselbe PCraft bei
verschiedenen gleichartigen Massen umgekehrt proportional der
Masse, so daß somit in diesem Fall, wenn k die Kraft, m die
Masse und g die Beschleunigung bedeuten, k=m-g ist. Weiter
stellte Galilei fest, daß alle Körper gleich schnell fallen, welches
auch ihre Masse sein mag. Daß zwei oder mehr verbundene Kilo-
gramme aus gleichartigem Stoff, z. B. Eisen, ebenso schnell fallen,
^) Sie leisten aber nicht Arbeit (wie etwa die Schwere bei Beschleunigung
eines Körpers) ohne sich zu stören, denn die tatsächliche Verschiebung des Angriffs-
punktes ist Null, nicht gleichzeitige Verschiebung nach entgegengesetzten Rich-
tungen, welche doppelte Arbeit bedingen würde.
*) Siehe J. Frick und O. Lehmann, Phys. Technik I (2), 734; 0. Lehmann,
Zeitschr. f. Instrumentenkunde 1913, 279. Neuerdings ist in Frankreich statt dieses
Mcter-Kilogramm-Sekundcnsystems das Meter-Tonnen-Sekundensystem gesetzlich
eingeführt worden in welchem die Krafteinheit 1000 mal so groß ist, somit als ,,Hekto-
nicgadyne" zu bezeichnen wäre oder als Sten entsprechend dem französischen Stine.
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 2 I I
wie jedes einzelne, ist selbstverständlich. Wenn ein Stück Blei,
das von der Erde stärker angezogen wird als ein gleichgroßes
Eisenstück dennoch gleichschnell fällt, wie dieses, so kann seine
größere Schwere nicht durch stärkere Kraftwirkung der Erde auf
Blei als auf Eisen erklärt werden, denn in solchem Falle müßte es
schneller fallen, es kann nur seine Masse entsprechend größer sein.
Träge und schwere Masse sind also identisch; die ge-
wöhnliche Wage, durch welche wir direkt nur Kräfte (Gewichte)
vergleichen, eignet sich auch zur Messung der Massen. Freilich
stoßen wir auf Schwierigkeiten, wenn wir etwa das Gewicht einer
gegebenen Elektrizitätsmenge oder eines Lichtstrahls bestimmen
wollten. Indirekt kann man aber ermitteln, daß ein Elektron
(das Elektrizitätsatom = 0,156 Trilliontel Coulomb) 1,56 Quin-
tilliontel Kilogramm wiegt; i cbm Sonnenlicht 53 Quadrilliontel
Kilogramm, die Strahlung, die i qm einer absolut schwarzen
Fläche pro Sekunde bei T-Grad nach absoluter Skala aussendet,
0,59"^* Quadrilliontel Kilogramm.*
Daß zwei verschiedenartige Stoffe, z. B. Wasser und Queck-
silber, bei gleichem Rauminhalt sehr verschiedene Massen haben,
dachte man sich zunächst von dem Standpunkte, es gebe nur eine
Art Stoff, durch verschiedene Porosität bedingt, weshalb die Masse
pro Kubikmeter die Bezeichnung ,, Dichte" erhielt. Die Atom-
hypothese würde eine sehr anschauliche Vorstellung der Dichte
ergeben, wenn man in solcher Art annehmen könnte, alle Atome
seien gleich. Dies ist aber unmöglich, auch den Atomen muß
verschiedene blasse zugeschrieben werden, die abhängig ist von
ihrem Energieinhalt.
Merlovürdigerweise gibt es Körper, deren Dichte stetig von
einem Punkt zum andern sich ändert, z. B. ein an einem Ende er-
hitzter Stab. Auch dies wäre leicht vom Standpunkt der Mole-
kulartheorie zu deuten; ohne diese stößt man aber bei Beschreibung
der Erscheinungen auf Schwierigkeiten. Muß nicht ein solcher
Stab als Aggregat von unendlich vielen Körpern betrachtet werden?
In diesem Sinne habe ich mich notgedrungen in der Einleitung
zu meiner Molekularphysik^) ausgesprochen. Es heißt dort:
„Im Sinne der Molekularphysik ist ein Ding nur dann ein
*) Siehe M.Planck, Vorl. über Theorie d. Wärmestrahlung, 1906; 0. Leh-
mann, Leitfaden der Physik, 1907, 252; A.Einstein, a.a.O.; G. Mie, Elster-
Geitel-Festschrift, 251, 1915; H. Reißner.'Phys. Zeitschr. 16, 179, 1915 "• a.
*) O.Lehmann, Molekularphysik 1, 2, 1888.
14*
212 Otto Lehmann :
Körper, wenn es physikalisch homogen ist, d. h, an judcm Punkte
genau dieselben physikalischen Eigenschaften besitzt. Da, wo die
Homogenität aufhört, befindet sich die Oberfläche des Körpers."
In meiner Antrittsrede bei Übernahme des physikalischen Lehr-
stuhls in Karlsruhe^) bezieht sich darauf folgende Stelle:
,,Fast alle organischen Stoffe sind . . . , wie die mikroskopische
Analyse lehrt, . . . Aggregate sehr kleiner Kriställchen ... Da
sie ... sich im Innern allenthalben gleich beschaffen, homogen
erweisen, so möchte es , . . als passend erscheinen, als einheitlichen
leblosen Körper einen solchen zu definieren, welcher an allen seinen
Punkten vollkommen dieselben Eigenschaften besitzt, so daß,
wenn wir, in Gedanken von einem Punkte im Innern desselben
ausgehend, ohne Unterlaß seine physikalischen Eigenschaften
prüfen, diese sich allenthalben gleich ergeben, bis wir die Ober-
fläche erreicht haben, wo wir in den angrenzenden fremden Körper
eintreten.
So einfach und klar auch diese Definition erscheint, so be-
gegnet sie nichtsdestoweniger den größten Schwierigkeiten.
Jeder, auch der homogenste Körper, gerät bei ungleichmäßiger
Erwärmung oder Pressung in einen Zustand, in welchem seine
Eigenschaften auch nicht längs der kürzesten meßbaren Strecke
konstant bleiben, sondern sich anscheinend von Punkt zu Punkt
ganz kontinuierlich ändern, so daß er nun der Definition gemäß
nicht mehr ein Körper wäre, sondern ein Aggregat unendlich vieler
unendlich kleiner Elemente. Unser Ich vermag sich nun zwar in
Gedanken auf einen sehr kleinen Raum zu konzentrieren, einen
unendlich kleinen Körper können wir uns aber doch nicht vor-
stellen, eben weil der Begriff verlangt, daß wir die Vorstellung, die
wir davon zu bilden versuchen, ohne Ende abändern. Zudem
würde die merkwürdige Umwandlung schon durch die geringste
Änderung der Temperatur und des Druckes hervorgebracht und
ebenso wieder rückgängig gemacht werden können.
Auf eine andere Schwierigkeit stoßen wir bei Betrachtung
der Lösungserscheinungen.
Ein Alaunkristall ist anscheinend homogen, eine Quantität
Wasser, welche etwa in einem Glase enthalten gedacht werden
mag, ebenfalls. Bringen wir beide Körper zusammen, so ver-
schmelzen sie zu einer einzigen, anscheinend ebenfalls homogenen
*) Derselbe, Über die Teilbarkeit der Körper. Die Natur, 1889, Nr. 32.
Das ,,Als-Ob" in Molekularphysik. 2 I 3
Masse, zur sogenannten Alaunlösung. Wie sollen wir uns diesen
Vorgang erklären ? Zwei Menschen können sich nie und nimmer
zu einem einzigen dritten Menschen verschmelzen, darum wird
uns der Vorgang der Lösung stets ebenso unbegreiflich bleiben,
wie der der Kopulation bei niederen Tieren und einzelligen
Pflanzen, falls wir eben Alaun und Wasser als wirklich einheitliche
Körper, als Individuen betrachten.
Was nun aber dem Einzelnen unmöglich ist, gelingt leicht
der Vielheit. Ohne die mindeste Schwierigkeit kann man sich
zwei Vereine oder Staaten zu einem einzigen größeren Vereine
oder Staate verschmolzen denken, und ebenso wird der Vorgang
der Lösung völlig begreiflich, wenn man annimmt, Alaun und
Wasser seien ebenfalls nicht wirklich einheitlich, sondern nur
scheinbar, in der Tat vielmehr Aggregate sehr vieler, sehr kleiner
und ihrer Kleinheit halber unsichtbarer Individuen, von Mole-
külen ....
Betrachten wir eine weitere Erscheinung. Mischen wir eine
Lösung von gewöhnlichem farblosen Thonerdealaun und Lösung
von dunkelviolettem Chromalaun und bringen das Gemenge zur
Kristallisation.
Schon die hellviolette Färbung der prächtigen klaren Misch-
kristalle, noch mehr die Übereinstimmung ihres Gewichtes mit
der Summe der Gewichte der ursprünglich aufgelösten Mengen
beider Alaune macht es wahrscheinlich, daß die Kristalle nicht
homogen sind, sondern Mischungen aus beiden kristallisierbaren
Substanzen. Und doch erscheinen sie auch bei sorgfältigster mikro-
skopischer Untersuchung völlig gleichmäßig beschaffen, müssen also,
wenn wir trotz aller Gegengründe der Definition strenge folgen
wollen, notwendig als einheitliche Körper betrachtet werden.
Die Molekularhypothese würde ebenso wie im ersten Falle
die Schwierigkeiten beseitigen, wir könnten besonders auch be-
greifen, wie es möglich ist, daß bei stetiger Änderung des Mischungs-
verhältnisses der Lösungen während der Kristallbildung Misch-
kristalle entstehen, deren Kern aus dunkelviolettem Chromalaun
besteht, während die umgebende Masse in steigendem Maße ge-
wöhnlichen Alaun enthält und schließlich in der Rindenschicht
in reinen farblosen Thonerdealaun übergeht; Körper also, welche
der Definition gemäß als Aggregate unendlich vieler, unendlich
kleiner Körper betrachtet werden müßten, ähnlich denjenigen,
welche durch Druck oder Wärme ihre Homogenität verloren haben.
21 A Otto Lehmann :
Es Wäre freilich noch näher aufzuklären, inwiefern die Einlagerung
fremder Moleküle, vielleicht von sehr abweichender Form und
Gröl3e, in den durchaus regelmäßigen Kristallbau, ohne denselben
zu stören, möglich ist, zumal wenn wir berücksichtigen, daß die
Teilchen der Erklärung der Wärmeerscheinungen halber in fort-
währender lebhafter Bewegung begi"iffen gedacht werden müssen,
jene Störung der Lagerung also um so größere Folgen nach sich
ziehen muß.
Bedenken dieser Art erscheinen ohne Bedeutung, wenn wir
nach einen Schritt weitergehen und den Vorgang der Lösung
von Mischkristallen in Betracht ziehen, da hier ohne Bei-
ziehung der Molekularhypothese schon die einfache Be-
schreibung der Tatsachen auf Schwierigkeiten stößt.
Tatsache ist nämlich, daß wir durch Lösung eines Alaun-
mischkristalles dieselbe hellviolette Flüssigkeit erhalten, wie
durch ^lischung der dunkelvioletten Lösung des Chromalauns
einerseits und der farblosen des gewöhnlichen Ab uns andererseits.
Wie soll nun diese Flüssigkeit genannt werden, wenn sie wirklich
einheitlich ist: Lösung des Mischkristalls oder Mischung der Lö-
sungen der einfachen Alaune ? Oder soll etwa für sie eine neue,
ganz selbständige Bezeichnung ersonnen und einfach angegeben
werden, daß diese so und so benannte Flüssigkeit auf dem einen
oder anderen Wege zu erhalten ist .?
Scheinbar wäre mit letzterem die Vieldeutigkeit der Be-
zeichnung beseitigt, allein der Mischungsverhältnisse sind eben in
Wirklichkeit unendlich viele, so daß eine einzige neue Bezeichnung
durchaus unzureichend wäre; wir müßten schon zur Beschreibung
dieses einen Faktums unendlich viele neue Namen erfinden,
d. h. die Beschreibung wäre überhaupt unmöglich; wir können
uns ohne Beiziehung der Molekularhypothese über
diesen Fall überhaupt nicht aussprechen!
Hierzu kommt, daß alles Rätselhafte und Unbegreifliche sofort
verschwindet, sobald wir die Hypothese akzeptieren; denn ein
Gemenge verschiedener Körper wird naturgemäß in verschiedener
Weise zu erhalten sein, je nachdem wir seine Bestandteile in
flieser oder in jener Reihenfolge mischen.
Man sieht, wie solcher Art der Physiker, ohne es zu wollen,
einzig geleitet durch Rücksichten auf Möglichkeit der Natur-
beschreibung, in das Bereich der Hypothesen gelangt, zur
Annahme einer beschränkten Teilbarkeit der Materie, d. h. einer
Das ,,Als-Ob" in Molekularphysik. 2 I ij
Zusammensetzung derselben aus Molekülen, welche man physika-
lische nennt, weil speziell physikalische Erscheinungen zu dieser
Annahme nötigen."
Nehmen wir nun die Existenz der Atome an, so ergeben sich,
wie den neueren physikalischen Untersuchungen zufolge mehr
als ein Viertelhundert Methoden, die Zahl der Moleküle in
der Masse l kg zu bestimmen^) — Diese Zahl beträgt etwa
640 Ouadrillionen, dividiert durch das Molekulargewicht der be-
treffenden Substanz — , ja man hat vielfach Anhaltspunkte über
die Feinstnaktur der Atome und die Art ihrer Zusammenlagerung
gewonnen, insbesondere durch das Studium der Erscheinungen
der Radioaktivität, der Spektralerscheinungen und der
Röntgenstrahleninterferenzen in Kristallen, sowie in Flüssig-
keiten.- Auch das Verhalten der flüssigen Kristalle läßt
weitere Schlüsse darüber zu.^)
Kristalltropfen haben übrigens mit Lebewesen das gemein, daß
sie fremde Stoffe nicht oder nur schwer aufnehmen, so daß halb-
be gre n zte Kristalltropfen*J ebensowenig beobachtet werden können,
wie halbbegrenzte Lebewesen. Wohl gehen zwar die leblosen Teile
der Haare, Fingernägel usw. allmählich in die lebenden über, unser
Ich können wir aber nicht nach einer Richtung in leblosen
Stoff allmählich zerfließend denken.
Auch Mischung amorpher Stoffe ist nur denkbar als Mischung
von Atomen, deren jedes scharf begrenzt ist wie unser Ich, wie
schon angedeutet wurde. Freilich ist über die tatsächlichen
Grenzen der Atome sehr wenig bekannt. Nach den Ergebnissen
('er neueren physikalischen Forschung müssen sie gedacht werden
■c !s Aggregate in Bewegung befindlicher Elektrizitätsteilchen,
negativer Elektronen und positiver Archionen, die aber
selbst wieder nur singulare Stellen 5) (Anhäufungen von Kraft-
linienenden) von Kraftfeldern sind, die auch im leeren Räume
1) Siehe 0. Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 25, 41. 1912; 26, 105, 1916.
») Siehe insbesondere P. Debye, Nachr. d. Kgl. Ges. d. Wiss. Göttingen,
27. Febr. 1915; Phys. Zeitschr. 17, 277, 1916; 18, 219, 277, 483, 1917- Nach meiner
Theorie der molekularen Isomerie (Molekularphysik 1, 703, 1888; 2, 443. 1889;
Flüssige Kristalle 1904, 210 usw.) entstehen die Kristalle allerdings nicht direkt
durch Zusammenlagerung von Atomen, wie man aus den Röntgenstrahleninter-
ferenzen geschlossen hat, sondern von Molekülen.
') Siehe O. Lehmann, Die neue Welt der flüssigen Kristalle, 1911, 343 u. ff.
*) Vgl. O.Lehmann, Halbbegrenzte Tropfen, Wied. Ann. 43, 516, 1891.
*) Siehe J. Stark, Atomdynamik, 1, 1910; 2, 1911; 3, 1915; G. Mie 1. c.
2i6 ' Otto Lehmann:
existieren und sich ohne jede Störung gegenseitig durchdringen
können gemäß Galileis Superpositionsprinzip. Die Grenze eines
Kraftfeldes ist nicht fest, sondern schreitet mit der sich stets
gleichbleibenden Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter pro
Sekunde in den Raum hinaus fort. Bei rascher Bewegung der
Elektronen schnüren sich Teile dieser Kraftfelder mit ringförmig
in sich zurücklaufenden Kraftlinien, also elektronenfreie Felder,
ab, welche mit derselben Geschwindigkeit sich immer weiter aus-
breiten und das Wesen der Licht- und Wärmestrahlung, sowie der
Röntgenstrahlung und der elektromagnetischen Strahlung der
drahtlosen Telegraphie ausmachen. i) Gegenseitig durchdringen sich
natürlich auch die elektronenfreicn Kraftfelder ohne Störung;
treffen sie aber auf elektronenhaltige, so werden deren Elektronen
in Bewegung versetzt, Kraftenergie wandelt sich in Bewegungs-
energie um und veranlaßt so die ,, Undurchdringlichkeit" der Körper,
sowie auch den sogenannten Strahlungsdruck. Die ,, Masse",
welche bei Berechnung der Bewegungsenergie in letzterem Fall in
Betracht zu ziehen ist, ist bedingt durch die Energie der Kraft-
felder, Das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung
erfordert, daß das stoßende Kraftfeld eine Verzögerung erleidet,
in seinem Fortschreiten aufgehalten wird. Tatsächlich wird ihm
seine ganze Geschwindigkeit, welche 300 Millionen Meter pro
Sekunde beträgt, entzogen, und das halbe Quadrat dieser Ge-
schwindigkeit, multipliziert mit der ,, Masse" des verschwindenden
Kraftfeldes, ergibt die erzeugte Bewegungsenergie, obschon die
Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht eine Geschwindigkeit in ge-
wöhnlichem Sinne ist, d. h. der pro Sekunde zurückgelegte Weg
eines unveränderlichen Körpers, denn das Fortschreiten des
Kraftfeldes beruht auf fortgesetzter Verwandlung von elektrischer
in magnetische Energie und umgekehrt, wobei die neue Energie-
form immer an eine im Sinne der Ausbreitung verschobenen
Stelle zum Vorschein kommt. Sind die Atome aber nur Elektronen
und Kraftfelder, so gilt gleiches auch für die gewöhnhche Bewegung.
Sonnenlicht, welches senkrecht auf eine i qm große, absolut schwarze
Fläche trifft, drückt auf diese mit einer Kraft von 4,65 Millionstel
Dezimegadynen. Licht, welches im leeren Räume auf einen Spiegel
trifft, übt einen Druck auf diesen aus, so daß er in immer
schnellere Bewegung kommt , bis er gleiche Geschwindigkeit
*) Siehe 0. Lehmann, \irli. d. Karbr. nat. Ver. 26, I, 1914-
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 217
wie der Lichtstrahl erlangt hat, worauf der Dru«ck (und die
weitere Geschwindigkeitszunahme) aufhört. Ist der Spiegel warm,
d. h. strahlt er selber, so fällt die Beschleunigung unter gleichen
Umständen um so kleiner aus, je höher seine Temperatur, er ver-
hält sich so, als ob mit der Temperatur seine Masse größer würde.
Die Masse, die er beim absoluten Nullpunkt besitzt, ist, wie die
jedes anderen Körpers, durch den Bewegungszustand der Elek-
tronen in seinen Atomen bedingt und deren Felder. Sie erscheint
ebenso wie die Schwere als eine Eigenschaft dieser Energien in
den Atomen, welche die Nullpunktsencrgie ausmachen, d. h. der
Energie, die nicht durch den thermischen Bewegungszustand der
Atome bedingt ist, diesen also noch bei Abkühlung bis zum ab-
soluten Nullpunkt verbleiben würde. Die ständige Selbsterwärmung
des Radiums erfolgt auf Kosten dieser Nullpunktsenergie, die
chemische Reaktions- oder Verbrennungswärme ist nach W.
Kernst ebenfalls in Wärme umgewandelte Nullpunktsenergie.
Bei der Ausstrahlung von Kraftfeldern erfolgt diese nicht
gleichmäßig, sondern stoßweise, in ,, Energiequanten", deren Größe
Y * 3 • 10 Joule^) beträgt, wenn A die Wellenlänge der Strahlung
in Metern und h das sogenannte Wirkungsquantum 6,55 • io~^.
Man hat diese Energie quanten wohl auch als ,, Lichtatome"
bezeichnet und den Lichtdruck als ihre Stoßkraft, wie wenn sie
mit der Lichtgeschwindigkeit den Raum durcheilend plötzlich
angehalten oder zurückgeworfen würden, da i Joule eine Masse
von IIOO Trillionstel Kilogramm darstellt, so daß die Stoßkraft
"* • I O
eines Lichtatoms = 0,72 • lO"^^ • ^-y~- Dezimegadyncn wäre, worin
z. B. für gelbes Licht 2 = 0,56 • lO"^ Meter bedeuten würde. Indes
ist ein solches Lichtatom nicht etwas Unveränderliches in dem
Sinne, wie wir ein Atom als etwas Unveränderliches uns vor-
stellen, insofern wir es mit unserem Ich vergleichen, von dessen
Unveränderhchkeit wir überzeugt sind.^)
Nehmen wir nun an, im Laufe der Zeit werde es gelingen.
^) I Joule == Energie bei Arbeit von i Dezimegadyne auf i Meter. Im M-T-S-
System (s. S. 210 Anm. 2) ist die Energieeinheit das Kilojoule und die Leistungs-
einheit das Kilojoule pro Sekunde, kürzer Kilowatt genannt.
*) Die Literatur siehe in O.Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 24, 273,
1912; 26, 129, 1916 und L. Flamm, Physik. Zeitschr. 19, 116, 1918. Bei der
großen Zahl von Atomen, also unbekannten Größen, können nur Mittelwerte sta-
tistisch berechnet werden, z. B. die Temperatur = mittlere Atomenergie.
2l8 Otto Lehmann:
alle Erscheinungen der leblosen Natur auf Grund der Atom-
hypothese zu beschreiben, so bleibt immer noch das große Reich
der Lebewesen. Als deren charakteristische Eigenschaft be-
trachtet man, daß ihre Tätigkeit nicht durch Ursachen be-
stimmt ist, sondern zur Erreichung bestimmter Zwecke aus
freiem Willen erfolgt, z. B. zum Zwecke des Wohlbefindens,
der Selbsterhaltung oder der Fortpflanzung.
E. Haeckel^) hält diesen Unterschied nur für einen schein-
baren, für eine Täuschung, hervorgerufen durch das Übersehen
der inneren Ursachen, welche die Tätigkeit bestimmen, wie
Lust- und Unlustgefühle, Erinnerungen, Hoffnungen usw., hervor-
gerufen durch äußere Ursachen, wie Belohnungen, Bestrafungen usw.,
so daß wir selbst die Handlungen eines Menschen genau voraus-
berechnen könnten, wenn uns Einsicht in alle diese Ursachen und
ihre gegenseitige Abhängigkeit und Wirkung zu Gebote stände.
Daß trotzdem in der Welt des Lebendigen sich kein wirres Durch-
einander zeigte, sondern ein Streben nach Vervollkommnung,
erklärt sich nach den Grundsätzen der Deszendenzlehre durch
Vererbung erstorbener Eigenschaften, Unterliegen der Schwächeren
im Kampfe ums Dasein, ähnlich den Dissoziationen und Asso-
ziationen bei chemischen Gleichgewichten usw., und die schein-
bare Harmonie der Welt ist ebenso eine Folge der ewig gültigen
Naturgesetze, wie etwa die Symmetrie der Kristallformen.
Nach E. Ha eckeis monistischer Theorie sind die Atome aller-
dings beseelt. Eine Erklärung der biologischen Erscheinungen, das
Auftreten von Empfindung, Vorstellung, Gedächtnis, Bewußtsein,
Wille usw. ist nicht möglich auf Grund der einfachen mechanischen
und elektromagnetischen Sätze der Physik, da diese solche Begriffe
gar niciit enthalten und aus mathematischen Deduktionen niemals
< twas qualitativ anderes herausgeholt werden kann, als was man mit
den gemachten Voraussetzungen hineingebracht hat. Wollen wir
1 ns also nicht auf den Standpunkt der gewöhnlichen dualistischen
^) Siehe die auf S. 204 Anni. i zitierten Schriften von E. Haeckel, fernir:
Anthropogenie, 1874; Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte, 1875;
Die Perigenesis der Plastidule, 1876; Das Protistenreich, 1878; Das System der
Medusen, 1880; Monographie der Siphonophoren, 1888; Der Monismus, 1892; Syste-
matische Phylogenie der Protisten, 1894; Die Welträtsel, 1899; Kunstformen der
Natur, 1899; Gesammelte Vorträge über Entwicklungslehre, 1902; Die Lebens-
wunder, 1906; Das Menschenproblem, 1907; Gott-Natur 1914, u. besonders: Kristall-
seelen, Studien über das anorganische Leben, Alfr. Körners Verlag, Leipzig 191 7.
Das ,,Als-Ob'' in Molekularphysik. 2 10
Theorie stellen, welche eine ,, Seele" neben der Materie im be-
lebten Stoff annimmt, die Vorgänge auslösen, also (in Widerspruch
mit dem Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung)
Massen in Bewegung setzen kann, ohne selbst Masse zu besitzen,
die auch willkürlich in den Verlauf der physikalischen Vorgänge
eingreifen, also die Naturgesetze, durch welche der Verlauf der
Erscheinungen bedingt wäre, abändern oder außer Kraft setzen
kann, so bleibt nur übrig, jeder Materie, also auch den Atomen
.eine Seele zuzuschreiben.^)
Frcihch wären auch damit, daß wir ähnlich den Epikureern
die Atome für kleine Lebewesen ansehen, noch nicht alle
Schwierigkeiten beseitigt.
In meiner oben erwähnten Dresdener Antrittsrede schrieb ich:
„Und doch! Wie glänzend auch die Erfolge der Molekular- und
Atomtheorie sein mögen, ganz vermag sie die Erscheinungen nicht
zu erklären. Mögen wir auch annehmen, daß eine elastische Feder
aus zahllosen Molekülen bestehe, welches sind die Organe, ver-
mittelst deren sich die Atome gegenseitig aneinander klammern.?
Wie sollen wir uns bei einer chemischen Verbindung die Atome
vereinigt denken? Besitzen sie Hände und Füße, Fangarme oder
Saugnäpfe, vermittelst deren sie sich gegenseitig festhalten?
1) Siehe auch 0. Lehmann, Die scheinbar lebenden Kristalle, Eßlingen a. N.,
J.F.Schreiber, 1907; Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, 2. Aufl.,
Leipzig, J.A.Barth, 1908; Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig, Akad.
Verlagsges., 1911; Die Lehre von den flüssigen Kristallen und ihre Beziehung zu
den Problemen der Biologie in den Ergebnissen der Physiologie von L. Asher und
K. Spiro, 16, 255—509. 1917 (mit 572 Abb. im Text), auch als Sonderabdruck bei
J. F. Bergmann in Wiesbaden; Die Hauptsätze der Lehre von den flüssigen
Kristallen, Physik. Zeitschr. 19, 73- 88. 191S, eine Zusammenstellung der ganzen
Literatur enthaltend.
Haeckel ging au.^ von Goethes Ausspruch: ,,Die Materie kann nie ohne
Geist, der Geist nie ohne Materie existieren und wirksam sein'* und von den Er-
gebnissen der Zellularpsychologie, gemäß welcher jeder Zelle eines Lebewesens
eine Seele zukommt. Hierdurch gelangte er (Welträtsel, V.-A., 1903, S. 14). zu der
..Überzeugung, daß auch schon den Atomen die einfachste Form der Empfindung
und des Willens innewohnt — oder besser gesagt: der Fühlung (Ästhesis) und der
Strebung (Tropesis) — also eine universale .Seele' von primitivster Art (— noch
ohne Bewußtsein! — )." In der Schrift ,, Kristallseelen", S. 109, spricht er von
Molekülseelen, S. in von Albuminseelen usw. Selbst die Gravitation läßt sich
(s. Lebenswunder, V.-A.. S. 124) „auf die .Massenempfindung' der gegenseitig sich
anziehenden Atome zurückführen" und (S. 125) vermöge seiner ,, Schnellkraft oder
Federkraft reagiert der elastische Metallstab gegen die Druckwirkung der Kraft,
die ihn gebogen hat".
220 Otto Lehmann:
Man hat geglaubt, die Lücke durch die Annahme einer Ferne-
wirkung ausfüllen zu können. Die Erfahrung lehrt in der Tat,
daß eine Wirkung aus der Ferne (scheinbar) möglich ist; wir sehen
einen Stein aus jeder beliebigen Entfernung der Anziehung der
Erde folgen, den Planeten der Sonne, den Trabanten den Planeten,
Alles dies sind indes nur Tatsachen, die auch nicht den Schatten
einer Erklärung bieten, vielmehr selbst einer solchen bedürfen.
Sind wir selbst ja doch niemals anders als durch Berührung zu
wirken imstande, wie sollten wir also die Vorstellung einer unmittel-
baren Wirkung in die Ferne gewinnen können, da uns eine solche
völlig versagt ist!
So hat man denn naturgemäß vielfach versucht, die Tat-
sache der Gravitation durch die Existenz eines Zwischenmediums
zwischen den Wcltkörpcrn, des sogenannten Weltäthers, zu
erklären, und ganz analog die Kohäsion, die chemische Affinität,
die elektrische, magnetische und elektrodynamische Fernwirkung.
Aus denselben Gründen aber, um derentwillen ein Gas notwendig
aus Atomen bestehend gedacht werden muß, muß auch der Welt-
äther notwendig aus Atomen, die wir etwa solche zweiter Ordnung
nennen können, bestehen, und diese Atome müssen sich ganz
ebenso wie die Gasatome in unaufhaltsamer, äußerst lebhafter
Bewegung befinden^), denn direkte Wirkung in die Ferne ist un-
möglich, nur durch Berührung, durch Zusammenstoß, können sie
den materiellen Atomen die Beschleunigungen erteilen, die uns
als Wirkungen der Schwere oder einer der anderen in Frage stehen-
den Naturkräfte erscheinen. "2)
1) Vgl. hierzu L. Zehnder, Ber. d. D. phys. Ges. 18, i8i, 1916.
2) Dazu kommt, daß ohne die Annahme einer Atomstruktur des Äthers die
dielektrische und magnetische Polarisation im Vakuum, die auf Scheidung ent-
gegengesetzter Elektrizitäten bzw. Magnetismen in den Atomen beruhen müßte,
völlig unverständlich bleibt (siehe 0. Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 28,
I, 1916). Nach W. Planck widerspricht die Annahme der Existenz des Äthers
dem Relativitätsprinzip. Nach der mechanischen Wellentheorie des Lichtes sollte
der den leeren Raum erfüllende Äther weit härter als Diamant sein, entsprechend
der großen Geschwindigkeit des Lichtes; nach W. Nernst müßte er bedeutend
schwerer sein als der schwerste bekannte Stoff, um die Nullpunktsenergie zu er-
klären (siehe O.Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 26, 129, 1916). Daß der
leere Raum, durch welchen sich die Himmelskörper bewegen ohne merklichen Wider-
stand zu finden, mit einem so harten oder so schweren Medium erfüllt sein soll, er-
scheint nicht glaubhaft. Die oben erwähnten Versuche, die elektromagnetischen
Erscheinungen durch Bewegungszustände des Äthers zu erklären (V. Bjerkness,
H.Hertz, A. Korn, G. Helm, a.a.O.) beseitigen die Schwierigkeiten nicht.
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 22 1
Nachdem dies als unwahrscheinlich hingestellt ist, fälirt der
Text fort:
. „Mit Recht kann man deshalb fragen, ist denn unsere funda-
mentale Forderung, daß alle Naturerscheinungen uns begreiflich
seien, welche, wie wir gesehen haben, darauf hinauskommt, daß
sie Kraftwirkungen von Individuen unserer Art, von Kräften wie
unsere Muskelkraft seien, zulässig, oder lassen sich nicht viel-
leicht schon hiergegen Bedenken erheben ? . . . Sollten diese
Schwierigkeiten nicht ihren letzten Grund darin finden, daß ganz
allgemein der Begriff der Individualität bei Auffassung der
Naturerscheinungen von uns hineingetragen wird, während er
tatsächlich ganz bedeutungslos ist ? ^)
Auf wie schwachen Füßen die Anwendung des Begriffes der
Individualität bei Ergründung von Naturvorgängen überhaupt
steht, wie völlig subjektiv und unübertragbar dieser Begriff ist,
das zeigt sich sehr deutlich, wenn wir unter Aufrechterhaltung
desselben den Entwicklungsprozeß eines Organismus verfolgen.
Nehmen wir beispielsweise einen ganz einfachen Organismus,
eine einzellige Alge, ein Infusorium, ein Bakterium. Jedes dieser
Wesen hat bekanntlich die Eigenschaft, sich in zwei Teile spalten
zu können, von denen jeder alsbald wieder zur Größe und Form
des ursprünglichen Individuums auswächst. Liegt nicht schon
hier ein vollendeter Widerspruch! Ein Individuum, ein unteil-
bares Wesen, soll die Eigenschaft haben, sich zu teilen? Und
1) Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 671, B 699 sagt: Der psychologischen
Idee gemäß ,, wollen wir alle Erscheinungen, Handlungen und Empfänglichkeit
unseres Gemüts an dem Leitfaden der inneren Erfahrung so verknüpfen, als ob
dasselbe eine einfache Substanz wäre, die mit persönlicher Identität beharrlich
existiert." . . . „Das erste Objekt einer solchen Idee bin ich selbst." Siehe ferner
R. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung, 2. Aufl., Leipzig 1907/08; J. Petzoldt
Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, Leipzig 1900/04; Das Welt-
problem vom Standpunkt des relativistischen Positivismus, 2. Aufl., Leipzig 1912.
Nach Haeckel ist das Bewußtsein, also auch das Selbstbewußtsein, eine
Funktion von Gehirnnervenzellen, welche infolge der Tätigkeit der anderen Nerven
diesen Eindruck hervorbringen, wie etwa gereizte Sehnerven den Eindruck von
Licht, gereizte Hörnerven die Empfindung Schall. In Wirklichkeit gibt es weder
Licht noch Schall, sondern nur elektromagnetische Kraftfelder bzw. Luftwellen,
welche die Empfindungen verursachen. Es liegt deshalb nahe, anzunehmen, es
gebe nur eine durch die Reizung bestimmter Nerven infolge der Tätigkeit der übrigen
hervorgebrachte Vorstellung des ,,Ich", aber kein wirkliches Ich. Dasselbe
erscheine unveränderlich, weil die Art der Nerventätigkeit naturgemäß immer die-
selbe bleibt.
222 Otto Lehmann:
mag der Teilungsvorgang von Lust- oder Schmerzgefühl begleitet
sein, wer empfindet dieses Gefühl, Mutter- oder Tochterzellen ? ^j
Gerade umgekehrt können ebensogut zwei Zellen zu einer
einzigen verschmelzen, zwei Individuen sich zu einem einzigen
vereinigen, ja dieser Vorgang bildet nicht nur bei den niedrigsten,
sondern ebensogut oder in noch höherem Grade bei den kom-
pliziertesten und höchst entwickelten Organismen den fundamen-
talen Akt jeder Fortpflanzung.^) Und betrachten wir endlich
geradezu ein hochentwickeltes Wesen, welches aus Millionen ein-
zelner Zellen besteht, ist nicht jede einzelne derselben Individuum,
das Ganze also eine Staatenbildung sehr vieler Individuen, nur
^) Fr. Kuhn, „Aus dem Tagebuche eines Bakteriums" in Für alle Welt 13,
196, 1907, schreibt sehr anschaulich: „Während ich (das Bakterium) diese Zeilen
schreibe, habe ich mich schon einige hundert Male gespalten, so daß ich gar nicht
mehr weiß, ob ich noch Ich bin oder ein anderer. Daß dieses Sichspalten kein sehr
angenehmer Vorgang und mit mancherlei Unbehaglichkeit verbunden ist, kann
sich nur der vorstellen, der selbst schon einmal mitten durchgeschnitten worden
ist. Man wächst, dehnt sich in die Länge, dann kommt ein Gefühl von Engigkeit,
als wenn man platzen sollte, und plötzlich gibt es einen Knacks: Eben war man
noch einer, auf einmal ist man zwei. Ehe man Zeit zur Überlegung hat und sich
in diese neue Rolle des doppelten Bewußtseins recht hineinfinden kann, geht das
Spiel schon wieder von neuem an." In meiner Schrift: Die neue Welt der flüssigen
Kristalle, Leipzig, Akad. Verlagsges., 1911, S. 303 füge ich dem bei: ,, Indes nicht
nur die Selbstteilung kommt in Betracht, auch nicht allein die Teilung niedrigster
Lebewesen. Wir haben beispielsweise im Garten einen Regenwurm ausgeschaufelt
und zufällig mit dem Spaten entzweigeschnitten. Beide Hälften kriechen fort und
heilen wieder zu normalen Würmern aus. Welche Hälfte enthält nun die Seele ?
Ist die Seele, falls sie kein Stoff ist, durch das stoffliche Werkzeug, den Spaten,
ebenfalls entzweigeschnitten worden ? Oder — wir schneiden mit dem Messer einen
Zweig von einem Weidenbaum und pflanzen ihn in die Erde. Er wächst zu einem
neuen Baume aus. Haben wir mit dem Zweig auch ein Stück der Baumseele ab-
geschnitten und ist diese mit dem Zweig gewachsen und wovon, falls sie nicht
Materie ist ?"
K. Driesch, Die „Seele" als elementarer Naturfaktor, Leipzig 1903, sagt:
„Von Bedeutung ist . . ., daß sie (die Seele) sich mit der Zertrennung ... bei künst-
lichen Teilungen zugleich teilt, aber dabei ,ganz' bleibt."
*) In dem Buche: Die neue Welt der flüssigen Kristalle, 1911, schrieb ich:
„Es bietet keine Schwierigkeit, einen Zweig eines Baumes auf einen anderen zu
pfropfen. Verschmelzen dabei die beiden Baumseelen ? Man kann Teile zweier
verschiedener Würmer zu einem Individuum aneinander heilen, selbst solche ver-
schiedener Arten. ... H. Przibram gelang es, die Hälften von roten und gelben
Haarsternen (Polypen) zusammenzuheilen. Harrison konnte durch Ancinander-
heilen der Hälften von Kaulquappen verschiedener Arten bei der Umwandlung
dieser zusammengesetzten Froschlarven . . . halb grüne, halb braune Frösche er-
halten, und zwar war die Vereinigung der Hälften eine dauernde und vollständige."
Das „Als-Ob'' in Molekularphysik. 22^
scheinbar ein einheitliches Wesen? Man kann wohl einwenden,
die einzelnen Zellen seien nicht gleichartig, könnten nicht isoliert
weiterleben. Indes erinnern wir uns nur des oft so wunderbaren
Reproduktionsvermögens, wie dem beispielsweise ein abgeschnittener
Stengel, ja selbst ein Blatt, ein Stück eines Blattes, im Prinzip selbst
eine einzige Zelle des Blattstücks imstande ist, die ganze Pflanze
mit all ihren sonderbar geformten Blättern, Wurzeln und Blüten
wieder zu reproduzieren; da müssen wir zugeben, daß im Grunde
alle Zellen gleichartig, nur bald mit mehr, bald mit weniger Ent-
wicklungsfähigkeit ausgestattet sind, daß jede wenigstens theoretisch
unter günstigen Bedingungen ') das Ganze reproduzieren kann, sowie
jedes Splitterchen eines Kristalls, in gesättigte Lösung gebracht,
wieder zum vollkommenen Kristall heranwächst.
Aber wenn dem so ist, wie ist es möglich, daß alle diese In-
dividuen lediglich infolge ihrer Aneinanderlagerung einheitlich als
ein Individuum fühlen und handeln?
Wir sehen deutlich, hier liegt eine fundamentale Schwierig-
keit vor, die nur darin begründet sein kann, daß wir den Begriff
der Unteilbarkeit, der nur füi- uns selbst gilt^), auf Dinge anderer
^) Vor allem kommt die Möglichkeit ausreichender Ernährung in Betracht.
*) a. a. 0. S. 311 schrieb ich: „Die Theologie beruft sich auf das unantast-
bare Dogma, daß der Mensch eine unteilbare, mit anderen Seelen nicht vermisch-
bare, unsterbliche, mit Vernunft und freiem Willen begabte Seele besitzt, welche
für ihre Handlungen vor Gott und Gesetz verantwortlich ist. . . . Die obige moni-
stische Anschauung würde also mit den theologischen Dogmen wohl verträglich
sein, solange streng daran festgehalten wird, daß sie sich nur auf Pflanzen- und
Tierseelen bezieht, bezüglich deren es überhaupt keine theologischen Dogmen gibt.
Ein unlösbarer Widerspruch tritt aber sofort hervor, wenn man im Sinne von
E. Haeckel eine Entwicklung der Menschenseele aus der Tierseele
annimmt, sei es im Laufe geologischer Epochen in Form der Lehre der Ab-
stammung des Menschen von einem affenähnlichen vorweltlichen Tiere, oder Ent-
wicklung aus einer tierischen Seele beim Heranwachsen des Menschen aus
dem Embryonalzustand." Descartes hielt bekanntlich die Fähigkeit, zu
empfinden und zu denken, für den klarsten Beweis der Existenz einer Seele: Co-
gito, ergo sum! Nach Hume ist dagegen das „Ich" lediglich ,,ein Bündel von
Vorstellungen". Noch drastischer äußert sich Fr. Mauthner, ein Vertreter des
Hylozoismus in seinen „Beiträgen zur Kritik der Sprache", 2. Aufl., 1906, S. 661 :
. . . ,.Das Ichgefühl ist eine Täuschung, ist die Täuschung der Täuschungen. Ist
aber das Ichgefühl, ist die Individualität eine Lebenstäuschung, dann bebt der
Boden, auf welchem wir stehen, und die letzte Hoffnung auf eine Spur von Welt-
erkenntnis bricht zusammen. . . . Wir werden mit unserer armen Muttersprache
die Frage der Individualität nicht lösen." Vgl. auch J. Frick und 0. Lehmann,
7. Aufl., 11(2), S. 1834, 1909 und J. Petzoldt, Handwörterb. d. Naturw. 7j 86,
1912 wo sich auch weitere Literaturangaben finden.
224. ^^^^ Lehmann:
Art übertragen. Ist nun schon hier im Bereiche der Organismen
die Übertragung des Individualitätsbegriffes eine unzulässige,
dann gilt dies in noch weit höherem Maße im Bereiche der leb-
losen Natur.
Besonders deutlich zeigt dies wieder das oben (S. 214) be-
trachtete Beispiel der Lösung von Mischkristallen. Schreiben wir
mit Haeckel jedem Kristall eine Seele zu, also auch einem Ton-
erde- und einem Chromalaunkristall, so müssen wir einem Misch-
kristall aus beiden Stoffen eine ,, Mischseele" zuschreiben, die
z. B. im Kern eine andere Zusammensetzung haben kann als in
der Rinde. Lösungen der Kristalle müßten ebenso Mischseelen
mit der Seele des Lösungsmittels besitzen. Nun ist aber die Lösung
des Mischkristalls identisch mit der Mischung der Lösungen seiner
Bestandteile. Wie gezeigt, läßt sich dies nur so verstehen, daß
es sich um eine Mischung von Molekülen handelt. Demgemäß
könnte es keine Kristallseelen geben, sondern höchstens Molekül-
bzw. Atomseelen, die in den Kristallen sowie in deren Lösungen
in keiner Verbindung miteinander stehen. Nehmen wir (entgegen
Ha eckeis Auffassung) einen Unterschied von belebtem und totem
Stoff an, so könnten wir ihn darin sehen, daß in letzterem die
Atomseelen ohne jede Verbindung miteinander sind, so daß
sie nicht zur Wirkung gelangen können, ähnlich wie etwa ein
Wald als solcher nicht als ein Lebewesen bezeichnet werden kann,
obschon die einzelnen Bäume leben. Im Lebewesen bestände eine
Verbindung der Atomseelen, welche ein Zusammenwirken derselben
ermöglicht, ähnlich wie die einzelnen Zellen eines vielzelligen Lebe-
wesens miteinander in Verbindung stehen, auch verschiedenartige,
was die komplizierte Arbeitsteilung ermöglicht.
Der Tod hebt diese Verbindungen auf und Wieder-
herstellung derselben ist nach dem Satz von der Unmöglichkeit
der Urzeugung ohne Mitwirkung eines Keimes ausgeschlossen,
ebenso wie die Rückbildung von Radium aus seinen Zerfalls-
produkten unmöglich ist. Der Lebensprozeß ist somit ein nicht
umkehrbarer (irreversibler) Vorgang und es scheint unmöglich,
künstlich Gebilde aus leblosem Stoff herzustellen, welche auch
nur den einfachsten Lebewesen vergleichbar wären. Immerhin
wäre in Hinblick darauf, daß die meisten eigentlichen (festen)
chemischen Verbindungen irreversibel sind, daneben aber auch
lockere (molekulare) reversible Verbindungen auftreten, dennoch
denkbar, ähnliches sei auch bei Lebewesen möglich. In der Tat
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 22 5
zeigen die „scheinbar lebenden Kristalle" in ihrem Verhalten
manche Älmlichkeit mit einfachen Lebewesen, namentlich hinsicht-
lich der gestaltenden und bewegenden Kräfte, so daß Haeckels
Annahme, es komme ihnen wirklich eine Art primitives Leben
zu, nicht von vornherein als unmöglich bezeichnet werden kann.
Nach Haeckel ist weder die Kristallseele noch die Seele
eines Menschen ein Individuum, so wenig wie etwa ein Volk eine
einzige Seele hat, sondern das, was wir als dessen Willen be-
trachten, nur durch Zusammenwirken einzelner Personen entsteht.
Eine Verbindung zwischen den Atomseelen besteht auch bei Lebe-
wesen nicht. Die scheinbar lebenden flüssigen Kristalle smd,
sofern sie nicht wachsen und sich bewegen, ebenso wie starre
Kristalle scheintot. Von den eigentlichen Lebewesen unterscheiden
sie sich durch den Mangel eines Bewußtseins, weil dieses durch
eine bestimmte Art von Nerven erzeugt wird, die sie nicht be-
sitzen.
E. HaeckeP) betont mit Recht, daß, wenn man Atomen
eine Seele zuschreibt, damit gesagt wird, daß auch Kraftfelder,
somit Energie quanten Seelen besitzen; müssen wir also darum
weiter annehmen, daß auch die Seelen sich ebenso durchdringen
können wie Kraftfelder, ohne sich gegenseitig zu stören, und daß
selbst Wasser Luft und Sonnenlicht beseelt sind?
Von einer Individualität der Energie quanten, Kraftfelder und
Strahlungen im Sinne der Unteilbarkeit unseres Ich ist natür-
hch keine Rede. Bei dem Versuche, diese Verhältnisse zu be-
greifen, stoßen wir deshalb auf größte Schwierigkeiten, selbst
wenn wir die Frage der wirklichen Existenz ganz beiseite lassen
und uns mit Beiziehung von Gleichnissen begnügen.
Meine Dresdener Antrittsrede schloß deshalb mit dem Satze:
„Das Ergebnis unserer Betrachtung kommt darauf hinaus:
Die Frage nach dem Wesen der Naturerscheinungen ist
nicht berechtigt. — Mögen Atome, wie sie Gastheorie und
chemische Theorie annehmen, existieren oder nicht, es sind nicht
Wesen (Individuen) unserer Art, welche die Naturerscheinungen
erzeugen, und darum werden wir sie nie und nimmer begreifen.
Begreiflich sind für uns nur Wirkungen solcher Art, wie wir
sie selbst hervorbringen können."
Ob wir uns im Sinne der dualistischen Theorie mit Recht
^) E. Haeckel, Kristallseelen, 1917, S. 105.
Annalen der Philosophie. I. •*
226 Otto Lehmann:
für Individuen halten, oder im nmonistischen Sinne zu Unrecht,
ist dabei gleichgültig.
Ein Elektron, welches sich auf ein gleichartiges zu bewegt,
wird in seiner Bewegung gehemmt. Nach Haeckel müßte man
sagen, daß die beiden Kraftfelder die Annäherung mit Unlust
empfinden und sie deshalb zu hindern suchen. Der Kraftlinien-
druck, der nach Farad ay die Abstoßung bedingt, wäre Willens-
äußerung auf Grund von Erinnerung und muß deshalb stets dem
Coulombschen Gesetze folgen. Wird ein Elektron als Kathoden-
strahlteilchen mit großer Geschwindigkeit fortgeschleudert, so er-
zeugt sein elektrisches Kraftfeld, um die ihm unbequeme Störung
zu hindern, auf eine uns unverständliche Weise (gemäß Maxwells
Gleichungen) ein magnetisches Feld, dieses wieder ein elek-
trisches usw., und durch diese fortgesetzten Empfindungs- und
Willensakte entsteht die geradlinige Bewegung, die uns als Folge
seiner Trägheit oder Masse erscheint. Kommt das Elektron hierbei
an einem Magnetpol vorbei, so würde es durch diesen gezwungen,
eine Kreisbahn zu durchlaufen, wenn der Pol fest stände. Da
es aber im leeren Räume keinen festen Punkt gibt, muß auch
der Magnetpol das Elektron umkreisen usw.
A. Drews^) wendet gegen Haeckel ein, Empfindung sei
immer ,, bewußt" und von Bewußtsein könne bei Kraftfeldern
natürlich keine Rede sein (vgl. S. 219). Man kann dem entgegen-
halten, daß z. B. ein ausgeschnittenes Froschherz, welches bei
geeigneter Ernährung noch wochenlang weiter pulsiert, sicher
auch kein Bewußtsein hat, aber doch Empfindung, denn die Pul-
sationen sind Folge (Reflex) von solcher. Ebenso Galvanis
elektrisch in Zuckung versetzte Froschschenkcl und der geköpfte
sich kratzende Frosch von F. Goltz. ^)
Die beständige Wanderung der Grenzen der Kraftfelder, ins
Unendliche bringt uns übrigens zum Bewußtsein, daß die Welt
unendlich ist, daß sie als Ganzes nie ,, begriffen" werden kann.
Vielleicht ist sogar die für uns erkennbare Sternenwelt nur
ein Atom einer weit größeren Welt, die selbst wieder ein Atom
einer noch i^rößeren ist. Es erscheint auch nicht undenkbar, daß
die winzigen Atome, von welchen z. B. bei Wasserstoff 640 Qua-
drillionen auf I kg gehen, bei außerordentlicher Vergrößerung
') A. Drcws, Delbrücks Preuß. Jahrb. 172, i8o, 1918.
•) F. Goltz, Beitr. z. Lehre v. d. Funkt, d. Nervenz. d. Frosches, Berlin
1869, 118.
„Das Als-Ob" in Molekularphysik. 227
betrachtet, selbst als solche Welten erscheinen, die wieder aus
noch kleineren Atomen bestehen und so weiter in infinitum.
Nehmen wir ferner hinzu, daß wir keinen festen Punkt, keine
feste Richtung im Räume haben, keinen festen Anfangspunkt der
Zeitrechnung, daß Länge und Zeit, auch Masse, Energie usw. nur
relative Begriffe sind^), so möchte fast scheinen, die Bestreb-
ungen der Naturwissenschaft, die Wahrheitzu erkennen, seien
vergeblich. Indes erstrecken sich diese Bestrebungen ja nicht auf
das Absolute und Unendliche, sondern auf abgegrenzte Systeme,
auf das, was wir wahrnehmen und uns vorstellen können. Die
Naturwissenschaft hat ihren Zweck erreicht, wenn sie aus dem
Gegebenen das Unbekannte berechnen kann.
Daß die Rechnung zutreffen muß, wenn Rechenfehler ver-
mieden werden, ergibt sich aus dem Wesen der Rechnung. Wenn
wir z. B. mittelst des Rechenbretts finden, daß 2 x - = 4 ist,
so muß dies jederzeit zutreffen, denn die Multiplikation unter-
scheidet sich von der Addition nur dadurch, daß wir beim Zu-
sammenzählen der vier Einheiten das einemal eine Pause machen,
nachdem 2 gezählt ist, das anderemal nicht, was natürlich für
die Benennung des Endresultats gleichgültig ist, ebenso wie der
Umstand, ob es wirkliche oder nur vorgestellte Dinge sind, da
das Zählen durch die Gehirnorgane auf Grund der Erinnerung
erfolgt, also lediglich von der Organisation des Gehirns abhängt,
so wie die Empfindung Licht von der der Sehnerven.
Ebenso ist die Zuverlässigkeit geometrischer Betrachtungen
unanfechtbar. Denken wir uns z. B. aus Papier zahlreiche kon-
gruente Dreiecke ausgeschnitten, so müssen sich diese, eben wegen
der Gleichheit ihrer Seitenlängen, in abwechselnd umgewendeter
Lage lückenlos zu einer ebenen Fläche aneinanderfügen lassen,
wobei um jeden Netzpunkt alle drei Dreieckswinkel doppelt an-
geordnet sind und zusammen 360^ bilden. Denken wir uns diese
längs der einen dieser Dreieckseitenrichtungen zusammengefaltet,
so muß die entstehende Kante eine gerade Linie sein, weil sich
^) A.Einstein, Ann. d. Phys. 17, 891; 18, 639, 1905; M.Laue, Das Rela-
tivitätsprinzip, 1911; O.Lehmann, Verh. d. Karlsr. nat. Ver. 23, 51, 1910; 28,
129, 1916; M. Schlick, Raum u. Zeit in der gegenwärtigen Physik, Berlin 1917.
Ohne weiteres läßt sich nicht entscheiden ob sich die Erde dreht oder die
Sternenwelt, wohl aber mit Rücksicht auf das Prinzip der Gleichheit von Wirkung
und Gegenwirkung, da der Erde als der kleineren Masse die größere Geschwindigkeit
zukommen muß; auch darauf, daß die Achsen der verschiedenen Planeten nicht
streng parallel sind.
15'
228 *-****' Lehmann:
kein Rechts und Links daran unterscheiden läßt, [weshalb sie in
ihrer Richtung gesehen wegen der geradhnigen Fortpflanzung
des Lichtes zum Punkt verkürzt erscheint]. Da auf der einen
Seite derselben drei verschiedene Dreieckswinkcl zusammenstoßen^
muß also deren Summe zwei Rechte betragen.^) Indem wir diese
Manipulationen im Geiste vollziehen, sind wir sicher, mit der Er-
fahrung in Übereinstimmung zu bleiben, denn die Vorgänge im
Gehirn sind dieselben, wie wenn wir die Manipulationen in natura
vornehmen und beobachten würden. Letzteres ist nur mittels
unseres Denkorgans möglich, welches durch die Sehnerven zu seiner
Tätigkeit angeregt wird, und sogar, wie Illusionen und Halluzina-
tionen beweisen, umgekehrt diese zur Betätigung reizen kann. An
wirklichen Dreiecken brauchen wir deshalb nicht zu experimentieren.
Gleiches gilt für die Vorausberechnung des Zusammentreffens
der beiden Uhrzeiger, wobei wir nur zu weissen brauchen, daß sich
der eine Zeiger öomal schneller bewegt als der andere, während
das Vorhandensein einer Uhr sowie die Kenntnis ihrer Umgebung
oder ihres inneren Mechanismus durchaus überflüssig sind. Die
Rechnung bleibt richtig, solange die gemachte Voraussetzung
über die Verschiedenheit der Geschwindigkeiten zutrifft.
Bei solchen mathematischen und kinematischen Betrachtungen
spielen allerdings physikalische Begriffe wie Masse und Kraft keine
Rolle. In der Physik, wo diese wesentlich werden, scheint nun
nach dem oben Dargelegten die Hinzunahme der Hypothesen oder
Fiktionen über die Existenz von Atomen und deren Struktur nötig.
Wie also, wenn die Physik ohne Hinzunahme solcher zweifel-
hafter Hypothesen überhaupt nicht existieren kann.»* Verlieren
dann nicht alle physikalischen Sätze ihre Zuverlässigkeit und
strenge Gültigkeit?
Indem ich hierüber weiter nachdachte, kam ich zu dem Er-
gebnis, die ganze Schwierigkeit lasse sich mit einem
Schlage beseitigen, indem man an Stelle der Hypothese ein
Gleichnis setzt, d. h. indem man sich so ausdrückt, die Er-
scheinungen vollziehen sich so, ,,als ob" Atome exi-
stierten. 2)
^) Die nichteuklidische Geometrie zieht allerdings Räume in Betracht, für
uclchc der Satz nicht gilt, da sie den Beweis nicht als streng erachtet.
') J. Frick und O.Lehmann, Phys. Technik, 6. Aufl. 1, 134 — 140, 1890;
7. Aufl., Bd. I (2), S. 739, 1905; Die scheinbar lebenden Kristalle, Eßlingen,
J. F. Schreiber, 1907, S. 62; Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens,
Das „Als-Ob" in Molekularphysik. 220
Bedenken hiergegen lassen sich um so weniger geltend machen,
als die sprachlichen Bezeichnungen der von uns wahrgenommenen
Objekte und Erscheinungen im Grunde immer auf Gleichnissen
beruhen.^)
Ebenso können wir uns deshalb bei Beschränkung auf das
direkt Wahrnehmbare immer durch Gleichnisse helfen, durch den
Ausspruch, die Erscheinungen verlaufen so, als ob die Stoffe aus
Atomen von bestimmter Umgrenzung beständen usw. Wir verfahren
dabei wie der ,, Kalkulator", der an Stelle der wirklichen Dinge
,, Steinchen" gesetzt denkt, mit diesen rechnet und schließlich das
Resultat wieder auf die wahrnehmbaren Dinge überträgt. Vor-
aussichtlich wird es auf Grund dieser Gleichnisse allmählich ge-
lingen, sehr viele Erscheinungen aufzuklären und ihre Gesetze
mathematisch abzuleiten, ähnlich wie die kinetische Gastheorie
mit großem Erfolge von der Atomtheorie Gebrauch gemacht hat.
Die Grundprobleme sind damit aber nicht gelöst, sowenig wir in
dieser Hinsicht einen Fortschritt erzielen, wenn wir etwa die
Einrichtung einer kompliziert gebauten Taschenuhr ohne nähere
Kenntnis ihrer atomistischen Zusammensetzung ermittelt haben
und dadurch in den Stand gesetzt sind, deren Funk-tion in allen
Teilen genau zu übersehen und zu berechnen.
Die Lösung dieser Probleme ist häufig für den Physiker un-
nötig. Indem Newton die Bewegung des Mondes als die eines
geworfenen Steins erkannte, war für ihn die Erscheinung ,, er-
klärt", d. h. auf Bekanntes zurückgeführt.
Auch die Aufklärung der Beziehungen zwischen lebloser und
belebter Materie, welche in das Gebiet der Physiologie gehört,
kann bis zu gewissem Grade geschehen ohne Beiziehung von
Molekülen. Ließen sich z. B. die Vorgänge bei Lebewesen oder
wenigstens ein Teil derselben experimentell im Gebiete der flüs-
sigen Kristalle nachahmen, könnten wir eine Art künstliches Lebe-
wesen aus flüssig-kristallinischen Materien konstruieren, so wie
der Mechaniker eine Maschine aus Holz und Metall, wenn auch
nur ein pulsierendes Herz oder elektrisch zuckende Froschschenkel,
so wäre der Biologe davon vollkommen befriedigt.
3. Aufl.; 1908, S. 8; Leitfaden der Physik. Braunschweig, Fr. Vieweg u. S., 1907,
S. 9 usw.
1) Siehe E. Schröder, Über das Zeichen, Rektoratsrede, Karlsruhe, 1890;
Vorlesungen über die Algebra der Logik, Leipzig, i?90/9i; Fr. Mauthner; Bei-
träge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart. Cotta, 1906.
2 30 Otto Lehmann: Das „Als-Ob" in Molekularphysik.
Die Bestrebungen von W. Planck, A. Einstein, G. Mie
und anderer heutiger Physiker gehen deshalb dahin, einfach
Gleichungssystemc zwischen empirisch zu bestimmenden Zahlen-
größen ähnlich den Maxwellschen Gleichungen aufzustellen.
J. Petzoldt^) sagt: ,,Zwei Vorurteile müssen überwunden werden,
die in feinen Ausläufern die heutige Wissenschaft noch durch-
ziehen: die der materiellen und der immateriellen Substanz."
Ob das aber möglich ist, erscheint fraglich. Meßbare Größen
sind immer solche, von welchen wir uns eine Vorstellung machen
können. Wohl können wir eine Masse nach E. Mach messen durch
die Gegenbeschleunigung gegen l kg, ebenso eine Kraft durch
die Beschleunigung, die sie l kg erteilt, wir können auch diese
Zahlenwerte durch mathematische Formelzeichen ausdrücken und
so scheinbar die Begriffe Masse und Kraft vermeiden; indem wir
aber von Beschleunigung sprechen, denken wir an ein Ding, welches
beschleunigt wird und an ein anderes, welches die Beschleunigung
hervorruft, und in vielen Fällen müssen wir uns diese Dinge als
Aggregate von Atomen denken, um, wie auf S. 214 dargelegt,
unendlich viele Worte zu vermeiden.
So erweisen sich die Atome und Kräfte als ungebetene Gäste,
die, durch eine Tür vertrieben, zu einer anderen verkleidet wieder
hereinkommen. Die Philosophie des ,,Als Ob" erscheint aber
geeignet, ihre Störungen zu vereiteln. Die Zuziehung des Kunst'
griff es, zu sagen, die Naturerscheinungen verlaufen so, als ob
sie durch Atome hervorgebracht würden, die wir als beseelte Wesen
nach Art unseres Ich uns vorstellen, hilft uns meist über die
Schwierigkeiten hinweg und läßt uns zugleich völlige Freiheit, ob
wir die monistische oder dualistische Theorie annehmen wollen
oder irgendwelche Glaubenssätze. Freilich sind die Ergebnisse
der Rechnung nur insoweit zuverlässig, als das Gleichnis wirk-
lich zutrifft. Die Lehre von den flüssigen Kristallen beispiels-
weise will zurzeit noch nicht zu den bestehenden Molekular-
theorien passen'^), es wird somit Aufgabe der Physik sein, die
Atom- und Molekularmodelle soweit zu vervollkommnen, bis
quantitative Ableitung der Tatsachen aus der Theorie möglich
wird. In anderen Gebieten der Physik scheint solches überhaupt
unmöglich zu sein.
*) J- Petzold, Handwörterb. d. Naturw. 7, 50 (siehe auch S. 66 u. 83), 1912.
») 0. Lehmann, Physik. Zeitschr. 19, 73, 88, 1918.
Die mathematischen Fiktionen und ihre Bedeutung
für die menschliche Erkenntnis.
Kritische Bemerkungen in Rücksicht auf den am 2. Juni 191 7 in der Jahressitzunt;
der Kaiserl. Akad. der Wissenschaften zu Wien gehaltenen Vortrag von Emil Müller
über: „Bedeutung und Wert der mathematischen Erkenntnisse".
Von
Ernst Tischer,
Dr. phil., Sludienrat, Professor in Leipzig.
Inhaltsübersicht.
Wertung mathematischer Erkenntnisse durch große Denker früherer Jahr-
hunderte; ihr Einfluß auf deren philosophische Denkweise S. 231
Die Fiktion eines durchgängigen notwendigen Zusammenhanges aller Er-
scheinungen als Bedingung aller Erfahrung. Der mathematische Charakter dieses
Zusammenhanges und die dadurch bedingte Form der Naturgesetze in ihrem
exakten Ausdrucke S. 236
Die Fiktionen als Vermittler zwischen Sinnlichkeit und Verstand . . S. 238
Kritische Bemerkungen zur Fiktivität mathematischer Begriffe und zur All-
gemeingültigkeit mathematischer Sätze. Wechselwirkung zwischen Fiktion und
Wirklichkeit S. 240
Anlaß, Aufgabe und Zweck des erkennenden Denkens in seiner Anwendung
auf die Ethik S. 248
Der Vortrag von E. Müller und die Einstimmigkeit seiner Grundgedanken
mit Vaihingcr und Kant S. 251
Die Abschätzung der Bedeutung und des Wertes mathema-
tischer Erkenntnisse ist, mathematisch gesprochen, eine Funktion
des Intellekts, des Geschmacks, des Bildungsniveaus des Schätzen-
den, seines gesamten Geisteszustandes. Je höher das Bildungs-
niveau, um so höher diese Einschätzung. Darum sind es die
geistigen Riesen der Menschheit, ein Plato, ein Leonardo da
Vinci, Descartes, Leibniz und Kant, die einstimmig die
Mathematik als das Höchste bewerten, was den menschlichen
Intellekt angeht, was Erkenntnis und Wissenschaft heißt.
Im 7. Buch seiner Politeia preist Plato die Geometrie als
die Wissenschaft des immer Seienden im Gegensatz zu der Ver-
gänglichkeit und Wandelbarkeit der Sinnenerkenntnis; als die
Führerin zur Wahrheit, die uns befähigt, die Idee des Guten,
2 ? 2 Ernst Tischer :
das liöchstc Erkennbare, leichter zu sehen; als die Wissenschaft,
die die Seele nötigt, sich nach jener Gegend hinzuwenden, wo
das Seligste von allem sich befindet und welches sie auf jede Weise
sehen soll. Er weist mit Geringschätzung auf das Urteil der Beruf s-
geometer: ,,Denn das wird wohl niemand, der nur ein Weniges
von Geometrie versteht, bestreiten, daß diese Wissenschaft ganz
anders ist, als die, welche sie bearbeiten, darüber reden. Sie
reden nämlich gar lächerlich. Denn es kommt so heraus, als ob
sie des Geschäftes wegen quadrierten, verlängerten und was sie
sonst für Ausdrücke haben. Die ganze Sache wird aber bloß der
Erkenntnis wegen betrieben." — Wert hat die Mathematik für
Plato nur, sofern sie nötigt, das Sein zu schauen. Wo alles fließt,
alles unserem betrachtenden Blick entschwindet, sich ineinander
entgegengesetzten Bestimmungen widerstrebt, da ist es die schlichte
Zahl in Verbindung mit der Einheit, dem ro Iv, in der die Seele,
die das wahrhaft Seiende schauen möchte, Stütze und Halt findet,
und die Welt verstehen lernt. Das Mathematische im Menschen
ist ihm das Zug- und Leitungsmittel aus der Sklaverei der Sinn-
lichkeit und des Eigennutzes zum sittlich und geistig geläuterten
Menschen. Denn die Mathematik bleibt nicht bei der bloßen
Wahrnehmung stehen, sondern ruft auf alle Weise die Vernunft
herbei, um das Erkennbare vom Sichtbaren, das, was der Geist
sieht, von dem, was das sinnliche Auge sieht, zu scheiden. Nach
Plato muß ein Mann mathematisch denken können, wenn er
ein Mensch sein will. Nicht in der Erwirkung praktischen Nutzens
beim Kauf und Verkauf, oder im Militärwesen, oder in der Schiff-
fahrt und im Ackerbau, in der Sternkunde und in der Zeitmessung
sieht Plato den wahren Wert der Mathematik, sondern ,,das ist
die Sache und für die Menge schwer zu begreifen, daß durch jede
mathematische Erkenntnis ein Sinn der Seele gereinigt und er-
weckt wird, der unter anderen Beschäftigungen erblindet, während
doch an seiner Erhaltung mehr liegt als an lOOOO Augen; denn
durch ihn allein wird die Wahrheit gesehen." Mit einem Worte:
Wert hat die Mathematik für Plato nur als Bildungsmittel philo-
sophischer Einsicht, als Führcrin in das Reich der Ideen. Es ist
der Ewigkcitsgehalt, der alle Zeiten überdauert und der für alle
Räume gilt, der den Wert der Mathematik ausmacht. — .,Uber
die ursprüngliche Beschaffenheit derjenigen Eigenschaften an den
Dingen, welche zu entdecken wir all(T Erfahrung entbehren können,
und über das daraus sich ergebende Vermögen des Gemüts, die
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 233
Harmonie der Wesen aus ihrem übersinnlichen Prinzip schöpfen
zu können, geriet Plato in die Begeisterung, welche ihn über alle
Erfahrungsbegriffe zu Ideen erhob, die ihm nur durch eine intel-
lektuelle Gemeinschaft mit dem Ursprünge aller Wesen erklärlich
zu sein schien." (Kant, Urteilskraft, §62.) Kein Wunder, daß
er den der Geometrie Unkundigen aus seiner Schule verwies.
Leonardo da Vinci, der von keinem überragte Künstler
und Forscher des 15. und 16. Jahrhunderts, der unberülirt blieb
von aller dialektischen Vernünftelei und sich frei hielt von leeren
philosophischen Begriffsgespinsten und überschwenglichen Worten,
der sein Schaffen und Urteilen nur auf die Sinneswahrnehmungen
gründete, er ruft warnend : Keiner wage mich zu lesen, der nicht
mathematisch denken mag! Der Mann, der nicht mathematisch
denken mag, nährt sich von Konfusionen. Denn in den mathe-
matischen Wissenschaften ist die Wahrheit enthalten und die
Möglichkeit, zu wissen. Beobachtung und Experiment, also Sinnes-
wahrnehmung, ist die gemeinsame Mutter aller Kunst und Wissen-
schaft; aber freilich nur die durch die Mathematik geläuterte,
geklärte und veredelte Wahrnehmung. Keine menschhche For-
schung führt zu wahren wissenschaftlichen Ergebnissen, bevor sie
nicht die Prüfung mathematischer Bew^eisführung und Darstellung
bestanden hat: ,,s'essa non passa per le mathematiche dimon-
strationi." — Reichlich lOO Jahre nach Leonardo fühlt sich
Descartes, nachdem er alle Wissenschaften seiner Zeit studiert
hatte, in einem Meere von Zweifeln und Unwissenheit. Erfrischung
aber reicht ihm die Mathematik mit der Gewißheit und Evidenz
ihrer Begründungen. In ihrer Methode erkennt er den Ursprung
und die Quelle aller Wahrheiten. — ,,Das Wesen unserer Seele
ist Harmonie; aber Harmonie erzeugt sich (s'ingenera) nur in
Augenblicken, in denen die Verhältnisse, die Proportionen der
Dinge zueinander wahrgenommen und erkannt werden", hatte
Leonardo gesagt. Descartes findet die Hoffnung, aus der
Disharmonie seiner Zweifel herauszukommen, indem er sich sagt:
,, Unter allen, die vor mir wissenschaftliche Wahrheit gesucht
haben, haben einzig und allein die Mathematiker sichere und
evidente Begründungen ihrer Wahrheiten finden können; und
wenn ich von der Mathematik zunächst auch keinen anderen
Nutzen erhoffte, so doch den, daß sie meinen Geist gewöhnte,
sich von wirklichen Wahrheiten zu nähren und sich nicht mit
falschen Gründen und Meinungen zufrieden zu geben. Und da
234
Ernst Tischer:
sie bei aller reichen Verschiedenheit ihrer Gegenstände allgemeine
Beziehungen und Proportionen zwischen denselben erkennen läßt,
so sagte ich mir, daß es gälte, der geometrischen und algebraischen
Analyse das Beste zu entlehnen, die Mängel der einen durch
die andere zu verbessern und so zu einfachen, klaren und all-
gemein anwendbaren Erkenntnismethoden auch für die anderen
Wissenschaften zu gelangen. Ich fühlte (sentais), daß in Befolgung
dessen, was das Wesen des mathematischen Denkens ausmacht,
mein Geist sich gewöhnen würde, ^ conccvoir plus nettement et
plus distinctement ses objets, auch wenn sie anderen Wissenschaften
angehörten."
,,Das Buch der Natur ist in mathematischer Sprache ge-
schrieben", sagt Galilei. Und Leibniz erklärt: „Einzig und
allein die Geometrie" — d. i. schon die kartesianische Geometrie,
also die Geometrie im Sinne von Mathematik überhaupt, d. h.
das auf die Anschauung angewandte Denken, die auf Anschauung
angewandte Logik und Arithmetik — ,, betrachtet jene für sich
bestehenden und ewigen Formen zwischen den vergänglichen
materiellen Dingen, deren Ideen unserem Geiste innewohnen
und nicht vergehen (perire) können, auch wenn alle historische
und Experimentalwissenschaft verloren ginge (extingueretur). Die
Physik (Naturwissenschaft), soweit sie den Geist vervollkommnen
(perficere) kann, mündet in die Geometrie. Denn nicht eher er-
langen wir wissenschaftliche Einsicht in die Erscheinungen der
Körperwelt (intelligimus), als bis wir sie auf die Grundideen der
Konfiguration, der B';wegung und der Maßverhältnisse zurück-
geführt haben. Ein Geist, der der mathematischen Beweisführung
unzugänglich ist, ist unfähig zu jeder metaphysischen und gött-
lichen, d. h. auf das Ganze gehenden Betrachtung, d. i. der Be-
trachtung, welche zur wahren und bleibenden Vervollkommnung
unseres geistigen Seins führt, und zu welcher die Geometrie all-
mählich erhebt. Denn einen Leitfaden in dem Labyrinth der
Zusammensetzung des Stetigen, des Ununterscheidbaren und
Unendlichen gibt nur die Geometrie an die Hand, und zu einer
soliden Wissenschaft kann niemand gelangen, der nicht durch
das Medium der Geometrie hindurchgegangen ist. Nicht das,
was das Gedächtnis füllt (locuplctat), entwickelt den Geist, sondern
das, "was die Fähigkeit zu denken übt. Und das tut die Geometrie
in wunderbarer Weise (quod mirifice facit geometria)". Die Gott-
heit in ihrer Allwissenheit denkt sich Leibniz unter dem Bilde
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 235
des vollkommenen Geometers, der alle Zusammenhänge und
Funktionalbcziehungcn der Dinge in jedem Augenblicke über-
schaut und durchschaut, während wir Menschen nur unendlich
kleine Teile derselben in einem Augenblicke ins Bewußtsein fassen
können, um uns mühsam von Teil zu Teil wie an einem Faden
fortzuspinnen.
Selbst Goethe, so sehr er sich über die Mathematiker von
Fach oder Beruf ärgerte, w^enn sie seiner Optik nicht zustimmten,
überträgt doch darum diesen Ärger nicht auf die Mathematik,
sondern bekennt: ,, Niemand kann die Mathematik höher schätzen
als ich, da sie gerade das leistet, was mir zu bewirken völlig ver-
sagt worden ist." — Daß es aber Meister des Wortes und des
Wortwitzes gibt, denen zeitlebens das Mathematische im Menschen,
trotz ihres geistreichen Gebrauches der Sprache, eine terra in-
cognita blieb, über das sie aber in dem Gefühl ihrer eigenen Hoch-
schätzung gerade darum laienhaft witzelten, das beweisen Schopen-
hauer und Voltaire. Voltaire gibt sich mit Befriedigung selbst
das Zeugnis: ,,Ich habe immer gefunden, daß die Geometrie den
Geist da läßt, wo sie ihn findet." — Und nach Schopenhauer
hätten Leonardo und Albrecht Dürer, diese enorm mathema-
tisch beanlagten und ihre Kunst auf Mathematik gründenden
Künstler, kein Anrecht darauf, als Künstler verehrt zu werden,
weil nach Schopenhauer mathematische und künstlerische Be-
anlagung, ja Mathematik und Genie überhaupt, einander aus-
schließen. Und weil das Lesepublikum des 19. Jahrhunderts,
sofern es sich mit Philosophie befaßt hat, in Schopenhauer
nicht nur einen Philosophen, sondern den Philosophen sieht,
so gilt es bis heute noch bei den ,, literarisch Gebildeten" als ein
Kennzeichen ,, höherer und wahrer Bildung", von Mathematik
nichts zu wissen. —
Was waren doch all die Männer wie Pia to, Leonardo, Dürer,
Descartes, Leibniz, der Staatsminister Baco von Verulam,
Lord Brounker, der Rechtsgelehrte Huygens, die Bürgermeister
Otto von Guerickc von Magdeburg und Johann Hudde von
Amsterdam (1670), der Arzt Vieta (1580), der Staatsmann Ben-
jamin Franklin (1760), und Frauen wie die erste Königin von
Preußen, Sophie Charlotte, die Schülerin von Leibniz, oder
Fürsten wie Gustav Adolph von Schw^eden, der Schüler Gali-
leis — was waren diese Menschen des 17. oder 16. Jahrhunderts
doch für ungebildete Leute im Vergleich zu den Lesern Schopen-
236
Ernst Tischer:
hauers des 19. Jahrhunderts, da sie, jene Menschen des 17. und
16. Jahrhunderts, sich neben ihren eigentlichen Berufsgeschäften
in ihrem Drange nach Veredelung ihres Geistes mit Mathematik
beschäftigten und sich an mathematischen Entdeckungen und
Erkenntnissen erhoben!
Und nun gar erst unser Kant, der eindringlich das wieder-
holt, was Leonardos unerschütterliche Überzeugung war: keine
Gewißheit, außer wo sie sich mathematisch begründen läßt. ,,Ich
behaupte" — sagt er in den metaphysischen Anfangsgründen der
Naturwissenschaft — , ,,daß in jeder besonderen Naturlehre nur
so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als
darin Mathematik anzutreffen ist." — Nach Kant gehört zu der
apodiktischen Gewißheit eines wirklichen Wissens etwas mehr,
als empirische Wahrnehmung. Dieses Etwas, der ,, reine Teil der
Wissenschaft" — ist gerade jene innere menschliche Gesetzgebung,
welche, sofern sie die Anschauung betrifft, Mathematik heißt.
Die Natur gibt uns die Tatsachen; die Gesetze gibt der mensch-
liche Verstand. ,,Wie ist Erfahrung möglich.?" das ist ja die
große Frage Kants. Ohne Erfahrung kein Wissen; aber keine
Erfahrung ohne die mathematischen Kategorien des Verstandes.
Wie bei Plato und Descartes, so gründet sich auch bei Kant
die Überzeugung, daß der Mensch zu sicherem Wissen gelangen
könne, auf das Vorhandensein der Mathematik, diesem ,, Stolz
der menschlichen Vernunft", wie Kant sie nennt. Die Tatsache
des Vorhandenseins der Mathematik, d. h. der mathematischen
Funktion des menschlichen Verstandes, ist das Positive, auf das
sich der Kritizismus Kants und der kritische Idealismus stützt. —
Woher die Mathematik .'' Das ist wohl nicht nur eine transzenden-
tale, sondern eine überschwengliche, eine transzendente Frage.
Genug, sie ist da, mit ihrer Allgemeingültigkeit nach der Seite
des Subjekts wie nach der Seite des Objekts. Und eben aus dieser
doppelten Allgemeingültigkeit zog Kant die Folgerung, daß die
Mathematik nicht Erfahrungswissenschaft sein kann; denn alle
Erfahrung ist, so wie sie uns entgegentritt, zufällig, nicht not-
wendig, ist eine zufällige Folge von Vorgängen in der Zeit und
ein zufälliges Nebeneinander der Dinge im Raum. Der Gedanke
der Notwendigkeit des Geschehens und der räumlichen Ordnungen,
und der Gedanke der notwendigen und immer gültigen Natur-
gesetze ist keine Erfahrung, sondern eben ein Gedanke, eine Idee,
oder, um in der Sprache der Als- Ob-Philosophie Vaihingers zu
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 237
reden: die große Fiktion, auf der sich alle Wissenschaft, d. h. alles
gestaltete, zusammenhängende, vom Satz des Grundes getragene
Wissen aufbaut. Die Fiktion eines notwendigen Zusammenhanges
und einer unabänderlichen, konstanten Abhängigkeit aller Er-
scheinungen untereinander ist nun aber nicht eine willkürliche
Setzung einer frei schaffenden Phantasie. Wir haben nicht die
Freiheit, sie zu setzen oder nicht zu setzen, sondern wir setzen
sie unwillkürlich mit innerer Notwendigkeit und sofern wir ver-
nünftige Wesen sind, weil aller Vernunftgebrauch mit dieser Fiktion
beginnt und in dem Streben nach Zusammenfassung aller Vielheit
zu systematischer Einheit besteht. Man kann diese innere Nötigung
unseres Denkens zu der Fiktion eines durchgängigen notwendigen
Zusammenhanges aller Erscheinungen ja eine Tatsache der inneren
Erfahrung nennen, die Tatsache, durch welche die Verknüpfung
des Ich an sich mit dem Ich der Erscheinung, zwischen dem tran-
szendenten und dem empirischen Ich sich kundgibt, d. h. für uns
in Erscheinung tritt.
Diese Erfahrung, diese Erscheinung ist der Anfang aller anderen
Erfahrungen, ist die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Er-
scheinungen und Erfahrungen für unser Bewußtsein. W'as treibt
das drei- und vierjährige Kind an, seine Eltern unermüdlich nach
dem Warum und Woher einer jeden neuen Erscheinung zu fragen }
Es ist das ihm innewohnende Kontinuitätsgesetz, das schon im
Kindesgemüt, und in ihm mehr wie in dem mit Vorurteilen be-
lasteten Erwachsenen, Lückenlosigkeit fordert und Zusammen-
hang und Einheit verlangt, wo die Erfahrung ihm zufällige Einzel-
heiten in den W^eg stellt. Sobald der Mensch zum Denken er-
wacht, regelt er das Verhältnis seines Denkens zu der Mannig-
faltigkeit der Erscheinungen oder zu den sogenannten Erfahrungs-
tatsachen gemäß der Fiktion, als ob die Mannigfaltigkeit hervor-
gegangen sei und immer von neuem hervorgehe aus einer ins
Unendliche gesteigerten Intelligenz, einer ins Unend-
liche gesteigerten Macht und einem ins Unendliche ge-
steigerten sittlichen Willen. Die Dreifaltigkeit seines
ureigensten Wesens, d. i. seines Wissens oder seines Erkennens,
seines Könnens oder Vermögens und seines Wollens macht
er zu dem Schema seiner Weltanschauung. Durch dieses Schema
sucht er sich die Welt assimilierbar, verständlich und zu eigen
zu machen in Wissenschaft, Kunst und Religion. Wissen-
schaft aber und ihre Voraussetzung, d. i. Intelligenz und Er-
238
Ernst Tischer:
kenntnis, sind im innersten Grunde identisch mit Mathematik,
wie CS auch in dem griechischen Worte zum Ausdruck kommt.
Das ist wohl die kürzeste Formel für den Wert und die Bedeutung
der Mathematik. Die Intelligenz webt Gedankenfäden in Form
von Fiktionen zwischen den disparaten und heterogenen Sinnes-
wahrnchmungen und assimiliert sie dadurch dem Denken. Wenn
Ernst Mach lehrt, das wissenschaftliche Denken sei Anpassung
der Gedanken an die Tatsachen, oder wenn Kant lehrt, die Er-
fahrung sei kategoriale Unterscheidung und Verknüpfung des uns
durch die Sinne vermittelten Realen der Wahrnehmung, An-
passung der Sinncsqualitäten an die Kategorien des Verstandes
und unseres Erkenntnisvermögens, so kennzeichnen beide ein und
dasselbe Verhältnis zwischen Denken und Sein, zwischen Subjekt
und Objekt; aber der eine betrachtet es von links nach rechts,
der andere von rechts nach links. Denn Erfahrungstatsachen
und Verstandeskategorien und Allgemeinbegriffe stehen in Wechsel-
wirkung, schleifen sich aneinander ab, keines ist unabhängig vom
anderen, und die Erfahrungstatsachen sind Erscheinungen und
nicht Dinge an sich. Dieser Satz Kants wird in Geltung bleiben.
Aber zwischen diesem Rechts und Links bilden die mathematischen
Fiktionen der Größe, der Einheit, jenes wunderbaren Etwas, von
dem Plato bemerkt, das wir ein und dasselbe Ding zugleich als
eines und unendlich vieles sehen, ferner die Fiktionen der Zahl, des
ruhenden Raumes, der gleichmäßig fließenden Zeit und der Kon-
tinuität und Unendlichkeit die vermittelnden Glieder. Diese
mathematischen Fiktionen bilden das transzendentale Zwischen-
gebiet zw^ischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Anschauung
und Denken. Darum haben wir nicht eher das Gefühl des Wissens
und der Erkenntnis, als bis die Qualitäten umgegossen sind in
Quantitäten und durch das Gesetz der Einheit und der Zahlen
verknüpft sind; darum nimmt ein sogenanntes exaktes Natur-
gesetz in unserem Urteil schließlich die Form einer Gleichung
zwischen den Maßzahlen verschiedenartiger, in besonders ein-
fachen Fällen auch gleichartiger Größen an. Darum meint der
Chemiker, im Innersten erkannt zu haben, was Wasser eigentlich
sei, wenn er es unter dem mathematischen Schema : Wasser =
HjO denkt; darum beruhigt sich der Erkenntnistrieb des Astro-
physikers, wenn das zwischen den Weltkörpern waltende Gesetz
in seinem Denken die Form '", '"' = konstant annimmt, wo r die
Zahl der Längeneinheiten zwischen zwei gewissen fingierten Punkten
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 239
des Weltraums, w und m^ die Zahlen der Masseneinheiten in diesen
Punkten und k die Zahl der Krafteinheiten ist, mit der diese
Punkte einander zustreben. Sein Erkenntnistrieb beruhigt sich
bei der Subsumtion des mechanischen Weltgeschehens unter dieses
mathematische Schema, weil es ihn befähigt, gewissermaßen auto-
nom, kraft der Kontinuität der Logik seines Denkens, d. h. hier
des mathematischen Rechnens, und gestützt auf die Fiktionen
des Beharrungsgesetzes, der unendlich kleinen Größen und des
Parallelogrammes der Beschleunigungen, die relativen Bahnen
und Bewegungen jener Massenpunkte gegeneinander aus seinem
Geiste herauszuspinnen und Ereignisse vorauszuberechnen, die
sich, wenn die Zeit erfüllt ist, den Tatsachen völlig angepaßt er-
weisen, d. h. durch die Erfahrung bestätigt werden. Und der
Physiker meint, trotz Goethe, erkannt zu haben, was Licht,
ja was Farbe sei, wenn er bei dem Worte Farbe gar nicht mehr
an Farbe denkt, sondern dafür das mathematische Schema ge-
setzt hat, das in Form von Gleichungen eine Reihe von Beziehungen
und Abhängigkeiten zwischen den Maßzahlen einer Reihe ver-
schiedenartiger Größen, der Elastizität, der Schwingungsdauer,
Wellenlänge, Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Punkten des fin-
gierten Weltäthers zum Ausdruck bringt, sich selbst und anderen
mitteilbar macht, um damit rechnen, d. h. aus gewissen Aussagen
neue Aussagen ableiten zu können. Wenn der auf Kant fußende
kritische Idealismus und der mit den Physikern des 19. Jahr-
hunderts marschierende Empirismus einander befehden, so sind
beide doch völlig einig in der Bewertung und vor allem in der
Ausnutzung der mathematischen Methode und der mathematischen
Begriffe. Hat doch der Denker, der alle Aprioritätsphilosophie
ablehnt und auf den sich die dem einseitigen Empirismus er-
gebenen Erfahrungsphilosophen so gern berufen, Ernst Mach,
die Begriffe der Substanz und der Kausalität sich durch das
Medium des Begriffs der mathematischen Funktion verständlich
zu machen gesucht. Denn beharrend sind für ihn immer nur
die Beziehungen seiner mysteriösen und metaphysischen Ele-
mente zueinander und das Gesetz dieser Beziehungen; und der
Kausalbegriff wird von ihm nach Elimination der Zeit durch den
mathematischen Funktionsbegriff ersetzt.
So sind kritischer Idealismus und Empirismus beide einig in
dem Gedanken, daß im intellektuellen Sinne — nicht im Sinne
des bloßen Sichbewußtwerdens eines Sinneseindrucks — erkennbar
2AO Ernst Tischer:
nur dasjenige ist, was durch das Medium der mathematischen Kate-
gorien gesehen und beurteilt werden kann. Alles andere gehört
entweder zu den ewig unenthüllbarcn Geheimnissen oder bleibt
für uns ein zufälliges und regelloses Nacheinander, Nebeneinander
und Ineinander von Bildern, Sinnesqualitäten, Trieben, Strebungen
und Stimmungen, in welch letztere die sittlichen Ideen Richtung
und Ordnung und Ziel bringen können, die aber keine Gegenstände
der Erkenntnis, keine Gegenstände der theoretischen Vernunft sind,
außer insofern, als diese letztere sich mittels des Zweckbegriffs in
den Dienst der praktischen Vernunft stellt.
Diese Erinnerungen sollen uns auf den Standpunkt heben,
von dem aus sich das, was Emil Müller uns in seinem Vortrage
sagen will, leichter übersehen und würdigen läßt. Wir wollen
bei dieser Würdigung auch noch dessen eingedenk bleiben, daß
vor mehr als 200 Jahren der deutsche Idealist Leibniz den eng-
lischen Sensualisten den Satz entgegenstellte: „Nihil est in intel-
lectu, quod non fuerit in sensu, nisi intellectus ipse"; und daß er
die Stellung der Mathematik als einer apriorischen, oder, wenn
man will, idealisierenden, oder einer fiktiven, kurz, einer
reinen Geisteswissenschaft gegenüber den anderen Wissenschaften
kennzeichnet mit den Worten: ,,Didici in mathematicis ingenio,
in natura expcrimentis, in legibus divinis humanisque auctoritate,
in historia testimoniis nitendum esse". Nach den drei mathema-
tisch denkenden Philosophen Plato, Leibniz und Kant ist
Mathematik ein reines Geisteserzeugnis, das aber auf Anschauung
und damit auf die wirklichen Dinge bezogen wird, oder richtiger:
auf das die Objekte der Anschauung bezogen werden. ,, Unsere
Erörterung", sagt Kant, ,, lehrt die Realität, d. i. die objektive
Gültigkeit des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich
als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität
des Raumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft
an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Be-
schaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also
die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller mög-
lichen Erfahrung), ob wir zwar die transzendentale Idealität
desselben, d. i. daß er nichts sei, sobald wir die Bedingung der
Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was
den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen." Die
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutun«: für die menschl. Erkenntnis. 24 l
Mathematik baut sich danach auf Konstruktionen der reinen An-
schauung auf, also auf Ideen oder Fiktionen. Während also Natur-
wissenschaft, Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft ihre
Stützen und Grundlagen von außen empfangen und suchen müssen,
erwächst die Mathematik aus dem Inneren dessen, was wir Seele,
Geist, Ingenium nennen.
Welches ist nun das Ergebnis der ,, Gewissensforschung",
der Emil Müller die Mathematik zu unterwerfen unternimmt?
Zugleich mit den Naturwissenschaften aus dem Kampfe um
die menschlichen materiellen Bedürfnisse heraus geboren, erwuchs
die Mathematik unter der Pflege der Griechen zu der Freiheit
eines rein geistigen Eigenlebens. Aber bis in die Mitte des
19. Jahrhunderts, sagt Müller, ,, wurden die Erkenntnisse der
Mathematik mehr oder weniger naiv als auf die wirklichen
Dinge sich beziehend aufgefaßt. Erst in den letzten fünf Jahr-
zehnten wurde man sich klar bewußt, daß die Mathematik nicht
über wirkliche Dinge der Außenwelt, sondern über fiktive,
vom menschlichen Geiste geschaffene, d. h. über idealisierte
Dinge Aussagen macht. Nur durch die fiktiven Annahmen
des Punktes, der Geraden, der Ebene, des Kreises usw.
erhalten die Sätze der Geometrie ihre apodiktische
Gewißheit und Allgemeingültigkeit."
Das klingt so, als ob ein Plato, Leibniz und Kant nie
gelebt und gelehrt hätten, und als ob uns die Griechen nicht eine
Mathematik hinterlassen hätten, die sich als reines Geisteserzeugnis
darstellt, herausgewachsen aus der Lust und Freude der Griechen
an der Schönheit und Harmonie nicht nur an Gegenständen der
Plastik und der sprachlichen Gestaltung, sondern nicht minder
an anschaulichen Gegenständen des reinen begrifflichen Denkens,
wie sie ihre Geometrie bietet. ,,Allc Kegelschnitte für sich",
sagt Kant (Urteilskraft, §62), ,,und in Vergleichung miteinander,
sind fruchtbar an Prinzipien zur Auflösung möglicher (nicht
den „wirklichen" Dingen entstammender) Probleme, so einfach
auch ihre Erklärung ist, welche ihren Begriff bestimmt. Es ist
eine wahre Freude, den Eifer der alten Geometer anzusehen, mit
dem sie den Eigenschaften der Linien dieser Art nachforschten,
ohne sich durch die Frage eingeschränkter Köpfe irre machen
zu lassen, wozu denn diese Kenntnis nützen sollte." Die Kegel-
schnittslinien der Griechen hatten mit den sogenannten ,, wirk-
lichen" Dingen, d.h. mit der faktischen materiellen Erfüllung
Annalen der Philosophie. I.
242
Ernst Tischer:
von Raumtcilcn nichts zu tun und sind nicht als auf solche fak-
tische Erfüllung sich beziehend aufgefaßt worden, sondern als
durch den Verstand gegebene Formen möglicher Erfüllung oder
möglicher Einhaltung durch wirkliche Vorgänge Die Natur gibt
Tatsachen, d. h. Erscheinungen; der menschliche Verstand gibt
Regeln, Begriffe und Gesetze. Jeder Allgemeinbegriff ist vom
menschlichen Geiste geschaffen und hat teil an der Idealisierung
der Dinge. Der alte Realismus, welcher behauptete: universalia
sunt realia, ist nicht erst seit fünf Jahrzehnten, sondern seit Jahr-
hunderten begraben, womit nicht gesagt ist, daß sein Gegner,
der Nominalismus, recht behalten hätte mit seiner Behauptung:
universalia sunt nomina. — Begriffe sind Regeln, Gedanken, Ideen,
Fiktionen, d. h. sie sind viel mehr, als bloße Namen. Sie sind
die Denkformen, die Denkeinheiten, die Schemata, auf die wir
die Einzelerscheinungen beziehen, um sie denken zu können Das
Denken bezieht nicht den Begriff auf das Reale der Er-
scheinung, sondern umgekehrt das Reale der Erschei-
nungen, die sogenannten Tatsachen und wirklichen
Dinge, auf die Begriffe. Die Ellipse mußte mit ihren Eigen-
schaften dem menschlichen Geiste schon geläufig sein, ehe er
durch Kepler die Marsbahn auf sie beziehen konnte; und die
Parabel mußte schon im menschlichen Geiste existieren, bevor die
Wurflinie eines schweren Körpers auf sie bezogen werden konnte.
Wir können es daher nicht als eine Erleuchtung der Denker
der letzten fünf Jahrzehnte anerkennen, sich der Idealität oder
Fiktivität und damit zugleich des Grundes der apodiktischen
Gewißheit und Allgemeingültigkeit der Sätze der Geometrie be-
wußt geworden zu sein, sondern müssen aus den uns hinterlasscnen
Schriften unserer Väter schließen, daß diese seit länger als zwei
Jahrtausenden sich dieser Idealität bewußt waren. Damit wird
nicht bezweifelt, daß der Durchschnitt der gelehrten und un-
gelehrten mathematischen Laien noch gegenwärtig dem, was ein
Plato, Leibniz und Kant so klar und deutlich sagten, ver-
ständnislos gegenüberstehen und die geometrischen Begriffe und
Erkenntnisse in der Tat als auf die wirklichen Dinge sich be-
ziehend auffassen. Für die Praxis des Handwerkers ist das auch
genügend. Der schöpferische Erfinder in Wissenschaft, Kunst
und Technik ist sich von selbst, ohne Belehrung durch andere,
des umgekehrten Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und geo-
metrischen Formen bewußt.
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die mtnschl. Erkenntnis. 243
Weil uns die Erfahrung keine genaue materielle Gerade, d. li.
keinen physischen Körper mit genau geradlinigen Kanten, keinen
mit genauer Kreisgrenze liefert und liefern kann, weil sie uns
keine genaue materielle Kugel mit einem Durchmesser = 20 cm
und einem durchgängigen spezifischen Gewicht von genau = 7,86
liefert, deshalb, so lese ich bei Emil Müller (S. 7), sei der Schluß
der Arithmetik, daß eine Stahlkugel von 20 cm Durchmesser und
vom spezifischen Gewicht = 7,86 ein Gewicht von 32,924 kg
habe, nur angenähert richtig, und daraus folge, daß ,,die
mathematischen Erkenntnisse nicht aus einer besonderen geistigen
Quelle, etwa Kants , reiner Anschauung a priori' fließen, sondern
daß ihre Eigenart darin bestehe, daß sie sich auf vollkommen
ideelle Dinge beziehen". — Mein logisches Gewissen zwingt mich
zum umgekehrten Schlüsse: Jener Schluß der Arithmetik ist
absolut richtig; er gilt, wenn die Prämissen gelten. Weil sich
aber die mathematischen Erkenntnisse in ihrer Reinheit nur auf
ideelle Dinge beziehen und nur für solche gelten; weil uns die
Erfahrung keine Gerade, keine Ebene, keinen Kreis usw. liefern
kann, sondern weil wir umgekehrt die ,, wirklichen" Dinge, d.h. die
Erscheinungen, fiktiverweise in die mathematischen Formen, deren
Ideen uns, wie Leibniz sagt insitae sind und darum nicht ver-
gehen können, auch wenn alle historische und ErfahrungsWissen-
schaft ausgelöscht würde, hineindenken und hineinsehen, darum
eben fließen die mathematischen Erkenntnisse aus einer besonderen
geistigen Quelle, und darum müssen wir mit Kant auf die Apriorität
der reinen Anschauung schließen. — Die Geometrie, sagt Leibniz,
betrachtet ihre Formen als per se subsistentes, und mit ihm haben
die schöpferischen Mathematiker wohl nie eine andere Auf-
fassung von ihren Gebilden gehabt, als die, daß es Denkgebilde
sind, bei deren rein geistiger Betrachtung es ohne Belang ist, ob
man sie mit Materie erfüllt denkt oder nicht. Diese Fähigkeit des
Denkens, bei der Betrachtung der Raumformen völlig von der er-
füllenden Materie abstrahieren zu können, und unser Unvermögen,
die Raumformen aus der Welt der Außenobjekte wegzudenken, ist
ja für Kant der Beweis dafür, daß die Raumanschauung ihren
Weg nicht von außen nach innen, sondern von innen nach
außen nimmt, und daß nur dadurch die Möglichkeit der Geo-
metrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori und die Möglich-
keit ihrer Konstruktionen a priori, sowie die Möglichkeit der apo-
diktischen Gewißheit der geometrischen Grundsätze begreiflich wird.
16*
244
Ernst Tischer:
E. Müller sagt: „Definiert man in irgendeiner anderen
Wissenschaft ideale Gebilde auf ähnliche Weise (wie in der Mathe-
matik), indem man ihnen gewisse Eigenschaften als ausnahmslos
und genau gültig zuschreibt, so kann man mit ihnen ein der
Mathematik ähnliches Gedankengebäude aufbauen, dessen Gesetze
ebenfalls strenge Allgemeingültigkeit in diesem Ideallande haben." —
,,Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu
besitzen!" Beherzigen wir diese Mahnung Goethes, so finden
wir bei Kant inbezug auf obige Meinung E. Müllers die Lehre
(Reine Vernunft, Ausgabe Kirchmann, S. 567): ,,Im Räume eine
Anschauung a priori zu bestimmen (Gestalt), die Zeit zu teilen
(Dauer), oder bloß das Allgemeine der Synthesis von einem und
demselben in der Zeit und im Räume, und die daraus entspringende
Größe einer Anschauung überhaupt (Zahl) zu erkennen, das ist
ein Vernunftgeschäft durch Konstruktion der Begriffe und
heißt mathematisch. Das große Glück, welches die Vernunft
vermittelst der Mathematik macht, bringt natürlicherv^'eise die
Vermutung zuwege, daß es, wo nicht ihr selbst, so doch ihrer
Methode, auch außer dem Felde der Größen gehngen werde, indem
sie alle ihre Begriffe auf Anschauungen bringt, die sie
a priori geben kann, und wodurch sie, sozusagen, Meister über
die Natur wird; da hingegen reine Philosophie mit diskursiven
Begriffen a priori in der Natur herumpfuscht, ohne die Realität
derselben a priori anschaulich und eben dadurch beglaubigt machen
zu können." — Ferner: ,,Es bleiben keine anderen Begriffe übrig,
die zum Definieren taugen, als solche, die eine willkürliche Syn-
thesis enthalten, welche a priori konstruiert werden kann.
Mithin hat nur die Mathematik Definitionen. Denn
den Gegenstand, den sie denkt, stellt sie auch a priori in der An-
schauung dar." Die sogenannten Definitionen anderer Wissen-
schaften sind nur Expositionen, Explikationen und Deklarationen.
Sie enthalten nicht das Moment der Freiheit des Denkens, auto-
nom zu konstruieren. Sie gelangen von außen nach innen, nicht,
wie die mathematischen Begriffe, von innen nach außen. Darum
ist es unmöglich, in irgendeiner anderen Wissenschaft ideale
Gebilde auf ähnliche Weise zu definieren, wie in der Mathe-
matik, und darum gibt es kein anderes Idealland, als das der
Mathematik, in welchem allgemeingültige synthetische Sätze
gelten. Wollten wir in irgendeiner anderen Wissenschaft so
verfahren, wie E. Müller angibt, so würde das entstehende
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis, 245
Gedankengebäude aus lauter leeren Tautologien zusammengesetzt
sein und nicht eine einzige Erkenntnis vermitteln, wie ja bis jetzt
auch noch keine andere Wissenschaft, als angewandte Mathematik,
die Probe auf ein solches Experiment bestanden hat, und wie es
die vergeblichen Bemühungen aller philosophischen und meta-
physischen Systeme, die sich nur auf Dialektik stützen, beweisen.
Denn Gedanken ohne anschaulichen Inhalt sind leer. Diesen
Satz Kants darf die Menschheit in allen folgenden Jahrtausenden
als erste Wahrheit bei allem Philosophieren gelten lassen. Die
feinste Logik, für sich allein, ist unfruchtbar, wenn sie sich nicht
mit Konstruktionen der reinen Anschauung oder mit den Tat-
sachen der Erfahrung befaßt, sondern auf logische Formeln be-
schränkt, denen kein Gegenstand der Anschauung entspricht.
Die sogenannten exakten Naturwissenschaften sind eben nur an-
gewandte Mathematik; und nur insofern eine Wissenschaft an-
gewandte Mathematik sein kann, nur insofern sie die Definiton
von Maßeinheiten und Synthesen aus Maßeinheiten zuläßt, die
sie entweder direkt oder in ihren Wirkungen anschaulich machen
kann, hat sie synthetische Sätze von allgemeiner Gültigkeit,
d. h. diese Allgemeingültigkeit ist immer wieder nur eine mathema-
tische. Allgemeingültig ist also nur dasjenige an den Wissen-
schaften, was in ihnen mathematisch ist, alles andere kann uns
gar nicht anders als zufällig gewiß sein. Alle Erfahrungstatsachen
haben in ihrem Verhältnis zu unserer Erkenntnis nur zufällige
Gi^wißheit. Eine verite de fait ist verschieden von der verite de
raison. Eine verite de raison hat nur bedingte Geltung; sie steht
und fällt mit den Prämissen, aus denen sie gefolgert ist. Für uns
endliche Wesen kann die Reihe der Bedingungen der logischen
oder Vernunftwahrheiten nicht ins Unendliche zurückverfolgt
werden. Wir brauchen einen Anfang, wir brauchen eine erste
und eine zweite Wahrheit von allgemeiner Gültigkeit, bei der
das Denken beginnt, wenn wir von allgemeingültiger Gewißheit
mit Recht sprechen wollen. Diese ersten Wahrheiten oder Prin-
zipien oder Grundsätze können also nur Tatsachen sein, nicht
wieder logische Wahrheiten. Zu den ersten Tatsachen nun, von
der alle Geometrie ausgeht, gehört die Bewußtseinstatsache, daß
ich mir jeden äußeren Gegenstand als in einen unendlichen Raum
hineingestellt denken muß, ihn nicht anders denken kann. Eine
zweite Bewußtseinstatsache ist das Bewußtsein meiner Freiheit,
diesen Raum nach meinem Belieben durch Flächen zu teilen, und
246
Ernst Tischer:
diese Flächen wieder durch Linien und die Linien durch Punkte
zu teilen. Sodann die Tatsache, daß meiner Freiheit, zu teilen,
mit dem Punkte ein Ende gesetzt ist; daß ich aber dieses Wunder-
wesen, das Raumnichts, den Punkt, gleichwohl als Individuum
denken und mit einem Namen belegen und in dem Räume be-
wegen, d. h. ihn auf stetige und nur auf stetige Weise im Laufe
der Zeit mit immer anderen und anderen Punkten des ruhenden
Raumes zur Deckung bringen kann, usw. usw. So beruht die
Sicherheit meines geometrischen Wissens auf der Paarung zweier
unendlicher Gegensätze. Einmal auf dem Bewußtsein eines unend-
lichen Zwanges, mir den Raum denken zu müssen, d. h. auf
der unendlichen Unfreiheit, mir die Dinge nicht anders denken
zu können als hineingestellt in einen unendlichen Raum; sodann
aber auf dem Bewußtsein einer unendlichen Freiheit und
eines unendlichen Vermögens, in diesem Räume Flächen, Linien,
Punkte zu setzen und zu konstruieren und zu bewegen und zu
gestalten, zu formen, zu bilden, schöpferisch tätig zu sein.
Auf dem Bewußtsein dieser unendlichen Freiheit beruht mein
Schluß, daß die Eigenschaften, die ich z. B. an diesem Kreise
entdecke, auch für jeden anderen gelten, ganz gewiß gelten,
usw. usw.
Es ist wohl Pfhcht des Denkens, solche ursprüngliche Be-
wußtseinstatsachen von den für unser Bewußtsein zufälligen
Erfahrungstatsachen zu unterscheiden und beide nicht mit-
einander zu vermengen. Was würde wohl Aristoteles in seinem
Gefühl als Begründer der Logik dazu sagen, daß man nach mehr
als zweitausend Jahren nach seinem Scheiden aus dem Kreise
der lebenden Menschen den logischen Grundsatz des Wider-
spruchs als Erfahrungstatsache bewertet (Müller, S. 9),
wohl nur, um die Formel von der Anpassung all unseres Denkens
an die Tatsachen als überall geltend zu retten. In gleichem Be-
streben wird wohl auch alles Rechnen und Denken und geo-
metrische Konstruieren ein ,, Experimentieren" genannt. Doch
sind das Dinge des intellektuellen Geschmacks, über die man
nicht streiten soll. Jeder hat die Freiheit, sich seine Erfahrung
zu gestalten und mit Meinungen und Fiktionen zu durchsetzen,
wie es seinem Wesen und seinem Standpunkt entspricht. Das
ist ohne Belang für das produktive, zu Erkenntnissen führende
wissenschaftliche Arbeiten. Eben der logische Widerspruch, die
Stimme des logischen Gewissens, stellt sich ein, unabhängig von
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 247
unserem Willen, warnend, läuternd, berichtigend, zurechtweisend,
und bestimmt uns, das Gespinst unserer Fiktionen, in die wir
alle unsere Erfahrungen, Tatsachen und Wirklichkeiten beständig
einwickeln und einwickeln müssen, weil wir auf andere Weise
einer Wirklichkeit nicht habhaft werden können, zu ändern. Neue
Erfahrungen, neue Tatsachen fordern das Denken zu neuen Fik-
tionen heraus. Denn ,, nihil est in intellectu, quod non fuerit in
sensu, nisi intellectus ipse". Die verknüpfenden Fäden zwischen
Intellekt und Sinnesreiz, das sind die Fiktionen. Wenn nun neue
Fiktionen den früheren widersprechen und wenn wir belehrbar
sind, dann nennen wir die alten Fiktionen Vorurteile und Irr-
tümer und schicken sie in die Wüste, um neuen Platz zu schaffen.
Darin besteht die Anpassung des Denkens an die Tatsachen. Denn
was heißt Anpassung der Gedanken an Tatsachen ? Doch nichts
anderes als Widerspruchsfreiheit und Zusammenstimmung zwischen
beiden. Wer aber sagt uns, ob unser Denken mit den Tatsachen
zusammenstimme ? Das tut der Satz des Widerspruchs, d. h.
das tun die Kategorien der Qualität, der Bejahung und Ver-
neinung und Begrenzung, der Setzung von Identitäten und Unter-
schieden. Diese Kategorien sind da, wirken in uns, von innen
nach außen, regeln und ordnen unsere Fiktionen und gestalten
unsere Erfahrung, gemäß der ,,unnachlaßlichen Forderung der
Vernunft, irgendein Etwas als unbedingt notwendig existierend
anzunehmen, an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht
mehr unterschieden werden sollen" (Kant, Urteilskraft, ^y6.)
,,Eine intuitive Überzeugung von der Notwendigkeit mathe-
matischer Sätze ist nach meiner Erfahrung ein psychologischer
Irrtum. Man ist nur überzeugt, daß sie gelten", sagt E. Müller
(S. II). Was heißt aber „Überzeugung", wenn sie nicht den
Charakter der Notwendigkeit hat.? Sind nicht Überzeugung
und Denknotwendigkeit ein und dasselbe.? Und hat uns nicht
Kant deutlich genug gezeigt, daß es für uns gar keine andere
Notwendigkeit geben kann als Denknotwendigkeit gemäß
unserem Erkenntnisvermögen.? Daß jede metaphysische, tran-
szendente Notwendigkeit nichts weiter ist als eine Idee, aber eine
transzendente Idee, die wir gar nicht auf unsere ,,Wirkhchkeiten"
beziehen, und die für die Welt der Erscheinungen nur insofern
ins Spiel kommt, als wir uns unserer Erfahrungen als Erscheinungen
bewußt werden und dessen, daß diese Erscheinungen nicht Dinge
an sich sind, und nicht sein können ? Die apodiktische Notwendigkeit
248
Ernst Tischer:
der mathematischen Sätze ist eine Funktion der Organisation
unseres Erkenntnisvermögens. Eine andere Notwendigkeit kann
es für uns nicht geben. Gewiß haben wir von der Notwendigkeit
mathematischer Sätze meist keine unmittelbare, sondern nur eine
mittelbare Überzeugung. Unmittelbar haben wir diese Über-
zeugung nur von den Grundsätzen. Das Blickfeld unseres Be-
wußtseins ist im Vergleich zu dem von der Vernunft geforderten
All unendlich klein. Unsere Vorstellungen verwirren sich in-
einander bei dem Versuche, eine größere Anzahl derselben gleich-
zeitig zu apperzipieren. Daher sind wir auch im Gebiet des mathe-
matischen Erkennens auf das Mittel des diskursiven Denkens und
Fortschreitens von Vorstellung zu Vorstellung angewiesen, d. h,
wir müssen rechnen oder logische Schlußreihen durchlaufen, um
von den unmittelbar anschaulich als notwendig erkannten Grund-
sätzen und Grundbegriffen zu den verzweigten mathematischen
Zusammenhängen aufzusteigen; und wir sind bei der Schwäche
unseres Gedächtnisses und unserer Apperzeptionsfähigkeit auf
Schritt und Tritt der Gefahr ausgesetzt, uns zu verrechnen und
zu verspekulieren. Darum mißtrauen wir mit Recht den Er-
gebnissen unseres Rechnens und logischen Denkens, bevor wir
nicht dasselbe Ergebnis nach Wiederholungen der Rechnung und
nach Abänderung der Rechnungsmethoden erreicht haben. Nur
in diesem Sinne kann auch das Rechnen und logische Denken
ein Experimentieren heißen. Wir machen das Experiment, den
Versuch, auch in der Mathematik, ob wir nicht bei willkürlicher
Umänderung unserer Methode des Denkens, des Konstruierens
und des Gedankenganges, zu demselben Ergebnis kommen. Niemand
hat diese Einschränkung unserer Erkenntnisfunktion deutlicher ge-
fühlt, als Leibniz. Das Bestreben, sie zu einem Teile zu über-
winden, führte ihn zu seiner Infinitesimalrechnung. Diese Er-
findung entstand aus seinem Protest gegen die Schullogik und
die schulmäßige mathematische Beweisführung. Sie entstand aus
dem Verlangen, auf die Idee der Kontinuität gestützt, mit einem
Blicke Zusammenhänge übersehen und als notwendig erkennen
zu können, die die bisherige Methode entweder gar nicht oder nur
nach langen, mühsamen, ermüdenden Gedankenketten enthüllte
oder auch nur als Endpunkt langer Gedankenreihen darzustellen
vermochte, ohne von diesem Punkte aus einen anschaulichen
Überblick über den durchlaufenen Gedankenweg zu gestatten.
Zum Glück für das Denken ist aber die Kontinuität der
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 249
mathematischen Zusammenhänge nicht einem eindimensionalen
Faden, sondern einem vieldimensionalen Geflecht vergleichbar,
in dem das Denken von irgendeinem Punkte aus nach unzählig
vielen möglichen Richtungen und auf unzählig vielen Wegen den
stetigen Übergang von einem Punkte zum anderen suchen und
finden kann. In diesem Geflecht die aussichtsreichsten Bahnen
und Wege zu erschließen, die Standpunkte zu gewinnen, von
denen aus möglichst viel intuitiv mit einem Blick als notwendig,
d. h. als stetig zusammenhängend erkannt werden kann, von
denen aus der Mensch schauen kann und des mühsamen diskursiven
Denkens überhoben ist, um zu erkennen, das ist die Aufgabe der
reinen Mathematik. Ihr Wert für die Kultur aber macht
sich da geltend, wo der Mensch ,, strebt, sich Ideal-
zuständen praktisch zu nähern, vor allem auf tech-
nischem Gebiete in der allgemeinsten Auffassung dieses
Namens", um, wie ich im Anschluß an Kant hinzufügen möchte,
mehr und mehr dazu zu gelangen, daß der Mensch in
seiner Freiheit die Naturkräfte der Idee der Sittlich-
keit und Menschenwürde dienstbar macht. Dieses sich
Hinaufarbeiten in das ideale Reich der Zwecke, wie es Kant
nennt, wird dem Menschen aber nur möglich durch Idealisierungen,
d. h. durch die gestaltende Kraft seiner Fiktionen im großen und
kleinen. Alles Streben und Ringen nach Erkenntnis wird ge-
tragen von dem Glauben oder von der großen Fiktion, als ob es
konstante, zuverlässige Gesetze gebe, nach denen sich die Natur-
vorgänge folgen müssen, und das Erkenntnismittel und die Aus-
drucksform der Erkenntnis dieser Naturgesetze ist mathematisch,
es ist die Gleichung zwischen den Maßzahlen verschiedenartiger
oder gleichartiger stetig veränderlicher Größen, mit anderen Worten,
es ist die Form des mathematischen Funktionalzusammenhanges.
Alles Streben und Ringen auf praktischem Gebiete aber wird
getragen von der anderen Fiktion, daß es möglich sein müsse,
Ideale zu verwirklichen.
So hat uns E. Müller am Schlüsse seines gehaltvollen Vor-
trages aus der erkenntniskritischen Wertung der Mathematik an
die Schwelle des ethischen Gebietes geleitet. Die Frage nach Wert
und Bedeutung der Mathematik und ihrer Methode für das Er-
kennen wird abgelöst von der Frage nach ihrer Wirkung auf
unseren sittlichen Willen. Sind die mathematischen Objekte und
ihre Beziehungen zueinander einmal als Idealisierungen oder
250
Ernst Tischer:
Fiktionen, als Produkte unserer Spontaneität, erkannt, so ist das
Verhältnis zwischen Mathematik und Ethik, zwischen Erkennen
und Wollen, nicht mehr irrational, nicht mehr dasjenige mit-
einander unvergleichbarer Größen oder Kräfte. Beide wurzeln in
der fiktiven und gestaltenden Tätigkeit unserer Psyche, beide haben
ein Ziel. Dieses Ziel heißt allgemeine Harmonie. Das ist ein
Gedanke, der in den tiefsten Geistern der Menschheit, einem
Plato, Leibniz, Kant, immer lebendig und wirksam gewesen ist.
Die Frage nach dem Woher und Was der mathematischen Er-
kenntnis, nach dem Ursprung des an ihr haftenden Charakters
der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, die Frage, ob die
mathematischen Objekte der Erfahrung entnommen sind oder aus
unserer Geistesanlage fließen, ob sie Ergebnisse des Experimen-
tierens oder des ideahsierenden und fiktiven Denkens, ob sie
Wirklichkeiten oder Idealisierungen und Fiktionen sind, wird in
dem Gedankengange von E. Müller schließlich der höheren Frage
nach dem Wozu aller Erkenntnis und somit auch der mathe-
matischen Erkenntnis im Dienste des sittlichen Handelns unter-
geordnet. Wie bei Kant, so erhält auch bei E. Müller die prak-
tische Vernunft das Primat über die theoretische. Die letztere
tritt in den Dienst der ersteren. Wir lesen das zwischen den Zeilen
aus dem Satze (S. i6): ,,Die Mathematik scheint für den Menschen
überall da besonders wertvoll zu werden, wo er strebt, sich Ideal-
zuständen praktisch zu nähern, vor allem auf technischem Gebiete
in der allgemeinsten Auffassung dieses Namens." Das verstehen
wir so: Soll die Technica naturalis (Kant, Urteilskraft, §72),
d. h. das produktive Vermögen der Natur, sofern es mit dem
Mechanismus der Natur identisch ist, vom Menschen in den Dienst
einer Technica intentionalis, nach Absichten menschlicher
Weisheit und des sittlichen Willens gestellt werden, so wird das
um so besser und eher gelingen, je mehr ,,die Mathematik gleich
anderen theoretischen Wissenschaften auf Vorrat, für die Zukunft,
gearbeitet hat" (S. 17). Denn ,,der Hauptwert der Mathematik",
sagt Müller, ,, scheint mir darin zu liegen, daß sie neue Begriffe,
Denkmittel und Denkmethoden schafft, wenn diese auch erst nach
Jahrhunderten praktische Anwendung finden." Damit wird
zwischen den Zeilen die Anpassung der Gedanken an die Tat-
sachen, d. i. alle Experimentalwissenschaft und Forschung, sowie
die Anpassung der Gedanken aneinander, d. i. alle rationale
Klärung, Systcmatisicrung und Gestaltung unserer Vorsteilungs-
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung lur die menschl. Erkenntnis. 25 I
weit und unserer die Vorstellungen verknüpfenden und zusammen-
webenden Fiktionen nicht der letzte Zweck der wissenschaftlichen
Bemühungen der Menschheit, sondern das Mittel zu einem höheren
Zwecke, dem der schließlichen Anpassung der Tatsachen an die
Gedanken, nämlich an die vom sittlichen Willen gesetzten Zwecke.
Der durch Experimentalforschung, Mathematik und Philosophie
in die Schatzkammern der Erkenntnis geförderte und geborgene
Bestand an verites de fait und verites de raison soll im Vertrauen
darauf, oder auf Grund der großen Fiktion, daß die Natur zu-
verlässig und treu arbeitet und feste Gesetze unverbrüchlich ein-
hält, vom sittlichen Willen verwertet und im ethisch-praktischen
Interesse ausgenutzt werden.
Wir haben in obigem in loser Folge einen kleinen Teil der
Gedankenreihen flüchtig skizziert, zu denen wir uns durch E. Mül-
lers Vortrag angeregt fühlten, insbesondere in der Richtung einer
Ergänzung oder weiteren Ausführung dessen, was uns in dem
Vortrage nur in knappen Worten andeutungsweise entgegentrat.
Wer diesen gehaltvollen und gedankendichten Vortrag nicht nur
flüchtig überliest, wer sich jeden seiner Sätze zu deutlicher und
scharfer Apperzeption zu bringen und durch seine Worte hindurch
zu den ihnen entsprechenden Anschauungen und Gedankenver-
kettungen zu dringen sucht, der stößt auf die Probleme, denen
das philosophische Denken der Menschheit seit Jahrtausenden
nachgegangen ist, und denen es, solange es philosophisch denkende
Menschen geben wird, immer nachgehen wird, ohne sich doch
restlos mit ihnen abfinden zu können, weil doch nun einmal die
Beurteilung des Objekts durch das urteilende Subjekt bedingt
ist; weil die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Erkenntnis von
Objekten das Problem der Selbsterkenntnis des erkennenden Sub-
jekts erzeugt und weil die Eigenerkenntnis es wieder fordert, daß
das Subjekt sich inbezug auf sich selbst zum Objekt mache, eine
Forderung, der niemals in der Weise genügt werden kann, daß
das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt identisch seien. Es
sind die Probleme, die wegen der Unmöglichkeit ihrer restlosen
Lösung für jede neue, jede junge Generation der Menschheit den
Reiz der Neuheit haben, und jeder neuen Generation, die sich
ihnen zuwendet, neue Entdeckerfreuden zufließen lassen, wenn es
ihr gelingt, neue Worte, neue Einkleidungen, neue Standpunkte
der Betrachtung, neue Hilfsbegriffe und Fiktionen zu finden, mit
denen das Denken in die Probleme einzudringen sucht. Denn da
252
Ernst Tischer:
unser Denken an Begriffe, Worte, Zeichen, Bilder, Gleichnisse und
Analogien geheftet ist, so entsteht die Illusion, der beglückende
Schein, als ob mit neuen Worten und Wendungen auch neue Ge-
danken oder gar Lösungen gefunden wären, wo doch nur alte,
immer wieder von neuem in den aufeinanderfolgenden Menschen-
gehirnen auftauchende Gedanken in neues Gewand gekleidet, auf
eine andere Seite gelegt und in eine neue Stellung zu anderen Ge-
danken gebracht werden. Wir begehren das unendliche All zu
ermessen und zu begreifen, und können bei unserer Bewußtseinsenge
doch immer nur einen unendlich kleinen Teil und diesen nur in
einseitiger und unzulänglicher Beleuchtung in das Blickfeld unseres
Bewußtseins bringen. Was Wunder, daß sich die Objekte in ver-
schiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten verschieden
darstellen. Was der eine im Lichte sieht, steht für den anderen
im Schatten, je nach der Stellung des Urteilenden zum Objekte;
denn das Objekt erhält seine Beleuchtung für jeden ja gerade von
dieser Stellung aus.
Wie alle tief denkenden Menschen beim Suchen nach Wahrheit,
so kommt auch E. Müller am Schlüsse seiner erkenntniskritischen
Gewissensforschung in Hinsicht auf den Wert der Mathematik zu
dem Ergebnis (S. 19): ,,Wir haben entsagen und uns bescheiden
gelernt. Wir sind zu der Einsicht gekommen, daß wir in das
mystische Wesen der Dinge nie eindringen werden." Das ist, wie
mir scheint, volle Übereinstimmung mit dem Ergebnis der Kant-
schen Kritik unseres Erkenntnisvermögens, daß der Erkenntnis-
trieb, der ins Unendliche strebt, sich dennoch bescheiden muß mit
der bewußten Anerkennung seiner Grenzen, und zufrieden sein
muß, wenn er an der Grenze des Erkennens ein ewig Unbekanntes
und Unerforschliches, das Ding an sich, setzen kann in Form ,,der
letzten, aber auch notwendigsten Fiktion: denn ohne diese An-
nahme eines Dinges an sich ist uns die Vorstcllungswclt un-
begreiflich" (Vaihingcr, Philosophie des Als Ob; 1913; S. 113);
wenn er zu der klaren Erkenntnis über das Verhältnis zwischen
Subjekt und Objekt kommt, daß ,,im Ding an sich die logische
Funktion des diskursiven Denkens ihren Gipfel erreicht" (Vai-
hingcr, ebenda); wenn er sich mit Kant und Vaihinger sagen
kann: ,,Man muß das wirkliche Sein so betrachten, als ob es Dinge
an sich gebe, welche auf uns wirken, und dann die Vorstellung der
Welt in uns hervorbringen." In Übereinstimmung damit stellt
sich E. Müller gleich am Anfange seines Vortrages (S. 4) auf die
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 253
Annahme: „daß es außerhalb unseres Bewußtseins von uns
unabhängige Gegenstände und Ereignisse gibt, die wir die Außen-
welt nennen, und daß die Welt ganz anders ist, als sie dem Men-
schen erscheint, und daß wir vieles in die Welt hineinlegen" —
also objektivieren, — ,,was von unserer körperlichen und geistigen
Organisation herstammt." — All unser Erkennen, die Welt unserer
Vorstellungen, ist ein Produkt unserer Rczeptivität und Spon-
taneität zugleich. Je nachdem man den Nachdruck auf die
Rczeptivität oder Spontaneität legt, gelangt man auf den Stand-
punkt des Empirismus oder des Ideahsmus. Aber die rechte Mischung
beider ist wohl erst wahre Philosophie. Liegt der Unterschied
zwischen dem Erfahrungsphilosophen Ernst Mach und dem Be-
gründer des kritischen Idealismus, Kant, in etwas anderem, als
daß der eine diese, der andere jene Seite des Erkenntnisvorganges
nachdrücklicher betont? Und ist der Satz E.Müllers: ,,Die
mathematischen Erkenntnisse fließen nicht aus einer besonderen
geistigen Quelle, etwa Kants reiner Anschauung a priori" (S. 7)
wirkhch vereinbar mit seinem anderen Satze (S. 6): ,,Man \\Tirde
sich klar bewußt, daß die Geometrie nicht Aussagen über wirkliche
Dinge der Außenwelt macht, sondern über fiktive, vom mensch-
lichen Geiste geschaffene, oder, wie man zutreffender sagt, über
ideahsierte Dinge." — ,,Nur durch diese fiktiven Annahmen" —
der geometrischen Objekte — ,, erhalten die Sätze der Geometrie
ihre apodiktische Gewißheit und Allgemeingültigkeit."?
Was bei Kant unter dem Namen einer Kategorie oder eines
reinen Verstandesbegriffes a priori, im Bunde mit reiner An-
schauung a priori, und bei Vai hinger als Fiktion, als fiktives
Denkmittel, auftritt, das tritt bei Müller unter dem Namen einer
idealisierten Erscheinung auf. Bei Kant liegt der Nach-
druck auf der Apriorität der logischen Formen unserer Urteile und
unserer logischen wie anschaulichen Verknüpfung von Vorstellungen
zu Urteilen und Gegenständen, denen sich das durch die Smne
gelieferte oder vermittelte Reale der Wahrnehmung zu fügen und
anzupassen hat; bei Vai hinger liegt der Nachdruck auf dem
Charakter der Fiktionen als von der Spontaneität geschaffenen
und erdichteten Hilfsvorstellungen zum Zwecke der Ermöglichung
und Ingangsetzung („Einfädelung") eines fruchtbringenden ver-
knüpfenden Denkens, also in dem methodologischen Charakter
und Wert gewisser willkürhch geschaffener ,, Vorstellungsgebilde";
bei E. Müller hegt der Nachdruck auf der Bearbeitung des uns
2CA Ernst Tisclier:
von außen Gegebenen im Sinne einer Uniformicrung großer Gruppen
von untereinander nicht vollständig übereinstimmenden Vorstellungen
oder Erscheinungen unter eine einheithche Form, die dann ideali-
sierte Erscheinung heißt und die der Ökonomie der Denkarbeit
zu dienen hat. Wir nennen z. B. eine große Menge von Erschei-
nungen nach ihrer räumlichen Form Kreise, obgleich sie keine
genauen Kreise sind; wir nennen eine große Menge von Begren-
zungen oder Anordnungen geradlinig, obwohl sie es streng ge-
nommen doch nicht sind. Die Technik behilft sich zur Beherrschung
und Erzeugung der unübersehbaren Menge von Formen ihrer Er-
zeugnisse mit wenigen Elementarformen; sie idealisiert die ge-
gebenen oder erzeugten Formen im Denken um in Kombinationen
von Ebenen, Zylindern, Kegeln, Kugeln und anderen Drehflächen.
• — Wo Kant bei der forschenden Arbeit des Geometers den Nach-
druck auf die Konstruktion, die Synthese und die Deduktion
legt, da legt Müller den Nachdruck auf das Experiment und die
Induktion. Wenn einer einen Kreis und darin zwei Durchmesser
zieht und die Endpunkte der Durchmesser geradlinig verbindet,
und durch Vcrgleichung der dadurch entstandenen Gebilde mit
gewissen bereits bekannten geometrischen Erkenntnissen zu der
Einsicht kommt, daß die Winkel des so entstandenen Vierecks
rechte sind, obgleich sie nicht absichtlich als solche konstruiert
wurden, so nennt Kant diese Einsicht ein Ergebnis der Kon-
struktion und des synthetischen Denkens, welches, insofern dabei
logische Subsumtionen ausgeführt werden, also das Vermögen der
Urteilskraft, und zwar der bestimmenden und nicht der reflek-
tierenden Urteilskraft in Anspruch genommen wird, Deduktion
heißt. E. Müller dagegen erscheint diese Erkenntnis als die
Frucht von Experimenten an idealisierten geometrischen
Objekten in Verbindung mit dem induktiven Denken. Wo nach
Kant die Synthese von einem zu einem und demselben aus einer
Einheit A einer gewissen Größenart eine neue Größe B derselben Art
aufbaut und die Größe dieser Größe durch eine Zahl z, d. i. durch
die Maßzahl von B in bezug auf A denkt, und wo das Experiment
schließlich dem induktiven Denken die Einsicht in den Zusammen-
hang zwischen den Maßzahlen x, y, z, . . . verschiedenartiger Größen
bei einem Naturvorgang in Form einer Gleichung / {x, y, z, . . .) = 0
erschließt, da sagt E. Müller (S. 15): ,,Man bemüht sich, alle
Zustände als meßbare Größen aufzufassen und qualitative Unter-
schiede auf quantitative zurückzuführen. Man mißt verschieden-
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die raenschl. Erkenntnis. 255
artige Größen, wie mechanische Arbeit, Wärme, Elektrizitätsmengen,
elektrische Spannungen usw., indem man den Erscheinungen oft
auf ziemlich künstliche Weisen Zahlen zuordnet", und
macht dadurch die Anwendung der Rechnung, insbesondere der
Infinitesimalrechnung möglich, welche Anwendungen ,,die groß-
artigsten Erfolge bewirkt und das naturwissenschaftliche Denken
umgestaltet" haben. Aber ,,all diese wertvollen Anwendungen der
Mathematik beziehen sich nicht auf gegebene, sondern vom Men-
schen künstlich geänderte und gleichzeitig idealisierte Verhältnisse".
Beleuchten Kant und Müller mit diesen und ähnlichen Worten
nicht eine und dieselbe Sache, einen und denselben Gedanken nur
von verschiedenen Seiten oder gar nur mit verschiedenfarbigen
Lichtern? Und gesellen sich nicht als dritte im Bunde dazu die
Fiktionen Vaihingers? Diese Fiktionen, die keine Voraus-
setzungen sind im Sinne von Hypothesen, sondern methodologische
Hilfsvorstellungen, Werkzeuge des Geistes; Bergstöcke des Geistes,
^ um sich auf einen höheren Standpunkt der Einsicht und Über-
sicht hinaufzuarbeiten; Spaten, um in die Tiefe zu graben; Fern-
gläser, um ein in der Ferne erscheinendes Gewirr von Vorstellungs-
gcbilden in seine Einzelheiten auflösen und deutlicher scheiden zu
können } Je genialer ein Geist ist, um so erfinderischer wird er in
der Schaffung solcher Werkzeuge seines Geistes sein, um so bessere
Fiktionen wird er sich erdichten. Das deutlichste Beispiel für
diesen Charakter der Fiktionen im Sinne Vaihingers ist die In-
finitesimalgröße, sind die Fiktionen, mit denen Leibniz wie mit
einem Schlage Probleme meisterte, die vor ihm übermenschlich
schwer zu sein schienen. Sie gaben Leibniz Engelsflügel zum
Durchmessen des Reiches mathematischer Erkenntnis. Ebenso
schuf Faraday der wissenschaftlichen Forschung mit seiner Fiktion
der Kraftlinien und Kraftfelder und der Kraftliniendichte
ein Mittel, das dem Denken mit einem Schlage Einheit und Klar-
heit über eine vorher unübersehbare und verworrene Fülle von
Einzelheiten ermöglichte und zugleich den leeren Raum und die
Vorstellung einer Wirkung durch leeren Raum, die beide schon
Leibniz als undenkbar bezeichnet hatte, beseitigte.
Ob ich nun damit den Sinn dessen treffe, was der Autor der
Philosophie des Als Qb und der philosophischen Bearbeitung der
Fiktionen unter letzteren verstanden wissen will, weiß ich nicht.
Aber um mir diesen Autor verständlich zu machen, habe ich jene
Fiktion über die Fiktionen nötig.
2i;6 Ernst Tischer*
E. Müller widerlegt mit Nachdruck die, wie er sagt (S. 7),
„immer wieder auftauchende Behauptung, daß alle mathematischen
Erkenntnisse durch bloße logische Deduktion aus den Axiomen
folgten", oder ,,daß die mathematischen Erkenntnisse bloß auf
Grund der logischen Gesetze gewonnen werden" (S. 9). Daß
solche Behauptung fast 140 Jahre nach dem Erscheinen von
Kants Kritik der reinen Vernunft noch möghch ist, zeigt die
Größe des Beharrungsvermögens alter Vorurteile. Solchem Be-
harrungsvermögen gegenüber hat Kant vergeblich gezeigt, daß
alle mathematischen Urteile, wie alle Urteile, die eine Erkenntnis
aussagen, synthetisch sind, und daß aus bloß logischer Deduktion
keine neue Erkenntnis gewonnen wird, wenn nicht eine Synthesis
anschaulicher Elemente, die den der Logik unterworfenen Be-
griffen entsprechen, nebenher geht. Nach Kant gibt es ja keinen
mathematischen Beweis aus bloßen Begriffen allein, sondern die
Beweiskraft liegt in den nebenhergehenden Konstruktionen von
Objekten der Anschauung. Die Mathernatik enthält eben gerade
deshalb Demonstrationen, weil sie ihre Erkenntnisse nicht aus
Begriffen, sondern aus der Konstruktion derselben, d. i. der
Anschauung, die den Begriffen entsprechend a priori gegeben wird,
ableitet (Kritik der reinen Vernunft, S. 574). ,,Ein synthetischer
Satz aus bloßen Begriffen ist ein Dogma" und daher eine un-
beweisbare Behauptung, ,, dagegen ein dergleichen Satz durch
Konstruktion der Begriffe ein Mathema (S. 575)", d. h. der Aus-
druck einer beweisbaren Erkenntnis.
Daß die verborgene Kunst, durch welche das schöpferische
mathematische Denken zu neuen Erkenntnissen gelangt und das
mathematische Wissen erweitert, nicht in der bewußten Anwendung
der Vorschriften der formalen Logik und ihrer syllogistischen
Formeln besteht, mit dieser Einsicht befindet sich E. Müller,
außer mit Kant, auch in Übereinstimmung mit den beiden philo-
sophischen Denkern der nachchristlichen Zeit, die den Schatz des
mathematischen Wissens am meisten bereichert und das Instrument
der mathematischen Forschung am meisten geschärft haben: mit
Descartes und Leibniz. Descartes unterläßt in seinem Dis-
cours de la m^thode nicht, darauf hinzuweisen, daß die Syllogismen
und Vorschriften der formalen Logik wohl gut dazu seien, anderen
das klar zu machen (expliquer), was man selbst weiß, sowie auch
dazu, über Dinge, von denen man nichts w^eiß, urteilslos zu reden
(ä parier sans jugement des choses qu'on ignore), nicht aber dazu,
I
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 2^7
neue Wahrheiten zu finden. Und wenn uns auch Leibniz erzählt
(Guhraucr: G. W. Leibniz, Breslau 1846, S. 9) : „Sobald ich die
Logik anfing, zu hören, fand ich mich sehr gerührt durch die Ver-
teilung und Ofdnung der Gedanken, die ich wahrnahm. Ich
begann gleich zu merken, daß ein Großes dahinter stecken müsse,
soviel etwa ein Knabe von 13 Jahren an dergleichen merken kann;"
und wenn er dieses Urteil über den Wert der Logik für eine durch-
sichtige und klare Gedankenordnung auch bis in sein Alter be-
wahrt hat, so erkannte er nicht minder klar die Grenze, wo die
Logik in der Form des scholastischen Betriebes aufhört, dem
Erkennen wertvolle Dienste zu leisten, ,,Ich war", so erzählt
er, ,,in das Gebiet der Scholastiker weit eingedrungen, als die
Mathematik und die neueren Schriftsteller (Descartes, Kepler,
Galilei) mich schon in früher Jugend davon abzogen. Deren
schöne Weise, die Natur zu erklären, entzückte mich, und ich ver-
achtete nun das Verfahren jener, welche nur Formen aufstellen,
aus denen man nichts lernt." —
Gleichwohl wird man die beiden großen Bereicherungen der
mathematischen Erkenntnismethoden durch Descartes und Leib-
niz, die Koordinatengeometrie und die Infinitesimalrechnung, als
Erzeugnis der beiden Denkern immanenten logischen Kraft oder
Energie bewerten müssen, der lebendigen logischen Kraft, die
unbewußt von innen nach außen treibt, nicht aber der erst nach-
träghch aus den Schöpfungen des lebendigen logischen Triebes
abstrahierten und darum toten logischen Formen, so wenig, wie die
Kenntnis der aus der vorhandenen lebendigen Sprache abstrahierten
grammatischen Regeln allein schon dazu befähigt, einen guten Stil
zu schreiben, oder so wenig, wie die Zerlegung eines Gedichtes,
wie es im Schulunterricht geschieht, allein schon die Gabe zu
dichterischem Schaffen verleiht. — Weil es unmöglich ist, daß
das Ich sich selbst restlos objektiviere, ist uns auch der Einblick
in das geheimste Getriebe in der Werkstatt des schöpferischen
logischen Denkens verschlossen. Wir müssen uns mit Ahnungen,
Gleichnissen, Analogien behelfen. So z. B., wenn wir fragen: Was
ist Leben? Und antworten: Leben ist zweckmäßig gestaltende
Kraft. Mit solchen Umschreibungen stillen wir vorübergehend
unser Verlangen nach tieferem Einblick in das Wesen der Dinge,
des Geschehens, des Tuns und des Denkens. Und bei glücklicher
Wahl der Analogien und Gleichnisse kommen wir wohl auch dieser
Einsicht näher und näher. Dieses zu erstreben, das ist doch wohl
Annalen der Philosophie. 1. ^7
258
Ernst Tischer:
die Aufgabe, die sich Vaihingcr in seiner Philosophie des Als Ob
und in seiner Theorie der Fiktionen stellt. Er sieht in dem
logischen Denken mit anderen Forschern „eine organisch zweck-
mäßige Verarbeitung des Empfindungsmaterials", ,,eine organische
Funktion der Psyche". Die Psyche ist ihm ,,eine organische
Gestaltungskraft", welche das von außen auf sie Wirkende
,, zweckmäßig verändert zu dem doppelten Zwecke: i. das Fremde
sich anzupassen, 2. sich selbst allem Fremden und Neuen an-
zupassen". Zu diesem Zwecke ,, umspinnt die Psyche das Wahr-
genommene mit ihren aus ihr selbst heraus entwickelten Kate-
gorien" (Vaihinger, S. 3).
Kehren wir zurück zu der auch von E. Müller gestellten
Frage, welchen Anteil die Logik, insbesondere die Deduktion an
den Entdeckungen neuer mathematischer Erkenntnisse hat, so
muß uns in obigem Zitat von Leibniz gerade die Gegenüber-
stellung von scholastischer Logik und Mathematik als zweier Gegen-
sätze auffallen. Die Mathematik war es, die ihn von der Scholastik
abzog. Also kann es nicht die logische Beweisführung mathe-
matischer Wahrheiten nach den Vorschriften der logischen Syllo-
gistik gewesen sein, die ihm die Mathematik wert machte und ihn
zu seinen Forschungen und Entdeckungen darin leitete und be-
geisterte, sondern etwas anderes, was unabhängig von der logischen
Deduktion ein wesentliches Element der Mathematik ausmacht.
Und Descartes unterscheidet das Verfahren der geometrischen
und der algebraischen Analyse scharf voneinander und von dem
Verfahren der Logik, und kommt nach ihrer gegenseitigen Ab-
wägung zu dem Entschluß, eine andere, eine neue Methode zu
suchen, welche alle Vorteile jener drei enthalte, aber frei von
ihren Fehlern sei. Was Descartes vor anderen auszeichnet,
ist also das, daß er weder einseitig nur Philosoph, noch nur
Mathematiker war; daß er sich nicht einseitig einschränkt, sondern
auf das Ganze geht und sieht. Logik allein ist ihm zu leer;
Geometrie allein, nach der Methode der Alten, bindet den Geist
zu einseitig an die Betrachtung der Figuren, ermüdet dadurch die
,,imagination" und übt das eigentliche Denken, den Geist, den
Verstand (rcntendcmcnt) zu wenig. Die algebraische Analysis
allein ist ihm zu abstrakt. Aber indem er aus jeder dieser drei
Disziplinen nur das Beste herausnimmt und die Mängel der einen
durch das Gute der anderen ausgleicht, schafft er sich seine neue
Methode. Der Geometrie entnimmt er die einfachsten anschau-
Die mathemalischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl, Erkenntnis. 25Q
liehen Elemente, die einfachsten anschauhchen Denkeinheiten,
nämlich die Strecken, a cause ijue je ne trouvais rien de plus
simple ni que je pusse plus distinctement reprcsenter ä mon
imagination et ä mes sens. Der Algebra entnimmt er die Zahl als
die Denkform der ratio zweier gleichartigen Größen, also auch
zweier Strecken, sowie die Gleichung als die einfachste und doch
zugleich fruchtbarste und geschmeidigste Denkform der gegen-
seitigen Abhängigkeit veränderlicher Werte; der Logik entnimmt
er die Begründung des rechnerischen Verfahrens — denn alles
Rechnen ist logische Deduktion, ist angewandte Logik.
Was in der Sprache der formalen Logik eine unmittelbare
Folgerung heißt, das ist in der Sprache der Algebra die Um-
formung einer Gleichung. Was in der Sprache der Logik ein
Schluß heißt, das ist im mathematischen Rechnen die Ableitung
einer neuen Gleichung aus zwei gegebenen Gleichungen durch
Elimination einer jenen beiden Gleichungen gemeinsamen Größe.
Wenn nach Kant die mathematischen Erkenntnisse das Er-
gebnis einer Synthesis von Elementen der reinen Anschauung
gemäß solcher Begriffe sind, die durch freie Konstruktion an-
schaulich dargestellt werden können, so haben wir in der Schöpfung
der kartesianischen Geometrie eines der bewundernswertesten Bei-
spiele dieses schöpferischen synthetischen Denkens vor uns.
Das gesamte Denkverfahren der sogenannten ,, analytischen"
Geometrie, das Umgießen von Gebilden der räumlichen Anschauung
mit Hilfe von Elementareinheiten und Zahlen in Gleichungen, die
Ableitung neuer Gleichungen aus gegebenen und schließlich die
Rückdeutung der neuen Gleichungen in Objekte der räumlichen
Anschauung und ihrer Beziehungen zueinander, also die Schöpfung
neuer geometrischer Erkenntnisse und Einsichten aus alge-
braischen Verkettungen ist ein verwickelt durcheinander ge-
schlungenes Geflecht von Analysis und Synthese im Sinne
Kants, viel mehr aber Synthese und Konstruktion, als Analysis.
Erst durch das synthetische und konstruktive Moment wird dieses
Verfahren schöpferisch, wozu freilich umgekehrt die Analysis
nicht entbehrt werden kann. Analyse und Synthese sind Ab-
straktionen; sie können einzeln, isoliert, gar nicht bestehen, sondern
setzen einander voraus; sie sind nur die fiktiven oder abstrakten
Teile eines an sich unteilbaren organischen Ganzen, einer organi-
schen Zwecktätigkeit. Der Name ,, analytische" Geometrie ist
unzutreffend und irreführend. Eine bloß analytische Geometrie
17*
200 Ernst Tischer:
kann es ebensowenig geben, wie eine bloß synthetische. Wir
haben da einen verworrenen Gebrauch der Sprache vor uns.
In diesen von Descartes vorgezeichneten Bahnen arbeitete
Leibniz weiter. Auch er ging auf das Ganze und hütete sich
vor Einseitigkeit. Auch er verschmolz geometrische Anschauung,
allgemeine Arithmetik und Logik zu einem einheitlichen Verfahren.
Die algebraischen Zeichen werden sichtbare Vertreter allgemeiner
Begriffe, die algebraischen Rechnungsoperationen treten an Stelle
der logischen Wort- und Satzgefüge beim Schließen und Dedu-
zieren, die Einbildungskraft wird von der Nötigung, eine Fülle
von durcheinander geflochtenen Objekten der Anschauung im Be-
wußtsein frisch zu erhalten und eben dadurch zu schnell zu
ermüden, befreit. Er sagte sich, ,,Instrumentum inventionis
humanae generale esse characteros aptos; mens enim filo quasi
quodam sensibili regenda est, ne vagetur in labyrintho, et cum
multa simul complecti distincte nequeat, adhibitis signis
pro rebus, imaginationi parcit (Leibnizens mathematische Schriften,
VII, 17). Indem sich Leibniz die Fiktion der unendlich kleinen
Größen schuf und indem er das ,, Gedankenexperiment" wagte,
unendhch kleine Größen aneinander zu messen, und die Verhält-
nisse unendlich kleiner Größen zueinander ebenso durch das Denk-
mittel der Zahlen festzulegen und auszudrücken, wie seither die
Verhältnisse gleichartiger endlicher Größen zueinander in Form
von Zahlen gedacht worden waren, gelang ihm die folgenreichste
Erfindung im Gebiete mathematischer Erfindungs- und Erkenntnis-
mittel, die je gemacht Werden konnte, gelang ihm seine neue Ars
inveniendi. Aber sowohl jene fiktiven Vorstellungsgebilde unendlich
kleiner Größen, wie sein Experiment, mit ihnen zu rechnen, waren
nicht nur ,, zufällige Ansichten", sondern wurden mit innerer Not-
wendigkeit hervorgetrieben aus seinem in der reinen Anschauung
a priori wurzelnden Kontinuitätsgesetz, von dem sein ganzes Denken
getragen war.
Neben der Betonung und Wertung der Fiktivität der mathe-
matischen Objekte, oder, wie er vorzieht zu sagen, der Ideali-
sierungen der mathematischen Formen, und neben dem Hinweis
darauf, daß H. Vaihinger in seiner so beachtenswerten ,, Philo-
sophie des Als Ob" (S. 13) zeigt, daß unser ganzes Denken von
Fiktionen beherrscht wird, macht E. Müller besonders eindringlich
darauf aufmerksam, daß der Fortschritt in aller Erkenntnis auf dem
Experimente beruht, und daß auch das Denkverfahren, das in
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 26 1
der reinen Mathematik zu neuen Entdeckungen führt, in Ge-
dankenexperimenten besteht.
Die Erfindung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz bildet
hierzu in der Tat einen der besten Belege.
Sofern das logische Schließen zu Erkenntnissen, also, nach
Kants Sprechweise, zu synthetischen Urteilen führt, und nicht
bloß zu Selbstverständlichkeiten und ,, Binsenwahrheiten", ist es
nach E. Müller ein Experimentieren mit Gedanken, ist es
die Durchführung von Gedankenexperimenten mit bestimmten
Klassen von Dingen (S. 12). In der Geometrie ist das Schließen
die Durchführung von Gedankenexperimenten mit fiktiven
Dingen (S. lO). Ein mathematischer Beweis besteht darin, daß
man für eine behauptete ,, Tatsache eine lückenlose Kette von
Gedankenexperimenten angibt, durch die der Leser zur An-
erkennung der Richtigkeit gezwungen wird" (S. II). Hinsichtlich
seines Zweckes besteht das Schließen darin, ,, Beziehungen zwischen
den wirklichen Dingen aus ihren geistigen Bildern zu finden"
(S. 8). Dem liegt also eine metaphysische Annahme zugrunde,
nämlich die Annahme, ,,daß die Dinge und Vorgänge der Außen-
welt auf unsere Vorstellungen abgebildet sind", d.h. ,,daß eine
mehr oder weniger eindeutige Zuordnung zwischen dem einen und
anderen Gebiete besteht" (S. 8), eine metaphysische Voraussetzung,
die an Leibniz erinnert, wenn dieser sagt (Monadologie 78): ,,Das
Seelische folgt seinen eigenen Gesetzen und ebenso das Körper-
liche den seinigen. Aber beide begegnen sich vermöge der zwischen
allen Substanzen vorher bestimmten Harmonie, weil sie sämtlich
Darstellungen desselben einen Universums sind." So gut stimmen
metaphysische Hypothesen moderner Erfahrungsphilosophen mit
denen fast vergessener Idealisten früherer Jahrhunderte zusammen 1
Der ansprechende Gedanke der Subsumtion des mathema-
tischen Denkens und selbst des logischen Schließens unter den
Oberbegriff des Experiments bei E. Müller veranlaßt uns, zu
fragen, was denn Experimentieren eigentlich sei? Beim Experi-
mentieren setzt man irgendwelche willkürlichen Bedingungen und
wartet die Folgen ab. Man gibt gewissen Größen oder Verhält-
nissen von Größen oder Zuständen willkürlicherweise gewisse Werte
und wartet ab, welche Werte gewisse andere Größen oder Verhält-
nisse von Größen oder Zuständen, die von jenen abhängig sind,
darauf folgen. Wer oder was aber treibt aus den von mir will-
kürlich gesetzten Bedingungen die Folgen hervor? Entweder
252 Ernst Tischer:
eine mir verborgene Ursache, die ich eben durch das Experiment
zu entschleiern oder doch näher zu umschreiben beabsichtige. Das
ist der Fall bei dem physikalischen, chemischen und physiologischen
Experiment. Oder die Folge wird aus der Bedingung hervor-
getricbcn durch die logische Funktion meines Denkens. Das ist
der Fall beim logischen Schließen, beim Spekulieren aller Art, bei
aller Dialektik und beim mathematischen Rechnen. Aus mehreren
Urteilen mit zum Teil gemeinsamen Begriffen wird durch die
Elimination gemeinsamer Begriffe eine vorher nicht klar apper-
zipierbare Abhängigkeit oder Beziehung zwischen den übrigen
Begriffen der Prämissen als Folge der Bedingungen erkannt,
d. h. zu deutlicher Apperzeption erhoben. — So gewinnt z. B. das
Denken aus den beiden Urteilen:
1. Die Geschwindigkeitsänderung eines Körpers von der Masse
m, auf welche eine konstante Kraft k in konstanter Richtung ein-
wirkt, ist proportional der Zeitdauer t der Einwirkung, proportional
der Kraftstärke, und umgekehrt proportional der Größe der Masse;
2. der während der Einwirkung vom Körper durchlaufene
Weg s ist ebenso groß, als ob der Körper sich ohne Krafteinwirkung,
also mit unveränderter Geschwindigkeit bewegte, nämlich mit der
mittleren Geschwindigkeit aus der Anfangs- und Endgeschwindig-
keit, den neuen Satz:
3. die dabei von der Kraft geleistete Arbeit ist gleich dem
Gewinn der Masse des Körpers an kinetischer Energie.
Freilich dürfte es der logischen Funktion bei bloßem Ge-
brauch der Wortsprache schwer werden, diese Leistung zu voll-
bringen, aus den Sätzen (i) und (2) den Satz (3) herauszuziehen.
Aber mit dem Werkzeug der mathematischen Zeichensprache voll-
zieht das Denken diesen Schluß leicht zunächst durch eine einfache
Rechnung. An Stelle der Sätze (i) und (2) treten bei geeigneter
Wahl der Größeneinheiten die Gleichungen:
i) v-v^ = — • ^; 2) .y = y (z; + v^) ' t.
Die Elimination von / liefert eine neue Gleichung, die kraft
der logischen Operationen des algebraischen Rechnens in die Form
^) — niv^ mvJ' = k' s
gebracht werden kann, welche Gleichung dann von dem schöp-
ferischen synthetischen Denken als die im Satz (3) formulierte
neue Erkenntnis gedeutet wird, d. h. aus welcher Gleichung dann
dem Auge des schöpferischen synthetischen Denkens das Licht
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 263
einer neuen und folgenreichen Erkenntnis entgcgcnstrahlt, der
Erkenntnis, die ihrerseits die wichtigste Etappc ist auf dem Wege
zur Erkenntnis des Prinzips der Erhaltung der Energie. — Endlich
kann die Folge willkürlich gesetzter Bedingungen auch bewirkt
werden durch die Eigenart meiner Raumanschauung; das ist der
Fall beim geometrischen Konstruieren. Ziehe ich z. B. in einer
Ebene zwei gerade Linien, so ist die Folge entweder ein Schnitt-
punkt und vier Winkel; oder kein Schnittpunkt und drei bestimmt
geformte, nämlich parallel laufende Teile der Ebene. Daß wir
aber fragen: W^as treibt die Folge aus einer Bedingung hervor?,
das befiehlt der Satz vom zureichenden Grunde, der all unser
Denken beherrscht. Und das von uns zwischen zwei sich folgende
Zustände oder Vorstellungen gesetzte Dritte nennen wir den
Grund davon, daß die eine Vorstellung auf die andere folgt.
Dieser Grund heißt nun in dem ersten der drei obigen Fälle die
Ursache, oder der Kausalnexus, oder Grund des Werdens oder Ge-
schehens, oder Principium rationis sufficientis fiendi; im zweiten
Falle der Erkenntnisgrund oder logische Grund, Principium rationis
sufficientis cognoscendi; im dritten Falle, nach der Schopen-
hauerschen Terminologie, der (metaphysische) Seinsgrund der
reinen Anschauung (nach Kant müßte er wohl der transzendentale
Seinsgrund heißen), das Principium rationis sufficientis essendi.
Aber nur das Ergebnis der ersten Art von Experimenten nennt
man eine empirische Wahrheit, das der zweiten eine logische
Wahrheit, das der dritten eine unmittelbare, unabweisbare Be\Mißt-
seinstatsache unserer Raumanschauung, eine unmittelbar anschau-
liche Wahrheit, vor der wir wohl staunend und in Verwunderung
fragend stehen bleiben, für die wir aber keine Erklärung, keinen
weiter zurückliegenden Grund angeben können, wenn wir nicht
Transzendentalphilosophie oder gar transzendente Philosophie treiben
wollen.
Aber nicht bloß die anschauliche Seins Wahrheit, auch die
empirische Wahrheit, das Ergebnis der ersten Art des Ex-
perimentes, führt auf transzendentale Fragen. Die empirische
Wahrheit gibt uns keine Erkenntnis der Ursache. Nicht in das
Wesen des problematischen Etwas, das die Folge aus der Be-
dingung hervortreibt, erhalten wir durch das Experiment Einsicht,
sondern nur eine gewisse Einsicht in den Verlauf ihrer Wirkung.
Wir erhalten überhaupt keine Erkenntnis, sondern bloß Kennt-
nis, nämlich Kenntnis von einer gewissen konstanten Beziehung
26a Ernst Tischer:
zwischen den Bedingungen und den Folgen; welche Beziehung,
wenn wir sowohl die Bedingungen wie die Folgen als Größen
denken und durch Zahlen ausdrücken können, uns am deutlichsten,
fruchtbarsten und ergiebigsten ist, wenn sie in Form einer Gleichung
zwischen diesen Zahlen gedacht werden kann. Die Art des
fingierten Kausalnexus wird durch die Gleichung umschrieben.
Die Ursache selbst zieht sich beständig hinter alle Erfahrung
zurück; weicht aller Erfahrung aus und hält sich auch gegen alle
Angriffe der ,, Vernunft" gedeckt. Trotzdem läßt unser Denken
von der Fiktion einer Ursache nicht los. Warum nicht ? Das eben
ist eine transzendentale Frage, die durch keine Erfahrung und
durch kein Experiment beantwortet werden kann.
Es hat nun jeder die Freiheit, die willkürliche Setzung von
Bedingungen und das darauffolgende Abwarten der Folgen im
allgemeinen Experimentieren zu nennen. Er hat aber auch
die Freiheit, den Begriff des Experimentes auf den ersten der oben
genannten drei Fälle einzuschränken, das zweite Verfahren aber
Denken, Deduzieren, Folgern, Rechnen oder Schließen, das dritte
endlich Konstruieren zu nennen, und nur im Sinne einer Analogie
oder eines Gleichnisses mit Experimentieren zu bezeichnen. Das
unterliegt keinen zwingenden Gesetzen, sondern ist freie Sache
des Geschmacks.
Man kann aber auch hier wieder bemerken, daß unser ab-
strahierendes Denken uns zu Verdinglichungen von bloßen Ab-
straktionen verführt. Das Experimentieren im engeren Sinne, das
bloße Abwarten der Folgen allein bei vorausgegangener Setzung
gewisser äußerer Tatsachen als Bedingungen führt zu keiner
Erkenntnis. Diese ist immer erst der Abschluß eines synthetischen
Denkaktes, und, wie mir scheinen will, ist dieser Akt ohne bewußte
oder unbewußte Mitwirkung von Fiktionen, von hinzugedachten
Verallgemeinerungen, d. h. schließlich soviel wie ohne apriorische
Elemente und Zutaten, ohne Kategorien, gar nicht möglich. Ex-
perimentieren setzt Intelligenz voraus, d. h. die Fähigkeit der
Ausdeutung und Verknüpfung der durch das bloße Experiment
erster Art gegebenen Tatsachen zu neuen Denkeinheiten. Experi-
mentieren ist also wieder ein organisches Ganze, eine organische
Zwecktätigkeit, die mit der Registrierung und Aufzählung sinn-
licher Wahrnehmung nicht erschöpft ist, und die das Denken in
seiner analytischen wie in seiner synthetischen Funktion in An-
spruch nimmt. Es gibt keinen Empirismus ohne stillschweigende
Die mathematischen Fiktionen u, ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 265
Mitwirkung des rationellen Denkens, und es gibt keinen Rationalis-
mus ohne stillschweigende Mitwirkung des Empirismus. Beide
arbeiten ineinander und miteinander. Keiner von beiden kann
aus sich allein leben; beide können nur in der Abstraktion isoliert
voneinander gedacht werden. Keiner kann ohne die Hilfe von
Fiktionen einen Schritt vorwärts tun.
Halten wir uns an ein Beispiel. Galileis Fall versuche auf
der schiefen Ebene liefern zu einer abgemessenen Reihe von Zeit-
längen ti t2 t^ . . . . eine zugeordnete Reihe von Wegelängen 5^ ^2 ^"3 . . .
Schon diese Maßzahlen i und 5 und die ihnen entsprechenden
Größen sind ohne die Funktion des synthetischen Denkens —
eben nicht denkbar. Nun bemächtigt sich die reflektierende Urteils-
kraft dieser Zahlenreihen s und t und fingiert dabei, daß jedes t
und sein zugeordnetes s einer festen Beziehung oder einer und
derselben Gleichung genügen. Von dieser Fiktion getragen, wird
sie zu Versuchen (Experimenten) mit diesen Zahlen geführt. Das
Experiment s/t^ = } ergibt für s/t^ nahezu eine und dieselbe Zahl.
Das induktive Denken macht aus dem empirischen ,, nahezu"
sofort ein ,, vollkommen genau", und verallgemeinert auch die
Gültigkeit der Gleichung s/t^ = konstant, oder s = y • t^, wo y
konstant, für gar nicht gemessene t und s. Die Neigung der
schiefen Ebene und das Gewicht der bewegten Kugel werden ge-
ändert. Die Zahl s/t^ zeigt sich durch das Experiment von der
Neigung abhängig, vom Gewicht der Kugel aber unabhängig. So
findet das Denken mit Hilfe des Experimentes aus Messungen und
Rechnungen ein ,, ehernes" Naturgesetz in Form einer bestimmten
Geleichung zwischen einer veränderlichen Streckenmaßzahl, einer
veränderlichen Zeitmaßzahl und einer nach Belieben konstanten
oder veränderlichen Zahl, durch welche die Neigung der schiefen
•Ebene bestimmt wird. Ist z. B. v der Neigungswinkel der schiefen
Ebene gegen die Horizontebene, so lautet die Gleichung^: (<^.sini/) =
konstant bei aller Veränderung von v, t und s, d. h. bei beliebig
gewähltem t und v; aber nicht bei beliebigem Experimentalort auf
der Erde oder im Räume. Diese ,, empirische Wahrheit"
5:(i2sini/) = konstant, die ich aber nur für eine verhältnismäßig
kleine Anzahl von Werten für t, v und s empirisch erprobt habe,
trotzdem aber für den unendlich großen Rest von möglichen
Werten für t und v als gültig annehme, gibt mir keine Einsicht in
das Wesen der Ursache der Bewegung, der wirkenden Kraft, die ich
ll in Übertragung der inneren Erfahrung meines eigenen un-
256 Ernst Tischer:
geteilten Ich auf Dinge außer mir fingiere, indem ich nach
Analogie schließe, daß da, wo nicht ich selbst etwas bewege, es
ein anderes Ich, ein anderes mit einem Substantivum zu be-
nennendes einheitliches Etwas sein muß, das die Bewegung unter-
hält. Als solche Ursache oder wirkende Kraft fingiere ich, wieder
infolge von Analogie und Übertragung innerer Erfahrung auf
Dinge außer mir, den von meinem Muskelsinn als real empfundenen
Druck auf meine Hand, wenn ich mit der Hand die Bewegung
hindere. Ich schätze a priori die Größe der treibenden Ursache
nach der Größe dieses Druckes und ich erwarte, daß mit diesem
Druck auch die Zahl s:{t'.sinv) wachse. Das wird von vornherein
mit solcher Sicherheit erwartet, daß man es gar nicht für nötig
erachtet, über das wirkliche Eintreffen der Erwartung das Experi-
ment zu fragen. Je schwerer ein Körper ist, um so geschwinder
fällt er. Das war seit Aristoteles bis zu Galilei eine selbstverständ«
liehe Wahrheit a priori. Was war es nun, das Galilei an dieser
Wahrheit zweifeln Heß? Sollten es nicht rationale Erwägungen
in Anknüpfung an gewisse Beobachtungstatsachen gewesen sein,
die diesen Zweifel in ihm weckten und erst hinterher zu dem Zwecke
der Überzeugung seiner Mitmenschen das Experiment ausführen
ließen, das seine Zweifel als begründet bestätigen sollte? Wahr-
scheinlich würde uns Gralilei hierauf selbst nicht antworten können,
wenn er noch lebte. Die Psyche wirkt in ihrer logischen Funktion
geheimnisvoll, auch im Unbewußten. Genug, das Experiment
widerlegt jene vermeintlich selbstverständhche Wahrheit, erweist
sie als einen Irrtum, als ein Vorurteil des wissenschaftlichen oder
philosophischen Denkens von Jahrtausenden. Einerlei, ob ich den
durch sein Eigengewicht getriebenen Körper schwer oder leicht
wähle, die Zahl s:(/^. sin ;■) bleibt unverändert. Große Verlegenheit
des Geistes ! Aristoteles hat doch nicht irren können ! ? Aber Tat-
sache ist Tatsache! Jetzt heißt es, die Jahrtausende alten falschen
Gedanken an die neue Tatsache 5 :(f 2. sin 1») = konstant anzupassen I
Dieses Anpassungsbestreben der Psyche trieb aus dem Denken
den Begriff oder die Fiktion der Masse in ihrer wissenschaftlichen
Bedeutung, und die Fiktion des Bcharrungsprinzips hervor.
Aber logische Analyse und schöpferische Synthese im Bunde mit
der Fiktion unendlich kleiner Zeiten und Wege verhalfen zu den
Begriffen exakt definierbarer und aneinander meßbarer Geschwindig-
keiten und Beschleunigungen und ergaben als eine rationale
Folge, nicht als eine Folge erneuter empirischer Wahrnehmung,
Die mathemalischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 267
aus der empirischen Wahrheit s=yl^, wo y bei unverändertem v
eine konstante Zahl ist, die Erkenntnis, daß die Geschwindig-
keit des bewegten Körpers proportional der Zeit wächst. In der
Sprache von Leibniz ergibt sich dieser Schluß auf dem aller-
kürzesten Wege. Denn aus s = y • t^ folgt ds/dt = ^ y • t, d. h.
y / = konstant, wenn v die Geschwindigkeitsmaßzahl am End-
punkt der Zeit t bezeichnet. Galilei fand den Weg zu diesem
Schlüsse noch nicht so glatt geebnet. Er mußte sich diesen Weg
erst durch geniale Zwischenstationen und Analogien bahnen. Aber
er fand auf seine Weise aus der empirischen Wahrheit s =y • t^
durch logische Deduktion das Gesetz v/t = konstant. Und aus
dieser Folgerung konnte das rationale Denken ebenfalls das Be-
harrungsprinzip ableiten; denn die reflektierende Urteilskraft kann
rückschließend das Gesetz z;/i = konstant als eine Folge des
Beharrungsprinzipa erkennen, also umgekehrt das Beharrungs-
prinzip als die Bedingung des vorher durch Experiment ge-
fundenen Bewegungsgesetzes s = y - t^ einsehen. Die Anpassung
der Gedanken an die Tatsachen war vollzogen, und das Genie
eines Newton konnte daraus die weiteren Folgerungen ziehen,
die Kraft seiner Gedankenexperimente zur Geltung bringen, ohne
auf Schritt und Tritt zu unmittelbaren Tatsachenexperimenten
zu greifen.
Wir haben bemerken können, daß die Ausführungen und die
knappen Andeutungen der Grundgedanken E. Müllers bei seiner
,, Gewissensforschung im Gebiete der Mathematik" mit der Fik-
tionenlehre und der Als- Ob-Philosophie Vaihingers mehrfach zu-
sammenstimmen. Die Anhänger und Bekcnner dieser Philosophie
haben daher Ursache, die Darlegungen Müllers dankbar und
freudig zu begrüßen. Die Zusammenstimmung zwischen beiden
Denkern wird sich uns noch deutlicher zeigen, wenn wir versuchen,
das Ergebnis der Müller sehen Darlegungen kurz zusammenzufassen.
Vieles von dem, was dem Menschen in seiner Jugend als volle
Wirklichkeit gilt und eben dadurch die Macht über ihn bekommt,
sein Denken und Handeln zu bestimmen, belächelt er im Alter
als Jugendideale (S. 18), oder als Fiktionen, denen keine Wirklich-
keit entspricht. Gleichwohl handelt er noch immer so, ,,als ob
diese Ideale Wirklichkeiten wären". So auch galten am Anfange
des erwachten wissenschaftlichen Bewußtseins den Menschen die
208 Ernst Tisclier:
Objekte der Mathematik als Realitäten, und nur bevorzugte Geister
erkannten sie schon früh als Idealisierungen, als nur gedachte
Dinge, als Produkte des bloßen Denkens, als Fiktionen der reinen
Anschauung, denen keine wirklichen Gegenstände entsprechen.
Allmählich durchdringt diese Erkenntnis das gesamte mathematische
Denken und Urteilen. Gleiches gilt von naturwissenschaftlichen
Vorstellungsgebilden. Atome, Moleküle, Ionen, Elektronen, der
Weltäther usw. werden zuerst als Wirklichkeiten aufgefaßt, dann
aber mehr und mehr als Fiktionen erkannt. Hieraus entspringt
dann die weitere Einsicht, daß die ,, ehernen" Naturgesetze in der
üblichen Auffassung ,, wieder nur eine vom Menschengeist ge-
schaffene Idealisierung sind, entsprossen den mathematischen und
naturwissenschaftlichen Idealisierungen" (S. i8). Gleichwohl arbeitet
die Wissenschaft, vollkommen bewußt, auf Fiktionen zu bauen,
so weiter, ,,als ob strenge Gesetze, genaue funktionelle Abhängig-
keiten zwischen den Erscheinungen beständen, also ganz ähnlich,
wie der Mathematiker bewußt mit seinen ideahsierten Gebilden
arbeitet". In der Mathematik wird die Fiktivität oder Idealität
der behandelten Objekte zuerst erkannt. Und so ist es die
Mathematik, durch die es zuerst angebahnt wird, daß der Mensch-
heit die Idealität der gesamten Weltanschauung zum Bewußtsein
kommt, wie sich das ja schon bei Flato zeigt, und wie es ja die
Tatsache des Vorhandenseins der Mathematik gewesen ist, die die
feste Grundlage für Kants kritischen Idealismus im Gebiete des
Erkennens gebildet hat. Wenn aber die Fiktionen, mit deren Hilfe
der Mensch sein Weltbild gestaltet, diese gestaltende Kraft haben,
ein harmonisches Weltganzes aufzubauen, so folgt daraus die
ethische Forderung, mit diesen Fiktionen auf das sittliche Gebiet
überzugreifen in dem Sinne, wie wir das bereits S. 249 f. angedeutet
haben.
Anpassung unserer Gedanken an die Tatsachen, das ist das
erste. Anpassung der Gedanken aneinander, das ist das zweite.
