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Full text of "Anton in Amerika :"

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Seitenftück zu Freytag's „Soll und Baben.“ 


Aus 


dem deutſch-amerikaniſchen Leben. 


In zwei Abtheilungen 


von 


Reinhold Solger. 
Erſter Pand. 


Bromberg. 


C. M. Roskowski—. 
1862. 











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#375 


Meinen Freunden 


Friedrich Bapp in Hew-Bork 


und 


I. 8. Stallo in Cincinnati. 


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Erſte Abtheilung. 


Stadt. 


„Muß wirken und fchaffen, 
Erliften, erraffen, 
Muß wetten und wagen, 
Das Glück zu erjagen!” 
Das Lied von der Glocke. 


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Zur Orienfirung für den Sefer. 


Unter ven lehrreichiten Yebensbejchreibungen für 
die Jugend, welche in neiterer Zeit in Deutjchland 
erichienen find, hat diejenige, welche unter dem Titel 
„Soll und Haben“ von Herrn Guftan Freytag in 
Leipzig herausgegeben tft, nämlich die Biographie des 
Herrn Kaufmanns Anton Wohlfahrt in Breslau, mit 
Hecht die beiten Gejchäfte gemacht. Denn man kann 
aus den Beijpiele dieſes Chrenmannes, der rein mit 
Nichts angefangen hat, jo vecht deutlich erſehen, daß, 
wenn Einer ordentlich und fleißig tft, gegen feinen vor- 
geſetzten Brincipal den ſchuldigen Reſpect ſtets in Ob- 
acht nimmt, fich mit deſſen Familie qut ftellt und jich 
überhaupt höflich und artig gegen Jedermann aufführt, 
wie es einem jungen Menfchen geziemt, daß er dann 
nicht bejorgt zu jein braucht, jondern es wird ihm 
ſchon gut gehen. Wer daher das Buch „Soll und 
Haben“ noch nicht gelefen hat, ver follte fich daſſelbe 
jo bald als möglich anfchaffen — und es beſonders 
auch ſeinen heranwachſenden Kindern zur lefen geben. 


8 


Herr Anton Wohlfahrt, der jeßt fo ungeheuer reich 
und angejehen ift, hat, wie gejagt, mit Nichts ange— 
fangen. Er war der Sohn eines bloßen Subaltern- 
beamten und wurde von Herrn Traugott Schröter, 
dem großen Kaufmann in Breslau, aus purer Gnade 
als Lehrling in's Gejchäft genommen. Aber er nahm 
fih ven Wahlſpruch: „Ehrlich währt am längſten,“ 
und jo wurde er, was er jebt iſt. Das fommt, weil 
er gute Grundfüge hatte und dachte: „Der grade Weg 
it der bejte!” Gegen die Stimme der Verführung 
war er taub. Mit Adligen wollte er nichts zu thun 
haben, mit Juden erſt vecht nichts, und jo blieb er 
auf der goldenen Mittelftrage und wurde ein reicher 
Mann. Einmal verliebte er ſich in ein junges 
Mädchen, die von Adel war. Ahr Vater war jogar 
Major a. D. und fie hätte ihn ſchon ganz gern ge— 
mocht. Aber er fagte zu fich ſelbſt: „Handweg! dies 
ijt nichts für Dich,“ und „Handweg“ blieb es feit 
wie eine Ramme. Das nennt man doch einen Mann! 
Er hatte einen Freund, der Volontair in demjelben 
Geſchäft, aber dabei ein Erzichwitier war. Nicht 
gerade, daß es ein fchlechter Kerl war, aber was man 
einen Schwitier nennt. - Alfo, folgte ev ihm? Nein, 
er folgte ihm nit. Er jagte: „von Fink,‘ jagte er, 
„Sie find mein Freund, aber deshalb mit Ihnen 
ſchwitiſiren? Niemals!“ — Damit war die Sache ab- 
gemacht und Finf wußte vecht gut, daß wenn Anton 
einmal gejagt hatte: ‚Niemals!‘ jo blieb es „niemals“ 
und feine Karen! Aber darum blieben ſie doch Freunde. 
Das mußte man dem Fink laſſen, darin war er nobel: 


9 


er wußte die Freundſchaft zu ſchätzen und ließ ſich 
manches von Anton gefallen, was ihm kein Andrer aus 
dem ganzen Geſchäft bieten durfte, ſelbſt der Principal 
nicht. Der Principal, Herr Traugott Schröter, hatte 
eine Schweſter, mit Vornamen Sabine, die hätte den 
Fink gerne geheirathet. Fink dachte gar nicht daran, 
da er, wie geſagt, kein Bürgerlicher war, ſondern ein 
Herr Von. Er hatte unterdeſſen eine Liebſchaft mit 
einem Judenmädchen, was wirklich ſchlecht von ihm 
war, da er ſie natürlich doch nicht heirathen wollte. 
Anton hat es ihm auch gegeben! Endlich dachten ſie 
Alle: „Gleich und Gleich gefellt ſich gern“ und: „was 
ſich ſchickt das paßt ſich!“ — Und fo heirathete Fink 
die Leonore, die alte Flamme von Anton, und Sabine 
heirathete doch zulett Lieber den Anton, und ihr Brus 
der, Herr Zraugott Schröter, nahm ihn zum Come 
pagnon an, weil er immer mit ihm zufrieden gewejen 
war und weil es doh am Ende befjer für jeine 
Schweiter war, daß fie einen Handlungsdiener heira— 
tete, als ganz und gar ledig blieb und jo wurde Hoch— 
zeit gemacht und Fink und Leonore und Anton und 
Sabine wurden Mann und Frau zufammen und wenn 
jte nicht geftorben find, jo leben fie heute noch. 
Uebrigens aber war es ein wahres Glück für 
Anton geweien, daß es fo gefommen war, und man 
jieht hierin wieder recht, wie die Tugend belohnt und 
das Yafter beitraft wird. Nämlich Leonoren’s Vater, 
der Major a. D. Freiherr von Rothfattel, wollte auch 
mit der Zeit fortfchreiten und legte auf feinem Gute 
eine Fabrik an, um feine Kinder beffer zu verjorgen 


10 


und feine Frau, die auf dem Lande verjauerte, manch- 
mal in die Stadt zu bringen. Was. war die Folge? 
Er machte Banferott, wollte fich todtſchießen, wurde 
aber blos blind davon und verlor noch obendrein fei- 
nen Sohn, der auch fon adliges Bürſchchen und 
Hufaren-Dffizier. war, in einem Scharmügel gegen die 
Polen. Es wäre noh Alles gut gegangen, wenn er 
nicht die gute Laune dabei verloren ‚hätte. Aber 
Courage weg, Alles weg! — und fo war's vorbei 
mit ihm. 

Die Xebensbefchreibung Anton Wohlfahrt's tjt 
alfo, das wird Never zugeben, nicht blos lehrreich für 
Bürgerliche, jondern auch für Adlige; indem man dar- 
aus einmal wieder jo recht die Wahrheit des Sprüch— 
wortes erjieht: „Schuſter, bleib’ bei Deinem Leiſten“ 
und ‚Was Deines Amtes nicht tft, da laß’ Deinen 
Fürwitz!“ Denn was fommt dabei heraus, wenn ein 
Adliger eine Fabrik anlegen will? Nichts als Sorgen, 
Kummer, Brevdulje, Blindheit und der Bettelitab. — 
Und was wäre dabei herausgefommen, wenn Anton 
jih mit der adligen Clique eingelaljen hätte? Die 
Sabine hätte er nicht gekriegt, denn zwei Frauen 
fonnte er doch natürlich nicht heirathen, oder Schröter 
hätte ihn geſchaßt, und fo könnte er jegt mit feinem 
Hochwohlgebornen Herrn Schwiegervater Hungerpfoten 
jaugen. 

Und das ift die Moral von der Gefchichte. 


Frites Kapitel, 


Welches dem Zefer die glückliche Entbindung Frau Wohl- 

fahrt's von einem gefunden Womanhelden ergebenft an— 

zeigt, deſſen Iugendgefrhirte und Auswanderung nad 
Amerika. 


„Hamlet, thou hast thy father much offendet? 
Shakespeare, Hamlet. 


Der geehrte Leſer, ‚welcher ven tugenphaften An— 
ton an die Schwelle feines häuslichen und merkantilen 
Glückes, zum Befite feiner tugendhaften Sabine und 
zum Eintritt als Compagnon in das tugendhafte Haus 
Schröter & Co. begleitet hat, wird es Uns Dant 
willen, wenn Wir ihm einige weitere Nachrichten über 
den Handel und Wandel diefer tugendhaften Gewilrz- 
framerfamilie zufommen laſſen. Wir haben: viefelben 
aus der zuverläfligiten Duelle, nämlich aus dem Munde 
von Antons eigenem Sohne, deſſen Bekanntichaft von 
Deutichland ber Wir das Vergnügen hatten wor zivei 
Bahren hier in den Vereinigten Staaten zu erneuern. 

Sabine aljo, welche als Haushälterin ihres leider 


12 


zu bald nachher verewigten Bruders jchon fo intereffant 
gewejen war, wurde als Gattin ihres ſchon bei Leb— 
zeiten verewigten Anton’s im regelmäßigen Zeitverlauf 
noch interefjanter, woraus ſich denn organiſch das 
Dajein jenes eben erwähnten jüngern Anton Ameri- 
canus entwiceltete, für deſſen überjeeilche Echidjale 
Wir das Antereffe des gejinnungspollen Leſers — 
(um jeiner ehrenhaften Eltern willen) — in Anſpruch 
nehmen. Denn was ihn felbjt betrifft, jo müſſen wir 
es nur von vornherein gejtehn, — er war, wie dag 
jelbit in den tugenphafteften deutſchen Gewürzfrämer- 
familien zuweilen vorfommt, — gänzlich aus der Art 
geichlagen. Sei es nun, daß Anton der Aeltere ver. 
jungen Baronefje (ver jungen Frau von Fink) doc 
zu tief in die Augen gegudt, oder aber, daß Sabine 
ih an dem Herrn von Fine noch nachträglich wieder 
verjehen hatte, — der Junge hatte von feinem Vater 
feine andere bemerflihe Eigenjchaft, als daR er gern 
ein gemüthliches Glas Punſch tranf. Eher noch jchlug 
er nach der Mutter, von der er die fchönen Augen 
und die Liebhaberei an feinem Tifchzeug hatte, bejon- 
ders wenn ‚es mit etwas Feinem beſetzt war. "Ferner 
auch, daß er bei jtarfen und geheimnißvollen Gemüthe- 
bewegungen ganz bleich wurde, was zu bemerfen ver 
erſchütterte Leſer noch verſchiedene Male Gelegenheit 
haben wird. Sonſt hatte er etwas zeitwidrig Cheva— 
lereskes in ſeinem Weſen, und erſchien, ehe ihn ſeine 
transatlantiſchen Lebenserfahrungen geläutert hatten, 
dem oberflächlichen Beobachter als leichtſinnige, aber 
liebenswürdige Fliege, kurz mehr Fink als Anton. — 


13 


Glüclicherweife Hatte die ahnungsvolle Mutter, für 
deren Gefhmad der Name Anton denn doch, bei allen 
ihren häuslichen Gewohnheiten und bürgerlichen Tugen- 
den, etwas zu jtarfer Tabak war, darauf bejtanven, 
ihr werdendes Ideal der Männlichkeit auf dem Wege 
des Compromiſſes Antonio zu taufen. Der Vater je- 
doch beharrte mit befannter Charafterfeftigfeit darauf, 
ihn im täglichen Gebraud Anton zu nennen. | 
Sollte ver bejorgte Leſer geneigt fein, die braven 
Eltern über die ritterliche. Ausartung ihres Stamm- 
halter zu beflagen, jo mag es ihm zum Troſt ge 
reichen, daß dieſelben — wenigſtens Anfangs — gar 
nicht übel damit zufrieden waren, daß ihr Söhnchen 
fi) jo zum großen Herrn anlief. Bon Sabinchen 
gar nicht zu reden, die im Grunde genommen ihren 
eremplarifchen Commis doch nur als pis aller acceptirt 
hatte, war e8 auch der jtille Xieblingswunjch des Va— 
ters, den Sohn einmal, wenn nicht bei der Garde, 
jo doch an ver Regierung zu jehen. Wie fih das 
zufammenreimt, wie ein Materialwaarenhändler aus 
Princip, Meberzeugung und Zeiterfaffung, gleich dem 
alten Anton, in Bezug auf feinen Yeibes- und Namens- 
erben, folchen vetograden Gelüften nachhängen konnte, 
darüber wird ohne Zweifel der Herr Verfaſſer ver 
„Valentine“, der die Familie genau fennt, dem per- 
pleren Leſer Aufſchluß zu geben willen. | 
Anton wurde alſo zu feiner Zeit auf's Graue 
Klofter nah Berlin geſchickt, machte dort vie beſte 
Geſellſchaft mit und beftand fein Abiturienteneramen 
mit Glanz. Ob er ſtudiren ſollte oder nicht, war noch 


14 


eine offene Frage. Was ihn jelbit betrifft, jo rührte 
die Poefie des Kaffees und Syrups, wonach einjt ver 
Bater ſich in gejegter Begeijterung die Finger geledt, 
ihn nicht. Dazu war er dem Geiſte des deutſchen 
Bürgerthums und feiner anfpruchslofen Tiefe durch 
jeine Berliner Erziehung zu ſehr entfremdet worden. 
Kur einmal — er war gerade auf Ferienbefuch. zu 
Haufe — als in einem Faſſe, welches nicht laufen 
wollte, ein. todtes Negerfind als Hinderniß entdect 
wurde, flammte ihm eine poetifche Ahnung im Zuſam— 
menhange mit feines Baters Gejchäftsleben auf. Die 
Stimmung war jedoch zu vorübergehend, um ihn blei- 
bend für jene Seite zu gewinnen. Auf ver andern 
Seite aber efelte ihn die Commentreiterei der preußi- 
ſchen Büreaufratie nicht weniger an, als die Dütchen- 
preherei der preußiichen Bourgeoijie. Es ift Klar, er 
hatte für feinen Geiftesprang und feine hohe Bildung 
nur die verzweifelte Wahl zwifchen dem Brivatdocenten 
und der Emigration. Schon hatte er mit dem erſten 
angefangen und fich mit Eifer auf Gejchichte und Eth- 
nologie geworfen, als die Revolution von 1848 fich 
ihm als Balliativ darbot, um ihn nachträglich in der 
zweiten endigen zu lalfen: 
Der Auswanderung nah Amerifa. 

Beim Ausbruch der Revolution war Antonio mit 
jeinem Vater zufammengegangen. Es gab einen Au- 
genblid, wo er fih als Mitglied jeines angeborenen 
Standes fühlte, ein Gefühl, in das er den ganzen 
Stolz feines eignen Charafters legte. Er meinte: 
dem Bürgertum gehöre die Zeit und es werde ſich 


15 


groß aufrichten, der Zeit das Geſetz zur fchreiben. 
Aber nirgends unter jeiner- Sippe fand er ein Echo 
für das Herricherbewußtfein, das in ihm ſelbſt lebte. 
Sein Vater ging als Bolitifer eben nicht anders vor, 
wie er es als Commis mit jo großem Erfolg und zu 
ſo großem Yobe gethan: „man ſollte fich beim König 
lieb Kind machen, ihn durch ein exemplarifches Be— 
nehmen rühren und ihn durch feine Fromme Miene 
dahin zur bewegen juchen, daß er Einen als Compag- 
non in die Regierung nähme.“ Der Sohn exrwiderte: 
‚sollten doch einmal Commis regieren, jo wolle er 
fie lieber von der Schulbank oder dem Ererzierplag, 
als von hinter den Ladentiſch her”; darüber erzüirnten 
fie jih und Antonio wurde Demofrat — aus feinem 
beſſern Grunde, als weil er jah, daß feine neuen Ras 
meraben für ihre Sache ihr Blut einfegten. Er jchlug 
jih bei Waghäufel, entfam durch eine abenteuerliche 
Flucht aus Raftatt ven blutigen Klauen der Militär— 
gerichte; ‚hielt jich erft in der Schweiz, dann in Paris 
auf, jo lange man ihn duldete; verbrachte darauf 
einige ‚Sahre in London und ftieg endlich, europamüde, 
am 15. März 1897 in New-Norf ans Land. Zehn 
Jahre feines Lebens waren fo int Broviforium hin— 
gegangen, welches er mit jeiner Nieverlajjung in Ame- 
rika — granfame Täuſchung! — endlich geſchloſſen 
glaubte. Der einſt gehegte Plan, einige Jahre zu 
ſeiner Ausbildung zu reiſen, war ſomit zur vollſten 
Ausführung gelangt; obwohl, wie es mit unſern Pla— 
nen zu geſchehen pflegt — der Blick nach rückwärts 
von jener erſten frohen Ausſicht kaum einen Zug 


16 


mehr erfennen ließ. In dieſem Falle jehr zum Vor— 
theil des beabfichtigten Zwedes, da es nicht das Rei- 
jen, jondern das Leben in ver Fremde ift, welches den 
Menſchen emancipirt und reift; jo daß es fchon Falle 
gab, wo Einer, der als dummer Teufel von den re- 
gterenden Herren aus Europa fortgeſchickt wurde, als 
vegierender Herr umter die dummen Teufel von Europa 
zurückkam. Würe es nicht gut, die Sache lieber gleich 
zu reguliren und die europäiſche Politik, inſonderheit 
die deutſche, aus ihrer trojtlojen VBerfimpelung da— 
durch zu reißen, daß man die ganze Geſellſchaft ein- 
mal auf zwölf Jahre, ohme einen Pfennig, in ver 
Taſche, in die Verbannung ſchickte, mit der Anwart- 
ſchaft auf die deutſche Kaiſerkrone für denjenigen un- 
ter ihnen, der ſich zuleßt am bejten durchgeſchlagen 
hätte? — | 
Antonio brachte allerdings noch ein paar Pfen- 
nige mit nach New-Norf, deren Beſitz ihm jedoch, 
wie fich bald zeigen wird, nicht eben förderlich war. 
Zehntaujfend Dollars hatte ihm ver Vater, als Yeb- 
tes zu feiner Ausjtattung in der neuen Welt, über- 
wieſen. Der Alte war unwirsch geworben und hatte 
über dem revolutionären Treiben jener Jahre voll- 
jtändig die Balance verloren. So 'was war ihm 
jelbft an der polnifchen Gränze nicht vorgefommen, 
damals bei feiner berühmten Reiſe, wo er mit feinem 
Prineipal  zufammen der polniſchen Revolution aus 
Princip die drei oder vier Frachtiwagen mit Grüne— 
berger Champagner und Schwedter Kneller abgejagt 
hatte. Dieſe achtundvierziger Revolution zeigte ven 


17 


viel bösartigern Character, daß das Haus Schrö- 
ter & Co. dabei Taufende und aber Tauſende verlor, 
ohne fih dafür an einen polniſchen Gaftwirth halten 
zu können. Wo blieb da noch Sicherheit für das ſo— 
lideſte Gefhäft und die mufterhaftefte Buchführung ? 
Und da man fich doch einmal an Jemand halten muß, 
fo hielt er fich, in Ermangelung eines polnischen Gaft- 
wirths, diesmal an feinen Sohn. E8 war Antonio, 
im Vereine mit andern Verbrechern und Tollhäuslern, 
die das ganze Unheil angerichtet haben follten. Dieſe 
väterliche Anficht von der Sache las Antonio aus feiner 
Mutter Briefen heraus, worin jie ihm, mit Schinerz 
und Angit des Mutterherzens verjeßt, in einem Strome 
von Thränen zuſchwamm. Mit dem Vater correfpon=- 
dirte er Schon ſeit Neunundvierzig nicht mehr. 

Es war eim fchöner, minterlich frifcher März— 
morgen, als Antonto durch die Narrows in den wei- 
ten Hafen von New-York einfuhr.. Der Gruß der 
Kanonen rief diejenigen unter ven Paffagieren, die 
den großen Augenblic verjchlafen haiten, eilig aus 
dem Bette. Die beiden Forts, rechts und links, la- 
gen noch im Morgenfchatten, während auf den Spigen 
von Staten⸗-Island das Gebüſch ſich vergolvete und 
bie umd da an einem einzelnen hochliegenden Land— 
hauſe Dach und Fenfter im Frühlicht gligerten. Aus 
dem Nebel zur Linken, hinter welchem fich als dunkle— 
ver fchwerer Untergrund die Küjten von New - Kerfey 
in einem langen Streifen hinzogen, tönte das Echril- 
len einer Locomotive. Kine weiße dicke Rauchwolke 
guoll aus dem grauen Schleier hervor. Es ſchien 

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18 


ein längit aufgegebenes Glüd, eine Rückkehr aus dem 
Schattenreiche in's helle Xeben, dag man noch einmal 
wieder, mit dem jichern Boden unter den Füßen, von 
Station zu Station rollen jollte und immer unter 
Menſchen und menjchlichen Wohnungen bleiben. Auch 
auf dem Waffer zwiichen den dichter und Dichter ge- 
lagerten Schiffen ward es jest menjchlich und wohn- 
ih; man war ſchon in der Stadt, ob auch noch auf 
der Meeresfluth. Große Dreimajter lagen gruppen- 
weije über die ganze Bay zerjtreut, mit ihrem dich» 
ten Takelwerk Baumgruppen in einer Winter-Land- 
ſchaft gleichend; dazwiſchen hier und da ein griesgrä- 
miger Steamer, der ohne Segel und Maftenzier fich 
ausnahm, wie ein gerupfter Hahn unter dem weißen 

derv ieh. Weiter im Hintergrund 309 jich ein Filli- 
gränwerk von Viaftbäumen und Tauen über die ganze 
Breite des Horizonte, nur mit einer weiten, nebel- 
blauen Waſſerdurchſicht Links; eilende Segel nah und 
fern; in der Mitte, etwas nach rechts, eine fahle, ka— 
jernenmäßige Inſel, die wie ein fchlechteingejetter 
Tlifen in das Muster einjchnitt. Kleine Frühauf- 
iteher, Schooner, Yachts und Fiſcherböte, kreuzten mit 
neckender Grazie, wie ſpielende Waſſerinſecten, Die 
Bahn des anfommenden Dampfers und fchlüpften zwi— 
ichen den noch in gravitätiicher Morgenruhe liegenden 
größeren Fahrzeugen hindurch, wie Verliebte mit Fed 
geihwungenem Segel ji auf der tanzenden Welle 
jagend, daß der friiche weiße Schaum hoch am Bug 
aufiprigte. Dazwiſchen pufften Duodezbugfirbonte mit 
Amtsmiene ihres Weges, unbefümmert um pas leicht- 


19 


finnige Getriebe rings umher, weder rechts noch Links 
jhauend und der graben Linie ihrer Gefchäftsftraße 
folgend. Antonio erinnerte fich unwillfürlih an feinen 
immer Treu’ und Redlichkeit übenden Vater Anton, 
wie derjelbe als junger Handlungsbeflijfener ſtets auf 
der graden Gejchäftsitrage gewandelt und wie er es 
dadurch auch zu feiner gegenwärtigen hohen Stellung 
gebracht, als Chef des Haujes Schröter & Comp. 
und als Gatte der Schwefter feines verewigten Wohl- 
thäters, der er noch immer in banfbarer Ergebenheit 
ihre Padete trug. Er unterdrückte ven legten Gedanfen 
aus Findlicher Pietät und gab ihm nur in einem hal- 
ben Seufzer für feine zum Sterben ennuhirte Mutter 
Luft. Er fühlte in dem Augenblicke, ohne es fich zu 
jagen, fie wäre an ihrem grablinigen Manne jelbit 
zum Lineal geworden, wenn fie nicht die Zukunft des 
Sohnes mit allen ihren Hoffnungen, Befürchtungen 
und Xuftfchlöffern gehabt hätte, um Phantafie und 
Herz daran aufzufrifhen. Mit der vollgefühlten Ver- 
antwortlichfeit für diefe Miutterträume auf dem Herzen, 
mit zehn rein als Lehrgeld verausgabten Jahren hin- 
ter fih und mit zehntaufend Dollars in der Taſche, 
ſtieg er, mehr bang als freudig, an der Spite des 
neuen Landes aus, das nicht nur für ihn, fondern auch 
für die Welt überhaupt, noch ein bloßes Experi— 
ment war. 


2* 


Zweites Kapitel. 


Antonio macht die Bekanntichaft eines Drygoodsjobbers in 
Barclayſtreet. 


„Leben und leben laſſen.“ 
Deutſches Sprüchwort. 


Antonio hatte unter andern Empfehlungsſchreiben, 
von welchen im Ganzen wenig Notiz genommen wurde, 
eines an einen Drygoodsjobber in Barclayſtreet, Na— 
mens William Dawſon, der auf eine halbe oder ganze 
Million geſchätzt wurde, je nachdem man ihn mit 
oder ohne Frau rechnete. Herr Dawſon war ein 
hochgewachſener Mann mit einer Platte und langen, 
dünngeſäeten ſchwarzen Haaren, die ihm rings auf die 
Schultern fielen. Auf ſeinen Wangen ſaßen zwei 
rothe Kleckſe, wie von eingebrannter Farbe, unabhän— 
gig von den kommenden und gehenden Regungen des 
Blutes; auf Mund und Augen machten Milde und 
Ehrlichkeit ihre Aufwartung. Seine ganze Haltung 
und ſein gehaltener Schritt waren die eines wohlge— 
zogenen und geſetzten jungen Mannes, obgleich er 
ſchon ſtark in die Fünfziger ging. Antonio, der Men— 
ſchenkenner war, glaubte in dieſer Haltung Abſicht zu 
ſehen, ohne deshalb verſtimmt zu werden; er wunderte 
ſich aber keineswegs, daß Herr Dawſon bei jungen 
Mädchen als „ſo ein netter Mann,“ bei Geſchäftsleu— 
ten als ein „ſo vortrefflicher Mann,“ und bei der 


21 


Welt im Allgemeinen als ein fo wahrhaft „chriftlicher, 
d. h. religiöfer Mann galt und das allgemeinfte Zu- 
trauen einflößte. Es war nun aber das Merfwür 
dige dabei, daß ver Ausdruck diefes Vertrauens jtets 
accentuirt und Herrn Dawſon's Namen niemals er- 
wähnt wurde, ohne jene Berficherungen über jeinen 
Character. In feiner. Gemeinde — er gehörte zur 
presbhteriantfchen „Connection“ — jtand er als einer 
der größten Patrone da, und hatte verſchiedene Kirchen 
im Weſten gebaut. 

Als Weltmann machte fih Antonio aus dem 
Character feiner bloßen Bekannten nicht viel, und 
fühlte fich nicht berufen, die Münze anders als nach 
ihrem gejellichaftlihen Gepräge zu nehmen. Deito 
jtrenger hielt er’ e8 mit feinen Freunden. Jene To— 
leranz hatte freilich den Uebelitand, daß, nachdem ver 
erste unfehlbare Eindruck jih aus Gewohnheit abge- 
ſtumpft hatte, er oft durch die bloße Macht des Zu: 
jammenlebens in venjelben Cirfeln und die daraus 
entfpringende Gemeinſamkeit der Beziehungen, an 
Menfchen gefettet wurde, bei denen nichts zu holen 
und viel zu verlieren war. 

‚Herr Dawjon nahm Artonio’8 Hand zwijchen 
jeine beiden warmfeuchten und wünſchte Amerika zu 
der Acguifition eines jo gebildeten Fremden Glüd. 

Da Antonio in feinem Empfehlungsbrief als 
Slüchtling aufgeführt war, hielt ihn der Handelsherr 
für noch ärmer, als er wirklich war und alaubte, er 
wolle ji) durch Stundengeben das Leben frijten. Um 
jo freigebiger war er mit feinen Beglüdwünfchungen 


22 


für Amerika. „Das republifanifche Experiment kann nur 
gelingen,“ jagte er, „wenn die Maffen fich religiös und 
getjtig dazu befähigen. Unſere Inftitutionen beruhen 
auf der Erziehung des Volks. Never gebildete Fremde 
daher, der hierher kommt, follte als ein Wohlthäter 
der Republif empfangen werden, und wird e8 auch, 
das verfichere ih Sie, von allen wohldenkenden und 
wohlerzogenen Bürgern.“ 

Antonio war ſehr erbaut von viefer Auffaffung, 
welche auch theoretiich ganz ernjtgemeint war. Es 
fuhr ihm durch den Sinn, ob das nicht grade feine 
Aufgabe jein möchte, an der Erziehung der Amerika— 
ner mitzuarbeiten und er erfundigte ſich, wie es mit öf- 
fentlihen Vorleſungen bejtellt jei. Herr Dawſon er- 
bot fich Togleich mit großer Freundlichkeit, ihm ven 
Hörfaal füllen zu helfen. „sch babe übermorgen 
Abend Geſellſchaft bei mir,” ſagte er, „wollen Sie 
nicht hineintröpfeln? Ich kann Sie da befannt machen.“ 

Antonio verficherte, daß er mit großem Vergnü— 
gen „hineintröpfeln” werde. Während diefer Unterhal- 
tung trat ein deutſcher Freund von ihm, Juſtus Wil- 
helmi, herein, der einzige nähere Bekannte, den er 
überhaupt in Amerika hatte. 

Wilhelmi hatte vor einigen Jahren als Commis 
in Deutfchland angefangen und zwar im dem großen 
Srportgeichäft der Firma Johann Auguft Schröter 
in Frankfurt a. M. Diefer Frankfurter Schröter war 
ein Bruder Schröters des Einzigen aus Breslau, wei— 
land Compagnon und Schwager von Anton Wohlfart. 
Mie einjt der Breslauer Schröter Antonio's Vater 


23 


in's Geſchäft adoptirt hatte, jo hatte der Frankfurter 
Schröter vor einigen Jahren Juſtus Wilhelmt zum 
Compagnon angenommen. Bald darauf ging Wilhelmt 
nah New-Norf, um dort auf Rechnung ver Firma 
ein Import-Geſchäft zu etabliren. Er follte vabei 
zur vollen Hälfte betheiligt fein, wie er e8 an dem 
Geſchäfte in Deutfchland zum vierten Theil war, und 
durfte als Chef des New-NYorker Haufes ftolz jeinen 
Namen bei der Unterfchrift der Firma voranftellen; 
alfo Juſtus Wilhelmi & Co.; während es in Franf- 
furt hieß: Johann Auguft Schröter & Co. 

Herr Dawſon war jehr erfreut über die Ent- 
vedung, daß Wilhelmi Antonio fannte und — das 
fagte er nicht baut — deſſen Achtbarfeit endoſſiren 
fonnte. Ein Empfehlungsfchreiben fommt dem Amte- 
rifaner, der nur in der Gegenwart lebt, ſchon zu ver- 
blaßt vor. Ein Zeugniß, welches nicht perfünlich oder 
mündlich gegeben, eine Bekanntſchaft, die nicht durch 
die drängende Gegenwart des Vorſtellenden feitge- 
macht wird, hat feine Folgen. 

„How do you do? Sind Sie wohl geweſen?“ 
fragte Herr Damfon Wilhelmi, mit wahrhafter Theil- 
nahme die Augen zufammenfneifend und des Befrag- 
ten Hand mit der feinigen zudedend, wie eine Aufter 
zwifchen ihren beiven Schalen. 

„Recht wohl, danke Ahnen; und Ste?" 

„Danfe recht fehr. Ganz erträglich. Finden 
Sie nicht, daß das Wetter merkwürdig warm für die 
Jahreszeit iſt?“ 

„Es kommt wir im Gegentheil ſehr kalt vor. 


24 


Es ijt glühend warn in der Sonne, aber; der Wind 
ift eifig im Schatten.“ a. 

„Herr Wohlfahrt hat in Yondon mit Knie — 
vornehmſten Staatsmänner und anderen Berühmthei— 
ten verkehrt. Er kennt d'ſIsraeli, Sir Edward Bul— 
wer Lytton, Der. Cobden, kurzum, alle die Leute. 
Er wird einen Curſus von Vorlefungen über  euro- 
päiſche Politif hier geben. Sie müſſen höchſt inter- 
eſſant werden. Halten Sie nicht dafür?“ 

„Einen Curjus von Borlefungen?” ſagte Wil- 
helmi, dem mean die Ungeduld ſchon lange anfah,: „ei, 
das it mir ja ganz neu. Aber entſchuldigen Sie. 
Wollen Sie mir ein Wort in Gejchäften gönnen?“ 

Antonio wollte ſich entfernen. 

„Bleiben Sie doch,“ hielt ihn Damfon zurüd. 
„Es werden ja wohl feine Geheimniffe fein.‘ 

„Wenn Sie nichts damwider haben,”  ermwiderte 
Wilhelmi, „ich meinestheil® habe feinen Grund zu 
Seheimnilfen por meinem Freunde.“ 

„Alſo?“ Herr Dawſon fah ihn mit der Miene 
unſchuldigſter Erwartung an. 

„Alſo, Herr Dawfon, es jchmerzt mid, — 
gehen Gerüchte — Gerüchte in Bezug auf Ihre An- 
gelegenheiten.“ 

„Wirklich?“ fragte der Jobber und ſchnalzte drei— 
mal kopfſchüttelnd mit der Zunge, als wollte er ſagen: 
„Wie unangenehm.“ 

„Ja, leider! Kurzum, es iſt eben — bei mir 
geweſen — ein Mäkler — der mir fünfzig Procent 
für Ihr Papier bietet.“ 


25 


„Bünfzig Procent? Nicht mehr?“ wiederholte 
der Mann, fopfichüttelnd und mit ver Junge fchnal- 
zend wie vorher. „Wie unangenehm.“ 

„Fünfzig Procent,: feinen Deut mehr,” befräftigte 
Wilhelmi, faſt ungehalten über vie jhmähliche Offerte. 
„Sie willen, Herr Damfon, ic) habe Noten zu dem 
Betrage von neunzigtaufend Dollars von Ahnen ım 
Pult liegen!” 

„Sp viel?” wunderte ſich der Schuldner über 
die Offenbarung. „Wirklich jo viel?"  Fopfjchüttelte 
er, Ichnalzte mit der Zunge und beſtand jo deutlich, 
wie es ſich durch diefe mimiſch-künſtleriſche Combina— 
tion nur thun ließ, auf feiner von Anfang an aufge- 
itellten Anfiht, daß die Sache doch wirflich unange- 
nehm jei. | 

„Herr Dawſon,“ fuhr Antonio's Freund ernfthaft 
und dringlich fort: „wir find alte Gejchäftsfreunde; 
wir haben von meiner erjten Anfunft hier Jahr 
aus Jahr ein mit einander gehandelt. Ach erwarte 
und Hoffe daher von Ihnen, daR Sie mir reinen 
Wein einfchenfen. Was, rathen Sie mir, foll ich mit 
Ihren Papieren machen ?“ 

Der Jobber bejann fih einige Minuten, wobei 
er die Augen fopfjhüttelnd zum Himmel richtete und 
dann wieder fopfichüttelnd jchnalzte. 

„Sch dachte Doc nicht, daß es ſchon fo weit 
wäre. Aber da es nun einmal fo weit ift,“ fuhr er 
mit nievdergefchlagenen Augen fort, indem er eine Hand 
auf Wilhelmi’s Handgelenk legte, „ſo will ich ihnen 
als altem Gejchäftsfreund antworten, wie Sie mich 


26 


gefragt haben, gerade und ohne Hehl: Fünfzig Pro— 
cent iſt eine gute Dfferte.“ 

Wilhelmi war venn doch überrafht. Aber er 
faßte fich fogleich, um feinem Gejchäftsfreunde, voll 
Theilnahme an feinem Unglüd und voll Danfes für fet- 
nen guten und ehrlichen Rath, die Hand zu vrüden. 

„Alfo wirklich 2“ 

„sch zweifle — merken Ste wohl, ich fage nichts 
mit Bejtimmtheit — aber ich zweifle, ob ich meinen 
Gläubigern fünfzig Procent werde bieten können. Alfo 
verfaufen Sie, — aber ohne ein Geräufch danon zu 
machen.“ 

„Selbftverjtändlih. Ich danke Ihnen für Ihre 
Aufrichtigfeit und Freundichaft, lieber Herr Damfon. 
Es ſchmerzt mich fehr, daß die Sachen jo jtehen. 
Aber Sie haben Freunde, Sie wieder aufzurichten — 
und rechnen Sie auf meine Mitwirfung dabei.“ 

„sch bin Ihnen für diefen Ausdruck Ihrer freund- 
ſchaftlichen Gefühle außerordentlich verbunden. Es iſt 
eine ſchwere Prüfung, allerdings Sir.“ 

Damit fehüttelten ſich vie beiden Gejchäftsfreunte 
zum Abſchied herzlich die Hände. 

Die beiden Deutfchen waren Schon an der Thür, 
als ihnen ver Amerifaner noch nachrief: 

„Nota bene! Am Donnerftag Abend habe ich 
eine Kleine Geſellſchaft. Ahr Freund hat mir ſchon 
veriprochen, dabei zu ſein. Wollen Sie nicht auch bin- 
eintröpfeln, Herr Wilhelmi?“ 

Wilhelmi fagte gefchmeichelt zu. 

Antonio hatte der ganzen Unterhaltung in ſchwei— 


27 


gender Beobachtung und Berwunderung zugehört. „Hab’ 
ich recht verftanden?" fragte er den Freumd vor ber 
Thür. „Dieſer Herr tft banferott und giebt am Don- 
nerftag Abend Gejellihaft? Sie verlieren an ihm 
fünfundvierzig Tauſend Dollars, umd ftatt daß fie 
Concurs über ihn figen, ſchätzen Sie e8 fich zur Ehre, 
unter den Gäften zu ſein?“ 

„Er kann doch die Einladungen deshalb nicht ab- 
beſtellen!“ ſagte Wilhelmt ganz naiv. Dann, fich be- 
finnend, daß fein Freund noch nicht jo in amerifanifche 
Anfichten eingelebt fein Fonnte, wie er jelbjt, fügte er 
binzu: „Fallirt ein Mann, wie Dawfon, fo verlangt 
fein Menſch von ihm, daß er feine gewohnte Yebens- 
weife verändern fol. Solche Feine Ausgaben fommen 
bei ven Summen, um die es fich bier hanvelt, nicht 
in Betracht. Er wird thun, was er fann, und mehr 
verlangt man von einem Menjchen nicht. Am Gegen- 
theil, es ift uns Allen damit gedient, daß er fo leicht 
als möglich fällt, um fobald als möglich wieder unfer 
Kunde zu werden.“ 

„Das find doch eigene Verhältniſſe!“ 

„sa, jo fpielt man in Venedig! Sie werden 
noch ganz andere Dinge jehen.“ 

„Und Sie verlieren ein halbes Humderttaufend 
ohne fich zu rühren, ohne etwas zu thun, um ihn zu 
beiferen Bedingungen zu zwingen?“ 

„Nehmen Ste an, ich laffe mich auf die gericht- 
lihe Schererei ein, und quäle aus dem Mann noch 
ein paar Taufend Dollars heraus; nehmen Sie an, 
alle feine Gläubiger thäten daſſelbe: was gewinnen 


‚28 


wir dabei? Wir treiben  allervings den Mann in: Die 
Enge, machen ihn Blut ſchwitzen und laſſen ihm feinen 
Ausweg, als gänzlichen Ruin oder die Mittel der Lift 
und des Betruges. Wir tragen vielleicht Never ein 
paar Zaufend «Dollars mehr aus langem gerichtlichem 
Kampf davon, höchſt wahrjcheinlich aber: weniger; am 
allerwahrfcheinlichjiten aber überhaupt garnichts. Denn 
wenn er fich erit auf die Hinterbeine ftellt, jo ſtehen 
ihm taufend Mittel zu Gebote, feinen Gläubigern aus- 
zumweichen. Im beiten Falle erringen wir vie Genug- 
thuung, ihm jein Pfund Fleifch ausgejchnitten zu haben 
und ihn verbluten zu ſehen. Statt deſſen verfaufe ich 
jest jeine Noten für das, was jie auf vem Markt 
gelten. Ich habe meinen Verluft, aber ich weiß, was 
mir übrig: bleibt und richte mich darauf ein. Morgen 
jtehbt er wieder da, als einer meiner bejten Kunden 
und in zwei, drei Jahren iſt Alles, mehr als Alles 
vergütigt, was ich heute an ihm verliere. * das 
nicht viel vernünftiger?“ 

„Und Keiner rauft ſich die Haare dabei aus, 
weder er noch Sie. Es iſt doch ein großartiges Land.“ 

„Wenigſtens iſt die Welt hier endlich einmal aus 
dem Philiſterium heraus.“ 


29 


Drittes Kapitel. 


Der Held findet eine ſchöne Beitlerin am Broadway umd 
wird Hausfreund bei einer irifchen Familie in Marion- 
Street. 


„War einft ein Knabe frech genung 
War erft aus Franfreih kommen.“ 
Göthe, Claudine von Billa Bella. 


Es war Schon fpät am Nachmittag, als unjer 
Ankömmling nach verfchievenen Recognoscirungsgängen 
in der City mit der großen allabendlichen Ebbe Broad- 
wah hinauffluthete. Es war einer jener Märztage, 
die in Amerika jo liebenswürdig find. Die Sonne 
hatte ven Tag über wie Feuer auf den Kopf gebrannt, 
während ver falte, trodene Wind Einen wie Eis bis 
in’s Mark erfältete. - Gegen Abend war nichts übrig 
geblieben, als dieſer winterlihe Wind, der den Staub 
zwijchen die Augenliver, die Yippen, die Zähne, in 
alle Poren tried. Man konnte fich weder den Bart 
jtreichen, noch ven Rod zufnöpfen, ohne daß Einem 
bie Haut an dem eingeflebten Staube von den Finger- 
pigen bis in’s Rückgrat ſchauderte. Die New-Yorker 
Damen. liefen fich jevoch nicht abhalten von ihrer 
gewöhnlichen Promenade vor dem Eſſen und vollten 
dann, als Gegenjtrom von oben mit dem Herrenjtrom 
bon unten wermijcht, wieder zurüd. Die aus diefem 
Confluxus gebildeten Strudel, — vor den gefährlichen 
Unterjtrudeln, in welchen jo viele Herzen ertranfen, 


30 


nicht zu reden — waren bejonders ſchwierig zu über- 
winden an ven Bauplägen, welche in der nimmer fer- 
tigen Stadt das Zrottoir verfperrten und Einen oft 
fünf Minuten lang aufhielten, wo der Wind den frei- 
jten Zugang hatte und der Bauftaub mit —— 
vereint, am dickſten wirbelte. 

An einer ſolchen Stelle, wo zwei nebeneinander 
gelegte Bretter dem Gedränge eine enge Paſſage über 
einen Abgrund öffneten, mußte Antonio halten, um 
eine lange Reihe von Damen mit oder ohne Beaur 
vorbei paſſiren zu laffen. Der Aufenthalt gab ihm 
Gelegenheit, eine Bettlerin in’s Auge zu fallen, die 
Schug gegen den Wind fuchend, hinter einer gefappten 
Pyramide von Baufteinen Fauerte und fih und ihr 
Kleines auf dem Schoße mit ihrem dünnen, über ven 
Kopf gezogenen Shawl bevedte, jo gut e8 gehen 
wollte. Antonio ließ ein Fünfcentjtüd in die vor— 
gejtredte Hand fallen und bemerkte dabei, daß die 
Hand fhön und der Arm gerundet war. Dieſe Ent- 
deckung leitete jein Auge nach dem Geficht hin. Aber 
das war tief auf den Buſen gefenft, wie in Trauer 
über die Schmach feiner öffentlichen Bloßitellung. 
Inder ließ fich die zarte Contour der bleichen, doch 
vollen Wange nicht hinter dem überhängenden Scheitel 
verbergen, noch auch war dieſer jelbjt jo gänzlich unter 
das Tuch gejchlagen, um eine fräftige, yutgeartete, 
vollfommen durchgebilvete Organifation des Schädels 
dem ethnologifchen Blicke unſeres Freundes zu ent- 
ziehen. Er claffificivte ihn jogleich als Reſultat ver 
edeljten Racenmiſchung — welcher? wollen wir hier 


31 


unerwähnt laffen, um ihn nicht mit dem Leſer in einen 
gelehrten Streit zu verwideln — und nahm zunächit 
ein willenjchaftliches Anterejje an dem ausgezeichneten 
Eremplar. Das ftarfe dunfle Lockenhaar, nach clafji- 
ſchem Mufter etwas tief in die Stirn hineingewachlen, 
lag in flachen Wellen forgjam gejcheitelt an dieſer. 
Auch der Bufen erinnerte in feiner ftarfen Fülle an 
die Iſisbüſte, wie fpäter, als er es jehen konnte, das 
ruhige, gute Geficht, jo ruhig und gut, daß man dar- 
über faſt fich zu erinnern vergaß, daß es in jedem 
Zuge von untadelhafter Schönheit fei. Der Contraſt 
zwilchen der milden Wärme, die aus diefen Formen 
athmete, und dem falten Elend, das fröjtelnd über 
jie herfiel, war mitleidswürdig. Antonio’s in der 
Tolle gefärbte Bildung war in feinem Benehmen den 
Frauen gegenüber niemals weiter von der Kleidung 
abhängig geweſen, als es die knappſte Rückſicht auf 
gejellihaftlihe Schielichfeit verlangte. Nichts daher, 
als die Scheu, jeine ritterliche Gefinnung hier dem 
Publiftum zum Bejten zu geben, wie die Furcht vor 
Mißdeutung von ihrer Seite, hielt ihn ab, fich der 
armen Frau zum Beſchützer anzubieten. So blieb er 
unſchlüſſig gerade an der Brettede jtehen, wo das Ge— 
dränge am größten und er am meiften im Wege war; 
ganz in die interejjante Erjcheinung uuter dem Ziegel— 
thurm und jeine eigene Rathlojigfeit verjunfen. Er 
bemerkte weder die Stöße, noch das Lächeln der Vor: 
übergehenden, wenn fie feinem gefejjelten Auge nuch 
dem fejjelnden Gegenjtande folgten. Seiner Unſchlüſ— 
jigfeit machte ein ziemlich unfanfter Stoß ein Ende, 


32 


der ihn gerade gegen das Weib fchleuvderte, jo daß 
ihr der Kopf in die Höhe flog. Zugleich ließ eine 
gereizte Stimme einen franzöjiichen Fluch hören. 

„Sapristie! — ne peut-il’pas se mettre autre 
part, ce dröle-la, que dans le chemin .de tout le 
monde?“ 

„Lout le monde?“ reparirte Antonio fogleich 
mit der gleichgültigten Miene zerjtreuter Höflichkeit. 
„Pardon, monsieur, je ne vois que demi- 
monde!‘ 

Der Franzoje, ein Heiner, jtrammer, bleicher, 
bligäugiger, ſchwarzhaariger Stuger, glatt rafirt bie 
auf den Schnurrbart, fühlte ſich durch den Zweifel 
an jeiner gejellichaftlichen Unzmweideutigfeit um jo em- 
pfindlicher getroffen, als er eine New-Yorker Vollblut 
— man fonnte das auf den eriten Blick ſehen — zur 
Begleitung hatte. Dieſe war jedoch ſchon etwas vor- 
aus. Um fo lauter fehrie der Getroffene: „Wiſſen 
Sie auch, mein Herr, daß, was fie demi-monde zu 
nennen belieben, ver Comte de Rouffillon iſt?“ An- 
tonio wollte foeben etwas Pikantes erwidern, aber ein 
Blick auf feinen Gegner gab feinen Gedanken eine 
andere Richtung. Die legte Sylbe jenes großen feu- 
dalen Namens war fo eben dem Adoptiv-Erben deſſel— 
ben auf den Lippen erjtorben, welche fich weit öffneten, 
als hätte er ven Geiſt irgend eines der adoptirten 
Altoordern in voller Rüftung geſehen. Cine halbe 
Secunde lang ſtierte er die Erjcheinung an, nämlich 
die Bettlerin. An ver nächſten halben machte er links— 
um Kehrt und Reißaus; nicht wie ein gebilveter Hund, 


33 


welcher anfangs nur langſam und verihämt davon 
trabt, und, um vor der öffentlichen Meinung und deren 
gefürchteten Auge das Decorum zu wahren, mit dem 
Schwanz zwifchen ven Beinen, erft allmälig und aus 
der Entfernung in's offene Durchbrennen übergeht: 
fondern wie eine ungebilvete Ferfelfamilie, welche plöß- 
lich fteht, jählings feitwärts jpringt und mit einem 
Rud, ohne jede moralifche Rüdficht als die des bleichen 
Schredens, und ohne Zeit, an ihre Schwänze zu den- 
fen, pleinecarriere ausreißt. So riß der Comte de 
Roufjillon jetzt aus, plößlich, jählings, ruckweis, feiner 
Begleiterin nach, einer blutjungen Dame, die fih, zum 
Glück für ihn, um die ganze Scene nicht befümmert 
hatte und nur eben jest den Kopf halb nach ihrem 
Chapeau umdrehte, wobei ihr ruhiges, etwas dedaig— 
neuſes Auge über Antonio hinjtreifte. 

Diefer furze Streifblid brachte die merkwürdige 
Wirkung auf unfern Ritter hervor, daß, wenn fich vor— 
her in feine Theilnahme an ver ſchoͤnen Unglücklichen 
eine zärtliche Regung unbemerkt einzufchleichen verjucht 
hatte, ihm jest plößlich die Schamröthe, ſchon über 
ven noch wumeingeftandenen Verdacht ver Möglichkeit 
einer jolhen Regung, auf die Wangen itieg. Sein 
erites Gefühl war, feines Weges zu gehen und vie 
arme Frau zu laffen, wo er fie gefunden hatte. Uno 
zwar drehte er fich dabei, wie die Nadel nach dem 
Pole, nach ver Richtung jener dedaigneuſen Augen bin. 
Aber ein Reueblick rückwärts bielt ihn wieder feit. 
Das arme Weib hatte fich hoch aufgerichtet, wie eine, 
die, aus einem jchredlichen Traume zurückkehrend, noch 

1. 3 


34 


mit ihm um's Erwachen ringt. Sie hatte einen Fuß 
vorangejtellt, als wollte jie dem Comte nachfolgen; 
aber eben als Antonio fich wieder nach ihr umfah, 
fing jte an zu wanfen, wie ein Baum, der unter ven 
legten Schlägen der Art taumelnd, noch nicht weiß, 
auf welche Seite er fallen jol. Dann jchlug jie rüd- 
lings mit dem Kopfe gegen den Ziegelwall. Das 
Blut rann ihr von den Schläfen und das Kind lag 
Ichreiend auf’ der Erde. Antonio, fie aufhebend und 
nach Beiltand fich umfehend, ergriff den Arm einer 
feiften Irländerin mit rothen‘ Haaren, als hellere 
Schattirung neben ihrem rothearrirten Shawl. „Neh— 
men Sie ſich diefes armen Weibes und ihres Kindes 
an,‘ jagte er mit unterdrückter Stimme, um das Auf- 
ſehen nicht noch zu vermehren, „während ich nach einem 
Miethsmagen gehe. Ich werde Ihnen Ihre Zeit und 
Mühe bezahlen.‘ 

Die Arländerin griff erit nach dem Kinde und 
nahm dann dem barmherzigen Samariter die Mutter 
aus den Armen. Sie wurde mit beiden zugleich in 
einer Weile fertig, welche eine jtarfe Familienpraris 
befundete. Aber über das Anerbieten von Bezahlung 
war fie ungehalten. 

„Der allmichtige Herr und die häligen Saints 
jegnen Euer Ehren für ihre michtige Giute an däjer 
armen Frau und dem armen jäßen Yäbling von Am 
Bäby,“ fchrie das Weib aus Yeibesfräften, glüclich, 
einen ſympathetiſchen Zufchauerfreis um fich zur ver- 
jammeln. ‚Sure, es foll nimmermehr heeßen, daß 
mänes Glächen von ſolchen Jointleman jich hat be- 


35 


zahlen laſſen! Ich Hoffe, ich bin nicht jo gemän als 
das, ’nen folchen hohen Pointleman in armes Wäb 
us Am Äflichen Dred der Straße ufheben zu fehen 
und füne netten Handſchuhe mit im Blut ähres Läbes 
befudeln, als wär’s füne ägne Mither — Gott fegne 
je alle Tage ähres Lebens! — und Gelb dafiur zu 
nehmen. Der Herr verhinte! — Nicht für's Yäben 
von mir!“ 

Sie rief die Umftehenden zu Zeugen an, „ob 
irgend ein Mither’s Kind unter ihnen je einen jolchen 
netten Jointleman geſehen?“ — (Glücklicherweiſe für 
den Preis-Gentleman konnte die Probe nicht mehr ge— 
macht werden, da er nach der Droſchke fort war.) — 
„Aen ſo wahrhaftiger Jointleman als je äner lebte!“ 
— Eine Ueberzeugung, die ſie mit hohen Eiden be— 
kräftigte und offenbar bereit war, mit ihren beiden 
Fäuſten zu beſiegeln. Dann wandte ſich ihr leiden— 
ſchaftlicher Eifer ganz in's Mitleid mit der „armen 
ſäßen Kräathur,“ die ſie in den Armen hielt, und dem 
„armen ſäßen Läbling von äm Bäby,“ das ſie noch 
Hände fand, unter ihren Shawl zu nehmen, zu kitzeln, 
zu herzen und auf den Armen zu ſchaukeln, ohne darum 
einen Augenblick von der Sorgfalt für die Mutter ab— 
zugehen. Dieſe hatte ſie halb auf ihrem Schooße 
und erübrigte für fie ebenfalls noch — (ein wahres 
Boscojtüd) — einen Zipfel von ihrem Shawl. Die 
weißen Hände und zarten Wangen ihrer Schußbefo hle- 
nen rührten fie zum Kammer. 

„'n Sammer und 'ne Schande, ijt es nicht?” ap- 
pellirte jie an’s Publifum, „'ne folche gefegnete Lädy 

3* 


36 


uf der Straße jterben zu jehen, wie 'n Bäft und nicht 
änen Freund bä Ahr, und känen Präfter ähr ähre 
Sünden zu vergeben! Ochoon! Ochoon! Ohne de 
Wohlthat ver Gäftlichfät!" „Ochoon!“ heulte fie, 
„Sit das Elend und der Kummer! Und s'iſt das 
alläne, was je toptgemacht hat, das arme junge Ding!“ 

Die Sympathie der Borübergehenvden Außerte 
jich jest in hingeworfenen Kupfer- und Silberjtücden, 
für deren jedes fie den Segen „des allmichtigen Herrn 
und aller häligen Saints ‚auf Dero Ehren“ herabrief. 
Niemand jedoch fam es in den Sinn, ſich die Hände 
an der lumpigen Gruppe zu bejuvdeln, bis Antonio 
zurückkam und die ganze Gejellichaft, fich jelbit ein- 
geſchloſſen, jo jchnell als möglich in ven Wagen padte. 
Erſt als fie Alle darin jaßen, fiel ihm ein, daß man 
doch irgendwohin fahren müſſe; und jo ließ er fich 
von der Irländerin ihre Adreſſe nah Marion-Street 
geben. 

Diefe Anerfennuug ihrer gajtfreundfchaftlichen 
Bedeutung bejtegelte den Freundfchaftsbund zwiſchen 
der Tochter der grünen Inſel und dem Sohne Her- 
mann’s und Tuisco's, hatte jedoch die üble Folge, 
daß fie den Kutfcher immer wieder von neuem am 
Abfahren verhinderte, um ihm ihre Adreſſe, die her- 
porjtechenden Züge, an welchen ihre Wohnung fennt- 
(ich jei, die Namen ihrer Nachbarn, um Verwechſe— 
lungen vorzubeugen, die genealogijchen Verwidlungen 
zwilchen ihrer und andern Samilien, und den Fürzejten 
Weg durh das Labyrinth der Fivepoints vollfommen 
einzuſtudiren. 


31 


Eine Kutſchenfahrt ift die große Leidenfchaft des 
celtiihen Geſchlechts, unzweifelhaft vererbt mit dem 
Blute der PVortigern und Dutigern, der Gwallamg 
ap Cleenawg und Gwan Gleddyvruds und all der 
andern „Schilowachen ver Schlacht‘ mit unausfprech- 
lihen Namen, welche es verfchmähten, anders ale 
zu Wagen in den Kampf mit ven ververblichen 
Lloegrwys zu gehn. 

„Als Patrid O'Shea, män Hoosband, jtarb, 
(alack über ven Tag!)“ entfaltete fih Mrs. O’Shea 
jetzt geſprächig, — „da gab es zwä und zwanzig 
Kutjchen und e8 waren in manchen davon zehn umd 
in manden auch mehr Lädies, Jointlemans und 
Kinder, alle däcent angezogen und es war känes 
Menſchen Kind dabä, das nit Schuh’ und Strümpfe 
angehabt hätte. Es war das am mäjten charmantejte 
Lächenbegingniß, was Patrick und ich jemals mit- 
gemacht haben, jo lange wir in America find, — war 
Patrif D’Sheas, mänes armen Hoosbands, und es 
war äne jchöne Kutjchenpartie, wenn es je üne gab, 
nach änem Begribnißplag. Jock D’Dogherty, ver 
in verjelben Kutſche mit mir ſaß, fagte zu mir, als 
wir nach Haufe fuhren, ich wäre de Perle des Be— 
gribnijjes, jagte er. Aber er hat ſätdem ſäne häß— 
lihe Frage nicht wäder ba mir jehen laffen, ver 
Däb von der Welt! Es gab äne Schlägerei ven 
Abend. Armer Pat! Jammerſchade, er fonnte nicht 
dabä fein! Dchoon! er pflegte mich zu jchlagen, wie 
änen Sad, (bad s’cess to him! Mag’s ähın fchlecht 
gehn!) Der Himmel gebe füner älben Seele Ruhe.‘ 


38 


Die Eingangsthür zu Mrs. O'Shea's Aparte- 
ments öffnete fich unmittelbar neben ven zerbrochenen 
Fenſtern einer ſchmutzigen Schnapsfneipe und zwar 
auf eine enge jteile Treppe, von welcher zur Begrü- 
gung ein Heines Mädchen fopfüber von der erften 
bis zur legten Stiege herunterbumpfte. Che ver be- 
jorgte Antonio das Kind aber noch attrapiren Fonnte, 
war es jchon wieder die Treppe hinauf, wobei alle 
jeine fleifchigiten Theile aus den zwei fliegenden Feten, 
an welchen mehr vie Abficht als die Fähigkeit ſcham— 
hafter VBerhüllung zu loben war, in ungehinderter 
Plaftif hervortraten. Antonio, der den Kopf nod 
voller englifcher Gefundheits-Commitee-Reports mit- 
gebracht hatte, jtellte im Stillen jeine verwunderten 
Betrachtungen darüber an, wo bei ſolcher Atmosphäre 
— aus dem ganzen Haufe dampfte einem der Geruch 
warmer, den Winter über Yuftdicht prejervirter Aus— 
pünjtung entgegen — und bei ver voransficht- 
ih ferophulöfen Nahrung ſolche, von Kraft umd 
Sefundheit jtrogenden Formen herfämen, womit die 
beftgenährten und gelüfteten Kinder der gejunpheit- 
regulirtejten Stadtviertel feinen Vergleich aushalten 
fonnten. „Zuletzt iſt doch alles Gnadenwahl!‘ dachte 
er. Andre Exemplare verfelben Gattung, mit quellen- 
den Rotznaſen, jtanden auf der oberjten Stufe, wie 
ein Nudel Gemjen; liegen gloßend die Fremden bis 
auf Sprungweite heranfommen und flüchteten dann 
in ſtummem Schreden ind Innere des Familienlebens. 

Mrs. D’Shea hielt in diefem Bhalanftere ein 
Hinterzimmer im dritten Stod bejegt. Die aufge- 


39 


hängte Draperie um den Dfen und von der Dede 
herab befunvete ihren Erwerbszweig. Zwiſchen ver 
Durchſicht zweier baumelnden Mannshemden fonnte 
man den urantifen Kopf von Wirs. D’Sheas „Mither“ 
entveden, in gaftfreundliche Vorbereitungen zum Thee 
vertieft und jtodtaub. Erſt als die Kommende ihr 
ins Ohr fchrie, fich doch höflich zu betragen, machte 
te große Augen über die Waffe Beſuch, worauf fie 
in eine Reihe convulſiviſcher Begrüßungspantomimen 
ausbrach, unter obligater Begleitung wilder Bewill- 
fommmungsrufe. Ein Anderer hätte fie für Schlacht: 
ruf genommen, aber Antonio, ver fich durch feinen 
Aufenthalt in London zu celtomanifchen Ausflügen 
ins Reich irifcher Alterthümer und Sprache hatte ver- 
leiten laſſen, erkannte darin den Ausdruck ungeregelter 
Herzlichfeit und beantwortete ihn aus feinem kargen 
Wortvorrath in verjelben Sprache. Die Alte ver- 
jtand ihn allerdings erſt durch fpätere Verdollmet— 
Ihung, aber Mrs. O’Shea, die Anfangs ihren Ohren 
nicht trauen wollte, ſah ihm jest mit jolhem Aus— 
druck der Liebe und Ehrfurdt an, daß es fait rüh— 
rend war. 

„Und fo ſäd Ihr alfo von der auld country, 
der alten Heimath? Sure an sartın, ficher und ge- 
wig! An fo iriſcher Kointleman, als je äner lebte. 
Und how do ye do? Und wie ſäd Ahr gewefen 
däſen manchen langen Tag? Und was machen ſä 
noch alle in Ulſter Cuonty? Sure, es tit giutig von 
Euch, al däſen langen Weg zu fommen, um äne 
arme Wittwe zu jehen. „Armer Patrick, er hatte nie- 


40) 


mals Glüd, aber däsmal hat er’s verfehlt, daß er 
nicht acht Monatejpäter gejtorben iſt!“ 

Außer den ſchon erwähnten waren noch drei ge- 
genmwärtige Bewohner der Räumlichfeit vorhanden und 
ein abweſender, nämlich zwei kleine Mädchen, welche 
ih ihrer Lebensaufgabe, durch DBetteln die Natural 
verpflegung der Familie zu bejorgen, augenjcheinlich 
gewachjen zeigten, denn auf dem Theetiſch gab es 
Krumen von den Zifhen aller Nationen und aller 
Stände, an denen Antonio hätte fein Lieblingsjtudium 
über Racenunterſchiede verfolgen können. Als weite- 
res anderes Mitglied einer wohlgeoroneten irischen 
Familie durfte jelbftverjtändlich ein Bäby nicht fehlen. 
Eine Irländerin ohne Baby im Arın, wenigjtens nach 
ihrem zurücgelegten dritten Jahre, wäre eine ab— 
weichende Naturerfcheinung, wie jich denn auch das 
fleinfte ver beiden Mädchen das Fleine Strampel- 
thier, welches fajt jo groß war wie fie jelber, zum 
erjten Experiment in fünftigen Mutterpflichten zuge- 
legt hatte. Sie jchleppte e8 mit Hintanjegung aller 
conjtructiven Grundfäge auf ihrem ſchwachen Unter 
bau von einer Ede in die andere, wofür es feiner 
kleinen Pflegemutter zur Vergeltung in einem Anfalle 
celtifcher Leivenjchaftlichfeit mit wildem Kriegsgefchrei 
das Haar zerzanjte, das Geficht zerfragte und die 
Naſe nach oben fchlug, als Vorbereitung für ven Ehe- 
itand, und zugleich für den Naturforſcher zur Einficht 
in die Genejis der irländifchen Gefichtsbildung. 

Der noch abmwejende Stubengenofje, der aber bald 
zu jeinem Thee binzufam, war ein Zeitungsjunge, 


41 


welcher an guten Tagen die ungeheure Summe von 
prei Schillingen machte, das Ergebniß hervorjtechender 
Befähigung in feinem Fache und frühen Unternehmungs$- 
geijtes. In Deutfchland hätte das Fleine verſchrumpfte 
Geſchöpf für zehn Jahr alt gelten fönnen; bier war 
e8 über jechszehn. Er paßte oft die halbe Nacht auf 
ven legten Expreß, war im Gedränge am Zeitungs- 
Comtoir immer der Erjte und Zerquetſchteſte, warf 
fih den Vorübergehenvden in ven Weg, fich in ihre 
Beine verwidelnd, bis fie fich mit zwei Cents losge— 
löſt hatten und verbreitete mit feiner Heinen Bindfa— 
denjtimme Graufen oder Entzüden in unglaubliche 
Gehörsfernen, indem er Heere vernichten, Städte in 
Tlammen aufgehen, Dampfboote in die Luft fprengen, 
berühmte Häupter erbarmungslos ind Grab finfen 
und andere „ſchauderhafte Kalamitäten und gräßliche 
Unglüdsfälle, mit „immenfen Succeſſen“ und „furchtba— 
rer Begeijterung” abwechjeln ließ, alles auf eigene Rech— 
nung und Berantwortlichfeit, troß des New-Yorker 
Herald. 

Er erichien bald mit einer Cigarre im Munde 
und einer Schnapsflafche in der Hand, welche in der 
ganzen Familie herumging und wovon auch das Baby 
jeinen brüberlichen Theil befam, wobei es fih mit 
frampfhafter Energie an die Flaſche Flammerte und 
nicht wieder loslaſſen wollte. Mrs. D’Shea konnte 
nicht umhin, mit bwerzeihlicher Muttereitelfeitt auf den 
Contraſt zwiſchen dem vorliegenden Beweije findlicher 
Pietät und reinen Familienfinns von Seiten ihres 


42 


Sohnes und der maneness, der Gemänheet des äl- 
tern Paddy, ihres verblichenen Ehegatten, hinzumweifen. 

„Wir pflegten fol än ſäßes Bettzeug zu haben“, 
fagte fie, „Alles däcent und nett, wie bä An Präfter, 
bis Patrid O'Shea, män jeliger Hoosband (mag 
e8 ihm ſchlecht gehn alle Tage ſänes Xebens!) es 
für äne Gallone Whiskey an Matthew D’Cormad 
verfaufte. Er gab mir nimmer fo väl als 'ne halbe 
Point davon ab, ver Schubiaf von der Welt! Armer 
Pat, S’war das, was ihn todtgemacht hat und kän 
Zwäfel. Mad über ven Tag! wo er mih und 
mäne arme Mither alsäne arme Wittwe mit vier Kinders 
zurücließ und kän Bett darauf zu Ichlafen. Wie wir 
noch in der alten Country waren, in Uljter- County, 
da waren wir däcente Yeute und lebten auf unjerm 
ägenen Gute und hatten Pferde und Kiuhe, und Ochſen 
und Ejel und männliche Dänjtboten und wäbliche 
Dienjtboten. — 

„Sa,“ nahm Paddy, von dem phantajtifchen Ge- 
mälde erhitt, den Faden auf, „und ich pflegte auf 
einem Pony zu reiten mit einem Trejjenhut und einer 
grünen goldgejtidten Ordensſchärpe über der Schulter 
an jevem Tage der Woche, wie jie jte hier nur alle 
Sahr einmal am St. Batridstage tragen; umd zur 
Abwechslung. —“ 

„Bat, Du Spalpeen,” unterbrab ihn die Mut— 
ter mit gerumzelten Brauen, indem ſie die heiße 
Theefanne drohend in der Hand jchwang, „wie kannſt 
Du vor dem Sointleman här ſolche Lingen erzählen? 
Aber er ift grade wie jan Vater“, ſetzte fte entichul- 


43 


digend hinzu, „Ja find fih gläh, wie zwä Erben 
in am Pot.“ 

„S'iſt evangeliihe Wahrheit, was ich erzählt 
habe”, murmelte der unge, aber fo, daß ihm die 
Mutter nicht verjtand; denn er wußte recht wohl, 
daß, wenn fie die Thefanne ſchwang, — * mit u 
zu ſpaßen war. 

Antonio benuste die Ausbeugung, um feinen 
Protejt gegen Verabreihung von Whisfeyrationen an 
Kinder und Babies in den Zwiſchenraum ein- 
zulegen, aber Paddy D’Shea, die jüngere ver beiden 
Erbfen im Pot, gab den Anfichten der ganzen Familie 
bewußten Ausprud, indem er ſarkaſtiſch fragte: 

„Iſt Ihr nicht etwa ein Prediger? Iſt Ihr's?“ 

Antonio jtammelte eine Entfcehuldigung, um ſich 
von diefem Verdacht zu reinigen. 

„sn dem Falle,” fuhr ver Ragamuffin mit ver 
Miene freundfchaftlicher Ueberlegenheit fort, „iſt Ihr 
noch fivel grün in National» Economios, altes Roß! 
In was fürn altfogyſchen abgelegenen Platz habt 
hr denn Eure Erziehung genojfen, daß Ahr noch 
nicht wißt, daß Narcojtics für die ärmere Klaffe ver 
Bevölkerung Hühnerpaftete und Eiscr&me jein? S’fein 
die Nerven, was nitronogenifirt wird, und da brau— 
chen’s nichts zu eſſen, jeht Ihr nicht? Und das tft 
die aufgeflärte Philojophie von der Sache, altes 
Roß! I guess, Ihr kommt von äm Lande, wo's feine 
Zeitungsjungen gibt, um ver Zeit vorauszugehen. 
Immer der Zeit voraus! Das ift das Wort bier, 
tieber Kerl, in diefem aufgeflärten Lande.“ 


44 


Damit ſchlug er dem lieben Kerl ermuthigend 
auf den Rüden. 

Der liebe Kerl überließ jih im Stillen ver Be- 
trachtung, daß er fich mit feiner Weberfievdelung nach 
Amerifa auf ein Feld begeben habe, wo folche Bur- 
Ichen, wie dieſer hier, jeine Concurrenten feien und, 
was noch viel vemüthigender war, daß er mit feiner 
Erziehung, Tauſend gegen Eins, gegen die Concurrenz 
jolcher Philofophie, ſolcher Aufgeflärtheit und folchen 
Selbſtvertrauens — grade fo viel als nöthig, um 
auf folhem Felde zu reuffiren — ſchwerlich aufkom— 
men fönnte. Uebrigens amüfirte fich Antonio an die— 
jer jungamerifanifchen Studie und fie waren von An- 
fang an gute Freumbde. 

Auf welche Art jedoch dieſe zahlreiche Bevölke— 
rung in dem einen Zimmer ihr nächtliches Unterfom- 
men finden fonnte, war ihm ein Problem. Unfer Be- 
ſucher hatte feinen jtilen Verdacht, vie ſchmutzige 
Wäſche der Kunden müfje dazu herhalten, um die 
von dem Xeichtjinn des verftorbenen Paddy im Bett- 
zeug gemachte Lücke auszufüllen, wo nicht etwa auf 
der delabrirten Bettitelle fib Eins mit dem Andern 
zudedte, mit der Großmutter als Bafe und dem 
jtrampelnden Baby als Capitäl. Daß feine Schuß- 
befohlene mit ihrem Kinde nicht auch noch hier blei- 
beu fönne, war leider Mrs. O'Sheas gaftfreund- 
Ichaftlichem Eifer, der wie fajt immer im umgefehrten 
Berhältnig zu ihren Meſſern und Gabeln jtand, viel 
weniger flar, als Antonios unparteiiihem Blide; ja 
er fühlte fich felbit für feine eigene Perſon nicht ganz 


45 


jicher vor einer Einladung zum Nachtquartier. Jeden— 
falls bedurfte es der größten Delifateffe und vieler 
Diplomatie um der großmüthigen Wirtbin ein ver- 
nünftiges Arrangement abzunegotiiren. 

Die Fremde war Schon während der Fahrt im 
Wagen vollftändig in's Leben zurückgekehrt. Sie ge- 
hörte nicht zu der nerpöjen Sorte, fondern zu jenem 
itarfen Gefchlechte, welches von Natur ferngefund und 
noch durch vererbte Lehre und Beiſpiel zur Selbit- 
beherrjchung erzogen, das Xebensmarf der angeljächft- 
Ihen Raçe bildet und derſelben ihre gefchichtliche 
Größe aufgebaut hat. ES intereffirte deshalb unfern 
Beobachter, daß das Frauenzimmer aus New-England 
war. Kälte, Hunger und plötzliche Gemüthserfchütte- 
rung hatten fie umgemworfen; aber wieder erwacht fam 
es ihr nicht in den Sinn, fich als interejjanten Ge— 
genjtand der umgebenden Aufmerfjamfeit zu geberpen. 
Sie berichtete die Thatfache ihrer Lage, was auch 
immer ihre innern Gefühle dabei jein mochten, ohne 
an die Theilnahme ihrer Zuhörer zu appelliren, die 
lyriſche Rolle als Choragen ihrer Wirthin und deren 
Sohn überlafiend, mit der Alten, den Kindern und 
dem Bäby als Chor. 

Ihre Erzählung war einfah. Wie jo viele Neu— 
engländerinen hatte jie als Fabrikmädchen in Lowell 
gearbeitet, um nach einigen Jahren mit ihren Erfpar- 
nifjien nah Haufe zurüdzufehren. Jener Franzofe 
eriftirte damals in Xowell als Commis unter dem 
Namen Grenier. Die Franzojen, woran e8 auch im- 
mer liegen mag, verrüden nun einmal den Angel- 


46 


jächfinnen leicht ven Kopf, troß, wo nicht etwa viel- 
mehr grade wegen des unverjöhnlichiten innern Ge- 
genjages der Charaktere und Lebensanfchauungen. 
Grenier aljo verrückte Annie ven Kopf und heirathete 
fie zulegt, puisqu’il ne pouvait pas l’avoir autre- 
ment. Annies Familie, wohlhabende Farmersleute 
aus New-Hampihire, hatten vergebens protejtirt, theils 
aus neuengländiſchem Widerwillen gegen Fremde über- 
haupt, theil® auf unginjtige Nachrichten über des 
Menſchen Charakter. Annie fam daher in Folge 
ihres Schrittes mit ihrer Familie auseinander. We- 
nige Tage nach der Hochzeit fehrte auch der liebens— 
würdige, galante und zartjinnige Romane jeinen wah- 
ven Menjchen, oder vielmehr fein wahres Thier 
heraus. | 

Der Franzoſe hatte die köſtliche Blume gepflüdt. 
Damit war das Intereſſe erichöpft. Es blieb nur 
noch übrig, ihre Erjparniffe purchzubringen, was einer 
jo geübten Hand, wie der jeinigen, in Fürzefter Zeit 
gelang. Darauf verſchwand er plöglih, wie das in 
der Natur der Sache lag. 

Annie fuhr fort, in der Fabrif zu arbeiten, bis 
fie in's Wochenbett fam. Dann machte fie fich mit 
ihrem Rinde und ven Testen Weberbleibjeln des in 
fegter Zeit Erfparten auf den Weg nach New-York, 
wo eine von ihren Rowellihen Bekannten ihrem The— 
jeus auf der Straße begegnet jein wollte. Es wurde 
hinzugefügt, er jei in Gefellfchaft einer jungen Dante 
gewejen. Ob um ihren Ungetreuen zurücdzuführen, 
oder um ein neues Dpfer zu warnen, oder aber auch, 


47 


um fich an einer Nebenbuhlerin zu rächen? — ſchwer— 
lich war jte fich felbft über das Motiv ganz Klar. 
Genug, fie ging. Drei Wintermonden lang hatte jie 
ihre Nachforſchungen in New-York betrieben, aber auf 
falfeher Fährte. Sie juchte ihren Mann noch immer 
als Commis und ging folglich feiner Spur im untern 
Theil der City nach, befonders unter den. Conmmij- 
fionshäufern und Broders, die mit Lowell in Ver— 
bindung jtehn. Der Commis Grenier war jedoch 
unterdejjen zum Comte Rouffillon avancirt und hielt 
ſich als jolcher auf jeinen Promenaden, wenigitens jo 
: lange der Tag dauerte, — nördlich von Kanal-Street. 
Abend auf Abend Ffehrte jie entmuthigt von ihren 
Wanderungen in ihr Armliches Logis zurüd, während 
ihr Gejpartes mehr und mehr zufammenthwand. 
Leider verjtand fie nur Fabrifarbeit. Sie wollte fich 
mit der Nadel forthelfen, aber außerdem daß Die 
unfihere Hoffnung entnervend auf die Entfchlojjen- 
heit der Hand einwirfte, war auch dieſe zu wenig ge— 
Ihict und zu langjam für die ungewohnte Arbeit. 
Zulegt wurde jie wegen rüdjtändiger Miethe auf die 
Straße geitoßen. Es war der erite Tag, an welchem 
jie mit ausgejtredter Hand an die Milothätigfeit der 
Borübergehenden appellirte; der erite, an welchem: fie 
ihren Mann nicht mehr juchte. Da fand fie ihn. 
Antonio war von der natürlihden Vornehmheit, 
dem gemejjenen Anjtand in der Unglüdlichen Wefen 
vielleicht noch mehr, als von ihrer Schönheit, fo ein- 
genommen, daß er ihr ohne Bedenken ein Logis in 
jeinem Hötel angeboten hätte, wäre e8 nur nicht aus 


48 


Schidlichfeitsgründen jo ganz unmöglich gemwefen. 
Ueberhaupt blieb unter ven Umjtänden nichts übrig, 
als fie für's Erſte unter der Obhut des einzigen 
weiblichen Protectorats zu laſſen, das im Bereich war. 
Es fand ih, daß noch ein Zimmer in dem irifchen 
Phalanitere leer jtand, das Vorderzimmer grade neben 
Mrs. D’Shea’s. Es wurde fogleich von dem Eigen- 
thümer, dem Wirth der Schnapsfneipe unten, gemie- 
thet und voraus bezahlt. Antonio verfpradh, noch 
jelbigen Abend für Möbel zu forgen und Tieß feiner 
irländifchen Freundin einige Banknoten für ven Be- 
darf feiner Protegirten zurüd. Dem jungen Paddy gab 
er einen Dollar, um ihm die ritterliche Geſinnung zu 
Gunſten feiner Stubennahbarin anzufrifchen. Alles 
dies wurde in dem noch leerjtehenden Zimmer abge- 
macht, um allen etwaigen Bevenflichfeiten von Seiten 
der Letzteren zunorzufommen. Antonio fügte aus 
freien Stücken gegen feine Bertraute die Verficherung 
hinzu, daß er durchaus feine anderen Abfichten hege, 
al8 die arme Frau zur NRüdfehr nah Lowell oder 
nach Haufe zu bereven, jobald fie ſich nur einiger- 
maßen erholt habe. Da die Irländer Einem immer 
nach dem Munde glauben — vie Tiebensmwürdige 
Schwäche einer lebhaften Einbildungskraft — jo war 
fein Zweifel, daß die BVerficherungeu feiner Uneigen- 
nügigfeit für den Augenblid vollen Glauben fanden. 

Eine Stunde nach jeinem Abgang erjchien ein 
Wagen vor dem Haufe, der einen Teppich brachte. 
Mrs. D’Shea war hingeriffen von dem jchönen In— 
grain, obgleich fie ſelbſt fich jedenfalls lebhaftere 


49 


Farben gewählt hätte. ad D’Dhogerty, ihr Eour- 
macher vom Xeichenbegängniß ber, eine irländijche 
Phyſiognomie von der bösartigen Sorte, ftand grade 
an der Schnapslavdenthür bei der Ankunft des Tep— 
pichs, und nichts war natürlicher, als daß Mrs. 
D’Shea ihn engagirte, den Teppich zu legen. Da— 
vauf famen Möbel und Betten, Alles vom einfachiten 
Material, aber mit: Antonio'ſchem Geſchmack ausge- 
jucht. Nichts war vergeſſen, nicht die Fenjtervor- 
hänge, nicht der offne, zum &aminfeuer eingerichtete 
Dfen, nicht eine Tonne harter, nebit einem Faſſe 
weicher, flammengebender Kohlen. Es hätte dem 
Geber wohlgethan, würde er das behagliche, fait ele- 
gante Zimmer gejehen haben, mit den zugezogenen 
dunfeln VBorhängen und dem fladernden Feuer. End— 
lich folgte auch noch ein Bade-Apparat und ein Kof- 
fer mit Wäſche, Rattunfleivern, einem warmen Man- 
tel und Kinderzeug. 

Das arme Weib hatte ihre ſehr ernitlihen Be- 
denken, von allen dieſen Herrlichkeiten Beſitz zu neh- 
men. Aber Mrs. D’Shea wiederholte ihr Antonio 
vertrauliche Verficherungen über feine Abfichten und 
Anfichten und diefe erleichterten den Schritt, gegen 
ven e8 doch einmal feinen Ausweg gab, als Höchitens 
den eines Nachtquartiers auf der Polizeijtation, un— 
ter ſolchem Gefinvel, wie die Phantafie einer jo an- 
ſtändig gewohnten Frau es ſich nur zum Entſetzen 
malen konnte. Zuerjt ließ fie ji) vom Anblid Des 
Bades, — ein längſt erjehntes Bedürfniß für fich 
und das Kind — verführen. Als fie einmal gebavdet 

I. 4 


50 


hatten, war e8 unmöglich, ver reinen Wäſche zu 
widerftehn. Dann folgten die Kattunfleiver aus Noth- 
wendigfeit. Dann der Sit am Feuer und die Befig- 
nahme der Wiege für das Kind von ſelbſt. Der 
Teufel hätte ven Plan nicht bejjer anlegen können, hätte 
er jich das Weib zähmen wollen, als Antonio in feiner 
Unſchuld that. Die Mufter, die er gewählt hatte, 
waren Wunder von Gefhmad und in einem folchen 
Falle jteht einem gutgewachjenen Frauenzimmer nichts 
jo hinreißend, weil jo jittig, als ein Kattunkleid. 
Annie war gutgewachfen bis an die Gränzen ver 
Ueppigfeit. 8 
Uebrigens war es kein Wunder, daß Jack O'Dho— 
gerty neugierig war, wie ſolcher Glanz in Mes. 
D’Sheas Hütte Fame; noch auch, daß Mrs. D’Shea 
Jack D’Dhogerty den Sachverhalt auf ihre eigene 
jagenbildende Weife erzählte, noh auch, daß ad 
D’Dhogerty jfeptiiche Blide von dem Amenblement 
auf das jchöne Frauenzimmer und von dem jchönen 
Frauenzimmer auf das Ameublement warf; noch auch, 
daß jeine Blide vom Sfeptifhen in's Unheimliche 
übergingen, als jie auf die Banknoten in Mies. 
D’Sheas Hand fielen; noch auch, daß er mit einer 
jo reihen Frau wie Mrs. D’Shea jest war, über 
den Preis für jeine Mühe ausfiel; noch auch, daß 
jie über viefem Ausfallen ausfallend wurden und es 
zu einer Schlägerei zwijchen Bridget O'Shea und 
Jack O'Dhogerty fam, wobei ſämmtliche D’Sheas 
als active Partner und die ſämmtliche Hausgenojjen- 
ihaft als jtille Partner einwirften. Die umnmittel- 


51 


bare Folge davon war, — abgejehen von Bridget 
blauem Auge und Yads Mefferjtih in die Wade, 
den ihm das Baby beigebracht hatte, daß die Polizei 
die beiden Hauptactenrs für den nächjten Morgen 
am Polizeigericht engagirte, um ven letten Act ihres 
Stüdes dort vor dem Richter zu Ende zu fpielen; 
und ferner, daß die ganze Nachbarfchaft über die An- 
funft der fchönen jungen Dame, die feenhafte Aus— 
jtattung ihres Logis und die romantischen Beziehun- 
gen zwijchen ihr und dem irifchen Lord — welchen 
Charakter man dem geheimnißvollen Fremden beige- 
legt hatte — in fieberhafter Aufregung war. 

Antonio feste ji im Brevoort-Haus erſt ſpät 
und nachdenklich zum Thee nieder. Nach der Hite 
der Action und dem Reize ver Beichäftigung, für 
jeine jchöne Schußbefohlene die Ausjtattung zu be- 
jorgen, famen ihm jetzt die Bedenken über das Un— 
überlegte feines Berfahrens.. Don den eriten fünf 
Cent, die er der Bettlerin hingeworfen, hatte jich frei- 
lich jeder weitere Schritt mit faſt unvermeidlicher 
Logik von ſelbſt gemacht. Dennoch aber war er in 
feinem Gewiſſen etivas beunruhigt. Es wäre fowohl 
jeinen Verhältniſſen, wie der moralifchen Stellung 
der jungen Frau beijer gevient gewefen, wenn er ſich 
in jeiner Wohlthätigfeit auf das nackte Nothwendige 
bejcehränft hätte. Aber welch großmüthiges Herz kann 
dem Rauſch der Gelegenheit zu einer großmüthigen 
Handlung widerjtehn? Es fam ja nur darauf an, fich 
auf eine geziemende Art aus der Schwierigfeit der 
Lage wieder herauszuziehen. 

4* 


52 


Viertes Kapitel. 
Eine Abendgefellfihaft in der Finften Avenue, 


„Ecee Deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi.‘ 


Der Coup d’veil vor Dawſons Haufe oder Hötel, 
wie man es in Europa genannt haben würde, am 
Donnerjtag Abend, war brillant. Es war ein mit 
braunem Sandſtein ausgelegtes Ziegelhaus, eine Com— 
bination, deren jolive Eleganz mit den majfiven Pro- 
portionen der Fenjter und Thüren und der breiten 
Slügeltreppe im beiten Einklang ftand. 

In der Haren, mondhellen Nacht beherrichte das 
Auge Die weiteite Perjpective der jchönen breiten 
Straße der Paläfte, auf beiden Seiten bis in nebel- 
hafte Ferne, mit feftlich flammenden Gasfternen punk— 
tirt. Die Equipagen, gligernd in dem doppelten 
Lichte, in welches fie, wie im Uebermuth der Feit- 
lichkeit, noch ihre eigenen Doppelfterne aus den filber- 
blanfen Laternen Tpielen ließen, glitten, üppig in ihren 
Federn jchwebend, mit leichtem Geraſſel auf ver 
ebenen Straße dahin, entluden fich an der Auffahrt 
ihrer luftigen, duftigen Bürde feenhafter Wefen, vie 
zu zweien und dreien heraunshufchten, Die Treppe 
hinauffchwebten und im Nu im fchnell fich öffnenden 
Lichtmeer des Innern verfhwunden waren — umd 
verichwanden dann felbit, üppig in ihren Federn davon 
Ichwebend, mit leichtem Geraſſel auf ver ebenen Straße, 


53 


wie fie gefommen waren, um in fchneller Folge andern 
Pla zu machen. Die Phantafie war auf einen Zau— 
berpalajt vorbereitet und der Eintritt durch die, wie 
von ſelbſt, geheimnißvoll fich öffnende Thür im die 
Borhalle, enttäufchte die Erwartung nit. Der Glanz 
von hundert Lichtern fpiegelte von dem grünen Mar— 
mor einer doppelten Säulenreihe mit vergolveten 
Kapitälern, von der buntgewürfelten reichvergolveten 
Dede, dem braunen Tenejfee-Marmor ver glänzend 
polirten Wandtafeln zrüd. Ein Schwarzer, wie im 
arabiichen Märchen, führte ven Gaft im ein offenes 
Borzimmer links, zunächſt dem Cingange, wo ein 
halbes Dugend Herrn ihre Röcke und Hüte in fichere 
Winfel unter ſchon beſetzte Stühle packten oder ſich 
por einem großen Spiegel die parfümirten Haare 
jtrichen, fich die Füße an einem offenen großen Feuer 
wärmten oder jih die Handichuhe anguälten. Die 
Degagirteren legten dieje legte Hand an ihre Toilette 
auf dem Wege nach oben, in ver Halle, wo fich ſchon 
vorübergehende Geſpräche zwiſchen ftattlichen alten 
Kröfuffen und einfilbigen Dandies mit langen Baden- 
bärten al’Anglaise und blafirten Manieren anfnüpften. 
Andere jahen ſich wartend nach ihren zurücgebliebenen 
Gefährten um, over ftiegen die breite Treppenflucht 
por einer Partie Damen herauf, die nach dem zweiten 
Stod in ihr Ablegezimmer eilten. xe höher man 
die erite Treppe hinaufkam, deſto gejchäftiger tönte 
das Gejumme — wie von einem Schwarm Bienen — 
aus den weiten Räumen, die jcehon alle, Säle wie 
Flur, mit Gäſten befegt waren, in Gruppen zujam- 


94 


menſtehend oder von einer zur andern ſchlendernd; 
die Damen blendend in ihrer weiten Wolfeniphäre 
von gepuffter Illuſionsgaze und Seide, mit einem jo 
verwirrenden Durcheinander von blühenden Kränzen 
und gefiederten Fächern, bligenden Juwelen und durch— 
fichtigen Spiten, weißen Nacken und vuftigen Wangen, 
glänzenden Haaren und ftrahlenden Augen, jo märchen- 
haft fern, ätheriſch, überirdifch, daß man fih, in 
einem Anflug alter feligen Jungenduſelei, vor ihnen 
fürchtete und eine zeitlang die göttliche Atmofphäre 
nur don weiten zu umkreiſen wagte. 

Mrs. Damwfon, die ihrem Wanne diefen Palaſt 
zugebracht hatte, und aus einer Millionärsfamilie 
war, hatte ganz die gebrechliche Vornehmheit einer 
Marguile aus dem Faubourg St. Germain; ein Ge— 
miſch von Liebenswürdigfeit, Erelufivität, Frivolität, 
Hoheit, Blafirtheit, Lebensluſt — wie fie die Gewohn- 
beit, für die große Welt zu leben, einer von Natur 
feinen und bingebenden DOrganifation aufprägt, und 
wie fie Antonio eher überall, als unter den Empor- 
fömmlingen ver New-Yorker Handelswelt in ver Fünften 
Avenue gejucht hätte. Aber die Amerikaner leben 
Ihnel. Schon die PBarvenugeneration jelbjt nimmt 
oft erftaunlich vafch die arijtofratifchen Allüren an; 
in der zweiten Generation find fie vollendet; mit der 
dritten ftellt ſich ſchon nicht felten der manierirte 
Halbblödſinn einer verfallenen Nobleije ein. 

Wilhelmi machte ven Cicerone. 

„Wer ift diefer Klapperbürre da mit dem frechen 
Straßenbubengeficht ?" 


55 


„Fünfmalhunderttauſend Thaler werth. Fing da— 
mit an, ſeinen Nachbarn die Katzen wegzufangen und 
die Felle zu verkaufen, wurde ein großer Kürſchner, 
um den großen deutſchen Kürſchnergeſellen hier zu 
zeigen, daß die Yankees einem Pelzthier eben ſo gut 
das Fell über die Ohren ziehen können, wie jedem 
andern. Er „beats“ noch einmal den alten Aſtor, 
wenn es fo fortgeht." 

„Ber ift diefer Stille, Bleiche, Gedanfentiefe, 
mit den bligenden, etwas argwöhnifchen Augen? Ex 
hat etwas von einem fatholifchen Geiſtlichen?“ 

„>, der ift berühmt. Der hat feine Million 
unter den Indianern gemacht. Unter anderm verkaufte 
er ihnen einmal das Stück Nähnadeln zu einem 
Dollar, weil ver Nadelmacher gejtorben fei und es 
demnächit feine mehr geben würde.” 

„Die Geſchichte ijt gut erfunden.‘ 

„Ich verfihere Sie, evangeliihe Wahrheit, um 
. als Yankee zu Iprechen. Aber jehen Sie ven da mit 
der würdevollen Haltung, per hohen Stirn, dem weißen 
Badenbart, vem feiten Munde und fejten Auge —“ 

‚Benn es fein englifcher Gentleman ift, fo iſt 
es ficherlich ein Boftoner.‘ 

„Darin haben Sie’s recht getroffen. Er iſt von 
neuengländiſchem Blute.“ 

„Das verleugnet ſich nicht. Wohl ein Winthrop, 
oder ein Quinch oder — 

„Sie ſehen überall Geſchichte. Sein Vater war, 
mit Erlaubniß zu melden, Cloakenfeger in Boſton.“ 

Antonio biß ſich auf die Lippen. „Zufall! Es 


96 


handelt fich darum, was Er iſt: jedenfalls ein Mann 
von gebietendem Geifte, von großem, umfaſſendem 
Blick.“ 

„Sagen Sie lieber von tiefem Blick,“ fiel Wil— 
helmi ſarkaſtiſch ein. 

Antonio horchte neugierig und piquirt. 

„Er ging in die Tiefe. Er ſetzte das Geſchäft 
ſeines Vaters fort.“ 

„Sie haben den Verſtand verloren! Ein — ein — 
Mann, der ſolches Geſchäft treibt, in dieſer Geſell— 
ſchaft? Unter lauter Millionärs?“ 

„Drum eben gehört er hierher. D. h. von dem 
Geſchäft hat er ſich allerdings ſeit zwei Jahren zurück— 
gezogen. Seitdem iſt er courfähig. 

„Das Geſchäft muß einträglich fein,‘‘ — Antonio 
glaubte etwas ſehr Ironiſches gejagt zu haben. 

„Das tft e8 auch, lieber Wohlfahrt. Er hat 
jeine Million einzig und allein in vem einen Gejchäft 
gemacht, und damit wenigitens das gezeigt, daß er 
ein wahrer Gejchäftsmann it. Wer Großes will, 
muß ſich bejchränfen können.“ 

„Aber wie ift das möglich ?" 

„Sehr einfah. New-York iſt eine ungeheure 
Stadt. Er Hat jahrelang ven Contract von der 
Stadt gehabt und ſchindet e8 aus feinen Emplohees 
heraus, die er auf's Nieorigjte herunterfchraubt.“ 

„Sp wird man Millionär!” 

„So iſt's überhaupt mit unſerm Gefchäft, lieber 
Freund. Geſtehen wir’8 uns nur, en gros oder 
en detail, das macht den ganzen Unterjchiev.“ 


57 


„Wer ift das himmlifche Frauenzimmer, dem der 
ſchmutzige Kerl jo familiär die Hand jchüttelt ? 

„Himmliſch! Diesmal fann ich nicht umhin, mit 
Ihnen zu ſchwärmen; ever findet fie himmliſch. 
Sie ijt die geiſtreichſte, liebenswürdigſte, bejte und 
ſchönſte Perſon, die ich jemals gefannt habe, und ich 
würde mich in ſie verlieben, wenn ich den Muth 
hätte, nach einem jo erhabenen Preife die Hand aus— 
zuftreden, oder auch nur die Augen aufzuheben.“ 

„Warum nicht?" 

„Warum nicht? Weil ver Alte Ab—, der Alte 
mit dem unausjprechlihen Gejchäft fie ſchon für fich 
in Beſchlag genommen hat.“ 

„And mammon finds his way, where se- 
raphs must despair!“ citirte Antonio. 

„So jpielt man in Venedig!“ tröftete Wilhelmi 
mit feiner Lieblingsphrafe. 

Die beiden Freunde folgten vem Paare mit den 
Augen, wie e8 durch den Saal und an den Wänden 
entlang von Ede zu Ede ging. 

„Was juhen die denn?‘ fragte Antonio. 

„Vielleicht die Abzugsröhre,“ ſagte Wilhelmi 
cyniſch. 

„Iſt ſie nicht reizend?“ fragte Mrs. Dawſon 
in ihrer gleichgültigen und doch ſo weichen Weiſe. 
Ihr Ichmeifendes Auge hatte das Intereſſe bemerkt, 
welches vie beiden Fremdeſten ihrer Gäfte an der Er- 
Iheinung von Miß Bradbury nahmen und fie eilte 
herbei, um fie vorzuitellen. 


58 


„Ich habe die Ehre, Miß Bradbury zu kennen,“ 
jagte Wilhelmi, wie es Antonio fchien, mit einiger 
Zurüdhaltung. 

„Dann ftelle ich Ihren Freund vor. Kommen 
Sie, Herr — Herr Molifred. Sprede ih Ihren 
Namen recht aus?‘ 

„Das bleibt fich gleich, ich höre ihn am Liebiten, 
wie Sie ihn aussprechen.‘ 

„Ich hätte nicht geglaubt, daß die Preußen 
ſolche Complimentenmaher wären. — Miß Brad- 
bury, ih muß Sie mit Mr. Uollfred befannt machen. 
Der. Uollfred kommt eben von England und fennt 
alle die großen Geijter da, für die Sie nur von 
Weiten jchwärmen, wie feinen Handſchuh. Dickens, 
Ihaderay, Bulwer, Tennyſon und die ganze Gejell- 
Ihaft. Aber nehmen Sie Sich vor ihm in Acht, er 
ijt ein gefährlicher Menſch. — Ein höchft viftinguirter 
Preuße!“ flüfterte fie hörbar genug dem Fräulein 
in’s Ohr. 

Miß Bradbury Jah ihren Vorgejtellten prüfend, 
aber lächelnd an und ſchien eine Gefahr zu lieben, 
welche in der Geftalt eines jo „höchſt diſtinguirten 
Preußen‘, und obendrein mit jo ſchönen Augen Fam. 
Dieje hatte, wie der geneigte Leſer jich noch erinnert, 
Antonio von feiner Mutter geerbt. Er mußte ver 
Schönen Perjünlihdes von englifchen Celebritäten be- 
richten. Hinter ihm ſtand Wilhelmi und Mir. Sewe- 
vage. Er konnte ihr Gefpräch mit halbemOhre verfolgen. 

„Cine fplendive Bewirthung!‘‘ bemerkte Sewe- 
vage als Kenner. 


59 


„Sehr! ein vollftändiger Succeß!“ bejahte Wil- 
helmi, ver in der gejellfehaftlihen Phrafeologie diefer 
Breite zu Haufe fchien. 

„Der arme Damwfon! ich fürchte, es wird die 
legte Gejellichaft jein, die er in dieſem Haufe giebt.‘ 

‚Was wollen Sie damit jagen?‘ rief Wilhelmi 
ganz überrafcht. 

„Alſo Sie wiſſen noch nicht? — Sie follten 
doch am erjten wiſſen — als Importer —“ 

„Ich weiß wohl, daß Herr Damjon Schwierig- 
feiten hat, aber daß man ihm das Haus über ven 
Kopf verkaufen will, das —“ 

„Was ich Ihnen fage, bleibt unter uns. Das 
Haus ift mir ſelbſt heute Morgen angeboten worden. 
Das heißt, mein Agent, vem ich den Auftrag gegeben 
habe, mir ein Haus in der Fünften Avenue zu juchen, 
hat mir von einem gefprochen, welches nach allen zu— 
treffenden Zeichen fein anderes fein kann.“ 

„lo darum die AInfpectionstour!‘ dachte Wil- 
helmi. „Aber ich glaubte, es gehöre feiner Frau?“ 
fragte er laut. 

„Sie willen,‘ jagte ver Andere, „Dawſon tft 
ein religiöſer Mann. Er will an feinen Gläubigern 
das rechte Ding thun. Aber ich venfe, es ift nicht 
zu rechtfertigen, daß er es auf Koſten feiner Frau 
thut. Dieſe religiöfen Leute jind zuweilen ver- 
dammte Narren.‘ 

„Ich halte auch dafür, daß das die Gewiſſen— 
haftigfeit zu weit treiben beißt.‘ 


60 


„Er hat fein Recht, jage ich Ihnen, ihr Haus 
zu verkaufen.“ 

„Es iſt nicht zu rechtfertigen.“ 

„Sie find alfo auf die Offerte nicht eingegangen?” 

„O, das iſt eine andere Sache. Das ifi meines 
Amtes nicht, wenn er ſich zum Narren machen will. 
Wenn wir uns über die Bedingungen vereinigen 
fönnen, jo greife ich zu. 'S iſt eine jehr „deſiderable“ 
Reſidenz.“ 

Herr Dawſon war unterdeß ſpät, — von außer— 
ordentlichen Geſchäften, wie es ſchien, — in den Saal 
getreten und hatte von Gruppe zu Gruppe die Hände 
abgeſchüttelt, in ſeiner eigenen herzlichen Weiſe; das 
heißt, indem er die dargebotene Hand ſtets auf einige 
Zeit mit einem väterlich ſorgſamen Blick zwiſchen 
ſeinen beiden hielt. Es ſchien Antonio, als würfe er 
ein- oder zweimal, aus ſeinen theilnehmend zuſammen— 
gekniffenen Augen, recognoscirende Blicke nach Wil— 
helmis Seite herüber. Endlich kam er zu ihnen, 
nachdem Sewerage ſchon andere Unterhaltung gefunden 
hatte. Nach der gewöhnlichen Begrüßung nahm der 
Wirth Wilhelmi vertraulich zwiſchen ſeinen zwei feucht— 
warmen Händen bei Seite. Es war, wie Antonio 
nachher erfuhr, um ihn zu fragen, ob er nicht einen 
Bekannten wüßte, der Pferd und Wagen faufen wollte. 
Alles unter dem Siegel der Berjchwiegenheit. 

Mit Bradbury war für eine Dame, die den Ruf 
hatte geijtreich zu jein, außerordentlich angenehm und 
praftifch in ihren Anfichten. Ihr einziger Fehler war 
die Bewunderung alles Europäifchen aus Geiftreichig- 


61 


feit und ihre Verachtung alles Amerifanifchen als 
barbarifh. Sie hatte fih in Paris bei Youis Napoleon 
und in St. James bei der Königin vorjtellen laſſen. 


Das war die Glanzperiode ihres noch erträglich " 


jugendlihen Dafeins, wie Göthes feine Reiſe nad) 
Italien. Deutjchland und England fahren bei dieſer 
Schmetterlingsfoquetterie mit europäiſcher Bildung 
am fchlechteiten, weil ſie ven Amerifanern am nächſten 
jtehn und die Abjicht eben iſt, fich feiner ſelbſt zu 
überheben, ftatt fich in ſich jelbft zu vertiefen. 

„Haben Sie wohl Wire. Damjons Brillanten 
bemerft?‘ war die erite Frage, welche die Amerifane- 
rin an ihren neuen Bekannten richtete. Sie jchien 
ein Auge auf das Damwjon’ihe Mobilier zu haben. 

„Sie find prächtig‘ fagte Antonio. „Ein Ge— 
jchenf von ihrem Manne zu der Fete heute Abend. 
ft das nicht ein galanter Ehemann?“ 

„Das muß ich jagen!‘ ermwiderte Antonio er- 
jtaunt. „Ob meine Begleiterin wohl etwas von dem 
Bankerott weiß, er fragte ſich im Stillen, „da fie 
das koſtbare Gefchent jo natürlich findet?“ 

Antonio ließ fih von feiner Begleiterin durch 
die Zimmer führen, um die verjchiedenen Kunſtwerke 
zu bewundern, deren Vorzüge und Marftpreife, fie 
ihm mit dem Enthufiasmus ihrer Manie und zugleich 
mit einer Genauigkeit herzählte, als hätte fie diefelben 
für eine Auction abzufhäten gehabt. Hatte fie jelbft 
praftifche Abfichten auf dieſe Schäße? Das follte 
jich ſogleich zeigen. 

„Der arme Louis Phillip!“ ſagte Antonio bei 


” 


62 


Gelegenheit einer Sevres-Vaſe, an welcher fie ihm 
in der Höhlung des Fußgeftelles den Stempel des 
legten Königs der Franzofen zeigte. Ein englifcher 
Baronet hat jeinen Koch eritanden und eine ameri- 
fanifche Lady fein Porcelan.“ 

„Die arme Miß Dawſon!“ feufzte feine Be- 
gleiterin. 

„Sollen alle viefe Schönen Sachen wirklich fort- 
gehn, und in alle Welt zerjtreut werden, wie die 
Louis Philipps?‘ 

„Sie wird ihr Haus aufgeben. Ich hab’s von 
Einem, dem es ſelbſt angeboten ift. Iſt es nicht 
graufam für eine Dame, die von Kind auf an diefen 
fürftlihen Yurus gewöhnt gewefen iſt?“ 

„Lauter Spekulanten!" dachte Antonio, indem er 
das fhöne Mädchen mit einer Art Mitleiven betrach- 
tete. „Aber warum follte man es einem Kaufmann 
in der Gefchäftsichlacht mehr vervenfen, wenn er in 
die Schuhe feines gefallenen Kameraden tritt, als 
einem Dfficier? Der nobelfte Kerl wird deshalb das 
Avancement nicht ausſchlagen.“ 

Diefe Betrachtung verſöhnte ihn wieder mit feiner 
Schönen, deren Schönheit in einer friſchen Gefichts- 
farbe, herrlichen Zähnen — eine Seltenheit in Ame- 
rika — und üppigem braunem Haar bejtand. 

Unter den bewunderten Gegenjtänden waren nackte 
Statuen hervorragend. Der Amerifaner iſt gelehrig 
und macht Alles mit, was zur Cultur gehört. Trotz 
ihres verdienten Rufs der Prüderie in moralijchen 
wie religiöfen Aeußerlichfeiten, fann man dennoch 


‘ 


63 


wiederum den Nachfommen ver PBuritaner in England 
und Amerifa viel mehr in dieſer Beziehung bieten, 
als entweder Deutfchen oder Franzofen, unter gewiljen 
Bedingungen; nämlich: wenn man ihnen einen reli- 
gidfen Vorwand oder, was vielleicht noch beſſer ijt, 
eine Autorität, einen Erfolg, eine Mode, dafür bei- 
bringen fann. In Ermanglung aber irgend einer 
jolhen Bedeckung, braucht man meijt nur die Sache 
durch eine nüchterne Miene al® zur unverfänglichen 
Proja des Lebens gehörig zu legitimiren. Antonio 
fonnte daher nur die Erfindungsgabe bewundern, 
welche für jede neue Blofitellung des Fleifches das 
Feigenblatt einer plaufiblen Situation erfunden hat. 
Da gab es eine Iphigenie, welche eben in Aulis ge- 
opfert werden ſollte. Xeute, welche einem folchen 
fraffen Aberglauben Huldigten und vor folcher Atroci- 
tät nicht zurüdichredten, um ein Bischen Wind zu 
befommen, würden fich natürlich auch nicht geniren, 
das arme Dpfer bis aufs Hemde auszuziehn. Der 
Vorwurf konnte aljo nicht glüdlicher gewählt fein, um 
die große Wahrheit zu erläutern, daß vor ver Fleilch- 
werbung des Heils jelbjt die gebildeten Griechen 
dem dunfeljten Aberglauben huldigten und die ſcheuß— 
lichſten Barbareien begingen. Dieje chriftliche Be— 
deutung des Kumjtgebildes wurde jo eben von dem 
Keverend Doctor Ellis einem gläubigen Kreife von 
jungen und ältern Damen auseinandergejegt und be— 
jonders die erjteren aufgefordet, ihre Brüder und 


Jonjtigen männlichen Anhängjel zu der Betrachtung 


dieſes Meifterwerfes zu veranlaffen, „wegen feiner 


64 


unerceptionellen religiöjen und moralifhen Tendenz,“ 
Sphigenie lag halb, halb hing fie, über dem Altare 
mit brechendem Auge. Man kann ſich venfen, wie 
moralifch den jungen Herren dabei zu Muthe werden 
mußte. Ihr gegenüber, am andern Ende des Saales, 
ftand eine griechiſche Sklavin. Dieſes faum reife 
Schulmädchen legitimirte ihren Charafter als Sklavin 
durch eine von Handgelenf zu Handgelenf hängende 
Kette, welche jedoch nicht ſchwer auf ihr laſten mußte, 
da fie auch ohne diejelbe die Arme und Hände nicht 
hätte natürlicher und ungenirter hängen laſſen können. 
Daß fie nicht nur eine Sklavin, jondern auch eine 
griechifhe Sklavin war, ging aus einem Gedicht her- 
vor, welches ein enthuſiaſtiſcher Kunſtgönner in grauen 
Haaren, ebenfalls ein Reverend und berühmter Xectürer 
über die Kunſt, fo eben einer. Gruppe von Künſtlern 
und Magazinmitarbeitern vorlas und worin fich eine 
warme Theilnahme an dem Unglüd eines jo hübſchen 
und noch jo jungen weißen Mädchens, als Sklavin 
verfauft zu werden, ausprüdte. 

Nie in dem vorigen Falle die Nactheit durch 
ein religidjes, jo war fie in diefem durch ein gemüth- 
liches Motiv gerechtfertigt, unbejchadet des aus der 
unvermeidlichen Ideenverbindung zwiſchen Griechen- 
land und nadten Frauenzimmern hergeleiteten allge- 
meinen &riechen-Nechtes, ohne Röcke und Keifen zu 
gehen. 

Bedenklicher jtand es mit einem andern Falle. 
An einem, wie es jchien, bejonders dazır eingerichteten 
und beleuchteten Seitenzimmer, mit dunkelgrün aus- 


65 


geichlagenen Wänden, präfentirte fich eine „Weiße 
Sklavin” von ven jugendlich faftigiten, vollausgewach- 
jenen, angelfähfiichen Formen. Die Haut war wunder- 
voll gearbeitet und fühlte ſich jo wunderſanft gegen 
das Auge an, daß man fich jchwer überreden Fonnte, 
es fei nicht wirkliches lebendiges Fleiſch. Hier alfo 
hatte man es mit einer Tochter gebildeter Stände zu 
thun, welche, wenn man dem beigegebenen Erflärungs- 
zettel trauen dürfte, deshalb in einem jo ungewöhn- 
lichen Koſtüm fich producixte, damit die indianischen Wil- 
den, denen jie in die Hände gefallen war, ihr die 
Arme bequemer an einen Pfahl binden fönnten. 
Trotz dieſes guten Grundes machte fich eine ſtarke 
Dppofition gegen die „Ziemlichfeit” dieſer Toilette 
geltend. Man fühlte, daß vie antiquen Formen et- 
was Kälteres, Entfernteres haben, welches die Scham— 
baftigfeit der heutigen Welt nicht jo direct berührt, 
während die Bloßjtellung moderner weiblicher Keize 
gradezu in das Heiligthum ver eignen Häuslichkeit 
einzugreifen ſchien. 

Der volle Anblik dieſer lebenswarmen Formen 
war jo blenvdend, daß Antonio unwillfürlih den Kopf 
wegwendete. Aber feine Begleiterin, die wohl als 
Modell zu einem ähnlichen Bilde hätte dienen fünnen, 
nahm faltblütig eine Pappenröhre von einem Seffel 
und mujterte das Subject mit Eritiiher Ruhe in allen 
jeinen Einzelheiten durchs Peripeftiv. Ein Kreis von 
Herren und Damen umjtanden die Statue und thaten 
alle daſſelbe. Antonio, den das Stillfchweigen in 
diejer Situation genirte, machte einige nüchterne Be— 

I. 5 


66 


merfungen im obigen oppofitionellen Sinne gegen 
jeine Begleiterin. Ein junger Künftler („artist“ auf 
gebildet amerifanifch) nahm den Handſchuh auf und 
befämpfte, mit dem radicalen Dünkel eines eben aus 
dem Collegium entjprungenen deutſchen Studenten der 
Philofophie den puritanifchen Fanatismus gegen das 
Naturfoftim, welchen er eine Rhapſodie auf vie 
Schönheit des menjchlichen Leibes, als dem Meijter- 
iwerf des Allmächtigen, entgegenfegte. Das Pfaffen- 
thum der fchönen Menfchlichfeit, woran ſich Antonio 
zu Haufe ſchon jo den Magen übergejjen hatte, be- 
jaß offenbar hier auch feine blühende Schule. Tout 
comme chez nous! nur in der Form etwas ab- 
weichen. | 

„Bott machte dem Menfchen den Leib,“ rief ver 
junge Aufgeflärte triumphivend; „ver Schneider hat 
ihm den Rod gemacht. Wählet, Ihr Frommen, 
zwiſchen beiden!“ 

Antonio fragte: „Wenn Sie ſo glücklich wären, 
dieſe weiße Sklavin aus den Händen ihrer Peiniger 
zu befreien, was würden Sie zuerſt thun?“ 

„Ihr meinen grauen Shawl leihen,“ erwiderte 
der Maler, der übrigens ein guter Kamerad war, 
mit einem offenen Lachen. 

„Damit geſtehn Sie zu, daß die Situation bei 
den Haaren herbeigezogen iſt, und unſer modernes 
Gewiſſen beleidigt.“ 

„Unſer modernes Gewiſſen iſt faſch erzogen.“ 

„Dann wäre es unſere ganze moderne Bildung, 


67 


was ich nicht zugebe." Kine Welt, welche von 
ven Baum ver Erfenntniß gegeffen hat, kann man 
nur mit Gewalt in’s Paradies des Naiven zurüd 
mafßregeln. Es wird immer eine Anquälerei bleiben.‘ 

„Alſo wollen Sie mit Ihrer VBandalenfeule die 
ganze antique Kunftwelt in Stüden fchlagen ?” 

„Bei den Alten war die Ignorirung des Scham- 
aefühls naiv; bei uns ift fie chnifch, weil bewußt.‘ 

Hiermit war unfer Landsmann, nach guter deutſcher 
Weife, in's Dociren verfallen und der umijtehende 
Kreis bildete fih zum Auditorium. Je weniger diefes 
im Stande war, feinem fich immer abftracter ver- 
dichtenden Ideengange zu folgen, deſto williger wurde 
es, deſſen Tiefe zu bewundern. Der Ruf des ‚‚höchit 
piltinguirten Preußen“ als ‚‚größter Kenner und Denker 
in Amerifa, vielleicht in der ganzen Welt” war von 
dem Augenblide an gemadt. Er ertappte fich noch 
zur rechten Zeit auf jeinem Docentenparorismus, um 
fi nicht noch den des größten Pedanten dazu zu er- 
werben. Es ärgerte ihn in der That nicht wenig, 
als er jich in der Mitte eines andächtigen Zuhörer— 
freifes entdecte, worunter die beiden Reverends, die 
jih näher und näher an ihn drängten. Er brad 
plöglih ab. Der Reverend Dr. Ellis Tchüttelte ihm 
die Hand und erflärte, er habe nie eine jo umfaſſen— 
de und zugleih wahrhaft gründliche Auseinander- 
jegung der Weltgefchichte gehört. Der, Reverend 
Yecturer in den langen Haaren verficherte: er habe 
nie folch’ ausgezeichnetes Engliich gehört, außer von 
Kofjuth. „Der, fagte er, „ſchien mir eine infpirirte 

5* 


68 


Kreatur. Site müſſen eine öffentliche Vorlefung über 
den Gegenjtand geben!‘ Diefe Idee wurde fogleich 
von dem andern Keverend, dem Maler und Fräulein 
Brapbury aufgegriffen und Alle jchüttelten ihm bie 
Hände. Man machte ihm ein förmliches Levée, als 
wäre er Präſident oder fonjt eine politiiche Größe. 
Einer jagte es dem andern und einer nach dem an- 
dern ließ jich bet vem „höchſt diftinguirten Preußen“ 
porjtellen. Man ging aus dem Zimmer aus und ein, 
wie im Cmpfangszimmer des weißen Haufe. Die 
Spiree war gelungen. Es hatte fich ein neuer Löwe 
gefunden. 

Unter diefem Vorgange fühlte ſich Antonio plög- 
ih von einer eigenen Bewegung überfommen, die 
Ichrittweis, gleichſam als näherte fie ſich aus der Ent- 
fernung, überwältigender und überwältigender ihn um- 
jtridte. Es war eine Art magnetifhen Taumels. 
Zulegt hätte er fih vor der Statue, dem reinem 
Bilde jungfräulicher Reize, niederwerfen und es an- 
beten mögen. Er verjtand es in dem Augenblice 
zum exjtenmale in feinem Xeben, wie die Griechen 
bei der Anbetung ihrer marmornen Apeale wirklich 
religiöje Erhebung und Heiligung meinten und er 
widerrief in jeinem Herzen alle Kegereien, die er ſo 
eben noch jo beredt gegen das Nadte in der moder- 
nen Kunſt gejchleuvdert hatte. War es der Einfluß 
des Kunſtwerkes jelbft oder war es die nahe Be- 
rührung feiner ſchönen Begleiterin? Er war vollſtän— 
dig jprachlog, volljtändig entrüdt. Dieſe jonderbare 
Geiſtesabweſenheit im Centrum der Attraction theilte 


69 


den umfreifenden Trabanten eine wachjende Befangen- 
heit mit, die in einer todten Pauſe enpigte. 

