B 3 9015 00212 956 0
University of Michigan - BUHR
Arbeiten
aus dem
Kazsssta
NEUROLOGISCHEN INSTITUTE
(österr. interakademisches Zentralinstitut für Hirnforschung)
an der Wiener Universität.
Begründet von
Hofrat Prof. Dr. Heinrich Obersteiner 7
fortgeführt von
Prof. Dr. Otto Marburg.
XXXIII. Band, 1. Heft.
Mit 48 Abbildungen im Text.
Ausgegeben im Februar 1931.
Leipzig und Wien.
FRANZ DEUTICKE.
1931.
Verlags-Nr. 3449
Manzsche Buchdruckerei, Wien IX. 2416
oe 2am
DEM
PRÄSIDENTEN DES INTERNATIONALEN
NEUROLOGISCHEN KONGRESSES IN BERN
HERRN PROFESSOR DR. BARNEY SACHS
IN BESONDERER VEREHRUNG GEWIDMET
Inhaltsverzeichnis,.
Seite
Marburg, Prof. Dr. Otto, Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudo-
tumor cerebri. Mit 6 Abbildungen . . 1
Godlowski, Dr. Wlad., Die Ganglienzeleinschüse i in der "Substantia ı nigra. Mit
i 3 Abbildungen. . . .l4
Tsiminakis, Dr. Yami, Beitrag zur Pathologie der: alkoholischen Erkrankungen
des Zentral-Nervensystems. Mit 17 Abbildungen. . . . 24
Maeder, Dr. Le Roy M. A., Zur Frage der entzündlichen Erscheinen bei der
multiplen Sklerose. Mit 4 Abbildungen. . . . 0.68
Toyama, Dr. M., Zur Pathologie der multiplen Sklerose. Mit 6 Abbildungen Sarig
Jaburek, Dr. L., Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose.
Mit 12 Abbildungen. . . 2 2 nommen. B
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines
Pseudotumor cerebri.*)
(Zugleich ein Beitrag zur Frage der Fingeragnosie ohne Agraphie).
Von
Professor Dr. Otto Marburg.
Mit 6 Abbildungen im Text.
In einer kurzen Mitteilung: Zur Kenntnis des Pseudotumor cerebri
(Arch. f. klin. Chirurgie 1930, CLX, 99) habe ich über einen Fall von Enze-
phalomalazie berichtet, der mit Hirndrucksteigerung einherging. Dieser Fall
bot klinisch eine Reihe von Erscheinungen, die es geboten erscheinen ließen,
eine genauere histologische Untersuchung vorzunehmen zwecks Abgrenzung
des Herdes und auch zwecks Feststellung der möglichen Krankheitsursachen.
Wenn ich hier in Kürze die Krankheitsgeschichte wiederhole, so geschieht
dies nur aus dem Grunde, um die Beziehung derselben zu dem Krankheits-
prozeß leichter zu ermöglichen.
Der Patient war 41 Jahre alt. Er stammt aus gesunder Familie, hatte als Kind
eine Grippe überstanden und vermag sich sonst keiner weiteren Krankheit in sci-
nem Leben zu erinnern. Er war ganz mäßiger Raucher und hat nie getrunken.
Er negiert Lues aufs entschiedenste. Eine diesbezügliche körperliche Untersuchung
förderte nichts Beweisendes gegen diese Angaben zutage. Auch eine trotzdem vor-
genommene Wassermann-Reaktion mit Auswertung ergab ein völlig negatives Re-
sultat. Die Tiquoruntersuchung wurde leider nieht gestattet. Der Patient war ver-
heiratet, hatte zwei gesunde Kinder. Ein Abortus war nie vorgekommen. Ferner
wurde zum Teil noch nachträglich eruiert, daß der Patient, der eine Feinmechaniker-
werkstatt betrieb, nie mit Giften irgendwie zusanımengekommen war, da er eigent-
lich nur die administrative Leitung und die Beaufsichtigung der Arbeiten vornahm
und weder Blei noch sonstige giftige Metalle in seiner Werkstätte verwendete.
Am 10. September 1928 suchte mich der Kranke auf mit der Angabe, daß er
seit zwei Monaten Schmerzen in der linken Kopfhälfte habe. Er schildert diese
Schmerzen als zeitweise auftreten, wie eine Migräne, wobei gleichzeitig Übelkeiten,
gelegentlich auch Erbrechen sich hinzugesellen. In einer Reihe dieser Anfälle, die
von verhältnismäßig kurzer Dauer waren (einige Stunden), tritt ein Gefühl von
Taubsein in der rechten Hand auf.
Schon bei dieser ersten Untersuchung hatte ich den Eindruck eines lokalisierten
Prozesses, der sich im Gebiete des Parietallappens der linken Seite abzuspielen
schien. Es wurde dann eine gründliche Untersuchung in die Wege geleitet, die aber
ein völlig negatives Resultat sowohl in bezug auf den Augenhintergrund als auch
auf den Röntgenbefund sowie auf Nasen, Ohren- und, wie schon erwähnt, auch
*) Der Fall wurde mit Unterstützung der Klla Sachs-Plotz-Foundation bear-
beitet, wofür auch an dieser Stelle gedankt sei.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXII. Bd. 1
2 Professor Dr. Otto Marburg.
Blutbefund ergab. Bei dieser ersten, am 10. September 1928 vorgenommenen Unter-
suchung ergab sich, daß der Schädel nicht klopfempfindlich war, leichte Hypalgesie
der rechten Zungenhälfte bestand, ferner ganz minimale Parese der rechten oberen
Extremität bei gleichzeitiger Hypästhesie derselben für alle Qualitäten, wobei aller-
dings auffiel, daß diese Hypästhesie die Hand am meisten betraf. Auch die Sehnen-
reflexe der rechten Seite waren sowohl im Arm als Bein lebhafter als links. Das
Wichtigste war eine Astereognose der rechten Hand, die gleich bei der ersten Unter-
suchung hervortrat. Neben dieser Astereognose bestand eine Störung des Lagegefühls
der Finger. Er vermochte passive Stellungen der Finger der linken Hand mit der
rechten nicht zu imitieren. Er vermochte nicht anzugeben, in welcher Stellung sich
momentan der Finger befindet, ja er konnte einen bestimmten Finger auf Verlangen
nicht vorweisen, auch einen passiv vorgestreckten Finger nicht bezeichnen. Eine
praktische Störung war eigentlich nicht zu erkennen. Er öffnete eine Zündholzschachtel
auf Aufforderung und strich ein Streichholz an. Er öffnete mit der rechten Hand
seinen Rock und knöpfte ihn wieder zu. Auffällig war dabei, daß der Patient auch
schreiben konnte, und zwar sowohl spontan als auf Diktat. Bei der ersten Unter-
suchung war eine Sprachstörung nicht zu merken, ebensowenig eine Lesestörung.
Die medikamentösen Mittel, die angewandt wurden, blieben ohne Erfolg, so daß der
Patient unter der Annahme irgend eines lokalisierten Prozesses, möglicherweise eines
beginnenden Tumors, einer Röntgentiefenbestrahlung des Schädels unterzogen wurde.
Der Umstand, daß sich nach dieser Bestrahlung die Kopfschmerzen sehr wesentlich
besserten. unterstützte die Annahme eines Tumors. Dagegen verschlechterte sich
der Zustand nach anderer Richtung, so daß er am 24. Oktober 1928 neuer-
dings zur Untersuchung kam mit der Angabe, die Sprache verschlechtere sich. Es
zeigte sich das Sprachverständnis gestört, aber auch nicht sehr wesentlich, denn
nach mehrmaliger Aufforderung kam er, wenn er auch nicht gleich verstand, der
Aufforderung nach. Auch die Wortfindung schien etwas gestört. Die Sprache im all-
gemeinen war etwas schleppend und ganz leicht paraphasisch. Das Nachsprechen war
verhältnismäßig gut erhalten. Auch jetzt besteht keine Alexie oder Agraphie. Sonst
war die Sensibilitätsstörung ziemlich die gleiche, nur daß die Ulnarseite der Hand
(4. und 5. Finger) etwas deutlicher die Störung der Sensibilität zeigte als die übrigen
Finger. Während früher die Bauchdeckenreflexe wenig Differenzen boten, waren
sie diesmal auffallend «different, rechts fast fehlend, und der Patellarreflex lebhaft.
Ein neuerlich erhubener Augenbefund ergab Hyperämie der Papillen. Ich riet, noch
zuzuwarten und ließ im November eine neuerliche Röntgenbestrahlung vornehmen,
denn nun nahmen auch die Kopfschmerzen wieder zu, die aber immer wieder nur
zeitweise auftraten. Auch die Symptome zeigten an einzelnen Tagen eine viel größere
Intensität als an anderen, besonders was die Sprache und die Empfindung an der
oberen Extremität anbelangt. Im wesentlichen aber blieb der Zustand in bezug auf
die Symptomatologie gleich. Als nun gegen Ende November der intervalläre Kopf-
schmerz zu einem dauernden wurde, die Hyperämie der Papille als eine beginnende
Stauung bezeichnet wurde und der Patient zu einem entscheidenden Vorgehen drängte,
wurde unter der Annahme eines raumbeschränkenden Prozesses im Gebiete des linken
Parieto-Temporallappens, und zwar um die Sylvische Furche herum, ein explorativer
Eingriff empfohlen, der am 17. Dezember 1928 von Professor Eiselsberg durch-
geführt wurde.
Der bioskopische Befund nach der parieto-temporalen Aufklappung ergab: stark
gespannte Dura. An der Oberfläche nichts palpabel, auch gegen die Tiefe hin zeigt
sich für den palpierenden Finger kein merkbarer Widerstand. Eine vorgenommene
Punktion ergab in ungefähr 6 cm Tiefe ein paar Tropfen einer gelblichen Flüssig-
keit. Eine zweite Punktion blieb resultatlos. Da man mit einem ziemlich tiefsitzenden
Tumor rechnen mußte, falls ein solcher überhaupt vorhanden war, so wurde die
Operation abgebrochen. Der Patient erholte sich von den Folgen der Operation sehr
bald. Die Kopfschmerzen waren geschwunden, die übrigen Erscheinungen aber vertieften
sich. Bevor noch eine neue eingehendere Untersuchung möglich war, bekam der
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 3
Patient eine schwere Grippe mit Pneumonie. Er verfiel bald in Somnolenz und ging
in wenigen Tagen zugrunde. So weit die Krankengeschichte.
Es wurde nur eine Gehirnobduktion gestattet, so daß über den Allgemein-
befund nichts auszusagen ist.
Makroskopisch war an dem Gehirn wenig zu sehen. Erst beim An-
schneiden fand man eine kleine Zyste an der Außenseite des Putamen links
und bei der ersten Untersuchung eines Stückchens dieses Gebietes hatte es
den Anschein, als ob hier ein derbes Gliagewebe vorliege, so daß auch jetzt
noch die Annahme eines Tumors wahrscheinlich erschien. Erst bei genauerem
Zusehen wurde eine Reihe von Herden entdeckt, so daß die linke Hemi-
sphäre nahezu in toto geschnitten werden mußte, wobei allerdings nicht alle
Abb. 1. Spaltbildung an der Außenseite des Putamen links.
Schnitte gefärbt wurden. Auch von der rechten Seite und von den übrigen
Hirnpartien wurden Teile genommen.
Wenn ich die Schnitte etwa entsprechend «en Tafeln meines Atlas durch-
mustere, so möchte ich mit einem Schnitt aus der Mitte des Herdes beginnen, der
ungefähr dem Frontalschnitt 3, Tafel 26, entspricht.
Ein Markscheidenpräparat dieser Gegend zeigt zunächst, daß die Capsula
externa des Putamen vollständig fehlt (Abb. 1), auch wohl der Außenrand des Putamen
etwas unregelmäßig verläuft. Ferner fehlt das Claustrum größtenteils, während ein
Teil des Marks der Inselwindungen und diese selbst vorwiegend intakt sind. Es be-
steht, also ein Spalt, der vom Putamen bis zum Inselmark reicht, ventral an der ven-
tralen Partie des Putamen endet und nur mit einer ganz kleinen Zacke in die
Substantia perforata anterior hineinreicht. Dorsal wird der Spalt breiter und nimmt
ein Stück des Putamen weg.
Schon am Weigert-Präparat erkennt man im Inselgebiet Erweichungsherde sowie
Stellen mit deutlichem Ödem. Auch im Putamen selbst sieht man lebhafte Gefäß-
injektionen und Blutungen um die Gefäße. Auch «die angrenzende innere Kapsel zeigt
den dorsalsten Abschnitt an der Brücke zwischen Putamen und Nucleus caudatus in
1*
4 Professor Dr. Otto Marburg.
ein Lückenfeld umgewandelt, ferner die dorsal davon befindliche Partie deutlich
markarm.
Ein Hämalaun-Eosinpräparat dieses Gebietes läßt nur erkennen, daß die Wand
des Spaltes vollkommen glatt ist, soweit das Putamen in Frage kommt, während
gegen die Insel die Wand buchtig erscheint. Man sieht deutlich im Putamen Blutungen,
aber auch entzündliche Herde, wobei die Infiltratzellen gegen das Zentrum des Herdes
verwaschen sind. Die Blutung und die Erweichung aber beherrscht das Bild. Am ven-
tralen Rand des Spaltes ist ein Gefäß dicht eingescheidet von Rundzellen. Man kann
in ihnen keine Leukozyetn wahrnehmen, sondern nur Rundzellen mit dunklem
Kern und ganz minimalem Plasmasaum. Auch eine Gliareaktion in der Umgebung läßt
sich bereits erkennen. Das Wesentlichste aber sind die Erweichungen und ein eigen-
artiges Ödem, das aber nicht diffus, sondern ganz umschrieben an den verschiedensten
Stellen wahrzunehmen ist. Man sieht in diesen ödematösen Partien typische Lücken-
felder, gequollene Achsenzylinder und Gliareaktionen in dem Sinne, daß ziemlich
reichlich plasmatische Zellen vorhanden sind, deren Umwandlung in Körnchenzellen
stellenweise im Gang ist. Das erweichte Gebiet zeigt Körnchenzellansammlungen oder
Nekrosen mit Lückenfeldern am Rande. In den Inselwindungen sieht man einzelne
fleckweise auftretende nekrotische Herde. Weiters sieht man perivaskulär große
Spalten mit einer im Hämalaun-Eosinpräparat ganz zart rötlich gefärbten Masse.
Die Meningen über diesen Partien, die dem Temporallappen entsprechen, sind ent-
schieden verdickt, die Gefäße ebenfalls wandverdickt. Auffälligerweise betrifft diese
Wandverdickung nicht die Intima, sondern mehr die Media und die Adventitia. Die
Intima ist lediglich etwas gequollen. Stellenweise sieht man in der Pia auch ein
Infiltrat. Am auffälligsten aber ist die nicht infiltrierte aber verdickte Pia. An ein-
zelnen Stellen ist die Pia deutlich von der Unterlage abgehoben und mit dieser durch
ein dichtes Netzwerk mit wenigen eingestreuten Zellen verbunden. Dieses Netzwerk
macht den Eindruck eines fibrillären Gerinnsels, keineswegs einer wuchernden Glia.
Die Zellen in der Pia sind nicht lymphoider Natur, sondern zum Teil verfettetia
Körnchenzellen, zum Teil bindegewebige Elemente, bipolare Zellen mit ziemlich reich-
lichem Plasma (junge Bindegewebszellen‘.
Der an der Außenseite des Putamen befindliche Spalt behält seine Form und
Größe auch weiterhin bei. Nur sieht man dann deutlich ventral vom Spalt in der
Substantia perforata sowie in dem darunter befindlichen Nucleus amygdaliformis
malazische Herde. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß das Zentrum des Herdes wie
mit Eosin ganz homogen gefärbt erscheint und an den Rändern reichlich Körnchen-
zellen zu finden sind. Auch Ödeme sieht man in diesem Gebiet. An einzelnen Gefäßen ist
reichlich Pseudokalk zu sehen, d. h. kugelige mit Hämalaun dunkelblau gefärbte
Körper, bald größer, bald kleiner, die mitunter das Gefäß vollständig besetzt halten.
Kaudal von diesem Gebiet, zwischen dem Frontalschnitt 4 und 5 meines Atlas ist das
erkrankte Gebiet wieder nahezu normal. Das einzige, was sich hier findet, sind die
meningeale Affektion und die veränderten Gefäße.
Der Spalt im Putamen wird kaudalwärts kleiner. Er verengt sich von unten her.
Auch hier ist wieder die Außenseite des Putamen glatter als die des Inselgebietes.
Hier sind auch die Markstrahlen des Inselgebietes entmarkt. Die Kapsel ist frei.
Im Temporallappen sieht man eigentlich nur entsprechend der ersten Temporal-
windung in den dorsalen Abschnitten eine leichte Aufhellung im Mark, die aber,
wenn man die Serie durchmustert, nicht gleichmäßig kaudalwärts zu verfolgen ist,
Am Hämalaun-Eosinpräparat erweist sich am stärksten betroffen das Gebiet
um den Spalt. Das ganze Putamen ist durchblutet. Auch sicht man hier eine kleine
Einschmelzung, dicht von Rundzellen besetzt. Ödem nur in der Umgebung, besonders
dorsal. Die Temporalwindungen sind nicht affiziert.
Je kaudaler die Schnitte, desto mehr verschwinden die letzten Anzeichen des
Herdes und ein Schnitt, etwa entsprechend dem Frontalschnitt 6 meines Atlas, zeigt
außer einer ganz leichten Aufhellung im Stratum sagittale int. und zahlreichen Gefäß-
lücken keinerlei wie immer geartete Veränderungen pathologischer Natur.
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 5
Die wesentlichsten Störungen finden sich, wenn man von der Zyste absieht,
im Parietallappen. Hier zeigt sich eine, das untere Drittel der hinteren Zentralwindung
einnehmende Erweichung des Marks, wobei sich gleichzeitig auch kleine Erweichungs-
herde im Rindengrau finden (Abb. 2). Die Erweichungen sind hier noch relativ frisch,
betreffen das untere Drittel der Zentralwindung unvollständig, und zwar ohne den
ventralsten Abschnitt derselben, also den operkularen Teil. Die in der Rinde befind-
lichen Störungen sind älteren Datums als die im Mark. Es handelt sich nicht um einen
Abb. 2 (ist im Verhältnis zu Abb. 1 umgekehrt wiedergegeben). In den ventralen
Windungen und am angrenzenden Mark Erweichungsherde.
kontinuierlichen Rindendefekt, sondern es handelt sich hier um einen Defekt, der
fleckweise die äußeren Rindenschichten betrifft.
Weitaus stärker betroffen ist der Gyrus supramarginalis. Hier wurde eine kleinere
Scheibe für feinere Färbungen ausgeschnitten, wobei sich zeigt, daß auch hier multiple
Herde vorhanden sind, von denen die einen typisch malazischer Natur sind, die
anderen nurmehr ein Lückenfeld mit dichter Gliawucherung erkennen lassen.
Sehr wesentlich ist hier der Befund an den Gefäßen. Das einzige Gefäß mit
einer mächtigen Intimawucherung, die ganz gleichmäßig das Gefäß erfüllt, wurde hier
in der Tiefe eines Sulcus in der sehr stark verdiekten Meninx gefunden (Abb. 3).
Auch die anderen Gefäße zeigen Wandveränderungen, die aber nicht die Intima, son-
dern die Media und Adventitia betreffen, welch letztere zumeist proliferativ ver-
breitert oder aber auch durch eingelagerte Massen zerklüftet erscheint. Auch schwere
Professor Dr. Otto Marburg.
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Abb. 3. Endarteriitis,
Abb. 4. Oberflächliche Malazie im Gyrus angularis.
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 7
degenerative Veränderungen an Gefäßen in malazischen Herden sind zu sehen. Am
auffälligsten ist der Prozeß im Gyrus angularis. Hier ist der ganze Gyrus betroffen,
aber so, daß nur das Rindengrau affiziert erscheint, während in der Tiefe das Mark
vollständig intakt geblieben ist, wenn man von einzelnen ganz kleinen Herdchen ab-
sieht (Abb. 4). Die Gefäße im Gyrus angularis zeigen auch außerhalb der Rinde,
also in noch intaktem Gebiet, Veränderungen. Auch hier ist wieder bei den größeren
Gefäßen die Adventitia und Media am meisten betroffen. Es springen besonders die
Kapillaren deutlich hervor. Sie sind sichtlich verdickt (Abb. 5). In einzelnen Arteriolen
kann man keine Schichtung sehen. Bei den Kapillaren, die gestreckt erscheinen und
Abb. 5. Kapillarsklerose.
gleichsam aus dem Gewebe herausspringen, sind die Wände entweder im Hämalaun-
Eosinpräparat blaßrosa tingiert, oder es zeigt sich an der Innenseite eine streifen-
förmige dunklere und nach außen eine hellere Tingierung bei gleichzeitiger Wand-
verdickung. Ob es sich um eine Gefäßvermehrung und um eine Vermehrung des Gefäß-
bindegewebes handelt, läßt sich sehr schwer entscheiden. Es sieht aber stellenweise
nach letzterem aus (Abb. 6).
Der Okzipitallappen ist vollständig frei. Auch der Übergang von Okzipital- zum
Parietallappen erscheint nicht getroffen.
Neben diesen Erscheinungen zeigt sich überall das Bild einer meningealen
Reizung, wobei das Exsudat vorwiegend Iymphoiden Charakter trägt, aber stellenweise
— besonders bei den oberflächlichen Erweichungen — reichlich Makrophagen enthält.
Auch Leukozyten finden sich. Die Meningen sind allenthalben etwas verdickt, keines-
8 Professor Dr. Otto Marburg.
wegs entsprechend einem akuten Prozeß. Daneben sind vorwiegend im Gyrus supra-
marginalis herdförmige Randzellenanhäufungen zu finden, die zum Teil im Zentrum
nekrotisch sich aus Leukozyten mit fragmentiertem Kern, Iymphoiden Elementen und
Markrophagen zusammensetzen. Allenthalben fallen auch petecchiale Blutungen auf.
Diese eben geschilderten Veränderungen beschränken sich nicht auf die linke Seite,
wenn auch diese am stärksten affiziert erscheint. Auch auf der rechten Seite kann
man ähnliche Gefäßveränderungen, allerdings nicht in solcher Intensität, wahrnehmen,
Abb. 6. Detail aus Abb. 5.
ferner perivaskuläre Desintegrationen und schließlich auch die meningealen Ver-
änderungen. Auch im Hirnstamm zeigt sich eine leichte Meningitis und ein mehr
diffuses Ödem.
Wenn wir also zusammenfassen, so handelt es sich hier um einen
doppelten Prozeß. Der eine ist eine Meningo-Encephalitis, was vielleicht mit
Rücksicht auf die spärlichen Gefäßwandinfiltrate nur im umschriebenen
Gebiet zu viel gesagt ist. Der Umstand, daß sich dieser letztere erst im
Anschluß an eine Grippepneumonie entwickelt hat, spricht wohl dafür, daß
er die Folge dieser letzteren ist, zumal die Herdchen ganz frischen Charakter
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 9
zeigen. Der Umstand ferner, daß der Prozeß hauptsächlich in dem schon
pathologisch affizierten Gebiet eine größere Intensität erreicht, spricht keines-
wegs gegen die erste Annahme, da erfahrungsgemäß die Lokalisation infek-
tiöser Prozesse an vorher geschädigten Stellen besonders leicht zustande-
kommt. Das Wesentlichste ist dagegen die eigentümliche Malazie, die sich an
den hinteren Ästen der Arteria cerebri media abgespielt hat. Diese Malazie
ist keineswegs so intensiv, wie sie etwa in dem Bonhöfferschen Fall
(Monatsschr. f. Psychiatrie und Neurologie 1915, XXXVII, 17) sich gezeigt
hat. Es handelt sich hier um einen mehr akuten Prozeß, der sicherlich noch
nicht abgelaufen war, und nur durch das Dazwischentreten der schweren
Infektionskrankheit ein vorzeitiges Ende erreichte. Es fällt mir unendlich
schwer, das Wesen dieses Prozesses voll zu erfassen. Alle anamnetischen
Untersuchungen haben weder für Lues noch für irgend ein Gift, besonders
Blei, einer Anhaltspunkt gegeben. Der Patient leitete ein Unternehmen für
Feinmechanik. Dpeh auch die nachträglichen Erhebungen ergaben nichts,
was für die Einwirkung irgend eines Toxins gesprochen hätte. Er leistete
mehr Büroarbeit und Aufsicht. Auch in der Wohnung war nichts, was für
eine Intoxikation gesprochen hätte. Das gleiche gilt für Syphilis. Freilich
fehlt die Spinalpunktion. Aber die genaueste Allgemeinuntersuchung und auch
die Blutuntersuchung ergaben keinen Anhaltspunkt für das Bestehen dieser.
Auch die Gefäße machten nicht den Eindruck der luetischen Veränderung, viel-
leicht mit Ausnahme eines einzigen. Über den Charakter des Prozesses kann
man sich trotzdem wohl nicht im Zweifel befinden. Es handelt sich um eine
durch eine schwere (iefäßveränderung herbeigeführte Malazie, die jedoch
auffallenderweise nicht das ganze Gefäßgebiet betrifft, sondern sich eigentlich
in kleineren Ästen abspielt und dadurch zu multiplen, verhältnismäßig
kleinen Herden führt. Diese Herde nun weisen ein doppeltes Verhalten auf.
Die einen sind weit vorgeschritten, d. h. zeigen bereits Sklerosierung resp.
wie im Putamen Zystenbildung. Die zweiten sind dagegen vollständig erfüllt
von Fettkörnchenzellen, wobei diese letzteren Herde entweder in der Tiefe
des entsprechenden Lappens sich finden und von einem mehr minder starken
Ödem begleitet sind, während die zweite Gruppe in einer höchst merk-
würdigen Weise die Oberfläche betrifft und hier, das Rindengrau vernichtend,
Störungen hervorruft. Bei genauer Untersuchung sieht man, daß die Gefäß-
störungen wohl auch auf der rechten Seite sich finden, wenn auch nicht
in so ausgedehnter Weise wie links. Und man kann auch hier erkennen,
daß bereits perivaskuläre Lichtungsbezirke auftreten, etwa entsprechend dem
Status desintegrationis. Es wäre noch mit der Möglichkeit eines entzündlichen
Prozesses zu rechnen, der etwa dem der akuten multiplen Sklerose nahe-
steht. Dagegen ist einzuwenden, daß der Charakter der Herde ein anderer
ist, indem hier eine totale Vernichtung des Gewebes besteht, ferner die
streng lokalisierte Affektion sich genau auf das (tebiet der A. cerebri
media beschränkt; schließlich das Fehlen entzündlicher Veränderungen
an den Gefäßen der Herde, während solche als selbständige Herd-
chen nachzuweisen sind. Es dürfte sich also hier um einen gene-
10 Professor Dr. Otto Marburg.
rellen Gefäßprozeß handeln, mit vorwiegender Beteiligung des Gebietes
der linken Arteria cerebri media. Da sich die Wandveränderungen der
Gefäße auch in Gebieten finden, die noch keinerlei Zeichen einer
Gewebsdestruktion erkennen lassen, so muß man in ihnen das Primäre
sehen, ohne damit Schwartz (Die Arten der Schlaganfälle des Gehirns ...,
Berlin, Springer, 1930) entgegenzutreten, der gezeigt hat, daß bei patholo-
gischen Prozessen schon nach kurzer Zeit die Gefäßwand in dem affizierten
Gebiet durch die Affektion selbst Schaden leidet. Das kann man ja auch
im vorliegenden Fall erkennen. Denn in den affizierten Gebieten sind die
Gefäße auf das schwerste gestört, zeigen Zerklüftungen und Zerfall der
Wand. In den nicht malazischen Gebieten aber sieht man besonders an den
Kapillarer die Wände stark, die Gefäße nicht geschlängelt, sondern gestreckt.
Dabei sind die Kerne wohl ein wenig ins Lumen vorspringend, aber sonst
eigentlich nicht sehr wesentlich verändert. Mitunter sind die Wände der
Kapillaren in den normalen Gebieten oder in der Nachbarschaft der Affek-
tion in Hämalaun-Eosinpräparaten blaßbläulich oder an anderen Stellen
mit Eosin leuchtend tingiert und springen wie ein scharfer Streifen hervor.
In der Mehrzahl der Gefäße ist keine wie immer geartete Intimaveränderung
wahrzunehmen, etwa im Sinne der Endarteriitis. Nur an einer einzigen
Stelle, und zwar im Gyrus supramarginalis gelang es mir, wie erwähnt,
an einer Arteria mittleren Kalibers, ganz an der Oberfläche der Rinde
gelegen, aber außerhalb der Rinde, eine schwere Endarteriitis nachzuweisen.
Die Meninx in der Umgebung dieses Gebietes zeigt Schwartenbildung. Es
ist alsc eine auch die Kapillaren ergreifende schwere Arteriofibrose zu
konstatieren, Gefäßveränderungen, wie sie bei Erweichungen (nach Pollak
und Rezek, Zeitschr. f. Neur. 1928, CXVI, 93) vorzukommen pflegen. Auch
die Lues der kleinen Hirngefäße könnte ähnliche Bilder zeigen. Trotz aller
darauf gerichteter Untersuchungen hat sich bei dem Patienten aber kein
Zeichen eines luetischen Prozesses nachweisen lassen. Auszuschließen ist
dieser Prozeß wohl nicht, aber es wäre immerhin möglich, daß es sich hier
doch um eine Früharteriosklerose handelt, da auch jede Beschäftigung mit
irgendwelchen Giften oder überstandene Infektionskrankheit bei noch nach-
träglich unternommenen Untersuchungen nicht nachzuweisen war. Besonders
eine Bleivergiftung erscheint ausgeschlossen, da der Patient mit Blei nichts
zu tun hatte und auch in der Wohnung ein Anstrich mit Bleifarben nicht
zu erweisen ist. Es bleibt also nur die Annahme, daß es sich hier um einen
der seltenen Fälle von Früharteriosklerose gehandelt hat, obwohl auch in
dieser Beziehung ein Beweis aus der Anamnese nicht zu erbringen war, da
in der Familie kein früher Todesfall an Gefäßerkrankung bekannt ist.
Und nun zu der Frage der Ursache, weshalb in diesem Falle lokalisierter
Erkrankung bei einem verhältnismäßig jungen Mann nicht von vornherein
ein Gefäßprozeß oder eine Entzündung angenommen wurde, sondern der
Verdacht eines Tumors aufkam. Das erste Moment ist die Entwicklung des
ganzen Falles. Er hat sich nicht schlagartig entwickelt, sondern ganz all-
mählich, was verständlich wird, wenn man das Nebeneinander der einzelnen
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 11
oft sehr kleinen Malazien ins Auge faßt. Diese allmähliche Entwicklung
geht Hand in Hand mit dem Auftreten von Symptomen, wie sie solchen
Prozessen gewöhnlich nicht eigen sind. Das ist der eigenartige Kopfschmerz.
Er tritt zeitweise auf und hat migränartigen Charakter, d. h. er ist halb-
seitig und geht mit Übelkeiten einher, an die sich gelegentlich sogar Er-
brechen anschließt. Der Charakter dieses Kopfschmerzes ist keinesfalls der
des aıteriosklerotischen, der hämmernd, bei Drucksteigerung leichtester Art
zunimmt. Er hat auch nichts von dem luetischen meningealen Kopfschmerz
an sich, dessen Intensität besonders bei luetischer Periostitis bekannt ist.
Auch das Umschriebene würde nicht gegen Lues sprechen. Aber selbst
bei schweren Periostitiden habe ich kaum je das Zusammentreffen mit
Übelkeiter und Erbrechen gesehen. Eine eigentliche Stauungspapille bestand
wohl nicht, aber es zeigte sich deutlich eine Hyperämie der Papillen, die
zunahm.
Es erhebt sich nun die Frage, was der Grund für diese einwandfreien
Zeichen eines hirndrucksteigernden Prozesses sein könnte. Da muß man
zunächst die Aufmerksamkeit auf den Umstand lenken, daß der Prozeß, der
von der. Gefäßen ausgeht, zu einer venösen Stauung geführt hat, deren
langes Bestehen aber nicht sicherzustellen ist, da der Patient bekanntlich
an einer Grippe-Pneumonie litt und dadurch die Stauungserscheinungen sowie
auch das Hirnödem eine Erklärung finden können. Dagegen ist sicher, daß,
wenn ein Prozeß, sei es nun eine Blutung oder eine Erweichung, in der
weißen Substanz in etwas ausgedehnterer Weise auftritt, die Quellung der
Markscheiden eine Drucksteigerung bewirkt — ich brauche nur auf die Ver-
suche hinzuweisen, die Shibuya (Arbeiten aus dem Wiener neurolog. Inst.
1924, XXVI, 253) durchgeführt hat, der zeigen konnte, daß ein experimenteller
Prolaps des Gehirns nur dann auftritt, wenn die Läsion das Mark betroffen
hat. Haben wir also bei einer Blutung oder Erweichung ausgedehnte Mark-
schädigungen, dann werden wir Druckerscheinungen erwarten können.
Da Kurt Goldstein (Handbuch der normalen und pathologischen Phy-
siologie, X, 600) vor nicht gar zu langer Zeit zusammenfassend über die
Lokalisation in der Großhirnrinde nach den Erfahrungen an kranken Menschen
berichtet hat und dort die Literatur auf das eingehendste berücksichtigte,
erscheint es mir nicht angezeigt, diese ganze Materie wieder aufzurollen.
Dies um so weniger, als es sich um einen verhältnismäßig frischen Fall
handelt, der noch in der Entwicklung hegriffen war und dessen volle klini-
sche Auswertung durch die komplizierende Operation und die später einge-
tretene Meningo-Enzephalitis unmöglich gemacht wurde. Wir können also
in diesem Falle nur über jene Tatsachen berichten, die dauernd vorhanden
waren und denen eventuell Herde entsprachen, deren Alter mit den klini-
schen Erscheinungen halbwegs in Zusammenhang gebracht werden kann.
Das erste und immer vorhandene Symptom war ein Hypästhesie der
rechten Hand für alle Qualitäten. Sie war nicht sehr ausgesprochen und
leitete sich durch ein taubes Gefühl in der rechten Hand ein. Ferner bestand
eine leichte U'nterempfindlichkeit der rechten Zungenhälfte sowie eine ganz
12 Professor Dr. Otto Marburg.
leichte Parese der rechten oberen Extremität, ohne daß irgend eine Bewe-
gung Schaden gelitten hätte. Später trat die Sensibilitätsstörung an der
Ulnarseite der Hand etwas stärker hervor. Es wird wohl keinem Zweifel
begegnen, diese angeführten Erscheinungen auf die Läsion zurückzuführen,
welche in der hinteren Zentralwindung in ihrem unteren Drittel nachzu-
weisen war, wobei betont wird, daß die ventralsten Partien weniger gelitten
hatten als die etwas höher gelegenen. Der Umstand, daß der Prozeß ein
verhältnismäßig frischer war, mit Ausnahme vielleicht der im Rindengrau
befindlichen Herde, der Umstand ferner, daß sekundäre Degenerationen eigent-
lich noch fehlten, spricht für die Geringfügigkeit der Ausfälle der Hautsensi-
bilität. Ob die begleitende Parese durch die Störung der Sensibilität bedingt
war oder ob die gleichzeitige leichte Läsion der Kapselfasern Schuld ist,
läßt sich wohl nicht erweisen.
Das auffallendste Symptom in diesem Falle war die Astereognose
der rechten Hand sowie die absolut sichere Fingeragnosie, bei verhältnis-
mäßiger Intaktheit der Praxie. Während die Sensibilitätsstörung vorwiegend
die Ulnarseite der Hand betrifft, was vielleicht durch das Freibleiben des
ventralen Abschnittes der hinteren Zentralwindung erklärt werden könnte,
da ja auch das Gebiet um den Mund herum nicht mitaffiziert war, sondern
nur die Zungenhälfte, betrifft die Fingeragnosie alle Finger. Da sie die
primäre Störung war, so muß man sie unbedingt auf den ältesten Herd
beziehen, der in diesem Falle der Herd im Gyrus supramarginalis ist. Nicht
ausschließen kann man selbstverständlich die Mitbeteiligung der hinteren
Zentralwindung. Aber wenn ich meine Fälle von Hirntumor betrachte, die
mit stereognostischen und Lagegefühlsstörungen der Hand einhergingen, so
hat sich in diesen Fällen immer gezeigt, daß die Störung der Astereognose
und des Lagegefühls der Finger besonders dann in den Vordergrund tritt,
wenn der Gyrus supramarginalis affıziert war.
Was nun die Sprachstörung anlangt, so ist sie wohl weniger amne-
stisch als sensorisch. Schließlich ist die Paraphasie zu erwähnen. Es ist im
ganzen keine sehr ausgesprochene Störung und man müßte demzufolge
auch nur annehmen, daß Herde in der Nähe der Sprachregion, nicht aber
in dieser selbst Ursache der Störung waren. Man findet Ähnliches ja auch
bei Tumoren im Schläfelappen (Handbuch der Neurologie des Ohres II, 2,
1869, Urban & Schwarzenberg, 1929, Wien-Berlin), wo auch initial meist
diese leichte Paraphasie bei richtigen Nachsprechen und für gewöhnlich
richtigem sprachlichem Ausdruck auftritt. Der Kranke behilft sich mit einem
Flickwort und, wie bei den Tumoren diese Störung auf eine Affektion der
vorderen Abschnitte des 'Temporallappens hinweist, so gilt dies auch hier.
Denn wenn auch leicht, war doch der vordere Abschnitt des Temporallappens
in der Nähe der Sylvischen Furche geschädigt.
Es fehlt die Alexie vollständig, ein Umstand, der bei der bestehenden
Läsion des linken Gyrus angularis wohl von Bedeutung ist. Es handelt sich
aber bei dieser Störung des Gyrus angularis um eine Dekortikation, während
die Markfasern, vor allem die den Gyrus angularis durehsetzenden Systeme
Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudotumor cerebri. 13
eigentlich normal waren. Ein gleiches gilt für die Agraphie. Daß trotz
Fingeragnosie keine Agraphie aufgetreten war, wie es nach Gerstmann
(Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 1927, CVII, 152), Hermann und
Poetzl (Über Agraphie und ihre lokaldiagnostischen Beziehungen, Berlin,
Karger, 1926), Lange (Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1930, LXXVI, 219),
um nur einige zu nennen, zu erwarten war, ist auffallend. Lange, der das
von Gerstmann zuerst beschriebene Syndrom analytisch zu erfassen suchte,
meint, daß all die auf Fingeragnosie zu beziehenden Folgeerscheinungen
auf den Verlust der Kategorie: Richtung im Raum, zurückzuführen seien.
Die vorliegende Beobachtung scheint nun in bezug auf die Lokalisation
nicht belanglos. Es handelt sich um eine Schädigung im Gyrus angularis,
aber nicht, wie Hermann und Poetzl es für die Agraphie verlangen,
auch in der angrenzenden zweiten Okzipitalwindung. Soweit reicht der
Prozeß nicht. Demzufolge kann man in diesem Falle nur sagen, daß offenbar
das optokinästhetische System im Sinne von Kleist (Neurol. Zentralbl.