Aber es darf ein Drittes nicht fehlen, wenn diese Anpassung Zweck
und Wert haben soll. E^ darf nicht abgelassen werden von dem
praktischen Ziele der Anpassung der Tatsachen an die durch die
Tatsachen geläuterten und von der sittlichen Idee getragenen
Gedanken. Nur wenn dieses Dritte dazukommt, dann kann,
wie E. Müller wünscht und hofft, die erwartete Friedenszeit
rascher als sonst auch Umwertungen geistiger Werte bewirken
und uns die ,, natürlichen Grundlagen und Notwendigkeiten unseres
Die mathematischen Fiktionen u. ihre Bedeutung für die menschl. Erkenntnis. 269
persönlichen, staatlichen, wirtschaftlichen und wissenschschaft-
lichen Lebens höher einschätzen lehren als eingebildete Bedürf-
nisse oder wirkliche Vorurteile", sie kann uns befähigen, die auf
positive Erkenntnis und wahrhaft ethisches Gemeinschaftsleben
gerichteten Fiktionen und Ideen zu den leitenden zu machen und
deutlich zu scheiden von denen, die die Wissenschaft und Sitt-
lichkeit trüben und hemmen. Der Geist muß es sein, der sich
den Körper baut. Aus solchem Geiste, der sich den Körper zu
bauen vermag, der die Fähigkeit und den Willen hat, aus den
Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen, sich zu neuen Ideen
zu erheben und diese neuen Ideen zu verwirklichen, möge nach
der Niederringung der höllischen Mächte der Lüge und des kurz-
sichtigsten und kleinlichsten Eigennutzes, die diesen Weltkrieg
entzündet haben und nähren, der Menschheit der reine Frieden
in einer neuen Körperlichkeit alles dessen, was den Völkern als
materielle Grundlage ihrer Existenz und ihrer harmonischen
Wirkungsfreiheit zu dienen hat, erwachsen.
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion.
Eine psychologische Untersuchung.
Von
Richard Müller-Freienfels.
Inhaltsübersicht.
Einleitung. Das Problem.
Kap. I. Das Irrationale der Individualität, i. Die Abgrenzung gegen
das Nichtindividuelle. 2. Die Unterscheidung vom Überindividuellen. 3. Die
Wandlungen der Individualität. 4. Die Spaltungen der Individualität. 5. Die
Schwankungen der Individualität. 6. Die Individualität als Erscheinung. 7. Zu-
sammenfassung.
Kap. II. Rationale Elemente der Individualität, i. Negative Gründe
für das Übersehen der Wandelbarkeit. 2. Die Kontinuität des Leibes. 3. Die
Kontinuität der Seele. 4. Das „Ich" als allgemeiner Kern der Persönlichkeit.
5. Die Struktur der Individualität. 6. Das „spezifische Lebensgefühl" als sub-
jektive Identitätsgrundlage. 7. Die einheitliche Willensrichtung. 8. Zusammen-
fassung.
Kap. III. Die Identität der Persönlichkeit als Forderung, i. Soziale
Forderung. 2. Ethische Forderung. 3. Ästhetische Forderung. 4. Theoretische
Forderung. 5. Religiös-metaphysische Forderung. 6. Das „Idealich".
Kap. IV. Die Individualität als fiktive Konstruktion, i. Der Begriff
der Fiktion. 2. Die Fiktion einer rationalen Individualität als Substanz und wirkende
Ursache. 3. Die Fiktion und die Forderungen.
Kap.V. Die begriffliche Fixierung der Individualität, i. Die drei
Versuche. 2. Das „Charakterbild". 3. Die biographische Methode. 4. Die psycho-
graphische Methode. 5. Zusammenfassung.
Kap. VI. Der fiktive Individualitätsbegriff in der Wissenschaft.
I. Die Geschichte als fiktive Konstruktion. 2. Die Bedeutung der Individualitäten
in der Geschichte. 3. Der Erkenntniswert der fiktiven Individualitätsbegriffe.
Kap. VII. Der Persönlichkeitsbegriff in der Kunst, i. Die Persön-
lichkeitsdarstellung in der bildenden Kunst. 2. Die Persönlichkeitsdarstellung in
der Dichtung.
Kap. VIII. Der Individualitätsbegriff in Ethik und Religion, i. Der
Individualitätsbegriff als Träger von Ehre und Ruhm. 2. Die Unsterblichkeit des
Individuums.
Abschluß.
Einleitung. Das Problem.
Das Problem der Individualität oder — wie wir mit
geringer Schattierung ebenfalls sagen — das Problem der Per-
sönlichkeit ist trotz seiner außerordentlichen Wichtigkeit und
Verzweigtheit von der Wissenschaft bisher sehr stiefmütterlich
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 271
behandelt worden. Die Philosophen, bis auf wenige Ausnahmen,
sahen meist vollkommen darüber hinweg. Nur das ,, allgemeine"
Ich, das ,, erkenntnistheoretische Subjekt" oder sonst ein ab-
straktes Gebilde vertrat für ihre Forschungen die Stelle der in-
dividuellen, lebendigen Persönlichkeit in ihrer konkreten Viel-
spältigkeit. — Um so mehr Hochachtung erwiesen die älteren
Historiker den Individualitäten. Sie sahen darin eine Art
Mysterium, letzte Gegebenheiten, denen gegenüber jede wissen-
schaftliche ,, Erklärung" versagen müsse und denen sie das ganze
Weltgeschehen aufbürdeten. — Die Historiker neueren Schlages,
besonders wenn sie von naturwissenschaftlichen Methoden be-
einflußt waren, erwiesen den Individualitäten bedeutend weniger
Reverenz. Sie behandelten dieselben nicht als unnahbare Wesen-
heiten transzendenten Ursprungs, sondern gingen ihnen keck mit
allerlei Erklärungsprinzipien zu Leibe. Aber einerlei, ob sie aus
der „Rasse", der ,, Vererbung", dem , .Milieu", aus wirtschaft-
lichen oder psychologischen Zeitverhältnissen die Persönlichkeit
erklären zu können glaubten, es erwies sich doch, daß ihre Prin-
zipien viel zu allgemein und schematisch waren, um etwas so un-
endlich Kompliziertes, wie es jede Individualität ist, restlos er-
schöpfen zu können. — Das neueste Verfahren, der Individualität
beizukommen, tritt wesenthch bescheidener auf. Die differen-
tielle Psychologie will zunächst nicht , .erklären", sondern vor
allem ,, beschreiben" und das Gefundene in Typengruppen ,, ordnen".
Es ist kein Zweifel, daß diese Methode das Problem am meisten
zu fördern verspricht, und wir werden oftmals ihre Ergebnisse
zu Rate ziehen. Indessen geht auch die differentiellc Psycho-
logie von Voraussetzungen aus, die vorher prinzipiell erörtert
werden müssen. Vor allem setzt sie stillschweigend voraus, daß
die Individualität überhaupt begrifflich zu fassen sei. Und damit
kommen wir zu unserer Stellung des Problems. Wir beginnen
mit dem Nachweis, daß jede Individualität letzten Endes eine
irrationale Größe ist, die sich einer erschöpfenden begriff-
lichen Fassung überhaupt entzieht. Des weiteren erörtern wir,
inwieweit dennoch von einer Rationalisierung der Individualität
gesprochen werden kann; wir prüfen die Möglichkeiten und die
bisherigen Lösungsversuche, denen wir eine eigene Lösung ent-
gegenstellen, und wir unternehmen es zum Schluß, die Anwend-
barkeit dieser Lösung auf die verschiedensten Lebensgebiete dar-
zutun.
272
Richard Müller-Freienfels :
Als ,, rational" bezeichnen wir dabei einen Begriff, der sich
scharf umgrenzen läßt und mit sich selbst identisch bleibt, kurz,
der den Anforderungen der traditionellen Logik entspricht. ,, Ir-
rational" dagegen heißt uns ein Tatbestand, der sich jenen An-
forderungen entzieht. Fußend auf der Selbstanalysc und dem
Nachweis der objelctivcn Widersprüche, in die man sich überall
bei dem Versuch, die Individualität als rationalen Begriff zu
fassen, verwickelt, stellen wir zunächst die Irrationalität des
gemeinten Tatsachenkomplexes fest, um dann zu untersuchen,
wie man trotzdem dazu gelangt, eine aus mannigfachen Gründen
geforderte Rationalisierung vorzunehmen. Hinter dem so er-
örterten Einzelfall wird sich uns dabei das allgemeinere, erkenntnis-
theoretische Problem erheben, ob und wie weit es überhaupt mög-
lich ist, das irrationale Sein, innerhalb dessen die als ,, individuell"
bezeichneten Tatsachen nur einen Ausschnitt darstellen, in ratio-
nale Begriffe cinzufangen. Insofern wird sich unsere Lösung des
Einzclproblcms zu prinzipieller Bedeutung ausweiten.
Kapitel I. Das Irrationale der Indiyidaalität.
I. Versuchen wir es, diejenigen Tatbestände, die man gemein-
hin, ohne die Berechtigung dazu nachzuprüfen, als ,, individuell",
ansieht, gegen diejenigen abzugrenzen, die keinen Anspruch darauf
haben, in den Kreis des Individualitätsbcgriffs einbezogen zu
werden, so stoßen wir auf unüberwindliche Schwierigkeiten.
Selbst wenn wir, was zuweilen geschieht, unsere Individualität
gleichsetzen mit unserer leiblichen Individualität und eine geistige
Individualität nur so weit gelten lassen, als sie von der leiblichen
getragen wird, selbst dann ist die Grenze (in diesem Falle die Haut
unseres Körpers) bedeutend abstrakter, als es auf den ersten Blick
scheint. Denn der so umgrenzte Sachbestand kann zwar von be-
stimmten Umgebungen isoliert werden, keineswegs aber von einer
Umgebung überhaupt. Nur abstrakt kann er als Absolutum
gelten, realiter bildet er stets einen Teilbestand größerer Zusammen-
hänge, letzten Endes der Welt, mit denen er in beständiger und
notwendiger Wechselbeziehung steht. Das Bestehen unserer leib-
lichen Persönlichkeit ist daran geknüpft, daß unablässig Atem,
Speise und Trank durch sie hindurchgehen, daß sie einen Boden
hat, auf dem sie fußt, daß beständige Reize ihre Sinnesorgane wach-
halten und daß hundert andere Beziehungen zur Außenwelt vor-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 2 73
handen sind. Die Ausschaltung nur eines Teiles derselben würde
die Vernichtung des Leibes bedeuten.
Mit unserer geistigen Persönlichkeit ist's aber nicht anders.
Verstehen wir darunter zunächst nur den an unseren Leib ge-
bundenen Bewußtseinskomplex, so ergibt sich, daß sich auch um
ihn höchstens eine abstrakte und in jedem Augenblick wechselnde
Grenze ziehen läßt. Die Körperhaut kann hier noch weniger als
beim Leibe als Scheidewand dienen. Denn sind nicht bereits
unsere Sinnesempfindungen jenseits der Haut lokalisiert, zu-
gleich als unser Erleben und als etwas außer uns Liegendes
charakterisiert .'' Nehme ich einen Stock zur Hand und taste
ich mit seiner Spitze einen Gegenstand ab, so ist mein Emp-
finden in der Spitze des Stockes lokalisiert. Nehme ich ein Fern-
rohr zur Hand und erschaue ich damit einen Stern in der Tiefe
des Himmelsraumes, so beziehe ich diesen Stern gleichsam ein
in meine Individualität, sein Licht wird meine Empfindung,
meine Individualität reicht sozusagen bis zu jenem Stern. Man
hat daher geistreich die Werkzeuge als Verlängerungen unserer
Sinnesorgane bezeichnet; man könnte sie auch als Ausdehnungs-
möglichkeiten unserer Individualität ansehen. Denn sie erweitern
die Möglichkeit, das hypothetische Zentrum unserer Persönlich-
keit mit der Außenwelt in Beziehung zu setzen, und in Wirklich-
keit besteht ja unsere Persönlichkeit fast ausschließlich aus solchen
Beziehungen. Auch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere
Willenshandlungen sind zum größten Teil solche Beziehungen zur
Außenwelt, die diese gleichsam aufnehmen in den Kreis des Per-
sönlichen. Die Kleider, die wir tragen, das Haus, das wir be-
wohnen, das Weib, das wir lieben, empfinden wir als verbunden
mit unserer Persönlichkeit. Ich spreche von , .meinem" Freunde,
wie ich von ,, meinem" Herzen spreche. Die Vorstellung des
Malers ist ein Teil seines Selbst, sie bleibt es auch, wenn er sie
zum Bilde gestaltet. Wir sagen, ,, seine Persönlichkeit stecke in
seinem Werke". Stirbt uns ein lieber Mensch, so haben wir das
Gefühl, ein Teil unserer eigenen Persönlichkeit führe mit ihm in
die Grube, und das ist mehr als eine bloße Metapher. Denn noch
weniger als unsere leibliche ist unsere geistige Persönlichkeit von
der äußeren Körperhaut umschlossen, sie hat überhaupt keine
bestimmte Grenze. Sie steht in beständigem Zusammenhang mit
wechselnden Teilen der Welt, die ebenso gut oder ebenso schlecht
isolierbar sind wie sie selbst. Kurz, höchstens durch Ab-
1 8
Annalen der Philosophie. I. v
274
Richard Müller-Freien fels :
straktion, niemals realiter, läßt sich unsere Persön-
lichkeit, die geistige so wenig wie die leibliche, um-
grenzen.
Nur ganz kurz sei hier das Problem des Verhältnisses der leib-
lichen zur geistigen Persönlichkeit gestreift, ohne daß wir uns an die
schwierigen metaphysischen Fragen, die sich an dieses Problem knüpfen,
zu verwickeln gedenken. Einerlei, ob man sich für den Parallelismus
oder die Wechselwirkung entscheidet, zugeben muß man, daß enge Be-
ziehungen zwischen leiblicher und seelischer Persönlichkeit bestehen,
zugleich aber, daß die geistige PersönUchkeit viel weiter reicht als die
leibliche. Das zeigt sich vor allem daran, daß die geistige Persönlich-
keit den leiblichen Tod zu überdauern vermag. Wir meinen das hier
nicht im Sinne einer transzendenten Unsterblichkeitslehre, sondern
bleiben ganz im Diesseits, wenn wir konstatieren, daß die Persönlich-
keiten Christi, Luthers, Goethes noch heute lebendig sind und wirken,
obwohl die körperlichen Träger schon lange dahin sind, ja zum Teil
■ — wie bei Christus — in ihrer Existenz überhaupt bezweifelt werden.
Dabei ist diese weiterlebende geistige Persönlichkeit keineswegs nun
fest in sich begrenzt, sondern auch sie wächst noch weiter, ändert sich
und breitet sich aus. Man denke nur, wie die Persönlichkeit Christi
nach seinem Tode an Größe, Würde und Universalität noch immer
gewonnen hat und auch heute noch weiter sich wandelt. Oder welche
Wandlungen auch jetzt noch die Persönlichkeit Goethes durchmacht!
Denn die Wirkungen der Individualität gehören zu ihr selber wie die
Strahlen der Sonne zur Sonne gehören. Eine feste Grenze zu ziehen,
ist da nirgends. Die Peripherie der Persönlichkeit ist nirgends fest-
zustellen. Man wende nicht ein, daß es sich um eine bloße Metapher
handele, wenn wir von einer Fortdauer der Persönlichkeit im eben aus-
geführten Sinne reden. Wir handeln hier über den ,, Begriff" der
Persönlichkeit, und dieser ist nicht an die reale Existenz gebunden.
Indessen wollen wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen das
Thema nicht so weit ausdehnen und sprechen auch von geistiger Per-
sönlichkeit nur in dem Sinne, daß wir damit die Bewußtseinssphäre
des noch lebenden Menschen meinen, und unser Hauptproblem ist die
Möglichkeit, diese begrifflich zu fassen.
2. Noch in anderer Hinsicht ist es unmöglich, eine feste Grenze
unserer Individualität zu ziehen. Nicht nur gegen das Außer-
individuelle, auch innerhalb des Überindividuellen, also dessen,
was zu gleicher Zeit vielen Individualitäten gemeinsam ist, gibt
es keine feste Grenze. Vieles, was wir als Element unserer In-
dividualität ansehen, haben wir nichtsdestoweniger gemein mit
anderen Individualitäten. Auch das gilt vom Leiblichen wie vom
Geistigen. Unsere äußere Gestalt, unser ganzer Körper, ist nur
ein Teilglied einer Kette, die aus grauestcr Vorzeit 'in dunkle Zu-
kunft hinüberglcitet. Vieles, was wir als Allerpcrsönlichstes in
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 2/5
unserer physischen Konstitution ansehen, ist Erbe von unseren
Ahnen und geht weiterhin über auf unsere Nachfahren. Durch
die Zeugung sind wir physisch Teile eines überindividuellcn Zu-
sammenhangs. — Und geistig sind wir das nicht minder. Wir sind
Träger von Gedanken und Willensströmungen, die keineswegs nur
uns angehören, sondern die wir gemeinsam mit Tausenden von
anderen Individuen haben. Und selbst unsere Gefühle, die scheinbar
ganz aus dem Innern unserer Persönlichkeit stammen, können in
seltsamen Konnex mit denen anderer Menschen treten. Bei so-
genannten Massensuggestionen hört die Individualität plötzlich
auf, Individualität zu sein, sie ist nur Teil einer Masse, fühlt und
handelt durchaus als Glied eines überindividuellcn Komplexes.
Was in solchen Fällen besonders grell heraustritt, ist aber auch
sonst allenthalben der Fall. Auch wo wir uns dessen nicht be-
wußt werden, fühlen, wollen, handeln wir durchaus als Teile von
überindividuellcn Ganzen, mögen diese nun die Familie oder die
Berufskaste oder der Staat oder die Menschheit sein. Unser Be-
wußtsein täuscht uns da oft über den wahren Sachverhalt. Mancher
Mensch, der glaubt, nur für seine individuellen Interessen zu handeln,
besorgt gerade damit die Geschäfte der Allgemeinheit. Auch die
stärksten Individualitäten der Geistesgeschichte erscheinen, aus
größerer Entfernung betrachtet, durchaus als Angehörige ihres
Zeit- und Nationaltypus. Ja, ihre scheinbar individuelle Leistung
stellt sich, historisch gesehen, oft als die notwendige Konsequenz
zeitlich gegebener Vorbedingungen dar. Michelangelo oder Cor-
reggio führen den Renaissancestil, indem sie als Vollender von
gewissen immanenten Tendenzen desselben erscheinen, kraft ihrer
Individualität in das Barock hinüber. Daher erscheint für
manche Geschichtsphilosophen das Individuum nur als Träger
allgemeiner Ideen. Die Berechtigung einer solchen Betrachtungs-
weise werden wir später beleuchten. Vorläufig stellen wir nur
fest, daß jede Individualität zum mindesten zum Teil
in überindividuelle Zusammenhänge hineingehört, ja,
daß es schier unmöglich ist, Individuelles und Über-
individuelles einander entgegenzusetzen. Die von Goethe
halb scherzhaft aufgeworfene Frage: ,,Was ist denn an dem ganzen
Kerl original zu nennen.?" birgt sehr weitschichtige psychologische
und philosophische Probleme.
3. Aber selbst wenn wir von diesen Schwierigkeiten absehen
und unsere Individualität, wie es in der Praxis des Lebens viel-
18*
276
Richard Müller-Freienfels ;
fach geschieht, als isolierbares Etwas ansehen, so sind damit nicht
alle Fragen gelöst. Wir stehen dann vor dem Zwiespalt, daß die
Individualität einerseits als etwas Konstantes, mit sich selbst
Identisches angesehen wird, daß aber andererseits mannigfache
Tatsachen diese Konstanz und Identität in Frage stellen. — Be-
trachten wir zunächst die eine Seite dieses Widerspruchs! Keine
Individualität ist konstant mit sich selbst identisch, jede ist eine
sich beständig wandelnde Variable! Da sind zunächst die ,, ty-
pischen" Abwandlungen: Aus dem unmündigen Kinde wird der
Jüngling (oder die Jungfrau), es folgt das Alter der Reife und die
Zeit des Hinsinkens im Greisenalter. Wir bezeichnen diese Wand-
lungen als die Stufen der Reifung. Zum Teil mit ihnen eng
verknüpft und doch nicht identisch damit ist die Erscheinung
der geschlechtlichen Differenzierung; das allmähliche Hervor-
treten (und spätere Zurücktreten) der sexuellen Funktionen kann
als selbständiges Sondermoment innerhalb des Gesamtphänomens
der Reifung angesehen werden. Derartiger Sondererscheinungen
können wir indessen noch andere unterscheiden. Denn fast alle
seelischen Funktionen sind nach ihrem Hervortreten und Zurück-
treten Teilfaktoren der Reifung. Nur einige typische Fälle
können hier genannt werden: der Überschwang des Gefühls und
der Phantasie im Jünglings- (bzw. Jungfrauen-) Alter, das Über-
wiegen der ruhigen Überlegung im Mannesaltcr, das allmähliche
Erlöschen der Leidenschaften im Greisenalter sind solche Teil-
erscheinungen der Reifung. Zu diesen Änderungen der seelischen
Funktionen kommen die Einflüsse der von außen in die Seele
eintretenden Inhalte. So ist das allmähliche Anwachsen des
Erfahrungsschatzes (zunächst bloß nach seiner quantitativen Seite)
ebenfalls ein Wandlungsphänomen; denn die Erfahrungen, die wir
machen, sind nicht bloß äußerlich aufgenommene Materialien, die
wir mitführen wie ein Wagen seine Ladung: Sie bilden unsere
Persönlichkeit um, indem sie auf die erlebende Individualität
zurückwirken. Ferner kommen mannigfache Anpassungs-
erscheinungen hinzu: man lernt Leidenschaften beherrschen,
man bildet spezifische Organe aus, man stellt sich ein auf be-
stimmte Lebensverhältnisse. Die Berufswahl z. B. ist eine typische
derartige Einstellung.
Neben diesen typischen, d. h. in jedem. Menschenleben auf-
zeigbaren Wandlungen steht die unübersehbare Fülle der in-
dividuelkn. Hat doch im einzelnen Falle schon jede der typi-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion.
277
sehen Wandlungen ihr individuelles Gesicht, insofern als die
Phänomene der Reifung oder der sozialen Anpassung sich bei
jedem Menschen in verschiedener Weise vollziehen. Erwägt man
nicht nur die Menge der Erfahrungen, sondern ihre unendlichen
qualitativen Variationsmöglichkeiten, so steigt die Wandelbar-
keit der Individualität ins Ungeheure. Bestimmte Erlebnisse,
eine Liebe, eine Freundschaft, eine Willensreizung, können tief-
eingreifend den ganzen Charakter beeinflussen. Krankheiten,
besonders solche des Nervensystems, können den Menschen um-
wandeln, einen Saulus zu einem Paulus machen. Wechsel der
klimatischen, landschaftlichen, sozialen Umgebung kön-
nen abfärben auf die Individualität. Das Horazische: ,,Coclum
non animum mutant qui trans mare currunt" ist nur zum Teil
richtig. Sehr oft finden wir, daß ein Wechsel der Umgebung
(und sei es nur ein zeitweiser) auch einen Wechsel in der Indivi-
dualität mit sich zieht: Wievielen Deutschen ist Italien zum ,, Er-
lebnis", also zum charakterumbildenden Faktor, geworden, d. h.
sie kamen als ganz andere wieder, denn als sie hinabgezogen waren.
Und zwar ist ein solcher Einfluß nicht immer ein einfaches Über-
nehmen fremder Einwirkungen, oft handelt es sich auch um eine
Reaktion des bisherigen Ich gegen die neue Umwelt, so daß das
Resultat des Zusammentreffens gerade der Richtung des Ein-
flusses entgegengesetzt ausfällt. Oft hat sich der Deutsche in
der Fremde erst selber gefunden, gerade durch den Widerspruch!
Ich nenne eine solche Einwirkung eine reaktive. Sie gilt auch
von der Beeinflussung durch andere Menschen. Nur allzuoft ist in
den Geisteswissenschaften übersehen worden, daß dort, wo man von
Einwirkungen einer Persönlichkeit auf eine andere spricht, nicht die
Wirkung der Ursache adäquat ist. Die Einwirkung hat oft einen ihrer
ursprünghchen Tendenz gerade entgegengesetzten Erfolg. Es ist ganz
falsch, in diesem Falle von „Mißverstehen" zu sprechen. Wenn
Kant auf Fichte einwirkt in einer Richtung, die er selbst als adäquat
nicht anerkennen kann, so bleibt es doch eine oberflächliche Beurteilung,
wenn man glaubt, das Ganze als ein „Mißverständnis" von Seiten
Fichtes abtun zu können. Einerlei, ob man Fichtes Philosophie, wie
sie sich unter dem Anstoß durch die Kantsche Philosophie heraus-
gebildet hat, als Fortschritt oder Rückschritt ansieht: abstreiten kann
man nicht, daß etwas ganz Neues entstanden ist. Der Einfluß der
fremden Individualität ist hier derart gewesen, daß die eigene sich unter
Anregung von selten der fremden weiterentwickelt hat, aber nicht in
der Richtung des Anstoßes, sondern in der ihr innewohnenden eigenen
Richtung, die jenem Anstoß ganz unadäquat war. Nicht immer wird
diese Richtungsverschiedenheit den beteiligten Persönlichkeiten klar.
278
Richard Müller-Freienfels :
Gar \nele Lehrer haben nie erkannt, daß ihr Einfluß den Schüler keines-
wegs in der vom Lehrer gewollten Richtung förderte, und mancher
Jünger hat nie gewußt, daß er den Anstoß des Meisters ganz umbog.
Paulus hat sicher immer geglaubt, den Gedanken Christi in dessen
Richtung weiterzudenken, wählend wir heute der Meinung sind, er
habe ihn sehr wesentlich umgedacht. Der Einfluß der Positivisten,
vor allem Langes und P. Rees, auf Nietzsche konnte diesen wohl eine
Weile ablenken von seiner ursprünglichen Bahn, forderte dann aber
dessen eigentliche Tendenz zur Reaktion heraus, sodaß Nietzsche
gerade in der Bekämpfung des Positivismus sich selber fand, freilich
aber als einen durch den erkannten Gegensatz reicher und stärker Ge-
wordenen. Wir könnten in diesem Sinne die äußeren Beeinflussungen
der Individuahtäten unterscheiden in solche, die in der gleichen Rich-
tung des Anstoßes fortwirken, solche, die in anderer Richtung ver-
laufen und solche, die direkten Widerspruch und Gegensatz
hervorrufen. Ja, so kompliziert liegen die Verhältnisse, daß mehrere
dieser Fälle nebeneinander oder nacheinander in Erscheinung treten
können. Immerhin, auch dort, wo die Individualität sich im Wider-
spruch gegen Fremde in ihrer eigenen Richtung bewußter findet und
sich bereichert, wandelt sie sich: sie bleibt im gleichen Typus, aber
ändert sich doch innerhalb dieses Kreises,
4. Bei den bisher erörterten ,, Wandlungen" der Individualität
hatten wir es mit Fällen zu tun, in denen sich die scheinbare Iden-
tität in ein Nacheinander mehrerer Individualitäten auflöste.
Merkwürdiger noch sind die Spaltungen der Individualität, bei
denen es sich nicht um ein Nacheinander, sondern um ein Neben-
einander handelt, wo also zwei Seelen in der gleichen Brust leben.
Dieses ,, Nebeneinander" kann eine tatsächliche Verdoppelung sein.
Meist handelt es sich jedoch um ein rasches Alternieren zweier
Zustände. Wir denken dabei nicht an jene vorübergehenden
,, Schwankungen", von denen wir später sprechen werden: Wir
haben jene Fälle im Auge, wo dauernd nebeneinander gleichsam
zwei (oft noch mehr) verschiedene, ja entgegengesetzte Sphären
der Persönlichkeit im gleichen Menschen bestehen.
Ein besonders häufiger Fall ist der, daß sich der Verstand in schnell-
stem Tempo entwickelt, während das Gefühlsleben fast auf derselben
Stufe stehen bleibt, auf der es in früherem Lebensalter stand, so daß
zwei verschiedene Persönlichkeiten entstehen, je nachdem der Verstand
oder das Gefühl den Ton angibt. Gar mancher Gelehrte, der auf die
Entstehung der Arten im Sinne Darwins schwört und lange den geo-
zentrischen Standpunkt in der Astronomie zum alten Eisen geworfen
hat, hält doch gefühlsmäßig am Kinderglauben fest. Entweder ist ei
sich dieser Spaltung zwischen Verstand und Gefühl bewußt und ver-
wendet dann wohl gelegentlich seinen Scliarfsinn dazu, durch dialektische
Künste den Zwiespalt zu überbrücken oder zu beweisen, daß das Gefühl
Der BegriflF der Individualität als fiktive Konstruktion,
279
doch recht habe. Oder aber es laufen die beiden verschiedenen Per-
sönhchkeiten, die aufgeklärte wssenschaftliche und die kindergläubige,
getrennt nebeneinander her. Oberflächliche Menschenbeurteilung spricht
in diesem Falle oft von Heuchelei. Indessen, um gerecht zu sein, wird
man diesen Begriff nur dort verwenden können, wo es sich um ein be-
wußtes Vorspiegeln einer anderen Persönlichkeit handelt. So ist
z. B, im englischen „cant", der dem Nichtengländer vielfach als Heu-
chelei vorkommt, diese sicherlich vielen Briten nicht als solche bewußt:
Es stecken in ihm nur zwei Persönlichkeiten nebeneinander, der brutale
Geschäftsmann des Werktags und der puritanische Fromme des Sonn-
tags. Weniger grell, aber dennoch vorhanden, besteht eine solche Spal-
tung der Persönlichkeit bei jedem Menschen. Wir alle haben eine Sonntags-
und eine Werktagspersönlichkeit, die oft nur in losem Konnex stehen.
Typisch ist auch die Spaltung zwischen Berufspersönlichkeit und bürger-
licher Persönlichkeit. Derselbe im Beruf ehern strenge Beamte oder
Offizier ist im Familienkreise vielleicht ein weicher, zarter Vater und
Gatte. Liest man z. B. Bismarcks Briefe an seine Braut und spätere
Gattin, so wird man nicht leichtes Spiel haben, das dort sich ergebende
Persönlichkeitsbild mit dem vom ,, eisernen" Kanzler zu vereinigen.
Bei Dichtern gehört die Fähigkeit zur ,, Spaltung" der Persönlichkeit
zu den Voraussetzungen ihrer Begabung. Man hat oft darauf hingewiesen,
daß Faust wie Mephistopheles, Tasso wie Antonio gleichsam ,, Spaltungen"
der Individualität Goethes sind.
Besonders grell treten solche Bewußtseinsspaltungen in ge-
wissen, neuerdings oft beschriebenen pathologischen Fällen
hervor. Derartige sind von Ribot, Janet, Binet, Sollier,
Kr is ha her, Oesterreich und anderen beschrieben und analysiert
worden.^) Hier handelt es sich nicht mehr um ein Abwechseln
zweier Persönlichkeiten, sondern um eine wirklich gleichzeitige
Spaltung oder auch Verdoppelung. Die Kranken äußern sich,
sie seien ,, doppelt", sie hätten ,,zwei Iche", es wäre noch ein
,, zweites Persönlichkeitsgefühl" in ihnen.
Solche pathologischen Fälle offenbaren nur in besonderer
Zuspitzung Erscheinungen, die auch der Normalmensch in sich
erlebt. Die meisten ethischen und religiösen Schriftsteller kennen
solche Spaltungserscheinungen, wenn sie von inneren Konflikten
reden, in denen sich zwei Persönlichkeiten im gleichen Menschen
um die Oberherrschaft streiten. Jedenfalls wird man sich nach
Erkenntnis dieser Tatbestände sehr ernsthaft fragen müssen, ob
^) Ribot, Les iMaladies de la personalite. Krishaber, De la nevropathie
c^r^brocardiaque. 1873. P- Janet, Les Obsessions et la Psychasthenie. 1903.
Oesterreich, Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt. Journ. f. Psych, u.
Neurol. VII. Derselbe, Phänomenologie des Ich. 191 1. besonders S. 379ff.
2 So Richard Müller-Freienfels:
der Begriff der Individualität, wenn man seinen Grundsinn der
,,Ungeteilthoit" dabei mitdenkt, noch zu Recht bestehen kann.
5. Neben die dauernden ,, Wandlungen" der Persönlichkeit
und die ebenfalls eine gewisse Dauer zeigenden ,, Spaltungen"
der Persönlichkeit stellen wir als dritte Erscheinungsgruppe die
,, Schwankungen", die sich deutlich als bloß vorübergehend
kennzeichnen. Auch bei diesen Schwankungen kann man typische,
allen oder wenigstens sehr vielen Menschen gemeinsame aufzeigen,
und individuelle, die sich aus der besonderen Konstellation des
Einzelmenschen ergeben, davon unterscheiden.
Zu den typischen rechne ich z. B. alle jene Schwankungen,
die durch den Wechsel der Tages- oder der Jahreszeit bedingt
sind. Fast alle Menschen sind des Morgens anders gestimmt als
des Abends, im Frühling anders als im Herbst. Ausgcschlafen-
heit oder Müdigkeit, Ärger oder Verliebtheit und tausend andere
vorübergehende Stimmungen bringen auch Schwankungen des
gesamten persönlichen Verhaltens mit sich, Schwankungen, die
doch gewisse typische Gleichmäßigkeiten aufweisen.
Indessen selbst innerhalb dieser typischen Schwankungen
zeigen sich individuelle Besonderheiten. Jeder Mensch hat
seine besondere Art, verliebt oder geärgert zu sein. Der Alkohol-
oder der Nikotingenuß erzeugen zwai gewisse typische Wirkungen,
daneben aber auch durchaus individuelle. Dasselbe Musikstück
kann den einen Menschen erheitern, den anderen aufregen; ja,
es kann auch in demselben Menschen ganz verschiedene Stimmungs-
schwankungen, je nach der zufälligen Disposition, hervorrufen.
Auch hier kommt die oben gekennzeichnete Dreiheit der Wirkungs-
möglichkeiten in Betracht: die in gleicher Richtung bewegende,
die in andere Richtung treibende und die eine direkte Reaktion
hervorlockende.
Auch gradweise unterliegen die verschiedenen Individualitäten
solchen Schwankungen in verschiedenem Ausmaße. Nervöse Menschen,
Künstler, Frauen, Kinder, sind solchen Schwankungen besonders zu-
gänglich, sowohl was die Häufigkeit als auch was die Stärke der Schwan-
kung anlangt. Es gibt Fälle, in denen die Schwankung so stark ist,
daß das Individuum selber, wenn es in den normalen Zustand zurück-
gekehrt ist. gar nicht mehr begreifen kann, wie es zu den in jenem
Schwankungszustand begangenen Handlungen gekommen ist. Wieder-
holen sich diese Schwankungszustände in gewisser Regelmäßigkeit in
gleicher Weise, so nähert sich die Erscheinung der oben beschriebenen
,, Spaltung" der Persönlichkeit. Solche Schwankungen werden oft
durch die äußere Umgebung hervorgerufen. Bewegliche Menschen
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 28 I
geben sich im Verkehr mit jedem anderen Menschen als besondere In-
dividuaHtäten, reagieren auf jeden ganz anders. Liest man z. B. den
Briefwechsel Richard Wagners und vergleicht man, wie grundverschieden
er sich oft am selben Tage in seinen Briefen an Mathilde Wesendonk
und Liszt gibt^ so zweifelt man oft an der Identität des Briefschreibers.
Ebenso pflegt die Lektüre eines wirksamen Buches oft zeitweise „einen
ganz anderen Menschen" aus einem empfänglichen Leser zu machen.
Die ganze Art des Denkens und Fühlens scheint sich unter dem Ein-
fluß des Kunstwerks zu ändern. Das ist gradweise verschieden. Es
gibt jedoch einen ganz bestimmten Typus von Kunstgenießenden, den
ich an anderer Stelle als den „Mitspieler" bezeichnet habe, der sich
Kunstwerken gegenüber seiner eigenen PersönUchkeit fast ganz ent-
äußert, während „der Zuschauer" weit mehr er selbst bleibt. i)
6. Noch ein Weiteres kommt hinzu, die Variabilität des In-
dividualitätsbegriffs ins Unendliche zu steigern. Im Leben handelt
es sich ja nicht um die Individualität ,,an sich", sondern um die
,, Erscheinung" derselben, d.h. die Spiegelung im eigenen Be-
wußtsein oder dem anderer Individualitäten. Bedenken wir nun,
daß keiner dieser Spiegel ,, objektiv" ist, sondern aus den ver-
schiedensten Gründen mehr oder weniger das zu spiegelnde Bild
einseitig auffaßt und verzerrt, so scheinen wir uns einer fast bur-
lesken Phantasmagorie gegenüber zu finden.
Die Gründe, aus denen jeder Mensch eine fremde Individualität
nicht getreu ,, spiegelt", sind teils intellektueller, teils emotionaler
Natur. Da nur ganz geringe feste Anhaltspunkte gegeben sind,
in der Hauptsache sich unsere Vorstellung von anderen Indivi-
dualitäten auf Schlüssen mancherlei Art aufbaut, so ist ganz klar,
daß schon ein starker Intellekt dazu gehört, um hier eine richtige
Schlußkette zu bilden. Dazu urteilen wir in den meisten Fällen
sehr aus der Ferne, sehen nur gröbste Umrisse. Kein Wunder
also, daß die meisten Vorstellungen, die wir von anderen haben,
grobe, ganz allgemeine Schemata sind, die voll von Irrtümern
stecken. Da zudem jede Vorstellung und jeder Begriff danach
strebt, etwas Dauerndes, Konstantes zu sein, das Objekt der Vor-
stellung und des Begriffs in unserm Falle aber ein beständig sich
wandelndes Etwas ist, so ergibt sich, daß selbst das, was vor einem
Jahre annähernd richtig war, heuer ganz falsch sein kann. Es
ist z. B. bekannt, daß Eltern selten richtige Bilder von ihren
Kindern haben, weil die einmal geprägten Vorstellungen aus
früheren Zeiten immer wieder sich vordrängen, so daß sie die
^) Vgl. meine Psychologie der Kunst. Bd. I. Kap. IV (1912).
282 Richard Müller-Freienfels:
unbefangene Erkenntnis versperren. Handelt es sich um eine
hervorragende, außerordentliche Persönlichkeit, so wird die Sache
vollends schlimm. „Comprendre c'est egaler!" Wir nehmen
letzten Endes alle Maßstäbe für andere aus uns selber. Reichen
diese nicht aus, so werden die Dimensionen falsch. Bedenken
wir nur, was harmlose Pedanten und enge Köpfe für Bilder von
eroßen Genies entworfen haben! Wie ist da alles banalisiert
und ins kleine herabgezogen! Mit vollem Rechte erwidert Hegel
auf den bekannten Satz, daß niemand vor seinem Kammerdiener
ein Held sei, — das sei nicht deshalb so, weil der Held kein Held,
sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener sei!
Zu diesen intellektuellen Schwierigkeiten treten die emotio-
nalen! Nichts färbt, entstellt und verzerrt unsere Vorstellungen
von anderen Menschen so sehr als unsere Gefühle. Die Liebe
verklärt, der Haß verhäßlicht. Nicht nur von Wallenstein gilt,
was Schiller von ihm sagt, daß sein Charakterbild von der Parteien
Gunst und Haß entstellt in der Geschichte schwanke. Die Nach-
welt urteilt ebenso subjektiv wie die Mitwelt, nur auf Grund
anderer Gefühle. Wenn schon die Weltgeschichte das Weltgericht
ist, so gilt doch auch von ihr, daß keines ihrer Urteile endgültig
ist. Wie hat sich z. B. gerade Schillers Bild, der jenen Satz
geprägt, im Urteil der Nachwelt gewandelt, und welche Wand-
lungen wird es noch weiter erfahren! Wie sehr hat sich unser
Begriff von Boecklin z. B. im Laufe des letzten Menschenalters
gewandelt. Erst war er ein seltsamer Sonderling, dann ein über-
ragendes Genie, dann ein mittelmäßiger Mahr, der das Wesen
seiner Kunst gar nicht erfaßte! Bei alledem handelt es sich nicht
um bloße gefülilsmäßige Werturteile, nein, um ganz greifbare
Sachurteile! Denn nicht nur die Werturteile werden durch die
sachlichen Urteile bedingt, sondern mindestens ebensosehr hängen
die Sachurteile von den Werturteilen ab. Die meisten Menschen
sind blind für die Vorzüge ihrer Feinde und die Fehler ihrer Freunde.
So kommt es denn, daß es genau soviel Vorstellungen von einer
Persönlichkeit gibt, als es vorstellende Personen gibt!
Aber nicht allein die anderen Menschen haben keine adäquaten
Begriffe von unserer Individualität — wir selber haben sie in der
Regel nicht. Eine völlige Erkenntnis vom eigenen Ich ist un-
möglich ! Gewiß, unsere einzelnen Seelenerrcgungen erleben wir
unmittelbar, sobald wir aber über das Momentanerlebnis hinaus
eine Vorstellung oder einen Begriff unseres Selbst zu bilden ver-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 28^
suchen, verarbeiten wir das unmittelbar Erlebte unter Zuhilfe-
nahme mannigfacher Kategorien und heben so jene Unmittelbar-
keit vollkommen auf. Dazu treten emotionale Färbungen. Jeder
Mensch spielt mehr oder weniger vor sich selbst Theater, unbewußt,
aber auch zuweilen bewußt. Man sieht sich so, wie man sich sehen
möchte! Jeder Mensch trägt ein Idealbild von sich selbst im
Herzen und modifiziert danach seine Realvorstellung von sich.
Vor allem handelt es sich dabei um Wertverhältnisse, die aber
auch die rein tatsächlichen Gegebenheiten verschieben! Die Ge-
schichte erzählt, welch seltsame Vorstellungen manche Menschen
von sich selber hatten! Selbst ein so glänzender Selbstbeobachter
wie Goethe hat sich — so urteilt die Nachwelt auf Grund von
Tatsachen — über sich selber in vielen Punkten getäuscht. Wie
unendlich viel mehr muß das bei schlechten Selbstbeobachtern
der Fall sein!
7. Wir haben, ohne Vollständigkeit auch nur anzustreben,
an bezeichnenden Beispielen aufzuzeigen versucht, wie außer-
ordentlich schwer faßbar die ,, Individualität" ist. Sic erscheint
als ein Komplex, der kein festes Zentrum und noch weniger eine
feste Peripherie hat, der sich mit anderen verv^^andten Komplexen
kreuzt und schneidet, der seine Art beständig wandelt, der sich
zu spalten scheint, und von dem zwar zahlreiche Erscheinungs-
formen existieren, von dem aber außerordentlich schwer fest-
zustellen ist, was er denn wirkhch und ,,an sich" ist. Man muß
sich angesichts dieser Tatsachen wundern, daß dennoch im
Leben überall stillschweigend eine Faßbarkeit und konstante Iden-
tität der Persönlichkeit angenommen wird. Man redet von
jenem Knaben J. W. Goethe, der seines Vaters Geschirr zum
Fenster hinauswarf, und jenem Greis, der den ,, Chorus mysticus"
schrieb, als ,, demselben" Menschen. Und jener andere, der
für deutsche Gotik schwärmend das Straßburger Münster er-
klomm, und jener andere, der sich in Rom als Römer fühlte, und
jener, der Frau von Stein liebte und bald darauf Christiane Vulpius
heiratete, war das immer , .dieselbe" Individualität? Ist es nicht
eine noch größere Willkür, wenn wir hier von ,, Identität" sprechen,
als wenn wir ein paar Gletscherbäche am St. Gotthard und den
breiten, trüben Strom, der durch Hollands Deiche flutet, mit dem-
selben Namen als ,, Rhein" bezeichnen?
Nein, täuschen wir uns nicht darüber! Die Individualität,
wie sie sich einer genaueren Analyse darstellt, ist etwas durch-
I
284
Richard Müller- Freienfels:
aus Irrationales. Sic entzieht sich der logischen Fassung, weil
sie weder scharf umgrenzt werden kann, noch eine konstante
Identität aufzuweisen hat. Und dabei haben wir ans in unseren
Betrachtungen nur auf dem Boden der Erfahrung bewegt! Alles
Transzendente und Metaphysische schieden wir streng aus, obwohl
unter diesen Gesichtspunkten das Irrationale der Persönlichkeit
noch stärker hervortreten würde. Indessen wollen wir auch
weiterhin im wesentlichen allein uns an die psychologische Ana-
lyse halten und allein unter diesen Gesichtspunkten das Problem
erörtern.
Kapitel II. Rationale Elemente der Individualität.
I. Angesichts dieser unbestreitbaren, durch Selbstanalyse wie
durch objektive Feststellungen erweisbaren Irrationalität des im
Individualitätsbegriff bezeichneten Tatbestandes muß es fast
wundernehmen, daß man trotzdem überall im Leben und auch
in der Wissenschaft die Individualität wie eine umgrenzbare,
konstante Größe behandelt. Man hat sie wohl als ,, Monade",
als ,,Entelechie" oder ähnlich bezeichnet und durch oft seltsame
dialektische Manöver die sich aufdrängenden Widersprüche zu
beseitigen gesucht. Man ging dabei — bewußt oder unbewußt —
von der Annahme aus, daß es innerhalb des Gesamtphänomens
gleichsam einen festen Kern gäbe, der im Wechsel beharrte und
neben dem alles sich Wandelnde nur ,,akzidentieH" wäre. In
einem solchen hypothetischen ,,Kern" der Individualität glaubte
man den inneren Grund für die Handlungen und die Denkweise
eines jeden Menschen erfassen zu können. In diesem Sinne heißt's
in Schillers Wallenstein (Wallensteins Tod II, 3):
,,Hab ich des Menschen Kern erst untersucht.
So weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln."
Letzten Endes steckt auch in diesem Einzelproblem die alte
metaphysische Vorstellung der Substanz mit ihren Akzidentien,
die von jeher gerade bei der Anwendung auf Singuläres ihre Wider-
sprüchlichkeit offenbarte. Ohne dem hier nachzugehen, suchen
wir nur die Anhaltsmomente zu ergründen, die den Glauben an
einen solchen ,,Kern" der Individualität psychologisch möglich
machten. Und zwar scheinen drei Tatsachen hierbei zusammen-
gewirkt zu haben. Erstens läßt sich innerhalb des mannigfachen
Wechsels dennoch eine gewisse Kontinuität feststellen, die
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 28 t;
man irrtümlicherweise als „Identität" nahm. Zweitens gibt es
innerhalb der sich wandelnden Tatbestände solche, die sich sehr
langsam wandeln, so daß man immerhin von einer relativen
Konstanz bei ihnen reden könnte. Und drittens besteht in der
Seele ein subjektives Bewußtsein einer Identität der Persön-
lichkeit, das sich trotz aller es widerlegenden Tatsachen erhält.
Auf diese drei Momente baut sich jeder Versuch auf, die Indivi-
dualität zu rationalisieren, d. h. innerhalb der unumgrenzbaren,
sich wandelnden Mannigfaltigkeit einen faßbaren, identischen Tat-
bestand herauszulösen und ihn als das Wesen der Individualität
dem sich Wandelnden als dem Zufälligen und Nebensächlichen
gegenüberzustellen.
Zu Hilfe kommt solchen Versuchen als negativer Grund noch der
Umstand, daß wir in der Praxis des Lebens den Wandlungen der In-
dividualität wenig Beachtung schenken, ja, daß sie überhaupt schwer
festzustellen sind. Das ist nicht nur gegenüber anderen der Fall, deren
geistige Verhältnisse wir stets nur auf Grund sehr minimaler Anhalte
erschließen, es gilt auch von uns selbst. Wir werden uns der eigenen
Wandlungen in der Regel wenig bewußt, weil das frühere Stadium im
späteren aufgeht, nicht ihm als Gegenwärtiges konfrontiert werden
kann. Auch das Gedächtnis ist da eine zweifelhafte Hilfe; d. nn unsere
Erinnerungen wandeln sich mit uns, bleiben nicht unverändert wie
Akten im Schranke in den Ganglienzellen des Hirns verstaut, sondern
nehmen Farbe und Form der späteren Lebensepochen an. Selbst wenn
wir uns die größte Mühe geben, können wir als Vierzigjährige nicht
denken und fühlen, wie wir als Fünfzehnjährige gedacht und gefühlt
haben. Kommt uns einmal ein wirkliches Dokument aus unserer Ver-
gangenheit, etwa ein Brief, den wir vor Jahren geschrieben haben, zur
Hand, dann erst bemerken wir mit Erstaunen, wie sehr wir uns ge-
wandelt haben. In der Regel sehen wir auch die eigene Vergangenheit
durch die Brille der Gegenwart und legen, wenn wir uns eine Vorstellung
von uns selbst, wie wir einstmals waren, machen, ganz unbewußt unsere
jetzigen Gefühle und Denkweisen unter. Außerdem verstärkt ein perio-
disches Wiederkehren früherer Stimmungen und Gedanken in uns das
Gefühl, daß sie — wenn auch zeitweilig ausgeschaltet -- doch immer
unverändert weiter dauerten. Trotzdem dürfen alle diese Momente
nicht darüber täuschen, daß es in der Seele nichts wirklich Kon-
stantes gibt; höchstens relativ konstante, d. h. langsam und kon-
tinuierhch sich wandelnde Tatbestände gibt's in der Seele innerhalb
des kaleidoskopartigen Durcheinanderrinnens der Gesamtheit des psy-
chischen Lebens, und diese relativ konstanten und kontinuieriichen
Dinge seien darum zunächst herausgearbeitet.
2. Als sichtbarer, äußerer Vertreter einer mit sich selbst iden-
tischen Persönlichkeit gilt in der Regel die äußere Erscheinung,
286 Richard Müllcr-Frcienfels :
d. h. der Leib. Handelt es sich dabei im Hinblick auf die Gesamt-
heit der Individualität nur um eine konkrete Repräsentation, so
ist doch der Leib als lokalisierbares, physisch notwendiges Zentrum
der mannigfach ausstrahlenden Persönlichkeitsbeziehungen immer-
hin wichtig genug, so daß Maohs oft angeführte scherzhafte
,, Zeichnung des Ich" nicht ganz sinnlos ist.*)
Indessen ist auch der Leib keineswegs eine konstante Iden-
tität. Wie er nur durch Abstraktion isolierbar ist von seiner Um-
gebung, so ist er auch nur durch Abstraktion von sehr zahlreichen
Wandlungen als Konstante anzusehen. In Wirklichkeit besteht
sein Leben in einem ununterbrochenen Ersatz der sich ver-
brauchenden Baustoffe durch neue. Nach wenigen Jahren ist
material von dem heute vorhandenen Leibe nichts mehr vor-
handen, obwohl äußerlich die Form einigermaßen geblieben ist.
Sehr geistreich vergleicht Lotze das Beharren des Leibes mit
dem eines Wirbels, den ein besonders gestaltetes Hindernis im
Flußbett eines Stromes erzeugt. ,, Solange die Form des Fluß-
betts dieselbe sein und solange die Wellen zuströmen werden,
wird unaufhörlich sich dies Spiel der Bewegung erneuern, in immer
gleicher Gestalt, scheinbar unverändert, obwohl es doch von Augen-
blick zu Augenblick andere Fluten sind, die kommend es erzeugen
und gehend es verlassen. "2) — Aber selbst die Form des Leibes
ist nicht wirklich dauernd. Oft ändern sich die Menschen äußer-
lich in wenigen Jahren derart, daß sie von ihren besten Freunden
nicht wiedererkannt werden, wenn diese die Wandlungen nicht
allmählich miterlebt haben. Trotzdem nimmt man in der Praxis
des Lebens die allmähliche, kontinuierliche Wandlung als relative
Identität hin.
3. Ähnhch ist's mit der geistigen Persönlichkeit. Bei ihr
gehen die Wandlungen sogar viel rascher und, wenn man bei ihr
von Kontinuierlichkeit reden will, so muß man eine nur erschlicßbare
Latenzzeit des Bestehens annehmen. Das tun wir denn auch in
der Regel und nehmen an, daß die Vorstellungen, die wir als Dauer-
bestände der Seele ansehen, im Unterbewußtsein oder als Dis-
position ein kontinuierliches, wenn auch latentes Dasein führen
und nur zuweilen, wie ein mitgewirbeltes Holz in stark bewegtem
') Vgl. Analyse der Empfindungen. Kap. II.
^ Lotze, Mikrokosmus. I. S. 154.
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 28/
Strome, an die Oberfläche tauchen. ^) Höchstens in diesem Sinne
wäre von einer materialen Identität der geistigen Persönhchkeit
zu reden. Ihr Träger wäre vor allem das Gedächtnis. Indessen
zeigt genaues Betrachten, daß das Gedächtnis ein sehr undichter
Behälter ist, der nicht nur beständig beträchtliche Mengen seines
Inhalts entweichen läßt, der auch diesen Inhalt selber keineswegs
unverändert bewahrt. Der Bestand unserer Gedächtnisinhalte
wechselt unablässig, wir lernen und erfahren Neues, vergessen
Altes, und das, was bewahrt bleibt, ändert sich doch sehr wesentlich.
Das Gedächtnis in seiner Gesamtheit kann also kaum als
dauernder Kern der Seele angesehen werden. Dagegen scheint
es innerhalb des Gedächtnisses einen Teilbestand zu geben, der
sich als ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht vielleicht be-
wahrt. Das wären vor allem die ganz persönlichen Erinne-
rungen, die wir einerseits nur für uns allein haben, die wir anderer-
seits treu bis ins höchste Alter bewahren. Indessen sind auch
diese Dinge keineswegs unveränderlich, vor allem aber machen
sie in der Gesamtheit der Persönlichkeit doch nur einen so ge-
ringen Teilbestand aus, daß man sie vielleicht als einen Ariadne-
faden ansehen kann, an dem man sich in die eigene Vergangen-
heit zurücktasten kann, der aber weit davon entfernt ist, die
Gesamtheit dieser Vergangenheit selber zu sein. Was als Er-
innerung in uns dauert, ist nur ein so geringer Bruchteil unseres
Gesamterlebens, dazu so schematisiert und entstellt, daß er un-
möglich als v/irklicher Kern der Persönlichkeit gelten kann.
4. Wenn also auch ein kleiner Besitz relativ dauernden Ge-
dächtnisinhalts in unserem Leben mitgleitet, wie ein paar Eis-
schollen in beständig sich erneuerndem und wachsendem Strome,
so ist dieser Besitz doch nicht imstande, eine wirkliche Identität
der Persönlichkeit begründen zu können. Da diese also nicht
material ist, so versucht man, sie vielleicht in funktionalen
Tatsachen zu sehen. Vielleicht, so meint man, daß zwar der In-
halt der Seele wechsle, daß jedoch jenseits dieses Inhalts das
Gefäß, das ihn umschließt, der Träger, der ihn mit sich führt,
beharrt.
Nun pflegt man seit alters in ethischen, religiösen und philo-
sophischen Schriften innerhalb der mannigfachen Erscheinungs-
^) Vgl. zu diesem und dem Folgenden Kap. I meines Buches: Das Denkea
und die Phantasie, 191 6.
2S8 Richard Müller- F'reienfels:
formen der Individualität ein Etwas auszusondern, das man als
,,das wahre Ich" des Menschen ansieht. Soweit es sich dabei
nicht um ein geistiges Destillat, eine bewußte Aussonderung unter
den Möglichkeiten der Individualität handelt (es wird davon
später die Rede sein), meint man damit das Substrat der Per-
sönlichkeit, den materiellen oder metaphysischen Träger der
wechselnden Erscheinungsformen der Persönlichi:eit. Manche
Autoren sehen als diesen Träger oder dies Substrat den Leib an;
das tun vor allem die Parallelisten. Andere nehmen eine Seelen-
substanz an, die mit dem Leibe nur in Wechselwirkung stehe. ^)
Wir gedenken uns nicht in eine Diskussion dieser Probleme
einzulassen, da uns hier nur eine Teilfrage derselben interessiert,
die nämlich: Ist die Individualität bereits mit diesem ,, Träger"
oder diesem ,, Substrat" gegeben oder sind diese ,, Träger" der
Individualitäten bei allen Menschen gleich .'' Da ich diese Fragen
an anderer Stelle ausführlich behandelt habe, so verweise ich
darauf^), rekapituliere nur ganz kurz das Wichtigste, soweit es
für unsere Fragestellung in Betracht kommt. — Gewiß ist es
möglich, ein solches ,, funktionales Ich", ein ,, erkenntnistheoretisches
Subjekt", das einen festen Kern jeder Individualität bildet, zu
erschliei3en. Aber einerseits bleibt es ein in abstracto Erschlossenes,
andererseits ist es als der allen menschlichen Seelen gemeinsame
funktionale Kern gerade der Ausschluß jeder Individualität.
Es kann sehr wertvoll sein, die Funktion des Empfindens dem
Inhalt des Empfindens, also dem ,, Empfundenen" gegenüber-
zustellen und ebenso die Funktionen des Vorstellens, des Denkens
usw. vom Vorgestellten, vom Gedachten zu unterscheiden. Aber
man gerät dabei in ein Dilemma: Entweder nimmt man jenes
funktionale Ich so allgemein, daß es bei allen Menschen gleich
ist: dann sagt es nichts zu unserem Thema. Oder man nimmt
auch innerhalb der Träger bereits Verschiedenheiten an: dann
ist das Problem der Individualität etwas verschoben, ohne daß
wir doch eine Lösung des gesamten Problems davon erwarten
dürfen.
Wir stellen hier also fest, daß mit der Annahme eines Ich-
substrats an sich ein fester Kern innerhalb der Wandlungen der
*) Von neueren Forschern behandeln diese Probleme vor allem Th. Lipps,
Oesterreich, Becher u. a.
*) In meinem Buche ,, Persönlichkeit und Weltanschauung". Teubner (in
Vorbereitung).
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 28Q
Individualität, der eine Identität derselben begründete und doch
gestattete, die verschiedenen Individuahtäten voneinander zu
scheiden, nicht zu gewinnen ist, auch darum nicht, weil die In-
halte des Geistes ebenfalls sehr wesentlich für die Persönlich-
keit sind.
5. Tiefer in dies Problem führt uns die Methode der dif-
ferentiellen Psychologie, die sich nicht mit der Ermittlung
eines allgemeinen Ichsubstrats genügen läßt, sondern die Struk-
tur der konkreten Individualitäten untersucht und miteinander
vergleicht. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die einzelnen
seelischen Funktionen nicht bei allen Menschen im gleichen Ver-
hältnis zueinander stehen. Auf diesen Unterschied der Funktions-
verhältnisse baut sie ihre Sonderung der Individualitäten in Typen-
gruppen auf. Dieses Prävalenzverhältnis der Funktionen nun,
das als Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen In-
dividuen gilt, kann auch als durchgehendes Ubereinstimmungs-
merkmal für die einzelnen Phasen derselben Individualität heran-
gezogen werden. Natürlich steht mit dem Hervor- bzw. Zurück-
treten einzelner seelischer Funktionen auch ein Hervor- bzw.
Zurücktreten einzelner Gebiete seelischer Inhalte in engem Zu-
sammenhang. Ein absolutes, unw^andelbares und unfehlbares
Kennzeichen ist damit aber keineswegs gegeben. Denn jenes
Prävalenzverhältnis kann sehr wechseln. Eine Dosis Alkohol
bewirkt in jedem Menschen in kürzester Frist eine radikale Ver-
schiebung. Die Wahrnel.mungs- und Urteilsfähigkeit wird stark
herabgesetzt, die Hemmungen werden geringer, das Begehrungs-
leben entfesselt. Neuere Untersuchungen haben uns über die
Wirkung verschiedenster Toxine nach dieser Richtung interessante
Feststellungen erbracht. i) Auch andere äußere Einwirkungen
können das Verhältnis verschieben. Ein Mensch, in dem jahre-
lang das erotische Leben zurücktrat, kann plötzlich durch ein
erotisches Erlebnis auf Jahre hinaus völlig verwandelt werden,
so daß er zum Erstaunen seiner Umgebung bisher heiß erstrebte
Ziele fahren läßt, nur um in den Besitz der begehrten Frau zu
kommen. Vor allem aber das oben besprochene typische Phäno-
men der „Reifung" bedingt in jedem Menschen typische, aber
keineswegs bei allen Individuen ganz parallele Verschiebungen
der seelischen Prävalenzverhältnisse, wofür wir oben bereits Bei-
^) Vgl. besonders die Untersuchungen Kräpelins und seiner Schule,
Annalen der Philosophie, I. 9
290
Richard Müller-Freienfels:
spiele crbnicht haben. Kurz, ein absolutes Merkmal der Über-
einstimmung zwischen verschiedenen Phasen der Individualität
haben wir auch im Prävalenzverhältnis der Funktionen nicht.
Die differentielle Psychologie schlägt einen mittleren Weg zwischen
der ganz schematischen allgemeinen Psychologie und einer ganz kon-
kreten Individualpsychologie ein.^) Ihre Typen sind ein Mittleres zwischen
dem allgemeinen Ichsubstrat und der Buntbewegtheit der konkreten
Einzelseele. Indem die differentielle Psychologie individuelle Ver-
schiedenheiten berücksichtigt, ordnet sie dieselben doch in Gruppen,
Schon darum können die Typen der differentiellen Psychologie nicht als
wirklich individuelle Feststellungen gelten.
Immerhin gehören die Besonderheiten der seelischen Struktur,
wozu auch die erlernten Gewohnheiten neben angeborenen An-
lagen zu rechnen sind, zu den für die Rationalisierung der In-
dividualitäten wichtigsten Anhalten. Sind sie auch nicht ein
wirklich dauernder Kern der Seele von monadenhafter Isoliert-
heit und Konstanz, so ermöglichen sie doch eine gewisse Voraus-
berechnung aus der Vergangenheit für die Zukunft. Auf sie vor
allem gründet sich der Glaube an einen festen, dauernden Charakter,
und ihre Erforschung ist daher ohne Zweifel ein wertvolles Ziel
der Wissenschaft.
6. Nun hat man darauf hingewiesen, daß man — da sich
ein objektiver Anhalt für die Identität der Persönlichkeit nicht
findet — doch in dem spezifischen Lebensgefühl jedes Menschen
einen subjektiven Kitt für die Mannigfaltigkeit der seelischen Phäno-
mene sehen dürfe. Dies spezifische Lebensgefühl soll der gemein-
same Untergrund sein, über dem die einzelnen Gefühle und Af-
fekte, wie sie die Berührung mit der Außenwelt in uns hervor-
ruft, nur die wechselnden Wellen seien. Nun hat bereits Oester-
reich, der eine ausführliche Analyse dieses Gemeingefühls ge-
geben hat, mit Recht bemerkt, daß auch dies Gemeingefühl nur
ein Zustand des Ich, nicht das Ich selber sei.^) Für unsere Zwecke
aber kommt vor allem der Umstand in Betracht, daß, selbst wenn
man das Dasein und die repräsentative Bedeutung dieses Ich-
gefühls in weitestem Umfange zugibt, es doch für die Rationa-
lisierung gar keinen Anhalt gibt. Als Gefühl ist es für die be-
*) Über Methoden und Prinzipien der differentiellen Psychologie gibt den
"besten Überblick W. Stern, Die differentielle Psychologie, 191 1. Dazu Müller-
Freicnfels, Persönlichkeit und Weltanschauung, I. Buch.
*) Vgl. Ocsterreich, Phänomenologie des Ich, S. 3i9ff.
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 201
griffliche Erfassung ziemlich inkommensurabel. Und dabei kann
man seine reale Existenz noch in Zweifel setzen und sehr ernst-
haft fragen, ob es nicht eine abstrakte Verallgemeinerung oder
Verwaschung der Einzelzustände der Seele sei.
7. Vielleicht könnte man geneigt sein, eine dominierende
Willensrichtung als Identitätsmoment anzuführen. Man könnte
darauf hinweisen^ daß bei manchen Menschen das ganze Leben von
einem einheitlichen Willensziel beherrscht gewesen sei. Man könnte
auf Roh. Mayer verweisen, dessen ganzes Dasein auf die Bezwingung
des einen Problems der Erhaltung der Energie gerichtet scheint; man
könnte an Richard Wagner erinnern, dessen Leben, Schaffen und Denken
ganz in dem Zentralgedanken des ,, Musikdramas" zu gipfeln scheint^
Allerdings sage ich mit Absicht „scheint". Denn genaueres Hinsehen
zeigt, daß selbst bei Monomanen eine derartige Einheit des Lebens-
willens nur scheinbar ist, weil sie stark in die Augen fällt. Sie ist eine
ziemlich zusammenhängende und stark hervortretende Strömung in
dem mannigfachen Fluten des individuellen Lebens, aber nie auch an-
nähernd dessen ganzer Gehalt. Man darf überhaupt Einheit nicht mit
Identität verwechseln. „Einheit" kann überhaupt verschiedenes be-
deuten. Gewiß ist die Seele in jedem Augenblick eine Einheit in dem
Sinne, daß sie nur auf eine Hauptaktion zur selben Zeit sich zu kon-
zentrieren pflegt, aber von einer Dauer dieser Einheit kann keine Rede
sein; im Gegenteil, Konzentration ist nur bei wechselndem Verhalten
der Seele denkbar. Wir erwähnten schon an anderer Stelle, daß von
Dauer nur im Sinne eines öfteren Wiederkehrens in der Seele die Rede
sein kann. Zweitens kann aber mit „Einheit" auch das äußere Ziel,
die dominierende Idee, gemeint sein. Aber diese ist in den von uns er-
wähnten Fällen höchstens eine Richtung, kein fertiges Objekt. Das
soll sie ja durch die Tätigkeit des Individuums erst werden. Sie ist
eine ungefähre „Einstellung", die sich jedoch beständig wandelt und
die wohl innerhalb der Vielheit der seelischen Phänomene eine domi-
nierende Stellung einnimmt, aber auch selbst im extremsten Falle nicht
die ganze Vielheit in sich schließt. Soweit eine solche einseitige und
einheitliche Willensrichtung in der Struktur der Seele bedingt ist, ge-
hört sie unter die Betrachtung der Prävalenz der seelischen Funktionen^i
Eine konstante Identität der Seele kann eine solche dominierende Willens-
richtung niemals begründen.
8. Alles in allem können wir in der irrationalen Fülle der
Persönlichkeitsphänomene zwar einige hervorheben, die eine ge-
wisse Kontinuierlichkeit aufweisen und deren Wandlungen so
langsam vor sich gehen, daß sie als relativ feste Bestandteile im
Wechsel angesehen werden und daher zu Anhalten einer un-
gefähren Rationalisierung dienen können. Indessen geht wohl
gerade aus der Betrachtung dieser relativ dauernden Dinge hervor,
^'ie wenig sie wirklich imstande sind, die Totalität der Persön-
19»
202 Richard Müller-Freienfels:
lichkcit za umspannen. Wir wollen gewiß die Individualität nicht
als sinnloses Chaos hinstellen: Es gibt in ihr genug, was sie dar-
über erhebt. Aber gerade diese ordnenden Momente sind zum
Teil allgemein-menschlich, d. h. nicht individuell, zum Teil sind
sie doch viel zu zerfließend, um feste Fundamente für einen streng
logischen Aufbau zu bieten. Was die Struktur der individuellen
Seele anlangt, so ist zwar eine gewisse Besonderheit der Proportion
ihr eigen, die aber keineswegs völlige Verschiebungen ausschließt.
Im Gegenteil, es ist festzustellen, daß jedes Individuum trotz
einer gewissen Prävalenz doch auch (von pathologischen Aus-
fällen abgesehen) die nichtprävalierenden Funktionen besitzt, die
gelegentlich doch zur Vorherrschaft gelangen können, so daß
jedes Individuum ganz unberechenbare Möghchkeiten birgt. Und
was die ,, Inhalte" der Seele anlangt, so besteht zwar ein gewisser
,, Stamm", aber auch hier sind die Möglichkeiten ganz unberechenbar
und es gibt kaum einen Inhalt, der prinzipiell nicht von jeder
Individualität umfaßt werden könnte. Jedenfalls sind diese wenigen
relativ ,, festen" Bestandteile der Individualität nicht im Ent-
ferntesten als monadenhafte Substanz anzusehen, in der man
eine immanente Kausalität der individuellen Lebensäußerungen
zu suchen hätte. Im Gegenteil, keine einzige menschliche Hand-
lung ist aus einer solchen rationalen Monade heraus zureichend
zu determinieren. Von groben Verallgemeinerungen abgesehen^
ist jede menschliche Handlung irrational, d. h. ihre kausale Be-
dingtheit ist niemals aus einer hypothetischen Monade abzuleiten.
Es gibt prinzipiell kaum etwas, was nicht in den Umkreis einer
Persönlichkeit eintreten könnte, es gibt auch keine Regung und
kein Erlebnis, das prinzipiell innerhalb einer Individualität un-
möglich wäre. Nicht nur von dem einzelnen Menschen, auf den
es gemünzt war, für jeden anderen gilt das Wort C. F. Meyers:
,,Ich bin kein ausgeklügelt Buch; ich bin ein Mensch mit seinem
Widerspruch." Das eben ist das Irrationale der Individualität,
daß der Satz des Widerspruchs auf sie nicht angewendet werden kann.
Kapitel III. Die Identität der Persöulicbkeit als Forderung.
Allen den bisher angeführten Tatsachen, die die Identität
der Persönlichkeit zum mindesten als höchst problematisch er-
scheinen lassen, steht nun die andere Tatsache gegenüber, daß
im Leben von den verschiedensten Standpunkten aus die Idcn-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 203
tität der Individualität gefordert wird. In Ibsens „Peer Cynt"
hat diese Forderung: „Mensch, sei dir selber treu!" eine poetische
Gestaltung gefunden, was an dem negativen Excmpel des ewig
schwankenden Helden vorgeführt wird.
1. Betrachten wir zunächst die Identität der Individualität
als soziale Forderung! Wie eine Rechnung mit lauter variablen
Größen eine Unmöglichkeit ist, so ist ein soziales Leben aus-
geschlossen, wenn nicht eine gewisse Konstanz der Individuen
vorausgesetzt werden kann. Jeder Verk hr, jede Freundschaft,
jede Berufsstellung, jeder geschäftliche Kredit, kurz alle mensch-
lichen Beziehungen setzen die Identität der Individualität voraus.
Ein völlig unberechenbarer Mensch wäre unbrauchbar für jedes
soziale Leben. Wir müssen in unserem geselligen und geschäft-
lichen Verkehr mit den Charakteren unserer Mitmenschen als
mit konstanten Größen rechnen können, denen man zwar gewisse
Unberechenbark?iten (die jedoch durch einen überwiegenden Kern
von Festem kompensiert sein müssen) zugeben kann. Je näher
die Beziehungen sind, um so mehr wird diese Konstanz der In-
dividualität Erfordernis.
Hysterische Frauen mit ihrem wetterwendischen Temperament
können für einen nicht nahen Umgang, eine vorübergehende gesell-
schaftliche Berührung, gerade infolge ihrer Unberechenbarkeit reizvoll
sein: Für die Ehe taugen sie nicht und machen den Mann, der sich mit
ihnen verbindet, in der Regel sehr unglücklich. Gewiß braucht diese
Identität der Persönlichkeit keine absolute zu sein; eine gewisse Plasti-
zität ist ebenso erforderlich; aber als erste Voraussetzung pflegt man
doch, wenigstens vom erwachsenen Menschen, zu verlangen, daß man
mit ihm als einer festen Größe rechnen kann. Auch juristisch wird
so verfahren, indem man die Identität voraussetzt, wenn auch das
„Verjähren" von Strafen, die Zubilligung von verminderter Zurechnungs-
fähigkeit bei manchen Delikten als Konzession an die Wandelbarkeit
der Persönlichkeit aufgefaßt werden können.
2. Infolge dieser hervorragenden sozialen Bedeutung ist die
Konstanz der Individualität auch eine ethische Forderung vor-
nehmster Art geworden. Als ,, Treue", als ,, Beständigkeit", als
„Zuverlässigkeit" und unter dem Namen vieler anderer Tugenden
wird sie umgeben von allem Glanz ethischer Wertung. ,, Charakter"
haben ist schlechthin gleichbedeutend geworden mit ,, Konstanz
der Individualität" besitzen.
Infolgedessen läuft auch ein gut Teil aller Erziehung auf
Unterdrückung von Individualitätsschwankungen hinaus. Wir
294
Richard Müller-Freienfels:
lernen es von früh auf, vorübergehende Launen zu bezwingen,
Stimmungsschwankungen zu beherrschen, Leidenschaften zu hem-
men : alles, um einen möglichst geschlossenen, gleichmäßigen Charak-
ter zu gewinnen. Aber nicht nur die vorübergehenden Schwan-
kungen, auch die tiefergreifenden Wandlungen der Persönlichkeit
sucht man, da ihre völlige Unterbindung weder tunlich noch
wünschenswert ist, durch die Erziehung zu leiten. Das Bestreben
der Pädagogik ist: der sich entwickelnden Persönlichkeit einen
solchen Kurs zu geben, daß von außen eingreifende Einflüsse die
Richtung nicht ernsthaft gefährden können. Immer wird die
Identität der Persönlichkeit mit einer besonderen ethischen Würde
umkleidet, die ihr Halt geben soll im Wandel des Lebens.
3. Zum Teil auf ähnhchcr Basis beruht die ästhetische
Forderung der Einheit der Persönlichkeit. Man verlangt von
jedem Menschen einen gewissen ,,Stil", d. h. eine Einheithchkeit
aller seiner Lebensäußerungen, und findet ein zu starkes Schwanken
und unvermutete Wandlungen ,, unschön". Aus diesem Grunde
verlangt man vom wohlerzogenen Menschen, daß er jene Ab-
weichungen vom Stil unterdrücke. Der Aristokrat unterscheidet
sich vom Plebejer durch festere Ausprägung seiner Persönlichkeit,
betonten Stil in a.Mcn Lebensäußerungen. Der Plebejer ,,läßt
sich gehen", er gibt seinen Launen, seinen Schwächen, seinen
Einfällen nach. Der vornehme Mensch erscheint von gleichmäßiger
Beherrschtheit, von einer in sich ruhenden Würde, die ästhetisch
wohltuend absticht von der rastlosen Hast, Unruhe und Wandel-
barkeit des Plebejers. Kulturell kann diese konservative Ge-
schlossenheit ein Mangel sein, ästhetisch ist sie meist von großem
Reize.
4. Auch als theoretische Forderung tritt die nach kon-
stanter Identität der Persönlichkeit auf. Es wäre eine maßlose
Vergeudung von seelischer Energie, aller Denkökonomie entgegen,
wollte man jede Individualität als absolutes Novum, das dazu
sich beständig wandelt, ansehen. Man verlangt, daß es sich ein-
ordnen lasse in Typengruppen. Nur so ist es möglich, sich unter
den Menschen einigermaßen zurechtzufinden. Dafür aber ist es
notwendig, daß man einerseits die Individualität als einigermaßen
konstante Einheit faßt, andererseits aber auch, daß man sie mit
anderen zusammenordnen kann, was wiederum jene Konstanz
und Einheitlichkeit zur Voraussetzung hat. Völlig variable Größen
kann man niemals klassifizieren oder vergleichen. Eine Wissen-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 2915
Schaft der Geschichte wäre unmögHch, wenn man nicht feste Be-
griffe von den einzelnen Persönhchkciten, die darin auftreten,
zu bilden vermöchte. Aus einem beständig unter den Händen
zerrinnenden Material kann man nicht greifbare Gebilde gestal^en.
Infolgedessen macht die Geschichte die — von ihr selber in ihrer
Problematik wenig beachtete — Voraussetzung, daß die Persön-
lichkeiten als konstante Identitäten sich begreifen lassen.
5. Als letzte Forderung einer Identität der Individualität
begegnet uns die religiös-metaphysische. Man betonte diese
Einheit so stark, daß man sie selbst mit dem Tode nicht erlöschen
lassen wollte. Vor allem jene Lehren, die die Unsterblichkeit des
Einzelich vertreten, haben eben die Identität der Persönlichkeit
als Voraussetzung; denn der Begriff der Unsterblichkeit verliert
seinen ursprünglichen Sinn, sobald man nicht die Unsterblichkeit
des individuellen Ich meint. Der oft angeführte Eskimo, der die
Unsterblichkeit ohne Walrosse und Harpunen dankend ablehnte,
hat von seinem Standpunkt aus ganz recht; denn eine Unsterblich-
keit, die nicht eine Verlängerung des irdischen Individuums mit
all seinen Besonderheiten ist, ist strenggenommen überhaupt keine.
Besonders im Christentum ist die Lehre vom unendlichen Wert
der Einzelseele stark hervorgetreten, wenn auch die Beziehungen
dieser Einzelseele zur allumfassenden Gottheit kaum jemals ganz
klar herausgearbeitet worden sind.
6. Freilich ist damit, daß aus all diesen Gründen die identische
Persönlichkeit gefordert wird, noch keineswegs gesagt, daß diese For-
derung erreichbar sei. Auch wäre eine vollkommene Erfüllung derselben
wiederum ein Übel, das unter allen den aufgezählten Gesichtspunkten
auch seine Nachteile hätte. Indessen als „Ideal", als jenseits restloser
Erfüllungsmöglichkeit liegender Zielpunkt behält die geforderte kon-
stante Identität der Persönlichkeit ihren Wert. Jeder Mensch hat von
sich eine Idealvorstellung, wie er sein möchte. Er bildet innerhalb des
Umkreises seiner seelischen MögHchkeiten einen Persönlichkeitsbegriff,
der oft sehr stark von der Wirklichkeit abweicht. Auch Räuber und
Mörder pflegen solche ,, Ideale" von sich zu haben, wenn diese auch
von sonst üblichen Wertungen stark differieren. Unkritische Naturen
identifizieren sich wohl mit diesem ,, Idealich", ihre Taten aber be-
weisen ihnen oft genug, daß ihr ,, wirkliches" Ich sehr weit abweicht
von jenem. Das ,,Ideahch" kann ein Ausschnitt der Persönlichkeit
sein, es kann auch eine „Ergänzung" derselben sein. Wirklich den
gesamten Umkreis der tatsächlichen Persönlichkeit ausfüllend ist es
nie. Selbst bei solchen Asketen, die zum Zwecke einer geistigen „Wieder-
geburt" sich vom Leben zurückzogen, machte sich oft der „alte Adam"
neben dem neuen Idealich stark bemerklich. Auch bei den edelsten
2g6 Richard Müller-Freienfels:
Heroen und Heiligen lassen sich Stunden und Gelegenheiten nach-
weisen, wo sie ihrem Ideal untreu wurden, das heißt, wo sich jenes
Idealich nicht stark genug erwies, alle anderen Möglichkeiten der In-
dividualität zu unterdrücken.
Wir stellen also fest, daß selbst dort, wo bewußt eine konstante
Individualität, die allen Forderungen entspräche, also eine Idealpersön-
lichkeit, angestrebt wird, diese doch niemals dem gesamten Umkreis der
Individualität kongruent ist, sondern neben ihr pflegen immer noch
zahlreiche andere Möglichkeiten weiter zu bestehen, so daß die schwan-
kende Umgrenzung und die Variabilität durch das Vorhandensein eines
solchen „Ideals" zwar vermindert, aber nicht aufgehoben werden.
Kapitel IV. Die Indiyidualität als üktiTe Konstruktion.
I. Nach allem, was wir bisher erörtert haben, befinden wir
uns mit unserem Problem in einer seltsamen Lage. Zunächst
erkannten wir, daß die Individualität ein außerordentlich vages,
schwer zu fassendes und beständigen Wandlungen unterworfenes
Gebilde ist; zweitens stellten wir fest, daß sich allerdings einige
greifbarere Tatsachen innerhalb jenes variablen Komplexes auf-
zeigen lassen, daß diese jedoch nicht ausreichen, um eine wirk-
liche Identität der Individualität zu begründen, und drittens
fanden wir, daß dcmungcachtet dennoch vom sozialen, ethischen,
denkökonomischen, ästhetischen und religiösen Standpunkt aus
die mit sich selbst identische Persönlichkeit gefordert wird, ohne
daß die Erfüllbarkeit dieser Forderung nachgewiesen wäre. Und
nun können wir zu der weiteren Feststellung schreiten, daß das
I^ben sich fast durchgehend so verhält, als ob die Menschen mit
sich selbst identische Individualitäten wären.
Wir verkehren mit Unseresgleichen durchaus, als blieben sie
im wesentlichen dieselben Menschen; wir gehen mit ihnen Ver-
träge ein, schließen Freundschaften, Bündnisse, Ehen, die alle
die Konstanz der Individualität zur Voraussetzung haben; wir
bestrafen einen Menschen für Handlungen, die er zu ganz anderer
Zeit, in ganz anderer Verfassung begangen hat; wir haben eine
Wissenschaft der Geschichte, in der die handelnden Persönlich-
keiten als klar umrissene Faktoren auftreten; die Religion lehrt
die Unsterblichkeit der Einzelpcrsönlichkcit, alles, als ob die Iden-
tität der Individualität eine klar erwiesene Tatsache wäre. Mit
anderen Worten: Wir machen, obwohl die schwerwiegendsten
Bedenken gegen die Identität ims mehr oder weniger bewußt
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 207
sind, dennoch überall im Leben die Fiktion, daß diese Identität
tatsächlich bestände.
Auf den ersten Blick muß dieser Tatbestand, dem wir damit
ins Auge schauen, verwundern, ja er kann zu schweren Bedenken
Anlaß geben. Heißt es nicht, den Bankerott aller der ausgedehnten
Lebensverhältnisse ansagen, wenn wir den für sie so wesentlichen
Begriff der Individualität für eine Fiktion erklären.^ Wird dieser
Begriff nicht zu einem Hirngespinst, einem Trug? Müssen wir
nicht überall mit der so anders gearteten Wirklichkeit in Kon-
flikt geraten.?
Wir antworten: Nein! Wenn wir die Identität der Persön-
lichkeit als Fiktion bezeichnen, so sind wir damit weit davon
entfernt, den Wert dieser Fiktion zu leugnen. Gewiß ist eine
Fiktion kein adäquates Abbild einer an sich bestehenden Wirklich-
keit, aber sie ist darum noch lange nicht ein bloßes Hirngespinst
oder eine vage Hypothese. Im Gegenteil, die Fiktion einer
konstanten, mit sich identischen Persönlichkeit ist
zwar eine bewußte Umformung der tatsächlichen Ge-
gebenheiten, aber als solche ein Denkmittel von größter
Wichtigkeit, das sich praktisch mannigfach bewährt
und in der Tat eine ganze Reihe der oben aufgestellten
Forderungen zu erfüllen gestattet.
Wir treten damit auf den Boden von Vaihingers ,, Philo-
sophie des Als-Ob".i) In diesem hochbedeutsamen System ist
es unternommen, den Fiktionen, die bisher zwar vielfach ver-
wendet, aber selten in ihrer Wichtigkeit erkannt worden waren,
volles Bürgerrecht im Bereich der Wissenschaft zu erkämpfen.
Ja, das Ergebnis des ganzen Werkes ist, daß fast unser gesamtes
Denken eine fiktive Verarbeitung des Gegebenen ist, so daß die
hier angestrebte Fassung des Persönlichkeitsbegriffs gr.r nicht
herausfällt aus der Art des menschlichen Denkens überhaupt.
Denn da alle Allgemeinvorstellungen und -begriffe letzten Endes
Fiktionen sind, so ist auch der Begriff der Individualität eine
solche.
Vaihinger selbst hat in seinem reichen Werke die Anwendung
seines Prinzips auf die hier in Frage stehenden Probleme in ex-
tenso nicht erbracht; nur gelegentliche Anregungen lassen ver-
1) Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, prak-
tischen und religiösen Fiktionen der Menschheit. 1911. 2. Aufl. 1913.
2q8 Richard Müller-Freienfels:
muten, daß er auch die hier beleuchteten Möghchkciten ins Auge
gefaßt hat.
Wir glauben daher ganz in seinem Sinne zu sprechen, wenn
wir unsere Lösung des Individualitätsproblems formulieren: Eine
konstante Identität der Persönlichkeit im absoluten Sinne besteht
nicht; dagegen verhalten wir uns im Leben allenthalben durchaus
so, als ob eine solche konstante Identität unserer Persönlichkeit
bestünde, und wir verkehren mit unseren Nebenmenschen, als
ob auch sie alle konstante und mit sich identisch bleibende
Individualitäten wären.
Des näheren werden wir die Fiktion der einheitlichen, iden-
tischen Individualität einreihen können in die Gattung der ab-
straktiven (oder neglektiven) Fiktionen. Diese entstehen so, daß
man nur einen Teil der gegebenen Tatsachen hervorhebt, einen
anderen dagegen als unwesentlich beiseite läßt. Eine solche Ab-
straktion ist naturgemäß immer eine gewisse Willkürlichkeit, aber
nicht etwa eine plan- und sinnlose, sondern eine solche, die sich
als brauchbar für das Leben erweist. In dieser Hinsicht berührt
sich die Philosophie des Als -Ob mit dem Pragmatismus.
Die Fiktion der einheitlichen, identischen Persönlichkeit kommt
also so zustande, daß man alle einheitsbildenden Momente verstärkt,
alle die Einheit aufhebenden zurücktreten läßt. Das Verfahren ist
etwa dem eines Künstlers zu vergleichen, der unter der Fülle der Mög-
lichkeiten nur diejenigen betont, die ihm im Interesse seiner einheit-
lichen Anschauung als wesentlich erscheinen. Das Bild, das durch
eine solche neglektive Abstraktion entsteht, ist natürhch keine Wahr-
heit ,,an sich", es ist sogar in gewisser Hinsicht eine Fälschung, aber
immerhin eine unter bestimmtem Gesichtspunkt vorgenommene Fäl-
schung, deren Wert in der praktischen Bewährung liegt. Verzichtet
man nun von vornherein auf den unmöglichen Anspruch, daß unser
Denken uns eine „absolute" Wahrheit erschheßen könne, geht man
davon aus, daß all unser Denken Hilfsmittel des Lebens ist, so wird
man eine solche Lösung nicht beklagen, sondern aus ihrer praktischen
Bewährung ihren Wert zu erweisen suchen.
Demnach besitzt die Fiktion der konstanten Individualität alle
Kennzeichen, die von jeder echten Fiktion zu verlangen sind. Sie ist
eine gewaltsame Umgestaltung der Wirklichkeit, die aber ihren Wert
durch ihre Zweckmäßigkeit erweist. Sie sollte, wie jede andere Fiktion,
stets von dem Bewußtsein begleitet sein, daß sie nur eine verfälschte
Wirklichkeit ist, die jedesmal einer Korrektur bedarf und womöglich
schließlich eliminiert werden sollte. Daß das nicht immer geschieht,
daß die Fiktion vielfach für Wirkhchkeit genommen wird, auch dieses
') Vgl. Vaihinger, a. a. 0. S. 171 ff.
Der BegriflF der Individualität als fiktive Konstruktion.
299
Schicksal teilt sie mit den meisten anderen P'iktioncn. Gerade dem
entgegen zu arbeiten, gehört zu den Hauptabsichten des gegenwärtigen
Aufsatzes.
2. Die so fingierte ,, Individualität" ist zunächst also sozu-
sagen ein substantielles Hypokeimcnon, das im Wechsel der
Zustände als dauernd beharrt und mit sich identisch bleibt. Sie
ist aber noch mehr; die Fiktion geht noch weiter und leiht diesem
Hypokeimcnon gleichsam Kräfte. Denn das Wesen der fingierten,
konstanten Individualität erschöpft sich nicht in ihrem Trägersein,
sie gilt auch als wirkende Ursache, die — wenigstens als ein
Faktor neben anderen — die wechselnden Zustände mitbedingt.
Auch diese neue Fiktion ist psychologisch sehr interessant. Erst
errechnet man aus den wechselnden Zuständen sozusagen einen
Durchschnittszustand, der in seiner schematischen Mittelschlächtig-
keit zwar kaum jemals wirklich real ist, dem man aber doch eine
gewisse psychophysische Substantialität verleiht. Darüber hinaus
aber gibt man dieser Fiktion auch noch verursachende Kraft,
aus der man die Handlungen und anderen Wesensäußerungen
des Menschen ,, erklärt". Man erhebt die Durchschnittlichkeit
der Verhaltungsweisen eines Menschen zu einer nczessitierenden
Macht, und wenn man ihren Auswirkungen i.dlein Wahrscheinlich-
keit, nicht Notwendigkeit, zuschreibt, so tut man das nur, weil
man sehr oft wahrnimmt, daß äußere Einflüsse durchkreuzend
mitwirken. Wenn man z. B. in der Geschichte vom ,, Charakter"
Napoleons spricht, wenn man von der Eigenart des Goetheschen
,, Genius" redet, so ist man sich nicht immer bewußt, daß man
in Wirklichkeit mit solchen fiktiven Begriffen nur einen schema-
tischen Durchschnitt meinen kann, sondern man verfährt mit
jenen Begriffen so, als hätte man wirklich in ihnen jenen ,,Kern"
des Menschen erfaßt, der als wirkende Ursache im Zentrum der
Persönlichkeit säße. Und wenn dann die Historiker uns vor-
rechnen, daß Napoleon auf Grund seines Charakters so und so
handeln ,, mußte", so ist man sich selten nur bewußt, daß man
damit niemals eine wirkliche Notwendigkeit konstatieren kann,
sondern im besten Falle eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Ebenso
wie die Substantialisierung ist auch die Einführung der Indivi-
dualität als wirkende Ursache eine Fiktion, allerdings aber, wie
wir wieder hinzufügen können, ebenfalls eine sehr nützliche Fiktion,
die gestattet, eine pauschale Kausalität des psychischen Geschehens
anzunehmen. In Wirklichkeit ist natürlich eine Kausalität vor-
•^OO Richard Müller-Freienfels:
banden, sie ist aber längst nicht so einfach und regelmäßig, wie
jene Fiktion uns glauben machen will. Diese macht die Gescheh-
nisse ,, denkbar", ist jedoch sehr weit entfernt von einer wirk-
lichen, auf Notwendigkeit beruhenden ,, Erklärung".
3. Als Fiktion entspricht unser Individualitätsbegriff den ver-
schiedenen Forderungen, die wir oben aufgeführt haben.
Als Fiktion genügt er zunächst der sozialen Forderung. Alles
soziale Leben verläuft, als ob die es lebenden Individuen einheitliche
Identitäten wären. Im Grunde wissen wir, daß wir selbst sowohl wie
unsere Partner bei Geschäften, bei freund- und verwandtschaftlichen Be-
ziehungen, in jeder Art sozialem Verhältnis, den mannigfachsten Wand-
lungen unterhegen können: Wir handeln jedoch, „als ob" allen eine
konstante Identität zukäme. Wir wissen, daß oft genug Enttäuschungen
vorkommen; trotzdem ist soziales Leben nur auf Grund jener Fiktion
möglich.
Indem aber die soziale Fiktion mit einer sittlichen Würde bekleidet
wird, erhebt sie sich zu gleicher Zeit zur ethischen Fiktion. Wir ver-
urteilen Schwankungen und Wandlungen der Identität des Charakters
als sittliche Fehler. Das kann zu groben Ungerechtigkeiten führen,
indem eine innere Wandlung, die aus Notwendigkeit erfolgt ist, den
Ewiggestrigen als Schwäche, ja als Abfall und Verbrechen erscheint.
Und doch sind solche Wandlungen gar nicht zu vermeiden, ja, sie sind
Notwendigkeiten des Lebens, die sogar ihrerseits ethischen Wert haben
können. Trotzdem sucht man jene Fiktion aufrecht zu erhalten, als
beharrte die gleiche Individualität. Oft genug behält man deshalb
wenigstens als Maske die Fiktion eines früheren Standpunkts bei,
während man sich in der Tat längst weiterentwickelt hat. Viele Menschen
scheuen sich, aus der christlichen Kirche auszutreten, obwohl sie längst
die wesentlichen Kirchenlehren nicht mehr befolgen. Es ist das nicht
immer Heuchelei, oft wissen die Betreffenden selber nicht, wie sehr sie
sich gewandelt haben, und halten, ohne es zu merken, eine veraltete
Fiktion aufrecht. Hinter allen solchen unbewußten Maskeraden steckt
die ethische Würde, mit der die Fiktion der Identität der Persönlich-
keit bekleidet ist. Die Macht des Konservativismus gegenüber allem
Fortschritt beruht auf dieser ethischen Betonung der fiktiven Identität
und kann so oft genug zum kulturellen Hemmnis werden.
Auch als ästhetischer Wert ist die Identität der Persönlichkeit,
der feste ,,Stir', nur eine Fiktion. Natürlich ist auch der völlig be-
herrschte Aristokrat den mannigfachsten Wandlungen imd Schwan-
kungen unterworfen: Er weiß sie jedoch zu unterdrücken oder wenig-
stens zu verbergen. Letzteres genügt durchaus für die ästhetische
Wirkung; für diese ist es gleichgültig, ob einer eine geschlossene In-
dividualität ist oder bloß scheint. Er muß sich nur benehmen, ,,als
ob" er es wäre. Gewiß besteht ein Zusammenhang zwischen Schein
und Sein. Oft bringt eine scheinbare, geschauspielerte Haltung die
wirkliche, entsprechende mit sich. Indem wir uns den Anschein geben,
rlaß w:r unsere Affekte beherrschten, beherrschen wir sie wirklich, eine
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. oq j
Tatsache, die aus der physio-psychologischen Natur der At'tekte gut zu
erklären ist. Für die ästhetische Wirkung, die ja überall auf dem ,, Schein"
beruht, ist es jedoch genügend, wenn die Identität und Einheit der Per-
sönlichkeit nur fingiert ist.
Das Bedürfnis, die Individualität auch theoretisch als Einheit und
Identität zu erfassen, beruht zum Teil mit auf den bisher besprochenen
Forderungen, darüber hinaus jedoch ist es auch ein rein intellektuelles
Bedürfnis nach Klarheit und scharfer Begriffsbildung, wenn man die
Individuen als konstante Einheiten erfassen will. Aus diesem Grunde
prägen wir allerlei Schemata (Typenbegriffe) aus, denen wir die Indivi-
duen unterordnen. Daß wir dabei die Individualität nicht bloß als
Träger, auch als causa efficiens ansehen, tritt besonders bei ihrer theo-
retischen Verwendung heraus, wenn auch gerade hierbei stets das Be-
wußtsein der Fiktivität mitsch\\-ingen sollte.
Nicht nötig, ja dem Zweck entgegenarbeitend würde dies Bewußt-
sein freilich bei allen religiösen Lehren sein, die die konstante Indivi-
duahtät sogar über den Tod hinaus noch verlängern. Daß aber die
Realität der Individualität keine Conditio sine qua non der Religio-
sität ist, daß gerade die Fiktivität der Individualität aufs stärkste zu
religiösen Zwecken betont werden kann, offenbaren am besten solche
Glaubensformen wie der Buddhismus, die so weit gehen, daß sie im Er-
löschen der Individualität das höchste Gut sehen.
Kapitel V. Die begriffliche Fixierung der Individualität,
1. Da unser Hauptziel nicht eine Erforschung der ,, Persön-
lichkeit an sich" ist (was ein metaphysisches Unternehmen wäre),
sondern da wir nur rein psychologisch die Möglichkeit erörtern,
die individuelle Persönlichkeit begrifflich und wissenschaftlich zu
fixieren, so betrachten wir nunmehr zunächst die Versuche, die man
zu diesem Zwecke unternommen hat. Alle diese Versuche sind
nur möglich, wenn man den objektiven Tatbestand in fiktiver
Weise vereinfacht und schematisiert. Als wichtigste Versuche,
die Individualität begrifflich zu erfassen, finden wir die folgen-
den drei:
1. Das Charakterbild,
2. die Biographie,
3. das Psychogramm.
2. Von diesen dreien ist das ,, Charakterbild" praktisch
der verbreitetste, wissenschaftlich der dürftigste Versuch, eine
Individualität zu erfassen. Analysieren wir, was man im Leben
von seinem Nebenmenschen für Begriffe hat, so behalten wir in
der Regel recht wenig Festes in der Hand. Man hat eine mehr
302
Richard MüUer-Freienfels:
oder weniger verschwommene visuelle Vorstellung des Äußeren
der Persönlichkeit, man ordnet den Charakter gewissen vagen
Typen unter, die nach Besonderheiten des Temperaments, des
Gefühls oder Geistes aufgestellt sind und meist nur eine oder die
andere hervortretende Eigenschaft festhalten. Dazu treten allerlei
Gefühlswertungen, die uns zwar oft in der Praxis mit erstaun-
licher, instinktmäßiger Sicherheit leiten, aber meist weit von be-
grifflicher Klarheit entfernt sind. Diese vagen Vorstellungen von
anderen Individualitäten sind — wie gesagt — für das Leben
sehr wichtig, trotz ihrer Unbestimmtheit, vielleicht auch gerade
wegen dieser. Denn eben diese Plastizität, Verschwommenheit
und mangelnde Abgrenzung der Vorstellung läßt die Unadäquat-
heit mit der vielfältigen, sich wandelnden Tatsächlichkeit nicht
so sehr ins Bewußtsein treten, zumal durch Gefühl und Instinkt
das intellektuelle Manko reichlich aufgewogen wird.
Das ,, Charakterbild", dessen sich vor allem die Geschichts-
wissenschaft bedient, ist im Grunde nur eine kritischere und durch
sachliche Belege gestützte Bearbeitung solcher vorwissenschaftlicher
,, Charakterbilder". Dabei ist trotzdem bezweifelbar, ob man bei
diesem Verfahren der Historiker noch von Wissenschaft im exakten
Sinne reden kann. So bewundernswert die ,, Charaktergemälde"
sind, mit denen die großen Historiker ihre Werke schmücken, sie
verdienen diese Bewunderung doch wohl mehr als Kunstwerke,
denn als rein wissenschaftliche Leistungen. Im Grunde ist das Ver-
fahren durchaus dem des Malers gleich, der die äußere Persön-
lichkeit durch eine Auswahl der ihm besonders wichtig scheinenden
Züge in bezeichnendem Bilde wiedergibt. Beim Maler wie beim
Schriftsteller entscheidet letzten Endes die künstlerische Intuition
darüber, welche Züge und in welchem Grade sie betont werden
sollen. Und wenn auch der Wissenschaftler meist eine Anzahl
Belege für seine Auswahl mitzugeben pflegt, erschöpfend kann
dies Belegmaterial niemals sein. Es garantiert höchstens eine
gewisse Wahrscheinlichkeit der Darstellung, niemals ihre apo-
diktische Notwendigkeit.
Bei alledem macht der Gestalter von Charaktergemälden die
fiktive Voraussetzung, daß es überhaupt möglich sei, die un-
geheure Masse von Tatbeständen, als welche sich der Umkreis
jeder einigermaßen erforschbaren Persönlichkeit darstellt, so zu-
sammenzufassen, daß das Gestaltete repräsentative Bedeutung hat.
Das ist aber, wie gesagt, eine Fiktion, die den Tatsachen Gewalt
Der BegrüT der Individualität als fiktive Konslruktion.
303
antut. Denn einerseits ist der Umfang der sich wandelnden, suk-
zedierenden Tatsachen viel zu groß, als daß er auf eine annähernde
Simultaneität zurückgeführt werden könnte. Infolgedessen sehen
sich die meisten Charakterbilder genötigt, auch die Wandlungen
der Persönlichkeit wenigstens anzudeuten: In diesem Falle aber
nähert sich das ,, Charakterbild" der ,, Biographic". — Anderer-
seits nimmt es bei der Aufzählung der gleichzeitigen Züge eine
starke Auswahl unter bestimmten Gesichtspunkten vor. Damit
aber leidet die wissenschaftliche Exaktheit^ denn der Umkreis
der Persönlichkeit ist auf diese Weise nicht zu erschöpfen; ver-
sucht das Charakterbild jedoch den ganzen Umkreis der Persön-
lichkeit in einem bestimmten Zeitraum zu umspannen, so nähert
es sich dem Psychogramm.
So stellt sich also das „Charakterbild" als ein nur halbwissenschaft-
licher Versuch dar, die Individualität zu umspannen. Es macht die
Fiktion, daß es möglich sei, aus den unzähligen sukzedierenden und
simultanen Momenten die wesentlichsten herauszuheben, ein Verfahren,
das stets nur auf Grund künstlerischer Intuition möglich wäre. Um
es wissenschaftlich zu machen, müßten entweder biographische oder
psychographische Methoden verwandt werden, und je nachdem würde
das Charakterbild dann eine Biographie oder ein Psychogramm. Wir
werden uns also an diese Methoden halten müssen, wenn wir die Ver-
suche, die Individualität wissenschaftlich zu erfassen, beurteilen wollen.
Dem Charakterbild als solchem kommt zwar oft hoher künstlerischer
Wert zu, aber nicht wissenschaftliche Exaktheit. Diese setzt voraus,
daß die fingierten Voraussetzungen wenigstens etwas reduziert werden,
3. Von den beiden wissenschaftlichen Versuchen, die In-
dividualität in der Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte zu fassen, be-
dient sich die Biographie der historischen Methode, sie stellt
das Nacheinander in den Vordergrund und legt gleichsam einen
Längsschnitt durch den Tatsachenkomplex. Sie geht von dem
Satz aus, daß eines Mannes Charakter seine Geschichte sei. In
der Tat wird man anerkennen müssen, daß auf diese Weise immer-
hin ein beträchtlicher Teil der Variabilitäten gefaßt wird, aber
eben doch nur ein Teil. Denn die Individualität umschließt nicht
nur eine sukzessive, nein auch eine simultane Mannigfaltigkeit.
Gesetzt nun auch, es gelänge einer Biographie, die crsterc fest-
zuhalten, so muß sie stets große Lücken in der letzteren lassen.
Denn jede Biographie, so ausführlich sie sei, muß vereinfachen,
muß auswählen und weglassen. Betrachtet man das biographische
Verfahren genauer, so wird man erkennen, daß es ein annähernd
einheitliches Nacheinander nur so zuwege bringt, daß alles unter
■3QA . Richard Müller-Freienfels:
gewissen vereinheitlichenden, abstrahierenden Gesichtspunkten be-
trachtet wird. Das aber bedingt eine künstHche Vereinfachung,
eine Ausscheidung alles dessen, was von jenen Gesichtspunkten
aus als ,, unwesentlich" erscheint. So pflegt man die Biographie
eines Künstlers unter dem Gesichtspunkt zu schreiben, wie sich
eben die Entwicklung der künstlerischen Begabung herausgebildet
hat. Alles nicht mit dieser direkt oder indirekt Zusammenhängende
wird nebenher oder gar nicht behandelt. Ebenso wird eine Bio-
graphie eines Staatsmannes in erster Linie das Politische betonen.
Damit werden aber nicht nur die zahlreichen simultanen Mannig-
faltigkeiten beschnitten, auch im Nacheinander werden große
Lücken gelassen. Zwar entsteht dadurch eine einheitliche Ent-
wicklungslinie, aber diese ist künstlich, ist durch Abstraktion
gewonnen, ist eine Fiktion. Freilich versucht jede gute Bio-
gr;iphie neben dem Längsschnitt auch hier und da die behandelten
Tatsachen in einer gewissen Breite zu sehen: durchzuführen ist
dies Verfahren nirgends vollständig. Immer bleibt die Biographie
bei der Fiktion stehen, daß das Wesen der Individualität durch
ein einheitliches Nacheinander zu fassen sei, ein Nacheinander,
das dadurch gewonnen wird, daß man nach gewissen einseitigen
Gesichtspunkten ausscheidet, also eine vereinfachende Fiktion
vornimmt.
Halten wir uns an die Biographien, die uns die historischen
Wissenschaften bisher geschenkt haben. Wir werden dabei mit
ehrlicher Bewunderung den Fleiß in der Sammlung von Akten
und Fakten anerkennen können, wir werden mit gleicher Be-
wunderung die oft starke künstlerische Fähigkeit feststellen, mit
der diese zahlreichen Einzelzüge zu fester Gestaltung gebracht
sind. Wir werden aber trotzdem sagen müssen, daß auch die
besten Biographien, die wir besitzen, noch weit davon entfernt
sind, adäquate Begriffe von der gesamten Individualität der Dar-
gestellten zu geben. Das aber liegt an gewissen Grundmängeln
der historischen Methodik, die kurz aufgezeigt seien.
Den ersten haben wir bereits erwähnt, daß nämlich die bio-
graphische Methode gewaltsam auswählt und vereinheitlicht, also
stets nur einen künstlichen Ausschnitt gibt. Wir schieben die
Diskussion dieses Punktes noch zurück, da wir später ihn be-
sonders beleuchten.
Zweitens aber arbeiten die meisten Biographien mit völlig
ungeklärten Kausalitätsbegriffen. Das gilt in gleicher Weise von
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion.
305
den „naturwissenschaftlichen" Theorien wie von den ,, philo-
sophischen". Einerlei, ob man das ,, Milieu" oder die , .Ver-
erbung" oder die „Rasse", oder ob man eine übcrindividuclle
„Idee" oder eine ,,Entclechie" als individualitätsbildende Agenzien
einführt: betrachtet man diese Dinge genauer, so zeigt sich, daß
auch sie entweder ganz unzureichend sind, ziemlich grobschläch-
tige Vereinfachungen oder unbekannte Größen, mit denen man
irreführenderweise als mit erkannten operiert.
Drittens aber liefern für eine klare, psychologische Begriffs-
bildung die Biographien in der Regel zwar interessantes Roh-
material, aber so gut wie nirgends deutlich greifbare Erkenntnisse.
So reich wir an Darstellungen des Lebens unserer großen Dichter,
Staatsmänner, Forscher sind: Wo erhalten wir einen wirklich
klaren Begriff ihrer Individualität, der uns ermöglichte, ihre
seelische Eigenart, das Verhältnis und die Stärke ihrer seelischen
Fähigkeiten auf eine sichere Formel zu bringen } Oft scheint
sich durch das Studium von Biographien die Möglichkeit einer
begrifflichen Formel für die Individualität eher zu verringern
als zu vergrößern. Auch das Hilfsmittel der Periodenbildung,
d. h. der Versuch, durch scharfe Einschnitte in die sich wandelnde
Kontinuität Klarheit zu bringen, bleibt doch rein fiktiv, da eine
solche Periodenbildung überall gewaltsame Brüche einführt, wo
in Wahrheit unmerkliche Übergänge stattfinden.
4. Neben der biographischen Methode hat die Individualitäts-
forschung neuerdings eine andere in den Vordergrund geschoben:
die psych ographische. Diese Methode sucht die gerügten
Mängel der biographischen zu vermeiden, und zwar in folgender
Weise. Erstens will sie nicht wie die biographische die Persön-
lichkeit unter einem Hauptgesichtspunkt erfassen, sondern sucht
der ganzen Breite derselben gerecht zu werden. Sie beachtet
daher auch solche seelischen Äußerungen, die dem Biographen
als ,, unwesentlich" erscheinen. Statt eines Ausschnitts soll hier
also die ganze Mannigfaltigkeit der Individualität erfaßt werden.
Zweitens beschränkt sich der Biograph auf Feststellung von
nachweisbaren und nachprüfbaren Tatsachen, er ver-
zichtet bewußt auf alle jene hypothetischen Erklärungshilfen,
die der Biograph verwendet. Er sucht nicht eine hypothetische
Kausalität, arbeitet nicht mit verkappten Unbekannten, wie
,, Rasse", ,, Vererbung" usw^, sondern sucht nur zu ergründen,
was wirklich ist. Drittens aber geht er auf die psychologische
Annalen der Philosophie. I. 20
3o6
Richard Müller-Freienfels:
Struktur des Individuums aus, die der Biograph nur sehr
rudimentär zu erkennen vermag. In der psychographischen Methode
hat man ein Mittel, nicht nur die Struktur der einzelnen Persön-
lichkeit festzustellen, man kann sie auch leicht mit den Ergeb-
nissen von anderen Individuen vergleichen und damit neue Wert-
volle Gesichtspunkte gewinnen.
Die psychographische Methodik ist erst in neuester Zeit gründlich
durchgebildet worden und steht noch in ihren Anfängen.^) Man hat
die verschiedenartigsten Schemata ausgearbeitet, um allen Möglich-
keiten der seelischen Mannigfaltigkeit gerecht zu werden. Es kann
hier weder eine Darstellung noch eine Kritik dieser Methoden im ein-
zelnen unser Ziel sein: Wir weisen allein nach, daß auch das Psycho-
gramm auf fiktiven Voraussetzungen fußt.
Wir sind geneigt, die Möglichkeiten der psychographischen
Methode sehr hoch einzuschätzen und erhoffen vieles von ihr.
Trotzdem, von dem hier in Frage stehenden Gesichtspunkt aus
müssen wir auch gegen sie ein gewichtiges Bedenken erheben.
Diese Methode nämlich setzt stillschweigend gerade das voraus,
was wir hier in seiner ganzen Problematik aufzudecken suchen:
die konstante Identität der Persönlichkeit. Das im Psychogramm
festgelegte Verhalten soll ja nicht bloß für den Augenblick gelten,
es soll eine Allgemeinerkenntnis sein, die gestattet, auch für
andere Fälle das Verhalten des Individuums zu berechnen. Das
aber ist nur dann möglich, wenn die Individualität sich dauernd
identisch verhält. Gerade das aber wird von uns bestritten und,
da die Psychographik selber uns recht geben muß, so wird der
Wert ihrer Ergebnisse nur sehr relativ sein können. Sie wird
daher nicht mit einzelnen Psychogrammen sich begnügen können,
sondern durch eine große Anzahl unter verschiedenen Konstel-
lationen aufgenommener Psychogramme dem Wandel der In-
dividualität Rechnung tragen müssen. Auf diese Weise kann
die psychographische Methode zwar ein durchschnittliches, typisches
Verhalten errechnen, indessen kann auch diesem nie eine völlige
Gewißheit, höchstens eine ziemliche Wahrscheinhchkeit zukommen.
Auf diese Weise aber wird der ganze Apparat ungeheuer kom-
pliziert, und erst durch Kombination sehr vieler Psychogramme
wird es möglich sein, zu Aufstellungen zu gelangen, die über rein
*) Man vgl. besonders W. Stern, Die differentielle Psychologie in ihren metho-
dischen Grundlagen. 191 1. Daselbst auch ausführliche Literaturangaben über die
bisherigen psychographischen Untersuchungen.
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. ^q 7
zufällige Feststellungen sich erheben. So wird auch die psycho-
graphische Methode sich einschränken müssen auf bestimmte
Gesichtspunkte, wird das Nacheinander nicht ganz außer acht
lassen können und wird in der Praxis sich doch auch der bio-
graphischen Methode in manchem annähern, wenn sie eben dem
Wandel der Individualität gerecht werden will.
Die psychographische Methode vermeidet also die fiktive
Vereinheitlichung, die wir oben bei der biographischen aufgezeigt
haben, daß sie nämlich unter allen gleichzeitigen Tatsachen nur
einzelne als wesentlich hervorhebt. Sie macht aber eine andere
Fiktion, die den Tatsachen kaum weniger Gewalt antut, die näm-
lich, daß es möglich wäre, an einem beliebigen Querschnitt der
Individualität deren innerste Struktur festzuhalten, eine Annahme,
die wiederum durch die biographische Erkenntnis sehr unwahr-
scheinlich gemacht wird.
5. So ergibt sich also, daß sov/ohl die biographische wie die
psychographische Methode allein nie imstande sein werden, die
ganze Fülle einer Individualität zu erfassen, da jede von ihnen
in ihren fiktiven Voraussetzungen den Tatsachen zu viel Gewalt
antut. Das Ideal wäre eine Vereinigung beider insofern, daß aus
sehr vielen verschiedenen Lebensphasen Psychogramme aufge-
nommen und diese nun historisch aneinandergereiht und in ein-
heitlicher Darstellung vereinigt würden. Es liegt auf der Hand,
daß diese Kombination der beiden Methoden auch nicht annähernd
durchführbar ist und daß selbst bei der denkbar ausgedehntesten
Anwendung immer noch Lücken und Fehler bestehen bleiben
müßten.
So kommen wir also zur Erkenntnis, daß jeder Versuch, die
Individualität wissenschaftlich zu erfassen, gezwungen ist, mit
fiktiven Voraussetzungen zu arbeiten. Das Resultat wird also
immer nur den Wert einer Fiktion haben, allerdings, wenn es
geschickt aufgebaut ist, den Wert einer Fiktion, die außerordent-
lich brauchbar sein kann. Denn da unser Denken überhaupt be-
ständig mit fiktiven Elementen arbeitet, so würde auch die Fiktion
fester Persönlichkeitsbegriffe nicht aus seinem Rahmen fallen.
Es ist nicht das Ziel unserer Untersuchung, die durch jene
Methoden gewonnenen Begriffe dadurch zu entwerten, daß wir
sie als Fiktionen erweisen. Nein, wir möchten ihnen auch als
Fiktionen alle wissenschaftlichen Ehren gönnen; indem wir aber
ihren fiktiven Charakter zum Bewußtsein brmg^n, glauben wir
20
308
Richard Müller-Freienfels :
ihren wahren Erkenntniswert noch zu erhöhen. Denn es kann
auch ein logischer Wert sein, wenn man die Grenzen erkennt, die
einem Dcnkrcsultat zukommen, und es wäre ein falsches Ver-
fahren, wollte man sich freiwillig über die Beschränkung unseres
Begriffsvermögens hinwegtäuschen.
Kapitel VI. Der fiktive liidividualitätsbegriff in der
Wisseiiscliai't.
I. Wenn also alle Versuche, Persönlichkeiten begrifflich zu
fassen, sich als Fiktionen ergeben, so ist offenbar, daß alle Wissen-
schaften, die die Darstellung von Persönlichkeiten erfordern, damit
einen fiktiven Charakter bekommen.
Das gilt vor allem von den historischen Wissenschaften,
die es hauptsächlich mit Persönliclikciten zu tun haben. Gewiß
ist der Wert, den man den Individualitäten für die Ausprägung
der historischen Geschehnisse zumißt, verschieden groß gewesen.
Besonders alle jene Bestrebungen, die die historische Methode
der naturwissenschaftlichen annähern wollen, haben es versucht,
die Bedeutung der Einzelpersönlichkeit herabzudrücken. Ganz
können jedoch auch sie, wenn sie nicht vor wichtigen Tatbeständen
die Augen verschließen wollen, der Berücksichtigung einzelner Per-
sönlichkeiten und ihres Einflusses nicht entraten. Damit aber
kommt, wie wir gesehen haben, ein irrationales Element in die
Wissenschaft hinein, das nur fiktionsweise zu einem rationalen
gemacht werden kann.
Indessen ist das, genau besehen, nicht so schhmm, denn ohne fiktive
Denkmittel kommt keine Geschichtsauffassung auf. Keine Geschichts-
darstellung kann sich einbilden, sie vermöge auch nur im entferntesten
ein getreues Abbild der darzustellenden Tatbestände zu sein. Ein
solcher Anspruch verlangte ein erkenntnistheoretisch und logisch Un-
mögliches. Gegeben ist ein ungeheurer, unendlich verflochtener und
in allen Einzelheiten unübersehbarer Zusammenhang von Geschehnissen.
Aufgabe der Geschichte ist nun, da ein getreues Abbild dieser Gegeben-
heit unmöglich ist, eine Darstellung, die wenigstens symbolhaft die
Hauptzüge des Geschehens festhält und in eine gewisse Ordnung bringt.
So wird natürlich keine absolute Wahrheit erzielt, wohl aber eine Be-
herrschung des Stoffes, die eine allgemeine Orientierung gestattet. Die
Geschichte als Darstellung der Haupttatsachen in ihrem Kausalnexus
ist also ein fiktives Gebilde, das wir als Ersatz für die damit gemeinte
Realität nehmen und das den denkökonomischen, kausalen, und daneben
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. oqq
auch allerlei ethischen Ansprüchen genügt. Auch der kleinste histo-
rische Komplex setzt eine fiktive Vereinfachung und Zurechtmachung
voraus.
2. Die Gesichtspunkte nun, unter denen ausgewählt wird,
können die allerverschiedensten sein. Ebenso aber auch die
Ordnungsprinzipien, unter denen man die ausgewählten Tat-
sachen in Zusammenhang bringt. Welche es aber auch sein
mögen, sie bleiben fiktiver Natur; denn immer sind sie Ver-
einfachungen und Abstraktionen des ungeheuren, unübersehbaren
Rohmaterials.
Die frühere Geschichtsschreibung hat meist Geschichte so
dargestellt, als sei sie das Werk bewußt handelnder Persönlich-
keiten. Sie nahm die Individuen als die festen Einheiten und
erklärte das Weltgeschehen als Beziehungen zwischen diesen. Es
ist nun nach unseren bisherigen Ausführungen offenbar, daß wir
diesen Standpunkt nicht unbedingt teilen können. Da uns die
Individualitäten sich nur als Fiktionen darstellen, so werden wir
uns hüten müssen, in solchen Fiktionen letzte Realitäten zu sehen.
Wir werden indessen auch die Geschichte, die unter dem Gesichts-
punkt der Individualität geschrieben ist, nicht völlig verwerfen,
sondern ihr einen relativen Wert lassen; denn wir können wohl
anerkennen, daß die Individualität als fiktives Ordnungsprinzip
sehr wertvoll sein kann.
Infolgedessen werden wir keineswegs mit fliegenden Fahnen
zur anderen Partei übergehen, die alles Geschehen so darstellt,
als sei es ein Produkt gewisser überindividueller Mächte, und die
alle Persönlichkeiten zu zufälligen Trägern solcher Mächte macht.
Einerlei, ob man ,, Ideen" als letzte Einheiten des Weltgeschehens
ansieht oder materielle Notwendigkeiten oder irgendwelche Zeit-
strömungen, als wirkhche Realitäten vermögen wir auch diese
Dinge nicht gelten zu lassen, nur als fiktive Ordnungsprinzipe.
Alle diese Theorien haben rein fiktiven Wert, sie sind nur andere
Kategorien, die zur Ordnung der Tatsachen dienen. Entscheiden
in diesem Streit wird allein die praktische Bewährung: d. h.
diejenige Fiktion wird die beste sein, die gestattet, eine mög-
lichste Fülle von Tatsachen in möglichst einfache Ordnung zu
bringen. Absoluten Wahrheitswert kann aber keine einzige davon
haben.
3. Wie jedoch bereits gesagt: Ganz wird keine Geschichts-
schreibung um die Notwendigkeit, Persönlichkeiten zu gestalten,
3IO
Richard Müller-Freienfels:
herumkommen. Denn, auch wenn übcrindividuclle Tatsachen als
eigenthche Agenticn der Geschichte gefaßt werden, zur Wirkung
kommen sie doch meist und vor allem in Individualitäten. Es
muß also der Versuch gemacht werden, die Persönlichkeiten be-
grifflich zu fassen, und zwar so, daß sie als die wirklichen Angel-
punkte des Geschehens erscheinen. Wie man das aber auch an-
fassen mag, die so erzielbaren Gestaltungen bleiben doch schema-
tisierte Fiktionen^), die dem menschlichen Kausalbedürfnis genug-
tun. Diese Kausalität der Geschichtswissenschaften kann jedoch
nie die der Naturwissenschaft sein und also erhärten, daß alles
so hat geschehen müssen; die historische Kausalität zeigt immer
nur, daß etwas so hat kommen können. Daher vermögen auch
die von der Geschichte zu liefernden Begriffe von Individualitäten
nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, niemals die Notwendigkeit
des historischen Zusammenhanges zu erweisen. Solange die Per-
sönlichkeitsbegriffe nicht mit offensichtlichen Tatsachen in Wider-
spruch geraten, gelten sie als ,, richtig" oder ,,wahr". Fiktive
Begriffe bleiben sie jedoch trotzdem. Letzten Endes unterscheiden
sich auch die glänzendsten Charakteristiken eines Mommsen und
eines Treitschke nur gradweise nicht wesentlich von der popu-
lären Legendenbildung, die im legendären ,, eisernen Kanzler"
den Schöpfer des neuen Deutschen Reiches erblickt. Nur mit
verfeinerter Methode, mit viel gründlicherer Berücksichtigung
aller Einzeltatsachen schaffen jene wie hier die Popularintelli-
genz sich Persönlichkeitsbegriffe, die geeignet sind, als Denk-
mittel für die Erklärung der Geschehnisse zu dienen. Fiktiv
aber sind sie alle.
Die Einzclwissenschaft, deren Ziel es ist, die Tatsachen nach
dem Prinzip der Denkökonomic und unter anderen mehr oder
minder praktischen Gesichtspunkten zu ordnen, mag sich mit
solchen Fiktionen zufrieden geben. Die psychologisch-philosophische
Betrachtung der gleichen Tatbestände wird sich stets des fiktiven
Charakters aller auf jene Weise erreichten Erkenntnisse und damit
des letzten Endes irrationalen Charakters des eigentlichen Tat-
bestandes bewußt sein.
') Dies ist z. B. auch für die Rickertschc Auffassung der historischen Me-
thode zu bedenken. Zugegeben, daß die Verallgemeinerung der Naturwissenschaften
für die Geschichte nicht anwendbar ist, so darf man doch nicht vergessen, daß auch
die Geschichte mit Verallgemeinerungen arbeitet, wofür der schematisierte Indivi-
dualitätsbegriff das beste Beispiel bietet.
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. ? I [
Kapitel VII. Der Persönlichkeitsbegriff in der Kunst.
I. Der Persönlichkeitsbegriff, mit dem die Kunst arbeitet,
hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem der historischen Wissenschaften.
Auch die Kunst macht überall dort, wo sie es auf Darstellung von
Individualitäten abgesehen hat, die Fiktion, daß es möglich sei,
die irrationale Gegebenheit in annähernd adäquater Weise mit
rationalen Mitteln zu gestalten. Der Maler oder Bildhauer, der
eine Porträtdarstellung geben will, geht von der Voraussetzung
aus, daß eine Formgebung möglich sei, die in repräsentativer
Weise die Gesamtheit der Persönlichkeit festzuhalten gestattet.
Dabei ergibt sich dann die den Laien zunächst überraschende
Tatsache, daß oft die naturalistische Moment wiedergäbe nicht im
entferntesten so überzeugend wirkt als eine bewußt fiktive Um-
gestaltung. Wir sind überzeugt, daß Dürers Münchener Selbst-
porträt, Schlüters ,, Großer Kurfürst", Klingers ,, Nietzsche" durch-
aus freie Umgestaltungen sind, und dennoch werden sie als echter,
lebendiger und ,, wahrer" empfunden als andere, naturalistischere
Darstellungen. Der Grund dafür ist derjenige, daß kein einzelnes
Moment aus der Vielheit der wirklichen Aspekte eine annähernd
adäquate Reproduktion der Gesamtpersönlichkeit ist, daß aber
wohl der Künstler die Möglichkeit hat, freischaffend ein fiktives
Gebilde zu gestalten, das als repräsentativ für die wesentlichen
Elemente der Persönlichkeit gilt. So ist es ,,wahr" im Sinne einer
überzeugenden Fiktion, also in ähnlichem Sinne, wie die ,, Charakter-
bilder" der großen Historiker ,,wahr" sind.
Trotzdem bestehen große Unterschiede in der künstlerischen Dar-
stellung, die man am besten durch den Gegensatz etwa eines Raffael-
schen und eines Rembrandtschen Porträts illustriert und die letzten
Endes auf tiefe, rassepsychologische Unterschiede zurückgehen. Gibt
Raffael sozusagen eine typische Gestaltung, in der die Seele des Dar-
gestellten in einem typischen, durchschnittlichen Ausdruck erfaßt zu
sein scheint, der jenseits aller zeitUchen Bedingtheit ein abstraktes
Sein darstellt, so faßt Rembrandt den seehschen Ausdruck gern in
einem Moment, der nicht durchschnittlich zu sein braucht, der aber
gewisse, besonders charakteristische seelische Gegebenheiten besonders
markant zum Ausdruck bringt. Jener stellt die Persönhchkeit im ge-
wöhnhchen Zustand, dieser gerade im außergewöhnlichen dar: Bei
beiden handelt es sich natürlich um fiktive Vereinheitlichung des Mannig-
faltigen. Indessen ist jenes Verfahren bedeutend rationaler, letzteres
geht mehr auf das Irrationale der Persönlichkeit. — Indessen lassen sich
diese Dinge hier nur andeuten, nicht ausführlich begründen.
312
Richard Müller-Freienfels :
2. In höherem Grade als die bildende Kunst hat es die
Dichtung in der Hand, Persönlichkeiten zu gestalten. Sie ist
nicht darauf angewiesen, eine einzelne Erscheinungsmöglichkeit
herauszugreifen, die alle anderen zu repräsentieren hat. Sie kann,
da sie das Nacheinander festzuhalten vermag, eine Vielheit der
Erscheinungsweisen geben, kann die Variabilität der Persönlich-
keit wenigstens einigermaßen fassen, obwohl es natürlich auch
bei ihr stets eine Auswahl bleiben wird, was sie zu geben vermag.
Indessen ist die künstlerische Absicht der verschiedenen Dichter
nicht immer gleich: Während die einen sich bestreben, die Charak-
tere als möglichst einheitliche, klare und durchsichtige Gebilde
zu geben, wollen andere gerade der Mannigfaltigkeit und Irratio-
nalität gerecht werden. Beides kann künstlerische Reize haben,
wenn es geschickt durchgeführt wird. Freilich, die Vereinfachung
aller Charaktere in Engel und Teufel, wie sie die niedere Literatur
liebt, ist eine Fiktion, die aui den anspruchsvolleren Leser meist
ihre Wirkung verfehlt. Indessen liegt das Bestreben vieler Dichter,
ihre Gestalten in klarer Plastik und voller psychologischer Durch-
sichtigkeit auszuarbeiten, prinzipiell auf derselben Linie. Zum
Beispiel die Figuren der klassischen französischen Kunst arbeiten
durchaus mit der Fiktion des einheitlichen Charakters. Die Ge-
stalten, in einigen Hauptzügen scharf gekennzeichnet, handeln
ganz konsequent nach diesem festen Charakter. Sie erhalten
dadurch oft etwas Maschinenhaftes, aber die von ihnen getragene
Handlung gewährt dafür dem Beschauer den Anblick konsequenter
Klarheit und Logik. Das kann von hohem ästhetischen Reize
sein, ist aber natürlich eine fiktive Umgestaltung der Welt, eine
Rationalisierung des Irrationalen, die dem französischen Geiste
durchaus entspricht und die wir auch in der französischen Philo-
sophie finden.
Diese zu weit getriebene Rationalisierung kann daher verstimmen,
und in der Tat hat sie oft Widerspruch hervorgerufen. Ich lasse z. B.
Strindberg zu Worte kommen, der sich bestrebt, das ,, Automaten-
hafte" dieser Art der Charakteristik zu vermeiden. Er schreibt: „Der
bürgerliche Begriff von der Unveränderlichkcit der Seele wurde dann
aufs Theater übertragen, wo ja das Bürgerliche immer geherrscht hat.
Ein Charakter war dort ein Herr, welcher fix und fertig war, welcher
unveränderlich als Betrunkener, als Spaßmacher, als Betrübter auf-
trat. — Bei dieser Art und Weise, die Menschen einseitig aufzufassen,
bleibt sogar noch der große Moli^re stehen. Harpagon ist nur geizig,
obgleich Hurpagon hätte geizig und zugleich ein ausgezeichneter Finan-
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 5 i ■?
zier, ein prächtiger Vater, ein guter Bürger sein können. — — " Im
Gegensatz dazu erklärt Strindberg: ,, Meine Seelen (Charaktere) sind
Konglomerate von vergangenen Kulturgraden und Brocken der an-
gehenden Zeit, welche aus Büchern und Zeitungen entlehnt wurden,
Stücke von Menschen, abgerissene Fetzen von Feiertagskleidern, welche
zu Lumpen geworden sind, ganz wie die Seele zusammengeflickt
ist.'i)
Indessen können wir feststellen, daß jeder Dichter die Fiktion
einer gewissen Identität und Konstanz der Charaktere machen
muß. In der Hauptsache jedoch scheint uns bei Strindberg und
fast allen großen Dichtern germanischer Rasse die Rationalisierung
der Persönlichkeit lange nicht so weit getrieben zu sein wie etwa
bei den typischen Franzosen. Freilich, eine gewisse Festigkeit
der Charaktere geben auch sie, die an sich noch gar nicht mit
der Wirklichkeit in Widerspruch zu stehen braucht. Man kann
es aber als besondere Kunst der ganz großen Dichter wie Shake-
speare und Goethe hervorheben, daß sie jenseits der Deutlichkeit
der Individualitätsvorstellung, die sie vermitteln, doch noch eine
Ahnung des Irrationalen der Persönlichkeit geben. Man kann die
Gestalten Shakespeares und Goethes nicht wie die Racines auf
eine Formel bringen, man hat das Gefühl, von ihnen noch mehr
zu wissen, als direkt gezeigt wird; in ihrem Bilde sind stets eine
Fülle von Linien, die irgendwie ins Unendhche verlaufen. Viel-
leicht ist dies die einzige Möglichkeit, dem Irrationalen der In-
dividualität gerecht zu werden, daß ein großer Dichter hinter
dem Faßbaren wenigstens andeutungsweise und symbolhaft die
irrationalen Nebentöne mitzugeben vermag.
Kapitel VIII. Der Individualitätsbegriff in Etliik und Religion.
Die Erkenntnis, daß die Individualität eine nicht umgrenz-
bare, beständig sich wandelnde Irrationale ist und daß jeder Be-
griff, den wir davon bilden, ungeachtet seiner praktischen Brauch-
barkeit, inadäquat zu der damit gemeinten Tatsächlichkeit ist,
kann auf fast allen Lebensgebieten zu fruchtbarer Anwendung
gebracht werden. Wir versuchen eine solche Anwendung hier
nur noch auf dem Gebiete von Ethik und Religion.
Wir begegneten schon an früherer Stelle der ethischen For-
derung eines konstanten Persönlichkeitsbegriffs, der besonders als
^) Vorwort zu dem Drama „Fräulein Julie".
•? I j Richard Müller-Freienfels :
Pcrsönlichkcitsidoal, das die einzelnen Möglichkeiten richtung-
gebend überragt, von hohem Werte sein kann. Trotzdem er-
kannten wir bereits, daß eine völlige Adäquatheit zwischen ethi-
schem Ideal und tatsächlicher Individualität restlos nicht durch-
führbar ist, ohne daß das Ideal darum an Bedeutung zu verlieren
braucht.
Wir weisen hier nun auf die ethische Auswertung der Er-
kenntnis hin, daß jeder feste Persönlichkeitsbegriff, wie er in
sozialen Gemeinschaften sich bildet, nicht ein reales Abbild der
Wirklichkeit, sondern eine Fiktion ist. Auch als solche kann jener
fiktive Persönlichkeitsbegriff als Gegenstand der Ehre und des
Ruhms ein mächtiger Beweger des Lebens sein. Daneben aber
besteht die Inkongruenz zwischen dem Persönlichkeitsbegriff, der
Gegenstand der Ehre und des Ruhms ist, und der Wirklichkeit
nicht minder, so daß letzten Endes Ehre und Ruhm sich doch
als trügerische Gebilde erweisen. Nicht nur, daß die Ehre oder
der Ruhm selten wirklich der Individualität, meist nur dem Standes-
typus oder dem abstrakten Vollbringer irgendwelcher Taten gelten,
auch da, wo sie, wie bei Künstlern, Entdeckern, Philosophen,
wirklich die Individualität selber meinen, ist doch der Ruhm oft
ein völlig inadäquates Gebilde, das mit der wirklichen Leistung
sehr wenig zu tun hat. Der moderne Romandichter Heinrich
Mann definiert einmal den Ruhm ,,als weitverbreitetes Miß-
verständnis über unsere Person". Das ist die paradoxe Zuspitzung
eines richtigen Gedankens. Wir haben oben die Gründe aufgeführt,
die eine richtige Erkenntnis fremder Individualitäten so schwer
machen. Man prüfe nun die Geschichte nach und sehe, um welcher
Dinge oft die größten Persönlichkeiten geehrt und gerühmt wurden!
Welche erstaunlichen Zerrbilder hat die Welt von Christus verehrt!
L-nd ist's in geringerem Maße nicht mit jeder berühmten histo-
rischen Persönlichkeit ebenso.'' Infolgedessen gerät jede Ethik,
die ,,das, was einer vorstellt" (um mit Schopenhauer zu reden),
in den Mittelpunkt des Lebens stellt, auf Abwege. Daher rührt
das Don-Quichottchafte jeder Moral, die sich auf die ,,Ehre"
basiert. Sie nimmt einen verzerrten Schatten für die wahre
Realität !
2. In anderer Weise läßt sich auf religiösem Gebiete dartun,
in welch seltsame Widersprüche man gerät, wenn man die fiktive
Identität der Persönlichkeit als Realität nimmt, ja sie sogar ins
Transzendente hinaus verlängert!
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. ß I 5
Man muß die Vorstellung einer Unsterblichkeit des Individuums
nur klar durchdenken, um allenthalben auf Unmöglichkeiten zu
stoßen. Soll wirklich der Mensch, der er hier auf Erden "war,
mit all seinen Begierden und Unklarheiten, seinen Titeln und
sozialen Beziehungen, in Ewigkeit fortleben? Und welche Phase
seines Lebens wird dann weiterbestehen? Der müde Greis, der
zuletzt an Altersschwäche dahinsinkt ? Oder wenn einer als Säug-
ling stirbt, wird er dann als Säugling unsterblich? Alles das ist
zu absurd, um ernsthaft gedacht zu werden, und doch gerät man
unweigerlich in diese Gedankenwirrnis, wenn man konsequent ist
in der Forderung der individuellen Unsterblichkeit.
Andererseits, wenn man sagt, nur das innerste Wesen der
Persönlichkeit bestehe verklärt im Jenseits w^eitcr, so ist damit
die Individualität in ihrer Breite schon aufgehoben: Man erklärt
damit eine Fiktion für unsterblich und zwar eine Fiktion, die
sich keineswegs mit der entsprechenden Realität deckt. Wenn
nicht August Schulze, der in der Friedrichstraße einen Zigarren-
laden besitzt, unsterblich ist, sondern nur sein innerstes Wesen,
so ist's eben nicht mehr August Schulze, der weiterlebt, sondern
ein fiktiver Begriff von ihm. Man steht also vor dem Dilemma,
entweder die unendliche Mannigfaltigkeit von unabgegrenzten,
sich beständig wandelnden Phasen, die zusammen die reale Grund-
lage des Individualitätsbcgriffs ausmachen, alle miteinander in
ihrer ganzen Buntscheckigkeit für unsterblich zu erklären oder
aber ein fiktives Gebilde, irgendeine Abstraktion aus jener Mannig-
faltigkeit. Da man die erstere Möglichkeit nicht ausdenken kann,
die zweite aber nicht mehr als Fortbestehen der realen Indivi-
dualität angesehen werden kann, so muß man den Gedanken der
individuellen Unsterblichkeit preisgeben.
Uns scheint, daß das vom Standpunkt einer geistigen Re-
ligion nicht einmal zu bedauern ist. Wenn anders echte Religion
nur diejenige ist, die das Menschliche emporhebt zum Göttlichen,
also einem Transzendenten, Überpersönlichen, Unendlichen, dann
ist die Lehre einer individuellen Unsterblichkeit wahrer Religio-
sität gerade entgegen. Denn durch diese Lehre wird nicht das
Menschliche vergöttlicht, sondern das Göttliche gerade vermensch-
licht. Erst wenn man einsieht, daß die Individualität eine fiktive
Abstraktion ist, daß jedoch unser wahres Sein schon auf Erden
Überpersönliches einschließt und nicht in eng umschreibbare
Grenzen gebannt ist, daß wir immer und überall bereits teilhaben
3i6
Richard Müller-Freienfels:
an einem Unendlichen und Ewigen, dann erst können wir, ohne
in unlösbare logische Widersprüche zu geraten, jenes Gefühl der
Gemeinsamkeit mit dem Weltganzen verspüren, das das innerste
Wesen echter Religiosität ist. In dieser Hinsicht ist der Bud-
dhismus, der die Individualität als Täuschung ansieht, mit der
Logik bedeutend leichter zu vereinigen, als die Lehre der
christlichen Kirche — die übrigens in diesem Punkte Stützen aus
den unmittelbaren Worten ihres Stifters kaum finden dürfte. Es
wäre der Gesamttendenz Christi durchaus zuwider, die Ewigkeit
der Individualität in der Art des handfesten Köhlerglaubens zu
proklamieren.
Abschluß.
Vielleicht sieht unser Ergebnis auf den ersten Blick nicht
sehr verheißungsvoll aus. Die Individualität in ihrer erlebten
Tatsächlichkeit ergibt sich uns als irrationale Größe, die weder
eine feste Umgrenzung gestattet noch dem Identitätsprinzip unter-
worfen werden kann. Alle Versuche, sie begrifflich zu fassen,
erweisen sich als fiktive Gebilde, die jener irrationalen Tatsächlich-
keit durchaus inadäquat sind. Nun hatten wir zwar zu erweisen
gesucht, daß auch als Fiktionen sich jene inadäquaten Begriffe
in mannigfacher Hinsicht sehr brauchbar erweisen. Indessen
könnte trotzdem unser Standpunkt als ganzer als negativer
Skeptizismus angesehen werden.
Dieser Vorwurf träfe nicht nur unsere Ausführungen, sondern
die gesamte Als-Ob-Philosophie und verwandte Standpunkte mit.
Wir glauben, daß er zu Unrecht erhoben wird. Wenn wir auch
weiter nichts feststellen könnten als die Irrationalität der Welt,
so wäre, wenn diese Feststellung den Tatsachen entspricht, diese
Erkenntnis als solche schon unendlich viel wertvoller als jeder
Standpunkt, der fälschlich die restlose Rationalisierbarkeit der
Welt verträte. Außerdem ist ja die rationale Erkenntnis nicht
die einzige, die uns möglich ist. Gerade an unserem Problem
zeigte es sich, daß die innere Erfahrung, ein unmittelbares Er-
lebnis, neben der begrifflichen steht, ganz abgesehen davon, daß
wir auch durch die Widersprüche der Begriffe untereinander ihre
Unzulänglichkeit feststellen konnten. Auch die Erkenntnis dieser
Unzulänglicl.keit des begrifflichen Denkens ist ein durchaus posi-
tiver Erkenntniswert, neben dem als weiterer positiver Wert die
Der Begriff der Individualität als fiktive Konstruktion. 3I7
trotzdem bestehende praktische Bewährung des rationalen, wenn
auch fiktiven Denkens steht. Wir behaupten also, daß unser
Standpunkt, selbst wenn er vieles scheinbar Feste ins Wanken
bringt, darum keineswegs bloß negativ ist. Er setzt nur an Stelle
der scheinbar konstanten Größen erkannt variable. Dadurch ist
die Welt vielleicht weniger bequem zu erfassen, aber immerhin
ist Bequem.lichkeit noch nicht das einzige Kriterium für die Wahrheit.
Wir lassen vielmehr die fiktive Rationalisierung der Welt für
den täglichen Gebrauch bestehen, wir versuchen nur, als Philo-
sophen einen Standpunkt zu gewinnen, von dem sich uns die
rationalisierte Welt nicht mehr als ganze Wahrheit darstellt.
Nein, hinter dem System des begrifflichen Denkens sehen wir
noch die diesem unzugängliche irrationale Tiefe des Seins. Und
uns scheint, daß auch an ästhetischer Erhabenheit und innerer
Würde dieser Standpunkt jenem anderen, der sich über die eigene
Unzulänglichkeit der Ratio täuscht und allem mit ihr nicht Er-
faßbaren schlechtweg das Daseinsrecht abstreitet, mindestens
gleich ist. Statt des starren Begriffsskeletts von der Wirklichkeit,
das der Rationalismus allein festhält, suchen wir auch das bewegte,
ewig wechselnde Leben in seiner Irrationalität als Tatsache an-
zuerkennen. Wir bilden uns nicht ein, mit unseren armseligen
menschlichen Schöpfgefäßen den unendlichen Ozean der Welt
restlos ergründen zu können, wir freuen uns nur, daß wir in unserm
Denken ein Mittel haben, uns gleichsam in sicherem Kahne hindurch -
steuern zu können, während war uns das volle Bewußtsein zu be-
wahren suchen dafür, daß wir ringsum umgeben sind von einem
Ozean irrationalen Seins.
Auf unser Problem der Individualität angewandt, würde das
alles besagen, daß wir zwar fortfahren werden und fortfahren
müssen, uns von den Persönlichkeiten, die uns entgegentreten,
Begriffe zu bilden. Aber wir wissen zugleich, daß diese nur fik-
tiven Wert haben, und wir bestreben uns daher, des hinter lenen
Fiktionen flutenden irrationalen Seins stets bewußt zu bleiben,
weil zur wahren Erkenntnis nicht nur die Feststellung des Ratio-
nalen, sondern auch die Anerkennung des Irrationalen gehört.
Und in diesem Sinne ist die Analyse der menschlichen Indivi-
dualität nur ein besonders bezeichnender Sonderfall der philo-
sophischen Erkenntnis in unserm Sinne überhaupt. Möglich,
daß den Landratten unter den Denkern, allen jenen, die sich
die Wahrheit und die Erkenntnis nur als statische, unverrückbare
5 I 3 Richard Müller-Freienl'cls : Der Begriff d. Individualität als fiktive Konstruktion.
Wesenheiten deuten können und die sich vor der flüssigen irra-
tionalen Welt fürchten, weil sie ,, keine Balken" hat, unser Ergebnis
gefährlich dünkt! Sei es darum: Eine Fiktion hört darum nicht
auf, eine Fiktion zu sein, weil man sie in eine absolute Wahrheit
umlügt ! Und wenn unsere Wahrheit gefährlich erscheint ? Nun,
es ist noch nie ein Ruhmestitel für Denker gewesen, daß sie die
Gefahr dadurch zu parieren glaubten, daß sie wie der Vogel Strauß
ihren Kopf im Sande verbargen.
Grundzüge einer neuen Wertlehre.
Von
Richard Müller-Freienfels.
Inhaltsübersicht.
Kap. I. Psychologie der Wertung, i. Wertgrundlage und Wertsetzung.
2. Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Scheidung. 3. Die Wertgrundlage als
„Stellungnahme". 4. Die Wertsetzung als „sekundäre Stellungnahme". 5. Er-
lebte und übernommene Wertsetzung. 6. Abschluß.
Kap. II. Psychologie des Wertsubjekts, i. Die Spaltung des Subjekts
als allgemeines Phänomen. 2. Die Spaltung zwischen ,,Momentan"subjekt und „Ein-
heits"subjekt der Wertung. 3. Das .,Normar'subjekt und das „absolute Subjekt".
4. Räumlich und zeitlich begrenzte überindividuelle Subjektivität. 5. Die sozialen
Subjekte. 6. Die „Einfühlung" in fremde Wertsubjekte. 7. Abschluß.
Kap. III. Psychologie des Wertgegenstandes, i. Der psychische Wert-
gegenstand und der Wertträger. 2. Formen des Wertgegenstandes. 3. Der „Ein-
heits"wertgegenstand. 4. Der „NormaV'wertgegenstand. 5. Die Absolutierung
der Werte. 6. Die relativen Allgemeinwerte. 7. Die sozialen Allgemeinwerte.
8. Abschluß.
Kap. IV. Wertrichtigkeit und Wertrang. i. Wertrichtigkeit und Wert-
rang als psychologische Probleme. 2. Die biologischen Prinzipien für die Wert-
richtigkeit. 3. Die Prinzipien für die Rangordnung der Wertungen. 4. Die Prin-
zipien für die Rangordnung der Wertsubjekte. 5. Die Prinzipien für die Rang-
ordnung der Wertgegenstände. 6. Die Relativität der tertiären Wertsetzung und
ihre fiktive Bedeutung.
Kap. V. Die absolutistischen Werttheorien. i. Die Prinzipien des
Absolutismus. 2. Münsterbergs System der Werte. 3. Die Einzelergebnisse seiner
Lehre. 4. Die Absolutsetzung der Werte als Fiktion.
Einleitung.
Das Wertproblem wird in der neueren Wissenschaft in zwei-
facher, prinzipiell geschiedener Weise behandelt. Entweder man
sucht die Werte, die die äußere Erfahrung darbietet, psycho-
logisch zu erklären oder man sucht nach den Werten als aprio-
ristischen, aller Erfahrung vorausgehenden Wesenheiten. Im
ersteren Falle erscheinen die Werte als relativ, im zweiten Fall
als absolut. Es ergeben sich so zwei verschiedene Wertsphären,
die ohne Bindeglieder nebeneinander bestehen. Wir gehen für
unsere Untersuchung von den relativen Werten aus, stützen uns
zugleich auf die äußere (historische) Erfahrung und auf die psycho-
■I20 Richard Müller-Frcienfels:
logische Analyse. Von hier aus versuchen wir dann auch die
Forderung nach absoluten Werten zu verstehen und den auch vom
psychologischen Standpunkt nicht wegzuleugnenden Behauptungen
einer Absolutheit der Werte dem von diesem Standpunkt aus ge-
recht zu werden.
Im einzelnen weicht die hier vertretene Werttheorie wesent-
lich auch von vielen der bisher aufgestellten relativistischen Wert-
lehren ob. Der psychologische Vorgang der Wertung wird von
uns anders analysiert und nicht als einfacher Vorgang, sondern
als ein in zwei deutlich kennbare Prozesse zerfallender erwiesen.
Des weiteren weichen wir von früheren Untersuchungen sehr er-
heblich in der Analyse sowohl des Wert Subjekts wie des Wert-
gegenstandes ab, indem wir nachweisen, wie stark beide Be-
griffe fiktiven Ausgestaltungen unterw'orfen sind. Auch die
Prinzipien für Richtigkeit oder Falschheit der Werte ebenso
die für eine Rangordnung der Werte untersuchen wir und
zeigen dabei, wie stark auch hier mit Fiktionen verschiedener Art
gearbeitet wird. Auf diese Weise gelangen wir zwar nicht zu
einem System von Werten, das den Anspruch absoluter Gültig-
keit erhebt, wohl aber hoffen wir, Verständnis zu erzielen für den
lebendig bewegten Wechsel der Wertungen, die uns Geschichte und
Leben darbieten, und die Prinzipien zu durchschauen, nach denen
diese Wertungen zustande kommen.
Kapitel I. Psychologie der Wertung.
I. Bei der Analyse des Wertphänomens müssen wir zunächst
unterscheiden das Wertende Subjekt, für das etwas von Wert
ist, und das Objekt, das ge wertet wird. Wir bezeichnen jenes
kurz als das ,, Wertsubjekt" und dieses als den „Wertgegen-
stand". Die großen Schwierigkeiten, die in diesen beiden Begriffen
liegen, werden in besonderen Kapiteln behandelt.
Zwischen Wertsubjekt und Wertgegenstand spielt sich der
Prozeß der Wertung ab. Diese ist ein psychologischer Vor-
gang, wodurch jenes eben zum .Wert Subjekt", dieses zum ,,Wcrt-
gegenstand" wird.
Soweit stimmen fast alle psychologischen Werttheorien überein,
Sie gehen erst auseinander bei der weiteren Besprechung des
Wertungsprozesses. Und zwar können wir drei Hauptformen der
psychologischen Werttheorie unterscheiden: erstens diejenigen,
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 221
die die Wertung als Gefühl ansprechen, zweitens diejenigen, die
das Werten mit dem Begehren zusammenbringen, und drittens
diejenigen, die im Werten einen seelischen Prozeß eigner Art
sehen wollen.
Als Typus für die Gefühlstheorie des Wertes gilt uns Kreibig,
der den Wert definiert als „die Bedeutung, welche ein Empfindungs-
oder Denkinhalt vermöge des mit ihm unmittelbar oder assoziativ ver-
bundenen aktuellen oder dispositionellen Gefühls für ein Subjekt hat".^) —
Ähnlich, wenn auch enger, faßt Meinong das Werten als ein ,, Lust-
gefühl an der Existenz des Gegenstandes". Das Wertgefühl beruht
auf einem Urteil über die Existenz des Gewerteten. 2) Außer diesen
stehen noch zahlreiche ältere und neuere Denker, die hier nicht alle ge-
nannt werden können, auf verwandtem Boden.
Die Zurückführung des Wertes auf das Begehren hat am kon-
sequentesten von Ehrenfels unternommen. Nach ihm ist der Wert
eines Dinges seine ,,Begehrbarkeit".3) Auch diese Anschauung ist sehr
verbreitet, wenn schon statt „Begehren" oft „Streben" oder „Wille"
gesagt wird.
Als Vertreter derjenigen Anschauung, die im Werten einen spezi-
fischen Vorgang eigener Art sehen will, nenne ich H. Schwarz.
Nach ihm ist Werten gleich „Gefallen" und dieses ein Element des
Willens. Indessen verspüren wir Güter wie Lust, Ehre, Wahrheit als
spezifische Werte und hierfür wird ein besonderer Prozeß des Wert-
haltens festgestellt. Dieses ist keine Lust mit Intensitätsunterschieden,
sondern kennt nur Sättigungsunterschiede.*) —
Ohne uns auf eine Kritik dieser Lehren im einzelnen ein-
zulassen, können wir feststellen, daß keine derselben dem ganzen
Phänomen der Wertung gerecht wird, daß jede vielmehr nur ein-
zelne, wenn auch an sich richtig beobachtete Seiten hervorhebt.
Sie begehen fast alle den Fehler, daß sie den Prozeß der Wertung
für einen einfachen seelischen Vorgang ansehen, während in
Wirklichkeit kompliziertere Verhältnisse bestehen. Der Umstand,
daß etwas mein Gefühl oder mein Begehren erregt, ist an sich
keineswegs eine Wertung, sondern nur ein Teilphänomen dieser
oder (wie wir sagen) die Grundlage derselben. Es muß zu dem
grundlegenden Gefühl oder Begehren noch ein weiterer seelischer
1) Krfibig, Psychol. Grundlegung eines Systems der Werttheorie, 1902, S. 3ff.
*) Meinong, Psychol.-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894. —
„Über Annahmen", 1902.
3) V. Ehrenfels, System der Werttheorie, I, 1897. Ferner z. B. Tb. Lipps,
Vom Fühlen, Denken, Wollen, 1908.
*) H. Schwarz, Glück und Sittlichkeit, S. 6. Psychologie des Willens, 1901,
S. 34-
Annalen der Philosophie. I. **
■3 22 Richard Müller-Freienfels:
Akt hinzukommen, den wir als die Wertsetzung bezeichnen.
Worin diese Wertsetzung besteht, werden wir später erörtern;
vorläufig können wir sie als ein Bejahen, Anerkennen oder ähnlich
bezeichnen. Jedenfalls kommt erst durch diese Doppelheit eine
wirkliche Wertung zustande: erstens muß das Subjekt zu
dem Gegenstand in eine Beziehung, die meist emotional,
d. h. gefühlsmäßig oder willensmäßig ist, eintreten,
zweitens muß aber diese Beziehung als solche bejaht,
anerkannt, d. h. als Wert gesetzt werden. Nur dort
liegt eine vollständige Wertung vor, wo diese Doppelheit des
grundlegenden Erlebnisses (der Wcrtgrundlage) und der
Wertsetzung besteht. Allerdings verschmelzen beide für die
oberflächliche Selbstbeobachtung meist in eins, wodurch sich er-
klärt, daß die Doppelheit des Prozesses oft übersehen wurde. ^)
Genauere Analyse jedoch muß sie stets erkennen lassen. Damit
aber gewinnen wir eine Möglichkeit, die verschiedenen, oben ge-
kennzeichneten Theorien zu einer Synthese zu führen, da wir
finden werden, daß die Wertgrundlage meist ein Gefühl oder ein
Begehren ist, daß aber dazu noch ein sekundärer Prozeß kommen
muß, eben die Wertsetzung.
2. Es sei zunächst die Notwendigkeit der Scheidung von
Wertgrundlage und Wertsetzung durch einige Beispiele belegt.
Wäre nämlich der Prozeß der Wertung ohne weiteres identisch
mit Lustgefühl, so müßte jedes irgendwie erregte Lustgefühl als
Wert anzusprechen sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich habe
täglich eine Menge Lustgefühle, die ich nicht im geringsten als
,, Werte" gelten lasse. Ich erlebe auf einem Spaziergang durch
mich streifenden Blütenduft oder herübergewehte musikalische
Klänge zahlreiche flüchtige Lustgefühle, die ich jedoch keineswegs
als ,, Werte" anspreche. Ich kann sogar eine solche herüber-
klingende Melodie angenehm empfinden und trotzdem sie als
,,ganz gemeinen Gassenhauer" negativ bewerten, was offenbar
keine Identität von Lustgefühl und Wert darstellt. Es muß also
zu dem Lustgefühl noch eine besondere Stellungnahme meiner-
seits hinzukommen. Das Lustgefühl kann eine Wertgrundlage
sein, ist aber noch nicht das Werten selber.
') Ich berühre mich in dieser Trennung vielfach mit der scharfsinnigen Dis-
sertation von Walter Strich, Das Wertproblem in der Philosophie der Gegen-
wart (Berlin 1909), wenn ich auch in den psychologischen Grundlagen und in der
Fassung im einzelnen stark von ihm abweiche.
Grundzüge einer neuen Wertlehre. %2X
Ähnlich ist es mit dem Begehren, dem Wollen, die ebenfalls
Wertgrundlage sein können, ohne jedoch in jedem Fall einen Wert
zu konstituieren. Sehr oft erregen Dinge mein Begehren, obwohl
ich mir vollkommen bewußt bin, daß die begehrten Dinge wertlos,
ja ausgesprochen ,, Unwerte" sind. Damit das Begehrte als ,,Wert"
erscheint, muß noch eine besondere innere Stellungnahme hinzu-
treten, die wir eben als ,, Wertsetzung" bezeichnen.
Es bedeutet also nicht jede Lust oder jedes Begehren einen
Wert ; wohl aber können sie Grundlage eines solchen werden, sobald
eine Wertsetzung hinzutritt.
Indessen gibt es auch Wertsetzungen, denen kein Lustgefühl
oder Begehren voraufgegangen ist. Ich kann eine Bach sehe Fuge
als Wert anerkennen, ohne daß sie in meiner momentanen Stimmung
mir Lust erregte oder daß sie mein Begehren, sie zu hören, er-
weckte. Allerdings besteht auch in diesem Falle, wie ich später
zeigen werde, eine Beziehung zu solchen emotionalen Erlebnissen:
indessen gilt es uns hier nur zu zeigen, daß die Wertsetzung auch
für sich, als ein von unmittelbar erlebter Lust oder ebensolchem
Begehren unabhängiger Vorgang besteht.
Kommen also auch diejenigen Erscheinungen, die eine Wert-
grundlage bilden können, und die Wertsetzungen getrennt vor,
so geben sie doch erst dort, wo sie gemeinsam auftreten, eine
vollständige, erlebte Wertung in unserem Sinne ab. Ein voll-
gültiges Werterlebnis liegt nur dort vor, wo beides,
die Wertgrundlage wie die Wertsetzung, nachzuweisen
sind.
Der hier als Wertsetzung beschriebene Prozeß kann isoliert,
d. h. ohne erlebte Grundlage niemals eine wirkliche Wertung kon-
stituieren. Er stellt nur eine unvollständige, oder wie wir auch sagen
können, eine übernommene Wertung vor, die im Gegensatz zur
erlebten Wertung steht, d. h. einer solchen, bei der eine wirk-
liche Wertgrundlage vorhanden ist. Bei einer übernommenen
Wertung (wenn ich z. B. das Urteil, die Fuge von Bach sei ein
künstlerischer Wert, nachrede, ohne das erleben zu können),
handelt es sich nicht um wirkliche Werte. Wir werden später auf
diesen Gegensatz zwischen erlebten und übernommenen Werten
noch zurückkommen, betonen jedoch schon hier, daß überall, wo
etwas als Wert gesetzt wird, ein Subjekt hinzugedacht werden
muß, dem der Wert ein wirkliches Erlebnis ist.
3. Was nun dies Erlebnis, die Wertgrundlage anlangt, so
21*
^24 Richard Müller-Freienfels:
gaben wir zu, daß sowohl Gefühle als Begehrungen eine solche
bilden können. Wir möchten jedoch den Kreis noch weiter ziehen
und ganz allgemein sagen, daß die Wcrtgrundlage stets ein
emotionales Erlebnis im weitesten Sinne ist, ein Beziehungs-
bewußtsein des Wertsubjekts zu dem Wertgegenstande, oder —
wie ich kurz mit einem von mir an anderem Orte ausführlich er-
örterten Begriffe sagen werde: eine ,, Stellungnahme*'.^) Zu
den Stellungnahmen rechne ich alle Gefühle und Be-
gehrungen, darüber hinaus jedoch noch weitere unten
zu besprechende seelische Tatbestände.
Die Psychologie dieser Begriffe, zum mindesten die Termino-
logie ist bekanntlich sehr schwankend. Wir können an dieser
Stelle nicht eine prinzipielle Erörterung derselben beginnen, müssen
uns vielmehr auf ungefähre Absteckungen beschränken. Der Be-
griff des Gefühls wird oft auf das sehr abstrakte Begriffspaar
,, Lust-Unlust" eingeschränkt, die als leere, schattenhafte Begleit-
erscheinungen anderer seelischer Prozesse bestimmt werden. Die
so gefaßten schemenhaften Begriffe ,,Lust" und ,, Unlust" greifen
die Gegner der psychologischen Werttheorien gern auf, um diese
ad absurdum zu führen, was z. B. Münsterberg 2) getan hat.
Wir geben nun gern zu, daß mit einem Lustbegriff, der derselbe
sein soll, ob er beim Genuß eines Glases Münchener Bieres oder
beim Anhören einer Symphonie oder in religiöser Ergriffenheit
erlebt wird, wenig anzufangen ist.^) Aber an so vage Schemen
halten wir uns nicht, vielmehr fassen wir ,,Lust" als Sammel-
begriff für unendlich verschiedene, sehr differenzierte
seelische Stellungnahmen, die stets, wenn auch nicht
auf der Oberfläche, ein Willenselement enthalten.*)
Damit schlagen wir eine Brücke zu den ,, Begehr ungen" und
vereinen so die beiden ersten oben unterschiedenen Werttheorien.
Wir sagen, daß in allen Gefühlen ein Willcnselement steckt, daß
Lust das Bewußtwerden eines erfüllten Triebes, Unlust
*) Vgl. hierzu Müller-Freienfels, Das Denken und die Phantasie, 1916,
S. 22 und passim.
*) Münsterberg, Philosophie der Werte, 1908, S. 22 und S. ößff.
*) Diesen paradoxen Begriff verteidigt allen Ernstes Titchener im „Lehr-
buch der Psychologie", I, S. 257.
*) Für genauere Darlegung der hier angedeuteten Lehren über das Wesen
der Gefühle verweise ich auf meine Abhandlungen „Zur Analyse und Begriffs-
bestimmung der Gefühle", Zs. f. Psychol. 68 und „Zur Psychol. u. Biologie der
Gefühle", Naiurw. Wochenschr. 1917.
Grundzüge einer neuen WerÜehre.
325
das Bewußtwerden eines gehemmten oder unbefriedigten
Triebes ist. Die spezifische Färbung der Lust wird eben durch
den Willensgehalt desselben bedingt. Es kann natürlich nur an
einigen Beispielen erläutert werden, wie das zu denken ist. Wir
müssen uns klar sein, daß jedes Organ das Bedürfnis hat, erregt
zu werden, daß also in jedem Organ ein ,, Reiztrieb" steckt. Wird
das Organ adäquat erregt, so wird dieser Reiztrieb befriedigt, und
das Bewußtsein dieser adäquaten Betätigung ist die Lust. Unlust
ist das Bewußtsein inadäquater Betätigung (d. h. einer solchen,
der kein Trieb entgegenkam). Das sind die einfachen Funktions-
gefühle. Bei den ,, Affekten" handelt es sich um spezifischere
Triebe. Auch deren Befriedigung bringt ein Lustgefühl mit sich.
So läßt sich (unter Anlehnung an Schopenhauers bekannte
Theorie) sagen, daß ein weiblicher Körper unser Schönheitsgefühl
erregt, wenn er (obgleich nur latent) unser Begehren erweckt,
nicht etwa, daß wir ihn deshalb begehren, weil er schön ist. Die
landläufige Gefühlstheorie verschiebt dieses Verhältnis. So ist's mit
allen Gefühlen und Begehrungen. Das Gefühl ist nicht die Ur -
Sache des Willens, sondern ist eine Begleiterscheinung, ein Teil-
phänomen des Willens. So ist z. B. die Lust an Speisen ein Be-
gleitgefühl des Hungers, nicht etwa dessen Ursache. Sind wir über-
sättigt, so vermag auch die sonst lockendste Speise uns keine Lust-
gefühle zu erregen, was das Sprichwort formuliert, daß Hunger
der beste Koch sei. Allgemeiner ausgedrückt heißt das, daß das
Gefühl ein Bewußtwerden der Befriedigung oder Hemmung eines
Triebes ist. Die Abstraktion eines allgemeinen Lustgefühls aus
den komplexeren emotionalen Prozessen, deren Kern ein Trieb
ist, führt ganz in die Irre und erklärt gar nichts. Es ist so, als
wollte man behaupten, ein gesättigtes Rot, ein gesättigtes Blau,
ein gesättigtes Gelb seien, was ihre ,, Gesättigtheit" anlange,
einander gleich. Die ,, Gesättigtheit" an sich gibt es so wenig als
realen isolierbaren Faktor wie eine ,,Lust an sich". Lust und Un-
lust sind stets nur Seiten oder Färbungen komplexerer seelischer
Stellungnahmen, deren Wesen ,,willenshaft" ist. Wir lehnen also
die Definition der Gefühle als ,, Eigenschaften der Empfindungen"
oder als ,,Zustandsbewußtsein" ab, und fassen die Gefühle als
Bewußtseinsanzeichen dafür, ob ein Trieb befriedigt
wird oder nicht. Unter diesem Gesichtspunkt schwindet die
prinzipielle Kluft zwischen Gefühlen und Begehrungen, welch
letztere sich von den Gefühlen nur durch Hinzutreten von Tätig-
326
Richard Müller-Freienfels:
keitsbcwußtsein, also letzten Endes motorischen Einstellungen,
unterscheiden.
Vielleicht könnte man, wie einige Forscher es versucht haben, die
Wertgrundlage auch außerhalb des Bewußtseins in einem Bedürfnis
suchen. Das ist nur eine geringe Verschiebung, die mit unserer An-
schauung zu vereinen ist. Denn wirklich zur Wertgrundlage wird das
Bedürfnis doch erst dort, wo es bewußt wird, d. h. als Begehren er-
scheint. Zuzugeben ist, daß dies Begehren (was später an Beispielen
genauer erläutert wird) von anderen Subjekten unterlegt werden kann.
So kann man sagen, einer Pflanze sei ein Regen nach Trockenheit von
Wert. Indessen liegt in diesem Falle ein ,, eingefühltes" Bewußtsein
der Wertung, die letzten Endes doch unsere eigene ist, zugrunde. Davon
genauer im zweiten Kapitel.
Indessen ist der Begriff der ,, Stellungnahmen", die die Grund-
lage der Wertsetzung sein können, nicht erschöpft mit den Lust-
Unlustgefühlen und den Begehrungen. Es gehören dazu noch eine
ganze Reihe anderer seelischer Erlebnisse, die von der Mehrzahl
der Psychologen wenig behandelt werden und von jenen Forschern,
die sie nicht übersehen, zum Teil auch als ,, Gefühle", zum Teil
als ,, Charaktere" oder anders bezeichnet werden. Ich denke an
alle jene Stellungnahmen, durch die wir einen Vorstcllungsinhalt
als ,,neu", als ,, fremd", als ,,groß", als ,, erhaben", als ,, wirklich",
als ,, unreal", als ,, denselben" usw^ charakterisieren. Die Psycho-
logie aller dieser seelischen Attitüden ist noch sehr wenig erforscht.
Als Tatsache können wir jedoch schon heute feststellen, daß alle
diese Charakterisierungen Stellungnahmen des Ich zu einem in-
tellektuellen Inhalt sind, und daß sie (das ist die Hauptsache für
uns) in die Grundlagen für Wertungen eingehen können. Daß
etwas ,,neu" oder ,,alt" ist, kann öfters ganz verschiedene Be-
wertungen bedingen, je nachdem die ,, Neuheit" oder das ,, Alter"
erwünscht sind. Denn auch diese Stellungnahmen verquicken sich
mit Begehrungen. Ebenso können ,, Wirklichkeit" wie ,,Unwirk-
lichkeit" als Grundlage der Wertsetzung dienen. Daß etwas
,,wirkHch" oder ,, unwirklich" ist, ist niemals in der Empfindung
oder der Vorstellung gegeben, ist vielmehr eine Charakterisierung
derselben durch das Ich, eine ,, Stellungnahme". In all diesen
Fällen käme unser Begriff der Stellungnahme etwa auf eine psycho-
logische Erklärung des erkenntnistheoretischen Begriffs der ,, Kate-
gorie" hinaus.^)
Zu diesen Stellungnahmen gehören auch jene Zustände wie
') Vgl. dazu mein Buch: „Das Denken und die Phantasie", 1916.
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 327
die Aufmerksamkeit, das Interesse und verwandte Phäno-
mene, die die intcllektualistische Psychologie ganz falsch als
assoziative Erscheinungen deutet. In Wirklichkeit sind sie
,, Stellungnahmen", d. h. Reaktionen des Ich. Gerade sie sind
geeignet, die äußerst komplizierte Natur der Stellungnahmen zu
illustrieren; denn sie enthalten meist nebeneinander Gefühle, Be-
gehrungen und sonstige Stellungnahmen wie die der Neuheit, der
Fremdheit, der Überraschung usw.
Wir können uns hier nicht weiter auf diese Dinge einlassen.
Hier muß die Feststellung genügen, daß die subjektiven
Reaktionen des Ich auf die gegebenen Inhalte, also die
Stellungnahmen, stets sehr komplizierter Natur sind,
und daß die fundamentale Sonderung in Gefühle,
Wollungen usw. irreführend ist. Die Stellungnahmen
enthalten stets sowohl Gefühle wie Willenselemcnte
und darüber hinaus noch weitere reaktive Phänomene,
die alle zusammen in ein Ganzes verschmelzen. Und
eben diese Stellungnahmen sind die Grundlage der
Wertung.^)
Es sei dabei noch einem Einwand begegnet, der die Sachlage hin-
stellen könnte, als sei der ,,Wert" als etwas Objektives das Primäre,
die Stellungnahme, also z. B. das Gefühl oder das Wollen, das Sekun-
däre. Das ist ganz falsch. Wir begehren niemals etwas, weil es ein
,,Wert an sich" wäre, sondern erst dadurch, daß wir etwas begehren,
wird es uns zum Werte. Ebenso erregt niemals etwas unsere Lust,
weil es „schön an sich" wäre, sondern wir nennen etwas schön, weil
es so beschaffen ist, daß es unser Lustgefühl erregt, d. h. unseren Apper-
zeptionsmögHchkeiten adäquat ist. Auch darauf kommen wir später
zurück, heben jedoch schon hier hervor, daß im Wertungsphänomen
das Subjektive das Prius vor dem Objektiven hat.
4. Indessen ist, wie bereits gesagt, die Stellungnahme stets
nur die Grundlage der Wertung, nicht die Wertung selber. Zu
dieser gehört noch ein weiteres Phänomen: die Wertsetzung.
Was ist nun die Wertsetzung? Vielleicht ist man geneigt, in
ihr ein Urteil zu sehen. Freilich kommt es dabei auf die Defini-
tion dieses sehr verschieden gefaßten Begriffes an. Für uns ist ein
Urteil nur die Formulierung einer Stellungnahme in einem Satze.
1) Unser Begriff der „Stellungnahme" deckt sich in vielem mit dem Begriff
des „Aktes", den zahlreiche neue Psychologen eingeführt haben. Während jedoch
der „Akt" als rein intellektualistischer Vorgang gefaßt ist, charakterisiert sich die
„Stellungnahme" als emotional, willensmäßig, mit starkem motorischem Einschlag.
328
Richard Müller-Freienfels:
Nun kann die Wertsetzung gewiß in einem Satz formuliert werden,
indessen ist diese Formulierung weder nötig noch in allen Fällen
nachweisbar. Es gibt Wertsetzungen, die sich rein gefühlsmäßig
oder rein begehrungsmäßig vollziehen, ohne urteilsmäßige Formu-
lierung.
Damit aber sind wir bereits an die richtige Erklärung heran-
gekommen: auch die Wertsetzung nämlich ist eine
Stellungnahme, die ebenfalls je nachdem mehr gefühls- oder
willensmäßig sein kann, jedenfalls aber immer eine Stellung-
nahme zu einer Stellungnahme ist. Es ist damit offenbar,
daß wir in der Wertsetzung ein Urteil sehen können, wenn man
dies, wie manche Forscher tun, als Willensakt auffaßt. Für uns
ist das Urteil nur die Formulierung einer Stellungnahme und eben
diese Stellungnahme, nicht die Formulierung, ist das Wesen der
Wertsetzung.
Also eine Stellungnahme zu einer Stellungnahme ? Dieses
Ergebnis scheint sehr paradox, ist es jedoch durchaus nicht, sondern
in der Selbstbeobachtung leicht festzustellen. Ich nenne diesen
Tatbestand auch ,, sekundäre Stellungnahme". Es ist näm-
lich gar nicht zu bestreiten, daß das Ich nicht nur zu Empfindungen
und Vorstellungen Stellung nimmt, sondern auch zu Gefühlen und
Begehrungen, die selbst Stellungnahmen zu jenen Inhalten sind.