In diefe Pauſe fiel eine tiefe Flangreiche, aber 
jugendlihe Mäpdchenftimme, dicht hinter ihm, welche 
fagte: 

„Es iſt ungefähr das nackendſte Frauenzimmer, 
was mir noch vorgekommen: ift.‘‘ 

Die eben eingetretene todte Stille gab dieſer 
Privatmittheilung eine Deffentlichfeit, wofür fie nicht 
beftimmt gewejen war. Die Wirkung war fchlagenv. 
Ale brachen in ein lautes Gelächter aus. Damit 
war der Zuuber gelöit. Antonio und mit ihm die 
ganze Gejellichaft waren fich felbit zurückgegeben. 

„Das macht alle Ihre Kritik zu Schanden!‘ 
rief ver Maler, ver am herzlichiten lachte. 

„Das trifft den Nagel auf den Kopf!‘ lachte 
Miß Bradbury. Antonio ſah jih um. Es war die— 
felbe junge Dame, ver er vorgejtern in Geſellſchaft 
des Comte de Roufjillon auf vem Broadway begegnet 
war. Sie blidte mit denjelben ruhigen, etwas de— 
daigneuſen Augen, die er ſchon an ihr Fannte, im 
Kreiſe umher, als wunderte fie fich, was es venn zu 
lachen gäbe? Dann ebbete ver allerleijefte Anflug von 
Erröthen von ihrer etwas bräunlihen Wange zurüd, 
unmittelbar gefolgt von einem eben fo flüchtigen Zug 
allerhöchiter Ungnade auf ihrer fait kindlichen Xippe. 
Zulegt jtand fie da wie eine geborne Prinzeffin und 
Ihaute in's Leere, als ginge fie die ganze Sache 
nichts an. 

Der Begleiter, gegen welchen jie jene jo effect- 


70 


volle Aeußerung gethan hatte, war fein Anderer, als 
Monſieur de Rouffillon jelbit. Antonio bemerkte ihn 
erit nachträglich. 

„Oh, Miß Dawſon!“ rief Miß — dem jun- 
gen Mädchen entgegen, „warum find Sie nicht hier 
gewejen? Sie haben viel verfüumt, daß Sie meinen 
Freund hier nicht eine halbe Stunde früher kennen 
gelernt haben. Miß Dawſon — Herr Wohlfahrt 
aus Preußen, Herr Comte de KRouffillon aus Frant- 
reih. Herr Wohlfahrt aus Preußen. Ein höchſt 
diſtinguirter Preuße,“ bekräftigte jie Miß ER 
ins Ohr. 

Antonio und Miß Dawſon mafßen ſich einen 
Augenblick mit feindlichen Blicken. 

„Warum denn eine halbe Stunde erben fragte 
die Angerevdete. ‚Hält er nicht jo lange friſch?“ fügte 
fie mit lauter Affectation von Heimlichkeit hinzu. 

Miß Bravbury Lächelte-über die Malice. „Heer 
Wohlfahrt,‘ gab fie zur Erflärung, „hat uns fo eben 
eine höchſt interejjante, höchſt lehrreiche, und höchit 
profunde Parallele über die Grundprincipien ver au— 
tiguen und modernen Kunjt zum Beſten gegeben, und 
— was Ihnen jehr jchmeichelhaft fein wird, — er 
ftimmt ganz mit Ihrem jveben abgegebenem Verdict 
über die „Weiße Sklavin‘ überein.“ 

Miß Dawfon errötbete noch einmal leicht, aber 
man merkte es dem falten Zone ihrer Stimme nicht 
an, als fie erwiderte: „Mehr als fchmeichelhaft! 
Denn ih bin wirflich nichts weniger, als profund. 
Sa, ih bin niemals im Stande geweſen, nur ven 


71 


Unterfchied zwifchen 'einem Preußen, einem German 
und einem Dutjehman zu begreifen. Wollten Site 
mich nicht darüber aufflären, Herr —?“ 

Die junge Dame nahm bei den legten Worten 
eine fo Schulmädchenhaft lernbegierige Miene an, daß 
er in die Falle ging und ihr mit Lehrerherablaſſung 
die gewünſchte Aufklärung gab. 

„Wie unentwirrbar profund doch alles Deutſche 
iſt!“ rief ſie. „Dear me! es macht mir Kopfſchmer— 
zen. Ich habe kein Wort davon verſtanden. — Ha— 
ben Sie's?“ Die Frage war an den Comte gerichtet. 

‚Mir ein Wort!“ ſagte dieſer, aber ganz auf— 
richtig. „Die Deutſchen ſind der Volk der Denker 
par excellence, abber fie nix habben die clarte 
transparente von die Erpofition, welche unter allen 
Bölfern ift propre den Francais.“ 

Diefe Worte wurden zwar in fchauderhaftem 
Engliſch, aber fonjt ohne alle böſe Abjicht mit ver 
gewöhnlichen arrosganten Wichtigfeit worgebracht, wo— 
mit die Sranzofen die jtehenden Redensarten der Cul- 
tur in Umlauf zu fegen pflegen. 

Allein Antonio war jest durch die offenbare Per— 
fidie von Miß Dawſons lernbegierigen Fragen auf- 
gebracht. 

„Da haben Sie Recht, Monſieur,“ ſagte er, 
‚pie Franzofen denfen nicht und Miß Dawfon macht 
das Denken Kopfjehmerzen. Das fönnte ſich ja gar 
nicht beſſer paſſen.“ 

Miß Dawſon war ſprachlos vor Ueberraſchung 
über dieſe plötzliche und direkte Attaque; aber der 


12 


Franzos fuhr mit der größten Kälte fort, und zwar 
auf franzöfifch: „Ueberdies haben die Deutjchen bei 
aller ihrer Gelehrjfamfeit ven großen Nachtheil, daß 
ihnen die Lebensart abgeht, welche man allerdings 
nicht bei ven Bettlerinnen auf der Straße findet.‘ 

„Man muß nicht zu jehr nah dem Scheine 
urtheilen,‘ ſagte Antonio, innerlich empört über dieſe 
frehe Anfpielung auf ihre erite Begegnung, aber mit 
außerlihem Gleihmuth: „unter dem Kleide der Bett- 
lerin jchlägt oft ein gräfliches Herz.‘ 

Dies konnte ein armjeliger Gemeinplag fein, 
aber der Comte, dem das Gewiſſen den Verſtand 
Ihärfte, begriff auf einmal, daß der Preuße mehr 
von der Bettlerin erfahren hatte, als man beim bloßen 
Almojengeben auf der Straße erfährt. Er warf Ans 
tonio einen Blid des Mißtrauens, der Furcht und 
des Haffes zu, wie ein falfcher weftmoreländifcher 
Schäferhund, der ſich auf der Abficht, Einen in die 
Waden zu beißen, ertappt ſieht. Miß Dawſon be- 
merfte dieſen Bli und ſah befremvet von dem Einem 
auf den Andern. 

Die erfte Begegnung zwifchen einem Manne und 
einem Weibe, wenn fich die Parteien ebenbürtig füh- 
fen, ift immer mehr oder weniger ein geheimer Kampf 
um die Oberherrſchaft. Wer die erite Schwäche 
zeigt, hat die Partie gewöhnlich auf immer verloren. 
Es ift das große Geheimniß der Unwiderſtehlichkeit 
der Franzofen, dem jchönen Gefchlecht gegenüber, daß 
fie von unerfchütterlicher Arroganz find. Wenn aber 
Diary Dawfon, eben aus der Benfion entlaffen, an 


13 


dem europäiſchen Comte ihren Meifter gefunden zu 
haben fchien, jo hatte ver Comte diesmal offenbar 
den feinigen an vem „höchſt viftinguirten Preußen“ ge- 
funden. Marty fand fich in die Niederlage verwidelt 
und rebellirte dagegen. 

„Ich halle die Preußen!‘ machte fie fich ener- 
giſch Luft. 

„I like an honest hater.“ „Ich liebe einen 
ehrlichen Haſſer,“ citirte Antonio dagegen ſpöttiſch 
zur Antwort. 

Eine Bewegung unter den Gäſten verfündigte 
jegt den fehnlich erwarteten Augenblid, wo der Eß— 
ſaal jich öffnete. Mrs. Damwfon hatte fih in die 
Nähe des „piftinguirten Preußen‘ gefpielt; es war 
entjchievden, daß ihm die Löwenkrone des Abends, 
welche der franzöfiihe Comte während ver ganzen 
Winterfaifon getragen, aufgejegt werden ſollte. Schon 
wies ihm Herr Damfon die Dame vom Haufe zu, 
um ihr den Arm zu geben und mit ihr die Procef- 
jion zum Souper zu eröffnen, als der Comte ihm 
dieſes Ehrenamt, das er als jein Erbamt zu ver- 
walten gewohnt war, vor der Naſe wegſchnappte. 
Die Wirthin nahm dieſe Tappigfeit mit guter Miene 
hin. Wenn der Comte ein Rad in den Eßſaal ge- 
ichlagen hätte, jo blieb jeine Stellung als permanente 
Autorität in Sachen der guten Xebensart doch uner— 
Ihüttert. Dafür war er Franzofe. Ein deutſcher 
Gentleman wird in ver amerikaniſchen Gefellichaft nie 
etwas Anderes, als ein jehenswerthes Meerwunder 
jein; ein Meteor, deſſen Bahn, im beiten Falle, die 


74 


der Gefellfchaft glänzend vurchfremt: Er hat in 
diejen, wie in allen andern Dingen, feine nationale 
Autorität hinter fich. 

Antonio offerirte Miß Dawſon un Arm, aber 
ſie that, als fähe ſie es nicht. 

Miß Bradbury wurde won ihrem REN ent- 
führt — und jo ließ fih venn Antonio ‚allein von 
dem Gedränge dent erjehnten Ziele zufchieben, als ihm 
Juſtus unter den Arm griff. 

„Sie machen Furore! Alles ift voll won Ihnen!“ 

„O ja! Ich habe mich ſchon in mein Schiefal 
gefunden.‘‘ 

„Sp Ipielen Sie doch nicht den: Blafirten.“ 

„Laſſen wir das. Ich kenne Die Sache von 
England her. Weich interefjirt etwas Anderes. Juſtus, 
in was für einem Verhältniſſe fteht dieſer Comte 
Koufjillon zu Miß Dawſon?“ 

„Da fragen Sie mich zu viel. Schütteln Sie mir 
Doch den Arm nicht fo, es ijt ja nicht meine Schulo! 
Aber bier fommt ver junge Dawfon, ver Bruder Des 
Fräuleine. Der kann „uns gewiß Aufichluß geben. 
Herr Dawjon, erlauben Sie mir, daß ich Ste mit 
meinem Freunde Wohlfahrt befannt mache.“ 

„How do, Wollfuad? Was halten von New— 
Noaf-Gejellihaft? Einige vuadammt nette Mädels, 
was? Kennen fcehon meine Schweſtua, Mä-uy? 
Sehenswuath, was?“ 

Alles jtürzte jich jet mit dent Fanatismus einer 
ausgehungerten Schiffsmannfchaft auf die Erfrifchungen. 
Die Herren riſſen ſich mit drei bis vier Negern in 


75 


weißen Glaceehandſchuhen um Zeller. und, Beitede, 
um ihren Damen Eis, Gebäd, Auſtern in ſämmtlichen 
Gejtalten, Hühnerſalat, Pafteten, faltes Geflügel, 
‚Zunge, Eingemachtes, Früchte in unglaublicher Varie— 
tät zu ferviren und dazwiſchen ſelbſt in unglaublicher 
Eile hinunterfchluden. Eine zeitlang hörte man nichts 
als Zellergerajiel und Löffelgeflapper in dem dichten 
Gevränge der Umſtehenden, die fich vor Müdigkeit 
und erichöpfender Hite eljend an vie Wände lehnten 
und nur eine enge Paffage für die quetichende und 
jtoßende Menge ver fouragivenden Herren liegen. All— 
mälig aber wurde die Unterhaltung, vor Tiſche ge- 
wiljermaßen nur pflichtmäßig fortgefponnen, ganz leb— 
haft. Dean fing an, fich einigermaßen vejtaurirt zu 
fühlen, ſchwatzte, lachte, vief jich gelegentlicy aus der 
Entfernung zu und trank ein Glas Wein mit feiner 
Ihönen Nachbarin. Die Gefchichte des Abends hatte 
auf diefen Blüthepunft bingearbeitet, ver leider jo 
furz als ſchön war. Augujtus Damfon forderte feine 
beiven deutſchen Gäſte gebräuchlihermaßen auf, 
Glas Wein mit ihm zu trinken, zog aber Antonio, 
der fi) aus dem nächjtitehenden Decanter einſchenken 
wollte, geheimmißvoll bei Seite und in ein Neben— 
zimmer» Hier ſtanden Flaſchen und Gläfer auf einem 
Tiſche — bei halber Beleuchtung. 

„Duüben füa den Allgemeinen, hia füa Connaf- 
ſäuas!“ erläuterte er, indem er ſeinen Gäſten ein— 
ſchenkte. „„Caviaa füa ven ae hm! abeme! 
Shakespeaa!““ 

Beide zeigten durch ein beifälliges Nicken, daß 


16 


fie die Citation zu würdigen wußten. Er jchenfte 
ihnen aus einer alten Flafche ein. — „Schmeden 
das! Altua Poat, Batualiha felbft impoatiat, voa 
Aeonen; ga nicht mean im Maakt. Vadauſt guta 
Stoff!” 

Es war in der That nicht die dunkle Schuh— 
ſchmiere, welche der Heroismus der gegenwärtigen 
Generation aus jpartanifchem Point d'Honneur als 
Port hinunterfchludt, fondern eine durchſichtige, viel 
hellere Flüffigfeit, vie Einem beim erjten Tropfen die 
feurige Wärme durch alle Adern tanzen lief. 

„Was für eine Art Kamerad ift der Comte 
KRouffillon, Dawſon?“ fragte Wilhelmi, wie abfichtslos. 

„Seha alte Familie, alt wie die Beage. Billigt 
gegenmwuätige Regwiung von Fuanfueich nicht, hat aba 
Bedingungen ſeina Uückeha offuiat. Louis Napoleon 
fuoh, alten Adel zu attachiuen.‘‘ 

„Hat er Vermögen ?“ 

„Haufen Geld. Will Sie befannt machen. Nach 
dea Gefellfhaft gehen nach Buodway. — Kleines 
Spiel.‘ 

„Ab, wirfih? Ach bin leider nicht verjehen. 
Haben Sie Geld bei fih, Wohlfahrt?‘ 

„Nein, aber ich möchte gern einmal die Sache 
mit anjehen. Was jpielen Sie da?‘ 

„Phauo, Wouge et Noaa, Uoulette, alles Mög— 
liche. Nichts auf ſich wegen Geld! Count pumpt. 
Bin ihm Ballen Geld fchuldig.‘ 

„Der Comte? Hält er Bank?“ 


17 


„zuweilen aus Gefälligfeit, wenn Beaufoad ge— 
buochen ift.“ 

„Beauford? Wer ift Beauford?“ 

„Beaufoad? Seha, guta Kaal. Giebt Euebit, 
wenn — PVätualiche Ewuftig wiad und muttaliche In— 
jtitution feine Feldfteine fchießen kann. Alte Lady 
n Twumpf! Muß man iha laſſen, 'n wahua 
Twumpf! Aba nicht imma Felofteine in Banfen. Und 
Mä-uy — Mäsuy imma depuowablen Condition!’ 

„In ner veplorablen Condition?‘ fragte An- 
tonio etwas lebhaft. 

„Why, yes! Xegt iha ganzes Zinn auf ven 
Count aus.‘‘ 

„Was? Sie giebt doch dem Count fein Geld?“ 

„Nicht guade, aba imveftiat all ihr Couwant in 
Moden und Pfeade, um mit Count die Buomenada 
zu fegen und auszuueiten. Sieh noch eajt gejtuan 
wieda auf indiihen Shawl ausgeſtueckt!“ 

„Alſo Fräulein Dawfon bewundert ven Count?‘ 

„ob?! Count Moda. Ungeheuwa Eoncumenz! 
Und Mä-uy n’ Uäca,*) Fein Mißverftändnig möglich! 
Schlägt die Floua Temple.‘ 

Es wurde aljo unter den drei Herren ausge- 
macht, nach der Gejellichaft in’s Spielhaus zu gehen. 
Unterdejjen machten ſich Antonio und Wilhelmi von 
dem „Swell“ los, um ſich in das jeßt vereinjamte 
Zimmer ver weißen Sklavin zurüdziehen. 


*) Racer, Wettrenner. 


18 


„Sie werten Sich über mein Intereſſe an dieſem 
Grafen wundern,‘ begann Antonio etwas verlegen. 

„Keineswegs," lächelte Juſtus. 

„Sie mißverjtehen mich,“ erwiderte jener auf das 
Lächeln. Ich muß Ahnen zur Erflärung ein Aben- 
teuer erzählen, welches mir vorgeftern auf dem Broad- 
way begegnete.‘ 

„Ein ganz verzweifelter Abenteurer!‘ tief Wil- 
helmi, nachdem. er die Gefchichte gehört. 

„And jegt hat er fich bier in der Familie ein- 
genijtet, offenbar um den Sohn auszuplündern, und 
das junge Mädchen —“ 

„Armes Rind!‘ | 

„Kind? Sie ift nichts weniger als ein Rind.“ 

„Aber ich bitte Sie, fie ift etwa fechszehn oder 
jiebzehn Jahr alt, zum erjten Male „aus“ diefe Saiſon.“ 

„Kinder giebt e8 überhaupt in Amerifa nieht, 
wie e8 jcheint. Sie könnte eine englifche Herzogin 
aus der Contenance tieren.“ 

„Dann muß jie doch jehr dumm fein, ſich von 
einem ſolchen Burſchen bethören zu laſſen.“ 

„Dumm? Hören Sie denn nicht, ver Comte ift 
Diode? Alles Franzöſiſche iſt bier Mode, es iſt eine 
ungeheure Concurrenz unter den Damen, die fih um 
ihn reißen. Sie ift ein Opfer ihrer amerikanischen 
Erziehung und ihres Schulmädchen-Ehrgeizes!“ 

„Erhitzen Sie fih nur nicht, ich gebe Ahnen ja 
Alles zu. Sie iſt ein unfchuldiges Schulmädchen, 
welches franzöſiſche Romane —“ 


— 


19 


„Sie haben aber doch auch nicht den geringjten 
pſychologiſchen Blick, Juſtus, bei allem Ihrem fauf- 
männiſchen Verſtande. Sie ijt ein unfchuldiges Schul- 
mädchen in gewillen Sinne, aber das bezeichnet durch— 
aus den Angelpunft der Yage nicht, fie iſt —“ 

„Sie tft alfo ein jchuldiges Schulmädchen.‘ 

„Die Späße find alle vecht jchön, aber: fehen 
Sie denn nicht ein, daß wir amerifanische Menjchen —“ 

„Junge Mädchen‘ — corrigirte Wilhelmi. 

‚„Amerifanifche junge Mädchen, meinetwegen, — 
nicht nach unjerer europäiſchen Schablone beurtheilen 
dürfen. Es ſteckt in diefem Kinde —“ 

„Alſo jest ijt jie doch wieder ein bloßes Kind.“ 

„Ein Kind den Jahren nach; und vielleicht mehr 
Kind im Herzen, als e8 uns, denen eine jo frühreife 
geijtige und gejellfchaftliche Formenfeitigfeit etwas 
Neues tjt, begreiflich Scheint. Das ift die gefährlichite 
Yage einem gewandten Böfewicht gegenüber — 

„Einem gemeinen VBagabenden —“ 

„Stille! jtile! da find Sie wieder im Irrthume, 
der Comte iſt ein achtunggebietender Böſewicht. Er 
iſt bloß lächerlich, wenn er Englifch ſpricht; im feiner 
eigenen Sprahe muß man alle Achtung vor jeinem 
conjequent niederträchtigen Charakter haben.‘ 

„Ich weiß von Alters her, Sie haben die Gabe, 
den Menjchen auf den erſten Bli zu durchſchauen. 
Und was halten Sie von Damfon ?“ 

„Wenn Damwjon Sie diesmal nicht betrügt, To 
{it e8 ein Zufall.‘ 

„Pſt! pie!“ 


80 


„Aber das intereffirt mich jet weniger.“ 

„Mich, muß ich geitehen, viel mehr, als ver 
Roman zwilchen dem Franzofen und der jungen Dame.‘ 

„Iſt e8 Ihnen möglih, einer ſolchen Schänd- 
lichkeit ruhig zuzuſehen?“ 

‚Lieber Freund, ich jehe wirklich nicht ein, was 
wir damit zu thun haben. Und, zugegeben, man 
möchte eine Nieverträchtigfeit verhindern, wie wollen 
Sie es anfangen? Wollen Sie bei den Eltern ven 
Angeber jpielen, over dem Mädchen anonyme Ver— 
warnungsbriefe fchreiben ?‘ 

„Es iſt gewiß eine fatale Aufgabe. Gehen wir 
für's Erjte einmal in’s Spielhaus, um den Comte da 
zu beobadhten. Das Weitere wird ſich dann finden.‘ 

Die Gefelliehaft war ſchon im vollen Aufbruch. 
Nah ver Abfütterung war der Zweck des Abends 
erfüllt und man wechjelte nur noch einige Worte pro 
forma. Auguftus nahm feine beiven Gäſte mit fich 
fort. Der Graf wurde im Geſpräch mit Mrs. und 
Miß Dawſon zurückgelaſſen. 

„Weiß der Comte,“ fragte Wilhelmi, „wo wir 
hingehen?“ 

„Ja wohl, Count kommt nach.“ 


sl 


Fünftes Kapitel. 


Der Held geräth in ein Spielhaus, kommt aber glücklicher- 
weile norh mit dem Teben Davon. 


Chi siete voi, che, contro’ l’cieco fiume 
Fuggito avete la prigione eterna? 


Dante, Purgatorio 1. 


Das Haus, vor welchem die drei jungen Gent- 
lemen Halt machten, ließ ſich durch feine eigenthüm— 
liche, einlavdend myſteriöſe Beleuchtung des Eingangs 
auf den erjten Blid als ein Rendez-vous unerlaubter 
Freuden erfennen. Das Geheimniß war offenbar ein 
durchjichtiges, aber die Polizei tjt in der demokratiſchen 
Gemeinde ‚tolerant. Allerdings mußte man gut ein- 
geführt fein und gab es für befondere Fülle beſondere 
Entjhlüpfungs- und Bertheidigungs- Anjtalten. Die 
Geſellſchaft hatte für folche, welche nicht daran ge- 
wöhnt waren, etwas ziemlich Unheimliches. An dem 
Büffet, wo jede Art ſtarken Getränfes umſonſt zu 
haben war, jtand eine Gruppe von Herren, deren 
präctige Musfelentwidelung einen anatomiſchen Pro- 
fejfor in Entzüden verfegt hätte, Die jedoch mit dem 
Revolver nicht weniger behende zu handthieren wußten, 
als mit ihren ſehnigen Armen und eifenharten Fäuften. 
In der Mitte diefer „Herrn vom Sport“ ftand ein 
verhältnigmäßig weniger folojjaler, aber außerordent- 
(ih wohl proportionirter Dandy von offenem Ge— 
ſichtsausdruck, der offenbar hier diejelbe Rolle jpielte, 

X, 6 


82 


die Antonio eine halbe Stunde vorher in der Fünften 
Avenue gejpielt, nämlich die eines Yöwen. Es war 
ein berühmter Preisborer, das Haupt der „Geſchun— 
denen Raten‘, welche mit ven „Scheußlichen Braunen‘“ 
in Urfehde fanden, wie die Capuletti und Montecchi 
vor Altere. Der Grund der Fehde war, wie der 
Urfprung diejer Partei-Namen, in der Dämmerung 
der Gejchichte verloren und dem Gebiete des Mythus 
verfallen; aber diejelbe erfüllte nichtsdeſtoweniger ihren 
Zwed, eine wöchentliche Straßen- oder Wirthshaus- 
ihlaht und zwei bis drei jährliche Todtſchläge zu 
motiviren. Uebrigens waren diefe „Bruiſers“ (Beu— 
lenkeiler) auf's Feinſte angezogen, Alle bis auf den 
Schnurrbart raſirt, und in einigen Exemplaren ganz 
einnehmend, mit den Manieren europäiſcher Cheva— 
liers. Andere hatten gemeine iriſche Züge und hier 
und da war ein gewöhnliches Gaunergeſicht darunter. 
Der ‚Champion‘ reichte mit einem herablaffenden: 
„How do, Gustus?“ dem jungen Dawfon nadläffig 
die Hand und Tieß ſich deſſen beide Begleiter vor— 
itellen. Man ſchenkte ihnen weiter feine Aufmerkſam— 
feit. Die Herren waren in einer wichtigen politijchen 
Discufjion begriffen, indem es fich darum handelte, 
ob die „Gefchundenen Raten“ einem gewiſſen be— 
rühmten Politifer ihre Unterftügung noch ferner an— 
gedeihen laſſen over ihn über Bord werfen follten. 
Was unfere Freunde dabei frappirte, war das ſou— 
veräne Selbjtbewußtjein diefer Bande, welche die Po— 
litif der Stadt, des Staates und damit der Vereinig- 
ten Staaten von dem Gewicht ihrer Muskeln in — 


83 


Hal, dem großen Berfammlungsort der Partei, ab- 
hängig wußten und bier beim Glafe Brandy Ges 
Ichichte machten. Dazwilchen wurden Wetten für und 
‚gegen Flora Temple gemacht, das damals berühmte 
Preispferd. Einige jpielten auch Würfel over Ecarte 
an kleinen Tiſchen. Der eigentlihe Spieljaal aber 
befand fich daneben, wo um einen grünen Tiſch von 
mäßiger Länge eine Gejellihaft von jungen ‚„Bloods‘ 
verfammelt war, reichen Erben in der vollen Blüthe 
ver legten Mode, welche der Ehrgeiz hierher geführt 
hatte, fih von einer Anzahl PBhantafiemenjchen in der 
Kunſt unterrichten zu laffen, ihr Geld wie englifche 
Lords zu verbringen. Die drei Gefährten nahmen an 
dieſem Tiſche Plag. Beauford hielt Bank. Es war 
ein junger Menſch von bleicher Farbe, voller Gefichts- 
bildung, dunflen bligenden Augen und fehr würde— 
vollem Benehmen, ein Gentleman von Kopf zu Tuß, 
nur daß er einen wahren Juwelenladen an der Brujt 
und auf den Fingern zur Schau trug. Die beiden 
Ankömmlinge paffirten als neue Opfer eine verjtohlene 
Mufterung. Sie hatten bejchlojjen, einen Kleinen Ein— 
jag zu machen, um feinen Verdacht zu erregen; ge— 
faßt darauf, dem gewöhnlichen Spielmandver zufolge 
erft zu gewinnen und nachher zu verlieren. Wenn fie 
Alles nebjt ihrem Einſatz verloren hätten, wollten jie 
aufhören. Gejagt, gethan. Sie gewannen und jegten 
mäßig weiter, um das Spiel bis nach der Anfunft 
des Comte zu verlängern, ver über eine Stunde auf 
jih warten ließ und bet feiner Ankunft ihnen gerade 
gegenüber Blog nahm. Der junge Dawfon, wie vie 
6* 


84 


meijten der Stammgäfte gewannen dagegen nicht fo 
Inftematifch, jondern in plößlichen Stößen. Zwei von 
der Geſellſchaft waren nach der eriten Stunde fchon 
polljtändig hors du combat und verließen das Schlacht— 
feld mit zerjtörten Zügen. Merfwürdigerweife aber 
gewann Auguftns von dem Augenblide an, daß der 
Comte eingetreten war, fajt bei jevem Sat und er- 
Härte mit einem Seufzer der Erleichterung, daß jekt 
„die Glücksperiode“ endlich eingetreten jei. 

Wilhelmt dagegen fing bald an zu verlieren. 
Als ihm das zweimal palfirt war, jtrich er Taltblütig 
ungefähr jechshundert Dollars ein, die er gewonnen 
hatte. Antonio dagegen jegte mit Auguftus um bie 
Wette, veriwwegener und verivegener. Der Spielraufch 
fing an, fich feiner zu bemächtigen. Er jaß mit er- 
histen Wangen und glühenvden Augen, ohne mehr zu 
willen, was um ihn vorging. Wie vorauszufehen 
war, wendete fih das Glück im vechten Augenblid 
für ven Banguier. Mit vem wachjenden Berluft wuchs 
auch die Aufregung. In zwei weitern Sätzen war 
fein ganzer Gewinnſt, der fih jchon einmal auf nahe 
an zweitaufend Dollars belaufen hatte, verjpielt. 
Dann fam als jhäbiger Nachjag eine Zwanzig Dollars- 
Bil aus feiner Taſche; dann erſuchte er Wilhelmi 
um ein Darlehn, das diefer ihm vund abſchlug. Er 
wollte jih an Dawſon wenden, der aber war eben im 
Paroxismus des VBerlierens. Unmwillig gegen Wilhelmt 
Itand er auf. Der Comte that in demjelben Augen- 
blick daſſelbe, kam um ven Tiſch herum und ſprach 
leiſe mit Dawſon. 


85 


„Mit dem guößten Vagnügen, natüalich,“ jagte 
biefer abmwejend, während fein Geijt ganz bei jeiner 
Karte war, auf die er ein „Verſprechen zu zahlen“ 
„on Gott weiß welchem Belange febte. 

Der Comte bot darauf Antonio mit der größten 
Höflichkeit jein Tajchenbuh an, da Herr Dawfon für 
ihn gut fage. 

Unfer Freund war, wie gejagt, im Spielraufch, 
der wie jeder Rauſch die Geranfen ohne Bewachung 
jich felbjt überläßt. Sein ſtehender Gedanke aber war, 
daß der Comte mit dem Banguier unter einer Dede 
betrüge. Er jtieß daher das angebotene Darlehn mit 
einer verächtlichen Handbewegung zurüd. 

„Das ift doch die Effronterie weit getrieben,‘ 
rief er auf franzöfiich, „mit jolhem Gelde noch den 
Großmüthigen zu fpielen.” 

„nit was für Gelvde, Herr?‘ jchrie der Fran- 
zoje, bleih vor Wuth. „Erklären Sie fih. Ach for- 
dere eine Erflärung.‘‘ 

Das Spiel hörte plöglih auf. Alle ſahen auf 
ven Bla, woher der zornige Lärm fam. Einige 
ftanden auf. | 

„Sie find verrüct,“ raunte Wilhelmi Antonio 
auf deutjch zu, ‚„‚hier Scandal anzufangen. Wir find 
hier unter Spigbuben!“ 

„Eine Erklärung?’ fragte Antonio, der jegt feine 
gewöhnliche kalte Selbjtbeherrichung wieder gewonnen 
hatte. „Ich fenne Sie, Herr Grenier, wie meine 
Zafche. it Ihnen das Erklärung genug?’ 

„Dann Jollen Sie auch meine Tafche felbit fennen 


86 


lernen,‘ rief der Franzofe, der auf die Anrede ale 
Herr Grenier vorbereitet zu fein fchien, und vrüdte 
einen Zafchenrevolver auf Antonio ab. 

Diefer, der immer ein ausgezeichneter Schläger, 
gewejen war, hatte vom erjten Augenblid des Wort- 
wechſels an das Auge feines Gegners aus alter Fecht- 
boden- Praxis firirt gehalten. Er ſchlug daher dem— 
jelben die Piſtole aus der Hand, als er fie eben ab- 
prücdte. Die Kugel ging in den Kronleuchter und zer- 
Ichmetterte einige Glasgloben, die in Flirrenden Scherben 
herunterfprangen. 

Jetzt war der Aufruhr allgemein. Alle ——— 
auf die Beine, Meſſer und Revolver wurden gezogen, 
im Nu waren die beiden Deutſchen umringt. Wil— 
helmi ſuchte begütigend zu erklären, Antonio ſtand mit 
untergeſchlagenen Armen, bleich, aber mit lächelndem 
Hohn auf der Lippe und blickte auf den heranſchäu— 
menden Aufruhr, gerade wie die Klippe im toſenden 
Meere blicken würde, wenn ſie dem Gefühl ihrer Un— 
erſchütterlichkeit Ausdruck geben könnte. 

„Uollfued, habt Unuecht, zunüfnehmen! Vadammta 
Unfinn!‘ rief Auguftus. 

„Zurücknehmen!“ ftel der ganze Chor ein. 

„Was foll ich zurücknehmen?“ fragte Antonio in 
unveränderter Stellung. „Ich habe gejagt jein Name 
jei Gr—“ 

Hier ging wieder eine Pijtole los, diesmal ihm 
durch's Dhrläppchen und zugleich ein wüthendes Rache- 
gejchrei von vielen Seiten! 


37 


„Das ift nicht billig! Es tft nicht gentlemännifch ! 
Zurüdnehmen! Herausfchmeigen! Niederſchießen!“ 

Es war gegen den gejellfchaftlichen Anjtand in 
viefem Eirfel, Einen an einen jeiner frühern Namen 
zu erinnern. 

„Um’s Himmels Willen! jeien Sie doch ver- 
nünftig, Wohlfahrt!“ rief Wilhelmi. 

„Ich will den Schurken entlarven. Die Ge: 
legenheit iſt günſtig.“ 

Schüſſe flogen in allen Richtungen. 

Unter dieſem Lärmen brachen ſich zwei gewaltige 
Arme und eine ruhige Stimme Bahn. 

„Betragen Sie ſich, Gentlemen!“ ſagte der Preis— 
boxer. Alle gehorchten. Die Ruhe war im Augen— 
blick hergeſtellt. 

An ſeiner Seite ſtand Beauford. 

„Mein Herr,“ redete er den Ruheſtörer mit 
ſtrenger Würde an, „haben Sie die Güte ſich weg— 
zubegeben.“ 

„Das iſt das Beſte, was Sie thun können,“ 
ſagte der Preisboxer rügend. 

Es blieb nichts Anderes übrig. Die Lage war 
beſchämend. Sich vor dieſem Menſchen zu entſchul— 
digen, ſchien noch beſchämender. Eine Erklärung über 
den wahren Namen des Comte hätte nur den Scan— 
dal erneuert, da ſich vorausſichtlich ein Theil der Ge— 
ſellſchaft in derſelben pſeudonhymen Lage befand. An: 
tonio mußte alſo blamirt abziehen, Wilhelmi ging 
natürlich mit. Dawſon, der erſt unſchlüſſig war, 
wurde zurückgehalten von Beauford, der den beiden 


88 


Deutjchen die Schulter nachzudte, als wären es traurige 
Patrone. 


Schötes Kapitel. 


Ein nächtlicher Mordanfall, wie fie in Mew- York zuweilen 
vorkommen, 


Il faut, autant qu’on peut obliger tout le monde; 
on a Souvent besoin d’un plus petit que soi. 


Fables de Lafontaine „‚Le Lion et le Rat“, 


Es wur gegen zwei Uhr Morgens, als die 
herausgeworfenen Freunde mit einem Gefühle ver 
Erleichterung wieder auf die Straße traten. Antonio 
antwortete auf alle Borwürfe Wilhelmis: „als Spie- 
lergehülfe fann ich ihn nicht nachweifen, in's Haus 
fann ich ihm nicht laufen, als Angeber kann ich ihn 
nicht verfolgen, was blieb mir übrig, als die erjte Ge— 
legenheit zum Scandal mit ihm aufzugreifen, an dem 
einzigen Drte, wo ich es vor mir felbjt verantworten 
fann, mich über die Dehors hinwegzuſetzen!“ 

„Das tft jedenfalls jehr rücjichtsvoll gegen mid). 
Es ging uns an's Leben. Und was haben Sie zulekt 
damit erreicht? Wahrhaftig, jehen Sie hier ein Loch 
im Aermel! Das nenn’ ich eine Echappade.“ 

„Ich will Ihnen jagen, was ich damit erreicht 
habe. ch gehe morgen früh zu Damjon und ent- 


89 
ichuldige mich, daß ich ihm bei feiner Gaunerbande 
jo wenig Ehre eingelegt habe. Dabei bringe id) 
meinen Senf an.‘ 

„Sie jind ja ganz voller Blut.‘ 

„Es ift vom Ohr, ih muß einen Schuß haben.’ 

Sie pochten einen Apothefer heraus nnd Anto- 
nio ließ fih das Ohr waſchen und verpflaftern. An 
ver Ede von Broadway und Glintonplace wollten fie 
jich trennen. 

„Es iſt mir mehrmals vorgefommen, als ob uns 
Einer folgte,‘ jagte Wilhelmi fich umfehenv. 

„Mir auch, aber man fieht nichts.‘ 

„Soll ih Sie nicht Lieber nach Ihrem Hötel 
begleiten ?*° 

„Unſinn! d. h. wenn Sie bei mir fchlafen wollen, 
werden Sie mir angenehm jein.‘ 

„Danke! Ich jchlafe nicht gerne aus dem Haufe, 
man fängt den nächſten Tag wüſt an.‘ 

„Alſo gute Nacht.“ 

Sie trennten fih. Ungefähr ing dem erjten 
Biertel des langen Blods zwifhen Broadway umd 
Univerjity- Place hörte Antonto fchnelle und unfichere 
Tritte hinter fi, die ihm, er wußte nicht warum, 
verdächtig vorfamen. Er drehte fich furz um. Dies— 
mal jah er deutlich, wie Jemand hinter einen Baum 
Iprang, etwa zwanzig Schritte von ihm. Er verließ 
aljo das enge Zrottoir und ging in die Mitte der 
Straße, feine Schritte befchleunigend. Sein Verfolger 
— daß er es war, fonnte nicht länger zweifelhaft 
jein, — verließ ebenfalls das Trottoir und ging noch 


90 


rafher. Sie waren jet nahe an der Ede von 
Green-Street, dicht aufeinander. Antonio, obgleich 
ohne irgend welche Waffe, konnte es nicht über fich 
bringen, zu laufen. Er drehte ſich rafh um. Der 
Menſch Fam direct mit einem im Mondſchein blinfen- 
den Meſſer auf ihn zu. 

„Exrpreß! Fünfte Ausgabe! Steamer von Euro- 
pa! Kriegsgerüchte! Schredliher Mord in Bonp- 
Itreet! Große Feuersbrunft! Expreß!“ fchrie ein Zei— 
tungsbube, der von Green-Street hervorgejprungen fam 
und zwilchen die beiden Männer ſchoß, fih wie ein 
Rreifel von dem Einen zum Andern drehend mit 
feiner Wuare. 

Der Verfolger fuhr beim erjten Ton der jchrillen 
Stimme zurüd und blieb eine Armeslänge von feinem 
auserjehenen Opfer wie fejtgenagelt ftehn. 

„Why! ſeid hrs’, Jock O'Dhogerty!“ rief 
rief der fleine Paddy D’Shea im Tone aufrichtigiter 
Berwunderung. „Sure, ich hoffe, Ihr fein hier nicht 
aufm Lerchenſtrich um zwei Uhr des Nachts, graden- 
wegs herunter nach Green-Street. S'iſt 'ne Gentle- 
mans-Street, Jod; nehmt Rath von mir an und jucht 
Euch Euer Wild auf der andern Seite von Broadway.‘ 

‚ein Wild liegt grade diefen Weg,‘ jagte der 
Irländer tüdifch-freh. „Ihr, Paddy, nehmt Euch in 
Acht, gottverdammter Spalpeen, ih mach' Euch noch 
diefer Tage den Garaus.“ 

„bo, Jock!“ rief der feine Teufel höhnend und 
um ihn hernmtanzend, als wollte er ihn boxen. „Oho 
od, fommt an! Fechtet, wenn Ihr's Herz habt! Ich 


9 


wette Euch meinen Erpreß gegen das Koch, das Euch 
das Baby in die Wave gejtochen bat, altes Roß — 
Hallo, was ift das? Fehlgeichoffen! Hahaha! Hihihi! 
Das ift jegt mein’s!“ 

Der Arländer hatte in der Wuth fein Bowie— 
mejjer nach dem ungen gejchleuvdert, ven er troß 
aller feiner Anftrengungen nicht erwijchen Fonnte; 
aber es traf nicht. Der Heine Teufel war im Nu 
hinterher und fort damit, der Arländer ihm nad. 
Dan hörte jie laufen; dann ven Schlag des Polizei- 
jtabes8 auf ven Duadern, dann fam die nächtliche 
Stille zurück. 

Je mehr Antonio über den Vorfall nachdachte, 
deſto flarer war es ihm, daß fein Fleiner Freund 
Paddy von dem Mordanichlag auf ihn gewußt und 
exrpreß feinen Erpreß an dieſem außergewöhnlichem 
Drte zur unmöglichen Stunde ausgerufen habe, um 
das Berbrechen zu vereiteln. Aber wer fonnte es 
veranlagt haben? Der Comte war allerdings ver 
einzige Menjch in New-York oder in der Welt, wel- 
chem daron gelegen jein mußte, den Beſitzer des 
Lowell'ſchen Geheimnijjes aus dem Wege zu räumen. 
Aber wie fam der Comte zu O'Dhogerty? 

Er ging wohl eine Stunde auf und ab, in ver 
Hoffnung, ver Junge würde zurückkommen und ihm 
Auffhluß geben. Endlich langte er übermüdet und 
melancholijch in feinem Hötel an, konnte aber lange 
nicht einfchlafen. Die Bilder viefer ereignißvollen 
Nacht zogen immer von Neuem an feinem Geifte 
vorüber; unter allen diefen Bildern aber waren es 


92 


nicht die legten Scenen ver Aufregung und der Ge— 
fahr, welche das Gedächtniß nicht loslaſſen wollten, 
jondern die paar Worte, die er mit dem Comte umd 
Miß Damfon gewechſelt. Er erinnerte fich jeder 
Sylbe, jedes Buchitabens dieſes kurzen Geſprächs; 
jede Bewegung, jeder Blick, der dabei gewechjelt wor— 
den, ſtand ihm fichtbar vor Augen. Mit feinem 
eigenen Antheil an vdiefer Aufführung war er nichts 
weniger als zufrieven. Einmal ſchien es ihm, er ſei 
gegen Miß Damwfon zu ausfallend geweſen und dann 
dachte er fich eine zartere und gefühloollere Antwort 
auf ihre boshafte Nederei aus. Dann wiederum 
jühlte er fich über die unprovocirte Feindjeligfeit der 
jungen Dame jo entrüjtet, daß jeine Phantafieantwor- 
ten faſt blutdürſtig lauteten. Ueber viejer geiftreichen 
Beihäftigung jchlief er denn doch zulegt ein, als ihm 
der Morgen ſchon in’s Fenſter fehimmerte. In ver 
nervöſen Uebermüdung bei einem fleinen Wunpfieber 
quälten ihn convulſiviſches Auffahren und jchredliche 
Träume Die fümmtlichen handelnden Perfonen ver 
fetten Tage jpielten darin Walpurgisnadt. Annie, 
Greniers verlafienes Weib, trat bleih und blutend 
vor ihn hin und wies auf den Comte und Auguftus 
Dawjon als ihre Mörder. Er jelbit ſah fihb im 
Armenfünderfleive auf dem Schaffot mit dem Strid 
um den Hals, den Auguftus und Grenier heraufzu- 
ziehen juchten, während Mary Damfon ihn mit höh- 
niſcher Beradhtung aus ihren tiefen, tiefen Augen an- 
jahb, Wihelmi mit den Fäuften dagegen drohte und 
Mit Bradbury ihn küßte. Unten am Schaffot tanzten 


93 


der alte Dawfon, feine Frau, Jod D’Dhogerty, 
Mrs. D’Shen, Mr. Severage und die alte „Groß— 
mither" die Karmagnole.. Das Baby baumelte an 
einem Nebengalgen und Paddy, der Zeitungsjunge, 
rief eine Mordgefchichte aus, wobei er mit Jock's 
Meſſer fechtend herumfprang. 


Siebentes Kapitel. 
Der Comte de Rouſſillon macht feinen 2. December. 


Und das Band, das uns verbindet, 
Sei fein ſchwaches Roſenband. 


Göthe, „Miteinem gemalten Bande.” 


Die eigentliche irdifche Kult des Dafeins ſchmeckt 
fih doch nur beim Frühſtück an einem winterlichen 
Tage, wenn die Lebensgeiſter vom Schlafe gejtärtt im 
Morgenthau funfeln, das Feuer im Kamin fladert 
und fnijtert, warm zuvücgefpiegelt von dunklen Mö— 
bein und golonen Bilderrahinen an den Wänden; von 
jilbernem Theeſervice und Schüfjeldedeln, won ge— 
ichliffenen Gläſern und Flaſchen auf dem weißgeved- 
ten Zifehe, während die Theeurne jummt und fingt, 
Buchweizenfuchen und Beefjteafs dampfen und Die 
große altmodiſche Wanduhr, die fich aus Rocococoquetterie 
unter die Baraphernalien des modernen Frühſtücksluxus 
‚verirrt hat, aus der Ede ihr heimelndes Tictac Tchlügt.. 


94 


Auf dem Tiſche liegen der New-York Herald und 
der Commercial Advertiſer. Herr Damfon Täuft 
Ihnell über die Handeldnachrichten hin, während ihm 
Pompey, der Neger, im ſchneeweißen Haushabit und 
unter all dem blanfen Gejchirr, womit er handthiert, 
ganz appetitlih anzufehn, die Taſſe Caffee hinſtellt. 
Mary Damwfon bat den Courrier des Etats Unis 
neben fich liegen, als Bildungsmittel in der franzö— 
ſiſchen Sprache, rejervirt ihn aber aus Anftands- 
rücfichten auf ven Nachtiſch. Mrs. Damjon fatiguirt, 
und doch noch reizend in ihrer weißen Spitenhaube, 
präfidirt ihrem Gemahl gegenüber und macht den Thee. 

„Was hältſt Du von dem Preußen, Mary?’ 
fragte Mrs. Dawfon, ‚er war der Löwe des Abende.“ 

„Sur einen Duthman war er ganz erträglich.“ 

„Einen Duthman? Er it ja ein Preuße.“ 

„Das fommt Alles auf Eins herans. Alles das 
lebt von Lagerbier und Sauerfraut.“ 

„Er iſt durchaus ein Gentleman,‘ warf Herr 
Dawſon bin, ohne von feiner Lection aufzujehn, 
„und von erftaunenswürdiger Gelehrjamfeit, ſagte 
Dr. Ellis, für einen jo jungen Menjchen.‘ 

„Ja, das weiß der Himmel! mit feiner Gelehr- 
jamfeit hat er mich fajt umgebracht.‘ 

„Die Damen haben jih um ihn gerifjen,‘ fuhr 
Mrs. Dawjon fort. 

„Beſonders Miß Bravdbury. Die Beiden paf- 
jen zufammen. Julia ift jehr literariſch,“ ſpottete 
ihre Tochter. 


95 


„Du kannſt e8 Julia nicht vergejjen, daß jie 
ven Preußen gegen Deinen Count aufgejtellt hat.‘ 

„Gegen ven Count?‘ rümpfte Miß Damfon die 
Naje, „ver gegen ven Count, Satyr gegen Hyperion!” 

„Sie bleiben hinter der Zeit zurüd, Miß Daw— 
ſon,“ jagte ihr Vater und legte fein Journal bei 
Seite. „Miß Bradbury’s Pferd hat bei dem erjten 
Kennen gewonnen. Der Count fommt aus der Mode.“ 

„Das Ichönfte iſt,“ jagte Mrs. Dawſon, „daß 
Semwerage auf den Preußen eiferfichtig iſt.“ 

„Unſinn!“ erklärte ihr Mann. 

„Nicht unmöglich,‘ ſagte Mary. „Julia hat 
ihren eigenen Gejhmad immer gehabt.‘ 

„Ich ſtehe nicht für die Folgen,‘ entgegnete 
Ders. Damwjon ihrem Manne. „Miß Bradbury iſt 
immer ein eigenthümliches Kind gemwejen und jest, 
wo jie mündig geworden ijt, ohne DBater und 
Mutter.“ 

„Sie hat in dem Preußen ihr Ideal gefunden, 
das iſt gewiß!“ fiel Miß Dawſon höhniſch ein. 

„Allerdings,“ kam Herr Dawſon auf ſeine ſte— 
reotype Redensart zurück, womit er ſeit zwanzig 
Jahren die Ankunft jedes Europäers in feinen Kreis 
begrüßt hatte, ‚allerdings kann ſich unfer Baterland 
zu der Acquifition eines jo intelligenten Fremden nur 
Glück wünſchen; aber daß Miß Bradbury fih an 
einen Bettler wegwerfen ſollte.“ — 

„Sie hätten ſie hören ſollen, wie ſie von ihm 
ſprach. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn 
ſie ihn heirathete.“ 


96 


„Sie wird ihn eben fo ſehr heirathen,‘ Tpöttelte 
Herr Damwfon, als Mary den Count.‘ 

Diesmal wurde Mary ernſtlich verlegen und 
fing an den Courrier des Etats Unis zu leſen. 

„Das ift etwas ganz Anderes, warf Mrs. 
Dawſon ein. 

„Barum? Eines wäre grade fo verrüdt wie 
das Andere. Jedenfalls wäre mir der Preuße als 
Schwiegerfohn. noch lieber. Aber die Idee, einen 
von diejen fremden Bettlern —“ — 

„Ich habe ihn auf ven erjten Bli recht beur- 
theilt,“ rief Mary plöglich, in einer ganz unerflär- 
lihen Aufregung mit leuchtenden Augen und fieber- 
haften Wangen, den Courrier ihrem Water hinüber- 
reichend, „Da ftehts! Verhandlungen vor dem Polizei- 
gericht.‘ 

Es war ein Bericht über die am vorhergehenden 
Mittwoch vor dem Polizeigericht verhandelte Prügelet, 
zwilchen Jod O'Dhogerty und der Familie O'Shea, 
worin die eingemiethete Fremde als Veranlaſſung er- 
wähnt wurde. Eine nachträglihe Bemerfung des 
Berichterjtatters  infinuirte, daß dieſe Perfon von 
einem Preußen unterhalten werde, ein Abenteuerer, 
der jih durch falſche Empfehlungsbriefe und ein- 
Ihmeichelndes Benehmen Zutritt in den beiten Fa— 
milien verjchaffe. Vornehme junge Mädchen wurden 
gewarnt. 

„Iſt e8 möglich!” rief Mrs. Damfon ganz er- 
Ihredt: „Man fann doch nicht zu jehr auf feiner 
Hut fein, Wen man in fein Haus aufnimmt.‘ 


9 


„Cs muß ein anderer Preuße fein,“ jagte Herr 
Dawſon ruhig. „Dieſer ift mir von zu guter Duelle 
empfohlen und ein alter Freund Herrn Wilhelmig.‘ 

„Es kann fein Andrer fein,‘ vief Miß Dawſon 
weinerlich. 

„Ich werde Erfundigungen einziehen.‘ Mit 
diefen Worten ſtand Herr Dawſon vom Tiſche auf; 
in demfelben Augenblid Tam Auguftus in’s Zimmer 
geſchlurrt. Er ſchlug die Augen vor jeinem Vater 
nieder, der ihn beim Hinausgehn forfchend anjah, 
hatte aber, als er fich fegte, jeine erhabene Tandy— 
Miene Ichon wieder aufgejegt. Nur ſah er bleich 
und hohläugig drein. 

Die Damen fielen mit der Neuigkeit über ihn 
her. Er überlief den Paragraphen im Courrier. 

„Sollte mich nicht wundaan,“ meinte der Swell, 
„geſtan Abend mit ihm zuſammen. Betwug ſich wie 
ein Uaudy. Inſultiat Count. Count vollkommna Gentle— 
man.“ 

Der erſte Eindruck, den Auguſtus von jener 
Scene empfangen, war allerdings nicht ganz ſo günſtig 
für den Count geweſen. Aber er hatte nach ver 
Entfernung der Freunde noch jechstaufend Dollars 
an die Bank verfpielt und der Count war fein Bürge 
dafür. Das Geld mußte diefen Morgen beſchafft 
werden. Darüber vergaß er ganz und gar, ven Preu— 
Ben Über die Bedeutung des Namens Grenier zu 
fragen, wie er ſich zuerft vorgenommen. 

Als Auguftus nach dem Frühjtüd zu feiner 
Schweſter in’s Barlor hinauf fam, ſuchte er fie an« 

L. 7 


98 


zuborgen. Dies war in legter Zeit fo oft gefchehen, 
daß Mary vie Geduld, wie die Mittel darüber ver- 
Ioren hatte. Diesmal aber ließ fie ihn nicht los, bis 
er ihr gejtand, daß es fih um eine Spielſchuld han- 
delte. Sie hatte ihn nämlich mit dem Preußen und 
Wilhelmi fortgehn fehen und fühlte ein brennendes 
Verlangen, in diefen Gegenftand einzudringen. 
Auguftus fonnte fich nicht Schöner entſchuldigen, als 
damit, daß der Preuße, an deſſen Ruf jest einmal 
nichts mehr zu verderben war, ver allgemeine Ver— 
führer geweſen und fie Alle an einen Drt geführt, 
vefpective den unjchuldigen Grafen durch Auguftus 
hinbejteit hatte, vejjen wahren Character ihre uns 
erfahrenen Seelen vorher nicht geahnt. Der Graf 
hätte fich aber jo edel bewiefen, für Auguſtus zu bür- 
gen. Miß Dawſon, die überhaupt noch nie in ihrem 
Leben jo außer Faſſung gewefen war, vergaß zu fra- 
gen, wie e8 denn fomme, daß der Comte in einer 
Spielhalle ſolch' ausgezeichneten Credit genieße. 
Welch ein Wiverftreit der Gefühle, der in dein 
zarten Herzen des eben erſt dem Kindesalter ent- 
wachlenen Mädchens ſolche Erichütterungen hervor: 
rief! Die fafhionable Verehrung alles Franzöfiichen, 
der gejellichaftliche Ehrgeiz, die leichtiinnigen Necke— 
reien von Eltern und Bekannten hatten fie mit dem 
Somte in ein Verhältniß hineingefpielt, um welches 
der magiſche Taumel der Jugend feinen trügerifchen 
Schimmer warf. Der. unendlichen Unbeventenpheit 
und Affectation der New-Yorker vornehmen Jugend 
gegenüber fonnte der Franzoſe den Reiz des Fremden, 


99 


Halbverftandenen, des Imponirenden eines frech vic- 
tatorifchen Geiſtes für fich geltend machen. Unter— 
nehmend wie er war, warf er fih ihr zu Füßen mit 
einem Schwall von romanhaften Nedensarten, vie in 
der Ueberfegung grotesf geflungen hätten, aber auf 
Franzöſiſch und in der fremden Sprache unvollfommen 
gefaßt, in's Poetifche verfchwammen. Dennoch erlaubte 
ihm Etwas in ihrem Wefen feine Wiederholung fol- 
cher pathetifchen Scenen. Die Amerifanerinnen kom— 
men fertiger auf die Welt, als andere Menjchenfinver, 
und find fich früher ſelbſtbewußt. 

Sie unterfagte ihm dieſen Zon, binzufügend: 
„Finde ich Sie wahr, fo bin ich die Ihre und werde 
e8 Ihnen jagen.” 

Die ſelbſttäuſchende Abjicht des Herzens war 
freilih, ihn unter jeder Bedingung wahr zu finden. 
Nichts dejto weniger wurde ihr der Comte ſchon mit 
jedem Tage zweifelhafter, als jest plöglih ein Dann 
ihren Pfad freuzte, ver in feiner ganzen Erjcheinung 
den Stempel natürlichen Adels und feltner Bildung 
trug. Seine bloße Gegenwart ftreifte von dem Fran: 
zofen allen Blüthenjtaub der Illuſion ab. Doch die 
erſte Bewegung von Mary's geängſtigtem Gewiſſen 
war, auf Leben und Tod für ihre Illuſion zu kämpfen 
und den, deſſen bloßer Blick wie vergiftender Mehlthau 
darauf fiel, als kalten Teufel zu haſſen. Sie klam— 
merte ſich mit ſtürmiſcher Heftigkeit an den Gegen— 
ſtand einer kindiſchen, ſchon faſt erblaßten Phantaſie, 
eben weil ſie ihn rettungslos verloren fühlte. Es 

7 


100 


war ein gefährlicher Augenblid, venn Mary Dam- 
ſon's war ein heroiſches Herz. 

Die Enthülluugen des Bruders gaben dem Ge- 
fühl noch die Intenſität der Scham. Sich ihren 
Bruder in der Schuld des Mannes zu denken, mit 
dem fie in einem jo zart ſchwebenden PVerhältniffe 
jtand, trieb ihr das Blut in die Wangen. Das Geld 
mußte bejchafft werden, aber woher? Es mußte 
noch diefen Vormittag befchafft werden. Der Kopf 
brannte ihr. 

AM dieſes Brennen warf ch nob auf die 
mwunde Stelle, und ein Zujfammenfluß von Auf- 
regungen, von denen feine einzige die Perſon des 
Comte zum pofitiven Gegenjtanvde hatte, bradte für 
ven Augenblid die Wirkung ver aufrichtigiten und 
gewaltigjten Leidenſchaft hervor. 

‚Alles,‘ jagte Mary, ihre disponiblen Juwelen 
zählend, „macht noch nicht fünfzehnhundert Dollars.“ 
Sie rang die Hände. 

Es klingelte. „Der Count,‘ meldete der Neger 
und grinjte, wie immer, wenn er den Count an— 
meldete. | 

Srenier warf bei feinem Eintritt einen fcheuen 
Blick auf Miß Dawſon und ihren Bruder, die Beide 
mit nievdergefchlagenen Augen daſtanden. Er lebte 
jeit der Begegnung mit feiner Frau am Broadway 
auf dem qui vive; noch mehr aber feit der Begeg- 
nung mit Antonio in venfelben Cirkeln, und feit dejjen 
Andeutungen. Es handelte ſich um einen großen 
Coup vor Thoresfhluß. Aus dem Empfange ver 


101 


Geſchwiſter Fonnte er noch nichts herauslejen, aber 
verdächtig waren ihm die nievdergejchlagenen Augen. 

„Eh bien! Was gibts?’ rief er frech. „Iſt 
diefer Infame, diefer Preuße —“ 

„Ich weiß Alles!” ſagte Miß Damfon matt. 

Der Count erbleichte; ein Blick auf die junge 
Dame  beruhigte ihn einigermaßen. Sie ſah eher 
jelbftfchuldig, als anflagend aus. 

„Was willen Sie?’ fragte er mit vielgeübter 
Geiftesgegenwart. 

„Hab gebeichtet, Count. Vaflucht haat dwan 
Diesmal. Hab’ 'ne Idee, doppelte Buchhaltung zu pa— 
tuonifian und im Allgemeinen in die Cituonen zu gehn.‘ 

„Somte, Sie haben jehstaufend Dollars für 
meinen Bruder zugefagt — und“ 

„Sprechen wir davon nicht,‘ fagte der Comte 
unendlich erleichtert. „Ich habe foeben einen Wechjel 
aus Paris erhalten. Ich kann die Summe für Gie 
decken.“ | 

„Guta Kal, Count,’ drückte fih Auguftus bilfi- 
gend aus. 

Miß Dawſon, die noch nie in ihrem Neben ge— 
wußt hatte, was Geldverlegenheit fei, die in der letten 
halben Stunde für ihren Bruder durch alle Höllen- 
Ihreden eines bevorjtehenden Ehrenbanferotts gegangen 
war, trat zum Comte, nahm jeine beiden Hände in 
die ihrigen und redete ihn zum Erſtenmale, feit fie 
fich Fannten, bei feinem angenommenen Vornamen an; 
„Gaſton“ rief fie danfglühend und ſelbſt hocherhoben 
in der Freude, ihn fo erhaben zu finden, „Gaſton, 


102 


Freund, Netter, die Stunde ift da; ich bin Dein, 
theuerer Gaſton!“ 

„Mademoöoiſelle,“ erwiderte Gaſton, indem er ihre 
Hände mit zärtlicher Ehrfurcht und vieler Grazie an 
die Lippen führte, „nur durch ein ganzes Leben der 
Liebe, der Treue, der Hingebung, werde ich ausdrücken 
können, was mein Herz in dieſem Augenblicke em— 
pfindet.“ Dann plötzlich ihre Hände loslaſſend und 
und zwei Schritt zurücktretend, als überkäme ihn ein 
ſchmerzlicher Gedanke: „welch' trauriges Geſchick! 
Quel triste sort!‘ 

„Twiste? Wie fo twiste?” fragte Auguftus, 
ver fo viel franzöfifch verjtand und Grund zu haben 
glaubte, ven Count in dem Augenblide für den glüd- 
lichſten Kerl in der Chriſtenheit zu halten. 

Mary Jah ihn fragend an. 

„Die Nachrichten, die ich eben — habe, 
fordern meine unmittelbare Abreiſe nach Frankreich.“ 

Die junge Dame ſchloß bei dieſer Ankündigung 
die Augen, wie das Opfer, welches den Todesſtreich 
eriwartet und ftredte flehend die Hände nach ihm aus. 
Sie hatte ihn foeben zu ihrem Schickſal eingejett 
und war in der Stimmung unbedingter Unterwürfig- 
keit, welche an ftarfen felbititändigen Characteren jo 
vührend, weil fo felbjtverleugnend iſt. „Alſo trennen!‘ 
murmelte jie. 

Ein triumphirender Blick ſprang aus den Augen 
des geübten Spielers. Raſch umfchlang er fie und 
rief: „Mary, Du haft frei entſchieden, Du bift mein. 
Wir trennen uns nicht mehr.“ 


103 


Mary fühlte fih in ihrem Worte gefangen, ge- 
bunden. Der Graf wich feinen Finger breit von 
dem Rechte ihres Paftes. 

Er jah ſie mit eimem langen durchdringenden 
Blide an. Dann fagte er melandholiih: „Du hait 
mich wahr befunden, Mary, laß mich Dich auch wahr 
finden.“ | 

Mary fühlte den Vorwurf. 

„Was verlangen Sie von mir?‘ fragte fie deter- 
minivt. „Was fol ih thun?“ 

„Ich verlange, daß Du den Bund mit mir un 
widerruflich beſiegelſt, ehe ich gehe.“ 

Mary trat einen Schritt zurüd und fehüttelte 
wildtrogig den Kopf. 

Der Franzofe, ohne auf diefe Bewegung Rück— 
fiht zu nehmen, fuhr fort, mit fließender Beredfam- 
feit in fie zu drängen. 

Mary war in den religiöjen, moralifchen unv 
gefellichaftlihen Satzungen ihres Kreifes erzogen, der 
troß jeiner Frivolität nicht weniger beharrlich an diefen 
Satungen hält. Ihrem jungen Herzen waren fie 
noch eine Wahrheit. Aber die Romantik ihrer fran— 
zöfifchen Xectüre war ihr faum weniger eine Wahr- 
heit, nachdem fie einmal angefangen hatte, viefelbe in 
die Praxis zu überfeßen. Wie ver Comte die Sade 
hinftellte, fchien diefelbe wirklich jedes verbrecherifchen 
Zuges, ja, in ihrer unverbürglichen Heimlichfeit fat 
jeder gejellichaftlichen Ungehörigfeit entfleivet! ine 
öffentlihe Trauung, jo aus dem Stegreif aufgeführt, 
wäre vielmehr eine gejellfchaftliche Ungehörigfeit ge- 


104 


wefen, wofür, bejonders nach den fo eben erit ge- 
äußerten Gefinnungen des Vaters, an die Einwilli- 
gung dev Eltern abfolut nicht zu denken war. Dazu 
war e8 dem Comte Gewiſſensſache, wie er behauptete, 
fich fatholifch trauen zu laffen. Dazu hätte Mre. 
Dawfon, ohne die Zuftimmung ihres presbhyhteriani— 
Ihen Beichtvaters, des Dr. Ellis, niemals ihre Ein- 
willigung gegeben. Welche endloſen Schwierigfeiten 
jtellten fih da nicht in Ausjicht! Dagegen war e8 
in Frankreich Sitte, bei gemifchten Ehen ſich ſowohl 
nach katholiſchem als protejtantiihem Ritus trauen 
zu laffen. Dadurch wird allen Gewiljensferupeln ge- 
nügt. Auch hierin unterwarf fich zuletzt das auf- 
rührerifche Gefühl der jungen Dame aus zwei, bei 
jedem Amerifaner ſtets ſtark in’s Gewicht fallenden 
Gründen; erjtens, weil es eine von ver guten Ge— 
ſellſchaft in Franfreich geheiligte Gewohnheit und 
zweitens, weil es ein Compromiß war. Die Haupt- 
jadhe aber war, fie hatte einmal ihr Wort gegeben 
und war jett zu ftolz, es zurücdzunehmen Der Graf 
hatte ſoeben erjt ihrem Bruder eine Ehrenſchuld ge— 
Ihenft. Wie mußten Beide, Bruder und Schweiter, 
vor ihm daftehen, wenn er ihr auch noch die ihrige 
erlalien jollte. 

„Du haft mich wahr befunden, Mary, laß mich 
Dih auch wahr finden;" Das war der Refrain, mit 
dem ver umerbittlihe Gläubiger ein Bedenken nad 
dem andern nieverfchlug. Gegen diefe Mahnung, 
grade in diefem Augenblicke, war fie waffenlos, To 
große Luft ſie auch einige Male verjpürte, ich zu 


105 


empören. Es wurde zulett ausgemacht, vie erite, die 
heimliche Trauung nach katholiſchem Ritus folle heute 
Nachmittag bei einem Priefter, den der Comte feinen 
Seeljorger nannte, vor fich gehen; die zweite öffent- 
lihe, nad feiner Zurückunft aus Europa in ver 
presbpterianifchen Kirche mit allem Pomp einer Hoch— 
zeit in hish life in der Fünften Avenue. Der Graf 
jollte Miß Dawſon, wie gewöhnlich, um halb ein Uhr 
zur Nachmittagspromenade abholen und Auguftus jte 
begleiten. Auguſtus fühlte fich ungeheuer behaglich 
und ungeheuer wichtig bei diefem Arrangement; behag— 
lich, weil er die fürchterliche Hete wegen des aufzu- 
bringenden Geldes los wurde und heute Abend mit 
friihen Kräften fein Glück verjuchen konnte, das jekt 
offenbar in die rechte „Periode“ zu treten im Begriff 
war; — wichtig, weil ein jolches Abenteuer eigentlich 
zu einer fafhionablen Eriftenz gehörte. er nahm fidh 
im Stillen vor, nächjtens auch für feine eigene Perſon 
einen ſolchen Geniejtreich auszuführen, wobei nur Die 
Schwierigkeit war, daß ihm, dem jungen Erben, die 
Thüren überall weit offen jtanden und die gebratenen 
Zauben in's Maul gepflogen wären, wenn er nur 
Miene zum Heirathen gemacht hätte. Er quälte feine 
Phantafie vergebens um eine Verwicklung, eine In— 
trigue, nach Art ver vorliegenden zwiſchen dem Count 
und feiner Schweiter. Endlich Fam er zu dem Schluß, 
er müſſe entweder mit einer Courtifane oder einer 
verheiratheten Frau davonlaufen und fette ſich ven 
Hut auf, um fih auf dem Broadway fogleich nach 


106 


einem paſſenden Gegenftande für feine prämeditirte 
Leidenſchaft umzufehen. 

Der Comte nahm ebenfalls den Hut, um ven 
fatholifchen Priejter vorzubereiten und, wie er angab, 
die nöthigen Anjtalten zu feiner morgenden Abreife 
zu treffen. 

Er vrüdte eben feiner Verlobten die Hand zum 
Abſchied, als es an der Hausthir Flingelte. 

Miß Damfon fühlte, wie feine Hand eleftrifch 
getroffen zurücfuhr und ſah ihn befremvet an. Aber 
er. blieb äußerlich ruhig, obgleich er innerlich wie ein 
ſcheues Wild aufhorchte. Je näher er feinem Ziele 
jtand, dejto Ängftlicher glaubte er bei jedem Tone die 
dünne Eisdede fniftern zu hören, die über dem Abgrund 
feiner wahren Erijtenz fait ſchon weggejchmolzen war. 

Der Neger brachte Auguftus auf einem filbernen 
PBräfentirteller eine Viſitenkarte. 

Auguftus las fie und behändigte fie verlegen 
feinem Freunde. 

Diefer wurde bleih. Miß Dawſon bemerkte es, 
jchrieb aber dem Haſſe zu, was Höllenangjt war. 

„Unangenehme Eaſcheinung!“ ſagte Auguftus. 

„Sie werden doch dieſen Menſchen nicht an— 
nehmen,“ rief der Franzoſe aufgeregt. 

Dann, auf Engliſch zum Neger, als commandirte 
er ein Regiment zum Angriff: 

„Szak, Monſieur nix bei ihm!“ 

Pompey grinſte den Franzoſen an, wie ein Affe, 
der einen andern verhöhnt, und ſah dann auf ſeinen 
Herrn, deſſen Ordre erwartend. 


107 


„Engagiat, feine Zeit!“ 

Der Graf holte tief Athem. 

Nach einer Secunde fam der Neger wieder. 

„Mifter bünſchen die Ehre Mif Dawfon Auf- 
bartung machen, Ma'am.“ 

„Nix ſu aus! Nix fu 'aus!“ rief ver Franzofe heftig. 

Pompey grinjte wie vorher, ja er nahm fich die 
Sreiheit, das heftige Kopfnicken des Franzoſen nach- 
zuäffen. Es war nur ganz flüchtig, aber der Comte 
verjtand es recht gut und ſchäumte innerlich vor 
Wuth. Zu jeder andern Zeit hätte er den Neger 
geohrfeigt. 

„Ebenfalls engagirt,” ſagte Miß Dawfon mit 
jener impertinenten Sleichgültigfeit, welche vornehmen 
Damen jo unnachahmlich zu Gebote jteht. 

„Miſſuſen alle ihre Bacultäten abforbirt in un- 
ausschieblicher Gefchäft bon Transcendirendes Impor— 
tanz, muß ich bielleicht jagen, Ma'am?“ 

„Sag', was ih Dir gejagt habe,“ rief Miß 
Damfon ungeduldig; „ich bin engagirt!‘ 

„Engagirt? Soho!“ grinſte Bompey mit einem 
komiſchen Blid von der jungen Dame auf den Fran— 
zofen, jo daß alle drei betroffen jtanden. Hatte ver 
Neger bei dem Wortjpiel blos feinem unverbefjerlichen 
Hang zur Neckerei nachgegeben over hatte er gehorcht? 

Zum bdrittenmale fan er zurüd. 

„Miſſus Dawſon ebenballs engagirt, Ma'am?“ 
fragte er ironiſch. 

„Kann man denn den Menſchen nicht los werden?“ 
rief Miß Dawſon aufgebracht. „Sage: Mrs. Dawſon 


108 


fann die Ehre nicht haben, Herrn Wohlfahrt zu 
empfangen, verjtehit Du?‘ 

„Bär's nicht bielleicht angemefjener Procedur, 
Ma'am, ih Miffus felb bragen in Betreff ihre Aub- 
faffung von der Berhältniß, Ma’am?‘ fragte Bompey 
wichtig. 

Miß Damfon hatte jegt die Geduld verloren. 

„Ich laffe Dich fortfchiden, Schlingel!“ rief fie. 
Ehe noch der Comte daran venfen fonnte, fie im 
Zimmer zurücdzuhalten, jtand jie in der Halle, Antonio 
gegenüber. 

„Ihre Beharrlichfeit wäre einer bejjern Sache 
werth,“ ſagte fie falt, „aber wir find heute morgen 
num einmal nicht in der Lage, Sie zu empfangen.‘ 

„Dann ſchnödes, übermüthiges, hafjenswürdiges 
Kind! rief Antonio außer fih über die Schmach der 
Behandlung und faum willfend, was er fagte, oder 
wo er ftand, „dann follen Sie noch diefes jest fo 
hoffärtige Geficht vor Scham mit beiden Händen zu- 
deden, das nächſte Mal, daß Sie mir begegnen.‘ 

Miß Dawſon z0g die Lippen zu Falter Verach— 
tung auf; aber die innere Bewegung verrieth fich auf 
ver Wange, von der alle Farbe gewichen war. Der 
Neger, der wie alle Untergebenen und Schwachen, mit 
denen Antonio jemals in Berührung Fam, feit geftern 
eine Art ehrfurchtsvoller Zuneigung für venjelben 
empfand, war dennoch Canaille genug, dem von ber 
Thür Gewiefenen ein jerviles Kichern nachzufchiden, 
auf den Beifall feiner Herrin berechnet. Dieſe war 
Ihweigjam und zeritreut, wie fie in's Zimmer zurüd- 


109 


trat, von der omindfen Warnung des Preußen, wie 
vom böfen Gewifjen verfolgt, jo daß Alles, was nod) 
von den beiden jungen Leuten aus Renommage gegen 
den „veutichen Tölpel“ over zur weitern Verabredung 
porgebracht wurde, unbeachtet an ihrem Ohr verhallte. 

Antonio ging unterdeſſen wie Betrunfen die Fünfte 
Avenue hinunter. Er wurde abwechjelnd purpurroth 
und leichenblaß, gefticulirte heftig und ſprach mit jich® 
jelbft, fo laut, daß die Leute ihm auf ver Straße 
nachjahen, bejonders, da er eine Fluth von Schmäh- 
reden über amerikanische Backfiſche, amerifanifche Er- 
ziehung, amerifanifche Frechheit und alles Amerifanijche 
im Allgemeinen ausgoß, und zwar auf Engliieh, jo 
dag Mancher im DVorübergehen etwas davon auf- 
ſchnappte. 


Achtes Kapitel. 


Der Held wird aufgefordert, öffentliche Vorleſungen zu halten 
und thut einen Blick in die Mew-Horker Geſchäftswelt, wo 
Bert Dawfon ebenfalls einen zweiten December macht und 
rin merkwirdiges, auf einer „billigen Anficht von der Sache““ 
baſirtes Compromiß vorſchlügt. 
„— Populus me sibilat, ac mihi plaudo 
Ipse domi, simulae nummos contemplor in area.‘ 


Horat. Sat, 
Unſer Freund ging blind immer grad’ aus, big 


er jih vor Wafhington Square wieverfand. Dort 
fehrte ihm die Unterjcheivung der Außenwelt zurüd 


110 


und er war im Stande, feinen Weg nach Brevoort- 
houſe zurüdzufinden. Das Erfte, was er gefcheuter- 
weife that, war, ein Sturzbad zu nehmen. Noch 
während des Anziehens Tieß fich ver Reverend 
Dr. Ellis anmelden. Bald darauf fam ein Herr 
Haffner hinzu, der ein nicht eben bedeutendes Eifen- 
waarengejchäft betrieb und Antonio mit feinen zehn- 
tauſend Dollars und dem Rufe feines Baters in 
Deutjchland gern zum Partner gehabt hätte. Nichts 
wirkt beruhigender auf das geftörte Gleichgewicht des 
Geiltes, als das Geſpräch mit Perfonen, melde 
außerhalb des Kreifes der Aufregung oder der Ver— 
trautheit jtehen. Als ver Gerufene feine Bejucher 
empfing, war jede Spur ver eben überjtanvdenen Er- 
jhütterung verfchwunden. Er trat mit jeinem ge— 
wöhnlichen freien Anftande in ven Saal, und mußte 
jogar den hochmüthigen Geijtlichen mit dem chnifchen 
Deutſchen, vie fih fomit beide injtinftmäßig mit 
Bliden angefnurrt hatten, durch feine leichte Form 
in’s Einvernehmen zu jegen. Herr Doktor Ellis hatte 
ſchon an diefem Morgen eine Rundreiſe bei einer 
Anzahl von angefehenen Männern gemacht, die alle 
Billet8 zu Antonio’8 Vorlefungen nehmen würden. 
Darunter fah unfer Freund, nicht ohne ein wundes 
Gefühl, ven Namen Dawjons mit vier Billets; alfo 
für die ganze Familie. Die Subjeriptionslijte war 
in Form einer Einladung an den dijtinguirten Gent— 
leman abgefaßt, „deſſen Ruf als Gelehrter und Kunft- 
fenner durch die größten literarifchen Namen in Eng— 
fand und auf dem Kontinente beglaubigt, auch in 


111 


Amerifa zu wohl befannt fei, um in den Unterzeich— 
neten nicht den lebhaften Wunfch zu erregen, dem 
Publikum dieſer Stadt den Bortheil einer Reihe 
öffentlicher Vorträge, über vie Kunjtgefhichte von 
einem in jeder Beziehung jo ganz befonders zu einem 
jolchen Unternehmen ausgerüjteten Geijte zu verfchaffen.“ 

Im gefühlten Widerfpruche mit viefem angeb- 
lichen Intereſſe der Subſcribenten an einem Gegen- 
itand „veilen Wichtigkeit nicht zu hoch angejchlagen 
werden könne,“ machte der Reverend Doctor auf 
Antonios Vorſchlag wegen zwölf VBorlejungen benierf- 
lich, daß fein Menih in New-York ſich zum Hören 
von zwölf Vorlefungen verbindlich machen würde. 
Jedermann würde vor der Idee zurückſchrecken und 
lieber drei Dollars für ſechs Vorlefungen geben, als 
zwei für zwölf. Antonio war zufrieden und zeigte 
jich bereit, auf ven Plan einzugehen. Am Hinter- 
grunde jeines Herzens ſtand der Gedanke, fich durch 
einen literariihen Triumph an der jchnöden Behanpd- 
lung, die ihm fo eben von Miß Dawſon geworden 
war, zu räden. Die Aufjchneiverei wegen feines, 
europäiſchen Rufes als Gelehrter verlegte ihn aller- 
dings; allein die Sache ließ fich auf feine Weije mehr 
ändern. Es liegt nun einmal in der Demofratie, 
daß das Volk nur von fchreienden Farben angezogen 
wird. Wer die Deffentlichfeit daher braucht, dem 
ſchreit ſie zunächft und vor allen Dingen feinen Auf 
an. Dem wirklichen Werthe bleibt dabei nichts übrig, 
als ih nah Kräften feines heroifchen Coſtümes 


112 


würdig zu machen, feine Noten am Berfalltage einzu— 
löſen und feinen Credit zu bewähren. 

Der Geiftliche forderte Herrn Haffner auf, doc 
auch die deutſchen Kaufleute zur Theilnahme zu .be- 
wegen. Diejer aber verjicherte, man würde die Sub- 
jeriptionsfammlung für eine Bettelei anfehen und Herr 
Wohlfahrt dadurch in den Augen feiner Landsleute 
verlieren. 

„Das ijt in der That merkwürdig," fagte ver 
Amerikaner, nicht ohne einige Verachtung. „Bei ung 
giebt es feine ehrenvollere Stellung und wir fehen es 
für eine Ehre an, vergleichen Unternehmungen in’s 
Werk zu ſetzen.“ 

„Das it alles amerifanifcher Humbug,“ ſagte 
der Deutfche roh. „Wir amüfiven uns lieber und 
Yaffen Gott einen guten Mann fein.” 

Der Amerifaner jah den Mann groß an und 
jagte nichts. Dann drehte er den Kopf gegen An— 
tonio und nahın überhaupt von dem Andern nur noch 
ſoviel Notiz, als unvermeidlich war, um nicht unhöf— 
ih zu fein. Antonio juchte zu erklären und jeine 
Landsleute zu entjchuldigen. 

„Ber uns,” ſagte er, „find alle Erziehungsan- 
jtalten, wie überhaupt alle gemeinnüßigen Unternehs 
mungen, in den Händen der Negierung, dadurch ift 
für das Bedürfniß im weiteften Maße nach einem 
durchgehenden Shiteme gejorgt. Daher fühlen: fich 
unfere Landsleute hier nach heimathlicher Gewohnheit 
nicht eben berufen, felbft Hand anzulegen; und wenn 
fie jubffribiven jollen, fo fragen fie immer nur: „iſt's 


113 


eine Ueberſchwemmung oder eine Bettelei." Bei Ihnen 
Dagegen, wo der Staat nur das Allernothwendigjte 
thut, ruht die Hauptlaft ver öffentlichen Bildung und 
des Hffentlihen Wohlergehen auf den Schultern von 
Privatleuten und der Anregung der Geiftlichfeit, deren 
Amt es ift, in dem materiellen Gefchäftstreiben das 
iveale Bedürfniß wach zu erhalten.“ 

„Das verſöhnt mich einigermaßen mit Ihren 
Zandsleuten bier,“ fagte der Doktor der Theologie. 
„Ss iſt mir ſonſt immer vorgefommen, als lebten jie 
nur für den eigenen Xeib und ohne eine Ahnung, daß 
fie vem Gemeinweſen Verpflichtungen ſchulden könnten.“ 

„Das iſt derjelbe faifhe Schein, wonach mir 
Duthmen hier und in der ganzen Welt für dumm 
gelten müſſen. Die Deutſchen haben einen Fonds 
von geijtiger und fittlicher Energie, der blos hier noch 
nicht geregelt it und gleichfam brach liegt, aber fich 
allmälig over plöglich, bet irgend welcher Veran— 
laſſung, großartig vindieiren wird.“ 

Der junge Maler mit dem andern Geiftlichen 
von gejtern Abend ließen fich anmelden. Dieje beiden 
Herren waren aller möglichen Seßereien geſtändig. 
Sie waren Keber non Natur und unbedingte Jünger 
des unbedingten Fortfchrittes in unbedingt allen Dingen. 
Der Dialer, Herr Marjton, war ein aufgehender Stern 
am amerifanifchen Kunfthimmel und alle Journale fo 
eben voll von ihm, als dem Schöpfer ver original- 
amerifanijchen Kunſt im Gegenjaß zu der europäifchen. 
Er malte nämlich nach der Theorie, man müſſe, um 
den wahren Naturton des Fleifches zu treffen, zuerft 

2 8 


114 


das Skelett, darüber denn die Nerven, Adern und 
Muskeln in ihrer natürlichen Farbe und envlich die 
Haut zulegt oben drauf malen. So verfahre vie 


Natur. — Unfere gegenwärtige Malerei fei Conve- 
nienzmalevei. — Er hatte verfchiedene Gemälde nad 


dieſem fojtbaren Recepte ausgeführt, welches ihın 
offenbar von dem patriotiichen Ehrgeiz eingegeben 
war, dem englifchen Ruskin und den PBräraphaeliten 
zu zeigen, daß England gegen Amerifa nun einmal 
nicht auffommen Fünne und die Yankee in allen Dingen 
an der Spite der Zeit marjchirten. — Da die jchred- 
lichen Folgen dieſer original-amerifanifchen Ber- 
fahrungsmeije erjt mit ver Zeit zum Vorfchein famen, 
jo erfreute fich der amerifanifche Batriotismus in 
diefem Augenblide des Anbruchs einer neuen Welt: 
üra, herbeigeführt durch das Erwachen des ameri- 
fanifhen Kunſtgenius. — Die Journale verfünden 
die frohe Botſchaft den Nationen. in original: 
amerifanifches Dratorium hatte jo eben gleichzeitig 
diefelbe That in der Mufif vollbracht; die Ausjchließ- 
lichkeiten des franzöfifchen, italienifchen und deutſchen 
Styls und ihre nationalen Eiferfüchteleien ſeien jetzt 
von einem amerifaniichen Componijten — wir ver- 
gagen den Namen — überwunden umd ver wahre 
fosmopolitiiche Styl in die Muſik eingeführt, welche 
alle Vorzüge jener bejchränften Nationalitäten in fich 
vereinige und von ihnen allen verjtanden werden könne. — 
Sp unverdaulich fnabenhaft aber auch der junge Mar— 
ton als Künſtler und Theoretiker war, jo liebens- 
würdig war er im Umgange. — Dafjelbe ließ ſich 


115 


von dem Reverend Loveſop fagen. Diefer war Uni: 
verjaliit, d. h. er glaubte, daß die univerfelle Menjch- 
heit nach dem Tode in den Himmel käme und machte 
überhaupt, gleich feinem jungen Freunde in Kunft und 
Ihöner Menjchlichkeit. Der Proceß ift überhaupt dieſer: 
die deutſche Bhilofophie und Wiffenfchaft arbeiten fich 
durch irgend ein tiefes Geheimniß der Natur oder 
des Geiftes durch. Dieſe eine Seite wird dann von 
philofophifchen Dilettanten als Erlöfungsbotichaft des 
Geiſtes zunächſt in Deutjchland popularifirt, in Frank— 
reich dagegen zu focialen und politiichen Shitemen 
verwandt. Nach zehn Jahren dringt der Ruf davon 
nah England, wo er in wenige, allgemein verſtänd— 
lihe und praftiiche Sätze gefaßt zu einem zehnjährigen 
Kampfe gegen die alte Orthodorie in allen ihren Ge— 
jtalten religiös, fittlih, politifch, ſocial, ſchöngeiſtig, 
fünftlerifch führt. Endlich fommt ver legte Abklatſch 
zur geijtreichen Bhrafe oder zur Nachahmung geiit- 
reicher Phraſe verflüchtigt, nach Amerika, wo er, jich 
jelbjt Zwed, zur geiftreichen Phrajenmacherei dient. 
Ein ſolcher geijtreicher Phraſenmacher vor dem Publi— 
fum, Prediger, Lectürer und Mitarbeiter an der Uni- 
verse monthly, war der Reverend John Xovefop, 
troß feiner langen weißen Haare und feiner fünfund- 
jehzig Jahre, ein friichäugiger, rothbäckiger Junge 
in den Flegeljahren. Denn, wenn die Amerikaner den 
Nachtheil haben, niemals Kinder zu jein, jo haben ſie 
dagegen den Vortheil, niemals reife zu werden. 
Die Gefichter ver Kinder fehen bei ihnen aus, ale 
wären jie alt gefauft umd die Gefichter ver Alten, als 
8* 


116 


wären fie neu renovirt. Aber was auch immer die 
religiöjen und anderweitigen Antipathien zwijchen dem 
Drthodoren und den beiden Humanitariern jein mochten, 
in ihrer Dienftfertigfeit gegen den Fremden und dem 
- Verlangen, deſſen Talente ihrem Vaterland und dem 
menjchlichen Fortfchritte nutzbar zu machen, waren fie 
gleich aufrichtig, gleich hingebend und gleich frei von 
fanatifcher Ausschlieflichfeit. — Sie befprachen ven 
Plan miteinander und gaben fich gegenfeitig Rath, als 
gehörten ihnen ihre Gemeinden zu diefem Zweck ge- 
meinjchaftlih an. — Leider fonnte Antonio ſich dieſen 
Morgen nicht in den zwanzig bis dreißig Comptoirs 
und Häufern, bei Berühmten und Unberühmten, 
Reichen und Armen, Herren und Damen vorjtellen 
laſſen, wo beide Parteien ihn hinnehmen wollten. Er 
brannte vor Ungeduld feine Schußbefohlenen in Marion- 
Street zu fprechen, die er feit jenem erjten Tage nicht 
wieder hatte fehen fünnen; er mußte mit Haffner in 
dejfen Magazin gehen; er mußte Wilhelmt wegen 
feiner endlichen Gefchäftsetablirung um Rath fragen. 
Er fand, daß man in diefem Lande, jedenfalls in 
diefer Stadt, an jedem Morgen um 10 Uhr dreimal 
mehr Gejchäfte auf dem Zapis hat, als jich in ven 
Geſchäftsſtunden, bis zum Nachmittag um drei oder 
vier Uhr, abjpinnen laffen. Und diesmal war es jchon 
halb zwei. — Zunächſt alſo fuhr er mit Haffner 
hinunter. 

Darüber war es vrei Uhr, ehe er bei Wilhelmi 
eintrat. Drei Uhr und er hatte Annie noch immer 
nicht gefehen, und Wilhelm war nicht auf feinem 


117 


Comptoir, ſollte in einer Biertelftunde wieder da jein, 
fam aber erft gegen Vier. Antonio erzählte nicht, 
wie es ihm heute Morgen ergangen ſei. Die Er- 
innerung daran war zu empörend. Er hatte jogar 
die Nachticene darüber vergeſſen. Es Fam auch gar 
nicht zur Mittheilung. „Was Sie für ein PhHfiog- 
nomijt find!” rief ihm Wilhelmi entgegen. ‚Schöne 
Neuigkeiten!“ 

„Wie ſo?“ 

„Erinnern Sie ſich noch, was Sie mir geſtern 
Abend vom alten Dawſon ſagten?“ 

„Nein, was?“ 

Sie ſagten: „wenn er Sie nicht betrügt, ſo iſt's 
ein Zufall!“ 

„Hoffentlich hab' ich mich geirrt,“ ſagte Antonio, 
den Dawſons freundſchaftliche Subſcription gerade im 
Gegenſatz zu der Feindſeligkeit ſeiner Tochter günſtig 
geſtimmt hatte. 

„Geirrt? Ich wünſchte, es wäre ſo.“ 

„Was iſt's alſo?“ 

„Dawſon iſt nicht bankerott.“ 

„Was Sie ſagen?“ 

„Heute iſt der 5. April. Am 4. waren alle 
Noten fällig. Ich bin überall herumgeweſen. Daw— 
ſons Noten waren nicht auf dem Markte; ſie waren 
bei keinem Importer und auf keiner Bank zum Ein— 
kaſſieren; kurz, ſie waren nirgends zu finden.“ 

„Jun?“ 

„un, das heikt, er hat fie alle ſelbſt aufgekauft.‘ 

„Ich verftehe noch nicht.“ 


118 


„Bah, die Sache ift Doch jo einfach. Ich habe 
ihm vor 8 Monaten zufammen für 90,000 Dollars 
Waaren geliefert. Dafür hat er mir feine Noten zu 
dem Betrage gegeben, die morgen fällig find. Vier— 
zehn Tage vor dem Berfalltage verbreitete ſich das 
Gerücht, Damfon fei zahlungsunfähig. Damfon felbft 
beftätigt es mir — Sie waren ja dabei. Ach bin 
alfo froh, die Noten an einen Gelomäfler zu ver- 
faufen, der mir die Hälfte des Belaufs dafür bietet. — 
Diefer Mäfler aber war blos Dawſons heimlicher 
Agent. Es war der Schuldner felbjit, ver mir feine 
Schuld für den halben Preis ihres Belaufs abkauft. 
So hat er es mit allen Andern gemacht: die Hälfte 
bezahlt und jett jteht er frei.“ 

„Das nenne ich eine Mich Wie viel hat 
er wohl dabet gemacht?“ 

„Nach meiner Berehnung etwa 250, 000 Dollars. 
Er hatte etwa für eine halbe Million Noten aus— 
ſtehen.“ 

„Und Sie können ihn nicht gerichtlich packen?“ 

„J Gott bewahre. Wir haben ja fein Papier 
auf vem Marfte verfauft nach dem Marftpreife, wie 
jede andere Waare und er hat fein Papier auf dem 
Markt gefauft nah dem Marftpreife, wie jede andere 
Waare. Daß wir jo dumm waren, es nicht zu halten, 
es für ven halben Preis zu verkaufen, das iſt ja 
nicht feine Schuld. Wir haben es einmal fortgegeben. 
Das Refultat ift, daß wir ihm zufammen eine halbe 
Million Werth an importirten Waaren gutwillig für 
250,000 Dollars abgelaffen haben. — Untervefjen hat 


119 


er die Waaren nicht nur für eine halbe Million ver- 
fauft, jondern noch feinen gewaltigen Profit dabei 
gemacht.‘ 

„Cs ift groß, jo macht man in 14 Tagen eine 
Fortuna!” 

„So jpielt man in Venedig.“ 

„Da wird fih Semwerage ärgern, ver ih auf 
Das Haus gefpitt hatte.“ 

„Sewerage? Spiegelfechterei der Hölle! Sewe- 
vage hat mit ihm unter einer Dede gefpielt!‘‘ 

„Das muß ich jagen. Und Damwfons geftriges 
Anerbieten von Pferd und Wagen an Sie?‘ 

„Alles Masfe.‘ 

„Das nenne ich einen Pfiffiftus, und Sie glau- 
ben, er war wirflich in gar feiner Verlegenheit ?’ 

„Richt im Geringiten. Pure, reine Spefulation 
und noch das Vergnügen dabei, ung dummen Dutchmen 
zu zeigen, was ein Yankee iſt —“ 

In dem Augenblid trat Herr Dawſon jelbjt mit 
jeiner gewöhnlichen, ſalbungsvollen Feierlichkeit in’s 
Comptoir, als wäre gar nichts vorgefallen. 

Wilhelmi jah ihn mit einem feindfeligen Blicke 
an, ohne feinen Gruß zu eriwivern oder Die darge: 
botene Hand anzunehmen. Bei Antonio verfuchte er 
e8 daher nicht erft. 

Er bat fich einige Worte im Vertrauen mit Herrn 
MWilhelmi aus. Diejfer führte ihn in feinen Privat- 
Slasfajten, zögernd und übelwillig. Nach einigen 
Minuten famen jie zurüd, Juſtus mit dem Courrier 


120 


in der Hand. Er gab ven betreffenden Paragraphen 
Antonio zu lefen. 

Diejer erröthete über und über. Dann bat er 
ſich, plöglich gefaßt, eine amerikanische Seitung vom 
gejtrigen Datum aus. 

„Ih weiß, was Sie wollen,‘ fagte Auftus. 
„Herr Dawſon hat mir jehon gejagt, er habe. ven- 
jelben Polizeibericht im geftrigen Herald gelefen, aber 
ohne den Zufaß wegen des preußiichen Abenteurers.‘ 

„Das beweilt mir die Duelle. Es iſt der Comte, 
der den Zufa in das franzöfiiche Journal einge- 
Ihmuggelt hat. Jetzt geht mir erft ein Licht auf.“ 

„Erzählen Sie doch Herrn Dawfon, was der 
Comte iſt.“ 

Antonio erzählte feine Begegnung mit Mrs. 
Srenier auf dem Broadway. 

„Ah,“ fagte Herr Damfon, „jetzt begreife ich, 
warum er Sie gern aus der Gefellichaft heraus ver- 
läumden möchte. Er benutte die Gelegenheit, An- 
tonio’8 Hand warm zwifchen die feinigen zu nehmen. 

„Ich habe dem Weenjchen nie recht getraut,” 
fuhr er fort, „aber ich mifche mich nicht in die Phan— 
tafien der Damen. Sie müſſen immer einen Favo— 
riten haben.“ 

„Ste werden fich doch jegt wohl hineinmifchen ?“ 
rief Antonio. 

„Die Sache hat ihre Schwierigkeiten,‘ bemerfte 
der Amerikaner. 

„Wie fo,“ ſagte Juſtus mit Beziehung, „ich 


121 


würde mich feinen Augenblid befinnen, einem Betrüger 
die Thüre zu weiſen.“ 

„Man muß Auffehen vermeiden. Man blamirt 
ſich felbft am meijten. Ich denke, ich werde ven 
Comte allmälig [os werden,” fügte er, nach einigem 
Nachdenken hinzu. 

„Machen Sie e8 nur nicht zu allmälig,‘ fiel 
Antonio, der ein unbeftimmtes Gefühl unmittelbarer 
Gefahr für Miß Damfon hatte, lebhaft ein: „der 
Menſch ift viel gefährlicher, als Sie denken.“ 

„Das mag wohl fein,‘ gab der Amerikaner 
gleichgültig zu. | 

„Diefe Naht wurde ein Mordanfall auf mich 
gemacht.‘ 

„Ein Mordanfall auf Sie?’ fragten Beide er- 
ſtaunt. 

„Ich habe noch keine Zeit gehabt, Ihnen davon 
zu ſagen, Wilhelmi.“ 

Er erzählte darauf ſein Abenteuer. Man konnte 
ſich die Sache nur ſo combiniren, daß Grenier den 
Aufenthalt ſeiner Frau in Marion-Street aus dem 
Polizeigericht über die Prügelei zwiſchen Jock O'Do— 
gherti und der Familie O'Shea ausfindig gemacht 
und ſich mit jenem in Verbindung geſetzt hatte, um 
einen Mordanſchlag auf Antonio auszuführen. Der 
Franzoſe war eine ganze Stunde nach ihnen im Spiel— 
hauſe erſchienen. Ohne Zweifel hatte er die Zeit 
dazu verwandt, den iriſchen Bravo auf ſeinen Poſten 
zu ſtellen. „Wenn nur die unglückliche Frau nicht 
auch ſchon aus dem Wege geräumt iſt!“ rief Antonio, 


122 


von Unruhe ergriffen. „Mein einziger Troſt ift ver 
fleine Paddy, aber der ift nicht immer da.‘ 

Bei diefen Eröffnungen war e8 zu Tage gefom- 
men, daß Auguſtus die beiden Freunde ins Spielhaus 
geführt hatte. Die Freunde theilten bei der Gelegen- 
heit Herrn Damjon ihre Weberzeugung mit, daß ſein 
Sohn ein Opfer Greniers und diefer ein Helfers- 
belfer des Banfhalters ſei. — Herr Dawſon ſchüt— 
telte ven Kopf. 

„Der vnertradte Junge,“ jagte er, „wird fih noch 
ruiniren.‘ 

Die beiden Bejucher waren eben im Begriff zu 
gehen, Antonio in brennender Ungeduld, um enolich 
— e8 war halb fünf Uhr — nad Marion-Street zu 
fommen, al® Herr Dawfon ſich noch im der Thüre 
umdrehte und Wilhelmi ganz unbefangen anfindigte, 
er werde morgen früh auf fein Lager fommen, um 
jich jeinen Vorrath anzufehen. — Dies fchien offen- 
bar als Berfprehen von neuen Anfäufen gemeint. 
Nah der alten Regel, daß der Banferutier nach 
überjtandenem Banferott ver bejte Kunde ift, jtand 
ein gutes Gejchäft in Ausficht. 

Aber Wilhelmi war ein gerader Menfh und 
fürchterlich erbittert über den durchdachten Betrug, 
deſſen Dupe er jo eben gewejen war. 

„In Angelegenheiten, die ven Charakter meines 
Freundes betrafen,‘ rief er fo laut, daß alle Commis 
von ihren Pulten auffuhren, „habe ih Sie veven 
laffen. Aber in Geſchäften fommen Sie mir nicht 
mehr auf mein Comptoir. Ich würde eben fo gerne 


123 
mit einem Ladendiebe Gefchäfte machen, als mit 
Ihnen, Sie niederträchtiger Betrüger!” 

„Aber, Herr Wilhelmt,‘ fagte Damfon, indem 
er den Hut abnahm und fih mit dem Zafchentuche 
die Stirn trodnete, — Tas einzige Zeichen, neben 
einem geohrfeigten Blicke des Auges, welches feine 
Berlegenheit verrieth. — 

„Im Weiten baut Ihr amerifaniihe Kirchen, 
von dem Gelde, weldhes Ihr uns deutſchen Impor 
ters aus der Taſche ſtehlt,“ keifte Wilhelmi fort, da 
er einmal im Zuge war, ‚und nachher denunciren 
ung noch zum Danfe Eure Pfaffen, die in jenen 
Kirchen predigen, als deutſche Senfualiften, Egoiften, 
Atheiſten!“ 

„Aber Herr Wilhelmi,“ nahm Herr Dawſon, 
ſchon wieder ganz kaltblütig geworden, ſeine unter— 
brochne Rede auf, „Wie hitzig Ihr Fremden doch 
gleich ſeid. Es ſcheint, als könnet Ihr durchaus keine 
billige Anſicht von einem Falle faſſen. —“ 

„Billige Anſicht!“ ſchrie Wilhelmi wüthend, 
„billige Anſicht, mir 45,000 Dollar rein aus der 
Taſche zu ſtehlen und mir nachher noch eine billige 
Anſicht von der Sache anzuempfehlen?“ 

„Damit Sie ſehen, daß ich billig bin,“ fuhr 
der Amerikaner unerſchüttert fort, „biete ich Ihnen 
einen Compromiß an.“ 

Ein ſolches Anerbieten, nachdem der Betrüger 
aller rechtlichen Verpflichtung baar und ledig und 
geſetzlich kii Cent mehr von ihm zu fordern war, 
hatte nach amerifanifchen Begriffen etwas jo Außer- 


124 


ordentliches, dag Wilhelmi vor Erſtaunen der Mund 
offen ftehen blieb. 

„Ih will Ahnen für die 45,000 Dollar, die 
Sie durch Umſtände, die nicht unter meiner KRontrole 
jtanden, verloren —“ 

„Richt unter feiner Kontrole!“ appellirte Wilhelmi 
an Antonio. 

„— Durch unglüdlibe Umjtände,” corrigirte 
der Millionär feine beliebte, aber diesmal unpaffend 
angebrachte Revensart, „an mich verloren haben, — 
ich will Ihnen zur Entfehädigung dafür einen Rath 
geben“ — flüfternd — „der Sie vom Banferott retten 
wird, und eine Spekulation vorjchlagen, welche —“ 

„Mih vom Banferott retten!” rief ver ver- 
blüffte Importer laut, ‚find Sie toll geworden vor 
lauter Unverſchämtheit?“ 

„Laſſen Sie mid ruhig ausreden, und dann 
werden Sie vielleicht eine billige Anfiht von dem 
Falle zu fallen —“ 

„Billige Anfiht, Schon wieder!” fuhr Wilhelmi 
auf bei dem Worte, wie von einer Schlange ge- 
ſtochen. Antonio mußte zulegt lachen. 

„— zu fallen im Stande fein,‘ fuhr der Job— 
ber ruhig fort. „Alſo der Rath, ven ih Ahnen 
gebe, iſt diejer: geben Sie feinem Menſchen Credit, 
verkaufen Sie nur gegen baar.“ 

Der Amporter ſah den Menjchen an, ob er 
nicht jeinen Spott mit ihm treibe. 

„Ich mwünjchte, Sie hätten mir den Rath vor 
acht Monaten gegeben, wo ich Ahnen gegen Ihre 


125 


Roten verkaufte,‘ Tpöttelte Wilhelmi; Fonnte fich aber, 
troß allen Aergers, zulegt doch nicht mehr des Lachens 
enthalten, über vie alle Begriffe überjteigende Un— 
ſchämtheit feines Nathgebers. 

„Der Grund für diefen meinen Rath an Sie 
iſt,“ fuhr diefer, ohne fich beirren zu laflen, fort: 
„daß alle Noten, vie Sie heute für Ihre Waareı 
erhalten, in ſechs Monaten feinen Gent mehr werth 
jind.“ 

„Wie fo,‘ fragte der Importer, plößlich auf- 
merffam, „die ganze Welt wird es Ihnen doch nicht 
nachmachen?‘ 

„Die ganze Welt wird in ſechs Monaten banfe- 
rott jein,‘‘ fagte der Jobber mit der Miene an- 
ſtändigen Beileids. 

Die beiven Deutfchen fahen ihn und dann fich 
gegenfeitig an. Aber Damwfon hatte in dem Augen- 
blide etwas Durchdringendes und Bofitives in fei- 
nen Blide, das Einem Achtung abnöthigte. 

„Sie ſcherzen, die Gefchäfte find noch nie fo 
gut gegangen, die Dperationen noch nie jo in’s Un- 
geheure ausgedehnt; ja daß mir felbjt der von Ihnen 
beigebrechte Berluft heute faum jo viel ausmacht, wie 
bor einem Jahre ver — | | 

‚‚Sben drum, eben drum. Das it eben vie 
billige Anficht, vie Sie von der Sache haben jollten.‘ 

„Laſſen Sie mich mit Ihrer billigen Anficht zu- 
frieven. Was reven Sie vom allgemeinen Banferott, 
wenn amerifanijche Staatspapiere und Eiſenbahnobli— 
gationen jo gut find wie Gold, wenn ganz Europa 


126 


jein Capital hier anlegt. Blos von deutſchem Gapi- 
tal zähle ich wenigſtens hundert Millionen in ameri- 
kaniſchen Stods und das iſt erft der Anfang —“ 

‚‚Bleiben Sie bei dem jtehen, was Sie foeben 
jelbjt jagen und überlegen Sie fih, wozu das führen 
muß. Der Credit hat alle ſolide Bafis hinter ſich 
zurüdgelajfen. Wer zehn Dollars hat, macht damit 
Geſchäfte für hundert. Die Spekulation hat lauter 
fietive Preife geſchaffen. Ich Habe die Eijenbahn- 
aftienmante in England mitgemacht. Ich lebte da- 
mals in Yondon und ich habe die Yehre nicht ver- 
geifen. Bei uns jteht die Sache in dieſem Augen- 
blife ganz eben jo, wie in England vor dem großen 
Zujammenfturz. Unſere meiſten Eiſenbahnen decken 
die laufenden Koſten nicht, unſre Banken —“ 

„Merkwürdig, daß Cobden, der doch auch damals 
in England geweſen iſt, ſolch bedeutender Stockhalter 
in der Illinois-Central iſt.“ 

„Die fangen eben an herunterzugehen, Sir. 
Ehe ſechs Monate vorbei ſind, — merken Sie ſich, 
was ich Ihnen ſage, — find fie nicht das Papier 
werth, worauf fie gedrudt find; ehe ſechs Monate 
vorbei find, haben wir eine Krife, Sir, wie noch nie 
eine dagewejen ijt. Eines füllt über das Andre wie 
ein Kartenhaus. Ich habe auf dieſes Signal ge- 
wartet, auf dieſes erjte Nachgeben in den Eijenbahn- 
itods, und ich habe danach auf der Stelle meine 
Maßregeln genommen.“ | 

‚‚Sreilich haben Sie Ihre Maßregeln genommen,“ 


N 


* 


127 


ſagte Wilhelmi; aber nicht ſowohl ſarkaſtiſch, als 
ſehr nachdenklich. 


„Faſſen Sie eine billige Anſicht von der Sache. 
Sie ſtehen allein, ich habe Pflichten gegen meine 
Familie.“ | | 

Die beiden Deutfehen mußten wieder lächeln. 
Herr Damfon bemerkte es, fuhr aber ruhig fort: 
„Ich ehe die Sündfluth fommen und ziehe mich auf 
den höchiten Berg zurüd, ven ich erreichen fann, die 
Pflicht der Selbiterhaltung fordert es.“ 

„Site haben ſich vielmehr eine Arche gebaut und 
Borräthe eingelegt.‘ 

„Die Sie wollen, Ich vathe Ihnen, daſſelbe zu 
thun. Beichränfen Sie Ihre Operationen, beſchrän— 
fen Sie vor Allem Ihren Credit; verfaufen Sie 
gegen baar oder gegen den möglichit kurzen Grebit. 
Zrauen Sie feinem, bejonders Ihren weitlichen Kun— 
ven nicht. Kealifiren Sie Alles, was Sie an Staats- 
papieren, Eifenbahnobligationen, Bankſtocks oder irgend 
welchen Bupteren haben, importiren Sie für feinen 
Cent mehr, verfaufen Sie alle Wechfel ihrer Schulp- 
ner, für was fie bringen mögen, laffen Ste jich meinet- 
wegen deshalb für Bankerott ausfchreien.‘ 

„Stil, ſtill, fo weit treiben wir’s nicht.” 

„Wenn dann die Krifis einbricht, Haben Sie baar 
Seld, Sir, zu einer Zeit, wo baar Geld Alles fein 
wird und die ganze Stadt Ahnen zu Füßen liegt 
und jih Ihnen mit Leib und Seele verfchreibt, um 
einen Tropfen des Labjals aus Ihrem vollen Koffer, 
Herr! rief der geniale Geſchäftsmann mit einer Art 


128 


Begeifterung in ven Augen. „Wenn Sie meinem Rathe 
folgen und Sie haben vor Ende des Jahres nicht 
viermal, fünfmal, jehsmal die an mich verlorne 
Summe gemacht, fo zahle ich Ihnen diejelbe doppelt. 
Ich zahle meinen ganzen Notenbetrag noch einmal, 
als hätten Sie ihn noch gegen mich in Ihrem Geld— 
ſchrank.“ 

„Wenn Sie Recht hätten, Herr Dawſon, und 
ich folgte Ihrem Rath, ſo hieße das wirklich, mich 
vom Bankerott erretten.“ 

„Ich habe Ihnen meinen Rath gegeben; ob Sie 
ihn befolgen wollen, das iſt jetzt Ihre Sache.“ 

„Und nicht blos vom Bankerott gerettet, ſondern 
auch zum reichen Manne gemacht.“ 

„Ich garantire Ihnen jedenfalls 90,000 Dollar, 
das iſt mein Compromiß, d. h. wenn Sie mir fol- 
gen und es fommt nicht jo, wie ich Ihnen gejagt habe.“ 

„Und jo füme es am Ende no wirflih darauf 
hinaus: ich hätte Ihnen nicht nur zu verzeihen, ſon— 
dern obendrein zu danken, Sie zu jegnen, als meinen 
MWohlthäter zu betrachten, für Ihren Spaß.‘ 

„Jetzt fommen Sie auf die billige Anficht von 
der Sache,‘ fagte der alte Dawſon mit uneriwartetem 
Humor.‘ 

„Sagen Sie mir Eines, Herr Dawſon, behan- 
deln Sie Ihre andern Gläubiger ebenſo?“ 

„Breilih! Sir. Es ift eine Gewiſſensſache; ich 
muß für meine Familie forgen, das ijt die erjte Pflicht; 
und da fich in ven nächjten 6 Monaten gar feine Ge— 


129 


ſchäfte machen laſſen, wie ich die Konjunfturen ver- 


ſtehe, jo —“ 


„So nahmen Sie Ihren legitimen Profit für 
die Zeit vornweg. Jetzt begreif' ich.“ 

„Das iſt die billige Anſicht von der Sache, 
hahaha! Aber es ſoll Keiner zu kurz kommen, wer 
kein dummer Eſel iſt, und ein ſolcher verdient's nicht 
beſſer.“ 

„Sie bezahlen uns mit gutem Rath —“ 

„Der zehnmal meine Wechſel werth iſt.“ 

‚Sie gewinnen dabei 50 Prozent.“ 

„And ich laſſe Euch dreihundert, vierhundert, 
taujend Procent gewinnen. Das ift die billige An- 
ſicht von der Sache.“ 

„Jedenfalls ift es eine Anficht, die der Ueber- 
legung werth ijt.“ 

„Das venfe ich auch, Good by, Sir.“ 

Man fehüttelte fich freundfhaftlih die Hände, 
Antonio blieb jett wieder zurüd. 

„Ob's vem Dawſon wirklich Ernjt iſt?“ fragte er. 

„Ich glaub’s, und noch mehr, ich Habe ſtarke 
Luſt, ihm Recht zu geben. Er ift doch Fein jo ſchlech— 
ter Kerl.“ | 

„Er ift ein ſchlechter Kerl, aber ein bewunderungg- 
würdiger Geſchäftsmann.“ 

„Nein, ich fann Sie verfichern, er hat Religion, 
Gewiſſensſkrupel.“ 

„Das mag wohl ſein, aber genial bleiben dieſe 
Yankee doch. Warum ich Sie aber fragen wollte: 

L 9 


130 


Was rathen Sie mir nach diefem Rathe Damfons? 
Soll ih mit Haffner jegt ins Gefhäft gehen?“ 

„Ich weiß felbft noch nicht, was ® mir ſelbſt 
rathen ſoll.“ 

„Adieu denn, auf morgen früh.“ 

Jetzt endlich machte ſich Antonio — es war 
ſchon fünf Uhr vorbei — nach Marion-Street auf den 
Weg, um zu ſehen, was aus der armen Frau des 
Franzoſen geworden war. 


Neuntes Kapitel. 


zer Held findet feine Schutzbefohlenen nicht mehr, wird 
aber durch feine Freunde an feinem UNachſteller gerücht. 
„Növ de u E&wv Öltyos Te za bradwöc 
xal dxoxros oldaluod dldwaer, —“ 
Odvooscas IX. 
„Jetzt aber hat mich ein winziger, nichtswürdiger 
Schwädling um's Auge gebradt, —“ 
Polyphem. 


An der Thüre der Schnapskneipe ſtand Jock 
O'Dogherty mit ſeiner kurzen Pfeife in dem unraſir— 
ten Maule und ſchoß einen häßlichen Blick unter den 
Braunen hervor, welche dicht über dem dunkelgrauen 
Augapfel anfingen und in zwei ſpitzen Büſcheln, wie 
zwei Käferhörner über der Naſe ſtanden. — Auf der 
Straße lag die zahlreiche Bevölkerung, lachend, kei— 


131 


. 
fend und ſchmauchend; unzählige Kinder und rauen 
jeden Alters, vor den Thüren, aus denen es von 
Unrath zu dampfen fchien, ein wahres Yumpenfeit — 
aber immerhin ein Feſt, mit Straßen- und Laden— 
erleuchtung und zwei Drehorgeln, welche fich Concur= 
renz machten, zur Erhöhung der gefelligen Luſt. 

An der Eingangsthür ftanden, unter andern Haus— 
bemohnern, die Fleinen D’Sheas, weiblicher Theil, fich 
um das Baby reigend, melches gegen ein langes, 
weißes SKinderfleiv, das es nicht gewöhnt war, mit 
wüthendem Gejtrampel und Gefchrei proteftirte. Als 
Antonio näher hinfah, flel ihn das ungeheure Schlepp= 
fleidv des Aeltejten der beiden Mädchen auf, welcher 
die Aermel auf's Pflafier herunterhingen, währenv 
die Zweite eine eben jo unproportionirte ade trug. 
Die Muſter an beiden Kleidungsſtücken glichen fo 
auf’8 Haar denjenigen, welche er am Dienjtag für 
jeine Neuengländerin gefauft hatte, daß es ihn be- 
unrubigte. Er jtieg rafch die Treppe hinauf und 
flopfte an Mrs. Greniers Thür, erhielt aber feine 
Antwort. Dann an Virs. O'Sheas, aus welcher 
jogleich der fonore und energijche Ruf der heikblüti- 
gen Irländerin herausfchallte. Ehe er Zeit hatte, ein 
Wort vorzubringen, überfchüttete fie ihm mit einem 
Sturm von Bewilffommnungsgrüßen, mit Trauer— 
geheul untermifcht. Inzwiſchen hatte er Zeit, feinen 
neuen Teppich, jchon jehr mitgenommen, auf dem 
Fußboden, das neue, für Anna gekaufte Bett, im 
Zujtand der Verwilderung, an der Wand, und eine 
Mannichfaltigfeit von Kleidungsjtüden und Haushal- 

98 


132 


tungsgeräthichaften, die alle für Anna’s Gebrauch be- 
jtimmt gewejen waren, in Augenjchein zu nehmen. 
Hier war offenbar Stranvrecht geübt worden. An— 
tonio erbleichte bei dem Gedanfen, was aus der Be- 
jigerin geworden fein könne. 

„Bo ift fie?“ rief er, „wo ift fie Hin?“ 

Ihr Hoosband hatte fie gejtern abgeholt, wo- 
hin? das wußte Niemand. Die Sachen, es wäre 
Schade gewejen, jie in dem Zimmer verfaulen zu 
laſſen, und jo hatte fich die Familie diefelben zu Ge- 
müthe geführt. 

Aber was das Geld betraf, jo zogen Mrs. 
O'Sheas Begriffe eine jtrenge Unterfcheidungslinie 
zwijchen diefer und jener Art Eigenthums und fie 
wollte auf Heller und Pfennig Rechnung ablegen. 
Antonio ließ den Plunder zu dem andern gehen und 
verfprach noch obenprein, fünfzig Dollar für Paddy, 
der ihm das Xeben gerettet, in die Sparbanfe zu legen, 
Paddy fam eben dazu, zum Thee, wie am erften Abenv. 
Antonio’8 Hoffnung aber, dag der Fleine Allerwelts- 
ferl über den Aufenthalt der Verfchwundenen etwas 
ausgefundichaftet haben möchte, wurde leider enttäufcht. 
Sie hatte fich von ihrem Dann überreden laffen und 
hatte jchweren und gerührten Herzens von der guten 
Srländerin Abjchievd genommen, mit Grüßen für An- 
tonio, jollte er ja wieder nach ihr fragen. Dieſer 
machte fih harte Vorwürfe. Wenn er zur rechten 
Zeit wiedergefommen, jie hätte ſich ſchwerlich ohne 
jeinen Rath entfernt. 


133 


„Aber wie feid Ahr denn hinter den Mord— 
anfchlag gegen mich gefommen, Paddy? 

„Sa, wir aufgeflärten Amerikaner, wir fragen 
immer, wenn wir etwas jehn, nach der Vernunft, 
warum? und nach dem Zwed, wozu? Smart muß 
man fein. Das iſt das Wort hier. Alfo wie ich 
dahinter gefommen bin, wollt Ihr wiſſen?“ 

„Sa, der Fall intereffirt mich einigermaßen.” 