1918) und Strauß (Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1924, LVI, 65) nicht
gestört war. Wir müssen weiters der Anschauung Raum geben, daß in diesem
Falle wohl die isolierte Läsion des Kortex des Gyrus angularis allein nicht
genügt, um die Alexie und Agraphie hervorzubringen, sondern daß dazu
unbedingt nötig ist, daß auch die tiefen Teile, also in diesem Falle die’
Bahnen aus dem Okzipital- in den Parietallappen, gestört sein müssen, wie
dies ja auch Goldstein fordert. Es scheint dieser Fall auch zu beweisen,
daß größere praktische Störungen nicht an ein kleines umschriebenes, ober-
flächliches Hirnareal gebunden sind, sondern daß hier der Herd gewöhnlich
ein größerer und tiefer reichender sein muß, der imstande ist, schwere
Störungen im assoziativen Geschehen der Rinde hervorzurufen. Wir werden
also die Fingeragnosie vielleicht durch Läsion zweier verschiedener Stellen
erreichen können. Das eine Mal durch die Läsion des Gyrus supramarginalis,
hier scheinbar ohne Agraphie, das andere Mal durch eine Läsion des Gyrus
angularis und des Anfangsstückes der zweiten Okzipitalwindung, also der
von Hermann und Poetzl angegebenen Stelle, in diesem Falle mit Agra-
phie. Es erscheint mir aber wichtig zu betonen, daß dies nur dann der Fall
sein dürfte, wenn neben der Rinde auch das Mark schwer geschädigt ist.
Aus dem Neurologischen Institut der Universität Wien,
Vorstand: Prof. O. Marburg.
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra.
Von
Dr. Wlad. Godlowski (Krakau).
Mit 3 Abbildungen im Text.
Seit der ersten Beschreibung der eigenartigen Zelleinschlüsse bei Myo-
klonusepilepsie von Lafora und Westphal wurden ähnliche Gebilde von
anderen Forschern bei einer Reihe von Erkrankungen gefunden. Biel-
schowsky beschrieb sie bei Athetose double im Pallidum, Spielmeyer
‘bei eigenartiger Erkrankung mit Schwachsinn und Muskelatrophie, Lewy
in verschiedenen Zellformationen bei Paralysis agitans, zwischen anderen
auch in der Substantia nigra. Weimann endlich und zuletzt Redlich
bei Encephalitis lethargica, der erste in dem sensiblen Trigeininuskern, der
zweite in der Substantia nigra. Während man zuerst diese (Gebilde mit den
Corpora amylacea in Zusammenhang brachte, hat man später — wegen
verschiedener färberischen Eigenschaften dieser Körper den echten Corpora
amylacea gegenüber — davon Abstand genommen. Es handelt sich in allen
Fällen um regelmäßig kugelige Gebilde (nur in Weimanns Fall hatten
sie auch andere Form gehabt), aber es ist noch fraglich, ob es immer
identische Gebilde sind. Z. B. im Falle von Westphal färbten sie sich
mit Toluidinblau rosa, mit Scharlachrot gelblich, bei Heidenhain-Färbung
zeigten sie nur einzelne graue Körner in ihrem Innern, im Bielschowsky-
Präparat sind sie braunschwarz, färben sich nicht mit Osmium, May-Grün-
wald und Markscheidenfärbung. Sie geben dagegen alle Corpora amylacea-
Reaktionen. Liebers fand, daß sie sich mit Toluidinblau blaugrün, mit Mark-
scheidenfärbung tiefschwarz, im Bielschowsky-Präparat gelbbraun, mit
Fetlfarbstoffen schwachrot, mit Haematoxylin-Eosin hellrot, mit Giemsa
hellbraunrot, mit Alzheimer-Mann-Färbung hellrot, mit Heidenhain tief-
schwarz färben, eine schwache Jodreaktion zeigen und sich mit Bestschem
Karmin und Weigerts Methylviolett nicht tingieren. — Im Laforas Fall
haben sie immer, wie bei Westphal, die für Amyloidkörperchen charakte-
ristischen Reaktionen gegeben und in Alzheimer-Mann-Farbstoff eine
mebrfarbige Schichtenstruktur aufgewiesen. Der Spielmeyersche Fall hat
keine Amyloidreaktion gegeben, dagegen haben sich die Einschlüsse mit
Silber schwarz imprägniert und waren fuchsinophil. Weimann gibt an, daß
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. 15
in seinem Fall sie sich mit Toluidinblau nicht gefärbt haben; mit Best
färbten Sie sich tiefrot, bei Van Gieson-Färbung waren sie dunkelbraun
mit einem dunklen Kern. — Nach Lewy färben sich die bei Paralysis
agitans in der Substantia nigra vorkommenden Zelleinschüsse mit Alzheimer-
Mannscher Methode mehrfarbig. Endlich im Redlichschen postenzephaliti-
schen Fali haben sie sich nicht mit Toluidinblau und Kresylviolett gefärbt
und bei der Giemsa-Färbung sind sie hell geblieben. Jodreaktion haben
sie nich! gegeben, mit Best färbten sie sich blau, mit Mallory rötlichblau,
bei Bielschowsky-Imprägnation waren sie nicht zu finden, in Häma-
toxylin-Eosin waren sie rosa gefärbt.
Auch ihrer Lokalisation in der Zelle nach verhalten sie sich verschieden.
In Bielschowskys und Westphals Fall wurden die Einschlüsse auch in
den Zellfortsätzen gefunden, in anderen nur im Zelleib selbst. In dem von
Spielmeyer beschriebenen Falle war immer nur ein Einschluß in einer Zelle
zu finden. In anderen Fällen wurden auch mehrere Einschlüsse in einer
Zelle gefunden. Endlich, während sie von Lafora nur innerhalb der Zellen
gesehen wurden, liegen sie in den meisten anderen Fällen auch frei im
Gewebe, obgleich es unentschieden bleibt, ob sie dorthin erst nach dem
Zugiundegehen der Zelle gelangen oder auch aus der Zelle ausgeschieden
werden können. Auch die Beziehung solcher freiliegender Körper zu den
Gliazeller ist verschieden. Weimann besonders betont ihre nahen Bezie-
hungen zu der plasmatischen Glia, die diese Körper zerniert und zur Auf-
lösung bringt, während Westphal sie — unabhängig von Gliastrukturen — im
Gewebe liegen findet.
Da noch viele Fragen bezüglich dieser eigenartigen Gebilde der Antwort
harren, und aus der zitierten Literatur hervorgeht, daß die Substantia nigra
als Fundort dieser Einschlüsse eine bevorzugte Stellung einnimmt, habe
ich Untersuchungen aus dem Material des Wiener Neurologischen Insti-
tutes an der Substantia nigra bei vier Fällen die mit der Diagnose Paralysis
agitans gestorben sind angestellt, um festzustellen, inwiefern bei dieser
Erkrankung, bei der auch die Substantia nigra besonders affiziert ist, diese
Gebilde regelmäßig vorkommen und ferner zu versuchen, näheres über ihr
Wesen und ihre Bedeutung zu ermitteln.
Fall I. Patient W. F., geboren 1855, Metallarbeiter.
Keine fieberhafte Erkrankung in der Anamnese. Im Juli 1918 hat er einen
schweren Unfall mit Bruch von zwei Rippen erlitten. 1919 sind Schmerzen in
dem linken Knie, dann auch in dem Kreuzbein aufgetreten, 1920 Zittern in den
Händen, später auch in den Beinen, Schmerzen in den Beinen. Die Sprache wurde un-
deutlich. Am 10. August 1926 wurde er im Wiener Versorgungsheim aufgenommen,
dabei wurde festgestellt: starke Hypertonie in allen vier Extremitäten, Lippen-, Zungen-
und Händetremor, Amimie, steife, nach vorne gebeugte Haltung, kleinschrittiger Gang
mit Propulsionen, undeutliche monotone Sprache, Tränen- und Speichellluß. Keine
Sensibilitäts- und Reflexstörung, keine Seitenzeichen.
Der Zustand verschlechterte sich während des Krankenaufenthaltes und am
30. Juli 1929 ist der Patient gestorben.
Sektions-Protokoll: Frische Tbc-Veränderungen in beiden Öberlappen. Serös-
bämorrhagisches Pleura-Exsudat, Pericarditistbe. Am Gehirn wurde außer gering-
16 Dr. Wlad. Godlowski.
gradigem Hydroceph. int. und einem kleinen Erweichungsherd in dem linken Okzipital-
lappen makroskopisch nichts Pathologisches gefunden.
Wenn man die Subst. nigra mikroskopisch im Nissl-Bild betrachtet, findet man
hochgradige Veränderungen der pigmenthaltigen Zellen. Am schwersten sind die
lateralen Teile betroffen. Eine Anzahl von Zellen sieht wie aufgebläht aus, die
Nissl-Schollen sind an die Zellperipherie verdrängt und randständig angeordnet, der
ganze Zellkörper außer dem Pigmenthaufen und dem Kern, wenn dieser sichtbar
ist, ist vollkommen ungefärbt und sieht wie eine große Vakuole aus. In manchen
Zellen ist auch das Tigroid und der Kern verschwunden und sie bieten das Bıld
eines leeren Ballons, aus dem wie Anhängsel die Fortsätze entspringen. Die Nukleolen
fast aller Zellen weisen eine kleine Vakuole auf. Die Gliareaktion ist äußerst gering,
hie und da findet man aber große, etwas gelappte Gliakerne.
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Abb. 1. Einschlußkörper in einer pigmentierten Zelle mit Zeichen der schweren
Erkrankung.
Bei der Bielschowsky-Imprägnation sind die Veränderungen nicht so ausge-
sprochen. Die Neurofibrillen färben sich verhältnismäßig gut, nur hie und da findet
man einen Zerfall von Fibrillen und die Zelle ist mit einer feinkörnigen Masse aus-
gefüllt.
Die Hämatoxylin-Eosin-Färbung bringt am meisten Einzelheiten zutage. Und
zwar sieht man, daß Zellen, die im Nissl-Bilde wie vakuolisiert aussehen, mit einer
homogen, sich blaßrosa färbenden Masse ausgefüllt sind, was ihnen ein glasiges Aus-
sehen verleiht, während das sich blau färbende Tigroid nur an der Peripherie angeordnet
oder überhaupt verschwunden ist. In dieser blassen homogenen Masse sieht man
hie und da ein dunkleres Zentrum auftauchen. Es ist ein runder Körper, der auch
ganz homogen aussieht. In anderen Zellen sieht man nur solche runde, sich dunkel-
rosa färbende Körper, die von einem schmalen lichten Hof umgeben sind. Wenn dieser
Hof etwas breiter ist, sieht man, daß er durch dünne Wände in einzelne Kammern
geteilt ist. Diese runden Einschlüsse sind von verschiedener Größe, von Nukleolus-
größe, bis zu den ihn 3- bis 5-fach überragenden Dimensionen. Man findet bis zu vier
solcher Einschlüsse in einer Zelle. Ihre Farbe schwankt von rosa bis hellviolett. Der
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. 17
Zustand der Zellen, in denen sich diese Einschlüsse finden, ist sehr verschieden,
immer aber zeigen sie deutliche Veränderungen. Der Kern hat unregelmäßige Gestalt,
sein Chromatin ist an der Peripherie in Klumpen angeordnet, der Nukleolus ist oft
in Auflösung begriffen. Die Zellen sind oft geschrumpft, das Tigroid ist mehr oder
weniger vermindert, bis zum völligen Schwunde. Endlich findet man Zellreste, in denen
nichts vom Kern und vom Zelleib geblieben ist, nur ein oder mehrere Einschlußkörper
vom Pigment umgeben, liegen im Gewebe. Meistens sind die Einschlüsse, die man im
Zellinnern findet, ganz homogen. Man findet aber ein paar Exemplare, die im Zentrum
einen dunkelblauen oder rötlichen kleinen Kern von unregelmäßiger Gestalt aufweisen.
Die Zellen mit den Einschlüssen sind gar nicht selten. Ungefähr auf 15 Zellen kommt
eine mit dem Einschluß. Außer diesen Zelleinschlüssen findet man frei im Gewebe
liegende, ganz ähnliche runde Körper. Solche rosa gefärbte Kugeln sind aber ziem-
lich selten, viel öfter findet man Kugeln derselben Größe, aber dunkelblau gefärbt,
die zugleich nicht ganz homogen erscheinen, sondern eine Schichtung aufweisen; um den
Abb. 2. Der Einschlußkörper erfüllt die ganze Zelle; Reste der plasmatischen Form
und der Fortsätze mit spärlichem Pigment.
Kern sieht man dann ein bis zwei hellere Ringe. Manche von diesen Kugeln zeigen
einen Riß durch die Mitte. Neben diesen zwei Arten von freien Körpern (rosa und
dunkelblau) findet man auch im Gewebe freiliegend eine die früher genannten an
Zahl weit überragende dritte Art von Körpern. Es sind lichtblau sich färbende Kugel-
chen, die gewöhnlich von einem schmalen rosa Ring umgeben sind und einen etwas
wabigen Bauch haben. Sie liegen besonders in den medialen Teilen der Subst. nigra
dicht nebeneinander und entsprechen in ihrer Größe einem Gliakerne. Sie finden sich
wie die zwei ersten Körperarten hauptsächlich im Gebiete der pigmentierten Zellen
der Subst. nigra, zeigen sich aber zuweilen auch in den angrenzenden Gebieten des
Hirnschenkelfußes.
In mit Fuchsin nachgefärbten Heidenhain-Präparaten sieht man die schweren
Veränderungen des Kerns, die fast alle Zellen der Subst. nigra aufweisen. In ein-
zelnen Zellen sieht man runde, homogene oder etwas körnig gebaute, sich rot fär-
bende Einschlüsse. In manchen dieser Einschlüsse sieht man im Zentrum einen schwar-
zen runden Körper, der an den Nukleolus erinnert. Auch außerhalb der Zellen sieht
man spärliche leuchtend rot gefärbte Kugeln. Dagegen sind die zahlreich vorhandenen
Corp. amyl., die im Hämatoxylin-Eosin hellblau waren, hier fast ungefärbt, oder sie
nehmen eine nur ganz leichte rosa Farbe an.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd. 2
18 i Dr. Wlad. Godlowski.
In den nach Mallory gefärbten Schnitten erscheinen die Einschlüsse in den
Zellen als blaue homogene Kugeln mit einem lichten Hof. Dagegen sind die Corp.
amyl. körnige runde, frei im Gewebe liegende, sich ganz schwach rosa färbende Ge-
bilde. Es ist interessant, daß in den Kernkörperchen mancher Zellen man einen
roten Punkt in der Mitte beobachten kann.
In mit Fettfarbstoffen behandelten Schnitten sieht man keine Fettablagerungen,
weder in den Zellen noch im Gewebe oder um die Gefäße.
Fall II. Patientin S. E., geboren 1850. In der Anamnese ist keine fieberhafte
Krankheit verzeichnet.
Am 14. September 1927 im Wiener Versorgungsheim aufgenommen. Sie zittert
seit längerer Zeit, klagt über Schmerzen in den Extremitäten und über Schwindel. Die
Untersuchung ergibt: Hochgradiger extrapyramidaler Rigor im ganzen Körper. Grob-
schlägiger Tremor der oberen Extremitäten, Kopftremor, Hypomimie, Bewegungsarmut.
Die Störungen sind symmetrisch.
Am 19. September 1929 Exitus.
Abb. 3. Zwei Einschlußkörper in einer Zelle. Kernrest in der linken Zellhälfte bei
exzessiver Nukleolusschwellung.
Sektionsprotokoll: Mitralinsuffizienz nach Endokarditis, Hypertrophie der beiden
Ventrikel, Gehirn atrophisch, Basalgefäße sklerotisch. Sonst makroskopisch im Gehirn
nichts Pathologisches.
Nissl-Präparate zeigen starke Veränderungen der S. n.-Zellen, sowohl was die
Kerne als auch was die Plasma betrifft. Man findet hyperchromatische Kerne, Kerne
mit randständigem Chromatin und unregelmäßigen Grenzen, mit dem Nukleolus, der
sich schwarz färbt oder eine Vakuole aufweist. Im Zelleib finden sich ähnlich wie
im Fall I Stellen, wo das Tigroid gänzlich verschwunden ist und wo man nur eine
sich gleichmäßig sehr schwach färbende Masse findet. In manchen Zellen findet man
weder Kern noch Tigroid, bloß Pigment und eine glasige, blasse Masse. ;
In Hämatoxylin-Eosin-Präparaten sieht man, daß die im Nissl-Bilde glasigen
lichten Stellen in den Zellen sich homogen hellrosa färben. In manchen Zellen sieht
man außerdem kleinere und größere — einzeln oder mehrere in einer Zelle — runde
Einschlüsse, die sich dunkelrosa färben und von einem lichten Hof umgeben sind. Die
Kerne solcher Zellen sind besonders stark verändert, sie sind verunstaltet und mit
körneligen hyperchromatischen Massen ausgefüllt. Manche weisen bereits einen voll-
kommenen Zerfall auf. Frei im Gewebe liegend findet man runde, tiefblau gefärbte
Körper. In einzelnen wird das tiefblaue Zentrum von einem hellblauen Ring. um-
geben. Andere zeigen wieder einen Riß durch die Mitte. Die viel zahlreicheren Corp.
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. 19
amyl. sind im allgemeinen kleiner, färben sich hellblau und haben eine schaumige
Struktur.
In Bielschowsky-Präparaten scheinen die Fibrillen viel stärker geschädigt zu
sein als im vorigen Falle. Sie sind oft verklumpt oder sehr schwach imprägniert.
Bei Scharlachrotfärbung sieht man nur in den Gefüßwänden Fettablagerungen.
Fall III. Patientin K. R., geboren 1864.
Im Jahre 1919 haben die Kinder der Patientin Grippe gehabt. Patientin selbst
litt damals nur an Kopfschmerzen, sonst hatte sie keine Beschwerden. Ein halbes
Jahr später begann der rechte Arm und das rechte Bein zu zittern. Der rechte Arm
wurde gefühllos. Im Jahre 1922 begann der Kopf zu zittern, nachher auch der linke
Arm und das linke Bein. Oft bekam sie Schwindel. Im Jahre 1923 wurde sie im
Maria Theresien-Schlössel behandelt. Am 27. April 1924 im Wiener Versorgungslieim
aufgenommen. Damals wurde festgestellt: Seborrhoe des Gesichtes und des Kopfes,
leichte Hypomimie, Verlangsamung willkürlicher Bewegungen, geht mit vorgebeugtem
Körper und in dem Ellenbogen gebeugten Arm. Kopf- und Lippentremor, leichter Rigor
der oberen und der unteren Extremitäten. Ruhetremor beider oberen Extremitäten, hebt
schlechter das rechte als das linke Bein, beim Gehen schleift der rechte Fuß nach.
Klagt über Schmerzen im rechten Arm und im rechten Sprunggelenk.
Während des Krankenhausaufenthaltes verschlechterte sich der Zustand, es
ist zu einer Kontraktur der unteren Extremitäten in Equinovarusstellung gekommen.
Am 15. November 1929 ist unter Diarrhöen und Dekubitus Exitus eingetreten.
Sektionsprotokoll: Verjauchter Dekubitus in der Gegend des Kreuzbeines und
von da ausgehende jauchige Meningitis spinalis. Parenchymatöse Degeneration der
inneren Organe. Exulzeriertes Karzinom der kleinen Kurvatur. Makroskopisch im Gehirn
nichts Pathologisches.
Mikroskopisch findet man in Nissl-Präparaten eine fast vollständige Zerstörung der
Subst nigra. Man sieht fast ausschließlich nur Zelltrümmer in Gestalt von Pigment-
haufen, die mit Resten von Kern und Zelleib vermischt sind. Manche Zellen sehen
wie geborsten aus, zerstreut liegen umher Pigmentkörner und Nissl-Schollen. Es ist
auffallend, daß manchmal das Kernkörperchen noch nach Zugrundegehen des Kerns
scheinbar intakt zwischen den Zelltrümmern liegt. Die kleine Zahl der Zellen, die nicht
vollständig zugrunde gegangen sind, zeigt schwere Erkrankung; es finden sich aber
nur wenige Zellen, die solche ungefärbte, an Vakuolen erinnernde Stellen wie im
vorigen Falle zeigen.
In den erhalten gebliebenen Zellen sieht man bei der Bielschowsky-Färbung hoch-
gradige Fibrillenveränderungen; die Fibrillen sind in den meisten Zellen überbaupt
nicht zu finden.
In den mit Hämatoxylin-Eosin gefärbten Präparaten tritt auch der Zerfall der
Zellen der S. n. sehr deutlich hervor. In einzelnen Zelltrümmerhaufen findet man
kleine, runde, sich rosa färbende Körper. Auch in den besser erhaltenen Zellen findet
man hie und da solche Einschlüsse. Sie sind aber ziemlich selten. Im Gewebe frei-
liegend finden sich einzelne große Kugeln, tiefblau gefärbt, mit sehr deutlicher
Schichtung. Ziemlich reichliche Corp. amyl. färben sich hellblau.
In Scharlachrotpräparate findet man Fetttropfen im Gewebe und um die Gefäße,
in den Zellen sind keine Gebilde, die sich wie Fett färben, zu finden.
Fall IV. Patientin R. A., geboren 1862.
Als Kind hat sie Blattern durchgemacht, 1907 Typhus und luetische Infektion.
Nachher spezifisch behandelt. 1908 Dysenterie. 1918 Grippe. 1922 Zittern der Hände,
Zucken im Gesicht. 1925 im Maria Theresien-Schlössel behandelt, der Zustand ver-
schlechterte sich, so daß sie endlich gar nicht gehen konnte. Am 11. Juli 1928 im
Wiener Versorgungsheim aufgenommen. Die Untersuchung hat ergeben: Kyphose der
Wirbelsäule, starre Haltung. Gang kleinschrittig, monotone Sprache, athetotische Be-
wegungen der Lippen, Schütteltremor aller Extremitäten. Rigor der Extremitäten, sie
klagt über Schmerzen im ganzen Körper.
2*
20 Dr. Wlad. Godlowski.
Der Zustand der Patientin wurde immer schlechter und am 17. März 1929
hat Exitus stattgefunden.
Sektionsprotokoll: Abszedierende beiderseitige Lobulärpneumonie der Unterlappen.
Pleuritis. Parenchymatöse Degeneration des Myokards und der Nieren.
Mikroskopische Untersuchung der Subst. nigra. In Nissl-Präparaten ist auch
hier die Zerstörung sehr ausgesprochen, jedoch schwächer als im vorigen Falle. Man
findet wie dort Trümmer von Zellen, aus Körnern von Pigment und Zelleibresten be-
stehend. Weiter die Zellen, in denen der Kern vollkommen zerfallen ist, und endlich
Zellen, die wenig Tigroid und einen erkrankten Kern aufweisen. Geblähte Zellen mit
Vakuolen findet man nicht.
In Bielschowsky-Präparaten ist in den meisten Zellen von den Fibrillen nichts
zu sehen. Dort, wo sie besser erhalten sind, färben sie sich nicht distinkt. Die Fort-
sätze sind oft sequestriert.
Bei der Hämatoxylin-Eosin-Färbung finden sich spärliche Einschlußkörper in
den Zellen einzeln oder zu zweit. Sie sind rund mit hellem Hof und färben sich rosa.
Man findet auch Bilder, wo die Zelle gänzlich verschwunden ist und ein Einschluß-
körper frei im Gewebe, nur mit Pigment umgeben, liegt. Außerdem findet man im
Gewebe außerhalb der Zellen dunkelblau gefärbte Kugeln. Corp. amyl. färben sich
hellblau. Die Reaktion der Glia, die besonders in der Nähe der zerfallenen Zellen
vermehrt ist, ist ausgesprochener als in vorliegenden Fällen. Die Gefäßwände sind
etwas verdickt.
In Scharlachrotpräparaten findet man nur in den Gefäßwänden Fettablagerungen.
Auf Grund der Krankengeschichten kann man mit großer Wahrschein-
lichkeit vermuten, daß es sich in den Fällen III und IV um keine Paralysis
agitans, sondern um einen parkinsonistischen Zustand nach Encephalitis
epidemica handelt. Dagegen scheinen die zwei ersten Fälle der echten Par-
kinsonschen Krankheit anzugehören. Der mikroskopische Befund an der
Substantia nigra bestätigt diese Vermutung. In allen vier Fällen ist die
Substantia nigra schwer erkrankt. Wir finden jedoch einen Unterschied in
dem pathologischen Bilde der zwei ersten gegenüber dem Fall III und IV.
Während im Fall I und II die Zellen, obwohl schwer erkrankt, in ihrer
Mehrzahl noch erhalten sind, finden wir die größte Zahl der Zellen im
Fall III und IV bereits zerstört oder in Zerstörung begriffen. Man findet
überall Zelltrümmer und freiliegende Pigmentmassen. Der Zerfall scheint
im Gegensatz zu Fall I und II verhältnismäßig rasch fortzuschreiten. Auch
die Gliareaktion, obwohl auch hier ziemlich schwach, ist viel ausgesprochener
als im Fall I und II. In diesen zwei Fällen zeigen die Substantia nigra-Zellen
in ihrer Gesamtheit auch schwere pathologische Erscheinungen. Sie sind
gebläht oder geschrumpft, Nissl-Schollen sind zu Klumpen geballt, in einem
Teil des Zelleibs angeordnet oder sind überhaupt verschwunden, der Kern
ist geschrumpft, mit randständigem Chromatin und zeigt eine Vakuole im
Nukleolus; die Zellen scheinen jedoch trotz dieser schweren Erkrankung
noch lange lebensfähig zu bleiben.
Trotz dieser Unterschiede im pathologischen Bilde der ersten zwei Fälle
gegenüber dem Fall III und IV finden wir in allen vier die Zelleinschlüsse,
die sich vollkommen identisch verhalten. Sie erscheinen als runde Körper
von verschiedener Größe (einzelne sind kleiner als ein Gliakern, es finden
sich aber auch solche, die die Kerne der großen Substantia nigra-Zellen
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. 21
an Umfang überragen). Sie finden sich einzeln, aber auch zu zwei, drei und
vier in einer Zelle. Ihr färberisches Verhalten stellt sich folgendermaßen
dar: Mit Hämatoxylin-Eosin färben sie sich rosa, mit Fuchsin tingieren
sie sich lebhaft rot, bei Anwendung der Malloryschen Färbung sind sie
blau, mit Toluidinblau wie auch mit den Fettfarbstoffen färben sie sich
gar nicht. Auch sind sie mit Bielschowsky-Imprägnation nicht zu finden,
doch ist mit Redlich zu bemerken, daB wegen der schwarzen Pigment-
massen das Suchen nach vermutlich gleichfalls schwarzen Einschlußkugeln
von vornherein wenig Erfolg verspricht. Im allgemeinen sind diese Körper
ganz homogen und gleichmäßig gefärbt. Nur bei Heidenhain-Färbung tritt
manchmal in ihrem Zentrum ein schwarzer Kern auf, der einem Nukleolus
vollkommen gleicht. Diese Einschlüsse sind meist von einem lichten Hofe
umgeben; wenn er etwas breiter ist, kann man sehen, daß er von dünnen
Strängen durchzogen ist. Was die Zellen anbelangt, in denen sich die Ein-
schlüsse finden, ist ihr Zustand sehr verschieden. In einigen ist der Kern
noch erhalten und auch die Nissl-Schollen sind ziemlich gut gefärbt. Und
endlich findet man als Endzustand Bilder, wo wir nur einen oder ein paar
Einschlüsse von Pigment umgeben sehen, vom Kern oder Zellplasma aber
keine Spur mehr.
In der Beschreibung der Veränderungen im Falle I und U haben wir
angegeben, daß wir eine Anzahl von Zellen finden, die wie aufgebläht er-
scheinen, und in ihrem Innern homogene, mit Hämatoxylin-Eosin sich
schwach rosa färbende Massen aufweisen, die in Toluidinblau-Präparaten
wie Vakuolen imponieren, weil sie ungefärbt bleiben. Wir haben in ein paar
solcher Zellen im Innern dieser glasigen Massen unsere Einschlußkörper
gesehen. Sie sind ziemlich klein und färben sich etwas schwächer als die
anderen. Man kann also vermuten, daß das erste Stadium der Ein-
schlußkörperbildung diese glasige Umwandlung des Zellprotoplasmas
bilde. In diesen Massen kommt es dann zu Verdichtungsvorgängen
vom Zentrum anfangend, die zur Bildung der runden Einschlüsse führt.
Durch Verdichtung und Schrumpfung kommt es auch zur Bildung einer
Spalte zwischen dem Einschluß und dem Rest der Zelle, die als heller Hof
erscheint.
Obgleich diese Einschlüsse in allen unseren vier Fällen zu finden waren,
war ihre Häufigkeit in den zwei echten Parkinson-Fällen viel größer als in
den postenzephalitischen Fällen, wo sie ziemlich spärlich auftreten. Auch
erreichen sie in den Paralysis agitans-Fällen im allgemeinen viel größere
Dimensionen als in den zwei anderen Fällen. Dieser Befund steht im Ein-
klang mit dem verschiedenen Verlauf und der verschiedenen Akuität des
Prozesses bei Paralysis agitans und dem bei postenzephalitischen Parkinso-
nismus. Der subchronisch vor sich gehende Zerstörungsprozeß beim post-
enzephalitischen Parkinsonismus führt direkt zum vollkommenen Untergang
der Zellen, während der langsam fortschreitende chronische Verlauf der
Paralysis agitans nicht mit einem Schlag den Tod der Zelle herbeiführt,
sondern erst nach einem langdauernden nekrobiotischen Stadium, in dem sich
22 Dr. Wlad. Godlowski.
degenerative Produkte langsam bilden können, das allmähliche Absterben
der Ganglienelemente bedingt.
Außer diesen sich in den Zellen befindenden Körpern oder solchen, die
ihren Ursprung aus den Zellen noch deutlich erkennen lassen, sind im Bereich
der Substantia nigra aller von uns untersuchten Fällen frei im Gewebe
liegende Körper zu finden, und zwar ziemlich große, der Größe der Sub-
stantia nigra-Zellkerne entsprechende, sich mit Hämatoxylin-Eosin dunkel-
blau (auch mit rötlichem Einschlag) färbende rundliche Gebilde. Außerdem
findet man viel kleinere, von der Größe eines Gliakerns, dafür aber viel
zahlreichere runde Körperchen, die bei Hämatoxylin-Eosin-Färbung hellblau
erscheinen, eine leicht wabige Struktur aufweisen und von einem schmalen,
rötlichen Ringe umgeben sind. Die zuletzt genannten Körper bleiben in Nissl-,
Bielschowsky- und Scharlachrot-Präparaten ungefärbt. Bei Mallory-Färbung
sind sie sehr schwach rosa gefärbt und bei Fuchsinfärbung liegen sie als
ungefärbte runde Körper mitten in rotgefärbtem Gewebe. Sie sind nichts
anderes, als gewöhnliche Corpora amylacea. Dagegen färben sich die erst-
genannten größeren und viel spärlicheren Körper mit Fuchsin rot und auch
in Bielschowsky-Präparaten findet man ein paar argentophile freie Kugeln,
die vielleicht diesen Gebilden entsprechen. Es ist noch zu erwähnen, daß
in mit Hämatoxylin-Eosin gefärbten Präparaten diese Körner geschichtet
erscheinen. Ein Zentrum sieht man von ein bis zwei Ringen umgeben.
Diese äußeren Schichten färben sich auch manchmal hellblau oder rötlich,
während das Zentrum dunkelblau bleibt.
Es scheint, daß diese zwei Arten von Körner, also die Corpora anigläcdn
und die größeren dunkelblauen Körner nichts miteinander zu tun haben.
Das zeigt sowohl ihre verschiedene Größe, als auch ihr vollkommen anderes
färberisches Verhalten. Dagegen halten wir für nicht ausgeschlossen, daß
die größeren, bei Hämatoxylin-Eosin-Färbung dunkelblauen oder violetten, frei im
Gewebe liegenden Kugeln aus den Zelleinschlüssen, die nach dem Unter-
gang der Zellen frei im Gewebe liegen und dabei eine chemische Verände-
rung erfahren haben, entstanden sind. Die Größe beider ist vollkommen
gleich und man findet auch, was ihre Farbe anbelangt, Übergänge zwischen
ihnen von Rosa und Dunkelblau.
Wir sehen also, daß die Zelleinschlüsse mit den eigentlichen Corpora
amylacea nichts zu fun haben. Ihr Verhalten den verschiedenen Farbstoffen
gegenüber ist ganz entgegengesetzt. Während die Zelleinschlüsse saure Farb-
stoffe, Eosin und Fuchsin aufnehmen, färben sich Amyloidkörperchen nicht
mit ihnen, färben sich dagegen hellblau mit Hämatoxylin. Bei Mallory-
Färbung sind die Einschlüsse blau, während die Corpora amylacea rosa
erscheinen. Endlich ist auch die Größe und die Struktur beider verschieden.
Es ist mit Redlich zu betonen, daß wir in all unseren Fällen die
Zelleinschlüsse nur in den pigmenthaltigen Zellen gefunden haben. Die
frei im Gewebe liegenden Kugeln, sowohl die dunkelblauen, größeren,
als auch die Corpora amylacea finden sich auch fast ausschließlich im Bereich
der Substantia nigra. Nur vereinzelte Corpora amylacea sind in Nachbar-
Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. 23
gebieten zerstreut. Im Vergleich aber mit ihrem massenhaften Auftreten in
der Substantia nigra ist ihr Vorkommen außerhalb der pigmenthaltigen Zone
selten. \
Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zusammenfassend stellen wir fest,
daß sowohl in unseren beiden Fällen von Paralysis agitans als auch in zwei
postenzephalitischen Fällen Zelleinschlüsse gleicher Art in den Substantia
nigra-Zellen zu finden sind, und zwar bei Paralysis agitans viel reichlicher
als in den zwei anderen Fällen. Es scheint also, wenn wir unsere Befunde
mit denen von Lewy und Redlich vergleichen, sicher zu sein, daß
bei beiden dieser Erkrankungen das Vorkommen von Zelleinschlüssen in
den pigmenthaltigen Substantia nigra-Zellen regelmäßig oder mindestens
sehr häufig ist. Es ist merkwürdig, daß zwei Erkrankungen von scheinbarer
ganz anderer Ätiologie in mancher Hinsicht zu identischen anatomischen
Veränderungen führen. Es wäre zu weitgehend, daraus auf die Verwandt-
schaft der pathogenetischen Faktoren zu schließen. Man muß cher vermuten,
daß es mit besonderen Reaktionseigenschaften der pigmenthaltigen Zellen
der Substantia nigra zusammenhängt, daß der, diesen Zellen eigene Stoff-
wechsel es verursacht, daß sie auf ganz verschiedene pathologische Reize
mit gleichen Veränderungen antworten, eine Tatsache, die auch sonst in der
Gehirnpathologie oft hervortritt, daß die Art der Veränderungen nicht so
sehr durch die Noxe als durch die Reaktionsfähigkeit betreffender Formation,
die sich in ziemlich engen (irenzen bewegt, bestimmt wird.
Aus dem Neurologischen Institut der Universität Wien,
Vorstand: Prof. Marburg.
Beitrag zur Pathologie der alkoholischen Erkrankungen
des Zentral-Nervensystems.
Von
Dr. Yanni Tsiminakis.
Mit 17 Abbildungen im Text.
Über die Pathologie der durch Alkohol bedingten zerebrospinalen Er-
krankungen ist verhältnismäßig wenig tatsächlich bekannt geworden. Während
die Affektionen des peripheren Nervensystems, die ziemlich gleichzeitig
zur Beobachtung gelangten, eingehende und typische Befunde gezeigt
haben, Befunde, die schon seit längerer Zeit als feststehend anerkannt sind,
sind solche des zentralen Nervensystems bis heute in gesetzmäßiger Form
noch wenig festgestellt worden. Mag sein, daß ein richtiges Untersuchungs-
material aus dem Grunde schwerer gefunden wird, weil die alkoholischen
Späterkrankungen häufig nicht in Anstalten sterben, wo eine spezielle
Untersuchung der nervösen Zentralorgane erfolgen könnte. Wir haben
daher reiativ wenig Berichte über die anatomischen Befunde bei alkohol-
bedingten Affektionen des Zentralnervensystems und wo solche vorhanden
sind, betreffen diese hauptsächlich Fälle einer akuten Intoxikation, welche
jedoch in unserer diesmaligen Publikation nicht berücksichtigt werden sollen.
Die relativ häufige akute alkoholische Toxikose mit dem klinischen Bild
der sogenannten Trinkerlähmung nach Wernicke (Polioencephalitis haemor-
rhagica superior) hat schon vor einigen Jahren eine eingehende anatomische
Analyse erfahren und die seinerzeit besonders von Schröder gegebene
Darstellung ist heute in allen ihren Befunden unwidersprochen geblieben
und hat wohl auch eine durchaus richtige Beschreibung und Erklärung dieses
pathologischen Zustandsbildes gebracht. Neben diesen schweren akuten Er-
krankungen toxischer Genese des Hirnstammes finden sich jedoch, wie bekannt,
auch mehr chronische Affektionen als Folge der alkoholischen Vergiftung.
Namentlich sind zwei Störungen hier ganz besonders hervorzuheben, näm-
lich die alkoholische Korsakoff-Psychose und die alkoholische Demenz. Die
Häufigkeit des Korsakoffschen Syndroms bei Alkoholikern ist keine allzu
geringe und die Zahl der Fälle dürfte heute schon eine überaus große sein.
Um so überraschender ist es jedoch, daß mit Ausnahme einer jüngsten Unter-
suchung von Gamper und der anschließenden von Creutzfeldt ausführ-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 25
liche und moderne Untersuchungen über das pathologische Substrat dieser
Psychose bis heute fehlen. Es war daher eine besonders dankenswerte Auf-
gabe Lampers, diesen Mangel der histo-pathologischen Forschung einiger-
ınaßen behoben zu haben, indem durch diesen Autor zum erstenmal der
Versuch gemacht worden war, an der Hand zahlreicher gut untersuchter
Fälle eine systematische Beschreibung zu liefern. Die Untersuchungen von
Gamper haben gezeigt, daß bei allen von ihm untersuchten Fällen, von
alkoholischem Korsakoff ein immer wiederkehrender relativ gleichbleibender
Befund vorliegt. Nach seinen Untersuchungen handelt es sich bei seinen
Fällen bemerkenswerterweise niemals um Erkrankungen des Kortex, eine
Beobachtung, die von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Im Vordergrund steht
vielmehr bei allen diesen Fällen eine Hirnstammerkrankung vom unteren
Pol der Medulla oblongata angefangen, bis oral aufwärts in die Ebene der
vorderen Kommissur. In dieser langen Sagittalachse des Nervensystems ist
jedoch nach den Untersuchungen Gampers die Erkrankung keineswegs
als eine diffuse aufzufassen, scheinbar handelt es sich um eine Affektion
mit einer elektiven Topik. So findet sich in der Medulla oblongata eine
isolierte Erkrankung des dorsalen Vaguskerns mit eventuellem Übergreifen
auf den deszendierenden Vestibulariskern in der Brücke, eine Affektion
am oralen Ende der Eminentia teres; im Mittelhirn sind die Kerne der
hinteren Vierhügel verändert, es besteht eine Affektion des medialen Oculo-
motoriuskerns und besonders eine Erkrankung des Nucleus Darksche-
witsch und interstitialis. Weiters findet sich das Zentrum des Prozesses
im Bereich der Corpora mammillaria und ebenso regelmäßig Veränderungen
im Bereich des Tuber cinereum, Ganglion supraopticum, medialen Thalamus-
kerngebiet. Hingegen sind alle übrigen Anteile der Hirnstammachse frei.
