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Full text of "Ansichten und Aussichten, ein Erntebuch: Gesammelte Studien über Musik, Literatur und Theater"

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Ernst von Wolzogen ^M 

Ansichten und Aussichten 

Ein Erntebuch 



Oesammelte Studien über Musik, Literatur 
und Theater 




Berlin, 1908, F. Fontane Bf Co. 



V. 









Meinen unbekannten Freunder 

gewidmet 



Ex Lib 



ns 




Johannes 
Schröder 



S.Hl. 



Vorwort. 



i 



^^^r Vorwort 

^^F Ich halte es fUr einen recht soliden und 

empfehlenswerten Grundsatz, nur über Dinge zu 
schreiben, von denen man wirklich etwas versteht. 
Ich bin kein Journalist, kein berufsmäßiger Kritiker. 
Die Fähigkeit, die der gute Journalist haben muß, 
sich über alles und jedes in der Welt rasch zu 
orientieren und klar, flüssig, womöglich gar geist- 

■ reich darüber zu schreiben, geht mir vollständig 
ab. Und zum Kritiker fehlt mir die kühle Ob- 
jektivität des Denkens, das Lustgefühl des Anatomen 
und Chirurgen, der mit seinem grausamen Messer 
die Erkenntnis fördern und das schädliche Böse 
^^ am nützlichen Guten reinlich trennen will. Ich bin 
^ft ein Schaffender und zehre als solcher von meiner 
^H Leidenschaft. Ich liebe und hasse mit der Leiden- 
^r Schaft des Künstlers, und deshalb bin ich geneigt, 
das, was ich liebe, zu überschätzen, das, was ich 
hasse, ungebührlich zu verachten. Wenn ich souach 
mich seiher für einen schlechten Kritiker halten 






mu3, so kann ich doch nicht glauben, daß meine^ 
Betrachtungen aus dem Gebiete der Künste, 
denen ich als Selbstschaffender wirklich etwas ver- 
stehe, ganz wertlos sein sollten. Die Aufsätze, die 
ich in diesem Bande zusammengetragen habe, sind 
nicht bestellte Arbeit im Dienste aktueller Bericht- 
erstattung, sondern aus innerer Nötigung, aus einem 
gewissen Gefühl der Verpflichtung heraus entstanden. 
Als Schaffender habe ich mich nunmehr etwa dreißig 
Jahre lang auf allen Gebieten der Dichtkunst und, 
dilettantisch, auf fast allen Gebieten der Musik be- 
tätigt, und ich darf mir das Zeugnis geben, daß 
ich es mit meiner Arbeit niemals leicht genommen 
habe, selbst dann nicht, wenn die Not mit ihrer 
Peitsche mir im Nacken saß und mich zwang. Un- 
erhebliches und Unfertiges hinauszugelien. Ich 
produziere zwar verhilltnismäßig leicht und rasch, 
aber nur in Hinsicht auf die Formgebung, wogegen 
ich mir viel Zeit lassen muß, bevor eine erste Idee 
sich in Gestalten und Handlung umgesetzt hat. 
Was ich also hier biete, sind Betrachtungen eines 
nachdenkenden Künstlers über diejenigen Gebiete 
der Kunst, in denen er sich selbst mit Eifer und 
Erfolg betätigt hat. Als Sohn eines Intendanten 
bin ich mit dem Theater von Jugend auf verwachsen 
und habe reichlieh Gelegenheit gehabt, mich bei 
meinen eignen theatralischen Unternehmungen so- 
wie als Spielleiter des akademisch -dramatischen 



es auch, daß der Kritiker von wirklichem Beruf 
sich durch diese EmptitKllichkeit der SchafTenden 
uiemals irreiDachen lassen kann noch darf, daß es 
ihm weit mehr darauf ankommen muß, die Über- 
legenheit seines Geistes und die feinen Künste seiner 
Feder zu beweisen, als die Gefühle der SchafFendeik 
zu schonen. Vielleicht ist es als ein liebenswürdiges 
Entgegenkommen der ausgleichenden Gerechtigkeit 
anzugehen, daß der Kritiker, der dem Künstler ins 
Handwerk pfuscht, sich vor der Öftentlichkeit weit 
grtlndlicher blamiert als der Künstler, der sich 
einmal als Kritiker versucht. Für die Schmach 
und Schande , die er so oft wehrlos über sieh er- 
gehen lassen muß, freilich nur ein geringer Trost! 
Die in diesem Buche vereinigten Aufsätze bilden 
eine Auslese aus dem , was ich im Verlaufe von 
nahezu 25 Jahren Über Musik, Theater und Literatur 
in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht habe. 
Sie spiegeln also ein Vierteljahrhundert Kultur- 
geschichte wider und dürften darum nicht nur dem 
künftigen Geschichtselireiber unserer künstlerischen 
Kultur einmal von Nutzen sein, sondern sogar dem 
raschlebigen Geschlechte unserer Gegenwart, dem 
manche meiner Schilderungen und Betrachtungen 
auch bereits als merkwürdige Zeugnisse einer fast 
schon sagenhaft gewordenen Vergangenheit vor- 
kommen werden. Ich habe absichtlich Anschauungen 
und Urteile stehen lassen, die ich selbst inzwischen 



Vorwort 

mehr oder minder überwunden und umgestolÜeQ 
habe. Ich stehe immer auf seilen des Fortschritts 
und habe mir, selbst wenn eine neue Persönlichkeit, 
eine neue Richtung mich zunächst heftig erschreckte, 
immer redliche Mühe gegeben, sie zu verstehen. Ich 
habe im allgemeinen einen sicheren Blick für das 
Kommende, für die im Reifen begriffenen neuen 
Werte besessen. Ich habe eine Menge Dichter. 
Musiker und Schauspieler von heute allgemein an- 
erkannter Meisterschaft ans Licht gezogen und nach 
besten Kräften zu fördern gesucht ; aber dennoch habe 
ich mich zuweilen auch recht kräftig verhauen — und 
diese Blätter verschweigen solche Blamagen keines- 
wegs. Ich habe in den bewegten Revolutionsstürmen 
der achtziger Jahre Schriftsteller, die sich nachher 
im besseren Durchschnitt verloren, eine kurze Zeit 
lang sozusagen beinahe für deutsche Zolas und 
Dostojewskys angesehen. Ich habe von Hugo Wolf 
geglaubt, daß er das Äußerste an komplizierter 
Melodik und Harmonik leiste, und daß seine gute 
Absicht vermutlich an der Unmöglichkeit der Aus- 
führung scheitern würde — und heute beherrscht 
dieser selbe Hugo Wolf die Konzertsäle , und ich 
selbst stehe voller Begeisterung zu Richard Strauß 
und Max Reger! So müßte ich eigentlich zu allen 
Aufsätzen aus früherer Zeit einen Nachtrag achreiben, 
der meinen Standpunkt von heute feststellt; aber 
ich habe es unterlassen, weil dieser mein heutiger 



Standpunkt dem aufmerkBamen Leser ohnehin aus 
etlichen Aufsätzen der allerletzten Jahre deutlich 
werden wird, und weil doch vielleicht gerade der ent- 
wicklungsgeschichtliche Charakter der Zusammen- 
stellung diesem Buche seinen besonderen , wenn 
auch bescheidenen Wert verleiht. 

Eine Ausnahme habe ich nur gemacht bei den 
programmatischen Aufsätzen über das Überbrettl und 
Über die Komische Oper. Unter dem Schicksal dieser 
meiner beiden „geschäftlichen Unternehmungen" 
habe ich bis auf den heutigen Tag persönlich so 
schwer zu leiden, daß man es mir kaum verargen 
wird, wenn ich das Bedürfnis fühlte, dem durch die 
Zeitungen und vielleicht auch den Kulissentratsch 
verwirrten Publikum eine authentische Aufklärung 
über die wahren Ursachen des Niedergangs dieser 
Unternehmungen zuteil werden zu lassen. Die Art 
und Weise, wie mir meine lieben Landsleute (d. h. 
viel weniger das Publikum als die Leute vom Bau, 
die Presse, dieTheaterdirektoren) meine Bemühungen 
um die Veredlung der leichteren theatralischen 
Künste gedankt haben, ist betrüblich kennzeichnend 
für den bei uns immer noch herrschenden Mangel 
an wirklicher ästhetischer Kultur, In Frankreich, 
wo solche ästhetische Kultur seit Jahrhunderten zu 
Hause ist, nimmt man literarische Clowns (d. h. 
populäre Chansoniers und Vaudevillisten) in die 
Akademie auf und errichtet ihnen Denkmäler, bei 



Torwort 



I 



uns verachtet man sie ebenso gründlich, wie man 
sie um ihrer Tantiemen willen beneidet. Und selbst 
allgemein anerkannten ernsten Dichtern wird das 
HoraziBche „desipere in loco" von den kritischen 
Ordnungsphilistern meist so übel vermerkt, daß sie 
den Makel ihr Lebenlang nicht los werden und 
sogar in den Literaturgeschichten noch als Gebrand- 
markte künftigen Geschlechtern zum abschreckenden 
Beispiel hingestellt werden. Wenn aber einmal eine 
Ausnahme von der Regel stattfindet, wie im Falle 
des jüügat verstorbenen Wilhelm Busch, so bann 
man sicher sein, daß die deutsche Pedanterie dann 
wieder nach der andern Seite hin sich blamiere; 
dann wird der Klassiker des Ulks zum großen 
Dichter, der Erfinder einer köstlichen Umrißkomik 
zum genialen Maler gestempelt. Überhaupt scheint 
die Einseitigkeit bei dem barbarischen deutschen 
Kunstgeschmack in höchstem Ansehen zu stehen, 
und die geistlich Armen im urchristlichen Sinne 
werden noch immer eher selig gepriesen als die 
Üppigen Talentverschwender, denen mit einmütiger 
Bosheit das Tor zur Unsterblichkeit bis auf Nadel- 
öhrsweite verengert wird. Um nur ein schlagendes 
Beispiel anzuführen : der brave Heinrich Seidel mit 
seinem „Lebrecht Hühnchen" — welch ein kümmer- 
liches Lebenswerk für einen Poeten! Aber man 
attestiert ihm ziemlich allgemein die Meisterschaft 
und weist ihm einen Ehrenplatz unter den deutschen 



Humoristen an; auf der andern Seite Otto Julius 
Bierbaum, ein ganz Reicher, ein Tausendkünstler, 
der schier auf allen Instrumenten des dichterischen 
Orchesters virtuos zu spielen versteht und nebenbei 
auch die Theorie seiner Kunst tiefer und geistvoller 
als irgendein Kritiker erfaßt hat — wird er nicht 
eben wegen dieser Vielseitigkeit Über die Achsel 
angesehen'-' Dieser Ärger über alles, was sich nicht 
mühe- und zweifellos etikettieren und rubrizieren 
läßt, ist ebenso spießerhaft, wie der Neid, die hämische 
Bosheit gegenüber dem Reichtum pöbelhaft ist. Ein 
übles Erbe, das wir Deutschen noch mitschleppen 
aus den bösesten Zeiten unserer Vergangenheit. Wie 
lange noch? Mein eignes Schicksal wird daher 
unter den Kennern deutscher Verhältnisse keine 
besondere Verwunderung erregen — womit mir 
persönlich freilich wenig gedient ist! Schon immer 
war ich unseren kritischen Pedanten ein Ärgernis, 
weil ich von früh an meinen Ehrgeiz dreinsetzte, 
mich nicht selbst zu wiederholen, sondern mit jedem 
Werke ein andrer zu sein, wenigstens in der Form; 
seit ich aber in meinem Übennute so weit ging, 
meine eigne Person in der Maskerade eines tanzenden 
Propheten im Sinne Nietzsches auf die Bretter hinaus- 
zustellen, um damit meine deutschen Kunstgenossen 
zur Nachahmung anzureizen , seitdem wurden mir 
von unseren eifrigen Zensoren, diesen streng- 
republikanischen Sittenwächtern, sozusagen die 

XII . 



k 



Vorwort 

bürgerlichen Ehrenrechte abgesproehen. Galt ich 
schon vorher meiner Vielseitigkeit wegen für leicht- 
fertig und oberflächlich, so wurde ich jetzt ale völlig 
andiskutabel aus der Liste beachtenswerter Zeit- 
genossen gestrichelt. Die Marke Tingeltangel- 
direktor war mir an weithin sichtbarer Stelle auf- 
gepappt, so daß die Gassenbuben mit Fingern darauf 
weisen konnten. Das taten sie denn auch. Die 
obskursten Tintenkulis der Winketblättchen nahmen 
sich ebenso unbedenklich wie ihre berühmteren 
Kollegen an führenden Blättern die Freiheit, mich 
mit schäkernden Kosenamen zu bedenken und ent- 
deckten plötzlich in allen meinen Werken, mochten 
sie lange vor oder auch nach der Brettlepisode 
entstanden sein , den Tingeltangelcharakter. Das 
Wort „Überbrettelei" wurde als eine Schimpf- und 
Schmachstampiglie gebraucht für altes, was man in 
Poesie und Musik als nichtig, leer, leichtfertig, 
frivol, zotig, schweinisch brandmarken wollte. Und 
ich, der ich mir eingebildet hatte , den plumpen 
Geist des deutschen Spaßes, der jüdischen Wort- 
witzelei und der französischen Cochonerie dadurch 
bekämpfen zu können, daß ich für die Unterhaltung 
eines anspruchsvolleren Publikums durch ein Pro- 
gramm von liebenswürdigen Kleinigkeiten sorgte, 
die alle das anmutige Gepräge geschmackvoller 
Künetlerschaft tragen sollten — ich justament wurde 
als Vater der Zote, als böser Geist des Ungeschmacks, 



r<«,'<s^ xm ■■ 



I 



Vorwort 

als intellektueller Urheber des ekelhaften Änimier- 
kneipenwesens, das sich unter dein Namen Kabarett 
in den Großstädten breitmachte, hingestellt, und 
zwar nicht nur von einzelnen frommen Eiferern, 
sondern auch von der überwältigenden Mehrzahl 
der für besonders freisinnig, modern und geschmack- 
voll geltenden Blätter. Die rühmlichen Ausnahmen 
könnte ich an den Fingern einer Hand herzählen. 
Im Grunde verdankte ich meinen schmerzhaften Ruhm 
als Begründer des literarischen Varii^tös nur der 
flüchtigen Begeisterung des naschhaften Snobismus 
unserer Jüdischen Großstädte; für die Mehrheit der 
übrigen Deutschen aber bin ich trotz jenes meines 
idealistischen Schwabenstreiches geblieben, was ich 
ihnen vorher gewesen war: ein Seelsorger, der he- 
Bonders das Vertrauen der Jugend besaß. Ks war 
das Werk meines Lebens gewesen, das junge Volk 
unsrer Tage, dem in all der erschrecklichen Wirrnis 
unvereinbarer Gegensätze zwischen Wissen und 
Glauben, vernünftiger und gesellschaftlicher Moral 
der Kopf zu schwindeln und das Herz vor Ekel 
schwach zu werden begann, den Mut wieder auf- 
zurichten , indem ich es lehrte zu lachen über die 
alten ängstlichen Hampelmännchen der Gewohnheit, 
deren Tragödien um Gottes willen nicht tragisch zu 
nehmen, deren Lustbarkeiten dagegen zum Heulen 
traurig seien. Ich fühlte mich glücklich in dem 
Amte des Predigers einer, meiner Meinung nach 




I 



Vorwort it^ 

urgesuDden, weil humoristisch erhabenen Weltan- 
schauung und reichlicii belohnt durch die außer- 
ordentliche Verbreitung , welche meine Schriften 
unter den Gebildeten und Bildungshungrigen vor- 
nehmlich der germanischen Welt fanden , sowie 
besonders durch den persönlichen Dank, der mir von 
einzelnen armen Seelen zuteil ward, denen ich durch 
meine Predigt das Rückgrat gesteift hatte, also ä&Q 
sie fröhliche Siege über sich selbst und die miserable 
Welt erfechten konnten. Jenes zum Teil nur ge- 
dankenlose, zum andern Teil aber auch schadenfroh- 
boshafte Gekläff der Presse ist selbstverständlich 
auch nicht ganz ohne EinäuB auf die Gesinnung 
meiner Leser geblieben; aber glücklicherweise ist 
dieser Einduß doch laugst nicht so groB, als die 
Macher der Öffentlichen Meinung es sich vielleicht 
einbildeten. Meine Gemeinde ist vielleicht kleiner 
geworden — aber solch eine Durchsiebung hat am 
Ende auch ihr Gutes. 

Und für diese durchgesiebte Gemeinde , für 
welche der Humorist kein gleichgültiger Spaß- 
macher, sondern ein wtirdiger Seelsorger, und die 
Erwerbung eines kernfesten Humors ein ernstes 
Lebensziel ist, — für diese Gemeinde habe ich 
meine alten und neuen Ansichten und Aussichten 
zusammengestellt. Sie wird mir gern zugeben, 
daß ich berufen sei, als Sachverständiger mitzu- 
reden über die Kunstgebiete, in denen ich mich 



Vorwort 

schöpferisch versucht habe, und sie wird auch 
wohl am ersten geneigt sein, mir Dicht nur io 
meinen unterhaltsamen Launen, sondern auch in 
meinen nachdenklichen Stunden aufmerksam Gesell- 
Bchaft zu leisten. So widme ich denn dieses Buch 
meinen unbekannten Freunden. 



I 



Sarmstadt, im Jänner 1908. 

Eniit Freiberr von Wolzogen. 



Musik und - Musik 

(1888) 




Es kann liein Zweifel darüber stattfinden, d&i 
überall da, wo wir die liulturgeachichtliche Ent- 
wicklung aus dem ruhigen Gleichtritt des natür- 
lichen Fortschritts herausfallen und mit kurzem 
kräftigen Anlauf über einen breiten Wassergraben 
oder über eine alte Mauer hinwegsetzen sehen, ein 
überragendes Genie die scharfen Sporen gebraucht 
habe. Für eine kurze Weile geht es dann wohl 
noch im Trabe weiter, doch nur zu bald wird der 
gemächliche Bummelschritt wieder aufgenommen 
und vor dem neuen Hindernis ganz ebenso ängstlich 
Halt gemacht wie vor dem jüngst überwundenen. 
Genies hypnotisieren gewissermaßen ihre Zeit und 
zwingen sie in der Hypnose zu iiußerordentliehen 
Leistungen, welche sie im wachen Zustande nimmer- 
mehr zu verrichten vermocht hätte. Bei den großen 
Fortschritten auf dem Gebiete der Technik tritt 
dies freilich weniger zutage , weil durch sie stets 
neue Bedürfnisse gescliaifen werden, welche nicht 
mehr verschwinden, sondern im Gegenteil sieh immer 
mehr verallgemeinern und verstärken. Auf dem 



Hiuik nnd — HiuÄj 

Gebiete der Kunst dagegen zeigt sich die allgeiiteiDe 
Erschlaffung nach jeder Bolchea Kraftanstrengung, 
welche die Hervorbringung eines Genies für ein 
Volk bedeutet, nur allzu deutlich für denjenigen, 
der sehen will. 

Keine Kunst steht gegenwärtig bei uns in so 
hoher Blüte, keine ist so volkstümlich wie die 
Musik. Auf deutschem Boden hat diese jüngste 
unter den Künsten, trotzdem sie in südlichen Ländern 
geboren war, sich am raschesten und glänzendsten 
entwickelt. Noch nie und nirgends ist eine Reihe 
so bedeutungsvoller Künstler so unmittelbar auf- 
einander gefolgt wie bei uns die Haydo, Gluck, Mozart, 
Beethoven, Schubert, Weber, Wagner; aber so fest- 
gegliedert diese Kette sich darstellt, so lückenhaft 
und locker zeigt sich der Einhuß, welchen jene 
Künstler einzeln auf die Entwicklung des musika- 
lischen Bewußtseins im Volke gehabt haben. Es 
hat eine Zeit gegeben , in welcher der gute Papa 
Haydn vielen fingerfertigen Hausmusikanten als ein 
recht vertrackter Geselle galt, der rein aus Bos- 
heit und Plaisir seine Quartette recht schwer spiel- 
bar und schwer verständlich schrieb. Aber noch 
zur selben Zeit, da Haydn schon für eine ansehn- 
liche Mehrheit kinderleicht geworden war, ließ man 
in Wien Mozarts „Don Juan" durchfallen, weil diese 
Musik gar zu schwer verständlich sei. Wer dann 
aber den Mozart mit Haut und Haaren hinunter- 



Uusik 





geschluckt und glücklich verdaut liatte, dem erschien 
wieder der Beethoven als eine allzu zähe Speise, 
die keinem normalen Magen zuzumuten sei. Der 
Streit zwischen der italieniBcben Oper und dem 
deutschen Musikdrama, welches die Musik iu den 
Dienst des poetischen Ausdrucks stellte, war schon 
vor der großen Revolution in Paris zugunsteu des 
letzteren entschieden worden ; doch das hinderte 
nicht, daß noch über ein halbes Jahrhundert spater 
Carl Maria von Weber, obwohl man den nicht un- 
verständlich schelten konnte, einen schweren Stand 
gegenRossinisBeliebtheithatte, und daß nach Verlauf 
dieses halben Jahrhunderts in dem großen Kampfe 
Richard Wagners um den Sieg der Wahrheit über 
die glänzende Lüge Meyerbeers, des Inhalts über 
die Form in der Musik, die Enkel sich mit einer 
Erbitterung in die Schlacht stürzten, wie wenn es 
gälte, die Siege der Vorfahren mit Blut auszu- 
Iftachen! Fast war es ein Kampf aller gegen einen 
zu nennen, und dennoch siegte der eine durch die 
unerhörte Energie seiner künstlerischen Persönlich- 
keit — der verbannte Dresdener Revolutionär, dem 
es die heilige Polizei unmöglich machte, seinen 
„Lohengrin" zu hören, der, von allen Mitteln ent- 
blößt wie er war, statt im Stile dieses „Lohengrin", 
und des „ Tannhäuser ", der ihm ein Publikum ge- 
wonnen hatte, weiterzuschreiben, um glänzender 
Ehren und Einnahmen gewiß zu sein, vielmehr „im 



HusLk und -~ Husik ] 

Vertrauen auf den guten Geist des deutschen Volkes", 
von dem er immer wieder nur Unverstand und Hoha i 
erfuhr, ein Biesenwerk in Augriff nahm, dessen Un- 
aufftlhrbarkeit unter den gegebenen Verhältnissen I 
er klar erkannte — dieser Verbannte, Verfolgte und ' 
Verkannte erbaute sich fünfundzwanzig Jahre nach- 
dem er zuerst den kühnen Plan gefaßt hatte, sein , 
Festspielhaus in Bayreuth, und Kaiser und Ktinige i 
kamen herbei, die fernsten Weltteile schickten ihre d 
Begeisterten nach der kleinen frilnkischen Stadt, i 
um dem deutschen Meister zu huldigen! Er sali i 
sein Lebenswerk vollbracht, durch das herrlichste j 
Gelingen gekrönt, als er die Äugen schloß, um vom ' 
langen Kampfe auszuruhen. Und sobald seine 
rOcksicbtsloGe , alles despotisch heherrscbende und 
dabei doch den VFollenden so begeisternde Persön- 
lichkeit nicht mehr am Leben war, da stellte auch 
die heisere Meute seiner kleinen Gegner ihr Bellen 
ein und ehrte die Manen des großen Toten wenigstens 
durch ein mürrisches Schweifwedeln. Das wirkliche 
Publikum, das mit frischer Genußfreudigkeit in der 
Kunst Erhebung Über die dumpfe Atmosphäre der 
Alltäglichkeit sucht, läßt sich die Freude an Wagners 
Werken schon längst nicht mehr durch die kritischen 
Querköpfe verderben; ja Wagner hat sogar eine 
große Menge sonst unmusikalisch genannter Leute 
für die Musik erobert, indem er ihnen die Erkennt- 
nis aufzwang, daß seine Kunst keine bloße Unter- 



r 



Musik und — Musik 

haltung für gebildete Ohren sei, sondern vielmehr 
Empfindungssache, tiefgreifender, unmittelbarer als 
selbst die Wirkung der Poesie. Diese Leute, welche 
sich bei einer Sinfonie von ßrahms tödlich lang- 
vreiien, sind in Wahrheit diejenigen, welche das 
Wesen der Wagnerschen Kunst am deutlichsten be- 
griffen haben, während jenes elegante, musikali- 
sche Publikum, das im Sommer Über Bayreuth 
nach Karlsbad reist und im Winter die vornehmsten 
Konzertsäle f&llt, in seiner musikalischen Gebildet- 
heit wahrscheinlich fast ebensoweit und ganz ebenso 
glücklich sein wUrde, wenn Wagner niemals ge- 
lebt hätte. 

Durch Wagner ist es uns so recht zum Be- 
wußtsein gekommen, eine wie tiefe Kluft zwischen 
den beiden Begriffen Musik und Musik gähnt Nicht 
erst seine vulkanische Kraft hat den Begriff so ge- 
spalten : wir finden schon unter den italienischen 
Komponisten des lö. Jahrhunderts Männer, welche 
wohl erkannten, daß der Musik eine fast unbegrenzte 
Ausdrucksfähigkeit innewohne, und welche sich eifrig 
bemühten, durch Auffindung neuer Harmonien und 
Rhythmen, durch Abwerfen des Formen- und Regel- 
zwanges diese Ausdrucksfähigkeit zu erweitern, wie 
z. B. Marenzio und Monteverde. In unserm großen 
Sebastian Bach sehen wir oft den gelehrten Kontra- 
punktiaten mit dem tiefempfiudenden Musiker im 
Streite liegen. Aber erst von der Zeit an, wo 



id — Muiik J 

Beethoven zu Mozart in offenbaren Gegensatz tritt, I 
vollzieht sich endgQltig die Spaltung der Musik in 1 
eine Kunstfertigkeit und in eine Kunst. Die j 
erstere bildet immer mehr die Geschicklichkeit, die ] 
feine Berechnung, die Anmut und den Geist im ] 
Spiel mit Tönen und musikalischen Formen heraas, 
während die andere, die verklärte Schwester der j 
Poesie, sich die Aufgabe stellt, durch die geheimnis- J 
volle Kraft der Harmonie und Melodie unser ganzes | 
Nervenleben direkt zu beeinflussen und als be- ' 
stimmend für die musikalische Form nicht mehr 
die bewährten Regeln des kompositorischen Satz- 
baues, sondern einzig die poetische Empfindung 
anzusehen. Es versteht sich von selbst, daß diese 
letztere Musikgattung sich am freiesten und reichsten 
auf dramatischem Gebiete entfalten wird, Atier 
wie Herrliches sie auch im rein sinfonischen Stile 
zu sagen vermag, das hat uns Beethoven in seinen 
späteren Werken bewiesen, und zwar wirklich 
erst Beethoven. Wohl hören wir schon im sech- 
zehnten und ziemlich häufig im siebzehnten und 
achtzehnten Jahrhundert von einzelnen wunderlichen 
Kantoren, Stadtpfeifern und Musikmeistern, welche 
Programm-Musiken der ausschweifendsten Art ver- 
faßten und Vorgänge zu schildern unternahmen, 
au die sieh selbst Berlioz und Liszt nicht heran- 
gewagt hatten. Doch das war nur Musikanten- 
schn ick schnack und besitzt für die Geschichte der 




Musik nur den Wert „kurioser" Anekdoten. Mau 
spricht aber auch von der dramatischen Charak- 
teristik in Mozarts Opern; hei vorurteilsfreier 
Betrachtung wird man jedoch zugestehen müssen, 
riaß diese dramatische Charakteristik bei der Be- 
schaffenheit seiner Texte eine ganz selbstverständ- 
liche Sache war. Was ist der Inhalt der Mozartschen 
Opern anders, als ein loses, oft sogar recht lockeres 
Liebesgetändel — für diese heidenmäßige Heiterkeit 
kann man sich freilich keinen vollkommeneren musika- 
lischen Ausdruck denken als die geniale Leichtigkeit 
und Anmut seiner Melodik und Rhythmik. Auch der 
„Don Juan" ist nichts weniger als eine Tragödie, 
als welche unsere Musikpedanteu ihn immer noch 
darzustellen suchen. Die Szene der Erscheinung 
des steinernen Gastes hat allerdings auch musika- 
lisch einen dramatisch packenden Ausdruck ge- 
funden , doch — abgesehen davon , daß man noch 
darüber streitet, ob die Posaunen in dieser Szene 
echt seien — wie hätte Mozart, wenn er nicht jeder 
Spur von Geschmack bar gewesen wäre, hier anders 
komponieren können — elf Jahre, nachdem Glucks 
großer Pariser Sieg der ganzen musikalischen Welt 
die Mittel des Ausdrucks für derartige Stimmungen 
an die Hand gegeben hatte! Das ist gerade so, 
wie wenn man heute einen jungen Komponisten für 
ein Genie erklären wollte, weil er eine düstere, 
schauerliche Stimmung durch tiefe Klarinetten, 



Musik und - Musik j 

gestopfte Hörner und leise Beckenwirbel ausdrücktet 
Im übrigen ündet sich Mozart mit den ernateo 
Figuren seiner Opern meist durch die Form der 
„seriösen" Arie ab, wie sie dem Geschmack seiner 
Zeit entsprach. Von vielen dieser Arien wissen 
wir, daß sie einfach für die besonderen Fähigkeiten 
bestimmter Sänger und Sängerinnen verfertigt 
worden sind; infolgedessen sind sie auch heutzutage 
für einen anspruchsvolleren Geschmack kaum mehr 
ertrflglicli , zum mindesten herzlich langweilig. 
Glucks Muse fühlte sieb eingezwängt in den steifen 
Schnürleib der französischen Klassizität, und mit 
der genialen Leichtigkeit eines Mozart konnte seine 
etwas schwerfällige Erfindung nicht wetteifern, sonst 
wäre er wohl schon für die dramatische Musik das 
geworden, was Beethoven für die sinfonische ward. 
Beethoven selbst vermochte ein stilreines musika- 
lisches Drama nur deshalb nicht zu schaffen, weil 
ihm der rechte Dichter fehlte ; was er hätte leisten 
können, beweist die wunderbare Kerkerazene des 
„Fidelio". Dafür hat er den ganzen Reichtum 
seiner Ideen, die ganze Tiefe seiner Empfindung 
in seinen späteren Sinfonien niedergelegt und mit 
ihnen den sicheren Grund geschaffen für das stolze 
Gebäude der neudeutschen Tondichtung. 

Nach diesen Andeutungen dürfte es verständ- 
lich werden, weshalb ich es für einen grofien Irrtum 
halte, wenn man ganz allgemein die Entwicklung 



i 



Huaik und — Musik 



J'JlüSJAiyar 



der deutschen Musik von Haydn über Mozart und 
Beethoven auf Mendelssohn, Schumann und so fort 
auf Meyerbeer, Wagner, bis Brahnis hinausführt. 
Tatsächlich gabelt sich die Tonkunst zur Wiener 
Blütezeit in zwei weit auseinandergehende Äste. 
Der erste, stärkere, aber weniger verzweigte, setzt 
bei Beethoven an und führt Über Schubert, Weber, 
Löwe geraden Wegs zu Wagner, um erst hier reich 
belaubte Zweige und Zweiglein zu treiben. Der 
audore , von Mozart ausgehende , bleibt nur die 
kurze Strecke bis zu Schubert dem andern nahe 
und biegt dann schroff ah ; mit Mendelssohn kommt 
eine neue Triebkraft in ihn, während sogleich auch 
eine neue Gabelung und üppige Verzweigung ein- 
tritt. Die eine Zinke dieser Gabel weist wie ein 
ausgestreckter Zeigefinger direkt auf das Leipziger 
Gewandhaus hin, die andere auf Lanner, Strauß. 
Millöcker und — Bratfisch! Ein starker Seiten- 
zweig, romantisch kraus verästelt und vernestelt, 
treibt aus dem Bereiche Mendelssohns hinüber nach 
dem Beethoven-Ast und ist so um iiiu heruni- 
gewachsen, daß man wohl in Zweifel sein kann, ob 
er aus diesem oder jenem Aste entsprieße. Dieser 
Zweig heißt Schumann. Noch i^inmal, nahe der 
Gewandhaus-Spitze, reckt und streckt sich ein 
auffallend starker Zweig sehnsüchtig nach der 
Beethoven- Seite hinüber, ohne sie freilich erreichen 
zu können : aber er zieht durch seine Schwere seines 



Hosik und - 



^H weil 



Astes Spitze nach unten und erhält sie in 
BtAndigem Suhwanken. Der Zweig heißt Brahms. 
Man kann unser musikalisches Deutschland 
gar nicht nachdrücklich genug immer wieder und 
wieder auf diesen Stammbaum hinweisen. Hätten 
unsere Musiker und Musikliehhaber sein Bild immer 
klar vor Augen, so wftre es nicht denkbar, dafi 
schon so bald nach dem Tode des grofien Diktators 
eine solche Verdunkelung und Verwirrung der Musik- 
empfindung einreißen konnte. Bayreuth hat auf- 
gehört nur das Mekka der Wagner-Enthusiasten zu 
sein — fast ist es schon „Rendezvous der fashio- 
nablen Welt" geworden und wird dies immer mehr 
werden, wenn, wie es ja den Anschein hat, die 
Teilnahme des jungen deutschen Kaisers die all- 
jährliche Wiederholung der Festspiele sichert. An 
und filr sich ist diese Wendung im Geschicke Bay- 
reuths hoch erfreulich, weil vorläufig immer noch 
Bayreuth allein die Wagnei-schen Werke in an- 
nähernder Vollkommenheit vorzuführen und dadurch 
das Verständnis für seine Kunst am sichersten zu 
erschließen vermag. Auch den frivolsten Welt- 
menschen , den eingefleischtesten Musikdilettanten 
pflegt in dem weihevollen Dunkel des Festspielhauses 
Ober den Ernst der Kunst ein Licht aufzugehen. 
Aber es ist leider fast ausschließlich ein verfeinerter 
Kunstgenuß für die Reichen, und gerade diese er- 
weisen sieb dieses ihres Vorzugs meist am wenigsten 



würdig; denn wena die heimkommen in ihre haupt- 
städtiBchen Winterquartiere, kann man sie mit fast 
der gleichen Andacht den Evolutionen eines sehwarz- 
mähnigen Künstlers auf der G-Saite oder den Kraft- 
leistungen einer vollarmigen Klavierhändigerin 
lauschen sehen. Daß die erhebende und befreiende 
Macht der Musik in dem überzeugenden, die Seele 
fortreißenden Ausdruck eines poetischen Inhalts 
beruhe, das haben alle diese anständig angezogenen 
Menschen inzwischen längst vergessen — Brahms 
dirigiert, und Bülow sitzt an der großen Trommel — 
Hurra! hoch! Bildungsschwindel. Fersonenkultus 
und die liebe Eitelkeit sind wieder in ihr an- 
gestammtes Recht getreten — die Seele ist satt und 
spottet der Hungernden-, der Geist fühlt sich stark, 
denn — das Diner war gut! 

Im Jahre 1852 läßt sich Richard Wagner in 
einem Briefe an seinen Freund Theodor Uhlig weit- 
läuüg über den poetischen Inhalt der Beethovenschen 
Sinfonien aus und fährt dann also fort: „Wären 
diese {Beethovenschen Sinfonien) wirklieh, d. h, 
ihrem dichterischen Gegenstande nach, vom Publikum 
verstanden, wie sollte da vor demselben Publikum 
ein modernes Konzertprogramm möglich sein V Wie 
sollte es möglich sein, den Anhörern einer Beethoven- 
schen Sinfonie zugleich musikalische Kompositionen 
von der bestimmtesten Inhaltslosigkeit zu bieten? 
Daß aber unsere musikalischen Dirigenten und Korn- 



Hasik nnd -~ HuÄ^ 

poDiBteo selbst aus dem eben bezeichDeten Grunde, 
daß sie den dicbteriBchen Gegenstand jener Tod- 
schöpfungen nicht erkannten, ohne eigentliches 
Verständnis derselben blielwn. beweisen sie dies . 
nicht dadurch, was und wie sie heutzutage trotz , 
des mahnenden Vorganges Beethovens komponieren? 
Wäre unsere moderne versch wimmende und zer- 
fahrene InstrumentalkoniponiercTei möglich, wenn 
sie das wirklich Wesenhafteste der Beethovenschen 
Tondichtungen verstanden hätten? Dieses Wesen- ' 
hafteste ist aber, daß die Beethovenschen größeren 1 
Tonwerke nur in letzter Linie Musik, in erster j 
Linie aber einen dichterischen Gegenstand ent- 
halten." — Inzwischen haben Wagners vortreffliche 
Erklärungen und Auffuhrungen der ernsten musika- 
lischen Welt das wahre Verständnis Beethovens 
erschlossen, hat Wagners Schüler, Haus von Bfilow, 
diese Erkenntnis in breitere Schichten des Volkes 
getragen, hat Wagner durch seine eigenen Werke 
noch in weit höherem Grade als Beethoven über 
den Wert des poetischen Gegenstandes in der Musik 
Aufschluß gegeben — und doch treffen die oben 
angeführten Worte unser beutiges Konzertpublikura 
und unsere heutige Musikmacherei noch gerade 
ebenso wie damals ! Das Publikum hat sich in- 
zwischen auch an Wagners Tonsprache gewöhnt, die 
Komponisten haben sie nachplappern gelernt — das 
ist aber auch alles : der Kern der Sache ist den einen 



Unaik und - 



Bo gleichgültig wie den anderen. Kommt jetzt 
einer, der eigene Gedanken in seiner eigenen 
Sprache vorzutragen hat, so kRon er sicher sein, 
daß er denselben Kampf gegen das PhilisterJum 
zu bestehen haben wird wie jeder eigenartige 
Künstler vor ihm. Wir haben heute schon gerade- 
sogut Wagner -Philister, wie wir Gewandhaus- 
Philister, ja in weltentfernten Winkeln sogar wohl 
noch zopftragende Mozart-Philister haben. Ich ver- 
stehe dabei unter einem Philister einen Menscheu, der 
sich nur unter der Masse seiner selbst sicher fühlt, 
der von dem Neuen schwer zu überzeugen, wenn 
er aber einmal überzeugt ist, in seinem Autoritäts- 
glauben blind und dünkelhaft wird. Wir haben 
heute, wie gesagt, schon eine große Menge solcher 
Wagnerianer; weil der Meister dies und jenes ge- 
sagt und getan hat, darum ist es undenkbar, daß 
je etwas anderes gesagt und getan würde! Wir 
haben junge Komponisten , die ihre Laufbahn mit 
der Nachahmung des „Parsifal" beginnen, die also 
der Weltlust entsagen, ehe sie Gelegenheit ge- 
funden haben, den Wert des Daseins zu prüfen! 
Diese jungen Wüteriche betragen sich, genau ge- 
nommen, ebenso fortschrittsfeindlich wie jene hoch- 
mögenden Musikprofessoren , welche da meinen, 
nach Bach sei eigentlich keine ernst zu nehmende 
Musik mehr gesehrieben worden. 

Man sieht, ich will durchaus nicht etwa darauf 



hinaus, Wagners Kunst als das einzig Wahre aller 
übrigen Musik entgegenzustellen. Wahr ist in der 
Kunst jede Leistung, in der eine künstlerische 
Persönlichkeit fur einen ihr eigentümlichen Gedankeo 
oder Gefühlsinhalt die üherzeugende, die zwingend 
richtige Form gefunden hat. Gleichgültig ist dabei, 
ob diese Form einfach oder kompliziert ist, oh der 
Künstler sie in aller Naivetät gefunden, wie es 
z. B. im Volkslied so häufig der Fall ist, oder ob ein 
überlegener, grübelnder Verstand die raffiniertesten 
Kunstmittel dafür aufgewendet hat. Andererseits 
kann ein Künstler, ausgestatti^t mit ungewöhnlicheo 
Kenntnissen und Fähigkeiten, dennoch, und zwar 
besonders, wenn sein Verstand seinem Temperament 
weit Überlegen ist, unwahre Werke schaffen, in 
denen nicht eigne Gedanken und Empfindungen sich 
die künstlerische Form schaffen, sondern diese Form, 
d. h. die Eunstmittel an sich zum alleinigen Inhalt 
werden. In der Poesie kann mau es mit dem Geist 
allein allenfalls noch zu etwas bringen, die Musik aber 
wird aus der Leidenschaf t geboren. Sehr mit Unrecht 
stellt Friedrich Nietzsche in seiner geistvollen, 
aber böswilligen und verschrobenen Schrift „Der 
Fall Wagner" die Oper „Carmen" in Gegensatz 
zu Wagners Musikdramen. Dies Meisterwerk Bizets 
ist vielmehr ganz aus demselben Geiste geboren, 
indem darin, ebenso wie bei Wagner, das Drama 
die treibende Kraft ist, die Musik nur die glühende, 



Ifnatk und - 

lebendig machende Farbe gegeben hat. Nur die 
äußere Form ist verschieden. Wer darf sich aber 
hinstellen and verkünden ; diese Fonn ist gut — 
jene schlecht? Da müßte ja einer schon geradezu 
Professor der Ästhetik sein! Man kann wohl sagen, 
daß für den Inhalt, den Wagner zu geben hatte, 
seine Ausdrucksmittel, seine Formen so vollkommen 
entsprechend gewesen sind, daß andere oder gar 
bessere undenkbar sind; es wäre aber sehr töricht, 
zu meinen, daß darum diese Ausdrucksraittel und 
Formen för alle Zeiten als klassische Muster gelten 
müßten ! Warten wir nur den Mann ab, der etwas 
Neues zu sagen hat ; an neuen Formen wird es dem 
gewiß nicht fehlen ! 

Als Wagner von Zürich aus nach Paris ging, 
um dort einmal wieder Musik zu hören, schrieb er, 
von dem dortigen Kunsttreiben bald genug an- 
gewidert, nach Hause, daß dort der Bankier die 
Musik regiere. Sehen wir uns die Musikdarbietungen 
unserer Hauptstädte an , so werden wir bemerken, 
daß es heute noch ganz ebenso ist. Es ist eine 
Musik für reiche Leute, die da gemacht wird, und 
es ist vornehmlich die Tochter des Kommerzienrats, 
welche in Sachen des musikalischen Geschmacks 
den Ton angibt. Die Damen, denen ihre Mittel 
und ihre Zeit es erlaubeu, sich von den gesuchtesten 
Professoren, Gesangsmeisterinnen usf. in der Musik 
drillen zu lassen, erwerben naturgemäß am ehesten 



Geschmack und Verständnis für die Leistungen der 
Virtuosen und der modern virtuosen Komponisten. 
Ihre musikalische Gelehrsamkeit Hößt nun den 
weniger gelehrten Eltern , Anverwandten und Be- 
kannten eine solche Ehrfurcht ein, daß sie alle, 
schon um sich in der gebildeten Gesellschaft keine 
Blöße zu geben, in Bewunderung und Verachtung 
getreulich dem Beispiel der jungen Dame folgen. 
So fallen sich die teuren Plätze unserer Konzertsäle, 
so werden die Berühmtheiten geschaffen — so wird 
das unbändige Genie unterdrückt ! Jene Fähigkeit 
der Unterscheidung zwischen echt und unecht, 
zwischen formaler Kunstfertigkeit und inhaltsvoller 
Kunst in der Musik, welche ich als für den wahren 
Fortschritt allein maßgebend erachte, ist aber bei 
jenen ein- und ausgebildeten Dilettanten weit 
seltener zu finden , als unter den ungelehrten Zu- 
hörern, die die Musik nur voll Hingabc auf ihre 
Empfindung wirken lassen. Darum kann man unserem 
niusikliebenden Publikum gar nicht laut genug immer 
wieder und wieder zurufen: laßt euch durch eure 
Schulweisheit, durch eure Achtung vor den großen 
Namen nicht die Unbefangenheit der Empfindung 
rauben, welche ihr mit auf die Welt gebracht habt. 
Der hohe Lebenswert der Musik beruht in der Un- 
mittelbarkeit ihrer Wirkung auf das Gemüt. Und 
dem ist nur mit Wahrheit und Klarheit gedient. 
Fort mit der Geistreichigkeit in der Musik, fort 



Musik und — Musik 



mit jedem gemischten Stil! Ist eine Musik der 
einen oder der anderen Richtung aus innerer Not- 
wendigkeit heraus geschaffen, so darf sie ihrer 
Wirkung auf gleichgestimmte, unverbildete Gemüter 
stets sicher sein. Jede Zeit hat die Kunst, die sie 
verdient — möge unser deutsches Volk sich Mühe 
geben, damit es sich bald eine ehrlichere Musik 
verdiene. 




19 



Das Epigonentum in der Musik 

(1889) 



Das Epigonentum in der Musik 

(1889) 




I. 

In meiner letzten Betrachtung über die Spaltung 
der Musik in eine Kunst und eine Kunstfertigkeit 
habe ich auf die ErBcheiuung aufmerksam gemacht, 
daß das feinere Kunstempfinden des Publikums nur 
so lange wach zu bleiben pllegt, als ein lebendiges 
Genie es beim Kragen zu fassen und tüchtig zu 
schütteln weiß ; sobald es sich jedoch von jener 
starken Faust befreit fühlt, wieder in das alte 
schlafsüchtige Philisterium zurückzusinken sich be- 
strebt zeigt. Auf den schaffeuden Künstler äußern 
sieh die Nachwirkungen dagegen in anderer Weise. 
Diejenigen nämlich, welche wirklich einen starken 
schöpferischen Mitteilungsdrang in sich fühlen, 
werden, wenn sie nicht gauz unbeugsam eigen- 
sinnige Naturen sind , durch die Tyrannei des 
Genius meist für den Kest ihres Lebens zu Sklaven 
gemacht. Durch die Anerkennung des wahrhaft 
Großen , Neuen und Kigenartigen bei dem herr- 
schenden Genius Übernimmt ein ernst strebendes 
Mitteltalent zugleich die Verpflichtung, mit seinem 



^f-,S>^'^\^''^t,£f'9'tt ^^^ Epigonentum in der Husik 

eigeaen Scliaffeu nicht hinter dem zurtlckzubleibea, 
was jenes Genie seine Zeit zu fordern gelehrt hat 
Da gilt es denn , zunächst die neue Form, welche 
der überragende Geist als seine ihm natQrliche 
Sprache geschaffen hat, mit gläubigem Eifer zu 
erlernen. Das gelingt oft so gut, daß die mühsam 
erlernte Sprache fast reicher und geschmeidiger 
erscheint als die angeborene — und dennoch ist 
darin nichts zu sagen, was nicht schon ihr Erfinder 
besser gesagt hätte ! 

Ein Vergleich mit dem Epigonentum in der 
Literatur dürfte nicht nutzlos sein. Goethes Lyrih 
zum Beispiel trat zu ihrer Zeit als etwas voll- 
kommen Neues allem bisher Dagewesenen gegen- 
über. Diesen frischen , unbefangenen Herzenston 
hat keiner der Vor-, ja selbst der Mitlebenden nicht, 
zu eigen gehabt. Die Schillerache Lyrik mit ihrem 
bald lehrhaften, bald pomphaft rednerischen Ge- 
baren entwickelte sich ganz naturgemäß aus dem un- 
mittelbar Vorhergegangenen heraus, die Goethesche 
dagegen war neu und unvergleichlich — und sie 
machte bald genug den alten Ton für das ver- 
feinerte Ohr unerträglich. Unter den Nachgeborenen 
finden wir denn auch eine recht ansehnliche Zahl 
von Dichtem, welche sich so gut goethisch aus- 
zudrücken gelernt haben, daß sie in einzelnen 
Leistungen — die Geibel , Heyse , Lingg — den 
Meister zum mindesten erreichen. 



1 



Storm, Leuthold und viele aiidere weiseu eine 
Sprache auf, welche des reinsten Wohllautes voll, 
niemals geschmacklos, plump oder gesucht erscheint. 
Ja, man kann sogar weiter gehen und sagen, daß 
bei allen diesen Epigonen bei weitem nicht so viel 
Spreu unter dem Weizen zu finden sei, wie bei 
üoethe selber; und dennoch wird für diese ganze 
Gattung der Poesie, welche die Genannten ver- 
treten, aliein der Name Goethe als kennzeichnend 
der Nachwelt überliefert werden. Ebenso ist die 
Schillersche Art und Weise für die so überaus 
fruchtbare Produktion auf dem Gebiete der Jamben- 
dramatik maßgebend geworden. Unzählige Buch- 
und Oberlehrerdramen eifern mit mehr oder weniger 
Geschick dem Vorbilde Schillers nach ; aber nur 
wenige haben sich die Bühne, keines Unsterblich- 
keit zu erobern vermocht. Größer noch als die 
Nachfolgerschaft der Klassiker ist die Heines, des 
ins Jüdische übersetzten Goethe, geworden; er hat 
sämtliche Witzblätter , die ganze Feuilletonisten- 
poesie auf dem Gewissen! Wie viele witzige Köpfe 
und unheimlich gewandte Reimschmiede sind in 
dieser Gattung seither nicht schon aufgetaucht und 
einige Jahre hindurch berühmt gewesen! Und doch 
wird allein Heinrich Heine der Name sein, 
welchen die Literaturgeschichte verewigt, trotzdem 
es heutzutage sicherlich eine sehr große Menge 
von Anempfindungs- Virtuosen gibt, welche — wenn 






sie sich Mühe geben — echt Heinesche Gedichte 
dutzendweise herstellen können! Dagegen haben 
sich neben jenen drei größten und ihren Nachfolgern 
einige dichterische Pereönlichkeiten geltend zu 
machen gewußt, welche, objektiv betrachtet, viel- 
leicht und besonders in formaler Hinsicht weniger 
Vollkommenes geleistet haben , ali^ manche jener 
klassischen Epigonen, und welche ihre Bedeutung 
für die Literaturgeschichte nur dem Umstände 
verdanken , daß sie irgendeinen neuen Ton au- 
geschlagen, eine neue Idee zum Ausdruck gebracht 
haben, wie z. B. Lenau, Freillgrath, Beck, Herwegh, 
oder wie auf dramatischem Gebiete der genialisch 
verlumpte Shakespearianer Grabbe; Otto Ludwig, 
der ein gar zu gewissenhafter Denker war, um 
ein großer Dichter sein zu können; der allzu 
schwerfällige Hebbel neben dem allzu naiven Grill- 
parzer; ja endlich gar bloße fleißige Talente, Halb- 
dichter, wie Gutzkow und Laube. 

Es geht aus alledem hervor, daß nur das Neue 
und Eigenartige in der Kunst auf dauernde Geltung 
Anspruch machen darf und daß dem gegenüber 
selbst die liöchste technische Vollendung, ja selbst 
eine größere Vertiefung oder Ausbreitung des 
Gedankeninhalts nicht in Betracht kommen. 

Für die Musik gilt das vielleicht in noch 
höherem Grade als für die Literatur oder gar für 
die bildende Kunst, denn die Musik ist eben die 



J 



Das Epigoneatum in der Huaik 

unmittelbarste künstlerische Offenbarung mensch- 
licher Eigenart. Nur die bedeutende, charakter- 
volle Persönlichkeit vermag hier Bedeutendes, 
Charaktervolles zu schaffen. Sa sich aber ein 
Charakter nicht willkürlich annehmen läßt, so wird 
sich auch naturgemäß am Musiker die Nachahmung 
einer seinem ganzen Wesen nicht völlig ent- 
sprechenden Form am schwersten rächen. Es 
kommt hinzu, daß gerade auf dem Gebiete der 
Musik die Versuchung zur Nachahmung noch 
stärker an den jungen Künstler herantritt als in 
änderen Künsten. Während nämlich die Literatur 
das Stiefkind für unsere gebildete Gesellschaft ist. 
zum Futter für Backtische und als Mittel gegen 
die Langeweile gerade gut genug, teilt sich die 
Musik mit der bildenden Kunst in die wirkliche 
Teilnahme dieser gebildeten Gesellschaft. Die 
Klavierseuche, welche bis in die unteren Schichten 
unseres Volkes hinein so unzählige Opfer fordert, 
hat sowohl eine außerordentliche Nachfrage nach 
neuer Musik, als auch ein ungeheures Heer von 
vermeintlich urteilsfilhigen Fachleuten erzeugt. Und 
ist es nicht eine alte Erfahrung, daß gerade die 
Fachleute die, wenn auch unbewußten, Feinde des 
natürlichen Fortschritts und der persönlichen 
Eigenart in der Kunst sindV Je mehr Menschen 
die nötigen Kenntnisse besitzen, um Kunstleistungen 
untereinander vergleichen und nach einem he- 




Dm Epigonentnm in der Hm 

slimmten Schema einorcinea zu können, desto schwerer ■ 
wird es dem Künstler gemacht, seiner Natur zu 
folgen, seiner Eigenart Geltung zu verachatfen. 

Für die Literatur gibt es glücklicherweise 
keine staatlich beaufsichtigten Hochschulen. In den 
Malerakademien lehre« Meister der verschiedensten 
Richtungen, was sie selber können, und die Schüler 
suchen sich nach Gefallen ihre Lehrer aus, sobald 
sie die Elementark lassen durchgemacht haben. In 
den staatlichen Musikschulen dagegen siebt es be- 
denklich anders aus. Sie werden Konservatorien 
genannt, weil sie den Zweck haben, das alte, xum 
Teil längst glücklich Überwundene künstlich zu 
bewahren und der lernbegierigen Jugend einen 
frommen Abscheu vor allen unbequemen Revolu- 
tionären anzuerziehen. Freilich kommt es zum 
Heile der Kunst häufig genug vor, daß die Jungen 
klüger sind als die Alten und ihren Lehrern ein 
Schnippchen schlagen, sobald sie des Scbulzwanges 
ledig sind. Trotzdem aber bleibt es bedauerlich, 
daß das Durchscbnittatalent, das Mittelgut in der 
Musik , durchaus dem Konservatoriumsgeist ver- 
fallen ist; denn dieser Geist bedeutet in seiner 
zufriedenen Beharrlichkeit die Versumpfung, wenn 
nicht gar den offenbaren Rückschritt. Es wird in 
diesen Anstalten einerseits ein ödes Virtuosentum, 
andererseits eine handwerksmäßige, ziel- und zweck- 
lose Musikmacherei ausgebildet , welche für den 



Dag Epigonentum in der Musik 

wahren Fortschritt besonders dadurch fichädlich 
wird, daß die Qherwiegende Mehrzahl der als reif 
entlassenen Schüler nachher als Lehrer tätig ist 
und dadurch auf immer größere Kreise des musi- 
kalischen Publikums Einfluß erhält. Den besten 
Beweis far die gänzliche Wertlosigkeit der Kon- 
eervatoriumsbildung in bezug auf den eigentlichen 
musikalischen Fortschritt bietet die Wahrnehmung, 
daß von allen unseren wirklichen Genies, ja auch 
von den bedeutenderen Talenten des jüngeren Ge- 
schlechts keineinziges aus einem Konservatorium 
hervorgegangen ist! Jene Musterschüler der musi- 
kalischen Hochschulen, welche Meyerbeer-, Mendels- 
sohn- und Beethoven-Preise, Stipendien für Studien- 
reisen nach Italien erhielten, enden fast alle sehr 
bald als königliche Musikdirektoren, Hochschul- 
professoren, Vereinsdirigenten und dergleichen; sie 
komponieren Messen, Sonaten, Quartette, Sinfonien, 
ja wohl gar Opern, und dennoch kennt nur der Ort, 
an dem sie gerade wirken, ihren Namen, und die 
Geschichte der Musik wird ihn nie kennen lernen. 
Zweifellos sind unter ihnen nicht nur sehr viele 
brave Leute, sondern auch sehr viele gute Musi- 
kanten, aber gerade die guten Musikanten hängen 
unserer jungen Mutter Musika, die so gut zu Fuße 
ist und so gerne weit ausschreiten möchte, als 
faule Kindlein gar schwer an den Röcken. Sie 
sind dasselbe, was die Schriftsteller gegenüber den 



T^üTflpiganentiini in der Hai 

Dichtern sind; dabei betrachten sie sich aber meist "l 
als die eigentlichen Hoter des heiligen Feuers f 
und nennen die unbequemen Neuerer Tempel- 
schilnder — sie sind die Pfaffen, welche das Dogma j 
selig macht, während jene anderen den Gott i 
ßnsen tragen und sich von seinem Geiste; umweht I 
fühlen, wenn sie aus ihrer eigenen Natur herauBV 
unbekfimniert zu schaffen suchen. — Es versteht! 
sich, daß in öffentlichen Schulen nicht klassenweiM ( 
gelehrt werden kann, wie man Kunstwerke hervor- J 
bringe; unsere musikalischen Hochschulen sollt« 
sich daran genügen lassen, tüchtige Instrumenta«! 
listen für das Orchester, gute Klavierlehrer un 
brauchbare Dirigenten für den Bedarf der zahllos^l 
kleineren Orchester und Gesangvereine heran-'T 
zubilden. Alle diese praktischen Musiker masBenn 
freilich, und besonders wenn sie im Lehrfach tätige 
sein wollen, die Elemente der musikalischen Theori 
kennen lernen. Diejenigen , die wirklich innere 
Beruf dazu treibt, müßten dann aber behufs ihr« 
weiteren Ausbildung als Komponisten und Diri«^ 
genten die Unterweisung eines Meisters zu 
nieäen im stände sein, welchem nicht Titel und^ 
Stellung , sondern seine Werke selbst 
bührenden Rang in der Musikwelt angewiese 
haben. 

Sache des Staates wäre es, wenn er ein übriges^ 
für die Musik tun will, solche Meister von Talente 



Dae EpigonetitniD in der Musik 

Gnaden durch einen besonderen Ehrensold in den 
Stand zu setzen, unentgeltlich freie „ Meisterschaler " 
anzunehmen. Ganz besonders aber könnten die 
reicher unterstützten Hoftheater durch Heranziehung 
zahlreicher Freiwilliger, Hospitanten oder wie man 
sie sonst nennen wollte, sich ein großes Verdienst 
um die Einführung künftiger dramatischer Kom- 
ponisten und Dirigenten in die Theaterpraxis er- 
werben. Aber freilich, so lange die Intendanten- 
Stellungen noch an Militäranwärter und vornehme 
Dilettanten vergeben werden, wird die Erkenntnis 
des erziehlichen Berufes unserer Hofbtibnen wohl 
noch auf sich warten lassen! 

II. 
In der stillen Zeit, die auf die Erscheinung 
eines großen Genies folgt, handelt es sich vornehm- 
lich um zwei Dinge: erstens einmal für die aus- 
übenden Künstler, die Darsteiler, Orehesterspieler, 
Dirigenten, Fachlehrer, um die getreue Bewahrung 
des neugewonnenen Stiles; zweitens fUr die selbst- 
schöpferischen Künstler um Zurückeroberung der 
persönlichen Freiheit. Daß in ersterer Beziehung 
die Stilbildungsschule, welche der Bayrtuther Meister 
in den letzten Jahren seines Lehens plante. Außer- 
ordentliches hätte leisten können, beweist der Um- 
stand, daß die zahlreichen, im Laufe der Jahre bei 
den Bayreuther Aufführungen oder hei Wagner 



^ 



1 



>«■ Epigonentnm in der Muil 

persöDlicli lieschaftigten Mftnner fast durchweg 
epäterhin natib irgendeiner Richtung sich hervor- 
getan oder wenigstens in ihrem engeren Wirkungs- 
kreis äehr Tüchtiges geleistet haben. Als solche 
Meisterschüler waren aus der früheren Zeit zu 
nennen: Hans Richter, der geniale ei-ste Kapell- 
meister derWiener Hofoper. und HansvonBülow, 
auch der Münchener Musikdirektor Porges, 
Alexander Ritter in Würzburg, der hervor- 
ragende GeBangstheoretiker und Lehrer Julius 
Hey, jetzt in Berlin, und der gleichfalls Berliner 
Kapellmeister Carl Klindworth; aus neuerer 
Bayreuther Zeit Anton Seydl, Felix Mottl, 
Julius Kniese in Breslau, Carl Armbruster 
in London, Wilhelm KienzI in Graz, Felix 
Weingartner in Hamburg, Engelbert Hum- 
perdinck in Bonn, Carl Frank in Rotterdam, 
W. Bopp in Karlsruhe und Oskar Merz in 
München. Es ist wohl charakteristisch, daß unter 
diesen Wagnerschülern , wie man sie wohl nennen 
kann, die Namen sämtlicher anerkanntennaßen be- 
deutendsten Kapellmeister Deutschlands sich be- 
finden ! Und auch die übrigen, dem großen Publikum 
weniger bekannt gewordenen , sowie noch manche 
andere hier nicht aufgeführte junge Leute sind 
durchweg tüchtige Dirigenten geworden und haben 
eich zum Teil auch durch ihre Kompositionen als 
beachtenswerte Talente erwiesen. Alle haben sie 




Du Epigonentom ii 

von Bayreuth die Erkenntnis von dem Ernste der 
Kunst, ein ünterscheidungs vermögen zwischen echt 
und unecht mit ins Leben genommen. 

In ganz ähnlicher Weise, nur noch in größerem 
Maßstabe, hat Franz Liszt Schule gemacht. Zu- 
nächst freilich durch die Ausbitdung von Klavier- 
virtuosen; weiterhin ist er aber auch durch sein 
begeistertes Erfassen alles Neuen und Eigenartigen 
sowie durch das Beispiel seiner eigenen Kom- 
positionen den guten Köpfen und den tiefer poetisch 
veranlagten Musikern unter seinen Schülern sehr 
förderlich geworden. Freilich wüßte ich als Kom- 
ponisten seiner Schule außer Peter Cornelius, 
Felix Dräsieke, den Ungarn Michalowits, 
Eugen d'Albert und vielleicht auch dem später 
noch zu erwähnenden Paul Geisler niemanden 
zu nennen; und auch diese weisen neben dem Liszts 
auch Einflüsse Schumanns, Beethovens und 
Wagners auf. Es ist das sehr erklärlich, wenn 
man bedenkt, daß Liszt selbst in seinem Schaffen 
von Berlioz einerseits und Wagner andererseits 
beeinflußt wurde, und daß das Besondere seiner 
Werke großen Stils einzig durch die unnachahmliche 
Eigenart seiner künstlerischen Persönlichkeit hervor- 
gebracht wurde. Von deutscher Musik, von deutschem 
Ernste ließ sich Liszt zu seinen wunderbaren Ton- 
dichtungen begeistern; dabei war er aber seinem 
Wesen nach viel mehr Ungar, ja selbst Franzose, 



D«s Epigonenton in der 1 

als Deutscher, und daber kommt es, daß in sc 
sinfonischen Schöpfungen weit mehr die feurige, oft I 
schier zigeunerische Rhythmik und die französisch- 1 
geistreiche Harmonik und Instrumentation hiiireiSen-i 
und fesseln, als daß der Schwung der melodiscbens 
Erfindung zu ergreifen vermöchte. Seine Id"^ 
strumentatioD ist ebenso raffiniert, aber gröStenteiln 
viel wirkungsvoller als die B e r 1 i o z ' , in der] 
melodischen Erfindung übertrifft er ihn bei weitem- 
und dennoch ist es ihm nur in wenigen Werken-fl 
(wie in „Mazepjja" , der „Hunnenschlacht" , detti 
„Idealen" und den beiden ersten Sätzen der „Dant»*! 
Sinfonie") vollkommen gelungen, das vorauf-f 
geschickte poetische Programm zu unmittelbarfl 
überzeugendem Ausdruck zu bringen. So wichtig! 
er durch sein musikalisches Schaffen für den Fort«J 
schritt unserer Musik dadurch geworden ist, 
er die Grenzen des bestimmten musikalischen J 
drucks innerhalb des rein sinfonischen Stils ab- 
gesteckt hat, so gefährlich ist er auch manchen J 
grüblerischen jungen Geistern geworden, indem er — 1 
besonders in seinen letzten Lebensjahren — sichl 
nur allzu bereit zeigte, allem durch Seltsamkeill 
Überraschenden Beifall zu zollen und zu weitereoi'fl 
Spintisieren und tollkühnem Wagen aufzufordern. I 
Wir sind damit auf eine der bedenklichsten | 
Erscheinungen des heutigen Epigonentums g&-J 
kommen: auf die jungen Talente, welche damit] 



i)aa Epigoneatnin in der Hnsik 

beginnea, daß sie die Absonderlichkeiten der Alten 
nachzuahmen und sogar zu übertreiben suchen. So 
haben wir jetzt blutjunge Wagnerianer, welche ihr 
Opus 1 im Stile des „Parsifal" schreiben, welche — 
ohne daß der poetische Vorwurf sie dazu zwänge — 
sich in der verzwicktesten chromatischen Harmonik 
ergehen und ängstlich jede einigermaßen sangbare 
Melodie zu vermeiden suchen. „Sakuntala" und 
„Malawikha", die beiden Opern von Felix Wein- 
gartner, haben — hoiTentlich abschreckende — 
Beispiele dieser Art geliefert. Unsere jungen Ton- 
künetler neuester Richtung haben freilich diese 
beiden Partituren als wahre Wunderwerke ange- 
priesen, und zwar mit Recht; denn es zeigt sich 
darin eine so sichere Beherrschung des großen 
Wagnerischen Apparates, daß man hillig über die 
riesigen Kenntnisse und das ebenso riesige An- 
passungsvermögen des Verfassers staunen muß; 
aber dennoch hat das Publikum, das diese Werke 
mit achtungsvollem Gähnen an sich vorüberrauschen 
ließ, auch recht gehabt! Zufällig hat mir gerade 
in diesen Tagen ein großer Stoß Möricke scher 
Gedichte , von einem ebenfalls sehr jungen Steier- 
märker, Hugo Wolf, in Musik gesetzt, vorgelegen 
(53NummerninlOHefteu, Verlag von Em. Wetzler, 
Wien), welche für das Lied dasselbe bedeuten wie 
Weing artner für die Oper. Auch hierein ernstes 
Wollen, ein erstaunliches Können, eine noch viel 



||.,.»''aK>''9s3'3#' DM^igoiuntniii in der Vi 




tippigere Erfindungskraft und frische Kühnheit : und j 
daneben diese krankhafte Scheu vor der Gewöhaticl 
keit, die zur ftngstlicheD Vermeidung jeder QU 
heute natürlich klingenden Melodiebildung fQhrt^ 
Der Komponist hat aus den oft recht hamilosen 
Gedichten mit Gewalt mystisch tiefe musikalische 
Stimmungen herausgeholt und dann über den Text 
Noten gesetzt, welche — hin und wieder — sich 
in die Harmonien einfügen. Und das soll zum 
Klavier gesungen werden ! Unter den liuraoristischen 
Stacken finden sich manche, deren Gesangspart in 
seinen tollen , schier unmöglichen Sprüngen den 
Beckmesser ganz gehörig übertrumpft. Es wäre 
denkbar, daß ein Sänger, wenn er ein Vierteljahr 
lang Heißig studiert, auch das schwierigst« von 
diesen Liedern singen lernen könnte und daß, wenn 
dann auch die Klavierstimme vollkommen im Geiste 
des Komponisten ausgeführt würde, das Ganze den 
beabsichtigten Eindruck hervorriefe — aber was 
wäre damit gewonnen? Wohin sollen diese Be- 
strebungen überhaupt führen, wenn man gar schon 
dem unglückseligen Klavier zumuten will, was nur 
ein vorzügliches Orchester zu leisten vermag!? 

Peter Cornelius besitzt entschieden mehr 
Eigenart in der Erfindung als die meisten der 
heutigen jungen Neudeutschen. Unter seinen Liedern 
finden sich zahlreiche echte Perlen, und seine 
Oper „Der Barbier von Bagdad" ist so- 



^K komiscbe 
^m 36 s.5^ 



Dbb Epigonentum in der Musik 

wohl poetisch wie musikalisch das Feinste und Merk- 
würdigste, was in dieser Gattung die neue Richtung 
hervorgebracht hat. Und dennoch zerstört sich 
gerade dieses Werk den besten Teil seiner Wirkung 
durch die außerordentliche Schwierigkeit der Aus- 
führung. Es wird sich sehr selten oder nie eine 
Bühne finden, an welcher sämtliche Sänger ihren 
Rollen ganz gerecht zu werden vermöchten, und 
außerdem ist die harmonische Struktur für den 
leichten Ton der komischen Oper eine viel zu ver- 
wickelte, als daß selbst musikaüBch gebildete Ohren 
ihr üherall zu folgen vermöchten. Das ist eben 
der große Unterschied zwischen Wagner und seinen 
Epigonen, daß jener als erfahrener Theaterpraktiker 
selbst bei den kühnsten Wagnissen die Bühnen- 
wirkung genau vorhersah, diese aber ganz unge- 
zügelt nicht nur ihren Eingebungen folgen, sondern 
auch ihrem Hang zum mühsamen Ertüfteln nach- 
gehen. Außerdem wahrte Wagner auch in der ver- 
wickeltsten motivischen Arbeit immer den großen 
Atem, der ganze Szenen hindurch aushält und sogar 
gegen den Schluß hin immer mehr anschwillt, 
während seine Nachahmer, besonders aber die durch 
Liszt beeinflußten, über ihrer ängstlichen Klein- 
malerei das Ganze vergessen. In diesem letzteren 
Umstände ist wohl hauptsächlich der Grund für 
die Zurückhaltung des Publikums gegenüber so 
manchem durchaus nicht talentlosen Werke der 



Das Epigonentum in der Mi 

jüngeren Opernkomponisten zu suchen. „Helianthua" 
yon A. Goldschniidt. „Gudrun" von Drftsieke, 
„Urvasi" von Kienzl sind mir leider nicht bekannt, 
doch darf ich wohl vermuten, daß sie an denselben 
Fehlern kranken werden wie die oben geschilderten 
Werke, denn sie haben sich eben auch die Bühne 
nicht zu erobern vermocht. Daß bei den meisten 
dieser Musikdramen der undramatische Charakter 
der Texte schwer mit ins Gewicht fällt, versteht 
sich ja von selbst. — Die direkten Anklänge an 
Wagner sollten übrigens seinen Schülern am wenigsten 
verübelt werden , denn sie sind tatsächlich unver- 
meidlich, sobald man sich einmal in der Tonsprache 
des Meisters ausdrücken will, Wagner hat in seineu 
Werken doch wirklich schon für alle Schattierungen 
menschlicher Leidenschaft, für alle denkbaren Natur- 
stimmuDgen einen so treffeuden musikalischen Aus- 
druck gefunden, daß die melodischen und harmoni- 
schen Wendungen, deren er sich dafür bediente, 
als typisch in das Bewußtsein des jungen Geschlechts 
übergehen mußten. Sicherlich sind viele jener leicht 
erkennbaren Anklänge dem Komponisten ganz un- 
willkürlich, wie eigene Eingebungen, zugeflossen. 
Das ist den Epigonen immer so gegangen — oder 
sehen sich nicht vielleicht die Andantes und Scherzos 
der H a y d n - und Mozart- Schüler auch so ähnlich 
wie nur irgend möglich'-' 

So starke Wagner-Erinnerungen wie bei Anton 






r 
I 



Das Epigonentnm in der Musik 

Brückner dürften sich bei wenigen anderen Kom- 
ponisten der Richtung vorfinden, und doch ist gerade 
Brückner in der Erfindung der Reichet« des ganzen 
Geschlechts, soweit ich es zu tiberschauen vermag. 
Er hat wagnerische Melodik und Instrumentation 
auf die alte Form der Sinfonie Übertragen und 
sucht die vier Sätze derselben durch ein poetisches 
Programm in inneren Zusammenhang zu bringen. 
Dies Bemühen mag ein fruchtloses sein, denn die 
neue Lisztsche Form der sinfonischen Dichtung ist 
ohne Zweifel der eigentliche Tummelplatz für die 
neudeutsche Musik , aber Brückner hat doch dem 
alten willkürlichen Gebilde in einigen seiner Werke 
ein Scheinleben einzuhauchen verstanden, indem er 
wuchtige, sprechende Themen erfand, sie nicht nur 
künstlich zu verschlingen, sondern auch in leiden- 
schaftlicher Steigerung auszugestalten wußte. Und 
dazu diese, wenn auch manchmal zu schwülstige, 
so doch stet^ ausdrucksvolle und glänzende In- 
strumentation. Er entlehnt dabei so naiv, daß man 
seine Freude daran haben muß , wenn man kein 
engherziger Philister ist. In einer mühsamen 
Mosaikarbeit stören die Anklänge gar sehr, aus 
einem frisch quellenden Strome der Empfindung 
dagegen sehen wir sie mit behaglichem Lächeln 
aufsteigen. Damit soll freilich nicht gesagt sein, 
daß unverzagte Nachahmung der richtige Weg für 
die Zukunft sei. Es wäre freilich sehr leicht, aus 



Uae EpigoDentum in der Unrik I 

Wagners Opern und Liazta sinfonischen Dichtungen 1 
eine beliebige Menge neuer dramatischer und sin-J 
foniacher Musikwerke herzustellen; mit einigem J 
Talent und der nötigen Begeisterung zurechVJ 
gestohlen, würden solche echte Wagners undJ 
Liszte, wenn nur die neuen Texte gut auf den Noteafl 
s&&en, wahrscheinlich leichter wirken, als alle diel 
Werke der Obengenannten es vermocht habeall 
Aber da das nun einmal nicht geht, so muS nuutl 
leider den jungen Komponisten die harte Zumutung^« 
stellen, daß ihnen selber was einfallen solle. 1 

Auch der schon erw&hnte Felix Dräsicke 1 
hat sich , da ihm auf dramatischem Gebiete kein J 
Erfolg blühte, in der alten Sinfonieform versucht,« 
ohne daß es ihm jedoch gelungen wilre, trotz alleafl 
Aufwandes kontrapunktischer Kunst und modemerl 
Melodik etwas Einheitliches, Neues und Packendeia 
zu schaffen. Auch ihm fehlt, wie allen Lisztianem^J 
der große Atem. Seine gelungensten Werke dürften»! 
die Ballade „Helgis Tod" und sein „Requiem" sein«'! 
Alle übrigen Sinfoniker wandeln in den Bahnen« 
Beethovens und Schumanns, allen voran Johanneftfl 
Brahms, der sich mit Vorliebe den Erben.! 
Beethovens nennen hört. Die Gunst des musikalisclll 
gebildeten Publikums hat er sich sicherlich weita 
mehr durch seine Lieder und Kammermusiken alM 
durch seine Sinfonien erworben, und diese letzteren! 
sind hauptsächlich aus dem Grunde zu einer so1ch»J 



Das Epigonentum in der Musik 4F%>'^''''S''^''*'£-'^''^ 

Wichtigkeit innerhalb der deutschen Musik- 
geschichte emporgeschraubt worden, weil die Eon- 
servatoriumsleute durchaus einen Trumpf gegen 
Wagner bereit haben mußten. Auch die Bekehrung 
Hans von Bülows, des Konzertdirigenten, von 
Wagner zu Brahms hat seinen Ruhm machtig 
stützen helfen. Aus meinen frtlheren Ausführungen 
geht es hervor, weshalb Brahms für den eigent- 
lichen Fortschritt der Musik nach der Richtung 
des erhöhten poetischen Ausdrucksvermögens dieser 
Kunst 80 wenig in Betracht kommt. Noch weniger 
haben freilich jene liebenswürdigen Leipziger zu 
bedeuten, welche mit ihrem sinfonischen Schaffen 
noch ganz in der Richtung Mendelssohn-Schumann 
stecken geblieben sind. Immerhin aber haben sie, 
wie z. B. Carl Reinecke, sauber gearbeitete, 
wohlklingende und daher auch leicht faßliche 
Instrumentalwerke geschrieben. 