„Gut alfo — wie ich zum Thee fomme, fo ijt 
der Bogel ausgeflogen — armes Ding! — Aſo 
Mither erzählt mir’s, wie der Frenchman gefommen 
ift und hat fie abgeholt. „Alſo,“ Tagt Miether, „Pad— 
dy,“ fagte fie, „Jock O'Dogherty, (Unglüd über 
ihn!) war all die Zeit um den Schubiad‘, der French— 
man,” fagte fie, „hat ihm Kundſchaft gegeben über 
uns,” fagte fie „und über den netten Rointleman,“ 
jagt fie, — das, altes Roß, ift ver Name, unter dem 
Ihr bei der Alten geht. „Alſo,“ ſag ich: „das Ge— 
haft gefällt mir nicht,‘ ſag ih. „Der nette Yoint- 
leman wird mich himmelhoch blafen, wenn er fommt 
und findet meine Pupölje futih und die Sachen im 
Allgemeinen zu den Hunden gegangen! Aber was 
fonnte ich thun, lieber Kerl? Geſchäft geht vor Ver— 
gnügen und fo mußte ih nach dem Expreß zurüd. 
Es war zehn Minuten nach Elf, wie ich wieder auf 
die Eity- Hal Uhr hinaufſah und dachte, Heute Abend 
fannjt vır zu Haufe gehen. Sch pflege über die Bo— 
werd zu gehen, denn, wenn die verdammten Dutch» 
mann vom Lagerbier fommen, jo kauft manchmal Ei- 
ner noch eine Zeitung. Verqueres Volk, ſie habem 


134 


ihre Frauen mit ſich und prügeln fi doch nicht. 
Frauen und Babies, Alles trinkt Zagerbier und wenn’s 
miteinander ſprechen, fo iſt's als wollten fie fich gleich 
die Meſſer in den Leib rennen, aber fie haben feinen 
Fechtergeiſt nicht — 's iſt Alles bloßer Dampf. Al— 
jo, ich komme bei Lindenmüllers vorbei und rufe: „Mucker 
oben auf! Berfchärftes Sonntagsgejeg!, Keine Bars! 
Keine Mufif! Kein Tanz! Kein Theater! Kein La —a — 
a—gerbier!” Da Hättet Ihr 'mal die Dutchies fehen 
jollen. Es war ein vollkommener Panuic unter ihnen, 
jage ih Euch und ſolch' Gefluhe: „Wo ifch it?“ 
„Wo ſchteht it?” „Rott verfluchte Temperenfchler ?‘ 
eine Erprejje gingen fort, wie ein Faß Lager— 
bier in gar feiner Zeit. Ich hatte Zeit das ganze 
Lot bis auf einen zu verfaufen, bis ſie's ausfindig 
machten, daß es „Nir—fommt— raus‘ war. Bei 
meiner Seele, ich ulaube, ſie ftehen noh da, bie 
lieben Dutchies und fuchen, ob's nicht drin jteht. So 
mach’ ich mich. aljo heim und wie ih nah Marion- 
Street hineinfomme und jehe das rothe ſüße Licht aus 
Ne. Mulligan's Ginfneipe aus der Entfernung, wie 
der lieblihe Mond überm Hausdache jchimmern, fo 
jag ich zu mir felbit: „Trinkſt du en Dram oder gehit 
du zu Bett? Verdient haft Du einen, und fein Miß- 
verſtändniß!“ — Da ſeh' ich zwei Kerle aus Me. 
Muligan’s Shop fommen. Sie gingen vafh nad) 
der andern Seite und furz um die Ede. „Bei Jingo! 
fage ih, wenn das niht Mr. Trendy und Jock 
O'Dogherty ift! denn wie fommt Jod mit einem an- 
ftändigen Gentleman in Broadclothb zufammen, jage 


» 


135 


ich, wenn's nicht der Frenchh ift. — Immer wide a- 
wake! — (nur die Augen offen!) das ift das Wort! 
jag ich und hinterher. „Die gehen um meine Pupilje 
abzumuckſen,“ jag ich, „oder ſonſt was auf vertrau— 
lichem Wege, ohne den City-Marſchall dazu ein- 
zuladen.‘ Ich folge alfo immer aus der Entfernung, 
Broadway ’nauf, bis wo fie vor äm Haus jtehen 
bleiben; da ſchlüpf' ich im eine Kellertreppe, das Dritte 
Haus davon, und ſtecke blos die Augen vor. Fren— 
hy geht hinein und Jock bleibt draußen und legt fi 
in Hinterhalt, grade die nächte Kellerthür neben mir. 
Es war eine verdammte Sicht zu nahe, ſag' ich Euch, 
und zweimal dachte ich jicher umd gewiß, er hätte mich 
geſehen. Wenn du warten fannjt, dacht’ ich, jo fann 
ich auch warten. Aber dennoch, das kann ih Euch 
jagen, die Zeit iſt mir noch nie jo lang vorgefommen. 
Sch dachte, die Sonne hätte unterdeß dreimal Zeit 
gehabt, aufzugeben. Endlih fommt Ihr heraus mit 
noch einem Herrn. Wie ich's dachte, Jod it hinter 
Euch ber, wie ein faljcher, ſchleichender Hund, der 
er iſt. Da wußt ich, was die Glode geſchlagen 
hatte und ich Jah deutlich, wie er fein Meſſer unter 
der ade hielt. Und wie ih Euch in eh 
einbiegen jahe, jo jag’ ich: „da thut er's,“ ſag' ich 
und jo renn’ ich durch Waverly- Place und paß an 
der Ede von Green-Street: wide awake, fag’ ih, das 
it das Wort für emen aufgeklärten Iriſch-Ameri— 
faner, — und fo....‘‘ 

„Und ſo habt Ahr mir das Leben gerettet. 
Ihr feid jo jmart und wide awake wie irgend ein 


136 


Danfee, ver je gelebt hat und ver aufgeflärtefte Zei- 
tungsjunge in diefer aufgeflärten Generation,’‘ erflärte 
Antonio halb fcherzend, halb anerfennend, und dies 
Sompliment war wahrhaftig nicht verloren. Dem 
Kleinen leuchteten die Augen von befriedigtem Selbit- 
gefühl. ‚Nun,‘ fuhr Antonio fort, „fünfzig Dollars 
leg’ ih in die Sparbanf für Euch, damit Ahr fie 
nicht in Gin vertrinft, und Ihr könnt auch) das Spar— 
banfbuch morgen bei mir abholen‘‘ — wobei er ihm 
jeine Karte gab, und der unge mit feinen funfeln- 
den Augen, die, wie alle irländifchen, unmittelbar 
unter den Brauen hervorbrannten, gewiſſermaßen 
feuerräpderte, jo raftlos drehten fie fich, jchlug einen 
Purzelbaum, weniger in der freude über das ungeheure 
Geſchenk, als in der fpeculativen Ausficht deſſen, 
was ſich Damit unternehmen lief. 

„And nun,“ fuhr Antonio fort, müßt Ihr mie 
unter allen Umjtänden Eure Bupille finden‘ — Antonio 
adoptirte alg Diplomat den Ausdrud, womit Paddy 
furz vorher feiner eigenen Wichtigfeit gejchmeichelt 
hatte — „und zwar ohne Zeitverluft, verjteht hr. 
Ich muß die arme Greatur retten, wenn fie noch 
irgend zu vettem iſt; ich fürchte faules Spiel.“ 

Paddy war natürlich bereit, zu jpioniren. Aber 
e3 war etwas Geijtesabwefendes in dem Verſprechen. 
Antonio fuchte das finfende Intereſſe durch das Ver— 
Iprechen. einer weiteren Belohnung anzufeuern. Er 
verftand jedoch den Yankeegeiſt Paddy's nicht: dieſer 
war nicht fowohl geldſüchtig, als erwerbſüchtig. 
Der Dolar, ver Stein der Weifen, die Wahrheit 


157 


des NManfeelebens wie überhaupt der Zeit, war ihm 
nach Leſſing jo über Alles werth, nicht als beſitzens-, 
jondern als erjtrebenswürdig, nicht als Facit, fondern 
als Aufgabe. Wie der alte Dawſon hätte er jeine 
Seele vem Teufel verfauft, um eine Summe zu ge- 
winnen, die er am mächiten Tage auf die Straße 
werfen fonnte. Während Antonio noch ſprach, hatte 
der kleine Paddy ſchon jenem gegenwärtigen Zeitungs— 
hauſirhandel im Geiſte Valet geſagt und ſich dafür 
einen ſtehenden Platz in der Stadt ausgeſucht, wo eine 
Zeitungs- und Fruchtbude reüſſiren mußte. Dieſe 
Pläne nahmen ſein Intereſſe ſo ſehr in Anſpruch, 
daß er zweifelte, ob eine weitere Belohnung ſelbſt von 
gleich hohem Betrage ihn für die Geſchäftsſtörung bei 
ſeinem projectirten Etabliſſement entſchädigen könnte. 
Die Nachforſchung nach Annie konnte nur durch tage— 
langes Umherlungern und Spähen auf der Straße 
zum Gelingen führen, während die ganze Zufunft 
jeinev Gefchäftsunternehmung von dem rechten und 
durch und durch energiichen Anfange abhing. 

„Nehmt Euch vor Tod D’Dogherty in Acht,‘ 
ſagte Paddy, als Antonio Schon im Gehen begriffen 
war; „er hat mir eben, wie ich herauffam, zuge= 
Ihworen: er will Euch die Cocosnuß auffnaden, und 
er thut's.“ 

„Es wird wohl ſo ſchlimm nicht fen — auf 
offener Straße vor fo vielen Zeugen.‘ 

„ho, Mann, da kennt Ihr die Krifchen nicht. 
Wenn. uns das Blut auf ift, jo fümmern wir uns 


138 


nicht einen Spec den Richter mitten in der Gerichts- 
fißung von ſeiner Banf wegzublaſen.“ 

„Und hat od O'Dogherty das gejagt?‘ rief 
Mrs. D’Shea und ein fürchterlider Stimm fammelte 
jih über ihrem Auge, während fie vie beiden. Arme 
in die Seite jtemmte, ‚und hat Fod D’Dogherty, der 
dredige jtinfige Yumpenhund von der Welt, die Im— 
pitenz gehabt, jo unrejpectirlich von jeines Beljeren 
und ſolchem ſäßen und hohen Gentleman zu Iprechen, 
der alle Tage ein irifcher Lord ſein könnte, ihm Manären 
beizubringen? D od, mein Juwel!“ rief jie mit 
dem böfen Humor in den Augen, der bei diejer jäh— 
zornigen Race dem unmittelbaren Yosbruch des Sa- 
mums vorgeht, „o Jod D’Dogherty, mein Juwel! und 
jeßt will ih Dir den Tag durch Deinen efelhaften 
Hirnfaften hineinſcheinen laſſen; bei dem allmichtigen 
Herrn und allen gebenedeiten Heiligen, das will ich!" 

Und damit jtieß fie ein hölliiches Gellen aus 
und jtürzte von ihren eigenen Worten zur Wuth auf- 
gejtachelt, unaufhaltfam mit dem geſchwungenen Schür- 
eifen in der Hand, fort durch die Thür und Hals 
über Kopf die Treppe hinunter. Ahr dicht auf ven 
Serien folgte, wieder ganz New-York-  irifcher 
Straßenjunge und aller faufmännifchen Phantaſiewürde 
vergeillend, Paddy D’Shea, ihr Feiner Roboldfohn, mit 
lautem wilden Bindfaden- Gefreifh, das Brodmeſſer 
um den Kopf wirbelnd, in die Luft werfend, auf- 
fangend, einen iriſchen Jig die Treppe hinuntertanzend, 
kreiſelnd, und auf dem Flurabſatz ein Rad dazwijchen- 
Ichlagend, aus purer überſprudelnder extatifcher Lırft 


139 


am Katengefecht und Skandal. Dicht hinter ihm 
fuhr in unglaubliher Heße zweimal fopfüber das 
altefte Mädchen die Treppe hinunter, mit der Kohlen- 
Ihaufel.in der Hand, einer zwar kurzen, aber durch 
die ſchwere jcharfe Eifenfante — wenn fundig gehand- 
habt — gefährlichen Waffe. Sie gab ihre Friegerifche 
Begeifterung durch lange, durchdringende, herzzerreigende 
Noten, im höchſten weiblichen Discant, zu erfennen. 
Die fleinere Schwefter fam langjam, aber vejto be- 
barrliheren» Schlachteifers, hinterhergeitiegen. Sie 
hatte mit dem einen Arm ein ungeheures Plättbrett 
aufgerafft, während der andere, wie immer, unter der 
Laſt des ungeheuren Baby's zitterte. Ein New— 
Yorker Irländer hätte fih für die Tracht zwei Schil- 
ling bezahlen laſſen. Dennoch langte fie bei ver Scene 
des Eonflictes unverhältnißmäßig fchnell an, befonders 
wenn man bevdenft, daß fie zweimal auf dem Wege 
ftillftehen mußte, um fchreien zu fönnen. Im Gehen 
aing es unter der. fchweren Laſt nicht, und ge— 
ichrieen mußte doch werden. Das Baby. jelbjt hatte 
diesmal bloß einen blechernen Suppenlöffel, ſchien 
aber, nach den ſelbſt über feine Gewohnheit energifchen 
Wuthbezeugungen der Stimme, Arme und Beine, be- 
wußt in den Geiſt der Handlung einzugehen. Lang— 
jamer folgte vie alte Grandmither mit ihrer Toaſt— 
Gabel und bildete ven Nachtrab, Die Hite von mehr als 
0 Sommern, beim glühenden Kochofen, hatte ihr 
niht das Mark aus ven alten celtifchen Helden— 
fnochen fo gänzlich ausgevörrt, over ihr Gehör 


140 


jo affieirt, um fie taub’gegen den Auf der Ehre zu 
machen. 

Sp wurde einer, der in den Annalen der Ge— 
Ihichte von Marion- Street zwar nicht feltenen, aber 
glorreichiten Ausfälle auf einen überlegenen Feind ge- 
macht: überlegen zwar nicht an Zahl, aber an Kriegs— 
erfahrung und an allen Mitteln moderner Rriegführung. 
Jock ſtand wirflich unten an ver Thür mit einem einläu- 
figen Zerzerol in der Hand; fo ein Ding, wie man 
e8 für ein paar Schillinge faufen kann, das uber nichts- 
dejtoweniger im Stande ift, ven größten Geift mitten 
in dem erhabeniten Fluge feiner Pläne, mit zer- 
brochenen Flügeln in den blutigen Staub zu legen. 
Er hatte fich öffentlich dreimal vermeſſen, einmal auf 
der Straße, einmal gegen Paddy und das letzte Mal 
in der Kneipe, wie er fich vie Piſtole von einem 
Schwienel dajelbit lieh, er wolle dem verdammten 
Duthman ein’ Loch in feine Cocosnuß machen, er 
wollte das Tageslicht in ihn hineinfcheinen laſſen, und 
er wollte ihn niederfchießen wie einen Hund. Da 
diefe drei verſchiedenen Redefiguren nur verſchiedene 
poetiſche Auffaffungen deſſelben Gegenftandes waren, 
und da Jock, im Einverſtändniß mit feiner dreimal 
abgegebenen feierlichen Erflärung, mit der Piltole in 
der Hand Poſto am Eingange gefaßt hatte, jo war 
jchwer zu jehen, wie unſer Held und Landsmann 
anders aus dem Haufe fommen konnte, als der Fuchs 
aus dem Thurme in dem berühmten Räthſel, wo ein 
Jäger mit gezielter Büchje und zwei Hunden vor dem 
einzigen Xoch, welches der eigens zu dem Zwecke er- 


141 


baute Thurm aufzumweifen hatte, auf ver Lauer 
jtehen — wenn nicht der Elan D’Shea als Werkzeug 
in der Hand der Vorſehung 

1) Jock D’Dogherty einen Schlag mit vem Pofer 
über den Kopf verjegt hätte, welcher ihm zwar feine 
Cocosnuß nicht ganz auffnadte; aber das Erjte, was 
er wußte, war, daß er nicht wußte, wo er war. Erit 
hatte er ein Gefühl, als würde er auf einem Brett 
unter den Füßen wie auf einer Balancirichaufel hoch 
in die Luft gehoben; dann, als ginge es wieder tief 
hinunter, worauf er eine Sefunde lang das Bewußt— 
jein verlor, aber ohne umzufallen. Er taumelte nur 
etwas zurüd. 

2) Dieſe Sefunde war grade diejenige, in welcher 
boen agados, Paddy D’Shea, ein fpringendes, Frei- 
jendes, radſchlagendes Erperiment machte, ob man mit 
einem Brodmejjer wohl einem zähhäutigen Landsmann 
ein Loch in den Bauch jtogen und dadurch wirklich, 
nach der beliebten Redensart Jocks, das Tageslicht 
hineinfcheinen laſſen könnte. Der Lejer erinnert fich, 
daß es Paddy als feine Lebensaufgabe erkannte, vie 
Aufklärung zu verfehten. — Diejer Stoß in ven 
Unterleib hatte den günjtigen Effect, daß er durch 
Zujammenziehung der Bauchmuskeln den Kopf Jod 
D’Doghertis, der auf den erjten Schlag mit dem 
Poker eine Tendenz zum Rückfall gezeigt hatte, wieder 
vorwärts bradte, im Einflange mit Paddy's Fort- 
ſchritts-Principien. Zugleich brachte ver lebhafte Keiz 
vor dem Ipigen Anftrument ihm das Bewußtſein zurüd. 

3) Ehe er fih aber noch feines Bewußtjeins 


142 


wieder bewußt werden fonnte, hatte ihm die Fleine 
Maggie, die eben von oben angelangt war, von der 
zweiten Zreppenjtufe jpringend, mit der ſcharfen Kante 
ihrer Kohlenſchaufel einen Schlag in's Genid verjekt, 
welcher das eben hergejtellte Gleichgewicht in einen 
radtcalen, jich überjtürzenden Fortſchritt verwandelte, 
und zwar fo, daß Jock Fopfüber in die Goſſe jtürzte 
und ſich darin umrollte. 

4) Den ortheil diejer hilflofen Lage eripähend, 
warf ihm die eben angelangte Kleine Ellen zunächſt 
das Baby in’s Geficht, einen — wie fie aus eigener 
Erfahrung wußte, nicht zu verachtenden Gegner, der 
auch jogleih anfing, mit feinem jcharfen blechernen 
zöffelitiel tapfer auf das Geficht des hingeftredten 
Teindes Ioszuhaden. Bei dieſer neuen Mikhandlung 
verließ denjelben das männliche Herz, das ihn. bis 
dahin das Unvermeidliche ſchweigend hinzunehmen ge— 
lehrt; fih unbezähmbarem Schmerze überlaffend, brach) 
er, unbefümmert um das Gelächter der dichtgevrängten 
Menge, in ein unaufhaltfames Gebrüll aus, in eben 
dem Augenblide, wo vie Fleine Ellen ihm das Plätt- 
brett mit der ihrer Flanellbedeckung entkleiveten, höl- 
zernen Spite zwifchen die Beine rannte. Weithin er- 
Iichallte das Brüllen des gepeinigten Mannes. 

5) Mit dem bevächtigen Schritte des Alters, 
aber das Feuer jugendlicher Kampflujt in den Bliden, 
machte fich jeßt die gerungelte Grandmither an ben 
gefallenen Helven und „pokte“ ihm, in feltener Bereini— 
gung jener Bedächtigfeit und dieſes Feuers, mit ihrer 
vreizadigen Toaſt-Gabel nah dem Xichte der Augen. 


145 


Ulyſſes chirurgische Operation an dem einen Auge des 
ungaftlihen Sohnes Poſeidon's gelang ihm nicht 
vollfommener, als der erjte wohlgezielte Stoß nach 
dem rechten Auge des mordjüchtigen Jod D’Dogberth 
der gerunzelten Grandmither gelang; noch brülfte 
Polyphemos wüthender vor Schmerz, als Jod O'Dog— 
herty jett brüflte, wie ihm das Auge auf's Pflaſter 
flog. Er jprang auf die Füße. 

6) Ein neuer Schlag von Mrs. Bridget O'Shea's 
Schüreiſen ftredte ihn wieder zu Boden. Alles war 
das Werf einer Minute gewejen. Bridget, wie fie 
den Feind heulend und hilflos in der Gaſſe Tiegen 
jah, ergriff jest das daneben liegende, hilflos ſchreiende 
Baby, gab der kleinen Ellen eine handgreifliche Lec— 
tion für die Bernachläffigung ihrer Ammenpflichten 
und trat, von der Kinder Helvenjchaar umgeben, den 
triumphirenden Rüdzug in’s Duartier an. 

Unterdeß hatte das gräßlide Heulen des ge- 
Ihlagenen Unthiers endlich die Polizei auf ven Plat 
gebradht, welche — da Gefahr und Kampf vorüber 
war — feinen Grund mehr fah, fih nicht einzu- 
miſchen. Sie ertappten die alte Grandmither, welche 
mit der zähen Anhänglichkeit des Alters an liebge- 
wordene Genüffe, ſich mit ihrer Gabel den Zugang 
zu dem andern Auge zu bahnen fuchte. Die Grand— 
mither wurde daher, als ın flagrantı delictu attra- 
pirt, in Gewahrjam gebracht, trotz der leivdenfchaft- 
lichſten Protejtationen von Seiten der zurücgerufenen 
Familie, welche, ihr als Bevedung folgend, und ihrer: 
jeit8 umgeben von einen: aufgeregten Schwarme von 


144 


Kindern, Weibern und Xoafers, vie Luft mit ihren 
Klagen über die Ungerechtigfeit der Behörden, die 
Unterdrüdung armer Irländer und die Tyrannei der 
Männer über hilfloſe alte Weiber, erfüllten. Das 
Publiftum neigte fih durchaus dieſer Auffaffung zu 
und fchrie einmal über das andere: Shame, Shame! — 
Der Weiberrehts-Affociation diente viefer Fall bei 
ihrer nächſten Sikung zum fruchtbaren Thema: be- 
redter Grgießungen über den brutalen Mißbrauch phy— 
ſiſcher Uebermacht am zarten Gefchlechte. 

Bei dem Verhör wollte e8 der Grandmither, 
welche mehrere Male in Irland bei Mord- und Todt— 
Ihlags-Prozefien als Zeugin vorgewejen war, zuerit 
durhaus nicht in den Kopf, daß ein Mann ohne 
rothen Rod und Allonge-Berrüde als Richter fungiren 
fönne. Sie war geneigt, viefen Mangel an Form 
für eine gegen fie perjünlich gerichtete, gejellfchaftliche 
KRücdjichtslojigfeit aufzunehmen, und antwortete daher 
dem Kichter auf feine erſte Anrede, ihren Gefühlen 
entjprechend, damit, daß fie ven Daumen der rechten 
nad oben gejpreizten Hand an die Naſenſpitze legte, 
während die übrigen vier Finger Klavierbewegungen 
in der Luft machten. Als es endlich den vereinigten 
Bemühungen Paddy's und Bridgets gelungen war, 
fie zu überzeugen, daß Feine abfichtliche Inſulte gegen 
fie vorliege, und daß fie dem Herrn auf dem Hoch— 
fie ebenfo viel Reſpect jchuldig fei, wie einem My— 
lord- Judge, fragte fie der Richter mwohlmeinend, 
um ihr die Apologie zu erleichtern: 


145 


„Ihr habt Feine Beleidigung des Gerichtshofs 
beabjichtigt, nicht wahr?“ 

„Xes, Mylord,‘ antwortete die taube Alte, „nach 
beitem Wiffen und Gewiſſen.“ 

Diefes war die Phrafe, womit fie fich bei allen 
Berhören in Irland ſtets erfolgreich durchgelogen, 
ohne in Gefahr des Meineids zu verfallen. Und 
welche Fragen man ihr auch jtellen mochte, fie blieb 
bei diefem Probatum est: „Yes Mylord, nach beitem 
Wilfen und Gewiſſen.“ 

Jock D’Dogherty wurde in's Hospital gebracht, 
welches er erjt nach drei Monaten, auf einem Auge 
blind, wieder verlier. 


Zehntes Kapitel, 


Mary Dawfon erhält am Abend rine Mittheilung, welche, 
denfelben Morgen entgegengenommen, großes Unheil hätte 
verhiten konnen. 


„Adora quod incendisti, incende quod adorasti.‘ 


St. Remigius ap. Gregor. Turon. 11,31. 


Auguftus Dawſon alfo fühlte den Don Juan 
oder jonjt einen ähnlichen Helven in fich und ging 
auf dem Broadway jpazieven, um ihn loszulaſſen. Er 
machte jedoch zum zwanzigjten Male in feinem Leben 
die Erfahrung, daß die interejfanten Abenteuer nicht 

I. 10 


146 


auf der Straße zu finden find. Aber diesmal gab er 
e3 nicht wie neunzehn andere Male wieder auf, ſondern 
ging als justus et tenax propositi, fich bei einer 
Ajtrologin Raths zu erholen. Nach kurzer Ueber— 
legung wandte er, unter der reichen Auswahl, welche 
ihm der Herald und andere, weniger öffentliche Drgane 
der geheimen Wilfenfchaft des Jahrhunderts boten, 
jeine Praxis der berühmten Madame Puftell zu. Diefe 
Dame hatte fih in früheren Zeiten in dem eben er- 
wähnten Drgane als „größtes Weltwunder“ angezeigt 
und ihren Rath bei allen Gelegenheiten des menjch- 
lichen Lebens, als da find: Proceſſe, Reifen, Tren— 
nungen, Liebe, Freien, Heirathen, Gefundheit, Keich- 
thum, langes Leben u. ſ. w. u. ſ. mw. für fünfzig 
Sents feilgeboten. Sie konnte dies um jo eher, ale 
jie damals „die fiebente Tochter einer jtebenten Tochter 
einer jiebenten Tochter” war umd fich im Beſitze des 
‚wahren römiichen und arabifchen Talisman“ befand, 
welcher jeinem Käufer Glüd in der Liebe, Glüd in 
Sefhäften, Glück in der Aemterjägerei, fur; Glück in 
allen Unternehmungen ficherte. Zum MWeberfluß gab 
fie Lotterie» und andern Spielern nod die Glüdszahl 
an. Auf diefe Weife hatte Madame Puftell durch 
langjährige, treue Ausübung ihrer übernommenen 
Pflichten, in einem ftillen aber ausgedehnten Kreife, 
die Segnungen ihrer Wirkfamfeit, wenn nicht für ihre 
Runden, fo doch für fich felbit, im reichjten Maße ge- 
pflückt. Sie war reich und geehrt, zu vornehm ges 
worden, zu begründeten Nufes, um noch in den Zei- 
tungen ihren Namen dem Publifum zum Beften zu 


147 


geben. Sie brauchte es nicht länger zu rufen, es kam 
von ſelbſt. In des jungen Swell’s männlichen Kreije 
war die Dame als Juno Eileithyia gefucht, indem 
ihr Haus heimlichen Wöchnerinnen, wie verfchiedenen, 
mit der Geburtshülfe in näherer oder entfernterer 
Beziehung ftehenden Zweden zum Aſyl diente. Ihre 
Verbindungen mit ver höchiten Geſellſchaft hatten jie 
wiederholentlich vor gerichtlicher Verfolgung gejchütt, 
da zu Viele compromittirt worden wären. Solde 
Gelegenheiten wurden ihr vielmehr zur reichen Ernte, 
da das Geld dabei in Strömen floß und foviel jie 
auch davon zur Befchwichtigung der Gerechtigfeit ab- 
geben mochte, doch immer noch viel mehr als Schmer- 
zensgeld für jie felbft übrig blieb. Kurz, wenn es 
Antonio dem Bater für feine Pflichttreue an der pol- 
nifchen Grenze fchon wohl erging, jo ging es Madame 
Puftel für die ihrige an den Küſten des atlantifchen 
Deeans noch viel beſſer. Sie war mäßig, fparjam, 
geihäftsfundig, zuverläſſig für ihre Runden; fein 
jüdifcher Wucherer bejchwindelte jie um vie Früchte 
ihres Fleißes; umgefehrt wäre die Ausficht viel wahr- 
jcheinlicher gewefen; ver Achtung, welche die profane 
Welt ihr verfagte, erfreute fie jich im höchſten Maße 
unter den Eingeweihten, an deren Meinung ihr allein 
gelegen fein konnte; das Gewiſſen beunruhigte jie 
nicht, da fie feines hatte; fie erlebte Freude an ihrem 
einzigen Rinde, einem Sohn, dem fie eine ausgezeich- 
nete Erziehung hatte geben laffen und der joeben mit 
ihnellen Schritten ven höchiten mercantilen und poli= 
riſchen Ehren zueilte; kurz, das Glüc hatte ihr Ver— 
10* 


148 


dienjt würdig gekrönt; das Ziel, welchem fie mit Ge- 
hie und Eifer nachgeftrebt Hatte, war erreicht; eine 
heitere Würde — das Ergebniß Diejes Bewußtſeins — 
ruhte auf ihrem Wejen: Leſer, ſie hatte mit Nichts 
angefangen! ihr ganzes Xeben war eine Verherr- 
lihung des Geiftes der Induſtrie, aus welchem die 
moderne Poefie ihre höchſten Inſpirirationen fchöpft. 

Zu diefer Dame lenkte der junge Dandy feine 
Schritte. Sie antwortete ihm in ihrer vertraulichen, 
troftreihen Weife, fie habe eine rare Schönheit auf 
dem Lager, er müſſe aber etwas daran wenden. 
„Darauf,“ meinte er in jeinem dummen Verjchwender- 
pünfel, „käme es ihm nicht an.“ Sie wurden leicht 
Handels einig. 

Unterdejjfen war die Zeit vergangen. Auguftus 
hatte bei der Trauung zu fein, wollte aber etwas nach 
fünf Uhr wieder bei Madame Pujtell eintreffen. 

Als es daher um jehs Uhr in Dawſons Haufe 
zum Diner lautete, erjchien ver junge Mann dabei 
nicht. Das war eben nichts Ungewöhnliches und feine 
Gefehfchaft überhaupt das fünfte Rad am Wagen, fo 
daß er nicht weiter vermißt wurde. Was Die ans 
weſenden Fumilienmitgliever betrifft, jo war Herr 
Damwjon heute außerordentlich gut aufgelegt. Er hatte 
jein Schäfchen in’s Trodene gebracht, fich mit jeinen 
Düpes wieder freundfchaftlich verjtändigt und jah die 
Straße zu einer Million offen und eben vor fih — 
„in feinem eigenen Rechte“; denn feiner Frau Ver— 
mögen war ihr ımantaftbar gefichert und übrigens 
vom Publifum weit überſchätzt. Diefe hatte ihre 


149 


Müdigkeit von der geftrigen Repräfentation her, durch 
Bifiten und Ladenlaufen überwunden und fich nichts 
als die ſchönſten Sachen über ihre brillante Fete fugen 
laffen. Mary endlich war wie gewöhnlich eine halbe 
Stunde vor dem Eſſen von ihrer Promenade zurüd- 
gefommen, hatte aber etwas Mildes und Feierliches 
in ihrem Wefen. Ihre Wangen waren fejtlich ge- 
röthet, ſie ſchien größer und gereifter. Die Eltern 
machten über diefe Verändernng in der Erſcheinung 
des jungen Mädchens zwar feine bewußten Neflerionen, 
aber diejelbe machte fich jtille geltend und verbreitete 
ein Gefühl der Wärme, eine erhobene Stimmung, 
wie fie in diefem Kreife etwas nie Erfahrenes war. 

Der Alte hielt fih ein Glas Sherry ſchmeckend 
vor die Augen und ließ die dunfle Flüffigfeit warm 
im doppelten Kichte des Gas- und Kaminfeuers funfeln. 

„Wohin gehen wir diefen Sommer, Mrs. Daw- 
ſon?“ fragte er, „es tft Zeit fich einen Plan zu machen.” 

„Was denken Sie, Miß Dawſon?“ wandte fi) 
die Gefragte angenehm an ihre Tochter. 

„Nach Paris,” antwortete diefe, ohne fich einen 
Augenblid zu befinnen. „Lieber Bapa, laſſen Sie uns 
nah Baris gehen.“ 

„Rah Paris, denn fol’s fein,‘ ftimmte ver Alte 
gemüthlich zu. 

„Slauben Sie, diefe Reiſen in’s Ausland führen 
zu etwas?‘ fragte die Mutter. Site meinte mit Bezug 
auf einen Mann für ihre Tochter. Beide veritanden 
die Frage. 

„Wir fönnten jeßt jeden Tag einen ruſſiſchen 


150 


Bringen oder einen englifchen Lord für Miß Damfon 
haben,‘ fagte der Alte im Bemwußtfein feiner finan- 
ziellen Erhebung. 

„Oder einen franzöfifhen Grafen," warf Mrs. 
Damfon halb nedend ein. Mary horchte fieberhaft 
gejpannt auf die Antwort ihres Vaters. 

„Apropos, wegen diefes franzöfifchen Grafen,“ 
bemerfte er gleichgültig, „es ift Zeit, mit ver Be- 
fanntjchaft ein Ende zu machen.“ 

Mary'n ftocte das Blut auf dem Wege zum 
Herzen; ſie faßte fich jedoch und fragte mit unficherer 
Stimme: 

„Wie fo, Ba.“ 

Mrs. Dawfon that diefelbe Frage zu gleicher Zeit. 

„Es iſt gar fein Graf,“ fuhr Herr Damfon un— 
befümmert fort, „aber, da er nım einmal unter viefem 
Charakter bei uns aus- und eingegangen tft, jo brauchen 
Sie das nicht an die große Glocke zu hängen.“ 

„Und was ift er denn?" fragte Mrs. Damfon 
ganz überrafcht. 

„Sicherlih, Vater, das ift eine faljche Nach- 
richt," erklärte Marh, deren Lebensgeifter fich ſtark 
zur Bertheidigung ihres Gemahls erhoben, mit einer 
Art Hohn. 

„Er iſt ein ganz gewöhnlicher Phantafie-Mann,“ 
erwiderte Herr Dawſon auf die Frage jeiner Frau. 

„Das ift eine ſchändliche Verläumdung!“ rief 
Miß Damfon heftig, „wo Sie es auch ber haben 
mögen.“ 

„Seh bitte Sie, um's Himmelswillen,” antwor— 


151 


tete Mrs. Dawſon ungläubig ihrem Gemahl, „ein 
Gentleman, der ein jo reines Franzöſiſch ſpricht!“ 

„Sein wahrer Name," fuhr Herr Dawfon fort, 
ohne fich ftören zu laſſen, „iſt Grenier, — wenigjtens 
war das fein letzter. Er war zulegt Commis bei 
M. S. Clafflin & Söhne in Lowell — ih habe mid 
beit deren Agenten, der ihn kennt, jelbjt darüber er- 
fundigt, — und er hat dort ein Fabrif-Mäcchen ge- 
heirathet, die er jchändlich verlaffen hat.“ 

„Was ijt Ihnen, Miß Dawfon?‘ fragte ihre 
Mutter, „Ihnen wird übel?‘ 

„Nichts, Mutter,” antwortete das junge Mädchen 
furz, mit gezwungener Faſſung. Sie war fo weiß, 
wie ihre Serviette. 

Der Alte warf feiner Tochter einen forfchenden 
Blick zu, die Mutter ebenfalls. Sie ſagten jedoch 
nichts weiter. Der Graf war Mary's anerkannter 
Königstiger gewejen; fie war mit dem Triumph um 
jo viele Nebenbuhlerinnen, vie ſich um ihn viffen, aus 
der Schule in die Gejellichaft getreten, „herausge— 
fommen‘, wie ver Kunſtausdruck lautet. Lebt war 
es ein vagabondirender Handlungspdiener, den fie davon 
getragen hatte. Es bedurfte feiner weitern Erklärung, 
um ihre Aufregung natürlich zu finden. Der Gevante 
an das, was man eine Peidenjchaft nennt, lag über- 
haupt außerhalb des Gefichtsfreijes der Eltern. 

Aber die ſchöne Stimmung, mit der fie den Abend 
angefangen hatten, war num dahin und der übrige 
Theil des Diners fchleppte fich in gezwungener Unter- 
haltung fort, woran Miß Dawſon feinen Antheil mehr 


152 


nahm. Cinmal fuchte fie fich dazu zu zwingen, aber 
es fam dabei eine folhe Blamage heraus, daß fie 
den Verſuch nicht wiederholte. 

Sie waren noch nicht von Tiſch aufgeftanden, 
als die Thürflingel ging. Mary wußte, was es war, 
verrietb e8 aber durch feine Bewegung. Pompey 
brachte ihr des Grafen Karte auf dem Salver. 

„Der Count?” fragte Mrs. Damfon. 

„Ich will ihn doch darauf anjehen,‘ ſagte Miß 
Damwfon und jtand auf. 

„Nur feine Gelegenheit zu einer Erflärungsfcene 
aegeben, Miß Dawfon!“ ermahnte ver Alte. 

„Seien Sie lieber einfach nicht zu Tprechen, 
Mary,“ rief ihr die Mutter nah. Sie wußte nicht, 
wie unausführbar dieſer Rath ſeit drei — ge⸗ 
worden war. 

Das junge Mädchen blieb einen Augenblick in 
der Halle, vor der Thür des Empfangszimmers, 
ſtehen, um ihr wildes Herzklopfen zu bezwingen. Dann 
—* ſie. 

donſieur de Rouſſillon kam ſeiner Neuange— 
trauten mit ſtrahlender Bräutigamsmiene entgegen. 
Er ſollte ſie der Verabredung gemäß zur Oper be— 
gleiten. Er hatte im Geheimen ſeine Anſtalten ge— 
troffen, um bei dieſer Gelegenheit der prieſterlichen 
Ceremonie die Krone der Vermählung aufzuſetzen. 

Ein Blick auf die Eintretende überzeugte ihn, 
deſſen Gewiſſen immer auf der Lauer lag, daß Alles 
verrathen ſei. 

Verrathen, aber nicht verloren! Als Spieler von 


153 


Profeffion konnte er wohl einmal auf einer fajchen 
Bolte ertappt werden, aber auf einem Geſtändniß — 
niemals! 

„Mary“ Fam er ihr zärtlich entgegen, „theure 
Gattin, was bedeutet diefe Wolfe auf Ihrer himm- 
lichen Stirn?” 

Das Mädchen hatte fich bisher immer an diejer 
Schattenfpielerei des Gefühls entzückt, da fie ihr 
von ihrer franzöfifchen Lectüre her, mit unbeftimmten 
Ideen von höfiſchem Glanz, heroifcher Liebe und er- 
Ihütternden Rataftrophen verfchwommen war. ben 
diefe Phrafen in eben diefer Sprache wuren es, wo- 
durch fie jich in die Heldinnenrolle hatte hineinphanta= 
firen lafjen. Zum erjten Male empfand fie jeßt, der 
falten Wirflichfeit gegenüber, das Fragenhafte folcher 
dreſſirten Gefühlsergießungen. 

„Sie heißen Grenier?” fragte fie brüsgue. 

„Ah!“ rief er, auf alles im Voraus gefaßt, mit 
dem Ausorud edler Entrüftung: „alfo das iſt's? 
Alſo das machen Sie, Sie mir zum Berbrechen, 
daß ih, meinen Ahnenftolz bei Seite legend, mich 
unter dem Notüriernamen barg, um das Brod ver 
Verbannung als ehrlicher Dann zu effen? „Madame!“ 
fuhr er mit hohler Stimme, untergefchlagenen Armen, 
düfterm, die Erde durchbohrenden Blide fort: „Ma— 
dame! es gibt Konflikte im Leben, meinen Ahnen war 
ich ihren Namen ſchuldig, mir ſelbſt ein verwurffreies 
Leben. a, Madame, ich geftehe es, ich hatte ven 
Namen Grenier angenommen; ich hatte mir mein Xe: 
ben durch Arbeit verdient, ich bin” (— ſchluchzend —) 


154 


„Handlungsdiener gewejen. Habe ich mich dadurch 
meines Namens und Ranges unmwürdig gemacht? Hat 
die Arbeit Gajton von Rouffillon’8 Hand fo tief ge- 
Ihwärzt, daß er fürchten muß, viejenige feiner Gattin 
durch ihre Berührung zu bejudeln? Nein, Mary!" 
hier zitterte jeine Stimme, — ‚nein! durch ven bloßen 
Verdacht würde ich Ihr Herz verläumden. Ich 
werde es niemals! Je ne le ferai j’amais!" ſchloß 
er mit Entjchievenheit. 

Es ijt joviel faljches Pathos und Selbitbejpiege- 
lung in dem franzöfifhen Ausdruck, jelbjt bei unbe- 
fangenen und ehrlichen Leuten, daß man nicht ficher 
geht, bei einem Franzojen ſchon deswegen auf eine 
Lüge zu jchließen, weil man ihn Komödie fpielen fieht. 
Napoleon der Große führte alle jeine Haupt: und 
Staatsactionen als Komödiant durch, ohne daß es 
deshalb weniger Haupt- und Staatsactionen waren. 
Aber Mar) war jebt, wo ein Lichtitrahl der Wahr- 
heit den Nebel kindiſcher Illuſionen einmal durch— 
brochen hatte, geneigt, in's andre Extrem zu verfallen, 
wie es mit unſern Neigungen und Abneigungen, grade 
in jenem Alter zu gehn pflegt, wo die Reaction gegen 
enttäuſchten Enthuſiasmus nur zu oft als Aetze in's 
Blut des ganzen übrigen Lebens zurückſchlägt. Ueber— 
dies war aber Mary Dawſon auch noch Amerikane— 
rin. Die Amerikaner ſtehen in dem Rufe, eine Ma— 
nie für Illuſionen zu haben. Sie laſſen ſich auch 
wirklich von jedem Charlatan mit offenen Augen am 
Narrenſeile herumführen, aber wohlgemerkt! mit offe— 
nen Augen. Der Yankee ergibt ſich der Illuſion 


155 


zur Erholung, dem Enthufiasmus aus Yurus. Allein 
bei der leifeften Warnung ernjthaften Intereſſes, er- 
hebt fih der Inſtinct der Selbiterhaltung; Falter 
Beritand, ſpähendes Mißtrauen, unerbitterliche Logik 
in der Erſpähung und Verfolgung des eigenen Vor— 
theils, verdrängen im Nu jede Spur der gehätſchelten 
Täuſchung und das eben noch gefeierte Idol liegt 
verhöhnt, in Stücke zerſchlagen, zu Staub zermalmt, 
am Fuße ſeines Altars. 

So verfolgte jetzt die junge Amerikanerin mit 
unerbitterlicher Energie ihren feindlichen Gedanken, 
ohne ſich von der wohlſtudirten Taktik des Abenteu— 
rers im Geringſten beirren zu laſſen. 

„Und welchen von Ihren verſchiedenen Namen 
denn trägt die Frau,“ entgegnete ſie kalt, „die Sie 
in Lowell geheirathet und verlaſſen haben?“ 

„Das iſt eine infame Verläumdung!“ rief der 
Abenteurer. „Ich verlange, daß man mir meine An— 
kläger confrontire! Ich verlange, daß man mir das 
verworfene Geſchöpf confrontire, welche ſich eines le— 
gitimen Anſpruchs auf den Namen und die Hand des 
Grafen Rouſſillon rühmt! Ich verlange Gerechtigkeit, 
Madame, und ich werde ſie zu finden wiſſen, ſollte 
ich ſie auch vor den Gerichten ſuchen müſſen.“ 

Die Drohung ward gewürdigt. Aber ein Ge— 
fühl unbeſchreiblicher Empörung über die niederträch— 
tige Andeutung erſtickte jeden Gedanken von Furcht 
in derjenigen, an welche dieſelbe gerichtet war. 

„Die Confrontation, die ſie verlangen, ſoll Ihnen 
werden,“ ſagte die junge Dame noch immer im Tone 


156 


falten ſtillen Hohnes, aber es zitterte etwas dahinter, 
wie das unterirdifche Rollen eines Erdbebens. Sie 
wollte ‚gehn. 

„Hören Sie mih, Madame!‘ trat ihr der ver- 
ſchmähte Gemahl, noch einmal melodramatiih in den 
Weg, „es ift das legte Wort, das ich Ihnen zu ſa— 
gen habe. Dir foftet es nichts, das eben gewählte 
Spielzeug unter die Füße zu werfen und zu zertreten. 
Aber ih kann ohne Dih nicht leben, Mary, ich 
fann’s nicht. Du bift mein! das Band, welches ung 
verbindet, iſt unauflöslich.. Ich kenne meine Pflicht, 
ich weiß, was ich mir, was ich Ihnen jelbit, was 
ih Ihrer einft zu erwachenden Reue ſchuldig bin. 
Meine Rechte auf Sie —“ 

„Hinweg! Aus dem Wege, Elender! Ungehener! 
Laſſen Sie mich vorbei!‘ fchrie das Mädchen jet 
außer fi, und ftürzte an ihm worüber zur Thüre 
hinaus. „Die Gattin diefes Menfchen! In feiner 
geſetzmäßigen Gewalt!" rief es in ihr mit Schreden. 
Bon allen Furien verfolgt, ftürzte ſie durch die Halle 
zur Treppe hinauf, hinauf, hinauf. 

Beim Eintritt in ihr Schlafzimmer fiel fie mit 
dem Geſicht flah auf den Boden. 

hr Mann, denn das war er feit drei Sunden 
vor dem Gefeß, fah fie zähnefnirfchend entfliehen. 
Dann bewirkte er feine Entfernung geräufhlos und 
unbemerft. 

„Der Graf madt eine lange Bifite,‘‘ bemerkte 
Mrs. Dawfon, nachdem das Tiſchtuch abgenommen 


157 


und das Dejjert aufgetragen war. „Ich werde den 
Thee hier hereinbringen laſſen.“ 

„hun Sie das und laſſen Sie Miß Damjon 
zum Thee abrufen. Es nimmt jonjt fein Ende.“ 

„Es ift noch die Frage, ob er den Winf auch 
verjtehen wird,” eriwiderte die Dame, der e8 jekt 
plöglih zum eriten Male deutlich wurde, daß der 
Graf eigentlih der unverfchämtefte, unmanierlichjte 
Menſch war, der fich je in gute Gefellfchaft gedrängt. 
Aber darin hatte grade feine Vornehmheit bejtanden, 
daß er Jedermann von oben herab behandelte und auf 
gar nichts Rückſicht nahm, als auf fich felbit. 

Der Thee fam; Pompey fehrte von feinem Auf- 
trag aus dem Parlor mit der Nachricht zurüd, es 
jet Niemand da. 

Die Kammerjungfer wurde hinaufgefhidt. Das 
Fräulein war unpäßlich und hatte fich zu Bette gelegt. 

Getäuſchte Liebe war es ficherlich nicht, was 
Mary Damwfon auf ihr Lager geworfen. Das Herz 
hatte an ihren eriten Roman feinen Antheil, fonvdern 
nur die Schulmüdchenromantif. Der Lebensfaft war 
noch nicht im das eigentliche Frühlingsjtadium ver 
Circulation getreten, wo ein falter Nordoft dem zar— 
ten jungen Leben jo ververblich wird. Aber er war 
dennoch eben im Begriff, hineinzutreten. Der Gegen 
jtand lieg jich wohl aus dem Herzen reißen, ohne 
eine einzige Safer mitzuziehn; aber nichts dejtoweniger 
war das Kind an diefem Zage ven Durchgang hin— 
durchgegangen, wo die Seele des Weibes ‚in allen 
Yebenstiefen zittert‘ und wor der himmelhochjauchzen- 


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den Angjt des bevorftehenden Opfers der Jungfräu— 
lichfeit jelbft das Bild der empfangenden Gottheit 
erbleiht. In dieſem höchſten Augenblid weiblichen 
Lebens, — die deutſche Sprache nennt ihn tieffinnig 
Hoch-Zeit — ſchlug ihr der Donnerfeil eines ver- 
nichtenden Verhängniſſes hinein mit Enttäufchung, 
Scham, Reue, unbejchreiblicher Erniedrigung, unbe— 
ftimmten Drohungen, heimlicher und öffentlicher Ver— 
folgung, fittliher und gejellfchaftlicher Ungeheuerlich- 
feiten, ohne Hoffnung auf Erlöfung, ohne Ausficht 
als auf langes Hinfterben eines in ber Blüthe ge- 
fnickten Lebens. 

Ueber ven erjten gefährlichiten Parorismus hal— 
fen dem jungen Wejen Entrüftung und Abjcheu, un— 
bändiger Stolz und vor allem das faſt triumphirende 
Bewußtfein, daß fie dem Gräßlichiten dennoch ent- 
ronnen ſei. Sie war dem Elenden verjchrieben, aber 
nicht ausgeliefert; fie war ihm angetraut, aber nicht 
vermählt — nimmermehr! 

Da Miß Damjon den nächſten Morgen nicht 
zum Frühſtück fam, jo ging ihre Mutter hinauf, um 
nach ihr zu jehn. 

Sie fand das junge Mädchen im fejten Schlaf, 
aber welcher Anblid! In der feit heraufgezogenen 
Unterlippe lag bitterer Grimm, in den zufammen- 
gezogenen Brauen nagende Sorge, in den offenen 
Nafenlöchern trogiger Kampf, in der an's Herz ge: 
preßten Hand zurüdgeftaute Pein. Die wunderbar 
reinen Umriffe aller Züge des Mädchens jchienen 


159 


unter dieſen gewaltfamen Berjchiebungen erft recht 
ihren unzerjtörbaren Zauber zu behaupten. Wange 
und Kinn, Kopf und Schultern waren findlich zart 
gerundet, aber Zodtenbläffe lag dariiber. Es war ein An— 
bie zum Lächeln und zum Weinen, diefe Spuren eines 
furchtbaren Sturmes auf einem DBeilchenbeet, eines 
wüthenden Kampfes, ven ein beherztes Lämmchen 
gegen irgend einen furchtbaren Gegner geführt. Ein 
Gefühl unendlichen Mitleivs überfam das Mutter- 
herz, eine neue Regung der fo felbftändigen und, 
wie alle Mitglieder der Familie, innerlich ijolirten 
Tochter gegenüber. Sie vrüdte ihr einen Kuß auf 


den zujammengepreßten Mund und — fdidte zum 
Doctor. 
ALS Auguſtus — er fam wie gewöhnlich eine 


Stunde fpäter zum Frühftüd, — erfuhr, daß jeine 
Schweſter noch [chlief und den Doctor brauche, ging 
er aus, ohne fie gejfehen zu haben. Er war von 
Geſchäften wichtigfter Art — für ihn — in Anspruch 
genommen. 

Der Doctor wurde zwar von feiner Patientin 
nicht vorgelaffen, mußte aber am jpäten Abend zum 
zweitenmale gerufen werden, da biejelbe velirirte. 

„Biliöfe Unordnung mit hinzugetretener Erfäl- 
tung,‘ lautete das Arztlihe VBerdict. Die Behand- 
(ung fonnte trogdem nicht zutreffender fein, da fie 
Yebensgeijter und Nerventhätigfeit fo viel als möglich 
herunterbrachte. In einer Woche ging Miß Damfon 
Ihon wieder aus. Sie wollte nicht frank ſein. Allein 


160 


unterdejjen hatte jie ihren Bruder nicht ein einziges 
Mal gejehn, und als fie ihn endlich wiederſah, ver- 
mieden Beide, Jedes aus eigenen Gründen, den Namen 
des Counts auszusprechen. 


Elftes Kapitel. 


Die Krife. Gerr Dawfon als Bür, 


„Ihere’s no wind so bad but blows som body good.“ 
Engliihes Sprüchwort. 


„I est juste que ceux qui font bien mes affaires, fassent 
bien les leurs.‘“ Louis XIV, 


„Zwei Schelme müfjen fein zu Iangerjpartem Gut, 
Der eine, der’3 erwirbt, der andre, der's verthut. 


Der alte Radel. 


Es war in der dritten Woche des Monats Au— 
gut, noh nicht ganz fünf Monat nach jenem Ge— 
ſpräche zwifchen Herrn Dawfon und Wilhelmi, als 
die Damals vorausgejagte Kriſe hereinbrach. Das 
Signal gab die Ohio Life- und Truftcompagnie, welche 
wegen einer mijerablen Summe von zwanzig- 
taufend Dollars, die ihr Agent in New-York nicht 
hatte auftreiben können, Zahlung einftellte. In Folge 
diefer Faillite wurde das Mißtrauen allgemein, das 
Geld zog jich zurüd und das ganze Syſtem fam in’s 
Stoden. Wie Hear Dawſon die eriten Symptone 


161 


jo richtig beurtheilt und den DBerlauf jo fcharflichtig 
prophezeit hatte; die Eifenbahngejellihaften, mit Hy— 
pothefen überlaven und oft faum im Stande, ihre 
laufenden Koften zu deden, pochten an alle Thüren 
um Aushülfe; ihre Actien fielen zuerft. 

Aehnliche Verhältniſſe zeigten jich in allen andern 
Actienunternehmungen. Die Zinjen ftanden im beiten 
Falle in feinem Verhältniß zu dem Preife, zu wel- 
hen der Schwindel die Shares in die Höhe getrie- 
ben hatte. Als daher die Eijenbahnobligationen das 
Signal zum KRüdfall gegeben hatten, folgten alle an- 
dern nad. Die Folge war, daß der Marft mit 
Papier überfhwemmt und baar Geld in dem Maaße 
gejuchter wurde. Als es aber erjt zu dem Punfte 
gediehen mar, zeigte ſich's plöglih, daß die ganze 
Geſellſchaft auf Credit gelebt hatte, daß, bei ver 
Leichtigkeit des Erwerbs, jeder fich die Reichthümer, 
die ihm der nächſte Tag erjt noch bringenfollte, jchon 
den Zag vorher hatte escomptiren laſſen und daß 
Actien, Banknoten, Wechjel, Werthichreibungen — alles 
Andre eher zu haben war, als baares Geld. Wie 
ſehr aber das leßtere aus dem Bereich gewöhnlicher 
Sterblicher lag, war der Handelswelt eben erjt recht 
in’8 Bemwußtjein getreten, als fie eines ſchönen Mor— 
gend mit der Nachricht erwedt wurden, daß eines 
der größten, renommirtejten und beitverwalteten Credit— 
Snftitute in der Union nicht hatte zwanzigtaujend 
Dollars auftreiben fönnen, um ſich vor dem Bunf- 
bruch zu retten. Der paniihe Schreden erjchien wie 
ein Geſpenſt in der City und nahm davon Beſitz. 

I. 11 


162 


Nun ging alles drunter und drüber; Feiner nahm ſich 
mehr Zeit zum Frühſtücken oder nur zum rechten 
Anziehen, aus fieberhafter Angſt nah Wall- Street 
zu fommen, um jeine Depofiten von feiner Banf einzu- 
ziehenen, um jeine Banfnoten gegen Baar auszumech- 
jeln, um feine Stod3 und Actien dem Mäfler zum 
unbedingten Berfauf zu überliefern, um feine Wechjel 
und Noten discontiren zu laſſen, furz, um alles dag 
zu thun, was Herr Dawjon, in Vorausficht des fom- 
menden Sturmes, jchon vor fünf Monaten gethan 
hatte. Für die Andern, die es jegt thun wollten, 
war es zu jpät. Indem aller Credit plöglich auf- 
hörte, hörte plöglih Alles auf, denn Alles war Ere- 
dit gewefen. Die größten Firmen fielen, eine nad 
der andern, wie die Kartenhäuſer, die Fabrifen wur— 
ven geſchloſſen, die Arbeiter entlaffen — 20,000 in 
ver eriten Woche; Wall-Street ſah aus wie eine 
Spielhölle; Freunde und Belannte gingen ſich aus 
dem Wege, um fich nicht im Geficht lejen zu lafjen; 
Andre ſchwankten träumend und verftört vor jich hin, 
ohne anfcheinend zu willen, wo fie waren; oder jtier- 
ten die begegnenden Gefichter alter Gejchäftsfreunde 
an, ohne ſie zu fennen. Einer oder der Andre ging 
gar nicht mehr aus, ſondern feste fih zu Haufe in 
feinen Öroßvaterjtuhl, um ſich in brütender Ver— 
zweiflung die Haare bleichen zu laſſen. Wie Biele, 
die ale Braunköpfe in's Haus gegangen waren, tra- 
ten nach einigen Wochen als Grauföpfe wieder an's 
Yicht, mit zufammengefallenen Zügen, als kämen jie 
wie Rip van Winfle aus dem Elfenberge wieder. 


163 


Andere noch hatte die Gewohnheit des Elends ftumpf- 
finnig gemacht, wie zur Zeit der Guillotinewirth: 
Ihaft in Paris; ſie mifchten die Neuigfeit von einem 
halben Dugend Banferotts als Würze in ihr Tiſch— 
geſpräch und fonnten dabei ihren Humor haben. 
Freund Wilhelmi hatte den Rath des gewiegten 
Amerikaners weder ganz befolgt, noch ganz bei Seite 
liegen lajfen. Er ſah die Richtigkeit des Raiſonne— 
ments wohl ein. Aber eines Theilg war er fchon 
zu weit in feinen Dperationen für die Saiſon vor» 
geichritten, um plöglich einbiegen zu können, — und 
wie e3 dann mit unfern beiten Naifonnements zu 
geihehen pflegt, je länger die Ausführung auf fidh 
warten läßt, deſto mehr machen fich die conjervativen 
Bedenken, vie Macht des Schlendrians geltend. Haupt: 
jächlih aber war es gegen jeinen Charafter, feine 
commercielen Inſpirationen anders, als aus jich 
jelbjt herzunehmen, oder auch in der Weiſe zu ſpecu— 
liren, wie e8 in Dawſons Rathichlägen lag. Dagegen 
hinderte nichts ihn, ſich die Brophezeihung des Letzte— 
ven als Warnung zur Vorficht dienen zu laſſen und 
die guten Folgen zeigten jich jegt. Als das baare 
Geld um vie Mitte August var und rarer wurde, 
hatte er an das Haus Schröter & Comp. in Frank— 
furt um eine Aushülfe von 25,000 Dollars gejchrie- 
ben. Das war auch jeßt noch, nad) Ausbruch des 
panifhen Schredeng, ver ganze Belauf, vejjen er 
benöthigt war, um das Schiff jeiner New - Yorker 
Firma ſicher durch ale Klippen zu jteuern. Nur 
11? 


164 


mußte das Geld im regelmäßigen Poſtverlauf auch 
eingehn. Daran war ihm iedoch fein Zweifel. 

An demjelben Tage und um dieſelbe Stunde, 
wo diefer Brief nah Frankfurt auf die Poſt ſpedirt 
wurde, bejuchte Herr Dawſon jeinen gewöhnlichen 
Yundjalon nahe an der Börſe; weniger um zu früh- 
jtüden, als weil dort die Geldmänner einzutreten 
pflegten. Denn feitdem Herr Dawfon fi von Ge- 
ihäften zurüdgezogen hatte, machte er, wie das bei 
tolher Zurüdgezogenheit in Amerifa immer der Fall 
it, gewillermaßen „priavtim“ und „auf unbevdeutenve 
Weiſe“ in Stod®. 

In diefem Frühſtückslokale hatte jeit einigen 
Monaten ein junger Burfche einen Zeitungs- und 
Cigarrenitand aufgefchlagen. Da er gewandt und im— 
pertinent, daneben aber zuvorfommend und wigig war, 
jo machte er fich in kurzer Zeit zum Xiebling aller 
Säfte. Auf welche Art er dieſe ausholte, over ob 
er andere Mittel ver Kundfchaft zur Benugung hatte, 
es gab bald feinen beveutenden Gelomann mehr, in 
deſſen Verhältnijfe der junge Burfhe nicht von A 
bis 3 eingeweiht ſchien. „Wiſſen it Macht“ fagt 
der alte Vater der National-Defonomie. Es fonnte 
nicht fehlen, daß man fich dann und wann im Ge- 
heimen an den winzigen Heinen Zeitungskobold wandte, 
um von ihm Aufklärung über die Solwabilität oder 
die Dperationen diefer oder jener „Partei” zu erhal- 
ten. Der Kleine aber, deſſen falt berechnendes Auge 
und gleichfam durchwalfte Züge nicht weniger mit 
feinen unentwidelten Gliedmaßen contrajtirten, als 


165 


feine Wichtigkeit unter den Gefchäftsleuten mit feinem 
armjeligen Etabliffement auf einem hölzernen Brette, 
benahm fich bei ſolchen Gelegenheiten ſtets fehr dis— 
cret und Keiner wußte oder wollte ihm nachjagen, 
daß er fich jemals zum Spion hergegeben habe. 

Sein befonderer Freund aber war ein Geld» 
mäfler mit Namen Simſon Scraper, ein baumhoher 
Mann, vdeifen lange Fuchsnafe und lebhafte Fleine 
blaue Augen in feinem andern Lande der Welt, aus 
einer jo jovinlbäuchigen Mafchine hätten hervorwachjen 
fönnen, als in Amerifa, wo die unausgejegte Praris 
der Gejchäftsfchlaunheit oder des Unternehmungsgeiftes 
alle Typen unmwiderftehlich nach jich ummovelt. Sim— 
fon Scraper war, im Einflang mit feiner Phyſiono— 
mie, eine joviale Canaille; übrigens notoriſch injols 
vent, was ihn nicht verhinderte, ein großes Haus in 
der Fünften Avenue zu machen, und von dort aus 
jeden Morgen, gleihjam im Triumph über feine 
Gläubiger auf dem Hochfi eines ſuperben Tilbury 
mit einem „Ziger" an der Seite nach feiner Dffice 
zu fahren. Was ihn zum Theil hielt, war politifcher 
Einfluß, indem er ein unermüdlicher und fehr wir- 
fungsreicher Drahtzieher bei feiner Partei war. 

Auf diefen Mann nun hatte Herr Dawfon ſchon 
jeit einiger Zeit fein Auge geworfen, um ihn als Ge- 
hülfen bei jeinen geheimen Dperationen zu benußen. 
Der Kerl war Schlau und gewifjenlos und zu Allem 
zu gebrauchen. Eben dieje Eigenschaften aber, welche 
ihn auf der einen Seite jo eminent gejchiet zum 
Börſenſpieler machten, hätten es auf der andern Seite 


166 


als unverzeihliche Thorheit erfcheinen Taffen, ihn zum 
Bertrauten anzunehmen. Geheimer Verrath oder off- 
ner Scandal wären vas unausbleiblide Ende einer 
ſolchen Alltanz gemejen. | 

68 war an jenem ebenerwähnten Tage, etwa 
anderthalb Wochen vor dem Ausbruch der Kriſe, daß 
Herrn Damfon, der mit der bejonvdern Abficht nad 
dem Frühiticslocale gegangen war, fich ein paſſendes 
Subject für feine Pläne auszuerleien, die Vertrau— 
lichkeit zwijchen dem Fleinen Zeitungsbändler und dem 
Geldmäkler auffiel. Der Runge hatte ihm immer 
gefallen und mit der ihm eignen vadicalen Vorurtheile- 
lofigfeit in Gefchäftsfachen, beſchloß er, furz und gut, 
ihn zum Mittelsmann zu verwenden. Er wartete 
alfo die Zeit ab, wo die Befucher für den Tag ſich 
ichon verlaufen hatten, um wieder zurüdzufommen. 
Es war gegen fünf Uhr, der Junge jchicte ſich eben 
zum Aufpaden an. 

„J suppose“ redete er ihn an, indem er ihm 
eine Zeitung abfaufte, „Ahr hättet nichts dagegen, 
einen ehrlichen Pfennig umzudrehn, he?" 

„J suppose! Ahr hättet ftarf was dagegen! 
Ihr jeht mir grade danach aus, alter Mann,” war 
die ironiſche Antwort. 

„Ihr fteht auf gutem Fuße mit Mr. Scraper?” 
fing der Kaufmann von einer andern Seite den An— 
griff an. 

„Well, I guess,“ erwiderte der Burfche jchlau, 
„\o lange ih ihm nichts verfaufe, als eine Zeitung 


167 


für zwei Gent, fo wird es zır feinen gefeglichen 
Schiwierigfeiten zwifchen mir und old Scrap fommen.” 

Die zweite Antwort gefiel dem Speculanten 
noch beſſer, wegen der Perfonalfenntniß, welche fie 
verrieth, als die erite wegen ihrer Impertinenz. 

„Ihr ſeid mein Mann,‘’ fagte er beifällig lächelnd, 
‚und Ihr könnt eine hübſche Summe machen, wenn 
Ihr ein Geſchäft für mich übernehmen wollt.‘‘ 

„Mit der Sprache heraus, alter Junge. Ach 
bin Euer Mann, wenn Ihr mein Mann feid, das 
iſt Alles,‘ erwiderte der Burfche frech und unbeküm— 
mert im Zone. In: der Miene aber horchte er 
hoch auf. 

„Ich weiß, Ahr feid discret,“ ſchickte ver Millio- 
när voraus. 

„Könnt Ihr mir Jemand nennen, deſſen Ver— 
trauen ich jemals verrathen hätte?‘ rief ver Junge 
mit Point d'Honneur. 

„fo, verjteht Ihr die Dperationen auf dem 
Stockmarkt?“ 

„Wie wollt Ihr's gehen, Bulle oder Bär, 
Mann?“ | 

„Bär, veriteht ſich.“ 

„Das wäre auch mein Rath geweien, Sir.” 

„Alſo zur Sache: Scraper joll für mich fpielen, 
da Ihr natürlich nicht aufs Mäkleramt gehn könnt, 
aber er darf nicht willen, wo die Fonds herfommen.‘‘ 

„Ich verſtehe. Und wie viel Fonds habt Ahr 
denn, Sir, gefälligjt daren zu menden ?‘‘ 


168 


„Wollen fagen Hunverttaufend Dollars, für's 
Erſte.“ 

Der Kleine ſperrte denn doch die Augen mit 
einer Art ehrfurchtsvollen Schreckens auf. Im näch— 
ſten Augenblick glitzerten ſie von einem unbeſchreib— 
lichen Feuer. Ihm, als verlumpter Bettelbub, auf 
der Straße aufgewachſen, fiel jetzt beim Austritt aus 
den Kinderſchuhen das große Loos zu. So wenig— 
ſtens ſtellte ſich ſeinem ſchnell combinirenden Blick 
das Anerbieten dar. Er faßte ſich jedoch hinlänglich, 
um, obwohl mit fliegender Hitze in Aug und Stimme, 
das Geſpräch im klarſten Geſchäftsſinne fortzuführen. 

„Und was ſollen wir auf den Markt werfen,“ 
fuhr er nach einer kurzen Pauſe fort. 

„Ohio Life und Truſt, Pemberton Mills oder 
irgend welchen New-Orlean-Bankſtock. So faſſen wir 
die Bullen an allen ihren Hörnern zugleich.“ 

„Ohio Life und Truſt wird ſchwer herunter— 
zubringen ſein.“ 

„O, dafür iſt geſorgt. Wir haben der Geſell— 
ſchaft eben 2, Millionen gekündigt. Sie ſoll es 
ſchwer finden, das Geld aufzutreiben. 

„Alſo wie viel herunterbieten?“ 

„Immer von zwei bis ſechs Procent unter dem 
gegenwärtigen Marktpreiſe; je nach Umſtänden, das 
wird Scraper ſchon wiſſen.“ 

(Hier warf der Kleine die Lippen auf, als wollte 
er ſagen: „Ich etwa nicht eben ſo gut, als 
Scraper!?“) 


169 


Alfo 3. B. Scraper offerirt Ohio Life und Truſt 
heute über zehn Tagen zu 98 Procent zu liefern; zwei 
Tage ſpäter venfelben Stod zu 96; zwei Tage fpäter 
denfelben zu 94 u. ſ. mw.“ 

„Ah, ich verftehe,‘ rief der unge ganz begei- 
ftert. „Vor der Verfallszeit haben wir ihn auf 90 
beruntergebracht, Faufen ihn für 90 und erhalten daher 
unjerm Contract gemäß 98. Das macht einen reinen 
Profit von netto 8000 Dollars auf 100,000. 

„Das iſt's, ich habe nie in meinem Xeben einen 
jo jungen Burfchen von fo bemwunderungsmwürdig 
ſchneller Auffaffung geſehen.“ 

„Aber, wenn nun die Bullen den Stock aufkaufen 
und ihn damit im Preiſe erhalten, ſo ſind wir „ge— 
wickelt.“ 

„Können's nicht, Sir, iſt kein Geld da.“ 

„Aber, ſagt mir, Sir, habt Ihr denn wirklich 
100,000 Dollars rein zu Eurer Dispoſition, um Euch 
im Nothfall den Rücken zu decken?“ 

„Macht Euch keine Sorge, mein Junge, wir 
werden wenig Fonds brauchen, aber für die, die wir 
brauchen, bin ich zehnmal verantwortlich. Alſo discret, 
daß Scraper keine Ahnung hat, woher, verſteht Ihr! 
Und wir kennen uns hier nicht anders, als wie 
immer. Ihr ſeht mich in meiner Privatwohnung. 
Wißt Ihr, wer ich bin?“ 

„Freilich, Mr. William Dawſon.“ 

„Alſo Adieu, ich werde Euch anſtändig bezahlen.“ 

Damit wollte Herr Dawſon davon eilen, aber 
er ſollte ſeinen Mann erſt noch kennen lernen. Der 


170 


Junge rief ihn zurüd. Man fonnte e8 feinem Be— 
nehmen jegt dennoch anjehen, daß Rang und Geld— 
macht, denen er ſich aus ‘der Entfernung ‚durch Im— 
pertinenz gleichgeftellt hatte, aus der Nähe ihre impo- 
ante Wirfung auf ihn: nicht verfehlten. Bis dahin 
war: er frei gewejen Herrn Damjon gegenüber, jetst 
hatte derſelbe ven Bropforb für ihn und feinen jungen 
Ehrgeiz in der Hand. Defto frecher geberdete ſich 
der Burſche, um dies wachlenne Abhängigfeitsgefühl 
von fich abzuwehren. „Alter Gentleman, mal erſt noch 
hierher. Ihr habt mir gejagt, daß ich Euer Dann 
jei, aber ich habe Euch noch nicht gejagt, daß Ihr 
auch der meinige jeid, he?“ 

Der Ichlaue, alte Runde begriff auf den erjten 
Laut, um was es jich handelte; er hatte jedoch auch 
den Eindruck ‚ver großartigen Machtentfaltung feiner 
Mittel bemerkt und bejchloß daher, zäh zu fein. 

„O, was das betrifft, jo jollt Ihr zufrieden mit 
mir jein.“ | 

„Now, jeht Sir," jagte ver unge, im Begriff 
aufzubraufen, „wenn Ihr mich für. ein Grünhorn 
haltet in meinen eigenen Angelegenheiten, jo Solltet 
Ihr doch mehr Verſtand haben, als mir die Eurigen 
anzııpertrauen.“ 

„Meint Ahr, Ihr wollt das Stüd Arbeit nicht 
übernehmen ?“ 

Der Yankee erwartete eine zögernde, unentjchiedene, 
an dem Köder unbeftimmter Ausjichten und hohen Pa— 
tronats hängenbleibenve Antwort. Er ivrte fich. 

„Auf’s Entſchiedenſte,“ erwiderte der Junge ener- 


171 
giſch. „Ach werde mich auf fein Geſchäft mit Euch 


oder irgend einem andern Manne in der Welt, wäre 
es auch der Kaifer von Franfreih, einlaffen, auf fo 
eine „anſtändige“ Webereinfunft, als die einer „an— 
jtändigen Belohnung“ Hin, wie man fie für eine ge- 
fundene Sache in der Zeitung ausbietet. Ihr follt 
zufrieden mit mir ſein!“ parodirte er höhniſch. 

„Well, was wollt Ihr haben?‘ 

„Es ijt Cure Sache, mir ein Anerbieten zu machen.‘ 

„Dächtet Ahr nicht etwa Hundert Dollars —“ 

„Geht nah Haufe, Sir. Auf folcher Bafis ift 
gar feine Unterhandlung möglich, wie fie fich beim 
Congreß von Paris ausprüden.‘“ Damit fing er an 
jeine Sachen zujammenzupaden. 

„Nennt aljo Eure Bafıs.‘ 

„Ich will Brocente am Gewinnft haben, das tit 
meine Bafis und damit Ihr's wißt, ich ſehe gar nicht 
ein, warum ein unge von achtzehn Jahren nicht eben]o 
gut das Recht haben joll, ſich in drei Monaten ein 
Bermögen zu erwerben, wenn er's Zeug dazu hat, als 
ein alter Kauz wie Ihr.“ 

Diefe Marime war dem gefunden Menſchenver— 
ſtand des in der demokratiſchen Praxis aufgewachjenen 
Mannes durchaus einleuchtend. Nach einiger Ueber- 
legung gewann Herr Damwfon die „billige Anfiht von 
der Sache‘, daß nicht Körpergröße oder Alter, fon- 
dern ver Grad der Unentbehrlichkeit, ven Preis feines 
Agenten beftimmen müßten; daß er wirklich an dem 
Knirps feinen Mann gefunden und daß deſſen For: 
derung, fein Allüirter müſſe fib als Mann dem Manne 


172 


gegenüber verantworten, die „billige Anficht‘‘ von der 
Sache fei. Auf diefer „Baſis“ famen fie zulett nach 
vielem Unterhandeln, wobei der Kürzere nicht den 
Kürzern zog, auf fünfzehn Procent vom Gewinnſt für 
den Heinen Geheim- Agenten überein. Davon hatte 
derjelbe jedoch dem offenen Mäfler, Simfon Scraper, 
die gewöhnlichen Commiffionsgebühren abzugeben. 

Kaum war Herr Dawfon auf fein Comptoir 
zurückgekehrt, wo er jett oft bis ſpät Abends blieb, 
jo trat fein Sohn Auguſtus zu ihm ein: eine uner- 
wartete Erjcheinung, da er denjelben noch auf einem 
Sommerausfluge vorgeblich in ven Wäldern von Maine 
vermuthete. Wohin und mit wen er jedoch auch aus- 
geflogen fein mochte, der junge Herr war am Abend 
vorher zurücgefehrt und hatte auf dem Dawſon'ſchen 
Familienfite übernachtet, wo Mutter und Schweiter 
diesmal ausnahmsweiſe ven ganzen Sommer zubringen 
wollten. Das Haus lag wenige Eijenbahnsjtunden 
von New-York entfernt, an einer ver lieblichen Meeres- 
buchten auf ver Linie nach New- Haven. Der Alte 
fam nur Sonnabends hinaus und blieb den Sonntag 
über. In der Woche war er zu jehr von Gejchäften 
übernommen und blieb in der Stadt. 

Nah ven gewöhnlichen trodenen Begrüßungsfor- 
meln, welche darin bejtanden, daß der Alte rief: 
„Hallo! find Sie's?“ und der unge gähnend ant- 
wortete: „Ich bin geſtern Abend nah Haufe gefommen 
und logire unten‘ — blieb dieſer auf dem ledernen 
Dffice-Sopha fiten, las die Zeitung, legte ſich wieder 
hin, ging an’s Feniter, bemerkte, es ſei ſchwül, fette 


173 
jich wieder und machte das Zimmer allerdings ſchwül 
durch feine Gegenwart, wie ein Gewitter, das ſich 
nicht entladen kann. 

Der Buter verjtand aus häufiger Beobachtung 
das meteorologifhe Phänomen jehr wohl, hatte in 
der That vom erjten Auyenblid an die Abjicht des 
jeltenen Beſuchs verjtanden, hielt e8 aber nicht für 
gerathen, durch irgend welches Entgegenfommen Ent- 
ladung herbeizuführen. 

Endlich nahm ver Dandh feinen Hut und bewegte 
ſich unfhlüfjigen Schritt zur Thür hinaus mit der 
interejjanten Bemerfung, daß er jet gehen müſſe. 
Auf welhe Müttheilung der Vater ihm einfach ein 
trodfenes „Good bye, Sir“, auf den Weg gab. 

In der Thür aber faßte Augujtus einen despe— 
raten Entſchluß und rief zurüd: 

„Was jagen wollte: Können mia nicht mit etwas 
Couuant aushelfen? Bedeutende Babindlichfeiten moagen 
zu begegnen.“ 

„Why, Sir, Sie haben feit einem halben Jahre 
nach der Melodie von fünfzigtaufend Dollars des 
Jahres gelebt!‘ 

Zur Antwort gab Auguftus zu verjtehen, jo weit 
fih durch fein Gemurmel zwifchen den Zähnen irgend 
etwas zu veritehen geben ließ, dag die nothwendigiten 
Xebensbedürfe alle Tage „theu—umaa—a’‘ werven. 

„Wie viel iſt's? fragte der Alte ärgerlich. 

„Zehntaufend Dollawas,‘ erwiderte der Sohn 
kleinlaut. 

„Mr. Mills! ſchreiben Sie Be Augujtus 


—J— 


174 


Damfon einen Chef auf zehntaufend Dollars!‘ rief 
Jener hinaus. „Und jest, Sir,“ fuhr er gegen ven 
jungen Verſchwender gewendet fort, „jehen Sie es 
al8 ausgemachte Sache an, daß dies das legte Mal 
it. Wenn Sie fih durchaus ruiniven wollen, jo 
werde ich meinestheils nicht von der Partie fein.‘ 

Der junge Mann jtefte ven Che mit unendlich 
erleichtertem Herzen in die Taſche, und wollte eben 
davon fliegen, wie ein Vogel aus feinem Käfig, als 
ihn der Mlte noch einmal mit dem Nachruf anbielt: 

„Sch fehe nur ein Mittel für Sie!“ 

Der Dandy wartete ergeben auf die weitere 
Specificirung. 

„Sehen Sie ſich nach einer Frau um und zwar 
lieber heute als morgen.“ 


Zwölftes Kapitel. 


Herr Beauford fiattet im Auftrage feines Freundes, des 
Count, einen Befund bei Bruder und Schweſter ab, Eſel 
und Jöwin. 

„Wär' ih ze Burgunden mit dem Lebene min, 
Sie müfte fie lange vri vor miner minne fin!‘ 
Nibelungenlied. 


Die diesmalige bejonvere Veranlajjung für die 
eben —û— J— Dollars war, abgeſehen 


175 


von dem Zuſtande perennirender Gelpverlegenheit, 
womit fich der junge Swell, nad) Art feiner — 
behaftet fand, die folgende geweſen. 

Noch ſaß er auf der breiten Piazza, uch den 
Rauch feiner langen Miorgenpfeife die entfernten Segel 
auf dem jpiegelglatten Meere erjpähend, und ganz 
homerifh gejtimmt, als ihm Pompey eine Karte 
brachte, der aber der Bejucher jelbjt ſchon unmittelbar 
auf vem Fuße folgte. 

Es war Beauford. Auguftus war einen Augen- 
bli® wie vom Donner gerührt, da er feit jenem Abende 
nicht wieder in Beauford's Lokale gejpielt hatte. 
Ueberhaupt hielt ein ſchweigendes Einverjtändniß der— 
gleichen Herren aus der Famıliennähe ihrer Opfer 
entfernt. 

Beim Anblid des Spielers bejtürmten daher ven 
armen Augujtus taujend drohende Gevanfen. Es 
jollte auch jchlimm genug kommen. 

Zuerſt erinnerte der Glüdsritter in feiner höf— 
lihen und höchſtverſtändigen Weile, daß es jeßt doch 
wohl Zeit jei, die jechstaufend Dollars zu decken, die 
als ri hätten jogleich ven nächiten Morgen 
bezahlt werden follen. 

„Dachte,“ ftotterte Auguftus, „dea — vea — 
dea — mie heißt ea doch noch? — dea Count hätte 
das in Oadnung gebuacht?“ 

„Allerdings. Aber er komme eben von Seiten 
des Counts, der das Geld nicht länger entbehren 
könne.“ 

„Wo Count jetzt?“ 1 


176 


„Das thut nichts zur Sade. Hier ijt meine 
Bollmadt. Ach zweifle nicht im Geringſten, daß Sie 
als Mann non Ehre feinen Augenblid verlieren wer- 
den, ven fleinen Boften zu löjhen. Dann aber 
fomme ich noch in einer andern Angelegenheit, vie 
ebenfalls meinen Freund, den Couni betrifft — 

Augujtus warf einen ängjtlichen. Seitenblid auf 
den Sprechenven. 

„Ohne Umfchweife zur Sache. Der - Count, 
Damwjon, findet fich auf's Ziefjte in feiner Ehre ge- 
kränkt und in feinem Charafter beeinträchtigt durch 
das Verhältnig, worin Sie feit vier Monaten mit 
feiner Frau leben!” 

„In feiner Ehua und feinen Chaumwactta?!” 
rief der Swell zwilhen Zorn, Hohn und Schreden. 
„Why, fie ijt ja feine Swau nicht ae Ca bat ja 
eine Andua geheiuathet!‘‘ 

„Sie Iherzen wohl. Eine Andere? Wer Fönnte 
dieje Andere ſein?“ 

Auguſtus ſchwieg, auf den Mund geſchlagen. 

„Es ſcheint mir nicht billig,“ * Abge⸗ 






ſandte ſcheinbar erregt fort, „und ich es mit 
meinen Ideen von gentlemänniſchem Tone nicht 
einigen, den Charakter eines Gentlemans auf b 
Vermuthung hin, und ohne Beweiſe, die man gericht— 
lich geltend machen könnte, zu verdächtigen. Ich kenne 
den Count, Sir, er iſt mein Freund; und ich nehme 
mir die Freiheit, Sir, zu behaupten: der Count hat 
nnr Eine Frau. — ch fordere Sie auf, Sir, das 
Gegentheil zu gr — und dieje Frau, Sir, haben 








177 


Sie ihm abmwendig gemacht und dieſe Frau wird 
gegenwärtig von Ahnen unterhalten.‘ 

„By Jingo, Beaufoad,‘’ rief der gefangene Vogel 
in der Schlinge zappelnd, „Sie wiljen wahrjcheinlich 
fo gut wie ih, daß Madame Puſtell von ihm dafüa 
bezahlt waa, fie nicht lebendig aus dem Haus zu 
laſſen, wenn fie fich nicht zähmen ließe. Das vea- 
dammta alte Menſch hat iha Geld ehalich veapient, 
denn es waa eine Höllenaabeit, veafihwa Sie.‘ 

„Würden Sie bereit fein, als Zeuge vor Gericht 
die eben angegebene Thatjache zur beftätigen ?“ | 

Auguftus ſchwieg, wiederum auf ven Mund ge- 
Ichlagen. 

„Dann, mein Herr, bleibt feine andere „‚billige‘‘ 
Anficht von der Sache übrig, als daß Sie den Count 
in feinen Rechten als Ehemann gefränft, ihm feinen 
häuslichen Frieden graufam zerrüttet haben und daß 
Sie ihm eine verhältnigmäßige Genugthuung ſchul— 
dig find.“ 

„Vahältnißmäßige? Will mich hängen laſſen, 
Beaufoad, wenn — 

„ah! —“ unterbrach er fich, indem ihm plößlich 
ein Lihtaufging: — „Ah! vahältnigmäßige!‘ 

„Ich habe ihm vorgeſchlagen, ſich mit einer 
billigen ntjchäbigungsfunme zu begnügen.“ 

„Was ift’8? rief der junge Millionärsfohn ziem— 
(ich — gewohnt, es mit der Eingehung von 
Verbindlichkeiten nicht zu genau zu nehmen. 

„Fünfzigtauſend Dollars baar ſollen alle ſeine 
Anſprüche tilgen.“ 

I. 12 









178 


„Bünfzigtaujend Dollama bawa?!“ rief ver junge 
Menſch entjegt. „Sind Sie toll, Beaufoad? Wohen 
nehmen ?“ 

„Jeder Gerichtshof würde ihm das RE 
zuſprechen.“ 

Die Verhandlungen kamen endlich damit zum 
gedeihlichen Abſchluß, daß der ſchon ſo lang und viel— 
fach gerupfte Swell ſich vor aller weitern Rupfung 
mit 50,000 Dollars loszukaufen ſchmeicheln durfte. 
Dieſe Summe ſollte Spielſchulden und Alles ein— 
ſchließen und in ſechsmonatlichen Raten von je zehn— 
tauſend Dollars gezahlt, mit der erſten Ratenzahlung 
noch jelbigen Zages der Anfang gemacht werden. 
Für das andere gab Auguftus feine toten und zwar, 
dem Verlangen gemäß, an Ort und Stelle. 

Da nun diefe Schwierigfeit wohl over übel zur 
Ausgleihung gefommen war, jo ſah Augujtus mit 
einem Gefühl unendlicher Erleichterung den Bejucher 
nıh dem Hut greifen. Man denke jich daher jeinen 
Schreden, als Herr Beauford mit der ihm jo wohl 
anjtehenvden, ehrfurchtsuollen Höflichkeit ſich das Pri— 
vilegium erbat, auf einen Augenblid „Madame 
iprechen zu dürfen. * | 

„Meina Mutta?” fragte Augujtus mit finfender 
Stimme. „Was in da Welt mit meina Mutta zu 
thbun, Beaufoad ?’ 

„Nicht doch Ihre verehrte Mutter, Dawfon; 
ih bitte um die Ehre Madame‘ — er jprad das 
Wort Franzöfiih, nicht Engliih aus — „Ihre 
Schweſter zu ſehen.“ 


179 


Der junae Mann ſchien Über das fo höflich uud 
refpectvoll geäußerte Begehren völlig die Bejinnnng 
zu verlieren. Er glotte ven Menſchen jprachlos an, 
ohne mehr zu mwilfen, was er aus deſſen Worten 
machen jollte. 

„Ich komme,“ fuhr der Abgefandte mit derjelben 
unerfchütterlichen Höflichfeit fort, ,‚‚ih Tomme von 
meinem freunde, dem Count, Madames Gemahl, 
um —“ 

„Beaufoad,“ rief der Bruder jett wild gemacht, 
indem er nur mit Mühe durch einen Bli nach dem 
Damenfenfter ven lauten Ausbruch feiner Wuth 
unterdrüdte. „Was wollen mit Ihuwam veadammten. 
Unfinn jagen ?“ 

„Was giebt’S denn, Dawſon?“ fuhr Beauforv 
in jeinem bisherigen Zone ungeftört fort. „Wollen 
wir nicht lieber unter einander den Ton beobachten, 
der unter Gentlemen gebräuchlich iſt?“ 

„Damn you, Beaufoad, ich muß eben 50,000 
Dollawas dafüa zahlen, daß ich mit des Counts Frau 
lebe, und jetzt —“ 

„Würden Sie im Stande fein, viefe Ihre Ans 
gabe, daß Sie mit einer angeblichen Frau des Counts 
leben, Madame, Ihrer Schweiter, gegenüber zu be— 
weilen, Sir?” 

„Der unglüdlihe Swell fchlug fi) in jeiner Ohn— 
macht die Stirn, knirſchte mit ven Zähnen und raufte 
ſich die. Haare aus. 

„Wenn Sie dazu nicht im Stande find, Sir,‘ 
nahm der hochfinnige Gentleman den Ton fittlicher. 

12* 


180 
Strenge wieder auf, ‚jo muß ich Ahnen fagen, daß 
es nicht „billig“ jcheint, auf einen Gentleman, welcher 
der Gemahl einer Dame ijt, die Ihnen fo nahe jteht, 
den Verdacht eines der von dem Geſetze und ver 
Meinung ver Gejellichaft jo emphatifch gebranpmarften 
Verbrechens zu werfen, wie, — ich kann das Wort 
faum über die Lippen bringen — Sir, die Bigamie iſt.“ 

Auguftus konnte ſich nicht mehr länger auf den 
Beinen halten und ſank bleich und erfchöpft in ven 
chineſiſchen Rohrſtuhl zurück, der ihm noch jo eben 
zum fühlen, genußreichen Morgenfig gedient hatte. 

„Was valangt Iha von meina Schweita? Auch 
buandichagen, Iha infame Canaillen?“ 

„Sie vergejlen fih, Gujtus. ft es nicht das 
„billige Ding‘‘ unter Gentlemen, daß man bei Mif 
verjtändniffen ein „‚billiges‘‘ Abkommen mit einander 
trifft und nachher jeder jeinen eigenen Weg geht?‘ 

Die Logik war höchſt einleuchtend und die ein- 
zige, die im gegenwärtigen Augenblide noch einen 
Anfnüpfungspunft zur Verftändigung bot. Der Ge- 
danfe, daß dieſe Schredgejpenjter früherer Ber- 
irrungen ihnen Tag und Naht um's Haus herum- 
ipufen, fie auf Schritt und Tritt überall hin verfolgen 
ſollten, war jo unerträglih, daß die Ausficht eines 
vollen Abſchluſſes unter was auch immer für Opfern, 
als ein wahres Labſal dagegen erſchien. Auguſtus 
bot zuerjt feinen eigenen Credit für weitere 10,000, 
20,000 endlih Bis zu 90,000 Dollars an. Aber 
Beauford erflärte ihm rundweg, daß fein Credit ſchon 
mit den erften 50,000 hinlänglich verpfündet jei, daß 


181 


Madame, wie er wiſſe, eigenes Vermögen habe, daß 
Befuche, wie ver heutige, ihre eigenen Unbequemlich- 
feiten für ven Befucher hätten, denen es ‚nicht billig‘ 
fei, ihn öfter als nöthig auszufegen und, kurz und 
gut, er müſſe die junge Dame felbjt jehen und zur 
Bermeidung alles Weitläufigfeiten und Mißverſtänd— 
niffe, die Sache mit ihr ohne Mittelsperfon und zwar 
an Ort und Stelle in Dronung bringen. 

In demfelben Augenblide fam Mary Damfon 
aus der Fleinen Bibliothef durch das bis auf den 
Boven gehende Schiebfenjter auf die Piazza. Seit 
einigen Monaten hatte jich die junge Dame mit leiden 
ihaftlihem Eifer auf Uebungen jeder Art in der freien 
Luft geworfen. Sie ritt, machte weite Fußtouren, 
ſchwamm, ruderte fogar, und war fein übler Schügß. 
Es interejfirte fie daher, als fie auf dem Tiſche im 
Bibliothekzimmer zwei reizende Revolver fand, vie 
Auguftus jo eben von der Reife mitgebracht und von 
jeinem Zimmer mit fich heruntergenommen hatte, um 
fie ihr zu zeigen. Sie hatten elfenbeinerne Kolben mit 
jilbernen Arabesfen. ausgelegt und lagen ihr ausge— 
zeichnet in der kleinen Mäpdchenhand. Miß Damfon 
brachte eines davon mit heraus, um neugierige Fragen 
an ihren Bruder darüber zu richten, — vielleicht auch, 
um ein paar Schüffe zu thun. Als der Spieler ſie 
heraustreten jah, erfuchte er Auguſtus, ihn vorzujftellen, 
was diefer mit jo befremdendem, verlegenen Wider— 
willen zulegt envlich that, daß die junge Dame fich 
jogleich injtinetmäßig auf die Hut ihrer vornehmen 
Impertinenz ſtellte. 


182 


„Ih komme,‘ eröffnete der Unterhänpler ehrer- 
bietig das Geſpräch, „expreß diefen Morgen hierher, 
um mir die Ehre auszubitten, ein paar Worte in 
einer Angelegenheit mit Ihnen zu reden, Madame, 
die Sie auf's Lebhaftejte intereffiren muß!‘ . 

Der Blif ver Angeredeten wurde dem faltblü- 
tigen Gentleman denn doch jest jo unerträglich, daß 
er, troß des dreifachen Erzes, womit ihm die Stirn 
gepanzert war, anfing, ſich unficher zu fühlen, bejou- 
ders, da ihr Mund nicht vie leiſeſte Andeutung er- 
muthigenden Einfallens verrieth. In ver That hatten 
die wenigen Worte, die Art des Sprechenven, dem fie 
irgend einmal wo in Gefelliehaft des Grafen begegnet 
zu jein jich erinnerte, wie das gejuchte: Madame, ihr 
jogleich den richtigen Fingerzeig gegeben. 

„Ich fomme, Madame,‘ nahm der Glüdsritter, 
nah einer furzen verlegenen Pauje, feinen Faden 
wieder auf, „von Herrn Count de Roufjillon.“ — 
Effectpaufe. 

„Bon Wem kommt er? fragte Miß Damjon 
ihren Bruder, mit jenem unnachahmlihen Hohn in 
Blid und Stimme, den nur junge Weltvamen an- 
zunehmen wiljen. 

Auguftus ftammelte etwas in ganz unarticulirten 
Tönen zur Antwort. 

„Bon Ihrem Gemahl, Ma'am,“ jagte ver Spieler, 
jeßt ziemlich fcharf, um ficb mit Gewalt Gehör zu 
verichaffen. 

„Auguſtus,“ ſprach Mary noch immer in dem— 


133 


jelben Zone und mit verjelben Miene; „schaffe mir 
doch viefen jonderbaren Menfchen vom Halfe.‘‘ 

„Lieben aufgeben, Beaufoad!” murmelte dieſer 
beilegend. | 

„sch dächte,“ ſagte —— mit unverwüſt— 
licher Würde, „es müßte Ihnen ſelbſt am meiſten 
daran gelegen ſein, Ma—Ma'am, in dieſer Sache 
Aufſehen zu vermeiden.“ 

„Auguſtus!“ wiederholte das Mädchen, jetzt un— 
geduldig mit dem Fuße ſtampfend, „willſt Du mir 
dieſen unverſchämten Burſchen vom Halſe ſchaffen?“ 

„Kein Geh mit Iha, Beaufoad, können Gift 
dwauf nehmen!“ intercedirte der verlegene Auguſtus 
von Neuem. 

„Es hängt von Ihnen ab,“ wollte der Abge— 
ſandte fortfahren, „ob —“ 

Damit war aber der Geduldsfaden des innerlich 
gepeinigten und inſultirten armen Mädchens geriſſen. 
Das Knattern einer Piſtolenſalve und das Pfeifen 
von einem halben Dutzend Kugeln um ſeine Ohren 
ſchnitt dem Redenden plötzlich das geflügelte Wort im 
Munde ab. Blind vor Zorn und von ihrem Bruder 
ohne Beiſtand gelaſſen, entlud die gereizte junge Löwin 
den ganzen Inhalt ſämmtlicher ſechs Läufe ihres 
Revolvers hinter einander in der Richtung ihres 
Feindes. Dieſer, an dergleichen Scenen gewöhnt, 
hielt das Feuer zwar ungetroffen und ziemlich gefaßt, 
aber doch nicht ohne Zeichen u gBnRe cher Auf⸗ 
regung im Geſicht aus. 

„Sie wollen uns alſo durchaus zwingen,“ ſagte 


184 


er, als das Gejchmetter vorüber war, „die Sache vor 
die Deffentlichfeit zu bringen.‘ 

„Ich ſchieße Sie nieder, wo Sie mir in den 
Weg kommen, Sie und den andern Buben dazu!‘ 
rief das Mädchen zur einzigen Antwort, mit entfef- 
jeltem Sreiheitsjtolz in den Augen, und eilte durch die 
Slasthür nach dem andern Revolver. 

„Keine Sefunde zu valien, Beaufoad, gmweich 
wieda da, mit da Doublette zuüück.“ 

Damit jchob er den Willigen um die Ede ver 
Piazza herum und brachte ihn eilends an fein Buggy. 

„Mit dieſem verdammnten Frauenzimmer Täßt jich 
aber auch gar nicht raiſonniren!“ murmelte der abge: - 
bligte Diplomat, als er feinem Pferde die Beitiche gab. 

Die Summa der Meditationen, welche ihm ven 
Weg nach der anderthalb Stunden entfernten Eijen- 
bahnitation mehr verkürzten als erheiterten, war, daß 
man möglicherweife noch von Auguftus eine weitere 
Tare auf das Geheimniß feiner Schweiter heraus- 
quälen könne. Was aber die Drohung mit öffent— 
fiher Bloßftellung gegen die junge Dame jelbjt be- 
traf, jo fonnte Niemand mehr daran gelegen fein, 
als dem Count und deſſen Freund ſelbſt, fih dem 
Licht derjelben gegenüber jo vudmäuferlich als möglich 
zu halten. 

ALS das junge Mäpdchen bei ihrer Rückkunft die 
Piazza leer fand, ftedte fie jich ven geladenen Revolver 
für Fünftige Fälle in den Bujen und kehrte in vie 
Bibliothek zurüd, wo fie fich weinend in die Poljter 
eines ungeheuren Sejjels vergrub. 


185 


Auguftus, froh, daß er fie auf der Piazza nicht 
mehr antraf, machte fih, um weiteren Erflärungen zu 
entgehn, jogleich auf ven Weg nach New-Norf. ALS 
er fich nach feinen Piitolen in der Bibliothek umſah, 
bemerfte er allerdings Marys Kleine Hand auf ber 
Polfterlehne und die Falte ihres Kleides auf dem 
Teppich, als ftile Zeugen ihrer Gegenwart. Allein 
er 309 e8 vor, da er nur die ungeladene Piftole auf 
dem Moſaiktiſch fand, nach der geladenen nicht weiter 
zu fragen. XLestere ging demnach von viefem Tage 
an ftillfchweigend in die pafjendere Hand über. 


Dreizehntes Capitel. 
Mutter und Tochter. 


„Come, vest in this bosom, my own stricken déer.““ 
Jom Mode, 


Mrs. Dawſon war an diefem Morgen ſchon 
früh ausgefahren, um ihre Nachbarinnen mit einer 
neuen Zoilette zu Argern, welche ven Tag vorher 
aus Paris angefommen war. Sie hatte ſich vor 
Mademoiſelle Tuillier im buchſtäblichen Gößendienft 
der Move, buchftäbli auf die Knie geworfen, um 
diefes Neueſte zuerjt und auf einen Tag ganz allein 
und ausjchließlich zu befiten und dazu noch Hundert 
Dollars ertra für ein fo erhabenes Vorrecht zahlen 


186 


müſſen — unvernünftig billig! und nur durch vie all- 
jommerlihe Entvölferung der Stadt an Beau: Monde 
in jeiner ertravaganten Wohlfeilheit zu begreifen. — 
Es erklärt jich daher, daß Mrs. Dawjon früh auf- 
gewejen une früh ausgewejen war, um feine nußbare 
Minute von dem Tage ihres Triumphes unbenutzt 
und ungenojjen zu verlieren. Der Erfolg war aber 
jo fchlagend und die unmittelbare Nahbarfhaft — 
meijteng auf entfernten Ausflügen für den Sommer 
abmwejend, — jo bald abgeweidet, daß die fajhionable 
Dame,. die im Grunde genommen ein jhympathiebe- 
dürftiges Herz hatte, bei ihrem eignen Hauje wieder 
vorjprach, theils um ihre Tochter zur Mitfahrt und 
zum Mitgenuffe ihres Triumphes einzulaven, theils 
um vor der entfernteren Nundreife, die jie jet vor- 
hatte, noch etwas zu lunchen. 

Mrs. Damfon eilte daher jogleih in’s Biblio- 
thefzimmer, wo Mary, jo oft fie ſich's überhaupt 
noch unter Dach und Fach gefallen ließ, ihr regel: 
mäßiges Standguartier aufgeichlagen hatte, — und 
itellte jich zunächit vor einen Fleinen Dvalfpiegel mit 
geſchnitztem Holzrahmen, der, wie alles in dem Haufe, 
auf ländliche Einfachheit raffinirt war. Die Dame 
vor dem Spiegel vergaß diesmal wirklich über ihrer 
Toilette fich ſelbſt anzuſehen, jo anziehend, fajt jugend— 
lich auch ihre feinen Züge von ver langen Morgen- 
fahrt angehaucht waren, und fo lebhaft auch ihre ſchö— 
nen Augen bei dem geſchwätzigen Berichte über ihren 
Zriumpbzug bligten. 

„Aber jieh nur! Du würdigſt fie ja feines Blide. 


187 


Iſt fie aber nicht auch ein Liebchen von einer Toilette? 
Mrs. Diddle,“ (ſie ſprach den Namen de Dell aus,) 
„meinte, weinte, jag’ ich Dir belle große Thrünen, 
als fie mich damit hereinfommen ſah. Sie hatte 
Mademoiſelle ebenfalls hundert Dollars geboten und 
gebettelt und beſchworen und ihr alles Mögliche ver- 
Iprochen, aber ich war die Begünftigte. Ich glaube, 
ih bin Mademoiſelle Tuillier's Liebling!” ſetzte jie 
naiv gefchmeichelt über den Gedanken hinzu. 

Bei diefen Worten wendete fie fich, gloreich in 
der Eofettejten Entfaltung ihrer foeben wieder zurecht 
gezupften Toilette, nach ihrer Tochter hin. 

„Aber, dear child, was haft Du? Bift Du 
franf? Du jiehft ja zum Erjchreden aus.‘ 

Sie ging zum Seſſel und jah ihrer Tochter, 
die mit halbgefchloffenen Augen daſaß und nicht ant- 
wortete, in's Geficht. 

„Komm, Mary, Kind, ſag mir, was kann ich für 
Dich thun? Soll ich nach der Kammerjungfer klingeln 
und Dich zn Bette bringen laſſen?“ 

Gegen dieſes Anerbieten rüttelte ſich das tapfere 
Herz des Mädchens zu der Antwort auf: „Nicht doc), 
mir fehlt ja nichts.” 

„So fomme lieber mit mir, das Fahren wird 
Dir gut thun. 

Mary Hatte ſoweit mit Grfolg das Princip durch— 
geführt, ihre Seelenleiden mit Bewegung in freier 
Luft zu bekämpfen. Sie war auch jetzt wieder bereit 
dazu. | 
„Ich will,“ jagte fie, noch jchwer, aber jchon 


188 


mit Wiedergewinnung ihres gewöhnlichen, gleichgülti- 
gen Tones. Damit ging fie hinauf, um fich anzuziehn. 
Während Marys Abmwefenheit aus dem Zimmer 
drängten jih Mrs. Dawſon mandherlei im Stillen 
gemachte Bemerkungen, die fie niemals hatte recht 
auffommen' laffen, mit plößlicher Energie zufammen. 
Die ungeheure Beränderung in dem Wefen ihrer 
Toter, woran fie ſich ſchon allmälig gewöhnt hatte, 
trat ihr in diefem Augenblid mit einem Male, fie 
wußte jelbjt nicht wie, im ZJufammenhange mit ver 
legten Bifite des Count vor die Seele. So ſchwer 
es für die falhionable Dame war, fih in etwas fo 
Drolliges, wie eine unglüdliche Liebe, hineinzudenken, 
jo unbeitritten ftand die Thatfache feit: die Verände— 
rung datirte von jenem Abend. Nun war aber Mrs. 
Dawſon felbft zufälliger Weife im Befige eines 
Fonds von Liebe, der nur durch den Ton ihres Ge— 
jellichaftsfreifes und durch das vollſtändig gemüthloje 
Berhältnig zu ihrem Manne unbeacdhtet in einem 
verlafjenen Winkel, tief unten auf dem Grunde ihres 
Herzens, liegen geblieben war. Sie hatte zu ihrer 
Tochter bisher, jo zu jagen in gar feinem Berhält- 
niß geſtanden. Jede war ihren eigenen Weg gegangen. 
Setzt fühlte jich plöglih das Mutterherz von unend- 
lihem Mitleid ergriffen. Die Scene von jenem 
Morgen an Marhy’s Bett fam ihr zurüd. Es fiel 
ihr fchwer auf die Seele, daß fie ihre Tochter fo 
ein ganzes, junges zartes Mädchenleben lang ohne 

Liebe, ohne Austausch, ohne Führung gelafjen. 
Als daher jetzt Mary, zur Ausfahrt angezogen, 


189 


in's Zimmer zurüdtrat, mit einer Miene, womöglich 
noch ftarrer und theilnahmlofer, als gewöhnlich, fühlte 
fie plöglich die Arme ihrer Mutter um den Naden, 
heftige Küſſe auf dem Munde, heiße Thränen auf 
den Wangen. 

„Armes, armes Kino!” Tchluchzte Mrs. Daw— 
jon leivenfchaftlich, ‚„‚verzeihb mir, verzeih Deiner bö— 
jen Ma’! Armes Kind, liebe Mary!“ 

Mary war im erften Augrnblide erjtaunt, faft 
unwillig. Aber als ihr die Töne der tiefiten Liebe 
mit überwältigender Wahrheit in's Herz drangen, 
warf fie fich mit nie gefühltem Entzüden ver Mutter 
an die Bruft und fchluchzte, als wollte fie fich die 
Seele ausfchluchzen. 

Der Kutſcher wartete eine volle Stunde vor 
der Thüre, ohne daß die Herrin fich zeigte. Bridget, 
welche fich in der Bibliothef etwas zu thun machte, 
fand Mutter und Tochter, Mund an Ohr, mit ver- 
weinten Augen und verjtörtem Gefichte. Der Wagen 
wurde zuletzt abbeitellt und unter den Dienjtboten 
verbreitete fich das nnerhörte Gerücht, daß Mrs. 
Dawſon und Miß Dawfon zufammen geweint hätten. 

Der Conjecturen über die Urjache dieſer außer: 
ordentlichen Naturerjcheinung war fein Ende, bie 
Pompey, der feine eignen Gedanlen über die am 
Morgen gehörten Piſtolenſchüſſe hatte und überhaupt 
ein combinatorifcher Kopf war, zu verjtehen gab: 

„I guess, ich beiß, bas es iſt!“ | 

Alle bejtürmten ihn, zu reden. 

„Well, I guess,“* fagte er endlich dem Zu- 


* 
Fre 


190 4 


dringen nachgebend, mit wichtiger Miene, — „fie find 
in Aufregung gerathen über Diefes oder Jenes, und 
das ift es, bas man, I guess, als vie mehr imme- 
diat apparorismatifche Urfache bezeichnen fan, barum 
fie in einem Apparorismus bon Beinen berfallen 
ſind.“ | 

„Na, ich bin nur froh, daß es weiter nichts ift, 
als das,’ ſagte die Köchin, tief Athem holend, als 
wär ihr ein Stein vom Herzen. 

„Ich ebenfalls,’ fagte Bridget und wechſelte 
Blicke des geheimen Einverftändniffes mit ihrer Col— 
legin aus ver Küche. 

Beiden ſchlug nämlich das Gewiſſen über bie 
Grocers-, Fleifcher- und verjchievene andere Liefe— 
rungen für das Hausweſen, worin fie etwas über die 
Gebühr jpeculirt hatten. 

Pompey lachte fih im’s Fäufthen. Er hatte 
zwar. nicht lauten aber anfchlagen hören und wollte 
jein Geheimniß, wenigſtens bis auf weitere Entdeckun— 
gen, für eigene mögliche Verwendung für ſich be: 
halten. 


191 


Vierzehntes Kapitel. 


Paddy nimmt zu an Alter, Weisheit, und Gnade — bei 
den Menfchen. Beigt ſich als Freund in der Moth, 


A great place strangely qualifies. 


John Selden on preferment. 


In aller Frühe, vor Anbruch des Gejchäfts- 
tages, deffen Sonne gegen zehn Uhr aufgeht, hatte 
Herr Damwfon in feiner einfamen Reſidenz eine feiner 
jetst fajt täglichen, geheimen Morgenfißungen mit jei- 
nem geheimen Agenten gehabt. Es war wunderbar 
an dem jungen Burjchen zu beobachten, wie Gott, 
wen er ein Amt auch den Verſtand dazu gibt und 
in wie furzer Zeit ſich aus einen Heinen Straßen- 
jungen ein großer Börfenmann machen läßt. Herr 
Dawſon und fein junger Agent frühftückten jegt vegel- 
mäßig zuſammen, gingen dabei die Courfe durch und 
bejprachen ihre Dperationen für ven Tag Es wäre 
ſchwer gemejen, für den Umeingeweihten, zu unter- 
icheiden, welcher von ven Beiden der geborene Millio- 
när und welcher ver geborene Lumpenjunge war. 
Selbft die Aeußerlichfeiten im Gebrauche civilifirter 
Tiſchutenſilien hatte fich der Kleine mit aufmerkſamer 
Gelehrigfeit und Ambition angeeignet. Nur dann 
und wann zeigte ſich ein ſpasmodiſcher Rückfall in 
prä Fünfavenuejche Gewohnheiten, wie er denn einmal 
im Ziriumphe einer fpeculativen Idee, eine Forelle 
beim Schwanze ergriff und gellend um ven Kopf 
Ichwang, ein andermal feinen Buchweizenfuchen an die 


192 


Dede fladte, und was vergleihen Naturausbrüche 
mehr waren. Glücklicherweiſe duldeten fie bei ihren 
Frühftücsconfultationen Feine dienenden Zeugen, ſon— 
dern die alte Negerin, das einzige im Haufe zurüd- 
gebliebene Möbel, welches Herrn Dawſons Küche 
und Bett bejorgte, jchicte die Speifen, die deshalb 
nicht weniger Funjtgemäß zubereitet waren, durch den 
„ſtummen Aufwärter‘“ herauf — und den übrigen 
Theil der Aufwartung bejorgte der Wirth felbit. 

Es war an einem der eriten Tage des Dftobers 
und die Banfen von Providence hatten das Signal 
zum Suspendiren gegeben. Auf diefes Signal hatten 
die Vertrauten, oder, wenn man lieber will, die Ver: 
Ihworenen, nur gewartet, um andre Segel aufzuziehn. 
Sobald vie Banfen von Baltimore, Philadelphia, 
New-York nnd Boſton dem Beifpiele folgten, war es 
far, daß die Krifis ihren Höhepunkt erreicht hatte 
und wieder anfangen mußte, fich zu legen. Das Ver— 
trauen mußte ſich allmälig wieder herjtellen, und 
mit dem Bertrauen mußten die Stods, die jegt die 
niedrigite Ebbe erreicht hatten, allmälig wieder jtei- 
‚gen. Noh ftanden gejeglihe Schwierigkeiten ver 
Suspenfion im Wege, befonderd im Staate Neiw- 
York, wo jogar die gefetliche Möglichkeit dazu fehlte, 
allein ſchon hatten fich einzelne gewichtige Autoritäten 
des Geſetzes in Andeutungen vernehmen laffen, wie 
fihb zum gemeinen Nu und Frommen das Geſetz 
auf gejegliche Weife umgehen ließe. Jetzt war aljo 
der Zeitpunft eingetreten, wo man die Stods, deren 
unausbleibliches Fallen Fluge Leute wie Damwfon, bis 


193 


dahin mit weiſer Berückfichtigung des eigenen Inte— 
rejjes, in hülfreicher Bejchleunigung ver Natur, nach 
Kräften gefördert hatten, in ihrer ebenfo unvermeid- 
lichen Wiedererhebung nach Kräften aufrichten helfen 
und dabei für jich jelbjt noch ganz andere Spejen 
erheben Eonnten, als beim Baiſſeſpiel. Es ijt auf 
dem Geldmarkt wie in der Politif; immer der Erite, 
wie die Woge fteigt oder fällt: jo bleibt man oben auf. 

Es war Flar, wie der Tag, daß die leitenden 
Banfen der großen atlantifchen Hauptitädte mit ihrer 
ſoliden Fundirung, auf ihren alten Stand und ihren 
alten Credit zurüdfehren müßten, jobald dem pani- 
Ihen Schreden die Möglichkeit abgejchnitten war, 
ihnen durch Ueberlaufen die Baarfonds zu entziehen. 
Kurz, die Stods folher Banken, die heute auf 50 
Procent oder noch niedriger gefallen waren, mußten 
nach der Suspendirung wieder heraufgehen und im 
natürlichen Lebenslauf wieder auf par oder je nach» 
dem, über par fommen. Hier waren im Durchſchnitt 
50 Procent zu machen und Herr Dawfon hatte jegt 
ungeheure Baarmittel für jolche und ähnliche Anlagen 
zur Verfügung. 

„Junger Dann,” jagte Herr Damfon, „Wir 
jind die längſte Zeit Bären geweſen, von heute ab 
faufen wir Stods, verjteht Ahr?‘ 

Der junge Mann nidte mit blinzelndem Ber- 
ſtändniß. 

„Es war doch eine gute Idee von Euch,“ gab 
ihm der Alte zum Abſchied auf den Weg, „daß Ihr 
fünfzehn Procent mit mir ausgemacht habt. Zum 

I. 13 


194 


Jahresende fünnt Ahr Euch als Braten Mann 
dom Geſchäft zurüdziehn.‘ 

„Habt Ihr etiva dabei verloren,‘ gab der Reine 
mit einem Anflug alter Straßenjungen- Impertinenz 
zurüd, „daß Ihr über einen jmarten Kerl gejtolpert 
ſeid?“ 

Dann machte er ſich mit abſorbirter Geſchäfts— 
miene, ganz wie ein Alter, davon. 

Herr Dawſon folgte ſpäter und fand ſich zu 
ſeiner Zeit im Frühſtückslocale ein. 


Fünfzehntes Kapitel. 


Der Held geht in's Geſchäft, findet aber ſehr bald zu feinen 
Teidwelen, daR fein prophetiſch-philoſophiſcher Blick in Die 
amerikaniſchen Verhältniſſe ihn nicht getrogen hat. 


„Der Rubel klirrt, der Rubel fällt! 
Was ift der Menih? Ein Shuft! — 


Und wenn die Welt Dir nicht gefällt, - 


So fteig in Deine Gruft.“ 
Platen, der Rubel auf Reijen. 


Wir haben unfern Helden und Freund, Antonio, 
eine Zeitlang aus dem Geficht verloren. Der ge- 
ftrenge Yejer wird Uns fogleich deshalb entjchuldigen, 
wenn Wir ihm den Grund mittheilen.. Schon in der 
zweiten Woche nämlich, nach der großen Ratajtrophe 
im Dawſonſchen Haufe, hatte ver dijtinguirte Preuße 


195 


feinen Curfus von Vorlefungen über die moderne Kunft- 
geiehichte eröffnet und war unmittelbar nach Vollen— 
dung. deſſelben nad) dem Weiten abgezogen, als Com— 
pagnon der Firma: Haffner, Wohlfahrt & Comp., 
Eifen, Stahl und Meffingwaarenhandlung. 

Er war Anfangs, gleich feinem Freunde Wilhelmi, 
geneigt gewefen, fich unbedingt nach den Kathichlägen 
des erfahrenen und tiefblickenden New-Morfer Ge— 
ihäftsmannes zu richten und den Kintritt ins Ge— 
Ihäft auf weniger precäre Zeitläufte hin zu verfchteben. 
Allein zunächſt fand fich, daß jeine Vorlefungen bei 
mittelmäßig gefülltem Haufe ihm faum die ungeheuren 
Koſten dedten. Die Ehre, die er damit einlegte, 
war groß, der Eirfel jeiner Befanntfchaften breitete 
jich Schnell aus über die Elite von Allem, was auf 
literariſche oder gejellichaftlihe Bildung Anſpruch 
machte. Die Begeijterung war aufrichtig, die Aus- 
jiht auf irgend eine enfprechende Anjtellung an einer 
der höheren Erziehungsanftalten, privaten oder öffent- 
lihen Charakters, an denen es in Amerifa folchen 
Ueberfluß gibt, ſchienen fi) zu häufen. Nichts deſto 
weniger ‚wußte Antonio aus langer Beobachtung in 
der Fremde, wie wenig jolchen Ausfichten zu trauen 
ift und wie unfruchtbar ſich ſolche aufrichtige Be— 
geijterung und ſolche gejellichaftliche Löwenſpielerei 
- zulett für den Broderwerb auszuweiſen pflegt. 

- Bor der gegründeten Beſorgniß als „diſtinguir— 
ter Preuße“ und ‚‚gelehrtejter Kunſtkenner auf dieſem 
Sontinent‘‘ zu verfommen, fingen die Dawſon'ſchen 
Kathichläge ſchon allmälig an zu erblalien, als die 


erYv 
x» 


. 


196 


Ankunft eines alten Bekannten aus Deutjchland die 
Entiheidung gab. Es fehlte nämlih, um es kurz 
herauszufagen, Antonio und Haffner, felbjt wenn fie 
ihre Mittel zufammenfchojfen, an dem nöthigen Ka— 
pital, um irgend in der Weiſe ein Geſchäft anzufangen, 
wie unjerm Freunde, der hoch hinaus gewohnte Sinn 
danach jtand. Eben dieſes fehlende Kapital nun, 
wurde von dem obbemelveten deutjchen Freunde, Frig 
Bröfingf aus Cöln, angeboten. 