Das Hauptgewicht wird von Gamper auf die Erkrankung der Corpora
mammillaria gelegt, um so mehr als er auch in einem Falle von Korsakoff-
schem Symptomenkomplex anderer Provenienz gleichfalls Veränderungen im
Bereich dieser Gangliengruppe gefunden hat. Er sieht in den wichtigen
Verbindungen der Corpora mammillaria, die einen Knotenpunkt des zentralen
vegetativen Apparates vorstellen sollen, mit seinen ausgedehnten Relationen
zum Sehhügel und zur Hirnrinde jenen Punkt, dessen Erkrankung wohl zu
schweren psychischen Veränderungen Anlaß geben muß. Immerhin scheint
diese anatomische Bedeutung der Corpora mammillaria ein wenig über-
schätzt, da doch die Verbindungen nur eine Bedeutung für die osmische
Sphäre zu haben scheinen. Andere Relationen, auch aus anatomischen
Gründen, sind bis heute unbekannt, es sei denn, daß eine Mitaffektion des
Nucleus mammilla%s fundibularis vorliegt. Die sonst überaus bestechende
Untersuchung von Gamper wäre gewiß eine Basis, auf Grund deren
das Verständnis der alkoholischen (ieistesstörung vom Typus der Kor-
sakoffschen Psychose möglich wäre; auch wäre ja unter Umständen
dadurch die Möglichkeit gegeben, den bekannten exogenen Reaktions-
typus pathogenetisch-anatomisch erklären zu können. Im Anschluß an
Gamper hat dann auch Creutzfeldt festgestellt, daß Gliawuche-
26 Dr. Yanni Tsiminakis.
rungen periaquäductal und subependymär vorhanden sind, doch sind
diese nicht nur an das Grau gebunden. Gefäßveränderungen, eventuell Ver-
kalkungen, wurden beobachtet (Pallidum, Ammonshorn); arteriosklerotische
Veränderungen, marginale Gliawucherungen. Die Rindenveränderungen sind
schwerer als die von Gamper angegebenen, so daß die psychischen Verände-
rungen doch auf die kortikalen Degenerationen bezogen werden. Es war
daher für uns zu verlockend, Fälle von Korsakoffscher Psychose heranzu-
ziehen bzw. auch einen Fall einer anderen alkoholisch bedingten Psychose
vergleichsweise zu untersuchen, nicht nur um die Stichhältigkeit der Gam-
perschen Befunde zu prüfen, sondern vielmehr auch durch die Polymorphie
der drei von uns zur Untersuchung herangezogenen Fälle die Belastungs-
probe auf die Richtigkeit der Gamperschen These vorzunehmen. So habe
ich zunächst einmal ein Korsakoffsches Syndrom vielleicht unklarer Pro-
venienz herangezogen, dann auch eine alkoholisch bedingte Demenz
ohne Korsakoffsches Syndrom, da wir in einem solchen Falle nachsehen
wollten, ob nicht letzten Endes die von Gamper beschriebenen Verände-
rungen nur Folge der Alkoholintoxikation sind, nicht aber zwangsläufig
das klinische Syndrom der Korsakoffschen Geistesstörung produzieren
müssen.
Fall I. A. J.. geboren 31. Oktober 1871 in Wien, Diener, gestorben 25. Januar
1929. F-A. o. B. K. K. ©. Mit ungefähr 35 Jahren Schanker, damals mit Finreibungen be
handelt. Mit 45 Jahren CO-Vergiftung. Seit 1914 schlaflose Nächte. Pat. war seinerzeit
2 Monate in Behandlung (Allgemeines Krankenhaus). Seit ungefähr 3 Jahren traten
zeitweise reißende Schmerzen in den Beinen auf. Pat. lag wegen dieser Schmerzen
6 Wochen auf der Abteilung Matauschek, bekam dort Injektionen. Schlechtes Gehen
und Zittern. Nach der Entlassung aus dieser Abteilung kam Pat. in die Versorgung
(Juli 1926). Hier machte er auf Pavillon XI eine Malariakur durch. Seit ungefähr
5 Wochen traten zeitweise Schwellungen der Beine auf. Im Jahre 1917 erlitt Pat.
gelegentlich einer Explosion in der Wöllersdorfer Munitionsfabrik eine Schädelver-
letzung. Seit der Zeit vergeßlich. Im Jahre 1918 (Anamnese) hat Pat. angegeben,
daß er nicht wisse, woher er die Narbe am Schädel habe, das nächste Mal gab er
an, die Narbe sei eine Folge von spontan auftretenden Geschwüren.
St. pr. Mittelgroß, Ernährungszustand mäßig, Dyspnoe geringen Grades. Ödem
der Beine, das Gesicht gedunsen, Zunge borkig belegt, Rachenorgane o. B. Pupillen
reagieren. P.S.R. posit. 1>r. Maculae cornae beiderseits. Vorn am Schädel eine
eingezogene Narbe mit Knochendefekt. In der Gegend des Manubriuns sterni eine
festsitzende flache Narbe, eine ähnliche Narbe in der Gegend des r. Deltoideus.
Thorax gut gewölbt. Cor: nach rechts verbreitet (fast bis an den r. Sternalrand
reichend), Spitzenstoß im V.I. R. Töne dumpf, verwaschen. Puls arhythmisch. R. R. 220.
Dekursus.
31. Juli 1926. WsR. negativ.
1. August 1926. Zur Anamnese. Schanker hatte er vor zirka 10 bis 15 Jahren
gehabt. Die Narben, die er am Kopf, an der Brust und an den Beinen habe, sind vor
zirka 6 bis 7 Jahren als Folge von ganz von selbst aufgetretenen Geschwüren ent-
standen. Vor einigen Wochen war Pat. sehr vergeßlich, war durch mehrere Wochen
wie verwirrt, kam auf die Klinik Matauschek, wo er Injektionen bekam ’Gesäß und
Venen). Jetzt fühlte er sich geistig frischer. Er habe jetzt oft Reißen in den Beinen.
Obj. Das Gesicht ist eigentümlich schlaff, ausdruckslos, arm an Mimik. Beim
Sprechen eigentümliches Beben der Gesichtsmuskulatur.
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 27
Nachtrag.
Vor einigen Jahren soll bei Pat. eine Schwäche der rechten Hand durch einige
Monate bestanden haben, die sich aber von selbst besserte.
Stat. praes.
Pupillen rund, reagieren auf L. beiderseits, besonders r. träge und unausgiebig.
Sekundäre Erweiterung r>1. K. R.+! Augenbewegungen: Beiderseits gehen die Augen
bei Blick nach außen nicht ganz in Endstellung. Kein Nystagmus.
VII l. Lidspalte > als r. Innervation, abgesehen von der allg. Hypomimie beider-
seits gut. Hirnnerven frei.
O.E. Motilität, Kraft, Tonus o. B. Sehnenreflexe l. lebhafter als r. Sonst ©
Mayer beiderseits.
B. D. R. lebhaft r>1.
U.E. Motilität, Kraft o. B. Deutlicher Rigor beider Extremitäten auch bei psychi-
scher Ablenkung vorhanden. (Links etwas stärkerer Rigor, doch bestehen dabei auf-
fallende arthritische Veränderungen.)
P. S. R. beiderseits lebhaft 1> r, links sicher gesteigert.
A.S. R. annähernd gleich, keine Kloni, keine Pyram. Zeichen, keine Sensibilitäts-
störungen. Waden etwas druckempfindlich. Gang gut. Dabei fällt die enorm steife
Haltung auf. Romberg neg.
Status psychicus.
Herabsetzung der Gedächtnis- und Merkfähigkeit, Stumpfheit, verlangsamte Re-
aktionszeit auf Fragen, ziemlich starke Störungen des Kopfrechnens, Silbenstolpern.
Allgemeine Herabsetzung der psychischen Funktionen.
17. August 1926. 5 cm luesfreier Malariastamm subkutan und mit Skarifikation
übertragen.
8. Oktober. Die Malariakur wurde am 11. September nach 8 Anfällen, die zeit-
weise mit Schüttelfrost verliefen, durch Chinin abgeschlossen. Am 9. September hatte
ein ziemlich starker Ikterus eingesetzt, der mit Erbrechen, allgemeinem Unbehagen
und Obstipation begann. Auf Karlsbader Wasser und entsprechende Diät und Wärme
gab sich der Ikterus. Jetzt fühlt sich der Pat. subjektiv recht wohl, er hat Appetit
und fühlt sich kräftig. Die Apathie hat sich nicht gebessert. Pat. ist äußerst schweigsam,
unterhält sich nicht mit seiner Umgebung. Pat. ist nach der Malariakur geistig bedeu-
tend regsamer. Der psychische Befund bietet nichts für eine p. P. Spezifisches. (Er ist
nur etwas still, stumpf.) Auch die wiederholt gemachten Liquorbefunde sind negativ.
Diagnose: Alkoh. chronicus; Korsakoffsche Psychose.
7. November 1926. Manchmal Reißen in den Beinen. Starres gedunsenes Gesicht.
11. Februar 1927. St. idem.
10. Mai 1927. Bisher kein Anstand. Körperlich gesund.
3. Februar 1928. Ödem beider Unterschenkel mittleren Grades.
26. November 1928. Beim Liegen weniger Ödeme. Oligurie, Anorexie.
29. Februar. Aderlaß. Harnsedim.: zahlreiche hyaline mit Leukozyten bedeckte
Zylinder.
1. November 1928. Harnselim.: massenhaft Bakterien.
20. Januar 1929. Harnmengen äußerst gering. Auftreten von Ödemen, insbesondere
in den oberen Körperpartien. Starke Benommenheit, schwer toxisch-urämisches Aus-
sehen. Tiefe Atmung.
24. Januar. Venenpunktio-Lumbalpunktion. Trotz aller Therapie verschlechtert
‚sich der Zustand zusehends. Pat. ist moribund.
25. Januar Exitus.
Am 29. November 1928. Serum WsR. positiv, Prof. Kren.
28 Dr. Yanni Tsiminakis.
Sektionsbefund.
Vaskuläre Schrumpfniere Die linke Niere hochgradig verkleinert, die Ober-
fläche absolut fein granuliert und dementsprechend auf der Schnittfläche die
Rinde, aber auch die Pyramiden hochgradig verschmälert. Die rechte Niere in ihrer
oberen Hälfte genau in der gleichen Weise verändert, in der unteren Hälfte sind je-
doch die Rinde und Pyramiden von ganz normaler Größe, das Volumen normal und
die Oberfläche ebenfalls, aber nicht so fein granuliert, doch gleichmäßig dunkelrot.
Beträchtliche konzentrische Hypertrophie des linken Herzventrikels. Ödem fast nur
der oberen Körperhälfte, an den Beinen nur geringes Knöchelödem. Die Leber zeigt
eine diffuse gleichmäßige Beschädigung des Parenchyms und eine ebenso diffuse
Einstreuung kleiner Regenerationsherde von stationärem Charakter. Chronischer Milz-
tumor. Geheilte Lues des Stirnbeins und Manubriums sterni mit Defekt der äußeren
Corticalis. Milchige Trübung der Meningen an der Konvexität und Atherom der basalen
Hirngefäße. Das Gehirn in Formol fixiert. `
Klinische Zusammenfassung des ersten Falles:
Ein 58jähriger Patient, der mit 35 Jahren luetisch infiziert war, mit
45 Jahren eine schwere Kohlenoxydgasvergiftung hatte, seit welcher schwere
Schmerzen auftraten. Drei Jahre vor seinem Tode Malariakur. Psychisch
bestand während seines Spitalsaufenthaltes bereits drei Jahre vor seinem
Tode eine Herabsetzung des Gedächtnisses und der Merkfähigkeit, eine
Stumpfheit und verlangsamte Reaktionszeit auf Fragen, sowie eine allge-
meine Reduktion der geistigen Fähigkeiten. Da der Liquor des Patienten
negativ war, und wie die nähere Krankengeschichte zeigt, sonst verhältnis-
mäßig wenig neurologische Symptome vorhanden waren, wurde seines Potus
wegen die Diagnose eines chronischen alkoholischen Korsakoff gestellt.
Diese klinische Diagnose, unter der wir das Gehirn zur Untersuchung
bekommen haben, erschien uns sofort ein wenig unklar und unsicher. Es
war für uns zunächst auffallend, daß die klinischen Symptome dieses Falles,
vor allem die schweren Schmerzen in den Beinen und die wohl damit in
Zusammenhang stehende Einschränkung der Motorik, sich direkt an die seiner-
zeit stattgefundene Leuchtgasvergiftung angeschlossen haben und die objektive
Prüfung der Motilität und Sensibilität dieses Falles läßt wohl eine alko-
holische Schädigung höchst unwahrscheinlich erscheinen. Das Fehlen jeg-
licher Sensibilitätsstörung, die nur mäßige Druckempfindlichkeit der Muskel-
und Nervenstämme stimmt sicherlich nicht mit den sonst zu erwartenden
objektiven Kriterien der alkoholischen Nervenerkrankung überein. Am auf-
fallendsten in diesem Falle ist letzten Endes nur ein stärkerer Rigor, beson-
ders der unteren Extremitäten, der sich scheinbar als dauernd charakterisiert.
Wir haben also hier einen Befund, wonach sich offenbar knapp nach der
Leuchtgasvergiftung ein durch das Kohlenmonoxyd hervorgerufener neuri-
tischer Prozeß abgespielt hat, der selbstverständlich viele Jahre nach der
Vergiftung längst abgeklungen war und symptomlos abgeheilt war. Hingegen
scheint sich gleichfalls infolge dieser Kohlenoxydgasvergiftung ein ander-
weitiges Syndrom entwickelt zu haben, und zwar wahrscheinlich wohl das
neurologische manifeste im Sinne eines Rigors, namentlich der unteren
Extremitäten, und ein psychisches vom Typus einer Korsakoffschen Geistes-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 29
störung. Es wird selbstverständlich in diesem Falle die Frage offen bleiben,
ob dieser Fall als ein reiner exogener Reaktionstyp, der ursächlich durch
Leeuchtgas bedingt ist, aufzufassen ist, oder ob die Korsakoffsche Psychose
Ausfluß der alkoholischen Intoxikation ist, oder ob, was schließlich noch
zu erwähnen ist, in diesem Fall die geistige Erkrankung infolge einer Kombi-
nation beider toxischen Störungen zur Entwicklung gelangt. Daß in diesem
Falle dem Leuchtgas eine gewisse pathogenetische Bedeutung zuzusprechen
ist, ist mit absoluter Sicherheit zu behaupten, da — wie wir noch be-
schreiben werden — der Befund des nervösen Zentralorgans eindeutig für
eine schwere abgelaufene Leuchtgasvergiftung spricht. Das Zentralnerven-
system wurde teilweise in Serie geschnitten (Zelloidin, Toluidinblaufärbung).
u} »
Abb. 1. Zelle in der Substantia reticularis. Zentrale Tigrolyse mit Tigroidresten und
Verklumpung an der Peripherie.
Medulla oblongata. — Der dorso-mediale Vaguskern ist beiderseits von an-
nähernd gleichem und normalem Umfang. Es läßt sich weder an dem Ventrikel noch
an den dorsalen Ecken des Kerns irgend eine besonders hervortretende krankhafte
Veränderung nachweisen. Es findet sich keine Vermehrung der Blutgefäße, ebenso
jedwede die Norm übersteigende Reaktion seitens der Glia und des Mesoderms. Die
Zellen selbst lassen keine gröberen Veränderungen erkennen, geringgradigere finden
sich allenthalben an den verschiedenen Zellelementen dieses Kerns. Sowohl die großen
wie auch die kleinen und mittelgroßen Typen dieses Kernkomplexes zeigen mitunter
Schwellung des Kerns, ferner Verklumpung des Tigroids mit Randstellung, im all-
gemeinen jedoch in einem Grade, der nicht als besonders auffallend zu bezeichnen
ist. Einzelne Zellen sind wohl schwerer erkrankt, doch sind diese entschieden in der
Minderzahl. Auffallend ist höchstens die relativ geringe Zahl von Ganglienzellen mit
dunklem Pigment, doch ist auch diese Eigenschaft im Rahmen der Schwankung bei
einzelnen Fällen des menschlichen Zentralnervensystems gelegen. Auch in der Sub-
stantia reticularis zeigen sich keine besonders auffallenden Zellveränderungen, ebenso-
wenig Reaktionen der Glia und des Mesoderms. Eine stärkere Veränderung findet
sich an den Zellen des Lateralkerns, wo auffallende Schwellungsvorgänge und Tigroid-
zerstörungen gesehen werden. Zentrale Tigrolyse, staubförmige Auflösung, Rand-
stellung des in Verklumpung befindlichen Tigroids sind die typischen Zeichen dieser
30 Dr. Yanni Tsiminakis.
Affektionen. Auch in der Substantia reticularis finden sich in den höheren Ebenen
der Medulla oblongata schwere Veränderungen. Schwellungsvorgänge und Verklum-
pungen mit Lipoidvermehrung sind typische Attribute dieses Prozesses. Die Oliven
zeigen keine besonders auffallenden Veränderungen, nur mitunter hat man den Ein-
druck, als ob es mäßiggradige Ausfälle in den Schleifen des Zellbandes geben würde;
jedoch erreichen diese Ausfälle keineswegs einen hohen Grad. Die großen Zellen in
den medialen Partien der Substantia reticularis der Oblongata sind vielfach ge-
schwollen und zeigen eine auffallende Vermehrung des Fettpigmentes. Auch dies gilt
nicht für alle Zellen, da sich zahlreiche Elemente ohne Vermehrung des Lipofuscins
finden. Kernfaltenbildung und Tigroidverklumpung, oft um den Kern herum, sprechen
dafür, daß Schwellungsvorgänge mit Gerinnungsprozessen eingesetzt haben, und mit-
unter sind Verfettungs- und Gerinnungsvorgänge an Zellen gleichzeitig zu sehen, oft
jedoch dissoziiert. Im Bereiche der Vestibulariskerne zeigt sich keine wesentliche Ver-
änderung. Je weiter wir in der Oblongata vorwärtsgehen, desto plastischer werden mit
dem Auftreten der großen Zellelemente in der Substantia reticularis die schweren
w
Abb. 2. Zelle in der Substantia reticularis mit nabiger Entartung.
Veränderungen an diesen Elementen, hingegen findet sich im Bereiche der übrigen
motorischen Kerne dieses Hirnabschnittes keine wesentliche Erkrankung. Wohl sind
einzelne Zellen des oberen Fazialisgebietes bzw. des motorischen Trigeminus verfettet,
es finden sich geringgradige Verklumpungsvorgänge, jedoch zeigt die Mehrzahl der
vorhandenen Ganglienzellen solcher Kerne durchaus ein normales Verhalten. Immer-
hin finden sich auch einzelne Zellgruppen des Trigeminus wesentlich verändert und
auch hier steht die Verfettung bzw. koagulierende Schwellung der Zellen im Vorder-
grunde der Erkrankung. Veränderungen seitens des Gefäßsystems, Blutungen, Er-
weichungen oder sonstige mesenchymale Reaktionen fehlen vollkommen. Sehr selten
sieht man eine mäßiggradige perivaskuläre Reaktion im Sinne einer Wucherung von
Gefäßwandzellen. Verdickungen von Gefäßen in den subependymären Gebieten sind
relativ häufig. In den oralen Ebenen des Trigeminuskerns, namentlich des motorischen
Anteils, zeigt sich ein höhergradiger Verfettungsvorgang, und ebenso hat man in den
oralen Partien des Deiterskerngebietes auffallende Verfettungsbilder an den Zellen
beobachtet. Die diffusen Veränderungen im Zellapparat der Medulla oblongata, sowohl
in den verschiedenen motorischen Nervenkernen als auch in der Substantia reticu-
laris, sind, je höher wir in der Substantia reticularis emporkommen, vielleicht noch
ausgeprägter, jedoch läßt sich eine elektive Bevorzugung irgend eines Gebietes nicht
mit Sicherheit feststellen. Schwere Veränderungen befinden sich bereits im Locus
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 31
coeruleus, in seinen kaudalen Ebenen, und auch hier ist es Verfettung, die im Vorder-
grunde der Erkrankung steht. Der Locus coeruleus auf der Höhe der Entwicklung läßt
eine Hyperämie der Gefäße seines Gebietes erkennen, die Zellen sind vielfach stark
geschwollen, zum Teil verfettet, vielfach depigmentiert, jedoch an Zellzahl sicher
nicht ärmer als in normalen Fällen. Freies Pigment findet sich mitunter nur
in der Umgebung der Zellen, ebenso Pigmentkörner, die von Gliazellen aufgenommen
wurden. Im übrigen halten sich die Veränderungen in der Oblongata und Brücke
eher unter dem Niveau der vorhin beschriebenen Erkrankungsgrade, herdförmige Ver-
Abb. 3. Gefäßgruppe im Brückenfuß. Die Wandungen der Gefäße sind verdickt und
homogenisiert.
änderungen bzw. vaskuläre Reaktionen fehlen auch hier. Im Brückenfuß sieht man
Gruppen auffallend verdickter Gefäße, deren Wandungen homogenisiert sind und
Verfettung zeigen. Eine mäßiggradige perivaskuläre Reaktion hat eingesetzt, jedoch be-
sonders auffallend ist die Wucherung von Gefäßwandelementen, wobei es in erster Linie
zur Vermehrung von Adventitiazellen gekommen ist, die als Mantel die Gefäßwand
verdichten. In einzelnen Gefäßen solcher Art sieht man kleine Leukozytenthromben,
doch finden sich trotz dieser Gefäßreaktionen keine sekundären Veränderungen im
Gewebe, weder in Form einer Blutung noch einer Erweichung. Neben den vorhin
besprochenen Veränderungen der Gefäße des Brückenfußes fällt eine perivaskuläre
gruppierte Gliawucherung auf, die an einzelnen Stellen durchaus den Eindruck einer
typischen Knötchenbildung macht. In der Haube der Vierhügel läßt sich, wenigstens
in den oralen Partien, keine sichere Veränderung nachweisen. Der Kern des Nervus
32 Dr. Yanni Tsiminakis.
trochlearis ist vollständig normal, die Zellen des Oculomotorius-Kerngebietes, sowohl
des medianen wie des lateralen Kerns, sind zum Teil geschwollen bzw. verfettet,
mitunter finden sich auch dunkle Pigment-Ganglienzellen in diesem Bereiche. Gröbere
Veränderungen sind hier jedoch nicht vorhanden. Auch im höher oben gelegenen
Abschnitt des Oculomotorius-Kerns finden sich keine wesentlichen Veränderungen,
weder an den Zellen noch an dem umgebenden Gewebe, nur eine Verdickung der
Gefäße läßt sich überall nachweisen, doch können wir trotz bestehender Hyperämie
nirgends die Zeichen einer Blutung wahrnehmen. Sonst zeigt sich im Mittelhirn ein
annähernd normaler Zustand der Substantia nigra, normale Verhältnisse im Bereiche
des Nucleus ruber, hingegen findet sich im Thalamus opticus, beiläufig in der Gegend
medial vom Nucleus arcuatus, unweit vom Ventrikel, ein Erweichungsherd, der größeren
Abb. 4. Streifenförmiger Erweichungsherd im Thalamus opticus. Lokalisierter Degene-
rationsherd, der nicht bis zum Ventrikel heranreicht. Entartete Gefäße im Bereiche
der Erweichung, um die herum Abbau- und Pigmentzellen liegen.
Umfang angenommen hat und zu einer Zerstörung des Gewebes in dieser Gegend
geführt hat. Die Erweichung reicht nicht bis an den Ventrikel heran, sondern hört
knapp vor dem periventrikulären Kerngebiet auf. Verdickte Gefäße finden sich in der
Umgebung der Erweichung und eine sonst recht allgemeine Torpidität des Gewebes
ist kennzeichnend. Auffallend verdickte Blutgefäße umgeben das erweichte Territorium
und in der Umgebung derartiger Gefäße zeigt sich eine mäßiggradige Reaktion der
Glia und des Mesoderms einerseits, eine Zellvermehrung anderseits. Die nächste Um-
gebung des Ventrikels, das periventrikuläre Randgebiet, zeigt im Gegensatz zu dem
vorhin besprochenen Erweichungszentrum keine auffallenden Veränderungen. Weder
Erweichungen noch Blutungen finden sich in diesem Abschnitte, lediglich ein Ödem
um die Gefäße. Um den Ventrikel -herum sieht man an einzelnen Stellen stärkere
Wucherungen der Glia, mitunter auch herdförmige Produktionsherde, gar nicht selten
auch Adventitiawucherungen der Gefäße, die allerdings nur auf einzelne größere
Gefäße beschränkt sind, spongiöse Entartung der Gefäßwucherung findet sich nirgends
in der Umgebung des Ventrikels. Im Bereiche der Corpora mamillaria und im Hypo-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 33
thalamus keine nennenswerten Veränderungen. Auch das Kerngebiet um den dritten
Ventrikel herum zeigt weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht eine Ab-
änderung vom normalen Zustande, namentlich fehlen irgend welche auffallende peri-
vaskuläre Reaktionen sowohl des Mesoderms als auch der Glia. Im oralsten Rande
der Substantia nigra findet sich ein degenerativer Prozeß, der zu einer partiellen Zer-
störung der Zona compacta geführt hat und wo eine relativ dichte narbige Verände-
rung im Sinn einer kombinierten ektodermalen und vaskulären Reaktion erfolgt ist.
Der degenerative Prozeß an den Nervenzellen ist wahrscheinlich noch nicht zum
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Im Fr : a x
Abb. 5. Corpus mammillae mit annähernd normaler Architektonik nnd ohne Zeichen
einer vaskulären bzw. produktiven Reaktion.
Stillstande gekommen, da man noch frische Zeichen der Zerstörung sieht und massen-
haft dunkles Pigment aus den zerstörten Zellen frei im Gewebe liegt. Die diffuse Ver-
dichtung des gliösen Netzes wird stets unterbrochen von Häufchen dunklem Pigment,
welches zum Teil an phagozytäre Elemente gebunden scheint. Diese Veränderung im
medialen Gebiete des oralsten Abschnittes der Substantia nigra steht eigentlich im
Gegensatze zu dem sonst annähernd normalen Verhalten dieses Ganglions im kau-
dalen Gebiet. Auch im übrigen Bereiche des Hypothalamus bzw. Thalamus opticus
selbst finden sich keine über physiologische Grenzen herausragende Abänderungen.
Die Wand der Kerne im dritten Ventrikel, namentlich des Nucleus periventricularis bzw.
auch die Kernzellen, die parallel zur Wand des dritten Ventrikels führen (Nucleus
paraventricularis) läßt im allgemeinen eine Abänderung von der Norm nicht er-
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd. 3
34 Dr. Yanni Tsiminakis.
kennen. Namentlich findet sich auch hier ebensowenig wie in den Ganglienzellen der
Basis, Ganglion opticum basale, Tuberkerne, eine wesentliche degenerative oder pro-
duktive Reaktion. Die Zahl der erkrankten Zellen ist nicht groß und die Zellverände-
rungen sind durchaus diffus, keineswegs auf irgend eine Kerngruppe allein oder
auch nur auf einen Anteil einer solchen beschränkt. Ein besonderer Befund findet
sich nur symmetrisch in dem oralsten Drittel des Pallidums, wo wir beiderseits Reste
einer alten Erweichung sehen, eine Höhle, die zackig und unscharf in das gesunde
Gewebe hereinreicht und zu einer Konsumption des größten Teiles des Pallidums
dieser Gegend geführt hat. Bemerkenswert ist, daß in den Blutgefäßen dieser Höhle
keine namhaften Veränderungen gefunden werden, und abgesehen von einer Ver-
dickung der Gefäßwand findet sich an den pallidären Gefäßen höchstens noch eine
Abb. 6. Erweichungshöhle im Pallidum mit Gefäßen, die mit Pseudokalk inkrustiert sind.
auffallende Homogenisierung bzw. Verkalkung. Mit Fettpigment erfüllte Zellen finden
sich sowohl im Bereiche der Höhle selbst als in der nächsten Umgebung, und eine
diffuse Vermehrung der Gliazellen zeigt sich allenthalben im gesamten Pallidum wie
im angrenzenden Gebiete der inneren Kapsel.
Der Erweichungsherd findet sich nur im oralsten Anteil des Pallidums, um
schon im mittleren Gebiete bis auf ganz geringe Reste verschwunden zu sein.
Ammonshorn: Eine grobe Veränderung der Rindenstruktur des Ammons-
horns findet sich nicht; weder in der Pyramidenzellschicht noch in den anderen Zonen
dieser Region läßt sich ein grober zytoarchitektonischer Defekt feststellen. Hie und
da allerdings sehen wird herdförmige Ausfälle, die jedoch selten eine scharfe Um-
grenzung zeigen und in dieser Form eigentlich mehr einen Übergang dieser diffusen
Zellschädigung vorstellt. Perivaskulär sieht man auffallende Lichtungsherde mit Ödem,
wodurch auch die umgebenden Nervenzellen in Mitleidenschaft gezogen werden. Stellen-
weise kommt es hier auch zur Entwicklung eines mäßiggradigen état lacunaire.
Wesentlich erscheint uns dann der in dieser Gegend allein vorkommende Befund, daß
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 35
in den Lymphscheiden einzelner Gefäße Lymphozytenanhäufungen nachzuweisen sind.
Achtenswert sind ferner kleine hyaline Thrombenbildungen in diesem Bereich, ebenso
kleinste Erweichungen mit sekundärer ekto- und mesodermaler Reaktion, wodurch
es auch zu einer lokalen umfangreichen Zerstörung der Rindensubstanz kommt. Die
Abb. 7. Lokalisierte Zellausfälle im Ammonshorn.
Grundlage solcher Erweichungsprozesse werden wohl mit größter Wahrscheinlichkeit
die hochgradig ateromatösen Veränderungen der Blutgefäße dieser Gegend sein, wozu
noch die Thrombenbildung verstärkend hinzukommt. Im Sommerschen Sektor sieht
man allerdings auch die stellenweisen Ausfälle bzw. Auflockerungen, die zu einer
Zerstörung der Architektonik des sonst normalen Bildes Veranlassung geben. In der
Hirnrinde finden sich nur diffuse Veränderungen, chronisch-degenerative Zeichen, ohne
besondere elektive regionäre Bevorzugung. Charakteristische Erkrankungsformen sieht
man nicht.
Fall II. J. L., geboren am 19. Februar 1888, Verkäufer.
Bei der Aufnahme der Anamnese am 10. Mai 1927 ist Pat. zeitlich und örtlich
desorientiert. Er hat die an ihn gestellten Fragen nicht beantwortet. Die Frau des
Pat. gibt an, daß er immer kränklich gewesen ist. Er hatte angeblich im letzten
Winter in 2- bis 3wöchigen Intervallen, das letzte Mal im März, Anfälle von
Atemnot, auch aus dem Schlafe heraus hat er geschrien, daß er keine Luft habe, das
dauerte zirka eine halbe Stunde, wurde von selbst gut, konnte weiterhin sprechen,
blutet nicht aus dem Munde. Seit Mai ist das Bewußtsein getrübt, das kam plötzlich.
Seither ständig im Bett, hat auch damals nicht gefiebert.
Potus: 1/,1 Rum täglich, Nikotin reichlich, venerische Affektionen unbekannt.
Weitere Angaben der Frau: Pat. war bis April 1927 immer gesund. Dann Husten,
Fieber, Seitenstechen. Diagnose: Grippe, Dauer acht Tage, dann gesund, aber infolge
Schwäche arbeitsunfähig. Konnte ausgehen, Mitte Mai 1927 begann er zu phantasieren,
Kältegefühl, Ende Mai wurden die Beine schwächer, er mußte sich zeitweise nieder-
legen. Anfang Januar konnte er nicht mehr aufstehen, bald nach den Beinen wurden
die Hände schwach. Er konnte keine Gegenstände in die Hände nehmen. Schließlich
mußte ihm die Frau auch die Zigarette halten, weil er kein Gefühl zum Halten hatte.
Von Sensibilitätsstörungen weiß die Frau nur, daß er auch beim leichten Angreifen
schrie, aber besonders beim Aufsetzen. Von einer Anästhesie und Analgesie ist
36 Dr. Yanni Tsiminakis.
nichts bekannt. Seit Anfang Juli Harn und Stuhl ins Bett. Anfangs erklärte er das
damit, daß der Nachttopf umgefallen sei, später ließ er unter sich. Im Anfange der
Bettlägrigkeit genierte er sich noch, den Nachttopf zu nehmen, wenn Leute im Zimmer
waren, anfangs verlangte er noch die Reinigung des verunreinigten Bettes, später nicht
mehr, war aber bis zur Reinigung unruhig. Er sah Leute stehen, die nicht anwesend
waren und verlangte, daß man sie verjage. Für kurze Zeit hat er mehrmals Bekannte
nicht erkannt. Unter den Sinnestäuschungen kam ein Hase vor, den ein Hirsch auf-
fressen wollte. Keine Beschäftigungsdelirien, keine auffallende Erregung. Schläft viel
bei Tag, wenig bei Nacht. Klagen über Schmerzen nur beim Liegen auf der rechten
Hüfte (wo jetzt ein Dekubitus ist), früher vorwiegend rechte Seitenlage. Anfangs Januar
sehr guter Appetit, Fröste negiert. Angeblich kontinuierlicher Schweiß. Schon immer in
der Früh schleimiges Erbrechen. Seit längerer Zeit Tee mit Rum früh, mittags, zur
Jause und am Abend. Regelmäßig 4 HeferIn täglich. Früher täglich Wein und viel
‚Bier. Keine Gravidität der Frau; normaler Sexualverkehr. Seit Mai kein Verkehr. Im
März 1927 zirka 1/, 1 Blut gehustet, nicht erbrochen. Die Blasen an der linken Hand
haben zu Hause noch nicht bestanden. An den Stellen des jetzigen Dekubitus waren
rote Flecken. Vor der Erkrankung angeblich sehr gute Intelligenz. Von neuralgiformen
oder anderen Schmerzen der Extremitäten weiß die Frau nichts.
18. Januar 1927. Kyphoskoliose mit beiderseitigem Rippenbuckel, links größer
wie rechts. Linke Seitenlage. Pat. spricht unzusammenhängende Worte und Silben,
die meistens unverständlich sind. Auf eine Frage um sein Geschäft spricht er von der
Ausfuhr der Petersilie und Grünzeug. Nach Milchtrinken: „Das ist gut.“ Nachsprechen
einmal: „20“, anfangs Silbenstößern, später einmal „reitende Artilleriebrigade‘‘ mit
zwei Denkpausen richtig nachgesprochen. Beim Aufsetzen erregter Widerstand, da-
bei: „Das geht nicht.“ Sonst nur Unverständliches. Manche Aufforderungen werden
befolgt, meist nur mit Vormachen (Zähne-Zungezeigen). Rechte Pupille übermittelweit,
linke eng, beide rund, reagieren auf Licht und konsensuell besonders gut. Pat. kon-
vergiert nicht, anscheinend keine Blicklähmung, beim Sprechen geringere Bewegung
im linken Mundfazialisgebiet, beim Zähnezeigen links geringeres Zurückbleiben. Zunge
anfangs leicht nach links, später median vorgestreckt. Trigeminus motorisch und
sensibel frei, Schlucken gut, keine Lippen- oder Zungenatrophie, sonst Hirnnerven
nicht prüfbar. Schlaffe Lähmung der beiden unteren Extremitäten mit.Fehlen aller
normalen und pathologischen Reflexe. Muskeln der ganzen unteren Extremität und
an den oberen Extremitäten vom Ellbogengelenk distalwärts von stark verminderten
Volumen und Tonus, an den Öberarmen gut. Schlaffe Parese und Areflexie beider
oberen Extremitäten. Die rechte obere Extremität wird bei den Abwehrbewegungen
immer bewegt, mehr als die linke, die dorsalflektierte Hand bleibt rechts oben, links
fällt sie herab. Aktive Berührung der Daumenspitze mit den übrigen Fingerspitzen geht
rechts gut, links mühsam. Schulterbewegungen kräftig. Bauchteckenmuskeln paretisch.
Bauchdeckenreflexe fraglich. Abwehrbewegung der Musculi psoates und glutaei fehlen,
sind im oberen Thorax und am Hals kräftig. Dabei kräftige und frequente Zwerchfell-
und Thoraxatmung. Analgesie an den Füßen und im distalsten Teil der Unterschenkel
an einigen Stellen der letzteren und an weiter proximalen Teilen bis auf mehrere
Stellen des Thorax stark verlangsamte Schmerzleitung (stellenweise nur bei Summie-
rung des Reizes), im allgemeinen proximalwärts zunehmendes Schmerzempfinden.
Analgesie an den Fingern. Auch hier proximalwärts zunehmende Schmerzempfindung.
Scharfe Grenzen nicht festzustellen, da bei dem dementen und erregten Patienten keine
Angaben erfolgen und die spontanen Schmerzäußerungen abgewartet werden müssen,
die dann auch in den Untersuchungspausen fortdauern, Taktile und Tiefensensibilität
nicht prüfbar.
Finger-Nasenversuch: Pat. nimmt die Nase mit dem rechten ersten und zweiten
Finger, wiederholt den Versuch nicht, macht ihn mit der linken Hand nicht. Klein-
hirnfunktionen nicht prüfbar. Periphere Nerven: keine Druckempfindlichkeit. Blässe
mit Spur Zyanose, verfallenes Aussehen, bei der Untersuchung dauernde Erregung,
Schreien, tiefe frequente Atmung. Auf Milchtrinken sofort beruhigt.
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 37
Pulmo: (An den oberen Lappen leichte Dämpfung, soweit bei der Thoraxdefor-
mation und dem andauernden Schreien zu beurteilen ist), stärkere Dämpfung und ab-
geschwächtes Atmen am linken Unterlappen bei steilem zirkumskripten Rippenbuckel.
Cor negativ, Abdomen klein mit leichter Muskelspannung (paretischer Abwehr).
Nichts tastbar, Milzdämpfung bei Unruhe und Thoraxdeformation nicht genau bestimm-
bar. Zunge feucht, in ihrer Mitte ein schmaler Belagstreifen.
Epidermis: Am größten Teil des linken fünften Fingers als große Blase abge-
hoben mit durchscheinendem Inhalt. An der linken Hand mehrere Epitheldefekte bis
zum Papillarkörper, die meisten dorsal, ein längeres über dem linken Mittelhandknochen,
der größte dorsal über dem linken Handgelenk. An einigen Stellen beginnende Borken-
bildung (weder von der Frau noch von dem Pat. ist etwas über eine Verbrühung zu
erfahren), Nägel ohne trophische Störung. Mehrere Dekubitus an den Füßen.
19. Juni. Beginnender Dekubitus am Kreuzbein. In der linken Trochanteren-
gegend ist eine handflächengroße blaßblaue Suffusion. über den linken Rippenbuckel.
Ein Dekubitus am rechten großen Trochanter. Eine Epithelblase, hinten am linken
Oberschenkel. Leichtes Ödem des rechten Fußes. Pat. ist ruhig. Bei leichten Nadel-
stichen vorn am Thorax ist (durch auftretendes bzw. fehlendes Zusammenzucken
die obere Grenze der Hypalgesie am unteren Rande des Hauptgebietes der Nerven
supraclaviculares feststellbar (an der zweiten bis dritten Rippe beiderseits. Ebenso
beim Kontrollversuch, dann wird Pat. unruhig und eine Abgrenzung ist vorn und
hinten nicht möglich. Hypalgesie auch über den Musculi deltoides. Probepunktion an
der starken Dämpfung über den linken Rippenbuckel ist wegen der Hauptsuffusion
nur am lateralen Ende der Dämpfung durchführbar. Die medialwärts gerichtete Nadel
trifft in zirka 3 cm Tiefe auf Knochen {starke Skoliose). Aus verschiedenen Richtungen
kann nur ein Tropfen Blut aspiriert werden (Hochstand und Atelektase des linken
Unterlappens). Bei den Abwehrbewegungen wird das rechte Schultergelenk kräftig,
das linke weniger kräftig bewegt. Unterarm und Hand hängen mehr passiv daran,
besonders links. Derzeit keine Atemstörung (Verdacht auf Myelitis, vorwiegend der
grauen Substanz von C, bis in die Lendengegend, mit entzündlichem Ödem der weißen
Substanz von D, abwärts).