Auch unter den Opemkomponisten begegnen wir 
noch einigen Vertretern der älteren Richtung, wie 
z. B. Franz von Holstein, der am meisten an 
Marschner erinnert, und dem höchst talent- und geist- 
vollen Schumannianer Hermann Götze, dessen 
Oper „Die Bezähmung der Widerspenstigen" ohne 
Zweifel das Beste ist, was diese Richtung des Epi- 
gonentums hervorgebracht hat. Es fehlt nur eins 
daran: jener große dramatische Zug, an den Weber 
und Wagner uns nun einmal gewöhnt haben und ohne 



Uiu EpiguueDtam in der Mi 

den es auch die feinste konzertmftßige Musik 
keiner Dachhaltigen Bahoenwirkuug bringen kann. 
Es darf uns nach dem Gesagten nicht wunder- 
nehmen, daB einigermaäen nachhaltige dramatische 
Erfolge nur von solchen Leuten davongetragen 
wurden, welche, mochten sie sonst ihren Stil her- 
nehmen woher sie wollten, doch wenigstens Theater- 
Hut besaßen und die leidenschaftliche Bewegung, 
die langatmige Steigerung sowie den notwendigen 
äaSeren Glanz geschickt nachzuahmen wußten. Zu 
dieser Gattung gehört Carl Goldmark, dessen 
„Königin von Saba" zwar in erster Reihe auf 
Wagnersche EinUttsse zurückzufahren ist, aber durch 
den orientalischer Charakter der Melodie und die 
ganz internationale Rhythmik und Instrumentation 
einen gewissen originellen Reiz gewonnen hat. Gold- 
mark ist bei weitem kein so guter Buhnenkenner 
wie Meyerbeer, aber er teilt mit iliesein und anderen 
Stammesgenossen die Fähigkeit, aus allen Stil- 
gattungen (las Modernste und EifektvoUste heraus- 
zuspUren und mit bedeutender Kunstfertigkeit zu- 
sammenzustellen. Ja, er weiß auch die seiner Rasse 
eigene Sentimentalitftt unter Anwendung der äußeren 
Mittel Wagnerischer Leidenschaft zu einem gewissen 
BchwQlstigen Gefühlstaumel zu steigern, der wohl 
fähig ist, über den Mangel an wahrer Leidenschaft 
hinwegzutäuschen. Mit weniger künstlerischem 
Ernst, aber ebenso glücklicher Auswahl des ober- 



inn. '■ 



i 



Das Epigoaentuin in der Musik j^4.>4$N£,«tCN£,,>^>i||i 

fläehlich Wirkungsvollen hat EduiundKretzsch- 
ra a r sicli die Bühne zu erobern verstanden. Seine 
„Folkunger" setzen sich zusammen aus einem guten 
Teil Männergesangvereins-Singsangseligkeit und je 
einer beträchtlichen Portion Meyerbeer und Wagner 
— bis zum „ Tannhäuser ", Aber seine Musik ist 
doch flüssig und frisch klingend, und über ihren 
Erfolg kann man sich daher gar nicht wundern. 
Weit mehr künstlerischen Ernst entfaltet Philipp 
Rufer in seinem „Merlin" — allerdings auch etwas 
mehr Langeweile. Ein echter Vertreter des Epi- 
gonentums in allem, was ihm gelingt und mißlingt. 
Der erfolgreichste Opernkomponist unserer Tage, 
ViktorKeßler, kann sich mit den Obengenannten 
als Künstler durchaus nicht messen. Er verdankt 
seine großen Erfolge in erster Reihe der Beliebt- 
heit der Dichtungen von Scheffel und Wolff, die 
seinen Opern zugrunde liegen, sodann aber auch 
seiner beneidenswerten Unbefangenheit, mit der er, 
sich den Teufel an irgendwelche Stilvorschriften 
kehrend, sein Liedchen pfeift, wie ihm der Schnabel 
gewachsen ist. Das wäre ja nun auch sehr schön, 
wenn er ihm nur ein wenig feiner gewachsen wäre, 
und wenn er nur ein klein wenig besser instru- 
mentieren könnte ! Er reicht meines Erachtens 
in der melodischen Erfindung an die Meister des 
harmlos-sentimentalen Liedes, F. G umbeut und 
Franz Abt, lange noch nicht heran, aber bei dem 



Dos Epigonentum in der Hnaik' 

Mangel an etwas BeRsereni nimmt rias ungeheuer 
große klavierklimpermle und gosangstßmpenide 
Publikum, welches an dieser Gattung hauptsächlich 
seine musikalische Befriedigung tindet, den „Trom- 
peter", „Ratteuf&nger" usw. inzwischen dankbar 
hin. Sehr erklärlich und wohlverdient ist dagegen] 
der Erfolg des „Goldenen Kreuzes" von Igna 
Brüll, dessen liebliche Melodien wohl noch Iftugf 
Zeit frisch bleiben werden. Steigen wir tiefe 
hinab, so sehen wir, daB die Epigonen der grofim^ 
Meister der leicht geschürzten Muse, Offenbacli' 
und Johann Strauß, schon f;ist dahin gelangt 
sind, durch ihre klägliche Nachäfferei der Operette 
gänzlich den Garaus zu machen. Das wäre freilicli 
kein Unglück, wenn uns nur an ihrer Statt eine 
neue deutsche komisehe Oper beschert würde ! Na^ 
einer solchen schmachtet unsere Opernbilhne ni 
schon gar lange vergebens; aber freilich, die könnl 
nur ein OriginalmeuBch und ein Vollbluttalent um 
schaffen und keiner unserer mit so vielen Hundea 
der Weisheit gehetzten Epigonen! 

III. 

Wir haben aus der voraufgehenden Betrachtung -1 
erkannt, welchen Gefahren das Schaffen der Epigonm 1 
ausgesetzt ist, und wie sie fast alle mehr oder! 
weniger diesen Gefahren sich nicht zu entziehen! 
wußten. So manchen ernsthaften, ehrenwerten 1 



1 

ie ^ 




I 



Du Epigonentom in der Musik 

Bestrebungen mußten wir einen eigentlichen Wert 
für die Entwickelung der musikalischen Kunst ab- 
sprechen und so mancher wohlbekannte, hoch- 
geachtete Name mußte dabei genannt werden. Sollte 
sich denn aber wirklich in der so überreichen Muaik- 
produktion der Gegenwart gar nichts finden lassen, 
was uneingeschränkten Lobes würdig wäre oder 
wenigstens hoffnungsvolle Keime für zukünftige 
fruchtbare Entwickelung in sich bärge? Glücklicher- 
weise darf diese Frage wenigstens im Hinblick auf 
das moderne Kunstlied bejaht werden. Man 
kann wohl behaupten, daß noch nie zuvor in Deutsch- 
land der Durchschnitt des in dieser Gattung Ge- 
leisteten auf einer solchen Höhe stand wie heute. 
Von Schubert über Mendelssohn, Schumann, Robert 
Franz, Curschmann usw. entwickelt sich die feinere 
Kunstform des Liedes mit Klavierbegleitung immer 
reicher und führt zur Ausgestaltung eines eigen- 
artigen Stils, Es versteht sich von selbst, daß auf 
die Melodik des Liedes, wie auch auf die harmonisch 
immer reicher werdende Begleitung die Einflüsse 
der verschiedenen Meister sich geltend gemacht 
haben; aber das, was anfänglich vielleicht bewußte 
Anlehnung war, ist unvermerkt dem jüngeren 
Musiker gesehleeht in Fleisch und Blut überge- 
gangen. So hat sich die Schubertsche Melodien- 
frische mit Schumannscher Sinnigkeit und den 
Wagnerschen Anforderungen an richtige Dekla- 



Dfta Bpigonentain in d«r Hnal 

matiOD und innigen Anschluß an die poetische 
GrundBtimmuDg zu einem Ganzen verschmolzen, 
welches in der Tat einen neuen und auch nationalen 
Stil darstellt. In der Gattung des vornehmen Liedes 
haben eo außerordentlich viele Kompouisten ihr 
Gutes geleistet, daß uibü einige Dutzend aufzählen 
müßte! Unmöglich kann ein Mensch diese vielen 
hundert Kompositionen soweit im Gedächtnis haben, 
um sie gerecht zu beurteilen. Wenn ich daher hier 
einige Namen herausgreife, so sind das solche, 
welche entweder besonders oft genannt werden oder 
zufällig gerade mir näher bekannt geworden sind. 
Andere mögen wieder andtre kennen und mit dem- 
selben Rechte hochschätzen. In diesem Sinne seien 
hier genannt: Georg Hendschel, Kiedel mit 
seinen wunder\'ollen „Trompeterliedern" ; Lassen, 
der freilich viel französische Elemente in seinem 
Stile zeigt; Jensen, bei dem allerdings manch- 
mal die reiche Begleitung zu wahren KlnvieretQden 
ausartet; ferner — wie oben schon erwähnt — 
Brahms; Leßmann mit einigen sehr feurigen, 
schwungvollen Sachen; R, Fuchs, der sich durch 
packende Melodie und vornehme Hurmonie aus- 
zeichnet ; Heinrich Hofmann, der, so ungemein 
fruchtbar er ist, doch niemals trivial wird; Martin 
Plüdderaann mit seinen Balladen; F. Klose, 
ein noch wenig bekannter junger Tonsetzer, dessen 
Opus 1 — 5 (Lieder und Gesänge, bei F. Luckhardt 



ische ^^M 
Izen, ^^ 



Das Epigofientnm in der Hasik 

in Berlin erschieneo) mir ganz kürzlich in die 
HAnde kamen und ein starkes, liebenswürdiges 
Talent verraten, das trotz oft kühner Harmonik 
sich die Frische des Gesanges nicht beeinträchtigen 
läßt. Besonders hervorgehoben zu werden verdient 
Hans Sommer, der in seinen zahlreichen Lieder- 
heften (in der Littolfschen Sammlung erschienen) 
eine über den Durchschnitt erheblich hervorragende 
Begabung für das Treffen der poetischen Stimmung, 
sei dieselbe humoristisch oder ernst, beweist. Aller- 
dings verfällt auch er hin und wieder in den Fehler 
manches Geringeren, daß er zu viel charakterisiert 
und dadurch den Fluß des Ganzen hemmt; doch 
gelingen ihm die meisten, und besonders die humoristi- 
schen Lieder so ausnehmend, daß er eine erste Stelle 
unter den Komponisten der Gegenwart beanspruchen 
darf. Ihm ist das Wesen der Wagnerschen Kunst 
in Fleisch und Blut übergegangen, ohne ihn doch 
zum Nachahmer zu machen. 

Über August Bunge rt, der sich gleichfalls 
durch eine stattliche Anzahl von Liederheften (meist 
bei Luckhardt erschienen) eingeführt und seither 
durch seinen großen Plan einer Tetralogie „Homeri- 
sche Welt" in musikalischen Kreisen viel von sich 
reden gemacht hat, konnte ich bisher nicht ins 
klare kommen, da ich nie etwas von ihm aufführen 
hörte; ich habe nur seine Liederhefte und den 
Klavierauszug seiner „Nausikaa" durchgelesen und 






wenigstens in den erstenLiedern viel echte Empfindung 
tmd Unbefangenheit in der Erfindung, besonderen 
Reichtum und fest ausgeprägte Eigenart aber nicht 
entdecken können. Mit seiner dramatischen Tetra- 
logie scheint er mir seinem Können zu viel zu- 
gemutet zu haben. Seine Vorrede zu „Nausikaa" 
verspricht die tiefinnigste Gedankenmusik, aber die 
Partitur zeigt ein recht harmloses Gesicht von alt- 
gewohntem Opernschlage. Abgesehen davon, daß 
das Nausikaa-Idyll Oberhaupt kein dramatischer 
Vorwurf ist, läßt weder Eungerts Poesie noch seine 
Musik dazu irgendwo die Löwcnklaue erkennen. 
Ich bin überzeugt, daß er sehr hübsche, für das 
Theater brauchbare romantische Opern im älteren 
Stile schreiben könnte; aber worauf sich gegen- 
wärtig die aberschwengliche Bewunderung seiner 
Verehrer gi-ündet, das ist mir, wie gesagt, noch un- 
verständlich. DaßBungert kein mühseliger und be- 
ladener Wagner-Nachahmer ist, gereicht ihm jeden- 
falls zum Vorzuge. Vielleicht kommen in dem 
Hutten-Sickingen- Festspiel, das heuer in Kreuznach 
aufgeführt werden soll, auch seine positiven künst- 
lerischen Eigenschaften zu überzeugender Geltung. 
Wer sollte da nicht seine Freude daran haben? 

Ich habe schon oben mit dem Hinweis auf die 
Unmöglichkeit, alles zu kennen und im Gedächtnis 
zu behalten, dem Vorwurf vorgebeugt, daß ich den 
und jenen irgendwo im Verborgenen blühenden 



Das Epigonentum in der HoBik 

Genius vor andern, vielleicht minfier bedeutenden, 
tibersehen hätte. Es ist das um so eher möglich, 
als ein wirklich eigenartiger Komponist heutzutage 
schwerer denn je in die Öffentlichkeit dringt, wenn 
nicht ein berühmter Dirigent wie Bülow, berühmte 
ausübende Künstler oder mindestens eine energische 
Ruhmesagentur sich seiner annimmt. Am alier- 
schwierigsten ist es für einen solchen, sich eine 
Bühne zu erobern; denn unter unseren Theater- 
leitern und Kapellmeistern gibt es nur sehr wenige, 
welche überhaupt die Fähigkeit besitzen, eine 
kräftige Eigenart zu erkennen. Das mangelhafte 
Kunstverständnis und die Furcht vor dem möglichen 
Geldverlast lassen diese Herren vor dem Ansinnen, 
ein noch unerprobtes dramatisches Werk von einem 
unherühmten Verfasser einzustudieren, ängstlich 
zurückschrecken. Wenn also die Öffentlichkeit die 
großen Bühnen- oder Konzertwerke noch nicht ge- 
hört hat, welche wirklieh das Neue, die Hoffnung 
für die Zukunft bedeuten , so ist damit durchaus 
nicht gesagt , daß solche Werke nicht vielleicht 
doch vorhanden sind. Ich muß es daher als einen 
seltenen Glücksfall preisen, daß es mir vergönnt 
war, seit einer Reihe von Jahren mit der Person 
und den Werken eines jungen Komponisten vertraut 
zu werden, den ich innerhalb des JammerwesenB 
des Epigonentums als eine Äusnahmeerscheinung, 
als einen Charakter von bereits fest ausgeprägter 



Das Epigoneutum in der Mtu 

Art bezeichnen darf. Dieser Mann heißt PaulJ 
Geisler. Er ist 1856 in Marienburg aus musikali*! 
scher Familie geboren und bat, obwohl Reine 1 
gabung frUh genug hervortrat, sich immer mehrl 
um allgemeine, aU um die einseitige Musikantea-j 
bildung bemüht. P> bezog die Universität Leipz^^ 
und vollendete gleichzeitig Iwi Privatlehrern i 
theoretischen Studien in der Musik. Sein erstes 1 
Werk war eine Reihe höchst merkwürdiger Klavier- ] 
stücke, die unter dem Titel „Episoden und Monologe' 
bei Bote u. Bock in Berlin erschienen und alsbald^ 
nicht geringes Staunen in ernsten Musikkreisentfl 
und auch die Bewunderung Liszts erregten. EhT 
sind eigentlich sinfonische Dichtungen im kleinen] 
Eahmen — für Klavier nur übertragen. Höchst 1 
bezeichnend gewählte Motti deuten den poetischea 
Zusammenhang an und eröffnen einen tiefen Ein- | 
blick in die Psychologie des Künstlerlebens. Er , 
schrieb dann eine Oper , Ingeborg" zu einem un- 
möglichen Text von Peter Lohmann (Klavierauazug 
gleichfalls bei Bote u. Bock erschienen) und bewies j 
darin, trotz der naivsten Anklänge an Wagner, 
eine echt dramatische Leidenschaft und eine sichere J 
Empfindung für Bühnenwirkung. Das Werk wurde, l 
später mit starkem Erfolg in Bremen aufgeführt, ] 
konnte aber seines undramatischen „Buches" wegen ] 
nicht weiter dringen. Inzwischen hatte Geisler 1 
seine praktische Tätigkeit ganz dem Theater ge- 1 



widmet, zuerst als Korrepetitor an der Leipziger 
Oper, dann als zweiter Kapellmeister an Ä. Neu- 
manns reisendem Richard Wagner- Theater. Das 
Beispiel Anton Seidls und das bewegte, leiden- 
schaftliche Zigeunerleben auf jener berühmten 
Wagner-Reise durch England, Niederlande, Deutsch- 
land und Italien waren von bedeutender Einwirkuug 
auf seine künstlerische Entwicklung. Er war 
nach Neumanns Weggang noch einige Zeit in 
Bremen als Kapellmeister angestellt, zog sich dann 
aber vom Theater zurück, um nach langer Unter- 
brechung wieder selbst schaffend tätig sein zu können. 
Einige kleinere sinfonische Charakterstücke, „Der 
Rattenfänger", „Eulenspiegel" u, a. waren besonders 
durch ihre pikante Instrumentation aufgefallen, 
aber doch nicht bedeutend genug, um neben anderen 
Werken ähnlicher Art, wie z. B. den reizenden 
Sachen von M. Moszkowski, eine besonders nach- 
haltige Wirkung ausüben zu können. Nun aber, 
in seiner Berliner Muße, schuf Geisler eine Reihe 
großer sinfonischer Dichtungen: „Faust", „Abasver", 
„Maria Magdalena", „Merlin", die er durch Chor- 
und Sologesänge verband und unter dem Titel 
„Golgatha" zu einem einheitlichen Ganzen zusammen- 
faßte. In diesem hochbedeutenden Werke ist er 
von der Lisztschen Art zuerst mit aller Bestimmt- 
heit abgewichen, indem er nicht für jeden Charakter 
und jede Stimmung des poetischen Vorwurfs ein 




Das Epigonen tni 

besonderes Motiv erfand, welches ja doch dem 5 
hörer ohne ein genaues Programm gar wenig t 
und nur den Fluß der Emptindung sowie die 
musikalisch-formale Entwicklung in Verwirrung 
bringt, sondern vielmehr den Emptindungsgehalt 
der zugrunde liegenden Dichtung in Musik auf- 
löste und nur die wichtigsten inneren Konflikte i 
durch kontrastierende Motive darstellte. Diese ] 
Motive sind so plastisch, wuchtig, sich fest ein- 
prägend wie bei keinem Wagner-Epigonen. Dabei ' 
ist die musikalische Form fest gefügt und knapp, 
der Rhythmus von Leidenschaft durchpulst und die 
Harmonik verhältnismäßig einfach — für den 
raffinierten neuesten Geschmack sogar zu einfach. 
In der Sicherheit des Aufbaues, der Kunst der 
Steigerung, dem vollsaftigen Temperament des 
Ausdrucks übertrifft Geisler kein mir bekannter 
Komponist der Gegenwart. Allerdings ist bei soviel 
Licht auch etwas Schatten. Im Zyklus „Golgatha' 
treten freilich Geislers Schwächen weniger hervor 
als in dem Gegenstück dazu, dem Zyklus ,Sansara', 
welcher eine Reihe von Chorwerken und Einzel- 
geaängen mit Orchesterbegleitung umfaßt, welche 
der Welt Lust und Wehe darstellen , Naturpoesie 
und Liebe in allen Gestalten. Diese Schwächen 
bestehen in der Neigung, durch Übertreibung des 
ihm eigenen Pathos in die Phrase zu verfallen, die 
manchmal sogar trivial wird, in dem oft eintönigen 



J 



Das Epigonentnin in der Musik # e^ g'<.><''^.-g># 

Verranntsein in einen BegleitungBrhythmus , eine 
Äkkordverbindung, und endlich in der oft recht 
argen Vernachlässigung der richtigen Deklamation, 
wenn gerade die Symmetrie der Melodiebildung 
eine solche schwierig macht. Beide große , einen 
ganzen Kouzertabend ausfüllende Werke sind im 
Zusammenhange noch nirgends aufgeführt worden. 
Die Klavierausztlge von „Golgatha" wie von „San- 
sara", von dem begeisterten Vorkämpfer der Geisler- 
schen Richtung, Dr. F. Spiro, äußerst sorgfältig 
ausgearbeitet, sind vor kurzem bei Baabe u. Plothow 
in Berlin erschienen. Geislers neuestes Werk ist 
eine Oper „Hertha", die in der nächsten Spielzeit 
in Hamburg zur Darstellung kommen soll , und 
welche dadurch besonders neu wirken dürfte, daß 
sie das Rezitativ ganz verschmäht und ihr Heil 
allein in der Melodik sucht. 

Die Hoffnung für die nächste Zukunft der 
ernsten deutschen Musik scheint mir in der Tat 
auf dem zu beruhen, was die Geislerschen Werke 
zum ersten Male mit Bewußtsein anstreben. Voraus- 
gehen muß einerseits die Befreiung von dem zunft- 
mäßigen Musikantentum Mendelssohnscher Erb- 
schaft, wie von der ohnmächtigen Wagner-Nach- 
äfferei, andererseits die Erkenntnis, daß eine 
Programmusik im Berlioz-Liszt-Stile zur unver- 
ständlichen und unnatürlichen Flickarbeit werden 
muß. Was die Musik mit den Mitteln, die wir 



Das Epigonentum in der Mnaifc 4 

heute kennen, ohne Text und Programm ftlr jeden 
verfitfindlicb auBdrücken kann, das ist der Kampf < 
der MenBchenseele um die Freiheit, das Ringen aus 
Nacht zum Licht , das Sehnen und Schwärmen, 
Liebestauniel, helle Freude, dumpfer Schmerz, Wut- 
beben, Vernichtungsschrecken, stille Ergebung und 
selige Erlösung. Bas ist wohl genug des Inhalts, 
um unendlich neue Formen zu erfüllen ! Vor allen 
Dingen aber heiSt es, sich die Unbefangenheit 
zurückerobern und die Angst vor der eigenen kleinen 
Persönlichkeit Hberwinden :DiePersönIichkeit 
ist alles in der musikalischen Kunst! Da 
gilt es nur, die Form zu Jinden, die der Persönlich- 
keit angemessen ist, und sich dabei zu bescheiden. 
Selbsterkenntnis ist sehr wohl mit Selbstvertrauen 
zu vereinigen, und nur die Wiedergewinnung der 
ruhig'Uberzeugten, persönlichen Freiheit kann von 
dem Fluche des Epigonentums erlösen. 



Humor und Naturalismus 

(1890) 



Humor und Naturaiianias 






Wenn ich nur wüßte, was man sich heut- 
zutage hei dem Worte Naturalismus zu denken 
habe! Yor ein paar Jahren glaubte ich das ganz 
genau zu wissen, zu jener Zeit, als man sich bei 
uns in Deutschland über Zolas Schamlosigkeit zu 
beruhigen und ihn allgemein künstlerisch ernst zu 
nehmen begann. Damals waren die Schlagworte aus 
seinen kritischen Schriften in aller Munde, und man 
verstand im Gegensatz zu dem längst bekannten 
und geschätzten Realismus unter dem Naturalis- 
mus eine quasi wissenschaftliche Beobachtung der 
Natur, eine unerschrocken analytische Darstellung 
seelischer Vorgänge , zum Zwecke treuester 
Spiegelung der Wirklichkeit in der Kunst. Die 

I Phantasie wurde nicht nur für die bildenden Künstler, 
sondern sogar für die Dichter außer Dienst gestellt 
und mit dem frei gewordenen Vermittleramt zwischen 
Stoff und Darstellung das Temperament betraut. 
Mit andern Worten : das Handwerkszeug des Dichters 
sollte aus Seziermesser, Sonde, Mikroskop und Re- 



Humor nnd Natoralismiu 

agensglas bestehen, seine Bücherei nur die bahn- 
brechenden Werke der neuen naturwissenschaft- 
lichen Schule enthalten und die individuelle Be- 
leuchtung der also wissenschaftlich gewonnenen 
Forschungsergebnisse nur durch das Temperament 
des Forschers erfolgen dürfen. Scheinbar genügte 
ja dies letztere Zugeständnis an die Subjektivität, 
um der Kunst noch einen Vorzug vor der Wissen- 
schaft zu retten, aber auch wirklich nur scheinbar. 
Denn es stellte sich bald genug heraus, da6 eigent- 
lich nur der Choleriker und der Melancholiker zum 
naturalistischen Dichter im Sinne Zolas tauglich 
sei, weil der Sanguiniker eben der geborene Idealist 
ist, der sich Hoffnung und Glauben selbst durch 
persönliche und wissenschaftliche Erfahrung nicht 
gern nehmen läßt, und der Phlegmatiker der Philo- 
sophie der allgemeinen Wurschtigkeit zu huldigen 
pflegt, deren fruchtbarem Boden in Kunst und Leben 
wohl manch nützliches Futterkraut entsprießen mag, 
schwerlich aber eine Dichtung, welche durch Rück- 
sichtslosigkeit auf jeden Fall die behagliche Ge- 
wohnheit zu stören geeignet ist. Zolas eignes 
schwarzgalliges Temperament führte ihn ganz natur- 
gemäß darauf hin, überall im Menschen die Bestie 
zu sehen, und auch die russischen und skandinavi- 
schen Naturalisten waren, mit Ausnahme des früheren 
Tolstoi, melancholischeGrübler oder haßgeschwollene 
Choleriker, welche in ihrer Kunst hauptsächlich 



I 




eine Befreiung von dem unerträglichen Drucke 
äußerer Verhältnisse und geistiger Beschränkung 
suchten , unter dem sie selbst litten und ihr Volk 
leiden sahen. So kam es, daß der Naturalismus 
sehr bald gleichbedeutend wurde mit der Literatur 
der Entrüstung oder der Anklage, wie mau besonders 
die russische treffend genannt hat. 

Schlimm wurde die Sache, als der Naturalis- 
mus bei uns in Deutschland Nachahmer fand. Die 
Voraussetzungen des politischen und geistigen 
Druckes, von denen die Russen ausgingen, die 
Enge des Horizontes , die Kleinlichkeit der Ver- 
bältnisse, welche die Skandinavier entrüstete, fehlte 
bei uns, und so kam es, daß vorzugsweise die 
französischen Naturalisten die Vorbilder für unsere 
Jüngsten wurden. Aus allen Provinzen des deutscheu 
Kelches und der angrenzenden Dörfer strömten 
titanische Jünglinge besonders hier in Berlin zu- 
sammen, um auf dem heißen Pflaster der Weltstadt 
ihre Studien zu machen. Hier, wo die großen 
Gegensätze so hart nebeneinander stehen, wo man 
der Zeit so unmittelbar an den Puls fühlen, wo 
man Gut und Blut so leicht verwetten kann am 
Totalisator auf der Bennbahn des Daseinskampfes, 
hier durften sie alle hoffen, die herrlichsten Stoffe 
und die herrlichsten Entrüstungsmotive zu finden 
— denn der gute Wille zur Entrüstung war bei 
. wbr vielen dieser jungen Herren der einzige vor- 



Humor und NaturalUmua 

weisbare BerechtigungsBchein zum Betreteu des 
modernen ParnasEes. Die langen , mühsamen und 
ernsthaften Vorarbeiten hatten ihnen ja die Flaubert 
und Zola schon geleistet. Daß der Mensch unter 
allen Umständen nur eine mehr oder minder gut 
verkappte Bestie, das ganze Dasein bestenfalls ein 
schlechter Witz sei, das galt ihnen ja bereits als 
unamstößliche Tatsache. Sie hatten also eigentlich 
nichts anderes zu tun , als das Lied von der häß- 
lichen Einrichtung nach möglichst neuer, nerven- 
kitzelnder Melodie zu singen. Ihre Lebenserfahrung 
• war meistens eine sehr geringe, und das Leben in 
der Großstadt trug viel mehr dazu bei, ihren Gesichts- 
kreis zu beschränken als ihn zu erweitern. 

Sie fingen sich in den Spinnennetzen des 
Zigeunertums , die hier in Berlin und in andern 
Kunststädten sich Über so manchen behaglichen 
Eneipenwinkel anspannen. Da führten die Cho- 
leriker, die Grundsatzfanatiker das große Wort — 
und Grundsätze und große Worte haben von jeher 
auf die Jugend eine gefährliche Verführungskunst 
ausgeübt. Idealisten, das darf man wohl sagen, 
sind diese jungen Musensöhne alle gewesen, die 
sich dem Naturalismus in die Arme warfen, und 
Idealisten sind auch fast immer Pathetiker, be- 
sonders wenn sie nicht auf der Menschheit Höhen 
geboren sind , sondern sich aus dämmeriger Tiefe 
emporgearbeitet haben. Ich bin in den acht Tagen, 



r Humor und NntoraliBmUB 



die ich nuD in Berlin hause , den meisten unserer 
jüngatdeutschen Naturalisten persönlich nahe ge- 
treten und habe oft Gelegenheit gehabt, einen Blick 
in ihre Werkstatt zu tun. Ich stelle daher keine 
vage Behauptung auf, wenn ich die Genauigkeit der 
Beobachtung und den Wahrheitswert in ihren 
Schriften in Zweifel ziehe. Irgendeine Zeitungs- 
notiz, eine Verbrecherstatistik, ein Gesellschafts- 
skandal bildet für sie den Ausgangspunkt ftlr die 
großartigste moralische Entrüstung, die mit Be- 
gierde den einzelnen Fall zum Typus erhebt und 
um eines räudigen Schafes willen ganze Herden 
vor ihr Schlaehtmesser fordert. Besonders den 
armen Frauen ergeht es da recht schlimm. Die 
jungen Poeten mit der bleichen Stirn und dem 
düstren Blick haben meist nur einige wenige, leicht 
zugängliche Vertreterinnen des Geschlechtes kennen 
gelernt, und nun werden je nach ihren persönlichen 
guten oder bösen Erfahrungen entweder jene 
Huidinuen als die einzig menschlichen Weiber ge- 
priesen oder aber das ganze Geschlecht in Grund 
und Boden verdammt. Sehr häufig kann man die 
Beobachtung machen , daß gerade die wütendsten 
Verächter des Weibes sehr reine und schöne Ge- 
dichte an ihr Mütterlein oder ihre erste Liebe ge- 
richtet haben, um dann später ganz zu vergessen, 
daß doch unzählige Nebenmenschen auch ein solch 
besingenswertes lieb' Mütterlein und einen Engel 



u hal)en wähnen. Das 

schlimmste aber ist, daß sie die Frauen, welche 
gesellschaftlich über ihnen stehen oder welche in 
der reinen Atmosphäre des gesunden Bürgerhauses 
vor der Welt verborgen bleiben, überhaupt gar 
nicht kennen. Da muß denn die französische Lite- 
ratur oder der hämische Klatsch angeblicher Welt- 
kenner im KafFeebause die Erkenntnislücken aus- 
füllen. Die französische Literatur ist auch schuld 
daran, daß sich unsere jungen Naturalisten so sehr 
bemühen, gerade geschlechtliche Prohteme in den 
Vordergmnd zu drängen. Es ist selbstverständlich, 
daß ohne eine unbefangene Würdigung der Rolle, 
welche das Geschlechtliche bei so sehr vielen Seelen- 
vorgängen spielt, eine naturwahre Darstellung in 
der Poesie nicht möglich ist. Aber es ist ebenso 
sicher ein Temperaments- oder Erziehungsfehler, 
wenn man die Sinnlichkeit, welche die Quelle aller 
reinsten Daseinsfreuden und zugleich auch aller 
Kunst ist, mit solcher Krampfhaftigkeit unter dem 
Gresichtswinkel der Bestialität zu betrachten be- 
müht ist. So ist es denn kein Wunder, daß diese 
angeblichen menschlichen Dokumente in den Ro- 
manen der meisten unserer Neusten dem welt- 
erfahrenen Beobachter nur für traurige Karikaturen 
gelten, und daß einem geschmackvollem Publikum 
die ganze Richtung widerlich zu werden beginnt. 
So ist es auch zu erklären, daB heute die Begriffe 



Hnmoi: und Nataraünniis 

über das Wesen des Naturalismus bei uns sich so 
völlig verwirrt haben, daß man darunter ganz all- 
gemein die zynische Behandlung von Gegenständen 
versteht, über die man in sogenannter anständiger 
Gesellschaft nicht zu reden pflegt. Der Naturalis- 
mus ist ganz unvermerkt in den Augen der großen 
Menge zum Beatialismus geworden. 

In die Greuel der Begriffsverwirrung, welche 
unsre deutschen Adepten des Naturalismus in den 
Köpfen des Publikums angerichtet haben, ist nun 
leider auch der unschuldige Realismus hinein- 
gewirbelt worden. Der Realismus als Weltan- 
schauung wie als Bezeichnung eines künstlerischen 
Stiles ist uns seit dem Altertums her bekannt und 
hat zu allen Zeiten als etwas Wohlberechtigtes 
und Unanstößiges gegolten. In der Schule haben 
wir z. B, gelernt, Goethe dem Idealisten und Pathe- 
tiker Schiller gegenüber als einen Realisten an- 
zusehen, und was haben nicht all die Literatur- 
freunde, die sich heute zwischen 30 und 50 Jahren 
befinden, für Realisten auftauchen und verschwinden 
sehen ! Ich möchte nur erinnern an Gustav Freytag, 
dessen „Soll und Haben" bei seinem Erscheinen mit 
vollem Recht als ein erstaunlich wahres Spiegel- 
bild der Wirklichkeit gepriesen wurde; an Spiel- 
hagen erstes Auftreten, dessen keckes Heraus- 
greifen von Stoßen aus der unmittelbaren Gegenwart 
und dessen nichts weniger als prüde Darstellung 



Huinor und NatnraliBmDS 

sinnlicher Leiiienschaft damals allen Philistern kaum 
weniger bange machte als heutzutage die firgsten 
Naturalisten. Auch die beiden genialen Humoristen, 
Wilhelm Raabe und Gottfried Keller, hat die Gene- 
ration, der ich angehöre, als Realisten verehren 
gelernt — und heutzutage nennt Eonrad Alberti 
den Verfasser der „Leute von Seldwyla" einen ver- 
zwickten Phantasten, Spraehjongleur und Possen- 
reißer, der nur einmal, wie die blinde Henne ein 
Korn findet, mit „Romea und Julia auf dem Dorfe" 
eine gute Novelle zustande gebracht habe. „Aber" — 
80 schließt er jene klassische Besprechung in der 
„Gesellschaft" — „was will das besagen? Wer von 
uns hat nicht mal eine gute Novelle geschrieben!?" 
Man kann ganz ruhig behaupten, daß alle die 
Meisterwerke der Dichtkunst, welche durch die 
Jahrhunderte hindurch ihre Frische bewahrt haben, 
der realistischen Gattung angehörten. Denn nur 
wer die Wirklichkeit seiner Zeit mit überzeugender 
Treue darzustellen versteht, darf hoffen, über seine 
Zeit hinaus seinen Wert zu behalten. Unsere 
jüngsten Heißsporne aber, die heute verdammen, 
was sie noch gestern bewunderten , nehmen die 
Schale, d. h. die der Mode unterworfene Form für 
den Kern. Freytag, Spielhagen, Heyse usw. sind 
bis auf den heutigen Tag dem Glauben treu ge- 
blieben, daß im Roman und in der Novelle die 
Komposition der Fabel nach gewissen architektoni- 



i 



Humor und Naturalis 

Bchen Regeln zur Hervorhebung der Effekte, zur 
Erzeugung der Spannung notwendig sei. Inzwischen 
haben uns aber einige neuste Meister der Erzfthlunga- 
kunst durch ihre Werke bewiesen, daß man die 
Spannung im alten Sinne gar nicht vermisee, wenn 
die psychologische Analyse und der intime Stimmungs- 
reiz der Darstellung an ihre Stelle trete. Sie haben 
uns femer bewiesen, diese Meister, daß die gehobene 
Sprache, welche man früher für die Dichtung für 
unerläßlich hielt und, unbekümmert um Standes-, 
BilduDgs- und Nationalitätsunterschiede, allen Per- 
sonen in den Mund legte, den Eindruck der Wirk- 
lichkeit auf das empfindlichste stört, und daß man 
gerade mit der Sprache des Lebens die über- 
zeugendsten künstlerischen Wirkungen erreicht. 
Das sind Fortsehritte der Daratellungskunst, denen 
sich ein moderner Poet nicht ungestraft entziehen 
darf. Aber trotzdem ginge man zu weit, wenn man 
etwa das Wesen des Realismus nur in diesen 
Errungenschaften erblicken wollte. Das Aller- 
achlimmste aber ist es, wenn man dieses Wesen der 
neuen Kunst, wie es leider heute das große Pu- 
blikum, verwirrt durch die Kritik der Jüngsten, 
tut, in der Wahl des Stoffes erblickt. Wir sind 
glücklich dahin gekommen, daß von den kritischen 
Berserkern der jungen Schule ein Dichterwerk, 
welches auch von gebildeten Frauen und Mädchen 
ohne Anwandlungen von Übelkeit oder etwa gar 



1fs£r'''&»,Sf9s.^f^s,Sfii^ Uumor uod NaturaÜamiu 

mit fröhlichem Behagen geleeeo werden kann, als 
überhaupt nicht mehr für literaturfähig betrachtet 
vird! Romane, die etwa gar zuerst in einem 
Familienblatte erschienen sind, gelten dieser Kritik 
unbesehen als ein noli ine tangere. Der größte 
Held dagegen ist derjenige , der sich am gründ- 
lichsten im Rinnstein gewälzt und am häufigsteo im 
Irrenhause gesessen hat! Wohlbemerkt: ich spreche 
hier nur von den stärksten Übertreibungen des Fana- 
tismus, welche natürlich von den geschmackvollen 
Leuten im eignen Lager selbst verdammt werden ; aber 
diese Übertreibungen fallen am meisten ins Auge 
und werden im Publikum für typisch genommen. 
Sie sind hauptsächlich daran schuld, daB heute 
Realismus und Naturalismus in einen Topf geworfen 
und so vorwiegend auf das Stoffliche bezogen werden. 
Es ist dahin gekommen, daß man heute allgemein 
die Mitteilung einer recht platten Zote mit den 
Worten einzuleiten pflegt: „Hören Sie, da kann 
ich Ihnen eine famose realistische Geschichte er- 
zählen." Als ob nicht etwa die Schilderung eines 
Bordells ebenso idealistisch sein könnte, wie ein 
Idyll aus der Kinderstube realistisch! Aber das 
glaubt einem heutzutage kein Mensch mehr. Wer 
nicht für starken Tabak ist, der gilt nicht mehr 
als Realist, so könnte man heute die alte Genus- 
regel variieren. 

Was ist es denn nun, was jene Kunst, welche 



m^ 



HnmoT lind NafaraliamuB ^|t<&i<'''<.>47NS«-4N£,,i^'«^ 

die rücksichtslose Wahrheit fordert, bei geschmack- 
vollen und reifen Leuten so in Mißkredit gebracht 
hat? Ist es wirtlich, wie man uns so oft einreden 
will, die Furcht vor der Wahrheit, die moralische 
Feigheit des Publikums? Ich glaube das entschieden 
bestreiten zu dürfen. Wir sind heute in der Tat 
schon 80 weit, daß wenigstens von dem gebildeteren 
Publikum die idealistische Lüge in der Kunst als 
etwas unangenehm Störendes, der lebensvollen Dar- 
stellung der Wirklichkeit gegenüber Minderwertiges 
empfunden wird. Die Sprache schlechter Romane, 
auf der Bühne z. B. , beleidigt heute schon unser 
geschärftes Ohr , und diese schlechten Romane im 
Mariittstile selbst beginnt man endlich satt zu 
kriegen und — leider! — als Naschwerke für Back- 
fische zu betrachten. Von den angeblich hoch- 
moralischen Tendenzdichtungen der neusten Natura- 
listen aber will man nichts wissen, weil das inzwischen 
an wirklichen Meisterwerken geschärfte Auge er- 
kennen gelernt hat, daß es eben gerade um die 
Natur Wahrheit bei jenen unberufenen Nachahmern 
meist sehr schlecht bestellt sei. Und das liegt 
meiner Meinung nach in der traurigen Humor- 
losigkeit der betreffenden Künstler. Es hat sich 
bei mir allmählich die Überzeugung herangebildet, 
daß ohne eine starke Dosis Humor eine tief ein- 
dringende und gerechte Beurteilung menschlicher 
Dinge gar nicht möglich sei. Denn Humor bedeutet 




Mninor uod NBturalismM" 

als WeltanschauuDg VorurteilB^osigkeit, als Gemüts- 
Verfassung allgemeine Menscbeoliebe. Ich kann 
kein Ding gerecht beurteilen, an das ich nicht mit 
dem besten Willen herantrete, seine guten Seiten 
ebenso zu sehen wie seine schlimmen. Für den 
Humoristen gibt es keine guten und bösen Menschen, 
sondern nur Glückliche und Unglückliche, Weise und 
Narren. Jene zieht er weinend an sein Herz, den Weisen 
drückt er mit verständnisvollem Augenzwinkern 
die Hand, und über die Narren lehrt er uns herzlich 
lachen. Dabei braucht man durchaus nicht etwa 
sich den Humor unter dem Bilde eines gemütlichen 
alten Landpastors vorzustellen, der, mit der langen 
Pfeife im Munde, zum Fenster hinausschaut. 
nein, er wandelt auch mit derben Fäusten und 
rauchgeschwärztem Antlitz im tosenden Gedränge 
der Weltstadt umher. Nicht oberliächl icher Optimis- 
mus, leichtfertige Spottlust sind seine kennzeichnen- 
den Eigenschaften, sondern vielmehr der sittliche 
Ernst und das Mitleid. Manche unserer großen 
Humoristen sind sogar entschiedene Pessimisten 
gewesen, und ihr Humor bestand eben darin, daß 
ihr Gemüt stark genug war, trotz der Überredungs- 
künste des Verstandes an der Liebe zu den Menschen 
festzuhalten. Der Huraorist flieht nicht voll Ekel 
davon, wenn er eine Wunde sieht, sondern er sucht 
ihre Schmerzen zu lindern ; er hält sich auch nicht 
die Nase zu, wenn er an einem Misthaufen vorbei- 



Humor und Nfitimitin 



kommt , sondern genießt im Geiste schon die zu- 
künftige Frucht oder die herrliche Blume, die damit 
gedüngt wurde. Eine Welt, in der alles Schmutz 
nnd Niedertracht wäre, ist ebenso unwahr wie eine 
solche voll eitel Sonnenschein und Edelmut. Der 
Humorist allein läßt sich vom Sonnenschein nicht 
blenden und die Mühe nicht verdriefien, den Sehmutz 
von der Oberfläche der Dinge abzuwaschen, um 
wenn irgend möglich einen reinen Kern darunter 
zu efltdecken. Moralische Entrüstung ist für eine 
unreife Kunst das billigste Effektmittel und für 
unreife Menschen der billigste Alkohol, vermittelst 
dessen sich der furor poeticus in Flammen setzen läßt. 
Wenn ich mit meiner Behauptung Recht habe, 
daß unser gebildetes Publikum heute schon zum 
Verständnis des Realismus erzogen sei, so haben 
dieses Erziehungswerk meiner Ansicht nach nicht 
die Keulenschwinger des Entrüstungspathos, sondern 
gerade die von jenen über die Achseln angesehenen 
Humoristen vollbracht. Das sind nach meiner Auf- 
fassung in der erzählenden Dichtung gerade die 
Leute vom Schlage eines Gustav Freytag, Gottfried 
Keller, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane gewesen; 
auch Hermann Heiberg in seinen besten Erstlings- 
werken, in denen er, wie z. B. im „Apotheker Hein- 
rich", die feine, intime Stimmung Theodor Storms 
mit der herzhaften Derbheit Fritz Reuters Bo glück- 
lich zu verschmelzen wei6 ; ein Liliencron , der 



Humor und NatunUismiiB 



vom ZartidylÜBcfaen bis zum Wildgrotesken so 
wunderbar zarte Parbeutöne auf seiner Palette hat 
und der selbst einen phantastischen Stoff mit so 
überzeugendem und dabei eigenartigem Realismus 
darzustellen weiB ; da ist ferner Baron von 
Roberts, der sich vom pikanten Stilkünstler und 
liebenswürdigen Feuilletonisten zu einem Sitten- 
Bchilderer ersten Ranges heraufgearbeitet hat und 
dessen Unteroffiziersroman „Die schöne Helena" 
ich persönlich für die einzige Hervorbringung der 
deutschen realistischen Schule halte, welche die 
Anlegung eines strengen Maßstabes in allen ihren 
Teilen verträgt; da sind schließlich auch die 
ganz entschieden realistischen Romane so hoch be- 
gabter Frauen, wie der Ebner- Eschenbach, der 
Helene Böhlau, der Sophie Junghans, Ida Boy- 
Ed und einiger anderer, die weniger bekannt ge- 
worden sind, zu nennen — und von ausländischen Vor- 
bildern vor Zola, Ibsen und Dostojewsky, ein Daudet, 
Kielland und der Tolstoi der „Anna Karenina". 
Leider ist es ein Norweger und kein Deutscher, 
auf den ich hinweisen mufi, wenn man mich fragt, 
wo denn eine solche Verbindung von Humor und 
Naturalismus zu finden sei, wie ich sie mir als 
Ideal denke. Ich meine Arne Garborgs jungst in 
der „Freien Buhne" erschienenen Roman „Bei Mama", 
der mir, ohne etwa humoristisch im Sinne von 
komisch zu sein, als ein höchst gelungenes und 



Humor v 



nachahmenswertes Beispiel von naturalistiBcher 
Wirklichkeitsdaratellung erscheint, wie sie nur der 
liebevollen Beobachtungsweise des Humoristen mög- 
lich ist. 

Auf dem Gebiete des Dramas haben wir leider 
erst sehr vereinzelte Anläufe, sowohl im strengen 
Naturalismus, wie in der Besiegung desselben durch 
den Humor zu verzeichnen. Naturalistisch im Sinne 
des Zolaschen experimentellen Komans kann man 
überhaupt im Drama nicht verfahren, aus dem ein- 
fachen Grunde, weil die Bücksicht auf die Geduld 
der Zuschauer allen andern Rücksichten vorangehen 
muß. Man könnte sagen: ein guter Koman nach 
den Grundsätzen der neuen Schule muß langweilig 
sein, wenn man nämlich darunter das lange Ver- 
weilen des Dichters bei seinen Schilderungen zum 
Zweck der Erzielung möglichster Naturwahrheit 
versteht. Im Drama aber ertötet das lange Ver- 
weilen beim Zuständlichen die Handlung, und ohne 
Handlung, ohne Fortschritt gibt es eben kein Drama. 
Das höchst lehrreiche Experiment, welches unsere 
,Freie Bühne' mit der „Familie Selieke" gemacht 
hat, überzeugte uns auf der einen Seite von der 
Bicbtigkeit dieser alten Erfahrung und stellte uns 
doch auf der andern Seite einen sicheren Wechsel 
auf die Zukunft eben dieses Dramas im Sinne des 
Naturalismus aus. Holz und Schlaf haben, ebenso 
wie Gerhart Hauptmann in seinen dramatischen 



n 



Hmnor nnd Nfttaralüniaa 



Versuchen, an Schärfe der Beobachtung und Treue 
der Wiedergabe außerordentlich vie] mehr geleistet, 
als die BflmtlicheD lungen gewaltigen Schreier unter 
den jüngsten Naturalisten, und Holz-Schlaf haben 
in ihrer „Familie Selicke" auch bereits dieForderung 
erfüllt, die ich hier an den Naturalismus gestellt 
habe, indem sie ihr trauriges Wirklichkeitsbilrt nicht 
mit der grausamen Freude des Vivisektors aus dem 
Leben herausschälten, sondern mit dem Glauben 
und der Menschenliebe des Humoristen. Auch an 
Hauptmanns Talent ist nicht seine scheinbare Vor- 
liebe für stofflich Widerwärtiges das Charakteristi- 
sche, sondern sein Überraschender Wirklichkeita- 
ainn, seine starke Darstellungskraft. Wenn es ihm 
gelingt, Menschen und Dinge mit ein bischen mehr 
Humor zu betrachten, dann dürfte auch an ihm die 
Zukunft des deutschen Dramas einen Stützpunkt 
gewinnen, wie sie (meiner Meinung nach nnd Skep- 
tikern zum Trotz) jüngst einen gewonnen bat in 
Hermann Sudermann, diesem echten und ernsten 
Dichter, der mir nur noch ein wenig in der Mauser 
begriffen zu sein scheint, indem er den pathetischen 
Jugendflaum noch nicht völlig losgeworden und 
deshalb noch in Gefahr ist, an Stelle des Humors 
die Satire zu setzen. Aber er hat in allem, was 
er geschaffen, einen solchen Ernst der Anschauung 
und ein so kräftiges Können bewährt, daß er sich 
sicherlich zur freien Höhe einer lichten Wahrheits- 



HmnoT nnd Natriralisrnns ft!S,>><'^£,•4N£,,i^N£,,^*^^ 

kuDBt emporringen wird. Wir seilen gegenwärtig 
zwei Wege realistischer fiuhnenkutist vor uns. Der 
eine führt von IfFIand über L'Arronge zu Holz- 
Schlaf, der andere von Goethes Götz und Egmont 
über den neusten Wildenbruch und Sudermann in 
eine verheißungsvolle Zukunft. 

Wir sehen, es ist noch nicht aller Tage Abend. 
Der deutsche Naturalismus ist noch nicht tot, wie 
grobe Vertreter, die ihm mit plumpen Fußtritten 
zugesetzt, er auch leider gefunden hat. Er fängt 
sogar erst jetzt an, Lebenskraft zu gewinnen, nach- 
dem ihm ein feinfühliger Realismus den Weg ge- 
ebnet hat. Aber es däucbt mir überhaupt höchste 
Zeit, diese spitzfindigen Unterschiede zwischen 
Realismus und Naturalismus zu beseitigen, aus 
denen nachgerade kein Mensch mehr klug wird. 
Naturalismus im einfachen Sinne des Wortes »Is 
eine Kunst aufgefaßt, welche „die Tendenz hat, 
wieder Natur zu werden , nach Maßgabe ihrer je- 
weiligen Reproduktionsbedingungen und deren Hand- 
habung", wie Arno Holz es in seiner Schrift „Die 
Kunst" ausdrückt — ein solcher Naturalismus sollte 
doch eigentlich die selbstverständliche DarstelJungs- 
form für jeden modernen Dichter sein. Uns, die 
wir kritisch oder selbstschaffend in der modernen 
Bewegung drin stehen, erwächst nunmehr die heilige 
Pflicht, zunächst einmal uns selbst und dem Pu- 
blikum das Vorurteil zu benehmen, als hätte das 



Hnmor nitd Nftt&ra!inDna.'>l 

Wesea des Naturalismus irgend etwas mit dem Stoff 
zu tun, und zweiteus uns mit allen Kräften aus 
diesem heute noch die Jugend verderbenden, wirk- 
lich ekelhaften Moralfat^kentum, welches doch 
meistens nur die eigne Freude an der Gemeinheit 
verhüllen soll, zu einer reiferen und freieren Welt- 
betrachtung aufzuraffen. Der reifste und freieste 
Mensch, zugleich im Ibsenschen Sinne der stärkste, 
das ist aber der Humorist! 

Darum bestrebe sich ein jeder an seinem Teile 
redlich, an Stelle des unglücklichen Zolaschen Tem- 
peraments den Humor zu setzen; denn durch ein 
Temperament läuft die "Wirklichkeit allemal Gefahr, 
verzerrt zu werden — der Temperamentsnaturalist 
wird Karikaturist; das einzig zuverlässige optische 
Hilfsmittel für den Dichter-Seher ist der Humor, 
diese wahre dreidimensionale Sehkraft des Gemtlts. 



Shakespeare in Venedig 

(1891) 



Shakespeare in Venedig 




Dem größten Teil der Reisenden, welche zu 
Tausenden und Abertausenden alljährlich die 
märchenhafteLagunenatadtVenedig besuchen, dürfte 
wohl das Teatro Malibran kaum dem Namen nach 
bekannt geworden sein. Und mancher von denen, 
die etwa einmal, sorgfältig gekleidet, in Erwartung 
eines bequemen Fauteuils und einer originellen 
Vorstellung dieses Volkstlieater aufgesucht haben, 
mag schon an der Kasse wieder kehrt gemacht 
haben, indem ihn beim Aublick der Menge, die dort 
in dem dunklen Torweg, in der schmutzigen, gänz- 
lich schmucklosen Vorhalle, lärmend aus- und ein- 
geht, ein gelindes Gruseln überlief. Schon die 
Billigkeit der Eintrittspreise ist geeiguet, einen 
eleganten Wiener oder Berliner, geschweige denn 
gar einen englischen ^Milordo" abzuschrecken. Es 
kostet nämlich der Eintritt an sich 50 Centesimi, 
für einen Sitzplatz im Parkett hat man dann noch 
weitere 50 Centesimi bzw. eine Lira, und für Logen 
gleichfalls 1 — 3 Lire nachzuzahlen. 



Shakespeare in Venedig ' 

Ich war einer von den wenigen, die sich durch 
alles das nicht abschrecken HeBen. FDr 3 Lire kam 
ich in den Besitz einer kleinen Loge am Proszenium, 
arbeitete mich durch die rauchenden, schreienden 
und singenden Gondolieri, Arbeitsbu rechen, Soldaten, 
Fruchtweiber mit Säuglingen ;iuf dem Arm, all die 
heftig den Fächer schwingenden, schlampig-graziösen, 
schwarzäugigen Mädchen aus dem Volke hindurch 
und wurde dann mit tiefen Bficklingea von einem 
uralten Logeuschlie6er auf meinen Plat^ geleitet. 
Schmutzig tapeziert, eng, dürftig, unbequem stellte 
sieh mein „Pepiano" dar, und dementsprechend auch 
der ganze weite und hohe Zuschauerraum. Die 
vier Logenreihen waren fast leer, das Parkett da- 
gegen und das dahinter amphitheatvalisch auf- 
steigende Sitzparterre waren stark besetzt, und auf 
dem freien Raum zwischen beiden drängte sich 
Kopf an Kopf die Menge der bescheidenen Leute, 
welche nur ihre 50 centesimi für den Theaterbesuch 
aufzuwenden hatten. Schier betäubendes Geschrei, 
das sogar die entsetzliche Blasmusik der Ouvertüre 
übertönte, erfüllte auch hier das Theater ebenso- 
wohl, wie draußen die kellerartige Vorhalle. Kinder 
schrien , Mütter sehalten . Mädchen kreischten, 
Barschen lachten, dort kletterte gar einer aus den 
obersten Heihen des Amphitheaters über die Köpfe 
der unter ihm Sitzenden hinweg bis hinunter ins 
Parterre, und dazwischen wanden sich Verkäufer 



ähakeapeare in Venedig l|kiS><'^e.^<''<£.'<Nfi„.<'v^ 

aller Art hindurch und schrien unaufhörlich ihr : 
„Secolo, Corriere, Capitano Fraeassa!" oder ihr: 
„Aqua fresca! Sugo di limone!" oder ihr: „Cara- 
melle Signori , caramelle , caramelle !" Endlich, 
lange nach ^k9 Uhr, geht der Vorhang auf, und 
ein vielstimmiges Zischen und Zittorufen stellt all- 
mählich die Ruhe soweit her, daß man, wenn man 
gute Ohren hat und gehörig aufpaßt, recht wohl 
den Reden der Schauspieler zu folgen vermag — 
nur wie ein leises, fernes Meerearauachen begleitet 
das Gemurmel und Getuschel der Zuschauer noch 
die Vorstellung, um einzig bei den spannendsten 
und ergreifendsten Stellen für kurze Zeit zu ver- 
stummen, dann aber in um so wilderen Jubelrufen 
und dankbarem Händeklatschen wieder hervorzu- 



Am ersten Abend, an dem ich das Teatro Mali- 
hran besuchte, gab man ein wastes Schauerdrama 
voll Mord und Totschlag, Seeräubern, Polizei- 
agenten, schurkischen Gouverneuren, gemißhandelten 
Frauen und ewig betrauten jungen Mädchen. Es 
war ein bösartiges Machwerk, wahrscheinlich aus 
einem Sensationsroman zusammengeflickt; aber 
unter den Darstellern fielen mir einige als ganz 
hervorragende Künstler auf. Da war vor allen 
andern der Leiter der Gesellschaft Gustave 
Salvini (ein Sohn des berühmten Tomaso, wenn 
ich recht berichtet bin), dessen sehr jugendliche. 



Shakeapeare tu Venedig { 

reizende Frau und eine Frau Tesaero-Bozzo. 
Der erstere stellte eiuen hiDkeudeu, einäugigen 
Diener dar, welcher durch seine Verschlagenheit 
seinen Herrn aus allerlei Fährlichkeit errettet und 
Bchließlich den Bösewicht entlarvt. Eine derb- 
komische Figur. Seine Frau gab ein uDgemein 
tugendhaftes , blindes und dabei doch rflhreud 
heiteres Mädchen sehr schlicht und innig, und 
Frau Tessero-Bozzo eine junge Frau, die von 
ihrem Manne zu Tode gequält wird. Sie starb 
unter Zuckungen und Krämpfen k la Sarah Bern- 
hardt. 

Trotz der Jämmerlichkeit des Stückes, der 
geistlosen Schreierei der untergeordneten Schau- 
spieler und der geradezu lächerlichen Dürftigkeit 
der Ausstattung hatte doch die Vorstellung als 
Ganzes und besonders die Haltung des Publikums 
in seiner acht italienischen Naivität mir einen 
solchen Eindruck gemacht, da6 ich mich am 
nächsten Abend bereits wieder einfand, um mir 
„Giulietta e Romeo" anzusehen. Diesmal aber saß 
ich auf einem Rohrstühlchen, poltrone genannt, im 
Parkett, und zwar in recht guter Gesellschaft. Da 
waren Offiziere in Uniform und eine Menge ein- 
geborener Herren der besten Kreise, sogar einige 
Damen darunter. Der Vorhang ging hoch, und 
statt der vorgeschriebenen Straße in Verona be- 
fanden wir uns — in Venedig! Der Prospekt ge- 



^m derb 



Shakespeare in Venedig 

Währte nämlich den Einblick in eiuen Kanal, dessen 
schmutziges Wasser, wenn man sich hier dergleichen 
realistischen Vorstellungen hingeben wollte, eigent- 
lich die ganze Bühne hätte überschwemmen müssen. 
Aber Venedig ist eben weit von Meiningen ent- 
fernt, und kleinliche Bedenken schweigen vor der 
Größe Shakespeares'. Die ersten Szenen gingen 
vorüber, ohne daß mir etwas anderes aufgefallen 
wäre als die bedeutenden Striche, die man für gut 
befunden hatte . die Schäbigkeit der Kostüme und 
die wunderschöne Sprache Romeos , der von 
Gustavo Salvini, dem Komiker des vorigen 
Abends, dargestellt wurde. Dann kam die Szene 
in Capulets Hause heran, in welcher der Julia von 
den Eltern Paris als Freier angemeldet wird. Die 
Amme wurde dargestellt von derselben Dame, die 
am Abend vorher als tragische Heroine unter 
Krämpfen verröchelt war — und ich habe Juliens 
Amme nie mit so grotesker Laune, so naturalistisch 
urgemein und dabei doch liebenswürdig darstellen 
sehen! Ich habe die Dame in Verdacht, daß sie 
mit Shakespeares Worten etwas willkürlich umge- 
sprungen sei — bei dem jubelnden Gelächter der 
Zuschauer vermochte ich nicht alles zu verstehen — 
aber Shakespeares Meinung hat sie verstanden, das 
ward mir klar, als ich später die Ämmenszenen im 
Original nachlas. Die kreischende Stimme, die 
derben Bewegungen waren sicherlich getreu der 



Shakespeare in Tenedig 

Natur abgelauscht, das ganze Weib „wie auserlesen 
zum Kuppler- und Zigeuner wesen" mit seinem un- 
verschämten Mundwerk, seiner Äffenliebe zu dem 
Julchen und seiner pfiffigen Dummheit konnte nicht 
überzeugender verkörpert werden. Die Julia selbst 
gab Frau S a 1 t i n i , in Haltung und Sprache ganz 
und gar als noch unreifen , etwas blöden und 
dabei doch nicht ganz harmlosen Backfisch, In 
der Szene auf dem Ball, die an Dürftigkeit der 
Einrichtung das möglichste leistete, wurde es mir 
zum erstenmale klar, wie jenem geschraubten ersten 
Gespräche zwischen Romeo und Julia der Schein 
poetischer Wahrheit zu geben sei. Selbst jenes 
böse Wort: „Ihr küßt recht nach dem Buch", das 
im Munde aller unserer deutschen Julien unbe- 
greiflich klingt, ward hier ganz natürlich, wo 
Julietta wirklich nicht älter als vierzehn Jahre 
erschien, als das kleine Mädchen, welches seinen 
ersten Ball mitmacht und sich dabei in den ersten 
hübschen jungen Mann verliebt, der ihm mit feuriger 
Keckheit entgegenkommt. Daß Romeo ein über- 
spannter junger Schwärmer und Poet dazu sei, 
hatten wir schon in den ersten Szenen erkannt. 
Aus seinem Munde nehmen uns auch die gesuchtesten 
Vergleiche und Redensarten nicht weiter wunder; 
Julia hat dergleichen freilich in der Kinderstube 
wohl noch nie gehört, sehr wahrscheinlich aber 
durch die Amme allerlei galante Bücher zugesteckt 



Shakeipeaie in Venedig 

bekommeD, die sie mit Eifer und Nutzen DächteuR 
gelesen und vor der Mutter unter die Bettdecke 
versteckt hat. Das wäre denn nun ganz im Stile 
der Zeit, denn die ars amandi Ovids und ähnliche 
moderne Werke, im Geschmack des Boccaccio, waren 
zur Zeit, als die Feindschaft der Montechi und 
Capuletti spielte, eine allgemein beliebte und 
sicherlich auch in die Schlafzimmer der jungen 
Damen eingeschmuggelte Lektüre. Frau Salvini 
stellte die Julia in diesem Sinne vortrefflich dar. 
Man sah, wie Romeos erster HandkuB gleich ihr 
heißes, junges Blut in Wallung brachte, wie sie 
sich auf seine zierliche Anrede hin zusammennahm, 
um eine ebenso zierliche Autwort zu ersinnen, da- 
mit sie vor dem geistreichen jungen Manne nicht 
als dummes Gänschen dastehe. Erst zaghaft und 
hastig abgerissen, dann mit ttbertriebener Keck- 
heit, brachte sie ihre Antworten „nach dem Buch" 
vor , und nachdem Romeo gegangen war , be- 
stürmte sie die Amme mit einer behenden Heftig- 
keit um Auskunft über seine Person , die den 
Ausbruch glühendster Leidenschaft deutlich genug 
verriet. 

Die Balkonszene entsprach vollkommen dem 
Stile der geschilderten. Romeo war der tolle, 
liebestrunkene Knabe, der sehr viel Poesie ge- 
lesen hat und nun in seinem Kausche sich selber 
voll heimlicher Eitelkeit den tragischen Liebhaber 



Shakespeare in Veuedig 

vorspielt. Die ganze Szene wfthik nicht länger 
als drei Minuten; in einem für deutsche Sehau- 
Bpieler unnachahmlichen Prestissimo und Pia- 
nisBimo wurde sie von den beiden verliebten Kindern 
heruntergeschnurrt , wie man es wohl nennen 
müßte! Und durch dies süß kosende Gurren 
klang es wie übermütiges Gekicher heraus, als 
Ausdruck des Vergnügens an der eigenen tollen 
Phrasenberauschung , und zugleich auch wie das 
leiae Stöhnen und Schluchzen aus sinnverwirrendem 
Liebestraum. Ganz in Gegensatz dazu trat die 
Begegnung in Pater Lorenzos Zelle. Der Alte 
war ganz als komische Figur aufgefaßt und wurde 
von dem Publikum gleich mit schallender Heiter- 
keit begrüßt. Seine schauspielerische Leistung 
war freilich eine sehr geringe, denn trotz seines 
totterichen Greisentumes schrie er wie ein Zahn- 
brecher. Von überwältigender Naturwahrheit war 
aber das Aufeinander -Lostürmen der Liebenden, 
die sich hier zum erstenmale ungestört im 
Schein des Tages treffen. Jetzt gibt es kein 
scheues , schämiges Versteck spielen mehr , sie 
wollen nur einander in die Arme fliegen und sich 
sattküssen. Wie ein paar aufgeregte Kinder beim 
Ballspielen, so hüpften sie um den alten Pater 
herum, welcher ihnen dies verwehren will, und 
schließlich rannten sie den Armen in ihrem Un- 



i 



Shakespeare in Veaedig 

Im dritten Akt , nach der heimlichen Ver- 
mählung, ist Julia zum Weibe erwacht, und auch 
Eomeo schlägt nach der Ermordung Tybalds und 
nach den Wonnen der Brautuacht, aus denen er in 
die Verbannung getrieben wird, einen ernsteren, 
innigeren Ton an. In der Szene mit ihren Eltern 
hat Julia die beste Gelegenheit, diese Umwandlung 
zum Ausdruck zu bringen, während Romeo sein 
ganzes jungenhaftes Wesen in der Verzweiflungs- 
azene in Lorenzos Zelle austobt, um dann beim 
Abschied von Julien in süßer, ahnungsvoller Weh- 
mut zu schwelgen. 

Julias großer Monolog im vierten Akt, wenn 
sie Lorenzos Schlaftrunk nimmt, hatte mir bisher 
immer den Genuß an dem herrlichen Drama empfind- 
lich gestört. Alle unsere tragischen Liebhaberinnen 
brechen bei der Schilderung der Schrecknisse der 
Ahnengruft in ein entsetzlich schreiendes Pathos 
aus und schmettern besonders die letzten Worte : 
„Ich komme, Komeo, dies trink ich dir!" als eine 
dringende Aufforderung zum Applaus ins Publikum 
hinein. Ganz anders diese venetianische Giulietta! 
Den Eltern ist sie furchtlos gegenübergetreten, als 
liebestarkes Weib hat sie von dem Pater den 
Schlaftrunk gefordert, ohne vor den möglichen 
Üblen Folgen zu beben. Nun aber, da die Stunde 
gekommen ist und sie nicht mehr zögern darf, das 
Fläschchen an die Lippen zu setzen, ergreift sie 



^^v,^''5>s,>'''5h,.^''KN,,^'^^ Shakespeare in Venedig 

die Angst mit unwiderstehlicher Macht. Und diese 
AngBt macht sie wieder ganz zum Kinde, zum 
zitternden kleinen Mädchen, dem im Dunklen alle 
die Ammenmärchen und Gespenstergeschichten ein- 
fallen, die es je gehört oder gelesen hat. Frau 
Salvini zitterte wirklich am ganzen Leibe, 
während sie mit leiser Stimme sich die Schreck- 
nisse des möglichen Erwachens in der Gruft aus- 
malte. Ihre Augen wurden immer größer und 
größer, die Furcht verzerrte die kindlich-weichen 
Züge, und zuletzt klapperte sie gar wirklich mit 
den Zähnen, drückte die Augen fest zu wie ein 
Kind, das sich überwinden will, eine bittere Medizin 
zu schlucken, und das „Romeo, dies trink ich dir!" 
verhallte wie ein letzter Seufzer, als sie das 
Fläschchen endlich wirklich leert. Wenn ich vor- 
her noch gezweifelt hätte an der Berechtigung 
dieser neuen Auffassung der Kolle, nach diesem 
Monolog wäre der Zweifel zugunsten der Italienerin 
entschieden gewesen. Immer hatte ich Shakespeare 
einer groben Geschmacklosigkeit geziehen , daß er 
seine Julia so aus der Rolle fallen lassen konnte. 
Frau Salvini rettete mir meinen Glauben an 
Shakespeare, Wie Grabesschauer wehte es von der 
Bühne her über das angstvoll aufhorchende Pu- 
blikum, und die Furcht des armeu vierzehnjährigen 
Geschöpfchens wirkte unendlich rührend, während 
das Pathos unserer deutschen Heroinen — und 



r 

I 
I 



Shakespeare in Venedig 

ich habe sehr berühmte, gefeierte Julien gesehen — 
selbst bei geschicktester Anwendung aller theatra- 
lischen Etfektmittel auf den feinfühlenden Zuschauer 
nur einen abstoßenden Eindruck machen kann. 
Shakespeare läßt ja die Amme Juliens Alter bis 
auf den Tag genau ausrechnen — das sollte bei 
der Frage der Besetzung dieser Rolle ausschlag- 
gebend sein. Unsere sentimentalen Liebhaberinnen 
werden meistens für die Julie ganz ungeeignet 
sein, da eben nicht eine Spur von Sentimentalität 
in ihrem Wesen steckt. Es wird also die Rolle 
immer noch öfter durch die muntere Liebhaberin 
besetzt werden können, es sei denn, daß die Senti- 
mentale einmal ausnahmsweise jugendlich in der 
Erscheinung und im Tone kindlich und mit hin- 
reißendem Temperament begabt, also für ihr Fach 
eigentlich recht ungeeignet sei. 

Das Deutsche Theater in Berlin besitzt zur- 
zeit inJosefKainz einen Bomeo, welcher gleich- 
falls davon ausgeht, das knabenhafte, phantastisch 
überhitzte Wesen des jungen Veronesers stark 
herauszuarbeiten. An ungekünstelter Zungenfertig- 
keit und absoluter Schönheit in Rede und Bewegung 
kommt K a i n z dem Italiener freilich nicht gleich ; 
er übertrifft ihn dagegen an geistiger Durch- 
arbeitung im einzelneu. (Salvini war im letzten 
Akte sogar schwach; er beschränkte sich darauf, 
seine Verse in jenem eintönig singenden, weiuer- 



Shakespeare iu Venedig 

liehen Tone herzudeklamiereD , der auf der ita- 
lienischen Bühne faerkömmlicli zu sein scheint für 
klagende Liebhaber. Die letzte Szene war über- 
dies zu grob aufgefaßt, indem Julia in einem 
geschlossenen Sarge lag, welcher von Romeo mit 
dem Brecheisen aufgebrochen wurde!) Dasselbe 
Deutsche Theater besitzt übrigens in Agnes 
S rm a eine Künstlerin Ton ganz eigenartigem 
Naturell, welche sehr wahrscheinlich im Verein mit 
Kainz die Tragödie von „Romeo und Julie", wie 
8ie Shakespeare unzweifelhaft geraeint hat , zur 
rechten Wirkung bringen würde, nämlich als die 
Tragödie der glühenden Kinderliebe, welche sich 
aus verliebter Narrheit zu verzehrender Sinnlich- 
keit und schließlich im Kampf gegen die feind- 
lichen Außenmächte zum tragischen Heldentum 
entwickelt. 

Leider steht bei uns in Deutschland jedem 
Theaterleiter und jedem Schauspieler, der einem 
klaasisehen Stücke durch einen gesunden Realis- 
mus der Auffassung frisches Leben einhauchen 
möchte, das große Heer der Gewohnheitsphilister 
und pedantischen Schulmeister feindlich gegenüber. 
Diese Rotte schreit nun freilich Zeter und Mordio, 
wenn ein Charakter in einem Shakespeareschen 
Trauerspiel , und noch dazu einer , der in bilder- 
reichen Versen spricht, sich vom Kothurn zu be- 
freien und in das Licht der Wahrheit, der reinen 



I 



Shakeapesre in Venedig 

Menschlichkeit hineinzutreten trachtet. Wer aber 
seinen Shakespeare ohne die philologische Brille 
liest, dem wird es längst klar geworden sein, daß 
das Siegreiche und Ewige seiner Dichterkraft nicht 
auf der Form beruhe, sondern zumeist auf der tief- 
gründigen Gharakterzeichnung, der unfehlbaren 
Sicherheit und Natürlichkeit der psychologischen 
Entwicklung. Alles andere, die Sprache, die 
Mischung des Niedrigkomischen mit dem Hoch- 
tragischen u. a. m. hat dem Geschmack seiner Zeit 
entsprochen, ist aber inzwischen geschmacklos, ja 
selbst unmöglich geworden. Wenn von solchen 
Antiquitäten noch etwas zu retten ist, dann kann 
es nur dadurch geschehen , daS man es in dem 
Stile der Zeit Shakespeares derb-realistisch oder 
aber ganz phantastisch, jedenfalls ohne Zimperlich- 
keit und ohne pedantische Steifheit und Worttreue 
darstellt. Als in Berlin jüngst Direktor Barnay 
den „Kaufmann von Venedig" in solch glücklicher, 
halb phantastischer, halb realistischer Art zur Auf- 
führung brachte und z. B. den Prinzen von 
Marokko in Begleitung von Janitscharenmusik mit 
einem grotesken Aufzug auftreten und seine Reden 
in dem von Shakespeare selbst verspotteten Stile 
des Schauspielers im „Hamlet" hervorpoltem ließ, 
da mußte er es erleben, daß einige der gelehrtesten 
unter den Kritikern es ihm zum Vorwurf machten, 
das wahre Wesen vornehmer Mauren nicht an der 



^^s.,S»''3>v>'''Ss3''^vS>''3>ft Shakeapearc in Venedig 

in Berlin gerade damals anwesenden Marokkanischen 
GeGandtschaft studiert zu haben ! Vermutlicli halten 
es jene gelehrten Herren auch für sehr wahrschein- 
lich, daß einst der Rat der Zehn in Venedig sich 
von einem verkleideten Mädchen durch Ver- 
teidigungsrede und Urteilsspruch in sein ernstes 
Amt pfuschen ließ! 

Soll eine Bühnenaufführung Shakespeare in 
seiner wahren Größe gerecht werden, so muß der 
Schauspieler sich durch ernstes Nachdenken mit 
den psychologischen Grundzügen seiner Belle ver- 
traut zu machen suchen, dann aber ganz realistisch 
von innen herausschaffen, ohne sich um die Form 
Shakespeares sonderlich zu kümmern. Das gilt 
für die Hauptrollen. Die Nebenrollen sind sehr 
häufig für das eigentliche Drama ohne Belang 
und scheinen nur den Zweck gehabt zu haben, die 
einmal beliebten Schauspieler und die einmal ge- 
wohnten Figuren zu beschäftigen und heranzu- 
bringen. Wer weiß, welche Clowns zweiter und 
dritter Klasse einst in der Maske der ehrenwerten 
Lords, Nobili usw. usw. gesteckt haben, welche 
heute mit feierlichem Ernste über die Bretter 
unserer Hoftheater schreiten! Wenn eine Figur 
zur Haupthandlung keine enge Beziehung, dagegen 
viel zu reden und etwa gar Witze zu machen hat, 
kann man sicher sein, daß man es mit einem der 
Shakespeareschen Narren zu tun hat , mögen sie 



r 



Sbakeepeare i] 

nun Mercutio, Polonius, Gratiano oder wer weiß 
wie immer heißen. Je mehr der Witz solcher 
Nebenfiguren für unseren Geschmack verblichen ist, 
desto mehr muß die Phantasie des Schauspielers 
und des Regisseurs ihm aufzuhelfen suchen. Die 
szenische Einrichtung Shakespearescher Stücke ist 
ja 80 wie so eine völlige Neuschöpfung, und auch 
der Text der Übersetzung wird immer wieder und 
wieder auf den veränderten Zeitgeschmack hin 
durchgefeilt werden müssen. Philologische Treue 
ist hier ebenso vom Übel wie eine ehrfurchtsvolle 
Nüchternheit in der Ausstattung. Der allerneueste 
Münchener Versuch der Wiederherstellung der 
echten Globe- Theater -Bühne, ohne Requisiten 
und dgl., wird wohl hoffentlich den endgültigen 
Beweis erbringen, daß Shakespeare denn doch noch 
ein zu lebenskräftiger Poet ist, um jetzt schon zum 
Vergnügen einiger querköpfiger SchulraeiBter mumi- 
fiziert zu werden. Der auserlesene künstlerische 
Geschmack und die antiquarische Bildung des 
Herzogs von Meiningen haben uns Deutschen den 
Shakespeare zurückerobert, in derselben Weise wie 
Irving den Engländern. Nach der schauspielerischen 
Seite aber bleibt noch viel zu tun , und es sind 
in allererster Reihe gerade die realistischen 
Italiener Rossi und Salviui, die hier als Bahn- 
brecher genannt werden müssen. Es ist ja eine 
unserer besten Eigenschaften, daß wir uns so gern 



^^•.^^'^•^^''^-jy^''.,^''^!^ Sbakenpe&re io Vcoedig 

belebren lassen upd ohne Vorurteil jede Anregung 
villkoDiiiien heißen , woher immer sie kommen 
möge — also varum nicht nuch zur Abwechslung 
einmal aus einem schmutzigen venet'anischen Vor- 
stadttheater eine wertvolle dramaturgische Er- 
leuchtung beziehen V 



Troilus und Cressida 

(Dramaturgische Studie) 
(1900) 



Troilna und Cresaid« 



I 



Die Gelehrten machen bekanntlich einen 
großen Unterschied zwischen toten und lebendigen 
Sichtern. Mit den letzteren sich zu beRchäftigen 
gilt ihnen als unwissenschaftlich, während umge- 
kehrt die „WissenschaftÜchkeit" gelehrter Be- 
schäftigung mit toten Dichtern gleich der Fall- 
geschwindigkeit mit dem Quadrat der Verstorben- 
heit zu wachsen scheint. Das hat auch einen ganz 
natürlichen Grund; denn die Lebendigen begehen 
nur zu ofl; die Rückeichtstosigkeit , durch neue 
Werke die Weisheit, die über ihre früheren zu 
Tage gefördert worden ist, zu verhöhnen oder gar, 
wenn sie naive Biedermänner sind, ihren gelehrten 
Erklärem öffentlich ins Gesicht zu sagen, da6 sie 
sie total mißverstanden hätten. Die großen Toten 
haben dagegen unter allen Umständen den Vorzug, 
zu ewigem Stillschweigen über ihre geheimsten 
Absichten verpflichtet zu sein. Darum befassen 
sich unsere Gelehrten mit Vorliebe mit solchen 
schweigsamen Verblichenen, und wo sie an dem 



TroilQs und Cresüda a 



Objekt ihrer Betrachtung noch zuviel Körperlich- 
keit ÖBden, da trachten sie solche mit Eifer zu 
beseitigen. Ihr Bestrebea geht statt auf ein Ver- 
menschlichen auf ein Vergötzen hinaus. Das 
lebendige Genie ist für diese Herren meistens ein 
Gegenstand der Verachtung gewesen, dem toten 
dagegen wird der Heiligenschein verliehen, sobald 
es zum Gegenstand gelehrter Behandlung geworden 
ist, und menschlich ganz Verschollene bringen es 
sogar zum Range der Unfehlbarkeit, wie Vater 
Homer. So ist auch Shakespeare, von dessen 
äußerem Lebensgang und menschlichem Wesen wir 
so wenig wissen, zum Götzen mit eisig starren 
Augen gemacht worden, mit Augen, die nimmer 
taugen , der Spiegel seiner Seele zu sein, sondern 
die ihren Glanz nur der untergelegten Metallfolie 
verdanken. Es ist gar kein Wunder, daß etliche 
besonders verzwickte Gehirne auf die Idee verfielen, 
dieses Bruchstücfe von einem MeDscben, als welches 
uns von Shakespeare nur tiberliefert ist, könne un- 
möglich solche gewaltigen Werke geschaffen haben; 
der fingerfertige unbedeutende Schauspieler habe 
wohl nur seinen Kamen gegen gute Belohnung 
einem ungleich größeren Geiste zur Verfügung ge- 
stellt. Wenn es diesen Leuten gelang, eine ganze 
Menge sogenannten Beweismaterials dafür herbei- 
zuschafFen , daß Francis Bacon , der umfassendste 
und glänzendste Geist jener Tage, Shakespeares 



^^^ 'IhroiluB und CresBida 

Sämtliche Werke verfaßt habe, so ist das eine Be- 
mühung, die einem gerade geschaffenen Verstand 
gar nicht so sehr viel überflüssiger und komischer 
erscheint als die so vieler Gelehrter , in ihrem 
Shakespeare einen erdentrückten Propheten zu 
sehen, der in göttlich dunklem Drange eitel Ewig- 
keitsraünze prägte. Es ist sehr kennzeichnend fQr 
unsere deutsche Gelehrtenwelt, daß sie das Werk 
über Shakespeare, das mehr als alle früheren den 
Menschen Shakespeare aus seinen Werken und 
wiederum die Werke aus dem Menschen verstehen 
lehrt, als eine unwissenschaftliche Leistung beiseite 
schieben zu können meint. Dieses Buch ist: 
Shakespeare, von Georg Brandes (Verlag 
von Alhert Langen, München). Brandes besitzt im 
höchsten Grad jene echt dichterisch zu nennende 
Phantasie, welche imstande ist, sich längst ver- 
gangene Zeiten zu deutlicher Anschauung zu bringen 
und aus einer Reihe rein äußerer Merkzeichen ein 
Charakterbild herauszulesen ; er besitzt auch künst- 
lerisches Temperament genug, um das Auf und 
Nieder der Stimmungen in der Seele des Schaffenden 
aus seinen Werken herauszuspüren. Künstlerisches 
Temperament und nachschaifende Phantasie allein 
sind imstande, zur Psychologie eines Genies, das 
nicht mehr selbst zu uns reden kann und dessen 
menschliches Teil durch keine authentischen Doku- 
mente über die Jahrhunderte weg uns gerettet 



I 



Troilus uad Creasida 



wurde, wirklich befriedigende AufklSrung zu 
geben. 