Einige Beispiele solcher sekundärer Stellungnahmen mögen das
dartun. Eine solche sekundäre Stellungnahme ist z. B. das ,, Ge-
nießen". Im Genießen nehme ich nicht Stellung zu der objektiven
Gegebenheit, sondern zu dem Lustgefühl, das die Empfindung
auslöst. Es tritt eine Art Verdoppelung des Ich ein.
Besonders deutlich zeigt sich das bei dem sogenannten ,, sentimen-
talen Typus", der alle seine Gefühle nochmals ,, genießt". Dieser nimmt
nicht zu den Gegenständen Stellung, sondern stets zu den subjektiven
Gefühlen, die ihm jene auslösen, so daß ein solcher Mensch sogar seine
eigene Unlust, seinen Schmerz, seine Trauer sekundär als Lust erleben
kann. Gewiß ist dieser Fall eine Art Pervertierung des natürlichen
Laufs der Dinge, indessen (wie pathologische Fälle oft) sehr geeignet
zur Illustration normaler Tatbestände, in diesem Falle also der sekun-
dären SteHungnahme.
Eine solche sekundäre Stellungnahme ist die Wertsetzung.
Wir erleben die primären Gefühle, Begehrungen zunächst einfach
als Tatsachen. Ein Gegenstand erweckt unsere Lust oder unser
Begehren, das sind einfache Erlebnisse, noch keine Wertungen.
Zu solchen werden sie erst, wenn wir zu diesen Stellungnahmen
Grundzüge einer neuen Wertlehre. '?2Q
wieder Stellung nehmen, d. h. wenn wir z. B. die Lust als ge-
wollte anerkennen oder das Begehren als ein ,, richtiges" oder
„schönes" Begehren bejahen. Die Wertsetzung ist sozusagen
eine Stellungnahme zweiter Instanz.
Es tritt gleichsam eine Spaltung des Ich ein. Das primäre
Ich erlebt Lust oder Begehren, d. h. die Wertgrundlage. Das sekun-
däre Ich, die höhere Instanz, bejaht oder verwirft jene primäre
Stellungnahme, d. h. sie setzt sie als Wert oder nicht. Ein Bild
gefällt uns, erregt unsere Lust: das ist die primäre Stellungnahme.
Zum ästhetischen Wert wird jedoch die Lust (und damit auch das
sie erregende Bild) erst, indem ich jener Lust meine Aufmerksam-
keit zuwende, sie bejahe, kurz wiederum Stellung nehme. Der
negative Fall offenbart die Doppelheit des Prozesses am deut-
lichsten. Jenes Bild erregte vielleicht nur meine sinnliche Lust,
schmeichelte niederen Instinkten und wird darum in sekundärer
Stellungnahme als ,, Kitsch" verworfen. Die ästhetische Wertung
wird also erst vollzogen durch Hinzutreten dieser sekundären
Stellungnahme.
Wir schieben für unsere Untersuchung alle jene Probleme,
die durch die ,, Spaltung des Ich" gesetzt werden, zurück und be-
handeln sie im folgenden Kapitel. Hier gilt es uns nur die Fest-
stellung, daß die sekundäre Stellungnahme, die Wert-
setzung, als Prozeß sich ebenfalls als ein emotionaler
Vorgang darstellt. Wie wir ihn auch bezeichnen, als ein Be-
jahen oder Verneinen, als ein Anerkennen oder Verwerfen, stets
tritt deutlich der emotionale Charakter, der Willensakt oder die
Gefühlsbetonung heraus. Gewiß sind die sekundären Stellung-
nahmen oft abstrakter als die primären, das hängt jedoch mit
dem oft abstrakteren Charakter des sekundären Subjekts zu-
sammen und wird daher später erörtert.
Ganz falsch wäre es jedenfalls, die Wertsetzung als einen intel-
lektuellen Prozeß anzusehen. Gewiß kann sie sich auf intellektuelle
Gründe stützen; solange sie jedoch ein bloßes Wissen bleibt, nicht zu
einer emotionalen Stellungnahme wird, ist sie tot. Hinter jeder Wert-
setzung muß ein lebendiges Gefühl oder ein Wollen stehen, sonst fehlt
ihr jede Überzeugungskraft. Es gehört zum Wesen des Alexandriner-
tums, des Historismus jener trockenen, von Nietzsche entlarvten
Art, daß sie die Kraft des Wertens verloren haben. Der Intellektualist
erlernt gewisse Werte als trockene Tatsachen, ohne sie in sein Leben
als zeugende Kräfte einführen zu können. Die Werte hören damit auf,
Werte zu sein.
330
Richard Müller-Freienfcls:
Für unsere Zwecke genügt an dieser Stelle die allgemeine
Feststellung, daß die Wertsetzung eine sekundäre Stellungnahme
zu einer primären ist. Die Wertung in ihrer Gesamtheit ist also
eine emotionale Reaktion des Ich plus einer sekundären Stellung-
nahme zu dieser.
Im einzelnen wechselt der psychologische Charakter der sekun-
dären Stellungnahme. Man kann sie, wenn man will, als ein Er-
lebnis sui generis beschreiben. Indessen muß man bedenken, daß
sie nicht mehr besondere Art hat als andere Stellungnahmen auch,
deren qualitative Besonderheit wir oben erörterten. Im übrigen
verquickt sie sich mit den verschiedensten anderen Stellung-
nahmen, sie kann die verschiedensten Gefühls- und Affekt-
färbungen annehmen und entzieht sich somit einer ganz einheit-
lichen Charakterisierung.
5. Man unterscheidet bei aller Wertung eine positive und
eine negative, wie man bei allen Stellungnahmen Positivität und
Negativität findet. Maßgebend dafür, ob die Wertung positiv
oder negativ ist, pflegt allein die sekundäre Stellungnahme zu
sein. Ein Lustgefühl, das mir in zweiter Instanz als Unwert er-
scheint, ist damit ein Unwert, selbst wenn die Wertgrundlage,
als solche genommen, positiven Charakter hat. Ebenso wird ein
sinnliches Begehren, so positiv es als solche erscheinen mag, doch
zum negativen Wert, wenn die zweite Instanz es verwirft.
Immerhin jedoch ist die Sache nicht ganz so einfach. Hat die
zweite Instanz nicht das gleiche ,, Vorzeichen" wie die erste Stellung-
nahme, so haben wir einen Wertkonflikt. Hier ist die Wertung
kein einheitlicher Prozeß, sondern höchstens als Problem, als Auf-
gabe erscheint eine wirklich erlebte Wertung gefordert. Wenn mich
in einer ungünstigen Stimmung eine Bach sehe Fuge langweilt,
ich diese Langeweile jedoch als einen ,, Wertirrtum" verwerfe, so
besteht die wahre, d. h. die einheitliche Wertung als Aufgabe.
Wirkliche Wertung als echtes Erlebnis liegt deshalb nur dort vor,
wo Werteinheit besteht, d. h. dort, wo die sekundäre Instanz
die primäre Stellungnahme anerkennt. Wird also eine Wertsetzung
von außen her irgendwie übernommen, so wird sie erst dann , .er-
füllt", wenn ihr die primäre Stellungnahme des Ich entspricht.
Wir kehren damit zu dem oben bereits erwähnten Gegensatz
zwischen erlebter und übernommener Wertung zurück.
Nur jene erkannten wir als vollständige an, da nur in ihr der Wert
als solcher erlebt wird. Bei der übernommenen Bewertung fehlt
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 231
das primäre Erlebnis, nur die sekundäre Stellungnahme, die Wert-
setzung allein tritt auf Grund fremder Einflüsse ein, während
die primäre Stellungnahme, die Wertgrundlage entweder nur ge-
fordert oder fingiert wird. Zu einem wirklichen Werterlebnis
kommt es in solchem Falle erst, wenn das Individuum sich mit
seiner primären Stellungnahme der übernommenen Wertsetzung
anpaßt.
Derartiger übernommener Wertsetzungen gibt es unendlich
viele. Man kann sogar sagen, daß das Individuum, das in einer
gebildeten Umgebung aufwächst, die meisten seiner Wertungen
nicht selber original erlebt, sondern von anderen übernimmt. So
sind z. B. die religiösen Wertungen für die meisten Menschen
einfach übernommene Wertungen, ebenso die moralischen Wer-
tungen. Es besteht hier die scheinbar paradoxe Tatsache, daß
die Wertsetzung der Wertgrundlage vorausgeht, insofern als zu-
nächst fremde Wertsetzungen einfach als unerlebte Tatsachen
übernommen werden, denen sich dann die primären Stellung-
nahmen allmählich anpassen.
Ein Beispiel mag das illustrieren. Das Kind übernimmt die mora-
lische Wertsetzung, daß es eine unedle Handlung sei, ein Tier zu quälen,
von anderen, ohne zunächst die Wertgrundlage selber zu erleben, die
zu dieser Wertsetzung geführt hat. Diese Wertgrundlage ist eine auf
Einfühlung beruhende Stellungnahme, das Bewußtsein davon, daß
das gequälte Tier leidet. Diejenigen, die jene Wertsetzung erlebt haben,
fühlten den fremden Schmerz als einen eigenen mit und setzten darauf-
hin die Tierquälerei als moralischen Unwert. Derartige moralische
Wertsetzungen werden nun auf das Kind übertragen, bereits zu einer
Zeit, wo dieses aus Mangel an Einfühlungsfähigkeit und Phantasie-
ausbildung noch gar nicht fähig ist, selbständig jene Wertgrundlage
zu erleben. Sein Gefühlsleben paßt sich jedoch allmählich den über-
nommenen Wertsetzungen an, und so wird die übernommene Wert-
setzung nachträglich zu einer erlebten.
Die Fähigkeit zum originalen Selbstcrlcbcn von Werten ist
viel geringer als gemeinhin angenommen wird. Wirkliche Origi-
nalität des Werterlebens ist wohl so selten wie geniale Schöpfer-
kraft, ja ein wesentlicher Bestandteil dieser. Denn ,, Schaffen ist
Schätzen", um mit Nietzsche zu reden. Die großen Neuschöpfer
in Religion, in Moral, in Kunst, kurz auf allen Wertgebieten, sind
Menschen gewesen, die den konventionellen und oft erstarrten Wert-
setzungen gegenüber ein eigenes Wertleben und darauf gegründete
neue Wertsetzungen durchgeführt haben.
332
Richard Müller-Freienfels:
Der Unterschied zwischen erlebten und übernommenen Wertungen
sei auch für die Kunst noch kurz erörtert. Neuere Philosophen haben
die „Autonomie", das heißt die „Erlebtheit" der Kunstwerte zu er-
weisen gesucht, und in der Tat haben die echten Kunstgenießenden
die Fähigkeit, fremde Kunstwerke ohne die Beeinflussung durch dritte
Personen autonom nachzuerleben.^) Indessen selbst die besten Kunst-
genießenden haben zuweilen solchen Werten gegenüber, die sich später
als echt und dauernd erwiesen haben, versagt. Unmittelbare Wert-
erlebnisfähigkeit setzt wohl eine Art prästabilierter Harmonie zwischen
dem Schöpfer und dem Genießenden voraus, die auch bei größter
Schwingungsweite des wertenden Subjekts unmöglich allen fremden
Individualitäten gegenüber sich bewähren kann. So tritt dann die
Übernahme fremder Wertsetzungen mit nachfolgender Anpassung des
eigenen Erlebens helfend ein. Es war für die weitaus meisten Europäer
ein adäquates Werterleben der ostasiatischen Kunst gegenüber aus-
geschlossen. Was sie zunächst dafür aufbringen konnten, war lediglich
Kuriositätswertung. Dann kamen einzelne sehr wertempfindhche In-
dividuen, wie z. B. die Brüder Goncourt, die eine eigene ästhetische
Stellungnahme diesen Bildern gegenüber fanden, wenn diese auch in
ihrer Anähnlichung an die impressionistische Wertung nicht ganz ad-
äquat war. Erst allmählich, durch gründliches Studium der im Lande
selber üblichen Wertsetzung und durch Anpassung des eigenen Er-
lebens an dies, haben neuerdings anfangs einzelne, dann mehr Europäer
die Wertsetzung nachzuerleben gelernt, die dem Kunstwollen der ost-
asiatischen Künstler adäquat ist, das nicht ,, impressionistisch" ist,
sondern eine sehr bewußtes Stilgefühl eigener Art. — So ist es in der
Kunst vielfach. Ein einigermaßen originales Werterleben haben die
meisten Menschen nur der Kunst gegenüber, die ihrer Zeit entsprungen
ist, häufiger noch derjenigen gegenüber, die schon ein wenig zurück-
liegt. Die ganz neuen Kunstwerte ebenso wie die meisten der ent-
fernteren Vergangenheit müssen erst durch Anpassung an übernommene
Wertsetzungen allmählich in den Kreis der Erlebnisfähigkeit einbezogen
werden.
Man wird es ehrlicherweise aussprechen müssen, daß die meisten
der Werte, welche Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft aufstellen,
für die Mehrzahl der Menschen nicht erlebte, sondern übernommene
Wertsetzungen sind. Allen diesen Wertsetzungen liegt die Fiktion
zugrunde, daß in der Tat alle Menschen fähig wären, jene Werte wirklich
zu erleben. Gewiß können Anpassung und Erziehung ein solches Er-
leben vielfach erzielen; trotzdem ist jene Wertsetzung oft eine leere
Forderung, wenn nicht häufig Selbsttäuschung oder Heuchelei.
Die Form, in der sich übernommene Wertsetzungen geltend
machen, ist die des Sollcns. Im Sollen ordnet sich eine fremde,
autoritative Wertsetzung dem eigenen Erleben über. Derjenige,
^) Ich verweise für diese Fragen auf die „Philosophie der Kunst" von B. Chri-
stiansen, 1907.
Grundzüge einer neuen Werllehre. ß^j^
der beim ersten Betrachten der Dürerschcn Apokalypse die krause
Linienführung als bizarr und unperspektivisch empfindet, aber doch
weiß, daß er diese von Kennern hochgeschätzten Blätter als
,, schön" und ,, bedeutend" empfinden müßte, gehorcht einem
solchen Sollen. Besonders innerhalb sozialer Komplexe, im Staat
z. B. erhalten die zu übernehmenden Werte oft Zwangscharakter.
So z^\'ingt der Staat die Bürger oft zur Übernahme ganz bestimmter
religiöser und ethischer Wertungen, selbst wenn diese dem Einzel-
menschen gegen sein Gewissen gehen. Davon wird später die
Rede sein.
6. Fassen wir nochmals kurz zusammen, was uns die Analyse
des Wertprozesses ergab.
Die Wertung, soweit sie ein wirkliches Erleben ist, setzt sich
aus zwei trennbaren, wenn auch meist in eins verschmelzenden
Vorgängen zusammen: der erlebten Wertgrundlage und der Wert-
setzung.
Die Wertgrundlage ist eine emotionale Stellungnahme einem
Gegenstand gegenüber, in der bald das Gefühl, bald der Willen,
d. h. eine Tätigkeitseinstellung des Subjekts, stärker hervortreten.
Die Wertsetzung ist ein von der Wertgrundlage trennbarer
sekundärer Akt und zwar ebenfalls eine emotionale Stellung-
nahme zu jener grundlegenden Stellungnahme. Das wertgrund-
legendc Gefühl oder der wertgrundlegende Wille werden ihrer-
seits durch sekundäre Gefühle oder Wollungen anerkannt oder
verworfen, und eben in diesem sekundären Akt beruht das Wesen
der Wertsetzung. Die Wertsetzung ist also eine Stellungnahme
zu einer Stellungnahme, So widerspruchsvoll diese Spaltung des
Prozesses zunächst erscheint, so wird sie doch weitere Klärung
finden, wenn wir den Begriff des Wertsubjektes analysieren, in
dem eben die Möglichkeit dieser Spaltung vorbedingt ist.
Über das Verhältnis von Wertgrundlage und Wertsetzung
zueinander konnten wir noch feststellen, daß nicht immer die
Wertgrundlage der Wertsetzung vorausgeht. Dies ist nur bei
„erlebten" Werten der Fall. Oft finden wir Wertsetzungen, die
aus Konvention oder Tradition stammen, deren Grundlage nicht
erlebt ist und die wir als übernommene Wertungen charakteri-
sieren. In solchen Fällen tritt oft eine Anpassung des Erlebens
an die Wertung nachträglich ein, so daß auch die übernommenen
Wertsetzungen nicht ohne weiteres als Lüge oder Selbsttäuschung
anzusehen sind, sondern sehr wohl echte Werte werden können.
"i-iA Richard Müller-Freienfels:
Kapitel IL Psychologie des Wertsubjekts.
I. Es liegt im Begriff des Wertes (wenigstens so wie die
Sprache dieses Wort verwendet), daß er ein Wert für ein Sub-
jekt ist. Wo von Wert die Rede ist, muß ein wertendes Subjekt
vorhanden sein oder wenigstens stillschweigend angenommen
werden. Ein ,,Wert an sich", ein Wert, der von niemand als Wert
erlebt wird, ist ein Unding. (Wir werden allerdings später von
dem Versuch einiger Philosophen sprechen, doch einen solchen
absoluten Wert, einen Wert an sich, aufzustellen.) Vorläufig steht
für uns fest, daß der Wert als empirische Tatsache stets ein
relativer Wert, ein Wert für jemand ist. Dies Subjekt, für
das etwas von Wert ist, heißt das Wertsubjekt.
Nun ist uns bereits in den bisherigen Untersuchungen ent-
gegengetreten, daß das stellungnehmende Subjekt für Wertgrund-
lage und Wertsetzung nicht immer dasselbe ist, und in der Tat
besteht eine solche Spaltung des Wertsubjekts sehr häufig. Diese
aber ist nur ein Spezialfall einer allgemeineren, nicht auf das
Wertungsphänomen allein beschränkten psychologischen Tatsache:
der Spaltung der Subjektivität überhaupt.^)
Das Verständnis dieser so überaus häufigen, wenn auch in der
Wissenschaft verhältnismäßig wenig beachteten Tatsache ist un-
umgängliche Voraussetzung für das Verständnis der Wcrtprobleme.
Sie besteht, kurz gesagt, darin, daß im gleichen ,, Individuum"
nicht immer die gleiche Subjektivität wirksam ist, daß vielmehr
sowohl nacheinander als nebeneinander ganz verschiedene Sub-
jektivitäten im gleichen Individuum bestehen können. Man redet
bei jenen pathologischen Fällen, in denen sich das Spaltungs-
phänomen besonders scharf ausprägt, von sukzedierender und
simultaner Spaltung. Indessen ist zu beachten, daß auch im
normalen Seelenleben derartige Spaltungsphänomene beständig in
Erscheinung treten.
Unsere Subjektivität nämlich ist fortwährendem Wechsel
unterworfen. Fast in jedem Augenblick wandelt sie sich und nicht
nur der Inhalt ihres Fühlens und Begehrens wechselt, auch die
Art desselben. Infolgedessen können wir sehr wohl sagen, daß
') Aus der neueren Literatur über die pathologischen Spaltungsphänomene
verweise ich vor allem auf Oesterreich, Phänomenologie des Ich, 1911. Da-
neben auf Ribot, Les Maladies de la Personalitd. Janet, L'Automatisme psy-
chologique etc.
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 79c
es verschiedene Erlebnissubjekte sind, die innerhalb der gleichen
Individualität sich folgen. Nur sehr grobschlächtige Selbstbeob-
achtung kann finden, daß wir am Abend genau so erlebten wie am
Morgen, daß wir bei gutem Wetter die gleichen Gefühle und Be-
gehrungen hätten wie bei schlechtem. Feinere Analyse wird stets
feststellen, daß eine absolute Gleichheit der Persönlichkeit zu
verschiedenen Zeiten niemals besteht. Und selbst im gleichen
Augenblick ringen oft ganz verschiedene Stellungnahmen um die
Herrschaft; wir schwanken oft zwischen Wollen und Nichtwollen,
zwischen Lust und Unlust, was alles nur darauf zurückzuführen
ist, daß verschiedene Subjektszuständc innerhalb der gleichen
Individualität nebeneinander bestehen. Wir nennen diese rasch
wechselnden, einander ablösenden und bekämpfenden Zustände des
Ich: Momentansubjekte.
Dabei brauchen wir jede dieser Momentansubjektivitäten nicht
immer als unsere ,, eigenen" zu erleben, wir können unserem eigenen
Ich fremde Ichvorstellungen wie Maskengewänder überziehen und
nun aus diesem fremden Persönlichkeitsbewußtsein heraus fühlen
und werten. Beim Lesen einer Dichtung z. B. identifizieren sich
viele Leser oft so vollständig mit einer oder gar mehreren Per-
sonen des Kunstwerks, daß sie sogar im Leben noch dem fremden
Persönlichkeitsbewußtsein unterliegen. Alle die zahlreichen, neuer-
dings als ,, Einfühlungsphänomene" beschriebenen Tatsachen ge-
hören hierher. Oft fühlen wir unsere Subjektivität in fremde Iche
und selbst in Gegenstände ein, ebenso wie wir fremde Subjektivi-
täten in uns selbst verlegen.
Oft auch abstrahieren wir von einem Teil unseres Ich. Wir
fühlen in manchen Augenblicken nur als Deutsche oder nur als
Angehörige eines Standes, einer Religion, einer Partei. Wir ver-
mögen uns auch nur als „Menschen schlechthin", ja als ,, erkenntnis-
theoretische Subjekte" zu denken und zu fühlen. Besonders wichtig
ist dabei jene fiktive Ichvorstellung, die wir unseren momentanen
Zuständen als Einheit überordnen, die uns später als Einheits-
subjekt oder Idealsubjekt genauer beschäftigen wird.
Jede dieser mannigfachen Subjektivitäten äußert sich nun
in ihren eigenen Stellungnahmen. Je nach der gerade dominierenden
Subjektivität fühlt, will, handelt der ,, gleiche" Mensch völlig ver-
schieden. Kein Wunder also, daß auch die Wertungsphänomene
diesem Wechsel unterliegen und nur begriffen werden können, wenn
man den Spaltungserscheinungen Rechnung trägt.
0ß6 Richard Müller-Freienfels:
Wir können von den zahllosen Möglichkeiten, die sich auf
diese Weise ergeben, natürlich nur einige besonders hervor-
tretende und typische Fälle herausheben, von denen aus sich
auch auf die übrigen Fälle Licht ergießt.
2. Beginnen wir mit dem am häufigsten vorkommenden Falle:
der Spaltung des Persönlichkeitsbewußtseins in das
Momentansubjekt einerseits und das Einheitssubjekt,
das auch das Idealsubjekt sein kann, anderseits.
Was ist dieses ijEinheitssubjekt".!^ Es ist die Vorstellung, die
jeder Mensch, mehr oder weniger deutlich, sich von sieh selbst
bildet, die Vorstellung eines einheitlichen, im Wechsel beharrenden
,, wahren" Ich, das neben oder (wenn man will) über den Momentan-
subjekten besteht. Ich habe an anderer Stelle nachgewiesen, daß
die streng durchgeführte Analyse ein solches ,,Einheitssubjekt"
als Realität nicht nachweisen kann, daß dieses nur eine Fiktion,
allerdings eine für das Leben äußerste wichtige Fiktion ist. Denn
sie gestattet es dem Individuum, sich selber als Konstante zu
nehmen. Daß dieses Einheitssubjekt dem ,, substantiellen Ich",
dem realen ,, Träger" aller Erlebnisse entspreche, ist natürlich
ebenfalls nur eine Fiktion.
Dieses ,, Einheitssubjekt" ist jedoch keineswegs ein ,, Durch-
schnittssubjekt", das aus einer Zusammenfassung der Momentan-
subjekte errechnet wäre; im Gegenteil, es unterscheidet sich von
diesen realen Zuständen sehr wesentlich dadurch, daß es ,, ideali-
siert" ist, d. h. jeder trägt ein Bild dessen, was er sein möchte,
als Einheitsvorstellung mit sich herum. Wirkliche Selbsterkenntnis
ist bei der Fülle der Zustände gar nicht durchführbar: in jener
schillernden und schemenhaften Vorstellung, die jeder Mensch
von sich bildet, mischen sich daher oft in grotesker Weise Züge
dessen, wozu die Grundlagen wirklich vorhanden sind, und solche
Züge, deren Grundlagen eben nicht vorhanden sind, sondern gerade
darum erstrebt werden. Dieses ,, wahre" Ich ist meist sehr stark
durch Wünsche gefärbt, was auch der Sinn des bekannten Aus-
spruches ist, daß man nirgends soviel zu lügen pflege als vor dem
eigenen Spiegel. Wir gehen jedoch diesem Problem des ,, wahren"
Ich hier nicht weiter nach, obwohl sich eine Menge seltsamer Kom-
plikationen daran knüpfen.^)
') Vgl. meinen Aufsatz: Über den „Begriff der Individualität als Fiktion"
in dieser Zeilschrift.
II
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 2^7
Für uns ist nur wesentlich, daß gerade dies ,, Einheitssubjekt"
für den DuaHsmus zwischen Wertgrundlage und Wertsetzung be-
sonders bedeutsam ist, da der typischste Fall dieses Dualismus
eben der ist, daß wir die Wert gr und läge mit unserem Mo-
mentansubjekt erleben, während wir aus dem Einheitssubjekt
heraus den Wert setzen. Es kann nun sein (und das ist der Fall
der einheitlichen Wertung), daß die Wertsetzung des Idealich
die Wertgrundlage, die das Momentansubjekt erlebt, bejaht. Das
ist jedoch keineswegs immer der Fall. Sehr oft kommt es vor, daß
das Idealich die Stellungnahme des Momentanich verurteilen
muß. Hierfür ist typisch der moralische Wertkonflikt. Auch der
tugendhafteste Mensch erlebt in sich Zustände, aus denen heraus
er eine verbotene Frucht begehrt. Dies Begehren ist die Stel-
lungnahme des Momentansubjekts. Von dem Idealsubjekt kann
jedoch dies Begehren nicht anerkannt werden. Aus einge-
prägter Gewohnheit oder angeborenem moralischem Takt heraus
lehnt das ideale Einheitssubjekt das Begehren des Momentan-
subjekts ab.
Bekanntlich will Kant, wenigstens so wie ihn Schillers Distichon
versteht^ nur jene Handlung als moralisch gelten lassen, wo die Wert-
setzung des Idealsubjekts über das Momentansubjekt nach einem Kon-
fhkt triumphiert. Eine nichtrigoristische Anschauung wird gerade um-
gekehrt urteilen, daß derjenige Mensch der wahrhaft moralische sei,
bei dem solche Wertkonflikte möglichst selten eintreten, weil seine
Momentanzustände nicht so sehr von dem Idealsubjekt differieren,
vorausgesetzt natürlich, daß er seine Wertsetzungen überhaupt durch
ein Idealich empfängt und nicht jeder Momentanstimmung widerstands-
los unterliegt.
Es wäre indessen ganz falsch, das ,, Einheitssubjekt" für den
reinen Ausdruck der Individualität anzusehen. Im Gegenteil,
soweit es Zusammenfassung und Verkörperung dessen ist, was
das Individuum sein möchte, nimmt es vieles Nichtindividuelle
und Anderindividuelle auf. Denn, wie war schon sahen, ist gerade
dies Einheitssubjekt auch Träger übernommener Wertsetzungen.
Indem es ,, Idealsubjekt" ist, gründet es sich gerade auf Unter-
drückung der vom Momentansubjekt erlebten Gefühle und Be-
gehrungen, denen es andere Wertungen überordnet.
3. Indem also im fiktiven ,, Einheitssubjekt" die individuellen
Momentanwertungen zurückgedrängt werden, nähert sich das
Einheitssubjekt dem ,, Normalsubjekt", das völlig jenseits aller
individuellen Besonderungen steht. Man beachte dabei den Doppel-
AnDalen der Philosophie. I. ^*
338
Richard Müller-Freienfels :
sinn, der dem Begriffe „Norm" und „Normal" anhaftet: einmal
bedeuten diese Begriffe dasjenige, was sein soll, andererseits aber
auch das, was als Allgemeinheit jenseits aller Individuation ist.
Indem wir behaupten, jeder Mensch solle allgemeingültig so
werten, wie wir es in allgemeinen Wertsetzungen fordern, machen
wir die Voraussetzung, daß er auch so werten könne, d. h. daß
der Möglichkeit nach in ihm ein Wertsubjekt bestünde, das die
Wcrtgrundlage jener Wertsetzungen zu erleben vermöchte. Ohne
daß man immer daran denkt, setzt jedes allgemeine Werturteil
die Existenz eines allgemeinen ,, Normalsubjekts" voraus. Be-
kanntlich nähert die Kantsche Ethik das ,,Ideahch" sehr stark
dem ,, Normalich" an, worauf schon die Formulierung des kate-
gorischen Imperativs hinweist, die eben das moralisch Wertvolle
den allgemeingültigen Wertsetzungen entsprechen läßt, die natür-
lich nur Sinn haben, wenn sie als Fortsetzungen eines Normal -
Subjektes, das in jedem Individuum als vorhanden gedacht wird,
in Erscheinung treten. Desgleichen haben die ,, allgemeingültigen"
ästhetischen Wertsetzungen nur dann Sinn, wenn auch ein ,, all-
gemeines", d. h. ein Normalsubjekt hinzugedacht wird.
Bei der Formuherung solcher ,, allgemeingültigen" Urteile ist
jedoch wohl niemals nachgeprüft worden, ob das vorauszusetzende
,, Normalich" auch existiert, ob also wirkhch jeder Mensch in sich
die Wertgrundlagen solcher ,, allgemeinen" Wertsetzungen auch zu
erleben vermag. Gehen wir dieser Frage nach, so müssen wir fest-
stellen, daß das nicht der Fall ist, daß ein solches ,, Normalich"
eine Abstraktion ist, aber keine Wirklichkeit. Als Abstraktion
kann es wohl den Charakter einer brauchbaren Fiktion haben,
aber nicht mehr.
Daß die allgemeingültigen Wertsetzungen Forderungen ins
Leere hinaus sind, ist leicht schon durch die Tatsache zu erweisen,
daß jeder solchen Wertsetzung entgegengesetzte, mit dem gleichen
Anspruch auf Allgemeingültigkcit auftretende gegenüberzustellen
sind, und daß es außerdem für jede eine Unzahl von Individuen
gibt, die nicht die Wcrtgrundlage dazu erleben können.
Historisch-psychologisch läßt sich ferner erweisen, daß fast
alle , .allgemeingültigen" Wertungen unverkennbar sich als Aus-
wirkungen individueller Besonderheiten zu erkennen geben, wenn
diese auch meist etwas verwischt sind. Alle historisch bisher auf-
gestellten Allgcmeingültigkeiten stellen sich, aus gewisser Distanz
gesehen, nur -As Verallgemeinerungen ganz bestimmter Subjektivi-
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 3 3 Q
täten dar, die stets nur eine relative, niemals eine absolute All-
gemeingültigkeit erreichen.
Wenn wir die Kunst des Phidias als „wertvoll" beurteilen, so meinen
wir nicht, daß sie nur für unsere Individualität allein (auch nicht bloß
für das fiktive ,, Einheitssubjekt" unserer Zustände) wertvoll sei. Als
wertendes Subjekt denken wir dabei eben nicht die Individualität,
weder die momentane noch die typisierte, sondern ein jenseits aller
Individualitäten bestehendes Normalsubjekt, ein allgemein mensch-
liches Ich. Daß ein solches allgemeines Subjekt jedem allgemeinen
Werturteil zugrunde liegt, wird oft völlig übersehen. So hielt die
traditionelle Ästhetik z. B. die klassische Wertung und damit das klas-
sische Idealsubjekt für das normierende Allgemeinich und übersah,
daß damit nur eine, wenn auch verbreitete Besonderheit fälschhch
verallgemeinert wurde. Daher kamen denn jene grotesken Ungerechtig-
keiten, die alle nichtklassischen Stile, etwa die Gotik oder das Barock,
verdammten, weil diese eine ganz andere Subjektivität für ihre Wer-
tungen voraussetzten. Man muß sich endlich darüber klar werden,
daß die klassische Kunst wertvoll nur für die klassische Subjektivität,
eine bestimmte Erlebnisweise, ist, für die die gotische Kunst oder die
Barockkunst Rembrandts strenggenommen keine Werte sein können.
Andererseits sind die gotischen oder die barocken Kunstwerke Werte
ganz eigener Art, und zwar für Subjektivitäten, die, ohne klassisch
oder „normal'' zu sein, doch sehr verbreitet waren, und an Verbreitung
und innerer Geschlossenheit der klassischen Subjektivität keineswegs
nachstehen. Daß die Relativität der klassischen Wertung übersehen
werden konnte, liegt zum Teil darin begründet, daß jedes Ich eine ge-
wisse Schwingungsweite hat und sich bis zu einem gewissen Grade in
fremde Subjektivitäten einzuleben vermag, also auch die klassische
Wertung nacherleben kann. Man darf jedoch nicht vergessen, daß
es auch Zeiten hoher künstlerischer Kultur gegeben hat, welche die
klassische Wertung niemals zu übernehmen vermochten.
Wir finden ähnUches auf dem Gebiete der Ethik. Auch die ethischen
Werte sind Werte nur für Subjekte, und zwar nur für solche Individuen,
die ihr Erleben den übernommenen Wertsetzungen anpassen. Wenn
die ethische Wertung des Christentums, sagen wir genauer die der Berg-
predigt, verallgemeinert wird und der Anspruch erhoben wird, diese
Wertungen seien die ethischen Wertungen schlechthin, so übersieht
man dabei, daß es Individuen gibt, die sich ihrer ganzen Art nach jene
Wertung unmöglich zu eigen machen können. Der ,, Christ" als wer-
tender Typus ist keineswegs das Normalsubjekt; vielmehr ist die Ge-
schichte des Christentums der beste Beweis, daß sich innerhalb der
traditionellen christHchen Wertung beständig Umwertcr geregt haben,
d. h. PersönUchkeiten ganz unchristlicher Art, die aller Tradition zum
Trotz ihre Wertung durchgesetzt haben. Es ist ganz richtig, daß man,
um die christliche Wertung ganz zu eigen zu haben, aufs neue geboren
werden, d. h. ein Mensch des „christHchen" Typus werden muß. Aber
es ist eine ganz andere Frage, ob das möglich ist, ob wirklich der „Christ"
22*
-iAQ Richard Müller-Freienfels:
das Normalsubjekt ist, das aus jeder menschlichen Persönlichkeit heraus-
destilliert werden kann. Uns scheint, die Geschichte hat bereits zur
Genüge die Unmöglichkeit erwiesen, aus jedem Menschen einen Christen
zu machen, oder vielmehr den vorausgesetzten christusähnlichen Kern
in jeder menschlichen Persönlichkeit herauszuarbeiten.
Wir ziehen aus dem allen den Schluß, daß es ein unmögliches
Verfahren ist, ein allgcmeinmenschliches Wertsubjekt, das als
,, normal" gelten könne, de facto herauszuarbeiten. Allerdings
kann jede Persönlichkeit gewisse individuelle Besonderheiten zurück-
drängen, kann aus einer Subjektivität heraus werten, die in ge-
wissem Sinne entindividualisiert ist. Wir zeigten in der „klassischen",
der ,, gotischen", der ,, barocken" Subjektivität bereits typische
Fälle solcher überindividuellcn Wertsubjekte auf. Ein wirkliches,
allgemeinmenschliches Normalsubjekt wird auf diese Weise jedoch
nicht erreicht. Im Gegenteil, es läßt sich nachweisen, daß auch
noch die abstraktesten Allgemeinwertungen sich als nur zu Un-
recht verallgemeinerte individuelle Wertungen erweisen lassen.
Selbst die Ethik Kants, die mit bewundernswerter Energie bis zu
einer allgemein menschlichen, alles Individuelle hinter sich
lassenden Wertung vordringen will, kann doch ihren anthropo-
logischen Ursprung nicht verleugnen, und der kategorische Im-
perativ weist unverkennbar die Züge der Individualität ihres Ur-
hebers ebenso wie die Züge seiner Nation und seiner Zeit auf.
Von dem ,, Normalsubjekt" aus schreitet die Abstraktion
häufig noch weiter bis zu einem absoluten Subjekt. Wenn näm-
lich alle Subjekte im tiefsten gleich sind, so scheint es möglich,
sie aus der Rechnung überhaupt auszuschalten. Wenn es Dinge
gibt, die allen Subjekten notwendig gefallen müssen, so braucht
man das Subjekt überhaupt nicht mehr in die Rechnung zu setzen;
es fällt als eine Selbstverständlichkeit heraus. Man kann dann
die Schönheit als eine von jeglichem Subjekt unabhängige ,, Eigen-
schaft der Dinge" hinstellen. In der Tat wird dieser Schritt von
der Normalisierung zur Absolutsetzung der Werte oft genug voll-
zogen. Er bleibt aber doch ein logischer Fehler, weil eben die
vorausgesetzte Gleichheit der Subjekte faktisch gar nicht besteht.
Im einzelnen unterscheiden sich übrigens die absoluten Wert-
theorien voneinander. Während manche Theoretiker den Subjekt-
begriff ganz ausschalten und nur in einem unpersönlichen, ab-
strakten ,, Sollen" die Werte verwurzelt finden, gehen andere Ab-
solutistcn nicht ganz soweit, sondern führen ein hypothetisches
Grundzüge einer neuen Wertlehre. ^ 4 I
,, Überich" ein, das ,, Willen" ist und zwar ein „Allwillen", der
sich in der Menschheit verwirklicht. Darauf, daß in diesem Begriff
des ,, Überich" ein abstraktes ,, Menschheitich" und ein noch über
das Menschliche hinaus greifendes ,, Allich" zusammengeworfen
werden, kommen wir später zurück, wie denn überhaupt die Fragen
der Wertabsolutierung uns noch oft beschäftigen werden. Hier galt
es uns nur, von der Subjektseite aus den psychologischen Prozeß
der Absolutsetzung verständlich zu machen, den wir als fiktive
,, Einklammerung" des Subjektsbegriffes bis zu einem gewissen
Grade gelten lassen können, der jedoch zum groben logischen Fehler
wird, wenn man jene ,, Einklammerung" für eine wirkliche Aus-
schaltung nimmt.
4. Wenn wir daher auch bestreiten, daß sich ein allgeniein-
menschliches Wertsubjekt als ,, Normalsubjekt" herstellen läßt,
so erkennen wir doch an, daß es überindividuelle Subjektivitäten
gibt, die zwar nicht Normalcharakter haben, aber doch sehr ver-
breitete, individuelle Wertungen begründen. Als solche ergeben sich
uns vor allem die national und die zeitlich verbreiteten
Wertungen, die sich in den nationalen oder zeitHchen Sitten-
begriffen, den nationalen oder zeitlichen Schönheitsbegriffen usw.
kristallisieren. In jedem Individuum besteht neben oder über seiner
individuellen Erlebnisweise ein solches Subjekt, das die Wert-
setzungen seiner Zeit und seiner Nation übernommen hat und aus
dieser nationalen oder zeitlichen Subjektivität heraus wertet. Auch
die ausgesprochensten Persönlichkeiten sind doch Kinder ihrer
Zeit, d. h. sie übernehmen Wertsetzungen, die sie nicht als In-
dividuen, die sie als Angehörige ihres Jahrhunderts bilden. Es
greift gleichsam ein überindividuelles Subjekt durch die Einzel-
subjekte hindurch. Natürlich handelt es sich um eine bloße Fiktion,
nicht um eine reale Einheit, wenn wir von derartigen überindivi-
duellen Subjekten reden, aber sie lassen sich doch ziemlich genau
bestimmen, ähnlich wie individuelle Charaktere.
So kann man von ,,dem Deutschen", ,,dem Franzosen", ,,dem
Engländer" sprechen, fiktiven Überpersönlichkeiten, deren Stellung-
nahmen und Wertungen sich in den meisten Individuen ihres
Bereichs geltend machen.
Auch für zeitlich umschriebene Zusammenhänge hat man solche
fiktiven Subjekte konstruiert. So wird es neuerdings immer mehr
Brauch, von „dem antiken Menschen", ,,dem mittelalterhchen
Menschen", ,,dem Renaissancemenschen" zu reden. Und jede
342
Richard .Müller-Freienfels:
dieser Fiktionen, die, wenn auch keine Substanzialität, so doch
eine Wirkungsrealität haben, prägt ihre eigenen Wertungen aus,
die sich in fast allen ihr zugehörigen Individuen wiederfinden.
Als Beispiel eines solchen überindividuellen Subjekts können auch
Typen dienen, wie sie W. Sombart z. B. in seinem „Bourgeois" be-
schrieben hat. Er bezieht nämlich die einzelnen Züge, die es im Wirt-
schaftsleben beobachtet, auf ein „gedachtes Wirtschaftssubjekt", und
kennzeichnet damit einen bestimmten Typ, dem die einzelnen Be-
wußtseinsinhalte oder der Komplex von Bewußtseinsinhalten als psycho-
logische Eigenschaften von uns verliehen werden.^)
Derartige Fiktionen scheinen uns bedeutsamer zu sein als die
allzu blasse und konsequent niemals durchgeführte Fiktion des
,, Normalmenschen", die wir oben ablehnten.
5. Bei allen bisher erörterten Wertungen, die wir als überindivi-
duell ansprachen, handelte es sich um eine Überwindung der
Individualität in dem Sinne, daß einzelne Züge zurückgedrängt
werden, daß aber trotz allem die Individualität nicht ganz auf-
gehoben wurde, sondern in ihrer Selbständigkeit erhalten blieb.
Wir kommen nunmehr zu einem Typus von Wertungen und
Wertsubjekten, bei dem das Individuelle noch viel stärker zurück-
gedrängt wird und die Individuen unselbständige Teile werden
von Gemeinschaften, in denen sie wirklich bis zu einem gewissen
Grade aufgehoben sind. Wir meinen die sozialen Wertungen
und die sozialen Subjekte. Handelte es sich bei den bisher be-
sprochenen Fällen um eine Summierung von Individuen, wobei
diese erhalten bleiben, so handelt es sich jetzt um Neubildungen,
in denen das Individuelle wirklich aufgeht, ähnlich wie die Ele-
mente in einer chemischen Verbindung.
Die sozialen Subjekte, die wir meinen, sind Gebilde mit Be-
dürfnissen, Begehrungen und Stellungnahmen, die nicht in den
jene Gebilde zusammensetzenden Individuen zentriert sind, sondern
in etwas, was ,, zwischen" diesen liegt. Natürlich sind auch diese
, .sozialen Subjekte" nicht metaphysisch zu denken. Die Sub-
jektivität ist fiktiv. Indessen wirken sie, ,,als ob" einheitliche
Subjekte hinter ihnen stünden.
Wenn wir von solchen sozialen Subjekten sprechen, so meinen
wir Einheiten, die zwar aus Individuen bestehen, in denen jedoch
die Individuen in solcher Weise zusammengeschlossen sind, daß
') W. .Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirt-
schaf tsmcnschcn. 1913.
Grundzüge einer neuen Werüehre. 04?
ein Granzes entsteht, das ein eigenes Leben mit eigenen Lebens-
bedingungen führt, die denen der in das Ganze eingehenden
Individuen nicht gleich sind, sich ihnen vielmehr überordnen, so
daß sie sogar die der Individuen unterdrücken können. Als solche
überindividuclle Subjekte gelten uns alle Vergesellschaftungen;
die Ehe, die Familie, der Clan, der Staat, die über-
staatliche Kulturgemcinschaft. Sie können ein bloßes räum-
liches Nebeneinander umfassen, umspannen aber in der Regel
auch ein zeitliches Nacheinander von Individuen.
Wir können an dieser Stelle natürlich nicht in die Besprechung
der mannigfachen Theorien eintreten, die man über das Wesen der
Vergesellschaftungen aufgestellt hat. Wie weit die Bezeichnung „Orga-
nismus" für eine Gesellschaft Geltung haben kann, soll hier nicht ent-
schieden werden. Wir stellen nur fest, daß jede Gesellschaft im oben
umrissenen Sinne ihre besonderen Willenstendenzen und Bedürfnisse
hat und somit als wertsetzendes Subjekt gelten kann.
Doch soll hier nicht für jede Gesellschaftsform ihre Wertung
analysiert werden. Nur an einem typischen Falle werden wir das
Verhältnis der überindividuellen Wertungen zu den Wertungen
der Individuen beleuchten. Und zwar wählen wir zu diesem
Zwecke den ,, Staat".
Gerade beim Staate tritt ja die Überordnung der sozialen
Wertungen über die individuellen am deutlichsten hervor, da hier
sogar die Opferung des Einzellebens zugunsten der sozialen Werte
rücksichtslos gefordert wird. Gerade an diesem Beispiel zeigt es
sich auch am deutlichsten, daß die Gesellschaft nicht bloß eine
Summe von Individuen ist und daß also auch die soziale Wertung
nicht bloß die Summierung individueller Wertungen sein kann.
Es wäre vollkommen irrtümlich, die Lebensbedürfnisse des Staates
auf die Lebensbedürfnisse der Individuen zurückführen zu wollen,
wie das manche Theoretiker versucht haben. Gewiß sind die ein-
zelnen Staaten nicht ganz gleich darin, in welchem Grade sie die
Unterordnung der Individuen unter das Staatsintercsse verlangen;
aber auch der ,, liberalste" Staat, d. h. derjenige, der den indivi-
duellen Wertungen die größten Rechte zubilligt, ist in seiner Ge-
samtheit doch etwas anderes als die Summe seiner Staatsbürger
und kann in Lagen kommen, wo er ebenfalls das Opfer des Lebens
seiner Bürger verlangen muß.
So ist England, das im Frieden dem Individuum verhältnismäßig
große Rechte einräumte, durch den jetzigen Krieg gezwungen worden,
■IAA Richard Müller-Freienfels:
fast alle jene Beschränkungen und Unterdrückungen der individuellen
Wertungen eintreten zu lassen, die weniger „liberale" Staaten, wie
Deutschland z. B., immer geübt hatten.
Bleiben wir bei Deutschland, so zeigt sich hier deutlich, wie die
staatlichen Bedürfnisse und Willenstendenzen sich denen der Individuen
überordnen und zu Wertungen eigener Art führen. Daß Deutschland
seinen ,, Platz an der Sonne" behauptet, daß es das freie Meer gewinnt,
daß es Elsaß-Lothringen besitzt, alles das sind Werte, die für die weitaus
größte Mehrzahl seiner Bürger individuell ziemlich gleichgültig sind.
Es wäre durchaus denkbar, daß die Mehrzahl der Bürger auch ohne
Elsaß-Lothringen und ohne Kolonien individuell ebensogut bestehen
und sich entwickeln könnte; diejenigen, deren Existenz durch jene
Errungenschaften persönlich direkt oder indirekt gefördert wird, sind
auf jeden Fall eine Minderheit. Und dennoch sind jene Wertungen
notwendig bedingt, müssen durch Opferung von Millionen Individuen
verteidigt oder erstritten werden. Wenn manche Theoretiker, die die
Staatsidee in ihren überindividuellen Lebensbedingungen nicht be-
greifen und anerkennen wollen, das ausrechnen und unter Hinweis auf
die individuelle Wertung es abändern wollen, so zeigt das, daß sie die
überindi\'iduelle Wesenheit des Staates eben nicht begriffen haben.
Jene Wertungen sind keineswegs Willkürlichkeiten einiger beherrschenden
Indi\aduen, nein, diese scheinbar herrschenden Individuen sind vielmehr
die Träger von Tendenzen ganz überindividueller Natur, welche sich
ihrerseits andere Träger schaffen würden, selbst wenn jene herrschenden
Individuen sich ihnen entziehen wollten.
Der . Grund liegt darin, daß der Staat in seiner Gesamtheit
seine eigenen, den individuellen Bedürfnissen übergeordnete Be-
dürfnisse und Willenstendenzen hat, die nicht der Willkür einzelner
Menschen entspringen, sondern den Lebensbedingungen eben jener
Gesamtheit. Diese Bedürfnisse und Tendenzen aber schaffen auch
ihre eigenen Werte.
Es mag zu Propagandazwecken nützlich sein, diese sozialen Werte
individuell zu begründen; man mag also den Leuten vorrechnen, es
wäre für jeden Einzelnen wertvoll, daß Elsaß-Lothringen oder Kurland
deutsch würden; die wahre Begründung trifft man natürlich nicht durch
solche Erörterungen. Diese ist vielmehr die, daß nicht der Einzelbürger,
daß der Staat in seiner Gesamtheit jene Grenzlande braucht, wobei
wir natürlich zugeben, daß auch diese Wertungen irrtümlich sein können,
daß sie dem wahren Interesse des Staates in Wirklichkeit mehr schaden
als nützen können; aber auch das ist nicht durch individuelle Wertungen
zu begründen, nur aus den Interessen der Gesamtheit heraus. Wir
können hier die Notwendigkeit jener staatlichen Wertung nicht in
den Einzelheiten darlegen, wir können nur hindeuten darauf, daß jeder
Staat als Ganzes Rücksichten zu nehmen hat auf die anderen Staaten,
die ebenfalls ihre, mit den seinen vielfach konkurrierenden Bedürfnisse
haben. Diese Rücksichten können in der Sicherung der Grenzen, in
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 345
einer Mehrung" der eigenen Macht und einer eben dadurch bedingten
Minderung der Macht des Konkurrenten liegen (der Fall Elsaß-Loth-
ringen), sie können in der Erwerbung von Auswanderungsgebieten und
Rohstoffe produzierender Länder liegen (das Problem der Kolonien),
sie können ganz allgemein in der Bewegungs- und Erwerbsfreiheit liegen
(die Frage der Seeherrschaft). Stets sind jedoch diese Wertungen nur
aus dem Lebenswillen des ganzen Staates, nicht aber aus dem aller
oder auch nur der Mehrzahl seiner Bürger zu begründen. Es ist das
überindividuelle Subjekt ,, Staat", nicht die Summe der individuellen
Subjekte, das jene Wertsetzungen bedingt. Und es ist dabei auch zu
bedenken, daß der Staat nicht bloß das gegenwärtige Nebeneinander
der zeitgenössischen Individuen umfaßt; er handelt zugleich auch im
Interesse seiner eigenen Zukunft, da er auch eine in der Dimension
der Zeit ausgedehnte Wesenheit ist und auch in dieser Hinsicht über
die Bedürfnisse des Einzelmenschen hinausschreitet.
Die sozialen Wertsetzungen sind aber für das erlebende In-
dividuum stets übernommene Wertsetzungen. Es kann sein, daß
die individuelle Wertgrundlage der sozialen parallel läuft (grob
gesprochen: im Fall des Munitionsfabrikanten), es kann aber
auch zum Konflikt kommen und in diesem Fall pflegt sich die
soziale Wertsetzung mit Zwang durchzusetzen und dieser Zwangs-
charakter ist sehr charakteristisch für die sozialen Werte.
Sehr oft aber kommt es auch vor, daß ein Individuum ganz in
einem sozialen Subjekt aufgeht, so sehr, daß es gleichsam nur aus diesem
heraus erlebt. So wird für den richtigen Unternehmer seine Unter-
nehmung ein anderes Ich, für das allein er lebt, oft unter größten eigenen
Entsagungen. So wird dem Künstler sein Werk, dem echten Staats-
mann der Staat, dem er dient, zu einer höheren Subjektivität, in der
er aufgeht. Ein solches Individuum wird nicht sagen: L'Etat c'est
moi; er wird gleichsam die Sache umkehren und sagen können: „Mein
Ich ist der Staat!"
6. Alle die bisherigen Ergebnisse zeigen deutlich, daß das
Wertsubjekt kein konstanter, sondern ein sehr variabler Begriff
ist, daß es die verschiedensten Wertsetzungen übernehmen und
sich in seinen Erlebnissen ihnen anpassen, d. h. sich ändern kann.
Gewiß ist auch diese Elastizität des Subjekts nicht bei allen In-
dividuen gleich: es gibt unzählige Zwischenstufen zwischen mono-
manischer Starrheit und amorpher Charakterlosigkeit. Als Ideal
wird in der Regel eine gewisse Einheitlichkeit bei ansehnlicher
Beweglichkeit angesehen.
Indessen müssen wir uns im Leben nicht nur beständig über-
individuellen Wertsetzungen anpassen, wir müssen uns auch in die
Wertungsw^eise fremder Einzelmenschen hineinleben. Wir ge-
346
Richard Müller-Freienfels :
dachten bereits oben dieser ,,Einfühlungs"-Phänomene, die eben
darin bestehen, daß wir fremde Wertungen als unsre eigenen in
fiktiver Weise erleben.
Aller soziale Verkehr beruht auf solchem „Verständnis"
fremder Wertungen, das allerdings nicht ein intellektuelles Begreifen,
sondern ein wirkliches Nacherleben sein muß. Nur derjenige wird
wirklich mit Kindern umgehen können, der sich in die kind-
liche Wertungsweise hinein versetzen kann, d. h. der selbst zum
Kinde zu werden vermag. Frauen pflegen diese Gabe in höherem
Grade zu haben als Männer. Vor allem zum Wesen des Dichters
gehört eine solche Fähigkeit, sich in fremde Individualitäten ein-
zuleben und aus deren Wertsubjektivität heraus zu erleben. Von
hier aus gewinnt auch der Satz ,,Tout comprendre c'est tout par-
donner" seinen tiefsten Sinn; denn es soll sich dabei nicht um
ein äußerliches Verfahren, sondern um ein Hineinversetzen in
die innersten Beweggründe handeln.
Wie mannigfach verflochten diese Phänomene sind, erhellt auch
aus dem Umstand, daß wir unser Wertsubjekt fremden Individuen
unterlegen, die selber gar nicht fähig sind, die Wertungen zu vollziehen.
Wir sagen, eine Tracht Prügel sei für ein ungezogenes Kind von Wert,
obwohl dies selbst nicht davon zu überzeugen ist. Wir unterlegen ihm
in diesem Falle unser Wertsubjekt. Das oben herangezogene Beispiel,
daß wir sogar unbewußten Dingen, wie einer Pflanze, ein Wertsubjekt
unterlegen, gehört ebenfalls hierher.
7. Was wir in diesem Kapitel zu zeigen versuchten, war die
oft sehr merkwürdige Mannigfaltigkeit, die durch die Wandelbarkeit
und Spaltung des Wertsubjekts in die Wertungsphänomene hinein-
kommt. Das Werten wäre eine sehr einfache Sache, wenn es stets
das gleiche Subjekt wäre, das die Wertgrundlage erlebte und sie
;j1s Wert bejahte. In Wirklichkeit ist das ein gar nicht sehr häufiger
Fall. Gerade aber die anderen Fälle enthüllen erst die Problematik
des Phänomens und machen es zu einem Zentralgegenstand der
Philosophie.
Nicht die ganze Fülle der Möglichkeiten vermochten wir zu
entrollen: nur von einigen, besonders wichtigen Fällen aussuchten
wir die hierhergehörigen Fragen zu beleuchten. Und zwar fanden
wir, daß man dem wechselnden Momentansubjekt allerlei fiktive
Subjekte überordnete, um die Wertsetzung zu verallgemeinern.
Als solche Fiktionen fanden wir das Einheitssubjekt, das allerdings
sehr oft in das ,, Idealsubjekt" überging. Von hier aus führte uns
der Weg zum ,,Norm;dsubjekt", bei dem freilich, wie sich uns
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 3^.7
ergab, die Abstraktion so weit getrieben ist, daß diese Fiktion für
die Praxis des Lebens sich weniger brauchbar erweist, als ge-
meinhin angenommen wird. Dafür fanden wir andere fiktive Sub-
jekte von relativer Allgemeinheit, die eher fruchtbare Erkenntnis
versprechen. Auch die sozialen Subjekte stellten sich uns mit einer
eigenen Problematik dar. Und gar durch die ,, Einfühlung" in
fremde Einzelsubjekte wächst die Zahl der Möglichkeiten ins Un-
begrenzte.
Alle diese Probleme kehren wieder in der Problematik des
Wertgegenstandes; denn jedem Wertsubjekt entspricht ein
ihm adäquater Wertgegenstand. Und zur Problematik der Wert-
gegenstände gehen wir nunmehr über.
Kapitel III. Psychologie des Wertgegenstandes.
I. Bei den bisherigen Untersuchungen war unter ,,Wert"
stets an die Wertung, d. h. einen recht komplexen psychologischen
Vorgang gedacht. Der gewöhnlichen Sprache ist jedoch bei dem
Worte Wert die Beziehung auf den Wertgegenstand, das ge-
wertete Objekt, noch geläufiger. Auch dieser Begriff birgt eine
Fülle von Problemen, die zum Teil denen des Wertsubjekts parallel
gehen.
Wirscheiden dabei metaphysisch-erkenntnistheoretische Erörterungen
aus. Wir fragen also nicht, inwieweit es in diesem Sinne möghch ist,
überhaupt von einem „Gegenstand" als von etwas dem Bewußtsein
nicht Immanentem zu reden. Da unsere Untersuchung zunächst rein
psychologisch ist, so behalten wir den in fast aller Psychologie als er-
kenntnistheoretischen Standpunkt üblichen Realismus bei, daß unseren
Sinneswahrnehmungen eine Außenwelt mit räumlichen Dingen ent-
spricht. Mag das auch nicht mehr als eine Arbeitshypothese sein, so
hat sie sich für die Praxis des Lebens und desgleichen in fast allen Wissen-
schaften seit Jahrtausenden bewährt. Unter diesem Vorbehalt unter-
scheiden wir die physischen Dinge als die ,, Träger" von den eigent-
lichen psychischen Gegenständen.
Der gewertete ,, Gegenstand" als psychische Gegebenheit ist
keineswegs das ,,Ding". Wenn ich ein Rembrandtsches Bild
ästhetisch werte, so meine ich zunächst nicht die mit Ölfarben
bedeckte, in einen Rahmen gespannte Leinwand, sondern nur
meinen Eindruck, den psychischen ,, Gegenstand". Das physische
,,Ding" (in diesem Fall Leinwand, Farben usw.) kann zwar ebenfalls
Gegenstand der Wertung sein, etwa der geschäftliche eines Kunst-
348
Richard Müller-Freienfels :
Händlers ; doch handelt es sich in diesem Fall um einen anderen
Wertgegenstand als in der rein ästhetischen Wertung. Wir be-
zeichnen das physische „Ding" auch als den Wertträger. Als
solcher ist er die Voraussetzung, die Ermöglichung der psychischen
Gegenstände der mannigfachsten Wertungen und wird eben als
Voraussetzung — aber auch noch in anderer, später zu erörternder
Hinsicht oft mit dem psychischen Gegenstand gleichgesetzt. Zu-
nächst gilt jedoch festzuhalten, daß der psychische Gegenstand
nicht identisch ist mit seinem Träger.
2. Für die Wertung als seelischen Vorgang ist, wie gesagt,
der Gegenstand nur Bewußtseinsinhalt. Er kann uns als
,, reine" Empfindung gegeben sein (als Ton in der Musik
oder Farbe in der bildenden Kunst), obwohl wir natürlich be-
denken müssen, daß die ,, Reinheit" dieser Empfindungen nur durch
einen Abstraktionsprozeß erreicht, nicht etwa ,, gegeben" ist. —
Er kann uns als konkrete Wahrnehmung gegeben sein in allen
jenen Fällen, wo Dinge, zu denen auch Personen gehören, ge-
wertet werden. — Er kann auch bloße Vorstellung sein, wenn
wir z. B. dichterische Gestaltungen oder Luftschlösser werten. —
Auch Begriffe können Wertungsobjekte sein. Unsere Ideale
z. B. sind solche gewerteten Begriffe. — Ferner können auch die
Relationen zwischen all diesen Inhalten Gegenstand der Wertung
sein. Vor allem menschliche Handlungen und die Beziehungen
zwischen Menschen untereinander oder zu Dingen werden ge-
wertet, wobei das Wertsubjekt zugleich Gegenstand seines Wertens
sein kann.
Indessen geht es nicht an, die aufgezählten intellektuellen
Inhalte (also die Empfindungen, Wahrnehmungen, Begriffe) nun
als ,,rein objektive" Gegenstände der Wertung anzusehen. Ganz
abgesehen davon, daß sie auch rein als intellektuelle Inhalte nur
Konventionen sind, daß z. B. der Begriff ,, Paris" im Kopfe eines
französischen Advokaten, eines englischen Reisenden, eines deut-
schen Malers eine jeweilig völlig verschiedene Wesenheit ist, und
nur durch konventionelle Fiktion als ,, derselbe" gilt, auch ab-
gesehen davon erfährt jeder Gegenstand in der Wertung noch
eine weitere Veränderung. Die Wertgrundlage verschmilzt näm-
lich sozusagen mit dem intellektuellen Inhalt, geht mit ihm eine
untrennbare Verbindung ein, und erst diese ist der ganze Gegen-
stand der Wertung, während der intellektuelle Inhalt nur eine
Abstraktion ist. Indem ich eine Dichtung als poetischen Wert
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 349
erlebe, ist es bereits nicht mehr ,, dieselbe" Dichtung, die ich etwa
zum Gegenstand metrischer Untersuchungen mache. Der voll-
ständige Gegenstand der Wertung ist also der intellektuelle
Inhalt plus der wertgrundlegenden Stellungnahme. Wohl kann
ich den intellektuellen Inhalt künstlich abstrahieren; er ist
jedoch dann bereits wieder etwas anderes. Wenn Faust mit
Mephistos Trank im Leibe ,, Helena" in seinem Gretchen sieht,
so sieht er eben ein anderes Gretchen als ohne diesen Trank.
Der ,, Gegenstand" seiner Wertung ist also nichts Objektives,
sondern abhängig vom Subjekt und zwar von dem oben erörterten
Momentansubjekt. Es entsprechen also den zahllosen Momentan-
subjekten ebenso zahllose Momentanobjekte, und in diesem Sinne
ist jeder WVrtgegenstand einzig in seiner Art, eben auch nur
,, momentan".
Vielleicht kommt an dieser Stelle der Gedanke auf, daß es in der
psychischen Welt überhaupt nur „Werte" gäbe, da jede Wahrnehmung,
jeder Begriff überhaupt erst durch Stellungnahmen des Subjekts (seine
Aufmerksamkeit usw.) zustande kämen. Wir werden diese Grund-
anschauung der voluntaristischen Denkweise, daß alle intellektuellen
Inhalte Setzungen des Willens seien, nicht von der Hand weisen, be-
tonen dagegen jedoch, daß „Wert" in unserm Sinne nicht eine ein-
fache Stellungnahme, sondern eine doppelte voraussetzt, daß der
den Gegenstand setzende Willensakt selber wieder Gegenstand einer
Stellungnahme sein muß, um zum Wert zu werden. Sind also auch
jede Wahrnehmung und jede Begriffsbildung Willensakte, so werden
sie doch zu Werten erst, wenn das Willenselement als solches als Wert
gesetzt wird. Es ist richtig, daß ich in einer Landschaft nur solche
Gegenstände apperzipiere, die mein ,, Interesse", also eine emotionale
Stellungnahme erregen; sie werden indessen erst zu Werten, wenn ich
diese emotionale Stellungnahme besonders bejahe. Bei der nicht-
wertenden Wahrnehmung ist das nicht der Fall, da bleibt der Willens-
oder Gefühlsakt ganz im Hintergrund der Seele. Erst dadurch, daß
ich die emotionale Beziehung zu jenem Gegenstand selber einbeziehe
in eine übergeordnete Stellungnahme, werden die wahrgenommenen
Inhalte zu Werten. Ein Haus, ein Baum, die ich wahrnehme, weil sie
(ohne daß ich mir dessen bewußt bin) meine ästhetische Stellungnahme
provozieren, sind noch keine Werte; sie werden es erst, wenn ich eben
diese Stellungnahme zu ihnen bejahe, d. h. sie als Wert setze.
Wir gedenken an dieser Stelle auch noch einer Unterscheidung
bei den Wertgegenständen, die nicht übersehen werden darf: der
zwischen Eigenwerten und Mittelwerten. Bei jenen liegt der
Wert im Erlebnis selber, bei diesen ist der Wertgegenstand nur
Mittel, um zu einem Eigenwert zu gelangen. Die ästhetischen Werte
350
Richard Müller-Freienfels :
sind in der Hauptsache Eigenwerte, die ethischen waren ursprüng-
lich vielfach Mittelwerte, die jedoch zu Eigenwerten werden können,
ein Übergang, der sich sehr oft findet und am deutlichsten bei der
Schätzung des Geldes eingesehen wird, das ursprünglich ein
typischer Mittelwert ist, jedoch dem Habgierigen und Geizigen
zum Eigenwert wird.
3. Nun sind die meisten Wertungen, wie wir schon oben
sahen, keineswegs bloß Anerkennungen von Momentanerlebnissen:
im Gegenteil, die meisten Wertsetzungen streben über das Momen-
tane hinaus, indem sie nicht vom Momentansubjekt, sondern von
fiktiven Subjclrten größerer Extensität ausgehen. Das heißt aber,
daß die meisten Wertungen auch über den momentanen hinaus
auf einen dauernderen Wertgegenstand zielen.
Als das nächstliegende der nichtmomentanen Subjekte fanden
wir oben das Einheitssubjekt, das oft mit dem fiktiven , .sub-
stantiellen Ich" gleichgesetzt wird. Diesem einheitlichen Wert-
subjekt entsprechen auch fiktive Einheitswertgegenstände. Das
heißt, wenn wir, aus unserem Einheitssubjekt heraus urteilend,
ein Rembrandtbild als ,,Wcrt" setzen, so machen wir die Fiktion,
daß wir auch stets den gleichen Wertgegenstand zu erleben ver-
möchten, d. h. nicht nur den gleichen objektiven Inhalt, sondern
auch die gleiche ihm zugeordnete Wertgrundlage. Daß das nicht
der Fall ist, weiß jeder Kunstfreund, der sich ein wenig selber beob-
achtet. Jeder Mensch hat Tage, wo ihm auch seine liebsten Bilder,
seine liebsten Bücher ,, nichts zu sagen" haben, wo er gar nicht
begreift, daß und warum er sie zu anderen Zeiten als Werte emp-
finden konnte. Trotzdem abstrahieren wir in der vereinheit-
lichenden Wertung von diesen Schwankungen und sprechen von
dem Wertgegenstand als einem konstanten Etwas. Es ist das
natürlich ein rein fiktives Verfahren, das jedoch von praktischer
Bedeutung ist, weil es gestattet, eine gewisse Einheit in unser
ganzes Leben zu bringen. Wie wir für die Lebenspraxis das fiktive
Einheitssubjekt benötigen, so brauchen wir auch fiktive Einheits-
gegenstände und Einheits werte.
Das Verfahren dieser Vereinheitlichung ist psychologisch sehr
interessant. Ich nenne es die Objektivierung. Man kennt sie
auch als Objektivierung intellektueller Erlebnisse. Ich nenne ein
Ding, etwa das Buch, das vor mir liegt, ,,grün", weil es in den
meisten Fällen bei Tageslicht so aussieht, obwohl es bei Lampen-
licht blau, in der Dämmerung grau und bei verschiedenen Beleuch-
Gnindzüge einer neuen Wertlehre. 4 c I
tungen wieder anders aussieht. Trotzdem schreibe ich dem Bucli
meine „durchschnitthche" Grünempfindung als eine Eigenschaft
zu, ich „objektiviere" sie.
Das Merlcwürdige ist nun, daß sich diese Objektivierung auch
bei den Stellungnahmen findet, deren subjektiver Charakter viel
ausgeprägter ist als der der Empfindungen. Ich nenne etwas
,, schön" und schreibe die Schönheit einem Ding als Eigenschaft
zu, obgleich keineswegs immer das gleiche Gefühl bei seinem An-
blick in mir entsteht. Ich objektiviere also auch meine Gefühle.
Damit werden die Gefühle des Subjekts gleichsam Eigen-
schaften nicht nur des psychischen Gegenstandes, sondern sogar
des ,, Trägers", was bis zur ,, Absolutsetzung" des Gegenstandes
führt, einem weiteren Prozeß, den wir später behandeln.
4. Die Fiktivität der Objektivierung tritt noch deutlicher
hervor, wenn wir die auch für fremde Subjekte geltenden Kon-
ventionen mit einbeziehen. Denn wir schaffen in fiktiver Weise
nicht nur eine Vereinheitlichung für unser Einheitssubjekt, sondern
für alle anderen Subjekte, die fiktiverweise also alle als gleich
angesehen werden. Wir kennen bereits diesen Übergang vom
,, Einheitssubjekt" zum ,, Normalsubjekt".
Dem entspricht der Übergang vom Einheitsgegenstand
zum Normalgegenstand. Unsere fiktive Einheitswahrnehmung
wird als Normalwahrnehmung proklamiert. Wir nennen ein Buch
,,grün" und erklären diese ,, Eigenschaft" als ,, normal", ohne daran
zu denken, daß auch bei gleicher Beleuchtung zahlreiche In-
dividuen (die Farbenschwachen und Farbenblinden) das Buch
anders sehen. Kraft der Majorität jedoch gilt das ebenso reale Er-
leben jener als ,, falsch".
In gleicher Weise werden die Wertungen normalisiert. Wenn
auch nicht stets mit Erfolg, proklamiert man die eigenen Wertungen
für ,, normal" und spricht von ,, schönen" Dingen und ,, guten"
Handlungen, als bestünde wirklich jenes Normalsubjekt. Auf
diese Weise entstehen also ,, objektive" Wertgegenstände, die
natürlich genau solange nur als solche haltbar sind, als sie von
der sie begründenden Konvention getragen werden. Die Ge-
schichte beweist, daß, sowenig die fiktiven Normalsubjekte ewig
bestanden, ebensowenig die fiktiven Normalwerte von ewiger
Dauer waren. Sie zeigt, daß die höchsten Werte der einen Zeit
in der folgenden geringgeschätzt, ja verworfen wurden, woraus
wir den Erweis der durchaus fiktiven Natur aller Objektivierung
Tr2 Richard Müller-Freienfels:
ableiten. Als psychologisch und praktisch ungeheuer wichtige
Tatsachen bleibt jedoch die Objektivierung bestehen.
Haben wir damit die überindividuellc Bedeutung der fiktiven
Wertobjektivierung in weitem Umfang zugegeben, so wollen wir
doch auch die Kehrseite nicht verschweigen. Die Objektivierung
bedeutet für das wirkliche Werterleben, d. h. also die Echtheit
der Wertgrundlage, eine große Gefahr, indem sie zu Heuchelei,
zu bewußter oder unbewußter Selbsttäuschung zu führen pflegt.
Die Unterordnung des Individuums unter die objektivierten Wer-
tungen geschieht oft so, daß es nur die äußerliche Wertsetzung
übernimmt, ohne sich um die Wertgrundlagc zu bemühen, die
allein erst die Lebendigkeit des Wertes verbürgt. Es kommt zu
einer Erstarrung des Wertlebens, einem toten Formalismus. Man
nimmt den leeren Wertträger für den erlebten Wertgegenstand hin.
Diese Gefahr besteht auf allen Wertgebieten. Auf dem Gebiete
der Kunst glaubt man entweder ganz grob mit dem äußeren Besitz
des Kunstwerks dieses zu „haben", oder aber man vermeint, mit einer
intellektualistischen Apperzeption den ästhetischen Wert zu fassen.
Beides ist falsch. Durch die schärfste intellektuelle Analyse wird man
des ästhetischen Wertes nicht habhaft, solange das Gefühl schweigt.
Nur wo das Gefühlsleben mitspricht, wo das Kunstwerk „mit dem
Herzen" erlebt wird, bestehen ästhetische Werte, die eine Wertgrundlage
haben. — Auch auf dem Gebiete der logischen Werte besteht diese
Werterstarrung. Hier äußert sie sich im Anhäufen von allerlei totem
Wissen, dem Mitführen von unbrauchbarem Ballast, der keine innere
Beziehung zum lebendigen Subjekt hat. Diese Gefahr der zu weit ge-
triebenen Objektivierung meinte Goethe, wenn er äußerte: ,, Übrigens
ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit an-
zuregen." Und Nietzsche hat gegen diese Gefahr seine feurigste
Jugendschrift geschrieben. — Auf religiösem Gebiet liegt die Gefahr
der Objektivnerung darin, daß Dogmen und Begriffe als religiöse Werte
weitergegeben und übernommen werden, ohne daß sie wirklich zum
Erlebnis werden. So schleppen heute fast alle Konfessionen eine Menge
hergebrachter Dogmen und mythologischer Vorstellungen mit, die den
jetzigen Menschen ganz unmöglich mehr zu positiver religiöser Stellung-
nahme veranlassen können.
Ähnlich äußert sich in der Ethik die zu weit getriebene Objek-
tivierung. Ethische Wertungen können sich nicht verdinglichen; sie
formen sich in Gebote und Gesetze. Die Wertübernahme dieser Objek-
tivierungen bestätigt sich in äußerlicher Erfüllung ohne innere Anteil-
nahme. Daher haben alle großen Ethiker betont, daß ein wahrhaft
sittlicher Wert nur diejenige Handlung sei, die nicht allein aus formaler
Gesetzeserfüllung, sondern aus innerer Gefühlsanteilnahme erfolge,
kurz, bei der die Wertgrundlage miterlebt wird.
Grundzüge einer neuen Wertlehre. ^ c ß
Indem nun die objektivierten Werte bedeutsame Faktoren
des sozialen Lebens werden, ohne die dies überhaupt kaum mög-
lich ist, erhalten sie Forderungscharaktcr. Indem jemand
öffentlich etwas als ,,gut" und ,, schön" verkündet, will er nicht
bloß einen objektiven Tatbestand feststellen, er erhebt auch, wenn
auch unbewußt, damit eine Forderung. Dieser Übergang vollzieht
sich sehr leicht und fast unmerklich. Es liegt wohl in der Natur
des Menschen, daß er geneigt ist, seine individuellen Wertungen,
besonders wenn sie Widerhall bei einer, wenn auch kleinen Um-
gebung finden, als allgemeine Forderungen aufzustellen. Wenigstens
können wir diese Entwicklung an sehr vielen Lebensläufen beob-
achten.
Die meisten Denker oder Künstler verkünden in ihrer Jugend ihre
Neuwerte mehr oder weniger unter Berufung auf ihre IndividuaUtät,
deren relatives Recht sie gegen herrschende Wertungen betonen. In
dem Maße jedoch, als sie Erfolg haben und ihre Wertung Echo bei
anderen findet, pflegen sie die indi\iduelle Herkunft ihrer Wertungen
zu vergessen und diese als etwas „Objektives" zu empfinden. Gewisse
Erstarrungen des Seelenlebens, Begleiterscheinungen des zunehmenden
Alters, kommen hinzu. So finden wir bei Führern auf allen Kultur-
gebieten diesen Übergang von jugendhchem Subjektivismus zu späterer
Objektivierung, die sich in Dogmatismus zu äußern pflegt. In der
Religion mag z. B. Schleiermacher diese Erscheinung illustrieren,
für den in der Jugend die religiösen Werte wesentlich subjektiv bedingt
waren, der jedoch im Alter immer „objektiver" wurde. In der Kunst
bietet Goethe eine interessante Illustration, der bewußt die Subjek-
tivität seiner jugendUchen Wertung zu immer größerer „Objektivität"
umzubilden strebte, wobei er jedoch nicht sowohl sein eigenes jugend-
Hches Erleben objektivierte, als vielmehr sich der „klassischen Wert-
setzung", die er für „objektiv" hielt, unterordnete. In seinem Alter
hat er jedoch oft Äußerungen getan, die beweisen, daß er sich der Re-
lativität aller Wertung genau bewußt war.
5. Wir sahen schon oben, daß die Objektivierung sehr leicht
noch weiter zur Absolutsetzung des Gegenstandes führt. Die Linie
von der individuellen Wertung zur Objektivierung läßt sich jedoch
noch über diese hinaus verfolgen. Ist der Übergang von der in-
dividuellen zur objektivierten Wertung dadurch gekennzeichnet,
daß an Stelle des individuellen Wertsubjektes ein ,,Normal"-
wertsubjekt tritt, so führt das zuletzt dahin, daß von jedem Wert-
subjekt überhaupt abstrahiert wird und die Werte als „Werte
an sich" proklamiert werden.
Diese Absolutierung der Werte ist ein psychologischer Vor-
gang, der ganz unbewußt eintritt, besonders dann, wenn bei
Annalen der Philosophie. I. 3
'ICA Richard MüUer-Freienfeis:
Nichtbeachtung individueller Wertungsverschiedenheiten die Sub-
jektivität der Wertung überhaupt vergessen wird. Man übersieht
dann, daß es nur Sinn hat, von „Schönheit" zu reden, wennMenschen
hinzugedacht werden, deren Organisation so beschaffen ist, daß
sie gewisse Formgegebenheiten ästhetisch zu erleben vermögen.
Man formuliert die Lehre von einer absoluten Schönheit z. B. so,
daß man sagt, die Venus von Milo sei ein ästhetischer Wert, auch
wenn das ganze Menschengeschlecht ausgestorben sei. Derartige
Behauptungen sind natürlich absurd; denn die so sprechen, denken
doch unausgesprochenerweise stets einen Beschauer von mensch-
licher oder menschenähnlicher Organisation hinzu. Auch die an-
geblich absoluten Wertungen enthüllen sich bei genauem Hin-
sehen doch als verkappte Anthropologismen (was wir später noch
dartun werden).
Eine scheinbare Stütze erhalten die absolutierten Wertungen da-
durch, daß man einzelne der objektivierten Wertungsanhalte in „Ge-
setze" formulieren kann oder wenigstens zu können glaubt. Um beim
ästhetischen Wertungsgebiete zu bleiben, so kann man darauf hinweisen,
daß sich ästhetische Werte auch in der vormenschlichen Natur finden.
So existieren z. B. Symmetrie und wohlgefällige Farbenkombinationen
bei Insekten^ ja bei Kristallen. Das ist zuzugeben, ohne daß man daraus
einen absoluten Schönheitssinn in der nichtmenschHchen Natur an
zunehmen braucht. Denn daß diese Tatbestände ästhetische Wirkung
haben können, beweist natürlich nicht das Geringste dafür, daß sie
ihrem Wesen nach ästhetischen Ursprungs sind. Die letztere Be-
hauptung wäre eine anthropozentrische Unterschiebung. Die Sym-
metrie tierischer Formen hat ihren wahren Ursprung vermutlich nicht
in ästhetischer Teleologie, sondern ist durch das Gleichgewicht be-
dingt. Auch setzt ihre ästhetische Wirkung eine menschliche Organi-
sation voraus, die Doppelheit des Sehorgans wie des gesamten, bei der
Symmetriewahrnehmung stark beteiligten motorischen Apparats. Es
ist sinnlos, zu behaupten, daß Wesen von einer ganz anderen Kon-
stitution als der Mensch ebenfalls die Symmetrie ästhetisch genießen
könnten.
Im übrigen ist die beste Widerlegung der Beweiskraft „absoluter"
ästhetischer Gesetze der Umstand, daß sie meist recht leere Formeln
sind, deren dürftiger Sinn sich wohl psychologisch deuten läßt, die
aber einen Wert jenseits ihres psychologisch-ästhetischen Gehaltes nicht
besitzen. Man nehme als Beispiel die vielberedete Lehre vom goldenen
Schnitt. Gewiß hat man diese (ihrem Ursprung nach rein metaphysische)
Konstruktion in den Tatsachen wiederfinden wollen; das war jedoch
nur möglich durch so viel Gewaltsamkeiten und Erschleichungen, daß
ein konsequenter Versuch der Durchführung diese Konstruktion ad
absurdum führen muß. Nur kunstfremde Theoretiker können der-
artiges behaupten. Die Formel des „goldenen Schnitts" ist weit davon
Grundzüge einer neuen Werüehre.
355
entfernt, ein absolutes ästhetisches Gesetz zu sein, und daher kann
man auch keine absoluten Wertungen darauf aufbauen. — Ähnlich
verhält es sich mit dem Versuch, in der Musik durch mathematische
Formeln absolute ästhetische Werte erreichen zu wollen. Daß die
ästhetische Subjektivität gewisse objektiv berechenbare Tatbestände
zu genießen und zu werten vermag, beweist nicht das Geringste dafür,
daß diese ihrem Wesen nach ästhetische Werte seien.
Wir haben diese Dinge darum herangeführt, um darzutun, daß
die Versuche, eine absolute Wertgesetzlichkeit in der Welt nachweisen
zu wollen, ganz irrtümlich sind. Die Natur ist niemals „an sich" schön,
nur für menschliche Apperzeption. Und so ist's mit allen anderen
scheinbar absoluten Werten auch.
6. Können wir also auch eine absolute Allgemeinheit von
Wertgegenständen nicht zugeben, so besteht doch eine relative
Allgemeinheit der Werte insofern, als es Wertgegenstände gibt,
die sehr verbreiteten Gemeinsamkeiten der Subjektivität entgegen-
kommen. Eine solche finden wir in den räumlich oder zeitlich
begrenzten Zusammenhängen, als welche wir oben die Völker
oder die Zeitperioden kennen lernten. Innerhalb dieser Kreise
bildet sich in der Tat eine Angleichung der seelischen Verhältnisse
heraus, die annähernd gleiche Erlebnismöglichkeiten verbürgt. In-
sofern sind z. B. die religiösen und ethischen Anschauungen, die
Kunststile, die Moden und Verwandtes, relative Allgemeinwerte, in
die die individuelle Subjektivität so hineinwächst, daß sie sich
meist gar nicht bewußt wird, daß auch diesen, in ihrem Kreis
, .allgemeinen" Werten nur beschränkte Geltung zukommt. Der
über seine vier Pfähle kaum hinausschauende Bürger hält in der
Regel seine Werte für schlechthin allgemeingültig. Je weitere
Horizonte ein Mensch hat, um so mehr pflegt ihm die Relativität
der Werte zum Bewußtsein zu kommen. Er sieht dann, daß ,,der"
Deutsche andere Werte hat als ,,der" Franzose, daß wiederum
für ,,den modernen Menschen" andere Werte gelten als für den
,, Renaissancemenschen". Daß eine gewisse Anpassungsfähigkeit
besteht, die ein Hinauskommen über die eigene Erlebnissphäre
gestattet, muß dabei zugestanden werden, obwohl die Werte darum
noch nicht schlechthin allgemeingültig werden, weil man sich
ihnen anpassen kann. Gewiß kann ein Deutscher Mussetsche
Gedichte genießen und ein Franzose sich an Eichendorff er-
freuen; ob sich ihnen jedoch der ganze Wert so erschließt wie den
Landsleuten dieser Dichter, bleibt eine offene Frage.
7. Als Subjekte besonderer Art lernten wir oben die Ver-
gesellschaftungen kennen, welche Bedürfnisse und Stellung-
23'
1S6
Richard Müller-Freienfels :
nahmen haben jenseits der in der Individualität ihrer Mitglieder
wurzelnden. Wir sahen oben bereits, daß diese Wertungen für
den einzelnen oft Zwangs Charakter annehmen. Wir suchten das
am Beispiel des Staates durchzuführen. In der Tat ist es oft für
den einzelnen kaum möglich, sich die Wertungen des Staates
ganz zu eigen zu machen. Dann setzt der Zwang ein und so be-
kommen die sozialen Wertungen einen besonderen Charakter, wo-
durch oft die individuellen Werte ganz unterdrückt werden.
,, Absolut" sind darum jene Werte jedoch auch nicht.
Eine besondere Art von sozialen Werten sind die von der Gesell-
schaft geprägten allgemeinen Tauschwerte, vor allem das Geld, das
sehr oft durch Zwangskurs gehalten werden muß. Für den Einzel-
menschen ist das Geld zunächst kein Eigenwert, nur ein Mittelwert;
es wird jedoch oft infolge dieser eigentümlichen Gefühlsverschiebung
zum Eigenwert, d. h. das Individuum ordnet sich dem sozialen Wert
so weit unter, daß es die Realisierung desselben im eigenen Erleben
ganz beiseite läßt.
8. Zusammenfassend können wir über den Wertgegenstand
also ähnliche Feststellungen machen wie über das Wertsubjekt.
Das, was im Leben in der Regel als Wertgegenstand gilt, ist nur
sehr selten Gegenstand einer realen Wertung, meist nur die Mög-
lichkeit oder Wahrscheinlichkeit solcher Erlebnisse. In diesem
Sinne wird der psychische Wertgegenstand mit dem physischen
Träger identifiziert. Um jedoch den Wertungsprozeß empor-
zuheben über das Momentane des Erlebens, bedient man sich
mannigfacher Fiktionen. Vermittelst des auch sonst zu beob-
achtenden Vorganges der ,, Objektivierung" wird eine künstliche
Einheitlichkeit und Übersubjektivität des Erlebens geschaffen, eine
oft recht gewaltsame Schematisierung, die sich jedoch dem be-
ständig wechselnden Strom der Erlebnisse als eine zweite Realität
überbaut und sich kraft ihrer sozialen Bedeutung durchsetzt.
Von der Objektivierung gelangt man dann zur Absolutsetzung des
Gegenstandes, das heißt einer fiktiven Abstraktion von jeglicher
Subjektivität überhaupt. Konnten wir auch die Existenz und
selbst die fiktive Bedeutung einer absoluten Allgemeinheit von
Wertungen nicht einräumen, so gaben wir doch eine relative
Wertallgemeinheit zu, vor allem diejenige innerhalb räumlicher
und zeitlicher Zusammenhänge. Auch daß die sozialen Gemein-
schaften überindividuelle Wertgegenstände eigner Art ausprägen,
konnten wir dartun. Bei all diesen fiktiven Allgemeinheiten ist
jedoch festzuhalten, daß sie wirkliche Wcrterlcbnissc von sich aus
Grundzüge einer neuen WerÜebre. 357
noch nicht verbürgen, daß sie erst dann zu solchen werden, wenn
sich das emotionale Leben des Einzelsubjckts den in jenen All-
gemeinwerten enthaltenen Forderungen anpaßt, was insoweit ge-
schehen kann, als jene Allgemeinwcrte für den einzelnen eine
VVertmöglichkeit bedeuten.
Kapitel IV, Wertrichtigkeit und Wertrang.
1. Das Wertproblem birgt noch weitere Fragen, die sich
allerdings angeblich der psychologischen Behandlung entziehen.
Es besteht die Tatsache, daß überall die Werte als richtige oder
falsche Werte beurteilt und ferner einander über- und unter-
geordnet werden. Nun ist gewiß zuzugeben, daß es eine Über-
schreitung der Methode des Psychologen wäre, wollte er freihändig
ein Prinzip für jene Rangordnung oder für die Richtigkeit der
Werte aufstellen, da der Psychologe nur beschreibt, zergliedert
und erklärt. Indessen kann er auch mit diesen Methoden an
jenen Tatbestand herantreten, und zwar insofern, als er nach-
prüfen kann, nach welchen Prinzipien jene Urteile über Wert-
richtigkeit und Wertrang, die er im Leben vorfindet, tatsächlich
vorgenommen werden. Mit dieser Untersuchung bleibt er ganz
in seinem Arbeitskreise. Er würde ihn erst überschreiten, wenn
er, statt jene Prinzipien rein beschreibend festzustellen, sie selber
wieder bewerten wollte. Das ist nicht unsere Absicht. Wir be-
trachten auch die Wertungen nur als Tatsachen, die das
Leben wie die Geschichte darbieten; so überschreitet
die Psychologie keineswegs die ihr durch ihren Cha-
rakter als beschreibender und erklärender Tatsachen-
-wissenschaft gesetzten Grenzen.
2. Urteile über Richtigkeit und Rangordnung der Werte
sind, genau besehen, eine Bewertung der Werte, ergeben sich
also unserer Analyse als ,, tertiäre" Stellungnahmen, d.h.
Stellungnahmen zu Wertsetzungen, die, wie wir erkannten, sekun-
däre Stellungnahmen sind. Das ist psychologisch durchaus be-
greiflich, und solche Bewertungen von Wertsetzungen finden wir
in der Tat überall. Wir sehen zunächst von jenen ab, die sich mit
philosophischer, ,, kritischer" Begründung als absolut geben; wir
halten uns an die im Leben selber üblichen, mehr oder weniger
unkritischen Richtigkeits- und Rangurteile und prüfen nach, ob
358
Richard Müller-Freienfels :
ihnen ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt, das ihnen eine
höhere Berechtigung verleiht.
Wenn ich von „richtigen" und „falschen" "Werten spreche,
öo denke ich dabei nicht an jene „unvollständigen" Wertungen,
die ich oben behandelte, solche also, bei denen die Wertsetzung
keine entsprechende Grundlage im Erlebnis hat. Hier stehen für
uns jene Wertungen in Frage, die vollständig erlebt und dennoch,
sei es von fremden Individuen, sei es von einem eigenen Subjekts-
zustand aus, als ,, falsch" abgelehnt werden. Es sei z. B. ein Buch
ein ästhetischer Wert, müßte jedoch vom religiösen Standpunkt
aus als verderblich bezeichnet werden. Was ist da der Prüfstein ?
Anders gewandt kann, die Frage auch heißen: Kann ein Wert,
der als solcher erlebt wird, zu gleicher Zeit ein Unwert sein .'' Ab-
gesehen von der Tatsache, daß jede Wertgrundlage verschiedenen
Wertsetzungen untergeordnet werden kann, kommt hier vor allem
in Betracht, daß jedes Erlebnis nicht nur in sich beruht, sondern
auch Folgen hat, sei es auch nur insofern, als es Gewöhnungen
einleitet. Jede Wertgrundlage kann als Eigenwert oder als ,, Mittel-
wert" betrachtet werden; das heißt: Die Folgen können anderen
Charakter haben als das Erlebnis selbst. Dieser Fall ist überaus
häufig und beeinflußt die Einschätzung der Wertungen selber.
Es müssen dann der Eigenwert und der W^ert der Folgen gegen-
einander abgewogen werden, was aber sehr oft kaum möglich ist,
da die Folgen nicht immer berechnet werden können.
Indessen nicht diesen Urteilen, die stets nur beschränkte
Gültigkeit haben und unter den verschiedensten Gesichtspunkten
gefällt werden können, gehen wir hier nach. Wir möchten er-
mitteln, ob es doch vielleicht einen letzten Grundwert gibt, an
dem sich alle andere Wertsetzung orientieren könnte, eine Voraus-
setzung also, von der alle übrigen Werte abhängen.
Neuerdings hat man, besonders für einzelne Wertsphären,
versucht, das Leben als einen solchen Grundwert zu erweisen,
das heißt, alle anderen Werte danach abzuschätzen, was sie für
die Lebenserhaltung bedeuten. Mit anderen Worten, man hat
versucht, alle Wertsetzungen letzten Endes als biologische zu
erweisen. So liegt z. B. dem Pragmatismus, der alle logischen
Werte auf ihre praktische Bedeutung prüft, die biologische Wert-
setzung zugrunde. So hat man neuerdings vielfach in der Ethik,
besonders seit Nietzsche, versuch!:, die ethischen Werte auf die
Biologie zu gründen, so hat W. James die religiösen Werte ähnlich
Grundzüge einer neuen Wertlehre: 350
fundieren wollen, und manche Forscher, darunter ich selber, haben
auch für das ästhetische Gebiet das biologische Wertprinzip nutzbar
zu machen gesucht.
Ich möchte auch heute dies Prinzip nicht geringschätzen.
Denn in der Tat ist das Leben für fast alle Wertungen die still-
schweigende Voraussetzung: In einer Welt, in der es kein Leben
gäbe, hätte es keinen Sinn, von Werten zu sprechen. Das Lebens-
prinzip liegt selbst solchen Wertungen, die (wie das Christentum)
das irdische Leben geringschätzen, zugrunde; denn auch die christ-
lichen Wertungen geschehen doch im Hinblick auf ein höheres
Leben. „Wer sein Leben hingibt um meinetwillen, der wird es
gewinnen.**
Trotzdem glaube ich nicht, daß in der Praxis das Leben wirklich
einen letzten Prüfstein für alle Einzelwerte abgeben kann. Viele
Wertungen haben sich so weit von dieser Basis entfernt, daß sie
unmöglich direkt mehr darauf zurückgeführt werden können.
Unser tatsächhches Gefühls- und Willensleben ist so merkwürdig
verflochten, so seltsam durchkreuzt von hunderterlei Tendenzen,
daß es nicht möglich ist, sie alle unter einen einheitlichen Gesichts-
punkt zu bringen. Gar oft würde man durch Ausschaltung eines
Unwerts in einer Hinsicht andere Werte mit ausrotten. Man
würde z. B. durch konsequente Durchführung ethischer Prinzipien,
die allein das Ziel möglichster Lebenserhaltung und Lebens-
ausbreitung im Auge hätten, sehr viele ästhetische Werte ver-
nichten. Es kommt hinzu, daß nicht jede Lebensschädigung
zugleich zur Vernichtung des Lebens führt; im Gegenteil, sie
kann oft leicht ausgeglichen werden. Man kann z. B. die Extase,
in die Wagners Tristan seine Verehrer zu versetzen pflegt, als
,, ungesund" und damit als biologisch schädlich bezeichnen. Aber
sind nicht solche Lebensschädigungen oft zugleich wieder höchste
Lebensstimulantia } Kann nicht ein Gift zur Gesundung führen ?
Würde nicht unser Leben verarmen durch Ausschaltung alles im
biologischen Sinne Wertlosen und Schädlichen.? Wir wissen es
längst, daß ein stets ethischer Mensch im Leben unerträglich sein
kann. Die Ver^vicklung der Wertproblcme ist so merkwürdig
und unberechenbar, daß selbst Unwerte zu Werten werden können,
wie gar mancher Mensch gerade durch seine Fehler liebenswert er-
scheint. Mag das biologische Prinzip als theoretisches Grundprinzip
zu Recht bestehen, seine konsequente Überführung ins Leben
würde eine heillose Pedanterie und Verarmung des Daseins bedeuten
"ißo Richard Müller-Freienfels:
Das biologische Prinzip ist jedoch keineswegs auf die Lebens-
erhaltung beschränkt. Wir pflegen allem Leben auch eine imma-
nente Entwicklungstendenz zuzuschreiben: Leben bedeutet uns
nicht nur Selbsterhaltung, sondern auch Selbstentfaltung, Steigerung
des Lebens, Emporwachsen zu ,, höheren" Formen. Damit wäre
also ein Wertprinzip gegeben? Und in der Tat sind die meisten
biologischen Werttheorien zugleich Entwicklungswertungen.
So bestechend dieser Gedanke ist, so können wir ihn doch
nicht ohne Bedenken hinnehmen. Ist wirklich allem Leben ein
solches Entwicklungswertprinzip immanent, so ist es auch un-
abhängig von unserer Anerkennung oder Nichtanerkennung; dann
wird es sich sowieso durchsetzen, und wir brauchten nur einfach,
ohne Wertsetzungen, darauf loszuleben, um den rechten Weg zu
gehen. Vor einem solchen Naturalismus der Wertgebung könnte
jedoch der größte Teil unserer Kulturwcrte nicht bestehen; denn
unsere ethischen, religiösen, ästhetischen Werte sind zum guten Teil
antinaturalistisch, suchen die Natur zu meistern und umzubiegen.
Sie alle müßten demnach fallen, eine Konsequenz, die man sicher
nur ungern ziehen wird.
Ferner kann man das Bedenken haben, ob der Wertbegriff,
den man der Entwicklung unterlegt, wirklich in ihr selber steckt,
ob er nicht fälschlich in die Natur hineingetragen ist. Ist wirklich
immer die spätere Entwicklungsstufe die höhere.? Und wenn
schon, unter welchem Gesichtspunkt ist sie das ? Warum sollen
die komplizierteren Lebensgebilde die wertvolleren sein.? Fällen
wir da nicht sehr anthropozentrische Urteile, die aus der Natur
selber nicht abgeleitet werden können } Außerdem zeigt ja die
Beobachtung der Natur, daß die ,, niederen" Lebewesen keines-
wegs mit dem Auftreten der ,, höheren" schwinden, sondern fort-
bestehen, ja oft ,, höhere" überdauern!
Des weiteren ist die ,, Entwicklung" in der Natur keineswegs
so eindeutig, wie manche Forscher annehmen. Kann man nicht
sehr verschiedene Entwicklungsreihen in der Natur nachweisen.?
Erscheinen einerseits die Ameise, die Biene, der Mensch z. B. als
Höhepunkte einer auf soziales Leben gerichteten Entwicklung, so
kann man den Löwen oder den Tiger als Endglieder einer anti-
sozialen Entwicklungsreihe deuten, die in mancher Hinsicht ,, voll-
kommener" sind als jene sozialen Wesen. So hat man auch, je
nachdem man die soziale oder individualistische Entwicklungs-
tendenz in den Vordergrund schob, zu gleicher Zeit den Sozialismus
Gnmdzüge einer neuen Wertlehre. 36 1
wie die Nietzschesche Hcrrenmoral als Ziel der biologischen
Entwicklungstendenz ansehen können. Erwägen wir diese Dinge,
so muß es sehr zweifelhaft scheinen, ob wirklich „die Entwicklung"
jenes Grundprinzip abgeben kann, an dem alle Einzelwertungen
zu messen sind.
Vor allem aber steht allen derartigen ,, Grundprinzipien" eins
entgegen. Selbst wenn man imstande wäre, daran die Richtigkeit
der Werte abzumessen, so fehlte diesen Grundprinzipien doch
die Macht, sich durchzusetzen. Denn sind nicht Wertungen, wie
die des Buddhismus, ganz unbiologisch und haben sich doch bei
Hunderten von Millionen Menschen durch Jahrtausende hindurch
gehalten.? Angesichts dieser Tatsachen wird man eingestehen
müssen, daß vermutlich ein so abgeleitetes Urteil über die ,, Rich-
tigkeit" der Werte sicher nur sehr schwer über theoretische Fest-
stellungen hinausgelangen könnte. Es wäre somit der biologische
Wert solcher biologischen Wertprinzipien recht gering. Es würde
also von solchen Wertsetzungen gelten, was von jeder Recht-
sprechung gilt, die nicht die Macht hat, sich durchzusetzen: sie
würde unbeachtet bleiben.
Auch die biologischen Wertprinzipien sind daher nicht als ab-
solute Kriterien für die Wertrichtigkeit anzusehen, und wir kommen
zu dem Schlüsse, daß es solche Kriterien überhaupt nicht gibt.
3. Gilt nun schon von den Urteilen über die Richtigkeit der
Werte, daß sie ohne ein einhatliches Grundprinzip unter sehr
wechselnden Gesichtspunkten gefällt werden, so gilt das noch
mehr von jeder Rangordnung der Werte, die strenggenommen
die Erkenntnis über die Richtigkeit voraussetzt.
Trotzdem begegnen wir überall solchen Ranggebungen. Wir
nehmen auch sie als Tatsachen hin und prüfen auch hier nur die
Prinzipien, unter denen sie vorgenommen werden. Und zwar
vergleicht man sie teils in Rücksicht auf die Werterlebnisse
selber, teils in Rücksicht auf die Wertsubjekte, teils in Rück-
sicht auf die Wertgegenstände. Unter diesem Gesichtspunkt
gewinnen wir zugleich ein Einteilungsprinzip für unsere Unter-
suchung.
Was zunächst die Rangordnung der Wertungen, d. h. der
Wertgrundlagen, untereinander anlangt, so kann man wiederum
zwei Gruppen unterscheiden, je nachdem Wertungen derselben
Wertrichtung gegeneinander abgewogen oder Wertungen ver-
schiedener Richtungen miteinander verglichen werden.
362
Richard Müller-Freienfels :
Für den Vergleich der Wertgrundlagen der gleichen Richtung,
also etwa der ästhetischen Wertungen untereinander, scheint zu-
nächst die Intensität des Werterlebnisses in Betracht zu kommen.
Es scheint von zwei ästhetischen Genüssen oder zwei religiösen
Erschütterungen die stärkste die wertvollste zu sein. Freilich
melden sich hier Bedenken: Gibt es nicht mindestens zwei
Steigerungsgrade des Gefühls ? Neben der Stärke die Innigkeit ?
Ja ist es nicht überhaupt mit den Intensitätsunterschieden der
seelischen Erlebnisse eine zweifelhafte Sache? Hat nicht am
Ende Bergson recht, wenn er alle Quantitätsunterschiede bei
seelischen Erlebnissen auf Qualitäten zurückführt ? ^) Handelt es
sich also, wenn ich sage, ein Quartett von Beethoven verschaffe
mir intensivere Lustgefühle als ein Quartett von Haydn, nicht
am Ende gar nicht um Quantitäts-, nur Qualitätsunterschiede,
die sich der Einordnung in eine Reihe entziehen ? Nach unserer
oben skizzierten Gefühlstheorie ist diese qualitative Verschiedenheit
ogar von größter Wichtigkeit, und wir können daher unmöglich
eine abstrakte Quantitätsstufe zum Rangprinzip zulassen, mag
auch oft genug schlechte Beobachtung die Qualitäten als Quan-
titäten ansprechen.
Ganz verkehrt wäre es, den Intensitätsbegriff dadurch quantitativ
machen zu wollen, daß man etwa seinen Gehalt an Lustgefühlen
zum Maßstab zu nehmen versucht. Wäre die Massenhaftigkeit der
Lust maßgebend, so stünden die gröbsten, sinnlichen Werte hoch über
den geistigen. In der Tat zeigt jedoch die traditionelle Werthierarchie,
etwa die der Kunstgeschichte, dai3 alle auf bloß quantitative Lusteffekte
hinstrebende Kunst gering gewertet wird, daß vielmehr die höchsten
Werte oft ganz leise, zarte Wirkungen erzielen, die „quantitativ" sicher
zurückstehen. Für uns ist die ganze Frage schon darum nicht diskutierbar,
weil wir — wie oben dargelegt — zwischen Lust und Lust Qualitäts-
unterschiede machen und daher die Quantitätsabschätzung von vorn-
herein dahinfällt.
Statt des Intensitätsprinzips habe ich früher (Psychologie der
Kunst II) die Extensität in den Vordergrund geschoben. Und
zwar habe ich dort die inner individuelle Extensität (also Dauer
und Wiederholbarkeit der Werterlebnisse im gleichen Individuum)
mit der zwischenindividuellen Extensität (Majorität, Wiederhol-
barkeit bei verschiedenen Individuen) einander nebengeordnet.
Ich möchte das hier nicht tun und spreche nur von der inner -
individuellen Extensität, während ich die andere erst später, beim
*) Bergson, Lts donndes itnm^diates de la consciencc, chap. I.
Grundzüge einer neuen AVertlehre. ^5^
Vergleich der Wertsubjekte, behandele. Nun ist gewiß Dauer
und Wiederholbarkeit des Wcrterlebnisses im gleichen Individuum
für die Rangordnung sehr wichtig, kann jedoch nur eine Rang-
ordnung für diesen Einzelmenschen begründen und ist auch ab-
hängig von der Dauer und der Wiederkehr derselben Subjektivität
in dem betreffenden Individuum, kann also ebenfalls als all-
gemeines Rangprinzip nicht gelten. Denn wenn wir von Dauer
und Wiederholbarkeit desselben Erlebnisses sprechen, so über-
sehen wir oft die Verschiedenheiten über einer gewissen Ähnlich-
keit, d, h. auch hier gewinnen wir ein scheinbares Quantitäts-
prinzip auf Kosten von Qualitäten.
Zudem wird die Extensität durchkreuzt durch ein entgegen-
gesetztes Rangprinzip, die Einzigkeit oder Exklusivität. Manche
Werterlebnisse werden gerade darum besonders hochgeschätzt, weil
sie ganz selten sind, weil sie eben nicht wiederholbar sind. Die
höchsten Ekstasen des Gefühls haben gerade diesen Einzigkeits-
charakter, der natürlich dem Extensitätsprinzip strikte entgegen-
gesetzt ist.
Eher scheint es vielleicht möglich, Wertgrundlagen ver-
schiedener Richtung abzustufen. Man kann also die ästhe-
tischen Wertungen den ethischen und diese wieder den religiösen
unterordnen. Indessen, vergleicht man hier wirklich die Er-
lebnisse rein als solche.'' Hat es wirklich einen Sinn, zu sagen,
die Versenkung in eine bedeutende Dichtung sei ein geringerer
Wert als die Freude an einer guten Handlung.-^ Vergleicht man,
wenn man diese Gefühle zu vergleichen meint, nicht in Wahrheit
ganz andere Dinge, etwaige Folgen oder die Beziehungen jener
Gefühle zu anderen Lebenssphären ? Nachzuweisen ist derartiges
natürlich sehr schwer, da alle solche Rangstufen im einzelnen
Falle kaum restlos auf ihren psychologischen Ursprung zurück-
zuführen sind. Zu denken gibt jedoch, daß die oben gekennzeichnete
Abstufung keineswegs allgemein gilt, dsß heute (im Gegensatz zum
Mittelalter) vielfach das religiöse Gefühl sehr gering geschätzt
und den ethischen, logischen und ästhetischen Erlebnissen weit
untergeordnet wird.
So glauben wir, daß auch die ,, Werthöhe", die Oesterreich^)
annimmt^ keine primäre Qualität der Gefühle und Wollungen ist, sondern
zusammenhängt mit Wertsetzungen, die nicht in diesen Wertgrundlagen
selber wurzeln. Wenn z. B. ein Mystiker seinen Ekstasen eine besondere
^) Oesterreich, Die religiöse Erfahrung als philos. Problem, 1915, S. 20.
304
Richard Müller-Freienfels:
Werthöhe zuerkennt, so ist das mitbestimmt durch die Seltenheit, das
Überraschende, das der Mehrzahl der Menschen Unbekannte des Er-
lebnisses, andererseits auch durch die traditionelle Wertsetzung des
Wertgegenstandes, d. h. Gottes, der Welteinheit oder wie der Mystiker
den Wertgegenstand seines Erlebnisses nennt. Begrifflich faßbar oder
sonstwie deutlich wird die ,, Werthöhe" jedenfalls auch bei Oester-
reich nicht. Zum mindesten bedürfte es noch weiterer Untersuchungen,
um die „Werthöhe", selbst wenn man sie prinzipiell nicht ablehnen
mag, zu erläutern.
Nach alledem ist offenbar, daß ein einheitliches Rangprinzip
im Werterlebnis (der Wertgrundlage) nicht gesucht werden kann.
Es gibt kein quantitatives Prinzip für emotionale Erlebnisse, das
ihre Anordnung in Reihen gestattete. Außerdem stehen die Wcrt-
grundlagen in engster Beziehung zu den Wertsubjekten und Wert-
gegenständen, so daß vieles, was wir als Rangordnung der Wert-
erlebnisse ansehen, in Wahrheit eine Rangordnung der Wert-
subjekte oder der Wertgegenstände ist.
4. Vielleicht ist es jedoch möglich, in den Wertsubjekten
ein Prinzip für die Rangordnung der Werte zu finden.^ Es ist
offenbar, daß sich die landläufigen Wertstufungen vielfach so
begründen. Wie der Einzelmensch die Wertungen seines ,, Ideal-
subjekts" den Wertungen flüchtiger Augenblicke in der Regel
überordnet, so pflegt man auch, wo es sich um mehrere Individuen
handelt, die Wertungen ,, autoritativer" Personen, d. h. solcher,
die im allgemeinen einen hohen Rang haben, höher einzuschätzen
als die irgend jemandes.
Freilich ergibt eine Prüfung dieser ,, Autorität" sehr bald,
daß sie keineswegs auf einem einheitlichen Wertprinzip beruht,
sondern das Ergebnis vieler, sehr unsachlicher und sich kreuzender
Wertsetzungen ist. Die Autorität der Wertsubjekte ist oft ein
Produkt übernommener Wertsetzungen heterogenster Art ohne
tatsächliche Grundlage. Vor allem die unberechtigte Übertragung
eines Autoritätsgrades von einem Gebiete auf andere spielt da
eine keineswegs sachlich begründete Rolle. So wirkt die Autorität
von Fürsten oft auf Gebiete hinüber, von denen sie gar nichts
verstehen. Selbst Künstler fühlen sich geschmeichelt, wenn ein
Mächtiger, mag er noch so kunstfremd sein, ihr Werk lobt und
durch Titel oder Orden belohnt. Aber auch abgesehen von solch
groben Fällen ist Autorität keineswegs eine Bürgschaft für eine
allgemeingültige Rangordnung der Werte. Bedenken wir, daß
selbst Goethe auf einem Gebiete, wo er, wenn je einer, Autorität
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 355
war, dem der Dichtung, höchst merlovürdigc Urteile gefällt hat
(wenn er z. B. einen Kleist ablehnte). Oder bedenken wir, wie
oft große Autoritäten der Wissenschaft bedeutsame Entdeckungen
verkannt haben! Ich erinnere an Newtons Stellung zu Huygens,
an Vi rc ho WS Stehung zur Hypnose. Rangordnung der Leistungs-
fähigkeit bedeutet noch nicht Rangordnung der Wertungsfähigkeit.
Vielfach, auch von Philosophen, ist die Allgemeingültigkeit
der Wertungen als Rangprinzip angenommen worden, was, wie wir
oben sahen, gleichbedeutend ist mit der Allgemeinheit des
Wertsubjekts. Es wäre also diejenige Wertung höheren Ranges,
die allgemeingültiger wäre, d. h. einer möglichst extensiven Sub-
jektivität entspränge.
Wir kommen also wieder zum Begriff der Extensität zurück,
die wir diesmal als Extensität des Subjektbegriffs fassen. Danach
wäre also die Extensität der Wertsubjektivität das Rangprinzip
für die Wertungen.
Freilich müssen wir auch hier wieder eine doppelte Extensität
unterscheiden, eine konkrete und eine abstrakte. Jene beruht auf
der Zahl der Individuen, welche eine Wertung zu eigen haben;
diese behauptet schlechthin allgemein zu sein, also auf einer
gemeinsamen Anlage in allen Menschen zu beruhen.
Die konkrete Extensität muß zunächst als ,, Majorität" auf-
gefaßt werden. Daß eine solche jedoch nicht bindend ist, dürfte
weithin zugestanden werden. Sonst wären z. B. die epidemisch
sich ausbreitenden Gassenhauer die höchsten Kunstwerte der
Musik. Vielleicht aber ist die Extensität in der Zeit, d. h. die
Dauer, maßgebend .'* Gewiß ist die Dauer für die historische
Wertgeburg wichtig. Ein einheitliches Prinzip ist sie jedoch
auch nicht. Die Dauer ist nicht die Ursache der Wertschätzung,
sondern selber eine Wirkung sehr verschiedener Ursachen. Auch
alle Dauer ist nur relativ und die Ursachen der Dauer sind es
noch viel mehr. Wenn wir heute Shakespeare schätzen, so liegt
in der Tat eine ganz andere Wertung vor, als diejenige es war,
die das 17. und auch das 18. Jahrhundert seinen Werken ent-
gegenbrachte. Es handelt sich hier nur um eine Dauer des Wert-
trägers, gar nicht um die Extensität des Wertsubjekts, denn die
Subjekte werten heute auf ganz andere Grundlagen hin als jene
früheren. Man kann aus der Zahl der Wertsubjekte schon darum
kein einheitliches Wertprinzip machen, weil diese Wertsubjekte
und damit auch die Wertungen selber außerordentlich verschieden
366
Richard Müller-Freientels .
sind und nur bei ganz oberflächlicher Beobachtung zusammen-
gebracht werden können. Die dauernde Wertschätzung eines
Gegenstandes beruht also weder auf der Extensität der Wert-
subjektivität noch auf der Extensität der Wertung. Die konkrete
Extensität der Wertsubjektivität, die große Zahl der sie ergebenden
Individuen ist also kein einheitliches Prinzip.
Es bliebe daher noch die auch von Philosophen oft betonte
abstrakte Subjektsextensität. Danach wären diejenigen Werte
die ranghöchsten, die sich an das allgemeine, in allen Menschen
vorhandene Normalsubjckt wendeten und daher notwendig allen
Menschen genugtun müßten. Das ist letzten Endes der Sinn
aller jener Wertbeurteilungen, die in der Allgemeingültigkeit einer
Wertung den Erweis ihres hohen Ranges sehen. — Indessen sahen
wir oben, daß dies Normalsubjekt eine blasse Abstraktion und
ganz ungeeignet ist, die konkreten Wertungen zu erklären. Eis
wäre ganz falsch, anzunehmen, die antike Poesie habe darum den
verschiedensten Jahrhunderten genug getan, weil sie etwa der
allen Menschen gemeinsamen Normalsubjektivität besonders ent-
gegenkam. Nur grobe historische Unkenntnis kann das meinen.
In Wahrheit hat jedes Jahrhundert nach seiner eigenen, besonderen
Subjektivität gewertet, die oft der der anderen konträr entgegen-
gesetzt war. Die abstrakte Extensität der Subjekte ist ein leerer
Schemen.
Dazu wird auch diese Extensität durch die Exklusivität
der Wertung durchkreuzt, da manche Subjekte ihre Wertung
gerade darum für besonders hohen Ranges halten, weil sie anders
ist als die der großen Zahl. Oft wird das Aparte, Absonderliche
gerade darum hochgeschätzt, weil es auf Wertgrundlagen zurück-
geht, die nicht allen zugänglich sind. Die Wertung der Eso-
teriker aller Gebiete geht auf dies Prinzip der Exklusivität zurück,
letzten Endes also auf die Qualität der Subjekte im bewußten
Gegensatz zur quantitativen Extensität.
Alles in allem sehen wir, daß für die tatsächlich bestehende
Rangordnung der Werte die Subjektivität schwer ins Gewicht
fällt, daß aber keineswegs ein einheitliches Prinzip in ihr zu er-
kennen ist. Im Gegenteil, zahlenmäßige und qualitative, echte
und übernommene Momente durchkreuzen sich; die Rangstufen
der Werte, auch von der Subjektseite aus gesehen, ergeben sich
als Produkte höchst heterogener Einflüsse.
5. Es blieben also noch die Wertgegenstände! Vielleicht
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 35?
läßt sich in ihnen das gesuchte Rangordnungsprinzip entdecken ?
Man wird darauf hindeuten, daß es doch möghch sei, durch ob-
jektive Analyse zu erweisen, daß z, B. der ,, Faust" mehr wert
sei als ,,Uriel Akosta"! Indessen, dieser Beweis hält nicht stand;
denn die Analyse, die Aufzählung der Einzelvorzüge, die den
Wsrtra.ig rechtfertigen sollen, zerlegt nur den Gesamtwert in Teil-
werte, die ihrerseits wieder dieselben Probleme bieten wie der Ge-
samtwert, d. h. zurückgefülirt werden müssen auf Wertsubjekte
und Werterlebnisse. Wir sehen uns daher bei der Betrachtung der
Wertgegenstände vor derselben Erscheinung, die wir oben hatten:
daß nämlich das Problem des Wertrangs von einer Instanz der
anderen zugleitet, so daß wir uns im Kreise drehen, wenn wir die
Begründung des Wertranges immer in den anderen Teilphänomenen
als dem gerade aufgegriffenen suchen.
Das wird besonders offenbar, wenn wir den oben besprochenen
Unterschied zwischen Wertgegenstand und Wertträger bedenken.
Wir fanden dabei, daß der Wertgegenstand eine Variable ist, die
in funktionaler Abhängigkeit von der ebenfalls variablen Wert-
subjektivität steht. Man ordnet also, wenn man glaubt, objektive
Wertgegenstände in Rangordnung zu bringen, nur die ,, Träger"
ein. Sagt man also, die Bibel sei zu allen Zeiten ein Wert hohen
Ranges gewesen, so übersieht man, daß sie niemals ein Wert-
gegenstand, nur die Möglichkeit für sehr viele verschiedene Wert-
gegenstände gewesen ist, je nach der Subjektivität der Wertenden.
Der psychische Wertgegenstand ist daher ,, objektiv" gar nicht zu
fassen, kann also auch nicht Grundlage einer ,, objektiven" Rang-
ordnung werden, zumal er stets auf das Werterlebnis und das
Wertsubjekt zurückweist, für die wir jene Unmöglichkeit schon
nachgewiesen haben.
Wenn man nun darauf hinweist, daß in der Kunstgeschichte z. B.
doch eine Wertungsordnung gelte, so ist zunächst zu erwidern, daß
nur die ,, Wertträger", gar nicht die Wertgegenstände in unserem Sinne
eingeordnet sind. Wenn z. B. der ,, Faust" höher rangiert als ,,Uriel
Akosta", so liegt hier nicht ein einheitliches Wertprinzip zugrunde,
sondern sehr verschiedene. Neben ästhetischen Wertungen spielen
ethische, religiöse, philosophische Momente mit, ferner rein historische
Tatsachen, die mit dem Werk an sich gar nichts zu tun haben. Aber
selbst die rein ästhetische Wertung ist nicht einheitlich. Unter dem
Gesichtswinkel der traditionellen Dramaturgie ist der „Uriel Akosta"
vielleicht sogar ein geschlosseneres Bühnenstück als der „Faust". Die
extensive Wirkung des ,, Faust" beruht zudem keineswegs allein auf
der Gesamtwirkung der Dichtung, sondern zum Teil auf der Buntheit
368
Richard Müller-Freienfels:
der Einzelheiten, weil er, wie's im „Vorspiel auf dem Theater" verraten
wird, „Vieles bringt und darum manchem etwas bringt".
Der Wertlang der Kunstgeschichte kommt vui Grund der
mannigfachsten Umstände zusammen. Die Kunstgeschichte re-
gistriert nur den Effekt, die Tatsache der Wirkung der Wert-
träger, und nur zum Teil die Ursachen. Häufig liegt der Fall
nicht so, daß bei der Nachwelt die Wertträger nicht darum hoch
im Werte stehen, weil sie wirklich unmittelbare Werterlebnisse
vermittelten, sondern umgekehrt, weil sie überlieferterweise hoch
im Range stehen, müht sich die Nachwelt darum, sich mit ihrem
Erleben anzupassen.
Wir bestreiten also keineswegs, daß es eine historisch ver-
wurzelte Rangordnung gibt; wir bestreiten nur, daß ihr ein ein-
heitliches, überhistorisches Prinzip zugrunde liegt. Auch die ob-
jektivierten Rangordnungen der Wertträger sind durchaus relativ.
6. Die historisch aufzeigbaren Rangordnungen ergeben sich
also bei genauerem Betrachten als Konglomerate der heterogensten
Wertungen und sind weder logisch faßbar noch von realer Dauer,
vielmehr beständigen Schwankungen unterworfen. Extensitäts-
und Exklusivitäts Wertungen, Autoritäts- und Kuriositätswertungen
durchkreuzen sich in der seltsamsten Weise. Vernunft wird Unsinn,
Wohltat Plage! Warum im einzelnen Falle etwas zum Range
hohen Wertes erhoben worden ist, kann restlos selten festgestellt
werden und unterliegt beständig weiterem Wechsel. Die Ge-
schichte notiert die Werte, die zu den verschiedenen Zeiten ge-
golten haben, und versucht, ein Verständnis für die Wertprinzipien
zu vermitteln, ohne indessen selber von einheitlichen Wertprinzipien
geleitet zu werden. Selbst dort, wo sie Entwicklungsreihen kon-
struiert, sind diese nur zum Teil durch Prinzipien zu erschöpfen,
vielmehr oft durchkreuzt durch irrationale Einflüsse, die sich einer
begrifflichen Schematisierung entziehen.
Sind nun die historisch gegebenen Rangordnungen deshalb
zu verwerfen .? Wir glauben : Nein ! Als fiktive Gebilde können
sie von hoher praktischer Bedeutung sein, obwohl oder vielleicht
gerade weil ihre logische Unzulänglichkeit eingesehen wird. Sie
erschließen keine Notwendigkeit der Wertwirkung, wohl aber die
Möglichkeit der Wert Wirkung. Indem sie, ohne es prinzipiell
zu begründen, dartun, was zu hoher Wertwirkung gelangt ist,
geben sie Hinweise für die Möglichkeit, Werterlebnisse zu finden.
Daß der Glaube an die olympischen Götter ein religiöser Wert
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 369
war, beweist nicht, daß er es noch heute sein muß; das Bekannt -
sein dieser Tatsache kann jedoch auch solchen Wertsubjekten, die
nicht in jener Wertsphäre aufgewachsen sind, zum Hinweis werden,
daß hier eine WertmögHchkeit vorlag und wenigstens der ästhe-
tische, wenn auch nicht der religiöse Zauber jener Götterwelt auch
späteren Menschen noch nacherlebbar geworden ist. Überhaupt
ist für das ästhetische Gebiet die Rangordnung der Werte, so
fiktiv sie sein mag, doch von besonderer Bedeutung, weil sie die
Aufforderung enthält, sich in fremde Wertungen einzuleben und
so die eigene Wertsphäre gewaltig zu erweitern. Es ist ein Irrtum,
zu glauben, daß die Werte Dürerscher Griffelkunst oder Bachscher
Fugenmusik jedem Heutigen sich mit elementarer Gewalt auf-
zwingen müßten. Aber der Umstand, daß sie in der fiktiven
Rangordnung ästhetischer Werte hervorragende Stellen innehaben,
bringt doch für sehr viele Menschen auch heute noch den Anreiz
mit sich, sich einzuleben in die fremde Wertung und so das eigene
Erleben zu bereichern.
Unter diesem Gesichtspunkt mag die Geschichte fortfahren,
die Wertungen der verschiedenen Zeiten und Völker zu sammeln
und zu vergleichen. Zu absoluten Werten wird sie niemals vor-
dringen. Sie mag auch Entwicklungsreihen aufzeigen, Höhe- und
Tiefpunkte unterscheiden, auch diese Wertungen jedoch werden
stets relativ bleiben. E^ ist nicht richtig, wenn von neueren Philo-
sophen behauptet wird, Geschichte sei nur Wissenschaft, wenn
sie unter absoluten Wertgesichtspunkten betrieben wird. Im
Gegenteil: Alle wahre Geschichtsforschung ist gerade
Feststellung der Relativität der Wertungen. Nur dann,
wenn der Geschichtsforscher sich in die verschiedenartigsten Er-
lebnisweisen und Subjekte hineindenken kann, wird er den Geist
der Geschichte erfassen. Wenn die Geschichte der Künste, der
Religionen, der ethischen Anschauungen ,, objektive" Urteile über
Richtigkeit und Rangordnung der Werte fällt, so mag das als
fiktives Verfahren seine Berechtigung haben, aber diese Fiktionen
haben selber nur praktischen Wert, keine tiefere philosophische
Bedeutung. Die philosophische Erkenntnis beginnt vielmehr erst
dort, wo jene Fiktionen durchschaut werden.
Wir ständen also der Tatsache gegenüber, daß es weder für
die Richtigkeit noch für die Rangordnung der Werte ein einheit-
liches Prinzip gibt, daß die ,, tertiären" Stellungnahmen genau so
relativ bleiben müssen wie die sekundären und primären. Alles
Anoalen der Philosophie. I. -4
370
Richard Müller- Fi eienfels:
Suchen nach einem solchen absoluten Werlprinzip müssen wir als
falsch gestelltes Problem ablehnen wie den „Stein der Weisen".
Heißt das nun nicht, uns in ewige Dunkelheit hinausstoßen ?
Heißt das nicht, das Chaos proklamieren? Wir antworten:
Nicht mehr und nicht weniger, als das Leben selber Chaos und
Dunkelheit ist! Solange es Menschen gibt, wird es verschiedene
Wertungen und Kampf der Wertungen geben! Immer wieder
werden sich Wertsetzungen mit dem Anspruch auf absolute Gültig-
keit erheben, immer wieder aber werden sie als verkappte Rela-
tivitäten entlarvt werden. Das scheint uns kein Grund zur Trauer;
im Gegenteil, wir glauben, daß aller Reiz des Lebens aus dem
Widerstreit der Werte kommt. Eine Welt, in der alle Werte über
denselben Leisten geschustert würden, müßte unerträglich lang-
weilig und öde sein, ein Ideal für Schulfüchse und enge Dogma-
tiker, aber für jeden lebendigen Menschen qualvollste Enge. Es
setzte nicht nur, wie wir gezeigt haben, völlige Gleichheit der
Individuen voraus, es setzte auch voraus, daß jedes Individuum
stets sich selber gleich wäre. Über Ideale ist schwer zu streiten!
Man möge sich aber ein Forum vorstellen, das die Macht hätte,
seine Werte, und wären es wirklich die ,, ewigen" und ,, absoluten"
Werte, durchzusetzen: Welcher lebendige Mensch würde im Ernst
geneigt sein, sich dem unterzuordnen ?
Kapitel V. Die absolutistischen Werttheorien.
I. Es besteht nun neben der psychologischen Wertlehre eine
Wertphilosophie, die aufs entschiedenste die psychologische Ver-
wurzelung der Werte bestreitet, dagegen für deren Absolutheit
eintritt. Im Gegensatz also zum Sprachgebrauch behauptet diese
Lehre, es gäbe Werte an sich, Werte, die nicht abhängig seien
von ihrer Anerkennung durch dies oder jenes Subjekt, die viel-
mehr ,, absolut" gälten. Bezeichnen wir die bisher von uns be-
sprochenen psychologischen Werte als ,, bedingte" Werte, so stünde
ihnen ein Reich ,, unbedingter" oder ,, absoluter" Werte gegenüber.
In die Terminologie unserer bisherigen Ausführungen über-
tragen, würde diese Lehre bedeuten, daß es Wertsetzungen gäbe,
die jenseits aller Wertgrundlagen in unserem Sinne stünden, viel-
mehr a priori in der Seele vorgebildet wären. Während wir die
Wertsetzungen (auch die abstrakten und übertragenen) genetisch
ableiteten, wird von den Absolutisten gerade diese psychologische
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 271
Genesis bestritten, ja meist verächtlich zu machen gesucht. Ob
der Mensch psychologisch in solch absoluten Wertsetzungen sich
einzuleben vermag, ist für diese Lehre Nebensache. Als Haupt-
sache gilt durchaus die Ermittlung der unbedingten, apriorischen
Wertsetzungen.
Nehmen wir zunächst an, es gäbe neben den von uns auf-
gezeigten bedingten Werten eine Welt der unbedingten, so hätten
wir nebeneinander zwei unvereinbare Welten, die nur künstlich
und recht mangelhaft einander nahegebracht werden können.
Es wird also, wenn man diesen Dualismus, der zudem keineswegs
eine allgemeine Erfahrung ist, vermeiden will, notwendig sein,
eine der beiden Welten in ihrer Selbständigkeit auszuscheiden.
In der Tat haben fast alle Anhänger der absoluten Wertlehre
diesen Schritt getan, und zwar so, daß sie die Welt ihrer absoluten
Werte den bedingten überordneten und diese letzteren mehr oder
weniger beiseite ließen, wobei man sich, da sie in ihrer derben Tat-
sächlichkeit nicht einfach wegzuretuschieren waren, des Verfahrens
bediente, sie als verächtlich, armselig und lächerlich hinzustellen,
ein Verfahren, dessen Wissenschaftlichkeit an sich nicht sehr im-
ponierend ist.
In der äußeren Erfahrung aufzeigbar sind nur relative Werte.
Wo immer Wertungen mit dem Anspruch auf Absolutheit auf-
getreten sind, sind sie längst durch die Geschichte als relativ er-
wiesen. Ein Daseinsgrund kann also für eine absolute Wertung
nicht erbracht werden. Man konstituiert daher auch eine be-
sondere Kategorie für die Werte, die der Geltung. Absolute Werte
existieren nicht, sie ,, gelten". Statt aus der äußeren Erfahrung
leitet man sie aus der inneren Erfahrung ab. Man entdeckt in
sich die Forderung nach absoluten Werten, und aus dieser For-
derung leitet man ihre Notwendigkeit ab.
Man hat also, um diese ,, absoluten" Werte zu verstehen, eine
besondere Erkenntnistheorie oder Metaphysik nötig, und zwar eine
solche, die im Grunde eine Welt außerhalb des Bewußtseins nicht
anerkennen kann. Das Bewußtsein hat durch seine eigenen Be-
dingungen möglicher Erfahrung ihre wirklichen Formen im
voraus bestimmt. Das System der Werte erschließt ein Reich
des Transzendenten, aber nicht eines transzendent ,, Seienden".
Das Wesen des Wertes aber, das also vom Sein unabhängig ge-
dacht wird, sucht man in einem absoluten Sollen oder einem ab-
soluten Wollen.
24*
372
Richard MüUer-Freienfels:
Es ist offensichtlich, daß wir hier nicht in Kürze eine Kritik
eines so ausgedehnten und geistvollen Systems, wie es das hier
gemeinte ist, unternehmen können. Das könnte nur in einer
Auseinandersetzung geschehen, die weit über den Rahmen dieser
Abhandlung hinausgreifen müßte. ^)
Der Gesichtspunkt, unter dem wir die absolutistische Wert-
theorie prüfen, wird also nicht der sein, daß wir ihre Fundamente
oder Wurzeln auf ihre Tragfähigkeit untersuchen: Wir versuchen
umgekehrt, das System nach seinen Früchten zu beurteilen. Wir
stellen die Frage nach den letzten Ergebnissen jener Lehre, d. h.
wir fragen, welche Werte denn auf solchem Wege ermittelt worden
sind.-* Indem wir die so gefundenen, angeblich überempirischen,
absoluten Werte mit den in der Erfahrung geltenden, von uns
erörterten relativen Werten vergleichen, muß sich uns — so können
wir annehmen — die Möglichkeit eröffnen, die angeblich arm-
selige und beschränkte Wertung des Lebens nach einer unfehl-
baren Norm zu korrigieren. Vertrauen wir uns also den Absolu-
tisten an, glauben wir ihnen, daß sie wirklich eine Methode haben,
die ew^igen Werte zu ermitteln, und sehen wir zu, was sich uns
an überlegener Erkenntnis erschließt!
Nun ist es von vornherein eine bedenkliche Tatsache, daß
viele dieser wertphilosophischen Untersuchungen bei allgemeinen
Betrachtungen über die Absolutheit der Werte stehen bleiben,
ohne mit der Durchführung des Prinzips im einzelnen Ernst zu
machen. Wir werden uns daher an Münsterberg halten, der
zwar nicht der originellste dieser Denkergruppe ist, auch in wesent-
lichen Punkten in der Grundfassung des Wertprinzips von seinen
Geistesverwandten abweicht, der jedoch das geschlossenste System
der absoluten Werte ausgearbeitet hat und daher für unsere Zwecke
am brauchbarsten ist.
Nur ein Bedenken prinzipieller Natur^ mit dem man uns kommen
könnte, sei kurz berührt. Man könnte uns, die wir das Material für
unsere Wertuntersuchungen der äußeren Erfahrung entnommen haben,
einwenden, daß die Absolutheit der Werte eben eine innere Erfahrung
sei. Gibt es nicht in der Tat in der Seele jedes Menschen Wertsetzungen,
die a priori sind, deren absolute Geltung eine innere Gewißheit uns
verbürgt? Wir antworten: Nein! Wenn wir Wertsetzungen in uns
vorfinden, deren psychologische Verwurzelung uns nicht bewußt ist,
') Ich verweise unter den zahlreichen Ablehnungen, die die absolutistische
Wcrtlehre gefunden hat, z. B. auf die Frischeisen-Köhlers (Wissenschaft und
Wirklichkeit, 1910), der ich weitgehend zustimmen kann.
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 373
SO ist damit noch keineswegs erwiesen, daß eine solche niemals vor-
handen gewesen wäre. Wir übernehmen auch als Erwachsene sehr
leicht fremde Wertungen, ohne daß wir uns des Prozesses dieser Über-
nahme immer bewußt würden. (Man denke an die Modewertungen^
denen wir uns meist unbewußt anpassen!)
Die meisten allgemeinen Wertsetzungen religiöser, ethischer, auch
ästhetischer Art gehen jedoch bis in die Kindheit zurück, wo uns der
Übertragungsprozeß naturgemäß noch weniger zum Bewußtsein kam.
Aus dem Fehlen der Bewußtheit ist daher der Schluß auf das Nicht-
vorhandensein einer Übertragung von anderen her nicht abzuleiten,
Wohl aber läßt sich historisch und psychologisch fast jede Wertung,
die mit dem Anspruch auf Absolutheit aufgetreten ist, als nicht a priori
vorhanden erweisen. Darauf, daß das Beiseiteschieben der psycho-
logischen Begründung selber ein Wert sein kann, werde ich weiter unten
zu sprechen kommen.
2. In seiner ,, Philosophie der Werte" legt Münster-
berg ein sehr ausgeführtes System der Werte vor, das sich mit
der Regelmäßigkeit einer militärischen Formation gruppiert. Man
wird gern den Geist und den Scharfsinn anerkennen mit dem
das alles durchgeführt ist. Aber die übersichtliche Anordnung
der 24 Wertgruppen ist nicht (ebensowenig wie es die Zwölfzahl
von Kants Kategorientafel war) ein Beweis für ihre innere Not-
wendigkeit. Derartige ästhetische Vorzüge der Systematik werden
meist durch Gewaltsamkeit erzielt, und in der Tat ergibt sich
denn auch bei genauerem Hinsehen vieles in Münsterbergs
Wertetafel als gekünstelt.
So sind z.B. die ästhetischen „Einheitswerte": Harmonie, Liebe,
Glück, ersichtlich nur dem mathematischen Grundschema zuliebe so
formuliert worden, und daß z. B. von den Schönheitswerten, welche
„Gegenstand der Hingebung" sind, die bildende Kunst der Außenwelt,
die Dichtung der Mitwelt, die Musik der Innenwelt entspricht, ist nur
als eine sehr schematische Geistreichelei anzusprechen, zergeht jedoch
wie Nebel, sobald man fester zugreift.
Dasjenige nun, worauf Münsterberg besonders stolz ist,
und worin er auch einen Vorzug seiner Wertlehre gegenüber der
Rickertschen erblickt, ist die Ermöglichung einer einheitlichen
Zusammenfassung aller Werte. Und zwar findet Münster-
berg diese im Prinzip der Identität. Der absolute Wille,
der auf die absoluten Werte gerichtet ist, zielt nämlich auf die
Bejahung einer unabhängigen Welt ab, die notwendig alle anderen
Werte einschheße. Schlechthin wertvoll aber sei die Beziehung
der Identität zwischen den wechselnden Erlebnissen. Nur insofern,
als solche Identität sich darbiete, sei die Welt schlechthin wertvoll.
374
Richard Müller- Freienfels :
Aus diesem Grundprinzip leitet Münsterberg alle einzelnen Werte
ab. Sie teilen sich in Werte der Erhaltung, Werte der Übereinstimmung,
Werte der Betätigung und Werte der Vollendung. Jeder dieser Be-
griffe wird oft recht sophistisch aus dem Grundprinzip der Identität
deduziert. So wird die Betätigung z. B. gedeutet als „Identität im
Anderswerden" und darunter unter anderem die Werte des Fortschritts,
der Wirtschaft, des Rechtes einbegriffen! Daß es bei all diesen Dingen
keineswegs immer in erster Linie auf Identität ankommt, daß das Wesen
des Fortschritts oder der Sittlichkeit nicht im geringsten durch den
Begriff der Identität erschöpft wird, braucht kaum bewiesen zu werden.
Es liegt uns hiernicht ob, dieMünsterbergschen Deduktionen
im einzelnen zu kritisieren. Es kommt uns nur auf das Grund-
prinzip an, das sich eben als nichtabsolut, vielmehr durchaus als
relativ erweist. Wie gesagt, geht Münsterberg davon aus, daß
eine wirkliche Welt und damit eine Weltanschauung nur möglich
seien, wenn absolute Werte angenommen würden. Die Welt des
Relativismus, der bedingten Werte, ist für Münsterberg über-
haupt keine Welt, nur ein wertloses, sinnloses Zufallsgewirr.
Münsterberg behauptet, daß jeder Zweifel an absoluten Werten
sich schließlich selbst vernichte, als Gedanke sich selbst wider-
spräche, als Tat sich selbst vereitle, als Glaube sich selbst schließ-
lich aufgäbe. ,,Kein Weg führt von dort zur Wirklichkeit der
anderen Wesen; ja, nicht einmal zur Anerkennung des eigenen
Selbst jenseits des einen augenblicklichen Aktes. Alles Streben
und Streiten hat dann sein Ziel verloren."^)
Man sieht leicht ein, daß die Wahl, vor die Münsterberg
seinen Leser stellt oder vielmehr schon nicht mehr stellt, nicht
logisch entschieden werden soll, sondern durch einen Akt des
Glaubens, und zwar erklärt Münsterberg gleich jeden anders-
artigen Glauben für unmöglich und Schlimmeres ! Strenggenommen
ist da nicht zu diskutieren. Aber dennoch möchten wir wenigstens
für jeden Leser, der sich nicht selbst jeden anderen Weg ver-
rammelt, die Behauptung wagen, daß doch auch andere Über-
zeugungen möglich sind, ja, wir behaupten sogar, daß es sehr viele
Menschen gibt, die in dieser anderen Welt leben und sich auch
eine daran orientierte Weltanschauung bilden.
Münsterbergs Forderung stellt sich nämlich als Auswirkung
eines ganz individuellen Temperaments dar, eines psycho-
logischen Typus, den ich an anderer Stelle als den des ,, Statikers"
•) .Mimsterberg, a. a. 0. S. 38.
Grtmdzüge einer neuen Wertlehre. 37 c
bezeichnet habe. Ein solcher denkt gemäß seiner psychologischen
Veranlagung die ganze Welt als fest, ruhend, identisch. Nur
Identitäten sind für ihn Wirklichkeiten. Für Münsterberg ist
das Wiederkehren des Identischen die grundsätzliche Bedingung
jeder Bewertung.
Es beweist aber die Geschichte der Philosophie und des mensch-
lichen Geisteslebens überhaupt, daß der Typus des Statikers nicht
der einzige ist, daß es vielmehr von Heraklit an bis Bergson
stets auch ,, Dynamiker" gegeben hat, die die Welt nicht als ruhendes
Gerüst unverrückbarer Identitäten empfunden haben; vielmehr
erschien sie ihnen als ein lebendiges Fließen, ein unaufhörlicher
Wechsel, eine bewegte Unendlichkeit, und gerade dieses Erleben
bejahten sie. Solche Denker bestreiten den Wert der Identität
und kommen trotzdem nicht bei einem Chaos an. Wenn Münster-
berg glaubt, diesen Denktypus mit verächtlicher Geste abschieben
zu können, so irrt er. Selbst die Würde, die Größe und Erhaben-
heit, die der Absolutismus gern für sich allein in Anspruch nimmt,
fehlt dieser Weltanschauung nicht. Oder sind wirklich die Mannig-
faltigkeit, die Bewegtheit, die Unendlichkeit so viel geringer als die
starre Identität, die Ruhe, die Einheit } Mag die dynamische
Weltanschauung auch nur auf einem Glauben, einer Überzeugung,
auf individueller psychologischer Anlage beruhen, so ist sie damit
doch nur in derselben Lage wie die statische. Und ihre Frucht-
barkeit für das Leben ist darum nicht geringer; denn es läßt sich
dartun, daß die moderne Physik, die moderne Entwicklungswissen-
schaft, die moderne Geschichte und fast alle anderen Kulturgebiete
auf einer dynamischen Weltanschauung beruhen, und daß sich alle
diese Tendenzen immer weiter von der allein seligmachenden Iden-
tität entfernen. Das ist keine subjektive Annahme, das ist eine
nachweisbare Tatsache.^)
Damit aber, daß wir neben der Identität noch andere
Grundwerte anerkennen, und indem wir nachweisen, daß es Welt-
anschauungen gibt, die sich nicht in erster Linie auf jenem Prinzip
aufbauen, ist bereits Münsterbergs Grundposition erschüttert.
Seine Wertung ist nicht absolut, sondern nur relativ und in einer
durchaus persönlichen Erlebnisweise verwurzelt.
^) Genauere Analysen der Typen des ,, Statikers" und des ,, Dynamikers"
findet man in meinem demnächst erscheinenden Buche; Persönlichkeit und Welt-
anschauung (Verlag von B. G. Teubner 1918).
376
Richard Müller-Freieniels:
3. Aber vielleicht ergibt das absolutistische Verfahren, wenn
auch die Systematik im ganzen nicht hält, in seinen Einzelergebnissen
eine wesentliche Förderung? Gibt Münsterberg uns Klarheit
in den Konflikten der Wertung, lehrt er die echten von den falschen
Werten sondern, erschließt er neue Werte ?
Betrachten wir also die Resultate der apriorischen Grund-
anschauung! Vermutlich werden sie ganz andere sein, als die
psychologisch bedingten (verächtlichen) Werte des Lebens ? So
sollte man meinen! Man wird jedoch nicht wenig erstaunt sein,
wenn man, nachdem man die Spekulationen über Ewigkeit und
Absolutheit hinter sich hat, sich plötzlich wieder in der Welt der
bedingten Werte befindet, die nur ein wenig maskiert sind. Das
einzige nämlich, wodurch sich die Werte Münsterbergs von
den bedingten Werten des Lebens unterscheiden, sind die neuen
Namen, die sie bekommen haben. Im übrigen haben sie nur noch
die Besonderheit, daß sie zu grauen, leeren Schemen verwandelt
sind, zu Abstraktionen aus der bunten Welt der Wirklichkeit,
die — weil sie jeder Mannigfaltigkeit gerecht werden sollen —
für keinen Einzelfall mehr etwas bedeuten.
Was die neuen Formeln für die alten Tatsachen angeht, so
wird man auch hier Münsterbergs starker systematischer Be-
gabung alle Bewunderung zollen. Es liegt viel Bestechendes darin,
daß die scheinbar so verworrene Problematik, der wir uns sonst
in Natur wie Kultur gegenüberfinden, hier auf ganz einfache
Formeln gebracht ist. So definiert Münsterberg mit glänzender
Dialektik die logischen Werte als Daseinswerte einerseits und
(soweit sie Kulturwerte, d. h. zielbewußt geschaffene Werte sind)
Zusammenhangswerte andererseits. So gliedern sich ihm, um
nur das als Beispiel zu erwähnen, die ethischen Werte in Ent-
wicklungswerte einerseits und Leistungswerte andererseits. Jede
dieser Gruppen unterliegt wieder einer Dreiteilung, je nachdem
ihre Werte sich auf Außenwelt, Mitwelt oder Innenwelt erstrecken.
Sehr geistreich, aber doch ein Netz, dessen groben Maschen die
tausendfältige Wirklichkeit überall entschlüpft! Denn so bequem
trennbar, wie es hier scheinen will, sind die Wertgebiete im Leben
nicht. So verblüffend einfach manches bei Münsterberg zunächst
wirkt, so gewaltsam und erzwungen stellt sich diese Einfachheit
bei näherem Betrachten dar. Man liest da z. B., daß die ,,Leistungs-
wertc", soweit sie auf die Außenwelt bezogen sind, die Wirtschaft
ergeben, soweit sie auf die Mitwelt bezogen werden, das Recht,
Grundzüge einer neuen Wertlehre. 377
und soweit sie auf die Innenwelt bezogen werden, die Sittlichkeit.
Aber hat es wirklich das Recht nur mit der Mitwelt, die Sittlich-
keit nur mit der Innenwelt zu tun ? Gibt es nicht unzählige
Übergangs- und Zwischenwerte, die die Bedeutung einer solchen
Parzellierung der Welt als leeren Schematismus erscheinen lassen }
Und gerade solche Übergangs- und Zwischenwerte geben die
schwierigsten Probleme auf, die allerdings durch derartige pau-
schale Grenztrennung nicht im geringsten gefördert werden. Aber
auch die neuen Formeln für die alten Wertungen sagen teils nichts
Neues, teils sind sie schief. So ist die Erklärung des ,, Glückes"
als Einheitswert der Innenwelt zum mindesten sehr dürftig. Die
Deutung der Schönheitswerte als ,, Gegenstand der Hingebung"
ist geradezu falsch.
Abgesehen von der Namengebung kennzeichnet, wie gesagt,
noch die ins Extrem getriebene Verallgemeinerung die M uns t er-
ber gschen Werte. Wir begegnen dabei dem schon oben auf-
gedeckten Denkfehler wieder, daß man das tiefste Wesen der
Einzelwertungen dadurch auffinden könne, daß man das allen
Gemeinsame daraus loslöst. Als ob nicht das Wesen der Einzel-
werte meist gerade in ihrer Verschiedenheit beruhte! Gewiß weist
Münsterberg ausdrücklich die Absicht von sich, daß er etwa
— wenn er von der bildenden Kunst spricht — eine wirkliche
Ästhetik geben wolle. Aber ist eine solche beabsichtigte und
durch die Problemstellung bedingte Beschränkung nicht das Ein-
geständnis der Lebensfremdheit und Leerheit jener absolutistischen
Wertformeln } Was helfen uns die prachtvollsten Formulierungen,
wenn wir sie nicht anwenden können .'' Heißt das nicht Nektar
und Ambrosia bieten für menschliche Organismen, die sie nicht
verarbeiten können } Die bedingte Wertung der Psychologie
kann uns die interessantesten Aufschlüsse darüber geben, auf
Grund welcher spezifischen Einstellungen die monumentale Kunst
der alten Ägypter, die zierliche Anmut des Rokoko, der Über-
schwang und die abstrakte Ekstase der Hochgotik und die nervöse
Mystik des Symbolismus entstehen und wirken konnten. Die
absoluten Werte, äie Münsterberg liefert, versagen allen solchen
Problemen gegenüber. Und selbst wenn er behauptet, daß es gar
nicht auf die Varietäten, nur die innerste Einheit der Kunst an-
käme (was man sehr energisch bestreiten kann), so geben die
absolutistischen Abstraktionen recht wenig, um sie zu erhellen.
Denn daß in der Kunst diese letzte Gemeinsamkeit, nicht die
378
Richard Müller-Freienfels ;
vielgestaltige Verschiedenheit das Wesentliche ist, wird nicht be-
wiesen; wohl aber beweist die Wirklichkeit und die Geschichte
der Kunst das Gegenteil.
Und ist's in der Ethik, in der Religion anders ? Finden wir
nicht, daß jede Lehre, die mit dem Anspruch auf absolute Gültig-
keit auftrat, stets den besonderen Bedingungen der Völker und
Individuen angepaßt werden mußte, um zu einem wirklichen
Werte zu werden ? Was ist irgendeinem lebendigen Menschen
mit abstrakten Formeln geholfen, sei's in Ethik, sei's im Recht
oder sonstwo wenn sie nicht seinen spezifischen Bedingungen
Rechnung tragen? Ein Wert der nicht in Beziehung zu setzen
ist mit den konkreten Einzelsubjekten ist für diese überhaupt
kein Wert.
Dabei ist Münsterberg konsequent genug, um einzusehen,
daß diese abstrakten Werte nicht für konkrete Subjekte, nur für
ein abstraktes Übersubjekt Geltung haben. In der Tat gipfeln
in einem solchen Münsterbergs Entwicklungen. Aber ist dies
Überich wirklich so absolut, wie er meint .'' Haften nicht auch
diesem --ehr bedenkliche anthropomorphe Züge an? Denn der
absolute Weltwille ,, verwirklicht seine Aufgabe durch die Mensch-
heit".^) Dieses tiefere Wollen kann das Einzelich als LT^erzeugung
in seinem eigenen Erlebnis finden. ,, Durch eigene Tat erweitert
es sich zum Überich!" Alles das ist weit davon entfernt, wirklich
absolute Erkenntnis zu sein! Es ist ein etwas abstrakter, aber
unverkennbarer Anthropomorphismus und schon darum schwer
verträglich mit unseren sonstigen Erkenntnissen, die dem Menschen
längst jene zentrale Stellung in der Welt genommen haben, die
hier unter abstrakter Verkappung wieder eingeführt wird.
Nein, betrachten wir die Werte Münsterbergs bei Tages-
licht, so ergibt sich, daß sie gar nichts anderes sind als die psycho-
logisch ebenfalls verständlichen Werte des Lebens, nur so ver-
allgemeinert, daß alle individuellen Züge davon abgestreift sind.
Einem solchen Verfahren gegenüber muß man doch die Frage auf-
werfen, ob es, wenn man durch ganz einfache Abstraktion von
den Gegebenheiten zu dem gleichen Resultat gelangen kann, nicht
ein unnützes Bemühen ist, auf dem Umweg über eine sehr vage
Ewigkeit zum gleichen Resultate zu kommen. Ist dies Verfahren
nicht am Ende dem jener Alchimisten gleich, die ihr Gold aus
*) Münsterberg, a. a. 0. S. 471.
Grundzüge einer neuen Wcrtlehre. 370
solchen Substanzen gewannen, die vorher Gold enthielten, indes
doch angegeben wurde, das Gold sei eine Neuschöpfung ?
4. Trotz aller Bedenken, die wir gegen den Absolutismus als
Basis der gesamten Weltanschauung vorgebracht haben und die
sich leicht noch sehr vermehren ließen, wollen wir die Absolu-
tierung der Werte nicht ganz verwerfen. Wir erkennen an, daß
die Absolutsetzung bedingter Werte auf den verschiedensten Kultur-
gebieten oft von hoher Bedeutung gewesen ist. Wir haben auf
dem Gebiet der Religion, der Sittlichkeit, der Ästhetik, der Wissen-
schaften, kurz, fast überall als historisches Faktum die Tatsache
zu buchen, daß relative Werte für absolut angesehen wurden,
und daß für viele Menschen, denen der Sinn für die Würde und
Größe einer ,, dynamischen" Welt abging, die relativen Werte
durch diese Absolutsetzung an Würde und Größe gewannen. Wie
wir schon oben darlegten, ist es stets ein Irrtum, wenn man be-
dingte Werte (denn um solche handelt es sich immer) zu absoluten
macht. Aber auch ein logischer Irrtum kann, wie neuerdings
Vaihinger ausführlich dargetan hat, von Wert sein und in Vai-
hingers Sinne sehen wir in dem Begriff des absoluten Wertes
eine Fiktion, allerdings eine Fiktion von hoher praktischer Be-
deutung.^)
Wir kommen also zu der scheinbar paradoxen Formulierung:
Die Absolutsetzung der Werte ist selber ein relativer Wert, der
eben darin besteht, daß sie zwar mit der Wirklichkeit im
Widerspruch steht, also fiktiv ist, daß aber diese Fiktion prak-
tische Bedeutung hat, zweckmäßig unter den verschiedensten
Gesichtspunkten ist. Der Charakter der Absolutierung als Fiktion
kann und muß von der Wissenschaft eingesehen werden; denn
ein Irrtum kann wohl eine Zeitlang nü zlich sein, er muß auf die
Dauer jedoch durchschaut werden, wenn der Schaden nicht den
Nutzen überwiegen soll. Die Absolutsetzung ist kein Eigenwert,
nur ein Mittelwert, um die Würde derjenigen Werte, die absolut
gesetzt werden, zu steigern. Sie hört daher auf, ein Wert zu sein,
sobald diese anderen Werte außer Kurs geraten. In solchem Fall
ist es eine notwendige Arbeit der Philosophie, den Nimbus der
Absolutheit zu zerstören und deren fiktiven Charakter darzutun.
Nur ganz kurz sei der relative Wert der fiktiven Absolutierung
auf den verschiedenen Kulturgebieten dargelegt. Es sei jedoch
^) Vgl. Philosophie des Als-Ob, 191 1.
3So
Richard Müller-Freienfels:
crleich bemerkt, daß meist nur für Ungebildete die Absolutheit
der Wertungen notwendig ist, um an diese zu glauben.
Zunächst in der Religion! Es ist nicht ganz leicht einzusehen,
daß alle Vorstellungen und Begriffe, die sich der Mensch vom
Transzendenten, von der Gottheit oder wie man immer die letzte
religiöse Wesenheit nennen will, bildet, notwendig nur symbolisch
sind, daß sie also niemals buchstäblich wahr sein können. Erst
eine gewisse historische und psychologische Bildung läßt das ein-
sehen, obwohl diese Überzeugung keineswegs den religiösen Sinn
und das religiöse Gefühl aufzuheben braucht; im Gegenteil, sie
ist vielleicht der beste Weg, die Religiosität mit der Erkenntnis
zu vereinen. Der gemeine Mann jedoch will in der Religion die
absolute Wahrheit, und so mag man es verstehen, wenn die Priester
fast aller Religionsformen, um das Volk beim Glauben zu er-
halten, ihre religiösen Lehren als absolut wahr und gut hinge-
stellt haben.
Ähnlich wie in der Religion steht es in der Ethik. Auch
hier braucht der gemeine Mann den Nimbus von Würde, den in
seinen Augen die Absolutheit dem ethischen Werte gibt. Infolge-
dessen sind die meisten ethischen Forderungen als absolute auf-
getreten, und zwar die allerverschiedensten ! Es gibt keine ethische
Wertung, für die sich nicht eine kontradiktorisch entgegengesetzte
finden ließe. Mag es bei den meisten Völkern als absolute For-
derung gelten, das Alter zu ehren, so steht dem entgegen, daß
bei den Fidschiinsulanern es eine ebenso absolute Forderung für
Greise ist, daß sie sich lebendig begraben lassen, um den Söhnen
Platz zu machen. Mag bei den meisten Kulturvölkern die Jung-
fräulichkeit der in die Ehe tretenden Frau ethischer Wert höchsten
Ranges sein, so steht dem entgegen, daß bei vielen Kulturvölkern
des Altertums die Tempelprostitution mit der höchsten religiösen
und ethischen Würde umkleidet war.
Es gibt keine ethische Wertung, die an sich den Charakter
der Absolutheit hätte, wohl aber pflegen alle ethischen Wertungen,
welcher Art sie auch seien, sich in den Nimbus der Absolutheit
zu hüllen. Diese ist nach unserer Lehre eine Fiktion, aber eine
sehr nützliche. Denn eine gewisse Einheit der Wertungen ist
Voraussetzung für jedes soziale Zusammenleben, und nur dadurch
kann sich eine Wertung durchsetzen, daß sie sich als absolute
gibt. So triumphiert sie über die ihr entgegengesetzten Wertungen,
die sich notwendig überall geltend machen. .A.llerdings muß dieser
Gnindzüge einer neuen Wertlehre. 38 1
Triumph nie so völlig sein (und ist es in der Tat auch nie), daß
er alle anderen Wertungen unterdrückte.
Auch für ästhetische Werte kann die Fiktion ihrer Absolut-
heit Erfordernis sein. Dem schaffenden Künstler leiht der Glaube,
daß er ewige und allgemeingültige Werte hervorbrächte, eine erhöhte
Kraft. Daher finden wir gerade bei Künstlern oft diese Blindheit
gegen die Relativität ihrer Schöpfungen. Ein Richard Wagner
war überzeugt, daß er nicht nur ,,ein" Kunstwerk schaffe, nein,
für ihn war sein Musikdrama ,,das" Kunstwerk, und aus dieser
Überzeugung zog er jene übermenschliche Kraft, sein Werk zu
Ende zu führen. Fast jede Kunstrichtung tritt mit der Überzeugung
auf, die wahre und richtige Kunst zu bringen. Liest man die
Manifeste der ,, klassischen", der ,, romantischen", der ,, natura-
listischen" Schulen, überall blitzt das Bewußtsein durch, daß
man die ,, wahre" Kunst vertrete. Daher rührt auch der Glaube
der Künstler an ihre ,, Sendung", an ihre göttliche Berufung. Mag
auch sehr bald die Geschichte diesen Nimbus zerstören, sein prak-
tischer Erfolg wird dadurch nicht geschmälert.
Und auch der Kunstgenießende unterliegt dem Zauber solcher
Ansprüche. Auch ihm wird der Wert seines Genusses erhöht,
wenn er die Überzeugung hat, es sei nicht eine beliebige, es sei
eine ewige Schönheit, die sich ihm da erschließt. Mit einem ge-
wissen Recht hat man daher darauf hingewiesen, daß die Kunst-
geschichte, mit ihrer Aufdeckung der Relativität aller Schönheits-
begriffe, die naive Genußfähigkeit herabmindern könne.
Natürlich gilt von all diesen Absolutsetzungen, daß sie auch
zu schweren Schädigungen werden können, sobald die Bedingungen
ihrer Wertwirkung sich ändern. Vernunft wird Unsinn, Wohltat
Plage! Mag die Absolutsetzung geltender Werte zuweilen ein
relativer Wert sein, so ist die Zerstörung dieses Nimbus unter
anderen Verhältnissen oft ein ebenso großer Wert. Davon haben
wir oben gesprochen. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Philo-
sophie kann es nicht sein, mit dialektischen Künsten ein unmög-
liches System absoluter Werte aufzubauen! Ihre wahre Aufgabe
liegt in der Erkenntnis gerade der Relativität der Wertungen und
eine solche Erkenntnis braucht an Würde nicht zurückzustehen
hinter jenen trügerischen Gebilden, die eine trügerische Ewigkeit
für sich in Anspruch nehmen !
Philosophie der Tat
Grundriß einer autonomistischen Rechenschaft und Ethik.
(Unter besonderer Berücksichtigung der Philosophie des Als Ob.)
Von
Dr. Anton Wesselsky-Wien.
Inhaltsübersicht.
I. Die Philosophie Kants.
Humes Erschütterung des Kausalitätsprinzipes. — Kants großes Problem
von der transzendentalen Synthese. — Das Erwachen zur Mündigkeit und
die Befreiung vom metaphysischen Dogmatismus. — Kants Postulaten-
theorie. — Der höchste Standpunkt der Transzendentalphilosophie.
II. Die allgemeine Antinomie.
Der Einwand Schulze-Aenesidems. — Er untergrub Kants Einfluß. —
Aber er widerlegt nicht dessen Philosophie. — Der Nachweis der allgemeinen
Antinomie. — Die Unmöglichkeit letzter Erkenntnis.
III. Der Zwang zur Fiktion.
Anantinomie und Diantinomie. — Das Selbstbewußtsein. — Die Finalität
und Fiktionalität des Wissens. — Vaihingers Philosophie des Als Ob. —
Ihre sittliche Bedeutung. — Die gegenteilige des Pragmatismus. — Nicht
Wahrheit, sondern Wirklichkeit. — Das Denken als Tat.
IV. Das autonome Maß und Ziel.
Von der Fiktion zum fingierenden Menschen. — Das metaphysische Be-
dürfnis. — Goethe, Schopenhauer, Novalis. ^ Der Maßstab unserer
Kritik als autonome Gegebenheit. — Die Hüter des heiligen Feuers der
Menschheit. — Antwort an Leopardi. — Die Entdeckung des Menschen. —
Autonomie und Mystik. — Dionysius Areopagita. — Schopenhauers
Metaphysik. — Atman. — Maja und Unrecht. — Unser besseres Selbst.
V. Die Wirklichkeit des Wirkens.
Die Tat als unsere Wirklichkeit. — Ihr Einfluß auf uns. — Auch Selbst-
verneinung ist Willensbejahung. — Die Lüge als Willensverneinung. —
Cato. — Friedrich der Große. — Die Tat als Antwort auf das metaphysische
Bedürfnis. — Der Eros des Parmenides und des Plato. — Piatos esoterische
Philosophie. — Die Tat als menschliche Tatsache.
VI. Die subjektive absolute Ethik.
Das Gebiet der Unverbrüchlichkeit der Logik und des absoluten Wissens. —
Die Lebenswesentlichkeit der Wahrhaftigkeit. — Moralpredigt und Ethik. —
Das Denken als Tat. — Das Gewissen. — Induktive Gesichtspunkte. —
Charakter und Geschichte, Schönheit, Abstammung. — Das Kind. —
Die Etliik als Schutz und Zucht. — Die ethische Hauptaufgabe der Päda-
gogik. — Fichte. — Das autonome Wunder. — Blutzeugen nicht der Wahr-
heit, sondern der Wahrhaftigkeit. — Der autonome absolute Wert der Ethik.
Philosophie der Tat. ^83
VII. Das Als Ob in der Ästhetik.
Die Probe für das autonome Maß und Ziel. — Das Schöne als finales Symbol. —
Der Schluß vom Symbol auf das Symbolisierte. — Finale Erklärung des
Ästhetischen in Natur und Leben. — Dionysos und Apollo. — Die Ästhetik
als Fall der Philosophie des Als Ob. — Der Weg vom Idol zum Ideal.
VIII. Der Gang ins Unbekannte.
Tod und Tat. — Die Philosophie der Geschichte. — Der autonome Sinn
der Geschichte. — Die Entsagungskatastrophe. — Geschichtsauffassungen
und ihre Konsequenzen. — Haiders und Höders Versöhnung. — Der Weg
der Mündigkeit.
I. Die Philosophie Kants.
Als Hume mit meisterhaften Argumenten die Geltung des
allbeherrschenden Gesetzes der Kausalität und die Realität des
Substanzbegriffes erschütterte, da hat er, um Kants Worte zu
gebrauchen, ein Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer,
aber auch überhaupt, wie wir hoffen, eine philosophische Rechen-
schaft angebahnt, wie sie vorausgehen muß, wenn es dem Menschen
gelingen soll, mündig zu werden. Vielleicht geht man nicht zu
weit, wenn man mit jenem Erwachen den Anfang der neuen Zeit
in Verbindung bringt und für jenes Mündigwerden den Beginn
wirklicher Kultur voraussieht.
Aber trotz Humes Einwendung war das Kausalitätsprinzip
doch vorhanden und nur, gleichwie das logische Prinzip überhaupt,
nicht aus der Erfahrung zu schöpfen. Hume hat aber seine
Argumentation von der Zufälligkeit der Erfahrung in dieser Rich-
tung nicht ergänzt und ist so zu seiner Art von Skeptizismus ge-
langt. Wenn auch seine negative Beweisführung unwiderleglich
war, so war von ihm doch bei seiner Ableitung des Kausalitäts-
begriffes aus der Gewohnheit in dem subjektiven Zustandekommen
dieser Ableitung selbst wieder eine Kausalität vorausgesetzt worden,
die durch das Post hoc nicht erklärt werden kann, das ja, wie er
selbst feststellt, von dem Propter hoc wesentlich verschieden ist.
Übrigens hätte auch die Tatsache, daß ein Irrtum in der Erfahrung
überhaupt eintreten kann, dazu führen können, den Zusammen-
hang der Kausalität mit unserer Subjektivität in den Vordergrund
zu rücken.^)
1) Die dem Hume sehen Standpunkt nicht fernstehenden Bestrebungen
Machs und anderer, durch den mathematischen Funktionsbegriff die Kausalität
zu ersetzen, verlieren ihre entscheidende Bedeutung angesichts der Unmöglichkeit^
das Zwingende der Logik ebenso zu behandeln. Übrigens hat dieser Funktions-
begriff etwas direkt Metaphysisches an sich, das angesichts seiner Eigenschaft
•jgj^ Anton Wesselsky:
Kant war es nun, der, Humcs Bedeutung würdigend, doch
die skeptische Erschütterung von Urteilen, die klar als zwingende
erkannt werden, nicht hinzunehmen vermochte, eine Erschütterung,
die sich vor allem auf das Gesamtgebiet der Mathematik beziehen,
aber schließlich auf das logisch Zwingende überhaupt erstrecken
mußte, das ja die Erfahrung ebensowenig bietet. In seiner tief-
schürfenden Besonnenheit stellte Kant nun die Frage nach der
Erklärung der für ihn feststehenden Tatsache zwingender synthe-
tischer Urteile. Humes Kritik drängte zu dem Schlüsse, daß
die Synthese a priori geschehe, was, nebenbei bemerkt, wie be-
kannt, nicht einen Vorgang vor aller Erfahrung bedeutet. In
der transzendentalen Lösung und Beantwortung dieser Frage, wie
synthetische Urteile a priori möglich seien, hat nun aber Kant
nicht nur die rätselhafte Erscheinung zwingender synthetischer
Urteile erklärt und implicite für die Mathematik die vollständige
Lösbarkeit aller ihr wirklich angehörenden Probleme erwiesen,
Kant hat damit noch mehr getan. Er hat die Menschheit
mit seiner Transzendentalphilosophie ein für allemal von der dog-
matisierendcn Metaphysik sowohl wie auch vom metaphysierenden
Dogmatismus befreit, zu welcher Befreiung der Skeptizismus nie
genügen kann, wie z. B. Bayles und Huets Werke zur Ge-
nüge beweisen und wofür vielleicht auch Wahl es moderne Schriften
herangezogen werden können.
Bedarf es einer Würdigung dieser Befreiung } Ihre Bedeutung
geht aus der einfachen Erwägung des unheilvollen Verhängnisses
hervor, das darin liegt, daß der Mensch, statt in seiner Sphäre
an jenem Reiche zu wirken, dessen Idee sein Inneres erfüllt, sein
Trachten und Sehnen in einem außerhalb des Lebens Liegenden
materialisiert. Er nimmt dann sein wichtigstes, edelstes Be-
streben als in einem Außerlebendigen erfüllt vorweg und schafft
sich so eine absolute Hypostase, die lähmend seinem Bereiche
gegenübersteht. Er fühlt sich dann losgelöst vom Volke und von
der Menschheit.^) Seine Blicke sind dann abgewendet von der Tat,
vom Leben, in dem allein ihm, wie wir noch näher sehen werden.
klar zum Ausdruck kommt, daß er zur Umkehrbarkeit in der Zeit führt. — Vgl.
Comte, Cours de philosophie positive (I. Bd., S. 113): ,,Toute question peut sans
deute etrc congue comme reductiblc ä une pure question de nombres."
') Das Streben nach Individualerlösung oder nach individueller Willens-
verneinung zu besprechen, ist hier nicht der Ort, doch ist hier darauf hinzuweisen,
daß ihm Solidarität, Mitleid und Liebe entgegenstehen.
Philosophie der Tat. 385
eine Antwort gegeben ist auf die drängende Unruhe, die für ihn
aus dem Gegensatze seines Wesens zu der Antinomie entsteht,
in deren Grenzen ihm alle Umwelt erscheint und alle Erkenntnis
gehüllt ist. Wir wollen jene Hypostasierung, jene verhängnis-
volle Selbsttäuschung, die sich durch die Epochen der Zivilisation,
durch die Ären der Religionen, durch die Äonen der Geschichte
und durch die Etappen der Philosophie in immer neuen Varianten
nachweisen und verfolgen läßt, wir wollen sie ein für allemal,
um sie vom Anthropomorphismus im guten Sinne zu unterscheiden,
mit dem lateinisch gebildeten Worte Hominismus benennen.
Allerdings ist es richtig, daß Kant zeitweilig auf dem Wege
der Annahme theoretischer Bedeutung praktischer Postulate einen
Glauben einführte, der freilich hinwiederum in seiner Wirkung
gemildert war durch den Pflichtrigorismus und durch eben jenes
Vorangehen der Moralität, auf die er erst den Glauben gegründet hat.
Es ist bekannt, daß Schopenhauer dieser Postulatenphilo-
sophie ähnliche Beschwichtigungsmotive für zugrundeliegend hält,
wie dem Bestreben Humes, seine Dialoge über die natürliche
Religion als bloße Wortstreitübung zu erklären. Schopenhauer
fährt dann über Kants Postulatentheorie weiter fort wie folgt:
,, Seine Darstellung, wenn wohlverstanden, besagt nichts anderes,
als daß die Annahme eines nach dem Tode vergeltenden Gottes
ein brauchbares und ausreichendes regulatives Schema sei zum
Behuf der Auslegung der gefühlten ernsten ethischen Bedeutsam-
keit unseres Handelns, wie auch der Leitung dieses Handelns selbst ;
also gewissermaßen eine Allegorie der Wahrheit, so daß in dieser
Hinsicht, auf welche allein es doch zuletzt ankommt, jene An-
nahme die Stelle der Wahrheit vertreten könne, wenn sie auch
theoretisch oder objektiv nicht zu rechtfertigen sei."
Kant hat die von Schopenhauer hier dargelegte fiktive
Natur des Vernunftglaubens in seinen Schriften der neunziger
Jahre tatsächlich zum Ausdruck gebracht. Von vornherein galt
ihm jedoch eine Als-Ob-Auffassung als bezüglich der psycho-
logischen, kosmologischen und theologischen Ideen zu Recht be-
stehend, die er, wie ja dem Abschnitt der Kritik der reinen Ver-
nunft über die Endabsicht der natürlichen Dialektik ohne weiteres
zu entnehmen, im Sinne heuristischer Begriffe oder regulativer
Prinzipien verstanden wissen will.
In seinen nachgelassenen Schriften ist nun Kant nicht nur
noch weiter gegangen in seiner Als-Ob-Auffassnng, sondern er hat
Annalen der Philosophie. I. 3
^86 Anton Wesselsky:
dort unseres Erachtens in letzter Entfaltung seines Urproblems von
der transzendentalen Synthese jene große Frage erledigt, die schon
in der Kritik der reinen Vernunft als unbegreiflich hingestellt
und später der Gegenstand des so verhängnisvoll gewesenen Ein-
wands Jacobis und Schulze-Acnesidcms geworden ist. Es ist
das die mit dem Apriori der Kausalität zusammenhängende Frage
nach der Verbindung der menschlichen Erkenntnis mit der Außen-
welt oder, nach innen gewendet, die Frage der Verbindung der
heterogenen Elemente des Denkens und der Anschauung, der
antinomistischen Extreme von Form und Inhalt, in der diese
Außenwelt in letzter Linie sich bietet, oder endlich überhaupt
die Frage nach unserer Antwort auf die für unsere Erkenntnis
ebenso unerträgliche als unvermeidliche Antinomie. Diese pro-
jiziert sich im Sinne von Form und Inhalt, oder von Geist und
Stoff in einem doppelten Ansich^) und dieses ist hinwiederum
jenes doppelte Extrem, das Kant in seinen nachgelassenen Schriften
als Gott und als Welt bezeichnet.