Bröfingf hatte einjt mit Antonio und Wilhelmi 
zujammen in derjelben Compagnie fein Freiwilligen- 
jahr abgedient. Er war damals ein flotter Burj, 
der fein Weniges als großer Herr an den Mann zu 
bringen wußte und an dem damals fo brillant ge- 
jtellten Antonio einen unerjchöpflihe Born der groß- 
müthigften Hülfe bei jeinen eben jo unerjchöpflichen 
Verlegenheiten fand. Che aber noch das Jahr um 
war, hatte der muntere Geſelle ſich mit einer reichen 
und liebenswürdigen Couſine, einem Fräulein Yambert, 
verlobt. Trotz jeiner lebensluftigen Gewohnheiten 
hatte er foweit mit dem erheiratheten Vermögen feine 
üblen Geſchäfte gemacht und fchäßte ſich jest auf 
etwa 200,000 Thaler. Es grafjirte aber eben vamals 
in Deutjchland und beſonders am Rhein, die Manie, 
in amerifanifchen Papieren zu fpeculiren, oder noch 
bejier, „ein überjeeifhes Geſchäft“ zu haben. Um 
fih nach ver paſſenden Gelegenheit umzujehn, war 
Bröfingf nah Amerifa gekommen. Antonio und er 
liefen ſich grade mit ihren Abfichten und Bedürfniſſen 
in die Arme. Bröſingk trat mit ihm und Haffner ale 


197 


jtiller Compagnon in's Gefchäft, gab zunächſt zehn— 
taujend Dollars dazu her, verfprach aber große Liefe— 
rungen von den Yamberts, feinen Schwägern, welche 
eine Fabrik für eben die betreffenden Artifel in So- 
lingen betrieben und auf diefe Weile fjogleich einen 
gewünfchten Markt für ihre Wuaren finden follten. 
Alles paßte, wie man es fih nur wünfchen fonnte. 
Wilhelmi äußerte allerdings einige Warnungen. Da 
diefelben aber in der unmiderftehlichen Werveluft ver 
neuen Firma ungehört verhallten, jo rieth er, doch 
das Hauptetablijfement ver Firma lieber noch Chicago 
zu verlegen, wo, wie er wiſſe, Für den wachſenden 
Bedarf des ungeheuren weſtlichen Aderbaubezirfs an 
Eifenwaaren, wie der deutſchen Bevölferung an gewiſſen 
vaterländifchen Artikeln, durchaus nicht in genügender 
Weiſe geforgt fei. Die Idee wurde mit Enthufias- 
mus aufgegriffen, eine Fortune fchien unausbleiblich 
und während Bröfingf quası re bene gesta wieder 
nah Europa zurüdfehrte, begaben fich die beiden an— 
dern Partner nah Chicago, um ſich als Haffner, 
Wohlfahrt & Comp. aufzuthun. 

Es zeigte ſich jedoch ſchon in den erjten Monaten, 
daß 30,000 Dollars felbft mit dem freiflüfjigen Zu— 
Ihuß der Lambertihen Waarenjendungen, mit ver 
großartigen Anlage des Unternehmens in feinem Ver— 
hältniſſe ſtanden. Bröſingk alfo mußte herhalten, da 
fein anderer es konnte und that es auch auf’3 Willigite, 
„da man bei einem überfeeifchen Geſchäfte nicht nach 
deutſchen Verhältniffen rechnen dürfe. Es fümen aber 
nachher auch überjeeifche Gewinnſte dabei heraus.“ 


198 


So gingen eine Zehntaufend nach dein andern übers 
Waſſer; zulegt, als gar die Krife ausbrach, mußte 
natürlich eine außerordentlihe Zulage gemacht wer- 
den, wenn man nicht ſoviel hineingejtedtes Kapital 
„verfenkt“ fein laſſen wollte. Gegen Enve des Jahres 
waren Bröfingfs Zuſchüſſe von urjprünglichen 10,000 
Dollars auf 110,000 geftiegen. Die Solinger Fa— 
brifanten hatten dabei eine Forderung von 40 bis 
45,000 Dollars an das Gejchäft. Bei diefer legten 
Gelegenheit aber erflärte Bröjingf denn doch, daß die 
Krifis ihm auch in Deutfchland Verlegenheiten bereitet 


habe, und daß ihm meitere Hülfeleiftung. unmöglid 


fe. Da wurden plößlih im Sommer 1858 weitere 
20,000 Dollars nöthig, — um das Haus vor dem 
Sturze zu retten; und zwar ummittelbar. Auf Hin⸗ 
und Herſchreiben Tonnte man jich nicht einlafjen, dazu 
war feine Zeit. Auf Bröfingf zu ziehen, ſchien nach 
deſſen legten Mittheilungen unverantwortlih. Anto- 
nio begab fih aljo nach New-York, um zu fehen, 
was jich thun liege. 

Wilhelmi fonnte ihm nicht helfen. Er war 
während ver Kriſe von jeinem Partner Schröter, der 
damals vor allem Amerifanifchen einen heiligen Schreden 
befanı, auf's Schmählichite verrathen worden und mußte 
ſich in Folge deſſen jetst ſelbſt vurchhelfen, jo gut er 
fonnte. Antonio fühlte ſich äußerſt nievergeichlagen. 
Es handelte fich bei ihm nicht jowohl um fein eignes 
kleines Vermögen, das er jett entweder mit einem 
Schlage verlieren oder, nach feiner Berechnung, durch 
Rettung der Firma verdreifachen mußte, — als wiel- 


199 


mehr um die fchwergefühlte Mitverantwortlichfeit an 
der Sicherheit ver fo beventenden Fonds, welche jein 
Freund Bröfingf, zum Theil auf jeine Vorjtellungen, 
it das Gefchäft hineingeftedt hatte. Nathlos, geifter- 
haften Blicks, irrte er in der City umher; trat in's 
Poftoffice, um zu fragen, ob Fein unerwarteter Glücks— 
brief für ihn da fei; machte einen Beſuch auf einem 
Comptoir, wo er wenig befannt war, in der geheimen 
wahnfinnigen Hoffnung, dem Kaufmann möchte ge- 
iprächsweife etwa der Gedanfe fommen, ihm die 
benöthigte Summe anzubieten; ging die Lifte ver 
Brofer durch, gleichſam, als ob fih an die Namen 
fo vieler Gelobefchaffer irgend eine Combination, 
irgend ein Plan, irgend eine Verhandlung knüpfen 
müfjfe; wunderte fich zulegt, wie e8 doch fomme, 
daß man nicht die Pflafterfteine ausgraben und 
als Noten in Cirkulation geben könne, ebenfogut 
wie ein Stück Papier. Zur Abwechslung überlegte 
er dann wieder, wie er es anfangen würde, wenn ihm 
ſämmtliche Häufer in Wall-Street gehörten, um bei 
dem jetigen niedrigen Stande des Häuferwerthes und 
der Seltenheit baaren Geldes, dennoch eine erflecdliche 
Summe darauf zu erheben. Er zählte die Häufer 
im Ueberfchlag nach den Nummern, multiplicirte die 
Zahl mit dem Durchſchnittswerthe und berechnete da— 
nach nach beiten Wiſſen und Gewiſſen den wahrfchein- 
lihen Ertrag der daraus zu ziehenden Hypothek. 
Dur die Ausjicht auf eine fo beveutende Summe 
in jo jchlechten Zeiten etwas heiterer gejtimmt, trat 


200 


er zulegt in einen Frühſtücksſalon, was auch fo eine 
Art war, die glückliche Chance abzuwarten. 

Er ließ fih ein halbes Dutzend Auftern auf ber 
Schale geben und fand zu feiner Meberrafchung, daß 
er jeine von dem Saft des Schalthieres genäßte 
Gabel in daſſelbe Pfeffer- und Salzfaß mit Herrn 
Damon eintauchte. 

Diefer jedoch nahm von feiner Gegenwart Feine 
Notiz, eine Mifachtung, deren Stachel, fo wenig 
Anſpruch ihm die jo ganz gelegentlihe Begegnung 
mit dem Millonair auf deſſen Befanntichaft auch gab, 
dennoch in diefem Mugenblide dem ärmern, um's Le— 
ben ringenden Kaufmann tief in's Fleifch drang. Um 
von der peinigenden Nachbarichaft loszukommen, nahm 
er jeine gepfefferten Aujtern an einen kleinen zwei— 
figigen Tiſch mit fich hinweg. Kaum hatte er dort 
angefangen, wie die Eltern des Peter in ver Fremde, 
jeinen Gram mit Eſſen zu befümpfen und feine Bitter- 
feit mit feinen Austern Hbinunterzufchluden, als er 
einen Schlag auf der Schulter fühlte. 

Die funfelnden Augen des bleichen, altjungen 
Gefihts waren ihm erinnerlich, wie aus irgend einem 
dunflen Traume her; aber den mit merfantiler Ele- 
ganz, in Searjuder und Schuh und Strümpfen ge— 
Heideten, jungen Menjchen, der viel von der Würde 
einer verantwortlichen Gefchäftsftellung in feinem We— 
jen trug, hatte er gewiß nirgends je gejehn. 

Der Eleine Mann fegte fih auf den andern 
Stuhl, ihm gegenüber und fagte: „Sch jehe wohl, 
Sie fennen mich nicht mehr, Herr Ulfert, und doch 


201 


ift es faum ein halbes Jahr her, daß Sie mir bie 
fünfzig Dollars gegeben haben, womit ich den Kleinen 
Buchſtand, dort in der Ede, aufgerichtet habe." Hierbei 
zog er feine Cigarrentafche heraus. „Nehmen Gie 
die da, Sie werden fie gut finden.“ 

„Patrik O'Shea!“ rief Antonio mit freudigem 
Erftaunen. „Its möglih, wie habt Ihr Euch in 
ſechs Monaten verändert!" 

„Das glaub’ ich, ja. Die ganze Welt hat jich 
in dieſen jehs Monaten umgedreht und ich mit. 
Davon ließe fih noch eine Gejchichte erzählen.“ 

„Was maht Eure Mutter, und die Kinder, 
und —" | 
„Ach, mit der alten Frau ift nichts anzufangen, 
fie fann jich in ihre neuen Verhältniſſe nicht finden 
und will lieber nah Irland zurück. Aber davon 
haben wir noch Zeit, nachher zu jprechen. Jetzt jagt 
mir nur einmal, wo Ihr die ganze Zeit über geweſen 
ſeid.“ 

Antonio erzählte ihm, er habe nach Chicago 
übergeſiedelt und dort eine Eiſenhandlung angefangen. 
Er wollte dabei dem kleinen Paddy, als Spalſpeen, 
nur eben das Nothdürftigſte von dem „großen Eta— 
bliſſement““ aus freundſchaftlicher Entfernung zukom— 
men laſſen. Aber der Kobold überraſchte, erſtaunte, 
ja entſetzte ihn faſt mit ſeiner ungeheuren Detail— 
kenntniß des Geſchäftsſtandes in Chicago, combinirte 
von einem auf's Andere und ſagte zuletzt ſeinem alten 
Gönner auf den Kopf zu: 

„Ihr ſeid alſo hierher gekommen, um Geld auf— 


202 


zuttreiben. Nehmt mir’s nicht übel, ih habe Euch 
das Schon bei Eurem Eintritt hier in den Salon an— 
gejehen. ch kenne meine Yeute auf den erſten Blick.“ 

„Keine von Euren alten‘ Impertinenzen,“ ſagte 
Antonio, indem er fich auf die Diftance ſtellte. 

„Es mag vielleicht impertinent fein, aber Ahr 
müßt mir ſchon einmal aus alter Liebe 'was zu Gut’ 
halten,” jagte der Junge, mit einer Gutmüthigfeit in 
der Stimme, die den Angereveten entwaffnete: „Ihr 
müßt mir fagen, wie viel Ihr braucht. Wer weiß, 
wozu's vielleicht gut iſt!“ 

Es iſt die Eigenthümlichfeit werzweifelter Zu— 
jtände, daß Einem feine Hoffnung zu abjurd ijt, um 
ihr nicht wenigſtens mit einer gewiſſen abergläubijchen 
Galanterie entgegen zu fommen. Antonio antwortete 
alfo mit einem Seufzer: 

„Zwanzig Tauſend Dollars!“ 

„Heute noch vor Bankſchluß?“ fragte Paddy er- 
Ihroden, indem er eine goldene Uhr von Werth her: 
vorzog. „Es find nur noch drei Minuten!‘ 

„O nein, e8 fommt auf drei Tage nicht an,“ 
erwiderte Antonio mit einem Blick auf die Uhr. Sie 
mochte etwa hundert Dollars mwerth fein, eine Hunter, 
während er felbit jett eine filberne trug. 

„Dann fommt morgen früh um 11 Uhr zu mir, 
Ihr follt fie haben.‘ 

Antonio fah den Jungen groß an. Warver 
verrückt, oder wollte er jeinen Gaminfcherz mit ihm 
treiben? Aber Patrif D’Shea trug jest eine fo un— 
nachahmliche Miene des Gefchäftsmannes beim Ge- - 


203 


Ichäfte fo deutlich bejtimmt, nicht nur auf feinen Zü- 
gen, fondern in feinem ganzen Wejen, in der Art fo- 
gar, wie er feine Uhr einſteckte und wie er dann auf- 
ftand, daß e8 unmöglich war, ſich der Ueberzeugung 
zu entjchlagen, er meine es ernftlih, und er könne, 
was er nteine. 

„Stil! vie er Antonio zu, der zwijchen dem 
Bedürfniß, um Erflärung zu fragen und zu denfen, nad) 
Morten hafchte. „Ich habe Euch gejagt, die Welt 
habe fich gepreht. Habt feine Beforgniß, daß es etwa 
nicht mitrechten Dingen zuginge: immer ander Spite der 
Zeit!‘ mit einem Anflug alten Humors — „das war 
mein Wahlipruch, erinnert Ihr Euch noch? Smart 
ift das Wort, das iſt Alles. Aber es wäre mir lieb, 
e8 bliebe unter ung. Rest muß ich mein Gefchäft 
beforgen. — Alfo um 11 Uhr, morgen Vormittag.‘ 

Damit ging der geheimnißvolle Cupitalift, ver 
in einer folchen Zeit über 20,000 Dollars im Um- 
fehen verfügte, eilig feinem Cigarrenfaften zu, um 
einem etwas ummwilligen, und ob der Verzögerung 
färmenden Kunden, eine bienjtbefliifene Cigarre für 
fünf Cent zu verkaufen. 

Antonio ging kopfſchüttelnd und in tiefen Ge- 
danfen, aber, er mußte es fich gejtehn, höchſt erleich- 
tert in jein Hötel. Daß der Fleine Straßenbub Pad— 
dy O'Shea einmal noch ein reicher Mann werden 
und jeinen Patron von Marion-Street hinter fich zu- 
rück laffen würde, war ihm damals wohl als Grille 
durch den Kopf gegangen. Aber daß piefer Kleine 
Gamin ſchon in fehszehn Monaten als olympifcher 


204 


Zeus, mit allen Mitteln fouverainer Macht aus- 
gerüjtet, Über der City thronen und feinen Gönner 
von damals zum Protege haben würde, das hätte er 
fich denn doch nicht träumen laſſen. Er jah an einem 
Beifpiele, wie e8 das demofratifche Leben in folcher 
Grellheit zwar nicht täglich, aber auch keineswegs 
blos als Ausnahme bietet, „von welchen Menfchen 
die Welt regiert wird.” Denn im letten Grunde 
iſt es überall in der Welt eben fo beftellt; nur daß, 
unter weniger aufgewecten Verhältniffen, langjamere 
Mittel und das Dunfel der Jahre das Mißverhält- 
niß zwijchen innerem Gehalt und Außerer Belohnung 
Ihamhafter verfchleiern. Er hatte große Luft, ſich 
einzubilden, daß er zu viel Geilt zum Gefhäftsmann 
habe; daß er zu viele Möglichkeiten in's Auge gefaßt 
habe, zu wenig energifch darauf Iosgegangen fei. Daß 
das Geheimniß von feines Vaters Glüd darin beftanden, 
daß derſelbe unfähig geweſen, etwas Anderes zu jehn, 
zu fühlen, zu denken als Corinthen und daß er mit 
Scheuflappen rechts und links, grade und unverbroffen 
auf fein Ziel, nämlich Corinthen, im ruhigen Ge— 
jhäftstrabe, ohne fich je zu übernehmen, fortgelahmt. 
Sp dachte Antonio in jenen Tagen, und fo denken 
Viele noch heute. 


205 


Sechszehntes Kapitel. 


Europüiſch-amerikaniſche Geſchüftsverwicklungen. Dem 
Helden wird ſein Geſchäft über dem Kopf verkauft. 


„Wer nicht da iſt, dem wird der Tiſch nicht gedeckt.“ 


„Aux absens les os.“ 


Am nächſten Tage fehrte Antonio, „a sadder 
and a wiser man“ mit dem Nachmittagszuge und 
jeinen zwanzigtaufend Dollars in der Taſche, wofür 
er zwei Noten auf Sicht gegeben hatte, nach Chicago 
zurüd. 

Eine unerwartete Begegnung am vorhergehenden 
Abend, als er mit Wilhelmi Broadwah entlang ging, 
gab der fchon ohnehin melancholiſchen Färbung feiner 
Seele noch tiefere Schattirung. Es eilte ihnen näm— 
lih beim Gaslicht der junge Dawfon vorüber, mit 
einer herrlich gewachjenen, im veichiten, elegantejten 
Style der Saifon gefleiveten Dame am Arme. m 
der Meberrajchung begegnete e8 den Treunden, daß 
fie fih nach dem Paare umfahen. Die Dame drehte 
in demjelben Augenblid ebenfalls den Kopf nach Ans 
tonio um, Beide fuhren eleftrifch wieder zurüd, als 
ih die Augen trafen, Es war Annie — womöglich 
noch jchöner, als vor anderthalb Jahren. Antonio 
blieb wie angezaubert jtehn! 

„Bas haben Ste venn?” fragte Wilhelmt, ihn 
fortzerrend. 


206 


„Sie iſt's? Bei Gott, fie ijt jet feine — armes 
Geſchöpfl“ 

„Aber wer iſt's? Was iſt ſie?“ 

„'s iſt die Annie!“ 

„Die Annie? Und wer iſt die Annie?“ 

„Erinnern Sie ſich denn nicht mehr — Noch 
immer nachfehend, rief er Juſtus die Thatjachen für 
den Namen zurüd, — bis das dahineilende Paar im 
entfernten Dämmerjchein unter den Fußgängern nicht 
mehr zu unterjcheiden war. 

Es war ein Sammer, daß. diejes herrliche, mo- 
raliſch ſo Ferngefunde Gefhöpf, doch zulett, Gott 
weiß welchen ſchändlichen Künften und Mitteln unter- 
legen war. — Aber die Vorwürfe, mit denen ſich An- 
tonio, nah Weiſe zarter Gewiſſen abmartete, weil er 
nicht Alles daran gejett, fie einen Tag früher wieder. 
aufzuſuchen, — weil er fie überhaupt nicht lieber auf 
der Straße verfommen laſſen, fonnten jegt ihr Schid=- 
al nicht mehr Ändern; das Schickſal, ſich zulest als 
ausgequetichte Drange unter den chnifchen Tritten 
der DVorübergehenden mit dem Abwurf der Straßen 
zu vermijchen. 

„Die wir doch Jo nichts find!‘ rief er bitter aus, 
„als ein elendes Spielzeug in den Händen eines 
findifhen Fatums! Sollte man nicht glauben, es jei 
ein unmiündiges Kind, das mit der Weltjchachtel fpielt 
und wir die wimmelnden, zappelnden, durcheinander 
friechenden Käferchen darin? Wenn. wir. uns nicht 
gegenjeitig auffvejjen, zerprüden, verwunden, aus Dem 
Wege fchieben, fo greift e8 zum Zeitvertreib hinein, 


207 


läßt das eine fih an einem Fädchen zu Tode ſchwir— 
ven, reißt dem andern, mit lächelnver Bedächtigkeit, 
ein Slügelchen, ein Beinchen nach dem andern aus, 
jteclt das dritte lebendig an einer glühenden Nadel 
auf und hat feine unfchuldige Freude an den komiſchen 
Bewegungen feiner lieben Thierchen! Ich möchte nur 
wilten, was diefe arme Annie gethan hat, daß fie 
jo der Weltregierung zu einem von. ihren, geiltreichen 
Experimenten dienen muß!’ 

Man ſieht e8, unfer Held war. trüb gejtimmt. 
Auch war der Stand der Dinge in Chicago nicht 
dazu angethan, ihn auf die Dauer zu erheitern. . Die 
Krife wurde zwar, Dank des Heinen Paddy vechtzeiti- 
ger Beihülfe, mit Ah und Krach überftanden, allein 
die Firma war damit aus ihren Verlegenheiten noch 
feinesweg8 heraus. Der Wejten erholte jich erſt 
ganz allmälig von dem Schlage, jo daß das Waaren- 
lager für den erſchöpften Markt viel zu groß war 
und die ausjtehenden Forderungen nicht eingehen woll- 
ten. Haffner half jih in diefer Lage durch Noten, 
bie. ihm ein kleiner Fabrikant, mit Namen Weber, ge- 
ihmeichelt durch die Gejchäftsverbindung mit einem 
jo großen Haufe, bereitwillig endoſſirte — und welche 
duch das renommirte Banguierhaus Hochmann und 
Grünecke negociirt wurden. Auf diefe Weije hatte 
ich die Firma noch anderthalb Jahr lang hingefchleppt, 
gegen deren Ende Antonio Häufig auf Reifen abweſend 
war, in der vergeblichen Anjtvengung, den Abſatz zu 
erweitern, oder etwas von den beträchtlichen Aus- 
ſtänden einzuziehn. Es war während einer jolchen 


208 


Abmwefenheit des einen Compagnon, daß Herr Weber, 
der jo liberal endofjirt hatte, eines jchönen Morgens 
die Noten zu feinem Schreden auf fich zurücdfommen 
jah. Er war noch nicht mit ſich im Keinen, ob ex 
jih jelbft over feinen beiven Endoſſe's vie. Haare 
ausraufen jollte, als der Chef des betheiligten Banquier— 
haujes jchon mit Wohlfahrts Partner, Herren Haffner, 
bei ihm eintrat und ihm ven Vorſchlag machte, das 
Geſchäft zur Entfhädigung für feine endoffirten Wech- 
jel ſelbſt an fich zunehmen, als einziges Mittel, fich 
jelbjt und alle, d. h. alle in Amerifa Betheiligte zu 
deden. | 

Der Betrag der amerifaniihen Schulden war 
Summa Summarum 100,000 Dollars. Für eben 
diefelbe Summe follte Haffner das Gejchäft an We— 
ber verfaufen. Weber gab dafür jeine Noten, Die 
Hohmann negociirte und mit denen Haffner die ameri- 
fanifhen Gläubiger der Firma, mit Einfchluß des 
Käufers und des Bangquiers, bezahlt machte. Bis die 
Noten fällig wurden, hatte man von einem Verfall 
tage zum andern den Ausverfauf bewerfjtelligt und 
die Noten durch den Erlös gevedt. Was dann, nad 
weiterm Abzug der Gefchäftsfoften und einer Ver— 
gütung von 2000 Dollars für Webers Mühe, etiva 
noch übrig blieb, ging an die Partner zurüd, die fich 
über die Bertheilung unter fih und ihre Freunde in 
Deutichland verjtändigen Fonnten, wie fie mochten. 

Die Bafis dieſer genial ausgedachten Finanz- 
operation war offenbar das Vertrauen auf ven reellen 
Werth des Gejchäftes, deſſen Verlegenheiten nur von 


209 


der gegenwärtigen Schlaffheit des Marktes herfamen. 
Man gewann auf die vorgefchlagene Weile Zeit, das 
Lager zu verwerthen; die amerifanifchen Gläubiger 
hatten das Pfand für ihre vollſtändige Deckung felbit 
in den Händen, ohne ſich auf das Kifico gerichtlicher 
Abfindungen einlaffen zu müſſen; für die Partner 
felbjt endlich, deren Noten ſchon proteftirt waren, lautete 
die Frage blos, ob fie ihr Gefhäft von gerichtlich 
bejtellten Verwaltern oder privatim wollten abwideln 
laſſen. Das legtere verjprach unbedingt ein gün— 
jtigeres Reſultat. Es war freilich dabei hart für den 
europäifchen Compagnon, der Jolche unverhältnigmäßige 
Summen mit wnerfhöpflicher Bereitwilfigfeit in den 
unerfättlihen Schlund der Firma hineingeworfen hatte, 
fich jo plöglih um vie Frucht aller feiner Dpfer be- 
trogen zu jehen. Allein das war ein Unglück, wofür 
bei dem Goncursverfahren noch weniger Abhülfe in 
Aussicht ftand, als bei ver hier vorgejchlagenen Ueber: 
tragung an einen Dritten. Nur eine Partie fam bei 
diefem Plane wirklich zu kurz, nämlich die europäischen 
Gläubiger, die Kamberts, welche jene großen Waaren- 
lieferungen gemacht hatten. Die Theilung vorweg zu 
nehmen und jich jeine volle Forderung zu fichern, ehe 
die europäifchen Gläubiger, durch das Hinzutreten der 
ihrigen, ven Antheil eines jeven amerikanischen Gläu- 
bigers jchmälern könnten — das war offenbar das 
leitende Motiv, der infpirirende Gedanke des Dpera- 
tionsplanes. Was Haffner betrifft, fo intereffirte er 
jih jehr wenig für das Schickſal jener Europäer, die 
ihm niemals zu Geficht gefommen waren. Es mag 
I. 14 


210 


auch fein, daß feine Bedenflichkeiten, wenn er deren 
überhaupt hatte, durch die Zuficherung befonderer ge— 
heimen Vortheile für ihn jelbft bei dem Handel über- 
jtimmt wurden. Wegen des abwefenvden Bartners da— 
gegen waren die Herren, bie jest in Webers Hinter: 
zimmer die Köpfe zufammenjtecdten, im allertiefiten 
Grunde des Herzens überzeugt, daß Herr Wohlfahrt 
nun und nimmermehr jeine Zuftimmung zu einer 
jolchen Uebervortheilung irgend welchen Theils ver 
Gläubiger geben würde. Sein Name wurde daher 
während ver Sitzung auch kaum anders, als mit der 
Sauce jervirt: „Sie wiljen ja, er ift fein Geſchäfts— 
mann.” Man fchiefte ihm zwar pro Forma eine tele- 
graphiiche Depefche zu, aber nur in ver wohlwollen- 
den Erwartung, daß ihm diefelbe, nach der unver- 
brüchlichen Gefhäftsordnung weitlicher Telegraphen- 
bureaux, zu irgend welcher unerwarteten Zeit, an 
irgend welchem überrajchenden Orte, in Form eines 
von einer nachreijenden Stempelfammlung überwucher: 
ten BriefeouvertS, auf irgend welchem. zufällig um 
Briefe nachgefragten Dorfpoftoffice, vor feinem Lebens— 
ende zulegt möglicherweife noch einmal auftauchen 
fünne. Auf diefe Spekulation wurden: verwegen 
fünfzig Cents angelegt. Damit war dem Gemijjen 
Genüge gethan und man fonnte nachher mit „ſtillem 
Borwurf im Gefichte‘ fragen: „aber warum haben 
fie denn auch auf unfere Depefche fein Wort von fich 
hören laſſen?“ Uebrigens gab es feine Zeit zu ver— 
lieren. So war denn in weniger als anderthalb 
Stunden die vollfommenjte Uebereinjtimmung erzielt, 


211 


und am nächften Mittag, um 12 Uhr, — e8 war ber 
12. Dctober, Schon alles gerichtlich abgemacht, bejiegelt 
und unterfchrieben. 

ALS Antonio nah drei Tagen nah Haufe Fam, 
hatte er das Nachjehen. Er lärmte vergebens. Es 
ließ fih an der Vollmacht des einen Partners, für 
die andern zu Faufen und zu verkaufen, gefetlich nicht 
rütteln und nicht jchütteln. Er bat die Herren, nur 
wenigitens mit dem Ausverfauf zu warten, bis er 
nah Cöln gefchrieben und Antwort erhalten habe. 

Sein Gedanfe war, Alles aufzubieten, um den 
Kauf womöglich noch rückgängig zu machen. Er war 
nämlich überzeugt, das Geſchäft fei, bei allmäliger 
Wieperbelebung des weitlihen Marktes, wenigjtens 
das Doppelte des Weberlafjungspreifes werth. War 
e8 daher den amerikanischen Släubigern blos um ihre 
100,000 Dollars zu thun, jo wäre es jedenfalls in 
Bröſingks und Yamberts Intereſſe, ihnen diefe Hundert- 
taujend zu garantiren und das Geſchäft dagegen 
wieder zurüdzunehmen. Weber und Hohmann waren’s 
auch zufrieden. Sie wollten die Uebergabe rüdgängig 
machen, fofern die Eölner fich ihrerjeits willig fanden, 
bie amerifanifchen Schulden zu garantiren. 

Es traf fich, daß grade um dieſe Zeit Wilhelmt 
auf einer Gejchäftsreife in Deutjchland war. Er 
war, wie fich der Lefer erinnerte, in Folge der Kriſe 
mit feinem Frankfurter Compagnon, der ihn aus 
Amerifamüpdigfeit völlig im Stiche gelalfen hatte, aus— 
einandergefommen und fuchte nun, da er fihb auf 
eigene Rechnung etablirt hatte, dafür Geſchäftsver— 

14* 


212 


bindungen in Europa anzufnüpfen.. Seine Cölner 
Freunde hatten nicht ſobald von feiner Ankunft ge- 
hört, als fie ihn jogleih um Rath und Beiftand in 
ihrer Chicagoer Angelegenheit bejtürmten. Wider— 
itrebend ließ er fich endlich zu dem Verſprechen her- 
bei, die verlangten Bonds im Namen der Intereſſen— 
ten zeichnen zu wollen, jofern, nach Unterfuhung an 
Drt und Stelle, fein Urtheil zu Gunften ſolchen Vor- 
gehens ausfiele. Zu diefem Zwede wurde ihm eine 
Vollmacht in Blanco ausgejtellt. Nach feiner Zurüd- 
funft begab er fich fogleich nach Chicago, wo er nad) 
zehntägiger Arbeit, bei Tag und Nacht, vie Ueber— 
zeugung gewann, daß Antonio’8 Darjtellung forreft 
und das Geſchäft des Errettens werth fei. Er nahm 
alle Betheiligten einzeln vor. Unferm Antonio jedoch, 
der die Leitung als Gewifjensjache wieder übernehmen 
wollte, erflärte er: ‚Freund, jei vernünftig und halte 
Deine Finger von Geſchäften weg.“ Weber mußte 
feine Forderung auf 80,000 Dollars redueiren, und 
fih mit dem einfachen Bond ftatt des gejeglich dop— 
pelten begnügen. Endlich wurde Wilhelmi über ver 
Arbeit jo warm, daß er, um die Noten aus dem 
Markt zu Schaffen und dem Credit der Handlung 
neuen Schwung zu geben, fünfzigtaufend Dollars baar, 
zur unmittelbaren Bezahlung der Gläubiger aus jeiner 
eigenen Taſche herlieh. Damit hörte von jelbjt auch 
die Bürgſchaft für diefen Theil des Betrages auf und 
die Vollmacht, welche feine Cölner Freunde ihm auf 
die Ausficht hin geftellt Hatten, ſich im Nothfalle das 
dur für 200,000 Dollars zu verbinnen, brauchte er 


213 


jest in ihrem Namen für nur 30,000 zu zeichnen. 
Für fein eigenes Darlehn ftellte ihm die amerifanifche 
Firma einfach ihre Wechſel aus. Es war’ eine wahr- 
haft EHaffiiche Finanzoperation. Mit dem Bewußtfein, 
für die aufopferndfte Mühe und die großmüthigſte Hülfe 
in einer ihm ganz fremden Angelegenheit ſich Freunde 
und Dank für alle Zukunft gejichert zu haben, Tehrte 
er von Chicago wieder nach New-York zurüd. 

Alles wäre auch gut gegangen, wenn Louis Na— 
poleon und Graf Cavour unferem Freunde nicht die 
Cirkel geftört hätten. Die Politiker fcheinen eigens 
dazu beftellt zu fein, ven Gefchäftsleuten die Cirkel 
zu ftören. Als Wilhelmi am legten Februar in New- 
York aus dem Eijenbahumwagen jtieg, erwartete ihn 
jein Commis am Bahnhofe. 

„Kommen Sie fchnell. Ein Herr Togores hat 
zehn Tage auf Sie gewartet; er konnte es nicht 
länger. Eilen Sie auf den Steamer; vielleicht treffen 
Sie ihn noch.“ | 

Fünf Minuten vor der Abfahrt waren Beide auf 
dem Steamer. 

Herr Zogores, ein hochgewachjener Wann von 
militäriſchem Schnitt, maß das Quarterdeck mit ge- 
bieteriſchen Schritten in Geſellſchaft eines blajjen, 
Ihmächtigen, fehr jugendlich ausjehenden Amerifaners, 
dejjen ruhige, jelbjtbewußte Miene jeltjam gegen vie 
fenrige Erregtheit feines weit ältern Gefährten abſtach. 
Er hatte das jedem Spanier und Franzofen — er 
war beides — angeborene Befehlshabergenie im afri- 
fanifhen Dienjte unter Bedeau zur Ausbildung ge= 


214 


bracht. Er fah noch immer aus, als ftände er unter 
oder Über Bedeau: fonnenverbranntes Geficht, Im— 
perial, furzgefchnittenes Haar, Soldatenmütze, Rod 
bis an’s Kinn zugefnöpft und eine Hand in der Taſche 
der weiten Hofe. 

„Hier iſt Herr Wilhelmi.“ 

„Eh bien! Freut mid, Sie noch zu jehen, 
Monſieur. Habe 10 Tage lang auf Sie gewartet. 
Habe mich erfundigt; überzeugt, dag Sie ver Mann 
find. Werden von mir hören; werden zufrieden fein. 
Adieu!“ 

In dem Augenblicke wurde das Brett fortge— 
zogen. Wilhelmi ſprang herunter und ſah verblüfft 
von unten nach dem Spanier hinauf, der aber weiter 
keine Notiz von ihm nahm, ſondern immer noch afri— 
kaniſch auf- und abſtolzirte. Er wußte gar nicht, was 
er von der Sache denken ſollte. 

„Aber wer iſt dieſer Herr?“ fragte er den Commis. 

„Ich weiß weiter nichts,“ ſagte dieſer, „als daß 
er zu uns ſeit zehn Tagen jeden Tag auf die Office 
gekommen iſt, um nach Ihnen zu fragen, und daß er 
jedesmal unter furchtbarem Fluchen und Fußſtampfen 
wieder abzog, wenn wir ihm ſagten, Sie ſeien noch 
nicht zurück. Weiteres konnten wir aus ihm nicht 
heraus bringen.“ 

„Herr Togores,“ ſagte der bleiche junge Ameri— 
kaner, der plötzlich neben Wilhelmi's Ellenbogen auf— 
tauchte, „iſt der Agent der Succursale Habanara, 
und wünſcht Sie, Herr Wilhelmi, zu deren Vertreter 
hier. Sie werden das Engagement vortheilhaft finden.“ 


215. 


„Und wen habe ich die Ehre —“ 

„Mein Name iſt O’Shea.“ 

„O'Shea?“ Wilhelmi beſann fih allmälig auf 
den Namen. 

„sa wohl, D’Shea. Sie werden fich meiner 
von dem Chicagoer Procejje her erinnern. Da Sie 
mein Intereſſe dabei fo gut wahrgenommen haben, jo 
hielt ih es für nicht mehr als billig, das Ihrige 
wahrzunehmen. Herr Togores wandte fih an ung 
um einen geeigneten Mann. Ich empfehle mich Ihnen.“ 

Wilhelmi erinnerte fih, daß er auf Antonio’s 
beftimmtes Verlangen O'Shea jeine Forderung von 
20,000 Dollars auf das Chicagoer Geſchäft gefichert 
hatte. 

Wirklich erfchien nach anderthalb Monaten eine 
Tratte auf ihn von der Succursale Habanara, 
welche 30,000 Dollars auf ihn zog mit beifolgenden 
Greditbriefen auf diefelbe Summe, „für den Fall, daß 
Sie nicht darauf vorbereitet jein jollten.“ 

Schon zwei Tage darauf traf eine andere Tratte 
für eine ähnliche Summe ein, wobei daljelbe Ver— 
fahren beobachtet wurde, und fo fort in rajcher Folge. 
Wilhelmi gab diefe Verbindung eine große Stellung 
auf vem Gelomarfte, und die Benutung bedeutender 
Summen bis zu ihrer Verfallszeit. Er war auf 
gutem Wege, faufmännifcher Fürjt zu werden. 


216 


Siebzehntes Kapitel. 


Da der Geld fein Alles verloren hat, fo wird er fein 
eigener ger, lernt nene Kräfte in ſich kennen und fühlt 
ſich frei und gliücklich. 


Da tritt Fein And’rer für ihn ein, Ih bab’ mein’ Sad’ auf Nichts 
Für ſich ſelber fteht er da ganz allein. geftellt, Juchhe! 
Wallenfteins Lager. D’rum ift’8 jo wohl mir in ber 
Welt, Suche! 


®ötbe, Vanitas, vanitatum Vanitas. 


Aber was wurde aus Freund Antonio bei der 
Gelegenheit? Er hatte bei Wilhelmi vor Allem auf 
die baare Bezahlung der 20,000 Dollars an feinen 
Freund D’Shea gedrungen. : Damit war jein Ge— 
wiſſen abjolvirt, aber feine Tafche blieb leer. Herr 
Haffner hatte jich bejjer zu Stellen gewußt. Er mußte 
auf irgend eine Weije für fich ſelbſt geſorgt haben, 
da er bald nachher in einem wejtlihen Städtchen 
wieder ein Fleines Eifenwaarengejchäft eröffnen fonnte. 
Für Herrn Wohlfahrt aber, der nicht daran gedacht 
hatte, für fich jelbjt zu forgen, hatte auch Niemand 
Anderes gejorgt. In der Vorausſicht jedoch eines 
jolhen Ausganges war unjer Held jchon ſeit Anfang 
November auf die Idee verfallen, Vorlefungen in eng» 
liiher Sprache zu geben. Er gedachte zunächjt feine 
bisherigen Verbindungen mit Gefchäftsfreunden und 
Schuldnern, die über den ganzen Weiten zerjtreut 
waren, nußbar zu machen. Allein feine Schuloner, 
die in großen Häufern wohnten und nicht Jelten Pferd 


\ 


217 


und Wagen hielten, behandelten ihn durchgehends als 
Bettler, wenn er fie um ihren Einfluß zur Unter: 
jtügung feines Vorhabens anging. Schon halb ver: 
zweifelt machte er fich enplih nad) dem Djten auf, 
um dort fein Glück zu verfuchen. Es war fchon gegen 
Ende Januar. Die ominöſe Neujahrsreception des 
öftreichifchen Gejandten in den Zuillerien hielt jo eben 
die ftetS neugierigen Augen und wißbegierigen Ge— 
müther des amerifanifchen Bublifums auf die italienijche 
Trage gejpannt. Antonio erinnerte ſich an eines 
Freundes Paddy Devife: „Smart ift das Wort — 
immer aufgewecdt!" Er fam auf ven fchlauen Ge— 
danken, eine Borlefung „Ueber die italienifche Frage, 
Krieg oder nicht Krieg!‘ anzufündigen. Es war in 
einer großen öjtlichen Stadt. Das Haus war ge: 
drängt voll, das Thema reich, der Redner gerieth 
in's Feuer. Er hatte fchon über zwei Stunven lang 
geiprochen, ehe er oder jeine Zuhörer ſich's verfahen. 
Er hatte eine neue Wacht, einen Dämon in fich ent- 
dedt. Bald fühlte er fich feinem Publiftum als jtrenger 
Gebieter, als ernjter Yehrmeifter gegenüber, bald als 
ergebener Diener oder verzogener Günftling; jest als 
Vater im Kreife feiner lieben Kleinen, und wiederum 
als Lieber Kleiner vor Vater, Onfeln und Bafen; 
einmal ließ er ven ausgelafjenjten Humor wild jchießen, 
ein andermal fteigerte fich der Ernit des Argumentes 
zum jittlichen Ernſt, der fittliche Ernſt zum gewaltigen 
Pathos, das Pathos zum begeifterten Prophetenthum. 

Vom erjten Augenblide an, in dem er die Redner— 
bühne betrat, hatte fich ver magnetiihe Strom, welcher 


218 


das wahre Geheimniß des redneriſchen Erfolges ift, 
zwifchen ihm und feinem Publifum  hergeftellt. Es 
war ein berauſchendes Glück, fo über der lebendigen 
Menfchenwoge ven gebietenden Dreizad zu ſchwingen, 
daß fie denken und fühlen, höhnen und verehren, 
haſſen und lieben, lachen und weinen mußte auf feinen 
Winf; daß das Herz der Verfammlung bäumte und 
courbettirte, fanft dahin fchwebte oder wüthend durch— 
ging, wie ein edles Pferd unter der anmuthigen Runft 
und dem fihern Schenfelichluß des Meifters. 

Bon diefem Augenblid an war fein Erfolg ge- 
jihert, wenigjtens für die Saifon oder jo lange bie 
Erwartung des Krieges und das Intereſſe daran 
dauern mochte. Bald regnete e8 Einladungen von 
literarifchen Gejellfchaften, wie fie deren jeder Kleine 
Flecken in den Bereinigten Staaten aufzumeifen hat, 
zu dem Zwede, eine fleine Bibliothef und für ven 
Winter einen Curjus von VBorlefungen im Gange zu 
halten. Antonio hatte jeden Tag einige Hundert 
Meilen auf der Eifenbahn zurüdzulegen, um jeden 
Abend an einem andern Orte zu ſprechen. Da er 
aber im Durchſchnitt funfzig Dollars für vie Vor— 
lejung erhielt, fo ließ er ſich's gefallen. 

68 war das vorlette Engagement der furzen 
Saiſon in einer der beveutenderen Städte an der 
Grie-Eifenbahn, als nach dem Actus Batrid O'Shea, 
den er ſchon zu jeinem Erjtaunen unter der Audienz 
bemerkt hatte, zu ihm auf die Bühne fam. Patric 
war zufällig in Gejchäften anmejend und hatte fich 
die Gelegenheit nicht entgehen laſſen wollen, feinen 


219 


Freund jprechen zu hören. Allein trog der jchmeichel- 
haften Beglückwünſchungen, die er dem Nebner über 
feinen Vortrag machte, hatte er doch etwas in feiner 
Miene, was zu jagen fchien: ‚‚armfeliges Brod!“ und 
erfundigte fich theilnehmend, ob ihm denn aus ver 
Chicagoer Affaire gar nichts übrig geblieben Jet. 
„Nichts wie Ahr ſeht,“ erwiderte Antonio. „Aber 
ich habe alle Urſache, mit meinem neuen Geſchäft zu— 
frieden zu ſein.“ 

„So?“ 

Das langgezogene „So?“ pignirte unfern Freund, 
der fich jo eben erjt an feiner Rednergabe beraufcht 
hatte. Um dem hochmüthigen Heinen Gelomann zu 
beweifen, was e8 auf fich habe, ein berühmter „Lec— 
turer” zu fein, bemerkte er wie beiläufig: 

„Sch habe jeit Ende Januar zweitaufend Dollars 
dabei zurückgelegt, und überdieß noch genug, um für 
den Sommer zu leben.“ 

„Ihr kennt die Nanfees nicht,“ erwiderte Paddy 
bevenflih. „Sie müſſen alle halbe Jahre ein neues 
Spielzeug haben. Das hält nicht vor.“ 

Antonio, der ſich hatte auf's hohe Pferd — 
wollen, fühlte ſich von der Anwendung des wenig 
ſchmeichelhaften Bildes auf ſich um ſo empfindlicher 
verlegt, als er die Wahrheit ver Bemerkung fühlte. 

„Ich will Euch was jagen," fuhr Paddy fort, 
„wenn hr feinen bejjern Gebrauch für Eure 2000 
Dollars Habt, und Ahr wollt mir dieſelben anver: 
trauen, jo kann ich vielleicht etwas für Euch daraus 
machen.’ 


220 


Antonio zögerte. Paddy's Glück war ihm zu 
pilzartig über Nacht aufgejchoffen, um ein übergroßes 
Bertrauen in dejjen Dauer zu erweden. Aber irgendwo 
mußte er's doch anlegen. Kurz, nach einiger Ueber- 
legung überwies er dem jungen Spekulanten feinen 
Heinen Schuß. 

Leichten Herzens, wie nie zuvor in feinem Leben, 
die zehrenden Gejchäftsjorgen auf ewig hinter fich, mit 
jehshundert Dollars in der Taſche, Asmus omnia 
suum secum portans, fein eigener Herr, ganz auf 
feine eigene Kraft angewiejen und im Vollgefühl feiner 
eigenen Kraft, — fo trat Antonio feine Sommer- 
ferien an. Er verſprach fich eine herrliche Zeit, 
zwifchen Studium und Fußreiſen evfrifchend getheilt. 


Actzehntes Kapitel, 
Abrechnung zwiſchen Onter und Sohn. 


„Dies irae, dies illa, —“ 


Eines Morgens im amerikanischen Wonnemond — 
lucus a non lucendo — erſchien Herr Burfharbt, 
ein deutſcher Bangquier, auf Wilhelmi’8 Comptoir und 
hielt ihm fünf Noten, zufammen zu dem Betrage von 
zehntaufend Dollars hin. Sie hatten auf der Rück— 
feite ven Namen „William Dawfon‘. 


221 


„Sie fennen ja Damfons Unterfchrift,‘‘ ſagte 
Burkhardt. „Mein Clerk hat diefe Noten discontirt, 
aber die Unterfchrift ift mir verdächtig.‘ 

„Sprechen Sie Ihren Verdacht gegen feinen 
Menſchen aus. Das Einfachite ift, daß ich direct zu 
Damjon gehe und ihn frage.‘ 

Wilhelmi ging alfo zu Herın Dawfon auf's 
Comptoir. Der Sohn begegnete ihm in der Thür. 
Es wollte Wilhelmi jcheinen, als führe der „Swell“ 
unmerflich zurüd. Der Geloherr jedoch fah fich vie 
Noten an, ohne eine Miene zu verziehen und erflärte, 
e8 ſei Alles in Dronung. „Es iſt mir jedoch grade 
recht, wenn Sie mir die Noten bier laffen und Billg 
bon unferer Bank dafür nehmen wollen.“ Herr Daw- 
jon war nämlich jet Bankdirector und vielleicht der 
geachtetjte finanzielle Name in ver City. Er galt ver- 
Ihiedene Millionen. 

„Miles, händigen Sie dem Herrn zehntaufend 
Dollars! — Wie gehen die Gefchäfte im Weiten, 
Herr Wilhelni? Sch höre, Sie fommen eben von 
Chicago?” 

„Das ift nun wohl Schon einige Monate her.‘ 

Herr Dawſon ſchien außerordentliches Intereſſe 
an den Geſchäften im Weſten zu nehmen. Er hätte, 
wie es Wilhelmi vorkommen wollte, ſich in dem 
Augenblick für jedes audere Thema ebenſo ſehr in— 
tereſſirt. Kurz, ſo vollſtändig Herr Dawſon ſein Ge— 
ſicht auch in der Gewalt hatte, ſo war unſerm Freunde 
die unmittelbare Einlöſung der Noten doch nicht ganz 
geheuer. Allein, da das Geld da war, ſo war es 


222 


weiter nicht feine Sache. Er lieferte die Bills ſo— 
gleich an Burkhardt aus. Diefer hatte offenbar auch 
jeine eigenen Gedanken darüber. 

An Herrn Dawfon’s Hauswejen war feit jener 
Unterredung zwifchen Mutter und Tochter eine große 
Veränderung vor fich gegangen. Vor jenem Creigniß 
hatte Mrs. Dawſon anerfannt an der Spike der 
Modenwelt in der Fünften Avenue geftanden. hr 
Haus war der Sammelplag der großen Welt und 
aller fremden Gäjte ver großen Welt gewefen. Seit 
jenem Auguſt aber, d. h. jeit mehr als zwanzig 
Monaten, hatten nur wenige Gefellfchaften dort ftatt- 
gefunden und es war befannt, daß ſowohl Mutter wie 
Tochter fi) in neuerer Zeit mit ganz befonderm Eifer 
veligiöfen Uebungen hHingegeben hatten. Die Geijt- 
lichkeit war geneigt in dieſer plößlichen Ermwedung 
zweier jo hochgeftellten und mit allen Vorzügen und 
Mitteln des Weltgenuffes ausgeftatteten Damen, einen 
eflatanten Coup d’etat der Vorſehung zu erfenner: 
ein Wunder; da fich chne die unmittelbare Einwirkung 
einer übernatürlichen Kraft die „Thatſache“ nicht er— 
Hären ließ. Für die Eingeweihten, hätte es deren 
gegeben, wäre „die Thatſache“ allerdings auch ohne 
Wunder zu erklären geweſen. Das Leben konnte 
weder Freude noch Ziel für das im Geheimen an ein 
hoffnungslojes Schickſal gefeffelte junge Wejen haben. 
Für die Mutter, Die jest erft fühlte, daß fie in der 
Hoffnung ihrer Tochter lebte und diefe Hoffnung zer- 
treten jah, trat noch der Selbſtvorwurf hinzu, daß fie 
fih um das zarte Herz des jungen Mädchens in 


223 


feinen bildfamen Tagen nie anders befümmert hatte, 
wie etwa um ihm ausprüdlih den Weg zu dem 
Romanheldenthum zu zeigen, ver e8 an den Rand des 
Abgrunds geführt hatte. Und als jich num, unter der 
granfamen Prüfung, der Blick in ihr eigenes Innere 
vertiefte, erfannte fie, wie verlaffen dieſes Innere in 
ver fafhionablen Verbindung mit dem Geldmann aus 
der Fünften Avenue gelebt hatte. Alle zurücdgeftaute 
Liebe, alle liebende Hoffnung brach jegt aus der ver- 
borgenen Tiefe ihres Herzens mit Gewalt hervor, um 
ven einzigen noch übrigen Troſt, ven Troſt am Bufen 
der ewigen Liebe zu juchen und die Gluth dieſes 
Troſtes in die erftarrende Seele ihrer Tochter auszu— 
gießen. Am Hintergrunde aber fchwebte immer noch 
die Enthüllung vor der Welt ald das Schreden der 
Schreden. Für Mrs. Dawſon wäre fie nicht weniger 
fürchterlich gewejen, als für Mary felbft. Aber auch 
bier half der fromme Entſchluß, Alles über fich er— 
gehen zu laſſen und dem jtrafenden Schlag der gütt- 
lichen KRichterhand mit Ergebung den Naden zu bieten. 
Das Gefühl der gemeinfamen Gefahr auf dem jelbit- 
gewählten, jchwindlichen Steg, das Bemwußtjein hoher 
Reſignation, ſchloß ihre Herzen feſt zuſammen, adelte 
ihren Bund und gab ihm eine Innigkeit, einen 
Schwung, welche dem heitern Glück der ungeprüften 
Unſchuld wenig zu beneiden hatten. 

Zwanzig Monate nach jenem Bundesſchluß zwiſchen 
Mutter und Tochter wurde jetzt auch Herr Dawſon, 
mitten im Taumel des Geſchäftslebens, plötzlich daran 
erinnert, daß auch ihm ein junges Leben anvertraut 


224 


gewejen. Die Gefahren, denen der Sohn eines reichen 
Mannes, in dem Lande der jugendlichen Ungebunden- 
heit und in einer Stadt wie New-York, ausgeſetzt ift, 
hätten einer jorgjameren Aufjicht und Führung bes 
durft, al8 das durch fo viele gejellichaftliche Gewohn- 
heiten gejchüßte Betragen eines jungen Mädchens. 
Das war aber dem Geldmanne niemals eingefallen. 
Das innere Leben des jungen Dandy’s war ihm ſtets 
eine terra incognita geblieben, nach deren Erforſchung 
er ſich e8 niemald auch nur im Entfernteften hatte 
gelüſten laſſen, ‚bis die Entdeckung gefälfchter Unter- 
Ihriften den Vater nöthigten, einmal Erfundigungen 
einzuziehen und auf Grund verjelben ein Wort mit 
jeinem Sohne zu reden. 

Am Abend vejjelben Tages, wo Juſtus Wilhelmi 
jene Noten vorgelegt hatte, faß Herr William Dawſon 
in jeiner Bibliothef am Kaminfeuer, um auf Herrn 
Auguſtus Dawſons Nachhaufekunft zu warten. 

Die Thür nach der Treppenhalle jtand angelehnt. 
Es war elf Uhr; Alles im Haufe war zu Bette. Herr 
Dawſon faß unbeweglid, nur daß er von Zeit zu 
Zeit die Lippen feſter zufammendrüdte, wobei ihm 
jevesmal ein unheimlihes Licht aus den Augen ſchoß. 

Die Uhr auf dem Gefims jchlug Zwölf. Herr 
Dawfon ſaß noch immer in derjelben Stellung. Die 
Kohlen hatten ihre leuchtenden Flammen verjprüht 
und glimmten nur noch in dunfelrothen Krevaſſen, 
von denen die leichte weiße Afche in jtillen Floden 
auf die polirte Stahlplatte des Heerdgitters herabfiel. 
Herr Dawſon jtredte feine Hand nah dem nahen 


225 


Rupferbeden aus, worin die großen Kohlenſtücke hoch 
aufgejchichtet lagen, um das. Feuer zu unterhalten. 

Es ſchlug Eins. Das Feuer war völlig ausge- 
gangen. Die röthlichen Schladen lagen todt auf dem 
falten Heerde. Herr Dawſon ſaß noch immer unbe- 
weglich da, ohne fih um die eifige Luft zu befümmern, 
die, allmälig von Fenfter und Halle aus in’s Zimmer 
dringend, ihm ſcharf in die Kniee fchnitt. Die Lippe 
preßte fih noch immer von Zeit zu Zeit feiter zu— 
jammen, wobei, nach wie vor, das Auge von dem- 
jelben eleftrifchen Schlage getroffen, fein unheimliches 
Licht ausfprühte. 

Es war nahe gegen zwei Uhr, als auf der jtei- 
nernen Treppe vor dem Haufe Tritte heraufjcharrten. 
Ein Nahjchlüffel ging in der Hausthir. Es war jo 
itilfe, daß der leife Ton ganz veutlih in die Biblio- 
thef heraufflinfte. Ein Lied jummend, fam der junge 
Dawſon die breite Hallentreppe herauf. Als er auf 
der oberften Stufe fih nach dem Lichtſchimmer um- 
drehte, jah er die dunkle Gejtalt feines Vaters in ver 
offenen Thüre des Zimmers ftehen. Er fühlte, wie 
ihm ver bleihe Schreden das Blut in den Adern 
gefror. Er mußte, daß es fih um Etwas handelte. 

„Kommen Sie herein, Sir!” heifchte Damjon 
der Aeltere mit leifer Stimme, die aber mit gebie- 
teriſcher Deutlichkeit in des Sohnes Dhren drang. 
Er folgte, ganz in der Gewalt jener Stimme, ver 
alte Herr hielt ihm die Thüre auf und jchloß fie, 
nachdem er ihn hatte vorbeipaſſiren laſſen, forgfältig ab. 

„Seten Sie ſich, Sir.‘ 

I. 15 


226 


Beide jegten fich an ven falten Ramin. 

Herr Damfon holte fein Taſchenbuch hervor, 
nahm die gefälfchten Papiere heraus und hielt fie dem 
Sohne hin. 

„Sehen Sie fich das an, Sir, wenn's gefällig ijt.“ 

Der junge Menſch nahm die Noten, fah fie an, 
die Augen umflorten fih ihm, er ließ die Hand zit- 
ternd finfen und die Papiere fielen auf die Erde. 

Herr Dawſon nahm fie ruhig auf, legte fie jorg- 
fültig wieder in ſein Taſchenbuch und jtedte fein 
Taſchenbuch bedächtig wieder in die Taſche. 

„Bas haben Sie mit den Summen angefangen ?‘‘ 

Keine Antwort. 

„Ich muß wijjen, wie die Sache zufammenhängt 
oder Site fünnen ſich für fich ſelbſt arrangiren, wie 
Sie mögen.‘ 

„Unglüclich gefpielt, Sa.“ 

„Das it die alte Gejchichte. Es ſteckt aber noch) 
Etwas dahinter.“ 

Stillſchweigen. 

„Wie geſagt, wenn Sie nicht reden wollen, mich 
geht die Sache weiter nichts an.“ 

Dieſe fürchterlichſte aller Drohungen, ſich mit 
ſeinen haarſträubenden Verlegenheiten auf ſeine eigenen 
Reſſourcen zurückgewieſen zu ſehen, verfehlte zum zwei— 
tenmale ihre Wirkung nicht. 

„Ich habe — eine Mätveſſe.“ 

„Das ließ ſich denken. Wie viel frißt ſie jährlich?“ 

„Fünftauſend, Sa.“ 

„Was, nicht mehr als Fünftauſend? Die iſt ja 


227 


bejcheiven, das muß ich fagen. Aber es wird wohl 
noch ein Nachfat zu der Ration fommen. Extras —he?“ 

„ch, jeha wenig, Sa. Wiaflih, Sa, auf mein 
Woat! koſtet mich wiaflich nicht meha als Zehntaufend, 
Alles in Allem!” 

„Alſo, das erflärt’s nicht. Wo ftedt’s alfo?“ 

Auguftus Tieß fich endlich durch feinen zähen In— 
quiventen das Geheimniß jeines VBertrages mit dem 
Count entloden. 

Herr Damjon verrieth weder Erſtaunen noch 
Zorn. Er fragte blos geihäftsmäßig: „Und dieſe 
zehntaufend Dollars find die legte Kate?‘ 

„sa, Sa.” 

„And was dann?‘ 

„Dann bin ich fuei, Sa. 

„Frei? Sie find ein wirklicher Narr. Wenn der 
Ehemann morgen früh wieder feinen Agenten jchict, 
um Ihnen einen zweiten Vertrag, wie Sie das nennen, 
nach dem Mufter des erften abzuzwingen, haben Sie 
jich Schon überlegt, was Sie ihm antworten wollen ?‘ 

Der Swell ſah fehr verdutzt aus. Es ſchien 
ihm ein neues, aber nicht angenehmes Licht aufzugehen. 

„Es giebt nur ein Mittel, Sir, Sie müſſen dem 
Count jeine Frau zurückſchicken.“ 

‚Wenn a fie aba nicht haben will?” wandte 
Auguftus Fopffragend ein. 

„Bieten Sie ihm zehntaufend Dollars — id) 
will fie zahlen — gegen einen Empfangſchein, daß 
Sie ihm feine, Ihnen gegen Ihren Willen zugelaufene 
Frau zurückgeſchickt haben.‘ 

15* 


228 


„Wenn er mia aba den Empfangfchein nicht geben 
will, Sa?‘ 

„Ein für allemal. Das Frauenzimmer muß aus 
dem Wege. Wie? das iſt Ihre Sache.‘ 

Der junge Menfch ftierte feinen Vater mit weitauf- 
gejperrten Augen voller Schreden an; auf dem Gefichte 
des Herrn Dawſon zeigte ſich aber nichts, als die 
gewöhnliche Entſchiedenheit, welche ihn in allen Ge- 
Ichäftsjachen charafterifirte. Die ftereotypen Freund— 
lichfeitsfalten um den Mund und in den Augenwinfeln 
blieben mildernd ftehen. Sie würden jedoch Keinen, 
der die Augen des Mannes einmal beim Lichte jener 
Worte gefehen, je wieder getäufcht haben. 

„Wie hoch belaufen fih Ihre Schulden über- 
haupt?” fuhr Herr Dawfon fort. „Mehr als Fünf- 
zigtaufend, Sir?‘ 

Keine Antwort. 

„Mehr als Fünfundfiebzigtaufend? Als Hundert⸗ 
tauſend? Als Hundertundfünfzigtauſend?“ 

„Weiß es wiaklich nicht aus dem Kopfe.“ 

„Gut, Sir. Ich ſpreche hier nicht, um Ihnen 
die Moral zu leſen; aber haben Sie ſich jemals einen 
Plan gemacht, um aus dieſer, Meſſe“ herauszukommen?“ 

Der Swell ſaß verloren da. 

„Wenn das ſo fortgeht, ſind Sie in vier Wochen 
im Zuchthauſe.“ 

Hier zog der alte Herr wieder bedächtig die 
falſchen Noten hervor und ließ ſie durch die Finger 
gehen. 

Pauſe. 


229 


„Alſo hören Sie mein lettes Wort. Ach bezahle 
alle Ihre Schulden —“ 

Der junge Mann horchte mit bligenden Augen ie 

„Auf Woat, Sa, das ijt anjtändig.‘ 

„Ich bezahle alle Ihre Schulden, wieviel e8 auch 
fein mag; Sie aber jchaffen ſich das Frauenzimmer 
vom Halſe. Wie? Das iſt Ihre Sache.‘ 

Der Sohn warf noch einmal einen jcheuen angit- 
vollen Blid auf ven Mann, als wollte er ſich des 
wahren Commentars zu deffen Worten aus der Wiene 
verfichern. Aber es ließ fich nichts herauslefen. 

„And dann heirathen Sie.‘ | 

„en, Sa, joll ich heiuathen?“ fragte Augustus 
gedrückt. 

„Das iſt Ihre Sache, das geht mich nichts an.‘ 

. Damit 309 Herr Damwfon feine Uhr auf und 
ſteckte ſich das Wachslicht auf dem filbernen Xeuchter an. 

„Vergeſſen Sie nicht das Gas abzudrehen, wenn 
Sie zu Bette gehen.‘ 

Dann fchloß er die Thüre wieder auf, drehte 
jich aber noch einmal um: 

„Apropos, wegen Heirathens. Wenn Sie ge- 
Iheut find, jo nehmen Sie fich eine Neu-Engländerin, 
die folive erzogen ift, feine Reiche und Feine Mode— 
puppe.“ 

Auguſtus horchte. Er hörte bald darauf ven 
Schlüſſel in feines Vaters Schlafzimmer abfchlagen. 
Die Conferenz war ummiderbringlic) zu Ende, das 
legte Wort gefprohen. An den Kamin zurückgekehrt, 
zog der unglücliche junge Menſch jeinen Revolver aus 


230 


ver Taſche, drehte ihn rund um, um fich zu über- 
zeugen, daß auch alle jechs Zünphütihen darauf wären, 
zählte diefe mechanisch, zählte fie noch einmal, und 
wieder noch einmal, ohne zu willen, mas er that. 
Endlich hob er den Lauf gegen die Stimm. Wie er 
jedoch den Kopf dabei aufrichtete, fiel fein Auge auf 
das Portrait feines Vaters über dem Kamin. Bor 
dem Falten Fifchauge des Bildes, eines von Lawrence's 
Meiſterſtücken, — verbarg er rafch, wie ein ertappter 
Dieb, die Biftole unter dem Rockſchoß und fchlich 
zur Thür hinaus in fein Zimmer. Das Gas blieb 
die ganze Nacht über brennen. 


Ende des erjten Theile. 


Drud von N. Baul & To. in Berlin, Kronenftraße 21. 





Seitenſtück zu Freytag's „Soll und Haben.“ 


Aus 
dem Deutfch-amertfantfchen Leben. 


In zwei Abtheilungen 


von 


Reinhold Solger. 


Zweiter Band, 


Bromberg. 


8... M. Rosfowsti. 
1862. 


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Zweite Abtheilung. 


Land, 


Dem Schnee, dem Regen, 
Dem Wind entgegen, 

Im Dampf der Klüfte 
Dur Nebeldüfte, 
Immer zu, immer zu, 
Ohne Raft und Ruh. 


Göthe. 





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Erſtes Kapitel. 


Eine Sommerreife in die Berge, 


„Sn Thälern nun wallen, „Wenn Semand eine Reife thut, 
Frei, ſonder Verdruß, So kann er was erzählen.“ 
Und Hügel befteigen, 4 
Iſt Lebensgenuf. a 
Wer wollte noch weilen 
Im Lärmen der Stadt, 
Die nichts als Beſchwerden 
Uud Schabernad bat.” 
I. Chr. Wagner. 
Antonio an Juſtus. 
3 ae RSERFARTE ‚ New-Hampfhire, ven 3. Juli 1859. 
Seit drei Tagen bin ich auf der Reife von E.- 
Hafen nah N.-E.... Ach habe alle fterblichen und 


einige umfterbliche Anftrengungen gemacht, um die 
dreißig Meilen, welche die beiden genannten Orte von 
einander trennen, zurücklegen, aber bis jest iſt es 
noch nicht ganz gelungen. Hören Ste ven Berlauf 
dieſes Abenteners. 

Schon zwilchen Boſton und dem See Winnepa- 


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jogne hatte ich eine alte Befanntjchaft im Waggon ent- 
deckt — Niemand anders ale Mrs. Damwfon, in deren 
Haufe in der fünften Avenue Wir einft — es iſt jet 
Ihon mehr als zwei Jahre her — den „diftinguirten 
Preußen” zum Beften gaben. Tempi passati! Wie 
find Wir feitdem herunter gefommen. Frau Dawfon 
war in Gejellfihaft von zwei Damen, die fich nachher 
als ihre Tochter und eine emeritirte Schullehrerin, 
die jetzt Schriftjtellerei treibt, auswiefen. Ach dachte 
natürlich nicht daran, die Bekanntſchaft nach jo lan- 
ger Zeit und unter jo verſchiedenen Umſtänden, gel- 
tend zu machen und jegte meine Einfamfeit bis auf 
das Dampfboot fort, welches den reizenden Fleinen 
See, der, wie alle Seen bier zu Lande, 3659 Inſeln 
zu haben behauptet, in etiwa einer Stunde durchkreuzte. 
Auf diefer Fahrt nun that mir Miß Dawſon die un- 
erwartete Ehre an, mich als einen alten Belannten 
zu begrüßen, weniger, wie ich fürchtete, aus eigenem 
Intereſſe, als von ihrer Reifegefährtin gedrängt, die, 
als literariſche Dame, auf mich, als renommirten Lec— 
turer, Jagd machte. Stellen Sie Sich eine dide, 
runde, Heine Perſon vor in einem mulftigen, groß— 
carrirten Winterfleive — e8 war wenigitens 80 Grad 
Hige — dem man die Sonntagsabjicht anfieht; einen 
fugelrunden Kopf, der weit hintenüberliegt, jo daß er 
Ihnen mit den graublauen, zugleich verjchmigten und 
unendlih gutmüthigen Augen wie eine Mondjcheibe 
in's Gejicht hinauf lugt; blondgewefene, weiße Haare, 
die immer, entweder vorn oder hinten, einen vebelli- 
Shen Echweif herausspringen lajjen; einen alten Hut 


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mit faft Schwarz getragener Rüſche und zerfnitterten 
Blumen, ganz tief im Naden hängend; eime Brille 
auf der runden Nafe; einen leichten, weißen Schnurr- 
bart auf der vollen, langen, wohlwollenden Dberlippe, 
und Schwarze, vurchbrochene Mitänen auf den fleifchigen 
Händen, To haben jie Miß Parſons. — Miß Par- 
ſons nahm mich fogleih für den Reſt ver Fahrt in 
Befit. Ach follte ihr stante pede die deutjche Phi- 
loſophie erflären, wobei es ihr befonders am Herzen 
lag, fich zu vergewifjern, daß die deutsche Bhilofophie 
mit Unrecht im Rufe des Atheismus ſtehe. Oder 
vielmehr, fie führte diefen Beweis für mich, brach 
eine Lanze für. die deutſche Philoſophie gegen vie 
amerikaniſchen Orthodoren, und zeigte dabei eine aufer- 
ordentliche, obgleich ganz confufe Kenntniß nicht nur 
ihres Gegenstandes, ſondern auch der ganzen deutjchen, 
wie verfchiedentlicher anderer Literaturen in allen ihren 
Branchen. Mebrigens aber würden Sie meinem Her- 
zen und Verſtande Unrecht thun, wenn jie aus dieſer 
Schilderung nichts als Spott herauslefen wollten. 
Was den confufen Kenntniſſen diefer Dame einen 
hohen Werth in meinen Augen verlieh, war der re— 
ligiöſe Ernjt, mit dem fie von der Wiſſenſchaft der 
alten Welt das Heil für die Zufunft der neuen er- 
wartete. Das Wichtige bei dieſer Erjcheinung 
it nur, das, was wir früher bei Dawſon und andern 
Amerikanern, wenn fie vem Lande zur Ankunft gebil- 
deter Europäer gratulirten, als leeres Compliment be- 
Ipöttelten, im legten Grunde in einem ernjten Glauben 
wurzelt; ernſt allerdings nur in einer gewiſſen Klaſſe 


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erniter Gemüther; aber das ijt bei allen Religionen 
jo. Ich will damit natürlich nicht fagen, daß die 
Amerikaner jemals die Wilfenjchaft auf deutſche Ma— 
nier betreiben werden. Vom wiljenjchaftlichen Stand— 
punfte angejehen, werden jte immer confuje Rinder 
bleiben. Sie juchen fich von den KRejultaten unſerer 
Denfarbeit nur das aus, woran fie ihre perjönlichen 
und materiellen Interejjen fördern, woran fie fich jicht- 
lich jtärfen, erheben, weiterbilden fönnen. Das Mebrige 
geht fie nichts an. Sie ſchließen obitinat die Augen 
vor Allem, was nicht in ihren fittlich-practifchen Kram 
paßt. S'iſt eine Illuſion ohne Frage, aber nicht mehr 
Illuſion als unfere wiljenichaftliche über den fittlichen 
Menſchen, von dem wir auch nur joweit Notiz nehmen, 
als er fih mit vem reinen Gedanfen oder mit dem 
Stoffwechſel oder fonjt einer obſtinaten Abjtraction 
vertragen will. Es iſt noch die Frage, ob der völlige 
Mangel an Kritif bei ven Amerikanern nicht mehr 
als erjegt wird durch den fittlihen Ernſt. GSittlichen 
Ernjt bei den Amerifanern? höre ih Sie fragen. 
Ja freilih! Sie haben noch faum den Fuß aus New- 
Norf, jener Cloafe der alten Welt, gejett, haben höch— 
jtens einmal auf Eifenbahnen over Dampfbooten ame— 
rifantiche Charafterjtudien gemacht, oder in dem Bären— 
garten von Wajhington. Aber ver Kern von Amerifa 
it New-England und da fommen unjere europäischen 
Berichterjtatter niemals hin. Allen Abſchaum, ven 
die rajtlofe Woge der Demofratie an die Dberfläche 
treibt, alle Senjationsgejchichten, womit die Zeitungen 
den Pöbel amüfiren, werden von hochnajigen Igno 


-_ 


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ranten auf frifcher That auf die Corresipondenzflajche 
gezogen und von dem europäifchen Publikum als wahre 
amerifanifche mixed pickles verfchlungen, um ven er— 
ichlafften Geſchmack für die eigene heimathliche Tugend 
an dem Contraſte wieder aufzufrifchen. Wenn man 
jih aber die Mühe geben wollte, in das häusliche 
Leben der großen Maſſe der Bevölkerung herabzuſtei— 
gen, jo fünnte man fich leicht überzeugen, daß Die 
Tugend, wovon die Weifen anderer Völker träumen, 
ihre Poeten fingen und ihre empfinpfamen Seelen 
fafeln, nie und nirgend jo durchgehend die täglichen 
Gewohnheiten eines ganzen Volkes beherricht hat, als 
bei ven unvermijchten Nanfees der Neu-England-Staa= 
ten die Tugend im menjchlichen, nicht im fpartani= 
ſchen, römifchen, puritanifchen Sinne. 

Schreiben Sie obigen Rüdfall in meine unglüd- 
lihe Docentengewohnheit dem Einfluffe Miß Parſons 
zu und empfangen Sie von mir die Erlaubniß, wenn 
ich noch einmal darin verfalle, meine Briefe als Reger- 
jhriften gegen den heiligen Geiſt der freien Natur, 
flagranti delietu in's Feuer zu werfen. 

In C.-Hafen beitiegen wir die Landkutſche und 
wollten natürlich alle oben auf dem Dade fiten — 
mit Ausnahme von Frau Damwfon. Weine vide lite- 
varijche Freundin wurde mit Hilfe eines Shawls, ven 
wir ihr unter den Armen durchzogen, heraufgehißt, 
wobei der Kutſcher von unten nachſchob, und die 
übrige Reifegejellichaft, jo weit fie noch draußen ftand, 
abgewandten Hauptes nach ven verfchiedenen Richtun- 
gen der Windrofe in’s Blaue Jah. 


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Da alle Site eingenommen waren, fo blieb mir 
nur ein Platz zwifchen den Koffern auf dem Wagen 
dab, wo ih mi auf einen, glücklicher Weiſe mit- 
unterlaufenden Sad der Länge nach hinſtreckte, vie 
blauen Rauchwolfen meiner Cigarre in vie flare, blaue 
Unendlichkeit über meinem Gefichte hineinpuffend. 
Einzelne Stöße abgerechnet, beneidenswerthe, bejeli- 
gende Lage! 

Ich mar eben dabei, mir nad einem harten 
Stoße den Kopf wieder zu recht zu legen, als vie 
Kutſche in einem Dorfe vor der Thür eines länd- 
lihen Gafthaufes jtilfe hielt. Die Worte „Dame — 
„krank“ — „ausjteigen” — drangen abgerilien in mei- 
nen Himmel. Es war Mrs. Damjon, welche vie 
Migräne hatte und ausfteigen mußte. Am Nu waren 
zwei von ung unten, während Miß Parfons um Hilfe 
Ichrie, daß man fie auch herunterbräcte. Da fid 
Niemand um fie befümmerte — ich führte eben die 
franfe Dame ins Haus — fo machte die vermegene 
Jungfrau einen Salto mortale und blieb mit ihren 
Kleidern am Griff des Hemmſchuh's zwiſchen Himmel 
und Erde hängen. Da diejer Griff auf. der rechten 
Seite des Bockes war und das Haus auf der Linken, 
fo hatte ich bei einem Blick rüdwärts die interejjan- 
teſte Durchficht, die man fih denfen fann. Das arme 
Geſchöpf protejtirte auf's Heftigfte, mit Stimme, Ar- 
men und Beinen zugleich, gegen das Gewaltfame ihrer 
Lage. Als ich jedoch nach zwei Secunden aus dem 
Haufe wieder zurücgeeilt fam, hatte fie ſchon durch 
andere Hilfe den feiten Boden wieder gewonnen und 


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fam mix fchweißtriefend, aber laut lachend entgegen — 
ein gemüthliches, tiefes, herziges Lachen. Miß Daw— 
jon, die bis dahin noch fein Wort mit mir gefprochen 
hatte, erjuchte mich dringend, weiter zu gehn; Miß 
Parfons dagegen hieß mich bleiben, da fie mir noch 
die mwichtigiten Fragen über den Buddhaismus, das 
römische Recht, den Zuftand der deutfchen Frauen in 
der Urzeit, den germanifchen Charakter ver Reforma— 
tion, die Zufunft ver Polen und Italiener, ven Cha— 
rafter non Louis Koſſuth, die Aussprache des Yatei- 
nischen, die directe Ableitung der Griechen aus dem 
Industhale, und des Landes Attica von der Stadt 
Attod am Indus, nebjt einer, mir in diefem Augen- 
blicke entfallenen Menge ver wichtigften gefchichtlichen, 
ethnologiſchen, philologischen,gefellichaftlichen und andern 
Probleme vorzulegen habe. ch blieb alfo. Mein 
Keifefad und zwei von den Damenfoffern — fie hat- 
ten deren dreizehn — wurden glüdlich ausfindig ge- 
macht und. herunter geholt. 

Um uns die Zeit zu vertreiben, machten wir 
alle drei einen Nachmittags- Spaziergang im Gehölz, 
bei welchem Miß Dawſon die Manie entwicelte, 
hölzerne Stangenzäune und vergleichen interejjante 
Dbjecte in ihr Skizzenbuch einzutragen, während Miß 
Parfons unterdejlen über die fraglichen Zäune herüber- 
zuflettern juchte, aber regelmäßig daran hängen blieb. 
Ich Sfizzirte fie in einer diefer Situationen in Weiß Daw— 
ſons Bub; dann Miß Damwfon ſelbſt mit ihrem 
Teldfefjel auf dem Kopfe — die jungen Mädchen 
tragen dieſen Sommer als Xandcoftüm eine Art 


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Keſſelhaube von braunem Stroh, die ihnen mit ihrer 
tief in die Augen fallenden Krämpe allerliebft unter- 
nehmend jteht. Sie jollten Miß Damwjon jest jehn, 
ich fannte jie faum wieder. Nichts mehr vom Schul- 
mädchen, eine durchaus amerifaniihe Schönheit, fein 
in allen Formen vom Kopf bis zur Sehe, aber fait 
prüdend ernjt und feierlich, um nicht zu jagen düſter. 

Doch brachte uns der Humor des Spazierganges 
alle Drei viel näher, als fich hätte hoffen laſſen, ja 
e8 fam ein abenteuerlicher Feldzugsplan auf den 
nächiten Tag zu Stande. Wir wollten um vier Uhr 
aufitehn, den Nothenberg bejteigen, auf der andern 
Seite zu Fuß nach dem Hafen zurüd, wo wir gejtern 
hergefommen, dort dann, wie gejtern, unſere Sitze 
auf der Yandfutiche nehmen und im Borbeifahren 
Mrs. Damjon abholen. Letztere, die ſich gegen 
Abend bedeutend beifer befand, bejtand bei ihrer Toch- 
ter darauf, daß fie an der Partie theilnehme. Es 
war überhaupt bemerflih, dag Mrs. Damwfon eine 
Pointe daraus machte, ihre Tochter zu zerjtreuen. 
Diefe ging dann auch immer auf die Pflicht des Ver— 
gnügens, denn das fchien der Gejichtspunft, energifch 
ein. 

Alles wurde demnach der Verabredung gemäß 
ausgeführt, troß des unjichern Himmels und leichten 
Regens, welche uns ven grauen Morgen noch ver- 
düfterten. Wir fehritten tapfer in das naſſe, fchlüpfrige, 
fröftelnde Halbdunkel hinein. Wer die Natur Tiebt, 
für ven hat jede ihrer Yaumen ihren eigenen Reiz. 
Es jchien, wir gehörten alle Drei zu dieſer Klaffe 


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unbedingter Xiebhaber — die einzige Art von Reiſe— 
gefährten, mit denen das Reifen ſich verlohnt. 

Man kann eine ſchöne Gegend nicht bejchreiben, 
auch nicht malen, auch nicht einmal fie mit eigenen 
Augen jehen; man muß fie einathmen. Bleiben Sie 
einmal mit der zerbrochenen Lokomotive mitten in 
einem. Gebirgsthale jteden, jteigen Sie aus umd 
hören Sie die Gewäſſer murmeln und die Vögel 
zirpen, Ichlürfen Sie ven Duft aus der feuchten Erde, 
dem bemooften Gejtein, dem athmenden Laubdach ein, 
und Sie werden ſich wundern, wie viel taufend Mei- 
len weit jie an ihrem Waggonfenfter von der durch— 
flogenen Gegend jaßen. Die Bäche, die neugeftärkt 
vom Regen der legten vierzehn Tage, an der Straße 
entlang raufchten, die blauen Berge im Hintergrumd; 
die fFleinen weißen Dörfer mit ihren Kirchthurm— 
jpigen aus dunklen Waldſtrecken hervorgligernd, zer- 
jtreut über der weiten’ Flur; bie und da das filberne 
Auge eines Yandfees, Leben und Seele blidend, und 
Alles das in der Frifhe des Morgens, zwifchen zwei 
Damen dahinjchreitend: 

„Die ein’ in fchwarzen Yoden, 
Die andre weiß von Haar!“ 

— Sprecht mir doch von dem proſaiſchen Leben 
in Amerifa, Ihr deutſchen Bierfchneden, die Ihr 
von diefer ganzen wunverreihen Welt zwifchen Seen 
und Golf, zwifchen ver Bah von New-York und der 
von ©. Francisco, nichts Tennt, als die werjchiedenen 
Yagerbieriorten innerhalb Eures Geſchäftsreiſerayons! 

Sch Hatte vergeſſen, Ihnen zu jagen, daß wir 


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ung für den ſehr mäßigen Preis von Einem Dollar 
einen Führer gedungen hatten, welcher uns, der Ver— 
abredung gemäß, am Fuße des Berges in einem 
Farmhaufe erwartete. Er hatte uns nämlich erſt 
einen Borfprung gelaſſen und war ung dann in feinem 
eigenen Fuhrwerk auf der Straße vorbeigefahren, dem 
aus der Ferne fichtbaren Drte des Rendezvous zu, 
wo wir die große Straße verlaffen und den näheren, 
romantijcheren Fußpfad einjchlagen follten. Der natür- 
lihe Amerikaner geht nie zu Fuß, fo lange er e8 
ivgend vermeiden kann. 

Unſer Führer öffnete uns zunächſt den Stangen- 
verichluß auf eine Wieſe, die an der Seite des Ber— 
ges aufitieg und wo wir uns alsbald von einer Heerde 
Ochſen und Schafe umringt jahen, die uns brüllend 
und blöfend auf Schritt und Tritt folgten, wie in 
den Zeiten des Paradiefes. Die armen Thiere dach— 
ten, wir brächten ihnen Sal. Wir aber, nur auf 
unjere eigene Fütterung bedacht, pflückten wilde Erd- 
beeren, womit die ganze Berafeite bevedt war, und 
jtiegen jo, weidend wie das liebe Vieh, das mit ung 
ging, Schritt vor Schritt den Berg hinan, bis zum 
Eingang eines herrlichen Gehölzes, welches einen jtei- 
len Abgrumd entlang jtieg, hie und da eine Durchſicht 
öffnend auf einen fchäumenden Bergjtrom in der Tiefe 
und regenfriſch dunfelblauende Berge in der weiten 
Ferne. | 

Der junge Farmer fchritt dabei immer vor ung 
ber, jehnitt uns lange Wanverjtäbe, die uns bis an 
den Kopf reichten, brach mit ungelernter Höflichkeit 


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die ven Damen auf ihrem Pfade im Wege hängenden 
Zweige ab oder jchob die im Wege liegenven Aeſte 
bei Seite. Als wir bei einer Quelle anlangten, machte 
er ihnen eine ländliche Schale von Birfenrinde zum 
Trinfen und füllte fie der Einen nach der Anvern. 
Es war ein reizendes Bild, wie das ſchöne, vunfel- 
blidende Mädchen in dem ländlichen Hut, mit dem 
langen Stab in ver Hand und dem zum Gehen & la 
Louis XV. aufgejtedten Kleive, aus der Hand des 
hohen, helläugigen Sachfen die fünftlichde Schale emp- 
fing und an den Mund fette. Daneben faß als Folie 
die feuchende, vide, erhitte Begleiterin und wehte jich 
mit einem ungeheureu Zweige Kühlung zu und bie 
Fliegen ab. Warum follte viefer junge Farmer nicht 
in ebenfo furzer Zeit ein reicher Mann werden, wie 
mein Freund Paddd D’Shea? Und dann — was 
jtände im Wege? Oder was jtände jegt im Wege? 
Die junge Dame fieht nicht fo aus, als würde jie 
befondere Notiz von irgend etwas fich in den Weg 
Stellendem nehmen. Aber freilich auch von dem jun— 
gen Landmann nicht. Sie iſt raſend ftolz. 

Sp, gehend und anhaltend, abwechelnd getrennt 
und zujammen, unter gegenjeitiger Hilfeleiftung und 
ichweifendem Gefpräche, erreichten wir zuleßt den Gip- 
fel.e. Der Anblid der Seen und Berge in Vogelper- 
ipective war nur um fo erhabener, als Wolfen und 
Nebel darüber hinjagten und die Tinten von Augen= 
li zu Augenblid bis zur gänzlichen Unkenntlichkeit 
verjelben Gruppen veränderten. Nur bleiben die ame- 
rikaniſchen Ausfichten in diefer Beziehung matttönig im 


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Vergleich mit: denen ‚ver fchottiichen und englischen 
Bergpiftriete, wo Nebel- und Sonnenfpiel: oft die 
Berge wie mit einem Farbenfeuer durchleuchten. | 

Beim Herabfteigen langten wir bei seinem einſa— 
men Farmhaufe an, wo der Alte und die Alte vom 
Berge hauften. Die Frau war taubjtumm; der Alte 
war. taub geworden aus Mangel an Uebung. Er 
Iprach jedoch ‚ziemlich deutlich mit der Stimme einer 
Ichlechtgefchmierten Wagenare, wozu er fich die Ant- 
worten auf eine Schiefertafel jchreiben Tief.  Diefes 
verwitterte Baar ſaß vor einem grotesfen Kamin, nad 
Art der eyklopiſchen Mauern won Heinen Felsblöden 
aufgethürmt, die wild durcheinander geworfen, mit ven 
Eden überhingen oder zurüditanvden. An ver Wand 
hing eine Thonpfeife, eine Säge und ein Beil; von 
den braunroth gewejenen, jehr geichwärzten Duerbal- 
fen der Dede hingen allerlet getrodnete Kräuter herab. 

MWührend wir uns vor dem Feuer wohlhäbig 
reiten, — denn aus der Näſſe des Miorgenregens 
und der Hitze des. Aufjteigens: waren wir im einen, 
auf diefer Höhe heftig. erfültenden Zug gefommen — 
unterhielt jih unjer Führer auf obige Art mit dem 
Alten, ver fih als fein Onfel auswies. Der junge 
Menſch überrafchte jeinen foſſilen Verwandten mit ver 
Ankündigung, er wolle nach Portland gehen, um bei 
einem Doctor in die Lehre zu treten. 

„Das ift Schon recht gut und ſchön, Frank,“ jagte 
der Alte mit mehr Malice, als man ihm hätte zu— 
trauen jollen, „wenn man alles Mögliche weiß umd 
jtudirt, und den Leuten Arme und Beine abjchneiden 


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fann: aber der Menſch muß doch eine Farm 
haben.“ | 

Der junge Mann fchien etwas verlegen. 

„Ich habe Bruder Joſh's Folks lange nicht ge- 
jehen,“ fuhr der Alte fort. „Deine Schweiter Annie 
muß jegt bald jo groß fein, wie die junge Dame da. 
Das iſt wohl gar Deine Schweiter, he, unge? 
Lord bless her! Sie ift zu einer verdauſ't hübfchen 
Dirne herangewachfen. Eine wahre Lady!" 

Diesmal wurde der junge Mediciner ın spe 
über und über roth, und verlor von dem Augenblic 
an viel von feiner bisherigen Unbefangenheit. Er 
Ichrieb die Erläuterung auf die Tafel. 

Mir aber rief der Name Annie, fo häufig er im 
diejfer Gegend auch ijt, eine alte Erinnerung an meine 
arme Brotegee zurück, die — ih war in der Stim- 
mung nah Anfnüpfungspunkten zu ſuchen — ja auch 
aus New-Hampfhire war, und einen Bruder hatte, 
der, wie allerdings viele Brüder hier zu Lande, eben 
falls Frank hieß. ES war mir ſchon ein- oder zwei— 
mal während unjeres Bergganges fo vorgefommen, 
als hätte ih Frank's Geficht einmal früher irgendivo 
gejehen. Lett ließ ich mir nicht mehr ausreden, er 
habe eine frappante Aehnlichfeit mit Annie Was 
mich aber vor Allem in meiner Vermuthung beftärkte, 
war die brennende Verlegenheit, die ihn bei der Nen— 
nung von Annie's Namen überfam und fihtlih wuchs, 
als ich ihn dabei flrirte. Das Mißverſtändniß Des 
Alten wegen der jungen Dame trug allerdings fein 

II. 2 


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offenbares Theil dazu. bei. Aber vie DVerlegenheit 
datirte nicht von da. | 

Ich hatte eben den Hut abgenommen und wijchte 
mir mit dem Tafchentuch den Schweiß von ver Stirn, 
bei welcher Gelegenheit mir die Haare auf der rechten 
Seite hinter's Ohr zurüdgingen. War es Schickſal 
oder Abſicht, daß Frank in demſelben Augenblicke von 
ſeiner Schiefertafel nach mir hinſah und mir mit der 
ſtörendſten Beharrlichkeit nach dem verſchrumpften 
Ohrläppchen glotzte? Etwas gab es zwiſchen uns 
Beiden, wobei ich nur nicht recht einſah, was ſeine 
Aufmerkſamkeit auf mich leitete, ſo gut meine Auf— 
merkſamkeit auf ihn auch begründet war. Die Gegen— 
wart ver Damen hielt uns Beide ab, uns einander 
mitzutheilen und er, auf echte Nanfeemanier, war 
deito fchwieriger zum Aufbruch zu bringen, je mehr 
ihn die Neugierde brannte. Denn je mehr jie ihn 
brannte, deſto gleichgültiger ſuchte er jich zu jtellen. 

Endlich, als die Damen ſich zum Aufbruch bereit 
machten, nahm er Abſchied. 

„Wir kommen heut Nachmittag wieder bei Euch 
vorbei, wißt Ihr!” jagte ich, ihn bis an die Hausthür 
begleitend. 

„Wohin bejtimmt?” fragte er. 

„Die Damen bleiben in NE. ..... Wenn ich 
noch Logis dort finden kann, jo bleib’ ich vielleicht 
auch einige Tage da.” 

„Vielleicht Fann ih Euch dazu behülflich fein. 
Wenn's Euch recht iſt, ſo geb’ ih Euch meine Karte 


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an meine Clteru mit, die dort Farmersleut find und 
diefen Sommer Boarders nehmen.“ 

„Ihr werdet mir, einen großen Dienjt thun.‘ 

„Euer Name?” fragte der junge Farmer mit 
der gleichgültigſten Miene von der Welt, indem er 
Karte und Bleijtift vorzog. 

Ich gab. ihm meinen Namen. Er jchrieb mir 
eine Empfehlung an feine Eltern auf die Karte, ‚ohne 
jih meinen Namen buchjtabiven zu laffen, wie ohne 
eine Miene zu verziehen und reichte fie mir. Der 
ame war Forreft gejchrieben. 

Es war eine Gefchäftskarte: „Frank KCartiwright, 
Pferd und Wagen zu vermiethen u. f. w.“ 

„Ihr Name iſt Cartiwright?” fragte ich: „das 
it merkwürdig!“ | 

„Es ijt nicht merkwürdiger,“ antiwortete er, „als 
daß ‚ver Eure Antonio Wollfard it. Aber das iſt 
merkwürdig.“ 

„Wie ſo?“ fragte ich. 

„Entſchuldigt die Frage: kennt Ihr nicht eine 
alte Irländerin, die in New-York in Marion-Street 
wohnt und Mrs. O'Shea heißt, und einen Sohn 
hat, der einen Zeitungsſtand in der City hält und 
Paddy O'Shea heißt?“ 

„Allerdings kenne ich die,“ erwiderte ich; „aber 
was mich wundert, iſt, woher Ihr meine irländiſchen 
Freunde ſo gut kennt?“ 

„J guess, Ihr habt mich ausfindig gemacht, um 
dieſe Zeit.“ 

2* 


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„Ihr ſeid Annie's Bruder! ſagte ih. „Ohne 
Zweifel. Ihr Name war Cartwright.“ | 

„Stille, Mann!” unterbra mich ver junge 
Menſch ernft. „Sprecht von ihr nicht mehr. Aber, 
damit Ihr wißt, woher ih Euch fenre: ich war in 
New-York, bald nachdem Ihr's verlaffen hattet, um 
ie aufzufinden. Ich verfolgte ihre Spur bis nad 
Marion-Street, und da hat man mir von Euch ge 
iprochen, und, weiß Gott! Ahr feid ein jo warm- 
herziger Kerl, wie's je einen ‚gegeben hat, mir gleich, 
wer der Andere if. Good bye to you!“ 

Und damit machte erfich mit langen Schritten davon. 

Wir ftiegen umfrerfeitS auf der andern Geite 
des Berges nach dem gejtrigen Hafen hinab, fanden 
aber diesmal feine Plätze mehr oben auf der Kutfche, 
fondern mußten uns in's Innere verquetſchen laffen, 
wo Staub, Hite, Ausdünftung und die Anweſenheit 
eines Betrunfenen den Aufenthalt, der für uns ſchon 
unerträglich genug war, fir Mrs. Dawſon bei ihrem 
Geſundheitszuſtande unmöglich gemacht haben würden. 
Wir famen alfo dahin überein, uns auf der Station 
eigenes Fuhrwerk zur nehmen. 

Frank ftand Tchon mit unſerer Bagage in der 
Thür. Unfere zurücgelaffene Reifegefährtin Fam un— 
mittelbar darauf ſelbſt heraus, vollfommen wieder 
hergeſtellt. 

„Wir find höchſt uncomfortable in der Kutſche, 
Frank. Könnt Ihr ums fein Privatfuhrwerk verfchaffen ? 

„Well, ich habe das Bugay da, was Ihr heut 
Morgen gejehen habt.“ 


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„Da gehn wir lange nicht Alle hinein.‘ 

Der Wirth trat Hinzu. Es ließ jich fein anderes 
Fuhrwerk in der Eile auftreiben und wir mußten zum 
Abſchluß kommen, ehe die Kutjche wegging. Wir 
überließen demnach das Buggy an Mutter und Tochter, 
während Miß Parſons und ich in der Kutſche weiter 
fahren mußten. 

Frank's Augen hüpften deutlich bei der Idee, 
Miß Dawfon zu fahren, zwifchen ven beiden Damen, 
halb auf deren Schoof fitend, wie das bier zu 
Lande jittlih ift. 

„Bell, Frank,“ fragte ich, „wie viel rechnet Ahr, 
um die Damen nah N.=C. .... zu fahren?” 

Die Frage reute mich fait, indem ich fie aus- 
ſprach, als undelifat. „Er wird natürlih von ung 
nichts nehmen wollen,‘ dachte ih. Aber ich Fannte 
meinen Nanfee fchlecht. 

„Bell, Sir, erwiverte er fchnell: „was wollt 
hr geben?‘ 

Nach einigem Zögern kam ich heraus: „Würden 
drei Dollars etwa ....2“ 

„Sagt doch Lieber gleich, für Nichts. Es ift 
nicht der Mühe werth für mich, für drei Dollars 
das Buggy anzuſpannen.“ 

„Das ilt der gewöhnliche Preis,“ erwiderte ich, 
jegt in den Geift der Unterhandlung eingehend, „für 
einen zweifpännigen Wagen für den ganzen Nach- 
mittag, in jeder beliebigen Stadt der Union. Und 
Ihr fordert mehr für einen bloßen Buggy mit 
Einem Pferde.“ | 


22 


„Aber Ihr müßt auch berechnen,‘ wandte ver 
Nanfee ein, „daß ich meine eigene Zeit dazu hergebe‘‘ 
(— der Spitbube war nur zu glüdlich, daß er es 
durfte, —) „und dazu iſt's nicht mehr als billig, 
I guess, daß ein Mann ein Auge auf feinem Vortheil 
behält, wenn ver Markt danach Steht.‘ | 

„fo wie viel wollt Ahr denn? fragte ich, 
innerlich lachend. 

„Es ift ein weiter Weg, bis nah N.-E. . ...“ 

„Ihr müßt Euch indeſſen entſchließen: die Kutſche 
fährt ab.“ 

Das war offenbar das Dummſte, was ich ſagen 
konnte, denn es betraf uns, nicht ihn. Er nahm 
ſogleich ſein Taſchenmeſſer heraus und fing damit 
am Pferdepfoſten zu kerben an, ohne ein Wort zu ſagen. 

„Na, ſagt, wie viel Ihr haben wollt,“ vier ich 
ungeduldig. 

„Slaubt Ahr nicht,“ kam er ganz unfchuldig 
heraus, „Ihr könntet die Lady noch mit in die Kutſche 
hineinquetſchen? Da ift immer noch Plas für Einen 
mehr in jo einer Kutſche drin“ (mit lang gezogenem 
Naſenton, wohl wilfend, welchen unaussprechlichen 
Abſcheu ven Damen diefes „in ver Kutſche dem“ 
einflößte.) 

„Well, was wollt Ihr haben?“ Mein ganzer 
Wörtervorrath war auf diefe Eine verzweifelte Frage 
zufammengefchrumpft. 

„Jetzt, da ich daran denke: die Mähre iſt wirf- 
ih nicht dazu angethan, ein folches Gewicht bis 
nah N.=E. .... zu tragen: fie ift, wie Ihr ſelbſt 


23 


wiſſet, heute fchon früh ausgeweſen, confiverabel: .. 
Ih will Euch was fagen, Capitain,“ — (ih war 
dem eingefleifchten Yankee in der Verfolgung feines 
merfantilen Objektes zu der abftraften Figur der ent- 
gegenitehenvden Partei zujammengefchrumpft, welche 
man in der angewandten amerikanischen Mathematik 
mit dem Ausdruck Gapitain bezeichnet, das X ver 
unangewandten) — „ich mache mir wirklich nichts 
daraus, den Job zu thun; aber weil Ihr's feid, fo 
vechne ich, will ich's für fieben Dollars thun.‘ 

„Laßt ung den Unterfchied theilen!‘ rief ich un— 
geduldig und doch lachend, halb ärgerlich und halb 
in den Geiſt der Unterhandlung hineingerifien. 

„Topp!“ ſagte er, ‚„‚das ift doch billig.“ 

Alles, was halb nachgiebt, ijt im amerikanischen 
Sinne billig, wär’ e8 auch gegen die unverhohlenſte 
Straßenräuberei. 

„Alle an Bord!” rief der Kutſcher. 

Sch wollte noch Inſtructionen wegen der Bagage 
geben. 

„Ihr geht hinein,“ jagte Frank, „ich werde 
für das hier ſorgen.“ Damit pfianzte er die ſchweren 
Koffer, ohne ein Zeichen von Anftrengung, mit einem 
Wurf fiher zwifchen das Gepäck oben auf der Rutfche 
und warf meinen Neifefad hinterdrein. 

„Ich bin noch vor Euch da!“ rief er uns nad. 

Es giebt nichts Erwärmenderes für die Lebens— 
geiiter, als aus einer dunfeln Regennacht in ein wohl- 
erleuchtetes Hötel zu treten, wo Baffagiere, Kutjcher, 
Portiers, Aufwärter, Dienſtmädchen, Stammasite, 


24 


Commis, und was font immer durcheinanverlaufen, 
durcheinanderftehen, fich begegnen, gruppiren, auflöfen, 
auf- und nieverfummen, lachen, ſprechen, fuchen, rufen, 
fluchen — bejonders, wenn man in diefem Gewühle 
jicher ift, feine Belannten zu finden. Die Dawfon’s 
mit ihrem Führer waren jchon da, auf andern Wegen 
vorausgeeilt. Mein ländlicher Freund hatte diesmal 
einen blauen Sonntagsrod an und — wollen Sie es 
glauben — fih ein Paar weiße Glacéhandſchuh zu- 
gelegt: zum Fahren! Nun jcheint es ziemlich Klar, 
daß wenn ein hübfcher, junger Menſch vom Lande, 
der Medicin jtudiren will, ſich feinen Sonntagsrod 
anzieht und ein Paar Glacéhandſchuh fpendirt, um 
zwei Damen bei Nacht und Regen zu fahren; — daß 
diefer junge Menſch in dem ruhigen Fortgang ſeines 
täglichen Daſeins auf irgend eine Weile geftört jein 
muß. Was es aber ift, das hübfche junge Menjchen 
vom Lande oder auch aus der Stadt, die plößlich Dok— 
toren werden wollen — oder auch irgend etwas An- 
deres — in dem ruhigen Fortgang ihres täglichen 
Berufslebens jtörend zu unterbrechen pflegt, das tft 
ach den neueften Arbeiten ver großen mikroskopiſchen 
Schule in der Pſychologie mit ziemlicher Sicherheit 
eonftatirt. Hätte über die Urfache in dieſem bejon- 
vern Falle ein Zweifel obwalten fünnen, jo hätte ihn 
eine Frage meines Freundes, die mir derjelbe am 
nächſten Morgen beim Abſchiede jtellte, entfernen 
müſſen. ch fomme darauf zurüd. 

Wir brachten einen wahren &ormoranappetit 
von unferen Tagesitrapazen mit; Miß Damfon aus— 


23 


genommen, die von der Luft lebt. Dazu Fam die Auf- 
regung wechjelnder Scenen und die Erinnerung an 
unfere Fleinen Abenteuer, aus denen wir unendlichen 
Humor zogen. Der Farmer hatte die junge Lady 
occeupirt. Ich ſaß zwilchen der Mutter und Miß 
Parſons, wobei ich mich in beide zur gleicher Zeit ver- 
liebte, obgleich letztere ſchwatzte, wie ein — never 
mind. Sie war jo voll feliger Laune und herz 
lichen Lachens, von Bergesluft trunfen, bis ihr in der 
Hite des Eſſens ihre Kulturideen einfamen und jie 
‚mich flugs zum Präfivdenten irgend einer amerifanijchen 
Univerjität machen wollte. Sie wollte jogleich morgen 
desiwegen an einflußreiche Freunde |chreiben und nahm 
Mrs. Dawfon das Berjprechen ab, ihren Dann eben- 
falls dazu anzuftiften. Mrs. Dawfon hat fehr ge- 
wonnen, jeit wir fie vor zwei Jahren fahen, obgleich 
jie mir damals feineswegs miffiel. Faſhionable Damen 
und Dffiziere gewinnen mit dem Alter, wie die leeren 
Formen der Liebenswürdigfeit fi) mit der Neife und 
dem Ernſte der Erfahrungen und oft langen, geheimen 
Duldens füllen. Sie muß ſeitdem durch irgend eine 
ernjte Prüfung gegangen fein — wahrjcheinlich wegen 
ihres Sohnes. Denn fie that mir die Ehre, zu jagen: 

„Ich wünjchte, Sie hätten ſich damals unferer 
Bekanntſchaft nicht entzogen. Es wäre mir für meinen 
Sohn lieb geweſen, er hätte ven Vortheil ihres Um— 
gangs gehabt. Lebt Ihre Mutter noch?“ 

Es wird mir ſchwer, ohne Begeijterung von mei— 
ner Mutter zu fprechen. Nun wiljen Sie aber, over, 
wenn Sie's nicht wiffen, jo merken Sie ſich's, daß, 


26 


wenn eine Lady nach Ihrer Mutter oder Schmweitern 
fragt, das gewifjermaßen einer Aufnahme in die Fa— 
milie gleih fommt. Alle Frauen haben die praftifche 
Srelufivität und halten fich von aller nicht völlig eben— 
bürtigen Familienberührung fern. 

„Am nächften Morgen, e8 war Sonntag, ftiegen 
wir noch einmal in die Kutſche, um vie Testen fünf 
Meilen zurückzulegen. Bor der Abfahrt fam Fremd 
Trank und zog mich auf die Seite. 

„Seht mal ber“, faate er; „haltet mich nicht für 
zudringlich, aber ich wollt’ Euch fragen, ob Ahr mir 
eine Frage beantworten wollt." Es mußte etwas aufer- 
ordentlich Aufregendes fein, daß er, gegen alle Yankee— 
gewohnheit, jo direct mit feinem Anliegen auf mich 
losging. Ich war ganz erjchredt. 

„Was iſt's, Lieber Kerl? Wenn ich’8 kann, To 
will ich's thun.“ 

„Well denn! Sagt mir, ſeid Ihr nicht ſüß auf 
die allmächtig feine junge Lady, mit der Ihr den 
ganzen Weg von New-HYork hierher gereiſt ſeid?“ 

„Weil Ihr's fein, Frank, fo will ih Euch ant- 
iworten, wie Ihr mich gefragt habt, grad heraus und 
ohne Umſchweife: Eritens alfo, bin ich nicht den 
ganzen Weg von New-York mit Miß Damfon her- 
gekommen, fondern habe fie zufällig auf dem Winne- 
pafogne- Steamer getroffen. Und zweitens bin ich 
nicht für auf fie, fo daß ich Euren Abfichten nicht im 
Wege ftehe, wenn Ahr welche habt.“ 

„O, ſpottet meiner nicht!” fagte der arme Kerl 
ganz Jchmerzlih. Dann, als fhäme er fich feiner 


. 27 


Thorheit, fchüttelte er mir die Hand zum Abfchted 
und „Grüßt die Folfs zu Haufe von mir.“ 

„Lebt wohl, Frank! und wenn ich bei Euren 
Tolfs Logis finde, fo bleib’ ich ein paar Tage ımd 
Ihr kommt herüber, mich zır befuchen.‘ 

Er jah ums Tange nah. Ich hatte das Glück, 
diesmal zwifchen ven beiden unverheiratheten Damen 
auf dem Kutfchendache zu fiten. Die letten weiß— 
granen Schauerwolken der vergangenen vierzehn Regen— 
tage waren joeben auf dem Rückzuge über ven blauen 
Himmelsgrund begriffen. Nur auf Mount Wefhington 
ruhte noch eine weiße bläulich Tchattirte Flocke, die 
fih von dort in einem langen Streifen am Himmel 
abzeichnete. Rechts war uns die Ausficht durch die 
Windungen der Straße zwifchen nahen Hügeln und 
hohen Bäumen verdedt; aber links öffnete fich eine 
weite herrliche Wiefenfläche vom ſmaragdenſten Grün, 
worauf ein Feiner Fluß feinen filbernen Faden hin- 
Ichlängelte, durch die hängenden Elmen Ichimmernd, 
die ihn auf jeinem ganzen Wege durch das breite 
langgeftredte Thal begleiteten oder hier und da ver— 
einzelt über dem Wiefengrunvde zerftreut in hehrer 
Anmuth über ihrem einfamen Schatten thronten. Zum 
Rahmen für dieſes friedliche Bild erhob ſich in ver 
Entfernung, unferer offenen Seite gerade gegenüber, 
eine jähe Felswand aus der flachen Ebene, lang hin- 
geftreckt wie ein Riegel vor dem Horizont, von bi- 
zarren Rormen im klarſten Umriſſe, waldgefrönt auf 
feiner Gipfellinie, und mit einem breiten dichten Wald- 
befat an feinem Fuße entlang. Dahinter lagerte fich 


* 
28 


die höchſte Bergkette in weiten fernen Halbbogen vor 
unſerem Blicke zurückweichend, erfriſchten duftigen 
Blau's aus dem Regenbade der letzten Tage, mit 
dunklen dichten Waldungen in den Vertiefungen ein— 
gebettet und ihre geheimnißvollen Schauer tief bis in 
den Mittelgrund vorſenkend. An einem ſolchen Mor— 
gen, in einer ſolchen Gegend mit vier raſchen Pferden 
dahin zu fliegen, zwiſchen der Weisheit und Tugend 
auf der einen, der Schönheit und Jugend auf der 
anderen Seite, o Freund, das große Ziel des Glückes, 
nach welchem wir alle auf unſerer Lebensreiſe zu Fuß, 
zu Pferd und zu Dampf uns abmühen, rennen und 
jagen, nicht nur liegt es auf der Straße, ſondern es 
iſt nur und nirgends anders als auf der Straße zu 
finden. Wir brauchen es nicht erſt zu ſuchen, es be— 
darf nur des Bischens Philoſophie, uns ſeiner bewußt 
zu werden, dieſes Hochgefühls reinſter Befriedigung 
RER ERTON . . of arriving 
At the great end of travelling which is —driving.* 
ck Sr zu gewahren 

Des Fahrens großes Ziel, nämlich — Fahren.” 

N. E.... präfentirte jich als eine breite, jan- 
dige ———— an der hier und da ein Haus oder 
ein Hotel, einmal auch eine ländliche Kirche lag, bis 
ſich hinter einer Brücke die Wohnungen verdichteten. 
Wohin man ſah, zogen Berge das Auge zum Himmel 
hinauf; belaubt bis an die Spitzen auf den näheren 
rechts — mit nackten blauen Kuppen auf den ent— 
fernteren geradeaus und links, wo das Dorf noch 
immer über die weitgeſtreckte Wieſe hinabſchaute, von 


29 


einer Felſenwand gegenüber gefchloffen. An einigen 
Stellen hatte der Künftler, deſſen Hand man ſich mit 
Schwierigkeit ohne Theilnahme an dem Entwurf der 
föftlihen Landſchaft denken konnte, einen einfamen 
Fichtenbaum oder die Spiten eines Xerchengehölzes 
auf den duftenden blauen Berg oder Himmelshinter- 
grund Hingezeichnet. Auf der Leinwand hätte der 
Kritiker an demſelben Bilde nicht ohne Grund das 
Abfichtliche dieſes Effectes zur tadeln gehabt. 

Wir fetten einen Baffagter nach dem andern am 
Wege ab. Als ich mich erfundigte, wo die Damen 
(ogiren würden, war's bei Joſhua Cartwright. Das 
Haus war ihnen von irgend einem Bekannten zufällig 
empfohlen worden. Mrs. Dawſon bot mir aus eige- 
nem Antriebe an, ebendaſelbſt auch ein Logis für mich 
zu fuchen, wenn noch eins übrig wäre, und ich über— 
haupt im Sinne hätte, mich ein paar Tage im Dorfe 
aufzuhalten... Miß Barfons beitand darauf; und da 
ich feinen bejonveren Plan hatte und die Gefellfchaft 
Alles war, was fich wünfchen ließ, jo fragte ich bet 
Joſhua an, als die Kutſche vor deſſen Haufe anfırhr. 

„Ja wohl, Ihr ſeid willkommen“, erwiderte eine 
junge blauäugige Landdirne von frappanter Schönheit 
und Friſche auf meine Frage, „wenn Ihr vorlieb 
nehmen wollt.“ 

So habe ich denn ſogleich die Gelegenheit dieſes 
Sonntag-Nachmittags ergriffen, um Ihnen von meiner 
gegenwärtigen Raſtſtätte aus zu ſchreiben, — einen 
„allmächtig“ langen Brief, wie mein Freund Frank 
Cartwright ſich ausdrücken würde. Unſer Farmhaus 


30 


jteht weit abjeit8 von der Straße in idylliſcher Ein- 
jamfeit; es bat, Gott fei Danf! nicht den obligaten 
Brettervorfchuppen um jich herum, der fich hier zu Lande 
des pomphaften Namens ‚Piazza‘ erfreut, ſondern, 
wie in Alt-England, ein feines Roſengärtchen dicht 
an der Thürfchwelle und einen weiten offenen Gras- 
grund vor dem Gartenzaun. — 

Auf diefem Grasgrund jteht links ein unge- 
heurer Weidenbaum, unter deſſen Schatten unfere 
ganze Gejellihaft ſechs mal Platz hat, und welcher 
ung daher auch nach dem Mittageſſen zur Maljtätte 
diente. Wäre ih Jean Paul, jo ließe ich mir dieſe 
Gelegenheit zu einem abjcheulichen Wortjpiele nicht ent- 
rinnen. Hoffentlich werden wir uns noch oft dort ver- 
jammeln. Um den Grasgrund mit feinen anjtogen- 
ven Wiefen und Feldern, die durch einen amerifa- 
niſchen Zaun davon getrennt find, zieht fich im weiten 
Halbfreife ein hochgewachjener Hain von prächtigen 
Elmen, in der Entfernung mit weißen Birken ver- 
mifcht, zwifchen welchen ein Bergſtrom hinmurmelt 
und gligert. In der Mitte hat fich der breite Weg 
vor unferm Haufe einen hohen Bogengang im hehriten 
gothifchen Waldſtyle durch die Bäume gebrochen, ein 
hochgewölbtes Thor, durch das der Blid die däm— 
mernde Straße noch eine Strede lang verfolgte, in 
Pouffin’s Manier. Ueber dem ganzen Waldriegel er- 
hebt jih aus der Entfernung jener große Felſenwall 
und dahinter wieder die bläulichen Kuppen der Berge 
Unmittelbar hinter dem Haufe dagegen füngt es janft 


31 


zu ſteigen an, — Bergweide, mit Zwerggeſtrüpp ge— 
ſprenkelt — bis es, ſich allmälig verdichtend, in Ge— 
büſch und wiederum allmälig in Wald übergeht, der 
bis zum Gipfel der hervorragenden Kuppen hinauf— 
reicht. 

Die Dawſons haben die Hauptpiece, das große 
Borderzimmer im zweiten Stod, occupirt; ich ein Zim- 
mer daneben, welches auf einen Gemüfegarten geht, 
und wo ich jedes Wort, das neben mir. gejprochen 
wird, hören müßte, wenn ich das Geräufch der Feder 
auf dem Papier einjtellen wollte. Ich habe jie jchon 
gewarnt, daß fie feine Geheimnijje verhandeln dürfen, 
ohne mich vorher avertirt zu haben, jo daß ich das 
nöthige Geräufch machen kann. Ich glaube, fie find 
jeßt gerade beim Beten, da fie jtreng auf die Bes 
obachtung des „Sabbaths“ halten. Mrs. Dawjon — 
und ich. glaube im geheimjten Innern die junge Dame 
ebenfalls — kann fich der Bejoraniß nicht entfchlagen, 
daß ihr Aufenthalt bier irgendwie, Ichlecht ablaufen 
wird, aus dem fehr triftigen Grunde, daß fie am 
Sonntag-Morgen reifend bier angelommen, welches 
Reiſen nämlich Sabbathbruch iſt — die achte Tod— 
ſünde. — Wo ſich Miß Parſons hin zerſtreut hat, 
weiß ich bis jetzt nicht. Sie iſt in Bezug auf den 
Sabbath Freigeiſt. 

Die Farmersfamilie beſteht aus dem ſtattlichen 
alten Rieſenvater, dem die Silberlaſt von fünfund— 
ſechszig Wintern nur leiſe das Haupt herunter drückt; 
dann der Mutter, die verhältnißmäßig älter und leidend 


32 


ausfieht, aber einjt eine große Schönheit gemefen 
jein muß und teoß jener Leidensfurchen, einen edlen 
Frieden auf den reinen Zügen trägt, wie man ihm 
nur bei alten Duäferinnen und Neu-Englänverinnen 
(was derſelbe Seelenftamm nach zwei werfchievenen 
Abzweigungen ift) begegnet. Auch arbeitet fie rüftig im 
Haufe. Die Tochter, die ich nur bei der Ankunft 
und als Aufwärterin bei Tiſche halb und Halb habe 
jehen fönnen, iſt Ihnen ſchon vorgeführt. Sie hat 
das friſcheſte, lieblichſte, behendeſte, lebenswollite, blau— 
äugigſte, gute — Sachfengeficht, das jemals, aus einer 
Ueberfülle von langen goldenen Ningelloden hervor— 
lächelnd, das Ideal ver Unfchuld und Engelsgüte in- 
carnirt hat. 

Sind e8 die zauberifchen Bilder ver Natur und 
die reinere Luft, in deren Odem mir die Menſchen 
bier reiner und zauberifcher, wie ſoll ich es nennen? 
— feelenhafter an die Seele treten? Oder find e8 
edlere Menfchen, die mir die ganze Umgebung durch 
den Schatten ihres Geiftes auf meinem Pfade ver— 
aeiftigen? Genug, feit heute Morgen und geftern 
Abend bin ich in der Stimmung, Alles zu lieben,’ zu 
verehren und anzırbeten, was mir in den Weg kommt, 
Rover den Hund (ein Ausbund von Häßlichkeit!) und 
Either, die alte, uralte „Hülfe“, wie man die Dienft- 
boten hier zu Lande euphemifirt — nicht ausgenom- 
men. Daß Sie felbft ebenfalls in das unfchäßbare 
PBrivilegium mit eingefchloffen find, haben Sie wohl 
aus der Länge diefes Briefes fchon herausgefunden, 


33 


des längften, den ich noch in meinem Leben gejchrie- 
ben habe. 
Alfo in Liebe, Berehrung und Anbetung 
Ihr 


Antonio. 


Zweites Kapitel. 


Eine Jandpartie. Zwei Abenteuer an einem Tage. 


„Wer wollte fih mit Grillen plagen, 
Sp lang uns Lenz und Jugend blühn?“ 
Hölty. 