Auch über „Troilua und Cressida" hat Georg 
Brandes meiner Meinung nach weitaus das Beste 
geschrieben, was die Shakespeare-Literatur bisher 
über dieses wunderliche Werk zu sagen hatte. 
Mit der Brandesschen Ansicht, daß dieses Werk 
in einer Periode tiefster seelischer Verstimmung des 
Dichters durch herbe Enttäuschungen in der Liebe 
und in der Freundschaft entstanden sei, und daß 
der besondere Anlaß zu seiner giftigen Parodie 
des griechischen Heldentums in seinem Ärger Über 
die übertriebene Verherrlichung der damals gerade 
erschienenen Iliasübersetzung von George Chapp- 
man zu suchen sei — mit dieser Ansicht trat ich 
an die Aufgabe heran, „Troilus und Cressida" der 
Münchner literarischen Gesellschaft auf der Bohne 
lebendig vorzuführen ; und je eingehender ich mich 
mit der Arbeit beschäftigte , desto mehr wuchs in 
mir die Überzeugung von der psychologischen 
Richtigkeit der Brandesschen Deutung, gegen 
welche die Einwendung gelehrter Gegner, daß 
das angebliche Liebesverhältnis Shakespeares zu 
Mary Fetton, einer Kammerfrau der Königin, 
welche alsdann von seinem angebeteten Freunde, 
dem jungen Lord Pembroke ~ an den bekanntlich 
die überschwänglichsten seiner Sonette gerichtet 
sind — verführt wurde, nach neueren Forschungen 



L 



Troilus and Cressida 

gar nie bestanden habe, und die Erwägung, daß 
die Entstehung der Komödie vermutlich doch tu 
viele Jahre nach der Perabroke-Episode anzunehmen 
sei, gar nicht mehr ins Gewicht fallen. Wir wissen, 
daß „Troilus und Cressida" am Globetheater im 
Jahre Iü09 aufgeführt wurde, nachdem es kurze 
Zeit vorher bereits im Druck erschienen war. Da 
dies sonst nie vorkam, so muß angenommen werden, 
daß der Verleger das Manuskript auf unrecht- 
mäßigem Wege erworben, und daß Shakespeare sich 
alsdann erst beeilt habe, das Werk auf die Bühne 
zu bringen, um nicht ganz um den Geldgewinn 
daraus betrogen zu werden, Fllr die Buchausgabe 
ihrer Werke erhielten die damaligen Dramatiker 
nämlich keine Honorare, und es lag infolgedessen 
den Dichtem auch durchaus nichts daran, ihre 
Dramen gedruckt zu sehen, da die Möglichkeit der 
Lektüre gerade für ihr feiner gebildetes Publikum 
den Theaterbesuch überflüssig machte; für das 
Recht der dramatischen Aufführung aber gab es 
verhältnismäßig gute Honorare. Für gewöhnlich 
schickten die Verleger Stenographen ins Theater, 
welche im Laufe mehrerer Vorstellungen — denn 
die Kunst der Kurzschrift war damals sehr unvoll- 
kommen — den Text des Werkes zusammenstahlen, 
natürlich durch viele Schreib- und Hörfehler ent- 
stellt. Daß „Troilus und Cressida" als einziges 
von Shakes[ieares Stücken vor der Aufführung in 



TroiluB und Creesids 



Pruck erschien, läßt darauf Bchließen, (ÜB das 
Manuskript vielleicht schon lange vorher vorhanden 
war, und daß der Dichter unachtsam damit umge- 
gangen sei. Das würde einerseits die von Brandes 
angenommene Einwirkung der persönlichen bitteren 
Erfahrungen auf seine gehässige Verhöhnung weib- 
licher Liebestreue in seiner Cressida zeitlich mög- 
lich erscheinen lassen , andererseits aber auch — 
und das scheint mir viel wichtiger — die ganze 
Arbeit mehr unter dem Gesichtspunkt einer 
launischen Privatarbeit, ich möchte sagen, eines 
literarischen Juxes, erscheinen lassen. Wir wissen, 
daß die Londoner Bühne bereits eine andere 
dramatische Bearbeitung des damals, wie es scheint, 
recht beliebten Stoffes von „Troilus und Cressida" 
gesehen hatte. Shakespeare hat nun , wie er das 
ja fast immer getan hat, diese ältere Arbeit vor- 
genommen, um sie nach seinem Geschmack umzu- 
modeln und für seine Bühne zu adaptieren. Das 
Erscheinen der George Chappmanschen IliasUber- 
setzungen 1603 dürfte für Shakespeare der un- 
mittelbare Anlaß gewesen sein, sich an eine neue 
dramatische Bearbeitung von „Troilus und Cressida" 
zu machen. Seinen geläuterten Geschmack mochte 
die geschwollene und gekünstelte Sprache Chapp- 
mans zum ironisieren reizen (es findet sich eine 
Chappraansche Wortbildung in „Troilus und Cressida" 
wieder), und die arge Kränkung seines gerechten 



Troilna und GressicU 



Kßnstlerstolzes durch ein später erschienenes 
Pamphlet, welches Chappman auch als Dramatiker 
mit übertriebenem Lobe überhäufte und Shakespeare 
nur in weitem Abstand unter einigen ganz unbe- 
deutenden, heute längst vergessenen Bühnenschrift- 
stellern nannte, mag den letzten Anstoß gegeben 
haben, gerade die homerischen Haupthelden mit 
solch tollem Hohne zu burlesken Possenfiguren zu 
verzerren. Man muß bedenken, daß Shakespeare 
ohne humanistische Bildung war, das heißt, daß 
ihm die klassische Anschauung von Heldentum, 
von Heiligkeit der Schönheit und Beinheit der 
Sinneulust gänzlich fremd war, daß femer Vergil 
sowie die spätrömischen und mittelalterlichen 
Dichtungen , welche die Briten von trojanischen 
Helden abstammen iiefien, weit populärer waren 
als Homer. Die Blasphemie gegen Homer ist ihm 
also gar nicht so übelzunehmen, wie man sie den 
Textdichtern von Offenhaehs „Schöner Helena" 
etwa übelnehmen dürfte. Aber schließlich ist auch 
die „Schöne Helena" in ihrer bubenhaften Nichts- 
nutzigkeit ein klassisches Werk zu nennen, und 
Shakespeare , dem weder der Geschmack seiner 
Zeit noch eine feinere Bildung verbot, in dem 
trojaniBchen Kriege etwas anderes zu sehen als 
die lächerliche „Geschichte eines Hahnreis und 
einer Hure", wie er selbst sagt, mußte sogar eher 
darauf verfallen, den Stoff parodistisch als würdig 



^^_ uaraui vei 



^M 102 



TroilQB und Creagida 

erhaben zu beliaudeln. Er wollte seinen Witz mit 
seioem Grimm zugleich auslassen an diesen groß- 
mächtigen Helden, die sich da zelin Jahre lang um 
eine davongelaufene Ehefrau herumprtlgeln und es 
mit dem Mundwerk jeder mit zehn alt«n Weibern 
aufnehmen konntetk. Mit dem Stück selbst hat er 
sich wenig Mühe gegeben, aber sein ganzes da- 
maliges Selbst, vergrämt, geknickt, zu wilder 
Menschenverachtung aufgestachelt, wie es war, das 
verdichtete er in der Figur des Thersitea. Mit 
den AugL'U des Thersites sah er nicht nur die 
homerische Welt, sondern auch seine eigene an. 
Überall sab er die plumpe Kraft über den freien 
Geist triumy»hieren, die dumme Masse die Einsamen, 
Eigengearteten überrennen, den eitlen Poseur über 
den schlichten Geradsinn echter Vornehmheit 
triumphieren, überall auch die äußerlich glänzenden 
Taten aus innerlich kleinlichen Beweggründen ent- 
springen; und in dieser Stimmung sah er auch in 
der Liebe nur einen niedrigen Trieb, im treu- 
ergebenen heifientHammten Manne den dummen 
Jungen und im schwachen Weibe die Versucherin 
von Anbeginn, die personifizierte Sünde, die mit 
der Schlange Euhlschaft pllegt. Mit kranker Seele 
schuf er diesen Thersites, aber, Genie wie er war, 
schuf er das klassische Schimpfgenie. Wie sein 
Faletaff den Humor des Lumpentums, so bringt 
sein Thersites den Witz krankhafter Weltvorachtung 



Troilns nnd CreBaidu 



zum großartigsten künstlerischen Ausdruck. Die 
Heftigkeit seiner seelischen Verstörung, die Wucht 
seines Grimmes brachte in die beabsichtigte Posse 
das tragische Element hinein. Der dumme Junge 
erschien ihm lächerlich, aber er wurde ihm unter 
den Händen zu einer rührenden Gestalt, einfach 
dadurch, daß er das bißchen Leichtsinn der witzigen, 
koketten, kleinen Cressida gar so bitter ernst nahm, 
und daß ihn sein dichterischer Genius für den 
Liebesjubel, wie für die Verzweiflung des guten 
Troilus "Worte finden ließ, die an Schwung und 
bilderreicher Phantasie die Sprache seines Romeo 
widertönen läßt. Auch den Nestor wollte er offen- 
bar nur als selbstgefftlligen Schwätzer, den Ulysses 
als schlauen Fuchs und Ränkeschmied mit advu- 
katenhafter Beredsamkeit und den Achilles als 
eitlen Poseur und geistige Null hinstellen und läßt 
sie dennoch in ihrem zumeist mit deutlicher Ab- 
Bicht übertriebenem Wortschwall köstliche Sentenzen 
und poetisch glänzende Perioden reden. Man 
möchte fast meinen , daß ihm bei solchen Stellen 
die Stimmung mit der Feder durchgegangen sei, 
daß er in der Freude über den gelungenen Fluß 
der poetischen Rede die Absicht der Parodie ver- 
gessen habe. Andererseits bezeugt gerade das viel- 
fache Herausfallen aus dem Stil, femer das Be- 
hagen, mit dem er seinen Pandarus und sogar 
Helena in Zoten sich ergeben lilßt , zusammen- 



Troilus und Creasida 

gelialten mit der überaus lockeren Struktur der 
Handlung und der ganzen bastigen Nachlässigkeit 
des Aufbaues, daß man es mit einem in verdüsterter 
galliger Stimmung rasch hingeworfenen Gelegen- 
heitswerk zu tun habe. So mag er es wohl, den 
Kopf noch heiß von der leidenschaftlichen Arbeit, 
seineu literarischen Freunden in der Kneipe zum 
„Meermädchen" oder zum „Teufel" vorgelesen 
haben, und sie mögen über die Zoten des Faudarus 
und den wilden Witz des Thersites gebrüllt und 
Ober die langen Reden der ernsthaften Charaktere 
ein wenig gegähnt haben. Dann wird Shakespeare, 
zufrieden, sein Mütchen gekühlt zu haben, das 
Manuskript, als er es mit klarem Kopfe noch ein- 
mal wieder durchlas, als zur Aufführung ungeeignet 
in irgend eine Ecke geworfen haben. Vielleicht 
haben es sich dann später Leute , die von jener 
Vorlesung gehört, einmal ausgeborgt, und so mag 
es in die Hände des Buchhändlers geraten sein. 
Einer gründlichen Durcharbeitung dürfte Shake- 
speare selber das Werk nicht mehr wert erschienen 
sein, er wird wohl nur gehörig daran gestrichen 
und es im übrigen einstudiert haben, wie es war, 
mit allen seinen offenbaren Schwächen, mit dem 
Minimum von Handlung in den ersten Akten, mit 
dem völligen Mangel eines irgendwie befriedigenden 
Schlusses. Das Stück scheint auch tatsächlich 
keine großen Erfolge gehabt zu haben, denn es 



Troitns und Crogaid& 



wird seiner später gar nicht mehr erwähnt, und 
nie wieder seit Shakespeares Zeiten bat sich ein 
Theaterdirektor seiner angenommen. Sein nach- 
haltigster Erfolg ist der gewesen, daß die große 
Rede des Ulysses über die „heilige Ordnung" in 
die SchuHesebücher aufgenommen wurde und seit- 
her von allen englischen Gymnasiasten auswendig 
gelernt werden muß. 

Diese Erklärungsweise ist nichts weniger als 
eine philologische, obwohl einige beglaubigte äußere 
Fakla den Anstoß dazu gegeben haben, sondern 
eine rein psychologische. Die seelische Verstim- 
mung, das große Leid eines ächten Dichters pflegt 
eich, wenn er eine robust männlich empfindende 
Persönlichkeit ist, am liebsten in höhnischem Witz 
und in derber Zote zu entladen. Eine solche Ge- 
waltsamkeit der Entladung wäre übrigens auch 
dem Charakterbilde des großen Dichters ebenso- 
wenig abträglich wie etwa die Wilddieberei, deren 
er sich in seinen Jünglingsjahren schuldig gemacht 
haben soll, (Eine Überlieferung, welche, nebenbei 
bemerkt, alle neueren englischen Forscher als 
,made in Germuny" belächeln.) Aus bürgerlichen 
Tugenden, wohltemperierten Empfindungen und 
' Ästhetischen Katechismus-Qualitäten knetet man 
Oberhaupt keine großen Dichter zusammen. Ein 
Dichter, der von Berufs wegen genötigt ist, gleich 
Loge alle „Winkel der Welt" zu durchreisen, auf 



Troilus nad Gressida 

die Sonnenhöhe edelsten Gefühls- und Gedanken- 
.lafsch^ungs ebenso wie in die schwärzeste Tiefe 
der Gemeinheit und des Lasters sich versetzen, alle 
menschlichen Leidenschaften nachfühlen zu können, 
ein solcher Dichter ist wahrlich ebensowenig zu 
einem bürgerlichen Lebenswandel , der seinem 
Pfarrer Freude macht, als zu einem künstlerischen 
Wohlvevhalten veriiflichtet , das vor den Augen 
seines ehemaligen Schulrektors bestehen könnte. 
Es gibt keine verkehrtere Betrachtungsweise für 
das Werk eines großen Toten als davon auszugehen, 
daß ihn beim Schaffen nur immer die erhabensten 
Gesichtspunkte geleitet haben könnten, und daß 
Schwächen, ja offenbare grobe Irrtümer und Ge- 
schmacksverirrungen ihm gar nicht passiert sein 
könnten. Der richtige Philologe interpretiert alles, 
was zu dem Schema , das er sich von dem zu er- 
klärenden Meister entworfen hat, nicht paßt, aus 
dem Werk hinaus, und wenn er Scharfsinn genug 
dazu besitzt, so überzeugt er uns durch innere und 
äußere Beweise, daß die betreffenden Stellendes 
Anstoßes entweder von dem gesunden Menschen- 
verstände bisher immer falsch aufgefaßt worden 
seien, oder gar, daß sie überhaupt nicht von der 
Hand des Dichters herrührten, sondern einfach 
spätere Fälschungen darstellten. Shakespeare bietet 
dieser Art von gelehrten Bearbeitern ein schier 
unendlich großes Feld für ihre Tätigkeit, und er 



iTioiluB and CresBida 



l wälzt dem Bestreben, seineu Genius unter allen 
I Umständen als über alle Menschlichkeit erhaben 
I darzustellen, die größten Hindernisse in den Weg. 
iMan hätte sich von der harten Nußknackerarbpit 
( Tiel sparen können, wenn man im Äuge behalten 
hätte , daß Shakespeare nun einmal kein Poet im 
Stile unserer modernen Atelierdichter in Sammet- 
\ Joppe und Schlapphut, sondern ein mäßiger Schau- 
spieler war, der in mUbsamem Ringen ums tägliche 
Brot sich langsam zum Schnuspielunternehmer 
hinaufgearbeitet hat, der auf Gelderwerb bedacht 
sein mußte, um die Verpflichtungen, die eine frflhe 
törichte Heirat ihm aufgeladen, erfüllen und auch 
nm einigermaßen mittun zu können in dem Kreise 
vornehmer Lebenskünstler, die für ihn den einzig 
ersprießlichen Umgang bildeten. Darum war er 
oft genötigt, rasch zu arbeiten, darum griff er so 
häufig zu älteren Stücken, um sie umzuarbeiten, 
; darum endlich mußte er gewiß manche Arbeit auf 
[ die Bretter stellen, bevor sie seinem eigenen küust- 
f lerischen Gewissen noch vollständig genügte. Er 
war zunächst ein junger Abenteurer aus der Pro- 
vinz , der ohne festes Ziel und ohne genügende 
Kenntnisse in irgendeinem. Zweig, aber mit tausend 
tollen Plänen und mit lebhaftem Interesse und 
offenen Augen für alle Dinge dieser Welt sich nach 
der Hauptstadt aufmachte, um dort sein Glück zu 
suchen. Das Theater zog ihn mächtig an , das 




romantiscli angehauchte Lumpentum der Kom9-"l 
dianten , uuf das hier und da Gnadenstrahlen aus 
der hohen Welt des damals gerade so glänzenden 
und gebildeten Adels fielen, lockte ihn just so sehr, 
wie es noch heute manchen jungen Mann aus der 
Provinz verlockt, und wie von diesen manche, bei 
denen es zum großen Schauspieler nicht langt, 
nachher Theatergeschäftsleute, d. h. Direktoren, 
Agenten oder Stückefabrikaiiten werden, so wurde 
auch Shakespeare Theatergeschäftsmann; und da 
das Theaterwesen damals auf einer verhältnismäßig 
hohen Stufe der geistigen und sozialen Bedeutung 
stand, so konnte es dem blutvollen Renaissance- 
menschen zu einer hohen Schule aller Weisheit 
werden, deren ein Poet benötigt. Wir erleben es 
ja auch heute oft genug, daß die hohe Schule des 
Theaters aus ungebildeten leichtfertigen Mädchen 
der niedersten Herkunft große Weltdamen von be- 
zaubernder Anmut des Geistes und vollendeter 
Sicherheit des Auftretens macht, wie es entlaufene 
Lehramtskandidaten und Badergesellen zu Männern 
von feiner geistiger Kultur modelt, die über ernste 
Fragen der Zeit ein verständiges Wort mitzureden 
wissen, und die, wenn sie von Haus aus dichterische 
Veranlagung mitbringen, über den akademisch ge- 
schulten wirklichen Dichter oft recht ansehnliche 
Vorteile erringen. Geraile der Umstand, daß 
Shakespeare praktischer Theütermann war, macht 



i 



Troilus und Cre-seida 



das rätselhafte seiner Größe begreiflich, zu dessen 
Erklärung Leute, die das Wesen des Genies nicht 
Terstehen können, den Geist des größten Gelehrten 
jener Zeit zu Hilfe rufen zu müssen glaubten. Er 
stand von Berufs wegen im täglichen Verkehr mit 
den feinsten Geistern seiner Zeit, indem er ihre 
Werke inszenierte und darin spielte. Er hatte 
reichlichere Gelegenheit als irgend ein gelehrter 
Stubenhocker, unter dem merkwürdigen Theater- 
volk und dem theaterfreudigen Puhlikum, das sich 
um sie drängte, Menschen von allen Arten, von 
allen Temperamenten, Leidenschaften und Sitten 
kennen zu lernen: vornehme Damen und lustige 
Dimlein , junge Edelleute aus Familien , die dem 
Throne am nächsten standen, und verlotterte Kneip- 
genies im Stile des Sir John, bis hinunter zu ver- 
wogenen Gesellen, die heute \-ielleicht in der 
Kneipe mit den Komödianten verpraßten , was sie 
gestern als Straßenräuber mit geschwärzten Ge- 
sichtern reisenden Kauflenten abgenommen hatten. 
Auf der Suche nach Stoffen lernte er dann all- 
mählich einen großen Teil der Weltliteratur, soweit 
sie ihm wenigstens in Übersetzungen zugänglich 
war, kennen, und diese Lektüre ersetzte dem mit 
der unerhört vielseitigen und leichten Auffassungs- 
gabe des Genies Ausgerüsteten reichlich historische, 
philosophische und andere Kollegien, Reisen und 
Quellenstudien. Dazu kam, daß er, wie das ächte 



Troilus und Cresaidj 



Genie fast immer, mit großem Fleiß uod brennendem! 
Ehrgeiz begabt war. So wenig wir also die weit* 
umfassende Gedankenwelt Shakespeares oder difl^ 
Schärfe seines oft sogar der Erkenntnis seiner Zeitfl 
vorauBeilenden Geistes oder die künstlerische Voll>J 
endung seiner Form als unvereinbar mit dem« 
Wesen eini^s gebildeten Theatergeschäftsmannes ml 
bestaunen brauchen, ebensowenig brauchen wir uns« 
zu scheuen, das offenbar Minderwertige, Unfertige! 
oder gar Mißglückte in seinen Hervorbringungen I 
als solches anzuerkennen. Wir tun damit seiner.! 
Größe wahrlich keinen Abbruch, im Gegenteil,! 
diese Größe wäre tatsächlich unbegreiflich, wen&l 
jene Unzulänglichkeiten, die den Schöpfer als Kind.! 
seiner Zeit, als gehetzten Daseinskämpfer und als! 
Untertanen seiner menschlichen Irrtümer und! 
Leidenschaften zeigen, nicht da wären. Und wasj 
speziell „Troilus und Cressida" betrifft, so wQßtel 
ich nicht, warum ein solches rasch hingeworfenes t 
unfertiges Produkt einer galligen Laune seiner! 
Dichtergröße Abbruch tun sollte , besonders da f 
gerade in diesem Werke sein genialer Witz, seiue i 
wunderbar feine Charakterisierungskunst , seine | 
Sprachgewalt und seine goldenen Sentenzen ver- I 
Bchwenderisch um sich streuende reife Weltweisheit j 
ao glänzend zur Geltung kommt, wie nur in den! 
besten seiner sorgfilltig ausgeführten Dramen. | 
Gerade in diesen Tagen, während deren ich diese! 



^^* TroiluB und Cressida 

Seiten uiederschreibe , ist eioe neue Bearbeitung 
des vielumstrittenen Werkes von Adolf Gelber 
in der Folge seiner „ShakespeariBchen Probleme" 
(Wien, Verlag von Karl Konegen) erschienen, 
welches in der Vergötzung unseres Genies das 
Tollste leistet, was bisher auf diesem Gebiete da- 
gewesen ist. Gelber leugnet die Absicht der 
Parodie ganz und gar, stellt „Troilus und Cressida" 
hin als „eine hohe Tragödie von vollendetem 
künstlerischeu Aufbau", als .,ein Gedicht von den 
größten Leiden des Menschengeschlechts, worin er 
die Menschen am zärtlichsten liebte" und schliefl- 
lieh gar als „die früheste und innigste Vermahlung 
der Antike mit dem nordischen Geist". Er findet, 
di)ß in dieser Tragödie von den Leidenschaften 
jugendlicher Völker , Kampf und Liebe , das 
klassische Ideal keineswegs in den Staub gezogen, 
sondern Homer vielmehr durchgeistigt, vervoll- 
kommnet und vollendet sei! Ich habe Achtung 
vor der glühenden Begeisterung, die Gelber seinem 
Shakespeare entgegenbringt, und vor der starken 
Phantasie , mit der er seine Ansicht zu beweisen 

I sucht, aber wenn er in söincr Bearbeitung diese 
Ansicht dadurch unserem heutigen Theaterpublikum 
vermitteln will, daß er aus dem Text einfach alles 
herausstreicht, was ihr mit greller Deutlichkeit 
widerspricht, und dafür durch eigene Hinzu- 
dichtungeu, welche nicht nur die Szenenführung, 



Troilna und CTegBidA 



aondem auch den Gedanken- und Empfindungs- 
inhalt gänzlich verändern, sich Beweise herbei- 
zwingt, so halte ich dieses Verfahren denn doch 
für eine Kompetenzüberaehreitung des Kritikers 
und Bearbeiters, für die es keine Entschuldigung 
gibt. Ein Bearbeiter darf, wenn er den nötigen j 
Geschmack dazu besitzt, mit dem Text so frei um- 
springen, wie er will, um die oft unerträglich ver- 
blümte, überladene Rede dem heutigen Publikum 
verständlich oder den durch Zeitanspielungen rätsel- 
haft gewordenen Witz genieBbar zu machen; er 
darf streichen, was wir heute als Lftngen empfinden 
müssen, er darf Szenen umstellen, wo es die heutige 
Praxis des schwierigen Bllhnenmechanismus er- 
fordert — aber er darf nicht den Sinn im ganzen 
und im einzelnen in sein Gegenteil verwandeln, 
darf nicht, wie z. B. Gelber tut. Reden des Ulysses, 
Nestor und Agamemnon willkürlich untereinander 
vertauschen, Szenen hinzuschreiben, von denen kein 
Wort im Original steht, und durch Umstellen von | 
Szenen und Szenenteilen in anderem Zusammen- 
hang deren Sinn vollständig verändern. Die dem 
Dichter so überaus gelungene Figur des alten ] 
Nestor verschwindet bei Gelber bis auf einen nichts- ] 
sagenden Rest. Die köstliche Kußszene im vierten 1 
Aufzug, wo Cressida dem griechischen Feldherm j 
vorgestellt wird , streicht er ganz. Den Ulysses J 
und den Achilles macht er durch kühne Text« 



Troilns und CresBida 

fölchungen und AuslasBung wichtigster Charaltter- 
ztige zu Ideal gestalten, und den Troilus läßt er 
mit einer schönen Rede eigner Arbeit sterben, um 
der Tragödie einen Schluß zu geben. Es ist sehr 
schade, daß Gelber sich durch eine vorgefaßte 
Meinung von den idealen Absichten des Dichters 
sich zu solchen groben Fälschungen hat verleiten 
lassen, die nicht einmal den Zweck erftlUen, das 
Werk zu einem genießbaren Theaterstück zu 
machen, denn zur Erfüllung dieser letzteren Auf- 
gabe wäre Gelber, der an Geist und Phantasie 
unsere philologischen Querköpfe wie auch unsere 
Dnrchschnittsregisseure. weit überragt, sehr wohl 
föhig gewesen , wie seine szenischen Anordnungen 
an vielen Stellen — besonders im dritten Aufzug — 
deutlich beweisen. 

Als Ludwig Ganghofer, der erste Vorsitzende 
der von mir Ende 1897 gegründeten Münchener 
literarischen Gesellschaft, zuerst mir den Vorschlag 
machte, „Troilus und Cressida", und zwar auf einer 
möglichst ächten Shakespearebühne, zur Aufführung 
zu bringen, war ich, wie ich gestehen muß, zu- 
nächst nicht allzu begeistert für diesen Plan. Ich 
bin beim Theater aufgewachsen und mit seinem 
innersten Wesen vertraut; daher wußte ich von 
vornherein, daß das Werk eines berühmten Dichters, 
von welchem sämtliche Theaterleiter der zivilisierten 
Welt seit nun fast dreihundert Jahren beharrlich 

vm. 



Troilua und CreBsids I 

keine Koti/ genommeu liabeii, sicherlich nicht so 
leicht zu einiger BOlinen Wirksamkeit zu bringen 
sein würde. Fast regelmäßig hat es sich gezeigt, 
80 oft ehrgeizige Theaterleiter sich durch die 
Mahnung gelehrter Laien und Fanatiker bestimmen 
ließen, ein angeblich aus Mangel an Pietät oder 
Eunstgeschmack vernachlässigtes Werk der Ver- 
gangenheit auf die Buhne zu bringen , daß die 
Praktiker recht hatten. Den Instinkt für das 
Wirksame haben in der Tat fast ausschließlich die 
Praktiker, und uuter diesen Praktikern haben wir 
doch auch hervorragend feine literarische Persönlich- 
keiten gehabt, einen Goethe, einen Immermann, 
Dingelstädt, Laube, Wilbrandt, Förster u. a. m. 
Keinem von ihnen ist es jemals eingefallen, einen 
Versuch mit „Troilus und Cressida" zu machen. 
Als ich das Buch, mit dem Begieblaustift in der 
Hand, zum erstenmal durchgelesen hatte, legte ich 
es ziemlich mutlos beiseite. Ich konnte mich der 
Erkenntnis nicht verschließen, daß die Theater- 
direktoren dieser letzten drei Jahrhunderte mit 
ihrer Vernachlässigung dieses Werkes recht gehabt 
hatten. Die hohe allgemeiue Verehrung der ge- 
bildeten Welt für Homer erschwerte sicherlich von 
vornherein unserem Publikum die unbefangene 
Würdigung von „Troilus und Cressida" ; allerdings 
hat diese selbe gebildete Welt die entzückende 
Blasphemie Offenbachs, „Die schöne Helena", mit 



Troilus und (Jresaida 

einmütigem Jubel hingenommen, aber das war eben 
auch eine reine Parodie. Eine solche hat Shake- 
speare nicht geliefert, auch nicht liefern köunen, 
denn ihm fehlte ja der literarische Gesichtspunkt, 
unter dem wir Heutigen den Homer betrachten. 
Das Auf und Ab zwischen tiefem Ernst und grobem 
Spaß, zwischen boshafter Verunglimpfung und 
reinem poetischen Schwung mußte unser gebildetes 
Theaterpublikum ärgern und verwirren. Dazu 
kamen noch die allzu fühlbaren Mängel der nach- 
lässig aufgebauten Handlung und die im Grunde 
geringfügige Bedeutung der Liebesgeschichte der 
beiden Titelfiguren fUr die Fabel des Sttlckes, 
welche doch in der Homerischen Episode vom Zorn 
des Achilles besteht; denn Troilus' Verliebtheit 
wird nur dadurch von einiger Bedeutung für das 
Stück , daß er sich als einziger auf die Seite des 
Paris schlägt und durch sein jugendliches Feuer 
auch den besonnenen Rektor dazu hinreißt, für 
die Fortsetzung des unseligen Krieges einzutreten, 
der nur dazu dient, einem verliebten Manne den 
Besitz seines geraubten Schatzes zu sichern. Weder 
der große Krieg der beiden Völker um den Besitz 
der Helena, noch der kleine Krieg zwischen Troilus 
und Diomedes um den Besitz der Cressida wird in 
dem Stück zum Austrag gebracht, Hektor fällt 
durch feigen Meuchelmord, und der baumlange 
Maulheld Achilles steckt befriedigt seinen Säbel 



TroiluB und Cressida ' 

ein, während der arme Jüngling Troilus über 
Weiberfalschheit jammernd auf dem Schlachtfeld 
amherrast — das ist das ganze Ergebnis des 
Dramas. Hinterher noch das überaus rohe Schluß- 
tableau ; der Kuppler Pandarus apostrophiert in 
seiner Wut über die grobe Abfertigung, die ihm 
von Troilus zuteil wird, die im Theater anwesenden 
edeln Berufsgenossen, Dirnen und anderes Gelichter 
und verheißt ihnen seine ekelhaften Krankheiten 
als anmutiges Legat in seinem Testament! Und 
endlich noch der Mangel au dramatischer Steigerung 
innerhalb der einzelnen Akte — die zum Teil aus- 
gehen wie die Dreierlterzlein — und der Mangel 
an sympathischen Figuren. Zwar sind auch auf 
der griechischen Seite alle Gestalten, mit Ausnahme 
der blassen Schemen Agamemnon, Menelaus, 
Kalchas , interessant , zum Teil sogar genial 
charakterisiert, aber keine von ihnen vermag jene 
starken Sympathien zu erwecken , von denen ein 
echter dramatischer Held lebt. Troilus ist ein 
lieber, dummer Junge, der sich sehr brav herum- 
haut und mit seiner feurigen Beredsamkeit uns 
auch das Herz warm macht, aber das Mitgefühl 
mit 80 einem kindisch verliebten und schnöde be- 
trogenen armen Jungen stimmt niemals tragisch — 
es kann ein gewisses verwünschtes Lächeln niemals 
los werden — und das Dirnlein, das ihn verrät, 
ist von zu unbedeutender Lasterhaftigkeit, als daß 



wir uns ethisch darüber ereifern könnten. Es ist 
eben nur ein tragikomisches Pech , welches den 
liebenswürdigen Schwärmer Troilua an dieses im 
Guten wie im Bösen gleicli unbedeutende Mädchen 
geraten läßt. 

Aus dieser ganzen Betrachtung geht hervor, 
da6 dieses Stück Ingredienzien zur feinen Komödie, 
zur derben Posse wie auch zum Trauerspiel ent- 
hält, aber ohne Gewaltsamkeit in keiner dieser drei 
Gattungen völlig und rechtmäßig unterzubringen 
ist. "Wie sollte man nun einem modernen Publikum, 
nnd gar dem auserwählten Kreis einer literarischen 
Gesellschaft, ein solches Ragout einigermaßen 
schmackhaft machen? Das war die Frage, über 
die ich mir lange den Kopf zerbrach. Ich las das 
Stück wieder und wieder. Ich verliebte mich all- 
mählich in die vielen Überaus köstlichen Einzel- 
heiten, ich entdeckte immer mehr prachtvoll be- 
obachtete Charakterzüge, immer mehr beißenden 
"Witz, geistvolle Sentenzen, poetische Schönheiten 
des Ausdrucks und wurde so schließlich von einem 
brennenden Eifer erfaßt, all diese Kostbarkeiten 
zu retten, denn sie waren tatsächlich so gut wie 
verloren, weil man „Troilus und Cressida" nicht 
einmal zu lesen pflegt. Ich fand zunächst, daß 
das Stück noch am ersten unter der Flagge 
^Tragikomödie" segeln könnte — eine Flagge, für die 
ich sowohl in theoretischen Erörterungen als in 




lueinem eigeuen dichterisclien Schaffen schon . 
manchen Tropfen edler Tinte verspritzt habe. Eine 
gute Tragikomödie nach modernen Begriffen kam 
dabei freilich nicht heraus, aber wenigstens brauchte 
ich mit dieser Bezeichnung den offenbaren Ab- 
sichten des Dichters keine Gewalt anzutun. Ich 
ging nun daran, den Text festzustellen. Mit freund- 
licher Bewilligung der Verlagebuchhandluug von 
Georg Reimer wählte ich die in der Ausgabe 
der deutschen Shakespeare-Gesellschaft enthaltene 
Übersetzung von W. A. B. Hertzberg dazu aus, 
verglich sie sorgfältig mit dem Original und stellte 
durch ausgiebige Striche und freie Verdeutschung 
einen in Vers und Prosa gleich sauberen Dialog 
her, der für unsere Schauspieler sprechbar und für 
unser Publikum verständlich ist. Die Frage der 
Inszenierung brauchte mich zunächst nicht zu be- 
unruhigen, da die Shakespeare-Bühne mich ja aller 
Schwierigkeiten, die sonst der häufige Szenen- 
wechsel bei Shakespeare bereitet, überhob. Wie 
sollte aber diese Shakespeare - Bühne aussehen ? 
Das, was unser Münchener Oberregisseur Jocza 
Savits so benennt, ist, wie wohl allgemein be- 
kannt, nur ein Kompromiß zwischen der ursprüng- 
lichen Einfachheit und unserer heutigen Bühnen- 
technik. Man sollte sie nicht Shakespeare-Bühne, 
sondern Sparbühne nennen; denn sie erfüllt tat- 
sächlich nur den Zweck, Mühe und Kosten zu er- 



Ttoilns und Creeaida 



sparen. Wollte ich eine historisch ächte Shake- 
speare-Sühne h^ben, so muESte ich mich an die 
von Karl Gädertz bekanntlich zuerst veröffent- 
lichte Zeichnung des gelehrten holländischen 
Reisenden de Witt halten, welche das Innere des 
Londoner Swantheaters darstellt, und mußte mir 
danach das Globetheater , in welchem tatsächlich 
„TroiluB und Cressida" 1609 aufgeführt wurde, mit 
Zuhilfenahme einiger Andeutungen, die sich bei 
zeitgenössischen Schriftstellern linden, zu kon- 
struieren versuchen. Das war nicht allzuschwer. 
Wir wissen, daß der Globe gleich dem Swan ein 
oben offenes Somniertheater, aber etwas reicher 
ausgestattet und überhaupt vornehmeren Stiles war 
wie jenes. Es wird z. B. tiberliefert, daß das 
Dach des Bühnenhauses die Figur eines Atlas mit 
der Weltkugel gekrönt habe, auf welcher die In- 
schrift: „totus mundus agit histrionem" zu lesen 
gewesen, und daß der Anstrich der hölzernen 
Säulengalerien fast die Täuschung wirklichen 
Marmors hervorgerufen habe. Ich fand auch in 
dem Oberammergauer Zeno Diemer, dem be- 
kannten Panoramamaler, einen Künstler, der mit 
Hilfe dieser Andeutungen und der de Wittschen 
Zeichnung eine durchaus glaubwürdige Dekoration 
vom Innern des Globetheaters für unsere Auf- 
führung herstellte. Indem ich mir nun das Stück 
auf dieser Bühne inszeniert dachte, alle Auftritte 



Troilus und Cressids 



und Äbgäuge, die mögliche Gestaltung der 
Schlachtenszeneu usw. erw&gend, lösten sich fftr 
mich leicht genug die Zweifel und Fragen, die his- 
her bei uns ober die BeHchafTeuheit der wirklichen 
Shakespeare-Bühne und ihre praktische Verwendung 
bestanden haben. 

Die zu Shakespeares Zeiten übliche Gestaltung 
der Theater erklärt sich durch deren Abstammung 
von den Höfen großer Wirtshäuser. Zwei oder 
wohl auch gar drei hölzerne Galerien pflegten in 
solchen großen Herbergen und Ausspannungen um 
drei Seiten des Hofes herumzulaufen. Auf der 
vierten Seite stand dann das Stallgebäude mit 
seinen großen Toren, Dachluken und dem hohen, 
zum Koruspeieher bestimmten Giebel. An dieser 
Stallseite schlugen dann die herumziehenden Ko- 
mödianten ihre Bretterbühne auf, die bis zu zwei 
Drittel des vorhandenen Kaumes so in den Hof 
hineingebaut war, daß die Zuschauer nicht nur 
vor, sondern auch zn beiden Seiten der Bühne 
Platz fanden und außerdem von den Galerien 
herabschauen konnten. Als die Theater in London 
zu einer ständigen Einrichtung wurden, baute man 
nach diesen Vorbildern eigene Schauspielhäuser. 
Ein festes Bühnenhaus zunächst, welches genügende 
Räumlichkeiten zum Ankleiden für die Schau- 
spieler, zur Aufbewahrung der Garderobe und 
Requisiten, desgleichen auch Wohnungen für das 



id/^H 

1er ^1 
rar ^^ 



TroiluB UDd Creasida. 

AufBichtspersonal enthielt. Dieses Gebäude war 
dreistöckig und in der Höhe des ersten Stockes 
mit einem von zwei Säulen getragenen Vordach 
versehen, welches bei den besseren Bühnen jeden- 
falls für Turm-, Balkouszenen und dergleichen be- 
nutzt werden konnte. Auch mögen wohl nicht be- 
schäftigte Schauspieler und begünstigte Theater- 
habituös gelegentlich aus den Fenstern der ersten 
Etage oder gar von dem Dache des Vorbaues 
herab dem Spiel zugeschaut haben. Zwischen den 
beiden Säulen, welche den Vorbau trugen, befand 
sich ein zum Auf- und Zuziehen eingerichteter 
Vorhang, und in dem durch ihn abgeschlossenen 
Baume wurden dann die Szenen gespielt , die in 
Kerkern, Grabgewölben, Hütten und anderen 
kleineren geschlossenen Räumen vor sich gingen. 
Die Ausstattung der Szene mit Tischen, Bänken 
und was sonst erforderlieh war, konnte erfolgen, 
während auf dem Podium vor dem Vorhang ge- 
spielt wurde. Es führten aus dem Bühnenhaus in' 
diesen abgegrenzten Kaum zwei Tore, durch welche 
die Schauspieler ein- und aus gingen, und es dürfte 
eine allgemein übliche Annahme bestanden haben, 
daß das eine dieser Tore für die aus dem Haus, 
beziehungsweise aus dem Innern der Stadt, das 
andere für die von der Straße, beziehungsweise 
aus der Gegend vor der Stadt auftretenden Schau- 
spieler bestimmt war. Während vor dem ge- 



TroiluB und GresBida 

schlosseueii Vorhang eine Szene spielte, konnten 
neu hinzukommende Personen einfach hinter den 
beiden Säulen hervortreten, ohne den Vorhang zu 
oSnen , denn an den beiden Flanken war dieser 
veraudaartige Vorhau jedenfalls olfen und das 
Podium sicherlich so breit , daß neben den beiden 
Säulen noch genügender Raum 2um Vorbeischreiten 
blieb. Ich habe, um den nötigen Platz ftlr das 
Orchester und die Komparserie zu gewinnen, das 
Podium von den beiden Säulen aus rechts und 
links bis an die unterste Galerie fortgesetzt, denn 
es ist überliefert, daß Shakespeares Orchester 
(aus zehn Mann, und zwar einem Lautisten, einem 
Pauker, vier Blechbläsern und vier Holzbläsern 
bestehend) rechts von der Bühne im Hintergrund 
plaziert gewesen sei, wahrscheinlich in den hintersten 
Logen der ersten Galerie. Da aber diese auf dem 
gemalten Hintergrunde natürlich perspektivisch 
verkleinert werden mußten , so konnte ich dort 
keine lebenden Personen unterbringen. Das dritte 
Stockwerk des Bühnenhauses ragte beim Swan- 
theater und vermutlieh auch bei den änderen 
feineren Bühnen über das Logenhaus hinaus. Es 
trug gleichfalls einen kleinen Balkon oder Erker, 
von welchem aus ein Trompeter eine Fanfare ins 
Land hinaosschmetterte, welche dem Volke, das 
sich draußen im Gehölz erging, wo sich der Bären- 
zwinger befand, oder auch sich noch zu Schuf auf 



der Themse herumtrieb, verkündete, daß das Spiel 
' seinen Anfang nehme. Auf dem Dache wehte an 
Spieltagen eine Fahne mit dem Sinnbild des be- 
treffenden Theaters. Es ist möglich, daß sich auf 
dem Globetheater eine plastische Darstellung des 
Atlas mit der Erdkugel befunden hat, doch scheint 
mir dies nicht sehr wahrscheinlicli, weil eine solche 
etwa gar in Erz gegossene Figur denn doch wohl 
ein zu kostspieliger Luxus für die damaligen 
Theaterverhältnisse und auch wohl eine zu schwere 
Last für den gewiß nicht allzu wuchtigen Bau 
gewesen wäre. Bei meiner Aufführung am Gärtner- 
platztheater mußte ich auf dieses dritte Stockwerk 
verzichten, da die Höhe der Bühne nur acht Meter 
betrug (höher sind überhaupt wohl nur wenige, 
ganz große Opembühnen), und ausgewachsene 
Menschen in zwei Etagen Übereinander agieren 
mußten. Den Atlas mit der Erdkugel Labe ich 
dementsprechend als Freskogemälde auf der Hinter- 
wand, nahe unter dem Ziegeldache des Bühnen- 
hauses anbringen lassen. Die Umfassungsmauer 
des Zuschauerraumes schloß sich an das Bühnen- 
haus in Form eines Rechteckes mit abgerundeten 
Ecken an und gab dem Balkenwerk der beiden 
hölzernen Galerien, welche also das Logenhaus 
darstellten , die Stütze, Eine schräge Bedachung 
aus Stroh oder, wie im Globetheater, nachdem es 
einmal abgebrannt war, aus Ziegeln schützte das 



Troilns and Creaeid« 

Logenpublikum vor Regen. Rechts und links in 
der Umfassungsmauer befand sich je ein großes 
Eiiilaßtor, in weichem die Diener postiert waren, 
die das Eintrittsgeld erhoben. Dies war übrigens 
für die besseren Logenplätze recht teuer, bis zu 
acht Mark nach dem heutigen Geldwert. Dafür 
hatten es aber die Parterrebesucher um so billiger. 
Das Theater war damals so außerordentlich popu- 
lär, daß sich zu den Vorstellungen selbst der 
schwersten Tragödien nicht nur der kleine Bürger- 
stand, sondern auch Matrosen, Lastträger und selbst 
allerlei verdächtiges Gesindel drängte. Diese Leute 
haben schwerlich mehr als einen Penny, nach 
heutigem Geldwert immerhin vierzig bis fünfzig 
Pfennig, bezahlt. Dafür mußten sie aber auch 
stehen, wenn sie nicht eigene Sitzgelegenheit mit- 
brachten. Im Hintergrund des Stehparterres be- 
fand sich ein großer , offener Bottich , in welchen 
die Leute ungeniert ihre Notdurft verrichteten und 
allen Unrat hineinwarfen. Natürlich verpestete 
dieser Bottich die Luft, besonders an heißen Tagen, 
entsetzlieh, und es wurde von Zeit zu Zeit Genevre 
abgebrannt, um den Gestank zu beseitigen. Die 
Schauspielunternehmer wie auch das feinere Pu- 
blikum gaben sich Jahrzehnte hindurch vergebene 
Mühe, diese abscheuliehe Einrichtung zu beseitigen — 
das Volk ließ sie sich nicht nehmen. Gespielt 
wurde in diesen oifenen Theatern zwischen drei 



m 1 



r 



Troilos und Cressida 

und sechs Uhr nachmittags ^ in den geschlossenen, 
wie z. B. Blakfriars, in den Klosterschulen und 
bei Hofe auch im Winter und bei künstlicher Be- 
leuchtung. 

Es gab für mich zweierlei Wege, das Problem 
der ächten Shakespeare-Bühne in einem modernen 
Theaterraum zu lösen: entweder ich mußte die 
vordere Öffnung der Bühne zum Hintergrund 
machen und das Podium über das Orchester hin- 
weg bis in das Parkett hineinbauen. Das wftre 
aber nicht nur kostspielig, sondern auch unschön 
gewesen, und die verhältnismäßig tief unter dem 
Podium sitzenden Parkettbesucher hätten in zum 
Teil sehr unbequemen Stellungen hinaufschauen 
uiüsaen, ohne doch die ganze Bühne zu übersehen. 
Der zweite Ausweg war der, das Podium auf der 
Bühne selbst zu errichten und Prospekt und Ku- 
lissen das Logenhaus vorstellen zu lassen. Ich 
entschloß mich für das letztere Verfahren, und 
damit war auch die Notwendigkeit gegeben , die 
gemalten Logen und das Parterre, das heißt den 
zu beiden Seiten des Podiums noch leer bleibenden 
schmalen Raum mit Publikum anzufüllen. Dieses 
Publikum mußte dann aber selbstverständlich mit- 
agieren , wenn die ganze Darstellung nicht lang- 
weilig werden sollte. Und so kam ich dazu , ein 
von den Zuschauem zu spielendes Stück um 
„Troilus und Cressida" herum zu schreiben. Das 



Troiius und Oreasids 

bekannte , sehr lesenswerte Buch von T h o r D - 
b u r y „Shakespeares England" gab mir eine 
reiche Ausbeute von charakteristischen Schilderungen 
und Anekdoten über das damalige Leben überhaupt 
und das Betragen des Publikums im Theater im 
besonderen. Alles, was man in meinen Vor- und 
Zwischenspielen finden wird, beruht also auf wohl 
belegter historischer Überlieferung, und ich habe 
mich auch bemüht , die Ausdrucksweise einiger- 
maßen Shakespearisch zu färben. Die Reden sind 
von mir englisch gedacht und dann ins Deutsche 
übertragen worden, und ich hoffe durch dieses 
Verfahren eine leidliche Ächtheit des Tones erreicht 
zu haben. Natürlich mußte hierbei auch die 
Theaterkonvention in dem Sinne walten, daß sich 
aus dem allgemeinen Stimmengewirr nur immer 
diejenigen Gespräche vornehmlich loslösen, welche 
für den Zuhörer Interesse haben. Die literarischen 
Unterhaltungen der jungen Lords mögen freilich 
etwas zu absichtlich anmuten, aber man wird mir 
das um des guten Zweckes willen verzeihen. Sie 
ersparen lange Vorreden und Abhandlungen und 
machen auch dem unvorbereitet ins Theater kom- 
menden Zuschauer manche Seltsamkeit des Stückes 
und der Darstellung ohne weiteres verständlich *). 

*) Diese meine Beurbeitiing ist erachienen in Ph. 
Reclama Universal-Bibliotliek Band 10 des „Bühtten-Sbake- 
Bpeare". 



Troüua und Creesida 

Die Kostümierung darf natürlich nicht in 
unserem Sinne historisch sein. Zu Shakespeares 
Zeiten kanute man historisch ächte Trachten nur 
in den von Gelehrten inszenierten Festspielen hei 
Hofe , vielleicht auch in den Klosterschulen. Auf 
den öffentlichen Bühnen wurde dagegen immer im 
Kostüme der Zeit gespielt, wobei allerdings auf 
Pracht und Kostbarkeit der Gewänder viel Gewicht 
gelegt wurde. Es wird von fabelhaften Summen 
berichtet, die für einzelne Kostüme der Darsteller 
vornehmer Personen ausgegeben wurden. Aber es 
ist sicher , daß die Griechen und Trojaner in 
„Troilus und Cressida" in der Tracht der ersten 
Regierungszeit König Jakobs, vielleicht auch noch 
in der zu Elisabeths Zeiten beliebten spanischen 
Hoftracht einhergingen und höchstens durch antike 
Embleme (d. h, antik im Sinne der Renaissance), 
als z, B. Helme, Schilde, Panzer, als griechische 
Helden gekennzeichnet waren. Eine weitere Folge- 
rung der ächten Shakespeare-Bühne ist die Dar- 
stellung der Frauenrollen durch Männer, und ich 
habe diese Folgerung bei meiner Aufführung am 
Gärtnerplatz-Theater unerschrocken gezogen, trotz 
des heftigen Widerspruchs, den ich damit bei vielen 
Mitgliedern des Vorstandes der literarischen Ge- 
sellschaft fand. Zwar versteht es sich von selbst, 
daß wir heutzutage schwerlich viele junge Männer 
finden werden , die es in der Darstellung von 




TroiluE und Cceasida 

zarten Madchen gestalten mit den zu Shakespeares 
Zeiten für diese Rollen vorhandenen Kräften auch 
nur einigerniaßen aufnehmen könnten. Damals 
wurden Schauspielerkinder von früh an für diesen 
Zweck geschult, und fast alle später berühmten 
Charakterdarsteller oder Komiker haben in ihren 
Knabenjahren Frauenrolicn gespielt. Ältere Frauen 
wurden allerdings auch von erwachsenen jungen 
Männern dargestellt, denn es wird uns in einem 
Privatbriefe aus jener Zeit berichtet, daß sich ein- 
mal der Beginn einer Vorstellung verzögert habe, 
weil die Primadonna noch nicht rasiert war. Aber 
die Cressida ist sicherlich von einem vierzehnjährigen 
Knaben gespielt worden , wahrscheinlich gar nicht 
übel, sicheriich aber weitaus nicht so gut, wie heute 
diese Rolle von jeder besseren Schauspielerin dar- 
gestellt werden würde. Die weibliche Verkörperung 
gerade dieser Rolle hätte also unter allen Um- 
ständen einen falschen Zug in das kulturhistorische 
Bild, auf dessen Ächtheit es mir in allererster 
Linie ankam , hineingetragen , einen Zug , über 
welchen die Phantasie auch meiner literarisch ge- 
bildeten Zuhörerschaft nicht so leicht hinwegge- 
holfen hätte, als wie über die derben Bewegungen 
und den schlecht verhehlten Baß der Cressida, die 
ich zu bieten vermochte. Mit der Besetzung der 
Helena und der Kassandra habe ich übrigens einen 
Bo glücklichen Gritf getan , daß die Vortäuschung 



Troilus und CresBida 

der Weiblichkeit eine fast vollkommene war. Für 
die öffentliche Darstellung meiner Bearbeitung 
möchte ich aber selbst vorschlagen, zugunsten der 
Wirkung auf die Ächtheit zu verzichten und die 
Frauenrolien ruhig durch Damen darstellen zu 
lassen. Es muß alsdann der Phantasie der Zu- 
schauer zugemutet werden, sich junge JSlftnner unter 
den weiblichen Gewändern zu denken , und sie 
mögen dann im guten Glauben meinetwegen hin- 
nehmen, daß die männlichen Frauendareteller jener 
Zeiten tatsächlich so Vollkommenes geleistet hätten. 
Es ist meine Überzeugung, daß die Knaben, welche 
damals einen großen Kuf als Darsteller zarter 
Mädchenfiguren, wie Julia, Ophelia, Miranda, Per- 
dita usw., genossen, nicht entfernt die Wärme des 
Gefühls und die Lieblichkeit der Erscheinung, wo- 
mit eine gute Schauspielerin solche Figuren aus- 
stattet , vorzutäuschen imstande waren , aber das 
Publikum der Zeit kannte es nicht anders, und 
daher ließ es sich natürlich auch durch eine für 
unsern Geschmack vermutlich höchst mangelhafte 
Darstellung solcher Gestalten überzeugen, rühren 
und begeistern. Es muß unbedingt diesen Dar- 
stellungen der Beigeschmack des Dressierten ebenso 
angehaftet haben, als wie wenn man talentvolle 
Kinder zur Darstellung von Erwachsenen, zum 
Ausdruck von Gefühlen und Leidenschaften ab- 
richtet, die sie nicht haben und nicht begreifen 




roilus tiud Cressida 

können. Es ist überdies anch ganz unzweifelhaft, 
daß selbst die berühmtesten Schauspieler jener 
Zeit, und das waren zumeist Komiker und Charakter- 
spieler, uns keinen allzu großen Respekt abnötigen 
würden. Die Schauspielkunst ist ebenso sicher 
zum Besseren fortgeschritten wie der Geschmack , 
des Publikums. Trotzdem aber dürfen die heutigen 
Darsteller dieser Tragikomödie beileihe nicht etwa 
eine besondere "Wirkung darin suchen, daß sie auf 
dem ächten Shakespeare -Brettl im Stile von 
Schmierenkomödianten deklamieren und agieren; 
denn es ist festzuhalten, daß das damalige Publikum 
seine Schauspieler (wenigstens die Darsteller der 
Hauptrollen), bewundernswert fand und daß es 
doch nur die Absicht der Aufführung sein kann, 
auf ein heutiges Publikum einen Eindruck hervor- 
zubringen, der demjenigen ähnlich ist, den die 
Aufführung vor dreihundert Jahren bewirkte. Es 
müssen also die Darsteller immerhin ihr Bestes 
geben und nur den Stilunterschied zwischen den 
meist derb komischeu Prosa- und den poetischen 
Verspartien starker hervorheben, als wir dieses 
dem heutigen Geschmack nach zu tun pflegen. Die 
Prosa war eine Konzession an das Parterre, das 
einen derben Naturalismus liebte und den Clown 
nicht lange enthehren mochte ; ein Genie wie 
Shakespeare und geborener Realist dazu, vermochte 
freilich gerade diese Reden fürs Parterre zu 



Troilus und Creeeida 



Meisterstücken feiner CharakterisierungskunBt und 
glänzeDfien Witzes zu gestalten. Die gebundene 
Rede dagegen wendete sich an das vornehmere 
Publikum, und das war noch stark befangen in 
dem unter gelehrtem Einfluß stehenden Kunst- 
geschmack, der eine Überladung an Prunk der 
Sprache forderte, die gewiß auch den entsprechenden 
pathetischen Deklamationston in der Darstellung 
bedingt bat. 

Es ist ganz selbstverständlich, daß durch das 
häutige plötzliche Wechseln zwischen dem hohen 
rhetorischen und dem derben naturalistischen Stil, 
durch das Kostüm und die primitive Szenerie die 
komischen Wirkungen des Stückes viel stärker 
herausgehoben werden als die ernsten, und zwar 
gerade bei einer guten stilgerechten Darstellung, 
Auch meiner im allgemeinen wohl gelungenen Auf- 
führung hat fast die gesamte Kritik, in dem Be- 
streben recht gelehrt und Shakespeare-reif zu er- 
scheinen, vorgeworfen, daß ich das edle Werk in 
eine Burleske verwandelt hätte. Das ist aber 
keineswegs meine Absicht gewesen; und wenn wirk- 
lich einige vom Dichter ernstgemeinte Szenen mit 
Lachen begleitet wurden, so lag das nicht an 
meiner verkehrten Absicht, sondern an den ab- 
sonderlichen Bedingungen der Darstellung. Irgend- 
eine der großen Tragödien Shakespeares in diesem 
historischen Stile, selbst von hervorragenden Schau- 



Troiliu tun 




Spielern dargestellt, würde entschieden erstaunlich 
viel Komik zutage fördern. Damm wird auch 
jeder vernünftige Theaterleiter diesen Werken mit 
der Hebten Shakespeare-Buhne vom Leibe bleiben. 
Das Wesen der Tragikomödie . als welche ich 
„Troilus und Cressida" auffassen zu dürfen glaube, 
verträgt jedoch sehr wohl auch eine unfreiwillige 
Komik, und gerade darum bin ich der Meinung, 
daß dieses seltsame Stück für die heutige Bühne 
nur durch den Kuriositätsreiz einer historischen 
Darstellungsart gerettet werden könne. 



Rus 

Richard Wagners Liebesleben 

(1895) 



i 



Aus lUchard Wagoera Liebegleben i£^<'''<£.>*^NSrf'f^ 



n 



Mit derselben neidischen Lüsternheit, mit der 
der Proletarier in den schnödesten Machwerken der 
Hintertreppen - Literatur sieh seine Wissenschaft 
über das intime Leben der reichen und vornehmen 
Welt erholt, um dann über deren allgemeine sitt- 
liche Verworfenheit angenehm beruhigt zu sein, 
mit derselben neidischen Lüsternheit stochert der 
Philister in allen Abwässern des Zeitungs- und 
Lakaienklatsches herum, um aus den aufgefischten 
Abfällen sich die Menschlichkeit der großen 
Geister scharfsinnig zu rekonstruieren, leb weiß 
nicht, ob unter anderen Rassen das Wort „Genie" 
und „genial" auch wie bei uns den gewissen ver- 
ilchtliehen Beigeschmack besitzt; der deutsche 
Philister wenigstens, das ist sicher, verbindet da- 
mit die Vorstellung von sittlicher Minderwertigkeit 
und mehr oder minder erheblich gestörter Zu- 
rechnungsfähigkeit. Genial heißt auf deutsch un- 
gefähr 80 viel als: halbverrückt, zerfahren, ver- 
lottert, unfähig zum soliden Haushalten mit dem 



Adb Btchard Wagners Liebeeleben 

Erworbenen, gänzlich abgeneigt, Schulden zu be- 
zahlen , dagegen stets geneigt, rücksichtlos die j 
Rechte anderer mit Fügen zu treten und, besonders i 
in erotischer Beziehung, den Jagdfrevel zum Lieb- | 
lingssport zu machen. Ja , wenn der biedere ] 
Philister sich damit begnügen wollte, diese seine I 
Umdeutung des Begriffes „genial" kleinen Gerne- ' 
großen mit lächerlieh herausforderndem Gebaren 
anzuhängen , so wUrde man ihm den Spaß gern 
gönnen; aber er läßt leider auch die wirklich 
Großen nicht ungeschoren, sondern an denen sein ' 
Mütchen zu kühlen , reizt ihn vielmehr über alle [ 
Maßen. Man hat ihn in der Schule gelehrt, daß ' 
es wahre geistige Größe ohne wahre Sittlichkeit 
nicht geben könne — und da er sich mit einer 
unvorsichtigen Kritik geistiger Leistungen in ge- 
bildeten Kreisen leicht lächerlich machen kann, so 
hält er sich mit seiner Verkleinerungssucht an das 
sittliche Gebiet. Denn was sittlich ist, weiß ja 
jeder: nicht mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt 
komnien und kein unangenehmes Aufsehen erregen 
durch ungewöhnliche Handlungen im Bezirke des ' 
Familienlebens. Sich mit dem Philister auf eine 
Auseinandersetzung Ober den Begriff des Sittlichen 
einlassen zu wollen, wäre Torheit; denn wenn er 
imstande wäre, diesen Begriff so zu fassen, wie 
der freie Mensch, der sich das Recht zur sittlichen 
Selbstbestimmung in ernster Denkarbeit aus reinem ' 



Aus Richard Wagners Liebe alebeu 

Willen heraus erworben hat, so wäre er ja eben 
kein Philister. 

Kaum eines der wirklichen Genies der Neuzeit 
hat den Philister so sehr geärgert wie Richard 
Wagner. Die früheren Genies hatten ja ein viel 
kleineres Publikum als die heutigen, die sich einer 
ungeheuren gebildeten Masse gegenübersehen. Galilei 
und Giordano Bruno zum Beispiel hatten ihre Sache 
mit dem Klerus allein auszufechten, und selbst noch 
die drei Wiener Musikgenies vom Ausgang des 
18. und Anfang des 19, Jahrhunderts, Mozart, 
Beethoven, Schubert, hatten es nur mit der 
Koliegenschaft und lokalen Koterien zu tun. Wagner 
dagegen geriet als der erste schöpferische Ktlnstler 
großen Stils in die Epoche der Eisenbahnen, Te- 
legraphen und der Preßfreiheit hinein, in die Zeit 
also, in der jede Neuigkeit und alle Weisheit der 
Welt für 20 Gutegroschen monatlich jedem Menschen, 
der lesen konnte, zur Verfügung stand, und in der 
folglich zum ersten Male in der Weltgeschichte 
die große Herde mitzureden begann. Was Wunder, 
daß der Mann, der sich von jeher jeglicher Be- 
.teiligung an den Festfreuden dieser Herde fern- 
gehalten hatt«, und von dem Worte stolzer Ver- 
achtung solcher Freuden bekannt geworden waren, 
dieser Herde, d. h. in diesem Falle dem großen 
Publikum, das Zeitungen liest und Theater besucht, 
in innerster Seele zuwider sein mußte. 




s itichard Wagners Liebeelebeii 

Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie man in 
den Secbzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts 
und sogar noch weit in die Siebziger hinein, auch 
nach dem Ereignis von Baireuth noch, in diesem 
großen Publikum der Persönlichkeit Wagners gegen- 
überstand. Von seinen Werken waren nur „Der 
fliegende Holländer", „Tannhäuser" und „Lohengrin" 
bekannt. An einigen Orten, künstlerischen Haupt- 
städten, wo gute Aufführungen erlebt worden waren, 
fingen diese Werke eben erst an, in gutem Sinne 
populär zu werden, indem die unvoreingenommene 
gebildete Jugend sich dafür zu erwärmen begann. 
Aber es waren doch immer nur einige wenige 
Enthusiasten, die durch dick und dünn mitzugehen 
sich getrauten und in gläubiger Inbrunst auf die 
neuen Offenbarungen des Genius warteten ; alle die 
anderen, mochten sie gleich vor der unmittelbaren 
Wirkung des lebendigen Kunstwerkes, besonders in 
den Leistungen hervorragender Darsteller überwältigt 
sein, hielten sich hämisch vergnügt oder auch ängstlich 
an die kritischen Autoritäten, die dazumal Wagners 
Orchester für lärmend, seine Harmonik für aus- 
schweifend und überladen, seine Melodik für schwer- 
fällig und formlos, seine Anforderungen an die 
Stimme für unsinnig und verderblich erklärten. 
Und hinter diesen paar Werken stand eine mensch- 
liche Persönlichkeit, von deren Tun und Treiben, 
Wollen und Vollbringen die seltsamsten Nachrichten 



L 



Aus Richard Wagners Lieheslebcn 

in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Der Mann, 
der in Paris sich elend durchgehungert hatte und doch 
erster Kapellmeister am Dresdener Hoftheater ge- 
worden war, hatte sich in scheußlicher Undank- 
barkeit gegen die Monarchie verschworen, als An- 
führer an den Barrikadenkämpfen von 48 teil- 
genommen, dann lange Jahre in der Schweiz, Italien, 
Paris und London gelebt, jedenfalls von fremdem 
Gelde, das er ohne Gegenleistungen skrupellos ein- 
strich, um sich dafür in Samt und Seide, und 
zwar in einem keineswegs mehr normalen Geschmack 
zu kleiden. 

Anstatt vernunftige Opern zu schreiben, im 
Stile derer, die doch tatsächlich schon so schöne 
Erfolge errungen hatten und auch ein schönes 
Geld einbrachten, schimpfte er auf anerkannte Be- 
rühmtheiten, wie Meyerbeer und Mendelssohn, auf 
die verrotteten, elenden Theaterzustände und ließ 
diese Schimpfereien sogar gedruckt erscheinen. 
Von Zeit zu Zeit tauchte er im Ausland als Konzert- 
dirjgent auf, ließ sich die lärmenden Ovationen 
überspannter Jünglinge und großer Damen mit 
hochmütiger Herablassung gefallen, verschwand 
aber immer wieder, anstatt die günstige Konjunktur 
vernünftig auszunutzen und seine Lebenshaltung 
auf eine solide Grundlage zu stellen, in die mysteriöse 
Einsamkeit seiner mit raffiniertem Luxus ausge- 
statteten Asyle, um Werke zu schaffen, die nach 



AuB Richard Wagiiere LiebeBlcben | 

dem Urteil wirklicher Sachkenuer, staatlich appro- 
bierter Professoren, Hoftheater - InteDdanten und 
dergleichen, geradezu unsinnig waren, nur auB 
Dissonanzen und wüster Chromatik mit ängstlicher 
Vermeidung jeglicher Melodie bestehend, für die 
Instrumente fast und für die menschlichen Stimmen 
ganz unausführbar. So sagten die Sachverständigen. 
Und dann erfuhr man auch schaudernd, daß dieser 
offenbar dem Größenwahn verfallene Musiker seine 
treue Gattin, die alles Elend mit ihm geteilt, ver- 
stoßen habe, und man muukelte, daß er auf Kosten 
des Gatten seiner Geliebten sein luxuriöses Leben 
führe. Endlich, nachdem ihm durch das Wohl- 
wollen Napoleons III. und auf Betreiben der Fürstin 
Metternich eine großartige Aufführung des , Tann- 
häuser" in Paris ermöglicht worden, die aber ebenso 
glanzvoll durchfiel, wie sie inszeniert war, hatte 
dieser überspannte Mensch noch das unerhörte 
Glück, daß der jugeudliehe König von Bayern in 
schwärmerischer Begeisterung für seine Musik ihn 
als Gast in seine Residenz einlud, ihm alles ge- 
währte, was seine ausschweifende Phantasie forderte, 
und ihm dadurch eine Machtstellung verschaffte, 
wie sie vor ihm kaum jemals ein Künstler besessen 
hatte. Kein Wunder, daß der Mensch, der die 
aufpeitschend sinnliche Musik des Venusbergs, der 
Tristan und Isolde geschrieben hatte, nun auch 
auf der Höhe seines Glückes in frevelndem Über- 



mut sich vollends über Sitte und Ehre hinwegsetzto 
und einem seiner trenesten Freunde und eifrigsten 
Vorkämpfer einfach die Frau wegnahm, weil die 
ihm für seine damaligen Bedürfnisse just die richtige 
Gattin dünkte. 

So ungeföhr stellte sich Riebard Wagner als 
Künstler und Mensch in den Augen des großen 
Publikums zwischen 1850 und 1876 dar. Der un- 
geahnte Erfolg des Bayreuther Unternehmens machte 
es eigentlich erst dein deutschen Herdenmenschen 
klar, daß es in diesem überspannten Musiker in 
der Tat den größten künstlerischen Genius des 
Jahrhunderts besitze, und es schmeichelte der pa- 
triotischen Eitelkeit, daß alle Kultumationen diesem 
deutschen Opernkomponisten huldigten. Inzwischen 
waren ja auch die späteren Tondramen des Meisters 
„Der Ring", „Tristan" und „Die Meistersinger" 
trotz ihrer angeblichen Verrücktheit und Unauf- 
führbarkeit Repertoirestücke aller großen Bühnen ge- 
worden und hatten sich nicht nur die Begeisterung der 
Auserwählten, sondern auch die scheue Hochachtung 
des großen Haufens zu erzwingen begonnen — 
aber noch immer verharrte der biedere deutsche 
Philister hartnäckig bei seiner vorgefaßten Meinung, 
daß man zwischen dem Künstler und dem Menschen 
Richard Wagner vorsichtig unterscheiden müsse. 
Die Genialität wurde seihst von den musikalisch 
Rückständigen zugegeben, eine gewisse verrückte 



Aus Ricliard Wiignere Liebealeben 

Abnormität als pikante BegleiterBcheinung 
Genies lächelnd geduldet, aber die sittliche Minder- 
wertigkeit immer noch als eine leider Gottes fest- 
stehende traurige Tatsache beseufzt. An diesem 
Zustand der öffentlichen Meinung änderte auch das 
Erscheinen der vortrefflichen Glasenappschen und 
später der Chnmberlainschen Biographie nichts; 
denn diese wurden doch fast ausschließlich von 
Leuten gelesen, die ohnedies schon unbedingte 
Wagner-Freunde waren, und die anderen, die sie 
in die Hand bekamen, zuckten nur die Achseln 
über diese Mohrenwäsche der Enthusiasten. Wie 
oft mag den wirklich Eingeweihten, den Vertrauten 
Wagners aus seinen Lebzeiten, den Auserwähtten, 
die imstande sind, sich in das Seelenleben eines 
Äusnahmsraenschen hinein zu versetzen, schmerz- 
licher Ingrimm das Herz beklemmt haben, wenn 
sie all ihre LiehesmUh' um die Verteidigung des 
Menschen Wagner an dem Starrsinn der Herden- 
menschen abprallen sehen mußten. Alles Schreiben 
und Reden half nichts : Wagner war und blieb der 
rücksichtslose Egoist, der kaltblütig über Leichen 
schritt, der Ehebrecher und Frauenräuber. 

Nun endlich, zwölf Jahre nach seinem Tode, 
übernimmt der Meister selbst seine Verteidigung 
in einer Weise, der kein denkender Mensch wider- 
stehen kann, und die schließlich auch wohl die 
Überzahl der nichtdenkenden Menschen allmählich 



Aus Kichard Wagners Liebesleben iS,'^N&riCS£.,<CV^ 

dazu zwingen wird, ihren Irrtum einzusehen und 
kommenden Geschlechtern ihren Wagner nicht nur 
als den größten Musiker seiner Zeit, sondern auch 
als einen in sittlicher Beziehung vorbildlichen Äus- 
nahmsmenschen zu überliefern. Von Professor Dr. 
Wolfgang Golther in Rostock im Mai d. J. heraus- 
gegeben, erschien im Verlage von Alexander Duucker 
in Berlin und liegt bereits in zehnter Auflage vor 
das Buch „Eichard Wagner an Mathilde 
Weaendonk". Tagebuchblfttter und Briefe 1853 
bis 1871. Dieses Werk nimmt nicht nur unter 
den bisher erschienenen Sammlungen Wagnerscher 
Briefe den ersten Bang ein, sondern gehört über- 
haupt zu den allerherrlichsten Offenbarungen einer 
edlen Menschen- und großen Künstlerseele, die die 
Menschheit besitzt. Es stellt auch den ersten 
sicheren Wegweiser durch das bisher der Allgemein- 
heit unbekannte Liebesleben Richard Wagners dar 
und ermöglicht es dem nachempfindenden Künstler 
und Psychologen, sich Wagners Stellung zum Weibe 
mit ziemlicher Sicherheit rück- und vorschauend 
klarzumachen. Die feinfühlige Frau, der Wagners 
leidenschaftlichste und zugleich edelste Liebe ge- 
golten, hat der Nachwelt einen unschätzbaren Dienst 
erwiesen, als sie die an sie gerichteten wundervollen 
Briefe des Meisters nicht, wie dieser wünschte, 
vernichtete, sondern zur Veröffentlichung nach 
ihrem Tode bestimmte, ich betrachte es selbst- 



j(t,,^'''9s3''7»v3'9 Aus Richard Wagners Liebealebea 

verständlich nicht als meine Aufgabe, an dieser 
Stelle eine kritische Anzeige des bedeutungsvollen 
Buches zu gehen, ich will lediglich versuchen, von 
dem durch diese Briefe neu gewonnenen Stand- 
punkte aus das Liehealeben Wagners zu beleuchten; 
»ich will nicht durch Auszüge einem bequemen 
Leser das Studium des Werkes selbst ersparen, 
sondern vielmehr dessen Kenntnisnahme jedem zur 
Pflicht machen, der sich für das Thema ernstlich 
interessiert. 