26. Juni. Heftiges Zusammenfahren und Aufschreien, auf Fragen unverständ-
liches Murmeln. Beim Umbetten und Reinigen Schwierigkeiten infolge heftigen Herum-
fahrens mit den oberen Extremitäten und dem Kopfe. Bei den Abwehrbewegungen
häufige kräftige Streckung des Ellbogengelenks, seltener Beugung, die auch kräftig ist.
Hand und Finger kraftlos, Bewegung der Schultergelenke sehr kräftig. Bisher nur
Milch genommen, heute reichlich Milchspeisen.
21. Juni. Ödem des rechten Fußes stärker, keine Zeichen von hoher Venen-
thrombose. Pat. ist anfangs ruhig, beginnendes Interesse für die Umgebung, beginnen-
des zusammenhängendes Sprechen. Zum Untersucher: „Geh furt, Poidl, geh furt,
sag i, geh furt.“ Zur Schwester: „Geh, hol ma a Viertel Wein, Lina, hörst net, so
geh, an Achtel G’spritzten, so geh, hörst net" perseveriert. Hebt den rechten Arm
spontan. Der passiv gehobene linke Arm bleibt oben. Gleich am Beginn der Unter-
suchung Unruhe, weniger Schreien als früher und frequente tiefe Thoraxatmung, ohne
sicht- oder tastbare Vorwölbung «des Bauches, die gestern noch vorhanden war (be-
ginnende Läsion der Vordersäulenzellen von C, -,%). Harn intensiv rotgelb, schwach-
schillernd, trüb, mit reichlichem, leicht beweglichem gelben opaken schleimigen Boden-
satz, alkalisch. Albumen in Spuren, Saccharum negativ. Leberrand median 5 cm
unter dem proc. xyph. scharf, Leber hart, Milzpol nicht tastbar, Milzdämpfung unten
über 1. Querfinger vom Rippenbogen absteigend, nach hinten in die Dämpfung des
Rippenbuckels übergehend, kein Ikterus (Cirrhosis hepatis? Cystitis).
22. Juni. Sprache und Benehmen wieder wie anfangs. Größte Erregung und
motorische Unruhe beim passiven Aufsetzen, schon bei geringer Erhebung des Thorax
mit Herumwerfen der Arme und des Kopfes. Dabei tiefe Atmung, bei der die Leber
nach abwärts steigt. Die obere Grenze der Hypalgesie ist unverändert, Ödem des
rechten Fußes bedeutend zurückgegangen, Sinnestäuschungen bisher nieht erhebbar,
38 Dr. Yanni Tsiminakis.
bei Nacht immer ruhiger Schlaf. Die Urinflasche soll in großen Schühen gefüllt werden.
(Automatische Blase?) Bisher keine septischen Zeichen, kein so rasches Fortschreiten
der Lähmungserscheinungen wie bei eitriger Myelitis.
Am 25. Juni. Pat. ist im allgemeinen ruhig, zupft fleißig an den Bettdecken,
räumlich und zeitlich persönlich gar nicht orientiert, auf Fragen reagiert er teils
mit unverständlichem Gefasel, teils erzählt er ganz zusammenhanglose und gar nicht
dem Sinne der Frage entsprechende Ereignisse aus seinem früheren Leben, besonders
aus dem Familienleben. Zeitweilig glaubt er im Gasthause zu sein, verlangt vom
Kellner Bier oder Wein, dann will er seine Frau um Bier schicken, überhaupt scheint
der Alkohol in seinem verworrenen Gedankenablauf eine große Rolle zu spielen.
Auch sonst produziert er nur Erinnerungen aus dem früheren Leben, während die
jetzigen Ereignisse anscheinend spurlos an ihm vorübergehen. So hat er keine
Ahnung, was und daß er überhaupt fünf Minuten vorher Milch getrunken hat. Beim
Essen tritt eine gewisse Gier zutage, während des Redens ist eine starke motorische
Unruhe vorhanden. Er erkennt den Arzt als Doktor, das Bettzeug benennt er richtig.
Andere Fragen, z. B. ob er Schmerzen habe, beantwortet er gar nicht, sondern er
spricht von etwas anderem. Deutlich zutage tritt auch eine gewisse Perseveration,
so erzählt er vier- bis fünfmal hintereinander, er gehe jetzt Biertrinken. Unbeobachtet,
zupft Pat. an den Bettdecken herum und spricht leise vor sich hin. Im Moment aber,
wo jemand zu ihm kommt und mit ihm spricht, wird seine motorische Unruhe stärker,
er beginnt laut zu erzählen.
Status somaticus: Schädel leicht hydrozephal, anscheinend nirgends klopf- oder
druckempfindlich, Pupille rechts mittelweit, links enger, keine Entrundung. Licht-
reaktion, Konvergenzreaktion nicht prüfbar, anscheinend positiv; Konjunktival- und
Kornealreflex leicht herabgesetzt. Linker Mundwinkel etwas tiefer, leichtes Zurück-
bleiben bei der Innervation. Zunge wird gerade vorgestreckt, Zungenbewegungen, so-
weit prüfbar, frei. Gaumen- und Rachenreflex nicht prüfbar, da Pat. den Mund sofort
fest schließt, wenn man ihm mit dem Spatel in die Nähe kommt, sonst Hirnnerven
frei. Obere Extremitäten: Motilität rechts sichtbar frei, links nicht entsprechend zu
überprüfen, Kraft anscheinend sehr gut, Pat. spannt bei passiven Bewegungsversuchen
sehr stark und kräftig. Bizeps- und Trizepsreflexe nicht auslösbar (starke Spannung?),
Nervenstämme anscheinend nicht druckempfindlich. Bauchdeckenreflexe nicht auslösbar.
Untere Extremitäten: Schlaffe Parese beiderseits. Bei geringsten Bewegungsversuch
reagiert Pat. mit starker Schmerzäußerung. Keine sichere Druckempfindlichkeit an
den Nervenstämmen beider Waden. P.S.R. und A.S.R. beiderseits nicht auslösbar,
keine Pyramidenzeichen. Sensibilität: Hypalgesie vom Rippenbogen nach abwärts,
ebenso an den oberen Extremitäten, die sich distalwärts zu vollständiger Analgesie
steigern. Anästhesie nicht prüfbar, multiple Dekubitusulzera an allen Stellen, die der
Unterlage aufliegen. Sakrum, Hüfte, Knie, äußerer und innerer Knöchel, innerer Fuß-
rand, an der Hand bzw. Vorderarm drei oberflächliche, nicht bedeutende Substanz-
verluste.
27. Juni. Seit 2 Tagen fiebert Pat. bis über 380.
30. Juni. Pat. fiebert seit 28. Juni nicht mehr. Die Benommenheit scheint an
Intensität zugenommen zu haben, Puls 120. Äußerst frequente Atmung, die zeitweilig
den Typus der Cheyne Stokesschen Atmung zeigt. Exitus letalis um 7 Uhr abends.
Sektionsbefund: Cor pulmonale bei beträchtlicher Kyphose und Linksskoliose
der Brust- und Lendenwirbelsäule. Mäßige Deformation beider Unterlappen. Substan
tielles Lungenemphysem, terminales Lungenödem. Konglomerattuberkel im linken Unter-
lappen mit zentraler schiefriger Induration, parenchymatöse Degeneration des Herz-
muskels. Ulcus ventriculi an der kleinen Kurvatur der Pars media, Dekubitus und
Verjauchung über dem rechten Trochanter, weniger über dem linken, über dem
Sakrum, am Rücken, entsprechend der Kyphose, an beiden Fersen. Nekrotisierende
Zystitis, milchige Trübung der Leptomeningen an der Konvexität und am Stirnhirn.
Die Konsistenz des Rückenmarks in der Höhe der Halsanschwellung herabgesetzt,
sonst makroskopisch keine Veränderung, Leber vergrößert, die Läppchenstruktur
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 39
erhalten, die Konsistenz erhöht. In das makroskopisch normal aussehende Parenchym
sind in beiden Lappen in gleicher Weise kleine Regenerationsherde eingelagert.
(Beginnende Laenecsche Zirrhose?) An den Schnittflächen des formolfixierten Gehirns
makroskopisch nichts Abnormales.
Der zweite Fall zeigt resümierend eine akute Rückenmarkaffektion
vom Typus einer schlaffen Querschnittläsion im mittleren Dorsalmark, aber
auch Störungen im Halsmark. Psychisch handelt es sich um eine chronische
Geistestörung vom Typus der Korsakoffschen Psychose: Desorientiertheit,
Konfabulationen, Gedächtnisstörungen, all dies bei einem hochgradigen Mko-
holiker. Es handelt sich somit mit größter Wahrscheinlichkeit um einen Fall
von echtem alkoholischem Korsakoff, der unter den Erscheinungen einer
spinalen Affektion zugrunde gegangen ist.
Histologischer Befund:
Im Rückenmark findet sich nur eine allgemeine homogenisierende Schwellung der
Vorderhornzellen, vielfach mit Kernerkrankung. Das Bild gleicht jenen nichtentzünd-
lichen Veränderungen bei gewissen Landry-Formen. Sonst ist der Befund des Rücken-
marks negativ.
In der Medulla oblongata zeigen sich keine wesentlichen Veränderungen. Das
Gebiet des dorso-medialen Vaguskerns ist in quantitativer Hinsicht wie in qualitativer
Hinsicht von der Norm nicht unterschieden. Die Ganglienzellen sind annähernd normal
und sowohl die dunkelpigmentierten Zellen als auch die anderen verschieden geformten
großen und kleinen Ganglienzellen «durchaus unverändert. Bemerkenswert ist, daß
im Bereiche dieser Kerngebiete wie in allen übrigen Partien der Oblongata irgendeine
Reaktion des mesodermalen Gewebes nicht stattgefunden hat. Man sieht weder eine
Wucherung von Gefäßwandelementen, noch erkennt man Sprossung oder Neubildungs-
vorgänge der Gefäße, ebensowenig kann man irgendwie Reaktionen im Sinne einer Infil-
tration beobachten und parallel mit dieser vollkommenen Intaktheit des vaskulären
Apparates geht auch eine vollständige Inaktivität der Neuroglia. Man sieht auch nicht
die geringste Spur irgend einer hyperplastischen Reaktion und ebensowenig kann man
degenerative Vorgänge im gliösen Apparat wahrnehmen. In etwas oraleren Ebenen
der Medulla oblongata, wo die untere Olive die volle Entwicklung erfahren hat, zeigt
sich im subependymären Kerngebiete des vierten Ventrikels im Kernbereiche des
Rollerschen Kerns bzw. Nucleus intercalatus, Nucl. fun. teretis eine starke Reaktion
seitens des Mesoderms, indem hier eine Wucherung von Kapillaren deutlich hervor-
tritt und namentlich größere Venenstämme durch ihre Blähung besonders deutlich
hervortreten. Es besteht eine auffallende Hyperämie, jedoch nirgends ein entzündlicher
Prozeß. In der Substantia reticularis sind die Verhältnisse annähernd normal. Hin-
gegen bestehen auch hier in diesem Falle erhebliche Quellungsphänomene an den
Zellen des l.ateralkerns. Degenerationsvorgänge an den Zellen des Nucleus ambiguus
sind vereinzelt. Mäßiggradige gliöse Reaktion an den Bluteefäßen dieser Gegend ist
vorhanden. Die subependymäre Wucherung zeigt sich auch immer weiter oral im
gleichen Ausmaß und stellenweise erreicht sie die Intensität eines ausgesprochenen
breiten Saumes, der sich wie eine Barriere gegenüber der Ependymschieht errichtet
hat. Dieser dichte gliöse Saum ist allerdings nicht unter dem gesamten Ependym des
vierten Ventrikels vorhanden, sondern zieht sich eigentlich hauptsächlich nur an den
medialen Partien entlang, während die seitlichen ein durchaus normales Verhalten
zeigen. Abgesehen von dieser subependymären Gliawucherung ist das Kerngebiet
knapp unterhalb des Ventrikels, vor allem das Terrain des Nucleus triangularis vesti-
bularis. wie die zum Hypoglossus bzw. Praepositus hypoglossi und Rollerschen Kern-
gebiet sowie dem Nucl. fun. ter. zugehörigen Gebiete von zahlreichen Kapillaren
durchzogen, wodurch sich dieses dorsale Randgebiet der Medulla oblongata noch auf-
40 Dr. Yanni Tsiminakis.
wärts anderen Teilen des verlängerten Marks gegenüber stark kontrastierend abhebt. Je
weiter in der Medulla oblongata oralwärts, desto stärker nehmen die bisher
Abb. 8. Übersichtsbild über die Veränderungen in der Umgebung des IV. Ventrikels.
Übermäßige Erweiterung der Gefäße mit bandartiger Gliawucherung.
Abb. 9. Detailbild von Abb. 8. Deutliches Hervortreten der gewucherten Gliazone.
beschriebenen Reaktionsvorgänge wieder ab. Namentlich das subependymäre Ge-
biet beginnt die vorhin beschriebene Gliareaktion zu verlieren, und lediglich sind es
hyperämisch gefüllte, weit ausgedehnte große Venen, welche relativ reaktionslos im
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 41
Gewebe gelagert sind. Vielfach sind diese Gefäße von einem größeren oder kleineren
Ödemring umgeben, jedoch bleibt die Umgebung im allgemeinen auf diese Gefäßver-
änderung hin refraktär. Einzelne Ganglienzellen zeigen zwar Erkrankungsphänomene,
doch treten diese Veränderungen keineswegs in gehäuftem Ausmaße hervor und über-
steigen meist nicht physiologische Grenzen. Während also ein Rückgang der patho-
logischen Erscheinungen in der oberen Oblongata-etage und in der subependymären
Partie, also der Gegend knapp unterhalb des vierten Ventrikels stattfindet, nehmen
eher ähnliche Wucherungsvorgänge, Kapillarsprossungen und Gliareaktionen im Sinne
einer diffusen Vermehrung mikrogliöser Elemente in der Substantia reticularis zu.
Parallel mit dieser Produktion des Mesoderms läuft auch eine gewisse degenerative
Erkrankungstendenz des Parenchyms in dem Sinne, daß eine nicht unbeträchtliche
Abb. 10. Typische Gefäßveränderung mit produktiver Reaktion in der Umgebung.
Anzahl größerer und kleinerer Zellen der Substantia reticularis mehr oder minder
schwere Zeichen der Erkrankung aufweist. Teils sind es Koagulationsvorgänge vom
Typus einer mehr homogenisierenden Schrumpfung oder Schwellung, teils sind es aber
mehr chronische Gerinnungsvorgänge unspezifischer Art. Im Bereiche des Bechterew-
schen Kerns und der weiter in das Kleinhirn einstrahlenden Kleinhirnarme finden
sich stark dilatierte Venen, perivaskuläres Ödem und schließlich auch Blutungen, die
sich an die nächste Umgebung der Blutgefäße halten. Eine auffallende Wandver-
dickung auch kleinerer Arteriolen und Präkapillaren zeigt sich in diesem Gebiet und
im Bereiche der zentralen Dachkerne, während im Gebiete des Velum medullare sich
eine starke Hyperämie und mäßiggradige Wucherung gliöser Elemente findet, die aller-
dings ein wenig schwächer ist als die vorhin beschriebene Gliawallbildung in der
Oblongata. Diese vaskulären Reaktionen finden sich allerdings vielfach in der Oblongata
verstreut, ohne daß man eine besondere Elektivität irgend eines Punktes besonders
feststellen könnte. Die Hyperämie der Blutgefäße findet sich auch in den weichen
Hirnhäuten und im Plexus chor#oideus, doch ist sie sicher in der lateralen Ventrikel-
43 Dr. Yanni Tsiminakis.
ecke am deutlichsten ausgeprägt. Je weiter wir gegen das orale Ende des vierten
Ventrikels vordringen und je enger sich dieser gegen den Aquädukt schließt, desto
deutlicher werden die auffallend hyperämischen gefäßbildenden Wandverdickungen,
Ödeme, Blutungen und die damit zusammenhängenden Sprossungsvorgänge und sekun-
dären Reaktionen der Glia. Auffallend ist es jedenfalls, daß die Veränderungen dieser
Art in den übrigen Partien der Oblongata nicht gefunden werden, daß vor allem die
Stauungsvorgänge an den Blutgefäßen nur auf das Gebiet um den vierten Ventrikel
herum beschränkt bleiben. Daß dementsprechend auch die gliösen Reaktionen im
wesentlichen Ausmaße nur hier gefunden werden, erübrigt sich speziell noch hervor-
zuheben. Es geht natürlich daraus unzweifelhaft hervor, daß die ektodermale Reaktion
sekundär vom Blutgefäße her beeinflußt wird. Parenchymveränderungen gröberer Art
finden sich in diesem Bereiche nicht. Die Brückenhaube ist intakt. Am oralen Ende
Abb. 11. Subependymärer Gliawall.
des vierten Ventrikels nehmen die Stauungserschemungen exzessiven Grad an und
das ganze subependymäre Gebiet ist von großen, übermäßig geblähten Blutgefäßen
durchsetzt. Hier beginnt wieder eine starke Gliawucherung, die barriereartig gegen
das subependymäre Gewebe vorstößt und hier wie ein Wall das Hauptgebiet der
Oblongata vom eigentlichen subependymären Gewebe abscheidet. Die Gliawucherung
und die Gefäßsprossung ist hier noch bis in die Substantia reticularis hinein deut-
lich verfolgbar und nimmt allmählich gegen die ventrale Hälfte der Oblongata ab. Auch
im Bereiche des Locus coeruleus sieht man ähnliche Verhältnisse, und an diesem Kern
sind sicher degenerative Veränderungen auch an den Zellen zu bemerken. Im Blut-
gefäßraum hat sich ein Ödemkreis gebildet, der zum Teil mit Blutungsresten erfüllt
ist. Gröbere Parenchymausfälle sind jedoch hier nicht zu erkennen. Mit dem Ver-
schluß des vierten Ventrikels und der Formierung des Aquädukts hat sich das Bild
in dem Sinne verändert, daß nunmehr die gliöse wallartige Wucherung um den
Aquädukt eingesetzt hat. Auffallend ist die Asymmetrie, d. h. die Ungleichartigkeit
der Walldichte an den Seiten des Aquädukts. Die dorsalen Partien sind viel dichter
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 43
gewuchert als die ventralen. Die dorsalen Haubenabschnitte, vor allem das Gebiet
des Locus coeruleus, und die Rapheabschnitte zeigen die vorhin beschriebenen patho-
logischen Veränderungen, während die restlichen Abschnitte der Vierhügelhaube eine
wesentliche Abänderung der Struktur nicht erkennen lassen. Die Intensität dieser
Veränderungen scheint erheblich zu schwanken, und es gibt Schnitte, die durch die
hintere Vierhügelhaube geführt werden, wo namhafte Veränderungen vorhin be-
schriebener Art eigentlich vermißt werden. Im allgemeinen treten auch hier in
den höheren Ebenen. am Übergange zwischen hinterem und vorderem Vierhügel die
pathologischen Veränderungen immer mehr zurück. Im Bereiche der Oculomotorius
Kerne sehen wir eigentlich ein durchaus normales Bild nur in den periaquäduktialen
Gegenden, knapp unterhalb der hinteren Komnissur tauchen wieder stärker geblähte
Venenstämme auf. Die Substantia nigra wie der übrige Teil der Vierhügelhaube ist
im wesentlichen unverändert. Hingegen sieht man wieder stärkeres Ödem und vielfach
erweiterte Blutgefäße mit perivaskulären Auflockerungen im Bereiche des Pulvinars,
wodurch vielfach das Bild eines ausgesprochenen état lacunaire gegeben erscheint.
Beachtenswert bleibt die auffallende Unversehrtheit des knapp ventral unterhalb des
Aquädukts gelegenen Gebietes; die ausgezeichnete zellige Struktur des Oculomotorius-
Kerngebietes, das weder mesodermale noch gliöse Reaktionen aufweist, fällt besonders
auf. Auch die Substantia nigra ist bis auf einige zerfallene Ganglienzellen unverändert.
Nirgends ist in diesem Gebiet eine pathologische (Gewebsreaktion zu erkennen. In
den oralsten Partien des Oculomotorius-Kerns nimmt die Gefäßveränderung im peri-
aquäduktialen Gebiet allerdings wieder zu, und hier tauchen zwar nicht im Kerngebiete
selbst, aber knapp oberhalb der ventralen Spitzen wieder mächtig verbreiterte Blut-
gefäße auf, ohne daß allerdings eine namhafte sekundäre Reaktion gefunden wird.
Im Bereiche des dritten Ventrikels selbst und seiner näheren Umgebung fällt es im
allgerneinen auf, daß in gewisser Hinsicht wieder ähnliche Verhältnisse vorliegen, wie sie
in den kaudalen Partien der Medulla oblongata gefunden wurden. Hier sind allerdings
die pathologischen Verhältnisse quantitativ in einem noch weit höherem Maße sicht-
bar. Namentlich das Gebiet zu beiden Seiten des dritten Ventrikels, besonders das
Territorium des Nucleus paraventrieularis, ist der Hauptsitz der eigenartigen Verände-
rungen dieser Region. Ähnlich wie unten zeigen sich auch hier sehr stark erweiterte
Blutgefäße. sowohl Arterien wie Venen, und im (Gegensatze zu den kaudalen Ab-
sennitten sind weit und breit Blutungen aufgetreten, welche mauerartig das Para-
ventricularis-Gebiet erfüllen. Diese Imbibition dieses Abschnittes mit extravasierten
Blutgefäßen führt, wie man deutlich sehen kann, auch zu einer schweren sekundären
Alteration des Nervengewebes und die Ganglienzellen dieses Abschnittes zeigen mehr
als alle übrigen Zeichen einer höhergradigen Erkrankung. Auffallende Schwellungs-
vorgänge, Verklumpung des Tigroids, Kernerkrankungen sind die typischen, aber wie
immer, uncharakteristischen Reaktionen der Zellen. Parallel mit dieser hämorrhagischen
Durchsetzung des Gewebes geht die früher beschriebene hyperplastische Reaktion der
Glia und eine Vermehrung der Kapillaren, die jedoch vielleicht nicht jenen hohen
Grad erreicht, wie wir ihn im Bereiche des vierten Ventrikels gefunden haben.
Schwerere Degenerationsveränderungen an den Nervenzellen sehen wir dann auch
bei den übrigen infundibulären und basalen Nervenkernen, wenngleich die hier nach-
weislichen Erkrankungsformen weder quantitativ noch qualitativ jenen Grad erreichen
wie jenes Gebiet, welches in engster Nachbarschaft des Ventrikels gelagert ist. Sowohl
das Ganglion opticum basale, Nucleus infundibulo-mammillaris, Nucleus periventrieu-
laris zeigen bald diese, bald jene deutlich akzentuierte Zellveränderung, auch finden
sich im Bereiche dieser Zelleruppen ähnliche Gefäßveränderungen, wie wir sie vorhin
beschrieben haben. Doch treten, wie gesagt, alle diese pathologischen Reaktionen
stark gegenüber den periventrikulären in den Hintergrund. Eine besondere Berück-
sichtigung verdienen die Corpora manımillaria. Hier finden sich wesentliche Ver-
änderungen. Zunächst finden sich an einzelnen Stellen Gefäßreaktionen, die durchaus
jenen gleichen, die wir in den paraventrikulären Gebieten sehen. ‚Starke Erweiterung
von Venenstämmen mit sekundärer Wandreaktion und perivasknlärer Gliaanreicherung
44 Dr. Yanni Tsiminakis.
Daneben sieht man in den verschiedenen Ebenen auch andere Veränderungen, wie
z. B. grobe Zellausfälle, die bis zur schweren Atrophie des Ganglions sich verstärken
können; s. Abb. 12 und 13.) Im Globus pallidus finden wir gleichfalls auffallend
erweiterte und wandverdickte Gefäße Wir erkennen auch einen mehr oder
minder ausgesprochenen état lacunaire um einzelne dieser übermäßig erwei-
terten Blutgefäße, doch sind gröbere Defekte im Parenchym eigentlich nicht nach-
weisbar. Auffallend ist es vielleicht, daß der Eisengehalt übermäßig vermehrt ist,
und große Haufen dieses Pigments liegen perivaskulär um die Blutgefäße gruppiert
und vielfach auch frei im Gewebe. In der engeren Nachbarschaft solcher veränderter
Gefäße macht es mitunter den Eindruck, als ob eine gewisse Reduktion der Nerven-
zellen des Pallidums Platz gegriffen hätte, doch ist dieser Ausfall sicherlich nicht ein
Abb. 12. Corpus mammillare mit Gefäßreaktion (Gefäßwandverdickung, Anfüllung
der Wände mit Pigmentzellen, Blutungsreste, Gliawucherung).
übermäßig großer. Ähnlich liegen die Verhältnisse eigentlich auch im Striatum, wo sich
allerdings weder an den großen noch an den kleinen Zellen irgendeine auffallende
Veränderung gegenüber der Norm nachweisen läßt. In Verfolg der Serie kann man
weiter feststellen, daß die vorhin beschriebenen paraventrikulären Blutungen, be-
sonders die dorsalen Partien der Ventrikelwand befallen, daß auffallenderweise also die
basalwärts ziehenden Schnitte weniger von diesem Prozeß betroffen sind. Hingegen
kann man dann ganze Blutstreifen sehen, welche gegen das Ganglion opticum basale
lateralwärts vordringen, Blutungen, die teilweise zur Zerstörung dieses Kerngebietes
geführt haben und wo durch die Blutung eine förmliche Zweiteilung des Kerngebietes
erfolgt ist. Die Blutungsinseln verstärken sich oralwärts immer mehr und mehr, die
dorsalen Hämorrhagien verdichten sich zu immer größeren und größeren Ausdehnun-
gen, die Gefäßveränderungen sind immer plastischer geworden und greifen auch
in die lateral angrenzenden Gebiete des Thalamus opticus über. Infolgedessen kann
man auch im Bereiche der medialen Thalamuskerne mehr oder minder schwere Ver-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 45
änderungen feststellen und die übermäßig gedehnten Blutgefäße ziehen förmlich als
Seenplatten durch das teilweise auch zellulär beeinträchtigte Gebiet durch. Quan-
titativ allerdings erreichen die Veränderungen hier keineswegs jenen hohen Grad, den
wir in den periventrikulären Abschnitten zu finden pflegen. Hier ist auch weiter oral
das gesamte basale Kerngebiet in ähnlichem Sinne verändert und auch die basalen
Meningealgefäße erweisen sich gleichsinnig verändert. Im Globus pallidus nehmen
weiter oralwärts die Pigmentansammlungen immer größere und größere Dimensionen
an, so daß fast das ganze Gebiet wie überschüttet von diesem Pigment er-
scheint. Namentlich perivaskulär häuft sich dieses Pigment zu größeren Massen,
Abb. 13. Vorgeschrittene Atrophie des Corpus mammillare.
welche kreuzförmig die Gefäßumgebung umringen und strahlenförmig in die
Umgebung ausklingen. Es finden sich hier einzelne kleine Zellinseln; heterotope
Ganglienzellen finden sich im lateralen Pallidumgebiet, sind aber sicherlich
infolge des Mangels sonstiger Mißbildungsphänomene von untergeordneter Be-
deutung. Je weiter oralwärts wir in der Serie weiterschreiten, desto stärker nehmen
eigentlich die Veränderungen des Zentralorgans ab. Im oralen Ende des dritten Ven-
trikels sind die Gefäßerweiterungen und die Gefäßveränderungen zwar noch immer deut-
lich ausgeprägt, doch fehlen sonst die meisten übrigen Merkmale der Parenchymver-
änderung bzw. gliösen Reaktionen, die wir früher gefunden haben. Blutungen und
schwere Parenchymveränderungen sind nicht mehr wahrnehmbar. Im Bereiche der
Hirnrinde zeigen sich relativ nur ganz geringfügige Abweichungen. In der Area giganto-
pyramidalis ist das Schichtenbild unverändert, die einzelnen Zonen sehr gut ent-
wickelt und zeigen auch keine groben Veränderungen. Die großen Betzschen Zellen sind
nicht verändert, zeigen nur hie und da eine gewisse Homogenisierung und Verfettung.
46 Dr. Yanni Tsiminakis.
Sonstige schwere degenerative Erscheinungen lassen sich nicht nachweisen. Ebenso-
wenig finden sich auffallende Veränderungen im Bereiche der hinteren Zentralwindung,
wenngleich hier, besonders in der vierten Zone, einzelne aulfallend erweiterte Blut-
gefäße gefunden werden, die aber sicherlich keine Abänderung des übrigen Rinden-
bildes bedingen. Auch sonst sind die Rindenveränderungen nur sehr dürftig.
27
f
as
Ba EN
Abb. 14. Blutungsherd im dorsalen Teil des Nucleus paraventrieularis.
Fall Ill. E. A., geboren am 22. Juli 1858, verheiratet, Kutscher.
Vor seinem Aufenthalt in der Irrenanstalt am Steinhof war Pat. mehrmals bereits
im Versorgungshaus der Gemeinde Wien untergebracht.
Wir finden (erste Aufnahme im Jahre 1907) Alkoholepilepsie mit Pausen
bis zu 8 und 12 Monaten, zuletzt drei gehäufte Anfälle. Wurde arbeitsfähig entlassen,
war dann wieder im Oktober 1909 aus gleichen Gründen Pflegling der Anstalt, wurde
kurze Zeit nachher dienstfähig entlassen; 1914 wiedergekommen; nach einmonatigem
Aufenthalt entlassen; war 3 Monate als Kutscher tätig, verlor den Posten seiner An-
fälle wegen, wurde knapp daraufhin entlassen, hielt sich draußen jedoch nicht und
wurde der Anfälle wegen neuerdings im Juli 1914, im Mai 1915 und im Dezember 1915
aufgenommen und immer nach kurzer Zeit entlassen. Im Jahre 1915 war er vorüber-
gehend in der Irrenanstalt am Steinhof, woselbst er scheinbar einer Alkohol-
halluzinose wegen untergebracht war; 1916, 1917 war er dreimal im Versorgungs-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 47
haus. 1917 finden wir eine Lichtstarre der linken Pupille vermerkt, Juli 1917 Blasen-
störung vom Typus einer leichten Retention; die epileptischen Anfälle waren in letzter
Zeit ausgeblieben. Dann erfolgte die Aufnahme am Steinhof.
Pat. ist dortselbst etwas schwerbesinnlich, dement. Auf die Frage nach der zeit-
lichen Orientierung zieht er an den Fingern herum, bringt schließlich heraus,
daß der 9. ist. Er sei hier in der Beobachtung. Donnerstag (10.) sei er von Neuhofen
in Oberösterreich, wo er landwirtschaftlich arbeite, nach Wien gekommen. Dort habe
er vier bis fünf Krügel Bier getrunken und ebensoviel Tee mit Rum. Das war von
Donnerstag auf Freitag nachts. An weiteres könne er sich nicht erinnern. Wie er zu
sich gekommen sei, war er in einer Zwangsjacke auf der Polizei. An den Tobsuchts-
anfall kann er sich nicht erinnern. Bis in die letzte Zeit konvulsive Anfälle, wiederholt
Zungenbiß. Pat. wird während des Examens rührselig. Bittet schließlich, man möge ihn in
die Versorgung schicken.
Somatisch: Pupillen leicht entrundet; rechte größer als linke; lichtstarr, auf
Konvergenz reagierend.
Pat. ist leicht depressiv gestimmt, bekommt Wasser in die Augen über sein
Unglück, daß er jetzt wieder arbeitslos dasteht. Er bittet, man möge ihn über den
Winter hierlassen, da er keine Arbeitsmöglichkeit habe. Er werde sich hier schon be-
schäftigen.
Dezember. Pat. fühlt sich schwach, bleibt zu Bett und versucht zu Kaffee zu
kommen. Klagt über Husten und Schmerzen bei tiefem Atmen.
Somatisch: Arterien verdickt, akzentuierter zweiter Aortenton, leichtes Emphysem
und Bronchitis.
2. Dezember 1927. Antrag zur Abgabe in eine Versorgung:
Anton Ecker (Generalien) steht seit 14. November 1927 zum einundzwanzigsten
Male mit Alcoholismus chronicus hierorts in Pflege. Er zeigt bereits Zeichen beträcht-
licher geistiger Abschwächung, ist sonst ruhig, klagt über Schwächegefühle im Körper.
Außerdem besteht körperlich Arteriosklerose, leichtes Emphysema und chronische
Bronchitis, er ist erwerbsunfähig und würde sich zur Abgabe in die Versorgung eignen,
zumal er unterstandslos ist.
Ins Versorgungshaus transferiert, wird die Pupillenstörung festgestellt (ent-
rundet, links stärker als rechts, Lichtstarre bei erhaltener Reaktion auf Konvergenz),
linker Mundfazialis besser innerviert, leichter Lid-, Finger- und Zungentremor, Druck-
empfindlichkeit der Wadenmuskulatur und der Nervi peronei, Fehlen beider Achilles-
sehnenreflexe bei sonst negativem neurologischen Befund. Psychisch erscheint Pat.
intellektuell abgeschwächt und etwas stimmungslabil. Zustandsbild im übrigen unver-
ändert: gestorben an Lobulärpneumonie.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Pneumonia lobularis, chronischer Alkoholis-
mus, Meta-Lues? Seniles Lungenemphysem und huchgradiges terminales Lungenödem.
Eitrige Bronchitis in beiden Unterlappen mit Lobulärpneumonie beiderseits, links mehr
als rechts, hier auch mit zarter fibrinöser Pleuritis. Zarte Spitzenschwiele links, aus
gedehnte progrediente, rechts mit vereinzelten zentral schiefrig indurierten Konglomerat-
tuberkeln am rechten Öberlappen. Parenchymatöse Degeneration und Dilatation des
Herzens. Akuter Milztumor. Parenchymatöse Degeneration der Nieren. Oberflächlicher
Decubitus sacralis und entsprechend der Lendenwirbelsäule beiderseits ausgedehnte
Phlegmone des Unterhautzellgewebes. Das Gehirn äußerlich ohne Veränderungen,
desgleichen der N. peroneus und das Rückenmark.
Fassen wir das klinische Bild dieses Falles zusammen, so liegt hier
eine langjährige alkoholische Epilepsie vor, bei der es in der letzten Zeit zu
einem Nachlaß der Anfälle gekommen war, wo sich aber im Gefolge des
chronischen Alkoholabusus eine periphere Nervenerkrankung im Sinne einer
Polyneuritis entwickelt hat und außerdem eine Herabsetzung der geistigen
Fähigkeiten eingetreten ist. Es ist allerdings offen, ob es sich um eine
48 Dr. Yanni Tsiminakis.
rein alkoholische Demenz handelt, oder ob es eine epileptische Demenz ist,
wobei der Alkohol nur eine untergeordnete Rolle spielt. Differentialdiagno-
stisch ist es auf Grund der nur sehr mangelhaften Beschreibung des geistigen
Verhaltens kaum möglich, eine sichere Entscheidung zu fällen. Sicher ist
jedenfalls auf Grund dieser Krankengeschichte, daß es sich nicht um eine
Korsakoffsche Psychose handelt, sondern daß hier nur eine einfache Demenz
vorliegt, wobei wohl größter Wahrscheinlichkeit nach dem Alkoholismus bzw.
dessen Folgen eine wesentliche Bedeutung für das Zustandekommen der
geistigen Störung zuzusprechen ist. Die Kombination mit der peripheren
Nervenerkrankung spricht sicher für die ätiologische Abhängigkeit vom
Alkohol.
Histologischer Befund:
Medulla oblongata. In den kaudalsten Gebieten des Vaguskerngebietes fällt
uns eine gewisse Erkrankung einzelner, namentlich größerer Zellelemente auf. Man
sieht Schwellung bzw. Tigroidverklumpung im dorsalen medialen Vaguskern ohne
sonstige charakteristische Veränderungen dieses Abschnittes. Im Bereiche der unteren
Oblongataetage sieht man diffuse Ganglienzellveränderungen, die sich besonders an
den Zellen des Nucleus ambiguus zeigen, an denen wir nebst überreichlichem Pigment
auch beginnende Vakuolenbildung sehen. Eine kleine Malazie finden wir auch im
Gebiete des Nucleus Burdach, knapp an der Grenze der spinalen Trigeminuswurzel.
Dort, wo sich der Zentralkanal spaltförmig zum vierten Ventrikel auszuweiten be-
ginnt, tauchen sofort stärkere gliöse Reaktionen auf, welche die auch normalerweise
hier vorhandenen Bilder erheblich an Umfang übertreffen. Zunächst fällt uns auf,
daß auch hier wieder eine auffallende Vermehrung des Kapillarnetzes besteht, daß eine
hyperplastische Reaktion der Neuroglia eingesetzt hat, daß infolgedessen das dorso-
mediale Vagusgebiet netzig durchwuchert erscheint und erweiterte und prall mit Blut
gefüllte Gefäße zwischen Kern und Ventrikelwand gruppiert sind. Auch hier bleiben
diese Veränderungen streng auf das Gebiet zwischen Ventrikelspalte und dorso-medialem
Vaguskern beschränkt, während die übrigen Abschnitte der Oblongata von solchen Ver-
änderungen im allgemeinen verschont sind. Die Ganglienzellen des Vaguskerns haben
weniger in quantitativer als in individueller Weise gelitten, eine Erkrankung, die gegen-
über dem vollkommen normalen Hypoglossuskern besonders auffällt. Auffallend wand-
verdickte und erweiterte Gefäße finden wir noch im Bereiche des Sulcus anterior
zwischen den Pyramiden und im Bereiche der basalen Meningealgefäße. Eine auf-
fallende Verfettung der Zellen der Oliva inferior wäre noch zu erwähnen, und ebenso
gegen die Norm vermehrte dunkle Pigmentierung zahlreicher Zellen des Ambiguus.
Mit der Ausweitung des vierten Ventrikels nehmen die Veränderungen im Bereiche des
dorsalen medialen Vaguskerns immer mehr zu und erweiterte Blutgefäße erfüllen den
Raum zwischen Vagus und Ventrikelwand. Der obere Teil der Medulla oblongata ist
nicht zur Verfügung gestanden, infolgedessen entzieht sich uns die Möglichkeit der
weiteren Verfolgung der pathologischen Verhältnisse im Bereiche des oralen Anteils
des verlängerten Marks. In der Brücke finden wir wandverdickte Gefäße mit auffallen-
der Erweiterung und einer Imbibition der Ganglienzellen in der Umgebung der Blut-
gefäße mit einem dunklen Pigment. Die Ganglienzellen, welche um die Blutgefäße herum
gelagert sind, enthalten in ihrem Innern ein schwarzes feinkörnizges Pigment, und es
ist auffallend, daß sich diese Imprägnation der Zellen nur vielfach in der allernächsten
Umgebung der Blutgefäße zeigt, daß also derartig veränderte Gefäße kranzartig die
Blutgefäße umgeben und nach außen hin von vollständig normalen Nervenzellen um-
kreist sind. Man sieht auch derartig feines Pigment in der allernächsten Umgebung
der Blutgefäße und in der Blutgefäßwand selbst. wo man auch mitunter Reste ab-
gelaufener Blutungen finden kann. Sonst finden sich eigentlich im Bereiche des Brücken-
fußes keine wesentlichen Veränderungen. Es fehlen also sowohl entzündliche sowie
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 49
Abb. 15. Ganglienzellen der Raphekerne mit Pigmentkörnern.
Abb. 16. Streifenförmige Blutungen zwischen Ventrikelwand und Nucleus
paraventricularis.