Antonio vertilgte zum Frühftüd eine ungeheure 
Menge wilder Erdbeeren — ein wahres Seelenver- 
gnügen. Sufan, die Blauäugige, wartete auf. Miß 
Parſon's Gegenwart wurde vermißt. Sie war fchon 
um ſechs Uhr in Gefchäften ausgegangen. 

ALS fie ſpät zum Frühſtück fam, ergab es fich, 
daß fie in allen Boarbinghäufern ihre Bekannten her- 
ausgetrommelt hatte — und wer zwifchen St. Johns 
River und Cap May war nicht ihr Bekannter? — 
um eine Partie nach Diana's Bad zufammenzubringen. 
Die Damfons, welche gemifchte Gejellihaft, wenn 
auch noch jo befcheiden gemischt, nicht liebten, wollten 
fich entfehuldigen, mußten aber zulett dem Drängen 
der beiden Andern nachgeben. Ein junger Mann aus 
der benachbarten Heinen Stadt F. .. ., welcher dort 
einen blühenden Store hatte und ven Feinen fpielte, 

U. 3 


34 
war „ſüß“ auf Suſan. "Antonio ſah, daß das 
Mädchen ven Bewerber nicht ausftehen konnte, nöthigte 
fie daher aus Gutmüthigfeit, mitzufahren, was fie 
dankbar annahm, um dem Läſtigen zu entgehen. Miß 
Damfon getraute fich, ſich felbft und Miß Barfons 
zu fahren. Die Gefellfchaft ging alfo in zwei Buggies 
ab, wobei Antonio, Mrs. Dawſon und Sufan unter feine 
Dbhut befam. Das Farmermädchen war immer flinf 
aus dem Wagen, ſobald es galt, einen Schlag auf- 
zumachen oder dem Pferd den Riemen zum Trinken 
ab⸗ und aufzuhaken, wenn es durch eine Fuhrt ging. 

„Was für ein gutes, dienſtfertiges Kind ſie iſt,“ 
ſagte Mrs. Dawſon. Beide behandelten, dieſem freund— 
lichen Eindrucke gemäß, ihre Tiſchaufwärterin mit etwas 
herablaſſendem Wohlwollen. Das Verhältniß änderte 
ſich jedoch einigermaßen, als ſie bei einem Farmer, 
durch deſſen Privatgebiet der Weg ging, anhielten, um 
ſich von ihm den Schlag öffnen zu laſſen. | 

„Why, Sufan,“ fagte ver Farmer, „Charley wird 
jih freuen, daß Ihr wieder zurück feid. Er kann ohne 
Euch mit feinem Latein nicht fertig werden.“ 

„Das den Henker!“ dachte Antonio bei ſich, 
„Hab' ich vecht gehört? "Geben hier zu — die 
Bauermädel lateiniſche Stunde?“ 

So war's jedoch, und Antonio kam nach einigem 
Ausforſchen zu der etwas beſchämenden Ueberzeugung, 
daß das Bauermädel wenigſtens eben ſo feſt in der 
lateiniſchen Grammatik ſei, wie er ſelber. Als er 
ihr dies ohne Umſchweife geſtand, bemerkte ſie be— 
ſcheiden: 


35 


Wenn es auch wahr wäre, jo bleibe ich deshalb 
Doch eine bloße — und. Sie ein‘ großer 
Beier: 

„Vo haben Sie das her?“ 

WMiß Parfons hat mir’s gejagt.” 

Wo die’S nur ber haben: will! Alſo Sie geben 
Unterricht?“ 

„Ja, Sir, in einer öffentlichen Schule i in Boſton. 
Meine Eltern ſind micht reich, und fo muß ich darauf 
bedacht jein, mir: meinen eigenen. Kebensunterhalt zu 
verdienen.” 

„Wenn ſie nicht unabhängig im der Beziehung 
wäre‘, dachte Antonio bei ſich, „jo würde fie wahr- 
Iheinlich dem widerlichen Batron die Hand geben umd 
noch zufrieden fein, daß fie ihn friegen könnte.“ 

Es ijt mit ver Weiberunabhängigfeit und litera- 
riſchen Erziehung des Gefchlechts, wie mit dev Demo- 
fratie überhaupt. Es drängen. fih dabei anjpruchs- 
volle, verquere und‘ rohe Erjcheinungen in den Vor— 
dergrund, diejelben jedoch, die fih auch ohne dieſe 
willfommene Gelegenheit, nur auf andere Weife, un- 
erträglich gemacht haben würden. Aber Bejcheiden- 
heit, Häuslichfeit, Dienjtfertigfeit, Hingebung und 
jede: andere weibliche Huld, weit entfernt unter 
geiftiger Bereicherung und materieller Unabhängigkeit 
zu leiden, werden dadurch erit aus der Niedrigkeit 
des ſchönen Inſtincts zur edlen Bildung erhoben. 
In demfelben Maße wirft das Vergnügen und dag 
Beredelnde des weiblichen Umgangs auf den Dann. 

Diana's Bad ift eine langgejtredte Feljentveppe, 

9% 


36 


wo das von Stufe zu Stufe herabfallende Waffer im 
Laufe der Zeit an verfchiedenen Stellen Baffins aus— 
gehöhlt Hat, worin man ſich recht gern die Göttin 
badend vorjtellte — auch fonft feine üble Vorftellung. 

Man lagerte fih, vor der Sonne geſchützt, 
unter dem Schatten eines Felſenvorſprungs, an deſſen 
offener Seite das Waſſer ſchäumend herunterfchoß und 
einen erfriichenden Xuftzug mit jich ‚führte Bald 
famen auch die andern Säfte, eine Partie nach ver 
andern, heraufgeftiegen; meiftens junge Mädchen mit 
verhältnigmäßig wenig Herren darunter. Es war ein 
reizender Anblid, wie die zartgeglieverten Amerika— 
nerinnen in ihren hellen leichten Sommerfleivern von 
Stein zu Stein über's Waffer hüpften, leicht und 
lachend, jelten von den Herren unterftügt. Nur die im 
Reithabit hatten es Tchlimmer, beſonders Eine, deren 
Cavalier darauf beftand, ihr die Schleppe nachzutragen. 
Feder und Jede wurde Jeder und Jedem, nach ame— 
rifanifcher Unfitte, dem Namen nach vorgejtellt, wie 
fie fih auf dem fchlüpfrigen Pfade begegneten, und 
bald war Antenio als der erjte veutfche Gelehrte des 
Sahrhunderts, wo nicht aller Jahrhunderte, in Um— 
lauf geſetzt; der nebenbei in einer Räuberhöhle, in 
irgend einer entfernten Gegend der Welt, eine unbe- 
ftimmte Anzahl von Verbrechern um's Leben gebracht 
und fih dabei ein Stück von feinem Ohrläppchen 
[ädirt hatte. Man war nicht geradezu unbejcheiden 
mit Fragen am ihn; aber er hörte genug heraus, um 
jeine Lage als unvermeidlicher Löwe unbeqiem zu 
finden; befonders, da man immer nach feinem Ohre fah. 


37 


Nach verichievdenen Srrfahrten im Gebüſch fam 
endlich die erjehnte Eßſtunde. Weinflafchen und Sand— 
wiches, Geflügel und Fruchttorten famen in Fülle aus 
Körben und Keijetafhen hervor. Auch für ein weißes 
Zafeltuch und Servietten hatte Suſan für ihre Pflege 
befohlenen ‚gejorgt, die, wie alle übrigen Gruppen auf 
dem Platze, wo jie zuerit Poſto gefaßt hatten, abge- 
- fondert blieben; denn die Räume waren überall fnapp 
beijchränft. ‚Auch hielt man fih von den Dawſons 
etwas entfernt: ; Sie galten für. hoffährtig und waren 
es auch; wenigitens Miß Dawfons, während ihre 
Mutter eigentlich nur eine liebende Natur mit hoffähr- 
tigen Gewohnheiten war. Miß Barfons, vie alle 
Welt fannte und die von aller Welt: gefannt wurde, 
war unterdeß ihrer Partie wieder abhanden gefommen. 
Man hatte fie den ganzen Vormittag außerordentlich 
geichäftig und Antonio. fie hier und da unter einer 
entfernten Gruppe mit einem Bapier in der Hand auf- 
tauchen jehen. Erſt  fpät, nachdem vie Theilung 
längit geichehen, erjchien fie mit ſtrahlendem, höchit 
echauffirtem Gefichte, großen Schweißringen unter den 
Armen und ein Papier zufammengerollt in der Hand. 
Sie hielt es halb verftedt, wie wenn man Einem eine 
Ueberrafchung bereiten will. 

„Ich habe etwas für Sie‘, wendete fie jich mit 
triumphirendem Lächeln an Antonio, ‚was Sie jich 
gewiß nicht haben träumen laſſen.“ 

„Jun, was iſt's?“ 

„Was es iſt? Es iſt eine Petition an die Re— 


38 


genten der Staatsuniverfitäit von Jova, Sie zum 
Ranzler der Univerfität zu machen.‘ 

Hiermit entfaltete fie das Papier, bewußt und 
groß, wie Einer, der mit einer guten und ‚gewaltigen 
That vor die Augen der Mit- und Nachwelt tritt 
und Bewunderung, Dankbarkeit, Enthufiasmus erwartet. 

Antonio ftand wie vom Donner gerührt. Ihm 
jtieg der Schweiß auf die Stirn, er biß fich auf die 
Lippen. So was hatte er fich allerdings nicht träumen 
lajfien. Die Dawjons ftanden auf und fahen unge— 
fahr eben jo aus. Sufan ſah ver Schalf aus den 
Augen. | 

Seine Opfermiene machte die Beglückerin etwas irre. 

„Die Betition“, verficherte fie ermuthigend, „iſt 
von jammtlichen hier anmwefenden jungen Mädchen un— 
terzeichnet.“ 

„Von ſämmtlichen hier anweſenden jungen Mäd— 
chen!“ rief Antonio, peinlich die Hände ringend, wäh— 
vend die Andern in ein ſchallendes Gelächter aus— 
brachen, mit Ausnahme Miß Damfons, die niemals 
lachte. Darauf fiel ihm erſt jelbjt die Lächerlichkeit 
der Sache ein und er lachte mit. 

Miß Parfons nahm das jedoch nicht übel, was 
ihre Berfon betraf. Aber fie verargte es Antonio 
ſehr, daß er den gewöhnlichen Männerdünkel der 
Fremden habe, fi von Frauenzimmern nicht protes 
given lalfen zu wollen. „Sie könne ihm unter dieſen 
jungen Mädchen ein halbes Dutzend zeigen, die es an 
Gelehrfamfeit mit den eriten Vrofefforen in den. Ver— 
einigten Staaten aufnähmen. Und was den Einfluß 


39 


beträfe, jo wären ſie alle von guter Familie und könn— 
ten ihre Väter bringen, wozu fie wollten. Er jollte 
fich ‚nur nicht gar fo Hochmüthig ftellen. Das Haupt 
unterfcheidungsmal — bier fam jie wieder auf Die 
allgemeine, und große Frage, die ſich als rother Faden 
durch al ihre Thun und Treiben zog — „der Haupt- 
unterschied zwiſchen den Geſchlechtern beftehe darin, 
daß die Weiber eminent praftiich feien. Zum Troſte 
erkannte jie den Männern irgend welche andere emi- 
nente Eigenjchaft zu, aus der fich aber weniger leicht 
klug werden ließ. Sie werde mit diefer Petition den 
Beweis führen, was eine Frau fünne. 

Immerhin war es, troß des fortgefeßten Scherzes, 
ein drüdendes Gefühl für Antonio, fich bei der ganzen 
Sejellichaft als herumreifender Petitionär verdächtig 
zu ſehen. 

Mrs. Dawfjon, die fich angegriffen fühlte, hatte 
mit Sujan die heimliche Verabredung getroffen, ſich 
von ihr nah Haufe fahren zu laſſen, was die Andern 
nicht eher erfuhren, als bis angefpannt war. Miß 
Damjon mußte wieder nachgeben und dableiben. Es 
war eine merfwürdige Eigenschaft an dem Mädchen, 
daß fie, die fich jo hoffährtig trug, ihrer Mutter auf 
den Winf gehorchte; auch Ichien eine geheime Verab— 
redung zwiſchen beiden, daß die junge Dame die Ge- 
jellichaft, die. fie offenbar nicht liebte, ertragen lernen, 
wo nicht aufjuchen müſſe. 

Antonio brach daher mit den beiden andern Da- 
men erſt ein paar Stunden jpäter auf. Sie nahmen, 
von der Schönheit der Landſchaft angezogen, einen 


4) 


langen Ummeg durch das, in Antonio’8 Brief befchrie- 
bene Wiefenthal an dem Ufer des Fluffes entlang. 
Um endlih an die Furth zu fommen, welche nach der 
Dorfjeite zurüd und hinüber führte, mußten fie durch 
einen eingezäunten Feldweg. Während Antonio aus- 
jtieg, um den Schlag zu öffnen, trieb Miß Damfon 
das Pferd an, welches jich zu weit nach links bog 
und den Wagen gegen den Pfoſten drängte. Miß 
Parjons, die eingreifen wollte, zog in der Aufregung 
erjt recht den linfen Zügel. Der Wagen wurde jett 
ganz. gegen den Pfojten geworfen, das Pferd wurde 
Iheu und entführte mit einem Ruck die beiden Vor— 
derräder, womit der Sig, feiner Stüße beraubt, auf 
die Erde fiel und die beiden Damen fopfüber fchleu- 
derte. Ein Bli überzeugte Antonio jedoch, daß fie 
ih feinen Schaden gethan, trogdem, daß fih Miß 
Parjons, die immer Unglüdliche, einen Augenblic 
mit den Beinen in ver Luft auf dem Kopfe balan- 
cite. Er lief alſo ftrads dem Pferde nad, das er 
an den langen Zügeln auch glücdlich erreichte. Ein 
Mann, der in der Entfernung im Felde arbeitete, fam 
bald herzu. Es traf fich durch merfwürdigen Glücks— 
fall, daß es ein Grobſchmied war. Der mittlere 
Schaft, auf welchem der ganze Wagen ruht, war 
etwas angefnadt, aber anfcheinend nicht gefährlich. 
Nur der eiferne Deichjelitift war jo Frumm- gedreht, 
daß man ihn nicht mehr hineinbringen fonnte. Dieſem 
Schaden ward von dem Grobſchmied, der das Stüd 
Eiſen mit fih in jeine nahe Schmiede nahm, in kurzer 
Zeit abgeholfen und fo ging’s luſtig weiter auf dem 


41 


Feldwege bis an die Furth. "Die Damen hatten nicht 
übel Luft, gegen vie Fahrt durch's Waſſer mit dem 
unfichern Fuhrwerk zu opponiren, allein was Tieß ich 
machen? Man mußte einmal durch. Der Wagen 
fenfer ſah fih auch mit aller Sorafalt zunächit nach 
der Wagenfpur auf der gegenüberliegenden Seite des 
Fluſſes um, und trieb, nachdem er fie in's Auge ge— 
faßt, das Pferd aufs Behutfamjte vorwärts in's 
Waſſer. Bis in die Mitte ging e8 abmirabel. Es 
war dort jeicht- Aber gegen das andre Ende hin 
wurde es immer tiefer, jo daß vie Damen die Beine 
hoch auf ven Sik ziehen mußten, um Fein faltes Fuß— 
bad zu haben, und endlich nur mit einem herzhaften 
Ruf aus dem Loche das Ufer zu gewinnen war. 
Kud! — Die Damen machten einen nervöſen Griff 
von beiden Seiten zugleich nach des Führers Armen 
— Knar! Perdautſch! Der Schaft brach, ver Sit 
fiel wieder vorn über, das Pferd ftand oben mit jeinen 
beiden Vorderrädern auf dem Trockenen, Antonio mit 
den beiden Damen, wie Ertrinfende an feine Arme 
geflammert, Tag unten im Waffer, alle Drei fopf- 
über. Dazu wollte er den Zügel nicht gehen Laffen, 
jo daß das Pferd, durch die convulfivifchen Bewe— 
gungen jeiner Arme gewaltfam in’s Waſſer zurüd- 
gezerrt, mit feinen wild arbeitenden Hinterbeinen zum 
Veberfluß einen ſchäumenden Waſſerſchwall über fie 
ausfpriste. So oft er fich mit dem rechten Arme 
heraufarbeiten wollte, 309 ihn das ſchwere Gewicht 
Miß Parſons wieder in's Waſſer zurüd; wollte ex 
ven linfen erheben, jo brachte ihn Miß Damfon, 


42 
jelbft im energifchen: Kampf. zwiſchen Aufſchwung und 
Rüdfall hin und Hergemworfen, durch irgend einen un- 
regelmäßigen Ruck indie Tiefe zurüd. Endlich, nach— 
dem: fie fich unter unendlicher Anftrengung alle: Drei 
auf einmal mit den Köpfen emporgerichtet, "glatt und 
naß wie drei Seerobben, jo fielen ſie fchon in dem— 
jelben Augenblid alle Drei wieder nach hinten zurüd 
und patjchten fißend wieder in's Waller nieder. . Da- 
bei hielt Miß Parſons immer mit der rechten Hand 
ihre Betion über dem Waller, wie Camoens feine 
Zufiade. In einem unbewachten Momente des Zap: 
pelns aber öffnete jich ihre Hand und die Betition 
wurde eine Beute des Stromes. Das war ein Glücks— 
fall. Denn damit ließ fie: Antonio's rettenden Arm 
fahren, um nach dem fojtbaren Documente zu hafchen. 
Sp gewann endlih der ſchwer Nievdergezogene Luft, 
wieder auf die Beine zu fommen und feine andre Ges 
fahrtin ebenfalls aufzurichten und auf's trodne Land 
zu bringen. Als jich die beiden Geretteten vom Ufer 
aus umſahen, erblidten fie Miß Parfons ſchon an 
zwanzig Schritte weiter unten, theil® vom Strome, 
theils von ihrem Eifer fortgeführt, hinter der ‘Betition 
her. Der Anblid war fo komiſch, daß Miß Damfon 
zum eritenmale, jeit Antonio ſie kannte, in ein un- 
widerftehliches Gelächter ausbrach. Antonio konnte 
por Lachen nicht von der Stelle und mußte fie ſchwimmen 
laffen. Mit Barfons, mit ihrem Hutervoller Waſſer — 
wie immer faß er ihr tief im Nacken — und völlig auf: 
gelöftem Haar, ſchlug mit ihren dicken Armen die Wellen 
rechts und links rüftig auf die Seite, machte dann 


43 


einen plöglichen Schuß vorwärts nach der theuren 
Beute hin, was diefe aber nur eine entjprechende 
Strede weiter vor ihr her trieb; ruderte dann wieder 
mit Bedacht und Liſt, bis der Augenblid zu einem 
neuen verzweifelten Stoß vorwärts gefommen ſchien 
und die Petion wieder eine Strede voranflog. End— 
lich, da das Papier, über einen Steinhaufen fortge- 
trieben, den offenen Strom gewann und nun auf un— 
gehinderter Flucht in's Weite ftob, gab fie die Jagd 
auf. Melancholifcher Haltung und Miene drehte fie 
fih um nach dem Landungsplag, fo Ähnlich einem be- 
goſſenen Kater, wie noch je ein menschliches Weſen 
jenem traditionellen Symbol melancholifcher Refignation 
die beiden typiſchen Zügen abgelauſcht hat, näm— 
(ih: das Melandolifche und das Begoffene. An— 
tonio und Miß Damwfon wollten ſich vor Lachen aus— 
ſchütten. Als die gute Miß Parfons das fah, fing 
fie auch aus vollem Halfe an zu lachen. „Hahaha!“ 
tönte e8 tief aus dem Fluſſe. „Hahaha!“ antwortete es 
hell vom Ufer. Es dauerte lange, bis fie ſich jo 
weit beruhigten, daß Antonio wieder in's Waffer ging 
und fie herausholte — feine Kleine Arbeit. 

Jetzt war guter Rath theuer. Noch einmal 
mußte er wieder durch's Waſſer zurück nach dem 
Grobſchmied, der nach drei langen Viertelſtunden mit 
Handwerkszeug, Stricken und trocknen Kleidungsſtücken 
von Frau und Tochter mitkam. Während die Damen 
hinter den Büſchen ihren Badeanzug mit dem Farmers— 
foftim vertauſchten, zimmerten die beiden Männer 
das Fuhrwerf für den Augenblid wieder jo weit zu— 


+4 


recht, daß. man noch einmal auffteigen und * Nach⸗ 
hauſefahrt verſuchen konnte. 

Des Lachens war kein Ende. Miß Parſons 
mußte fürchterlich herhalten, bald als Ophelia unter 
den Weidenbüſchen ſchwimmend und ihre eigene Selig— 
keit ſuchend, bald als Meerjungfer, beſonders aber 
als „feuchtes Weib“ aus Göthe's Fiſcherknaben, ein 
Gedicht, welches beide Damen im Originale kannten 
und daher Antonio bei ſeinen Ueberſetzungsverſuchen 
für das „feuchte Weib“ an die Hand gehen konnten. 
Er ſchlug vor: „the moist woman,“ Miß Dawſon 
war für „damp woman,“ Miß Parſons aber erklärte, 
ſie wüßte am beſten, daß fie weder „moist“ noch 
„damp,“ ſondern durch und durch naß geweſen ſei, 
und „wet woman“ behauptete ſich daher zuletzt als 
die einzige charaftergemäße Ueberfegung für ein aus 
dem bewegten Waſſer hervorraufchendes, weibliches 
Wejen. 

AS die Partie auf der großen —— etwa 
noch eine Meile von ihrem Quartier, endlich ankam, 
war es ſchon vollſtändig dunkel geworden. Der Mond 
ſollte erſt ſpäter aufgehen, und überdies fing es an 
zu gewittern. Der Regen, welcher ſchon ſeit einiger 
Zeit in Tropfen herabgekommen war, fing jetzt an in 
Strömen herunter zu gießen, und ſchlug den Reiſenden 
grade in's Geſicht. Sie fuhren, ſo ſchnell das Pferd 
laufen wollte. Den Kopf blind vorgeſtreckt, ſahen 
weder der Führer noch ſeine Gefährtinnen vor ſich 
‚auf ven Weg. 


45 


„Und hurre, hurre, Hopp, hopp, hopp, 
Ging's fort im faufenden Galopp!“ 
Knie! Knax! Krah! Proautfh! Ein kurzer, fteiler 
Aufgang, Furchtbares Krachen! Weltuntergang! Chaos! 
Das erjte, worauf das Pferd ſich befinnen Fonnte, 
war, daß es mit feinen unausbleiblichen beiden Rä— 
dern in einem ftillen Familienfreife, mit der Schnauze 
in der Küche und mit dem Schwanze im Barlor ſtand, 
wo eben der fromme reis aus der Bibel vorlas 
und die ganze Yamilie zur frühen Abendandacht ver- 
jammelt war. Dazwifchen lagen die drei Unglücks— 
gefährten auf dem Boden, in verfchievenen Stellungen, 
die man für freiwillige Theilnahme an ven frommen 
Uebungen hätte halten fönnen, hätte nicht eritens 
Miß Parſons dem ehrwürdigen Hauspatriarchen mit 
ihren zappelnden Beinen die Brille von der Nafe 
geichnellt, und hätten nicht die beiden Andern, die 
jich mitten im Zimmer auf dem hauswirfenen Teppich 
gegenüber figend fanden, ein Findifches, übermüthiges, 
gott- und wmeltvergeffenes Gelächter aufgefchlagen. 
Sp oft fie durch ihre Thränen und Gefichtscon- 
pulfionen einander gewahr wurden, brachen fie wieder 
von Neuem los. Endlich hatte auh Miß Bar: 
ons einen Sit zwifchen ihnen gefunden und fing nun 
an, Basso mit einzuftimmen. Damit ging’s nun 
erft recht wieder 108. 

Es ergab fih, daß man in ein Haus — 
fahren war, welches ſelbigen Morgens angefangen 
hatte umzuziehen und während der Nacht mitten auf 
der Straße, ohne entſprechende Beleuchtung ſtehn ge— 


46 


blieben war: Es hatte auf ven Mondſchein im Ka— 
lender gerechnet: Ein breites Brett: mit Duerleiften, 
wie fie Wagner und Pferdehalten zum Aufgang für 
ihre Wagen. und Pferde brauchen; hatte ver Familie 
zur Treppe gedient und war offenbar von dem Pferde 
trrthümlicher Weile für eine Pferdeftiege zu feinem 
befondern Gebrauc genommen worden. "Scharf an— 
getrieben, wie es war, hatte e8 überhaupt feine Wahl, 
als gerade herauf und mit der Deichfel die Thür ein- 
zurennen. : Daher nun die -Befcheerung. Das Er- 
Staunen der andächtigen Familie‘ über die nächtliche 
Einfahrt wird man fich "norftellen. Der erſte Ge— 
danke, den die frommen Leute hatten, war, es habe 
eingeichlagen und fie jeien alle vom Blige getroffen; 
der nächite: es jei der Teufel: : Da es indeſſen ihre 
eigene Schuld war, daß fie feine Laterne angejtedt 
hatten, jo ergaben ſie fich nach einem ſchwachen Berfuch, 
zu remonitriren, in das Unausbleibliche. "Man trennte 
fih unter gegenfeitigen Entſchuldigungen und Höflich- 
feitSbezeigungen, am welchen auch das Pferdiin jeiner 
Weife Theil nahm, indem es, unter Anregung der 
behaglihen Wärme, den Augenblid der Ruhe zu einem 
(ängft verhaltenen Bepürfniffe benutte, welches ver 
bejchriebenen Stellung zufolge nicht umhin konnte, in 
die Andahtsübung überzulaufen. 

Sobald die ungebetenen Gäſte fort waren, jteckte 
ver Batriarch denn auch feine Laterne an nnd hing fie 
vor das Haus. 

68 war jest nicht mehr weit von Cartwrights 
Die Verunglückten legten den Weg zu Fuße zurück, mit 


47 


dem Pferde als treuen Achates und den beiden Vorder— 
rädern zur unzertrennlichen Geſellſchaft, während das 
fortwährend deſertirende Hintertheil zur Strafe die 
Nacht über auf der Straße lieb): um ſich allein zu 
zen fo gut es fonnte. 

„J gues, junger Mann‘ — der alte 
* als er dem —— Ritter das Pferd 
mit dem abgebrochenen Wagenſtücke abnahm, „Ihr 
ſeid noch nicht viel gefahren in Eurem Leben.“ 

Der junge Mann remonſtrirte als ehrenrührig 
gegen die Inſinuation, machte aber keinen Eindruck. 
Der Alte hält ihn bis auf den heutigen Tag für 
einen ſchlechten Fuhrmann. | 

Antonio hörte Miß Dawſon daneben der Mutter 
ihre Abenteuer erzählen. Bei jedem dritten Worte 
war die Stimme des Mädchens — jene eigene metali- 
reihe Stimme — von Lachen erjtidt. Db Mrs. Dam- 
Jon Luft gehabt hatte, jich zu ängſtigen und zu ſchelten? 
Gewiß tft, daß fie vor Mitlachen nicht dazu fam, und 
daß fie einmal über das andere im Tone höchiten 
Glückes ausrief: „Wie Du lachft, Mary! Wie Du 
lachſt!“ Es war ihr offenbar etwas Neues. 

Alles das war fo deutlich vernehmlich, das er's 
beim Wajchen und Anziehen hören Fonnte. Er jtand 
noch da in puris naturalibus, um fich eine Kanne 
Waſſer über die Schultern zu gießen, als es an ver 
außern Thür Elopfte. 

„Wer ift da?“ 

„Ich, Miß Parſons.“ 

„Was giebt's?“ 


48 £ 


„Ich muß mit Ihnen wegen einer neuen Betition 
an die Regentan der — — con⸗ 
feriren.“ 

„Um's Himmels Willen, Miß Porlono, ſind Sie 
ſchon umgekleidet?“ 

„Nein. Ich war eben im Begriff, als mir ein 
Gedanke fam, den ich fogleich mit Ihnen befprechen 
muß. u 

„Ss iſt jegt unmöglich, Ma’m. Beim Supper! 
Machen Sie, daß Sie Ihre Kleider los werden, Sie 
haben ſonſt ven Zod davon.“ 

Nach einigen unverftändlichen Gegenbemerfungen 
verlor fih Miß Parſons Stimme murrend in der 
Entfernung. 


# Drittes Kapitel, 


Sufan erhält einen Feirathsantrag und thut eine kleine 
Heldenthat. 
„I faut que l’on me plaise „Thue niemals etwas jelbft, 
Pour ätre mon epoux. was Du eine Frau für Di thun 
La brune Therese laffen kannſt.“ 
N’est pas pour vous.“ Erfahrungsjag des Autors, 
Parifer Lied. 


Als Sufan am frühen Nachmittage nach Haufe 
gefommen war, hatte fie ihren Vater ſehr niederge— 
Ihlagen gefunden. - 

® 


49 


Sie hatte diefe Stimmung Ihon feit ihrer Rück— 
funft aus Boſton an ihm bemerkt, aber nicht gewagt, 
ihn darüber zu befragen. Sie war überhaupt jeit ven 
legten Jahren an periodische Anfälle der Art bei ihm 
gewöhnt und brachte diefelben jehr natürlich und rich- 
tig mit dem Schickſal ihrer Schweiter Annte zuſam— 
men. Diesmal aber waren die Symptome verjchte- 
dener Art und anhaltender. Der Alte fam zur un— 
gewöhnlichen Stunde von der Feldarbeit heim, ſpannte 
an und fuhr aus, ohne feine Sufan mitzunehmen 
oder ihr zu fagen, wo er hinführe — fam trüber zu- 
rück, als er ausgefahren und hielt dann verftedte Ge⸗ 
Ipräche mit fich ſelbſt. Sufan wandte ſich an die 
Mutter. Diefe wollte lange mit der Sprache nicht 
heraus, ließ ich aber dieſen Nachmittag folgende Er- 
klärung ſtückweis abzwaden. 

„Da iſt John Harwood, you know“, ſagte ſie, 
„ich habe den Mann niemals recht leiden können, er 
iſt ein Speculator. Aber er hat ſich auf irgend welche 
Art in des „alten Mannes“ Zutrauen eingeſchlichen. 
Ich weiß, daß der „alte Mann“ nach und nach fünf— 
tauſend Dollars bei ihm hineingeſteckt hat. Das iſt 
ungefähr Alles, was er hat. Wie nun die Kriſe kam, 
kam John eines Morgens hierher — es war den 
Montag drauf, als Du das erſte Mal nach Boſton 
gegangen warſt, um Deine Stelle anzutreten — und 
ſagte: „Joſhua“, ſagte er, „ich bin weg, wenn Ihr 
mir nicht noch tauſend Dollars gebt.“ Der alte Mann 
wollte nicht dran, aber endlich ſchickte er Frank, er 
ſolle ſich die Bücher anſehen. Und Frank kam zurück 

I. 4 


50 

und fagte: „To be sure, Vater‘, fagte er, „es ift fo. 
Ich denke, wenn wir Joſhua noch taufend Dollars 
Ichaffen, jo giebt es eine gute Chance, ihn durchzu— 
bringen und die Fünftaufend zu retten.” Vater gab 
zulett mit [chwerem Herzen nad) und nahm eine Mort- 
gage auf die alte Heimftätte auf, um das Geld auf- 
zubringen. Frank fagte, fie könnten's abarbeiten. Fred 
Tompfins, der die beiden Landkutſchenlinien hält, hatte 
ihm Schon längſt im Ohre gelegen, er follte doch die 
Eine davon für ihn verwalten und gab zu veritehen, 
er würde ihn binnen Jahr und Tag zum Bartner 
machen. Er fagte, er fünnte ohne Frank nicht fertig 
werden. Frank nahm’s jetzt gern an, obgleich er lieber 
auf der Farm geblieben wäre und, Jam sure, Franf 
hat fein Beſtes gethan. Aber Fred Tompfins hat 
jein Wort nicht gehalten und fie haben fich gezanft 
und Frank hat ein Bischen auf feine eigene Rechnung 
angefangen; aber es ift fein Gejchäft hier. Und ich 
habe diefen Sommer Boarders genommen, aber alles 
das bringt's nicht. Und, wenn ich’S recht — 
ſo iſt die Mortgage gekündigt.“ 

„Auf wenn?“ 

„J expect, morgen.“ 

„Wer hält fie?‘ 

„Der alte Joſiah.“ 

„O, der iſt hart. Da ift nichts zu hoffen. Alſo 
es gilt die Heimſtätte.“ 

„Sa, das ift’s, was den alten Mann wurmt, 
daß er noch auf feine alten Tage die Heimftätte ver— 


51 


faffen fol.” Hierbei zitterte dem Mütterchen vie 
Stimme. 

„Hat Frank denn gar nicht8 gefpart?” 

„To be sure, hat er’s. Cr hat's dem Vater 
gebracht; ich glaube, es find achtzig Dollars. Und 
dann, fürcht’ ich, hatt’ er einen Handel wegen feines 
Pferd und Buggy gemacht, aus feinem andern Grunde, 
als um dem Vater zu helfen — und er hat jet die 
Notion Doctor zu werden im Jimmy Carter's Dffice 
in Bortland.” 

Suſan ſaß einen Augenblid nachdenklich. Dann 
ging fie auf ihr Kleines Zimmer, gerade groß genug, 
um ihrer Fleinen PBerfon mit ihrem großen Reifrock 
zwilchen Bett, Kommode, Tiſch und Stuhl, Raum zum 
Stehen zu laffen. Sie nahm einen Kleinen Schlüffel 
aus ihrem Portemonnaie, ſchloß die oberite Schublade 
ihrer Komode auf, welche mit Büchern und Schreib- 
materialien gefüllt war, — nahm zwei fleine Bücher 
heraus, das eine mit gelblevernen Deckel und grünem 
Schnitt, das andere länglich ſchmal, mit Pappdeckel 
und weißem Schnitt. Beide ſteckte fie in die Taſche, 
jeßte jih dann ihren Shafer auf und machte fich, ohne 
weiter Jemand zu jehen oder zu fprechen, auf den Weg 
nach der Scheune, welche zugleich als Remiſe und 
Pferdeitall diente. 

Auf halbem Wege vom Haus nach der Scheune 
trat Frederic Snobbs, den fie, in ihre Gedanfen ver- 
junfen, nicht hatte die Straße herauffommen jehen, 
an fie heran. 

Srederic Snobbs, der Beabſichtigende, hatte die 

4* 


52 


Abwefenheit jeiner Beabjichtigten auf der Landpartie 
dazu benugt, feinen Chlinder und feinen Rod im 
neuejten Bojtoner Styl der Bewunderung des Dorfes 
preiszugeben. Er hatte ihn von dem Grocerladen 
nach dem photographifchen Haufirfram, wo er jich für 
25 Cents ambrotypiven ließ, promenirt, von dem 
Haunfirfram nah dem cecream-Salon, wo er jeche 
Cents Werth auf feinen innern Mann verwendete; von 
dem Icecream-Salon nah dem Bojtamt, wo er mit 
dem maliciöfen alten Krüppel, der die Briefe fortirte, 
ſympathetiſche Bemerkungen über die Korruption der 
republicanifchen Bartei auswechfelte, von dem Poſt— 
amt zurüd nach dem Icecream-Salon u. j. w. Fre— 
deric Snobbs war ein ſchönes Eremplar von der ge- 
bildeten Stadtjugend diefer Breite. Er trug die öligen 
ſchwarzen Locken Hinten gejcheitelt und feine glänzend 
polirte Dfenröhre darüber, von verjelben Farbe, etwas 
nach der linfen Seite, was ihm etwas Verwegenes 
gab. Der Rod von dunklem Tuche machte ihm breite 
Schultern, eine ungeheuer lange Taille, und mit jeinen 
faltenlofen Schößen, die bis auf die Waden herab- 
hingen, einen engen, glatten, unartifulirten Xeib. Zwei 
hellbehoſte Beinenden mit ſpitz zulaufenden Haden 
vollendeten ven hintern Mann, welcher, als der naivere, 
am Durchſchnittsmenſchen ver charafterijtiichite tft. 
Sein Gang befundete dafjelbe guagige Selbjtvertrauen, 
wie feine Toilette, und verrietb den Edelmann des 
Jahrhunderts, ven Herrn von ver Elle. 

Srederic Snobbs hatte im Dorfe etwas gehört, 
was ihn zweifelhaft machte, ob er Lieber heute als 


53 


morgen die Umgegend um das ‘Privilegium feiner 
Gegenwart bringen follte.. Er hatte Old Joſh für 
wenigjtens zehntaufend Dollars werth gehalten und 
nun war ihm foeben auf feinem Cancansgange geftect 
worden, Old Joſh habe feinen Cent in der Welt. 
Wie er daher jebt das Mädchen aus der Thür treten 
jah, fo ergriff ihn bei ihrem Anbli ein an Verach— 
tung grenzendes Gefühl. Er war fehr geneigt, es ihr 
als abfihtlihen Betrug auszulegen, daß ſie ihn, ver 
halb und halb eine „notion“ gehabt hatte, fie mit 
feiner wohlriechenden Hand zu beglüden, nicht über 
die wahren Ausfichten bei der Speculation aufgeklärt. 
68 war daher ein Ausdruck rohen Webermuths in 
jeinem Wefen und dem Ton feiner Stimme, als er 
fie anredete: 

„Ich venfe, ich bleibe nicht Yänger hier, Miß 
Cartwright.“ 

„Thut mir leid“, ſagte Suſan zerſtreut, aber mit 
ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit, „daß Frank nicht 
hier iſt. Ihr würdet Jemand zum Schwatzen haben.“ 

Damit ging ſie geſchäftseifrig ihres Weges. 

Dieſe Gleichgültigkeit über eine, wie er von 
ſeiner Stellung aus nicht anders denken konnte, ſo 
vernichtende Ankündigung, piquirte Frederic Snobbs. 
Er war es nicht gewohnt, daß junge heirathsfähige 
Mädchen ihn mit: „ruhig kann ich Euch erſcheinen, 
ruhig gehen ſehen“ tractirten, oder ihn gar unbeachtet 
am Wege ſtehen ließen, wie Göthe's Veilchen. Auch 
hatte Suſan nie ſelbſt ihm ſo wenig Rückſicht gezeigt. 
Ihre natürliche Liebenswürdigkeit aber, an der ſich 


54 


alle Geſchöpfe in ihrem Umkreis fonnten, hatte, durch 
die Brille feiner hohen gefellfchaftlichen Stellung, als 
blühendjten Schnittwaarenhändlers in jeinem Fleden, 
gejehen, einen ganz andern Anftrich in feinem dicken 
Kopfe genommen. Er folgte ihr alfo, piguirt, an’s 
Scheunenthor nad, wo er fie anhielt, und ohne felbit 
recht zu wiſſen, wo er hinaus wollte, mit noch immer 
gebieterifcher Stimme, heifchte: 

„Sch hab’ Euch etwas zur fagen, Ma’am.“ 

„Dann macht's fo raſch, wie möglich“, erwiderte 
das Mädchen, den hölzernen Riegel zurückſchiebend, 
„ich bin ſehr bejchäftigt.‘‘ 

Beichäftigt?! Konnte man befchäftigt fein, wenn 
Frederic Snoobs eine Mittheilung zu machen hatte? 
Es ftimmte ihn aber doch wieder einen Grad tiefer 
herunter, als er jah, daß es feine Affection war, umd 
Ipornte ihn in demfelben VBerhältniffe, fich geltend zu 
machen. 

„Well, aber ich habe Euch etwas ſehr Wichtiges 
zu jagen.“ 

„Das fann es fein?” fragte Sufan ziemlich kurz 
md blieb in dem aufgegangenen Scheunenthor jtehn. 

Da ver blühendfte Ladenbeſitzer feines Fleckens 
etwas niedriger ftand, jo fiel ihm das volle Xicht von 
Sufans reinen Zügen und findeserniten Augen grad’ 
in's Gefiht. Sie hatte eben die Scheunenthür auf- 
geſtoßen und wie fie, ſich umdrehend, aus der Bewe- 
gung in die Ruhe zurüctrat, jo hatten ihre Gejtalt 
und Stellung, ſchwunghaft und frei, bet aller Natür- 
lichkeit etwas Majeſtätiſches. Der blühende Laden— 


. 55 


befiter wurde von dem Anblid urplöglich jo mit dem 
Gefühle feiner eigenen Erbärmlichfeit gefchlagen, daß 
er für den Augenblick Alles darüber vergaß, was er 
im Dorfe gehört hatte. Servil, wie immer vor der 
Vebermacht, jtotterte er, wie in falten Schweiß aus— 
brechend, die Worte hervor: 

„Wollt hr meine Frau werden, Ma’am?“ 

„Sure Frau?‘ fragte das Mädchen höchlich er- 
ſtaunt, dann fich nach der Krippe umwendend, wo der 
Sattel hing: „Ich denke nicht dran, Sir.“ 

Damit holte fie den ſchweren Sattel mit ftarken 
Armen herunter, 309, liebfofend mit Wort und Hand, 
das Pferd hervor und begann es aufzufchirren, in an— 
fcheinender Unbewußtheit, daß Frederic Snobbs, der 
blühendſte Ladenbeſitzer feines Fleckens und boſto— 
niſch erzogenſte und angezogenſte Gentleman in New— 
Hampfhire, verlegen hinter ihr ſtand und ihren Be— 
wegungen auswich, um nicht auf feine Furzen Füße 
getreten zu werden, was dem höchit ſauber gehaltenen 
Kalbsleder hätte ſchädlich werden fünnen. 

Endlich ſuchte er dadurch einen neuen Anfnüpfungs- 
punkt zu gewinnen, daß er ihr fatteln helfen wollte. 
Obgleich er aber groß zu Buggy war, fo war er doch 
Ihwach zu Sattel, und von Damenfätteln hatte er 
erjt recht feinen Begriff. Er fette daher den Sattel 
falſch auf. 

„Das iſt nicht die rechte Seite, Sir“, ſagte 
Sufan, als wäre gar nichts vorgefallen, und drehte 
ven Sattel mit einem Ruck um. Als fie fich darauf 
büdte, um den Gurtriemen fejtzufchnallen, gab ihm 


56 & 


die Verborgenheit ihrer Augen Courage, den Gegen- 
jtand von einer anderen Seite wieder aufzunehmen. 

„Now, Sufan, ich will Euch was fagen: wißt 
Ahr, daß der alte Joſh in DVerlegenheit ift.‘‘ 

Unglüclicher hätt’ er fich nicht ausprüden können. 

„er hat Euch das gejagt?‘ fragte Sufan, noch 
mit dem Schnallen bejchäftigt, aber mit mehr Un- 
willen in der Stimme, als Snobbs oder irgend 
Jemand anders jemals an ihr bemerft hatte. 

„Das bleibt fich gleih. Aber damit Ahr feht, 
was für eine Art Mann ich bin, fo will ih Euch 
hiermit wiſſen laffen, daß ich mich nicht abgeneigt 
fühle, unter gewiffen Bedingungen meinen Theil dazu 
beizufteuern, um den alten Dann wieder auf die Beine 
zu bringen.‘ 

„Gebt Euch feine Mühe, Six, rief fie, aufge- 
bracht über die Andeutung, und führte das Pferd ge— 
fattelt und gezäumt vor die Scheune. 

„Der Betrag ift, glaube ich, taufend Dollars!‘ 
jagte er zäh, hinter ihr hergehend. 

„Wenn hr e8 denn wißt, Sir,‘ rief fie ganz 
zornig, „ſo wünſcht' ich, Ihr behieltet es für Euch.“ 

Damit trat fie auf die Stufe, die am Garten- 
gitter eigens zu dem Zwede angebracht war, und 
ſchwang fich auf's Pferd. 

Snobbs ſuchte das Pferd noch anzuhalten. 

„Ich leihe ihm fünfhundert Dollars dazu — auf 
zehn Procent — Das Geld ift jegt r— 

„Laßt gehn, ıf you please, Sir.“ Damit gab 
fie ihrem Pferde die Gerte. 


“ 57 


„Ich leihe ihm taufend denn!‘ vief er extatifch 
hinter ihr ber. Aber Schon hatte fich ihr Pferd in 
Icharfen Trab gejegt und war bald durch das hoch— 
gewölbte Elmenthor hindurch paſſirt. Snobbs fah 
ihr ſchafsnaſig nach, jo lange er ihre leicht vahinflie- 
gende Geftalt noch auf dem Wege entdeden fonnte. 
Er fühlte fih geprüdt in feiner Würde als Mann, 
als blühenpfter Kapdenbejiger feines Fleckens und als 
‚allen Zweden und Abfichten nach‘ Boftoner. Das 
Gefühl dieſer unveräußerlichen Eigenfchaften gewann 
jedoch im nächſten Augenblide, zum Glück für feine 
Ruhe, die Oberhand. Er rüdte fich die Dfenröhre 
noch etwas mehr nach links als gewöhnlich, ftrich fich 
den Haarfcheitel auf den Hinterfopf und die beiden 
Ohren und blickte fich darauf gravitätiih nm, als 
forderte er die ganze Natur heraus, ihm anzufehn, 
daß er eben einen fchmählichen Korb erhalten hätte. 
Darauf begab er fih in’s Haus, um die Sünden der 
Kinder an den Vätern heimzufuchen und die Alten 
mit der Schredensfunde zu Überrafchen, daß er uns 
verzüglich fort wolle. Diefe ſchienen jedoch dag Er- 
eigniß mit einer Ergebung hinzunehmen, welche an 
Stumpffinn grenzte. So fpannte fich denn Frederic 
Snobbs höchit eigenhändig fein Pferd an fein Buggy 
und fuhr in einem ZJuftande inneren Nägelbeißens 
davon, ſchwörend, es jolle die Narren noch alle ge- 
reuen, wenn fie von feiner brillanten Hochzeit mit 
Jane Andrews aus dem benachbarten B... hörten, 
die mit Sufan in die Schule gegangen war. 

Suſan hatte ungefähr neun Meilen zu reiten. 


58 


Der alte Joſiah Batchelver, zu dem fie hin wollte, 
wohnte in der Nachbarfchaft von J. 

Der alte Joſiah Hatte es verjtanden, fih im 
diefer romantifcheu Gegend ein Plätschen ausfindig zu 
machen, das Antonio an des Majors von Rothfattel 
Pofenfhes Gut erinnert haben würde, jo wüſt und 
öde fiel es Einem aufs Auge. Das alte Bretter- 
haus jtand fchattenlos und ohne die geringjte Ein- 
faffung von Garten, Baum oder Zaun, allein auf 
einer jteinigen, jonnenverbrannten Anhöhe. Es war 
wie gemalt gewejen und zeigte die nadten, grau ver- 
wetterten Bretter. | 

Sufan band ihr Pferd an einen eifernen Ring 
neben der Thür dieſer einladenden Behauſung umd 
Eopfte, in Ermangelung einer Klingel, mit dem Reit— 
peitſchenknopf an die Thür. 

Der alte Joſiah Batchelder, der an die Thür 
geſchlurrt fam, war ein fteifgebücter, jtarfinochiger 
Greis mit eingefallenem Dberfiefer und mürrifch jtrafen- 
dem Auge, als jei er nicht übel aufgelegt, die Welt 
rings um ihn ber in's Straf- und Befjerungshaus 
zu jchiefen, dafür, daß feiner von dem Geſindel hun- 
derttaufend Thaler aufzumweifen hatte, wie er jelber. 

„Bas ilt [082 fragte er furz angebunden, ſich 
in feiner ganzen objtinaten Breite vor den Eingang 
pflanzend. | 

„Ich möchte ein paar Worte mit Euch reden,“ 
ſtammelte Sufan, zurüdgejchredt. 

„Kommt herein,‘ fagte er brummend, grollenden 
Blifes und ging ihr in die Eß- und Hinterjtube 


59 


voran, wo ein rothbraun gemalter Zifh und einige 
Schemel von derfelben Farbe des alten Joſiah Ideen 
von Eleganz und Comfort repräfentirten. Ein Paar 
abgelejene Bücher religisfen und enchelopädifchen In— 
halts auf dem Kamingefins, ein jtaubiges befledites 
Dintenfaß, eine engbrüftig tiefende Küchenuhr und 
zwei Palmenfächer thaten feinen geijtig äſthetiſchen 
Bedürfniſſen Genüge. 

„What’s the matter then?“ Was giebt's alſo?“ 
fragte der Greis rauh, ohne fich weder ſelbſt zu fegen, 
noch jeine hübjche Bejucherin zum Siten zu nöthigen. 

„Vielleicht Habt Ihr mich vergeffen?‘ fragte das 
arme Kind unficher, „ih —“ 

„Ich fenne Euch gut genug. ch ſeid Joſh' 
GCartwrights Mädchen. Die zweite‘ — fügte er hinzu, 
als machte es ihm Vergnügen, ihr das Andenfen der 
eriten vorzuwerfen. 

Es trat jett eine Paufe ein. Suſans Berlegen- 
beit wurde noch dadurch bedeutend vermehrt, daß in- 
mitten verfelben des alten Joſiahs alte Schweiter 
hereintrat und fich, ohne ein Wort zu jagen oder mit 
einem Blick von dem Beſuche Notiz zu nehmen, an’s 
Fenfter jeßte, wie ein Eiszapfen. Man fühlte fie, wie 
man die Eisberge an der atlantifchen Küfte fühlt, 
auch ohne fie zu fehen. Die alte Sarah hatte einen 
fihern Inſtinct. Wenn Einer fam, der von ihrem 
Bruder etwas haben wollte, jo war fie da und pflanzte 
fih ruhig bin, als ein umüberjteigliches moraliiches 
Aufthauungshindernig. Sie hütete ihres Bruders 
„Eigenthum‘ wie ein Drade. Da er Junggeſell 


60 


war, jo hatte fie fich gewöhnt, e8 als ihr eignes zu 
betrachten. 

Sufan wurde, fo zu fagen, immer jprachlofer. 

„Ra, was ift’8?“ unterbrach endlich der Greis 
die peinliche Stille. 

„Ihr wißt, Vater hat —“, fing fie an zu ftot- 
tern. Er half ihr nicht und fah verſtockt, mit dem 
einen Ohr etwas zu ihr herabgebogen, nach ver 
Uhr Hin. 

Endlih faßte fie jih ein Herz. Sie zog das 
lederdeckelne Buch mit dem grünen Schnitt aus der 
Taſche und fagte entichloffen: 

„Ihr habt meinem Vater die Mortgage gefün- 
Digt. Ich bringe Euch hier fünfhundert und dreiund— 
zwanzig Dollars. Wollt Ahr die Mortgage darauf 
verlängern ?“ 

„Wer iſt der Narr, der ihm .geborgt hat?“ 
brummte der Alte. i 

„Sie find von mir,” erflärte Sufan. 

„Bon Euch?“ fragte der Alte und hielt das Ohr 
etwas niedriger. 

„Yes, Sir. 

„Und wo habt Shr fie denn her, bitte?” Er ſah 
ihr dabei mit feiner ſchärfſten Strafmiene in’s Geficht. 

Nun war e8 ein eignes Ding damit, Sujannen 
in’8 Geſicht zu fehen, vorzüglich, wenn es ihr um 
irgend eine Sache bejonvers ernit war. ihre un— 
Ihuldigen Augen hatten dann einen Ausdrud, als ob 
ihr irgend Jemand in ver Welt recht Unrecht gethan 
hätte und als wäre das fleine Köpfchen im Begriff, 


d 


61 


dazu klagend zu niden. Dabei waren die Wangen jo 
frifh, der Mund fo faftig, die Brauen fo arglos 
frei, ver Scheitel jo kindlich, daß ihr jelten Einer auf 
der Straße vorüberging, alt oder jung, Mann oder 
Weib, dem es nicht unwillfürlih wie ein Sonnen- 
ſtrahl über die Züge zog, wie fie vorbeipajfirte. 
Manche konnte man noch auf eine halbe Meile lang 
lächeln jehen, ohne daß fie oft wußten warum. 

„Ich babe fie mir gefpart, Sir, antwortete 
Sufan fed. 

„Ich möchte wohl willen, wie Ihr das ange- 
fangen habt!” juchte ver Alte weiter zu Inurren; aber 
e8 war ein wohlwollendes Knurren, er fonnte fich 
num einmal nicht helfen. Seine eishäutige Schweiter, 
die dieſen Zon an ihm nicht fannte, warf einen un— 
ruhigen Seitenblid uach ihm hin. 

„Well, Sir, ich brauche nicht viel und mein Ge— 
halt ift gut.‘ 

„Gehalt? Was für ein Gehalt?“ 

„Well, ih dachte, Ihr mwüßtet, Sir, daß ich 
Schullehrerin in Bojton bin?“ 

„Die Hoch ift Euer Gehalt da?“ 

„Sünfhundert Dollars, Sir.“ 

„Fünfhundert Dollars! Das ijt ein hübſches 
Geld. Ach dachte, die Bezahlung wäre nur arm- 
ſelig?“ 

„Ich bin Principalin, Sir, von einer Bezirks— 
ſchule.“ 

„Why, Principalin?“ ſcherzte der alte Iſegrim. 
„Da ſeid Ihr wohl eine ganz gelehrte Perſon?“ 


62 


Lett warf die alte Sarah einen wahrhaftigen 
Herenblid auf ihren Bruder. Sie hatte ven alten 
Bullenbeißer nie fo reden hören und war allarmirt 
und indignirt zu gleicher Zeit. 

„Nun, Joſiah,“ ſagte die Feine Principalin, vie 
Frauenzimmer genug war, um ihren Vortheil jogleich 
aus dem Ton der Stimme heraus zu hören: ‚‚meine 
Gelehrſamkeit, was auch daran jein mag, fann mir 
wenig bei Euch helfen, I reckon; aber hier ift mein 
Banfbuh. Und, weil Ihr daraus fehen fünnt, daß 
ih mir fünfhundert Dollars und drüber in zwei 
Fahren gefpart habe, fo iſt's eine ſehr einfache Rech— 
nung, dacht’ ich, daß ich mir in weiteren zwei Jahren 
noch - weitere fünfhundert Dollars gejpart haben 
werde, und —“ 

„Ich Leibe niemals Geld aus,” unterbrach er 
fie Scharf, „auf perfönliche Sicherheit.” 

Nach einer Heinen Pauſe: 

„Gebt mir Euer Buch, laßt fehen.“ 

Er fah es fih forgfältig an. Dann ging er 
nach dem Kamin, holte das ſtaubige Dintenfaß und 
jtellte es auf den Tiſch. Dann fragte er feine 
Schweiter, deren harte, grimmige Züge an Mleuterei 
jtreiften, nach einem Stüd Papier. Fat zögerte fie; 
aber nie in ihrem Leben hatte fie bisher einen Ein- 
griff in ihres Bruders Gefchäftswege gewagt. Sie 
gehorchte alfo doch und ging hinaus. Es dauerte 
ziemlich lange. Erſt nach einem bifjigen: „ich muß 
wohl jelbit kommen,“ in den Parlor hineingerufen, 
erichien fie endlich zurück, mit einigen loſen, blauen, 


69 


(iniirten Papierfragmenten, die fie mit unterbrüdter 
Aufregung vor das Dintenfaß auf den Zifch legte. 

„Wenn Ihr mir einen Che für fünfhundert und 
dreiundzwanzig Dollars auf Eure Bank fchreiben 
wollt,“ fagte ver alte Geizhals furz und rauh, fo 
verſprech' ich Euch, will ich den alten Joſhua nicht 
beläjtigen.“ 

Er ſchob ihr das Papier hin. 

„sh habe mein Checkbuch mitgebracht, Sir,” 
jagte jte, und zog e8 hervor. 

„Why! Ihr ſeid ja ein vollftändiges Gefchäfts- 
frauenzimmer !“ 

Sie jchrieb den Ched und händigte ihn aus. 

„Jetzt wollt Ihr wohl auch eine Duittung haben?" 

„Wenn es Euch gefällig ift, Sr.“ 

Er fchrieb die Quittung. Als fie die Papiere 
auswechjelten, warf er einen eigenthümlichen fchlauen 
Blick auf das Mädchen. Ahr war es fehwindlig vor 
den Augen, vor Freude und Ungevduld nach Haufe 
zurüd zu fommen. Nachdem fie einen flüchtigen, un— 
jihern Bli auf die Unterfchrift geworfen, jtedte jie 
Bücher und Quittung fchnell in die Taſche. 

„io, Ahr verſprecht mir, Joſiah, Ihr wollt 
meinen Vater nicht beläftigen ?‘ 

„Ihr könnt ruhig fein, junges Frauenzimmer.‘ 

Sie ging grade auf ihn zu, Jchüttelte ihm mit 
einer Thräne im Auge die Hand umd jagte: 

„Sie jagen, Ihr ſeid ein harter Mann, Joſiah, 
aber ich habe Euch nicht fo gefunden. — Ich mill 
für Euch beten,“ — fügte fie ernft hinzu, als müßte 


byn 


64 


fie, die Heine Here, daß fie da oben einen Stein im 
Brette habe. 

„hu es, Kind; thu' es Kind!” fagte der alte 
Mann, indem er fich nieverjegte. Es war, als fünnte 
er unter dem Zittern feiner Stimme, jo unmerflich 
es auch war, nicht aufrecht jtehen bleiben. 

„Ich will es thbun, Sir; gewiß! ich thue eg,” 
verficherte fie, innerlich überzeugt von der Wichtigkeit 
des Verſprechens, wodurch fie ihm ihre Dankbarkeit 
bemweijen wollte. 

Er jtand auf, begleitete fie zur Thür und half 
ihr galant auf's Pferd. 

„Du biſt ein alter Narr!” fagte feine Schweiter 
giftig, als er in's Zimmer zurüdtrat. 

Er antwortete feine Silbe, jondern ging. oben 
hinauf auf fein Zimmer. Dort jtöberte er vergilbte 
Dofumente und Rechnungsbücher aus einem verfallenen 
alten Schreibpult hervor und war bald in Berech— 
nungen verjunfen, die von langen träumerifchen Be— 
trachtungen unterbrochen ſchienen. Es wurde dunkel. 
Der alte Junggefelle, der fonjt mit den Hühnern zu 
Bette ging, ſaß noch immer an feinem Pulte. Endlich 
jtand er mit einem tiefen Seufzer auf und murmelte 
zwijchen den Zähnen: 

„Wenn ich eine Tochter hätte.‘ 

Bon dem Tage an jchien eine größere Milde 
über des alten Joſiah Weſen gefommen und e8 tauchte 
von Zeit zu Zeit eine dunkle Sage in der Umgegend 
auf, er habe an diefem oder jenem feiner verfallenen 


65 


Schuldner ein Kleines an der Strenge des Geſetzes 
nachgelajien. 


Viertes Kapitel. 


Sufan kommt mit ihrer Anittung heim und ex giebt ein 
fröhliches Suppır. 


„Wir fiten jo fröhlih beifammen 
Und haben einander jo lieb.” 
Kotzebue. 


Wie der letzte Tag vor dem Verfalle Minute 
auf Minute zur Neige ging, ſo wurde dem alten 
Joſhua und ſeiner alten Lebensgefährtin ſchwerer 
und ſchwerer um's Herz. 

Sein Vater hatte dieſelbe Farm gehalten und 
war darauf geſtorben. Vor ihm der Großvater. Joſhua 
ſelbſt war von Kindesbeinen in dem Gedanken auf— 
gewachſen und darin grau geworden, die alte Heim— 
jtätte als Eins mit feinem eigenen Xebeu zu betrachten. 
Seine Frau hatte das Haus als junge Braut be- 
treten, ihre häusliche Herrichaft, ihre Ehre unter ven 
Verwandten, ja, Unterhalt und Obdach, ftanden für 
fie auf der Beſitzung. Was nachher werden jollte, 
mußten weder er noch fie. Es war aber far, daß 
fie am Drte dann nicht mehr bleiben fonnten. Ihren 
Kindern wollten fie nicht zur Laft fallen. Zu einer 

I. 2 5 


66 


flaren Weberlegung ließ fich jedoch nicht fommen, da 
die Sache, jo gewiß fie auch war, doch fo ganz uns 
glaublich ſchien. So griffen fie denn nach dem be- 
reiteften Troſte, dem Gebetbuh, und die Frau las 
ihrem Alten das „Gebet in fehiweren Nöthen” vor. 
Dann Fam die Iuftige Partie nah Haufe. Der Alte 
hatte das Pferd einzuftellen und die Frau das fpäte 
Supper zu beforgen, da Sufan nit da war. Er 
fam aus dem Stalle zurüd und fette ſich brütend in 
das Efzimmer, während fte den Tiſch deckte. 

„Wo it Sufan?” fragte er, fich plößlich um— 
Ichauend. Der Gedanke, daß die Andern ohne fie 
zurüdgefommen, war ihm eben aufgedämmert. 

„Either jagt, fie ſei ausgeritten.“ 

„Das iſt ungewöhnlid an ihr, fo ſpät aus 
zu fein.“ 

„Es gefällt mir nicht.“ | 

Die Frau machte im Stillen der Tochter Vor— 
würfe, daß fie in diefer ſchweren Stunde ihren Vater, 
deffen Augapfel fie war, allein ließ, um Befuche zu 
machen. 

„Geht lieber zu Bette jetzt,“ fagte fie zu dem 
Alten, der wieder in fein Brüten zurücgefallen war: 
„Ihr ſeid es nicht gewohnt, jo ſpät auf zu fein.” 
Aber Joſhua fürchtete fih zum erftenmale in feinem 
Leben vor dem Bette. Dahinter ftand unmittelbar 
der nächite Morgen, der ihm nicht anders erjchien, 
wie dem VBerurtheilten, dem er der lette fein foll. 

„Ich bleibe Lieber noch ein Bischen auf,” fagte 
der arme Alte, „es ilt fo angenehm bier.” Dabei 


67 


ließ er das Auge langfam über vie alte verfchoffene 
Tapete jchweifen, woran eine primitive Lithographie 
von Daniel Webjter und einige Moosbilder von Su- 
jan’8 Hand hingen. Es fchien fo unmöglich, fich die 
Eriftenz von diefen Gegenftänden getrennt zu denken; 
ja die grauen Blumen in der Tapete fchienen mit 
jeinem Dafein verwachſen. An dem Fenfter jtand 
ein kleiner Tiſch, wo Suſan einige von ihren Gelehr- 
jamfeitsbüchern, wie er fie nannte und ein Glas mit 
Blumen jtehen hatte. Ihr Hut und Sonnenfchirm 
lagen daneben. Bei dem Anblick diefer ftillen Zeugen 
eines glüdlichen, unfchuldigen Dafeins, das fein 
Neſtchen unter jeinem Dache hätte haben follen und 
das er fih noch nicht flügge denken konnte, fiel ihm 
der Gedanfe an jeine erite Tochter auf's Herz, und 
was Suſan drohte, wenn er vielleicht nach dem fernen 
Weiten gegangen wäre und fie ohne Heimath hier 
zurückblieb. 

| „Sch kann es nicht, Mutter,” ächzte er, „ich 
fann die alte Heimftätte nicht aufgeben.“ 

„Und Ahr follt fie auch nicht aufgeben, lieber 
Pa,” rief Suſan, die eben patſchnaß in die Thür trat. 
„Hier! Seht bier! Seht her! Ich hab's in der 
Taſche. Der alte Joſiah hat die Miortgage verlängert.“ 

Vater Joſhua wurde bleih, wie der Tod; die 
Mutter, die eben das Theebrett auf den Tiſch ſetzen 
wollte, zitterte, daß die Taffen durcheinander klirrten 
und Alles mit Waſſer überfchüttet war. 

„Was ſagſt Du, Kind? Der alte Joſiah, 
jagit Du?“ 

5* 


63 


„Joſiah Batchelver, ſag' ich Euch, Tieber Pa, 
der alte Joſiah hat's nachgelaffen. Ich habe die 
Duittung. Wo ift fie venn? Ach Habe doch die 
Quittung in der Tafche.“ 

Damit mwühlte fie mit ven naffen Händchen 
in der halbnafjfen Taſche herum, zog exit ihr naſſes 
Zafchentuch heraus und legte es auf den Tiſch; 
dann Fam das Bankbuch am die Weihe, welches 
fejtzufleben jchien und durchaus nicht heraus wollte. 

„Bas für eine Quittung?” fragten die beiden 
Alten zu gleicher Zeit? 

„Why,“ fagte Sufan erröthend, indem fie noch 
immer an dem Banfbuch und danach an dem Ched- 
buch zerrte, um es zu Tage zu fürdern: „Why,“ ich 
hatte grade zufällig fünfhundertvreiundzwanzig Dol- 
lars in der Bank und der alte Joſiah hat meinen 
Che dafür angenommen, und er hat mir die Dutit- 
tung gegeben und mir veriproden, er wolle Euch 
für's Erſte nicht mehr beläjtigen.“ 

„Kind! — ftammelte der Alte. Alles weitere 
blieb ihm in der Kehle fteden, wo irgend etwas nicht 
richtig fein mußte, wenn man aus einem eigenen 
Gluckſen, nebſt einem abſonderlichen Zuden in ven 
Mundwinfeln und einem merkwürdigen Juden in den 
Augenwimpern diagnofiren fonnte. Der Mutter aber 
jtürzten die hellen Thränen gradezu über die ab— 
gezehrten Wangen herunter, und mit gefalteten Händen 
ihre Tochter anblidend, ſagte fie inbrünftig: 

„Gott ſegne Euch, Sufan, theures Kind.“ 


69 


„sh ſage Euch, fuhr Sufan, jest über und 
über roth, fort, indem fie am Ende wirflich die zer- 
fnitterte Quittung aus der Tiefe ihrer Taſche an’s 
Licht brachte, „ver alte Joſiah ift der befte, gütigite 
Menſch, der jemals geathmet hat. Da, Ba! Hier 
it die Quittung für die Fünfhundertdreiundzwanzig 
Dollars, nehmt fie in Berwahrung. Für das Uebrige 
wird jich mit der Zeit auch wohl Rath finden.‘ 

Der Alte nahm die Quittung und feste fich mit 
gewohnter Bedächtigfeit, ob auch zitternder Hand, die 
Brille auf. Sufan holte ihm die Ramphinlampe von 
der gedeckten Tafel und hielt fie ihm vor's Papier; 
die Mutter, die fich ebenfalls die Brille aufgefekt 
hatte, jtand auf der andern Seite und fuchte über 
jeiner linken Schulter den Inhalt zu entziffern. 

Koch ein Zeuge, deſſen Ankunft man im Ent- 
zifferungseifer. nicht bemerkte, trat in demſelben 
Augenblide auf der dunklen Seite des Zimmers 
in die Thür. 

Der alte Joſhua las langſam, da er im Leſen 
nicht jehr gewandt war, — und daher jehr deutlich, 
obwohl in Zremulanten: 

„Pünhſide bei Ch..., den 4. Juli 1859. — 
Erhalten von Joſhua Eartwright Eintaufend Dollars! — 

„Eintauſend Dollars?” riefen alle Drei, Eins 
das Andre anſehend. 

Sufan nahm dem Bater den Zettel aus der 
Hand und las in der größten Aufregung zu Ende. 

„— in voller Tilgung aller und jeder Forderung 
gegen ihn bis auf heutiges Datum. Joſiah Batchelder.‘ 


70 


Sufan hatte zuerjt einen Irrthum entweder auf 

Seiten des Leſers oder des Gläubigers vermuthet; 
wie jie aber den ausprüdlichen Zuſatz las, daß alle 
und jede Forderung getilgt fei, fo war es jest an 
ihr, Kehlobftruction und Mundwinkelzucken zu be- 
fommen. Mit dem naffen Taſchentuch an den Augen 
fing das arme glüdfelige Feine Ding an auf’s herz 
brechendjte zu fchluchzen, als wäre ihr ihr Schatz 
geitorben. 
„O — der — liebe — al—I— I—Ite Mann! — 
Hab’ — ich's Euch — nicht gggg — fagt! — Der — 
liebſte — bef— If —te — alte — Mann, — der — 
da — aththth — mmmmet. — O! — wie — id — 
aber — auch — für ihn beten will!“ 

„Der liebjte, befte, alte Mann,‘ dachte Antonio, 
der in der Thür jtehen geblieben war, — „wer es 
auch fein mag, hat in der That einen wahren NWanfee- 
Handel gemacht, fih für lumpige taufend Dollars 
das Gebet des Tieblichiten Engels im Himmel und 
auf Erden zu erfaufen!‘ 

Unfer Freund hätte fich eben jo wohl geſchämt 
zu laufchen, als wie ein Dieb davon zu fchleichen. 
Er trat alfo, wohl over übel, mitten in's Zimmer, 
als der Alte die zitternden Hände eben fegnend auf 
das Haupt des Mädchens legte, deren Hand die 
Mutter gefaßt hielt. 

„O Herr!” betete er, „Cine haft Du mir ge- 
nommen, aber in ver, die Du uns Tließeit, haft Du 
uns gejegnet, wie Eltern nur geſegnet werden können. — 
Entſchuldigt mich, junger Mann,‘ fügte er mit noch 


71 


unſicherer Stimme und verdächtigem Augenzwinkern, 
Antonio gewahr werdend, hinzu: „Ich fühle eine Art 
bäbyiſch, aber Ahr werdet nicht lachen. Ach weiß 
recht wohl, wie Ahr gegen meine arme — — Annie 
gehandelt habt.‘ 

„Gerechter Himmel!’ dachte Antonio, „muß 
mich das Gejpenjt diefer wundervollen Handlung 
überall hin verfolgen, wie ven Göthe fein Werther!‘ 

„O ja, wir wifjen es,“ rief Sufan unter ihren 
thränenrothen Augenlivern hervorlächelnd, „Sie find 
der befte, edelſte“ — — 

„Run, hören Sie 'mal, Miß Sufan,‘ unterbrach 
fie ver Gepriefene, „Sie haben daſſelbe eben erft 
von einem Andern gejagt, wie Sie dachten, daß ich's 
nicht hörte. Ich fange an, Sie in Verdacht zu haben, 
daß Sie fih ein Gefhäft daraus machen, ung Män- 
nern die Köpfe zu verrüden. ch kenne jetzt ſchon 
drei, blos jeit heute morgen: da tft der beite, liebite, 
alte Mann; da ift der bejte, evelite Ich, und dann 
der beſte gefchniegeltite junge Gentleman aus... ., 
der bier herumliegt und —“ 

„O, der beite Gefchniegeltite,‘ vief fie lachend, 
„hat mich heut Nachmittag auf ewig verlaffen; ven 
beiten, Liebiten, alten Mann hab’ ich jo eben ver- 
laffen, und fo bleibt blos noch ver beſte Edelſte 
übrig, um —“ — 

„Mm was?’ rief er, fie um den Naden faſſend. 

„Mm ſich zum Narren zu machen!“ jchrie fie 
aus Leibesfräften und fuchte ſich loszuwinden. 

„Mm Di zu küſſen, böfes Rind!” 


12 


„Mama! fchrie fie. Es half aber natürlich 
nichts. Die Alten lachten herzlich. Die gefühte Sufan 
lief in der Berlegenheit nach ver Klingel und flingelte 
mit unerhörter Energie zum Supper. 

„Iſt irgendwo Feuer ausgebrochen?” fragte An- 
tonio malitiös. „Es läutet ja Sturm.‘ 

In dem Augenblide traten die Damen herein, 
Mary Dawſon, ernit und vornehm wie immer, aber 
feihter und freier über der Stirn. 

„Aha!“ flüſterte Suſan Antonio in’s Ohr, „wie 
er jetzt den Ehrbareu ſpielt! Ich weiß wohl, wo 
Feuer ausgebrochen iſt, Sir!“ 

Der eben noch ſo Uebermüthige fühlte ſich von 
der ſchlauen Bemerkung ſcharf getroffen und biß ſich 
um ſo verlegener in die Lippen, als Mary ihr großes 
Augenpaar auf die Beiden hinwarf, als wollte ſie 
durchſchauen, was es denn ſo Vertrauliches zwiſchen 
ihnen zn flüſtern gebe. 

Mit Parſons aber fam laut und tief hereingelacht, 
im Gefprähe mit Mrs. Dawfon, die mitlachte. Die 
beiden Alten mußten fich diesmal mit zu Zifche jegen. 
Man hörte Pfervdegetrappel. Es war Franf, ver 
noch hHundertundzwanzig Dollars, den Erlös von 
jeinem Pferd nnd Buggy bradte. Es wurmte ihn 
Doch etwas, als er hörte, daß er jo weit hinter feiner 
Heimen Schweiter zurücblieb. Allein er hatte jein 
Alles hingegeben, jie lohnte es ihm mit fchweiterlichen 
Liebfofungen und er verehrte fie wie eine Heilige. 
Er war genöthigt, das Geld zurücdzunehmen, das ihm, 
was er auch nun unternehmen mochte, den neuen 


73 


Anfang nur erleichtern fonnte. Man kann fich denfen, 
daß das Abenvefjen ein heitere8 war. Sujan ließ 
fih die Gefchichte von ihrem Ritt ſtückweiſe heraus- 
ztehn; dann auch von dem, was vorhergegangen war, 
wobei e8 natürlih an Scherzen auf Koften des 
blühenden Ladenbefißers nicht fehlte. Antonio war 
voll des Fluß- und Hauseinfahrt-Abenteuers, wobei 
Miß Damwfon mit lachenden Berichtigungen dazwiſchen 
trat und Alt und Yung vor Lachen die Augen über- 
gingen. Die Hauptzielfcheibe der Nedereien von 
Seiten ihrer beiden Neifegefährten war jedoch Mit 
Parfons, die aber außerorvdentlih glücklich in ihren 
Keparties war, und wenn fie dann im Baß über 
ihre eigenen Worte lachte, fo war das genug, die 
ganze Tafel mit fortzureißen. 

AS fie ſich ſpät trennten, um zu Bette zu gehır, 
gab e8 Keinen in der ganzen Gefellichaft, dem es 
nicht vorfam, als hätte er nie in feinem Leben einen 
jo glüdlichen Abend verlebt. 


Fünftes Kapitel. 
Marhtwandlerei, Sonnenaufgang und Bärenhak, 
„Bier gilt es, Schüge, Deine Kunft „SG batt’ einen Kameraden, 


zu zeigen.” Einen befjern find’ft Du nit.“ 
Wilhelm Tell. Ubland. 


Antonio gedachte einen langen Schlaf zu thun 
und schlief auch Schon, ehe er fich noch ganz hingelegt 


74 


hatte, — jo müde war er. Dennoch erwachte er, 
als noch der Mond am Himmel ftand, und ein Blid 
auf die Uhr zeigte, es jei Eins und er habe nur 
grade zwei Stunden gejchlafen. Mochte nun die 
Aufregung oder die Bergluft daran Schuld fein, er 
fonnte nicht wieder zur Ruhe fommen, zündete, nach 
verjchiedenen vergeblihen Berjuchen, wieder einzu- 
Ihlafen, zulest Licht an und fing an zu Schreiben. 
Bald hörte er im Nebenzimmer Gefpräch und endlich 
Elopfte es an feine Thür. Miß Dawſon, die eben- 
falls nicht ſchlafen konnte und ihn hatte Frißeln hören, 
wollte wiſſen, ob dies nicht eine prächtige Nacht fei, 
um auf den Klapperjchlangenberg zu fteigen und die 
Sonne aufgehn zu jehen. 

„Eine herrliche Idee! Ach bin in einer Viertel- 
jtunde fertig.‘ 

Es Fam ihm dabei etwas fonderbar vor, daß 
Mrs. Dawjon jich ftarf und abenteuerlich genug zu 
einer jolchen Fahrt fühlte. Er gratulirte ihr darüber 
durh die Thürwand. Allein e8 fand fih, daß ſie 
ihre Tochter allein gehen ließ und ihm nur die Sicher- 
heit derjelben anempfahl. Antonio war entzüct über 
diefe Unbefangenheit der höchjten Bildung, die es 
nicht mehr nöthig hat, von dem Thier im Menfchen, 
ob bei Zag oder Nacht, auch nur noch Notiz zu 
nehmen. 

Der Mond war eben im Untergehn, als vie 
beiden nächtlihen Wanderer aus der offenen Weide 
über die Steine des herabriefelnden Baches in den 
Wald traten. Eine Weile nahmen fie das fallende 


75 


Gewäſſer auffteigend zur Richtſchnur ihres Weges. 
Dann führte die Pfadfpur über eine fumpfige Stelle, 
mit halb verrotteten Baumjtämmen unficher über- 
brüdt, unter ein Didicht, wo man nicht mehr die 
Hand vor Augen fehen fonnte. Indeſſen war ver 
Pfad hier breit und fie konnten Hand in Hand gehen, 
wie die „babies in the wood.“ Dies gefchah, ohne — 
ein Wort zu reden. Trotzdem, daß der Schlaf ihr 
Lager geflohn, lagerte ſich Doch jett Beiden eine träu- 
merifche Läſſigkeit über Auge und Geift. Sie konnten 
felbft nicht daran glauben, daß fie wachten und die 
Umftände waren in der That ganz dazu angethan, 
fie in der Täuſchung eines dämmernden Traumes zu 
erhalten. Aus dem dunklen Gange führte es nach 
einer Weile in den freieren Wald, wo die Gegen- 
ſtände aus Nachtgrauen wieder einigermaßen in ver- 
ſchwommenen Umriſſen hervortraten; aber jede Spur 
von Pfad war jeßt verloren. Der junge Mann 
bahnte die Pafjage, das Mädchen folgte, oft weit 
zurlicbleibend, wenn er, im Eifer des Suchens nach 
einem Durchgang, ſich durch auffchnellende Ruthen 
und Zweige, jtechende Brombeerdornen, vorgelegte 
Baumftämme mit Händen, Armen und Füßen durch- 
arbeitete. Dann blieb er wieder jtehen, bis fie heran 
fam oder machte ven halben Weg zurüd, ihr entgegen. 
Sp ging es langſam fort unter gewaltiger Anjtren- 
gung, bis allmälig der Morgen zu grauen anfing. 
Wie es fo heller wurde, bemerfte er in ihrem 
Gürtel einen ſchön gearbeiteten Revolver mit elfen- 
beinernem Griff. 


16 


„Ah! Sie haben fih auf alle Fälle vorbereitet,‘ 
jagte er lächelnd, mit einem Blid auf das niedliche 
Mordwerkzeug. „Wenn 8 etwas giebt, fo verlaffe 
ih mich auf Sie, denn ih habe nichts als meinen 
Schäferſtab.“ 

„Es war eine Kinderei von mir, dies Möbel mit— 
zunehmen,“ erwiderte ſie. 

„Man kann immer nicht wiſſen. Sie könnten 
z. B. mit mir ausfallen.“ 

„Oder mit mir ſelber,“ ſagte ſie düſter, ohne 
auf den Scherz einzugehen. 

Es folgte eine Pauſe. Die Worte, die er 
Selbitmordsgedanfen deuteten, waren graufig in dem 
Munde eines ſo jungen, evelgebilveten und, wie er 
bei dem geitrigen Waflerfampfe erfahren, lebens- 
gewaltigen Weſens. Alte Geichichten fuhren nf 
durch den Sinn. 

„ie fommen Sie zu der Biflole?“ forſchte er. 

„Ich habe fie meinem Bruder weggenommen,‘ 
tagte fie, „da ih mih im Schießen üben wollte. Er 
hatte zwei ganz gleiche aus Bofton mitgebracht und 
die Arbeit gefiel mir. Sehen Sie her.” 

Sie zeigte ihm die fchöne Arabesfeneinlegung 
auf dem glatten, weißen Kolben und erging fih in 
der Grflärung der mechaniſchen Vollfommenheit und 
Tragweite des tödtlichen Inftrumentes mit dem Gufto 
eines Kenner. Alle Zünphütchen jaßen auf ven 
Piſtons, man brauchte nur abzudrüden. 

Unter dieſer Unterhaltung famen fie an die 
fangen offenen Felsplatten hinangeftiegen, die man 


77 


in der Sprache des Landes Ledges heißt. Es war 
num vollfommen hell geworden, aber fehr ſchwierig 
zu fteigen. Er hatte oft mit dem ganzen Körper 
überzuliegen, Hand oder Fuß an einen Baumftamm 
oder ein paar aus dem Boden gefcholjene Ruthen 
geklammert, um fie an der freien Hand nachzıirziehn. 
An andern Stellen, wo die erflommene Ledge plötzlich 
hoch abbrach, fprang er voran Hinumter, und fie 
mußte ihm beide Hände reichen, um nachzufpringen. 
Sie lernten bald in diefer Gymnaſtik vollfommen 
ineinander greifen, mit Geſchick und der freien An- 
muth der Jugend, wie ein aneinander gewöhntes 
Zänzerpaar: es war diefelbe Luſt, nur durch Die 
größere Mannigfaltigfeit und Schwungweite der Be— 
wegungen, wie durch die fräftige Wahrheit ver Hülfs— 
Yeiftung erhöht. Sie rief ihn ohne Gene zum Bei— 
ftande herbei und dirigirte ihn oft ziemlich imperato- 
riſch. Einmal rief fie von oben, wie er ihr die 
Hände zum Sprunge gefaßt hatte: 

„Treten Sie doch ein wenig zurüd, Sir, id 
Ipringe Ahnen ja fonft in die Arme!“ 

„Ich babe nichts dagegen,‘ rief er ſcherzend. 

„Aber ich,‘ Tagte fie kurz. 

Ein andres Mal aber 309 ihr doch ein Lächeln 
über's Geficht, als ſie das offene Vergnügen ihm 
aus den Augen leuchten ſah, indem er ihr die Hand 
zum elajtiihen Sprung reichte. 

Sie waren jebt auf dem Gipfel. 

Noch herrſchte die feierlihe Stille, die dem 
Sonnenaufgang vorhergeht. Den Berg hinunter bis 


18 


in die Tiefe lagen Baumgipfel an Baumgipfel laub- 
dicht gedrängt. Nahe gegenüber ein andrer dicht be- 
laubter Berg, anjcheinend höher, als der, auf dem 
jie ftanden, und in der Durchficht durch die fchattige 
Schlucht zwifchen beiden Kuppeln erhob fich wieder 
eine dritte, etwas entferntere, von welcher ein leichter 
Morgendampf emporftieg. Auf diefer Seite war alles 
geichloifene, lautlofe Einſamkeit. Aber nach der offenen 
Seite der Schlucht gewandt, jchweifte ver Bli über 
eine weite Ebene, mit weißen Dörfern in entfernten 
Zwifchenräumen betupft und einem dichten wolfigen 
Kebelitreifen mweither und weithin an dem jchlängeln- 
den Fluffe entlang. Die große Gruppe des Mount 
Wafhington lag noch im Morgenfchlummer, ein Berg 
in des andern feierlihem Rieſenſchatten. Ein ein- 
töniges Rauſchen in der fernen Tiefe, das wie 
MWalvdesraufchen Hang, aber von den fallenden Ge- 
wäffern herrührte, traf das Ohr, wie alle Laute ver 
Natur, mit der unendlich traurigen und doch unendlich 
beruhigenden Rede, daß von Jahrtauſend zu Jahr— 
taufend dieſelben Kräfte zu demſelben Zafte immer 
und immer an vemfelben raftlofen Tagewerke ge- 
arbeitet. Nur dann und wann unterbrach der durch— 
dringende Schrill eines Eichhörnchens das murmelnde 
Selbitgefpräch der Natur, das danach nur noch ein- 
töniger und ahnungsſchauriger auf die laufchende Ein- 
famfeit zurücdfiel, als hätte ver lebendige Laut erſt 
die Tiefe der leblofen Stille gemejfen. 

Ein zweifelhaft leifer Schimmer ränderte all- 
mählig die Bergfanten. Dann flogen die nächiten 


19 


Fichtenftämme mit röthlichem Glanze an. Eine fröftelnde 
Luft zog herauf und zitterte lautlos in den Blättern. 
Das junge Mädchen 309 fich leife ſchauernd die dünne 
Mantile an den Schultern empor. Antonio warf 
ihr feinen Rod über und dankte e8 ihr, daß fie fich, 
ohne fich umzufehn, darin einwidelte. Keiner wagte 
es, durch ein Wort den feierlichen Ritus der Natur 
und des eigenen Herzens zu entweihn. Wie Kinder 
bet einer Altarhandlung blieben fie von Ehrfurcht ge— 
fefjelt, regungslos ftehen, bis die feurig-rothe Sonne 
über der waldigen Bergipite rechts ihnen in's Auge 
bligte und der breite, irdiſche Tag fie an die breite, 
irdifche Erde zurückwies. 

Jedes in feine eigenen Gedanken verjunfen und 
mehr den eigenen Weg juchend, traten fie auf ein 
jtillfchweigendes Zeichen ven NRüdweg an. Einmal 
hatte Antonio Miß Dawſon wohl zwei Minuten lang 
aus dem Gefichte verloren. Er hatte fie zulegt in 
einiger Entfernung durch die Spalte einer vorhängen- 
den Felſenterraſſe herabiteigen jehen, in vdemfelben 
Augenblide, wo er felbft auf feiner Seite herabfprang. 
Er ſuchte fie nun am Fuße der unregelmäßig ausge- 
zacten Lagerung entlang, fich zwilchen einem wilden 
Gewirr von dichtem Geftrüpp, gefallenen Baumftäm- 
men, durcheinander geworfenen Felsblöden, Ichlüpfrig 
duch naffes Moos und faulbrüciges Holz, den Weg 
zu ihr hinbahnend. Auch ſah er nach nicht zu langer 
Arbeit ihren „Feldkeſſel“ durchſchimmern, der mit dem 
vollen Flechtenhaar darunter jo viel beijer als ein 
ſtädtiſcher Damenhut zeigte, wie herrlich fie den hoch— 


80 


müthigen Kopf auf vem Naden trug. So ftand fie, 
mit dem Rüden ihm zugefehrt, vor einem überhängen- 
den Felſen, ſeltſam umdunfelt mit Didiht, Schling- 
pflanzen, Baumftämmen und großen Steinen, ınit dem 
frifcheften Moos- und Pflanzengrün wie mit einem 
weichen Sammetteppich überzogen. Sie ftand regungs- 
108, leicht nach vorn gelehnt, wie in eifriger Betrach- 
tung eines merfwürdigen Gegenftandes. Wie von 
einer Ahnung ergriffen, näherte ſich ihr Gefährte fo 
geräufchlos als möglich. Sie fehien ihn zu hören, 
winfte ihm mit ver Hand rüdwärts, ohne den Kopf 
umzudrehen, Stille zu und — zog die Piftole.. Er 
war auf ihren Wink zehn Schritte von ihr auf einem 
Baumſtamm ftehen geblieben, von wo herab er jeßt 
den Gegenftand ihres Intereſſes in Augenjchein neh- 
men fonnte. Ein ungeheurer fehwarzer Bär reckte 
fih eben, von dem Geräuſch geftört, aus feinem 
Morgenichlaf. Che Antonio noch daran denken fonnte, 
es zu verhindern, hatte die junge Dame die Piftole 
auf das Thier abgevrüct, und ehe er durch das Ge— 
jtrüpp herandringen fonnte, war fie ſchon auf der 
Flucht und die wüthend gemachte Beſtie hinter ihr 
her. Ningsum hemmte dichtes Geftrüpp ihr jede 
Ausficht des Entrinnens, nur nach einer Seite hin, 
rechts war eine Deffnung, wo der nadte Fels zuerſt 
eben, dann in fehräger Senkung zwanzig bis fünf- 
undzwanzig Fuß lang glatt hinunterfuhr. Sie lief 
ums Leben. Ohne einen Augenblid Beſinnens ging 
e8 die Ledge ſitzend hinunter. Antonio war jet dem 
Bären auf ver Ferfe und an ihm, als er eben ven 


sl 


Rutſch nachmachen wollte. Er hatte feine Waffe 
irgend welcher Art. Selbſt jeinen langen Wander— 
ſtab hatte er, der leichteren Berfolgung wegen, von 
jich geworfen. Dhne Zeit zur Befinnung, von nichts 
als dem männlichen Inſtinkte getrieben, ſich zwifchen 
das wilde Thier und deſſen zarte Beute zu werfen, 
Iprang er dem Ungethüm auf den Rücken, jich mit 
beiden Händen wilohajtig in die langen Hatszotten 
einwidelnd, eingrabend, einjchlingend, gerade in dem 
Augenblide, wo es eben vom Rande der Ledge ab- 
rutſchte. Wie Meilter Braun das nicht ausbe- 
pungene feine Badet hinten auffühlte, legte er fich 
humoriſtiſch auf den Nüden und wälzte ſich über, 
doch erjt nachdem ihn der Schuß Icon bis über vie 
Hälfte Weges getragen. Aber jo frampfhaft hatten 
ich des Neiters Finger in die Zotten der Kehle ver- 
widelt, daß ihm eher die Arme aus dem Handge- 
lenfe, als die Hände aus dem Bärenfelle gegangen 
wären. Sp famen fie unten an. 

Die junge Dame, eine halbe Minute vorher 
ebendaſelbſt angelangt, wirft einen Blick rückwärts 
auf ihren Verfolger. Noch steht fie den Sprung 
ihres helvenmüthigen Gefährten. Ein Blitz der Ge- 
nugthuung Tchlägt aus ihren dunklen Augen. Sie 
erwartet das verjchlungene Baar, wie es rutjchend 
und vollend hinunterjchießt, feiten Fußes. Sie zielt. 
„Ins Ohr!" ächzt ihr der gequetichte Kamerad zu. 
Alle ihre Sinne find geichärft, fie hört deutlich ven 
Befehl, ſie folgt mit fiherem Auge der wechjelnven 
Bewegung, fie tritt drei Schritt zurüd, der Doppel- 

II. 6 


82 


laft, die am Fuße der Ledge aufgerannt ift, aus dem 
Wege. Der Bär erhebt fi, den Kopf unwillig nach 
ver Seite drehend, wo ihn fein Fleines Padet en- 
nuprt, und fich ſchüttelnd. Dem Reiter brechen alle 
Knochen, aber er fällt nicht ab. Noch einmal dreht 
Meijter Braun den Kopf nah der andern Seite, 
Symptom einer bevorjtehenden zweiten Schüttelung, 
aber in dem Augenblide knallt die Piltole, zweimal 
hintereinander, ein rother Strom aus den Ohre 
ſchweißt dem Thiere die Nadenhaare, daß Antonio 
die warme Feuchtigkeit an der Hand fühlt; jett läßt 
er los. Der Bär taumelt, fieht aus, als wolle er 
ausreißen, bricht plößlich ins Gebüſch. Antonio reift 
dem Mädchen die Piſtole aus der Hand, dem fliehen- 
den Feinde auf der von ihm gebrochenen Bahn wind— 
ichnell nachjegend. Auf einem offenen Pläschen, 
etwa zwanzig Fuß im Durchmeſſer, mucht das gehekte 
Wild noch einmal Halt und breitet die Arme gegen 
jeinen anftirmenden Verfolger aus. Diefer jteht, 
zielt, vrüdt ab. Das Blut läuft vem alten Braun 
über jeine ehrlichen Augen; er ftöhnt wie ein Menſch. 
Koh ein Schuß in derjelben Gegend und noch einer. 
Das Thier dreht fih rund um, wie ein Sreifel. 
Antonio verjegt ihm mit dem Kolben des jekt ge- 
(eerten NRevolvers einen Schlag anf die Schnauze, 
daß das Elfenbein von dem Griffe fpringt. Noch 
macht das Ungethüm mit jeinen diem kurzen Armen 
eine tappige Bewegung in der Luft. Dann fällt es 
ſchwer auf die Braten, dann auf die Seite. Es hat 
ausaeröchelt. 





83 


„Sapitaler Schüg!" rief Antonio feiner fühnen 
Jagdgefährtin zu, die eben leuchtenden Auges und 
hochgerötheter Wange auf ven Kampfplatz trat: „es 
war Ihr Schuß, Marh, der's gethan hat.” 

Sie warf einen befriedigten Heldenblid auf ven 
erlegten Feind. Dann feste fie ſich, zuſammen— 
brechend, aufs Gras, der Kopf ſank ihr langſam 
zurüd, Antonio jtügte ihn Hinzufpringend noch zur 
vechten Zeit mit der Hand, während vie andere Die 
Piſtole einftecfte; ihr reiches braunes Haar fiel ihm, 
mit ſchwerſeidenem Gewicht fich löſend, über pie 
Hände. Er hob fie auf, legte fie janft auf das wohl- 
verdiente warme Ruhepoliter, den hingeftredten Bären 
und dedte fie ſorgſam mit feinem Node zu. 

„Wie comfortable!" fagte fie lächelnd zum 
Danfe und ſchloß die Augen. Er hätte nie geglaubi, 
daß foviel fonnige Grazie und Liebensmwürdigfeit aus 
diefen ſonſt jo ftrengerniten, ja herben Zügen auf 
irgend ein lebendiges Wejen jcheinen könne. 

Er fühlte brennenden Durft und ging Waſſer 
iuchen. Es war bald gefunden. Unter einer Seljen- 
ee hatte eine von den häufigen Quellen des Berges 
ein Feines ſumpfiges Bafjin gebildet, wo jich mit 
Borfiht ein reiner Trunk abjchöpfen lief. Wie er 
e8 damals Frank abgejehen hatte, machte er eine 
Schale von Baumrinde, um feiner lieben Kameradin 
zuerit das föftliche Labſal zuzubringen. Als er aber 
zuvückkam, war fie fejt eingefchlafen. Er trank und 
eilte wieder an das Baſſin, wo er fich die Gliever 
ver Reihe nach an einem falten Weberguß erguidte. 

6* 


84 


Geſtärkt fehrte er zurück, hüllte fih in Marys Man- 
tille ein, die an ver Stelle, wo fie fich zuerſt nieder- 
gelaffen hatte, im Grafe liegen geblieben war, ftreefte 
fich zu ihren Füßen auf den Boden, mit einem Bären- 
Ichenfel zum Kopfkiſſen und war bald eben fo feft 
und ruhig eingefchlafen, wie jie jelber. 

Miß Damwfon erwachte zuerjt nach ungefähr drei 
Stunden. Als fie nach der Uhr ſah, war es halb 
Zehn. Sie wedte ihren Gefährten mit Schwierig- 
fett. Als er aufitehen wollte, fühlte er fich wie zer- 
broden. Die linke Schulter und des rechte Bein 
Ihmerzten ſtark, das Knie war jteif. 

„Haben Sie fich beſchädigt, Sir?" fragte fie theil- 
nehmen. 

„Kichts von Beventung, Mary, ich glaube ich 
bin etwas geichunden, etwas gequetfcht und etwas 
verrenkt, übrigens aber habe ich einen Appetit, wie 
nach einem Büren.” 

„Es wäre allerdings Zeit zum Frühltüden. Wenn 
nur der Durjt nicht wäre!“ 

„O, da kann ich Ihnen helfen, zu trinken hab’ 
ih. Und was das Frühftiiden betrifft, bier hätten 
wir genug auf ein paar Wochen Frühſtück, Mittag 
und Abendeſſen, an unſerm Wilde, wenn dem did- 
felligen Burfchen nur beizufommen wäre.“ 

Gr wies ihr ven Weg nad der Duelle und gab 
ihr feine Naturſchale mit, da er jelbft noch zu fteif 
und zerfchlagen war, um die Expedition zur verjuchen. 

Unterdeſſen hieb er während ihrer Abmwejenheit 
mit feinem langen ftarken Taſchenmeſſer tapfer im fein 


85 


Ropfkiffen ein. Als fie mit einem Trunk für ihn 
zurücfam, hatte er mit unfäglicher Mühe jo weit 
rveüffirt, daß fich ein Winfel in die Haut gefchniiten 
fand, an deſſen Spiße er num zerrte und mit dem 
Meifer nachhalf, bis etwa zwei Handbreit abgehäutet 
blos Tagen, vollfommen hinreichend, um die für ihren 
Bedarf nöthigen Stüde daraus zu ſchneiden, oder 
vielmehr Feen daraus zu fügen, denn fo nahm fich 
dte Arbeit mehr oder weniger zulett aus. Es war 
eine Heidenanftrengung, und der Schweiß triefte ihm 
dabei von der Stirn und aus allen Boren; aber nichts 
hätte ihm beiler den verhältnißmäßigen Gebrauch 
jeiner Glieder zurücgeben fünnen. Unterdeſſen hatte 
Mary trodenes Yaub und Neifig zufammengetragen, 
ein paar nimmerfehlende Zündhölzchen aus Antonio's 
Weſtentaſche fetten den Haufen im Nu in Flammen, 
daß die helle Lohe luſtig und mwohlthätig wärmend 
nach dem Schlafe und fröftelnden Rückſchlag aus der 
Ueberhigung, zum Himmel aufpraffelte. Die fetten 
Bäreniteafs wurden an einen hölzernen Naturfpieß ge— 
jtedt und fnifterten und fpristen bald faftig, duftig, 
innenberüdend am Feuer. Noch brovdelnd warm wur— 
ven fie auf improvifirte Teller von Baumrinde ge— 
legt und mit Hülfe des Tafchenmeifers, das zwifchen 
ven beiden Kameraden hin und her wanderte, mit 
Pulver gejalzen und mit aöttlichem Appetit gewürzt, 
bi8 auf den legten Reit zum Trunke ver Quelle vers 
zehrt, ein wahres Jägermahl. 

„Aber was, in. Jupiters Namen, fam Ahnen 


86 


venn in den Kopf, Mary, den Büren anzufchießen !“ 
fragte Antonio, indem er fich die Cigarre anjtedte. 

„Well, Sir, er hätte mich ja ſonſt aufgefreffen.“ 

„Anfinn! Es find harmloſe Thiere, wenn man 
fie nicht angreift. Bedenken Sie nur, wenn ich mit 
Ihrem blutigen Balmoral zu Ihrer Mutter zurück— 
gefommen wäre, wie Joſephs Brüder mit feinem: 
bunten Rod!“ 

„Bah! Sie wären ohne mich nicht zurückge— 
fommen.“ Kaum war ihr das Wort entfahren, fo 
wurde fie über und über voth, vie zweite unver— 
muthete Offenbarung liebliher Mädchenhaftigfeit heute 
Morgen an diefem anjcheinend fo ftarrverjchloffenen 
Wefen. | 

„Bilden Sie fih doch fo etwas nicht ein. — 
Aber willen Sie, was ſchön wäre?‘ 

„Bell?“ 

„Wenn wir Beide zufanmen eine Fußpartie im 
Himalaya machen fönnten.‘ 

„Und mit einem Tiger ven Dhawalagiri herunter- 
rollen, meinen Sie?” 

‚Nein, mit einem wilden Clephanten.‘ 

Man mußte jedoch zulett einmal aufbrechen. Es 
ging allerdings ſehr langſam und jchwierig mit ihm 
und fie mußte ihm immer helfend und ftüßend zum 
Seite gehen, wofür er fih gern gefallen ließ, daß fte 
ihn nach dem Mufter der alten Frau Cartwright 
„mein alter Mann‘ nannte. Glücklickerweiſe waren 
fie über vie Ledges hinaus und jtießen auf einen 
fontinuirlichen Fußpfad, der fie nach einer zweiſtün— 


87 


digen Fußmwanderung um ein Uhr, gerade zur Eſſens— 
zeit, ing Farmhaus zurücdbrachte. 


Sechſtes Kapitel. 
Ninnldo im Garten der Armide, 


„Sreut Euch des Lebens 
Weil no das Lämpchen glübt. 
Pflüdet die Roſe, 
Eh’ fie verblüht.“ 
Uftori. 


„Quid struis, aut qua spe Libicis terris otia terris?“ 
Virgil, Aeneis IV. 


Sie hatten etwas zu erzählen. Diesmal aber 
war Mrs. Damfon nicht jo leicht bejäünftigt, wie 
nach dem gejtrigen Abenteuer. Sie machte Antonio 
zum Sündenbod, daß er ihre Tochter von einer Ge— 
fahr in die andre führe, geftern nahe an's Ertrinken, 
heute fajt von wilden Thieren zerrijfen zu werden. 
Es war aber nur, um ihrer eriten Mutterangjt Xuft 
zu machen, die nachträglih noch den ganzen Schreden 
init durchlebte. Nachher beſann ſie ſich ihres Un- 
rechts und vergalt dem Gefränften durch wahrhaft 
mütterliche Zärtlichkeit, was jie jedoch wieder nicht 
verhinderte, nach Weiberart ſpäter gelegentlih auf 
ihren erjten Eindrud zurüdzufommen. Sehr verjchie- 
den nahmen es die andern Hausgenofien auf. Miß 


88 


Parjons bevauerte, daß fie nicht dabei gewejen, nicht 
aus Luft am blutigen Kampfe, jondern weil fie der 
Ueberzeuigung war, das ſelbſt nach ver unverzeihlichen, 
unprovocirten erjten Gewaltthat Miß Dawſons, es 
noch nicht zu ſpät geweſen, den Weg der Güte und 
Liebe mit dem Thiere einzuſchlagen. Miß Parſons 
— es iſt faſt unnöthig, es dem Leſer beſonders zu 
ſagen — huldigte nämlich allen jenen empfindſamen 
Theorien, welche Kampf und Zwangs-Disciplin nicht 
nur aus der menſchlichen Geſellſchaft, ſondern aus 
der ganzen Natur verbannen wollen. Die Liebe war 
ihre abſolute Panacee. Wie gewiſſe Naturforſcher aus 
materialiſtiſcher Aufgeklärtheit, ſo hielt ſie aus ſpiri— 
tualiſtiſchem Radikalismus den Widerwillen gegen 
ſchleimige Kröten, vielbeinige Spinnen, ſchlüpfendes, 
kriechendes Ungeziefer für eine Verſündigung an der 
göttlichen Weisheit und Güte, die, wie ſie erklärte, 
alle dieſe Geſchöpfe nach demſelben harmoniſchen 
Plane vollkommen und zur eigenen, wie zur allge— 
meinen Freude geſchaffen. Antonio entſchuldigte ſich, 
daß keine Zeit geweſen ſei, um Unterſchriften zur Pe— 
tition an den Bären zu ſammeln, verſprach ihr aber 
zum Troſte, das nächſte wilde Thier, das er fangen 
könne, zur Behandlung auf die Stube zu ſchicken. 
Suſan war ganz Bewunderung über den Heldenmuth 
ſowohl des Einen wie des Andern der beiden Kampf— 
gefährten. Frank und der alte Joſh gaben ihre hu— 
moriſtiſchen Zweifel an den Details der Jagdgeſchichte 
zu erkennen und die alte Farmersfrau mit ihrer alten 
„Hülfe“ lächelten ſchlau zu dieſen ſkeptiſchen Bemer— 


89 


fungen. Indeſſen machten ſich die beiden Männer 
doch jogleich mit dem Holzwagen auf den Weg, ven 
jie bei ihrer Ortskenntniß bis auf eine halbe enalifche 
Meile von der befchriebenen Stätte hinauffahren 
fonnten. Sie hörten Schon aus der Entfernung ein 
grimmiges Brummen und ſahen auch bald darauf 
einen Bären, den fie lachend für den angeblich erlegten 
erfennen wollten, in höchfter Erbitterung auf- umd 
niedergehen. Beide prüdten zu gleicher Zeit ihre 
Slinten auf ihn ab umd drangen dann mit ihren 
Herten auf ihn ein. Der Kampf war hartnädig, 
aber furz. Es war der Herr Gemahl, ver, wie es 
iheint, an unregelmäßige Lebensart gewöhnt, nicht 
zur gehörigen Stunde von feiner Nachtiehwärmeret 
nach Haufe gelommen war und jest in zu fpäter 
Reue das unzeitige Ende feiner bejjern Hälfte beklagte. 
Das Thier, welches die jungen Xeute erlegt hatten, 
war das Weibchen gewejen. Erſt jetzt, nachdem jie 
ihren eigenen Kampf beitanden hatten, fonnten Water 
und Sohn fih nach den Spuren desjenigen ihrer 
Borgänger umfehn. Da lag es richtig, das unge— 
heure Thier, wie befchrieber, mit dem blutigen Kopfe 
und dem zerfleifchten Schinfen. Der tödtlihe Schuß 
war grade durch's Ohr im’s Gehirn gegangen umd 
fein Zweifel, daß Ehr und Preis ver Jägerthat ver 
jungen Dame gebührten. Eine andre Kugel war im 
Bruftfelle ſtecken geblieben, vie übrigen vier hatten, 
mehr oder weniger fchwer, vie Kopfleite getroffen. 
Das Feuer des Mahles glimmte noch. Miß Daw- 
jons Taſchentuch hing an einem Brombeerftrauch und 


90 


wurde ſogleich von Frank andächtig abjtrahirt. Auch 
die zwei Stüde des elfendeinernen Piſtolengriffs wur— 
den unter den Bordertagen des Bären von ihm auf- 
gejtöbert und auf dieſelbe ungefegliche Weife in fein 
heimliches Eigenthum verwandelt. Rückwärts dem 
Merkzeichen des niedergebrochenen Unterholzes fol— 
gend, kamen fie an den Fuß ver Felſenplatte, auf 
welcher Bürenhaare noch die Spur der Autfchpartie 
bezeichneten. Endlich wurden oben auf dem Xager 
zwei allerliebjte Eleine Bärenbabies entvedt, welche 
ver mitleidige alte Joſh, als arme vater- und mutter- 
Ioje Waifen, zur beſſern Erziehung mit ſich nach Haufe 
nahm. Als Achter Yankee aber verfaufte er fie nach— 
ber an’s Glen Houfe, wo fie an langer Kette um 
eine lange Stange fpazieren gingen, bis fie jett zu 
jtattlichen jungen Leuten herangewachſen find. Einer 
Davon, weiter verfauft, hat fürzlich in Franconia Nolch 
einem Herrn, der ihm unbedachtſam ſeine Cirkel jtörte, 
ein Stück aus dem Arme gerijjen, ohne deshalb Miß 
Parjons in ihrer Theorie irre zu machen. „Denn,“ 
jagt fie, ‚wenn man einen Menfchen, ja wenn man 
man mich jelber, die ich doch gewiß von Natur nicht 
blutgierig bin, mit einer Kette an einer Stange be= 
fejtigte, jo würde ich auch wild und bösartig werden. 
Man jieht es an den Kettenhunden. Ließe man ven 
Bären nur ihre natürliche von Gott gegebene Freiheit 
und behandelte fie mit Liebe, jo würden jie eben jo 
wenig an’s Beißen denfen, wie wir jelder. 

Die beiden erlegten Alten wurden mit großer 
Arbeit nah dem Holzwagen gefchleppt; das Fell der 


91 


Bärin durch einmüthigen Beſchluß Miß Damfon zu- 
erfannt, die vergebens zu Gunften ihres Kameraden 
dagegen protejtirte. Cine Woche lang gab es in old 
Joſh' Haufe nichts als Bärenfleifch zu eſſen, bis ein 
allgemeines Bärenbrummen entitand und Antonio er- 
Härte, hätte er das gewußt, fo hatte er fih und 
Mary — denn fo nannte er fie feit jenem Morgen — 
lieber von dem Bären mit Haut und Haaren auf- 
freffen Iaffen, als fich verdammt zu fehen, den Bären 
mit Haut und Haaren aufzufreffen. 

Trank verließ Tags darauf wieder das väterliche 
Haus, um, wie er fich jest entichloffen Hatte, mit 
jeinen zweihundert Dollars nach Californien zu gehn. 
Er reifte auch wirklich binnen einer Woche ab, nach- 
dem er noch einmal zum Abſchied dageweſen. Es 
war etwas Gedrücktes in feinem Wesen, troß aller 
natürlichen Dffenheit und der Gewalt, die er fich 
anthat, heiter zu erſcheinen. 

Antonio war eine Woche lang zu feinen Excur— 
fionen zu gebrauchen. „Sein ganzes Wejen“, wie er 
ſich ausdrückte, „war Pflafter und Kataplasm.“ Den 
größten Theil viefer Woche brachte er liegend auf 
jeinem Bette zu. Die Lage hatte ihre Süßigkeit, 
venn die Thür in's nächſte Zimmer Stand fett fait 
immer offen und wurde felbit zuweilen des Nachts im 
Kranfendienfte aufgethan. Mary herrſchte in feinem 
Zimmer, als wär’ es das ihre, obaleich fie dem In— 
haber der beherrfchten Domaine auf's Wort gehorchte 
wie ein Lamm, ohne deswegen den Kopf weniger hoch 
zu tragen. War es die Bergesiuft? War e8 das 


92 


erhöhte Bewußtfein der Freiheit, von der Macht des 
Menſchen und der Umstände nach erprobter That? 
War es irgend welche andre erhebende Erfahrung? 
Die trübe Schwere, die ihr in den eriten Tagen über 
Stirn und Augen geruht hatte, war verichwunden. 
Sie war ernit, gemeſſen, unergründlich tief in Auge 
uud Stimme, wie immer — das war einmal jo ihre 
etgenite Natur — aber ihr Schritt war jest elaſtiſch, 
ihr Wefen gehoben, ihre Stimmung falt mittheilfem, 
man hätte zumeilen fagen mögen: hingebenv. 

Suſan brachte dem Kranken Blumen und bezeigte 
ihm alle die kleinen Zärtlichfeiten, welche ihr ihr lie— 
benswürdiges Temperament eingab und wozu es dem 
itolzen Geiſte Mary's an Schmiegfamfeit gebrach. 
Miß Parſons war dem Patienten in feinem Zuftande 
eine gefürchtete Erfcheinung. Nicht, daß ihre Mit- 
theilungen nicht in der Regel intereffant gewejen wären. 
Sie fannte die Familiengeſchichte faſt jedes nur einiger- 
maßen bedeutenden Individuums, Mann oder Frau 
in ganz Amerika; faft jeder Hffentlichen Frage, fait 
tedes öffentlichen Inſtituts. Sie hatte eine Maſſe 
Ideen zur ummittelbaren Ausführung bereit Liegen, 
die zwar in vielen Fällen, aber bei weitem nicht immer, 
chimäriſch waren und ſie jtets in eine Weihe inter- 
eſſanter Discuffionen vertieften, in denen Weibereman— 
cipation und Sanscrit, Nordpolentvedungen und 
Magnetismus, die italienische Treiheit und die Ho— 
möopathie, ägyptiſche Chronologie und Fanny Kemble 
athemlos durch einander liefen. Dies war ermüdend, 


35 


wenn es bis tief in die Nacht hinem dauerte, wie 
das gewöhnlich geſchah. 

Noch einen Freund gewann Antonio während 
feines Rranfenlagers, den einzigen Prediger im Dorfe, 
einen einfachen Mann und orthodoren Methodijten, 
der. bei einem Bejuche im Haufe feiner Seelenbe- 
fohlenen das Bürenabenteuer zum Beſten befam und 
mit amerifanifcher Unbefangenheit ſich bei dem Gegen- 
itand jeiner Neugierde ſogleich einführen ließ. Antonio 
veritändigte fich mit ihm vom eriten Augenblide an 
durch ein eigenthümliches Organ, das einfache und 
Ihlichte Menſchen jtets an ihn attachirte; vielleicht als 
Ergänzung jeiner eigenen bochcomplieirten Bildung. 
Der Paſtor kam nachher fait jeden Tag auf ein hal- 
bes Stündchen. Er folgte Antonio wie bezaubert auf 
deſſen Spaziergängen im Garten der deutſchen Philo- 
ſophie und Wiſſenſchaft, troß des Abſcheus, den ihm 
die davon ungertrennlichen — das konnte der gute 
Mann nicht einſehn — Kegereien einflößten. Dafür 
bereicherten die Gefpräche des Geiftlihen unferen 
Freund mit der goldenen Yebensweisheit eines in 
ſeiner Bejchränftheit ftarfen und ſcharfbeobachtenden 
Geiſtes — derſelbe Reiz des polariſchen Gegenjages, 
der den Deutſchen überhaupt zur engliſchen Literatur 
hinzieht. 

So ging eine Woche auf dem Krankenlager, eine 
zweite in der Nähe des Zimmers und Hauſes auf 
Geneſungsſtelzen hin — ſelige Tage. Als ſich aber 
die volle Geſundheit bei dem jungen Manne wieder 
einſtellte, fing Etwas in ſeinen Adern an, ſich gegen 


94 


die bodenldſe Süßigfeit diefer von zarten Händen in 
Baummolle gewidelten Erijtenz zu empören. Er fam 
fih vor, wie Rinaldo im Garten der Armide und 
befchloß, die Lieblichen Feſſeln zu durchbrechen. Das 
Beifpiel der beiden Mädchen jelbit, die an feinem 
Glücke Schuld waren, beſchämte ihn in deſſen Genuffe. 
Sufan jtudirte unter ihm jeit einer Woche Deutſch 
mit eifernem Fleiße und merfwürdiger Gedächtnif- 
und Faſſungskraft, jo daß fie ihm 3. B. in der zweiten 
Stunde fünfzig Seiten aus Trinfs Grammatik, Regeln 
und Ausnahme, ohne einen Augenblid anzuhalten, 
herunterraffelte*) — daß fie in der nächften Stunde 
ſechs Druckſeiten ſchriftlicher Ueberſetzung aus Schiller’8 
Dreißigjährigem Kriege, mit etwa einem idiomatiſchen 
Fehler auf die Seite, brachte, — und daß er in der 
ſechſten Stunde ihr Jean Paul verſchreiben mußte, 
damit ſie ſich doch noch an Schwierigkeiten zu üben 
habe, die ihr der einfache Satzbau und conſequente 
Gedankengang unaffectirterer Schriftſteller nicht mehr 
mehr boten. Dabei war ſie, nach wie vor, das Son— 
nenlicht des Hauſes, allen Wünſchen zuvorkommend, 
den halben Tag lang in häuslichen Verrichtungen be— 
ſchäftigt und nicht dazu zu bringen, ihr Aufwärteramt 
aufzugeben. Miß Dawſon ſtudirte mit demſelben 
Eifer Botanik wie Suſan Sprachen und erſetzte die 
Abweſenheit häuslicher Thätigkeit durch die von der 


*) Die Leſer erinnern ſich, daß wir eine Biographie 
ſchreiben, und uns mit der einer ſo ernſthaften Aufgabe an— 
gemeſſenen Gewiſſenhaftigkeit ſtets nur an den wirklichen Fall 
halten. — 


95 


Katur ihres Studiums unzertrennlihe Bewegung in 
freier Xuft. Sie war Streng in ihren Pflichten, treu 
bei ihrer Mutter, die allmälig von der einfachen 
Lebensart und reinen Landluft geftärkt, anfing, fie auf 
längeren Fußpartieen zu begleiten — rajtlos und un— 
ermattet vom frühen Morgen bis zum jpäten Abend, 
am Sonntag, wo die Religion alles Andere ausſchloß, 
vajtlo8 betend, an den Wochentagen weit auf ven 
Bergen, als wollte fie deren jtolze Häupter dem Tritt 
ihres Fußes unterthänig machen. Kein Wunder, daß 
die amerifanifchen Männer fich wor Unruhe nicht laffen 
fönnen, wenn ſelbſt die Weiber fich in Energie ver- 
sehren. Wenn Miß Damfon eine Gefellichaft mit- 
machte, was zweimal während dieſer Zeit geichah, jo 
war es ficherlich nicht des Amüfements wegen, jon- 
dern am meijten aus Ehrgeiz, um Alles um fich her 
niederzudrücken. Es gelang ihr auch, jich binlänglich 
gehaßt und gefürchtet zu machen. Selbſt die gute 
Miß Parſons, in ihrer Art ein anderes Cremplar 
amerifanifcher Ruheloſigkeit, ließ jich durch gelegent- 
liche Aeußerungen merken, daß fie fie haßte. Nur 
Suſan, die ein Bedürfniß hatte, zur verehren, verehrte 
Miß Damfon — nit wie eine Heilige, aber doch 
wie ein höheres Weſen — mas fich dieje auch ge- 
fallen ließ und mit vornehmer Anerkennung des guten 
Rindes hinnahm. Ihre Mutter aber liebte dieſes 
jeltfjame Herz mit Leidenschaft, mit ihrem Jagdge— 
rährten pflegte jte eine Art Kameradſchaft, die noch 
mehr auf geijtigem Austaufch als auf der Leidenſchaft 
Beider für ndianerleben beruhte. Sie hatte ein 


6 


volles Echo in ihrem Geifte für jede Bemerkung, die 
er aus dem Schatz gewiljenhafter Studien, ernſten 
Nachdenkens und reicher Xebensbeobachtung nur bieten 
fonnte: eine geijtige Reife in einem fo jungen Wefen, 
die ihn mit Eritaunen erfüllt hätte, wäre ihm über 
dem beranfchenden Genufje eines jo ſympathetiſchen 
Verſtändniſſes noh Raum geblieben, fich mit irgend 
etwas Anvderem zu erfüllen. Mehr als Alles aber 
rührte ihn ihr abjolutes Annehmen aller feiner Wünfche 
und Einfälle. Diejes Annehmen hatte nichts Dienft- 
fertiges, fondern etwas Königliches. Gebieteriſch 
gegen die ganze Welt, ſchien fie in dem Glüde zu 
ihwelgen, mit einem Cbenbürtigen auf gleichem 
Fuße umzugehn, wobei es gewiß feine Verfümmerung 
des Genufjes war, daß die Uebrigen vadurd nur nod) 
tiefer zu jtehn famen. Ein amüfantes Beifpiel gab 
fie ihm am erjten Nachmittage feines Ausjeins von 
dem Haufe. In feiner Genefungsliebe zum mütter- 
fihen Boden der Erde, hatte er den Eindiichen Ein- 
fall, ohne Schuh und Strümpfe zu gehn, eine eigne 
Luft, die nur Kinder und Genejende recht zu ſchätzen 
wiſſen. Sp wandelte ev mit den Hausgenofjen und 
zwei Bejucherinnen dem Elmenthore zu, wo eben eine 
Partie unbekannter Herren und Damen jpazieren- 
gehend, ihnen aus ver Entfernung entgegen famen. 
Mrs. Dawfon, Miß Parſons und die Bejucherinnen 
erflärten, ex müfje fi) vie Füße wieder beveden, 
wenigſtens bis die Geſellſchaft vorüber fei, jonjt wollten 
jie nicht mit ihm gehn. 