Man weiß, daß Wagner kein Wunderkind war; 
er hat sich normal und für einen Musiker sogar 
ziemlich langsam entwickelt, indem er sich zunächst 
80 stark wie nur irgendein mittelmäßiger Epigone 
an berühmte Vorbilder anlehnte. Wagner als 
jungen Kapellmeistor in Magdeburg und Riga, der 
mit jugendlichem Leichtsinn ein äußerst pikantes 
Sujet („Das Liebesverbot" nach Shakespeares „Maß 
für Maß") dichtete und komponierte und im Hand- 
umdrehen unter den unmöglichen Bedingungen 
eines schmierenhaften Tbeaterbetriebes auch zur 
Aufführung brachte, kann ich mir nicht anders 
vorstellen als wie einen der jungen temperament- 
vollen Draufgänger, wie sie immer beim Theater 
vorhanden waren und vorhanden sein werden. Die 
unbeugsame Energie und das acht genialische, fast 
übergangslose Pendel schwingen der Seele vom 
Himmelhochjauchzen zur Todesbetrübtheit, die sich 



Aus Eicliard Wagners Liebesleben %.«<SN£,,,^ni£,^,sn^ 

durch das ganze Leben des Mannes als charak- 
teristische Merkmale abheben, setzen unbedingt 
bei dem Jüngling starke erotische Bedürfnisse neben 
viel himmelstürmender Schwärmerei voraus. Wagner 
wird sich in seiner Magdeburger und Rigaer Zeit 
weidlich ausgelebt und der Tollsten einer gewesen 
sein. Aber sein Idealismus konnte in dieser im 
Theaterleben so billigen und flüchtigen „Liebe" 
keine Befriedigung finden ; zum Unterschiede von 
den normalen Weltkindem , den gedankenlosen 
Realisten und Egoisten, die ihres Daseins Sinn im 
Glenuß finden, wird ihm schon damals der Genuß 
nichts, die Illusion alles gewesen sein. Und dieser 
junge Feuerkopf verheiratet sich bereits in seiner 
zweiten Stellung in Magdeburg mit dem ersten 
besten netten Mädchen vom Theater. Ohne Sub- 
sistenzmittel, ohne irgendwelche sicheren Aussichten 
für die Zukunft — rührend blöd wie nur irgend- 
ein blondgelockter, gottvertrauender Kandidat der 
Theologie. Die krasse Torheit dieser Jugendeselei 
beweist uns, daß Wagner trotz seines tollen Tem- 
peramentes damals ein grundehrlicher Bursehe von 
zartem Gewissen und naiver Güte, nicht nur dummer 
Gutmütigkeit gewesen sein muß. Einem Theater- 
Kapellmeister mit einigermaßen imposanter Per- 
sönlichkeit — und die wird dem jungen Wagner, 
trotz seiner kleinen Figur und des starken Sächseins, 
sein Temperament und seine berufliche Tüchtigkeit 



e.."«^ 145 ^H 



I 



Aus Richard Wagners Liebesleben 

verliehen haben — wird ja beim Theater eine an- 
mutige Liebelei so bequem gemacht wie sonst 
nirgends; es ist daher wohl anzunehmen, daß die 
kleine Minna Planer für ihn nicht so leicht zu 
haben gewesen war wie andere vor ihr, und daß 
sie ihn durch vertrauensvolle Hingabe, unter Aus- 
schluß jeder frivolen Berechnung, gerührt habe. Er 
mußte wohl in Minna Planer ein Mädchen sehen, 
das er wirklieh unglücklich machen konnte, wenn 
er es sitzen ließ und darum fühlte er sich in seinem 
Gewissen verpflichtet, sie zu heiraten — das ist 
reiner jugendlicher Idealismus. Das Unglück von 
hundert Minna Planers wiegt aber nicht das Leiden 
eines einzigen ganz großen Schaffenden auf. Doch 
das konnte Wagner damals nicht wissen, daß er so 
ein großer Einziger sein würde; er war einfach 
ein talentvoller junger Mann mit einem sittlichen 
Kern, und er handelte dementsprechend : töricht 
aber anständig. Und aus dieser anständigen Tor- 
heit sollte ihm die Tragödie seines Lebens erwachsen. 
Wagner nahm seine junge Frau von Riga mit 
nach Paris. Was konnte ihm Minna Planer in 
Paris bedeuten? Sie konnte ihm hungern helfen 
und ihn vor den Verlockungen des Sünden-Babels 
behüten. Nun, den letzteren Zweck hätte dem 
jungen Draufgänger wohl allein schon seine Armut 
erfüllt , denn die Sünde ist kostspielig in Paris, 
wenigstens für einen hinterwäldlerisch angezogenen. 




eckigen jungen Mann mit schlechten Manieren, der 
außerdem so gut wie gar nicht Französisch sprechen 
kann. Aber daß Minna Wagnern hungern half 
und getreulich in seiner Dürftigkeit mit aushielt, 
ohne ihm davonzulaufen, das wird ihr von senti- 
mentalen Gemütern hoch angerechnet und für den 
Mann daraus die Verpflichtung abgeleitet, sein 
Leben lang der Frau solche Guttat nicht zu ver- 
gessen- Wenn wir aber die Sentimentalität bei- 
seite lassen und die Frage ein wenig anders stellen, 
so sieht auch die Antwort sehr anders aus. Was 
soll so eine Minna, solch ein Nichts, an der Seite 
eines um hohe Ideale hart ringenden Mannes anders 
tun als willenlos und ergebungsvoll (wenn auch 
sicherlich nicht klaglos) sein Schicksal mit ihm 
teilen? Die Versuchung zur Untreue ist schwerlich 
jemals an Minna Wagner herangetreten, denn sie 
hat weder, außer ihrer Jugend, körperliche Reize, 
noch Geist, noch Temperament besessen; und sich 
auf eigene FüSe zu stellen, war ihr ganz unmöglich, 
denn sie besaß weder Energie noch irgendwelches 
Talent dazu, sich in der Welt durchzusetzen; sie 
war mit einem Wort keine Persönlichkeit, sondern 
eben nur ein Lebewesen weiblichen Geschlechts, 
dem es, wie allen ihresgleichen, von vornherein 
Bestimmung war, geschoben, geschoben und ver- 
braucht zu werden. 

Es ist wunderlich, daß solche weiblichen Nichtse 



verhältnismäßig häutig von Künstlern, zumal von 
Dichtern in der kurzen TraumblUte ihrer lilien- 
haften Jugend entdeckt, verhimmelt uod — ge- ' 
heiratet werden. Monatsengel möchte ich diese 
unheimlichen Wesen nennen, denn sie sind einmal 
vier Wochen lang hübsch, vielleicht sogar schön 
gewesen als junge Mädchen, und in dieser Zeit hat ; 
ihnen der Zufall so einen Phantasten in den Weg J 
gefuhrt, der ihnen Flügel andichtete und sie zum I 
Engel ernannte, Ihr weiblicher Instinkt gibt ihnen J 
meist das richtige Verhalten gegen ihre Anbeter ] 
ein; sie sind kühl und stumm wie die Fischlein 1 
im See und beschränken sich darauf, im Wasser ) 
ihre Unbedeutendheit nur sacht zu plätschern und 
ihre bunten Schuppen in der Sonne glitzern zu 
lassen. Da Künstler, und Dichter in Sonderheit, ' 
bekanntlich erheblich dümmer sind als alle übrigen I 
Männer, sobald die vernünftigen Forderungen des | 
praktischen Lebens in Frage kommen, und da ferner 1 
mit dieser Art von Dummheit auch die treuherzige 
Ehrlichkeit in gleichem Verhältnis sieh steigert, 
bis zum sittlichen Fanatismus zuweilen, so werden 
diese Monatsengel von ihnen geheiratet — oft sogar, 
nachdem ihr Monat schon längst vorbei ist! Es { 
gibt Mädchen genug, die das Zeug zu ächten ; 
Künstlergattinnen in sich haben, bewegliehen, ent- 
wicklungsfähigen Geistes, voll Temperament und 
köstlichen Leichtsinns, phantasiebegabt und dabei 



Aus Richard Wagners LiebeBlebeti JÄ,/^^ 

docli in praktischen Dingen rasch zugreifend und 
instinktiv das Richtige treffend. Solche Weiber 
sind Persönlichkeiten, d. h. sie bedeuten für sich 
selbst etwas; dem Manne, den sie verstehen und 
den sie lieben, sind sie wertvolle Mitkämpferinnen; 
sie können auch treu ausharren und dulden, aber nicht 
jammernd mit den Händen im Schoß, sondern 
indem sie den Gatten ihrer Wahl durch ihren Leieht- 
Binn aufheitern, durch ihre gesunde Zuversicht seine 
Widerstandskraft stärken, indem sie ihm den Ausweg 
aus der Bedrängnis suchen helfen oder womöglich gar 
sich mit eigener Kraft eine Bresche ins Freie schlagen. 
Aber seltsamerweise werden diese einzig möglichen 
Mädchen gerade von denen, für die sie vorbestimmt 
erscheinen, nicht geheiratet. Der Idealismus dieser 
Mädchen treibt sie, sich dem Manne, den sie lieben, 
ohne langes Bedenken hinzugeben, und darum — 
hat man nur ein Verhältnis mit ihnen! 

Ich kenne zahlreiche solcher Künstlerehen, in 
denen ein Monatsengel einem hochstrebenden Manne 
für sein ganzes Leben zum Verhängnis geworden 
ist. Alle diese Ehen sehen sich zum Verwechseln 
ähnlich: der geist- und temperamentlose Engel 
verblüht weit rascher als jede andere hübsche 
Jugend, und eine Aufwärtsentwicklung ist bei dieser 
Sorte Frauen ausgeschlossen — im Gegenteil : je älter 
sie werden, desto aufdringlicher machen sich die 
besonderen Anschauungen, die Manieren und die 



Aus ttichitrd Wagners Liebestsben 

Redeweise der Kreise, denen sie entstammen, be- 
merkbar. Die einzige geistige Entwickelung, die 

sie durchmachen, pflegt im Nachschwätzen einiger 
gebildeter ßeciensarten zu bestehen, die sie in 
ewiger Wiederholung zur Verzweiflung des Gatten 
bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit 
vorbringen; denken und urteilen lernen sie natür- 
lich niemals, und die geistigen und sittlichen Qua- 
litäten ihres Gatten vermögen sie nicht anders 
abzuschätzen, als nach dem Verdienst, den er heim- 
bringt, und nach den äußeren Ehren, die ihm 
die Welt zuteil werden läßt. Gegen die Not 
wissen sie sich nur durch Jammern und Wehklagen 
zu wehren, in Glanz und Wohlleben aber versagen 
sie noch kläglicher, denn sie haben kein Stilgefühl 
und Anpassungsvermögen; sie machen sich durch 
Geschmacklosigkeiten lächerlich und hindern da- 
durch den Manu, sich frei und fröhlich in der Ge- 
sellschaft zu bewegen, die ihm gebtlhrt. Sie haben 
dem Manne absolut nichts zu geben, verlangen aber : 
als selbstverständliche Gegenleistung seine stille ' 
Duldung all ihrer Schwächen und Torheiten, seine I 
unverbrüchliche Treue und schließlieh gar volle < 
Teilnahme an seiner gesellschaftlichen Ehrenstellung. 
Zufrieden ist diese Art Frauen nie, weil sie nicht i 
den Humor besitzt, die kleinen Widerwärtigkeiten ' 
und großen UnvollkoramenheitendesDaaeinslächelnd I 
hinzunehmen — und eifersüchtig ist sie immer. 



Aus Richard Wagoms Liebesleben <&><N£>4N£,.<n^ 

diese Art! Ganz natürlich, denn sie weiß wohl, 
daß das, was sie ihrer ehelichen Pflicht genügen 
nennt, mit den Entzückungen, denen die Quellen 
aller höchsten Kunst entspringen, nicht identisch 
sein kann. Darum haBt sie jedes intelligente und 
einigermaßen ansehnliche Weib, das in ihres Gatten 
Nähe kommt, und verfolgt diesen mit unablässigem 
Verdacht, mit Spionage und unbegründeten Tränen 
oder Wutausbrüchen, 

Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß 
Wagnern die ungeheure Torheit seiner Heirat sehr 
bald klar wurde. Er schaffte sich in Paris einen 
Hund an — der mußte ihn trösten über die trost- 
lose Öde seiner Ehe. Für einen Mann von trotziger 
Eigenart ist ein guter Hund immer eine bessere 
Gesellschaft als die meisten Menschen. Aber der 
Hund starb ihm, und er blieb mit seiner Minna in 
Paris allein! Furchtbares Schicksal! Tapfer aß 
er die Suppe aus, die er sich eingebrockt hatte, 
er duldete seine Minna weiter, er begegnete ihr 
mit Güte und Nachsicht, er mühte sich in schmach- 
voller Arbeit ab, um sie mit zu ernähren. Und 
dann kamen endlich die besseren Zeiten — Minna 
wurde Frau Hofkapellmeister in Dresden, Rienzl, 
Holländer, Tannhäuser wurden aufgeführt. Wagner 
war eine Berühmtheit geworden und Minna an 
seiner Seite vielleicht einigermaßen zufrieden — 
ich weiß es nicht. Es ist möglich, aber nicht sehr 



Ans Bich&rd Wagners Liebesleben 

wahrscheinlich, denn sie wird in dieser Zeit, als 
die „Gesellßchaft" den erfolgreichen Künstler 
schmeichelnd umdrängte, als er mit hinreißenden 
Frauen, wie der dämonischen Sängerin SchrÖder- 
Devrient, mit niedlichen Pagen und Ballettratten täg- 
lich zu verkehren hatte, Qualen der Eifersucht er- 
duldet und ihn gewiß nicht damit verschont haben. 
Die Frage, ob dieser Verkehr für Wagner eine Ver- 
suchung bedeutet habe, ob er seiner Gattin treu 
gewesen sei, ist für die Beurteilung des Menschen 
Wagner ziemlich belanglos, denn sein inneres Wesen 
hätte ein rasches Erraffen leicht gebotener Genüsse 
Bchon damals nicht mehr berühren können. Wohl war 
er allen praktischen Fragen gegenüber noch weit- 
unklug wie ein Kind, aber innerlieh, d. h, als 
Künstler wie als sittlicher Mensch, war er durch 
die Pariser Leidenszeit bereits reif geworden. 

Er war schon damals der große herbe Pathetiker, 
dem alle Schaffenskraft aus dem Leiden quoil ; das 
bloß anmutig Erfreuliche, das Spielerische hatte 
für ihn als Künstler bereits Wert und Bedeutung 
■verloren. Es ist doch wohl anzunehmen, daß bei 
einem Manne, bei dem Künstlerisches und Mensch- 
liches so völlig eins waren, sich diese Verachtung 
des bedeutungslos Anmutigen, des leichten Sinnen- 
reizes auch in seiner Bewertung des Erotischen 
geltend gemacht habe, Wagner war niemals ein 
Damenmann oder gar ein Salonmensch. Wohl 



Aus Richard Wagners Liebeslebeu 4,>>^N£,<ii^N£,,r4*y0 

besaß er Witz, Humor und eine glänzende Unter- 
haltuagsgabe, aber nur, wenn er unter seinesgleichen 
war, vor einem Publikum zum mindesten, das gut 
zuzuhören verstand und ihn nicht durch albernes 
Hitreden und Besserwissenwollen erboste. Aber 
Flirten, Kokettieren, Zumundereden, das war ihm 
unmöglich, dem Manne, der alle Dinge toternst 
nahm die ihm nahe gingen, und die Übrigen mit 
souveräner Verachtung oder mit überlegenem Humor 
behandelte. Solche Männer sind für die kleinen 
Mädchen vom Theater unheimlich und für die ge- 
wöhnlichen Damen der Gesellschaft unmöglich. 
Wohl wäre Wagner schon damals für die große 
Leidenschaft reif gewesen — aber wir wissen nichts 
davon, daß ihm zu der Zeit eine Frau von Be- 
deutung begegnet wäre. Über die Periode der 
leichtsinnigen Verhältnisse war er längst hinaus. 
Und nun kam daa Sturmjahr 1848, Daß 
Wagner mit in den Strudel des allgemeinen Freiheits- 
taumels hineingerissen wurde, war eigentlich selbst- 
verständlich, obwohl er damals kein unklar schwär- 
mender Jüngling mehr war. Es ist sehr wohl 
denkbar, daß eine kluge, künstlerisch veranlagte 
Frau ihn vor der Torheit, selbst mit auf die 
Straße zu gehen und sich an den Krawallen zu 
beteiligen, hätte zurückhalten können. Seine Minna 
wird ihn sicherlich auch mit allen ihr zu Gebote 
stebendeo Mitteln davon abzuhalten versucht haben, 



Aua Riebard Wagners Liebesleben 

aber diese Mittel waren eben nur geeignet, Öl 
ins Feuer zu gießen. Wenn in solchen Momenten 

hochaufwogender nationaler Begeisterung eine be- 
schränkte Frau den bedeutenden Mann durch kleine 
Nützlichkeitserwägungen, Jammern über entgehende 
Vorteile und kindische Angst davon abzuhalten 
sucht, die gemeinsame Gefahr mit den ehrlichsten 
und besten der denkenden Volksgenossen zu teilen, 
so muß sie das Gegenteil erzielen. Für Wagner, 
den Künstler erhabenen Stiles, war es eben so 
selbstverständlich , daß er von Gesinnung einge- 
fleischter Aristokrat, wie, daß er in der Feierstunde, 
als endlich aufflammende Begeisterung den ge- 
knebelten Deutschen zu einer wütenden Kraft- 
anstrengung aufstachelte, an der Seite der Freiheits- 
kämpfer zu finden sein mußte. Der ächte Künstler 
wird immer da zu linden sein, wo ächte Begeisterung 
aufloht — schon deshalb, weil ächte Begeisterung 
Schönheit ist. So ist es denn keineswegs ver- 
wunderlich, daß es den Heldenanbeter und Indivi- 
dualisten Wagner, obwohl er des Königs Brot aß, 
nicht im Hause litt, als draußen auf der Gasse das 
Volk aufstand, um gegen diesen König als einen 
Vertreter des damals allgemeinen Systems der 
Unterdrückung geistiger Freiheit zu demonstrieren. 
Was kümmerte es ihn, ob vielleicht später, wenn 
die Republik erklärt war, statt des vielleicht 
bornierten Einzelnen die sicher bornierte Mehrheit 



1 



r 



Aus Eichard \Vagnera Liebeslebei 

die Macht in die Hand bekam? Vorläufig war eine 
schöne Begeisterung und eine Möglichkeit vorhanden, 
ein Joch abzuschütteln, au dem er seufzend mit- 
getragen hatte. Also mußte er dabei sein. Der 
Aufstand wurde unterdrückt und der Steckbrief gegen 
den ehemaligen Königlichen Hofkapellmeister er- 
lassen. Er mußte fliehen. 

Nun kam die Zeit des Exils — fünfzehn lange 
Jahre der Verbannung aus dem Vaterlande, des 
härtesten Kampfes nm die Existenz während der 
Arbeit an künstlerischen Riesenwerken, deren ma- 
terielle Verwertung, ja deren Aufführbarkeit über- 
haupt unter den bestehenden Verhältnissen fast als 
unmöglich erscheinen mußte. Aus dieser Zeit des 
Exils besitzen wir in zwei Bänden den Briefwechsel 
Wagners mit Liszt. Von Wagners Seite ein un- 
ablässiges, bald dumpf resigniertes, bald wild sich 
aufbäumendes Klagen über seine materielle Be- 
drängnis — von Liszts Seite ein unendlich gedul- 
diges, liebevolles Trösten, unablässiges Bemühen 
zu helfen im kleinen wie im großen. Wirklich, 
es könnte einem oft in diesen Briefen von selten 
Wagners des Jammerns und Wehklagens zuviel 
werden; es will einen oft verstimmen, daß er alle 
materiellen Sorgen auf die Schultern des welt- 
gewandten Freundes zu wälzen sucht, der i 
weder ein Krösus noch ein Finanzgenie war. 
ärgert einen, daß in diesem Briefwechsel so häufig 




1J^vS'''^«»5'''&vS>'^ Aus Richard Wngners Liebesleben 

den wundervoll klaren Erörterungen bedeutendster 
Gegenstände geradezu kindische Vorschläge zu 
Pumpversuchen und lächerlich unmögliche Pläne 
zu phantastischen Finanzoperationen sich hnden. 
Liszt verschafft Wagnern mit großer Mühe einen 
Verleger, der bereit ist, einen anständigen Vorschuß 
auf ein schwer verkäufliches Werk zu zahlen — 
Wagner stößt diesen Verleger vor den Kopf 
und macht seinem Herzen gegen den schnöden 
Schacher in kräftigsten Ausdrucken Luft; oder 
Liszt vermittelt dem Freunde eine Reihe von 
Konzerten in London, Paris und anderswo, die ihm 
ein anständiges Stück Geld einbringen — Wagner 
tobt in seinen Briefen über die Schmach, der er 
preisgegeben werde, trotz der rauschenden Ovationen, 
die ihn überall umbrausen, wo er den Dirigenten- 
stab schwingt. Er hat kein irgendwie berechen- 
bares Einkommen : hie und da mal 20 Dukaten 
Aufführungshonorar für seine älteren Opern, dürftige 
Bezahlung far Zeitungsartikel, äußerst seltene 
Vorschüsse von Verlegern und ein paarmal eine 
einigermaßen reichliche Geldzufuhr aus den Welt- 
städten des Auslandes ; aber nichts Bestimmtes, 
kein Pfennig auf einen bestimmten Tag sicher 
fällig; und trotzdem tut Wagner niemals einen 
Schritt, um dieser Misere gründlich abzuhelfen, 
d. h. eine feste Stellung im Auslande zu erringen, 
trotzdem richtet er nicht seine Lebenshaltung nach 



AuB SichBrd Wagners Liebeelcben 'S.'^N&.i^NS,^^*^ 

dem wahrscheinlichen Durchschnitt seioes Jahres- 
einkommens ein, gondern steigert widerstandslos 
seine Ansprüche an ästhetisch verfeinerten Luxus 
in der Ausgestaltung seiner "Wohnräume, schleppt 
seinen Erardflligel zwischen der Schweiz, Italien 
und Paris mit herum, iileidet sich bei der Arbeit 
in Samt und Seide, wohnt in Venedig in einem 
Palast und in Luzern in dem teuern Hotel Schweizer- 
hof monatelang und hält sich daselbst sogar ein 
Reitpferd; er arbeitet nur was und wann es ihm 
behagt, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Ver- 
wertbarkeit; jede Kleinigkeit, sei es ein Regentag, 
sei es ein hämmernder Schmied , stört ihm die 
Stimmung; zudem wird er mit den Jahren immer 
kränklicher und hypochondrischer ; die Frau kränkelt 
auch ewig — er gebraucht die Kur, sie muß in 

jenes Bad und was es kostet, muß geschafft 

werden: „Freund Li szt, hilf Du, lasse den Klingel- 
beutel bei den deutschen Fürsten herumgehen, die 
den Steckbrief wider mich alljährlich erneuern, 
ersinne irgend etwas Vernünftiges oder Unver- 
nünftiges, schlage wie Moses auf den Fels, daß 
Geld für mich herausfließe, oder schlage auch 
meinetwegen, ein zweiter Simsen, Juden und Phi- 
lister pele mele mit einem Eselskinnbacken tot, 
plündere sie aus — und schicke mir postwendend 
den Betrag. Weiß denn das deutsche Volk nicht, 
daß ich an der Arbeit bin, zu seinem unsterblichen 



^^.SCfts.^-Ssi'^ Ana Richard Wagners LiebeBlcben 

Ruhme ewige Werke zu Echaffen, und daß es die 

verfluchte Pflicht und Schuldigkeit hat, mir dabei 
die materielle Unterstützung zu gewahren, die ich 
brauche?" 

Das ungefähr ist der Tenor der Wagnerschen 
Briefe an Liszt, soweit sie sich auf seine ewigen 
flnanziellen Nöte beziehen. Mit gutem Recht darf 
der solide Durchschnittsmensch solches Gebaren 
Wagners anmaßend und unverschämt nennen. Aber — 
kann es denn ein verschämtes Genie geben? 
Hat Wagner sich jemals über sich selbst getäuscht, 
hat er die Richtung seiner Begabung und das 
Maß seiner Kräfte jemals verkannt, hat er nicht 
immer ganz genau gewußt, was er wollte und das 
Gewollte zur herrlichsten Vollendung gebracht, hat 
er nicht wirklich dem deutschen Volke zu seinem 
unsterblichen Ruhpie ewige Werke geschaffen ? Das 
ist der springende Punkt; wenn er zur Lösung 
seiner großen Lebensaufgabe eines Erardtiügels 
und eines mit Atlas gefütterten Schlafrockes be- 
durfte, nun gut, so mußten sie ihm zur Verfügung 
gestellt werden, diese Dinge — gleichgültig, auf 
wesisen Kosten, und die kindliche Naivetät, die in 
der kategorischen Forderung der ihm notwendig 
gewordenen Subsistenzmittel liegt, ist aus der 
Psychologie des Genies heraus zugleich überaus 
natürlich. Ebenso natürlich ist es freilich auch, daß 
die Mitwelt solche Forderungen nicht honorieren 



1 



Aue Bichard WagnerE LiebeBlebeu i£,'i7n&'^'v£,,>(S'n^ 

kann, denn erst die Nachwelt ist imstande zu er- 
messen, ob sie berechtigt waren. Solange Wagner 
noch Hofkapellmeister mit einem bescheidenen, aber 
sicheren Einkommen war, dachte er nicht daran, 
ausschweifende Ansprüche für seine äußere Lebens- 
haltung zu stellen ; er hätte auch wahrscheinlich noch 
weiter Opern komponiert, deren szenischer Apparat 
den vorhandenen Bedingungen der Dresdener Bahne 
angemessen war, und die gute Partieen für die 
dortigen Gesangskräfte enthielten. Erst die Leiden 
des Exils, die Vereinsamung, die Hetze von Ort 
zu Ort, die Not, die Verkennung und Verleumdung 
peitschten seinen Trotz zu der kolossalen Kraft- 
betätigung auf, allen Instinkten der Masse, allen 
praktischen Möglichkeiten und aller bisherigen 
künstlerischen Erfahrung Hohn sprechende Werke 
zu schauen, nur zur Befriedigung seiner selbst und 
zur Freude einiger ganz, ganz Weniger. 

Im Sommer 1854 schreibt Wagner an Liszt: 
„Ich habe erkannt, daß wir mit dieser Welt nichts 
gemein haben. Wer verstand denn mich? Du — 
und kein anderer! Wer versteht denn jetzt Dich? 
Ich — und kein anderer! Sei deß gewiß. Du 
hast mir zum ersten und einzigsten Male die Wonne 
erschlossen, ganz und gar verstanden zu sein . . . 
Was will ich denn anderes noch, nachdem ich dies 
erlebt habe ? Laß zu dieser Wonne noch die Träne 
eines lieben weiblichen Wesens fließen — was dann 



AuH Richard Wagners Liebealeben 

noch? — 0, verstümmeln wir uns nicht selbst so: 
Beachten wir die Welt nicht anders als durch 
Verachtung; nur diese gebührt ihr: aber keine 
Hoffnung, keine Täuschung für unser Herz auf sie 
gesetzt! Sie ist schlecht, grundschlecht; nur 
das Herz eines Freundes, nur die Träne einw 
Weibes kann sie uns aus ihrem Fluche erlösen." 
Zum erstenmal in diesen von innigster Vertraulich- 
keit überfließenden Briefen ertönt hier der Sehn- 
suchtsschrei des einsamen Künstlers nach dem ver- 
stehenden, liebevollen Weibe. Und im Sommer 1854 
war es, wo er in Mathilde Wesendonk, deren ■ 
Bekanntschaft er schon ein paar Jahre früher gemacht 1 
hatte, dieses vielleicht niemals bewußt gesucl 
aber innerlich sicherlich stets ersehnte Weib fand. 
Richard Pohl schreibt in seinen Erinnerungen: 
„Mit der Familie Wesendonk verkehrte Wagner 
täglich: sie wohnten Haus an Haus. Frau Wesen- ' 
donk, eine schöne Erscheinung, eine weiblich an- 
mutige und poetisch sinnige Natur, übte auf den 
Meister einen ersichtlich anregenden Einfluß. Ihr 
gegenüber mußte Wagners schnell gealterte Gattin 
Minna mit ihrem ziemlich nllehternen, gutmütigen, 
aber hausbackenen Wesen freilich sehr im Schatten 
stehen. In Wagners Gegenwart verhielt sie sich 
meist still; wenn man sie aber allein traf, machte 
sie ihrem Herzen Luft. Sie konnte absolut nicht 
verstehen, wie ihr Gatte sich jahrelang mit Pro- 



jehten trug, die nicht die geringste Aussicht auf 
Verwirklichung hatten. Von den „Nibelungen" 
hoffte sie nichts. Kompositionen, die überall Auf- 
nahme finden könnten und auch pekuniäre Erfolge 
bringen worden, wftren ihr viel lieber gewesen. 
Dil 6 diese beiden Naturen nicht harmonieren 
konnten, sah man auf den ersten Blick; daß früher 
oder später eine Trennung ihres ehelichen Zu- 
sainmenlebens erfolgen müßte, war unschwer zu 
prophezeien." Und es war Frau Minna selbst, die 
die Katastrophe herbeiführte, nicht etwa das rück- 
sichtslose Temperament ihres Gatten. Wagner 
hatte all die Jahre über eine wahre Engelsgeduld 
bewiesen, er hatte sich auch in der Verbannung 
mit dieser Frau herumgeschleppt, die absolut nicht 
imstande war, ihm sein Schicksal irgendwie, sei 
es auch nur durch verständiges Zureden, erträg- 
licher zu machen; er hatte ihr Nicht verstehen- 
können lächelnd über sich ergeben lassen ; ihre 
Grillen und bösen Launen seufzend ertragen und 
auch seinen intimsten Freunden gegenüber sich nie 
anders über sie beklagt, als höchstens einmal durch 
einen gutmütigen Scherz. 

Der großen Herzensgüte und dem feinfühligen 
Verständnis Otto Wesendonks für die Empfindlich- 
keit seiner Künstlerseele verdankte Wagner die 
behagliche Existenz in seinem Züricher Asyl. Ein 
hübsches kleines Häuschen mit Garten , auf dem 



Aus Bicbud Wagnen LiabeslebeB 

Grundstück gelegen, auf dem er selber sich eine 
herrliche Villa erbaute, stellte Otto Wesendonk 
"Wagners zur Verfügung, aber nicht als Geschenk^ 
gondeni gegen eiuen einigermafien entsprechenden 
Mietzins. Und um den Meister in den Stand zu 
setzen, diesen Zins zu zahlen, sich behaglich nach 
seinem Geschmack einzurichten und sorgenfrei zu 
leben , kaufte Wesendonk ihm für eine große 
Summe die Original-Partitur der „Walküre" ab, 
ein kalligraphisches Meisterwerk , ausgeführt mit 
einer goldenen Feder, die eines der ersten Ge- 
schenke Wesendonks an den neugewonnenen Freund 
gewesen war. Läßt sich eine zartere, feinsinnigere 
Art Wohltaten zu erweisen denken? Und Wagner 
zeigte sich dankbar, wie es eben nur ein Künstler 
kann; er ließ die Freunde und Kacbbarn täglich 
und stündlich an seinem inneren Leben, an seinem 
Denken und Schaffen Anteil nehmen ; von Tag zu 
Tag fast durften Wesendonks das Werden seiner 
Meisterwerke verfolgen; die Musik der großen 
Meister nahm er mit ihnen am Klavier durch und 
beleuchtete deren Wert und Wesen mit den Blitzen 
seiner in die Tiefen dringenden persönlichen Auf- 
fassung. Bedeutsame Werke verschiedener Litera- 
turen lasen sie gemeinsam und bereicherten ihre 
Erkenntnis in gegenseitigem Gedankenaustausch. 
Bedeutende Männer, wie Gottfried Keller, Gottfried 
Semper, Georg Herwegh, Jacob Sulzer, die damals 



Aus Bichard Wagnera Liebesleben Q,,.<>&>-<C^4,o4'^ 

gerade Zürich beherbergte, genialische juuge 
Musiker, wie Taußig und Hans von Bülow, die 
Wagnern für längere Zeit besuchten , trugen das 
ihrige dazu bei, der Gastfreundschaft, des reichen, 
von harmonischer Schönheit erfüllten Hauses 
Weaendünk den Stämpel edelster Vomehmheit auf- 
zudrücken. 

Auch Frau Minna Wagner kamen die wahr- 
haft fürstlichen Wohltaten der Wesendonks zugute. 
Die Besorgung des behäbigen kleinen Hausstandes 
und noch mehr die Pflege des Blumen-, Obst- und 
Gemüsegartens gewährten ihr stille Freuden, die 
so recht nach ihrem Sinne waren. Sie hatte die 
schönste Muße zum Brummen und konnte , wie 
Wagner selbst einmal gutmütig spottet, so recht 
behaglich den Grillen über ihren bösen Mann und 
seine sträfliche Zeitverschwendung nachhängen. 
Aber Dämon Eifersucht ließ ihr keine Ruhe. Die 
schöne Vertraulichkeit , die sich als etwas ganz 
Selbstverständliches aus dem täglichen Verkehr der 
beiden herrlichen Ausnahmsmenschen, Wagner und 
Mathilde Wesendonk, entwickelt hatte, flößte Frau 
Minna Verdacht ein. Vielleicht hätte sie sich still 
zufrieden gegeben, wenn ihr Gatte, wie in früheren 
freundschaftliehen Beziehungen zu Frauen, der 
ausschließlich Gebende und Frau Mathilde nur die 
bescheiden dankbar Empfangende gewesen wäre; 
aber bei diesem Verhältnis bemerkte sie zum ersten 

163 



Ans Richard Wagners Ltebealeben 

Male, daß auch ihr Gatte Gegengeschenke annahm, 
die ihm Kopf und Herz bewegten, die auf sein 
ganzes Wesen einen EinÜuß übten , den sogar der 
äufiere Mensch deutlich widerspiegelte. Der Mann 
ward, trotzdem er sich ausEcbließlich mit tiefen 
Problemen und ernster Arbeit beschäftigte, zu- 
sehends frischer, fröhlicher, gesünder, stattlicher, 
der Mann spielte mit den Kleinen der Madame 
Wesendonk, der Mann lachte mit dieser Frau, wie 
sie ihn vielleicht vorher nie lachen gehört, und der 
Mann fand endlich in der Musik, die er in dieser 
Zeit schrieb, so sinnverwirrend neue Weisen und 
Klänge, daß sich der ewig ängstlich mißtrauischen 
Frau die Überzeugung aufdrängen mußte, daß nur 
ein großes Erlebnis erotischer Natur ihren Gatten 
80 verändert haben könne. Sie legte sich auf die 
Lauer, sie ließ ihre eifersüchtige Mißgunst durch 
Verhöhnung und Herabziehung des schönen Ver- 
hältnisses aus; sie jammerte ihren Bekannten vor 
und brachte dadurch böses Geschwätz unter die 
Leute, und endlich fing sie gar einen Brief Wagners 
an Mathilden auf, der, obwohl er ganz in die stille 
Wehmut der Resignation getaucht war, ihr dennoch 
ein Schuldbekenntnis dünkte; sie ging mit dem 
Briefe zu Frau Wesendonk, machte ihr die übliche 
große Szene und drohte , den Brief ihrem Gatten 
abergeben zu wollen. Frau Mathilde kam ihr zu- 
vor; sie hatte vor ihrem hocbsinnigen Manne nie 



Aus Richard Wagners Liebesleben 4>(S*s£,.>tS'NS,,>^''^ 

ein Geheimnis gehabt ; er wußte genau, wie es um 
das Herz seiner Frau stand ; er begriff es, daß die 
Huldigungen des größten Küastlers seiner Zeit 
uicht nur der Eitelkeit der schönen jungen Frau 
schmeicheln, sondern im Verlaufe der Zeit auch 
ihre Sinne gefangen nehmen mußten. Und dennoch 
quälte er sie nicht mit Eifersucht, sondern ließ sie 
ihren glücklichen Traum ruhig weiter träumen; 
hatte er doch Bürgschaften für ihre Treue und 
seine Ehre, denen sein edler Sinn ruhig vertraute : 
erstens einmal die vollständige Offenheit seiner 
Gattin, die kein Geheimnis vor ihm hatte, die ihm 
selbst die Küsse nicht verschwieg, die wohl hier 
und da einmal iu wunderseliger Dämmerstunde 
nach dem wonnigen Erlebnis einer neuesten 
Schöpfung des Meisters getauscht worden waren, 
und zweitens den hohen sittlichen Ernst des Meisters 
gelbst. Im jahrelangen vertrauten Umgang hatte 
Otto Wesendonk die Erkenntnis gewonnen, daß in 
Wagner die völligste Harmonie zwischen mensch- 
lichem und künstlerischem Wesen bestehe , daß 
Phrase und Affektation ihm völlig fremd sei, und 
aus dieser Erkenntnis durfte er die Zuversicht 
schöpfen, daß der Mann eines niedrigen Betruges 
nicht fähig sein könne. Dieser Wagner, der alles 
Frivole, Spielerische verabscheute, der mit fast 
pedantischem Ernst alles behandelte, was ihm Hirn 
und Herz bewegte, dieser Wagner war sicherlich 



Ahh Richard WagccrB Liebeeleben 

nicht imstande, wie der erste beste posierende 
Wichtigtuer den Mantel großer Phrasen gemeinen 
Handtungen verbergend umzuhängen. Er war ganz 
sicher, daß Wagner nicht daran dachte, ihm sein 
Weib zu verführen, ja noch mehr, er baute sogar 
darauf, daß Wagner selbst Mathilden vor raschen 
Taten des jungen Blutes zurückhalten würde, wenn 
wirklich Gefahr vorhanden war. 

Und diese edle Zuversicht betrog Wesendonk 
nicht. Es war tatsächlich Wagner, der dem schönen 
Verhältnis Maß und Richtung gab; die junge Frau 
war ihm leidenschaftlich ergeben , und sie wäre 
trotz ihrer Verehrung für den Gatten, trotz der 
Liebe zu ihren Kindern die Seine geworden, wenn 
er es darauf angelegt hätte. Einige Zeilen aus 
dem Briefe Wagners an seine Schwester Kläre vom 
20. August 1858 zeichnen uns mit vollendeter 
Deutlichkeit den wahren Charakter dieses Verhält- 
nisses , seine Gefahren und seine Sicherheiten : 
„Was mich seit sechs Jahren erhalten, getröstet 
und namentlich auch gestärkt hat, an Minnas 
Seite trotz der enormen Differenzen unseres 
Charakters und Wesens auszuhalten, ist die Liehe 
jener jungen Frau , die mir anfangs und lange 
zagend , zweifelnd, zögernd und schüchtern , dann 
aber immer bestimmter und sicherer sieh näherte. 
Da zwischen uns nie von einer Vereinigung die 
Rede sein konnte, gewann unsere Neigung den 



Aufl Richard Wagners Liebeeleben ^„.!5**«>«N4,,^~^ 

traurig wehmütigen Charakter, der alles Gemeine 
und Niedrige fernhält und nur in dem Wohlergehen 
des andern den Quell der Freude erkennt. Sie 
hat seit der Zeit unserer ersten Bekanntschaft die 
unermüdlichste und feinfühlendste Sorge für mich 
getragen und alles, was mein Leben erleichtern 
konnte, auf die mutigste Weise ihrem Manne ab- 
gewonnen . . . Und diese Liehe, die stets unaus- 
gesprochen zwischen uns blieb, mußte sich endlich 
auch offen enthüllen, als ich vorm Jahr den Tristan 
dichtete und ihr gab. Da zum erstenmale wurde 
sie machtlos und erklärte mir, nun sterben zu 
müssen. — Bedenke, liebe Schwester, was mir diese 
Liebe sein mußte nach einem Leben von Mühen 
und Leiden, von Aufregungen und Opfern, wie dem 
meinigen'. — Doch wir erkannten sogleich, daß an 
eine Vereinigung zwischen uns nie gedacht werden 
dürfe : somit resignierten wir, jedem selbstsüchtigen 
Wunsche entsagend, litten, duldeten, aber — 
liebten uns." 

Nun war alles aus. Nicht einen Äugenblick 
dachte Wagner daran, sich sein traumhaftes 
Liebesglück zu retten um irgendwelchen Preis. 
Selbst wenn Otto Wesendonk das schier über- 
menschliche Opfer hätte bringen wollen, allem 
bösen Klatsch zu trotzen und nach Entfernung der 
Frau Minna den Verkehr seiner Gattin mit dem 
Meister weiter zu dulden, so hätte Wagner dieses 



i Richard Waguere Liebesleben ' 

Opfer niemals aiigenoiuaifu. Er erkannte sofort, 
was unter den Umständen einzig zu tun m&glich 
war; mit bewunderungewerter Selbstbeherrscbung 
setzte er seiner Frau die Notwendigkeit einer 
Trennung auseinander, ohne ihr eine wilde Szene 
zu machen — gütig und geduldig der Watenden 
und Verständnislosen gegenüber. Nicht Scheidung, 
nur Trennung verlangte er; er schickte sie nach 
Dresden zu seinen Verwandten, wo sie gut auf- 
gehoben war , und tat , solange sie lebte , sein 
möglichstes für sie, um ihr Kuren, Badereisen und 
sorgsame Pflege zu verschaffen ; sab sich auch 
selbst wieder nach ihr um, wenn sie bedenkliche 
Krisen durchzumachen hatte oder in sonst einer 
Schwierigkeit seiner Hilfe bedurfte. Er selbst ver- 
ließ noch vor der Frau sein liebes Äsjl , wo er 
zum erstenmale in seinem Leben ein wirkliches 
Heim, wirkliche Freunde und die Umwelt gefundeu 
hatte, die einzig ihm taugte zur Vollendung des 
Werkes, för das er nun lebte. Ersebütterad ist 
der Bericht in seinem Tagebuch über die letzten 
Stunden im Asyl. „Nun hatte ich Abschied ge- 
nommen," lieißt es da, „jetzt war alles kalt und 
sicher in mir. — Ich ging hinunter. Dort er- 
wartete mich meine Frau. Sie bot mir den Tee. 
Es war eine schreckliche, jämmerliche Stunde. — 
Sie begleitete mich. Wir stiegen den Garten hinab. 
Es war ein prachtvoller Morgen. Ich sah mich 



Aus Richard Wagners Liebeslebeo ^^/'^'^„/^^'S./'S'^ 

nicht um. — Beim letzten Abschied brach meine 
Frau in Jammer und Tränen aus. Zum erstanmale 
blieb mein Auge trocken. Noch einmal redete ich 
ihr zu, sich mild und edel zu zeigen und sich 
christlichen Trost zu gewinnen. Die alte rach- 
Büchtige Heftigkeit loderte abermals iu ihr auf. — 
Sie ist unrettbar, mußte ich mir sagen. Doch — 
rächen kann ich mich an der Unglücklichen nicht, 
sie selbst muß ihr Urteil vollziehen." 

So war aus dem Leben des einzig Großen 
das ärgste Hemmnis, dor lastende Fluch in Gestalt 
dieses gänzlich nichtigen Weibes ausgestrichen; 
aber aus dem ungeheuren Schmerz über den rohen 
Gewaltstreich, der ihm alte Glücksmöglichkeit ver- 
nichtet hatte, ward der Tristan geboren, und aus 
der großen innereu Stille heraus, die der hart 
ringende Künstler durch deu Sieg über alle Selbst- 
sucht gewann, erblühte ihm endlich die weltver- 
achtende und doch mitleidvoll liebende Heiterkeit, 
aus der er die Meistersinger in ihrer kristallhellen 
Schönheit gestalten Konnte. So darf man sagen, 
daß das deutsche Volk Tristan und die Meister- 
singer Mathilde Wesendonk mittelbar verdanKe. 
Und kein Schatten niederen Zweifels darf die Hoheit 
dieses edlen Liebesbundes trüben ; denn nach einem 
ewigen Gesetze, dem alle wahren Künstler unter- 
worfen scheinen, bedeutet für sie die künstlerische 
Gestaltung eines eigenen schmerzlichen Erlebnisses 



^ 



B Richard Wagners LiebeBlebeo 

dessen innere Überwindung, Als Wagner Mathilde 
Wesendonk die fertige Dichtung von Tristan und 
Isolde überreichte, erklärte sie: nun muß ich Dir 
ganz angehören oder sterben ; Wagner dagegen 
hatte durch die Vollendung des Kunstwerkes bereits 
den Sieg errungen über die Versuchung zur sündigen 
Tat; als Mensch litt er furchtbar unter diesem 
Verzicht, den er seinem sittlichen Bewußtsein ab- 
gerungen hatte. Er glaubte sogar allen Ernstes, 
wahnsinnig werden zu müssen über diesem rasenden 
Schmerz um dies roh zerstörte einzige Glück 
seines Lebens; aber indem dieser Schmerz sein 
Innerstes aufwühlte, zwang er den Musiker, sein 
Leid in Tönen hinauszuschreien, wie sie die Welt 
bisher noch nie vernommen hatte. Glühende Sinnen- 
bninst , das Jauchzen taumelnder Freude , das 
Seufzen schwüler Sehnsucht, das Auftrotzen wider 
den Zwang feindlicher Pflicht, das Versinken in 
flbersinnliche Seligkeit, die den Tod als vollendetsten 
Genuß ersehnt und die selige Ruhe in dieser Voll- 
endung des Todes sind nie vorher in Tönen von so 
erschütternder Wahrheit erklungen. Aber nachdem 
der Meister einmal dem gewaltigsten sittlichen 
Konflikt, zu dem die Geschlecbtsliebe führen kann, 
so unvergleichlichen künstlerischen Ausdruck ge- 
geben hatte, war für ihn selbst das persönliche 
Liebesleben abgeschlossen. 

Er schreibt im Herbst 54 an Liszt — in dem- 



Aus Richard Wagnets Liebesleben iÄ,,*!^"''«^,.* 

selben Briefe, in dem er ihm seine Entdeckung 
Schopenhauers mitteilt: „Da ich nun aber doch im 
Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen 
habe, so will ich diesem schönsten aller Träume 
noch ein Denkmal setzen, in dem vom Anfang bis 
zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen 
soll : Ich bähe im Kopfe einen Tristan und Isolde 
entworfen, die einfachste, aber vollblütigste musi- 
kalische Konzeption; mit der schwarzen Flagge, 
die am Ende weht, will ich mich dann zudecken, 
um zu sterben." 

Nun, er ist nicht gestorben ; Schritt vor Schritt 
können wir in den unvergleichlich aufschlußreichen 
Briefen und Tagebüchern an Mathilde Wesendonk 
das Werden seines Meisterwerkes und des Meisters 
allmähliches Gesunden verfolgen. In dem Tagebuch 
aus Venedig bäumt sich der Schmerz noch wild 
auf; man fühlt deutlich mit, wieviel Tränen beim 
Schreiben geflossen sind ; aber verhältnismäßig rasch 
kehrt die Buhe zurück. Schopenhauer und die 
buddhistische Philosophie helfen dabei kräftig mit. 
Die leidenschaftlichen Anreden, die kurzen Sätze, 
die Gedankenstriche und Ausrufzeichen werden 
immer seltener, immer deutlicher findet sich Wagner 
wieder in den ihm eigenen etwas schwerfälligen, 
ja sogar pedantisch deutlichen, durch Wiederholungen 
überladenen Stil hinein, der gerade in dieser Zeit 
durch den Einfluß der Schopenhauerschen Schreib- 



^^t,^''5>Sa^'''5>s,^'^ Au9 Richard WagDers Liebeslebem 

weise besonders cbarakteristisch ausgeprägt wird. 
Aach dieser Briefstil ist ein köstlich deutlicher 
Beweis dafür, wie völlig eins in Wagner das 
Menschliche und das Künstlerische waren. Es sind 
Briefe eines Pathetikers; wie in seiner Musik und 
in seiner Dichtung Wagner niemals ruht, bevor er 
alle Mittel zur Verdeutlichung seiner Absicht an- 
gewendet hat, wie es für ihn den Begriif „zu lang' 
nicht gibt, wenn er musikalisch oder dichterisch 
noch etwas zu sagen hut, so findet er auch in 
seinen Briefen häufig kein Ende, in dem Bestreben, 
om jeden Preis deutlich und eindringlich zu sein; 
er türmt eyklopische Perioden auf und scheint es 
nie zu merken, wenn er sich überflüssig wiederholt. 
Es ist unter den Briefen (Seite 112) auch ein 
solcher an Frau Mathildens danial:^ achtjähriges 
Töehterchen Myrrha vorhanden, der in höchst 
drolliger Weise nach einem anfangs ganz glücklichen 
Anlauf, den kindlichen Ton zu treflen, alsbald 
wieder in den ächten breiten, unbarmherzigen 
Meisterstil verfällt. Es kann nicht anders sein : 
dem Genius von solchen Dimensionen mußte der 
Maßstab für das Kleine und Zierliche, der Ge- 
schmack für das Anmutige und Tändelnde fehlen. 
So ist es denn auch charakteristisch, nebenbei be- 
merkt, daß sich Wagner auch als Musiker niemals 
in kleinen Formen versucht hat, abgesehen von 
einigen gänzlich verfehlten Jugendarbeiten, und 



1 



Id 



Ana Richard Wtgaen Liebesleben 

daß die einzigen Lieder, die er als reifer Künstler 
■vertonte, von Mathilde Wesendonk gedichtet waren. 
Schon im April 1859 hat er in Anrede und 
Ton seiner Briefe das Verhältnis von Meister 
und Kind hergestellt und sich damit bereits 
hinübergerettet in die stille Wehmut des ernst- 
heiteren Meisters Hans Sachs. Aus den furchtbaren 
Wehen der Tristan-Schöpfung war ein neuer, starker 
Mensch und Künstler geboren worden, der der Welt 
die „Meistersinger" schenken, den „Ring" vollenden, 
Bayreuth aufrichten und den Parsifal als schöne 
Absehiedsgabe hinterlassen sollte. Wagners Liebes- 
leben erscheint mit der Überwindung des leiden- 
schaftlichen Begebrens, das ihn zu der holdseligen 
und feinsinnigen Gattin des edelsten Wohltäters 
hinzog, tatsächlich abgeschlossen. Über sein späteres 
VerhäUnis zu der Tochter seines größten Freundes 
Liszt, die gleichzeitig die Gattin seines jungen 
Freundes Bülow war, fehlen uns heute noch die 
intimen Aufschlüsse von wirklich berufener Seite. 
Aber ich meine, daß die ungewöhnliche Tat, die 
damals in München geschah, zur Verblüffung und 
Entrüstung der immer sittenstrengen Welt , aus 
dem Wesen Wagners, aus seiner künstlerischen 
und menschlichen Entwicklung heraus, wie wir sie 
bisher verfolgen konnten, unschwer zu begreifen 
Bei. Wie die große innere Katastrophe seines 
Lebens den Verschmachtenden, am Glück Ver- 



zweifeluden zu Schopenhauer und Buddha hin 
so slämpelte ihn der plötzliche Urasehnung 8 
Geschickes durch König Ludwig, dieses jähe Em-I 
porgerissenwerden aus Dürftigkeit, Sorge, nutzlos^J 
Mühe und steter Verkennung in alles Gegent« 
in Ruhm, Wohlleben und höchste Machtfülle : 
einem Übermenschen im nietzscheschen Sinne. Ein 
Herrenmensch war er ja immer gewesen. Nun,! 
wo sein Werk vollendet und jeder Zweifel an deel 
großen Bedeutsamkeit dieses Werkes nicht nur ftlrl 
ihn, sondern auch für die Einsichtsvollsten i 
Zeitgenossen überwunden war, galt es für denl 
Künstler, die Verwirklichung seiner kühnen Träume! 
auf einer idealen Buhne mit vollendeten Mittelnf 
durchzusetzen. Jetzt hieß es für ihn. seine Maclit| 
rücksichtslos zu gebrauchen. 

Er bedurfte der Welt, er bedurfte der i 
Seilschaft, und er wußte, daß er mit diesen beidei 
Faktoren nicht fertig werden konnte, weil 
dazu unerläßlich nötigen Eigenschaften ihm ver-l 
sagt waren: Schmiegsamkeit, gefällige Formen,! 
diplomatische Klugheit und geduldige Liebens-T 
Würdigkeit. Alle die Eigenschaften also, die seia'l 
treuester Freund Franz Liszt in vollendeter Au8»r 
gestaltung besaß und die er auf seine reichbegabtel 
Tochter Cosima vererbt zu haben schien, Begreif-f 
licherweise waren es gerade diese Eigenschaften^ 
die der Freundschaft der beiden größten Musikef | 



Aus mchard Wagners Llebealeben 

Liszt und Wagner in ineaschlicher Beziehung 
Grenzen setzten, die Wagner wenigstens als un- 
übersteigliche Mauern empfand. Was ihn bei Liszt 
abstieß, war eben die mensehliehe Liebenswürdig- 
keit, die ihm als unwürdige Schwäche erscheinen 
mußte, und außerdem das Französische in seinem 
Wesen, das Wagnern von jeher unbegreiflich und 
unleidlich war. In München, in der Fülle seines 
Glanzes und seiner Macht, erkannte er nun aber, 
daß gerade dieser Schuß Franzosentum , wie er 
solches verstand, ihm noch fehlte, um sein Lebens- 
werk vollenden zu können, und es fehlte ihm auch, 
um in der Gesellschaft, die er nun brauchte, eine 
würdige Rolle zu spielen, das Haus, das von einer 
geistig überragenden, feingebildeten Weltdame ge- 
leitet wurde. Cüsima von BUlow vereinigte in 
ihrer Person alles, was Wagner damals zu fehlen 
schien. Als Tochter einer temperamentvolleu, hoch- 
begabten Französin jadischer Abkunft, der Gräfin 
d'Agoult, war sie noch weit französischer als ihr 
Vater und dabei doch geistig großgezogen durch 
die höchsten Potenzen deutscher Kunst , oberdieB 
durch den Vater und durch den Gatten zu en- 
thusiastischer Verehrung Wagners vorhestinunt und 
hingeleitet. Wenn also dieser Wagner ihr zurief; 
komm, ich brauche dich! so konnte es für sie 
keinen Zweifel geben, daß sie alles verlassen mußte, 
1 Hufe zu folgen. Ich weiß nicht, wie 



Aub RicliaTd Wagnen Liebesleben 

die Ehe Hans von Bülows beschaffen nai-, es ziemt 
sich auch nicht, bei Lebzeiten seiner einstigen 
Gattin in dieser Frage herumzustöbern, aber ich 
glaube, daß Wagner wußte, was er tun durfte, als 
er dem jungen Freunde die Zumutung stellte, ihm 
seine Frau abzutreten. Erst viel später wühlte 
sich Bülow aus dem Groll gegen den Menschen 
aach in eine öffentlich zur Schau getragene Ab- 
neigung gegen den Künstler Wagner hinein. Da- 
mals, in der Mitte der Siebzigerjahre, mit der 
frischen Wunde im Herzen, vear er es, der durch 
sein eifriges Werben und durch den hochherzig 
gespendeten, reichlichen Ertrag seiner Konzerte 
die Mittel zur Verwirklichung des Bayreuther Ge- 
dankens verschaffen half. Und sein späteres wagner- 
feindliches KoDzerttreiben war eine krampfhafte 
Lüge. 

Auch diese rücksichtslose Tat, möge sie nun 
eine Schuld genannt werden oder nicht, hat die 
Bestätigung ihrer Notwendigkeit, ihre schöne Sühne 
durch ihren Erfolg gefunden. Die Tochter Liszts 
erwies sieh als die Gattin, die Wagner brauchte: 
sie durfte ihm den Sohn schenken, den ein gütiges 
Geschick der Frau Minna glücklicherweise versagt 
hatte, und sie durfte sein großes Werk vollenden 
helfen und nach seinem Tode in seinem Sinne 
' weiterführen, so gut sie es verstand und vermochte. 
Wagner blieb ihr tief dankbar ergeben bis an sein 



J 



AuB Kicbaid Wagners Liebesleben 

Lebensende und war seinen und seines Freundes 
Kindern ein liebevoller Vater. Die innere Gegen- 
sätzlichkeit der beiden Naturen hinwegzusclimeieheln, 
darf sich nun freilich auch aufrichtigste Verehrung 
nicht unterfangen; und was alles an dem heute 
noch lebendigen Bayreuth den ehrlichen Wagnerianer 
betrübt, das ist auf jenen Gegensatz zurückzuftlhren, 
auf die tiefe Kluft zwischen Franzoseotum und 
Deutschtum, 

Eine glückliche, gesegnete Ehe zwischen jenen 
beiden bedeutenden Menschen haben diese Gegen- 
sätze uicht verhindert, und zwar deshalb nicht, 
weil Wagner damals, als er Frau von Bülow sich 
zur Gelahrtjn begehrte, auf die Überschwänglich- 
keiten jugendlicher Glücks-Itlusionen schon längst 
verzichtet hatte. Es hat nur eine heiß Geliebte 
für Richard Wagner gegeben : Mathilde Wesendonk. 
Aber das Schicksal versagte ihm ihren Besitz, da- 
mit er aus seinem großen Leide heraus unsterbliche 
Werke zur Freude der Menschheit schaffen sollte. 

[Nachtrag. 
■ 
Es ist schade, daß die 269 Briefe Wagners 
an seine erste Gattin nicht vor jenen an Mathilde 
Wesendonk erschienen sind, denn sie bilden so 
XII 



AuB Richard Wagoere LiebeBleben 

recht eigentlich den Schlüssel zum menschlichen 
Wesen Wagners und damit auch zum Verständnis 
Beines Liebeslebens. Nachdem nun diese Briefe 
in der schönen zweibändigen Ausgabe des Verlages 
Schuster & Löffler in Berlin mir bekannt geworden 
sind, darf ich mit einiger Genugtuung feststellen, 
daä ich dem obigen Charakterbilde, das ich vor 
ungefähr vier Jahren entwarf, heute nichts Wesent- 
liches hinzuzufügen habe. Das Tatsächliche war 
ja aus den Biographien von Glasenapp und Chamber- 
lain bereits bel{annt,undmancheEinzelheiten,dieunter 
den Angehörigen des Wagnerischen Kreises nur münd- 
lich umliefen, finden ihre Bestättgungin diesen Briefen, 
Zu berichtigen habe ich eigentlich nur eins. 
Ich hatte gesehrieben, daß es der armen Frau 
Minna besonders von sentimentalen Gemütern hoch 
angerechnet werde, daß sie auch in den Zeiten 
schrecklichster Not treu und geduldig zu ihrem 
Gatten gehalten habe, ohne ihm davonzulaufen. 
Das stimmt nicht ganz ; denn sie ist ihm tatsächlich 
einmal davon gelaufen. Im 172. Briefe kommt 
Wagner auf das Ereignis zu sprechen. Er legt 
seiner Frau einem fingierten Ankläger gegenüber 
folgende Verteidigung in den Mund: „Nun freilich, 
er, Richard, war so toll, daß er aus Eifersucht 
(nur) mit mir tanzte, und, damit nur ja niemand 
mir zu nahe kommen durfte, auf der Heirat bestand 
und zwar unter so ungünstigen und bettelhaften 



^ 



ä 



Aus Richard Wagners Liebüsleben 

VerhältnisBen , daß meine ruhige Besinnung mir 
voraussagte, welches Klend wir durchzumachen 
haben würden. Was wollte ich aber tun? Ich 
liebte ihn auch, und so taumelten wir blutjunges 
Paar in ein Misere hinein, das bald genug schon so 
heftig und kummervoll hereinbrach, daß ich selbst 
glaubte, nicht darin aushalten zu können und deshalb 
meinem unbesounenea , leidenschaftlichen jungen 
Manne, der mich, während er von Schulden bedrückt 
war und wir den Sommer ohne Gage vor uns sahen, 
auch noch mit den stärksten Ausbrüchen einer un- 
leidlichen Eifersucht plagte, eines Tages fortlief. 
— Allerdings war in jener bedenklichen Zeit (es 
war in Hamburg ganz im Anfang ihrer Ehe) meine 
Liebe zu Richard aus mir geschwunden, doch 
glaube ich nicht, daß es so weit gekommen wäre, 
wenn nicht zu gleicher Zeit ein in wohlgeordneten 
reichlichen Verhältnissen lebender Mann sich 
mir mit einem so starken Anscheine herzlicher 
und bekümmerter Teilnahme für meine leidende 
Lage näherte, und diese Teilnahme mir auf so 
verführerische Weise beteuerte, daß ich unter all 
diesen gegenseitigen Eindrücken für einige Zeit 
ins Schwanken geriet und in Richards Liebe zu 
mir, da sie sich namentlich nur in so verletzenden 
Exzessen gegen mich kundtat, daß ich sie kaum 
mehr erkennen konnte, keine hinreichende Ent- 
schädigung für all das Elend zu ersehen vermochte, 



4 



rermocnie, • 



Aus Richard Wagnera Licbeeleben 

welches diese unglückliche eigensinnige Heirat zur 
Unzeit über uns beide gebracht hatte. Ja, ich muß 
mir vorwerfen, hierdurch eine Zeit lang unsicher 
über mich geworden zu sein, und wer alles wohl 
erwägt wird der jungen Frau es verzeihen können, 
daß sie der Versuchung so weit erlag, als sie in 
der ersten Zeit noch ihrem Manne abgewandt blieb, 
ihn feindselig behandelte und über ihre Schritte 
irre leitete und in der Wahl zwischen ihm und 
einem anderen bis zu dem Punkte schwankte, daß 
jener andere leider sich den Anschein geben durfte, 
ich habe mich ihm geneigter gezeigt, als es in 
Wahrheit der Fall war. Gerade dieses Verhältnis 
war aber meine Prüfung und in ihr gewann ich 
erst die volle Überzeugung meiner Liebe zu Eichard, 
die schließlich als die Frucht dieser bedauerlichen 
Verirrung hervorging." 

Wohl gemerkt, dies alles legt Wagner seiner 
Minna in den Mund in der Annahme, daß sie je- 
mals fähig gewesen wäre, ein Unrecht gegen ihn 
einzusehen und vernünftigen Gründen zu ihrer 
Entschuldigung nachzuspüren. In Wirklichkeit 
aber hat diese Frau wohl niemals ein Unrecht von 
ihrer Seite zugestanden, sondern gleich allen solchen 
geistig untergeordneten Geschöpfen nur bei ihm 
die Schuld an allen den ewigen Zerwürfnissen gesehen. 
Mit unerschöpflicher Geduld setzt er ihr Dutzende 
von Malen ihre unsinnige schiefe Auffassung von 



Atta Richard Wagnera Liebealeben i&>'^NS,,.^*nq.xS'^ 

seinem Wesen im allgemeinen, von einzelnen Hand- 
lungen ioi besonderen auseinander, und dennocb 
kommt sie immer wieder nach längerem oder 
kürzerem Waffenstillstände voller Gift und Galle 
auf dieselben albernen Klagen zurück. Mit vollem 
Rechte machte er daher in einem der wenigen 
Briefe, in dem er einigermaßen scharf mit ihr ins 
Gericht geht, zum Vorwurfe, dafl er weder ihre 
meist geradezu unsinnige Eifersucht, noch schlieB- 
lich auch ihr treues Aushalten bei ihm wahrend 
des ersten Pariser Elends als Beweise wirklicher 
Liebe ansehen könne. Das Letztere geschah aus 
widerwillig ertragener Pflicht, das Erstere aus 
mißgünstiger Bosheit, die bei solchen Naturen 
meistens die Stelle des Temperaments zu vertreten 
pflegt. 

Die Briefe Minnas vermißt man garnicbt, denn 
Wagners Antworten sind so eingehend und deutlich, 
daß jeder leidliche Psychologe sie aus seiner Phan- 
tasie heraus sicher ergänzen kann. So kann man 
denn wirklich von einem lückenlosen Briefwechsel 
sprechen, für dessen Herausgabe man der Familie 
Wagner den allergrößten Dank schuldig ist, denn 
durch seine Kenntnis erst erweist sich alles, was 
man gegen Wagner, den Menschen, jemals vor- 
gebracht hat, als törichtes Geschwätz und selbst 
einige Tollheiten, ja sogar Verfehlungen gegen die 
wahre Moral, d. h. gegen die anständige Gesinnung 



n 
4 



Ana Richard Wagnera Liebesleben 

werden begreiflich und entschuldbar. Geradezu 
grauenhaft wirkt diese letzte Enthüllung der Tra- 
gödie eines Künatlerlebens auf jeden, der imstande 
ist, sich in die Seele eines genialen Menschen hinein- 
zuversetzen, vornehmlich also auf jeden, der selbst 
ein Künetler ist. Durch eine Jugendeselei an eine 
Frau gekettet zu sein, der alles und jedes Ver- 
ständnis für die Lebensbedingungen künstlerischen 
Schaffens abgeht — welch ein Schicksal! Und 
auf der andern Seite welch ein schier unerschöpf- 
licher Reichtum von Güte, von ächter, verstehender 
und verzeihender Liebe, von unverwüstlichem 
Humor bei Wagner! Ihm gegenüber von Rück- 
sichtslosigkeit zu sprechen, ist schon mehr als eine 
Dummheit, es ist ein Frevel, nachdem dieser Mann 
der Welt bewiesen hat, für welches Ziel er die 
ganze Kraft seines zähen Egoismus einsetzen mußte ; 
aber die eigene Frau sieht in diesem Ringen des 
gewaltigen selbstsicheren Neuschöpfers gegen die 
frevelhafte Dummheit einer gleichgültigen oder gar 
hämisch feindseligen Welt nur Eitelkeit, Anmaßung, 
Zerfahrenheit, ausschweifende Phantastik und Pflicht- 
vergessenheit gegen seinen Beruf als Gatte und 
Versorger ! Auf seinen Humor vermag sie nur 
einzugehen, soweit er sich an dem Hund, an dem 
Papagei und kleinen drolligen häuslichen Begeb- 
nissen ausläßt; aber für den Humor oder gar die 
freundliche Ironie, mit der seine rührende Güte so 

382 s^-'SNJ 




Ana Richard Wagners Liebesleben 

gern ihre eignen bösen Launen und ungerechten 
Angriffe lächelnd zurackweist, zeigt sie nicht das 
mindeatä Verständnis. Wenn er scherzend z. B, 
eine Glasperlenstickerei, die sie ihm zum Geburts- 
tag als Überzug für den Klaviersessel beschert, 
für diesen Zweck nicht gerade geeignet erklärt, 
tobt sie wütend los über seine Lieblosigkeit, der 
sie nichts recht machen könne und läßt es zweifel- 
los nicht an gehässigen Anspielungen fehlen auf 
die vermutlich geschmackvolleren Geschenke anderer 
Damen, die seinem Herzen natürlich näher stünden 
usw. usw. Und er bleibt trotz allem und 
allem immer nachsichtig, freundlich, liebevoll be- 
sorgt um ihr Wohlergehen und gibt ihr von seinem 
unsicheren, unregelmäßigen Einkommen so viel ab, 
daß sie ein Bad nach dem andern besuchen und 
ohne einen Finger zu rühren nur ihrer Gesundheit 
und ihrem Vergnügen leben kann. Niemals gibt 
er die KofFnung völlig auf, sie endlich doch zu 
versöhnen mit dem großen Schmerze, den er ihr 
in Zürich antun mußte. Immer wieder hcift er 
auf die Möglichkeit eines behaglichen Lebensabends 
in friedlichem Zusammenleben. Aber sobald sie 
dann wirklich zusammenkommen, provoziert sie 
furchtbare Szenen und da reißt ihn sein Tem- 
perament dann auch bisweilen hin, zu harten, bösen 
Worten vielleicht. Doch sobald er wieder allein 
ist, drängt es ihn schriftlich gut zu machen, was 



Ans Riofaud Wagnera Liebwieben I 

er mündlich etwa verfehlt hat. Krankheit und 
angestrengte Arbeit halten ihn nicht ab, sich zu 
laugen, langen Briefen an diese niemals von ihrem 
Unrecht zu überzeugende Frau Zeit zu nehmen. 
Und in diesen Briefen hat er uns ohne jede schrift- 
stellerische Pose neben dem leidenden, qualvoll 
gewalttätigen Herrenmenschen Wagner auch den 
anderen Wagner offenhart: das liebe große Kind. 
Denn wirklich kindlich rührend liebenswürdig ist 
es zu sehen, wie über diesen gewaltigen Willens- 
menschen das Gemüt doch immer wieder den Sieg 
davonträgt. Lachen und Weinen stecken in einem 
Sack: gänzliche Verzweiflung und kühne HofFnungs- 
freudigkeit dicht beieinander. Immer wieder versucht 
er aufs Neue dieser Frau zum Verständnis seines 
Denkens und Handelns zu verhelfen, und wenn er 
das einmal im Unmut über die gänzliche Erfolg- 
losigkeit feierlich verschworen hat, versucht er's 
nach wenigen Tagen doch schon wieder! Über- 
schwänglich ist seine Dankbarkeit für jeden einiger- 
maßen freundlichen Brief von ihr, für kleine Ge- 
schenke und dergleichen. Wundervoll anschaulich 
sind die Schilderungen von Menschen und Dingen, 
voll liebenswürdigsten Huniores und köstlicher 
Ironie die Charakterskizzen von Mensehen und — 
Viechern. Zu alledem gibt er sich in diesen intimen 
Briefen auch stilistisch rein menschlich, nicht schrift- 
stellerisch — und das ist ein großer Vorzug. Nur 



Ana Riclianl Wagners Liebealeben <S./^-'S,/kC<S,/iV^ 

wenn er einmal zu einer eindringlichen Belehrung 
oder ernsten Abrechnung weit ausholt, verfällt er 
auch hier manchmal in jenen Bchwerfälligen, tlber- 
ladeuen und weitschweifigen Vortrag, der seine 
Prosa häufig schier ungenießbar macht. Er hat 
eben wohl nie an die Veröffentlichung dieser Briefe 
gedacht und darum sind sie so erquicklich frisch 
und unbefangen geraten und legen für die Ächtheit 
seiner Empfindung ein sichereres Zeugnis ab, als 
selbst die leidenschaftlichsten Ergtlsse an Frau 
Wesendonk. 

Trotzdem er unerschöpflich ist in Erfindung 
von kosenden oder gutmütig scheltenden Anreden 
fehlt ein eigentlich erotischer Ton in diesen Briefen ; 
aber das ist nicht zu verwundern, denn sie beginnen 
erst mit dem Jahre 1842, also nachdem die Ehe 
schon 8 bis 9 Jahre bestanden, schlimme Kata- 
strophen stattgefunden hatten und der Jugendreiz 
der Gattin bereits dahin war. So wird denn durch 
sie seine Klage Liszt gegenüber, daß er die Ent- 
zückungen der Liebe eigentlich nie kennen gelernt 
habe, vollauf bestätigt. Lassen wir also im neuen 
Lichte dieser Seelenenthüllung die Lebenstragödie 
dieser heißblütigen und dennoch nie voll befriedigten 
Künstlersehnsueht auf uns wirken, so erscheint die 
Frage nach Recht oder Unrecht im Falle Wesen- 
donk vollends gleichgültig. Ja selbst wenn wir 
annehmen wollten, Wagners Ableugnung eines wirk- 



Ans Biehud Wagnera LiebenlelM 

liehen SüDdenfalles, also eioes Betruges an 
besten Freunde, sei eine KavalierslOge gewesen, 
um die beiden Frauen zu schonen, so müßten wir 
selbst solche Verstrickung in schuldige Leidenschaft 
begreiflich finden. Und auch das böse StUcklein 
Galgenhumors, das Wagner einige Jahre nach der 
Züricher Katastrophe in Biebrich lieferte, indem 
er durch die Zeitung eine reiche Witwe suchte, 
obwohl er von seiner Frau nicht geschieden war, 
auch dieses Stücklein erscheint dann als ein bloßer 
schlechter Scherz, den ein Augenblick hoffnungsloser 
Niedergeschlagenheit explosiv zu Tage förderte. — 
Als dann endlich die schwere Bürde der Not durch 
die Huld jenes jungen Königs von ihm genommen 
war, als die Aufführung des „Tristan" und der 
„Meistersinger" der staunenden Welt bewies, daß 
nicht eiu anmaßender Phantast sich frech gegen 
die vernünftige Ordnung der Dinge aufgelehnt, 
sondern wirklich ein Genius unbeirrbar seinen vor- 
geschriebenen Weg vorwärts geschritten war, da 
scheute er sich auch nicht mehr, sich mit offener 
Gewalt zu nehmen, was sein Herz, seine Sinne und 
sein praktischer Vorteil erheischten. Und welcher 
Mensch, der die Leistung Wagners zu würdigen 
weiß, dürfte wagen, ihm das Recht zu einem Frevel 
gegen die Sitte abzusprechen, nachdem jene Sitte 
in Gestalt des Philisteriuras ihm sein ganzes bis- 
heriges Leben lang alle die Quellen künstlerischer 



Ana Riebard WagneTs Liebcsleben !£>^NS,,,<^N£.i^>^ 

Schaffenafreude und menschlichen Behagens boshaft 
verschüttet hatte?! 

Diesen beiden hochbedeutenden Briefsamm- 
lungen verdanken wir es, daß wir nun endlich in 
der Lage sind, den Ktlnstler Wagner aus der Ent- 
wicklungsgeschichte seiner Menschlichkeit heraus 
ganz zu begreifen. Ohne die Kenntnis seines 
LiebeBliebens wäre das niemals möglich gewesen. 
Es hat nicht an wunderlichen Versuchen schwär- 
merischer Adepten gefehlt, Wagner, den Menschen, 
den Denker, den Schöpfer von rückwärts zu er- 
klären, d. h. von dem buddhistischen Greise aus, 
der uns den „Parsifal" schenkte, uns den Schöpfer 
des „Tannhäuser" und des „Tristan" begreiflieh zu 
machen. Vor solchen überflüssigen Anstrengungen 
dürften wir nun wohl endgültig bewahrt bleiben — 
und ich meine , niemand könnte sich in seinen 
Illusionen über Wagner gestört fühlen, der aus der 
^H Kenntnis seines tragischen Liebeslebens heraus auch 

^H von ihm zugestehen muß: er war ein Mann 
^H nehmt alles nur in allem. 



4 



Das Lustspiel 

(1898) 



Kevolutionen wirken stets erfrischend wie 
starke Gewitter, wenn auch die Hütten der Ge- 
rechten in Flammen aufgehen und die Paläste der 
Gottlosen dabei verschont bleiben, wenn auch 
Wolkenbrüche fruchtbares Land wegschwemmen 
und versanden , Leben und Habe in Massen ver- 
nichten mögen. Mit den geistigen Revolutionen 
steht es ganz ebenso : sie reinigen die Atmosphäre, 
sie erweitern den Horizont, sie klären die Geister 
auf und sie rufen vor allen Dingen in neuen 
Geschlechtem das Bewußtsein ihrer Kraft wach — 
und das ist eine reichliche Entschädigung dafür, 
daß sie viel Ttlchtiges vom Alten , wenn es auch 
noch wurzelstark im Boden steht , mit keckem 
^H^ Hohn ausroden. Hie Generation schöpferischer 
^B Künstler, Dichter und Gelehrter, der ich selbst an- 
^H gehöre, die Generation der von etwa 1848 — 60 
^H Geborenen, welcher die gellenden Trompetenstöße 
^H der Heerführer unserer neuesten literarischen 

l 



4 



Das Liietepiel 

gewöhnte Ohr beleidigten und die Brutalitäten 
und [Prahlereieu der unreifen Burschen, die sich 
damals als Bannerträger brüateten, gar sehr wider 
den Geschmack gingen, heute werden sie fast ohne 
Ausuahme gleich mir geneigt sein , die Flegeleien 
von damals lächelnd zu segnen. Die zwölf Jahre, 
die seit dem Anfang der neuen literarischen Be- 
wegung in Deutschland verflossen sind, haben bereits 
genügt , um den Beweis zu erbringen , daß die 
jungen Flegel vom Jahre 84 nicht eitel leeres Stroh 
gedroschen haben, und um des guten Erdrusches 
willen, dem wir heute doch das nahrhafte Brot 
unseres Alltags verdanken , mag es ihnen auch 
nachgesehen werden, daß sie damals teils aus Bos- 
heit, teils aus Ungeschick ihre Flegel oft mit ehr- 
würdigen grauen Häuptern in unsanfte Berührung 
brachten. Selbst wenn man behaupten wollte, daß 
die naturalistische Bewegung bisher noch kein ganz 
einwandfreies Meisterwerk hervorgebracht habe, 
so muß doch zugegeben werden , daB auf allen 
Gebieten der Kunst, und ganz besonders auf lite- 
rarischem, der Durchschnitt der Leistungen ein 
außerordentlich viel besserer geworden ist , und 
daß vielleicht nur deshalb so selten ein einzelnes 
Werk vom Publikum und von der Kritik mit ein- 
stimmigem Jubel begrüßt wird, weil zu viel Her- 
vorragendes gleichzeitig zur Erscheinung kommt. 
Das gilt ganz besonders von der Lyrik und vom 



J 






^ Eomao, und ich glaube kühnlich behaupten zu 
dürfen, da6 heute mindestens ein Dutzend Romane 
und Gedichtbände alljährlich erscheinen, von denen 
jeder einzelne noch in den 60er und 70er Jahren 
epochemachend gewirkt hätte. 