Der höchste Standpunkt der Transzcndentalphilosophie ist es,
den Kant in seinjm letzten Werke zum Gegenstande und zum
Titel nahm und er bezeichnet ihn expressis verbis als ein auto-
nomes System von Gott und der Welt und vom Menschen, der
beide Ideen synthetisch vereinigt. Diese beiden Ideen, die der
Mensch sich selber schaffe, seien im höchsten Grade heterogen,
die eine der ganze übersinnliche, die andere der ganze Sinnen-
gegenstand. Diese beiden heterogenen Objekte vereinigt der
Mensch in seinem Subjekte.^)
^) Hier und soweit in diesem Abschnitte die Antinomie in Frage kommt, sei
auf den nächsten verwiesen.
^ Es ist klar, daß der Kantianismus vulgaris zu solcher Auffassung nicht
gelangt ist. Es gelingt ihm dies nicht besser mit der Würdigung von Kants Philo-
sophie des Als Ob. Forberg hat sie erfaßt und Vaihinger nennt ihn in seiner
Philosophie des Als Ob (S. 752) nach einem Vergleich mit Fichte mit Recht den
Genialeren und Konsequenteren. Seit Forberg aber war jene Philosophie im
großen und ganzen geradeso verschollen, wie das ungeprägte Gold von Kants
philosophischem Nachlaß. Für manche starke Seelen hat auch Vaihingers Philo-
sophie des Als Ob nicht genügt zu einer Erfassung ihrer Bedeutung. Man könnte
fast sagen, daß die traditionelle Auffassung von Kants Philosophie selbst ein Be-
weis sei für die Kraft der Fiktion, die an die Stelle der Wirklichkeit tritt und über
die CS gilt, sich Rechenschaft zu geben.
Was nun die hier dargelegte Auffassung Kants anbelangt, so ist sie in meinem
Buche ,, Forberg und Kant. Studien zur Geschichte der Philosophie des Als Ob
im Hinblick auf eine Philosophie der Tat. Leipzig und Wien 1913" dargelegt, dem
Philosophie der Tat. ^87
So liegt die wohlvorbcreitete Kulmination der Philosophie
Kants in der Auffassung, daß der Mensch, zwar keineswegs meta-
physisch, wohl aber praktisch autonom sich selber seinem Wesen
gemäß die Antwort schaffen soll auf die wesentlichen in ihm
liegenden, nicht zu lösenden Fragen, auf sein immer wieder zur
Bescheidenheit mahnendes metaphysisches Bedürfnis. Und so
zielt der letzte Schluß der Transzendentalphilosophie auf die
autonome Freistellung des Menschen zum aufrechten Gang in
eine unbekannte Zukunft.
U. Die allgemeine Antinomie.
Die letzten wichtigen Gedankengänge der Kantschen Philo-
sophie sind seinerzeit unter dem Drucke der Angriffe gegen die
Theorie von der Affizierung der Sinnlichkeit durch das Ding an
sich, da doch nach derselben Lehre Kausalität nur auf die tran-
szendentale Erscheinung bezogen werden könne, unbeachtet ge-
blieben. Der schon bestandene weitreichende Einfluß der Philo-
sophie Kants wurde gebrochen^), diese für unhaltbar gehalten
und die Bahn freigemacht für metaphysische Systembildungen,
die später zur langjährigen Diskreditierung der Philosophie selbst
und ihrer kulturentscheidenden Aufgabe geführt haben, sich mündig
Rechenschaft zu geben über die Lage des Menschen.
In letzter Linie liegt aber in dem eben dargelegten sogenannten
Einwand des Aenesidem keineswegs eine Widerlegung der Kant-
schen Philosophie und es ist schade, daß, wie es ursprünglich
Jacobi geraten und wie es alsbald in der Ficht eschen Rezension
des Schulzeschen Aenesidem, der übrigens ursprünglich Reimarus
zugeschrieben wurde, geschah, damals jene Richtung zur Geltung
gelangte, die dann den ganzen oben erwähnten Verlauf der philo-
sophischen Entwicklung ermöglicht hat.
ich diese Stelle ungefähr entnahm und auf das ich insbesondere auch in Hinsicht
auf Kants Opus postumuni verweise.
Die Annahme einer lebendigen, in der Tat bestehenden Synthese heterogener
Extreme steht natürlich im vollen Gegensatz zu dem metaphysisch-hoministischen
Unternehmen, solche Extreme dadurch zu vereinen, daß man dieselben zum At-
tribut einer metaphysischen, erkennbaren Substanz macht.
*) Schon in dem ersten, nicht zu unterschätzenden Versuche einer Geschichte
der kritischen Philosophie, der zusammen mit einem eingehenden Literaturverzeichnis
der Materialsammlung von Hausius (Leipzig, 1793) vorangeschickt ist, tritt das
ziemlich deutlich in die Erscheinung.
25'
^83 Anton Wesselsky:
Kant hatte also die Kausalität und die Substanz als tran-
szendentale Kategorien erklärt, so daß wir uns keine Veränderung
ohne einen kausalen Vorgang denken können. Aber diese An-
nahme bedeutet gar nicht eine Feststellung für Vorgänge außer
uns, möge dabei von Affizierung unserer Sinnlichkeit gesprochen
werden oder nicht. ,,Ihre (der Sinnlichkeit) Beziehung auf ein
Objekt, und was der transzendentale Grund dieser Einheit sei,
liegt ohne Zweifel zu tief verborgen, als daß wir, die wir sogar
uns selbst nur durch inneren Sinn, mithin als Erscheinung kennen,
ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschungen dazu
brauchen könnten, etwas anderes als immer wieder Erscheinungen
aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen
wollten." So sagt Kant selbst schon in der Kritik der reinen
Vernunft^) und ferner ,,Über die berüchtigte Frage wegen der
Gemeinschaft des Denkenden und Ausgedehnten" ebenda: ,,Auf
diese Frage aber ist es keinem Menschen möglich, eine Ant-
wort zu finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens
niemals ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die
äußeren Erscheinungen einem transzendentalen Gegenstande zu-
schreibt, welcher die Ursache dieser Art Vorstellungen ist, den
wir aber gar nicht kennen, noch jemals einen Begriff von ihm
bekommen werden."^)
Das Kommerzium mit dem, was wir Außenwelt nennen, geht
eben aller Erfahrung voraus und Jacobi-Schulzes Einwand
trifft ins Leere. Es ist uns beispielsweise gar nicht möglich, die
Wirkung einer Masse auf eine andere uns überhaupt vorzustellen.
Eine Masse befindet sich nach unserer Vorstellung in einem Räume
und in diesem kann sie nicht auf eine andere wirken und außer-
halb dieses Raumes ebensowenig. Gleichzeitig muß hierbei an die
eleatischen Argumentationen gegen die Bewegung und, wie im
Achillesschlusse, gegen die Kontinuität erinnert werden. Die
Kausalität ist außerhalb unseres Denkens ebenso lahmgelegt, wie
innerhalb desselben unvermeidlich. Wir suchen uns, wie wir so-
eben sahen, mit dem Substanzbegriff zu helfen und fingieren für
die Außenwelt das Ding an sich, bezüglich dessen nicht übersehen
werden darf, daß Kant es in seinem Opus postumum in aller
Klarheit als Fiktion bezeichnet. Wir dürfen aber solcher Fiktion
') 2. Aufiage S. 334.
*; 1 . Auflage S. 392.
Philosophie der Tat. ^89
nicht unterliegen, und wir dür{.cn, wollen wir logisch bleiben,
Existenzfragen im Sinne des Bcrkeleyschen Idealismus gar nicht
stellen. Für jenes ganz und gar üabekannte außer uns, auf das
wir unsere Begriffe von Sein und Wahrheit gar nicht anwenden
sollen, bleibt uns allein nur das ignorare.
Daß unsere rationale Tätigkeit zu einem erschöpfenden Ver-
ständnis der äußeren Vorgänge gar nicht gelangen kann, ergibt
sich übrigens von vornherein aus folgender Erwägung. Unsere
Begriffe sind untereinander verbunden und geschieden nach Um-
fang und nach Inhalt und können weder des einen noch des anderen
entbehren. Die denkende Erfassung der Außenwelt würde, logisch
gesprochen, die Bildung von Begriffen mit letztem, größtem In-
halt bedingen, die zugleich, um alle verbunden werden zu können,
größten Umfang haben müßten. Es ist klar, daß eines das andere
ausschließt und daß Umfang und Inhalt unserer Begriffe im ent-
gegengesetzten Verhältnisse stehen. Schon die Tatsache des Be-
stehens von Umfang und Inhalt in unserer Begriffswelt bedeutet
also den Du lismus. Sie entspricht dem Dualismus von Denken
und Anschauung bei Kants transzendentaler Synthese. Wollen
wir zum letzten Extrem schreiten, so gelangen wir nur zu einem
Duplum, einerseits einer alles umfangenden, jedes Inhaltes bar
gewordenen Form, andererseits einer alles beinhaltenden, jedes
Umfanges entbehrenden Artung. Gott und Welt, Geist und
Stoff mag man diese Extreme nennen,*) Nach ihnen bilden
sich die einseitigen Weltanschauungen des Spiritualismus und
des Materialismus, die beide nur insofern monistisch sind, als
sie neben der dogmatischen Naivetät ihres Bestandes das
gleiche Recht oder richtiger Unrecht der entgegengesetzten
Weltanschauung übersehen. Wo immer die Wissenschaft glaubt,
einen endgültigen Halt gewonnen zu haben, da schwindet
^) Was Kant über diese Extreme einerseits und den Menschen andererseits
im Opus postumum gesagt hat, wurde schon besprochen. Jetzt sei daraus (Con-
vol. VI, 2) folgende Stelle zitiert: ,,Hier müssen wir uns erinnern, daß wir den end-
lichen, nicht den unendlichen Geist vor uns haben. . . . Ein solcher Geist wird mit
dem Triebe nach Form und nach dem Absoluten einen Trieb nach Stoff oder nach
Schranken verbinden, als welche die Bedingungen sind, ohne welche er den ersten
Trieb weder haben, noch befriedigen könnte. Inwiefern in demselben Wesen zwei
so entgegengesetzte Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe, die
zwar den Metaphysiker, nicht aber den Transzendentalphilosophen in Verlegenheit
setzen kann."
In der Kritik der reinen Vernunft heißt es (2. Aufl. S. 682): ,,Dem logischen
■iQO Anton Wesselsky:
zuletzt der Boden unter den Füßen. ^) Absolute Naturgesetze
sind uns verschlossen. Letztes, einhelliges, widerspruchsloses, ob-
jektives, ruhiges Wissen ist uns nicht möglich. Wir müssen uns
mit Fiktionen behelfen. Eine durchgängige Antinomie beherrscht
unser Erkennen.
Prinzip der Gattungen, welches Identität postuliert, steht ein anderes, nämlich
das der Arten entgegen, welches Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Dinge
unerachtet ihrer Übereinstimmung unter derselben Gattung bedarf und es dem
Verstände zur Vorschrift macht, auf diese nicht weniger als auf jene aufmerksam
zu sein. . . . Die Vernunft zeigt hier ein doppeltes, einander widerstreitendes Inter-
esse: Einerseits das Interesse des Umfanges (der Allgemeinheit) in Ansehung der
Gattungen, andererseits des Inhaltes (der Bestimmtheit) in Absicht auf die Mannig-
faltigkeit der Arten, weil der Verstand im ersteren Falle zwar viel unter seinen Be-
griffen, im zweiten aber desto mehr in denselben denkt."
Kant meint (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. S. 29), daß die zwei Stämme
der menschlichen Erkenntnis ,, vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns
unbekannten Wurzel entspringen". Ausdrücklich sagt er aber (ebenda, S. 694ff.),
daß das dadurch begründete, zwiefache Interesse der Vernunft, daß deren Maximen,
die in entgegengesetzter Richtung, nämlich in Hinsicht auf Mannigfaltigkeit und
Einheit bestehen, einen Widerstreit bedeuten, so wie sie nicht bloß regulativ, sondern
konstitutiv und in Hinsicht auf objektive Einsicht genommen werden. —
Wenn auch Hegels Lösung der allgemeinen Antinomie durch seine meta-
physische Logik im absoluten Geiste nicht hierher gehört, so ist doch sein folgender
Ausspruch (Enzyklopädie, §48) zu zitieren: ,,Die Hauptsache, die zu bemerken
ist, ist, daß nicht nur in den vier besonderen, aus der Kosmologie genommenen
Gegenständen die Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen
aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies zu wissen und
die Gegenstände in dieser Eigenschaft zu erkennen, gehört zum W^esentlichen der
philosophischen Betrachtung."
Vgl. auch Plato, Politeia, 507 (VI. 18): Über Protagoras: Diog. Laert. IX. 51.
tJber die Pythagoräer und Alkmänn: Aristoteles. Metaphysik I. 5.
^) Nichts ist bezeichnender für die Labilität anscheinend festgefügter natur-
wissenschaftlicher Lehren, als die Leichtigkeit, mit der sie erschüttert werden können.
Die Wirkung, die die Lorentz-Einstein-Minkowskischen Relativitätstheorien
in dieser Richtung hatten, die durch sie in gewissem Sinne herbeigeführte Krise
in der modernen Naturwissenschaft und deren plötzliche Orientierung in der Rich-
tung einer zum Teil gewiß nicht ungesunden Relativität, das alles ist ein drastisches
Beispiel für jene Labilität.
Die Relativitätstheorien schließen sich eng an Hume an und müssen im
Skeptizismus untergehen, wenn sie im Meere der bloßen Beziehungen das Steuer
des eigenen zentralen, wenn auch keineswegs metaphysischen Parameters übersehen.
Die oben bezeichneten Relativitätstheorien gründen sich eigentümlicher-
weise auf ein angeblich absolutes Geschwindigkeitsmaximum (des Lichtes), was
nicht nur ihrem Namen gründlich widerspricht, sondern auch von vornherein ebenso
fraglich erscheint, wie die von diesen Theorien geübte Ersetzung logischer Einsicht
durch mathematische Formeln.
Philosophie der Tat. 29 1
III. Der Zwang zur Fiktion.
Der Mensch vereinigt synthetisch, wie ausgeführt, die anti-
nomistischen Gegensätze, er unterhegt ihnen nicht, er schaltet
sie aus auf seinem eigenen Gebiete; jedoch aus der Welt zu schaffen
vermag er sie nicht. Von einem antinomielosen Zustande, von
einer einhelligen, metaphysischen Erkenntnis kann keine Rede
sein. Der Mensch hat keine Erkenntnis im Sinne einer notio
utriusque, sondern nur eine Kenntnis inter utrumque. Es kann
nicht von einer Anantinomie, wohl aber darf von einer Dianti-
nomie gesprochen werden. Dieser Begriff soll des weiteren zur
Bezeichnung der Sachlage dienen.^)
Die Diantinomie liegt im Sinne der oben vorhergegangenen
Ausführungen in der vorrationalen Verbindung des Denkenden
mit dem Ausgedehnten, von der anderen Seite genommen des
Erkennenden mit dem ,, Erkannten". Zwischen der vegetativen
Bindung des Stoffes in unserem Leibe und unserer mehr oder
weniger willkürlichen Einflußnahme auf Leib und Außenwelt ist
dabei ein Unterschied nur dem Grade nach anzunehmen. Im
Selbstbewußtsein ist aber jene Verbindung des Erkennenden mit
Auch der Konsequenzenj die die Entdeckung der Radioaktivität in den physi-
kalischen Doktrinen, zum Teil vorübergehend, zum Teil andauernd mit sich ge-
bracht hat, ist an dieser Stelle zu gedenken.
Endlich darf vielleicht auch angemerkt werden, daß die Newtonsche Gravi-
tationstheorie neben der modernen sogenannten Elektronentheorie nur dann be-
stehen kann, wenn die Anziehung der ungleichen Elektronen größer angenommen
wird, als die Abstoßung der gleichen (positiven oder negativen). Hierbei ist an
die Theorien von Boscovich über die Abstoßung und Anziehung und von Kant
zu erinnern über das verschiedene Wachsen von Anziehung und Abstoßung bei sich
ändernder Entfernung.
Angesichts der Rolle, die beim Gesetze von der Erhaltung der Energie die
sogenannte tote potentielle Kraft spielt, wird es notwendig sein, ein Gesetz von
der Erhaltung der Bewegung einzuführen, aus welchem sich dann abermals Labi-
litäten der Doktrinen ergeben müssen.
Labilisiert wird, was keine Stabilität besitzt. Sich von dogmatischen Auf-
fassungen zu befreien, die in der Natur der Sache nicht begründet sind, ist aber
auch in Hinsicht auf die technische Beherrschung der Umwelt durch Entdeckungen
und Erfindungen zweifellos sehr wichtig. Die letzte Verknüpfung der äußeren
Vorgänge mit unserer Erkenntnis derselben bleibt uns freilich nach wie vor ebenso
Geheimnis, wie das Wesen dieser Vorgänge selbst.
1) Dahlmann (Nirwana, S. 6i) sagt: Das Ideal, das in Nirwana ausgemalt
wird, läßt sich in das eine Wort nirdvandva, ,, losgelöst von allen Gegensätzen",
zusammenfassen .
2Q2 Anton Wesselsky:
dem Erkannten in der Form der Identität gegeben. Schopen-
hauer wird nicht müde, diese Identität das Wunder kat' exochen
zu nennen.^) Wir haben darüber schon oben gesprochen und
wollen Wiederholungen vermeiden, so daß der Hinweis genügen
muß. Genug, im Selbstbewußtsein liegt der Fall unmittelbaren
Wissens von jener vorrationalen Verbindung vor. Doch immer
nur eine Kenntnis des Daß ohne Erkenntnis des Was, die nicht
ausreicht zur Hypostasierung der menschlichen Diantinomie im
Sinne eines metaphysischen Voluntarismus.
Der Sinn der Erforschung der Umwelt muß angesichts der
allgemeinen Antinomie ein anderer sein, als der der objektiven
Wahrheit, die uns verhüllt bleibt, ja, die wohl selber nur ein
finaler Begriff ist. Wir suchen uns die Natur dienstbar zu machen,
ohne sie erkennen zu können. Wir treten ihr in unserem Sinne
gegenüber und fingieren, um uns überhaupt betätigen zu können,
Widerspruchslosigkeit, wo nur Oberflächlichkeit vorliegt. So be-
kommt der banale Spruch, daß Wissen Macht ist, einen gar tiefen
Inhalt. Es handelt sich freilich in Wirkhchkeit nicht um ein
Wissen, sondern um ein Wirken unseres eigenen Wesens in der
uns umgebenden Welt, um kein Begreifen im erkennenden Sinne,
sondern im Sinne eines Zurechtfindens in der Außenwelt.
Der naive Mensch nimmt Kenntnis für Erkenntnis und be-
ruhigt sich und fühlt sich wohl dabei, bis er nach langem Ringen
mit den nicht zu überwindenden Widersprüchen zur bescheidenen
Einsicht gelangt, und nach abermaliger Frist dann seinen eigenen
Maßstab ^^iirdigt, der ihn diese Widersprüche überhaupt erkennen
läßt. So hat er zuerst auch die Erde als Zentrum des Weltalls
genommen und dieses als für den Menschen geschaffen. So hat
er das Allerhöchste für selbstverständlich gehalten und das Ge-
waltigste als erreicht. Wenn aber sein Wesen hart an den Wider-
sprüchen sich stieß, dann hat er sich mit jenen transzendenten
Hypostasen betäubt, die wir Hominismus nannten, und hat immer
wieder die Augen davor geschlossen, auf sich selbst gestellt zu
sein. Er wehrt sich, seine Kenntnis anders denn als Erkenntnis,
sondern als seine Waffe, sein Wissen anders denn als Gewißwissen,
sondern als ein finales und symbolisches im Sinne seines eigenen
^) Z. B. Satz vom Grunde, § 42: . . . ,,eine wirkliche Identität des Erkennenden
mit dem als wollend Erkannten, also des Subjektes mit dem Objekte ist unmittelbar
gegeben. Wer aber das Unerklärliche dieser Identität sich recht vergegenwärtigt,
wird sie mit mir das Wunder kat' exochen nennen.'"
Philosophie der Tat. ^q'J
Wesens zu nehmen, als ein Wissen, dessen Fiktionen nicht mehr
für wahr zu halten eine Vorbedingung ist für seine Mündigkeit
und für die Entdeckung seiner Heimat, das ist seiner selbst.
So enthält die Nachweisung der allgemeinen Antinomie von
vornherein auch die Nachweisung des Als-Ob-Charakters unserer
Erkenntnis.
Es ist nun eine sittliche Aufgabe ohnegleichen, sich Rechen-
schaft zu geben über den Charakter dessen, was man gewohnt
war, als Erkenntnis hinzunehmen ohne daß es Erkenntnis ist.
Diese Rechenschaft gewährt bis ins einzelne Vai hingers Philo-
sophie des Als Ob. Mit ihr geht es aber ähnlich, wie mit der
Philosophie überhaupt. Oberflächlich betrieben, führt diese so
leicht zum materialistischen oder spiritualistischen, doch immer
monistischen Dogmatismus in der Richtung des einen oder des
anderen antinomistischen Extrems, und oberflächlich angesehen,
hat die Philosophie des Als Ob für die Erkenntnistheorie zu Auf-
fassungen geführt, wie sie für die Ethik der Pragmatismus und
ähnliche Lehren mit sich bringen, die in der letzten Zeit durch
den bekannten Esprit de corps die ebenfalls bekannte Eintags-
und Journalkarriere gemacht haben. Der Pragmatismus, dem
die Nützlichkeit von Fall zu Fall das Sittengesetz ist, der von
,, philosophischen Kassenwerten" spricht usw., gleicht einem Bau-
meister, der die Regeln des Baues dem Hause entnehmen will,
das er zu erbauen hat, und ist eine Lehre der Dekadenz und des
Parasitismus. Ein Volk, das dem Pragmatismus gemäß für wahr
hielte, was ihm ,, moralische Ferien" gewährt, i) das ginge dem Ver-
falle entgegen und setzte den Profit der Stunde an die Stelle des
Erfolges der Tat. ,, Jedoch sollen hier keineswegs als über ein in-
auditum nefas die Götter angerufen werden: ist doch dies alles
nur eine Szene des Schauspiels, welclie wir zu allen Zeiten, in
allen Künsten und Wissenschaften vor Augen haben, nämlich
den alten Kampf derer, die für die Sache leben, mit denen, die
von ihr leben, oder derer, die es sind, mit denen, die es vorstellen."*)
.,Alle falsche Kunst, alle eitle Weisheit dauert ihre Zeit; denn
endlich zerstört sie sich selbst, und die höchste Kultur derselben
ist zugleich der Zeitpunkt ihres Unterganges."^
^) Die zitierten Ausdrücke sind entnommen aus James, Pragmatismus, deutsch
von Jerusalem, 1907.
*) Schopenhauer, Parerga I. S. 141.
') Kant, Prolegomera, Ak.-A., S. 366,
^Qj^ Anton Wesselsky:
Die Philosophie des Als Ob dient der Wahrhaftigkeit. Sie
ist ein lebendiger Trieb aus der echten Wurzel der Kantischen
Philosophie und nicht dazu da, um das zu stützen, dessen Halt-
losigkeit sie selber begründet. Sie ist eine Rechenschaft über den
fiktiven und weitgehend autonomen Charakter unserer Erkenntnis.
Indem sie die Fiktion als das bezeichnet, was sie ist, wird
sie aber auch zur Förderin der Mündigkeit.
Wenn wir sehen, daß die Logik nur in Hinsicht auf die Ethik
unverbrüchlich ist, so wird uns die Philosophie des Als Ob in ähn-
lichem Sinne, wie Kant meinte, daß er ,,das Wissen aufheben
mußte, um zum Glauben Platz zu bekommen", zur Waffe im
Kampfe der Ethik gegenüber der überragenden Rolle angeblicher
Metaphysik, im Kampfe des Lebens und der Tat gegenüber dem
überragenden Einflüsse des Intellektualismus. Doch ist von all
dem später zu sprechen, vor allem auch davon, daß wir fort-
schreiten müssen von der Finalität zum Subjekte derselben, vom
Fingere zum Fingens, vom Leben zum Lebendigen, von der Fiktion
zu dem, der sich ihrer bedient.
Hier aber muß es genügen, das Fazit zu ziehen und darauf
zu verweisen, daß es unserem Verstand nicht verstattet ist, mit
Wahrheiten, sondern nur mit Fiktionen, im übrigen aber mit
Wirklichkeiten zu arbeiten, daß das Erkennen final und daß seine
Wirklichkeit das Wirken ist; das Denken selber aber eine Tat.
IV. Das autonome MalJ und Zieh
So gelangen wir nun von der Fiktion zu uns selbst als fingierenden
Menschen. Wir sehen, daß wir nichts wissen können. Wir wandeln
in einem großen Geheimnis. Wir finden nur überall Widerspruch,
der ins menschliche Dasein hineingreift, trostloses Stückwerk,
lastende Unbegreiflichkeit. Seit die Menschheit zu denken ver-
mag, ist ihr erschreckendes Vermissen zuteil, und nicht minder
von Jugend auf dem einzelnen Menschen. Er erkennt sein Leben
als einen Augenblick mit einer Ewigkeit vorher und einer Ewig-
keit nachher. Fragen in allen Sprachen und in allen Formen nach
dem Woher und Wohin und Warum und Wozu, und keine Ant-
wort, als die die Menschheit sich selber gibt. Die Lohe dieser
Unruhe ist stärker als alle löschenden Taufgewässer. Die Stimme
dieser Bangigkeit ist unüberhörbar, wie nächstes, eindringlichstes
Fliistern, wie tobende, tosende Sturmflutbrandung, die schließ-
Philosophie der Tat. 395
lieh alles mit sich reißt. In den weihevollen Tempeln herrscht
der ,, totenstille Lärm" der metaphysischen Not, die nach dem
Erwachen aus der Betäubung immer wieder wie mit Feuerzungen
hindurchspricht.
Denn unser Selbst ist es, aus dem diese Sprache sich durch-
ringt, unser ureigenes Wesen ist es, aus dem diese Flamme hervor-
bricht. Wie Goethe in der Farbenlehre den alten Mystiker (Plotin)
übersetzt: ,,Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es
nieerbhcken; lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt'
uns Göttliches entzücken?" Schopenhauers so scharfe Beob-
achtung, daß ältere Gesichter den Ausdruck des Disappointement,
der enttäuschten Hoffnung, an sich tragen^), ist eine interessante
Bestätigung für den Maßstab, den der Mensch mit sich in die
Welt bringt, und im Gegensatz zu welchem ihn diese mit unerträg-
lichem Widerspruch anschreit. Unser nach Einhelligkeit dürstendes,
lechzendes Wesen, das ganze Kerkerempfinden, mit dem wir der
Antinomie gegenüberstehen, beweist, daß wir in unserem ureigen-
sten Wesen, in unserem besseren Selbst, ein Tertium comparationis
haben, das unsere Kritik erst möglich macht und eine Bürgschaft
ist, die eben dieser Kritik als ihre Quelle und als ihr Ausgangspunkt
stand hält und gleichzeitig einen unverrückbaren Maßstab be-
deutet für unser Verhalten. ^)
Es darf hier die epigrammatische Antwort zitiert werden,
die der Inschrift am Standbild der verschleierten Isis, wie sie
Plutarch mitgeteilt und Schiller nachgedichtet hat, Novalis
entgegenhält: ,, Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin
von Sais. Aber was sah er ? Er sah, W'under des Wunders, sich
selbst." Oder wie Angelus Silesius anders sagt: ,,Ich weiß,
daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd ich zunicht,
er muß vor Not den Geist aufgeben."
Mit unserem Maßstab erst, mit dieser autonomen Gegebenheit,
mit dieser subjektiven ,, Metaphysik" haben wir angesichts der uns
umgebenden Jammerwelt unsere Heimat gefunden als eingeborene
Söhne des Hohen und Hehren, des Edlen und Guten in uns. Dieser
Maßstab ist streng; je besser der Mensch, desto besser hat er
ihn inne, und wer auf ihn verzichtet hat, hat auf sich selbst
verzichtet. Mag es noch so richtig sein, daß die menschhehe
Gesellschaft oben voll Selbstsucht, in der Mitte voll Feigheit und
1) Welt als Wille II (Reclam), S. 748.
^ Vgl. Seneca, Ad Lucilium XLI. — Bhagavadgita III. 33.
2q5 Anton Wesselsky:
unten voll Gemeinheit sei, so hüten doch jene Menschen das
heilige Feuer der Menschheit, die innerlich der Resignation nicht
anheimgefallen sind.
Der Pessimist Leopardi ruft in den Versen ,,An sich selbst"
seinem und damit zugleich dem Menschenherzen zu: ,, Nichts lebt,
das würdig wäre deiner Regungen." Aber die lebendigen Regungen
dieses Herzens sind ihrer selbst würdig und wertvoll. Gilt es nicht
diesen edlen Regungen }'^) Mit solcher fruchtbaren Zielsetzung ist
gleichsam erst eine Entdeckung des Menschen gegeben, und Pes-
simismus und ebenso, da es sich um finale Dinge handelt, Opti-
mismus, beide im Sinne metaphysischer Betrachtungsweise, fallen
wie öde Schalen von einer reifen Frucht zu Boden. Aller Ein-
wand selber wird zum .\rgument für eine subjektive, einhellige,
finale monistische Gegebenheit, die hoministisch zu projizieren und
zu hypostasieren wir aber kein Recht haben, und die wir uns hüten
müssen, objektiv zu metaphysieren. Sie ist autonom und unser
Maß und Ziel. Ihre Wirklichkeit ist das Wirken, ihr Zeichen ist
die Liebe und ihrer Weisheit letzter Schluß die Tat.
Nur geht es, nochmals gesagt, nicht an, diese monistische
Gegebenheit für eine absolute, anantinomistische, freie, metaphy-
sische zu nehmen. Sie ist nicht frei oder unfrei, oder beides zu-
gleich, sondern weder das eine, noch das andere. Sie hat über-
haupt mit antinomistischen Extremen nichts zu tun. Sie ist
menschlich und lebendig. Sie ist subjektiv und autonom und
lebt und stirbt mit uns, soweit wir wissen. Sie ruft uns zur
Betätigung auf und zur Durchsetzung auf dem Wege der Wahr-
haftigkeit und der Tat. Nicht geheimnisvolle Verschwommenheit
zeichnet sie aus, vielmehr helle, apollinische Klarheit.
Anders steht es mit der Mystik, die hier kurz Erörterung
finden muß. Als Justinian feige die Philosophie verbot und
habsüchtig die Schule von Athen aufhob, deren Scholarchen seit
Plato eine ununterbrochene Aurea catena gebildet hatten, da
hatte Damaskios, der letzte derselben, die Ergebung in das
Nichtwissen proklamiert; denn es sei dem ohnmächtigen Men-
schen versagt, zur Erkenntnis zu gelangen. So endete die
gewaltige griechische Philosophie mit dem Bekenntnis ratlosen
*) Ähnliche Antwort läßt sich der Schrift Innocens III. De miseria con-
ditionis humanae und den Sonnetten Michelangelos oder den Versen der Vi ttoria
Colonna-Pcscara geben.
Philosophie der Tat. 907
Schweigens.^) Vorhergegangen war eine Epoche des Skeptizismus,
der auch das Nichtwissen in Zweifel zog, und des Neuplatonismus,
der eine innediche ekstatische Vereinigung mit dem metaphysischen
Urwesen als möglich hinstellte. Die Stimmung in dieser Epoche
des Sterbens der Antike und die geistige Unzulänglichkeit der
Zeit führten zu rEntsagungskatastrophe. Diese Stimmung war
echt und die ersten Christen waren keine feilen Diener der Macht. ^)
So haben sie auch die Macht erworben. Der Inhalt der bedeutenden,
gegen die Christen gerichteten Schriften überstieg das Niveau der
christlichen Masse. Später wurden diese Bücher verschwinden
gemacht und über die Bekenner siegte die Organisation der Priester-
schaft. Da tauchte aus neuplatonischen Abgründen unter den
dem Dionysius Areopagita zugeschriebenen Werken, von den
Kirchen als der heiligen Schrift zunächst geachtet, die ,, mystische
Theologie" empor. ,, Siehe aber", so heißt es dort, ,,daß keiner
von denen, die mit unserer Religion nicht vertraut sind, das höre.
Und damit meine ich jene, . . . die glauben, daß sie ihn, der im
Dunkeln waltet, mit ihrer Erkenntnis erfassen können." (I.)
,,Je höher wir gelangen, desto mehr schwinden die Worte und
endlich weicht die noch so kurze Rede dem Schweigen." (II.)
,,Wir sagen, daß Gott weder Geist sei, noch Verstand, noch Er-
scheinung, noch Meinung, noch Vernunft, nicht Bewegung, noch
Ruhe, nicht Leben, nicht Tod, nicht Licht, nicht Finsternis, nicht
Vater, nicht Sohn, nicht Einheit, nicht Allheit, weder Irrtum,
noch Wahrheit, weder Ja, noch Nein. . . ." (V.) Das ist des
Dionysius negative Theologie. Nur hat der Mystizismus nach
dem Versagen der rationalen Erkenntnis, weil ja das seiner be-
wußte Selbst dem Ansich angehören müsse, eine innere irrationale
Verzückung hinzugefügt, eine ekstatische Kontemplation, die aber
doch nur eine in der Zeit liegende Hingabe an unser eigenstes
innerstes Wesen sein kann und die, sofern es sich bei solcher Ek-
stase um Erkenntnis handeln soll, als Contradictio in adjecto gelten
muß. Dieser rauschartige Zustand entrückter Versunkenheit, der,
der Vergleich sei verziehen, wie ein elektrischer Kurzschluß licht-
verlöschend von aller Spannung erlöst, führt naturgemäß zur
Lähmung, zur Passivität, zum Quietismus, der allerdings keines
^) Damaskios, De principiis 7: Tt neoas iarai tov lö^ov nXrjv atfTJg otfirj-
/nvov xai d^oloyias lov jXTjöäv yivwaxeiv, wv ixrjde {Hfiig uSvväiOiv ovzav eig
yvvtaiv iX&Elv\
^) ArrJarij Diatribae Epicteti IV, 7.
398
Anton Wcsselsky:
erlösenden Vermittlers bedarf, und daher auch keiner kirchlichen
Vermittlerin der Vermittlung. Pura contemplatio absquc acti-
vitate et sollicitudine, sagt F^n61on in seinen Placitis sanctorum.
Diese verzückte Wunscherfülltheit, in der Theoria des Plotin,
in der Theosis des Areopagiten, in der Vergottung Eckharts, in
der quietistischen Versunkenheit des Molinos und der Guyon
liegt abseits von aller Moralität.
Schopenhauers Metaphysik setzt ein beim Wunder des
Selbstbewußtseins und versucht von hier aus den „Übergang
von der Erscheinung zum Ding an sich". Schopenhauer geht
den Weg zum Ansich von innen, in unmittelbarer, wenn auch
der Zeit unterworfener Erfassung. Das so erfaßte ist unser Wille.
Es ist das uns Eigene, allem für uns Vorangehende. — Aber selbst
mit der Welt identifiziert, ist dieser Wille ja doch nicht trans-
zendent, nicht Gott sozusagen, sondern ,, gleichsam der ge-
kreuzigte Heiland, oder aber der gekreuzigte Schacher, je nach-
dem er sich entscheidet." Schopenhauers Weg führt doch
nicht zum Ansich. Andernfalls wären die Fragen berechtigt, die
er zum Teile selbst berührt, warum der Wille, der frei ist, sich
zu bejahen, sich verneinen solle, oder weshalb er sich bejahte
und die Ruhe des seligen Nichts verließ, und ob er es nicht nach
der Verneinung wieder verlassen werde; woher die Täuschung
der Maja, woher der Mißton des Leidens komme, aber auch woher
unsere Kritik dieses Zustandes usw.
Nach dem indischen Vedanta endlich ist das Atmanwissen,
also das Wissen von der Identität unseres Selbst mit dem Brahman,
dem Prinzip aller Dinge, selber schon die Erlösung. Diese Lehre
nimmt die Mystik sozusagen intellektuell vorweg und ist fern,
wie diese vom ,, Wunder der Moralität", von mündiger Ethik.
Dort heißt es von dem, der das Atmanwissen hat: ,,Ihn fürwahr
quälen nicht mehr die Fragen : Welches Gute habe ich unterlassen ?
Welches Böse habe ich begangen P^) Aber auch dieser Stand-
punkt schafft die Frage nach der Entstehung des Irrtums, der
Maja, des Unrechts, des Leidens nicht aus der Welt.
Wir können übrigens nichts wissen von all diesen metaphysischen
Dingen. Darüber sich in Behauptungen zu ergehen, wäre ein Saltus
in dcmonstrando und hieße, wie Kant warnt, ,, Vernunft unter
F:rdichtungcn und Blendwerken ersäufen". Doch kennen wir klar
') Di-ussen, die Philosophie der Upanischads. XV.
Philosophie der Tat. •jgg
das Gute in uns, dem wir uns ebenbürtig erweisen durch die Über-
einstimmung unseres Willens mit unserem besseren Selbst. Dieses
ist uns zum Ziele gegeben, zum Motiv die Liebe und zum Vollzuge
die Tat.
Kann ein Gott diese ungeschehen machen } Den erlittenen
unsagbaren Schmerz unerlittcn > Angestiftetes Unrecht gerecht .?
Was hilft gegen solch kapitale Erwägungen das Atmanwissen des
Vedanta } Es gehört zur Maja der Metaphysik.
Das Wirken ist dagegen unsere Wirklichkeit, der Schoß der
Tatsachen die Tat.
V. Die Wirklichkeit des Wirkens.
Wir können und dürfen das große Geheimnis nicht unter-
schätzen, in dem wir walten. Dieses ist nicht nur die Antinomie
selber, die uns alle objektive Kenntnis verschließt, weil Wahrheit
nur einhellig sein kann; sondern viel mehr noch ist das Geheimnis
in dem Gegensatz unseres Wesens eben zu jener Antinomie ge-
legen, zu dem Widerspruche, der uns umgibt. Dieser Gegensatz
ist die große Folie für unser Wesen, er verleiht ihm das stärkste
Relief, und er ist die große Verweisung desselben auf den Weg
der Tat, auf die alleinige Wirklichkeit unseres Wirkens.
Wir haben nur die Gegenwart; aber die Tat macht sie uns
zur Tochter der Vergangenheit und zum Schöße der Zukunft.
Hier spüren wir den Boden, wo wir heimisch sind. ,,Die wahre
Unsterblichkeit ist", wie Schiller in seinen philosophischen Briefen
sagt, ,,die, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name
ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."^) Haben wir unsere
Entschließung einmal dem dunkel schaffenden Schöße der Zeit
anvertraut, dann wirkt sie fort, sei sie bejahend oder verneinend,
und sei sie auch eine bloße Säumnis gewesen, unzurückführbar,
unaustilgbar. Jener oberflächliche sogenannte Intellektualismus,
der, weit entfernt von mündiger Kritik und Rechenschaft, von
Ethik nicht gern hört und sie am liebsten lächerlich macht, muß
erschauern vor dieser Größe der Tat.
Diese hat noch eine ebenso unabsichtliche, wie wesentliche
^) Vgl. Goethe: Die Tat ist alles, nichts der Ruhm. (Faust II. T.). Nietzsche:
Diese Münze, mit der alle Welt bezahlt, Ruhm, mit Handschuhen fasse ich diese
Münze aUj mit Ekel trete ich sie unter mich.
^OO Anton Wcsselsky:
und bedeutungsvolle Wirkung auf den Täter selbst. Mit seiner
Tat schafft sich der Täter neu und um. Wie jeder Gedanke, jedes
Gefühl, jeder Wille im Antlitz eine untilgbare Spur zurückläßt,
wie jeder frivole Beleidiger sich selbst beleidigt und jeder Betrüger
zuerst ein Selbstbetrügcr ist, so stärkt und stählt den Menschen
die rechtschaffene wahrhaftige Tat.
Es war ein Urteil aus gereifter Lebenserfahrung und tiefer
Besonnenheit, als in der Weisheit seines Alters Friedrich der
Große an den todkranken D'Alembert jenen Brief schrieb,
der ihn nicht erreichte, und darin sagte: ,,I1 me semble, que l'homme
est plustot fait pour agir, que pour connaitre; les principes des
choses se derobcnt ä nos plus perseverantes recherches."^)
Goethe ging noch weiter, als er sagte: ,,Es ist mir alles ver-
haßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren
oder unmittelbar zu beleben." Nietzsche ist es, der sich den
Inhalt dieser Worte im Eingange seiner unzeitgemäßen Betrachtung
vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Ixben zu eigen
macht. Und Kant erachtet ,,die letzte Absicht der weislich
uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft
eigentlich nur aufs Moralische gestellt".
Die Tat ist der bewußte Vollzug des geheimnisvollen Com-
merciums innerhalb der Antinomie nach innen und nach außen,
und ihre Bedeutung für den mündigen Menschen kann natürlich
nur in ihrer Übereinstimmung mit seiner vernünftigen Einsicht
liegen. Nur unter dieser Voraussetzung kann eine Handlung
unser besseres Selbst bewähren und in diesem Sinne ist es kein
Paradoxon, zu behaupten, daß auch die Durchführung der Willens -
Verneinung eine Willcnsbejahung wäre.^)
^) Der Brief ist datiert vom 30. September 1783. D'Alembert ist am
29. Oktober desselben Jahres gestorben. Oeuvres posthumes de Fr6d6ric II.
Vol. XII, S. 33. — Vgl. Hindenburg, Aufruf zur Zeichnung der achten Kriegs-
anleihe, 1918: ,,Die Tat ist die Verkörperung des Willens. Sie fordert den Einsatz
der Persönlichkeit. Verantwortung und Gewissen bestimmen sie. Nur sie über-
windet die Hindernisse und führt zum Ziel. Die Tat wohnt nicht bei Kleingläubigen
und Zaghaften. Sie ist der Deutschen stolzestes Wort."
*) In dem letzten Bande von Deussens so lehrreicher Geschichte der Philo-
sophie (S. 579) sagt dieser berufene Interpret Schopenhauerscher Philosophie
übtr die Askese als Weg der Verneinung des Willens: ,, Niemand wird sich der Er-
kenntnis verschließen, und Schopenhauers Leben ist selbst ein großes Beispiel
dafür, daß die edelste Form der Askese in einer angestrengten, ohne Absicht auf
Lohn unternomnienen und heroisch durchgeführten Lebensarbeit besteht." Deussen
Philosophie der Tat, 401
Über seine Tat ist der Mensch Herr und damit auch autonom,
sofern er jene Übereinstimmung mit seinem besten Wissen nicht
verhert. Cato in Utica, das Schwert an der Seite, war mehr sein
eigener Herr als Juhus Cäsar, der dort siegte und später seine Anti-
catones schrieb. Von Cato spricht Lucanus, wenn er Rom zu-
ruft: ,,Ecce parens verus patriae, dignissimus aris — Roma, tuis;
per quem nunquam iurare pudcbit — et quem, si steteris unquani
cervice soluta, — tunc ohm factura deum." Rom stand nie mehr
,,cervice soluta", ungebeugten Nackens. Für Cato aber gelten die
Worte Lucans.
ist dabei durchaus im Einklang mit Schopenhauers eigenen Worten (Neue Para-
lipomena, Reclamsche Ausgabe, § 635, aus dem verlorenen Werke: Über sich selbst):
„Mein Leben in der wirklichen Welt ist ein bittersüßer Trank. Es ist nämlich,
wie mein Dasein überhaupt, ein stetes Erwerben von Erkenntnis, Gewinnen von
Einsicht, das hier diese wirkliche Welt und mein Verhältnis zu ihi*betrifft. Der
Gehalt dieser Erkenntnis ist traurig und niederschlagend : aber die Form der Er-
kenntnis überhaupt, das Gewinnen an Einsicht, das Eindringen in die Wahrheit,
ist durchaus erfreulich und mischt fortwährend seine Süßigkeit in jene Bitterkeit,
seltsamerweise."
Deussens und Schopenhauers W^orte sind im Grunde ein bedeutsames
Dokument zum machtvollen Grundgedanken der hier dargelegten Philosophie
der Tat.
Den Selbstmord erkennt Schopenhauer ohne weiteres als Bejahung des
Willens zu leben an. Es ist auch klar, daß diese Herrschaft des Menschen über
sein Leben, dieser freie Zutritt zum Tode, dem Allerbarmer, der stärkstem Leid
und Jammer endlich Grenzen setzt, ein wesentliches Moment der menschlichen
Autonomie ist. Schopenhauer sagt sehr richtig, der Wille bejahe sich im Selbst-
mord, weil er sich anders nicht mehr bejahen kann (W.A.W. I, S. 473). Über
den vernünftigen Gedanken, qualvolles, minden^^ertig gewordenes Leben freiwillig
abzukürzen — vollwertiges, mündiges Leben ist bedingt durch die Sterbensbereit-
schaft — und über bezügliche Gebräuche im Altertum müssen hier Quellenangaben
genügen: Heraclides Ponticus, De rebus publicis IX. Aelianus Var. IIL 37. Strabo,
X, 5, S. 487. Valerius Maximus, II, 6. Menander, Fragm. incert. 202. Stephanos
Byz, Joulis. Lucretius, III, 1052 ff. Xenophon Memorabil., IV, Ende. Anderer-
seits ist auf die Theorie und Praxis der Stoiker zu ver^veisen.
Der Wille, sich zu verneinen, ist ein positiver Wille. Als Buddha den Kranken
und die Leiche sah und in das Sichversenken sich zurückzog, oder als Ranc^ oder
Raimundus Lullus, deren Bekehrung Schopenhauer ebenfalls heranzieht, der
Welt entsagten, da taten sie, was sie für richtig erkannten und bejahten damit
ihren Willen. Jede ethische Tat ist eine Willensbejahung. Es gibt nur eine
Willensverneinung: die Lüge.
Vielleicht darf hier darauf hingewiesen werden, daß Kant und Schopenhauer
dem Verfasser nach langer, nur dem Interesse an der Sache geltender philosophischer
Beschäftigung als die hervorragendsten unter den ganz großen Philosophen gelten.
Beide großen Philosophen sind leider in posthumen Werken zum Teil sehr spät,
Aonalen der Philosophie. I. 2**
A02 Antou Wesselsky;
Der große Weg des Menschen ist ein Weg der Tat.. Diese ist
(\\v allerverstandenste unter den menschlichen Sprachen.^) Die
einzige Antwort auf die Frage, die einzige Lösung der KolHsion,
die angesichts der uns umgebenden Antinomie unser innerstes
Wesen uns auferlegt, ist dessen eigene Betätigung. Darum habe
ich diese Weltanschauung Philosophie der Tat genannt. 2)
Auf die Ethik wird später zurückzukommen sein, und auch
:iuf ihr Verhältnis zum Denken als Tat.
Hier obliegt es nur, kurz in Hinsicht auf den Weg der Tat
noch näher auf den Schoß derselben, auf jenes zugrundeliegende,
diantinomistische, im Selbstbewußtsein uns offenbare Wesen ein-
zugehen, das wir unser besseres Selbst genannt haben.
Schon Parmenidcs hat darauf hingewiesen, daß ein Gegen-
satz die Welt der Erscheinung beherrsche.^) Als Lösung dieses
Gegensatzes hat er den Eros verstanden^), und dieser ist in letzter
Linie das Leben. ,,Haec est genitalis vis," fügt Karsten bei^),
,,quae contraria rerum elementa ut marem et feminam coniugavit."
Dieses finale, zielstrebige Wesen beherrscht das psychologische wie
zum Teil gar nicht zu Worte gekommen. Kants Opus postumum hat es nur dem
vereinsamt gebliebenen Interesse Reickes zu verdanken, daß es, fast 80 Jahre
nach Kants Tode, zum größeren Teile und diplomatisch genau veröffentlicht wurde.
Trotzdem soll diese Veröffentlichung in die Akademieausgabe nicht aufgenommen
•werden ! Der Rest ist infolge des römisch rechtlichen Geistes unseres Gesetzes un-
zugänglich, weil, trotzdem daran längst kein Urheberrecht mehr besteht, das Eigen-
tum am Handschriftexemplare die Verfügung über den Inhalt dem Eigentümer
des Exemplares vorbehält. Schopenhauers nachgelassenes Werk ,,Über sich
selbst", dessen Bedeutung wir daraus schließen können, daß der Verfasser denselben
Titel wählte, wie Marc Aurel für seine Selbstbetrachtungen, und daß er auf Stellen
daraus in den beabsichtigten Ergänzungen seiner Werke verwies, ist vom Testaments-
vollstrecker Gwinner vernichtet worden, der sich auf eine mündliche Anordnung
Schopenhauers berief. Auf die bezügliche spätere Polemik kann hier nicht ein-
gegangen werden.
^) Vielleicht darf bei dieser Gelegenheit aufmerksam gemacht werden, daß
die Passivbegriffe des Fühlens, des Leidens und Sterbens in den meisten der uns
nahestehenden Sprachen aktiv ausgedrückt werden, so im Deutschen, im Eng-
lischen, Französischen, Italienischen und Altgriechischen. Ja, im Französischen
und Italicnischen wird auch das Geborenwerden aktiv ausgedrückt.
") Siehe des Verfassers Philosophie der Tat, Entwurf einer Weltanschauung
und Ethik, Wien, igogf.
^) Karsten 112. Diels 8, 53: Moqcpug Y"Q "ore^eTo ovo j'*'a>/i«ff oro-
fia'i^tir.
*) Karsten 131. Diels 13. Hqüiiaiov n ev"EQ(t}xa d^eüv ^irjiiaato nhvxav.
') Karsten, Parmenides, S. 23 .
I
Philosophie der Tat. 40^
das physiologische Gebiet; es ist das Wesen der Tat. Piaton
seinerseits hat den Eros als besten Helfer zur wahren Tugend
erklärt.!)
Fs ist interessant, daß gerade dieses Gebiet des Guten es war,
das er seiner esoterischen Philosophie vorbehielt. 2)
^) Symposion 212: Das Ende der Rede des Sokrates. Vgl. auch Staat 490.
') Suidas, Agathon Daimonos: , .Aristoteles etiam librum de bono composuit,
in quo Piatonis sententias scriptis non mandatas describit. Vgl. auch Phaedros 275 ff.
Zu Pia tos esoterischer Philosophie ist ebenso wie zur Echtheit wenigstens
des siebenten Briefes darauf zu verweisen, daß übermäßige literarische Skepsis auf
keiner höheren Stufe steht, als übermäßige Leichtgläubigkeit. Bezüglich des 7. Briefes
sei noch auf Cicero Tusc. V, 35 verwiesen, wo dieses Schreiben als praeclara epi-
stola Piatonis hervorgehoben wird. Was die esoterische Philosophie Piatos an-
belangt, so kann hier außer auf diesen wichtigen Brief, gegen dessen Echtheit kaum
etwas Ernstliches vorgebracht werden kann, und obige Stelle des Suidas etwa
noch auf Aristoteles Natur, ausc. IV, 4, über den Unterschied des Timaeus von
den ungeschriebenen Lehren und auf Symplicius Phys. Fol. 32 B 104, nicht aber
auf die mannigfaltigen weiteren dafür sprechenden Momente verwiesen werden.
Das würde viel zu weit führen. Immerhin sei sich auf Tennemann und Krug
bezogen. Grote (Plato I, S. 2i6f.) sagt klar und überzeugend: ,,But Plato was
not merely a composer of dialogues. He was lecturer, and chief of a school, besides.
The presidency of that school, commencing about 386 B. C. and continued by hini
with great celebrity for the last half (nearly forty years) of his life was his mosl
important function. Among his contemporaries he must have exercised greater
influence through his school than through his writings. Yet in this Charakter of
school-theacher and lecturer, he is almost unknown to us: for the few incedental
allusions which have descendet to us, through the Aristotelian commentators, only
raise curiosity without satisfying it. The little information which we possess re-
specting Piatos lectures relates altogether to those which he delivered upon the
Ipsum Bonum or Summum Bonum at some time after Aristotle became his pupil —
that is during the last eighteen years of Piatos life." Grote nimmt auch die Echt-
heit von Piatos Briefen an, geradeso wie schon hundert Jahre nach Piatos Tod
Aristophanes, der dessen Schriften ordnete.
Es ist eine mit der Entwicklung einer Philosophie bei ihrem Schöpfer selbst
zusammenhängende, für die Vollendung und Kulmination der Lehre wichtige Frage,
zu welcher Schlußauffassung jener gelangt ist. Wir finden nun eine gewisse Par-
allelerscheinung zwischen Kant und Plato. Auch dieser scheint zuletzt bei einer
Art Finalität der Ideen angelangt zu sein, die sich bekanntlich für Kant aus ihrer
regulativen Bedeutung ergab und deren Grundgedanken er später ein soviel weiteres
Gebiet zugewiesen hat. So nähert sich das Wesen der Kantischen und der Plato-
nischen Ideen. Ähnlich erhält der Sokratisch-Platonische Satz, daß Wissen Tugend
sei, eine gewisse Farbe durch den oben erörterten Charakter der Logik, wonach sie
für das Gebiet der Tat bestimmt ist. Bei der Entwicklung seiner Ideenlehre ist
Plato wohl angesichts der Labilität der sinnlichen Erkenntnis (vgl. Aristoteles
Metaphys. I, 6) von der Bewunderung der Reinheit und Unverletzlichkeit der Ab-
straktion und der die Körperwelt beherrschenden Gesetze ausgehend, im Sinne
26*
.qä Anton Wesselsky:
Eros, das ist das zielstrebige Leben, das, im Menschen be"wußt
geworden, die mündige Tat hervorbringt^) und das, im anderen
sich selber erkennend, als Agape, als Liebe, Solidarität und Mit-
leid sich betätigt. So sind Liebe und Tat, die eine dem Leben,
dem Menschen, dem edlen zumal, die andere auch der Umwelt zu-
gewendet, ebenbürtige Geschwister.^) Durch ihre mündige Macht
kann sich das Leben, was es zu vermissen bedauert, jedoch als
Quell seiner Kritik in sich selber birgt, zum Ziele setzen, im ein-
zelnen sterbend, in seinen Generationen die Majestät des Todes
mitumfassend. An uns selbst sind die Postulatc unseres Wesens
gerichtet. Unser Reich ist keineswegs das Unerkannte, nicht
zu Erkennende; unser Reich ist das Gebiet des Lebens, unsere
Wahrheit ist mit dem Worte ,, Tatsache" oder ,,In der Tat" am
besten bezeichnet, und der Weg des Lebens ist der Weg der Wirk-
lichkeit des Wirkens.
Ich schließe hier mit einem Zitate aus der philosophischen
Einleitung einer jugendlichen Denkschrift, deren Gedankengänge
schon getragen waren von der hier vertretenen Weltanschauung
und Ethik^) : ,, Quälende Fragen ringender Jahrtausende, die ganze
von Erwägungen, wie sie den späteren scholastischen Realismus kennzeichnen (uni-
versalia ante res) zur Hypostasierung geschritten, hat diese aber bekanntlich schließ-
lich unter Zuhilfenahme mathematisch-pythagoraischer Zahlensymbolik zu einer
geschlossenen Einheit, wie die Mathematik sie bietet, aber auch zu einer Art Symbol
zurückzuführen gesucht. Indem er nun aber andererseits das Bonum zur höchsten
Idee proklamierte, erscheint diese nunmehr als geltender Maßstab einer Zielsetzung.
Leider sind die über das Gute von Plato aufgestellten ,,sententiae scriptis non
mandatae" nicht erhalten. Immerhin hat er in seinen späteren Werken das Näher-
kommen an die Idee des Guten in der Welt vertreten. Vgl. auch Staat. VI. 20.
(508 f.).
^) Plato, S>Tnposion, 182: ,, Durch die Tat aber haben dieses die hiesigen
Tyrannen erfahren. Denn des Aristogeiton und des Harmodios zu einer festen
Freundschaft gediehene Liebe zerstörte ihre Herrschaft" (Schleiermacher).
Ebenda, 202, ist auseinandergesetzt, wie Eros, der Sohn des Porös (d. i. des
Weges, zum Ziele zu gelangen), das Streben nach dem Schönen und Guten selbst
bedeutet.
^ Schopenhauers Gegensatz zwischen Eros und Agape ist im selben Sinne
gebildet, wie zwischen Willensbejahung und Verneinung. Geradeso, wie die Selbst-
vcrncinung des Willens im Grunde eine Durchsetzung des Wollens, eine Willens-
bcjahung ist, was ja doch mit der theoretischen Ansicht über das Ziel dieser Durch-
stizuiig nichts zu tun hat, geradeso ist die Agape eine Projektion des Eros im Sinne
der Einheit des Lebens.
^) Östcrrcichtrtum, Wien, 1896. Nach der Beschlagnahme 2. Auflage. Diese
Denkschrift war der während des Weltkrieges so aktuell gewordenen Frage der
Philosophie der Tat. ^qc
Dekadenz wissenschaftlicher Überhebung, den frivolen Epheme-
rismus der Zerrissenheit, das resignierende Elend der Weltflucht
und der Selbstbelügung lösen wir aus durch die bescheidene, aber
erhabene und fruchtbare Harmonie der Durchsetzung unseres
Wesens. Nach aufwärts führt sich seine Kraft. Die Brücke
über die ungelösten Rätsel, über die nicht zu erfüllende Sehn-
sucht ist allein die Wahrhaftigkeit seines Werdens. Dieses lag
darnieder, dieses wird mündig in uns. 0 Taten! Taten! Taten!"
VI. Die subjektive absolute Etliik.
Wir haben oben vom besseren Selbst des Menschen gesprochen.
Was ist des Menschen schlechteres Selbst .-* Offenbar die Abtrünnig-
keit von jener subjektiven Gegebenheit, die wir kennen lernten
und die die Autonomie ermöglicht. Der innere Zerfall, die Dis-
harmonie, das Aufgeben seiner selbst^), die echte Resignation,
die vvahre Willcnsverneinung, die Lüge.
In dieser Richtung tritt der Mensch sich selber gegenüber,
hier steht ihm keine Antinomie entgegen. Hier ist vielmehr das
ethische Gebiet der Unverbrüchlichkeit der Logik und der ab-
soluten Erkenntnis unseres Gewissens über die Harmonie zwischen
Einsicht und Betätigung. Metaphysische Extreme können auf
diesem ethischen Gebiete nicht in Betracht kommen, weder Frei-
heit, noch Unfreiheit, noch beide zugleich.^) Aber Einhelligkeit ist
hier möglich und diese ist entweder da oder nicht. Hier kann es nur
ein rigoristisches Entweder-Oder geben, Wahrhaftigkeit oder Lüge.
Ein Mittelweg ist hier durch die Natur der Sache ausgeschlossen.
Autonomie und des Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Nationen gewidmet,
eine Frage, die ich anfangs 1915 in der Tatflugschrift ,, Europäische Ideen"
(Jena, Diederichs) neuerlich zur Diskussion gestellt habe.
^) ,,Es liegt in jedem Menschen auch eine Neigung zur Wahrheit, die bei
jeder Lüge erst überwunden werden muß", sagt Schopenhauer mit Recht (Welt
als Wille, I, S. 292). Kant weist in seiner Frage, ob das menschliche Geschlecht
im beständigen Fortschreiten sei, darauf hin, daß der Enthusiasmus an moralischen
Handlungen, z. B. an der französischen Revolution, der bei allen unbeteiligten
Zuschauern festzustellen war, ein Beweis ist für die moralische Tendenz des Menschen-
geschlechtes. Nur für das rein Moralische und Ideale sei beim Menschen wirklicher
Enthusiasmus möglich. Geldbelohnung könne zwar Eifer, aber keine Begeisterung
mit sich bringen.
*) Es ist bezeichnend, daß die Verfechter des Determinismus gewöhnlich zu-
gleich Verfechter der politischen Freiheit, die Vertreter des Indeterminismus aber
gleichzeitig solche der politischen Bevormundung sind.
4o6
Anton Wesselskv
Zwisclun der Willkürlichkcit des Indeterminismus und der
mechanisehen F'atalität des Determinismus liegt liier das Gc*
biet des nach Gründen wägenden Wollens. Daß diese Be-
stimmung ungebrochen vor sich gehe, darauf berulit der Erfolg
desselben, und gleichzeitig die Mündigkeit und Autonomie. Die
innere Lüge verzichtet somit auf den Wert des Menschen und
macht sein Tun und Lassen erfolglos. Die Wahrhaftigkeit ist
Icbens wesentlich. Die innerliche Wertlosigkeit führt früher oder
später zum Untergange. Niemand hat es zwar in der Hand, einen
anderen schlecht zu machen; v;ohl aber sich selber. Mit bekannten
modernen Worten gesagt: Niemand ist jenseits von Gut und Böse
oder, wie es Nietzsche richtig stellen will, jenseits von Gut und
Schlecht. 1)
Ein Blick auf die Geschichte lehrt, daß in menschlichen Dingen
schließlich der Charakter entscheidet und daß die Korruption, das
Unrechtsprinzip und der bloße Intellektualismus zum Untergange
und zum toten Leben des Parasitismus führen.^) Die Wahrhaftig-
^) Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 37: ,, Jenseits von Gut und Böse,
das heißt zum mindesten nicht: jenseits von Gut und Schlecht.
*) Wir wollen nicht Montesquieu, Gibbon, Ferguson, Drumann über
den Aufstieg und Verfall des Römcrrciches resümieren. Ein Römer aus der Zeit
des begonnenen Verfalles, Cicero, sagt (De re publica V): ,,Nostris enim vitiis, non
rasu aliquo, rem publicam verbo retinemus; reapse vero jam pridem amisimus."
Nur aus dem Schöße der Wahrhaftigkeit wird jene Zivilcourage geboren, die
die Quelle, aber auch die Bürgschaft der Freiheit und des Rechtes ist. Andernfalls
tritt eine Begünstigung des Schlechten und dessen Auslese ein. In feiler Selbst-
erniedrigung wird die Tugend verspottet und ironisiert. Träger edler Gesinnungen
werden totgeschwiegen oder gehen wie die Gracchen zugrunde. Die äußerlich beste
Organisation nützt dann nichts mehr, gleichwie die beste Unfallversicherung die
l'flichtversäumnisse nicht beseitigt, die die Unfälle steigern. Wo der Satz befolgt,
ja auch nur liingenommcn w'ird, daß in der Politik, die doch von Menschen gemacht
wird, die Kthik nicht gelten soll, dort herrscht sicher Knechtschaft, Zuchtlosigkeit,
Parasitismus. Man kann an dem Untergang der Antike verfolgen, wie das lus
datum sceleri in die Privatverhältnissc eingreift; wie der Bessergebliebene sich
stolz auf seine inrrerc Freiheit zurückzieht; ja wie er mit Lucretius meint: .,Ne
qnaquam nobis divinitus esse crcatam naturam mundi, quae tanta est praedita
I ulpa" (II, 175; V, 200); wie ein Caligula die hcrabgekommene Verderbtheit so
sehr empfand, daß er den bekannten Ruf ausstieß: .,Utinam populus Romanus
iinam cervicem habcret" (Sueton, IV, 30); wie das Ruere in servitium immer größeren
Umfang annahm (Tacitus, Annalen I); wie endlich die gar nicht mehr römische
Masse einer Entsagungskatastropho verfiel, die voll eschatologischer Gedanken
dem Kultus statutarischer Satzungen, der Gunstbuhlerei um jenseitige Belohnung
oder aber einem Taumel S'ch anheimgab, von dem der Zeitgenosse Salvianus
CDe vcro iudirjo dri, VTl) mit den so charakteristischen Worten spricht: ,,Quis
Philosophie der Tat. 407
keit alkin kennl ckn lebendigen fruchtbaren Tod. Weder frei
noch unfrei im metaphysischen Sinne, entspricht sie unserem
diantinomistischen Wesen und befähigt uns, aufrecht und freudig
ins Ungewisse weiter zu schreiten.
Ein sittlicher Konflikt muß nach dem bisher Gesagten ganz
unmöglich sein. Er ist es auch. Ethik ist nicht Moral. Moral-
predigt ist Sache der Sünder, Ethik aber ist ein schicksalvolles
Problem der menschlichen Rechenschaft. Es gibt nur eine Wahr-
haftigkeit, die zu allen Zeiten und unter allen Umständen dieselbe
ist. Sie ist das mit unserem Wesen gegebene Prinzip. Ihr Ge-
biet ist die wahre Bestimmung der Logik; denn hier versagt diese
nicht, hier ist sie abschließend und unverbrüchlich : nicht in Hin-
sicht auf Wahrheit, sondern auf Wahrhaftigkeit, nicht in Hinsicht
auf ein Wissen, sondern auf das Gewissen. Die so begründete
l^thik ist also ebenso subjektiv als absolut.
Wenn nun die subjektive Ethik aber wirklich gilt, dann muß
sie auch auf dem Wege der Beibringung von Tatsachen sozusagen
induktiv bewährt werden können. Diese Tatsachen werden zu-
gleich sehr lehrreich sein.
Wir schlössen den Abschnitt von der Fiktion mit der Fol-
gerung: Das Denken sei eine Tat. Für die Tat gilt die Ethik,
die Übereinstimmung mit der Einsicht. Für das Denken ist diese
Einsicht im logischen Gesetz gegeben und die Übereinstimmung
mit demselben auf das klarste geboten. Die Unverbrüchlichkeit
der LüSfik ist hier außer Diskussion. Sie stellt das Gesetz des
Denkens auf und beinhaltet gleichzeitig die Notwendigkeit der
metuit mortem et irridet ? Nos. Et in metu captivitatis ludimus et positi in
mortis tiniorc ridemus. .Sardonicis quodammodo herbis omnem Romanum populum
putes saturatum. Moritur et ridet."
Hier darf noch folgendes aus dem unermeßlichen Materiale, das zur Ver-
fügung steht, hervorgehoben werden. Das größte Zeugnis, das Shakespeare
einer seiner dramatischen Personen ausgestellt hat, ist das der bedingungslosen,
subjektiven Wahrhaftigkeit. Es gilt dem Helden seines ,, Julius Cäsar" gennnten
Dramas, dem Marcus Biutus. Den Antonius sowohl wie den Octavianus läßt er
es aussprechen: ,,Dies war der beste Römer unter allen. Nur er verband aus reiner
guter Absicht (honest thought) und zum gemeinen Wohl sich mit den andern, . . .
Dies war ein Mann."
Nietzsche hat recht, wenn er in der ,, Fröhlichen Wissenschaft" meint:
,,Was sagt dein Gewissen? Du sollst der werden, der du bist."
Auch auf die tausendfältige Erscheinung des bescheidenen Alltags soll hier
hingewiesen werden, daß angesichts des Todes nicht der Haß in den Vordergrund
tritt, sondern die Liebe.
^o8 Anton Wesselsky:
Kinhaltung dieses Gesetzes. Für das Finden einhelliger Wahr-
heit stehen, wie wir sahen, dem logischen Prinzip Hindernisse
entgegen, nicht aber für die Wahrhaftigkeit, für die Erreichung
einhelliger Tat. Das Gebiet des Denkens ist zugleich das der
klarsten Wahrhaftigkeit. Nirgends wird klarer als auf diesem
(iebiete, daß die Lüge Selbstbelügung ist. Das Denken, als Tat
betrachtet, ist ein offensichtlicher Beweis für die Ethik.
Und nun das Gewissen. Es ist das einzige Gewißwissen des
Menschen. Wer es bestreitet, dem wird man kaum Glauben bei-
messen können, denn er ist gewissenlos. In diesem Gewißwissen
ist der Mensch über sich selber Richter und Vollzieher zugleich.
Er kann sich höchstens betäuben; aber zu sich gekommen, kann
er nicht einmal Erlösung wollen aus seiner Reue. Bei den Starken,
die auf sich selbst nicht verzichtet haben, wendet es sich vorwärts
als guter Vorsatz. ,,Sua qucmque fraus", sagt Cicero in seiner
Rede pro Roscio Amerino, ,,et suus terror maxime vexat; suum
quemque scelus maxime vexat; suum quemque scelus agitat amen-
tiaque afficit. Suae malac cogitationes conscientiaeque animae
terrent. Hacc sunt impiis assiduae domesticaeque furiae." Das
Gewissen ist, wie Lessing in ,,Mif5 Sarah Sampson" sagt, eine
verklagende Welt. Nur vor ihm gibt es, nach Abälard, eine
Sünde. Der Gewissenlose ist ein Kadaver bei lebendigem Leibe;
sein Angesicht und sein Gehaben sind Dokumente, an denen nichts
radiert werden kann. Der äußere Untergang folgt früher oder
später dem inneren, wenn auch nicht im Sinne einer Theodizee,
so doch im Sinne Kants, der in seiner Abhandlung über das
Ende aller Dinge nachweist, daß dieses für die Menschen, da es
m moralischen Dingen keine Neutralität gibt, im moralischen
Zusammenbruch liegt. Solche Zusammcngebrochenheit annehmend
und vom metaphysischen Standpunkte ansehend, gelangte Plato
dazu, die Erde für eine Art Exil oder Zuchthaus, Valentinianus
sie als eine Fehlgeburt, Marcion, den Gott, der auf Erden herrscht,
für einen minderwertigen, zornbeherrschten und racheheischenden
zu erklären. Ähnlich wird dem Hamlet Dänemark zum Kerker.
,,An sich", sagt Shakespeare (Hamlet H, 2), ,,ist nichts weder
gut noch böse, das Denken macht es erst dazu." In uns selber
haben wir den Maßstab für unsere Kritik und das Urteil für unser
Handeln. Kultur und Gedeihen stehen im einfachen Verhältnis
zur Wahrhaftigkeit. Kein anderer als Nietzsche ist es, der in
si:mer zweiten unzeitgemäßen Betrachtung darauf hinweist, ,,daß
Philosophie der Tat. 409
es die höhere Kraft der sittlichen Natur war, durch die den Griechen
der Sieg über alle anderen Kulturen gelungen ist und daß jede
Vermehrung der Wahrhaftigkeit auch eine vorbereitende För-
derung der wahren Bildung sein muß: Mag diese Wahrhaftigkeit
auch gelegentlich der gerade in Achtung stehenden Gebildetheit
ernstlich schaden, mag sie selbst einer ganzen dekorativen Kultur
zum Falle verhelfen können."^)
Darwin preist das moralische Gefühl als das edelste aller
Attribute des Menschen^) und folgert: ,,Dann kann er sagen, ich
bin der oberste Richter meines eigenen Betragens, oder mit dem
Worte Kants, ich will in meiner eigenen Person nicht die Würde
der Menschheit verletzen."
Nun ein anderer induktiver Gesichtspunkt. Edler Charakter
führt zur Schönheit. Die innere Ruhe, die Einigkeit mit sich
selbst, die Selbstbeherrschung, das Wohlwollen, die Tatkraft
leuchten hervor aus welchem Gesichte immer. ,, Denket nicht",
so sagt uns Lava t er, ,,den Menschen zu verschönern ohne ihn
zu verbessern." Das einfache Aschenbrödel stellt jene Damen
in Schatten, deren Diamanten und Perlen den unedlen Ausdruck
in ihrem Gesicht nicht beseitigen können. Plotin sagt von seinem
höchsten Guten: Die ihm hingegeben sind, macht es schön und
liebenswürdig. (I, 6, 7.) Mit ihrer Sonnigkeit wirken sie Wunder.
Umgekehrt spricht die Wahrhaftigkeit für edle Abstammung.
Piaton stellt sich für die Athener in die Bresche, da Dion von
zweien solchen schändlich verraten war, und weist, um die Ehre
seines Volkes zu retten, auf sich selber hin. (VII. Brief.) Wir
wollen aber noch ein sehr bezeichnendes Beispiel erwähnen aus
dem Lande der Kasten weit, aus Indien. Dem Chandogya-Upa -
nishad de Samaveda (4, 4, Deussenscher Ausgabe) sei folgende
in ihrer Einfachheit beredte Episode entnommen. Satyakama
sprach zu seiner Mutter: Ich will als Brahmanschüler eintreten;
sage mir, aus welcher Familie ich bin. Sie sprach zu ihm: Das
*) Wie groß die Wahrhaftigkeit bei den Griechen war, die Nietzsche hervor-
kebt, das lehrt das Beispiel des philosophischen Rhapsoden Xenophanes, der,
mehr als ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, gegen die Betrügereien
der Götter in Homers Gedichten, der griechischen Bibel. Stellung nahm (Diels, 11)
und darauf hinwies (Diels, 15), daß die Ochsen einen ochsenähnlichen Gott haben
würden und daß nur Täuschung, Schein, Maja (dokos, dokesis), über alles gebreitet
sei (Diels, 34. Karsten, 14).
-) Abstammung des Menschen, 4. Kapitel.
^IQ Anton Wesselsky:
weiß ich niclit, mein Junge; in meiner Jugend kam ich viel herum
als Magd und da habe ich dich bekommen. Da ging er zu Hari-
drumata. Er sprach zu ihm : Aus welcher Familie bist du, mein
Lieber? Er sprach: Das weiß ich nicht, Herr Lehrer; ich habe
die Mutter gefragt, die hat mir geantwortet: In meiner Jugend
kam ich viel herum als Magd, da habe ich dich bekommen. Er
sprach zu ihm: Nur ein Brahmane kann so offen sprechen. Ich
werde dich aufnehmen, weil du nicht von der Wahrheit abgegangen
bist.">)
Ethik macht, wie wir sehen, auch gleich. Die Ethik bedeutet
die Auslese der Tüchtigen, den Schutz gegen die Versuchung und
Dekomposition, den die besten Gesetze nicht gewähren können;
die Unterstützung, ja die Erwerbung besserer Anlage, den Auf-
stieg des Einzelnen und die Wiederbelebung des Volkes. Sie ge-
währt vielleicht weniger Freuden, aber mehr Freude. Sie macht
frisch und tatenlustig; sie ist wie in einem beständigen Feste, wo
immer es sei; jeden Tag macht sie zum ungcrufenen Glück. Die
Frage nach der Ethik ist die Frage, ob ein Leben groß sei oder
aber eine erbärmlich elende Sache.
Wichtig ist die Tatsache, die unser Sprichwort festlegt : Kinder
sprechen die Wahrheit. Das Kind glaubt treuherzig und kennt
die Lüge noch nicht. Fichte sagt in der lO. seiner Reden an die
Deutsche Nation: ,,Das Kind ohne alle Ausnahme will recht und
gut sein."^)
Aber gerade die zuletzt erwähnte Artung der Kinder zwingt
dazu, hier kurz auch von der ethischen Hauptaufgabe der Päda-
gogik zu sprechen. Fichte ist es, der es in derselben Rede mit so
vielef in diesen Zeiten doppelt bestehender .Aktualität als die aller-
größte Vergehung erklärt, daß schlechtes Beispiel die Verderbnis
der Kinder mit sich bringt. ,,Das dem Kinde in seinem Innern
inbgehende. Bewußtsein stellt sich ihm äußerlich und verkörpert
dar an dem Urteile der erwachsenen Welt. Bis in ihm selbst ein
') Vgl. Seneca, De vita beata 13: Quisqiiis ad virtuteni accessit, dedit
generosae indolis spem.
2) Goethe sagt in den Büchern aus seinem Leben (II): ,, Wüchsen die Kinder
in der Art auf. wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies." Juvenal hat-
in seiner bekannten, gegen das böse Beispiel gerichteten 14. Satire die Knaben m'
grandioser Weise in Schutz genommen. Nach dem Evangelium Matthäi (18) rief-
Jesus ein Kind herbei, stellte es unter seine Jünger und sprach: Wahrlich, ich sage
euch, wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes
eingehen.
Philosophie der Tat. 4I I
verständiger Richter sich entwickle, wird es durch einen Natur-
trieb an diese verwiesen und so ihm ein Gewissen außer ihm ge-
geben, bis in ihm selber sich eins erzeuge." Man muß es langsam
lesen, was Fichte weiter sagt: ,,Bis jetzt ist in der Regel diese
Unbefangenheit und die kindliche Gläubigkeit der Unmündigen
an die höhere Vollkommenheit der Erwachsenen zum Verderben
derselben gebraucht worden."^)
Es ist das Hauptziel der Pädagogik: den heranwachsenden
Menschen vor dem Verzichte auf sich selbst zu bewahren. Nur
dann hat alle weitere Tradition und aufgehäufte Erfahrung guten
Sinn, nur dann hat das unschätzbare Gut, das die Menschheit
in der Wiedergeburt hat, seinen Wert. Diese Wiedergeburt ist
zwar die große Quelle der Naivetät und des Vonvornanfangens,
über auch der große Born der Hoffnung auf endliche Mündigkeit.
Es darf sich nicht verhehlt werden, daß dem Wahrhaftigen
ein Meer von Lüge gegenübersteht. Die Befolgung der Ethik
ist aber trotzdem mit der unbedingten Befriedigung und Genug-
tuung verbunden, die einem absoluten Gute auch ohne äußere
Belohnung zukommt. 2) Und daß die subjektive Ethik so hoch
steht, ist keineswegs ein Wunder, wie manche meinen; diese Tal-
sache ist eben das Bestehen unseres besseren vSelbst, jener sub-
jektiven ,, Metaphysik", die wir oben besprochen haben. Sie ist
kein anderes Wunder, als wir es mii dem Diantinomismus unseres
Wesens überhaupt gegeben finden.
Niemand kommt über die subjektive Ethik ohne Selbst-
verstümmelung hinweg. Selbst die Lächerlichmachung der
Tugend, die sich täglich vor unseren Augen aus Tausenden von
Preßerzeugnissen über die Kulturmenschheit ergießt, muß doch
bei ihren Lesern Glauben zu erwecken versuchen und ist damit
ad absurdum geführt. Selbst im allgemeinen Zusammenbruch
bleibt die Wahrhaftigkeit noch immer in der Macht des Einzelnen.
^) Die Dichterin Ebncr-Eschenbach weist in einem energischen Aphorismus
darauf hin. daß es ein todeswürdiges Verbrechen sei, in Gegenwart der
Kinder zu spotten oder zu lügen.
Das kostbarste Erbe, das Eltern einem Kinde hinterlassen können, ist ein
gutes Beispiel.
-) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, I: ,,Es ist überall nichts
in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Ein-
schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." Vgl. ebenda II :
,, Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen
Natur."
>j2 Anton Wesselsk)':
Sic bleibt in ihrem Wirken nach dem Tode noch lebendig und
ist die Quelle für alle Propaganda der Tat.^)
Ich kann diesen Abschnitt über das ethische Problem nicht
anders schließen, als mit folgenden Sätzen aus dem bezüglichen
IV. Essay meines seinerzeitigen, obenerwähnten Entwurfes einer
Philosophie der Tat: ,,Blut ist nicht Zeuge der Wahrheit, aber
der Wahrhaftigkeit. Diese allein hat ihre Märtyrer, seien sie nun
häretisch oder orthodox. Sie alle sind lachende Zeugen der Wahr-
haftigkeit, mögen sie auch geglaubt haben, daß sie das Leben ver-
achten; sie w^aren stark und voll blühenden Lebens im Tode. Sie
sind vvahre Herren des Lebens gewesen, echte Könige, Menschen,
die ihren Lohn in sich selber haben, und nach dem Tode sind sie
wie erloschene Sonnen am Himmel, unsichtbar, doch voll der
Bedeutung. Neben ihnen spreizen sich vergebens die Hoch-
stapler der Geschichte, die um des Heldentums, um des Ge-
nusses, um des Ruhmes willen handeln, tot schon zur Zeit ihres
Lebens.
Sucht Menschen, die auf sich selbst nicht verzichtet haben,
die innerlich nicht resigniert sind, die frei geblieben sind und un-
abhängig sich erhalten haben im Glücke oder unter den Schlägen
des Schicksals, sucht Menschen, die lebensstark und tatenfroh
^) Es sei hier an Fausts Wort erinnert: ,,Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen
schaffen, wenn es euch nicht vom Herzen geht." Oder an Quintilians Satz:
,,Oratorem autem instituimus illum perfectuni, qui esse nisi vir bonus non potest . . .
neque enim hoc concesserini, rationem rectae honestaeque vitae (ut quidem puta-
verunt) ad philosophos relegandam . . ." (Institutio I. Prooem.).
Godwin in seiner wunderbaren ,,Inquiry concerning political justice" (i79S,
I. S. 233) sagt einfach: ,,Virtue allone is happines." Ein Satz, über den auch das
V. Buch von Ciceros Tusculanen gelesen zu werden verdient. Vgl. auch des So-
krates klaren Ausspruch in Piatons Gorgias, 470 e.
Hier soll sich endlich auf einige Sätze berufen werden aus Klingers, des
Freundes Goethes, den Deutschen gewidmeten, tiefgründigen ,, Betrachtungen
und Gedanken", die die Deutschen tief unterschätzt haben: ,,Wer edel, uneigen-
nützig, großmütig denkt, ist überall frei; wer niederträchtig, eigennützig, kriechend
denkt, ist überall Sklave. Der Mann, der sich in seinem Innern selbst konstituiert
hat, hängt nicht mehr von der äußeren Form ab, er steht auf seiner eigenen Magna
Charta, die ihm keine Macht auf Erden nehmen kann." ,,Um in jeder Lage tugend-
haft zu sein und gewissenhaft zu handeln, dazu gehört mehr Mut, als Schlachten
beizuwohnen." ,,Der Mensch kann vielleicht alles vergessen, die Liebe, die Freund-
schaft, die schuldige Dankbarkeit, alle Pflichten, ja selbst alles Gute, das er getan
hat; was er aber nie vergessen, dem er nie ausweichen kann, was nie in ihm schläft,
das, wenn es auch schlummern könnte, doch durch das kleinste Ereignis plötzlich
erweckt würde, ist sein eigenes l^rteil über seinen Wert und sein geführtes Leben."
Philosophie der Tat. 413
geblieben sind, und dann sucht bei allen diesen die Wurzel ihrer
herrlichen Höhe, und ihr werdet in der Praxis finden, wonach
wir hier in der Theorie zu forschen ausgegangen."
Die Ethik ist nicht Sache eines Sittengesetzes, sondern unseres
Wesens. Sie ist gegeben mit der logischen Funktion. Sie ist unter
keinen Gesichtspunkt objektiver Zwecke zu fassen. Sie ist sub-
jektiv und absolut zugleich.
TII. Das Als Ob in der Ästhetik.
Die Gebiete, mit denen der Mensch zu tun hat, scheiden sich
nach der allgemeinen Antinomie in das Gebiet der Natur und in
das des Geistes, während die Diantinomie das Leben als solches
umfaßt. Demgemäß ergeben sich auch die Wissensgebiete und
es entstehen die Gruppen der Naturwissenschaften im weitesten
Sinne, ebenso der Geisteswissenschaften und endlich der Lebens -
Wissenschaften. Schon die alte griechische Philosophie hat sich
ähnlich in Physik, Logik und Ethik geschieden, ebenfalls das
ganze Wissengebiet umfassend.
Die Ästhetik gehört in die Gruppe der Lebenswissenschaften
und bietet, wie wir sehen wollen, eine bedeutsame Probe für die
subjektive Gegebenheit, für das autonome Maß und Ziel im Sinne
der oben dargelegten Auffassung, eine Bewährung für die finale
und ethische Artung unseres Wesens.
Die Trilogie vom Wahren, Guten und Schönen, wie sie von
Plato^) bis zu HaeckeP) sich findet, ist keine systematische,
sondern einfach von dem Gesichtspunkte aus gebildet, was für
den Menschen besonders wichtig oder bedeutsam sei. Anderer-
seits weist das hellenisch-aristokratische Ideal des Kaloskagathos
direkt auf einen Zusammenhang des Schönen mit der ethischen
Bewährung, auf der dabei überdies das Hauptgewicht liegt. 2)
Die ethische wird zugleich zu einer ästhetischen Bewährung.
Wir lieben uneigennützig die Schönheit und wir hassen, es
liegt das schon im Worte ausgedrückt, die Häßlichkeit. Wir können
^) Phaidros, 246 d: tö de &eiov xalbv, aocpbv ufuftöv.
*) Welträtsel, i. Aufl., S. 388: ,,Die wahre Dreieinigkeit des neunzehnten
Jahrhunderts, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen."
*) Gorgias, 470 e: Tbv (ikv yaq xaXbv xai uya&bv revöga xai ywuixa evÖal-
fjiova eivai (pfj^i, jbv da udixov xai novrjobv u&}.ioi\
. j . Antou Wesselsky :
über nur würdigen, was unserem Wesen gemäß ist^), nur bchätzen,
was unserem besseren Selbst entspricht. Die Wirkung des Schönen
wird verständlich als die eines Symboles der unserem besseren
Selbst final entsprechenden Harmonie, und so können wir vom
Symbole auf das Symbolisierte schließen und in der Schönheit,
im Kunstwerk, ein Symptom sehen für unser Ziel, in dem un-
befangenen Schönheitsgefühl eine Bekräftigung ethischer Lebens-
auffassung. So ist uns die Schönheit der Eindruck der im Einzel-
falle erreichten Harmonie als Gleichnis letzten menschlichen Zieles,
so ergibt sie sich uns nicht als ein metaphysisch-mystischer Wert,
sondern als ein lebendiges Symbol. Und so läßt sich die Schön-
heit vom Standpunkt zielstrebiger Auffassung begreifen als das
Ergebnis einer finalen Fiktion, in der Musik, in der bildenden
Kunst, in der Dichtung, im Menschenwesen, im Menschenleben.
Die Verfolgung dieser ästhetischen Symbolik auf einzelnen Ge-
bieten mag eine Probe für die Richtigkeit dieses Standpunktes
ergeben.
Für den Menschen sind das schöne Angesicht, die ebensolche
Gestalt, die edle Gehabung, die mündige Lebensführung Zeichen
eines wertvollen Wesens. Ohne weiteres klar ist die Bedeutung,
die der Schönheit auf dem Gebiete der Geschlechtsliebe — vom
sogenannten Heiratsmarkt ist hier natürlich nicht die Rede —
zukommt.
Nur durch finale, anthropomorphische Betrachtung des Ge-
waltigen im Hinblick auf unsere kleine ephemere Existenz ist
der Eindruck des Sternenhimmels, des bewegten Meeres, des
Hochgebirges zu erklären. Nur so auch die unbeschreibliche
Schwermut, die die Natur dort hervorruft, wo ihre Leblosigkeit
anregungslos in den Vordergrund tritt. Von Haller zu St. Pierre
und Rousseau, von Hesiod zu Humboldt und Macpherson,
von Vergil zu Goethe belehren uns alle Naturschilderungcn dar-
über. ,,Der Dinge Wert ist, was wir davon empfinden", sagt schon
der Erstgenannte in seinen Alpen.
Lag nun der ästhetische Eindruck auf anorganischem Ge-
biete in der finalen Auffassung der Kausalität, so handelt es
sich nun auf dem anderen von vornherein finalen Gebiete lebendiger
*) Vgl. Plotin (ZZf^t xov x«/.oü pag. 57); ov 'jfuQ nn nünore eiÖev dq}&aX-
fibg ijhov, T/XtoeiSfjg firf j'ej'evi^^ueyoc ovde lö xaXby av 1601 tpvx>/, firj xnXrj fsvo-
fiivr]. Vgl. Plato, Politeia, 508 (VI, 19): 'AXX' r'iXioeiöeiTiaiov j'S olfiai jüv nsQi
Tf'tg uiffd^rjaeig öq^üvcov.
Philosophie der TaL 4 1 5
Vorgänge um eine ethische Betrachtung der Finahtät. Überall
aber läßt sich die ästhetische Wirkung als die eines Symbolcs in
Hinsicht auf die vom Menschen in letzter Linie erstrebte lebendige
Harmonie verstehen.
Was nun aber das Gebiet des Lebens selber anbelangt, so ist
das Drama das höchste Symbol des Lebens und, wirklich dichterisch
gestaltet, das höchste ästhetische Symbol. E^ wäre konsequenter
gewesen, wenn die französische Revolution 1793, statt einen statu-
tarischen Kultus der Vernunft einzuführen, die öffentliche Auf-
führung edler Dramen beschlossen hätte. Die Konfliktslösungen
des Dramas sind ethisch final verständlich. Das Unterliegen der
ihrer selbst nicht klaren Minderwertigkeit ist komisch, und die
Anschauung, die darauf anwendbar ist, ist die des Humors. Das
Unterliegen der unbewußten Vollwertigkeit ist rührend. Die dem-
entsprechende Anschauungsw^eise ist die der Sentimentalität. Das
Unterliegen der bewußten mündigen Vollwertigkeit ist tragisch.
Da es aber für solche Mündigkeit ein inneres Unterliegen nicht
geben kann, so erscheint ihr Verhalten erhaben. Der Sieg der
Minderwertigkeit, der mit dem Erliegen des Vollwertigen ver-
bunden ist, ist satirisch, da ihr innerer Sieg unmöglich ist. Der
Sieg der unbewußten Vollwertigkeit ist anmutig-idyllisch, der der
mündigen würdig und dramatisch schlechthin. Ihm steht das
Unterliegen der bewußten Minderwertigkeit gegenüber im Schau-
spiel, der unbewußten in der Komödie. Das innere Unterliegen
der Vollwertigkeit kommt nicht vor und wäre auch eine Contra-
dictio in adjecto.
Reines, losgelöstes Symbol der Einhelligkeit, aber auch des
Weges zu ihr, der Tat, ist mit ihrer Harmonie und Melodie und
ihrem Rhythmus die Musik. Mit ihr werden daher die Krieger
zum lebeneinsetzenden Kampfe geleitet. Die Musik ist beherrscht
vom Gesetz der Harmonie und daher fühlt jeder beim Anhören
einer großen Musik, wie schon Schopenhauer sagt, was er im
ganzen wert ist oder vielmehr, was er w^rt sein könnte. ,,Das
unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein
so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vor-
überzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, be-
ruht daraiif, daß sie alle Regungen unseres innersten Wesens wieder-
gibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Oual."^)
^) Neue Paralipomena (Reclam), S. 398. Welt als Wille, I, S. 312t
j j5 Anton Wesselsky:
So ergibt sich allenthalben eine einfache Erklärung der ästhe-
tischen Erscheinungen, nicht im Sinne des Seins, sondern des
Werdens, nicht metaphysisch, sondern final.
Es liegt nahe, sich hier mit Nietzsches Duplizität des Diony-
sischen und Apollinischen auseinanderzusetzen. Man kann das
Dionysische als das dem Leben zugrunde liegende Vorrationale,
als das ,, ewige Ja des Seins", wie Nietzsche sagt, als ,, große
Vernunft" gegenüber der bewußtgewordenen kleinen bezeichnen,
oder, um mit Kant zu reden, als ein Corpus mysticum, das durch
seine Betätigung besteht und mit dieser von vornherein final ist.
Diese Finalität, aus der Region des Instinktes in die der Mündigkeit
erhoben, wird apollinisch. An die Stelle des barbarischen Dionysos
tritt der hellenische Apollo, Phoibos, der Lichtgott, der Reine,
der Musagete, auf dessen delphischem Heiligtum der Spruch stand
vom ,, Kenne dich selbst". Schiller sagt mit vielem Recht in
seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung:
,, Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außer dir, aber vor der
Verwirrung in dir, strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in
der Einförmigkeit, strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht,
nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit. Jene Natur, die du
dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehn-
sucht wert. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen.
Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine
andere Wahl mehr, als mit freiem Bewußtsein und Willen das
Gesetz zu ergreifen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu
fallen."
Es wird auf ästhetischem Gebiete eine bestimmte Har-
monie als Harmonie an sich fingiert. Die Unwillkürlichkeit
solcher Fiktion vermag an ihrem Wesen nichts zu ändern. Und
unwillkürlich wird diese Fiktion wieder ausgeschieden und das
Wohlgefallen teilt sich zwischen der anregenden speziellen und
der symbolisierten, allgemeinen Harmonie. Es liegt dabei sozu-
sagen eine unabsichtliche Absicht vor^), den speziellen Fall zum
Idol zu machen, um alsbald beim symbolisierten Ideal anzulangen.
Das ästhetische Gebiet erscheint so als ein Spezialfall der Philo-
sophie des Als Ob, deren Wesen gerade hier zur selbständigen
') Kant verweist in der Kritik der Urteilskraft an zahlreichen Stellen in
ähnlicher Hinsicht auf eine ,, Zweckmäßigkeit ohne Zweck" und sagt direkt (S. 6i):
,, Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vor-
stellung eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird."
Philosophie der Tat. 417
Geltung gelangt, während sie auf dem Gebiete des Wissens ein
Faute de mieux bedeutet.
Der Weg vom Idol zum Ideal ist der Weg des Als Ob, aut-
richtig, wahrhaft, wenn auch fiktiv oder symbolisch. Der Weg
dagegen vom Ideal zum Idol ist der der Hypostase, des Homi-
nismus, des Selbstbetruges.
Einen solchen Weg schlägt die Theorie ein von der ,, Kunst
für die Kunst", des l'art pour l'art, deren Haltlosigkeit durch die
Kadaverkultur und den selbstgefälligen Snobismus der Nurästheten
(pourvu quc le geste seit beau) genügend gekennzeichnet ist.
Die symbolische Ästhetik aber ist in ihrer Herrlichkeit ein
mächtiger Beweis für die finale und ethische Lebensauffassung,
ein Beweis, geführt durch die Schönheit für das autonome Maß
und Ziel und für das Gute, eine Bewährung des Symbolisierten
durch das Symbol.
Vin. Der Gang ins Unbekannte.
Es gilt hier nicht die Frage, ob der Tod für uns ein Ende
bedeute, oder das Leben einen Anfang, in das wir oft aus nicht
ganz würdigem, von uns übrigens unabhängigem Anlaß einge-
treten sind.^) Wir wissen über diese Frage auch dann nichts,
wenn wir sie auf die ganze Menschheit, ja auf das Leben als solches
ausdehnen. Der Idee der Ewigkeit gegenüber ist die Geringfügigkeit
eines Lebensalters kaum elender als die einer Jahrmilliarde. Die
Einsicht in diese Dinge ist uns antinomistisch verschlossen und
unser Wesen verlangt dennoch nach einer auflösenden Antwort.
Wir gehören der Menschheit, ja dem ganzen großen Leben an,
von dem wir keinen Anfang kennen und kein Ende und das für
uns ins Unbekannte weiterschreitet. In dieses Leben greifen wir
^) Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 807, weist darauf hin. daß
„die Zufälligkeit der Zeugungen, die beim Menschen wie bei dem vernunftlosen
Geschöpf von der Gelegenheit, überdem aber auch oft vom Unterhalte, von der
Regierung, deren Launen und Einfällen, oft sogar vom Laster abhängt, eine große
Schwierigkeit macht wider die Meinung der auf Ewigkeiten sich erstreckenden Fort-
dauer eines Geschöpfes, dessen Leben unter so unerheblichen und unserer Freiheit
so ganz und gar überlassenen Umständen zuerst angefangen hat". — Von der Ein-
heit des Lebens ausgehend, kann man auch bezüglich der vernunftlosen Geschöpfe
die Frage der Unsterblichkeit stellen und sich dabei vorstellen, daß wir diesen Lebe-
wesen nicht anders gegenüberstehen, als vielleicht uns selbst gegenüber höher ge-
artete Wesen auf anderen Planeten.
Annalen der Philosophie. I. 27
AlS Anton Wesselsky :
ein mit unserer Tat. Sie ist unsere Antwort auf unsere großen
Fragen, wofern sie gemäß unserem innersten We^en geschieht,
in dessen Sinne die Fragen gestellt sind. Mit der finalen Tat
antworten wir auf die große finale Frage des Wozu und machen
unsere Sehnsucht zu einer Hoffnung.
Diese Antwort ist bedeutsam und doch so bescheiden, wie
unser Treiben auf Erden. Nur muß sie edel sein, das heißt, unserem
besten Wissen entsprechend. Für unsere Person ist mit dem Adel
der Tat die Frage erledigt; die Ethik ist die Realisierung für uns.
Was aber das Volk und die Menschheit betrifft, so handelt
es sich um das Thema der Philosophie der Geschichte und um
die Frage der Geschichtsauffassung.
Der Weg, den die Menschheit, schicksalsvollem Zufall aus-
gesetzt, ins Unbekannte zieht, ist einstweilen mit der Etappe
des von ihr selbst zu verantwortenden Weltkrieges gekennzeichnet,
mit der Abnahme der Zivilisation und der sporadisch vertretenen
Kultur. Die große Frage der Verblutung der Kulturmenschheit
und der Umstand, daß nicht, wie beim Zusammenbruche der
Antike, neue, schöpferische Völkerreserven zur Verfügung stehen,
läßt Ausblicke, wie Gobineau-^) sie prägte, naheliegend erscheinen.
Was für die Deutschen der Dreißigjährige Krieg bedeutet hat, das
vermöchte in dieser Richtung für die europäische Menschheit der
Weltkrieg zu werden. Es soll nicht kommen wie nach dem Unter-
gange Griechenlands und Roms, doch sind die Blicke unwillkürlich
auf die Entsagungskatastrophe gerichtet, die damals über die
Menschheit hereingebrochen ist. Nicht so sehr übrigens auf die Kata-
strophe selbst und auf die chaotische Masse, die, von Kriegsschlägen
und Bürgerkämpfen zermürbt, sich mit Enthusiasmus der christ-
lichen, alexandrinisch-judäisch fermentierten eschatologischen Fas-
sung heraklitisch-platonischer Jenseitslehren ergab. ^) Wir blicken
^) Essai ,,Sur l'in^galite des races humaines", Conclusion g6n6rale: ,,La Pro-
vision attristante, ce n'est pas la mort, s'est la certitudc, de n'y arriver que degrad6."
^ Vgl. Bruno Bauer, Christus und die Cäsaren, 2. Aufl., Berlin, 1879, und
andere seiner Werke.
Wieweit den nicht mehr stoischen Epiktet seine Lehre des Entsagens und
Ertragens trieb, geht aus den rein demütigen Worten desselben hervor: ,,Hat jemand
Böses von dir gesagt, so danke ihm, weil er dich nicht geschlagen hat; hat jemand
dich verwundet, so danke ihm* weil er dich nicht tötete." Vgl. auch Encheiridion
XXXIII, 'Env rig.
Vgl. übrigens zur Sachlage auch Pauli cpist. ad Cor., I, i.
Daß die das Christentum vorbereitende Literatur beim Erstarken des christlich-
Philosophie der Tat. 419
auch nicht auf die Anhänger der alten, längst vcrlorenL-n Sache
der Götterkulte, für deren Erhaltung in Rom noch zuletzt der
Stadtpräfekt Symmachus auftrat, der in seiner bekannten Re-
lation an Theodosius und Valentinianus, die Herrscher des Ostens
und Westens, darauf verweist, daß in religiösen Dingen die Ver-
nunft versage und der sich dagegen auf das FIcrkommen beruft,
das Rom groß gemacht habe. Symmachus nimmt immer wieder
Anlaß, darauf hinzuweisen, ,, hominis culpam esse, non saeculi";
für eine Besserung fehle es nicht an den Zeiten, nur an den
Menschen.^) Unser Blick richtet sich vielmehr auf jene Einzelnen,
die in ihrer Zurückgezogenheit vor der Macht und vor dem Ruhme
ihre Persönlichkeit voll wahrten und in ihrer Selbstgenügsamkeit
die wahren Herren gewesen sind, um deren Stirn sich sozusagen
der Königsreif des inneren Adels schlang, die Stoiker. Sie, die
allein unter allen ohne Belohnung Gutes wollten, wären wahr-
scheinlich damals die Träger der Zukunft gewesen, hätte ihre
Weltanschauung Zukunftsgedanken enthalten. Denn sie waren
Helden und sie taten, wie sie dachten. Die große Überzahl jener,
die anders meint und anders handelt, wenn Leidenschaft oder
Eigennutz sprechen, die kommt nur als Ballast in Betracht und
ist der Nährboden für Cäsarismus und Ochlokratie. Das Schicksal
aber wird von jener Minorität getragen, die wohl nur im idealen
Falle zur Majorität werden kann und die im Sinne mündiger
Rechenschaft und Ethik handelnd, den Zukunftsgedanken, der
Menschheit bewahrt und betätigt.
Die Wahrheit ist ein starker Trank. Überblickt man nach
genauerer Kenntnis der Menschengeschichte ihren gesamten Verlauf,
so kommt man unerachtet herrlicher Details wohl zu dem Schlüsse,
daß ihre bisherige Entwicklung gar nicht sehr würdevoll gewesen
ist und gar nicht viel von einer Kultur erkennen läßt. Von einem
transzendenten Sinn zu sprechen, wäre freilich überhaupt und
unter allen Umständen ein imbeziler Optimismus. Jedoch auch
in Hinsicht auf mündige Entfaltung kann bisher nur von bloßen
kirchlichen Selbstbewußtseins verdächtigt und vernichtet wurde, darüber vgl.
Pfleiderer, Die Philosophie des Heraklit, S. 48if., wo geradezu der Satz als
geltend gebrandmarkt wird: Pereant, qui ante nos nostra dixerunt. Dort wird auch
auf Johann., X, 8, und auf die für das Verschwinden der antiken Literatur sehr
charakteristische Stelle Apostelgeschichte, XIX, 19, verwiesen.
^) Symmachus, Epistolae, X, 54, 15; III, 43. — Die tüchtigen und schöpfe-
rischen Elemente waren längst der kriegerischen Verblutung, den Proskriptionen
und in der Kaiserzeit der Ausmordung zum Opfer gefallen.
27*
420
Anton Wesselsky
Ansätzen gesprochen werden, die hier und da im ganzen Laufe
der Geschichte zu bemerken sind, wobei wohl nicht zuletzt der
klassischen Antike gedacht werden muß.
Daß aber die Menschengeschichtc kein blindes, zweckloses
Geschehen sei, das herbeizuführen, das in sie hineinzutragen,
liegt an uns. Die Tugend ist nicht, wie Schopenhauer meint,
ein Fremdling und ein Wunder auf Erden; denn nochmals sei es
festgestellt, ihre Heimat sind die Herzen tugendhafter Menschen
und deren Wesen selber ist das autonome Wunder der Menschheit.
Jeder Einzelne hat eis in der Hand, in seinem Bereich den
großen Weg im Sinne des besseren Selbst der Menschheit ein-
zuschlagen und zu fördern, den Weg der Liebe, der Ethik und
der Tat ins Unbekannte.
Dieser Weg, dieses Schreiten auf der Bahn der Durchsetzung
menschlichen Maßes und Zieles ist der autonome Sinn der Ge-
schichte der Menschheit. Und dieser Sinn ist der einzig mög-
liche. Je besser der Mensch selber ist, um desto gewaltiger wird
für ihn der Sinn der Geschichte. Und desto unabweislicher die
Bewährung ausdauernder Tatkraft, mündiger Bescheidenheit, wahr-
haftiger Entschlossenheit.
Da alles Menschenwerk der Ethik unterliegt, so gilt das auch
von der Politik, sow'ohl in Hinsicht auf den einzelnen Staat und
das einzelne Volk, als auch in Hinsicht auf das Zusammenleben
der Staaten und Völker.^) Die Lüge hat in der Geschichte keinen
Bestand. Mögen wahre Taten leider selten sein: Scheinaktionen
und lügende Taten führen zur Haltlosigkeit der Werke.
Nach dem Thema von der Philosophie und vom Sinn der Ge-
schichte noch einige Worte zur Frage der Geschichtsauffassung.^)
Sie ist eine Folge der Weltanschauung und leider haben bei ihr wie
bei dieser die Einseitigkeiten überwogen. Die Geschichtsauffassung
ist von größter Bedeutung für die Fragen der wirklichen Organisation
und damit für die Ermöglichung einer Chance der Guten und Hoff-
nungsvollen statt einer solchen der Schlechten. Wir sahen, daß
der Bereich der menschlichen Betätigung auf das Gebiet des
Geistigen und des Stofflichen und dann des diantinomistisch
Lebendigen sich erstreckt. Es ist leicht einzusehen, daß jedem
*) Vgl. dagegen Spinoza, Tractatus politicus, III, 14.
*) Die Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Leben unterliegt der Wür-
digung vom Standpunkte philosophischer Rechenschaft nicht weniger und nicht
mehr als die Geschichte.
Philosophie der Tat. ^21
dieser Gebiete eine Ordnung im Leben entspricht. Um es gleich
vorwegzunehmen: dem geistigen die Ungebundenheit, der Anar-
chismus; dem stofflichen die Gebundenheit, der SoziaHsmus; dem
lebendigen die autonome Organisation.
Wie auf dem Gebiete der Weltanschauung, so hat sich auch
hier der einseitige Dogmatismus eines jeden der beiden anti-
nomistischen Extreme der übrigen Gebiete bemächtigt, sei es der
spiritualistische, sei es der materialistische Dogmatismus, jeder in
seiner Weise.
Betrachten wir zuerst die ökonomische Geschichtsauffassung,
die der materialistischen Weltanschauung entspricht. Auf dem
ihr zugehörigen Gebiete der Wirtschaft besteht sie zu Recht.
Das wirtschaftliche Gedeihen kann nur eintreten, wenn auch
volle Gebundenheit und Gleichheit eintritt. Wie unrationell es
ist, die wirtschaftliche Produktion dem Zufall, der Spekulation,
der Regellosigkeit und den Krisen zu überlassen, das liegt wohl
auf der Hand. Nicht minder, wieviel unnötig vergeudete Arbeits-
kraft zumal auch an dem komplizierten Apparate der heutigen
vermögensrechtlichen Organisation erspart, wieviel Verschwendung
wirtschaftlicher Güter vermieden, welche Höhe der äußerlichen
Zivilisation dann erreicht werden kann.^) Nicht genug an dem.
Wenn jeder erst wirtschaftlich außer Sorge gestellt ist, dann ist
erst jeder auch äußerlich frei. Dann erst ist ein jeder in der
Lage, seine beste Kraft zu widmen. Dann erst kann auch die
werktätige Liebe, des Lebens wahrer goldener Baum, freien Spiel-
raum bekommen, der heute überwuchert wird durch das System
der karitativen Almosengnade, sowie durch das gleichgesinnte
Gnadensystem der auf gute Taten zugesagten transzendenten
Belohnung. Dann erst kann auch die übergroße Bedeutung der
Gattenwahl in gutem Sinne zur Geltung kommen usw. Der
ethisch Minderwertige andererseits würde dann erst, soweit heute
seine wirtschaftliche Übermacht in Frage kommt, entwaffnet sein
und die Bahn in derselben Hinsicht frei sein für die Tüchtigen.
^) Wenn in der heutigen wirtschaftlichen Organisation irgendwo im großen
Arbeitskraft erspart wird, so tritt jedesmal statt einer Verbesserung der allgemeinen
wirtschaftlichen Lage eine wirtschaftliche Krise und eine Katastrophe für die
„Arbeitnehmer" ein. An der Stelle der gesellschaftlichen Produktion von Ge-
brauchswerten sehen wir die private und rücksichtslose Finanzierung des Kapitals
zu ausbeuterischen Zwecken mittels des Geldes als einer bloßen Abstraktion vor
Tauschwerten.
j^22 Anton Wcsselsky:
Wird aber hinwiederum dieser Grundsatz der Gebunden-
heit auf die Gebiete des Intellektes und der Autonomie über-
tragen, so entsteht eine geistige Reglementierung und per-
sönliche Unfreiheit, sowie ein Ouietismus und Fatalismus in
Hinsicht auf die mündige Ordnung, wie sie ja der bckanntcir
marxistischen ökonomischen Geschichtsauffassung tatsächlich an-
hängen und in ihrer Doktrin vom unaufhaltsamen, mechanisch-
automatischen, gesellschaftlichen Prozesse eine Reinkultur ge-
funden haben.
Die intcllektualistische Geschichtsauffassung andererseits führt
mutatis mutandis zu gleichen Erscheinungen und Folgen, nur
kommen dabei die umgekehrten Extreme in Frage. Auf geistigem
Gebiete betätigt diese Geschichtsauffassung mit Recht die schranken-
loseste Freiheit. Im übrigen sei aber nur an das wirtschaftliche
Laisser faire erinnert und an • die daraus entspringende Über-
antwortung der einzelnen an die minderwertigen Nutznießer der
Korruption und der Ausbeutung.
Wir sehen m Wirklichkeit tatsächlich zwei mächtige Richtungen
am Werke, die den beiden extremen Geschichtsauffassungen ent-
sprechen, deren aber jede das ihr entgegengesetzte Gebiet in Be-
schlag zu nehmen sucht. Einerseits die kapitalistische Richtung,
die vom wirtschaftlichen Anarchismus ausgehend durch Not und
Überfluß die Geister beherrschen will, und andererseits die in-
tellektuelle Richtung, die, vom geistigen Sozialismus ausgehend,
Gedanken vorzuschreiben, zu reglementieren, zu dogmatisieren
und durch geistige Hörigkeit die wirtschaftliche Unterjochung
herbeizuführen trachtet. Fast nur, was diesen, jede auf falschem
Standpunkte stehenden, auf falschem Wege gehenden Mächten
dienlich ist, gelangt zur Geltung.
Inmitten aber wartet das Volk und warten die Völker. In-
mitten ist das Gebiet des Menschen selber, das Leben. Seinem
Wesen ist nicht die ökonomische und nicht die intellektuelle, ihm
ist nur die lebendige Geschichtsauffassung angemessen.
Der lebendigen Geschichtsauffassung entspricht es, daß die
Ökonomisierung auf das ökonomische Gebiet sich beschränke,
und daß die Intellektualisierung allein auf geistigem Gebiete sich
betätige. Vor allem anderen aber, daß der lebendige Bereich, der
zwischen jenen entgegengesetzten Gebieten gelegen ist, nicht zum
Opfer werde, sei es der Ökonomisierung, sei es der Intellektuah-
Philosophie der Tat. 423
sierung. Auf diesem lebendigen Gebiete gilt es Autonomie und
Solidarität zugleich.^)
Doch ist hier nicht der Ort, in solcher Richtung weiteres zu
erörtern. 2) Es durfte sich nur darum handeln, auch in Hinsicht
auf die Geschichtsauffassung die Grundsätze dieser Philosophie
und ihre Fruchtbarkeit zur Geltung zu bringen. —
Die Frage der Mündigkeit ist zur Lebensfrage geworden.
Die formelle Aufhebung unehrenhafter und beschämender Hörig-
keit gehört zwar zur äußeren Autonomie, sie bedeutet jedoch
keineswegs die Mündigkeit selbst. Mündigkeit ist nur durch
Rechenschaft und Ethik möglich. Ihr Weg geht ins Unbekannte
und ist von heute auf morgen. Doch ist er ein wertvoller Weg.
Dürftig und unbescheiden zugleich nimmt sich die prinzipielle
Entsagung aus dagegen. Und er ist der Weg der Arbeit, der Auto-
nomie, der Liebe, des Lebens. Es braust ein Ruf, so wird es in-
mitten zukunftsreich bleibender Völker gelten müssen, es braust
ein Ruf nach Mündigkeit, nach Rechenschaft, nach Ethik und
nach Tat.
^) Unschwer lassen sich diese Grundsätze auch auf den völkerrechtlichen
Bereich, z. B. in Hinsicht auf großes Wirtschaftsgebiet und nationale Autonomie
übertragen.
*) Darum unterbleibt auch die Darlegung eines Zustandes, wie er nach vor-
liegender Geschichtsauffassung jenem nach der Götterdämmerung entspräche:
daß Lokes Einfluß gebrochen und Balders Genie und Höders heilige Einfalt ver-
söhnt sind.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker.
Von
Konrad Lange.
Inhaltsübersicht.
Die Illusionsästhetik und die Philosophie des Als-ob. Vaihingers Urteil
über jene. Kurze Rekapitulation der Illusionstheorie: Künstlerische Illusionen und
Jahrmarktsillusionen. Wegfall der wirklichen Täuschung in der Kunst. Die Wachs-
plastik. J. von Schlosser. Täuschungfördernde und täuschunghindernde Elemente.
Die zwei Vorstellungsreihen. Bedingtheit der Natumachahmung. Wichtigkeit des
persönlichen Stils für die Anschauung des Kunstwerks. Extreme, d. h. unkünstle-
rische Arten der Kunstanschauung. Gleichzeitiges und gleichstarkes Erleben der
zwei Vorstellungsreihen als Vorbedingung des künstlerischen Genusses. Widerlegung
des erkenntnistheoretischen Einwands. Vereinbarkeit der Illusionstheorie sowohl
mit dem philosophischen Idealismus als auch mit dem kritischen Realismus.
Größere Vollständigkeit der Natur im Vergleich mit dem Kunstwerk. Die ver-
schiedenen Illusionen. Die Illusiousspiele. Das Freiheitsgefühl.
Die Kritik Meumanns. Ihre Form. Ihr Inhalt. Verdrehung meiner Be-
hauptungen. Künstlerisches Banausentum Meumanns. Seine Widerlegung der
Illusion als wirklicher Täuschung. Seine Widerlegung der Illusion als bewußter
Selbsttäuschung. Unentwirrbare Gedankenkonfusion. Banalität des Kontemplations-
stindpunktes, Einseitigkeit der Inhaltsästhetik. Verhältnis von Form und Inhalt.
Wechsel der Vorstellungsreihen. Falscher Einwand Ludwig Goldsteins da-
gegen. Bild vom Pendel. Meumanns Polemik dagegen. Sein völliges Aufgehen
im Inhalt = volle Selbsttäuschung. Notwendigkeit des Täuschungsbewußtseins.
Freiheitsgefühl. Wie Kinder imd Ungebildete die Kunstwerke genießen. Angebliche
Unmöglichkeit des Vorstellungswechsels. Versuch Meumanns, die täusch ung-
hindemden Momente als Störungen des Kunstgenusses nachzuweisen. Ihre unvoll-
ständige Aufzählung. Der Stil als täuschunghinderndes Element. Panoramen und
Panoptiken. Ablehnendes und ungehöriges Schlußurteil Meumanns über die
Illusionstheorie.
Gegenüberstellung zustimmender Urteile über die Elusionstheorie: Janitsch,
Schaumkell, Gregori.
Die Kritik Streiters. Kunsthistorische und psychologische Methode.
Streiters Polemik gegen den Terminus ,,bewußtc Selbsttäuschung". Nachweis,
daß er zutreffend ist. Berufung auf Lipps. Dessen Kritik der bewußten Selbst-
täuschung. Unverständlichkeit seiner Beweisführung. Die „ästhetische Realität".
Unklarheit der Begriffe „reale Welt" und ,. ästhetischer Schein". Klarheit des
Begriffs ,, bewußte Selbsttäuschung*'. Streiter gegen die Farbenillusion. Diese
nachgewiesen am Verhalten Böcklins. Kritik der Einfühlungstheorie. Falsche
Auffassung der architektonischen Wirkung. Die täuschunghindernden Elemente in der
Baukunst. Unhaltbarkeit meiner Begriffe „Anschauungsillusion" und ,, Scheingefühl".
Dadurch gewonnener neuer Beweis für die Zweiheit der Vorstellungsreihen, „Gefühls-
vorslellung," „Vorstellungsgefühl." Persönliches. Bildlliche Redeweise der „wissen-
schaftlichen" Psychologie. Streiters Polemik gegen den Wechsel der beiden Vor-
stellungsreihen. Einheitliche und zusammengesetzte Gefühle. Gregori über die
zwei Vorstellungsreihen. Goethes „Hin- und Herfallen zwischen Angst und Bewunde-
rung". Seine „selbstbewußte Illusion". Meumann und Streiter contra Goethe.
Einwand Paps gegen die Herbeiziehung Goethes. Das Komische. Die Illusions-
spiele. Ästhetische Anschauung der Natur. Die umgekehrte Illusion. Das Häß-
liche. Streiters Einwand in dieser Beziehung als hinfällig nachgewiesen.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 425
I.
Seit dem Erscheinen meines „Wesens der Kunst" ^) ist die
von mir vertretene Illusionstheorie sehr oft zum Gegenstande
kurzer polemischer Bemerkungen und eingehender kritischer Unter-
suchungen gemacht worden. Wollte ich mich mit allen meinen
Kritikern auseinandersetzen, so müßte ich ein neues Buch schreiben,
mindestens ebenso groß wie das erste. Ob ich noch dazu komme,
hängt nicht von meinem Willen ab. Wenn man die Sechzig über-
schritten hat, kann man nicht mehr auf Jahre hinaus über seine
Zeit verfügen. Auch interessiert mich gegenwärtig ein anderer lite-
rarischer Plan mehr als das ästhetische Problem, das ich als erster
eingehend behandelt habe.
Dennoch glaubte ich mich dem Wunsche des Herrn Heraus-
gebers, an dieser Stelle eine kurze Darlegung meiner Theorie und
eine Kritik der dagegen vorgebrachten Haupteinwände zu geben,
nicht entziehen zu sollen. Denn es war mir eine große Freude,
in dem Vorworte seiner Als -ob - Philosophie^) das Urteil zu
lesen: ,,In der Ästhetik hat die Philosophie des Als-ob eben-
falls schon ihre Vertretung. Denn die Ästhetik hat das Glück,
ein grundlegendes Werk zu besitzen, in welchem die Fiktion, die
Als-ob-Betrachtung unter dem Namen der , bewußten Selbst-
täuschung' als Prinzip des künstlerischen Schaffens und Genießens
dargestellt worden ist: Es ist dies Konrad Langes , Wesen der
Kunst', eine mustergültige Darstellung des Als-ob in der Ästhetik
oder der Ästhetik des Als-ob." So will ich mich denn dem mir
ausgesprochenen Wunsche nicht entziehen, obgleich ich mir wohl
bewußt bin, daß meine ästhetischen Überzeugungen nicht wichtig
genug sind, um eine so umfassende philosophische Weltanschauung
wie die Als-ob-Philosophie bestätigen oder unterstützen zu können.
Dem Vorschlag einer kritischen Darstellung entsprechend sollen
hier zunächst die Einwände der beiden Schriftsteller behandelt
werden, deren ablehnendes Urteil vor allem die Ursache gewesen
ist, daß so viele Kunsthistoriker und Ästhetiker sich mit der
Illusionstheorie nicht haben befreunden können.
1) Berlin, G. Grotesche Verlagsbuchhandlung, 1901, 2 Bände. Die zweite
AuHage in einem Bande (1907) ist eine völlige Umarbeitung der ersten.
*) Die Philosophie des Als-ob, herausgegeben von H. Vai hinger. Berlin
1911, S. XII.
A2Ö Konrad Lange:
Die künstlerische Illusion.
Ich schicke eine kurze Rekapitulation meiner Lehre voraus,
um dem Leser, der mein Buch nicht zur Hand hat, die Haupt-
punkte derselben in Erinnerung zu bringen.
Illusion im künstlerischen Sinne ist nicht wirkliche Täuschung.
Denn wir werden durch ein gutes Kunstwerk niemals wirklich
getäuscht. Jahrmarktillusionen wie Panoramen, Panoptiken, höhere
Magie, Taschenspielerei, Jonglcurkunst u. dgl., die auf Sinnes-
täuschung hinauslaufen, sind keine künstlerischen Betätigungen im
höheren Sinne. Auch bei einigen echten Künsten, wie der Archi-
tektur, der Musik, der Poesie und dem Tanze kann von Täuschung
keine Rede sein. Nur bei den sogenannten nachahmenden Kün-
sten, nämlich der Schauspielkunst, der Malerei und Plastik,
kann uns allenfalls der Gedanke kommen, daß es sich um Täuschung
handle. Aber auch da sind w^ir uns während der Anschauung
immer bewoißt, daß die Darstellung mit dem Dargestellten nicht
identisch ist. Es fällt uns nicht ein, in einem Landschaftsgemälde
ein wirkliches Stück Natur, in einer Porträtbüste eine lebendige
Person, in dem Schauspieler, der den Wallenstein gibt, den histo-
rischen Wallenstein zu sehen. Was wir sehen, ist für uns viel-
mehr ein Surrogat der Natur, eine Nachahmung der Wirk-
lichkeit, die sich offen und ehrlich als solche gibt. Jeder Versuch,
eine wirkliche Täuschung hervorzubringen, ist deshalb im künstle-
rischen Sinne zu verwerfen. Nicht nur dann, wenn er gelingt,
sondern auch dann, wenn die Täuschung infolge technischer Mängel
unvollkommen bleibt. Denn ein Versuch mit untauglichen Mitteln
kann niemals befriedigen. Deshalb beruhen die sogenannten
Illusionsanekdoten des Altertums und der Renaissance (die Trauben
des Zeuxis, die Schwalben Lionardos usw.) auf einer falschen Auf-
fassung der Kunst. Deshalb sind Wachsfiguren mit echten Kleidern
und echten Haaren, auch wenn sie gut ausgeführt sind, unkünst-
lerisch^), Panoramen mit Vermischung natürlicher und künstlicher,
^) Anders J. von Schlosser, Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs,
Jahrbuch der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, XXIX, 1910/11,
S. 171 ff. Seine Einwendungen gegen meine Auffassung haben mich nicht über-
zeugt. Ich gebe zu, daß es bessere und schlechtere Wachsbüsten mit echten Haaren
und Ocwandcrn gibt. Aber mir ist keine bekannt, die nicht einen schreckhaften
Eindruck machte. Ich sehe deshalb in der Wachsplastik eine einseitige Über-
>.pannung des Illusionsprinzips und erkläre mir daraus, daß diese Gattung in
der Geschichte der Kunst eine so geringe Rolle gespielt hat.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. ^2/
plastischer und malerischer Elemente zum Zwecke der Sinnes-
täuschung verwerflich.
Daß die wahre Kunst uns nicht wirklich täuscht, beruht darauf,
daß sie neben den täuschungfördernden Elementen (Naturwahrheit,
Naturanalogie) auch täuschunghinderndc Elemente hat. Dazu ge-
hören : in der Malerei der Rahmen, in der Plastik das Postament, in der
Schauspielkunst das Podium der Bühne mit Kulissen und Soffiten,
in der Poesie der Reim und das Metrum, m der Musik der Rhyth-
mus und die Harmonie, in allen Künsten aber der Stil als Aus-
druck einerseits des verw^endeten Materials, andererseits der Persön-
lichkeit des Künstlers, der dieses Material zum Kunstwerk ge-
staltet hat. Diese täuschunghindernden Elemente sind aber nicht
nur vorhanden, worüber ja kein Zweifel bestehen kann, sondern wir
nehmen sie auch bei der Anschauung des Kunstwerks wahr. Sie
sind während dieser Anschauung in unserem Bewußtsein, sie ge-
hören als integrierender Bestandteil zu unserem ästhetischen Ge-
nüsse. Das wird eben durch die unkünstlerische Wirkung aller
Jahrmarktillusionen bewiesen, in denen diese täuschunghindern-
den Elemente ausgeschaltet sind.
Ist das aber richtig, so besteht unsere ästhetische Anschauung
in einem Erleben zweier Vorstellungsreihen. Die eine der-
selben enthält die täuschungfördernden, die andere die täuschung-
hindernden Elemente. Oder mit anderen Worten: die eine bezieht
sich auf den Inhalt, die andere auf die Form der Darstellung.
Der Inhalt ist das, was schon vor der künstlerischen Gestaltung
da war, und was durch mehr oder weniger freie Nachahmung in
das Kunstwerk übertragen worden ist. Also: Menschen, Tiere,
leblose Gegenstände, Himmel, Wasser, Gedanken, Gefühle und
Stimmungen der Menschen; alles Wirklichkeiten, die im Leben,
auch ohne Hinblick auf die künstlerische Darstellung vorhanden
• sind. Die Form dagegen ist das, was der Künstler zu diesem
Inhalt hinzubringt, die Art, wie er die Natur auswählt, die ihr
entnommenen Elemente zusammenstellt, sein Vorbild vereinfacht,
akzentuiert, ins richtige Licht setzt usw.
Denn die Nachahmung der Natur kann in der Kunst nur eine
sehr bedingte sein. Das gilt selbst von denjenigen Künsten, die
man gewöhnlich als ,, nachahmende" bezeichnet, d. h. von der Schau-
spielkunst, der dramatischen und epischen Poesie, der Malerei und
Plastik. Hier richtet sie sich zunächst nach der Art des Materials
und der Technik, die der Nachahmung gewisse Schwierigkeiten
^28 Konrad Lange:
in den Weg legen, weiterhin nach gewissen optischen und akustischen
Forderungen, die in den Darstellungsmitteln der Kunst begründet
sind, endlich und vor allem nach der Individualität des Künstlers,
der seine besondere Vorliebe für gewisse Erscheinungen der Wirk-
lichkeit und eine bestimmte Art der künstlerischen Gestaltung hat.
Obwohl nun unser ästhetisches Phantasieerlebnis darin besteht,
daß wir das Kunstwerk in Natur umdeuten, ein Gemälde z. B. ver-
möge unserer Phantasie in die Wirklichkeit übersetzen, ist es doch
ganz selbstverständlich, daß wir in einem Kunstwerk, wenn wir
es überhaupt künstlerisch anschauen, nicht nur die in ihm dar-
gestellte Natur, also z. B. Menschen, Tiere, Bäume, Haß, Zorn
oder Liebe, sondern daneben auch die Mittel sehen, die der Künstler
angewendet hat, um diesen Elementen eine künstlerische Form zu
geben. Das will heißen, daß wir bei der Anschauung des Kunstwerks
auch den persönlichen Stil seines Schöpfers im Bewußtsein haben.
Für einen künstlerisch gebildeten Menschen bedarf diese Tatsache
keines BewxMses. Außerdem ist es selbstverständlich, daß wir
die materiellen Gegebenheiten des Kunstwerks, den Rahmen des
Bildes, seine Flächenhaftigkeit, seine auf die Leinwand aufgetragenen
Ölfarben, das weiße Korn des Marmors, das Postament der Statue usw.
wahrnehmen. Die Folge dieses Wahrnehmens ist es ja eben, daß
wir uns durch das Kunstwerk nicht wirklich täuschen lassen. Was
wir bei seinem Anblick erleben, ist also nur bis zu einem gewissen
Grade eine Täuschung. Es ist eine solche und ist es doch
wieder nicht. Die Täuschung, der wir uns hingeben, bleibt uns
als solche während der Anschauung immer bewußt. Mit einem
Worte: Es ist eine ,, bewußte Selbsttäuschung".
Diese bewußte Selbsttäuschung besteht aus zwei streng-
genommen einander ausschließenden Vorstcllungsreihen, deren eine
sich auf den Inhalt, die andere auf die Form bezieht. Oder, wie
man auch sagen könnte, deren eine sich auf die gedachte Natur,
die andere auf die wahrgenommene Kunst bezieht. Jene ist, wie
man zu sagen pflegt, ,, gegenständlicher", diese künstlerischer Art.
Die ästhetische Gesamtanschauung besteht also, daran ist streng
festzuhalten, weder in dem Erleben der einen, noch auch in dem
Erleben der anderen Vorstellungsreihc. Sondern sie besteht in
dem Erleben beider Vorstellungsreihen zusammen. Sie wird
erst dadurch ästhetisch, daß wir die beiden Vorstellungsreihen
gleichzeitig, und zwar ungefähr in gleicher Stärke erleben. In
letzterer Beziehung handelt es sich freilich um einen Idcalfall,
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 429
der nur selten eintreten wird. In den meisten Fällen überwiegt
nämlich die eine Vorstellungsreihe. So sieht z. B. der Laie in
der Regel fast nur den Inhalt des Bildes, d. h. er läßt sich durch
die in ihm dargestellte Natur zu den Gefühlen anregen, zu denen
eben diese Natur, wenn sie Wirklichkeit wäre, ihn anregen
würde. Der Künstler dagegen, oder der mit allen Hunden ge-
hetzte Ästhet oder Kunstkritiker sieht vielleicht nur oder fast
nur die Form, d. h. das künstlerische Problem, das in dem Kunst-
werk gelöst ist. Beide Arten der Anschauung sind einseitig. Das
Wahre, d. h. die ideale Anschauung liegt in der Mitte. Sie ist
durch das gleichzeitige und womöglich gleichstarke Er-
leben der beiden Vorstellungsreihen gekennzeichnet.
In gewisser Weise stellt sich dieses gleichzeitige Erleben als eine
Vergleichung dar. Wir vergleichen unwillkürlich das Kunstwerk
mit der Natur. Und unser ästhetischer Genuß hängt wenigstens
zum Teil von dem Grade der Übereinstimmung beider ab.
Man könnte gegen diese Auffassung den erkenntnistheoretischen
Einwand erheben, daß das, was wir Natur oder Wirklichkeit nennen,
tatsächhch gar keine Wirklichkeit ist, da wir ja nur über die Er-
scheinung der Dinge zu urteilen vermögen. Und man könnte
daraus schließen, daß es unmöglich sei, das Kunstwerk mit der
Natur zu vergleichen oder es gar phantasiemäßig in die Wirk-
lichkeit zu übersetzen. Aber dieser Einwand würde die Illusions-
theorie nicht treffen. Denn abgesehen davon, daß der erkenntnis-
theoretische Idealismus eine bestimmte Weltanschauung voraus-
setzt, der die Weltanschauung des (nicht nur naiven, sondern
auch kritischen) Reahsmus gegenübersteht, würde die Illusions-
theorie auch dann ihre Geltung behalten, wenn man genötigt wäre,
die Wirklichkeit der Erscheinungen zu leugnen. Denn es ist
psychologisch ganz einerlei, ob ich sage: Beim Anblick des
Kunstwerks entwickle ich mir in der Phantasie aus der Wirk-
lichkeit ,, Kunstwerk" die Wirklichkeit ,, Natur", oder ob ich sage:
Ich entwickle mir aus der Vorstellung ,, Kunstwerk" die Vor-
stellung ,, Natur". Ebenso ist es einerlei, ob ich sage: Bei der
ästhetischen Anschauung vergleiche ich die Wirklichkeit ,, Kunst-
werk" mit der Wirklichkeit ,, Natur", oder ob ich sage: Ich ver-
gleiche die Vorstellung ,, Kunstwerk" mit der Vorstellung ,, Natur".
Im einen Falle sind es zwei Dinge, im anderen zwei Vorstellungen,
die miteinander verglichen werden. Das ist für die Tatsache der
Vergleichung ganz einerlei. Denn diese beiden Dinge oder Vorstel-
430
Konrad Lange:
lungon müssen zusammen in unserem Bewußtsein sein. Wenn man
zwei Dinge oder Vorstellungen miteinander vergleichen will, muß
man sie notwendig beide zusammen im Bewußtsein haben.
l'm diese Zweiheit, d. h. die Verschiedenheit dieser Vorstel-
lungen nun ganz zu verstehen, muß man sich vor allem klar
machen, daß die Natur immer viel vollständiger ist als das
Kunstwerk. Ein Porträt ist ein totes, stummes, flächenhaftes und
bewegungsloses Abbild einer Person, das keine Gedanken, keine Ge-
fühle, keinen Charakter hat : Ölfarben auf Leinwand. Die Person aber,
die in ihm dargestellt ist, und die dem Maler in den meisten Fällen
selbst Modejl gesessen hat, ist ein lebendiges, im Räume sich be-
wegendes Wesen, das spricht und handelt, Gedanken und Gefühle
hat und solche äußert. Wenn wir also sagen: Das Porträt ist
,, sprechend", es versetzt uns in die Illusion der betreffenden Person,
so meinen wir damit nichts anderes als: Es regt uns zu der Vor-
stellung einer Natur an, die viel vollständiger, vielseitiger und um-
fassender ist als das Abbild von ihr, welches wir vor uns haben.
Was bei der Wahrnehmung in uns entsteht, sind lediglich optische
Vorstellungen. Was wir aber in der Phantasie erleben, sind
nicht nur optische, sondern auch akustische und taktile Vor-
stellungen, außerdem Gedanken und Gefühle der allerverschieden-
sten Art.
Es gibt nämlich verschiedene Illusionen, je nach dem Sinnes-
gebiet, dem eine Kunst angehört, und je nach den Materialien,
aus denen sie ihre Werke herstellt. In der Malerei sind es
die Stoff illusion und die Raumillusion, in der Plastik die orga-
nische und die Bewegungsillusion, in der Baukunst die Kraftillusion
(Vorstellung des Tragens usw.), in der Poesie die Gefühls- und
Stimmungsillusion, in der Musik die Geräusch-, die Bewegungs-
und die Stimmungsillusion, die an erster Stellt; stehen. Kurz, man
kann alle Künste unter den Begriff der Illusion bringen, wenn man
sich nur klar macht, daß die Illusion sich auf ganz verschiedene Seiten
der Natur, auf ganz verschiedene Erscheinungsformen der Wirk-
lichkeit beziehen kann. Hieraus vor allem ist eben zu schließen,
daß die Illusion das eigentliche Kennzeichen der höheren Kunst
ist. Und eine Bestätigung dafür ergibt sich aus der Tatsache,
daß alle niederen Künste, sowie alle nicht künstlerischen Tätigkeiten
des Menschen die Illusion, wenigstens in der Form der bewußten
Selbsttäuschung, nicht kennen. Allerdings mit einer Ausnahme,
das ist nämlich das Spiel. Die Illusionsspiele, die wir sowohl
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 43 I
bei Kindern wie bei Tieren finden, sind nichts anderes als eine
primitive Vorstufe der Kunst. Man kann diese geradezu als ein ver-
feinertes, ins Geistige emporgehobenes Spiel bezeichnen. Spiel
ist der allgemeine, Kunst der besondere Begriff. Nicht jedes
Spiel ist Kunst, aber jede Kunst' ist Spiel. Dadurch wird die
Kunst keineswegs herabgesetzt. Denn auch das Spiel hat einen
wichtigen Beruf im menschlichen Leben. Kunst und Spiel sind
nicht nur eine Erholung, nicht nur Lust und Vergnügen. Sondern
sie sind auch Mittel zu einem höheren Zweck, nämlich zur Er-
gänzung unseres lückenhaften Daseins und zur Erzeugung jenes
Freiheitsgcfühls, ohne welches wir uns geistig der Welt gegen-
über nicht behaupten könnten.
Ich wende mich nun zu den Kritikern der Illusionstheorie.
I. Meumann.
Die ungünstigste Rezension, die meine Theorie erfahren hat,
ist die von Ernst Meumann.^) Ein Sohn von mir, der sich als
Leutnant in einem französischen Gefangenenlager befindet, und
dem dort durch Zufall das 30. Bändchen von ,, Wissenschaft
und Bildung" in die Hände fiel, schrieb mir, er habe sich,
als er das betreffende Kapitel gelesen, seines Vaters geschämt.
Die Form der Polemik ist allerdings etwas ungewöhnlich. Aber
man weiß ja, daß da, wo die Argumente am schwächsten sind,
der Mund am vollsten genommen wird. Schelten tut nur ein
Kritiker, der nichts zu sagen weiß. Und die Gründe, die Meu-
mann vorbringt, sind wirklich so schwach, daß man den Ein-
druck gewinnt, er habe das ,, Wesen der Kunst" überhaupt nicht
gelesen. So heißt es gleich zu Anfang: ,,Den Kunstinstinkt faßt
Lange auf als das Bedürfnis des Menschen nach Illusion (Täu-
schung)." Ich traute meinen Augen kaum, als ich das las. Das
Wort Illusion wird in der Klammer durch ,, Täuschung" erklärt,
während doch gerade ich den bindenden Nachweis geführt hatte,
daß die künstlerische Illusion keine Täuschung, ja geradezu das
Gegenteil einer solchen sei. Es wäre für Meumann ein Leichtes
gewesen, statt „Täuschung" zu schreiben: ,, bewußte Selbst-
täuschung". Aber nein, der Leser mußte zunächst einmal gegen
meine Theorie eingenommen werden. Und dazu diente die er-
^) Ernst Meumann, Einführung in die Ästhetik der Gegenwart, 1908,
S. 66ff.
432
Konrad Lange:
wähnte Verwechslung, die nach meiner Erfahrung allen begegnet,
die zum erstenmal von der Illusionstheorie hören. Es handelt sich
also hier um eine bewußte Irreführung des Lesers.
Ich hatte zum Beweise für die Behauptung, daß der Mensch
ein angeborenes Bedürfnis nach Illusion habe, die Spiele der Kinder
angeführt, die ja bekanntlich, wie Groos nachgewiesen hat, zum
großen Teil Illusionsspiele sind. Wenn ein Kind in einem Sofa-
kissen ein Baby oder in einem Stiefelknecht eine Geige sieht,
wenn Knaben leidenschaftlich mit Bleisoldaten, Mädchen mit
Puppen spielen, so tun sie das gewiß nicht, weil sie kein an-
geborenes Illusionsbcdürfnis haben. Meumann ist anderer Ansicht.
,,Es ist unrichtig", sagt er, ,,daß die Menschheit ein angeborenes
Illusionsbedürfnis hat. Von einem Bedürfnis nach Illusion kann
man höchstens bei einzelnen, besonders phantastisch ver-
anlagten Individuen (!) sprechen, oder bei gewissen Schichten
der Bevölkerung und bei primitiven Völkern und niederen Kultur-
stufen. Ich selbst weiß mich von jeder Art von Illusions-
bedürfnis frei."
Ich habe Meumann nicht persönlich gekannt. Doch zweifle
ich nicht an der Richtigkeit dieser vernichtenden Selbstkritik.
Ein Mensch, der sich von jeder Art des Illusionsbedürfnisses frei
weiß und dabei über Kunst, sogar über die Kunst der Kinder
schreiben will, ist gewiß eine Merkwürdigkeit! Ja, ich vermute
sogar, daß Meumann sich von jedem Bedürfnis nach Kunst
frcM fühlte, und daß er z. B. bei der Anschauung eines Porträts
von Rembrandt entweder nie an die Person, die in ihm dar-
gestellt ist, gedacht, oder daß er eben nur an diese Person ge-
dacht hat. Man kann ja ein Bild entweder als Anhäufung von
Ölfarbe auf Leinwand ansehen, oder man kann in ihm nur die
Natur, die es darstellt, sehen. Der letztere Fall liegt offenbar
bei Meumann vor. In beiden Fällen bedarf man natürlich der
Illusion nicht. Beide Fälle haben aber auch mit Kunst nichts
zu tun.
Weiter: ,,Wcnn aber ein Illusionsbedürfnis in der Mensch-
heit vorhanden wäre, so dient dem alles andere besser als die
Kunst (soll heißen: so würde dem alles andere besser dienen als
die Kunst), z. B. — der Aberglaube, die Zauberkünste, die Taschen-
spielerei, auch manche Hoffnungen und Ideale der Menschen, die
keine Verwirklichung zulassen." Wiederum war ich bei der Lektüre
dieser Worte starr vor Staunen. Mir, der ich ausführlich nach-
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker.
433
gewiesen hatte, daß die höhere Magie und Taschenspielerei keine
künstlerischen Illusionen sind, weil sie es auf wirkliche Täuschung,
d. h. auf Sinnestäuschung, abgesehen haben, wagt man entgegen-
zuhalten, daß das Bedürfnis nach Illusion — nach meiner Il-
lusion — durch die Jahrmarktkünstc erfüllt werden könnte! Und
wie schön nimmt sich dann die sittliche Entrüstung des Kritikers
aus, wenn er schreibt: ,,Aber es heißt doch die Kunst herab-
würdigen, wenn man sie mit Aberglauben und Zauberei auf die
gleiche Stufe stellt" (!) — gerade als ob ich das getan hätte,
während ich doch alles Nichtkünstlerische aufs schärfste — und
zwar als erster — aus der Kunst ausgeschieden und auf eine tiefere
Stufe gestellt habe ! Die Entrüstung des Lesers über mich muß aber
geradezu ihren Höhepunkt erreichen, wenn er "weiter liest : ,,Und wenn
wir nun das andere Merkmal hinzunehmen, daß die Kunst nur dem
Vergnügen dient (was nebenbei gesagt außer mir auch Schiller und
-'\ristoteles geglaubt haben), so paßt die Langesche Definition am
besten auf die Tätigkeit eines — Salontaschenspielers, Dieser befrie-
digt das Bedürfnis seiner Zuschauer rein um des Vergnügens willen."
Man kann in Zweifel sein, ob es mehr Bösw-illigkeit oder Dumm-
heit ist, was den Anlaß zu dieser Verdrehung meines Gedanken-
ganges gegeben hat. Optische Täuschung, Irrtum, Illusion, Aber-
glaube, bewußte Selbsttäuschung, alles das geht in dem logisch
offenbar ganz ungeschulten Kopfe des verstorbenen Professors
der Philosophie kunterbunt durcheinander.
Aber nein, ich will ihm nicht unrecht tun. Nachdem er bis
dahin meine angebliche Überzeugung, daß die Illusion eine wirk-
liche Täuschung oder ein wirklicher Irrtum sei, weidlich lächer-
lich gemacht und damit seinen Zweck, mich in den Augen des
Lesers herabzusetzen, seiner Meinung nach erreicht hat, fällt ihm
plötzlich ein, daß ich ja unter Illusion gar nicht Täuschung, sondern
etwas ganz anderes, nämlich ,, bewußte Selbsttäuschung", ver-
stehe. Flugs ändert er seine Gedankenrichtung und bekämpft
nun diese Theorie. Er denkt offenbar: Doppelt genäht hält
besser. Widerlegen wir zuerst die Täuschungstheorie und nach-
her die Theorie der bewußten Selbsttäuschung. So gewinnen wir
ein paar Argumente mehr und haben jedenfalls den Vorteil, daß
kein gutes Haar an der Illusionstheorie bleibt. Gewiß ein sehr
philosophisches und außerdem auch — sehr loyales Verfahren !
Wie widerlegt nun Meumann die Annahme der bewußten
Selbsttäuschung.? ,,Der Ausgangspunkt und das Fundament der
Annalen der Philosophie. L 28
A->A Konrad Lange:
Theorie liegt in der Gegenüberstellung von Kunstwerk und Wirk-
lichkeit. Es ist leicht einzusehen, daß diese Gegenüberstellung
eine unlogische ist. Denn auch das Kunstwerk ist Wirklichkeit,
und zwar sowohl das Werk selbst als der Eindruck, den es auf
den Zuschauer macht."
Sehr richtig. So richtig, daß man es fast banal nennen könnte.
Daß Ölfarbe und Marmor Wirklichkeit sind, hat wohl noch nie
jemand bestritten, wenigstens kein Anhänger des kritischen Realis-
mus, wie es Meumann war und wie ich es bin. Auch daß der
Genuß an einem Kunstv\^erk ein wirkliches Erlebnis ist, läßt sich
gewiß nicht leugnen. Was sich leugnen läßt und was ich ge-
leugnet habe, ist nur, daß das Kunstwerk die Wirkhchkeit ist,
die es darstellt. Oder sollte Meumann glauben, daß ein
Porträt Bismarcks von Lenbach die Wirklichkeit Bismarck wäre.-*
Dann würden viele Bismarcks in der Welt herumlaufen und wir
brauchten uns nicht um einen deutschen Frieden zu sorgen.
Sehr schön nimmt sich nun der philosophische Schulmeister-
ton in folgendem aus: ,, Lange verwechselt hierbei den Unter-
schied zwischen einer dargestellten und nicht dargestellten Wirk-
lichkeit mit dem von etwas Wirklichem und Nichtwirklichem,
was natürlich zw^ei ganz verschiedene Dinge sind." Welche Ge-
dankenkonfusion steckt in diesen wenigen Werten! Der Gegen-
satz einer dargestellten und einer nicht dargestellten Wirklichkeit
ist es nämlich gar nicht, was Meumann meint. Denn das
würde etwa heißen: der Gegensatz zwischen Bismarck, den Lenbach
dargestellt, und Meumann, den er nicht dargestellt hat. Davon
ist aber gar nicht die Rede. Hier kam es viclmeh^r auf einen ganz
anderen Gegensatz an, nämlich den zwischen der Natur, die bei
der Kunstanschauung nicht selbst vorhanden, sondern nur ge-
dacht ist, und dem Kunstwerk, das zwar nur ein Abbild, eine
Nachahmung dieser Natur, als solche aber wirklich ist. Zu dieser
Erkenntnis scheint Meumann nicht durchgedrungen zu sein.
Lange ,, verwechselt" also tatsächlich gar nichts. Lange unter-
scheidet vielmehr ganz scharf und deutlich die außerkünstlerische
Wirklichkeit, die schon vor dem Kunstwerk vorhanden war, und
die bei der ästhetischen Anschauung nur vorgestellt wird, und
die künstlerische Wirklichkeit, die erst mit dem Kunstwerk
in die Erscheinung tritt, dann aber real vorhanden ist. Lange
hat niemals bestritten, daß Ölfarbe und Marmor und Ziegel und
musikalische Töne Wirklichkeit sind. Er hat nur bestritten, daß
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 4^5
Kunstwerke wirkliche Menschen, Tiere, Pflanzen, Leben, Kraft,
Gefühl und Stimmung sind. Und dabei wird es wohl auch trotz
Meumanns Gedankenkonfusion bleiben. Das, was der Künstler
darstellt, nachahmt, gestaltet, umbildet oder wie man sich sonst
ausdrücken will, ist der Inhalt der Kunst. Dieser Inhalt ist von
der Form ganz scharf zu unterscheiden. Er ist nämlich das
Vorkünstlerische, d. h. das, was vor der Entstehung des Kunst-
werks vorhanden war, sei es nun Natur oder Gefühlsleben oder
Sage oder was immer. Die Form dagegen ist der Komplex
aller derjenigen Eigenschaften, die das Kunstwerk zum Kunstwerk,
d. h. zu einer materiellen Schöpfung von Menschenhand machen.
Natürlich ist das Kunstwerk Wirklichkeit. Aber in bezug auf
das, was es darstellt, ist es nicht Wirklichkeit. Das
ist alles ganz klar und eindeutig. Nur die unklare Psychologie
Meumanns hat es verwirrt. Und es gibt gewiß Leser, die
diese Gedankenkonfusion nicht erkannt haben. Sie sind dabei
vielleicht von der Meinung ausgegangen, ein Professor der
Philosophie müsse zum mindesten klar denken können.
Aber schließlich scheint doch selbst Meumann ein gewisses
schwaches Verständnis für das, was ich gemeint habe, aufgebracht
zu haben. Wenigstens sagt er: ,, Vielleicht hat Lange mit seinem
Illusionsbegriff gemeint, daß uns in der Kunst eine dargestellte
Wirklichkeit gleichwertig mit dem Erleben eines nicht Dar-
gestellten wird." Das ,, Vielleicht" war überflüssig, denn was
ich gemeint habe, habe ich deutlich gesagt. Freilich ist es nicht
das, was Meumann mir unterlegt. Denn auch hier wird der
klare Tatbestand durch die Konfusion des Philosophen verwirrt.
Eine ,, dargestellte Wirklichkeit" kann mit dem Erleben eines
,, nicht Dargestellten" niemals „gleichwertig" sein. Das eine kann
nur — in der Form der Illusion — zum Erleben des anderen
anregen. Und was Meumann ,, dargestellte Wirkhchkeit" nennt,
ist vielmehr ,, wirkliche Darstellung einer nur gedachtem Wirk-
lichkeit". Denn Meumann meint tatsächhch gar nicht die dar-
gestellte Wirklichkeit, sondern vielmehr die künstlerische
Darstellung einer (nachgeahmten oder gedachten) Wirklichkeit.
Und er will sagen, daß die Wirklichkeit des Kunstwerks mit der
Wirklichkeit des in ihm dargestellten Inhalts gleichwertig sei.
Aber auch das ist nicht richtig. Das Wort ,, gleichwertig" trifft
die Sache nicht, da die Natur, wie schon erwähnt, bedeutend
vielseitiger in ihren Erscheinungsformen ist als das Kunstwerk.
28*
436
Konrad Lange:
Dieses ist eben nur ein Surrogat der Natur. Als solches muß es
hinter der Natur zurückstehen. Dagegen gewinnt es wieder einen
Ix^sonderen Wert, und zwar einen höheren, dadurch, daß es die
Fähigkeit hat, die Phantasie des Genießenden anzuregen. Ein
sicherer Beweis, daß eben die Phantasietätigkeit das Ausschlag-
gebende und Wertvolle in der Kunst ist. Denn was könnte es
wohl für einen Zweck haben, ein Abbild oder Surrogat der Natur
herzustellen, das in so vielen Beziehungen hinter seinem Vorbild zu-
rückbleibt, wenn dieses Surrogat nichj eben durch seine Illusions-
kraft die Fähigkeit hätte, die Phantasie der Menschen in wert-
voller Weise anzuregen ?
Meumann meint nun, der Vorgang, den ich im Auge habe, sei
,,in keinem Falle eine Illusion oder eine Täuschung, vielmehr
werde dieser Tatbestand durch den Begriff der Kontemplation
oder der vollständigen Versenkung in das Kunstwerk viel rich-
tiger bezeichnet". Man achte darauf, daß hier wieder der Be-
griff der Illusion durch das Wort Täuschung erläutert, also in
das Gegenteil dessen verkehrt wird, was ich darunter verstehe.
Im übrigen ist diese Bemerkung wieder ganz banal und nichts-
sagend. Denn was ist ,, Kontemplation" oder ,, Versenkung in das
Kunstwerk"? Kontemplation heißt Betrachtung, besonders ruhige
gesammelte Betrachtung. Natürlich gehört die zur Kunst. Man
muß man das Kunstwerk ruhig betrachten, wenn man es geniefkn
will. Das brauchte Meumann der staunenden Welt nicht mit-
zuteilen.- Natürlich muß man sich in dasselbe versenken, wenn
man die Absichten des Künstlers verstehen will. Das ist allen,
die etwas von Kunst verstehen, geläufig. Für den Philosophen aber
handelt es sich darum, worin diese Betrachtung besteht,
d. h. was man bei der Anschauung erlebt. Nach der
Illusionstheorie erlebt man sowohl den Inhalt als auch die
Form des Kunstwerks. Das ist der wesentliche Punkt, durch
den sie sich von allen anderen Theorien unterscheidet. Und der
Inhalt, d. h. der dargestellte Gegenstand, der Stoff, wie man
früher zu sagen pflegte, ist mehr als man gewöhnlich denkt. Er
Ix'Steht nicht nur aus der Natur nach ihrer äußeren Erscheinung
— was sollte sonst die Poesie oder die Musik wohl anfangen.'' — ,
sondern er schließt auch alle Gedanken und Gefühle ein, welche
die dargestellten Personen erleben können. Diese Gedanken und
Gefühle kann man sich aber nicht vorstellen, ohne sie selbst bis
zu einem gewissen Grade zu denken oder zu fühlen.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 437
Ich will das an einem Beispiel erläutern. Wir sehen beim
Anblick der Statue eines zürnenden Achill nicht nur Körper-
formen von bestimmter Art, nicht nur Nacktes von bestimmten
Umrissen und Waffen von bestimmter Form, wir sehen nicht nur
weißen Marmor und Komposition, sondern wir sehen auch Zorn,
d. h. den Ausdruck des Zornes. (Denn der Zorn ist für den Bild-
hauer nur insoweit darstellbar, als er durch Bewegungen des Körpers
und der Gesichtszüge veranschaulicht werden kann.) Zorn sehen
heißt aber psychologisch nichts anderes als Zorn fühlen. Dieses
Gefühl ist allerdings dem Zorn, den W'ir im Leben bei gegebenem
Anlaß fühlen würden, nicht gleich. Und zwar deshalb nicht, weil
wir ja selbst keine Veranlassung zum Zorn haben, sondern nur die
Darstellung eines Menschen sehen, von dem die Sage berichtet,
daß er zornig gewesen sei. Immerhin erleben wir etwas Ähn-
liches wie Zorn, ein wenig Zorn, eine Vorstellung von Zorn,
oder wie man es nennen will. Und genau so ist es mit allen
Gefühlen, die der Künstler darstellt. Haß und Liebe, Furcht
und Mitleid, Freude und Trauer, alles das erleben wir — am
stärksten in der Poesie und Musik ^, aber wir erleben es nur
in der Form der Vorstellung, gewissermaßen spielend. Denn die
Vorstellungsreihe Form hindert uns, uns diesen Gefühlen ganz
hinzugeben. Wir tun nur so, ,,als ob" wir zürnten, haßten,
liebten, fürchteten usw. Das ist der Punkt, wo die Illusions-
ästhetik sich mit der Als-ob-Philosophie berülirt.
Andererseits umfaßt aber die Vorstellungsreihe Kunst oder
Form auch eine ganze Anzahl von Gefühlen, die sich an die
sinnliche Wahrnehmung anschließen, von elementaren Gefühlen,
wie sie durch Farben, Töne, Harmonien, Wortklänge, Rhyth-
men, Reime und dergleichen hervorgebracht werden, unter Um-
ständen auch Unlustgefühle, wie diejenigen, welche gewisse
Dissonanzen, gewisse graue oder schmutzige Farbentöne erzeugen.
Alles das habe ich im Wesen der Kunst ausführlich dargelegt.
Man wird mir danach kaum zum Vorwurf machen, daß ich das
ästhetische Erlebnis einseitig aufgefaßt hätte, daß es sich nach
meiner Theorie dürftig oder unvollkommen ausnehme. i) Es gibt
1) Nur ein Schüler von mir hat diesen Vorwurf ausgesprochen, nänüich Ludwig
Goldstein in seinem sonst lesenswerten Buche: Moses Mendelssohn und die
deutsche Ästhetik, Königsberg i. P., 1904, S. 138: ,,0b sich wirklich der ganze Vor-
gang des Kunst- und Naturgenusses auf den klappernden Mechanismus wech-
selnder Vorstellungsreihen zurückführen läßt ? Ob die selbstvergessene Begeisterung,
^«g Konrad Lange:
im Gegenteil wohl keine ästhetische Theorie, die allen M^lich-
keiten des Erlebens in der Kunst so restlos gerecht würde, wie die
Illusionstheorie. Alles, aber auch alles, was wir beim Genuß eines
Kunstwerks erleben körmen, ist in den zwei Vorstellungs- und
Gefühlsreihen enthalten. Im Gegensatz dazu stützen sich sowohl
die Form- als auch die Inhaltsästhetik, sowohl die Einfühlimgs-
als auch die Assoziationsästhetik immer nur auf einzelne Formen
des Erlebens, Formen, die an sich wohl möglich sind und auch von
mir gar nicht geleugnet werden, bei deren einseitiger Her\or-
kehrung aber gerade das. v^orauf es ankommt, nämlich das spezi-
fisch Ästhetische unerklärt bleibt.
Eher könnte man mir zum \'orwurf machen, daß ich mir die
ästhetische Anschauung zu \-ielseitig gedacht, daß ich die beiden
\'orstelluns5reihen mit zu viel Einzelerlebnissen überlastet habe.
Diesem Vorwurf glaubte ich mich dadurch sm besten zu entziehen,
daß ich das Ejleben dieser \orstellüngen und Gefühle als ein
sukzessives oder wechselndes schilderte. Gerade dieser Punkt
ist nun von meinen Kritikern besonders oft als .Angriffs-
punkt benutzt worden. Und doch gibt es nichts Klareres, als
daß wir nicht gleichzeitig Erlebnisse haben können, die einander
entgegengesetzt sind, sich inhaltlich geradezu ausschließen. So
können vrir z. B. nicht gleichzeitig die Vorstellung haben, die
schattierte Zeichnung einer Kugel sei ein Flächenbild, und sie sei
eine Kugel. Denn das eine schließt das Andere geradezu aus. Wenn
wir also sagen: ..Das schattierte Flächenbild versetzt uns in die
Illusion einer Kugel', d. h. eines runden plastischen Körpers, so kann
das vernünftigerweise nur heißen: Wir täuschen uns vorüber-
gehend vor, daß das, was wir da sehen, eine Kugel sei. „Vorüber-
gehend", d. h. eben abwechselnd mit der Anschauung der Zeich-
nung als Flächenbild. NMr sehen die Zeichnung einmal als flächen-
haftes Gebilde, d.h. als Kreidezeichnung auf Papier, und einmal als
Kugel, d. h. als plastischen Körper im Raum. Gerade zu diesem
Spiel der Vorstellungen wollte uns ja der Zeichner an-
regen. Und wer jemals einen Bleistift in der Hand gehabt hat.
weiß, vie stolz er darauf war, mit seinen Mitteln, d. h. mit den
in die uns ein meisterfaaft vorgetragenes Tonstück, ein hhireiBendes Tbeatererlebnis
versetzen kann, allein aas der für uns kontrrilierbaren Pcndelbevcgung unseres
Bewußtseins zvis<diai Spid und Ernst, zvisd>en Sdiein und Wirklicbkeit zu er-
klären ist?" Goldstein hat hier fälschlicbersreis« die Form des Erlebens mit dem
Inhalt des sehr komplizierten Gefühlskomplexes gleid^csetzt.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker, 439
technischen Mitteln der Zeichnung sich selbst und anderen dieses
Spiel der Vorstellungen verschafft zu haben. Jeder Urheber einer
solchen Zeichnung will, daß wir das Werk seiner Hand gut finden,
er will vor allem selbst dadurch befriedigt sein. Das kann er aber
doch nur, wenn er die Zeichnung als Zeichnung auffafit, was er
ja schon deshalb tut, weil er sie selbst gemacht hat. Und auch
wir können in seiner Zeichnung eine Kugel nur dann sehen,
wenn wir uns bei ihr, obwohl sie nur eine Zeichnung ist, dennoch
einer wirklichen Kugel erinnern und uns vermöge dieser Erinne-
rung in die Illusion einer plastischen Kugel versetzen. Beides tun
wir auch tatsächlich, und zwar abwechselnd, wie schon aus unserem
abwechselnden Öffnen und Zukneifen der Augen hervorgeht.
Ebensowenig können wir gleichzeitig Trauer und sinnliche
Lust fühlen. Wenn wir z. B. in der Musik die Harmonien und
Rhythmen eines Trauermarsches hören, so können wir nicht
gleichzeitig die Trauer erleben, die seinen Inhalt bildet, und die
Lust fühlen, die der sinnliche Reiz der Harmonien und Rhythmen
in uns auslöst. Wir müssen diese Gefühle vielmehr nacheinander
oder abwechselnd miteinander erleben. Das ist so sicher, wie nur
irgendeine psychologische Wahrheit.
Ich habe nun in meiner Antrittsvorlesung über ,,Die bewußte
Selbsttäuschung als Kern des ästhetischen Genusses" (Leipzig
1895) und in der ersten Auflage des Wesens der Kunst (1901) zur
Veranschaulichung dieses seelischen Vorganges das Bild eines
Pendels gebraucht, d. h. ich habe die ästhetische Anschauung
mit einem Hin- und Herpendeln oder -oszillieren oder Hin- und
Herschaukeln zwischen Natur und Kunst, Inhalt und Form,
Original und Nachahmung verglichen. Diese Unvorsichtigkeit
habe ich schwer büßen müssen. Denn die ganze Schar meiner
jugendlichen Gegner hat sich auf diese Pendeltheorie gestürzt
wie der Stier auf das rote Tuch, und hat allen Ernstes geglaubt,
wenn sie dieses Bild, diesen Vergleich — denn mehr sollte es ja
nicht sein — für unpassend erklärte, damit die ganze Illii'?ions-
theorie widerlegt zu haben.
So auch Meumann. ,,Es ist nicht richtig, daß wir beim
Genießen eines Kunstwerks zwischen Sehern und Wirklichkeit
oder überhaupt zwischen irgendwelchen Vorstellungsreihen hin
und her pendeln, das ist einfach praktisch unrichtig, wie jeder
aufmerksame Betrachter an sich feststellen kann. Im Gegenteil
müssen wir sagen: Beim ästhetischen Genießen versenken wir
AAO Konrad Lange:
uns ganz in das Kunstwerk selbst und wir vergessen die ganze
übrige Wirklichkeit, und es ist ganz unmöglich, während
einer tieferen ästhetischen Konzentration auf ein Kunstwerk uns
immer vorzureden (!)* das alles ist nur Schein und keine Wirk-
lichkeit. Gerade dieser Gedanke schwindet uns völlig aus
dem Bewußtsein. Ein Schauspiel, eine Oper oder eine Lektüre
eines stimmungsvollen Gedichtes vermag uns vollständig zu fesseln
und läßt den Gedanken daran, daß wir eine bloß dar-
gestellte Wirklichkeit vor uns haben, gar nicht auf-
kommen. Eben infolge dieser völligen Versenkung in das Kunst-
werk wird uns das Dargestellte zu einem Äquivalent der nicht
dargestellten Wirklichkeit (soll heißen: wird uns das Kunstwerk
zu einem Äquivalent der in ihm dargestellten Wirklichkeit!).
Das ist die ganz eigenartige ästhetische Wirklichkeit, die aber
etwas total anderes ist als Täuschung oder als ,bew^ußtes Sich-
selbsttäuschen'."
Ähnliche Argumentationen kehren sehr häufig in der Polemik
gegen die Illusionstheorie wieder. Sie stammen durchweg von
Philosophen her, die auf dem Standpunkt der Inhaltsästhetik
stehen, d. h. die das Wesen der Kunstwirkung im Inhalt allein
erblicken. Ich weiß nicht, ob Meumann sich der Tragweite seiner
Beweisführung klar bewußt gewesen ist. Sie bedeutet nämlich, wenn
sie auf Selbstbeobachtung beruht, nicht mehr und nicht weniger,
als daß er selbst das Kunstwerk gar nicht als Kunstwerk
anzuschauen gewohnt war. Nun zweifle ich ja keinen Augen-
blick daran, daß Leute von seinem Schlage ein Kunstwerk nicht
als Kunstwerk auffassen können. Lesen sie doch einen Roman
ungefähr so wie ein junges Mädchen, das sich ganz in denselben
, .verliest", sich mit der Heldin identifiziert, in den Helden ver-
liebt ist, Angst und Hoffnung, Trauer und Freude, Haß und Liebe
ebenso erlebt, wie es diese Gefühle in der Wirklichkeit erleben
würde. Oder wie ein junger Fabrikarbeiter, der im Kino die Aben-
teuer eines Detektivs oder eines Einbrechers so anschaut, als wäre
er selbst dieser Mensch, dem solche aufregenden Dinge passieren.
Oder wie eine Bauersfrau, die ein Bild nur daraufhin ansieht, was
es darstellt, ob die dargestellte Person gerade gew^achsen oder buck-
lig ist, ob sie einen liebenswürdigen oder unliebenswürdigen Aus-
druck hat usw. Das ist das schöne Vorrecht der Jugend und —
der Ungebildeten, kurz aller Leute, die nichts von Kunst ver-
stehen. Ob auch das Vorrecht der Philosophen, das ist eine andere
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. ^^I
Frage. Der Philosoph muß nämlich, auch wenn er selbst nichts
von Kunst versteht, wenigstens mit der Ansicht derer rechnen,
die etwas davon verstehen. Er muß sich auf den Standpunkt
derer versetzen können, die ein Kunstwerk als Kunstwerk an-
schauen, d. h. sich für das Problem der Form interessieren, das
in ihm gelöst worden isb. Es gehört die ganze Harmlosigkeit
eines künstlerisch ungebildeten Menschen, eines ästhetischen Ba-
nausen dazu, zu glauben, daß wir beim Genuß eines Kunstwerks
nur dessen Inhalt erlebten, dagegen nicht an die Persönlichkeit
des Künstlers, an seinen Stil, an das Material, die Technik, die
Komposition usw. dächten.
Meumann ist sehr empört darüber, daß ich das Wesen der
Kunst in etw.is so Niedrigem wie einer Täuschung sehe. Er ist sich
nicht nur im unklaren darüber geblieben, daß meine Illusion gar keine
Täuschung ist, sondern er hat auch nicht erkannt, daß er selbst
das Wesen der Kunst in einer Täuschung erblickt. Denn
•wenn ich mich in den Inhalt eines Kunstwerks so versenke, daß
ich ,,die ganze übrige Wirklichkeit vergesse", daß mir ,,die Schein-
haftigkeit des Kunstwerks ganz aus dem Bewußtsein schwindet",
daß ich das Kunstwerk als ,, Äquivalent der Wirklichkeit" nehme,
dann lasse ich mich eben wirklich täuschen. Jedes
Erleben nur der einen Vorstellungsreihe Inhalt ist eine wirklicht-
Selbsttäuschung. Wenn ein Fieberkranker nachts aufw'acht und
in der Erregung sein im Winde bewegtes Handtuch für eine weiß-
gekleidete, durch das Zimmer schwebende Gestalt nimmt, oder
•^enn der Knabe in Goethes Erlkönig in den grauen Weiden
die Töchter des Erlkönigs sieht, so erleben diese Menschen gewiß
nur eine Vorstellungsreihe. Ihre Anschauung ist eine durchaus
einheitliche. Sie fühlen sich ganz in das, was sie sehen, ein. Aber
ihre Anschauung ist ganz gewiß keine ästhetische. Einfach des-
halb nicht, weil ihr das Korrektiv des Täuschungsbewußtseins
fehlt. Dieses Korrekti\' ist es aber, was dem Menschen das Gefühl
der ästhetischen Freiheit gibt, indem es ihn über die be-
ängstigende und bedrückende Wirklichkeit emporhebt.^)
Auf der anderen Seite: Wenn ein moderner Expressionist oder
Kubist oder Futurist wde Picasso, Kandinsky oder Severini in seinen
Bildern auf jede Ähnlichkeit mit der Natur verzichtet, das Gegen-
ständliche nur ganz von ferne anklingen läßt oder versteckt an-
^) K. Lange, Über den Zweck der Kunst, Stuttgart 1912.
ÄAf Konrad Lange:
deutet dagegen sich im Wesentlichen mit nichtssagenden Linien,
einer geometrischen Einteilung der Malf lache und mosaikartig
nebeneinandergestellten Farbenflecken begnügt, so erzeugt er
damit freilich keine Illusion. Aber sein Werk ist auch kein
Kunstwerk. Denn es ist dann nur Form, es entbehrt der
Natur mit ihren reichen und mannigfaltigen Gefühlswirkungen.
Das sind die beiden extremen Fälle einer Anschauung, die mit
Unrecht als künstlerisch bezeichnet wird. Und sie haben mit-
einander gemein, daß sie — einheitliche Anschauungen sind,
d. h. daß die Anschauung bei ihnen aus einer Vorstellungsreihe
besteht. Sapienti sat.
Dem Philosophen Meumann freilich genügt es nicht. Nach
ihm ,,hört der ästhetische Genuß sofort auf, wenn wir uns einmal
darauf besinnen, daß wir es bloß mit etwas Dargestelltem zu tun
haben (soll heißen: mit einer Darstellung, d. h. einer Nachahmung).
Jedes Pendeln zwischen zwei Vorstellungsreihen bezeichnet daher
gerade das Aufhören des eigentlichen Kunstgenusses." Hier ist
also klar und deutlich gesagt, daß Meumann das Kunstwerk
gar nicht als Kunstwerk ansieht, weil er es gar nicht als solches
ansehen will. Denn wenn wir uns bei der Anschauung nicht
darüber klar werden dürfen, daß wir es nur mit einer Darstellung
zu tun haben, so heißt das doch eben nichts anderes als: Wir
dürfen uns nicht darüber klar werden, daß wir ein Kunstwerk
anschauen, wir müssen das Kunstwerk für Wirklichkeit nehmen.
Wir müssen also z. B. in der Poesie die Spannung lediglich als
stofflichen Reiz erleben, also gerade das tun, was nicht nur Goethe
und Schiller als unkünstlcrisch verwarfen, sondern was auch jeder
moderne Kunstkritiker, der etwas von Kunst versteht, weit von
sich weisen wird. Wenn irgend etwas in der Ästhetik sicher und
unbestritten ist, so ist es doch die banale Tatsache, daß das
einseitige Erleben des stofflichen Reizes keine ästhetische An-
schauung ist. Ein Künstler, der darauf hinarbeitet, versündigt
sich am Geiste der Kunst. Und ein Beschauer oder Leser, der
diesem Reiz unterliegt, genießt nicht künstlerisch im eigent-
lichen Sinne, sondern wie ein kunstloser roher Barbar.
Nach diesen Proben kann man sich schon denken, \^lcher
.■\rt die Argumente sind, die Meumann sonst noch gegen die
Illusionstheorie vorzubringen weiß. Zunächst die Behauptung,
daß ein Ericben zweier Vorstellungsreihen im Wechsel miteinander
Unlust erregen müsse: ,,Ein Irrtum ist es ferner, daß überhaupt
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 44^
jemals durch ein Hin- und Hcrpcndeln zwischen zwei Vorstcllungs-
rcihen, die sich ausschließen (wie Schein und Wirklichkeit), ein
Genuß entstehen könne, vielmehr ist ein solcher Zustand stets
die Ursache von Unlust, und es ist einer der größten Fehler eines
Künstlers, wenn er uns nicht gestattet, in seinem Kunstwerk ge-
nießend aufzugchen, sondern wie (soll heißen: wenn) wir fort-
während oder auch nur einige Male in der ästhetischen Kontem-
plation gestört werden."