Arbeiten aus dem neurol. Inst. XXXIII. Bd. 4
50 Dr. Yanni Tsiminakis.
Erweichungsprozesse durchaus. In der Brückenhaube sind eigentlich auch nur sehr
geringfügige Abweichungen von der Norm festzustellen, in den Kerngebieten, welche
um den zum Abschluß gelangenden Ventrikel gelagert sind, findet sich eine gewisse
Vermehrung der Blutgefäße, eine starke Fettpigmentanreicherung der meisten Nerven-
zellen und mitunter auch eine Pigmentbestäubung von Ganglienzellen, ähnlich wie wir
sie im Brückenfuß, in der Umgebung von Blutgefäßen gefunden haben. Wenn wir die
Situation im Bereiche des hinteren Vierhügels übersehen, so finden wir erstens regio-
näre Pigmentfüllung um eine stärker dilatierte Gefäßgruppe mit vorausgegangener
Abb. 17. Blutungen im dorsalen Anteil des Nucleus paraventrieularis mit Konsumption
dieses Kernanteils. Atrophie der dorsalen Kernhälfte.
Blutung im Fußgebiet und ebenso auffallende Pigmentfüllung der Ganglienzellen im
Bereiche der Kerne der Raphe. Sonst sind andere Veränderungen nicht nachweisbar.
In der Umgebung des Aquädukts und im Bereiche des sich eröffnenden dritten Ven-
trikels zeigt sich eine auffallende Vermehrung der Blutgefäße, eine Erweiterung der-
selben sowie Hämorrhagien, wobei sich, ähnlich wie früher, die Veränderungen ledig-
lich auf die nachbarschaftliche Umgebung des zentralen Liquorraums beschränken.
Sonst findet sich höchstens eine Verfettung der Nervenzellen der übrigen Gebiete bei
sonst negativem Verhalten. Die stärksten Veränderungen zeigen sich dann erst wieder,
ähnlich wie im Fall II, im Bereiche des Nucleus paraventricularis, wo die Kapillar-
vermehrung, Gliawucherung und Blutung die histologische Trias der pathologischen
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 51
Reaktionen darstellt und wo dann sekundäre Veränderungen des Ependyms sich hinzu-
gesellen. Hier kann man auch schwere Veränderungen des Ependyms selbst wahr-
nehmen, in dem Buchten entstehen, die in das Erkrankungsgebiet eindringen. Auch
das Ganglion opticum basale und der Nucleus paraventricularis. infundibulo-ma-
millaris sind im gleichen Ausmaß erkrankt. Überall findet sich die auffallende Erweite-
rung der Blutgefäße, Kapillarverdichtung und Wucherung der Mikroglia besonders aus-
geprägt und dazu kommt noch hier die auffallende Verfettung der Ganglienzellen, die
Anreicherung mit Lipofuscin und teilweise auch wieder die am Brückenfuße zuerst
beschriebene Pigmentaufnahme von dunklen Körnern in die Ganglienzellen, ein Vor-
gang, der sich auch in der Umgebung der ausgedehnten Blutungen, im Nucleus para-
ventricularis zeigt. Im Bereiche des Strio-Pallidum herrschen ähnliche Verhältnisse wie
im Fall II, jedoch ist die dort beschriebene übermäßige Vermehrung von Eisenpiement
nicht vorhanden. Man könnte im Gegenteil eher von einer Verminderung gegenüber
den sonstigen normalen Verhältnissen sprechen. Hingegen zeigt sich besonders im
Striatum in der Umgebung einzelner, auffallend dilatierter Gefäße auch wieder die
Imbibition von Ganglienzellen sowie einzelner Gliaelemente und auch frei im Parenchym
mit dem eigenartigen schwarzbraun körnigen Pigment. In den verschiedenen Blöcken
der Hirnrinde zeigt sich stellenweise ein ähnlicher übermäßiger Dehnungsvorgang der
Blutgefäße, und zwar sowohl im Mark wie auch im Rindengrau, doch führt diese
Gefäßveränderung nicht zu einer wesentlichen Abänderung des zytoarchitektonischen
Bildes. Der Schichtcharakter bleibt gewahrt und gröbere Veränderungen an den
Ganglienzellen werden nicht gefunden. Die Erweiterung der Blutgefäße ist vielfach
im Mark ausgeprägter als im Rindengrau und in den untersten Schichten der Hirn-
rinde wiederum deutlicher wie in den oberen. Nucleus dentatus rerebelli: Im Be-
reiche des gezahnten Kerns finden sich auffallend erweiterte Blutgefäße, die zum
Teil auch in der Umgebung eines spongiös erweiterten Markgewebes gelagert sind.
In der Kleinhirnrinde selbst sind keine auffallenden Veränderungen, nur die Zellen
des Nucleus dentatus, die zwar in der Mehrzahl unverändert sind, weisen erheb-
liche Zeichen einer Verfettung auf und einzelne Schleifen des gezahnten Kerns sind
zugrunde gegangen, wodurch die Kontinuität des Zellbandes verloren gegangen ist.
Fassen wir die bei drei Fällen gefundenen anatomischen Veränderungen
zusammen, so ergibt sich folgende Feststellung:
Im ersten Falle finden wir eine diffuse parenchymatöse Schädigung
des gesamten nervösen Zentralorgans. Im Vordergrund stehen degenerative
Veränderungen der Ganglienzellen ohne besondere Bevorzugung irgend eines
speziellen Territoriums. Hauptsächlich handelt es sich um Schwellungs-
vorgänge mit gewissen Gerinnungsprozessen im Plasma bzw. um Verfettun-
gen subchronischer Natur. Wie gesagt, sind «diese parenchymatösen Umbau-
reaktionen diffus im ganzen Zentralnervensystem und die eventuell an dieser
oder jener Stelle stärker hervortretende degenerative Umformung zeigt doch
scheinbar nirgends besondere Akzentuierung. Dann müssen wir feststellen,
daß die im zweiten Falle gefundenen diffusen degenerativen Veränderungen
der Nervenzellen keineswegs in jenem Ausmaß vorhanden sind, wie wir sie
im ersten Falle gefunden haben. Es finden sich zwar auch hier an ver-
schiedenen Stellen degenerative Veränderungen der Nervenzellen, doch ist
der Grad der Erkrankung derselben zwar an einzelnen Stellen kein unbe-
trächtlicher, aber sicherlich nicht generell und macht mehr den Eindruck
einer lokalen als einer diffusen Schädlichkeit, wodurch sich dieser Fall
schon erheblich von den vorhin besprochenen unterscheidet. Parallel mit
dieser degenerativen Veränderung der Nervenzellen länft an den meisten
1
52 Dr. Yanni Tsiminakis.
Stellen ein pathologischer Prozeß der Blutgefäße und der Glia. Es handelt
sich hier um das Gebiet um den vierten Ventrikel herum, in etwas gerin-
gerem Maße um das periaquäduktiale Gebiet und wieder stärker betroffen
das Territorium in der Umgebung des dritten Ventrikels. Gewisse Ausstrah-
lungen dieses Prozesses finden wir auch noch in den kaudalen Ebenen der
Medulla oblongata im Gebiet der Substantia reticularis, an den basalen
Partien des Hypothalamus und auch ein wenig in den strio-pallidären
Ganglien. Bei diesen Veränderungen fällt uns nun auf, daß die degene-
rative Erkrankung der Nervenzellen eigentlich das quantitativ geringste
Teilbild des krankhaften Prozesses vorstellt, daß vielmehr die vaskuläre
und gliöse Reaktion die Hauptcharakteristika des Prozesses repräsentieren.
Die Blutgefäßveränderung besteht in zwei Formen. Einmal in exzes-
siver Erweiterung der Gefäße, namentlich jener größeren Kalibers, vor allem
der Arteriolen, einzelner Präkapillaren, vor allem jedoch der Venenäste.
Zweitens besteht eine auffallende Vermehrung der Kapillaren, die selbst
wieder eine gewisse Verdichtungstendenz ihrer Wand erkennen läßt, wo wir
also neben Vermehrung, Sprossung auch eine gewisse kapillare Fibrose
wahrnehmen. Neben diesen rein quantitativen Veränderungen zeigen sich
auch gewisse degenerative Reaktionen der Wände im Sinne von Homogeni-
sation, Kerndegeneration, daneben auch Kernwucherung, wenngleich die
letztere vom Standpunkt einer produktiven Reaktion relativ geringfügig ist.
Besonders bei den größeren Gefäßen ist die degenerative Komponente weit
stärker ausgeprägt. Dementsprechend sehen wir, daß ein entzündlicher infiltra-
tiver Vorgang an keiner Stelle gefunden wird, daß also Vorgänge im Sinne
einer Defension scheinbar nicht geweckt werden. In diesen Gebieten, wo
die Blutgefäße die besondere Erweiterung zeigen, findet sich selbstverständ-
lich eine pralle Füllung und diese Hyperämie solcher Gefäßterritorien führt
auch bei erkrankter Gefäßwand an zahlreichen Stellen zu mehr oder minder
ausgedehnten Blutungen. Es ist beachtenswert, daß diese hyperämische blutige
Durchsetzung des Gewebes eigentlich auf ganz wenige Punkte des Zentral-
nervensystems beschränkt ist. Zunächst müssen wir feststellen, daß hier
überhaupt nur jene Gebiete in Frage kommen, die wir vorhin als patho-
logisch verändert bezeichnet haben, und für Blutungen selbst gilt noch
eine weitere Einschränkung in dem Sinne, daß hauptsächlich das Gebiet
in der Umgebung des dritten Ventrikels und namentlich das Terrain des
Nucleus paraventricularis, also jene parallel der Ventrikelwand verlaufende
Kernsäule und besonders deren dorsale Hälfte den Hauptort dieser Hämor-
rhagien darstellt. Ein zweiter Punkt, wo sich noch Hämorrhagien finden,
ist die dorsale Ecke des oralen Drittels des vierten Ventrikels, wo wir an
der Übergangskante der Oblongata gegen das Kleinhirn, also dorsal vom
Nucleus Bechterew und vordringend gegen das Velum medullare bzw. gegen
den Nucleus tecti derartige Blutungen bemerken. Diese mesodermen Re-
aktionen sind dann weiterhin von gliösen begleitet, d. h. daß sich in der
Umgebung der derartig veränderten Blutgefäße eine mehr oder minder ener-
gische Hyperplasie der Neuroglia anschließt. Wir sehen eine Wucherung
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 53
vorwiegend gliöser Zellen an den vorhin genannten Gebieten, so daß die
Abschnitte infolge der Vermehrung der Blutgefäße einerseits und der Wuche-
rung der Neuroglia anderseits eine durchaus veränderte Struktur zeigen,
hier gewissermaßen eine Ballung verschiedenartiger Gewebsformationen Platz
gegriffen hat. Dabei sind diese Gliaveränderungen stets diffus. Wir finden
nirgends herdförmige Verdichtungen im Sinne einer Rosetten- oder Knötchen-
bildung, vielmehr hält sich eigentlich die Gefäßveränderung ganz an das
eng nachbarschaftliche Gebiet der Blutgefäße, so daß man wohl annehmen
kann, daß die gliöse Hyperplasie ein sekundäres Korrelat der vaskulären
Wirkung ist.
Gehen wir nun näher zur Beurteilung des pathologischen Befundes des
dritten Falles über, so gleicht dieser im Prinzip bis auf gewisse kleine
Differenzen erheblich dem zweiten Falle. Hier sind die diffusen, das Zentral-
nervensystem generell betreffenden Veränderungen noch geringfügiger als
jene im zweiten Falle. Wir sehen zwar auch an verschiedenen Stellen ohne
besondere Prädilektion degenerative Umformungen von Ganglienzellen; Zer-
störungsbilder, die auch wieder keine spezifische oder charakteristische Form
erkennen lassen. Meist sind es chronische oder subchronische Ganglienzell-
veränderungen, die an und für sich eine Abhängigkeit vom Blutgefäßapparat
nicht erkennen lassen. Genau wie im zweiten Falle. Wie im zweiten Falle,
sehen wir auch hier die eigenartige, vorhin genau beschriebene vaskuläre
und gliöse Reagibilität an bestimmten Territorien, die sich ungefähr mit den
im zweiten Falle bezeichneten Gebieten decken. Genau so wie dort ist der
Hauptpunkt dieser eigenartigen Gewebsreaktion das Gebiet in der Nachbar-
schaft des dritten Ventrikels, also der Wand neben der Ventrikelwand haupt-
sächlich im Gebiet des Nucleus paraventricularis, auch hier weniger dessen
basaler Anteil, als die mehr dorsal gelegene Hälfte, hingegen wiederum
häufigere Verstärkungen gegen die basalen Kerngebiete und die hypothala-
mische Region. Auch hier kann man dann mäßiggradige Veränderungen in
der Vierhügelgegend um den Aquädukt herum beachten, doch nehmen
bemerkenswerterweise die gleichsinnigen Erkrankungsbilder hier in der Ge-
gend des vierten Ventrikels quantitativ ab. Die im zweiten Falle dortselbst
gefundenen hochgradigen Reaktionen, besonders in der dorsalen Aquäduktecke
gegen das Kleinhirn hin, sind hier zwar noch vorhanden, jedoch bedeutend
geringfügiger, förmlich nur angedeutet. Auch die vaskulogliösen Reaktions-
formen bei der Eröffnung des Zentralkanals zum vierten Ventrikel, die im
zweiten Falle ganz besonders hochgradig waren, sind in diesem Falle in
viel dürftigerem Ausmaß ausgebildet. Immerhin zeigt dieser Fall zwar
qualitativ ein gleiches Verhalten wie der vorhergehende, nur ist quantitativ
das Bild lediglich in den oralen Partien identisch, während die kaudale
Erkrankung weit geringer ausgeprägt erscheint. Im Gegensatz nur zum
zweiten Fall ist hier ein in jenen nur ganz andeutungsweise vorhandenes
Korrelat vielleicht ausgeprägter, ja besonders markant vorhanden. Es handelt
sich hieı nämlich um eine besonders reiche Ansammlung eines bräunlich-
schwarzen, körnigen Pigments in zahlreichen Ganglienzellen, wobei wir fest-
54 Dr. Yanni Tsiminakis.
stellen können, daß es sich gewöhnlich um eine Imprägnation handelt, die
sich meist konzentrisch um wandveränderte, von Blutungen umgebene Gefäße
abspielt, die Zellen nur in nächster Umgebung solcher Gefäße diese Imbibition
aufweisen, während die fern abgelegenen Nervenzellen frei von diesen Ver-
änderungen bleiben. Diese Ganglienzellerkrankung ist jedoch nicht immer
so sicher vaskulär abhängig zu erkennen, da es mitunter einzelne Gebiete,
wie z. B. die Kerne der Raphe in der Brücke gibt, welche scheinbar ohne
eine Beziehung zu irgend einen Gefäßterritorium diese eigenartige Pigment-
anreicherung zeigen. Diese feinen Pigmentkörnchen finden wir in solchen
Gebieten selbstverständlich auch in den Gefäßwandungen um deren nächster
Umgebung, teils frei im Gewebe, im geringeren Ausmaß jedoch an Gliazellen
gebunden, die wohl infolge ihres Relationsverhältnisses zwischen Blutlymph-
bahn und Nervengewebe gleichfalls Gelegenheit hatten, dieses Pigment auf-
zunehmen.
Wenn wir somit das (Gesamtergebnis unserer Untersuchungen über-
schauen, so müssen wir folgendes feststellen. Zunächst ist die Frage zu beant-
worten, ob dem Korsakoffschen Syndrom jener typische Befund zuzuschreiben
ist, den Gamper an seiner Untersuchungsserie festgestellt hat. Hiezu müssen
wir auf Grund unserer Untersuchungen den Standpunkt folgendermaßen formu-
lieren. Unser zweiter Fall ist wohl ein typischer alkoholischer Korsakoff
und die anatomische Untersuchung in diesem Falle hat im wesentlichen
jene Punkte bestätigt, die Gamper bei seinen Untersuchungen als charakte-
ristisch angegeben hat. Gewisse Differenzen sind allerdings auch in diesem
Falle gegenüber den Gamperschen Normen festzustellen. Wir konnten an
Hand unserer Fälle und besonders des typischen Falles von Korsakoff nicht
die Überzeugung gewinnen, als ob jene scharfe Abgrenzung, die Gamper
getroffen hat, durchaus zutreffend ist. So möchten wir zunächst bezüglich
des Befundes in der Medulla oblongata daran festhalten, daß vielleicht der
dorso-ınediale Vaguskern stärker betroffen ist als andere Territorien des
verlängerten Marks, doch machten wir durchwegs die Beobachtung, daß
dieser Prozeß sich eigentlich fast in sämtlichen Kerngebieten in der Um-
gebung des vierten Ventrikels abspielt und wir konnten zum Beispiel in
unseren Fällen sehen, daß neben dem dorsalen Vaguskern, vor allem das
Gebiet des Bechterewschen Kerns und jene Markfasern, welche gegen das
Kleinhirn hinauf bzw. von diesen herunter ziehen, vielfach Sitz schwerer
Veränderungen sind, die sich im allgemeinen mit jenen morphologischen
Veränderungen decken, die Gamper nur in der Gegend des dorso-medialen
Vaguskerns gefunden haben will. Dementsprechend sehen wir, daß sich auch
gegen den Ventrikel hin stellenweise eine mehr oder minder starke gliöse
Reaktionszone gebildet hat und dieser gliöse Wall findet sich nun keineswegs
lediglich im Bereich des dorso-medialen Vaguskerns, sondern liegt vielfach
auch in jenen Ebenen der Medulla oblongata, wo diese Kernsäule entweder
schon sehr tief ventral gerückt ist oder überhaupt bereits verschwunden
ist. Der zweite Punkt, auf den wir weiterhin verweisen wollen, ist eine
gewisse Differenz im Befund bezüglich des medialen Okulomotoriuskerns,
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 55
wo wir eigentlich keine wesentlichen Veränderungen gefunden haben, die
den sonst immerhin schweren Erkrankungen gleichen können. Ferner haben
wir der topistischen Hauptpunkte der Gamperschen Untersuchungsresultate
zu gedenken, nämlich der von ihm beschriebenen, besonders starken Affek-
tionen der Corpora mammiillaria. Es ist sicherlich richtig, daß wir auch in
diesem Ganglion wie in den meisten anderen basal gelegenen Kernarealen
schwere Veränderungen finden, doch müssen wir ganz offen gestehen, daß
der Grad der Erkrankung uns nicht von jener Konstanz und Schwere scheint,
wie er von Gamper behauptet wird. So sehen wir gerade im Falle des
typischen Korsakoff die Corpora mammillaria nur sehr dürftig verändert und
an einzelnen Schnitten der Serie können wir fast ganz normale Zustände
dieses Ganglions beobachten. Dieser Befund ist für uns um so überraschender,
als wir im dritten Falle, der kein Korsakoff war, wieder gerade jene schweren
Veränderungen in den Corpora mammillaria finden, wie sie Gamper beim
Korsakoff als typisch angegeben hat. Hingegen können wir auch mit Gamper
die Alteration der. verschiedenen Ganglienkerne bestätigen, vor allem der
Gegend des Ganglion supraopticum, Nucleus infundibulo-mamillaris, Nucleus
periventricularis, wenngleich das auch durchaus nicht für das gesamte Terri-
torium gilt, nachdem besonders sich in dem Infundibulum eingelagerten Kern-
massen nicht allgemein von diesem Affektionsgrad befallen sind. Wir haben
hier eher die Empfindung, als ob der krankhafte Prozeß sich hier vom
Ventrikel eher ein wenig entfernen würde und erst wieder in den dorsalen
Anteilen des dritten Ventrikels, also in der Gegend des Nucleus para-
ventricularis eine besondere Akzentuierung erfährt. Im Gegensatz zu Gam-
per haben wir gerade in diesem Bereich besonders schwere Veränderungen
gefunden und haben hier eigentlich einen Grad der Erkrankung feststellen
können, wie er qualitativ wohl an gar keiner anderen Stelle des Zentral-
nervensystems gefunden wurde. Bestehen also in diesen Befunden gewiß
Übereinstimmungen mit Gamper, so haben wir auch topisch nennenswerte
Differenzen festzustellen, als deren Hauptpunkt wir wohl herausheben wollen:
1. die Tatsache, daß nicht der dorso-mediale Vaguskern allein in der Medulla
oblongata affiziert ist, 2. daß die Corpora mammillaria nicht jenen Haupt-
herd der Erkrankung vorstellen, wie er von Gamper supponiert wird und
3. daß eine besonders schwere Erkrankung im Bereich der langgezogenen
Kernsäule des Nucleus paraventricularis besteht, wobei die Veränderung sich
eher in den dorsalen als in den ventralen Anteilen dieses Kernbandes eta-
bliert hat.
Was nun die von Gamper beschriebene feinere Architektonik des patho-
logischen Prozesses anlangt, so besteht in unserem Fall ein Bild, das in den
Grundzügen die von Gamper festgestellten Normen bestätigt. Im Vorder-
grund steht eine ausgesprochene Verdichtung und Vermehrung des Kapillar-
netzes mit mehr oder minder ausgesprochenen Wandveränderungen, die sich
selbstverständlich an den größeren Gefäßen deutlicher zeigen, an den
kleineren jedoch als sichere Kapillarfibrose zu erkennen sind. Neben dieser
Verdichtung des Blutgefäßnetzes zeigt sich auch die plastische Vergrößerung
56 Dr. Yanni Tsiminakis.
desselben durch eine recht beträchtliche Blutfülle, wobei die Hyperämie
in erster Linie auf einer ganz besonders starken Blähung der venösen Teile
des Kreislaufapparates beruht. Wir sehen keine produktive Reaktion der
Gefäßwand im Sinne einer Lymphozytenbildung oder einer Produktion von
Elementen, welche Veranlassung geben könnten, den Prozeß als einen ent-
zündlichen zu qualifizieren. Hingegen finden wir, um die mesoderme Kompo-
nente des Prozesses zu ergänzen, einen Befund, der im Gegensatz steht zu
jenen Untersuchungen, wie sie Gamper uns vermittelt hat. Wir finden in
seiner Arbeit eine kleine Ungenauigkeit der Beschreibung, indem er zwar
bei der Schilderung der Befunde Blutungen rubriziert, diese jedoch in der
Zusammenstellung nicht speziell angibt. Dieser von Gamper aufgestellte
Gegensatz zur Polioencephalitis haemorrhagica läßt sich unseres Erachtens
nach nicht aufrecht erhalten, indem wir in unseren Fällen von alkoholischem
Korsakoff eine deutlich hämorrhagische Tendenz des Gefäßapparates er-
kennen konnten. Die Blutungen sind selbstverständlich nur auf die erkrankten
Territorien beschränkt und finden sich meistenteils im Bereich auffallend
hyperämisch erweiterter Blutgefäße, wo sie neben dieser exzessiven Blut-
fülle endovaskulär auch noch als typische Diapedesis-extravasate das erkrankte
Gebiet zum Teil durchsetzen. Wir haben bei diesen Blutungen nicht die
Empfindung, als ob in ihnen nur akute Schädigungen des Kreislaufes vor-
handen wären, zumal sich auch Reste der stattgehabten älteren Blutungen
an zahlreichen Stellen der krankhaften Regionen erkennen lassen. Hiezu
gehört in erster Linie die Ansammlung von blutpigmenthältigen Zellen in der
Umgebung solcher veränderter Blutgefäße, zweitens auch die Bindung des
scheinbar hämatogenen Pigments an Ganglienzellen, in einer Art, wie sie
seinerzeit von Stengel in der Umgebung größerer Hirnblutungen im Gehirn
bereits festgestellt worden war. Da die Befunde von Gamper in extenso
bis heute nicht erschienen sind und vermutungsweise nur rein topische
Phänomene von ihm bisher beschrieben worden sind, nehmen wir wohl
an, daß er später auch wohl diesen Befund wird bestätigen können. Wir
wollen allerdings nicht verfehlen, darauf hinzuweisen, daß der Nachweis
dieses hämatogenen Pigments, wie Stengel zeigen konnte, nur an einem
Material gelingt, welches eine Vorfixierung in Formalin durchgemacht hat,
da scheinbar die direkte Alkoholfixierung und Härtung zu einer Lösung des
hämatogenen Pigments oder Farbstoffes führt, wodurch derselbe dann auf
keine Art und Weise in den Zellen nachgewiesen werden kann. Dieses häma-
togene Pigment finden wir im Bereich der Ganglienzellen solcherart
erkrankter Territorien und diese dunkle Pigmentierung findet sich bemerkens-
werterweise auch an Stellen, wo der pathologische Prozeß scheinbar abge-
klungen ist, d. h. wo ohne besondere Betonung der Kapillarvermehrung und
Gliaveränderung eine rein hämorrhagische Infarzierung des Gewebes statt-
gefunden hat; hier wurden schließlich die Spuren der Blutung bei einem
langjährigen Prozeß verwischt und die dunkelpigmentierten Ganglienzellen
stellen danr. die Merkmale der ehemaligen Alteration dar. Der zweite Punkt
des pathologischen Prozesses ist der eigenartige der (iefüßreaktion synchron
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 57
koordiniert verlaufende Gliaprozeß. Wenn wir hier von koordiniert sprechen,
so wollen wir damit allerdings noch nicht gesagt haben, daß nicht auch der
gliöse Prozeß in einer Art Abhängigkeit vom vaskulären Geschehen steht,
d. h. daß also die primäre Gefäßerkrankung die Neuroglia zu einer Ver-
änderung ihrer Struktur anreizt, ohne daß es wahrscheinlich hier im Bedürfnis
des Nervengewebes selbst entspricht; der gliöse Prozeß ist nicht als sekundär
im Sinne von Nissl aufzufassen, sondern es handelt sich vermutungsweise
um einer jener vielen von Pollak schon seit langem postulierten Reizungs-
prozesse, der als Reaktionstyp auf ein in der Blutbahn kreisendes Toxin
zurückzuführen ist. Es ist klar, daß die funktionelle Störung oder die Gift-
wirkung als solche die Relation zwischen Nervengewebe und Blutbahn zu
stören droht und daß selbstverständlich in diesem Falle die Neuroglia die
Aufgabe übernehmen muß, den allenthalben entstehenden Komplikations-
grad zu überwinden. Die Neuroglia als Mittler der Austauschbeziehungen
zwischen Blutbahn und Nervengewebe sucht diese Störung, die vom Blutstrom
droht, wohl dadurch zu überbrücken, daß sie mit erhöhter Aktivität hilft,
jenes Netz zu erweitern und zu vergrößern, durch welches einzig und allein
es gelingen kann, die veränderte Nutritionsbasis für das Nervengewebe zu
schaffen. Der Grund der Vermehrung der Neuroglia liegt allerdings vielfach
auch in einer wesentlichen Abhängigkeit von der quantitativen Veränderung
des Zirkulationsapparates, denn die auffallende Wucherung von Kapillaren
muß es automatisch mit sich bringen, daß die Grenzfläche des Ektoderns,
entsprechend der Vermehrung der Blutgefäßfläche auch eine Vergrößerung
erfährt und es ist dann Aufgabe der Neuroglia, jene Mengen neuer Grenz-
membranen zu schaffen, welche als Austauschgebiet des Stoffwechsels, als
Rezeptorer. der Nährstoffe und als Deportierer der Stoffwechselprodukte
fungieren. Es nimmt daher kein Wunder, wenn die auch von Gamper
beschriebene auffallende Vermehrung der gliösen Elemente einen hohen
Grad erreicht und entsprechend der Architektonik der Glia in den grauen
Kerngebieten, in denen sich doch der pathologische Prozeß abspielt, ist die
Reaktion der Glia in erster Linie auf Elemente kleineren Kalibers beschränkt,
da schon normalerweise in diesen Territorien makroplasmatische und faserige
Elemente der Glia fast durchwegs vermißt werden. Entsprechend dem alten
Gesetz, daß die Neuroglia so reagiert, wie ihr normaler Bauplan es ermög-
licht, finden sich also im Falle der alkoholischen Korsakofferkrankung eine
vorwiegende Wucherung hauptsächlich mikrogliöser Elemente und kleinerer
plasmatischer Zellen, wobei es natürlich unseres Erachtens offenbleibt, daß
auch eine weitere Differenzierung zu großen plasmatischen Zellen möglich
ist, eine Tatsache, die auch mit dem objektiven Befund der Fälle überein-
zustimmen scheint. Ein Teil dieser gewucherten Zellen wird allerdings aus
dem neugefügten Synzitialnetz herausgerissen, in mobile Abbauzellen umge-
formt und namentlich in den Territorien, wo Blutung stattgefunden hat, sieht
man zellige Elemente, die bei dem Mangel einer wesentlichen mesodermalen
Zellproduktion ohneweiters als gliöse Elemente anzusprechen sind. Sie
füllen sich, wie wir vorhin bereits bemerkt haben, mit Blutpigment und liegen
58 Dr. Yanni Tsiminakis.
zum Teil perivaskulär angeordnet in der nächsten Umgebung der Gefäße,
wo sich scheinbar eine allmähliche Auslaugung entwickelt, in deren Anschluß
dann eine Rückresorption des Pigments in die mesodermalen Anteile des
Zirkulationsapparates erfolgt. Der dritte Punkt ist die Frage der reinen
Parenchymveränderung. Inwieweit Abbauprozesse an den Markscheiden im
Nervensystem Platz greifen, können wir in dieser Arbeit nicht feststellen,
da unsere Fälle einer kompletten Serienuntersuchung behufs Festlegung der
Topik der zellulären Veränderungen vorgenommen wurde; infolgedessen
haben wir kein Material zur Verfügung, das geeignet wäre, eine Entschei-
dung in diesen Fragen zu fällen. Wir können daher weder etwas über den
Zustand der Markscheiden, noch über das eventuelle Vorhandensein von
Abbauproduktion mit Ausnahme der Zellen feststellen, sondern können
eigentlich nur aus dem Grade der Ganglienzellveränderungen und der damit
in Zusammenhang stehenden Gliareaktion uns ein Bild machen, ob wesentlich
charakteristische Veränderungen hier Platz gegriffen haben. Da müssen
wir zunächst die Feststellung machen, daß im allgemeinen das Nerven-
parenchym einen ganz besonders hohen Grad der Resistenz zeigt, daß
zwar, wie unsere Beschreibung der Fälle gezeigt hat, Ganglienzellverände-
rungen sowohl in dem schwer erkrankten Gebiet als auch in sonstigen
Abschnitten des Nervensystems gefunden werden, daß diese Veränderungen
jedoch nicht jene hohen Grade bieten, die eigentlich sonst mit der Schwere
des klinischen Zustandsbildes übereinstimmen könnten. Wir müssen daher
daran festhalten, daß die Parenchymveränderungen zwar vorhanden, sicher-
lich aber nicht den entscheidenden Grund für die Festlegung des anato-
mischen Syndroms der alkoholischen Korsakoff-Psychose abgeben konnten.
Kurz gesagt ist also eine auf gewisse Punkte beschränkte Veränderung des
Zirkulationsapparates auf der einen Seite, eine parallel damit laufende
gliöse Reaktion in den gleichen Territorien auf der anderen Seite und eine
relativ geringfügige Veränderung der Ganglienzellen im Zentralnervensystem
jenes Korrelat, das wir in unserem Falle der alkoholischen Korsakoff-
Psychose gefunden haben. Wenn wir nun jetzt zum Vergleich dieser Befunde
die Untersuchungsresultate jenes Falles heranziehen, wo ein Korsakoffsches
Syndrom, das jedoch scheinbar nicht auf alkoholischer Basis beruhte, bestand,
so haben wir hier nun ein durchaus anderes anatomisches Bild erhalten.
Zunächst ist vielleicht zu bemerken, daß der hier zur Beschreibung gelangte
Fall nich: als reiner zu werten ist, daß eine abgelaufene Lues einerseits,
die Leuchtgasvergiftung anderseits eine Konstellation vorstellen, deren genaue
Wertung unseres Erachtens nach nicht leicht möglich ist. Wir wollen aller-
dings diese Frage nicht weiter erörtern, und uns lediglich mit dieser Lösung
beschäftigen, ob also der sogenannte exogene Reaktionstypus im psychischen
Bilde, wie es die Korsakoff-Psychose darstellt, durch die von Gamper
beschriebenen topisch morphologischen Kriterien bedingt ist oder ob sich
die von Gamper beschriebenen Bilder nicht nur auf durch alkoholbedingte
Schädigungen des Zentralnervensystems beziehen. Da müssen wir nun
zunächst feststellen, daß in diesem Falle von Korsakoff auch nicht die Spur
Beitrag z Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 59
jener Veränderungen gefunden wurde, die wir in den späteren Fällen kennen-
gelernt haben, daß also hier ein psychisches Zustandsbild resultierte, dem
eine durchaus andere anatomische Grundlage zugrunde lag. In unserem
ersten Falle, wo das Korsakoffsche Syndrom nicht durch eine Alkoholintoxi-
kation bedingt ist, sind die Veränderungen im Zentralnervensystem durchaus
anderer Natur. Zunächst müssen wir feststellen, daß auch nicht ein einziger
Befund an den vorhin bezeichneten typischen Stellen gefunden wurde, der
auch nur im entferntesten an jene Erkrankungsformen mahnt, welche wir
beim alkoholischen Korsakoff gefunden haben. Man kann also ruhig be-
haupten, daß bezüglich der Topik der gefundenen Veränderungen auch
nicht der geringste Parallelismus der beiden Fälle besteht. Während wir
beim alkoholischen Korsakoff, ähnlich wie bei Gamper, eine herdweise
Bevorzugung gewisser Territorien gefunden haben, fällt dies an diesem
von uns zur Untersuchung herangezogenen Fall einer Korsakoff-Psychose
(nach Co?) vollkommen weg. Zunächst die Tatsache, daß auch alle feineren
histologischen Details, welche wir beim alkoholischen Korsakoff gefunden
haben, also die Gefäßvermehrung, die Gliawucherung, eventuell die Blutun-
gen in diesem Falle vollständig fehlen. Im Gegensatz zum alkoholischen
Korsakofi zeigt sich hier eine generelle Schädigung des Parenchyms in dem
Sinne, daB ohne besondere Aktivität sich allgemeine Entartungserscheinungen
an den Ganglienzellen geltend machen, ohne jedoch an irgend einer Stelle
einen besonders prägnanten Grad zu erreichen. Höchstens an einzelnen
Kerngebieten der Oblongata, wobei bemerkenswerterweise der dorsale Vagus-
kern nicht mit inbegriffen erscheint, ferner in der Substantia nigra finden
sich Veränderungen; im Gegensatz zum alkoholischen Korsakoff sind jedoch
alle jene Territorien auffallenderweise wenig verändert, welche dort Sitz
der charakteristischen Erkrankungen sind. In diesem Falle haben wir eigent-
lich ein durchaus uncharakteristisches, weder topisch noch histologisch typi-
sches Bild. Wir finden allenthalben an verschiedenen Punkten des Z.N.S.
mehr oder minder schwere Grade von Gefäßerkrankungen, was bei der
stattgehabten Lues und bei dem immerhin fortgeschrittenen Lebensalter
des Patienten durchaus auf diese ursächlichen Faktoren zu beziehen sein
dürfte. Auf letztere werden wir wohl die wenigen besonders charakteristi-
schen Bilder des histologischen Befundes im Nervensystem beziehen müssen,
nämlich erstens die bilaterale symmetrische Erweichungshöhle im oralen
Pallidumdrittel und vielleicht auch jener ähnlich geformte malazische Prozeß,
den wir zwischen dem medialen 'Thalamuskern und der Wand des dritten
Ventrikels ausgebreitet sehen; wenngleich es ebenso leicht möglich ist, daß
dieser Herd nicht mit der Leuchtgasvergiftung in irgend einem direkten
genetischen Zusammenhang steht, da wir in seiner Umgebung noch auffallend
reichliche Abbaureaktionen finden, ein Zeichen, das sicher für die jüngere
Natur dieses Prozesses spricht. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, daß
wir auch Gelegenheit hatten, bei weit zurückliegenden Leuchtgasnekrosen des
Pallidums noch immer aktive Abbaureaktionen zu bemerken (Pollak und
Rezek). Immerhin spricht die atypische Reaktion dieser Erweichungshöhle
60 Dr. Yanni Tsiminakis.
gegen eine Abhängigkeit vom Kohlenoxydgas, da wir in keinem Falle der
zur Untersuchung gelangten Fälle einen ähnlichen Befund gefunden haben.
Wir glauben, daß es sich hier um luetische Affektionen handelt, wofür auch
entzündliche Infiltrate zu sprechen scheinen, die sich auch vereinzelt an
anderen Stellen des Z.N.S. finden.
Anders hingegen steht es mit den etwas stärker akzentuierten Ver-
änderungen in der Substantia nigra, die hier auf die seinerzeit statt-
gefundene Leuchtgasintoxikation bezogen werden könnten, wenngleich der
chronische Entartungsvorgang an den Blutgefäßen an und für sich geeignet
wäre, auch hier diese Veränderungen zu erklären. Es zeigt sich also, daß
wir hier bei einem Fall eines typischen Korsakoff-Syndroms nichtalkoholischer
Provenienz einen Befund finden, der sich in gar keinen Punkten mit jenen
Substraten deckt, wie sie beim alkoholischen Korsakoff beschrieben wurden,
wodurch ein wichtiges Element in dem Erklärungsmechanismus der Korsakoff-
Psychose wegfällt, da auch von Gamper der Versuch gemacht wurde, aus
der speziellen Befallenheit vegetativer Territorien des Z.N.S. eine hypothe-
tische Erklärung der Genese der psychischen Veränderungen zu konstruieren.