Auf dramatischem Gebiet sind es freilich ver- 

[ hältnismäßig immer nur wenige Namen, auf die 
sich gleichzeitig die gespannte Teilnahme des 
literarischen Publikums richten kann, aber das liegt 
nur in der Natur der Sache. Jeder literarisch 
gebildete Theaterleiter und Dramaturg wird mir 

I zugestehen, daß der Durchschnitt der von unbe- 

' bannten Anfängern eingereichten Stücke heutzutage 
gleichfalls viel höhere künstlerische Qualitäten zeige 
als diejenigen der letztvergangenen Jahrzehnte, und 
das dürfte doch die Meinung gerechtfertigt er- 
scheinen lassen, daß unsere Zeit ganz ungemein 
fruchtbar an Talenten sei. Die Frage, ob wirklich 
alle die jungen Leute, die einen recht anständigen 
dramatischen Erstling zuwege bringen , geborene 
Poeten seien, möchte ich darum doch nicht leicht- 
sinnig bejahen. Dagegen erscheint es mir ganz 
erklärlichj daß es heute einer guten Intelligenz 
und einem gebildeten Geschmack , mit Fleiß und 
Ernst ausgerüstet, weit eher gelingen kann, ein 
dramatisches Werk mit künstlerischeu Allüren zu 
schreiben, als dies der vorigen Generation möglich 
war, trotzdem, rein äußerlich betrachtet, das Dichten 



Das LuBtspiel 

heutzutage erheblich schwieriger geworden ist denn 
ehemals. Bis zu der großen Umwälzung durch das 
plumpe Dreingreifen des Naturalismus herrschte 
auf dramatischem Gebiet mehr als auf dem irgend- 
einer anderen Kunst das Schema und die Konvention. 
Die angehenden Dramatiker studierten die bekannten 
Handbücher von Frejtag und Hettner, und Schiller 
und Shakespeare waren die Paradigmata, nach 
denen sich alle dramatischen Stoffe konjugieren 
ließen. Ins Theater gingen diese jungen Leute 
wenig, und wenn sie ganz besonders modern an- 
gehaucht waren und das Glück hatten, in den paar 
großen wirklichen Theaterstädten Deutschlands 
aufzuwachsen, so bot sich ihrem Nachahmungstrieb 
das vielgepriesene Muster französischer Technik, 
welche mehr als die irgendeiner anderen drama- 
tischen Kunst im Schematismus erstarrt war und 
sich bis auf den heutigen Tag noch nicht davon 
zu emanzipieren vermag. Der junge Dichtersmann 
von heute dagegen liest schon auf der Schule, 
wenn auch vielleicht nur heimlich, seinen Ibsen, 
Björnson, Strindberg, Hauptmann und hat in dem 
Theater seiner Vaterstadt, und sei sie noch so 
klein, mindestens einige Sudermanns gesehen. 
Sagte man dem Lehrling früher : stecke deine Nase 
in die Grammatik deiner Kunst , studiere die 
klassischen Meisterwerke, so sagt man ihm heute: 
studiere das Leben und das gegenwärtige Theater 



I 



Das Lustspiel 

nnd schreibe nur, was du aus eigener Anschauung 
und innerer Erfahrung genau kennst. Das sind 
Forderungen, die der junge Dichtersmann nicht 
nur lieber erfallt, sondern auch leichter erfüllen 
kann, während es andererseits allerdings für einen 
jungen Menschen viel schwerer ist, nur seine in- 
dividuelle Beobachtung poetisch zu verwerten als 
einfach in der im Drill der Schule zur Gewohnheit 
gewordenen Anschauungsweise und in der klassischen 
Phraseologie jugendlich unreife Phantasien zu ge- 
stalten. Wer nicht wirklich eine gute Beobachtungs- 
gabe und Individualität genug besitzt, um auch 
im Gewöhnlichsten das Charakteristische zu er- 
fassen oder dem Gewöhnlichen durch eigenartige 
Beleuchtung einigen Reiz zu geben, der wird von 
vornherein den Versuch, ein dramatisches Gebilde 
nach modernem Geschmack zu schaffen, aufgeben 
müssen. Es wird ihm unmöglich sein, die Grund- 
forderungen des modernen dramatischen Stils an 
lebenswahre Sprache, Lokalkolorit, Stimmungs- 
malerei und psychologische Analyse zu erfüllen. 
Derselbe junge Mann wird aber vielleicht ohne 
Besinnen donnernde Tiraden in hochtönenden Jamben 
aus dem Ärmel schütteln und nach bewährtem 
Rezept die Glocken läuten oder den Gott aus der 
Maschine erscheinen lassen können, während jener 
andere junge Mann, der der Moderne sich ergeben 
hat, keine Spur von eigentlich dichterischer Be- 



Da» Lustspiel 

gabung zu besitzen braucht, um dennoch eine 
feineWirklicbkeitsstudie zusammenzubringen, welche 
vielleicht sogar den Vergleich mit einem der 
Bchwächeren Dramen realistischer Meister nicht zu 
scheuen braucht. 

Im Zusammenhang mit dieser Betrachtung 
wird es, meine ich, leichter werden, dem Grunde 
der eigentümlichen Erscheinung auf die Spur zu 
kommen, daß unser deutsches Lustspiel sowohl 
von dem Wechsel im Geschmack des Publikums 
wie von den neuen Bestrebungen der schaffenden 
Dramatiker so gut wie unberührt geblieben ist, 
Was sich heutzutage Lustspiel nennt, zeigt ganz 
dasselbe altvertraute Gesicht wie das, was vor 
zehn, zwanzig oder gar noch mehr Jahren so hieß, 
und was die ausgesprochen modernen Autoren bis- 
her im heiteren Genre geboten haben, das wagten 
sie nicht, Lustspiel zu nennen. Es wird immer 
eine große Sehnsucht nach Heiterkeit bestehen, 
sowohl bei den Schöpfern, mehr aber noch bei dem 
Publikum dramatischer Kunstwerke. Es ist ent- 
schieden unbehaglich für den Kultur- 
menschen, sich in großer Gesellschaft 
erschüttern zu lassen, wogegen es für 
den Wildesten wie für den Gebildetsten 
eine außerordentliche Steigerung der 
Heiterkeit bedeutet, in großer Gesell- 
schaft lachen zu dürfen. Gewiß wächst sich 



das Theater allmählich immer mehr in die hohe 
Aufgabe hinein, für die freiesten und feinsten Geister 
ein Tempel wahrer Erbauung, eine hohe Schule 
der Lebenskunst zu werden, und der_sittliche Ernst, 
mit welchem die Besten der lebenden Dramatiker 
ihr freies Priesteramt erfassen, hat den Fortschritt 
der idealen Bühne nach diesem Ziele hin schon 
erheblich zu beschleunigen geholfen. Aber es kann 
nicht alle Tage Sonntag sein, und für die Werk- 
tagskost der Kunst ist sicherlich heitere Unter- 
haltung im gefälligen Spiel des Witzes und der 
Laune nichts Unwürdiges. Es war nur natürlich, 
daß die jungen Revolutionäre der Literatur zu- 
nächst einmal ihrer eittlichen Entrüstung freien 
Lauf lassen, alles Bestehende mit Keulenschlägen 
2u Brei zermalmen, durch unbarmherzige elektrische 
Beleuchtung von seiner Niederträchtigkeit zu über- 
zeugen und außerdem durch möglichst krasse 
Gegensätze zu dem Gewohnten in Stoff und Dar- 
stellung-^art ihre Wirkungen zu erreichen suchen 
mußten. Ebenso natürlich war es aber auch, daß 
das Publikum, nachdem es sich zunächst voll Ekel 
gegen die naturalistische Darstellung widriger Vor- 
gänge in niedrigen Sphären empört und allmählich 
doch dem starken Reiz minutiös ausgeführter Wirk- 
lichkeitsbilder sich hingegeben hatte, rascher als 
irgendeiner anderen Moderichtung des konsequenten 
Üaturalismus auf dem Theater überdrüssig wurde. 



Dm Lostspid^l 

Eb bat in einem verhältnismäßig sehr kurzen Zeit- J 
räum gelernt, an den Dichter wie an den Schau»] 
Spieler die höchsten Anforderungen an eine lebendige!« 
Charakteristik zu stellen, seine Ohren haben sich'I 
an die neue Sprache gewöhnt, für die es keinel 
Schönheitsregeln mehr gibt, und es macht sogar,,! 
fast schon zum größeren Teile, dem Dichter keinen ■ 
Vorwurf mehr daraus, wenn er auf der Bühne 
Dinge behandelt, von denen anständige junge 
Mädchen nichts verstehen dürfen, und Gesinnungen 
äußert, die nichts weniger als vorschriftsmäßig sind. 
Aber es mag sich nicht immer in Proletarierkrei&en 
bewegen, Krankenstubenluft atmen und sich im 
Theater gröblich insultieren lassen. Gerade so 
laufen auch in der Kirche die Leute wohl dem 
Kapuziner in hellen Haufen zu, der sie als rechte 
Rabenäser von der Kanzel herab andonnert und 
ihnen die Hölle fürchterlich heiß zu machen ver- 
steht; aber das darf er sich nur als Gastprediger 
erlauben, dem ständigen Pfarrer würden sie bald 
die Fensterscheiben einwerfen, wenn er's ihnen all- 
sonntäglich so grob zu bieten wagte. Das haben 
auch die Vorkämpfer der neuen Richtung selbst 
bald eingesehen. Die Kapuzinerrolle ist ihnen zu- 
wider geworden — daher die vielen Märchenspiele 
der letzten Jahre, die neuen Versuche mit der 
Historie und mit der Komödie. 

Die Welt schreit nach Heiterkeit und die 



Diu LuBtapiel 

heutige Welt ganz besonders, diese nervöse, Über- 
hastete, überanstrengte Welt, die nach immer 
stärkeren Reizmitteln sucht, um sich in dem zer- 
reibenden Kampf ums Dasein bei Kräften zu er- 
halten. Wie ist es möglich, daß dasselbe Publikum 
einen Hauptmann auf den Schild erheben und 
gleichzeitig an den Fabrikaten großstädtischer Dra- 
matiker-Firmen Gefallen finden kann? Und wenn 
wirklich dieses Publikum, welches solch schlechtem 
Kunst-Handwerk die großen Kassenerfolge verschafft, 
nur das ungebildete wäre, wie ist ee möglich, daß 
die Sehnsucht des gebildeten Publikums im Verein 
mit dem reinsten Streben der wirklichen Dichter 
nicht schon ein heiteres Drama zu schaffen im- 
stande war, das jenem Schund erfolgreiche Kon- 
kurrenz machen könnte? 

Ich sehe die Ursache darin, daß es in der 
Wirklichkeit zwar Tragödien genug, aber tatsächlich 
keine reinen Lustspiele gibt, und daß die Sinne der 
neuen Dichter-Generation so ausschließlich auf die 
Wirklichkeit eingestellt sind, daß sie aus der freien 
Phantasie heraus keinen StoiV mehr zu gestalten 
vermögen, der sich mit rein realistischen Mitteln 
zum heiteren Drama umarbeiten ließe. Das Lust- 
spiel ist in dem Sinne, den das Wort gegenwärtig 
noch behauptet, das Produkt einer Konvention. 
Ich möchte es zu definieren versuchen als eine 
dramatische Gattung, welche menschliche Schwächen, 



Dan LustupiBl 

Anschauungen und Einrichtungen in gutmütiger 
Weise geißelt und die heitere Grundstimmung 
durchweg, wenn auch auf Kosten der Lebenswahrheit, 
aufrecht erhält. Das Aufrechterhalten der heiteren 
Grundstimmung von Anfang bis zu Ende, das ist 
die Hauptsache, und das ist nur möglich, wenn 
der Dichter mit äußerster Gutmütigkeit mit den 
Torheiten und Schwächen umspringt, die er zum 
Stoffe Beiner dramatischen Gestaltung erwählt hat, 
Es liegt aber in dem Wesen unserer Zeit und in 
der Eigentümlichkeit unserer jüngsten künstlerischen 
Entwickelung , daß die Gutmütigkeit für eine 
Schwäche angesehen wird, deren ein ehrlicher 
Dichter sich schämt. Und das ist auch ganz ge- 
rechtfertigt; Gutmütigkeit ist für einen Schaffenden 
ein ebenso mißliebiges Lob, wie es meist Tugend- 
haftigkeit für ein Mädchen ist. Wenn man von 
einem Mädchen nichts zu sagen weiß, als daß es 
tugendhaft sei, so wird man voraussetzen, daß es 
garstig sei, und von zehn als gutmütig gerühmten 
Männern kann man voraussetzen, daß mindestens 
neun Dummköpfe sind. Die Ochsen und die Dirnen 
sind von einer notorischen Gutmütigkeit — man 
befindet sich da also in wenig gewählter Gesell- 
schaft. Aber das Wesen des Lustspiels 
macht es zur unbedingten Notwendig- 
keit für den Dichter, von seiner Be- 
obachtungsgabe, von seinem satirischen 



Witz und von seiner sittlichen Über- 
zeugung nur soweit Gebrauch zu machen, 
als er sicher sein darf, keinen Zuschauer 
zu verletzen. Das ist aber natürlich unmöglich, 
ohne daß man wissentlich Fünfe gerade sein läßt — 
also sich jener fatalen Gutmütigkeit befleißigt. Es 
liegt somit ein ganz respektabler Zug von Noblesse 
in der Tatsache, daß der modern fühlende Dichter 
sich nicht dazu hergeben mag, ein richtiges Lust- 
spiel zu schreiben. Der Kern der Sache ist, um 
es noch einmal kurz und scharf auszudrücken, der, 
daß der moderne Dichter von Qualität 
zu stolz ist, seine sittliche Überzeugung 
demBehagen seinesPublikumszu opfern. 
Ich möchte noch ein paar Schwierigkeiten er- 
wähnen. Gewiß gibt es im Leben eine Menge von 
komischen Figuren und drolligen Situationen, welche 
in keiner Weise eine sittliche Entrüstung heraus- 
zufordern und doch zur Verwendung für die Bühne 
ganz geeignet sind. Diese Charaktere und Situationen 
dürften sich so ungefähr in den sattsam bekannten 
Rubriken der „Fliegenden Blätter" unterbringen 
lassen, und man wird zugestehen müssen, daß es 
schwerlich den Ehrgeiz eines ernst strebenden 
Poeten befriedigen könne, dieselben tausend und 

Iftbertausendmal wiedergekäuten Harmlosigkeiten 
immer von neuem dramatisch auszubeuten, auch 
wenn das Publikum genügsam genug ist, um an 



Das LnstBpiel 

den fliegenden Blättern auf der Bühne noch Ge- 
schmack zu finden. Es ist ganz selbstverständlich, 
daB für solche Beschäftigung nur leichtwiegeude 
Feuilletontalente, geschickte Rechenkünstler, flinke 
Effekthascher zu haben sein werden. Ferner ist 
zu bedenken, daß zwar der geborene Humorist, 
besonders wenn er schon im reiferen Lebensalter 
steht, weit eher als der junge Brausekopf, der 
seinen Witz an der Wirklichkeit übt, in die er 
erst kürzlich hineingestolpert ist, geneigt sein wird, 
die Narrheiten und Schwächen, die sich seiner Be- 
obachtung aufdrängen, lächelnd zu verzeihen, daß 
aber unsere Zeit im allgemeinen nicht recht ge- 
eignet ist, solche ächten Humoristen zu züchten. 
Jeder ächte Dichter, weß Bekenntnisses er sonst 
auch sein mag, ist ein Freigeist, im besten Sinne 
des Wortes ein Fortschrittsmann — und solchen 
Leuten kann unter den gegenwärtigen politischen 
Verhältnissen, unter den scharf zugespitzten sozialen 
Kämpfen nicht recht wohl werden, besonders aber 
muß ihnen der reaktionäre Wind auf die Nerven 
schlagen. Daher die merkwürdige Erscheinung, 
daß dieselbe Dichtergeneration, welche theoretisch 
sich au dem Kampf gegen den philosophischen 
Pessimismus so lebhaft beteiligt, der unter der 
Führerschaft Nietzsches so fröhliche Fortschritte 
macht, dennoch, auch in ihren besten Werken, sich 
so unfähig zu wahrer freier Heiterkeit zeigt. 



4 



Dm Ludtapiel fFt..>^-'e.'^*<a.'^-'a^^-'«.'^-'^.^^^ 

Es sei mir gestattet, zur Erlftuterung des Ge- 
sagten meine eigenen Erfahrungen als Bühnen- 
dichter heranzuziehen. Man hat mir ziemlich von 
Anfang meiner literarischen Laufbahn an, schon 
nach meinen ersten novellistiBchen Erfolgen, die 
Ehre erwiesen, mich einen Humoristen zu nennen. 
Ich weis dieses Lob sehr hoch zu schätzen, wenn 
anders das Wort Humorist in tieferem Sinne als 
nur als Spaßmacher gemeint war. Meine Art der 
Weltbetrachtung ist allerdings eine humoristische, 
und daher war es mir ganz natürlich, daß ich meine 
jugendlichen Trauerspiele fein im Kasten liegen 
ließ und mich zunächst mit ein paar harmlosen 
und unbedeutenden Lustspielen der Öffentlichkeit 
als Dramatiker vorstellte. Dann kam die literarische 
Revolution der 80 er Jahre, und ich schloß mich 
ihren Heerscharen, wenn auch nur als Landwehr- 
mann, um so lieber an, als ich in meiner Dar- 
stellungsart schon immer Realist gewesen war. 
Jenes Pathos der sittlichen Entrüstung, welches 
die jugendlichen Vorkämpfer der neuen Schule 
auszeichnete, hatte ich niemals besessen; es war 
mir daher unmöglich, mich der Mode zu Liebe für 
Säuferwahnsinn, Hungertyphus und ähnliche dra- 
matische Stoffe zu begeistern ; wohl aber versuchte 
ich die sich mir darbietenden Konflikte in meiner 
eigenen Lebenssphäre im Sinne der neuen Schule 
rücksichtslos zu gestalten. Ich schrieb ein Schau- 



apiel „In's alte Eisen", in welchem ich den Kampf 
einer armen Offiziersfamilie mit den Vorurteilen 
der Kaste schilderte. Es gelang mir nicht, das 
Stück zur Aufführung zu bringen, und ich goß es 
darauf in die bequeme Romanform um, unter dem 
Titel „Die Kinder der Exzellenz". 

Einer Anregung von außen folgend, dramatisierte 
ich den Stoff noch einmal unter demselben Titel 
mit etwas vereinfachter Handlung und unter Ver- 
zicht auf den Tod des Helden im Duell. Ich 
glaubte, eine Komödie im französischen Sinne des 
Wortes geschrieben zu haben, als welche wir zu 
deutsch noch unter den nichtssagenden Begriff 
Schauspiel bringen. Daß in diesem Schauspiel ein 
pudelnärrischer, alter Major und ein drolliger 
Backfisch vorkamen, verletzte mein Stilgefühl nicht 
im mindesten, denn das war in meinem Sinne nur 
konsequenter Realismus. Direktor L'Arronge vom 
Deutschen Theater aber sagte mir zu meinem Er- 
staunen, daß ich ein vermutlich sehr wirksames 
Lustspiel geschrieben habe. Als Lustspiel sind 
dann auch „Die Kinder der Exzellenz" Über fast 
sämtliche deutsche Bühnen der Welt gegangen und 
auch noch in mehreren fremden Sprachen auf- 
geführt worden. Auch die ernsthafte Kritik er- 
kannte das Werk als ein gutes Lustspiel mit einem 
etwas matten und larmoyanten dritten Akte an, 
entdeckte darin die Keime zur Vertiefung des 



I 



Das Lustspiel 

deutechen Lustspiels und ermahnte mich, ernstlich 
auf diesem Wege fortzuschreiteu. Mir selbst 
machte das Stück keine rechte Freude. Ich ver- 
mochte immer nur ein verunglücktes Schauspiel 
oder aber ein halbes Lustspiel darin zu sehen. 
Mit meinem nächsten dramatischen Werke nahm 
ich es dann bedeutend ernster, und im Ernste der 
langwierigen Arbeit ging mir dann die Erkenntnis 
auf, daß ein reines Lustspiel zu schreiben im gegen- 
wärtigen Augenblicke mir ebensowenig möglich sei 
wie den andern geehrten Kampfgenossen. Als das 
„Lumpengesindel" fertig war, da war ich mir auch 
theoretisch über seine Qualitäten klar und nannte 
es Tragikomödie, Der Umstand, daß dieses 
mein Lieblingswerk überall, wo es bis jetzt auf- 
geführt worden ist, dieselbe zwiespaltige Aufnahme 
gefunden hat, indem immer ein Teil der Kritik 
und des Publikums die Vermischung von niedrig 
komischen mit rübrsameu oder gar direkt tragischen 
Momenten als empörende Geschmacklosigkeit emp- 
fand, während der andere Teil sich gerade durch 
die so zustande gebrachte erhöhte Lehenswahrheit 
gepackt zeigte , dieser Umstand ist mir ein voll- 
gültiger Beweis dafür, daß mir meine Absicht ge- 
lungen sei. Die Tragikomödie scheint mir in der 
Tat zurzeit der einzig richtige, künstlerisch wert- 
volle Ersatz für das gegenwärtig noch nicht mög- 
liche reine Lustspiel zu sein. Mit meinem folgenden 



Das Lustspiel 1 

StQck „Daniela Weert", das als Schauspiel gedacht ' 
war, ging es mir dann eigentümlich. Ich hatte | 
mich nicht gescheut, auch in diesem ernsten Stoife 1 
meinem Humor die Zügel schieSeu zu lassen und 1 
wenigstens eine Fignr hinein zu bringen, die zwar ] 
an sich nicht komisch war, aber durch ihre unver- 
frorene Derbheit lustspielmäBige Stimmungen her- . 
vorrief. Diese lustspielmäBigen Stimmungen schlugen i 
ein und machten mir das ernste Stück {trotz des ] 
genialen Spieles einer Agnes Sonna) tot. Wieder ' 
hieß es, und diesmal schon mit einem unangenehmen 
Beigeschmack : „Ja, lieber Freund, du muSt eben 
Lustspiele schreiben." Und ich sagte mir: Zum 
Donnerwetter, jetzt schreibe ich ein Lustspiel ! Es 
muß doch gehen — man muß nur wollen! — Und 
ich schrieb ein Lustspiel „Ein unbeschriebenes 
Blatt". Ich ging damit nach Wien, weil ich mich 
vor Paul Sehlenther und anderen meiner gestrengen 
Freunde in Berlin ein wenig damit genierte. In 
Wien lachten sich die Leute im ersten Akt halb 
tot, im zweiten fingen sie an zu gähnen, und im 
dritten zischten sie mich aus. Ich hatte mir ein 
Thema erwählt, in welchem ich unmöglich kon- 
fessionelle, politische, soziale oder auch gesellschaft- 
lich-moralische Vorurteile verletzen konnte, welches 
mir aber trotzdem gestattete , in der Verwertung 
humoristischer Beobachtung über den „Fliegenden 
Blätter"-Stil hinaus zu gehen. Ein älterer ProfesBor 



Das Lustspiel 

heiratet einen Backfisch von sechzehn Jahren, um 
ihn sich nach seinem Gefallen zu erziehen. Natür- 
lich hat er damit kein Glück, der kindische Un- 
verstand der kleinen Frau bringt ihn dem Wahn- 
sinn nahe, und in diesem Zustand benimmt er sich 
tatsachlich wie ein Verrückter. Das war nur konse- 
quent, wurde aber übel vermerkt. Da ich es nicht 
über mein Gewissen bringen konnte, das alberne 
kleine Mädchen innerhalb der zwölf Stunden, in 
denen sich das Stück abspielt, zu einer vernünftigen 
Frau werden zu lassen, so mußte ich, um einen 
Schluß herbeizuführen, im letzten Akt die tollsten 
Possensprünge machen. Der Professor mußte sich 
selber persiflieren und das dumme Ding behalten, 
so wie es war, zufriedengestellt durch ihr Ein- 
geständnis, daß sie sich in einem Punkte dumm 
benommen. Hatte sich der zweite Akt schon in 
allerlei Varianten des Zankmotives hingezogen, so 
war der ganze dritte Akt nur eine Verlegenhelts- 
auskunft. Das wußte ich selber gar wohl , ich 
glaubte nur, daß sich das Publikum durch komische 
Situationen leichter betrügen lassen würde; denn 
um einen ganzen Theaterabend hindurch 
einen Ausschnitt aus einer angeblichen 
Wirklichkeit rein komisch erscheinen 
zu lassen, dazu bedarf es unter allen 
Umständen raffinierter Betrügerkünste. 
Moritz Necker, der feinsinnige Wiener 



!_. 



Dae LuBtapifll ' 

Kritiker, schrieb in seinem Bericht über mein Lust- 
spiel in den „Blättern für literarische Unter- 
haltung" : „Der moderne Realist scheut am meisten 
die sogenannte Umkehr der Charaktere ; er glaubt 
konsequent und lebenswahr zu sein, wenn er keine 
Erkenntnisfortschritte , keine Läuterung mensch- 
licher Charaktere annimmt und darstellt. Und das 
scheint nun dem Wolzogenschen Lustspiel zum 
größten Schaden geraten zu sein. Mit dieser 
Ästhetik beraubt sich der Dramatiker seiner wich- 
tigsten Wirkungen, gar nicht zu reden davon, daß 
er durch die strenge Durchführung eines so scharf 
umgrenzten Charakters leicht monoton wirkt." Und 
weiter: „Ernst von Wolzogens Schicksal aber mag 
für die Geschichte des modernen Realismus von 
ähnlicher Bedeutung werden, wie auf dem höheren 
Gebiete der Tragödie das böse Geschick des 
jFlorian Geyer' in Berlin von Bedeutung für die 
ganze neue Dramaturgie war. Wolzogen muß aus 
dem Wiener Erlebnis die Lehre ziehen, daß es 
auch im Lustspiel mit jenem Realismus nicht gehe, 
weil dieser Stil vom Humor ab-, nicht aber dem 
Humor zuführt. Die Grundstimmuug des ächten 
Humoristen ist die Liebe zu den Menschen, der 
Glaube an die Güte der menschlichen Natur, der 
schließlich durchbrechen und sich in der Lösung 
der Verwickelungen und Verirrungen offenbaren 
muß. Die Grundstimmung des modernen Realisten 



Das Lustspiel 

ist Skepsis, Nüchternheit, der Mangel des Glaubens 
an meDBChliche Güte; wenn so ein Mensch lacht 
so wirkt es bitter sarkastisch, satirisch, nicht rein 
lustig , nicht humoristisch. Darum endigen die 
Lustspiele der konsequenten Modernen in der 
Burleske, und das ist eine unmögliche Theater- 
wirkung. Man wird schließlich doch auf die alten 
Lehren zurückkommen, die ja nicht das Werk der 
Konvention, der Willkür, sondern der langen, 
langen Erfahrung, der künstlerischen Natur sind. 
Es ist begreiflich, daß man eine konventionell ge- 
wordene Kunst haflt und sie durch eine neue er- 
setzen will. Allein man darf das Äußerliche nicht 
mit dem Wesen der Dinge verwechseln, und der 
Witz besteht eben darin, die Gesetze der mensch- 
lichen Natur zu berücksichtigen, ohne in Schablone 
zu verfallen." 

Ich stimme diesen feinen Ausführungen im all- 
gemeinen zu, möchte mir aber zwei Einschränkungen 
gestatten: erstens einmal kann ich nicht zugeben, 
daß Skepsis, Nüchternheit und der Mangel an 
Glauben an menschliche Güte mit dem Realismus 
als künstlerischer Anschauung durchaus verbunden 
sein müßten. Warum der realistische Dichter der 
Gegenwart allerdings an diesen Erapfinriungsübeln 
meistens leidet, glaube ich bereits ausreichend er- 
klärt zu haben, aber bessere Zeiten werden zweifel- 
los freundlichere Poetengemüter züchten. Zweitens 

XIV. 



Das Lustspiel 

möchte ich bestreiten, daß das alte dramatische 
Gesetz von der Läuterung, von der Umkehr der 
Charaktere wirklich ein ewiges sei, um das durch 
keine Bemühung herumzukommen wäre. Tatsäch- 
lich fordert das Publikum heute noch Umkehr und 
Läuterung der Charaktere, wenn es sich durch den 
Schluß eines Dramas, und gan:; besonders eines 
heiteren, befriedigt erklaren soll; und doch geht 
gerade diese Forderuug dem Realismus ganz be- 
Bonders gegen den Strich. Ich glaube aber, daß 
wir es hier nicht mit einem immanenten Kunst- 
gesetz, sondern wirklich nur mit einer Konvention 
zu tun haben, und daß dem Publikum das Bestehen 
auf dem, was es bis jetzt noch unter einem be- 
friedigenden Schluß sich vorstellt, aberzogen werden 
könne. 

So gut wie die gebildeteren Eomanleser heute 
schon 80 weit gekommen sind, auf eine verwickelte 
spannende Handlung gern zu verzichten, wenn ein 
Eoman oder eine Novelle durch feine Seelenmalerei, 
packende Bilder aus der Wirklichkeit und Auf- 
stellung interessanter Konflikte hervorragt, so sollte 
es auch möglich sein, das Theaterpublikum daran 
zu gewöhnen, auf die Forderung ungebrochener 
Stimmungen und sogenannter befriedigender Schlüsse 
zu verzichten. Kein Menschenkenner, auch der 
liebreichste nicht, glaubt an die plötzliche Läuterung, 
und da im Theater nur das glaublich zu machen 



Das Lustspiel 



ist, was man sieht, so mUssen gerade auf ihn jene 
notgedrungen plötzlichen Umkehrungen besonders 
unmöglich und lächerlich wirken. Es muß auch 
für das Drama genügen, einfach ein 
Stück Leben gezeigt zu haben. Immanente 
Gesetze des Dramas sind nur steter Fortschritt 
der Handlung, Steigerung innerhalb der Akte wie 
im Ganzen und Vermeidung aller aufhaltenden 
Wiederholungen. 

Jeder gute Beobachter des Lebens wird un- 
zählige Male gesehen haben, wie tragische Konflikte 
ausgekämpft werden von Menschen mit den lächer- 
lichsten Eigenschaften oder von Menschen, die sich 
wenigstens im Zustande höchster Erregung gerade 
am närrischsten gebärden, oder wie andererseits 
die ernsthaftesten Menschen gerade durch ihren 
Ernst und in ihrer heiligsten Begeisterung die 
lächerlichsten Situationen schaffen können. Das 
sind die Gegensätze, welche den modernen Realisten 
naturgemäß zur dramatischen Gestaltung reizen; 
aber die ungebrochenen Stimmungen hören dahei 
auf. Tragödie und Komödie his hinab zur Burleske 
tollen bunt durcheinander, und das Publikum muß 
und wird sich daran gewöhnen, an der Darstellung 
dieses Durcheinanders künstlerischen Genuß zu 
finden. Es ist mir eine große Freude gewesen, 
daß mein „Lumpengesindel" Schule gemacht hat. 
Alle unsere ersten modernen Dramatiker sind bei 




Das Lnatepiol 

ibren Veraucheo in der heiteren Gattung auf die 
Tragikomödie hinausgekommen: Gerhart Haupt- 
mann mit dem „Kollegen Crampton" und dem als 
Theaterstück leider so verunglückten „Biberpelz", 
Sudermann mit der „Schmetterlingsschlacht', Halbe 
mit der „Lebens wende", Arno Holz, Franz Servaes, 
Josef Ruederer, Anna Croissant-Rouat, Elsa Bern- 
stein (Ernst Rosmer) und vermutlich noch sehr 
viele andere, deren Werke nicht aufgeführt oder 
mir nicht bekannt geworden sind. In alleijüngster 
Zeit hat Hermann Bahr ein Stück geschrieben, 
das ich mit ganz besonderer Freude begrüßt habe: 
„Das Tschaperl". Es ist ihm damit genau so 
ergangen wie mir mit dem „Lumpengesindel"; man 
hat sich empört gezeigt über die aufdringliche 
Komik, die so stimmungsmordend in die Tragik 
hinein platzt, und Kritiker, welche die literarischen 
Qualitäten des Stückes höchlich lobten, schalten 
das Publikum, weil es" in tief ernste Szenen roh 
hineinlachte. Das Publikum will lachen, und es 
soll lachen, das ist sein gutes Recht, im Lachen 
sucht es Befreiung von seiner Erschütterung, und 
der Dichter will es ja befreien helfen. Es soll nur 
lernen, ruhig zu lachen, ohne sich zugleich ästhetisch 
zu entrüsten. Sein unbefangenes Lachen wird den 
Mut der Dichter stärken, auf dem Wege zum neuen 
heiteren Drama unbeirrt fortzuschreiten. Noch 
ein Dutzend solche „Tschaperl" und „Lumpen- 

312 ■ 



1 



I>as Lustspiel 

gesindel" und „Kollege Crampton" u. s. w„ und 
wir werden uns vielleicht nimmer scheuen, auf den 
Titel eines realistischen Lebensbildes mit gemischten 
Stimmungen, aber vorwiegend heiterem Grundton, 
ruhig das Wort Lustspiel zu setzen. Und wenn 
wir um der Wahrheit willen nicht mehr verhöhnt 
werden, so werden wir auch wieder gutmütig 
werden dUrfen, ohne die Gutmütigkeit als einen 
Schimpf zu empfinden. Dann erst wird das reine 
Lustspiel im alten Sinne vielleicht wieder möglich 
werden. 



4 



Das Qberbrettl 

(1900) 



4 



Ich wUäte mir keine amQBantere Zeit zum 
Leben als unsere Gegenwart. Wir haben immer 
Wind in unseren Segeln für alle Schifflein, die wir 
schwimmen lassen, und aller dieser Schifflein Fahrt 
geht in einem berauschenden Tempo vonstatten. 
Was tuts, wenn wir manchmal dabei von Atem 
kommen, wenn empfindliche Mägen sich bisweilen 
umkehren, wenn im allgemeinen die Nerven schärfer 
herangenommen werden als je zuvor; es ist doch 
ohne Zweifel besser so, als in paradiesischer Satt- 
heit und Wunschlosigkeit geistig zu verstumpfen 
und körperlich zu verfetten. Gönnen wir das 
Paradies den Müdegewordenen , den geborenen 
Philistern und erhalten wir uns Lebendigen, rüstig 
Schaffenden die tolle Fahrt ! Freilich — zum 
Seufzen und Kopfschütteln gibts auch Grund genug. 
Dieselbe Vernunft, die in Wissenschaft und Technik 
heute so unerhörte Triumphe feiert, wird gleich- 
zeitig auch mit FdSen getreten, so elefantisch 
wuchtig wie nur je in finstersten Zeiten der Ver- 



'^^^^:^%s^Sbs»''»vSi''9N.»^ Du Überbrettl ^H 

gangenheit. lu den Sturniwjrbel der l'ortscbritt- ^^| 
liehen Lärmtromiuel gellen die ßllckzugssignale der ^^ 
reaktionären Trompeten hinein. Wohin wir uns 
wenden, stoßen wir auf die wahnsinnigsten Gegen- 
sätze: fabelhafter Iieichtum und schreiendes Elend; 
völlige Gewissensfreiheit und finsterster Aberglaube; 
in demselben Staate nach außen eine Politik, die 
mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts sehreitet, nach 
innen eine in spanische Stiefel eingeschnürte Politik 
nach rückwärts; stets gefüllte Tränendrüsen für 
Kranke, Krüppel und Verbrecher, sowie unglück- 
liche Opfer der Vererbung und daneben ver- 
schlossenen Börsen für Schulmeister, Disziplinar- 
verfahren gegen ehrliche Geistliche, erbarmungs- 
lose Konkurrenz, ideale Küekeiehtslosigkeit gegen 
die Überzeugungen und Gefühle von Individuen 
und Nationen , die uns in unserem Erwerb stören 
könnten, 

Wüste, wilde Gegensätze! Erschreckend und 
bedenklich ! Eine grelle Buntheit der Erscheinungen 
wie bei den modernen Plakaten. Aber diese Plakate 
reizen und locken zu einem Genuß des Daseins, 
der auch dem Ärmsten erreichbar ist, sofern er 
nur nicht arm an Geist ist. Das Welttheater ist 
zum Varietö geworden, eine Monstrevorstellung ohne 
Pause, gratis für jeden offnen Kopf und für alle 
sehenden Äugen. Und in dieser Varietövorstellung 
des modernen Lebens genießen wir blutige Stier- 



Das Überbvett! 

kämpfe, in denen abgehetzte Gäule auf ihren eignen 
EingeweidsQ herumtrampeln, halsbrecherische Akro- 
batenstücke, wo die gruselige Erwartung eines 
Genickbruchs den Reiz fliegender schöner Menschen- 
leiber erhöht, und daneben niedliche Soubretten- 
liedchen, bieder- fröhliche Jodler, Farben- und 
Formenräusche von schönen Frauengliedem, um- 
rasehelt vom Frou-Frou der Spitzen- und Seiden- 
plissös und umwogt von wunderbaren elektiischen 
Lichteffekten. 

Neben der Brutalität, die auf dem Welttheater 
mit ihren groben Effekten Orgien feiert, suchen 
die ernste Wissenschaft und die ideale Kunst ruhig 
ihren Weg zum Licht, und geschäftige,"! oft sogar 
ehrlich begeisterte Vermittler sind stets und überall 
bereit, ihre wichtigsten Ergebnisse, ihre schönsten 
Blüten ins Volk zu tragen, sie für das praktische 
Leben auszunutzen und dem Verständnis der Menge 
zugänglich zu machen. Sobald ernste Wissenschaft 
und ideale Kunst etwas Großes und Neues hervor- 
gebracht, eröffnen heute die Presse und andere 
volkstümliche Institute einen Kleinverschleiß für 
ihre großen Werte. (Uraniatheater und Jakobowski's 
Goethe für 10 Pfg. seien als Beispiele angeführt.) 
Wir können ganz absehen von dem eigensinnigen Be- 
mühen kleiner Künstlergruppen, sich von der Masse 
nach Möglichkeit abzuschließen und nur für einen 
Kreis von Intimen zu produzieren. Der unwider- 



ÖM Überbrettt 



Btehliche Zug der Zeit geht, diesen wenigen Aristo- 
kraten nietzschescher Observanz entgegen, dennoch 
^ auf Verwischen aller Grenzen und auf Sprengung 

= aller Kastenfesaeln hinaus^,' Und so konnte es 
kommen, daß gerade von dem aristokratischen 
England aus eine Bewegung entsprang, welche die 
Grundsätze einer neuen, von Japan beeinflußten 
dekorativen Kunst zuerst auf das Gebiet der In- 
dustrie und des Handwerks übertrug. In England 
begannen zuerst bedeutende Künstler Tapeten und 
Kleiderstoffe zu entwerfen, Modelle für Tischler, 
Töpfer, Glaser, Metallarbeiter usw. zu liefern 
und damit dem banalen Schlagwort „Schmücke 
dein Heim!" einen edleren Inhalt zu geben. Diese 
Bewegung faßte in Deutschland tiefer Wurzeln als 
in irgendeinem anderen Land. Die sezessionis tische 
Bewegung auf dem Gebiete der bildenden Künste 
hat in Deutschland nur dadurch einen so außer- 
ordentlich starken Einfluß erlangt, daß sie sich mit 
dem Gewerbe und Handwerk verbündete. Es ist 
wirklich eine große Errungenschaft, für die wir 
diesen vorurteilslosen Künstlern nicht genug Dank 
wissen können, daß der Kampf gegen die Schablone 
nun überall so fröhlich geführt wird, und daß 
endlich auch die Massenfabrikation aller Gegen- 
stände, die zum Hausgebrauch auch des Ärmsten 

y dienen, unter den Einfluß wirklich modernen künstr 
lerischen Geistes zu geraten beginnt. 



1 



Das Überbrettl 



Ea ist eine notwendige und selbstverständliche 
Forderung, daß in einem Lande, wo die Grund- 
iage der Bildung jedem zwangsweise gegeben wird 
und auch die höhere Geisteskultur verhältnismäßig 
leicht zugänglich ist, der Kunstgenuß gleichfalls 
nicht das Vorrecht eines kleinen Teiles der Gesell- 
schaft bleiben darf. Daher billige Bacher, populäre 
Konzerte,freieVolksbtthne,Museenwanderungenusw. 
Auch hier wieder — Variete, Wissenschaft und 
Kunst in kleinen Dosen und in buntem Durch- 
einander. Niemand will von etwas ausgeschlossen 
sein und von allem wenigstens ein Kostbäppchen 
genießen dürfen. Ich halte es für Überflüssig, da 
Über Verflaebung und Entwürdigung ein Webe- 
geschrei zu erheben. Abgesehen davon, daß gegen 
den starken Zug der Zeit tatsächlich nichts aus- 
zurichten ist, muß man es doch wirklich als ge- 
rechter und menschlicher empfinden, Vielen ein 
wenig als Wenigen alles und der großen Mehrheit 
nichts zu gönnen. Und wie viel Sonnenschein wird 
nicht durch eine kleine Gabe der Kunst oft in ein 
trübes, trostloses Dasein gebracht ! Wie oft ist 
nicht ein einziges Euch, ein Bild, ein zufällig .er- 
worbenes Möbelstück die Ursache geworden, den 
schlummernden Drang nach eigener künstlerischer 
Betätigung zu wecken und einer sehönheitsdurstigen 
Seele edelste Befriedigung zu bringen. 

Es ist wirklich die höchste Zeit, daß nun auch 



die Dichter und Musikaoten aofangen , sich in 
solchem schönen Sinne gemein zumachen, wie 
die bildenden Künstler und Verschleißer der Wissen- 
schaft es tun. Die naturalistische Schule hat das 
Volk bei der Arbeit aufgesucht — mögen \nunmehr 
wirkliche Dichter das Volk bei seinem Vefgjiügen 
aufsuchen, nicht das Volk im Sinne des Pöbels 
för welches ja literarische Gewerbetreibende genug 
arbeiten, aber für das Volk im Sinne der Hundert- 
tausende, bei denen geistige Bedürfnisse vorhanden 
und welche einer Veredelung ihres Geschmacks 
zugänglich sind. In Paris haben zuerst kleine 
Vereinigungen junger Literaten, Maler und Musiker 
die kecken Abendunterhaltungen,- in denen sie sich 
bis dahin nur selbst amüsierten^ der Öffentlichkeit 
zugänglich gemacht. Und als die mit ihren meist 
recht bescheidenen, aber durch den Stempel der 
Persönlichkeit so reizvollen Darbietungen einen so 
ungewohnten Erfolg hatten, ward ans der künst- 
lerischen Laune Ernst, und die dilettantischen 
Talente der Sänger und Rezitatoren wurden zu 
berufsmäßiger Kunstübung ausgebildet. Die Kabaretts 
schössen wie Pilze aus dem Boden ; auf dem Mon- 
martre und im Quartier latin waren sie bald kaum 
noch zn zählen. Es sind meist Kneipen geringer 
Art, die wenig oder gar keine Ansprüche auf Be- 
haglichkeit und Eleganz machen; aber wirkliche 
Künstler haben mit reizenden Tollheiten die "Wände 



Das Überbrettl 

gesebmückt, und mehr oder minder begabte Poeten 
tragen auf einem bescheidenen Podium ihre Dich- 
tungen vor, die sie zum großen Teil selbst in 
MuBik setzen und von einem befreundeten Musiker 
harmonisieren und begleiten lassen. Neben der 
aktuellsten politischen oder sozialen Satyre, neben 
der dreistesten Cocbonerie bekommt mau in diesen 
Kunstkneipen die zarteste Lyrik zu hören, Yom 
frechesten Ulk bis zur wuchtigsten Tragik wird 
die ganze Farbenskala poetischer Vorwürfe und 
Darstellungsarten aufgerollt. 

Es stellt der alten Kunstkultur der Franzosen, 
ihrem feinen Kunstinstinkt ein glänzendes Zeugnis 
aus, daß sich die im besten Sinne vornehmste Ge- 
sellschaft zu diesen anspruchslosen Unterhaltungs- 
abenden der jungen Künstler dnlngt, deren ganzer 
äußerer Apparat in einem Piauiuo besteht, und bei 
dem Frauen selten oder gar nicht mitwirken. Wir 
sind in Deutschland, wie ich fürchte, noch nicht 
so weit. Reichtum und Vornehmheit der Geburt, 
ja selbst die Abgangszeugnisse höherer und höchster 
Lehranstalten bieten bei uns noch keine Gewahr 
für wirkliches Kunstverständnis oder auch nur 
KunstbedUrfnis. Im Gegenteil : unsere Gymnasial- 
bildung bat uns erblich mit dem Vorurteil belastet, 
als ob Verstorbenheit und Langweile das Kenn- 
zeichen ächter großer Kunst sei. Es gilj für einen 
Beweis tiefer Bildung, sieh gegen das Lebendige und 



Das Uberbrettl 



Tagfällige, besonders wenn es in leicht genießbarer 
Form geboten wird, vornehm ablehnend zu verhalten. 
Die Leute, die bei uns viel Geld und keine Bildung 
haben, amüsieren sich wie überall in der Welt am 
meisten bei den niedrigsten Vergnügungen der 
Masse und beteiligen sich am wirklichen Kunstr 
genuB nur so weit, als es erforderlich ist, um den 
Schein guten Geschmackes in ihrer Gesellschafts- 
schicht zu wahren. Die stärksten künstlerischen 
Bedürfnisse haben bei uns im allgemeinen die 
Leute mit dem schmalen Geldbeutel. Und wo sich 
Reichtum und wirkliche Bildung zusammenfinden, 
da pflegt doch wenigstens das Vorurteil noch zu 
bestehen, daß gute Kunst auch einer würdigen In- 
szenesetzuug bedürfe, i daß sich Leute von Rang 
und Ansehen nicht unter verdächtigem Zigeuner- 
volk in anrüchiger Stadtgegend und untergeordneten 
Lokalen sehen lassen dürften, 
' Seit die Pariser „Roulotte" in Deutschland 

ihre Gastspielreisen unternommen hat, und besonders 
seit so vielen Tausenden deutscher Ausstellungs- 
besucher die Pariser Kabaretts bekannt geworden 
sind, ist der Wunsch, das künstlerische VarietÖ 
auch bei uns einzubürgern in den Kreisen der 
jüngeren künstlerischen Generationen immer leb- 
hafter zum Ausdruck gekommen. Ich selbst bin 
schon vor Jahren, nicht durch die Pariser Vorbilder, 
sondern durch die phantastischen Pläne des pracht- 



Das OberbretU 






vollen skandinavischen Poeten Holger Draeh- 
man und durch Bierbaums Koman Stilpe zum 
Nachdenken über diese Frage und zum Schmieden 
eigner Pläne angeregt worden und im Laufe der 
letzten zwei Jahre sind von verschiedenen Seiten 
au mich Anfragen ergangen, ob ich nicht die 
Hebung des Brettls bei uns in die Hand nehmen 
wolle. Und da auch die öffentliche Meinung, soweit 
sie sich in der Presse kundgibt, mir ein erfreuliches 
Vertrauensvotum zuteil werden Heß , so glaubte 
ich mich der Verpflichtung nicht länger entziehen 
zu können, das schwierige Werk nun endlich in 
Angriff zu nehmen. 

Für schwierig halte ich das Unternehmen aus 
drei Gründen: erstens einmal darum, weil uns im 
großen und ganzen die zärtliche Teilnahme für die 
künstlerische Boheme fehlt und woh! auch ein 
wenig der feine Kunstinstinkt, der die gebildeten 
Schichten der romanischen Rasse auszeichnet; 
zweitens darum, weil unseren Dichtern und Musikern 
das Talent, ihre Werke persönlich wirkungsvoll 
zum Vortrag zu bringen, abgeht (ich kenne in 
ganz Deutschland inkl. Schweiz und Österreich 
außer mir selbst kaum ein halbes Dutzend Dichter, 
die sich nicht durch eignen Vortrag ihrer Werke 
erheblich schädigen würden. Und auch unter den 
Komponisten wüsste ich nicht viel mehr aufzuzählen, 
die ihre Lieder auch nur einigermaßen selbst singen 



Das Überbrettl 

! können. Der Ausdruck nKomponistenstimme" be- 
j zeichnet bei uns geradezu ein Ideal von Scheu6- 
I lichkeit.), und die dritte und nicht geringste 
Schwierigkeit erblicke ich in unserer neuerdings 
besonders empfindlich gewordenen Zensur, die zwar 
der leichtest geschürzten Muse ein Wort oder 
Zötlein zuviel gern nachsieht und dem friedlichen 
Bürger auch ruhig seine Freude an schlanken 
Mftdchenbeinen läßt, aber dem ehrlichen Schalk, 
der mit seiner Pritsche zu hoch nach oben oder 
überhaupt zu deutlich auf allgemein bekannte 
Schäden hinweist, oft gar zu ängstlich in den Arm 
fällt. Über Mangel an Freiheit für das gedruckte 
Wort brauchen wir uns meiner Meinung nach bei 
uns in Deutschland nicht zu beklagen — ich für 
meine Person hätte sogar nichts dagegen, wenn 
man der geschäftsmäßigen Spekulation auf die 
Lüsternheit und andere niedrige Instinkte noch mehr 
auf die Finger sähe, denn ich kann nicht finden, 
daß es zum Ruhm eines Landes beitrage, eine 
reich entwickelte Pornographie zu besitzen. Was 
wir Schaffenden beklagen, das ist die übergroße 
Ängstlichkeit unsrer Polizei gegenüber dem von 
der Bühne gesprochenen Worte, unter welchem 
gerade die Dichter am meisten zu leiden haben, 
die ihren Beruf als Sittenprediger und Wundärzte 
am ernstesten nehmen. Selbstverständlich werden 
die herrschenden G>ewalten sich immer bemühen, 



Dm Uberbrettl 

eine Gedanbensaat zu vernichten, welche Un- 
zufriedenheit mit dem Bestehenden erzeugen könnte. 
Das ist eine Pflicht, die ihr der Selbsterhaltunga- 
trieb auferlegt. Aber unprattisch und unpsycho- 
logisch will es mich bedllnken, das freie Gelächter 
zu unterdrücken. Ein unterdrücktes Gelächter 
treibt allemal Galle ins Blut, während umgekehrt 
ein aufgestauter Gallentlberschuß durch kein Mittel 
leichter entfernt wird, als durch eine kräftige Er- 
schütterung des Zwerchfells. Die weitgeöSnete 
Tatze, die sich lachend auf die Schenkel schlägt, 
ist weit harmloser als die in der Tasche geballte 
Faust. Und Menschen und Dinge, über die man 
nicht lachen darf, die kann man auch nicht lieben. 
Tödlich wirkt Lächerlichkeit nur, wenn ihr eine 
zu unrecht angemaßte Würde anheimfällt. Und 
Verletzungen schuldiger Ehrfurcht durch pöbel- 
haftes Gelächter werden stets durch den guten 
Geschmack unschädlich gemacht. Das Lachen wirkt 
immer befreiend. Es vermag den Haß und die 
Bosheit zu töten — und das ist unter allen Um- 
ständen ein gutes Werk. 

Nun ist es aber meine feste Überzeugung, daß 
uns die Schwierigkeiten, die ich eben aufzählte, 
vor dem Versuche, unserem gebildeten deutschen 
Publikum Kunst im Varietßstil vorzuführen, nicht 
abzuschrecken brauchen. Mag das Bedürfnis nach 
einer künstlerischen Erhöhung des Brettlstils zu- 



nächst auch nur dem verhältnismäßig kleinen Kreise 
von Künstlern und Feinschmeckern bewußt geworden 
Bein, so wird sich dieses Bedürfnis sehr raach ver- 
allgemeinern, wenn erst einmal das, was wir er- 
streben, irgendwo zur gelungenen Tat geworden 
ist. Die notwendigen intimen Beziehungen zwischen 
Publikum und Künstler werden sich zunächst ein- 
mal in den Mittelpunkten geistigen Lebens rasch 
herstellen lassen, und diese Fühlung wird noch 
enger werden, wenn unsere jungen Dichter und 
Komponisten, das Vorurteil der falschen Vornehm- 
heit aufgebend, selbst auf das trauliche Brettl 
steigen und von dort herab im liebenswürdigen 
Plauderton des kleinen Raumes zu ihrer Gemeinde 
reden. Eine Auslese des Publikums wird sich sehr 
bald von selbst vollziehen. Dem ungebildeten Ge- 
schmack wird die lärmende Art des Tingeltangels 
mit seinen groben Sinnenreizen stets mehr zusagen 
als der stille Zauber feiner Kleinkunst. Und mit 
den vollendeten Darbietungen der internationalen 
Artistenwelt , mag sie parterre oder hoch oben 
unter der Saaldecke arbeiten, mag sie mit ge- 
fährlichen Werkzeugen jonglieren oder wilde 
Bestien zum Flöteblasen dressieren , mit denen 
werden unsere singenden Bilder, unsere mit Klavier 
begleiteten Pantomimen, unsere stilisierten Tänze 
und Solovorträge aller Art nicht wetteifern können. 
Vielleicht werden die meisten von denen, die die 



Das Oberbrettl 



Neugier in unsere Vorstellungen treibt, mit einem 
enttäuschten „Weiter nichts?" die Achsel zucken 
und nicht wiederkommen ~ dafür werden aber 
gewiß die anderen, denen das schmeichelnde Piano, 
die zarte Stimmung unserer Art wohltuend die 
Nerven streichelt, desto öfter wiederkommen. Und 
diese Freunde werden freiwillige Werber für unsere 
Sache sein. 

Und wenn unsere Künstler gewahr werden, 
daß sie sich nicht einer verständnislosen Menge 
gegenüber befinden, welche keinen Untergchied zu 
machen versteht zwischen ihren Leistungen und 
denen beliebiger Text- und Musiklieferanten für 
das Tingeltangel, so werden sie leicht die Furcht 
vor Entwürdigung überwinden, die vielleicht heute 
noch den oder jenen von der Beteiligung am Brettl 
zurückhält. Zu meiner Freude kann ich übrigens 
bestätigen, daß bis auf ganz wenige Ausnahmen 
sich unsere anerkanntesten und vornehmsten Talente 
auf meinen Ruf zur Mitarbeiterschaft willig bereit 
finden ließen. Und wenn auch in unserer ger- 
manischen Rasse das Talent zum persönlichen Vor- 
trage gar betrüblich selten ist, so leben doch andere 
Rassen und Mischlinge genug unter uns, die in dieser 
Hinsicht begabter sind. Ich zähle dabei auf den un- 
befriedigten Ehrgeiz von geborenen Spezialisten, 
die auf Opern- und Schauspielbühnen sieb wegen 
ihrer beschränkten Verwendbarkeit nicht zur Geltung 



Daa Übarbreta 1 

bringen könDen. Und sollte auch in der erstui I 
Zeit manclier Mißgriff geschehen, manche Kraft, | 
von der man sich viel versprach , versagen , 
braucht man darum keineswegs an der Möglichkeit l 
zu verzweifeln, die neuen Leute für die neue Sache j 
schließlich doch zu finden. 

Die Begabung für die Kleinkunst oder Bagen 1 
wir besser: für die kleinen Formen der Kunst ist 
ohne Zweifel viel verbreiteter als die für die große 
Kunst in großer Form. In den Kneipzeitungeo 
junger Musensöhne, in den Faschings veranstaltungeo 
junger Künstler toben sieb solche Kräfte manchmal 
in entzückend tlbermütiger Grazie aus, ohne dafi 
die Öffentlichkeit jemals davon eine Ahnung be- 
kommt. Wenn aber erst eine vornehme Stätte der 
öffentlichen Darbietung für solche Kleinkunst vor- 
handen ist, dann wird es der Ehrgeiz jener will- 
kommenen Kleinen sein, dort festen Fuß zu fassen. | 
Und dann werden auch die Talente zur persön- 
lichen Darstellung, die sich bei uns merkwürdiger- 
weise häufiger unter den bildenden Ktlnstlern als I 
unter den Literaten und Musikern finden, sich 
gern an die Öffentlichkeit hervorwagen. Was mich ' 
aber mit besonderer Zuversicht erfüllt, das ist die 
Überzeugung, daß unsere deutsche Lyrik, ebenso i 
wie unsere deutsche Musik beträchtlich vielseitiger j 
und eigenartiger sei als die französische, und daS j 
darum der künstlerische Wert unserer Darbietungen f 



Das Ubeibrettl 



ein höherer sein wird als iu dem beneideten Paris. 
Wenn aber erst einmal die Überzeugung von der 
küustleriachen Vornehmheit des Überbrettls all- 
gemein durchgedrungen ist, dann wird auch die 
Schwierigkeit, die uns aus der Ängstlichlteit der 
Behörde droht, unschwer zu überwinden sein. 
Wenn die Durchsiebung unserer Kostgänger sich 
vollzogen hat, wird sicherlich das Vorurteil 
schwinden, als ob das Überhrettl bedenkliche 
Tränklein für gefährliche Hitzköpfe braute. Es 
wird das Ziel meines Ehrgeizes sein, den Wirk- 
lichen Geheimen Rat ebenso in seinen Ansprüchen 
an eine abwechslungsreiche künstlerische Unter- 
haltung zu befriedigen , wie etwa den jungen 
Künstler von eigensinnigen Idealen. Ich verspreche 
mir sogar viel leichteres Spiel mit dem Wirklichen 
Geheimen Rat — und der erste Geheime, der in 
seinen Kreisen erzählt, er habe sieh im Überbrettl 
köstlich unterhalten, der wird auch dazu beitragen, 
daß man uns den Maulkorb um einige Löcher 
weiter schnalle. Wir brauchen die soziale Satire, 
den politischen Witz, aber wir können verzichten 
auf die gallischen Ausbrüche gekränkter Partei- 
interessen. Wir wollen versuchen , uns auf den 
freien ironischen Standpunkt des erfahrenen Welt- 
mannes zu steilen, also sozusagen den Oberhof- 
marschall und den Staatsminister in Hemdärmeln 
zu interviewen, und wir wollen auch versuchen, 



Dm Uberbr« 



die Meinungen des scUiehten Mannes aus dem 
Volk abzufangen, wie er itr Ausdruck gibt, wennl 
er fem von dem Phrasennebel der lauten Yolka-I 
Versammlung mit seinen Freunden vom Herzen I 
herunterredet. Und ich glaube, die Polizei wirAl 
uns weit lieber parlamentarische Redefreiheit Ter-l 
gönnen als riskieren, uns durch Verbote tflckisdtl 
KU machen. 
I Die Hoffnungen sind die besten. Nun gilt i 
rvoT allen Dingen anfangen — selbst auf diel 
Gefahr hin, nicht auf den ersten Streich gleich die I 
Erfüllung kühnster Träume zu erreichen. Wenn 1 
es mir glQckt , wie ich hoffe , auf der geplanten \ 
Reise durch die Mittelpunkte deutscher IntelligenB 1 
und KunstbestrebuDgen ungetrübte Sinne , guten 1 
Willen und offene Geldbeutel zu finden, so bin ich! 
überzeugt, daß der Gedanke des künstlerische] 
Varietes auch bei uns bald feste Wurzeln fasset! 
wird und daß dann bei freiem Spiel der Kräfte dien 
Überbrettl Oberall aus dem Boden schießen werden. 
Möglich, daß die Vollendung anderen beschieden 
ist — ich werde mich in dem Bewußtsein, als 
Pfadfinder gedient zu haben, ohne Groll au meinen 
Schreibtisch zu meinen Dramen und Romanen 
zurückziehen. Sollte irgendwo die Befürchtung 
bestanden haben , daß mein Überbrettl nur für 
B Übermenschen" und für „rasende Jünglinge" be- 
stimmt sei, so dürften solche durch meine Aus- 



Das Überbrettl 



führungen wohl zerstreut worden sein. Die Muse 
des Überbrettla wird zwar in laogem Gewände 
erscheinen und sich nicht scheuen, bisweilen gar 
die tragische Maske vorzunehmen; aber lieber 
noch wird sie den Saum lüpfen und ihre zierlichen 
Füßchen sehen lassen. Und durch die Musik 
unserer Hauskomponisten wird das häufigst wieder- 
kehrende Leitmotiv das Klingklang der Gläser und 
das kecke Trallala sein. 



O 



Des Überbrettls lichter Glanz und kurze Hei 
lichkeit lebt wohl noch in der Erinnerung meiner 
deutsehen Zeitgenossen; aber über die Ursachen 
seines erstaunlich raschen Untergaugs haben wohl 
selbst die Leute, die sich einmal aufs lebhafteste 
für mein Unternehmen begeisterten, kaum etwas 
anderes als unkontrollierbare Gerüchte vernommen. 
Und darum sei es mir gestattet, an dieser Stelle 
kurz und bündig die hetrübsame Wahrheit über 
jenes unrühmliche Ende meiner guten Sache aus- 
zusprechen. 

Ich hätte steruenblind und gänzlich in einem 
beschränkten Rassedünkel befangen sein müssen, 
wenn ich mich bei meinem Versuche, alle die 



1 



Das Überbrettl ' 

kleinen poetischen, musikalischen und dichterlBchen 
NebenkOnste einmal durch geschmackvolle Auf- 
machung zur Freude gebildeter Menschen zu ver- 
werten, nicht um freundliche Unterstützung an die 
Rasse gewendet hätte , die einen Heine , einen 
Mendelssohn , einen OfTenbacb hervorgebracht hat 
Ich wollte ja das deutsche Bärlein tanzen lehren, 
und zwar schmerzlos, zu seinem eigenen Ver- 
gnügen — da konnte ich die alte grausame 
Methode, dies Bärlein auf einen glühenden Best 
zu stellen, wohl nicht anwenden, sondern versuchte 
es lieber mit der milden und gleichfalls bewährten 
Erziehungsmethode, den Ehrgeiz zur Nachahmung 
durch Vorführung anderer Tierlein zu wecken, 
welche von Natur aus zum Tanzen befähigt sind. 
So konnte es denn nicht ausbleiben, daß nicht nur 
meine darstellenden Kräfte, sondern auch meine 
Hauspoeten und Hauskomponisten fast ausschließ- 
lich Juden waren. (Mit schier einziger Ausnahme der- 
jenigen ächten deutschen Dichter, aus deren Hirn die 
Idee des Ganzen und die ersten praktischen Vorbilder 
stammten, also von Bierbaum, Liliencron, Falke, 
Wedekind, Ludwig Thoma und von mir selbst.) Und 
da es ferner eine Eigentümlichkeit unserer Rasse 
ist, mit ihren Gedanken allzusehr dem Vergangenen 
nachzuhängen, dem Werdenden dagegen mit Miß- 
trauen zu begegnen, so war es wiederum selbst- 
verständlich, daß ich mein dankbarstes Publikum, 



Dhs Üborbrettl 



die eifrigsten Förderer meiner Sache gleichfalls 
bei jener anderen Basse fand, die uns an Beweg- 
lichkeit des Geistes und an Befähigung , zu- 
künftige Werte zu wittern, so weit überlegen ist. 
Über allen diesen für das Tempo unseres Kultur- 
fortachrittes so wertvollen Begabungen unserer 
jüdischen Mitbürger steht aber ihr Talent für ge- 
schäftliche Ausbeutung, Und so mußte es kommen, 
daß ich mich sehr bald nicht nur von jüdischen 
Künstlern , sondern auch von Geschäftsleuten aller 
Art eng umdrängt sah, deren glühender Eifer, meine 
Idee zu Geld zu machen, mir beinahe Grauen ein- 
flößte und deren feinem , wie selbstverständlichem 
Känkespiel ich einfach nicht gewachsen war. 

Statt wie es mein ernstlicher Wille gewesen 
war und wie ich öffentlich proklamiert hatte, mich 
nach jenem ersten glänzenden Triumphzug durch 
Deutschland und Österreich wieder ins Privatleben 
zurückzuziehen und mir meine Firma beim Ab- 
schied bezahlen zu lassen, hörte ich auf den Sirenen- 
Bang meiner geschäftsgewandten Mitarbeiter und 
ließ mich von harmlos vermummten Verschwörern 
in die Köpenicker Straße verschleppen. Mich lockte, 
außer den in sichere Aussicht gestellten Millionen, 
vornehmlich die Verheißung, ein Haus ganz nach 
meinen Wünschen gebaut zu bekommen, die phan- 
tastischen Träume eines Künstlers, zu dessen ori- 
ginellen Fähigkeiten ich das größte Zutrauen hatte, 



Das Überbrettl 



August EndellB nämlich, verwirklicht zu sehen. 
Daß mein ehrlicher Name und der kunstleriBche 
gute Ruf, den ich meinem Unternehmen verschafft 
hatte, hauptsächlich dazu dienen sollte, um aus 
jenem Häuserkorapleic der Köpenicker Straße, in 
den Max Kruses eherne Nietzsche- Büste als streng 
blickendes Idol des Dieseeitsglaubens hineingestellt 
wurde, das ihm anhaftende Dirnenparfüm auszu- 
räuchern, das erfuhr ich erst viel später. Jener 
Professor der Ethik, dem die wissenschaftliche 
Welt die epochemachende Entdeckung verdankt, daß 
man am Südpol ebenso sicher verbrennt wie man 
am Nordpol erfriert, fühlte sich nämlich durch die 
Erinnerung an jenen etwas anrüchigen Ursprung 
seines Reichtums einigermaßen geniert und hoffte 
das Nützliche mit dem Angenehmen sinnig ver- 
einigen zu können, indem er der vou unseren 
Kunstpäpsten frisch kanonisierten zehnten Muse 
mit seinem Gelde eine Heimstatt errichtete. Was 
einstso viele muntere Mädchen markweise zusammen- 
bringen mußten, das sollte nunmehr dies einzige 
lose Dämchen braunlappen weise liefern — immer- 
hin ein schöner Fortschritt! Um mir nicht das 
drückende Gefühl der Vei-pflichtung für jenes fürst- 
liche Gescheuk des neuen Hauses aufzuladen, wurde 
mir gestattet, mich auch hnanziell au der neuen 
Gründung zu beteiligen, indem ich die innere Aus- 
stattung liefern durfte. Im richtigen Verhältnis 



zu dieser Beteiligung besaß ich aber im neuen 
Aufsichterate nur eine Stimme, während der Hen 
Professor über deren vier verfügte. Und da größere 
Geldausgaben der Bewilligung des Auf sich tsrates 
unterlagen, so war ich von vornherein in allen 
bedeutsameren Entschließungen lahmgelegt. Der 
Herr Professor selbst schwebte unsichtbar über den 
Wassern. Seine irdischen Stellvertreter in der 
Köpenicker Straße waren ein Bierverleger und ein 
kleiner Fellhändler. Da meine eine einzige Stimme 
ja doch nicht mehr ins Gewicht fiel, so wurden 
mir die bedeutsamsten Beschlüsse der anderen vier 
Stimmen meistens erst als faits aecoraplis mitgeteilt, 
so beispielsweise das Wiederengagement von Künst- 
lern, die zum Dank dafür, daß ich sie aus dem 
Nichts emporgehoben und ihnen Gelegenheit ge- 
geben habe, sich einen Weltruf zu verschaffen, 
meine Gutherzigkeit erst schamlos ausgenutzt und 
obendrein sich noch bemüht haben, durch Fahnen- 
flucht den Ruin des Unternehmens herbeizuführen! 
Mir wurde einfach bedeutet, meine Gefühle hätten 
nicht mitzusprechen, wo es sich um das Geschäft 
handelte. Und das Geschäft erforderte nach der 
Meinung des Professors, des Bierverlegers und des 
Fellhändlers, daß ohne Rücksicht auf den Kosten- 
punkt alles engagiert und angekauft werde, was 
nach irgendeiner Richtung hin eine Sensation 
verhieß. Ein, zwei, drei Gesellschaften womöglich 



Pas Überbrettl 

m08t«D ständig auf Reisen sein, um ganz Europa 
und Amerika das Überbrettl in möglichst kurzer 
Zeit zu verekeln. Und in der Köpenicker Straße 
mUBte der eleganten Lebewelt Berlins andauernd 
das Pikanteste des Pikanten geboten werden. Auf 
diese geniale Art wurde das kleine Theaterchen, 
das kaum 800 Personen faßte, mit einem Tages- 
etat von 1800 Mark belastet. Was half es mir, 
wenn ich mich gegen alt diesen Wahnsinn anfaogs 
mit Händen und FU6en zu sträuben versuchte — 
ich war eine Stimme von fünf, basta! Ich verstand 
nichts vom Geschäft, nichts vom Zug der Zeit, 
nichts von den Bedürfnissen der Berliner Lebewelt 
usw. usw. Das war ausgemachte Sache. Natür- 
lich stimmte die Rechnung jener klugen Gleschäfts- 
leute nicht. Und sobald der ferne Professor mit 
neuen Geldmitteln in die Bresche zu springen ge- 
nötigt war, mußte der Gerechtigkeit halber auch 
ich daran glauben, indem ich ihm mein Eingebrachtes 
verpfändete. Es gehörte also schon wenige Wochen 
nach der Eröffnung kein Stuhl, kein Nagel im 
Hause mehr mir. Ich hatte überhaupt keinen 
Zweck weiter, als meine blaue Weste mit den 
Pfauenaugen zu präsentieren und mich von dem 
Bierverleger und dem Fellhändler in die Provinz 
verschicken zu lassen, wenn die blaue Weste dort 
benötigt wurde, um die zweifelnden Gemüter von 
Potschappel und Buxtehude von der Ächtheit der 



Vae Überbrettl 

dort gastierenden Zweiggesellschaften zu Über- 
zeugen. Der Fellhändler war ein frommer Mann, 
der am Schabbes kein Geld anrührte und damit 
manche süße Hoffnung auf Vorschuß zunichte 
machte. Und der Bierverleger war ein weltge- 
wandter kluger Herr mit verbindlichen Manieren. 
Ich will ihnen beiden nichts Übles nachsagen, denn 
sie handelten ja nur im Auftrag dessen, der von 
der Terrasse seines Marmorpalais aus sein Auge 
im Firnenschnee der Jungfrau badete und dabei 
über ethische Probleme nachdachte. 

Für mich waren inzwischen alle Probleme ge- 
löst auBer dem einen, wie ich fortan mein Leben 
fristen sollte, nachdem ich mich von dem Bunten 
Theater G, m. b. H. zurückgezogen haben würde ; 
denn daß ich das tun mü6te, stand echon in dem 
Augenblick bei mir fest, als man mir Herrn Oskar 
Straus als wiederengagiertes Mitglied präsentierte. 

Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Wer 
sich in die Seele eines anständigen Menschen und 
Künstlers hineinzudenken vermag, wird es ohne 
weiteres begreiflich finden, daß ich unter solchen 
Umständen meine Fahne im Stieb lassen mußte. 
Sie kam vor die Hunde und wurde gierig in tausend 
Fetzen zerrissen, und heute noch kann man diese 
Fetzen berauswimpeln sehen aus den zahllosen 
Animierkneipen, in denen mit der Kunst Scliind- 
luder getrieben wird. Von den vielen, vielen 



hierbrettl'^^^ 



Dm Oberbi 

MeDBchen, die ich im Laufe von zwei Jahren be- 
rOhmt und wohlhabend gemacht hatte , gönnten 
mir nur ganz wenige ein gutes Wort zum Abschied. 
Die meisten dachten sich wohl: „Geschieht ihm 
recht! Ist er doch ein zu furchtbarer dummer Eerl 
gewesen, der sein Eisen nicht zu schmieden verstand, 
Belange es heiß war." Vermutlich hatten sie Wind 
davon bekommen, daß ich die ehrenvollen und ge- 
winnbringenden Anträge solider Kneipwirte und 
Tingeltangel besitzet schnöde abgelehnt hatte. Viele 
meiner wohlmeinenden Freunde und verständnis- 
vollen Gönner des seligen Überbrettla mögen es 
mir übel vermerkt haben, daß ich nach meiner 
öffentlichen Absage an das Bunte Theater doch 
noch zwei Jahre lang in Deutschland, Österreich 
und Skandinavien umherziehen und dem Publikum 
einreden konnte, daß die ziemlich stillosen Dar- 
bietungen, die ich ihnen mit zum Teil minder- 
wertigen Kräften vorführte, mit jenem so stolz und 
fröhlich verkündeten neuen Programm identisch 
seien. Nun, ich kann diesen Freunden nur recht 
geben und gestehe ihnen ehrlich ein, daß mir bei 
solchem Treiben nichts weniger als wohl zumute 
war. Aber ich weiß auch heute noch nicht, was 
ich anderes und besseres hätte tun sollen. Mein 
Kredit als Dichter war vorläufig vernichtet, und 
den kernhaften Humor, der ehedem meinen Schriften 
so viele Freunde verschafft hatte, den hatte eine 



Das Überbrettl 

bittere Menechenverachtung, eine höhniBche Zweifel- 
sucht zum Teufel gejagt. Meine Getreuen unter 
dem Publikum haben Ursache froh zu sein, da8 
ich in jener Periode tiefster seelischer Verstimmung 
sie mit neuen Werken verschont und es vorgezogen 
habe, meine Idee und meine Person durch einen 
mühsäligen Gewerbebetrieb im Umherziehen zu 
prostituieren. 

Das war des Überbrettls Ausgang. Wenn ich 
heute davon sprechen muß, so komme ich mir vor 
wie ein Vater, der es erleben mußte, daß sein 
lustiges Lieblingstöchterchen betrunken gemacht, 
verführt und von Mädcheohändlem elend ver- 
schachert wurde. Das arme SonneDBCheinchen[_, 
Am Ende war es doeb schade drum. 



Vom deutschen Singspiel 

(Ein Prolog und ein Epilog) 

(1880) 



Dentsches Singspiel 



Ein Prolog. 

V 

lAeio Mensch dürfte bestreiten, dafi die guten 
Tage der Operette vorüber sind. Auch einige 
jüngste Erfolge dürften Bchwerlich gegen diese 
Wahrheit ins Feld zu führen sein, denn diese Er- 
folge sind eben nur Nummernerfolge. Einzelne 
flotte Melodien schlagen ein und gelangen auf die 
Walzen der Drehorgeln und Phonographen und 
auf das Pianino der guten Stube der höheren 
Tochter; die Kunstgattung als solche hat aber 
kein wirkliches Publikum mehr. Während in der 
Glanzzeit der Offenbach, Supp6, Johann Strauß 
und Millöcker das ganze große musikfreudige Volk 
einschließlich derjenigen, die für sich einer ernsteren 
Richtung huldigten, in die Operettentheater strömte, 
findet seit einer ganzen Reihe von Jahren der 
neueste österreichische oder eogliache Operetten- 
import nur mehr unter den oberflächlichsten Musik- 
liebhabem seine Freunde, unter jenen Leuten 
zumeist, die es fertig bekommen, die modernen 



DeutBches Singspiel 

Ausstattungsburlesken mit Lokalwitzen und Trikot- 
masBenaufgebot nebst zusamnieDgeborgter Musik 
amQBant zu finden. Die Texte zu diesen Werken 
werden von einigen wenigen akkreditierten Wiener 
und Londoner Firmen geliefert und sind in ihrem 
Schema vollständig erstarrt. Ebenso schematisch 
ist auch der Stil der Darstellung geworden. Zur 
Operette gehen fast ausschlieBlich Sanger und 
Sängerinnen, die nicht die Geduld oder die Mittel 
haben, ihre Stimmen wirklich ausbilden zu lassen, 
und die da meinen, den Mangel an Gesangskunst 
durch ein angenehmes Äußere und kecke Allüren 
ersetzen zu können. So kommt es, daß die aller- 
meisten Operettensängerinnen kreischen, quaken, 
zum mindesten aber unleidlich tremolieren, die 
Tenöre erbarmungswürdig knödeln, die Barytone 
naturbrUllen und die BaßbufFos sich auf das Schau- 
spielerische beschränken und den Gesang nur durch 
den Rhythmus andeuten. Unter den Komponisten 
dieser Werke sind viele, die musikalisch Feineres 
leisten könnten, als sie es jetzt tun, aber die 
Rücksicht auf das Sängermaterial und auf den 
einmal herrschenden Stil der Operettenbühnen nötigt 
8ie, ihrem Talente Zügel anzulegen und sich auf 
Tanzrhythmen und sentimentale Schmachtfetzen 
zu beschränken. 

Das Gebiet der leichten komischen Oper im 
Sinne der älteren Franzosen Boieldieu, Adam, 



DentecheB Singapiel 

Auber usw. sowie das Gebiet des harmlos lustigen 
idyllischen deutsehen Singspiels im Sinne Lortzings 
liegt gänzlich brach. Auf der anderen Seite sehen 
wir eine ganz unverhältnismäßig große Schar von 
begabten jungen Tonsetzern, die viel gelernt haben, 
sich vergeblich abmühen, auf dem Gebiete der 
Oper großen Stils und mit allem Baffinement 
moderner Orchesterfeuerwerkskanste etwas Neues, 
Verblüffendes zu schaffen. Dem einzigen Richard 
Strauß ist das gelungen, einige wenige behaupten 
sich mit Ehren, die überwiegende Mehrheit aber 
kommt mit ihrem bißchen Eigenlicht gegen den 
Schatten Riehard Wagners nicht auf. Was eich 
auf musikalischem Gebiet zur vornehmen Gesell- 
schaft gezählt wissen möchte, hat eine geradezu 
krankhafte Angst vor der Trivialität. Die jungen 
Leute, denen „Parsival" und die „Meistersinger* 
alB erste Nahrung verabreicht wurden, gehen jedem 
melodischen Flufi, selbst wenn er sich leicht bei 
ihnen einstellt, ängstlich aus dem Wege und suchen 
ihr Heil statt dessen in einer pedantischen Klein- 
malerei, in zerfließender Harmonik, überladener 
Polyphonie und neuen, dekorativen Instrumen- 
tationseffekten. Manch einer schreibt seine Erst- 
lingspartitur für drei Orchester, einen Chor von 
fünfhundert Stimmen und Soli mit unmenschlichem 
Stimmumfang. Es kommt noch der weitere, er- 
schwerende Umstand hinzu, daß diese jungen Titanen, 



DeiitBches Siogapiel 

wenn sie für die OpernbUline schreiben wolleo, 
meist auf Texte angewiesen sind, die entweder 
hilflos dilettantisch, läppisch einfältig oder aber 
geistlose Nachahmungen wagnerischer Stoße und 
Sprache sind. Dann stehen von vornherein poe- 
tischer Inhalt und musikalischer Ausdruck in 
einem Mißverhältnis, welches unmöglich eine Wir- 
kung auf ein unbefangenes Publikum ausDben 
kann. Die ungesuchte Harmonie zwischen Form 
und Inhalt, im vorliegenden Falle also zwischen 
poetischer Stimmung und sprachlichem wie muai- 
kalischem Ausdruck , wird von jedem Publikum 
sofort als Stil empfunden — und nur Werke, die 
Stil haben, vermögen eine Wirkuug auszuüben. 