Dieses Argument, das ebenfalls zu dem eisernen Bestände
der Polemik gegen die Illusionstheorie gehört, habe ich nun so
oft widerlegt, daß man mir wohl erlassen wird, hier noch einmal
in extenso darauf einzugehen. Ich begnüge mich deshalb, zum
so und so vielten Male zu wiederholen, daß jedes Wortspiel, jedes
komische Erlebnis, jeder Witz, jede Ironie, jede Allegorie, jedes
poetische Bild nur in der Form zweier gleichzeitig oder in raschem
Wechsel miteinander sich bildender Vorstellungsreihen erlebt werden
kann. Ein paar Beispiele: ,, Warum hat Zar Nikolaus den Namen
Petersburg in Petrograd geändert.'*" Antwort: ,,Weil ihm , hinten
Burg' unangenehm war." Da haben wir die zwei Vorstellungsreihen:
I. hinten Burg, 2. Hindenburg. Oder: ,,Die Engländer haben
Irland glücklich gemacht." Da haben wir wieder die zwei Vor-
stellungsreihen: I. die Lüge der englischen Staatsmänner über
die zivilisatorische Mission Englands, 2. die Tatsache der
irischen Unterdrückung, die von Casement enthüllt worden ist.
Oder: ,,Der Morgen kam, es scheuchten seine Tritte den leisen
Schlaf, der mich gelind umfing." Wieder die zwei Vorstellungs-
rcihen: i. das aufdämmernde Morgenlicht, 2. der Jüngling, der
sich dem Schläfer nähert und mit seinen Tritten den diesen um-
fangenden Schlafgott verscheucht. Man hat niemals gehört, daß
das Erleben der zwei Vorstellungsrcihen die Lust an solchen Wort-
spielen, ironischen Bemerkungen, poetischen Bildern usw. be-
einträchtigt hätte. Im Gegenteil, wenn man sieht, wie oft gerade
diese Zweiheit der Vorstellungsrcihen in Fällen einer schönen oder
sonstwie erfreulichen Wirkung vorkommt, dann wird es sogar sehr
wahrscheinlich, daß eben auf ihr das Lustgefühl beruht, das, all-
gemein gefaßt, nichts anderes als geistiges Freiheitsgefühl ist.
Weiter: ,,Wenn Lange behauptet, illusionsstörende Momente
müssen im Kunstwerk sein, so ist das unrichtig; das Kunstwerk
darf vielmehr überhaupt keine illusionsstörenden Momente ent-
halten, vielmehr dürfen solche Momente nur in dem Beiwerk sein,
AAA Konrad Lange:
nicht in dem Kunstwerk selbst, also z. B. in dem Rahmen eines
Bildes, den Zuschauern eines Theaters, also in lauter nebensäch-
lichem Beiwerk, das mit dem wahren Charakter des Kunstwerks
gar nichts zu tun hat."
Aber darum handelt es sich ja gerade, ob die täuschung-
lundernden Momente nur dem Beiwerk angehören, oder ob sie für
die ästhetische Wirkung ausschlaggebend sind. Was den Rahmen
in der Malerei betrifft, so ist es Tatsache, daß jeder gute Maler
auf die Flächenteilung innerhalb desselben großes Gewicht legt.
Zum Teil wird die Komposition des Bildes geradezu durch
sie bestimmt. Und woher kommt es denn, daß ausgerechnet das
Panorama, wo der Rahmen weggelassen ist, unkünstlerisch wirkt ?
Wenn das Postament in der Plastik nur gleichgültiges Beiwerk
ist, warum stellt man dann die Statuen nicht unmittelbar auf
den Erdboden wie die Wachsfiguren eines Panoptikums, wodurch
<loch offenbar die Täuschung verstärkt wird ? Und wie kommt
es, daß Meumann bei der Bühnenkunst nur die Umgebung des
Genießenden im Zuschauerraum als täuschunghinderndes Element
nennt, nicht aber das Podium und den Rahmen der Bühne, die
etwa dem Rahmen in der Malerei und dem Postament in der
Plastik entsprechen } Wie kommt es ferner, daß er das Metrum und
den Reim in der Poefeie, den Rhythmus und die Harmonie in der
Musik nicht nennt, daß er überhaupt in allen Künsten die Verände-
rungen der Natur, die ich eingehend behandelt habe, unberücksichtigt
läßt, mit einem Worte den Stil vergißt.'' Ich will es dem Leser
\-erraten: Weil er ganz genau weiß, aber nicht zugeben darf, daß
diese Elemente, die doch alle von der Natur wegführen,
für die künstlerische Wirkung von ausschlaggebender Bedeutung sind.
Auf den Stil als Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers
möchte ich ganz besonderen Wert legen. Ich glaube gern, daß
es Menschen gibt, die ihn im Kunstwerk nicht sehen. Das sind
dieselben, die ein Bild dann am schönsten finden, wenn es am
meisten wie eine Photographie aussieht, d. h. am stillosesten ist.
Und ein solcher war gewiß auch Meumann. Der Stil bedeutet
immer eine mehr oder weniger starke Abweichung von der Natur-
vorstellung des Beschauers. Denn der Fall ist gewiß selten, daß
der persönliche Stil eines großen Künstlers mit der Nacurvorstellung
der meisten Menschen übereinstimmt. Selbst beim tolerantesten
Kunstkenner wird immer ein gewisser Rest, eine gewisse
.Sp.mnung übrig bleiben. Künstlerisch ungebildete Menschen
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 445
empfinden diese Spannung unangenelim, künstlerisch gebildete
sehen gerade in ihr einen besonderen Reiz. Es ist also klar, daß
sie den Stil während der ästhetischen Anschauung im Bewußt-
sein haben und daß dies auch zum wahren Kunstgenuß gehört.
Mein Haupt beweis für die Notwendigkeit der täuschung-
hindernden Elemente waren aber, wie schon angedeutet, die Pan-
oramen und Panoptiken. Es ist gewiß kein Zufall, daß bei diesen
Jahrmarktillusionen fast alle täuschunghindernden Elemente fehlen.
Sie werden offenbar mit Bewußtsein weggelassen, absichtlich aus-
geschaltet, weil die Absicht der Hersteller auf wirkliche Täuschung
geht. Und das Ergebnis ist denn auch: eine durchaus unkünstle-
rische Wirkung. Diese gibt sogar Meumann zu. Nur will er ihre
Ursache nicht in der Aufhebung der täuschunghindernden Elemente
erblicken. ,, Nicht die Vollständigkeit der Illusion (soll heißen: die
Absicht wirklicher Täuschung) ist es, was diese Kunstw^erke minder-
wertig macht, sondern die unkünstlerischen Mittel, mit denen die
Illusion erreicht wird, d. h. die physikalisch-optischen Kunstgriffe,
die also nicht mehr zur künstlerischen Darstellungsweise gehören."
Gemeint ist z. B. die Unkenntlichmachung des Übergangs von den
plastisch ausgeführten zu den nur gemalten Teilen im Panorama,
Ob diese zur ,, künstlerischen Darstellungsweise" gehört, hängt
davon ab, ob sie als Kuiistmittel erkannt wird oder nicht.
Und das ist eben nicht der Fall. Daraus aber, daß die ent-
stehende Täuschung eine unkünstlerischc ist, muß man schließen,
daß die täuschunghindernden Elemente nötig sind, daß also die
ästhetische Anschauung aus zwei Vorstellungsreihen besteht.
Das übrige, was Meumann gegen die Illusionstheorie vor-
bringt, ist noch haltloser und nichtssagender als das, was ich im
vorigen widerlegt habe. Es lohnt sich also nicht, näher darauf
einzugehen. Man wird danach auch beurteilen können, was es
für eine Bedeutung hat, wenn Meumann schließlich sein Urteil
in die Worte zusammenfaßt: ,,Die ganze Theorie Langes ist
nicht ernst zu nehmen. Ich stehe nicht an, sie als die schlechteste
Theorie des ästhetischen Gefallens zu bezeichnen, die in der Gegen-
wart aufgetreten ist."
Ich will, um dieses Urteil zu beleuchten, drei Kritiker zitieren,
die sich meiner Theorie angeschlossen haben, einen Kunsthistoriker,
einen Theologen und einen Schauspieler. Der Kunsthistoriker ist
Dr. Julius Janitsch, Direktor des schlesischen Provinzialmuseums
in Breslau. Er schreibt in der ,, Schlesischen Zeitung", 27. März
446
Konrad Lance:
1902, S. 217: ,,Ich bin der Überzeugung, daß die Langesche
lllusionslelire geradezu als befreiend empfunden werden wird.
Endlich eine Ästhetik, die auch der Künstler mit Nutzen zur
Hand nehmen kann!"
Der Theologe ist Liz. E. Schaumkell (Ludwigslust), der
sich im ,, Literarischen Zentralblatt" von 1902, Nr. 16, S. 533,
so vernehmen läßt: ,, Durch das Erscheinen dieses Buches ist die
Kunstwissenschaft um ein bedeutendes Werk vermehrt, das wie
kein zweites geeignet ist, ein tieferes Verständnis der Kunst und
ihrer Aufgaben weiteren Kreisen zu vermitteln. . . . Ein besonderer
Vorzug ist die Vielseitigkeit der Beweisführung. . . . Daß Lange
mancherlei Widerspruch erfahren hat, erklärt sich dem Referenten
daraus, daß seine Theorie in ihrem eigentlichen Wesen nicht
verstanden worden ist. Nach Ansicht des Referenten ist die
, bewußte Selbsttäuschung' der zentrale Punkt, von dem allein
aus sich die mannigfaltigen Probleme der Kunst lösen lassen. . . .
Es gibt keine Frage der Kunst, die hier nicht mit überzeugender
Deutlichkeit behandelt würde. . . . Lange hat sein Werk mit der
doppelten Absicht geschrieben, eine wissenschaftliche Ästhetik zu
liefern und dem nach Kunstverständnis suchenden Laien eine
populäre Kunstlehre vorzulegen. Daß dieses Ziel erreicht ist,
wird nach des Referenten Ansicht dem nicht zweifelhaft sein,
der ohne Voreingenommenheit an das Studium des Werkes geht.
Dann möchte Referent noch zum Schluß rühmend hervorheben:
Langes Werk zeigt wieder, daß man tiefgehende Probleme der
Wissenschaft behandeln und doch allen verständlich machen kann.
Es ist in dem ganzen umfangreichen Werke kein einziger
Gedanke, der für den aufmerksamen Leser unklar
bleibt."
Vergleicht man mit dieser letzten Bemerkung die vielen
Fragezeichen und Ausrufungszeichen, die Meumann (und Streiter)
meinen Bemerkungen hinzufügen, so muß man doch wohl den
Eindruck gewinnen, daß die Unklarheit nicht bei mir zu suchen ist.
Der Schauspieler ist der früher am Burgtheater in Wien tätig
gewesene Theaterintendant in Mannheim, jetzt Lehrer der Schau-
spielkunst am Deutschen Theater in Berlin, Ferdinand Gregori.
Er sagt im ,, Bücherfreund", einem Beiblatt zum ,, Volkserzieher",
4. Jan. 1903, 2. Jahrg., S. I — 4: ,, Konrad Lange hat das Wesen
der Kunst wahrscheinlich für alle Zeiten grundsätzlich festgelegt.
So revolutionierend sein Werk in den Reihen der Gelehrten wirken
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 447
mag, die Künstler kann es nur festigen. Das ist Langes Größe:
Alle echte Kunstübung, die wir kennen, findet Unterkunft in
seinem Hause, das viele Wohnungen hat, und in aller Zukunft
werden alle Entdeckungen neuen Kunstbodens sich organisch an-
gliedern können. Wir fühlen, daß die Kunst nicht wegen der
Ästhetik da ist, sondern die Ästhetik um der Kunst willen. Das
Buch war mir dreifältig wertvoll: Es brachte mir Wiederholungen,
Bestätigungen, Offenbarungen; Wiederholungen von Urteilen, die
ich da und dort im Sinne Langes abgegeben, ohne doch seine
Erklärungen gekannt zu haben; Bestätigungen noch ungemünzter
Gefühle; Offenbarungen, die meinen Gesichtskreis in die Weite
dehnten. Er spricht menschlich zu den Menschen. Seine Rede
ist nicht nur ja, ja, nein, nein, sondern sie klingt auch vertraut
wie die eines Freundes. . . . Der Vortrag hat etwas Selbstverständ-
liches, wie er's überall haben wird, wo eine unerschütterliche
Wahrheit verkündet wird. Dabei ist dem Führer das pädagogische
Talent, ein Ding von vielen Seiten zu betrachten, in seltenem
Maße eigen. Wir stoßen von allen möglichen Wegen aus, dank
seiner klugen Führung, immer wieder auf den ruhenden Mittel-
punkt. . . . Ziemlich früh gibt Lange schon eine Definition. Aber
noch nie habe ich ein Buch nach der eigentlichen Abwicklung
des Themas so fruchtbar gefunden wie dieses. Was folgt, ist im
einzelnen voll beglückender Gedanken. Was an dem Werke Langes
entzückt, ist der Reichtum seiner eigenen Gedanken und Anregungen.
Er verbreitet sich über Schauspielkunst und Tanz mit nicht geringerer
Sachkenntnis als über Malerei und Bildhauerei. So erstickt er selbst
den leisesten Widerspruch. Ich kann mir einen Ästhetiker denken,
der das Problem der bewußten Selbsttäuschung aufdeckt, ohne im
einzelnen unwiderlegbar zu sein. Je seltener aber dem Leser ein
Mangel an Sachkenntnis im einzelnen begegnet, um so sicherer
wird er seinem Führer auch im großen folgen. So hier. Ich habe
beispielsweise auf dem Gebiet, das mir am geläufigsten ist, in der
Schauspielkunst, Langes Ausführungen mit allem Einverständnis
gutheißen können. . . . Goldene Worte findet er, wo er die drei
feindlichen Brüder Idealismus, Realismus und Naturalismus zu
vereinigen trachtet. . . . Wenn ich das Werk Langes noch einmal
durchblättere, so sehe ich noch viele Randstriche, die ich un-
berücksichtigt gelassen habe. Es ist mir die Erinnerung ein un-
verlierbarer Schatz."
aaS Konrad Lange:
2. Streiter.
Ungefähr ebenso ablehnend wie die Kritik Meumanns, nur
viel ausführlicher, ist die Besprechung meines Buches von Richard
Streiter. Sie ist zuerst in der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung"
<'rschienen, dann in den nach seinem Tode herausgegebenen aus-
gewählten Schriften wieder abgedruckt worden.^) Kurz nach
ihrem ersten Erscheinen erhielt ich eine anonyme Postkarte, in
der mir — von wem, weiß ich bis auf diesen Tag nicht — mitgeteilt
wTirde, die Streitersche Kritik habe den Absender vollkommen
von der Richtigkeit meiner Theorie überzeugt. Es scheint danach,
daß die Beweisführung meines Gegners nicht ganz durchschlagend
gewesen ist, ja, daß er mit ihr zuweilen sogar das Gegenteil von
dem erreicht hat, was er erreichen wollte. Die philosophischen
Fachgenossen freilich haben sich durch diese Kritik und diejenige
von Lipps, auf die sie Bezug nimmt, wesentlich in ihrem Urteil
bestimmen lassen. Streiter war nämlich, obgleich seines Zeichens
ursprünglich Architekt, später als Ästhetiker ein Schüler von
Lipps geworden, und dieser hatte, wie war sehen werden, mit
unhaltbaren Gründen meine Theorie abgelehnt. Die große Be-
geisterung für seinen Lehrer, dessen ästhetische Anschauungen
schon bei seinen Lebzeiten stark angefochten worden sind und
nach seinem Tode vollends an Ansehen verloren haben, mag der
Grund gewesen sein, daß Streiter, der im Unterschied von
Meumann wenigstens ein klarer Kopf war, sich mit der Illusions-
theoric nicht befreunden konnte. Jedenfalls sind die Einwände,
die er gegen sie vorbringt, durchaus unhaltbar.
Auf die methodologische Frage will ich hier nicht näher
eingehen. Ich habe bekanntlich als Kunsthistoriker der histo-
rischen Methode neben der psychologischen eine gewisse Be-
deutung beigemessen. 2) D, h. ich habe mich bemüht, aus einer
Vergleichung der Kunstleistungen der verschiedensten Zeiten, Völ-
ker und Richtungen das Gemeinsame, also Ausschlaggebende des
künstlerischen Triebes zu ermitteln und glaube damit der Selbst-
*) Richard Streiter, ,, Illusionsästhetik". Beilage zur Allgemeinen Zeitung,
München, 1902, 10. Juni, Nr. 131 ; 11. Juni, Nr. r^2; 12. Juni, Nr. 133. Richard
Streiter, Ausgewählte Schriften zur Ästhetik und Kunstgeschichte, 1913, S. 324.
bi« 359-
*) Vgl. K. Lange, Über die Methode der Kunstphilosophie. Zeitschrift für
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1904, Bd. 36, S. 382 — 416.
Die ästhetische Dlusion und ihre Kritiker.
449
bcobachtung, die sonst vollkommen in der Irre gehen würde, die
Wege gewiesen zu haben. Das hat mich z. B. zu dem Nachweis
geführt, daß der Inhalt nicht das Ausschlaggebende in der Kunst
sein kann, weil es Perioden gibt, in denen die Künstler gar keinen
Wert auf den Inhalt gelegt haben. Ferner, daß die Kunst nicht
,, Darstellung des Schönen" sein kann, weil es Perioden gibt, in
denen mit Vorliebe das Häßliche dargestellt worden ist. Ich glaube,
gegen derartige Schlußfolgerungen kann man nichts Triftiges ein-
wenden. Die Frage nach dem künstlerisch Schönen läßt sich eben
durch psychologische Selbstbeobachtung allein nicht lösen. Denn es
ist nur zu natürlich, daß der eine Ästhetiker sich mehr für den Inhalt,
der andere mehr für die Form interessiert, der eine mehr Sinn für
das Schöne, d. h. Normale, der andere mehr für das Häßliche,
d. h. Anormale hat. Mit welchem Recht will nun der Einzelne
behaupten, daß gerade seine Art, die Kunst anzuschauen, die
richtige, d. h. die eigentlich künstlerische sei } Es ist gewiß merk-
würdig, daß gerade ein Kunsthistoriker wie Streiter die kunst-
historische Methode so unterschätzen konnte. Jedenfalls hat er
nicht behaupten können, daß ich es mit der psychologischen
Methode ebenso mache. Im Gegenteil, er mußte zugeben,
es handle sich in meinem Buche trotz aller historischen Beweis-
gründe ,,von Anfang bis zu Ende um nichts anderes als am das
Glaubhaftmachen einer psychologisch gefaßten Theorie", die ganze
Menge kunstgeschichtlicher Beispiele sei nur zusammengebracht,
um eine einzige psychologische Gedanjcenreihe zu stützen. Das
ist ganz richtig. Meine Methode besteht eben in einem doppelten
Weg, einem historischen und einem psychologischen. Ihr Unterschied
von derjenigen Streiters ist einfach der, daß er seine Beweis-
führung lediglich auf die psychologische Selbstbeobachtung gründet,
ich dagegen auf die psychologische Selbstbeobachtung und das
kunsthistorische Material. Ich kann dem Leser das Urteil darüber
anheimgeben, welches dieser beiden Verfahren die größere Sicher-
heit verbürgt.
Was nun die psychologische Begründung meiner Theorie
betrifft, so findet Streiter, daß weder die Bezeichnung ,, be-
wußte Selbsttäuschung" noch auch der psychische Vorgang
(Streiter sagt: psychologische Vorgang), den ich damit meine,
klar sei: ,, Bewußte Selbsttäuschung sagt soviel wie Feuer, das
nicht brenne." Aber gerade dieser scheinbare Widerspruch sollte
ja den Gegensatz, um den es sich handelt, zum Ausdruck bringen.
Annalen der Philosophie. I. 2g
^rg Konrad Lange:
Gerade damit wollte ich ja sagen, daß wir im Kunstwerk Natur an-
schauen und doch wieder nicht anschauen, Gefühle erleben und doch
wieder nicht erleben, uns in eine ideale Welt versenken und doch
wieder auf dem festen Boden der Wirklichkeit stehen. Kann man
diesen merkwürdigen und scheinbar widerspruchsvollen Zustand besser
ausdrücken als durch den merk^vürdigcn und scheinbar widerspruchs-
vollen Terminus ,, bewußte Selbsttäuschung"? Das Wort Illusion
ist zweideutig und irreführend, das haben wir ja bei Meumann
gesehen. Es ist außerdem ein Fremdwort. Engels riet mir einmal,
statt dessen ,, Einspielung" zu sagen. Ich habe mich aus nahe-
liegenden Gründen nicht dazu entschließen können. Gibt es nun
in der ganzen deutschen Sprache zwei Wörter, die den Sachverhalt
klarer ausdrückten als die Wörter ,, bewußt" und ,, Selbsttäuschung" .'*
Wer solche findet, den bitte ich dringend, sie mir mitzuteilen.
Ich bin sofort bereit, sie anzunehmen und an die Stelle meines
Künstausdrucks zu setzen. Vorläufig muß man mir schon gestatten,
diesen stehen zu lassen. Denn er. wäre ja nur dann falsch, wenn ich
behauptete, es solle damit gesagt sein, daß wir uns gleichzeitig
täuschen und doch wieder nicht täuschen ließen. Das behaupte
ich aber gar nicht. Im Gegenteil, gerade ich habe ja den Vor-
gang als einen Wechsel zwischen zwei Vorstellungsreihen be-
schrieben. Die eine Vorstellungsreihe wird durch das Wort be-
wußt, die andere durch das Wort Selbsttäuschung bezeichnet.
Etwas Klareres kann es wohl nicht geben.
Aber gerade diesen Wechsel leugnet Streiter ebenso wie
Meumann. Er beruft sich dabei auf Lipps, der offenbar für
ihn und Meumann in dieser Beziehung die höchste Autorität
darstellt. Lipps führt in seiner Rezension meiner Antrittsvorlesung
folgendes aus: ,,Was Lange sucht, ist der Begriff der künstlerischen
und ästhetischen Illusion. Diese Illusion ist nun in der Tat ein
Mittelzustand zwischen Gcbundenscin an die Wirklichkeib und
freiem Spiel mit Phantasiegcbildcn. Sie ist ein Hingegebensein
an Realität; nicht an die erkannte (soll heißen: wahrgenommene),
sondern an eine davon durchaus verschiedene Realität, mit einem
Worte an die — ästhetische Realität (der Gedankenstrich
und die Sperrung sind von mir). Worin aber diese besteht, das
sehen wir, wenn wir beachten, worauf sie beruht. Was das Kunst-
werk vorstellt, ist — ein Dargestelltes, d. h. eine ideelle Welt,
eine Welt unserer Phantasie. Und es ist — beim echten Kunst-
werk — nicht nur eine solche ideelle Welt, sondern es erscheint
Die ästhetische IlUision und ihre Kritiker. 45 I
auch SO, durchaus, ohne Schwanken, mit absoluter Selbstverständ-
lichkeit, so daß auch nicht einmal die Frage in uns entsteht, ob
CS sich so verhalte. Zugleich ist doch diese ideelle Welt aufs Un-
mittelbarste gebunden an das in sinnlicher Realität vor uns stehende
Kunstwerk. Demzufolge nimmt sie teil an dem Charakter der
Objektivität, der diesem eignet. Wir schaffen die ideelle Welt des
Kunstwerks nicht frei, sondern sie ist uns durch das reale Kunst-
werk gegeben, von außen aufgenötigt. . . . Eben dies Ideelle, das
für uns in keinem Momente etwas anderes ist als ein Inhalt der
Phantasie, ist zugleich in jedem Moment für uns ein ästhetisch
Reales, d. h. es ist ein Phantasieinhalt mit dem Charakter der
Objektivität. Es bedarf keines Schwankens und es ist kein Schwan-
ken möglich, weil diese mit dfem Charakter der Objektivität aus-
gerüstete Idealität oder diese ästhetische Realität, weit entfernt,
in sich Wirklichkeit und Phantasie zu vereinigen, keines von
beiden ist, sondern beiden gegenüber jenes klare und in sich eigen-
artige Neue darstellt. Wenn wir die Sache von anderer Seite her
betrachten: Es gibt eine eigenartige, in sich einheitliche, darum
vollkommen klare, ruhige und sichere ästhetische Anschauung.
Ohne diese gäbe es keine Kunst. Nicht als schaffte sie auch den
wertvollen Inhalt des Kunstwerks. Aber sie ist Bedingung seines
Genusses."^) Dem fügt Streiter noch hinzu: ,, Dieser scharf-
gefaßte (!) Einwand war Lange offenbar zu philosophisch. Er
hat ihn zwar nicht widerlegt — das konnte er nicht wohl — , er
hat aber trotzdem seine Theorie aufrecht erhalten."
Warum ich diesen Einwand von Lipps damals nicht wider-
legt habe, will ich dem Leser gern verraten: Ich habe ihn nämlich
nicht verstanden. ,,Mir war bei alledem so dumm, als ging'
mir ein Mühlrad im Kopf herum." Und dieses Gefühl hat sich
bei mir immer wieder eingestellt, so oft ich diesen qualligen Ge-
dankenbrei wieder zu verstehen gesucht habe. Er ist ein charak-
teristisches Beispiel für die völlige Hilflosigkeit, mit der die
zünftige Ästhetik vor dem Erscheinen meines ,, Wesens der Kunst"
dem Problem der künstlerischen Illusion gegenüberstand. Das
hindert freilich nicht, daß die Kritik von Lipps auch gegenwärtig
noch viele Gläubige findet. Es sei mir deshalb gestattet, ein wenig
in ihre geistigen Tiefen hineinzuleuchten.
^) Theodor Lipps, Dritter ästhetischer Literaturbericht, im Archiv für
systematische Philosophie, IV. Bd., Berlin 1898, S. 480 — 482.
29*
iro Konrad Lange:
Lipps erkennt, das muß zunächst festgehalten werden, den
Zustand der Illusion als solchen an und gibt sogar zu, daß er ein
Mittelzustand" sei. Es fragt sich nur, zwischen welchen Zu-
ständen er in der Mitte liegt, und was das heißt : in der Mitte liegen.
Nach der Illusionsthcorie kann das nicht zweifelhaft sein. Der
eine Zustand ist die Wahrnehmung des Kunstwerks als mate-
rieller Schöpfung, d. h. eines Gebildes aus Ölfarbe, Marmor, Tönen,
Rhythmen, Harmonien usw. Der andere ist die Vorstellung der
Natur, des Lebens, der Menschen, Bäume, Gefühle usw., die den
Inhalt des Kunstwerks bilden. Das Indermitteliegen, wie ich es
auffasse, besteht nun darin, daß der Genießende abwechselnd
das eine und das andere erlebt. Genauer gesagt, daß er abwechselnd
mehr das eine und mehr das andere erlebt. Denn man darf
den Wechsel natürlich nicht so auffassen, als ob mit dem Erleben
der einen Vorstellungsreihe die andere völlig aus dem Bewußtsein
verschwände. Im Gegenteil, sie wirkt ■ — schon durch die Er-
innerung — in die andere Vorstellungsreihe hinein. Sie läßt, wie
man jetzt zu sagen pflegt, ihre ,, Spuren" im Bewußtsein zurück
und kann deshalb jederzeit reproduziert werden. Der Wechsel
erfolgt in der Form, daß einmal mehr die eine, ein andermal
mehr die andere Vorstcllungs- und Gefühlsreihe in den ,, Blick-
punkt des Bewußtseins" tritt. Man kann das, wenn man will,
als einen ,, Mittelzustand" bezeichnen.
Welches sind nun aber nach Lipps die beiden Zustände,
zwischen denen die Illusion in der Mitte steht ? Das eine ist
der Zustand des ,, Gebundenseins an die Wirklichkeit", das
andere das ,, freie Spiel mit Phantasiegebilden". Schon das
ist völlig unklar und schief ausgedrückt. Heißt ,, Gebundensein
un die Wirklichkeit": Erleben der Wirklichkeit? Und welche
Wirklichkeit ist damit gemeint.-* Die Wirklichkeit des Kunst-
Aserks, das da vor mir steht, oder die Wirklichkeit des Lebens,
das der Künstler kannte und aus dem er die Elemente für sein
Kunstwerk genommen hat } Das ist doch durchaus nicht dasselbe.
Und was ist das ,, freie Spiel mit Phantasiegebildcn" .? Ist nicht
der ganze Zustand der ästhetischen Illusion ein ,, freies Spiel mit
Phantasiegebilden" ? Wie kann also die Illusion ein Mittelzuständ
zwischen sich selbst und einer Wirklichkeit sein, von der nicht
einmal gesagt wird, ob es die Wirklichkeit des Kunstwerks oder
die rler zugrunde liegenden Natur ist.?
Weiter: I)i( Illusion ist ein ,,Hingegebenscin an Realität".
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker,
453
Was ist das für eine Realität? Man sollte denken, Lipps meinte
damit die Realität des Kunstwerks. Aber nein, diese Realität
ist ,, nicht die erkannte (d. h wahrgenommene), sondern eine davon
durchaus verschiedene Realität, mit einem Worte die — ästhe-
tische Realität". 0 heiliger Konfuzius! Unter ,, ästhetischer
Realität" kann Lipps doch wohl nur den ästhetischen Zustand
als solchen, d. h. also den Zustand des ästhetischen Genusses ver-
stehen. Er kann also damit nur meinen, daß der Mensch, wenn er
ästhetisch genießt, sich eben diesem Genüsse vollkommen hingibt.
Das ist freilich richtig. Aber es ist auch eine ganz banale Wahr-
heit, über die uns Lipps nicht zu belehren brauchte. Auch handelt
es sich hier gar nicht um den Grad der Versenkung, sondern
um die Art, wie die Versenkung stattfindet. Lipps vertraut
es uns denn auch an: ,,Was das Kunstwerk vorstellt, ist —
ein Dargestelltes." Wie geistreich! Warum sagt aber Lipps
nicht: ein Vorgestelltes? Oder warum sagt er nicht: Was das
Kunstwerk darstellt, ist ein Dargestelltes? Das wäre doch wenig-
stens logisch. Und was ist dieses Dargestellte denn eigentlich?
Es ist ,,eine ideelle Welt, eine Welt unserer Phantasie". D. h.
also doch: Es ist der Inhalt des Kunstwerks, der ja während der
Anschauung keine Realität hat, weil er nur in unserer Phantasie
existiert. Das Entscheidende ist nun aber die Frage, in welchem
Verhältnis diese ideelle Welt zu dem realen Kunstwerk steht.
Gerade davon sagt Lipps kein Sterbenswörtchen, außer, daß
diese ideelle Welt an das Kunstwerk ,, gebunden" sei. Dieses ,, Ge-
bundensein", was nur ein Bild ist, drückt die Illusionsästhetik eben
damit aus, daß sie den ästhetischen Zustand als ein Schweben oder
Schaukeln zwischen der Realität des Kunstwerks und der ideellenWelt
seines Inhaltes erklärt. Lipps dagegen sagt: ,,Die ideelle Welt
ist nicht nur eine solche, sondern sie erscheint auch so, durch-
aus ohne Schwanken, mit absoluter Selbstverständlichkeit, so
daß auch nicht einmal die Frage in uns entsteht, ob es sich so
verhalte."
Daß wir den Inhalt emes Kunstwerks so anschauen können,
daran habe ich natürlich niemals gezweifelt. Nur das eine habe
ich geleugnet, daß dann die ästhetische Anschauung des Kunst-
werks bestehe. Versenke ich mich' ganz m den Inhalt, so erlebe
ich natürlich nur die Vorstellungsreihe ,, Inhalt". Zwischen dieser
einen Vorstellungsreihe kann mein Bewußtsein natürlich nicht hin
und her schwanken. Denn zwischen einem Erlebnis und demselben
AiA Konrad Lange:
Erlebnis gibt es kein Hin und Her. Ein solches ist erst zwischen
zwei verschiedenen Erlebnisreihen möglich. Und das ist hier der Fall.
Denn die ideelle Welt und das Kunstwerk sind ja, wie Lipps selbst
zugibt, zwei verschiedene Dinge, und jene ist an dieses, d. h. an die
reale Welt des Kunstwerks ,, gebunden". Dieses Gebundcnscin be-
steht aber während der ganzen Dauer der ästhetischen Anschauung.
D. h. unsere Anschauung kehrt immer wieder zum Kunstwerk zu-
rück. Das nenne ich eben „Wechsel der Vorstellungen." Lipps
dagegen deutet dieses Gebundensein so: Die ideelle Welt des In-
halts ,, nimmt teil an dem Charakter der Objektivität, der diesem,
d. h. dem realen Kunstwerk, eignet". W^as heii3t das nun aber,
,, nimmt teil"? Das ist wieder ein Bild, besagt also nichts. Es
kann damit doch psychologisch nichts anderes gemeint sein als:
Es wird gleichzeitig oder im Wechsel damit erlebt.
Nach Lipps handelt es sich hier nun um ein einheitliches
psychisches Erlebnis. Das Ideelle, d. h. der Inhalt unserer Phan-
tasie, ist in jedem Moment für uns ein ästhetisch Reales, d. h.
ein Phantasieinhalt mit dem Charakter der Objektivität". Das
ist, mit Verlaub zu sagen, — Unsinn. Ein Phantasieinhalt, d. h.
eine nicht vorhandene, sondern nur vorgestellte Sache, ist immer
etwas Ideales. Das Objektive, d. h. das Reale dabei ist eben nicht
der Phantasieinhalt, sondern das reale Kunstwerk. Und was soll das
heißen: ein ,, ästhetisch Reales".'* Damit ist ein völlig neuer Begriff
in die Psychologie eingeführt, nämlich der der ästhetischen Re-
alität. Bisher war man immer der Ansicht, es gäbe nur eine
Realität, d. h. der Inhalt unserer Vorstellungen wäre entweder real
oder nicht real. Wenn ich einen Menschen vor mir stehen sehe, so
ist dieser Mensch — im Sinne des kritischen Realismus, dem auch
Lipps huldigt — wirklich da. Der Inhalt meiner Anschauung ist
also Realität. Wenn ich dagegen einen Menschen im Bilde sehe,
der vielleicht längst tot ist, so ist dieser nicht wirklich da. Der In-
halt meiner Anschauung ist dann also nicht Realität. Nun erfahren
wir mit einemmal, daß es auch ein Mittelding zwischen Realität
und Nichtrealität gibt, nämlich — die ,, ästhetische Realität".
Diese ästhetische Realität von Lipps' Gnaden ist nicht etwa
die Realität des Kunstwerks; Gott bewahre! Sie ist auch nicht
die Realität Natur (soweit sie schon vor elem Kunstwerk da war).
Durchaus nicht ! Sondern sie ist — ja, ich weiß wirklich nicht, was
sie ist — sie ist eben einfach — die ,, ästhetische Reahtät". Diese
ästhetische Realität ist aber, wenn man der Sache auf den Grund
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 455
geht, nichts anderes als der psychische Zustand, den wir als
ästhetische Anschauung bezeichnen, und um den es sich gerade
handelt. Und auf diesen Unsinn baut Streiter seine Polemik
gegen die Illusionsästhetik auf!
Gewiß ist die Illusion ein ,, Mittelzustand" oder ein ,, Zwischen-^
zustand", oder wie man sie sonst nennen will. Nur sind die beiden
Zustände, zwischen denen sie in der Mitte steht, die Wahrnehmung
des realen Kunstwerks und die Vorstellung des nicht realen, sondern
nur gedachten Inhalts. Das ist vollkommen klar und unanfechtbar,
sobald man sich auf den Standpunkt des kritischen Realismus stellt.
Was Lipps das ,, Gebundensein" an die Realität des Kunstwerks
nennt, ist nichts anderes als die Notwendigkeit, immer wieder
zur Anschauung des Kunstw^erks zurückzukehren, um aus ihr den
Antrieb zur Vorstellung des nur gedachten Inhalts zu schöpfen.
Dieser Zustand setzt sich also aus zwei Elementen zusammen,
tr ist folglich kein einheithcher. Natürlich gibt es Mittel, um
diese beiden Elemente doch wieder zu einer gewissen Einheit
zusammenzubinden. Das wichtigste davon ist, daß die Form in
eine ganz bestimmte Beziehung zum Inhalt gebracht wird. Wenn
z. B. der Inhalt traurig ist, so darf die Form nicht lustig oder
neckisch sein. Dies zu verhindern, ist eben Aufgabe des Künst-
lers. Das ist es eben, was wir Kunst nennen. Wir haben es also
hier, wie so oft, mit einer ,, Einheit in der Mannigfaltigkeit"
zu tun. Ob man nun mehr diese Einheit des ganzen Zustandes
oder mehr seine Zusammensetzung aus zwei Teilen betonen will,
das hängt natürlich von der Art des Kunstwerks und von der
persönlichen Disposition des Genießenden ab. Der Philosoph
kann nur feststellen, daß der Gesamtzustand, auch wenn er ver-
hältnismäßig einheitlich ist, aus zwei im Wechsel miteinander er-
lebten Einzelzuständen besteht.
Sehen wir nun, wie Streiter, auf diesem ,, scharf gefaßten" (!)
Einwand von Lipps fußend, die Illusionstheorie weiter bekämpft.
Er hält es für möglich, daß ich mit der be\^aißten Selbsttäuschung
den ,, ästhetischen Schein" oder die ,, ästhetische Reahtät" ge-
meint habe, da ich ja die Jahrmarktillusionen verwerfe. Dann
aber handele es sich nur um Worte, um einen Wortstreit, der
durch den übel gewählten Ausdruck ,, bewußte Selbsttäuschung"
veranlaßt sei. Aber was ich mit diesem meine, habe ich, wie ich
glaube, ganz deutlich gesagt. Man kann den klaren Ausdruck
„bewußte Selbsttäuschung" nicht durch die unklaren Ausdrücke
456
Koniad Lange:
„ästhetischer Schein" oder ,, ästhetische Realität" erklären. In-
wiefern sind diese beiden Ausdrücke nun unklar ? Nach meinem
nicht durch die Lippsschc Schule gegangenen gesunden Menschen-
\erstande sind ästhetischer Schein und ästhetische Realität
;in sich schon Gegensätze. Denn Schein ist das Gegenteil von
Realität. Da sowohl das Kunstwerk als auch der ästhetische
Zustand selbst, d. h. der Genuß am Kunstwerk, zweifellos Reali-
tät sind, kann der Begriff Schein sich nur auf den Inhalt beziehen,
der eben keine Realität ist. Wenn nun Streiter sagt, vielleicht
meine ich mit der bewußten Selbsttäuschung den ästhetischen
Schein oder die ästhetische Realität, so kann ich darauf ganz
einfach antworten: Ich meine damit beides, nämlich den In-
halt, der nur Schein, und das Kunstwerk, das nur Realität ist.
l'nd wenn Streiter mir den guten Rat gibt, lieber von ,, Wahr-
nehmung eines Bildes" oder ,, Auffassung einer künstlerischen
Darstellung" zu sprechen, so rät er mir wiederum, einen klaren,
unzweideutigen Ausdruck durch zwei unklare und verschwom-
mene und dabei ganz banale und nichtssagende zu ersetzen.
Es ist gewiß em Übelstand, daß ich das Wort Illusion nicht
gänzlich aus meiner Darstellung habe streichen können. Ich
konnte mich dazu nicht entschließen, weil es nun einmal der
hergebrachte ästhetische Terminus ist. Schon Lessing, Moses
Mendelssohn, Goethe usw. haben ihn gebraucht. Ebenso brauchen
ihn moderne französische Ästhetiker wie Souriau und Lalö, die auf
dem Boden meiner Ästhetik stehen. Auch Julius Pap hat das Wort
Illusion in dem Titel seines unten S. 466 Anm. i zitierten Buches
gebraucht. Meine Abweichung von meinen Vorgängern besteht nur
darin, daß ich den bis dahin herrschenden verschwom-
menen Begriff der Illusion durch den klaren Begriff
der bewußten Selbsttäuschung ersetzt habe. Ich glaubte,
mir damit den Dank der philosophischen Ästhetiker zu verdienen.
Statt dessen sind sie mir bitterböse, daß ich etwas Licht in das
Halbdunkel ihrer Gedanken gebracht habe und etwas unsanft in
das verschwommene Chaos ihrer Begriffe hineingefahren bin.
Sodann wendet sich Streiter gegen meine Behauptung,
daß wir bei der ästhetischen Anschauung das tote Scheinbild,
genannt Kunstwerk, in unserer Phantasie mit Leben begaben,
d. h. ins Leben übersetzen. Ich nahm dabei als selbstverständlich
an, daß wir uns den toten Marmor als Fleisch und Blut, das flächen-
hafte Gemälde als Raum von bestimmter Tiefe, die toten Bau-
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 457
Steine eines Gebäudes als organischen, kraftbegabten Stoff, die
gefühllose Materie als mit Gefühl begabt vorstellen. Überdies
habe ich diese Tatsache durch unzählige Zeugnisse sowohl antiker
Philosophen und Rhetoren als auch italienischer Theoretiker der
Renaissance und moderner Künstler erhärtet. Ich brauche darauf
hier nicht näher einzugehen, zumal da mein geplantes Werk die
Beweise dafür in überwältigender Fülle beibringen wird. Jüngere
Ästhetiker wie Alfred Werner haben schon die bisher von mir
vorgebrachten Zeugnisse zu einer ,,animistischcn Ästhetik" weiter-
zubilden gesucht. 1)
Streiter ist m dieser Beziehung anderer Ansicht. ,, Ver-
hält es sich in Wahrheit so.?" fragt er. ,,Ich glaube, Lange würde
sehr erstaunt sein, wenn ihn jemand fragen würde, ob er sich den
Apoll von Belvedere mit schwarzen oder blonden Locken, ob er
das Gewand von Dürers Melancholia blau oder grün oder braun
vorstelle. Und sicher wird Lange zugestehen, daß bei Betrachtung
einer nackten Bronzestatue in seiner Vorstellung die Farbe der
Bronze nie auch nur einen Augenblick durch die natürliche Haut--
färbe verdrängt wird."
Hier handelt es sich also um das, was ich Farben Illusion nenne.
Auf Streiters Einwand möchte ich zunächst folgendes erwidern: ich
habe niemals behauptet, daß der Beschauer sich notwendig im_mer
die ganze Wirklichkeit in dem Abbild vorstellen müsse, also z.B.
auch die Farbe jedes einzelnen Teiles. Aber daß ersieh die wesent -
liehen Elemente der Wirklichkeit vorstellen müsse, vor allen Dingen
das organische Leben, darüber habe ich keinen Zweifel gelassen.
Bei den spätgriechischen Rlietoren und den Dichtern der Antho-
logie war die Gegenüberstellung des kalten und starren Marmors
und des warmen, pulsierenden Fleisches geradezu eine Art Schul -
thema, das in unendlichen Formen variiert wurde. Hans von
Marees schreibt in einem seiner Briefe von den Sklaven Michel-
angelos im Louvre: ,,Was besonders in die Augen fällt, ist die
Glaubwürdigkeit der Darstellung. Man erkennt sofort, wo
die knochigen und wo die fleischigen Teile sind. Dadurch
vergißt man das Material, das Handwerk, und sieht Leben-
diges." Auch Hildebrands ,, Problem der Form" läuft seinem
richtigen Kern nach auf die beiden Illusionen: Raumillusion
(,, Tiefenvorstellung") und Kraftillusion (,, Funktionsausdruck") hin-
^) Alfred Werner, Zur Begründung einer animistischen Ästhetik, Zeitschrift
für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. IX, 1914, S. 392 — 432.
458
Konrad Lange:
aus. Was sjx'zicll " die Farbcnillusion betrifft, so wird dieselbe
bei verschiedenen Beschauern je nach ihrer Farbenbegabung ver-
schieden stark sein. Bei Böcklin z. B. war sie sehr stark, i) Die
Frage, ob man sich den Apoll von Bclvedere mit schwarzen
oder blonden Locken zu denken habe, ist wahrscheinlich schon
im Altertum dadurch entschieden worden, daß die Haare — ent-
weder schwarz oder blond, wahrscheinlich blond, bemalt waren.
Und diese Tatsache der plastischen Polychromie allein würde
wohl zu dem Beweise ausreichen, daß zum mindesten die antiken
Bildhauer ein Bedürfnis hatten, sich auch bei plastischen Werken
die Farben der Natur hinzuzudenken. Sonst hätten sie sie wohl
nicht teilweise — - nämlich bis auf das Nackte — selber hinzugefügt.
Bei den graphischen Künsten, deren meiste Gattungen ja bekannt-
lich auf die Farbe verzichten, ist es allgemein bekannt, daß man
z. B. guten Radierungen ein besonderes Lob damit zollt, daß
man sagt, sie wirkten ,, ordentlich farbig". Sogar von den Stechera
der Rubensschule und den französischen Stechern des 17. Jahr-
hunderts wird allgemein gerühmt, daß sie die Verschiedenheit'
der Farben durch eine verschiedene Stichelführung zu suggerieren
suchten. Und wenn nun, sowohl im Holzschnitt als auch im Kupfer-
stich zuweilen sogar die wirklichen Farben angewendet worden sind,
so beweist das wohl am schlagendsten, daß selbst die Techniken,
die der Anwendung der Farbe grofk Schwierigkeiten entgegen-
setzen, eine Tendenz zur Farbigkeit haben, was doch ein Bedürf-
nis nach Farbe, also — beim Verzicht auf die Farbe — nach
Farbenillusion voraussetzt.
Streiter bricht dann eine Lanze für die Einfühlungs-
ästhetik, indem er behauptet, die ästhetische Beseelung, die.
ich z. B. in der Architektur für das eigentlich Künstlerische
*) Albert Fleincr. Mit Arnold Böcklin, 1915, S. 154 erzählt von einem
Besuche, den er mit Böcklin in den Uffizien zu P'lorenz gemacht habe: ., Plötz-
lich blieb er vor einem römischen Frauenkopf stehen und frug: ,Sind die Maare
blond, braun oder schwarz?' . . . Wir kamen überein, daß es sich um dunkle Haare
handle, die im Nacken einen Stich ins Blonde hätten." Aber Böcklin erlebte
beim Anblick eines antiken Kopfes nicht nur Farbenillusion, sondern auch Geräusch-
illusion. Fleiner. S. 176 erzählt: ,,So wurde nun auch besclilossen. daß der seit
zweitausend Jahren vermoderte Inhaber des Kopfes, von dem die treffliche römische
Büste in den Uffizien zu sehen war, durchaus eine ziemlich hohe, etwas näselnde,
ein wenig heisere Stimme mit einem Riß gehabt haben müsse." Ein Künstler stellt
sich eben manches bei einem Kunstwerk vor, wovon sich ein Gelehrter nichts träumen
läßt.
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 459
erklärt hatte, sei besonders von den Vertretern dieser Theorie
psychologisch eindringend untersucht worden. Es sei deshalb
ein Fehler von mir, daß ich ihre Ergebnisse ablehne, während
ich doch selbst hier und da von ,, Einfühlung" spreche. Eine
eingehende Kritik der Einfühlungstheorie liegt zwar außerhalb
der Zwecke dieser Abhandlung. Doch will ich wenigstens kurz
andeuten, was mich von ihr trennt, zumal da ich diese Frage m
meiner Antrittsvorlesung und der ersten Auflage meines ,, Wesens
der Kunst", die Streiter allein vorlagen, noch nicht ausführlich
behandelt hatte.
Mein Haupteinwand gegen diese Theorie ist, daß sie den
täuschunghindernden Elementen nicht genügend Rechnung trägt,
vielmehr die ästhetische Anschauung auf die eine Vorstellungs-
reihe ,, Inhalt" beschränken möchte. Es ist allerdings richtig, daß
die Einfühlungsästhctik ein ,, Hineinsehen von Kraft und Bewegungs-
vorstellungen in die anorganischen Formen", z. B. der Archi-
tektur, annimmt. Aber sie tut das genau in derselben
Weise wie der Natur gegenüber. Nach ihr ist die ästhetische
Anschauung einer Säule und eines Baumes prinzipiell ganz das-
selbe. In beiden Fällen „fühlen wir uns in die aufwärtsstrebende
Kraft des Gebildes ein". Diese Kraft ist nun aber in der Säule
tatsächlich nicht vorhanden, denn die Säule wächst nicht wirklich
empor, sondern lastet wie alle Steine des Gebäudes nach unten.
Der Baum dagegen wächst, wenn auch langsam, wirklich empor.
Die ästhetische Anschauung einer Säule ist also Illusion, die
,, ästhetische" Anschauung des Baumes — soweit sie sich auf die
organische Kraft bezieht — ist keine Illusion. Der Natur gegen-
über kann ich nicht die Illusion der Natur erleben, denn sie ist
ja wirklich Natur, d. h. — nach meiner Auffassung — Wirklich-
keit. Dem Kunstwerk gegenüber muß ich Illusion erleben. Denn
es ist ja nur seinen materiellen Eigenschaften nach Wirklichkeit,
nicht in bezug auf die organische Kraft, d. h. das Emporwachsen,
das in ihm dargestellt ist. Kurz und gut, die Einfühlungsästhetik
macht den Fehler, das Kunstwerk wie Natur anzuschauen, d. h.
.nur das Erleben der einen Vorstellungsreihe, nämhch ,, Kraft",
,, organisches Wachstum" usw. als ästhetisches Erlebnis gelten zu
lassen.
Gerade bei der Architektur ist aber die Zweiheit der Vor-
. Stellungsreihen besonders deutlich.- Alles, was in ihr rein geome-
trischen Charakter hat, z. B. die Geradlinigkeit, Regelmäßigkeit und
a6o Konrad Lange:
Synimctrif, außerdem das praktisch Notwendige, d. h. die Festig-
keit und Zweckmäßigkeit, gehört der Vorstellungsreihe Kunst an.
Alles dagegen, was eine organische Vorstellung in sich schließt,
gehört der Vorstcllungsreihe Natur an. Gerade daß wir bei der
Architektur nicht von einer Nachahmung der Wirklichkeit sprechen
können, sondern daß sie eine gewisse Distanz von der Natur
hält, ist ein sicherer Beweis für die Verschiedenheit der beiden
Vorstellungsreihen, also für die Illusionstheorie.
Streiter freilich leugnet, daß bei der Säule Naturanalogien
im Spiele seien. Er bleibt uns aber die Erklärung dafür schuldig,
an w^as denn der zylindrische Schaft derselben anders erinnern
soll, als an den Baumstamm oder meinetwegen den nackten mensch-
lichen Arm oder das Bein. An w^as die Schwellung des Schaftes
anders erinnern soll, als an ähnliche Erscheinungen der orga-
nischen Natur, d. h. menschliche und pflanzliche Anschwellungen.
An was die Kanellierung anders erinnern soll als an die Riefelung
gewisser Pflanzenstengel. Er hat in dieser Beziehung Adolf
Bot t icher nicht widerlegt: Es ist also vollkommen unrichtig,
wenn er behauptet, an der dorischen Säule finde sich keine
einzige Form, die dem Pflanzenleben entlehnt wäre.
Auch das ist falsch, was die Einfühlungstheorie behauptet,
nämhch es handle sich bei der ,,' Einfühlung" immer um ein Ein-
fühlen des eigenen, d. h. des menschlichen Körpers in das
künstlerische Gebilde. Dazu hat nur das schiefe Bild ,, Einfühlung"
Veranlassung gegeben. So wissen wir z. B. nicht nur vom korin-
thischen Kapitell, sondern durch neuere Forschungen auch vom
ionischen, daß es aus der Blatt volute, d. h. dem überhängenden
und umgebogenen Blatt, also aus vegetabilischen Vorbildern, ent-
standen ist. Streiter muß das natürlich leugnen. Wenn er
aber betont, daß bei dem Volutenpolster niemand auch nur im
entferntesten an eine Pflanzenform erinnert werde, so ist das
natürlich kein Gegenbeweis. Denn diese Form ist aus dem Sattel-
holz, also aus der Technik, hervorgegangen. Wohl niemals hat
aber ein Mensch bestritten, daß viele Formen der Architektur
rein praktische Bedeutung haben. Auch das Dreieck des Giebels
t rinnert ja nicht an eine Pflanzenform, sondern ist aus der
Form des Satteldaches hervorgegangen. Derartige Formen be-
weisen eben schlagend, daß auch in der Baukunst außer den
täuschungfördernden Elementen, d. h. den organischen Analogien,
täuschunghinderndc Elemente, d. h. geometrische oder technisch
i
1
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 46 1
bedingte Formen vorhanden sind. Diesen Formen der zweiten
Vorstellungsreihe gegenüber versagt die Einfühlungs-
theorie vollständig. Und doch gehören auch sie zur Schön-
heit der Architektur. Das wird wohl heutzutage in der Zeit der
Zweckmäßigkeitsarchitektur kein Mensch mehr bezweifeln.*)
Merkwürdigerweise haben weder Meumann noch Streiter
den Hauptfehler meiner früheren Darstellung gemerkt, nämlich
den Begriff der ,, Anschauungsillusion". Man kann die ver-
schiedenen Illusionen nur nach den Inhalten unterscheiden, auf
die sie sich beziehen. Das heißt man kann sie nur nach den ver-
schiedenen Seiten der Wirklichkeit einteilen, die sich der Beschauer
beim Anblick des Kunstwerks vorstellt. Danach unterscheide
ich jetzt Stoffillusion (Materialillusion), Raumillusion, Bewegungs-
illusion, Kraftillusion, Gefühlsillusion usw. Dabei sind die Seiten
der Natur, auf die sich die Illusion bezieht, die also den Inhalt
der Illusion bilden, als Eigenschaften des Gegenstandes
oder des lebenden Wesens gedacht, von dem sich der Be-
schauer beim ästhetischen Zustand eine Vorstellung macht. In
diesem Sinne gibt es natürlich keine Anschauungsillusion. Viel-
mehr ist jede Illusion Anschauungsillusion, insofern sie auf An-
schauung beruht, durch Anschauung hervorgebracht wird.
Während man diesen Fehler bisher nicht erkannt hat, ist der
Begriff des ,, Scheingefühls" vielfach angefochten worden. Und
zwar, wie ich jetzt glaube, mit Recht. Denn das Wort könnte den
Anschein erwecken, es gebe Gefühle, die keine Wirklichkeit sind,
was natürlich Unsinn ist. Gefühle sind vielmehr immer Gefühle
und haben als solche Realität. Sie können stärker oder weniger
stark, deutlicher oder weniger deutlich sein, aber sie sind immer
wirklich vorhanden. In der Tat habe ich auch unter ,, Schein-
gefühl" nicht etwas verstanden, was kein Gefühl wäre, sondern viel-
mehr ein Gefühl, das sich auf einen Schein, auf ein nur ästhetisch
Vorgestelltes bezieht und infolgedessen nur von geringer Stärke
sein kann. Dieser Begriff des ,, ästhetischen Scheins" war, als ich
mit meiner Theorie zum erstenmal hervortrat, in der Ästhetik
allgemein gebräuchlich, und auch der Begriff der ,,Scheingcfühle"
war längst von Eduard von Hartmann und anderen Ästhe-
tikern in die wissenschaftliche Sprache eingeführt worden. Das
war also einer der wenigen Fälle, in denen ich mich an die
^) Vgl. K. Lange, Schön und praktisch, Führer zur Kunst. Eßlingen 1908.
402
Konrad Lange:
zünftige Psychologie angeschlossen hatte. Daß ich damit schlecht
fuhren würde, hätte ich voraussehen können. Und es ist sehr
charakteristisch, daß man jetzt gerade mir die Benutzung dieses
Begriffes, der doch gar nicht von mir, sondern von der philo-
sophischen Ästhetik stammt, zum besonderen Vorwurf macht.
Ich bin den Herren Lipps und Streiter sehr dankbar dafür,
daß sie den Begriff des Scheingefühls zerstört haben. Denn sie
haben mir damit, ohne es zu wissen, einen großen Gefallen
getan, indem sie mir einen neuen Beweis für den
Wechsel der Vorstellungsreihen an die Hand gegeben
haben. Das Wort ,, Scheingefühl" konnte man nämlich allen-
falls so auffassen, als ob es sich dabei um etwas Einheitliches
handelte, ein Gefühl, das zwar durch ein Scheinbild hervorgerufen,
aber als Gefühl Wirklichkeit, und zwar einheitliche Wirklichkeit
sei. Wenn nun aber ein Gefühl immer als solches Wirklichkeit
ist, dabei aber doch die ästhetischen Inhaltsgefühle von den Ge-
fühlen des wirklichen Lebens verschieden sind, so kann das nur
darauf beruhen, daß jene, d. h. die Gefühle, die der Inhalt des
Kunstwerks auslöst, fortwährend durch andere Gefyhle, die
wir im Wechsel damit erleben, durchkreuzt werden. Die
Tatsache, daß ein Gefühl immer ein Gefühl ist, beweist also
schlagend, daß das Wesen der ästhetischen Anschauung nur im
Wechsel der Vorstellungen (und Gefühle) bestehen kann. Denn
daüber kann ja natürlich kein Zweifel sein, daß mein Gefühl
beim Anblick einer Statue eines zürnenden Achill kein wirklicher
Zorn im gewöhnlichen Sinne ist. Man kann hier bestenfalls von
einem ästhetischen Surrogat des Zornes sprechen, das als
solches eine Abschwächung bedeutet. Diese Abschwächung ist aber
einfach die Folge davon, daß zu dem Zorngefühl, das der Inhalt
fordert, noch die ganze Reihe der täuschunghindernden Vorstellungen
und der aus ihnen entstehenden Gefühle hinzukommt, die den
Inhalt der zweiten Vorstellungsrcihe bilden. In der Musik z. B.
setzt sich die ästhetische Stimmung, in die mich ein Trauermarsch
versetzt, zusammen: i. aus wirklicher Trauer, 2. aus den Lust-
gefühlen, die durch die sinnliche Schönheit der Töne, die Rhyth-
men, Harmonien usw. hervorgerufen werden. Indem diese im
Wechsel mit jener auftreten, modifizieren sie dieselbe natürlich,
schwächen sie sie ganz wesentlich ab. Daher kommt es, daß viele
Menschen durchaus leugnen, beim Anhören eines Trauermarsches
wirkliche Trauer zu empfinden. Ob man nun statt dessen von
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 463
,, Gefühlsvorstellung" oder von „Vorstellungsgcf ühl" oder
sonst von irgend etwas sprechen will — die Ästhetiker haben ver-
schiedene Benennungen vorgeschlagen — , ist im Grunde ziemlich
gleichgiltig. Genug, daß es ein Gefühl ist, welches durch gleich-
zeitiges Erleben zweier Vorstcllungsreihen zustande kommt.
Bei dieser Gelegenheit kann ich eine persönliche Bemerkung
nicht unterdrücken. Lipps sowohl wie Streiter und Meu-
mann bemängeln wiederholt meine Anwendung der Worte ,, Ge-
fühl", ,, Empfindung" usw. und sehen in dem schwankenden Ge-
brauch solcher Worte einen Beweis für meine unzulängliche psycho-
logische Schulung. Streiter drückt das durch zahlreiche Frage-
zeichen oder Ausruf ungszeichen aus, die er hinter die Zitate meiner
Ausführungen setzt. Ich habe deren im ganzen in seiner Ab-
liandlung etwa 40 gezählt! Daß ich kein Psycholog im schul-
mäßigen Sinne bin, habe ich niemals gcläugnet. Als ich meine
Antrittsvorlesung hielt, stand aber auch die wissenschaftliche
Psychologie erst in ihren Anfängen. Und wie sie bei ihren Ge-
dankenbildungen in der Irre gehen konnte, glaube ich schon
früher und auch in diesem Aufsatz wieder genügend bewiesen zu
liaben.' Wiederholt hat man mir zum Vorwurf gemacht, daß ich
mich statt strenger psychologischer Analyse zuweilen eines Bildes
bediene, das nichts besage, sondern nur den psychischen Tat-
bestand verdunkele. Ich kann darauf nur erwidern, was ich schon
an anderer Stelle ausgeführt habe: Auch die wissenschaftliche
Psychologie arbeitet fortwährend mit Bildern. Die „Schwelle des
Bewußtseins", der ,, Blickpunkt des Bewußtseins", die ,,Enge des
Bewußtseins", die ,, monarchische Einrichtung des Bewußtseins",
die „Einfühlung", die ,, Assoziation" (,, Vergesellschaftung"), sind
das nicht alles bildliche Ausdrücke.'' Vor allen Dingen aber:
Ich habe durch Analyse einiger Beweisführungen der ge-
nannten drei Psychologen nachgewiesen, daß unter Umständen
selbst Fachphilosophen, die sich eines gewissen Ansehens er-
freuen, schiefe und konfuse Gedankengänge entwickeln können.
Es scheint mir immer noch verdienstvoller, klare Gedanken zu
haben und sie hie und da etwas salopp oder burschikos auszu-
drücken, als unklare Gedanken zu haben und sie — außerdem
unklar auszudrücken.
Als den eigentlichen Kern der Illusionstheorie betrachtet
Streiter mit Recht den Wechsel der beiden Vorstellungsreihen.
Gegen diesen führt er denn auch das schwere Geschütz seiner
A^A * Konrad Lange:
Fachpsychologk- ins Feld (S. 245 ff.). Er hält diese Theorie für
einen ..Knäuel von dichtverschlungenen Widersprüchen und
psychologischen Unmüglichkciten". Die Beweise für diese Be-
hauptung bestehen — in den Fragezeichen und Ausrufungszeichen,
von denen ich eben gesprochen habe. So ist z. B. Streiter einmal
sehr empört darüber, daß ich sage, eine Vorstellung ,, setze sich
in Gefühle um". Er bemerkt dazu: ,,Ein Umsetzen von Vor-
stellungen in Gefühle gibt es nicht, gemeint ist wohl auch nur,
daß die Vorstellungen Gefühle erwecken." Sehr richtig, das war
in der Tat meine Meinung. Wenn ich dann aber an anderer
Sielle sage, wir ,, erlebten" mit der Vorstellung der Natur, die den
Inhalt des Bildes ausmache, gleichzeitig die Gefühle, zu denen
uns die entsprechenden Dinge anregen würden, wenn wir sie in
der Wirklichkeit sähen, so wird hinter ,, erlebten" wieder ein
Ausruf ungszeichen gesetzt. Also auch so ist es nicht richtig.
Wie soll man sich nun eigentlich ausdrücken ?
Wichtiger ist, was Streiter über die Theorie des Vorstellungs-
wechsels überhaupt sagt. Es stimmt ungefähr mit dem überein,
was man von Lipps schon vorher gehört hatte, und was Meu-
mann und andere Ästhetiker ihm später zur Ermüdung oft nach-
gesprochen haben. Und es ist ebenso unhaltbar: ,, Gegen diese An-
sicht spricht vor allem unsere unmittelbare innere Erfahrung.
Solange wir uns ganz und rein dem ästhetischen Genießen hin-
geben, fühlen wir uns psychisch durchaus einheitlich, in einem
Zustand vollster ruhigster Sicherheit, , versunken' im ästhetischen
Schein, in der ästhetischen Realität (vgl. oben S. 451), ohne jedes
Schwanken zwischen Schein und Wirklichkeit, da ja die Frage
nach der Wirklichkeit überhaupt gar nicht auftaucht."
Was das ,, Versunkensein in die ästhetische Realität" be-
trifft, so verweise ich auf das, was ich oben S. 454 g<-'gcn Lipps
gesagt habe. Im übrigen ist dieses Urteil Streiters eine
persönliche Meinungsäußerung, die sich auf Selbstbeobachtung
gründet. Sie hat also, wie alle aus der Selbstbeobachtung
gewonnenen Erkenntnisse, lediglich subjektiven Wert. Überdies
ist der Begriff des einheitlichen und zusammengesetzten Gefühls
ein relativer. Ein Gefühl kann sich aus mehreren Einzelgefühlen
zusammensetzen und doch verhältnismäßig einheitlich sein,
wenn diese Gefülile nämlich in einer inneren gesetzlichen Be-
ziehung zueinander stehen. Das ist aber bei der guten Kunst
immer der Fall, weil j.i die Form zum Inhalt in einem ganz
Die ästhetische Ilhision und ihre Kritiker. ^55
bestimmten gesetzlichen Verhältnis stehen muß. Deshalh wäre
es immerhin möglich, daß die beiden Gefühlsreihen sich im
Bewußtsein bis zu einem gewissen Grade voneinander sonderten.
Daß Streiter selbst bei der Anschauung eines Kunstwerks
die beiden Vorstellungsreihen nicht erlebt oder sich wenigstens
dieses Erlebens nicht bewußt ist, will ich ihm natürlich nicht
abstreiten. Doch stehen seiner Selbstbeobachtung andere gegen-
über, die das Gegenteil besagen. So erklärt z. B. der erwähnte
Schauspieler Ferdinand Gregori, der sich durch mehrere sehr
gute Schriften über die Bühnenkunst literarisch bekannt gemacht
hat, in der oben S. 446 zitierten Rezension meines ,, Wesens der
Kunst" in bezug auf die Klingerschen Radierungen: ,,Wie leb-
haft spielen bei ihrer Betrachtung die beiden Lange-
schen Vorstellungsreihen auf und ab, herüber und hin-
über! Es ist eine Wollust, einen großen Mann verstehen zu lernen."
Schon mehrmals habe ich auf das Zeugnis Goethes hingewiesen,
der in einem Gespräche mit Eckermann zum Lobe von Manzonis
Promessi sposi sagt: ,,Manzoni löst die Angst, die der Leser
um die Helden seiner Dichtung empfindet, in Rührung auf und
führt uns durch diese Empfindung zur Bewunderung. Rührung
und Bewunderung, das seien die beiden Gefühle, in die man bei
der Lektüre des Romans abwechselnd versetzt werde. Der Ein-
druck beim Lesen ist derart, daß man immer von der Rührung
in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung in
die Rührung, so daß man aus einer von diesen großen Wirkungen
gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht
treiben." Und später erklärt er das noch etwas näher, indem
er ausführt, daß die Angst sich auf den Inhalt der Dichtung,
die Bewunderung aber auf den Dichter als den Schöpfer des
Werkes beziehe. ,,Das Gefühl der Angst ist stoffartig (d. h. in-
haltlich) und wird in jedem Leser entstehen. Die Bewunderung
aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich sich der Autor
in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Emp-
findung beglückt werden." Und triumphierend fügt er hinzu:
,,Was sagen Sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde
ich nach dieser Theorie etwas (d. h. wahrscheinlich eine Dichtung)
schreiben."
Ich will dahingestellt sein lassen, ob Goethe den Vorgang
mit diesen Worten einwandfrei beschrieben hat, und ob der Aus-
druck Rührung glücklich gewählt war,- Sicher ist jedenfalls so viel,
Annalen der Philosophie. I. 3*^
Af)ß Konrad Lange:
<iaß er seihst die beiden Vorstellungen bzw. Gefühle erlebt hat, und
daß er hier eine höhere Art der Kunstanschauung von einer
niederen unterscheidet. Die niedere besteht nach ihm in dem
einfachen Erleben des Inhalts, d. h. der einen Gcfühlsreihe
,-\ngst". Die höhere dagegen in dem Erleben zweier Gefühls-
reiiien, Angst und Bewunderung. Die letztere ist natürlich seine
eigene. Das Erleben dieser beiden Gefühlsreihen aber beschreibt
Goethe als ein ,,Hin- und Herfallen" aus der einen in die
andere, und gerade darin sieht er, selbstverständlich unter der
Voraussetzung, daß beide sehr stark erlebt werden, die eigent-
liche Ursache des ästhetischen Genusses. Dieses ,,Hin- und Her-
fallen" hat mit meinem ,,Hin- und Herpendeln" eine merk\\mrdige
Ähnlichkeit. An einer anderen Stelle, in dem Kapitel ,,Frauen-
rnllen auf römischen Theatern", in der italienischen Reise, sagt
Goethe geradezu, die Darstellung solcher Frauenrollen durch
Männer erhalte bei dem Beschauer das Gefühl der Nachahmung,
der Kunst lebendig (wir würden sagen, sie sei ein täuschung-
lunderndcs Element), und sie versetze dadurch den Beschauer
in eine Art von ,, selbstbewußter Illusion". Natürlich meint
Goethe damit das gleiche wie ich mit der ,, bewußten Selbst-
täuschung". Nur daß der letztere Ausdruck besser ist, als der
Goethesche, weil bei ihm der Doppclsinn des Wortes ,, selbst-
bewußt" vermieden wird.^)
Meumann und Streiter haben offenbar keine ähnlichen
Selbstbeobachtungen wie Goethe gemacht. Sie haben auch, wie
es scheint, keinen Menschen gekannt oder befragt, der sie gemacht
hätte. Streiter begnügt sich auch hier, in verba magistri zu
schwören, d. h. auf Lipps zu verweisen, der gesagt habe, daß
^) Ich verdanke den Hinweis auf diese Äußerung Goethes Herrn Dr. Hey-
f eldcr. Vgl. K. Lange, Goethes selbstbewußte Illusion, Beilage zur Allgemeinen
Zeitung, 1904, Nr. 15, 16 und 19. Erich Heyfelder, Die Dlusionstheorie und
Goethes Ästhetik, II. Heft der ästhetischen Studien, 1904, S. 8iff. Julius Pap
(Kunst und Illusion, S. 142) hat gegen unsere Berufung auf Goethe eingewendet,
daß diese Äußerungen aus der mittleren und späteren Lebensperiode des Dichters
stammen, während er in seiner Jugend die Kunst anders, d. h. einheitlich, genossen
habe. Das ist wohl richtig. Aber Goethe war sich, wie eine Äußerung über
Herder beweist, dieser Entwicklung seiner ästhetischen Anschauungsweise sehr
wohl bewußt. Und wenn er später die Bewußtheit der Täuschung geradezu als
die Ursache des Kunstgenusses auffassen zu müssen glaubte, so wird man daraus
?<chlicß(n dürfen, daß dies die richtige Ansicht war, und daß auch die ver-
hältnismäßig einheitliche Anschauung seiner Jugend doch die beiden Vor-
stcllungsreihcn bis zu einem gewissen Grade schon enthielt.
Die ästhetische Illusion uad ihre Kritiker. 407
,,ein Gefühl des Schwankens und Schwabens, des Hin- und Her-
pendelns nur ein Gefühl der Unklarheit und Unruhe, der Unlust
und der Qual sein könne, wie es aus jedem Hin- und Hergezogen-
werden zwischen Betrachtungsweisen, die gleichzeitig ihr Recht
fordern und doch inhaltlich sich ausschließen, nach einem all-
gemeinen psychologischen Gesetz sich ergeben müsse". Eis scheint,
daß Goethe, der alte, ruhige und abgeklärte Goethe, dieses ,,Hin-
und Herfallen" zwischen zwei Vorstellungsreihcn (,, Betrachtungs-
weisen" ist doppelsinnig und deshalb unpassend) nicht gerade
als besondere Qual empfunden hat. Und der Grund dafür ist
auch leicht einzusehen. Offenbar denkt Lipps dabei an ethische
oder wissenschaftliche Zweifel, von denen man ja wohl sagt: Wer
die Wahl hat, hat auch die Qual. Aber gerade von einem ,, Zweifel"
ist bei der Kunstanschauung durchaus nicht die Rede. Und zwar
deshalb nicht, weil es sich dabei um ein freiwilliges Spiel der
Vorstellungen handelt. Daß intermittierende Gefühle, die aus
Unsicherheit oder Zweifel entstehen, Unlust erzeugen, kann man
Külpe, auf den sich Streiter beruft, gern zugeben. Aber das
freie Schweben zwischen Schein und Wirklichkeit, Original und
Kopie, Inhalt und Form, das die bewußte Selbsttäuschung charak-
terisiert, steht eben, weil es ein freies Schweben ist, auf einem
ganz anderen Blatte. Und wenn Streiter sich durch meinen
Hinweis auf das Komische als Beispiel eines lusterregenden Wechsels
zweier Vorstellungsreihen (s. oben S. 443 ; zu der Bemerkung ver-
anlaßt sieht: ,,Dann müßte also aller künstlerische Genuß komisch
sein", so ist das — nicht sehr geistreich. Denn ich brauche wohl
nicht zu wiederholen, daß das Tertium comparationis zwischen
Witz und Kunst, nach meiner Auffassung, lediglich das Freiheits-
gefühl ist.-^)
Daß Streiter bei seiner ablehnenden Haltung gegenüber
der Illusion auch die Illusionsspiele, die Groos eingehend
behandelt hat, einfach leugnet, ist selbstverständlich. Man sieht
daraus nur, zu welch unhaltbaren Konsequenzen sein Stand-
punkt führt. Der Genuß der Knaben beim Räuber- und Indianer-
spielen besteht nach ihm nicht in der Illusion als solcher,
sondern darin, daß ,,die Knaben in einer bestimmten Weise
sich betätigen". Daraus würde sich aber doch nur der Ge-
nuß des Siegers, nicht des Besiegten, erklären. Denn welchen
*) K. Lange, Über den Zweck der Kunst. Stuttgart 1912, S. 47, Anm. 19,
30*
468
Konrad Lauge;
Genuß kann den Knaben das Bewußtsein, besiegt, gefangen und
bestraft zu werden, gewähren, wenn es nicht der Genuß des
Rollenbewußtseins ist? Groos und ich leugnen natürlich
nicht, daß schon die Betätigung an sich eine gewisse Lust her-
vorruft, ebensowenig w-ie wir leugnen, daß das Erleben von Ge-
fühlen in der Kunst an sich schon befriedigend für den Alenschen
ist. Wir finden nur, daß das Ausschlaggebende bei der Kunst
die Form ist, in der sich diese Betätigung vollzieht, und daß
dies die Illusionsform, d. h. die bewußte Selbsttäuschung ist.
Auch Streiter sagt ja: ,,Daß bei dem Sichhineinversetzen in ein
Vorgestelltes, in eine Rolle, wie es bei vielen Kinderspielen dem
Tun und Treiben zugrunde gelegt wird, etwas Ähnliches vorliegt,
wie bei dem Hingegebensein der Erwachsenen an die Welt des
künstlerischen Scheins, bestätigt allerdings eine gewisse Verwandt-
schaft von Spiel und Kunst." Aber er meint doch, der Genuß
der Kinder bestehe z. B. bei den Kampfspielen nicht darin, daß
sie sich einbilden, sie seien Feinde, während sie es doch in Wirk-
lichkeit nicht sind, nicht auf dem Tun als ob bei ihrem Vor-
stellungsverlauf, sondern vielmehr auf der Einfühlung. Nach dem
Gesagten brauche ich diese Meinung wohl nicht eingehend zu
widerlegen.
Die ästhetische Anschauung der Natur hatte ich ebenfalls
auf die Illusion zurückgeführt, indem ich nachzuweisen suchte,
daß, während der naive Mensch die Natur nur entw'eder sinnlich
genießt oder praktisch zu beherrschen sucht, der ästhetisch ge-
bildete, fein empfindende Kulturmensch, d. h. der Mensch auf
höherer geistiger Entwicklungsstufe, der genau mit der Kunst
vertraut ist, sie als Bild anschaut. Sowie der Beschauer eines
Gemäldes dieses unwillkürlich in die Natur übersetzt, so übersetzt
der ästhetisch gebildete Beschauer die Natur unwillkürlich in
ein Bild. Ich nannte das ,, umgekehrte Illusion" und führte als
Beweis dafür u. a. eine Äußerung Goethes an, wonach dieser nach
der Besichtigung der Dresdener Galerie in jeder Schusterw'erkstatt,
in die er eintrat, einen Ostadc zu sehen geglaubt habe. Auf diesen
und ähnliche Beweise — sie sind Legion — geht Streiter nicht ein.
Dagegen behauptet er, auch ein von jeder Kunst unberührtes Kind,
bei dem also von umgekehrter Illusion nicht die Rede sein könne,
sei fähig, die Natur zu genießen. Daran habe ich natürlich niemals
gezweifelt. Nur ist dieser Genuß meiner Meinung nach eben kein
ästhetischer, sondern ein sinnlicher. Und ich glaube, jedes Kind
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 460
würde sich wundern, wenn man es fragen wollte, ob es die
Natur im Sinne der Illusion, also als Bild, oder im Sinne der
Einfühlungstheorie genieße, d. h. sich in einen Baum oder in eine
Hügelkette ,, einfühle".
Von den vielen Einwendungen, die Streiter im einzelnen
gegen meine Behauptungen macht, will ich nur die wichtigsten
kurz erwähnen. Daß Symmetrie, Reihung und Rhythmus aus
den praktischen Bedürfnissen des Kunstgewerbes und der Arbeit,
d. h. aus der technischen Konstruktion und der gesellschaft-
lichen Bewegung hervorgegangen sind, will ihm durchaus nicht
einleuchten. Ebensowenig, daß die lineare oder geometrische
Ornamentik aus abgekürzten und schematisierten Naturformen
entstanden ist. Für beides sind seitdem so viel Beweise bei-
gebracht worden, daß Streiters Zweifel daran als erledigt gelten
können.
Für die Art der Polemik Streiters ist besonders charak-
teristisch die Erörterung über das Häßliche (S. 257). Ich hatte
nachgewiesen, daß häßliche Gegenstände oder Personen nur des-
halb in der Kunst darstellbar sind, weil sie hier in den ,, ästhe-
tischen Schein" eintreten, d. h. weil sie nicht als Wirklichkeit
angeschaut werden. Der Genuß den wir an der künstlichen Dar-
stellung eines häßlichen Inhalts haben, besteht ja nach der Illusions-
theorie nicht in dem Genuß an diesem Inhalt, sondern in
dem Genuß an der Darstellung als solcher, bzw. der Phantasie-
tätigkeit, die sich an die Anschauung des Kunstwerks knüpft.
Natürlich schließt das nicht aus, daß Künstler und ästhetisch
Feingebildete das, was den meisten Menschen in der Natur häß-
lich scheint (z. B. runzelige Gesichter, dürre Bäume, schmutzige
Straßen usw.) schon in der Natur bis zu einem gewissen Grade
,, schön" finden können. Sie stellen sich dann eben auf den künst-
lerischen Standpunkt, d. h. sie vergegenwärtigen sich, wie dieses
Häßliche, aber Charakteristische in die Kunst übersetzt wirken
würde.
Hier glaubt nun Streiter mich bei einem Widerspruch ertappen
zu können. ,, Merkwürdig ist", so sagt er, ,,daß Lange sich die —
für seine Theorie allerdings verhängnisvolle — Frage nicht gestellt
hat: Wie kommen wir überhaupt dazu, etwas häßlich zu finden.^
Das Schöne in der Natur soll es ja doch nur insoweit sein, als man
dabei ,an die Kunst denkt'. Nun kann man aber bei allem, was
Lange als Stoff der Kunst häßlich nennt, auch an die Kunst denken;
4/0
Konrad Lanpe:
OS müßte also all das von diesem Augenblick an nicht mehr häßlich,
sondern schön sein. Alles übrige aber, bei dem man nicht an die
Kunst denkt, würde weder schön noch häßlich, sondern indifferent
sein! Etwas Häßliches kann also nach Langes Theorie über-
haupt nicht vorhanden sein; wenigstens nicht in der Natur. Auch
wohl nicht in der Kunst. Denn sobald nur immer der Wechsel
zweier Vorstellungsreihen gegeben ist — und das ist ja nach Lange
bei jedem künstlerischen Erzeugnis der Fall — , soll doch als
Ergebnis des Hin- und Ilerpendclns der ästhetische Genuß sich
einstellen. Auf Grund welches psychischen Vorgangs müßte dies
anders sein, wenn wir bei künstlerischen Werken nicht Lust,
sondern Unlust empfinden, wenn wir sie als mißlungen oder als
häßlich bezeichnen.'' Daß wir solche ästhetische Unlust fühlen,
ist doch — leider — sehr häufig. Und zwar gerade bei Werken,,
die recht wahrheitsgetreu sind! Dieser Gegenbeweis e contrario,
aus der Unmöglichkeit einer psychologischen Begründung der
— nicht individuell bedingten — ästhetischen Abneigung, bringt
die Illusionstheorie mit einem Schlage zu Fall."
Ich gestehe, daß mir selten ein sclilimmerer Rattenkönig von
Mißverständnissen, Irrtümern und Unterstellungen vorgekommen
i St. Nur die völlige Neuheit und Ungewohntheit meiner Gedanken-
gänge zu der Zeit, als sie publiziert wurden, kann diese Hilflosig-
keit der Kritik einigermaßen entschuldigen. Gehen wir diese Be-
liauptungen einmal Satz für Satz durch und \'ergleichen sie mit
dem, was ich wirklich gesagt habe.
Zunächst die Kunst. Es ist durchaus unrichtig, daß es nach
meiner Theorie etwas Häßliches in der Kunst eigentlich gar nicht
geben könne, weil der Wechsel der beiden Vorstellungsreihen nach
ihr ja bei jedem künstlerischen Erzeugnis möglich sei. Gerade
das ist eben nicht der Fall. Es ist allerdings richtig, daß wir jedes
Bilfl — schon am Rahmen — als Bild erkennen und uns des-
halb nicht dadurch täuschen lassen. Aber darum können den-
noch die zwei Vorstellungsreihen, die zur ästhetischen Anschauung
gehören, unter Umständen nicht zustande kommen. Als Beispiel
dafür will ich nur ein Porträt nennen, in welchem die Natur
.so sklavisch und geistlos nachgeahmt ist, daß es wie eine über-
malte Photographie au.ssieht. In einem solchen Bilde schaut der
Beschauer tatsächlich nur die Natur an, weil die künstlerische
D;irstellung, d. h. die Form gleichgültig, charakterlos und un-
persönlich ist. Das heißt nlso: Der Beschauer erlebt nur die eine
Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker. 47 I
Vorstc-llungsrcihe („Natur"), während die andere („Kunst") auf
Äußerlichkeiten beschränkt, d. h. verkümmert, ja geradezu aus-
geschaltet ist. Und zwar deshalb, weil der Stil, die persönliche
Auffassung des Malers fehlt.
Derselbe Fall, nur umgekehrt, hegt vor, wenn ein Maler das
Porträt einer Person, die ihm Modell sitzt, dieser und überhaupt der
Natur absichtlich unähnlich macht, den Kopf und das Gesicht z. B.
aus lauter geometrischen Figuren zusammensetzt, wie es die Futu-
risten tun. Dann erlebt der Beschauer zwar die Vorstellungsreihe
,, Kunst", ,, Flächenbild", ,, geometrische Abstraktion", aber er erlebt
nicht die Vorstellung ,, Natur". In diesem Falle ist die letztere ver-
kümmert oder ausgeschaltet. Das sind beides Beispiele des künst-
lerisch Häßlichen. Die Häßlichkeit besteht hier nicht darin, daß
das Gesicht häßlich ist, sondern darin, daß die eine der beiden
Vorstellungsreihen unterdrückt wird oder nur in ganz ver-
kümmerter Form vorhanden ist. Künstlerisch schön dagegen .
ist ein Werk, das beide Vorstellungsreihen erzeugt, d. h. das zu-
gleich natürlich wirkt und einen ausgesprochenen persönlichen
Stil zeigt. Das ist dann eben ein Kunstwerk, d. h. ein Werk,
das — im künstlerischen Sinne — Illusion erzeugt. Das Kenn-
zeichen der künstlerischen Schönheit ist also die Illusions kraft.
Sodann die Natur. Die Behauptung Streiters, daß es
nach meiner Theorie etwas Häßliches eigentlich auch in der Natur
nicht geben könne, weil man dabei doch immer an Kunst denken
könne, ist ebenso falsch. Ich habe nachgewiesen, daß man
nicht bei allen Naturerscheinungen an künstlerische Darstellung
denken kann, sondern nur bei solchen, die sich dieser leicht
und bequem darbieten. Welche das sind, weiß jeder, der
etwas von Kunst versteht, auch der Laie, der eine größere
Zahl von künstlerischen Darstellungen der Natur gesehen hat.
Es sind bekanntlich gerade nicht die, welche im landläufigen
Sinne als ,, schön" gelten, z. B. nicht glatte Mädchengesichter,
regelmäßige Gartenanlagen, gerade Straßen, schöne neue
Häuser usw. Es sind vielmehr diejenigen, die im landläufigen
Sinne häßlich genannt werden, z. B. runzlige Gesichter, dürre,
vertrocknete Bäume, unregelmäßige Wege, verfallene Hütten usw.
Die Schönheit solcher Motive besteht lediglich in ihrer künst-
lerischen Darstellbarkeit, d.h. darin, daß sie, in die Kunst
übersetzt, z. B. als Flächenbild dargestellt, Illusion erzeugen
bürden. Daneben gibt es aber noch eine andere Naturschönheit,
A']2 Konrad Lauge: Die ästhetische Illusion und ihre Kritiker.
die \'on ilir scharf zu unterscheiden ist. Das ist die Schönheit
des Gesunden, Normalen, Regelmäßigen usw., die Kindern und
künstlerisch l^ngebildeten gefällt. Man sieht sofort, daß diese
zwei Arten von Schönheit auf zwei ganz verschiedenen Einstel-
lungen des Bewußtseins beruhen. Bei der einen wird die Natur
nur als Natur angeschaut, d. h. mit den sinnlichen und praktischen
Interessen des Menschen in Beziehung gebracht. Bei der anderen
wird die Natur nur im Hinblick auf ihre künstlerische Darstell-
l)arkeit angeschaut, d. h. unwillkürlich zur Kunst in Beziehung
gebracht.
Wenn also Streiter behauptet, nach meiner Theorie solle
das Schöne in der Natur es nur insoweit sein, als man dabei an
die Kunst denkt, so ist das falsch, denn er hat dabei nur die eine
Form des Naturschönen in meiner Theorie im Auge, während er die
andere unterdrückt. Ich unterscheide aber ganz klar und deut-
lich die landläufige oder populäre Schönheit der Natur, die auch
Kindern und Ungebildeten zugänglich ist, von der höheren künst-
lerischen Schönheit der Natur, die nur der Künstler und der
künstlerisch Gebildete empfinden kann. Wenn ich also sage: Die
Kunst kann auch das Häßliche darstellen, so meine ich dabei
natürlich das Häßliche im landläufigen Sinne, nicht das' Häß-
liche im künstlerischen Sinne. Denn das, was liäßhch im künst-
lerischen Sinne ist, ist ja künstlerisch nicht darstellbar. Das
alles ist vollkommen klar und überdies jedem künstlerisch be-
gabten und ästhetisch gebildeten Menschen geläufig. Welche
Stumpfheit und Unempfindlichkeit für künstlerische Fragen ge-
hört dazu, um alles das nicht zu verstehen, alles das, wie es Streiter
tut, in sein Gegenteil zu verkehren!
Ich glaube danach bewiesen zu haben, daß die Einwendungen
Mcumanns sowohl wie Streiters gegen meine Theorie samt
und sonders unhaltbar sind. Ich habe sie zwar der Sache nach
schon in der zweiten Auflage des Wesens der Kunst widerlegt.
Da ich aber dort keine persönliche Polemik treiben wollte, ist
der Leser vielleicht über die Scharfsinnigkeit und — Loyalität
meiner Gegner nicht so aufgeklärt worden, wie es im Interesse
der Wahrheit wünschenswert wäre. Diese Lücke ist im vorher-
gehenden, wie ich hoffe, ausgefüllt worden.
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems.
Von
Prof. Dr. Julius Schultz -Berlin.
Inhaltsübersicht.
1. Das parallelistische Theorem als eine von zwei Möglichkeiten, das
psychophysische Geschehen zu erklären.
2. Es parallel isi er t mit den nervösen Vorgängen psychische Vorgänge, nicht
deren Inhalte. — 3. Inhalte als Abstraktionen aus den Vorgängen. — Bechers
Argument gegen den Parallclismus. 4. Mannigfaltigkeit der Inhalte und der
Vorgänge. Dricschs und Laskers Argument gegen den Parallelismus. 5. Gültig-
keit der Inhalte. 6. Sinn der Inhalte — und Einsinnigkeit des psycho-
physischen Geschehens. Liebmanns Argument gegen den Parallelismus.
7. Hypothesen zur Konstruktion einer leiblichen Parallele für logische Akte. —
Die Logik der Dinge.
Die Grundfrage der Metaphysik, die nach dem Zusammenhang
von Leib und Seele, glauben auch heute noch manche Philosophen
(und sogar Kimtschüler) auf wissenschaftlichem Wege eindeutig
beantworten zu können. Und doch kann die Erfahrung nur dieses
lehren: Mit einigen nervösen Prozessen ist Bewußtsein verbunden;
mit vielen Bewußtseinsveränderungen nervöse Prozesse. Denken
wir uns die Forschung beliebig weit vorwärts schreitend, so möchte
sie erstlich feststellen, daß allen Bewußtseinsveränderungen ohne
Ausnahme ein Geschehen im Gehirn entspricht, und zweitens die
Art dieses Geschehens für jeden einzelnen Fall psychischer Regung
klarlegen. Das wäre das Ideal; w^äre es erreicht, so könnte die
psychophysische Wissenschaft Sabbat feiern. Ob jedoch die funk-
tionelle Bindungf als Wechselwirkung oder parallelistisch zu inter-
pretieren wäre, das kann nie unter eine erdenkliche Beobachtung
fallen, also nie wissenschaftlich bestimmt werden.
Sollen aber ermittelte Tatsachen einheitlich verstanden werden,
so bedarf es erklärender Annahmen, und sofern diese mit den
Tatsachen sich überhaupt vertragen (und überhaupt nur logisch
^-j^ Julius Schultz:
richtig gebaut sind), sind sie alle gleich ,,\vahr", gleich „unwahr",
stehen mithin alle jenseits des Begriffsgegensatzes „Wahr-Un-wahr",
sind Fiktionen in Vaihingers Sinne, denn nur Logik und „Tat-
sachen" können Sätze „verifizieren".
Von einer guten Fiktion nun verlangt man fünferlei. Zum
ersten muß sie de'n sämtlichen Tatsachen, die sie erklären soll,
sich anpassen, sonst ist sie — nicht ,, unwahr", aber ,, ungenügend".
Eine ungenügende psychologische Fiktion ist z. B. die vom Geiste,
der sich des Leibes als seines Instrumentes bedient; denn sie deckt
nicht die besonderen Erfahrungen der Psychiater. Zweitens muß
eine rechtschaffene Fiktion das zu Erklärende auch wirklich er-
klären; sonst ist sie ,, müßig". Müßig würde ich die Lehre vom
Bewußtsein als einem ,,Epiphänomenon" der leiblichen Vorgänge
nennen; sie stimmt zrwar mit dem wirklich Stattfindenden überein,
aber niemand, der sie annimmt, begreift dadurch den Sinn und
das Wesen des Geistigen im mindesten; die Ansicht läßt uns weiter
in schwarze Rätsel starren. Drittens: die richtige Fiktion soll
so einfach sein, wie sich's mit ihrer Aufgabe irgend verträgt. Ein-
fachheit ist zwar nicht Siegel der Wahrheit, wohl aber Adelsbrief
der Fiktion. „Überlastet" scheint mir der Spinozismus in seiner
echten Form, denn eine psychische Letztwirklichkeit, die sich
den Sinnen als Körperlichkeit offenbart, ist eine schlichtere An-
nahme als jene Substanz mit unendlich vielen Attributen und
Modi — und erläutert alles, was erläutert werden soll, genau so
wohl — und obendrein genau im gleichen Sinne. Weiter, Punkt
vier! Die richtig konstruierte Fiktion (in Vaihingers Sinne)
muß mit allen übrigen Fiktionen der Erkenntniswelt sich ver-
tragen; dadurch erst erhält sie den Rang eines „Theorems"
(in meinem Sinne, vgl. meine ,, Maschinentheorie des Lebens"
[1909], S. iff.); und eben das ist die eigentliche Aufgabe der
Metaphysik, zwischen ,, Theoremen" und ,, Fiktionen" (in meinem,
im engeren Sinne) zu scheiden. Eine Fiktion ohne Theoremcharakter
ist z. B. der ursprüngliche Cartesianismus ; er erklärt wohl die
psychophysischen Beobachtungen leidlich, aber streitet gegen
anfkrc Theoreme, die der allgemeinen Lebenslehre notwendig
sind. — Endlich, zu fünft: Theoreme müssen aus den unveränder-
lichen, unentrinnbaren, alle Menschen zwingenden Forderungen
unserer geistigen Organisation hervorwachsen, müssen axiomatisch
fundiert sein. Diese Bedingung würde beispielsweise die Doktrin
von der prästabilierten Harmonie, in den übrigen vier Hinsichten
Ein Mißverständnis des parallel istischen Theorems. 47 5
tadellos, nur schlecht erfüllen. — Aber ergeben denn die Postulate
unseres Denkens, auf Erfahrung angewendet, auch jederzeit ein-
deutig bestimmte Theoreme? Keineswegs! Ihre Folgerungen
führen vielfach an Scheidewege, wo die Wahl des Pfades dem
Denker frei bleibt; da entspringen die Antinomien, die an den
Wurzeln aller Wissenschaften zehren. So geht es auch in der
Psychophysik; ihr metaphysisches Urproblem hat eine monistische
und eine dualistische ,, richtige" Lösung; kein erdenkliches For-
schungsergebnis könnte für diese oder jene je entscheiden; denn
beide Lösungen vereinigen sich gleich leicht mit jenem vorweg-
genommenen Idealerfolge möglicher Zukunftswissenschaft; und
beide lassen sich aus axiomatischen Voraussetzungen ableiten.
Dem entschlossenen Dualisten bleibt die Lehre von der ewig mit
dem Stoffe in Wechselwirkung arbeitenden ,,Entelechie" erlaubt;
dem entschlossenen Monisten dagegen diejenige Form des Par-
allelismus, die das Psychische für ,, Wesen", das Leibliche für
,, Erscheinung" ansieht. Das näher zu begründen, ist hier nicht
der Ort, denn nur mit einer besonderen Gruppe jüngst vorgebrachter
Einwürfe gegen die letzte Annahme will ich mich jetzt beschäftigen;
anderes Für und Wider ist von anderen ausführlich genug erörtert
worden.
Das Theorem des parallclistischen Psychomonismus
zerfällt in folgende Fiktionen:
I. Fiktion vom Unbewußten. Das psychische Ansich
ist als Sein schlechthin unbewußt und erscheint bewußten Anderen
als Leiblichkeit; seine Veränderungen werden unter ganz besonderen
Bedingungen (die als Nerven- und Hirnlebcn erscheinen) bewußt;
.soweit das nicht der Fall, sind sie völlig unvorstellbar und müssen
es ewig bleiben; denn ein r.nderes Erleben als das bewußte kennen
wir nicht; und erscheinen kann uns das unterbewußte seelische
Geschehen nur als körperlicher Vorgang. — 2. Fiktion von
der zweiseitigen Organisation. Das psychische Ansich ist
durch die ganze Welt hin sinnvoll organisiert; der ,, Charakter"
einer Menschenpersönlichkeit ist eine solcher Organisationen;
dieser ruhende Sinn das Daseins ,, erscheint" als Form: der Elek-
trone, Atome, Kristalle, Pflanzen, Tiere, Planeten; mein geistiges
Wesen als meine organisierte Menschengestalt. — 3. Fiktion
von der zweiseitigen Zusammensetzung der Elementar-
Ay^ Julius Schultz:
prozessi'. Mannigfaches psychisches Einzelgeschehcn vereinigt
sich durch Synthese zu stufenweise immer höherem Geschehen;
schon die einfachsten Akte des tierischen Bewußtseins bilden da
eine sehr hohe Staffel der Komposition, die des menschlichen
Selbstbewußtseins die allerhöchste unter den uns bekannten. Das
durch seelische Synthese erzeugte Ergebnis vieler gleichzeitiger
Elementarprozesse wird als unlösliche Einheit erlebt: so ist die
Eigenart alles bewußten Erlebens. Dem Ansich der seelischen
Synthese entspricht in der Erscheinung die mechanische Sum-
mierung körperlicher Vorgänge zu Resultanten.
Man beachte wohl: Die drei Fiktionen sind nicht etwa will-
kürliche Nebenannahmen zur parallelistischen Lehre, sondern kon-
stituieren diese als ihre notwendigen Glieder; sie fällt sofort in
völligen Widersinn dahin, wenn man eines davon wegschneidet. • —
Was also mit den leiblichen Prozessen parallelisiert wird, ist ein
Geschehen, dessen schlichtere Modulationen, uns unausdenkbar,
wir als ,, Kraftwirkungen" oder ,, innere Zustände" (Lotze) der
Dinge erahnen mögen, dessen reichste Melodien wir bewußt er-
fahren. Mit diesem seelischen, insbesondere dem bewußten Ge-
schehen dürfen nun dessen Inhalte nicht verwechselt werden.
Aus solcher Verwechslung entspringen mißverstehende Argumente
gegen den Parallelismus, mit deren Widerlegung ich es zu tun
habe; sie*sind schon widerlegt, sobald der Unterschied der beiden
Begriffe wirklich geklärt ist.
Der Inhalt eines psychischen Vorganges ist dessen quali-
tative Bestimmtheit. Ist also Abstraktion einer einzelnen Seite
wirklichen Geschehens.
Wovon sehe ich ab, wenn ich den Inhalt an einem Bewußtseins-
nxomente heraushebe? Erstens von dessen lebendiger Erlebtheit.
Mein Empfinden des Scharlachs, meine Wahrnehmung dieses
Teppichs, meine Vorstellung der Chimära, mein Urteilen, daß
^ = 3.M •■ -, mein Kopfschmerz: all das sind Äußerungen meiner
Persönlichkeit; so reagiert sie auf diese und diese wirksam ihr
bt-gegncnden Reize. Die Inhalte aber ,, Scharlach", ,, Teppich",
..Chimära", ,,7r = 3,14 . . .", ,,Weh der und der Beschaffenheit"
haben als Inhalte weder mit Ich und Du zu schaffen noch mit
den -Anlässen, die ihr Hervortreten in die Erfahrung bewirken;
die könnten ganz verschiedene sein, der Inhalt der gleiche bleiben;
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. 477
' beispielsweise bleibt dasselbe Scharlach dasselbe Scharlach, ob
nun Erregung der Netzhaut durch Lichtwcllen oder Erregung
der optischen Zentren durch krankhafte Hirnaffektion es erzeugt.
Der in sich gleiche hihalt n kann durch die mannigfaltigsten
Denkprozesse erweckt werden — bei dir so gut wie bei mir. Anderer-
seits könnte ein und derselbe Anlaß den verschiedensten Inhalten
rufen, je nach der augenblicklichen Abstimmung der menschlichen
Organisationen. — Die parallelistische Lehre nun bindet leibliche
an seelische Organisation, leibliches an seelisches Geschehen;
erlaubt mithin für jenes inhaltlich eine .t, jenes inhaltlich eine
Scharlach zahlreiche Arten körperlicher Begleitung; und wieder,
veränderliche Zustände des nervösen Systems vorausgesetzt, für
zahlreiche Inhalte eine einzige Art körperlicher Abwandlung. —
Daraus folgt, dai3 jede Darstellung, die Inhalte Nervenprozessen
zuordnet, den Parallelismus fälscht.
Und das Zw^eite hängt damit zusammen. Der Inhalt hat
mit keiner genetischen Betrachtung das Geringste zu tun. Im
Ansich der Seelensubstanz könnte etwa folgendes sich ereignen
(nach den drei in § 2 formulierten Fiktionen), damit ein geistiger
Inhalt höheren Ranges, sagen wir ein mathematischer Satz, z. B.
TT = 3,14 . . ., mir bewußt werde: Eine Erinnerung tritt auf, daß •
ich diese Wahrheit einst abgeleitet habe; zugleich das befriedigte
Kraftgefühl: ,,Ich könnte" — die Ableitung wiederholen, wenn
ich w'ollte; dazu das optische Bild eines Kreises mit einem aus-
gezeichneten Radius; ein Bewegungsimpuls: den Radius nehmen,
biegen, der Peripherie entlang messen; ein Antrieb zum Zählen;
,,Eins, zwei, drei — dann bleibt noch ein Rest"; ein Klangbild:
,,3,14 . . ." oder eine entsprechende Innervationstendenz; eine
den Glauben an die Formel ausdrückende motorische Einstellung.
Das wären sieben Elemente, jedes einzelne selber eine hoch-
komplizierte Synthese in sich schließend. Aber keines von ihnen
braucht stark genug zu sein, um vor den anderen sich hinaus-
zuheben; flüchtig, für eines Augenblickes Dauer, treten sie auf;
alle gleichzeitig; und gleichzeitige Elemente verschmilzt das Be-
wußtsein immer zur Einheit. Das ist noch der Fall, wo die Teile
sich am allerdeutlichsten sondern lassen; ein Rot neben einem
Grün präsentiert sich anders als dasselbe Rot neben Gelb, als
dasselbe Rot isoliert; die psychische Synthese arbeitet sogar an
diesen einfachsten Kombinationen ,, schöpferisch" (in Wundts
Sinne); und das Ergebnis wird ein Ganzes, wird also jederzeit
tn^ Julius bchullz:
zur Einlic'il. Die Einheil vollends aus sieben heterogenen Ele-
nu-nlen, von denen zwei mehr oder minder der empfindenden,
\icr tler wollenden Tätigkeit angehören, während eines (die Er-
innerung) beiderlei Tun umfaßt — : diese Einheit läßt, zumal
wenn ihre Bestandteile für sich undeutlich und verschwommen
ausfallen, keinen davon mehr einzeln erkennen; sie wird zur un-
definierbaren ,, Bewußtseinslage", zum bloßen ,, Gedanken" an n;
fragt ein sogenannter ,, Experimentator" mich, was mir bei diesem
Gedanken denn eigentlich vorschwebte : beim besten Willen vermag
ich nichts auszusagen — außer etwa ich nenne eines oder das
andere der Elemente, das zufällig ein wenig klarer als die übrigen
sich darbot; und daß diese Klarheit ein bloßer Zufall, merke ich
alsbald; das Wesentliche scheint ein Nichts, das dennoch ein be-
stimmtes Etwas sein muß, denn der Gedanke an ti muß sich
irgendwie doch von dem Gedanken an r oder 2r • n unterscheiden.
So steht es nun — wenn der psychomonistische Parallelismus
Wert und Recht behalten soll — überall. Das Leben der seelischen
Substanz ist ein ins Unendliche mannigfaltiges Spiel; das Bewußt-
sein indessen wird zum Bewußtsein eben durch die Notwendigkeit,
gleichzeitiges Viel in Eins zu fassen; in ein neues Eins, aus dem auch
scharfsinnige Analyse hinterher selten mehr die Bestandteile reinlich
löst. Das qualitative Resultat aber der schöpferischen Synthese,
dessen wir uns als einer Einheit bewußt werden, ist der ,, Inhalt"
des bewußten Vorganges. W^ollte nun die parallelistische Lehre
diesen Inhalt mit leiblichen Vorgängen verkoppeln, so hätte Erich
Becher mit seinem Argumente völlig recht: ein so kompliziertes
Geschehen wie ein Prozeß im Großhirn könnte unmöglich einem
schlechthin Einfachen, wie es beispielsweise ein Ton ist, entsprechen
(Gehirn und Seele [iQii], S. 354ff.; Zeitschr. f. Philos. u. philos.
Krit., i6i, S. 65). Aber natürlich: es entspricht nach unserer
Auffassung jenem komplizierten psychischen Getriebe, aus dem
die Synthese des Bewußtseins die Einheit allererst schafft. Und
die Synthese selber spiegelt sich im organisierten Zusammenwirken
der Gehirnteile.
Die Betrachtung läßt sich noch verallgemeinern. Wovon ich
beim geistigen Vorgange absehe, wenn ich ,, Inhalt" sage, ist das
räumliche Hier-Dort der bewußten Persönlichkeiten und jede
Zeitbestimmung; also das Prinzip der Einzelung. Diese Farbe,
diese Formel, dieser Satz bleibt als Inhalt ewig der Eine, mit sich
.selber identische; mag er als Vorgang noch so oft und vielerorts
Ein Mißverständnis des parallelisdschen Theorems. 47Q
sich wiederholen. Seine zerebrale Begleiterscheinung aber wieder-
holt sich vielerorts und oft; sie hat es also mit dem Inhalt niemals,
immer nur mit dem lebendigen Prozeß in der Seele zu tun.
4-
Daß die Mannigfaltigkeit möglicher Inhalte größer ist als die
Mannigfaltigkeit möglicher Hirnveränderungen, ist jüngst zwei
Gegnern der parallelistischen Lehre aufgefallen, ohne daß einer
vom anderen wußte. In der Tat: man braucht nur jede erdenk-
liche Hirnveränderung selber als möglichen ,, Inhalt" eines Menschen-
gedankens zu fassen, so sind durch diese geometrisch-mechanischen
Inhalte die möglichen leiblichen Parallelen gedeckt; und für alle
übrigen Inhalte des Bewußtseins bleibt keine Deckung übrig.
..Das physische Ding", sagt Hans Driesch (Leib und Seele [1916]
S. 74), ,,ist in jedem Falle ein bestimmtes Beieinander von in
ganz wenig Arten zerfallenden, vielleicht sogar von gleichartigen
Urdingen; das psychische Ding weist eine große Anzahl verschiedener
Arten von psychischen Urdingen auf. Und dazu kommt, daß im
Physischen alle Beziehungen zwischen den Urdingen, von ihrem
Wirken abgesehen, Abwandlungen der Beziehung Neben sind,
während unter den psychischen Letztheiten eine große Fülle ver-
schiedenartiger Beziehlichkeiten besteht. . . . Wie sollte da das
psychische Ding im Reiche der physischen Dinge seine Abbildung
Ünden können?" Die parallelistische Lehre [yy) ,, übersieht, daß
die Fülle der besonderen physischen Raumesbeziehungen ... im
Psychischen ihr Gegenstück auf einem ganz besonderen Einzel-
gebiete bereits hat, also nicht als physisches Gegenstück für die
Mannigfaltigkeit des Psychischen überhaupt gelten kann. Die
Fülle der physischen Raumesbeziehungen als eine besondere Art
physischer Mannigfaltigkeit ist eben . . . für ein Sondergebiet
des Psychischen seiner Sondermannigfaltigkeit nach bereits ver-
geben."
Ahnlich meint Emanuel Lasker (Das Begreifen der Welt
[1913], S. 222): ,,daß die Mittel der Darstellung von Bahnen und
Vorgängen durch kausal wirkenden Stoff, obwohl sehr mannig-
faltig, nicht ausreichen, um die viel umfassendere Mannigfaltigkeit
der Erinnerungen darzustellen". (225) ,, Betrachten wir die Menge
aller denkbaren Erinnerungen. Darunter befindet sich u. a. jedes
beliebige Zeichen. Denn das Gehirn könnte sich ja erinnern, ein
tjjQ Julius Schultz:
Dinc. welches immer, mit diesem Zeichen versehen zu haben." —
hii folgenden Avird dann ausführlich bewiesen, (233) ,,daß die
Menge iUlcr kausalen Vorgänge der Menge aller möglichen Zeichen
keineswegs äquivalent ist", sondern daß die Menge mathematisch
denkbarer Zeichen immer größer sein muß als die Menge denk-
barer verschiedener Gehirnvorgänge. Und nun: ,,Man kann von
linem Studenten der Mathematik erwarten, daß er sich jedes
linzeine der Zeichen der Menge klar mache, welches er auch wolle."
-Also hat mindestens jeder Mathematiker sehr viel mehr Denk-
möglichkeiten in seinem Geiste als Veränderungsmöglichkeiten in
seinem Gehirne. ,,Es besteht somit keine umkehrbar eindeutige
Beziehung zwischen der Menge der kausalen Prozesse im Gehirn
und jener Menge von Zeichen."
Gesetzt, wir Parallelisten gäben die logische Richtigkeit der
Erörterungen Laskers und Drieschs zu: wir wären immer noch
nicht geschlagen. Wir könnten nämlich ruhig erklären, daß unser
Geist auf keinem Gebiete fähig wäre, soviele verschiedene Vor-
stellungen tatsächlich zu bilden wie ihrer theoretisch denkbar sind.
Das Spektrum hat unendlich viele Farbnuancen; wir unterscheiden
aber nur eine beschränkte Zahl; es gibt beliebig viele verschiedene
Rechtecke, aber verhältnismäßig wenige Unterschiede vorstellender
Möglichkeit; denn eines, dessen Seiten sich verhalten wie, sagen
wir 400 : 44 sieht mir gleich aus wie eines, dessen Proportion
400:45 beträgt. Die Zahlenreihe ist unbegrenzt; aber bei lOOi
stelle ich kaum etwas anderes vor als bei 1002; nur daß zwei ge-
sonderte Wörter die vage Vorstellung der Vielheit begleiten. Die
psychische Unterschiedsschwelle, mit anderen Worten, verhindert,
daß der unserer Seele möglichen Inhalte faktisch so viele sind.
wie die Logik fordert; ihre Zahl, binnen jeder einzelnen Mannig-
faltigkeit im Prinzip grenzenlos, ist in Wirklichkeit binnen einer
jeden endlich. Während die möglichen Gehirnvorgänge, durch
keine Schwelle dezimiert, im vollen Wortsinne unendlich viele
sind; so daß die geringere Anzahl ihrer Mannigfaltigkeiten nichts
ausgibt.
Indessen, dieser Verteidigung bedarf unsere Lehre noch nicht
einmal. Wir erkennen die Beweisführung der Widersacher vom
Beginne aus gar nicht an. Denn die schieben uns den Unsinn
in die Schuhe, als wollten wir alle Möglichkeiten der Inhalte
allen Möglichkeiten physischer Prozesse zuordnen, während wir
diesen nur die Möglichkeiten psychischer Prozesse parallelisieren;
Ein Mißverständnis des parallel istischen Theorems. ^8 I
und die Anzahl möglicher psychischer Prozesse hat mit der An-
zahl möglicher Inhalte überhaupt nichts zu schaffen.
„Überhaupt nichts ? Aber wenn doch jeder besondere psychische
Prozeß auf seinen besonderen Inhalt geht!.'"'
Überhaupt nichts. Darum nichts, weil nach unserer Grund-
fiktion die psychischen Prozesse zusammengesetzt sind, während
die resultierenden Inhalte als einfach sich geben. Wie ich aus
26 Buchstaben und 10 Ziffern beliebig viele Wörter und Formeln
bauen und mit hunderttausend Wörtern beliebig viele Gedanken
ausdrücken kann, denke ich aus ein paar Millionen von verschiedenen
elementaren Rindenvorgängen beliebig viele Parallelen zu ver-
schiedenen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Willensentscheidungen
— und binnen jedes Menschenlebens aus höchstens einer Milliarde
so zusammengesetzter Rindenvorgänge beliebig viele Parallelen zu
verschiedenen Inhalten oberer Staffeln gebildet. Den Mannig-
faltigkeiten aber des seelischen begegnen die Mannigfaltigkeiten
des leiblichen Lebens also: den Empfindungen entsprechen Er-
regungen der Projektionsfelder der Sinnesorgane, den Elementen
des Willens und Denkens solche der motorischen Zentren. Im
einzelnen läßt sich die Qualität der Empfindung — vielleicht —
der Form oder Frequenz einer Schwingung innerhalb der Nerven-
substanz zuordnen; die Intensität alsdann der Stärke der Schwin-
gung; die flächenhafte Lokalisation der Lage der Nervenenden
in tastender Haut und in Retina; die Tiefe den Innervationen
des Auges und der beim Tasten tätigen Muskeln; Lückenhaftigkeit
und Schwäche der Reizung sowie Nichtbeteiligung des beim Emp-
finden tätigen motorischen Apparats repräsentieren den Unter-
schied des Vorstellens vom Wahrnehmen; Traum und Halluzination
stellen die hiernach geforderten Übergänge dar. Für die leibliche
Abbildung der Willensseite der Seele haben wir drei elementare
Mannigfaltigkeiten zur Verfügung: ein motorisches Zentrum kann
so stark gereizt sein, daß Innervation des zugehörigen Muskels
erfolgt; die Innervationsschwelle kann unerreicht bleiben und
dennoch der für Gliedbewegung zu schwachen Regung in den
motorischen Zellen ein seelischer Vorgang entsprechen; endlich
kann die Innervationsschwelle zwar überschritten sein, die Be-
wegung aber infolge der Gegenwirkung von anderen motorischen
Zentren aus verhindert werden. Diese drei leiblichen Mannig-
faltigkeiten bieten uns die ,, Erscheinungen" für die Elemente
zuerst des Willens, zu zweit des Denkens und der ,,Gestaltquahtät",
Aonalen der Philosophie. I. 3^
^g-» Julius Schultz:
ZU dritt der ,,Bcwußtscinslagc". Dies also die Buchstaben des
Alpluibcts. Es gehören aber im ■\\'irklichen Leben immer min-
destens zwei zusammen: zum Reize die Reaktion, zur Reaktion
der Reiz; jeder zentripetale Vorgang im Gehirn fordert seine
zentrifugale Ergänzung; jede Empfindung ihre motorische Folge;
und so verschmilzt unaufhörhch Bild mit Vohtion; kein Wahr-
nehmen, nicht die flüchtigste Vorstellung ohne Gesellschaft eines
Wollens; aber auch kein Denkakt ohne Vorstcllungsgrundlagc,
und wäre sie noch so bleich; diese ursprünglichste Synthese zwischen
Empfängnis und Handlung, der auf der körperlichen Seite das
Durchlaufen eines hochdifferenzierten Rcflexbogens entspricht, be-
deutet dem Psychologen dasselbe, was der Erkenntnistheoretiker
ausdrückt, wenn er den Unterschied und dennoch die immer-
währende Einung von Stoff und Form in jedem Bestandteil unseres
Erkcnnens betont.
Der Aufbau geht nun etwa folgendermaßen vonstatten. Erste
Stufe: Reizung einer sensorischen Zelle — Empfindungselement;
einer motorischen — Volitionselement ; beides unbewußt (,,Petite
perception"). Zweite Stufe: Reizung von Zellkomplcxen im
Sensorium — Einzelcmpfindung; Reizungen im Motorium und
Ansätze zu Zuckungen einzelner Muskeln oder zu Aderinnervationen
in einzelnen Zcntraldistrikten ■ — Einzclvolition; noch unterbewußt.
Dritte Stufe: Verbindung von zentripetaler und zentrifugaler
Erregung — Synthese von Empfindung und Volition; psychisches
Element; noch unterbewußt. — Vierte Stufe: mehrere Elemente
der dritten Stufe treten zusammen; vereinigt sich damit ein psycho-
physischer Prozeß, der der Adaptierung eines Sinnesorganes ent-
spricht, so entsteht auf seelischer Seite die Wahrnehmung, im
anderen Falle die Vorstellung, die ein ,,Bild" wird, wenn die sen-
siblen, eine Richtungsvorstellung, wenn die motorischen Elemente
vorwiegen; all das immer noch unterbewußt. — Fünfte Stufe:
mit Wahrnehmung verschmilzt Vorstellung — und dementsprechend
die entsprechenden leiblichen Prozesse; es entspringt die elementare
Apperzeption; eine mit äußerst zahlreichen Vorstellungsrudimenten
verbundene ,,BcwußLseinslagc" ergibt das Ichgefühl. Jetzt erst
kann man von aufdämmernder Bewußtheit reder. — Sechste
Stufe: die psychophysischen Prozesse der fünften Stufe, sehr
energisch eingeübt, verlaufen schneller und schneller, daher immer
flürhtigcr; es bilden sich Gedankenelemente, Gestaltqualitäten,
Stimmungen. — Erst i>.ui der siebenten Stufe der geistigen
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. 48 'l
Synthese einerseits, der Kombination leiblicl.er Wandlungen anderer-
seits kann man von primitivem geistigen Leben reden.
Die ersten beiden Stufen würden etwa das Seelenleben der
Urtiere, die dritte das der niederen, die vierte das der höheren
Tierwelt darstellen; Stufe fünf führt bis an die Schwelle des menschen-
kindlichen Bewußtseins, Stufe sechs würde ungefähr unserem dritten
oder vierten Lebensjahre entsprechen; das erwachte Kind steht
auf der siebenten Stufe.
So betrachtet, wird die Besorgnis, ob auch wohl alle geistigen
Inhalte in leiblichem Geschehen ihre ausreichende Deckung finden
könnten, der ängstlichen Frage jenes Druckcrlehrlings gleich:
Genügen denn die paar Lettern hier auch, um alles, alles zu drucken,
was so ein Gelehrter weiß.?
5-
Eine besondere Art von Inhalten sind die gültigen Urteile,
seien es nun Wertungen oder Wahrheiten. Zwar, die all-
gemeinen Eigenschaften aller Inhalte teilen auch sie: Unwirklich-
keit, Indifferenz gegenüber allen Fragen nach ihrer Genese, Ort-
losigkeit, Zeitentrücktheit, Ewigkeit. Und hier heißt es nicht
verwechseln: Ein Urteil kann über den kürzesten Moment des
Weltlaufs aussagen; sein Inhalt bleibt dennoch unveränderlich,
wie er einmal ist; daß ich in diesem Augenblick den Buchstaben
,,B" — nein, jetzt ,,u", schreibe, ist für alle Äonen ,, gültig". Aber
eben dieses ,, Gelten" scheint einen Unterschied gegenüber be-
liebigen Inhalten auszumachen, der denn auch in der Parallelismus-
frage seine Rolle gespielt hat. Was bedeutet das Wort }
Es sagt: Der Inhalt des gültigen Urteils ist von der urteilenden
Einzelpersönlichkeit unabhängig. Und diese Bestimmung wieder
umfaßt dreierlei. Erstens kommt es für die Geltung eines Satzes
gar nicht darauf an, ob er je ausgesprochen wurde oder wird ; eine
nie entdeckte Wahrheit bleibt doch Wahrheit; ja, eine von Menschen
nie entdeckbare ebenfalls: Notizen über die Lebewelt der Sirius-
planeten oder die Lösung des N-Körperproblems. Wohl findet
sich für solche Sätze kein Geist, der sie denkt, kein Mund, der sie
äußert; dennoch bestehen sie als ,, Sätze an sich" (Bolzano,
Wissenschaftslehre I [1837]). Wie könnten sie denn nun Ab-
straktionen aus wirklich gefällten Urteilen sein ? — • Aber man
vergleiche sie mit anderen Inhalten! Was sollen wir denken
über einen Geschmack, der nie geschmeckt wird (weil die be-
31*
A^A Julius Schultz :
sondere Frucht, die ihn an sich hat, auf der Venus wächst) ? Über
einen Affekt, der in seiner Besonderheit nie erlebt wird (weil der
besondere Anbhck, der ihn nährte, nur auf dem Monde sich böte) ?
Wir würden diese Inhalte unverwirklichte und unverwirklichbare
Möglichkeiten des Fühlens oder Empfindens nennen. Nun
gut: machen wir aus dem ,,Satz an sich" eine ,, Möglichkeit gültigen
Urteils", so haben wir zwar den Begriff der Gültigkeit wieder
ungeklärt in den Händen; aber die scheinbare Seltsamkeit einer
Abstraktion ohne Gegenstand, von dem abstrahiert wird, fällt
dahin: wir lernen einfach, daß der Begriff des gültigen Urteils
neben wirklichen auch mögliche Urteile umfaßt. — Aber zweitens:
die Gültigkeit des Urteils hängt nicht von der reaktiven, der
Willcnsseite unserer individuellen Seelen ab. Ein gültiges Urteil
wird uns vielmehr von den Gegenständen aufgenötigt: es ist
,, objektiv". Diese Eigenschaft teilt es mit Empfindungen,
Wahrnehmungen, Erinnerungen; weshalb denn auch immer wieder
mißbräuchlich in derlei Vorgänge wahre ,, Urteile" hineingedeutet
werden. Wir nun halten daran fest: Zum Urteil gehört der prä-
dikative Charakter; und da außerhalb des Urteilens die Begriffe
wahr und unwahr gegenstandslos werden, wird eine Wahrnehmung
oder Erinnerung erst durch die Foriri möglicher Mitteilung wahr.
per ganz isolierte und also sprachlose Einsiedler, noch so hirn-
begabt, mag die schönsten Beobachtungen machen: seine in-
tuitive Erkenntnis darf dennoch ,, Wahrheit" nicht heißen; zur
Wahrheit würde ihm das Ergebnis einsamen Schauens erst durch
Selbstgespräch (ob auch tonloses). Um gültig sein zu können,
muß demnach ein Inhalt mitteilbar sein; und so wird Gültigkeit
ein sozialer Begriff. Mitteilung aber will überzeugen; und gültig
ist jeder Satz, der, in diesem dritten Sinne das individuelle Denken
überfliegend, alle ihn Verstehenden zur Anerkennung zwingt.
(Alle verstehenden Vernunftwesen oder alle verstehenden Menschen ?
Da wir kein anderes Vernunftwesen als den Menschen kennen,
ist die vielumstrittene Frage eigentlich ziemlich sinnleer.)
Danach hätten wir die Begriffsbestimmung der Gültigkeit
gewonnen: gültig sind mögliche Urteile, die, persönlicher Willkür
entrückt, jeden normalen Menschengeist (ich ziehe diese Fassung
vor), der ihren Sinn nur überhaupt einsieht, zur Einstimmung
nötigen. Die Mittel der Nötigung nennen wir Kriterien.
Aber noch bleibt eine Unklarheit zurück. Jene unerforsch-
b.ircn Wahrheiten nötigen doch nie jemanden zur Einstimmung;
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. ^85
denn sie haben kein Kriter. Ich brauchte vorhin mit Fleiß die
harte Wendung von ,,unver\Virkhchbarcn Möghchkeiten"; sind
nun das nicht eher „Unmöghchkeiten" ? Es ist unmöghch, daß
jemals jemand mit Gründen den Sätzen beipflichten sollte: im
Erdmittelpunkte stecke ein Klumpen Platins — oder: vor gerade
achtzig Millionen von Jahren sei der Saurierstamm aus einer
Larvenform entsprungen. Und doch sind entweder diese Sätze
oder ihre kontradiktorischen Gegensätze, für die ebensowenig
Kriterien heranzuschaffen wären, notwendig ,,wahr", also gültig.
Um unsere Definition der Gültigkeit festzuhalten und zugleich
zu säubern, bedienen wir uns hier einer von mehreren Fiktionen.
Die erste ist die des idealen Beobachters und Denkers. Wir
stellen einen Menschen unserer Organisation vor, der sich aber
in beliebige Zeiten und Räume versetzen könnte: ,,Wenn ich
damals gelebt hätte — — "; ,,wenn ich ein Übermikroskop be-
säße "; ,,wenn ich im Aldebaran stände ": dann würde
ich den und den Satz mittels menschlicher Kriterien verifizieren.
Ein andermal tut die Fiktion, ,,als ob" ihr Modell geistige Zu-
sammenhänge festhalten könnte, an deren Kompliziertheit das
empirisch sich bietende Hirnmaterial erschlafft. Das 3-, ja das
n-Körperproblem ,,hat" ja doch seine Lösung, so gewiß es auf
eine eindeutige Formel hinauslaufen muß ; nur vermag kein leben-
diger Mathematiker sie zu überschauen, so verwickelt fällt sie
aus; aber unser idealer Mathematiker vermag's; ohne daß er des-
wegen aus den Denkformen menschlicher Organisation hinaus-
geriete. — Die zweite Fiktion ist die des ,, Bewußtseins über-
haupt". Wir denken uns, ,,als ob" alle Erdenklichkeiten von
BewTißtseinsinhalten in einem umfassenden Bewußtsein verwirk-
licht wären; darunter alle Erdenkhchkeiten gültiger Urteile; wie
viele davon wir armen Einzelsubjckte fällen oder verifizieren
dürfen, das soll, so dekretieren wir, für die Wahrheitsfrage un-
beträchtlich sein. Ist jemandem diese Fiktion nicht plastisch
genug, so mag er für den verschwommenen Ausdruck auf gut
platonisch ,,Gott" setzen. — Oder endlich, drittens: wir fingieren
eine unendliche Aufgabe (ohne Aufgebenden), deren vorweg-
genommene, aber niemals zu erreichende Lösung das System der
Gültigkeiten darstellt. Hier werden jene ideellen Möglichkeiten
wahrer, wiewohl für Menschen unerreichbarer Urteile in ideelle
Zeitferne geschoben; allmählich, mit dem Fortschritte der Wissen-
schaften, wachsen ihnen ihre Kriterien entgegen.
^g,^ Julius Schultz:
Hiernach modifizieren wir unsere Definition und sagen so:
Gültig sind mögliche Urteile, die, persönlicher Willkür entrückt,
jeden normalen Menschengeist, der ihren Sinn nur überhaupt
einsähe, zur Einstimmung nötigen würden, wenn er in der Lage
wäre, alle Kriterien, die Zeit, Raum oder Unzulänglichkeit des
Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit ihm vorenthalten, sich
zu verschaffen; wenn er mit anderen Worten ein idealer Beob-
achter oder ein letzter Abschließer alles erreichbaren Menschen-
wissens wäre — oder wenn er sein persönliches zu einem all-
umfassenden Bewußtsein zu erweitern vermöchte.
So wird die Gültigkeit Funktion eines fiktiven Uberbewußt-
seins; und dieses hat, selbstverständlich, kein Gehirn und kein
Gehirnlebcn zur Seite. Welche Beziehung kann denn nun Gültig-
keit, Wahrheit, logischer Zusammenhang zu unserem empirischen
Gehirnlebcn haben ? Der erste, der in dieser Frage eine Schwierig-
keit für die Lehre vom psychophysischen Parallelismus sah, war,
denke ich, Otto Liebmann (Zur Analysis der Wirklichkeit [1876],
S. 489ff.; Gedanken und Tatsachen II [1904], S. 193).
Packen wir das Problem im einzelnen. Ein System steht
vor unserem Geiste, sei es z. B. die Ordnung der Säugetiere; sind
da unsere Hirnzellen etwa ebenfalls zoologisch-systematisch ge-
ordnet wie ein Museum, mit besonderen Vitrinen gleichsam für
Vorstellungen von Affen, von Insektivoren usw. ? Ich gehe eine
Darstellung römischer Geschichte durch: gibt es dafür im Ge-
hirne ein Zellenband, in dem die Engramme für Romulus, Numa,
Tullus bis zum Romulus Augustulus hintereinanderweg eingetragen
sind und hintereinanderweg absurren, gleich den Tönen eines Gram-
mophons ? Ich deklamiere ein Gedicht : warum stelle ich die Wörter
nicht beliebig um.'' Es könnte doch gar zu leicht begegnen, daß
der Hirnteil, dessen Stichw^ort ,, Rittersmann oder Knapp" lautet,
einmal vor dem, der auf ,,Wer wagt es" hört, einschnappt! Ich
denke einen logischen Zusammenhang, z. B. ,,3 -f 15 = 18":
muß nun da das Gehirn eine Rechenmaschine enthalten, nach
den Gesetzen der reinen Logik statt nach denen der Physiologie
gebaut, um die Parallele übernehmen zu können?
Die Verlegenheit verschwindet sofort in Rauch und Dunst,
wenn wir uns erinnern: die Inhalte haben mit dem psycho-
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. 487
physischen ParallcHsmus gar nichts zu schaffen, nicht das Alier-
mindeste. Nein, unser Nervengebäude ist kein Mikrokosmus in
dem Sinne, daß das ganze Weltgebäude in all seinen Anordnungen
seine herbarschrankhafte Vertretung darin fände; nein, die Zeit-
folgen der Wirklichkeit liegen da nicht wie Filmstreifen zum Ab-
rollen parat; nein, die Logik begegnet da keinem Symbol, wirklich
nicht. Sondern die seelischen Vorgänge, die sich auf all diese
Inhalte beziehen, werden von leibhchen gedeckt. Es sei mir ge-
stattet, noch ein wenig auszuführen, wie wir uns das etwa denken
können: eine mehr oder minder fiktive Skizze, die einer anderen
Platz machen wird, sobald künftige Wissenschaft eine andere
nahelegt. (Man vergleiche zum folgenden u.a.: Spencer, Prin-
ciples of psychology, §381; Horwicz, Psycholog. Analysen II, l
[ 1875], S. 82; Stricker, Studien über Assoziation der Vorstellungen
[1883]; Setschenoff, zit. bei Münsterberg, Beitr. z. exper.
Psych. II [1889], S. lOl; Ribot, Psych, de l'attention [1889],
S. 89; Sully, The human mind [1892] I, S. 390; Fouillee, La
psychol. des idees-forces [1893]; J. M. Baldwin, Die Entwicklung
des Geistes beim Kinde und bei der Rasse [deutsch 1898], S. 304;
Storch, Versuch einer psychophysiolog. Darstellung des Bewußt-
seins [1902]; Mach, Erkenntnis und Irrtum [1905], S. 21;
R.Müller-Freienfels, Arch. f. d. ges. Psych. 23 [1912], S.334; 27
[1913], S. 410; Zeitschr. f. Psychol. 60 [1912], S. 390, 430;
64 [191 3], S. 386ff. ; Das Denken und die Phantasie [1916];
A. Philip, The dynamic foundation of knowledge [1913], S. 104;
Nie. Kostyleff, Le mecanisme cerebral de la pensee [1914];
Julius Schultz, Arch. f. d. ges. Psych. 31 [1914], S. 69ff.)
Was wir bei den räumlichen, zeitlichen, logischen Beziehungen,
beim Aussprechen von Konjunktionen, Präpositionen, Pronominen
tatsächlich erleben, sind motorische Regungen, Ansätze zum Inner-
vieren — nicht etwa kinästhetische Empfindungen, deren leibliche
Parallele zentripetal verläuft; sondern psychische Elemente, die
von zentrifugalen Rindenprozessen begleitet werden. Ich nenne
solche kurz ,,Volitionen" und betrachte sie als die eine Halb-
schicht aller seelischen Vorgänge — die zu der anderen Halb-
schicht, der des Empfindens, so notwendig gehört, wie die Re-
aktion zum Reize beim Reflex. (Die angeblichen ,, Beweise" gegen
das Vorkommen von ,,Innervationsempfindungen" treffen meine
Hypothese gar nicht.)
Gegen die Empfindungen charakterisieren sich die Volitionen
aSS Julius Schultz:
durch fulgendc Merkmale. Sie tragen jenen eigenartigen, un-
vergleichbaren, darum unbeschreibbaren, aber dem Erlebenden
unverkennbaren Zug von Aktivität an sich, der dem bloßen Emp*
findeji mangelt; überall, wo dieses ihn verrät, ist es bereits mit
Volitionen verkoppelt. — Sie werden nicht verräumlicht, auch
nicht (wie Töne oder Geschmäcke) mittelbar. Dies unterscheidet
sie ganz scharf von den Muskelempfindungen. — Sie werden nicht
erinnert; von den Empfindungen heben sich deren erinnerte Nach-
klänge durch Mattigkeit und durch den Mangel hinzutretender
Organempfindungen ab; diese fehlen bei den zentrifugalem Hirn-
vorgang entsprechenden Volitionen; und was deren Intensität be-
trifft, so gibt es dafür nur eine Grenzscheide: die stärkeren gehen
mit Muskelzuckung einher, die schwächeren nur mit zentraler Er-
regung, die unter der Innervationsschwelle bleibt. Die Erinnerung
an eine Volition würde also selber nichts weiter als eine schwache
Volition darstellen. Deshalb können Volitionen niemals beob-
achtet werden: denn Selbstbeobachtung ist nur im Erinnern
möglich (wiewohl vielleicht im Erinnern des eben verflossenen
Augenblicks). Kant würde sagen: Die Volitionen fallen nicht
unter den ,, inneren Sinn" und also nicht in die ,, Erfahrung".
Darum bleibt bei den sogenannten ,, Experimenten" über das
Denken die Antwort jedesmal aus, was denn beim Denkakte
eigentlichst erlebt werde; und doch muß notwendig bei jedem
etwas Besonderes erlebt werden, denn es ist ja wirklich ein Unter-
schied des Erlebens, ob ich ,,A = B" oder ,,A = Nicht-B" denke,
ob ich 2 oder 20 im Sinne habe; ob ich ,, durch deine Hilfe" oder
,,ohne deine Hilfe" meine; ein Unterschied, der durch Empfindungen
nicht gedeckt wird; deren Hinzutritt hat etwas Zufälliges, wie
alle Dcnkpsychologen auch ganz richtig betonen.
Nun sind nicht nur Empfindungen mit Empfindungen, sondern
ebensowohl Empfindungen mit Volitionen und Volitionen mit Voli-
tionen zu Kdmplexen verkettet. Oder, dasselbe physiologisch aus-
gedrückt: Bahnen sind so gut zwischen motorischen und senso-
rischen Zentren wie innerhalb der Zentren ,, ausgeschliffen". Und
in den ausgeschliffenen Bahnen verlaufen die Reproduktionen dort
wir hier.
Aber ein Unterschied besteht — und der ist entscheidend
für die Erklärung der physischen Parallele zum Denken. Die
Reproduktionen von Bildern gehen in beliebiger Reihenfolge vor
sich: A erinnert an B — und ebensowohl auch B an A, nachdem
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. 489
einmal die Assoziation hergestellt ist. Dagegen verlaufen die
Wege von Bild zu Bewegung und von Bewegung zu Bild ein-
sinnig. Daß dies notwendig, zeigt eine einfache Betrachtung.
Ein Gegenstand soll Signal geworden sein für einen Griff: so muß
seine Rückkunft diesen Griff herbeiführen können; dagegen hätte
es keinerlei vitalen Zweck, wenn der anderweitig herbeigcfülirte
Griff das ihm ehedem vorangegangene Signal wieder ins Bewußt-
sein heraufzöge. Vollends klar wird die Sache an den Ketten -
reflexen; und jede kompliziertere Bewegung darf als solcher
gelten. Eine Reizung des kinästhetischen Zentrums (dem eine
Muskelempfindung parallel läuft) setzt eine Bewegung in Gang
(welchem Prozeß eine Volition entspricht); an deren Ende liegt
eine neue muskuläre Situation; sie erzeugt eine Umstimmung des
kinästhetischen Zentrums, und diese reizt zu abermaliger Be-
wegung; aber natürlich nicht zu der bereits abgelaufenen, die
ist ja von der geänderten Lage aus überhaupt nicht mehr möglich,
sondern bloß zu der gerade an diese Lage sich schließenden. So
übt jedes Tun sich ein: auf die Stellung a, die durch eine zentri-
petale Meldung A verkündet ward, folgt die Bewegung c/.\ darauf
die Stellung h, die entsprechende Meldung B und nun wieder die
Bewegung ß\ in der Seele entspricht dem eine Abwechslung von
Muskelempfindungen und Volitionen; in wie rasendem Tempo sich
das ablöst, wird uns deutlich, wenn wir an irgendeine virtuosen-
hafte Geschicklichkeit, ans Musizieren, ans Schreiben — ans
Sprechen denken. Und innerhalb noch der längsten derartigen
Reihe bleibt die Richtung immer streng ein und dieselbe. Ich
nehme an: die Brücken von den motorischen zu den sensorischen
Zellen verlaufen außerhalb der Zentren (als kollaterale Nervenäste),
die von den sensorischen zu den motorischen dagegen unmittelbar
von Zelle zu Zelle; und diese Brücken sind derartig gebaut, daß
der nervöse Prozeß sie nur in einem Sinne beschreitet: immer
von Abflutung des zentrifugalen Dranges nach außen zu Iqnästhe-
tischer Reizung; immer von kinästhetischer Reizung zur ersten
Geburt des Innervationsdranges. Auch für den Fall noch hält
die Anschauung Stich, daß die Innervation nicht wirklich zur
Ausführung kommt, denn mindestens eine Strecke weit gegen
den Muskelansatz verbreitet sich auch bei unterschwelligen An-
trieben zur Bewegung der zentrifugale Prozeß und kann also durch
seitlich verbindende Nervenäste von außen her das kinästhetische
Zentrum anregen, wie die Hypothese das fordert.
490
Julius Schultz:
Nun gut : wir halten jeden Gedanken für die geistige Seite
eines höchst zusammengesetzten Kettenreflcxes und erklären so
die Eindeutigkeit der logischen Wegrichtung. Nicht weniger als
vit.r Reihen können dabei einander begleiten. Ein Bild weckt
eine besondere. Tendenz der Begegnung in den motorischen Zellen,
die die Körpermuskulatur innervieren; solcher Ansatz zur Bereit-
schaft, solche Annäherung an ,, Attitüden" reproduziert kinästhe-
tische Erinnerungen — und durch sie neue Bilder — die ihrer-
seits neuen Ansätzen zur Bewegung rufen. Daneben ein sprach-
licher Ablauf. Drittens ein ebenso zu deutendes Spiel in der
Innervation der Hirnartcricn. Viertens unter Umständen viszerale
Alterationen. Das Zusammen der viererlei Prozesse werde nun
so eingeübt, daß immer Glied dem Gliede entspricht; und so blitz-
haft schnell verlaufe schließlich alles, daß nur Ergebnisse flüchtig
der Selbstbeobachtung erscheinen, die Bestandteile aber des Ge-
schehens im einzelnen in tiefste Nacht vergleiten.
Wie aber kommt es denn, daß die Einsinnigkeit dieses Er-
lebens der Einsinnigkeit gerade der Logik entspricht.'' — Sehr
einfach: Die sinnvollen Reihen sind uns von frühester Kindheit
eingedrillt, die widersinnigen uns abgewöhnt worden; und persön-
liche Erfahrung hat da weiter gesichtet und gesiebt. Es handelt
sich grundsätzlich hier um nichts anderes als da, wo ein Tier zu
bestimmten Reihen von Handlungen sich dressieren läßt. Aber
warum dressiert uns die Menschheit in Gestalt unserer Erzieher
eben zu diesen, nicht zu andersartigen Handlungsreihen ? Weil
sich eben diese Äonen hindurch bewährt haben und durch einen
langen Selektionsprozeß ausgeworfclt sind. Vergleichen, identifi-
zieren, verursächlichen: das sind Gewohnheiten, auf Eindrücke
zu reagieren — wie Nestbau und Brutpflege, nur daß bei jenen
die sichtbaren Gliederbewegungen ausbleiben und daß sie tausend-
mal verwickelter sind, tausendmal größere Geschwindigkeiten im
Umher von Motion zu Kinästhese entwickeln.-
Einsinnige, für die Erhaltung und Entfaltung der Art not-
wendige Abläufe im Hirne also entsprechen einsinnigem Gedanken-
erleben; beides aber der aus diesem Erleben abstrahierten Logik
oder Wertgeltung gcradesowenig wie überhaupt das lebendige
Bewußtsem den aus ihm abstrahierten Inhalten. Genau wie die
kittende Tätigkeit der Bienen zu der kunstvollen Geometrie der
Wabe — wie die Flugbewegungen der wilden Gänse zum regulären
Dreieck ihres Wanderzuges — wie die Griffe der Maskenkrabbe
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. ^gi
zur sinnvollen Larvierung: verhalten sich die gereihten Abläufe
im Menschengehirn — und die ihnen parallelen Serien \on psy-
chischen Elementarprozessen zu dem logisch oder ästhetisch ge-
ordneten Resultat, das als der „Inhalt" ihrer Gesamtheit sich
ergibt. Auf die Frage, ob das Gehirn denn eine nach logischen
statt einer nach physiologischen Gesetzen konstruierten Maschine
sei, antworten wir mit der Gegenfrage: ob etwa ein tierischer
Bauinstinkt aus den Prinzipien der Ästhetik statt aus denen der
Biologie hergeleitet werden solle. Und auf die andere Frage:
was motorische Elemente mit Gedankeninhalten zu schaffen hätten,
setzen wir die Antwort : so viel und so wenig wie Buchstaben mit
dem Sinne der Texte, die aus diesen Buchstaben komponiert sind.
7.
Ein paar Beispiele, um noch deutlicher zu sein. Wohlverstanden,
ich gebe Parallelen, die bestehen könnten; es wäre Überhebung,
auch nur ernstlich zu vermuten, sie beständen wirklich; denn was
wissen wir von den Einzelheiten des Gehirnlebens } Unter diesem
Vorbehalt gelte folgende Liste logischer Elemcntarvorgänge und
ihrer Begleitungen. Wer sie recht interpretieren will, darf nur eines
nicht vergessen : daß bei aller Begriffsbildung die Begleitung des
seelischen Vorganges durchs Sprechen eine Hauptrolle spielt;
überall im folgenden denke man Erregungen der Sprechzentren
einerseits, Wortbilder andererseits neben dem ausgemalten psy-
chischen Geschehen herlaufend. Die Universalia sind wirklich
,, Flatus vocis".
I. Physische Seite: Die Symphonie der bei einem Prozeß
beteiligten nervösen Elemente, die Bahnleitung, die Bereitschaft
der Zellen zur Tätigkeit, die Blutversorgung der betroffenen Zentren,
geht leicht vonstatten oder ist erschwert. Psychische Seite (in
der Hauptsache dem neunten Sinne, dem ,,Gemeingeführ' an-
gehörend): lustbetonte Empfindung von Erleichterung oder unlust-
betonte Empfindung von Schwierigkeit; Bekanntheit- oder Un-
bekanntheitqualität (vgl. H. Hoff ding, ,, Psychologie in Umrissen"
[2. Aufl., 1893]; meine ,, Psychologie der Axiome" [1899]). Lo-
gischer Inhalt: Gleich-Ungleich. Nichts, was der Kategorie
Gleich-Ungleich entspricht, geht im Gehirne vor; aber auch nicht
in der Seele; so wenig, wie dem Bilde eines Hundes eine hunde-
ähnlichc Seelentätigkeit oder ein Hundephotogramm in der op-
^Q2 Julius Schultz:
tischen Rinde entspricht; sondern das, was wir beim Wortsignal
,,gleicli" tatsächHch cr](ahrcn, ist jenes eigene Erleichterungsgefühl
und dem antwortet die leibliche Parallele.
2. Physische Seite: Erregung eines Hirnteiles versetzt
einen anderen in einen kommende Erregung vorbereitenden Zu-
stand; die sekundäre Erregung tritt entweder wirklich ein oder
bleibt aus, so daß ein bereits begonnenes Geschehen rückgängig
gemacht wird. Psychische Seite: lustbetonte Empfindung er-
füllter und unlustbetonte Empfindung unerfüllter Erwartung; ge-
glückte oder mißlungene ,, Induktion". Logischer Inhalt:
,, Voraussage eingetroffen!" — oder nicht.
3. Physische Seite: Eine lange Kette äußerst schwacher
Reflexe läuft ab; und zwar, da sie sehr gut eingeübt ist, ungemein
schnell, mit Überspringung oder bloßer Andeutung vieler Glieder;
fast augenblicks wird sie abgebrochen; dabei bleiben alle oder
fast alle motorischen Impulse unterhalb der Innervationsschwelle.
Psychische Seite: ,,Möglichkeitsgeführ' (s. meine ,, Psych, der
Axiome"); d. h. Erlebnis: ,,Ich könnte" — die Kette nämlich
ausführlich und unter klarem Bewußtsein all ihrer Ringe repro-
duzieren. Darauf beruht das ,, Verstehen" eines Zusammenhanges;
ich blicke in ein Buch; ein Wort dient als Signal; eine Serie von
Vorstellungen und Volitionen will sich abrollen; aber sie kommt
gar nicht erst zur Entfaltung; ich empfinde nur: ,,Das läuft!"
Also — aha! — ,,ich weiß schon, ich weiß!" Und weiter! Logi-
scher Inhalt: ,,Das ist klar."
4. Physische Seite: Ein im Zentrum auftauchender Anreiz
setzt eine leibliche Bereitschaft zur passenden Reaktion in Gang —
mag sie nun bis zur wirksamen Innervation gedeihen oder nicht.
Psychische Seite: Ich nehme die Haltung an, als ob ich irgend-
ein Benehmen einer Vorstellung gegenüber nötig hätte — und
wäre es auch nur im Namen eines Längstverstorbenen oder Künf-
tigen, in den ich mich hineinversetze. Ich nehme mit anderen
Worten die Haltung an, als ob der Vorstellung ein Wirkhches
entspräche. Logischer Inhalt: Ich ,, glaube" die Vorstellung,
Ich ,, urteile".
5. Physische Seite: Zwei Bereitschaften der Art 4 heben
sich gegenseitig auf — es tendiere beispielsweise die eine zum
V(»rdringcn, die andere zum Rückzug. Sie treten hart hinter-
einander ein, folgen einander immer schneller und schneller, bis
der Moment kommt, wo die eine die andere unmöglich macht.
Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems. 493
Ein abermaliger Prozeß der Art 4 tritt hinzu, nebst den entsprechen-
den Erregungen des Wortzentrums. Psychische Seite: Die Un-
verträghchkeit eines Widerspruchs wird empfunden, unter Unlust-
gefühl. Logischer Inhalt: Der Widerspruchssatz.
6. a) Urerlebnis. Physische Seite: Verschiedene optische
und akustische Reizungen werden verbunden mit zwei, dann drei,
dann vier . . . motorischen Impulsen; weitere Reizungen des aku-
stischen und des motorischen Wortzentrums gesellen sich hinzu;
die ganze Verbindung wird eingeübt. Psychische Seite: Die
Wortsighale ,,zwei Äpfel", ,,zwei Strümpfe", ,,zwei Punkte" —
,, drei Äpfel" usw. werden geläufig, b) Zweites Stadium. Phy-
sische Seite: Die motorischen Impulse treten auch ohne die
in a) sie veranlassenden optischen und akustischen Reizungen
auf; der in 3. skizzierte Vorgang gesellt sich dazu und ersetzt zum
Teil die Reizungen der Wortzentren. Psychische Seite: Die
Zahlnamen lösen sich allmählich von bestimmten Vorstellungen
gezählter Gegenstände und werden zu Begriffen; das eigentliche
Zählen wird eingeübt, c) Drittes Stadium. Physische Seite:
Vier motorische Impulse, dann nochmals, dann nochmals vier
werden mit optischen Reizungen verbunden ; diese mit einer laufenden
Reihe von zwölf motorischen Impulsen; Reizung eines der Wort-
zentren tritt dazu; und ein Vorgang von der 4. beschriebenen Art.
Psychische Seite: Die drei Vierergruppen werden (vielleicht
sehr dämmrig) als Punktreihen oder ähnlich geschaut, gezählt,
das Identitätsurteil ,,3-4=12" gelernt, d) Viertes Stadium.
Physische und psychische Seite nach l. und 3. zu inter-
pretieren. Der Satz wird geläufig und damit zur ,, Einheit", ver-
wendbar als Baustein für höhere Bauten.
Ist nun das Gehirn deswegen Rechenmaschine geworden oder
nach logischen (statt nach physiologischen) Rezepten konstruiert?
Nicht im mindesten. Es ist vielmehr eine Maschine für Reflexe
und Verkettung von Reflexen; soweit aber solche sich häufigen
Anreizen gegenüber bewähren, werden sie zu Gewohnheiten; und
diesen leiblichen Gewohnheiten entsprechen geistige. Nun be-
währen sich nur diejenigen Hirnvorgänge, deren psychische Par-
allelen logische Inhalte haben; man mag sich deren Aussiebung
unter allem möglichen nervösen Geschehen nach Jennings' ,,Tri-
alanderror"-Modell malen (Journ.of exp. Zoology 3 [1906], S. 449).
Folglich ist das Hirn nicht auf logisches Denken hin von vorn-
herein gebaut, sondern auf Denkverbindungen überhaupt; nur
404 Julius Schultz: Ein Mißverständnis des parallelistischen Theorems,
daß die nichtlogischcn im Lebenslaufe teils der Art und Ri.sse, teils
der Individuen sich selber ausmerzen. Kraft der wählenden Logik
<ier Dinge.
Wo aber steckt denn die Logik der Dinge.-*
Im geistigen Sinne des Alls. Um den freilich kommen wir
nicht herum, wenn wir Parallelisten bleiben wollen. Der orga-
nisierte Leib als Parallele der Seele; und die Weltseele, die un-
sägliche, unendliche, umfassende als Parallele eines sinnvollen
Weltorganismus: so gehören die Theoreme zusammen. Lassen
wir nun das Zusammengehörige nicht auseinanderflattern, so wird
die Generalfiktion gut, ein echtes und rechtes Grundtheorem;
grenzenlos modifizierbar durch fortschreitende Wissenschaft; aber
ihren Stamm wird keine rivalisierende Fiktion je erschüttern können.
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen
Philosophie.
Eine Studie über den elften Band der neuen Gesamtansgabe der Werke
Schopenhaners („Genesis des Systems").
Von
Karl Gjellerup.
Inhaltsübersicht.
Der II. Band der interessanteste Teil der großen Ausgabe. — Nichterfüllte
Erwartungen. — Fehlen des ersten Stadiums (Göttinger Aufzeichnungen). — Cha-
rakter jener Aphorismen. — „Das bessere Bewußtsein." — Von diesem BegriflF
zu dem der Verneinung des Willens zum Leben. — Die Willensmetaphysik am
Anfange des Journals nicht vorhanden. — Etappenstation: „Der Leib der sichtbar
gewordene Wille." — Durchbruch (Sommer 1814). — Die Verneinung (negative
Bezeichnung, keine Umwertung). — Verhältnis zu Kants Kategorienlehre. — Zum
Kantischen Als Ob. — Zu Kants Ding an sich. — Schlußbetrachtung.
Als im Juni 191 6 die Schopenhauer- Gesellschaft in Dresden
tagte, überreichte bei dem feierlichen Empfang in der Aula der
Technischen Hochschule Geheimrat Professor Paul Deussen den
Vertretern der Königlichen sowie der Städtischen BibHotheken,
ferner dem Rektor der Technischen Hochschule sowie dem Be-
gründer und Geschäftsführer der Kant- Gesellschaft je ein Exemplar
des soeben erschienenen elften Bandes der unter seinen Auspizien
entstehenden großen Gesamtausgabe der Werke Schopenhauers
(Piper & Co., München).
Von diesem imponierenden Monumentalwerke dürfte dieser
nach mehr als jahrelangem Warten endlich herausgegebene Band
in einem gewissen Sinne der interessanteste Teil sein, insofern, als
sein Inhalt in seiner Gesamtheit völlig neu ist — abgesehen nämlich
von einzelnen Paragraphen, die in recht willkürlicher Auswahl und
ohne Ordnung von Frauenstädt veröffentlicht, von Grisebach
im vierten Nachlaßband abgedruckt sind. Dies gilt nun freilich
auch von den schon vor Jahren herausgegebenen Bänden IX und X,
welche die Vorlesungen Schopenhauers enthalten. Allein diese
aqS Karl Gjellerup:
Vorlesungen (.ntstammcn den allerersten Jahren nach dem Er-
scheinen des Hauptwerkes und decken sich demnach, wiewohl
ausführlicher in der Darstellung^), inhaltlich so ziemlich mit diesem.
Die Aufzeichnungen des vorliegenden Bandes hingegen rühren
von den letzten sechs Jahren vor dem Hauptwerke her und sind
die Vorarbeiten zu dieser entscheidenden Leistung. Daher der
Titel ,,Die Genesis des Systems". „Wir können hier", sagt der
Herausgeber (Prof. Dcussen), ,, schrittweise verfolgen, wie
Schopenhauer von Stufe zu Stufe fortgeschritten ist, wie sich
im Geiste des Philosophen die Gedanken nach und nach gestaltet
haben und zu einem System zusammengewachsen sind." Auch
der Bearbeiter, Erich Hochstetter, der mit der peinhchen
philologischen Genauigkeit, welche diese ganze Gesamtausgabe zu
einem Musterwerke ihrer Art macht, eine ungemein schwierige
Aufgabe gelöst hat, spricht in den Vorbemerkungen es aus, daß
diese Manuskripte uns einen Einblick in die Genesis des Systems
gewähren. Ihnen schließt sich Schopenhauer selber an mit
folgenden, im Jahre 1849 niedergeschriebenen Worten: ,, Diese zu
Dresden in den Jahren 1814 — 18 geschriebenen Bogen zeigen den
Gärungsprozeß meines Denkens, aus dem damals meine ganze
Philosophie hervorging, sich nach und nach daraus hervorhebend,
wie aus dem Morgenncbel eine schöne Gegend. Bemerkenswert
ist dabei, daß schon im Jahre 1814 (meinem 27. Jahre) alle Dogmen
meines Systems, sogar die untergeordneten, sich feststellen."
Hierdurch könnten nun allerdings in einer Richtung Er-
wartungen geweckt werden, die durch die Lesung des Werkes
nicht ganz erfüllt werden. Die Vorstellung liegt nahe, daß man
in den ersten Jahrgängen dieses philosophischen Tagebuches einen
anderen Schopenhauer werde kennen lernen, als derjenige, der
uns in ,,Die Welt als Wille und Vorstellung" begegnet, und zwar
einen weniger entschiedenen Pessimisten — da ein entschiedenerer
doch kaum zu erwarten ist. Ja, diese Vorstellung ist um so be-
rechtigter, als es jedem, der sich eingehender mit Schopenhauer
und seiner Entwicklung beschäftigt hat, bekannt genug ist, daß
der Hauptbegriff seiner Lehre, ,,die Verneinung des Willens zum
I-eben", ursprünglich bei ihm unter dem viel versöhnlicher klingen-
den Namen ,,das bessere Bewußtsein" auftrat.
Mehr noch: Diese Annahme findet eine starke Stütze in dem
) Und abgesehen von einzelnen Exkursen, wie die glänzende, hundert Seiten
umfaisendc Darstellung der formellen Logik.
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 407
Umstände, daß wir in den ersten philosophischen Gedanken
Schopenhauers, die sich schon von den Göttinger Studenten-
tagen herschreiben, und welche Gwinner in der Biographie
(später auch Grisebach in der seinigen) mitgeteilt hat, ein Do-
kument besitzen, aus dem wir ein solches Stadium seiner Ent-
wicklung zu erkennen vermögen.
In jenen Aufzeichnungen meint der junge Schopenhauer,
aller Trost der Philosophie liefe darauf hinaus, daß eine Geistes-
welt ist, und daß wir in derselben allen Erscheinungen der Außen-
welt ,,von einem erhabenen Sitz mit größter Ruhe und ohne Teil-
nahme zusehen können, wenn unser der Körperwelt gehörende
Teil auch noch so sehr in ihr herumgerissen wird". Wenn wir nun
hier einerseits schon die echt Schopenhauersche Lehre von
dem reinen Subjekt des Erkennens vorgebildet finden, die sich
im Zeichen der Upanishads entwickeln sollte, so gemahnt jedoch
die Ausdrucksweise (,,eine Geisterw^elt" usw.) vielmehr an eine
metaphysische Licblingsvorstellung Kants, die sich nicht etwa
nur in dessen vorkritischer Periode findet, da er noch am Schluß
der achtziger Jahre Swedenborgs Lehre von der Doppelwelt
(einer Geisterwelt und einer materiellen), der das menschliche
Wesen gleichzeitig angehört, eine ,, erhabene" nennt. Die Be-
merkung, tief im Menschen liege das Vertrauen, daß etwas außer
ihm sich seiner bewußt ist wie er selber, ja das Gegenteil sei ein
schrecklicher Gedanke, hat noch einen wesentlich theistischen
Anstrich, womit freilich nicht gesagt sein soll, daß durch dies
,, etwas" ein persönlicher Gott gemeint wäre; nur ist der Stimmungs-
gehalt noch in dieser Richtung orientiert. Über die Tragödie
äußert er, daß ein Gefühl, das uns viel näher liegt als die Speku-
lation der Vernunft, uns sagt, daß alle unsere Not eigentlich gar
keine ist, sondern nur ein Bild eines in der Ewigkeit vorhandenen
wirklichen Übels. „Dies Bild macht eben das Trauerspiel deutlich."
Von diesem ,, ursprünglichen, positiven Übel (die Schuld der Welt)"
wird auch in einem anderen Bruchstücke gesprochen: Die große
Masse der Übel in der Welt entstehe dadurch, daß jenes ursprüng-
liche Übel durch egoistisches Weiterschieben vermehrt werde. Denn
das Leiden, welches ich von mir weg und auf einen anderen schiebe,
werde dadurch vergrößert (wie, ist nicht recht ersichtlich). Nur
durch freiwilliges Aufladen und Ansichziehen des Übels werde es
zur möglichsten, vielleicht unendlichen Verringerung gelangen und
so das Reich Gottes kommen.
Annalen der Philosophie. I. 3^
AQi^ Karl Gjellerup:
Diese Lehre- vf)n einem metaphysischen Übel und Weltschuld,
vun der es rein platonisch heißt, daß wir sie durch innere An-
schauung erkennen „oder uns erinnern", mutet mehr Hartmannisch
als Sehopenhauerisch an, ist wohl aber am besten als christlich-
gnostisch zu bezeichnen; wobei nicht einmal besonderes Gewicht
auf den theistisch klingenden Ausdruck ,,das Reich Gottes" z\i
legen ist. Diesen finden wir auch in unserem Band, nur ein paar
Jahre später, als Synonym des Moralgesetzes (,,der große Unter-
schied zwischen äußerem und innerem Gesetz [Staat und Reich
Gottes]"). — Ganz in dieser Richtung zeigt auch die Bemerkung,
wir müssen angesichts dieser Welt neben dem guten Willen einem
bösen Willen Gewalt zugestehen, der jenen zu Umwegen zwingt.
Das bedeutendste dieser Gedankenfragmente des Göttinger Studen-
ten und zugleich das, womit er das tiefste Problem seiner späteren
Philosophie mit großer Klarheit faßt und formuliert, dürfte das
folgende sein: ,,0b wohl dieses Leben nur für dieses Leben Weisheit
erwecken könne, d. h. ob die Änderungen, die mein Wille durch
die Tiaidevatg des Lebens in seinem innersten Grunde, gleichviel,
ob zum Bösen oder zum Guten, erleidet, meinen Willen doch nur
bestimmen, insofern diese Sinnenwelt seine Sphäre ist; oder ob
jene Änderungen mein ganzes unendliches Dasein mitempfindet,
und folglich die Endlichkeit kausal wird für die Unendlichkeit,
wie umgekehrt bei jeder tugendhaften Handlung die Unendlich-
keit kausal wird für die Endlichkeit? Nehmen wir es nicht an,
so fragt sich: Wozu das Possenspiel der Welt?"
Wir sehen in diesen Aphorismen des Studenten eine kleine,
in sich ziemlich zusammenhängende Gedankenwelt ihren Umrissen
nach andeutungsweise punktiert. Sie berührt sich überall mit
der späteren großen ,,Welt als Wille und Vorstellung", jedoch so,
daß sie sich dadurch auch von ihr abgrenzt. Sehr bezeichnend
ist es, daß die drei großen Probleme, die auch später seine Philo-
sophie beherrschen, schon hier den Zwanzigjährigen beschäftigen:
die ästhetische Frage der Tragödie, die ethische der selbstlosen
Handlung, die religiöse der Heiligkeit. Die Fassung, womit er
ihnen beizukommen versucht, liegt auch schon auf der Linie der
späteren Durchfülirung, ist jedoch noch weit entfernt von der
schroffen Negativismus, der den fertigen Philosophen auszeichnet.
Die Möglichkeit eines ganz anderen Schopenhauer liegt dort
noch embryonisch bereit, günstiger Lebensbedingungen gewärtig.
Bekanntlich ist es nicht dazu gekommen, und sicher ist die Philo-
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 4QQ
Sophie damit am besten gefahren. Da die Echtheit jener Auf-
zeichnungen nicht anzuzweifeln ist und ihre Bedeutung ebenso-
wenig, so ist es nicht recht ersichtlich, warum sie nicht am An-
fange dieses Bandes, wo sie durchaus hingehören, ihren Platz
gefunden haben. Sie würden dort ein würdiges Portal gebildet
und die Vertiefung der Perspektive gebracht haben, die — wenig-
stens in solcher Ausstreckung — jetzt dem Bilde fehlt.
Eine höchst wichtige negative Eigenschaft zeichnet jene Göt-
tingen-Aphorismen aus: der Ausdruck, der das Schiboleth für
die nächste Phase seiner Entwicklung ist, jenes ,, bessere Bewußt-
sein", fehlt hier. Wenn der Student sich über die Wirkung der
Tragödie notiert: ,,Wir sollen nicht grünen und blühen wie die
Pflanzen der Erde: das sagt uns jedes Trauerspiel; also wohl etwas
Besseres, sagt sich der Zuschauer, und sieht mit Genuß zertrümmert
alles, was ihm oft das Wünschenswerteste schien" — so würde
er ein paar Jahre später nicht versäumt haben, zu bemerken, daß
es ,,das bessere Bewußtsein" ist, das im Zuschauer also spricht.
Das neue Schlagwort begegnet uns zum erstenmal auf der
8. Seite des ersten Berliner Bogens (i8l2, dem ein paar undatierte
Bogen vorausgehen), wobei es sofort als ein bekannter Ausdruck
auftritt. In einem Zusatz heißt es: ,,In Jacobis Göttlichen
Dingen, p. i8, findet sich eine Vermischung des besseren Bewußt-
seins mit dem Instinkt, durch einen Synkretismus, dessen nur
ein so unphilosophischer Geist als Jacobi fähig ist." In dem
3. Band der Gesamtausgabe der Werke Jacobis, der mir zu-
gänglich ist, kann diese Hinweisung nicht mit Bestimmtheit veri-
fiziert werden; sicher ist es, daß Jakobi den Ausdruck in dieser
Schrift nicht gebraucht; er spricht aber in verschiedenen Wen-
dungen von etwas anderem als die Natur, das im Menschen da
ist und sich zeigt als ein Höheres, Übersinnliches und Übernatür-
liches, und von dem Bewußtsein eines Vermögens und eines Triebes,
sich über alles, was bloß Natur ist, zu erheben (S. 272 — 273).
Schopenhauer scheint also doch diesen Ausdruck selber geprägt
zu haben, und zwar im Anschluß an seinen geliebten Plato, von
welchem er § 346 sagt: ,,Er würdigt die Welt und das Leben als
etwas Nichtiges und Leeres herab, spricht von einem anderen
Bewußtsein" (vgl.: ,,eine andere und bessere Welt").
Im Verhältnis zu seiner klassischen Nachfolgerin, der Ver-
neinung, klingt dieser Ausdruck recht positiv und scheint so ziemlich
auf den metaphysischen Standpunkt der Göttinger Zeit zu passen.
3="
CQQ Karl Gjellerup:
Immerlun gebärdet sich dieser Begriff jedoch radikaler und in-
tninsigenter, als man es dem Wortlaut nach erwarten konnte;
im ganzen deckt er das Übergangsstadium, das jedoch der voll-
endeten Schopenhauerschen Philosophie näher steht als jenem
Göttinger Präludium, wie es ja auch in unserem Bande unmittelbar
in dieselbe einmündet. Jede Vermittlung zwischen den beiden
Sphären, dem besseren Bewußtsein und dem empirischen, wird
rigoristisch abgewiesen: eine mathematische Linie ohne Breite
trennt sie; es läßt sich auf dieser Grenze nicht wandeln; haben
wir das eine Gebiet betreten, so haben wir das andere verlassen;
zu verbinden ist nichts, nur zu wählen (§ 184 und öfters).
Mitunter freilich werden auch Saiten aufgezogen, die noch
stark an die Göttinger Stimmungen gemahnen. So heißt es einmal
in 1813 ((im §61, S. 31): ,, Meine Hoffnung und Glaube ist, daß
dieses bessere (übersinnlich außerzeitliche) Bewußtsein mein einziges
werden wird." Darum, fügt er charakteristisch hinzu, hoffe ich,
es ist kein Gott (weil nämlich ,, dieses Bewußtsein mich in eine
Welt erhebt, wo es keine Persönlichkeit gibt"). Will man den
Ausdruck Gott für dies Bewußtsein ,, symbolisch" gebrauchen,
so möge man das tun — ,,doch, dächte ich, nicht unter Philosophen".
Und ein wenig später (noch in demselben Jahre) heißt es, wenn
dies Bewußtsein die Oberhand habe, sehne man sich nach dem
Tode; denn ,,es freut sich mit Recht auf die Lösung des geheimnis-
vollen Bandes, durch welches es mit dem empirischen Bewußt-
sein in die Identität eines Ichs verknüpft ist". Denn ,,das Zeit-
liche in uns gehört der Zeit und muß in ihr vergehen. Nur das
Ewige kann durch Selbstbejahung, das ist Tugend, sich retten.
Durch vollkommene Askese würde sogar das Menschengeschlecht
aussterben, das bessere Bewußtsein sich also rein affirmieren."
Wie sehr nun auch der letzte Satz an Schopenhauers spätere
Ausführungen erinnert, so ist es doch auffallend, daß hier sowohl
wie an mehreren ähnlichen Stellen schon der Tod als solcher als
Erlöser auftritt. Der tragische Riß klafft noch nicht heraus, die
tiefernste religiös-ethische Forderung des Brechens des natür-
lichen Willens steht noch nicht gebieterisch im Vordergrunde,
wenn sie sich auch schon am Anfange dieses Journals nicht un-
deutlich ankündigt: ,,Es ist entsetzlich zu denken: Du kannst
nicht Geistesruhe haben, wenn du nicht entschlossen bist, nötigen-
falls dich und d. h. alle Natur für dich zu zerstöhren" (§27). Weil
aber das Ganze wesentlich auf intellektuelle Basis gestellt ist,
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. cqi
vollzieht sich die Bewegung in glätteren Bahnen. Die ästhetische
Seite des besseren Bewußtseins hat noch das Übergewicht über
die ethische. „Der gewöhnliche Mensch", bemerkt er einmal sehr
charakteristisch, ,, betrachtet das Leben nur von der moralischen
Seite ernstlich; den genialen hingegen spricht mehr die ästhetische
Seite an: "durch das ihm überall entgegentretende Alltägliche
und Gemeine wird ihm das Leben zur Last, er empfindet den
Druck der Atmosphäre und blickt aufwärts nach Freiheit. Ihm
ist die Erlösung gleichsam zum voraus beigegeben, wie der Edel-
mann das porte-epee in der Wiege erhält."
Hier hat Schopenhauers Stimme noch einen etwas anderen
Klang, als sie später annahm; die Atmosphäre ist mehr platonisch,
weniger buddhistisch und auch weniger christlich (paulinisch) als
in den Hauptwerken.
Als Leitfaden zur Verfolgung des Entwicklungsganges der
Schopenhauerschen Philosophie in dieser entscheidenden Periode
bietet sich nun von selber die Linie dar, die durch die beiden Namen
desselben, nur wenig modifizierten Hauptbegriffes, ,,das bessere
Bewußtsein" und ,, Verneinung des Willens zum Leben",
als Endpunkte bezeichnet wird.
Es ist nun von vornherein klar, daß der letztere Name den
deutlich festgestellten und benannten Lehrbegriff ,,der Wille zum
Leben" und damit die ganze Schopenhauersche Willensmeta-
physik zur Voraussetzung hat. Somit entsteht die Frage, ob diese
schon am Anfange der Bewegung vorhanden, also schon in den
ersten Bogen unseres Bandes zu finden ist ? Und wenn nicht,
wo und wie sie sich zuerst zeigt, und wo sie vollendet und bewußt
dasteht ?
Die erste Frage ist nun ganz bestimmt zu verneinen. Zwar
könnte man wohl versucht sein, schon in § 5 (erstem undatierten
Bogen) in dem Satze, daß die Begebenheiten der Welt keine Re-
alität haben anders als durch den Willen, den sie bezeichnen, eine
Spur der Willensmetaphysik zu entdecken; aber erstens zeigt eine
genauere Betrachtung des Kontextes, daß davon kaum die Rede
sein kann; zweitens handelt es sich sogar um einen Zusatz, der
also bestenfalls nichts beweisen würde. Nicht viel anders steht
es mit §24 (zweiter Bogen des Jahres 1812):
,, Zwischen den beiden grundverschiedenen Kräften des Men-
schen, die Kant fälschlich, sie für zwei Äußerungen derselben
Fähigkeit haltend, durch denselben generischen Namen vereint,
CQ2 Karl Gjellciup:
und thcorctist hc und praktische Vernunft genannt hat, ist
der liauptunterschied \vohl der, daß jene durch das Leben der
Menschen bedingt ist, diese nicht."
Nehmen wir nun an, daß Schopenhauer hier als den rich-
tigen Namen der ,, fälschlich" getauften praktischen Vernunft
,, Charakter" oder geradezu ,, Wille" bezeichnet hätte, so ist nun
hier zwar gesagt, daß dieser nicht durch das Leben bedingt sei;
was freilich, da es sich doch jedenfalls um den intelligiblen Charakter
(Willen) handelt, ohne weiteres einleuchtet; es ist aber nicht gesagt,
daß das Leben durch ihn und zwar ausschließlich durch ihn be-
dingt sei. Erst dadurch würden wir uns aber auf dem Wege
'/ur Willensmetaphysik befinden, jedoch — da es noch ganz
im individuellen Kreise bleibt — eben doch auch nur auf dem
Wege.
Dieser Schritt wird zwei Jahre später in § 139 unternommen:
.,Das Leben ist das Sichtbarwerden des intelligiblen Charakters".
Wenn nun auch diese Stelle sich ganz innerhalb des Individuellen
hält und wenn dieser Satz auch eigentlich bloß die charaktero-
logischc Absicht hat, zu zeigen, daß der intelligible Charakter
sich ini Leben nicht ändert (wohl aber außer demselben, infolge
der durch dies gegebenen Selbsterkenntnis), so können wir in
derselben doch einen merklichen Fortschritt in der Richtung der
Willensmetaphysik erkennen. Dieser kann uns um so weniger
wundernehmen, als wir uns hier (Anfang 1814 in Weimar) sowieso
schon im Vorhof ihres Tempels befinden, indem wir dem ruhigen
Gang unserer Untersuchung vorausgeeilt sind.