„Es iſt ein Beifpiel römischer Tugend,‘ erklärte 


97 


dagegen Miß Damfon, ‚auf welches wir ftolz fein 
jollten. Ich ſchätze es mir zur Ehre, einen bar- 
füßenen Begleiter zu haben, Sir,” fügte fie gegen 
ihn hinzu und gab ihm den Arm. Sie fchritt ruhig 
und hochmüthig, wie gewöhnlich, an feinem Arme an 
der Partie vorbei. Die Andern folgten. 


Siebentes Kapitel. 
Die verlorene Tochter. 


„Es ift mehr Freude im Himmel über Einen Sünder, 
der Buße thut, als über neunundneunzig Gerechte, 
die der Buße nicht bedürfen.” 


Es wurde noch zu Antonio's jetzt feſtgeſetzter 
Abreiſe eine Partie zu Wagen und zu Roß nach 
Mount Waſhington verabredet, wo man ſich dann 
trennen wollte. Er nach Gorhan, um dort die Eiſen— 
bahn zu nehmen, die Damen zurück in ihr Quartier. 
Man erwartete überdies den jungen Dawſon, der 
vor einer Woche aus Niagara-Falls geſchrieben, jeden 
Augenblick und hoffte oder fürchtete, (Antonio das 
lettere,) — er werde noch zur rechten Zeit eintreffen, 
um an der Partie Theil zu nehmen. Statt dejjen 
traf Jemand anders ein. 

Es war am Nachmittag vor der beabjtchtigten 
Schlußpartie und die Gefellfchaft, wie gewöhnlich 

II. 7 


98 


nach Tiſche, unter dem großen Weidenbaum, jitend, 
itehend, liegend, verſammelt. Miß Parſons juchte 
im eifrigen Gefpräche mit Mrs. Dawſon viefelbe für 
ihr neueſtes Projekt zur Erhebung gefallener Weiber 
zu gewinnen. Sie hatte zu dem Ziwede zwei Papiere 
aufgejeßt: eine Petition an die Legislatur des Staates 
Maſſachuſſetts, wo fie den meilten Sinn für eine 
jolche reformatorifche Maßregel vermuthete, und eine 
Subferiptionslifte zur vorläufigen Grrichtung eines 
Aſyls in N.=E..... jelbft, unter dem wohlthätigen 
Einfluß der Bergluft und der freien Natur, welches, 
wie fie nachwies, mit dem geringen Koftenaufwand 
von 290,000 Dollars vorläufig eröffnet werden fönnte. 
Nur Frauen Jollten ji an dem frommen Werke be- 
theiligen, mit Ausnahme des forrespondirenden Se- 
fretärs, fin welchen Bojten fie ihre Augen fejt und 
vertranenspoll auf feinen andern, als den durch langen 
Aufenthalt in Berlin, London und andern europäiſchen 
Hauptſtädten mit reicher Erfahrung ausgejtattet fein 
müffenden Antonio geworfen hatte, — unbefchadet 
jeinev Ausficht auf die Univerfitätspräfidentur. An— 
tonio entſchuldigte fich vergebens, „jeine Erfahrungen 
in diefem Fache jeien fürglid. Er habe niemals ein 
Frauenzimmer zu Falle gebracht, ausgenommen neulich 
bei ihrer gemeinjamen Fahrt durch's Waſſer. Da 
aber habe Miß Parſons ſelbſt den erſten Knax ver- 
urſacht, und er habe das Seinige zu ihrer Wieder— 
erhebung gethan.“ Miß Parſons „hoffte“ dagegen, 
„daß der Freund, deſſen Humor ſie zu würdigen 
wiſſe, ſich der Theilnahme an einem Unternehmen 


99 


nicht entziehen werde, welches, fie jtehe nicht an, es 
zu fagen, den Angelpunft aller und jeder ernitlichen 
Reform in Staat und Gejellfehaft bilden, und von 
welchem die bevorftehende neue Aera in der Kultur— 
geichichte, als deren Führer die amerifanifche Republik 
voranzugehen beftimmt fei, datiren müſſe.“ Im Feuer 
der Auseinanderjegung war fie auf die Bank unter 
dem Weidenbaum gejtiegen — was bei dem Umfange 
ihrer Xeibesgeftalt und ihres Reifrocks eine beneidens— 
werthe Ausfiht auf einen bedeutenden Theil ihres 
Ichwerfälligen ſallop haufiirten Untergeftells eröffnete 
— und bereitete ſich mit einer Papierrolle in jeder 
Hand — in üÜbertroffener Nachahmung ver großen 
Redner des Alterthums — vor, die DVerfammlung 
durch eine Ansprache im großen Style für das un— 
vergleichlich wichtigjte Unternehmen des Jahrhunderts 
zu gewinnen. 

An der Ausführung ihrer rhetorifchen Abfichten 
wurde Miß Parjons jedoch durch die Ankunft einer 
fremden Dame verhindert, welche langjam und zögernd 
durh das Baumthor kam. Als fie dann ihren Weg 
direft auf das Haus zunahm, trat Sufan mit ihrer 
nie fehlenden einladenden Freundlichkeit der Kommen— 
den entgegen, um zu wiſſen, womit fie ihr dienen 
könne. 

Dieſe eilte jedoch bei ihrer Antwort mit einiger 
Haſt, von der Nähe der Geſellſchaft auf das Vor— 
gärtchen zu. „Sie wollte,“ antwortete ſie, „ſich nach 
einem Logis umſehen.“ Suſan ſagte, es würde ſchwer 

7* 


100 


halten, führte jedoch ihren Befuh ins Parlor, um 
zu jehen, was fich etwa thun ließe. 

Als die fremde Dame den Raum zwifchen ven 
Weidenbäumen und der Hausthür, durchfchritt, fing 
der alte Aover, der neben der Scheune an ver Kette 
lag, jo unbezähmbar zu jpringen und zu winjeln ar, 
daß es die Aufmerkſamkeit der alten Ejther auf fich 
309, die eben mit einem Dugend Eiern, die fie den 
Hühnern abgejagt hatte, an der Humdehütte vor- 
bei fam. 

„Was giebt’3 denn, Rover,‘ jagte die Alte, 
„Du bilt ja ganz außer dir! 

Kover rannte, als zärtlihen Winf mit vem 
Zaunpfahl, den Kopf gegen ihre gebrechlichen Knie, 
daß fie ſchwankte. Dann fuhr er fort, wie bejeffen 
vorwärts zu jpringen, zu winjeln und zu quiefen, was 
der Alten Blick auf die Fremde 309, die eben durch 
das Borgärtchen mit Suſan ing Haus trat. 

Ueber das Geficht der alten Magd 309 es plöß- 
ih wie ein Schreden. 

„Du bift eine Närrin, alte Eſther,“ murmelte 
fie zu ſich felbit, „das fann ja nimmermehr fein. 
Aber die Lady da hat jo fehr ihren Schid, daß ich 
drauf hätte ſchwören mögen.“ 

Die Alte ging mit aufgelöjten Gliedern in die 
Küche, wo ihre Herrin ihr vie Eier abnehmen half. 

„Bas habt Ahr, Eſther?“ fragte Mrs. Cart- 
wright, „die Hand zittert Euch fo.“ 

„Eine Schwäche in ven Beinen, I guess, ich 
werde alt.“ 


101 


Damit gingen fie Beide ind Efzimmer, um die 
vom Mittagstifche her gewafchenen Teller und Gläfer 
in ven Wandfcehranf zu ftellen. 

„Sest Euch Tieber, Eſther,“ fagte die Frau und 
jtellte ihr einen Stuhl hin. 

„Bell, I guess, ich will mich einen „Spruch“ 
legen.“ 

Damit nahm fie fich die alte Familienbibel vom 
Ramingefims, und ließ fich neben diefem nieder, zu— 
nächſt der Parlorthür. Bedächtig ſetzte fie fich vie 
Brille auf und fchlug das leere Blatt zwifchen dem 
Alten und Neuen Zeitament auf, wo die Namen der 
Familienglieder verzeichnet ftanden. Halben Flüſterns 
die Lippen bewegend, buchitabirte fie den Namen: 

„Annie Cartivright, geboren ven 19. Yuli 1836.‘ 

„Gerade morgen wird fie dreiundzwanzig,“ ſprach 
die Alte laut, jich ſelbſt vergefjend. 

Ihre Herrin drehte fich nach ihr um. Sie hatte 
eben einen Haufen Zeller in ven Schranf geſetzt und 
Atand in vem Winkel nächft ver Parlorthür. 

In der Baufe, welche folgte, hörte fie deutlich 
in dem Zimmer nebenan den Ton einer Stimme, die 
ihr das Vlut in den Adern jtoden machte. 

Sie fonnte fein Wort vorbringen, und die bei- 
den Alten, fih mit einem Blide unbefchreiblicher 
Ahnung anjfehend und veritehend, laufchten athemlos. 

Unterdefjen hatte Sufan ihren Beſuch ins Em— 
pfangzimmer geführt und zum Siten genöthiat. 

Die Dame, die fehr elegant gefleivet war und 
den Schleier vor behielt, brauchte nur ein fleines 


102 


Zimmer. Sie wollte mit Allem vorlieb nehmen. 
Kun wurde Antonio's Stelle allerdings morgen Leer, 
aber ſie war jchon wieder von dem jungen Davjon 
belegt. 

„Bir haben nur ein fleines, Fleines Zimmerchen,“ 
erläuterte Suſan, „nach hinten heraus, welches ich 
Ihnen abtreten könnte —“ 

„Das mit dem Fenſter über dem hinteren Ein- 
. gang?” fiel vie Dame lebhaft ein. 

Sujan machte große Augen über die Lokalkennt— 
niß der Fremden. Diefe bemerkte es und fügte fo- 
gleich mit einiger Verwirrung hinzu: 

„Ich bin früher fchon bier geweſen.“ 

Das junge Mädchen jah ſich vie Bejucherin 
darauf an. 

„>, e8 iſt Schon lange ber. Sie waren noch 
ein Kind, Sie find doch Sufan, niht wahr?” 

Sufan erinnerte jich Feiner ſolchen Bekannten 
aus einer Zeit, wo Penſionaire und vornehme Damen 
noch nicht im diefes ſtille Thal gedrungen waren. 
Dennoh war ‚Etwas in dem Ton der Stimme, den 
Bewegungen, den Gefichtszügen der Fremden, das 
ie ficher war, ſchon gejehen zu haben. 

„Ich erinnere mich nicht,“ ſagte Das junge 
Mädchen — „und dennoch Fommen. Sie mir fo be- 
fannt vor.‘ 

„Ich war bier, wie ihre Schweiter Annie noch 
zu Haufe war, vor fünf Fahren,‘ fuhr die Dame 
fort. „Wo iſt jet Annie?“ 

Suschen ſah verlegen die leere Wand an. 


103 


„Ste iſt nicht bier.“ 

„Annie liebte Sie fo,“ fuhr die Fremde fort, 
offenbar bewegt. 

„Arme Annie!‘ jeufzte Sufan. 

„Haben Sie hre Schweiter lange nicht ge- 
ſehen?“ 

„Nicht, ſeit ich ein Kind von vierzehn Jahren 
war.“ — 

„Wo iſt ſie hingekommen?“ 

„Wir wiſſen es nicht,“ erwiderte das arme Kind 
verlegen. 

„Wie? Seit jener Zeit iſt Ihre Schweſter weg 
und Sie wiſſen nicht, Sie haben nicht gehört, wo —“ 

„Gehört wohl, ach! aber” — bier ſah Sufan 
der Fremden mit gerungenen Händen und dem ſchmerz— 
lichſten Ausdruck in die Augen, die durch den Schleier 
zu brennen jchienen. 

„Ah, ich verjtehe. Arme Annie, in der That!” 

D, Ma’am, ich bete für fie alle Abend und alle 
Morgen. Ich liebte fie jo.“ 

„Und jest lieben Sie jie nicht mehr, verfluchen 
vielleicht Ihr An —?“ — 

Ein Thränenſtrom ftürzte aus Suschens Tieben 
Augen. 

„Sie iſt meine Schweiter, Ma'am. DO, wenn 
ich jte nur einmal wieder ans Herz drücken könnte!“ 

„Sujan, theure Sufan!” rief das unglücliche 
Weib, ihr zu Füßen ftürzend und dem reinen Engel 
bittend die Knie umfaſſend, „Gnade! Gnade! Gnade! 
für Deine veriworfene Schweiter.‘ 


104 


„Annie, liebe Annie! Bift Du’s? Biſt Du’s 
wirklich?“ jchluchzte das gute Mädchen, ſank neben 
fie aufs Knie und bevedte fie mit einem Schauer von 
tröftenden Küffen. 

„Annie, meine Tochter!“ rief Mrs. Cartwright 
mit erjtidter Stimme, zur Thür hereinjtürzend. 

„Mutter!“ Im Nu lagen fih Mutter nnd 
Tochter in den Armen. 

Die alte Ejther kam hinterhergewanft. Cie 
fonnte die Zeit nicht abwarten, jie jchlang die dürren 
alten Arme, vie jo oft ihren Liebling gefchaufelt 
hatten, um Annie's Naden, fich faft mit der Mutter 
um fie reißend. 

„>, Eſther, habt Ihr mich noch Lieb?“ 

„Herr, jest will ich gerne in die Grube fahren,” 
betete Ejther aus der Bibel, „va ich das liebe Kind 
noch einmal habe mit Augen jehen können!“ 

„O Gott! O Gott! Sie lieben mih noch!” 
Ihluchzte das elende und doch in dieſem — 
ſelig getröſtete Geſchöpf. 


105 


Achtes Kapitel. 


Annie wird von dem Helden bie auf Weiteres in ein Afyl 
gebracht. Bekenntniffe reines Opferlammes, 


„Ihr führt in’8 Leben ihn hinein, „Sie ift die Erfte nicht.” 
Ihr laßt den Armen ſchuldig werben: Mepbiftopbeles. 
Dann überlafft Ihr ihn der Pein, 
Denn alle Schuld rächt fih auf Erden! * 

Wilhelm Meifter. 


Es war die Trage, ob es rathſam fein würde, 
dem alten Joſh fo ganz unvorbereitet die verlorene 
Tochter vorzuführen. Trotz der natürlichen Milde 
feines Charakters bildete doch die puritanifche Härte 
jeiner altfränfifchen Erziehung eine furchtbare Schranfe 
des Urtheils und Benehmens für ihn in gewillen 
Dingen und ließ fich nicht fo Leicht überrumpeln, wie 
das weiche Mutter- und Schwefterherz over die pa- 
triarchaliſche Anhänglichkeit einer alten Magd. Hatte 
er gar erjt einmal, was im erjten unüberlegten Augen- 
blicke Leicht gefchehen konnte, eine theologiihe Maxime, 
ornée de feu d’enfer zur Richtfehnur für feine 
Handlungsweiſe aufgeftellt, fo war ihm nachher nie 
mehr beizufommen und wäre darüber die ganze Welt 
zu Grunde gegangen; die harte Conjequenz war zur 
Slaubens- und Gewifjensfache geworden. Man be- 
rieth daher Hin und her, was zu thun fei, ehe der 
Alte vom Felde zurückkäme. Nun hatte Annie An— 
tonio unter der Gefellfihaft am Weidenbaum zur un- 
befchreiblichen Ueberrafhung foaleih erkannt. Die 


106 


Geſchichte ihrer erjten Begegnung mit ihm war aleich- 
falls fein Geheimniß in ver Familie; Alle, die alte 
Eſther mit eingefchloffen, verehrten ihn wie einen 
Herrgott. ES wurde daher zulegt, nicht ohne jcheues 
Wivderjtreben von Seiten Annie’s, beichloffen, ihn um 
Kath zu fragen. Dabet wurde zufällig auch ver 
beiden Damen erwähnt, und daß auch noch der junge 
Dawſon heute oder morgen evivartet werde. Bei 
Nennung diefes Namens erbleichte die Arme tödtlich, 
und drang nun jelbjt mit jtchtbarer Heftigfeit auf vie 
unmittelbare Berufung Antonio's in ven Fami— 
lienrath. 

Der Freumd wurde alfo eitirt. Da er ſchon 
über die fremde Dame, troß ihrer tiefen Berfchlete- 
rung, feine jtillen Vermuthungen angejtellt hatte, 
überraſchte es ihn kaum, feine alte Befannte, Die 
Bettlerin vom Broadway, im Barlor zu finden. Er 
benahm ihr alle Verlegenheit durch das einfache offene 
Weſen, womit er fie, wie irgend. eine andere be- 
fannte Dame, begrüfte und ihr die Hand jchüttelte, 
als pflegten fie jich bier zu jehen. Ihre Angit vor 
einem Zujammentreffen mit Auguftus an diefem Orte 
war ihm, in Erinnerung jener Abendbegegnung auf 
dem Broadway, ſehr erklärlich. Er zerbrah ſich 
daher bereitwillig den Kopf, um einen Ausweg zu 
finden. Gnolich fiel ihm das einfame Farmhaus auf 
Rod Hill ein. Wenn er fich recht erinnere, jo jeien 
die beiden alten Leute ja wohl Annies Onkel und 
Tante. In des Alten Bemerkungen über Miß Dam- 
fon babe fich feine völlige Unbefanntichaft mit ven 


107 


Schickſalen feiner älteſten Nichte fund gegeben. Be- 
juh komme an jene abgelegene Stelle ver Welt feiner 
bin, als vielleicht alle Fahr einmal der eines ver- 
Ihlagenen Zouriften. Dabei wäre jedoch gerade das 
ganz kürzliche Einfprechen Franfs und jeiner Partie 
ein guter Anfnüpfungspunft an die Erneuerung Der 
verwandtichaftlihen Beziehungen, und er übernehme 
e8, die Sache den beiden alten Eremiten plaufibel 
zu machen. Der Vorſchlag wurde von Allen mit 
Beifall aufgenommen, mit Ausnahme Annie's jelbit, 
die ſich mehr darin zu fügen, als zu gefallen fchien. 
Antonio erbot fih, fie ſtehenden Fußes herüberzu- 
fahren, mit dem Verſprechen, morgen wieder zurüd 
zu fein, nachdem er fie glücdlich einguartirt habe. Er 
hoffte, den alten Cartwright, der einen ungeheuren 
Reſpekt vor ihm hatte, mit Hiülfe feines guten Freun- 
des, des Paftors, ins richtige Fahrwaſſer hinüberzu— 
bringen. Dafjelbe fonnte dann allmälig bei ven Nach- 
barn geichehen, für welche der Vorgang des Paſtors 
und der Paftorsfrau entfcheidend geworden wäre. 
Und jo waren alle der frohen -und dankbaren Zuver— 
jicht, daß ein vom Gifthauche ver gejellfchaftlichen 
Achtung angefreſſenes junges Yeben gerettet und ge- 
heilt, zu neuer Freude und gejunder Entfaltung zu— 
rückgewonnen fei. 

Es wurde alfo angeipannt. Beinahe aber. wäre 
ver Plan noch an der plößlichen Hartnädigfeit der 
Mutter geſcheitert, die erflärte, fie wolle lieber Alles 
- wagen, als ihre wievergefundene Annie noch einmal 
von fich laffen. Das Gefühl war anſteckend. Eſther 


108 


wiegte unheimlih das tiefgefurchte, graue alte Ge- 
fiht hin und her und fang mehr als fie ſprach, — es 
war etmas Herenhaftes, oder, wenn man will Propheti- 
iches in ber Geberde und dem Ton des alten Weibes 
— „ih werde Euch nimmer wieberfehen, Kind, Kind, 
Kind! Nimmer, Kind, nimmer!" Nun fing Suſan 
auh an zu jammern: „Schwejter, jüße Schweiter, 
aehe nicht. Ich will den Vater bitten.“ Antonio 
hatte alle Mühe, ihnen Vernunft einzureden. Was 
aber entjchted, war die treibende Angft des jungen 
Weibes jelbft, die zuerjt am leidigſten fich dem Rathe 
nur eben gefligt hatte. Sie wollte durchaus weg — 
jie wußte nur zu gut warum, und Antonio wußte e8 
auch. Der junge Dawſon konnte jeden Augenblid 
anlangen. 

Es mußte alfo zulegt aufgebrochen werden. Da 
es ſich zum Gewitter anlief, 309 Antonio feinen 
rauhtuchenen Strapazierrod an, venfelben, in welchem 
er damals feine Bergfahrt mit Miß Damfon ge- 
macht hatte. Beim Aufſitzen fühlte er etwas Hartes 
unter ſich in der Taſche. Als er die Hand hinein- 
jteckte, war es Miß Damfons Piftole ohne Kolben. 
Die Geſellſchaft hatte längit den Weidenbaum ver- 
laffen. Nur Miß Parſons nahm die Gelegenheit 
wahr, mit ihren beiden Rollen ans Buggy zu treten 
und Antonio flüfternd and Herz zu legen, ev möge 
doch die fremde Dame — ihre Tournüre und Toilette 
ließen auf eine Stellung in der Welt jchliegen, — 
für das projectirte Aſyl für gefallene Weiber interef 
firen. Sie wollte ihm mit aller Gewalt die beiden 


109 


Rollen aufvrängen, deren Gewahrfam ihm, als corre- 
Ipondirendem Secretair, überhaupt gebühre. 

Unfer Held fonnte ſich nicht enthalten, einen 
Blick nah Miß Damfons Fenſter hinauf zu werfen. 
Es jtand offen und Mary daran. Er grüßte mit der 
ihm eigenen vornehmen Anmuth hinauf, aber fie ftarrte 
ins Weite, als ob Pferd und Wagen mit Mann und 
Weib dazu, gerade vor ihrem Fenjter, für die Ne- 
haut ihres Auges nicht exiftirten. Der Hund heulte 
jämmerlich und heulte noch immer, als fie durchs 
Baumthor fuhren. Er glaubte ihn noch lange zu 
hören, ver Ton blieb ihm meilenlang in den Ohren 
ſtecken. | 

Sm Dorfe hatten fie noch zweimal anzuhalten. 
einmal beim Kutjchenoffice, wo Annie ihren Reiſeſack 
gelaffen, und dann bei ver Poſt, wo er drei Briefe, 
zwei davon gewaltig voluminds, mit der Adrefje von 
Wilhelmi’s Hand, vorfand. Er hatte weder Zeit, 
noch bei feiner Stimmung Xuft, diejelben zu öffnen. 
Mary’s Blik und Geftalt verfolgten ihn, jo daß er 
wohl eine Stunde lang neben feiner ſchönen Gefähr- 
tin herfuhr, ohne ein Wort zu fprechen. Es war 
nur aus Bejorgniß, die Arme möchte ihm jein be— 
harrliches Stillſchweigen als Tugendroheit auslegen, 
daß es ihm endlich gelang, ſeiner Geiſtesabweſenheit 
einigermaßen Herr zu werden und mit der größten 
Selbſtüberwindung ein Geſpräch in Gang zu bringen. 

So ſehr er den Erklärungen des unglücklichen 
Weibes aus dem Wege ging, ſo ſehr fühlte ſie das 
Bedürfniß, ſich vor ihm zu rechtfertigen; und ſo ſehr 


110 


ſie das Bedürfniß fühlte, jo jehr ſchauderte ihr doch 
wieder vor der Berührung gräßlicher Brandmale an 
dem Fleiſche ihres armen Lebens zurüd. Ach! und 
welhe Enthüllung! Welche ſcheußliche Graufamfeit 
des Schickſals an einem zu Glück und Beglüdung 
engelreih ausgeitatteten Herzen! Ste war ihrem 
Gemahl aus MarionsStreet in feine angebliche Woh- 
nung gefolgt, wo er fortan mit ihr leben wollte. 
Kaum hatte er fie ins Haus gebracht, fo ging er aus 
und fam nicht mehr zurüd. Ihr Kind hatte man 
ihr gleich beim Eintritt mit liebfofender Sorgſamkeit 
adgenommen. Bald erjchien Augujtus Dawfon, und 
ſchaffte ſich zunächſt durch beruhigende Nachrichten von 
ihrem Manne Gehör. Darauf ſtellte Madame Puſtell 
ſich ein und machte ihr im Namen des ſchönen jungen 
Mannes, den ſie eben geſehen, Avancen: Wohnung, 
Equipage, zehntauſend Dollars Nadelgeld. Die in— 
fame Alte hatte etwas ſehr Anſtändiges, etwas ſehr 
Sutmüthiges, ja Miütterliches. Sie redete ihr Opfer 
immer „liebes Kind” an und predigte Vernunft; Tagte 
aber auf Annie's herzzerreißendes Bitten um Gnade, 
fie müſſe ſelbſt einſehen, man fönne fie niemals 
lebendig wieder fortlaifen, ehe man nicht ihrer völligen 
Unterwerfung verfichert fei. Annie verſprach, nie 
etwas zu verrathen. „Mein liebes Kind,” ermiderte 
die veritändige Frau, „das find DVerfprechungen, über 
die ich nachher feine Kontrole mehr habe, und wenn 
Sie „billig“ fein wollen, jo können Sie nit von 
mir verlangen, daß ih auf Ihre bloße Diseretion 
hin folhe Gefahr risfire. Es ift beifer, Sie finden 


111 


ih in ihr Glück. Ich könnte Ihnen junge Damen 
aus den beiten Familien zeigen, die mit beiben Hän— 
den danach greifen würden.“ Die Rückgabe ihres 
Kindes wurde ebenfalls davon abhängig gemacht, daß 
jie ih „in ihr Glück finde.“ 

Die arme Gefangene, die von Kindesbeinen an 
gehört und fich ins fromme Herz geprägt hatte, daß 
Gott die Unfchuld nicht verlaffe, warf ſich betend und 
hänvderingend auf die Knie. Sie betete die ganze 
lange Nacht und den halben langen Tag in der Him— 
melangſt ihrer guten reinen Seele um Grrettung. 
Sie fonnte bis zum legten Augenblid nicht glauben, 
daß nicht im letzten Augenblide noch der Netter kom— 
men werde. Aber der Retter Fam nicht, fondern die 
Gewalt. Der folgende Tag ging zwifchen Rache— 
und Berzweiflungsplänen, zwifchen Rafen, Brüten und 
Beten hin. Die Antwort war wieder Gewalt. Das 
mit war fie gebrochen, und was folgte war nicht 
dumpfe Reſignation, fondern unbedingteite Hingebung 
an ihren Räuber. Die menjchlihe Natur iſt num 
einmal jo gemacht, daß, wie empört jte ich auch gegen 
bie vereinzelte Gewaltthat oder die umnfichere Aus— 
übung der Macht emporbäume, der fhitematiiche, un— 
erbittliche, umentrinnbare Zwang mit Liebfofung ge 
miſcht, ihr diejenige Liebe einflößt, die, der Furcht am 
nächiten kommend, der unbevdingteften Selbitentäuße- 
rung am fähigiten it. Beſonders die weibliche Na— 
tur will Uebermacht fühlen, um jich befiegt zu geben; 
moraliiche Uebermacht, wenn es jein kann, irgend eine 
Uebermacht Lieber als gar feine. Hier wie überall 


112 


lebt die Natur durch ihren eigenen Wivderfpruch, und 
lebt überdies in einem oft graufamen Wivderfpruch mit 
den Forderungen der GSittlichfeit und des Geiites. 
Annie hing feitvem am Auguftes wie an ihrer Selig- 
feit. Er war freigebig, galant, voller Meberrafchun- 
gen, und zwei Jahre waren ihnen hingegangen wie 
ein Honigmonat.e. Da plötzlich, vor ungefähr zwei 
Monaten, änderte fich fein Betragen. Er fing an, 
ihr moraliihe Vorlefungen zur halten, und wollte fie 
auf den Pfad der Tugend, d. h. zu ihrem angetrau- 
ten Gemahl, zurüdführen. Die aus ihrem Tetten 
Traum plöglih aufgefheuhte Arme traute ihren 
Sinnen nit, als fie die freche Predigt vernahm. 
Sie flehte rührend, wild, fat wahnfinnig vor Angft, 
er möge fie doch nicht jett vwerjtoßen, nachdem er ihr 
jede Stüße und Hoffnung in der Welt genommen 
hatte. Mit bangen Ahnungen nahm jie feine Ein- 
ladung zu einer Sommertour nah Niagara-Falls an. 
Beim erjten Frühftüid am Morgen nach ihrer An— 
funft im Nattonal-Hotel ſah jie am andern Ende des 
Tiſches einen Menfchen, in welchem fie, troß feiner 
Brille und mancherlei Veränderungen in Haar- umd 
Barttour, ſogleich Grenier erkannte. Er war in Ge— 
fellfcehaft einer fehr anftändig ausjehenden Familie und 
offenbar angelegentlihb in feinen Aufmerkfamfeiten 
gegen eine dazu gehörige junge Dame. Auguftus 
jagte, er fenne die Familie jehr genau. Es ſei eine 
der reichiten von St. Louis, wollte aber nicht Wort 
haben, daß der Courmacher Grenier fei. Er ging 
hinüber, um feine Aufwartung zu machen, wobei er 





113 


von dem jungen Manne in der Brille feine Notiz 
nahm. Dieſer aber war offenbar äußert verlegen 
und warf verjchievdene verjtohlene Blicke von Auguftus 
auf Annie und von Annie zurüd auf Augujtus. End— 
lich führte der junge Dawfon, als man vom Früh— 
ſtück aufbrach, feine Maitreffe als feine Couſine Mrs. 
Rodman ein, deren Mann ebenfalls hier jei und mit 
dem er ſich das Vergnügen nicht verſagen würde, 
jene St. Louifer Freunde noch befannt zu machen. 
Der Brilfenmann, der bei der Vorſtellung zugegen 
war, aber fich joviel als möglih im Hintergrunde 
hielt, goutirte augenfcheinlich diefe in Aussicht gefteltte 
Borjtellung von Mrs. Rodman's Gemahl fehr wenig. 
Man ftellte ihn darauf als einen Herrn Maurice, 
Adoofaten aus Chicago vor. Er machte eine ftumme 
Berbeugung. 

Später am Tage ſah Annie durch die gejchloi- 
jenen Jalouſien ihres Zimmers Augujtus mit Grenier 
an dem kleinen Stafetenzaun ftehn, der ein Eckchen 
Landes an einem der Flügel des Hotels von der 
Straße abjchlieft. Sie waren Beide in einem Ge— 
ſpräch begriffen, welches, von der ſcheuen Vorficht ihrer 
Blide und Gebärden zu fchließen, feine Zeugen zuließ. 
Annie ahnte nichts Gutes. Sie wußte, daß Auguftus 
bisher Zribut für fie gezahlt hatte und die Befürch— 
tung ftand nahe, er werde ihn weiter zahlen müffen. 
Aber bei der Zufammenfunft, bei der ihre Augen jet 
Zeugen waren, ſah ihr Geliebter vielmehr als ver 
Drohende, ihr Mann vielmehr als der Bedrohte aus, 
jo trotzig dieſer fich ftellte. Die Vermuthung lag 

I. 8 


114 


nabe, daß die Anivefenheit jeiner Frau den Franzoſen 
bei feinen Abjichten, welcher Art jie immer, auf die 
junge Dame von St. Louis höchlich genire. Die 
beiden Männer führten augenfcheinlich einen heftigen, 
wern auch nicht lauten Streit mit einander. Die 
Bewegungen, bejonders Greniers, jo gedämpft fie 
waren, das Selbjtvertrauen im Ausdrud des jüngeren 
Dawſon, der ſich fonft jo gern dupiren und jo leicht 
einfchüchtern ließ, fasten das deutlich. Endlich mußte 
ein Vergleich zu Stande gefommen fein. Aber in ver 
Art, wie fie jich einander zuflüfterten, wie Einer dem 
Andern die Hand auf den Arm legte, wie der Eine 
icheu und frech zugleich, der Andre ſcheu und fchuldig 
mit dem Auge feines Widerparts das endliche Ver— 
ſtändniß beſiegelte, lief ihr jo mit der Ahnung eines 
auf fie jelbjt gemünzten Verbrechens durch Marf und 
Bein, daß fie im tödtlichen Schreden in's Damen- 
zimmer hinunterlief, um nur nicht allein zur fein. Hier 
fand fie vier deutſche Herrn, die eben auf ihre Chaiſe 
warteten, um eine Spazierfahrt zu machen. Die erite 
Chaife, die vorfuhr und die fie für die ihrige nahmen, 
war aber, wie fih fand, für „Mies. Dawſon aus 
New-York“ beitellt. Weber ver foeben beobachteten 
Scene und dem Schreden hatte Annie ganz vergeſſen 
gehabt, daß fie um dieſe Stunde mit Auguftus eine 
Fahrt nach dem Wafjerfall verabredet hatte. Diefer 
fuchte fie. Sie folgte zulegt mit Widerjtreben, um 
fih ihren Verdacht vor fich felbft zu verbergen. 

Sie fuhren auf dem canadifchen Ufer entlang, 
um unter den Wafferfall hinabzufteigen. In einem 


115 


Haufe, dem Zreppenthurm, der in bie Tiefe führt, 
gegenüber, Legt fih der Bilger eine Bermummung von 
MWachsleinwand zum Schute gegen den Wafferjtaub 
an, in einem Genre, das zwilchen dem Coſtüm eines 
Behmrichters und eines Helgolander Fiſchers mitten 


inne ftehbt. Ms das Baar in feinem Anzuge heraus— 


trat, gingen zwei andere. VBermummte vor ihnen ber, 
die Annie für einen Führer nahm. Vor dem Eingang 
blieb ſie plößlich jtehn und fagte: 

„Richt wahr, Auguſtus, Du thuft mir nichts?” 

„Was für eine. Heine Memme Du bit, Annie. 
Das Getöfe macht Dir Furcht.‘ 

Das arme Kind nahın nur zu gern die Be— 
Ihwichtigung für ihr pochendes Herz an und fie ftie- 
gen hinab. Als fie unten angelanat waren, ging der 
eine Führer voran, der andre hinterher, Auguſtus 
hinter Annie. Er drängte immer zum Vorgehn und 
vieth ihr, fi an der Hand des Vordermannes zu 
halten, die diefer ihr abgewandt hinhielt. Als fie fo 
bis an. ven äußerſten Punkt vorgerücdt waren, wo eben 
noch ein Menſch zwifchen Telswand und Waller auf 
einer Hand breit ſchlüpfrigen Gerölles fich halten 
fann, da glitt der Führer, der fie fejt an der Hand 
gefaßt, plötzlich aus und Schnellte fie, im anfcheinenden 
Ringen nach feinem verlornen Gleichgewicht, mit Macht 
vorwärts in den Gifcht hinein. Auguftus ſchrie und 
machte wilde Bewegungen mit Händen und Füßen, 
tie aus Verzweiflung. Der Hintermann fprang her- 
bei, um dem gefallenen Vordermann aufzurhelfen, der 
übrigens gefahrlos zwifchen den nächiten, ſich nur all- 

8* 


u 


%“ 


116 


mälig Pe; Felsſtücken lag. Aber die Dame 
zu vetten, erklärte er für unmöglich und wollte feinen 
Schritt vorwärts. Sie zappelte zwifchen ven ab— 
Ihüfjigeren Felsblöden, von dem braufenden, wirbeln- 
den, dichten Waſſerſtaube betäubt und erftidt. In 
dieſem Nırgenblide war eine andere Partie, unter dem 
wüthenden Donnern des Falles und der Verwirrung 
der Scene, unbemerft an dem Punkt ver Gefahr an- 
gelangt. ES waren vier Männer mit ihrem Führer. 
Ohne Befinnen oder Berathen hatten die Fünf mit 
Ichneller Geiftesgegenwart, Einer den Andern um ven 
Leib falfend, — die Vorderiten mir am Gelent — 
eine Kette gebildet, mit dem Stärfften unter ihnen 
zur Stammſäule auf dem fchmalen Pfade, und dem 
Gemwandteften an der Spite. Vorwärts Tchiekend, 
hob viefer vas Mädchen mit ſtarkem Arm aus dem 
Schwall. Es war das Signal für die Hinterſten, 
rückwärts zu ziehn auf dem engen Pfade. Die Aus— 
führung glückte, wie der Entwurf es verdiente, voll— 
kommen. Es waren die Deutſchen. Als ſie mit 
ihrer ſchönen Laſt an der obern Luft ankamen, zeigten 
ſich ſchon Symptome des wiederkehrenden Lebens. 
Warme Bedeckung und die gewöhnlichen Reſtaurations— 
mittel ſtellten in einer Stunde die Gerettete ſo weit 
her, daß man ſie nach dem Clifton-Hotel fahren 
konnte. Dort nahmen ſich zwei engliſche Touriſtinnen 
ihrer an. Auguſtus, zärtlich beſorgt, ſiedelte noch 
ſelbigen Abends vom amerikaniſchen Ufer über; aber 
in dem vorgeblichen Verhältniß als Couſin, in welchem 
er, ſeiner erſten Rolle getreu, zu ihr ſtehen blieb, war 





117 


er glüdlicherweife aus den Zimmern feiner Geliebten 
und ihrer freundlichen Bejchügerinnen ausgeſchloſſen 
und mußte die Beweise feiner Theilnahme auf Er— 
fundigungen an der Thür befchränfen.  Diejer Um— 
itand ermöglichte ihr, am zweiten Tage nach ihrer 
Rettung ihre „Flucht zu bewerkſtelligen.“ 

„Ihre Flucht?” fragte Antonio. „So glauben 
Sie wirklich —“ 

„Ich weiß es,“ ſagte das unglückliche Weib 
ſchaudernd, „ich ſah im Fallen das Geſicht des ver— 
meintlichen Führers, es war Grenier. Ich fühlte 
deutlich, wie er mich von ſich ſchleuderte. Ich ſah 
nach Auguſtus. Es war nur ein Augenblick, dann 
umfing mich Todesangſt und Dunkel. Aller der teuf— 
liſche Blick des Einen, der ſcheue des Andern ver— 
folgen mich Nacht für Nacht in meinen Träumen.“ 

„Haben Sie irgend Jemand Ihren Argwohn 
mitgetheilt?“ 

„Nein. Nur vertraute ich meinen Pflegerinnen 
das Verhältniß zu Auguſtus und meinen Entſchluß, 
ihm zu entfliehen und zu meinen Eltern zurückzukehren. 
Dieſer Entſchluß ſtimmte ihren anfänglichen Abſcheu 
über die Entdeckung meines wahren Charakters in 
hilfreiche Theilnahme um. Sie vanften Gott mit 
mir, daß er in feiner Gnade mich durch Todesgefahr 
von dem ewigen Zod der Sünde erlöſt und mir das 
Herz zur Neue und Rückkehr erweckt hatte.‘ 

„Armes Opfer,‘ dachte Antoniv. „Es ift gut 
jo,“ fagte er laut. „Mit Ihrem Verſchwinden fehlt 


* 


113 
den Verbrechern das Hauptmotiv zu weiteren Schand- 
thaten. Sie jind offenbar Beiden im Wege. Sin 
Sie ven Schurken erjt eine Zeit lang aus dem Ge 
fihte, fo werden Sie bald vergeſſen fein.‘ 
„Amen!“ jagte das —— Geſchöpf in— 
brünſtig. | 

Sie mußten bei dem befannten Dorfe anhalten, 
welches Antonio mit jeinen Damen vor ungefähr drei 
Wochen zur Station gedient hatte. Es gab einen 
Fahrweg hinauf nach vem alten Farmhauſe, den Annie 
nach jo langer Zeit jich nicht mehr aufzufinvden ge- 
traute. Antonio ftieg alfo bei dem Gafthaufe ab, 
während Annie die Zügel hielt, und ließ fih von 
dem Wirthe, der an die Thür fam, eine genaue Be- 
ſchreibung des Wegs geben. 

An dem Pfoten jtanden zwei Reiten an der 
Springfette. 

„Hübſche Pferde!“ bemerfte Antonio beim Ab- 
ſchiede zum Wirthe. ur 

„Ganz ſtyliſch!“ bejahte pie mit woifkbeikiene. 
„Cityvolk!“ Dabei warf er feinen Kopf nach vem 
Purlorfenjter bin, unter dem fie jo 3 geſtanden 
und geſprochen hatten. 

Antonio, dem Blide folgend, ſah J das halb⸗ 
geöffnete Jalouſiengitter vier beobachtende Augen, die 
ihm, er wußte nicht wie, die vier Mörderaugen vom 
Niagara aus Annies Erzählung zurückriefen. 

Die beiden Reiſenden fanden den Weg ohne 
Schwierigkeit nach der Beſchreibung und kamen bei 
eintretender Dunkelheit an der einſamen Bergfarm an. 


— 





119 


Die Alten erkannten fogleih Antonio wieder. 
Bei der Seltenheit fremden Bejuhs hatte fich fein 
Bild ihrer Erinnerung eingeprägt. Aber Annie hielten 
fie für die eine von ven beiden, mit ihm dagewefenen 
Damen, die fie fich ein für allemal als Nichte in ihr 
altes eigenfinniges Gedächtniß eingeprägt hatten. Es 
fonnte nichts jchaden, fie in dem Irrthume zu be— 
lajjen, denn dabei fam es ihnen nicht mehr unnatür— 
lih vor, daß ihre Nichte einmal den Einfall friegte, 
die vor drei Wochen wieder eingefädelten audt⸗ 
ſchaftsbeziehungen weiter zu befeſtigen. 

„I guess, Ihr habt eine Notion für die Scene— 
tie,“ Frächzte der Alte im Fluß feiner ſarkaſtiſchen 
Ader. „Es iſt heutzutage fafhionable für junge Ladies, 
folhe Notionen zu haben. Irgend ein Xoch thut’s 
für den Sommer, wo's Scenerie giebt. So ſeid will— 
kommen und machts Euch bequem, ſo gut Ihr könnt.“ 

Die „Alte Frau!“ durch Zeichen ihres „Alten 
Mannes“ verſtändigt, führte Annie auf ihr Zimmer. 
Antonio ging mit und trug die Reiſetaſche. Er wollte 
wenigſtens einen Blick in das Logis thun, um zu 
ſehn, was ſich etwa noch aus der Nähe oder Ent— 
fernung für den Comfort des verlaſſenen Weibes thun 
ließe, zu deren Ritter das Schickſal ihn nun einmal 
auserkoren zu haben ſchien. 

Die Alte leuchtete ihnen mit einem Holzſpahn 
eine enge furze Stiege hinauf, dann folgte Annie, 
endlich Antonio, der, um ven Reiſeſack aus jeinem 
Winkel hervorzuholen, etwas zurücgeblieben war. 
Annie legte eben die oberjten Stufen zurüd, als er 


120 


die unterjten betrat. Plöglich drehte jie ji) um und 
fam auf ihn beruntergefahren, wie ein Schuß. Sie 
juchte fih in wilder Flucht bei ihm vorbei zu drän— 
gen, was aber zwijchen den engen Bretterwänden un— 
möglih war Er hörte ihr Herz wild pochen, wie 
jie auf ihn fiel. Sie zitterte heftig am ganzen Leibe, 
als hätte fie ein Gefpenjt gefehn. 

„Um Gottes Willen, was haben Sie?“ fragte 
er. „Was giebt’s?‘ 

„Ich fürchte mich, ich fürchte mich!“ ſchrie ſie, 
ſich an ihn drängend. 

„Thorheit, Kind! Seien Sie doch artig, Annie,“ 
ſprach er. Die Situation brachte es ſo mit ſich, daß 
er kaum anders konnte, als ſie um die Hüfte zu faſſen 
und ihr beruhigend, wie einem Kinde, die Wangen 
zu ſtreicheln, die ſich eiskalt anfühlten. In demſelben 
Augenblicke kam die Alte, die ſich nicht gefolgt ſah, 
auf die Treppe zurück und beleuchtete mit ihrem Kien— 
ſpahn die Scene. Annie fuhr empor, in dem Ge— 
fühl, daß die Lage ſie in den Augen ihrer alten Baſe 
compromittirt haben könnte und kam ſo ſchneller und 
entſchloſſener die Treppe wieder hinauf, als ſich hätte 
hoffen laſſen. 

Lange unheimliche Schatten von Balken und 
Sparren unter dem Dachboden, von tiefen Winkeln 
und aufgeſpeichertem Gerümpel, ſchwankten in dem 
düſter flackernden Licht nud lagen lauernd um die 
unſicher erhellte Paſſage, zwiſchen dem Dachſtuhl 
durch. Annie eilte mit verzweifelter Energie ſelbſt 
der Fackelträgerin voran und ſtieß die rohe Bretter— 


121 


thür des Dachzimmers, deren ſchwarzeiſerne Klinfe 
nicht ſchloß, haſtig auf. Antonio felbit fühlte, troß 
der erjtidenden Xuft, welche fih von ver. Schwüle 
des Tages unter dem Dache eingeniftet hatte, ein 
sröfteln, als ihm die weißgefalften Wände, vie bei 
ungewiß ſchwacher Beleuchtung fih im ihrer eignen 
Dede und Leere zu verlieren jchienen, in die Augen 
Itarrte. Er verwand den Eindrud jo gut er fonnte 
und ſagte ermuthigend, mit erziwungener Heiterkeit: 

„Wenn es jeßt die Jahreszeit dazu wäre, ein 
Feuer in diefem weiten alten Kamin anzumachen, 
wäre dieſes Zimmer ein wahres Paradies für einen 
Eremiten.“ | 

Der Troſt war jo komiſch, daß, als ſich ihre 
Blide trafen, fie Beide, troß alledem und alledem, 
lachen mußten. Dennoch jah das reinliche Bett mit 
jeiner weißen Dede ganz einlavdend aus. Vor dem 
Fenſter hing ein hellblaues Papierrouleaur, wie man 
fie auf dem Lande hat. Ein grauer Teppich mit 
gelben Streifen, Yandarbeit, bevedte ven Fußboden, 
zwei Rohrjtühle und ein Tiſch mit Wafchgeräthichaften 
machten die Ausstattung fertig. 

„Das Zimmer tft weder bejjer noch jchlechter, 
Ma'am,“ konnte Antonio in Wahrheit jagen, „als wir 
fie hier auf dem Yande zu miethen pflegen, wenn wir 
des Luxus der Städte überprüffig find. Dieſer Fa- 
natismus der Einfamfeit gehört mit zu den Haupt— 
reizen des Landlebens.“ 

„Ach!“ ſeufzte die Verbannte mit Thränen in ven 
Augen, „es ift nicht das.“ Was es war, wußte fie 


122 


jelbjt nicht. Es war weder die Einfachheit, noch auch 
die plögliche, unvermittelte Verbannung aus dem Blu— 
menbett der Zärtlichkeit in die falte Gremitenzelle. 
Es war ein umerflärbarer, graufiger Wiverwille gegen 
den Ort. | 

„Ballen Sie Muth, Ma’am. Ich werde Ahnen 
in diefen Tagen einige Comforts beforgen, vor allem 
Licht.“ 

„Sch danke Ihnen,“ lächelte fie jchmerzlich, „es 
tt das zweite Mal. — Aber es thut mir fein gut,“ 
fügte fie halblaut für fich ſelbſt Hinzu. 

Damit gingen fie wieder hinunter. Antonio nahm 
Abſchied. | 

Er war Schon im Wagen, als fie ihn noch ein- 
mal bei der Hand erariff. 

„Können Sie nicht die Nacht über hier bleiben?“ 
fragte ſie mit unterdrüdtem Athen. 

Er antwortete furz: 

„Das ift unmöglich.‘ 

Es war etwas Barjches in feiner Antwort, aber 
nicht gegen die Bitte gemeint, jondern gegen jeine 
eigne Schwäche. Er hätte von Stein jein müffen, 
wenn feine Sinne bei ver enggeſchloſſenen Berührung, 
in welche die Scene auf der Treppe ihn mit der 
Ueberfülle weiblicher Reize gebracht hatte, nicht ge- 
glüht Hätten. | 

„Um Gottes Willen!‘ rief fie in voller Seelen- 
angſt, „verlajfen Sie mich nicht. Laſſen Sie mic) 
diefe Nacht nicht hier allein.“ 

„Sie werden diefe Nacht ausfchlafen,‘“ erwiderte 


123 


ie N I 
er mit erzwungener Kälte, „und morgen früh wird 
Ihnen Alles anders vorfommen.“ 

„Ich werde morgen Früh niemals erleben!‘ 
jagte fie zurückhaltend, in vefignirter Verzweiflung. 

„Seien Sie doch nicht kindiſch. Adieu! Leben 
Sie wohl.” 

Damit trieb er fein Pferd an und rollte in vie 
dunkle, gewitterjchwüle Nacht hinein. 


Neuntes Kapitel. 
Mord. 


„Erbarme Did, und lak mich leben!” 
Gretchen. 


Annie horchte noch lange auf das verhallende 
Geräuſch der Räder. Als der letzte Laut verſtarb, 
war es ihr, als würde der Stab über ſie gebrochen. 

Bei ihrer Rückkunft in's Zimmer waren die 
Alten ſchon im Begriffe, zu Bette zu gehen. Es 
ſchien ihr, als betrachtete man ſie mit unfreundlichen 
Blicken. 

Sie blieb noch unten aus Furcht vor der Dach— 
paſſage. Es wurde immer ſchwüler und ſtiller, ſo 
daß man jeden Ton hätte hören können; aber man 
hörte eben nichts. Es lag auf der Natur wie eine 


124 


erſtickende Laſt. Horch, war das nicht Pferdege- 
trappel? — 

Sie horchte lange, wie lange wußte ſie nicht; 
aber es ſchien wohl eine Stunde, und immer konnte 
ſie dieſen Laut nicht los werden. So weit die Kraft 
des Gehörs reichte, hätten die Reiter, wenn es ſolche 
waren, ſchon zehnmal, hundertmal vorbei und das 
Geräuſch wieder verhallt fein müfjen, und doch fam 
ihr das Getrappel immer und immer wieder ins Ohr 
zurüd. Es war graufig. Alle möglichen alten Ge— 
ihichten gingen ihr durch den Kopf, von Opfern, die 
mit geifterhaft gefehärften Sinnen den Schatten des 
erſt noch aus der Entfernung aufbrechenden Verder— 
bens ſchon hatten vor fich auffteigen jehen; von jener 
jungen polnifchen Gräfin, die von Kind an ein uner- 
flärlihes Grauen vor einem gewiſſen Saal in ihres 
Dheims galiziſchem Schloß empfand, wo ſie dann 
nachher an ihrem Hochzeitstage durch ein herabfallen- 
des Bild erfchlagen wurde; von Träumen, Ahnungen, 
Gejichten, die in ihrer Mutter Familie, feit der Vor— 
ahn auf Plymouth Rod ans Land geftiegen, von 
Generation zu Generation bei jedem außerordent- 
lihen Unglüdsfall ihr ſchauerliches Prophetenamt aus- 
geübt hatten. Der falte Schweiß jtieg ihr auf die 
Stirn, es ergriff fie der wilpplögliche Entihluß, aus 
dem Haufe zu entfliehen. Aber der Gevdanfe an das 
Aufjehen in der Nachbarichaft und in ven Zeitungen, 
das unausbleiblih aus einem ſolchen Schritte herpor- 
gehen mußte, hielt fie zurüd. Bleiben in diejem 
püfteren Raum, wo das verglimmende Kaminfeuer 


7 i 


185; 


unheimliche Schatten ang allen Eden um fie herum- 
tanzen ließ, war eben ſo unmöglich. Das Bett war 
die einzige Zuflucht. Sie zündete ven Kienſpahn an 
und jtürzte mit blinder Haft die Treppe hinauf, durch 
den Dachboden, ihrem Zimmer zu. Als fie aber die 
Thür aufriß, blies ihr der Zug das Licht aus. 
Koh einmal wurde der Entſchluß, aus dem Hauſe 
zır entfliehen, gewaltig wach. Schon jtand fie mit 
Hut und Shawl gerüftet im Zimmer. Aber als jte 
an die Thür fam, trieb ihr ver bloße Gedanke, im 
Dunfel wieder durch die verabfcheute Paſſage zu 
müjjen, ven falten Schweiß auf die Stirn. Es blieb 
nichts übrig. Sie rüdte ven Tiſch und beide Stühle 
vor die Thür, hing die haftig abgeworfenen Kleider 
wie zum bejjeren Verſteck darüber und froh ins 
Bette, jich tief unter die Deden vergrabend. Das 
Gewitter war unterdeß los gebrochen. Donner und 
Bliß raften in ven Bergen, der Regen ſchlug wüthend 
ans Fenjter. Aber dieſer Aufruhr draußen, ver einen 
gewußten, natürlichen Grund hatte, fiel beruhigend 
wie Balfam auf ihre von: unbejtimmten Ahnungs— 
Ihreden gehetten Nerven. Sie fiel unter dem wil- 
den Wetterlärmen in einen furzen Schlunmer. 

Das plätichernde Getöfe des Regenſchlags an 
ihrem Fenſter wermengte fi) in ihrem Traume mit 
dem branjenden Falle des Niagara. Ste hing wie- 
der, wie in jener Echredensjtunde, unter dem ſchäu— 
menden Giſcht auf abſchüſſigem Felſen. Aber durch 
den dicken weißen Waſſerdampf glühten zwei mörde— 
riſche Augenpaare näher und näher auf ſie zu. Ihnen 


126 


zu entfliehen jchlüpfte fie vorwärts von Felsſtück zu 
Felsſtück, wo die Aale überall zwifchen den Stein- 
rigen herausschlängelten und ihr fchnappend nach dem 
Gefichte ſprangen, bis fie, unter den vollen zerfchmet- 
ternden Wafferfturz getrieben, in die bodenloſe Tiefe 
ſank. Noch hörte fie hoch, hoch oben, vom canadi- 
ſchen Ufer her, das Pfervegetrappel deutlich durch, 
und Jo jchnell fie auch hinunterfchoß, die vier glühen- 
den Mörderaugen jchoffen reißend hinter ihr ber. 

An Schweiß gebadet erwachte fie mit einem Ge— 
fühl unnennbarer Angft, als Iauerte eine böfe Macht 
in der Dunfelheit nur auf ihre erite Bewegung, um 
fie beim Schopfe zu falfen. So lag fie und wagte 
nicht, ſich zu rühren. D Schreden! Sie hörte e8 
deutlich: Geflüfter unter ihrem Fenjter. Das Wetter 
hatte fajt ausgetobt. Leiſes Verſuchen an der Haus 
thür. Dann, furz wie ein Blitz in der Nacht, aber 
deutlich, deutlich, deutlich wie dieſer, das Klirren 
einer zerbrochenen Fenfterfcheibe! 

Im Nu war fie aus dem Bette, aus der Thür, 
Die ganze Barrifade jtürzte vor Einem Ruck, zu wel- 
chem, Gott weiß woher, die Kraft in ven Arm fuhr, 
polternd zufammen. Sie ſaß, fie wußte nicht wie, 
in dem Außeriten Dachwinfel hinter einem alten eijer- 
nen Dfen und anderem wüſten Geräthe zufammen- 
gefauert; das Waffer fiel ihr vom Regen, ver hier 
einen Durchgang gefunden hatte, mit bohrender Be— 
barrlichfeit Tropfen auf Tropfen auf den bloßen 
Nacken und riefelte dann hinunter. 

Dort ſaß fie lange, o jo lange, während es 


127 


unten tappend und juchend, mit heimlihem Schleichen 
und Spähen von Raum zu Raum fnifterte. Zuletzt 
fam es an die Treppenthür geflüjtert. Ein fehwacher 
Lichtftreifen Tchlug herauf an die Dachſchindeln. Das 
Licht fchlich fladernd die Treppe herauf, näher, näher. 
Sie hörte ihr Herz fo laut hämmern, daß ſie es mit 
der Hand preßte, aus Furcht, es möchte fie verrathen. 
Ein Mannsfopf! Er ſah ſich forſchend, Laufchend 
um. Sie fuhr ſchaudernd mit dem Kopf hinter ihren 
eiſernen Schirm zurück, es war Grenier. 

Noch Einer kam die Treppe herauf. Hinzuſehen 
wagte ſie nicht mehr, aber wer es nur ſein konnte, 
wußte ſie. Dann hörte ſie die Thür ihres Schlaf— 
zimmers gehen. Es gab einiges Rücken, behutſam, 
an ihrer Barrikade. Jetzt war es Zeit, jetzt konnte 
ſie vielleicht die Treppe hinunter entfliehen. Sie 
hatte den Muth nicht. Ein Schimmer des alten 
Glaubens dämmerte in ihrem frommen Herzen auf, 
daß Gott im letzten äußerſten Augenblicke ſeine Hand 
ausſtrecken müſſe, ſie zu retten. Damals hatte er 
es nicht gethan, aber diesmal doch! diesmal doch! 

Die Sucher hatten das Zimmer abgeſucht, ſie 
kamen jetzt wieder heraus. Wehe! Von dem auf— 
gewühlten Bett, den herumliegenden Kleidern, der 
niedergebrochenen Barrikade mußten ſie wiſſen, daß 
ſie nicht fern zu ſuchen hatten. Herr Gott! ſie wuß— 
ten es auch wirklich. Sie rumorten in dem alten 
Hausgerümpel unter dem Dachboden entlang. Sie 
thaten es langſam und bedächtig, Schritt vor Schritt 
ſuchten ſie mit gräßlicher Genauigkeit ab; Schritt vor 


128 


Schritt kam die Durhjuchung näher, ohne ein Wort, 
ohne einen flüfternden Laut. Nur das Licht, nur die 
tappenvden Schleichertritte fommen näher, und wie: 
derum. näher. Jetzt warf das Licht ſchon einen 
fladernden Streifen auf den Spigenjaum ihres Nacht- 
hemdes. Bett ſtieß der Eine ſchon mit dem Fuß 
an den Ofenunterſatz. Jetzt ſchien das Licht gerade 
hinein in ihren Winkel, ihr ins Geſicht, und zwei 
Köpfe ſtreckten ſich vor und zwei Paar Augen faßten 
die des Dpfers, das gelähmt von Todesangſt, den 
gebannten Bli zum Springen gefpannt, mit unheim- 
lihem Glanze nach ihnen‘ hinſtierte. Als gälte es 
ein wildes Thier, fo nahm der Vordermann, mit 
Jägerliſt, unverwandten Blids die Hand hinter ſich 
ausſtreckend, von jeinem Gefährten die Piitole, vie 
diejer ihm halbwegs entgegen reichte. 

„Thu's nicht, Guſty,“ ſchrie fie, als fie die Be- 
mwegung jah, „Guſty lieb!” | 

In demſelben Augenblide ſpritzte jchon das 
Blut von ihrem zerſchmetterten Auge dem Mörder 
auf die Kleider, und Auguſtus konnte ſehen, wie es 
ihr im Strome über das Geſicht und zwiſchen den 
offenen Brüſten herunterrieſelte — dem Wonnekiſſen 
ſeiner Liebe. Der Anblick ſchlug ihn mit Entſetzen. 
Er ließ den brennenden Spahn fallen, der zu der 
That geleuchtet hatte; aber der verruchte Mordknecht, 
ſein Begleiter, ſchickte mit einem Fluche Schuß auf 
Schuß nah ins Dunkel, bis der Revolver feiner 
letzten Kugel entleert war. Dann feiner Sache immer 
noch nicht ficher, fahte er ven blutnaffen Kopf im 











129 


Finſtern an feinen ſchweren Seivenflechten und fchlug 
unbarmherzig mit dem Kolben auf den Scheitel und 
die Züge. Ä 

Damit fertig ftolperte jegt der Thäter voran, 
der Treppe zutappend; der Gehülfe folgte. Unten 
im Zimmer zündeten fie noch einmal wieder einen 
Kienfpahn an. Der Mörder [ud zwei Käufe der Piſtole, 
deren Griff abgefprungen war, und händigte das Mord— 
werzeug feinem Spießgejellen ein, welcher es auf ein 
beveutfames Zeichen von feinem Meijter widerftrebend 
annahm. Dieſer felbjt langte die Art von ihrem 
Nagel herunter. Sp jchlichen fie noch einmal dur 
das ganze Haus nach Annie's Reiſegefährten. Cie 
juchten ihn bis unter das Bette der tauben Alten, 
die ahnungslos im friedlihen Schlummer der Ge- 
jundheit lagen; ſie juchten ihn in allen Ritzen und 
Winkeln; fie erwarteten in der Scheune wenigiteng 
ſicher ſein Fuhrwerk zur finden. Alles umſonſt, Feine 
Spur. Sie famen zu dem beruhigenden Schluß, 
er habe feine Freundin von Marion Street her nur 
wieder in ein Aſyl gebracht und fei dann. gleich 
zurücdgefehrt. Der Franzofe Lächeite verrucht bei dem 
doppelten Gedanken über die uneigennütige Brotector- 
rolle, zu welcher „ver dumme Deutſche“ jich unermüd— 
fih bergab, und über ven wahrjcheinlichen: Xohn, 
der ihm daraus erblühen würde. 

Nicht ein Wort war jeit dem letzten Fleheruf 
des Dpferlammes geſprochen worden. Sie war jekt 
till in ihrem Winfel oben, — alles war jtill dort, 
außer dem einfürmigen Ton des langfamen Tropfens, 

I. 9 


‘130 


der noch immer vom Dach auf den falten Bufen fiel, 
und dort in den geronnenen Blutjtreifen feine Rinnen 
grub. Unten hielt der ruhige Athemzug der greifen 
Schläfer ungejtörten Takt mit dem gemüthlichen Pen— 
delſchlag der alten Küchenuhr. Sonſt herrſchte 
Schweigen. Die Mörder hatten das Haus verlaffen, 
— Schweigen hinter fih, Schweigen vor fich in der 
ausgejtürmten Nacht, Schweigen zwifchen fich, als ſie 
mit ftarfen Schritten neben einander hineilten. Nach) 
ungefähr einer Meile allmäligen Herabjteigens kamen 
fie an ein Kleines Gehölz, wo fie ihre Pferde ange- 
bunden hatten. Sie ftiegen auf. Am ftarfen Trabe 
ging es immer fchweigend, immer raſtlos fort. Annie 
hörte jegt das Getrappel auf ihrem Dachboden nicht 
mehr. Endlich, als e8 Tag wurde, lenkte Grenier, 
von feinem Genofjen gefolgt, jtraßabfeits. Sie rit- 
ten immer in ven Wald hinein. | 

Bin ich blutig?" fragte Jener, auf einem offenen, 
aber mit Gebüſch umfchloffenen Plag den Zügel an- 
ziehen. 

„Voll!“ erwiderte der junge Dawſon mit einem 
halben wegjchaudernden Blide. 

„Dann warten Sie gefälligit einen Augenblick,“ 
lagte ver Franzofe gleichgültig und fjprang vom 
Pferde. 

Der Dandy zügelte fein Pferd unmillfürlich 
zurüd; er jchien gar nicht jo ficher, daß die Reihe 
num nicht an ihn fommen würde. 

Dhne die Bewegung bemerft zu haben, Tchnallte 
Grenier feinen Mantelſack ab, holte ein Stüd savon 


131 

de guimauve und eine Flaſche Waffer daraus her- 
vor und wuſch fich, nachdem er fich bis auf die Uns 
terhofen entfleivet, jorgfältig Gefiht und Hände— 
Darauf legte er die blutigen Kleidungsſtücke auf einen 
Scheiterhaufen und zog fich, während derſelbe auf— 
prafjelte, ans dem Vorrath feines Mantelfades ganz 
neu an. Der junge Dawſon jah dem Vorgang von 
Anfang bis zu Ende fchweigend zu, verblüfft iiber vie 
Borausfiht und vollendete Virtuofität des Mörders 
in allen Details jeiner Kunſt. Es mußte Praris 
dazu gehören. Zuletzt fiel es ihm jedoch ein, fich 
jelbft auf die Hände zu fehen. Er war genöthigt, fich 
von jeinem Lehrer und Borbild Waffer nnd Seife 
zu borgen, um eine leichte Blutſpur abzumafchen. 
Derjelbe mufterte ihn dabei fcharf von Kopf zu Fuß, 
erklärte fich aber zuletzt befriedigt. 

„Sie haben nichts.” 

Sie waren jeßt wieder reifefertig. 

„Eh bien! und die Hauptfache?” fragte ver 
Matador zum Schluf. 

Der junge Amerikaner händigte ihm, fich be- 
finnend und mit eiliger Bereitwilligfeit, eine Note 
an die Ordre des Herrn R. Maurice für zehntanfend 
Dollars auf dreißig Tage aus. 

„Jetzt find wir endlich quitt!“ fagte er erleichtert. 

„Tout est en regle! Alles in Ordnung!“ bes 
fräftigte der Franzoſe, wobei er jedoch einen lauernden 
Blick über den Andern hinftreifen ließ, als fuche fein 
Auge nach einer Stelle, wo er feinen entlafjenen 
Tributär wieder anhafen könnte. Dann fprang er 

Re 


132 


furz aufs Pferd, wünfchte feinem. Compagnon viel 
Bergnägen auf feiner Sommertour, und mit einem 
„Je vous salue, Monsieur !“ vencn er ſchnell 
hinter dem Gebuſch. 

„Bon voyage!“ rief der Burüchleibende dem 
Franzoſen mit feinem unnachahmlichen angeljächfifchen 
Accente nad. Auch jett noch konnte der Fünft- 
avenüer die Gelegenheit nicht vorübergehen Laffen, 
fihb als feinen Weltmann zu zeigen, wie das die 
Dandies der ganzen Welt durch Radebrechen fran- 
zöſiſcher Phraſen thun. 

Es koſtete ihn einige Zeit und Ueberlegung, ſich 
für die Richtung, die er nehmen wollte, zu entſcheiden. 
Damm ritt auch er davon, und ließ als einzigen Zeugen 
der Miffethat diefer Nacht ein Häuflein verglimmender 
Aſche an einer abgelegenen Walvdesitelle zurück. 

Sp löſte ſich das dreijährige Band, an welchem 
der fremde Abenteurer feinen amerikanischen - Gimpel 
gehalten, mit dem Opfer eines unfchuldigen Lebens, 
das fie fich gegenfeitig, wie einen Spielball, zuges 
worfen hatten, bis ihnen das Spiel läſtig und ver 
Ball unbequem wurde. Auguftus, von. feinem Vater 
in die Nothwendigfeit gedrängt, fih von der Bot— 
mäßigfeit unter Annie's geſetzlichen Manne ein für 
allemal frei zu machen, hatte in Erfahrung gebracht, 
daß fein Bedrücker auf eine neue, reiche SHeirath 
bei einer jungen, ihm befannten Dame in Cincinnati 
ipefulire, daß die Sache jchon ziemlich weit. gediehen 
jet und daß der hoffnungsvolle Freier die, Familie 
feiner halb und halb Verlobten um die Mitte Juli 


133 


in Niagara- Falls treffen werve. Mit dem Muthe 
des Soldaten, der fi) vor dem Stod des Corporals 
noch mehr fürchtet, als vor der feindlichen Kugel, 
ging der junge Dawſon in's Feuer, da der unerbitt- 
lihe Alte mit feiner Drohung hinter ihm ftand. 
Grenier, oder wie er jeßt hieß, Herr Maurice, Ad- 
vokat aus Chicago, follte feine Frau zurücnehmen. 
Maurice weigerte fih. „So blamire ich Sie,‘ ſagte 
Auguftus. „Gut!“ antwortete Grenier, „fo werfe 
ich Ihnen einen Proceß an den Hals. Sie wiffen 
doch, durch welche Mittel Sie zu meiner Frau ge— 
fommen find.” Die Drohung war fürchterlich und 
Auguftus ſah das Schwert diefer Anklage zeitlebens 
über feinem Haupte hängen, noch dazu, während ihm 
jein Vater Ordre gegeben hatte, fich zu verheirathen. 
Er nahm alfo eine brave Miene an und fagte: „Wir 
wollen’s verfuchen. Ach bin entichloffen, das Frauen 
zimmer um jeden Preis los zu werden.‘ 

„Schneiden wir die Schwierigfeit furz ab. Ich 
Ihlage Ihnen ein vernünftiges Arrangement vor, 
welches uns Beide in Zufunft jeder Berantwortlich- 
feit für das in Frage ftehende Individuum überhebt. 
Sie geben mir noch zehntaufend Dollars und Je me 
charge du reste — das Webrige ift meine Sache.‘ 
Es war jedoch in Beider Intereſſe, daß Auguſtus 
dabei war. Diefer durfte Grenier nicht von der 
Seite gehn, ihn vor allen Dingen nicht heirathen 
laſſen, bis derſelbe nicht feine ſcheußliche Verbindliche 
feit gelöft hatte. Dem Thäter dagegen war es jehr 


134 


darum zu thun, feinen Wirwiſer auch zum Mit- 
ſchuldigen zu haben. 

Die Ihat war glüclich vollbracht. Gelöſt und 
frei ritten jetzt Beide von einander fort, der Eine 
nach Nord, der Andere nah Süd, Jeder feinem Ge— 
Ihäft und. feinem Gejchide nach). 


Zehntes Kapitel. 
Antonio öffnet feine Briefe. 


„Ah! die Gattin iſt's, die theure, 
Ach! es ift die treue Mutter, —“ 
Lied von der Glocke. 


Unſer Held verirrte fih auf dem Rückwege in 
der Dumnfelheit und dem Gewitter und kam erjt gegen 
ein Uhr Nachts bei dem Dorfe wieder an, wo er 
vor drei Wochen in Begleitung der Damen Nacht: 
guartier genommen hatte. Das Gerathenjte jchien, 
auch diesmal wieder anzuflopfen und bis zum nächiten 
Morgen fih und fein Pferd auszuruhen. Zu ejjen 
fonnte er freilich nichts befommen, jo hungrig er war, 
wie das überhaupt in amerikanischen Hotels außer 
den bejtimmten Stunden nicht möglich it, ging's 
auch um's Leben. 

Als er auf feinem Zimmer feinen triefenden Rod 
ablegte, kamen ihm feine Briefe unter die Hand, die 


135 


er; untervefjen über feinen Gedanken, welche, in der 
Tiefe aufgeregt, zwijchen zwei Farmhäuſern hin- und 
hergingen, ſchon gänzlich vergejjen hatte. Die Lec— 
türe, in: die er fich bald verfenkte, war ganz dazu 
angethan, ihn zur Entgeltung feine beiden Farmhäuſer 
vergejjen zu machen. 

Der erjte Brief, der vom — Juli, dem Tage 
ſeiner erſten Einkehr in eben dieſen Gaſthof datirt 
war, erhielt in kurzen Worten eine Aufforderung von 
Wilhelmi, doch auf den 14. zu einem Geſchäftsrendez— 
vous nach Niagaras Falls zu kommen. Dergleichen 
Rendezvous hatten verſchiedene Male an jenem Orte, 
als halbwegs zwiſchen Chicago und New-York in der 
befannten Angelegenheit jtattgefunden, und Antonio's 
Zeugniß war dabei wegen jeiner frühern Theilnahme 
am Gefchäft oft unentbehrlich gewejen. Auch blieb 
ihm für den günftigen‘ Ausgang noch immer ein 
Ihwacer Hoffnungsichimmer auf Rückerſtattung eines 
Theils von feinem urfprünglichen Kapitale. 

Der zweite Brief war von Niagara-Falls felbft 
vom 16. datirt. Er enthielt einen Gejchäftsbericht, 
der ganz erträglich ausjah, wenn man bedachte, daß 
der Ausbruch des italienischen Krieges fehr ftörend 
auf die europäiſchen ZTheilhaber, deren Wechjel für 
die verjchriebenen achtzigtaufend Dollars von Zeit zu 
Zeit fällig wurden, gewirkt hatte. Es ergab jich 
allerdings, daß eigentlih das Ganze von Wilhelmi 
gehalten wurde, der nicht nur für feinen großen An— 
theil fortwährend Auffchub gewähren, fondern auch 
noch Bröfingf und Genofjen für den andern Theil, 


136 


ja, zum Meberfluß für ihre europäifchen Verbindlich— 
feiten, unterjtügen mußte. Allein er führte aus feiner 
Kenntnig von Bröfingfs Affairen den Nachweis, daß 
für den endlichen Ausgang nichts zu befürchten fei. 
Uebrigens fände er fich doch genöthigt, noch wieder 
jelbft nach Chicago zu gehen. Er werde in fünf 
bis ſechs Tagen auf der Rüdfehr in Niagara - Falls 
wieder eintreffen, wo er mit Bejtimmtheit Antonio 
endlich zu finden erwartete, in der Abjicht, einige 
Tage dort mit ihm zu verbringen. Nachträglich er— 
hielt der Brief noch die Erzählung eines interefjanten 
Abenteners; wie nämlich ihre Gefellfchaft, New— 
Morfer und Chicagver zujammen, eine Dame vom 
Rande des brodelnden Waſſerkeſſels gerettet hätten. 
Die Beichreibung des Aufganges, wo fie immer ab- 
wechjelnd zu Zweien die Gerettete getragen, bewies, 
daß Freund Wilhelmi ebenfo wenig ungejtraft unter 
Palmen hatte wandeln fünnen, wie Antonio vor ein 
paar Stunden auf der Treppe; Furzum, die roman— 
tiiche Roee, ein paar Tage mit dem Freunde im Ge- 
nuffe niagarifcher Wunder zu ſchwärmen, zeigte die 
wahre Duelle ihrer Infpivation und Wunderfucht 
durch den Zufaß, daß fie diesmal im Clifton= Hotel 
logiren wollten, wo die Ausjicht fo viel ſchöner und, 
wie man ihn verſichert habe, vie Koſt fo viel beſſer 
ſei. Zufälligerweiſe wußte Antonio aus einmaligent 
Verſuche, daß letztere Angabe auf einer frommen 
Täuſchung feines mwunderbeflifienen Freundes beruhe. 
Er verſprach fich noch manchen Scherz von der Sache, 
da er durch ven zufälligen Befiß des ganzen Ges 


137 


heimniffes und aller damit zufammenhängenden Um— 
ſtände, ven Berliebten auf taufend Arten myſti— 
ficiren fonnte. f 

Aller Scherz aber verging ihm bei ver Eröffnung 
des dritten Briefes, welcher unter Wilhelmi's Um— 
Ichlag feines Vaters Couvert zeigte — mit ſchwarzem 
Rande. 
Seine Mutter war plöglihb am Herzichlag ge 
jtorben. | 

Es dauerte eine geraume Zeit, bis Antonio fich 
von diefer grauſamen Ueberraſchung jo weit erholt 
hatte, um den Brief weiter lefen zu fünnen. Er 
liebte jeine Mutter mit einer Bewunderung, die viel- 
leicht mehr als irgend etwas Anderes, fein Herz bis- 
her gegen den Zauber jungfräulichen Xiebreizes ge- 
jtählt hatte; jo jehr hatte er in ihr das Ideal der 
Weiblichkeit verehrt, jo weit blieben alle Andern hinter 
dem noch durch die frühe Trennung verflärten Bilde 
feiner Mutter zurüd. AL fein Thun und Treiben 
war mit der Hoffnung verwachlen, fich ihrer würdig 
und fie dadurch glüdlich zu machen. Bon dieſem 
Gedanken getrieben, hatte er vor wenigen Wochen 
eine gelehrte Arbeit vollendet, um damit als Mit- 
bewerber bei einer von einer deutſchen Akademie ge— 
jtellten ethnologiihen Preisaufgabe aufzutreten. Jetzt 
war fie nicht mehr. Es war Alles umfonft gethan. 
Schmerzliher Troft, daß fie mit einem Segen für 
den entfernten Sohn auf den Kippen geftorben! Der 
Borwurf diefer Entfernung blieb als ein Stachel in 
jeinem Herzen und zum erjtenmale fühlte er, was die 


138 


Verbannung eigentlih auf ſich hat. Derſelbe Vor— 
wurf blickte aus des Vaters Worten durch. Antonio 
fiel auf die Knie neben ſeinem Bette, verbarg das 
Geſicht in der Decke und weinte zum erſtenmale ſeit 
langen Jahren laute, bittere Thränen. 

Uebrigens ftellte ihm jein Bater die Rückkehr in 
die Firma frei — für den freigewohnten jungen Mann, 
deſſen Himmel und Erde durchwühlendem Geifte die 
materiellen Functionen der Gefellfchaft unter allen 
Umftänden nur Mittel für das Kulturleben waren, 
ein Kerfergedanfe, dem er von vorn herein das Gehör 
abſchnitt. 

Er ging die ganze Nacht ſeufzend und laut mit 
ſich ſelbſt redend, im Zimmer auf und ab. Beim 
Tagesgrauen übergab er dem Wirth ſein Fuhrwerk 
zur Rückbeſorgung nah N.-E. ..., und miethete ſich 
ein andres, um nach dem Eifenbahnterminus zu Con— 
cord zu fahren. Er hoffte, durch Eile Wilhelmi noch 
in NiagarasFalls anzutreffen, wollte dann nach Ehi- 
cago in Gefchäften, über Cincinnati zu. einem Ab— 
Ihiedsbejuche zurüd nach New-Nork, um ſich wegen 
jeiner Gelvangelegenheit mit dem jungen O'Shea zu 
verjtandigen, und dann auf einige Zeit nach Deutjch- 
land zu feinem Bater. 


139 


Elftes Kapitel, 


Allgemeiner Aufbruch. Der junge Dawfon ſucht ſich auf 
friſcher That eine Branf und findet einen Engel, 


„Das ift das 2008 des Schönen „Zraure nicht, traure nicht 
auf der Erde.“ Um Dein junges Leben: 

Thekla. Wenn ſich dieſer niederlegt, 
Wird ſich der erheben.“ 


Volkslied. 


Auguſtus Dawſon langte gegen Mittag bei Cart— 
wrights Farm an. Suſan empfing ihn als längſt 
erwarteten Gaſt und Familienmitglied mit noch mehr 
als ihrer gewöhnlichen Liebenswürdigkeit. Die Andern 
waren ſchon in der Frühe nah Mount-Waſhington 
aufgebrochen. Der Himmel hatte fih ausgeregnet, 
ver Tag war herrlich, die Berge blauten erfrifcht, man 
durfte eine folche Gelegenheit nicht verſäumen, „vie 
Herren follten doch ja nachfommen.‘ 

Nach der fürchterlichen Aufregung der blutigen 
Nacht und dem langen Kitt, der mit wenigen Unter— 
brechungen, ſeit geftern Mittag gedauert hatte, war 
Augustus phyſiſch fo abgefpannt, daß der eben voll- 
brachte Gräuel wie ein wüjter Traum in dämmernder 
Entfernung hinter ihm lag, als vehnten fich lange 
Wochen und lange Reifen vdazwifchen. Er ließ fich 
Suſan's Einladung, zu rajten, um fo lieber gefallen, 
als er damit die gefürchtete Begegnung des Auges 
von Mutter und Schweiter hinausſchieben konnte. 
Es wurde alſo beſchloſſen, den Nachmittag und Die 


140 


Nacht über auszuruhen. Das junge Mädchen, vie 
ihm, ihrer Gewohnheit nach, bei Tiſche aufwartete, 
gab die Chronik der luftigen, gemüthlichen und gefähr- 
lichen Abenteuer aus den legten Wochen mit föjtlicher 
Sriihe zum Beſten. Sobald fie nah Tiſche wieder 
frei war, machte fie die Honneurs der nächſten Um- 
gebung, wobei ſie ſelbſt erjt recht entvedte, wie un— 
glaublich jedes Plätschen in den wenigen Wochen, daß 
die Bejucher bier gewejen waren, an familienhijto- 
riſchem Intereſſe gewonnen hatte; an jeden Schritt 
fmüpfte fich eine Fleine Erinnerung, eine heitere oder 
gemüthliche Anecdote, worin fi die Gejtalten Miß 
Dawſons, Antonio's — Niemand nannte ihn mehr 
anders als bei jeinem Bornamen — Mit Barjons 
verflochten. Je zerjtreuter und jchwermüthiger ver 
Saft erichien, deſto eifriger Tag fie der Pflicht ob, 
ihr zu unterhalten, da er nun einmal ihrer Einladung, 
fich nieverzirlegen und auszuruhn, nicht Folge leiten 
wollte. Er fürchtete fich nämlich vor der Einjamfeit 
und jo oft fie durch häusliche Pflichten abberufen 
wurde, mußte fie ihm immer das DBerfprechen geben, 
bald wieder zu fommen, was ihrer Kleinen Eitelfeit 
gar nicht fo übel that. Ihn jeinerfeits, ven feine 
noch jo interefjante Unterhaltung aus jeinem dumpfen 
Brüten hätte reißen können, fing bald die Lebendig— 
feit der Erzählung aus Suſans lieblichem Munde zu 
feffeln an, nicht ſowohl weil die Erzählung jo leben- 
dig, als weil der Mund fo lieblich war. Seine 
Sinnlichkeit, als der am jorgjamjten gepflegte und 
ausgebildete Theil jeines Wejens, brauchte nur in's 


141 


Intereſſe gezogen zu werben, um alle andern Kräfte 
und Affekte, jelbjt die Schreden der Erinnerung und 
die Scheu des böſen Gewiſſens, in den Hintergrund 
zu. drängen. | 

Suſan hatte auf den erſten Blick feine erfenn- 
bare Aehnlichfeit mit ihrer Altern Schweiter. Dieje 
war brünett, jene blond, dieſe ftille fprießend, jene 
voll lebendiger Springfraft, jene hoch und üppig, dieſe 
eher Klein und Einvlich friich. Dennoch waren Beide 
nur Zweige von demfelben Aſte. Es gab Augenblide, 
wo der Ton von Sufans Stimme, der Blid ihres 
Auges, eine eigenthümliche Bewegung der Hand, wenn 
fie erzählte, ihrem Zuhörer die gemordete Geliebte 
fo lebhaft vor die Sinne brachten, daß er davor er- 
ihraf. Noch hatte er feine Ahnung, daß es Die 
Schweſter feines Opfers fei, die ihm diefe Erinne- 
rungen wach rief, denn nie hatte Annie von ihrer 
Familie geſprochen — oder fprechen laſſen. Sie 
hielt das Heiligtum jenes Andenfens ängſtlich won 
dem profanen VBerhältniffe, dem fie verfallen war, ge— 
Ichieden. Uebrigens war ihrem Geliebten wenig daran 
gelegen, und jo mußte er nicht einmal ihres Vaters 
Namen. Annie’ Reize aber hatten ſtets eine jo un- 
widerjtehliche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt, daß 
er die Trennung von ihr nie hatte lange ertragen 
fönnen. est, wo die Ausficht auf ihre Umarmungen 
aus dem Hintergrunde feines Lebens weggezogen war, 
ſchwebte er gleihjam im Raum ohne Boden umd fein 
Daſein ſchwankte haltlos hin und her, wie eine Magnet- 
nadel, der man an ihre Buſſole geitoßen hat, oder, 


142 


um projaifcher zu vergleichen, wie ein Hund, der unter 
der Menge feinen verlorenen Herrn ſucht. Er follte 
jedoch nicht Lange ſuchen. Es war der alte magne— 
tifche Einfluß, nur mit verjüngter Kraft, den dieſes 
Landmädchen auf ihn ausübte; e8 war der eben ver- 
Iorne Pol Schon wieder gefunden. Die nervöſe Auf: 
regung, aus Gewiffensangft und phhnfifcher Weber: 
ſpannung, ſchlug, in diefe Richtung hinübergeleitet, in 
heller Xiebeslujt auf. Es fchadete der Stärke viejer 
Flamme nichts, im Gegentheil, es erhöhte nur noch 
ihre Intensität, daß fie vor der natürlichen Majejtät 
der Unſchuld in ihrem wejentlich finnlichen Charafter 
nicht offen vor fich ſelbſt hervorzutreten wagte. i 

Der Gajt ging früh zu Bette, nachdem er mit 
Sufan’s Eltern noch einige freundfchaftlihe Worte 
gewechjelt hatte. Es wurde ihm für die Nacht die 
Wahl zwilchen dem Zimmer Antonio’ und dem der 
beiden Damen freigeftellt. Er wählte das lettere, 
um dem Deutjchen, der mönlicherweife noch in ver 
Nacht wiederfommen fonnte, fo viel als möglich aus 
dem Wege zu gehn. Die Trage, wie Annie wieder 
zu der Geſellſchaft ihres frühern Beſchützers gekom— 
men und wie ſie ihm die Scene unter dem Waſſerfall 
dargeſtellt haben möchte, machte ihm lebhafte Unruhe. 
Das Wahrſcheinlichſte war, daß Wilhelmi, welchen 
Auguſtus unter den Rettern am Niagara wohl er— 
kannt hatte, obgleich Jener ſchwerlich ihn, den Ver— 
mittler gemacht, um das geängſtigte Geſchöpf dem 
einzigen geprüften Freund in der Welt, der ſich un— 
eigennützig ihrer angenommen hatte, zur Obhut zu 


— 


145 


übergeben. Sonſt ließ ſich wirklich ſchwer erflären, 
wie fie bei ihrer Flucht grade auf diefe Richtung 
hätte verfallen follen, deren Auffpürung übrigens dem 
vollendeten Polizeigenie des Franzoſen zu danken war. 
Jedenfalls wußte Antonio mehr, als dem Tchuldigen 
Gewiſſen des jungen Amerifaners bequem fein konnte. 

Unter diefen beunruhigenden Gedanken fehlief er 
ein. „sa, da liegt's, was in dem Schlaf für Träume 
fommen mögen!” Er juchte mit feinem Mordgefellen 
wieder den Dachboden ab; aber fo oft fie an das 
Schredenbleiche Weib in ihrem langen weißen Nacht- 
hemd famen, fing fie in dem fladfernden Lichte an, fich 
gejpenftig zu verfragen. Ahr Schlafzimmer öffnete 
fich im Hintergrunde und der alte Dawſon ftand mit 
dem Lichte in der Thür, hatte fich aber im nächiten 
Augenblide in Antonio verwandelt und im nächiten 
wieder in Annie, während die erjte Annie vor ihm 
zur Sufan wurde. Er wollte fie fülfen, aber wie er 
fich ihrem Gefichte näherte, Tief ihr das eine Auge 
blutig ans und fie [chrie: „Thu's nicht, Gufty! Gufth 
lieb!" Dabei ftanden feine Mutter und Schweiter 
neben ihm und wiejen mit geifterhaften Kopfnicken 
immer auf das Blut, das ihr zwilchen den zufammen- 
geſchrumpften Brüften herunterlief. Die ganze Geftalt 
Ichrumpfte zu einem Kinderbalg zuſammen. Sufan 
mit ihren Eltern aber ftanden darum her und weh- 
Flagten und ächzten. Unter diefem Klagen und Nechzen 
wachte er auf und — war er mwirfli wach over 
träumte er noh? — er glaubte e8 deutlich zur hören. 
Er machte fih Licht an. Es war zwölf Uhr, genau 


144 


die Stunde, wo e8 gefchehen war. Er war jetzt voll- 
fommen wach, aber das Klaggeſtöhn dauerte noch 
immer fort. Er ſchlich im Hemde die Treppe hinunter 
und laufchte. Zwiſchen dem lauten Kammer ver alten 
Magd, vem Schluchzen Sufans, dem wimmernden Ge- 
bet ver alten Mutter und den abgebrochenen Selbit- 
porwürfen des alten Farmers, fehrte immer und immer 
der fchredliche Ruf Annie! Annie! wieder. Legt fiel 
e8 ihm mit einem Mal wie Schuppen von den Augen; 
jett glaubte er fich zu erinnern, daß Annie's Namen 
Cartwright geweſen, jeßt wußte er, warum Sufan ihn 
jo lebhaft an feine Geliebte erinnerte und wie fie 
Antonio wieder gefunden hatte. Ihm trat der falte 
Schweiß auf die Stirne bet dem Gedanfen, daß fein 
Verhältniß zu ihr befannt fei — und der Mordver— 
juh am Niagara. Aber das war ja nicht möglich! 
Man hätte ihn nicht fo freundlich empfangen. Er floh 
die Treppe hinauf, zurüd in jein Zimmer. "Sobald 
der Deutfche wiederfam, mußte der Kampf mit ihm 
(osgehn. Ein plöglicher Gedanke! Er verfuchte die 
Klinke von Antonio's Zimmer. Es war unverſchloſſen 
gewejen, als er fich zu Bette legte und ihm die Wahl 
angeboten wurden, es zu nehmen. Es war noch un- 
verichloffen. Er öffnete horchend: fein Schlafesathmen, 
feine wachende Bewegung — es war noch leer. Cr 
ging zurück nach feiner blutfledigen Piltole in der 
NRodtafche. Schon bei dem zweiten Laden in dem 
Mordhauſe hatte er den abgefprungenen Kolben ver— 
mißt, aber er war fo verwirrt damals, daß er fich 
die Thatfache nicht einmal ganz klar machen, viel- 


145 


weniger den erjchreedfenden Gedanken faſſen konnte, 
noch einmal auf den Boden: zu fteigen, um hinter 
dem Leichnam ſuchen zu gehn. Fett erjchien ihm die 
Zurücdlaffung der abgebrochenen Elfenbeinjtüde mit 
jeinem beliebten Ausdrud als „Vorſehung.“ Er fchlich 
fih an Antonio's Bett, hob die Hand zwijchen 
Matrage und Strohſack hebend vor und ftedte das 
Mordwerkzeug in den offenen Schlitz des letzteren 
unter das Stroh. Darauf ebnete er die wenig ver- 
Ichobenen Tücher wieder, fehrte in fein Zimmer zurüd 
und Ichloß behutfam vie Thür hinter fich ab. Antonio 
fonnte unmöglich noch lange ausbleiben. Er war's, 
der Annie allein begleitet hatte; früher over fpäter 
mußte der Revolver, der zu dem an der blutigen 
Stätte zurücgebliebenen Kolben paßte, in feinem 
Bette’ gefunden werden. 

Als dem jungen Dawjon am nächjten Morgen 
die fchredliche Mittheilung gemacht wurde, zeigte er 
eine Zheilnahme, welche vie Alten dem vornehmen 
Herrn und Suſan dem Bruder Miß Dawjon’s, hoch 
anrechneten. Er kam nach ruhiger Meberlegung ver 
Umftände, jo weit die Landfutiche von gejtern Abend 
die Einzelnheiten richtig mitgebracht hatte, zu ver 
Belorgniß, daß der deutfche Gentleman auf irgend eine 
unglüdlihe Art und Weile in die Sache verflochten 
Icheine. Er bevauerte, daß er fo eilig Abſchied nehmen 
müſſe, wobei er Sufan in überfließender Sympathie 
einen mitleidigen Kuß auf die Kirfchenlippen vrüdte. 
Es war noch nicht acht Uhr, als er auf's Pferd ftieg, 
um der Reifegefellichaft nach dem Glenhoufe nachzu— 

I. 10 


146 


folgen. Erft nachdem er das Elmenthor und weiterhin 
die Brüde hinter ſich hatte und die offene Dorfftraße 
nach Norden vor ihm lag, ohne daß ihm Antonio 
begegnet war, jchöpfte er freien Athem. Gegen Mittag 
kam er in Glenhouſe an. Man fonnte die Damen, 
welche die Nacht über auf dem Berge zugebracht 
hatten, um die Sonne aufgehen zu jehen, fo eben 
mit dem Fernglas herunterjteigen jehen, Mrs. Dawjon 
und Miß Barfons auf Kleppern, Mary zu Fuß. Die 
ſchauderhafte Neuigkeit, die er ihnen bei ihrer Ankunft 
mitzutheilen hatte, nebjt feiner „Bejorgniß, daß der 
deutfche Gentleman auf irgend eine unglüdliche Art 
und Weife in die Sache verflochten fcheine”, waren 
hinlänglih, um ver Gefellichaft alle Luft an Ber- 
gnügungstouren und am Landleben überhaupt für den 
Reſt des Sommers zu benehmen. Miß Dawfon wurde 
einmal ungewöhnlich heftig gegen ihren Bruder über 
die Art, wie er fich über ven Gentleman ausprüdte, 
Miß Parſons verhöhnte förmlich den Gedanken, Mrs. 
Dawſon war darüber jo peinlich betroffen, daß jie 
meinte. Augujtus hielt e8 daher für das Gerathenfte, 
für den Augenblid den Gegenftand nicht weiter zu 
verfolgen. 

Es wurde befchloffen, unverzüglich nach New-York 
zurüczufehren. Als fie auf dem Wege bei ihrem 
Farmhauſe wieder woriprachen und Suſan ihnen an 
der Thür entgegentrat, war das Erfte, was Mrs. 
Damfon that, als ihr Auguftus vom Wagen geholfen 
hatte, daß fie dem armen Rinde laut fchlirchzend in 
die Arme ſtürzte. Der junge Dandh traute feinen 


147 


Augen über das Benehmen feiner fonft fo hochitol- 
zierenden Mutter nicht. ine ganz neue Idee ſchoß 
ihm darüber durch den Kopf. 

„Wo ift Antonio?” fragte Miß Damfon kurz. 

„Wo ift Antonio?" fragte in demfelben Augen- 
blide Miß Parſons eifrig. 

Sufan wurde ganz bleich und fagte: 

„Er ift nicht zurückgekommen.“ 

Sie bradten in Erfahrung, daß er nicht nur 
nicht zurüdgefommen, fondern Überhaupt verſchwunden 
jei. Das Fuhrwerf hatte er zurüdgefchidt. 

Keiner wagte, ein Wort darüber zu fagen. Eine 
fürdhterlihe Schwere lag auf allen Herzen. Auch die 
Alten erwähnten den Namen Antonio’ nit. In 
einer Stunde war Alles gepadt. Auguftus brannte 
jett vor Begier, in Antonio's Zimmer zu kommen, 
um eines gewiffen Gegenſtandes, ven er vafelbit 
beponirt hatte, wieder habhaft zu werden; aber es 
wollte fich auf feine Weife machen. Die Damen 
waren auf ihrem Zimmer. Er drückte einmal auf 
die Rlinfe, wie aus müßiger Laune, fie war ver- 
Ihloffen und fein Schlüffel da. Mary, die unbewußt 
und troß des eifrigjten Padens, alle Sinne auf die 
Thür gefpannt hielt, fuhr mit dem Blicke Hin, als fie 
das Klinfen hörte. Sie begegnete dem Blicke ihres 
Bruders, der gefangen nach ihr Hinftarrte, um nicht 
die Augen nieverichlagen zu müſſen. Verwundert jah 
fie ihn noch) einmal an und da wurde er roth. Bald 
machte ex fich verlegen davon. Nach einiger Zeit 
hörte Mary wieder die Klinfe der Außenthür von 

10* 


148 


Antonio’s Zimmer anfchlagen. So behutfant Teife 
der Ton war, nichts was von der Seite fam, fonnte 
ihr entgehen. Dort lagen drei Wochen begraben, die 
einzigen, wie es ihr jchien, die von allen früheren 
Lebensjahren ihrem Innern librig geblieben waren. 
Sie ging an die Flurthür, um nachzufehen. Ahr 
Bruder ſchlich ven RB hinunter „like a guilty 
thing.“ 

Beim Abſchied rt Vers. Damfon Sufan das 
Verſprechen ab, jte in New Nork zu befuchen. Man 
fonnte wohl fehen, daß es ernit gemeint war, denn 
fie fonnten fih gar nicht von einander losmachen. 
Ein neuer Wink für den BVBerliebten. 

Er erinnerte fih, daß fein Vater ihm nicht nur 
zu heirathen befohlen, ſondern ihm auch ein einfach 
erzogenes Mädchen angerathen hatte. Sujan war 
wie nach dem Mufter zugejchnitten. Aber er Fonnte 
jich immer noch, troß aller Beweife ihrer Zärtlichkeit 
für das Mädchen, nicht überreden, daß feine fafhionable 
Mutter ihm ven Gefhmad für eine Farmerstochter 
verzeihen wirde. Weber feinem wüſten Xeben und 
den Aengjten feiner Lage war ihm die große Verän— 
derung in dem Weſen feiner Mutter volljtändig un— 
bemerkt geblieben, wie er denn überhaupt nicht über- 
mäßig Icharffinnig war. Aber bei feinem erjten Ver— 
juche, jich in ihrer Seele über ven interefjanten Punkt 
zu orientiren, griff fie die Idee leidenschaftlich auf. 
In ihrem mütterlichen Egoismus Jah fie nur, welches 
Heil aus dem Einfluffe eines fo reinen, wahrhaftigen 
und bei alfer Einfachheit geiftig überlegenen Weſens, 


149 


wie Sufan, ihrem Sohne erwachjen müßte, ohne 
daß es ihr nur einen Augenblid in ven Sinn kam, 
iwie unheilvoll das Experiment für das Mädchen ab- 
laufen fönnte. Noch auf dem Eifenbahnwagen hatten 
ſich Mutter und Sohn ſchon darüber veritändigt, daß 
jene für. diefen um Sufan’s Hand anhalten folle, und 
zwar ohne Verzug, ſobald Mrs. Dawfon deshalb mit 
ihrem Manne Rückſprache genommen. Sie fürchtete, 
der Eindrud mochte vorübergehend jein und Auguftus 
wieder in fchlechte Gefellichaft gerathen. Dieſelbe 
Rückſicht hoffte fie, ob zwar nicht ohne Zittern und 
Zagen, bei dem Vater zur Geltung zu bringen. 
Auguftus hielt es nicht für nöthig, fie willen zu 
laffen, daß derſelbe ver eigentliche Erfinder ver 
Idee und ſchon im Voraus für die rechte Perſon 
gewonnen Jet. 

Wie freudig fand fich daher die Arglofe über- 
vafcht, als fie ihren Gatten mit unbedingter Bereit- 
willigfeitt auf den Plan eingehen jah. Er meinte, 
eine fajhionable Frau würde den jungen Herrn nur 
pon einer Art verderblicher Liebhabereien in eine andere 
jtürzen. Er fonnte die Wahl feines Sohnes nad 
Mrs. Dawſon's Befchreibung nicht genug loben. Das 
Einzige, was ihn die Sache etwas verleidete, war 
die rührende Dankbarkeit feiner Frau, die anfing, 
ihren Mann mit ganz anderen Augen anzufehen und 
fih ihres heimlichen Unrechts gegen ihn anzuflagen, 
wie vorher bei ihrer Tochter. Die gute Seele dachte, 
es jei derjelbe Fall und ſchrieb ſich allein alle Schuld 
zu. Aber ihre Zärtlichkeit genirte den falten Ver— 


150 


jtandesmenfchen, deſſen berechnende Klarheit felbft die 
Verführungen des Chrgeizes und der Habjucht, — 
die jtärfiten bei ihm — mit verfelben Sicherheit 
durchdrang und beherrichte, wie die jeder anderen 
Leidenſchaft. Er überzeugte fich Übrigens aus feinem 
Geſpräche mit Auguftus bald, daß diefer feine ftö- 
renden Geijterericheinungen aus feiner Vergangenheit 
bei dem vorhabenden Schritte mehr fürchte. Der Zu- 
jammenhang Tieß ſich aus mancherlei Daten ahnen. 
Herr Dawfon fragte darauf feinen Sohn ermunternd, 
ob er nicht ein paar taufend Dollars nöthig habe. 
Diefer forderte eine runde Summe, wovon Zehntaufend 
zur Bezahlung einer gewiſſen Note gingen. 

AS der junge Herr fand, daß beide Eltern den 
Gedanken an eine fo herablafjende Verbindung ganz 
natürlich aufnahmen, verlor er auch in feinen Augen 
den legten noch daran haftenden Beiſchmack des Un— 
natürlihen. An feinem fchalen, eingebilveten Kopfe 
leate er jich jedoch die Sache am liebjten fo zurecht, 
als ob er durch das Gefchenf feiner höchjteigenen 
Hand und feines ungeheuren — (d. h. zu erwartenden) 
— Bermögens gewiſſermaßen das Verbrechen an der 
älteren Schwefter bei der jüngeren wieder gut mache. 
Das Bewußtſein ſolcher großmüthigen Sühne jtimmte 
ihn zuweilen ganz heiter, jo oft ihm nämlich die 
Ichwebende Unruhe wegen möglicher Entdeckungen nicht 
düſter ſtimmte. 

Und was ſagte Suſan? 

Iſt es Ihnen, ſchöne Leſerin, jemals vorgekom— 
men, daß Ahnen ein franzöſiſcher Kaiſer, ein ameri— 


151 


fanifher Millionär oder fonft ein Glüdsritter die 
Hand angeboten hat? Und was haben Sie wohl auf 
ein folches Anerbieten, das fih nicht Leicht öfter als 
einmal im Leben präfentirt, für eine Antwort gegeben, 
wenn man fragen darf? 

Suſan fagte Ya. 

Unterwerfen wir die Sache einer ſyſtematiſchen 
Unterfuhung und theilen das Thema gewiljenhaft, 
wie es feine Wichtigfeit erfordert, in Eins, Zwei und 
Drei ein, fo laßt fich Folgendes für Suſan's Ya 
fagen: 

1. In Luther’s Bibelüberfegung fteht das Räth— 
jel: „Welcher unter ung möchte jeiner Länge Eine 
Elle zufegen?” Antwort: Jedes Frauenzimmerchen 
„möchte“ es, nämlich: eine Elle Spisen an ihren 
Unterrod. Das Faltum fteht feſt und leidet feine 
Ausnahme, alfo auch Suschen's nicht. Die Er— 
Härung für dieſe Erſcheinung in ver weiblichen 
Naturgefhichte ift einfach: die ſüßen Dinger wollen 
namlich die Augen von ihren eigenhörigen perjönlichen 
Reizen dadurch ablenken, daß fie immer eine Induſtrie— 
ausjtellung von koſtbaren Geweben und allerliebiten 
Bijouteriewaaren am Leibe jchleppen. 

Es gelingt freilich nicht. 

Re mehr man doch über das Weib nachdenft, 
defto mehr muß man fih in daſſelbe verlieben. 

2. Les femmes aiment les existences brillantes. 
Auch dieſe Regel leidet feine Ausnahme. Bhyron giebt 
die Erflärung; Maidens like moths are caught 
by glare! Aber Byron war notorifch Cyniker. Das 


152 


deutſche Sprühmwort faßt, wie immer, die Sache 
tiefer: „Gleich und Gleich gefellt fich gern. „Sweets 
to the sweet!* jagt die Königin in Hamlet. Brillanten 
zu Brillanten! 

3. Sufan fannte Auguftus’ Charakter und Ber: 
gangenheit nicht, wie die ſchöne Leſerin viejelben 
fennt. Er war ihr ein großer Herr, der Sohn von 
ihrer angebeteten Mrs. Dawſon, ein unter ihren 
Flügeln gebettet gewejener Gaft, und ein guter Menfch. 

Für diefen letten Charafterzug gab e8 folgende 
Beweiſe: erſtens, hatte er fait mit ihnen allen ge- 
weint, bei der Nachricht von einem Schredensfall, 
der ihn gar nicht betraf; »zweitens, konnte er alle 
Tage eine Brinzeifin heirathen und fuchte fich ein 
blutarmes Mädchen aus, die Schule hielt; drittens, 
hob er damit eine mit Unglüd und Schande gejchlagene 
Familie zu Ehren und Glanz empor; viertes, hatte 
er etwas jo Schwermüthiges — er war gewiß nicht 
glücklich. War es deshalb nicht nöthig, daß ihn 
Jemand aus voller Seele liebte? Fünftens: hatte 
in feinem Kuß etwas jo Gutes gelegen. Sechiteng, 
war er ein wahrhafter guter Menfch, fie wußte es 
gewiß. 

Der letzte Grund war entſcheidend. 

Zudem waren nun noch die Eltern über das 
Anerbieten vor Freuden wie vom Donner gerührt. 
Vor dem unerhörten Glück ihrer zweiten Tochter 
blaßte der Gram über das elende Leben und ſchauder— 
hafte Ende der erſten um ein Bedeutendes ab. 

Hätte Suſan zu jener Zeit irgend einen armen 


153 


Landburſchen oder Stadtfchullehrer oder deutſchen 
Künftler oder fonft irgend eine pauvre Seele in ihr 
fiebliches Herzchen gefchloffen gehabt, jo hätte fie fich 
den einmal Erwählten von allen Millionärs over 
Prinzen der Welt nicht aus dem eigenfinnigen ver: 
ſtockten Herzchen reißen laffen, und wäre der Prinz 
pon Wales felber an der Spike der ganzen englischen 
Slotte mit fo und ſo viel verbündeten Mächten ge— 
fommen, um ihr ihr tapferes Heines Sevaftopol zu 
bombardiren. Aber, wie die Sachen jtanden, fo hatte 
das arme umerfahrene Ding aus Mangel an Bildung 
gar fein Syſtem ’mal über die Theorie der Xiebe, 
wie jedes gebildete junge Mädchen in ver fechiten 
Klaſſe jeder höheren Töchterſchule in Deutfchland ihr 
eins hätte auseinanderjegen fünnen. Sie hatte fein 
anderes Bedenken über das dargebotene Glück, als 
daß fie ſich fträubte, ein jo großes und edelmüthiges 
Dpfer anzunehmen. Und als fie e8 zulest, von allen 
Seiten gedrängt — von ihrem eigenen Junderherzchen 
nicht am wenigsten — dennoch annehmen mußte, jo 
nahm fie jich, in Thränen der Dankbarkeit, Rührung 
und Glückſeligkeit gebadet, vor, fie wollte ihren Ver— 
lobten, ven fie für den allergrößten und erhabeniten 
Helden des Jahrhunderts anſah, aber auch jo unge- 
heuer lieben, wie e8 einer jo armfeligen Farmers— 
tochter, wie jtie, nır immer möglich wäre. 

Die Drdres von Nem-Norf lauteten auf Hochzeit 
am 21. November. Dieje Ordres wurden jelbjtver- 
ttändlih im Farmhauſe feiner weiteren Discuffion 
unterworfen. 


154 


Sobald die Sache ruchbar wurde, ftieg dadurch 
die Familie Kartwright jäh in die große Dorfariftofratie 
empor. Die Bejuche wollten fein Ende nehmen und 
die Vorbereitungen zu dem bevorjtehenden „wedding 
in high life“, oder Hochzeit in der großen Welt, 
nahmen alle Kräfte des Farmhauſes, wie des täglich 
fih ausbreitenden Freundes- und Verwandtenkreiſes, 
monatelang, Tag und Nacht in Anfpruch. 


Zwölftes Kapitel. 


Der Held bereitet ſich zu einer Meife über's Meer vor, 
wird aber von Der Polizei daran verhindert. 
„Bon hier in's ew’ge Ruhebett, 
Und weiter feinen Schritt!” — 
Gretchen. 


Antonio fand ſeinen Freund weder in Niagara— 
Falls noch in Chicago mehr vor. Er nahm im Fluge 
verſchiedene weſtliche Städte mit, wo er vor ſeiner 
beabſichtigten Reiſe nach Europa alte Verhältniſſe 
abzuwickeln oder Verabredungen für die Zukunft zu 
treffen hatte. Anfangs Auguſt war er wieder in 
New-York. Wilhelmi nahm ihn am Nachmittage nach 
feiner Ankunft mit fich auf feine Landwohnung jenfeits 
des Fluffes, wo man zwifchen deutſchem Dorf nnd 
amerifanifchem Urwald mitten inne wohnt, als ob es 


155 


fein New-York in der Welt gäbe. Auf einer Dorf- 
jtraße von niedrigen weißen Gartenftadeten und Fleinen 
Holzhänfern eingefaßt, mit der langen Durchficht auf 
Weide, Waldftreden und zerftreute Hütten, gelangten 
die Freunde plößlih an einen fteinernen Gartenwall 
an der Strafe. Das eiferne Gitterthor öffnete vie 
Ausfiht auf einen gewundenen Fahrweg zwiſchen 
Bosquets, deren Ränder mit hohen blühenden Roſen— 
jtöden bejegt waren. Diejer führte nach wenigen 
Schritten auf den breiten Mittelgang der halbwegs 
von einem Rondeau unterbrochen, zwiſchen Blumen— 
büſchen und üppig, an leichten Drathgejtellen herauf- 
gewucherten Schlingpflanzen » Gehängen, die dunflen 
Umriffe des Landhauſes hervorfcheinen ließ. Es war 
ein folives zweiſtöckiges Gebäude von bläulichen 
Granitguadern aufgeführt. Die einfache Architektur 
und die dunkle Steinfarbe waren, ftatt aller Schnörfel, 
durch ſchwere Feitons von wilden Wein angefrifcht, 
die von der hohen Piazza in der ganzen Breite des 
Hauptgebäudes herunterhingen. Der doppelte Nach- 
mittagsfchatten auf der Oftjeite des Hanfes unter 
dem laubbehangenen Säulendach wurde noch zauber— 
haft vertieft durch die Ausficht in eine weite Halle 
und den dahinterliegenden Saal, aus deſſen dunklen 
Räumen Spiegelglas und gewaltige goldene Bilder- 
rahmen, wie ver Wivderfchein eines ftillen Gewäffers 
unter dickem Waldesfchatten, hervorblidten. So plötlich 
aus dem heißen, ftaubigen Tagesgewühl der Stadt 
glaubte man fich in ein verzaubertes Schloß verjekt. 
Auch ftörte es die Täuſchung nicht, daß bier eine 


156 


Dame, dort ein Herr auf einen Rohrſtuhl zurüdges 
lehnt, träumerifch in ven heißen Nachmittag da draußen 
hineinfah, oder tief hinten ein junges Mädchen im 
lichten Sommergewande, nirenhaft an den Spiegeln 
porüberglitt. Doch follte es gleich lebendig werden. 
Herr Bledler, der Hausherr, jovial und voller Xeben, 
zwei junge Damen, feine Töchter, nad) einiger Zeit 
auch die Dame vom Haufe aus den oberen Gemächern 
herab, dann wieder ein Herr und wieder eine Dame, 
und wieder und wieder, und Knaben und fleine Mädchen, 
Eines nach dem Anderen fam herbei, Wilhelmi’s Freund 
als den ihren zu empfangen und wieder zur verfchwinden 
und wieder zu fommen. Das Haus fchien eine ganze 
Bocaccioihe Gejelichaft in jeinen weiten hohen Räum— 
lichfeiten zu bergen, obgleich ſonſt nichts Bocaccioſches 
dabei war. Alles war vielmehr gut heimathlich Deutſch 
bis auf den Namen der Billa: Falkenſtein, herab. 
Maitranf und Cigarren jtanden im Saale auf dem 
Tiſche zur beliebigen Erfrifhung. Man ſprach von 
Diefem und Ienem ohne Prätenfion und ohne Gene, 
gerade wie zu Haufe im lieben Vaterlande. Es war 
ein eigenes Heimathsgefühl, daß ven ſchon fo tief 
in’s Amerifanifhe vermwidelten Antonio bei dieſem 
plöglichen Auftauchen in deutiche Luft überfam, längjt 
begraben geglaubte Gefühle erwachten in aller Stärfe, 
Sehnfucht und Heimweh und eine drängende Ungedulp, 
feinen Tag mehr zu weilen, fehon morgen an Bord 
und über’s Meer zu gehen. Und doch wieder Fam 
nach der Unruhe der legten Tage und der jengenden 
Hite des heutigen ein föltlihes Gefühl ver Ruhe 


157 


über unjeren Freund. Er freute fih auf ven ftillen 
Abend umd den frifchen Morgen, den er hier zubringen 
follte; er fühlte fich aller Unruhe des Lebens, allen 
Bedrängniſſen des Herzens, allen beflemmenden Erinne- 
rungen ver legten Vergangenheit wie auf ewig entrüdt. 
Auf Glück ohne Ruh ward es ihm endlich einmal 
vergönnt, ver Ruhe Glück zu genießen. 

Gegen. Sonnenuntergang führte ihn der Freund 
auf die andre, lichte Seite des Hauſes. Hier eröff- 
nete ſich im Contraft mit der engen fchattigen Garten- 
jtile der öjtlihen Front eine überrafchende Aussicht 
auf eine weite grüne Ebene, von einem jilbernen 
Stromband in unabjehbare Ferne durchzogen und um 
Hintergrunde von bläulichen Höhen umfränzt. Eine 
waldige Senkung von der Gartengrenze des Haufes 
herab mit einer breiten gradlinigen Durchſicht in der 
Mitte, vertieften die Entfernung und näherten die 
Idylle; denn auf einer Waldwieſe weidete hier eine 
Heerde und trieben Füllen ihr wildes Spiel. 

Alles dies unter einem farbenprächtigen Sonnen- 
untergang, für deſſen Berherrlihung grade Wolfen 
genug über dreißig Grad der Himmelsfugel in un— 
merfliher Bewegung auflagerten. 

Nachdem fich die beiden Freunde an der Ausficht 
und dem Farbenfpiel mit Fünftlerifhem Auge ſatt ge— 
weidet, ließen fie die Gefellichaft auf dem Balkon 
zurüd, um fich in der Einſamkeit eines erhöhten Pa— 
villons am äußerſten Ende des Gartens, den Wilhelmt 
mit befriedigtem Lächeln als Wilhelmshöhe vorjtellte, 
ohne Zeugen zu befprechen. 