Nun, meine ich, könnte einer großen Schar 
Tou tüchtigen Talenten, die sich jetzt auf einem 
falschen Wege vergeblich bemühen, zu ersprießlicher 
Betätigung verholfen werden, wenn man ihnen 
eine Bühne schalfte, deren leitender Grundsatz 
der wäre, auf dem Gebiete der leichteren drama- 
tiscbeu Musik iu kleineren Formen und be- 
scheidenerem Rahmen stilvolle Werke in dem eben 
gekennzeichneten Sinne vorzuführen. Wenn man 
die Voraussetzung zugibt, daß nicht der Aufwand 
großer Mittel, sondern nur ein geschmackvoll 
durchgefühi'ter Stil einer Kunstleistung den Stempel 
der Vornehmheit aufdrücke, so wird auch die 
Angst der jungen Musiker fortfallen, sich mit 



Dentscbea Singspiel 

leichteren Gaben etwas zu vergeben. Der Versuch, 
den jüngst der Verlag der „Woche" gemacht hat, 
eine Reihe unserer bekanntesten Tonsetzer zu 
Teranlassen, Lieder „im Volkston", das beiflt im 
guten Hausmusikstil zu schreiben, bat das TOr 
manchen gewi6 fiberraachende Ergebnis gehabt, 
daß einige der innigsten und gelungensten Melodien 
gerade von solchen Ultramodernen . mObsAlig 
Kingenden. wie ich sie oben schilderte, gefunden 
wurden. Und ich weiß, daß es noch eine ganz« 
Menge solcher tüchtigen Lente gibt, die sieb den 
natürlichen Quell ihrer Erfiadung mit WabuTOf' 
Stellungen verstopfen ließen. 

Meine Absicht geht nun dahin , zunichst 
einmal bewährte Poeten mit einiger Bohnenkenutoif 
zum Abfassen von Texten zu veranlauMm und 
diese Texte unter die mir geeignet M:heineaden 
Musiker 2ur Vertonung auHzuteilen, Alle Httt- 
gattungen, vom feineu muxikalitichen LuMt*])!«! bin 
zur ausgelassenen Burleske, sollen willkomai«n 
sein unter der Voraus^setzung, daß die Texlü witzig. 
vemOnftig, in der FaKSung literariocli auNlftndlft, 
dabei bühnenwirksam , die Muiik UDgezwuogm, 
faßlich und doch den Ansprüchen einen geliutertM 
Geschmacks genügend und dem poetiMhen Vor- 
würfe entsprechend sei. Um diese« Idetl In di« 
'Wirklichkeit zu ü)>ertrageu, bedürfte et eioM Vff' 
hitltnismäßig kleinen Theater«, in welchem MKb 



Deutsches Singspiel 

mit kleinen Stimmen eine Wirkung zu erzielen 
w&re, eines vollbegetzten, kleinen OrcheBters von 
höchstens sechsunddreißig Musikern und eines 
Stammes von darstellenden KQnstlern, welche mit 
der gesangstechnischen Ausbildung, die man von 
einem guten Opernsänger verlangt, schauspielerische 
Beweglichkeit, ausreichende Sprachtechnik und vor 
allen Dingen guten Humor verbinden müßten. 
Ich verhehle mir nicht, daß die Gewinnung eines 
solchen gut singenden Lustspielpersonals die Haupt- 
Bchwierigkelt für die Vei-wirklichung meines Ge- 
dankens bedeutet; aber man könnte sich's erstens 
einmal etwas kosten lassen, solche Künstler zu ge- 
winnen, weil der Hauptposten des jetzigen Operetten- 
etats, das Ballett und die weibliche Statisterie mit 
ihrem unsinnigen Kostümaufwand, erspart werden 
könnte, und weil es anderseits eine Menge in meinem 
Sinne brauchbarer Künstler gibt, die bei der großen 
Oper nicht fortkommen, weil ihnen das durch das 
moderne Orchester bedingte Stimmvolumen fehlt. 
Ich bilde mir selbstverständlich nicht ein, den 
neuen Stil und die dazugehörigen ausführenden 
Kräfte aus dem Boden stampfen zu können. 
Mancher Fehlschlag, mancher Mißgriff wird wie 
ein Marterl an dem beschwerlichen Wege stehen, 
der zu den neuen Zielen fuhren soll. 

Es ist mir heute nur darum zu tun, für dieses 
Ziel Stimmung zu machen. Daß für mein „Deut- 



Dentacbea Singspiel ^k'S-'^^'''S«'^*''<-'''C^'&''^**'&'^^^ 

Bches Singspielhaus", wie ich es mir träume, ein 
außerordentlich großes und empfänglicheB Publikum 
vorhanden wäre, wird man schwerlich bezweifeln. 
Ich will ja nicht dem Snobismus überreizter Ge- 
nUßlinge aus den exklusiven Westquartieren unserer 
paar Kunst- und Literaturhauptstädte eine Extra- 
wurst braten, ich möchte ganz im Gegenteil die 
Tore meines Tempelcliens weit Öffnen für jedermann 
aus dem Volke, der ein Bedürfnis nach heiterer, 
einschmeichelnder Musik empfindet und in deren 
Genug nicht durch einen geschmacklosen Text 
gestört werden möchte, dessen einzige Würze in 
Kalauern und Zoten besteht. Was ich jetzt be- 
absichtige, ist also nur eine WeiterfUhruug der 
Idee, von der ich bei der Begründung des Über- 
brettls ausging -. Künstlerische Kultur in die Formen 
der leichteren Unterhaltung zu bringen. Wenn 
aber beim Überbrettl durch die Kürze der einzelnen 
Programmnummern die witzige Pointe zur Haupt- 
sache wurde, die wiederum ein rasch auffassendes 
Publikum von Feinschmeckern voraussetzt, so 
dürfte das „Deutsche Singspielhaus' von vornherein 
im besten Sinne als volkstümliche Anstalt zu 
wirken berufen sein ; denn es ist nicht wahr, daß 
auf ein minder intelligentes und vorbereitetes 
Publikum etwa nur die Geschmacklosigkeit wirken 
sollte. Und wenn wirklieh bei einzelnen Werken 
das geistige Niveau der Dichtung für die kleinen 



DeutBchcB Singspiel ' 

Leute zu hoch sein sollte, so wird die demo- 
kratische SchiueicbleriQ Musik auch da in die 
Bresche springen und jeden Teil des Publikums 
auf seine Kosten kommen lassen. 

Die Vorarbeiten zur Verwirklichung meiner 
hier dargelegten Absichten sind so weit gediehen, 
daß das Deutsche Singspielhaus in kürzester Frist 
eröffnet werden könnte an dem Orte, wo flieh ein 
passendes Haus und das nötige Kapital dafOr 
finden. Einige Werke, die für etliche neue Seiten 
des neuen Stils als Muster dienen könnten, sind 
vorhanden. Zunächst habe ich selbst aus der 
bekannten Episode in Heinrich Heines Reisebildem 
„Die Bäder von Lucca" ein Singspiel gezogen, zn 
welchem Bogumil Zepler die Musik geschrieben | 
hat. Dann hat Hans Hermann Fritz von Oatinis i 
bekannte köstliche Parodie der „Versunkenen i 
Glocke" in Musik gesetzt. Ferner würde ich mit 
Vergnügen den Versuch wagen , Adalbert von 
Goldschmidts geistreiche burleske Oper, „Diefromme 
Helene", Text nach Wilhelm Busch von Fanny 
Gröger, durch eine stilvolle Aufführung zur ver- 
dienten Geltung zu bringen. Weiter sind in Aussieht 
genommen; „Reklame", eine einaktige Operette 
von Martin Jakobi, „Das Jahrmarktsfest von 
Plunders weilem" , Text nach Goethe von Emü 
Pohl, Musik von Wilhelm Freudenberg, „Mopsus", 
eine Faunskomödia, Musik von Wilhelm Volz, eine 



DeutBches Singspiel 

burleske Oper „RhamBes", Text von Georg Fuchs, 
Musik von Carl Hallwachs, eine komische Oper 
von Arnold Mendelssohn, deren Titel noch nicht 
feststeht, und „Der Herr Generalfiskal", ein Vaude- 
ville aus dem Nachlasse des Lustspieldichters 
A. Görlitz. Weiterhin sind in Arbeit bzw. in Aus- 
eicht gestellt Texte von Carl Krug, Willi Rath, 
Carl Schloß, Bierbaum, R. Presber, Kompositionen 
von Kurt Schindler, Woldemar Wendland, Ferruccio 
Busoni, Eugen von Vollborth und manchen anderen. 
Ihre grundsätzliche Geneigtheit, bei der Gewinnung 
eines neuen Stils für die Operette, das heitere 
Singspiel uud die komische Oper mitzuwirken, hat 
mir bisher jeder der angefragten Dichter und 
Musiker zu erkennen gegeben, und so darf man 
wohl der frohen Zuversicht leben, daß das Material 
sobald nicht ausgehen werde, wenn nur erst einmal 
eine Bühne und geeignete Darsteller für das fröh- 
liche und fromme Werk vorhanden sind und einige 
aufmunternde Erfolge ihr ein wohlgesinntes Publi- 
kum gesichert haben. Was da dichtet und musi- 
ziert, singt und mimt, soll mir als Mitarbeiter 
willkommen sein, sofern es mit mir eines Glaubens, 
einer Hoffnung ist und meinem ordnenden Ge- 
schmack Vertrauen entgegenbringt. Selbstverständ- 
lich sollen die neuen Werke, die, aus gemeinsamem 
redlichen Bemühen geboren, an meiner Bühne die 
Feuertaufe erhalten, nicht Monopol des Deutschen 



Deutsches Singspiel 

SingspielfaauBes werden, sondern allen auBwärtigen 
Bühnen zum Wettbewerb zur Verfügung stehen, 
Ich glaube wohl, daß das gesamte deutsche Opern- 
wesen aus solcher Auffrischung seines heiteren 
Repertoires Nutzen ziehen könnte, 

"EP 

Ein Epilog 

V 

Meine Zuversicht, daß sich nach diesem oben 
mitgeteilten Aufrufe Leute finden würden, die 
mir ein Theater mit den nötigen Kapitalien zur 
Verwirklichung meiner Idee, die ohne Ausnahme 
als glücklich und zeitgemäß willkommen geheißen 
ward, zur Verfügung stellen würde, erwies sich 
leider als trügeriach. Ich mußte abermals, wie 
schon so oft in meinem Leben, die bittere Er- 
fahrung machen, daß in unserem lieben Deutschland 
der Künstler mit eigen wüchsigen Ideen von vorn- 
herein in einen Topf geworfen wird mit den fürs 
Narrenhaus reifen Projektmachem, mit Schatz- 
gräbern, Älehymisten usw. So oft ich es versuchte, 
die Leitung eines großen Theaters in die Hand 
zu bekommen , ist mir irgendein fixes Jüdchen 
von weit hinten aus der Polackei her oder irgend- 
ein bedeutungsloser alter Praktikus, ein ehemaliger 



i 



ehemaliger | 



Deutsches Singspiel 

Kassierer oder verunglückter Schauspieler vor- 
gezogen worden, trotzdem ich doch oft genug durch 
Taten bewiesen hatte, daß meine Ideen keine Hirn- 
gespinste waren, und daß ich mich auf die Psycho- 
logie des Publikums ebenso gut verstand als auf 
die Dressur der Darsteller. So ging es mir auch in 
diesem Falle wieder. "Während ich mir noch die 
Sohlen ablief nach Geldleuten mußte ich erfahren, 
daß einem Provinztheaterdirektor (allerdings einem, 
dem ein sehr guter Ruf vorausging) ein Haua in 
Berlin, sowie die nötigen Millionen zur Verfügung 
gestellt worden seien, um eine komische Oper für 
die Reichshauptstadt zu schaffen. Das Programm 
dieser Komischen Oper bestand in der Absicht, 
ohne Rücksicht auf den Kostenpunkt die besten der 
vorhandenen Gesangskräfte zusammenzutrommeln 
und mit ihr irgendwelche Oper so gut aufzuführen, 
daß man dem Königlichen Opernhaus eine wirk- 
same Konkurrenz machen könnte. Wenn nun auch 
dieses Programm mit dem meinigen, eine bescheidene 
Versuchsbühne für eine erst zu schaffende neue 
Kunstgattung zu gründen, kaum irgendeine innere 
Verwandtschaft hatte, so lag es doch klar auf der 
Hand, daß meine Idee beträchtlich weniger Aus- 
sicht auf Verwirklichung haben würde, sobald erst 
ein schönes neues Haus im Zentrum der Stadt mit 
der Firma „Komische Oper" vorhanden sein würde. 
Ich hatte bereits einiges Material für mein Kepertoir 



Deutsches Singspigl 1 

fertig daliegen. Dichter und Kompocistea waren für 
mich eifrig an der Arbeit — wenn nun das alles 
samt meiner eigenen jahrelangen Vorarbeit nicht 
verloren sein sollte, so mußte ich versuchen, der 
Komischen Oper zuvorzukommen und mir eine ver- 
trauensvolle Gemeinde zu schaffen, bevor der 
Elberfelder Direktor mit seinen noch unbekannten 
Kräften das neue Haus beziehen konnte. Ich 
hatte knapp neun Monate vor mir. Den Geld- 
mann, der eine für eine Theatergründung aller- 
dings minimale Summe für meine Idee zu wagen 
bereit war, fand sich sogar erst wenige Monate 
vor der ErÖfinung des Theaters. Und nun hieB 
es, in aller Eile zusammenengagieren, was von leid- 
lichen Kräften für wenig Geld zu bekommen war. 
Ich wußte sehr wohl, daß mit meiner kleinen 
Truppe von fleißigen, ehrgeizigen und lernbegierigen 
Künstlern vor einem anspruchsvollen Publikum 
nicht viel Staat zu machen sei ; aber ich vertraute 
dennoch fest auf die werbende Kraft meiner Idee 
und auf das Zutrauen, welche das große Publikum 
stets in mich gesetzt hatte. Wenn es nur gelang, 
einen einzigen Erfolg zu erringen und das Unter- 
nehmen durch die schwierigen Sommermonate 
hindurchzusteuem ohne allzu schwere Verluste, 
so mußte sich in der riesigen Stadt mein deutscheB 
Singspiel auch neben der Komischen Oper erhalten 
lassen. 



Deutsches Singspiel 

Der Versuch mißlang total. Trotzdem das 
Hauptwerk des Eröffnungsabends „Die Bäder von 
Lucca", nach der bekannten Episode in Heines 
Keisebilder von mir selbst gedichtet, von Bogumil 
Zeppler ungemein glücklich vertont, einen starken 
und fröhlichen Erfolg beim Publikum davontrug, 
der sieh bei den 48 Wiederholungen des Werkes 
allabendlich erneuerte, schlug die Kritik mit 
Keulen und Knütteln, wenn auch nicht auf dies 
liebenswürdige Werk , wohl aber auf das ganze 
Unternehmen los. Man weiß, was das bedeutet. 
Meine gute Absicht war vor ganz Deutschland 
diskreditiert, und selbst „Die Bäder von Lucca", 
denen nicht einmal die ganz boshafte Kritik alle 
guten Eigenschaften abgesprochen hatten, wurden 
nie und nirgends wieder aufgeführt. Nur ein8 
hätte das Unternehmen herausreißen können: ein 
großer unbestrittener Erfolg mit einem neuen 
Werke. Aber dies Werk war nicht vorhanden. 
Das war noch in Arbeit, um als voraussichtlicher 
Schlager für die erste Winterspielzeit zu dienen. 
Was andererseits von großen Werken von un- 
zweifelhaft künstlerischer Bedeutung vorhanden 
war, ging in seinen Anforderungen weit über meine 
Mittel und die Leistungsfähigkeit meiner Künstler 
hinaus. Blieben also nur die Kleinigkeiten übrig, 
die als Lückenbüßer bereitlagen und verhältnis- 
mäßig rasch und ohne Kostenaufwand herauszubringen 



Dyutäches Singspiel J 

waren. Kurz und gut, der Karren war einmal | 
verfahren und keine Möglichkeit gegeben, einen j 
Vorspann herheizuschaffen, der ihn wieder heraus- 1 
zuziehen imstande gewesen wäre. Es blieb mir ' 
nichts anderes übrig als au^uhOren und die Folgen J 
meines Eigensinns auf mich zu nehmen. Gewifi, I 
ich muß es eingestehen, es war Eigensinn, meinet- 1 
wegen auch Leichtsinn, im Sommer in einem un- 1 
geeigneten Hause, mit unerprobten, teilweise wirk- 
lich mangelhaften Kräften vor die Berliner Kritik 1 
und das Berliner Publikum hinzutreten und zu 1 
sagen; „Sehet und höret — ich will euch den W^l 
zeigen, wie ihr aus den Niederungen der Wiener! 
Operette und aus der krampfhaften Überspanntheit 1 
UberkUnstelter Musikmacherei zu einem inner- 
lich erfreulichen, dem anspruchsvollen Kenner wie I 
dem musikfreudigen Laien gleich willkommenen 1 
musikalischen Lustspiel gelangen könnt. Nein, f 
zum bezwingenden Beispiel , das den Ehrgeif J 
schlummernder Talente hätte wecken können, zur | 
Aufrüttelung der Lauen und Gleichgültigen, zur | 
Überzeugung der Zweifelnden war jener Versuch i 
in der Dresdener Straße nicht geeignet. Eine harte | 
Buße ist mir auferlegt worden, lange Jahre voll J 
schwerer Sorge und obendrein Hohn und Spotts 
der Übelwollenden; aber ich darf mich in diesem] 
Falle nicht , vrie bei dem des Überbrettls , 

Zorn gegen meine Widersacher er- ' 



r 



Deutsches Singspiel 

heben, denn ich habe mein Schicksal seihat ver- 
schuldet. 

Und dennoch ist für die Entwicklungsgeschichte 
der deutschen Oper meine Niederlage nicht uner- 
heblich. Ja, es ist vielleicht sogar gut, daß sie 
so schnell erfolgte ; denn wenn mein Unternehmen 
sein Dasein länger hingefrettet hätte, wenn mehr 
neue Werke durchgefallen wären, und besonders 
wenn ich mich vielleicht aus finanzieller Not hätte 
entschließen müssen , zum alten Inventar des 
leichten Opernrepertoirs oder gar zur Wiener 
Operette zurückzugreifen, dann hätte man mit 
Recht von einem Bankerott meiner Idee sprechen 
dürfen. So aber bleibt nach wie vor alles zu Recht 
bestehen, was ich in jenem ersten Aufruf behauptet 
und als erstrebenswertes Ziel hingestellt habe. 
Und auch die neuerliehen großen Erfolge einiger 
tatsächlich sehr hübschen Wiener Operetten werden 
ernsthafte Kunstfreunde nicht in der Meinung irre 
machen können, daß eine deutsche komische Oper, 
ein gemüt- und humorvolles, melodienfrohes Sing- 
spiel uns nach wie vor dringend not tue. Der 
Schrei danach erschallt nach wie vor in der Presse. 
Die Sehnsucht nach der Erfüllung dieses sch&nen 
Traumes ist seither in den Herzen der musikalischen 
Theaterfreunde eher noch stärker geworden. Und 
ich meinerseits behaupte nach wie vor, daß die 
Kräfte für die Verwirklichung dieser Träume unter 



Deutsches Singapiel 

den Dichtern wie unter den Musikern unserer 
Tage vorhanden seien, wenn auch vielleicht nicht 
so reichlich, um eine eigne Buhne for diese Kunst- 
gattung ausgiebig zu ernähren. Was fehlt, sind 
also nur die Buhnen, die sich zu Versuchen zur 
Verfügung stellen, und die Bühnenleiter, die aus 
eigner Initiative oder mit Hilfe begabter Kapell- 
meister und Dramaturgen sich auf das Entdecken 
sowie Anregen und Experimentieren verlegen 
möchten. Wenn ich es auch mit jenem Versuche 
in Berlin 1905 falsch angefangen habe, so ist 
damit doch noch nicht bewiesen, dag ich nicht 
der rechte Mann gewesen wäre für die gestellte 
Aufgabe. Und wenn man mir nur endlich einmal 
ein gutes Theater mit reichlichen Mitteln und 
einem tüchtigen Opernensemble zur Verfügung 
stellte, so müßte es mir, meine ich, dennoch ge- 
lingen, das deutsche Singspiel ans Licht zu ziehen 
und der kränklichen komischen Oper neues Blut 
zuzuführen. Also hoifen wir weiter. 



IT I 



Das 

Familienblatt und die Literatur 

(1907) 



Das Familienblatt und die Literatur %,><C'>^<><'''-4^>^'*^ 



s 



Eb ist ein sehr altes Lied, das ich noch ein- 
mal sisgen will: das Klagelied des armen Dichters 
über das reiche Fantilienblatt. Und doch scheint 
es nicht unangebracht, den alten Traiierkantus 
gerade jetzt wieder einmal steigen zu lassen, denn 
ich habe den Eindruck, als ob im Laufe des letzten 
Jahrzehntes ungefähr der literarische Pegel des 
deutschen Familienblattes wieder erheblich unter 
den zu Ende der achtziger und zu Anfang der 
neunziger Jahre erreichten Standpunkt gesunken 
wäre. Zudem ist die Frage in letzter Zeit gerade 
in diesen Blättern des öfteren angeschnitten worden 
(vgl. Literarisches Echo VIII, 411 u. 746), und eine 
kleine Aufmunterung durch ölfentliche Diskussion 
kann jedenfalls nichts schaden. 

Wer irgendwie im literarischen Leben Bescheid 
weiß, der kennt des Pudels Kern: der Dichter will 
leben und zwar ein wenig besser als der Hand- 
werker, denn es genügt ihm nicht, einen gefällten 
Magen und eine Schlafstelle zu besitzen, er braucht 



^^s,^/'^,,^''^,,^*'^ ^'^ Familienblatt uod die Lttertitar. j 

zur AureguDg seiner Schaffeaskraft vor allen Dingen I 
Stimmung. Uud die Stimmung ist für die meistenj 
Menschen von der Behaglichkeit der äußeren Yeiwfl 
hältnisse abliängig. Die uuBgemachten Zigeuner-fl 
uaturen, denen die Beschaffenheit der Wohnung, C 
der Kleidung und der Nahrung ganz gleichgöltig 1 
ist, gehören auch unter deu Dichtern zu den Aas- j 
nahmen. Im allgemeinen bedürfen diese Leute J 
ebenso wie alle anderen Künstler der freundlichea 1 
Eindrücke einer hübschen Einrichtung und einer 1 
zum mindesten wohlanständigen Lebenshaltung so- j 
gar noch mehr als der Durchschnittsphilister. Sie ] 
pflegen auch mit Vorliebe früh und unvernünftig j 
zu heiraten, und ihre Kinder verursachen, wie j 
Kinder anderer gebildeter Eitern auch, mit dettl 
Jahren immer wachsende Ausgaben. Die ökonomische 1 
Aufgabe, sich allein durch den Ertrag der Arbeit I 
ein sicheres, bis zum Höhepunkt des Lebens E 
steigerndes Einkommen zu verschaffen, ist aber für I 
den Schriftsteller nur dadurch zu lösen, daß er j 
leicht und jederzeit realisierbare Werte erzeugt, 1 
das heißt also, ein breites Publikum für seine Er-s 
Zeugnisse findet, und daß es ihm gelingt, seine J 
Ware so hegehrt zu machen, daß sie unter der j 
Einwirkung der Konkurrenz einer stetigen Wert- 1 
Steigerung fähig ist. Der Ertrag, den ein Buch ] 
abwirft, kann nicht mit bestimmten Ziffern in Rech- 
nung gestellt werden, auch von den berühmtesten t 



Das Famitienblatt und die Literatur :S^ 

Namen nicht, denn Bücher haben ebeu ihre Schick- 
sale, und kein Verleger kann einem Autor garan- 
tieren, daß neue Auflagen immer gerade zu den 
Terminen nötig sein werden, an denen der Autor 
das Geld braucht. Folglieh ist jeder nicht von 
Haus aus materiell unabhängige Schriftsteller auf 
die Honorare der periodisch erscheinenden Blätter 
angewiesen. Nun ist es aber wiederum durchaus 
selbstverständlich, daß diejenigen Blätter die besten 
Honorare zahlen können, die das größte Publikum 
haben. Und da unter den Lesern die Halbgebildeten 
mit untergeordneten Ansprüchen des Geschmacks, 
die Unreifen, Jugendlichen, den Kennern und Fein- 
schmeckern, Älteren und Reifen an Zahl ungeheuer 
überlegen sind, so müssen die Familienblätter, die 
auf den Geschmack dieser Majorität zugeschnitten 
sind, auch selbstverständlich die kapitalkräftigsten 
Zahler sein. Man kann also aus dieser Voraus- 
setzung die Behauptungherleiten: je mehr Abonnenten 
ein Blatt bat, desto schlechter ist es vom künst- 
lerischen Standpunkt aus betrachtet. In dieser 
Allgemeinheit ist der Satz glücklicherweise nicht 
zutreffend, denn es gibt auch Blätter, die wegen 
ihrer Schlechtigkeit keine Abonnenten linden und 
andererseits einige wenige, die trotz ihrer Güte 
gedeihen. Als ein Axiom läßt sich aber der Satz 
aufstellen: je mehr Abonnenten ein Blatt bat, desto 
sicherer wird der Geschmack dieser Abonnenten 



t Das Familienblatt uod die Literatur 



auf die literariBclie Leitung einen maßgebeaden 
Einfluß ausüben. Die illustrierten Familienblätter 
nun verdanken ihre mehr oder minder große < 
Abonnentenziffer dem Umstände, daß sie das Unter- 
haltungs- und Bildungsbedürfnis ihres PubUkumB I 
in erwünschter Weise befriedigen. Und diesM 
Publikum besteht fast ausschließlich aus alten 
Herren und Damen, die nichts mehr, sowie aus 
halbwüchsigen Jünglingen und Jungfrauen, die noch 
nicht genügend zu tun haben, also daß sie für onter- 
haltende Lektüre reichlich Zeit besitzen. Männer 
und Frauen, die mitten im Leben stehen und ernst- . 
hafte Aufgaben zu erfüllen haben, kommen im all- 
gemeinen nur dazu, diese Journale wie Bilderbücher 
durchzublättern. Da nun ferner immer noch das 
Erziehungsprinzip besteht, der Jugend die Wahrheit 
möglichst vorzuenthalten, weil man es für Charakter- . 
bildend hält, sie durch Schaden klug werden zu 
lassen, und andrerseits das beschauliche Alter seine 
Ruhe haben will und sich die unangenehmen Wahr- 
heiten des Lebens bereits an den Schuhsohlen ab- 
gelaufen zu haben glaubt, so ist es durchaus selbst- 
verständlich, daß für diese beiden Kategorien von 
Lesern eine Unterhaltung zubereitet wird, die alle ■ 
unangenehmen Eindrücke, alle gefährlichen Auf- 
regungen, jeden Anreiz zu anstrengendem Nach- 
denken oder energischem Widerspruch ängstlich 
vermeidet. 



Da« Familieablutt und die Literatur q 

Der Schriftsteller, der von seiner Feder leben 
und seine Familie anständig erhalten will, ntuB 
sich also wohl oder übel dazu bequemen, für Kinder 
und Greise der breitesten mittleren Bildungsschielit 
zu schreiben. Damit ist gesagt, daß er auf alle 
die Gegenwart stark bewegenden Probleme ver- 
zichten muß, weil dies ohne Berührung religiöser, 
politischer, sozialer und ethischer Streitfragen nicht 
möglich ist; er darf nicht leidenschaftlich Partei 
nehmen, weil er dadurch berechtigte Empfindlich- 
keiten stören könnte; er muß sieh in seinen Schil- 
derungen absoluter Stubenreinlichkeit befleißigen 
und sich die Gesetze des Anstandes vom diplomierten 
Gouvernantenstandpunkt vorselireiben lassen. Was 
bleibt ihm also übrig? Die gesinnungs tüchtige, 
auf der Grundlage behördlich approbierter Leit- 
fäden fttr höhere Töchterschulen vorgetragene Hi- 
storie und das moderne Gesellschaftsbild, soweit 
es mit den oben skizzierten Einschränkungen noch 
existieren kann. Seine ganze Tätigkeit als Schil- 
derer der Gegenwart wird also darauf hinauslaufen 
müssen, verlogene Dorfidyllen, spannende Kriminal- 
oder reizende Liebesgeschichten aus der guten Ge- 
sellschaft mit der soliden Hochzeit als Schlußeifekt 
zu verfertigen. Ist das noch Literatur? Nein! — 
Ein Publikum von Kindern und Greisen bringt wie 
im Theater so auch in der Literatur die klinst- 
ierische Qualität unfehlbar herunter. Es ist also 



Das Familien blatt und die Literatn^ 

versUlnillich und entscliuldbar, wenn derjenige Teil 
unserer deutschen Kritik, der für besonders tief- 
gründig und schneidig gelt«n möchte, von vorn- 
herein jedes Theaterstück, das beim Publikum einen 
großen Bühnenerfolg gehabt hat, und jeden Roman, 
der in einem weit verbreiteten Familienblatt ge- 
standen hat, als unliterarisch ablehnt. 

Wenn aber dieses Prinzip in seiner Allgemein- 
heit berechtigt wäre, dann könnte mau wieder den 
Satz aufstellen; um literarisch ernst genommen zu 
werden, mufi ein Dichter entweder in der Wahl 
seiner Eltern sehr vorsichtig gewesen oder von 
Natur mit dem erforderlichen Talent zum Hunger- 
kfinstler ausgerüstet sein. Nach demselben Prinzip 
könnte dann natürlich auch ein unliterarischer 
Vielschreiber oder ordinärer Tantiemenschinder 
sich durch eine reiche Heirat in einen gottbegnadeten 
Dichter verwandeln; denn völlig frei seinem Genius 
allein zu gehorchen, ist nur ein Dichter, dem die 
finanzielle Verwertung seiner Arbeit gleichgültig 
und der oliendrein imstande ist, seine Bücher 
auf eigene Kosten drucken zu lassen. Wollte man 
aus dieser Voraussetzung alle logischen Konse- 
quenzen ziehen, so müßte der ergötzlichste Unsinn 
herauskommen. 

Der nationale Wohlstand hat sich in Deutsch- 
land seit dem Jahre 1871 so außerordentlich ge- 
hoben, daß wir gegenwärtig über große Scharen 



r 



Das Familienblatt und die Literatur ia<<^*>^*»^^sa^ 



von reichen JüDgliugen und Jungfrauen verfügen, 
die leider nichts Besseres zu tun haben als zu 
dichten und ihre Dichtungen drucken zu lassen, auf 
eigene Kosten, in herrlicher Ausstattung „30 Exem- 
plare auf kaiserlich Japan" mit allen Schikanen, 
mit Buchschmuck von unergründlich mystischer 
Tiefe versehen. Diese Literatur der Wohl- 
situierten häuft sich, wie mir die Wissenden 
bestätigen werden, von Jahr zu Jahr in höheren 
Stößen auf den Tischen der Rezensenten an. Über 
alle diese Erzeugnisse kann man irgendwo preziös 
stilisierte Abhandlungen aus befreundeter Feder 
lesen, deren krausem Gedankengange auch der 
eifrigste Literaturfreund nicht zu folgen vermag, 
also daß er notgedrungen einen gewaltigen Respekt 
sowohl vor dem betreffenden Dichter wie vor dessen 
Propheten bekommen muß. Aber will wirklich 
jemand behaupten, daß durch das massenhafte Auf- 
treten dieser tatsächlich .freien, das heißt ho- 
norarfreien Dichtung unsere Literatur an Würde, 
Weite oder Vertiefung gewonnen hätte ? Das Por- 
temonnaie des Dichters ist also auch wohl nicht 
in ein konstantes Verhältnis zum literarischen Werte 
seiner Leistung zu bringen. Ebensowenig geht es 
an, den literarischen Wert einer Dichtung etwa 
nach dem Thema derselben abzuschätzen. Man 
kann nicht sagen: Kriminalgeschichten, Sportge- 
schichten , Verlohungs geschieh ten , Hohenzollern- 




t Das FamilienbUtt und dte Literator* 

historien mit Sehlußhurra usw. usw. seien un- 
literarisch, dagegen die Darstellung von Ehebrüchen, 
illegitimen Verhältnissen, perversen Leidenschaften, 
anrüchigen Milieus usw. usw. literarisch. Ein 
durchaus freier Geist im Besitze der modernsten 
Bildung kann eine wundervolle literarische Pose 
annehmen und doch einen ausgemachten „Stunk" 
zusammenfaseln, während andererseits ein ächtar 
Dichter trotz aller Beschränkung durch polizeiliche 
Zensur und die schlimmere Bevormundung des 
Familienblatt-Redakteurs ein Meisterwerk zuschaffen 
imstande ist. 

Es wird schwerlich gegen die hier aufgestellten 
Behauptungen und Folgerungen etwas einzuwenden 
sein — man wird sogar sagen können, das seien 
Binsenwahrheiten. Gern zugegeben. Folgt aber 
daraus, daß dieser Umstand unabänderlich sei und 
als solcher ohne Widerstand hingenommen werden 
müsse? Ist der prästabilierte Zweck des Genies 
das Verhungern? Ist der Familienblatt-Redakteur 
der von der Vorsehung erwählte Hüter und Pfleger 
der Dummheit und Geschmacklosigkeit? Ist das 
deutsche Lesepuhlikiim in seiner überwältigenden 
Mehrheit wirklich eine solche rudis indigestague 
moles, da6 der unglückliche Familienblatt-Redakteur 
dagegen schütz- und hilflos wäre? Fast möchte 
es so scheinen; denn es liegen aus der Geschichte 
des deutsehen illustrierten Familienblattes Fälle 



Das Fatnilienblatt und die Literatur q 



vor, die beweisen, daß dessen Leser nicht einmal 
vor den berühmtesten Namen den schuldigen Respekt 
besitzen. In diesen Blättern haben wir die beweg- 
liche Klage des Daheim - Redakteurs über seine 
Abonnenten vernommen, die in einmütiger Ent- 
rüstung wider einen der schönsten Romane von 
Theodor Fontane demonstrierten. Die ungemein 
rasch emporgeblühte, verständnisvoll geleitete Zeit- 
schrift „Vom Fels zum Meer" verlor Tausende von 
Abonnenten durch einen Roman von Wilhelmine 
von Hillern, derselben Dichterin, die durch das 
knallige Theaterpathos ihrer „ Geierwal ly" wenige 
Jahre früher das Herz aller blonden deutschen 
Jungfrauen in entzückte Wallung versetzt hatte — 
und eine Novelle von Sudermann gab derselben 
Zeitschrift beinahe den Todesstoß. Muß man da 
nicht am Publikum verzweifeln'? 

Andrerseits die Redakteure. leb habe manchen 
begabten Schriftsteller kennen gelernt, der mit 
wohl durchgebildetem Geschmack, reichlichem Wissen 
und allerbestem Willen ausgerüstet schon in jungen 
Jahren zur Leitung eines weit verbreiteten illu- 
strierten Farailienblattes gelangte und frisch und 
fröhlich zu reformieren anfing. Die Energie hat 
aber niemals lange vorgehalten. Die einen wurden 
behagliche Philister, denen die Literatur in demr 
selben Verhältnis gleichgültiger wurde als die 
Abonnentenzahl und damit ihr Gehalt stieg. Die 



s Das Familicnblatt und die LiteratiaJ 



anderen wurden verbissene Zyniker, die ein diabo- 
lisches Vergnügen darin fanden, ihrem Publikum 
eitel Kitsch und Quark vorzusetzen, die Manuskripte 
von ihrer älteren weihlichen Verwandtschaft prüfen 
ließen und sich ihren Verlegern dadurch unent- 
behrlich zu machen suchten, daß sie von Zeit zuJ 
Zeit eine gloriose Idee zur wirksamen Steigerung! 
des Stumpfsinns ausheckten. Die dritte GattuugJ 
endlich war von Natur aus ängstlichen GemUte^l 
und brachte es schon nach kurzer Zeit dazu, vorl 
jeder mißbilligenden Postkarte eines Abonnenten f 
zu zittern und ihre literarischen Ansprüche völlig ] 
auf das Niveau der vollendetsten alten Tante und ; 
des pensionierten Staatsbeamten sechster Bang- 
klasse herunterzusehrauber. Muß man da nicht \ 
an den Redakteuren verzweifeln? 

Endlich die Verleger. Sie sind die allmächtigen j 
Brotherren der Redakteure und wachsen sich durch ] 
dieses Machtgefühl sehr leicht zu kleinen Tyrannen 
aus, die aber selbst wieder vor jenen berüchtigten ] 
offenen Postkarten der Abonnenten das Zittern io [ 
die Kniee kriegen. Von tausend Abonnenten hat j 
vielleicht einer ein besonderes Bedürfnis zum Post- ] 
kartenschreiben. Wenn aber ein Blatt 50 000 ] 
Abonnenten hat und es laufen 50 Postkarten ein, , 
die mit der Kündigung des Abonnements drohen, 1 
falls der oder der unerhört langweilige Autor 1 
wieder zu Worte komme, oder falls die Rücksicht, j 



^ 



Das FamUienblatt und die Literatur ^^^^S^^^^S^ri^Sfir 

die man der zarten Empfindung unverdorbener 
junger Mädchengemüter schuldig sei, noch weiter 
außer acht gesetzt werde, so wird der Verleger 
nervös, macht dem Redakteur eine große Szene, 
falls er ihn nicht gleich an die Luft befördert, 
und setzt durch geeignete Maßnahmen die Um- 
wandlung seinee Blattes in einen idealen literarischen 
Kindergarten durch, in dem die zartesten Gemüter 
auch ohne elterliche Aufsicht vor jedem rauhen 
Hauch der Wirklichkeit bewahrt sind. Die stetige 
Furcht vor der Unzufriedenheit der Abonnenten 
und vor dem Ideenreichtum der Konkurrenz bringt 
es zuwege, daß alle unsere illustrierten Farailien- 
blätter sich äußerlich und innerlich so verzweifelt 
Ähnlich sehen. Alle haben sie ihre Rätsel- und 
Spielecke, die Abteilung „Für unsere Frauen", 
„Für unsere Kleinen", alle führen sie die stumpf- 
sinnige Rubrik „Zu unseren Bildern", eine nach 
der anderen machen sie sich jene fürchterliche Er- 
rungenschaftder „Jetztzeit" zueigen, photographische 
Aufnahmen aller Tagesereignisse nach scheußlichen 
Zinkklischees ihren Lesern vorzuführen. Festliche 
Tafelrunden aller stattfindenden Kongresse, Komitee- 
sitzungen, mondäne Hochzeiten, lebende Bilder in 
hohen Kreisen, mit ausgestreckten Armen auf ein- 
ander zustürzende Monarchen , anmutige Visagen 
vielgesucbter Verbrecher usw. Muß man da nicht 
an den Verlegern verzweifeln? 



Das Fatnilienblatt □nd die Ltteratn 

Weon ich eingangs behauptete, daß der Stand- 
punkt der Familienblätter in den letzten zehn bis 
zwanzig Jahren merkbar gesunken sei, so leite ich 
diese Behauptung aus meiner eigenen Erfahrung 
und der einiger nahestehenden Hterarischen Ge- 
nossen her, denn selbstverständlich habe ich nicht 
zwanzig Jahre hindurch sämtliche illustrierten Fa- 
milienblätter gelesen — das wäre eine Höllenstrafe, 
für die der würdige Sünder hoffentlich nie geboren 
werden wird! Damals, zu Anfang der Achtziger- 
jahre, fügte es sich, daß hie und da ein schneidiger 
junger Verleger mit einem frisch-fröhlichen und 
geistig wohlgewachsenen Redakteur zur Gründung 
eines neuen Unternehmens sich zusammenfanden, 
wie zum Beispiel Richard Bong mit Paul Dobert, 
als „Zur guten Stunde" gegründet ward. Da war 
es möglich, daß in diesem Blatt ein Roman von 
mir erscheinen konnte, dessen verwickelter Knoten 
durch eine Ovariotomie gelöst wurde , ohne daß 
auch nur ein Abonnent deswegen abgesprungen 
wäre. Und noch zehn Jahre später erschien, wenn 
ich mich recht entsinne, in demselben Blatte ein 
anderer lustiger Roman von mir, der heute noch 
von ungemein zahlreichen deutschen Frauen zu den 
fröhlichsten Erinnerungen ihrer Jugendlektüre ge- 
zählt wird , trotzdem dieser Boman („Die Erb- 
schleicherinnen ") von einem pastoralen Literatur- 
blatt als der Gipfel aller Schamlosigkeit und ge- 



Dae Familienblatt und die Literatur ^^ 

fährlichsteD Giftigkeit hingestellt wurde, weil darin 

eine junge BtlhneukUnstterin den Heiratsantrag eines 
übrigens sehr sympathischen Pastors zurückweist 
mit der Begründung, daß ihr ihre Kunst über alles 
gehe — wohingegen sie gern bereit sei, ihn ohne 
Sakrament aus seinen Nöten zu befreien. Schon 
wenige Jahre später fand aber mein „Kraftmayr" 
in keinem illustrierten Blatt eine Unterkunft, und 
zwar weniger aus moralischen Bedenken, als weil 
das ausschließlich musikalische Milieu doch un- 
möglich das große Publikum interessieren könne! 
Als dann freilich gerade dieser Roman einen un- 
gewöhnlichen Erfolg und kolossale Verbreitung 
fand, wollten dieselben Redaktionen alle humo- 
ristische Musikantenromane von mir haben, und 
da ich solche nicht mehr schrieb, wurden meine 
anders gearteten Sachen abgewiesen. 

Ich bin Überzeugt, daß die meisten meiner 
Altersgenossen von ähnlichen mehr oder minder 
drolligen Erfahrungen berichten können. Damals 
schrieben Helene Böhlau, Ida Boy-Ed, Sophie Jung- 
hans, Alexander von Roberts, Hermann Heiberg, 
Hermann Sudermann , Georg von Ompteda und 
viele andere Herren und Damen für illustrierte 
Familienblätter Romane, in denen es durchaus 
nicht immer harmlos wie im Kindergarten zuging, 
sondern wirkliche Lebensfragen wie unter Er- 
wachsenen besprochen wurden. Heutzutage soll 



f l'Aa Fumilieoblatt und die Liiter«tnr 



das Dicht tnebr Torbominen ! Die genanntea und 
die ihnen geistesverwandten Talente schreiben ent- 
weder nicht mehr für die Familienblätter, oder 
aber sie haben vor der harten Notwendigkeit die 
Segel gestrichen und sich dem Anstandskodez und 
Sittengesetz der Redaktionen gefügt. Ludwig Gang- 
hofer zum Beispiel, ein Mann vou einer ganz un- 
gewöhnlichen schriftstellerischen Begabuiig, der in 
seiner Alpenwelt Land und Leute kennt wie kaum 
ein zweiter und sicherlich ebenso gut wie ein 
Anzengruber oder Rosegger die Fähigkeit besitzt, 
der Psychologie jenes Volkes bis in die versteck- 
testen Winkel nachzugehen . schreibt seine zahl- 
reichen Gebirgsroniane für die Gartenlaube. Wie — 
brauche ich hier nicht näher zu erörtern! Und 
dieselbe Gartenlaube galt einst für einen Hort des 
deutschen Liberalismus und wurde von allen reak- 
tionären Elementen gefarchtet und befeindet. In- 
zwischen haben die Marlitt, die Werner und die 
Heimburg dieser Gartenlaube den Stempel ihn 
Wesens, wie es scheint un verlöschbar, aufgeprägl 
und dieser Stempel ist für sämtliche deutsche! 
illustrierten Familienblätter die sichere Eontroll4 
marke geworden, auf deren Vorhandensein hin difi 
Redaktionen jedes eingehende Manuskript prtlfen, 
weil sie ihnen die Zufriedenheit der Abonnent« 
mit absoluter Sicherheit gewährleistet. Woh« 
schreibt sich nun wohl diese allgemeine sanfte Vej 



Das Familienblatt und die iäteratar « 



simpelung, dieses Streben, jegliche Eigenart zu 
unterdrücken und einander so ähnlich zu werden, 
daß man sich nur noch durch Titel und Format 
unterscheidet? Sind Verleger und Redakteure 
alle miteinander gleichmäßig alt und bequem ge- 
worden? 

Ich weiß darauf keine Antwort: ich weiß nur, 
daß die unternehmungslustigen Verleger von heute 
keine Familienblätter mehr gründen, sondern lieber 
ihre Angeln auswerfen in jenen trüben Gewässern 
der moderen großstädtischen Lebewelt, in denen 
es von fetten Hechten zu wimmeln scheint, als für 
welche der sichere Köder in der pikanten Lektüre 
besteht. Der Geschmack des Stammpublikums 
jener beliebten modernen Animierkneipen, genannt 
Kabaretts, ist für diese zahlreichen neu aufgetauchten 
illustrierten Unterhaltungsblätter maßgebeud ge- 
worden. In diesen Blättern schwelgt der Stift 
des Künstlers in Weiberbeinen und Busen , als ob 
die Menschheit der Gegenwart sich an Ballett- 
proben, Variötödamen, Badeszenen, Preisringem 
und anderen Champions nicht satt sehen könnte. 
Und der Text sucht sich mit mehr oder minder 
literarischen Allüren der Höhe jener zeichnerischen 
Eunstleistungen zu nähern. Die unabhängige 
Literatur findet ihr letztes Asyl in den nicht illu- 
strierten Monatsschriften , wie der alten und der 
neuen „Rundschau", und in den zwar immer noch 



t Du FunUirabUU und die Litorstsr ' 



zahlreichen, aber wenig zablkr&ftigen Partei- und 
Cliqoenblatteni , wwie in einigen ganz waügeo 
groSen Tageszeitungen. 

Die veise Ökonomie dieser Einriebtnng ist 
wirklich bewundernswert. Jeder Zweifel bei der 
Wahl der LektQre, jeder peinliche MißgrifF ist ans- 
gescblosEen. Die ehrbare deutEcbe Familie, in der 
die Tauten und die jungen Mädchen dominieren 
und der Großpapa Oberkontrolleur der Sitten and 
GeBinnuugeo ist, kann den Inhalt der wöchentlichen 
Jourualmappe ruhig unter sämtliche Mitglieder 
ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht verteilen. 
Sie weiß genau, daß in bezug auf literarische Speise"' 
das eine illustrierte Familienblatt genau so unver- 
fauglich ist wie das andere, und daß diejenigen, 
die einen etwas größeren Ballast von soliden wisseit* 
Bchaftlichen Artikeln und feinerer Belletristik mit 
sich fuhren , wie etwa Westermanns oder Vel- 
hagen & Klasings Monatshefte, doch sicherlich 
wenigstens als Bilderbuch auch den Jüngsten keine- 
Gefahr bringen können. Die ernsthaften Literatur- 
freunde älterer Richtung haben ihre Paetelsche, 
diejenigen neuerer Richtung ihre Fischersche 
„Rundachau". Die Literaten und sonstigen Partei- 
gänger aller möglichen Richtung haben ihr Leib- 
blatt, und fur Junggesellen, leichtere Damen und 
andere heimliche oder unheimliche Cochons ist 
gleichfalls reichlich gesorgt. Was bleibt da also 



4 



Uas Familien blatt und die Literatur « 

ZU wünschen übrig? Warum soll mau sich nicht 
mit dem seufzenden Zugeständnis trösten, daß alle 
Dinge dieser Welt seien, wie sie notwendig werden 
mu£Steu, und daß jedes Volk die Literatur bekomme, 
die es verdiene? Zu klagen haben doch eigentlich 
wirklich nur die paar Literaten Ursache, die zu 
ihrem Unglück mit einem empfindlichen Gewissen 
geboren sind, oder deren Talent so beschränkt isti 
daß sie die Dinge nur unter einem bestimmten 
Gesichtswinkel zu sehen und nur in ihrer be- 
schränkten Eigenart darzustellen wissen. Bei der 
Überfülle von Zeitschriften, mit denen unsere 
glückliche Gegenwart gesegnet ist, muß ja jeder 
geschickte Schriftsteller unfehlbar sein reichliches 
Brot verdienen — er braucht nur heute für die 
Familienstube des geistigen Mittelstandes, morgen 
für die seriösen Leute und übermorgen für die 
Cochons zu schreiben. Kann er das nicht, so hat 
er auch kein Kecht, sich zu beklagen, denn auf 
keinem Gebiete findet der Arbeiter seinen Lohn, 
der seine Arbeit durchaus anders machen will, als 
sie vom Auftraggeber verlangt wird. Übrigens 
bleibt ihm ja noch immer die klassische Dachstube 
des ächten Dichters, der edle Groll des Verkannten 
und die Hoffnung auf Nachruhm. 

Allerdings fährt man am sichersten und be- 
quemsten, wenn man sich mit der Logik der Tat- 
sachen abfindet, sich nicht die Köpfe anderer Leute 



^^s3''^<>3''K«3'^ Du FamilienbUtt und die Literatur 

zerbricht und den lieben Gott einen guten Mann 
sein läßt. Sollte man aber von mir, da ich doch 
nun einmal die Frage angeschnitten habe, ein 
Übriges erwarten, so möchte ich mir in aller Be- 
scheidenheit doch den leisen Zweifel erlauben, ob 
die Dinge, weil sie heute so sind, auch wirklich 
immer so bleiben müssen. Ein Streben nach Be- 
freiung der Geister, nach Vertiefung der Bildung, 
nach Heranziehung auch des unteren Volkes zum 
Verständnis wissenschaftlicher Bestrebungen, zum 
üenuS der Kunst , nach einer Umwälzung der 
Unterrichtsmethode in den Schulen, der Erziehung 
im Hause ^ mit einem Wort: ein energisches 
Rütteln der modernen Vernunft an alten Zäunen 
und Schlössern macht sich doch überall auch bei 
uns in Deutschland kräftig bemerkbar. Sollten 
nicht gerade die Faniilienblätter mit ihrer weited 
Verbreitung sich berufen fühlen, an dieser schönen 
und anssich tsvollen Aufgabe mitzuwirken? Man 
bemüht sich heute, ächte Kunst in die Schule und 
in die Kinderstube hineinzutragen, um eine wirk- 
liche Gesehmacksbildung vorzubereiten. Dürfen da 
die Leiborgane der großen geistigen Kinderstube 
träge beiseite stehen? Was man das große Publikum ' 
nennt, steht io geistiger Beziehung durchaus auf' 
kindlichem Standpunkt, und darum ist es auch 
lenksam und dankbar wie die Kinder. Und selbst 
von den zähen Alten sind noch viele der Suggestiv 



^ 



I 



Das Familieoblatt und die Literatuv iS.><N£,.4vs,<<N^ 

zugänglich. Man muß ihnen nur begreiflich machen, 
daß alle vernünftigen, tüchtigen Leute so und so 
denken, dann gelangen sie leicht dazu, sich ihrer 
Rückätändigkeit zu schämen und keck zu behaupten, 
sie hätten schon lange so und so gedacht. Ich bin 
überzeugt, daß ein geschickter Redakteur, der sich 
mit ehrlichem Eifer seiner Aufgabe widmet, auch 
auB einem Familienblatt einen wichtigen Faktor 
dieser friedlichen Revolution der Geister machen 
kann. Er könnte in seinem eigenen Blatt zum 
Beispiel durch scherzhafte Belehrung den Lesern 
den Geschmack an der gewöhnlichen Kost verekeln 
und hin und wieder ein literarisch bedeutsames 
Werk unter die Alltagsware einschmuggeln, das er 
vielleicht durch einen einleitenden Artikel dem 
Publikum von vornherein mundgerecht macht, oder 
über das er eine Diskussion im Sprechsaal er- 
öffnet, in dem er dann törichte Angriffe mit liebens- 
würdiger Ironie zurückweist. Das wäre ein Weg 
unter vielen. Der Familienblattiedakteur , der in 
einer bekannten literarischen Fachzeitschrift jüngst 
die Klage über die künstlerische Minderwertigkeit 
der Familienblattromane mit der Begründung 
zurückwies, daß überhaupt nicht so viel gute 
Romane bei uns jährlich produziert würden, um 
auch nur ein Fünftel des Bedarfes der Familien- 
blätter zu decken, hat ganz entschieden unrecht. 
Mag die ernste Kritik, auf die er sich beruft, von 



t<^ Diu FaroiLieablatt und die Literatur 

der gaDzen großen Jahresproduktion wirklich 
höchstens ein Dutzend alg literarisch wertvolle 
Leistungen anerkennen, so beweist das durchaus 
noch nicht, daß unter den übrigen Hunderten von 
Romanen nicht mehrere Dutzend sein könnten, die 
vernünftigen Ansprüchen an eine gute Unterhal- 
tungslektüre für geschmackvolle Leute genügen — 
und mehr kann man von der täglichen Kost regel- 
mäßig erBcheinender Zeitschriften doch nicht ver- 
langen. Wohl aber kann man ganz bestimmt be- 
haupten, daß die vielen tüchtigen Schriftsteller, die 
über das Leben etwas Eigenes zu sagen haben und 
über die nötige Darstellungsgabe verfügen, um 
allen berechtigten Ansprüchen an jene Durch- 
schntttsware zu genügen, dies in den eng gesteckten 
Grenzen der Spezi alanforderungen für den Familien- 
blattroman nicht leisten können. Weder politische 
noch religiöse Tendenz, in erotischer Hinsicht 
strengste Storchgläubigkeit, keine Ehescheidungen, 
noch Ehebrüche, noch Selbstmorde, ereignisreiche 
Handlung, stets zunehmende Spannung, über- 
raschende Wendung am Schlüsse jedes Kapitelsi 
glücklicher Ausgang und angenehmer Total- 
eindruck — so lautet zugestandenermaßen das all- 
gemein gültige Rezept für die widerlich süßliche 
Mixtur, die die ideale deutsche Jungfrau und deren 
werte Angehörigen jahrein, jahraus zu schlucken 
bekommen. Daß kein ehrlicher Poet nach diesem 



Das Familienblatt und die Literatur ^S^ 

Rezept etwas Anständiges zu leisten vermag, liegt 
auf der Hand. Es kann also nur besser werden, 
wenn die Familienblätter entweder dem lebensreifen, 
geschmackvollen Schriftsteller gestatten, seine Weis- 
lieit uükastriert nicht nur an den Mann, sondern 
auch an das Weib zu bringen — oder aber — 
wenn das den zitternden Kedakteuren unmöglich 
erscheint , sich in Geduld zu fassen , bis das junge 
Mädchen von heute von Grund aus revolutioniert 
ist und sich jenen Vordertreppenschund einfach 
nicht mehr gefallen läßt. Mithin könnte die ge- 
samte Schriftstelleiwelt nichts besseres tun, als 
mit vereinten Kräften an der Umgestaltung der 
Mädchenerziehung arbeiten. — 

Darauf wird's denn wohl auch hinauslaufen. 



Theatralische Probleme. 

(1906) 



Sobald der Deutsche die Rednertribüne beateigt 
oder die Feder in die Hand nimmt, um zur Öffent- 
lichkeit zu reden, fühlt er sich verpflichtet, sich 
das Ansehen eines Mannes zu geben, der gewohnt 
ist, seinen Blick über die Trivialität des Alltags 
und die blamablen Menschlichkeiten des großen 
Haufens hinweg auf die Ewigkeit zu richten. Er 
darf, sobald er das Gebiet rein praktischer Tages- 
fragen verläßt, beileibe nicht die Meinung auf- 
kommen lassen, als ob in seiner Schätzung die 
gegenwärtigen Dinge, die seiner Betrachtung unter- 
liegen, an sich des ernsthaften Interesses wert 
wären; denn von dem flachen Geist, der nur an 
der Gegenwart klebt, unterscheidet sich der wissen- 
schaftlieh geschulte Denker bekanntlich dadurch, 
daß er seinen Blick auf Anfang und Ende, auf 
den geschichtlichen Werdevorgang und auf die zu- 
künftigen Entwicklungsmöglichkeiten wendet. Die 
Gegenwart hat für einen solchen immer nur als 
Durchgangsstation auf jenem himmelweiten Wege 
eine gewisse Bedeutung. Wenn nun gar ein ernst- 
hafter Geist über eine Kunstform zu reden anhebt, 



» Theatralische Problei 



H 



die für die überwältigende Mehrheit der Mit- 
menschen nur eine bessere Unterhaltung oder aber 
ein Geschäft bedeutet, so wird er sich erst recht 
verpflichtet ftlhlen, seinen Gegenstand erst einmal 
historisch zu behandeln, dann aber auch eine strenge 
Scheidung vorzunehmen zwischen dem Theater als 
Vergnügungsinstitut und dem Theater als Pflege- 
stätte des hohen Dramas. Es ist zehn gegen 
eins zu wetten, daß bei jeder solchen wissenschaft- 
lich gemeinten Betrachtung theatralischer Dinge 
die Gegenwart gegeotiber der klassischen Ver- 
gangenheit in Athen und Weimar überaus schlecht 
wegkommen und der Schluß der Betrachtung auf 
die Hoffnung der möglichen Wiedererweckung einer 
wahrhaft nationalen Schaubühne im Sinne der alt- 
hellenischen hinauslaufen wird, 

Ist es nicht verwunderlich, daß unsere wissen- \ 
schaftliche Welt, die doch auf fast allen andern 
Gebieten sich sonst die entwicklungsgeschichtliche i 
Betrachtungsweise zu eigen gemacht hat, auf dem , 
Gebiete gerade der künstlerischen Phänomene des . 
menschlichen Geistes die tatsächlichen Erfahrungen | 
der Naturbetrachtung so selten anwenden mag! 
Wie kann man nur bei solcher wissenschaftliehen 
Betrachtung der Naturphänoraene das Prinzip der j 
Aufwärtsentwicklung zur vollkommenen Form durch ' 
Vererbung, Auslese und Anpassung überall wirk- 
sam erkennen . und andererseits bei Betrachtung | 



Theatraliache Probleme « 

der Gteistesphänomene ao hartnäckig bei dem alten 
Vorurteil beharren, daß das Vergangene hoch über 
dem Gegenwärtigen stehe und eine Eeasernng nur 
von der Rückkehr zu primitiven Zuständen zu er- 
hoffen sei?! Ich meine, wir müssen uns bei der 
Beurteilung einer so lebendig gegenwärtigen Kultur- 
frage, wie sie das Theater immer bedeutet, zunächst 
einmal von der Ungerechtigkeit eines solchen Vor- 
urteils freimachen. Wer von dem Theater der 
Vergangenheit wirklich eine einigermaßen klare 
Vorstellung besitzt und gerecht sein will, der kann 
nicht anders als anerkennen, daß die Leistungen 
des Theaters sieh in einer aufsteigenden Linie 
bewegen, die durchaus derjenigen parallel läuft, 
welche die Entwicklang jeder anderen menschliehen 
Geistestätigkeit auch zeigt. Die Hauptfehlerquelle 
aller ungerechten Urteile über das gegenwärtige 
Theater beruht darin, daß die Betrachter nur einige 
markanteste Höhepunkte aus der Vergangenheit zum 
Maßstabe nehmen und die Durchschnittsleistungen 
jener früheren Glanzzeiten entweder nicht kennen 
oder absichtlich nicht mit in Betrachtung ziehen. 
Im alten Griechenland war für unsere Begriffe 
das Niveau der allgemeinen Bildung so niedrig, 
daß nur einige ganz wenige, überaus hei-vorragende 
Geister imstande waren, die höchste Dichtungsform 
der Tragödie überhaupt zu meistern. Und deren 
Werke wurden alsdann nur an hohen Festtagen, 

XIX 




B TbcstraÜBche Problone 

an geweihten Stätten und in einer fast unverrückbar 
feststehenden Form der Nation vorgeführt. Es 
ist selbstverständlich, daß diese seltenen weihe- 
volleo Darstellungen der Werke jener wenigen aus- 
erwählten Geister ein ganz anderes Relief bekamen 
und eine weit tiefere Wirkung ausüben mußten 
als die täglichen Aufführungen Tausender von 
verschiedensten Werken aller erdenklichen Stil- 
arten in unserer Zeit und vor einem durch Über- 
fülle und leichte Erreichbarkeit des Gebotenen 
blasierten Publikum. Die Wiederkehr eines solchen 
Verhältnisses zwischen dem Volke und seinem 
hohen Drama wäre also nur nach völliger Ver- 
nichtung unserer Kultur denkbar. — Und nicht 
viel anders steht es um den Ruhm des weimariechen 
Theaters unter Goethes Leitung. Ks war eben 
ein Goethe und ein Schiller vorhanden, und deren 
Werke wurden am weimarischen Hoftheater ver- 
hältnismäßig gut aufgeführt, weil der Bühnenleiter 
das Glück gehabt hatte, durch die Anziehungskraft 
seines Namens einzelne hervorragende Kräfte zu 
gewinnen, und viel Mühe darauf verwendete, einen 
edlen deklamatorischen Stil auch den minderen 
Schauspielern nach Möglichkeit beizuhringen. Man 
würde sich aber doch wohl sehr irren, wenn man 
meinen wollte, eine Darstellung irgendeines klassi- 
schen Dramas sei am Theater Goethes trotz der 
berühmten Namen Corona Schröter, Karoline Jage- 



Theatralische Probleme 4 

mann, Pius Alexander Wolf u. a. m, mit der heutigen 
Darstellung eines solchen Werkes an einer unserer 
ersten Buhnen zu ihrem Vorteil vergleichbar ge- 
wesen. Man lese nur einmal in den Goetheschen 
Tagebüchern die Bemerkungen nach, die der Alt- 
meister über die Qualität der Schauspieler an 
hervorragenden Bühnen seiner Zeit macht, zum 
Beispiel Frankfurt und Stuttgart. Man gewinnt 
daraus die deutliche Vorstellung, daß zu jener 
Zeit die Mitglieder der ersten Stadt- und Hof- 
theater kaum wesentlich über dem Niveau heutiger 
Schmierenkomödianten gestanden sein können. Es 
ist ja auch gar nicht anders möglich; denn die 
Komödianten jener Zeit waren mit wenigen Aus- 
nahmen ungebildete, von der guten Gesellschaft 
ausgeschlossene Menschen, welche die naive Volks- 
anschauung ruliig zu den Seiltänzern und Degen- 
schluckern in einen Topf warf. Schon was von 
ihnen verlangt wurde, machte es ihnen unmöglich, 
Fachkünstler in unserem Sinne zu sein. Derselbe 
Mann, der heute den „Sarastro" sang, mußte 
morgen in irgendeiner Farce den geprügeltea 
Ehemann darstellen und übermorgen im Ballett 
groteske Sprünge ausführen können. Mozart hat 
seine deutschen Opern niemals von lauter geschulten 
Sängern ausgeführt gehört. Höchstens die Prima- 
donnen und die ersten mannlichen Gesangskräfte 
waren durch eine hohe Schule ihrer Kunst gelaufen. 



I 



Der weitaus größte Teil sämtlicher Partien wurde 
von ScbauEpielero ausgefohrt, die eben ohne Stimme 
und ohne Schulung ihr Bestes taten. Von einer 
Regie in unserem heutigen Sinne war noch gar 
keine Rede, ganz zu schweigen von irgendwelchen 
hohen Ansprüchen an historische Ächtheit und 
künstlerische Schönheit der Kostüme und Deko- 
rationen. Von einem sorgfältig abgetönten Ensemble 
hatte man im rezitierten Drama wenig, im musi- 
kalischen gar keine Ähnung. Wie lächerlich neu 
alle diese für uns längst selbstverständlichen Forde- 
rungen sind, das können uns heute noch einzelne 
alte Herren erzählen, die über fünfzig Jahre im 
Theater- und Musikgetriebe tätig sind. So hat 
jüngst einmal der Züricher Kapellmeister Hegar, 
einer imserer bedeutendsten Orchesterdirigenten, 
Erinnerungen zum besten gegeben, wie es noch 
n den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
n den Orchestern größerer Theater- und Konzert- 
nstitute zuging. Die wenigsten Kapellmeister ver- 
standen oder gaben sich die Mühe, aus der Partitur 
zu dirigieren. Sie sehlugen mit dem Fiedelbogen 
den Takt nach einer Primgeigenstimme. Bei der 
Einstudierung einer Mozartschen oder Rossinischen 
Oper, ja selbst einer Symphonie von Beethoven 
war man vollständig zufrieden, wenn rhythmisch 
und harmonisch alles klappte und die vorge- 
schriebenen Portes und Pianos einigermaßen be- 



The«tralisi-.hp Prnbinrae « 

achtet wurden. Wenn ein Dirigent sich darauf 

versteifen wollte, durch feinere Nuancierung seine 
persönliche Auffassung zum Ausdruck zu bringen, 
80 streikte das Orchester einfach. Wenn ihre 
Stunde geschlagen hatte, gingen die Herren Musici 
eben nach Hause, und es fiel ihnen nicht ein, sich 
wegen der Marotten des Dirigenten überflüssig 
plagen zu lassen. Auf der Opernbühne übten die 
paar kehlfevtigen Primadonnen und angeschwärmten 
Tenöre eine Tyrannei aus, der sich kaum je ein 
Direktor oder Kapellmeister entgegenzustellen 
wagte. Und im Schauspiel war es auch nicht 
viel besser. Der Hanswurst war zwar feierlich 
verbrannt worden, aber die Lazzi des Komikers, 
die nicht im Buche standen, bildeten nach wie vor 
die eigentliche Würze des Komödienspiels. Und 
im höheren Drama verlangte der Kulissenreißer 
gebieterisch freie Bahn für sich und ersetzte durch 
Organaufwand die Bescheidenheit seiner geistigen 
Mittel. Eine dialektfreie, edle Sprechkunst war 
noch viel seltener zu finden als heutzutage. Nur 
für das bürgerliche Schauspiel und die Lokalpogse 
brachten günstige Umstände hier und dort und 
hin und wieder durchweg vorzügliche Darsteller 
zusammen, wie in Mannheim, Wien und in Berlin 
unter Iffland. Es ist das ja auch ganz selbst- 
verständlich, denn schauspielerische Talente hat 
es natürlich immer gegeben, und diese werden . 



-A 



Theatralische Probleme. 

(1906) 



t Tlieatralim^a PrnMeme 

Versachen der Mitlebendeo im höheren stilisierten 
Drama hören wir nichts. Der Geschmack des 
großen Publikums war viel mehr auf die an sich 
unzweifelhaft tüchtigen bürgerlichen Schauspiele 
von IfTland und seinen Nachahmern sowie auf 
harmlose Philisterkomödien gerichtet, deren Typus 
für seine Zeit Kotzehue am schärfsten ausgedrückt 
hat. Das Publikum fühlte sich durchaus nicht 
beleidigt, wenn es zwischen der Braut von Messioa 
und dem Tasso den Schneider Fipps zu sehen 
bekam. Und der Herzog Karl August, der doch 
wahrlich auf der höchsten Höhe der Bildung seiner 
Zeit stand, wollte seinem tief verehrten und ver- 
standenen Freunde Goethe durchaus die Schrulle 
nicht passieren lassen, daß er das Auftreten eines 
Pudels auf dem Hoftheater für eine Entweihung 
hielt. Goethe gab nicht nach — und „Der Hund 
des Aubry" wurde dennoch auf dem Hoftheater 
aufgeführt! Zwar wußte der Herzog bald darauf 
den alten Freund wegen der Kränkung durch die 
brüske Art seiner Entlassung als Theaterdirektor 
zu versöhnen, aber er hatte doch seinen Stand- 
punkt durchgesetzt und damit unzweideutig seine 
naive, durchaus volkstümliche Auffassung vom 
Wesen des Theaters bekannt, Erbauung und leichte 
Unterhaltung als gleichberechtigt proklamiert. 

Zu unserem klassischen Repertoire sind Kleist, 
Grillparzer, Hebbel hinzugekommen, samt reichen 



Theatralische Prohlen 

Schätzen auB der Weltliteratur. Und will jemand 
bestreiten, daß die gegenwärtige dramatische Pro- 
duktion mit ächten ehrlichen Dichtem wie Wilden- 
bruch, Hauptmann, Halbe, Hartleben. Hofinannethai 
an der Spitze, der Durchschnittsleistung jener 
Klingemann, Usteri, Ilfland, Raupach oder der 
Birch-Pfeiffer etwa nicht himmelhoch Überlegen 
seien ? ! Können wir den deutlichen Fortschritt 
nicht beinahe von Jahr zu Jahr verfolgen? Haben 
wir nicht zum Beispiel auf dem Gebiete des ele- 
ganten Feuilletonstückes Blumental, Fulda, Suder- 
niann, Hermann Bahr über ihre französischen Vor- 
bilder und deren ersten deutschen Nachahmer, 
Lindau, hinauswachsen sehen? Ein Stillstand oder 
Rückgang gar ist nur auf dem Gebiete des Lust- 
spiels zuzugeben; denn man kann im allgemeinen 
nicht sagen, daß die harmlosen Familienkomödien 
Blumenthals, Schönthans, Kadelburgsusw.usw., er- 
heblich besser seien als die Werke des biederen 
Papa Benedix. In den Komödien Änzengrubers 
hatten wir sogar einen Aufschwung genommen, auf 
den wieder eine gewisse Lahmheit gefolgt ist, und 
was heute auf dem Gebiete der Lokalposse oder 
"des Volksstückes geleistet wird, halt nur sehr 
selten den Vergleich mit den besseren Werken von 
Kaiisch oder gar L'Arronge aus. Auf die Ursachen 
dieser Erscheinung will ich später noch zu sprechen 
kommen. 



k Thc^atr&liHche Probleme^ 

Eb ist gewiß sehr schön, wenn immer wieder 
liebenswürdige Idealisten mit heiligem Eifer daran 
gehen, uns die Bedeutung des Theaters als einer 
moralischen Anstalt im Sinne Schillers ins Ge- 
dächtnis zu rufen, oder wenn sie gar far den von 
allem Dogma befreiten Menschen das Theater als 
Erbauungsstätte an Stelle der unzulänglich ge- 
wordenen Kirche empfehlen. Man darf mit Freude 
alle solchen Bestrebungen verfolgen und mag sie 
tatkräftig unterstützen, sofern sie darauf hinsielen, 
die Bühne den unheilvollen Einwirkungen geschäft- 
licher Notwendigkeiten zu entziehen, oder deri 
Heimatkunst in wohltätiger Loggelöstheit vonti 
Großstadtlärm freundliche Tempel zu bauen nnd 
einem festlich gestimmten Volke hier und dort 
klassische Meisterspiele zu bieten. Je mehr Streben, 
je mehr Bewegung, um so besser. Aber wir sollen 
darüber nicht vergessen, daß das Theater als volks- 
tümlichste aller Kunstanstalten zunächst einmal in 
den Stand gesetzt sein muß, auf das Volk za 
wirken, auf die große Masse, auf den Durchschnitt^J 
nicht nur auf die einzelnen anspruchsvollsten HOcl 
gebildeten. Damit ist ja keineswegs gesagt, daSJ 
die Bühne sich dem Geschmack des niederstffltj 
Bihlungspöbels anpassen solle. Das Publikum gehl 
tatsächlich mit derselben Grundforderung ins Theatee^j 
mit der es in die Kirche geht oder einstmals gini 
das heißt: es will sich auf kurze Zeit von deai'{ 



4 



Eindrücken und Vorstellungen des Alltags befreien 
und im Spiel eine neue, aber in irgendwelcher 
Beziehung ideale Wirklichkeit vor sich gestaltet 
sehen, die seine Gedanken von der gewöhnlichen 
Bahn ablenkt und, es angenehm aufrüttelnd, bei 
seinen allgemein menschlichen Gefühlen packt. 
Ehenso wie eine Kirche ihren Zweck verfehlt, die 
nicht sofort durch ihren Baum in starkem Gegen- 
satz zur gewohnten Arbeits- oder Heimstätte steht 
und durch die Form des Kultes nicht den künst- 
lerischen Instinkt gesunder Sinne befriedigt, so 
würde auch als Volksinstitut jedes Theater seinen 
Zweck verfehlen , das dem Publikum nicht das 
bieten wollte, wofür es so gern sein Geld bezahlt, 
nämlich eben jenen schönen Schein einer durch 
künstliche Mittel erreichten höheren Wirklichkeit. 
Dazu gehört in allererster Linie die Unter- 
haltsamkeit. Die ganze Dramaturgie beruht 
ganz einfach auf der Notwendigkeit, für zwei bis 
drei Stunden die Teilnahme einer kompakten 
Menschenmenge zu fesseln und dadurch Aufmerk- 
samkeit für das Wort des Dichters zu erzwingen. 
Sie ist also schlechthin eine Frage der Nerven- 
physiologie. Ein langweiliges Stück kann un- 
möglich gut sein; aber das Gegenteil von Lange- 
weile ist eben Unterhaltung. Warum will man 
denn durchaus diesen Begriff gering schätzen? 
Wir sprechen doch auch ganz richtig vom Theater- 



t ThestraliMhd Probleme 

Bpiel. Eb ist ein Spiel. Und ein Spiel will und 
Boll unterhalten. Wenn gelangweilte Menseben 
in Haufen beieinander sitzen, so ist nicht zu er- 
warten, daß die Absicht des Dichters, sie fröhlich, 
mitleidsvoll gerQhrt, zornig aufgeregt oder begeistert 
emporgehoben zu stimmen, gelinge. Die Abteilung 
in Akte, die Gewährung von Erholungspausen, die 
Verlegung der stärksten Kffekte au den Schluß 
der Aufzüge, die Auf rech terlialtung der Spannung 
auf den Ausgang der Handlung, die Steigerung 
der dramatischen Dynamik innerhalb der einzelnen 
Szenen, Akte und des ganzen Stückes, die Ab- 
wechslung zwischen ruhigen Dialogen und leiden- 
schaftlichen Szenen, zwischen Einzel- und Massen- 
auftritten , das Stimmungmachen durch Hinein- 
ziehen von Na turvor gangen, Geheimtuerei und 
Überraschungstriks — all das ist doch nur dazu 
da, um die Grundbedingung alles Tbeaterspiels zu 
erfüllen, nämlich die Nerven der Zuschauer in 
Spannung und dadurch aufnahmei^htg zu erhalten. 
Die Arbeit, welche die Nerven in dieser Spannung 
leisten, wirkt nicht ermüdend, sondern wohltätig 
erfrischend — und diese Erfrischung suchen wir 
alle im Theater. Sobahl das Seelenlehen des 
Menschen sich einigermaßen zu verfeinern beginnt, 
stellt sich auch das Bedürfnis nach dem Kausch 
ein — in diesem Ausdruck alle Sehnsucht des 
bedrängten Menschenkindes zusammengefaßt: Ver- j 



TheBtü&liRcbe Probleme 4 

gessen des Alltags, Erhebung über den gewöhn- 
liebea Gedanken- und Empfind ungskreis, Eröffnung 
ungewohnter weiter Ausblicke in das Jenseits der 
eigenen engen Umwelt, Aufstachelung zur Be- 
wunderung fremder Größe, Erweckung zur Selbst- 
erkenntnis und Beseligung durch schöne Dlusion. 
Und weil der Mensch, je höher er in der geistigen 
Entwicklung steigt, des Rausches um so weniger 
entraten kann, so kauft er ihn sich zu immer 
höherem Preis, der eine von der Kirche, der andere 
vom Theater und der AUerelendste im Schnaps- 
auBschank. Das Bedürfnis nach dem Rausch in 
diesem hohen Sinne dürfte wohl der sicherste 
Gradmesser der Kultur sein. Und wenn einmal 
wirklich die allgemeine Gleichmacherei, die Öde 
Philosophie der Nützlichkeit es dahin bringen 
sollte, daß die Menschen den hohen Rausch als 
eine unnütze Nervenkraftvergeudung verdammten 
und sich in musterhafter Abstinenz wohl fühlten, 
dann wäre eine so ekelhafte Menschheit zum Unter- 
gange reif. Jede geistige Produktivität würde 
lahmgelegt, und auch körperlich an die Stelle der 
schönen Wildheit der Natur die gewichtige Blöd- 
heit des Mastviehs gerückt werden. 

Diese Abschweifung mag immerhin nicht ganz 
unnütz gewesen sein, denn sie kann wohl dazu 
beitragen, uns das Wesen des Theaters als Kultur- 
faktor klar zu machen. Es ist demnach ebenso 



TheBtralische Pröl 




falsch, es nur als eine moralische Anstalt, wie ea 
ausschließlich als ein Unterhaltungsmittel zu be- 
trachten. Es in u6 eben beides zusammenkommen: 
die Moral muß unterhaltsam gepredigt werden 
und die Unterhaltung irgendwelche, wenn auch 
noch so bescheidene sittliche Zwecke verfolgen. 
Auch die bloße Erregung lauter Heiterkeit ist 
schon ein solcher sittlicher Zweck (vorausgesetzt, 
daß solches Lachen nicht zynisches Gewieber ist); 
denn das Lachen befreit, das Lachen ist imstande, 
Haß, Neid und Bosheit die Spitze abzubrechen, 
das Lachen versöhnt ~ mit einem Wort, es macht 
den Menschen menschlicher. Darum haben jene 
steifen Würdebonzen unrecht, die gleich eine Tempel- 
schändung darin erblicken wollen, wenn dasselbe 
Theater, welches das Drama höchsten Stils kulti- 
viert, gleichzeitig dem literarisch unbedeutendea 
bftrgerlicben Lustspiel Gastfreundschaft erzeigt. 
Das täglich spielende und vornehmlich das kon- 
kurrenzlose Theater hat die Verpflichtung, der 
Allgemeinheit zu bieten, was sie sucht und braucht: 
Erhebung und Erheiterung. 