Wenn wir jedoch, diese wieder aufnehmend, uns nach dem
Gegenstück des besseren Bewußtseins umsehen, in der Erwartung,
;ils seinem Antagonisten einem sich bejahenden Lebenswillen zu
begegnen, so werden wir enttäuscht. Statt seiner stellen sich
lauter Intellektualbestimmungen ein: die Vernunft (§ 15), das
dem Satze vom Grunde folgende empirische Bewußtsein, der in
der Sinnlichkeit gefangene Verstand. In § 27, über die Natur-
j)hilosophen, heißt es, freilich müsse es ,,ein schönes Gerät sein,
mit dem das große Experiment des Lebens — was auch das Leben
sei — gemacht werden konnte". Der Verfasser ist also selber
noch nicht im Besitze des Rätselwortes der Sphinx gegenüber.
Von der Natur — eben diesem Gerät — heißt es aber dann, sie
sei als das schlechthin Notwendige eben der Gegensatz des
Willens, ,,der irren können muß". Der Begriff des Willens ist
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerscheu Philosophie. 503
somit hier für Schopenhauer ganz selbstverständlich auf den
bewußten Willen beschränkt.
Ein wichtiges argunmiUiui e silentio bietet uns § 38 über den
Selbstmord. Dieser sei deshalb verwerflich, weil der Selbstmörder
durch seine Tat zeigt, daß er das Leben als Ernst nimmt und sich
als ein meauvais joueur zeigt. Das Argument, daß er nur die Er-
scheinung des Willens, nicht diesen selbst treffe, und somit nichts
Wesentliches erreiche, liegt also dem Verfasser noch ganz fern.
In § 41 wird Seele = Bewußtsein (anstatt = Wille) gesetzt.
Laut dem 59. Paragraphen hat ,,die WV^lt (d. h. unser empirisches,
sinnliches, verständiges Bewußtsein in Raum und Zeit) ihr Ent-
stehen nur durch das, was nach dem Ausspruch unseres besseren
Bewußtseins nicht sein sollte, sondern die verkehrte Richtung ist".
Was dasjenige, das hier nur negativ bezeichnet wird (als das, was
nicht ^sein sollte,) — jene metaphysische Wurzel der Welt • —
positiv ausgedrückt heißt, weiß der Verfasser noch nicht (wie
er dies später weiß), ansonst er mit seinem Wissen nicht zurück-
gehalten hätte.
In dem höchst interessanten 71. Paragraphen rücken wir nun
aber der Beantwortung jener Frage um ein Bedeutendes näher.
Schopenhauer macht hier die Bemerkung, daß an den
Tagen und Stunden, wo der Trieb zur Wollust am stärksten ist,
auch das bessere Bewußtsein zur höchsten Tätigkeit bereit ist.
Er stellt deshalb diese beiden als entgegengesetzte Pole einander
gegenüber. Da nun der Wollusttrieb offenbar der Brennpunkt
des Lebenswillens ist, so haben wir hier den ersten Anlauf, dem
,, besseren Bewußtsein" einen positiven Gegner zu geben, und zwar
einen solchen, der nicht der intellektuellen, sondern der Willens-
scite unserer Natur angehört, und sie als zwei entgegengesetzte
Prinzipien einander gegenüberzustellen, die zwar voneinander
nicht wissen, von welchen jedoch die Vernunft ,, historische
Kenntnis hat, wodurch die Wahl, d. h. die Freiheit möglich ist.
Die dadurch bedingte Änderung, der Übergang vom Reich der
Finsternis ins Reich des Lichtes ist unendlich schwer und un-
endlich leicht" — was durch ein schönes, dichterisches Symbol
veranschaulicht wird.
Und hier schließt sich nun ein Zusatz an, der für uns, die wir
auf der Suche des Willens sind, höchst bedeutungsvoll und ver-
heißungsreich khngt:
,, Wollen! großes Wort! Zunge in der Wage des Weltgerichts!
-Qi Karl Gjellerup:
Brüikc zwisclKü Ilinimel und Hölle! Vernunft ist nicht das Licht,
das aus dem Hinimel glänzt, sondern nur ein Wegweiser, den wir
selbst hinstellen, nach dem gewählten Ziel ihn richtend, daß er
die Richtung zeige, wenn das Ziel selbst sich verbirgt. Aber
richten kann man ihn nach der Hülle wie nach dem Himmel."
IsJingt dies nun als ein chorus mysticus aus dem Allerheiligsten
des Tempels uns entgegen, so mutet uns das unmittelbar folgende
Stück, der ergreifende literar-biographische Monolog, fast als ein
Beethovensches Gebet an: ^. Unter meinen Händen und viel mehr
in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik
und Metaphysik in Einem sein soll, da man sie bisher trennte,
so fälschlich als den Menschen in Seele und Körper. Das Werk
wächst, konkresziert allmählich und langsam wie das Kind im
Mutterleibe: ich weiß nicht, was zuerst und was zuletzt entstanden
ist, wie beim Kind im Mutterleibe: ich, der ich hier sitze und den
meine Freunde kennen, begreife das Entstehen des Werkes nicht,
wie die Mutter nicht das des Kindes in ihrem Leibe begreift. Ich
seh' es an und spreche wie die Mutter: Ich bin mit Frucht gesegnet.
. . . Zufall, Beherrscher dieser Sinnenwelt! laß mich leben und
Ruhe haben noch wenige Jahre! denn ich liebe mein Werk wie
(iie Mutter ihr Kind: wenn es reif und geboren sein wird: dann
übe dein Recht an mir und nimm Zinse des Aufschubs. — Gehe
ich aber früher unter in dieser eisernen Zeit-^), oh, so mögen diese
unreifen Anfänge, diese meine Studien, der Welt gegeben werden
Avie sie sind und als was sie sind : dereinst erscheint vielleicht ein
verwandter Geist, der die Glieder zusammenzusetzen versteht und
die Antike restauriert."
Würde man nun voraussetzen, daß, als diese literarisch so
iiochwichtige Stelle niedergeschrieben wurde, doch gewiß die Haupt -
lehre dieses Systems, eben die Willensmetaphysik schon klar
konzipiert sein müsse, so zeigt sich dies als ein Irrtum. Wir be-
finden uns noch bei den Vorarbeiten zur Dissertation, in welcher
ja auch von dem Hauptdogma sich noch keine Spur findet. Diese
nehmen die nächsten Bogen in Anspruch. Danach wird dann
mit den alten Begriffen — den beiden Bewußtseinen — weiter
(«periert. §76 fragt nach der Relation zwischen beiden: wie es
zu einem empirischen Bewußtsein je habe kommen können. Die
Frage wird als transzendent abgewiesen. Die Relation selber ist
») 1813.
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 505
ein transzendentaler, aber unvermeidlicher Schein und wird vom
Sündenfall mythisch ausgedrückt. Auch § 79 beschäftigt sich
mit dem „unerklärbaren Bestehen des zeitlichen Bewußtseins
neben dem besseren", welches durch vollkommene, allgemein
geübte Askese nicht mehr statthaben, das bessere sich also rein
affirmieren würde.
Als Basis des Lebens wird im 89. Paragraphen die Lange-
weile, das Leere, Öde, das uns bisweilen in der Einsamkeit über-
fällt, bestimmt. Eine andere Basis kann das Leben nicht haben,
da es selbst nur ist durch einen Mißgriff, Fehltritt, durch das,
was nicht sein sollte. Die völlige Diversität beider Bewußtseins
wird im 108. Paragraphen scharf hervorgehoben: Auf dem harten
Boden des empirischen Bewußtseins verläßt uns das bessere wie
der Priester den Hinzurichtenden am Schafott; der übernächste
bringt ein schönes Bild (Orchesterklänge vor dem Anfang des
Musikstückes) vom bruchstückweisen, ahnungweckenden Herein-
tönen eines Seligkeitszustandes.
Daß wir uns noch innerhalb des Intellektuellen befinden,
zeigt uns § 124 durch seine Erklärung, meine Endlichkeit be-
stehe nicht darin, daß ich einen Leib, sondern ursprünglich darin,
daß ich einen Verstand habe. Dagegen wirkt es als eine Lüftung
aus entgegengesetzter Himmelsrichtung, wenn es im vorhergehenden
(übrigens im Zeichen der beiden Bewußtseine stehenden) Para-
graphen heißt: ,, Zeitliches Dasein wollen und immerfort wollen,
ist Leben."
Ein ganzer, segclschwellender Luftstoß aus dieser Richtung
erfolgt dann bald in jenen, schon oben besprochenen Worten des
139. Paragraphen: ,,Das Leben ist das Sichtbarwerden des intel-
ligiblen Charakters." Von hier aus ist nur ein Schritt zu der
wichtigsten Etappe auf dieser ganzen Wegstrecke.
Aber noch bevor er geschieht, ist eine kleine Bemerkung zu
notieren, die sogar über diese Etappe hinausweist: Wir haben,
heißt es (§ 157), eigentlich nichts anderes zu tun, als die Plato-,
nische Idee des Ganzen des Lebens zu erfassen und zu entscheiden,
ob wir dies Ganze wollen oder nicht. ,, Diese Wahl ist das einzige,
was wirklich vorgeht." Das Gewicht ist hier von dem Intellektuellen
auf die Willensseite übergegangen.
In § 171 erreichen wir dann jene Etappenstation: ,,Der Leib
ist nichts als der sichtbar gewordene Wille."
Dieser ,, Hauptsatz meiner Philosophie", wie ihn Schopen-
CQ^ Karl Gjellerup:
haucr nennt, enthält zwar noch beileibe nicht die eigentliche
WiUcnsmctaphysik. Er hat aber eine Bewegung in sich, die mit
innerer Notwendigkeit über ihn selber und mitten in jene hinein-
führt. Isoliert ist jener Satz nämlich völlig unhaltbar. Das Aus-
strecken meines Armes ist nur die Sichtbarkeit meines Willens
zum Armausstrecken. Aber mein Arm ist paralysiert, und trotz
meinem Willen streckt er sich nicht aus. Nun zu sagen, ich ,, wolle
nicht wirklich", ist die reinste petitio principii. Carpenter erzählt
in seiner Physiologie von einem Manne, bei dem die sensorische
Nervenverbindung vom Bein zum Gehirn unterbrochen war. Auf
einen äußeren Reiz hin erfolgte Reflexbewegung im Beine. Be-
fragt, ob er es fühle, antwortete der Mann so naiv wie richtig:
,,Ich nicht, aber Sie sehen, daß mein Bein es tut." Ebenso müßte
der Paralysierte hier antworten: ,,Ich will zwar, aber mein Arm
will nicht." In dem Satze: ,,Mein Leib ist mein sichtbar gewordener
Wille", liegt die Zweideutigkeit in ,,mein", wodurch nach gewöhn-
licher Ausdrucksweise die Angehürigkcit an das Subjekt des Gehirn-
bewußtseins ausgesagt wird. Nun gibt es aber auch das Willens-
subjekt des ,, Sonnengeflechtes"; jede Verbindung von Gefühlsnerv,
Bewegungsnerv und Ganglion ist wiederum ein solches; es gibt
ein ganzes System von einander überlagerten Individuen in jedem
Leibe, ja schließlich gibt es so viele Willen wie Zellen. Erst wenn
alles dies in dem ,,mein" einbefaßt wird, und dann die Willens-
metaphysik hinzutritt, mit der Erklärung, daß die ganze orga-
nische Welt (denn von der unorganischen kann in diesem Zusammen-
hang abgesehen werden) nur Objektivation des Willens sei: dann
ist jener Satz (von dem gew^ollt ungenauen Effektausdruck ,, Sicht-
barkeit"^) abgesehen) allerdings richtig; besagt dann aber auch
gar nichts mehr als was die Willensmetaphysik schon gesagt hat.
Er unterliegt also der Fatalität, entweder unhaltbar oder nichts-
sagend zu sein.*)
') Es ist höchst charakteristisch, daß Schopenhauer zuerst an jener Stelle
(§ '7 0 geschrieben hatte: „der Objekt gewordene Wille"; dann aber diesen rich-
tigen Ausdruck durchgestrichen und den ungenauen ;, sichtbar gewordene" ein-
gesetzt, der seiner Lieblingsvorstellung von der Traunihaftigkeit des Lebens mehr
Vorschub leistet.
•) Die Sclbstbewegung dieses Gedankenganges hat Schopenhauer auch
selber später in Parcrga (I, § 12, Deussens Gesamtausgabe IV, S. 89, 34 ff.) kurz
jngcdcutct. Die Kantischc Lehre, daß das Wesen, welches sowohl den Körpern
als d«n Seelen zum Grunde liegt, an sich selbst gar wohl eines und dasselbe sein
n.aj, ..bahnte mir den Weg zu der Einsicht, daß der eigene Leib eines jeden nur
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie.
0^/
Somit muß, wer diesen Satz aufstellt, notwendigerweise zur
eigentlichen Willensmetaphysik fortschreiten.
Dies tut denn Schopenhauer auch sehr bald, indem es in
§ 193 heißt: ,,Das Wollen, dessen Objektivierung oder Erscheinung
die W>lt ist." Einige Monate später findet sich dann auch der
neue terminus technicus ein, und zwar sofort mit der echt Schopen-
hauerschen Wendung (§253): ,,Dem Willen zum Leben ist das
Leben immer gewiß; denn es ist nichts als jener Wille selbst, oder
vielmehr nur sein Spiegel." Da es sich jedoch auch hier lediglich
um die individuelle Linie handeln könnte, ist es von Wichtigkeit,
daß schon vier Seiten weiter hin (§ 258) ausdrückhch gesagt wird:
,,Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille, der nicht weiß,
was er will; denn er weiß nicht, sondern will bloß, eben weil er
ein Wille ist und nichts anderes." Und es wird hinzugefügt: ,,Da
ich selber jene Identität (des Subjekts des Erkennens und des
Subjekts des Wollens) bin, kann ich mit gleicher Wahrheit sagen:
Die Welt ist meine Vorstellung: und die Welt ist lauter Wille."
Der Titel des Hauptwerkes ist schon vorausgegriffen.
Da nun in den ersten Dresdener Bogen immer nur vom in-
dividuellen Willen und vom Leib die Rede war, kann man als
den Zeitpunkt für den Durchbruch der Willensmetaphysik bei
Schopenhauer mit ziemlicher Sicherheit die Grenze zwischen
Frühjahr und Sommer 181 4 feststellen.
Und nun geschieht es hier, wie wenn ein Schiff beim Lavieren
über Stag geht. Es legt sich auf die andere Seite und segelt mit
demselben Winde in entgegengesetzter Richtung, und doch, genau
betrachtet, eigentlich in derselben Richtung, denn es steuert noch
immer dem alten Ziele zu.
Schopenhauer war vom metaphysischen Sein ausgegangen,
vom Ewigen, vom „Reiche Gottes", vom Frieden Gottes (S. loi),
von dem, wovon das bessere Bewußtsein spricht — lauter positive
Bezeichnungen. Sein Gegensatz, das Empirische, wird demgemäß
negativ, als Irrung, Fehltritt, Abfall vom wahren Sein, ja als das,
was nicht sein sollte, bestimmt. Nun ist der junge Philosoph
diesem Nichtseinsollenden auf den Leib gerückt, um zu sehen,
was es denn, abgesehen davon, daß es nicht sein sollte, eigentlich
ist. Er findet, daß es durch und durch Wille zum Leben ist. Damit
die in seinem Gehirn entstehende Anschauung seines Willens ist, welches Verhältnis
sodann, auf alle Körper ausgedehnt, die Auflösung der Welt in Wille und Vorstellung
ergab.
-Qg Karl Gjellenip:
ist (.s }x»sitiv bestimmt worden, und von diesem Standpunkt aus
muß nun ilas vorherige Positive, das Ewige, neu betrachtet, neu
benannt werden, wenn auch die Wertung dieselbe bleibt. So wird
CS ntgativ, und zwar voluntaristisch-ncgativ bestimmt, als Wcn-
dunL;, Aufhebung eben dieses Lebenswillens.
Es ist eine wichtige Erkenntnis, die durch unseren Band sehr
gefördert wird, daß die scheinbare Negativität der Metaphysik
Schopenhauers im Vergleich zu der Fichtes und Hegels,
welche ihr in tlen Augen vieler Kurzsichtigen so nachteilig ge-
wesen ist, nicht auf einer ursprünglichen Richtung seines Geistes
beruhe, sondern vielmehr nur darauf, daß er aus der unfrucht-
baren, rein metaphysischen Sphäre, die seiner durchaus konkreten
Denkweise auf die Dauer zu luftleer war, immer entschiedener
in die fruchtbare Ebene des empirischen Bewußtseins umsiedelte
und sogar mehr als zur ?Iälfte Naturphilosoph wurde; von diesem
Standpunkt aus nun aber das von ihm ursprünglich positiv Be-
zeichnete negativ bezeichnen mußte, ohne freiHch dadurch eine
Umwertung vorzunehmen.
Wir haben also die aufgeworfene Frage beantwortet, wo und
wif die Willensmetaphysik zuerst bewußt auftritt. Der Rest
unserer Untersuchung bietet keine Schwierigkeit. Mit dem Be-
griff des Willens zum Leben, als des Prinzips der Erscheinungs-
wclt, ist die Bedingung für jenen berühmten Namen, den das
bessere Bewußtsein in der reifen Periode annimmt, gegeben. In
(i«-r Tat verschwindet jene ältere Bezeichnung fast sofort. An-
statt deren treten, wie schon angedeutet, negative Ausdrücke,
wie Willenswendung, Aufgeben, Aufhebung des Willens, auch
,, Brechen des Willens", das jedoch eigentlich eine nicht immer
notwendige Vorstufe bedeutet.
Diese Bezeichnungen kehren immer wieder, gelegentlich auch :
NiehtwoUen des Lebens, Willenslosigkcit, Abwendung des Willens
vom Leben, Erlöschen, Ertötung, Absterben des Willens. Zwar
taucht verhältnismäßig früli in 1815 der Doppelterminus ,, Be-
jahung und Verneinung" auf, jedoch nur verbunden mit ,, Leben"
oder ,,Leib"; gegen den Schluß von 1816 lesen wir aber: ,,die
Welt zu verneinen, den Willen aufzugeben", und im folgenden
Jahre: ,, vermöge welcher er den Willen aufgibt und verneint";
noch in 1816 wiederum: ,,Ihr (der Welt) Wesen ist eben der Wille,
nicht seine Verneinung", und endlich, wenige Seiten vor dem
Schluß (181 8): ,,das, was für den Willen selbst seine eigene Wen-
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 509
dung, Verneinung ist". Wir sehen somit die für den Hauptbegriff
seines Systems klassische Bezeichnung um seine Feder flattern,
sich versuchsweise aufs Papier niederzulassen, erst verbal, dann
substantivisch, aber noch immer mit den älteren Ausdrücken
verschiedentlich verflochten, bis sie dann in dem Hauptwerk
selbst sich endgültig fixiert, ^vo es nun bestimmt und volltönend
heißt: , .Vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der
Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben."
Die Aufgabe, die ich mir am Anfange dieses Aufsatzes ge-
stellt habe, könnte hiermit als abgeschlossen betrachtet werden.
Bei der hohen Bedeutung, welche Schopenhauers Verhältnis
zu Kant hat, erscheint es jedoch geboten, in kurzen Zügen dar-
zustellen, wie dies Verhältnis sich in diesen Übergangsjahren ge-
staltet; um so mehr, als die Wandlung wenigstens auf einem
Punkt (Kategorien) von ausschlaggebender Bedeutung für die
dogmatisch-monistische Gestaltung des Systems wurde.
Es ist bemerkt worden (so von dem Belgier A. Boss er t),
daß Schopenhauer in seinen jungen Jahren sich mehr von
Plato als von Kant angezogen fühlte. In der Tat fanden wir
diese Platonische Richtung in den Göttinger Aphorismen vor-
herrschend, und auch in den ersten Jahrgängen dieses philo-
sophischen Journals ist sie durch das überwiegende intellektua-
listisch-ästhetische Moment stark vertreten; ja, der Hauptbegriff,
der uns so viel beschäftigt hat, sogar in seinem Namen Platonisch,
weht so recht wie ihre Fahne über diesen Blättern. Dies Ver-
hältnis Schopenhauers zu den beiden Torhütern seiner Dis-
sertation, dem ,, göttlichen Plato und dem erstaunlichen Kant",
hat sich nun freilich glücklicherweise immer mehr ins Entgegen-
gesetzte verändert, und gerade der wachsende Einfluß Kants,
der ihm bei der ersten Bekanntschaft fast unheimlich war, muß
als ein Hauptfaktor seiner Entwicklung betrachtet werden. Zumal
für die scharfe Prägung seines Pessimismus war diese Bewegung
wichtig; denn der etwas versteckte Pessimismus Kants ist viel
radikaler als der schwärmerische Pia tos. Nichtsdestoweniger
finden wir in der ersten Hälfte unseres Bandes den jungen Philo-
sophen eher im Begriffe, von Kant abzurücken, dergestalt, daß
wichtige Kantische Lehren, die später verworfen werden, hier
in den ersten Jahren noch in voller Geltung bestehen.
Dies gilt vor allem von den Kategorien. Damit erfahren
wir freilich nichts Neues, denn mit ihnen wird ja noch in der
- jQ Karl Gjellerup:
Dissertation operiert (\V. 111, S. 32, 34, 22, 34, 37, 27, 52, 2). Es
gehört gerade zu den vielen Verdiensten dieser großen Ausgabe,
<lie Dissertation voll zum Abdruck gebracht zu haben. Aber auch
Kants Antinomien, die er in seinem Hauptwerk bekanntlich
"iinzlich verwirft, werden hier (S. 122 und 138) unbedenklich als
7.U Recht bestehend angenommen.
Gegen die Kategorien regt sich ein Zweifel etwa am Schluß
des Jahres 1814 (§ 302). Im Texte selbst wird freilich nur gegen
die Kategorien der Modalität Verwahrung eingelegt, weil Not-
wendigkeit und Wirklichkeit 'mit Kausalität zusammenfallen,
Möglichkeit aber die Erkenntnis des Satzes vom Grunde in ab-
strakten Begriffen sei. Dagegen wendet sich ein Zusatz auch gegen
die Kategorie der Substanz sowie gegen die der beiden ersten
Urteilsgruppcn, gegen die erstere freilich noch zaghaft und zweifelnd :
,,Ich entdecke dabei aber keine eigentliche Verstandesfunktion."
Wann dieser Zusatz hinzugefügt wurde, ist nicht zu ermitteln;
er ist aber nicht als ,, später Zusatz" bezeichnet; jedenfalls ist er
früher niedergeschrieben als der etwa aus dem Frühjahr 1816
herstammende § 533, der gegen Gewohnheit eine Überschrift
trägt: ,, Gegen Kants Kategorien" und eine detailherte Kritik
dieses berühmten Lehrstückes enthält, das ihm nunmehr zur
„bloßen Flause" hinabgesunken ist. In Wirklichkeit richtet diese
Kritik sich jedoch nur gegen die Berechtigung der Kantischen
Auffindung der Kategorien und ihre Ableitung aus den Urteils-
formcn, und trifft keineswegs den Kern der Frage: ob man es
in den Kategorien mit abstrakten Begriffen der reflektierenden
Vernunft zu tun habe, oder aber mit ursprünglichen unbewußten
Verstandesfunktionen, ohne welche das anschauliche Weltbild
nicht aus dem rohen Empfindungsmaterial aufgebaut werden
könnte. In der Dissertation hieß es darüber ausdrücklich (§ 27,
S. 52, 2): Diese (die Begriffe) sind daher durchaus nicht mit den
Funktionen des Verstandes, den Kategorien, welche Raum und
Zeit, die wahrnehmbar geworden, vereinigen, besonders nicht,
wie oft geschehen, mit der Kategorie der Einheit, zu verwechseln
(während er schon ein Jahr nachher ,, darin keine eigentliche
Verstandesfunktion entdecken kann", und diese Anschauung ihm
jetzt sogar eine Flause ist). Und § 24 (S. 37, 27) hatte er damals
sehr richtig gelehrt: ,,Ja sogar das unmittelbare Objekt selbst
wird erst durch die Anwendung der Kiitegorien der Subsistenz,
Rralität, Einheit usw. zum Objekt."
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 511
Es ist gewiß nicht bedeutungslos, genau den Zeitpunkt fest-
stellen zu können, an welchem Schopenhauer sich mit Ent-
schiedenheit von der Kategorienlehre abwendet, um sie von
dann ab heftig zu bekämpfen. Dieser Schritt ist nämlich die
notwendige Voraussetzung für den Monismus seiner Willensmeta-
physik, wenigstens nach ihrer Form und Begründung. Der Fehl-
schluß, daß, wo die Zeit- und Raumform nicht gilt, die Vielheit
ausgeschlossen und damit die metaphysische Einheit des Willens
bewiesen sei, wäre natürlich unmöglich, solange die Kategorien
der Quantität als solche anerkannt werden, die über dem Ge-
biet der Erfahrung hinaus keine Anwendung oder auch nur Be-
deutung haben.
Kein Wunder also, daß er jetzt eifrig bemüht ist, diese Kan-
tische Hauptlehre zu refutieren. Ist doch jener Paragraph nur
wenige Seiten von den Anfängen des Hauptwerkes entfernt.
Man weiß, mit welcher Heftigkeit sich Schopenhauer gegen
Kants Verwendung des Wortes Idee wendet, die auch hier
(S. 403, 34) als ein ,, abscheulicher Mißbrauch eines Platonischen
Wortes" gebrandmarkt wird. Dagegen im Dezember 181 3, auf
einem Weimarer Bogen, äußert er sich nicht nur sehr ruhig dar-
über, daß Plato und Kant mit dem Wort Idee verschiedene
Vorstellungen verknüpfen und stellt sie als gleichberechtigt neben-
einander; sondern er schlägt selber das Wort Idee vor als Aus-
druck ,, eines ganz ausgezeichneten und unvergleichlichen Gegen-
standes unseres Erkenntnisvermögens: nämlich ein Objekt, ent-
weder Begriff oder einzelnes Objekt, welches wir mit dem besseren
Bewußtsein eng und unaufhörlich verknüpft haben". Als Bei-
spiele werden angeführt: die Religion jedes Gläubigen, die Vater-
landsliebe, das gelobte Land (Idee der Kreuzzüge) — ,, einigen ist
die Geliebte eine solche Idee". Offenbar steht er aber mit solchem
Gebrauch des Wortes Kant viel näher als dem Plato.
Da wir mit dieser Stelle schon das praktische Ideal berühren,
so mag in diesem Zusammenhang die Stellungnahme Schopen-
hauers im Anfang des Jahres dreizehn gegenüber der Moral-
theologie Kants betrachtet werden.
,, Kants Annahme" — heißt es § 62 (S. 31) — ,,des Daseins
Gottes und der Unsterblichkeit der Seele zum praktischen Behuf,
welche nicht für objektive Erkenntnis auszugeben er sich an-
gelegentlich verwahrt, hat ungefähr (und kaum) so viel Grynd
[und dasselbe Verhältnis zur Wahrheit] als in der Physik die An-
. . -, Karl Gjellerup :
nähme eines Wärmestoffs oder eines + E und — E, oder eines
magnetischen Stoffs [oder Tobias Meyers Hypostasis eines
100 Meilen vom Mittelpunkt der Erde liegenden unendlich kleinen
Magnets, aus dem sich die Abweichungen der Nadel an verschiedenen
Orten der Erde erklären lassen u. n. m.]: ihre Existenz behauptet
kein gründlicher Physiker: aber als Leitfaden beim Experimen-
tieren (zum praktischen Behuf), zur Verknüpfung der Erscheinungen
und zur Erkenntnis der Gesetze, denen gemäß sie erfolgen, ist die
.\nnahme sehr tauglich, und man kann, auf sie gestützt, die Ge-
setze ebenso richtig auffassen, die Erscheinungen in ihrer Ver-
bindung erkennen, vorhersagen, richtig Versuche, die die Gesetze
vollständiger angeben, anstellen [technische, medizinische und
chemische Anwendungen dieser Naturkräfte machen], als ob man
die Wahrheit selbst erkannte. Also ist die Annahme für das
Praktische vollkommen hinreichend."^)
Es muß jedem auffallen, wie vollkommen der junge Schopen-
hauer hier in seiner Auffassung dieses Teiles der Kantischen Lehre
mit Vaihinger übereinstimmt. Als ich den Philosophen des
,,Als Ob" auf diese Stelle in dem ihm bei der anfangs erwähnten
Schopenhauer-Tagung überreichten elften Bande aufmerksam ge-
macht hatte, schrieb er mir über ,, diese wichtige Schopenhauer-
stelle": ,,Sein umfassender und eindringender Geist wird auch
dadurch wieder hell beleuchtet, daß er die Als-Ob-Auffassung
Kants richtig erkannte und erfaßte". Auch später schrieb er
mir darüber: ,, Dieser Paragraph ist in der Tat eine überaus inter-
essante Stelle, welche Sic da bei Schopenhauer gefunden haben,
und ein sehr wertvoller Beitrag zur Geschichte der Als-Ob-Be-
trachtung. Historisch und systematisch ist die Stelle von großem
Interesse."
Bei solcher Bedeutung unseres Paragraphen dürfte es wohl
— zumal in philosophischen Studien, w^elche die Als-Ob-Philo-
') Es verdient hier bemerkt zu werden, daß die in eckige Klammern gesetzten
Worte und Satzteile spätere Zusätze sind; und zwar stammen der erste und der
letzte Zusatz aus derselben Zeit wie der Text, während der große, mittlere, vom
sehr sorgfältigen Herausgeber als „wahrscheinlich späterer Zusatz" angegeben wird.
Diese späteren Zusätze stammen (wie er in der Einleitung erläutert) meistens von
der Zeit vor der Italienreise (1818) her, keiner aber von der nach 1835. Dies ist
insofern von Bedeutung, als es zeigt, daß es sich nicht um ein einmaliges Apercu
bandelt, sondern um einen Gedanken, an welchen er öfters zurückkehrt, um ihn
weiter auszubauen und zumal durch Parallelen zu verdeutlichen, die alle der natur-
wissenschaftlichen Sphäre entnommen sind.
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. e i ?
Sophie besonders berücksichtigen — gerechtfertigt erscheinen,
wenn ich auf diese Stelle etwas genauer eingehe.
Mancher wird vielleicht versucht sein, ihre Originalität insofern
zu beeinträchtigen, als er darin eine Einwirkung von "Forberg
sehen wird. Es ist ja keine zu dreiste Annahme, daß der ,,AtVveismus-
streit", der nicht weit über zehn Jahre in der Zeit zurücklag, und
damit Forbergs Schrift ,,Über die Entwicklung des Begriffs
der Religion" dem jungen angehenden Philosophen, der sich für
alle solche Fragen besonders lebhaft interessierte, bekannt ge-
wesen wäre. Von dieser Seite kann kein Einwand erhoben werden.
Gegen eine solche Abhängigkeit spricht nun zunächst, daß For-
berg weder in der Stelle selbst, noch sonstwo — • etwa wie ge-
legentlich des besseren Bewußtseins Jacobi — genannt wird.
Wenn es nun dem Charakter Schopenhauers überhaupt fern
lag, ein solches Verhältnis zu vertuschen, so fehlt auch jedes Motiv
dafür in solchen ganz privaten, für die Öffentlichkeit nicht be-
stimmten Aufzeichnungen. Wozu noch kommt, daß nicht das
Geringste an die Ausdrucksweise Forbergs erinnert. Entscheidend
aber ist, daß der Gesichtspunkt ein ganz anderer ist. Bei For-
berg liegt das ganze Gewicht auf der ethischen Würde der Hand-
lung. Diese scheint ihm nur dann völlig gewahrt, wenn der Mensch
handelt, als ob es einen Weltrichter gäbe — gerade darin besteht
der echte Glaube — , selbst wenn er aus theoretischen Gründen
die Existenz eines solchen nicht annimmt. Nichts liegt ihm ferner,
als das Heranziehen mathematischer und naturwissenschaftlicher
methodologischer Fiktionen als Parallele, was bei Schopenhauer
gerade das Charakteristische ist. Denn dieser sieht in Kants
Annahme des Daseins Gottes zum praktischen Behuf nur ,, einen
Leitfaden" zur richtigen Verknüpfung moralischer Phänomene
und zur Auffindung ihrer Gesetze, während es ihm andererseits
nicht einfällt, in der theoretischen Ungültigkeit der Idee eine
Garantie für die Echtheit der moralischen Gesinnung zu suchen.
Schopenhauers beliebter Ausdruck ,,toto coeJo verschieden",
läßt sich somit sehr wohl auf diese beiden Als Ob Betrachtungen
anwenden, so sehr sie auch im Resultat übereinstimmen.
Vergleichen wir nun aber unsere Stelle mit Schopenhauers
späterer Auffassung der Kantischen Moraltheologie, so zeigt sich
allerdings — und gerade das macht uns § 62 so interessant —
ein Unterschied, der fast einer Frontveränderung gleichkommt.
Diese spätere Stellungnahme finden wir am deutlichsten aus-
Annalen der Philosophie. I. 33
r\i Karl Gjellerup:
gedrückt in Parerga (I, § 13, S. 127, Ed. Piper). Nachdem Kant
der spekulativen Theologie den Todesstoß gegeben hat, mußte
er ein Bcsänftigungsmittel darauf legen. Dies geschah durch
ein Postulat der praktischen Vernunft und die daraus ent-
stehende Moraltheologie, welche ohne allen Anspruch auf ob-
jektive Gültigkeit für das Wissen volle Gültigkeit in Beziehung
;iuf (las Handeln oder für die praktische Vernunft haben sollte
— ,, damit die Leute doch nur etwas in die Hand kriegten".
Dies besagt jedoch nichts anderes, als daß die Annahme eines
nach dem Tode vergeltenden, gerechten Gottes ,,ein brauchbares
regulatives Schema sei zum Behuf der Auslegung der gefühlten,
ernsten, ethischen Bedeutsamkeit unseres Handelns wie auch der
Leitung dieses Handelns selbst, also gewissermaßen eine Alle-
gorie der Wahrheit". Kant selbst durfte sich freihch nicht so
unumwunden ausdrücken, ,, sondern, indem er das Monstrum einer
theoretischen Lehre von bloß praktischer Gültigkeit auf-
stellte, hat er bei den Klügeren auf das granum salis gerechnet".
Daß eine gewisse Übereinstimmung der beiden Betrachtungs-
weisen stattfindet, soll nicht geleugnet werden. Sie gehen ein
wesentliches Stück Hand in Hand, indem sie jede theoretische
Gültigkeit der Moraltheologie leugnen, und zwar in dem Sinne
leugnen, daß Kant auch nicht eine solche beabsichtigt haben
soll; während doch die gewöhnliche Auffassung die war, daß
Kant mit moralischen Prinzipien ein theoretisches Dogma gestützt
habe. Aber beim eigentlichen Gesichtswinkel trennen sie sich.
Die Parergastelle geht auf Akkommodation und Allegorie aus ; unsere
hingegen auf Methodologie und heuristische Fiktion. Nach dem
jungen Schopenhauer hat Kant in seiner Moraltheologie keine
,, theoretische Lehre" aufgestellt, sondern lediglich eine Fiktion
gleich dem Wärmestoff, ,, dessen Existenz kein gründlicher Physiker
behauptet".
Es ist also offenbar, daß Schopenhauer zu der Zeit (Anfang
181 3), als er diesen Paragraphen niederschrieb, der Kantischen
Rcligionsphilosophie freundlicher gegenüberstand, als dies später
der Fall war; denn mit der Akkommodationsauffassung ist immer
eine gewisse Mißbilligung verbunden.
Die entgegengesetzte Bewegungsrichtung zeigt sich — wenig-
stens äußerlich betrachtet — , wenn wir zum Hauptbegriff der
Kantischen Philosophie, dem Ding an sich, übergehen. Dieser
wird hier auf den Bogen aus den JahrdTi dreizehn und Anfang
II
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 5 i 5
vierzehn abgewiesen und als ganz undenkbar (§ 73), ja sogar als
der größtmögliche Widerspruch (§ 151) bezeichnet, was uns aller-
dings nicht wundernehmen kann, da dies ja auch in der Dissertation
geschieht. Jedoch schon wenige Monate später (§ 208) findet er
die wesentliche Übereinstimmung dieses Kantischen Lehrbcgriffcs
mit der Ideenlehre Pia tos, und erklärt in einem (freilich weit
späteren) Zusatz, diese Identität müsse eine Hauptstütze seiner
Philosophie werden. Solchermaßen platonisiert und adoptiert
wird das Ding an sich bald danach auf den Namen ,, Wille" ge-
tauft, in der schon zitierten Stelle (§ 258): ,,Die Welt als Ding an
sich ist ein großer Wille, der nicht weiß, was er will." Gleich
nachher (§ 285) wird die jetzt gewonnene Dreieinigkeit ausdrücklich
proklamiert: ,,Die Platonische Idee, das Ding an sich und der
Wille (denn dies alles ist eins)." Endlich heißt es (§ 422, etwa
Mitte 1815): ,,Dcr Wille ist Kants Ding an sich." Richtiger
hätte er geschrieben: ,,Der Wille ist mein Ding an sich." Kants
Dine an sich ist im Grunde ein rein erkenntnistheoretischer Be-
grifft), erhält aber unleugbar an vielen Stellen metaphysische
Bedeutung und Dignität. Schopenhauer nimmt ihn nun von
dieser Seite auf, und zw^ar so ausschließlich, daß der Begriff bei
ihm seine erkenntnistheoretische Rolle völlig verlernt, wiewohl
sein Existenzrecht auf dieser beruht. Deshalb ist die Annäherungs-
richtung, die hier so augenscheinlich vorliegt, vielleicht doch, wenn
man genauer zusieht, mehr äußerlicher und am Worte hängend,
als mnerlicher Art.
Es ist ein verhältnismäßig enger Problemkreis, in welchem
sich die hier lose aneinander gereihten Aufsätze, Gedankenschnitzel,
Apergus und philosophischen Selbstgespräche bewegen, immer
wieder und wieder nach demselben Punkt zurückkehrend und
dieselbe Sache zu neuer Beleuchtung aufnehmend: hauptsächlich
die ethisch-religiösen und die ästhetischen Grundfragen, einzeln
und in ihren gegenseitigen Beziehungen. Daß die naturwissen-
schaftliche Seite, die in den fertigen Schriften eine so große und
wohltuende Rolle spielt, hier fast gänzlich zurücktritt, dürfte
wohl der Umstand sein,' der am meisten zu dieser auffallenden
Verengung des Kreises und dadurch zur Monotonie beiträgt. Und
es ist wohl wiederum eine natürliche Wirkung daraus, daß — wie
^) Näheres darüber findet sich in Vai hingers „Philosophie des Als-Ob",
S. 83ff., I09ff., 266 ff., 722—724, wo die fiktive Bedeutung des Begriffes ,,Ding
ah sich" erörtert wird.
33*
c 1 5 ^^""^ Gjellerup :
mir \vcnigstcns scheint — Schopenhauers souveräne Einseitig-
keit nirgends so aufdringlich hervortritt wie gerade in diesem
Buche, indem sie fcbcn durch die unaufhörhche Wiederholung
geradezu Einem eingehämmert wird. Vor allem ist dies auf dem
ästhetischen Gebiete der Fall, wo die Unzulänglichkeit der rein
negativistischen Wertung^) wohl am allerleichtesten nachzuweisen
wäre. Immer wieder muß man sich selbst daran erinnern, daß
diese oft fast an Blindheit grenzende Einseitigkeit erforderlich
sei, um neue, uroriginelle und höchst bedeutsame Gedankenposi-
tionen zu gewinnen; ja, daß sie zum Selbsterhaltungstrieb des
Genies gehöre, und es überall bei solchem heroischen Ringen des
Gedankens mit dem Wirklichkeitsstoff nicht so sehr darauf an-
komme, allseitig richtige und unanfechtbare Wahrheiten zutage
zu fördern, als vielmehr darauf, neue, entscheidende und frucht-
bare Gesichtspunkte zu erreichen, möge das Erreichen auch manch-
mal ein wenig per fas et nefas und auf verbotenen Pfaden gelingen.
Ich habe schon bemerkt, daß die energische Ablehnung der
Kantischen Kategorien sich unmittelbar vor dem Eintritt in das
eigentliche Gebiet des Hauptwerkes befinde. Manchen Leser
wird wohl nun ein leiser Schauer durchrieseln, wenn er plötzlich,
mitten in den Aufzeichnungen von Anno sechzehn, liest: ,,§ i.
,Die Welt ist meine Vorstellung' muß jeder zu sich sagen, sobald
er ernstlich unternimmt, sich zu besinnen, et sie porro' — und
bald danach: ,,Ich möchte z. B. so anheben: ,Die Welt ist meine
Vorstellung' kann jeder sagen und muß jeder sagen, der sich
ernstlich besinnt. — ,Die Welt ist mein Wille' ist die, wenn auch
nicht jedem erschreckliche, so doch höchst bedenkliche und sehr
ernste Wahrheit, die dem deutlich geworden sein wird, der in den
Sinn dieses Buches vollkommen eingedrungen sein wird."
') Ich verstehe darunter die bekannte Schopenhauersche Lehre, daß bei
der ästhetischen Betrachtung die Wirkung des schönen Objekts sich darin erschöpft,
dem Intellekt das Joch des Willens abzunehmen und das reine Subjekt des Er-
kenncns in frei schwebenden Seligkeitszustand zu versetzen. Es genügt eine Hin-
weisung auf die Kasinaübungen des buddhistischen Mönches, um die Verkehrtheit
dieser Lehre nachzuweisen. Diese auf tausendjährigen Erfahrungen beruhenden
methodisch betriebenen mentalen Übungen bezwecken nämlich nichts anderes, als
jenen willenlosen Zustand des Intellektes, wodurch dieser nur Träger des Objekts
wird, zu erreichen und beliebig herbeizuführen. Hierzu braucht man also kein
«.chönts Objekt. Folglich kann dies auch nicht die spezifisch ästhetische Wirkung
der Schönheit sein. Womit nicht gesagt sein soll, daß nicht eine wichtige Seite
der ästhetischen Freude höchst wirkungsvoll von Schopenhauer beleuchtet und
uns zum Bewußtsein gebracht werde.
Zur Entwicklungsgeschichte der Schopenhauerschen Philosophie. 517
Ihm wird feierlich zumute werden, wie jemandem, der, nachdem
er durch mannigfaches blühendes und auch oft dorniges Gebüsch,
über Schonungen, durch Pflanzschulen und niedrigen Tännicht
gegangen ist, nun zwischen die ersten Stämme des Hochwaldes
hineintritt und sich von dessen kühlem, großem Schatten umgeben
fühlt.
,,Da steht im Wald geschrieben ein stilles, ernstes Wort" —
so singt unser herrlicher Eichendorf f. Ja, und wer da sagen
kann: ,,Ich habe treu gelesen, und durch mein ganzes Wesen
ward's unaussprechlich klar" — der wird auch gern diese vor-
gelagerte Strecke durchwandern. Drinnen im Schatten des Hoch-
waldes — das weiß er — wohnt der Panische Schrecken; wie
wir es ja hörten: Diese Wahrheit ist jedem bedenklich, manchem
erschrecklich. Ihm aber ist das keine zurückscheuchende Drohung,
vielmehr zieht es ihn mit Faustischem Verlangen an: ,,Das Schaudern
ist der Menschheit bestes Teil." Und vollends mehr einladend als
abweisend tönt ihm hier aus einem Gebüsch die herbe Dryaden-
stimme entgegen:
,, Meint ihr denn, die Philosophie werde nicht sein wne jedes
echte Kunstwerk, das unerreichbare Maß, an dem jeder seine
eigene Größe mißt?"
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer.
Von
Arnold Kowalewski.
Inhaltsübersicht.
Verschiedene fiktionsfeindliche Kundgebungen Schopenhauers. „Fiktion" —
ein philosophisches Schimpfwort. Seine zahlreichen Synonyma. Trotzdem aber
auch positive Berührungspunkte mit dem Fiktionalismus.
I. Fiktionalistische Gedanken in den ,, Erstlingsmanuskripten"
Schopenhauers (1812 — 1818). 1. Eine fiktionalistische, aber noch sehr negativ
gehaltene Formel für die Religion. 2. ,,Gott" als erlaubter symbolischer Ausdruck
bei Nichtphilosophen. 3. Positive Würdigung der kantischen Postulate ,,Gott"
imd ,, Unsterblichkeit". 4. Kantische Postulate — Philistereien. 5. Widerspruchs-
voller Charakter der geometrischen Kongruenz. 6. Widerspruchsvolle, aber un-
vermeidliche Relation zwischen dem „besseren" und empirischen Bewußtsein.
7. „Gott" als leerer Name. 8. Bedeutung der Ideen. 9. Philosophische Aus-
legung von Adams Sündenfall und Jesu Opfertod. 10. Rechtfertigung der Dogmen
von der jungfräulichen Geburt und dem Scheinleib Jesu. 11. Zweck des Lebens —
ligürlich für „Wesen des Lebens oder der Welt". 12 — 14. Andere Fassungen des
gleichen Gedankens. 15. Der Instinkt — ein Handeln wie nach Zweckbegriffen.
16. Phantasma als bewußt zufälliger Begriffsrepräsentant. 17. Bescheidenheit als
notwendige Heuchelei. 18. Erste Magiefiktion. Ihr späteres Schicksal im
Zusammenhang mit Schopenhauers wachsender Anteilnahme an dem Studium
okkultistischer Phänomene. 19 — 22. Ergänzende Belege für die dogmatische
Fixierung der Magiefiktion. 23. Formeln und Rechnungen der Mathematik ohne
I igentlich theoretischen Wert. 24. Analoge Verhältnisse in der Mechanik. 25. Be-
wußte Unzulänglichkeit der Begriffe. 26. Moralische Systeme und religiöse Dogmen
— eigentlich Isotbehelf der Vernunft. 27. Abstrakte Hilfsmittel in der praktischen
Musik und Mechanik. 28. Gewaltsame und listige Überwältigung fremder Willens-
irscheinungen. 29. Der fingierte Charakter des Pedanten. 30. Künstliche Zu-
sammenstellung der Begriffe in der Poesie. 31. Das „Verhältnis" des Willens zur
N'orstcllung — nvu- metaphorisch. 32. Dogmen des Edlen — nicht ernst, bloß der
Vernunft hingeworfene Befriedigung. 33. Spielendes Sprechen. 34. Fiktionalistische
Deutung der ästhetischen Reizbarkeit für die Pflanzenwelt. 35. Künstliches System
zu lexikographischem Zweck. 36. Seelenwanderung als Dogma und Mythos.
37. Luthers Lehre vom seligmachenden Glauben als Gewand philosophischer
Wahrheit. 38. Selbstaufhebung des Willens als summum bonum. 39. Tugend-
übung nach philosophisch-vernünftigem Dogma — Blendwerk, aber teilweise doch
gut. 40. Abstrakte Formeln als Hilfsmittel konfliktfähiger Motive. 41. Das Auf-
geben des Willens — ein Zustand im metaphorischen Sinne. — Zusammenfassung.
Zwei Haupttypen: erkeniitnistheoretische Fiktionen und prophetische. Ihr Zu-
sammenhang mit den beiden philosophischen Ahnherren Schopenhauers.
II. Fiktionalistische Gedanken in den Werken, Briefen und Ge-
•■prachcn Schopenhauers. 42. Nutzen der Begriffe. 43. Der empirische
( haraktcr als Erscheinung eines außerzeitlichen gleichsam permanenten Zustandes
oder universalen Willcnsakts. 44. Kontrasticrung der tierischen Kunsttriebe und
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 5^9
des magnetischen Hellschens. 45. Die Insekten gewissermaßen natürliche Som-
nambulen. 46. Der Wahncharakter des Instinkts. 47. Symbolische Auslegung
der Bewußtseinsgrade in der Richtung von innen nach außen. 48. Ablegung der
Hilfsmittel nach geleistetem Dienst. Hinweis auf eine ,, Pädagogik des Als Ob".
49. Als-Ob-Betrachtung über das ,, Urtier". 50. Das Dogma von der Vorsehung
als allegorische Wahrheit. 51. Hypothese zum schematischen oder analogischen
Verständnis des ,.Magnetisierens". 52. Die geologischen Vorgänge — eine Art
Bildersprache. 53. Der Begriff der „Handlungen von moralischem Wert" — eine
,, bloße Spielmarke". 54. „Ich noch einmal" als tropische Wendung. 55. Ein
erkenntnisloser, aber doch nicht bewußtloser Zustand — problematisch gemeint.
56. Fiktionalistische Abwehr des Einwandes, daß eine Vernichtung der Willens-
substanz angenommen werde. 57. Absichtliche Irrationalität im Transzendenten.
58. Ein Gleichnis als Abwehr eines metaphysischen Einwandes.
Schlußwort. Charakteristische Häufung apologetischer Fiktionen beim
alten Schopenhauer. Wichtigkeit einer fiktionalistischen Interpretation des Schopen-
hauerschen Systems.
Bei Schopenhauer Ansätze zum Fiktionalismus zu suchen,
scheint ein wenig aussichtsvolles Unternehmen. Wesentliche Grund-
überzeugungen des Danziger Philosophen sind mit jedem Fiktio-
nalismus schlechthin unvereinbar.
Schopenhauer hat eine starke, aufrichtige Begeisterung für
die Wahrheit als Selbstzweck. Er wird nicht müde, die
Hoheit dieses Ideals in prächtiger Bildersprache zu preisen und
zu predigen.
,,Auf hohen, abschüssigen, kahlen Felsen" liege der ,, Tempel
der Wahrheit". Wie sollte man ihn erreichen, wenn man ,,seit-
abwärts" blickt. Nur wessen Intellekt vom Willensdienste frei
geworden sei, dürfe den ,, Ehrentitel cpiXoaocfoq'' beanspruchen.
Denn dieser Titel ., besagt, man liebe die Wahrheit ernstlich und
von ganzem Herzen, also unbedingt, ohne Vorbehalt, über alles,
ja, nötigenfalls, allem zum Trotz". So tönt es uns aus dem tem-
peramentvollen Anhang zur ,, Skizze einer Geschichte vom Idealen
und Realen" entgegen.
Diese erhabene Wahrheit kann sich der Philosoph nur als
. eine einzige denken. In dem Kapitel ,,Über Universitätsphilo-
sophie" heißt es sinnig: ,,Es gibt vielerlei Schönheit, aber nur
eine Wahrheit, wie viele Musen, aber nur eine Minerva".
Alle falschen Zutaten zur Wahrheit werden auf das
Entschiedenste abgelehnt. ,,Denn das Wahre kann, auf die Länge,
doch nur in seiner Lauterkeit bestehen: mit Irrtümern versetzt,
wird es ihrer Hinfälligkeit teilhaft; wie der Granit zerfällt, wenn
sein Feldspat vergattert, obgleich Quarz und Glimmer solcher
Verwitterung nicht unterworfen sind. Es steht also schlimm um
die Surrogate der Wahrheit" (Parerga u. Paralipomena II, § 134).
r-yQ Arnold Kowalewski:
Zu solchem schwärmerischen Wahrheitsglauben paßt nun und
nimmer die nüchterne fiktionalistische Denkart, die gerade die
äußeren Zweckbeziehungen beim Erkennen scharf betont sowie
die Wandelbarkeit, Mannigfaltigkeit und Unlauterkeit des so-
genannten Wahren kritisch aufzeigt.
Das natürliche Seitenstück zu dem schwärmerischen Wahr»
heitsglauben Schopenhauers ist ein fanatischer Haß gegen
den Irrtum. ,, Obwohl oft gesagt worden, daß man der Wahr-
heit nachspüren soll, auch wo kein Nutzen von ihr abzusehen,
weil dieser mittelbar sein und hervortreten kann, wo man ihn
nicht erwartet, so finde ich hier doch noch hinzuzusetzen, daß
man auch ebensosehr bestrebt sein soll, jeden Irrtum aufzudecken
und auszurotten, auch wo kein Schaden von ihm abzusehen, weil
auch dieser sehr mittelbar sein und einst hervortreten kann, wo
man ihn nicht erwartet: denn jeder Irrtum trägt ein Gift in
seinem Innern. Ist es der Geist, ist es die Erkenntnis, welche
den Menschen zum Herrn der Erde macht, so gibt es keine
unschädlichen Irrtümer, noch weniger ehrwürdige, heilige
Irrtümer" (Welt als Wille u. Vorst. I, § 8). Noch drastischer
kommt dieselbe Stimmung im Ergänzungsband des Hauptwerkes
zum Ausdruck. ,, Jeder Irrtum muß früher oder später Schaden
stiften, und desto größeren, je größer er war. Den individuellen
Irrtum muß, wer ihn hegt, einmal büßen und oft teuer bezahlen:
das Selbe wird im großen von gemeinsamen Irrtümern ganzer
Völker gelten. Daher kann nicht zu oft wiederholt werden, daß
jeder Irrtum, wo man ihn auch antreffe, als ein Feind der Mensch-
heit zu verfolgen und auszurotten ist, und daß es keine privi-
legierte oder gar sanktionierte Irrtümer geben kann. Der Denker
soll sie angreifen; wenn auch die Menschheit, gleich einem
Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut dabei aufschriee"
(ebenda II, Kap. 6).
Wer so redet, der dürfte für das fiktionalistische Paradoxon
von den ,, nützlichen Irrtümern" kein empfängliches Ohr
haben.
Nieht einmal im Reiche des reinen Denkens scheint der ge-
strenge Wahrheitseiferer die geringste Normwidrigkeit zu dulden.
Alle B<.griffsbildungen, die vor ihm Gnade finden sollen, müssen
selbstverständlich widerspruchsfrei sein. ,,Contradictio in ad-
jecto" ist eine beliebte Verdammungsformel, mit der Schopen-
hauer 7.. B. Begriffe wie ,, causa prima", „causa sui", „unbedingte
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 52 I
Notwendigkeit", „absolutes Sollen", „Zweck an sich", ,, absoluter
Wert" ohne lange Verhandlung abtut. Die praktischen Assozia-
tionen, die diesen Begriffen einen ehrwürdigen Charakter ver-
leihen, werden nicht nur rücksichtslos beiseite geschoben, sondern
sogar teilweise aufs grimmigste .. bis zur Blasphemie verhöhnt.
Man lese einmal die unduldsamen kritischen Ergüsse nach, die
in der zweiten Auflage der Doktordissertation (§§ 8, 20, 49) und
in der Preisschrift über die Grundlage der Moral (§§ 4, 8) vor-
kommen.
Bei solcher schroffen Haltung ist kaum zu erwarten, daß
Schopenhauer für die ,, bewußten Widersprüche" des Fiktio-
nalismus jemals Sympathie hegen könnte.
In seinem Sprachgebrauche figuriert ,, Fiktion" geradezu als
philosophisches Schimpfwort. Wenn es gilt, irgendeinen Be-
griff oder Gedankengang in seiner Haltlosigkeit und Nichtigkeit
zu brandmarken, greift Schopenhauer vielfach zu diesem Worte.
Einige Beispiele mögen das illustrieren.
Im Rückblick auf die philosophische Entwicklung von Des-
cartes bis Leibniz spricht sich Schopenhauer einmal (Parerga u.
Paralipomena I, Fragm. z. Gesch. d. Philos. § 12) folgendermaßen
aus: ,, Überhaupt aber sehen wir bei dieser ganzen Verkettung
seltsamer dogmatischer Lehren stets eine Fiktion die andre als
ihre Stütze herbeiziehen; geradeso wie im praktischen Leben
eine Lüge viele andere nötig macht. Zum Grunde liegt des Car-
tesius Spaltung alles Daseienden in Gott und Welt, und des Men-
schen in Geist und Materie, welcher letzteren auch alles übrige
zufällt. Dazu kommt der diesen und allen je gewesenen Philo-
sophen gemeinsame Irrtum, unser Grundwesen in die Erkenntnis,
statt in den Willen, zu setzen, also diesen das Sekundäre,
jene das Primäre sein zu lassen. Dies also waren die Ur- Irrtümer,
gegen die bei jedem Schritt die Natur und Wirklichkeit der Dinge
Protest einlegte und zu deren Rettung alsdann die Spiritus
animales, die Materialität der Tiere, die gelegentlichen Ursachen,
das Alles-in-Gott-Sehen, die prästabilierte Harmonie, die Monaden,
der Optimismus und was des Zeuges mehr ist, erdacht werden
mußten." Und mit stolzem Behagen setzt er hinzu: ,,Bei mir
hingegen, als wo die Sachen beim rechten Ende angegriffen
sind, fügt sich alles von selbst, jedes tritt ins gehörige Licht,
keine Fiktionen sind erfordert, und simplex sigillum veri."
In dem der Kantkritik gewidmeten Anhang zu seinem Haupt-
{•'.2 Arnold Kowalewski:
Avcrk bekämpft der Philosoph u. a. die auf alter Tradition be-
ruhende irrige Bestimmung des Notwendigen und Zufälligen und
gibt folgende genetische Analyse der einschlägigen Dialektik:
.,Es war offenbar, daß das, dessen Grund gesetzt ist, unausbleib-
lich folgt, (1. h. nicht nichtsein kann, also notwendig ist. An
iliese letzte Bestimmung aber hielt man sich ganz allein und sagte:
notwendig ist, was nicht anders sein kann, oder dessen Gegenteil
unmöglich. Man ließ aber den Grund und die Wurzel solcher
Notwendigkeit aus der Acht, übersah die daraus sich ergebende
Relativität aller Notwendigkeit und machte dadurch die ganz
undenkbare Fiktion von einem absolut Notwendigen, d. h,
von einem Etwas, dessen Dasein so unausbleiblich wäre, wie die
Folge aus dem Grunde, das aber doch nicht Folge aus einem
Grunde wäre und daher von nichts abhinge; welcher Beisatz eben
eine absurde Petition ist, weil sie dem Satz vom Grunde wider-
streitet. Von dieser Fiktion nun ausgehend erklärte man, der
Wahrheit diametral entgegen, gerade alles, was durch einen Grund
gesetzt ist, für das Zufällige, indem man nämlich auf das Relative
seiner Notwendigkeit sah und diese verglich mit jener ganz aus
der Luft gegriffenen, in ihrem Begriffsich widersprechenden
absoluten Notwendigkeit."
In der zweiten Auflage der Doktordissertation heißt es (§ 34)
nach Darlegung des richtigen Vernunftbegriffes: ,, Hingegen
eine, materielle Erkenntnisse aus eigenen Mitteln liefernde, uns
daher über alle Möglichkeit der Erfahrung hinaus, positiv be-
lehrende Vernunft, als welche dazu angeborene Ideen enthalten
inüßte, ist eine reine Fiktion der Philosophieprofessoren und
ein Erzeugnis der durch die Kritik der reinen Vernunft in
ihnen hervorgerufenen Angst."
Ich zitiere die obigen Beispiele in extenso, damit jeder Leser
die fragliche Wortbedeutung genau und bequem nachprüfen kann.
Sie bietet offenbar keine Brücke zu einer wohlwollenden Ein-
schätzung fiktiver Gebilde, wie sie dem Fiktionalismus eignet.
Zahlreich sind übrigens die synonymen Ausdrücke für ,, Fik-
tion" bei Schopenhauer. Folgende Proben mögen genügen: Un-
dinge, Ungedanken, beliebig gewählte abstrakte Begriffe, wunder-
liche Hegriffskombinationen, Algebra mit bloßen Begriffen, Hirn-
gespinste, leere Hülsen, Phantasmen, bloße metaphysische Phan-
tasie, spitzfindig erfundener LückenbüfJir, Flickwerk, lügenhaftes
Vorgehen, absurdes Märchen, Stelzen, Krücken, terminus ad hoc,
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 523
Deus ex machina. Alle diese Ausdrücke sind bei dem Danziger
Philosophen in tadelndem Sinne gemeint, auch diejenigen, welche
der Fiktionalismus entgegengesetzt bewertet.
Trotz solchen entmutigenden Vorerwägungen habe ich mich
doch bemüht, positive Berührungspunkte zwischen Schopenhauer
und dem Fiktionalismus aufzuspüren. Es ist keine leichte Arbeit
gewesen, da mir hierbei die gewöhnliche Fachliteratur so gut wie
nichts helfen konnte. Nirgends fand ich jene wichtige Beziehung
ernstlich berührt oder auch nur in Frage gestellt. Selbst Gustav
Friedrich Wagners sonst so schätzbares ,, Enzyklopädisches
Register zu Schopenhauers Werken" (Karlsruhe ' 1909) ver-
sagt in puncto ,, Fiktion". Der ganze mich interessierende Begriffs-
kreis ist vollkommen unberücksichtigt geblieben. So mußte ich
mich in der Hauptsache auf eigene Durchmusterung Schopen-
hauers verlassen. Für die entwicklungsgeschichtliche Gruppierung
meiner Funde bot mir vor allem die monumentale Deussensche
Ausgabe mit ihrem musterhaften philologischen Apparat nützliche
Winke. Namentlich konnte die mühselige Vergleichung der ver-
schiedenen Auflagen großenteils erspart werden. Schade nur, daß
die Ausgabe noch nicht abgeschlossen vorliegt. Für die noch
fehlenden Stücke habe ich Grisebachs und Schemanns bekannte
Publikationen benutzt. Die Ergebnisse meiner Nachforschung
sollen in diesem Aufsatze kurz dargestellt werden.
I. Fiktionalistische (xedankeii
in den „Erstlingsmanuskripten Schopenhauers (1813—1818).
Es ist ungeheuer reizvoll, die Niederschriften zu durchmustern,
mit denen sich der große Danziger Philosoph zu den Höhen seiner
,,Welt als Wille und Vorstellung" allmählich emporgerungen hat.
Längere Aufzeichnungen wechseln mit aphoristischen Bemerkungen,
und auch inhaltlich herrscht die größte Buntheit. Der Genius
verschmähte offenbar jede technische Absichtlichkeit und folgte
ganz den glücklichen Eingebungen der Stunde. Spätere Korrek-
turen und Zusätze lassen erkennen, welche Gedanken den jungen
Philosophen nachhaltiger bewegt haben. Mehrfach finden wir
auch Verweisungen von einer Niederschrift auf andere damit sach-
lich zusammengehe rige. Schopenhauer hat sogar ein Register zu
seinen Manuskripten angefertigt, um wenigstens nachträglich eine
gewisse Ordnung in das verwirrende Chaos der Einfälle zu bringen.
COA Arnold Kowalewski:
Am interessantesten aber ist, zu verfolgen, wieviel von den bunt-
scheckigen Erstlingsmanuskripten Aufnahme in die Werke fand
und damit sozusagen kanonisiert wurde. Eine größere Zahl von
Benutzungsfällen hat Schopenhauer in seinen Manuskripten durch
Randvermerke (hinc, haec, hactenus) oder Durchstreichungen
kenntlich gemacht. Den vollen Umfang der Benutzung können
wir bequem aus dem zweiten Anhange zur Deussenschen Ausgabe
der Erstlingsmanuskripte (Band XI der Gesamtausgabe, München
1916) ersehen.
1. Eine fiktionalistische, aber noch sehr negativ ge-
haltene Formel für die Religion. .
Gleich eines dfer frühesten, 181 2 zu Berlin konzipierten Stücke
(§ 12) in den Erstlingsmanuskripten überrascht uns mit einer emi-
nent fiktionalistischen Formel für die Religion. Die
weitere Ausführung dieser Formel zeigt aber, daß der junge Denker
noch nicht die positive Seite des Fiktiven zu würdigen weiß. Ihm
schwebt der Ersatz aller Religion durch Philosophie als Zukunfts-
ideal vor. Hören wir ihn selbst !
,, Religion ist ein willkürlich angenommener und bild-
lich dargestellter (welches beides auseinander folgt und
unzertrennlich ist) Zusammenhang der Schcinwelt mit
der wahren (der sinnHchen^ mit der übersinnlichen).
Verstandes bildung ist Erkenntnis der Sinnenwelt in ihrem
Zusammenhange. Je weiter diese fortschreitet, desto mehr zeigt
sie das Willkürliche Ungegründete jenes [Zz.]^) mit der über-
sinnlichen Welt angenommenen Zusammenhangs auf: ein durch
fremde Willkür gegebenes Bild will keiner stehen lassen,
er kann es für ein mere fictum erklären.
Die Religion wird nun durch fortschreitende Verstandesbildung
zurückgedrängt, wird abstrakter, und da ihr Wesen Bildlich-
keit ist, muß sie, sobald ein gewisser Grad von Verstandesbildung
allgemein geworden, ganz fallen.
Dadurch stehn sinnliche und übersinnliche Welt getrennt:
CS zeigt sich, daß beide kein continuum sind. Der Verstand sieht,
daß, wo man eine Verbindung gesetzt hatte, keine sein kann.".
') [Zz] ztigi in dtr Deussenschen Ausgabe einen „Zusatz" an. Dieser selbst
ist in kleineren Typen gedruckt.
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 525
Den hierauf folgenden längeren Passus, der das oben er-
wähnte Zukunftsideal darlegt, können wir beiseite lassen.
Eine wörtliche Benutzung des Ganzen ist in Schopenhauers
Werken nicht nachweisbar. Doch stimmt der religionsfeindliche
Kerngedanke dieses fiktionalistischen Nihilismus mit ähnlichen
Äußerungen des Meisters überein, z. B. in den Parerga u. Para-
lipomena (II, § l8l).
2. ,,Gott" als erlaubter symbolischer Ausdruck
bei Nichtphilosophen.
Seine persönliche Überzeugung von einer übersinnlichen Rea-
lität, die zugleich das religiöse Bedürfnis befriedigt, hat der junge
Denker in dem sinnigen Ausdrucke ,,das bessere Bewußtsein"
terminologisch fixiert.
Vom Standpunkte dieses ,, besseren Bewußtseins" aus ver-
mag er sich mit dem Gottesbegriff, dem Personalität und Kausalität
anhaften, nicht zu befreunden.
,,Ich aber sage", so bekennt er feierlich (§ 61), ,,in dieser
zeitlichen, sinnlichen, verständlichen Welt gibt es wohl Persön-
lichkeit und Kausalität, ja sie sind sogar notwendig. — Aber das
bessere Bewußtsein in mir erhebt mich in eine Welt, wo es
weder Persönlichkeit und Kausalität noch Subjekt und Objekt
mehr gibt. [Zz.] Meine Hoffnung und mein Glaube ist, daß dieses
bessere (übersinnliche, außerzeitliche) Bewußtsein mein einziges werden
wird: darum hoffe ich, es ist kein Gott. — Will man aber den Aus-
druck Gott symbolisch gebrauchen für jenes bessere Bewußtsein
selbst oder für manches, das man nicht zu sondern und zu benennen
weiß, so mag's sein: doch dächte ich, nicht unter Philosophen."
Der symbolische Gebrauch, von dem Schopenhauer spricht,
ist echt fiktionalistisch. Die nihilistische Tendenz erscheint in-
sofern gemildert, als dieser Gebrauch wenigstens außerhalb des
Philosophenkreises geduldet sein soll.
^. Positive Würdigung der kantischen Postulate ,,Gott"
und ,, Unsterblichkeit".
Ein sonderbarer Zufall hat in unmittelbarste Nachbarschaft
hiermit eine Aufzeichnung gerückt, die endlich auch die positive
Seite des Fiktiven gerade für das religiös -ethische Gebiet aufs
r -,(3 Arnold Kowalewski:
unzweideutigste betont. Es ist zugleich die erste eigentliche
Als-Ob-Betrachtung des jungen Schopenhauer, die bezeich-
nenderweise an Kant anknüpft. Ich muß die klassische, aus dem
Jahre 1813 stammende Stelle (§62) vollständig zitieren.
,, Kants Annahme des Daseins Gottes und [der] Unsterb-
lichkeit der Seele zum praktischen Behuf, welche nicht für
objektive Erkenntnis auszugeben er sich angelegentlich verwahrt,
hat ungefähr (und kaum) so viel Grund [Zz.] und dasselbe Ver-
hältnis zur Wahrheit als in der Physik die Annahme eines Wärme-
stoffs oder eines -\-E oder —E oder [eines] magnetischen Stoffs
[w. sp. Zz.]^) oder Tobias Meyers Hypostasis eines loo Meilen vom
Mittelpunkt der Erde liegenden unendlich kleinen Magnets, aus dem
sich die Abweichungen der Nadel an verschiedenen Orten der Erde er-
klären lassen u. a. m. [:] ihre Existenz behauptet kein gründ-
licher Physiker: aber als Leitfaden beim Experimentieren
([zum] praktischen Behuf), zur Verknüpfung der Erschei-
nungen und zur Erkenntnis der Gesetze, denen gemäß sie
erfolgen, ist die Annahme sehr tauglich, und man kann,
auf sie gestützt, die Gesetze ebenso richtig auffassen, die Er-
scheinungen in ihrer Verbindung erkennen, vorhersagen, richtig
Versuche, die die Gesetze vollständiger angeben, anstellen, [Zz.]
technische, medizinische und chemische Anwendungen dieser Natur-
kräfte machen, als ob man die Wahrheit selbst erkannte. Also
ist die Annahme für das Praktische vollkommen hin-
reichend."
Hiernach hat der Danziger Philosoph ein wenn auch etwas
zögerndes, aber doch im ganzen wohlwollendes Verständnis für
die eigentliche Bedeutung von zwei wichtigen Postulaten Kants.
Interessant ist besonders, daß zugleich mehrere physikalische
Fiktionen als Parallelen herangezogen werden. Die wesentlichen
Momente des Fiktiven sind klar und sicher erfaßt. Wir können
daraus einen günstigen Schluß auf die Gediegenheit von Schopen-
hauers naturwissenschaftlicher Schulung machen. Wer es so weit
gebracht hat, daß er die naturwissenschaftlichen Hilfsbegriffe
nicht für starre Dogmen hält, sondern in ihrer lebendigen metho-
di.<^chen Funktion vollkommen durchschaut, der ist mit der Arbeits-
vmd Denkweise des Naturforschers wirklich vertraut. Die nach-
träglichen Zusätze, die diese Als-Ob-Betrachtung aufweist, lassen
erkennen, daß es sich nicht um einen flüchtigen spielenden Ein-
') [^^'- sp- Zz.] = Wahrscheinlich späterer Zusatz
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. C27
fall handelt, sondern um einen dauerhaften ernsten Gedanken.
Eine wörtliche Benutzung scheint auch dieser gehaltvolle Apho-
rismus in den Werken Schopenhauers nicht gefunden zu haben.
Eine Stelle in der Griseb achschen Ausgabe der Parerga und
Paralipomena (II, S. 414) bringt allerdings eine treffliche Varia-
tion der gleichen Als-Ob-Betrachtung. Sie mag sogleich angeführt
werden, da sie bemerkenswerte neue fiktionalistische Einzelheiten
aufweist.
,, Statt die Wahrheit der Religionen als sensu allegorico zu
bezeichnen, könnte man sie, wie eben auch die Kantische Moral-
theologie, Hypothesen zu praktischem Zwecke oder hod-
egetische Schemata nennen. Regulative, nach Art physi-
kalischer Hypothesen von Strömungen der Elektrizität zur Er-
klärung des Magnetismus oder von Atomen zur Erklärung der
chemischen Verbindungsproportionen usw.^), welche man sich
hütet als objektiv wahr festzustellen, jedoch davon Gebrauch
macht, um die Erscheinungen in Verbindung zu setzen, da sie
in Hinsicht auf das Resultat und das Experimentieren ungefähr
das Selbe leisten, als die Wahrheit selbst. Sie sind Leit-
sterne für das Handeln und die subjektive Beruhigung beim
Denken."
Die Bezeichnung ,, Hypothesen zu praktischem Zwecke"
wird freilich der Philosoph des Als Ob im Interesse der begriff-
lichen Eindeutigkeit beanstanden müssen. Das klassische Kap. XXI
der ,, Philosophie des Als Ob" hat den ,, Unterschied der Fik-
tion von der Hypothese" definitiv klargestellt. Ich hebe nur
folgende wichtige Sätze daraus hervor:
,,Die Leistung und FunJction der Hypothese ist eine ganz
andere als die der Fiktion. Aus der Verschiedenheit der Leistung
muß die Verschiedenheit der methodologischen Regeln
folgen.
Eine Fiktion ist dann gerechtfertigt, wenn sie dem Denken
wirkliche Dienste leistet, wenn sie es fördert: eine Hypothese
aber muß bewahrheitet werden; Fiktionen können niemals
verifiziert w^erden, weil in ihrem Begriff die Abweichung von
der Wirklichkeit eingeschlossen ist." (Vaihinger, Die Philo-
sophie des Als Ob. 2. Aufl. S. 150.)
Übrigens kennt auch Schopenhauer die intime Beziehung der
^) ,, Sogar die Pole, Äquator und Parallelen auf dem Firmament sind dieser
Art: am Himmel ist nichts dergleichen: er dreht sich nicht."
528
Arnold Kowalewski:
Hypothoso zur Wirklichkeit. In seinem Hciuptwerke (II, Kap. 12)
heißt es z. B. :
,,Eine richtige Hypothese ist nichts weiter, als der wahre
und vollständige Ausdruck der vorliegenden Tatsache, welche
der Urheber derselben in ihrem eigentlichen Wesen und innern
Zusammenhang aufgefaßt hatte. Denn sie sagt uns nur, was hier
eigentlich vorgeht."
Wenn Schopenhauer auch solche Annahmen ,, Hypothesen"
nennt, die eigentlich etwas Nichtwirkliches bedeuten und keinen
Anspruch auf Verifizierung machen, so tut er das nur, weil ihm
ein geeigneter Ausdruck dafür fehlt. Das Wort ,, Fiktionen" ist
in seinem Sprachgebrauche leider — wie wir schon wissen — zu
übel beleumundet, als daß es in Betracht kommen könnte. Immer-
hin meint der Danziger Philosoph mit dem inkorrekten Ausdrucke
,, Hypothesen, welche man sich hütet als objektiv wahr fest-
zustellen, jedoch davon Gebrauch macht, um die Erscheinungen
in Verbindung zu setzen" zweifellos echte Fiktionen im Sinne
der Philosophie des Als Ob. Es ist sehr interessant, zu ver-
nehmen, daß er dazu nicht nur die Hilfslinien der Astronomen
rechnet, sondern sogar die Atome der Chemiker. Außer der an-
fechtbaren Formel ,, Hypothesen zu praktischem Zwecke", die
sich ungefähr mit dem modernen Ausdrucke ,,Arbeitshypotheseii"
zu decken scheint, steuert Schopenhauer zum fiktionalistischen
Sprachschatze wenigstens ein paar brauchbare Bezeichnungen
(hodegetische Schemata, Regulative, Leitsterne für das Handeln) bei.
Wie schön wäre es, wenn wir die abgeklärte gehaltvolle Parerga-
stelle, in der auch der zögernde Ton der früheren Kundgebung
nicht mehr zu spüren ist, für eine unmittelbare Fortwirkung der
ersten Als-Ob-Betrachtung halten dürften. Könnte der Danziger
Denker jene erste Als-Ob-Betrachtung nicht selbst bei der Durch-
sicht seiner Jugendmanuskripte als geeigneten Beitrag zu seinem
popularphilosophischen Werke ausgewählt und entsprechend um-
geformt haben.'' Liegt, mit anderen Worten, nicht die Wahr-
scheinlichkeit einer direkten freien Benutzung vor?
Ixider macht uns die gründliche Textkritik Paul Deussens
in seiner Parergaausgabe einen grausamen Strich durch die
Rechnung. Die fragliche verbesserte Als-Ob-Bctrachtung ent-
stammt nämlich, wie der Herausgeber anmerkt, dem Manuskript -
buche Cogitata, das Schopenhauer erst seit 1830 begann. Diese
handschriftliche Quelle liegt also recht weit ab von den Erstlings-
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 520
manuskripten, so daß ein unmittelbarer Zusammenhang der beider-
seitigen fiktionalistischen Reflexionen nicht mehr annehmbar ist.
Genug hiervon. Setzen wir unsere Musterung fort !
Bald auf die erste Tollwertige Als-Ob-Betrachtung § 62 folgt
in den Erstlingsmanuskripten wieder eine Kraftprobe des fiktio-
nalistischen Nihilismus, ein Seitenstück zu dem analogen Vor-
spiel, das § 61 darbot.
4. Kantische Postulate — Philistereien.
Schopenhauer regt sich in § 65 darüber auf, daß man die
Vernunft so auszeichnet. Sie erscheint ihm vielmehr als „Ouelle
alles Irrtums". Er verweist u. a, auf die Kantischen Antinomien.
Die Vernunft „will immer weilen", während ,,die übrige sinn-
liche Natur, dem Geiste der Zeitlichkeit getreu, immer weiter
und weiter strebt". Zu den drei theoretischen Vernunftideen
Kants möchte der junge Denker ,,auch im Praktischen eine
transzendentale Idee" annehmen, die Idee der ,, Glückseligkeit".
,,Wie die theoretischen Ideen völhge Abgeschlosssenheit und Be-
friedigung in Hinsicht auf Erkenntnis im Umkreis dieser Erfah-
rungswelt und im Verfolg ihrer Gesetze vorspiegeln, so spiegelt
die Idee der praktischen Vernunft vollendete Befriedigung aller
Wünsche unserer sinnlichen Natur [Zz.j und gänzliche Zufrieden-
heit im Zustande der Zeitlichkeit ohne weitere Sehnsucht vor: Wir-
kung dieser Idee ist alle Zivilisation, Staat usw. — Wer ganz ihr
hin[ge]geben wäre, würde der vollendete Philister sein . . ."
Dafür streicht Schopenhauer das ,, bessere Bewußtsein" heraus,
das, über alle Vernunft erhaben, sich im Handeln als Heiligkeit
darstellt, die wahre Welterlösung ist und in der Kunst des Genies
zum Trost für die Zeitlichkeit erscheint. Er erörtert dann noch
kurz das Trauerspiel, den ,, wahren Gegensatz aller Philisterei",
da hier die gänzliche Unzulänglichkeit der praktischen Vernunft
zum Ausdruck kommt, und schließt mit dem wegwerfenden
Satze: ,, Daher sind auch alle Theodizeen, Hiobs vernünftelnde
Freunde, Kants Postulate eines belohnenden Gottes und einer
belohntwerdcnden unsterbhchen Seele — Philistereien."
Das ist ein starkes Stück. Schopenhauers vielverheißender
Ansatz zu einer positiven Würdigung bedeutsamer Kantischer
Postulate in § 62 scheint nicht nur zurückgenommen, sondern
in sein Gegenteil verkehrt zu sein. Jedem Philistertum haftet
Annalen der Philosophie. I. j4
- ■jQ Arnold Kowalcwski:
nun einmal der Makel der niedrigen, gemeinen Gesinnung an.
Es ist geradezu ungeheuerlich, die aus lautersten ethischen Ge-
danken geborenen Postulate Kants zu Philistereien zu stempeln.
Der übelgelaunte Kritiker übersieht in seinem blinden Eifer, daß
die eigentliche ethische Deduktion der Seelenunsterblichkeit des
Königsberger Weisen nicht das Lohnprinzip benutzt. Der Kantische
Mensch will nicht unsterblich sein, um Lohn zu empfangen, son-
dern um sich weiter sittlich vervollkommnen zu können. Diese
edle Strebsamkeit hat wahrhaftig nichts mit behaglichem, sattem
Philistertum zu schaffen. Nur ein paar geringfügige Zeilen sind
aus der langen bissigen Aufzeichnung in das Hauptwerk über-
nommen worden. Wir dürfen sie mit Stillschweigen übergehen,
da sie nicht das Fiktive berühren. Interessant ist immerhin, zu
beobachten, wie früh (die Skizze gehört dem Jahre 1813 an) sich
schon der Danziger Philosoph mit der typischen Figur des Philisters
zu beschäftigen beginnt, deren umfassende satirische Analyse
nachmals eines der glänzendsten Kapitel in den Parerga und
Paralipomena geworden ist.
5. Widerspruchsvoller Charakter der geometrischen
Kongruenz.
Nur kurz berühre ich eine apokryphe Stelle aus dem be-
trächtlichen § 75, der für einige Seiten der Doktordissertation
die Quelle bildet. Sie lautet:
,, Unter den Axiomen der Geom[etrie] ist auch, daß Figuren,
die sich decken, gleich sind. Aber zu dessen Brauchbarkeit
müßte unter den Postulaten auch das sein, ,,eine Figur auf die
andere zu legen": was indes auf eine Überzeugung wirkende
Weise unmöglich ist: denn physisch ist eine völlig regelmäßige
Figur unmöglich, also kann man sich durch Aufeinanderlegen
wirklicher Figuren nie überzeugen, daß sie [d]^) (sie) [Korr.]^)
[die durch sie vorgestellten rein-geometrischen | gleich sind. In
der Einbildungskraft geht es gar nicht an, beide Figuren auf-
einander zu legen und sie doch als zwei verschiedene zu erhalten
und zu vergleichen."
Sehr drastisch enthüllt Schopenhauer hier den widerspruchs-
) [^] = durchstrichen, bezieht sich auf das Eingeklammerte daneben.
*) [Korr.] = Korrektur, bezieht sich auf das mit | . . . | abgeteilte Stück,
das Schopenhauer für (sie) eingesetzt hat.
iVnsätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 5^1
vollen Charakter geometrischer Kongruenz. Er läßt sich dadurch
leider zu einem voreiligen Verwerfungsurteil über diese trotzdem
wertvolle Fiktion verleiten. Es fehlt sozusagen der fiktionalistische
Mut. Die Bemerkung blieb vermutlich unbenutzt, weil der Autor
selbst damit nicht ins reine gekommen ist.
6. Widerspruchsvolle, aber unvermeidliche Relation
zwischen dem ,, besseren" und empirischen Bewußtsein.
Bedeutender ist die Aufzeichnung § ^d, die uns in die Region
der metaphysischen Fiktionen entrückt. Die Sonderung des ,, besseren
Bewußtseins" und des ,, empirischen" veranlaßt den jungen Denker,
die Frage ,,nach der Relation zwischen beiden" aufzuwerfen,
,, nämlich, wie es zum empirischen Bewußtsein je habe kommen
können". Bei genauerer Überlegung stellt sich heraus, daß man
dabei widerspruchsvolle Voraussetzungen macht (eine zeitliche
Folge des empirischen Bewußtseins auf das bessere oder ein ur-
sächliches oder sonstiges Verhältnis zwischen beiden, während
doch alle solche Bestimmungen ausschließlich im empirischen
Bewußtsein gelten). ,,Die Frage nach obiger Relation hat also
gar keinen Sinn: denn sie hebt das empirische Bewußtsein
auf und fragt nach Relation, die doch nur mit jenem Bewußtsein
gesetzt wird. Dennoch ist dieser transzendentale Schein
unvermeidlich und nicht zu heben: wir können gar nicht
umhin, besagte Relation zu denken: der Sündenfall
drückt sie mythisch aus. Man kann sagen, wenn man durch-
aus von dieser Relation reden will, sie sei eine schlechthin und in
alle Ewigkeit unerkennbare. Denn das bessere Bewußtsein denkt
und erkennt nicht, da es jenseits des Subjekts und Objekts liegt :
das empirische Bewußtsein aber kann keine Relation erkennen,
deren eines Glied es selbst ist, die also über seine Sphäre hinaus
liegt und diese selbst einschließt. Wenn man aber so spricht, so
setzt man etwas in sich Widersprechendes und Undenk-
bares als gedacht voraus, nämlich besagte Relation, die ein
bloßer transzendentaler Schein ist."
Man beachte, daß Schopenhauer einerseits den widerspruchs-
vollen Charakter, andererseits die Unentbehrlichkeit des fraglichen
transzendentalen Relationsgedankens behauptet, mithin, wenn auch
ohne terminologisches Bewußtsein, eine waschechte Fiktion fest-
stellt, sogar unter Hinweis auf eine besondere mythologische Aus-
34*
-72 Arnold Kowalewski:
(Iruckslorm. Die gediegene Aufzeichnung ist in den Werken
nicht verwertet worden. Zusätze bzw. Korrekturen fehlen voll-
kommen. Daraus darf man wohl auch schließen, daß der Denker
dieses Stück später nicht mehr nachgelesen imd nachgeprüft hat.
7. ,,Gott" als leerer Name.
Der gleichfalls ungeänderte und unbenutzte satirische Satz
§ 95 stellt gleichsam den Giftextrakt aus der fiktionalistischen
Kritik des Gottesbegriffes in § 61 dar. Er bedarf keines Kom-
mentars.
,,Gott ist in der neuen Philosophie, was die letzten fränkischen
Könige unter den Majores Domus, ein leerer Name, den man
beibehält, um bequem und unangefochtener sein Wesen treiben
zu können."
8. Bedeutung der Ideen.
Erfreulicher ist § 99, wo Schopenhauer mit einfühlender
Analyse die praktische Bedeutung der Ideen behandelt. Er kommt
dem positiven Fiktionalismus sehr weit entgegen, statuiert aber
für den Philosophen doch wieder eine Ausnahme. Es seien wenig-
stens die Kernsätze aus diesem Aphorismus zitiert.
,, Durch Idee schlechthin könnte man, dächte ich, sehr füg-
lich folgendes bezeichnen, das als ein ganz ausgezeichneter und
unvergleich[lichjer Gegenstand unscrs Erkenntnisvermögens eines
eignen Ausdrucks bedarf.
Ein Objekt, entweder Begriff oder einzelnes Objekt, welches
wir mit dem bessern Bewußtsein eng und unauflöslich
verknüpft haben. So ist jedem Gläubigen seine Religion eine
Idee, nämlich ein Ganzes von Begriffen, das seiner Vernunft das
bessere Bewußtsein repräsentiert, welches er daher von jenem
flurchaus nicht trennen kann. Für eine Idee (nicht jeder
ist einer fähig) stirbt man gern, und solcher Tod ist höchste Tugend,
sei die Idee auch abgeschmackt: denn sie repräsentiert das
iK'ssere Bc-\\-ußtsein, und was man für sie tut, hat man für das
bessere Bewußtsein, für dessen Bejahung und Behauptung getan."
Es folgen nun mehrere Beispiele von Aufopferung für die Idee.
Auch wird gezeigt, daß die Ehre (im ritterlichen Sinne) keine
„Idee" sei, sondern nur ,,das irdische Nachbild derselben". Nach-
dem endlich norh <inm:d die feste Verknüpfung der echten Idee
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. c 3 7
mit dem besseren Bewußtsein durch das Analogen einer chemischen
Verbindung erläutert ist, kommt der frostige Schluß:
,,Der Philosoph, der Entwirrer aller Erscheinungen des
Ix^bens, gleicht dem scheidenden Chemiker: er befreit das bessere
Bewußtsein von allem, woran es gebunden sein kann [Zz.j und
erhält es frei und rein. Der Philosoph kann daher keine Ideen haben."
Dieser Aphorismus ist wiederum nicht in die Schopenhauer-
schen Werke aufgenommen, muß aber den Denker trotzdem nach-
haltiger beschäftigt haben, wie die eingefügten Zusätze bekunden.
Die rigoristische Schlußsentenz, daß der Philosoph keine Ideen
haben könne, fordert mit andern Worten Fiktionslosigkeit.
Das erinnert an die in der Einleitung angeführte Parergastelle,
wo Schopenhauer stolz erklärt, daß bei ihm ,, keine Fiktionen
erfordert" seien. Wir werden noch mehrfach Gelegenheit haben,
zu prüfen, ob der Danziger Philosoph in seinem eigenen System
wirklich dieses stolze Wort genau erfüllt.
9. Philosophische Auslegung von Adams Sündenfall
und Jesu Opfertod.
Zwei Hauptdogmen des Christentums sucht der junge Denker
in einer zu Weimar 1814 niedergeschriebenen Reflexion (§ 125)
philosophisch zu deuten. Trotz der knappen Formulierung muß
er sich sehr gründlich mit der Sache beschäftigt haben, da zahl-
reiche Zusätze historische Belegstellen aus der Bibel und aus
Kirchenschriftstellern beibringen. Es handelt sich um Adams
Sündenfall und Jesu Opfertod, die beide nach der Lehre des
Christentums einschneidende Bedeutung für die Welt haben. En-
thusiastisch nennt Schopenhauer diese Lehre ,,eine im strengsten
Sinne wahre, unübertreffliche, höchst tiefsinnige" und läßt auch
im weiteren Verlaufe der Aufzeichnung nicht den leisesten Mißton
durch irgend eine kritisierende Zwischenbemerkung laut werden.
Seine philosophische Auslegung ist nun folgende:
,,Wenn . . . wir die Platonische Idee des Menschen betrachten,
so sehen wir, daß Adams Sündenfall die endliche, tierische, sündige
Natur des Menscheri ausspricht, indem er von derselben ein un-
leugbares Zeugnis ablegt: von dieser Seite betrachtet, ist also
der Mensch ein der Endlichkeit, der Sünde, dem Tode anheim-
gefallenes Wesen. Jesu Christi Wandel, Lehre und Tod spricht
- ■> , Arnold Kowalewski :
digigrn die ewige, übernatürliche Seite, die Freiheit, die Er-
lösung des Menschen aus, ist ein unleugbares Zeugnis derselben.
Wer nun Mensch ist, ist als solcher nicht nur Adam, sondern
er ist auch Jesus: er kann sich als jener, aber auch als dieser
betrachten: je nachdem er sich betrachtet (nicht in der Reflexion,
sondern im Sein, das sich durch Handeln ausspricht, ist
er verdammt und dem Tode anheimgefallen, oder er ist erlöst
und im ewigen Leben. — Also : den Menschen (in der Platonischen
Idee) hat Adam der Sünde und dem Tode zugesprochen, und
Jesus hat ihn erlöst."
Der Herausgeber der Manuskripte merkt an, daß der ganze
§ 125, von dem wir nur die letzten .Kernsätze wiedergegeben
haben, ,,ohne die Zitate" in den Ergänzungsband des Haupt-
werkes aufgenommen sei. Tatsächlich besteht eine weitgehende
wörtliche Kongruenz zwischen dieser Aufzeichnung und der Welt
als Wille und Vorstellung H, Kap. 48, gegen Schluß. Ein ähn-
licher Gedankengang kommt aber auch in der editio princeps
(S. 473 f. und 581) vor und hat sich von dort aus im ersten Bande
der späteren Auf k' gen des Hauptwerkes (teilweise mit Zusätzen)
fortgeerbt (I, § 60 und § 70). Hier findet man auch großenteils
die vom Herausgeber vermißten Zitate des Manuskripts. Die
gedruckten Darkgungen unterscheiden sich dadurch von dem
handschriftlichen Original, daß sie auch äußerlich, am schärfsten
der Zusatz der 3. Auflrge, den symbolischen Charakter der Dog-
men herv'orheben und die bekannten Kategorien des Systems
(,, Bejahung des Willens zum Leben" = Adam, ,, Verneinung des
Willens" = Erlöser) benutzen. Jedenfalls ist es interessant, zu
beobachten, wie früh der junge Denker sich um eine positive
Würdigung religiöser Ide<.n bemühte, und zugleich seiner Philo-
sophie einen wichtigen Resonanzboden schuf. Entwicklungs-
geschichtlich sei noch erwähnt, dvS mit der zunehmenden Ver-
schärfung der Fiktion in den späteren Schriften zugleich die Un-
duldsamkeit des Philosophen gegen den kindlichen historischen
Glauben immer schroffer wird und zuletzt in Blasphemie ausartet.
10. Rcchtfcrtii:iung der Dogmen von der jungfräulichen
Geburt und dem Scheinleib Jesu.
Noch ^inc überraschende Probe von positiver Deutungskunsi
auf dem gleichen Gebiete gibt uns Schopenhauer in einer Auf-
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. c^r
Zeichnung desselben Jahres und Ortes (§ i68), die er selbst mit
der früheren verglichen wissen will. Er sucht das Dogma von
der jungfräulichen Geburt Jesu zu rechtfertigen, wieder unter Bei-
bringung historischer Belegstellen.
„Wenn wir annehmen (was sich ziemlich gewiß ergibt, so-
bald man die Evangelien als in der Hauptsache ganz wahr an-
sieht), daß Jesus Christus ein Mensch gewesen sei, ganz frei
von allem Bösen und von allen sündigen Neigungen; so muß
(da mit dem Leibe sündige Neigungen eigentlich notwendig ge-
setzt sind, ja der Leib nichts ist als die verkörperte sichtbar ge-
wordene sündige Neigung) — Jesu Leib allerdings nur ein Schein -
leib genannt werden. Einen solchen von aller sündigen Neigung
ganz freien Menschen, einen solchen Träger eines Scheinleibs,
sich als von einer Jungfrau geboren zu denken, ist ein
vortrefflicher Gedanke. Selbst physisch läßt sich, davon eine,
wiewohl entfernte, Möglichkeit aufzeigen."
Dann erwähnt er entsprechende Fälle von Parthenogenesis
bei Tieren und schließt die ganze Aufzeichnung mit den Worten:
,,Daß dieses ein einziges Mal beim Menschen eingetreten
sei, ist nicht so unwahrscheinlich zu denken, als daß es einen
wirklich sündenfreien Menschen gegeben habe, und sobald wir
letzteres annehmen, kann jenes, bei der, aller Vernunft unerreich-
baren, Harmonie zwischen der Korporisation und dem intelli-
giblen Charakter jedes lebenden Wesens [Zz.] und der Erblich-
keit vieler Neigungen und Charakterzüge, sehr wohl angenommen
werden.'
Dies ist ein verwickelter Fall, eine Verschmelzung von Fiktion
und Hypothese. Aus dem ersten Stücke möchte man vorwiegend
eine Fiktion herauslesen. Der jun;:^e Philosoph spricht vorsichtig,
daß man den fraglichen Leib nur ,, Scheinleib nennen" müsse.
Das Dogma selbst heißt ein ,, vortrefflicher Gedanke", was gleich-
falls wenig realistisch klingt. Aber der letzte Satz des Stückes
deutet auf eine empirische Bestätigungsmöglichkeit hin. Damit
ist die Umbiegung der Fiktion in eine Hypothese unzweideutig
gegeben. Der Schlußsatz scheint diese Hypothese als definitives
Votum zu präzisieren. Ist die vorstehende Analyse zutreffend, so
haben wir hier innerhalb eines einzigen Gedankenganges
,, Ideenverschiebung" im Sinne des Vaihingerschen Gesetzes kon-
statiert. Was am Anfang des Gedankenganges Fiktion ist, ver-
wandelt sich am Ende desselben in eine Hypothese.
536
Arnold Kowalewski:
WtlilK's Scliicksal liat nun diese Aufzeichnung in der litera-
rischen Öffenthchkeit gehabt? Sie ist tatsächlich im Hauptwerke
wrwertet worden. Aber wie? Sie ist auf S. 581 mit der schon
erwähnten Reflexion über Sündenfall und Erlösung verwoben
worden, unter stärkster Verkürzung. Die symbolische Form, die
nach den einleitenden Worten „symbolisiert Gnade, die Ver-
neinung des Willens im menschgewordenen Gotte, der usw." dem
Ganzen aufgeprägt ist, läßt jetzt keine Umbiegung in die Hypo-
these mehr zu. Schopenhauer unterdrückt ganz den Hinw^eis auf
eine empirische Bestätigungsmöglichkeit des Dogmas (Partheno-
gencsis bei Tieren), bringt aber die hauptsächhchsten historischen
Belege für den Doketismus (Annahme eines Scheinleibes) aus dem
Manuskript. Diese Belege beziehen sich bloß auf eine Feststellung
des dogmatischen Lehrbestandes und seiner Schriftgemäßheit. An
eine Erörterung der materiellen Wahrheit ^^'ird auch bei der Schein-
leibfrage nicht im geringsten gedacht. Aus der Verschmelzung
\on Fiktion und Hypothese ist also in der gedruckten Deutung
der Jungfrauengeburt und des Scheinleibes eine reine Fiktion
geworden. Diese reine Fiktion hat sich auch durch die späteren
Auflagen des Hauptwerkes hindurch fest behauptet. Man möchte
liierbci an eine parallele Als-Ob-Betrachtung Kants erinnern, der
Vai hinger in seiner ,, Philosophie des Als Ob" eine treffliche
Anidyse gewidmet hat (a. a. O. S. 661 und 721). Auch der
Königsberger Weise tritt nicht nur in seinem religionsphilosophischen
Werke, sondern sogar noch in seinem Nachlaßmanuskript für die
,,Idee" der jungfräulichen Geburt Christi ein. Es fehlt aber durch-
aus das doketistische Motiv. Darum schon dürfte Schopenhauers
fiktionalistische Charakteristik ganz unabhängig von Kantischem
Einfluß sein. Für ihre Selbständigkeit sprechen auch die indi-
viduellen Kategorien des Systems (Willensbejahung — Willens-
vcrneinung), mit denen der Danzigor Philosoph operiert. Als Be-
sonderheit möchte ich noch nachträglich hervorheben, daß in der
gedruckten Darstellung zuerst die jungfräuliche Geburt und dann
erst der Scheinleib gerechtfertigt wird, während im Manuskript
die umgekehrte Reihenfolge herrscht. Es handelt sich, genau ge-
nommen, um zwei Fiktionen, die aber für Schopenhauer eng
zusammengehören.
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. C5j
II. Zweck des Lebens — figürlich für ,, Wesen des
Lebens oder der Welt' .
§ 209 (aus dem Jahre 1814) enthält eine interessante, aber
unbenutzt gebliebene Polemik gegen die üblichen Lobpreisungen
. der Unschuld. Gleich der Anfang dieser Polemik muß unsere
Aufmerksamkeit erregen.
,,Die Unschuld ist wesentlich dumm. Dies daher, v^'eil der
Zweck des Lebens (ich bediene mich dieses Ausdrucks eigent-
lich nur figürlich und könnte sagen das Wesen des Lebens
oder der Welt) der ist, daß wir unsern eignen bösen Willen er-
kennen, [Zz.] daß er Objekt für uns werde, und wir demnach
uns im Innersten bekehren."
Hier wird ein ganz harmloser Ausdruck, den man tagtäglich
ohne Bedenken im Munde führt, ,,der Zweck des Lebens" sozu-
sagen mit einer fiktionalistischen Entschuldigung vorgestellt. Man
soll ihn also nicht ernst nehmen, wenn er ,, eigentlich nur figürlich"
gilt, und daneben ist sogleich ein einwandfreier Ersatz genannt,
,, Wesen des Lebens oder der Welt". Schopenhauer nimmt an
de'm gewöhnlichen Ausdrucke offenbar darum Anstoß, weil seine
ganze metaphysische Betrachtungsweise über die durch den Satz
vom Grunde beherrschte Erscheinungssphäre, wo das Warum und
Wozu allein Bedeutung haben, hinausstrebt. ,, Alles falsche Philo-
sophieren", so heißt es in einer anderen Aufzeichnung (§ 370),
,,hat sein Wesen darin, daß es den Satz vom Grund für ab-
solut hält und nach ihm die Welt erklärt." Außerdem mißfällt
dem jungen Philosophen wohl auch das optimistische Vorurteil,
das dem Ausdrucke ,,der Zweck des Lebens" anzuhaften scheint.
Trotzdem wird nicht der mitgenannte Ersatzausdruck gewählt.
Wie kommt das? Die Sache liegt einfach so. Schopenhauer
möchte seine Lehre von der Willensverneinung (hier populär
,, Bekehrung" genannt) rasch auf eine faßliche Formel bringen,
die zugleich einen praktischen Impuls gibt. Dazu ist augenschein-
lich der starre, gleichgültige, theoretische Ausdruck ,, Wesen des
Lebens oder der Welt" ganz ungeeignet. Der eigentlich ungültige,
mit trügerischem Nebensinn belastete Ausdruck ,, Zweck des Lebens"
birgt aber sozusagen eine geheime protreptische Kraft, die sich
auch in einem außerordenthchen Falle bequem nutzen läßt. Merk-
x^ürdig ist jedenfalls, daß das fundamentale Philosophem
;3S
Arnold Kowalewski:
von der Willonsvcrneinung in dem bescheidenen Ge-
wände einer Fiktion erscheint.
Sehen wir sofort zu, ob dieses bescheidene Gewand sich auch
bei weiteren Gelegenheiten zeigt.
12. Zweck des Lebens — gleichniswcise.
Die nächste Gelegenheit bietet § 254, eine umfassendere tief-
sinnige, fast ganz unbenutzt gebliebene Skizze (auch aus dem
Jahre 1814), die sich um eine Aufklärung der dunkeln Erlösungs-
lehre bemüht. Mitten darin lesen wir:
,,Der Zweck des Lebens (ich brauche hier einen nur gleichnis-
weise wahren Ausdruck) ist die Erkenntnis des Willens. Das
Leben ist der Spiegel des Willens, dessen in innerer Entzweiung
bestehendes Wesen darin Objekt wird, durch welche Erkenntnis
der Wille sich wenden kann und Erlösung möglich ist."
Nur der früher mitgenannte ,,eigentHche" Ausdruck fehlt.
Sonst ist alles beim alten geblieben. Die Fiktion ,, Zweck des
Lebens" hat nicht die geringste Verschiebung erlitten.
13. Zweck der Welt — dogmatisch?
Schon die (noch aus dem Jahre 1814 stammende) glänzende
ethische Analyse Bonapartes (§ 306), von der im Hauptwerke
(I, § 64), sogar in dessen ed. princeps (freilich ohne Nennung;
des gefürchteten Namens) teilweise Gebrauch gemacht ist, über-
rascht uns aber mit folgenden Sätzen:
,,Eben dies aber, daß erkannt werde, mit welchem namenlosen
Jammer der Wille zum Leben verknüpft und eigentlich Eins ist,
ist der Zweck der Welt. Bonapartes Erscheinung trägt also
viel zu diesem Zweck bei. Daß die Welt ein fades Schlaraffen-
land sei, ist nicht ihr Zweck; sondern dies, daß sie ein Trauerspiel
sei, in welchem der Wille zum Leben sich ei'kenne und wende.
Bonaparte ist nur ein gewaltiger Spiegel des Willens zum Leben."
Hier redet Schopenhauer in naiv dogmatischem Tone vom
,, Zweck der Welt" und bestimmt diesen Zweck sogar nicht nur
im allgemeinen durch die Formel ,, Selbsterkenntnis und Wendung
(d. h. Verneinung) des Willens", sondern auch nach seiner be-
sonderen Beschaffenheit genauer durch Exemplifizierung auf den
Fall Bonaparte Nicht eine Silbe von fiktiona listischer Abschwächung
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. "530
des Ausdruckes ist aus dem übrigen Inhalte des kleinen Aufsatzes
zu entnehmen. Daß „Welt" für „Leben" eingesetzt ist, macht
natürlich keinen Unterschied, sagte doch Schopenhauer zuerst
selbst ,, Wesen des Lebens oder der Welt". Er brauchte an dieser
Stelle ein Ersatzwort für ,, Leben" wegen der gleichzeitig ein-
geführten Formel ,, Wille zum Leben". Die Abkgung des offi»
ziellen Gewandes der Fiktion ist wohl aus der populären halb-
paränetischen Situation der ganzen Aufzeichnung zu erklären.
Gerade der uns hier interessierende, oben zitierte Passus ist nicht
in die gedruckten Werke übergegangen.
14. Zweck des Menschen — parabolisch.
In § 328 (ebenfalls aus dem Jahre 1814) bekämpft Schopen-
hauer die Ansicht, ,,der Staat habe zur Absicht Beförderung des
moralischen Zwecks des Menschen". Viel eher sei das Gegenteil
wahr. Und in der Begründung dieser paradoxen These heißt es:
,,Der Zweck des Menschen (ein parabolischer Ausdruck)
ist nicht, daß er so oder anders handele, denn alle opera operata sind
an sich gleichgültig. Sondern daß der Wille, davon jeder Mensch
ein vollständiges specimen, ja dieser Wille selbst ist, sich wende,
wozu nötig ist, daß der Mensch (der Verein von Erkennen und
Wollen) diesen Willen erkenne, das Entsetzliche dieses Willens
erkenne, sich spiegele in seinen Taten und deren Greuel. Der
Staat, dem es nur aufs Wohlsein aller abgesehen ist, hemmt die
Äußerungen des bösen Willens, keineswegs den Willen, was un-
möglich wäre. Dadurch geschieht es, daß höchst selten ein Mensch
seine ganze Entsetzlichkeit im Spiegel seiner Taten sieht."
Und ein Zusatz, der nach einigen Zwischenbemerkungen das
Ganze beschließt, erklärt pointierend :
,,Der Staat bezweckt ein Schlaraffenland, das dem wahren
Zweck des Lebens, der Erkenntnis des Willens in seiner Furchtbar-
keit, grade entgegensteht."
Die vorstehenden Gedanken sind natürlich in mehrfacher Be-
ziehung wertvoll. Uns erscheint besonders auffällig der fiktio-
nalistische Index, mit dem der harmlose Begriff ,, Zweck des Men-
schen" erscheint. Dieser Begriff ist offenbar nur eine neue syno-
nyme Nebenform zu den früheren Ausdrücken ,,Zw^eck des Lebens"
und ,, Zweck der Welt". Nach der letzten dogmatisierenden
Zwischenphase hat also hiermit eine Rückkehr zur Fiktion statt-
r4Q Arnold Kowalevvski:
gefunden. Es wäre Pedanterie, einen Widerspruch darin zu sehen,
daß der junge Philosoph selbst in dem abschließenden Zusätze
den Ausdruck „wahrer Zweck des Lebens" gebraucht, der gleich-
falls eine fiktionalistische Einschränkung fordert. Die Vorerklärung
sollte eben auch für das Folgende mitgelten. Die Fiktion fungiert
hier zugleich als dialektische Prävcntivmaßregel. Sie schneidet
eine ganze Reihe von Erörterungen ab, die nur dann in Frage
kommen, wenn der Begriff ,, Zweck des Menschen" im eigent-
lichen Sinne genommen wird. Ein geschickter methodischer Kniff.
Eine wörtliche Benutzung von § 328 vermag ich in den ge-
druckten Schriften nicht nachzuweisen. Doch findet man ähn-
liche Gedanken über den Staat im Hauptwerke (I, § 62), wenn
auch in etwas gemilderter Form. Der fragliche Passus ist sogar
Erbgut aus der editio princeps.
Im großen und ganzen müssen wir — um auf unseren eigent-
lichen Fragepunkt zurückzukommen — sagen, daß Schopenhauer
den Ausdruck ,, Zweck des Lebens" und die Synonyma davon in
den Erstlingsmanuskripten fiktionalistisch auffaßt. Ist dieselbe
Auffassung nun auch in den gedruckten Werken zu beobachten ?
Da die oben besprochenen Manuskriptstellen ganz oder fast ganz
unbenutzt geblieben sind, müssen wir an der Hand sachlicher
Berührungspunkte in dem Lehrstoffe der Schopenhauerschen
Schriften freie Umschau halten. Wo das menschliche Leben, die
Nichtigkeit des Glückes, die Wichtigkeit der pessimistischen Ein-
sicht und der Willensverneinung erörtert wird, da liegt die An-
wendung des Ausdruckes ,, Zweck des Lebens" doch wohl am
nächsten. Die Nachforschung ist der Zeitfolge der Schriften an-
zupassen. Hierbei kann Wagners Register gute Helferdienste
leisten. Denn die Stichwörter, die hier in Betracht kommen,
haben in seinem Register Berücksichtigung gefunden. Sogar dem
,, Leben" ist ein besonderer Artikel gewidmet. In den ersten
Schriften Schopenhauers bis zur naturphilosophischen Abhand-
lung vom Jahre 1836 scheint der Danziger Denker von ,, Zweck
<les Lebens" u. dgl. überhaupt nicht gesprochen zu haben. Wagner
verzeichnet allerdings zu dem Satze: ,,Der Zweck des Lebens ist
kein intellektueller, sondern ein moralischer" eine Belegstelle aus
dem ersten Bande des Hauptwerkes neben solchen aus dem zweiten
Bande und der naturphilosophischen Abhandlung. Schlägt man
aber dies<: Stellen auf. so zeigt sich, daß nur die aus Band II
flcs Hauptwerkes den zitierten Satz wörtlich bietet. Die Stelle
Ansätze zum Fil;tionalismus bei Schopenhauer. 541
aus Band I, § 66, aber lautet; „Es wäre auch sehr schhmm, wenn
die Hauptsache des menschlichen Lebens, sein ethischer,
für die Ewigkeit geltender Wert, von etwas abhinge usw." Das
Wort ,, Zweck" ist vermieden. Analog verhält es sich mit der
Stelle aus der Abhandlung ,,Übcr den Willen in der Natur". Diese
ist besonders interessant, weil sie den Ausdruck mehrfach variiert
und doch ohne ,, Zweck" auskommt. Es heißt da nämlich (zu
Anfang des Abschnittes ,, Hinweisung auf die Ethik"): ,,. . . .daß
das Wichtigste, ja allein Wesentliche des ganzen Daseins, das,
worauf alles ankommt, die eigentliche Bedeutung, der Wende-
punkt, die Pointe (sit venia verbo) desselben, in der Moralität
des menschlichen Handelns liege." Die mit einem fiktionalistischcn
Index ausgezeichnete ,, Pointe" des Daseins scheint übrigens äna^
}.s'/ö(jievov bei Schopenhauer geblieben zu sein. Sic kommt dem
Ausdrucke ,, eigentlicher Zweck" wohl etwas nahe, kann aber
damit doch nicht gleichgesetzt werden. Man versteht darunter
mehr das Wesentliche im Gegensatze zum Nebensächlichen, worauf
ja auch die Zusammenstellung mit den verwandten Bezeichnungen
in dem Zitate hindeutet. Daß Schopenhauer in seinen frühesten
Druckschriften den Ausdruck ,, Zweck des Lebens" nicht benutzt,
hängt vielleicht z. T. mit der Nachwirkung der fiktionalistischcn
Kautelen zusammen, die wir in den Erstlingsmanuskripte« kennen
lernten. Es fehlt ja auch nicht an einwandfreien Ersatzausdrücken
(die Hauptsache, das Wesentliche). Diese werden daher gebraucht.
So bleibt auch der Philosoph der relationslosen Einstellung seines
metaphysischen Der.kes treu, die er im Hauptwerke besonders
energisch herauskehrt. Sie ist uns gleichfalls nicht neu. Gegen
Ende von § 53 in Band I z. B. heißt es:
,,Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h.
diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so
über die Erscheinung hinausführt, ist gerade die, welche nicht
nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und
überall nur nach dem Was der Welt fragt ..." Und für das
ethische Gebiet weist der Philosoph noch ganz besonders den
Anspruch zurück, irgendwelche Vorschriften zu machen, Pflichten
aufzustellen u. dgl. ,,Es ist doch wohl handgreiflicher Wider-
spruch, den Willen frei zu nennen und doch ihm Gesetze vorzu-
schreiben, nach denen er wollen soll . . . Unser philosophisches
Bestreben kann bloß dahin gehen, das Handeln des Menschen,
die so verschiedenen, ja entgegengesetzten Maximen, deren leben-
- 4 f Arnold Kowalewski :
(ligor Ausdruck es ist, zu deuten und zu erklären, ihrem innersten
Wesen und Gehalt nach ..." (Ebenda zu Anfang.) Der relations-
lüs deutenden Metaphysik gemäß läßt darum auch Schopenhauer
den ,, Erdgeist" schon in dem pathetischen Schlußpassus von § 35
in Band I des Hauptwerkes erklären: ,,Der Wille allein ist: er,
das Ding an sich, er, die Quelle aller jener Erscheinungen. Seine
Selbsterkenntnis und darauf sich entscheidende Bejahung oder
Verneinung ist die einzige Begebenheit an sich." Genug.
Wir begreifen einigermaßen die Situation des Sprachgebrauches.
Später lockerte sich die durch das System geforderte Disziplin.
Namentlich in den erläuternden Ausführungen des Ergänzungs-
bandes zum Hauptwerke und in den lose aneinandergereihten
Aufsätzen der Parerga und Paralipomena war ein Wechsel der
Betrachtungsart nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Der
hiermit inaugurierte laxere philosophische Stil kam auch dem
zurückgesetzten harmlosen Ausdrucke ,, Zweck des Lebens" zugute.
Dieser wird nunmehr häufiger gebraucht, und zwar ohne fiktio-
nalistische Entschuldigungsworte. Ich führe nur ein paar Proben
an. Aus dem Ergänzungsbande des Hauptwerkes: ,,.... jede
Individualität nur ein spezieller Fehltritt, etwas, das besser nicht
wäre, ja wovon uns zurückzubringen der eigentliche Zweck
des Lebens ist." (S. 577, ed. Griseb.) ,,Als Zweck unseres
Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben, als die Er-
kenntnis, daß wir besser nicht da wären." (S. 713.) ,,.... daß
je mehr man leidet, desto eher der wahre Zweck des Lebens
erreicht wird ..." (S. 748.) ,,. . . daß gerade Schmerz und Trüb-
sal auf den wahren Zw^eck des Willens, die Abwendung des
Willens von demselben, hinarbeiten." (S. 749.) Aus den Parerga
und Paralipomena: ,,Wenn nicht der nächste und unmittel-
barste Zweck unsers Lebens das Leiden ist; so ist unser
Dasein das Zweckwidrigste auf der Welt." (II, S. 303, ed.
Griseb.)
Genug davon. Wenden wir uns zurück zu Schopenhauers
Erstlingsmanuskripten !
15- Der Instinkt — ein Handeln wie nach Zweck-
begriffen.
Eine bescheidene* positive Als-Ob-Betrachtung steckt in der
gedankenreichen Aufzeichnung § 233. Der junge Philosoph stößt
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. c^^
hier u. a. auf das Problem des tierischen Instinktes und gibt
folgende fiktionalistisch gefärbte Erklärung dazu ab:
„Der Instinkt ist ein Handeln nach Zwecken ohne Wissen
derselben: d. h. ein Handeln, das wie ein vernünftiges nach
Zweckbegriffen ausfällt, und es doch nicht ist: es ge-
schieht dennoch mit Verstand, nach dem Kausalitätsgesetz: es
bedarf einer weiteren Erörterung und ist wichtig und geheimnisvoll."
Eine wörtliche Benutzung dieser Stelle hat in den Werken
nicht stattgefunden. Doch gehört die mehrfach variierte fiktio-
nalistische Charakteristik des Instinkts zu den feststehenden Lehr-
stücken des Schopenhauerschen Systems. Sie hat ja auch nichts
Außerordentliches, wenn wir uns der naheliegenden Anregung
seitens der Kantischen Naturteleologie erinnern. Von 'den zahl-
reichen späteren Formulierungen will ich nur eine besonders prä-
gnante und zugleich erweiterte aus dem Hauptwerke als Parallele
zitieren :
,,Denn wie der Instinkt ein Handeln ist, gleich dem nach
einem Zweckbegriff, und doch ganz ohne denselben, so ist alles
Bilden der Natur gleich dem nach einem Zweckbegriff, und doch
ganz ohne denselben." (I, §28, auch schon in der ed. princ. S. 234.)
16. Phantasma — als bewußt zufälliger Begriffs-
repräsentant.
Beachtung verdient ein Passus in § 241, der die fiktive Seite
des begrifflichen Denkens streift. Er lautet:
,,Daß ein Phantasma (unadäquater Repräsentant des Be-
griffs) zur Idee (adäquatem Repräsentant des Begriffs) erhoben
werden kann, kommt daher, daß in dem Begriff jeder sicht-
baren Form der Natur auch dies liegt, daß Zufälliges und Un-
bestimmtes (sei es auch nur in der Stellung und Ansicht) in ihr
sein muß: dieser Begriff von Zufälligkeit und Unbestimmtheit
•wird nun ebenfalls repräsentiert durch irgend etwas zwar Be-
stimmtes, dem aber die Reflexion anhängt, daß es auch
anders sein könnte, ohne sich vom Begriff zu entfernen.
[Sp. Zz.] D. h. im Repräsentanten des Begriffs hat auch das Zufällige
seinen Repräsentanten."
Wie uns eine Anmerkung der Deussenschen Ausgabe be-
lehrt, hat Schopenhauer selbst diesen Passus noch einmal mit
einigen Abänderungen in das Handexemplar der ,,Welt als Wille
- 4 . Arnold Kowalewski:
und Vorstellung" 11, 1844, eingetragen. Vielleicht beabsichtigte er
eine Benutzung desselben, kam aber davon ab. Tatsächlich finden
wir alx'r eine ähnliche, wesentlich verbesserte und mit Beispielen
illustrierte Darlegung des gleichen Gedankens schon in der ersten
Auflage der Doktordissertation, und zwar unter dem Titel ,,Re-
])räsentanten der Begriffe" (§29). Es heißt hier:
,,Auch dann aber ist das Phantasma vom Begriff zu unter-
scheiden, wenn es als Repräsentant eines Begriffs gebraucht
wird. Dies geschieht, wenn man die Vorstellung, deren Vorstellung
der Begriff ist, selbst und diesem entsprechend haben will, was
allemal unmöglich ist: denn z. B. von Hund überhaupt, Farbe
überhaupt, Triangel überhaupt, Zahl überhaupt gibt es keine
Vorstclluil^, kein diesen Begriffen entsprechendes Phantasma.
Alsdann ruft man das Phantasma z. B. irgendeines Hundes
hervor, der, als Vorstellung, durchweg bestimmt, d.h. von irgend-
einer Größe, bestimmter Form, Farbe, usw. sein muß, da doch
der Begriff, dessen Repräsentant er ist, alle solche Bestim-
mungen nicht hat. Beim Gebrauch aber eines solchen Re-
präsentanten eines Begriffs ist man sich immer bewußt, daß
er dem Begriff, den er repräsentiert, gar nicht adäquat, sondern
voll willkürlicher Bestimmungen ist."
Wie wichtig dem Philosophen diese Darlegung erschien, sehen
wir daraus, daß er bereits in der editio princeps (ebenso wie in
den späteren Auflagen) des Hauptwerkes ausdrücklich darauf ver-
weist und noch hinzufügt: ,,mit dem dort Gesagten ist zu ver-
gleichen, was Hume im I2ten seiner Philosophical essays, p. 244,
und was Herder in der Metakritik (einem übrigens schlechten
Buch), Teil I, p. 274, sagt." Die zweite Auflage der Doktorr
dissertation (1847) hat dann auch diese literarische Notiz auf-
genommen. Jedoch ist Herder und seine Metakritikstelle ge-
strichen und durch ,, Rousseau, sur Torigine de l'inegalite, pars i
in der Mitte" ersetzt. Dies weitere Herumdoktern bestätigt gleich-
falls das intensive Interesse, das der Philosoph an dem fraglichen
Gedankengange hatte.
1/. Bescheidenheit als notwendige Heuchelei.
Zu dem von Vaihinger selir treffend als ,, höfliche Fiktion"
bezeichneten Typus können wir aus § 280 eine nette Illustration
lierauslcsen. Es handelt sich um die Bescheidenheit, über die der
Ansätze /um Fiktionalismus bei Schopenhauer. 54:
junge Philosoph zunächst etwas ironisch spricht) um dann in einem
nachträghchcn Zusätze folgende ernste Erklärung abzugeben:
,,Die Erbärmlichkeit der Mehrzahl zwingt die wenigen Genialen
oder Verdienten sich zu stellen, als ignorierten sie selbst ihren
Wert und folglich andrer Unwert: denn nur unter dieser Bedingung
kann der Haufen sich dazu verstehn, Verdienste zu dulden. Aus
dieser Not nun hat man eine Tugend gemacht, die Be-
scheidenheit heißt. Sie ist eine Heuchelei, die durch fremde
Erbärmlichkeit, welche geschont sein will, entschuldigt wird."
Es ist bemerkenswert, daß die späteren gedruckten Äuße-
rungen Schopenhauers über diese heikle Frage fast zusehends
eine boshaftere Form angenommen haben. Verhältnismäßig milde
klingt noch die Expektoration der editio princeps des Haupt-
werkes, S. 339. Sie erhält dann beim zweiten Drucke nicht nur
einen unmittelbaren gepfefferten Zusatz, sondern sogar noch eine
besondere Extraauf läge in dem parallelen Kapitel des Ergänzungs-
bandes. Und die Parerga drücken sich z. T. am gröbsten aus.
Die Einzelheiten sind nur psychologisch interessant. Wir können
sie daher übergehen.
18. Erste Magic-Fiktion.
Nunmehr ist eine äußerst instruktive (in Dresden, 1814, kon-
zipierte) Aufzeichnung zu betrachten (§ 285), in der der junge
Denker zum ersten Male eines seiner nachmaligen paradoxesten
Philosopheme als schüchterne Fiktion formuliert.
,,Die Platonische Idee, das Ding an sich, der Wille (denn
dies alles ist Eins) ist keineswegs der Grund der Erscheinung:
denn so wäre sie (die Idee) die Ursach, und als solche eine Kraft,
als solche aber erschöpflich. Es ist aber für die Idee kein
Unterschied, ob sie sich in Einem Ding oder in Millionen aus-
spricht. Z. B. ob die Idee des Eichbaums sich in Einer Eiche
oder in Tausenden darstelle, ob die Idee der Bosheit in Einem
oder Millionen Menschen und Tieren sich ausspreche, ist für die
Idee Eins, und dieser Unterschied liegt schon innerhalb der Phä-
nomene und gehört dem Phänomen an: denn er ist durch Zeit
und Raum bedingt. Ich würde in Hinsicht hierauf sagen, die
Idee ist magisch, womit man etwas bezeichnet, das, ohne
Natur kraft zu sein und folglich die Grenzen der Naturkraft zu
haben, dennoch über die Natur Gewalt ausübt, [Zz.l welche Ge-
Annalen der Philosophie. I. 35
, ./' Arnold Kowalewski:
540
wall daher unerschöpflich, unendlich, ewig, d. i. außerzeitlich ist.
Aber (las Wort magisch ist aus dem Aberglauben entstanden,
ist unbestimmt und in schlechtem Ruf."
Daß Schopenhauer noch Platonische Idee, Ding an sich und
Wille für Eins erklärt, während er später bekanntlich zwischen,
diesen drei metaphysischen Faktoren wesentliche Unterschiede
hervorzuheben weiß, hat für unsere Untersuchung weniger Inter-
esse. Eine entsprechende Berichtigung ist übrigens schon vom
Meister selbst hierzu handschriftlich nachgetragen. Die Haupt-
sache ist, daß der junge Philosoph mit vollem Bewußtsein als
Bezeichnung für den unerschöpflichen, unendlichen, ewigen Cha-
rakter seines transzendenten Prinzipes ein Wort benutzt, das
etwas ganz Unglaubliches bedeutet. Das Magische soll ,,ohne
Naturkraft zu sein und folglich die Grenzen der Naturkraft zu
haben, dennoch über die Natur Gewalt ausüben." Schopenhauer
erschrickt offenbar selbst darüber, daß er durch dieses Wort mit
dem abenteuerlichen Gedankenkreise der Zauberei in Berührung
kommt. Er sieht noch nicht die Möglichkeit, daß seine Willens-
metaphysik die Zauberei geradezu philosophisch rechtfertigen
kann. Umfassendere Erfahrungen auf dem Gebiete des Okkul-
tismus haben ihm damals vermutlich gefehlt. So ist es ganz be-
greiflich, daß das kühne Wort sofort wieder zurückgenommen
wird. Trotzdem bleibt schon der bloße Versuch bedeutsam genug.
Nicht Dogma noch Hypothese, sondern Fiktion ist die
früheste Auffassung Schopenhauers von dem geheimnis-
vollen Walten des Weltwillens gewesen.
Es fehlt in Deussens Ausgabe jede Notiz über eine etwaige
VcPÄ'ertung dieser merkwürdigen Niederschrift. Sollte der Danziger
Philosoph wirklich gar nicht darauf zurückgekommen sein? Der
eingefügte Zusatz läßt doch schon eine intensivere Beschäftigung
mit dem reizvollen Gedanken erkennen. Ich forschte darum ge-
nauer nach und fand zu meiner großen Freude auf S. l8yi in
der editio princeps des Hauptwerkes die erste gedruckte Fort-
wirkung der Fiktion mit dem ,, Magischen". .Von einer mecha-
nischen Benutzung kann keine Rede sein. Es tritt uns eine wesent-
lich verbesserte Darstellung desselben Gedankens entgegen. Aber
üiiercinstimmcnde Satzstücke bezeugen noch äußerlich den tat-
sächlichen Zusammenhang zwischen den beiden Gestalten der
Magic-Fiktion. Alles Weitere mag der Text selbst lehren, den
•wir der Wichtigkeit halber unverkürzt wiedergeben wollen.
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. caj
,, Diese Eigenschaft des Willens, daß für ihn die Zahl der
Individuen, in welchen irgendeine Stufe seiner Objektität aus-
gedrückt ist, sie mögen nach- oder nebeneinander da sein, völlig
gleichgültig ist, ihre unendliche Zahl ihn nimmer erschöpft und
andrerseits eine Erscheinung in Hinsicht auf seine Sichtbarwerdung
so viel leistet als tausende: diese Eigenschaft möchte ich durch
ein zwar seltsames, auch unbestimmtes, ja in schlechtem Ansehn
stehendes, jedoch grade für eine Eigenschaft, in welcher der Wille
als Ding an sich allen Naturdingen ganz entgegengesetzt ist, pas-
sendes Wort bezeichnen und sie die Magie des Willens nennen;
weil in diesem Begriff etwas gedacht wird, das, ohne irgendeine
Naturkraft zu sein und folglich ohne den Gesetzen der Natur
unterworfen und durch sie beschränkt zu sein, dennoch über die
Natur eine innere Gewalt ausübt, wie eben der Wille als Ding
an sich sie äußert, indem er, gleich einem Zauberer, Dinge in die
Sichtbarkeit hervorruft, die für uns von der größten Realität sind,
in Hinsicht auf ihn aber nur Abspiegelungen seines Wesens,
— gleich dem Bilde der Sonne in allen Tautropfen, — welche er
alle belebt, ohne irgendeinen Teil seiner Kraft dadurch zu ver-
lieren, und deren Zahl nur für den Zuschauer, nicht für ihn da ist. —
Übrigens ist dieser Gebrauch des Wortes Magic nur eine ganz
beiläufige Vergleichung, auf welche weiter kein Gewicht zu legen,
noch davon ferner Gebrauch gemacht werden soll."
Die Fiktion hat hier offenbar eine breitere Ausmalung ge-
funden. Ihre Zweckmäßigkeit ist ausdrücklich betont. Schopen-
hauer spricht von einem ,, passenden Wort", verschweigt aber
auch nicht dessen Schattenseiten: Seltsamkeit, Unbestimmtheit,
schlechtes Ansehen. Seltsamkeit ist ein milderer Ersatz für den
früheren Hinweis auf die Entstehung aus dem Aberglauben. Die
Magie des Willens stellt jetzt jedenfalls eine vollwertige Fiktion
dar. Trotzdem wird die Bedeutung dieser Fiktion zum Schlüsse
zwar nicht ganz annulliert, wie im Manuskripte, aber doch be-
trächtlich eingeschränlct. Ängstlichen Gemütern, die etwa eine
Weiterspinnung des ominösen Magiegedankens erwarten möchten,
erklärt der Philosoph gewissermaßen zur Beruhigung, daß es sich
nur um eine ganz beiläufige Vergleichung — also, modern
gesprochen, um eine analogische Fiktion — handle, von der kein
weiterer Gebrauch gemacht werden solle. Aus dieser Erklärung
dürfen wir vielleicht auch mit ziemlicher Bestimmtheit schließen,
daß Schopenhauer diesmal selbst noch nicht an eine Verwand-
548
Aniold Kowalcwoki:
lung seiner Magio-Fiktion in eine ernste metaphysische Hypo-
these glaubt.
Was ist nun aber mit dieser Magie-Fiktion in der zweiten
Auflage des Hauptwerkes geschehen ? Welche Umgestaltung tritt
uns da entgegen? Wir sind sehr gespannt. Eine große Über-
raschung kommt. Es stellt sich heraus, daß Schopenhauer den
fiktionalistischcn Passus einfach fortgelassen und die so ent-
standene Lücke durch eine ganz andersartige Betrachtung aus-
gefüllt hat.
Was bedeutet das.^
Wir müssen Schopenhauers Entwicklung in der Zwischenzeit
berücksichtigen. Es ist eine sehr lange Zwischenzeit. Denn die
erste Auf Inge des Hauptwerkes erschien 1819, die zweite erst 1844.
Die wichtigste Wendung, die sich bei dem Danziger Philosophen
zwischen 1819 und 1844 beobachten läßt, ist das energische Streben,
dem unbeachtet gebliebenen System durch eine umfassende Samm-
lung von empirischen Instanzen einen breiteren Resonanzboden zu
geben. Der reine Künstlerphilosoph wird mehr und mehr zum
Gelehrten. Der erste bedeutende literarische Niederschlag dieser
Gelehrsamkeit tritt uns in der Schrift ,,Über den Willen in der
Natur" entgegen (1836). Bezeichnend war auch schon, daß
Schopenhauer sich 1830 gedrungen fühlte, eine lateinische Neu-
bearbeitung seiner Farbenlehre für ein wissenschaftliches Sammel-
werk vorzunehmen, sowie er um jene Zeit die Übersetzung der
Kantischen Hauptwerke ins Englische ernstlich geplant hat. Und
bald nach der Veröffentlichung des naturphilosophischen Werkes
(1836) beteiligte er sich sogar fleißig an der Lösung ausländischer
akademischer Preisaufgaben. Die von Naturforschern und Ärzten
bald nach dem Jahre 1819 lebhaft erörterten Erscheinungen des
sogenannten animalischen Magnetismus führten dem Philosophen
eine besonders wichtige Anregung zu. Wie gründlich er die Sache
nahm, können wir am besten aus seiner eigenen Schilderung in
einem Gespräche mit Karl Bahr entnehmen (Gespr. u. Bricfw.
mit Arth. Schopenhauer. Aus d. Nachl. v. Karl Bahr, herausg. von
Ludw. Schemann, Leipzig 1894, S. 37). Schon als Privat-
dozent in Berlin habe er durch den dortigen Prof. Dr. Wohl-
fahrt Zutritt zu den ,, Schlaf sälen der Somnambulen" (es handelt
sich um eine ma nctische Heilanstalt) gehabt, mit einer vierzig-
jaiirigen Somnambulen dort lange Gespräche geführt, eine andere
Somnambule durch Anblicken in Krämpfe versetzt. ,,Wenn eine
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer.
549
solche Somnambule", fügte er noch in Erinnerung an jene Zeit
wörtlich hinzu, ,,im Schlafe daliegt und hellsehend wird, so be-
kommen ihre Gesichtszüge eine Erhabenheit, ihre Sprache wird
edler, als sie sonst ist. Man steht vor ihr, wie vor der Natur selbst;
denn sie antwortet nur, wenn man fragt, und bloß, was zur Sache
ist. Ich habe selbst einmal von einer Somnambule mir eine 2k>it
festsetzen lassen, wo ich fragen durfte. Sie h^^te die Zeit vier
Wochen vorher bestimmt und dabei ausgemacht, daß ich meine
goldene Brille ablegen müsse und daß ihr auf jedes Auge ein Blatt
gelegt werde. Als die Stunde da war, konnte ich meine Fragen
nicht lange fortsetzen, weil ich verabsäumt hatte, mir vorher die
Gegenstände zu überlegen, über die ich fragen wollte." Diese
Studien wurden dann auch in Frankfurt fortgesetzt. Die kritische
Durchsicht der einschlägigen Literatur bot zunächst ein Chaos
z. T. phantastischer Vermutungen. Allerlei materielle Prinzipien
wurden zur Erklärung herangezogen, so daß noch jede Beziehung
zur Willensmetaphysik fernlag. Schließlich aber brach sich die
voluntaristische Hypothese Bahn. Man erkannte, daß der Wille
des Magnetiseurs jene wunderbaren Leistungen hervorruft, die den
Naturgesetzen zu widersprechen scheinen und darum lange be-
zweifelt worden sind. Diese Erkenntnis mußte den Danziger
Philosophen um so freudiger überraschen, als sie ihm fix und fertig
entgegentrat bei Theoretikern und Praktikern, die von seiner
Willensmetaphysik nichts wissen konnten. Der Wille ist also das
eigentliche Agens einer Klasse von außerordentlichen Erscheinungen,
Das muß natürlich zu Analogieschlüssen reizen, zumal bei einem
Philosophen. Wenn schon der animalische Magnetismus sozusagen
„praktische Metaphysik" ist, dann werden auch andere wunder-
bare Leistungen, die man seit alten Zeiten unter dem verrufenen
Sammeltitel ,, Magie" zusammengefaßt hat, nicht so ganz un-
glaublich sein. Sollte der Wille nicht mannigfache Mittel und
Wegt finden, um seine Überlegenheit über die gewöhnlichen Natur-
kräfte zu offenbaren.'' Als unbezweifelbare Fälle von Magie er-
schienen dem Philosophen jedenfalls die sogenannten sympathe-
tischen Kuren, als mögliche zum mindesten die dem animalischen
Magnetismus und den sympathetischen Kuren ähnlichen böswilligen
Akte, also viele Hexereien. Der Ausdruck ,, magische Wirkung" hat
für Schopenhauer jetzt einen ernsten realistischen Sinn ange-
nommen. Eine besondere Kapitelüberschrift des Werkes ,,Über den
Willen in der Natur" lautet ,, Animalischer Magnetismus und Magie".
r"r\ Arnold Kowalewski:
Nunmehr begreifen wir vollkommen, daß Schopenhauer die
Stelle mit der Magic-Fiktion nicht mehr aufrecht erhalten konnte.
Sic setzte den Unglauben an ein msgisches Wirken voraus, von
dem sich der Philosoph inzwischen unter dem Drucke neuer Er-
fahrun;4en bekehrt hat. Die Magie des Willens hat Seltsamkeit,
Unbestimmtheit und übles Ansehen verloren, jene Züge, die sie
zur bloßen Fiktion stempelten. Eine Umgießung des Gedankens
in die sachlich allein angemessene hypothetische Form hätte rricht
in den Zusammenhang gepaßt. Es war dort eben nur eine fiktive
Erläuterung beabsichtigt. Darum mußte die ganze Stelle ge-
strichen und anders ausgefüllt werden. Übrigens entwickelte
Schopenhauer in der naturphilosophischen Schrift vom Jahre 1836
bereits eine bestimmte Theorie der magischen Willenswirksamkeit.
Sogar die Nebenumstände werden an der Hand einschlägiger Fälle
sachkundig berücksichtigt. Damals war also für Schopenhauer
die magische Wirkung des Willens eine glaubhafte Hypothese zur
Erklärung gewisser außerordentlicher Erscheinungen und das Ganze
zugleich eine wichtige empirische Bestätigung seiner Willens-
metaphysik. Der Magiegedanke woirzelt, so meinte der Philosoph,
,,in dem inneren Gefühle der Allmacht des Willens an sich,
jenes Willens, welcher das innere Wesen der Menschen und zu-
gleich der ganzen Natur ist, und in der sich daran knüpfenden
Voraussetzung, daß jene Allmacht wohl einmal, auf irgendeine
Weise, auch vom Individuum geltend gemacht werden könnte".
Die ,, abenteuerlichen Zeichen und Akte nebst den sie begleitenden
sinnlosen Worten, welche für Beschwörungs- und Bindemittel der
Dämonen gelten", sind demgemäß nichts anderes als ,, bloße Vehikel
und Fixüerungsmittcl des Willens, wodurch der Willensakt, der
magisch wirken soll, aufhört, ein bloßer Wunsch zu sein und zur
Tat wird". Soviel zur Charakteristik der Art, wie die Willens-
magie in der Schrift ,,Über den Willen in der Natur" behandelt
wird. Einen überraschend frühen handschriftlichen Vorsteß in
diesen Problemkreis werden wir übrigens auch noch kennen lernen.
Während der späteren Zeit hat Schopenhauer die okkid-
1 istischen Erscheinungen fortgesetzt im Auge behalten. Er sam-
melte alle nur irgendwie bedeutsamen Berichte darüber für sein
,, philosophisches Archiv". Einen literarischen Niederschlag dieser
Ik-mühungen sehen wir vor allem in z^vei merkwürdigen Ab-
.schnittcn der 1851 gedruckten Parerga und Paralipomena
(„transzendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. C c I
im Schicksale des Einzelnen" und „Versuch über das Geister-
sehn und was damit zusammenhängt").
Als das Tischrücken aufkam, erkannte der Philosoph so-
fort die Wichtigkeit dieser neuen okkultistischen Instanz und
schrieb an seinen „Dr. indefatigabilis", Ernst Otto Lindner, am
17. April 1853:
,,Wenn es Ihnen . . . Ernst damit ist, in Ihren Artikeln auf
meine Philosophie zurückzukommen, wie Sie ja vermelden; nun,
so ist eben jetzt dazu eine Gelegenheit ohnegleichen: nämlich
das Tischrücken, an welchem meine Philosophie einen
rechten Triumph erleben wird. Ich bin nämlich überzeugt,
daß die hierin wirkende Kraft keineswegs Elektrizität, sondern
der Wille ist, der sich hier in seiner magischen Eigenschaft,
d. h. ganz unmittelbar auf fremde Körjjer, wie sonst nur auf
den eigenen Leib wirkend erzeigt. Dies erhellt besonders aus
einem Schreiben aus Bonn vom 9. April, welches aus der Köl-
nischen Zeitung im hiesigen Konversationsblatt der Postzeitung
vom 12. April abgedruckt ist: ,Der Tisch bewegte sich nach dem
einmxütigen Willen seiner Berührer; er marschierte wie der pünkt-
lichste Soldat, auf Kommando, geradeaus, rechts, links, rück-
wärts, und stieg sogar, so gut er konnte, aufwärts' usw. Der
Artikel ist höchst lesenswert. Auch hier habe ich schon münd-
liche Bestätigungen vernommen, daß der Tisch durch das
innere Wollen der Berührer gelenkt wird. E^ wird sich
überall so herausstellen, und dann ist die Sache ein starker und
augenfälliger Beleg zu dem, was ich im ,, Willen in der Natur"
und zwar im Kap. ,, Animalischer Magnetismus und Magie"
gesagt habe, wie zu meiner Metaphysik überhaupt. Ich
wünschte, daß Sie jenes Kapitel aufmerksam durchlesen wollten:
dahin gehört auch in Parerga Bd. I, S. 295 (Schopenhauer meint
einen Passus in dem ,, Versuch über das Geistersehn und was
damit zusammenhängt"). Im Tischrücken zeigt sich der Wille
in seiner ursprünglichen Allmacht: lenkt er die Bewegung,
so ist er auch der Beweger. Daß man sogleich an Elektrizität
gedacht hat, ist bloß, weil man gewohnt ist, alles, was man nicht
zu erklären weiß, auf die Elektrizität zu schieben, weil sie selbst
unerklärlich und ein offenes Geheimnis ist."
Man beachte, wie der Danziger Philosoph hier schon ganz
im dogmatischen Tone von der ,, magischen Eigenschaft" des
Willens spricht, und das aus Anlaß einer okkultistischen Pro-
- - -, Arnold Kowalewski :
5?-
z<.-clur, dio ihm zunächst nur durch gedruckte Berichte und münd-
liche Bestätigung fremder Personen zugängHch gewesen ist. Aber
or liat sicli ilann auch rcdhch bemüht, das geheimnisvolle Phä-
nomen immer gründlicher kennen zu lernen. Dabei war ihm Adam
\on Doss ein wertvoller Helfer. Dieser stellte vielfache Tischrück-
c-xperimente an, sogar unter klug ersonnenen Vorsichtsmaßregeln.
Seine Schilderung des Ganzen ist uns noch in einem interessanten
Briefe an den Meister erhalten. (Vgl. Schopenhauer- Briefe, heraus-
gegeben von Schemann, S. 258ff.) Manches davon wurde w^ahr-
scheinlich als Material für die zweite Auflage des naturphilosophischen
Werkes benutzt. Mehrfach mutzte der Meister seinem ,,Erz-
cvangelisten Frauenstädt" den Unglauben ans Tischrücken als
., mechanische Ketzerei" auf. Am drolligsten ist folgende er-
munternde Apostrophe in einem Briefe vom 28. Januar 1854:
,, Immer hoffte ich, Sie würden noch ein Bissei Tisch rücken;
ist aber nicht. Und dieses Experiment hat doch, in Beziehung
auf meine Sache (eine von den Lumpen abgehetzte Redensart zu
gebrauchen) eine ., unberechenbare Tragweite". Ich singe:
Der Wille, der die Welt
Gemacht hat und erhält,
Er kann sie auch regieren: —
Die Tische gehn auf Vieren.'
(Schopenhauers Briefe, h. v. Grisebach, S. 252.)
Endlich war der Philosoph so glücklich, das Tischrücken aus
eigener Erfahrung kennen zu lernen. Am 4. Februar 1854 mußte
er noch an Frauenstädt schreiben:
,,Habe' damit (dem Tischrücken) einen mißlungenen Versuch
gemacht, mit 4 kleinen Mädchen: sie waren wohl zu jung." (Ebenda,
S. 256.) Aber schon im nächsten Briefe konnte er einen positiven
Bericht erstatten:
,,Das besagte Tischrücken wurde vor mir und einigen Gelehrten
von einer jungen, überaus kindlichen, offenherzigen und liebens-
würdigen jungen Frau ganz allein vollzogen, welche dazu die Be-
gabung hat: es -ging nach zwei Minuten. Der Physiker Wagner
behauptet fortwährend, es sei mechanisch. Auch ist es schwer zu
«ntschciden; da er mechanisch das Selbe leistete. Aber während
zweistündiger Versuche habe ich mich überzeugt, daß es seine
Richtigkeit damit hat. Der Unterschied ist sichtbar, wiewohl
fein." (Ebenda, S. 257.)
Das klingt etwas frostig objektiv. In der Darstellung, die
der Meister am 11. März 1854 über den gleichen Fall Adam von
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. c r 5
Doss mitteilte, hat das Ganze durch zwei kleine Modifikationen
eine etwas überzeugendere Färbung erhalten (vgl. ebenda, S. ^6^).
Die Aussagepsychologie findet hier ein interessantes Beispiel zur
Anal^'se. Schopenhauer behauptet im zweiten Berichte, die junge
Frau habe ,, sogleich und unfehlbar" den Tisch gerückt (also nicht
erst ,,nach zwei Minuten"); zugleich verschweigt er, daß dei für
eine mechanische Erklärung eintretende Physiker ,, mechanisch
das Selbe leistete", also eine experimentelle Gegendemonstration
machen konnte, weshalb es ,, schwer zu entscheiden" war.
Genug, subjektiv stand für Schopenhauer nach alledem die
magische Wirkung des Willens beim Tischrücken als eine un-
bezweifelbare Tatsache fest.
Dazu kamen um jene Zeit noch auffrischende Eindrücke aus
dem Reiche des animalischen Magnetismus. Im Winter 1854 gab
der italienische Magnetiseur Regazzoni in Frankfurt Vorstellungen,
denen Schopenhauer mit größtem Interesse beiwohnte. Ihm schrieb
der Philosoph ein bestätigendes Zeugnis ins Album. Er brauste
zornig auf, als 14 Frankfurter Ärzte die Darbietungen dieses Ma-
gnetiseurs öffentlich für Betrug erklärten. 1856 erschien noch ein
französischer Magnetiseur, Brunct de Balan. Bei diesem wirkte
Schopenhauer sogar in einem öffentlichen Experimentalvortrage
persönlich als Versuchsperson mit, worüber er humoristisch an
Frauenstädt schreibt (ebenda, S. 322):
,,Habe auch mitgespielt, zu großer Belustigung des Publikums,
mit einem 14jährigen Bauernjungen aus der Nähe, der mit mir
in Rapport gesetzt war, jede meiner Bewegungen (im tiefen Schlaf
stehend und gehend) nachmachte, alles, was ich in 5 Sprachen
laut sagte, genau nachsagte: nun setze ich mich, und da packte
er mich stark, riß mich gewaltsam vom Stuhl und setzte sich darauf.
Geweckt, wußte er keine Silbe davon. Bis dahin aber war er wie
mein Schatten, nicht von mir loszukriegen. Ganz behext! —
Jubel des Publikums! — " Dieser französische Magnetiseur ver-
suchte auch das taube linke Ohr Schopenhauers zu heilen. Die
Kur war freilich erfolglos. Doch ließ sich der Meister hierdurch
nicht im Glauben an die magische Kraft des Willens irre machen.
Wir haben hier mit reichen Details die Entwicklungsphasen
eines Gedankens verfolgt, die genau dem Vai Ringer sehen Gesetze
der Ideenverschiebung entsprechen. Die erste Fassung der Willens -
magie ist fiktiv gewesen. Sie wurde darauf von einer hypothetischen
Formulierung abgelöst. Endlich kam die Erstarrung zum Dogma.
rcA Arnold Kowalewski:
Daß für den greisen Denker eine Fortsetzung dieses Prozesses in
rückläufiger Richtung, wie sie nach dem voHen Gesetze zu erwarten
ist (vgl. Vaihinger, Die. Philosophie des Als Ob, 2. Aufl., S. 219),
praktisch ausgeschlossen bleibt, bedarf keiner besonderen Recht-
fertigung.
Nun weisen die Erstlingsmanuskripte noch mehrere Stücke
auf, die sich mit dem Magieproblem beschäftigen. Wir wollen
diese — wegen der sachlichen Zusammengehörigkeit — sofort
herausgreifen und mit der erstbesprochenen Magiestelle vergleichen.
19. Dogmatische Fixierung der Magie-Fiktion.
Mitten in einer Erörterung der verschiedenen Naturstufen, die
allesamt Erscheinungen eines Willens sein sollen (§ 35 1 aus dem
Jahre 1815), wird fast wie ein selbstverständliches Axiom, der
Satz ausgesprochen:
,,Denn der Wille ist magisch, d. h. wesentlich ist es für
ihn gleichgültig, ob er sich in Millionen oder in einer Erscheinung
offenbart, da Mannigfaltigkeit, Vielheit nur durch Zeit und Raum
entsteht, diese aber schon der Erscheinung angehören, nicht dem
Willen selbst."
Der Anfang ist von Schopenhauer selbst am Rande mit Blei-
stift angestrichen und noch durch den späteren Zusatz: ,,Conf:
Piaton: Parmenides p. 80 — 90 [ed. Bip.]" ergänzt worden, ein
Zeichen, daß der Philosoph den Gedanken jedenfalls nachgeprüft
hat und Gewicht darauf legte. Um so erstaunlicher erscheint der
Kontrast mit der ersten fiktiven Anwendung des Magischen, die
zeitlich nur ein Jahr zurückliegt. Damals hatte Schopenhauer
im Tone einer bewußten Fiktion die Idee (die für ihn mit dem
Willen zusammenfiel) magisch genannt, und er nahm die Fiktion
eigentlich sofort wieder zurück. Jetzt ist ihm das ominöse Wort
schon ein feststehender terminus, dessen Bedeutung nur ganz
kurz umschrieben wird. Jeder Hinweis auf den fiktiven
Charakter fehlt. Nach dem Wortlaut müssen wir annehmen,
• laß der Philosoph dogmatisch urteilt. Das ist binnen Jahres-
frist eine gewaltige Ideenverschiebung. Von einer schüchternen
Fiktion zum Dogma!
Dieser dogmatisierte Satz von der Magie des Willens soll nun
nach einer Notiz des Herausgebers der Manuskripte (XI, S. 559)
in dem uns wohlbekannten, später getilgten Magie-Passus des
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 555
Hauptwerkes benutzt worden sein. Das stimmt aber nicht. Die
fiktive und dogmatische Fassung hegen zu weit auseinander. Auch
fehlen die sprachhchen Berührungspunkte. Wir haben bereits oben
— hoffentlich überzeugend — in der ältesten Magie -Reflexion der
Erstlingsmanuskripte (§ 285) das richtige Original aufgedeckt,
so daß hierüber jede weitere Erörterung unnötig ist.
Zu der dogmatischen Fassung der Willensmagie paßt sehr
gut die kecke lakonische Äußerung §358 (aus dem Jahre 181 5):
„Bisher haben die Philosophen sich viele Mühe gegeben, die
Freiheit des Willens zu lehren: ich aber werde die Allmacht
des Willens lehren."
Dies war vielleicht die erste Konzeption der nachmals so be-
liebten Formel ,, Allmacht des Willens", deren Gebrauch bei
Schopenhauers Interpretation der okkultistischen Phänomene wir
übrigens bereits oben in unserer entwicklungsgeschichtlichen Skizze
kennen lernten.
20. Noch eine dogmatische Fixierung der Magie-Fiktion.
In § 367 heißt es wieder vom Willen ebenso dogmatisch,
wie in § 351, nur ein wenig abstrakter:
,,Er ist magisch, d. h. die Zahl seiner Erscheinungen ist
für ihn ohne Bedeutung."
Nach dem Zusammenhange denkt Schopenhauer hier an ver-
schiedenartige Erscheinungen. Demgemäß hat sein Satz auch
einen gesteigerten metaphysischen Sinn im Vergleich mit der
früheren Erklärung.
21. Verklausulierte dogmatische Fixierung
der Magie-Fiktion.
Eine wesentlich verklausulierte Charakteristik der Willens -
magie bietet aber § 467 (auch noch aus dem Jahre 181 5): ,,Das
Streben nach Zauberei hat seinen Grund in dem Bewußtsein,
daß wir [Zz.] und auch die ganze Welt neben unsrer [Zz.] und ihrer
zeitlichen Natur, noch eine außerzeitliche haben, von welcher aus
der Weg nach jedem Punkt in Raum und Zeit, folglich auch nach
jeder Materie, gleich kurz ist. Nun aber entsteht die Superstition
durch die Amphibolie der Begriffe, daß wir übersehn, daß alles
Wirken und Handeln schon in der Zeit ist, folglich keine Zauberei
556
Arnold Kowalewski :
abgeben kann, uml wiewohl der Wille selbst magisch ist (wie
oft v(in mir gesagt) dennoch seine Erscheinung es nie ist:
jener gesuchte Weg von unsrer außerzeitlichen Wesenheit zu
jedem Punkt in der Zeit ist zwar für den Willen offen, aber nicht
für seine Erscheinung, das Individuum: er führt also durch den
Tod. Dennoch scheint es beinah, daß im magnetischen
Schlaf ein solcher Weg gefunden sei, der den Tod umgeht:
auch entspricht die clairvoyancc dem Begriff der Zauberei."
Man merkt dem jungen Denker hier eine gewisse Abneigung
gegen den Zauberciglauben an. Im allgemeinen wird der Willens-
erscheinung das magische Wirken aberkannt, weil sie nicht
mehr überzeitlich ist, wie der magische Wille selbst. Der Zusatz:
,,wie oft von mir gesagt worden", bekundet, daß der magische
Wille als eingewurzeltes Dogma gilt. Der Philosoph stützt sich
damit gewissermaßen auf Selbstautorität, die übrigens eigentlich
fiktiven Charakter hat. Denn wie kann meine eigene frühere
Meinung der jetzigen neues Ansehen geben? Mein Ich läßt sich
nicht in mehrere Zeugen spalten. Doch das nebenbei. Überraschend
ist, daß nur mit problematischen Ausdrücken auf die Ausnahme-
fälle des magnetischen Schlafs und Hellsehens hingewiesen wird.
Vermutlich hatte sich Schopenhauer, als er dies niederschrieb,
noch nicht volle Klarheit über jenes geheimnisvolle Tatsachen-
gebiet verschafft.
22. Hypothetischer Ausbau der Magie-Fiktion
für die Theorie des tierischen Magnetismus.
Seine Nachforschungen in der emschlägigen Fachliteratur er-
möglichten ihm aber nicht lange darauf, die längere ,, Andeutung
einer Erklärung des tierischen Magnetismus" aufzusetzen. Sie
bildet § 482 der Erstlmgsmanuskripte. Schopenhauer gibt in
einem Zusätze selbst an, daß er dabei Anregungen ,, einer sehr
guten Abhandlung von Reil über das Ganglien- und Zerebral-
system (im 7. Bande seines Archivs)" folgt. Es sei nur das Kern-
stück seiner Theorie angefülirt.
,,Die Tätigkeit des Gangliensystems, welche das vegetative
Ix'bcn ist, kommt im normalen Zustande gar nicht ins Bewußt-
sein, d. li. sie ist nicht Vorstellung, nicht Objektität des Willens,
sf)ndern unmittelbar der Wille selbst: dieser ist frei vom principio
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. - r 7
individuationis, daher kennt er keinen Unterschied der Individuen
und ist in allen Einer.
Jedoch weil alles Materielle Vorstellung ist und den Gesetzen
der Vorstellungen unterworfen, so ist auch der unmittelbare materielle
Repräsentant des Willens wieder dem principio individuationis unter-
worfen und von sich selbst in jedem Individuo isoliert. Eine
materielle unmittelbare Aufhebung dieser Isolation ist aber das
Magnet isieren. Es depotenziert das Gehirn und potenziert aus-
schließlich das Gangliensystem. Insofern nun dieses dem prin-
cipio individuationis nicht unterworfen ist, ist das ins Sonnen-
geflecht verlegte Bewußtsein frei von aller Beschränkung der
Individualität: daher erkennt der Somnambul ebensogut, was
in andern Individuen und selbst in großer Entfernung vorgeht,
als was in ihm selbst vorgeht."
Die fiktionalistisch nicht uninteressanten Ausdrücke ,, depoten-
zieren" und ,, potenzieren" sind auf das Konto der Schellingschen
Naturphilosophie zu setzen. Schopenhauer übernimmt sie un-
mittelbar von Rcil. Im übrigen hat er in das physiologische Schema
der Vorlage mit großem Geschick seine eigene Willensmetaphysik
eingebaut. Über allem schwebt das Dogma vom magischen Willen.
Eine positive Verwertung dieser physiologisch-metaphysischen
Konstruktion sucht man in den gedruckten Werken vergebens..
In dem ,, Versuch über das Geistersehn und was damit zusammen-
hängt" (Parerga und Paralipomena I, S. 269ff.) wird allerdings
die Reilsche ,, Hypothese" zur Erklärung des somnambulen Zu-
standes ausdrücklich erwähnt. Der Philosoph widerlegt sie aber
jetzt in längerer Kritik, um dann eine neue eigene ,, Hypothese"
zu entwickeln, die manche fiktiven Elemente enthält. Wir wollen
darauf an späterer Stelle ausführlicher zurückkommen. Hier sei
nur kurz festgestellt, daß die fiktiven Elemente auch diesmal das
allgemeine Dogma der Willensmagie nicht im geringsten unsicher
machen.
Der Entwicklungsprozeß, den die Idee der Willensmagie so-
zusagen im ,, Unreinen" der Erstlingsmanuskripte privatim durch-
lief, zeigt eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit dem Entwick-
lungsprozeß, der sich publice in den gedruckten Werken des
Meisters vollzog. Beiderseits haben wir einen fiktiven Ansatz und
eine Tendenz zum Dogmatisieren. Daß gerade der fiktive An-
satz aus dem Manuskript die umfassendste öffentHche Be-
nutzung fand und den Impuls zu weiteren einschneidenden
538
Arnold Kowalewski:
schriftstellerischen Dispositionen gab, ist ein unzweideutiger
Beweis für die Fruchtbarkeit des fiktiven Denkens.
Doch zurück zu unserer Musterung, die wir nach dieser Extra-
tour wiederum an dem natürlichen zeitlichen Leitfaden der Auf-
zeichnungen fortsetzen wollen.
Mannigfache Proben fiktionalistischer Weisheit bietet § 324,
der 18 14 zu Dresden konzipiert wurde.
23. Formeln und Rechnungen der Mathematik ohne
eigentlich theoretischen Wert.
Der junge Philosoph äußert sich zunächst über die Methode
der Geometrie. Seine starke Betonung des rein Anschaulichen
nötigt ihn zu einer entsprechenden Umwertung des bloß Be-
grifflichen.
,,Die reinsinnliche Anschauung einer Parabel, Hyperbel,
Spirale usw. offenbart uns die ganze Beschaffenheit und Gesetz-
mäßigkeit derselben. Diese nun aber für die Vernunft in abstrakte
Begriffe (Zahlen und Formeln) zu fassen, ist sehr schwer: aber
alle diese Formeln und Rechnungen der Kurve geben uns über
ihr Wesen nicht mehr Aufschluß, als die Anschauung. Jene For-
meln und Rechnungen haben daher keinen eigentlich theore-
tischen Wert, da sie die Erkenntnis nicht ausdehnen, wohl aber
praktischen, indem zur Anwendung nötig ist, daß die Erkenntnis
in abstrakten Begriffen fixiert und gleichsam niedergeschlagen ist."
24. Analoge Verhältnisse in der Mechanik.
Ein Zusatz hierzu versucht sofort, den gleichen Gedanken
auch für den begrifflichen Apparat der Mechanik auszuführen.
,,Wie bei der reinen Mathematik die reine Sinnlichkeit, so
faßt hier der Verstand die Verhältnisse der Erscheinung in einer
Vollkommenheit auf, die die Vernunft nie erreichen kann. Durch die
Anschauung eines tätigen Hebels, Flaschenzuges, Kammrades erhält
der Verstand allein genügenden Aufschluß über die Art seines Wirkens.
Allein der Verstand kann nicht lange und komplizierte Erscheinungen
fassen, er bleibt immer beim Nächsten stehn, weil die Anschauung
eigentlich nur ein Objekt zur Zeit hat. Daher reicht der Verstand zur
Erfindung und Konstruktion komplizierter Maschinen nicht hin. Da
muß die Vernunft an die Stelle der Anschauungen abstrakte Begriffe
setzen, nach diesen verfahren, und waren sie richtig, so trifft der Er-
folg ein."
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. CCq
Beide Betrachtungen erinnern durchaus an Gedanken der
sogenannten ökonomischen Erkenntnistheorie, die eine bewährte
Stütze des Fiktionahsmus ist. Für die erste Betrachtung hat der
Herausgeber der Manuskripte bereits die Benutzung im Haupt-
werke richtig nachgewiesen. Einige Abänderungen sind vor-
genommen. Statt ,,rein sinnhche Anschauung" heißt es ,, reine
Anschauung", die Schwierigkeit, Anschauliches in abstrakte Be-
griffe zu fassen, wird in diesem Zusammenhange verschwiegen.
Dafür kommt ein gelehrterer Ton herein durch besondere Er-
wähnung der ,,Fluxionsrechnung" (wofür in den späteren Auf-
lagen ,, Differentialrechnung" eingesetzt wird). Die fiktionalistische
Tendenz erleidet in dieser Redaktion nicht den geringsten Abbruch.
Auch die zweite Betrachtung ist, was der Herausgeber der
Manuskripte übersah, ziemlich vollständig und wörtlich in das
Hauptwerk übernommen worden. Man vergleiche den Anfang
von § 12 im ersten Bande. Zu ,, Hebel, Flaschenzug, Kammrad"
wird ,,das Ruhen eines Gewölbes in sich usw.", zu ,, Maschinen"
noch ,,und Gebäuden" hinzugefügt, während ,, Erfindung" ge-
strichen ist. Von den ,, abstrakten Begriffen" heißt es ausdrück-
lich, daß die Vernunft sie ,,zur Richtschnur des Wirkens nehmen
muß". Die Nützlichkeit der begrifflichen Fiktionen ist also
in der gedruckten Formulierung, die in allen Auflagen konstant
blieb, sogar noch deutlicher markiert.
25. Bewußte Unzulänglichkeit der Begriffe.
Noch weiter spinnt der junge Denker in jener Aufzeichnung
seinen Zusatz fort. Für uns ist vor allem eine grundsätzliche,
gleichfalls im Hauptwerke nachwirkende Bemerkung interessant,
die gelegentlich eines Verwerfungsurteils über die ,, Physiognomik in
abstracto" fällt.
„Denn die Vernunft mit ihren Begriffen verhält sich zur An-
schauung durch Sinne und Verstand wie ein Bild in Mosaik zu einem
van der Werft: Begriffe haben wie Steine bestimmte Grenzen:
man mag die Steine noch so klein nehmen, nie fließen sie ineinander
über; so erreichen die Begriffe, so sehr man sie auch durch nähere Be-
stimmungen sondert, nie die Anschauung. Dieser Unzulänglichkeit
der Begriffe ist sich jeder bewußt, der Ungelehrte noch mehr,
als der Gelehrte."
Der letzte Satz ist eigentlich kein günstiges Zeugnis über die
fiktionalistische Einsicht des Gelehrten.
560
Arnold Kowalewski:
26. Moralische Systeme und religiöse Dogmen —
eigentlich Notbehelf der Vernunft.
Für Schopenhauer bildet der Satz den Stützpunkt zu einer
neuen Reflexion, die freilich mit der früheren Betonung der prak-
tischen Bedeutsamkeit der Begriffe stark konstrastiert. Die
Fortsetzung lautet nämlich:
»
,, Darum bestimmen die Menschen ihr Handeln auch nicht nach
Begriffen (nämlich das Moralische ihres Handelns), sondern nach un-
aussprechlichen Maximen (nach Gefühlen, sagen sie, d. h. eben nur
nicht nach Begriffen), so absurd daher auch die moralischen Systeme
und rehgiösen Dogmen meistens sind und von Himmel und Hölle lehren,
so werden diese doch eigentlich nur als Notbehelf der Vernunft
aufgestellt und beim eigentlichen Handeln beiseite gesetzt, und zu
jeder Zeit und bei jedem Volk war die gute Tat mit unaussprechlicher
Zufriedenheit, die böse mit unendlichem Grausen begleitet, weil die
Hauptsache, das Wesentliche im Leben von den kümmerlichen
und meist falschen Begriffen unabhängig bleibt."
Daß diese Reflexion über die ethische Bedeutungslosigkeit
der Begriffe — mit wörtlichen Anlehnungen — im Hauptwerke
vorkommt, ist dem Herausgeber der Manuskripte wiederum ent-
gangen. Sie steht im letzten Absätze des bereits zitierten § 12
und geht konstant durch alle Auflagen. Der Ausdruck ist freilich
gemildert. Es heißt nur ,, meistens nicht nach Begriffen, sondern
nach unausgesprochenen Maximen" statt ,, nicht nach Be-
griffen, sondern nach unaussprechlichen Maximen", ,,wic ver-
schieden auch" statt ,,so absurd . . . auch". Der Hinweis auf
'die Lehren von ,, Himmel und Hölle" ist ganz unterdrückt, auch
die schroffe Wendung ,,von den kümmerlichen und meist falschen
Begriffen". Dagegen erkennt eine besondere Hinzufügung eigens
die, wenn auch untergeordnete, relative praktische Wichtigkeit
der Vernunftfunktion auf sittlichem Gebiete an. Schopenhauer
sagt nämlich :
,, Jedoch soll hiedurch nicht geleugnet werden, daß bei der
l^urchführung eines tugendhaften Wandels Anwendung der
V'ernunft nötig sei: nur ist sie nicht die Quelle desselben; son-
dern ihre Funktion ist eine untergeordnete, nämlich die Bewah-
rung gefaßter Entschlüsse, das Vorhalten der Maximen, zum Wider-,
.stand gegen die Schwäche des Augenblicks und zur Konsequenz
des Handelns."
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 56 1
Dieser berichtigende Zusatz bringt sozusagen fiktionalistische
Konzinnität in den Gedankengang. Wir können ihn als einen
erfreuhchen Fortschritt begrüßen.
l"]. Abstrakte Hilfsmittel in der praktischen Musik
und Mechanik.
§ 332 kommt noch einmal auf denselben Gedanken zurück.
Schopenhauer hebt selbst den Zusammenhang durch Rückweis
hervor. Diesmal wird die Bedeutung abstrakten Wissens für Musik,
logische Praxis und Mechanik erwogen.
,,Im allgemeinen", meint der junge Philosoph, ,, finden wir
in dieser Hinsicht, daß zur Unterscheidung des Richtigen vom
Falschen, also zur Beurteilung, nirgends ein Wissen, d. h. ab-
strakte Begriffe der Regel nötig sind: wohl aber sind sie es
meistens für die eigne Produktion und Wirkungsweise. —
In der Logik eben nicht: jeder Mensch denkt richtig. — In der
Musik kann man es ohne abstraktes Wissen sehr weit bringen
und es läßt sich nicht bestimmen wie weit: doch möchte schwer-
lich ein Mozart oder Beethoven ohne abstraktes Wissen der Musik,
d. i. ohne Generalbaß, möglich sein. In der Mechanik bringen
es einige sehr weit ohne Wissenschaft, d. i. ohne abstrakte Kenntnis
der Gesetze: doch sehr komplizierte Maschinen und Gebäude
lassen sich wohl nicht ohne abstrakte Begriffe, meistens durch
Zahlen vorgestellt und ausgedrückt, hervorbringen."
Hier haben wir offenbar die handschriftliche Quelle für die
zuletzt angeführte mildere Formulierung eines wohlbekannten
Passus im Hauptwerk. Die Herkunft der ,, Gebäude", die dort
neben den ,, Maschinen" auftauchen, ist nun auch aufgeklärt.
Daß Schopenhauer damals noch mit der ganzen Frage nicht recht
ins reine gekommen war, bekunden am besten die beiden Schluß-
sätze seiner in Dresden 18 14 konzipierten Aufzeichnung.
,,Es bedarf überhaupt noch einer Bestimmung und sorgfältigen
Betrachtung, wieweit und wieweit nicht man überall ohne ab-
straktes Wissen kommen kann und alsdann, warum es für alles
Praktische, von der also gefundenen Grenze an, notwendig wird.
Am interessantesten wird diese Betrachtung bei der Moral:
ob nämlich irgendein Mensch so gut sein könnte, daß er, auch
ohne sich für sein Handeln abstrakte Maximen zu bilden, nach
denen er, wie nach toten Gesetzen, und oft gleichsam wider Willen
Annalen der Philosophie. I. 3"
562
Arnold Kowalewski;
(d. h. wider den Impuls des Augenblicks) gleichsam als Maschine,
handelt, — ob einer, sage ich, auch ohne dies immer gut und,
ohne sich Reue zu bereiten, handeln könnte."
28. Gewaltsame und listige Überwältigung fremder
Willenserscheinungen.
Aus § 409 geht hervor, daß der junge Philosoph in dem
Ivampfe der verschiedenen Willenserscheinungen, der das Grund-
schema seiner Naturphilosophie bildet, ursprünglich zwei besondere
Typen der ,,Überw^ältigung" hat unterscheiden wollen. Die ,, ge-
waltsame" Überwältigung gilt ihm als der. häufigste Typus.
,,Aber außer dieser gewaltsamen Überwältigung der fremden
Willenserscheinungcn (welche in der innren Teleologie des Organism
erscheint, w^eil er die Erscheinung eines einzigen in sich konse-
quenten Willens ist) gibt es noch eine ganz andre, die man eine
Überwältigung durch List nennen könnte; bei der näm-
lich eben die fremde Kraft für jene sie überwältigende arbeitet,
und es aussieht, als benutzte jene diese listig. Ein ganz ein-
faches Beispiel ist dies: die Schwere zieht den Samen vom Baum
zur Erde: und eben dieser Same erzeugt eine Pflanze, die nachher
die Schwere und andere Naturgesetze so gewaltsam überwältigt.
Jede völlig äußerliche teleologische Erscheinung gibt ein
Beispiel dieser Art. Eigentlich ist dies eben nur der Zufall,
der die Erscheinung des Organism begünstigt: Organismen, die
irgend so einer Gunst bedürfen und sie nicht erhalten, gehn unter,
und sollte es auch gleich nach ihrem ursprünglichen Entstehn
sein: ihre Existenz hängt also allerdings von so einem Zufall ab:
bloß weil er da ist, sind die Organismen da [Zz.] haben ihre Spezies
erhalten können, und nun erscheint uns der Zufall als be-
rechneter Zweck, als äußerliche Teleologie."
Die beiden oben angedeuteten Überwältigungstypen stellen
einen apokryplicn Entwurf zur Naturphilosophie dar. Öffentlich
hat sich Schopenhauer mit dem allgemeinen Schema des Streites
begnügt und diesem gerade nur alle düsteren Naturerscheinungen
untergeordnet. Innere und äußere Naturzweckmäßigkeit fallen
also aus diesem Schema heraus. Zweckmäßigkeit und Streit er-
scheinen sogar als ausgesprochene Gegensätze. Es kommt dadurch
ein Dualismus in die Schopenhauersche Naturbetrachtung. Diese
und andere Schwierigkeiten habe ich in meinem Schopen-
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. S^3
hauerbuch (,, Arthur Schopenhauer und seine Weltanschauung".
Halle 1908. S. io8ff.) kritisch analysiert. Viele treffende Be-
merkungen enthält auch die schöne Programmabhandlung von
Keutel, ,,Ubcr die Zweckmäßigkeit in der Natur bei Schopen-
hauer" (Leipzig 1897, 2. Stadt. Realschule).
Wie \^ainderbar, daß eine Fiktion die beiden in der gedruckten
Darstellung kontrastierten Prinzipien miteinander zur friedlichen
Versöhnung bringt! Die gewaltsame Überwältigung erscheint als
Urheberin der inneren, die listige als Urheberin der äußeren
Zweckmäßigkeit. Nur bei der Einführung des listigen Überwälti-
gungstypus hält es der junge Denker für nötig, den fiktiven Cha-
rakter ausdrücklich zu betonen. Zu dem gewaltsamen Typus ließe
sich noch vielleicht aus der nachmaligen Formel ,, überwältigende
Assimilation" eine gewisse Nachwirkung herauslesen. Vom Fort-
leben des listigen Typus scheint dagegen jede Spur zu fehlen.