Auf Grund dieses Befundes müssen wir jedenfalls den von Gamper ange-
nommenen Mechanismus wenigstens für unseren Fall bezweifeln — was
auch Creutzfeldt schon getan hat — und damit eigentlich auch neuerdings
die Frage aufwerfen, ob tatsächlich die von Gamper angenommene Hypo-
these für die Erklärung des Korsakoffschen Syndroms zutreffend ist. Aus
diesem Grunde haben wir dann noch den dritten Fall in unsere Unter-
suchungsreihe herangezogen, mit einer typisch, durch Alkohol bedingten
Einschränkung der geistigen Fähigkeiten nebst epileptischen Anfällen, wo
wir wohl mit größter Wahrscheinlichkeit im Alkohol die Ursache der neuro-
logischen wie der psychischen Veränderungen annehmen müssen. Hingegen
war bei diesem Patienten niemals das Zeichen einer Korsakoffschen Psychose
aufgetreten, so daß also eine andere alkoholbedingte Erkrankung des Z.N.S.
die Frage der toxischen Elektivität beweisen bzw. die Bedeutung für das
Zustandekommen der Korsakoffschen Psychose erklären soll. Wie wir nun
aus der Beschreibung unseres dritten Falles ersehen haben, findet sich
im Z.N.S. ein pathologisch-histologisches Korrelat, welches eigentlich in
gröberen Zügen annähernd dem entsprochen hat, was wir beim alkoholischen
Korsakoff geschen haben und lediglich kleine quantitative Erscheinungen
und gewisse Abänderungen fast unbedeutender Art lassen einen Unterschied
gegenüber dem Falle des typischen Korsakoff erkennen. Was die Lokalisation
der Veränderungen in topischer Hinsicht anlangt, so ist im Prinzip hier der
Befund annähernd gleich; wir finden zwar in den kaudaleren Partien des
Z.N.S. nicht jene hochgradigen Veränderungen wie im zweiten Falle, wäh-
rend es jedoch andere Stellen gibt, die ihrem Charakter nach eigentlich
durchaus dem echten Korsakoff gleichen, ja, an gewissen Stellen, namentlich
im Gebiet des Nucleus paraventricularis bzw. der dorsolateralen Ecke des
vierten Ventrikels die beim echten Korsakoff beschriebenen Veränderungen
quantitativ erheblich übertreffen. Der Charakter der histologischen Ver-
Beitrag z. Pathologie d. alkoholischen Erkrankungen d. Zentral-Nervensystems. 61
änderungen ist aber sicherlich bei beiden Fällen der gleiche, auch beim
Fall der Alkoholdemenz mit Epilepsie steht im Vordergrund die Kapillar-
vermehrung und ihre bindegewebige Fibrose, die parallel damit laufende
Vermehrung des gliösen Netzes, die begleitenden Blutungen, die sekundär
davon abhängigen, nicht übermäßigen Ganglienzellerkrankungen, also ganz
das gleiche Bild wie im Fall II. Gegenüber diesem Falle ist nur zu be-
merken, daß hier ein stärkerer Blutungsvorgang angenommen werden muß,
da wir in den Zellen sehr reiche Mengen hämatogenen Pigments gefunden
haben (siehe früher). Bemerkenswert bleibt weiter in diesem Falle die
relative Intaktheit der kortikalen Sphäre, gleichfalls eine Identität mit jenen
Befunden, die Gamper, wie wir, im Gegensatz zu Creutzfeldt, beim alko-
holischen Korsakoff erheben konnten. Schöpfen wir nun aus dieser Zu-
sammenstellung der drei von uns zum Vergleich klinischer wie patho-
genetischer Momente wichtigen Fälle ein Resultat, so müssen wir fest-
stellen, daß die von Gamper vorgetragene Konzeption der anatomischen
Erklärung des alkoholischen Korsakoff anzuzweifeln ist. Der Vergleich zweier
pathogenetisch ungleich bedingter Fälle von Korsakoffscher Psychose zeigt,
daß wir in jenem Falle die von Gamper beschriebenen typischen Verände-
rungen finden, wo die psychische Erkrankung Folge der Alkoholintoxikation
ist, daß hingegen das psychische Syndrom, das auf anderer exogener Basis
beruht, nicht auf jenen anatomischen Grundlagen aufgebaut ist, welche wir
sonst vielleicht als Ursache der alkoholischen Korsakoff-Störung annehmen
könnten. Es läßt sich also auf Grund dieser Tatsache gewiß nicht mehr
annehmen, daß die Lokalisation des Prozesses und der Charakter desselben
Ursache des charakteristischen psychischen Syndroms der Korsakoff-Psychose
sind. Zweitens lehrt uns jedoch der dritte Fall, daß selbst die gleichsinnigen
Veränderungen, selbst die fast identische Lokalisation des Prozesses nicht
geeignet ist, das identische psychische Verhalten herbeizuführen, daß also
ein durchaus äqualer anatomischer Prozeß in einem Falle mit einer Korsa-
koffschen Psychose, in anderem Falle mit einer alkoholischen Demenz und
Epilepsie verbunden ist. Dies scheint auch aus den Ausführungen von
Creutzfeldt hervorzugehen. Wir müssen wohl mit größter Wahrscheinlichkeit
vielmehr zu dem Schlusse gedrängt werden, daß die hier gefundenen Ver-
änderungen des Z.N.S. wohl aller Wahrscheinlichkeit nach Folgen der chro-
nischen Alkoholvergiftung sind, daß also hier ein gewisser Grad elektiver
Befallenheit, eine Art Pathoklise, wenn wir den Begriff von Vogt akzep-
tieren wollen, vorliegt, ähnlich wie jene Pallidumveränderung bei allen
Fällen einer Leuchtgasvergiftung. Wir können jedoch aus dieser lokalisa-
torischen Befallenheit keinen weiteren Schluß ziehen und daran die Ent-
wicklung eines toxisch bedingten psychischen Syndroms ableiten, da die
gleichartigen Veränderungen wie gesagt zu vollständig differenten Zustands-
bildern zu führen vermögen. Es ist also auch dieser zweite Punkt die topische
Bedingtheit des psychischen Syndroms von den vorhin beschriebenen Ver-
änderungen negativ zu beantworten. Welches selbstverständlich die Gründe
sind, die in einem Falle das Hervortreten der Korsakoff-Psychose, im
62 Dr. Yanni Tsiminakis.
anderen Falle die Entwicklung einer Alkoholdemenz bedingen, bleibt uns
vorläufig verschlossen. Genau so wie bei den meisten anderen psychischen
Erkrankungen, wo wir noch immer nicht die Möglichkeit besitzen, weder aus
dem Charakter noch aus der Topik der Veränderungen eine bindende Fr-
klärung zu erfassen. Letzteres gilt schließlich auch für jene anatomisch sicher
zu diagnostizierenden psychischen Erkrankungen, wie diejenigen luetischer
Provenienz, da doch letzten Endes auch histologisch durchaus anders geartete
kortikale Veränderungen vollständig identische Zustandsbilder herbeizuführen
vermögen. Jedenfalls glauben wir aber als Resultat unserer Arbeit annehmen
zu können, daß ähnlich wie die Leuchtgasvergiftung auch der Alkohol eine
gewisse Affinität zu den verschiedenen Territorien des Z.N.S. besitzt, daß
durch ihn ganz typische Veränderungen hervorgerufen werden, daß die Ein-
wirkung in erster Linie den Blutgefäßapparat betrifft, wobei scheinbar zwei
verschiedene Reaktionsformen im Vordergrund des pathogenetischen Ge-
schehens stehen, erstens die Kapillarvermehrung als Ausdruck einer
gewissen produktiven Reizbarkeit des Mesoderms, zweitens hingegen die
degenerativen Veränderungen, welche mit Blutungen einhergehen, wie wir
sie bei der Polioencephalitis haemorrhagica superior in klassischer Form
zu beobachten Gelegenheit haben. In gewisser Hinsicht kommt es natürlich
zu einer Kombination dieser beiden Phänomene, ähnlich wie wir sie in
unseren beiden Alkoholfällen auch nachzuweisen imstande waren. Daß selbst-
verständlich neben einer starken produktiven Mesenchymalreaktion die dege-
nerativen Veränderungen zum Durchbruch kommen ist klar, doch gibt es
sicherlich auch Kombinationen der beiden Syndrome, die wahrscheinlich
auch — wir haben keinen einschlägigen Fall dieser Art — zur Kombination
dieser beiden Zustandsbilder Veranlassung geben können. Jedenfalls lehrt uns
unsere Untersuchung, daß die toxische Komponente verschiedener
Prozesse im Z.N.S. eine quali- und quantitativ ähnliche, wenn nicht gar
gleichartige Veränderung herbeizuführen vermag. Hingegen scheint weder
ihr Charakter noch ihr topischer Sitz einen sicheren Hinweis auf deren klini-
sche Auswirkung zu gestatten, da gleiche psychische Syndrome differente
anatomische Grundlagen zu haben scheinen, während klinisch ungleiche
Bilder bei identischen Prozessen im Z.N.S. vorkommen.
Literatur:
Creutzfeldt, Alle. Zeitschr. f. Psych, 90, 1929.
Gamper, D. Zeitschr. f. Newry. 102, 1928.
Pollak-Rezek, Virchows Archiv, 265, 1927; 269, 1928.
Pollak-Rezek, Zeitschr. f. Nepxs, 116, 1928.
Schroeder, Nissl-Arb., 2, 1908.
Stengel, Obersteiners Arb., 28, 1928.
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der
multiplen Sklerose.
Von
Dr. Le Roy M. A. Maeder.
Instructor in Neurology, University of Pennsylvania (Philadelphia).
Mit 4 Abbildungen im Text.
Seitdem Anton und Wohlwill!) den Versuch gemacht haben, die mehr
akuten Formen der multiplen Sklerose von den mehr chronischen, den klassi-
schen, zu trennen und bei den ersteren von einer multiplen, nicht eitrigen
Enzephalomyelitis zu sprechen, ist man immer wieder daran gegangen, die
von Marburg?) zum ersten Male betonte Unität der beiden Formen zu wider-
legen. Man hat sich immer wieder bemüht, Fälle mit gewissen Besonderheiten
heranzuziehen, um sie aus dem Bereich der multiplen Sklerose zu ent-
fernen. Es sei nur an die Fälle von Redlich?) erinnert, die er als Ence-
phalitis pontis et cerebelli beschrieben hat und die er, trotzdem vieles für
ihre Zugehörigkeit zu den sklerotischen Prozessen spricht, hauptsächlich
wegen der Eigenart der Lokalisation von diesen trennt.
Solche Fälle sind später noch vielfach beschrieben worden, und da
Gournandt) über dieselben erst kürzlich zusammenfassend berichtet hat,
so sei hier von einer Aufzählung der Literatur abgesehen, zumal Pette)
schon früher, dann mit Spielmeyer®) in ihrem Referat in Würzburg im
Jahre 1929 dazu Stellung nahmen und auch Spatz?) im Handbuch der Geistes-
krankheiten sich näher darüber geäußert hat. Es sei noch auf eine zuletzt
erschienene Arbeit von Gerstmann und Sträußler®) verwiesen, weil
diese auch den Redlichschen Standpunkt einnimmt.
Ein Grund für die dualistische Auffassung liegt vielleicht in der Tat-
1) Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912, XH.
2) Jahrb. f. Psych. u. Neurol. 1906, XXVII, und Lewandowsky, Handb. d.
Neurol., Spez. Neurologie, Bd. I.
3) Wr. klin. Wochenschr. 1927, Nr. 11, und Monatsschr. f. Psych. u. Neurol.
1927, Bd. LXIV.
4) Gournand, Sclérose en plaques aigue, Paris, Le Grand, 1930.
5) D. Zeitschr. f. Nervenheilk. 1928, C V, 76, und Jahresversammlung der Ges.
Deutsch. Nervenärzte, 1929.
6) Ibidem.
1) Enzephalitis, Handb. d. Geisteskrankheiten, Berlin, Springer, 1930, Bd. XI.
8) Gerstmann und Sträußler, Zentralbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1930,
LVII, 423.
64 Dr. Le Roy M. A. Maeder.
sache, daß bei der erwähnten Krankheit der Ton zuviel auf das Wort Skle-
rose gelegt wird. Hätte man den Vorschlag Marburgs aufgegriffen und statt
der multiplen Sklerose den morphologisch signifikanteren Ausdruck Ence-
phalomyelitis periaxialis scleoroticans gebraucht, so wäre vielleicht eine
Diskussion über das Thema nicht entbrannt.
Ich möchte nur in Kürze — da mir nur eine sehr geringe Zeit zur
Bearbeitung dieses Themas zur Verfügung stand — über ein paar Fälle
berichten, die ganz typisch das Bild der sogenannten chronischen oder klassi-
schen multiplen Sklerose darboten und bei denen ich besonders versuchte,
die Gefäßinfiltrationen zu studieren, um dadurch die Beziehungen der akuten
und chronischen Formen aufzuzeigen. Es sind diese Untersuchungen eine
Ergänzung jener von Falkiewicz’), der bezüglich des Rückenmarks zu
ähnlichen Ergebnissen kam.
Ich gehe auch hier wieder von der Arbeit von Anton und Wohlwill
aus und da erweist sich bezüglich der Infiltrate, daß in ihren Fällen einzelne
‘Gefäße vollständig frei waren, die Mehrzahl aber sich im Zustand der
Hyperämie befindet. Sie schreiben dann wörtlich: „In den adventitiellen
Lymphscheiden findet sich fast überall zwischen den sehr gut erkennbaren
bindegewebigen Adventitiafasern ein mehr oder weniger ersichtliches zelliges
Infiltrat. Dieses besteht aus Iymphoiden Zellen, plasmatischen Zellen, Körn-
chenzellen. Daneben scheint, daß auch Monozyten auftreten können, Leuko-
zyten aber absolut vermißt werden. Sehr wichtig ist, daß sich diese Infiltrate
nur innerhalb der Gefäßscheiden finden, ferner daß sie sich auf Herde oder
deren nächste Umgebung beschränken.“
Ich möchte zunächst eine genaue Beschreibung der von mir untersuchten
Herde voranschicken, bevor ich die Ergebnisse zusammenfasse.
I. Fall (Nr. 4315).
E. B., Mann, 5 Jahre krank, gestorben an schwerem Dekubitus, Pneumonie. Es
sind in diesem Falle typische Herde vorhanden, und zwar sind die Herde zahlreich
auch subependymär gelegen. In einem dieser subependymären Herde, der bereits voll-
ständig sklerotisch ist, finden sich inmitten des Herdes zahlreiche Gefäßquerschnitte.
Die Wand dieser Gefäße ist verändert, und zwar im Sinne einer Sklerose. Perivaskulär
finden sich deutliche Lichtungsbezirke. An den Gefäßen bzw. in der Gefäßwand selbst,
und zwar an den Venen mehr als an den Arterien, sind deutliche Zellvermehrungen
zu sehen. Man unterscheidet ganz verschiedene Elemente. Die Hauptmasse besteht
aus Zellen mit einem runden, dunklen Kern, der kaum ein Plasma zeigt und typisch
lymphoid ist, daneben sind Makrophagen, Zellen mit einem runden, dunklen Kern
und großem Protoplasmahof, in welchem sich am Hämalaun-Eosinpräparat deutlich
gelbliche Körnchen erkennen lassen. Außerdem sieht man einzelne Zellen, sicherlich
bindegewebiger Natur, die ein mehr spindeliges Aussehen zeigen. An den Kapillaren
sieht man nur eine Epithelverdichtung, aber kein Infiltrat. Auch an den Arteriolen
liegt ein oder die andere Körnchenzelle. Die Exsudation erscheint in allererster Linie
in dem adventitiellen Lymphraum. Der Kammerraum erscheint im Innern bereits frei.
An den größeren Arterien sind die Wände vollständig zerklüftet. In einem Gefäß,
das noch im Innern des Herdes liegt und sicher venöser Natur ist, sieht man zahlreiche
lymphoide Elemente an den Wänden, fast gar keine Körnchenzellen, einzelne binde-
9) Arb. a. d. Wiener neurol. Institut 1926, XNXVIIL, 172.
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der multiplen Sklerose. 65
gewebige Elemente, auch einzelne Plasmazellen. Die Glia um das Gefäß herum ist
äußerst dicht und das Gefäß selbst wird von den Gliafüßchen durchbrochen (Abb. 1).
An anderer Stelle sieht man neben den Lymphozytenkernen deutlich ganz kleine
Kerne, wie sie etwa der Mikroglia entsprechen. In den Gefäßen selbst findet sich
nur rotes Blut. Auffallend ist weiters die Tatsache, daß der Prozeß der Infiltration sich
sowohl inner- als außerhalb des Herdes findet, ja außerhalb des Herdes, am Rande
desselben, stärker ist als innerhalb desselben. Weiters ist auffällig, daß die ganze
Gefäßwand von Infiltratzellen durchsetzt ist und daß es hauptsächlich Venen sind,
die diese Infiltrate aufweisen. Es liegt immer die gliöse Randschicht äußerst verdichtet
an der Außenseite der Gefäße. Man kann deutlich Iymphoide, plasmatische und binde-
gewebige Elemente unterscheiden, daneben noch Zellen mit kleinen Kernen, vielleicht
Abb. 1. Infiltrat im lockeren perivenösen Gewebe.
Glia. Auffallend ist immer die starke perivaskuläre Gliose. Die Hirnrinde über diesem
Gebiet ist vollständig frei von Infiltraten. Ein Unterschied zwischen den Infiltraten
im Herde und außerhalb desselben besteht insoferne, als an dem Rande des Herdeg die
Infiltratzellen reicher sind als im Herde selbst. Am Charakter des Infiltrats ist nichts
verändert. Es ist sehr schwer zu entscheiden, ob es sich immer um Venen handelt,
da die Gefäßwände sehr verändert sind, homogenisiert und zerklüftet.
Ein Nisslpräparat läßt die Einzelheiten der Zellen deutlicher hervortreten. Man
sieht die Durchwanderung durch die Gefäßwand. Die Kerne sind verhältnismäßig
klein, einzelne etwas größer, aber nicht den Lymphozytenkern überschreitend. Hier
sind die Plasmazellen viel deutlicher. Ein anderer Herd zeigt vollständig das gleiche
Verhalten. Lymphoide und plasmatische Elemente sind durcheinander gemischt. Sehr
wenige größere Elemente von degenerativeın Aussehen, am ehesten degenerierten
Zellen entsprechend, sind zu sehen, aber nirgends ein Leukozyt wahrzunehmen. Auch
hier ist das Exsudat an den Venen. In anderen Partien ist die Zerklüftung des
Gefäßwände nicht sehr weit gediehen, die Exsudation verhältnismäßig gering. Die
Gefäßwände in den Partien, die am Ventrikel gelegen sind, dort wo die Herde nicht
Arbeiten aus dem Wr. neurol, Inst. XXXII. Bd. 5
66 Dr. Le Roy M. A. Maeder.
so deutlich sich zeigen, sind homogenisiert. Man sieht auch in dieser homogenisierten
Wand, besonders in den Venen, Infiltrate. Hier sieht man dann aber auch ein Infiltrat
an den Kapillaren. Einzelne Partien des sklerotischen Herdes sind ziemlich frei von
Infiltraten und man kann erkennen, daß an den kleineren Arterien eigentlich peri-
vaskulär keine Infiltration ist, an den Venen aber eine deutliche. Von größtem Inter-
esse ist der Umstand, daß die Gefäße des Rindengraues keinerlei Infiltrat zeigt,
trotzdem ein beträchtliches Ödem der Rinde besteht, und daß unter diesem Gebiet,
dort wo die Sklerose im Mark zu sehen ist, sich sofort infiltrierte Gefäße erkennen
lassen. Die Gefäßwandinfiltrate sind nicht in allen Gebieten gleichmäßig. Aber dort,
wo ein Herd ist, vermag man auch die Infiltration sofort wahrzunehmen. Der
Charakter der Infiltrationen ist ziemlich gleichartig. Es sind immer Rundzellen, nicht
sehr ausgesprochene, am ehesten lymphoiden Elementen entsprechend, einzelne
Plasmazellen, zum Teil schon in Degeneration begriffen. Alle Präparate mit sklero-
tischen Partien zeigen die Infiltrate sowohl im Herde als knapp daneben, soweit es
sich um die weiße Substanz handelt. In der grauen Substanz fehlt das Infiltrat.
Auch die Meningen sind über den Herden leicht infiltriert. Hier zeigt sich wiederum,
daß die Arterien eigentlich keine perivaskuläre Infiltration erkennen lassen. Aber
auch um die Venen der oberen Rindenschichten sieht man keine Infiltration. Der
Unterschied zwischen den Gefäßen in dem Rindengrau und dem Rindenweiß, besnnders
dort, wo sich Herde befinden, ist ein in die Augen fallender.
Zusammenfassend läßt sich also sagen:
In einem Falle multipler Sklerose, der fünf Jahre lang bestanden hat und
progressiv war, zeigen sich in den Herden und im Markweiß an den Gefäßen
Infiltrate. Diese Infiltrate setzen sich zusammen aus vorwiegend lym-
phoiden Elementen und Plasmazellen. Leukozyten werden vollständig ver-
mißt, während Bindegewebezellen und Makrophagen sich erkennen lassen.
Diese Infiltrate betreffen vorwiegend die Venen und fehlen in jenen Partien
des Rindengraus, das oberhalb eines sklerotischen Plaques sich ausbreitet.
Ferner ist die Pia über diesen Gebieten infiltriert.
II. Fall (Nr. 4356).
52 Jahre alte Frau, war 18 Jahre krank gewesen, ist gleichfalls an verjauchtem
Dekubitus und eitriger Zystopyelitis gestorben.
Die histologische Untersuchung ergibt: Im Rückenmark, das vollständig ge-
schrumpft ist, findet sich im oberen Lendenmark wiederum in der weißen Substanz,
und zwar nahe der Peripherie, ein perivaskuläres Infiltrat. Das Infiltrat betrifft
vorwiegend die Venen. Es ist weit weniger dicht als im ersten Falle und besteht auch
hier aus kleinen Zellen Iymphoiden Charakters und Bindegewebselementen. Auffallend
ist die verhältnismäßig geringe Beteiligung der Gefäße im Sulcus longitudinalis ventralis.
Auch hier ist die Vene mehr getroffen als die Arterie Am stärksten ist die Infiltration
der Venen in der Pia. Hier kann man eine Vene neben einer Arterie sehen, wobei
die erstere ein Infiltrat, die letztere keine Spur eines solchen aufweist. Es sind auch
hier wieder Plasmazellen, fixe Bindegewebselemente und Iymphoide Elemente, die den
Charakter der Infiltratzellen bilden. Die Pia ist proliferativ verdickt. Zahlreiche Corpora
amylacea an der Pia.
Im Halsmark fehlen Infiltrate sowohl in den Meningen als auch im Mark selbst,
auch an den klassischen Stellen der Infiltratfunde, d. h. gegen die Peripherie der
Herde ist nirgends ein Infiltrat zu sehen.
Im Gehirn zeigt sich in den subependymären Herden, daß die Venen stärker
mit Iymphoiden Elementen gefüllt sind als es der Norm entspricht. Auch dind die
Venenwände kernreicher. Aber eine Infiltration ist nicht zu sehen, vielleicht, daß
die begleitenden Gliakerne etwas angereichert sind. In einem Herde, der seine Akuität
durch Körnchenzellanhäufungen erkennen läßt, sieht man dagegen ein ganz frisches
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der multiplen Sklerose. 67
Infiltrat, das in bezug auf seine Lage ähnlich ist wie in dem ersten Falle, d. h.
sowohl im Herde als auch außerhalb des Herdes. Die perivaskuläre Glia ist verdichtet,
so daß also das Infiltrat im adventitiellen Lyımphraum und von diesem nach außen
zu zu finden ist, nicht aber im Gewebe. Es sind wiederum ganz deutliche Iymphoide
Elemente, Plasmazellen, vereinzelt auch ein oder der andere Makrophag. Auch hier
sind im Gewebe zahlreiche Corpora amylacea. Aber auch die kleinen Iymphoiden
Kerne der Glia sind sehr zahlreich. Immer wieder fällt es auf, daß die Venen die
meisten Infiltrate zeigen, während die Arterien verhältnismäßig geschont sind. Was
nun die Menge der Infiltratzellen anlangt, so ist hier ein Rindenherd ausgewählt
worden und nun zeigt sich folgendes: Die Gefäße im Rindenherd, auch die Arterien,
lassen ein verhältnismäßig geringfügiges Infiltrat erkennen. Je mehr man sich dem
+ Markweiß nähert, desto stärker wird das Infiltrat, trotzdem im Markweiß kein Herd ist.
Die sonst im nicht erkrankten Grau befindlichen Gefäße sind absolut infiltratfrei, viel-
leicht daß ein oder die andere Zelle im adventitiellen Lymphraum zu finden ist, so daß
man also sagen kann, daß die Infiltrate auf den Herd und dessen Umgebung beschränkt
sind, Umgebung insoferne, als die weiße Substanz in Frage kommt. Die graue Substanz
zeigt kein Infiltrat an den Gefäßen. Subependymär kann man an einer Stelle eine
besonders dichte Iymphoide Anhäufung wahrnehmen. Im Gegensatz dazu ist die Rinde
über diesen Partien vollständig frei. Auch die Meninx ist nicht sonderlich infiltriert.
Dies gilt wiederum besonders für die Arterien, die keinerlei wie immer geartete
Infiltrationen in diesen Gebieten erkennen lassen. Im Verhältnis zu der relativen
Jugend muß man eine schwere Arteriosklerose kunstatieren und eine ziemlich starke
Erweiterung der Venen.
Zusammenfassung.
In den frischen Herden im Lumbalmark sowie im Großhirn, besonders,
subependymär, aber auch im Kortex selbst, deutliche perivaskuläre Infiltrate
von Iymphoiden Zellen, Plasmazellen, Bindegewebselemente und einzelne
Makrophagen. In der Umgebung der Infiltrate, die sich außen und auch im
Innern eines alten Herdes, besonders um die Venen, weniger in den adven-
titiellen Räumen oder Arterien finden, sind diese Elemente zu sehen. Im
Gehirn ein dichter Gliaring an den Gefäßen. Die infiltrierten Gefäße finden
sich auch am Rande der Herde, aber nicht sehr weit ins Gewebe vordringend.
Sie sind besonders in der weißen Substanz, lassen sich aber auch gering-
fügig in einem Herde der grauen Substanz der Rinde nachweisen. Die
Umgebung dieses Herdes ist vollständig infiltratfrei, soweit die graue Sub-
stanz in Frage kommt, nicht aber, soweit die weiße Substanz in Betracht
zu ziehen ist. Die Meningen sind hier auffallend frei. Es muß betont werden,
daß diese Infiltrationen nicht in allen untersuchten Herden zu finden sind,
daß sie im Halsmark z. B. vollständig fehlen, aber auch in einzelnen Partien
der Rindenherde.
IH. Fall (Nr. 4325).
19 Jahre alte Frau, 6 Monate krank, gestorben an schwerem Dekubitus und
eitriger Bronchitis.
Hier stand uns nur ein kleines Stückchen aus dem Gehirn zur Verfügung,
und zwar von einer typischen Sklerose, bei der aber reichlich plasmatische Glia
zellen nachzuweisen waren, während auf der anderen Seite der Prozeß bereits den
Ausgang in einer typisch fibrillären Sklerose aufwies. Das Stück ist subependymiär
und es zeigt sich neben einem deutlichen Ödem, daß die Arterien des Subependyms
wohl schwer geschädigt sind, aber keinerlei Infiltration aufweisen. Dagegen sicht
man eine deutliche Infiltration an den Venen. Auch der Veneninhalt enthält wesentlich
5“
68 Dr. Le Roy M. A. Maeder.
mehr weiße Blutkörperchen als es der Norm entspricht. Man sieht deutliche Leuko-
zyten, die nach einer Seite hin gelagert erscheinen. Auch durch die Wand durch
tretende Leukozyten kann man wahrnehmen. Aber auch hier sind schon in der Gefäß-
wand selbst die Ivmphozytären Elemente in der Überzahl, daneben einzelne große
Monozyten. Auch die Glia an den Kapillaren ist vermehrt. An anderen Gefäßen sieht
man die Randstellung der Leukozyten sehr deutlich, ohne daß es zu einer Aus-
wanderung kommt. Auch lange blasse Kerne, wie von Endothelien herrührend, sind
an den Gefäßwänden wahrzunehmen. Auch hier wiederum ist zu betonen, daB die
Hauptmasse der Gefäße mit Infiltrationen im Herde sind oder in der nächsten Um-
gebung des Herdes, und daß die Arterien verhältnismäßig, gegenüber den Venen und
auch den Kapillaren, ein geringeres Infiltrat oder kein Infiltrat erkennen lassen.
Zusammenfassung.
Die wenigen Präparate dieses Falles zeigen nichts von den vorbe-
schriebenen Fällen Abweichendes. Sie lassen nur erkennen, «daß hier das
Exsudat ein offenbar jüngeres ist, da es noch die Leukozytenauswanderung
im ganz frischen Herde zeigt.
IV. Fall (Nr. 4341).
55 Jahre alter Mann, über 10 Jahre krank. Fitrige Zystopyelitis und Bronchitis
wird als Todesursache angegeben. Im Rückenmark zeigen sich typische Skleroseherde,
die an Weigertpräparaten den klassischen Charakter der alten Sklerose erkennen
lassen. Es zeigt sich in diesen Partien die Pia mater verdickt, aber kaum infiltriert.
Es ist eine schwartige Verbreiterung. Die Gefäße im Sulkus sind verhältnismäßig frei.
„m Sulkus ist die Pia mater etwas aufgelockert und dort auch ein wenig zellreicher.
Zahlreiche Corpora amylacea. Nur an einem einzigen Gefäß in der weißen Substanz
sind einzelne Infiltratzellen zu sehen, typisch Iyınphoiden Charakters.
Auch in den anderen Rückenmarkssegmenten sieht man nichts mehr von Ent-
zündung. Es zeigt sich nur eine deutliche Veränderung der Gefäßwände im Sinne
einer diffusen Homogenisation und blasser Färbung mit Eosin. Am nächsten Schnitt
ist diese Veränderung in hyaliner Umwandlung. Ein mächtiger Herd im Gehirn zeigt
wiederum an einer Vene, aber nur ganz am Rande, eine ganz minimale Spur von
Exsudatzellen. Auch im Inneren dieses Herdes findet sich an einem Gefäß, das eher
einer Arterie gleicht, eine zellige Anhäufung. Doch sind hier fast durchwegs Makro-
phagen zu sehen. Lymphoide Elemente werden nahezu vermißt. Auch die Kapillaren
zeigen keinesfalls irgend welche Vermehrung der Glia am Rande. Nur an einer einzigen
Vene sieht man ein etwas dichteres Infiltrat der Wand, das mehr Iymphoide Elemente
enthält. Ein subependymärer Herd ist wiederum sehr schön, weil er die Arterien
frei zeigt und nur eingescheidet ist von einem dichten Gliamantel mit runden
Körperchen von Pseudokalk.
‘Geht man an den Rand dieses Herdes, so sieht man wiederum an einer Vene
ganz deutlich ein sehr reichliches Infiltrat. Es sind wiederum vorwiegend Iymphoide
Elemente, ein paar protoplasmatische, ein oder die andere eosinophile Zelle und
Zellen, die epitheloiden Charakter besitzen, scheinbar zugrunde gehen. Auch einzelne
Makrophagen finden sich (Abb. 21. Das Nisslpräparat zeigt ähnliches. Hier wäre noch
aufmerksam zu machen auf die Eigenartigkeit, daß im Gewebe selbst die kleinen
Gliazellen angereichert erscheinen, ohne jedoch zur Knötchenbildung oder Neurono-
phagie in Beziehung zu treten.
Zusammenfassung.
In diesem Falle wurden vorwiegend ganz alte, schon vollständig ausge-
heilte Herde untersucht, in denen sieh nebeneinander, besonders im Rücken-
mark nicht, Zeichen einer Entzündung erkennen ließen. Dagegen fanden
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der multiplen Sklerose. 69
sich in einem subependymären Herde des Gehirns, der gleichfalls schon
nahezu ausgeheilt war, deutliche Infiltrationen der Venenwand, aber nur in
der Peripherie, während an den Arterien nur Körnchenzellen nachzuweisen
waren. Auch hier sind die Grefäßwände schwerst verändert.
V. Fall (Nr. 4375).
53 Jahre alte Frau, 5 Jahre krank, starb an typischem Dekubitus, eitriger
Bronchitis und Pneumonie.
Deutliche Meningofibrose ohne Zeichen einer frischen Entzündung. Fast der
ganze Querschnitt ist sklerotisch. Keine Spur einer Entzündung an den Sulkusgefäßen.
Auch sonst sieht man im Gebiet der Herde keine frische Entzündung. Das ganze
Per;
Abb. 2. Reichliches Infiltrat einer Venenwand,
Dorsalmark ist geschrumpft, atrophisch, ganz dem Typus einer abgelaufenen Sklerose
entsprechend.
Im Halsmark zeigt sich die Pia bereits ein wenig infiltriert und es zeigt sich
auch hier wiederum eine Zerklüftung der Venenwände in der Pia mit eingelagertem
Zellen verschiedenen Charakters. Es ist interessant, daß die Arterien der Pia und
des Sulkus frei von einem Infiltrat sind, während die daneben gelegenen Venen
deutliche Infiltratzellen aufweisen. Die Intimazellen sind etwas gebläht und springen
in das Lumen vor. Ihre Kerne sind abgeblaßt. In der Venenwand sieht man auffallend
helle Kerne und Monozyten, aber auch Iymphoide Elemente. Die Monozyten sind noch
unverändert. Im Gefäß selbst sind deutliche Lymphozyten nachzuweisen. In einem
Gebiet. das oberhalb der Halsanschwellung sich befindet, sieht man nur einen einzigen
Herd. Dieser Herd liegt entsprechend dem hinteren Drittel des Seitenstrangs. Die Meninx
ist auch hier in toto etwas infiltriert. Auch hier sind in der Meninx die Venenwände
infiltriert, die Arterien frei, keinesfalls nur im Gebiet des Herdes, sondern ein wenig
auch über das Gebiet des Herdes hinaus. In diesem Falle finden sich zahlreiche Herde
70 Dr. Le Roy M. A. Maeder.
am Ventrikel. Die Färbung dieser Herde, die zum Teil ganz am Ventrikel gelegen waren,
ergibt, daß sie größtenteils alt sind. Sie sind am Unterhorn des Seitenventrikels. Nur
an den Randteilen sind sie etwas frischer und hier zeigt sich deutlich ein perivasku-
läres Infiltrat, das aber keinesfalls sehr intensiv ist, sondern nur strichweise. Es sind
wieder die Iymphoiden Elemente, die die Venen besetzen. Einzelne Makrophagen sind
zu sehen. An einer benachbarten Arterie sieht man ebenfalls Zellen im adventitiellen
ILymphraum, vorwiegend Makrophagen. In einem zweiten Herde im Ependym ist dieses
Bild noch deutlicher. Hier ist eine Vene strotzend mit Blut gefüllt und in dem peri-
venösen Gebiet sieht man deutlich eine Anhäufung von lymphoiden Elementen und
einzelnen spindeligen Zellen. Hier ist kein Makrophag zu sehen. Auch eine Arterie
in diesem Gebiet zeigt noch im adventitiellen Raum Iymphoide Elemente. Das Infiltrat
ist lediglich auf den Herd und die nächste Umgebung beschränkt. Die Kapillaren sind
infiltratfrei. Es zeigt sich nur in der Nähe der kleinen Gefäße eine Infiltration haupt-
sächlich an den Venen, die alle gestaut sind.
Zusammenfassung.
Alte multiple Sklerose. In den Partien, wo der Prozeß schon zur schweren
Schrumpfung geführt hat, wie im Dorsalmark, ist nicht einmal in den
Meningen ein Infiltrat. Dort, wo der Prozeß frischer ist, typisches Infiltrat
wie in den früheren Fällen, sowohl in den Meningen als hauptsächlich in den
zerklüfteten Venenwänden. Um die Arterien mehr Makrophagen.
VI. Fall (Nr. 4174).
52 Jahre alte Frau. Beginn der multiplen Sklerose nicht sicherzustellen, jedoch
über viele Jahre dauernd. Der Prozeß sieht klinisch eher wie eine diffuse Sklerose
aus. Patientin geht an Dekubitus und Pneumonie zugrunde. Es findet sich eine typische
multiple Sklerose mit einer hochgradigen Schrumpfung des Rückenmarks.
Meningofibrose. In den alten Skleroseherden und auch in den Meningen keine
Spur von Infiltratzellen. Die Gefäßwände sind alle schwer verändert, und zwar im
Sinne der hyalinen Wandveränderung, die Venen gestaut.
Im Gehirn sind die Herde frischer. Hier ist ganz charakteristisch wieder zu sehen,
daß die Arterien frei sind und die Venen perivaskuläre Inliltrate aufweisen, aller-
dings verhältnismäßig geringfügig (Abb. 3). Die Herde sind wiederum subependymär
und nur an den Rändern noch frisch. Die sehr spärlichen Infiltrate sind wie in den
früheren Fällen. Keine Leukozyten. Die Gefäßwände sind schwerst verändert. Die
Infiltrate finden sich lediglich an einzelnen Venen, und zwar in jenen Gebieten, wo
der Prozeß noch nicht vollständig abgeklungen ist. Das gilt für alle Partien. Es sind
immer Iymphoide Elemente, hie und da eine Plasmazelle oder eine eosinophile Zelle,
Bindegewebszellen, hie und da ein Makrophag. Die Kapillaren sind frei.
Zusammenfassung.
Alter Fall, bei dem sich nur an den Randstellen der Herde um die Ven-
trikel geringfügige Infiltrate des gewohnten Charakters zeigen.
VIL Fall (Nr. 4351).
53 Jahre alte Frau, die über 13 Jahre krank ist. Typische multiple Sklerose,
gestorben an schwerstem eitrigem Dekubitus, Zystopyelitis, Pneumonie. Auch hier
ist das Rückenmark geschrumpft, zeigt die typische Meningofibrose. Die Gefäßwände
sind auffallend sklerotisch, die Gefäße selbst erweitert. Kein Zeichen einer Entzündung.
Im Halsmark zeigt die Meninx bereits eine Spur Infiltrat, aber kaum nennenswert,
und auch nur lokalisiert. Eine Gefäßinfiltration wird auch hier vermißt. Nur an einer
einzigen Stelle, und zwar im Hinterstrang, zeigt sich am Rande eines Herdes ein Gefäß,
das von Zellen eingescheidet ist. Es handelt sich hier aber mehr um spindelige Zellen,
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der multiplen Sklerose. 71
so daß man am ehesten einen proliferativen Prozeß annehmen kann, sicher keine
Rundzellen. Der Prozeß ist ein auffallend alter.
Abb. 3. Links Arterie, rechts oben Vene mit Wandinfiltrat, rechts unten Arterie.
Man beachte die Wandverdickungen.
Abb. 4. Wandinfiltrat einer Vene mittlerer Intensität.
Im Gehirn zeigt sich an den Meningen deutlich eine Anhäufung von Infiltrat-
zellen, vorwiegend Makrophagen, aber auch Iymphoide Elemente über den Herden.
Das Rindengrau ist vollständig frei. Der Herd befindet sich im Mark. Man sieht an
72 Dr. Le Roy M. A. Maeder.
einzelnen Gefäßen eine leichte perivaskuläre Zellanhäufung. Aber es sind fast aus-
schließlich Körnchenzellen. Nur an einzelnen Gefäßen kann man noch außer den
Körnchenzellen Iymphoide Elemente wahrnehmen. Wiederum sind es die Venen, welche
die Iymphoiden Elemente am deutlichsten zeigen (Abb. 4). Man kann auch hier
Elemente mit einem großen hellen Kerne erkennen, die am ehesten degenerierenden
Zellen angehören, deutliche Körnchenzellen, die aber gegenüber den anderen Zellen
wesentlich in den Hintergrund treten.
In diesem Falle finden sich auch Herde ganz nahe der Oberfläche des Gehirns,
und zwar verhältnismäßig frische Herde. Und da zeigt sich auch hier wiederum, daß
der Herd die graue Substanz verschont und die weiße Substanz bevorzugt, und daß
dort, wo er frisch ist, das Infiltrat an den Venenwänden deutlich in Erscheinung tritt.
Auffälligerweise sind die Kapillaren hier vollständig frei, dagegen die Arteriolen
gleichfalls von Infiltratzellen, wenn auch in geringem Maße besetzt. Nirgends ist ein
Leukozyt wahrzunehmen. Es ist immer das gleiche Bild der Iymphoiden Ansammlung
in den Maschen der Venenwand und an deren Peripherie, nur vereinzelte Makro-
phagen, einzelne mit Vakuolen oder Monozyten sind nachweisbar. Hier kann man
auch noch in den Gefäßen zahlreiche Iymphoide Körperchen sehen, reicher als es der
Norm entspricht.
Zusammenfassung.
Hier ist der Prozeß im Rückenmark ebenfalls vollständig erloschen,
zeigt nirgends Zeichen eines Infiltrats, während im Gehirn, und zwar
besonders in der Hirnrinde, aber auch im Ventrikel, noch Zeichen die
Akuität erkennen lassen. Im Wesen ist der Prozeß der gleiche wie in den
übrigen Fällen.
Wenn ich meine sieben Fälle überblicke, so sind sie deshalb von Be-
deutung, weil in sechs die Dauer der Krankheit mit einer gewissen Sicher-
heit festzustellen ist: 6 Monate, 5 Jahre, 10 Jahre, 13 Jahre, 18 Jahre,
also sicherlich Fälle, besonders die letzteren, die man als chronische be-
zeichnen kann.
Es zeigt sich nun ein Doppeltes. In der Mehrzahl der Fälle sind die
vollständig sklerotischen Herde auch vollständig frei von jedem Infiltrat.