Diese Allgemeinheit will auch weder die voll- 
kommene Abstraktion von aller Wirklichkeit im 
Theater haben, noch auch die peinlich genaue 
Reproduktion der Wirklichkeit, denn eine solche 
würde ihr gerade das vorenthalten, was ihr gesunder 
Instinkt im Theater sucht. Die Bühne kann 



I 



Theatralische Probleme e 



nicht die Natur oder das Leben wieder- 
geben. Sie muß beides räumlich und zeitlicb be- 
schneiden, um sie in die zwei bis drei Stunden 
eines Theaterabends und in den Rahmen des 
Bllhnenauaschnittes hineinzupassen. Sie gibt Szenen 
aus dem Leben und umrahmte Stücke aus der 
Natur. Das Guckkastenmäßige der Bühne, die 
fehlende vierte Wand, die uns im Theater zu 
Schills sellochspäbern und eifrigen Horchern macht, 
umgrenzt und bestimmt das ganze Wesen der 
dramatischen Kunst. Zwar gibt es heutzutage 
schon Leute, die sich die Köpfe darüber zerbrechen, 
wie man ohne dieses vom Vorhang verhüllte Guck- 
kastenloch auskommen könnte, wie man der Schmach 
wackelnder Palastmauern, auf Drahtnetz geklebter, 
im ärgsten Sturm unbewegter Baumwipfel usw. usw. 
abhelfen könnte, aber es will mich bedünken, als 
ob solches nachdenkliche Bemühen ganz unnütz 
verschwendet würde, ja, als ob man geradezu durch 
derlei Kunststücke die Kunst herabwürdige. Wenn 
es auch wirklieh gelingt, Bäume auf die Bühne 
zu stellen, die sieh im Winde bewegen oder feste 
Häuser zu bauen, die nicht wackeln, wenn man 
an die Tür pocht, so hat man doch damit nichts 
anderes erreicht, als etwa der Sehaubudenbesitzer, 
der ein sichtbar atmendes wächsernes Weib oder 
einen sprechenden und tanzenden Automaten aus- 
stellt. Die noch so sehön gemalte Waldkulisse 



It Theatralüche ProbTeme 

bedeutet doch im Grunde auch nichts anderes als 
die schwarze Tafel der primitiven Shakespeare- 
bQhne: Dies soll ein Wald sein. Und das 
genügt ja auch vollständig, denn dem Publikum 
liegt gar oichtH daran, daB ihm weisgemacht 
werde, es befinde sich im Walde und nicht im 
Theater. Selbstverständlich wäre es töricht, nicht, 
wo die Mittel dazu vorhanden sind, die Errungen- 
schaften moderner Technik verwenden zu wollen, 
um das Bühnenbild möglichst schön zu gestalten. 
Jedes Raffinement in dieser Beziehung ist recht 
und gut, soweit es dazu dient, die Stimmung des 
dramatischen Vorgangs sinnföllig zum Ausdruck 
zu bringen. So haben zum Beispiel die Äusstattungs- 
kQuBte des genialsten Eegisseurs unserer Zeit, des 
Herzogs Georg von Meiningen, nicht nur die Schau- 
lust befriedigt, sondern tatsachlich das im Ein- 
schlafen begriffene Interesse für die klassischen 
Meisterwerke zu neuem Leben erweckt. Dadurch, 
daß dem Auge Szenenbilder geboten wurden, welche 
der Nachprüfung des Geschichtskenners standhielten, 
dadurch, daß sich die Handelnden in Kostümen 
und unter Möbeln und Requisiten bewegten, welche 
bis ins Kleinste den lokalen und historischen 
Hintergrund des Dramas lebendig machten, wurden 
auch alle Zufälligkeiten an den Persönlichkeiten 
der Schauspieler gewispermaßen historisch be- 
glaubigt. Wenn also beispielsweise der Darsteller 



des Buttler im Wallenatein krumme Beine gehabt 
oder mit der Zunge aDgesto6en hätte, so wäre 
man nicht zu der Empfindung gekommen, daß 
dieser Schauspieler schlecht gewachsen und isprach- 
technisch mangelhaft ausgebildet sei, sondern mau 
hätte es ohne weiteres als eine historische Tat- 
sache angenommen, da6 der Buttler wohl krumme 
Beine gehabt und mit der Zunge angestoßen haben 
müsse. Es wurde dadurch eine neue Illusion 
erzeugt, welche der eigentlichen dramatischen 
Wirkung zugute kam, indem man in den Schau- 
spielern nicht bloß mehr oder minder tüchtige 
Sprechwerkzeuge für das Dichterwort, sondern 
einfach Menschen sah. Wir haben es damals 
erlebt, daß das Ensemble der Meininger mit seineu 
zum größeren Teil recht unbedeutenden Schau- 
spielern dem berühmten Wiener Burgtheater mit 
seiner glänzenden Tradition und seinen vorzüglich 
geschulten bedeutenden Künstlern vollständig den 
Baug abzulaufen vermochte. Natürlich ist es un- 
möglich, eine Grenze anzugeben, wie weit die 
technische Vervollkommnung des Bühnenbildes gehen 
könne, ohne der Wirkung des Dramas selbst zu 
schaden ; daß aber in dem rastlosen Überbieten 
der Ausstattungseffekte in bezug auf Kostbarkeit, 
historische Äehtheit und verblüffende Naturtreue 
eine große praktische Gefahr für das ganze Theater- 
wesen liege, leuchtet auch wohl ohne weiteres 

t 305 



( TlieatnUiache ProblM 

ein-, «leou ein solcher Aufwand fordert Geldmittel, 
die verloren sind, sobald der dauernde Erfolg sich 
Dicht einstellt. Und das Publikum gewöhnt sieb 
80 rasch daran, das Äußerste an Aufwand als das 
eiofacli Selbstverständliche zu l)etrachten. daß die 
Schaulust an sich sehr bald die Massen nicht mehr 
anlockt. Da muß der Leiter wieder auf neue 
Sensationen sinnen, um durch Verblüffung zu wirken. 
Und das fahrt zu tollkühnen Risikogeschäften, die 
nur zu leicht mit finanziellen Katastrophen endigen. 
Andererseits wäre es auch ebenso verfehlt, in 
bezug auf die Ausstattung wieder zum Primitiven 
gewaltsam zurückkehren zu wollen. Wir haben 
auch solche wunderlichen Heiligen; und das ist 
keineswegs erstaunlich in einer Zeit, wo äas ästhe- 
tische Gigerltum so weit verbreitet ist. Ebenso 
wie in der Malerei wunderliche Käuze und ge- 
schickte Seosatiousmacher das Nichtbesser-können 
eiüMtiger Vorfahren zum modernsten Kunatprinzip 
erhoben, so tun sich auch Theaterreformer auf, 
die unter dem Vorgeben, dem reinen Dichterwort 
durch Entfernung alles die Sinne zerstreuenden 
Beiwerks zur größeren Geltung zu verhelfen, alle 
naturalistischen Dekorationen hinauswerfen und 
nur durch einfachste Farben Wirkungen die nötige 
Stimmung vorbereiten möchten. Da soll meinet- 
halben eine mit streng geometrischen Mustern be- 
stickte Gardine den Hintergrund fttr eine gedanken- 




Theatralische Probleme 

volle Aussprache bilden oder ein grüner Schleier 
mit roten Tupfen himmlische Heiterkeit verbreiten. 
Alle diese krampfhaften Regungen einer nervös 
überreizten Zeit mag man lächelnd über sich 
ergehen lassen, ebenso wie das Geschrei über den 
Verfall des Theaters seitens sehr junger Idealisten 
oder sehr alter Pedanten. Die eigentlichen Prob- 
leme des modernen Theaters vermag ich in der 
Richtung der Ausstattung nicht zu erblicken. 

Ich begreife auch durchaus nicht, was die 
immer neu auftauchenden Reformer der Schau- 
spielkunst eigentlich wollen, die mit mehr oder 
minder geistvollem Phrasenschwulst deren Verfall 
beklagen und sich das Heil von einer radikalen 
Änderung des dramatischen Unterrichts versprechen. 
Soweit diese guten Leute nicht einfach durch den 
Drang, sich durch Begründung einer neuen Theater- 
schule eine Existenz zu verschafifen begeistert 
werden, scheinen sie mir von dem Wesen der 
Schauspielkunst überhaupt keinen rechten Begriff 
zu haben. Es ist ein Unsinn, vom Schauspieler 
aus das Theater oder gar die dramatische Dichtung 
reformieren zu wollen. Der Schauspieler wird 
von den Dichtern gemachtund nicht um- 
gekehrt. Das angeborene schauspielerische Talent, 
ohne das die beste Lehrmethode und die geist- 
vollsten Regisseure versagen, besteht in der Fähig- 
keit der Nachahmung, der Selbstentäußerung bis 



t Tbestralieche PrabloM*' 



zom völligen Aufgehen in einer anderen Peraöo- 
licbkeit. Solche geborenen Schauspieler sind immer 
vorhanden. Heute natürlich unendlich viel mehr 
als früher, weil die Möglichkeit, bessere Theater- 
vorstellungen zu sehen, heute für die allerbreiteateD 
Schichten des Volkes besteht und dadurch die 
SelbstentdeckuDg des darstellerischen Talentes un- 
gemein erleichtert ist. Der Nachahmungstrieb 
dieser geborenen Schauspieler muß sich selbst- 
verständlich zunächst an das halten, was ihnen 
Leben und Theater am häufigsten als Vorbild bieten. 
Und daraus folgt, dafi immer für die Dichtungs- 
gattung, die jeweils am meisten im Schwange ist, 
die meisten und die besten Schauspieler zu haben 
sein werden. Als durch den Erfolg der Meininger 
das klassische Drama zu neuem Leben erweckt 
wurde und nebenher, als mittlere Tagesproduktion, 
das sogenannte Oberlehrerdrama mit korrekten 
FttnffUSlern herlief und im unmittelbaren Anschluß 
daran der feurige Wildenbruch mit dem Trompeten- 
gesehmetter seines schwungvollen Pathos die BUhne 
eroberte, da gab es überall Hünengestalten mit 
markigen Organen, Intriganten mit erstaunlichen 
Hakennasen, Basiliskenblicke tief unter buschigen 
Brauen hervorschleudernd, vollbusige Heroinen mit 
rollendem R und schlanke schmachtende Blondinen 
mit zartem Diskant, soviel wie man haben wollte, 
und darunter tüchtige Künstler, soviel man hillig 



TheatraÜBchR Probleme <! 



verlangen durfte. Dann kam faat über Nacht die 
Hochflut des Naturalismus und überschwemmte 
mit gräulich RChäumenden Wellen die Mamiorflieaen 
der hehren Kunsttempel. Und siehe da! wie aus 
dem Boden gestampft trat ein neues Geschlecht 
von Menschendarstellern in die Erscheinung, welches 
mit Stottern, Stammeln, Lallen, mit RäUBpern, 
Husten und Spucken den feinsten Intimitäten der 
Wirklichkeit heizukommen suchte und alle an- 
geborenen körperlichen Mängel und Gehresten ge- 
schickt in den Dienst des neuen Kunstprinzips eu 
stellen wußte. Glücklich wer in jener Zeit über 
0- oder XBeine, schiefe oder hohe Schultern, eine 
abschreckende Visage oder gflnzliche Organlosigkeit 
verfügte: der konnte sicher sein, von irgendeinem 
feinfühligen Kritiker als großer Schauspieler ent- 
deckt zu werden! Die deutsche Buhne hat nie so 
viel glänzende Künstler gleichzeitig besessen wie 
während jener naturalistischen Episode, weil da 
auf einmal auch alle jene zum Teil vielleicht auch 
wirklich starken Naturtalente sich zur Geltung zu 
bringen vermochten, die sonst wegen Mangel an 
schönen Mitteln nicht zu verwerten gewesen wären. 
In jener herrlichen Zeit tauchte das kostbare Sehlag- 
wort von der persönlichen Note auf, und es 
wurde damit ein lieblicher Unfug getrieben, der 
dem Kundigen viele heitere Augenblicke bereitete, 
dem Theaterkritiker das Geistreichsein wesentlich 



k ThMtnlisehe Problone 



erleichterte uad das große Publikum im Banne 
der Ehrfurcht erhielt. Von der unüberwindlichen 
Abneigung gegen das Auswendiglernen des Dichter- 
worteB bis zum chronischen Stockschnupfen wurde 
jede menschliche Schwache durch das schöne Etikett 
der persönlichen Note zu einer künstlerischen 
Stärke erhoben. Und es gab tatsächlich in Berlin 
eine Buhne, bei der die Gradgewachsenen und mit 
schönen Organen begabten Mimen ihr Bündel zu 
schnüren gezwungen waren, weil sie weder beim 
Publikum, noch bei der Kritik, noch bei der Direk- 
tion irgendwelches Interesse mehr fanden. Übrigens 
hat diese naturalistische Episode der deutschen 
Schauspielkunst außerordentliche Dienste geleistet 
und eine wesentliche Klärung der Begriffe über 
das Wesen des mimischen Talentes bewirkt. Das 
naive Publikum ist immer geneigt, den Schauspieler 
mit der Rolle zu verwechseln. Die sympathische 
Gestalt eines Dichters wird für den harmlosen 
Zuschauer zum Beweis für die edlen menschlichen 
Eigenschaften des darstellenden Komödianten, und 
der Dame, die die niederträchtigen Kanaillen, die 
sogenannten Salonschlangen, darzustellen hat, geht 
er auch auf der Straße bänglich aus dem Wege. 
In der Zeit des Naturalismus haben wir es aber 
erlebt, daß selbst hochgebildete, geistvolle Kritiker 
wie die Fliegen auf diesen Leim krochen. Die 
Dichter jener Zeit charakterisierten nämlich so 

310 . 



ausbUndig bis ins feinste Detail und waren in 
ihren Spielvorschriften so peinlich akkurat, daß 
dem Schauspieler wirklich fast nichts mehr zu tun 
übrigblieb, als ein für die Rolle geeignetes Äußere 
mitzubringen. Da konnte es geschehen, daß ge- 
scheite Kritiker einem harmlosen Mitläufer, der 
beim Shakespeare vielleicht gerade noch einen 
dritten Meuchelmörder leidlich verkörpert hätte, 
für eine Zukunftshoffnung der deutschen Bühne 
ansahen. Als ich in München „Die Weber" zum 
ersten Male zur Aufführung brachte, benutzte ich 
die Gelegenheit eines lang andauernden Bäcker- 
streikes, um mir aus den Herbergen etliche be- 
sonders gefährlich und verhungert aussehende 
Gesellen zusammenzulesen und mischte diese unter 
das Volk der Weber. Zum Schluß des vierten 
Aktes gab ich diesen Leuten Beile und Knüttel in 
die Hand und sagte ihnen, sie dürften damit alles 
auf der Bühne befindliche Mobiliar, in Sonderheit 
die den Glasschranb anfüllenden Gegenstände von 
Glas und Porzellan kurz und klein schlagen. 
Natürlich führte ein jeder von ihnen seine Aufgabe 
wahrhaft meisterhaft durch, und die Wirkung war 
überwältigend. 

Nachdem nun jener erfrischende Sturm des 
Naturalismus so betrüblich rasch vorübergebraust 
ist und Meister Hauptmann selber gern in schönen 
Versen schwelgt, glänzende Sprachkünatler wie 



HofiiiaD Ultimi sich die Bohoe erobert haben und 
Shakospenre, dieBer unvergleichliche Rohstoff far 
eine geniale Regiebearbeitung, wieder einen breiten 
Platz im Repertoire einnimmt, sehen sich viele 
von jeni'n Meistern des neuen Stils kaltgestellt 
und die lieldischen Gestalten mit den „großen 
Röhren" wieder triumphierend ans Licht gezogen. 
Sollte aber der Symbolismus mit seinen lautlosen 
Gespenstertritten und seinem seraphischen Geflüster 
wirklich berufen Kein, den jetzigen wohltemperierten 
Realismus abzulösen oder auch nur in das bunte 
Stilgemengael eine neue Nuance hineinzutragen, 
so werden unzweifelhaft auch für ihn alsbald die 
vorbildlichen Künstler erscheinen; denn sicherlich 
gibt es unter hektischen Männern und anflmiBchen 
Mädchen ebenso gut schauspielerische Talente wie 
unter den robusteren Mitbürgern. Was aber auch 
die wechselnde Mode für Verwirrung anrichten 
mag, der Maßstab für die Wertbestimmung des 
Schauspielers wird immer seine Fähigkeit bleiben, 
verschiedene Charaktere aus seiner Individualität 
heraus zu gestalten, gut abgelauschte Einzelzfige 
der Wirklichkeit zum Typischen zu erheben und 
mit seinen äußeren Mitteln kunstgerecht umzugehen. 
Ein angeblicher Menschendarsteller, der in jeder 
Kollc derselbe bleibt, ist eben ein schlechter 
Schauspieler und hat es lediglich als einen Glücks- 
fall zu betrachten, wenn ihm einmal der Dichter 



Theatralische I 



eine Haut liefert, in die er liineinschlüpfcn kann, 
ohne Falten zu werfen. 

Die vorausgegangenen Betrathtungen dürften 
uns überzeugt haben, daß das Theater kein selb- 
ständiger Organismus sei, der aus eignem freien 
Willen heraus das Publikum oder die Dichtung 
wesentlich beeinflussen könnte. Es sind vielmehr 
umgekehrt die Dichter und das Publikum, welche 
das Geschick in ihren Händen halten, und zwar 
die Dichter noch mehr als das Publikum. Das 
letztere ist insofern eine Maelit, als es die materi- 
ellen Mittel zum Unterhalt des vielköpfigen Orga- 
nismus, den eine Bühne darstellt, gewähren muß. 
Dem wirtschaftlich sehwachen Direktor gegeotlber 
kann das Publikum zu einem furchtbaren Tyrannen 
■werden, indem es ihn einfach zwingt, die ehrliche 
anständige Kunst zum Hause hinauszujagen und 
dafür dem blödesten Zeitvertreib, dem niedrigsten 
Sinnenreiz Aufnahme zu gewähren. In Amerika, 
wo auf dem Gebiete des Bohnenwesens der Kapita- 
lismus in seiner rohesten Form herrscht und der 
Wille der Massen eine Macht darstellt wie nirgends 
sonst, sehen wir denn auch die Bühne vollkommen 
der plumpsten Sensationsgier, dem launischen Sno- 
bismus preisgegeben. Große, ächte Kunst vermag 
dort nur zu existieren, solange es der Reklame 
gelingt, dem reichen Pöbel die Notwendigkeit zu 
suggerieren, dergleichen zu unterstützen, um den 




«^^^*s^ 



Schein gebildeter Kennerschaft zu wahren. In 
Europa rückt der immer wachsende Einfluß der 
Weltstädte auf den Geschmack der Allgemeinheit 
die Gefahr, gleichfalls in solche Abliäogigkeit vom 
PöbelioBtinkt zu geraten, bedenklich nahe. Damm 
ist die Abwehr des Amerikanismus eiaee 
der ernsthaftesten Probleme fOr unser 
Theaterwesen. Für uns Deutsche geht die 
Gefahr selbstverständlich von Berlin aus, wo eine 
Unmenge von Privattheateruuternehmungen um 
ihre materielle Ksistenz ringt und im wütenden 
Konkurrenzkam|]f schließlich jedes Mittel recht 
erscheinen niu6. Gewiß wird in der Millionenstadt 
die Summe verfeinerter Intelligenzen, die auf jeden 
neuen Eeiz von seilen der Kunst leicht reagieren, 
absolut eine viel größere sein als in irgendeiner 
kleineren Stadt; ebenso aber ist auch die Masse 
des geistigen Pöbels mit gemeinen Instinkten 
absolut eine größere als irgendwo sonst. Folglich 
ist es selbstverständlich, daß, nachdem das thea- 
tralische Bedürfnis der Feinen und Anspruchsvollen 
durch eine Reihe von guten Theatern reichlich 
gestillt ist, andere Theater, für die kein so vor- 
nehmes Publikum mehr Übrig ist, sich darauf ver- 
legen müssen, dem Pöbel zu Willen zu sein. Daher 
die Spezialbühnen für Pariser Cochonerien und 
für die Massenevolutionen von Weiberbeinen. Das 
Weiberbeiu en masse, wie es vornehmlich im Berliner 



Theatralische Probleme « 



Metropoltheater floriert, hat dort tatsächlich die 
freundlich harmlose EuDSt des kleinen Mannes 
endgültig zu Boden gestampft. Die Leute, die 
ins Metropoltheater gehen, sind nämlich nicht bloß 
die hohlköpfigen Lüstlinge, die genau wissen, was 
sie dort suchen, soodera auch anständige Bürgers- 
leute, die ihre Frauen mitbringen, biedere Land- 
leute, vom kleinen Viehhändler bis zum Groß- 
grundbesitzer, und alles das, was sich bis hoch 
oben hinauf harmlos oder frivol Lehewelt nennt. 
Dadurch, daß sie alle diese Theater täglich über- 
füllt sehen und in den Zeitungen von den kolossalen 
Erfolgen der neusten Schaustücke lesen, wird in 
ihnen die Vorstellung erweckt, dergleichen Dar- 
bietungen seien nicht nur ebensogut Theater, 
sondern ebensogut Kunst wie das , was die 
anderen Musentempel vorführen, nur daß es jeden- 
falls viel amüsanter und sehenswerter sein müßte, 
weil doch sonst die Leute sich nicht bo danach 
drängen würden. Auf diese Weise werden breite 
Schichten des Publikums, die ebenso leicht, wenn 
auch nicht für die hohe, so doch für bessere Kunst 
zu gewinnen wären, dafür verloren; denn wer sich 
einmal daran gewöhnt hat, die Trikotparade, die 
freche Zote und die seichteste Biermusik für einen 
gleichberechtigten Faktor theatralihcher Kunst zu 
halten, dem wird jedes mit reinen Mitteln arbeitende 
Drama, jede edlere Musik, ja selbst das leichtere 



» Theatralische Probleme 

Lustspiel und die bessere Operette reizlos er- 
sclieinen, Es geht also von den Theat«rD jener 
An eine verderbliche Macbt aus, die auf die 
geistige Kultur, auf die sittlichen Anschauungen 
des Volkes einen unheilvoll herabziehenden Ein- 
fluß ausübt. Leider sind nun auch noch die Preß- 
verhältnisse in den Weltstädten so beschaffen, daS 
ein entgegenwirkender Einfluß der Kritik nicht 
stattfinden kann. In Berlin wenigstens fällt die 
Aufgabe, über die Neuaufführungen des Metropol- 
theaters und seinesgleichen zu berichten, nicht dea 
«rnsLhaften, feingehildeten Theaterkritikem, sondern 
irgendwelchen untergeordneten Berichterstattern 
zu, und es bat sich die Gewohnheit herausgebildet, 
Ober dergleichen Theater ebenso wie über Zirkus 
Dnd Vari6t6 nur Lobeshymnen zu schreiben. Die 
Presse geht dabei von dem an sich richtigen Ge- 
sichtspunkt aus, daß selbstverständlich nicht davon 
die Rede sein könne, an diese Dinge irgendwelchen 
künstlerischen Maßstab zu legen, sondern daß mau 
«8 hier einfach mit Vergnügungsgeschäften zu tun 
habe, in welche ungeheuere Kapitalien hinein- 
gesteckt werden müssen, damit sie sich lohnen, 
und daß es nicht fair wäre, die kühnen Unter- 
nehmer mutwillig zu ruinieren. Von dem Leser- 
kreise einer Zeitung weiß aber noch nicht einer 
unter Hundert, aus welchen an sich vielleicht 
richtigen Theorien und Erwägungen heraus dieser 

-316 



Theatraliecbe pToblec 

gänzlich verschiedene Standpunkt der Beurteilung 
angenommen wird, nicht einer vom Hundert ist 
imstande, gleich aus dem Stil des Theaterberichtes 
zu erkennen , oh ein berufener Kritiker oder 
ein gedankenloser Zeilenschreiber ihn verfaßt habe^ 
die natürliche Folge davon ist, daß die unzähligen 
Tausende ohne Geschmackskultur und eigenes 
Urteil zu der Meinung gebracht werden, in jenen 
Lusttempeln würden herrliche witzige Geistes- 
produkte in blendender Pracht vorgeführt, während 
in den Theatern mit anständigen künstlerischen 
Tendenzen die gänzlich kopflosen Direktoren Mühe 
und Mittel an die Einstudierung langweiliger Mach- 
werke von offenbaren Idioten verschwendeten. 

Dasselbe Berlin, das mit seinem Metropol- 
theater so geschmacksverrohend und kunstent- 
fremdend wirkt, besitzt aber gleichzeitig in seinem 
ausgezeichnet geleiteten Schillertheater ein Institut, 
welches für eine solide Kunstpflege im volkstüm- 
lichen Sinne geradezu musterhaft genannt werden 
kann, und der außerordentliche Erfolg, welcher 
schon zur Gründung verschiedener Filialbühnen 
nötigte, beweist, daß für eine anständige dramatische 
Kunst ein ebenso großes Publikum vorhanden ist 
wie für eine unanständige- Ja vielleicht sogar 
ein noch größeres ; denn rechnet man die Menschen- 
scharen zusammen, die allabendlich die Schiller- 
theater und die ungemein zahlreichen Veran- 




: Theatraliscfae Probleme 

Btaltungen der freien und oeuen freien VolksbOhne 
wie sonstigen ^'e^einsvo^ltellnogeD in des guten 
Theatern blR aufs letzte Plätzchen fallen, bo dorfte 
wohl eine noch größere Totalsuniine sich ergeben 
als wie aus der Addition der taglichen Besucher 
des Metropoltheaters. Und diese riewißheit ist ein 
schöner Trost, gibt eine freudige Zuversicht jedem 
Vaterlandsfreunde, der die hohe volkserziehliche 
Aufgabe des Theaters erkannl hat und mit Schrecken 
die von der Weltstadt ausgehende Geschmacfcs- 
verrohung im Lande wachsen sieht. Ohne solche 
Abzugskanäle für den geistigen Pöbel, daB heifit 
fßr die sogenannte Lebewelt der Weltstädte, wird 
es allerdings schwerlich abgehen; aber die werden 
keinen Schaden mehr stiften, wenn uur der Haupt- 
strom in ein festes Bette gefaßt und die Volks- 
aufklärung so weit gediehen ist, daß jene Kanäle 
Lur nach ihrem sozial-hygieniachen Wert heurteilt 
werden. 

Diese Betrachtung führt uns darauf, für die 
Klassifikation des Publikums einen zuverlässigen 
Maßstab zu gewinnen. Es ist keineswegs der 
Geldbeutel, der den höheren geistigen Rang ver- 
schafft, sondern lediglich die Bildung und der 
Hunger nach Bildung. Die Angehörigen der freien 
Volksbühnen sind beispielsweise solche Bildunga- 
hungrige. Zum Teil wirkliche Proletarier, in der 
Hauptmasse aber solide Handwerker, technische 



Theatralische Probleme < 

Arbeiter höherer Art, kleine Gewerbetreibende und 
dergleichen. Den festen Stamm der Freunde des 
Schillertheatera bilden Leute von besserer Bildung 
und ernsthaftem Streben zur Höherentwicklung, 
denen aber für den Luxus keine Mittel verfügbar 
Bind. Beamte aller Art, Kauf teute und vornehmlich 
viele Lehrer, studierte jüngere Angehörige der 
akademiechen und industriellen Welt, sowie viele 
durch einen höheren Beruf selbständig gewordene 
Frauen und Mädchen. Das ist das eigentliche 
gute Theaterpublikum, wie es sich der Leiter eines 
wirklichen Kunstinstitutes wünschen muß. Das 
ist das Publikum, welches mitten im Leben steht 
und dadurch von selbst zur Stellungnahme gegen- 
über allen neuen Strömungen gezwungen wird. 
Wenn nun auf der Bühne brennende Zeitfragen 
behandelt werden, so wird dieses Publikum ein 
sichereres Urteil darüber besitzen als jene Welt 
des großstädtischen Snobismus, die gierig allen 
Sensationen nachläuft, alle Artikel und Broschüren 
liest, aber im Grunde doch von den bestimmenden 
Triebkräften der Zeit und von der Seele des Volkes 
nichts weiß. Das sogenannte elegante Publikum, 
die Elite der oberen Zehntausend, die erßme de 
la creme, wie sie sich zu den Premiören der meist 
besprochenen Dichter drängt, darf man ruhig als das 
schlechteste Theaterpublikum bezeichnen. Diesen 
Leuten dünkt ein wüster Skandal, der vielleicht 



a Theatralische Pniblei 



din Lehenahoffnutig eines groBen Talentes endgültig 
xerutört, für ein weit köstlicheres Erlebnis als eine 
kUnstlehsclie Erhebung zu freudiger Andacht. 
Daß im Jahre 18ii2 der Pariser Joekeyklub den 
Tannhauser auspfiff, ist kein Akt überwujidener 
geselle chaftlicher Roheit und künstlerischer Un- 
kultur. Er kann sich alle Tage wiederholen. Und 
in unserem berühmten Berlin von heute pfeift 
nicht nur der Jockeyklub, sondern auch die Börse 
and das Literaturcafä auf UausschlüESeln. In 
solcher Premiere sitzt überhaupt fast gar kein 
Publikum mehr. Die meisten Anwesenden gehören 
ja selbst zum Bau oder bilden es sich wenigstens 
ein. Von jener spezitisch modernen Bildung, die 
man ohne jede wissenschaftliche Veranlagung, ohne 
Religion und WeltauBchauung, durch Theaterbesuch 
und Zeitungslektüre sich aneignen kann, sind ja 
Bchließlich alle Angehörigen der oberen Zehn- 
tausend mehr oder minder reichlich durchtränkt. 
Sehr viele von ihnen werden durch den Nach- 
ahmungstrieb und den Mangel an nützlicher Be- 
schäftigung zu eigener künstlerischer Betätigung 
verführt. Damit sind sie vom Fach, sind sie Partei 
und halten sich für verpflichtet, ihren Sympathien 
und Antipathien energisch Ausdruck zu geben. 
Und wer nicht gerade selber dichtet, schauspielert, 
komponiert und musiziert , der will sich doch 
wenigstens als Kritiker betätigen. Kritische Be- 



anlagung beweist man am besten dadurch, daß 
man sich durch nichts imponiereu läßt. Wer noch 
herzlich lachen, von Heldengröße sich leicht be- 
geistern und vom Elend rühren lassen kann, der 
gilt für einen Flachkopf; wer dagegen über alles 
Alte, anerkannt Meisterhafte spöttisch die Achseln 
zuckt, jede Art Ergriffenheit mit einem zynischen 
Witz abzuschütteln versteht, dagegen sich mit 
klingenden Phrasen als Propheten irgendeiner 
dunklen Unzulänglichkeit oder gewollten Verrückt- 
heit aufspielt, der kann sicher sein, zum mindesten 
im Kreise ganz junger Leute als ein starker Geist 
angestaunt zu werden. Von solchen stellungslosen 
Kritikern, Kliquenhäuptlingen und jugendlichen 
Stammtieehpropheten wimmelt es aber in jeder 
Sensationspremifere. Und sie sind es hauptsächlich, 
die das Schicksal des dramatischen Autors ent- 
scheiden. Dazu kommen noch weit verzweigte 
gesellschaftliche Eindüsse: Stand und Rasse des 
Autors, seine persönlichen Beziehungen zu den 
maßgebenden Kreisen, Der ächte Premiörentiger 
sucht auch vorher schon über den Inhalt des neuen 
Werkes, besonders über etwaige gefährliche Szenen 
durch befreundete Schauspieler oder sonst wie 
hinten herum etwas zu erfahren und legt sieh 
daraufhin bereits die Witze zurecht, mit denen er 
im Zwischenakt glänzen will. Auf diese Weise 
ist oft schon vor dem ersten Aufgehen des Vor- 

XXI 



k Theatr&liache Problw 



hangs Über einem neuen Werk Stimmung gemacht — 
dafür oder dawider. Wie stark aber im Theater, 
wie Oberhaupt in jeder MeuscheDaDSammlung auch 
fOr den unbefangenen Eiuzelnea die Massen- 
suggestion wirkt, dae hat wohl jeder schon an sich 
selbst erfahren. Wenn die schöne Nachbarin ihr 
Tüchlein an die Augen führt, so werde ich un- 
willkürlich mitgeruhrt; wenn ein allgemeines 
Käuspem, Husten, Scharren, Flüstern durch die 
Reihen gebt, so werde ich unaufmerksam, wie sehr 
ein Werk mich eben noch gefesselt haben mag, 
Und wenn gar in einer ernsten Szene irgendein 
zweideutiges Wort frivole Heiterkeit auslöst, so 
ist es häufig selbst dem Bestgesinuten unmöglich, 
seine Ruhe zu bewahren. Wehe dem unglücklichen 
Autor, der sein Schicksal in die Hände eines 
solchen Elitepublikuras gelegt bat! Dreimal wehe, 
wenn er, die besonderen Verhältnisse der Weltstadt 
und die besondere Psychologie dieses Premiören- 
publikums nicht kennend, hinter den Kulissen 
seinem Werke folgt und, am Aktschlüsse ein ge- 
waltiges Brausen vernehmend, von einem Regisseur 
gestoßen vor die Gardine taumelt, um mit Zischen, 
Pfeifen, Hohnlachen und ironischen Zurufen emp- 
fangen zu werden! Oder wenn ihm wirklich ein 
einmütiger Beifall bis zum Schluß entgegenrauschte, 
und er dann am anderen Morgen in der Zeitung 
lesen muß, er sei ein hilfloser Dilettant, ein elender 



TbeatnliBcbe l^robleme « 

StUmper und sein Machwerk sei gründlich durch- 
gefallen, abgetan für alle Zeit — durchgefallen 
sei mit ihm auch jener Teil des Publikums, der 
durch Klatschen seine geistige Inferiorität an den 
Tag gelegt habe. Solche ungeheuerlichen Mißgriffe 
in der Beurteilung, solche Orgien der Brutalität 
wird sich das Volk im Schillertheater oder das 
aus allen geistigen Schichten zusammengesetzte 
Publikum einer guten Provinzbühne kaum jemals 
zuschulden kommen lassen. 'Natürlich wird auch 
die wohlwollendste Zuhörei'schaft einem Werke, 
das der Moderichtung schnurstraks zuwiderläuft 
oder über den Zeitgeschmack weit hinaus in eine 
noch unentdeckte Zukunft greift, verständnislos 
gegenübersitzen, und es sogar mit deutlichen Zeichen 
des Mißfallens ablehnen. Das liegt in der Natur 
der Dinge und ist darum wohl zu beklagen, aber 
nicht zu ändern. Dagegen hat es das ehrliche 
Talent, welches aus innerem Drange schafft, ohne 
ängstlich um die Gunst einer bestimmten Partei 
zu buhlen, durchaus in der Hand, sich vor den 
Tücken eines Berliner Premiörenabends zu schützen, 
indem es sich bemüht, sein Werk zuerst au einer 
guten Provinzbühne herauszubringen. 

Eine große Anzahl moderner Autoren ist denn 
auch durch den Schaden so klug geworden, dies 
zu tun, und es würde noch weit mehr zur allge- 
meinen Gewohnheit unter den Dramatikern werden, 




ieatr»liacb(! Probleme 



neuii bei den Leitern der Proviazbühnea mehr 
Initiative vorhanden wäre. Infolge dieses Mangels 
braucht ein Werk, das die Feuertaufe in der 
Provinz empfing, ganz uuverhSltnismäßig viel längere 
Zeit, um von Buhne /.u BUhne zu dringen, als 
wenn es sich durch einen Berliner Ersterfolg emp- 
fehlen kfinnte. Das Verhältnis zwischen Berlin als 
Theaterzeutrale und den Provinzbuhnen, wie m 
sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet 
hat , war für die deutschen Theaterleiter so 
außerordentlich bequem, daß sie begreiflicherweise 
nur ungern auf ein so behagliches Dasein ver- 
zichten nii)gen. Es war nämlich für diese Herren 
zur stlßen Gewohnheit geworden, überhaupt keine 
Stücke mehr zu prüfen , sondern einfach die 
Theaterberichte der Reichshauptstadt zu verfolgen 
und dann die siegreichen Stücke vom Agenten zu 
erwerben. Zu Uraufführungen entschlossen sie 
sich nur in den seltenen Fällen, wo ein ortsan- 
sässiger Dichter über einen starken gesellschaft- 
lichen Einfluß oder als Angehöriger der Presse 
über eine gefährliche persönliche Macht zu gebieten 
hatte. Diese bequemen Herreu sind nun natürlich 
durch die immer allgemeiner werdende Flucht der 
Dramatiker von Berlin recht unliebsam in ihrer 
Ruhe gestört. Die meisten \on ihnen besitzen 
keineswegs die umfassende Bildung, die dazu gehört, 
sich in dem wilden Stildurcheinander der modernen 



TheatrftVische Probleme «>^NÄ..«NÄ„.^--^,,,^Na,,,.!SN^ 

internationalen Produktion ein maßgebendes Urteil 
zuzutrauen. Und urteilsfäliige Dramaturgen stehen 
ihnen nur in vereinzelten Fallen zur Verfügung. 
Durch diese Umstände wird den Direktoren der 
Entschluß und den Dichtern das Ankommeu be- 
trächtlich erschwert. Man kennt ja das Scherz- 
wort: Ein Stack schreiben kann jeder — aber es 
zur Annahme bringen, das ist die Kunst! Der 
Spaß ist leider blutiger Ernst — für die Opern- 
komponisten noch mehr als für die Dramenschreiber. 
Gewiß ist es ein Vorzug von Deutschland, daß wir 
so außerordentlich viele mehr oder weniger un- 
abhängige stehende Theater haben ; aber wo sollen 
für alle diese Bühnen die wirklich berufenen 
geistig selbständigen Leiter herkommen? Wer heut- 
zutage den Beruf eines Dramaturgen und Regisseurs 
wirklich erschöpfend ausüben will, der muß über 
ein ungewöhnliches Wissen und eine universale 
Geschmacksbildung verfügen. Und das wird na- 
türlich, trotz der modernen Überproduktion auch 
auf geistigem Gebiete, nicht so häufig zu Anden 
sein, um die hundert und etlichen Direktorenposten 
mit erstklassigen Männern besetzen zu können. 
Zumeist sehen wir ältere Schauspieler dieses Amtes 
walten ; aber wie häufig auch tüchtige Bildung 
unter dem gegenwärtigen Schau spie! erstände an- 
zutreffen ist, so selten findet sich unter diesen 
Bühnenleitern die Vorurteilslosigkeit eines wirklich 



»blem^^^l 



t Thealniliftcti« Problenie 

freien, erhabenon Standpunktes. Der Schauspieler 
ist gewohnt, auch neue Werke uach dem Vor- 
handensein bereits erprobter Wirkungen abzu- 
schätzen. Der berahmte sichere Blick des Prak- 
tikers beschränkt sich durchaus auf das Schon- 
dagewesene. Das ünerprobte wird ihm immer 
bange machen. Wir haben dann weiter als An- 
wärter auf diese bosseren Direkt ionssessel jene 
große Schar von akademisch gebildeten Theater- 
enthusiasten, die meist auf dem Umwege Qber den 
Journalismus in die Theaterkarriere hineinzukommen 
sucht. Diese Leute sind oft theoretisch vorzüglich 
beschlagen, versagen aber ebenso vollständig in der 
Praxis. DicTecbnik des Bübnenwesens, die Kenntnis 
der rechnerischen Grundlagen und die Taktik des per- 
sönlichen Verkehrs mit Künstlern erfordern neben 
angeborenem Talent auch eine längere Lehrzeit. 
Endlich sehen wir auch oft reine Geschäftsleute 
sich des Direktionszepters bemächtigen, ehemalige 
Bierwirte und dergleichen. Und wenn das Glück 
günstig ist und der Betreffende sich einem ge- 
schickten Regisseur vernünftig unterordnet, geht 
es manchmal auch so ganz gut. Von den „Nur- 
Kavalieren" brauche ich nicht zu sprechen, die 
früher lediglich durch Fürstengunst zur Belohnung 
irgendwelcher Verdienste, die mit der Kunst wenig 
oder nichts zu tun hatten, zu Hoftheaterintendanteu 
befördert wurden. Dieser Typus ist bis auf wenige 




TheatrAÜBcbc Probleme « 



ganz vereinzelte Exemplare heute ausgestorben. Die 
Persönlichkeiten, an deren Namen iu neuerer Zeit die 
Entwicklungsgeschichte des deutschen Theaters mit 
ihren wesentlichen Phasen anknüpft, sind alle Lite- 
raten gewesen, welche sich in stetem Zusammenhang 
mit dem Theater die nötige Praxis erworben hatten: 
Immermann, Eduard Devrient, Laube, Dingelstcdt, 
Wilbrandt, L'Arronge, Lindau, Brahm, und für die 
Opernbühne bedeutende Kapellmeister von stark aus- 
geprägter Persönlichkeit, wie Mottl, Mahler, Schucb. 
Das ist das Natürliche, und dabei wird ca denn 
auch wohl bleiben. Geniale Regisseure unter den 
Schauspielern, wie z. B, Possart und Max Reinhardt, 
bilden eine nicht häufige Ausnahme. 

Die Hoftheater und die paar gut subventio- 
nierten großen Stadttheater waren eigentlich be- 
rufen, das Ideal dessen, was wir Deutschen von 
unserem Theater verlangen, zu erfttllen. Leider 
gibt es da aber auch wieder verschiedene Haken. 
Das Theater ist keine Kleinkinderbewahranstalt, 
und die Bühne, die sich der Behandlung der die 
Zeit bewegenden geistigen Konflikte verschließt, 
hat ihren eigentlichsten Beruf verfehlt. Nun sind 
aber die meisten Hoftheater entweder tatsächlich 
durch den ausgesprochenen Wille» ihrer hohen 
Hausherren oder aber durch die (ingstliche Ein- 
bildung ihrer Leiter dazu verurteilt, eine unwürdige 
Rolle zu spielen. Kleine Prinzeßchen und be- 



K Theatralische Problune 

schränkte PfafTen sind selbBtverstäDdlich nicht die 
richtigen Zensoren für eine BQhne, die ein Kultar- 
faktor Bein will. Es kommt noch hinzu, daß die 
verhAltRismIlSige finanzielle Unabhängigkeit, nament^ 
lieh in Städten, wo keine ernstliche Konkurrenz 
vorhanden ist, die Leiter subventionierter Bahnen 
leicht zu einem bequemen Gehenlassen verführt 
Es soll Hoftheater geben, wo die neusten Novitäten 
fünf bis zehn Jahre alt sind. Das ist zwar besser, 
als wenn kritiklos sofort jedes Werk, das in Berlin 
oft aus sehr unkunstlerischen Gründen Erfolg 
gehabt bat, aufgeführt wird — aber schön ist es 
deswegen doch nicht. 

Man sagt immer, das Genie breche sich Bahn 
unter allen Umständen, und alle feindseligen Maß- 
nahmen einer verständnislosen Gegenwart könnten 
ihm nicht dauernd den Weg verlegen. Ich halte 
den Satz in dieser Bestimmtheit nicht fflr richtig. 
Ich bin vielmehr überzeugt, daß gar nicht wenige 
Genies an Unverständnis und bösem Willen zu- 
grunde gehen. Entschuldbar ist die Mitwelt 
freilich, denn es wird gar zu viel von ihr verlangt. 
Allzu zahlreiche Hände strecken sich jedem Manne 
in maßgebender Stellung entgegen und flehen, 
bitten, drohen : nimm hier mein Werk — prüfe 
es vor allen anderen — ich warte am längsten 
darauf — ich hin der Würdigste — bei mir ist 
die Not am größten — ! Wenn nun wirklich ein 



die 
ur- ' 



Theatralisclie Probleme 

Theaterdirektor seine Ohren vor diesem viel- 
stimmigen Geschrei nicht verschließt, sondern ge- 
duldig alle Manuskripte entgegennimint, so muß 
er zuerst die Arbeit des Lesens bewältigen, gedruckte 
Bücher von ängstlichem Umfang, auseinander- 
faJlende lockere Blätter in blasser, womöglich 
fehlerreicher Maschinenschrift oder gar in rück- 
sichtslos individueller Handschrift. Das ist schon 
eine Geduldsprobe. Aber selbst ein pedantisch 
gewissenhafter Dramaturg wird sich diesen Teil 
seiner Aufgabe nach einiger Übung erheblich er- 
leichtern können. Schon im flüchtigen Durch- 
blättern kann er Thema und Tendenz des Werkes 
erkennen, und aus verschiedeneu Akten entnommenen 
Stichproben des Dialogs wird er, falls er überhaupt 
verfeinertes Sprachgefühl und sicheren Geschmack 
besitzt, erkennen können, ob der Verfasser ein 
physiognomieloser Dilettant, ein geschickter, aber 
schablonenmääiger Nachahmer oder aber ein ori- 
gineller Kopf sei. Der größte Manuskripthaufen 
wird immer der der unberufenen Stümper sein, 
und der ist sehr rasch erledigt. Der eifrige Dramaturg 
wird sich dann zunächst an die ganz wenigen 
Originale heranmachen. Die muß er allerdings 
sorgfältig und mit Zeitaufwand prüfen und sich 
die Mühe nicht verdrießen lassen, den Verfassern 
vielleicht recht ausführliche Briefe zu schreiben. 
Dem einen wird er sagen müssen: „Junger Freund, 



Sie PiDd ein Tollkopf! Die Frage, die Sie da be- 
handeln. läBt sich unmöglich vor der Öffentlichkeit 
erörtern ; aber versäumen Sie nicht , mir Ihre 
künftigen Stücke zu schicken." Dem anderen wird 
er schreiben: „Ihr StDck ist hochinteressant and 
enthält eine Menge packender dramatischer Wir- 
k ungen ; aber Sie kennen die praktischen Be- 
dingungen des Theaters zu wenig. Besuchen Sie 
mich doch einmal, damit wir eingehend über die 
Verbesserungsmöglichkeiten reden. Wenn Sie 's 
möglich machen können, so wohnen Sie in meinem 
Theater längere Zeit täglich den Proben bei, und 
wenn Sie nicht grundsätzlich einer Umarbeitung 
abgeneigt und von Ihrer Unfehlbarkeit ttberzeugt 
sind, so läöt sich sogar über einen — Vorsctiid^ 
reden." Die mittlere Sorte von Stücken, jen«! 
handwerksmäßig paBsublen, haben die wenigst«' 
Eile. Bei wirklichem Mangel an sicheren Novitäten 
wird der gute Dramaturg allmählich auch dieses 
Haufen durchstudieren, das beste bebalten und das 
übrige mit knappen höflichen Redensarten zurück». 
schicken. So weit ist die Arbeit an jeder geordr 
neten Bühne von einem gewissenhaften Manne zu 
leisten. Nun kommen aber die vielen praktischen'.^ 
Schwierigkeiten : so und so viel Stücke sind ange- 
nommen und müssen kontraktlich in bestimmter 
Frist aufgeführt werden. Woher die Zeit nehmen' 
zu einer weiteren Einstudierung? Dann die 



Thratmlisehe 

Betzungsfrage. Kann das Werk trotz unleugbarer 
Vorzüge nicht an der ungenügenden Darstellung 
acheitern ? Und endlich die Frage der Ausstattung. 
Sind die Kostüme und Dekorationen vorhanden, 
oder was muß neu angeschafft werden? Wieviel 
kostet das, und darf man das Risiko auf sich 
nehmen? Wird sich das Publikum für diesen Stofif 
interessieren? Wird es sich nicht durch die der 
allgemeinen Strömung entgegenarbeitende Tendenz 
abgestoßen fühlen? — Das sind Dinge, die kein 
Mensch vorher wissen kann. Beim Theater 
kommtimmerallesanders, wie das bekannte 
Sprichwort der Leute vom Bau heißt. Ein Axiom 
ist das freilich auch nicht, obwohl man zahlreiche 
Beispiele aufführen kann, wo ein von bewährtestan 
Fachleuten verworfenes Stück einen großen Erfolg 
hatte, oder andererseits ein für durchaus sicher 
gehaltenes Werk total durchfiel. Alte Bühnen- 
praktiker und besonders Schauspieler leben, wie 
schon bemerkt, in der Überzeugung, daß bereits 
erprobte Wirkungen sich immer wiederholen müssen. 
Und aus diesem Vorurteil erklären sieh ihre 
häufigen Irrtümer. Da nun vollends die Wirkung 
neuer Ideen, Situationen und Stilarteu auch vom 
bewährtesten Praktiker nicht geahnt werden kann, 
80 ist deren Scheu vor riskanten Versuchen durch- 
aus begreiflich, Trotzdem aber darf man wohl 
sagen, daß mit der ungeheuren Steigerung der 



B Thpatraliflehc Probli 



1 



dramatischen Produktion durch die Vermehrung 
der Theater auch die Nachfrage nach Neuheiten 
sich in richtigem Verhältnis gesteigert habe. Es 
werden also verhältnismäßig nicht mehr Talente 
unentdeckt bleiben, wie das, bei der UnvoUkoramen- 
heit menschlicher Einrichtungen, zu allen Zeiten 
der Fall gewesen ist. 

Das Hauptproblem des modernen Theater- 
wesens scheint mir bei den SchalFenden zu liegen. 
Erstens einmal sind ihrer viel zu viele! Über- 
produktion ist ja auf allen Gebieten die schlimme 
Kehrseite der glanzvollen modernen Kultur. Je 
mehr Krieg, Pestilenz und Hungersnot abgeschafft 
und durch die Massenproduktion der Maschinen 
die schaffenden Hände überflüssig gemacht werden, 
desto mehr verringert sich die Zahl der Konsu- 
menten im Verhältnis zu den Produzenten. Diese 
bedenkliehe wirtschaftliche Tatsache findet auf das 
Gebiet der Kunst eben auch ihre Anwendung. Je 
mehr Wissen, Geschmackskultur und ästhetisches 
Bedürfnis Allgemeingut werden, je weniger wollen 
sich die Leute damit bescheiden, Publikum, naiv 
Genießende zu sein. Man kann bereits behaupten, 
daS, zumal in den großen Städten mit starken 
geistigen Anregungen, im Theater ebenso wie im 
Konzertsaal oder in der Kunstausstellung ein er- 
schreckend großer Teil der Besucher aus neidischen 
Dilettanten, schwer gekränkten Verkannten und 



TheatralJachu Probleme « 

hochmütigen Besserwissern bestehe. Vor einem 
solchen Publikum hat natürlich auch der Berufenste 
unter den Schaffendeu einen außerordentlich 
schweren Stand. Und wenn er gar die Psychologie 
seines Publikums genau kennt und weiß, wessen 
er sich von solchen Richtern zu versehen habe, 
60 wird das seine ruhige Zuversicht, seine naive 
Schaffensfreudigkeit natürlich von vornherein 
lähmen müssen. Daraus erklärt sich das Krampf- 
hafte, das Schwanken zwischen Ängstlichkeit und 
Gewaltsamkeit in der gesamten künstlerischen 
Produktion der Gegenwart. Um unter den Allzu- 
vieleu bemerkt zu werden, strengt sich ein jeder 
aufs äußerste an, um aufzufallen. Und durch 
dieses Bestrehen werden die meisten verführt, ihrer 
Natur Gewalt anzutun, über ihre Grenzen hinaus- 
zugehen und die Spekulation an Stelle der In- 
spiration zu setzen. Daher auch die äußerst un- 
erfreuliche Erscheinung, daß jeder Erfolg einer 
neuen Eigenart sofort eine Unmenge von Nach- 
ahmern auf den Plan ruft, welche durch Über- 
treibung des neuen Charakteristikums die Kon- 
stellation auszunützen suchen. Ich brauche wohl 
nur daran zu erinnern, was die eifrigen Ausbeuter 
der Erfolge unserer letzten Originalgenies Wagner, 
Ibsen, Maeterlinck für ein Unheil im Repertoire 
der deutschen Theater angerichtet haben; zumal 
durch die übermächtige Persönlichkeit Wagners 



iat die iiiuBikdramatiHche Produktion unrettbar in 
eine Sackgasse getrieben worden. Die in den 
siebziger Jahren geborene Junge Generation pflegte 
schon in ihrem Opus 1 mit Tristanpolyphonie und 
Parsifalorchester zu arbeiten und suchte mit krampf- 
hafter Anstrengung möglichst rasch und weit Qber 
diese einfachen Anfangsgrunde hinauszukommen. 
Nur dem einzigen Richard Strauß ist dies, wenig- 
stens in bezug auf Anschaulichkeit der Tonmalerei 
und neue verblüffende Instrumentationsefifekte, ge- 
lungen — alle übrigen haben ihre Eigenart und 
Ursprönglichkeit darüber verloren. Sie sagen 
uns nichts Neues, sondern bringen das Alte in 
ungenießbarer Form wieder. Es ist ein unver- 
trägliches Mißverhältnis zwischen Inhalt und Form 
dadurch entstanden, und nur wenige ganz gesunde 
Naturen unter diesen Wagnerepigouen, wie bei- 
spielsweise Humperdinck, Thuille und wenige 
andere, sind dem Verderben dadurch entgangen, 
daß sie ihre poetischen Vorwürfe den Grenzen 
ihrer musikalischen Eigenart klug anzupassen 
wußten. Wenn trotzdem für unsere moderne dra- 
matische Produktion die Wertschätzung bei der 
Allgeraeinheit und die Zahl der Aufführungen 
ungefil.hr im richtigen Verhältnis zur wirklichen 
Tüchtigkeit und Eigenart steht, so haben wir das 
viel mehr dem gesunden Sinn des Publikums als 
dem Bemühen der Kritik zu verdanken. 



Theatralische Probleme < 



Wir rühren damit an die aHerschwierigste 
Frage. Man kann sieh sehr woh! eine Kritik vor- 
stellen , die sachlich , geistig überlegen, streng, 
unerbittlich und dennoch wohlwollend ist ; aber 
die ist nur in seltenen Ausnahmefällen zu finden. 
Statt dessen besitzen wir einerseits eine leicht- 
ainnig frivole Kritik, die nur darauf ausgeht, den 
Witz des Schreibers in helle Beleuchtung zu 
rücken, und andererseits eine hochmütig schul- 
meisterhafte Kritik, die sich allzu leicht in Ein- 
seitigkeit verbohrt. Die letztere Gattung ist für 
die Entwicklung des Theaters im allgemeinen wie 
für die Förderung der Schaffenden im besonderen 
wohl noch hemmender, ja verderblicher als die 
erstere; denn in ihr konzentriert sich die Pflege 
jener deutschen Erblaster: Überschätzung der 
Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart, des 
Auslandes auf Kosten der Heimat und der pro- 
fessoralen Würdeprotzerei auf Kosten urwüchsiger 
Volkstümlichkeit. Diese Art von Kritik hat es 
vornehmlich auf dem Gewissen, daß die neuen 
Talente sich so selten getrauen, frisch von der 
Leber weg zu singen und zu sagen, was ihnen 
das Herz bewegt. Die bleiche Furcht, von der 
strengen Kritik seicht, banal, oberflächlich, von 
Vorbildern abhängig , unliterarisch , theatralisch 
und wer weiß was noch alles Schreckliches befunden 
zu werden, treibt alle unsere Künstler, aber ganz 



Tomehmlich die dramatischen Dichter und Kompo- 
nisten in Unnatur, Übertreibung, krankhafte Ori- 
ginalitfttssncht und Überschätzung ihrer Kräfte 
hinein. Manch einer, der in einer bescheidneren 
Gattung vielleicht Vortreffliches leisten könnte, 
gelangt auf diese Weise dazu, in einer höheren 
Gattung Unzulängliches zu schaffen. Und die 
ganze Ängstlichkeit, das Schwanken zwischen ver- 
schiedenen Moderichtungen, der Mangel an Selbst- 
vertrauen, wie der GröBenwahn — alle diese oft 
geradezu grotesk in die Erscheinung tretenden 
Leiden der modernen dramatischen Produktion 
tinden ihre Erklärung durch jene Angst vor der 
so akademisch autoritativ sich gebärdenden Kritik. 
Sie hat es um so leichter, die schwächeren Geister 
unter ihren Bann zu zwingen, als der deutsche 
Volkscharakter so wie so zur Verehrung alles 
Feierlichen, Würdevollen, Schwerverständlichen und 
Fremdartigen hinneigt und sich des schönen Rausches 
der Jugend, des Übermutes der Kraft und alloi 
bloß zierlichen leichten Spieles eher zu schäma 
als zu rQhmen pflegt. 

Damit haben wir wohl die Erklärung für dlej 
oft beklagte Tatsache, daß in Deutschland wedwJ 
das Lustspiel noch die komische Oper auf einoiil 
grünen Zweig kommen will. Die Kritik selbst! 
ist vollständig ratlos, wenn man von ihr eiul 
Definition dieser Begriffe verlangt. Wenn bei der J 



Theatratiache Probleme ^ 

Erataufführung eines neuen Lustspiels fröhliches 
Gelächter das Haus durchklingt und drastisch 
komische Situationen, zumal an den Aktschlüssen 
den hellen Jubel eines naiven Publikums erregen, 
so kann man mit absoluter Sicherheit voraussagen, 
daß die Kritik dem Autor mit mehr oder minder 
ironischem Wohlwollen zu verstehen geben wird, 
daß er keine Ahnung vom Wesen der feineren 
Komödie besitze und nur eine grobe Vorstadtposse 
zustande gebracht habe. Beweis: der Jubel des 
genügsamen Publikums. Geht aber so ein unglück- 
licher Koraödiensch reiber aus Angst vor solcher 
Verurteilung allen starken komischen Effekten, 
jeder karikierenden Übertreibung und jedem Witz 
im Dialog aus dem Wege, so wird ein gesundes 
Publikum sein Werk gähnend ablehnen und die 
Kritik wird ihn wiederum väterlich wohlwollend 
dahin belehren, daß zu einem Lustspiel Lustigkeit 
gehöre. Und weil nun einmal leider bei uns Deut- 
schen die freie Lustigkeit im Verhältnis zur 
steigenden Eildung abzunehmen und der volks- 
tümliche Begriff von Lustigkeit so leicht mit derben 
oder gar rohen Spaßen zusammenfällt, andererseits 
es der Kritik auf keinen Fall recht gemacht werden 
kann, so gibt sieh eben der Dichter, der auf seine 
Würde als literarisch gebildeter Mensch Wert legt, 
mit der komischen Gattung überhaupt nicht ab, 
■udern überläßt die Versorgung der Bühne mit 



t Thefttnäuche Probleme 



den nun einmal unentbehrlichen Lustspielen den 
weniger ehrgeizigen Theaterindustriellen. Es ist 
wirklich ein Jammer! Unsere größten Geister haben 
zwar die Komik keineswegs verachtet, selbst aber 
gar kein Talent dafür besessen. Was Goethe unter 
dem Namen Lustspiele in seine Werke autgenommen 
hat, ist einfach blamabler Schund. Schiller, als 
reiner Pathetiker, mußte natürlich im Lustspiel 
auch gänzlich versagen, und einzig Lessing hat in 
seiner Minna eine Komödie zustande gebracht, die 
fOr seine Zeit und für das geschilderte Milieu 
wohl charakteristisch und auch im allgemeinen 
nicht ohne Anmut und Humor, aber doch des 
Ruhmes als deutsches Muster- und Meisterlustspiel 
durchaus unwürdig ist. Die wirklichen Humoristen 
unter unseren Dichtem ersten Banges, wie bei- 
spielsweise Fritz Reuter, Gottfriöl Keller, Theodor 
Fontane, Wilhelm Raabe haben zu^lliger weise gar 
kein dramatisches Talent besessen. — Oder ist 
das kein Zufall? Kann aus einem Volke, bei dem 
sich der Eintritt der Pubertät durch das Verfassen 
von Trauerspielen und herzzerreißenden lyrischen 
Gedichten anzukündigen pflegt, kein genialer 
Komödiendichter geboren werden? — Wir haben 
einen solchen — und er hat uns die deutsche 
Muster- und Meisterkomödie hinterlassen; ich meine 
Anzengruber und seine „Kreuzelschreiber" (und 
gleich hinter dieses geniale Werk ordne ich des- 




Theatraliacbe Probler 

selben Mannes „G'wissenBwurm" ein); aber in den 
deutschen Schullesebüchern wird davon wohl noch 
lange nichts zu lesen stehen, wohingegen das Schwer- 
gewicht professoraler Autorität sich vermutlich 
noch etliche Generationen lang für die unvermeid- 
liche Minna ins Zeug legen und dadurch dem 
deutschen Bildungsphilister die Überzeugung er- 
halten wird, daß ein literarisch wertvolles Lust- 
spiel ohne eine gehörige Portion Langeweile nicht 
auskommen köone. — In einer ebenso verzwickten 
Lage befindet sich der deutsche Komponist, der 
zwischen der Operette und der großen Oper einen 
seinem Talente zugänglichen Mittelweg sucht. 
Fallen ihm leicht faßliche Melodien und flotte 
Rhythmen ein, so wird man ihn in die Operette 
verweisen; und wenn er aus lauter Angst vor der 
Trivialität schwerfällig und gesucht wird, so wird 
man ihm sagen, zur komisehen Oper gehöre vor 
allen Dingen leichte melodische Erfindung und 
flotter Rhythmus. Es fällt mir nicht ein, die Kritik 
zum alleinigen Sündenbock machen zu wollen; sie 
leidet ebensogut wie die Schaffenden an den oben 
gekennzeichneten deutschen Erbübeln. Und auch 
dem ganzen großen Publikum hängt, wenigstens 
soweit es durch höhere Schulen gelaufen ist, der 

I alte deutsche Zopf fest angewachsen im Rücken; 

^ aber hier ist eine lohnende Aufgabe für alle, die 
an der ästhetischen Erziehung des Volkes beteiligt 



Bind. fOr alles, was Literatur lehrt, für die Presse, 
für die Theaterleiter: hier güt'fl ein Umwerten 
alter Werte — hier heißt es dem Volke einen 
neuen Maßstab für seinen Geschmack in die Band 
geben, indem man es lehrt, in allen Kunstdingen 
das Wie über das Was zu stellen, nicht große und 
kleine Gattungen, würdige und unwürdige Gegen- 
stände der Behandlung, sondern bedeutendes und 
geringes Können, eine würdige und eine unwürdige 
künstlerische Behandlung desselben Gegenstandes 
gegeneinander abzuwägen. Wenn in der allgemeinen 
Schätzung seiner Volksgenossen der Meister des 
Komischen dem des Tragischen gleichwertig be- 
funden und dem Ei-schütterer der gleiche feurige 
Dank wie dem Erheiterer gespendet wird, dann 
werden wir sicher auch in Deutschland, trotz 
unserer selteneren und minderen Begabung für 
das Heitere, Anmutige, auch auf diesem Gebiete 
Meisterwerke ernster und erster Meister zu er- 
warten haben. 

Ich bin am Schlüsse meiner Betrachtung an- 
gekommen. Daß man durch Reden und Artikel- 
achreiben all die Übelstände nicht ausrotten und 
gründliche Reformationen nicht ohne weiteres be- 
werkstelligen kann, weiß ich natürlich sehr wohl. 
Ich meine nur, daß jeder, der Erfahrung und 
offenen Blick genug besitzt, um über gewisse Ver- 
MltDisse ein verständiges Urteil abzugeben, dies 



Theatralische Probleme <j 

nicht uQterlassea solle, wena er auch zunächst 
nichts anderes damit erreicht, als eine Anzahl 
gutwilliger Menschen zum Nachdenken anzuregen. 
Ist ein ganzes Volk von der Notwendigkeit der 
Reformen durchdrungen, dann sind sie auch durch- 
zuführen. Und ich habe ja in meinen Ausführungen 
zu zeigen versucht, daß wir im Grunde mit unserem 
Theaterwesen recht zufrieden sein können, daß es 
viel weniger der Reformen als der Erkenntnis 
einiger übler nationaler Erbfehler bedürfe, um uns 
von jenen Hemmungen einer gedeihlichen Ent- 
wicklung loszumachen und drohende Gefahren ab- 
zuwenden. Das gilt vor allen Dingen von der 
Gefahr des Amerikanismus. Die können wir aller- 
dings nicht ernst genug nehmen; denn wenn die 
allgemeine Tendenz zur Gleichmacherei, zur Ver- 
götterung des Nützlichkeitsprinzips, wie sie durch 
die Leichtigkeit des modernen Verkehrs begünstigt 
wird, bei uns auch auf dem Gebiete der Künste 
und Wissenschaften siegt, dann hat unser altes 
Europa überhaupt seine Rolle ausgespielt. Was 
hei uns Deutschen insbesondere bisher für eine 
unglückliche Schwäche gehalten wurde , nämlich 
unsere Eigenbrödelei, unser querköpfiger Indivi- 
dualismus, unsere vielen Vaterländer auf einem 
so kleinen Stückchen Erde, unsere vielen Zentren 
und Residenzen des Geistes und der besonderen 
Vornehmheit — das ist heute unser letzter und 



bedeutendster Vorzug gegenüber jener neuen Weit, 
welcher das Wesen der vereinigten Staaten den 
Stempel aufgedruckt hat. Bewahren wir uns mit 
energischer Eifersucht unsere Besonderheit, so 
werden wir auch für eine fernere Zukunft noch 
bleiben können, was wir bisher der Welt gewesen 
Bind: die geistigen Anreger, die Neuschöpfer, die 
Problem- und Fragesteller, der tiefe Brunnen idealer 
Erquickung! Das Theater spiegelt uns in seinem 
Spiel das Bild der Welt im kleinen wider, wenn 
es seine Aufgabe richtig erfaßt. Und darum darf 
auch der ernste Menscli, ohne seiner Wtlrde etwas 
zu vergeben, das Theater ernst nehmen; darum 
ist auch jeder, der sich nach seinen Kräften mit« 
bemüht, unserem deutschen Theater seine schöne 
Eigenart zu erhalten und verderbliche EintlUsse 
der Fremde abzuwehren, ein wahrer Freund des 
Vaterlandes. Deutschland gegen Amerika — das 
muß auch in Theaterdingen für jeden Weit* 
blickenden die Losung fUr die Zukunft sein ! 




Vom 

alten und vom neuen Weimar 

Ein Rückblick und ein Ausblick 

(1908) 



\ --»; 



i 



Das kleine Weimar mit seinen 32000 Ein- 
wohnern verfügt jetzt dank der Freigebigkeit seines 
Landesherrn und der glücklichen Leistung des 
ausgezeichneten Münchener Baumeisters Littmaun 
über eines der schönsten und überdies praktisch 
vollkommensten Theater Deutschlands. 

Seltsam feierlich und zugleich doch tief weh- 
mütig wurde mir ums Herz, als zum ersten Male 
in diesem schönen BauBe wie von uDSicbtbaren 
Ufern her die gewaltigen Tonfluten der Orgel, mit 
strahlenden Hörner- und Posaunenchören vermischt, 
daherbrausten. Es waren die Tonfluten einer neuen 
lärmenden Zeit, die das gute alte Weimar mit 
seinen hochherrlichen und süß ■ traulichen Er- 
innerungen unter sich begrub. Schlummert es nun 
da im Mär eben träum, ein anderes Vineta? Oder 
wird es auch für die Zukunft eine glückliche Insel 
bedeuten, an deren festen Ufern die gierigen "Wellen 
mit viel Spektakel sich die Köpfe einrennen und 
zu eitel Schaum zerscheiten V 



y^ Vo;ii alten und vom oeuen Weimar 

Als ich vor nuDmehr dreißig Jahreo nach Be- 
endigung meiner Studien in Ilm-Äthen mich nieder- 
ließ, erschien mir das als etwas ganz Selbatver- 
ständliches für einen jungen Menschen, der sich 
zum Poeten berufen glaubt. Freilich durfte ich 
mich mehr als andere junge Musensöhne in Weimar 
heimatberechtigt fühlen , da die teuersten Er- 
innerungen meiner Familie mit der klassischen 
Glanzzeit aufs innigste verwoben sind. Waren 
doch mein Großvater und mein Großoheim Mit- 
schüler Schillers auf der Karlsschule und ihm 
sein Leben lang innig befreundet gewesen. War 
doch der Großoheim Wilhelm später in Weimar 
Schillers Schwager und Goethes Kollege im ge- 
heimen Rat geworden, mein Großvater schon als 
junger Offizier Schillern bei seinen Studien über 
den dreißigjährigen Krieg und den Vorarbeiten zum 
Wallenstein behilflich gewesen, nach des Dichtei's 
Tode aber, als General, Vormund seiner Kinder 
geworden. Außerdem lag unser Famitienbesitz im 
Großherzogtum, den mein Großvater von der Fa- 
milie v. Kalb erworben hatte, angrenzend au das 
Besitztum der Frau v. Heygendorf, wo Karl 
August und Goethe so oft weilten. Aus meiner 
frühesten Kindheit erinnerte ich mich noch der 
Erzählung einer munteren Greisin aus unserem 
Dorfe, die dabei gewesen zu sein behauptete, wie 
der junge Herzog, von dem nichtsnutzigen jungen 



Vom alten und v 



HeriTi V. Goethe verführt, in unserem Parke mit 
Pistolen nach der Bibel geschossen hätten! 

Was Wunder, wenn es mich da mit liebreich 
gewaltiger Lockung nach dem alten glorreichen 
MuBensitze zog. Nicht nur so, wie man als junger 
Mensch einmal einer verehrungswürdigen Ehren- 
tante der Familie einen Anstandsbesuch abstattet, 
sondern wirklich aus der festen Überzeugung heraus, 
daß jenes friedsame thüringische Städtchen auch 
beute noch als die treue Pflegemutter alles deutschen 
Idealismus, aller deutschen Poeterei und hoch- 
Btrebenden Künstlerwelt überhaupt anzusehen sei. 
Und ich fand damals der Enkel noch mehrere 
vor. Der Legationsrat a. D. W o 1 f g a n g v. Goethe, 
den ich als junger Student noch kennen gelernt 
hatte, war zwar jüngst gestorben, aber Walter 
V. Goethe hauste noch in dem stattlichen Hause 
am Frauenplan, ein einsamer schrulliger Junggeselle, 
der aber doch noch zuweilen bei Hofe erschien 
und dort einmal im kleinsten Kreise sogar eigne 
musikalische Kompositionen zum besten gab. Und 
der Enkel Schillers, Ludwig Freiherr v. Gleichen- 
Eußwurm, in der Gesichtsbildung und Körper- 
länge seinem Großvater sprechend ähnlich, malte 
dort seine merkwürdig grünen Landschaften, von 
den meisten Kunstgenossen als ein malender Baron 
über die Achsel angesehen, von einigen wenigen 
aber damals bereits als ein meisterhafter Könner von 



Tom fttten und Tom Denen Vmmax I 

großer Kraft und persönlicher Anschauung erkannt. 
An der Kunstschule hatten Böcklin, Genelli, 
Praller, Gussow, Thedy gewirkt, und nun- 
mehr lebten und schufen dort vorbildlich Theodor 
Hagen, Brendel, Linnig Vater und Sohn, 
Struys, Graf Kalckreuth der Jüngere, Fritz 
V. Scbennis und eine Menge andere, später gleich- 
falls zu hoher Anerkennung gelangte Maler. Regel- 
mäßig mit der warmen Frllhlingssonne kehrte Liazt 
in seine Sommerresidenz an der Hofgärtnerei ein und 
machte Weimar auf einigo Monate zum Mittelpunkt 
der fortschrittlichen Musikbewegung des ganzen 
zivilisierten Europas. Dieser wunderbare, gütige, 
temperament- und weisheitsvolle Greis, der seit dem 
Jahre 1822 eine Weltberühmtheit gewesen, ttberall 
und nirgends daheim, vergöttert wie kaum je ein 
Künstler vor ihm, hatte sich das kleine Weimar aua- 
erwählt, um ihm durch wahre Großtaten selbstlosester 
Hingabe an das Werk von ihm zuerst erkannter 
genialer Begabungen den verblichenen Glanz des 
alten Ruhmes neu zu vergolden. Er war es, der des 
verbannten Wagners „Lohengrin" nach Über- 
windung zahlloser Schwierigkeiten zum ersten Male 
in Deutschland in dem kleinen dürftigen weimarischen 
Hoftheaterchen aufführte. Er war es, der, allem 
Gespött und noch größeren Widerwärtigkeiten zum 
Trotz , die erste und noch immer beste deutsche 
komische Oper neuen Stils, Peter Cornelius' 



4 



Vom alten und vom neuen Weimar 

„Barbier von Bagdad", hier auf die Bühne 
stellte, nachdem er vorher bereits dem großen 
französischen Bahnbrecher einer neuen Instrumen- 
tationskunst, Hektor B e r I i o z , den gleichen Dienst 
erwiesen. Zu meiner Zeit waren es die damals 
noch gänzlich unbekannten jungen Russen und 
Tschechen , denen er seine starke Hand mit auf- 
munterndem Lächeln entgegenstreckte. Kammer- 
musik und Lieder von Smetana und Dvofak 
erklangen, von Weimarschen Künstlern aus dem 
Manuskript vorgetragen, zum ersen Male im Salon 
der Frau v. Mejendorff, einer geistig hoch- 
bedeutenden Russin, geborenen Prinzessin Gort- 
sc h a k o w , die neben ihrer Kunstbegeisterung noch 
so viel ächte Freundschaft und praktischen Ver- 
stand übrig hatte, um dem großartig sorglosen und 
grenzenlos gutmütigen Meister Liszt das Seinige 
einigermaßen zusammenzuhalten und ihn vor allzu 
gröblicher Ausbeutung zu schützen. Auch Hans 
V, Bülow sprach ziemlich regelmäßig, wenigstens 
einmal im Jahre, bei seinem Exschwiegervater vor 
und erwies ihm bei der Gelegenheit dann jedesmal 
einen Liebesdienst, zu dem einzig nur er taugte, 
indem er die vielen zudringlichen Talentlosigkeiten, 
die der langmütige Altmeister nicht loszuwerden 
wußte, durch seine göttliche Grobheit davonscheuchte. 
Freilich kamen die meisten dieser lästigen Über- 
tiüssigen, die Bülow zur Vordertreppe herunter- 

349 



Vom alten nud ^ 



1 neuen Weimer 



befördert hatte, sobald er den Rocken gekehrt, 
durch ein Hinterpförtchen nieder herauf. In einer 
ärgerlichen Aufwallung boU er einmal in späteren 
Jahren den Abb6 einen alten Komödianten ge- 
scholten haben — aber man braucht dergleichen 
nicht tragisch zunehmen: es gehört allerdings eine 
beträchtliche Portion Eomödiantentalent dazu, um 
mit so wahrhaft königlicher Würde, wie Liszt das 
verstand, die Gottheit der Musik für ganz Europa 
zu repräsentieren. Wagner, der impetuose kleine 
Sachse, verstand diese schwere Kunst jedenfalls 
nicht und wäre an den vielen schwierigen diplo- 
matischen Aufgaben, vor die ihn das Werk von 
Bayreuth stellte, oft genug kläglich gescheitert, 
wenn er nicht Frau Cosinia zur Seite gehabt hätte, 
die als ächte Tochter Liszts jenes königliche Ko- 
mödiantentalent geerbt hat. Daß Hans v. Bülow 
mit Wonne boshaft sein konnte , weiß die Welt. 
Ich erfuhr es gleich am selben Tage, an dem ich 
ihm in Weimar zuerst vorgestellt wurde. Er hatte 
mit Liszt zusammen vierhändig gespielt. Ich hatte 
die Noten umwenden dürfen. Und als dann die 
musikalischen Vorführungen zu Ende waren, hatte 
ich, meinem ausgeprägten OrdnungsHinn folgend, 
den Klavierdecbel geschlossen. BüIow bemerkte 
das, kam auf mich zu, drückte mir mit ironischem 
Lächeln die Hand und sagte: „Ich sehe, Sie sind 
gut musikalisch. HotTentlich sind Sie aber nicht 



1 Weimar i 



SO wie Ihr Bruder in Bayreuth." Den- 
selben Bülow habe ich aber auch schon ächte Tränen 
vergießen sehen , als er nach einer besonders ge- 
lungenen Aufführung des „Tristan" -Vorspiels in 
einem Berliner Philharmonischen Konzert, in dem 
er unter andern auch eine Brahms- Symphonie di- 
rigiert hatte, ins Künstlerzimmer trat und dem 
ihm zunächst stehenden Freunde fast schluchzend zu- 
flüsterte: „Ach ja — das waren doch andere Zeiten!" 

Es sei mir gestattet, hier eine Schilderung des 
Liszt'schen Kreises einzufügen, die ich im Jahre 
1884, noch unter dem frischen Eindruck des jüngst 
Erlebten für die „Tägliche Rundschau" verfaßte. 