Wir begreifen aber durchaus, daß es so kommen mußte. Denn
List setzt eben raffinierte Intelligenz voraus, darf also dem blinden
Willen am allerwenigsten zugemutet werden. Übrigens lernen wir
später doch noch eine gewisse Nachwirkung des Listprinzips in
Schopenhauers Metaphysik der Gcschlcchtsliebe und der darauf
fußenden Wahntheorie kennen.
29. Der fingierte Charakter des Pedanten.
Ein gewisses fiktionalistisches Interesse hat die Analyse der
Pedanterie, die Schopenhauer als Zusatz zu seiner ,, Theorie des
Lächerlichen" in § 418 niederschrieb. Sie fußt auf der uns schon
bekannten Bemerkung, daß Begriffe sich zum Leben verhalten,
wie Mosaik zur Malerei. Eben deswegen „kommt man für die
Klugheit immer zu kurz, wenn man sich genau an Begriffe hält und
bloß nach ihnen handelt, dabei entsteht dann hier das Lächerliche der
Pedanterie."
Wir möchten interpretierend anmerken, daß der Fehler der
pedantischen Unklugheit im buchstäblichen Ernstnehmen der be-
grifflichen Fiktionen wurzelt, also in einer Auslöschung des kritischen
Geistes, der allen echten Fiktionen innewohnt. Besondere Be-
achtung verdient noch, was Schopenhauer über Pedanterie auf
moralischem Gebiete sagt.
„In der Moral bringt nur der außerzeitliche intelligible Charakter
Tugend hervor: er muß sich dabei zwar der Begriffe als Werkzeug
notwendig bedienen, allein auch hier läßt sich das unendlich Nuan-
36*
564
Arnold Kowalewski:
cicrti- des Lebens nicht unter Begriffe bringen, und immer kommen
Fälle, über die sich der Wille unmittelbar entscheiden muß^ ohne sie
erst auf Begriffe und Afaximen zurückführen zu wollen. Will man aber
dieses durchaus, so ist man ein moralischer Pedant. Man macht
sich einen Charakter aus abstrakten Maximen, deren Anwendung
nachher teils falsche Resultate gibt, weil sie nicht genau zum Falle
paßten, teils sich nicht ausführen läßt^ indem der Mensch seinem eigent-
lichen Willen vergebens entgegen zu handeln sucht. Der wahre Cha-
rakter besteht nicht in abstrakten Maximen, sondern ist der durch
intuitive Erkenntnis des Lebens, d. h. der [durch] Ideen bestimmte
und eigentlich entwickelte intelligible Charakter."
Die Notwendigkeit begrifflicher Hilfsmittel wird zwar in
gewissem Umfange zugestanden, aber doch läuft die ganze Er-
klärung auf ein scharfes Mifibilligungsvotum hinaus. Daß der
Pedant sozusagen mit einem aus abstrakten Maximen fingier-
ten Charakter arbeitet und dabei teils Fehlgriffe macht, teils
Unausführbares plant, ist ein sehr feines Apergu. Leider ist
die Schattenseite des fingierten Charakters zu einseitig betont.
Ohne abstrakte Maximen dürfte wohl kaum ein großzügiges und
konsequentes sittliches Handeln möglich sein. Schopenhauer hat
selbst seine Kritik der moralischen Pedanterie im Hauptwerke
(I, § 13, auch schon in der editio princeps) durch verschiedene
Klauseln wesentlich gemildert. ,, Nicht überall" könne ein sitt-
licher Vorsatz nach abstrakten Maximen ausgeführt werden. ,,In
vielen Fällen" erfordere ,,dic unendlich fein nuancierte Beschaffen-
heit der Umstände" eine Wahl, die ,, unmittelbar aus dem Charakter"
hervorgeht, ,, indem die Anwendung bloß abstrakter Maximen
teils, weil sie nur halb passen, falsche Resultate gibt, teils nicht
durchzuführen ist, weil sie dem individuellen Charakter des Han-
delnden fremd sind und dieser sich nie ganz verleugnen läßt:
daher dann Inkonsequenzen folgen." Die Hauptsache aber ist,
daß Schopenhauer die herausfordernde Idee eines künstlich selbst
gemachten Charakters fallen ließ. Ich sage: herausfordernde Idee.
Vielleicht bedeutet Schopenhauers Annahme eines fingierten Cha-
rakters beim Pedanten als sein eigener Akt auch eine Fiktion,
so daß im ganzen zwei Fiktionen vorliegen. Die erste Fiktion
begeht der Pedant praktisch, insofern er sich künstlich aus Ab-
straktionen einen Charakter ausdenkt und danach handelt. Die
zweite Fiktion macht der Philosoph theoretisch, insofern er diese
praktische Fiktion als Schema der moralischen Pedanterie über-
haupt aufgreift und kritisch ad absurdum zu führen sucht. Ich
müciite diese zweite Fiktion eine polemische nennen.
Ansätze zum Fiktionalismus bei Scho]ienhauer. c6c
30. Künstliche Zusammenstellung der Begriffe
in der Poesie.
§ 428 entwickelt zum ersten Male jene paradoxe Ansicht
vom dichterischen Schaffen, die Schopenhauer seitdem mit größter
Zähigkeit festgehalten hat. Danach sollen die mit Worten be-
zeichneten abstrakten Begriffe den Stoff der Poesie bilden. Die
Kunst besteht nun darin, durch die Begriffe ,, Phantasmen" zu
erregen, die dem Hörer die vom Dichter erkannten ,, Ideen des
Lebens" vermitteln. Die besondere Technik muß uns der junge
Denker selbst schildern. Er sagt:
„Die Art aber, wie durch abstrakte Begriffe Phantasmen,
also eine ganz andre Art von Vorstellungen, hervorgerufen werden,
ist die künstliche Zusammensetzung der Begriffe, in der
jeder Begriff so die Sphäre des andern schneidet, daß keiner in
seiner Abstraktheit bleiben kann, sondern das Phantasma hervor-
gerufen wird. Wie in der Chemie völlig durchsichtige Flüssig-
keiten durch das Zusammengießen Niederschläge geben; so wird
in der Poesie aus der abstrakten Allgemeinheit der Begriffe,
durch ihre Zusammenfügung, das Besondre, Individuelle, d. h.
die anschauliche Vorstellung, das Phantasma, gefällt. Die Meister-
schaft in der Poesie aber wie in der Chemie besteht darin, grade
den Niederschlag zu erhalten, den man braucht."
Diese sonderbare Ansicht ist teilweise wörtlich in das Haupt-
werk übernommen und geht dann unverändert durch alle Auf-
lagen. (Vgl. den Anfang von § 51 in Bd. I.) Sie reizt förmlich
zu einer sachlichen Kritik, wofür ich aber auf die einschlägigen
Bemerkungen meines Schopenhauerbuches verAveisen muß (a. a. O.
S. 132). Hier fragt sich, was an dem Ganzen fiktionalistisch
bedeutsam ist. Der fiktive Charakter des eingeflochtenen che-
mischen Gleichnisses bedarf natürlich keiner Worte. Es scheint
so, daß Schopenhauer die Annahme einer ,, künstlichen Zusammen-
stellung der Begriffe" durchaus ernst meint, mithin als Hypo-
these. Er setzt dabei voraus, daß alle Worte Begriffe bezeichnen,
d. h. eine unanschauliche Bedeutung haben. Eben deswegen sollen
mehrere Begriffe in der Zusammenstellung einander schneiden,
man kann sagen einander determinieren, so daß eine anschauliche
Vorstellung zustande kommt. Offenbar arbeitet Schopenhauer
mit einem Schema aus der formalen Logik. Man pflegt Begriffs-
umfängc durch Kreise zu symbolisieren, wobei die wechselseitige
;66
Arnold Kowalewski:
Kreuzung (Schneidung) bekanntermaßen in dem kongruierenden
Umfangsstück etwas Konkreteres bestimmt, nämlich dasjenige,
welches sowohl die Merkmale des einen als auch die des anderen
hat. Darf nun aber diese logische Symbolisicrungsweise zu einem
wirklichen seelischen Prozeß gestempelt werden? Wie soll man
sich wohl einen solchen Prozeß denken? Etwa nach dem Muster
des Hemmungsmechanismus, wie ihn Herbart für gleichzeitige
Vorstellungen annimmt ? Mit psychologischen Hypothesen soll
man aber sehr vorsichtig sein. Gerade Herbarts Hemmungs-
hypothese hat sich in der Hauptsache als irrig erwiesen. Ich er-
innere vor allem an die schönen und wichtigen experimentellen
Untersuchungen des hervorragenden ungarischen Psychiaters und
Psychologen Paul Ranschburg, wonach gleichzeitige heterogene
Reize besser aufgefaßt werden, als gleichzeitige homogene. Die
ganze Schwierigkeit fiele fort, wenn Schopenhauers Konstruktion
nur als Fiktion aufzufassen wäre. Ich bin so kühn, diese Auf-
fassung für wahrscheinlich zu halten. Das Symbol der einander
schneidenden Begriffssphären ist doch wahrhaftig keine Real-
erklärung des Zusammenwirkens der Worte in der Seele. Schopen-
hauer braucht dieses Symbol als eine geläufige Hilfsvorstellung,
um uns die Leistung des Dichters faßlich zu machen. Es liegt
eine analogische Fiktion vor. Da auf diese zarte Fiktion zugleich
noch durch das chemische Gleichnis eine zweite gröbere gepfropft
ist, wird begreiflich, daß der schwächere Teil nicht zur Geltung
kommt und sein fiktiver Charakter scheinbar verschwindet. Solche
Fälle sind gewiß auch sonst nicht selten.
31. Das ,, Verhältnis" des Willens zur Vorstellung —
nur metaphorisch.
An den unter Nr. 6 besprochenen Gedankengang, der die
Relation zwischen ,, besserem" und empirischem Bewußtsein fik-
tionalistisch charakterisierte, erinnert zurück eine aus dem Jahre 1816
herrührende kurze markige Reflexion (§ 501).
,,Was die Dinge sind außerdem, daß sie unsre Vorstellung
sind? was sie unabhängig von dieser, was sie an sich sind? —
Eben das, was wir in uns als Wille erkennen. Dies ist der Kern
aller Dinge, dies ist es, ,,was die Welt im Innersten zusammen-
hält". — Das Verhältnis des Willens zur Vorstellung aber ist toto
genere verschieden von allen Verhältnissen der Vorstellungen zu-
Ausätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. cß~
einander, d. h. ist nicht gemäß dem Satz vom Grunde. Es kann
daher auch nur metaphorisch ein Verhältnis genannt werden.
Hier liegt das eine große Mysterium der Objektität des Willens."
Da haben wir sozusagen die Welt als Wille und Vorstellung
in nuce. Die fiktionalistische Scheu, mit der Schopenhauer jetzt
das Verhältnis des Willens zur Vorstellung betrachtet, hinderte
ihn sonst nicht, dasselbe trotzdem nach verbotenen Analogien
genauer zu bestimmen, wie das bunte Stufenreich der Willens-
objektivationen in seiner Naturphilosophie zeigt. Bezeichnender-
weise hat jene kritische Reflexion keinen Platz in den Druck-
,schriften des Danziger Denkers gefunden.
32. Dogmen des Edlen — nicht ernst, bloß der Ver-
nunft hingeworfene Befriedigung.
Eine längere, mehr populär stilisierte Betrachtung § 553
greift wieder in den ethischen Problemkreis ein. Sie bemüht sich
um die Interpretation selbstloser Handlungsweise. Der ,, gewöhn-
liche Mensch" denkt nicht daran, fremde Übel durch teilweise
Übernahme zu mildern; er macht also ,, zwischen sich und andern
einen großen Unterschied". Dieser Unterschied beruht ,, eigent-
lich auf dem principio individuationis" und betrifft ,,nur die Er-
scheinung". Der ,,edle" Mensch dagegen ist ,, gleichsam vom prin-
cipio individuationis weniger erfüllt". Das fremde Leiden ,,geht
ihm fast so nahe als sein eignes, er tut vieles, um das Gleich-
gewicht herzustellen, versagt sich Genüsse, übernimmt Entbeh-
rungen". Dieser Edle, meint Schopenhauer, vermag, ,,wenn er
nicht etwa Philosoph ist", sein Tun nicht weiter zu rechtfertigen.
,,Mit den etw^anigen Dogmen, die er damit in Verbindung zu
bringen sucht, ist es ihm eigentlich nicht Ernst, diese
sind nur da, um seiner Vernunft auf ihr beständiges Rechen-
schaftsfordern eine Befriedigung hinzuwerfen: an sich hat
sein edles Handeln keinen Grund, es ist die Erscheinung der
Modifikation, die sein Willen durch die Erkenntnis der Ideen er-
litten hat."
Die kleine fiktionalistische Wendung, daß der Edle ,, gleichsam
weniger vom principio individuationis erfüllt" sei, wollen wir nicht
besonders urgieren. Immerhin sei angemerkt, daß die im Haupt-
werke gedruckte Darstellung, die sich dem handschriftlichen Ent-
würfe sonst stark anschließt, in diesem Punkte abweicht. Es
568
Arnold Kowalewski :
hcißl ohne- fiktiüiialistischcn Index: „das principium individua-
tionis, die Form der Erscheinung, befängt ihn nicht mehr so fest".
(I, § 66. pter Absatz, auch schon ed. princ. S. 537.) Wichtiger
ist die Unterstellung, daß die etwaigen Rechtfertigungsversuche
durch Dogmen von dem Edlen selbst nicht ernst genommen werden,
sondern nur seiner Vernunft ,,eine Befriedigung hinwerfen" sollen.
Sie findet sich nicht an der vom Manuskriptherausgeber ver-
zeichneten Stelle des Hauptwerkes, sondern ist anderswohin ge-
raten, und zwar nach S. 532 der ed. princ. Dort lesen wir:
,,Bei guten Taten, deren Ausüber sich auf Dogmen beruft,
muß man aber immer unterscheiden, ob diese Dogmen auch wirk-
lich das Motiv dazu sind, oder ob sie, wie ich oben sagte, nichts
weiter, als die scheinbare Rechenschaft sind, durch die jener seine
eigene Vernunft zu befriedigen sucht, über eine aus ganz andrer
Quelle fließende gute Tat, die er vollbringt, weil er gut ist, aber
nicht gehörig zu erklären versteht, weil er kein Philosoph ist,
und dennoch etwas dabei denken möchte. Der Unterschied ist
aber sehr schwer zu finden, weil .er im Innern des Gemütes liegt.
Daher können wir fast nie das Tun anderer und selten unser eigenes
ethisch richtig beurteilen."
Man sieht, daß nur eine freie Benutzung stattfand. Doch
sind wörtliche Anklänge an das Manuskript unverkennbar. Die
beiden letzten bescheidenen Sätze nehmen der Reflexion jeglichen
Stachel. Die Stelle, auf welche Schopenhauer selbst zurück-
verweist, sei auch gleich angeführt. Es kann nur folgender Satz
S- 530/31 der ed. princ. gemeint sein: ,,Die Dogmen haben für
die Moralität bloß den Wert, daß der aus anderweitiger, bald zu
erörtender Erkenntnis schon Tugendhafte an ihnen ein Schema,
ein Formular hat, nach welchem er seiner eigenen Vernunft von
seinem nichtegoistischen Tun, dessen Wesen sie, d. i. er selbst,
nicht begreift, eine meistens nur fingierte Rechenschaft ab-
legt, bei welcher er sich gewöhnt hat, sich zufrieden zu geben."
Eine gewisse Verwandtschaft mit unserem Manuskriptpassus ist
auch hier noch zu spüren. Man beachte indessen, daß von einer
,, meistens nur fingierten Rechenschaft" gesprochen und auf
den Faktor gewohnheitsmäßiger Befriedigung hingedeutet wird.
Das sind wieder erhebliche Milderungen der handschriftlichen
Konzeption, deren oben hervorgehobene Unterstellung eine fast
iKileidigendc Schärfe hatte. Der unmittelbar folgende Satz S..531
der ed. princ. kann in gleichem Sinne als Konzession verstanden
Ausätze /um Fiktionalismus bei Schopenhautr. 56q
werden: ,,Zwar auf das Handeln, das äußere Tun, können die
Dogrtien starken Einfluß haben, wie auch Gewohnheit und Beispiel
. . ., aber damit ist die Gesinnung nicht geändert". Uns erinnert das
<ianze an eine frühere, unter Nr. 26 analysierte Aufzeichnung des
jungen Schopenhauer über die ethische Bedeutungslosigkeit der
Begriffe, derzufolge „moralische Systeme und religiöse Dogmen"
für bloßen ,, Notbehelf der Vernunft" erklärt wurden. Auch dort
ließ sich eine maßvollere Formulierung des Gedankens in der
Redaktion für das Hauptwerk konstatieren.
33. Spielendes Sprechen.
Ein kleines Scherflcin zur Ästhetik des Als Ob steuert der
unbenutzte Aphorismus § 577 bei, der einen bekannten Spiel-
typus echt fiktionalistisch interpretiert. ,,Ich rede bisweilen mit
Menschen, so wie das Kind mit seiner Puppe redet: es weiß zwar,
daß die Puppe es nicht versteht; schafft sich aber, durch eine
angenehme wissentliche Selbsttäuschung, die Freude der
Mitteilung."
34. Fiktionalistischc Deutung der ästhetischen Reiz-
barkeit für die Pflanzenwelt.
Mehr als ein zufälliges Gleichnis ist eine eigenartige Reflexion,
die § 587 bringt. Schopenhauer sucht sich klarzumachen, weshalb
die ästhetische Beschauung durch Eindrücke aus dem Pflanzen-
und Mineralreiche leichter erregt werde, als durch solche aus der
Tierwelt. Er meint: ,,Es ist, als dränge sich die Pflanzenwelt der
Beschauung auf, als verlange sie nach dem Beschauer, weil, da
sie selbst nicht unmittelbares Objekt ist, sie mittelbares werden
möchte, durch fremde Hilfe. Der Gedanke ist sehr gewagt, aber
bei inniger hingebender Betrachtung der Natur wird man seine
Wahrheit erkennen."
Das ist eine hübsche illustrative Fiktion, die der junge Denker
selbst aber mit einer Hypothese zu verwechseln scheint. Denn
der Schlußsatz deutet auf eine Bestätigung ihrer ,, Wahrheit" hin.
Bemerkenswert ist nun, daß die ganze Betrachtung im Haupt-
werke I, § 39 zu Anfang, auch schon in der ed. princ. S. 290,
Verwertung gefunden hat. Dabei w^ird das fiktive Moment etwas
stärker betont und die Aufstellung zuletzt fast zurückgenommen.
C'-Q Arnold Kowalewski:
Es sei aus tlcm etwas schwülstig geratenen, mit ,, gleichsam"
und ,,man möchte sagen" gespickten Passus nur der charak-
teristische Schlußsatz angeführt: „Ich lasse übrigens diesen ge-
wagten und vielleicht an Schwärmerei grenzenden Gedanken ganz
und gar dahingestellt sein, da nur eine sehr innige und hingebende
Betrachtung der Natur ihn erregen oder rechtfertigen kann".
,, Schwärmerei" ist bei Schopenhauer ein Ausdruck für ,, Fiktion"
im üblen Sinne. Das ,, rechtfertigen" paßt ja übrigens gerade zur
eigentlichen Fiktion, wie die ,, Philosophie des Als Ob" lehrt,
nicht das ,, bestätigen".
35. Künstliches System zu lexikographischem Zweck.
Ein hoher Grad von fiktionalistischer Klarheit leuchtet aus
der Skizze § 607 hervor. Schopenhauer erörtert da die Leistungs-
fähigkeit der Naturwissenschaften im Hinblick auf das philo-
sophische Bedürfnis. Eine richtige Darstellung der ,, verschiedenen
Potenzen der Objektivierung oder Manifestation des Willens"
ist nur auf Grundlage eines ,, natürlichen Systems" erreichbar.
,, Nötig", namentlich für ,, manche praktische Zwecke der Natur-
wissenschaft" erscheint dem jungen Denker auch ,,ein vollständiges
sicheres Verzeichnis aller Naturwesen", ,,ein Lexikon der
Natur, in welchem aber jedes Wesen durch die sichersten, un-
zweideutigsten, exaktesten Kennzeichen bestimmt ist [Zz.] bloß
damit man immer genau wisse, wovon die Rede ist. Hiezu wird
das künstliche System wohl immer große Vorzüge haben:
weil man möglichst die Zahl dabei zu Hilfe nehmen muß, indem
alle andern Begriffe teils zu unbestimmte Grenzen haben, teils
zu weit sind: und andrerseits die Übergänge der Naturwesen auch
meist ohne scharfe Grenzen sind, die zudem nicht mit denen der
Begriffe zusammenfallen". Bei dieser Gelegenheit verweist Schopen-
hauer auf die frühere Aufzeichnung § 324 über die Unzulänglich-
keit der Begriffe und fährt dann folgendermalJen fort: ,, Künst-
liches und natürliches System werden schwerlich je zu vereinigen
sein: weil das, was in dem einen eine unbedeutende Änderung
macht [Zz.] z. B. ein Staubfaden mehr oder weniger, in dem
andern eine sehr bedeutende verursacht, und die Natur sehr
gesetzmäßig, aber nicht pedantisch ist. Das künstliche
System muß, zu seinem löblichen Zweck, das Lächer-
liche einer [Zz.] aus einer willkürlichen Rürksicht (nämlich Überein-
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 'ji
Stimmung zwischen der freien Natur und den bestimmten Begriffen) ent-
springenden Pedanterie nicht scheuen und daher so verfahren,
wie Linn6 verfahren ist. Jeder Zweig der beschreibenden Naturlehrc
muß also zwei Systeme haben, ein natürhches zum philosophischen
Zweck und ein künstliches zum lexikographischen Zweck."
Sonderbarerweise sind diese vortrefflichen Ausführungen Scho-
penhauers apokryph geblieben. Sic liefern einen schönen Beitrag
zur gerechten Würdigung jener wichtigen ,, Halbfiktionen", die in
allen künstlichen Einteilungen stecken. Der ,,lexikographioche
Zweck" ist ein sehr glückliches Schlagwort. Wenigstens eine
indirekte Nachwirkung der Reflexion über das ,, künstliche System"
läßt sich vielleicht aus einem Gleichnis der Parerga und Para-
lipomena entnehmen. Dort heißt es (Bd. II, § 127): ,,Des Lin-
naeus künstliches und arbiträr gewähltes Pflanzensystem kann
durch kein natürliches ersetzt werden, so sehr auch ein solches
der Vernunft angemessen wäre, und so vielfach es auch versucht
worden; weil nämlich ein solches nie die Sicherheit und Festig-
keit der Bestimmungen gewährt, die das künstliche und arbiträre
hat. Ebenso nun kann die künstliche und arbiträre Grundlage
der Staatsverfassung . . . nicht ersetzt werden durch eine rein
natürliche, welche, die besagten Bedingungen verwerfend, an die
Stelle der Vorrechte der Geburt die des persönhchen Wertes, an
die Stelle der Landesreligion die Resultate der Vernunftforschung usf.
setzen wollte; weil eben, so sehr auch dieses alles der Vernunft
angemessen wäre, es demselben doch an derjenigen Sicherheit
und Festigkeit der Bestimmungen fehlt, welche allein die Stabilität
des gemeinen Wesens sichern." Eine fiktionalistische Recht-
fertigung konservativer Politik.
36. Seelenwanderung als Dogma und Mythos.
Das religiöse Gebiet berührt wieder einmal die gehaltvolle Auf-
zeichnung § 626. Es seien wenigstens die Kernsätze daraus zitiert.
,,Eine Seelenwanderung als Dogma aufgestellt, wäre ein
falsches Dogma, nämlich eine eigentliche Verwechselung der Er-
scheinung mit dem Ding an sich", was Schopenhauer noch
genauer erkenntnistheoretisch begründet. ,, Seelenwanderung aber
als Mythos aufgestellt, ist vortrefflich, als Abbild der Wahr-
heit, der Erkenntnis nach dem Satz vom Grunde akkommodiert,
zum praktischen Gebrauch, nämlich als Regulativ des Handelns,
rj-^ Arnold Kowalewski :
von dessen Bedeutung dieser Mythos der Spiegel ist. Ganz analog
dem Mythos von einem Eintritt des Individui durch den Tod in
eine ganz andre Welt, in der es Vergeltung seiner Taten durch
einen serechten Richter findet, welchen Mythos Kant als den
einzig passenden zur Erläuterung der moralischen Bedeutung der
Handlungen und als Regulativ derselben aufstellte und prak-
tischen Vernunftglaubcn nannte, [Zz.] indem er ihn zugleich als
Dogma leugnete und widerlegte. Der indische Mythos hat jedoch
große Vorzüge vor diesem: teils weil er der Wahrheit sich enger
anschließt, teils v:ei\ er weniger transzendent ist", welches letztere
der junge Philosoph durch eine Reihe von Details illustriert. Diese
Aufzeichnung ist mit teilweise wörtlicher Anlehnung in § 63 von
Bd. I des Hauptwerkes wiederzufinden, auch bereits in der ed.
princ. S. 512. Das wohlwollende Referat über Kant macht die
frühere sjitirische Brandmarkung der Postulate als Philistereien
reichlich wieder gut. Doch gerade dies fehlt in der gedruckten
Darstellung. Nur die technische Bezeichnung des Königsberger
Philosophen ,, Postulat der praktischen Vernunft" wird erwähnt,
um ausschließlich auf den indischen Mythos Anwendung zu finden.
37. Luthers Lehre vom seligmachenden Glauben
als Gewand philosophischer Wahrheit.
In § 645 sucht Schopenhauer Luthers Lehre, ,,daß nicht
die Werke, sondern der Glaube selig mache" philosophisch aus-
zulegen, indem er die dabei vorausgesetzte Erlösungsbedürftigkeit
mit der Willensverneinung in Zusammenhang bringt. Er schließt
die subtile Dialektik mit den fiktionalistischen Worten: ,,So ist
also jenes echt evangelische Dogma, das der rohen und platten
Ansicht als eine Absurdität erscheinen muß, das Gewand, in
welchem die vollkommene philosophische Wahrheit, sehr
künstlich, vorgetragen wurde". Auch diese Reflexion ist mit
wörtlichen Anlehnungen in das Corpus des Hauptwerkes auf-
genommen (I, § 70 gegen Schluß, auch schon ed. princ. S. 582 f.).
Ihr fiktidualistisrher Charakter liegt auf der Hand.
38. Selbst auf hebung des Willens als summum bonum.
Ein in Dresden 181 7 konzipierter Aphorismus § 647 erinnert
an die Relativität dessen, was man ,,gut" nennt. Es befriedige
den Willen nie so vollkommen, daß sein Begehren aufhöre. Und
Ansätze zum F"iktionalismus bei Schopenhauer. ^7^
nun wird demgegenüber die Selbstaufhebung des Willens betont
und folgendermaßen illustriert: ,,Weil aber diese Selbstaufhebung
(sc. des Willens) die völlige und absolute Beruhigung des Willens
ist, so könnte man sie bildlich und im Vergleich mit den be-
dingten und zeitlichen Beruhigungsmitteln des Willens, die wir alle
gut nennen, das absolute Gut, höchste Gut, summum bonum
nennen".
Man bedenke, ein höchstes Gut ist ja im eigentlichen Sinne
unmöglich. Der Pessimismus Schopenhauers gräbt diesem Ideal
die Wurzel ab. Trotzdem wird die Bezeichnung davon festgehalten
und auf etwas übertragen, das in der entgegengesetzten Richtung
liegt, wie alle gewöhnlichen Güter. Diese Fiktion ist wieder ein
geschickter methodischer Kniff. Denn dadurch erhält der un-
bestimmte, schwer schätzbare Begriff der Willensverneinung Anteil
an dem nachwirkenden Wertnimbus des ehemaligen Ideals. Die
gedruckte Formulierung des Aphorismus, die uns im Hauptwerke
(I, § 65, Absatz 4, auch schon in der ed. princ. S. 521 f.) be-
gegnet, gibt der Fiktion noch mehr Gravität und eine neue, sehr
feine Nuance. ,,Er (sc. der Wille)", so heißt es hier, ,,ist das Faß
der Danaiden: es gibt kein höchstes Gut, kein absolutes Gut für
ihn; sondern stets nur ein einstweiliges. Wenn es indessen be-
liebt, um einem alten Ausdruck, den man aus Gewohn-
heit nicht ganz abschaffen möchte, gleichsam als emeritus,
ein Ehrenamt zu geben; so mag man, tropischerweise und
bildlich, die gänzliche Seibstaufhebung und Verneinung des
Willens, die wahre Willenslosigkeit, als welche allein den Willcns-
drang für immer stillt und beschwichtigt, allein jene Zufrieden-
heit gibt, die nicht wieder gestört werden kann, allein welterlösend
ist . . . — das absolute Gut, das summum bonum nennen . . ."
39. Tugendübung nach philosophisch-vernünftigem
Dogma — Blendwerk, aber teilweise doch gut.
Wieder einmal berührt Schopenhauer in der Aufzeichnung
§ 653 die Bedeutung des begrifflichen Faktors für die ethische
Praxis. Man wird an manche Gedanken der unter Nr. 29 (Der
fingierte Charakter des Pedanten) besprochenen Reflexion zurück-
erinnert, doch hat das Ganze ein eigenartiges Gepräge, das Auf-
merksamkeit verdient. Nachdem Schopenhauer eine Tugendübung
im Hinblick auf ein besseres Jenseits kurz als ,, bloße Klugheit"
r^
c'; I Arnold Kowalewski:
gcbrandmarkt, fährt er folgendermaßen fort: „Wer dasselbe tut,
bewogen durch irgendein philosophisch-vernünftiges Dogma, z. B.
die Leiire von der Vollkommenheit oder den kategorischen Im-
perativ; der macht eigentlich sich selbst ein Blendwerk
\or, darin er besser scheint, als er ist: denn seine innerste Ge-
sinnung ist nicht verändert und sein Tun nicht aus ihr hervor-
gehend noch ein Abbild derselben: denn sie widerspricht seinem
Tun, welches er nur durch einen Zwang, nach einem Begriff,
leistet. Auch wird solcher Zwang meistens nicht von Dauer sein
und der Charakter, der unveränderliche, sein Recht wieder geltend
machen. Doch hat jener Zwang das Gute, daß eben er bei-
tragen kann, die echte Gesinnung herbeizuführen, d. h. seinen
Willen zum Leben zu brechen." Hier wird ähnlich wie im Falle
des Pedanten sozusagen eine künstliche Aufmachung des Charak-
ters angenommen, die zunächst unzweideutige Mißbilligung erfährt,
zuletzt aber doch als relativ nützlich erscheint, insofern sie die
Willcnsverneinung vorbereiten könne. Die Kriterien der echten
Fiktion sind danach zweifellos erfüllt. Das positive Moment hat
allerdings nur einen matten Ausdruck gefunden. Gerade der hier
herausgehobene fiktionalistische Passus der in den übrigen Teilen
vielfach benutzten längeren Aufzeichnung ist merkwürdigerweise
apokryph geblieben. Vielleicht hat er aber indirekt mildernd mit-
gewirkt bei der definitiven Redaktion ähnlicher Gedanken.
40. Abstrakte Formeln als Hilfsmittel konfliktfähiger
Motive.
Noch einen weiteren Ansatz zur ethischen Würdigung des
Abstrakten unternimmt der junge Denker in der Skizze § 664.
Es wird hier betont, daß die Motive in abstracto vergegenwärtigt
sein müssen, damit es zu einem Kampfe unter ihnen kommen
kann und das siegende Motiv die Beschaffenheit unseres Willens
bekundet. ,, Hierauf beruht eigentlich der Wert [Zz.] und Nutzen
aller Ethik überhaupt, sei sie religiös oder philosophisch: denn
die unmittelbare Wirkung ethischer Motive ist ebenfalls an die
Anschauung gebunden, aber an Anschauung der Idee des Lebens..."
,, Diese anschauliche Erkenntnis haben und sie so wie ich" — sagt
Schopenhauer stolz — „rein philosophisch in abstracto aussprechen,
ist aber zweierlei: letzteres ist sogar noch nie der Fall gewesen:
aber irgendeine abstrakte Formel mußte man immer für
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. c 7 ::
jene Erkenntnis haben, eine philosophische oder mythische,
z. B. kateg[orischer] Imperativ oder Vollkommenheit oder Wille
Gottes oder irgendeine: erst nachdem das ethische Motiv,
eigentlich Quietiv, an so eine Formel gebunden ist,
kann es jederzeit mit egoistischen Motiven in Konflikt
treten, welcher Konflikt für die Vernunft und in abstr[acto] vor
sich geht." Das ist eine für ethische Abstraktionen aller Art ziem-
lich günstige Auffassung, die positiven Fiktionalismus bekundet.
Leider bringt der nächste Satz einen Mißton in die schöne
Harmonie. ,,Die fortschreitende Aufklärung vernichtet aber all-
mählich jede falsche Formel, und soll dann nicht auch ihr
ethischer Gehalt für falsch gelten, so muß eine richtigere an
ihre Stelle treten: die letzte, von mir ausgesprochene, als die
der vollendeten philosophischen Erkenntnis — hier regt sich der
titanische Trotz Schopenhauers — kann nicht falsch befunden
werden, setzt aber die höchste Besonnenheit der Menschheit
voraus, den Gipfel der Aufklärung und Philosophie]." Dies ist
nach dem fiktionalistischen Ansätze eine fieräßccaig slg äXXo yevog.
Denn wenn abstrakte Formeln bloß Hilfsmittel für die ethische
Motivbildung sein sollen, kommt ihnen wohl Zweckmäßigkeit oder
Unzweckmäßigkeit, aber nicht Wahrheit oder Falschheit zu.
Übrigens scheint diese Skizze in den Werken des Philosophen gar
nicht verwertet worden zu sein.
41. Das Aufgeben des Willens — ein Zustand
im metaphorischen Sinne.
Ein merk\vürdiges Geständnis macht Schopenhauer in der
Aufzeichnung § 676 (aus dem Jahre 1817). ,, Würde gefragt nach
einer positiven Darstellung des Zustandes, der als Resultat meiner
Ethik nur negativ ausgesprochen ist, Aufgeben des Willens; so
ist die Antwort, daß, weil wir Wille zum Leben sind, jener Zu-
stand (auch das Wort ist hier ganz und gar Metapher) für
uns Nichts und wir für ihn Nichts sind und der alte Satz der
Pythagoreer, daß nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, grade
hier die Erkenntnis unmöglich macht, wie er sie bei allem, was
Wille zum Leben ist, unmöglich macht." Die fiktionalistischc
Kautele, die der junge Denker beim Gebrauche des Wortes ,, Zu-
stand" beobachtet, beweist, wie vorsichtig er sich damals dem
metaphysischen Mysterium zu nahen sucht. Sachlich ist klar,
^_g Arnold Kowalcwski:
ilaß \on Zuständen streng genommen nur in der Erscheinung^-
sphärc gesprochen werden darf, über die aber eben die Willens -
Verneinung hinausgeht. Geschieht es trotzdem, so erscheint nur
ein metaphorischer Gebrauch, des verbotenen Wortes angemessen,
Avic wir bei Schopenhauer sehen. Die Aufzeichnung hat ihre Spuren
belassen mitten in § /i von Bd. I des Hauptwerkes (auch schoxi
in der cd. princ. auf S. 587). Es wird aber hier das Wort ,, Zustand"
ohne fiktionalistischc Kautelc gebraucht und nur angedeutet, daß
jener geheimnisvolle Zustand nicht Erkenntnis sein kann, weil er
nicht mehr die Form von vSubjekt und Objekt hat. Das wollen
wir nicht zum Beleg für das Vaihingersche Gesetz pressen und
eine Dogmatisierung der Fiktion belvaupten. Indirekt verrät sich
nämlich doch die Nachwirkung der fiktionalistischen Kautele,
insofern ja vor einer voreiligen Auslegung des ,,Zustandcs" gleich-
sam durch ein abschreckendes schematisches Beispiel gewarnt wird
und sich an jener Stelle sonst die Neigung bemerkbar macht,
das ominöse Wort durch ein abstrakteres zu ersetzen.
Zusamiiieiifassuiig.
Nachdem die lange Durchmusterung der Schopenhauerschen
Erstlingsmanuskripte beendigt ist, wollen wir noch einmal einen
Überschlag über die Hauptergebnisse machen.
Schon rein quantitativ dürften die fiktionalistischen Gedanken
des jungen Schopenhauer überraschen. Ihre Häufigkeitsziffer be-
trägt etwa 40. Denn wenn bei der fortlaufenden Numerierung
der einzelnen Reflexionen im vorstehenden Abschnitte auch einige
Male dogmatische bzw. hypothetische Umformungen miteinbegriffen
sind, so läßt sich doch andererseits auch noch mancher Ersatz
auftreiben, der die Lücken reichlich ausfüllt. In mehreren Fällen,
die formal unverkennbar fiktionalistische Färbung hatten, war
ich im Zweifel, ob sie sachlich bedeutsam genug wären, und ließ
sie beiseite. Die Häufigkeitsziffer 40 dürfte mithin nicht zu hoch
gegriffen sein.
Wenn man nun die vierzig Fälle selbst noch schärfer siebt
und ähnliche Fälle nur als einen Fall zählt, so bleibt trotzdem
eine stattliche Zahl übrig. Eine unbestreitbare untere Grenze
stellen die tatsächlichen äna^ voovfisva dar. Deren gibt es 18.
I^nn kommen also 22 auf das Konto der Fälle mit Varianten
oder Parallelen. Diesen 22 dürften mindestens 6 verschiedene
Ansätze zum Fiklionalismus bei Schopenhauer. 577
Sammcltilcl entsprechen. Demgemäß würde die obere Grenze bei
verschärfter Zählung 24 betragen.
Aber man soll die Stimmen wägen und nicht zäiilen.
Im allgemeinen bearbeitet das fiktive Denken des jungen
Schopenhauer gerade Begriffe, die zu wichtigen Grundpfeilern des
nachmaligen Systems geworden sind: Willensmagie, Willensver-
neinung, ästhetische Kontemplation, Mythos, Kampf der Willcns-
objektivationen, um nur die bedeutendsten zu nennen. Meist
konnten wir positive, z. T. wörtliche, Nachwirkungen der ein-
zelnen Fiktionen in den gedruckten Werken nachweisen. Sonst
machten sich wenigstens indirekte Spuren davon bemerkbar. Man
darf wohl sagen, daß von der fiktionalistischen Jugendweisheit
des Denkers nichts Wesentliches verloren gegangen ist.
Besonders interessant war es, die Umbildungen zu studieren,
die die ursprünglichen Fiktionen bei ihrem Übergange in die lite-
rarische Öffentlichkeit erfuhren. Einerseits besteht eine Tendenz
zur Dogmatisierung, wofür die Miigic-Fiktion wohl das lehrreichste
Beispiel war, andererseits regt sich auch ein Trieb zur Verschärfung
des fiktiven Charakters, die schon im sprachlichen Ausdruck viel-
fach unverkennbar hervortrat. Die ööul; üvo) und die ödog xdrto des
Vaihingerschen Gesetzes von der Ideenverschiebung sind gleicher-
maßen bestätigt worden. Sogar innerhalb der Manuskripte konnten
wir einige ,, Ideenverschiebungen" demonstrieren.
Wenn wir die ganze Schar der Fiktionen in den Erstlings-
manuskripten noch einmal überschauen, so heben sich vor unsern
Blicken zwei Haupttypen ziemlich deutlich voneinander ab. Der
eine Haupttypus ist sozusagen erkenntnistheoretischer
Gewissenhaftigkeit entsprungen. Der junge Philosoph scheint
überhaupt — wohl unter dem Einfluß des Gedankenkreises der
Doktordissertation — auf peinliche Strenge im Gebrauche der
Begriffe bedacht zu sein. Sobald ihm eine Bezeichnung aufstößt,
die irgendwie unangemessen erscheint, vermerkt er den Mangel
sofort. Hält er sie trotzdem fest, weil ein passender Ersatz nicht
zu beschaffen ist, so muß er sie eben als Fiktion nehmen. Man
erinnere sich an jene Fälle, wo meist nur kurz der metaphorische
Sinn gewisser, an sich harmloser termini betont wurde. Das ist
der eine Haupttypus.
Der andere Haupttypus wurzelt gewissermaßen in pro-
])hetischer Begeisterung. Schopenhauer möchte seine philo-
sophische Lehre nicht nur in abstracto vortragen, sondern auch
Annalen der Philosopliie. I. 37
57^^
Arnold Kowalewski:
in concreto predigen, damit sie zur volleren Wirkung gelange.
Dabei ergibt sich von selbst das Bedürfnis nach einer packenden
mythischen Darstellungsform. Statt nun neue Mythen zu er-
finden, deutet er seine Ideen in altüberlieferte Mythen hinein.
Davon haben wir mehrere sehr eindrucksvolle Proben kennen
gelernt. Der warme enthusiastische Ton, der bei diesen prophe-
tischen Fiktionen — wie ich sie nennen möchte — anklingt,
macht schon äußerlich ihre Eigenart kenntlich im Gegensatze zu
den kühlen erkenntnistheoretischen Fiktionen.
Diese Fiktionentypen scheinen mir zugleich ein getreues Spiegel-
bild der beiden philosophischen Ahnherren zu sein, die Schopen-
hauer selbst mit Stolz für sich in Anspruch nahm. Die prophe-
tischen Fiktionen ähneln den Mythen, in die Piaton seine letzte
Weisheit zu kleiden liebte. Die erkenntnis theoretischen Fiktionen
atmen durchaus den Geist des Vernunftkritikers Kant.
II. Fiktionalistische Gedanken in den Werken, Briefen und
(xesprächen Scliopenhauers.
Der Leser erschrecke nicht vor dieser Überschrift. Nun soll
nicht eine ebensolange oder gar noch längere Berichterstattung
folgen als im ersten Abschnitte. Eine große Masse von Fiktionen
ist dadurch schon vorweggenommen, daß ich allemal die Nach-
wirkungen der Manuskriptrcflexionen in den Werken verfolgte.
Die bloß weitergesponnenen Fiktionen bleiben also jetzt beiseite.
Es kommen nur die neuen Ansätze in Betracht. Und selbst von
diesen sollen nur auserlesene Exemplare demonstriert werden,
denen eine gewisse typische Bedeutung eignet.
42. Nutzen der Begriffe.
Aus dem Erstdruck der Doktordissertation (1813) möchte ich
gleich eine hübsche Bemerkung über den Nutzen der Begriffe er-
wähnen. Sie bezieht sich — wenn auch ohne terminologisches
Bewußtsein — auf das, was die ,, Philosophie des Als-Ob" treffend
,,ncglektive Fiktion" nennt.
,,Ebcn dadurch aber", so heißt es (§ 28), ,,daß Begriffe weniger
Ml sicli enthalten als die Vorstellungen, davon sie wieder Vor-
stellungen sind, sind sie leichter zu handhaben als diese und
Verhalten sich /.u ihnen ungefähr wie die Formeln in der Arith-
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. cjq
metik zu den Denkoperationen, aus denen sie hervorgegangen
sind und die sie vertreten. Sie enthalten von vielen Vorstellungen,
deren Vorstellungen sie sind, grade nur den Teil, den man eben
braucht, statt daß, wenn man die Vorstellungen selbst durch
die Phantasie vergegenwärtigen wollte, man gleichsam eine Last
von Unwesentlichem mitschleppen müßte und dadurch leicht ver-
wirrt würde: jetzt aber, durch Anwendung von Begriffen, denkt
man nur die Teile und Beziehungen aller dieser Vorstellungen,
die der jedesmalige Zweck erfordert." In der zweiten Auflage
(1847) hat Schopenhauer die Betrachtung noch weiter ausgebaut,
namentlich auch durch illustrative Zutaten, die das Ganze wirkungs-
voller machen. Unmittelbar auf das oben zitierte Stück läßt er
z. B. den Satz folgen: ,,Ihr (sc. der Begriffe) Gebrauch ist dem-
nach dem Abwerfen unnützen Gepäckes oder auch dem
Operieren mit Quintessenzen, statt mit den Pflanzenspezies
selbst, mit der Chininc statt der China, zu vergleichen". (§ 27,
die Paragraphierung der 2. Auflage ist nämlich eine andere.)
43. Der empirische Charakter als Erscheinung eines
außerzeitlichen, gleichsam permanenten Zustandes oder
universalen Willensaktes.
Die interessanteste fiktionalistisch gefärbte Äußerung der
Doktordissertation steht in dem langen § 46, der merkwürdiger-
weise in der zweiten Auflage ganz gestrichen worden ist. Er
handelt über Motiv, Entschluß, empirischen und intclligiblen Cha-
rakter. Die für uns wichtige Stelle lautet:
,,Da diese Äußerungen des empirischen Charakters zerstückelt
sind, aber auf Einheit und Unveränderlichkeit desselben deuten,
muß er als Erscheinung eines gar nicht erkennbaren, außer der
Zeit hegenden gleichsam permanenten Zustandes des Sub-
jekts des Willens gedacht werden. Ich sage gleichsam perma-
nenten Zustandes, denn Zustand und permanent sind nur in
der Zeit, aber für das Außerzeitlichc ist kein Ausdruck mög-
lich. Vielleicht bezeichne ich das Gemeinte besser, obwohl auch
bildlich, wenn ich es einen außer der Zeit liegenden uni-
versalen Willensakt nenne, von dem alle in der Zeit vor-
kommenden Akte nur das Heraustreten, die Erscheinung sind.
Kant hat dieses den intclligiblen Charakter genannt (viel-
leicht hieße es richtiger der inintelligible) . . ."
37*
58o
Arnold Kowalewski :
Dksc Reflexion erinnert z. T. an die unter Nr. 40 besprochene
Aiifzeielinung der Erstlingsmanuskripte, wo ,,das Aufgeben des
Willens" auch nur im metaphorischen Sinne „Zustand" heißen
sollte. Hier erfahren wir, daß der — sozusagen — unaufgegebenc
Wille für unser Begreifen mindestens die gleiche Schwierigkeit
bietet. Genau genommen enthält der Ausdruck ,, permanenter
Zustand" zwei Fiktionen: denn nicht bloß ,, Zustand", sondern
auch ,, permanent" gilt ausschließlich für die zeitliche Sphäre.
Darum versieht Schopenhauer den zwiefach unzulässigen Ausdruck
mit der fiktionalistischen Schutzmarke ,, gleichsam". Er ist aber
selbst nicht zufrieden und schlägt sofort noch einen Ersatzausdruck
vor, der besser, obwohl auch bildlich sei, also eine verbesserte
Fiktion. So haben wir eine faßliche Formel für Kants ,,intelli-
giblen Charakter", der nach Schopenhauers witziger Zwischen-
bemerkung eigentlich ,,inintelligibler" heißen müßte. Welchen
Wert der Danziger Philosoph auf seine Formel später legte, zeigt
am besten die Tatsache, daß das Hauptwerk (durch alle Auflegen)
eigens diesen ,,in der einleitenden Abhandlung (= Dissertation)
gebrauchten besten Ausdruck" für ,,das Verhältnis" der beiden
Chanktere — allerdings ein wenig modifiziert — wiederholt: es heißt
näml ch, ..daß der intelligible Charakter des Menschen als ein außer-
zeitlicher, daher unteilbarer und unveränderlicher Willensakt
zu betrachten sei, dessen in Zeit und Raum und allen Formen
des Satzes vom Grunde entwickelte und auseinandergezogene Er-
scheinung der empirische Charakter ist" (I, § 55). Die editio
prineeps nennt sogar S. 416 noch den nachmals unterdrückten
§ 46. Wir können zugleich konstatieren, daß sieh der fiktive
Index der fraglichen Formel, wenn auch in etwas weitbauschigerer,
zarterer Einkkidung (,, bester Ausdruck, um das Verhältnis beider
faßlich zu machen", ,,als . . . zu betrachten"), erhalten hat. Die
genaue Formel der Doktordissertation ist übrigens in den Vor-
lesungen Schopenhauers benutzt worden, wie wir aus der Deuscn-
schen Ausgabe des Mc nuskripts (X, S. 46) entnehmen können,
sogar mit teilweise wörtlicher Anlehnung an die umrahmenden
Ausdrücke, Auch die vorläufige Fassung ist dort erwähnt. Dazu
ckr Zusatz: ,, Gleichsam permanenten Zustandes, ist meta-
phorisch". Bei der genauen Formel fehlt ein deutlicher fiktio-
nalistischer Index. Doch klingt er vielleicht in der Wendung ,,so
müssen wir uns ... denken als" an. Möglich wäre auch, daß
Schope-nhaucr im Vorlesungstone sich dogmatischer ausdrückte,
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. cßl
als er dachte, um den Hörern etwas Bestimmtes und Sicherem zu
bieten. Die modifizierte Formel endlich (,,ein außerzeitlicher,
daher unteilbarer und unveränderlicher Willensakt") kommt an
einer anderen Stelle der Vorlesungen (S. 392) gleichfalls vor.
Wichtiger aber ist folgendes.
Noch im hohen Alter fand der Danziger Philosoph eine außer-
ordentliche Gelegenheit, seine Fiktion eines außerzeitlichen Willens-
aktes selbst als solche zu verteidigen. Es war der scharfsinnige
Johann August Becker, der am 10. September 1844 u. a.
die Undenkbarkeit einer Willensverneinung bei Annahme eines
außerzeitlichen Willensaktes dem Meister brieflich vorhielt. Die
Antwort, die darauf erfolgte, beweist klar, daß Schopenhauer die
fragliche Annahme nach wie vor nur fiktionalistisch verstand und
verstanden wissen wollte. Sie ist zugleich eine glänzende Recht-
fertigung der fiktiven Methode. Schopenhauer erklärte: ,,Daß der
intelligible Charakter eines Menschen ein außerzeitlicher Willens-
akt sei, habe ich nicht als objektive Wahrheit, oder als
adäquaten Begriff des Verhältnisses zwischen Ding an sich
und Erscheinung dargestellt; vielmehr bloß als Bild und
Gleichnis, als figürlichen Ausdruck der Sache, indem ich sagte,
man könne, um sich die Sache faßlich zu machen, sie so denken.
Wir bedürfen nämlich für alle unsre Erkenntnisse, so abstrakt
sie auch sein mögen, der Grundlage eines anschaulichen
Schemas: ein solches aber hat stets Raum und Zeit zur Form.
Hingegen wirkliche Vorgänge im Dinge an sich zu beschreiben,
wäre transzendent: ich aber bleibe überall immanent." (Schopen-
hauers Briefe, ed. Grisebach, S. lOOf.) Das war eine geschickte
apologetische Ausnutzung der Fiktion. Wir werden bald noch
ähnliche Fälle kennen lernen. Einstweilen wollen wir aber erst
das Hauptwerk ein wenig durchmustern.
44. Kontrastierung der tierischen Kunsttriebe und
des magnetischen Hellsehens.
Im naturphilosophischen Teile des Hauptwerkes (I, § 27
gegen Schluß, auch schon in der ed. princ. S. 219 f.) kontrastiert
Schopenhauer zwei Erscheinungen, die auf einem sonderbaren In-
einanderwirken von Gegensätzen beruhen sollen. Der fiktive Cha-
rakter der Konstruktion ist unverkennbar. Wir haben sogar im
buchstäblichen Sinne eine .AJs-Ob-Betrachtung vor uns. ,,Es scheint,"
;82
Arnold Kowalewski:
sagt der Philosoph, ,,.ils ob diese vernunftlose Erkenntnis nicht
in allen Fällen hinreichend zu ihrem Zwecke gewesen sei und bis-
weilen gleichsam einer Nachhilfe bedurft habe. Denn es bietet
sich uns die sehr merkwürdige Erscheinung dar, daß das blinde
Wirken des Willens und das von der Erkenntnis erleuchtete, in
zwei Arten von Erscheinungen, auf eine höchst überraschende
Weise, eines in das Gebiet des andern hinübergreifen. Einmal
nämlich finden wir, mitten unter dem von der anschaulichen Er-
kenntnis und ihren Motiven geleiteten Tun der Tiere, ein ohne
diese, also mit der Notwendigkeit des blindwirkenden Willens
vollzogenes, in den Kunsttrieben, welche, durch kein Motiv, noch
Erkenntnis geleitet, das Ansehen haben, als brächten sie ihre
Werke sogar auf abstrakte, vernünftige Motive zustande. Der
andere diesem entgegengesetzte Fall ist der, wo umgekehrt das
Licht der Erkenntnis in die Werkstätte des blindwirkenden Willens
eindringt und die vegetativen Funktionen des menschlichen Orga-
nismus beleuchtet: im magnetischen Hellsehen (ed. princ. : im
tierischen Magnetismus)." Neu ist hieran natürlich nicht die fik-
tive Charakteristik der tierischen Kunsttriebe als vernunftartiger
Akte, sondern die Zusammenstellung mit dem entgegengesetzten
Falle des magnetischen Hellsehens. Einerseits liegt sozusagen eine
bewußtlose Form von Vernunftleistungen vor, andererseits eine
bewußte Form sonst blindwirkender Prozesse. Das denkt sich
Schopenhauer als ein konkurrierendes Hinübergreifen des Bewußten
in den Bereich des blinden Wirkens und umgekehrt des blinden
Willens in den Bereich des bewußten Wirkens. Ich möchte dies
eine fiktive Kontrastierung nennen. Es läßt sich sogar noch ihr
handschriftliches Embryostadium nachweisen, in Gestalt eines
kleinen Zusatzes zu § 512 der Erstlingsmanuskripte. Wir
nahmen bei unserer Musterung davon nicht besonders Notiz, da
die dortige Formulierung keinen fiktionalistischen Hintergedanken
/.u haben scheint. Es wird sozusagen mit naivem Dogmatismus
ein Ineinandergreifen des blinden Wirkens des Willens und des
von der Erkenntnis begleiteten behauptet. Selbst die auffälligen
I I.mdlungen der Tiere sind filctionslos charakterisiert. ,,So finden
wir", heißt CS nämlich (a. a. O. § 512), ,, besonders unter den der
Erkenntnis bedürfenden Erscheinungen noch einige, die ohne diese
geschehen, obgleich sonst jenen ganz ähnlich, dies sind die Hand-
lungen der Tiere aus Instinkt." Hiernach ist aus einer naiv dog-
matischen Knnzoption in der gedruckten Ausarbeitung eine Fiktion
Ansätze zum Fiktionalismus bei Schopenhauer. 583
geworden. Diese Fiktion behauptet sich durch alle Auflagen des
Hauptwerkes, hat aber noch im Ergänzungsbande eine weitere
päralk'l kiufende Nebenbetrachtung angeregt. Eine k^hrreichc Probe
von der Fruchtbarkeit des fiktiven Denkens. In der Nebenbetrach-
tung ist offenbar aus der fiktiven Antithese der ursprünglichen
Kontrastierung eine fiktive Synthese entwickelt worden, die auf
nichts Geringeres hinausläuft, als eine somnambulistische Theorie
des tierischen Instinktes.
45. Die Insekten gewissermaßen natürliche
Somnambulen.
Nachdem Schopenhauer die Wichtigkeit des Gangliensystems
für alle instinktiven Akte genauer auseinandergesetzt hat, fährt
er (a. a. O. II, Kap. 27, Abs. 2) folgendermaßen fort: ,,Eben weil
das instinktive Tun und die Kunstverrichtungen der Insekten
hauptsächlich vom Gangliensystem aus geleitet werden, gerät
man, wenn man dieselben als allein vom Gehirn ausgehend be-
trachtet und demgemäß erklären will, auf Ungereimtheiten, indem
man alsdann einen falschen Schlüssel anlegt. Der selbe Umstand
sibt aber ihrem Tun eine bedeutsame Ähnlichkeit mit dem der
Somnambulen, als welches ja ebenfalls daraus erklärt wird, daß,
statt des Gehirns, der sympathische Nerv die Leitung auch der
äußeren Aktionen übernommen hat: die Insekten sind demnach
gewissermaßen natürliche Somnambulen. Dinge, denen
man geradezu nicht beikommen kann, muß man sich durch eine
Analogie faßlich machen ..." Das ist ein fiktionalistischer
Schlao-er, wenn man dem Philosophen auch nur bis hierher folgt.
Aber er spinnt die geistreiche fiktive Theorie noch weiter
aus, so daß sie immer konkretere Form annimmt. Unter anderem
wird das, was man heute posthypnotischc Suggestion nennt, in
einem besonderen Falle herangezogen und zur Aufhellung des
instinktiven Mechanismus der Insekten geschickt verwertet. Man
möchte meinen, daß die in der letzten Auflage noch beträchtlich
ergänzten empirischen Instanzen die Fiktion in eine Hypothese ver-
wandeln sollen. Der Philosoph erklärt aber selbst, wohl um solcher
Interpretation seiner Darlegungen vorzubeugen, zum Schluß dieser
Nachträge vorsichtig, daß dies alles ,,uns den Schlüssel zu einem ana -
logischen Verständnis des Instinkts und der Kunsttriebe" liefere.
Der Sachverhalt ist so klar, daß sich jede weitere Analyse erübrigt.
-gj Arnold Kowalcwski:
46. Der Wahncharaktcr des Instinkts.
Schopenhauer hat das Instinktproblem noch in einer tieferen
Weise behandelt, die gerade fiktionalistisch von größtem Interesse
ist. Ich meine das berühmte Kapitel „Metaphysik der Geschlechts-
liebe" im Ergänzungsbande des Hauptwerkes, zu dem der Philo-
soph nachmals noch einen längeren Zusatz machte — ein Zeichen
(l:ifür, wie wichtig ihm der ganze Gedankenkreis erschien. Die
Analyse des menschlichen Sexualinstinkts ist hier mit bewunderns-
wertem Geschick zu einer allgemeinen Instinkttheorie erweitert.
Für uns genügen die Kernsätze der Theorie. ,,Zwar hat die Gat-
tung auf das Individuum ein früheres, näheres und größeres Recht,
als die hinfällige Individualität selbst: jedoch kann, wann das
Individuum für den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung
tätig sein und sogar Opfer bringen soll, seinem Intellekt, als welcher
bloß auf individuelle Zwecke berechnet ist, die Wichtigkeit der
Angelegenheit nicht so faßlich gemacht werden, daß sie derselben
gemäß wirkte. Daher kann, in solchem Falle, die Natur ihren
Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuo einen ge-
wissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich
selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist,
so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen
wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf ver-
schwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle
einer Wirklichkeit vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt (II,
Kap. 44, 8. Absatz)." Die Innenseite des instinktiven Wahns er-
fahren wir allein an uns selbst, was nun Schopenhauer an dem
Beispiel des Sexualinstinkts genauer darlegt. Dann kommt der
Schluß auf die Verhältnisse bei den Tieren. ,,Ohne Zweifel sind
auch diese von einer Art Wahn, der ihnen den eigenen Genuß
vorgaukelt, befangen, während sie so emsig und mit Selbst-
verleugnung für die Gattung arbeiten, der Vogel sein Nest baut,
das Insekt den allein pa.ssenden Ort für die Eier sucht, oder gar
Jagd auf Raub macht, der, ihm selber ungenießbar, als Futter
für die künftigen Larven neben die Eier gelegt werden muß, die
Biene, flic Wespe, die Ameise ihrem künstlichen Bau und ihrer
höchst komplizierten Ökonomie obliegen. Sie alle leitet sicher-
lich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die Maske
eines egoistischen Zweckes vorsteckt. Um uns den Innern
odtT subjcktivt-n Vorgang, der den Äußerungen des Instinkts zum
Ansätze zum Fiktionali<imus bei Schopenhauer. ^85
Grunde liegt, faßlich zu machen, ist dies wahrscheinlich der
einzige Weg" (II, Kap. 44, 9. Absatz). Nach dem letzten
Satze ist Schopenhauers Übertn gung des Wahngedankens auf
den tierischen Instinkt nur als Fiktion gemeint. Schon insofern
haben wir diese Konstruktion zu beachten und in unsere Samm-
lung aufzunehmen. Aber auch das Wahnprinzip selbst ist ein
folgenreicher Ansatz zum Fiktionalismus, regt sich doch darin
die dunkle Ahnung, daß es zweckmä.jige Irrtümer gibt, von
denen die Erhaltung des Lebens wesentlich abhängt. Denken wir
uns solche Irrtümer mit Bewußtsein gesetzt und bejaht, so befinden
wir uns auf der Höhe eigentlicher Fiktionen. Von dieser Richtung
her mag besonders Nietzsches Fiktionalismus Impulse erhalten
haben, worauf Vaihinger bereits auf S. 771 der ,, Philosophie
des Als Ob" mit Recht hindeutete. Es ließe sich zudem die
ganze Wahntheorie als ein Stück von Metaphysik des Fik-
tiven auffassen. Schopenhauer zeigt gleichsam, daß der schaf-
fende Lebenswille selbst Fiktionen braucht, um indirekt gewisse
Ziele zu erreichen, die auf direktem Wege unerreichbar sind.
Natura fictrix! Mit diesem Stichworte bezeichnen wir am
besten diese wichtige Erkenntnis. Wieweit übrigens der Danziger
Philosoph selbst in der Ausmalung der natura fictrix gegangen
).st, beweist u. a. der merkwürdige Versuch, sogar die Päderastie
zu einem zweckmäßigen Vorbeugungsmittel im Interesse der Spezies
zu stempeln. Das Laster findet sich nämlich gerade bei der ab-
sterbenden sowie bei der unreifen Zeugungskraft, ,,%TClche der
Spezies Gefahr drohen." Und nun spricht Schopenhauer ganz
fiktionalistisch : ,,.... wiewohl sie alle beide aus moralischen Grün-
den pausieren sollten; so war hierauf doch nicht zu rechnen; da
überhaupt die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem Treiben
nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, infolge ihrer
tigenen Gesetze, in die Enge getriebene Natur, mittels Ver-
kehrung des Instinkts, zu einem Notbehelf, einem Strategem,
ja man möchte sagen, sie bauete sich eine Eselsbrücke, um . . .
von zweien Übeln dem größern zu entgehen. Sie hat nämlich
den wichtigen Zweck im Auge, unglücklichen Zeugungen vorzu-
beugen, welche allmählich die ganze Spezies depravieren könnten,
und da ist sie . . . nicht skrupulös in der Wahl der Mittel (ebenda,
vorletzter Absatz)".
586
Arnold Kowalewski:
47. Symbolische Auslegung der Bewußtseinsgrade
in der Richtung von innen nach außen.
Sehr lehrreich ist das Kapitel 25 im Ergänzungsbande zum
Hauptwerke, das ,, transzendente Betrachtungen über den Willen
als Ding an sich" enthält. Der Philosoph stößt hier u. a. auf
folgende Frage: „Warum ist unser Bewußtsein heller und deut-
licher, je weiter es nach außen gelangt, wie denn seine größte
Klarheit in der sinnlichen Anschauung liegt, welche schon zur
Hälfte den Dingen außer uns angehört, — wird hingegen dunkler
nach innen zu, und führt, in sein Innerstes verfolgt, in eine Finsternis,
in der alle Erkenntnis aufhört (a. a. O., letzter Absatz).?" Die
Beantwortung dieser Frage bewegt sich durchaus in Bildern und
Gleichnissen. Am genauesten ist das Gleichnis der Kugel aus-
geführt. Das Begreifliche unseres Bewußtseins soll auf der Ober-
fläche der Kugel liegen. Dem Zusammenfallen der Individualitäten
und der Auslöschung des Bewußtseins entspricht die Vereinigung
der Kugelradien im Zentrum. Schopenhauer erläutert an diesem
Kugelmodell sogleich mehrere andere Philosopheme. ,, Unsterb-
lichkeit des Individui ließe sich dem Fortfliegen eines Punktes
der Oberfläche in der Tangente vergleichen; Unsterblichkeit, ver-
möge der Ewigkeit des Wesens an sich der ganzen Erscheinung
aber, der Rückkehr jenes Punktes auf dem Radius, zum Zentro,
dessen bloße Ausdehnung die Oberfläche ist. Der Wille als Ding
an sich ist ganz und ungeteilt in jedem Wesen, wie das Zentrum
ein integrierender Teil eines jeden Radius ist : während das peri-
pherische Ende dieses Radius mit der Oberfläche, w^elche die Zeit
und ihren Inhalt vorstellt, im schnellsten Umschwünge ist, bleibt
das andere Ende, am Zentro, als wo die Ewigkeit liegt, in tiefster
Ruhe, weil das Zentrum der Punkt ist, dessen steigende Hälfte
von der sinkenden nicht verschieden ist." Und der Philosoph
selbst bemerkt noch, gleichsam zur Entschuldigung: ,, Freilich ge-
raten wir hier in eine mystische Bildersprache: aber sie ist
die einzige, in der sich über dieses völlig transzendente Thema
noch irgend etwas sagen läßt." Dann folgt sogleich noch
eine neue Gleiehnisrede über dasselbe Thema, die wir aber bei-
seite lassen. Für uns ist besonders die grundsätzliche Erklärung
Schopenh:iuers ein wichtiger Fingerzeig. Nun wissen wir, wo
die natürlichen Häufungsstellen für Fiktionen in seinem
System zu suchen sind. In dieser Hinsicht ist auch eine andere
Ansätze zum Fiküonalisnuis bei Schopenhauer. cgy
Erklärung in Kapitel 7 des Ergänzungsbandes beachtenswert, wo
Schopenhauer gesteht, daß die Philosophie ,,bisweilen und im Not-
falle in solche Erkenntnisse auslaufen darf ", die bloß in abstracto
denkbar, aber durch keine Anschauung bclegbar sind. ,, Erkenntnisse
dieser Art werden freilich auch nur halbe Erkenntnisse sein;
sie zeigen gleichsam nur den Ort an, wo das zu Erkennende liegt;
aber es bleibt verhüllt." Als Beispiele führt er an den ,, Begriff
eines Seins außer der Zeit" und den Satz: ,,die Unzerstörbarkeit
unseres wahren Wesens durch den Tod ist keine Fortdauer desselben".
48. Ablegung der Hilfsmittel nach geleistetem Dienst.
Aus dem eben erwähnten Kapitel 7 möchte ich noch folgende
fiktionalistisch bedeutsame Reflexion hervorheben.
,,Dem . . . der studiert, um Einsicht zu erlangen, sind die
Bücher und Studien bloß Sprossen der Leiter, auf der
er zum Gipfel der Erkenntnis steigt: sobald eine Sprosse ihn um
einen Schritt gehoben hat, läßt er sie liegen. Die vielen hingegen,
welche studieren, um ihr Gedächtnis zu füllen, benutzen nicht
die Sprossen der Leiter zum Steigen, sondern nehmen sie ab und
laden sie sich auf, um sie mitzunehmen, sich freuend an der zu-
nehmenden Schwere der Last. Sie bleiben ew^ig unten, da sie das
tragen, was sie hätte tragen sollen." Dies ist einmal eine aus-
gezeichnete symbolische Erläuterung des in der ,, Philosophie
des Als-Ob" so gründlich analysierten Eliminierens von Hilfs-
größen. Außerdem scheint mir der Danzigcr Philosoph vorahnend
auf das neue Arbeitsfeld einer ,, Pädagogik des Als-Ob" hin-
zudeuten. Beim Unterricht und beim selbständigen Studium ist
es wichtig, die bloß dienenden vorübergehenden Hilfsmittel als
solche richtig einzuschätzen und demgemäß zu behandeln. Die
meisten Pedantereien des Schulwesens würden verschwinden, wenn
diese Einsicht beherzigt würde, die durchaus den Prinzipien des
Fiktionajismus entspricht. Genauere und umfassendere Erörterungen
des hier berührten Problemkreises wird meine demnächst erscheinende
Abhandlung ,, Ideen zu einer Pädagogik des Als Ob" bringen.
49. Als-Ob-Betrachtung über das ,, Urtier".
Eine echte Als-Ob-Betrachtung bietet die Schrift ,,Über den
Willen in der Natur" in dem der ,, vergleichenden Anatomie" ge-
5 SS
Arnold Kowalewski:
widmeten Abschnitt. Sic bezieht sich auf die Idee des Urtiers,
<l(.ren nictaphysisch-voluntaristische Auslegung bei Schopenhauer
freilich doch den zweifellos fiktiven Ansatz zu trüben scheint.
,,\Vtnn wir nun", so heißt es da, ,,nach allen diesen Betrachtungen
über die genaue Übereinstimmung zwischen dem Willen und der
Organisation jedes Tieres, und von diesem Gesichtspunkt aus,
ein wohlgeordnetes osteologisches Kabinett durchmustern; so wird
es uns wahrscheinlich vorkommen, als sehen wir ein und
dasselbe Wesen (jenes Urtier de Lamarcks, richtiger den Willen
zum Leben) nach Maßgabe der Umstände seine Gestalt verändern
und aus derselben Zahl und Ordnung seiner Knochen, durch Ver-
längerung und Verkürzung, Verstärkung und Verkümmerung der-
selben, diese Mannigfaltigkeit von Formen zustande bringen."
Im Anschluß hieran wird auch die Konstanz der Zahl und Ordnung
der Knochen bei allen Wirbeltieren, das sogenannte ,, anatomische
Element" Geoffroy Saint-Hilaires erwähnt, was Schopenhauer
,,der Beharrlichkeit der Materie unter allen physischen und che-
mischen Veränderungen vergleichen möchte". Und es folgt an
der Hand schematischer Beispiele eine längere Schilderung der
Umwandlungen des Wirbeltierkörpcrs durch den ,, Willen", der
,,mit ursprünglicher Kraft und Freiheit" die jeweilige besondere
Form ,,nach Maßgabe der Zwecke, welche die äußeren Umstände
ihm vorschrieben", bestimmen soll. Diese Schilderung hat für
uns fiktiven Charakter. Schopenhauer selbst aber denkt dabei
wohl an eine ernste naturphilosophische Hypothese.
50. Das Dogma von der Vorsehung als allegorische
Wahrheit.
Die tiefsinnige ,, Transzendente Spekulation über die anschei-
nende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen", die zu den
Glanzstücken des ersten Bandes der ,,Parerga und Paralipomena"
gehört, nötigte den Philosophen naturgemäß zu einem freieren
Gebrauche des fiktiven Denkens. Nachdem er mehrere Analogien
gesammelt hat, um die Idee einer geheimnisvollen lenkenden Macht
aufzuhellen, legt er folgendes fiktionalistische Bekenntnis ab:
,,Dies angenommen, könnte das Dogma von der Vorsehung,
als durchaus anthropomorphistisch, zwar nicht unmittelbar und
sensu proprio als wahr gelten; wohl aber wäre es der mittelbare,
allegorische und mythische Ausdruck einer Wahrheit,
Ansät/e zum P'iktionalismus bei Schopenhauer. 58q
und daher, wie alle religiösen Mythen, zum praktischen Behuf
und zur subjektiven Beruhigung ausreichend, in dem Sinne
wie z. B. Kants Moralthcologie, die ja auch nur als ein Schema
zur Orientierung, mithin allegorisch, zu verstehen ist:
— es wäre also, mit Einem Worte, zwar nicht wahr, aber doch
so gut wie wahr."
51. Hypothese zum sch.ematischen oder analogischen
Verständnis des ,,Magnetisiercns".
Wie wir bereits aus unserer entwicklungsgeschichtlichcn Nach-
forschung über die Magic-Fiktion wissen, hat Schopenhauer in
seinem, gleichfalls im ersten Bande der Parerga enthaltenen ,, Ver-
such über Geistersehen und was damit zusammenhängt" die Reil-
sche Hypothese zur Erklärung des animalischen Magnetismus
nicht nur kritisiert, sondern durch eine neue, eigene ersetzt. Diese
Ersatzhypothese muß nun an dieser Stelle genauer betrachtet
werden. Sic bedient sich des damals üblichen Schemas der Polarität.
Das Gehirn, nebst den ihm anhängenden Organen der Bewegung,
soll den positiven und bewußten Pol, der sympathische Nerv, mit
seinen Ganglicngeflechten, den negativen und unbewußten Pol
darstellen. Der Hergang beim Magnetisieren wird folgendermaßen
beschrieben: ,,Es ist ein Einwirken des Gchirnpols (also des äußeren
Nervenpols) des Magnetiseurs auf den gleichnamigen des Patienten,
wirkt demnach, dem allgemeinen Polaritätsgesetze gemäß, auf
diesen repellierend, wodurch die Nervenkraft auf den andern
Pol des Nervensystems, den innern, das Bauchgangliensystem,
zurückgedrängt wird." Aus dieser ,, Hypothese" sucht Schopen-
hauer noch verschiedene Einzelheiten abzuleiten, wie z. B. das
sogenannte Baquet, bei dem ungleichnamige Pole aufeinander
wirken, so daß hier ein ,,attrahierendes Magnetisieren" vor-
zuliegen scheint, zuletzt die Steigerung des Rapports in den höheren
Graden des Somnambulismus. Für uns ist das Schlußgeständnis
am wichtigsten. ,,Das sind freilich", sagt der Philosoph, ,,sehr
gewagte Annahmen: aber bei so durchaus unerklärten Dingen,
wie die, welche hier unser Problem sind, ist jede Hypothese,
die zu irgend einem, wenn auch nur schematischen, oder
analogischen Verständnis derselben führt, zulässig". Die
vermeinthche ,, Hypothese" kann demnach — im modernen Sinne
gesprochen — nur eine Fiktion sein.
cgO Arnold Kowalewski:
52. Die geologischen Vorgänge — eine Art Bilder-
sprache.
Noch eine fiktionalistische Mustcrleiscung sei aus dem zweicen
Bande der Parerga angeführt. Sie hängt mit der einen von d n
beiden Schopenhauerschen Ersatzantinomien zusammen, die ich
die „geologische" nennen möchte (vgl. mein Schopenhauerbuch
S. 61 f.). Ich zitiere nur einen Passus aus der späteren Ergänzung,
die der Philosoph aus den ,,Spicilegia" zur Ausschmückung des
Gedankens bestimmt hat, wie wir aus Deussens Parergaausgabe
ersehen können (V, S. 151). ,,Wenn wir sagen, anfangs sei ein
leuchtender Urnebel gewesen, der sich zur Kugelform geballt und
zu kreisen angefangen habe, dadurch sei er linsenförmig geworden,
und sein äußerster Umkreis habe sich ringförmig abgesetzt, dann
zu einem Planeten geballt, und das Selbe habe sich abermals
wiederholt, und so fort, — die ganze Laplacesche Kosmogonie; —
und wenn wir nun ebenfalls die frühesten geologischen Phänomene
bis zum Auftreten der organischen Natur hinzufügen; so ist alles,
was wir da sagen, nicht im eigentlichen Sinne wahr, son-
dern eine Art Bildersprache. Denn es ist die Beschreibung
von Erscheinungen, die als solche nie dagewesen sind: denn
es sind räumliche, zeitliche und kausale Phänomene, welche als
solche schlechterdings nur in der Vorstellung eines Gehirns exi-
stieren können, welches Raum, Zeit und Kausalität zu Formen
seines Erkennens hat, folglich ohne ein solches unmöglich und
nie dagewesen sind; daher jene Beschreibung bloß besagt, daß,
wenn damals ein Gehirn existiert hätte, alsdann besagte Vor-
gänge sich darin dargestellt haben würden." Diese Betrachtung
ist für einen erkenntnistheoretischen Idealisten, der die Schule
Kants durchgemacht hat, eigentlich nichts Außerordentliches,
Merkwürdigerweise sucht man sie aber bei dem Königsberger
Philosophen selbst vergebens.
53. Der Begriff der ,, Handlungen von moralischem
Wert" — eine ,, bloße Spielmarke".
Wir wollen jetzt im Briefwechsel Schopenhauers nach fik-
tionalistischen Gedanken fahnden.
Da nahm der scharfsinnige Becker in einem Briefe vom
20. November 1844 an dem Begriffe von ,, Handlungen, die einen
moralischen Wert haben", wie ihn die nichtgekrönte ethische
• Ansätze zum Fiktionalisiiius bei Schopenhauer. cgi
Preisschrift gebraucht, Anstoß. Er meinte, daß diesem Begriffe
der gleiche Mangel anhafte wie Kants Imperativ, dessen kritik-
lose Einführung in die philosophische Gesellschaft Schopenhauer
selbst gerügt habe. Des Meisters Beantwortung dieses Anklage-
punktes lautet folgendermaßen: ,,Es ist freilich wahr, daß in
meiner Ethik der Begriff der ,, Handlungen von moralischem Wert"
als eine Voraussetzung auftritt. Jedoch ist diese eine bloße
Spielmarke, mit der ich einstweilen antrete, um sie nachher
einzulösen. Mit dem kateg. Imperativ ist solche durchaus nicht
zu vergleichen, da sie keineswegs, wie dieser, ein Daus ex machina
ist und auch nicht von ferne die Prätension macht, selbst
ein Letztes und ein Erklärungsgrund zu sein. Es ver-
hält sich damit nämlich so : Von irgend etwas muß man ausgehn,
an. etwas anknüpfen, sein Gewebe anzetteln: denn aus nichts
wird nichts. Wenn ich einen Kranz flechte, steht ein Stengel
heraus, bis ich herumgekommen bin. Diesen Anknüpfungspunkt
gab mir schon die Preisfrage an die Hand ..."
Ich habe hier nicht nachzuprüfen, ob solche Erwiderung den
eigentlichen Fragepunkt auch genau trifft: denn daß man über-
haupt einen Ausgangsbegriff benutzen müsse, wird ja wohl von
Becker nicht bezweifelt. Es handelt sich um die Qualifikation
eines besonderen Ausgangsbegriffes. Bemerkenswert ist vor allem,
daß Schopenhauer den beanstandeten Begriff für eine Fiktion
erklärt. Denn eine bloße Spielmarke, mit der man einstweilen
antritt, um sie nachher einzulösen, ist eben nichts anderes, als
eine Fiktion, die man vorläufig benutzt, um sie aus der Denk-
rechnung schließlich zu eliminieren, ganz im Sinne der klassischen
Charakteristik in der ,, Philosophie des Als Ob". ,, Spielmarke"
bedeutet übrigens eine dankenswerte Bereicherung des fiktiona-
listischen Sprachschatzes. Auch die sonstigen Ausdrücke, die der
Danzigcr Philosoph bei der Beschreibung seines fiktiven Ver-
fahrens braucht, sind sehr treffend. Man beachte übrigens, daß
echt fiktionalistisch der Anspruch einer Erklärung abgelehnt wird:
d. h. der fragliche Begriff soll keine Hypothese sein, ganz im
Sinne der strengen Lehre der ,, Philosophie des Als Ob".
54. ,,Ich noch einmal" als tropische Wendung.
Noch ein anderer Einwand des oben erwähnten Beckerschen
Briefes veranlaßte den Meister zu einer fiktionalistischen Abwehr-
rq-» Arziold Kowalcwbki:
maßrcgcl. „Beruht", so schrieb der Kritiker, ,,dic morahsclio
Triebfeder (das Mitleid) auf der Einsicht, daß der Andere cigent-
Hch mein ,,Ich noch einmal" ist, so ist zuletzt mein Interesse für
den Andern eben auch ein Interesse für das Ich, also wieder
Egoismus und folglich dem letzten Grunde nach doch nicht spe-
zifisch verschieden." Schopenhauer dagegen: ,,Dies Argument be-
ruht aber nur darauf, daß Sic den Ausdruck ,,Ich noch einmal"
buchstäblich nehmen wollen, während er eigentlich docii
nur eine tropische Wendung ist. Denn mit Ich wird im
eigentlichen Sinn stets nur das Individuum bezeichnet, nicht
aber das metaphysische Ding an sich, welches, direlct unerkenn-
bar, in den Individuen erscheint, also über diese hinaus liegt,
hinsichtlich auf welches daher die Ichheit aufhört; und
unter Egoismus versteht man den exklusiven Anteil am eigenen
Individuo, als in welchem allein der Wille z. L. sich zunächst und
unmittelbar erkennt." Hiernach ist also das schöne Philosophen!
vom Wiedererkennen des Ich im Anderen mit einem fiktiven
Element behaftet. Der Danziger Philosoph muß das offen be-
kennen, um lästige Kritik abzuschneiden.
55. Ein erkenntnisloser, aber doch nicht bewußtloser
Zustand — problematisch gemeint.
Frauenstädt fand eine Parergastelle bedenklich, nach der
Schopenhauer einen erkenntnislosen, aber doch nicht bewußtlosen
Zustand beim Tode eintreten läßt. ,, Er kenntnislos" sei mit , .be-
wußtlos" identisch. Schopenhauer paraphrasierte die angegriffene
Stelle in seinem Antwortbriefe vom 30. Oktober 1851: ,, Obgleich
wir (Sie mit) einen nicht bewußtlosen Zustand uns nicht anders
vorstellen können, als daß er ein erkennender sei, so mag,
außerhalb der Erscheinung, also in der Welt der Dinge an sich,
sich dies doch anders verhalten und es einen Zustand geben, der
ohne ein erkennender (also in Subjekt und Objekt gespaltener)
zu sein, doch nicht bewußtlos wäre." Dazu bemerkte er noch:
,,Es heißt daselbst ,,so mag": also ist der ganze Satz ein proble-
matischer. Dies muß er sein, weil der ganze Gegenstand trans-
zendent ist" (Schop. Briefe, ed. Griseb. S. 185).
Was Schopenhauer in seiner Erwiderung ., problematisch"
nennt, ist tatsächlich fiktiv. Ihm fehlt offenbar nur ein passender
Ausdnuk für eine widerspruchsvolle, aber trotzdem nützliche
Ansätze zwm Fiktionalismus bei Schopenhauer. ^go
Idee. Er hätte übrigens, analog wie früher, sich auf den bloß
metaphorischen Sinn des Wortes ,, bewußtlos" berufen können.
56. Fiktionalistische Abwehr des Einwandes, daß eine
Vernichtung der Willenssubstanz angenommen werde.
Fort läge hatte in der ,, Genetischen Geschichte der Philo-
sophie seit Kant" (Leipzig 1852) Schopenhauers ,, philosophisch
kaum introduzierbaren Begriff einer Vernichtung der Willens-
substanz" bemängelt. Dazu teilte Frauenstädt dem Meister wider-
legenAi Zitate mit, worauf dieser sich selbst zu der Sache äußerte,
in einem Briefe vom 12. Juli 1852. ,,In fheinem Hauptwerk Bd. 2,
p. 204 steht allerdings ,,der Wille ist die Substanz des Menschen";
aber dabei steht auch, daß dies ,, bildlich und gleichnisweise" zu
verstehen sei (a. a. O. S. 198)." Wir sehen die gleiche Tendenz
wie früher. Der fiktive Index dient sozusagen als Schutzpanzer.
Nur daß der Schutzpanzer diesmal schon fertig vorlag und nicht
neu beschafft zu werden brauchte.
57. Absichtliche Irrationalität im Transzendenten.
In einem Briefe vom 12. September 1852, den der Philo-
soph an Frauenstädt richtete, bekennt er sich gewissermaßen
grundsätzlich zu bewußt widerspruchsvollen Behauptungen, also
zu Fiktionen im Transzendenten. ,,Bei einem gewissen Punkt,
dem des Velle und Nolle, der Bejahung und Verneinung, angelangt,
müssen wir nicht demselben noch eine Substanz zum Grunde
legen, sondern die Schranken der menschlichen Erkenntnis er-
reicht zu haben, anerkennen, ja, es dadurch, daß wir gegen
dieselben anschlagen, recht an den Tag legen. Das ist
hier die alleinige Weisheit . . ." (a. a. 0. S. 2i6f.). Dies Be-
kenntnis erinnert an eine gewichtige Äußerung im Ergänzungs-
bande des Hauptwerkes (Kap. 17), daß ,, einige völlige Wider-
sinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches In-
gredienz einer vollkommenen Religion seien", eben als ,,der Stempel
ihrer allegorischen Natur", mithin auch ,,begreifHch sei, wie
Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile
est, quia ineptum est: certum est, quia impossibile".
Um endlich noch Schopenhauers Gespräche in Betracht zu
ziehen, deren spärhche Überreste Grisebach gesammelt hat, so
Annalen der Philosophie- I. 3°
cq^ Arnold Kowalewski:
sind auch da manche fiktionalistischen Gedanken bemerkbar.
Wir sind aber jetzt nach allem, was uns bisher an solchen Ge-
danken entgegentrat, ein wenig anspruchsvoll geworden. Nicht
jede Kleinigkeit kann uns Eindruck machen. Indessen sei wenig-
stens ein sehr charakteristisches Beispiel fiktionalistischer Denk-
art aus einem Gespräche des Meisters mit Frauenstädt erwähnt.
58. Ein Gleichnis als Abwehr eines metaphysischen
Einwandes.
Frauenstädt konnte nicht begreifen, daß der sekundäre* Intel-
lekt den Willen aufheben soll. ,,Wie kommt . . .", so fragte er,
,,der Diener, das Werkzeug dazu, sich über seinen Herrn und
Schöpfer so zu erheben, daß er ihn sogar aufhebt } Setzt dieser
höhere Intellekt nicht einen höheren Willen voraus.?" (Schopen-
hauers Gespräche und Selbstgespräche, ed. Grisebach, S. 20.)
Diese Frage müßte nun doch eigentlich genauere metaphysische
Erörterungen über das Verhältnis von Wille und Intellekt aus-
lösen. Aber nichts von alledem. Der Meister, der einen doppelten
Willen ablehnte, erwiderte: ,,Was Ihren Einwurf betrifft, so ist
die Sache einfach diese. Ein Wanderer verfolgt, mit einer Laterne
in der Hand, einen Weg; plötzlich sieht er sich an einem Abgrund
steWen und kehrt um. Der Wanderer ist der Wille zum Leben,
die Laterne der Intellekt; beim Lichte dieser sieht der Wille, daß
er auf einem Irrsvegc sich befindet, an einem Abgrunde steht,
und er wendet sich, er kehrt um" (a. a. O. S. 21).
Was bedeutet das .'' Die Gleichnisrede, mit der der Meister
antwortet, bekundet wiederum die apologetische Fruchtbarkeit
des fiktiven Denkens. Sensu proprio ist offenbar keine befriedigende
Charakteristik der Willensverneinung möglich. Darum bietet
Schopenhauer sogleich einen allegorischen Ersatz auf, um sein
paradoxes Philosophem vor dem kritischen Frager zu retten.
Schlußwort.
Wir stehen am Ende unserer Arbeit. Fast alle Aggregat-
zustände der Schopenhauerschen Lehre sind durchforscht worden.
Wenn diese Durchforschung sich bei den Werken, Briefen und
Gesprächen aus bekannten Gründen nicht so ausdehnen konnte,
wie bei den Erstlingsmanuskripten, so hat sie doch jedenfalls
Ansätze zum Fiktionalisinus bei Schopeuhauer. 595
wiederum zur Genüge gezeigt, daß fiktionalistische Gedanken bei
Schopenhauer keine zufällige äußerliche Dekoration sind, sondern
ein& wesentliche Lebensader des Systems bedeuten. Am inter-
essantesten waren zuletzt die sich häufenden apologetischen
Fiktionen, mit denen der Meister verschiedene strittige Lehrstücke
zu retten suchte. Dieser Typus mußte begreiflicherweise mit der
fortschreitenden dogmatischen Festigung des Systems stärker
hervortreten. Er charakterisiert am besten den alten Schopen-
hauer, wie der vorsichtige Typus der erkenntnistheoretischen
Fiktionen den jungen.
Der Meister selbst hat hiermit überhaupt eine fiktiona-
listische Interpretation seines Systems angeregt, die ern-
steste Beachtung und Nacheiferung verdient. Immer wieder und
wieder tauchen vorwitzige Kritiker Schopenhauers auf, die sich
pedantisch an den Buchstaben seiner Lehre klammern und dann
natürlich mit größter Leichtigkeit lauter schlimme Widersprüche
entdecken. Möchten ihnen fortan die Schopenhauerfreunde mit
fiktionalistischer Interpretationskunst entgegentreten! Das wäre
ein schöner Erfolg dieser Aibeit.
Noch mehr aber würde ich mich freuen, wenn die große
Schopenhauergemeinde nun auch regsten und innigsten Anteil
nehmen möchte an Vaihingers ,, Philosophie des Als Ob", die
uns das wissenschaftliche Rüstzeug zu allem dem geschenkt hat,
die den Fiktionalismus als System schuf und sich eben anschickt,
ihre Kulturmission in umfassendster Weise auszuwirken.
3«'
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte
der Marburger Schule.
Von
Jörgen JÖrgensen -Kopenhagen.
Inhaltsübersicht.
I. Einleitung: Die Philosophie und speziell die der Marburger Schule findet
hrc Grundlage in den exakten Naturwissenschaften. — Vitalistische und mecha-
nische Biologie als Stütze der Philosophie. — Die Philosophie des Als Ob der Typus
einer biologischen Erkenntnistheorie. — Grundlegender Fehler des biologiscben
Standpunktes und seine prinzipielle Widerlegung. — Nichtigkeit des amerikanischen
Pragmatismus. — Versuche Vaihingers, Widersprüche des Pragmatismus zu über-
winden.
II. Das Wesen der Fiktion (das fiktive Urteil): Die Fiktion als bewußte
zweckmäßige, aber falsche Annahme. — Die Fiktion als ein Mittelbegriff zwischen
Irrtum und Hypothese. — Das Gesetz der Ideenverschiebung. — Grundform des
fiktiven Urteils als einer besonderen Art von Urteilen. — Das fiktive Urteil in der
Tafel der Urteile. — Anwendung der Fiktion in der Mathematik (der Kreis als
Polygon, der Begriff des Unendlich Kleinen), Logik (die Allgemeinbegriffe), Physik
(der absolute Raum, Atome, Kräfte), Nationalökonomie (Adam Smith' national-
ökonomische Fiktion), Ethik (Willensfreiheit). — Berufung auf Kant, Forberg,
Lange, Nietzsche.
III. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen: Die Empfindungen
als das unmittelbar Gegebene. — Die Kategorienpaare als Fiktion. — Erläuterung
am Kategorienpaar: Ding und Eigenschaft. — Die Kategorie als analogische Fiktion.
— Das gesamte Denken, eine systematische Anwendung von Fiktionen. • — ■ Das
Denken bewegt sich im Widerspruch zur Wirklichkeit. — Erreichung richtiger
Resultate durch die Methode der entgegengesetzten Fehler. — Das syllogistische
Schließen ist fiktiv. — Aufdeckung der entgegengesetzten Fehler in den mathe-
m.atischen, logischen, nationalökonomischen Fiktionen. — Die Fiktion der Willens-
freiheit unter diesem Gesichtspunkte.
IV. Die Voraussetzungen der Fiktionstheorie: Vorausgesetzt werden
,, Seelen", die einen Maßstab zur Beurteilung des Wahren und Falschen besitzen
und bewußt einem Ziele zustreben. — Metaphysische Zweckmäßigkeit einer solchen
Organisation. — Weitere Voraussetzung eines besonderen Wahrheitsbegriffes. —
Verschwommenheit desselben bei Vai hinger.
V. Kritik: Zwei widerspruchsvolle Gesichtspunkte auf dem Grunde der
Vaihingerschen Theorie. — Die Fiktionstheorie als Fiktion. — Die Methode der
entgegengesetzten Fehler beweist, daß das Denken dieselben Wege verfolgt wie die
Wirklichkeit. — Übereinstimmung der Gesetze des Denkens mit denen des Daseins. —
Widtrsprüche in der entgegengesetzten Behauptung. — Die Kategorien sind Vor-
aussetzungen jeder vernünftigen Theorie der Phänomene, können also nicht
Fiktionen sein. — Mensch und Tier. — Operiert das Tier mit Fiktionen ? — Die
Fiktionstheorie ist bedingt und vereinzelt richtig; in der Beziehung auf das gesamte
Denken jedoch widerspruchsvoll. — Zusammenfassung der kritischen Bedenken. ■ —
Die absolute NVahrhtit und die Marburger Schule.
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. ^gy
Parmenides hat g.sagt: „man denkt das n'cht,
was nicht ist'' — wir sind am anderen End: und
sagen: ,,was gedacht werden kann, muß sicherlich
eine Fiktion snn." Friedrich Nietzsche.
I. Einloitunj;.
Die Philosophie hat stets ihre Glanzperioden gehabt, wenn
sie im innigen Kontakt mit den Naturwissenschaften stand. Ein
ganz flüchtiger Blick auf die Geschichte der Philosophie im Umriß
beweist das. Als solche Perioden lassen sich anführen: das grie-
chische Altertum, die Epoche vom l6. bis l8. Jahrhundert und
die neueste Zeit. Als Verfall- oder Stagnationsperioden dagegen
müssen betrachtet werden: die mittelalterliche Scholastik, wo die
Philosophie sich mehr und mehr der Theologie näherte, ja schließ-
lich zur ,,ancilla thcologiae" wurde, — und die Romantik, wo
auch in der Philosophie eine mehr oder minder ausschweifende
Phantasie die Vernunft um die Macht beraubt hatte. Aber seit
ungefähr etwas mehr als 50 Jahren hat, wie gesagt, die Philo-
sophie sich mehr und mehr den Naturwissenschaften genähert
und ist mit ihnen in eine Verbindung getreten, die sie hoffentlich
nicht wieder lösen wird.
Indessen, Naturwissenschaft und Naturwissenschaft ist nicht
immer einerlei. Nicht alle Naturwissenschaften bieten der Philo-
sophie die gleichen Stützpunkte. Hierin unterscheidet si :h ganz
entschieden die Mathematik von den jedenfalls im großen und
ganzen auf einer abgeklärten Prinzipgrundlage ruhenden exakten
Naturwissenschaften und den biologischen Wissenschaften, die,
was Methoden und Prinzipien betrifft, noch tastend ihren Weg
suchen. Dieser Unterschied innerhalb der Wissenschaften poten-
ziert sich zu einem Gegensatz innerhalb der philosophischen
Systeme, die sich darauf stützen. Als Endpunkte können gelten
der stattliche und festgefügte Bau, den die Marburger Schule
mit Cohen an der Spitze auf Basis der exakten Naturwissen-
schaften errichtet hat — und als Gegensatz dazu das allerdings
phantasievolle und in den Einzelheiten oft scharfsinnige, aber
unbestimmte und romantische System, das Bergson auf Grund-
lage einer pseudophilosophischen, vitalistischen Biologie ent-
worfen hat. Hier stehen sich Vernunft und Intuition einander
gegenüber.
Neben der vitalistischen gibt es indessen auch eine mecha-
cg3 Jörfjen Jörpensen:
nischc Biologie, deren größter Repräsentant Darwin ist. Unter
den Naturforschern, die auf die moderne Weltanschauung einen
entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, nimmt er ja eine hervor-
ragende Stellung ein. Seine Entwicklungshypothese hat denn
auch die moderne Philosophie bedeutend beeinflußt^), was — um
uns an ein äußeres Kennzeichen zu halten — bereits die Termino-
logie beweist. Es wimmelt in der modernen philosophischen Lite-
ratur von Ausdrücken wie: Entwicklung, Variationen, Anpassung,
Zweckmäßigkeit, Selektion, Kampf ums Dasein usw. usw. Jedoch
hiermit ist es gegangen wie es so oft geht, nämlich, daß ein an
und für sich wertvoller Gedanke allmählich schädlich wirkt da-
durch, daß er, selbst wenn er nur für ein bestimmtes Gebiet Gültig-
keit besitzt, überall durchzuführen gesucht wird. Meiner Ansicht
nach liegt z. B. ein solcher Mißbrauch vor, wenn man den Ent-
wicklungsgedanken als Unterlage für die Erkenntnistheorie wählt.
Von diesen Versuchen gibt es in neuester Zeit nicht gar so wenige.
Sie lassen sich zusammenfassen unter der Bezeichnung ,,die bio-
logische Erkenntnistheorie", und als einer ihrer eigentümlichen
Repräsentanten muß auch Vai hinger in seiner ,, Philosophie
des Als Ob" betrachtet werden. Da nun im folgenden wesentlich
vom ,, biologischen" Gesichtspunkt aus dieses Werk wiedergegeben
und untersucht werden soll, so wird es gewiß nicht ganz unangebracht
sein, das Grundschema für den Gedankengang der biologischen
Erkenntnistheorie zu skizzieren und den prinzipiellen Fehler
darin nachzuweisen.
Die biologische Erkenntnistheorie gründet sich im großen
und ganzen auf dem von Darwin dargestellten Entwicklungs-
gedanken, indem sie ihn auf die menschliche Erkenntnis anwendet
und diese als eine Waffe im ,, Kampfe ums Dasein" auffaßt. Die-
jenigen Individuen, welche die Umgebungen, in denen sie leben,
erkennen können, werden größere Chancen haben sich durch-
zuschlagen als diejenigen, denen diese Erkenntnis fehlt. Und
die Chancen werden um so größer sein, je richtiger, d. h. je mehr
auf die Umwelt abgestimmt diese Erkenntnis ist. Ja, die Richtig-
keit der Erkenntnis bedeutet eigentlich schließlich nichts anderes
als ihre Brauchbarkeit im Daseinskampfe. Die Erkenntnis
an sich hat keinen Wert; sie ist nur Mittel und Werk-
') Siehe hierzu z. B. H. Höffding, ,, Charles Darwin and the philosophy"
in der in Cambridge herausgegebenen Festschrift ,, Darwin and Modern Science"
(1909).
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. ^qq
zeug zur Handlung. Und ihre Richtigkeit bedeutet
nichts anderes als ihre Zweckmäßigkeit in der Ent-
wicklung der Organismen. Diejenigen Urteile, welche zu
nützlichen (zweckdienlichen) Handlungen führen, sind richtig,"
während diejenigen, welche zu schädlichen Handlungen führen,
falsch sind. Das Hauptkriterium der Richtigkeit eines Urteils
ist also die Zweckmäßigkeit der auf Grundlage dieses Urteils aus-
geführten Handlungen. Und umgekehrt nimmt man an, daß
die vorliegende, faktisch von uns als richtig angesehene Erkenntnis
nur ein Entwicklungsprodukt ist, das durch Selektion der un-
zähligen, im Verlaufe der Entwicklung gefällten Urteile gebildet
ist. Diese Erkenntnis ist der Inbegriff der Urteile, die sich für
die Entwicklung des Menschengeschlechts zweckmäßig — jeden-
falls nicht allzu unzweckmäßig — erwiesen haben. Die ,, wahren"
oder ,, richtigen" Urteile sind nur die zweckmäßigsten
Urteilsvariationen überhaupt. Das Kriterium der Wahrheit
einer Erkenntnis ist also ihr Nutzen.
Um gleich zu dieser, für eine oberflächliche Betrachtung ganz
ansprechend aussehenden Auffassung der Erkenntnis Stellung zu
nehmen, will ich nur auf einen Grundfehler darin hinweisen, der
mir genügt, um sie zu verwerfen. Die Voraussetzung der ganzen
Betrachtung ist nämlich, daß die Entwicklungshypothese richtig
ist. Aber um das zu entscheiden, muß man die Grundbegriffe,
mit denen sie operiert (Individuum, Art, Variation, Kampf ums
Dasein, Selektion, Zweckmäßigkeit usw.) erst geschaffen haben.
Und ferner müssen diese Begriffe so zusammengestellt
werden, daß daraus ein verständliches Ganzes entsteht, sonst
wird nämlich die Entwicklungshypothese sinnlos. Aber über
den Sinn dieser Zusammenstellung und über ihre Richtigkeit in
der Bedeutung von Übereinstimmung mit der Wirklichkeit kann
die Entwicklung selbst mir nichts sagen. Denn die Urteile, aus
denen die Entwicklungshypothese selbst besteht, können niemals
irgendeine praktische Bedeutung bekommen. Sie betreffen
nämlich gar nicht die Umwelt, mit welcher die Individuen
ihren Kampf ums Leben kämpfen, sondern sind nur eine Dar-
stellung des Verlaufes eben dieses Kampfe?. Da aber
nur mit der Umgebung Kampf geführt wird, so können nur die-
jenigen Urteile, welche diese Umgebung betreffen, den Individuen
zum Nutzen oder Schaden gereichen. Deshalb fordert die Ent-
wicklungshypothese — die eine notwendige Voraussetzung der
ÖOO Jörgen Jörgensen:
„biologischen Erkenntnistheorie" ist — ein anderes Wahrheits-
kriterium als den praktischen Nutzen. — Dazu kommt noch,
daß es faktisch eine Menge Urteile gibt, denen die Richtigkeit
abzusprechen sinnlos wäre, und die dennoch keine Spur prak-
tischer Bedeutung besitzen.
Es zeigt sich also, daß die biologische Auffassung der Er-
kenntnis und der auf dieser Auffassung begründeten Erkenntnis-
theorie nicht nur die vorliegenden Tatsachen nicht bewältigen
kann, sondern sogar auf einer Voraussetzung (der Entwicklungs-
hypothese) ruht, deren Richtigkeit nicht durch die von der bio-
logischen Erkenntnistheorie als einzig berechtigt angesehenen
Kriterien bewiesen werden kann. Die Entwicklungstheorie ist
ohne Hilfe der Logik nicht zu begründen, und deshalb läuft immer
nur im Kreis herum, wer die Logik durch Hinweis auf die Ent-
wicklung begründen oder erklären will. Man vermag niemals
etwas logisch zu begründen, was nicht logisch ist.
Und die Entwicklung ist nichts Logisches. Das ist dagegen die
Entwicklungshypothese, aber diese setzt, wie alle anderen theo-
retischen Gebilde, die Logik voraus und taugt deshalb nicht zur
Begründung der Logik. Der Fehler liegt eben darin, daß man
eine empirische Begründung des Apriorischen geben will,
trotzdem das Apriorische eine notwendige Voraussetzung aller
wahren Empirie ist.
Die Entwicklung oder Entwicklungshypothesc läßt sich also
als Grundlage der Erkenntnistheorie nicht brauchen, und ein
jeder Versuch in dieser Richtung muß prinzipiell zurückgewiesen
werden. Besonders gilt das von jener Form, d'e diese Versuche
unter dem Namen ,, Pragmatismus" in England und Amerika an-
genommen habe: . Außer dem oben erwähnter prinzipiellen
Fehler (das Logische durch etwas Nichtlogisches begründen zu
wollen) enthält nämlich der Pragmatismus eine solche Menge
Unklarheiten und Sinnlosigkeiten, daß er unter keinen Umständen
innerhalb der Philosophie geduldet werden darf. Er hat über-
haupt kein philosophisches Interesse. — Dies kann dagegen nicht
behauptet werden von den Formen, unter denen die Entwicklungs-
hypothese in der deutschen und französischen erkenntnistheoretischen
Philosophie auftritt. Obgleich meiner Meinung nach die ganze
Tendenz von Grund aus verfehlt ist, so finden sich doch hier Ver-
suche zur Überwindung der Schwierigkeiten und zur wissenschaft-
lichen Durchführung der Theorie, und diese Versuche können
Die ,, Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 6oi
allerdings Anspruch darauf machen, daß man sich gründlicher
mit ihnen auseinandersetzt.
Mit einem von ihnen habe ich mich also im folgenden zu be-
schäftigen. Er liegt vor in einem stattlichen Werk von Hans
Vaihinger unter dem Titel: „Die Philosophie des Als Ob.
System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen
der Menschheit aut Grund eines idealistischen Positivismus."
Es handelt sich um eine Jugendarbeit, die der Verfasser vor etwa
40 Jahren geschrieben hat. Da indessen damals der Aufnahme
und Pflege der Vaihingerschen Ideen noch nicht der Boden be-
reitet war, zögerte er mit der Herausgabe des Werkes mehr als
ein Menschenalter. Und jetzt, im Jahre 1913^), erscheint es in
zweiter, bedeutend umgearbeiteter und erweiterter Ausgabe. Als
Motto trägt es einen Ausspruch F. A. Langes, des berühmten
Verfassers der ,, Geschichte des Materialismus", dem Vaihinger
in seiner Jugend seinen ersten Entwurf vorgelegt hatte. Dieser
Ausspruch lautet: ,,Ich bin überzeugt, daß der hier hervorgehobene
Punkt einmal ein Eckstein der philosophischen Erkenntnistheorie
werden wird." Diese Worte einer so hervorragenden Auioricät
lassen vermuten, daß wir es hier mit einem wichtigen und be-
deutungsvollen Werk zu tun haben. Und diese Vermutung wird
bestätigt durch das Aufsehen, das es erregt hat, und durch den
Eifer, mit dem es diskutiert worden ist. Es dürfte deshalb auch
für dänische Leser nicht ohne Interesse sein, den Grundgedanken
dieses eigentümlichen Werkes nachzugehen und zu erforschen,
ob sie haltbar und ob sie wirklich geeignet sind, der ,, Eckstein
der philosophischen Erkenntnistheorie" zu werden.
IL Das Wesen der Fiktion. (Das fiktive Urteil.)
,, System der theoretischen, praktischen und rehgiöscn Fik-
tionen der Menschheit" — so lautet der Untertitel des Buches.
Sein Thema sind also die Fiktionen. Aber was ist eine Fiktion.?
Hierauf antwortet Vaihinger: ,,Man muß immer mit , Fiktion'
den fest bestimmten Begriff einer wissenschaftlichen Erdichtung
zu praktischen Zwecken verbinden" (S. 65). ,, Fiktion nenne
man jede bewußte, zweckmäßige, aber falsche Annahme" (S. 130).
^) Diese Abhandlung wurde im Jahre 1914 in der dänischen Monatsschrift
",,Vor Tid" veröffentlicht.
6o2 Jörgen Jörgensen:
Die wesentlichsten Merkmale des Begriffes Fiktion sind: I, Falsch-
heit, die zum inneren Widerspruch im Begriff potenziert werden
kann; 2, der Nutzen oder die Zweckmäßigkeit. Hiermit ist der
Betriff „Fiktion" charakterisiert als verschieden sowohl vom
Begriff „Versehen oder Irrtum", als auch vom Begriff ,, Hypo-
these". Denn Versehen oder Irrtum wird nicht nur durch seine
Unrichtigkeit oder Falschheit charakterisiert, sondern auch durch
Zwecklosigkeit und Schädlichkeit; die Hypothese aber ist nicht
nur zweckmäßig, sondern erhebt auch den Anspruch, richtig zu
sein, den Ausdruck für etwas Wirkliches abzugeben, verifiziert
zu werden. Andererseits herrscht doch auch eine gewisse Gleich-
heit zwischen den drei Begriffen, indem Falschheit das gemeinsame
Kennzeichen der Fiktion und des Irrtums sind, weshalb man
auch die Fiktion als einen ,, bewußten, praktischen, fruchtbaren
Irrtum" (S. 165) betrachten kann. Und gemeinsam für Fiktion
und Hypothese ist der Begriff Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit.
Die Fiktion ist also eine Art Mittelding zwischen Irrtum und Hypo-
these. Die Ähnlichkeit der drei Begriffe zeigt sich deutlich in ihrem
sprachlichen Ausdruck. Daher haben wir nach Vaihinger ein
Beispiel für eine Fiktion, wenn wir srgen: ,,Der Mensch muß,
wenigstens im Rechtsleben und in der moralischen Beurteilung,
so behandelt und betrachtet werden, als ob er frei wäre" (S. 167).
Ein Beispiel für einen Irrtum haben wir, wenn wir wie Descartes
die Vorstellungen von Gott und dem Absoluten betrachten, als
ob sie angeboren wären. Und endlich haben wir ein Beispiel für
eine Hypothese, wenn wir sagen: ,,Es scheint mir, als ob das oder
das wäre" (S. 166). Das Gemeinsame aller dieser Ausdrücke ist
der Partikelkompicx ,,als ob", der den drei Ausdrücken eine ge-
wisse Ähnlichkeit leiht — eine Ähnlichkeit zum Verwechseln.
Aber in einer solchen Verwechslung liegt gerade einer der ärgsten
Fehler, den der Mensch begehen kann. Namentlich ist die Ver-
wechslung von Fiktion und Hypothese verhängnisvoll, und ,,der
eigentliche Kern des ganzen Buches" ist gerade ,,der methodo-
logische Gegensatz der Fiktion zur Hypothese" (S. 603). Zum
Beweise dieses Unterschiedes beachte man, wie sich die logischen
Ausdrücke für diese zwei Betrachtungsweisen eines Dinges ver-
halten, d. h. das Verhältnis zum fiktiven Urteil einerseits und zum
problematischen und hypothetischen andererseits. Zuerst wollen
wir doch gleich noch berühren, was Vaihinger ,,das Gesetz der
Ideenverschiebung" nennt. Eine ,, Vorstellungsverschiebung" voll-
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 603
zieht sich, teils wenn eine Fiktion dazu übergeht, als eine Hypo-
these betrachtet zu werden und diese als ein Dogma, teils wenn
dieser Prozeß den entgegengesetzten Weg verläuft. Als Beispiel
für den zuerst genannten Übergang kann angeführt werden, daß
bewußte Mythen im Laufe der Zeit sich oft in ,, historische Hypo-
thesen" verwandelt haben, die schließlich, wofür die Religions-
geschichte manche Beispiele liefert, als ,, historische Dogmen"
geendet haben (S. 224). Entgegengesetzt wird verfahren, wenn
Zweifel an der Richtigkeit der Dogmen auftauchen ; sie verwandeln
sich in Hypothesen, um dann zu Fiktionen zu werden. Dies
hat sich z. B. innerhalb des Christentums zugetragen: ,,Die ur-.
sprünglichen Dogmen ^verden bei den Philosophen des 17. und
18. Jahrhunderts Hypothesen. Was sind sie aber bei Kant und
Schleiermacher? Nur Fiktionen!" (S. 225). Eigentlicherstrebt
Vaihinger in seinem Werke nur die absolute Durchführung des-
selben Prozesses.
Er geht hierbei von einer Untersuchung ,,des fiktiven Urteils"
aus. Die Grundform dafür ist folgende: ,,A soll betrachtet werden,
wie wenn es B wäre, oder A ist als B zu betrachten (obgleich es
nicht B ist)" (S. 592). Dieser Ausdruck enthält nach Vaihinger
mehrere verschiedene Momente. Zuerst liegt hier ein Urteil vor;
aber in dieses Urteil ist zugleich ein Protest gelegt gegen die An-
nahme seiner objektiven Gültigkeit, deren Annahme jedoch gleich-
zeitig wegen seiner subjektiven Bedeutung gefordert wird. ,,Das
Urteil wird mit dem Bewußtsein der Ungültigkeit vollzogen, aber
es wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, daß dieser Vollzug
für das Subjekt, für die subjektive Betrachtungsweise zulässig,
nützlich und zweckdienlich ist" (S. 593). Das Charakteristische
an diesem fiktiven Urteil liegt in dem Partikelkomplex: ,,als ob".
Dieser ,, dient dazu, ein vorliegendes Etwas mit den Konsequenzen
aus einem unwirklichen oder unmöglichen Falle gleichzusetzen"
(S. 591). Machen wir uns das klar mit Hilfe eines Exempels.
Im Anschluß an Vaihinger können wir dazu benutzen Kants
Urteil: ,,Der Mensch muß handeln und in bczug auf seine Hand-
lungen beurteilt werden, { "^als^'o'b " } "'' ^''^' ''^^'■^•" "^^^^^"g^^^
Analyse dieses Urteils nimmt sich nun folgendermaßen aus: ,,Der
erste Gedanke ist ... einfach: der Mensch muß handeln, genau
so wie die freien Wesen handeln. Allein diesem primären Ge-
danken stellt sich ein sekundärer zur Seite, welcher durch den
604 Jörgen Jörgensen:
Konditionalsatz ausgedrückt wird. Die Form dieses Konditional-
satzes besagt, daß die darin aufgestellte Bedingung eine unwirk-
liche oder unmögliche ist. ... Der notwendige Zusammenhang
der Folge mit der Bedingung wird mit Bestimmtheit ausgesprochen,
zusrleich aber die Erfüllbarkeit der letzteren ausdrücklich in Ab-
rede gestellt, so daß also auch der Haupt- oder Nachsatz, dessen
Gültigkeit an jene Bedingung geknüpft war, und der mit Not-
wendigkeit aus ihr folgt, etwas nicht Wirkliches enthält. . . . Der
Fall wird gesetzt, aber seine Unmöglichkeit ist nackt ausgesprochen.
Dieses Unmögliche wird aber in einem solchen Konditionalsatz
momentan als möglich oder wirklich angenommen oder gesetzt"
(s. 585).
Aber nun wird diese ganze hypothetische Verbindung in
einen neuen Zusammenhang gebracht. . . . Während . . . die Folge,
wie bemerkt, im Konditionalsatze ein Unwirkliches ist (weil die
Bedingung unwirklich ist), wird diese unwirkliche Folge doch als
■der Maßstab gesetzt, nach dem ein vorliegendes Wirkliches zu
messen isc. Somit ist damit die Gleichsetzung einer Sache mit
den notwendigen Folgen eines unmöglichen oder unwirklichen
Falles f Order ungs weise ausgesprochen. Bei dem vorliegenden
Beispiel ist I. der unmögliche Fall: die Existenz freier Wesen
oder, kürzer, die Behauptung, die Menschen seien freie Wesen.
2. Die notwendigen Folgen (aus diesem unmöglichen Falle):
die Gesetze, nach denen freie Wesen handeln: diese folgen mit
Notwendigkeit aus der Existenz freier Wesen. 3. Die Gleich-
setzung einer Sache (mit den notwendigen Folgen [aus dem
unmöghchen Falle]): Die Gesetze, nach denen die wirklich exi-
stierenden Menschen handeln sollen, werden gleichgesetzt (for-
derungsweise) mit den Gesetzen, welche notwendig folgen aus
der (unwirklichen oder unmöglichen) Existenz freier Wesen"
(S. 586).
Durch die drei genannten Momente sollen sich nun die fik-
tiven Urteile als eine besondere Art von Urteilen, als eine selb-
ständige Modalitätsiorm von Urteilen erweisen. Nehmen wir
also überhaupt die Modalität der Urteile im Vaihingerschen
Sinne etwas genauer in Augenschein.
Im Anschluß an Kant definiert Vaihinger die Modalität
der Urteile ,,als eine ganz besondere Form derselben, die das
Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des
Urteils beiträgt, sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 605
auf das Denken überhaupt angeht" (5. 592). So hat z. B. ein
Urteil verschiedene ModaHtät, je nachdem die Verbindung von
Subjekt und Prädikat als möghch, als wahrscheinlich oder als
gewiß bezeichnet wird. Desgleichen ist die Modalität verschieden,
je nachdem die Kopula bejahend oder verneinend ist. — Von
der oben erwähnten Modalitätsdefinition aus teilt Vaihinger
nun die Urteile auf folgende Weise ein. Zuerst in primäre und
sekundäre Urteile. Ein primäres Urteil ist ein Urteil, das einfach
,,die Gleichsetzung von A und B nach irgendeiner Richtung"
ausspricht, es sagt aus, ,,daß zwischen A und B irgendeine der
möglichen Urteilsrelationen (Tätigkeit, Eigenschaft, Identität usw.)
bestehe" (S. 593). Es ha : die Form: A ist B. — Ein sekundäres
Urteil ist ein Urteil, in welchem der Urteilsakc ,,auf irgendeine
Weise alteriert" wird. Nach Vaihinger gibt es drei Arten.
I. Das negative Urteil; es ,,hebt einen schon geschehenen Urteils-
vollzug auf oder weist den Versuch zu einem solchen zurück".
Es hat die Form: A ist nicht B. 2. Das problematische Urteil
ist ein Urteil, in welchem der Urteilende eine Unsicherheit in bezug
auf die Gültigkeit des Urteils ausdrückt. Seine Hauptform ist:
A ist vielleicht (möglicherweise, wahrscheinhch) B; oder: A ist
vielleicht (möglicherweise, wahrscheinlich) nicht B. Zu diesen
zwei Arten sekundärer Urteile fügt Vaihinger nun 3. das fiktive
Urteil; es ist ein Urteil, das ,,mit gleichzeitigem Protest gegen
den Gedanken der objektiven Gültigkeit, aber mit ausdrücklicher
Wahrung der subjektiven Bedeutung" ausgesprochen wird (S. 593).
Seine Hauptform ist wie bemerkt: A ist zu betrachten, wie wenn
es B wäre. Folgendes Schema gibt eine Übersicht über die Urteile
in bezug auf ihre Modalität:
A. Primäre Urteile:
1. Kategorische Urteile.
2. Assertorische Urteile.
B. Sekundäre Urteile.
1. Negative Urteile,
2. Problematische Urteile.
3. Fiktive Urteile.
Bei diesen Arten von Urteilen liegt die Gefahr einer Ver-
wechslung der problematischen, mit den fiktiven besonders nahe.
Und doch ist eine solche Ven;vechslung ganz außerordentlich ver-
hängnisvoll. Dadurch, daß man ein fiktives Urteil als ein pro-
6o6 Jörgen Jörgensen:
blematisches auffaßt, macht man nämlich eine Fiktion zu einer
Hypothese, was soviel sagen will, als daß man eine zweckmäßige,
aber falsche Annahme als einen mehr oder minder sicheren Aus-
druck einer Wirklichkeit betrachtet. Und doch liegt es gerade
in der Natur der Fiktion, daß sie eine falsche — vielleicht in sich
widerspruchsvolle — Annahme ist. Das fiktive Urteil drückt
also aus: ,,l. Leugnung objektiver Gültigkeit, d. h. die Behauptung
der Unwirklichkeit oder Unmöglichkeit des im Konditionalsatz
Gesagten; 2. eben die subjektive Gültigkeit, die Behauptung,
daß dieses Urteil doch subjektiv, für den menschlichen Betrachter
zulässig oder gar notwendig sei" (S. 167 — 168). Die Möglichkeit
einer Verwechslung der zwei Urteilsarten liegt eben darin, daß,
wie schon vorher besprochen, ihr sprachlicher Ausdruck oft der
gleiche ist. Ja, wegen der verkürzten Ausdrucksweise ist sogar
die Verwechslung des fiktiven Urteils mit einem kategorisch-
assertorischen möglich. ,,Ein fiktives Urteil hat streng genommen
folgende Form:
Der Kreis ist als ein Polygon von unendlich vielen, unendlich
kleinen Seiten zu betrachten.
Aber daraus wird dann durch eine locutio compendiaria:
Der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen, unendlich
kleinen Seiten.
Und schließlich lautet die Verkürzung:
Der Kreis ist ein Polygon" (S. 601).
Dieser letzte Satz ist nun offenbar falsch. Denn der Unter-
schied zwischen einem Kreis und einem Polygon besteht gerade
darin, daß jener von einer krummen Linie begrenzt ist, dieses
von mehreren geraden Linien. Aber da nun die Begriffe krumm
und gerade einander ausschließen, so enthält das zuletzt genannte
Urteil einen Widerspruch, d. h. es ist falsch. Wir haben hier ein
Beispiel dafür, wie verhängnisvoll die erwähnte Verwechslung
sein würde. Denn falls wir nicht zwischen dem fiktiven und
kategorischen oder problematischen Urteil unterscheiden, so werden
wir genötigt sein, entweder uns selbst zu widersprechen oder das
fiktive Urteil zu verwerfen; und dieser letzte Ausweg würde nicht
viel besser als der erste sein, indem wir uns dadurch eines sehr
wichtigen Mittels beraub' en, nämlich die Wirklichkeit zu berechnen
und uns darin zu orientieren. Der große Nutzen des fiktiven
Urteils zeigt sich gerade ausgeprägt in dem genannten Beispiel;
denn falls wir nicht von der Annahme ausgingen, daß der Kreis
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 607
als ein Polygon mit unendlich vielen, unendlich kleinen Seiten
betrachtet werden kann, so würden wir seinen Umfang und seinen
Inhalt nicht zu berechnen imstande sein. Wir sehen also hier,
wie eine bewußt falsche Annahme in hohem Grade vorteilhaft
und zweckmäßig sein kann.
Die Frage ist nun: Inwieweit wenden wir nun solche falschen,
aber zweckmäßigen Annahmen, d. h. Fiktionen an? Ist das Bei-
spiel mit dem Kreise nicht eine Ausnahme ?
Hierauf wird Vaihinger absolut mit Nein antworten. Weit
davon entfernt, eine Ausnahme zu sein, ist es im Gegenteil be-
zeichnend dafür, daß der größte Teil unserer Gedankenarbeit mit
solchen Fiktionen operiert. Sowohl Logik, Mathematik und Physik,
als auch Ethik, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaft
und Theologie sind von Fiktionen durchwoben. Einige wenige
der vielen von Vaihinger angeführten Beispiele mögen das be-
weisen.
Was die Logik betrifft, so sind die Allgemeinbegriffe, mit
denen sie operiert, Fiktionen. Sie sind falsche, aber nützliche
Begriffe. Falsch: denn es existiert kein Gegenstand im allgemeinen,
es gibt nur einzelne, konkrete Gegenstände: dieses bestim.mte
Pferd, jener bestimmte Stern. Nützlich: denn sie allein ermög-
lichen das allgemeine Urteil, und auf diesem beruht ,, alles Klas-
sifizieren, Ordnen, alles Begreifen, Beweisen und Schließen" (S. 401).
Die Allgemeinbegriffe sind also echte Fiktionen.
In der Mathematik werden eine solche Menge Fiktionen an-
gewandt, daß man sozusagen hier einem vollständigen Fiktions-
system gegenübersteht. Eine einzelne Fiktion haben wir bereits
genannt: die Betrachtung des Kreises als Polygon. Eine andere
Fiktion besteht darin, den Kreis als eine Ellipse zu betrachten,
in welcher der Abstand zwischen den Brennpunkten = 0 ist.
Hierdurch wird der Kreis zu einem Spezialfall der Ellipse ge-
macht und dadurch wird erreicht, daß die für die Ellipse geltenden
Sätze auch für den Kreis gelten (S. 514)- Eine dritte, sehr wichtige
Fiktion ist, was Vaihinger nennt ,,die Fiktion des Unendlich
Kleinen". In dem Begriff das Unendlich Kleine „steckt eben
das Nichts und das Etwas zugleich" (S. 516). Einerseits müssen
wir durch Verminderung einer Größe ins Unendliche zuletzt zum
reinen Nichts gelangen, während wir andererseits dadurch, daß
wir unendlich viele, unendlich kleine Größen zusammenlegen,
von diesen unendlich kleinen Größen, die eigentlich keine Größen
6o8 Jörgen Jörgensen:
sind, doch zu einer endlichen Größe gelangen können. Die Wider-
sprüche liegen darin, daß man eine Teilung ins Unendliche an-
nimmt, und doch zugleich dieser Teilung, eine Grenze setzt, indem
man das, was zurückbleibt, als Größen betrachten will, was — selbst
wenn es unendlich kleine Größen sind — der unendlichen Teilung
widerspricht. Dieselben Widersprüche enthält der Begriff das
Unendlich Große (S. 517). Es fragt sich nun, welchen Vorteil
wir von diesen widersprechenden Begriffen haben. Wir haben
den Vorteil, antwortet Vai hinger, daß wir mit ihrer Hilfe Ge-
biete verbinden können, ,,die ungleichartig sind, deren Definition
sie einander ausschließt, weil in dem Begriff des einen ein Element
fehlt, das in dem anderen enthalten ist" (S. 521). So sahen wir
vorher, wie wir durch die Einführung des Begriffes des Unendlich
Kleinen den Kreis als ein Polygon mit unendlich vielen, unendlich
kleinen Seiten betrachten konnten, und wir sahen auch, wie nützlich
diese Auffassung war. Dasselbe ist der Fall, wenn wir den Kreis
als eine Ellipse auffassen, dessen Brennpunkte einen unendlich
kleinen Abstand voneinander haben. Diese Beispiele ließen sich
vermehren, was Vai hinger auch getan hat, aber hier wollen wir
uns mit" den angeführten begnügen, um zur Betrachtung einiger
sehr wichtiger Fiktionen der Physik überzugehen.
Zuerst: ,,die Fiktion des reinen, absoluten Raumes". Der
Begriff: der absolute, mathematische Raum ist eine Fiktion, denn
er enthält die Merkmale der Fiktivität: innerer Widerspruch und
Nützlichkeit. Der innere Widerspruch äußert sich darin, daß
dieser Begriff auf dem Gedanken ruht ,, einer Ausdehnung ohne
Ausgedehntes, eines Außereinander ohne Dinge, welche außer-
einander sind". Aber ein solcher Gedanke ist ,,ein Ungedanke,
ist absurd und unmöglich" (S. 501). Über den Ursprung dieses
Begriffes sagt Vai hinger: ,,Der Begriff des reinen Raumes ent-
steht, indem das Verhältnis der Dinge festgehalten wird, während
die Dinge selbst weggedacht werden; während wir die Materie
und ihre Intensität allmählich bis zu Null abnehmen lassen, be-
halten wir das bloße Verhältnis der materiellen Dinge zurück"
(S. 501). Der innere Widerspruch dieses Prozesses ist einleuchtend.
Und doch ist der Begriff des reinen, mathematischen Raumes
ungeheuer zweckmäßig, da wir ohne diesen Begriff unsere Mathe-
matik gar nicht hätten aufstellen können (S. 472). Dasselbe gilt
vom absoluten Raum, der eine so große Rolle sowohl in der Mathe-
matik als auch in der Physik spielt. Auch liegt hier ein Wider-
Die „Philosophie des Als Ob'' vom Stand[)unkte der Marburger Schule. ÖOQ
Spruch vor, denn jede Ortsbestimmung ist relativ, aber dieser Wider-
spruch ist zweckmäßig, denn nur mit seiner Hilfe können wir ab-
solute Bewegung nachweisen. — Andere physische Fiktionen sind
die Begriffe: Kraft und Atom. Dem Begriffe ,, Kraft" entspricht
nichts Wirkliches; Kräfte sind erfundene oder hinzugedichtete
Dinge. Wir sehen sie niemals; was wir sehen, sind nur die Ver-
änderungen des einen oder anderen Prozesses, und wenn wir keine
Ursache für diese Veränderung nachweisen können, so erdichten
wir eine, die wir dann als jene Kraft bezeichnen, welche die Ver-
ärgerung hervorgebracht hat. Hierdurch wird ein scheinbares
Verständnis erzielt, ,, indem wir die wirklichen Phänomene als
schon mögliche ansehen, und diese Möglichkeiten und Eigen-
tümlichkeiten hypostasieren und als reelle Entitäten loslösen"
(S. 376). ,,Was die Atome betrifft, so sind sie ganz wie die I^äfte
erdichtete Dinge, die niemand gesehen hat, die aber dazu dienen,
,, unsinnlichen Begriffen, z. B. dem der Kraft, eine sinnliche Grund-
lage zu geben (die Atome sind ,die Träger' der Kräfte) und noch
geheimnisvollere Vorgänge, z. B. chemische Mischung, Kohäsion,
Kristallisation usw. in der Phantasie vorstellig zu machen, ohne
daß bei dieser Verwendung aus dem subjektiv-methodologischen
Hilfsmittel eine objektiv-metaphysische Reahtät gemacht würde"
(S. 450). Die Atomistik ist also nach Vaihinger eine Fiktion,
die zu einer Hypothese zu machen man sich hüten muß.
Nach diesen Fiktionsbeispielen innerhalb der exakten Natur-
wissenschaften wollen wir einen Blick auf einige Fiktionen inner-
halb der Geisteswissenschaften werfen. Ein Beispiel für die National-
ökonomie bietet sich uns in Adam Smiths ,,Inquiry on wealtli
of nations". Die von Adam Smith hier angewandte Fiktion
besteht darin, daß er ,,alle wirtschaftlichen Handlungen der Ge-
sellschaft so betrachtet, als ob sie einzig und allein vom Egoismus
diktiert wären; er sieht dabei ab von allen anderen Faktoren,
z. B. Wohlwollen, Sittlichkeit, Gerechtigkeit, Billigkeit, Mitleiden,
Gewohnheit, Sitten und Gebräuchen usw. Auf diese Weise ist
LS ermöglicht, die Erscheinungsweisen der menschlichen Ver-
hältnisse in wirtschaftlicher Hinsicht auf wenige Grundgesetze
zu reduzieren. Mit sicherer Hand greift er dasjenige Motiv heraus,
welches am häufigsten und stärksten ist. Es stellt jenen fiktiven
Satz — es ist, als ob alle wirtschaftlichen, geschäfthchen Hand-
lungen nur vom Egoismus motiviert wären — als ein Axiom an
die Spitze des Systems und entwickelt daraus deduktiv, mit
Annalen der Philosophie. I. 39
6lO Jörgen Jörgensen:
systematischer Notwendigkeit, alle Verhältnisse und Gesetze des
Handels und Verkehrs und aller Schwankungen in diesen kom-
plizierten Gebieten" (S. 343 — 344), Daß diese Betrachtungsweise
auf einer Fiktion beruht, ist klar, denn der Egoismus ist eben
nur einer von den vielen in das ökonomische Leben hineinspielenden
Faktoren, und der fingierte Fall entspricht nicht der Wirklichkeit.
Aber nichtsdestoweniger ist dies eine außerordentlich zweckmäßige
Auffassung, denn nur durch Isolierung der einzelnen Faktoren
werden die Gesetze gefunden, deren Zusammenspiel das außer-
ordentlich komplizierte Ganze des ökonomischen Lebens hervor-
bringt. Die Gefahr dabei besteht in der Verwechslung der Fiktion
mit einer Hypothese; denn dadurch macht man einen einzelnen
Faktor (in dem angeführten Fall : den Egoismus) zu dem einzigsten
Faktor, und das Resultat wird daher mit der Wirklichkeit nicht
übereinstimmen. Ob Adam Smith diesen Fehler begangen
hat, ist zu einer Streitfrage gemacht worden. F. A. Lange und
Lexis meinen: Ja. Vai hinger dagegen, im Anschluß an Buckle
und Stuart Mill behauptet, daß Adam Smith sich voll bewußt
gewesen ist, mit einer Fiktion zu operieren. Und diese Annahme
stützt sich besonders auf sein zweites Hauptwerk: ,,Theory of
moral sentiments", wo die Sympathie als die wesentliche Grund-
lage der menschlichen Gesellschaft angesehen wird. Die beiden
Werke müssen dann als zusammengehörende Abteilungen desselben
Systems genommen werden, so daß jedes für sich die bedeutungs-
vollsten Faktoren hervorhebt (S. 347).
Eine ganz ähnliche Fiktion wendet Bentham in den Staats-
wissenschaften an. Er ,, gründet die allgemeine Lehre vom Staat
auf die umfassende Voraussetzung, daß die Handlungen der Menschen
immer durch ihre Interessen, und zwar durch ihre rein persön-
lichen, selbstischen Interessen bestimmt werden" (S. 355)- Von
dieser Voraussetzung aus deduziert er nun seine Theorie. Aber
der wesentliche Unterschied zwischen ihm und Adam Smith
ist, daß Bentham im Gegensatz zu Smith seine Voraussetzung
nicht als eine Fiktion, sondern als eine Hypothese betrachtet
(S.355).
Bevor wir nun diese Übersicht über einige der wichtigsten
Fiktionsbeispiele und ihre Anwendung abschließen, wollen wir
noch zu einer bereits erwähnten ethischen Fiktion zurückgreifen,
nämlich der Freiheit. Von dieser, ,,der wichtigsten praktischen
Fiktion", sagt Vaihinger: ,,Wir betrachten und behandeln uns
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 6l I
selbst und andere, als ob die menschlichen Handlungen frei wären,
obgleich wir theoretisch doch überzeugt sind, daß alle Funktionen
der Psyche durch unverbrüchliche Gesetze bedingt und bestimmt
sind" (S. 572). Nur durch Anwendung dieser Fiktion sind Ver-
antwortung und Gewissensbisse möglich. Auch hier hilft die
Fiktion aus den hierbei auftauchenden Bedenken: Denn nur,
,,weil der Mensch sich für frei hält nicht aber, weil er frei ist,
empfindet er Reue und Gewissensbisse" (S. 573). Wie wir bereits
wissen, ist das nach Vaihingers Meinung auch Kants Ansicht,
wenn er von ,,der Idee der Freiheit" spricht. Im ganzen genommen
beruft sich Vaihinger im weitesten Umfang auf Kant als seinen
Vorgänger, indem er nachzuweisen sucht, daß die Kan tischen
Ideen als Fiktionen in der hier angegebenen Bedeutung aufzufassen
sind, d. h. als falsche, aber nützliche Vorstellungen. Außer Kant
wird im dritten Teil des Werkes unter dem Titel: ,, Historische
Bestätigungen" auch Forberg mit seiner ,, Religion des Als Ob",
F. A. Lange mit seinem ,, Standpunkt des Ideals" und Friedrich
Nietzsche mit seiner Lehre vom ,, Willen zum Schein" genannt.
Näher auf diese historischen Betrachtungen einzugehen, würde
hier zu weit führen, und wir müssen nun im Rahmen der hier
skizzierten Voraussetzungen uns den von Vaihinger aufgestellten
erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Fiktionstheorie zuwenden.
in. Die erkenntnistheoretischeu Konsequenzen.
Im vorigen Abschnitt erörterten wir einige von Vaihingers
Beispielen für die Anwendung der Fiktionen in den verschiedenen
Wissenschaften, um dadurch das Wesen der Fiktionen im all-
gemeinen zu veranschaulichen. In diesem Abschnitt werden wir
nun einige speziell erkenntnistheoretische Fiktionen ins Auge
fassen, um klar zu werden darüber, wie Vaihinger seine Haupt-
• frage beantwortet: ,,Wie geht es zu, daß wir mit bewußt falschen
Vorstellungen doch das Richtige treffen.?" (S. VIII).
Die wichtigsten aller theoretischen Fiktionen sind nach Vai-
hinger die Kategorien; denn auf ihnen beruht alle menschliche
Erkenntnis, alle Wissenschaft des Menschen, ja schließlich alles
menschhche Leben. Und diese Grundpfeiler des menschlichen
Daseins sind, wie Vaihinger nun beweisen will, nichts anderes
als nur Fiktionen. Seine Betrachtung ist folgende:
Das unmittelbar Gegebene, die eigentliche Wirklichkeit, sind
39*
5i2 Jörgen Jörgensen:
die Empfindungen in ihrem Sukzessions- und Koexistenzverhältnis,
Diese liefern das Material, woraus wir mit Hilfe der „logischen
Funktion" — um Vaihingers Ausdruck zu gebrauchen — unser
Weltbild, die Vorstellungswelt, aufbauen. Um das tun zu können,
müssen wir uns gewisser Kunstgriffe bedienen. Solche sind die
Fiktionen, und die wichtigsten und allgemeinsten sind, wie gesagt,
die Kategorien. Diese werden angewandt bei dem ,, ersten fik-
tiven Denkprozeß", der darin besteht, daß ,,die logische Funktion
das gegebene Wirkliche, aber Unbegreifliche, in zwei zusammen-
gehörige Werte zerlegt und dadurch erreicht erstens: die Mög-
lichkeit praktischer Berechnung, zweitens den Schein der Be-
greiflichkeit" (S. 117). Solche zusammengehörende Paare sind
vor allem die Kategorien:
Einheit und Mannigfaltigkeit
Ding und Eigenschaft (Kraft)
Ursache und Wirkung
Möglichkeit und Wirklichkeit
Subjekt und Objekt
Inneres und Äußeres
Materie und Kraft
Ding an sich und Phänomen
Subsistenz und Inhärenz.
Diese Kategorien gehören paarweise zusammen und haben
nur Sinn und Wert, wenn sie zusammen betrachtet werden;
,, einzeln führen sie durch Isolation auf Sinnlosigkeit, Wider-
sprüche und Scheinprobleme" (S. 118). Greifen wir ein einzelnes
Beispiel dieser kategorialen Spaltung heraus, nämlich das Kate-
gorienpaar: Ding und Eigenschaft.
,,Ehe die Kategorie des Dinges mit seinen Eigenschaften ge-
staltend eintritt, besteht jede Anschauung aus einem Zusammen-
hang von psychischen Elementen, aus einer mechanischen Kon-
glomeration, für welche eben nur die gleichzeitige Produktion
verantwortlich ist. Die Psyche kann diese natürlichen Emp-
findungsverbindungen, welche eben rein mechanisch zusammen-
geraten sind, erst im Verlaufe der Erfahrung als zusammengehörige
<.'ntdecken" (S. 297).
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen:
Wir beobachten unmittelbar eine Empfindungsverknüpfung
des ,, Süßen" und des ,, Weißen". Indem wir nun darauf die
Kategorie des Dinges anwenden, fassen wir ,,das Süße" als eine
Eigenschaft auf und sagen: ,, Zucker ist süß". Hier zeigt sich
noch ,,das Weiße" als das Ding und.,, das Süße" als die Eigen-
schaft des Dinges. Wir haben aber die Empfindung weiß auch
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. f3l3
in anderen Fällen, z. B. bei der Beobachtung eines Stückes
griechischen Marmors. Und hier betrachten wir ,,das Weiße"
als eine Eigenschaft am Marmor, der durch die Empfindung
,,hart" repräsentiert ist. Auf diese Weise gelangt ,,das Weiße"
dahin, eine Eigenschaft zu werden, ebensowohl wie ,,das Süße".
Aber jetzt können wir ,,das Süße" nicht mehr als eine Eigenschaft
am ,, Weißen" betrachten, denn dies ist selbst eine Eigenschaft.
Aber wessen? Hier kommt die Sprache uns zu Hilfe, und indem
sie den Namen ,, Zucker" dem ganzen Empfindungskomplex leiht,
ist es möglich, die einzelnen Empfindungen ,,süß" und ,,weiß"
als Eigenschaften des Dinges ,, Zucker" anzusetzen. Aber dieses
Ding können wir nicht sinnlich wahrnehmen, denn wir nehmen
nur die Eigenschaften daran wahr. ,,So rückt das Ding aus dem
Kreis der wirklich wahrgenommenen Empfindungen hinaus und
wird jetzt als ein besonderer Träger hinzugedacht" (S. 300).
„Der Inhalt der Eigenschaften wird durch die Sinne geliefert,
das Ding als der Träger der Eigenschaften ist jetzt ganz hinzu-
gedacht; daß jene an den Sinn geheferten Inhalte ,, Eigenschaften"
sind, das ist eine Bestimmung, welche jenen Inhalten erst durch
das Bewußtsein gegeben wird" (S. 300).
Aber durch dieses Setzen von ,,Ding" und ,, Eigenschaften"
ist die Wirklichkeit verfälscht worden, indem sie gleichsam ver-
doppelt woirde. Wer autorisierte das Denken, zuerst ,,das Weiße"
als ,,das Ding" zu setzen und ,,das Süße" als seine ,, Eigenschaft"?
Und wer gab ihm dann das Recht, sie beide als ,, Eigenschaften"
zu setzen und ,,ein Ding" als ihren Träger hinzuzudenken? In
dem ursprünglich Gegebenen fand sich keine Berechtigung dazu.
,, Jenes Ding ist eine Fiktion, jene Eigenschaft ist als solche eine
Fiktion; das ganze Verhältnis ist eine Fiktion" (S. 304). Aber
warum haben wir denn da diese Spaltung eingeführt?
Die Antwort auf diese Frage ist dieselbe wie für die nach
dem Grunde aller Fiktionen: Weil wir dadurch „ein Mittel zu
praktischem Handeln" von sehr hohem Werte haben, trotzdem
die Fiktion ,,gar keinen eigentlich wissenschaftlichen Erkenntnis-
wert" besitzt (S. 303). Stellen wir einmal genauer fest, was wir
durch die Spaltung des unmittelbar Gegebenen in „Ding" und
,, Eigenschaft" gewinnen.
Erstens haben wir dadurch ermöglicht, uns einander mit-
zuteilen. Das ist nur möglich mit Hilfe des Wortes. Und damit
das Wort ein Mitteilungsmittel werden kann, muß es teils den
6l4 Jörgen Jörgensen:
ganzen Empfindungskomplex als solchen, teils die einzelnen Teile
dieses Komplexes ausdrücken. Das bedeutet: Wir müssen nicht
ein Wort, sondern mehrere Worte anwenden: eins für den Emp-
findungskomplex als Ganzes, d. h. das Ding, und eins für jede
einzelne Empfindung, die wir außerhalb des Komplexes unter-
scheiden können, d. h. die Eigenschaften. Nur mit Hilfe eines
solchen Wortvorrats können wir uns einander mitteilen. ■ — Zweitens
hilft die Kategorie des Dinges bei der Ordnung der Empfindungen,
was teils erhöhte Erinnerungsmöglichkeit bewirkt, teils ein Hilfs-
mittel zur Orientierung in der Umwelt von einem ,, enormen prak-
tischen Wert" ist; ,,es ist gleichsam der Nagel, an welchen die
Empfindungen als Eigenschaften gehängt werden". Ohne An-
wendung dieser Kategorie ,,wäre es dem Denken gar nicht möglich
gewesen, in dem Wirrwarr der Empfindungen Ordnung zu schaffen"
(S. 305 — 306). — Wir sehen also, daß das Kategorienpaar: Ding —
Eigenschaft die beiden fiktiven Merkmale besitzt: Falschheit und
Nützlichkeit.
Auf dieselbe Art ergeht es nun all den genannten Kategorien.
Sie sind Fiktionen und sind, nach Vaihinger, zugleich ,,ana-
logischc" Fiktionen. Mit Hilfe der Kategorien erfassen wir das
gegebene Empfindungsmaterial nach Analogien, die aus der inneren
Erfahrung stammen. Am deutlichsten tritt das hervor bei den
zwei wichtigsten Kategorien, nämlich: Ding — Eigenschaft und
Ursache — Wirkung. ,,Das Ding und seine Eigenschaft — ist
der abstrakte Ausdruck des primitivsten Eigentumsverhältnisses"
(S. 313). Das Din^ ,,hat" die Eigenschaften; sie sind die Eigen-
schaften des Dinges. Und ebenso ist Ursache und Wirkung ,,der
abstrakte Ausdruck für Wille und Handlung" (S, 317), — Wir
begreifen also das Dasein so, wie es unmittelbar uns entgegentritt,
in Analogie mit den Prozessen, die wir kennen oder zu kennen
glauben aus innerer Erfahrung. Hierdurch wird ein Schein von
Begreiflichkeit hervorgebracht, aber auch nur ein Schein. ,,Wenn
wir das Vorhergehende Ursache, das Folgende Wirkung nennen,
so ist damit im Grunde nichts erreicht als ein Anthropomorphismus"
(S. 309). Schließlich soll nur noch eine sehr wichtige Kategorie
e^^^'ähnt werden, nämlich: Subjekt — Objekt. Diese Fiktion
ist ,,dic Urfiktion, von der alle anderen schließhch abhängen"
(S. 114). Daß sie eine Fiktion ist, kommt daher, daß die Scheidung
des Empfindungskomplcxcs in ,, Dinge an sich = Objekte" und
,, Dinge an sich = Subjekte" ganz unberechtigt ist. Sie beruht
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 6 1 5
schließlich auf einer anderen Fiktion, nämlich : der Ursachen-
kategorie, indem diese unbefugt angewandt wird. Um ein schein-
bares Verständnis des unmittelbar gegebenen Empfindungskom-
plexes zu erlangen, müssen wir ihn als Wirkung von ,, Dingen
an sich = Objekten" auffassen. Indessen können diese als solche
nicht eine von ihnen verschiedene Vorstellungswelt hervorbringen.
Daher muß man eine andere Art ,, Dinge an sich" annehmen,
nämlich die Subjekte. Durch Zusammenwirken dieser beiden
Faktoren glauben wir das Entstehen der Welt der Phäno-
mene zu begreifen, da wir sie nun als Wirkung der Ursachen
Objekte und Subjekte betrachten (S. 112). Aber dieses Begreifen
ist, wie gesagt, nur ein illusorisches; denn die Ursachenkategorie
ist ja eben eine Fiktion, und ihre Anwendung auf das Wirkliche
ist also unberechtigt. In der Natur der Fiktion selbst liegt ja
gerade, daß sie nur eine subjektive Vorstellung oder ein subjek-
tiver Begriff ist, und wenn das fest steht, ,,isL es ein Widerspruch,
dem eigentlich Wirklichen diese Kategorie zuzuschreiben" (S. IIl).
Das Nützliche an dieser Fiktion ist jedoch, daß wir mit ihrer Hilfe
ein scheinbares Vrständnis des Daseins erlangen. Daß es nur
ein scheinbares Verständnis ist, beruht darauf, daß das Dasein
schheßlich absolut unbegreifhch ist; „denn alles Begreifen besteht
in der faktischen oder bloß eingebildeten Reduktion auf Bekanntes"
(S. 311). Aber bei einer solchen Reduktion werden wir beständig
weiter gehen können; das Bekannte wird sich stets schließlieh
als etwas Unbekanntes erweisen. Daher kann man nicht die
Welt ,, verstehen", sondern nur darüber etwas ,, wissen". Schließ-
lich müssen wir immer von irgend etwas Unbekanntem aus-
gehen, welches im entscheidenden Augenblick unverständlich
ist: ,,Die Kategorien, besonders Ursache (ebenso Zweck), haben
nur eine zweckmäßige Verwendung innerhalb des gegebenen
Empfindungsmaterials; auf das Ganze desselben angewendet,
verlieren sie jeden praktischen, so auch jeden theoretischen
Wert, und erzeugen nur Scheinprobleme, wie z. B. die Frage
nach' der Ursache oder auch nach dem Zweck des Weltge-
schehens" (S. 311).
Wir erkennen also, daß unser gesamtes Denken eine syste-
matische Anwendung von Fiktionen ist. Die sich nun aufdrängende
Frage, die sich Vai hinger am Anfang seines Werkes gestellt hat,
ist nun: „Wie kommt es, daß wir mit be\\'ußt falschen Vorstellungen
doch Richtiges erreichen?" (S. VIII). Diese Frage ist das Haupt-
6i6
Jörgen Jörgensen:
problem innerhalb der Fiktionsthceorie. Vaihingens einfache Ant-
wort darauf ist folgende:
,,Wenn das Denken in den Fiktionen der Wirklichkeit wider-
spricht, und wenn es sogar sich selbst widerspricht, und wenn
nun aber doch trotz dieser bedenklichen Handlungsweise das
Denken sein Ziel erreicht, nämlich die Wirklichkeit zu treffen,
so muß — dies ist eine notwendige Konsequenz — jene Abweichung
wieder korrigiert, so muß dieser Widerspruch wieder gut gemacht
werden" (S. 194). Das wird erreicht dadurch, daß man einen
neuen Fehler begeht, aber so, daß man dadurch den ersten auf-
hebt, weshalb Vaihinger dieses ganze Verfahren ,,die Methode
der entgegengesetzten Fehler" nennt. Zur Beleuchtung dieser
Methode wollen wir sie auf einige der vorher erwähnten Fiktionen
anwenden.
Eine der wichtigsten war die Trennung in Ding und Eigen-
schaften. Dabei hatten wir die gegebene Empfindung verdoppelt,
indem wir sie in die Zweiheit: Ding und Eigenschaft zerlegten.
Sobald wir uns einander mitzuteilen haben, müssen wir uns in
Urteilen ausdrücken, und hierdurch wird der begangene Fehler
aufgehoben, indem wir jetzt wieder die geschiedenen Faktoren
im Urteil verbinden. Wenn wir das Urteil aussprechen: Der Zucker
ist süß, schmelzen wir ,,das Ding" (Zucker) mit ,,der Eigenschaft"
(süß) zu einem Ganzen zusammen, wodurch der durch die Trennung
begangene Fehler aufgehoben wird (S. 304).
Wie mit dieser, so geht es mit allen anderen Fiktionen: Der
Fehler wird korrigiert, wenn die Fiktion angewendet werden soll.
Wir haben erwähnt, wieso die Allgemeinbegriffe Fiktionen sind,
und doch beruht alles syllogistische Schließen auf ihnen. Hier
muß also eine Korrektur eingeführt werden — und eine solche
wird auch eingeführt.
In dem Syllogismus:
Der Mensch ist sterblich;
Sokrates ist ein Mensch, •
also ist Sokrates sterblich,
haben wir einen doppelten Fehler begangen. Der erste besteht
darin, daß wir den Allgemeinbegriff: der Mensch gebildet haben.
Da als Allgemeinheit kein Mensch existiert, sondern nur als dieser
oder jener bestimmte Mensch, so ist der Satz: ,,Der Mensch ist
sterblich" — streng logisch genommen — falsch; denn nur die
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 6l7
einzelnen Menschen: Herr N. N., Frau A. usw. sind sterblich,
während der Mensch als Allgemeinheit weder sterblich noch un-
sterblich ist, da er überhaupt nicht existiert. — Jedoch wird der
von uns im Obersatze begangene Fehler aufgehoben durch Ein-
führung eines korrespondierenden Fehlers im Untersatze. Dieser
lautet: ,,Sokrates ist ein Mensch." Aber dies ist ein falsches
Urteil, denn darin haben wir ein individuelles Wesen mit einem
Allgemeinbegriff identifiziert. Sokrates hat viele andere Eigen-
schaften als ,,der Mensch im allgemeinen". Aber durch seine
Identifizierung mit diesem Allgemeinbegriff haben wir den im
Obersatze begangenen Fehler wieder gut gemacht, und das Re-
sultat ist richtig. ,, Eigentlich ist dieser Schluß eine Hypothese
nach der Analogie: Weil viele Menschen, d. h. alle bekannten
Menschen, sterblich gewesen seien, sei auch Sokrates sterblich.
Allein diese bloße Analogie — und faktisch besteht unser ganzes
Wissen darin — wird vermittelt und erleichtert durch den Mittel-
begriff Mensch. Nachdem das Resultat erreicht ist, fällt der
Mittelbegriff heraus" (S. 212—213).
In der Mathematik ist die Methode der entgegengesetzten
Fehler besonders klar. Wir haben früher verschiedene Beispiele
für mathematische Fiktionen angeführt. Eine von diesen bestand
darin, den Kreis als eine Ellipse zu betrachten, deren Brennpunkte
den Abstand O voneinander haben (die Exzentrizität = o). Hier
haben wir einen doppelten Fehler begangen; erstens dadurch,
daß wir den Kreis als eine Ellipse betrachten, denn der Kreis ist
nicht eine Ellipse, zweitens dadurch, daß wir einen Abstand = O
setzen, denn ein solcher ist kein Abstand (S. 316—317)- Ein
anderes Beispiel war, den Kreis als ein Polygon mit unendlich
vielen, unendlich kleinen Seiten zu betrachten. Der erste Fehler
besteht hier darin, daß man den Kreis als ein Polygon be-
trachtet, denn der Kreis ist kein Polygon; aber der Fehler
wird wieder gut gemacht durch Einführung der Fiktion des
Unendlichen. Diese Fiktion wird zweimal eingeführt, einerseits
durch die Annahme, daß die Seiten des Polygons unendlich
klein sind, andererseits dadurch, daß es eine unendlich große
Anzahl von ihnen gibt. Durch die letzte Annahme wird der
Widerspruch, daß eine unendliche Größe aus unendlich kleinen
Teilen bestehen soll, aufgehoben, während der Widerspruch, der
Kreis sei ein Polygon, durch die Betrachtung aufgehoben wird,
daß die Polygonseiten unendlich klein seien; dadurch wird der
5 I 8 Jörgen Jörgensen :
Fehler, den Kreis für ein Polygon zu halten, unendlich klein
(s. 521—522).
Nähern wir uns der Anwendung der Fiktionen in den Geistes-
wissenschaften, so fällt einem zuerst das erwähnte Beispiel von
Adam Smiths nationalökonomischer Fiktion ins Auge. Nach
dieser Fiktion werden alle ökonomischen Wirksamkeiten der Ge-
sellschaft ausschließlich vom Egoismus bedingt und diese Fiktion
wird korrigiert durch die Vergleichung ihres Resultates mit den
Resultaten anderer, ebenso einseitiger Untersuchungen, die andere
Momente, wie Wohlwollen, Gerechtigkeit, Gewohnheit usw., als
die einzigen Faktoren betrachten. In einem so komplizierten
Falle wie dieser kann ein einzelner Fehler nicht von einem anderen
Fehler aufgehoben werden, sondern nur dadurch, daß man alle
die wirksamen Faktoren ineinander spielen läßt, können die Fehler,
die durch Isolierung der Faktoren hervorgerufen sind, aufgehoben
werden.
Ganz ebenso geht es mit Benthams staatswissenschaftlicher
Fiktion.
Bei der Fiktion der Willensfreiheit ist diese Methode schwieriger
— wenn nicht unmöglich — durchzuführen. Entweder ist der
Mensch ein Wesen mit freiem Willen, und dann haben die Moral-
begriffe: Verantwortung, Bestrafung usw. in allgemeiner Be-
deutung einen Sinn; oder auch der Mensch ist determiniert, und
dann muß die Bedeutung dieser Begriffe verändert werden, sonst
sind sie sinnlos. Falls der Mensch nämlich in einem gegebenen
Augenblick nicht anders handeln konnte, als er es tat, so ist es
sinnlos, ihn für seine Handlung verantwortlich zu machen, und
ein Tadel ist nur als erzieherisches und vorbeugendes Moment
berechtigt. Hier scheint doch ein unüberwindlicher Widerstreit
zwischen den beiden Ansichten zu bestehen, und — soweit ich
sehen kann — läßt hier die Methode der entgegengesetzten Fehler
im Stich. Vaihinger hat denn auch nirgends angegeben, wie sie
in diesem Falle angewandt werden soll. Entweder muß man die
Aufstellung von Fiktionen unterlassen, oder auch man muß die
Ethik auf dieser fiktiven Grundlage bauen, wodurch man nach
Vaihinger zu Resultaten gelangen muß, die mit der Wirklichkeit
nicht übereinstimmen.
Wie wir nun gesehen haben, ist die ganze Welt, wie wir sie
uns vorstellen, von Fiktionen durchwoben. Das Denken ist, wie
Vaihinger sagt, ,,ein regulierter Irrtum" (S. 217). Aber gerade
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 619
weil er reguliert ist, führt er uns durch ein „antagonistisches
Spiel" von Fiktionen zu richtigen, d. h. mit der Wirklichkeit
stimmenden Resultaten. Dieses ,, antagonistische Spiel" ist aus-
gedrückt durch ,,die Methode der entgegengesetzten Fehler", die
nur in einem einzigen Falle im Stiche ließ, was ja darauf beruhen
kann, daß die eine der widerstreitenden Ansichten: Determinismus
— Indeterminismus in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit
steht. Gehen wir nun von derjenigen Ansicht aus, die mit der
Wirklichkeit übereinstimmt, so werden wir zu Resultaten kommen,
die nicht korrigiert zu werden brauchen. Gehen wir dagegen
von der anderen Ansicht aus, müssen die Resultate korrigiert
werden: Aber dies ist nur möglich durch die Annahme der ersten
Ansicht. Der Fehler kann hier nämlich nur einseitig sein und
kann daher nur aufgehoben werden dadurch, daß er = O gesetzt
wird, was so viel sagen will, als daß diese Ansicht verworfen wird.
Bei den anderen Fiktionen dagegen konnte sich der Fehler in
zwei oder mehrere Richtungen erstrecken, und er konnte daher
in entgegengesetzter Richtung durch einen oder mehrere Fehler
von derselben Größe aufgehoben werden.
Hiermit liegt nun die Fiktionstheorie fertig vor. Es bleibt
also noch übrig, die Voraussetzungen aufzudecken, auf denen
sie ruht.
IV. Die Voraussetzungen der Fiktionstheorie.
Die Enthüllung der Voraussetzungen, auf denen eine Theorie
ruht, könnte vielleicht sonderbar scheinen, nachdem die Theorie
selbst dargestellt worden ist. Aber ein solches analytisches Ver-
fahren bietet doch den großen Vorteil, daß man leichter einsehen
kann, was für eine Theorie notwendig, was für sie nur von ge-
ringerer Bedeutung ist. In dem vorliegenden Falle kommt mir
der Vorteil so groß vor, daß er vollständig die hier befolgte ana-
lytische Methode rechtfertigt.
Vaihinger versteht, wie wir wissen, unter einer Fiktion eine
bewußt falsche, aber zweckmäßige, nützliche Annahme. Aus
dieser Definition selbst lassen sich leicht die Voraussetzungen
herausfinden, auf die sich die Fiktionstheorie stützt. Nehmen
wir Glied für Glied uns vor.
Falls irgendein Sinn in der Definition der Fiktion als einer
bewußt falschen Annahme stecken soll, muß man selbstbewußte
620 Jörgen Jöigensen:
Wesen voraussetzen, die einen Maßstab in der Beurteilung dessen,
was wahr und was falsch ist, besitzen. Sollen die Fiktionen außer-
dem zweckmäßig sein, so muß man wieder Wesen voraussetzen,
die nach dem einen oder anderen Ziele streben, die die eine odre
die andere Absicht haben. Diese Voraussetzungen betont Vai-
hinger auch ausdrücklich. Ihm gilt nämlich alles Seelenleben
,,als eine weitere Ausbildung des Reflexvorganges: Einwirkung
von außen, innere Verarbeitung, Wirkung nach außen. Die
inneren' Verarbeitungen dienen nur als Überleitungen für die
von außen kommende Einwirkung zu der nach außen sich ent-
ladenden Tat. Als solche inneren Verarbeitungen und Über-
leitungen erkannte ich die Fiktionen, die eben schließlich nur dem
praktischen Zwecke dienen, dem Handeln" (S. II). Das Denken
ist also ein Mittel zum Handeln, die Fiktionen sind Hilfsmittel
zu unserer Orientierung in der Umwelt. ,, Sobald ein äußerer
Reiz die Seele berührt, welche, wie mit zarten Fühlfäden aus-
gestattet, mit Schnelligkeit auf denselben antwortet, beginnen
innere Prozesse, beginnt eine psychische Arbeitsleistung, deren
Resultat die zweckmäßige Aneignung des Wahrgenommenen ist"
(S. 3). Ob die dabei angewandten Fiktionen irgendeinem Objek-
tiven entsprechen, so daß sie ,,die theoretische Abbildung der
Umwelt im Spiegel des Bewußtseins" sind, wissen wir nicht, da
wir außerstande sind, unsere Vorstellungswelt mit einer objek-
tiven Umwelt zu vergleichen. Die einzige Art und Weise, um
zu konstatieren, ob das Denken sein Ziel erreicht, ist die durch
eine ,, praktische Probe", die darauf ausgeht, zu entscheiden, ,,ob
es mögUch sei, mit Hilfe jener logischen Produkte, die ohne unser
Zutun geschehenden Ereignisse zu berechnen und unsere Willens-
impulse nach den Direktiven der logischen Gebilde zweckent-
sprechend auszuführen" (S. 5). Daß eine solche praktische Probe
glücklich ausfällt, ist um so merkwürdiger, als, nach Vaihinger,
Denken und Sein absolut ungleichartig sind. Rein empirisch
behauptet er, ,,daß die Wege des Denkens" ganz andere ,,sind,
als die des Seins" (S. 10), und daß man daher acht geben muß,
,,die Wege und Umwege des Denkens nicht mit dem wirklichen
Geschehen zu verwechseln" (S. 11). ,, Sonach müssen wir die
ganze Vorstcllungswelt erkenntnistheoretisch für ein bloßes In-
strument halten, das uns dazu dient, uns in der Wirklichkeits-
welt besser zu orientieren" (S. 23). Des Denkens ,, Zweckmäßig-
keit manifestiert sich gerade darin, daß die logischen Funktionen,
Die J.Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 62 I
wenn sie nach ihren eigenen Gesetzen arbeiten, schheßhch doch
immer wieder mit dem Sein zusammentreffen" (S. 12). Da nun
die Wege des Denkens ganz andere als die des Daseins sind, er-
hält diese Zweckmäßigkeit einen metaphysischen Charakter, sie
muß etwas sein, das mit zum Dasein gehört, etwas, das im Charakter
des Daseins liegt. Es geht hier für uns also deutlich hervor, wie
Vai hinger ,, Seelen" voraussetzt, die in einer wirklichen Welt
handeln sollen; und ihre Handlungen werden durch eine meta-
physische Zweckmäßigkeit ermöglicht, die, obgleich Denken und
Wirklichkeit heterogene Wege einschlagen, sich doch durch eine
schließliche Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit äußert.
Wir bemerkten dann weiter, daß Vaihinger diesen ,, Seelen" die
Fähigkeit beilegen mußte, zwischen wahr und falsch zu unter-
scheiden, d. h, zwischen dem, was vollkommen mit der Wirklich-
keit übereinstimmt und dem, was mehr oder minder davon ab-
weicht, — da er sonst niemals dazu gelangen könnte, die Fiktionen
als falsche Annahmen zu stempeln. Selbst wenn er nirgends aus-
drücklich ,,den Seelen" diese Fähigkeit beilegt, so ist sie doch
eine absolut notwendige Voraussetzung der Fiktionstheorie. Er
bezeichnet es selbst als ,,den eigentlichen Kern des ganzen Buches",
„den methodologischen Gegensatz der Fiktion zur Hypothese"
klarzulegen (S. 603); aber wie sollte es möglich sein, sie
auseinander zu halten, falls wir nicht genau wüßten,
was die Wirklichkeit ist. Und wir bekommen dann auch
wiederholt zu wissen, daß das eigentlich und einzig Wirkliche
die Empfindungen in ihrem Sukzessions- und Koexistenzverhältnis
sind: Alles, was mit ihnen übereinstimmt, ist also wahr, was von
ihnen abweicht, ist falsch. Aber diese Abweichungen können
mehr oder minder zweckmäßig sein. Sind sie sehr zweckmäßig,
werden sie Fiktionen genannt, sind sie weniger zweckmäßig, werden
sie Irrtümer genannt. Ganz zuerst gibt es also für Vaihinger
einen absoluten Unterschied zwischen wahr und falsch,
zwischen Hypothese und Fiktion. Aber dieser Unterschied ver-
wischt sich allmählich für ihn so, daß ,,wahr" und ,, falsch" zu
relativen Begriffen werden. Diese Verschwommenheit hängt teils
damit zusammen, daß er den Gegensatz aufstellt: Hypothese —
Fiktion, als entsprechend dem Gegensatz: theoretisch — prak-
tisch; teils daher, daß er eine neue Definition der Wahrheit ein-
führt. „Diejenige Vorstellung ist wahr", sagt er, ,, welche den
Zweck alles Denkens am besten erfüllt, nämlich das Objektive
622 Jürgen Jörgensen:
ZU berechnen, zu begreifen" (S. 136). Nun zielt indessen der
Ausdruck ,,zu berechnen" bei Vaihinger auf die praktische Seite
der Sache ab, während der Ausdruck ,,zu begreifen" etwas Theo-
retischem entspricht. Nach der oben angeführten Definition sind
sowohl Hypothesen als auch Fiktionen „wahr". Deshalb sind
„zwischen wahr und falsch keine so schroffen Grenzen, wie man
gewöhnlich anzunehmen beliebt. Irrtum und Wahrheit fallen
unter den gemeinsamen Oberbegriff des Mittels zur Berechnung
der Außenwelt; das unzweckmäßige Mittel ist der Irrtum, das
zweckmäßige heißt man Wahrheit" (S. 193). Mit dieser letzten
Äußerung ist die ganze Betrachtungsweise eine andere geworden
als sie anfangs war. Wir begannen damit, die Wahrheit zu messen
an dem Verhältnis der Vorstellungen zu den gegebenen Empfindungs-
komplexcn; jetzt messen wir sie an dem Nutzen, den wir von den
Vorstellungen haben, wenn wir handeln sollen. Wie dieser Stand-
punktswechsel mit einem Widerspruch auf dem Grunde der Theorie
selbst zusammenhängt, bestrebe ich mich, im nächsten Abschnitt
darzutun.
V. Kritik.
Wenn sich dieser Abschnitt ,, Kritik" nennt, so kann damit
natürlich nicht eine durchgeführte Untersuchung aller Einzel-
heiten des hier behandelten Werkes gemeint sein. Obgleich es
an vielen Punkten dazu Veranlassung gibt, z. B. die Urteils-
einteilung, die Atomistik und die Freiheit, muß hier doch darauf
verzichtet werden, da eine solche Ausführlichkeit an dieser Stelle
allzu umfangreich wäre. Ich halte mich im folgenden also aus-
schließlich an die Hauptpunkte der Fiktionstheorie. —
Aus dem vorigen Abschnitt erhellt es, daß im tiefsten Grunde
diese Theorie sich hauptsächlich von zwei Gesichtspunkten aus in
ihrer Gesamtheit berücksichtigen läßt:
A. Es gibt selbstbewußte Wesen oder ,, Seelen", deren Ziel
ist, zu leben, weshalb sie sich in der Welt, in der sie leben, zurecht-
finden müssen. Da die wesentlichste Funktion des Lebens das
Handeln ist, muß das Denken, .so wie es bereits Schopenhauer
behauptete, einen sekundären Platz unter den psychisch-orga-
nischen Funktionen einnehmen. Wenn das Denken sich selbst
mißversteht und der Erkenntnis den ei'sten Platz einräumt, über-
schätzt es in ,, theoretischer Leidenschaft" die Mittel im Verhältnis
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 623
zum Zweck, der letzten Endes in den praktischen Resultaten zu
finden ist (S. 179).
B. Die eigentliche Wirklichkeit sind die unmittelbar ge-
gebenen Empfindungskomplexe. Von dieser Wirklichkeit weicht
das Denken mehr oder minder ab, so daß Denken und Sein sich
auf verschiedenen Bahnen bewegen. Damit jedoch die Resultate
des Denkens Direktiven für ein zweckmäßiges Handeln sein können,
muß die Zweckmäßigkeit als ein metaphysisches Prinzip ange-
nommen werden. Sonst wäre die faktische, empirische Zweck-
mäßigkeit des Denkens unverständlich und unvereinbar mit dem
empirisch konstatierten absoluten Unterschied zwischen Denken
und Sein. —
Diese zwei Voraussctzungskomplexe stehen nun offenbar in
Widerspruch zueinander. Denn falls wir uns an Gruppe B. halten
und die unmittelbar gegebenen Empfindungskomplexe für die
eigentliche Wirklichkeit halten, so können wir nicht gleichzeitig
behaupten, daß zweckmäßig ausgestattete Wesen existieren, die
in einer Umwelt leben sollen. Die Vorstellung von diesen
Wesen muß dann als eine Fiktion angesehen werden,
und die Fiktionstheorie selbst gründet sich also auf
einer solchen und muß deshalb dann selbst eine Fiktion
sein. Andererseits, wenn die ganze Theorie eine Fiktion ist, so
kann die Grundlage richtig sein, und also kann die Theorie richtig
sein. Hier taucht ein Problem auf, bei dem einem der Kretenser
einfällt, der behauptete, daß alle Kretenser lügen.
Ein anderer Widerspruch tritt hervor, wenn wir von der
Voraussetzung ausgehen, daß Denken und Sein absolut ver-
schieden sind, und wenn wir diese Voraussetzung zusammen-
stellen mit der ,, Methode der entgegengesetzten Fehler". Diese
Methode zielte ja gerade darauf ab, die vom Denken begangenen
Fehler durch Einführung korrespondierender, entgegengesetzter
Fehler zu entfernen oder aufzuheben. Nur wenn man dieser
Methode folgte, konnte man zu Resultaten gelangen, die mit der
Wirklichkeit übereinstimmten. Aber die Voraussetzung für die
Richtigkeit dieser Methode ist ja gerade, daß das Denken
— jedenfalls das richtige, logische Denken — dieselben Wege
wie die Wirklichkeit verfolgt. Sonst würde es un-
verständlich sein, warum die Fehler aufgehoben werden
sollen. In den formalen Wissenschaften wird man zu richtigen
Resultaten gelangen, falls man die begangenen Fehler stets durch
624 Jörjjen Jörgenscn:
Einfülirung entgegengesetzter Fehler aufzuheben sucht. So ver-
hält CS sich in der Mathematik — nach Vaihingers Meinung. i)
Aber hier sind auch die einzigen Gesetze eben nur die Gesetze
des Denkens und die logischen Grundsätze sind hier die Norm.
Anders verhält es sich, wenn die Berechtigung der Denkgesetze
in ihrer Anwendung auf die vom Denken unabhängige Wirklich-
keit zu beweisen ist. Zeigt es sich hier, daß die Resultate des
Denkens stets mit der Wirklichkeit stimmen, sobald wir dafür
sorgen, eventuelle Fehler aufzuheben, so müssen wir einräumen,
daß Gesetze und Wege des Daseins und Denkens dieselben sind.