158 


„So empfindlich mir die freundfchaftliche Wahr- 
heit von dem Eleinen Teufelskerl zuerjt war,” fuhr An— 
tonio im Geſpräch fort, „fo bin ich jegt doch voll- 
jtändig mit mir darüber im Reinen, daß es die Wahr- 
heit ift. Es fommt überhaupt bei diefen VBorlefungen 
nichts heraus, jelbit wenn fie pecuniär nicht jo un— 
jiher wären. Das Publiftum will jeven Tag eine 
neue Ueberraſchung. Die fann ihm gewiffenhaft nur 
Einer geben, der ebenfo von Weberrafchungen Lebt, 
wie es jelber. Unſer Eins wirft fich dabei weg.“ 

„Alſo mit Vorleſungen ift es nichts, mit Ges 
Ihäften auch nichts.“ 

„Das weiß Gott, Wilhelmi, nicht für mich.“ 

„Für die Politik find Sie ebenfalls nicht ge— 
macht.“ 

„Wenigſtens kann ich die einem Andern über- 
laſſen.“ 

„Es iſt überhaupt das elendeſte Brod.“ 

„Gut, was weiter? Lecturer muß ich nicht ſein, 
Geſchäftsmann kann ich nicht ſein, Politiker ſoll ich 
nicht ſein; Rentier bin ich geweſen. Es kommt mir 
überhaupt vor, als wenn ich zu Nichts gut wäre in 
der Welt. Ich fürchte, die moderne deutſche Dicht— 
kunſt, welche das Volk bei ſeiner Arbeit aufſucht, 
würde ein unwürdiges Subjekt an mir finden.“ 

„Deſto ſchlimmer für die moderne deutſche Dicht— 
kunſt. Iſt Ihnen denn niemals eingefallen, wozu 
Temperament und Genie Sie von Kindesbeinen an 
beſtimmt hatten?“ 

„Zum philoſophiſchen Bummler oder zum bum— 


159 


melnden Bhilojophen. Am Alterthum hätte ich gewiß 
als Peripatetifer eine Rolle gefpielt, denn Flaniren 
ift mein innerlichjter Beruf, Am Miorgenlande erit 
gar wäre ich mit einer Schaar barfüßener Verehrer 
hinter mir ber durch's Land gezogen, hätte mich mit 
den Autoritäten überworfen, aber dafür den Geift 
fommender Rahrtaufende beherricht.“ 

„Sie brauchen Ihre Bavardage nur in ernite 
Sprache zu Üüberfegen,‘ fiel Wilhelmi eifrig ein, „und 
Sie werden fich weder zu beipötteln, noch zu beklagen 
haben. Es iſt der Geift, der die treibende Kraft in 
der Geſchichte, aber er wirft nicht plöglich, ſondern 
nur zellenbildend. Die Zellen find wir Gefchäfts- 
leute, der Geiſt ſeid Ahr Gelehrte, Philofophen, 
Poeten, Propheten. Die Gegenwart gehört uns, die 
Zufunft gehört Euch. Bleibt Ahr Euch jelbft treu, 
jo werdet Ahr nicht mit der Gegenwart zufrieden 
fein, nicht den Mächten, die die Gegenwart regieren, 
Weihrauch jtreuen; ſondern das Leben, das Ideal, 
obgleich es nicht außer der Welt ift, ift ewig über der 
Gegenwart, und —“ 

Antonio war anfangs fehr geneigt geweſen, einen 
Wit Hineinzumwerfen, aber der heilige Ernſt, mit dem 
der junge Kaufmann die Baffionsgefchichte des Geijtes 
in der Welt erzählte, jtimmte ihn zur Rührung um, 
und er jagte mit finfendem Haupte: 

‚fo leiden. Ein Fremdling, ein Wandrer auf 
der Erde und leiden!” Der Ton feiner Stimme war 
über die Maßen fchmerzlich, denn e8 waren Feine all- 
gemeinen Reflexionen, in denen er fich erging. Im 


160 


tiefiten, ihm: ſelbſt noch unerfchloffenen Hintergrunde 
jeines Herzens hatte die Hoffnung unfäglichen Glückes 
gevämmert. Lett verlöfchte plöglich alles dadrunten 
und es war tiefe Nacht. 

Schweigend jtiegen die Freunde von dem Pa— 
villon herab und gingen langjam neben einander hin. 

„Mein Entſchluß ift gefaßt,‘ rief Antonio, ener- 
giſch ſich aufraffend. „Ich finde mich morgen mit 
O'Shea ab und mache mit meinem Gelde eine ethno- 
logifche Reife auf den Spuren der Schlagintweit in’g 
Innere von Aſien!“ 

„Bravo!“ rief Wilhelmi, „das war genau, was 
ich Ihnen vorſchlagen wollte.“ 

„Gott ſei Dank, ich habe meinen Beruf gefun— 
den. Endlich habe ich dieſe enge elende Krämer— 
ſeelenwelt völlig hinter mir, endlich bin ich frei.“ 

„Das bitt' ich mir aus,“ ſcherzte Wilhelmi, „zu 
ſchimpfen brauchen Sie deshalb auf die Zellen nicht.“ 

„Lieber Wilhelmi, Sie machen eine Ausnahme, 
aber dieſe Kaufmannswelt, und beſonders dieſe deut— 
ſchen Kaufleute! —“ 

„Nun, wir helfen denn doch auch ganz anſtändig 
an der Zellenbildung mit. Das Verhältniß bleibt 
immer gegenſeitig, mein ſtolzer Herr; wir ſchaffen 
Kulturmittel, indem wir erliſten, erraffen, ſpenden, 
verwenden, wir realifiren den Weltgedanken, den Ihr 
entwarft.“ 

„Beſonders Eure jungen Handelsbarone mit ihren 
noblen Paſſionen.“ 

„Freund, dieſe jungen Barone haben Sparbanken, 


161 


Berfiherungsanftalten, Hospitäler, Schulen, inter- 
nationale Kunftinftitute gegründet, haben —“ 

„Das beißt, fie haben fie mit ven Haaren dazu 
herbeigezogen —“ 

„— Haben Parteien aufbauen und ftürzen helfen, 
ihre Minen von Land zu Land und von Meer zu 
Meer gelegt, von New-Norf nad Sanct Francisco, 
von Sanct Francisco nach Shanghai, von —“ 

„Das geht mir viel zu langjam, ich bin ſchon 
längit über Kiachta und Moskau in Yondon und New- 
Morf wieder angefommen —“ 

„— Haben die alten Feſſeln der VBölferbarbarei 
und die Riegel des Naturgeheimniffes geiprengt als 

Heerführer des triumphirenden Geiftes —“ 
| „Bitte, das geht zur weit — als Troft will ich 
e3 gelten laffen.“ 

„Machen wir einen Kompromiß und jagen als 
Generalguartiermeifter; denn zuletzt müffen wir doch 
die Berpflegung für Alle beforgen.“ 

„Die Verpflegung tft auch darnach.“ 

„Nehmen Sie das auf die Reiſe und räfonniren 
Sie nit." Mit diefen Worten händigte ihm ver 
Freund einen .bejchriebenen Zettel ein, ven Antonio 
mit Schwierigkeit in der zunehmenden Dämmerung 
entzifferte. 

„Ein Chef für mich!” rief er höchlich erftaunt, 
„auf zehntaufend Dollars? Hat der Fleine O'Shea 
jo in fo furzer Zeit mit meinem Pfunde gewuchert?“ 

„Rein,“ erwiverte Wilhelmi. „Diesmal blos 
von einigen New-Yorker deutſchen Hanvelsbaronen, 

II. 11 


162 


welche die noble Pafjion haben, an ver Ehre ihrer 
wiſſenſchaftlichen Expedition theilzunehmen, damit es 
weder an vollitändiger Ausrüftung,, noch an einem 
vollitändigen gelehrten Stabe fehle.“ 

„Sit es möglich!" rief Antonio eleftrijirt. „Ver—— 
zeihe mir der Himmel meine Blasphemien gegen vie 
Barone — Solche Föniglichen Herzen giebt es auf dem 
Ervdenrunde nicht, wie die der New-HYorker deutſchen 
Kaufleute.“ 

„est verfallen Sie wieder ins Extrem. Die 
Wahrheit an der Sache ift, daß die jchäbigiten, 
Ihmusgigiten, verjinnlichiten, mit einem Worte fpieß- 
bürgerlich niederträchtigjten Dredjeelen in Amerika 
deutiche Kaufleute find; aber vie ſtrebſamſten, frei- 
jinnigjten, hochherzigiten ebenfalls. Der Yankee ijt 
mehr Schuft und der Deutſche mehr Schubiaf; ver 
Yankee ift mehr Gentleman und der Deutjche mehr 
Noble-Man. Der Yanfee mehr anjtändiger Mann, 
der Deutfhe mehr edler Menfh, wenn's darauf 
ankommt.“ 

„Schon recht!" ermwiderte Antonio ungeduldig. 
Sie waren unterdejfen am Gartenthor angekommen, 
das er öffnete. — „Schon reht! Machen Sie die 
Rechnung mit O'Shea für mich ab, ich ſchicke Ahnen 
Vollmacht und Papiere zu, empfehlen Sie mich mei- 
nen liebenswürdigen Wirthen bier, ich muß in meinen 
Safthof, morgen geht ver Steamer, ich bleibe feinen 
Augenblick.“ 

dit dieſen Worten trat er auf die Straße 
hinaus. 


163 


„Halt! einen Augenblick,“ heiſchte ihm ein hoch— 
gewwachfener ftarf gebauter Mann entgegen, der ihm 
den Weg vertrat. Ein Anderer, eben jo hochgewach- 
fen und ſtark gebaut, trat ihm zu gleicher Zeit an die 
Seite. 

„Sie find Herr Antonio Wohlfahrt?“ fragte der 
Erſte deutſch. | 

„Das ift mein Name. Was ſoll's?“ 

„Bir haben Ordre, Sie zu verhaften.“ 

Wilhelmi wollte fih ins Mittel legen, jede be— 
liebige Bürgſchaft ftellen. Herr Bledler, den ver 
Deutjche von den beiden verfappten Poliziſten Tehr 
wohl fannte, würde auf der Stelle vafjelbe thun. 
Die beiden Freunde trauten ihren Ohren faum, als 
ihnen bedeutet wurde, daß Bürgſchaft nicht zuläſſig 
fein werde, denn der Verdacht gehe auf Mord. Die 
Deteftives erklärten, fie hätten die Spur des Gefan- 
genen auf feinen Kreuz und Querzügen von Boſton 
nah Niagara-Falles, von da nah Chicago, und 
weiter von Stadt zu Stad lange genug bis endlich 
in diefen verborgenen Aufenthalt verfolgt, und wären 
froh, daß fie eben noch gerade zu rechter Zeit kom— 
men, vor feiner beabjichtigten morgenden Abfahrt per 
Steamer nah Europa. Der Deutiche hatte das ans 
gehört. 

Antonio lachte, nach dem erſten Aerger, mit völ— 
(iger Unbefangenheit über das tolle Mißverſtändniß 
und bat feinen Freund, unterdeffen den Plat fir den 
nächiten Steamer für ihn zu belegen, da fich natür- 
fih morgen früh alles aufflären müſſe. Allein bei 

11* 


164 


der Ankunft auf der Polizei, wohin Wilhelmi ihn be- 
gleitete, wurde ihm eröffnet, er müſſe morgen mit 
dem Frühzuge jogleih weiter nach New -Hampfhire 
vors Gericht, denn in jenem Staate jei das DVer- 
brechen begangen. So gefchah’s. 


Dreizehntes Kapitel. 
Der Rriminalproreß, Wede des Vertheidigers. 


DIREN 2. OT 

„Are you acquainted with the difference, 

That holds this present question in the court? 
Portia: I am informed throughly of te cause.“ 


Merehant of Venice. 


Es war Anfangs Dftober, als „der Fall zur 
Berhandlung fam. Eine jtarfe Bolizeiwache hatte ven 
Angeklagten auf dem Wege zum Gerichtsfaale gegen 
die Bolfswuth zu ſchützen. Die allgemeine Stimme 
bezeichnete den „‚fremden Abenteurer‘ als Tchuldig 
des feigen Mordes eines amerikaniſchen Landmädchens, 
die er erit verführt und nachher in die Einſamkeit 
gelockt hätte, um fie aus dem Wege zu räumen. Die 
Schönheit und Engelgüte des Opfers, die Viele im 
Elternhauſe gefannt, ihr präſumtiv primitiver Ge— 
müthszuſtand als amerifaniihe Farmerstochter, die 
Ihändlichen Nachjtellungen des ariitofratiihen Wüſt— 


165 


lings, expreß ausgefpieen von der ververbten Atmo— 
ſphäre europäiſchen Hoflebens, um die reine Luft 
amerifanifch demokratiſcher Sittlichfeit zu verpeften, 
die teufliiche Ueberlegtheit des Planes, die bejtialifche 
Graufamfeit der Ausführung, alles das hatte der 
ſtets heißhungrigen Phantafie der Zeitungsjchreiber 
anderthalb Monat lang die gewünfchte Nahrung ge- 
geben. So ward zulegt eine Schauergefchichte zu— 
jammengefchweißt, vor welcher felbit die ſchauderhafte 
Wirklichkeit der That in Nebel und Schatten zurüd- 
trat. Das Publikum hatte das Gericht mit ent- 
Iprechendem Appetit verfchlungen und fonnte die Zeit 
nicht mehr erwarten, wo man ihm fein Opfer aus— 
liefern würde, um es mitzuverfchlingen. 

Der erſte Belaftungszeuge war der Spieler 
Beauford. Er hatte die Hingefchievene vor zwei und 
einem halben Fahre in New-York gefannt. Sie war 
damals Frau feines Freundes Grenier, alias Comte 
Gaſton de Rouffillon. Kennt ven Angeklagten. Der- 
jelbe war von der Zeit feiner Landung in New-York 
bis zu feiner Weberfienlung nah dem Weften Habitue 
eines Spielhaufes Nr. — Broadway, welches jett 
nicht mehr exiſtirt. Sah ihn dort jeven Abend regel- 
mäßig. Hingeſchiedene lebte glücklich mit ihrem 
Manne, bis Angeklagter als Hausfreund eingeführt 
wurde. Darauf Zerwürfnig. Count wurde melan- 
holifh und verſchwand. Hingefchievene blieb zurück 
und wurde vom Angeklagten ausgehalten. Zraf ſpä— 
ter Beide, Angeklagten und feine Maitreife, in Chi- 
cajo wieder. Diefe beſchwor ihn (Beauford) fie ihrem 


166 

Mann zurüdzuführen, da Angeflagter fie graufam be- 
handle und ihr wiederholt mit Tod gedroht habe. 
Zeuge fühlte großes Mitleid, konnte aber nicht hel- 
fen, da der Count nichts wieder hatte von fich höran 
laffen. Count war jehr empfindlich im Punkt ver 
Ehre und hatte ein großes Herz. Er (Beauford) 
könnte ſich des Eindrucks nicht erwehren, daß jich der 
Count aus Gram über feiner Frau Untreue und die 
eigene Schande ums Leben gebracht. 

Darnah wurden die beiden Alten vom Berge 
vernommen. "Ihre Ausfagen jtimmten in allen Stüden 
überein, nur hatte die Frau, welcher ihr Mann als 
Intrepret diente, noch einen befonderen Zufag zu 
maden. Der Advocat des Angeklagten proteftirte 
gegen das Zeugniß von Leuten, die man ihrer Sinne 
nicht mächtig nennen dürfe, drang aber nicht durch. 
Die Alten hatten ven Angeklagten am erjten Juli in 
Gejellihaft gejehn. Das zweite Mal am Abend vor 
dem Morde. Frau hatte Beide in der Umarmung 
überrafoht, da fie auf der Treppe hinter ihr zurüd 
blieben. Dennnoh gab Hingefchievdene alle Zeichen 
tödtliher Angit von ſich. Bat beim Abſchied um 
Gnade. Angeflagter drohte fürchterlih. Dann folgte 
die Bejchreibung des Schredensschauplages am nächiten 
Morgen. 

Ferner der Wirth vom Stationshaufe. Kennt 
Angeklagten. Hat einmal bei ihm in Gefellfchaft ver 
Hingefchievdenen mit noch zwei ältlichen Damen logirt 
(war pofitiv, e8 fei die Hingefchievene gewejen) hatte 
das zweite Mal am 18. Juli mit der Hingejchievenen 


167 


bei ihm angehalten und nach dem Wege zum Farm— 
hauſe gefragt. Hörte den nächſten Nachmittag um 
drei Uhr bei Ankunft der Kutjche von dem Morde. 
Sürchtete, es möchte die Dame von gejtern fein und 
fuhr gleich hin. Identiſirte diefelbe aus ihrem in die 
Stirn gewachfenen Xodenhaar, einem Brillanten am 
Singer, der ihm aufgefsllen und ihren Kleidungs— 
jtüden. — Angeflagter fei um ein Uhr Nachts allein 
wieder zurücdgefommen. Er (der Wirth) habe nicht 
mehr fchlafen fönnen, nachdem er ihm aufgemacht; 
habe den Gajt die ganze Nacht über im gegenüber- 
jftehenden Zimmer Licht brennen ſehn. Angeflagter 
jei nicht zu Bette gefommen, ſondern bis zum Tages- 
grauen im Zimmer auf und abgegangen, unter lautem 
Seufzen und Selbſtgeſpräch. Zeuge habe fich ver: 
dächtiger Gedanfen nicht erwehren können und je mehr 
er über die fonderbare Expedition nach dem einjamen 
Farmhauſe und das Benehmen des allein zurückkeh— 
renden Fremden nachgedacht, deſto höher fei jein Ver— 
dacht gejtiegen. Endlich habe Angeflagter mit dem 
Früheſten ein eigenes zweiſpänniges Fuhrwerk gemtethet 
und jei damit nach Concord durchgefahren, jtatt nur 
bis zur Steamerftation, wo er hätte länger warten 
müſſen. Die beiven Reiter (von denen der Angeklagte 
geiprochen Hatte) wären überhaupt gar nicht im Par- 
(or gewefen, jondern hätten die ganze Zeit, während 
ihres halbitündigen Aufenthalts, theils im Barroom, 
theil8 im Eckzimmer beim Thee zugebracht. 

Das furchtbarite Zeugniß aber gegen den Ange- 
flagten war die Piſtole, welche die Polizei bei der 


168 


Durchſuchung unter feinen Sachen in der Taſche eines 
Nodes gefunden hatte. Dieſe Piltole mit ſechs 
Laufen war ohne Kolben. Auf der Stelle, wo der 
Mord gejchehen war, hatte man die zwei Stüde 
eines elfenbeinernen mit filbernen Arabesfen ausge- 
legten Kolbens gefunden, der genau darauf paßte. 
Die Stüde waren mit Blut bejprist. Die Kopf- 
wunden an dem Leichnam rührten nach dem Zeug: 
niffe der hinzugezogenen Chirurgen von zwei ver— 
ichiedenen Eindrücken her, wie fie eben ein folches 
Inftrument, beziehungsweife mit und ohne Kolben, 
hätte bervorbringen müſſen. 8 zeigten ſich zwei 
jtumpfe und drei ſcharfe Verlegungen der Art. 
Die eine davon muß den Zod herbeigeführt haben, 
wäre vderjelbe nicht etwa ſchon vorher durch eine 
Schußwunde verurſacht worden, die durch das linke 
Auge in's Gehirn ging. Außerdem waren noch 
zwei andere Kugelmwunden, die eine am Halle, die 
andre am Handgelenk, feine von beiden tödtlich. Die 
umbergefundenen fünf Kugeln paßten genau zum Ka— 
liber des Revolvers. 

Als Entlaftungszeugen traten der Kaufmann 
Wilhelmi, der Kleinhändler D’Shea, deſſen Mutter, 
die Cartwrights und Miß Parfons, emeritirte Xehrerin 
und Schriftitellerin, auf. 

Wilhelmi erklärte die Affaire im Spielhaufe gegen 
Beauford’s Angaben der Wahrheit gemäß als ein- 
malige und zufällige Betheiligung, nur wurde der 
Name des jungen Damfon dabei verjchwiegen. Die 
O'Shea's bezeugten das wahre Verhältniß zwijchen 





169 


dem Angeklagten und Madame Grenier, joweit fie e8 
fannten. Das Zeugniß machte offenbar einen günftigen 
Eindrud für den Gefangenen, nur fchloß der reine 
Urſprung des Verhältniſſes deſſen jpätere Entartung 
nicht aus. Der junge D’Shea bezeugte auch Grenier’s 
präjumtive Theilnahme an dem Attentat D’Doghertis. 
Miß Parjons, die treue Seele, war auf die erite 
Nachricht von der Noth ihres Freundes herbeigeeilt 
und lebte und mwebte in feinem andern Gedanken, als 
ihn vor Gott und der Welt rein hinzuftellen, wie er 
es jein mußte. Sie ſchrieb Briefe nach allen Rich- 
tungen, Aufſätze in alle Zeitungen und lief von Pontius 
zu Pilatus, um das Urtheil in ihrem Sinne einzunehmen. 
Aber theilg war ihre hingebende Blindheit für ihre 
Freunde zu wohl befannt, theils hatte fie fich in ihrem 
Kopfe das abenteuerlichite Bild des JZufammenhanges 
ohne Rückſicht auf Thatſachen oder Möglichkeiten zu— 
recht gelegt: ein Gewebe des enthufiaftiichen Vorur— 
theils, deſſen Schwächen fo Leicht zu durchſchauen 
waren, daß ihre Vertheidigung — denn fie plädirte, 
ſtatt Zeugniß abzulegen — um fo mehr die entgegen 
gejette Wirkung hervorbrachte, als fie noch eine Menge 
Leute, die bei der Verfolgung nichts thaten als ihre 
Pflicht, dabei als hämifche und böswillige Verfolger 
angriff. 

Noch war es dabei unglüdlich, daß Antonio ihr 
jtreng unterfagt hatte, ven Namen Miß Damwfons im 
Zufammenhange mit jeinem Proceß auch nur auszu— 
ſprechen. Miß Parſons fonnte daher nur bezeugen, 
daß bei jenem Bejuche vom eriten Juli fie felbjt und 


170 


der abmwejende Frank die Begleitung des Angeflagten 
gebildet hätten; nebjt einer andern Dame, deren Name 
nichts zur Sache thue, die aber nicht die Hingefchie- 
dene gewefen ſei. So wichtig diefer Punkt dem Ad— 
pocaten erjchien, jo hatte er fich doch von Antonio 
überzeugen lafjen, daß er nicht wichtig genug fei, um 
deshalb den Namen und die Berfon einer jungen Dame 
mit der Geſchichte eines doppelt jcheuflichen und mehr 
als ein Gefühl verlegenden Verbrechens vor die Deffent- 
lichkeit zu bringen. Aus demſelben Grunde hatte Wil- 
helmi bei feinem ZJeugniffe ven Namen Augujtus Daw— 
ſons auszulafien. 

Mrs. Cartwright wußte, daß ihre Tochter mit 
dem Franzoſen Grenier verheirathet gewejen. Sie jei 
deshalb mit der Familie zerfallen. Dann gab fie die 
Erzählung von Annies Rücdfehr in’s väterlihe Haus, 
wobei fie und Sufan, die zur Stütze neben ihr jtand, 
- jo von Schmerz überwältigt wurden, daß das Mitge- 
fühl das gauze Haus mit fortriß und während vie 
. Männer mit Mühe die Thränen zurüdhielten, die 
- Damen in lautes Schluchzen ausbrachen. Xeider 
mußten Beide zugeben, daß der Rath, die Wiederge- 
fundene nach dem einjfamen Farmhauſe herauszu— 
bringen, von dem Gefangenen ausgegangen jei. Noch 
wollte Sufan alles Gute, was fie jelbjt von Antonio 
wußte, oder von ihrem Bruder Franf über fein edles 
Benehmen gegen die Schweiter gehört hatte, über- 
fließenden Herzens anbringen, wurde aber bedeutet, 
das gehöre-nicht zur Sache. 

Der alte Cartwright bezeugte, daß er den Bären 


. 171 


hineingefchleppt, den der Angeklagte getödtet. Db die 
Pijtole ſchon an dem Bären zerbrochen ſei, fonnte er 
freilich nicht jagen, da er viefelbe weder vorher noch 
nachher gefehen hatte. (Letzteren Grund machte Ans 
tonio auch gegen jeinen eigenen Advocaten geltend. 
Seine Jagdgefährtin hatte die Piftole nach dem Bären- 
fampfe nicht wieder gefehen.) 

Die Unruhe des Angeklagten bei ven letten 
Zeugenvernehmungen, fiel, befonvders im Gegenfag zu 
feiner fonjt durchgängig unbewegten Haltung auf und 
bejtätigte ſehr allgemein die vorgefaßte Meinung von 
jeiner Schuld. Es war aber, weil das Zeugniß jo 
nahe an den Namen und die Perfon Mary Dawſons 
jtreifte, daß er jeden Augenblid erwartete, jie fünne 
nicht daran vorbeifommen. Allein Alle blieben ver 
Uebereinfunft treu und die Gefahr ging vorüber. 

Antonio jelbjt hatte bei feinem Verhör die That- 
jachen einfach angegeben. Auch Annie's Erzählung 
des Attentat3 vom Niagara wollte er mit Weglaffung 
von Augujtus’ Theilnahme daran berichten, mwurde 
damit aber nicht zugelaffen. Ueberdies fanden die 
vier Augen Hinter ven Jalouſien des Wirthshaufes 
als „ungehörig“ gerichtlichen Widerfpruch. 

Präliminarien und Zeugenverhöre dauerten zwei 
Tage. Der Gerichtsfaal war während der ganzen Zeit 
gedrängt vol. Die Symptome der VBolkserbitterung 
gegen den Gefangenen wuchjen, bejonders am erjten 
Tage, wiederholt der Gerichtspdisciplin über den Kopf. 
Allein das edle Gefiht und die durchaus vornehme 
Haltung des jungen Mannes verfehlten am Ende 


172 = 


ihren Eindrud nicht. Die Gebilveten, beſonders unter 
den Damen, konnten fich einer jtillen Bewunderung 
nicht erwehren. Bei einigen der legtern machte dieſes 
Gefühl ſogar jehr bald einem intereffanteren Plaß 
und Außerte jich in parfümirten Briefen und zärtlichen 
Geſchenken. | 

Am dritten Tage, wo es zu den Schlußver- 
handlungen fam, war das Gedränge zum Erftiden. 
Der Gefangene hatte fich gleich Anfangs einen deut- 
Ihen Freund aus dem Weſten zum Advokaten ver- 
Ichrieben. Wir geben dem Leſer den Bericht der 
Bertheidigungsreve aus dem „New - Hampfhire - De- 
mofrat.” Das Dofument ift charafteriftiich für die 
Manier des Advokaten und die Art, wie er in die 
Anſchauungsweiſe feiner amerifaniichen Zuhörerjchaft 
einzugehen wußte. 

Die PVertheidigung begann mit einer Skizze bon 
Antonio’S Leben, der hohen Stellung feines Vaters 
in der Hanvelswelt; feiner ausgezeichneten Erziehung. 
Er, der Advokat, fei fein Preuße. Er dürfe daher 
ohne Beforgniß vor falfcher Beurtheilung dem allge- 
meinen Urtheil beijtimmen, welches das preußifche 
Erz iehungsſyſtem als das bejte der Welt anerfenne. 
Diejes Spitem habe, nah dem Ausdruck eines be— 
rühmten englifchen Schriftitellers und Staatsmannes 
unferer Tage, eine Nation von Denfern großgezogen. 
Aber, was noch beffer ift, — fünne er hinzufügen, — 
eine Nation von Ehrenmännern. An feinem civilifirten 
Staate der Erde fei Corruption unter den Beamten 
der Regierung ein fo ausnahmsweiſer Fall; in Feiner 


173 


gebildeten Gejellihaft fei das Vorkommen von Ver— 
brechen etwas fo Unerhörtes, als unter der vornehmen 
Klaffe in Preußen. 

Er appellirte an die Erfahrung jedes gebildeten 
Amerikaners, ob er je einen gebildeten Preußen ge- 
fannt, der nicht ein vollfommener Gentleman gewefen. 
Nun haben fih in der Perſon feines Klienten alle 
Bortheile einer jo hohen geiftigen und gefellichaftlichen 
Bildung auf eminente Weife vereinigt. Und diefer 
junge vornehme Mann, im Schoße des Yurus auf- 
gewachfen, durch Geburt, Stellung und Connectionen 
zu den höchſten Auszeichnungen in feinem Baterlande 
berufen, habe alle Yodungen des Glücks, um derent- 
willen die meiften Menjchen ihr Gewiſſen in vie 
Schanze fchlügen, von fich gewiefen, um — fein Ge— 
willen zu retten. Die Süßigkeiten des heimathlichen 
Lebens, die Vortheile von Geburt und Stellung, die 
Genüſſe einer Gejellfchaft, welche einen Humboldt zu 
ihren Mitgliedern zähle, Alles dies habe fein Client 
aufgegeben — um des Gewiljens willen. Wo taufend 
Andere an feiner Stelle ſich's an einer fo üppig mit 
ven reichiten Gerichten und einladenpiten Xedereien 
bejegten Kebenstafel hätten wohl fein lafjen, da wandte 
jeines Clienten Gefhmad fih ab mit Ekel. Denn 
es fehlte diefen reichjten Gerichten, diejen einladenditen 
Leckereien eine Sauce, die allein fie dem Ehren- 
mann genießbar machen kann: „Die Sauce des guten 
Gewifiens!" (Eine Beifallsbewegung wogte durch 
den inneren Kreis, wo die Herren von der Bar umd 
ver Prefje jagen. „Die Sauce des guten Gewiſſens,“ 


174 


wurde von dem Tage an Haffich im jenem Eirfel). 
„Dertrieben aus dem Vaterlande,“ fuhr der Redner 
fort, „um des Gewiffens willen, habe der unwider— 
jtehlihe Zweck eines, troß der höchſten Bildung ein- 
fahen, unverborbenen Charakters, ihn nach dieſem 
Lande, als dem Afyl der vemofratifchen Freiheit ge- 
zogen. (Das Publitum war jet im Zuge und ein 
Theil der Gallerien lärmte Beifall. Der anvere, 
nätiviftiiche Theil, der von vorn herein eine determinirt 
feindliche Stellung eingenommen hatte, ziſchte. Der 
Richter drohte, bei Wiederholung die Gallerien 
räumen zu laffen.) Ueber fein Xeben, feit feiner An— 
funft auf diefem Boden feiner jugendlichen Sehnjucht, 
gebe es nur eine Stimme Seine gejellichaftliche 
Liebenswürdigkeit, feine ftrifte Gejchäftsehre, fein 
hober, fittlicher Charakter haben ihm Freunde erworben, 
wo er fi, in einem über die Maßen thätigen und 
gemeinnüsigen Xeben, auch nur hingewendet. Freunde 
in Nord und Süd, Dit und Weit! Freunde, nicht im 
gewöhnlichen mißbräucdhlichen Sinne dieſes Wortes, 
fondern wahre Freunde, enthuftaftifch glühende Ver— 
ehrer. Dann wurde das Zeugniß des Spielers durch— 
gegangen, eines Menjchen, der vom Betruge Profeſſion 
mache. Dagegen der Bericht eines unfchuldigen Land— 
mädchens, der Schweiter jelbft der unglüdlichen 
Hingefchiedenen, der man mit einem Berfahren, das 
er nicht näher bezeichnen wolle, gerade bei dem wich- 
tigjten Theile ihres Zeugniſſes das Wort abgefchnitten. 
Jedenfalls habe man fie nicht verhindern können, 
das zu bezeugen, daß ihr Bruder, wie Jedermann 


175 


jonjt, wie die ganze tiefgebeugte Familie, mit mehr 
als Berwandtenliebe (hier hört man Sufan laut 
Ihluchzen) an eben dem Manne hängen, ven fremde 
Unberufene ihnen als Mörder einer theuren Schweiter, 
einer zärtlich geliebten Zochter aufbringen wollten. 
Der Bertheidiger berichtete hierauf die Affaire im 
Spielhaufe nach der Verfion des Zeugen Wilhelmi. — 

Das edle Benehmen feines Clienten gegen die 
verlaffene Frau, die Liebe, ja Verehrung der einfachen 
Srländerin, des in der City troß feiner Jugend ſchon 
hochgeachteten jungen D’Shea wurden in's hellite 
Licht geſtellt. Das Zeugniß des lettern bezlichtige 
den Franzofen der Theilnahme an einen Mordatten- 
tat. Beauford und der Franzoſe feien aber alte 
Freunde und Spießgefellen; das Motiv des Spielers 
daher ſchon an fich verdächtig. Dazu Fomme aber, 
daß fein Zeugniß über das VBerhältnig zwifchen dem 
Angeklagten und der Hingefchiedenen im jchreienditen 
Widerſpruch mit den Angaben aller andern Zeugen, 
befonders der O'Sheas, ftehe. Bei Gewohnheiten, 
wie jene Anjchuldigungen ſie vorausfetten, hätten 
Spuren ähnlicher Unregelmäßigfeiten in der fittlichen 
Aufführung unausbleiblich hie und da zu Tage fommen 
müſſen. Seine folche leifefte Spur laſſe jich jedoch in 
einem Leben entvecden, das, als befonders rein und 
porwurfsfrei befannt und hochgeachtet, ſo Manchem, 
der fich jest als Nichter darüber aufitellte, — (der 
Hieb auf Sr. Ehren den Nichter wurde von ven 
Collegen ver Bar mit zifehelnder Heiterfeit goutirt), 
— ja, der den Beſten unter ihnen zum leuchtenden 


176 


Srempel dienen könnte. Sei es nun erwiejen, daß 
fein Client in feinem unerlaubten Verhältniffe zu ver 
Gemordeten gejtanden, jo falle jedes Motiv zu ver 
That für denjelben weg und man müſſe dem Mörder 
da nachjpüren, wo jich ein folches Verhältniß ver- 
muthen oder nachweilen laſſe. Er fordere den Staats— 
anmwalt nur auf, den Beweis eines verbrecherifchen 
Berhältnijfes zwiſchen dem Angeklagten und der Hin- 
gejchievdenen zu führen. Könne er venfelben führen, 
jo wolle er (ver Advokat), die Sache jeines Klienten 
verloren geben; bleibe dagegen der öffentliche Ankläger 
ven Beweis ſchuldig, jo falle die ganze Anklage zu- 
ſammen, wie ein Haus auf Sand gebaut. — 

Aber freilih, bier fümen noch ein tauber alter 
Mann und eine jtumme alte Frau, um ihr taub- 
jtummes Zeugniß dem lautredenden eines ganzen edlen 
Lebens entgegenzufegen und mit ihren hinfälligen Glie— 
dern dem Prachtbau ver Anklage als legter Stüßpfeiler 
zu dienen. Ein tanber alter Mann habe vie jchuldige 
Abjicht des Angeklagten aus einem Gejprüche zwifchen 
demjelben und dem unglüdlichen Opfer heraus— 
gelaufcht. Gegen ein Jolches Zeugniß laſſe ſich aller: 
dings nicht mehr auffommen, es gehe noch über ven 
Pyramus! Pyramus im Sommernadtstraum, ſei 
nach Guince, des Zimmermanns Angabe, doch nur 
hinausgegangen, um ein Geräuſch zu ſehen, das er 
gehört hatte, aber dieſer taube alte Mann gehe, wie 
gejagt, noch weit über den Pyramus: „Er fei aus 
der Hausthür heransgegangen, um ein Geſpräch zu 
jehen, das er nicht gehört habe; wenn anders die 


177 


gewöhnliche Annahme noch ihre Geltung habe, wo— 
nah Taube in dem Rufe ftänden, nicht hören zu 
können⸗ Seitdem herrfcht unter der New-Hampfhires 
Bar, vie Revensart: „es geht noch über den Pyra— 
mus.” Der alte Mann habe alfo das Geſpräch ges 
fehn. Und unter welchen Umftänden habe er das 
nichtgehörte Gefpräch gejehen? Zu eimer Stunde, 
wo von allen febendigen Weſen nur Eulen, Raten 
und Staatsanwälte in dem Rufe ftänden, einen Has 
bicht von einer Handſäge unterjcheiven zu können. 
In einer gewitterdunflen Naht habe ein jtumpf- 
finniger alter Mann, der Schon bei Tage kaum fehn, 
und bei Nacht ganz gewiß nicht hören Tonne, den 
Anhalt eines Geſprächs erblidt, — und das Re— 
jultat dieſer Gefichtserinnerungen aus der Dunfelheit 
beit einem alten Wann, ver, wie aus Miß Parfons 
Zeugniß hervorgehe, auch fein Gedächtniß mehr habe, 
gar feiner Flaren Erinnerungen fähig fei, werde hier 
als Zeugniß zugelalfen! Es jei das einzige directe 
Zeugniß, welches der Mordthat auch nur auf eine 
Entfernung von jehs Stunden nahe fomme! Und 
darauf wolle man einen Menſchen hängen! 

Daß Übrigens die Hingefchievene Zeichen der 
Angit von fich gegeben, daß fie ſich beim Anblid der 
für fie bejtimmten Mordftätte ahnungsvoll unter den 
Ihüßenden Arm ihres Begleiters geflüchtet; daß fie 
jeinen Clienten, wie derſelbe auch jelbjt erhärte, ange- 
fleht und beſchworen, fie in jener Nacht an dem ein- 
jamen Drte nicht allein zu laſſen, dafür gebe es mehr 
als hinlänglih Erklärung, nicht nur in den Schreden 

II. 12 


178 


der Gemitternacht, des einfamen Drtes und der Rage 
der Unglücfichen, fondern vor Allem in der vielfach 
beglaubigten Ihatfache, daß „kommende Cfeigniffe 
ihren Schatten vor fich her werfen.” (Das Thema 
der Ahnungen wurde hier mit Gründlichfeit abgehan- 
delt und einige fchlagende „über allen Zweifel authen- 
tiſche“ Beiſpiele citirt.) 

Es werde jedoch als beſonders verdächtig ange— 
ſehen, daß ſein Client ſelbſt dem unglücklichen Opfer 
jenes einſame Aſyl angerathen. Allein nach ſeinem 
(des Advokaten) Gefühl könne es kein ſchöneres Zeug— 
niß für die ſittliche, kein ſchlagenderes für die that— 
ſächliche Unſchuld des Angeklagten geben; das erſtere 
wegen des einem ſo jungen, mit allen perſönlichen 
Vorzügen ausgeſtatteten Manne bewieſenen Ver— 
trauens in einer ſo delicaten Angelegenheit. Alle 
Betheiligten wenden ſich einſtimmig und natürlich an 
ihn um Rath und Beiſtand. Doch nur, weil ſein 
Charakter über jedem Bedenken erhaben ſteht. Er 
aber, was thut er? Nach der Theorie der öffent— 
lichen Anklage hat er ſelbſt nur die Gelegenheit her— 
beigeführt, um ſein Opfer auf die Schlachtbank füh— 
ren zu können. Wie pfiffig; was man auch von dem 
Charakter ſeines Clienten zu denken ſich anmaßen 
wolle, das habe denſelben denn doch noch Niemand 
abſtreiten können, daß es der intelligenteſte „Böſe— 
wicht“ ſei, der noch jemals vor den Schranken eines 
amerikaniſchen Gerichtshofes geſtanden. (Zeichen der 
Mißbilligung von Seiten der Nativiſten wegen Zurück— 
ſetzung der amerikaniſchen Intelligenz.) Dieſer in— 


179 
telligente Böfewicht alfo, der fih fehon wochenlang 
mit dem Plane feines Attentats getragen hat, richtet 
die Sache fo ein, daß er fich mit feinem Opfer vor 
allen Dingen der Familie vorſtellt, ver Familie, welche 
ihn niemals gefannt und das Andenken der Unglüd- 
lichen Yängft begraben hatte! Das geniigte aber dem 
Ihlauen Verbrecher noh nit. Nachdem es ihm 
glücklich gelungen ift, die Aufmerffamfeit ver Familie 
auf feine Eriftenz zu lenken und ihre Sympathie für 
die wiedergefundene Tochter wieder aufzufrifchen, fagt 
er, jett paßt auf! Ich gehe mit ihr allein an einen 
entlegenen Ort, wo e8 feine competenten Zeugen giebt. 
Wenn hr alfo morgen etwa hört, daß fie ermordet 
iſt und ich plößlich verfchwunden bin, ftatt hierher 
zurück zu fommen, jo fchreibt’S nicht mir zu. Alles, 
was er (der Advokat) darüber fagen fünne, fei, daß 
er hoffe, der Gentleman, welcher hier von Seiten des 
Gemeinwejens die Verfolgung führe, möge niemals 
in die Lage kommen, fi an irgend einem geheimen 
Complott zu was für immer welchen Zweck zu be— 
theiligen, denn mit feinen Begriffen von Schlauheit 
fei er der Entvedung im Voraus gewiß. 

Die fpäte Zurückkunft des Gefangenen in der 
Nacht, feine Unruhe und fchlaflofe Klage während 
derjelben in feinem Zimmer, feine Eile, die Eijen- 
bahn zu erreichen, feine darauf folgenden Kreuz- und 
Duerzüge durchs Land, feine beabjichtigte Abreife mit 
dem nächiten disponiblen Steamer wurden nun der 
Reihe nah aus den wirklichen Vorgängen natürlich 
erklärt. 

12* 


180 


Endlih aber fomme er zu dem Punfte, auf wel- 
hen die Anklage das hauptfächlichfte Gewicht Lege, 
auf welchen fie, in Wahrheit, neben den beiden taub- 
jtummen, gedächtnißſchwachen alten Leuten, als auf 
die fihere Mutterjäule fich ſtütze. Dieſe Mutterjäule, 
dieje ſolide Grundlage, dieſe ungeheure, mächtige 

tüße, worauf das ganze Gebäude der Anklage ruhe 
als auf ihrem Felfen und womit fie felbjt ftehen und 
fallen zu wollen erflärt habe, was ſei fie?. ‚Eine 
zerbrochene Piſtole! Eine gebrechliche Stütze in der 
That. Mit ven beiden binfälligen, taubjtummen, 
gedächtnißſchwachen Leuten an jeder Seite ein wahres 
Meiſterſtück gerichtlicher Architeftonif. — Die Kugel 
pafje genau in den Lauf. Unerhört! Es fomme 
überhaupt in der Welt heut zu Tage, wo alles Fa— 
brifarbeit fei, gar nicht vor, daß in einer großen 
Gewehrfabrif mehr als ein Pijtolenlauf von demfelben 
Raliber gemacht werde! Aber der Griff, der Griff! 
der mit erfchredlicher Genauigkeit gerade auf das 
Schwanzſtück des in der Taſche des Angeflaaten 
grifflos gefundenen Revolvers einpafje! Der Griff! 
rufe die Anklage triumphirend einmal über das andere 
über den Fund. Ueberwältigender Beweis!. Nichts- 
dejtoweniger, überwältigend, wie die Thatfache jei — 
er gejtehe e8 zu — nichtsdejtoweniger wären neuer— 
dings Fälle vorgefommen, daß wie man in großen 
Gewehrfabrifen mehrere Käufe von demfelben Kaliber, 
jo auch mehrere Piſtolen nach demſelben Mujter, ja 
mehrere hunderte und taujende von Bijtolenfolben auf 
einmal gemacht habe, um jte nachher auf entiprechende 


181 


hunderte und taufende von Schwanzftüden einzu— 
paffen. Um ernfthaft zu reden, um bie erwähnte 
Thatſache als Beweis gelten zu laſſen, müſſe man 
offenbar annehmen, e8 gebe nur eine folhe Biftole 
in der Welt. Nun fpreche allerdings der Fabrikant, 
der die Pijtole gearbeitet, von einer dunflen Erinne- 
rung, daß er einmal eine folche Piſtole auf bejonvere 
Beitellung gemacht. Auf diefer dunklen Erinnerung 
alfo jei in Tegter Anftanz das ganze Syſtem der An— 
flage errichtet. Die Möglichkeit angenommen, daß 
eine dunkle Erinnerung eine trügerifche Erinnerung 
fei, was bliebe von der Anklage noch übrig? Die 
Möglichkeit angenommen, dieſer dunklen Erinnerung 
liege gar feine Thatſache zu Grunde, oder fie beziehe 
ich auf eine ganz andere Beftellung — die Möglich- 
keit angenommen, das betreffende Haus habe in ver 
gewöhnlichen und gebräuchlichen Weife wenigſtens 
ein Baar folder Piftolen entweder mit oder ohne 
Beitellung verfertigt — ja! und wenn in der Welt 
nichts als diefe Möglichkeit bliebe, fo bliebe die Mög— 
lichkeit, daß ein Anderer der TIhäter jei; ja, und wenn 
in der Welt nichts als dieſe bloße Möglichkeit, daß 
ein anderer der Thäter fei, für den Angeklagten 
Ipräche, fo käme dieſe Möglichkeit nach allen Regeln 
civilifirten Gerichtsverfahrens dem Angeklagten zu 
Gute, und fei, was die juridifche Confequenz beträfe, 
der völligen, abjoluten, unantaftbaren Unfchuldserflä- 
rung gleich zu achten. Vor dem Zeugniß jeines 
Lebens und Charakters, vor dem Richterſtuhle einer 
aufgeflärten Bolfsmeinung, vor der unantaftbaren 


182 


Regel des Geſetzes, der Angeklagte ift frei!” (Hier 
brachen die Zuhörer in jtürmifchen Beifallsruf aus. 
Der Richter begnügte jich mit einer ftrafenden Mah- 
nung zur Ruhe.) 

Die Art, wie der Griff von dem Revolver des 
Angeklagten wirklich abhanden gekommen, wurde kurz 
angeführt, ohne der Theilnahme der jungen Dame 
an dem Abenteuer zu erwähnen. 

Mit einem Worte, man könne die Schuld des 
Angeklagten nur aus einer unbewieſenen, faſt unmög— 
lichen und ganz willkührlichen Annahme ableiten, näm— 
lich, um es zu wiederholen, aus der Annahme, daß 
es nur eine ſolche Piſtole in der Welt gebe oder 
geben könne. Dieſe Annahme ſei zu ungeheuer ab— 
ſurd, um ſie einer intelligenten Jury nur auf einen 
Augenblick zuzumuthen. Es handle ſich übrigens bei 
dieſem Proceſſe nicht nur um die Freiſprechung eines 
unſchuldig Angeklagten, ſondern es werde hier zu 
gleicher Zeit ein anderer Fall verhandelt. Die ge— 
bildete Welt ſitze hier zu Gericht über die Inſtitutionen 
der Demokratie. Die Frage, welche zur Entſcheidung 
vorgelegt werde, ſei: ob die republikaniſche Freiheit 
für die Entwicklung der Intelligenz im Volke, und 
für die höchſte Verwirklichung der Gerechtigkeit in 
der Geſellſchaft günſtiger oder ungünſtiger ſei, als 
die Monarchie. Kurz, es handle ſich um den Be— 
weis, daß unter dem Schutze des graden Sinnes 
eines demokratiſch erzogenen Volkes das Leben und 
die Ehre des Bürgers eben ſo ſorglich bewacht und 
geſichert ſchlummere, als unter dem ſtarken Scepter 


183 


des Despotismus und der Aegis der gerichtlichen 
Gelehrfamfeit. | 

Die Rede, welche drei Stunden dauerte, machte 
einen Außerjt günjtigen. Eindrud. Die Bewunderung 
unter den Collegen war um fo größer, als man von 
dem Fremden, welcher zwar im Weiten als großer 
Adoofat, aber in diefer Gegend gar nicht befannt 
war, wenig erwartet hatte. Beſonders zwei bedeu— 
tende Bojtoner Aovofaten waren ganz hingerifjen 
und drängten ſich herzu, um zu gratuliven. Das 
war entjcheidend für die Maffe der Mebrigen. Nur 
einige determinirte Knownothings hielten finfter zurüc. 
Es iſt faum einem Zweifel unterworfen, daß wenn 
in dem Augenblide die Jury hätte ihr Urtheil ab- 
geben können, der Gefangene freigefprochen worden 
wäre. Aber der Staatsanwalt war fein verächtlicher 
Gegner, jo gemein berechnet auch, oder vielmehr, eben 
weil feine Mittel fo auf's Gemeine berechnet waren. 
Außerdem war er wüthend gemacht. Er war Einer 
von jenen Novofaten der Bar, deren Anfehn aus 
einer langen Praris in einem verhältnigmäßig ent- 
legenen Staate, unter lauter Mittelmäßigfeiten, zuletzt 
zu gößenhaften Verhältniffen anwächſt, ein wahrer 
Auggernaut, deſſen graufame Unerjättlichfeit fich, zu— 
gleich mit feinem furchtbaren Auf, von den Opfern 
jeinev Gläubigen nährte. Die Alfifen waren feine 
Dpferfeite. In Deutfchland gingen früher jolche 
menſchenfreſſeriſche Göten aus ven Gymnaſien hervor: 
alte fnorrige Schulautofraten, die in der, Nieder: 
werfung aufjtrebenden Schülerdünfels zu zermalmenden 


184 


Koloffen der Philologie anwuchfen. Ein folcher Koloß 
war der Staatsanwalt, ein gewaltiger, ftarfbeleibter, 
gallenfarbiger, brauenrunzelnder, bijjiger Bulldog. — 
Das Auftreten eines jo jungen und noch dazu im 
Auslande gebornen Advofaten gegen ihn, traf ihn als 
eine doppelt freche Beleidigung jeiner ergranten 
Würde und Furchtbarfeit, an ver fich felbjt die re= 
nommirteften Aovofaten amerifanifcher Geburt nicht 
zu vergreifen wagten. Der fremde Gelbichnabel 
wußte wahrfcheinlih nicht, wer er war. Er jollte 
ihn kennen lernen. 


Vierzehntes Kapitel. 
Rede des Stantsanwalts. 


3. Gent. „Most true; if ever truth were pregnant by circumstance; 
that, which you hear, you’]l swear you See, 
there is such unity in the provofs.* 

Winter's Tale, 


„Un coqg est bien fort sur son fumier.“ 
Franzöſiſches Sprüchwort. 


Der Staatsanwalt alſo ſchäumte innerlich vor 
Wuth, allein er war ſich ſeiner Ueberlegenheit in 
der Behandlung ſeines Publikums zu ſehr bewußt, 
um die Gewalt über ſich zu verlieren oder von vorn 
herein loszubrechen. Er eröffnete die Attaque viel— 


185 


mehr mit einem Komplimente gegen den jungen Men— 
Ihen, dom es troß feines ausländiſchen Accentes ge— 
ungen jei, fih vor emer amerifanifchen Bar ver 
Hauptjache nach verftänvlich zu machen. Wenn hier 
und da ein umverjtändlicher Ausdruck mit unterges 
laufen, jo werde e8 doch auf deutſchen Schulen nur 
wenig junge Leute geben, welche bei einem Schul- 
actus ein im Ganzen fo anerfennungswerthes Exer— 
citium jo verhältnigmäßig fehlerfrei herſagen könnten. 
Im Uebrigen aber fuche der DVertheidiger der Jury 
eine Idee von den deutſchen Schulen und der preu- 
ßiſchen Gejellichaft beizubringen, vie Alles, was er 
in der Beziehung noch gehört habe, an unverfchäm- 
ter Diüntfelhaftigfeit Hinter fi zurücklaſſe. Das 
preußiſche Erziehungsſyſtem ſei eine Bflanzichule des 
Despotismus, welche nichts hervorbringe, als fervile 
Beamte, unpraftiihe Träumer und infame Atheijten. 
Und was ein folcher ftinfender Pfuhl geiftiger Ver— 
Ichrobenheit und efelhaften Laſters als Abſchaum aus— 
werfe, das fomme hierher nach Amerika. Der Ange- 
flagte fei, wie alle jungen vornehmen Leute in Preu— 
Ben in der Praxis auferzogen, die Religion zu ver— 
ſpotten und der Unſchuld nachzuftellen. Man nenne 
das in der corrupten Gefellfehaft, wo er herfomme, 
Liebensmwürdigfeit. Cr (der Anfläger), wolle dem 
Angeklagten dieſen Charakter der Xiebenswürdigfeit 
durchaus nicht ftreitig machen. Der Vertheidiger habe 
den Punkt wirfli klar gemacht, wie er denn auch 
gar nicht fatt habe werden können, darüber zu reden. 
Ueber einen Punkt dagegen hat er fein Wort ge- 


186 


jagt, wahrjcheinlich weil er als Fremder nicht weiß, 
daß wir, hier in Amerika, gewohnt find, , überall zus 
erit und zulegt danach zu fragen, wenn wir wiljen 
wollen, mit wen wir e8 zu thun haben, fein Wort 
über jeines liebenswürdigen Clienten Religion! 
Wir hören, er babe jih in den erjten Kreifen ver 
Gejellihaft bewegt — aber man jagt ung nicht, in 
welche Kirche er gegangen it. „Herren von. der Jury,“ 
(wandte der Ankläger ſich hiebei feierlich an diefe) 
„wollen Sie e8 glauben? Wird e8 irgend Jemand 
in diejer chriftlichen Gemeinde, in diefem unferm neun- 
zehnten Jahrhunterte nach der Geburt unſeres Hei— 
landes, ſich im Geijte verwirklichen können? Der 
Angeklagte ijt über zwei und ein halbes Jahr in 
diefem Lande, und während dieſer zwei und einem 
halben Jahre hat fih jein Fuß nicht ein einziges 
Mal an einen Ort öffentlicher Gottesverehrung ver: 
irrt, e8 fei denn — nach feinem eigenen Ausdrud 
— aus Wißbegierde! Aus Wißbegierde! Die hei— 
ligiten Herzensangelegenheiten der Menjchheit find ihm 
nie etwas Anderes gewefen, als ein Gegenjtand Falter, 
philofophifher Analyfe. In zwei und einem halben 
Jahre, wo er täglich das Bedürfniß gefühlt hat, fich 
bei hübſchen Mädchen in den Ruf unwiderſtehlicher 
Liebenswürdigfeit zu fegen, in dieſen ganzen zwei 
und ein halb Jahren und mehr, ijt ihm nicht ein 
einziges Mal, nein! nicht ein Mal das Bedürfniß — 
was jage ich, der Gedanfe gefommen, vor jemen 
„Macher zu treten, als — aus Wißbegierde! Gent» 
lemen von der Jury, ein Menjch, der mit dem ana— 


187 


tomifhen Secirmeffer der Wißbegierde an feinen 
„Macher“ herantritt — Ahnen jchaudert bei dem Ge- 
danfen — ein folder Menjch wird fich jchwerlich 
Icheuen, mit feinem Mefjer an ein blos menfchliches 
Weſen heranzutreten; ein Menfch, ver den Schöpfer 
feiner. ſchnöden Begierde, verbärge fie jich auch unter 
dem Namen Wißbegierde, opfert, wie jollte er fich 
ſcheuen das Geſchöpf feinen Begierden zu opfern; 
feinen Begierden, feiner Luft, feiner Mordluft.‘ 
„Ja, mein geehrter College ift unerfchöpflich in 
jeinem Preiſe der hinreißenden Eigenſchaften jeines 
Clienten. Ach! nur zu hinreißend. unge Töch— 
ter Amerifa’s! hütet Euch vor dieſen hinreißen- 
den Eigenjchaften, flieht fie wie die Peſt viefe Frem— 
den, welche der transatlantifche Wind mit dem Miasma 
des deutſchen Atheismus hier herüberweht. Nehmt 
Euch ein Beifpiel an dem beflagenswerthen Opfer, 
das hier blutend vor Euch liegt. Pit eine von Euch 
Ihön? Sie war es. Iſt Eine von Euch gut und 
liebenswürdig? Sie war es. ft Eine von Euch 
unschuldig? Sie war es. Iſt Eme von Euch in 
religiöfen, echt amerifanifchen Grundfägen von reli- 
giöjen, rein amerifanifchen Eltern erzogen? Sie war 
e8. Und hier fommt ein von der pejtilenzialifchen 
Geſellſchaft Europa’s ausgefpiener Ariftofrat, ein 
freher Spötter dos Heiligen, ein geübter Ver— 
führer! — — 
Die Beſchreibung diefer Ichändlichen Verführung 
an einem primitiven amerifaniihen Mäpdchengemüthe 
rührte. die ganze Audienz zu Thränen. Wie nun aber 


188 


der fremde Wültling fein Dpfer als ausgequetichte 
Drange wegwarf, und feinem Bubenftüdf mit einem 
über alle Maßen graufamen und brutalen Morde die 
Krone auffegte, da brach der ganze Gerichtsjanl in 
ein unaufhaltfames shame! shame! aus — und ver 
Kichter Ließ den Saal — nicht räumen. Bon diefem 
Punfte ab war die Straße dem Anfläger eben. Es 
genüge, hier nur noch das Argument wegen der Pi- 
itofe herauszuziehen, um dem Leſer ven endlichen, 
völligen Umfchwung im Urtheil der Jury und des 
Publitums erflärlich zu machen. 

„Da der gelehrte Kollege durchaus zwei Pijtolen 
zur Bertheidigung feines Clienten nöthig hat," begann 
der Staatsanwalt dieſen Haupttheil feiner Rede, „Io 
will ich ihn diefes Vortheils nicht berauben. Alſo 
der Fabrifant macht zwei folcher Piltolen, die ſich voll— 
fommen gleich find und deren Kolben ohne Wahl auf: 
einander paſſen. Dieſe beiden Piftolen trennen fich. 
Die eine fällt in die Hand des Angeklagten, die andre 
fallt in die Hand irgend eines andern Menschen, an 
irgend einem beliebigen Ende von Amerika. Die beiden 
Befiger wilfen nichts von einander, aber vie beiden 
Piſtolen, welche jich jo graufam von einander getrennt 
ſehn, werden durch eine unmiderjtehliche Sympathie 
ihrer Biftolenfeelen zu einander hingezogen. So ftarf 
ijt diefe Sympathie, daß fie die Befiter zwingt, ihr 
wilfenlos zu folgen. Wo die Biftolen hinwollen, da 
müſſen die Befiger mit, fie mögen wollen oder nicht. 
Die eine dieſer merkwürdigen Piftolen alfo begiebt 
fih in ein einfames Farmhaus, um dort ihrem tödt— 





189 


lichen Geſchäfte nachzugehn. . In demfelben einfamen 
Farmhauſe, vor allen Drten in der Welt, ftellt fich 
fogleih auch die andre ein; in derſelben Nacht, vor 
allen andern Nächten, zu derjelben Stunde, vor allen 
andern Stunden im Kalender, augenfcheinlich zu feinem 
andern Zwede, al8 um der erjten in dieſem abge- 
legenjten und unmwahrjcheinlichiten Winfel der Erde 
ein verliebtes Rendezwous zu geben. Und das, nach- 
dem der Beſitzer das zerfchlagene unbrauchbare Werk 
zeug, wenn man feiner Angabe Glauben jchenfen fol, 
wochenlang ohne Griff in ver Taſche getragen, ohne 
nur einmal daran zu denken, e8 ausbejjern zu laſſen. 
Zwei Pijtolenjeelen, die jich nach einander jehnen und 
nad langem Irren wiederfinden. Die Idee iſt voll- 
fommen German! Der gelehrte College würde 
damit ohne Zweifel vor einem deutfchen Gerichtshofe, 
wo lauter gelehrte Leute fiten, wie er ſelbſt, Glüd 
machen. Leider. nur find amerikaniſche Jurys gewohnt, 
in. grob materieller Weile, wo fie materielle Wirfun- 
gen fehen, auch nach materiellen Urſachen zu fragen. 
Wenn ihnen Jemand Statt folcher materiellen Urfachen 
„Mondſchein“ giebt, jo willen fie eben, was es gejchlagen 
hat. Irgend ein von Sauerkraut und Lagerbier üppig 
gewordener Wit aus dem Weiten hat es dann darauf 
angelegt, fih an dem gefunden Menfchenverftande 
amerifaniicher Yeomen zu reiben und die ungeheure 
Ueberlegenheit der preußifchen Erziehung über die 
dummen amerikaniſchen Zeufel zu zeigen, die in der 
Sonntags und Volksſchule nichts gelernt haben, als 
grade zu denken, ehrlich zu Handeln und Gott zu 


190 


fürdten. Da unfere dummen amerifanifhen Bauern 
nun aber einmal weiter nichts haben, fo müſſen ſie 
ſich ſchon damit begnügen. Nach ihrer Art zu räſon— 
niren, kann das Zuſammenpaſſen des auf der Mord— 
ſtelle zurückgebliebenen blutigen Griffs mit dem blut— 
befleckten andern Ende des Revolvers in der Taſche 
des Angeklagten, nur auf eine Weiſe erklärt werden, 
nämlich dadurch, daß derſelbe, der das andre Ende 
in der Taſche hatte, den Griff da zurückließ, wo er 
gefunden worden iſt. Dies wäre ſchon an ſich der 
einfache Schluß für den unbefangenen, nichtdeutſchen 
Menſchenverſtand. Es kommt aber noch etwas Anderes 
hinzu, was dieſen Schluß zur abſoluten, unvermeid— 
lichen Gewißheit erhebt; nämlich die Unmöglichkeit 
für irgend einen andern Menſchen, als den Ange— 
klagten, den Aufenthalt der Gemordeten in jener 
Nacht zu wiſſen. Die Expedition in das einſame 
Farmhaus war ein Geheimniß zwiſchen den bei ſich 
zu Hauſe zurückgebliebenen drei Frauen, der unglück— 
lichen Gemordeten und dem Angeklagten. Die drei 
erſteren hatten jeden Grund, es keinem Menſchen mit— 
zutheilen, haben es ihren übereinſtimmenden Zeugniſſen 
zufolge feinem Menſchen mitgetheilt nnd hätten es 
mit der entſchiedenſten Abſicht keinem Menſchen mehr 
zeitig genug mittheilen können. Die beiden Anderen, 
die es wußten, gingen direct damit an die Mordſtätte 
und haben es, nach des Gefangenen eigenem Zeug— 
niſſe, Niemand mitgetheilt. Das Farmhaus ſteht 
allein, abſeits von aller Welt; nur ausnahmsweiſe 
kommt einmal Einer dorthin. Zu holen iſt dort nichts. 


191 


Wenn man ſich die Wohnung der Armuth aus der 
Phantaſie heraus vormalen wollte, ſo würde man 
grade auf ſolches Bild verfallen, wie die Hütte der 
beiden Alten es vorſtellt. Ein Räuber würde ſchwer— 
lich ſo weit von ſeinem Wege abgehn, um ein paar 
getrocknete Kräuter zu ſtehlen, und ſelbſt wenn man 
ſich ein ſolch' merkwürdiges Exemplar von einem 
Räuber vorſtellen könnte, ſo ſollte es ihm wohl ſchwer 
werden, den Weg dahin zu finden. Der Mord wurde 
alſo in keiner räuberiſchen Abſicht unternommen. Ver— 
ſchiedene Koſtbarkeiten wurden an der Perſon der 
Gemordeten ſelbſt, ſowie in ihrem Reiſeſack unver— 
ſehrt gefunden, zum Beiſpiel der Brillantring, den 
allein der hinzugezogene Sachverſtändige auf dreihun— 
dert Dollars ſchätzte. Wer den Mord auch voll— 
brachte, er hat ihn aus keinem andern Grunde voll— 
bracht, als um die Gemordete aus dem Wege zu 
ſchaffen. Wir kennen Einen, der nach dem beſtimmten 
Zeugniß eines vertrauten Freundes des ſchändlich ver— 
leumdeten, ſchon vorher geopferten Gemahls, das 
Motiv hatte, die ihm unbequem Gewordene aus dem 
Wege zu Schaffen; der aber auch die Abficht hatte, 
fie aus dem Wege zu fchaffen, wie er wiederholt ges 
droht. Derfelbe, der diefes Motiv und die Abficht 
hatte, war der Einzige, welcher wiffen fonnte, daß 
fein auserfehenes Opfer in jener Nacht an jenem 
Drte war; der Einzige, der fie im jener Nacht dort 
möglider Weile fuchen oder finden fonnte. In der 
Taſche diefes Einzigen, der den Mord in jener Nacht 
an jener bejtimmten Perfon möglicher Weife ausdenken, 


192 


verfuchen oder vollbringen fonnte, findet. ſich auch 
das blutige Eifen einer Pijtole, wozu der blutige 
Griff und die tödtlihen Kugeln an der: Stelle des 
Mordes und in den Wunden der Gemordeten ge- 
funden: werden. Eben dieſer einzig mögliche Mörder 
fommt mit jenem einzig möglichen Mordwerkzeuge 
um ein Uhr des Nachts in ein Hotel zurück, wo er 
ohne bejonvdere Abhaltung hätte um. jieben ‚oder acht 
Uhr jein müſſen. Durchnäßt von Regen und müde 
wie er iſt, jollte man denken, würde das Allererjte 
für ihn fein, zu Bette zu gehen und auszufchlafen. 
Keineswegs. Er erinnert ſich plötzlich, daß er drei 
Wochen alte Briefe in der Taſche trage — der Ge- 
fangene jcheint die Eigenthümlichfeit zu haben, nichts 
weniger als drei Wochen in der Tafche mit fich 
herumzutragen, bis er fich daran erinnert. Alſo: er 
muß durchaus diefe verjchimmelten Briefe, gleichſam 
auf frifeher That in diefer befondern Nacht, wo jeder 
andre an jeiner Stelle zuerſt und vor allen Dingen 
Ihlafen gegangen wäre, noch aufmachen. Er entdedt 
auch wie gerufen, eine Todesnachricht und eine Ein- 
ladung zum Rendezvous nach Niagara-Falls, die ihm 
den erwünfchten Grund geben, die Nacht über auf- 
zubleiben und zu Achzen, den nächiten Morgen aber 
auszureißen, jtatt verfprochenermaßen zu den Eltern 
jeines Opfers zurüdzufehren. Dann fchweift er ruhe— 
[08 in Aalwindungen, von Ort zu Ort durch's ganze 
Land, und wird zulett noch glüclich in dem Augen— 
blie gefangen, wo er eben feine Abjicht erklärt, mit 
dem morgenden Steamer nah Europa zu entwilchen. 


195 


Dies’ ohne alle Reifevorbereitung, ohne daß er nod 
einmal einen Platz belegt, ven Morgen nach feiner 
Ankunft in New⸗York. Warum fo eilig, wird man 
fragen? Antwort, um eine wijfenfchaftlihe Reiſe in's 
Innere von Aſien zu machen.‘ (Allgemeine Heiterkeit.) 
Eine amerikaniſche Jury frage nach Gründen und 
die deutſche Antwort ſei wieder Mondſchein — dies- 
mal aſiatiſcher Mondſchein. Er fünne wohl jagen, 
Ichloß der Redner, daß ihm in feiner gerichtlichen 
Praxis, die allerdings aus einer Zeit datire, wo der 
deutſche Mondfchein noch nicht zur Erleuchtung ameri- 
kaniſcher Jury's aufgegangen war, und wo deutſche 
Srünfchnäbel noch nicht ihren Witz an amerifanifcher 
Einfalt rieben, noch nie eim Fall vorgefommen fei, 
wo eine ſolche Maſſe von Umständen ſich zu ver 
volljtändigjten Kette von Circumstantial evidence 
bereinigten, welche noch jemals dem gefunden Menjchen- 
verjtand, dem Sittlichfeitsgefühl und ver Gottesfurcht 
einer amerifanifchen Jury das DVerdict: „Schuldig” 
abgezwungen. 

Allerdings handle es ſich, wie der jehr gelehrte 
Advofat auf Seiten der Vertheidigung bemerkt habe, 
— um mehr als um den: "Kal viefes Einen Ans 
geflagten. Aber das geehrte Mitglied der heſſiſchen 
Bar — wenn er nicht irre, jei der Herr ja wohl ein 
geborner „Heſſe“ (Gelächter) — mißverftehe, wie in 
jeder andern Beziehung, jo in diefer, Das ameri- 
fanifche Gefühl gänzlich, wenn er glaube, es handle 
ih für das freie Volk dieſer aufgeklärten Republik 
darum,‘ ſich ven Beifall europäifcher Sternfammern 

I. 13 


194 


zu erwerben. Er weiſe diefe Inſinuation als eine 
Unanjtändigfeit zurüd: als die unverſchämte Selbft- 
überhebung. eines Fremden, der dem amerifanifchen 
Volk, deſſen Gaftfreundfchaft er geniefe, wohl auf 
eine andere Art feine Danfbarfeit bezeigen könnte, 
als ihm zuzumuthen, ſich in der Ausübung des 
Nechtes, des theuerften Kleinods, welches ein Bolt 
befige, von folchen nievderträchtigen Rüdfichten leiten 
zu laſſen. Warum es jih handle, ſei ein warnendes 
Beifpiel aufzuftellen und eine emphatifche Erklärung 
abzugeben, daß das amerikanische Volk den deutſchen 
Atheismus mit allen feinen unausbleiblichen Conje- 
quenzen von Sittenlofigfeit, Verführung und Mord 
mit Abſcheu verwerfe und daß die amerikanischen In— 
jtitutionen noch Gefundheit und Kraft genug — 
das fremde Gift aus ſich auszuſtoßen. 

Es war dem Vertheidiger in dieſem Augenblick 
klar, worüber er ſchon von Anbeginn ſeine Scrupel 
gehabt hatte, daß es ein großer Fehler von ihm als 
Fremdgebornen geweſen war, in einem neu=englän- 
diſchen Staate die Bertheidigung für den fremb- 
geborenen Antonio zu übernehmen. Er hatte ven 
Unterfchied überfehen, daß im Wejten die politifche 
Macht dem Deutfchen eine ganz andere Stellung 
giebt und daß ihm bei allen jeinen dortigen Plai— 
doyers ſtets die Macht ver deutſchen Meinung zur 
Seite gejtanden hatte. 

Der Eindrud, ver auf die Vorurtheile des Publi- 
fums und der Jury wohlberechneten Rede war ein 
dem Angeflagten offenbar jo ungünftiger, daß Wil- 


195 


helmi und die gute Miß Parſons, welche fich auf 
die Bank neben ihn gejegt hatten, unwillkürlich be- 
jorgte Blide miteinander wechfelten. Nur der Ge- 
fangene änderte feine. fefte Haltung nicht. Alles 
horchte gefpannt auf die Anrede des Dberrichters, 
eines dünnen, ſcharfnaſigen, engbadigen, jpüräugigen 
Yankees, der, im Widerfpruch mit feiner Phyſiognomie, 
der Jury mit dem aufgeblafenften Phrafenaufwand 
ganz beſonders die Bewahrung der amerifanijchen 
Sittlichfeit und Religion, des großen Hortes der 
pollfommenften Anftitutionen, welche die Welt jemals 
gejehn, anempfahl. Am Uebrigen ging er das Zeugniß 
auf beiden Seiten mit ziemlicher Unparteilichfeit durch, 
bi8 er am Schluffe darauf hinwies, daß, wenn fie 
zu der Ueberzeugung famen, u. |. w., fo dürfte Feine 
Rückſicht anf ariftofratiihe Geburt und Stellung fie 
abhalten, der Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen. 
Es fei vielmehr ihre Pflicht, zu beweifen, daß bier 
zu Lande das Verbrechen fih nicht hinter Hofgunft 
verjteden fünne, und daß ein einfaches, tugenphaftes, 
religiöfes Volk Gott und deſſen Gebote nicht un- 
geitraft verlegen lafje. — 


13* 


196 


Fünfzehntes Kapitel. 


„Es waren zwei Königsfinder, | 
Die batten einander fo lieb. 
Sie fonnten zufammen nicht fommen, | 
Das Wafjer war gar zu tief.“ 
Altes Volkslied. 


Das Ende war jetzt vworauszufehen. Antonio 
hatte fih während feiner langen Haft mit: dem Ge— 
danfen eines ſolchen Ausganges vertraut gemacht und 
diefer Gedanke hatte für ihn feinen Schreden, im 
Gegentheil, in der gelänterten Stimmung, worin der 
einfame Umgang mit dem eigenen Innern und eine 
täglich tiefer wachſende Leidenſchaft ihn verjegt hatten, 
etwas Grhebendes. Es handelte ſich um einen Con— 
flift, aus dem das Opfer feines Lebens den einzigen 
Ausweg zır bieten Tchtien. 

Er war überzeugt, dag Auguſtus mit feinem 
Spießgeſellen die Mörder jeien. Er hatte zwei höchſt 
triftige Gründe für diefe Meberzeugung, eritens näm— 
ich wußte er aus Mary's eigenem Munde, daß ihr 
Bruder das Doppelftüd zu jener Biltole beide Da- 
zu fam dann noch Annie’s Erzählung, um Motiv ſo— 
wohl als Abjicht bei jenen Beiden außer Trage zu 
ſtellen. &s war fein Zweifel möalih. Darüber mit 
ih im Reinen, war Antonio's Entſchluß gefaßt, 
Alles zu thun, um nicht fowohl den Verdacht von 
Augujtus Fährte als die Unterfuhung von Mary's 


197 


Zeugenvernehmung ‚abzulenken. Denn wurde fie, auf- 
gerufen, jo: hätte fie ſich unausbleiblich den wahren 
Zufammenhang fombiniren und ihren eigenen Bruder 
bewußt dem Arme der Gerechtigkeit überliefern over 
den Unfchuldigen. verrathen müffen. 

Liebte er Mary? Er hatte fich diefe Frage nie 
geitellt, er hätte fie nicht verftanden. Das, was ihm 
ihm ‚in allen Tiefen. mwühlte, ihn in alle Höhen aus 
und über fich felbit emporhob, war jo neu, jo einzig, 
jo, nie dagewejen auf Erden over im Weltall, daß 
fein je dagewejener Name darauf paßte. Wohin jein 
Auge Jah, war eine leere Stelle, denn fie war nicht 
da; denn es fehlten die Schauer der Einfamfeit, die 
heilige Stille der Natur, der heroiſche Kampf, die 
ſelige Brüderſchaft der Gefahr und Hingebung, mit 
denen ihr geheimnißvolles Bild unzertrennlich um— 
geben ſtand. Es war, als triebe ſeinen Geiſt ein 
‚Suchen nach dieſem, feinen verlorenen Lebenselement 
fort und fort durch alle Räume und alle Zeiten ins 
Unendliche, wo allein es wiederzufinden war. War 
es dort wiederzufinden? Wo nicht, wo es nicht ewig 
war, wo es nicht hinter allen Räumen und Zeiten 
noch lebte, ſo war es nie geweſen, war ein leeres 
Hirngeſpiuſt, ein ſchaler Wahn — Nichts war 
die wahnſinnige Loſung! Nichts die Anbetung 
dieſer Angebeteten? Ein Triumphlied des Herzens 
war die Antwort auf dieſe Frage. 

Das Gewicht des Leibes, der Körper der Ma— 
terie drückten ihn; ſie von ſich zu werfen war eine 
Luſt, ſie ihr als Opfer vor die Füße zu legen, höch— 


198 


jtes Glück. Was hätte er, wenn felbit täglich an 
ihrer Seite, ihrem hohen Geiſte, ihrem Alles bezwin- 
genden Muthe noch geben können? Wahrlich! das 
Leben ift nur zu fchmerzlih karg an Gelegenheiten, 
jih einem geliebten Weſen nnentbehrlich zu ermweifen; 
venn das Edle hat zuleßt doch jo Alles in fich felbit. 
Welh wunderbare Gunjt des Schickſals alſo, daß 
er von ihrer erhabenen Seele den Schimpf abwenden 
durfte, jich einen Mörder zum Bruder zu wiffen, ven 
gräglichen Zwieſpalt, ven Bruder oder den Unfchul- 
digen der Hand des Henfers zu überliefern. 

Wenn für Antonio der Gedanke an Mark zur 
religtöfen Erhebung geworden war, fo waren für 
dieje die Folgen nicht weniger gewaltig, obgleich viel 
weniger geklärt. Für ſie war die Religion — denn 
um die Religion handelte es ſich hier — nicht das 
freie Refultat eines innerlichen unbehinderten Lebens— 
proceſſes, fondern eine von vorn herein und von außen 
geſetzte Negel, nach welcher der innere Proceß ſich zu 
richten hatte. Der allgemeine Grund ijt allerdings 
in aller Religion verjelbe, nämlich: der Schreden des 
bewußten Geiftes vor dem Cphemeren, feine gebiete- 
riihe Forderung nach einem ewigen und fittlich er- 
Habenen Hintergrumde für das Spiel des Lebens, das 
jich nicht heiter anfieht. Allein dieſe allgemeine For— 
derung war in der ihr anerzogenen Religionsweife 
von der theologifchen Unmöglichkeit früherer Zeitalter 
in folchen findifchen und zugleich ſtarren Einzelheiten 
ausgeflügelt und auferlegt, daß es bei einem erniten 
Charakter, wie dem ihrigen an graufamen heimlichen 


199 


Conflikten nicht fehlen fonnte. Aber e8 war im ihrer 
Art, wie es in der Art jtarfer Charaktere und ſtar— 
fer Grundfäge überhaupt, folche Eonflikte von vorn 
herein niederzufchlagen, ohne fie nur einmal gehört 
zu haben. 

Sp mit ihrem Berggefährten. Kine Scheide— 
wand unnahbarer Grundſätze erhob fich zwiſchen ihm 
und ihr, als angetrauter Gattin eines Andern: um 
jo unüberſteiglicher, als eine unwiderſtehliche unter- 
irdiihe Gewalt grollend daran rüttelte. Da erfchien 
die Fremde im Farmhauſe; Antonio wurde hereinges 
rufen, ein Sti der Eiferfucht fuhr Mary durch's 
Herz. Sie fah beide zufammen auf den Wagen jtei- 
gen, wie alte Bekannte. Es wäre vergeblich bei dem 
Sturm, den diefer Anblik in ihrem ſtarken Bufen 
aufrief, die widerkämpfenden Gewalten fichtend er- 
fennen zu wollen, Eiferfuht, Hohn über die vertraus 
lihe Bekanntſchaft — denn weiblicher und Welttaft 
belehrten fie auf der Stelle, daß etwas in der Ele— 
ganz der fremden Dame nicht richtig jet — Hohn 
gegen fich jelbft, daß es darum in ihr jtürmte; ver 
heiße Wunsch, den Menfchen haſſen und verachten zu 
dürfen; der Ruf von Pflicht nnd Gewiffen: er war 
dir, Tann dir, darf dir Nichts fein; der Entſchluß: 
er iſt Dir nichts und doch die Wunde immer und 
immer brennend unter dem fejt angezogenen Gnt- 
ſchluſſe. Das war die Rache des Gefchides für ein 
paar Ichöne Tage in dem armen Leben. 

Wie nun aber die fchmähliche Gefchichte von 
Berführung und Mord zu Tage fam, da ward Alles 


200 


fchwarz, vie legte Hoffnung in diefem und jenem Leben 
Ichien untergejunfen. :E8 riß ihr am Herzen. Sie 
war in demſelben Augenblide froh, ihn verachten zu 
dürfen, wo fie innerlich empört ver Welt den Hand- 
Ihuh über die verrücdte Anfchuldigung hinwarf. Er 
war ihr durchaus im zwei Perfonen getheilt: die that- 
jächliche,, die jte fannte, und an deren Strahlenrein- 
heit ein Fleden etwas Undenkbares war; und die ab- 
jtracte, aus der Gewiſſensforderung fonftruirte, daß 
fie feiner wahren Gejtalt in ihrer Crinnerung gar 
feinen Zutritt gejtatten dürfe. Alles dies waren 
jedoch keine bewußten Gejtändnifje, fondern ein Kampf 
im Dunfeln zum Himmel aufächzender Gefühle. Zu— 
legt legte fih die vulkantiche Wuth; was. auch für 
Feuer dort unten brennen mochte, vie falte Kruſte 
des ftarren Willens lag darüber; fie erlaubte fich nichts 
mehr von ihm zu willen und trug den Kopf höher, 
als je. Die Berichte über den Proceß in den Zeis 
tungen wurden: felbitverjtändlich ignorirt. 

Anders jtand Mrs. Damjon zu der Erinnerung 
an die furze Bekanntſchaft. Sie liebte Antonio: mit 
einem Gefühl, das zwilchen Mutter und Schweiter- 
zärtlichfeit mitten iune jtand. " Trotz der Mühe, die 
Auguftus ſich geben wollte — bis fie ihn ſchweigen 
hieß — ihr das Gegentheil zu beweiſen, blieb fie von 
der Unſchnld des Angeklagten unerjchütterlich über- 
zeugt. Uebrigens waren Gemahl und Sohn einver- 
jtanden, ihr die Yeftüre der Zeitungsberichte abzu— 
rathen. Es fümen darin Dinge zum Borjchein, die 
für das weibliche Auge lieber verhüllt blieben. Sie 


201 


folgte gern, e8 wäre ihr nicht einmal nervenmöglic) 
gewejen, ven Verhandlungen zu folgen vor Schmerz 
und Aufregung. 

Miß Barfons ihrerfeits, welcher weder Pflichten 
noch Rüdjichten die Stimme des Herzens beirrten, 
fühlte. eine furchtbaare Erbitterung gegen Al’ und 
Seven, der fich bei der Verfolgung ihres Freundes 
betheiligte, und war jeden Augenblid bereit, Xeben und 
Alles in die Schanze zu Ichlagen, um deſſen Unſchuld 
zu beweifen. Sie hatte ſich allen Ernites angeboten, 
die Bertheidigung vor Gericht Statt des Advokaten zu 
führen; denn fie war überzeugt, daß, wenn fie nur 
reden dürfte, die Sache Jedermann fo klar werden 
müßte, wie ſie ihr felber vor dem Herzen jtand. 
War es ſchon ſchwierig gewefen, fie von diefem aben- 
teuerlihen Blane abzubringen, jo war e8 noch weit 
Ichwieriger, jie zu überreden, daß Miß Damfon nicht 
als Zeugin aufgerufen werden dürfe. Sie murde 
ganz ausfallend Über „die zarte Miß, die zu gut wäre, 
jih an der Todesnoth ihres hochherzigen Lebens— 
retters die ariftofratiichen Händchen zu beſudeln.“ — 
So verbrehte fie Alles, Vergangenes wie Gegen 
wärtiges, um ihrer parteiifchen Hingebung — ein 
wenig auch ihrer aufgefammelten Galle gegen die 
„Miß“ — zu genügen. Nun follte fie gar veriprechen, 
verlangte Antonio, an die „Miß,“ wie er fcherzend 
wiederholte, nichts über den Proceß zu jchreiben. 
Sie brach in eine gewaltige Schmährede aus, die 
ganze drei DBierteljtunden ununterbrochen fortrolite 
und in welcher das ganze natürliche Rednergenie ihres 


202 


Yankeeblutes zum Vorfchein Fam, mit allen feinen 
feidenfchaftlichen Uebertreibungen zu Gunften ver adop- 
tirten Partei und zum vernichtenden Hohne gegen 
die andere. Antonio war von feiner eigenen Sache 
bis ins Innerfte erfchüttert, wie fich dieſelbe nnter 
ihrer Darjtellung gejtaltete; jelbjt ihr beißender, haß— 
glühender Witz, wo ihr tiefes Lachen wie tödtlicher 
Geſchützesdonner dazwiſchen grollte, war pathetifch. 
Sobald aber die Demonjtration abgethan war, fo 
hört nach amerikaniſcher Gewohnheit jede Widerfeg- 
lichfeit auf, vorbehaltlich eines neuen Ausbruch bei 
nächjter Gelegenheit. Sie verſprach, nicht zu ſchrei— 
ben und hielt ihr Verſprechen — ſo lange fie es 
fonnte. Aber am Freitag vor der Eröffnung des 
Procejjes platte fie zulegt in einen außergewöhnlich 
furzen Brief an Miß Dawſon heraus, iwie folgt: 
„Liebe Mary, Sie Icheinen nicht zu wiffen, daß 
Ihr Freund Antonio, als Mörder angeklagt, vor Ge— 
richt jteht. Ich nehme mir daher die Freiheit, es 
Ihnen zu jagen. Das ijt freilich gegen feine Ordre. 
Ich habe ihm hoch umd heilig verjprechen müſſen, 
weder an Sie zu ſchreiben, noch beim Zeugenverhör 
Ihres Namens oder irgend eines Umſtandes zu er- 
wähnen, der auf Ihre Zuziehung zum Verhör führen 
fönnte. Es it eine Narrheit von ihm, dieſe Deli- 
catejje.. Ich glaube, er iſt verliebt in Sie, Denn 
Jonjt kann ich mir nicht erflären, warum Sie allein 
von ung Allen von der Pflicht ausgenommen bleiben 
jollen, Alles zu thun, was Sie möglicherweije können, 
um feine himmelreine Unjchuld, die Ihnen doch eben 


203 


jo Ear ift, wie mir, durch Ahr Zeugniß am’s Licht 
bringen zu helfen. Ich kann mir in aller Welt nicht 
erklären, warum es erit noch einer Mahnung von 
mir bedarf, um Sie an: diefe Pflicht zu erinnern und 
warum Gie nicht Schon längſtens bier find. Um 
Gotteswillen, Mary, zögern Sie feinen Augenblick! 
Was Sie beibringen fünnen, weiß ich nicht, aber 
Etwas müfjen Sie beibringen fönnen. Ach kann nur 
noch weinen und bete zu Gott Tag und Naht. Mag 
er mir nie wieder folhe Prüfung jchiden. 


Ihre Freundin 
Jane Parſons.“ 


Unglücklicherweiſe ſchrieb Miß Parſons an dem— 
ſelben Morgen, wie immer, wenn ſie erſt in's Schrei— 
ben kam, mehr als ein Dutzend Briefe. Dazwiſchen 
Noten und Memoranda auf abgeriſſene Blätter. Alle 
dieſe Briefe und Papiere lagen wild durcheinander. 
Als ſie nun kurz vor Poſtſchluß Alles zuſammenraffte, 
um auf die Poſt zu rennen, ſpazierte der Brief an 
Miß Dawſon unter die Papiere in ihr Folio zurück, 
wo er erſt ſpäter wieder entdeckt wurde, nachdem 
ſchon Alles vorüber war. 


204 


Schözehntes Kapitel. 
Das Urtheil, 


„Und wenn Ihr mir gebet jelbft noch ſo vieles Geld, 
Muß doch Euer Sohn jest fterben in weiter, weiter Welt.“ 


Rheinländiſch Volfslied. 


Die Jury war hinausgegangen. Aus dem fcheuen 
Blide Wilhelmi’s, aus ven Thränen Miß Parſons, 
aus dem erniten melancholiichen Auge des Advocaten, 
aus dem entfernten Schluchzen Sufan’s, fonnte der 
Gefangene fich feinen Spruch nur zu deutlich heraus 
leſen. Und jest, wo ihm ein: Ende in Schmacd und 
Schande in erfchredlicher Wirklichkeit nahe herantrat, 
machte allerdings die DOpferfreudigfeit noch anderen 
Gedanken und Gefühlen Pla. Ein Leben ohne ein 
einziges greifbares Reſultat raftlofer Arbeit, ohne eine 
einzige Anerkennung großer Kräfte und edelſter Stre- 
bungen, abgejchnitten vor feiner Mitte, zu Schimpf 
und Hohn von der Menjchheit weggeworfen, wie ein 
unreiner Abfall! Wer, wie Antonio, aus aufmerf- 
ſamer Beobachtung der Geſchichte und des Lebens, 
die Gewalt der öffentlichen Stimme und der voll 
endeten Thatſache über die Meinungen auch der Beften 
fannte, der mußte wiſſen, daß ſelbſt im Herzen ver 
nächſten und jet noch gläubigſten Freunde der nagende 
Zweifel zulest jich eine Stätte graben würden. Mary, 
wenn fie ihn überhaupt noch eines Gedanfens werth 
hielt — was fonnte diefer Gedanfe fein! — Und o, 


205 


feine Mutter! — Es war ein melancholifcher Troft, 
daß fie jest glücklich im Grabe Ing. 

Die Jury Fam zurück; zwölf ungeheure Exemplare 
der angelſächſiſchen Originalrace, wie ſie fich noch hie 
und da in den Berggegenden confervirt hat. ever 
davon hätte fih bei einer Barnum’fchen Preisaus- 
jtellung Tehen laſſen fönnen. Der Bormann fchien 
nah dem Grundfag der Gautifhen Königswahl auf 
den Ehrenſitz bejtellt zu fein, weil er ven größten 
Stuhl im Staate ausfüllen konnte. Cr erinnerte 
Einen an Ketil Häng, den alten Nordländer, von dem 
e8 hieß, daß er wie ein Nebenberg ausſah, wenn er 
fi) am Fuße eines Hügels nieverliek. 

Der Richter mit feinen beiden Aſſiſtenten, hatte 
feinen Plat wieder eingenommen. 

Sufan faß mit gefalteten Händen, das font fo 
findesfrifche Geficht ohne alle Farbe, den Körper leife 
porgebeugt, die blauen Augen gnadebittend auf den 
Vormann geheftet. 

Die drei Freunde blieben um den Gefangenen, 
als wollten fie ihn halten, wenn er fallen ſollte. 
Hinter ihnen jah der irifche Kopf Mrs. O'Shea's, 
das genaue Bortrait einer der Kaulbach'ſchen Furien 
aus dem sphigenienbilde, vor. Der junge O'Shea 
Hatte unmittelbar nach Ablegung feines Zeugnifjes 
wieder zu jeinen Gefhäften nach New-York zurüd 
müſſen. 

Das Zwiſchenaktgeſumme des Vublikums hatte 
‚einer lautlofen Stille Pla gemacht. | 

Was ſagt Ihr, Vormann,“ fragte der Richter 


206 


im gefhäftsmäßigen Zon mit dünner, näfelnder, Sylbe 
für Sylbe den Saal durchdringender Stimme: „Schul- 
dig. oder Nichtſchuldig?“ —— 

Ob aus innerer Bewegung, oder, weil ihm zu— 
fällig etwas in die Kehle kam, der — konnte 
auf einen Augenblick nicht mit dem Worte heraus. 
Es ſchien eine Ewigkeit. Aber, wie er ſprach, klang 
es mit vollem, tiefen ſchweren Tone durch die todten— 
ſtille Verſammlung — zwei Sylben — aber die erſte 
ſchon hatte das Blut von jeder Wange geſchreckt — 
„Schuldig!“ 

Ein durchdringender Schrei von der Damen— 
gallerie lenkte alle Blicke dort hinauf. Suſan wurde 
fortgetragen, kalt und ſteif wie ein entſeelter Körper. 

Aber Laute andrer Art zogen ſchon in demſelben 
Augenblicke wieder Aller Augen nach der andern Seite 
hin, wo die Zeugenbank war. Ein hohes Weib, in 
rothem gewürfelten Shawl, ein reich brochirtes Da— 
maſtkleid, wie zum Waſchen über einem nicht aller— 
ſauberſten dunklen Steppunterrocke aufgeſteckt, einen 
ſammtnen Federhut auf dem ſtruppigen Feuerkopfe und 
über und über mit goldnem Schmuck behangen, ſtand 
auf der Bank und ſtreckte drohend die nervige, mit 
Ringen bedeckte Fauſt gegen den Vormann aus: 

„Schande auf Eure meineidigen Seelen, Ihr 
alferläbite Bande von Knownothing-Hallunken! Ich 
bore Euch näder für Sirpenes jeden Mithers Sohn 
von Euch, fo wahr mein Name Bridget O—“ 

„Bringt das Weib heraus!” befahl der Richter. 

„Euer Ehren, hoffe ich,” ſchrie Bridget O'Shea, 


207 


„Euer Ehren werben: joldem Bad Maftochfen nicht 
glauben, ganz und gar nicht! Gegen folche nette Joint— 
lefolf8 bier. Kommt, wenn Ahr ein Mann. jeid, 
Euer Ehren, und laßt uns 'nen neuen Broceß haben, 
und Paddy D’Shea, mein Sohn, bezahlt die Koſten, 
und wenn’s, bei meiner Seele, hHunderttaufend —“ 

Hier wurde Mrs. O'Shea mit Gewalt abgeführt, 
unter dem wilden Gelächter der Menge, deren Nerven 
iwie ein hochgeſpanntes Anjtrument, niemals empfäng- 
licher für den Reiz des Komifchen find, als nach dem 
Ueberreize des Tragiſchen. Die öffentlichen Crimi- 
nalprocefje find die Gladiatorfpiele der Modernen. 

Unterdejjen hatte jich der alte Kartwright zu dem 
Gefangenen durchgedrängt: 

„Sujan will, das ich Euch vergeben foll.“ 

„Ich hoffe, fie und Ahr haltet mich nicht für 
Ihuldig, Sir?” 

„Gott vergebe Euch," fagte der Alte, der 
Trage ausweichend und fette zögernd hinzu — „‚wie 
— ih es thue.” Alles dies war das gleichzeitige 
Werk eines Augenblids geweien. Der Richter, nach 
wieder hergeftellter DOronung, verlas das gräuliche 
Urtheill — „und Ihr follt aufgehängt werden an 
Eurem Halfe, bis daß Ahr tobt, tobt, todt feid.” 

Bei diefer befchimpfenden Anfündigung verließ 
den PVerurtheilten fait feine durchgängig unbewegte 
Haltung, er erbleihte, erröthete dann und runzelte 
zornig die Brauen. Mber bei der Schlußbetrachtung 
des Richters, worin noch einmal der deutſche Atheis- 
mus zum abjchredenvden Beiſpiele herhalten mußte, 


208 


hatte er feine Faffung vollkommen wieder gewonnen. 
Nur Wilhelmi und der Advokat bemerften das leiſe 
Lächeln, das dabei über jeine Züge zog. 

Der BVerurtheilte wurde darauf dem Sheriff zur 
Abführung in's Gefängniß überwiegen. 

„Das Gericht ift vertagt.” 

Mit diefen Worten ftand der Richter hemächlich 
auf und ſteckte ſeine goldne Brille in die Taſche. Die 
Aſſiſtenten thaten daſſelbe und ſtiegen mit ihm von 
der Platform herunter. Jetzt ſtürzte Alles im wilden 
Gedränge nach den Eingängen, in die Flurhalle, auf 
die Straße, um den überwieſenen „Verbrecher“ auf 
dem Wege aus der Gerichtsthür in den Transport— 
farren noch einmal in der Nähe anzuſtaunen. | 

Der Conſtable mwechjelte mit dem Sheriff einen 
beveutfamen Blid, der Sheriff nidte und mit rafchem 
Griff hatte er die linfe Hand Antonio’s, während 
diefer eben mit der Rechten noch die von Miß Par- 
jons hielt, in Eifen gebracht. Antonio drehte fich 
mit drohender Stirn nah dem Gonjtable um, dann 
zog ein bittres Lächeln über fein Geficht. Er hielt 
die andre Hand von ſelbſt bin. Unter den Bes 
Ihimpfungen des Pöbels jtieg er in den verſchloſſenen 
Magen, der raſch nach dem Gefängniß abfuhr. 

Miß Parſons hielt Wilhelm und den Advokaten 
zurüd. Noch in dem leeren Gerichtsjaal, auf dem 
verlaffenen Site des Protofoffführer, feste jie eine 
Petition auf, an deren Ausdrücken, von warmer Freund— 
Ihaft und der innigjten Weberzeugung von des Ver— 
urtheilten Unſchuld diktirt, weder der Juriſt, noch der 


209 


Kaufmann diesmal etwas zu verbefjern fanden. Es 
war eine Appellation an das Gerechtigfeitsgefühl und 
die Gnade des Staatsgouverneurs. Die ſchwachen 
Punfte des indirecten Beweifes und die Barbaret, 
einen Menfchen auf folche unfichere Begründung hin 
dem Tode zu überantworten, wurden jchlagend her- 
porgehoben. Die beiden Freunde machten jich Eopien 
von der Bittfchrift und trennten ji dann von dem 
guten hilfreihen Geſchöpfe, das fich mit Thränen in 
ven Augen auf den Weg machte, um einflußreiche 
Unterjtüßung oder Unterfchriften zu ſammeln. 
Wilhelmi ſchickte feine Kopie der Bittfchrift nach 
New-York, um die veutiche Bevölkerung zu einer impo— 
janten Demonjtration zu vereinigen. Der Advocat 
die feinige zu demfelben Zwecke nach dem Weiten. 
Gegen Abend, nachdem fie ihre unerläßlichiten 
Sorrefpondenzen abgemacht hatten, fanden fich beide 
Freunde wieder in ihrem Gefchäftszimmer zufammen 
und beriethen ſich und zerbrachen ſich den Kopf bin 
und ber, die ganze Nacht hindurch, ob fich denn 
nichts thun Tiefe. Es fand fih nichts. Tag auf 
Zag verlief in folchen fruchtlofen Berathungen. Ein 
oder DAS andere Mal tauchte die dee auf, man 
müfje die junge New-Yorker Dame in Mitleivenfchaft 
ziehen. Der Grund, weshalb Antonio fie aus dem 
Spiele hielt, jchien den Freunden nicht ſchwer zu 
durchſchauen. Da fie jedoch nicht Alles durchſchauten, 
ſo lief zulett Alles wieder auf den Schluß hinaus, 
es laſſe jich nicht abjehen, was man durch rückſichtsloſe 
Berlegung eines zarten Gefühls gewinnen könne. 
II. 14 


210 


Unterdeſſen nahte der 21. November, ver Längft 
anberaumte Zag von Sufan’s Hochzeit heran. Zufällig 
war die Hinrichtung auf denfelben Tag feitgefegt. 

Antonio mochte ſich's aus dem Sinne zu fchlagen 
ſuchen, wie er wollte, dieſes Zufammentreffen empörte 
ihn. Er hatte wohl kaum einen Anfpruch, bei fo 
furzer Befanntichaft auf tiefer gehende Gefühle zu 
rechnen; aber man hätte doch nachträglich die Hoch- 
zeit auf einen andern Tag verichieben fönnen, — e8 
war, als tanze man am Fuße feines Schaffots. Wie 
aber jedes Leiden feinen Erja hat, jo half ihm vie 
Bitterfeit diefer Enttäufchung über feine Gewiſſens— 
Tcrupel wegen Suſan's Hochzeit fort, die er aller- 
dings nur dur das Opfer von Mary's Lebensruhe 
hätte verhindern fünnen. Er war überhaupt geneigt, 
über Auguftus Dawſon zu denfen, wie jener chot- 
tiſche Richter fich über das Ungeheuer Hare, ven 
Burkiten ausdrückte: „Hare war ein Mann von Geift, 
ein Gentleman und in gewiffem Sinne ein achtbarer 
Mann, nur daß er ein Mörder war.” „Auguſtus,“ 
refleetirte der Verjtoßene in jeinem Spleen, iſt immer 
noch beffer, als die meijten „achtbaren“ Menfchen. 
Er ift ein Egoift, wie Alle, die Fein hohes Ziel over 
begeifternder Gedanke über fich felbft emporhebt. Wie 
Biele find das wohl unter Taufenden? Und wenn 
an den Egoiften, an den „Hochachtbaren“ die Frage 
herantritt: „Er oder ich,” ſo löſt er fie eben unter 
taufend verfchiedenen Formen oder Vo rwänden immer 
auf viefelbe Weife: er läßt ven „Er“ in die Luft 
ipringen, ein, zwei, drei Fuß weit, eine Meile, ja! 


211 


aus der Welt, eben grade fo weit nöthig ift, um ihn 
fih aus feinem Wege zu fchaffen. Es hängt alles 
dabei von dem Drange der Noth ab. Sp ift die 
Welt ihr tägliches Brot, und werben alle die „acht— 
baren‘ Leute jo achtbar. Kurz, Auguftus ift ein 
guter Kerl, wie Einer, nur daß er zufällig ein Mörder 
ift. Sufan geht dabei zu Reichthum und Glanz ein, 
und wenn fie nicht eben auch Eine unter Tauſenden 
iit, fo bleibt das zuletzt Doch die Hauptſache.“ 
Unterdeſſen machten die Getreuen verzweifelte 
Anftrengungen, um vom Gouverneur den Pardon zu 
erlangen. Se. Ercellenz, wie alle Neu - Engländer, 
Knownothing von Natur, blieb bei der Antwort: „Er 
ehe feinen Grund, in den regelmäßigen Lauf des 
Geſetzes einzugreifen.‘ | 


Siebzehntes Kapitel, 
Die Vollſtreckung. 


„Horch, die Glocken halfen dumpf zufammen, 
Und der Zeiger hat vollbracht den Lauf.” 


Schiller. 


Es war am Morgen des 21. November. Die 
Sonne ging in vollem Glanze über einem jener herr— 
lichen Spätherbſttage auf, — die ſchönſte Jahreszeit 
auf dieſer Seite des Oceans. Als der Gefangene 

14* 


212 


fih nach einer ruhigen Nacht von feinem Lager er- 
hob, jtand Miß Parfons Schon an der Thür feiner 
Zelle. Sie wollte ihm faum die Zeit zum Anziehn 
gönnen. 

Er begrüßte jie lächelnd: 

„Alſo heute geht's in das unbekannte Land, von 
deſſen Grenzen fein Wanderer wiederkehrt.“ 

Sie fonnte diefe Heiterfeit nicht begreifen, be- 
fonders da er durchaus nicht als Chrift, d. h. unter 
dem Beijtand eines Geiſtlichen jterben wollte. 

„Beinen Sie nicht, liebe Freundin,” fagte er. 
„Was ift das Leben? Was ift der Tod? Bon 
jenem weiß ich gewiß, daß ich fein Räthſel nie löſen 
werde, als etwa im Tode. Der Tod ift die einzige 
mögliche Ausjicht für Beide, Leben und Tod.“ 

„Aber die Schande!‘ ſchluchzte Miß Parſons. 

„Ich bin ja heute ſchon von — ja, heute ſchon 
von den Meiſten vergeſſen. Und wie Viele können 
— ſich rühmen, daß drei Freunde unter einer ſolchen 
Prüfung bis an's Ende bei ihnen ausgehalten? Mein 
Andenken iſt wohl geborgen!“ 

„Da ſind ſie ja!“ rief er den eintretenden 
Freunden, Wilhelmi und dem Advokaten entgegen. 
Sie gaben ihm ſchweigend die Hand zum letzten 
Morgengruß. 

Miß Parſons ſtand neben den dicken Eiſenſtangen 
des Fenſtergitters. 

„Was für ein Geräuſch iſt das?“ fragte Wil— 
helmi. | 

Miß Barfons ſtieß einen untervrüdten Schrei 


213 
aus. Sie hatte in den Hof gejehen. Alle ver- 
jtanden. 

„Es ijt wie in Maria Stuart!” fagte Antonio 
lächelnd. „Aber doch unangenehm zur Frühftüd- 
unterhaltung.“ (— Der Gefängnigwärter brachte 
ihm eben die legte Mahlzeit herein.) „Das find jo 
die Unannehmlichkeiten des Lebens. — Nach dem 
Zode hat man das Alles nicht mehr.‘ 

Das Frühftüd ließ nichts zu wünſchen übrig; 
er hatte den beiten Appetit und es jtörte ihn nur, 
daß die Freunde nicht in der Stimmung waren, ihm 
Geſellſchaft zu leiſten. Dann ftedte er feine Ci— 
garre ar. | 

„Bas ift die Uhr, Wilhelmi?‘ 

Wilhelmi 309 langfam die Uhr, Hatte aber noch 
nicht die Antwort gefprocdhen, als der Deputy-Sheriff 
mit einem fleinen Bündel hereintrat, deſſen Beſtim— 
mung er dem jungen Gentleman nicht ohne fichtbare 
Berlegenheit erflärte. 

Der Advokat ſchimpfte Über die mittelalterliche 
Mummerei. | 

„Im Gegentheil,“ fagte Antonio ganz objectiv, 
‚ib finde etwas Stumpfjinniges in der Formen— 
gleichgültigfeit unferer Tage. Wilhelmi, als Batron 
der Schönen Künfte, muß das wiſſen. Unfere Zeit 
ift für die Kunſt verloren, weil wir das Symboliſche 
planmäßig aus dem Leben entfernen. Wo die Ge- 
wohnheit des Symbols im Volfsleben fehlt, da fehlt 
ihm eben das Bedürfniß der Kunit. Ich glaube an 
die Schönen Künfte in unferen Lagen nicht.‘ 


214 


„Alles, was ih an diefem Coftüme auszufegen 
habe,“ fuhr er, das Armefünderfleid langſam ent- 
faltend fort, ift, „daß es zu dem Ritus nicht paßt: 
es ift ein Hanswurfthabit. Aber der Ritus ift freilich 
auch grumdgemein,‘ ſetzte er, ſich corrigirend, mit 
einem leifen Fröſteln hinzu. 

Der Deputy-Sheriff hörte dem Verurtheilten 
aufgejperrten Mundes zu. Die Unterhaltung wurde 
Miß Parfons wegen auf Englifh geführt. Diefe 
wußte nicht mehr, ob fie bewundern oder bejammern, 
ob ſie ihren Freund mit Socrates oder Jeſus Chrijtus 
vergleichen ſollte. 

„Laſſen Sie mich doch einmal an’s Fenſter, Miß 
Parſons; ich habe ja doch mehr Anterefje daran, als 
Sie, mir das Terrain zu bejehen.“ 

Damit jchob er fie janft fort. Sie hatte fich 
dort abjichtlih hin poftirt, um ihm den Anblic der 
Tchreedflichen Vorbereitungen und ver neugierigen Menge 
zu verveden, welche alle Fenfter, Dächer, Bäume, 
furz jede nur möglicherweije befeßbare Stelle, von wo 
ich eine Ausficht auf das Innere des Gefängnißhofes 
gewinnen ließ, eingenommen hatte. Das Volk wurde 
ſchon ungeduldig, umd eine Bande von Rowdies, die 
auf einem Schindeldache Poſto gefaßt hatten, fing an 
mit den Fülten zu trommeln, zu pfeifen und zu Jchreien, 
ob die Borjtellung nicht bald losginge? 

Unten jtand das Schaffot aufgerichtet. 

ALS Antonio fi wieder vom Fenſter in's Zim- 
mer zurückwandte, war er bleich und ftille. Er bat 
die Freunde, ihn auf einen Augenblick allein zu laffen. 


215 


As fie mit dem Deputy-Sheriff und feinem alten 
Freunde, dem Geiftlichen, wieder hereintraten, erfchien 
er hoch feierlich. 

Der Geiftliche entfchuldigte fih. Er wiünfche fich 
nicht aufzudrängen, aber erbat fich die Erlaubniß, ihn 
als Freund begleiten zu dürfen, bereit, ihm mit reli- 
giöſem Troſte beizuftehn, wenn fich vielleicht im legten 
Augenblide der Wunſch und das Bedürfuiß darnach 
regen follte. 

„Ich Eonnte Sie nicht allein jterben laſſen,“ ſagte 
er mit zitternder Stimme. 

Antonio drüdte ihm, ohne ein Wort zu jagen, die 
Hand. Diejer Freundfchaftsbeweis war um jo rüh- 
render, als es dem guten Manne fchwere Ueberwin- 
dung gefojtet haben mußte, feinen Liebling Sufan 
heute von anderen Händen einfegnen zu laſſen. 

„Sit ver Gefangene bereit?" fragte der Deputy- 
Sheriff die beiden Herrn. 

„Sit feine Möglichkeit, e8 aufzufchieben?” fragte 
Miß Parjons die Hände ringend. 

Der Beamte fehüttelte ven Kopf. 

„Sch bin bereit,” jagte der Gefangene und half 
jelbjt bei jeinem Anzuge. Wie er fo in dem weißen 
Nachthabit daftand, zog ihm ein Lächeln über's Ge— 
fiht. Wie ein Lamm Tieß er ſich die Arme hinten 
befeitigen. 

An diefem Augenblide ftürzte Mrs. O'Shea her- 
ein. Hatte ihr Geld oder ihre unmiderjtehliche Energie 
zu diefer ungeregelten Stunde noch ven Weg gebahnt? 
Sie ftürzte Antonio an den Hals, fie jchlang ihn lieb— 


216 


fofend in ihren Shawl, wie ein Balg, fie heulte und 
Ichrie wild: „Man Kind, män Lamm! Min Lamm, 
män Rind! Ochoon! Ochoon! Män fähes Lamm 
wollen Sie mir nehmen. Mag der allmichtige Herr 
im Himmel feene Gnade über ähre verfluchten Seelen 
haben in Ewigfät, wie fie ſäne arme läbe Mither, — 
Gott fegne de ſäße Lady! — um das Kind aus ährem 
Schooße bringen.“ 

Man mußte fie von ihm [osreißen. Sie warf 
fi vor ihm nieder und küßte ihm die Füße und küßte 
ihm das Armejünderfleid: „O Du Häliger des Herrn, 
Du gejegneter häliger Märtyrer!" rief fie jammernd. 

Dean führte ihn ab. Sie blieb in ihren Shaml 
gehüllt auf der Erde jigend, heulend und den Körper 
hin und herwiegend, wie bei einer irifchen Xeichen- 
wacht. 

Der Undanfbare! AU diefe Fülle von Lieb’ und 
Treue, die fich Ichüßend wie ein warmer Mantel gegen 
den Eishauch des Todes um feine Bruft legte, ließ 
ihn nur um fo fchmerzlicher die Abwejenheit ver Einen 
empfinden. 

An der Seite des Geiftlihen, von den Con— 
jtablern umgeben, jtieg er langfam die Gefängniß— 
treppe in deu Hof hinunter. Hier paffirte der Trauer— 
zug durch ein Spalier von Mitgliedern der Preſſe 
und Beamten. Unten am Zuß der Xeiter jchüttelte er 
den drei Freunden die Hand. Miß Parſons kniete 
nieder und betete. Die beiden Männer waren bleich 
und fonnten nichts jagen, als: 

„Lebewohl, Antonio.‘ 


217 


‚Auf Wiederfehn in einer bejfern Welt,‘ citirte 
er ernſt. So unbedeutend die Stelle war, e8 
liegt ein eigener, ſüßer Troſt, jelbjt in dem unbedeu— 
tendften Worte des volfsvertrauten Dichters; dem 
Worte, das noch den legten müden Athemzug mit ver 
einjtigen Frühlingshoffnung der jungen Tage durch— 
leuchtet: das immer gültige Paßwort, an dem alle 
Glieder des Volkes fich als Kameraden in demjelben 
geiitigen Kriegslager erfennen; das ewig fortlebende 
Band, das die vergangenen mit allen zufünftigen Ge— 
ihlechtern verbindet; die ewig lebende Wirklichkeit, 
wenn die Erinnerungen des eigenen befondern Lebens 
Ihon längjt geſpenſtiſch verblaßt Hinter uns ftehn; die 
Dffenbarung der Ewigfeit des Geiftes — das iſt das 
Wort des Dichters: am foftbarften, wenn es, wie das 
des hebräifchen, oder arabiichen, ganze Bölferfreife 
bon Zeitalter zu Zeitalter fich in demjelben Gevanfen, 
demjelben Herzichlag als immer gegenwärtige Menfch- 
heit finden lehrt. 

Schon mit einem Fuße auf der Leiter, drehte der 
Derurtheilte jich noch einmal um: 

„Sagen. Sie meinem Vater, Wilhelmt, daß ich 
unjchuldig bin und ohne Schreden jterbe.‘ N 

Mit feftem Schritt, würdig und mit erhabener 
Stirn ftieg er, vom Geiftlihen, dem Sheriff und 
deſſen Aſſiſtenten gefolgt, die Leiter hinauf. 

Kopf über Kopf, Augen über Augen gedrängt, 
Jaß die Menge, jo weit die Ausficht reichte, nah und 
fern, unbeweglich und jchweigend, in jpannender Er— 


213 


wartung des erjehnten Schaujpiels, einen Menfchen 
verzuden nnd verröcheln zu jehen. 

Ruhig ſah jich ver VBerurtheilte rings im Kreiſe 
um, eine Bewegung der Bewunderung lief, unwider— 
jtehlich, wie Windesfänfeln durch dichtes Laub, durch 
die Berfammlung. Zweimal durchlief fein Auge den 
ganzen Kreis. Es fuchte in geheimer, ob auch ver- 
zweifelter Hoffnung Eines, eine Crinnerung, einen 
Blid, ein Haupt, einen Zug vom Born der ewigen 
Seligfeit. Zögernd fiel e8 auf den Geiftlichen zurück. 
Diefer warf ihm einen bittenden Bid zu. Er fehüt- 
telte janft abweifend ven Kopf; dann erflärte er dem 
Sheriff: „Ich bin bereit.‘ 

„Sie wollen nicht noch zum Volke reden?“ 

Noch einmal jah er fih im Kreife rings um. 
Er fonnte die thörichte zögernde Hoffnung nicht laſſen. 
Ra, es war ihm, als fehritte ſie unfichtbar durch die 
Menge ihm näher und näher. „Nur noch einen Augen 
blick Reben,‘ rief es in ihm, „ſo ilt fie da.“ 

Aber wie ein Träumender hatte er ſchon dem 
Sheriff auf jeine fette Frage mechanifch die vorge- 
faßte Antwort; ‚Nein, Sir, danfe Ihnen,‘ gegeben. 

Er wurde jet auf die Fallthür gejtellt, ihm die 
Beine gebunden; derſelbe DOfftciant, der ihm dieſen 
Dienft gethan, erhob fich von feiner knieenden Stell- 
ung, um ihm die Schlinge um den Hals zu legen. 
Der Sheriff ftand daneben mit der fchwarzjeidenen 
Rappe, bereit, fie dem Opfer über's Geficht zu ziehen. 

In der ganzen ungeheuren Menjchenmenge hätte 
man einen Apfel können fallen hören. 


219 


Mit einem Male brach ein gedämpfter Auf aus 
dem entfernten Hintergrunde, näher fchwellend von 
Augenblid zu Augenblid bis zum tobenden, frachen- 
den, wüthenden Donner, durch die erjchütterte Luft. 

‚„pardon! — Pardon! — Pardon!“ ſchrie es, 
jauchzte e8, raſte es im wilden, vollenden Schwall, 
pon allen Fenjtern, von allen Bäumen und Dächern, 
aus taufend und aber taufend Kehlen. Zücher wehten, 
Arme und Xeiber bewegten fi in ver Verzückung ver 
wahnjinnigen Freude, Weiber Schluchzten und freifchten, 
Männer fchrien, brülften, ftampften mit den Füßen: 
Alles ſich entladend in dem einen unüberfchwänglichen 
Subelfchrei: 

„Bardon! — Bardon! — Pardon!“ — 

Bor dem ungeheuren Sturmgedränge der Menge 
brach. das ungeheure Hofthor zujfammen, wie ein 
Schachteldeckel. Che Sheriff und Conjtabler noch 
wußten, wie ihnen geſchah, war das Armejünderhemd 
dem Gefangenen vom Leibe geriffen und das entführte 
Dpfer auf den Schultern der Menge, vie fih in 
ihrem rafenden Jubel weder um Schuld noch Un- 
Ihuld mehr befümmerte, im Triumph in’s Freie ge- 
tragen. 

Hier, dicht an dem zertrümmerten Hofthor, hatte 
fih ein offener Kreis gebildet, von einem oder zwei 
Dugend ſiämmiger New-Hampfchirern al8 Damm gegen 
die andrängende Menfchenfluth freigehalten. Zu dieſem 
offnen Plate trug man den Befreiten. Wie er feinen 
Fuß taumelnd auf die Erde feßte und, jich umdrehend, 


220 


das Gefiht vom Gefängniffe, wo es hingeftellt 
worden war, in's Innere des Kreifes wandte, jtand 
er vor — Mary Dawfon. 

Neben ihr auf der Erde, mit weißem Schaum 
bevedt, im letten Röcheln, lag das Pferd, das fie 
getragen. 

Er glaubte einen Geift zu fehn. Er ftand ſprach— 
[08, bewegungslos vor der Erfcheinung. 

Sie trat einen Schritt vorwärts, reichte ihm 
ſchweigend ein offenes Papier mit einem ungeheuren 
Siegel. Er nahm es, ohne zu wiffen, was er that. 

Sie ſchien jprechen zu wollen. Ihre Lippen 
bewegten fih. Sie hielt fih das Herz, als wollte 
fie e8 zurücdorüden, mit der linfen Hand. Danır, 
ohne ein Wort, drehte fie ſich hoch und gebieterifch 
um. Die Reihen öffneten fih auf einen leichten 
Winf ihrer rechten Hand, in ver fie die Keitgerte 
trug. In ftummer Ehrfurcht machte ihr das Volk 
eine Gaſſe. Es wurden einige ſchwache Verſuche 
laut, ihr Beifall zu rufen, aber Niemand wagte es 
ihr in's Geſicht. Erſt als ſich die Volkswoge hinter 
ihr ſchloß, brach der Beifallsruf unaufhaltſam ſtür— 
miſch hervor. 

Antonio ſtand noch immer im Kreiſe feſtgebannt, 
die Stelle anſtarrend, auf der die Erſcheinung von 
der Woge der Volksmenge verſchlungen war, als 
der mittlerweile herangekommene Sheriff ihm den 
Pardon aus der Hand nahm und der Menge vor— 
las, die im unermeßlichen Jubel, Cheer auf Cheer 





221 


zum Himmel aufjchidte und ihren neuen Helden in 
einem herbeigebrachten Staatswagen in's Hotel 309. 


Achtzehntes Kapitel. 
Wie Mary Dawfon zu ihrem Mitte kam. 


„Quidquid latet ac parebit.“ 


Dies irae. 


Am Sonntag den 20. November, gegen zehn Uhr 
Morgens, war die New-Yorker Hochzeitspartie im 
Dorfe angelangt. Die beiden Herren, Vater und 
Sohn, Iogirten im Gajthofe; für die beiden Damen 
war ihr altes Zimmer im Haufe des Brautvaters, 
nebft dem von Antonio früher bewohnten daneben, 
mit neuen Glanze hergerichtet. 