Das heilige Originalpflaster, welches einst 
Goethes und Schillers Füße traten, hat im Laufe 
der Jahrzehnte wohl einem profanen neuen Platz 
machen müssen, aus welchem kein Pegasus mehr 
Hippokrenen hervorstampft, aber dennoch weht es 
noch manchmal wie vom hohen Olymp herab über 
das freundliehe Ilm-Athenchen dahin und andere 
Musen schlagen ihr Lustgezelt dort auf — wenn 
Altmeister Franz Liszt in den ersten warmen 
Frühlingstagen sein Quartier in der Hofgärtnerei 
wieder bezieht. Dann gewinnt mit einem Mal das 
Leben und Treiben der Residenz einen ganz anderen 
Charakter, Im Winter dreht sich alles um den 
Hof, das Theater und die Kunstschule, von welchen 
drei Instituten das letztgenannte den meisten Lärm 



zu machen sieb bestrebt. Wöchentlich zweimal 
rollen die Hof- und Miets-Equipagen, mit den fa- 
mosen kanariengelben Droschken vermischt, in den 
SchloÖhof; der „alte und der junge Hof lassen 
abwechselnd tanzen. Das Theater ist stets gut 
besucht und leistet meist recht Anerkennenswertes, 
besonders was die Fölle der gebotenen Novitäten 
betrifft. Die Kunstschule zankt sich und regt sich 
fortwährend auf; der Künstlerverein gibt seine 
Feste, welche mit geringen Mitteln oft Reizendes 
bieten, doch auch ihm nagen die Mäuse und Ratten 
des Parteihaders und des Neides au den Wurzeln, 
so dafi es ihm sauer genug gemacht wird, sich grün 
zu erhalten und Blüten zu treiben. 

Wenn aber der herrliche Park sich in seine 
duftige Frühlingstoilette geworfen hat, erscheint 
eines schönen Tages in der Zeitung „Deutsch- 
land" ein rührendes Gedicht, in welchem namens 
des Lenzes, der Blümelein und Nachtigallen 
der Meister willkommen geheißen wird. A. W. G. 
ist der Hymnus unterzeichnet, und der Hm- Athener 
weiß darauf ein Anagramm von thüringisch-gemüt- 
licher Grobheit zu machen, weiches den hyperbo- 
lischen Stil des A. W. G. volkstümlich derb und 
deutlich kennzeichnet — altesWeimarsches Gärluder! 

Und mit dem Meister nahen sich auch all- 
jährlich die schwankenden fragwürdigen Gestalten 
seiner Schüler und Schülerinnen, Ach, was seh' 



i 
4 




I 



Vom alten und vom neuen Weimar i 



ich! Da ist ja wieder die junge Dame mit den 
sehr kurzen Kleidern, sehr bunten Strümpfen und 
aufgelösten Haaren ; da ist die fesche Ungarin mit 
den großen kohlschwarzen Augen und dem vielen 
Reispulver im Gesicht; jene Schöne hat ja immer 
noch den riesigen purpurnen Rembrandt auf dem 
Kopf, und da sind die jugendlichen Jünglinge, welche 
voriges Jahr mit den russischen Hemden und tür- 
kischen Fezeu heruraspazierten ; ob sie wohl heuer 
chinesische Mandarinenhüte mit Glöckchen auf- 
setzen werden? Sie gerieren sich sehr ungeniert 
auf der Straße, diese Genies — denn das sind sie 
natürlich samt und sonders — sitzen im Hotel 
Ghenmitius alle an einem Tisch, sprechen und 
singen sehr laut, kurz, sie suchen auf jede mög- 
liche und unmögliche Art aufzufallen, und erreichen 
meist glänzend ihren Zweck. Ob sie noch ein 
weiteres Lebensziel verfolgen, weiß ich nicht, denn 
man hört später selten etwas von ihnen. Als 
„Liszt-Schüler" treten sie in mittleren Provinzial- 
städten auf, werden von den Lokalberichterstattern 
ä la A. W. G. vielleicht als „hürnene Siegfriede, 
welche klavieristische Lindwürmer bezwingen", ge- 
priesen und versinken nach ein oder zwei Konzert- 
tournees gewöhnlich in das Dunkel des Klavier- 
pädagogentums , wenn's gut geht ! Solange sie 
noch ihren König und Hohenpriester so bunt und 
lärmend umschwärmen, mit ihm von einem Ort 

XXfll, 



II nenen Weimar 



zum andern ziehen, so lange sie noch Genies sind 
mit einem Wort, leben und lieben sie in dulci 
jubilo, und wenn sie sich genötigt sehen, irgendwo 
eine Kleinigkeit schuldig zu bleiben, da wendet die 
allzeit offene Hand des grundgütigeu Meisters das 
Unheil von ihren Häuptern ab. Die wirklich her- 
vorragenden Schüler sieht man selten in der Kum- 
panei jener Korybanten und Mänaden. Die Eugen 
d'Albert, Vera Timanoff, Martha Remmert, Karl 
Pohlig und ihresgleichen sitzen zu Hause vor dem 
Instrument und meißeln im Schweiße ihres An- 
gesichts an ihrer möglichsten Vollendung, und zu 
ihnen gesellen sich auch die bescheidenen armen 
Schlucker, welche sich damit begnügen, im Dunst- 
kreise des Meisters zu leben und ohne Rast und 
Buh von früh bis abends spät an der Zerrüttung 
ihrer (und ihrer Nachbarn) Kerven zu arbeiten, 
um möglichst bald vor Sein Angesicht treten zu 
dürfen und Ihm Seine Don Juan-Fantasie oder 
sonst einen „Lindwurm" vorbändigen zu können. 
Das Spielen bei offenen Fenstern oder nach zehn 
Uhr abends ist in Weimar bei Strafe verboten, 
aber dennoch dringen die dumpfen Kanonendonner 
der Oktavenpassagen und das Kleingewehrfeuer- 
Gleknatter der Terzenläufe und Akkordentriller noch 
durch die klirrenden Fensterscheiben hindurch und 
bestreichen auf allen Straßen und Gassen die Ohren 
des harmlosen Spaziergängers mit ihrem Kreuzfeuer. 



Vom altCQ und vom neuen Weimar ■ 

Da kommt der Meister die sonnige Marienstraße 
herunter, im langen schwarzen Rock, einen geist- 
lichen Hirtenhut auf dem prächtigen Greisenkopf 
mit dem langen, sehlichten weißen Haar und ele- 
gante Halbschuhe an den Füßen. Der Herr mit 
grauem Backenbart und ausrasiertem Kinn zu seiner 
Rechten ist Hofkapellmeister Eduard Lassen, dessen 
reizende Lieder Überali gesungen werden, dessen 
köstliche Faustmusik aber noch viel zu wenig be- 
kannt ist. Und zur Linken des Abbös geht Na- 
poleon der Große in leibhaftiger Gestalt, nur im 
bürgerlichen Gewand unserer Tage : das ist Konzerte 
meister Kömpel, der Lieblingaschüler Spohrs, einer 
der vorzüglichsten deutschen Geiger , aber dem 
reisenden Virtuosentum so abhold, daß sein Name 
nie so berühmt geworden, als er es verdiente. 

Die drei Herren gehen zum musikalischen 
Nachmittag zu Frau von Meyendorff. Folgen wir 
ihnen dahin. — Die Baronin — eine wahrhaft vor- 
nehme Dame mit einer außergewöhnlich gründlichen 
Bildun g — ist eine der treuesten Freundinnen 
und Verehrerinnen Liszts und nimmt ihm, so lange 
er in Weimar ist, alle irdischen Sorgen und Ge- 
schäfte ab. Sie versammelt die Elite der Aristo- 
kratie und der Kün stierschaft in ihrem Hause; 
auch der Hof ist häufig anwesend. — Man spielt 
ein neues Streichquartett. Liszt klopft applaudierend 
Beine gewaltigen Hände zusammen : „Hm — Ha — 



t Vom nlten niid Tom nraen Wefnur 



Pcha Bravo!" Kr springt auf uad klopft 

den KüDstlero freundlich auf die Schulter. Eis 
wird herumgereicht. Der Meister ist in goldiger 
Laune, er rückt mit geinein Stuhl in einen Kreis 
von Damen, immer plaudernd, lachend, scherzend, 
streichelnd und klopfend; denn volle Arme und 
weiße Nacken liebt er sehr, und die Prinzessin X. 
und die Gräfin Y. wird so gut gestreichelt und 
geklopft wie das schOchterne junge Mädchen, das 
ihm zum ersten Mal etwas vorspielt. Wer wollte 
auch diesem herzensguten, liebenswürdigen Greise 
eine kleine Freiheit übelnehmen; kommt doch das 
alles so natürlich heraus und gehört so unzertrenn- 
lich zu seinem ganzen Wesen wie dies, trotz der 
berühmten Warzen, so ideale, durchgeistigte, grund- 
gütige und darum auch schöne Gesicht, 

Jetzt trägt ein junger Komponist sein neuestes 
Klavier-Konzert vor und Liszt setzt sich an das 
zweite Instrument, um die Begleitung der Orchester- 
partitur auszuführen. Wie fein und diskret er 
das tut, sich ganz dem libitum des Solisten unter- 
ordnend! Gefällt ihm eine Stelle besonders, so 
schmunzelt er behaglich und wirft einen freund- 
lichen Blick in die Runde; dann ziehen sich wieder 
seine buschigen Augenbrauen zusammen, besonders 
bei kräftigen breiten Fortestellen, und sein Kopf 
markiert den energischen Rhythmus. So geht das 
Stück zu Ende und der Meister beklopft den glück- 



Vom alten und vom neuen Weimar i 

liehen jungen Künstler und sagt ihm allerlei An- 
erkennendes. Zu verstehen ist er übrigens sehr 
schwer, da er gewöhnlich Deutsch und Französisch 
durcheinandermischt und nach jedem dritten Wort 
einen unartikulierten Laut einfließen läßt, der 
etwa wie „Pcha!" (mit gutturalem ch) klingt. Das 
Ende der Rede ist aber gewöhnlich: „Hm! — 
charmant — pcha! bravo!" 

Jetzt setzt sich Liszt selbst an den Flügel, um 
seine neueste Komposition nach dem Manuskript 
zu spielen. Wie gebannt lauscht der Kreis der 
Anwesenden dem mehr als siebzigjährigen Zauberer, 
dessen wuchtige Griife in dem einen Augenblick 
ein ganzes Korps von Trompeten , Zinken und 
Pauken aus dem Flügel herausschmettern und 
dröhnen lassen, während im nächsten Augenblicke 
von seinen leicht auf und niederhusehenden Finger- 
spitzen flimmernde Tonkaskaden sprühen. Es gibt 
keine Musik, die so schwer verständlich wäre, daß 
Liszts Spiel und vor allem der Ausdruck seines 
Gesichtes beim Spiel sie nicht vollständig klarzu- 
machen verstünde. Bei wilden, ernsten, dämonischen 
Stellen runzelt er die Stirn ein wenig, der breite 
Mund zieht sich mit den Winkeln etwas nach 
unten, das Auge blickt ernst und gerade vor sich 
hin — er sieht ganz Beethovensch aus! — Dann 
kommt vielleicht ein sehnsuchtsvolles Cantabile — 
das Antlitz erbeut sich, die Fältchen um die milden 



(1 n«aeii Weinikr 



Augen zucken leise, und seine Blicke sucheD die 
einer schönen Frau. Jetzt wird die Modulation 
etwas verwickelt — er neigt den Kopf, wie am 
feiner zu hören, ein wenig seitwärts und nickt be- 
friedigt, wenn das siegreiche Thema wieder aus 
dem harmonischen Defilee herauskommt. Bei be- 
sonders trotzigen, seltsamen Akkordenfolgen wirft 
er auch wohl einmal ein halblautes Pcha! dazwischen 
und läßt die Hände aus ansehnlicher Höhe auf die 
Tasten fallen. Nun wird der Charakter des Stückes 
humoristisch — wie lächelt und lacht da jeder 
Muskel in seinem Gesicht! Wie schleudert er über- 
mütig die Triller und Läufe heraus, und bei einer 
recht unerwarteten, bizarren Wendung zieht er die 
Augenbrauen hoch, öffnet den Mund und lacht wohl 
gar laut, oder er wirft den Kopf zurück und 
macht über die Achsel eine scherzhafte Bemerkung. 
Ich habe Liszt nie Öffentlich spielen sehen und 
weiß nicht, wie er sich dabei geberdet, aber ich 
weiß, daß ich entschieden das Beste vermissen 
würde, wenn ich ihn einmal nur spielen hörte. 
Dies beredte, wunderbare Minenspiel ist der zu- 
verlässigste Leitfaden durch alle moderne Musik, 
den man sich denken k:inn. Übrigens würde man 
sehr irren, wenn man sich die Wirkung dieser 
mimischen Beredsamkeit als affektiert oder komiseh 
vorteilen wollte. Nein, sie ist der eigenste Ausdruck 
einer ganz originalen künstlerischen Individualität, 



Vom alten und vom neuen Weimar i 

ohne Spur von Affektation. Mir wenigstens hat sie 
einen unauslöschlichen Eindruck gemacht und mir 
das Verständnis erschlossen für all die Extra- 
vaganzen des Kultus, welcher mit diesem wahrhaften 
Genius getrieben worden ist. Die Abende und 
Nachmittage der Frau von Meyendorff gehören zu 
meinen schönsten künstlerischen Erinnerungen, 
denn hier durfte ich den ganzen Liszt genießen. 
Bei den musikalischen Abenden, die ich in seinem 
Hause erlebte, spielte er nicht seihst, wenigstens 
nicht solo, und die große Anzahl der Geladeneu 
gestattete nicht jene Zusammenfassung des Interesses 
auf die Person des Meisters. — Darf ich bitten, 
mir zu einer Soiree bei Liszt zu folgen? 

Seine Wohnung in der Hofgärtnerei besteht 
nur aus einem Vorzimmer, einem Salon und einem 
Schlafzimmer. Alle Türen sind geöffnet und die 
zahlreichen Gäste stehen in kleinen Gruppen bis 
auf den Korridor hinaus in lebhaftem Geplauder. 
Der Kammerdiener des Abb^s, früher ein edler 
Grieche Namens Spiridion, jetzt ein Italiener von 
geheimnisvoller, hoher Abkunft, regiert vom Vor- 
zimmer aus die aufwartenden Hof lakaien und sorgt 
für Speise und Trank. Es gibt erst Tee mit 
Kuchen, welcher präsentiert wird; später, in der 
großen Pause, bedient man sich selbst von deu 
hohen Bergen feiner Sandwiches und von den 
Wein- und Biervorräten. Ein Essen im Sitzen geht 



I Weimar ^^H 

Im ^^M 
„Ameis- ^^M 
redet in ,^H 
d trinkt ^M 
um Uiin ^M 



natürlich in diesen eogen Räumen nicht an. Im 
Vorzimmer drängt Bich besonders der ,Ämeis- 
Wimmelhanfen" der dunkleren Genies; er redet in 
verschiedenen Zungen, gestikuliert, ißt und trinkt 
viel und stürzt auf den Meister zu, um ihm 
frenetisch die Hände zu küssen, sobald er sich im 
Vorzimmer blicken läßt, um einen oder eine von 
ihnen zum Spielen aufzufordern. Zwei Hofequipagen 
rollen durch das geöffnete Gartentor. Liszt und 
Frau von Meyendorff gehen den Herrschaften bis an 
die Haustür entgegen. Man macht, so gut es bei 
dieser Enge und Fülle von Menschen geht, eine 
Gasse. 

Der Groflherzog, eine hohe, schlanke Gestalt, 
ganz Kavalier der alten Schule, schreitet, Frau von 
Meyendorff am Arm, freundlich grüßend durch die 
sich mehr oder minder anmutig verneigende Schar 
der Gäste, ihm folgt am Arme Liszts die Prinzessin 
Elisabeth, eine liebenswürdige, kluge und musika- 
lische junge Dame, ein kleines Gefolge von ganz 
wenigen Hofchargen schließt sich an. 

Im Salon sehen wir Hans von Bülow mit seiner 
schönen Tochter Daniela, die trotz ihrer neunzehn 
Jahre schon eine vollkommene Dame der großen 
Welt ist und mit "Witz und Anmut eine Kon- 
versation zu leiten weiß — Eigenschaften, die sie i 
von ihrer Iiochbedeutenden Mutter, Frau Cosima 



Vom alten und vom neaen Weimar i 

Wagner, überkommen hat. Der untersetzte Herr 
mit dem schwarzen Haar und Backenbart, den 
hocLgezogenen Augenbrauen und dem schwarzen 
Horn-Pincenez ist Baron von Loen, der Intendant 
des Hoftheaters. Die beiden Damen in roten 
Garibaldi-Blusen sind die Töchter Adolf Slahrs, 
welche sehr beliebte Klavierlehrerinnen sind und 
zu den bekanntesten Erscheinungen Weimars ge- 
hören. Der stattliche Mann mit dem rötlichen 
Vollbart und der Brille ist Professor Müller- 
Härtung, der verdienstvolle Leiter der sehr tüchtigen 
Orchesterschule. Dort sehen wir den schwärme- 
rischen A. W, G. in lebhafter Unterhaltung be- 
griffen mit einem alle überragenden, breitschultrigen 
Herrn : daa ist der treffliche alte Gille aus Jena, 
das Urbild des deutschen opferfAhigen Musik- 
Euthusiasteu. Lasseu , der Liebenswürdige , Be- 
scheidene, fehlt natürlich auch nicht. Die übrigen 
sind meist fremde, durchreisende Künstler. 

Das Konzert hat begonnen. Durch die offenen 
Fenster des Salons weht weiche Frühlingsluft 
herein , und die leisesten Flügelklänge begleiten 
die klagenden Seufzer einer Nachtigall, die draußen 
im mondbeglftnzten Park ihr Liebchen lockt. Alles 
lauscht aufmerksam und stumm, nur der „eher 
maJtre" selbst gestattet sich hie und da eine halb- 
laute Bemerkung , ein schmunzelndes „Pcha — 
bravo!" Er setzt sich nachher selbst ans Klavier 



Vom alten and vom neuen Wei 



und begleitet eioen juogen Geiger. Die Produktio^'^ 
ist eine recht mäßige , aber der Meister ist doch 
sehr freundlich zu ihm, um ihn vor der Gesellschaft 
nicht zu blamieren. Der junge Mann, der zu den 
Myrmidonen gehört, wird im Vorzimmer von seinen 
Kollegen mit Fragen bestürmt; „Qu'est ce qu'ü a 
dit?' „Wos hot erg'sogt?" Klaviervortr&ge aller 
Art — Zwei- und Vierhänder — wechseln mit 
Gesang angenehm ab. Meistens sind ee die hervor- 
ragenden Schaler , welche hier zeigen , was sie 
können, doch auch fremde Künstler kommen an 
die Reihe. So trägt ein russisches Sängerpaar 
nationale Duette vor, mit mächtigen Stimmen und 
prächtigem Ausdruck. Der Meister wechselt während 
des Konzertes öfters seinen Platz und gibt stets 
selbst das Zeichen zum Beifall. Schließlich setzt 
sich auch Hana von Bülow an den Flügel und 
begleitet einer Sängerin einige von ihm selbst 
komponierte Lieder. Dieselben sind etwas lang- 
atmig f(lr meinen Geschmack, und ich ziehe mich 
daher in das gleichfalls geöffnete Schlafzimmer 
zurück, das fast so einfach und schmucklos ist als 
das Goethes. Eine spanische Wand verdeckt das 
Bett; am Fenster steht eine Kommode mit einem 
kleinen Bücherbrett darauf, welches ausschließlich 
Breviere, Gebetbücher und dergl. enthält. 

Pause. Mao ißt und trinkt, und die Herr- 
schaften unterhalten sich aufs liebenswürdigste mit 



1 



Yora alten und vom neuen Weimar 

den Künstlern. Liszt tritt ins Vorzimmer und wird 
förmlich angefallen von seinen jungen Damen, denen 
allen er etwas Freundliches zu sagen hat. — Wie 
sie ihn aber auch dafür verehren! Die Gerechtig- 
keit, die er in den Äußerungen seines Wohlwollens 
gleichmäßig gegen alle walten Itlßt, und sein ehr- 
würdiges Alter sollten wohl die jungen Damen vor 
Torheiten bewahren, aber immer noch reißt die 
blinde Eifersucht auf die Gunst des Meisters sie 
hie und da zu merkwürdigen Betätigungen ihrer 
Leidenschaft hin. Vor wenigen Jahren noch sah 
sieh der Kammerdiener genötigt, eine solche junge 
Dame handgreiflichst zurückzuweisen, die sich den 
Zutritt zum Meister erzwingen wollte, während 
eben eine, wie sie glaubte, bevorzugte Mitschülerin 
seinen Unterricht genoß, und die aufgeregte 
Schöne schwur blutige Rache , nicht nur gegen 
ihre Nebenbuhlerin, sondern auch gegen den 
Meister selbst. Schon manche trübe Erfahrung 
verdankt dieser seiner schier unbegrenzten Lang- 
mut und Herzensgüte, aber immer wieder verleitet 
sie ihn dazu, seinen Unterricht, seine tatkräftige 
Unterstützung Unwürdigen angedeihen zu lassen. 
Über die künstlerischen Qualitäten der Genies hielt 
einmal Hans von Bülow, als er den Schwiegervater 
einst in der Lehrstunde vertreten sollte, fürchter- 
liche Musterung und wies in seiner erhabenen 
Grobheit mehreren unwürdigen Eindringlingen 




Vom alten und vom dcucii Weimar 



energisch die Tür — aber was halfB? Sie kamen 
zum Hinterpförtchen wieder hinein, und der Meister 
trocknete ilire Tränen! 

Soweit meine Schilderungen vom Jahre 1884. 

Den gesellschaftlichen Mittelpunkt dieses frisch 
lebendigen Weimar vom Ende der siebziger und 
Anfang der achtziger Jahre bildete der groß- 
herzogliche Hof. Das ist weder eine Selbstver- 
ständlichkeit noch eine höfliche Luge. Denn das 
es nicht so sein niuB, beweist die Tatsache, die 
wir heute itlle vor Augen haben, daß nämlieh vom 
Hofeprotegierte Kunst und die tatsächlich fahrenden 
Cieister in ganz verschiedenen Quartieren hausen. 
Es ist höchstens in München anders, wo wenigstens 
die bildenden Künste und die Musik bei einzelnen 
Mitgliedern des Herrscherhauses einer wirklich 
verständnisvollen Teilnahme begegnen und die be- 
treffenden Künstler auch mit ihrer Person den 
fürstlichen Gönnern ohne ängstliche Rücksicht- 
nahme nahetreten, wogegen selbst der temperament- 
vollste, kunstverständigste und modernste unter 
den gegenwärtig regierenden Fürsten Deutschlands, 
der Großherzog von Hessen, im allgemeinen nur 
aus kühler Höhe dem Treiben zuschaut und sieh 
nur für ein engbegrenztes Sondergebiet persönlich 
einsetzt. Großherzog Karl Alexander aber, der 
als Kind noch auf Goethes Knien gesessen , war 
wirklich ganz und gar durchdrungen von seiner 






I 




Vom alten iinU vom u 

Pflicht als Hüter des ererbten kostbaren Schatzes; 
aber diese heilige Pflicht war für iho zugleich 
Lebensinhalt und höchste Lebensfreude geworden. 
Dieses letzte in Deutschland lebende Urbild eines 
vollendeten Grandseigneurs des 18. Jahrhunderts 
mit der etwas steifbeinigen Würde, der niemals 
auf billige Popularitätshascherei, etwa durch bur- 
schikoses Sich gehenlassen oder anmaßende Leut- 
seligkeit ausging, dieser vollkommene Edelmann, 
dessen angeborene Hoheit kein Menschenkenner mit 
Dünkelhaftigkeit verwechseln konnte, dieser rück- 
sichtsvolle, fast schüchterne Mann, dem alles Laute, 
Plumpe, Unmanierliche in der Berührung mit der 
Öffentlichkeit ein Greuel war und der vermöge 
seiner zeretreuten, stotternden Sprechweise in den 
Verdacht gekommen ist, der Urheber so mancher 
unfreiwilliger Serenissimusscherze zu sein — dieser 
selbe Mann war im engen Kreise seiner bevorzugten 
Künstler, Gelehrten und etlicher feingebildeter 
Kavaliere der liebenswürdigste Wirt, der dankbarste 
Zuhörer und sogar der beredteste, kenntnisreichste 
Plauderer. Seine Anrede an mich, so oft er meiner 
im Cercle der Hofgesellschaft ansichtig ward, be- 
gann unvermeidlich mit den Worten: „Es freut 
mich ungemein, Sie hier in diesen Räumen be- 
grüßen zu dürfen, wo Ihre hochverehrte Frau 
Großtante" .... usw. Und dann pflegte er nach 
einigem Besinnen die Frage folgen zu lassen: 



w ^ 

^^^|^^Sk^''9vS''9 Vom alten and vom neuen Weimar ^^^| 

„Kennen Sie die Gedichte von Heinrich Vierordt?" ^^M 
Wodurch ich mich schließlich in die Zwangslage 
versetzt sah, diese Gedichte kauflich zu erwerben. 
Seit ich aber die stereotype Frage zum erateD Male 
mit ja beantwortet hatte, waren diese Gedichte 
ein für allemal erledigt. 

"Wie anders aber im kleinen, von ihm selbst 
geladenen Kreise, wenn der Fürst sich nicht unter 
dem lähmenden Drucke des Zwanges befand, jeden 
der zahlreichen ihm gleichgültigen Anwesenden 
mit ein paar freundlichen Worten zu beglücken! 
Dann befand man sich einem vornehmen welt- 
gewandten alten Herrn gegenüber, der mit Ver- 
gnügen, mit innerer Anteilnahme seinen jüngeren 
Gästen aus dem Schatze seiner Erinnerungen, Er- 
fahrungen und Kenntnisse zu spenden hatte. Dann 
schleppte er wohl eigenhändig aus seiner kostbaren 
Sammlung von Handzeichnungen alter Meister 
Mappen herbei und wies uns die einzelnen Blätter 
mit den Erläuterungen eines geschmackvollen Kenners 
vor, oder er erzählte von seinen Reisen, von seinen 
Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten der 
Vergangenheit und Gegenwart. Oder er verstand 
es — das ist auch ein wertvolles Talent für einen 
Fürsten — das Gespräch in einer Weise anzuregen 
und zu lenken, daß der Geladene Gelegenheit be- 
kam, seine eigenen Kenntnisse und Ansichten über 
dasLieblingsgebietseinesKachdenkens auszukramen. 



Vraa ältea und vom ueoen Weimar < 



WenB Liszt in solchem engsten Kreise hei Hofe 
erschien, war es besonders interessant. Der Groß- 
herzog trat dann ganz bescheiden vor seinem be- 
rühmten Gaste zurück und überließ es ihm, das 
Gespräch nach seinem Geschmack zu leiten, wohin 
es ihm beliebte. Von Gespräch war dann freilieh 
wenig mehr zu spüren : Liszt erzählte und die 
andern hörten zu. Und da Liszt ebenso wie der 
Großberzog seine stärksten Jugendeindrücke dem 
Paris der vierziger und fünfziger Jahre verdankte, 
so spielten Erinnerungen an diese Zeiten und die 
bedeutsamen Persönlichkeiten, die ihnen den Stempel 
ihres Geistes aufgeprägt haben, die erste Rolle in 
ihren Gesprächen. Und wir spät Geborenen durften 
eine posthume Bekanntschaft machen mit Georges 
Sand, Alfred de MuSRet, Chopin, Heinrich 
Heine, (Liszt hatte ihn noch in gesunden Tagen 
gekannt), Eossini, Meyerbeer, Victor Hugo 
und zahlreichen anderen in Kunst, Wissenschaft 
und Politik bedeutsamen Persönlichkeiten aus den 
Tagen Louis Philipps und Napoleons des Dritten. 
Häufig wurde ich auch allein zum Großherzog be- 
schieden, um ihm Über die neuen Erscheinungen 
auf dem Gebiete der schönen Literatur Bericht zu 
erstatten und ihm daraus vorzulesen. Ich trug dem 
Fürsten unter anderen fast den ganzen „Tannhäuser" 
von Julius Wolf f vor, der damals eben erschienen 
war, denn alles, was von seiner überaus geliebten 



Tom alteD und vom neuen Weimar 

Wartburg handelte, konnte von vornherein auf ein 
günstiges Vorurteil bei dem derzeitigen Burgherrn 
reebnen. Er erkannte aber doch damals schon die 
etwas billige Mache in dieser effektvollen Butzen- 
scheibenpoesie. Und als ich ihm später einmal 
den „Heiligen" von Konrad Ferdinand Meyer aus 
Westermanns Monatsheften, wo die Dichtung eben 
erchienen war, vorlas, entging ihm der gewaltige 
Unterschied zwischen diesen beiden Poeten keines- 
wegs. Als ich dann mehrere Jahre später einen 
öffentlichen Vortrag über moderne Lyrik in Weimar 
hielt, dem auch der Großherzog anwohnte, versuchte 
ich ihn für die Idee zu gewinnen , einen neuen 
Dichterkreis nach Weimar zu ziehen, für welchen 
ich ihm Liliencron, Bierbaum, Uartleben, 
Holz, Dehrael, Henkell und die Brüder 
Heinrich und Julius Hart vorschlug, wenn ich 
mich recht erinnere. Dem Großherzog war der 
Gedanke sehr sympathisch, und ich mußte ihm auf 
der Stelle ausrechnen, was seine Verwirklichung 
ihn wohl kosten könne , worauf er sie jedoch mit 
einem ehrlichen Seufzer vorläufig beiseiteschob, 
denn die Mittel, die ihm zur freien Verfügung 
standen, waren nur sehr beschränkt, und die Frau 
Großherzogin spendete aus ihrem großen Vermögen 
lieber für Schulen und Öffentliche Wohlfahrtsein- 
richtuügen als für Übermütige Lyriker und der- 
gleichen lockeres Gesindel. 



i 



Vom alten und vom neueo Weimar j 

Aber was gab es auch außerhalb des höfischen 
Kreises in dem guten alten Weimar für Pracht- 
gestalten, alte Originale, komische Käuze, weisheits- 
volle alte und draufgängerisehe junge Leute! Im 
Genelli-Zimmer des kleinen Gasthofes zum Adler 
hockte fast allabendlich eine Tafelrunde mehr oder 
minder sonderbarer und doch für einen lernbegierigen 
Menschen ersprießlicher Gesellen beitiammen. Da 
war der alte Dichter Julius Grosse, Sekretär der 
Schillerstiftung, der den überaus kennzeichnenden 
Beinamen „Der vertrocknete Flußgott" führte, da 
waren einige der älteren und jüngeren Mitglieder 
der Kunstschule, soweit sie allgemeineu Interessen 
und philoBOphischen Disputen zugänglich waren, 
sowie einige intelligentere Mitglieder des Schau- 
spiels und der Oper wie Jocza Savits und Max 
Martersteig. Der merkwürdigste von allen aber 
war Otto Lehfeld, jener letzte Komödiant großen 
Stils. Wenn die Wogen der Debatte hochgingen 
und die Köpfe sich vergeblich erhitzt hatten bei 
der Lösung der letzten Fragen, dann fuhr wohl 
der alte runzliche Mime aus dumpfem Vorsichhin- 
brüten empor, gebot mit einer gewaltigen Geste 
Schweigen und führte mit dem ihm eigenen, stets 
wirksam zugespitzten Zynismus die Lösung aller 
noch so verworrenen Streitfragen auf die einfache 
Formel zurück : „Kinder, erhaltet euch eure Mannes- 
kraft, — das ist die beste Philosophie!" Er sagte 




n 



Vom Ktten und vom neuen Weimar 



nicht 80. Er sagte es mit unvergeßlichen, aber 
unsagbaren Worten. Und wenn erat einmal ein 
solches Stichwort gefallen war, dann hatte Otto 
Lehfeld für den Rest der Nacht das Wort allein. 
Eine glänzende Anekdote reihte sich an die andere, 
fast ausnahmslos kräftigst papriziert, aber immer 
durch die Originalität des Ausdrucks überwältigend. 
Der Schluß dieser Sitzungen war gewöhnlich der, 
daß Lehfeld sich bei dem Leben seines einzigen 
Kindes hoch und teuer verschwor, es solle nie mehr 
eine Zote über seine Lippen kommen; was aber 
keineswegs ausschloß, daß er uns nicht noch auf 
dem Nachhausewege einige Prachtstücke aus seiner 
reichen Sammlung servierte. 

Das waren die Alten. Ks trieb sich aber 
auch junges Volk genug herum, in dem es brauste 
und gärte, und das dann später seine Eigenart 
mehr oder minder glänzend zur Geltung gebracht 
hat. "Unter den Lisztschülem machten sich d'Albert, 
Reisenauer, Dingeldey, Siloti, Fried- 
heim, Pohlig, Stavenhagcn besonders be- 
merkbar. Im Theater wirkten der junge Achen- 
bach, genannt AI Vary, und der junge Scheide- 
mantel nebeneinander. Ein bleistiftdünner, hoch- 
aufgeschossener Jüngling mit langwallenden blonden 
Locken, Schulte vom Brühl, versuchte mit gttthen- 
dem Eifer seine Kraft auf alten Gebieten der 
Dichtkunst, Helene Böhlau begann als schwär- 



I 



Vom Klten und vom neuen Weimar i 



meriBches, seltsames juDges Mädcheu mit ihren 
ersten novellistischen Versuchen Aufmerksamkeit 
zu erregen und in Gabriele Reuter erblickte man 
allgemein mit innigem Mitleid eine zarte Btume, 
die zu frühem Welken bestimmt sei. Ich trug sie 
einmal die Treppe hinauf in eine Geseilschaft, weil 
sie sich so überaus schwach fühlte und so leicht 
beim Steigen krampfhafte Kustenanfälle bekam. 
Federleicht war das langaufgeschossene Mädchen. 
Und dann hat sie dennoch gesiegt im Kampfe mit 
dem Tode und, was noch schwerer war, auch im 
Kampfe mit dem Leben und all seinen dummen 
grausamen Vorurteilen, und ist durch die vorbild- 
liche Tat ihres Lebens eine wirksamere Vorkämpferin 
für die Frauenbewegung geworden als die meisten 
Zungen- und federgewandten Agitatorinnen. Sie 
hat uns eine reiche Ernte kluger, gemütvoller, 
feiner Bücher beschert. Und heute leuchten aus 
dem immer noch jugendfrischen Gesicht unter dem 
früh schneeweiß gewordenen Scheitel die großen 
sanften Augen so verständnisvoll begreifend und 
verzeihend lächelnd in die tolle krause Gegenwart 
hinein. 

Das war das Weimar von damals. Von denen, 
die dort mit mir jung waren, sind nur einige 
wenige treu auf dem Posten geblieben. Die aber 
damals schon reif waren und dem geistigen Leben 
den Stempel ihrer Persönlichkeit aufdrückten, hat 



fast alle der Tod hinweggerafft. Und nun ist auch 
das alte liebe Hoftbcaterchen spurlos verschwunden-, 
verschwunden die Bühne, die seit 1825 so manchen 
stolzen Triumph der klassischen Kunst, so manchen 
heiäen Kampf des Alten mit dem Neuen erlebt 
hat ; verschwunden sind die Iraulich-dämnierigen 
Proszeniumslogen, in denen Karl August und Karl 
Alexander ungesehen dem Sjiiele zuschauten, Franz 
Liszt, beim Schein einer Kerze in der Partitur 
nachlesend , den Aufführungen moderner musik- 
dramatischer Werke folgte; verschwunden ist der 
durch Thackerays „Vanity fair" zu drolliger Be- 
rühmtheit gelangte erste Rang, in welchem der 
Adel links, das Bürgertum rechts saß und die 
Damen eifrig ihre Handarbeiten förderten. Über 
der altgeweihten Stätte erhebt sich nun der neue 
stattliche Bau als ein glänzendes Zeugnis modernen 
Geschmacks und praktischer Ausnutzung aller in 
Betracht kommenden Errungenschaften der Technik. 
Keck steigen die Sperrsitze bis fast zur Höbe des 
ersten Ranges hinauf. Auf diesem selbst gibt es 
kein Verstecken und Absondern der Stände gegen- 
einander mehr. Mit den Proszeniumslogen sind 
die letzten Schmoll- oder Kosewinkel für die Be- 
vorzugten gefallen. Um! selbst den bescheideneu 
Besuchern des hohen Olymp ist ein bequemer Platz 
mit ungehinderter Ausschau beschert und keine 
düstere niedrige Decke mehr untertänig gesenkten 



r 



Vom alten and vom neuen Weimar 

Köpfen in bedrückende Nähe gerückt. Vor der 
Majestät der Kunet seid ihr alle gleich —■ das 
soll diese neue Anordnung wohl symbolisch au^ 
drücken. 

Sollte nun wohl dieses neue Weimar mit 
dem neuen Spielhause berufen sein, in reiner Ge- 
sinnung der Majestät der Kunst würdig zu dienen? 

Ist es überhaupt noch möglich und ersprieß- 
lich, der großen Kunst abseits von den Großstädten 
in stiller Abgeschiedenheit der Provinz festliche 
Heimstätten zn erbauen ? Konzentrieren sich nicht 
all die großen Mittel, die sie zu ihrer Ausführung, 
alle Intelligenz, die sie zu ihrer Auffassung be- 
nötigt, in den paar Welt- und Großstädten? Und 
schließlieh: ist es nötig, den geistigen Frieden der 
Kleinstadt durch den leidenschaftlichen Kampfschrei 
neuer Tendenzen, neuer Probleme in Inhalt und 
Form des Kunstwerkes zu stören und kann aus 
der Billigung oder Mißbilligung eines so harm- 
losen Publikums eine wertvolle Förderung im 
Kampfe des Neuen mit dem Alten erwartet werden? 
Ich möchte diese Fragen heute bestimmter denn 
je zu Gunsten der Kleinstadt beantworten 
und in Sonderheit zu Gunsten der paar durch eine 
ruhmreiche Tradition geweihten Kunststätten 
Deutschtands, die sich der Förderung durch einen 
hochherzigen, freigebigen Fürsten erfreuen. Die 
modernen Verhältnisse bringen es mit sich, daß 



■> neuen Weimst^^^^ 

in der Welt-^H 
1 durchaus ab-^^H 



die Kunst, und besonders das Theater, in der Welt-; 
Stadt von geschäftlicben RQcksicbten durchaus ab- 
hängig ist. Der wilde Konkurrenzkampf zwingt 
die Unternehmer iu eine fieberhafte Jagd nach der 
Sensation hinein. Das Unerhörte von gestern muß 
um jeden Preis durch das Nochnichtdagewesene von 
heute überboten werden. Und das Publikum wird 
mit bineingerissen in diesen Wirbel. Es wird 
gründlich dadurch verdorben, zum blasierten 
kritteln und Allesbesserwissen systematisch erzogei 
zum ruhigen Genießen unfähig gemacht. Eine 
Bereicherung und Klärung des allgemeinen Eunst- 
bedürfnisses, der Ansprüche an vernünftige Ent- 
wicklung kann auf solche Weise nicht herbeigeführt 
werden. Es kommt schließlieh bei der ganzen 
weltstädtischen nervösen Aufregung nur der Sno- 
bismus auf seine Kosten. Die neuen Moden werden 
in der Weltstadt in Kurs gesetzt — weiter nichts. 
Sie wird naturgemäß immer der große Markt für 
die Künstler bleiben, aber seine Werkstätte wird 
er lieber draußen in der Stille aufschlagen, wenn 
anders er wirklich ein Schaffender ist und nicht 
nur handwerksmäßig die gerade gangbaren Muster 
für den Markt herrichtet. Es hat in den letzten 
Jahren eine allgemeine Flucht der Dichter von 
Berlin stattgefunden. Seihst Sudermann, der mit 
dem weltstädtisehen Wesen am innigsten verwachsen 
zu sein scheint, hält sich am liebsten auf seinem 



rird.^^ 
;eD,^H 

rinn ^^ 



märkischen Landsitz auf. Wildenbruch hat sich 
in Weimar eiu atattliches Heim erbaut. Haupt- 
mann fahlt sich nur in seiner schlesischen Heimat 
wohl. 

Die ächte liebevolle Pflege kann die Kunst 
wirklich besser in der Ruhe erhalten. Und das 
durchgesiebte Publikum eines geistigen Zentrums, 
dem, wenn auch in ferner Vergangenheit, macht- 
volle Persönlichkeiten seine Eigenart gegeben haben, 
wird zu solchem Hüter- und Pflegeamt doch wohl 
eher berufen sein als das unkontrollierbare Menschen- 
gewimmel der Weltstadt. Die <leutschen Residenz- 
städte können, was sie an politischer Bedeutsamkeit 
glücklicherweise eingebüßt haben, am sichersten 
dadurch wieder einholen, daß sie sich zu frucht- 
baren Gärten neuer geistiger Bestrebungen herauf- 
arbeiten, und es sollte der schönste Ehrgeiz der 
deutschen Bundesfürsten, besonders in den kleineren 
Residenzen sein, aus diesen Gälten frische Blumen 
zum Ruhmeskraiize der guten Mutter Germania 
brechen zu dürfen. 

Bei der feierlichen Eröffnung des neuen Hof- 
theaters glänzten viele von uns alten, treuen Wei- 
maranern durch Abwesenheit — man hatte ver- 
gessen, uns einzuladen! Dafür aber drängte sich 
jenes Ganz-Berl in, das überall dabeisein muß, 
wo es eine Sensation gibt, in dichten Scharen in 
dem neuen Museutempel. Gewiß waren diese 



' '^■„^'^K>'9>.^''Si Vom alten und vom ueuen Weimar' 

typischen Erscbeinungen. die in der Weltstadt Über 
dos Geschick alles Neuen in der Kunst zu ent- 
scheiden pflegen, nicht nötig, um dem neuen Weimar 
sein charakteristisches Gepräge zu geben; aber 
immerhin, es ist ganz gut, wenn Berlin zuweilen 
nach Weimar pilgert! Möge das neue Weimar die 
VerpHichtung, die ihm das alte auferlegt hat, in 
solchem Sinne begreifen und auch die übersatten 
Hungrigen noch recht oft zwingen, an seiner reichen 
Tafel zu Gaste zu sitzen. Es ist eine schöne, der 
eifrigsten Förderung werte Idee , von nun an die 
deutsche Jugend in jedem Sommer nach Weimar 
zu Gaste zu laden, um ihr dort die klassischen 
Meisterwerke bei reiner Stimmung mustergiltig 
und erinnerungs würdig vorzuführen. Wahrlich, 
wenn dieser Gedanke zur glückliclien Ausführung 
kommt, dann ward schon um seinetwillen das neue 
Haus nicht umsonst so weit und so schön gebaut! 



4 



Zur Pathologie des Kritikers 

(1905) 



Znr Pathologie itea Kritikfrs äyi^Nt^ 



I 



k 



l_)ie deutsche Kritik hält es für geschmacklos 
von einem deutschen Künatler, sich um die deutsche 
Kritik zu bekünimerD. Genosse Sudermann , der 
im Schutze seines Ehrfurcht heischenden Bartes 
und seines ehrlicJi erworbenen guten Namens ge- 
wagt hat, gegen die „Verrohten" zu Felde zu 
ziehen, hat das in tausendfältiger Wiederholung zu 
hören bekommen: Wie dumm! wie kleinlich! wie 
spiefibtlrgerlich, altmodisch, ängstlich und über das 
alles hinaus : wie geschmacklos, sich überhaupt um 
unser kritisches Geschreibe zu bekümmern! Nicht 
nur die ganz wüsten NeuntÖter unter dem schreiben- 
den Stechäiegengeschlechte stießen jetzt ihr Hohn- 
gelächter der Hölle aus, sondern auch das bisher 
noch einigermaßen dem „Tantifimenhelden" gegen- 
über in anständiger Bescheidenheit verbliebene 
Kleingeziefer entdeckte nun auf einmal, daß es 
mit diesem Herrn eigentlich schon längst fertig 
gewesen sei, ihn in seiner ganzen Hohlheit von 
Anfang an durchschaut habe, und stimmte fröhlich 



Zur Pathologie des Kritiken'' 

mit eiu in das Hobot^ekreisch der ganz Geistruichen: 
, Hihihi, der Di-Di-Dichter!" Jeder deutsche 
Zeitungsleser hat es nunmehr erfahren, daß dieser 
Sudermanu niemals eine ernst zu nehmende Persön- 
lichkeit gewesen, dagegen er selbst eiu ausgemachter 
Esel sei, wenn er sich künftig noch von den Werken 
dieses Reklamehelden imponieren lassen sollte. 

Ich gedenke nun keineswegs, das Kapitel der 
Verrohung in der Kritik hier nochmals wieder auf- 
zunehmen oder an der Stelle , wo vor etlichen 
Monaten Kollege Sudermaun im Sumpfe ver- 
schwunden ist, gefährliche Ausbuddlungsversuche 
zu unternehmen. Mein Gott, einige Monate sind 
heutzutage eine entsetzlich lange Zeit — in- 
zwischen kann der Manu ja bereits zu den Anti- 
poden durchgesickert sein. Ich möchte nur aller- 
lei Betrachtungen, die mir unterweilen aus der 
Unterhaltung mit verständigen Freunden und durch 
eigenes Besinnen erstanden sind, in loser Aneinander- 
reihung hier wiedergeben. 

Die liebenswUrdigstea unter unseren gegen- 
wärtigen Tageskritikern sind die ganz frivolen. 
Wenn man sich einen von ihnen persönlich vor- 
nimmt und zu ihm sagt: „Wie konntest du die 
Frechheit haben, einen Mann mit ein paar schuOden 
Witzen abzutun und ihn wie einen leichtsinnigen 
Schmieranten zu behandeln, der seit etlichen Jahr- 
zehnten als ein gewissenhafter, sorgfältiger 



I 

I 
I 




i 



Zur Pathologie des Kritikers 

bekannt ist, der es mit seiner Kunst ernst nimmt 
und eben darum sich auf seine vollendete Technik 
etwas zugute tun darf?" — so wird einem der 
liebenswürdige Frivole antworten: „Ja, mein Gott, 
der Mann wird sich doch das Zeug nicht zu Herzen 
nehmen, das ich abends nach der Vorstellung im 
heißen Drange, mögliebst bald zu meinen Freunden 
im Restaurant stoßen zu können, so hinschleudere. 
Man schreibt doch, um zu leben, nicht wahr? Wenn 
ich meine gut bezahlte Stelle behalten will, muß 
ich leicht witzig, pikant schreiben. Scharf ist heute 
bei den Verlegern Trumpf. Die Leser sind an 
diese Tonart gewöhnt, folglich verlangen unsere 
Brotherren, daß wir iu ihr singen. Na, auf den 
Kopf gefallen bin ich ja nicht, und die koddrige 
Schnauze ist mir angeboren , also nutze ich die 
Konjunktur aus und verwende die mir von Gott 
verlieheneu Gaben zu meinem Besten und zum 
Vergnügen meiner Leser. Weshalb soll ich denn 
annehmen, daß der verehrte Dichter, den ich am 
Abend vermöble, meine Motive nicht ebenso durch- 
schaue wie jeder beliebige Stammgast eines Berliner, 
Wiener, Münchener oder sonstwoigen Literatur- 
cafös?" Der Frivole hat ganz recht. Die meisten 
Theaterdichter, wenn sie nicht gerade ganz welt- 
fremde Leute aus der Provinz sind, wissen das 
auch wirklich, sie wissen vielleicht sogar, daß der 
gute X. Y., der sie so schändlieh verulkt hat, per- 



Zur Puthologic des Kritiknrs 

sßnlich ein sehr aiuOaauter, reizender Kerl ist, mit 
dem sicli's am weißen Marmortischchen des Cafes 
sehr nett und vernünftig plaudern läßt; aber die 
Tausende von Zeitungsleüeru , die jene Verulbung 
am Frühstückstisch gelesen haben, wissen das doch 
nicht, auch Hingst nicht einmal alle diejenigen, die 
bei der Premiere zugegen gewesen sind. Ihnen 
hat vielleicht das Stück ausgezeichnet gefallen, sie 
haben den Ihrigen davon vorgeschwärmt. Am 
anderen Morgen müssen sie beschämt erfahren, daß 
sie die Dummen gewesen seien. Die Ihrigen reiben 
ihnen das unter die Nase , sie vermögen sich nur 
schwach zu verteidigen, denn sie sind nicht im- 
stande, ein Urteil logisch zu begründen, geistreich 
zu formulieren, kurz, können sich nicht so aus- 
drücken. Übrigens, dies und jenes haben sie ja 
gestern abend auch bemerkt, was Besonderes war's 
ja natürlich nicht! Mau hat das ja schon xmal 
gesehen, und der Autor ist ja allerdings immer 
überschätzt worden. Wenn er nicht die vielen 
Freunde drin gehabt hätte ... ja, ja, man läßt 
sich eben mitreißen von dem Toben der Claque 
und der Clique. Es ist eine Schande, daß so etwas 
geduldet wird! 

Der tatsächliche Zustand ist also der, daß der 
Dichter und zumal der Dramatiker heutzutage 
dazu verdammt ist, als Material für den Modesport 
des Tauhenschießens zu dienen. Hinter den Kulissen 



I 



Zur Pathologin des Kritiket 

ßitzt er wie das Tftubchen in der dunklen Kiste, 
und in dem Momente, wo er geblendet vom Rampen- 
licht eniporflattert, richten sich hundert und etliche 
Flintenlaufe auf ihn. Mögen noch so viele vorbei- 
knallen, es sind immer geübte Schützen genug 
darunter, um dem armsäligen Täubchen sicher den 
Garaus zu machen. 

Weit schlimmer als der frivole Routinier ist 
der von seiner Wichtigkeit durchdrungene Grünling, 
denn er pflegt nicht mit Witzpfeilen nur, sondern 
mit der Keule des großen Pathos, mit dem ge- 
wichtigen Ewigkeitsperspektiv über den unglück- 
lichen Dichter herzufallen. Dieses Ewigkeitsper- 
spektiv ist gerade in den letzten Jahren zu einer 
unheimlichen Mordwaffe geworden. Seine prak- 
tische Brauchbarkeit wird von Kennern bezweifelt, 
denn obwohl es durch und durch hohl ist, vermag 
man doch auf weitere Entfernungen nichts hindurch 
7u sehen. Der liebe Leser laßt sich durch diese 
Art von Kritikern noch mehr imponieren als von 
jenen skrupellosen Witzbolden. Er sagt sich: den 
Leuten muß es doch ernst sein mit ihrer Strenge, 
denn sie legen einen großen Maßstab an. Einen 
bestimmten Namen trägt der große Maßstab selten 
oder nie, er ist nur ein mathematischer Begriff, 
von dem man durch die Vergleiehung mit dem 
unendlich Kleinen eine Vorstellung gewinnt. Und 
das unendlich Kleine ist das Gegenwärtige, das 



Zur Pathologie des Kritiken 

der Tag leibhaftig produziert. Die VeracfatuDg 
des BcBtehenden ist gerade für die JQugsten uad 
Kleinsten ein beliebtes und sicheres Mittel, reif, 
ernst und tief zu erscheinen. Kein Wunder, daß 
sieb seiner mit besonderer Vorliebe jene gesalbten 
schwarzen Lockenköpfeben bedienen , die in rOhrend 
jungen Jahren von den östlichen Grenzen her nach 
Berlin einwandern, um hier um eine Scharfrichter- ' 
stelle zu kandidieren. I 

Die Verachtung des Gegenwärtigen galt ehe-'^ 
dem als ein trauriger Charakterzug des nörgelnden 
Alters, ~ heutzutage ist sie ein Charakteristikum 
der ganzen übersättigten Großstadtintelligenz und 
deren Jugend insbesondere geworden. Seitdem die 
prächtigen Jungens von 1884 — 90, die natura- 
listischen Draufgänger, ihre Rolle ausgespielt haben 
und die korrekten Herren, die bei den teuersten 
Schneidern arbeiten lassen, seltene Juwelen tragen 
und meist sogar soignierte Fingernägel haben, in 
der literarischen Weit tonangebend geworden sind, 
gilt jegliche Anwandlung von Begeisterung, ja so- 
gar die laue Anerkennung von irgend etwas Gegen- 
wärtigem als schlechter Stil — manvais genre. 
Die hochgezogeneu Brauen, das müde Lächeln, die 
feinen Hohnrillen um die Nasenflügel dieser süßen 
Herren zu beobachten, wenn ihnen so ein elendiger, 
gesunder Mensch etwas vorschwärmt, das ist ein 
köstlicher Genuß für den humoristischen Welt- 

384 . 



I 



Zui Pathologie des Kritikers 

betrachtet. Das sind die feuchtfingiigen Weg- 
weiser zum Übermensclieii , die ungeahnte Schön- 
heiten zu schauen vermögen — sobald sie ihre 
geehrten Äugendeckel zuklappen, die unerhörten 
Wollüsten da nachkriechen, wo der gemeine Instinkt- 
mensch sich, mit Respekt zu sagen, gottsträflich 
mopst. Das sind Leute, die Farben hören. Töne 
sehen, Gefühle riechen und Düfte greifen, die 
Leute, für die die wahren Dichter solche sind, die 
sich nie durch Schreiben geschändet haben, jene 
Dichter, die da sind wie das Meer, aus dem nur 
Klippen und öde Sandbänke hervorragen, sonst 
überall Wasser , nichts als Wasser , grenzenlose 
Tiefen sowie Untiefen, die man nur ahnen kann; 
höchstens daß hie und da, den Schiffer zu warnen. 
Gedankenstriche gleich Bojen über die Oberfläche 
hervorragen. 

Eine dritte und wie mir scheint in Berlin 
besonders zahlreich vertretene Gattung von Kri- 
tikern bilden jene Herren, die fortwährend über 
die Ekelhaftigkeit ihres Berufs lamentieren und 
drei Viertel ihrer Artikel damit ausfüllen, daß sie 
Über die Existenz der vielen Dichter, Bücher, 
Theater usw. entrüstet Klage führen. Es ist für 
sie eine Höllenstrafe, Bücher lesen und Theater 
besuchen zu müssen, und die Dichter, die daran 
schuld sind, daß die Herren Kritiker ein so saures 
Brot essen müssen, werden demgemäß als Geißeln 

XXV. 



Zur Pathologie des Kritikers 

der Menschheit der allgemeinen Verachtung preis- 
gegeben. Dabei kann man beobachten, daß die 
Spezialisten für Kritik der Lyrik die Romanciers 
und Dramatiker, diejenigen fürs Theater die anderen 
EOch für verhältnismäßig anständige Menschen 
halten. Würde wohl ein Bankinstitut einen er- 
klärten Kommunisten zu seinem Syndikus wählen 
oder ein König notorisclie Antimilitaristen zu Bei- 
sitzern eines Militärgerichtshofs ernennen!? Aber 
großen angesehenen Zeitungen erscheint es nicht 
als widersinnig, die Theaterkritik Leuten zu Über- 
tragen, die fortwährend in die Welt hinausschreiben, 
daß sie das Theater an sich für ein kunstfeind- 
liches Institut und Theaterdichter für geborene 
Idioten ansähen. Diese Sorte von Kritikern hat 
den Ton der Verachtung und das stigmatisierende 
„Herr" vor dem Namen des Autors in die Kritik 
eingeführt , hat die Begriffe Handlung , Effekt, 
theatralisch und einige andere gebracdmarkt, ohne 
uns dafür etwa neue , höhere Werte zugeführt zu 
haben. Die Bedingungen des Theaters sind heute 
noch dieselben wie sie in grauer Vorzeit waren, 
und diese Bedingungen sind für jeden denkenden 
Menschen ganz selbstverständlich, denn sie rechnen 
"mit der einfachen physischen Notwendigkeit, eine 
kompakte Menschenmenge während einiger Stunden 
an den Nerven festzuhalten. Alles , was zur Er- 
füllung dieser Grundbedingung gehört, wird aber 




I 



heutzutage mit dem Schimpfwort „tbeatraliseh' 
belegt und gilt somit als küDStleriscli unwürdig. 
In dem Herausarbeiten dessen, was solche Leute 
, theatralisch" schimpfen, beruht die ganze Schwierig- 
keit und Besonderheit des dramatischen Schaffens. 
Die Schwierigkeiten der Technik sind mit der Ver- 
feinerung unseres Geschmacks, mit der Steigerung 
unserer Ansprüche an äußere und innere Wahr- 
scheinlichkeit immer größer geworden und durch 
das Talent allein nicht zu bewältigen. Wenn diese 
Schwierigkeiteu nicht wären, so würde in unseren 
Tagen jedermann ebenso Dramen schreiben wie 
jedermann Gedichte, Skizzen, Novellen und sogar 
Romane schreibt. Die theatralische Technik der 
Verachtung preisgeben, heißt also so viel, als die 
Dämme niederreißen, die bislang noch einigermaßen 
die unendlichen Wasserfluten des Dilettantismus 
von der Bühne abgesperrt haben. Es ist traurig, 
daß es nicht überflüssig erscheint, über solche 
Binsenwahrheiten noch Worte zu verlieren; aber 
muß man nicht jeden Glauben an die Denkfähig- 
keit solcher Kritiker verlieren, wenn man sie tag- 
lich dasselbe törichte Lied wiederholen hört, das 
Lied mit dem Refrain: „Wer was kann, wer sein 
Publikum zu unterhalten, zu fesseln, zu rühren, 
zu erschüttern versteht, der ist ein Schuft, der's 
nur auf die fetten Tantiemen abgesehen hat." 
Demnach würde der wahre Dramatiker der sein. 



der vom Theater keine Ahnung hat und die Leute 
durch Langeweile aus dem Haus hiuausgrault. 
Darauf kommt es auch tatsächlich hinaus , wenn 
man die Werke betrachtet, die jene Verachter des 
Theaters gelegentlich als wahre Kunstwerke 
theoretisch empfehlen. 

Die große Schwierigkeit fUr eine vernünftige, 
gerechte Kritik liegt in der Überproduktion von 
Mittelgut. Die Quellen der Bildung, die frOher 
nur in den großen Zentren flössen, sprudeln jetzt 
schier überall oder sind doch für wenig Geld auf 
Flaschen gezogen erhältlich. Nach allgemeiner 
Bildung braucht man nicht auf schwindligen Leitern 
hinauf zu klettern , man kann sie wie die Blau- 
beeren in guten Jahren am Boden liegend von den 
Büschen streifen. Der großartige Aufschwung des 
internationalen Verkehrs, das nicht nur in den 
Museen, sondern in allen Straßen der Großstädte 
aufgehäufte Anschauungsmaterial, die erstaunliche 
Fülle von interessantem Stoff, den täglich jede 
Zeitung liefert, alles das hat dem jetzt lebenden 
Geschlecht den Gesichtskreis dermaßen erweitert, 
so unendlich viel neues Material für das Spiel- 
und Gestaltungsbedürfnis der Phantasie gebracht, 
daß es eine selbstverständliche Folgeerscheinung 
genannt werden muß, wenn heute auch unendlich 
mehr Menschen denn je zuvor sich zu künstlerischer 
Betätigung gedrängt fühlen. Daß die Qualität des 



M. 



i 



I 



Zur Pathologie des Kritikera 

Geschaffenen unter der Quantität gelitten habe, ist 
nicht wahr. Die neuesten Literatur- und Kuost- 
geschichten tun schockweise Leute mit drei Zeilen 
ab, die, wenn sie vor fonfundsiebzig Jahren etwa 
gelebt hätten, mindestens drei Seiten zugeteilt be- 
kommen hätten, und umgekehrt würden eine Menge 
von bedeutsamen Erscheinungen früherer Zeiten, 
die die lernende Jugend sich in der Schule ein- 
prägen muß und über die heute noch Gelehrte 
dicke Bücher schreiben, heutzutage mit gutem 
Recht als unter dem Normalmaß stehend achsel- 
zuckend beiseite geschoben werden. Wer heute 
als Instruraentalvirtuose zum Beispiel in einem 
anständigen Konzert auftreten will, muß eine 
Technik besitzen, die ihn früher zum Weltwunder 
gestempelt hätte, und wer einen Roman in einem 
angesehenen, gut zahlenden Unterhaltungsblatt ab- 
gedruckt haben will, muß seine Fabulierkunst und 
seine stilistische Gelenkigkeit ebenso gedrillt haben 
wie der Listrumental virtuose seine Finger. Aber 
nicht nur die Technik hat sich so erstaunlich 
vervollkommnet. Durch das Übergewicht des Juden- 
tums in der Presse ist seit Heine der Witz, durch 
den faszinierenden Einfluß genialer Franzosen pi- 
kante Grazie in den Stil und durch die Gewohnheit 
des raschen Lebens ein total neues Tempo in unsere 
ganze Schriftstellerei gekommen. Selbst der ein- 
fache Mensch lebt heute oft genug ein viel be- 



wegteres, äußeilich und innerlich reicheres Leben 
als Doch vor hundert Jahren die I^ute, die auf 
den Höhen der Menschheit wandelten; selbstver- 
ständlich haben uns unsere Dichter also auch viel 
mehr zu erzählen als die Schreihersteute aus der 
Postkutschenzeit. Und nichts wäre dUmmer als 
zu behaupten, daß das Vielerlei der Stoffe not- 
wendig eine gedankliche Verflachung der Betrach- 
tungsweise im Gefolge haben müßte. Die außer- 
ordentliche Schärfe und Gewissenhaftigkeit der 
wissenschaftlichen Methoden hat auch auf die 
Phantasiemenschen abgefärbt und jene intimen 
Milieustudien und subtilen psychologisclieu Analysen 
gezeitigt, die ein ganz besonderes Kennzeichen der 
modernen Literatur geworden sind. 

An gedanklicher Vertiefung und verfeinerter 
Empfindung fehlt es also unserer Dichtung durch- 
aus nicht — seltener sind höchstens die originellen 
Querköpfe geworden , die ihrem dicken Blut und 
ihrer mangelhaften Vorbildung mühsälig die Dar- 
stellungsform abringen mußten. Die ungeheuere 
Fülle des überhaupt Gebotenen, die Menge des er- 
staunlieh gut Gekonnten, des eigenartig Gewollten 
zu überschauen, nicht das Gute über dem Besseren 
oder das Bessere über dem Besten oder das Gestrige 
über dem Heutigen zu vergessen, das ist es, was 
eine gerechte Kritik so ungemein schwierig macht. 
Es ist nicht nur für das große Publikum, sondern 



' Zur Pathologie de« Kritiken 

auch fflr den Benifskiitiker unmöglicli, etwa hundert 
Namen im Gedächtnis zu belialteü. Es dürfen da- 
her nicht hundert Menschen gleichzeitig aus der 
Masse hervorragen, es darf nicht hundert Berühmt- 
heiten innerhalb eines Gebietes an einem Tage 
geben, vierundneunzig davon müssen unbarmherzig 
geköpft werden, damit sechs leben können; denn 
mehr als sechs Dichter, sechs Musiker, Bildhauer, 
Gelehrte, Feldherrn, Verbrecher, Könige, 12 Komö- 
dianten und 24 Leuchten des eigenen Faches kann 
ein normaler Kopf selbst in diesen Tagen höchster 
Faesungsfreudigkeit der Hirne nicht gleichzeitig 
beherbergen. Daher also auch das Einspinnen der 
juQgen Literaten in die Cliquen und Klüngel — 
damit sie nnr ja nichts hören und sehen von den 

Iviel zu Vielen, die außerhalb des Zirkels empor- 
blUhen, daher der scheußliche Neid gegen jeden, 
der es glücklich erreicht hat, aus der Masse hervor- 
zutauchen, und der grausame Eifer, ihn so lange 
auf den Kopf zu schlagen, bis er Wasser schluckt. 
Daher die skandalöse Vergeßlichkeit und Undank- 
barkeit unserer Zeit. Wir haben es erleben müssen, 
daß Gerhart Hauptmanu, weil er ein paar Miß- 
erfolge auf dem Theater hatte, zum alten Eisen 
geworfen wurde, während man gleichzeitig artistische 
Gecken, wie Oskar "Wilde, beweihräucherte und 
vor Maeterlincks, des bühnenfremden Träumers 
„Monua Vanua" in die Knie sank, die doch nichts 



Zar Pittholo^e dee Kritik« 

weiter als itie liebenswürdige Schwäche eines jungen 
Ehemanns ist, der wir Dutzende von ebenbürtigen 
Dramen entgegen zu setzen haben. 

Ich will nun zum Schluß noch die Frage auf- 
werfeu: Woher sollen unsere durch die unwürdigste 
und ungerechteste Beurteilung mißhandelten Dichter 
noch den Mut nehmen, weiter zu ringen um Sieges- 
palmen, die die Kritik ja doch selbst dem bo-._ 
geistertsten Publikum aus der Hand windet, durch 
den Dreck zieht und dem Triumphaler am nächsten 
Morgen um die Ohren schlagt? Ich glaube, ich 
weiß darauf eine gute Antwort: der arme Dulder 
soll eich nur darüber klar werden, daß nicht die 
mutwilligen Artistenknaben, nicht die verärgerten 
und gelangweilten Zunftkritiker, daß überhaupt 
die gedruckten Urteile es nicht sind , die den 
Wert seiner Arbeit mindern oder mehren, sondern 
vielmehr das Urteil der Leute, die nicht schreiben, 
aber sicher und tief nachempfinden, was sie gehört 
und geschaut, und die, im Besitze einer viel um- 
fassenden Bildung, instinktiv den richtigen Maß» 
Stab auch an das neue Kunsterlebnis zu legen- 
wissen. Solcher Menschen gibt es heute im Ver- 
hältnis just so viel mehr, als es Könner unter den 
Künstlern mehr gibt, und das Urteil dieser Leute 
beeinflußt das Denken der Meinungslosen schließ- 
lich doch wohl in höherem Grade als das Gedruckte 
unterm Strich. Eins ist sieher und könnte von 



4 



4 



K Zur Pfttiiologie des Rritikera 

mir durch reiche Erfahrungen belegt werden: der 
Geschmack dieses unseres idealen und nicht gar 
kleinen Publikums ist ein gänzlich anderer als der 
der kritischen Bramarbasse in den Zeitungen oder 
der sezessionistisch aufgetakelten Geistreichen der 
Salons. Das Hirn des gegenwärtigen Literaten 
ist krank, muß krank sein, so gut wie ein Magen 
krank werden muß, der lange gehungert oder von 
Kartoffeln und Kaffee gelebt hat und plötzlich 
täglicher Tischgast an den ächzenden Tafeln der 
Kommerzienräte wird. Da aber der Mensch sich an 
alles gewöhnt und die Kommerzienräte auch leben, 
so ist zu hoffen, daß wir auch unter der Herrschaft 
des Überflusses an Gutem schließlich doch zu einer 
vernünftigen Kritik kommen werden. Die Kommer- 
zienräte gehen alljährlich nach Karlsbad und 
schaffen's damit; vielleicht weiß jemand einen Kur- 
ort für Zeitungsschreiber, wo mit milden Purganzen 
und sanfter Massage literarische Überfütterung 
geheilt wird? — Eine Preisfrage! 




Abt — Devrient 



Alphabetisches Personen Verzeichnis. 



Abt, Fr&DE 43. 
Achenbftch (Alvary) 370. 
Adam 246. 

d'Älbert, Engen 33. 354. 370. 
Alberti, Conrad 64. 
Aniengruber 297. 338, 
Annbmster, Karl 32. 
l'ArroDge, Adolf 73. 204. 297. 
Auber 247. 

Bacb, Seb. 7. 
Bacon, FranjiK 96. 
Bahr, Hermann 212. 297. 
Barnay, Ludw. 89. 
Beck, Fr. 26. 

Beetboven, Ludwig van 4. 8. 
10. 11. 14. 33. 137. 294. 



BoigJdieu 246. 

Bong, Richard 274. 

Bopp. W. 32. 

Boy-Ed, Ida 70. 275. 

Brahm, Otto 327. 

Brahms, JobanueE 7. 11. 12. 



13. '. 



. 46. 



1 13. 14. 32. 



Berlioz 83. 84. 349. 

Bernstein, Elsa (Ernst Bos- 
nier) 212. 

Bierbaum, 0. J. XII. 225. 
234. 253. 368. 

Birch-Pfeiffer 297. 

Bizet n. 

EjönisoD 194. 

Blumenthal 297. 

Böcklin 348. 

BiShlan, Helene 70. 275. 371. 



Brandes, Georg 97 £ 
Brattisch II. 
Brendel 348. 
Brückner, Anton 38. 
Brüll, Ignaz 44. 
Bruno, Giordano 131 
Bülow, Daniela 3 
Bulow, Hans voi 

41. 163. 176. 849. 362/63. 
Bungert, August 47/48. 
Busch, Wilhelm XI. 252. 
Busoni, Ferruccio 253. 
Chamberlain, H. St. 142. 
Chappman, George 100. 
Cbopin 367. 

Cornelius, Peter 33. 36. 348. 
Croissaut-Rust, Anna 212. 
Curschmann 45. 
Daudet, Alf. 70. 
Debmel, Richard 368. 
DcTrient, Eduard 337. 




Difflner — Hofioannsthat 

Diemer, Zenu 119. 
Dingeldey 370. 
Dingelstedt 327. 
Dobert, Paal 274. 



DoBtojewskj 
Drachmen, 1] 



70. 



Ilolger 225. 
Dräaicke, Felix 33. 38. 40. 
Dvrfak 349. 

Ebner- Esche ob ach, von 70. 
Elisabeth , PrinzesBin von 

Weimar 360. 
Endell, August 236. 
Falke, Gustav 234. 
Fetton, Mary 98. 
Flaubert 60. 

Fontane, Theodor 69. 271. 338. 
Frank, Karl 32. 
Franz, Robert 46. 
FreiUgruth, Ferd. 26. 
Freudenberg, Wilhelm 252. 
Fi-eytag, Gustav 63. 64. 69. 194. 
Fried he im 370. 
Fuchs, Georg 253. 
Fuchs, E. 46. 
Fulda 297. 
Öädertz, Karl 119. 
Galilei 137. 

Ganghofer, Ludwig 113. 276. 
Garborg, Arne 70. 
Geisler, Paul 33. 50 ff. 
Geiber, Adolf 111. 112 ft. 
Genelli 348. 
Georg, Herzog v. Meiningen 

Gille 361. 

Glasenapp, A. 142. 
Gleichen-Kußivurin, Ludw. v. 



■ Gleichen-Kultwurii], Ludw 
i 347. 

■ Gluck, Christian Ritter \ 

■ 4. 10. 

■ Goethe, W. v. 25. 83. 290( 
I 295. 338. 346. 



tloethe, Wulfgang von, jr. M 
Goethe, Walter von 347. 
Goldmark, Karl 42. 
Goldschmidt, Adalbert t( 

Goitiier, Wolfgang 143. 
Görlitz, A. 253. 
Getze, Hermann 41. 
Grabbe 26. 
Grillparzer 26. 296. 
Gröger, Fanny 252. 
Groüe, Julius 369. 
Gumbert, Ferdinand 43. 
Gussow 348. 
Gutzkow 26. 

Hagen, Theodor 348. 
Halbe, Max 212. 297. 
Hallwacbs, Karl 253. 
Hart, Gebräder 368. 
Hartteben, 0. E. 297. 363. 
Hauptmann, üerhart 72. II 

212. 297. 311. 375. 391. 
Haydn, Josef 4. 
Hebbel, 26. 296. 
Hegar, F. R. 292. 
Heiberg, Hermann 69. 275. 
Heimburg 276. 
Heine, Heinricli 25. 234. 36 

Hendschel, üeorc 46. 
Hcnckell, Karl 368. 
Hettner, Hermann 194. 
Hermann, Hang 252. 
Hertzberg, W. A. B. 118. 
Herwegt, Georg 26. 162. 
Hey, Jul. 32. 
Heygendorf 346. 
Heyse, Paul 64. 
Hillern, Wilhelmine von 27 
Hofmanu, neinrich 46. 
Hofmannsthal, H. v. 297. 31 
Holstein, Frauz von 41. 



Holz, Amo 71 S. 212. ) 
Hugo, Victor 3B7. 
Humperdingk, Engelbert 32. 

Ibsen, H. 70. 194. 

Iffland 73. 293. 297. 
ImmennanD 327. 
JagemttDO, Caroline 290. 
Jakobi, Martin 252. 
Jensen, Adolf 48. 
JungbaoB, Sopbi» 70. 274 
Kadelburg, G. 297. 
Kainz, Josef 87. 88. 
Kalb, V. 346. 
Kalckreuth, Graf 348. 
Kaliacb 297. 
Karl Alexander v. Weimar 

360. 364 ff. 372. 
Karl August v. Weimar 396. 

346. 372. 
Keller, Gottfried 64. 69. 182. 

Kielländ, Alex. 70. 

Kienzl, Wiih. 32. 38. 

Kleist, H. y. 296. 

Klingemann 297. 

Klindwurth, Karl 32. 

Klose, Frit2 46. 

Kniesa, Jul. 32. 

Eümpei, Konzertmeister 355. 

Kotzebue 296. 

Kretzfichmar, Edmund 43. 

Kmg, Carl 253. 

Kruse, Max 236. 

Lanner 11. 

Lassen, Eduard 46. 355. 

Lauhe 26. 327. 

Lehfeld, Otto 369/70. 

Lenau, N. 26. 

Lesaiug 338. 

Leßmann, Otto 46. 



1^^ Hobtein — Offenbftch 

Leuthold 25. 

Liliencron, D. v. 69. 234. 368. 

Lindau, Paul 297. 327. 

Linning 348. 

Littmann 345. 

Liszt, Franz 33. 155 ff. 17a 

174. 175. 348. 351 ff. 867. 

372. 
Loen, läaron 361. 
Löwe, K. 11. 

Ludwig 11. V. Bayern 140. 
Ludwig. Otto 26. 
Maeterlink 391. 
Mahler 827. 
Maren ziö 7. 
Marlitt 276. 
Martersteig, Max 369. 
Meudelssohn, Arnold 253. 
Mendelssohn, Felis 11. 234. 
Merz, Oscar 82. 
Metternich, Fürstin P. 140. 
Meyendorff, Baronin 349, 355. 

Meyer, Conrad F. 368. 
Meyerbeer, Glacomo 5. 11. 

367. 
Micha lowits 33. 
Millöcker 11. 245. 
Monte verde 7. 
Moszkowaki, Moritz 51. 
Mottl, Felix 32. 327. 
Mozart, W. A. 4. 8. 9ff. II. 

137. 294. 



Hapoleon ID. 140. 
Necker, Moritz 207. 
Neßler, Victor 43. 



r 



Ompteda ~~ Vob 

Ompteda, Georg v. 275. 
OBtini, Fritz v. 252. 
Pembroke, Lord 98. 
Planer, Minna 140 ff, 
Piiiddemann, Martin 46 
Pohl, Richard IßO. 
Pohlig, Karl 354, 370. 
Porgea 32. 

Possart, Kitter E. t. 327 
PreUer 348. 
Preaber, Rudolf 253. 
Saabe, Wilheim 64. 69. 33t 
Rath, Willy 253. 
Raupach 297. 
Reger, Max ix. 
Remecke, Karl 41. 
Reinhardt, Max 337. 
Remmert 354. 
Reissenaaer, Alfred 370. 
Renter, Fritz 69. 338. 
Reuter, Gabriele 371. 
Richter, Hans 32, 
Riedel 46, 

Ritter, Alexander 33, 
Roberts, Alex. v. 70, 275. 
Rosmer, Ernst (Elsa Bern. 

stein] 212. 
RosBi, Ernesto 91. 
Rossini 5. 367, 
Ruederer, Joseph 212. 
Rufer, Philipp 43. 
Salvini, Gustavo 79. 81. 83. 87 
SalTini, Tomaso 79. 91. 
Sand, George 867. 
Savits. Jocza 118. 369. 
Soheidemantel 370. 
Schennis, P. v, 348, 
Schiller, F. v. 63. 290. 334. 346 
Schindler, Curt 253. 
Schlaf, Joh. 71 ff. 
Schienther, Paul 306. 327. 
Schloß, Carl 253. 



Schöüthan, F. v. 397. 
Schröter, Corona 290. 
Schubert, Franz 4. II, 4J 

Schuch 327. 

Schulte vom Brühl 370. 

Schumann, Robert 11. 33. 4? 

Seidel, Heinrich XL 

Semper, Gottfried 163. 

Servaes, Franz 212 

Seydl, Anton 32. 51. 

Shakespeare 75—132. 294, 

Siloö 370. 

Smetana 349. 

Sommer, Hans 47. 

Sorma, Agnes 88. 206. 

Spielbagen 63. 64. 

Spiro, F. 53. 

Stahr, Fräuleins 361 

Stavenhagen 870. 

Slorm, Th. 25. 69. 

Strauß, Oskar 239. 

Strauß, Joh. 11. 44. 245. 

Strauß, Richard IX. 247. 334 

Strindberff 194, 

Struys 348. 

Südermann, Hermann 72. 271. 
375. 297. 374, 380. 

Sulzer, .Jakob 162. 

Suppe 245. 
Taußig 163. 
Tessero-Bozzo 80. 
Thackeray 372. 
Thoma, Ludwig 234. 
Thornbourg 126, 
Thuille 334. 
TimanofT, Vera 354. 
Tolstoi, Leo Graf 70. 
Usteri 297, 

Tierordt, Heinrich ;366. 
Vollborth, Eugen v. 253 
Volz Wilhelm 252. 



I