Hier können wir indessen die unbedingte und ewige Gültigkeit
dieser Übereinstimmung nicht beweisen, und ihre Annahme be-
kommt daher den Charakter eines Postulats oder richtiger einer
Hypothese. Aber die Übereinstimmung der Gesetze des Denkens
und Daseins muß in jedem Falle behauptet werden, sowohl aus
praktischem wie aus theoretischem Interesse. Fände nämlich
diese Übereinstimmung nicht statt, so könnten wir weder be-
greifen noch leben. Nehmen wir eine solche Überein-
stimmung an, ist es auch einleuchtend, daß die Re-
sultate des Denkens mit dem Dasein übereinstimmen
müssen, während die Annahme eines absoluten Unter-
schiedes zwischen den Gesetzen des Denkens und Da-
seins die faktische Übereinstimmung in den Resultaten
absolut unverständlich macht! Greift man nun, wie Vai-
hinger, zu dem verzweifelten Notbehelf, die Begreiflichkeit des
Daseins zu leugnen, um die rätselhafte Übereinstimmung zwischen
den Resultaten des Denkens und der Wirklichkeit aufrecht halten
zu können, so hat man sich damit auf einen absolut unhaltbaren
Standpunkt gestellt, was sich sehr bald durch eine ,, praktische
Probe" beweisen lassen wird. Handelte man nämlich von dieser
Anschauung der Unbegreifbarkeit des Daseins aus, so würde man
sehr schnell merken, daß man im eigentlichsten Sinne des Wortes
,, neben" das Dasein und in Opposition dazu geraten ist; und
wollte man festhalten an jener Annahme, aber doch handeln,
,,als ob" das Dasein begreiflich sei, so würde man schnell dahinter
kommen, daß dies zu verblüffend guten Resultaten führt. Es
') Ich diskutiere hier die Fragen von Vaihingers eigenen Voraussetzungen
aus, ohne auf eine ausführlichere Kritik dieser Voraussetzungen einzugehen. Das
Prinzipielle einer solchen Kritik wird jedoch im folgenden berührt werden und
ist übrigens schon im Kap. I angedeutet.
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standi)unkte der Marburger Schule. 625
läßt sich jedoch schwer denken, daß der Unterschied der Re-
sultate des Handelns von der verschiedenen subjektiven Be-
trachtungsweise abhängt, da sich nicht annehmen läßt, daß diese
in einem nennenswerten Grade den Gang des Daseins beeinflussen
kann; und die einzig annehmbare Erklärung ist deshalb die, daß
das Denken und das Dasein denselben Gesetzen folgt. Jedoch
dies ist, wie oben bemerkt, ein Postulat oder eine Hypothese,
aber die Annahme einer solchen Übereinstimmung ist so wichtig,
daß — wie Hume sagt — nur der Narr oder der Wahnsinnige
daran zweifeln wird. Daß Vaihinger — trotz seiner Voraus-
setzungen — es ebenfalls nicht tut, ergibt ,,dic Methode der ent-
gegengesetzten Fehler". Wenn man sagt, daß ,,die subjektiven
Prozesse des Denkens, die sich auf irgendeinen äußeren Vorgang
oder Prozeß beziehen, mit diesem selbst nur selten eine nachweis-
bare x\hnhchkeit haben" (S. 10), so ist das psychologisch ge-
sehen richtig: Der Denkprozeß als psychologisches Phänomen
ähnelt wirklich nicht den äußeren Prozessen, über die gedacht
wird. Aber erkenntnistheoretisch gesehen, müssen wir nach
unserer Darlegung an der Behauptung festhalten, daß die zwei
Prozesse sich nach denselben Gesetzen entfalten, da sonst die
Übereinstimmung in ihren Resultaten absolut unverständlich ist.
Vaihinger gibt die Behauptung dieser Unbegreif barkeit nicht
preis, und ausschließlich vermittelst der mystischen, metaphysischen
Zweckmäßigkeit hält er sie vereinbar mit der Annahme des Denkens
als eines nützlichen Hilfsmittels im Daseins kämpfe; trotzdem aber
gilt ihm diese Zweckmäßigkeit als eine Fiktion, wodurch wir wieder
in das absolut Unverständliche geraten sind und, wie vorher aus-
einandergesetzt, in Widerstreit mit allen theoretischen und prak-
tischen Erfahrungen, so daß alle weitere Diskussion ausgeschlossen
ist. Es ist, als ob jemand sagte: Es gibt keine Wahrheit, und
doch gleichzeitig behauptet, daß dieser Satz wahr ist. Daß Vai-
hinger diesen Widerspruch nicht gesehen hat, beruht wahr-
scheinlich darauf, daß er die unmittelbar gegebenen Empfindungs-
komplexe als die eigentliche Wirklichkeit betrachtet. Solange
wir uns an diese Betrachtung halten, ist das Dasein nämlich ab-
solut unverständlich für uns, aber solange wird das Wirklich keits-
problem auch gar nicht gestellt. Falls wir ,,die Fiktion" auf-
stellten, daß es ein Wesen gäbe, das mit allen menschlichen Sinnen
ausgestattet ist, aber vollkommen jedes Denkvermögens bar wäre,
so würde es für ein solches Wesen gar keine Wirklichkeit geben.
Annalen der Philosophie. I. 4^*
626 Jörgen Jör|ensen:
,,Die Wirklichkeit" ist eben gerade ein Begriff, der dem Denken
zu danken ist und der erst entsteht, wenn man die Erfahrung
macht, daß nicht alle die unmittelbar gegebenen Empfindungen
etwas Wirklichem entsprechen, d, h. daß sie durch ,,cine praktische
Probe" sich als illusorisch offenbaren. Da ist es dann zu unter-
suchen nötig, unter welchen Bedingungen man von einem un-
mittelbar gegebenen Empfindungskomplex auf einen anderen zu
treffen hoffen kann, wenn man auf eine bestimmte Art handelt.
Und hier muß man umkehren von den unmittelbaren Empfindungen
zu der sich in ihren Koexistenz- und Sukzessionsverhältnissen
äußernden Gesetzmäßigkeit, welche die eigentliche Wirkhchkeit
abbildet. Aber die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit verdankt
man gerade dem Denken, und sie wird daher auch von Vaihinger
konsequent als eine Fiktion betrachtet (S. 417 — 423), weshalb er
wieder zu den unmittelbar gegebenen Empfindungskomplexen als
die eigentliche Wirklichkeit seine Zuflucht nehmen muß, wo,
wie vorher ausgeführt, sein Standpunkt unhaltbar ist.
Entweder muß also Vaihinger die Grundlage der Fiktions-
theorie und damit diese selbst aufgeben oder er gerät in lauter
UnVerständlichkeiten, wodurch er jede weitere Diskussion ab-
schneidet und gerade dadurch die Absurdität der Theorie be-
weist. Dies liegt zuletzt daran, daß die Kategorien, die Grund-
prinzipien der Erkenntnis, notwendige Voraussetzungen jeder
vernünftigen Theorie der Phänomene sind; und verv^'andelt man
nun diese Voraussetzungen selbst in Fiktionen, so muß die ganze
Theorie fiktiv werden. Aber dann hört alles auf; denn eine
fiktive Erkenntnis ist eben keine Erkenntnis! Dies
hat Vaihinger insofern auch eingesehen, als er die Möglichkeit
der Erkenntnis leugnet und behauptet, daß die Fiktionen nur
Wert für das Handeln, für die praktische Seite des Lebens haben.
Aber diese Behauptung führt erstens zu der Schwierigkeit, daß
sie sich nicht begründen läßt, da jede Begründung sich auf die
,, fiktiven" Kategorien stützen muß; und zweitens führt sie zu
dem schwierigen Dilemma der Auffassung von Tier
und Menschen. Gibt es irgendwelche Wesen, die ausschließlich
praktisch bestimmt sind, so sind es wohl die Tiere. Es hat also
den Anschein, als ob die Fiktionen in bezug auf die Erhaltung
des Lebens von einer rein untergeordneten Bedeutung sind; denn
die Tiere wissen sich ja recht gut zu behelfen. Oder will Vaihinger
annehmen, daß die Tiere — ebenso wie die Menschen — mit Fik-
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 627
tionen operieren, mit Kategorien, Begriffen, Urteilen und all den
anderen ,, zweckmäßigen, aber falschen Annahmen"? Das käme
mir doch als eine allzu barocke Annahme vor. Im ganzen ge-
nommen, wird ,,die biologische Erkenntnistheorie", wie jede andere
Theorie, die das Vernunfts- und Begriffsmäßige als das wesent-
liche Charakteristikum des Menschen verwirft, nur schwer dem
Paradoxon entgehen können, daß die Tiere die am besten ein-
gerichteten Wesen sind, denen zu gleichen man soviel als möglich
trachten muß. Der Gedanke ist nur ein Umweg im Lebensprozeß
und es kommt daher darauf an, ihn auf die eine oder andere Art
unschädlich zu machen — z. B. entweder durch Bergsons ,, In-
tuition" oder durch Vaihingers ,, Methode der entgegengesetzten
Fehler".
Aus diesen Gründen kann ich nicht umhin, die Fiktions-
theorie für ungeeignet dazu zu halten, ,,der Eckstein der philo-
sophischen Erkenntnistheorie" zu werden. Wenn diese Theorie
• trotzdem so großes Aufsehen erregt hat, so- schuldet sie das wohl
nicht allein Vaihingers angesehenem Namen. Der Grund muß
sicherlich darin zu suchen sein, daß in dieser Theorie doch wert-
volle Momente stecken. Und das ist auch meine Ansicht; aber
dieser Theorie ist es leider wie den meisten anderen ergangen:
Die grundlegenden guten Ideen sind Gegenstand einer unberechtigten
Generalisation geworden, sie sind angewandt worden außerhalb des
Gebietes, wo sie Gültigkeit haben. Und dadurch ist ihr Wert
verschleiert worden. So ist es — meiner Ansicht nach — auch
mit der Theorie des ,, psycho -physischen Parallclismus" gegangen,
mit Darwins Entwicklungstheorie, mit Bergsons Theorie des
Gegensatzes zwischen den ,, qualitativen und den quantitativen
Phänomenen", mit der James -Langeschen Gefühlstheorie und
mit manchen anderen Theorien, und unter ihnen auch mit Vai-
hingers Fiktionstheorie. Nach der Lektüre von Vaihingers
ausgezeichnetem Werke wird wohl niemand leugnen, daß wir in
den Wissenschaften und im täglichen Leben in nicht geringem
Grade mit Fiktionen operieren. Aber daß unsere gesamte Denk-
arbeit fiktiv ist, daß alle unsere Begriffe Fiktionen sind, — dazu
kann ich mich nicht verstehen.
Es ist wohl auch eine große Frage, ob alle die von Vai hinger
angeführten Beispiele wirklich die die Fiktionen charakterisierenden
Widersprüche enthalten. So z. B. glaube ich kaum, daß viele
Mathematiker zugeben werden, daß die infinitesimalen Größen
40*
528 Jörgen Jörgensen:
widerspruchsvoll sind. Und in den modernen Arbeiten über den
,, Grenzbegriff" und die „Mengelehre" ist denn doch auch ein
crroßer Schritt zur Entfernung der scheinbaren Widersprüche dieser
Begriffe getan. Aber eine genauere Untersuchung darüber würde
ein ganzes Buch füllen und daher kann ich mich hier darüber
nicht weiter verbreiten. —
Unsere kritischen Bedenken lassen sich also zum Schluß
folgendermaßen zusammenfassen :
Vaihingers Fiktionstheorie hat ihren großen Wert «darin,
daß sie I. eine klare Definition des Begriffes „Fiktion" geliefert
hat, 2. daß sie nachgewiesen hat, in welchem Umfange die Menschen
mit Fiktionen operieren, 3. daß sie durch die Lehre von der ,, Methode
der entgegengesetzten Fehler" das Faktum erklärt hat, daß es oft
zweckmäßig ist, mit Fiktionen zu operieren. Hierdurch hat der
deutsche Philosoph ein ausgedehntes und bisher allzu wenig be-
achtetes Gebiet dem philosophischen Forschen erschlossen, nämlich
die Untersuchung der Anwendung der Fiktionen in der Wissenschaft.
Aber gerade die Tatsache, daß es nötig ist, die Anwendung der
Fiktionen zu begründen und zu erklären, ist ein Zeichen dafür,
(laß die Fiktionen nicht die Grundlage der Erkenntnistheorie
bilden können. Sie geben nur gewisse, vom Denken faktisch
angewandte Kunstgriffe, aber sie können niemals die Gültigkeit
dieser Kunstgriffe begründen. Sie bezeichnen daher nur ein Pro-
blem der Erkenntnistheorie, aber sie vermögen kein erkenntnis-
theoretisches Problem zu lösen. Dazu sind gerade die logischen
Formen erforderlich, die Kategorien, die selbst nicht Fik-
tionen sein können, da sonst jede Theorie • — die Fik-
tionstheorie mit einbegriffen — dann fiktiv sein mußt
Die Norm, nach welcher zwischen wahr und falsch unterschieden
wird, kann nicht selbst als falsch beglaubigt werden und die Wahr-
heit läßt sich daher nicht als ,,der zweckmäßigste Irrtum" de-
finieren. Oder mit Spinozas Worten: ,,Veritas norma sui et
falsi est." Nur wenn man die Wahrheit kennt, kann man die
Irrtümer nachweisen, und gerade der Begriff der Fiktion selbst
setzt daher eine absolute Wahrheit voraus.
Diese absolute Wahrheit ist indessen ganz formal, d. h. sie
gibt nur die Kriterien der Wahrheit an. Ein jedes spezielles Urteil
über irgend etwas ist bedingt und relativ, aber die Formen der
Erkenntnis müssen absolut sein; die Grundrelationen können
nicht selbst relativ sein, Sie sind der feste ,, archimedische Punkt",
Die „Philosophie des Als Ob" vom Standpunkte der Marburger Schule. 629
von dem aus das Dasein erkannt werden kann; sie definieren den
Begriff selbst: Erkenntnis. Sie sind das Sprungbrett, von wo
die Reflexion hinausspringt in „die 70000 Klafter Wasser", um
einen Ausdruck Sören Kierkegaards zu gebrauchen. Ist die
Reflexion nämlich einmal in Bewegung gesetzt, so kann sie nicht
mehr innehalten, ohne dogmatisch, d. h. borniert, zu werden:
sie muß stets weiter und tiefer ausschweifen, gemäß dem ,, Prinzip
des Ursprungs" (Hermann Cohen). Aber der Kompaß, dem sie
beständig zu folgen hat, falls sie sich nicht verirren will, muß
sicher und unveränderlich sein. Und dieser Kompaß sind die
ewigen Vernunftgesetze, auf die jede Theorie sich aufbauen muß.
Ohne sie schießt überhaupt kein Problem auf, worauf die aus-
gezeichnete Marburger Schule wieder und wieder hingewiesen hat.
Deshalb ist das Problem selbst der Fiktion ein Beweis für die
Reahtät der Vernunft und damit für die der Erkenntnis — wenig-
stens als Aufgabe.
(Autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Mens.)
Zur Theorie der juristischen Fiktionen.
Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als Ob.
Von
Dr. Hans Eelsen,
a, ö. Professor an der Universität in Wien.
Inhaltsübersicht.
I. Der Begriff der Fiktion und der Gegenstand rechtswissenschaftlicher Er-
kenntnis. Der Widerspruch zur ,, Wirklichkeit". Die Natur-Wirklichkeit und die
Rechts-Wirklichkeit. Die Erweiterung des Vaihingerschen Fiktionenbegriffes.
Echte Fiktionen der Rechtstheorie. Das Rechtssubjekt.
II. Die sogenannten ,, Fiktionen" der Rechtspraxis. Die Pseudofiktionen
des Gesetzgebers. Ihr prinzipieller Unterschied gegenüber den erkenntnistheo-
retischen Fiktionen; Mangel des Erkenntniszwecks und des Widerspruchs zur
Wirklichkeit der Natur wie des Rechtes. Der Art. 347 des Deutschen Handels-
gesetzbuches. Die praesumptio juris. Die prätorischen Fiktionen.
III. Die „Fiktionen" der Rechtsanwendung. Die Analogie. Ihr unkorrigier-
barer Widerspruch zur Rechts-Wirklichkeit und ihre juristische Unzulässigkeit.
Die rechtlich gebotene Analogie.
IV. Rechtstheorie und Rechtspraxis. Die moralische Fiktion der ,, Freiheit".
Ihre Entbehrlichkeit bei Aufhebung des fehlerhaften Synkretismus von Seins- und
Sollens-Betrachtung. Die Fiktion des „Staatsvertrages". Ihre Entbehrlichkeit
vom Standpunkte des Rechtspositivismus.
V. Die Souveränität der Rechtsordnung. Die Unabhängigkeit des Rechts
von der Moral. Der angeblich fiktive Charakter dieser Isolierung. Die „prak-
tischen" Fiktionen Vaihingers. Die Rechtsnorm und die Rechtspflicht keine
Fiktionen.
I.
Seine bedeutende Theorie der Fiktionen hat Vaihinger nicht
zum geringsten Teil an den „juristischen" Fiktionen entwickelt.
Die juristische Fiktion erklärt er geradezu für einen der charak-
teristischen Typen dieses Vorstellungsgebildcs. Er meint, daß es
neben der Mathematik fast kein Gebiet gäbe, das zur Deduktion
logischer Gesetze und Illustrierung oder Entwicklung logischer
Methoden im allgemeinen und der Fiktionsmethode im besonderen
passender wäre, als gerade das Jus. Und er bedauert, daß die
Logiker sich gerade die juristische Fiktion haben entgehen lassen,
weil sie überhaupt nicht einsahen, daß die Logik ihr Material aus
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 5^1
der lebendigen Wissenschaft zu entnehmen hiibe.^) Für Vai-
hinger ist die juristische Fiktion eine , .wissenschaftliche" Fik-
tion^) und prinzipiell identisch mit den erkenntnistheoretischen. 3)
Er betont ausdrücklich, ,,die formale Identität der Vcrstandes-
handlung und des ganzen Vorstellungszustandes in den juridischen
Fiktionen mit den anderen wissenschaftlichen Fiktionen".'*) —
Unter der Bezeichnung der „juristischen Fiktion" werden
jedoch sehr verschiedene Erscheinungen zusammengefaßt. Nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil stellt sich als Fiktion in der eigent-
lichen Bedeutung des Wortes, als Fiktion im Sinne des von Vai-
hinger aufgestellten Begriffes dar. Ja, das meiste, was Vai-
hinger selbst als ,, juristische Fiktion" behandelt und seiner hoch-
! verdienstlichen Theorie zugrunde gelegt hat, ist gar keine Fiktion,
ist zumindest nicht das Vorstellungsgebildc, auf welches^ jene
charakteristischen Merkmale passen, die er treffend bestimmt hat.
So rückhaltlos den prinzipiellen Ergebnissen der Vaihingerschen
Philosophie des Als Ob zugestimmt werden kann, so muß doch
gerade die von Vaihinger mit besonderer Vorliebe herangezogene
juristische Fiktion als unzutreffendes Argument bezeichnet werden.
Die Fiktion charakterisiert sich nach Vaihinger ebensosehr
durch ihren Zweck wie durch das Mittel, mit dem sie diesen Zweck
erreicht. Der Zweck ist: Erkenntnis der Wirklichkeit, das Mittel:
eine Fälschung, ein Widerspruch, ein Kunstgriff, ein Umweg und
Durchgangspunkt des Denkens. Ein Mittel der Logik, wenn
auch ein abnormales, ist die Fiktion; sie hat erkenntnistheo-
retischen Charakter, als einem Erkenntnismittel kommt ihr Be-
deutung zu.*^)
Dabei ist es die Erkenntnis der Wirklichkeit, der die Fik-
tion dient. ,,Die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit soll
die Erreichung der letzteren vorbereiten."**) Und der Wider-
spruch zu der Wirklichkeit ist eines der Hauptmerkmale der
Fiktion.')
Nun muß es schon von vornherein zweifelhaft sein, ob man
') Die Philosophie des Als-ob. 2. Aufl. S. 46.
■') a. a. 0. S. 257.
•^) a. a. 0. S. 447-
*) a. a. 0. S. 250.
") a. a. O. S. i75ff. u- passim.
«) a. a. O. S. 27.
') a. a. 0. S. 171 ff.
632
Hans Kelsen:
Jioffen kann, m einer Wissenschaft Fiktionen anzutreffen, die
ihrem Wesen nach gar nicht auf Erkenntnis der Wirkhchkeit
sjorichtet sind. Wenn die Fiktion ein eigenartiges Mittel ist, die
Reahtät zu erfassen, dann könnte nur eine von ihrem Wege gänz-
hch abgeirrte rechtswissenschafthchc Betrachtung sich einer Fiktion
in diesem Sinne bedienen, und dann kann eine Fiktion rechts-
wissenschafthchc Erkenntnis niemals — auch nicht indirekt,
auf einem Umwege — fördern. Wenn in der Fiktion ein Wirk-
liches behauptet wird (im Widerspruch zur Wirklichkeit aller-
dings), dann kann auf dem Gebiete einer Wissenschaft, deren
Erkenntnisse nicht auf die Wirklichkeit bezogen sind, eine Fik-
tion stets nur eine unzulässige und gänzlich unnütze, bloß schäd-
liche Entgleisung sein.
Und Vai hinger ist sich der wahren Natur der Rechtswissen-
schaft durchaus bewußt! Er betont wiederholt, daß die Juris-
prudenz nicht ein Seiendes zu erkennen habe. ,,Bis jetzt fanden
wir als einzig wirkliche wissenschaftliche Fiktion nur die juri-
dische, allein hier ist doch zu bemerken, daß die Rechtswissenschaft
nicht eine eigentliche Wissenschaft des Seienden ist, sondern eine
Wissenschaft menschlicher, willkürlicher Einrichtungen. "i) Die
Erkenntnis der Rechtswissenschaft geht auf ein Sollen; ihr
Gegenstand ist als ,,menschhche willkürliche Einrichtungen" nicht
richtig charakterisiert, denn auch menschliche willkürliche Ein-
richtungen sind ein Seiendes und können Gegenstand einer Seins-
wissenschaft, z. B. der Soziologie, sein.
Indes erwächst gerade aus dieser Richtung kein ernstlicher
Einwand — nur eine allerdings nicht unwesentliche Modifikation —
für die Vaihingersche Fiktionentheorie. Denn die Rechtswissen-
schaft operiert tatsächlich mit Fiktionen. Welcher Art die sind,
und daß die meisten von Vaihinger als ,, juristische Fiktionen"
angeführten es nicht sind, wird später noch zu zeigen sein. Hier
sei nur bemerkt, daß der Begriff der Vaihingerschen Fiktion
sich dann als zu eng erweist, wenn man die Sinnenwirklich-
keit als den einzigen Gegenstand, das einzige Ziel oder Produkt
der Erkenntnis gelten läßt. Und dies ist wohl nicht gut möglich,
wenn man neben der Naturwissenschaft auch andere Wissen-
schaften, etwa Ethik, vor allem aber Rechtswissenschaft aner-
kennt. Der so erweiterte Fiktionsbegriff ergibt sich, wenn man
'; a. a. 0. S. 257.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 633
an Stelle der „Wirklichkeit", als einen speziellen Gegenstand der
Erkenntnis, diesen Erkenntnisgegenstand in seiner Allgemein-
heit treten läßt. Und eine Fiktion liegt vor, wenn die Erkenntnis
— - und im besonderen auch die juristische — bei ihrem Be-
mühen, ihren Gegenstand — und bei der juristischen, der Rechts-
wissenschaft, ist es das Recht, die Rechtsordnung, das recht-
liche Sollen — einen Umweg macht, bei dem sie bewußt in einen
Widerspruch zu diesem ihrem Gegenstand gerät; freilich nur zu
dem Zwecke, um ihn dann um so besser zu packen: So wie ein
Bergsteiger sich manchmal gezwungen sieht, vorübergehend in
einer dem angestrebten Gipfel entgegengesetzten Richtung nach
abwärts zu klettern, um einem Hindernis aus dem Wege zu gehen
und so leichter sein Ziel zu erreichen.
In diesem Sinne gibt es echte, d. h. erkenntnistheoretische
Fiktionen der Rechtswissenschaft, Fiktionen des auf Erkenntnis
des Rechtes, auf geistige Bewältigung der Rechtsordnung ge-
richteten Denkens. Fiktionen der Rechtstheorie. Eine solche
Fiktion, ein Hilfsbegriff, eine Hilfskonstruktion ist z. B. der
Begriff 4es Rechtssubjektes oder der Begriff des subjektiven
Rechtes.
Es kann in diesem Zusammenhange nicht darauf ankommen,
den Rechtsbegriff des Rechtssubjektes oder der Person allseitig
zu untersuchen. Es soll lediglich gezeigt werden, wie fruchtbar
Vai hingers Philosophie des Als Ob auf die Fiktionen der
Rechtstheorie angewendet werden kann.
Die Person — die physische wie die juristische — lebt in der
Vorstellung der Juristen als ein von der Rechtsordnung verschiedenes,
selbständig existentes Wesen, das für gewöhnlich als ,, Träger" von
Pflichten und Rechten bezeichnet wird und dem man bald mehr,
bald weniger auch ein reales Dasein zuspricht. Ob man diese
Realität auf die physische Person beschränkt oder — wie in der
organischen Theorie — auch auf die sogenannten juristischen
Personen ausdehnt, ist hier gleichgültig. Es genügt die Kon-
statierung der ausgesprochenen Tendenz zur Realsetzung der
Person.
Wenn, was hier nicht näher bewiesen werden kann, das Rechts-
subjekt, das physische sowohl wie das juristische, sich als nichts
anderes herausstellt, als die zum Zwecke der Vereinfachung und
Veranschauhchung vorgenommene Personifikation eines Kom-
plexes von Normen, d. h. der Rechtsordnung als Ganzes (die
634
Hans Kelsen :
Staatsperson) oder einzelner Teilrechtsordnungen (die anderen
physischen und juristischen Personen), dann wäre die Vorstellung
der Person, so wie sie der modernen Jurisprudenz geläufig ist,
ein typisches Beispiel jener Fiktionen, deren interessanten und
komplizierten Denkmechanismus Vaihinger durchleuchtet hat,
E^s wäre ein Denkgebilde, bestimmt, den Gegenstand der Rechts-
wissenschaft, die Rechtsordnung, gedanklich zu erfassen, dabei
aber offenbar aus der Phantasie geschaffen und zu dem Er-
kenntnisobjekt hinzugedacht, den Gegenstand sozusagen ver-
doppelnd und so das Erkenntnisbild verfälschend. Damit tritt
aber dieser Denkbehelf zu dem Gegenstand, der spezifischen
Rechtswirklichkeit, in einen Widerspruch und wird, wie dies jede
Analyse des Personenbegriffs zeigen kann, in sich selbst wider-
spruchsvoll. Und wenn die Person, die ursprünglich nur als ein
spezifischer Denkbehelf zur Erfassung der Rechtsordnung dieser
gegenüber wie ein Gerüst aufgebaut wurde, als reales Wesen,
d. h. als eine Art Naturding behauptet wird, dann bedeutet eine
so gesteigerte Fiktion der Person sogar einen Widerspruch zur
Naturwirklichkeit, was nur bei der argen Grenzüberschreitung
einer Rechtstheorie möglich ist, die vermeint, reale Natur tatsachen
zum Gegenstand zu haben.
Der Begriff des Rechtssubjektes ist vor allem zu jenen Fik-
tionen zu rechnen, die Vaihinger als die ,,personifikativen" be-
zeichnet. Sie entstammen dem unserem Vorstellungsapparat von
jeher beherrschenden anthropomorphistischen Personifikationstrieb,
jenem ,, unverwüstlichen Hange des Menschengeschlechtes"^), alles
rein Gedankliche in der Form der Person, des Subjekts, zu hypo-
stasieren und so zu veranschaulichen. „Das gemeinsame Prinzip
ist die Hypostase von Phänomenen in irgendeiner Hinsicht, mag
diese Hypostasierung sich mehr oder w^eniger an das Bild der
Persönlichkeit anschließen. Dies letztere ist auch der eigentlich
bestimmende Faktor in der Kategorie des Dinges."^) ,,Das Ur-
schema der Substanzialität ist ja die Personalität."^) Dies trifft
durchaus auf die Personifikation des Rechtes (d. h. der Rechts-
norm) zu, als welche wir das Rechtssubjekt erkennen müssen.
Es ist die Hypostasierung jenes reinen Gedankendinges, als das
sich die Rechtsnorm, das Gesollt-Sein menschlichen Verhaltens
') a. a. O. S. 391.
*) a. a. O. S. 50.
=") a. a. O. S. 391.
Zur Theoiie der juristischen Fiktionen. 635
darstellt. Und die Erkenntnis, daß der Dingbegriff auch eine
personifikative Fiktion darstellt, läßt das Rechtssubjekt und das
als ,,Ding" gedachte subjektive Recht als durchaus gleichartige,
wenn nicht als identische Hypostasierungen der ,, objektiven"
Rechtsnorm erscheinen. Es kann gar nicht nachdrücklich genug
hervorgehoben werden, daß der Begriff des Rechtssubjektes von
derselben logischen Struktur ist, wie die charakteristischste ?ller
personifikativen Fiktionen, der Begriff der Seele, oder der Begriff
der Kraft ^), deren logische Unhaltbarkeit nichts gegen ihre tat-
sächliche Praktikabilität spricht. Es lohnte sicherlich den Ver-
such, in dem Rechtssubjekt eine Art Rechtsseelc zu begreifen.
Und es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß in den Be-
griffen der sittlichen Persönlichkeit und des ,, Gewissens" durchaus
die gleichen, der Veranschaulichung dienende Personifikationen
der Moralnorm vorliegen. Die Verdoppelung des Erkenntnis -
Objekts, die mit der Fiktion im allgemeinen, insbesondere aber
mit der Personifikation vollzogen wird, charakterisiert Vaihingen
auf das Zutreffendste und man könnte jene eigenartige Dupli-
kation des Rechtes, jene Tautologie, die in dem Begriff der Rechts-
person steckt, kaum besser schildern, als mit den Worten Vai-
hingers, der selbst dabei nicht den Rechtsbegriff der Person,
sondern den Kraftbegriff im Auge hat: ,, Solche Begriffe hat ins-
besondere das 17. Jahrhundert viele geschaffen^) in allen Wissen-
schaften; damals glaubte man, damit wirklich etwas begriffen
zu haben; aber ein solches Wort ist nur eine Schale, welche den
sachlichen Kern zusammenhalten und aufbewahren soll. Und
wie die Schale in allen ihren Formen sich dem Kerne anschmiegt
und ihn einfach verdoppelt äußerlich wiedergibt, so sind auch .
diese Worte oder Begriffe nur Tautologien, welche die eigentliche
Sache in einem äußeren Gewände wiederholen. "5)
Die Widersprüche, die mit dem Begriff des Rechtssubjekts
gesetzt sind, das ein von der Rechtsnorm (dem , .objektiven Recht")
verschiedenes Wesen zu sein behauptet, und dennoch nur dessen
Wiederholung ist, sie werden zwar nicht aufgelöst, aber sie werden
uns begreiflich, wenn wir wissen (nachdem es uns Vaihingen
^) a. a. O. S. 50.
*) Hier muß daran erinnert werden, daß Schloßmann (Persona und TiQoaamov
im Recht und im christlichen Dogma. Kiel, 1906.) auch den Begriff der Rechtsperson
auf die Systematik des 17. Jahrhunderts zurückführt.
3) a. a. O. S. 52.
^2,6
Hans Kelsen:
gesagt hat), daß es das Wesen des Denkweges der Fiktion ist,
sich in Widersprüche zu verwickehi. ,,Das Denken führt ganz
von selbst auf gewisse Scheinbegriffe hin, ebenso wie das Sehen
auf notwendige optische Täuschungen. Wenn wir jenen optischen
Schein als notwendigen erkennen, wenn wir die dadurch gesetzten
F'iktionen mit Bewußtsein akzeptieren und sie gleichzeitig durch-
schauen (z. B. Gott, Freiheit usw.), so können wir die dadurch
entstandenen logischen Widersprüche als notwendige Produkte
unseres Denkens ertragen, indem wir erkennen, daß sie not-
wendige Folgen des inneren Mechanismus des Denkorgans selbst
smd."i)
Darum kann jene an sich widerspruchsvolle Fiktion des Rechts-
subjekts wegen des Vorteils der Veranschaulichung und der
Vereinfachung, den sie mit sich bringt, ohne Schaden für die
Rechtswissenschaft stehen gelassen werden. Allerdings nur insolange
und nur insoweit, als man sich ihres fiktiven Charakters und der
Verdoppelung bewußt bleibt, die mit dem Personenbegriff voll-
zogen wird. Insolange ist auch dasjenige nicht notwendig, was
Vaihinger die Korrektur der Fiktion nennt. ,,Ist ein Wider-
spruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion eben nur
Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist. Darum muß
auch . . . eine Korrektur eintreten."^) ,,Der Fehler muß rück-
gängig gemacht werden, indem das fiktiv eingeführte Gebilde
einfach wieder hinausgeworfen wird."^) Er sagt z\t^ar ausdrück-
lich: ,,Bei den juristischen Fiktionen dagegen scheint eine solche
Korrektur gar nicht nötig zu sein; und sie ist es auch nicht. Denn
hier handelt es sich ja nicht um exakte Berechnung eines Wirk-
lichen, sondern um Subsumtion unter ein willkürliches Gesetz,
ein Menschenwerk, kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis."*)
Allein Vaihinger denkt dabei eigentlich nicht an jene Art von
Fiktion, als welche sich der Rechtsbegriff der Person darstellt.
Dieser ist von der Rechtswissenschaft, von der Theorie oder der
Erkenntnis des Rechtes erzeugt. Nicht so die ,, juristischen" Fik-
tionen, deren sich der Gesetzgeber oder der Rechtsanwender be-
dient und die Vaihinger — obgleich es sich hier nicht eigentlich
um der Erkenntnis dienende Vorstellungsgebildc und somit gar
*) a. a. O. S. 223.
*) a. a. O. S. 173-
') a. a. O. S. 297.
•*) a. a. S. S. 107.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 637"
nicht um Fiktionen im logischen Sinne handelt — dennoch
vornehmlich im Auge hat. hidcs trifft Vaihingcrs Bemerkung
gerade auf die rechtstheoretische Fiktion des Rechtssubjektes
zu. Nur daß das Wesen der Rechtswissenschaft zum Unterschied
von der Naturwissenschaft bloß negativ richtig charakterisiert ist,
wenn gesagt wird, daß es sich hier nicht um Erfassung der Wirk-
lichkeit handle. Positiv liegt der Rechtswissenschaft die Erfassung
eines Sollens, die Erkenntnis von Normen ob.
Solange also der Begriff der Rechtsperson als das genommen
wird, was er seiner logischen Struktur nach ist: ein Spiegelbild,
kann er mit Nutzen verwendet werden. Allein es zeigt sich, daß
er die mit jeder Personifikation gesetzte Gefahr nicht vermieden
hat: die Hypostasierung zu einem realen Naturding. Indem die
Theorie ein bloßes Spiegelbild als reales Ding auffaßt, steigert
sie den Widerspruch, in dem das Recht als Subjekt (d. i. das
Rechtssubjekt) zum Recht als Objekt (d. i. dem objektiven Recht)
schon an und für sich und ohne Realsetzung steht, zu einem
Widerspruch zur Wirklichkeit. Mit der Rechtsperson wird eine
natürliche Realität behauptet, die es nie und nirgends in der Wirk-
lichkeit gibt. Das gilt in gleicher Weise für die ,, physische" wie
für die sogenannte ,, juristische" Person. Treffend vergleicht Vai-
hinger die fiktiven Denkgebilde mit ,, Knoten und Knotenpunkten",
die sich das Denken selbst aus der ihm dargebotenen Faden knüpft,
,,die dem Denken Hilfsdienste leisten, die aber demselben selbst
zu Fallstricken werden, wenn diese Knoten als etwas genommen
werden, was die Erfahrung selbst objektiv enthält". i) Gerade
diese unzulässige Realsetzung der Person führt aber — wie dies
Vaihinger bei anderen Fiktionen gezeigt hat — zu all den ,, Schein-
problemen", den ,, künstlich geschaffenen Schwierigkeiten", den
, .selbst erzeugten Widersprüchen", deren die Lehre von den ,, juri-
stischen" Personen ebenso voll ist, wie alle philosophischen und
wissenschaftlichen Theorien, die sich um einen fiktiven Begriff
bilden. 2)
Hier muß allerdings eine ,, Korrektur" einsetzen, und diese
kann auf keine andere Art erfolgen, als durch eine Reduktion des
1) a. a. 0. S. 230.
2) ,,Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird es nie geben, weil das
meiste, was uns rätselhaft erscheint, von uns selbst geschaffene Widersprüche sind,
die aus der spielenden Beschäftigung mit den bloßen Formen und Schalen der Er-
kenntnis entstehen." Vaihinger, a. a. 0. S. 52.
638
Hans Kelsen:
Personenbegriffs auf seine natürlichen Grenzen, durch Selbst-
besinnung der Rechtswissenschaft, durch das Klarstellen seiner
lo<»ischen Struktur. Wenn man von dem Rechtsbegriff der Person
niclit mehr verlangt hätte, als er kraft seiner Natur leisten kann,
dann wäre jene gänzlich fruchtlose Diskussion zum größten Teile
erspart worden, die sich über den Begriff der Person, insbesondere
aber über den der ,, juristischen" Person entwickelt hat; dann
wären jene oft geradezu naiven und paradoxen Entgleisungen der
juristischen Theorie, jene nur aus der irreführenden Gewalt der
auch wissenschaftliches Denken verblendenden Fiktion erklärlichen
Ausschreitungen der organischen Theorie, die sich ja geradezu in
einen juristischen Mystizismus versteigen mußte, vermieden worden.
IL
Deutlich zu scheiden von den rechtstheoretischen Fiktionen
sind die sogenannten ,,fictiones juris", sind die Fiktionen der
Rechtspraxis, das ist: des Gesetzgebers und Rechts-
anwenders. Was zunächst die ,, Fiktionen" betrifft, deren sich
der Gesetzgeber bedient, die Fiktionen innerhalb der Rechts-
ordnung, so liegen hier überhaupt keine ,, Fiktionen" im Sinne
Vaihingers vor. Zunächst schon deshalb nicht, weil die norm-
setzende, die gesetzgeberische Tätigkeit kein Denkprozeß, weil
ihr Ziel nicht Erkenntnis ist, sondern weil sie, wenn sie über-
haupt als Prozeß oder Vorgang ins Auge gefaßt wird, eine
Willcnshandlung darstellt. Die Rechtsordnung ist in Worten
ausgedrückt und diese Worte weisen zweifellos häufig jene Sprach-
form auf, hinter der sich die erkenntnistheoretische Fiktion
zu verbergen pflegt: das ,,Als Ob". Allein mangels jedes Er-
kcnntniszwcckcs der Rechtsordnung — die ja als solche Gegen-
stand der Erkenntnis, nicht Erkenntnis oder Ausdruck der Er-
kenntnis ist — können die Worte eines Rechtsgesetzes niemals
eine „Fiktion" im Sinne Vaihingers enthalten.
Es sei gleich dasjenige Beispiel untersucht, das Vaihinger
in dem Kapitel über ,, juristische Fiktionen" heranzieht: der
Artikel 347 des deutschen Handelsgesetzbuches, ,,wo die Be-
stimmung getroffen ist, daß eine nicht rechtzeitig dem Absender
wieder zur Verfügung gestellte Ware zu betrachten sei, als ob
sie vom Empfänger definitiv genehmigt und akzeptiert sei".*)
') a. a. 0. S. 46ff.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 639
An einem solchen Beispiel sei so recht die prinzipielle Identität
der analogischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser juri-
stischen Fiktion zu studieren. Allein in den Kategorien, sowie
in allen echten Fiktionen, will der menschliche Geist die Wirk-
lichkeit oder sonst ein Objekt begreifen. Mit der Fiktion des
Artikel 347 soll weder die Wirklichkeit oder sonst etwas be-
griffen, erkannt, sondern geregelt, soll eine Vorschrift für das
Handeln gegeben, also eigentlich eine Wirklichkeit geschaffen
werden. Nun besteht ja zwischen dem die Welt mit den Kate-
gorien ordnenden und solcher Art — als geordnete Einheit —
erst schaffenden Geist der Erkenntnis und dem die Rechtswelt
regelnden und so erzeugenden Gesetz eine gewisse Verwandt-
schaft. Allein die prinzipielle Differenz zwischen der erkenntnis-
theoretischen und der juristischen Fiktion des Gesetzgebers zeigt
sich sofort in dem Umstand, daß bei der letzteren niemals ein
Widerspruch zur Wirklichkeit, sei es der Natur, sei es der Wirk-
lichkeit des Rechtes (d. i. des Rechtes als Gegenstand der Er-
kenntnis) eintreten kann. Dieser Widerspruch könnte nur in
einem Urteil über das, was ist (und wenn man den hier vorge-
schlagenen erweiterten Fiktionsbegriff akzeptiert: über das, was
sein soll) enthalten sein. Allein das Gesetz kann ein solches Urteil
gar nicht enthalten. In dem Gesetz werden eben keine Erkennt-
nisse geäußert. Die Sätze, in denen sprachlich das Gesetz zum
Ausdruck kommt, sind überhaupt nicht Urteile in diesem eigent-
lichen Sinne. Der Artikel 347 sagt keineswegs, daß die nicht
rechtzeitig retournierte Ware vom Empfänger definitiv genehmigt
und angenommen sei. Er sagt lediglich, daß für den Fall der
nicht rechtzeitigen Retournierung dieselbe Norm gelten solle,
wie für den Fall der Annahme, daß dem Empfänger und dem
Absender dieselben Pflichten auferlegt, dieselben Rechte ein-
geräumt werden, wie im Falle der Annahme. Der Artikel 347
trifft die Bestimmung, daß eine nicht rechtzeitig retournierte
Ware ebenso zu behandeln sei, wie eine angenommene. Die
Sprachform des ,,Als Ob" ist somit gar nicht wesentlich, sie kann
durch das ,, Ebenso Wie" ersetzt werden. Wenn das Gesetz zwei
verschiedene Fälle unter dieselbe Norm stellt, so behauptet es
damit keineswegs, daß beide Fälle gleich — im Sinne von natur-
gleich — seien. Sonst wäre ja jede generelle Norm eine ,, Fik-
tion", da es überhaupt nicht zwei gleiche Menschen, zwei gleiche
Verhältnisse gibt. ,, Rechtlich" sind sie aber effektiv, tatsächlich,
640
Hans Kelsen:
wirklich gleich, weil durch die Rechtsordnung gleich gemacht.
Der Artikel 347 ist, wie jede sogenannte ,, Fiktion" des Gesetz-
gebers, nichts anderes als eine abbrevierende Ausdrucksweise.
Das Gesetz will für einen Fall dasselbe anordnen wie für einen
anderen. Die Formulierung in einer einzigen Norm ist zu um-
ständlich, zu schwerfällig, oder es wurde nicht gleich auch an den
zweiten Fall gedacht. Alle Vorschriften, die für den ersten Fall
schon ausgesprochen wurden, beim zweiten Falle noch einmal
zu wiederholen, ist jedoch überflüssig. Der Gesetzgeber kann
sich mit dem Hinweis begnügen, daß im zweiten Falle dieselben
Vorschriften gelten sollen wie im ersten. Es ist ein Mißverständnis,
zu" glauben, dieser Effekt werde dadurch erzielt, daß der Rechts-
anwender zu der Vorstellung gezwungen wird, beide Fälle seien
gleich, d. h. unterscheiden sich in ihren Tatbeständen nicht. Daß
sie ,, rechtlich" gleich seien, bedeutet nichts anderes, als daß bei
natüdicher Verschiedenheit des Tatbestandes die gleiche
Rechtsfolge eintritt. Und diese Verschiedenheit des Tatbestandes
darf bei der Rechtsanwendung keineswegs ignoriert werden. Der
Richter muß durch Tatsachenforschung feststellen, ob die Ware
angenommen oder ob sie nicht rechtzeitig retourniert wurde.
Wenn der beklagte Empfänger behauptet: Ich habe die Ware
nicht angenommen, muß der Beweis geführt werden, daß sie
nicht rechtzeitig retourniert wurde. Wo ist der Widerspruch zur
Wirklichkeit }
Im Zusammenhang mit einer Unterscheidung zwischen der
fictio juris (Fiktion des Gesetzgebers) und der praesumptio charak-
terisiert Vaihinger die juristische Fiktion folgendermaßen: ,,In
der praesumptio wird eine Voraussetzung so lange gemacht, bis
das Gegenteil bewiesen ist. Dagegen ist die fictio die An-
nahme eines Satzes bzw. einer Tatsache, obwohl das Gegen-
teil sicher ist." Als Beispiel führt er an: ,,Wenn ein Ehegatte,
dessen Ehefrau etwa Ehebruch begeht, doch als Vater des dadurch
erzeugten Kindes angesehen wird, wenn er zu derselben Zeit im
Lande war: Da wird er betrachtet, als ob er der Vater wäre, ob-
gleich er es nicht ist und obgleich man weiß, daß er es nicht ist.
Dieser letztere Zusatz unterscheidet die praesumptio von der
fictio."*) Allein so richtig es ist, zwischen fictio und praesumptio
zu unterscheiden, so unrichtig ist in diesem Gegensatz die fictio
') a. a. O. S. 258.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 64 1
charakterisiert. Das Gesetz behauptet nicht, daß der Ehegatte
unter gewissen Voraussetzungen der Vater — d.h. der natür-
liche Vater, Erzeuger des von s^einer Frau im Ehebruch er-
zeugten Kindes ist. Es stellt keinen Satz auf, nimmt keine Tat-
sache an, obwohl das Gegenteil sicher ist. Sondern es ordnet nur
aus bestimmten Gründen und zu bestimmten Zwecken an: Daß
der Ehegatte unter gewissen Umständen einem von seiner Fn.u
im Ehebruch erzeugten Kinde gegenüber, und daß dieses Kind
dem Ehegatten gegenüber dieselben Pfhchten und Rechte habe,
wie sie zwischen dem Ehegatten und seinen von ihm erzeugten
ehelichen Kindern bestehen. Wenn sich das Gesetz des Ausdrucks
bedient: Der Ehegatte gilt unter den bezeichneten Umständen
,,a]s Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes, er ist anzusehen,
,,als ob" er der Vater wäre, so ist dies nichts als eine abkürzende
Formulierung der Rechtsnorm. Ein "Widerspruch zur Wirklich-
keit ist damit in keiner Weise gesetzt. Ja, man kann sogar
— ohne einen solchen Widerspruch zur Wirklichkeit zu begehen ■ —
rechtstheoretisch behaupten: Der Ehegatte ist rechtlich der Vater,
ist der ,, rechtliche" ,, Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes,
wenn man mit ,, Vater" einen spezifischen Rechtsbegriff, nämlich ein
Subjekt bestimmter Pflichten und Rechte, die Personifikation
eines bestimmten Normkomplexes konstituiert. Eine Fiktion
im Sinne eines Widerspruches zur Wirklichkeit vollzöge sich erst
dann, wenn man diesen Rechtsbegriff des ,, Vaters" mit der
Naturtatsache des so benannten männlichen Erzeugers
identifizierte. Eine solche Fiktion ist allerdings nur falsch und
schädlich und gänzlich überflüssig. Es wäre die gleiche Fiktion
wie jene, die oben in der Hypostasierung der Rechtsperson zur
Naturtatsache des Menschen oder des ,, realen" Organismus ge-
kennzeichnet wurde. Und dabei wäre es eine Fiktion der Rechts-
theorie, der auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tätigkeit,
nicht des Gesetzgebers, dessen Tätigkeit auf Erzeugung des
Rechts gerichtet ist.
Zu den großen Verdiensten der Vaihingerschen Unter-
suchungen gehört die Erkenntnis von der innigen Verwandt-
schaft der mathematischen Methode mit der Begriffstechnik der
Rechtswissenschaft. 1) Allein gerade die völlige Gleichsetzung der
gesetzgeberischen Fiktion mit den Fiktionen der Mathematik
1) a. a. O. S. 80, 251, 6gi{., 187.
Annalen der Philosophie. I. 4^
(5_^2 Hans Kelsen:
muß als verfehlt bezeichnet werden. ,,Die Ähnlichkeit der Methode
beider Wissenschaften beschränkt sich nicht nur auf die Grund-
begriffe, welche in beiden Gebieten rein fiktiver Natur sind, sondern
zeigt sich auch in dem ganzen methodischen Verfahren. Was
zuerst das letztere betrifft, so handelt es sich oft in beiden Ge-
bieten darum, einen einzelnen Fall unter ein Allgemeines zu sub-
sumieren, dessen Bestimmungen nur auf jenes Einzelne angewendet
werden sollen. Nun aber widerstrebt das Einzelne dieser Sub-
sumtion. Denn das Allgemeine ist nicht so umfassend, um dieses
Einzelne unter sich zu begreifen. In der Mathematik handelt es
sich z. B. darum, die krummen Linien unter die geraden zu sub-
sumieren; das hat ja den enormen Vorteil, dann mit denselben
rechnen zu können. In der Jurisprudenz handelt es sich darum,
einen einzelnen Fall unter ein Gesetz zu bringen, um dessen Wohl-
taten und Straf bestimmungen auf jenen Fall anzuwenden. In
beiden Fällen wird nun dies in Wirklichkeit nicht her-
zustellende Verhältnis als hergestellt betrachtet: So wird
z. B. die krumme Linie als gerade betrachtet, so wird der Adoptiv-
sohn als der wirkliche Sohn betrachtet. Eine krumme Linie ist
niemals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher Sohn;
oder um ein anderes Beispiel zu wählen: Der Kreis soll als eine
Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissenschaft wird der nicht
erschienene Beklagte betrachtet, als ob er die Klage zugestanden
habe, wird der eingesetzte Erbe im Falle der Unwürdigkeit be-
trachtet, als ob er vor dem Erblasser gestorben sei."^) Allein
Vaihinger scheint den prinzipiellen Unterschied zu übersehen,
der hier zwischen den Gedankengängen der Mathematik und den
Formulierungen des Gesetzgebers besteht: Gewiß, in beiden Fällen
soll ein Fall unter ein Allgemeines ■ — hier eine Norm, dort ein
Begriff — subsumiert werden, das nicht allgemein, nicht weit
genug ist, um das Einzelne zu begreifen. Was aber macht der
Gesetzgeber.? Er erweitert einfach die Norm, er dehnt sie
— ohne jede Fiktion, ohne jeden Widerspruch zur Wirklichkeit —
auf den neuen Fall aus. Der neue Fall verhält sich zur erweiterten
Norm nicht anders, als jeder Fall zu der ihn regelnden Norm.
Das gewünschte Verhältnis ist hergestellt, es ist — für das Gebiet
des Rechtes — nicht ein ,,in Wirklichkeit nicht herzustellendes",
es ist in der ,, Wirklichkeit" des Gesetzes hergestellt. Die Mathe-
^) a. a. o. S. 70.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 643
matik behauptet, im Widerspruch zu ihrer Wirkhchkeit, allerdings :
Der Kreis ist eine Ellipse, die iNJumme ist gerad. Allein das
Gesetz behauptet nicht — es behauptet ja überhaupt nichts • —
der Adoptivsohn ist ein wirklicher Sohn, der nicht erschienene
Beklagte hat die Klage zugestanden, der unwürdige Erbe ist vor
dem Erblasser gestorben. Sondern es , .behauptet", d. h. es be-
stimmt — und diese Bestimmung steht zu nichts in einem Wider-
spruch — , daß für den Adoptivsohn dieselben Normen gelten
sollen wie für den wirklichen — so wie es bestimmt, daß gewisse
Normen für Männer und Frauen ohne Rücksicht auf den Geschlechts -
unterschied gelten sollen — und es bestimmt, daß das Nicht-
erscheinen des Beklagten dieselben Rechtsfolgen haben soll, wie
das Zugeständnis der KJage usw.
Ebenso liegt keine eigentliche Fiktion in dem von Vai hinger
allerdings als Beispiel für eine solche herangezogenen Grundsatz
des englichsen Rechts: The king can do no wrong.^) Der König
kann ,, wirklich" kein Unrecht tun, wenn die Rechtsnorm ihre
Geltung ihm gegenüber zurückzieht. ,, Unrecht" ist ja keine
Naturtatsache. Ein Tatbestand ist ,, Unrecht" nur durch sein
Verhältnis zur Rechtsordnung, dadurch, daß er als Inhalt einer
verbietenden Rechtsnorm bzw. als Bedingung in eine Strafe oder
Exekution anordnende Rechtsnorm aufgenommen ist. W^enn die
Rechtsordnung Handlungen oder Unterlassungen des Königs nicht
verbietet, bzw. nicht zu Bedingungen füt Strafe und Exekution
macht, gibt es kein Unrecht des Königs. Der dem englischen
Rechtsgrundsatz analoge Rechtssatz der österreichischen und
deutschen Verfassung: Der Monarch ist unverantwortlich, schafft
eben jene Rechtswirklichkeit, zu der allein der die juristische
Fiktion begründende Widerspruch einsetzen könne. Der Irrtum,
daß Unrecht eine Naturtatsache sei, daß ein Mord Unrecht sei,
auch wenn er nicht vom Recht verboten bzw. mit Strafe be-
droht ist, erzeugt die Meinung, daß die erwähnten, die Geltung
der Rechtsordnung nach bestimmter Richtung einschränkenden
Rechtssätze Fiktionen seien, weil sie in einen Widerspruch zur
Wirklichkeit geraten könnten.
Vaihinger scheint ja die Differenz, die zwischen der ,, Fik-
tion" des Gesetzgebers und der mathematischen Fiktion besteht,
empfunden zu haben. Er hat sich diesen Unterschied dadurch
1) a. a. 0. S. 697.
41
*
C^i4 Hans Kelsen:
verdunkelt, daß er zwar der mathematischen Erkenntnis richtig
die Rechtswissenschaft gegenüber gestellt hat, dar.n iber doch
ein Gebilde des Gesetzgebers, nicht der Rechtswissenschaft, be-
handelt. Er sagt: ,,Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fik-
tionen indessen viel leichter als die Mathematik: Dort sind Fällr.
denen willkürliche Gesetzesbestimmungen gegenüberstehen; da ist
also eine Übertragung leicht möglich. Man denkt sich die Sache
eben einfach so, als ob sie so wäre." Allein hier handelt es sich
gar nicht um eine ,, Übertragung", der Gesetzgeber — und mit
ihm der Rechtsanwender — ■ ,, denkt" sich nicht die Sache so,
als ob sie irgendwie wäre, sondern er regelt sie so, wie er es
wünscht. Dadurch wird die ,, Sache" wirklich, d. h. rechtswirklich,
so. Der Gesetzgeber ist — in seinem Reiche — allmächtig, weil
seine Funktion in nichts anderem besteht, als Rechtsfolgen an
Tatbestände anzuknüpfen. Eine Fiktion des Gesetzes wäre etwa
eberxÄO unmöglich, wie eine Fiktion der Natur. Das Gesetz könnte
ja nur zu sich selbst — d. h. zu seiner eigenen Wirklichkeit —
in Widerspruch geraten. Das aber ist sinnlos.
Der mit der Fiktion gesetzte Widerspruch kann bei den Fik-
tionen der Rechtswissenschaft (die von den als ,, Fiktionen" be-
zeichneten Abbreviaturen der Gesetzessprache zu unterscheiden
sind) zunächst nur gegenüber der Rechtsordnung, dem Rechte
als dem Gegenstande und somit der ,, Wirklichkeit" der Rechts-
wissenschaft, in die Erscheinung treten. Das von der Rechtswissen-
schaft konstituierte Gebilde, ihr Hilfsbegriff, muß, in ein Urteil
aufgelöst, eine Behauptung enthalten, die der Rechtsordnung
widerspricht, aus der Rechtsordnung sich nicht ableiten läßt.
Ein solcher Fall wurde ja oben an dem Begriffe der Person exem-
plifiziert. Ein Widerspruch zur Rechtsordnung ist natürlich bei
den Fiktionen des Gesetzgebers ausgeschlossen oder nur ein für
oberflächliche, an den Worten haftende Betrachtung entstehender
Schein.
Daß Vaihinger bei seinen juristischen Fiktionen auch an
diesen Widerspruch zur Rechtsordnung gedacht hat, das beweist
sein Beispiel der prätorischen Fiktionen des römischen Rechtes.
Er zitiert die Realcnzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft
vonPauly, III, S. 473: ,,Fictio nannten die Römer eine durch das
prätorianische Recht geschaffene Erleichterung einer Rechts-
umgehung, welche darin besteht, daß etwas, was das strenge
Rcclit fordert, unter gewissen Umständen als geschehen oder vor-
Zur Theorie der juristischen P'iktionen. 645
handen angenommen werden soll, wenn es auch nicht geschehen
oder vorhanden ist. „Dadurch treten gewisse rechtliche Wirkungen
ein, auch wenn die vorausgesetzten Verhältnisse nicht so statt-
finden, wie es das Gesetz vorschreibt." Und Vaihinger bemerkt
hierzu: ,, Diese Erklärung paßt mutatis mutandis vollständig
auf die wissenschaftliche Fiktion im engeren Sinne; auch
hier findet eine Erleichterung und Umgehung der Schwierigkeit
statt, welche aber auch hier wie dort Folge der verwickehen Ver-
hältnisse ist : Auch hier wird eine Forderung des strengen Rechtes
der Logik umgangen und auch hier treten Konsequenzen, prak-
tische Folgerungen ein, welche stimmen, obwohl das Voraus-
gesetzte selbst falsch ist." Allein weder ist die Paulysche
Charakterisierung der ,,fictio", noch sind die daraus gezogenen
Schlüsse Vaihingers ganz richtig. Diese letzteren stehen und
fallen mit der Tatsache, daß die prätorianische Fiktion eine ,, Rechts-
umgehung" ist, daß sie einen Widerspruch zu demjenigen setzt,
was das Gesetz vorschreibt. Dies ist jedoch deshalb nicht der
Fall, weil der Prätor selbst gesetzgebendes Organ ist, weil er
— und zwar verfassungsgemäß — das Recht nicht bloß an-
wendet, sondern auch selbst Rechtsnormen statuiert. Wenn der
Prätor einem peregrinus gestattet, eine Klage, die nach dem jus
strictum nur ein civis erheben kann, so anzustellen, als ob er
ein civis wäre, so bedeutet das nichts anderes, als : die Statuierung
eines Rechtssatzes, in dem gewisse Rechte und Pflichten des
civis auf den peregrinus ausgedehnt werden, so kann diese Rechts-
norm ohne jedes ,,Als Ob" und ohne jede Fiktion formuliert
werden: Der peregrinus darf dieselbe Klage anstellen, wie der
civis. Die ,, Konsequenzen und praktischen Forderungen", die
hier eintreten, ,, stimmen" nicht, obwohl das Vorausgesetzte
selbst falsch ist, sondern weil auch das Vorausgesetzte ,, richtig",
d. h. rechtmäßig, dem neuen, vom Prätor geschaffenen Rechts-
satz gemäß ist. Der Irrtum, der hier unterläuft, besteht darin,
daß das strikte jus civile als der einzige Bestandteil der Rechts-
ordnung vorausgesetzt wird, als ob nicht auch das prätorische
Recht — als vollwertiges objektives Recht — dazu gehörte. Die
Klagerhebung durch den peregrinus kann der Rechtsordnung
nicht widersprechen, denn sie beruht auf einem Satze derselben!
Allerdings unterläuft dabei dennoch eine Fiktion: Die nämlich,
daß der Prätor nicht Recht setzt, sondern Recht anwendet.
Als bloßer Anwender des jus civile müßte der Prätor, der einem
646
Hans Kelsen:
percgrinus eine Klage gewährt, die nur dem civis zusteht, einen
Widerspruch zu dem die Rechtsordnung allein darstellenden jus
civile setzen. Und dieser in der Rechtsanwendung vollzogene
Widerspruch zur Rechtsordnung müßte sich in einer Fiktion ver-
stecken. Diese Fiktion besteht jedoch nicht in der Behauptung:
Der peregrinus sei ein civis, sondern in der Behauptung: Die Rechts-
ordnung gewähre auch dem peregrinus eine Klage. Der Prätor
leugnet keineswegs den Unterschied zwischen civis und peregrinus
überhaupt. Er leugnet ihn nur — sofern er sich als Rechtsanwender
darstellt — nach der speziellen Richtung der Klageberechtigung.
D. h. er behauptet: auch der peregrinus ist klageberechtigt. Allein
diese Fiktion wird in demselben Augenblicke überflüssig, ja un-
möglich, wo jene andere Fiktion wegfällt, die den Prätor als bloßen
Rechtsanwender — und nicht als delegierten Gesetzgeber ■ — gelten
läßt.
111.
Schon aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß in bezug auf
die Möglichkeit einer Fiktion ■ — die von der Möglichkeit eines
Widerspruches zu der Rechtsordnung abhängt — die Rechts-
anwendung sich von der Rechtssetzung unterscheidet. Der Rechts-
anwender befindet sich den Rechtsnormen gegenüber tatsächlich
in einer ganz ähnlichen Situation, wie das mathematische Denken
gegenüber den Begriffen des Kreises, der Ellipse, der Krummen,
der Geraden usw. Der Richter, der Geschäftsmann, kann die
Normen nicht willkürlich ausdehnen oder einschränken, mit anderen
Worten: er kann nicht an beliebige Tatbestände beliebige Rechts-
folgen knüpfen. Wünscht er also einen Tatbestand unter eine
Rechtsnorm zu subsumieren, die diesen Fall nicht umfaßt, dann
ist allerdings die Fiktion nahegelegt : Den Fall so zu betrachten,
als ob er unter die Rechtsnorm fiele. Bedroht das Gesetz die
Beschädigung des Staatstelegraphen mit Strafe, läßt es aber die
'gleiche Beschädigung des Staatstelephons unbestraft, oder setzt
es auf dieses Delikt eine — nach Ansicht des Rechtsanwenders —
zu milde Strafe, dann bedeutet es eine Fiktion, wenn der Richter
über den Telephonbeschädiger Strafe verhängt, die das Gesetz
dem Telegraphenzerstörer zugedacht hat, indem er die den Tele-
graphen schützende Norm zum Schutze des Telephons verwendet;
nicht als ob Telegraph und Telephon dasselbe wäre, das behauptet
ja der Richter nicht und will es nicht behaupten, sondern als ob
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 647
(las Gesetz den jTelephünbcschädiger mit derselben Straft- be-
drohte wie den Tclegraphenbeschädiger. Die juristische Fiktion
kann nur eine fiktive Rechtsbehauptung, nicht eine fiktive
Tatsachenbehauptung sein. Daß ein Telephon und nicht ein
Telegraph beschädigt wurde, muß der Richter ausdrücklich fest-
stellen und darf es nicht ignorieren. Seine im Widerspruch zur
Rechtsordnung, nicht zur Naturwirklichkeit oder Pliysik stehende
Behauptung lautet: Auch das Staatstelephon darf nicht be-
schädigt werden. Diese Behauptung einer — nicht geltenden —
generellen Norm ist das Mittel, um zu dem konkreten, von ihm
gewünschten Urteil zu gelangen. Nicht aber die Behauptung:
Das Telephon ist ein Telegraph.
Daß die Rechts anwen düng Fiktionen aufweisen kann, hängt
damit zusammen, daß sie die Rechtserkenntnis voraussetzt oder
richtiger, daß in dem zusammengesetzten Akt der Rechtsanwendung
auch ein Stück Rechtserkenntnis steckt. Indes muß fraglich
bleiben, ob diese Fiktionen der Reehtsanwendung — sie sind
identisch mit den Fällen der Interpretation durch Analogie —
auch darin den erkenntnistheoretischen Fiktionen gleichen, daß
sie wie diese — wenn auch durch eine bewußt falsche Vorstellung —
zu einem richtigen Ergebnis gelangen. Denn die ,, Richtigkeit"
der Rechtsanwendung kann offenbar nur ihre Rechtmäßigkeit,
nicht aber ihre Nützlichkeit sein. Es ist ein mathematisch
richtiges Resultat, zu dem die Fiktion fülirt, daß die Krumme
nur eine Gerade sei. Es müßte ein rechtlich richtiges, also
ein rechtmäßiges Ergebnis sein, das im Wege einer analo-
gisch-fiktiven Interpretation gewonnen wird. Allein die Recht-
mäßigkeit dieses Ergebnisses kann nur an der Rechtsordnung
gemessen werden, der Widerspruch zur Rechtsordnung ist aber
bei der fiktiv-analogischen Rechtsanwendung nicht ein bloß pro-
visorischer, korrigierbarer, sondern ein definitiver, der im weiteren
Verlaufe nicht korrigiert werden kann. Nun betont Vaihinger
als ein Hauptmerkmal der Fiktion, ,,daß diese (fiktiven) Begriffe
sei es historisch wegfallen, sei es logisch wieder ausfallen". ,,Ist
ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion
eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist . . ."
Und speziell von den Semif iktionen : ,, Darum muß auch . . . eine
Korrektur eintreten; denn ohne eine solche wären sie ja nicht
anwendbar auf die Wirklichkeit."^) Von den juristischen Fik-
1) a. a. O. S. 172/73. '
548 Hans Kelsen:
lionen behauptet er jedoch, wie bereits früher bemerkt, daß eine
solclie Korrektur nicht nötig sei. Denn hier handele es sich ja
nicht um exakte Berechnung der WirkHchkeiten, sondern um
Subsumtion unter ein willkürHches Gesetz, ein Menschenwerk,
kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis. ^) Allein damit ist die
Cberflüssigkeit einer Korrektur bei der juristischen Fiktion der
Rechtsanwendung nicht erwiesen! Denn es handelt sich wohl
bei der geistigen Tätigkeit, die sich juristischer F'iktioncn (Fik-
tionen des Gesetzgebers und der Rechtsanw^endung) bedient, nicht
um Berechnung der Wirklichkeit. Das könnte aber nur die
Konsequenz haben, daß zu einem Widerspruch zur Wirklichkeit,
und damit zu einer erkenntnistheoretischen Fiktion im Sinne
Vaihingers überhaupt kein Anlaß ist. Soweit erkenntnistheo-
retische Fiktionen als ,, juristische" Fiktionen möglich sind, können
es nur Fiktionen der Rechtserkenntnis sein. Und bei diesen richtet
sich der das Wesen der Fiktion konstituierende Widerspruch gegen
die Rechtsordnung, die die ,, Wirklichkeit", der Erkenntnisgegen-
stand der Rechtswissenschaft ist. Dieser Widerspruch aber
bedarf, wie oben ausgeführt, aus denselben Gründen einer Kor-
rektur, wie der ihm analoge Widerspruch bei den physikalischen,
mathematischen und sonstigen naturwissenschaftlichen (im weite-
sten Sinne), denn ohne eine solche Korrektur wäre die juristische
Fiktion ebensowenig auf die Rechtsordnung, d. i. die Wirklich-
keit der juristischen Erkenntnis, wie die anderen Fiktionen auf
die Wirklichkeit der Natur anwendbar. Die Fiktion der Rechts-
anwendung aber — d. i. die analogische Interpretation — setzt
einen unaufhebbaren Widerspruch zur Rechtsordnung. Sie ist
kein Umweg, der schließlich doch zur ,, Wirklichkeit" des Rechtes,
sondern ein Abweg, der vielleicht zu demjenigen führt, was der
Fingierende für nützlich und zweckmäßig hält, niemals aber zum
Gegenstand der Rechtswissenschaft: dem Recht. Aus diesem
Grunde muß eine Rechtfertigung dieser Art von juristischer
Fiktion, der Fiktion der Rechtsanwendung, theoretisch für un-
möglich erklärt werden. Dies ist mit besonderem Nachdruck
angesichts der Tatsache zu betonen, daß Vaihinger gerade diese
juristische Fiktion als eine gleichartige und gleichberechtigte
Erscheinung in sein System und seine Theorie der Fiktionen ein-
bezogen hat, die ja im großen und ganzen eine Apologie der Fik-
tionen sein will.
') a. a. o. s. 107.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 640
Allerdings muß darauf Bedacht genommen werden, daß eine
derartig unzulässige Fiktion tatsächlich nur dann vorliegt, wenn
ein unleugbarer und unbehebbarer Widerspruch zur Rechtsordnung
gesetzt würde. Dies ist in allen jenen Fällen der analogischen
Rechtsanwendung nicht der Fall, wo die Rechtsordnung die
Analogie unter gewissen Bedingungen zuläßt, ja anordnet. Ob
dies in einem Gesetzesrechtssatz ausdrücklich normiert ist, wie
etwa im § 7 des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches, oder
ob man sich dabei nur auf eine Gewohnheitsrechtsnorm oder
— im Falle man nicht auf positivistischer Basis steht — auf
einen natürlichen Rechtsgrundsatz beruft, ist gleichgültig, denn
ein Widerspruch zur Rechtsordnung — und damit eine Fiktion
ist ausgeschlossen, sobald die Rechtsordnung selbst die An-
wendung der Analogie und sohin die mit Hilfe der Analogie
getroffene Entscheidung anordnet. Man vergesse auch nicht,
daß jeder Jurist, der die Analogie für zulässig erklärt, nie und
nimmer darauf verzichten wird, die mittels analogischer Inter-
pretation gewonnene Entscheidung als Recht gelten zu lassen.
Das heißt aber: Der Satz, der die Analogie fordert, muß als
Rechtssatz behauptet werden. Der Nachweis eines solchen
Rechtssatzes ist natürlich eine andere Frage. Rechts theoretisch
ist somit eine Fiktion des Gesetzgebers unmöglich, eine Fiktion
des Rechtsan Wenders gänzHch unzulässig, weil rechtszweck-
widrig.
IV.
Zum Nachweis, daß Fiktionen der Rechtsanwendung gar
nicht in das Vaihingersche System der Fiktionen hineingehören,
sei schließlich festgestellt, daß die Rechtserkenntnis — die allein
zu einer echten Fiktion führen kann — bei der Rechtsanwendung
eine untergeordnete Rolle spielt. Sie ist nicht das Wesen, der
eigentliche Sinn und Zweck dieser Tätigkeit, sondern nur ihr
Mittel. Der Rechtsanwendung kommt es fast ebenso wie der
Rechtssetzung nicht eigentlich auf die Erkenntnis des Rechts,
sondern auf dessen Verwirklichung, auf Willenshandlungen,
an. Die Rechtserkenntnis, die Theorie des Rechts, bereitet
die Praxis des Rechtes nur vor, schafft ihr das Handwerkszeug.
Nun hat Vaihinger wohl selbst zwischen Rechts theorie
und Rechtspraxis unterschieden.*) Allein er hat den prinzipiellen
1) Vgl. a. a. 0. S. 257.
650
Hans Kelsen:
Unterschied übersehen, der zwischen den echten erkenntnistheo-
retischen Fiktionen der Rechtswissenschaft und den JPseudo-
fiktionen der Rechtspraxis besteht. Vor allem aber hat Vai-
hinger fast ausschließlich die sogenannten „Fiktionen" der Rechts-
praxis behandelt. Doch finden sich immerhin bei ihm auch rechts -
theoretische Fiktionen. Leider meist nur mit einem Schlagvsort
angedeutet und ohne Analyse dieser Gebilde. So die Fiktion der
juristischen Person im allgemeinen und der Staatsperson im be^
sonderen.^) Keine rechtstheoretischen, sondern ethische Fiktionen
sind die Fiktionen der ,, Freiheit" und die des ,, Staatsvertrages",
die Vaihinger zur Begründung des staatlichen Straf rechtes für
notwendig hält. Das ,, Recht" des Staates, zu strafen, bedarf einer
moralischen, keiner juristischen Rechtfertigung; und die Freiheit
des Willens als Grund dieses Rechtes ist keine notwendige
ethische Fiktion. Denn die auch von Vaihinger angeführte General -
Prävention ist eine Begründung der Strafe, die ohne jede Freiheits-
fiktion zu Recht besteht. Die ,, Fiktion" der Freiheit entsteht
sicherlich nur durch die irrige Anwendung der normativen Kate-
gorie auf die — kausal determinierte — Naturwirklichkeit, durch
einen unzulässigen und für den Bereich juristischer Erkenntnis
zumindest überflüssigen Synkretismus von Sein und Sollen. Der
Mensch handelt oder wird in bestimmter Weise handeln (Seins-
betrachtung), nur wenn er so handeln kann, bzw. muß. Das
Urteil, das ein Handeln als (zukünftig) seiend behauptet, ob-
gleich dieses Handeln als unmöglich erkannt ist, setzt einen Wider-
spruch zu eben jenem Objekt, das mit diesem Urteil erfaßt werden
soll: zur Wirklichkeit; ist somit unzulässig und wertlos. Das
Urteil: der Mensch soll in bestimmter Weise handeln, setzt auch
dann keinen Widerspruch — weder zur Wirklichkeit, noch zu
sonst einem Erkenntnisobjekt — wenn die gesollte Handlung
als seiende unmöglich erscheint. Nur wenn man den Unterschied
von Sein und Sollen (als zweier verschiedener Erkenntnisformen)
ignoriert und die Seinsmöglichkeit für eine Bedingung der
Sollurteile hält, entsteht der Schein, als ob z\s'ischen dem Satze,
der einen Inhalt als gesollt setzt, und dem Satze, der die Un-
möglichkeit dieses Inhalts in der Seinsform behauptet, ein Wider-
spruch besteht; entsteht der Irrtum: Der Inhalt (die gesollte
Handlung) müsse als sei ns -möglich, der handelnde Mensch somit
') a. a. O. S. 259.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. ' 65 1
als frei fingiert werden, damit das Sollurteil und mit ihm die
Pflicht zu handeln und eventuell anders zu handeln, als man
wirklich handelt, handeln muß und kann, möglich sei. Ein metho-
discher Fehler führt zu der Fiktion der Freiheit, die mit Erkenntnis
dieses Fehlers überflüssig wird. Nur so ist es zu erklären, daß
der Widerspruch zwischen der Freiheit der Ethik. und Jurisprudenz
und der Unfreiheit der Naturwissenschaft überhaupt möglich wurde
und von beiden Seiten ignoriert werden konnte. Die ethische
Fiktion der Freiheit ist somit nur insolange nützlich und notwendig,
als es an der nötigen methodischen Einsicht fehlt. Und insofern
paßt auf sie Vaihingers zweites Hauptmerkmal der Fiktion:
.,Ist ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die
Fiktion eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht
wird. Bis die Erfahrungen bereichert sind, oder bis die Denk-
methoden so geschärft sind, daß jene provisorischen Methoden
durch definitive ersetzt werden können."^)
Die Fiktion des Staatsvertrages charakterisiert Vaihingcr
nicht ganz richtig, wenn er behauptet: ,,Der Staat will sein fak-
tisch ausgeübtes Strafrecht nicht auf die Macht gründen, auch
nicht bloß utilitaristisch, sondern als wirkliches Recht nachweisen :
Das ist aber nur möglich durch Fiktion eines Vertrages: Denn
andere Rechte als aus Verträgen hervorgegangene kennt der Jurist
nicht." Die Fiktion des Staatsvertrages dient wie die der Freiheit
nicht eigentlich zur juristischen Rechtfertigung der staatlichen
Straf- und Zwangsfunktion. Eine solche bedeutete ja nur: Be-
gründung auf einen Rechtssatz. Es gilt vielmehr, den Rechtssatz,
das heißt ja nichts anderes als die zwangsanordnende Norm selbst
zu begründen. Diese Begründung erfolgt durch eine höhere außer-
rechtliche Norm: Das moralische oder ,, natürliche" Grundprinzip:
Pacta sunt servanda. Darum muß ein Vertrag fingiert werden,
nicht aber, weil der Jurist angeblich keine anderen Rechte kennt,
als solche, die aus Verträgen hervorgegangen sind. Das ist überdies
ein tatsächlicher Irrtum. Der Vertrag ist nur einer der vielen
Tatbestände, an die die Rechtsordnung Rechte und Pflichten knüpft.
Der Staatsvertrag ist somit eigentlich keine rechtstheoretische,
sondern eine ethische Fiktion, die Fiktion einer moralischen Welt-
anschauung. Eine rechtstheoretische Betrachtung muß gerade diese
Fiktion — mit der Vorstellung einer sittlichen Begründung des
Rechts — fallen lassen.
1) a. a. 0. S. 17.
652
Hans Kelseii :
Eine Rechtswissenschaft — als Erkenntnis eines besonderen
Objektes — ist nämlich überhaupt nur möglich, wenn man von
der Anschauung einer Souveränität des Rechtes (oder, was das-
selbe ist, des Staates) ausgeht, d h. wenn man die Rechtsordnung
als ein selbständiges und daher von keiner höheren Ordnung ab-
geleitetes Normensystem erkennt. Andernfalls kann es nur eine
Moralwissenschaft (Ethik) oder Theologie geben, je nachdem man
das Recht als Ausfluß der Moral oder der Religion gelten läßt.
(Von einer Naturwissenschaft oder Soziologie des Rechtes, die
natürlich auch keine Rechtswissenschaft wäre, braucht hier nicht
die Rede zu sein, solange das Recht als Ordnung, als Normen -
komplex aufgefaßt wird.) Nun erblickt Vaihinger gerade in
dieser Isolierung des Rechtes von der Moral eine Fiktion. Die
,, fiktive Isolierung", die bei der positivistischen (d. h. das Recht
als selbständige, souveräne Ordnung voraussetzenden) Betrachtung
unterlaufe, sei ,,das vorläufige Abgehen von einem integrierenden
Teile der Wirklichkeit". i) Für den Gesetzgeber und Juristen
sei die Trennung von Recht und Moral als von zwei auseinander-
fallenden Kreisen von hohem Werte, nur dürfe dabei nicht ver-
gessen werden, daß hier wiederum das ,,daß" durch ein ,,Als Ob"
zu ersetzen sei. ,,Denn man mag das Verhältnis jener beiden
wichtigen Lebensgebiete näher formulieren, wie man will, so kann
sich dabei nimmermehr die Meinung geltend machen, daß beides
faktisch nichts miteinander zu schaffen habe. Es :st diese Be-
merkung darum von W'ichtigkeit, weil aus Mangel an methodo-
logischer Einsicht der Fall nicht selten ist, daß Juristen jene
Fiktion für das wirkliche Verhältnis halten, ein verhängnisvoller
und schwerer Irrtum. Die einseitige Betrachtungsweise kann der
Jurisprudenz und selbst dem praktischen Rechtsleben gute Dienste
leisten, aber es wird sich immer bald der Punkt geltend machen,
wo an Stelle der vorläufig gemachten einseitigen Abstraktion
wieder die volle Wirklichkeit in ihre Rechte eingesetzt zu werden
vermag." 2) Allein dieser Auffassung kann — gerade vom Stand-
punkte der Vaihingcrschen Fiktionentheorie — nicht beigepflichtet
werden. Denn in der Behauptung, das Recht sei ein von der Moral
unabhängiges — in seiner Sollgeltung nicht auf die sittliche Ordnung
') a. a. O. S. 375-
2) a. a. O. S. 375.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 65 >
rückführbares Normensystem, kann schon darum auch kein „vor-
läufiges" Abgehen von einem integrierenden Teik» der Wirklichkeit
liegen, weil weder das Recht noch die Moral — beide als Normen-
komplexe gedacht — in der Welt jener Wirklichkeit stehen, die
Vaihinger als die Linie gilt, von der die Fiktion abweicht, und
die mit der Natur, der Sinnenwelt, identisch ist; und weil weder
Rechtswissenschaft noch Ethik in ihren Objekten jene Wirklichkeit
zu fassen suchen. Das Verhältnis zwischen Recht und Moral ist
überhaupt nicht ein Verhältnis zwischen zwei ,,LebensgebJeten",
als zwischen zwei Stücken der natürlichen Realität. Das ,, wirk-
liche" Verhältnis zwischen ihnen ist kein Verhältnis in der Wirk-
lichkeit, d. h. der von der Naturwissenschaft im weitesten — auch
eine Gesellschaftslehre umfassenden — Sinne ergreifbaren Realität.
Die juristische Betrachtung, der Vaihinger eine fiktive Isolierung
ziunutet, kann bei Feststellung des Verhältnisses ihres Objektes
zu der Moral gar nicht von einem integrierenden Teile der Wirk-
lichkeit abgehen, da sie die Wirklichkeit nicht im Auge hat. So-
fern aber Recht und Moral als — soziale — Realitäten, als ,, wirk-
liche" Vorgänge in der Natur angesehen werden (ob dies über-
haupt möglich sei, bleibe hier dahingestellt), sind sie nicht Gegen-
stand der spezifisch juristischen Erkenntnis bzw. der normativen
Ethik. Und insofern kann auch jene fiktive Isolierung gar niclit
vollzogen werden. Es ist für sie gar kein Anlaß gegeben. Für
eine auf die Wirklichkeit des sogenannten Rechtserlebnisses, die
faktischen Moralvorstellungen und durch sie bewirkten ,, mora-
lischen" Handlungen gerichtete Betrachtung — ihre methodische
Möglichkeit überhaupt zugegeben — ist Recht und Moral etwas
völhg anderes als das gleiche Wort besagt, das den Gegenstand
der normativen Rechtswissenschaft und Ethik bezeichnet. Und
für diese auf die wirklichen Seelenvorgänge und Handlungen ge-
richtete Erkenntnis dürfte sich überhaupt keine wesentliche Dif-
ferenz zwischen einer als ,, Recht" und einer als ,, Moral" be-
zeichneten Wirklichkeit, sicherlich nicht aber die Zweckmäßig-
keit einer wenn auch nur provisorisch fiktiven Isolierung beider
ergeben. Diese ,, volle Wirklichkeit" kann gegenüber einer juri-
stischen Betrachtung überhaupt nicht ,,in ihre Rechte eingesetzt
werden".
Nun erscheint aber die Vorstellung der Rechtsordnung — als
eines Komplexes von Sollnormen — ebenso wie die Vorstellung
einer Moralordnung nach Vaihinger an und für sich schon als
<554
ilans Kelsen:
eine Fiktion. Es sind die praktischen Fiktionen^), unter die die
Begriffe der Norm, der Pflicht, des Ideals usw. eingereiht werden
müßten. Wenn auch Vaihinger sich nicht in extenso mit dem
Begriff der Rechtsnorm und des rechtlichen Sollens, der Rechts-
pflicht usw. befaßt, so darf doch angenommen werden, daß von
ihnen dasselbe gelten muß wie von den ethischen Begriffen, die
als Fiktionen angesprochen werden. Man könnte im Sinne Vai-
hingers sagen: Der Jurist betrachtet das Recht so, als ob es
eine Summe von Sollnormen wäre. Allein wenn dies eine Fiktion
ist, wenn das Recht in Wirklichkeit keine Sollnorm ist, was
ist dann das Recht ,,in Wirklichkeit".'' Und weiter: Was ist
eine Sollnorm ? Mit anderen Worten : Wenn die Annahme, daß
das Recht eine Sollnorm ist, eine Fiktion sein soll, dann muß das
Recht etwas anderes, etwas ,, Wirkliches" sein können, und dann
muß auch die ,, Sollnorm" etwas ,, Wirkliches", nur etwas anderes
ais das Recht ,, wirklich ist", darf Sollnorm nicht selbst wieder
eine Fiktion sein. Denn die Fiktion besteht offenbar in einem
Vergleich, und zwar in einer falschen Gleichsetzung eines Wirk-
lichen mit einem anderen Wirklichen, In der Fiktionsformel:
X wird so betrachtet, als ob es Y wäre (obgleich X nicht Y ist),
muß sowohl X als Y etwas Wirkliches sein, bzw-. als etwas Wirk-
liches behauptet sein. Fiktiv ist lediglich die Gleichsetzung. Bei
Vaihinger heißt es von der Fiktionsformel wörtlich: ,, Demnach
wird in dieser Formel ausgesprochen, daß das gegebene Wirk-
liche, daß ein Einzelnes verglichen wurde mit einem anderen,
dessen Unmöglichkeit oder Unwirklichkeit zugleich ausgesprochen
wird ... z. B. in der juristischen Fiktion lautet die Formel so:
Dieser Erbe ist so zu behandeln, wie er zu behandeln wäre, wenn
er vor seinem Vater, dem Erblasser, gestorben wäre, d. h. er ist
zu enterben." Worauf es hier ankommt, ist lediglich die Fest-
.stellung, daß sowohl ,,der Erbe" als auch ,,ein vor dem Erblasser
Gestorbener" an und für sich, d. h. ohne Rücksicht auf die Stellung
(lieser Elemente in der fiktiven Beziehung — etwas Wirkliches
bedeuten. Vaihinger führt auch aus: ,,Es wird also hier zu-
nächst eine Vergleich ung ausgesprochen, d. h. die Aufforderung,
eine vergleichende oder subsumierende Apperzeption zu vollziehen;
ein solcher Satz sagt zunächst nichts anderes, als z. B. der Satz:
D;T Mensch ist wie ein Gorilla zu betrachten, und warum .? weil
») a.a. S. 59ff.
Zur Theorie: der juristischen Fiktionen. 655
11- eben ihm ähnlich ist. Ebenso in allen jenen Fällen: Es wird
die Aufforderung zu einer vergleichenden Apperzeption ausge-
sprochen, allein zugleich mit dieser Aufforderung wird nun in
diesem Falle ausgesprochen, daß diese Vergleichung auf einer
unmöglichen Bedingung beruht; anstatt sie aber nun zu
unterlassen, wird sie aus anderen Gründen doch vollzogen. "i)
Die Fiktion besteht in der Durchführung eines Vergleiches zweier
Wirklichkeiten, trotz der Unmöglichkeit dieses Vergleiches.
Nun ist aber das Recht von vornherein überhaupt nichts
Wirkliches. Es gibt' kein Stück der NaturAvirklichkeit, das als
Recht angesprochen werden kann. Aber selbst wenn man davon
ubsähc: Das Recht wird betrachtet, als ob es eine Sollnorm wäre,
ja aber was ist denn eine Sollnorm.? Nichts Wirkliches, sondern
selbst eine Fiktion, die Fiktion besteht hier nicht nur in dem
,,.'ys-Ob"-Vergleiche, sondern auch in demjenigen, womit das
Recht fiktiv verglichen wird. Die Fiktion, das fiktive Urteil,
behauptet aber — in dem mit als ob eingeleiteten Satze — eine
Wirklichkeit (wenn auch im Widerspruch zu dieser). Die Ana-
lyse der Fiktion muß zu — allerdings falsch verknüpften — Wirk-
lichkeitselementen führen, die Fiktion muß sich auflösen lassen,
sonst hängt sie überhaupt in der Luft.
Darum will es scheinen, als ob auf das, was Vai hinger die
,, praktischen Fiktionen" nennt, die von ihm selbst aufgestellten
Merkmale des Fiktionsbegriffes nicht recht passen. Im Grunde
mußte Vaihinger alle ethischen Begriffe als Fiktionen erklären.
Er tut es ausdrücklich bei den Begriffen: sittliche Weltordnung,
Pflicht, Ideal und einigen anderen. Allein bei allen diesen Be-
griffen muß notwendig gerade jenes Element fehlen, das nach
Vaihinger der Fiktion wesentHch ist: Der Widerspruch zur Wirk-
lichkeit. Denn ein Widerspruch zur Wirklichkeit kann nur vor-
liegen, wenn ein Wirkliches behauptet wird, überhaupt erkannt
werden soll. Vaihinger sagt: ,,Das Ideal ist eine in sich wider-
spruchsvolle und mit der Wirklichkeit im Widerspruch stehende
Begriffsbildung,, welche aber ungeheuren, weltüber^ändenden Wert
hat. Das Ideal ist eine praktische Fiktion. "2) Das kann von
jedem ethischen und juristischen Begriff gelten. Denn es gilt
von dem Begriff des Sollens, der ja mit dem formalen Begriff
des Ideals identisch ist. Allein worin kann der Widerspruch zur
1) a. a. 0. S. 164/165.
2) a. a. O.'S. 67.
656
Hans Kelseu:
Wirklichkeit bestehen, der in irgendeinem Sollsatze, selbst in
jenem vollzogen wird, der Unmögliches zum Inhalt hat ? Der
das Ideal, die Pflicht, die sittliche Forderung aussprechende Satz:
Der A. soll wohltätig sein, und der die Wirklichkeit beschreibende
Satz: Der A. ist nicht wohltätig, widersprechen sich in keiner
Weise. Auch wenn man zugibt • — und man muß dies zugeben ■ — ,
alles, was geschieht, muß so geschehen, wie es geschieht, und
kann nicht anders geschehen, so daß jedes Sollen, das einen
anderen Inhalt hat als das Sein, Unmögliches fordert, so ist
damit dennoch keinerlei Widerspruch zwischen Sein und Sollen
dgegeben. Dem Sein von a widerspricht lediglich das Sein von
7ion a, nicht aber das Sollen von non a. Es wäre denn, man löste
den Sollsatz in einen Als -Ob- Seinsatz auf, und behauptete: Indem
ich a als gesollt behaupte, tue ich so, als ob a seiend wäre. Wenn
ich behaupte : X. soll wohltätig sein, fingiere ich X. (in Gedanken)
als wirklich wohltätig, obgleich er in Wirklichkeit gar nicht wohl-
tätig ist. Das Sollen sei ein fingiertes Sein. Das ist aber offen-
bar unrichtig. In der Vorstellung des Sollens steht uns eben eine
von der Vorstellung des Seins völlig verschiedene Form zur Ver-
fügung, die jeden beliebigen Inhalt aufnehmen kann, ohne zu
einer Seinsvorstellung mit kontradiktorisch entgegengesetztem In-
halt in logischen Widerspruch zu geraten. Mit demselben Rechte,
mit dem ich das Sollen ein fingiertes Sein, könnte ich das Sein
ein fingiertes Sollen nennen. Darum kann ein normativer Begriff
wohl in sich selbst w^iderspruchsvoll sein, er kann aber nie zur
Wirklichkeit in Widerspruch geraten. Denn normative Erkenntnis
ist überhaupt nicht auf das Sein gerichtet. Natürlich kann es
auch innerhalb der normativen Erkenntnis Fiktionen, d. h. Be-
griffe geben, die in einem Widerspruch zu dem spezifischen Er-
kenntnisobjekt stehen. Dieses Erkenntnisobjekt selbst und die
ganze Erkenntnistätigkeit kann aber nicht als Fiktion bezeichnet
werden. Die Begriffe ,,Gott und Gewissen" mögen Fiktionen sein.
Das ,, Sollen", die ,, Pflicht", die ,,Norm" sind es gewaß nicht.
Das zeigt sich deutlich, wenn man die ,, Fiktion'.' der Pflicht in
einem Als- Ob- Satz darzustellen versucht. Wir sollen so handeln,
als ob es unsere Pflicht wäre, so zu handeln. Aber schon in dem
ersten Satze: Wir sollen so handeln, steckt die Behauptung der
Pflicht. Wir sind verpflichtet, so zu handeln, als ob es unsere
Pflicht wäre. Pflicht und Sollen sind identisch. Bedeutet aber
der Satz: Wir sollen so handeln, eine Fiktion.? Er würde es be-
Zur Theorie der juristischen i-iktionen. Ö57
deuten, wenn damit behauptet würde: Wir handeln so, obgleich
wir nicht so handeln. Allein gerade diese Behauptung enthält
er nicht, sondern die: Wir sollen so handeln, obgleich wir viel-
leicht nicht so handeln. '
Eine andere Frage ist, ob und wie sich die in Sollsätzen auf-
gestellten Behauptungen beweisen lassen, ob nicht jedes Normen-
system letztlich auf einen unbeweisbaren Grundsollsatz aufgebaut
ist. Das kann zugegeben werden, ohne daß damit der Charakter
einer Fiktion, d. h. eines Widerspruches zur Wirklichkeit (als
der Natur-Wirklichkoit), konzediert wird.
Der Begriff des Sollcns — und mit ihm die Begriffe der Pflicht,
der Norm, des Ideals, des (objektiven) Wertes — könnten als
Fiktion bezeichnet werden, wenn nicht unter Fiktion ein Vor-
stellungsgebilde verstanden würde, das der Erkenntnis der Wirk-
lichkeit' dient, und einen Widerspruch zu eben dieser Wirk-
lichkeit setzt. Und ,, Fiktionen" sind das Sollen — das sittliche
wie das rechtliche — nur, wenn unter Fiktionen alles verstanden
wird, was nicht Ausdruck, und zwar widerspruchsloser Ausdruck,
der Natur -Wirklichkeit ist. Wenn man Vaihinger auch zugeben
kann, daß die Rechtsnormen — so wie die ganze Welt des Sollens —
imaginative Produkte des menschlichen Geistes sind, Phantasic-
gebilde im Verhältnis zu der Sinnen-Welt des Natur-Seins^), so
ist damit noch keineswegs die Notwendigkeit eines Widerspruches
zu dieser Wirklichkeit gegeben, das erste seiner ,, Hauptmerk-
male", an denen ,,man sofort jede Fiktion erkennen" kann. 2)
Gerade in der Kategorie des Sollens ist eine Form geschaffen,
in der die Phantasie ohne Widerspruch zu der Wirklichkeit des
Seins sich entfalten kann. Andererseits muß die Welt des Sollens
als ein, wenn auch anderes, so doch mit der Natur-Wirklichkeit
gleichberechtigtes Objekt der (ethischen oder juristischen) Er-
kenntnis, als eine eigene Art von Wirklichkeit gelten, wenn
es hier echte Fiktionen geben soll.
Gerade diejenigen juristischen Fiktionen (das sind die der
Gesetzgebung und Rechtsanwendung), mit Hilfe deren Vaihinger
zum großen Teile seine glänzende Theorie dargestellt hat, haben
1) a. a. 0. S. 70.
2) a. a. 0. S. 171 ff.
Annalen der Philosophie. L 4^
(',eg Hans Kelsen: Zur Theorie der juristischen Fiktionen.
sich bei näherer Betrachtung gar nicht als solche Dcnkgebildc er-
wiesen, deren Wesen und Erkenntniswert zu entdecken, das große
Verdienst Vaihingers ist. Dagegen weist die Rechtswissenschaft
andere, durchaus analoge Hilfsbegriffe auf. Doch fällt das Licht
auf diese Fiktionen nicht eigentlich aus der Rechtswissenschaft
— wie Vaihinger meint — , sondern umgekehrt: Die echten,
theoretischen Fiktionen der Rechtswissenschaft werden verständ-
lich durch die Fiktionen der Mathematik und der anderen Wissen-
schaften. Die Fiktionen der Rechtstheorie haben gar nichts spezi-
fisch Juristisches an sich, sie sind keine für die Jurisprudenz
charakteristische Methode.
Bücherbesprechung.
Richard Müller-Freienfels: Das Denken und die Phantasie.
Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur Psychopatho-
logie, Ästhetik und Erkenntnistheorie. Leipzig 1916, bei Johann
Ambrosius Barth.
Die größte und folgenreichste Entdeckung der gesamten neueren
Philosophie ist, wie ich meine, die Erkenntnis, daß das Grundwesen des
Menschen Wille ist. Sie bhtzt auf in Kants Lehre vom Primat der
praktischen Vernunft, freilich noch stark verschleiert von den Nebeln
der überlieferten intellektualistischen Denkweise; Schopenhauer —
um nur die Hauptstationen der Entwicklung zu nennen — macht sie
zur Sonne seines ganzen Systems, und Nietzsche leuchtet mit ihrem
Licht auch in die mystisch dämmerigen Räume hinein, in denen
Schopenhauer, seiner eigenen Lehre widersprechend, dem Intellekt
eine selbständige Stellung gelassen und den Diener wieder zum Herrn
gemacht hatte.
Die wissenschaftliche Forschung ist der genialen Intuition dieser
großen Denker nur langsam gefolgt. Die Jahrtausende alte intellek-
tualistische Tradition hält uns in den Fesseln der Gewohnheit, die hier
besonders schwer zu zerreißen oder abzustreifen sind. Wie geschickt
weiß sich der Wille, der Regisseur der umana commedia, verborgen zu
halten, während er die Puppen an seinen unsichtbaren Drähten vor uns
tanzen läßt! Es bedarf einer (von der ganz auf die experimentelle
Methode eingeschworenen Forschung freilich verpönten) tiefen, an-
gestrengten Selbstschau, eines Hinabsteigens gleichsam in die psycho-
logische Unterwelt unseres Seins, um die dunklen, nicht intellektuellen
Wurzeln überhaupt gewahr zu werden, aus denen die ganze Gcisteswelt
mit ihren tausend Zweigen und Blüten herauswächst. Es ist nicht
bequem, hier unten in den finsteren Abgründen unseres Wesens herum-
zuforschen, während an der Oberfläche die längst gebahnten Wege der
Erkenntnis im hellen Lichte liegen. Wie einladend klar, wie einfach
und geschlossen erscheint die überlieferte intcllektualistische Psychologie !
Wie hübsch baut sich hier eins auf dem anderen auf, entwickelt sich
eins aus dem anderen, aus den Empfindungen die Wahrnehmungen,
aus den Wahrnehmungen die Vorstellungen, aus den Vorstellungen die
Begriffe! Diese Übersichtlichkeit und Klarheit schwindet, sobald wir
die Bahnen des Intellektualismus verlassen und auch in der wissenschaft-
lichen Psychologie mit jener größten Erkenntnis der neueren Philosophie
42*
56o Hücherbesprechunf,'.
wirklich Ernst zu machen beginnen. Alks, was schon gelöst und erledigt
schien, wird wieder problematisch, und die neuen Probleme sind dunkler
und verwickelter, als die alten waren. Natürlich, das Nicht-Intellektuelle,
(las wir nun , .hinter" dem Intellektuellen suchen, ist schwerer zu fassen
als das Intellektuelle selbst. Aber die Arbeit muß getan werden, und sie
lohnt die Mühe. Was wir dabei an Klarheit und Einfachheit verlieren,
(las gewinnen wir an Tiefe und Wahrheit, und ich meine, das ist kein
schlechter Tausch. Wer einmal einen Schacht in diese Tiefen gegraben
und dabei Entdeckungen gemacht hat, der sehnt sich nicht zurück an die
helle Oberwelt des Intellektualismus. Alles rein intellektualistische
Philosophieren erscheint ihm fortan wie die Arbeit eines l^otanikers,
der an den Pflanzen nur das beobachten und erforschen wollte, was
von ihnen über dem Erdboden sichtbar wird.
Von den Psychologen, die heute an den Problemen einer volunta-
ristischen Psychologie arbeiten, ist niemand erfolgreicher als Müller-
Freienfels. Sein aus einer Reihe von Einzeluntersuchungen er-
wachsenes Buch ,,Das Denken und die Phantasie" bedeutet einen
wirklich großen Fortschritt auf dem oben kurz gekennzeichneten Wege,
den größten, wie ich meine, der seit Vaihingers ,, Philosophie des Als Ob"
auf diesem Wege gemacht worden ist. Sollte die geniale Intuition
Schopenhauers und Nietzsches zu gesicherter Erkenntnis werden,
so mußte eine mühselige Arbeit geleistet und dem Intellektualismus
Schritt für Schritt das Feld abgewonnen werden, auf dem er sich noch
immer behauptete. Daß die Gedanken der Religion, das Schaffen des
Künstlers und Philosophen nicht rein intellektualistisch zu deuten sind,
daß sich vielmehr stets ein irgendwie geartetes Fühlen und Streben,
eine persönliche Stellungnahme zu Welt und Leben darin ausspricht,
das war nachgerade jedem sichtbar geworden, der es sehen wollte. Nun
aber galt es, zu zeigen, daß alles Denken, auch das gewöhnliche und das
streng wissenschaftliche, ein Ausdruck der Seite unseres Wesens ist,
die Schopenhauer zusammenfassend ,, Wille" nannte. Und dies ist
in dem ausgezeichneten Werke von Müller-Freienfels in einer Weise
geschehen, wie es bisher noch niemals geschehen war.
Natürlich kann ein solches Buch nicht geschrieben werden, ohne
(laß ihm viele Denker und Forscher vorgearbeitet hätten. Die Probleme
der voluntaristischen Psychologie liegen heute „in der Luft", seit Jahren
arbeiten viele gleichzeitig daran. Müller-Freienfels ist sich dessen
wohl bewußt und macht nirgends ein Hehl daraus, daß er von anderen
\ieles gelernt und übernommen hat. Am allermeisten, scheint es, ver-
dankt er James, Bergson und Nietzsche. Von ihnen hat er wohl
die tiefsten Anregungen erfahren. Daneben nennt er Wundt, Lipps,
Avenarius und sehr viele andere, denen er Dank schuldig geworden
ist oder mit denen er sich berührt. Nirgends aber hat man beim Lesen
seines Buches den Eindruck, daß das Aufgenommene bei ihm ein
Fremdes, Unverarbeitetes geblieben wäre. Seine Leistung ist ohne Zweifel
.so selbständig, \vie eine solche die Forschungen anderer verwertende
Leistung es übLrhaui)t sein kann. Wie schon aus seiner vortrefflichen
..Psychologie der Kunst" spricht auch aus dieser Arbeit sehr deutlich
Bücherbesprechuiig. (S^ I
lin reicher und reger Geist von bedeutender Pruduktivität. Die Ge-
danken strömen ihm von überallher im, aus eigenem Erleben, aus der
Selbstbeobachtung, aus den Erzählungen anderer, aus der Lektüre, und
alles das faßt er zusammen zu einem Ganzen von durchaus eigenem,
organischem, lebendigem Charakter.
Müller-Freienfels nennt seine Psychologie des Denkens nicht
voluntaristisch, wiewohl er natürlich gelegentlich auch diesen Ausdruck
braucht: um jede Verwechselung mit dem metaphysischen Voluntarismus
auszuschheßen, redet er lieber von einer aktivistischen Deutung der
geistigen Vorgänge. Und damit ist seine Auffassung auch am treffendsten
bezeichnet. , .Denken ist Handeln", in diesen knappen Satz läßt sich
der Hauptinhalt seines Buches zusammendrängen. Schon die Elemente
des Denkens tragen nach ihm diesen aktivistischen Charakter. Die Auf-
merksamkeit, die aus dem Chaos der Empfindungen bestimmte Komplexe
heraushebt und so die ..Wahrnehmung" ermöglicht, ist — das haben
schon andere bemerkt — ein Willensakt und stets verbunden mit
affektiv-motorischen Prozessen, also mit Handlungen, Handlungen meist
sehr geringfügiger Art, z. B. Adaptionen der Organe, in denen aber doch
das eigentHche Wesen der Aufmerksamkeit zum Ausdruck kommt. Auch
die „sjTithetische Funktion" der Wahrnehmung, die Verdinglichung und
Typisierung der Empfindungskomplexe, ist nach Müller-Freienfels
nicht, wie die Assoziationspsychologie meint, die Wirkung objektiver
Reproduktionen, sondern subjektiver Reaktionen: ein Ding, z. B. eine
Schlange oder eine Rose ist, psychologisch betrachtet, eine ,, Reaktions-
einheit", d. h. ein Komplex von Eindrücken, auf den wir mit ganz be-
stimmten Gefühlen, Bewegungen und Tätigkeitsdispositionen, mit einem
Worte: mit einer bestimmten ,, Stellungnahme" reagieren. Ebenso-
wenig ist das Wesen des Begriffs psychologisch in den im Bewußtsein
„mitschwingenden" oder , .latenten" Vorstellungen zu suchen, die in
ihm logisch zusammengefaßt sind. Auch der Begriff ist wesentlich eine
Einheit von Gefühlen und Tätigkeitsdispositionen, nur daß er in seiner
abstrakten Form, nicht mehr an die Empfindung gebunden, weniger
eine Rückwirkung als eine Selbsttätigkeit des Subjekts ausdrückt, und
also nicht als Reaktionseinheit, sondern als Aktionseinheit zu bezeichnen
ist. Wir begreifen etwas, haben einen Begriff daA-on, wenn \nr wissen,
wie wir uns ihm gegenüber zu verhalten haben. Natürlich gibt es ein
geistiges Aufnehmen und Besitzen, das diesen aktivistischen Charakter
fast gänzlich vermissen läßt. Aber ein solches Lernen und Wissen ist
tot und wertlos. Zum wahren, lebendigen Wissen gehört, daß es umsetzbar
ist in Tätigkeiten. ,, Wahres Wissen ist nicht Erinnerung, wahres Wissen
ist Handeln, Tätigkeit, Wirksamkeit" (von Müller-Freienfels ge-
sperrt).
Müller-Freienfels gewinnt diese Ergebnisse in fortlaufender Aus-
einandersetzung mit der i^LSSoziationspsychologie, als deren kon-
sequentesten Vertreter er Ziehen häufig anführt. Die Assoziations-
psychologie viird das, was hier gegen sie vorgebracht wird, nicht un-
berücksichtigt lassen können, daran ist kein Zweifel. Der Baustein, mit
dem sie die ganze geistige Welt aufbaut, die Reproduktion, wird hier
Af)', Bücherbesprechung.
(Kap. I, Analyse der Vorstellungen) sehr überzeugend in seiner Brüehig-
keit erwiesen. Und daß die berühmten Gesetze der Assoziation, nach
denen die so fragwürdigen Vorstellungen sieh zusammenfügen sollen,
<Tanz und gar nicht ausreichen, um den Bau der geistigen Welt zu
erklären, das macht uns das vortreffliche sechste Kapitel (Der Verlauf
des Bewußtseins. Kritik der Assoziationstheorie) zur Gewißheit. Nicht
die Assoziation der Vorstellungen oder der sie ersetzenden Bewußtseins-
elemente, das zeigt Müller-Freienfels hier, ist das Problem, sondern
ihre Dissoziation, die Auswahl, die die Seele unter den zahlreichen
Möglichkeiten der Verknüpfung trifft. In der Wahrnehmung ist stets
eine große Vielheit von Eindrücken zur Einheit verknüpft und wird
als solche erlebt. Wie kommt es, daß von den a bis n Empfindungen,
die sich gleichzeitig zur assoziativen Verknüpfung darbieten, nur a und
b oder b und c in der Seele erhalten und verknüpft bleiben, während
alle übrigen daraus entschwinden? Dies ist die Frage, die die Psycho-
loo^ie des Denkens vor allem zu beantworten hat. Sie ist auf dem Boden
der intellektualistischen Psychologie nicht befriedigend zu beantworten.
Nicht in dem objektiven Elemente der Wahrnehmung, in den Emp-
findungen, kann die Ursache der Auswahl, die die Seele trifft, liegen —
sonst würden sich bei allen Menschen, die objektiv dasselbe erleben,
auch dieselben i\ssoziationen bilden, was bekanntlich durchaus nicht
der Fall ist — , sondern nur in der verschiedenen Reaktion der ver-
schiedenen Subjekte auf die gleichen Eindrücke. Was hier und fast
überall in dem Buche ausführlich auseinandergesetzt wird, ist im Grunde
die tiefe und eigentlich doch so selbstverständliche Wahrheit, daß wir
ein Ganzes sind, eine lebendige Einheit, was immer wir tun, nicht,
säuberlich geschieden, bald ein denkendes, bald ein fühlendes und
wollendes Wesen; daß unS das Herz aus den Augen schaut und mit
den Ohren in die Welt hinaushorcht; daß unser Sehen und Hören, unser
Denken und Wissen — abgesehen höchstens von dem rein mechanisch
und nur ,, auswendig" Gelernten — durch unser ganzes Wiesen bedingt
ist und daher auch, mehr oder weniger deutUch, von unserem ganzen
Wesen Kunde gibt. Die Wissenschaft schreitet fort, indem sie immer
schärfer scheidet, was in Wirklichkeit ungeschieden ist, aber sie muß
sich darüber klar werden, daß ihre Scheidungen künstlich sind und der
Wirklichkeit nicht entsprechen. Daß dies auch in der Psychologie ge-
schehe, dazu gibt das vorliegende Buch einen wirksamen Anstoß.
Ob übrigens Müller-Freienfels in seinem aktivistischen, anti-
intellektuaUstischen Eifer nicht zuweilen zu weit geht, diese Frage muß
ich bei aller Hinneigung zu seinem Standpunkt und seiner Methode
doch aufwerfen. Mir scheint, er schätzt die Bedeutung der objektiven
Faktoren für das Zustandekommen der Wahrnehmungen und Begriffe
doch zu niedrig ein; mindestens wählt er wiederholt eine Ausdrucksweise,
die zu Mißverständnissen Anlaß gibt und zum Widerspruch herausfordert.
Das ist z. B. der Fall auf S. 98/99. Wenn er da behauptet, die ,. land-
läufige Ansicht, wir stutzten, weil wir etwas UngewöhnHches wahr-
genommen hätten", sei falsch, wir nähmen vielmehr deshalb etwas wahr,
weil wir stutzten, so ist das nur dann richtig, wenn ., wahrnehmen" beide
Bücherbcsprechung. 663
Afale in dem gleichen psychologisch strengen Sinne genommen wird.
Denn erst durch das Stutzen und die dadurch geweckte Aufmerksam-
keit erfolgt die Wahrnehmung des Raben im Birkcnwipfel, der mich
als schwarzer Fleck stutzen machte. Aber niemand kann das erste
.^Wahrnehmen" so auffassen, da es mit dem Begriff der Ungewöhnlich-
keit verknüpft ist, die doch gerade an der Empfindung (dem großen
schwarzen Fleck im lichten Grün) haftet und mit der Wahrnehmung
(der Feststellung des schwarzen Flecks als Raben) verschwindet. Ebenso
anfechtbar ist die Rolle, die Müller-Freien fels S. 138 — 140 die sub-
jektive Reaktion bei der dingbildenden, typisierenden Wahrnehmung
spielen läßt. Gewiß gehört zum ,, Wahrnehmungsbegriff" Kreuzotter
eine typische Reaktion, ein Erschrecken, verbunden mit gewissen Tätig-
keitsbereitschaften (Impulsen zur Flucht oder zur Abwehr), aber be-
griffen, erkannt wird das gefährliche Tier durch diese Reaktion doch
nicht. Diese Reaktion erfolgt vielmehr erst, wenn die Kreuzotter als
Kreuzotter bereits erkannt ist. Dies aber geschieht durch Feststellung
ihrer unterscheidenden objektiven Merkmale, der Kopfform und der
dunklen Zickzacklinie auf dem Rücken.
Müller- Freienfels' Untersuchungen und Darlegungen, von denen
hier natürlich nur eine ganz ungefähre Vorstellung gegeben werden
kann, münden aus in eine Psychologie der schaffenden Geistestätigkeit,
die geeignet sein dürfte, das Interesse weiterer Kreise zu erregen. Der
aktivistische Charakter des Denkens und der Phantasie — nach Mülle r -
Freienfels sind beide kaum zu trennen — tritt hier, wo es sich um
das ,, zielstrebige" Denken handelt, natürlich besonders hervor. Die
.Vssoziationsgesetze, heißt es S. 231, „reichen einigermaßen aus, um das
Geistesleben eines Verrückten zu erklären, dessen Gedankenverlauf nach
.Ähnlichkeit und Berührung sich beschreiben läßt. Für den geistig
gesunden Menschen, der Probleme umkreist und Pläne entwirft, genügen
jene sogenannten Gesetze nicht". Sicherlich, alles wertvolle Denken
ist teleologisch, verläuft auf einer Bahn, die eine besondere Stimmung,
eine festgehaltene Willenstendenz bestimmt. In drei Kapiteln wird dies
unter Anlehnung an Avenarius' ,, Vitalreihenlehre" in einer Weise aus-
geführt, die jeden fesseln muß, der nicht entrüstet, sondern erfreut ist,
wenn er in einem psychologischen Werk einmal etwas anderes behandelt
findet als die ganz elementaren, experimentell feststellbaren Seelen-
vorgänge.
Wie alles ochte Denken ursächlich verknüpft ist mit der Praxis,
das beweist Müller-Freien fels nicht nur theoretisch, sondern auch
praktisch, indem er uns, vielseitig interessiert und unterrichtet, wie er
ist, wiederholt den Zusammenhang deutlich macht, in dem die neueste
Psychologie mit der neuesten Pädagogik steht. Seine aktivistische
Deutung der seelischen Vorgänge wird auf Schritt und Tritt bestätigt,
man kann fast sagen: verifiziert durch die pädagogischen Bestrebungen,
deren Ziel die ,,i\rbeitsschule" ist. Die „Lernschule" entspricht in der
Hauptsache der intellektualistischen, die ,Arbeitsschule" der aktivisti-
schen oder voluntaristischen Psychologie. Nietzsche hat dafür die
kürzeste, treffendste Formel geprägt: ..Nur der Täter lernt."
554 Bücherbesprechung.
Der innere Zusununenhang des Werkes mit der „Philosophie des
Als Ob" liegt nach allem, was gesagt wurde, auf der Hand. Müller-
Freienfels teilt mit Vaihinger die grundsätzliche Auffassung von
dem teleologischen Charakter alles Denkens, Sein Buch bestätigt auf
jeder Seite die Grundthese der „Philosophie des Als Ob", daß das Vor-
stellen und Denken keine Abbildung, sondern eine Bearbeitung der
Wirklichkeit zu praktischen Zwecken ist. Demgegenüber hat der er-
kenntnistheoretische Einwand, den Müller-Frei enfel^ in dem letzten
Kapitel gegen Vai hingers Positivismus macht, nicht viel zu besagen.
Wie wir hören, ist die erste Auflage des vortrefflichen Werkes —
trotz der Kriegszeit — beinahe schon vergriffen. Das ist hocherfreulich,
auch für das Buch selbst. Denn es bedarf formell einer gründlichen
Durcharbeitung, die ihm in der zweiten Auflage hoffentlich zuteil werden
wird. In der Hauptsache während des Krieges geschrieben, läßt es in
Gliederung, Gedankenfortschritt und Stil an vielen Stellen die Sorgfalt
vermissen, die auf die Darstellung verwandt sein sollte. Einige Einzel-
heiten seien hier angemerkt. S. 4 wird viermal derselbe Gedanke wieder-
holt (daß das Gesagte nicht metaphysisch gemeint sei), S. 9 wird der
•Satz, daß ein rein zentrales Denken unmöglich sei, ganz unzureichend
durch ein einziges Beispiel bewiesen. S. 18 Z. 12 von unten steht fälsch-
lich widerlegen statt beweisen, S. 20 Z. 7 Komponente statt Korrelat usw.
Es finden sich auch ziemlich viele störende Druckfehler, z. B. auf S. 106
Lichtsinn statt Lichtschein, unbeschlossenen statt eingeschlossenen,
S. 107 Linie statt Linse. Der kleingedruckte Abschnitt S. 255 und 256
gehört in das einleitende Kapitel ,, Methodologische Vorbemerkungen",
und die doch so wichtigen und sachlich wertvollen Kapitel VIII und IX
machen im ganzen den Eindruck einer gewissen Ermattung des Ver-
fassers, sie fallen nach den vorangegangenen, weit besser geschriebenen
Kapiteln merklich ab. Endlich kann ich es nicht glücklich finden, daß
s*) vieles an Wichtigkeit und Wert keineswegs Zurückstehende in dem
Buche klein gedruckt ist. Die ,, methodologischen Vorbemerkungen",
das letzte, erkenntnistheoretische Kapitel und mancher andere jetzt
kleingedruckte Abschnitt sind nach meinem Urteil des größeren Druckes
durchaus würdig. Das alles ^vird, wie wir hoffen, die zweite Auflage
abstellen. Müller-Freienfels arbeitet, glaube ich, ein wenig zu rasch.
Es wäre, deucht mir, seinen Schriften zum Heile, wenn er seine Produk-
tivität ein wenig zügelte und sich zu etwas langsamerem Arbeiten
zwänge. Wer so Gutes zu sagen hat, der sollte sich eifrigst bestreben,
auch alles gut zu sagen.
Martin Havenstein.
Zur MetaJurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Besprech-
ungen über Somlö. Nelson und Sturm von Dr. jur. Rolf
Mallachow.
I. Kirn (kr Rechtswissenschaft bildet die Lehre vom geltenden
Rechte — mit ihrer historischen Vertiefung und ihren politischen Forde-
Bücherbesprechung. 565
rungen. Dabei sucht dieser Rechtspositivismus die Kasuistik, welche
Entscheidung ledigUch von Einzelfall zu Einzelfall an die Hand gibt.
durch Aufstellung von Allgemeinbcgriffen einfacher und zusammen-
gesetzter Art zu verdrängen, bleibt aber auch hierbei Lehre vom Inhalte
des positiven Rechts der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft, da
derartige Allgemeinbegriffe nur innerhalb bestimmter Rechtsordnung
gelten. Dieses Handwerk muß aber eine Methode haben. Die Rechts-
methodologie, deren hermcneutisches Zentralproblem die Frage der
Gesetzesanwendung und der Stellung des Richters zum Gesetz ist, bildet
jedoch keinen Teil der vorgedachten positiven Wissenschaft von den
Rechtsinhalten, sondern der sogenannten Metajurisprudenz oder juristi-
schen Grundlehre, um uns eines Ausdruckes Jellineks bzw. Somlos^)
zu bedienen. Auch andere Fragen, die gelegentlich von der Rechts-
anwendung und Rechtslehre aufgeworfen werden müssen, sind lediglich
aus den positiven Rechtsnormen heraus nicht zu lösen, so besonders
auch nicht die Frage nach der Stellung und Abgrenzung der Jurisprudenz
im Systeme der Wissenschaften, nach dem Wesen und dem Ursprünge
des Rechts selbst, des Völker- und Kirchenrechts im besonderen sowie
der Gesellschaft und des Staates usw.
Wie zutage liegt, kann diese juristische Grundlehre von der Rechts-
philosophie solange nicht allgemeingültig abgegrenzt werden, väe es nicht
eine allgemeingültige Begriffsbestimmung von dieser letzten gibt. Hier-
von sind wir aber weit entfernt, so bedeutsame Versuche auch in dieser
Richtung gerade das letzte Menschenalter aufzuweisen hat. Je nach
dem Standpunkte hierzu wird man — wie auch Somlo (S. 131.) im
wesenthchen treffend ausführt — beide Wissenschaftszweige für identisch
oder wesensungleich halten oder die juristische Grundlehre einen Teil
der Rechtsphilosophie nennen. Müssen wir aber — wie ich überzeugt
bin — die Aufgaben der Rechtsphilosophie darin sehen, daß sie die Be-
ziehungen aufweist zwischen dem Recht und den anderen Arten unserer
bewußten oder unbewußten Lebensinhalte sowie zwischen dem Recht
und dem All in seiner raumzeitlichen Erscheinung: so werden sich uns
Rechtsphilosophie und Metajurisprudenz wie zwei sich schneidende
Kreise darstellen, die trotz grundsätzHch anderer Zentralprobleme doch
gewisse Gebiete gemeinsam haben. Ob man dabei nicht diese gemein-
samen Fragen — wie die nach dem Wesen und Ursprung des Rechts —
der Rechtsphilosphie vorbehalten sollte, bedeutet m. E. nur eine Frage
zweckmäßiger Arbeitsteilung.
IL Somlö ist auf eine derartige Scheidung nicht eingegangen.
Denn seine Untersuchung „unternimmt den Nachweis, daß es Fragen
gibt, deren Lösung für jede Jurisprudenz ganz unerläßlich ist, aber mit
der speziellen juristischen Methode — gemeint ist wohl die Methode
der Lehre von den Rechtsinhalten, der sogenannten positiven Rechts-
wissenschaft — niemals erhofft werden kann, und versucht sodann eine
systematische Behandlung aller hierher gehörigen Fragen . . . ." (S. 2)
^) Felix Somlo, Professor an der Universität Kolozsvar: Juristische Grund-
ehre (Leipzig 1917; 556 Seiten).
(566 Bücherbesprechung,
Da mithin das Eingehen aui rerhtsphilosophische Fragen von Sonnlö
nicht vermieden ist, kann sein Werk um so mehr auch die Aufmerksam-
keit der Philosophen auf sich lenken — sofern diese überhaupt aus ihrer
seit Geschlechtern auf juridischem Gebiete beobachteten Zurückhaltung
heraustreten wollen. Eine dahingehende allgemeinere Anteilnahme der
Fachphilosophen aber neu zu erwecken^, wäre das Somlosche Werk
,iuch aus anderen Gründen wohl geeignet. Nicht etwa, als ob es bislang
an anregenden sogenannten Einführungen in die Rechtswissenschaft,
juristischen Prinzipienlehren sowie rechtsphilosophischen Einzeldarstel-
lungen und Systemen gemangelt hätte; nicht auch, als ob Somlö um-
stürzlerisch an Stelle der bisherigen Lehren ganz Neues stellen wollte;
endlich auch nicht, als ob hier überall besonders tief geschürft und
ledigHch schlackenfreies Erz zutage gefördert wäre ! Nein, sein bedeut-
samer Wert ruht in der Darbietung von einem abgeklärt reifen Lehr-
system eines tüchtigen und gut belesenen Denkers — besonders gut
belesen: denn hier werden neben juridischen auch soziologische und
psychologische wie allgemeinphilosophische Werke wertend in den Kreis
der Betrachtungen und Nachweisungen gezogen, und zwar — typisch
für die kosmopolitische Geistesrichtung des Ungarn — rücht nur der
reichsdeutschen, österreichischen und ungarischen Literatur, sondern
zum gut Teil sogar des englischen, französischen und italienischen Schrift-
tums — hierdurch zugleich auch uns Juristen wertvolle Hilfe leistend.
Nach einer plastischen Darstellung 'von dem Wesen, der Abgrenzung
und der Geschichte der juristischen Grundlehre wendet sich das Werk
im ersten seiner beiden Hauptteile zunächst dem Begriffe und den Arten
der Normen zu, wobei er unter anderen die Streitfrage, ob die Religion,
die Sittlichkeit, die Sitte oder das Recht zuerst entstanden sei, treffend
dahin entscheidet, keiner von diesen Normenkreisen sei vor dem anderen,
sondern alle seien gemeinsam entsprungen, und zwar voneinander so
ungeschieden, daß die einheitliche Erscheinung wohl eines Gattungs-
namen bedürfe und dafür die Bezeichnung ..primitive Umorm" vor-
geschlagen werde (88). — Hinsichtlich des Rechts begriff es kommt
Somlo zum bezeichnenden Ergebnisse: Recht bedeutet die Normen
einer gewöhnlich befolgten, umfassenden und beständigen höchsten
Macht (105). Durch seine Klarheit und Sprache reißt dieses Resultat
gewiß niemanden mit sich fort. Aber auch inhaltlich ist es selbst im
Zusammenhange mit dem zu ihm führenden Erwägungen nicht be-
anstandungsfrei; denn zunächst erweist sich der Begriffsfaktor von der
,, genügenden Befolgung" insofern unzulänglich, wie er bald darauf in
Verschiebung der ßegriffsformel unmittelbar mit der Norm selbst in
Verbindung gesetzt wird und dabei aus ihm unbedingt geschlossen
werden soll: alles was, wie das Völkerrecht, ,, nicht genügend befolgt
wird", ist nicht Recht (166 u. 167), kann aber doch eine Norm — z. B.
konventioneller oder überstaatlicher Natur (170) — sein. Dieser Ge-
danke hält nicht Stich ; denn behauptet man von irgendeiner Normen-
gruppe, von irgendeiner Regel, daß sie als Regel regelmäßige Befolgung
voraussetze und — trotz des Volksmundes — durch jede Durchbrechung,
jede Ausnahme erschüttert, ja bei dauernder Außerachtlassung über-
Bücherbesprechung. 667
haupt als Regel aus den .Vngeln gehohen werde, so wird man dasselbe
von den Rechtsregeln zu behaupten haben. Durch das Kriterium der
regelmäßigen Befolgung unterscheidet sich das Recht von den anderen
Normengruppen der Sprachregeln, der Sitte und Sittlichkeit nicht, und
ebensowenig kann eine Norm wegen unregelmäßiger Befolgung zwar
nicht Rechtsnorm, al)er immerhin Norm konventionellen oder über-
staatlichen Charakters sein. Jedoch gehen von Somlös Lehre, man
müsse im Völkerrecht einen Übergang vom Rechte strengsten Sinnes
zur Konventionalnorm sehen, wertvolle Anregungen aus. Ferner kann
doch z. B. im (zusammengesetzten) Bundesstaate für Verhältnisse, die
der Landesgesetzgebung vorbehalten geblieben sind, der einzelne Glieder-
staat auch Recht setzen, trotzdem er nicht „höchste Macht" oder deren
(delegierter) Beauftragter ist. ein Fu.ndamentalzustand, dem von Somlo
nirgends Rechnung getragen wird.
Endlich sind aber an diese sogenannte Rechtsmacht moralisch
von Somlö überhaupt keine Forderungen gestellt. Man mißverstehe
mich nicht! Will man zurzeit bei Bestimmung des Rechtsbegriffes zu
halbwegs positiven und bündigen Ergebnissen gelangen, so muß mau
m. E. unter diesen Begriff auch das Faustrecht des T}Tannen — also
das Unrecht, sofern es nur machtvolle Gesetzessanktion findet — ein-
beziehen (ähnhch wie viele schon Hegels Rechtsphilosophie, Anm. zu
§§ 3 und 212). Um so stärker aber müssen dann die näheren Dar-
legungen betonen, daß sich auch für die Rechtsmacht das Moralische
immer von selbst zu verstehen habe, wenn anders sie nicht ihren
Charakter als „sittHche Substanz" (Hegel) verlieren und damit ihren
Handlungen selbst jede Rechtfertigung entziehen will. Von derartigem
finden wir aber bei Somlo kein Wort, wenn wir nicht etwa hierhin die
dürftigen Sätze rechnen wollen, Macht und Recht seien nicht einfach (!)
gleichzusetzen (no) und es könne die physische Macht mit der gei-
stigen in enge Verbindung treten (109). Im Gegenteil wirkt geradezu
köstlich das Erstaunen in dci Schilderung, wie sich einer politischen
Schrift zufolge die Rechtsmacht in — China dem Moralgesetze zu unter-
werfen habe, falls ihr nicht das Amtsgebäude über dem Kopfe ein-
gerissen werden soll (115 f.). Der absolute Richtigkeitsanspruch ethischer
Normen bildet dem Verfasser eben nur eine andere I3edeutung des
Wortes Recht (122), an die sich zwar allerhand philologische Er-
innerungen anknüpfen lassen, öer aber seine juristische Grundlehre jede
.\nalyse versagen und d'e mat^erielle Bedeutung absprechen zu müssen
glaubt, obschon sie selbst die ganze Erscheinung bald darauf (125) als
ein anderes Recht, ein Recht in einem höheren Sinne bezeichnet!
Hierbei ist Somlo ganz der herrschenden Lehre zum Opfer gefallen,
deren moralischer Defekt sogleich unter IIL besprochen werden wird.
Der andere Teil des Somlöschen W^erkes ändert bei uns eben-
sowenig an dessen grundsätzlicher Wertschätzung wie gelegentlicher
Kritik, die wir hier — um von seinem uns weltenfernen Staatsrechte
ganz zu schweigen — besonders gegen den Schlußparagraphen (524 f.)
richten müssen. Nachdem in diesem Exkurs über das Wesen der so-
genannten juristischen Fiktion — in Wiederholung der Fehler der herr-
f.^Q Biicherbesprechung,
sihenden Lehre — eine mangelhafte Begriffsbestimmung der Verweisung
für die der Fiktion ausgegeben ist'), heißt es in Anlehnung an Lehren
der Stammlerschen Rechtstheorie weiter: Das Gebiet der Fiktionen
sei Behauptungssätze; Bestimmungssätze — wie die Rechtsnormen —
könnten eigentlich (!) gar keine Fiktion im allgemeinwissenschaftlichen,
nicht juristischen Sinne enthalten; Befehle oder Versprechen böten ihrer
logischen Bedeutung nacli, da sie sich nicht auf Seinsbetrachtungen
richteten, keine Möglichkeit von Fiktionen; wie diese im Rechte nur
dem Ausdrucke, nicht dem Wesen nach platzgreifen könnten, so unter-
schieden sie sich aucli nur dem Ausdrucke, der Form, nicht aber dem
Wesen nach von einer Ausnahme oder Verweisung und ließen sich allemal
in einfache Bestimmungsgrundsätze auflösen; man könnte doch nicht
jede sprachliche Metapher als wissenschaftliche Fiktion bezeichnen.
Rückwärtsgehend entgegnen wir dem: Jede wahre sprachliche Metapher
ist eine Fiktion, deren Wesen sich logisch und erkenntnistheoretisch —
wie Vai hingers Philosophie des Als Ob radikal dargelegt hat — von dem
der wissenschaftlichen Fiktion nicht unterscheidet. Juristische Fiktionen
weichen gelegenthch von einer Ausnahme oder Verweisung nicht nur
ourch Ausdruck und Form, sondern auch durch ihr Wesen ab, wenn
sich dieses nämhch in historischen oder von mir sogenannten rück-
wirkenden und rechtsschöpfenden Funktionen offenbart. (Vgl. §§ 9 und
10 meiner in Anmerkung i genannten Schrift.) Es ist ferner unmögHch,
folgende rückwirkende Fiktionen in einfachere Bestimmungssätze auf-
zulösen: Werden anfechtbare Rechtsgeschäfte oder anfechtbare Ehen
angefochten, so sind sie als von Anfang an nichtig anzusehen (BGB.
§§ 142 und 1343). Vom fiktiven Ausdrucke hängt die juristische
Fiktion nicht ab; ihr Wesen versteckt sich auch manchmal, wie z. B. in
BGB. §§ 1593 oder 1329, der lautet: „Die Nichtigkeit einer nach den
§§ 1325 bis 1328 nichtigen Ehe kann, solange nicht die Ehe für nichtig
erklärt oder aufgelöst ist, nur im Wege der Nichtigkeitsklage geltend
gemacht werden. Das Gleiche gilt von einer nach § 1324 nichtigen Ehe,
wenn sie in das Heiratsregister eingetragen worden ist." Es bilden also
auch Befehle und Versprechen, die sich nicht auf ein So-Sein, sondern
auf ein Sein-Sollen richten, Möglichkeiten für fiktive Formen, wie ja
von Kant der kategorische Imperativ auch einmal in die fiktive Form
gekleidet wurde: ,, Handele so, als ob deine Maxime zugleich zum
allgemeinen Gesetze (aller vernünftiger Wesen) dienen sollte !" Die Mög-
lichkeit normativer Fiktionen läßt sich füglich also ebensowenig leugnen,
wie der Wert von ihnen als gelegentlich passendsten Ausdrucksmitteln.
in. Wieviel Anregung davon ausgehen kann, wenn sich endlich
wieder einmal ein Philosoph von Fach den juridischen Begriffen und
Theorien zuwendet, lehrt Nelsons neuestes Werk: Die Rechtswissen-
schaft ohne Recht.-) Freilich müßten wir hiernach völlig von vorn an-
^) Näheres hierzu in §§ 3 IV und 4 111 meiner demnächst im Verlage von
Felix Meiner, Leipzig, erscheinenden Monographie ,, Rechtserkenntnistheorie und
Fiktionenlchre".
-) Ltonliard Nelson: Die Rechtswissenschaft ohne Recht. Kritische Bt-
Bücherbesprechung. 66q
fangen. Denn viel soll von den herrschenden Lehren nach dieser Kritik
keinen Bestand haben, zum wenigsten aber ihre Grundlagen und Ziele.
Was fällt ihr alles zum Opfer! Die verbreitete Begründung des Staats-
und Völkerrechtes durch die Jellinekschen Lehren von dem Staats-
willen und der Souveränität soll lediglich auf wissenschaftlichen Un-
klarheiten, logischen Selbstwidersprüclicn und politischen, aber nicht
rechtlichen Tendenzen beruhen (i. und 2. Kapitel). Von Liszts und
Ilubers Lehren von den völkerrechtlichen Grundrechten und der Gleich-
heit der Staaten sei jene nur durch Wortkünste zu verdeckender leerer
Scholastizismus und die daraus abgeleiteten Normen seien naturrechtliche
Truggebilde, diese aber laufe darauf hinaus, die kleinen Staaten um so
schutzloser der Willkür der Großmächte auszuliefern, je verführerischer
für sie der Anschein sei, darin ein Palladium ihrer Freiheit zu besitzen,
während Oppenheims viel beachteter Verfassungsentwurf für die
Staatengemeinschaft und seine Betrachtung über die Zukunft des Völker-
rechts mit Blindheit gegenüber den greifbarsten und dringendsten Pro-
blemen auf diesem Gebiete geschlagen sein soll (Kap. 3 bis 5). Die
geschichthche und philosophische Begründung des Relativismus durch
Kohler und Radbruch bedeutet dem Verfasser nur Sophistik und
Widersprüche in sich (6 und 7). Nicht nur die folgerechte Machttheorie
Kaufmanns, sondern auch Anschütz, Zitelmann und Ileilborn
wie Triepel, Nippold und Schoen hätten den Rechtsbegriff ignoriert;
endlich habe Binding mit seiner Lehre von der fiktiven Natur der
Rechtspfhcht diesen Nihilismus auch im Privatrecht erklärt (8 bis 10).
Ein Herostratos also, der lediglich eitlen Nachruhmes willen die
Brandfackel gegen das Wunderwerk d.er Kultur schleudert ? Und müssen
wir zu diesem Urteile nicht um so eher gelangen, als auch im Tone wieder-
holt über den Wissenschaftler der leidenschaftliche Agitator derartig die
Oberhand erringt, 'dai3 er die Sachlichkeit verlierend, die iVngegriffenen
persönlich verletzen muß, ja sogar geeignet ist, deutsche Wissenschaf t
und deutsches Wesen vor Freund wie Feind mit schändlichen Unter-
stellungen herabzusetzen? Und wenn Nelson z. B. (S. 65) folgenschwer
meint, kein Jurist werde die Behauptung wagen, daß das Interesse an
der Selbsterhaltung den einzelnen berechtige, sich über alle seiner Be-
friedigung im Wege stehenden Rechtsnormen hinwegzusetzen, da das
Recht der Menschen wegen, nicht aber die Menschen des Rechtes wegen
da seien — würden hiergegen die Juristen nicht einstimmig Widerspruch
erheben und darauf hinweisen, wie das Lebensinteresse im Notwehr-
und Notstandrecht aller Länder wie aller Zeiten sogar gesetzlichen Aus-
druck gefunden habe ?
Und doch: Wie andererseits jede Seite Zeugnis für die ungewöhnHchen ,
Fähigkeiten und Kenntnisse Nelsons ablegt, wie beispielsweise allein
durch die glänzenden Ausführungen auf S. 60 der Wortfetischismus der
Souveränität als Rechtsbegriff für immer hinweggefegt ist — so bilden
auch die Bruchstücke positiver Arbeit, die hier und da aus der Stick-
trachtungen über die Grundlagen des .Staats- und Völkerrechts, insbesondere über
die Lehre von der Souveränität. (Leipzig 1917; 251 Seiten.)
f^-Q Uücherbesprechunc;.
luft zcrslörcmler Polemik liervorwachsen, wichtige Leuchtfeuer an der
Kahrtrinne der Erkenntnis, selbst wenn wir über sie hinaus sonnigeren
Küsten zustreben.
Den wabernden Stoff gibt diesen Feuerschiffen die Idee der Ge-
rechtigkeit; die Oriflamme unserer Zeit, die metaphysische Sehnsucht,
loht hier aus der kritischen Philosophie hervor: Es gilt für Nelson, mit
Ludwig von Bar, seinem gefeierten Vorläufer (Kap. ii), die am Anfang
unseres Jalirhunderts vor dem politischen IMachtstandpunkte verblaßte
Idee des Rechts in ihrer Bedeutung wieder zu erkennen. ,,Was kann
das für ein Gebot sein, das nur durch die Macht des Befehlenden gilt
und das also nicht durch eine ihm selbst innewohnende Notwendigkeit,
sondern nur vermöge der durch jene Macht mit seiner Erfüllung oder
Verletzung verbundenen Folgen zur Befolgung nötigt ? Ein solches
Gebot ist ein hypothetisches, aber kein kategorisches Gebot, d. h. es ist
für die ihm Unterworfenen ein Gebot der Klugheit, aber keine Rechts-
norm."
Nein! Das Recht hängt für Nelson von willkürHcher Festsetzung
nicht ab. Seine Normen haben als solche allgemeine, aber nicht relative
Gültigkeit; anwendbar werden sie allerdings nur dann, wenn einer der
Fälle, für die sie gelten, wirklich eintritt; auch wenn sie nicht allgemein,
(1. h. jederzeit und allerorten anwendbar sind, so sind sie doch allgemein
gültig. Ihre Objektivität offenbart sich darin, daß sie von der Vorstellung
des Menschen unabhängig sind. Der Geltungsgrund eines Gesetzes kann,
wenn es überhaupt einen gibt, nur \\äeder in einem Gesetze und nie in
einem Willen liegen. Die Unabhängigkeit vom Willen hegt unmittelbar
in der vom Begriffe des Gesetzes nicht zu trennenden Allgemeingültig-
keit. Rechtserkenntnis ist ihm aber treffend praktische Erkenntnis,
und diese lasse sich nicht auf theoretische Erkenntnis zurückführen;
das Problem des Erkenntnisgrundes des Rechts sei also — hier werden
wir auch an Fichte erinnert — das Problem der Kritik der prak-
tischen Vernunft: es werde gelöst durch die psychologische Auf-
weisung einer unmittelbaren praktischen Vernunfterkenntnis. Von dem
durch Kant gelegten und mit wissenschafthchster Strenge erneut zu
festenden Grunde der Kritik der praktischen Vernunft aus müsse man
zu einer ehrlichen Metaphysik des Rechts zurückkehren und damit die
Rechtslehre in wissenschaftUch gesunde und zugleich für die höchsten
praktischen Zwecke des Lebens fruchtbare Bahnen zurücklenken.
Wenn auch in dem uns vorliegenden Werke diese letzten Probleme
über die Erkenntnis des Rechts und ihr Verhältnis zur Kritik der prak-
tischen Vernunft wegen ihres allzu knappen Vortrages nicht restlos
überzeugen, so sind sie doch nebst vielen anderen für das Staats- und
Völkerrecht von den angedeuteten Gesichtspunkten aus gezogenen
Folgerungen zumindestens so anregend, daß wir in grundsätzlicher Be-
anstandung nur gegen das Eine vorgehen wollen: Die dem ganzen
Werke verhängnisvoll gewordene Vermengung des Begriffs und der
Idee des Rechts. Der Begriff des Rechts muß m. E. auch die Gesetze
des Zwingherrn unter sich begreifen (vgl. oben Absatz II. unserer Be-
sprechungen); denn wollte man mit Nelson unter positivem Rechte
Bücherbesprc-chung. 6? I
die für ein Volk bestehende Verbindlichkeit der in ihm durch Ge-
wohnheit und Gesetzgebung bestimmten Verkehrsregeln verstehen (S. 20),
so entfiele jede Möglichkeit zur erstrebten Abgrenzung des Rechts .von
den anderen Normengruppen der Sitte und Sittlichkeit, da sie uns dann
auch nur als ,, Verbindlichkeit der durch Gewohnheit bestimmten Ver-
kehrsregeln" erscheinen müßten, womit wir an Stelle des durch Nelson
verpönten politischen Rechtsnihilismus einen moralischen Rechtsnihilis-
mus gesetzt hätten. Die Idee des Rechts hingegen meint — wie jüngst
Rudolf Stammler, dieser große Anreger moderner Rechtsphilosophie,
wieder betont hat — indessen das große unwandelbare, ewig gültige
Moralprinzip der Gerechtigkeit, wie es schon von den römischen Juristen
klassisch ins Irdische übersetzt worden ist, als der feste Wille, niemanden
zu verletzen und jedem das Seine zu geben. Das Seine: also nicht das
Gleiche! Müssen wir doch immer der besonderen Lage des Einzelfalles
Rechnung tragen. Auch ist beim Zusammenstoße von Interessen nicht
der Mächtigere als solcher zu begnaden, sondern der schutzwürdigere
Wert. Das Entscheidende für die Abwägung, das Kriterium der Schutz-
würdigkeit finden wir m. E. in der Erhaltung und Entwicklung wahren
Menschtums, in der Festigung und Betätigung des Geistig-Sittlichen,
im Schutze wie in der Ausbreitung und Vertiefung der Kultur. ,,Die
Gewißheit einer Gesinnung, die mit dem moralischen Gesetze überein-
stimmt, ist aber die erste Bedingung des Wertes einer Person" (Kant).
Wird uns mithin das Ideal zu einem realen Faktor im menschUchen
Handeln, so muß der Ausgleich der von Nelson bekämpften ,, Rechts-
wissenschaft ohne Gerechtigkeit" mit seinen Ansichten m. E. seiner
grundsätzlichen Bedeutung halber die vornehmste Aufgabe künftiger
Moral- und Rechtsphilosophie bilden, eine Aufgabe, deren Richtung
nicht schöner ausgedrückt werden kann als durch das Wort des großen
Kantianers :
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
IV. August Sturm^), der seit 1883 wohl vierzehn metajuristische
und rechtsphilosophische Werke sowie annähernd ebenso\aele fach-
wissenschaftliche Schriften veröffentlicht hat, hat bislang die Wissen-
schaft kaum beeinflußt, trotzdem die Zukunft sicherlich manchen seiner
Anregungen nachgehen wird.
Das Eigenartige seiner Rechtsphilosophie, deren Richtung er neuer-
dings als deutsch-psychologische bezeichnet, besteht einmal nach ihm
selbst im entwicklungsgeschichtlichen Philosophieren nach Darwinscher
1) Justizrat Dr. August Sturm: Die psychologischen Grundlagen des
Rechts (1910, 531 Seiten); Grundlagen und Ziele des Rechts, besonders des heutigen
Völker- und Friedensrechts (1916. 72 Seiten); die deutsch-psychologische Grund-
lage des Rechts, insbesondere des Völkerrechts der Gegenwart als Gegenstand der
Philosophie (1917, 46 Seiten); Recht und Völkerrecht unserer Zeit im Lichte der
deutschen Rechtsphilosophie (191 8, 48 Seiten) — diese Schriften -werden oben nach
ihren Erscheinungsjahren angeführt — sowie Fiktion und Vergleich in der Rechts-
wissenschaft (1915, 115 Seiten).
<^-2 Bücherbesprechung.
Weise auch im Recht (1918, S. 24) und sodann in der Begründung des
Rechts auf dem Gefühle. Diese Gedanken bilden die Grundlage aller
seiner Schriften und werden z. B. in seinem Hauptwerke von 1910
(S. 21) bezeichnenderweise wie folgt zusammengefaßt: Jetzt nach meiner
Theorie ist das Recht ein in allen Menschen als durch Zuchtwahl
erworbenes Rechtsgefühl, das durch historisch entwickelten psycho-
logischen Zwang in allen Menschen an Gesetz und Übung Rechtsgefühi
geworden ist, waltende Anpassung im exakten Sinne Darwins; historisch
notwendig, final entwickelt, arterhaltend.
Aufs nachdrücklichste betont zu haben, we Ursprung und Wachsen
des Rechts aus unserem Gefühlsleben hervorquillt, bildet m. E. eines
der beiden Hauptverdienste der gesamten Sturm sehen Lehre. So hat
auch Sturm zur Überwindung der seichten Strömungen mitgeholfen,
die im Recht nur logische Konstruktionen sahen, dabei jedoch, ähnlich
wie Stammler, nicht genügend beachtet, wie stark bei der Aufstellung
von Rechtssätzen auch unser Intellekt, unser erkennendes Bewußtsein
mitarbeitet. Den zweiten grundsätzlichen Fortschritt, den Sturm
l)ringt, bildet die deszendenztheoretische Betrachtung des Rechts als
rtwas Arterhaltenden. „Wir nehmen an, daß mit dem Menschen in seiner
Mehrheit Sprache und Recht da waren, nachdem sprach- und rechtlose
Wesen vorher in Jahrmillionen sich eijtwickelt, weiter gebildet und zum
Teil den Untergang erhtten haben, da nur das Recht die Art Mensch
zu erhalten vermag," wobei Sturm unter der Art Mensch offenbar
den homo sapiens Linne im Gegensatze zum homo alalus primogenius
Haeckeli versteht. Die Unerläßlich keit von Rtch seimichlungen für die
menschliche Gesellschaft ist zwar schon früher gelegentHch von anderen,
beispielsweise von Kant sowie von Ihering angedeutet worden; aber
i^rst der von Sturm herbeigebrachte Gesichtspunkt von der Vererbung
und i\npassung des im Kampf ums Dasein höhergezüchteten Rechts-
triebes hat m. E. volles Licht auf den Rechtsursprung geworfen.
Wenn diese beiden begrüßten Anregungen auch noch des systemati-
schen Ausbaues bedürfen, so möchte ich sie doch höher schätzen als
viele anderen Folgerungen Sturms. Greifen wir von diesen nur einige
grundsätzHche Lehren heraus! So spricht das Werk von 1918 viel vom
„psychologischen Zwang an Gesetz und Übung"; früher aber meinte
der Verfasser wiederholt, das Recht zwänge nie, es reagiere nur immer
nachhinkend (z. B. 1916 S. 39). Diese beiden Sätze erscheinen mir
widerspruchsvoll, da nach dem ersten auch die Seele zur Rechtsbefolgung
gezwungen wird, nach dem zweiten aber ein Zwang nicht stattfinden
soll und die frühere Meinung nicht widerrufen, sondern durch die Lehre
von den Rechtsreaktionen auch neuerdings wiederholt ist. — Nach
dieser ebenfalls grundsätzlich zu beanstandenden Theorie von den
Rechtswirkungen gibt es „fünf in der Rechtsgeschichte gewordene Rechts-
reaktionen": Zwangsvollstreckung, Strafe, Notwehr, Duell und Krieg
(1910 S. i79f., 1916 S. 2, 1917 S. 17, 1918 S. 21). Setzen wir uns über
die ernsten Bedenken, auch Duell und Krieg als Recht.sreaktionen an-
zusehen, liinweg, so fällt doch noch die Unvollständigkeit schwer in die
Wage. Denn Einzieluing der Verbrechensgegenstände — beispielsweise
Bücherbesprechung. 6? ^
des fremden Jagdgewehres — und Bußen sind ebenso wie Feststellungs-
urteile^ Fürsorgeerziehung, Ausweisungen lästiger Ausländer u. a. m. in
der Rechtsgeschichte gewordene Rechtsreaktionen, fallen aber nicht
unter die von Sturm aufgeführten Gruppen.
Ebensowenig kann ich mich zu Sturms Grundansichten über das
Völkerrecht bekennen. Danach erschöpft sich dieses nämlich im so-
genannten Friedensrecht; ein Kriegsrecht soll es aber nicht geben. Da
jedoch der Krieg in Notwehr nach Sturm selbst Rechtsreaktion ist,
dieser (z. B. 1918 S. 28 u. 34) auch „Normen über den Krieg, Kriegs-
regeln" anerkennt, könnte man ebenso unfruchtbar .das Strafrecht
leugnen und lediglich Normen über die Strafe gelten lassen.
Edler Menschlichkeit auf nationaler Grundlage sind die Ziele ent-
sprungen, die Sturm dem Völkerrechte zuweist. Nach ihm (1916 S. 57f.)
muß Mitteleuropa mit der Durchdringung des deutschen Friedens- und
Kulturgeistes einen Friedensbund ohne Haß und Neid stiften, dessen
machtvolle Ideen sich auch die Anderen werden anpassen müssen. Wenn
er jedoch einen Frieden der befreundeten, aber nicht vereinigten Staaten
Europas erhofft, so greift er damit der Entwicklung für absehbare Zeit
voraus, hält sich indessen von weltfremdem Pazifismus doch insoweit
fern, wie er einen ewigen Frieden im Sinne Kants für unmöglich, einen
alle Kulturwerte bietenden langen Frieden aber als erstrebenswert be-
zeichnet. Es gilt für Sturm nur, das Rechtsgefühl in uns mit seiner
Friedensforderung höherzuzüchten, und dafür nennt er zwei Haupte
mittel: einmal den Ausbau der zwischenstaatlichen Schiedsgerichtsbar-
keit königlich gestellter Richter der Nationen und zweitens die Errich-
tung von besonderen Lehrstühlen für Rechtspsychologie. Für dieses
Kolleg schwebte dem Verfasser noch 1916 (S. 17) als Gegenstand
lediglich eine Art angewandte Psychologie für Juristen vor, wobei er
— unter Außerachtlassung der Psychologie der Zeugenaussage — nur
Materien nennt, die jetzt m. E. durchaus zweckentsprechend grund-
sätzlich teils in der allgemeinen Strafrechtslehre und teils im Kolleg
über Rechtsphilosophie, ergänzend auch in den psychiatrischen Vor-
führungen für Juristen behandelt werden; in den letzten Schriften spricht
Sturm dagegen von einer deutschen Rechtspsychologie als Universi-
tätsvorlesung, betont dabei, das Recht habe als Ausfluß der geschichtlich
verschieden gearteten Volksseele eine nationale Grundlage (191 7 S. 46
und 1918 S. 23), und kennzeichnet die Lage treffend wie folgt: ,, Völker-
rechtsgefühle erstickt der Engländer brutal absichtlich; diesen Zweig
des Rechts will er nicht kennen. Aber gegen das Recht wird er sich nicht
mit Erfolg auf Dauer wehren; es sind auch andere Nationen neben ihm
auf der Erde, die ihren Besitz haben, die der Kolonien bedürfen, die
sich zu schützen wissen, wie die Deutschen, die auch durchsetzen werden,
daß ihnen die Früchte dieses Krieges bleiben, die nicht im Rechte nach
diesen Weltgreueln verzichten, des Blutes der Opfer gedenkend. — Die
Psychologie der Engländer ist eine ganz andere, als die deutsche. Die
rein egoistisch beschränkte Veranlagung der Engländer , . . steht der
Jugendfrische der deutschen Seele . . . schroff gegenüber . . . Der
Hauptgrund des Gegensatzes ist: dem Engländer fehlt jedes Rechtsgefühl
Annalen der Philosophie. I. 43
ßjA Bücherbesprechung.
gegen Nichtengländer, er ersetzt dort Recht durch brutale Gewalt/' —
oder durch gemeine Heuchelei, wie wir hinzufügen.
Wenn Sturm es hier auch an positiven Andeutungen über die
britische Vergewaltigung des Gedankens der Humanität sowie des
Blockade-, Konterbande- und Neutralitätsrechtes fehlen läßt, so stimmen
wir doch rückhaltslos seiner Forderung zu, indem wir mit ihm und der
vor Jahresfrist gegründeten Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht
wünschen, die deutsche Rechtsauffassung bei uns wie im Auslande zu
fördern sowie den moralischen Druck der öffentlichen Weltmeinung zu
unseren Gunsten zu gewinnen und zu stärken.
Aus der Fülle der vielseitigen und anregenden Gedankengänge, die
ausgearbeitet schon im Hauptwerke von 1910 dargeboten werden, uns
aber in den späteren Heften unter nicht immer klaren Verkürzungs-
formen, zuweilen auch unter bedenklich erleichterter Problemstellung
wieder begegnen, muß uns hier das Erwähnte genügen. Einen eigen-
artigen, manchmal freilich weitschweifig-ermüdenden Zug erhalten alle
Schriften durch die fortgesetzte Stellungnahme zum älteren und neueren
Schrifttum der verschiedensten Wissenschaften. Für die folgenschweren
Mißverständnisse, die dabei allerdings gelegentlich in aller Vorurteils-
losigkeit unterlaufen, sei nur ein Beispiel angeführt: In der Ab-
handlung über Fiktion und Vergleich in der Rechtswissenschaft, wo
sich Sturm angeregt mit Vaihingers Philosophie des Als Ob aus-
einandersetzt, bezeichnet er sich (besonders S. i4f.) insoweit mit diesem
in Übereinstimmung, als er — wie Vaihinger im allgemeinen — so für
das Recht im besonderen die Empfindung als Letztes setze; denn die
Rechtsempfindung sei ihm der Felsengrund alles Rechts, Nun, das
Zurückgehen auf letzte psychologische Vorgänge bildet in der Tat eine
gewisse Verwandtschaft in den Grundanschauungen und Ausgangs-
punkten beider Forscher. Aber von der Anerkennung einer Rechts-
empfindung bleibt m. E. Vaihinger weit entfernt, bedeutet doch für
ihn — wie für die gesamte neuere Fachpsychologie ■ — Empfindung den
Erfolg eines Reizes, den ein Objekt auf unsere Sinnesnerven ausübt,
aber Gefühle schlechthin nicht hervorzurufen braucht, wie wir ja auch
empfindungsleere Gefühle kennen. Die fortgesetzte sachliche wie be-
griffliche Vermengung von Empfindung mit Gefühl, ja sogar mit Trieb
tut dem Erkenntniswerte der Rechtspsychologie im letztgenannten Werke
und dem von 1916 nicht unerheblichen Abbruch. Wenn übrigens dort
Sturm ebenfalls in Anlehnung an Stammler die Bedeutung der Fiktion
für die Willenswelt des Rechts bestreitet, so verweisen wir demgegen-
über auf unsere Ausführungen oben unter II am Ende und unsere
daselbst angeführte Einzeldarstellung; die Schlußbehauptung aber, einen
fingierten Willen gäbe es nicht (so auch 1916 S. 32), wird schon dadurch
widerlegt, daß man gelegentlich nur so tut, als wollte man . . . ., sowie
durch die schönen Erfolge, die man durch eine derartige Finte erreicht.
Auf die metaphysische Spekulation des Verfassers, die sich z. B. in
§ 6 und § 7 der Schrift von 1918 breit auf einer Weltliebe als Gegen-
seitigkeit von Mensch und Welt aufbaut, das Auge sonnenhaft und die
Sonne augcnhaft nennt — dabei allerdings die ultra-roten und ultra-
Bücherbesprechung. 675
violetten Strahlen wohl nicht in den Kreis der Betrachtungen gezogen
wissen will — , nach der das Menschenrecht in seiner Weltliebe soweit
geht, daß es alles auf den Besitz stützt, und wonach auch das Atom,
ehe es in nichts übergehe, besitzt (1916 S. 49): darauf brauchen wir
hier nicht näher einzugehen. Immer aber zeugen die Schriften von
tiefstem sittlichen Ernste wie von einem unermüdlichen Streben nach
Erkenntnis — und darin hat Sturm ganz recht: Das Herz macht den
richtigen Juristen!
Praktische Erziehungskunst für das neue deutsche Volk. Von
Dr. Otto Gramzow. 188 S. Charlottenburg 1917, Georg Bürkners
Verlag.
Aus der erzieherischen Praxis in inniger Berührung mit der seelischen
Eigenart des Kindes gewonnen und getragen von einem feinen Ver-
ständnis für die nationalen und kulturellen Notwendigkeiten unseres
Volkes bildet Gramzows Erziehungsbuch eine erfreulich lebensnahe
Erscheinung unter der Hochflut pädagogischer VeröffentUchungen.
Gramzow will mit praktischen Winken der häuslichen Erziehung
dienen und das Verhältnis zwischen dieser und der Schulerziehung durch
starke Betonung eines eingehenden Studiums der Menschen- und Kindes-
natur organischer gestalten. Die Pädagogik ist ihm eine Kunst, das
Wissen von ihr eine Kunstlehre. So stellt er die Persönlichkeit des
Erziehers in den Vordergrund. Um diese und seine Tat gruppiert sich
das erzieherische Vollenden. Man könnte Gramzows Werk den Ver-
such einer Erziehung zur Tat durch die Tat nennen. Dennoch wird die
Wirksamkeit der Ideale in der Erziehung nicht verkannt. Zwar läßt
es sich Gramzow angelegen sein, auf die wirklichkeitsferne Verstiegen-
heit kosmopolitischer Schwärmereien hinzuweisen und vor ihnen dringend
zu warnen, doch ist er selbst deswegen nicht jedes Idealismus bar. Er
gewinnt vielmehr seine Erziehungsideale in richtiger Einschätzung der
Wirklichkeit. Er leitet die Aufgabe der Erziehung aus den Aufgaben
ab, die Zeitlage und Umgebung an die Nation stellen und formuliert
deshalb: leibliche und geistige Kraftbildung bis an die äußersten Grenzen
der Möglichkeit, Vertiefung des Sinnes für Hein>at und Volkstum. — Es
ist hier nicht der Ort, im einzelnen auf die Fülle praktischer Gesichts-
punkte einzugehen, die Gramzow mit großer Sorgfalt und Liebe für
das Kind und mit ausgeprägtem realpolitischen Verständnis entwickelt.
Es sei nur festgestellt, daß wir wenig Werke pädagogischen Charakters
kennen, die so mitten in der Sache stehen wie das seinige, mag man
sich zu seinen theoretischen Begründungen (auch an diesen fehlt es nicht,
obwohl sie bei der ausgesprochen praktischen Einstellung des Buches
wenig in den Vordergrund treten) verhalten wie man will.
Erwähnen möchten wir bei dieser Gelegenheit, daß der Verfasser
(S. 96) insofern Stellung zum Fiktionalismus nimmt, als er die Fiktion
der Willensfreiheit für die praktischen Wissenschaften (Erziehung
43*
(576 Bücherbesprechung.
und Rechtspflege) ablehnt. „Die Voraussetzung der Willensfreiheit ist
in den praktischen Wissenschaften keine Fiktion oder bewußt falsche
Annahme, wie Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als Ob
zu beweisen gesucht hat, sondern gründet sich einfach auf Erfahrung."
So einfach erscheint uns die Sache nun nicht. Die Willensfreiheit kann
nicht Gegenstand irgendeiner Erfahrung sein, sie stellt vielmehr in der
Geschichte der Erziehung wie der Rechtslehre ein heiß umstrittenes
Dogma dar. Daß dieser Streit um leere Worte geht, solange es sich um
die „objektive Tatsache" der Willensfreiheit handelt, und daß dieser
Streit nur Sinn hat, wenn er um die ,, praktische Brauchbarkeit" der
fiktiven Annahme einer Willensfreiheit geführt wird, dafür hat Vaihinger
Verständnis wachrufen wollen. Es ist ein Mißverständnis, wenn man den
Fiktionalismus ledigHch so interpretiert, wie es Gr. tut, daß man den
Ton auf die ,, Falschheit" einer fiktiven Annahme, somit auf ihre Ver-
wandtschaft mit dem ,, Irrtum" legt. Der viel wichtigere Gesichtspunkt,
den Gr. scheinbar ganz aus dem Auge verliert, ist die „Nützlichkeit"
einer solchen. Wenn die Willensfreiheit von Vaihinger als Fiktion
angesprochen wird, so liegt darin eine Veredelung des „Irrtums". Der
Schein wird in die Sphäre der praktischen Brauchbarkeit, praktischen
Notwendigkeit erhoben. Die fiktive Annahme der Freiheit des Willens
ist den praktischen Wissenschaften: Erziehung und Rechtslehre eine
Notwendigkeit, an der ihr ganzer Bestand hängt. Mag die Theorie noch
so überzeugend ein Veto gegen die Richtigkeit einlegen, mag der Streit
um die Willensfreiheit ein Ende nehmen, welches er wolle, für die prak-
tischen Wissenschaften ist allein seine Brauchbarkeit entscheidend.
Da ist es denn kein Wunder, wenn die Rechtslehre den Willen behandelt,
,,als ob" er beeinflußbar wäre, und wenn die Erziehung das Gleiche tut,
d. h. wenn sie als praktische Wissenschaften da keine Probleme sehen,
wo sich die Menschen theoretisch „seit Jahrtausenden" streiten, denn
ohne die wenigstens fiktive Annahme der Beeinflußbarkeit des Willens
ist weder Recht noch Erziehung möglich.
Raymund Schmidt.
Zum Gedächtnis
von
Dr. Fritz Sommerlad
Studienanstaltsdirektor zu Magdeburg
geb. i6. Februar 1866
gest. 2. Mai 1918
Dem Andenken dieses durch die Kriegsentbehrungen
allzu früh dahingerafften Mannes sei dieses Blatt gewidmet.
Sein Name darf und muß hier ehrenvoll genannt werden:
War er doch der erste, der die Begründung dieser Zeit-
schrift als ein Bedürfnis erkannte, forderte und förderte.
Nach ihm hat dann besonders noch Rudolf Goldscheid
und mancher andere denselben Gedanken geäußert, aber
Sommerlad war der erste. Gerade ihm aber war es nicht
mehr vergönnt, das Erscheinen des ersten Bandes zu er-
leben, an dem er seine besondere Freude gehabt hätte.
War doch gerade in ihm der Grundgedanke der Als-Ob-
Betrachtung zu einer lebendigen Macht und zum ent-
scheidenden Ferment seiner Welt- und Lebensanschauung
geworden. Ihm war dieser durch Kant, Schiller, For-
berg und F. A. Lange begründete ,, Standpunkt des Ideals"
zum persönlichen Besitz und zur Grundlage seiner Persön-
lichkeit geworden. Schon längst hatten seine eigenen Studien
auf naturwissenschaftlichem und philosophischem Gebiet
ihn zu ähnlichen Überzeugungen geführt, die ihm durch
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Zum Gedächtnis von Dr. Fritz Sommerlad.
die „Philosophie des Als Ob", wie so vielen anderen nicht erst
gegeben, sondern nur deutlich zum Bewußtsein gebracht wurden.
So wurde er nicht von außen her, sondern von innen heraus ein
Bekcnner der Als - Ob -Auffassung der Ideale, und empfand diesen
Standpunkt des Als Ob als ,, Erhebung und Befreiung".
Das Eigentümliche des seltenen Mannes hat sein Kollege^
Studienrat Dr. Koppe, in einer (auch im Druck erschienenen)
Gedenkrede anschaulich geschildert. Sein früher Hingang hat ihm
die Möglichkeit abgeschnitten, in einem eigenen Werke seine
Anschauungen darzulegen. Aber er hat doch noch eine Ge-
legenheit gefunden, sich öffentlich zu jenem Standpunkt zu be-
kennen. In einer Abschiedsrede an seine Abiturientinnen im
Jahre 1916, die auch im damaligen Jahresprogramm der Anstalt
abgedruckt wurde, hat er seiner Überzeugung unzweideutigen
Ausdruck verliehen.
Wir teilen aus dem Manuskript folgende schöne Stelle mit,
die teilweise wie ein Programm unserer Zeitschrift anmutet.
,,Und wenn ich Ihnen nun weiter von der Weisheit spreche,
„so verstehe ich unter diesem Worte freilich gar mancherlei, was
„ich eben in ein Wort zu fassen gesucht habe. Vielleicht haben
,, gewisse Bemerkungen Friedrich Nietzsches — eines großen
,, Geistes, das soll hier doch noch einmal mit Nachdruck ausge-
,,sprochen werden — dessen Größe und Tiefe man immer mehr
,, erkennen wird — mich darauf geführt, in diesem Worte, im
,, Gegensatz zu Wissenschaft, zusammenzufassen, was ich
„meine. — Wir haben im geistigen Leben nicht nur Wissen-
„Schaft, und wenn eine neuere philosophische Auffassung aus-
, .spricht, daß letzte und höchste Erkenntnisse niemals von der
„Wissenschaft erbracht und geboten würden, so müßten wir ja
,, angesichts dieser Behauptung mit all unserer Wissenschaft be-
,, trübt und erschreckt dastehen — wenn die Wissenschaft die
,, einzige geistige Betätigung für uns wäre. Aber es gibt ja noch
,, andere Kreise menschlicher Geistestätigkeit — auch Sie sind
,,in andere Kreise hier in der Schule eingeführt worden: Da sind
„die großen Gebiete der Kunst, der Sittenlehre, der Religion,
,,dcr philosophischen Wcltbetrachtung. Es sind die Gc-
„bicte, wo der menschliche Geist nicht mehr Gegebenes nur
Zum Gedächtnis von Dr. Fritz Sommerlad. 6 70
trennend und verbindend ordnet, sondern wo er selbst formt.
bildet, gestaltet, schöpferisch tätig wird.
,,Das aber ist Weisheit im weitesten Sinne: in Über-
schreitung des wissenschaftlich Festgestellten oder in
Absehung von dem wissenschaftlich Festgestellten —
bewußt oder auch unbewußt — ,, unbewußter Weisheit froh"
heißt es von den Kindern in Rückerts wundervollem Gedicht:
Aus der Jugendzeit" — das ist Weisheit: selbsttätig und
selbständig geistige Gebilde zu schaffen, die den Menschengeist
als Erkenntnisse befriedigen, die ihn erheben und über der ge-
meinen Alltäglichkeit halten, die ihn zum Handeln zwingen, die
ihm eine andere, besondere, höhere Welt — es ist die Welt des
Ideals — ausgestalten. Weisheit ist es, wenn der Künstler
sein Idealbild, losgelöst, bew-ußt oder auch unbewußt losgelöst
von der gegebenen und durch Wissenschaft geordneten Welt dahin-
stellt— Weisheit ist es, wenn der Religionsstifter seine ideale
Gotteswelt gestaltet und hineinstellt in diese Welt ohne Gott aus
seinem tiefen Religionsempfinden heraus, aus seiner Sehnsucht
nach der großen Allheit in und über dem Leben — und wenn er
die anderen Menschen zu dieser Welt führen möchte — Weis-
heit ist es, wenn der Philosoph seine Welt, eine Welt aus-
gestaltet mit allen seinen Vernunftkräften, in seiner Welt-
anschauung als die wahre Welt darstellt; — Weisheit ist es,
wenn der Sittenlehrer, der Ethiker, eine Welt dahinstellt, frei
und unabhängig von dieser unserer Welt, bestimmt durch innere,
vom Menschen selbst aus sich hineingetragene Gesetze — und
überall ist es für die wahrhafte, bewußte Weisheit dabei so,
daß sie sagt : ich gestalte diese meine Welt, die künstlerische, die
religiöse, die sittliche, die philosophische ohne den Beweis an-
zutreten, daß der Grund und Ausgang dieser Gestaltung wirklich
in der Welt sei — wie könnte sie das beweisen? — sondern wie
wenn er da sei, als ob er da sei — und auf diesem Grunde baut
er auf, nach diesem Maße mißt er den Bau aus. Es entstehen so
überall Welten aus Ideen — und die Ideen sind nicht draußen
da sucht sie der Tor" — sie sind in dem Menschen, er erzeugt sie.
Wie Schiller, der diese Weltauffassung von den Früheren vor
nehmlich ausgebildet und dichterisch mitgeteilt hat, zu uns spricht:
^gQ Zum Gedächtnis von Dr. Fritz Sommerlad.
,,Drum, cdlc Seele, entreiß dich den Wahn
Und den himmhschen Glauben bewahre.
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch das Schöne, das Wahre.
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
Es ist in dir — du bringst es ewig hervor."
,,Was aber die Größesten der Menschen hier an tiefster Weis-
,,heit in diesem allgemeinsten Sinne geschaffen haben, teils in
,, klarstem Bewußtsein, daß sie selbst allein es schufen, teils in
,,dunkelem unbewußten Schaffenstrieb, teils auch im Glauben, um
„nicht zu sagen, im Wahne an die äußere Realität dieser Ideen:
,,an all dem haben wir, haben Sie Anteil bekommen und jeder darf
,, daran nach seiner Art und Kraft weiter bauen — und niemand
,,kann ohne diese Begleiterin Weisheit, die dem Leben erst
„Inhalt und Wert verleiht, auskommen."
HAVE, PIA, ANIMA,
H. V.
c<ll
Eingegangene Bücher.
(Für nicht eingeforderte Schriften wird eine Verpflichtung zur Besprechung nicht
übernommen.)
i Richard MüUer-Freienfels, Das Denken und die Phantasie. Leipzig 1916.
Johann Ambrosius Barth. S. 660 ff.
I Felix Somlö, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917. Felix Meiner. S. 666ff.
I B e r n a r d N e 1 s 0 n , Die Rechtswissenschaft ohne Recht. Leipzig i q 1 7 • Veit & Comp.
S. 669 fl'.
I August Sturm, Die psychologischen Grundlagen des Rechts. Honnover 1910.
Helwing'sche Verlagsbuchhandlung. S. 672 f.
t Derselbe, Grundlagen und Ziele des Rechts, besonders des heutigen Völker-
und Friedensrechtes. Halle a. S. 1916. Fritz Maeunel. S. 672 f.
t Derselbe, Fiktion und Vergleich in der Rechtswissenschaft. Hannover 1915.
Helwing'sche Verlagsbuchhandlung. S. 672 f.
-j- Otto Gramzow, Praktische Erziehungskunst für das neue deutsche Volk, Char-
lottenburg 191 7. Georg Brückners Verlag. S. 676.
* Johannes Volkelt, Gewißheit und Wahrheit. München 1918. C. H. Beck'sche
Verlagsbuchhandlung.
♦Derselbe, Festschrift zum 70. Geburtstag. München 1918. C. H. Beck'sche
Verlagsbuchhandlung.
* P. F. Lincke, Grundfragen der Wahrnehmungslehre, München 1918, Ernst
Reinhardt.
* Wilhelm Koppelmann, Zur Logik der Gegenwart. Bd. I u. IL Berlin 1913
und 19 18. Reuther & Reichardt.
* Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie 11,3. Leipzig 1917.
F. A. Brockhaus.
* Kurt Steruberg, Der Kampf zwischen Pragmatismus und Idealismus in Philo-
sophie und Weltkrieg. Berlin 191 7. Reuther & Reichardt.
»Hermann Otto, Der Prozeß als Spiel. Dresden J018. A. Dresseis Akadem.
Buchhandlung.
♦Bruno Bauch, Immanuel Kant. Leipzig 1917. Göschen.
* Wobbermin, Die religionsphilosophische Methode in Religionswissenschaft und
Theologie. Leipzig 191 5. Hinrichs'sche Buchhandlung.
* James Wobbermin, Die Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung. Leipzig 1917-
Hinrichs'sche Buchhandlung,
» Rehmke, Logik oder die Philosophie als Wissenslehre. Leipzig 1918. Quelle &
Meyer,
•f Besprochen im vorliegenden Bande der Annalen.
* Besprechung in Vorbereitung.
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3
A55
Bd.l
Annalen der Philosophie nnc
philosophischen Kritik
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