Auch die Meningen, die gewöhnlich eine Fibrose erkennen lassen, sind in
diesen Partien infiltratfrei. Dort aber, wo der Prozeß noch nicht absolut
beendet ist, zeigt sich — und das ist vorwiegend im Gehirn der Fall,
weniger im Rückenmark — ein deutliches Gefäßwandinfiltrat. Es ist nun
ganz charakteristisch, daß dieses Infiltrat in dem Falle, der 6 Monate ge-
dauert hat, genau den gleichen Charakter besitzt als in jenem, der 18 Jahre
gedauert hat. Es ist weiters zu bemerken, daß die Infiltrate weniger an den
Arterien als an den Venen zu finden sind, an den Kapillaren vollständig
mangeln. Es sind die mittelgroßen und größeren Venen, die die Infiltrate
am deutlichsten zeigen.
Was nun die Lokalisation des Infiltrats anlangt, so sitzt es in den
Gefäßwänden und nie im Gewebe. Es zeigt sich ferner, daß die infiltrierten
Gefäße entweder in den Randteilen des Herdes sitzen oder in dessen nächster
Umgebung. Nie aber läßt sich eine diffuse Infiltration an (Gefäßen zeigen,
die etwa in normalem Gewebe weitab von einem Herde gelegen sind. Fast
kann man sagen, daß ein Gleiches auch für die meningeale Infiltration gilt.
Auch der Charakter des Infiltrats ist vollständig identisch mit dem von
Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der multiplen Sklerose. 73
Anton und Wohlwill besonders hervorgehobenen. Hier zeigt sich das
Iympboide Element oder der Polyblast an erster Stelle. Sicher sind Plasma-
zellen vorhanden, hie und da eine eosinophile Zelle, Monozyten und einzelne
Makrophagen. Kaum je aber wurde ein Leukozyt gefunden, dagegen ist es
nicht unwahrscheinlich, daß wenigstens nach den Kernen auch einzelne
bindegewebige Zellen das Infiltrat verstärken. Ein Übergreifen des Infiltrats
auf das Gewebe ist nicht nachzuweisen. Der Befund entspricht also nahezu
völlig jenem von Pette, z. B. bei den akuten Fällen erhobenen.
Damit ist die völlige Identität der als akute Fälle beschriebenen multiplen
Sklerosen mit jenen der chronischen in bezug auf die (tefäßreaktion sicher-
gestellt. Man muß nur einem Einwurf begegnen. In all den untersuchten
Fällen ist der Tod durch einen septiko-pyämischen Prozeß eingetreten. Es
wäre nun nicht von der Hand zu weisen, daß die Infiltration durch diesen
sekundären Prozeß bedingt wurde, zumal wir wissen, daß sich bei bestehen-
den zerebrospinalen Affektionen eine sekundäre Infiltration besonders in der
Gegend schon bestehender Destruktion fühlbar macht. Man hätte doch sonst
nicht nur in den akuteren, sondern auch in den anderen Herden irgendwie
Zeichen eines septischen Prozesses finden müssen, der nirgends in irgend
einer Weise hervorgetreten ist. Man wird wiederum annehmen müssen, daß
die von mir gefundenen Infiltrate Ausdruck der ursächlichen Krankheit sind
und darin einen Beweis erblicken, daß die als chronisch bezeichneten Fälle
multipler Sklerose in bezug auf das Infiltrat vollständig dem der akuten
Fälle gleichen. Es scheint deshalb an der Zeit, den Namen multiple Sklerose
aufzugeben und den ursprünglichen Vorschlag Marburgs, die Krankheit
als Encephalomyelitis periaxialis seleroticans zu bezeichnen, anzunehmen.
Zur Pathologie der multiplen Sklerose.
(Beziehung der sogenannten chronischen Fälle zu den akuten.)
Von
Dr. Masamichi Toyama (Tokio).
Mit 6 Abbildungen im Texte.
Seitdem Guillain in seinem großen Referat das wesentlichste über
die multiple Sklerose zusammengefaßt hat, ist die Diskussion über dieselbe
in ruhigere Bahnen gelenkt worden. Und die umfassende Arbeit Gour-
nands aus der Klinik Guillains hat neuerdings vieles klargelegt, was
bezüglich der akuten multiplen Sklerose fraglich war. Es hat zwar nicht
an Stimmen gefehlt, welche die akute multiple Sklerose trotz ihrer unver-
kennbaren Zusammengehörigkeit zur echten multiplen Sklerose in Zweifel
gestellt haben (z. B. Anton und Wohlwill, Redlich, um nur die Prominen-
testen hervorzuheben), aber die Mehrzahl der Autoren steht heute auf dem
Standpunkt, daß die scheinbare Akuität des Prozesses den Charakter des-
selben nicht bestimmt. Es erscheint freilich vorteilhafter, hier histologisch
vorzugehen und zunächst zu zeigen, was Marburg bewogen hat, die akute
und chronische Form der multiplen Sklerose zu identifizieren. Im Vorder-
grund der Beweise steht die Tatsache des eigenartigen Markzerfalls, der bei
beiden Prozessen gleich ist und der sich am leichtesten auch histologisch
nachweiser. läßt durch die Überschwemmung des zerstörten Gewebes mit
Abräumzellen. Diese Fettkörnchenzellherde, vorwiegend gliogener Natur, sind
so charakteristisch, daß man schon aus ihrer Art allein auf die Zugehörigkeit
dieser Prozesse schließen kann.
Bezüglich dieser Fettkörnchenzellen finden wir schon in der Arbeit von
Anton und Wohlwill eine Äußerung, nämlich die, daß sich die Fettkörnchen-
zellen in den chronischen Fällen verhältnismäßig lang halten können, wobei
aber die Fettsubstanz in ein alkoholunlösliches lipoides Pigment umge-
wandelt wird, so daß wir also annehmen, daß das Vorhandensein solcher
Zellen nicht unbedingt für einen frischen Herd spricht.
Nun haben wir aber in der Färbbarkeit der Fetttröpfehen mit Osmium
einerseits und der Scharlachrotfärbung anderseits doch ein wenn auch
nicht ganz zuverlässiges Merkmal, den Zeitpunkt des degenerativen Prozesses
zu bestimmen. Wir wissen, daß die Osmiumfärbbarkeit der lipoiden Ein-
lagerungen das Primäre und die Scharlachrotfärbbarkeit das Sekundäre ist.
Die alkoholunlöslichen Produkte, die ja schon Obersteiner in den Glia-
zellen des alternden Gehirns beschrieben hat, charakterisieren sich zumeist
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 75
schon dadurch, daß bei Osmiumfärbung die einzelnen Granula eine mehr
bräunlichgelbe Farbe annehmen. Aber selbst wenn Osmium färbbare Fett-
körnchenzellen auch monatelang in Herden sich finden, so kann man doch,
wenn man solche Herde mit anderen vergleicht, feststellen, daß diese
letzteren ohne die Körnchenzellen die älteren, die mit Fettkörnchenzellen
die jüngeren Herde sind. Als besonderes Charakteristikum der multiplen
Sklerose wird dann von Wohlwill in seiner bekannten Arbeit über die
Masern-Enzephalomyelitis angeführt, daß die Herde der Sklerose Hohlzylinder
um die Gefäße bilden, wobei diese auf eine scharf umschriebene Strecke
beschränkt bleiben, daß ferner das deutliche Abflauen aller Erscheinungen
nach der Herdperipherie etwas dem multiplen Skleroseherd gänzlich fremdes
ist. Er schreibt wörtlich: „Dieser ist in der Lage in seinen gesamten Gebiet
von gleichartiger Beschaffenheit und zeigt höchstens am Rande eine schmale
Übergangszone.‘‘ Gegen diese Anschauung Wohlwills kann man bereits
eine Bemerkung von Hassin anführen, der im Herd eine zentrale und eine
Übergangszone beschreibt. Er findet, daß eine große Anzahl von mit Gitter-
zellen infiltrierten Blutgefäßen charakteristisch für diese Übergangszonen
ist, und daß man an diesen Übergangszonen, wie ja natürlich, auch zahlreiche
Marchischollen findet, da ja hier der Untergang des Nervengewebes am
stärksten ist. Man findet es dort in den verschiedensten Stadien der Degene-
ration, ohne daß sich eine Verschiedenheit der reaktiven Körnchenzellbildung
gegenüber der sekundären Degeneration zeigt, wie sie Jakob beschrieben hat.
Hassin hat dann mit Bassoe versucht, multiple degenerative Er-
weichungsprozesse von der multiplen Sklerose abzutrennen, wobei er meint,
daß solche Prozesse als akute multiple Sklerose oder maligne multiple
Sklerose oder degenerative Enzephalitis beschrieben wurden. Das Wesent-
lichste erscheint an diesem Einzelfall aber doch der Umstand, daß die
Autoren — wenn auch kaum merkbare — entzündliche Reaktionen an den
Gefäßen nicht leugnen können, wie es schließlich auch aus den Abbildungen
hervorgeht, so daß man diesen Fall trotz seiner Besonderheit in der Gruppe
der akuten Sklerose oder besser — um diesen Ausdruck bei den akuten
Fällen zu vermeiden — als Encephalomyelitis periaxialis scleroticans acuta
bezeichnen wird.
Jakob stellt sich in seiner Untersuchung akuter Fälle und eines
chronischen Falles ganz auf den Standpunkt von Marburg, indem er die
Unität der beiden Formen anerkennt. Auch Pettes Untersuchungen lassen
nur den Schluß zu, daß die akuten und chronischen Fälle der Sklerosis
multiplex eine Einheit darstellen.
Weizsäcker verweist auf die Vielfältigkeit in der Reaktionsweise der
Gewebe, die bei einheitlicher Ätiologie manche anatomische Verschieden-
heiten zu erklären vermögen, wie dies ja auch Spielmeyer bezüglich der
multiplen Sklerose bereits getan hat, indem er auf die verschiedene Art der
Reaktionsweise der weißen und der grauen Substanz hinweist. Das aber
ist wohl kein Grund, die Grenzen zwischen den sklerosierenden Enzephalitiden
und denen der anderen Gruppen zu verwischen. Es scheint, als ob ein Teil
76 Dr. Masamichi Toyama.
der Autoren hauptsächlich dadurch irregeführt wird, daß manche Lokalisa-
tionen der multiplen Sklerose zu einem raschen Exitus führen, wie z. B.
der Fall mit primärer medullärer, resp. ponto-zerebellarer Lokalisation.
Hier ist die Vernichtung lebenswichtiger Zentren die Ursache des raschen
Zugrundegehens.
Die Untersuchungen von Falkiewicz ergeben, daß gerade das, was
Wohlwill für die multiple Sklerose behauptet, bei den älteren Fällen nicht
zustimmt. Hier nimmt die Infiltration meningealwärts, das ist also gegen
die Peripherie hin, zu. Er findet bei seinen Rückenmarksuntersuchungen
Hauptinfiltrate im Sulcus longitudinalis ventralis. Er meint, daß der Prozeß
im eigentlichen Parenchym am ältesten ist. (Gerade der Umstand, daß die
Infiltrationen bei älteren Herden in den vorderen Spinalgefäßen und in den
Meningen sich finden, legt ihm den Gedanken nahe, daß die Mesoderm-
reaktion etwas Sekundäres sei, der Parenchymzerfall das Primäre.
Ich will im folgenden absolut nicht auf eine Diskussion der Existenz
einer selbständigen Enzephalomyelitis, die trotz Ähnlichkeiten mit der multiplen
Sklerose von ihr zu trennen ist, eingehen, will umgekehrt versuchen zu
zeigen, daß in eminent chronischen Fällen von multipler Sklerose noch immer
akute Zerfallsprozesse nachweisbar sind, und zwar an Stellen, denen die
klinische Progression entspricht. Ich habe zuerst den akuten Zerfall zu er-
weisen versucht mit der nachfolgenden Sklerosierung und habe zu diesem
Zwecke allen Untersuchungen zunächst Präparate mit Marchifärbung zugrunde
gelegt. Selbstverständlich wurde ein Teil dieser Präparate, besonders jener,
bei dem sich Körnchenzellen fanden, auch mit Scharlachrot gefärbt. Ich
möchte im folgenden zunächst die Befunde im einzelnen anführen.
I. Fall (Nr. 4325).
A. W. Die Familienanamnese ist belanglos. Angeblich ist die Patientin im ganzen
erst seit 6 Monaten krank. Es ist allerdings auffällig, daß schon damals neben einer
Schwäche der Beine, die sich in einer Gehstörung zum Ausdruck bringt, eine Sprach-
und Blasen- und Mastdarmstörung zeigte. Jedenfalls ist von einer allmählichen Ent-
wicklung nichts erwähnt, sondern der Zustand ziemlich plötzlich in Erscheinung
getreten.
Bei der Untersuchung zeigte sich, daß die Patientin körperlich sehr herunter-
gekommen war und außer einer skandierenden Sprache keinerlei Störungen der Hirn-
nerven bot. Die grobe Kraft der oberen Extremitäten war herabgesetzt, hochgradiger
Intentionstremor beim Finger-Nasenversuch; hochgradige Hypotonie der oberen Extre-
mitäten mit Hyperextension der Finger und Umschlagen in eine Hypertonie. Fehlen
der Bauchdeeckenreflexe, völlige Lähmung und Hypertonie der unteren Extremitäten.
Auch hier gelegentlich Auftreten tonischer Erscheinungen der Muskulatur. Die Sehnen-
reflexe klonisch. Beiderseits Babinski und Rossolimo positiv. Retentio urinae. Die
Sensibilität erweist sich als normal.
Zirka zwei Monate vor dem am 9. Oktober 1929 erfolgten Tode traten Anfälle
epileptiformen Charakters auf, die drei bis vier Minuten dauerten und unter Brom-
medikation schwanden. Es entwickelte sich bei der sehr kachektischen Patientin ein
Dekubitus über dem Kreuzbein und «dem rechten Trochanter. der rasch verjauchte.
Es traten Temperatursteigerungen auf, Somnolenz und unter den Erscheinungen einer
eitrigen Bronchitis trat der Tod ein.
Abgesehen von den ceben erwähnten Veränderungen fand sich eine parenchy-
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 77
matöse Degeneration der Organe, eine hämorrhagische Kolitis und chronische Zystitis.
Sowohl die klinische als auch die anatomische Diagnose lautete multiple Sklerose.
Der histologische Befund in diesem Falle ergibt zunächst im Rückenmark an
einer beliebigen Stelle des Brustmarks, daß nahezu der ganze (Querschnitt in einen
sklerotischen Herd umgewandelt ist. Man kann hier schon erkennen, daß die Herde
verschiedenen Alters sind, und zwar kann man das an dem Verhalten der Fett-
körnchenzellen wahrnehmen. So findet sich ein keilförmiger Herd mit unregelmäßiger
ventraler Begrenzung symmetrisch in den Seitensträngen. Er ist aber auf der einen
Seite wesentlich ärmer an Körnchenzellen wie auf der anderen. Auch im Vorderstrang
findet sich ein kleiner Herd, der nur wenige Körnchenzellen enthält. Auch dieser
Herd ist symmetrisch. In den Hintersträngen sind gleichfalls symmetrische Herde mit
Abb. 1. Körnchenzellenmantel an den Gefäßen. Beginnende Reinigung eines Herdes.
reichlichen Körnchenzellen. Die Gefäße der Umgebung zeigen sich perivaskulär einge-
scheidet von Körnchenzellen, so daß also hier der Abtransport bereits lebhaft im
Gange war. Die Wurzeln sind auffallend intakt. Ein anderes Segment läßt erkennen,
daß die sklerotischen Herde im Hinterstrang nahezu völlig gereinigt sind und man
kann nur ganz wenige Körnchenzellen in der Umgebung der Herde wahrnehmen.
Dagegen ist im Vorderseitenstrang auf «der einen Seite ein vollständig frischer Herd,
auf der anderen Seite ein ebensolcher im mittleren Abschnitt des Seitenstrangs,
während der hintere Abschnitt des Seitenstrangs der einen Seite wiederum einen
nahezu vollständig gereinigten Herd erkennen läßt.
Ein ganz Analoges zeigt sich im Großhirn. Hier liegen ganz frische Herde neben
bereits gereinigten oder sich reinigenden, daran erkennbar, daß die Gefäßscheiden
strotzend mit Körnchenzellen gefüllt sind (Abb. 1). Da die gereinigten Herde keine
Lückenfelder aufweisen, sondern deutlich sklerosiert sind, so kann man sie nur als alte
oder ältere Herde bezeichnen.
Es wurden nach dieser Richtung hin die verschiedensten Partien des Gehirns
untersucht und es zeigte sich immer das gleiche Bild. Ganz akute Herde, dicht gefüllt
78 Dr. Masamichi Toyama.
mit Körnchenzellen neben Herden, bei denen der Abtransport der Körnchenzellen deut-
lich an den Gefäßen zu sehen war, und Herde, bei denen die Körnchenzellen fast
vollständig fehlten, und nur in der allernächsten Umgebung, dort wa frische Herde
benachbart sind, sich noch Körnchenzellen fanden.
Wir können also in diesem scheinbar akuten Falle drei verschiedene
Arten von Herden nebeneinander finden.
1. Herde mit schwersten Zerfallserscheinungen, dadurch charakterisiert,
daß sie strotzend mit Körnchenzellen erfüllt sind,
2. Herde, bei denen die Körnchenzellen sich nur mehr perivaskulär
finden und schließlich
3. Herde körnchenzellfrei. Da diese Herde auch von akuten umgeben
sind, so läßt sich nicht entscheiden, ob nicht in der Umgebung dieser voll-
ständig sklerosierten Herde nicht doch noch Fettkörnchenzellen gefunden
worden wären.
Die Untersuchung dieser akuten Herde mit Scharlachrot ergibt, das die
Körnchenzellen vollständig erfüllt sind von rotgefärbten Granulis. Die Haupt-
masse der Präparate aber zeigte sich mit Osmium nach Marchi schwarz
gefärbt.
II. Fall (Nr. 4315).
Ist der erste Fall angeblich nur 6 Monate lang krank gewesen, was mit dem
anatomischen Befund in gewissem Maße im Widerspruch steht, so ist der zweite Fall
von längerer Dauer. E. B., ein 50 Jahre alter Mann, geb. im Juli 1879, verstorben
Mitte August 1929, bemerkte schon im Jahre 1924, daß er, der bis dahin scheinbar
gesund war, das linke Bein nachzieht. Seine Anamnese ist belanglos. Im Jahre 1925
ist das Sehvermögen erheblich gestört. Sonst eigentlich nichts von Belang. Die Geh-
störung vertieft sich mehr und mehr. Schließlich kann der Patient im Jahre 1929,
und zwar von Anfang Februar an, überhaupt nicht mehr gehen und es entwickeln
sich bei ihm Kontrakturen der Beine. Da ein Dekubitus auftrat, wurde er ins Wasser-
bett gebracht und wurde 19 Wochen im Wasserbett behandelt. Erst am 19. Juli 1929
wird der Patient in das Versorgungsheim der Stadt Wien gebracht und es ergibt
sich, daß, abgesehen von einem horizontalen Nystagmus, die Hirnnerven frei waren.
Die oberen Extremitäten zeigen eine Herabsetzung der groben Kraft, Spastizität; die
Sensibilität ist vollständig intakt, deutliche Ataxie bei Finger-Nasen- und Finger-
Fingerversuch. Auch die Diadochokinese ist links gestört. Der Kranke kann sich aus
der Rückenlage nicht erheben. Die Bauchdeckenreflexe fehlen beiderseits. Die unteren
Extremitäten zeigen eine Flexions- und Adduktionskontraktur. Die Motilität ist nur im
Sprung- und Zehengelenk möglich. Auch hier ist die Sensibilität intakt. Deutliche
Steigerung der Reflexe. Fußklonus. Links positiver Babinski, tiefgreifender Dekubitus.
Der Patient bekommt am 10. August eine Lobulärpneumonie und stirbt am 17. Au-
gust 1929.
Der Obduktionsbefund ergibt hier, wie im ersten Falle, neben dem tiefgreifenden
Dekubitus eine Pleuropneumonie und eine parenchymatöse Degeneration der Organe.
Auch hier zeigt sich bereits bei der Obduktion der klare Befund einer multiplen
Sklerose sowohl im Wückenmark als im Gehirn, besonders in der Umgebung der
Ventrikel. Auch die klinische Diagnose lautet auf multiple Sklerose.
Wenn wir nun in diesem Falle die Präparate durchmustern, so zeigt sich, um auch
hier wieder vom Dorsalmark auszugehen, ein sehr ähnliches Bild wie in dem ersten
Falle, nämlich Herde in den Hintersträngen, besonders in den Randpartien, noch voll
besetzt von Körnchenzellen. Ein Herd im Seitenstrang zeigt gleichfalls in den Rand-
partien nicht nur perivaskulär, sondern diffus Körnchenzellen. Auch im Vorderstrang
der einen Seite ist ein Körnchenzellherd, daneben befinden sich aber Herde, die von
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 79
Körnchenzellen gereinigt sind und solche nur noch perivaskulär zeigen, und schließ-
lich Herde, die keinerlei Körnchenzellen mehr erkennen lassen. Das sieht man
besonders schön in der Lumbalanschwellung, aber auch in den einzelnen Herden
des ersten Lumbalsegments. Hier ist allerdings im Pyramidenareal einer Seite noch
ein ganz akuter Herd erfüllt mit Körnchenzellen. Die Herde im Halsmark sind voll-
ständig gereinigt, d. h. es ist auch an den Gefäßen nirgends eine Körnchen-
zelle mehr wahrzunehmen. Im Großhirn muß man lange suchen, um auf einen Herd
zu stoßen, der akut ist. Denn hier sind die Herde zumeist bereits vollständig gereinigt.
Und doch gelingt es leicht, auch hier ganz akute Herde zu finden, d. h. Herde, die
vollständig mit Körnchenzellen erfüllt sind. Untersucht man nun einen solchen Herd
mit Scharlachrot, so zeigt sich auch hier noch eine positive Färbung, d. h. die
Körnchenzellen sind zumeist noch rot gefärbt. Es ist nun von Interesse, daß es auch
Herde gibt, wo die Körnchenzellen das Scharlachrotstadium bereits durchschritten
haben, also nicht mehr ganz akut sind.
Dieser zweite Fall hat zumindest fünf Jahre bestanden, ist also nicht
mehr gut zu den akuten zu rechnen. Das anatomische Bild dieses Falles
aber entspricht im wesentlichen jenem, den ich als ersten beschrieben
habe. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß hier die vollständig
gereinigten Herde zahlreicher sind und daß hier die Fettkörnchenzellen, wo
sie vorkommen, das Scharlachrotstadium vielfach bereits durchschritten haben.
Sie lassen dieses jedoch an einzelnen Stellen noch deutlich erkennen.
II. Fall (Nr. 4341).
55 Jahre alter Mann A. J. Belanglose Familienanamnese. Als Kind Masern,
im Jahre 1918 Dysenterie. Sonst immer gesund. Es scheint, daß die ersten Störungen
sich im Juli 1917 zeigten. Damals merkte der Patient ein Schwächegefühl der unteren
Extremitäten, eine Gangstörung. Keinerlei Blasenbeschwerden, aber zeitweise heftige
Kopschmerzen. Bis zu dieser Zeit hat der Patient seinen Dienst versehen. Er begab
sich dann in die Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel und wurde dort bis
Ende August behandelt. Er konnte dann wieder gehen, machte sogar größere Touren.
Ein Jahr danach trat Dysenterie auf, die seinen Zustand sehr verschlimmerte. Damals
machte sich auch eine Sprachstörung bemerkbar, die angeblich im Anschluß an eine
Zahnextraktion aufgetreten war. Das war ungefähr Anfang 1925. Dann trat eine
derartige Steifigkeit der Beine auf, daß er nicht mehr gehen konnte. Auch die Hände
waren ungeschickt. Er hatte Parästhesien in sämtlichen Extremitäten. Dabei war seine
Stimmung euphorisch. Er blieb dann von Ende Mai bis Ende Juli 1925 wiederum in
der obgenannten Nervenheilanstalt und fühlte sich nach der Entlassung wesentlich
besser und hatte subjektiv keine Beschwerden. Im Jahre 1926 trat wiederum eine
Verschlechterung auf, wiederum mit Schwäche der Beine, besonders links. Damals
war Abnahme des Sehverinögens, auffallenderweise keine Blasenstörungen, dagegen
konstante Obstipation. Wiederum war es das Gehvermögen, das stark abge-
nommen hatte.
Eine im April 1927 vorgenommene Untersuchung ergibt — um nur die positiven
Tatsachen zu erwähnen -- die temporale Papillenhälfte etwas abgeblaßt, konjugierte
Blicklähmung nach links, Bulbusbewegungen nach links, auch bei Kopfbewegungen
nicht auslösbar. Verwaschene, skandierende Sprache. Die oberen Extremitäten zeigen
eine leichte Schwäche und Spastizität, links weniger als rechts. Beim Finger-
Nasenversuch deutlicher Intentionstremor und Ataxie links. Lebhafte Sehnenreflexe
Sensibilität frei, bis auf den linken mittleren Bauchdeckenreflex fehlen die anderen,
ebenso der Kremasterreflex. Parese der unteren Extremitäten bei verhältnismäßig
intakter Motilität. Ataxie beim Knie-Hackenversuch. Sehnenreflexe gesteigert, links
mehr als rechts. Kein Fußklonus. Babinski beiderseits positiv, eben Oppenheim. Die
Sensibilität der Beine nach jeder Richtung hin intakt. Auch der Liquorbefund negativ.
80 Dr. Masamichi Toyama.
Der Patient wird dann in das Versorgungshaus transferiert, wo sich eigentlich
keine wesentliche Veränderung im Krankheitsbild zeigt, so daß man von einem
stationären Zustand sprechen kann, der ungefähr vom Jahre 1927, und zwar vom
April bestanden hat. Des Exitus erfolgte durch eine Broncho-Pneumonie und eine
dyphtheritische Zystitis. Es bestand eine alte Fistel nach Punktion der Harnblase,
welche durch eine praevesikale Phlegmone in die Harnblase führte. Hirn und Rücken-
mark zeigen reichliche Herde typisch multipler Sklerose.
Die histologische Untersuchung dieses Falles zeigt im Rückenmark, und zwar
im Brustmark, die Herde nahezu völlig gereinigt, doch kann man auch an einem
solchen noch an den Gefäßen am Rande deutlich die Körnchenzellen nachweisen.
Es ist hier der Übergang eines Herdes zweiter Kategorie in einen solchen dritter Kate-
gorie vorhanden, also eines Herdes, der knapp vor Beendigung der Reinigung steht.
Am Rande eines Herdes aus einem anderen Querschnitt des Dorsalmarks sieht
man noch ein paar Körnchenzellen. In den Herden im Halsmark kann Ähnliches nicht
ınehr gefunden werden. Hier ist jede wie immer geartete Körnchenzellanhäufung auch
perivaskulär geschwunden. Anders sind die Verhältnisse in der Lumbalanschwellung.
Hier zeigt sich an einer umschriebenen; Stelle inmitten eines alfen Herdes eine ganz
kleine Ansammlung von Körnchenzellen, die aber nicht mehr die schöne Schwarz-
färbung erkennen läßt, sondern mehr bräunlich ist. In dieser Partie sind kaum Gefäße
sichtbar und man sieht auch die Neigung zur Nekrotisierung.
Im Gehirn sind die Herde auch vollständig gereinigt. Besonders zu erwähnen
ist ein Herd, in dessen Zentrum sich ein mächtiges Gefäß befindet und dessen Um:
gebung zahlreiche kleinere Gefäße enthält. An diesen Gefäßen befindet sich nirgends
eine Körnchenzelle, aber man sieht gelegentlich kleine Stippchen nach Marchi schwarz
gelärbt. Nur an den Gefäßen, die im gesunden Gewebe gelegen sind, kann man deutlich
Körnchenzellen wahrnehmen. Aber auch diese sind verhältnismäßig nicht reichlich.
Nur an einer Stelle im Gehirn ist am Rande eines ganz sklerosierten Plaques noch
deutlich eine Anhäufung von Körnchenzellen wahrzunehmen, in der typischen Form
und Anordnung. Es ist kein Zweifel, daß dieser Herd sich in Reinigung befindet, weil
die umgebenden Gefäße des gesunden Gewebes Körnchenzellen führen.
Im Kleinhirn zeigt sich nichts Abnormales.
Wenn wir also diesen Fall zusammenfassen, der 10 Jahre bestanden
hat, und bei dem 2 Jahre vor dem Tode die Erscheinungen scheinbar stationär
geworden sind, so zeigt sich, daß hier die Mehrzahl der Herde vollständig
von Fettkörnchenzellen gereinigt sind. Nur in der Umgebung einzelner Herde
läßt sich der Abtransport von solchen Zellen noch wahrnehmen. Nur ein
einziger Herd des Gehirns läßt die Fettkörnchenzellen am Rande noch
deutlich in größerer Menge erkennen, also ein Übergangsstadium von dem
frischen Zerfall in den zweiten Zustand, d. h. des sich vollziehenden Ab-
transportes der Körnchenzellen. Daß es sich hier nicht um einen Zerfall
des sklerotischen Gewebes mit nachträglicher Körnchenzellbildung handelt,
beweist der Umstand, daß die Körnchenzellen ringförmig den sklerotischen
Herd umgeben. Daß aber Körnchenzellen sich auch bilden können bei einem
Zerfall eines bereits sklerotischen Herdes, zeigt die Untersuchung des Lenden-
marks in diesem Falle. Doch ist hier der Prozeß sehr leicht als sekundärer
zu erkennen.
IV. Fall (Nr. 4356).
52 Jahre alte Frau. Als Mädchen bereits nervöses Magenleiden. Im Jahre 1906
Lungenspitzenkatarrh. 1912, also im Alter von 34 Jahren, beginnt die Patientin beim
Gehen zu ermüden. Das steigert sich im Jahre 1913. Sie kann nur schleppend gehen
Damals, und zwar Anfang November, hat Prof. Redlich bereits die Diagnose multiple
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 8
Sklerose gestellt. Die Patientin bekam dann tonisierende Kuren, ohne daß sich einc
nennenswerte Besserung zeigte. Es besteht ein schleppender, ataktischer Gang, doch
kann sie noch allein ohne Stock herumgehen. Es tritt zeitweise Doppeltsehen auf,
Inkontinenz von Harn und Stuhl. Dieser Zustand verändert sich nicht bis zum Jahre
1917. Im Jahre 1918 wird das Gehen so schlecht, daß sie nur mehr im Rollstuhl
weiterkommen kann. Im September 1920 ist die Lähmung komplett, und zwar im
Anschluß an eine Influenza. Seither befindet sich die Patientin ununterbrochen im Bett.
Im Jahre 1921 bekommt sie bereits eine Zystitis und einen Dekubitus. Letzterer heilt
ab. Auch der Blasenzustand bessert sich. Darauf tritt eine Kontraktion im Kniegelenk
auf, ferner Nystagmus. Babinski, während der Patellarreflex infolge der Kontraktur
nicht mehr auslösbar ist. Im Jahre 1922 uroseptische Anfälle, aber eine leichte Besse-
rung der Symptome bei differenter Behandlung. Es greift der Prozeß dann auf die
oberen Extremitäten über, rechts mehr als links. Auch hier wieder zeitweise Besse-
rung, dann wieder Verschlimmerung. Es wechseln schlaffe und spastische Paresen.
Gegen das Ende der Krankheit zeigt sich eine gewisse Euphorie, Kontraktur der Beine,
völlige Lähmung des rechten Armes, Krämpfe im Rumpf. Die Stimme ist schwach
und heiser. Am 15. Februar 1930 tritt der Exitus ein.
Auch hier findet sich wieder eine schwere eitrige Zystopyelitis und jauchiger
Dekubitus, Pneumonie, Fettherz bei allgemeiner Adipositas, parenchymatöse Degene-
ration der inneren Organe, Thrombose der rechten Vena renalis mit Fortsetzung in
die Cava inferior. Das Rückenmark ist voll besetzt von typischen Skleroscherden,
während im Gehirn nur Spuren kleiner Herde im Stirnlappen und im rechten Nucleus
dendatus cerebelli nachzuweisen sind.
Der histologische Befund ergibt:
Das Rückenmark ist vollständig atrophisch, auffallend klein und zeigt schwerste
Skleroseherde. Von Körnchenzellen auch an den Gefäßen ist nicht mehr die Rede.
Im Lendenmark sieht man noch an einzelnen Stellen markhaltige Fasern. Sonst ist
auch hier der ganze Querschnitt ein Herd. Im Halsmark sind die Herde flügelförmig.
Hier sind aber z. B. im Vorderstrang sowie im Vorderseitenstrang Fasern erhalten.
Man kann allerdings in den Herden Stippchen, die nach Marchi schwarz gefärbt sind,
wahrnehmen. Aber sie sind von Fettkörnchenzellen vollständig frei. Im Stirnhirn
ist ein gleiches der Fall. Auch hier sieht man Herde mit deutlichen Dehiszenzen im
Innern, ohne daß irgend eine Körnchenzelle, auch nicht an den Gefäßen der Um-
gebung, nachzuweisen wäre. Die Herde sind ziemlich zahlreich und neben einzelnen
größeren finden sich viele ganz kleine Herde. Auch die Herde im Balken zeigen nur
eine schwere alte Sklerose mit deutlichen Dehiszenzen und schweren Gefäßschädigungen.
Es lassen sich also in diesem Falle nirgends Zeichen eines akuten
Zerfalls nachweisen, trotzdem eine ganze Reihe von Herden aus den ver-
schiedensten Gebieten untersucht wurden.
V. Fall (Nr. 4343).
68 Jahre alter Mann J. N. hat im Alter von 41 Jahren infolge Anstrengung
Schmerzen in der rechten Bauchseite bekommen, die von selbst vergingen. Seit seinem
49. Lebensjahr Schmerzen im Kreuz. Weitere Anamnese fehlt.
Die Untersuchung im September 1922 ergab bereits eine spastische Paraplegie
der unteren Extremitäten. Es waren nur leichte Zehenbewegungen möglich. Ausıe-
sprochen starke Inkontinenz, hartnäckige Obstipation. Die Sehnenreflexe rechts leb-
hafter wie links. Es bildet sich eine Kontraktur aus, doch können beide Beine noch
im Jahre 1924 gestreckt werden. Babinski damals positiv. Im Jahre 1925 zeigt sich
auch eine Affektion der oberen Extremitäten, und zwar Herabsetzung der motorischen
Kraft und eine Atrophie der Muskulatur. Die Hautreflexe fehlen. Kein Nystagmus.
Das auffälligste war eine Muskelatrophie der rechten oberen Extremität, besonders
der kleinen Handmuskeln. Andeutung von Krallenhandstellung. Es beginnt dann eine
ebensolche Atrophie in den Handmuskeln der linken oberen Extremität und eine diffuse
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd. 6
82 Dr. Masamichi Toyama.
Atrophie der Muskeln der unteren Extremität. Hier ist keine willkürliche Bewegung
mehr möglich. Deutliche Tonussteigerung der unteren, nicht aber der oberen Extre-
mität. Die Tiefensensibilität der Zehen, aber auch des Fuß- und Kniegelenks gestört.
Die Sehnenreflexe sind nicht mehr auslösbar. Es bestehen eigentlich in der Rückenlage
keine Schmerzen, vielleicht mit Ausnahme leichter Parästhesien der Unterschenkel.
Die Hirnnerven sind ohne Befund.
Dieser Zustand bleibt gleicherweise bestehen. Im Jahre 1926 zeigen sich
die Reflexe der unteren Extremitäten wieder, sind lebhaft. Es zeigt sich Babinski und
Oppenheim beiderseits positiv. Seither bis inklusive 1929 gleicher Nervenbefund.
Der Obduktionsbefund ergibt schwerste multiple Sklerose des Rückenmarks,
rezente Peritonitis tuberculosa, Prostatahypertrophie, Trabekel und Divertikelblase,
keine Zystitis, Lobulärpneumonie, Endokarditis der Aortenklappen. Im Gehirn makro-
skopischer Befund negativ, vielleicht kleine Herde im Stirnhirn.
Die histologische Untersuchung zeigt sowohl im Gehirn als im Rücken-
mark alte, völlig gereinigte Herde, in deren Umgebung allerdings noch
osmiumgeschwärzte Fettnadeln zu sehen sind. Auch granulierte Zellen sind
zu finden, jedoch sind die Granula gelblichbraun gefärbt.
VI. Fall (Nr. 4351).
Frau F. M., 53 Jahre alt, 13 Jahre krank. Seit 11/, Jahren bettlägerig.
Die Patientin wurde vielfach an neurologischen Kliniken behandelt, auch mit
Typhusvakzine, und kam schließlich im Dezember 1924 von der Nervenklinik in das
Versorgungshaus. Damals ergab sich folgender Status:
Rechts horizontaler Nystagmus beim Blick nach rechts. Links gleichfalls Nystag-
mus, links auch vertikaler Nystagmus, der rechts geringer ist. Zungentremor. Typische
schwere Ataxien und Intentionstremor beim Finger-Nasenversuch, rechts mehr als
links, bei fehlenden Sehnenreflexen und intakter Sensibilität. Die Bauchdeckenreflexe
fehlen. Die Patientin kann sich nur mit Mühe aufsetzen. Die unteren Extremitäten
sind nahezu völlig gelähmt. Rechts nur Zehenbewegungen, links auch Bewegungen
im Fuße. Die Reflexe sind noch vorhanden. Beiderseits positiver Babinski. Rossolimo
und Oppenheim. Sensibilität normal. Gang unmöglich. Beiderseits Abblassung der
temporalen Papillenhälfte. Incontinentia urinae.
Der Prozeß nimmt insoferne zu, als die Motilität der Beine vollständig schwindet
und sich eine sekundäre Kontraktur (Flexionskontraktur) der Beine einstellt. Es tritt
dann ein Dekubitus auf, dem die Kranke am 25. Dezember 1929 erliegt.
Es zeigt sich ein großer verjauchter Dekubitus über dem Kreuzbein, Zystopyelitis
und schon bei der Obduktion zahlreiche Herde im Rückenmark und im Gehirn,
besonders im Ependym der Seitenventrikel. Doch gehören sie nicht dem Ependym
direkt an und liegen in der weißen Substanz und zeichnen sich durch eine ovale
Form aus.
Die histologische Untersuchung ergibt:
An einzelnen Stellen ist das Rückenmark, z. B. im unteren Dorsalmark, ganz
sklerotisch. Man sieht nur in der Kleinhirnseitenstrangbahn einer Seite ein paar intakte
Fasern. Körnchenzellen sind hier kaum nachzuweisen. Nur an einer kleinen Stelle,
nahe dem Sulkus, zeigen sich Fettsäurenadeln im Marchipräparat. Im Dorsalmark ist
die Herdbildung etwas geringer, aber auch noch von einer besonderen Extensität.
Auch hier zeigt sich keine Spur von Körnchenzellen. Am wenigsten betroffen ist das
Lendenmark. Hier ist ein klassischer Herd im Gebiet der Hinterstränge, ohne jedoch
irgend ein Zeichen von akutem Zerfall zu bieten.
Auch im Gehirn sind die Herde schon total sklerotisch. Nur an einzelnen Stellen
sieht man in diesen sklerotischen Herden teils mitten drin, mehr aber an der Peri-
pherie, an den Gefäßen schmale Mäntel von Körnchenzellen, die mit Osmium schwarz
gefärbt sind.
Versucht man nun in diesen Partien die Scharlachfärbung, so zeigt sich, daß in
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 83
einer Anzahl Zellen die Fetttröpfchen auch deutlich die Scharlachrotfärbung an-
nehmen. Das gilt aber, wie gesagt, nur für einzelne Körnchenzellen.
In einem 13 Jahre lang bestehenden Falle von multipler Sklerose, der
in den letzten 5 Jahren kaum mehr eine Progression gezeigt hat, läßt sich
sowohl im Rückenmark als auch in den Herden des Gehirns ein akuter oder
frischer Zerfall nicht mehr nachweisen. Nur an einzelnen Stellen sieht man
an den Gefäßen noch dünne Mäntel von Körnchenzellen. Diese aber enthalten
zumeist keine mit Scharlachrot sich färbenden Fettkörnchen. Nur vereinzelt
läßt sich eine oder die andere Zelle finden. welche die Scharlachrot-
färbung annimmt.