Der alte Joſh, Mütterhen Cartwright, die alte 
Either — alle ftanden gepust an der Thür, um die 
Säfte zu empfangen. Die athenlojen Vorbereitungen 
des letten Monats, die erhitte Aufregung und freu— 
dige Erwartung hatten über alle biutenden Erinnerim- 
gen ihre jiegreiche Heilkraft geübt. Die Alten Tchie- 
nen verjüngt; Sufan blühenver, frifcher, Tieblicher, 
befcheidener, herzgewinnender, als je. Ein neues Ge— 
fühl Eindlicher Zärtlichkeit gegen Mrs. Dawſon umd 
Ichwefterliher Demuth gegen Mary belebte jett noch 


222 


ihre alte Freude an der Dienftfertigfeit gegen Jeder— 
mann. 

Mary erhielt Antonio's früheres Zimmer neben 
dem ihrer Mutter angewiefen. Blumen, aus Dam- 
jons eigenem Confervatoire geſchickt, weiße Gaze über 
dem Xoilettentifch, Fenter- und Bettvorhänge von dem- 
jelben leichten Gewebe, hatten die Stätte faft un- 
fenntlih gemacht. hr nicht. Aber dies Herz war 
gewohnt, peinliche Erinnerungen zu beherrichen, und 
wenn es nicht immer, wenn e8 wie diesmal durchaus 
nicht gelingen wollte, diefe Erinnerungen zum Schwei- 
gen zu bringen, dann den Stachel tiefer hineinzu- 
prüden und ihn zu verfchmerzen. Sie faßte alfo das 
Zimmer lieber gerade ins Geficht, als an dem ver- 
hüllten Grauen deſſelben fortzufränfeln. In ſchwei— 
gender Webereinfunft mit ihrer Mutter blieb die Ver— 
gangenheit, deren Gedächtniß hier Beide auf Schritt 
und Zritt umfchwebte, unberührt. 

Miß Damwfon fand auf ihrem Zoilettentifche 
einen Brief vor, deſſen Handjchrift ſie auf der Stelle 
an der Adreſſe erkannte. „Miß Parfons!” fagte fie 
bei jich jelbft und legte den Brief wieder auf dieſelbe 
Stelle. Sie las überhaupt am „Sabbath“ nicht gern 
Briefe. Außerdem fonnte ein Brief von Miß Par— 
fons, von der Hauptftadt des Staates gejtempelt, 
nur über Einen Gegenſtand handeln. Wäre Feuer 
im Ramin gewefen, jo hätte fie ihn bineingeworfen. 

Es war die Abfiht von Mutter und Tochter, 
den Tag nach ihrer Art, in Andachtsübungen zu ver- 
bringen. Aber fie wurden diesmal unvermeidlich ge- 


223 


tört. Den ganzen Nachmittag famen Wagen vorge— 
fahren. Die beiden Herren machten ebenfalls eine 
furze Viſite bei Eartwrights. Suſan wagte aus jung- 
fräuliher Befangenheit weder dem Einen noch dem 
Andern ins Geficht zu fehen. Das Programm lau- 
tete, daß die Trauung Morgen Nachmittag um drei 
Uhr in der Dorffirhe jtattfinden ſollte. In Ab» 
wefenheit des Dorfpaftors, welche Sufan fchmerz- 
lih empfand, hatte der Rev. Dr. Ellis, der Hof- 
prediger der Dawſonſchen Familie, die Trauung über- 
nommen. Nach verjelben follte das junge Baar ſo— 
gleich zu feiner Hochzeitstour über Boſton nad dem 
Süden gehn. 

Eine große Gejellichaft aus dem New-Yorker 
Uppertendom hatte mit ihrem Gefolge alle Gaft- und 
acceffiblen Privathäufer beſetzt; das Auffehn in jenen 
hohen Cirkeln war ungeheuer geweſen; fo daß jekt 
an Ort und Stelle Neugierde und Rivalität die For- 
derung frommen Anjtandes überwogen und der „Sab- 
bath” gottlos übers Knie gebrochen wurde. Jede 
wollte die Erite fein, das Wunderfind zu fehen und 
unter die Flügel zu nehmen. Keine ließ fich abwei- 
jen. Alle waren entzüdt von ihrer Schönheit, ihrem 
Geifte, ihrer bejcheidenen Anmuth. Es war in der 
That unmöglich, Suschen zu widerftehen, felbjt wenn 
e8 nicht vorher ſchon ausgemachte Sache gewefen 
wäre, daß fie die nächte Mode werden follte. Die 
Geſchichte war ja „Jo romantifh!" Zu dieſen Be- 
juchen famen num noch die von den Bekannten aus 
der ganzen Nachbarſchaft, pausbädige Dirnen und 


224 


handfejte Burſche, Farmer und Farmersgenoffen. 
Dan fan fich denken, das es merkwürdige Gefell- 
Ihaftsmifchungen gab, welche zu vermitteln die beiden 
Damen in ihrer Stellung fich berufen fühlten. 

Müde und abgefpannt von dem erfchöpfenden 
Tagewerk, trat Mary um zehn Uhr Abends in ihr 
Zimmer. Um ihre Mutter, vie gleich herauffommen 
mußte, zum Gebet zu erwarten, warf fie fich einen 
Augenblid angefleivet aufs Bette. Dabei hörte fie 
etwas fallen, einen Klang, wie von einem Stüd 
Eijen, unter dem Bette. Sie leuchtete hin und fand 
— emen KRevolver ohne Kolben. Ein Blid genügte, 
um ihn als den Ihrigen, jeit jener Bärenjagd nicht 
wiedergejehenen, erfennen zu laffen. Er mußte im 
Strohſack gejtedt haben, da das Stroh noch daran 
und zwilchen ven Brettern, wie nachgezogen, herun— 
terhing. | | 

Der Gegenitand brachte ihr plöglich die Erinne- 
rung Antonio's jo lebhaft vor die Seele, daß fie uns 
willfürlih aus unausbleibliher Ideenverbindung — 
nad) Miß Barfons Briefe auf dem  Zoilettentifche 
griff. Sie zögerte. Sie hielt den Brief übers Licht, 
um ihn zu verbrennen. hr Herz pochte bei dem 
Sedanfen an den Inhalt. Aergerlich über vie 
Schwäche entriß fie ihn, Schon an der Ede geihwärzt, 
der Flamme. Sie öffnete ihn. Hätte jie in dem 
Augenblide einen Zeugen gehabt, er hätte nicht ahnen 
fönnen, was in ihrem Innern vorging, jo ſehr war 
fie gewohnt, das Geheimniß ihres ſchmerzvollen jun- 
gen Lebens dem BZeugenblide undurchdringlih zu 


225 


machen. Nur die zarten Finger zitterten auf dem 
Papiere, als fie e8 auseinander faltete.e. Zwei lange 
bedructe Zettel fielen aus dem geöffneten Briefbogen 
auf die Erde. Es fonnten nur Berichte über vie 
Procefverhandlungen fein. Jetzt brach das langver— 
haltene, herzbrennende Intereſſe mit pochender Span- 
nung unwiderjtehlich hervor. In dem Augenblid 
hörte jie ihre Mutter kommen. Sie verbarg die 
Blätter. Sie wußte, wie jchmerzlih Vers. Damfon 
an dem Andenfen Antonio's hing. 

Sie wartete, bis ihre Mutter eingefchlafen war, 
was diesmal nicht lange auf ſich warten ließ, um die 
Lectüre wieder aufzunehmen. Die Piitole lag neben 
der Camphinelampe auf dem Zoilettentische. 

Sie las mit fliegender athemlofer Haft, die Au— 
gen ſchienen die Worte vom Papier wegzufaugen. 
Die Schläfe hämmerten ihr. ine unbefchreibliche 
Angſt trieb fie über gewiſſe ominöſe Zeugenausfagen 
hinweg, weiter zu den Reden ver Advokaten. Wie 
fie num zu der Stelle fam, wo der Vertheidiger eine 
genaue Bejchreibung der beim Angeklagten gefundenen 
zerbrochenen Piſtole giebt; wie er dann weiter die 
dazu paffenden Stücke des elfenbeinernen Griffs vor- 
malt und endlich den Schluß zieht: „um diefes Zu— 
jammenpaffen ver Stüde als einen Beweis ver 
Schuld des Angeklagten gelten zu laſſen, müſſe man 
offenbar annehmen, es gäbe nur Eine ſolche Pijtole 
in der Welt — da warf fie die Augen mit namen 
loſen Entfegen auf die vor ihr liegende Waffe, als 

II. 15 


226 


jähe fie Macbeth's Dolch, und flüfterte zurückweichend 
und fih am Stuhle haltend, um nicht umzufallen: 

„Hier tft die andre!” 

Die Schlußfolge jtand im Augenblid mit fchred- 
licher Stlarheit vor ihrer Seele: „Wenn Antonio 
nicht der Mörder war, fo konnte e8 nur Auguftus 
geweſen ſein.“ 

„Wie kam dieſe Piſtole hierher, da nach dem 
Zeitungsbericht ihre eigene unter Antonio's Sachen 
gefunden worden war?‘ Alſo dieſe hier war vie 
ihrige nicht. 

Sie erinnerte fih, daß Auguftus die Nacht nach 
dem Morde hier, in diefem Haufe, bei Cartwrights, 
zugebradht hatte. 

Mit neuer fieberhafter Spannung fehrte fie zur 
Lectüre zurüd. Sie las: „Nach dem Urtheile ver 
verhörten Sachverjtändigen mußte ver Griff beim 
Bärenfampf fpringen, wenn die Pijtole wirklich von 
dem Angeklagten bei jener Gelegenheit in der von 
ihm angegebenen Weife gebraucht worden war.‘ Sie 
erinnerte jih aber Har in dieſem Augenblid, daß 
diefelbe wirklich jo gebraucht worden war, obgleich 
fie nachher das Anftrument nicht mehr gejehen hatte. 
Die ganze Scene jtand ihr lebendig wieder vor 
Augen. Alſo der Griff war fehon, mußte ſchon bei 
jenem Kampfe gefprungen fein; alfo die an der Mord— 
jtätte gefundenen Stüde des Griffes gehörten einer 
andern Piltole an, und — dieje andre Pijtole — es 
gab feine Flucht aus ver entjeglichen Logik — dieſe 
andere Bijtole gehörte Auguftus an. 


227 


Hatte fie ihren Bruder nicht zweimal auf dem 
lichtſcheuen Verſuche ertappt, in das Zimmer zu 
dringen? Was fonnte er darin zu fuchen gehabt 
haben? — Nur vie zurücdgelaffene Piftole. 

Eins nur begriff fie auf einen furzen Augenblic 
nicht. Warum hatte Antonio fie nicht aufrufen laffen, 
um über das Vorhandenjein oder Nichtvorhandenfein 
eines jolchen Duplifats Auffchluß zu geben? So— 
gleich jedoch erinnerte fie fich, daß fie ihm felbit ja 
Ihon bei jener Morgenwanderung von dem Vorhanden— 
jein ſolchen Duplifats gefprochen hatte. Er mußte 
es aljo, daß ein Duplifat vorhanden war und Daß 
dieſes Duplikat Auguftus gehörte. Ein Blid auf 
Miß Parfons Brief beftätigte, was fie jest ſchon 
brennend, jauchzend, zurückſchaudernd, triumphirend, 
biutend im tiefjten Innern fühlte: „Ich habe ihm 
hoch und heilig verfprechen müffen,‘ ſchrieb Miß 
Parfons: „weder an Sie zu fchreiben, noch beim 
Zeugenverhör Ihres Namens oder irgend eines Um— 
jtandes zu erwähnen, der auf Ihre Zuziehung zum 
Berhör führen fünnte. Es ift eine Narrheit von 
ihm, diefe Delifatefje. Ich glaube, er ift verliebt 
in Sie — u. f. w. — 

„O Gott! O Gott! DO Gott!” ftöhnte das von 
den entgegengefebteften Gefühlen zerrifiene Mädchen. 
Das geheime Idol ihres Herzens jtand wieder da, 
jtrahlend in himmlifcher Glorie. Welt und Himmel 
waren wieder mit Xicht überfluthet, von dem Licht, 
das, ach! für fie die Duelle alles Lichtes war. 

„D Gott! D Gott! O Gott!“ jtöhnte ſie wieder, 

15” 


223 


händeringend auf den Knien, und alles war vichte, 
ewige Finſterniß. Ihren eignen Bruder follte fie 
‚überantworten. 

Sie betete, betete, betete; fie rang, rang, rang 
Hand und Herz wund bis zum Abringen. Es war 
immer vdiefelbe Antwort: „Ih muß!” 


Neunzehntes Kapitel. 


Wie Mary Bawfon zu ihrem Pferde kam, Ein alter 
Bekannter taucht wieder auf. 


„Da bört er die Worte jagen: 
Jetzt wird er an's Kreuz geſchlagen!“ 


Die Bürgſchaft. 


Der Entfhluß war gefaßt. Die Ausführung 
durfte feinen Augenblid auf ſich warten lajjen. 

Mary Damwfon fette fih ihren Landhut auf, den 
fie vom Sommer zurüdgelaffen hatte und jest an 
einem Sleivernagel in ihrem Zimmer hängen jah, 
warf fih ihren Mantel über und jtedte die Piſtole 
in die Taſche. So reijefertig, fette fie fich nieder 
und jchrieb ein kurzes Billet an ihre Mutter, in 
diefen Worten: 

„Liebſte Mutter!‘ 

„Ich babe ven Brief von Mit Parſons gelejen. 

Ich finde, daß ich durch mein Zeugnig Mr. Wohl- 


=“ 


229 


fahrts Leben retten kann, wenn ich nicht ſchon zu 
ſpät komme. Alſo gehe ih. Dies bleibt unter un. 
Stets Ihre liebende Tochter 
Mary. 

Es war etwa zwölf Uhr. Sie holte ſich Su— 
fan’s Pferd aus dem Stalle und ritt damit, ohne 
Sattel und Zaum — fie hätte in der Dunkelheit zu 
lange danach juchen müſſen, das gutmüthige Thier 
am bloßen Halfter Tenfend, zu einem zwei Meilen 
entfernten Landhauſe. Sie flingelte lange. E8 dauerte 
eine Ewigkeit. Endlich fam ein Bedienter. Sie 
ſchickte ihre Karte dem Herrn in's Schlafzimmer und 
ließ ihn bedeuten, er müſſe im Schlafrock herunter— 
kommen, es gäbe keinen Augenblick zu verlieren. Der 
Geweckte war natürlich hoch erſtaunt, ſelbſt alterirt. 
Allein Miß Dawſon's Beſuch war ſelbſt unter ſolchen 
Umſtänden keine kleine Ehre. Er gehorchte. Ehe er 

noch den Mund aufthun konnte, rief ſie ihm entgegen: 
| „Mr. Dsborne, Sie müffen mir Ahr Reitpferd 
verkaufen.” Er fah fie verblüfft und mißtrautfch von 
der Seite an, ob es auch richtig bei ihr wäre. 

„Ich verſtehe,“ fagte fie, ‚und Ahr Verdacht, 
ob ich auch meine fünf Sinne noch beifammen habe, 
it unter den Umſtänden ganz natürlih. Aber Sie 
willen, morgen ift Hochzeit; dabei fommen allerlei 
wichtige Dinge vor und werden allerlei wichtige Dinge 
vergeffen. Kurz, es handelt ſich um etwas unenplich 
Wichtiges und Ihr Pferd iſt das Einzige, welches 
raſch genug rennt, um nicht zu |pät zu fommen. Es 


230 


fönnte aber dabei zu Schaden fommen, alfo verfaufen 
Sie's mir.‘ 

„Das fommt mir doch etwas plöglih. Das 
Pferd —“ | 

„Ich babe feine Zeit zum Handeln. Wollen 
Sie fünfhundert Dollars nehmen?‘ 

„Das Gebot läßt fi Hören, Miß Damfon,‘ 
jagte der Herr, der jest völlig aufgewacht war, und 
fih in der Merkwürdigfeit der Rage allmälig zurecht 
gefunden hatte. „Ich will Ahnen morgen ven 
Preis jagen. Unterdeffen fteht das Pferd Ahnen zu 
Dienſten.“ 

„Tauſendmal verbunden, Sir.“ 

„Aber Sie wollen doch nicht bei Nacht und 
Nebel allein reiten?“ 

„Das iſt meine Sorge, Sir. Laſſen Sie ſat— 
teln, ſchicken Sie morgen früh meinen Mantel und 
Klepper zu Cartwrights, und betrachten Sie die 
ganze Sache als unter vier Augen. Verſprechen Sie's.“ 

„Ih verſprech' e8 Ahnen.” (Er Hlingelte.) 
„sohn, wect ven Stallfnecht! Er joll den Eharley 
ſatteln.“ 

Der Bediente ſah ihn groß an: 

„Yes, Sır.“ 

„Sol feine Minute verlieren! Hört Ihr's?“ 

„Ganz wohl, Sir.“ 

Das Mädchen ftieg in ihrer Ungeduld die Treppe 
hinunter und bat den Herrn, nur immer zu Bette zu 
gehn. Er war aber zu galant, obgleich er die No- 


231 


vemberluft höchſt ftörend an den Beinen fühlte, als 
er auf der Piazza zitternd neben ihr jtand. 

Sie hatte unterdeffen ihren Mantel oben ges 
laffen, um ihre Pferd auch um feiner Fever Gewicht 
mehr als nöthig zu bejchweren. 

„Aber nehmen Sie doch wenigſtens Ihren 
Mantel mit,‘ vieth er ihr zähneflappernd ‚Sie 
werden fich erfälten.‘‘ 

Sie antwortete gar nicht. Ihre Gedanfen waren 
weit fort. 

„Da it der Charley ſchon!“ 

‚Aber habt Ihr ihn auch gefüttert?‘ fiel ihr 
plöglich ein. „Er wird’ brauchen.‘ 

Das Füttern nahm noch zwanzig Minuten, wäh- 
rend deſſen der Herr alle möglichen Unterhaltungs— 
gegenjtände werfuchte, aber Miß Dawſon blieb ſtumm. 

Endlich ſaß fie auf und ritt danfend davon. 

Bei jeder andern jungen Dame wäre ihm folcher 
Nachtritt als verbächtiges Abenteuer vorgefommen und 
er hätte fich zweimal befonnen, ehe er dazu die Hand 
bot. Aber Miß Dawfon war in der Umgegend von 
jenem Bärenabenteuer her als „ſonderbar“ befannt 
und privilegirt. Wenn Sie ihm auf einem Bären 
in’s Schlafzimmer geritten gefommen wäre, fo hatte 
er fih zwar darüber erfchreden, aber in Bezug auf 
ihren Antheil an der Sache nicht verwundern fünnen. 

Das ift die Art, wie's die Menfchen machen: 
das Große legen fie fih als unbändig und bizarr zu— 
recht; und das Unbändige, Bizarre iſt ihnen groß. 

Sie war noch Feine PVierteljtunde geritten, als 


232 


ihr einftel, daß fie ihre Mutter um Auffchub ver 
Hochzeit hätte bejchwören jollen. Es war jebt zu 
jpät. Es handelte fih um die Secunde. Als fie 
fünfzehn Minuten vor Sieben auf die Thür des 
Gouverneurs zugejagt Fam, trat ſoeben, — fie 
wollte ihren Augen nicht trauen — Franf Cartivright 
heraus, mit dem Pardon in der Hand. Er erkannte 
fie jogleih, jchon ehe fie noch herangefommen war, 
rief aber immer nur, das Dokument fchwenfend: 
„Pardon! Pardon! Ich hab’ ihn!“ 

Grade um fünfzehn Minuten vor Sieben ſollte 
der Gefangene auf's Schaffot geführt werden, das 
Gefängniß war beinahe noch zwei Meilen vom Hauſe 
des Gouverneurs entfernt. Die Reiterin riß im 
Vorbeifliegen dem Farmer das Papier aus der Hand 
und jagte damit davon. 


Zwanzigſtes Kapitel. 
Wie Frank zu dem Pardon kam. 
„Was hältſt Du meinen aufgehobnen Arm 


Und hemmſt des Schwertes blutige Entſcheidung.“ 
Jungfrau von Orleans 11, 10. 


Frank hatte in Aspinwall das Fieber gehabt und 
im Sterben selegen. Bei feiner verjpäteten Ankunft 


235 


in ©. Francisco fand er zwei Briefe von Sufan 
vor, den einen mit der DBefchreibung des gräßlichen 
Mordes ihrer Schweiter Annie, den zweiten mit der 
Angabe von Antonio's Berhaftung und den erflärenden 
Zeitungsanszügen. Er fehrte ftradfs wieder um. Nach 
einer Reife ohne Aufenthalt langte er um halb jieben 
Uhr beim Gouverneur an und ging gradeswegs in 
fein Schlafzimmer. 

„Governor!“ rief ihm Frank in bie verfchlafenen 
Dhren, „haltet mal grade einen Augenblick mit Eurer 
verflixten Hängerei da oben im Gefängniß ftille, ıf 
you please.“ 

Der Governor fprang aus dem Bett und glaubte 
im erjten Augenblid, ihm käme ein Helfershelfer des 
Mörvders aufs Zimmer gerücdt. Ein zweiter Blick 
auf das ehrliche Geficht und die ſtämmige Gejtalt, 
neben dem fernigen, vaterländifch trauten Ton der 
Stimme, überzeugten ihn, daß er es mit Einem von 
feinem eigenen New-Hampfhirer Schrot und Korn 
zu thun habe. 

„Was, der Daus, ift denn los?“ fragte er, fich 
die Augen veibend, im Hemde. 

„Was los iſt?“ fragte Frank. „Sehet mal ber. 
Sehet Ahr bier diefe zwei Stüde Elfenbein? Was 
jagt Ihr dazu, he?” 

Damit hatte der Eindringling zwei Stüde Elfen- 
bein, mit Silber ausgelegt, aus einen ziemlich 
Ihmusigen, aber außerordendlich feinen Spitentajchen- 
tuch herausgewickelt und hielt fie dem Governor unter 
die Naſe. 


234 


Der Governor fah fie an, fragte fi ven Kopf, 
fragte oder rieb fich verfchiedene Theile feines haarigen 
New-Hampfhirer Leibes unter und über dem Hemde, 
und ſah darauf feinen Interpellenten mit großen 
Frageaugen an: „Na, und was ift die Idee?“ 

„Well, man!“ rief Frank verwundert, indem er 
zum drittenmal die Stüde beveutungsvoll zuſammen— 
paßte und dem Governor unter die Nafe hielt: „Für 
einen Governor ſcheint Ihr mir eine ziemlich dick— 
föpfige Art von Perſon.“ 

An Frans Kopf, der zwiſchen S. Francisco 
und New-Hampihire Zeit gehabt und weiter Nichts 
gethan hatte, als die Sache in allen ihren Details 
immer wieder von Neuem durchzugehen, ftand Alles 
fo Har, daß es ihm ſchwer begreiflich war, mie es 
bei einem Andern anders fein Eonnte. 

Indeſſen hatte ver Governor fich zur Zeit, als 
er über das Gnadengefuch zu entfcheiden hatte, das 
Corpus delieti bringen laffen, und e8 mit dem Ge— 
ſchmack eines Yankee an mechanischen ‚Begriffen‘ 
(notions) einer fehr genauen und neugierigen In— 
Ipection unterworfen. Er erfannte daher jet auch 
fogleich das Kolbenduplikat als folches. Er ließ fich 
bon Frank die Hauptzüge der Bärenjagd erzählen, 
wobei es allerdings dem guten Jungen, troß der 
größten Mühe nicht gelang, ohne Stottern und Er- 
röthen über den Punkt der heimlichen Abjtrahirung 
des Taſchentuchs und der Elfenbeinjtüde zu kommen. 
Als der Governor, dem daran gelegen war, klar zu 
ſehen, ihn über dieſen verdächtigen Punkt nicht weg— 


235 
laffen wollte, fragte Frank, über und über roth: 
„Ra, Governor, ift e8 Euch niemals paffirt zu Eurer 
Zeit, daß Ahr einen Narren aus Euch gemacht habt, 
um eines hübſchen Mädchen willen?‘ 

Der Governor fühlte die Logik des homo sum 
et nil humani a me alienum puto. 

Dieje humane Handlungsweife des jungen Far— 
mers bei jener Gelegenheit beftätigte ſchon an fich 
felbft dejjen Ausfage, daß die Piſtole nicht Antonio 
gehörte, jondern der jungen Dame; und wo alfo auch 
das wirkliche Mordwerkzeug hergefommen fein mochte, 
fo viel war jet Far, der junge Deutfche hatte die 
bei ihm gefundene Piftole ſchon vor dem Morde zer: 
brochen und hatte mit der beim Morde gebrauchten 
nichts in der Welt zu thun. Frank aber, ver von 
Natur Scharffinnig war, Fam fogleich auf Die richtige 
Fährte. Die Spur leitete von Miß Damwfon auf 
ihren Bruder, der, — erinnerte er ſich aus feinen 
Nachforſchungen — ſchon vor zwei Jahren mit Annie 
verfehrt hatte. Ein Pardon lag vollitändig aus- 
gefertigt noch im nächften Zimmer unter des Go- 
vernors Papieren. Er war Schon einmal auf dem 
Punkt gewejen, ihm zu unterzeichnen, hatte fich aber 
unter dem jtarfen Drude der gegentheiligen öffent- 
lichen Meinung wieder davon abbringen laffen. Er 
zeichnete ihn jett auf der Stelle. Die Konferenz 
hatte gerade eine Vierteljtunde gedauert; Frank aber, 
der bei feiner Anfunft direct nach des Governors 
Haus gelaufen war, noch feine Zeit gehabt, fich nach 
einem Pferde umzufehen. 


236 


„Es war Borfehung,” fagte er jedesmal mit 
einem frommen Schauer, wenn er die Gefchichte 
nachher erzählte. ‚Dhne mih wäre Miß Damfon 
zu fpät gefommen, dem alten Governor „den Ver— 
ftand aufzumachen‘ und ohne Miß Dawſon wäre ich 
zu fpät gefommen.‘‘ 

Miß Damfon erinnert ſich fpäter nicht auf ihrem 
Ritt zum Gefängniß das Wort „Pardon“ gerufen 
zu haben. Sie hielt den Gnadenbrief Hoch in 
der Hand. 

So wie die Erften aus der Menge der Reiterin 
anfichtig wurden, fingen einige an „Pardon!“ zu 
fchreien. Am Nu Tief das Wort dur die Maffe 
und der Gefangene war frei, ehe die Botin noch an 
Drt und Stelle angefommen war. 


Einundzwanzigſtes Kapitel. 
Suſan's Hochzeit. 


„Ha! who comes here? 
I think it is the weakness of mine eyes, 
That shapes this monstrous apparition.“ 


Brutus in Julius Cäſar Act. IV. in fin. 


Mrs. Dawfon hatte felbft alle Anordnungen für 
Sufan’s Hochzeit übernommen, um fie mit Eflat in 
ihren neuen Kreis einzuführen. Cine New-Yorker 


237 


renommirte Mopijtin, eine Franzöfin, war mit- 
gejchleppt worden, um für alle Fälle mit ihrer Aus- 
hülfe bei der Hand zu fein. Noch vor nicht langer 
Zeit an der Spike der Modewelt, ſchwamm Mrs. 
Dawſon in diefen Vorbereitungen wie in ihrem Ele— 
mente und fühlte jich wieder jung und glänzend, wie 
fie e8 in der That noch war. La, fie war jünger 
als je. Ein Geift der Liebe und Hoffnung war über 
fie gefommen, wie fie ihn in ihrer fafhionablen Glanz- 
periode nicht befeffen. Sie machte es fich zum Ge- 
Ihäft, das liebenswürdige Kind, in welchem fie vie 
Ketterin ihres Sohnes begrüßte, an ſich heranzuziehen 
und ihr volles Bertrauen zu gewinnen, zugleich aber, 
fie zur großen Dame zuzuftugen. Ueber dem Glücke 
diefer Beichäftigung Fam ihr die Sorge wegen Mary's 
fonderbarem Berfchwinden nicht auf, um jo weniger, 
als fie fih Längit daran gewöhnt hatte, die Tochter 
ihren eigenen Weg gehen und in allen Stüden fich 
felbft vertreten zu laſſen. 

Sufan wollte eben mit Hülfe einer Coufine ihre 
beſcheidene Zoilette anfangen, als Mrs. Damjon 
ſchon im vollen Anzuge, blendend, kaum Fenntlich, fie 
aus ihrem Zimmerchen zog und in das eigne führte. 
Hier wirthichaftete die Modiſtin inmitten eines Laby— 
rinthes von Schachteln jeder Form und Größe, deren 
Anhalt fie auf Stühlen, Tiſch und Bett entfaltete. 
Für Alles, vom Kopf bis auf die Füße, war geforgt. 
Ein Kleid von weißem Moire antique bevedte zuletzt 
bie Spitenfülle der Unterfleiver und war feinerjeitg 
von zwei großen Volants, Point dAngleterre auf 


238 


der Jüpe und einem reichen Beſatz von demſelben 
foftbaren Stoffe an Leibchen und Nermeln fait vervedt. 
Mrs. Dawſon ſelbſt ließ es fih nicht nehmen, die 
Kammerjungfer zu machen, wobei die Mopiftin affi- 
jtirte und Mutter Cartwright und Ejther und bie 
Eoufine bewundernd und ausrufend daneben ftanden. 
Die armen Alten fühlten fich faft fremd ver fo koſt— 
bar gefhmüdten Schönheit gegenüber. Als nun gar 
Ders. Damfon ihr Kranz und Schleier aufjfegte und 
dann der jungen Braut ein fehweres Etui als Ge— 
Ichenf von ihrem Schwiegervater präfentirte; als aus 
dem geöffneten Käftchen die Diamanten zu Hunderten 
funfelten, und Mrs. Dawſon ein Halsband daraus 
nahm und es ihrem rofigen Schüßling um den weißen 
Naden Schloß, — da erfchien fie ihnen fait wie ein 
jtrahlendes Engelsbild. Und fie ſelbſt, da fie fich ſo 
vom Spiegel zurüdgeftrahlt fah, rief in unmillfür- 
liher Bewunderung ihrer eigenen Holpfeligfeit aus: 
„Ach, wie Schön bin ich!" 

„Du Liebling,” vief Miß Dawfon und küßte fie 
dreimal hinter einander. Die Eleine Herrlichkeit aber 
lief ftrads ihrer Mutter, ver alten Ejther und der 
Couſine, die vor ihr zurückwichen, als fürchteten fie 
durch ihre Berührung etwas an ihrem weißen Ölanze 
zu verderben, nacheinander in die Arme, um jte mit 
Küffen und Liebkofungen zu verfichern, daß fie noch 
immer ihre gute, Kleine Suſan jei. 

Ein Bedienter in Gala Elopfte jest an. Die 
Kutſche war vorgefahren. Solche Kutjche! folder 
Kutſcher! folche Pferde! Man hatte im Dorfe noch 





239 


nie etwas Aehnliches gefehen. Und dann fam gleich 
noch eine andere. 

Ale waren jett fertig. Mit pochendem Herzen 
jtieg die Braut ein, vom Bräutigam, der ihr ven 
Schlag hielt, galant geführt, nachdem fie dem alten 
Joſh, ver fait eben fo zitterte wie fie ſelbſt, noch 
einen zitternden Kuß gegeben. 

In leichten Federn jchwebten die Wagen fort. 
Niemand bemerkte oder erinnerte fih an Miß Daw— 
jon’8 Abwefenheit, außer ihre Mutter. 

ALS jie an der Kirche ankamen, jtanden Kutſchen 
und Carrioles und Buggies, furz jede Art von ftädti- 
Ichen und ländlichen Fuhrwerfen in zwei langen Reihen 
an beiden Seiten der Straße aufgepflanzt. Die 
Sloden läuteten, und Herren und Damen, welche 
durch ihre Zoiletten die Felte der Fünften Avenue 
in ven Schatten ftellen zu wollen fehienen, drängten 
fich in vemofratifcher VBermifchung mit drallen, friſchen 
Landmädchen, Barmen im Sonntagspuße und alten 
Mütterchen in verfchoffener Seide oder neuem Kattun, 
auf den Stufen und durch die Kirchenthür. Die 
Drgel tönte, als fie eintraten. Viele mußten draußen 
bleiben. Aber eine Anzahl junger Herren aus New— 
York und junger Farmers vom Orte, mit weißen 
Rofetten am Arme, hielten als Marfchälle eine aus- 
gezeichnete Ordnung aufreht umd den Gang zum 
Altare auf der linken Seite völlig frei, während man 
auf der rechten, der Farmersſeite, den Zudrang big 
zum Erſticken erlaubte. 

Als Sufan aus dem Wagen ftieg, fiel ihr Blick 


240 


auf den alten Joſiah Batchelvder, der mit Reihe ge- 
macht hatte, um jie durchpaffiren zu laffen. 

„Lieber alter Joſiah!“ fagte fie im Vorbeigehen, 
ohne die Augen aufzufchlagen, laut genug, daß er es 
hörte. Der alte Mann — dies wurde von mehreren 
erjtaunten Zeugen nachher als factifch bejtätigt, — 
vergoß eine wirklide Thräne. Die ältejten Ein- 
wohner konnten ſich nicht erinnern, eine fo merf- 
würdige Naturerfcheinung erlebt zu haben. Das 
Paar ſtand jegt am Altare, Brautjungfern und 
Grooms links und rechts, der Paſtor in der Mitte 
por ihnen. 

Der Reverend Dr. Ellis war, wie die meiften 
bochgeftellten Geiftlihen in Amerika, ein gewaltiger 
Redner. In einem Lande, wo Reich und Arm gleich- 
mäßig ungelehrt jind und ſich alle Stände auf ver 
Maſſe des gefunden Menfchenverjtandes und der fitt- 
lichen Triebe Rendezvous geben, paßt derjelbe Schlüffel 
zu dem Herzen ver Vornehmen wie des Bolfes, und 
das war gerade das Thema diesmal für ven Prediger: 
die jchöne Seite der Herzensgleichheit unter den 
„gelegneten Inſtitutionen dieſes  chriftlichen und re— 
publifanifchen Landes." Das Schlagende des vor— 
liegenden Falles gab feinem ſtets Fräftigen Worte 
diesmal noch einen bejonderen, feierlihen Schwung. 
Sp wurde die Ceremonie gewiljermaßen zu einem 
Liebesfejt zwifchen ven beiden Klaſſen, den Kindern 
des raffinirten Luxus und der ländlichen Einfachheit. 

Die beiden Gruppen fühlten ſich warmherzig zu 
einander bingezogen, wie iwiedergefundene Brüder. 


241 


Es war Gefahr vorhanden, daß alle jungen Dandies 
fich junge Landmädchen und alle jungen Farmer fich 
New-Yorker Ladies aus den gegenüberftehenvden Bänken 
aussuchen, allgemeine Eopulation die Tagesordnung 
und der Pla vor dem Altar fobald nicht mehr leer 
werden würde. Als nun gar die Braut, jtrahlend 
in dem vereinten Schmude thauiger, ländlicher Frifche 
und modifchen Slanzes, fich zitternd an die Opfer— 
Itufen führen ließ, ergriff Rührung, Ehrfurcht, Tiebende 
Sympathie die ganze Berfammlung. Es war einer 
jener heiligenden Augenblide, welche ver Menfch nur 
in der Communion mit der Gemeinde findet, wo er 
tiefer jelbit als in ver Einfamfeit ver Natur, ſich in 
der Gemeinfchaft mit einem Unerfchöpflichen, un— 
erihöpflih Guten fühlt. 

Suſan bielt die Hand ihres Berlobten jo feit, 
wie ein Kind in Gefahr die Hand des Vaters. 
Sie meinte vor lauter Seligfeit und Brautangſt. — 

„Auguſtus Dawfon,‘ ging der Paftor zu der 
geheiligten Schlußformel jet über: „Willſt Du 
dieſes Weib haben zu Deinem angetrauten Ehegemahl, 
zujammen zu leben im heiligen Stand der Che, nad 
Gottes Verordnung? Willſt Du fie lieben, fie 
trösten, ehren und ihr helfen, in Krankheit und in 
Geſundheit, und alle Andern laffend, zu ihr allein 
Dich halten, To lange als Ahr Beide lebet?“ 

„Ich will es,“ fagte Auguſtus Dawſon mit un- 
jiherer Stimme. 

„Sufan Cartwright,“ fuhr der Geiftliche fort, 
„willſt Du diefen Mann haben zu Deinem angetrauten 

I. 16 


242 


Chegemahl, zujfammen zu leben im heiligen Stand 
der. Ehe, nach Gottes Verordnung? Willſt Du ihm 
sehorchen und ihm dienen; ihn lieben, ehren und 
halten, in Krankheit und in Gefundheit und alle 
Andern laſſend, zu ihm RER Dich halten, To lange 
als Ihr Beide led — — 

„Nimmermehr!“ rief eine Stimme, welche von 
dem Ende des offenen Ganges klar, bejtimmt und 
deutlich in jedem Winfel der Kirche wieder Fang. 

Die Braut, welche eben die zitternden Lippen 
zum „ich will e8 geöffnet hatte; der Bräutigam, der 
jih eben mit dem aufjteigenden Athem des erjehnten 
Wortes eine Steinlajt vom Herzen heben fühlte; ver 
greife Brautvater, der eben mit feinem weißen Apojtels- 
fopfe gehorfam auf den Wink des reverenden Mannes 
laufchte, um die Braut „wegzugeben“; Herr Dawjon, 
ver eben eine jchwere Bürde von Sorge und Ver— 
fegenheit von feinen Schultern abzufchütteln glaubte; 
Mrs. Dawjon, die überfelig weinend an dem Anblid 
des jchönen Paares hing; die beiden alten Frauen, 
die andächtig lispelnd die Formel nachbeteten; die 
ganze Verfammlung, die ſympathetiſch das erwartete 
Wort, ſchon ehe es noch gefprochen war, von den 
Lippen des allgemeinen Yieblings jchlürfte — Alle 
suhren in demfelben Augenblid, jchredenbleich wie 
bei plößlichem Feuerruf auf einem Schiffe, mit dem 
Kopf nah der Stimme hin. 

Sie ſahen am untern Ende des Ganges, eben 
aus dem Gedränge herausgetreten, einen jungen 
Mann mit eingefallenen, leicht gerötheten Wangen, 


243 


dunklem, melancholiſchem Auge und braunen Loden. 
Seine Lippe war fejt, jein Blid ruhig entſchloſſen, 
ob auch jchmerzlih. Er hielt Hut und Reitpeitſche 
in der linfen Hand. Die Rechte war feierlich nach 
dem Altar ausgeftredt. Dann fchritt er unter dem 
Iprachlojen - Starren der Berfammlung durch den 
Gang bis gerade vor den Bräutigam hin. Mit 
untergefchlagenen Armen blieb er vor ihm ftehen und 
jah ihm kalt in’s Auge. 

Ein Schrei des Entſetzens entfuhr Auguſtus 
Damjon, jeine Arme und Hände fpreizten fich con— 
puljtniich auseinander, wie die einer am Faden ge— 
zogenen Gliederpuppe. Er fprang zurüd und fiel 
über die Stufen hinter fih gegen den Altar. Ein 
Schrei des Entjeßens entfuhr der Braut. Sie janf 
wie leblos dem Geiftlichen, der fie auffing, in bie 
Arme. Ein Schrei des Entjegens entfuhr zu gleicher 
Zeit den drei Frauen, welche die Ceremonie am 
nächſten anging und welchen die Erfcheinung am 
Ihredhaftejten in die Erinnerung trat. Herr Dawſon 
war aufgeitanden, fiel aber, als er die Züge des 
Schredgeipenjtes erkannte, erbleichend in jeinen Sit 
zurüd. Der alte Joſhuaga betete ein Stoßgebet. Der 
GSeiftliche war der Erjte, der dem allgemeinen Grauſen 
Worte verlieh. Don der Ohnmächtigen aufjehend, 
die er in den Armen hielt, rief er, gläubig entiekt, 
nicht über einen Geift, aber über eine Wunperthat 
der Vorſehung: „Die Todten ftehen auf! Ein Ge 
richt ift über ung gekommen!“ 

16* 


244 


Das war das allgemeine Signal für den Aus— 
bruch des geſpenſtiſchen Schredeng! 

Die Weiber freifchten fürchterlich und fielen in 
Ohnmacht; die Männer fchrieen wild durcheinander 
in Frag’ und Antwort, zwifchen Graufen und wach- 
jendem Zorn: ‚Wer ift das?“ ‚Der Hingerichtete!‘‘ 
„Der Mörder! „Der Frehe! ‚Woher fommt 
er?” „Vom Galgen!“ „Tragt fie hinaus, fie ftirbt.‘ 
„Iſt er nicht gehangen?“ Hängt ihn denn!“ „Er ift 
entjprungen!” „Hängt ihn, ſage ih!“ „Ich bin 
für Judge Lynch! „Bringt ihn vor die ordentlichen 
Autoritäten!“ „Ich bin für Judge Lunch!“ „Nicht 
doch, feine Gewaltthätigkeiten!“ „Hängt ihn, fag’ 
ih! „Lyncht ihn! „Hängt ihn!“ 

Alles dieſes wurde in demjelben Athem, von 
allen Seiten, von Hunderten von Menfchen durch- 
einander gefragt, geantwortet, gerufen, gedroht, getobt. 

Einige waren auf ihre Site zurüdgefallen, Andere 
auf die Bänfe gejprungen, um beſſer zu jehen; vie 
Meiften drangen vorwärts und der Ruf: „Hängt en 
Lyncht ihn!‘ übertönte ſchon alles Andere. 

Die Braut wurde in die Kapelle getragen; der 
Bräutigam fprang von feinem Falle im Augenblid 
wieder auf, Hatte im nächjten über die Kirchenfite 
zu feiner Rechten gefeßt, da durch das Gedränge fein 
Ausgang war, Fletterte mit der Behendigfeit eines 
Eichhörnchens an dem hohen Fenſtergeſims hinauf, 
brach fich, ohne den langwierigen Proceß des Feniter- 
auffchiebens zu verjuchen, mit vem Ellenbogen durch 
die klirrenden Fenfterfcheiben Bahn und war im 


245 


nächjten Augenblid verſchwunden. Der alte Damjon 
ſah ihm verftört nah; auf jeinem Gefichte lag der 
Blödfinn des Schredens. 

Mrs. Damjon, da fie ihren Sohn vor dem an- 
geblichen Mörder entfliehen jah, hielt fich das Geficht 
mit beiden Händen zu. Was für ein gräßlicheres 
Geheimniß lag denn noch Hinter diefem gräßlichen 
Auftritt? Unterdeffen verwandte der Anjtifter aller 
diefer furchtbaren Aufregung und Verwirrung fein 
Auge von dem Flüchtigen, bis er ihn hatte aus 
dem Fenfter verfchwinden fehen; ohne fi im Ge— 
ringjten um die drohende Menge zu befümmern, vie 
ihn ſchon mit ihrem vollendeten Knäuel ummwidelt 
hatte und fih mit Wuthgefchrei um ihn riß. Einige 
hatten ihn umſtellt und heifchten Ordnung, um den 
entfprungenen Berbrecher den orventlichen Gerichten 
zurüdzugeben; fie wurden zerzauft, ummbergeitoßen, 
niedergeworfen. Eine gewaltige Kauft griff jet Durch, 
padte das auserjehene Schlachtopfer beim Kragen 
und zerrte ihn zwijchen feinen erichöpften Vertheidi— 
gern hinaus. in wildes, mörderiſches Gellen ver- 
fündigte den Triumph der Lynch-Juſtiz. Jetzt war's 
um den Verurtheilten gejchehen. In demjelben Augen- 
bli aber wurde der nervige Arm, der ihn gepadt 
hatte, von einem noch nervigeren in die Höhe ge- 
Ihlagen, Iuftmachende Stöße fielen rechts und links 
im Kreife um den Gefangnen; über dem blutgierigen 
Gebrülfe feiner Henfer machte jih mehr und mehr 
eine Stentorjtimme geltend, welche alle Anvern ver- 
eint, zulegt niederbrüllte: „Hallo Boys! Hand weg, 


246 


Zom! Dummes Luder! Hallo Boys! Himmel, 
was für gottgefchlagene Narren! Weg mit Eurem 
vertradten Arm da, Sir, oder bei Jehu, ich verderb’ 
Euch die Phyfiognomie. Bei Jehu! Boys, Taft 
mir meinen Heinen Dutchman fein. Hallo, Tony, 
mein unge, ich bin hier! Nur munter, es wird 
ſchon. So hört do nur, Harrh, es ift ein Freund! 
Sp iſt's recht, Tony, Donner, ich hätte nicht ge- 
glaubt, daß fo viel Zunder in Euch wäre! Was 
für eine gottgefchlagene Bande Narren! Tom, fag’ 
ich, es ift ein Freund, um Gotteswillen!“ 

Jetzt machte fich neues Erjtaunen in neuen Aus— 
rufungen Luft: „Frank?!“ „Es ift Frank!“ „Wahr: 
haftig, er iſt's!“ „Frank ift zurüdgefommen!“ „Ich 
dacht’, er wir’ in Californien?” „Frank ift da!“ 

Damit legte ſich der Kampf, jekt ganz gegen 
Antonio's Gefhmad. Seine Schwäche von Der 
langen Haft her, war mit dem erjten Griff am feinen 
Kragen verfchwunden, und faum hatte er Luft, fo 
bieb er um fich mit der Wuth eines jungen Löwen 
und dem fichern Ztel eines alten Schlägers. Er war 
jet im Feuer. Schnaufend und verderbenfprühend 
ſtand er da, das wahre Bild des jugendlichen Kriegs- 
gottes. | 

Herr Damwfon hatte inzwilchen Zeit gehabt, feine 
Lebensgeifter wieder zu fammeln. Mit gewohnter 
ſpekulativer Umficht ergriff er den Augenblid beim 
Schopfe, indem er fich mit vornehmer Höflichfeit an 
Frank und Antonio wandte — eben die, die er am 
meiften fürchtete — mit dem Erfuchen, ihm doch be- 





247 


hülflich zu fein, ;,diefe Dame‘ durch das Gedränge 
zu führen. 

Mrs. Dawſon ſaß regungslos auf der vorderjteu 
Banf. In ihrem armen Kopfe war es Chaos. Nur 
Eines begriff fie in all’ dem wüſten Durcheinander, 
namlich, daß ihre Hoffnungen, auf ewig zertrümmert, 
am Fuße des Altars lagen, und daß das Schred- 
lichſte erſt noch bevoritehe. 

Antonio näherte fih ihr. Wie fie da ſaß, im 
dem Augenblid fo entjchieven das Bild Mary’s in 
allen ihren Zügen — nur um etwas Alter, nur um 
etwas abgehärmter, nur unendlich erbarmungswürdiger, 
— die ſtolze Blume des Weltlebens völlig und un— 
wiederbringlih geknickt — da ſenkte fih das Haupt 
des jungen Mannes in unendlich liebender Ehrfurcht 
und unfäglihen Schmerz. Es reute ihn jein Leben, 
daß es zwiſchen fie und alle Hoffnung des ihrigen 
hatte treten müflen. Er wollte ihre Hand ergreifen. 

AS hätte der Haß ihr neue Kraft in die Adern 
gegojien, erhob ſich Mrs. Dawfon »lößlich bet feiner 
Annäherung, gab ihrem Wanne den Arm und drehte 
Antonio, ohne ihn eines Blides zu würdigen, den 
Rüden. 

„Das hat man davon,‘ rief eine New-HYorkerin, 
welche fih mit einer Andern unmittelbar vor den 
Dawſon's herausdrängte und für wenigſtens zehn- 
tauſend Dollars Spiten und Diamanten am Xeibe 
trug, „wenn man fih mit Bauernpack einläßt!“ 

„Welche Blamage für Vers. Dawſon,“ ſchrie 


248 


die Andere, welche ihrer Nachbarin an Toilettenver- 
Ihwendung nichts nachgab. 

„Die Dawſon's haben immer folche vergquere 
Liebhabereien,“ erwiderte die Erite; „paſſen Sie ein- 
mal auf, was für ein Meerwunder Miß Damfon 
noch heirathen wird.‘ 

„Wo möglih den vom Galgen entjprungenen 
Mörder felbit; das wäre gerade eine Partie nach 
Dawjon’ihem Geſchmacke!“ 

Sp ging das Gefpräh fort; Mrs. Damfon 
hatte den Kelch bis auf die Hefen zu leeren, da big 
an die Kirchenthür fein Entfommen war und das 
Gedränge ſich mit verzweifelter Langſamkeit fortichob. 

Das war die Rache Mrs. Divdles an Mes. 
Dawſon für die weggefchnappte Toilette und Mrs. 
Sewerages — geborene Bradbury — an Marh für deren 
vom Gerücht natürlich übertriebenen Bergabenteuer 
mit Antonio. Obgleich Mrs. Severage den „dis— 
tinguirten Preußen“ weder haben fonnte, noch viel- 
leicht hätte haben wollen, jo fühlte fie fih doch im 
Beſitze eines Älteren Anrechts auf ihn und shnmte 
ihn keiner Andern. 

Frank zog ſeinen herzwunden Freund in die Ka— 
pelle, um nach ſeiner Schweſter zu ſehen. 

Suſan war von dem New-Yorker Paſtor, der 
jih vornehm egotjtifch feinen eigenen Schafen nach— 
gezogen fühlte, ver Sorge ihrer Eltern und Freunde 
überlaffen worden. Sie fiel aus einer Ohnmacht in 
die andere. 


249 


Beim Tone von Franks Stimme famen ihr Xeben 
und ein Schimmer von Zroft zurüd. — 


Zweinndzwanzigftes Kapitel. 


Wieder das unglückliche Geſchüft. Bankerott aus Deutſch- 

land und Rettung aus der Havana in Einer Stunde Ein 

neuer Charakter tritt auf, Monſteur Maurice, avocat et 
conseiller, weldyer eine Mine legt. 


„Die können denn die Sach’ wol Breiten, 
Und ihr Garn nad dem Wildpret fpreiten, 
Und aus dem Sächle wird ein Sad’, 

Und aus dem Rüntzle wird ein Bad.” 


Sebaftian Brandt’3 Narrenſchiff LXXI. 


Frank hatte, nach Antonio's Entführung aus den 
Klauen eines ſchmählichen Todes, eben nur Zeit ge— 
habt, dem geretteten Freunde in feinem Hotel vie 
Hand zu prüden und war dann davon gejagt, um 
dem Mörder feiner eriten Schweiter um Alles in der 
Welt die zweite zu entreißen. Antonio blieb im Rreife 
feiner Freunde zurüd. Mit Parfons hatte Mary 
Dawfon, die in demfelben Hotel Logirte, auf einen 
Augenblid geſprochen. Die junge Dame lehnte es 
ab, den Geretteten zu jehen, und ging mit dem näch- 
ten Zuge nach New-York ab. 

Unterdeſſen waren Antonio Bedenken über Franf’s 
Chancen aufgejtiegen. Das Pferd, auf dem er ab- 


250 

geritten, war wohl recht gut, aber fein Renner von 
Profefjion; unterwegs würde er jchwerlihd etwas 
Befjeres zum Relais finden. Wäre es nicht ver- 
nünftiger gewejen, anderthalb Stunden auf ven 
Eifenbahnzug zu warten, um noch dreißig Meilen 
Eifenbahn- und Dampffahrt zu gewinnen und dann 
erjt vom Hafen aus zu Pferde auszufegen? Antonio 
beijchloß, den Irrthum feines Freundes zu corrigiren, 
gewann jo das Wettrennen und rettete die Braut. 

Kaum war er eine halbe Stunde fort, fo brachte 
der Laufburſche des Hotels unter den angefommenen 
Briefen zwei an Wilhelmi von der Poft zurüd, damit 
diefer doch auch fein Theil an den Aufregungen und 
Ueberraſchungen diejes ſchickſalsvollen Tages habe. 

Bröſingk & Co. in Cöln hatten Zahlung ein- 
geſtellt. 

Die Nachricht kam ſo plötzlich, daß Wilhelmi 
nicht wußte, ob er lachen oder Zeter ſchreien ſollte, 
jedenfalls lachte er, als er dem Advokaten den Brief 
hinhielt. 

„Ich bin banquerott.“ 

„Wie hoch belaufen ſich die Verbindlichkeiten, 
die Sie für die Firma eingegangen ſind.“ 

„Das läßt ſich ſo aus dem Kopfe gar nicht be— 
rechnen. Von den fünfzigtauſend Dollars, die ich 
vorgeſchoſſen, habe ich nur erſt noch die erſte Note 
bezahlt bekommen und dabei noch Wechſel auf Wechſel 
für die Leute honorirt, negocirt und endoſſirt.“ 

„Das nehmen Sie mir aber nicht übel, Sie 
haben Ihre Strafe redlich verdient.“ 


251 


„Das follte aus Einen bei diefem Geſchäftsleben 
überhaupt nur noch werden, wenn es ums nicht we— 
nigftens Gelegenheit zur Generöfität gäbe. 

Mit verfelben Poſt war ein Brief von Togores, 
dem Agenten der ſpaniſchen Geſellſchaft, angefommen, 
deſſen Ankunft in New-NYork meldend. 

Das war ein Hoffnungsſchimmer. Die Lokomotive 
it das Shmbol des amerifanifchen Lebens. Was ftich 
andermärts über Jahre ausdehnt, tft bier im eine 
Woche zufammengedrängt. Mean führt per Dampf 
durch's Leben. Sonft iſt's fo ziemlich dieſelbe Ge— 
gend, die man durchfährt. 

In einer Stunde waren Advokat und Client 
auf der Eiſenbahn, am nächſten Morgen um ſechs 
Uhr in New-York. 

„Ib, Sie ſind's“, rief Togores aus dem Bette 
dem eintretenden Wilhelmt entgegen. „Das muß ich 
jagen, Sie find prompt.‘ 

„Ich habe dieſes Mal meine befonderen Gründe 
dazu.“ 

Er ſetzte dem Agenten die Lage auseinander. 

„Wie viel brauchen Sie?“ 

„Sechzigtauſend.“ 

„Welche Sicherheit können Sie mir geben?“ 

„Das ganze Waarenlager, wofern es mir aus— 
geliefert wird; und dazu noch für nn 
Dollars Landlots.“ 

Mit einem Sat war der Spanier zum Bette 
hinaus: 

„Chicago, der große Markt des Weſtens!“ phan- 


252 


tafirte er. „Gerade der Stüßpunft, den wir für 
unfere Operationen brauchen. Stiften eine Agentur 
dort. Großartige Gefchäfte — maſſenhaft! Miffifippi 
unjer, Canada unfer! Nordamerika unfer! Die ganze 
Hemifphäre unjfer! China links, Europa rechts! 
Allons, marchons!” 

Ein Tag verging in juridiſchen Befprechungen. 
Am Donnerjtag gingen Wilhelmi, der Advokat, der 
Agent und ein junger Spanier, Medina, ven Lebterer 
als jeinen Bevollmächtigten im Weiten laſſen wollte, 
nach) Chicago ab. 

Nah ſchweren Unterhandlungen entjchloß fich 
zulegt Herr Bork, deſſen fich der Leſer als Bröſingks 
Repräfentanten erinnert, das Geſchäft an Wilhelmi 
auszuliefern, wogegen dieſer fich verbindlich machte, 
alle protejtirten Wechfel für venjelben aufzunehmen, 
was Togores mit jechzigtaufend Dollars garantirte. 

Dagegen mußte nun Wilhelmi wieder daſſelbe 
unglüdlihe Geſchäft, als Theil der Sicherheit für 
Togores Borfhüffe, diefem verjchreiben. Doch Jollte 
diefer Privatverkauf nur die Form jein, in welcher 
der Darleiher jeine Forderungen ficherte.e Sobald 
der Verkauf des Waarenlagers 75,000 Dollars realis 
jirt hätte, hörte damit aller Anſpruch des Agenten 
darauf auf. Für Wilhelmi handelte es fich jest 
darum, einen pafjenden Vertreter zu finden, der ihm 
jein Gefchäft in Chicago verwalten fünne. Er erin- 
nerte fich eines jungen Mannes in Milwaufee und 
ging jogleich dahin ab. 

Während Wilhelmi’s Abwefenheit fiel e8 dem 


253 


Afrikaner ein, daß er eigentlich ein Duell ohne Se- 
fundanten fechte; hier war er in der Hand feines 
deutfchen Gefchäftsfreundes und von deſſen Advokaten. 
Er ſelbſt hatte feinen Mann des Gejetes zur Seite 
und fonnte nicht beurtheilen, wie weit den gejeßlichen 
Formen zu feiner Sicherheit Genüge gefchehen. Der 
Gedanke war gewiß ganz gerechtfertigt. Auch war 
e8 für den ancien militaire nicht weniger gerecht- 
fertigt, daß er, um fi zur entfprechenden Recog— 
noscirung zu jtärken, in das Barzimmer von Briggs- 
Honfe trat und einen Abſynth forderte. Durch das 
brennende Getränf noch mehr angefenert, war jet 
das Solvdatenblut zu dem Hitpunfte hinaufgetrieben, 
wo es zur Attaque vorſchreiten oder die Adern beriten 
mußte. Er fragte alfo den Barbenzer, gewiß die 
bejte Autorität in einer jolchen Angelegenheit, ob er, 
ihm nicht einen franzöfiihen Aovofaten nachweifen 
fönne. 

An einem der Fleinen Marmortifche an ver Wand 
ſaß ein anſtändig gefleivetes Individuum, welches 
eine blaue Brille umd einen Badenbart a l’Anglaise 
trug. „Monſieur braucht einen franzöſiſchen Advokaten,“ 
eröffnete fi) das Individuum in gutem Franzöſiſch, 
‚ih habe die Ehre, Monfteur den erjten franzöſiſchen 
Advokaten ver Stadt Chicago vorzuftellen.“ 

„So? Ihr Name, Monſieur?“ 

„Monſieur Maurice, avocat et conseiller. Ich 
bin’, an den fich alle Fremden in Gejchäftsangelegen- 
heiten hier adreſſiren, gleichviel welcher Nation fie 
auch angehören mögen. Hier ift meine Karte. Monjteur 


254 


wird mir das Bergnügen machen, mich nach meinem 
Dffice zu begleiten.’ 

Der Agent willigte zögernd ein, aber noch waren 
jie nicht fünf Minuten gegangen, jo hatte ver Avocat 
et conseiller jeinen Bogel im Bauer. Er hatte 
diefelbe apodiktiſche Manier, wie jein Begleiter, nur 
noch unverſchämter. Das imponirte dieſem jehr. 
Er hatte ein Wort des Hohnes für alles Amerifanifche, 
was ihm auf der Straße begegnete, bei der unge 
mejjenjten Bewunderung für das Großartige des 
amertiantihen Spekulantenwejens und. der amerifani- 
ſchen Gelegenheiten zum Spefuliren. Beſonders das 
entſchied. Togores ſchüttete fi) gegen ihn aus. 
„Hm!“ ſagte Monſieur Maurice, ‚das iſt magnifique, 
aber das iſt kein Geſchäft.“ 

„Wie ſo?“ 

„Wenn man ſich die Mühe giebt, Monſieur, von 
der Havanna nach Chicago zu reiſen, ſo will man 
doch Etwas davon haben.“ 

Das war einleuchtend. 

„Hier handelt es ſich um einen Werth von circa 
hundertfünfzigtauſend Dollars. Ein ſolches Kapital 
opfert man der Freundſchaft nicht.“ 

„Der Freundſchaft,“ rief der Andere wegwerfend, 
„dieſer deutſche Herr iſt mir nur von Geſchäften her 
bekannt.“ 

„Nicht Ihr Freund?“ fragte der verſchmitzte 
Rathgeber mit gut geſpieltem Erſtaunen. „Aber, 
Monſieur, in dem Falle werde ich mir als Ihr 
Advokat erlauben, Ihr Verfahren zu kaſſiren.“ 


255 


Die Doje war ftark, aber fie wirkte, wie: fie 
ſollte. Dem Afrifaner jtiegen einen Augenblid die 
Borften gegen das Wort ‚‚kaffiren‘ auf. Doch damit 
war er vollitändig gezähmt. 

„Thun Sie, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen 
carte blanche.‘ 

„Monſieur, Sie werden zufrieden fein.‘ 

„And was Ihre Mühe betrifft, verſtehen Sie, 
jo bin id —“ | 

„Monfieur, ich habe noch nie einen Afrikaner 
gefannt, der nicht ein großes Herz gehabt hätte.‘ 

„Ohne Eitelfeit, Monfieur, ein ancien officier, 
der unter Bedeau jeine Schule gemacht hat, veriteht 
die Affairen anders, als ein Yankee, ver Hinter dem 
Ladentiſche groß geworden iſt.“ 

‚Ah, en yankees, ne m’en parly jean!” rief 
der Advokat mit dem Ausdruck unbejchreiblicher Ver— 
achtung. 

„Fünfundzwanzig Procent vom Profit!“ rief der 
Agent in der Hitze ſeines aufgeſtachelten Ehrgeizes. 
„Genügt das, Monſieur?“ 

Monſieur Maurice machte eine befriedigte Ver— 
beugung. Er hatte ſich ſogleich überſchlagen, daß 
dies eine Spekulation von zwanzig- bis dreißigtauſend 
Dollars für ihn werden könne, ſelbſt wenn er ſeinen 
Clienten ganz ehrlich behandelte, wie das durchaus 
nicht in ſeiner Abſicht lag. 

„Ich werde den Contract ſogleich aufjegen,‘ 
ſagte er, „les bons comptes font les bons amis.“ 

Dieſe Rede mißfiel dem Afrikaner, da ſie durch— 


144 


256 


aus nichts Afrikanifches hatte, ſondern fo recht nach 
dem Epicier roh. Allein er war jest ſchon einmal 
willenlos in der Schlinge. 

„Ich erwarte ven Advofaten des deutſchen Mon— 
ſieurs,“ fagte der Spanier, ‚in einer halben Stunde 
in meinem Gafthofe.‘‘ 

„Gehen Sie nur voran,‘ fagte Herr Maurice, 
„ich habe noch einen Clienten zu ſehen. Es handelt 
fih um eine Million. Aber ich werde unfere kleine 
Angelegenheit darüber nicht vernachläffigen. Ver— 
laffen Sie fih auf mich. In einer halben Stunde 
bin ich in Briggs-Houſe.“ 

Der Client, ven Herr Maurice noch erſt fehen 
mußte, war aber ein amerikanischer Advokat, bei dem 
er fürzlih als Schreiber gearbeitet hatte, um bie 
Kunft zu lernen; und die Million, um die es fich 
dabei handelte, war eine halbe Unze jurijtifcher Weis- 
heit, die er fich bei Herrn Comftod, feinem früheren 
Principal, holen mußte, da er fie felbft nicht hatte. 
Er fette alſo diefem den Fall als abjtracte, juriftifche 
Studie auseinander. Der Nechtsfundige gab ihm 
das einfache Mittel an: „wenn man folche Gejchäfts- 
übertragung, wie diejenige, von welcher Sie Iprechen, 
gerichtlich regijtriven läßt, jo hört diefelbe damit auf, 
ein bloßes Privatabfommen zur Sicherheit des Gläu— 
bigers zu fein und derſelbe wird dadurch zum abſo— 
luten Eigenthümer.” 

Sowohl Wilhelmi's als Togores Advokat er- 
Ihienen zur bejtimmten Stunde bei dem Agenten in 
feinem Hotel. Die Papiere waren bereit. Wilhelmi 


257 


hatte ſchon vor feiner Abreife nah Milwaukee feine 
Unterfchrift dazu gezeichnet. 

Monſieur Maurice las die Dofumente mit hoch- 
wichtiger Miene durch. 

„Es iſt Alles in Ordnung,“ erflärte er, „es 
fehlt nichts, als die Papiere regiftriven zu laſſen.“ 

Wilhelmi’s Advocat war aber nicht der Mann, 
fih von feinem gelehrten Collegen in eine Geſetzes— 
falle Ioden zu laffen. Als vdiefer merkte, daß er 
es mit feinem Ignoranten zu thun habe, jo gab 
er nad. 

„Ste können unterfchreiben!”“ heifchte er feinem 
Clienten zu. 

Alle erklärten fich jett zufrieden gejtellt und ver 
deutſche Advokat ließ die beiden Herren allein. 

„Mud was nun?“ fragte Togores, mit langem 
Gefichte. 

‚Bas nun, Monſieur? Eh, mon dieu! un 
coup d’etät.“ 


18% 17 


258 


Dreinndzwanzigite Kapitel. 
Mor; ein Coup d'Etat. Contremine, 


„Why, man, they did make love to this employment; 
Ihey are not near my conscience; their defeat, 
Dors by this own insinuation grow.“ 


Hanlet, V. 


Am nächſten Morgen, früh um zehn Uhr, traten 
drei jüplich ausfehende Herren, ein großer und zwei 
fleine, mit reſoluter Miene in das ſchickfalsvolle 
Stahl-, Eifen- und Meſſingwaaren-Etabliſſement und 
pojtirten ſich militärifch vor das Pult des Buch— 
halters. 

„Sie ſind der erſte Buchhalter dieſes Geſchäfts?“ 
fragte der Große auf Engliſch, aber mit entſchieden 
franzöſiſchem Accente. 

„Was ſteht zu Dienſten?“ erwiderte der auf ſo 
merkwürdige Weiſe Angeredete ziemlich brüsk. 

„Rufen Sie auf der Stelle ſämmtliche Clerks 
des Etabliſſements zuſammen.“ 

„Aber wer ſind Sie denn?“ 

„Ich bin von heute an der Eigenthümer hier,“ 
erklärte der Herr militäriſch kurz. 

„Sie haben gar nichts zu fragen, ſondern nur 
zu gehorchen,“ fügte der Kleinere, der eine blaue 
Brille trug, barſch hinzu. 

Ohne ein Wort zu erwidern, zog der Mann am 
Pulte eine Klingel. 


259 


Ein Porter erfchien. 

„Jetzt betragen Sie fih anſtändig,“ ſagte der 
Buchhalter, deſſen norddeutſche Abkunft durch fein 
Engliſch hindurch zu erfennen war, mit großer 
Geelenruhe: „ſonſt laffe ih Sie herausmwerfen.‘ 

„Im Namen des Gefeges, eiferte der kleine 
Advofat, „nehme ih —“ 

Der Porter, der ebenfalls „men plattvütsfe 
Junge“ war, rüdte ihm einen Schritt näher auf den 
Leib. Es war ein fo gemüthliches Blinzeln in den 
Augen des hellhaarigen Friefen, als zudten ihm die 
Singer nah dem Spaß, dem Mann des Gefeges die 
Knochen zu zerbrechen. — 

Diefer mußte e8 ſo verftanden haben, denn er 
blieb mitten im Fluß der Rede ſtecken. 

„Erklären Sie fich vernünftig,“ wandte ſich der 
Buchhalter an den Langen unter den drei Bejuchern. 

„Hier ift der Kaufcontract,“ ſagte dieſer in dem— 
jelben vietatorifchen Zone, wie zuvor: „Leſen Sie.“ 

Der Buchhalter las. | 

„Haben Sie fich überzeugt?‘ 

„sa, @te ſind der Herr 77 

„Togores, ich bin’s. Sie werden das ſämmt— 
liche Perſonal ohne Ausnahme zufammenberufen.‘ 

Der Deutjche befann fich einen Augenblid, was 
größern Spaß verſpräche, die Herren Eigenthlimer 
in ihrem neuen Etabliffement zur Einweihung durch— 
zuprügeln, oder fich den Verlauf erft noch mit an— 
zufehen. Gr entfchied fich kurz für das Letztere, da 

zer 


260 


es im Nothfalle das Erjtere nicht ausichlof. Das 
Perfonal wurde alfo eitirt. 

„Meſſieurs,“ redete Herr Togores den verjam- 
melten Stab an, „durch den Contract, welchen Sie 
bier in meiner Rechten jehen, iſt dieſes Etabliffement 
ohne Reſerve in mein Eigenthum übergegangen. — 
Diefer Herr hier, indem er auf ven Heinen Spa- 
nier Medina wies, — „wird von heut an das Ge- 
Ihäft in meinem Namen unter der Firma: Medina 
& Co. führen. Sie werden ihm gehorchen, als wäre 
ich e8 jelbjt, mit einer obedience absolue. Webrigens 
verbleiben Ste in Ihren Functionen, wie bisher und 
beziehen daſſelbe Gehalt. Die Guten follen zufrieden 
fein. Diejenigen, welche jich gegen die Subordination 
vergehen, werde ich mit militärifcher Strenge be- 
jtrafen. Herr Buchhalter, Sie laſſen einen Korb 
Champagner fommen. Ich bezahle. Trinken wir als 
gute Kameraden zuſammen.“ 

Die Commis hatten ſich bis dahin verblüfft an- 
gefehen. Die Beventung der Ceremonie war ihnen 
nicht recht Elar, da der Redner den fonderbaren Ein- 
fall gehabt Hatte, fih auf Englifh zu produciven, 
ein Idiom, welches zu feinem phonetiſchen Dr- 
ganismus in einem entſchieden feindfeligen Verhält- 
niſſe jtand. 

Allein die legte Aufforderung zum Champagner- 
trinfen drang ihnen direft, auf dem Wege der In— 
tuition, in's deutfche Herz; beſonders dem erjten 
Buchhalter, welcher wuhte, wo es guten gab. Zu— 
gleich verfühnte ihn der fameradfchaftlide Ton der 


261 


legten Worte fo weit, daß er feinen Prügelplan auf- 
gab und dafür befchloß, die Kerle unter den Tiſch 
zu trinken. 

Zur Einleitung für den „Jux“ brachte er dem 
neuen Eigenthümer „ein donnerndes Hoch! und aber- 
mals Hoch! und zum dritten Male Hoch!” aus. 

Grade unter diefem donnernden Hoch, worin 
das jämmtliche Perfonal mit lärmendem Humor mit 
einftimmte, trat Wilhelmi, eben aus Milwaukee zurück— 
gekehrt, mit feinem beabfichtigten Stellvertreter in 
den Laden. Man fann fich fein Erftaunen denken. 
Nah den erjten Erflärungen begann eine höchit leb— 
hafte Erörterung zwifchen den Parteien, wobei die 
Decembrijten ausfallend wurden. Sie beftanden auf 
ihr fait accompli, wogegen der Buchhalter in Wil- 
helmi drang, fie hinausfchmeißen zu laffen, um ein 
fait accompli dem andern entgegenzufegen. Diefer 
jedoch goutirte ſolche Scherze in Geſchäftsſachen 
nicht und begab jich zu feinem Aovofaten. Er fand 
ihn nach einigem Suchen bet Herrn Comſtock, einem 
mehrjährigen Gefchäftsfreund deſſelben und renom— 
mirten Chicagoer Advofaten. 

„Das ift merkwürdig,‘ fagte Comjtod, auf Wil- 
helmi's Auseinanderfegung. „Eben diefer Maurice 
war geſtern bei mir, um ſich juſt über dieſen Fall 
Raths zu erholen, aber er gab mir freilich Feine 
Namen an.“ 

Tach einigem Befinnen fuhr der Amerikaner fort: 

„Sind Sie denn wirklich fo gewiß, Herr Wil- 


262 


helmi, daß das ganze Gejchäft die Ausjtände darauf 
werth iſt?“ 

Der Gefragte drückte die Ueberzeugung aus, 
„das Etabliffement gälte wohl das Doppelte.‘ 

„Ich will Ihnen etwas jagen. Ich habe zu: 
fällig Gelegenheit gehabt, in die Sache hineinzujehen, 
da mih Hohmann und Grünefe einmal darüber con- 
jultirt haben. Nun, wenn ich Ahnen meine aufrichtige 
Anfiht darüber jagen fol: je eher Sie von dem 
Schwindel loskommen, deſto beſſer für Sie. 

„Das ift wirklich Ihre Anſicht?“ 

„Vor dem italieniichen Kriege wäre es anders 
gemwejen. Aber jest, bei den jetigen Geſchäftsaus— 
jihten und bei der bevoritehenden Präfivdentenwahl 
im nächſten Jahre, habe ich nicht den geringjten 
„Zweifel, daß felbjt, wenn Sie auch in eigner Perfon 
nah Chicago fommen und fich ausfchlieglih daran 
machen wollten, Ordnung in diefes Chaos zu bringen, 
das Spiel nicht das Licht werthb wäre — 

„Alſo geben Sie uns den Kath, die Ujurpatoren 
ruhig im Befi zu laſſen?“ 

„Ich gebe Ahnen ven Rath, Schwierigkeiten zu 
machen und dann zulegt nachzugeben, und endlich 
gegen Rückgabe Ihrer Yandlots, die Kegiitrirung des 
Berfaufs als ungeheure Concefjion zuzugeben.‘ 

Ale-Drei lachten. Es wurde beichloffen, die 
Mineurs mit ihrer eignen Petarde in die Luft zu 
Iprengen. 

„Was ich fragen wollte,‘ ſagte der veutjche 
Adoofat, „was ift das für ein merfwürdiger Kerl, 


263 


diefer franzöfifhe Advokat, den fich der Afrifaner 
aufgegriffen hat, daß er fich über eine fo einfache 
Sade erſt noch Raths erholen muß?“ 

„Der Menſch fam vor etwa zwei Jahren hier 
an und bat um Eopijtenarbeit. Es traf fich grade, 
daß ich einen der franzöfiihen Sprache Mächtigen 
für folche Arbeit brauchte. Bald nachher befam er 
viel Geld; aber er erflärte, er habe dem Gejchäfte 
Geſchmack abgewonnen und wünſche ſich zum Auriften 
zu bilden. Auch zeigte er von vornherein eine Art 
Genie im Herausſchnüffeln aller ſchlechten Kniffe, 
wozu ſich unſer Handwerk verwenden läßt, obgleich 
ſeine Unwiſſenheit unheilbar iſt. Ich zweifle gar 
nicht, daß das Rabuliſtenthum den unwiderſtehlichen 
Reiz des Glückſpiels über ihn ausübt und daß er 
dabei reich und angeſehen zu werden hofft. — Die 
Hauptſache aber war, daß er einem reichen Mädchen 
bier nachſtellte, einer Nichte von mir. Sein Advo— 
fatenthum jollte ihm dabei Charakter geben. Ich 
habe jedoch die Sache hintertrieben. Seitdem höre 
ih, ift er in St. Louis einem andern Wildpret auf 
der Fährte.‘ 

„Kommt e8 Ihnen nicht fo vor, entgegnete 
der Eollege, „als verhalte es ſich mit feiner blauen 
Brille eben fo, wie mit jeiner Juriſterei?“ 

„O,“ lächelte der Amerifaner, „das iſt eine 
ausgemachte Sache, daß er ohne Brille viel beſſer 
fteht, als mit; fo viel hatte ich ſchon in den eriten 
dret Tagen ausfindig gemacht.‘ 

„Alſo Adieu, auf Morgen Mittag! Ste jorgen 


264 


dafür, daß wir die Decembrijten auf Ihrem Office 
finden.“ 

Wilhelmi ging eine Zeit lang fjchweigend und 
brütend neben feinem Freunde her. 

„Die Aehnlichkeit ift unverkennbar,‘ brach er 
plößlich (08. 

„Welche Aehnlichkeit?‘ 

„Die Aehnlichfeit zwiichen dieſem Monfieur 
Maurice und dem Count Rouffillon.‘ 

„Das wäre!” rief der Advokat mit ſtockendem 
Athem, indem er ftehen blieb. 

„Der Unterfchied iſt, daß Jener einen Schnurr= 
bart ohne Badenbart trug, und Diefer trägt einen 
Badenbart ohne Schnurrbart, daß Jener Luraugen 
hatte und Diefer die blaue Brille zum Sehen braucht. 
Wenn wir Antonio bier hätten!“ 

„Es wird fih auch ohne ihn auf den Grund 
fommen laſſen.“ 

Nah einiger Berathung fehrten die beiden 
Freunde zu Comſtock zurüd und theilten ihm im Ver— 
trauen ihren Argwohn mit. 

Der Letztere fügte noch weitere Verdachtsgründe 
hinzu. Maurice, der ſtark in Lots ſpekulirte, hatte 
einen von des Amerifaners Klienten ein Grunditüd 
abgekauft und fürzlich in einer Note von zehntaufend 
Dollars bezahlt, — ausgeftellt von Auguftus Damwfon 
und endojfirt von William Dawſon. Das war Ende 
Juli gewejen, unmittelbar nach feiner Rückkehr von 
einer angeblichen Erholungsreife nah Niagara-Falls. 





265 


Es wurden die PVerabredungen getroffen, um ven 
Verbrecher, wenn er e8 war, zu entlarven. 


Vierundzwanzigftes Kapitel. 
Der Verbrecher wird entlarvt, 


„Gros-Rene. Ah! mafoi! voilä qui est dröle! „Nil inultum remanebit.‘“ 
Comme diäble on saute ici par les fen£tres!*‘ Dies: irae. 
Moliere, Le Medeein volant 1, 15. 


Am nächſten Morgen um 12 Uhr waren die 
Parteien in Comſtock's Dfftce verfammelt. Wilhelmt 
Iträubte fich gegen das Aufgeben des Etabliffements 
mit einer Natürlichkeit, die ihm feine Freunde gar 
nicht zugetraut hätten. Die beiven Advokaten bejtanden 
mit gegenfeitiger Hartnädigfeit, der eine auf dem 
Raufeontracte, der andere auf dem Sinn der Ueber: 
einkunft. Endlih ſchlug Comſtock den Vergleich vor, 
Togores jolle das Etabliffement behalten, aber dagegen 
das dazu verjchriebene Yand herausgeben. Dahin 
vereinte man ſich dann zuletzt. Die Papiere wurden 
jtehenden Fußes gezeichnet. Wilhelmi fühlte fich wie 
neu geboren. Die fchweren Verbindlichkeiten und 
zehrenden Sorgen, die dem jungen Kaufmanne feine 
großmüthige Theilnahme an ver Sache eines Freundes 
aufgebürdet und deren Bleigewicht ihn zuletzt herab- 
zuziehen gedroht hatte, waren jeßt durch eine plößliche 


266 


Gunft des Schickſals auf einmal und auf immer von 
feinen Schultern gehoben. | 

Sreilih verlor er damit zu gleicher Zeit ven 
Credit und die Unterftügung der fpanifchen Gefell- 
Ihaft, ein harter Schlag, deſſen Folgen fih noch gar 
nicht berechnen ließen, da er feine Operationen großen 
theil8 darauf angelegt hatte. Immerhin aber fühlte 
er ſich durch dieſen Ausgang unendlich erleichtert. 

Die Decembriften wollten jich fogleich nach Zeich- 
nung der Papiere entfernen und waren ſchon zur 
Thür hinaus. 

„Auf ein Wort, Herr Maurice,“ rief Comftod 
dem Abgehenden nad. 

„Was jteht zu Dienjten?‘ fragte dieſer zurüd- 
fommend und äußerſt gut aufgeräumt über ſeinen 
eriten großen Erfolg in der neuen Spitbubencarriere. 
Togores und Medina famen gegen die Abjicht auch 
wieder mit zurüd. Da man fie jevoch einmal hatte, 
jo war weiter nichts Bejonderes dagegen einzuwenden. 

„Sie erinnern ſich noch der Wilſon'ſchen Mort- 
gageangelegenheit, in der Sie für mich die Papiere 
aufgejett haben?‘ 

„Sehr wohl.“ 

„Ich habe bier einen Brief mit Bezug darauf, 
ven Sie mich fehr verbinden würden, durchzuleſen. 
Da Sie ven Fall ganz genau fennen, jo würde mir 
Ihr Rath dabei unſchätzbar fein.“ 

Dies kam dem neugebadenen Advokaten denn 
doch, troß feines überichwänglichen Selbitvertraueng, 
etwas unerivartet. Indeſſen, wenn er an den eben 





267 


erfochtenen Triumph ſeiner Geſchicklichkeit dachte — 
was Fonnte natürlicher fein, als daß felbit fein früherer 
Meijter jet an ihm auffah? Die Gegenwart feiner 
beiden Clienten feuerte jeinen Dünfel nur noch um 
jo mehr an. Er warf fich alfo in die Bruft: 

„Wo find die Dokumente?‘ fragte er wichtig. 
„Ich werde auf der Stelle einen Blick hineinwerfen 
und Ihnen meine Meinung jagen.‘ 

Herr Comſtock rüdte ihm den Sejjel an feinem 
eigenen Schreibtifche zurecht. Er nahm mit Hochge- 
fühl davon Belit. Die Scene imponirte offenbar 
jeinen Clienten. Aller Augen jchienen bewundernd 
auf ihm zu ruhen: es war gleichjam fein juriftiicher 
Ritterſchlag. 

Die anderen Herren blieben vor dem Kamine 
ſtehen. Maurice kehrte ihnen den Rücken zu. 

„Ich habe noch nicht einmal Zeit gehabt, heute 
eine Zeitung zu leſen,“ warf Wilhelmi hin, indem 
er die „Chicago-Tribüne“ aufnahm. „Iſt man dem 
jungen Dawſon auf der Spur?“ 

Der Franzos fuhr etwas mit dem Kopfe in die 
Höhe. 

„Er ſoll nach der Havanna entwichen ſein,“ 
antwortete ihm Comſtock. 

„Ein ungeheures Deficit!“ rief Togores. „Es 
wird auf Millionen berechnet.“ 

„Was für ein Deficit?“ fragte Wilhelmi über— 
raſcht. 

„Eh bien! das von Herrn Dawſon, dem Mil— 
lionär.“ 


268 


Wilhelmi ftand fprachlos. 

‚Allerdings,‘ bejtätigte der Amerifaner, „hier 
jteht es. Er hat mit Infurance-Gelvern, Sparfaffen- 
Geldern und jeder möglichen Art fremder Gelder 
Ipefulirt und ver italienifhe Krieg hat ihm plötlich 
einen Strich durch die Rechnung gemacht.‘ 

„Der alte Dawfon? William Dawſon?“ rief 
Wilhelmi noch immer feinen Ohren nicht trauenv. 

„Ich dachte, Sie hätten’s gelejen,‘ jagte der 
Advokat, „ſonſt hätte ich es Ihnen gejagt.‘ 

„Das ift graufam!‘ rief Wilhelmi, dem über 
diefen neuen Schlag — denn er verlor beveutend 
dabei, — der verabrevete Plan ganz in Bergefjenheit 
gerathen war. „Und dann Antonio’S Freundinnen! 
Der Bater ein Schwindler, der Bruder ein Mörder! 
Welche Welt!” 

„Sie glauben alſo wirflih, fragte der Ameri- 
faner, das Ziel im Auge behaltend, „daß der junge 
Damfon der Mörder war?” 

„Wohlfahrt glaubte es nicht,‘ erwiderte der 
deutiche Advofat. „Der junge Dawfon, fagte er, hätte 
nicht den Muth dazu gehabt. Er habe einen Anderen 
in Verdacht!” | 

„Die Canaille möchte ich unter den Händen 
haben,“ vief ver Afrikaner, der von dem jcheußlichen 
Morde gelefen und gehört hatte, und jedesmal in 
Wuth gerieth, fo oft derfelbe zur Sprache fan. 

„Denn es unter nns bleibt, meine Herren,‘ 
ſchloß ſich Wilhelmi jett wieder der Unterhaltung an, 
„ſo will ih Ihnen unfere Anficht über die Sache 





269 


mittheilen. Am dritten Juli waren wir Beide mit 
noch zwei anderen Deutjchen in Niagara. Wir ftiegen 
Alle vier unter den Fall hinab. Dort fanden wir 
eine Dame befinnungslos unter dem Gifcht zwiſchen 
den Felsblöden liegen. Ihre beiden Begleiter ſtanden 
dabei und thaten Nichts. Wir retteten fie. Wir 
hatten damals unfern Verdacht. Es iſt uns ſeitdem 
zur Gewißheit geworden. Es war ein Attentat. Die 
Dame war die ſpäter im Farmhaufe Gemorvete; ihre 
beiven Begleiter waren Auguftus Dawſon und derfelbe 
franzöſiſche Abenteurer, der die Unglüdliche unter dem 
Namen Grenier in Xowell geheirathet und der nachher 
al8 Count Rouffillon in der Fünften Avenue fein 
Wefen getrieben hatte. Das ift ver Mörder und fein 
Anderer.‘ 

Dan hörte ein leifes Rüden an dem Stuhl des 
franzöſiſchen Advokaten. 

Comſtock, der ſeinen Mann nicht aus den Augen 
ließ, konnte ihm Hand und Fuß zittern ſehen. 

„Le läche,” rief Torgores, „ich wünſchte nur, 
ich hätt’ ihn hier, hatt’ ihn hier. Ich brächt' ihn 
um wie einen Hund, einen Hund!“ 

„Wie ſah der Menſch aus?‘ fragte ver Amerikaner. 

„Er war ungefähr von der Statur des Herrn 
da, fuhr Wilhelmi fort. Alle wandten fich gegen 
Maurice. 

„Sa wohl,“ befräftigte der deutſche Advokat, 
„ganz genau von der Statur des Herrn Maurice da.‘ 

Herr Maurice fühlte die Nothwendigfeit, bei 
Nennung feines Namens irgend ein Lebenszeichen 


270 


von ſich zu geben. Er drehte ſich alſo um. Seine 
Züge waren zerſetzt —, die Haare ſtanden ihm zu 
Berge, er ſtierte den Sprecher mit einem gläſernen, 
gefeſſelten Blicke über ſeiner blauen Brille an, die 
ihm tief auf die Naſe herunterhing. 

„Er hatte,“ fuhr Wilhelmi mit derſelben falten 
Unerbittlichkeit gegen den Franzoſen gewandt fort, 
„dieſelben Haare, wie Sie, mein Herr —' 

„Ja, die hatte er,‘ befräftigte das grauſame 
Echo, „ganz diejelben Haare wie Sie, mein Herr.“ 

Damit nahm er eine von Maurice's ſchwarzen 
Locken zwifchen die Finger. 

„Er hatte — jest, wo Ihnen die Brille herunter- 
gegangen iſt“ — Wilhelmt nahm ihm bei dieſen 
Worten die Brille ganz ab, ohne daß der Menfch 
nur einen Schatten von Widerjtand leiſtete — „er 
hatte genau vdiejelben Augen.‘ 

„Ja wohl,‘ wiederholte das unfehldare Kitornell, 
„ganz dieſelben Augen.‘ 

„Er hatte allerdings einen Schnurrbart und 
feinen Badenbart; aber ven Schnurrbart haben Sie 
fich feitvem abgefchnitten und ven Badenbart haben Sie 
jich feitvem wachen laſſen, Herr Graf Rouffillon!“ 
Ichloß der Redner mit Donnerfjtimme. 

Der Mörder fprang bei vdiefem Namensruf auf 
und ftürzte nach der Thür. | 

Togores jprang ihm in ven Weg. Der Count 
zog ein langes Meier und ftach damit um fih. So 
gelang es ihm, nach dem Fenſter zu entfommen. Als 
er hinausfprang, ergriff ihn Wilhelmi am Fuße. Das 





271 


Dffice war parterre. Es war aber gerade zu ber 
Zeit, wo das Haus mit der übrigen Stadt um ſechs 
Fuß höher gefchraubt wurde. Der am Fuße gehinverte 
Flüchtling ſchlug mit vem Kopf nieder und mit Gewalt 
gegen den vorſtehenden eifernen Schraubendreher unter 
den Hebebalfen des von feinem Fundament losgelöjten 
Gebäudes. Dann ſchoß er, immer noch fopfüber, in 
den Keller hinunter, wo er noch einen Schlag gegen 
die Grundmauer that und zulegt mit dem Kopfe in 
einem Haufen von Schutt und Schlamm jteden blieb. 
Als wüchſen fie aus der Erde hervor, drängten fich 
Polizei und Böbelhaufen im Augenblid zur Stelle. 
Man zog den Elenden halb erftidt und mit ſchwer 
verlettem Hirnſchädel aus dem Kothe an's Tageslicht. 
Er wurde in's Hofpital gebradt. Um drei Uhr 
machte er fein Befenntinif. Er war ein Commis aus 
Bordeaux, der feinen Prinzipal bejtohlen und deſſen 
Tochter betrogen hatte. Dies war die unmittelbare 
Beranlaffung feiner Flucht aus Frankreich gewesen. 
Er hatte aber ſchon vorher einen Raubmord an einer 
einfam wohnenden alten Jungfer begangen, anderer 
Schandthaten zu gefchweigen. Was in einem früheren 
Kapitel über feinen Antheil an Annie’s gräßlicher 
Ermordnng mitgetheilt wurde, ijt diefem feinem legten 
Befenntniffe entnommen. Fünf Minuten vor act 
Uhr verließ er ven Schauplaß feiner verruchten Thaten 
auf immer. Er ſtarb als Chriſt. Sp fast ver 
Geiftliche, ver ihm in der letzten Stunde beiftand. — 


272 


Fünfundzwanzigſtes Kapitel. 


Wiederſehen. Der Berichterfintter fKellt fir Dem Teſer vor 
und bewirkt ſich um Die Hand von einer von deſſen 
Freundinnen, 


„Leere Zeiten der Jugend und leere Träume der Zufunft, 

Ihr vergebet, es bleibt einzig der Augenblid mir: 

Dora, ih halte Did! Du bleibjt mir, es bleibt mir Dein Herz.“ 
Aleris und Dora. 


Es war an einem fcharfen, oftwindigen März- 
nachmittage, als unſer Freund Wilhelmi mit dem 
Berichterjtatter vorjtehender merfwürdiger Ereignifſe, 
in Gejellfiehaft von Frau Bedler, nach dem Newhavener 
Eifenbahnhofe fuhr, um Antonio und Sufan, die aus 
Newhampſhire erwartet wurden, in Empfang zu neh— 
men. Antonio hatte den ganzen Winter bei jeinem 
Freunde Frank auf Eartwrights Farm zugebracht und e8 
war dem friſchen Weſen der beiden jungen Männer eini- 
germaßen gelungen, ein neues Intereſſe in das zerrüttete 
Familienweſen und in Suſan's armes Herz zu bringen. 
Frank follte in Zukunft auf der Farm bleiben. Auch 
diefe Ausjicht wirkte mit unmerflicher, aber. ficherer 
Troſteskraft auf die Lebensgeifter der Alten. Unter- 
deſſen hatte Frau Bedler, Wilhelmi's liebenswürdige 
Wirthin, Sufan wiederholt einladen laſſen, fie auf 
ihrem Landſitze bei New-NYork zu befuchen. Alle 
jtimmten überein, daß eine zeitweife Entfernung von 
dem Schauplat jo Ichredliher Prüfungen nur mwohl- 


273 


thätig auf fie wirken fünne. Beſonders aber verſprach 
fih Antonio für fie von dem Aufenthalt in dem ge- 
bildeten und theilnehmenden deutſchen Kreife, ver ihr 
eine ganz neue Welt eröffnen mußte, ven Aufgang 
eines neuen Lebens. Sie milligte zuletzt auf allge- 
meines Zureden ein, ihn dahin zu begleiten. 

At es Uns erlaubt, dem Lefer unter fo vielen 
intereffanten Befanntichaften Unfere eigene unbedeu— 
tende Perſönlichkeit vorzuftellen, jo wollen Wir Uns 
hiermit als biftorifch allegorifchen Maler feiner hohen 
Gönnerfchaft ganz ergebenft empfohlen haben. 

Sogleich bei Unferer diesmaligen Anfınft — e8 
war Unjer zweiter Beſuch in Amerifa — erhielten 
Wir eine Einladung von unferem alten Freunde Wil- 
helmi in das gaftliche Haus, wo feine Fremde jtets 
als die eigenen bewillfommnet werden. Auch Antonio 
iſt ein alter, lieber Freund von Uns vom heine her 
und jo nahmen Wir mit Freuden die Einladung an, 
ihm, dem Auferjtandenen von den Todten, zum Em⸗ 
pfange mit entgegenzueilen. 

In dem Wartezimmer für die Ladies fanden Wir 
zwei ſchwarzgekleidete Damen von eleganten Formen, 
deren Züge ſich jedoch in dem Nachmittagshalbdunkel 
und unter ihrer tiefen Verſchleierung nicht erkennen 
ließen. Es kommen um dieſe Zeit mehrere Züge 
hintereinander an und die Damen mußten wohl, gleich 
Uns, Jemand mit großer Ungeduld erwarten; denn 
ſo oft nur, aus unbeſtimmteſter Entfernung, das 
Schrillen der Lokomotive ſich vernehmen ließ, konnte 
man ihren Bewegungen die tiefſte Unruhe und Auf— 

IL 18 


274 


regung anjehen. Endlich — e8 war nach vier herz- 
nagenden Enttäufchungen — öffnete fih das Gitter 
zum fünften Male und ver erite Waggon des New— 
Havener Zuges fam langſam in den Hofraum ge- 
fahren. Wir eilten Alle hinaus auf die. Plattform. 
Die beiden Schwarzen Damen ſtanden Links, vicht 
neben Uns, die Augen, welche duch den Schleier 
zu brennen jchienen, ängſtlich ſuchend auf die aus— 
jteigenden PBaffagiere geheftet. Ein Waggon nach dem 
anderen kam hereingefahren, leerte fi und ward 
wieder hinausgejchoben, ohne daß weder Unfere ver- 
Ichleierten Nachbarinnen, noch Wir jelbft die erwarteten 
Freunde gefunden hatten. Das Herz fing Uns fchnell 
und Ichneller zu jinfen an, da Wir Schon die legten 
Paflagiere aus dem Testen Wagen jich verlaufen 
jahen, als ganz zum Schluß ein bleicher, junger 
Mann, von den Stufen herabiteigend, jein dunkles 
Auge juchend nach Unferer Seite hin richtete. In 
denselben Augenblide hatte Unjere nächſte Nachbarin 
den Schleier zurücgefchlagen und mit einem durch— 
dringenden Schrei lag fie Antonio — er war e8 — 
im Arme, ihr Haupt tief begraben an jeiner Bruft, 
er das feine über fie nievdergebücdt, in ihren Locken. 
Im fchweigenden Einverjtändniffe mit Freund Wil- 
helmi zogen Wir Uns Beide voller Ehrfurcht von der 
Zeugenfchaft diefer ergreifenden Scene zurüd. Als 
Wir Uns aber am Ende des langen Ganges, von 
einem unwiderftehlichen Zuge der Sympathie getrieben, 
noch einmal ummwendeten, jtanden jie noch immer in 
derſelben fprachlofen Umarmung, als wären fie in 


279 


unfägliher Trauer, ah! und Wir hofften es, in 
löfenden Thränen in einander verfchmolzen: wergejjen 
des Dries, wo fie waren, vergejien der Fremden 
umher, die in ſcheuer Ehrfurcht fih zurückgezogen; 
vergefjen, daß es etwas gab, daß etwas Iebte, etwas 
blieb, hier oder dort, jet oder je, als der Schlag 
ihrer jchwergeprüften, treuen, hohen, durch bittere 
Noth gejuchten, in alle Ewigfeit gefundenen Herzen 
gegeneinander. 

Wir fahen es übrigens wohl, als Wir Uns mit 
Freund Wilhelmi entfernten, daß es noch eine andere 
Umarmung, eine faum weniger innige und ficher nicht 
weniger jchmerzliche gab, als die zwiſchen Antonio 
und Mary. In Thränen überjtrömend, vrüdte Wire. 
Dawſon unter einer Fluth von zärtlihen Küffen ihr 
liebes, liebes Suschen an's Herz, die ſich gar nichts 
daraus machte, jo laut zu fchluchzen, daß Wir es 
deutlich am anderen Ende des Ganges hören Fonnten. 
Es war aber etwas Eigenes in diefem Schluchzen. 
Es hatte einen ganz befonvderen Ton, wie Wir Uns 
nicht erinnern können, jemals irgend ein menfchliches 
Wefen jchluchzen gehört zu haben: etwas — wie 
jollen Wir e8 nennen — Anſteckendes? kurzum, das 
Publikum braucht weiter nichts davon zu willen, wie 
es Uns ging, als Wir um die Ede waren. Freund 
Wilhelmi hat Uns ſchon genug darüber aufgezogen, 
ohne daß Wir dem Publikum auc) lich Gelegenheit 
dazu zu geben brauchen. 

Welches indeffen auch Unjere Gefühle jein moch- 
ten, Wir hatten faum angefangen, denfelben mit vor- 

15* 


276 


gehaltenem Zafchentuh, auf dem Pflafter zwijchen 
den beiden Eingängen, freien Lauf zu laſſen, als Wir 
plößlich durch eimen furchtbaren Schreden mitten in 
Unferm Wehmuthsgenuffe aufgejagt wurden. „Ho, 
Heda!“ brülfte es Hinter Uns, und die Pferde einer 
Miethsfutiche, die im vollen Lauf aufgefahren Fam, 
berührten Uns fchon mit ihren Schnauzen den Naden. 
Im Nu waren Wir auf die Stufen gefprungen, um 
pon diejer gejicherten Stellung aus einen wüthenden 
Blick nach der Urfache der rohen Unterbrechung 
zurüczufchleudern. 

Die Pferde waren noch kaum zum Stehen ge- 
bracht, als ein bleicher, junger Menſch auch ſchon 
von innen den Schlag aufvrehte Allen er wurde 
von einer diden, pausbadigen, rothhaarigen Frau in 
einem verjchoffenen Sammethut mit einer halben 
Strauffeder, mit dem Kllenbogen zurüdgeftoßen: 
„Laßt Eure Mutter zuerft gehen, Ahr Spalpeane,“ 
rief Mrs. D’Shea. (Wir erkannten fie fogleich aus 
Wilhelmi's Befchreibung) — „und betragt Euch mehr 
däcenter!“ 

Damit war ſie aus dem Wagen und auf der 
Plattform. Hinter ihr ſprang Paddy O'Shea heraus. 
Darauf kamen zwei kleine Mädchen, die ganz genau 
die Phyſiognomie von wilden Katzen hatten; die jüngſte 
zog einen Buben von etwa drei Jahren hinter ſich 
her, den ſie an einem Arme, ſchon rennend, vom 
Wagentritt herunter nach ſich riß, und der ihr heu— 
lend auf ihrem Laufe hinter Mutter und Bruder her, 
über Stock und Steine und Treppenſtufen mit fort— 


277 


geſchnellt, nachſträubte. Endlich ſtieg auch noch eine 
uralte, zerlumpte Frau bedächtig aus dem Innern 
hervor und brachte gebrechlichen Schritts den Nach— 
trab der großen Expedition auf. Wir warteten nicht, 
bis ſie ſich losgewickelt hatte, ſondern kamen eben 
noch zurecht, um von Mrs. O'Shea's Attaque Zeuge 
zu ſein. Sie warf ſich mit einem wilden Gellen 
blindlings zwiſchen die Umarmung Antonio's und 
Mary's hinein. Das war das Signal für ihr Ge— 
folge, gleichfalls in ein herzzerreißendes Freudengeheul 
auszubrechen und ſich, Alle zu gleicher Zeit, um ihren 
wiedergefundenen Freund zu reißen. 

Wie die Katzen waren die zwei Mädchen im Nu 
an ihm hinaufgeklettert und hingen, jede von einer 
Seite, um die Wette kreiſchend, an ſeinem Halſe, 
während der Jüngſte, deſſen bisherige einſeitige Lebens— 
erfahrung ihn über den Sinn ver Demonſtration 
täufchen mußte, dem Gegenftande derſelben in die 
Wade biß, Fniff und ſtieß. Von der andern Seite 
goß die Mutter einen wahren Sturzbach von Lieb— 
fofungen, leivenichaftlihen Dankſagungen zum Himmel, 
heißen Segnungen für ihren Freund, wüthenden Ver— 
wünſchungen gegen vejjen Feinde, untermifcht mit 
wilden, unartifulivten Ausrufungen über den Wieder— 
gefundenen aus. 

Endlich wollte die alte Grandmither auch noch 
heran, erhielt aber jedesmal, wenn fie dicht am Ziele 
ihres Strebens zu fein ſchien, durch irgend eine plöß- 
lihe Bewegung des unentwirrbaren Knäuels, einen 
unerwarteten Stoß, der fie taumelnd zurückſchleuderte, 


278 


ohne daß fie ſich dadurch in der beharrlichen Wieder- 
aufnahme ihres vorgeftedten Zieles nur auf einen 
Augenblid irre machen Tief. Dabei tanzte Paddy, 
über den in der Aufregung des Yamilienjubels ver 
alte Geijt zurüdgefommen war, einen irifehen Sig 
im Kreiſe um die Gruppe herum. Zum Glück für 
die Haut des Zerliebfof’ten, ſchritten die Eifenbahn- 
beamten, welche jchon längſt hatten die Gitter ſchließen 
wollen, zulegt ein. Die Folgen hätten ernjthaft 
werden fünnen, da die Familie fehr geneigt war, 
diefes Einfchreiten als eine perfönliche Beleidigung 
gegen das ganze Gefchleht D’Shea anzufehen, hätte 
nicht das weiblihe Haupt des friegerifchen Clans 
aus liebender Unterwürfigfeit gegen Antonio fich be> 
wegen lafjen, ihre Kauft für diesmal ungebraucht ein- 
zufteden. Alle folgten dem Beifpiele, nur Grand- 
mither murmelte und murrte gegen die friedliche 
Beilegung und drehte fih noch zum Abfchied mit 
drohender Fauft nah dem Manne um, der das 
Gitter ſchloß. 

Auf dem Heimmwege famen Wir, — war e8 Zus 
fall? war es Borfehung? — im Wagen Suschen 
gegenüber zu fiten. Es war ein jchwerer Stand, 
das fünnen Wir fagen, und Wir haben feitvem eine 
jchwere Zeit durchgemacht. Don jenem Märznach— 
mittage an, bis vorgeftern Nachmittag haben Wir 
nichts mehr als Todesgedanken gehabt. Wir haben 
an der Freundfchaft, der Zufunft und der Menſch— 
heit gezweifelt, indem Wir Uns in Unferem jchwarz- 
gallisten Gemüthe überzeugt halten zu müfjen glaubten, 


279 


daß der Verräther Wilhelmi, an ven Uns fo viele 
Bande fejjelten, e8 darauf abgejehen habe, Uns das 
Innere Unſeres malerifchen Herzens, mit dem Bilve, 
welches an unzähligen Hafen und Häfchen feit jener 
Gegenüberſitzung darin befeitigt blieb, zerfegt umd 
zerfleiicht heranszureißen, woraus fich denn elendig- 
fihe Verblutung unausbleiblih hätte ergeben müjfen. 
Endlich — es war, wie gejagt, vorgejtern Abend — 
faßten Wir Uns das Herz, jo lange Wir noch Eines 
lebendig hatten, ihm bei feiner Rückkehr aus ver 
Stadt an der Gartenthür entgegenzutreten, und ihn 
mit verzweifelt dräuender Entjchloffenheit rund heraus 
zu fragen, ob er „ſüß“ auf Sufan wäre. Xefer, 
Uns zittert die Hand, und Wir fönnen wirklich nicht 
weiter fchreiben — aber zurüchalten können Wir es 


auch nicht: 
„Bächlein, laß’ Dein Raufchen fein!” 


— — ——— 


„Suſan, Suſan iſt mein, iſt mein!“ 


Wilhelmi hat keine Zeit, ſich zu verlieben, ſagt 
er. Verlieben? Was für ein Ausdruck! Aber man 
ſieht daraus nur, daß er Nichts davon verſteht. 

Wenn man erſt einmal im Schuß iſt, ſo weiß 
man wirklich nicht mehr, wo Einem die Courage alle 
herkömmt. Kurz und gut, Wir ſtürzten durch Garten, 
Halle und Saal auf die andere Piazza, wo Suſan 
dem Sonnenuntergang zuſah. Eine Thräne glitzerte 
eben in ihrem Rehenauge. Wir ſtürzten — doch das 
Weitere könnte kein ſterblicher Leſer faſſen, — und 


280 


wenn Wir für Engel jchrieben, was Wir freilich thun, 
fiebliche Leferin, fo könnten Wir es doch jelbit 
nicht in Worte faſſen. „Ob, ab, ah! Ach, Sufan! 
Sushen! Du liebe Suſe!“ 


Letztes Kapitel, 


Mit vier Poſtſcripten. Weifen, Geld, Hochzeit, Mufik; Alles, 
was man ſich nur aus den ſchönſten Rarten wahrfagen 
laſſen konnte, 


„So fpielt man in Venedig!“ 


Antonio wohnt jegt wieder bei Uns auf Falfen- 
jtein, fofern er überhaupt wohnt. Allerdings jieht 
man ihn nicht wohnen, denn Mrs. Dawfon Hat in 
einem Xandhaufe, ungefähr zwei Meilen von Uns, 
ihre Refivenz aufgejchlagen. Ihr Haus in der Stadt 
bet fie verfauft. Es will Uns bevünfen, als fingen 
die Lebensfühler ver Schwergeichlagenen allmälig an, 
jih aus dem gemüthlichen deutſchen Kreife, zu dem 
fie jich je länger, deſto mehr hingezogen fühlt, ein 
neues, ſanftes Intereſſe am menjchlihen Thun und 
Treiben zu gewinnen. 

Unfer Freund, ver Leſer, erwartet nun ohne 
Zweifel, nächitertags eine Einladung zu irgend einer 
oder zwei Hochzeiten. Wir fürchten jedoch, das liegt 
noch im weiten Felde. Wenn Wir unfere Privat- 


281 


anficht darüber ausſprechen follen, find Antonio und 
Mary weit entfernt von einem folchen Gedanken. 
Hat fih der Ernft furchtbarer Erinnerungen zu tief 
in ihre Seelen gefenft, um einem fo lieblichen Ge- 
danken Raum zu laffen, oder ift das Glüd ihres .er- 
babenen Bundes zu rein und innig, um irgend 
welcher erpgebornen Weihe zu bepürfen? Wir können 
Uns die Beiden niemals anders denken, als Hand in 
Hand auf hohem Bergesgipfel, in kindlicher Andacht 
dem heiligen Morgenrttus der Natur laufchend. Und 
wenn der Genius der Kunſt Uns je zu feinem Dienjte 
gewürdigt, jo joll das das Bild fein, das Wir dank— 
bar feinem Altare geloben und um das fich die Ge— 
meinde der Mitlebenden zu feiner gläubigen Erfennt- 
niß verfammeln joll. 

Mary wird fih Antonio's Expedition in's In— 
nere von Aſien anjchliegen. Site trägt eine gleiche 
Summe aus ihrem eigenen Vermögen dazu bei, geht 
indejjen eifriger als je ihrer Botanif nach und ver- 
vollfommnet jih im PBhotographiren, Zeichen und 
Piftolenfchiegen. Antonio hat Ichon von Cartwrights 
aus an die betreffenden Gelehrten in Deutfchland 
und Frankreich gejchrieben und alle ohne Ausnahme 
haben zugejagt. In einem Monat werden jie abgehen. 
Welche Ausficht für die Beiden! Die föftlihe Ge- 
meinichaft der Studien, Gefahren und Mühfeligfeiten 
verjpricht ihnen auf ihrer Bilgerfahrt durch's Leben 
eine Höhe ver Glüdfeligfeit, die Wir felber bei Unferer 
jterblicheren Drganifation wohl ahnen, wohl beneiden 
fönnen, aber nicht zu theilen beitimmt iind. 


282 


Suschen wird geheirathet! darauf fann ſich Die 
theilnehmende Leſerin verlaffen. 

Leider haben Wir Uns verbindlich gemacht, Mrs. 
Damfon’s halber, die ohne ihre Suſan — melde 
bet.ihr wohnen wird — zu vereinfamt wäre, nicht 
Hochzeit zu machen, als bis das Paar aus Ajien 
zurücgefehrt if. Schauderhaft! Wenn Wir irgend 
welches Vermögen hätten, nur genug, um mit Wire. 
Damwfon einigermaßen auf gleichem Fuße leben zu 
fönnen, jo böten Wir Uns auf der Stelle als Adoptiv- 
zugabe zu der Adoptivtochter an, heiratheten lieber 
heute al8 morgen und wohnten bei der liebenswürdigen 
Adoptivmutter im Haufe. 

Apropos, wegen der finanziellen Berhältniffe! 
Wie Freund Wilhelmi alle die Schläge, die auf ihn 
gefallen find, bei der wachjenden Drohung einer re- 
publifanifchen Präſidentenwahl überjtehen fol, it 
Ichwer abzujehen. Aber er ſelbſt hat ein napoleonifches 
Dertrauen auf feine Inſpiration und feinen Stern. 
Was Antonio’s, bei Paddy nievergelegte zweitauſend 
Dollars betrifft, fo fcheinen beide Parteien darüber 
ein ſtillſchweigendes Stillfehweigen zu beobachten. Der 
‚arme Paddy hat all’ fein Vermögen, das fich wohl 
auf Humderttaufend oder darüber belief, bei dem 
Dawſon'ſchen Banferott verloren, jo daß es nur 
noch ein Glück ift, daß er niemals feinen Stand 
beim Reſtaurant aufgegeben hat. So Spielt man in 
Venedig! und weil man jo fpielt, wird er fich mit 
feinen weitverzweigten Börjenverbindungen und bei 
jeiner Gefchäftserfahrung wohl bald wieder herauf- 


285 


arbeiten. Und damit nehmen Wir freimdlichen Ab— 
Ihied von Unferem theilnehmenden Freunde, dem 
Lefer, da Wir ihm nun Alles mitgetheilt haben, was 
fih bis Dato in Unferem Rreife zugetragen bat, mit 
aufrichtigem Danfe für feine eremplarifche Nachficht 
und Geduld und auf fröhliches Wiederſehen, fobald 
Antonio und Mary aus Afien zurücd find. 

New-York, ven 3. Mat 1860. 

P.S. Miß Barfons ift eben angefommen, um 
Ders. Dawfon eine Petition zur Aufhebung der Todes- 
Strafe vorzulegen. Nur mit der größten Mühe haben 
Wir ihr das Unpaffende begreiflih machen fünnen. 
Darauf wollte fie durchaus die Expedition nach Afien 
mitmachen, wo fie jedenfalls auf irgend einem Berge 
im Schnee fteden bliebe. Endlich hat fie Mrs. 
Dawjon’s Einladung angenommen, ihre Kefivenz mit 
ihr und Uns zu theilen. Sie wird wohl jo lange 
bleiben, als fie e8 bei ihren herumfchweifenden 
Gewohnheiten und Allerweltsintereffen überhaupt an 
einem und demjelben Orte aushalten fann. Sp lange 
jie eben da ift, belebt ihre Gegenwart Unferen Cirfel 
unglaublid. Antonio hat ganz feine alte Heiterkeit 
in dem launigen Kriege mit ihr wiedergewonnen. Sie 
ihrerjeits fühlt fich glücklich, unter Deutichen zu ſein, 
an der Duelle aller Bhilofophie, aller Wiſſenſchaft 
und aller Gemüthlichkeit. 

2. P. S. Antonio kommt eben aus der Stadt 
mit einem Brief aus Deutfchland. Er hat die Preis- 
aufgabe gewonnen und fein Vater, mit dem er jebt 
vollſtändig ausgeſöhnt ift, ihm aus Entzüden darüber 


284 


gefchrieben, jede beliebige Summe auf ihn zu ziehen. 
Er jucht jedoch feinen Stolz darin, fich ſo durchzu- 
Ichlagen, wobei ihm die paar hundert Thaler für ven 
Preis jehr gelegen fommen. Er jagt, Wilhelmi habe 
einen Brief für Sufan auf feinem Office. Suſan 
tft böfe darüber, daß Antonio ihr den Brief nicht 
mitgebracht hat. Dieſer entjchuldigt ſich, er habe 
nicht gewußt, er werde vor Wilhelmi nach Haufe 
fommen. 

3. P.S. Der Brief an Sufan ift angefommen. 
Der alte Joſiah Batchelver iſt geftorben und hat ihr 
jein ganzes Vermögen hinterlaſſen, was fich, über 
alle Erwartung, auf nahe an 200,000 Dollars beläuft. 
Sie hat nur der alten Schweiter ein Yahrgehalt von 
500 Dollars davon auszuzahlen. 

4. P.S. Den 4. Mai. 

D, Du liebe Sujfe! Das wird Mir auch ein 
Ihönes Frauchen werden. Sitzen Wir drei heute 
Morgen da in Wilhelmi's Zimmer zufammen, Wil- 
helmi, Antonio und Unfere eigene Wenigfeit, um Uns 
über Wilhelmi's Berlegenheiten zu berathen und — 
wer fommt hereingejtürzt? (als ob ſich's ſchickte, in 
eines Junggeſellen Zimmer zu fommen und Wir Männer 
nicht außerdem über die allerwichtigjten Gefchäfte zu 
verhandeln gehabt hätten, — von denen Frauenzimmer 
nichts verſtehen — —) — wer Anders als Suschen! 
Wie ihr die Wangen glühten und die Augen Leuchteten. 
Gott, fie ift doch, wenn man fie fieht, zum Aufejjen 
ichön, beinahe zu lieblich zum Heirathen! Alſo, hat 
von Wilhelmi's DBerlegenheit gehört und bietet 


285 


ihm — mas denkt fich ver Leſer wohl? — weiter 
gar nichts als die lumpigen 260,000 Dollars, die fie 
eben geerbt hat. Fürchtet blos, es möge nicht genug 
fein, da fie jo einen unbejtimmt pyramidaliichen Be- 
griff von New-Yorker Geſchäften hat. 

Wir hätten doch auch, dünkt Uns, die Wir ein 
Wörtchen mitzufprechen haben, gefragt werden fünnen. 
Wilhelmi braucht gerade nur Zwanzigtaufend, um 
ihm Hunderttaufend zu retten, aber wollte es natür- 
ih nicht annehmen, worüber Suschen fo böje wurde, 
daß Wir gar nicht wußten, wie Wir Uns aus ver 
Affaire ziehen Jollten. | 

Plöglih fommt ein Brief von Paddy O'Shea 
mit einem Chef von 20,000 Dollars für Antonio, 
das Reſultat feiner Spekulation mit deſſen Zweitaufend, 
worüber die Erflärung beifolgte. Paddy war mit 
ven Zmeitaufend zu einem Manne gegangen, ver 
Zwanzigtaufend liegen hatte „Ich ſchlag' Ahnen 
eine gemeinjame Spekulation in Calcuttagoods ver,‘ 
fagt Paddy, „wobei Sie Vierzigtaufend gewinnen und 
höchſtens Zmweitaufend verlieren können. Hier jind 
die Zweitauſend. Derlieren wir, fo ift Ihnen der 
ganze Verluſt damit gedecdt und Ste gehen frei aus. 
Gewinnen wir, fo gehen wir zur Hälfte“ „Topp,“ 
fagte der Kaufmann. Die Spekulation it geglüdt. 
Paddy ſchickt jet feinem Freunde ven Ched als Er- 
gebniß verfelben. Die Gefchichte mag europäifchen 
Dhren merfiwürdig Hingen, ift aber factifch. 

Antonio händigte den Che fogleih Wilhelm 
ein. Das ift nun das dritte Mal in des jungen 





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Kaufmanns erſt noch jo kurzer Laufbahn in dieſen 


wilden Amerika, daß er zwifchen Morgen und Abend 


R hunderttaufend Dollars verliert und wiedergewinnt. 
Sp jpielt man in Venedig! Sufan ift unglücklich 


über dieſes Arrangement. Ad! umd Wir find fo um 
befchreiblich glücklich über diefe Sufan. Mädchen, 


Engel, Lirhling, Sufan! Mac’, daß Du Dein Geld 
(98 wirft, damit Ih Dich nur allein wieder habe, 
Deine einzige engeljchöne, engelgute, anbetungsmwürdige, 
Heine Berfon! — Nichtsdejtoweniger bleibt es für 
ven Augenblid doch göttlich, daß Wir nun gleich 
heirathen und zu Mrs. Dawfon ziehen fünnen. Wir 
gehen auf der Stelle, die Mufifanten engagiren. 
Solche Mufifanten follen es fein und fo follen fie 
Uns auffpielen, daß alle alten Thränen won lieben 
Augen weggefpielt werden und alle frohen Gäſte 
tanzend und jubelnd rufen follen: Sp ſpielt man in 
Venedig! 


Ende. 


- ISISTeO— 


Drud von X. Paul & Io. in Berlin, Kronenftraße 21. 








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