VII. Fall (Nr. 4282).
(Krankengeschichte vorläufig nicht zu erlangen. Alter Fall.)
Schon im Dorsalmark zeigt sich am Rande eines beide Hinterstränge ein-
nehmenden Herdes, das im Zentrum nekrotisch ist, eine deutliche Fettkörnchenzell-
infiltration, wobei allerdings auch hier wieder mehr die nadelförmige Bildung hervor-
tritt. Im Lumbalmark ist hier der Herd größer, völlig gereinigt. Auch an den Gefäßen
ist nichts nachzuweisen, was einem Herd entspräche.
Auch im Gehirn sind die Herde nicht vollständig geschlossen, sondern zeigen
deutliche Lücken, stellenweise wie ein Status cribrosus. An Scharlachrotpräparaten
ist man nicht in der Lage, irgend eine Körnchenzelle wahrzunehmen.
Es handelt sich hier um einen scheinbar vollständig abgelaufenen Fall
von multipler Sklerose mit Herden, welche einen zentralen Zerfall erkennen
lassen. Im Gehirn zeigt sich eine Neigung zur Bildung von Status cribrosus.
VII. Fall (Nr. 4375).
P. St., 53 Jahre alte Frau. Beginn der Krankheit 5 Jahre vor dem Tode mit
Schwäche der Beine. Seit 2 Jahren schwellen ihr die Beine an und der Gang wird
unmöglich. Die Patientin ist eine überaus starke Frau, zeigt Nystagmus bei allen
Bewegungen des Auges. Skandierende Sprache. Fehlende Bauchdeckenreflexe, lebhafte
Patellarreflexe, beiderseits Babinski. Die unteren Extremitäten können nicht bewegt
werden. Diese erste Untersuchung stammt vom März 1930. Eine Untersuchung, (die
einen Monat später gemacht wurde, ergab, daß auch die oberen Extremitäten motorisch
sehr stark eingeschränkt erscheinen, und zwar im Sinne einer spastischen Parese.
Die unteren Extremitäten zeigen eine totale Lähmung mit lebhaften Sehnenreflexen
und Babinski. Intentionstremor, Sprache verlangsamt. Es zeigt sich eine Temperatur-
steigerung bis 39°. Es tritt ein Dekubitus auf und Ende April kommt es zum Exitus.
Auch hier wie in den anderen Fällen findet sich ein septischer Dekubitus, Zystopyelitis,
eitrige Bronchitis. Außerdem zeigt sich eine Pachymeningitis hämorrhagica chronica
interna. Der Hauptherd und die ältesten Herde sind im Rückenmark, während im
Gehirn eigentlich nur das Stirnhirn Zeichen von Herden aufweist.
Die histologische Untersuchung zeigt in der Lendenanschwellung symmetrische
alte Herde beider Vorderstränge ohne Körnchenzellen. Im Hinterstrang sieht man
einen beginnenden Herd, der deutlich seine Akuität durch das Auftreten von Körnchen-
zellen erkennen läßt, die ziemlich diffus das Gewebe erfüllen.
Auch in der Halsanschwellung sieht man, und zwar nur auf einer Seite, bilateral
vom Hinterhorn, ganz frische Herde, d. h. Herde, die von Körnchenzellen noch voll-
ständig erfüllt sind. Auch freies Fett sieht man im Gewebe. Die Körnchenzellen sind
nur auf der einen Seite des Herdes längs der Gefäße angeordnet, auf der anderen
Seite sind sie noch diffus im Gewebe.
Im Gehirn sieht man nur in der Tiefe des Stirnlappens einzelne Herde, die
keinerlei wie immer geartete Körnchenzellen erkennen lassen. Am Ventrikel findet sich
jedoch ein ganz akuter Herd im Stirnhirn, der ganz von Körnchenzellen erfüllt ist.
6°
84 Dr. Masamichi Toyama.
Hier kann man auch erkennen, daß die Körnchenzellen bereits diffus an den Gefäßen
liegen. Gegenüber dem akuten Herd zeigt sich ein älterer, bei dem Körnchenzellen
nur mehr vereinzelt an der Peripherie zu finden sind. Auch an einer anderen Stelle
des Gehirns finden sich in einem Herd im Innern noch Körnchenzellen, ohne daß
an den Gefäßen auch nur eine Körnchenzelle zu finden wäre. In einem der Herde
kann man noch Körnchenzellen wahrnehmen, die das Scharlachrotstadium zeigen
(Abb. 2), während mit Osmium eine Färbung in diesem Falle nicht zu erreichen ist.
Hier liegen die Körnchenzellen diffus aber lockerer als im Osmiumpräparat.
Sogar im Rückenmark, und zwar in den unteren Lendenpartien als auch
im Gehirn, zeigen sich in den Herden an dem vordersten Ende des Ven-
Abb. 2. Körnchenzellen diffus — Scharlachrotfärbung.
trikels deutliche Körnchenzellen diffus im Gewebe. Auffallenderweise kann
man solche in einem oder dem anderen alten Herde wahrnehmen, ohne daß
man sie an den Gefäßen findet. Nur in einem Herde läßt sich deutlich die
Gefäßgebundenheit der Körnchenzellen nachweisen. Aber die Zellen sind
nur mehr mit Scharlachrot zu färben.
IX. Fall (Nr. 4348).
P. P., 45 Jahre alte Frau. Die Patientin scheint ungefähr seit 12 Jahren krank
zu sein. Sie bekam zuerst Schmerzen beim Gehen, wurde dann mit Injektionen be-
handelt. Dann trat eine Schwerfälligkeit beim Sprechen auf und eine Erschwerung
des Gehens, die schließlich seit 1! , Jahren zu einer fast vollständigen Paralyse führte.
Der objektive Befund ergibt eine leicht skandierende Sprache, Nystagmus horizon-
talis. Die Reflexe an den oberen Extremitäten teils fehlend. Auch die Bauchdecken-
reflexe fehlen rechts vollständig, links nur die oberen. Babinski positiv. Patellar-
reflexe lebhaft, Fußklonus rechts. Rigidität der unteren Extremitäten. An der rechten
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 85
Klavikula besteht eine apfelgroße Anschwellung, von der aus Schmerzen ausstrahlen.
Es wird dann die Spastizität der Extremitäten immer stärker. Es scheint, daß auch
eine Augenmuskelparese auftritt, denn das linke Auge geht nicht in den inneren
Augenwinkel.
Eine Untersuchung zwei Jahre später ergibt eine leichte Fazialisparese. Die
oberen Extremitäten lassen wieder die Reflexe erkennen, dagegen zeigen sie rechts
mehr als links Intentionstremor. Die Bauchdeckenreflexe fehlen, die unteren werden
mehr und mehr vollständig kraftlos, ohne jede Motilität, während die Sensibilität voll-
ständig frei bleibt.
Ein Jahr später zeigt sich nur eine Änderung insofern, als Kopfschmerzen und
Schwindel auftreten.
Abb. 3. Akuter Herd.
Im Jahre 1927 sind die Augenmuskellähmungen sehr kompliziert. Am ehesten
macht es den Eindruck einer Blickparese sowohl nach den Seiten als nach oben. In
den nächsten Jahren wird die Sprache immer schlechter.
Die Patientin bekommt eine Pneumonie und hämorrhagische Zystitis. Exitus.
Nahezu das ganze Rückenmark ist sklerotisch, aber auch im Gehirn findet man reich-
liche Skleroseherde.
Hier wurde nur das Gehirn untersucht. Gleich der erste Herd erweist sich als
ganz akut, durchsetzt von Körnchenzellen (Abb. 3). Er stammt aus der Gegend des
Ammonshorn. Hier sind die Körnchenzellen mit Osmium deutlich nachweisbar, auch
an den Gefäßen. Ein zweiter Herd zeigt auch an den Rändern sich vollständig frisch,
aber doch so, daß wir von einem Stadium der Reinigung sprechen können, da die
Körnchenzellen sich vorwiegend an den Gefäßen finden (Abb. 4). Er findet sich im
Markweiß. Wo immer man die Herde im Gehirn findet, überall zeigen sie den ganz
akuten Charakter des schweren Zerfalles. Dort, wo dies nicht mehr zu sehen jist,
findet man die Herde in Reinigung, d. h. die Körnchenzellen sind deutlich im Gebiet
86 Dr. Masamichi Toyama,
Abb. 4. Herd in Reinigung. Körnchenzellenmantel an den Gefäßen (Osmiumfärbung).
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Abb. 5. Scharlachrotstadium der Körnchenzellen in einem Herd.
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 87
der Gefäßscheiden. In einzelnen Herden sieht man die Körnchenzellen diffus aber
bereits im Stadium der Scharlachrotfärbung (Abb. 5). Sehr interessant ist es, bei
einem ganz akuten Herde in der Tiefe des Stirnhirns die Gefäße der Umgebung zu
betrachten, da diese förmlich injiziert sind von Körnchenzellen. Das Gehirn ist an
allen Stellen durchsetzt von ganz frischen Herden. In einzelnen sieht man die Reini-
gung, indem die Körnchenzellen aus dem Gewebe schwinden und an die Gefäße
herantreten. Später sieht man nur einzelne Körnchenzellen im Gewebe oder Fett-
nadeln (Abb. 6). Besonders die Herde an den Ventrikeln zeigen bereits den Zustand
der Reinigung. Auch mikroskopisch ganz kleine Herde sind neben den großen wahr-
zunehmen, und zwar an allen Stellen des Gehirns.
Während also hier der Prozeß im Rückenmark bereits abgeklungen
war, ist er im Gehirn in voller Blüte. Man sieht nirgends einen vollständig
Abb. 6. Herd knapp vor Ablauf der Reinigung (Osmiumfärbung).
gereinigten Herd, sondern überall entweder eine ganz frische Erweichung
oder aber perivaskulär eine Anhäufung von Körnchenzellen. Es ist nicht
ohne Interesse, daß bei dieser Patientin die zerebralen Allgemeinerschei-
nungen in der letzten Zeit besonders hervorgetreten sind, offenbar Ausdruck
der Akuität dieses Falles.
X. Fall (Nr. 4270).
60 Jahre alter Mann. Beginn der Krankheit im Jahre 1925 mit starken Kopf-
schmerzen. Er hatte damals schon eine eine halbe Stunde dauernde Amaurose,
außerdem ein Gefühl der Taubheit in den Fingern; eine Parese der Beine beim Gehen
soll sich angeblich nur bei Hitze zeigen. Nystagmus nach oben. Spastizität beider
unterer Extremitäten, Fußklonus angedeutet, Babinski positiv, Schwanken ohne Fall-
neigung. Im Jahre 1927 wird das Gehen unendlich schwer. Deutliches Schwindelgefühl.
Im Jahre 1929 deutlicher Intentionstremor. Der Gang verschlimmert sich mehr und
mehr. Nur mit großer Anstrengung vermag der Patient zu gehen. Der Tod erfolgt
88 Dr. Masamichi Toyama.
ziemlich plötzlich durch Herzschwäche. Die Obduktion ergibt eine schwere Tuber-
kulose, und zwar eine generelle, auch des Peritoneums und des Darmes. Im Rücken-
mark zahlreiche Skleroseherde, ebenso im Gehirn, und zwar sowohl in der Kapsel als
auch im Markweiß, ferner im Zerebellum.
Im Rückenmark zeigen sich keine Körnchenzellherde, dagegen im Gehirn ein
im Streifenhügel sitzender mächtiger Herd, der an den Rändern noch den Körnchen-
zerfall zeigt, aber fast gereinigt ist. Im Kleinhirn nur ein gereinigter Herd.
In den gereinigten Herden des Gehirns kann man an Scharlachpräparaten peri-
vaskulär noch Körnchenzelleinscheidungen wahrnehmen. Nachträglich wird bekannt,
daß der Patient schon im Jahre 1919 Gehbeschwerden aufwies, so daß auch dieser
Fall 10 Jahre gedauert hat.
Die untersuchten Herde ergaben nur an einer einzigen Stelle im Gehirn
eine deutliche Körnchenzellanreicherung. In den gereinigten Herden vermag
man noch scharlachrotgefärbte Körnchenzellen wahrzunehmen.
XI. Fall (Nr. 4297).
Frau M. S., 58 Jahre alt. Die Patientin kam erst 3‘, Jahre vor ihrem Tode zur
Aufnahme Aus der Anamnese ist nur zu ersehen, daß sie seit vielen Jahren krank
ist und daß ihr Zustand sich in der letzten Zeit sehr wesentlich verschlimmert hat,
besonders die Gehfähigkeit betreffend, doch soll sie vor ihrem Eintritt im Oktober 1928
noch gehfähig gewesen sein.
Objektiv zeigt sich nur ein Nystagmus beim Blick nach rechts, leichte Ataxie
der oberen Extremitäten. Bauchdeckenreflex vorhanden, schwere Parese der unteren
Extremitäten, die kaum von der Unterlage aufgehoben werden können. Starke Spasti-
zität, keine Kloni, aber beiderseits Babinski. Intellekt ein wenig defekt. Es bildet sich
ein Furunkel am Oberschenkel, an den sich ein Dekubitus anschließt, der zur Trans-
ferierung ins Wasserbett Veranlassung gibt. Mitte April 1929 tritt eine Pneumonie
auf, die am 29. April 1929 zum Exitus führt.
Der Obduktionsbefund ergibt außer der Lobulärpneumonie eine schwere Zystitis
mit Pyelitis und septischem Dekubitus. Im Gehirn sind vorwiegend in der Gegend
der Seitenventrikel, im Marklager, in der Brücke deutliche Skleroseherde nachzu-
weisen. Eines ist sicherzustellen, daß der Prozeß über viele Jahre sich erstreckt hat.
Die histologische Untersuchung ergibt folgendes:
Trotzdem makroskopisch im Kleinhirn kein Herd gefunden wurde, zeigt sich
mikroskopisch ein ganz kleiner Herd in der Nähe des Nucleus dentatus in Reinigung.
Man kann deutlich sehen, daß osmiumgeschwärzte Körnchenzellen längs der Gefäße
sowohl im Zentrum als auch am Rande des Herdes liegen und daß solche Gefäße
bis in das gesunde Gebiet hineinreichen. Allerdings ist die Hauptmasse der ein-
gescheideten Gefäße in sklerotischen Herden. Ganz ventrikulär findet sich im Groß-
hirn gleichfalls ein allerdings sehr kleiner Herd, der noch ganz erfüllt ist von Körnchen-
zellen. Dieser Herd schont den Nucleus caudatus vollständig und findet sich erst dort,
wo die weiße Substanz deutlich wird. Auch sonst sieht man kaum stecknadelkopfgroße
Herde im Gewebe, doch sind diese nicht mit Osmium, sondern nur mit Scharlachrot
färbbar. Aber auch diese Scharlachrotherde zeigen sich vielfach schon gereinigt und man
kann dann nur mehr an den Gefäßen deutlich die Körnchenzellen wahrnehmen. Auch
im Rückenmark, und zwar nur in einem Hinterstrang, sicht man solche sich reinigende
Herde mit Scharlachrot gefärbt.
In diesem anscheinend auch sehr lang dauernden Falle finden sich
nur alte Herde im Rückenmark und nur an einer einzigen Stelle im Hinter-
strang einer Seite ein noch mit Scharlachrot sich fürbender frischer Herd.
Im Gehirn sind neben Scharlachrotherden auch solche mit Osmium sich
färbende zu schen. Sie sind hier klein und entweder im Markweiß oder am
Ventrikel gelegen.
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 89
XI. Fall (Nr. 4174).
Von diesem letzten Falle ist die Krankengeschichte nicht erhältlich. Es handelt
sich aber nach dem pathologisch-anatomischen Befund um eine sehr alte und aus-
gedehnte Sklerose. In den Herden des Gehirns zeigt sich kein Osmiumherd. Doch
zeigt sich noch an den Rändern einzelner deutliche Körnchenzellanhäufung. Andere
sind vollständig gereinigt. Nicht einmal an den Gefäßen kann man Körnchenzellen
wahrnehmen. Doch zeigt sich auch in solchen Herden eine Fortsetzung nach einer
Seite hin mit deutlichen Körnchenzellherden, die noch Osmium enthalten. Betrachtet
man diese Herde genauer, so sieht man ein merkwürdiges Verhalten. Nämlich das
Fett in den Körnchenzellen nimmt nicht mehr die Osmiumfärbung an, ohne daß aber
die Körnchenzellen aus dem Gewebe geschwunden wären. Solche Partien gibt es
mehrere. Man sieht dann immer einen zentralen, vollständig sklerosierten Herd, dann
an ein oder der anderen Seite des Herdes einen akuten Nachschub mit Körnchenzellen
und nach innen gegen den alten Herd zu mit Osmium nicht mehr färbbare, ganz blaß
tingierte Körnchenzellen. In einzelnen Herden ist auch freies Fett nachzuweisen.
Betrachtet man nun einen solchen Herd mit Scharlachrotfärbung, so kann man deutlich
sehen, daß die scharlachrotgefärbten Körnchenzellen einen größeren Raum einnehmen
als die mit Osmium gefärbten.
Im Rückenmark findet man hier auffallend wenig Skleroseherde.
In diesem Falle mit alten Herden findet man nur an den Rändern noch
mit Osmium färbbare Körnchenzellen, neben ihnen blasse, die die Scharlach-
rotfärbung annehmen.
In den vorliegenden 12 Fällen meiner Untersuchung konnte ich, ob nun
der Fall 6 Monate oder 18 Jahre ‘gedauert hat, fast jedesmal Herde nach-
weisen, die einen verhältnismäßig akuten Zerfall erkennen ließen. Dabei
zeigte sich, daß drei Formen solcher Herde in Erscheinung traten.
Die erste Gruppe zeigt am Marchipräparat eine vollständige Anfüllung
des Gewebes mit durch Osmium sich schwärzenden Fettkörnchenzellen.
Die zweite Gruppe der Herde ließ diese Körnchenzellen in Massen am
Rande, und zwar meist nur an einer Seite, erkennen.
Eine dritte Gruppe von Herden zeigt keine mit Osmium sich schwärzen-
den Partien mehr. Doch konnte man in diesen längs der Gefäße, und zwar
sowohl innerhalb als auch außerhalb des Herdes, an den Gefäßscheiden
mit Osmium sich schwärzende Körnchenzellen wahrnehmen.
Es ist nun interessant, daß in einem oder «dem anderen Falle neben
diesen mit Osmium sich schwärzenden Körnchenzellen gewöhnlich gegen das
Zentrum des Herdes zu noch Körnchenzellen lagen, die aber im Marchi-
präparat ganz blaß aussehen und die Schwärzung nicht annehmen. Wenn
man nun solche Präparate mit Scharlachrot färbte, so zeigte sich, wie denn
überhaupt in den Scharlachrotpräparüten, daß noch viel mehr Körnchenzell-
herde vorhanden waren, als es nach den Osmiumpräparaten den Anschein
hatte. Auch hier kann man die drei bei Marchifärbung hervorgehobenen
Stadien voneinander differenzieren. Und schließlich gibt es Fälle, wo im
Herde überhaupt nicht die Spur einer Körnchenzelle mehr nachzuweisen
ist, sondern nur die Sklerose.
In der überwiegenden Mehrzahl meiner Fälle war es möglich, das
Rückenmark und Gehirn zu untersuchen. Da zeigte sich, daß die Herde
90 Dr. Masamichi Toyama.
im Rückenmark fast immer vollständig sklerosiert waren, daß nur gelegent-
lich einmal die Marchifärbung Fettkörnchenzellen aufzeigte oder in Scharlach-
rotpräparateı. an einzelnen Stellen größere Ansammlungen von Körnchen-
zellen vorhanden waren.
Im großen und ganzen kann man sagen, daß im Rückenmark die
Sklerose in den älteren Fällen bereits abgelaufen ist, im Gegensatz zu dem
Verhalten im Gehirn, wo besonders die Herde am Ventrikel und jene im
Marklager mitunter den vollständig frischen Charakter erkennen lassen. Doch
läßt sich auch bei besonderer Progression gelegentlich in alten Fällen ein
frischer Herd auch im Rückenmark finden.
Aus diesen Angaben geht zunächst hervor, daß selbst bei den eminent
chronischen Fällen multipler Sklerose der sogenannte akute Herd noch
nachzuweisen ist. Freilich muß man bei der Zeitbestimmung dieser Herde
sehr vorsichtig sein, da man Anton und Wohlwill recht geben muß,
wenn sie behaupten, daß Körnchenzellen verhältnismäßig lang im Gewebe
zurückgehalten werden. Aber es ist doch ein Unterschied, ob es sich um
einzelne Körnchenzellen handelt oder ob ein Herd ganz diffus besät ist von
Körnchenzellen und keinerlei Zeichen eines Abtransportes erkennen läßt.
Wenn wir an den Gefäßen Körnchenzellen wahrnehmen, wenn diese Körnchen-
zellen sich nur mit Scharlachrot färben, dann können wir eventuell annehmen,
daß es sich um einen sehr lang dauernden Prozeß handelt, der eben vor
dem letzten Stadium steht. Wenn aber in einem Herde von einem Abtrans-
port noch nicht die Rede ist und der ganze Herd den akuten Zerfall erkennen
läßt, dann muß man wohl annehmen, daß derselbe ein frischer ist.
Es ist nun die Frage, ob zwischen die beiden Herde — den frischen
und den nahezu gereinigten — jene Herde zu stellen sind, bei denen die
Ränder von Körnchenzellen wenigstens an einer Seite erfüllt sind. Man
könnte nämlich meinen, daß an dieser Seite eine Progression des Prozesses
stattfindet und wir es hier mit der Entwicklung eines frischen Herdes zu tun
haben. Der Umstand jedoch, daß an dieser Stelle mitunter Fettnadeln sich
finden und kein freies Fett, der Umstand ferner, daß diese Herde nur selten
die vollständige Anfüllung mit Körnchenzellen aufweisen, spricht eher dafür,
daß es sich hier um einen Herd in Reinigung handelt, und über diese Partie
als Übergangszone der hauptsächliche Abtransport erfolgt.
Es wäre nun natürlich im Sinne der Nisslschen Forderung sehr wichtig,
die klinische Übereinstimmung mit den anatomischen Tatsachen zu suchen,
d. h. festzustellen, ob die Progression der klinischen Erscheinungen parallel
geht mit der Progression des Prozesses. Dieser Forderung stellen sich aber
gerade bei der multiplen Sklerose nahezu unüberwindliche Hindernisse ent-
gegen. Wir haben in der Mehrzahl dieser Fälle schwere Veränderungen im
Rückeninark gefunden, die einen sehr alten Prozeß entsprechen, Verände-
rungen, die imstande sind, ein Großteil der Symptome zu erklären. Nur
in einzelnen Fällen mit terminaler Progression, «die eine Mitbeteiligung des
Gehirns wahrscheinlich macht, gelang es, im Gehirn akute Herde zu finden.
Aber einen sicheren Beweis für die Koinzidenz der klinischen Progression
Zur Pathologie der multiplen Sklerose. 91
mit dem Auftreten frischer Herde läßt sich nicht erbringen. Das liegt eben
im Wesen der multiplen Sklerose. Doch möchte ich betonen, daß Fall III
bis VI, die keine Progression zeigten, auch die akuten Herde vermissen
ließen, während umgekehrt so alte Fälle wie VIII und IX bei bestehender
Progression der klinischen Erscheinungen ganz akute Herde zeigten.
Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, war nur die, nachzusehen, ob bei
eminent chronischen Fällen von multipler Sklerose sich auch terminal noch
analoge Veränderungen zeigen, wie sie der akuten multiplen Sklerose eigen
sind. Diesen Beweis glaube ich durch die vorliegende Untersuchung erbracht
zu haben. Die Krankheit an sich ist wohl chronisch, der Herd aber ist immer
akut. Das läßt sich wohl aus den vorliegenden Untersuchungen erweisen.
Literatur:
(Nur die im Text namentlich angeführten sind erwähnt.)
Anton und Wohlwill, Multiple, nicht eitrige Enzephalomyelitis und multiple Skle-
rose. Zeitschr. f. d. ges. Neur u. Psych., Orig. 12, 31, 1912.
Cournand Andre, La sclerose en plaques aigue (contribution à l'étude des encephalo-
myelitis aiguées disséminées). 1930.
Falkiewicz Tadeusz, Zur Pathogenese der multiplen Sklerose. Ein Beitrag zur Frage
der Herdbildung bei dieser. Arb. a. d. Neur. Inst. d. Wiener Universität, Bd. 28,
S. 172 bis 196, 1926.
Guillain, La sclérose en plaques. Rev. neurol., 1924/1, 648.
Hassin, Studies in the pathogenesis of multiple Sclerosis. Arch. of Neurol. and
Psych., 1922, VII, 589.
Idem and Bassoe, Multiple degenerative softening versus multiple Sclerosis.
Ibidem 613.
Jakob, Über diffus verbreitete Myelitis und ihre Beziehungen zur multiplen Sklerose
mit besonderer Berücksichtigung der infektiös-entzündlichen Genese. Arztl. Verein
zu Hamburg, Biol. Abt. 13, I, 1914.
Jakob und Fränkel, Zur Pathologie der multiplen Sklerose mit besonderer Berück-
sichtigung der akuten Formen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., 14, 565, 1913.
Marburg O., Die sogenannte akute multiple Sklerose. (Encephalomyelitis peraxialis
scleroticans.) Jahrb. f. Psych., Bd. 27, 2. 3. 1906.
Obersteiner, Zur Histologie der Gliazellen in der Molekularschicht der Großhirn-
rinde. Arb. a. d. Neur. Inst. d. Wiener Universität, 1900, VII, 301, und auch
1903, X, 245, 1904, XI, 400.
Pette, Klinische und anatomische Studien über die Pathogenese der multiplen
Sklerose. D. Zeitschr. f. Nervenheilk., 1928, CV, 76.
Redlich, Über gehäuftes Auftreten von Krankheitsfällen mit den Erscheinungen der
Encephalomyelitis disseminata. Monatsschr. f. Psych. u. Neur., Bd. 64, H. 3.4,
1927.
Spielmeyer, Histopathologie des Nervensystems. Berlin, Springer, 1922.
Weizsäcker, Ein ungewöhnlicher, perakut verlaufender Fall von multipler Sklerose
mit anatomischem Befund. Monatsschr. f. Psych. u. Neur., Bd. 49, H. 4, 1921.
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler
Sklerose.
Zugleich ein Beitrag zur Frage der Regeneration von Nervenelementen
im zentralen Nervensystem.
Von
L. Jaburek
Assistent an der neurologischen Klinik der Universität Lwöw.
Mit 12 Abbildungen im Text.
Einleitung und historischer Überblick.
Unter den Fragen nach den Einzelheiten des histopathologischen Ge-
schehens bei der multiplen Sklerose, die trotz ihrer Bedeutung für die ana-
tomische Pathogenese dieser Krankheit einer ebensolchen Klärung bedürfen,
wie ihre Ätiologie selbst, befindet sich auch jene nach den genaueren Vor-
gängen an den Nervenfasern. Wenn man in der einschlägigen Literatur
Umschau hält und über die jeweiligen Veränderungen, die das leitende Ele-
ment des Nervensystems in den verschiedenen anatomischen und klinischen
Phasen der Krankheit erleidet, Aufschluß zu bekommen sucht, so bemerkt
man alsbald, daß hier ein Gebiet vorliegt, das trotz der Fülle des bereits
Erforschten noch nicht recht betreten wurde. Es ermangelt nämlich nicht
an eingehenden Studien, die schon von Charcot im Jahre 1868 eingeleitet
und nachher eifrig gepflogen wurden und welche die Zustände der Mark-
scheiden oder der Axone in den sklerotischen Herden zu ermitteln bestrebten,
doch fehlt es an einer zusammenfassenden Untersuchung, inwieweit diese
Zustandsänderungen der beiden Bestandteile der markhaltigen Faser in mor-
phologischer und chronologischer Beziehung miteinander verbunden sind
oder inwiefern sie unabhängig voneinander verlaufen. Wir kennen nämlich
den Weg, auf dem die Markscheide abgebaut wird, und wissen, daß er durch
die Marchi- und Scharlachrotetappe markiert wird, doch wissen wir nicht,
wie der Parallelweg an dem Axon verläuft. Dabei ist noch eines in Erwä-
gung zu ziehen: während die krankhaften Vorgänge an den Markscheiden
einen gewöhnlich irreparablen Prozeß darstellen und schließlich in einer
vollkommenen Auflösung ihrer Substanz ausklingen, so haben wir an den
Achsenzylindern mit Schädigungen zu tun, die nach der klinischen Erfahrung
zu schließen einerseits temporär sind, anderseits in einer sehr breiten Inten-
sitätsskala gelegen sein können. Aus der bisherigen Literatur, die eingehend
zu betrachten sein wird, erhellt aber nicht, wo, räumlich und zeitlich gedacht,
94 L. Jaburek.
der Reparationsvorgang einsetzt und ebensowenig, worauf er beruht. Den
zahlreichen schweren Degenerationsphänomenen der Axone, die einen
Funktionsausfall ganzer Bahnen wohl verständlich machen werden, immer
wieder ganz geringfügige und überhaupt unsichere Wiederherstellungsver-
suche des Gewebes gegenübergestellt und ihnen obendrein jegliche Bedeu-
tung für eine klinische Remission der Krankheit abgesprochen. Auf welchem
Wege also eine solche herbeigeführt wird und in welches anatomische
Stadium sie fällt, ist unklar. Auch ist zu erwägen, daß die Veränderungen
an den Achsenzylindern nicht immer reversibel sind und daß die sekundäre
Wallersche Degeneration bei der multiplen Sklerose als ein häufiger ana-
tomischer Befund erhoben wird. Besonders wichtig schien die Feststellung,
wo der primäre Schaden vorliegt, an dem Axon oder an der Markscheide,
auch aus dem Grunde, weil nach Spiegel (1921) zwischen diesen beiden
Medien eine mit der Oberflächenspannung im Zusammenhang stehende
Wechselbeziehung besteht, die der genannte Autor Zygiosis benennt und
die sich darin äußert, daß die Markscheide nur dort zugrunde geht, wo
auch der Achsenzylinder affiziert ist, ein Verhalten, das von Stransky
(1903) bei der Bleineuritis beschrieben worden ist und auch von der sekun-
dären Degeneration her allgemein bekannt ist.
Schon seit langem hat die Eigenart des klinischen Bildes der multiplen
Sklerose dazu geführt, ein eigenartiges Verhalten der Nervenfasern in den
sklerotischen Herden zu supponieren. Es war, wie erwähnt, dem Genie
Charcots vorbehalten, an ganz unzulänglichen Präparaten die relative
Ihtaktheit der Achsenzylinder darzutun und damit die klinische Eigenart
fum Teil zu erklären. In der Folgezeit haben dann verschiedene Autoren
immer mit ganz unzulänglichen Methoden versucht, die Charcotsche These
zu halten, ja sogar eine Regeneration von Axonen anzunehmen (Popoff
1894, Erben 1898, 1899). Dies hat sich jedoch als falsch erwiesen, besonders
seit Weigert (1895) seine Gliamethode angegeben hatte, und zeigen konnte,
daß zumindest ein guter Teil dessen, was als Axon aufgefaßt wurde, Glia
sei. Goldscheider (1898) konnte die Feststellung machen, daß der Zerfalls-
prozeß an der Nervenfaser mit einer Quellung des Achsenzylinders und der
Markscheiden eingeleitet wird. Früher schon hatte Heß (1888), der mit
der Goldchloridmethode Freuds arbeitete, zum ersten Male einwandfrei die
relative Intaktheit der Axone in sklerotischen Herden nachgewiesen. Er hat
eigentlich schon damals den Übergang des nackten Achsenzylinders in den
Markscheidenstumpf beobachtet und das Bild der periaxialen Neuritis ge-
zeichnet. Er konnte feststellen, daß die Mehrheit der Achsenzylinder in den
sklerotischen Herden außerordentlich lange erhalten bleibt.
Von den späteren Autoren, die sich mit der Frage der Intaktheit der
Achsenzylinder befaßt haben, seien in allererster Linie Thoma (1900),
Rossolimo (1903), Strähuber (1903, 1904) genannt. Während Thoma
an den Veränderungen der Achsenzylinder, die mit auseinanderweichenden
Neurofibrillen aufgetrieben und hypertrophisch erscheinen, das Primäre und
Wesentliche erblickt, konnte Rossolimo feststellen, daß in dem akuten
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 95
Stadium die Axone geschwollen und völlig zerfallen erscheinen, in chroni-
schen dagegen verschmälert und homogenisiert. Strähuber, der mit einer
eigenen Methode arbeitete, verteidigte die Ansicht, daß der Großteil der
Nervenfasern im sklerotischen Herd neugebildet ist.
Die ausgezeichnete Methode von Bielschowsky ermöglichte dann
sowohl diesem Autor (1903) als Bartels (1903) und Hoffmann (1903)
in der Folgezeit auch Marburg (1906) in den akuten Fällen die Axone
in den sklerotischen Herden nicht nur mit aller Sicherheit nachzuweisen,
sondern auch gewisse Veränderungen in ihnen festzustellen. So behauptet
Bartels, daß es das Myeloaxostroma sei, das zugrunde gehe (Kaplans und
Bethes Methode). Bielschowsky denkt daran, die multiple Sklerose als
eine primäre Markscheidenerkrankung zu bezeichnen, obwohl er besonders
betont, daß auch zahlreiche Achsenzylinder in den Herden zugrunde gehen.
Es scheint, daß die Mehrzahl der Autoren (Marburg) die Quellung der
Axone gesehen hat, sie wohl als Veränderungen deutete, jedoch annahm, daß
deren physiologische Intaktheit dadurch kaum gelitten hat.
Bei diesen Untersuchungen hat sich natürlich die Frage erhoben, ob es
sich bei diesen in den Herden befindlichen Achsenzylindern um regenerierte
handelt, eine Frage, deren Beantwortung damals schwer möglich war und
die wir erst später genauer diskutieren wollen.
Auch die Autoren der nächsten Jahre, wir wollen nicht alle aufzählen,
unter ihnen Nambu (1907), Dinkler, Lewandowsky und Stadelmann
(1907), Oppenheim (1908), L’Hermitte und Guccione (1909), Mari-
nesco und Minea (1909), Anton und Wohlwill (1912), Fränkel und
Jakob (1913), Siemerling und Räcke (1914), haben eigentlich die gleiche
Anschauung wie die oben genannten Autoren geäußert und die relative
Intaktheit der Axone ausgesprochen. Freilich muß auch erwähnt werden,
daß alle die Autoren darin übereinstimmen, daß auch ein Teil der Achsen-
zylinder zugrunde geht. Am besten geben den Anschauungen der Autoren
Anton und Wohlwill Ausdruck, indem sie schreiben, daß der Achsen-
zylinder, obwohl er sowohl quantitative als auch qualitative Veränderungen
zeigt, in weitgehendem Maße verschont bleibt. Anton und Wohlwill geben
auch zum ersten Male eine genauere Beschreibung der in den Achsen-
zylindern vorkommenden Veränderungen. Sie beschreiben sie als geschwol-
len, unregelmäßig imprägniert, zum Teil stärker als es der Norm entspricht;
einzelne, besonders an den Grenzherden gelegene, erweisen sich häufig als
spiralig aufgerollt und nehmen im Alzheimer-Mann-Präparat statt der
blauen eine leuchtend rote Farbe an, wie es nicht einmal bei den ge-
schwollenen inmitten des Präparates der Fall ist. Endkugeln, keulenförmige
Auftreibungen, wie sie schon Marinesco und Minea beschrieben hatten,
werden gleichfalls erwähnt. Sichere Regenerationserscheinungen konnten
nicht wahrgenommen werden. Fränkel und Jakob differenzieren die mehr
chronischen von den akuten Herden und meinen, daß in den ersteren die
Axone dünner sind, in den letzteren dagegen dicker. Sie sprechen von einer
relativen Verminderung der Axone und einer Verbreiterung der Zwischen-
96 L. Jaburek.
räume zwischen den einzelnen. Sie vermissen insbesondere die zarten Fasern
der Zwischensubstanz. Siemerling und Räcke beschreiben einen staub-
förmigen Detritus der Axone und meinen, daß der eigentliche Zerfall der
Achsenzylinder noch sehr gering sein kann, daß aber die Verbreiterung und
Schlängelung der angrenzenden Fibrillen dafür spricht, daß die Noxe auf
einem größeren Areal gewirkt hat, womit vielleicht erklärt werden könnte,
daß der Markscheidenzerfall viel ausgedehnter ist als die Fibrillenzerstörung.
Sehr genau beschreibt Doinikow (1915) die degenerativen Verände-
rungen der Nervenfasern. Er findet Quellungen und Schrumpfungen. Die
Quellungen sind entweder mehr diffus oder umschrieben mit Prädilektionen
am Abgang der Kollateralen. Auch sogenannte Retraktionskugeln beschreibt
er. Doinikow nimmt auch auf die Veränderungen der Fibrillen Rücksicht
und deren Relation zu den Veränderungen der Markscheide. Er findet eigen-
tümliche Körnchenreihen, die sich mit Silber stark imprägnieren, auch dort,
wo Markscheiden, wenn auch als Gerüst, vorhanden sind.
Was die Markscheide anbelangt, so zeigt sich, daß in ihr die Gerüst-
fasern schwer verändert, verklumpt, verdickt, zum Teil vernichtet sind. Das
kommt nun dadurch zum Ausdruck, weil Präparate nach Bielschowsky
diese sonst schwer darstellbaren Strukturen sehr deutlich zum Ausdruck
bringen. Was nun die Körnelung in den Axonen anbetrifft, so fehlt diese
bei Degenerationen in anderen Fällen und ist für die multiple Sklerose
charakteristisch.
Leiner (1912) befaßt sich lediglich mit der Frage, ob die Achsenzylinder
bei der multiplen Sklerose geschädigt sind oder nicht, und in welcher Weise
dies mit der Markscheidenschädigung zusammenhängt. Der Autor stellt sich
auf den Standpunkt Spiegels, daß eine Markscheidenschädigung ohne eine
gleichzeitige des Achsenzylinders nicht möglich sei und sucht diese An-
nahme an seinem Material zu erweisen.
Die überaus exakten Untersuchungen von Schob (1923) bestätigen
größtenteils die oben vorgetragenen Auffassungen und bringen folgende
Klassifikation der Veränderungen an den Achsenzylindern: Auftreibungen
(Quellung), die lokal oder diffus sein können, Veränderungen in der Imprä-
gnation und Vakuolisierung der Axone mit Ösenbildung. Alle diese Degene-
rationsphänomene werden mit größter Genauigkeit beschrieben.
Guillain, Georges und Ivan Bertrand (1924) teilen die multiple Skle-
rose in eine mehr klassische Form und eine pseudomyelitische Form ein
und meinen, daß bei letzterer die Axone mehr zugrunde gehen, aber auch
hier einzeln erhalten bleiben. Auch sie machen genauere Angaben über den
Charakter der Degeneration.
Auch Marinesco (1924) beschreibt verschiedene Veränderungen des
Achsenzylinders, besonders Einschnürungen, Schwellung, Endkeulen und
Schlingenbildung. Der Autor findet auch in der grauen Substanz die Axone
derart verändert. Die Färbung der Fasern ist ganz verschieden. Je mehr
der Prozeß sich einer Entzündung nähert, desto mehr erscheinen fuchsino-
phile Körnelungen, die sich auch im Inneren der Makrophagen finden. Es
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 97
sei darauf hingewiesen, daß Doinikow das Vorkommen von Myeloklasten
und Myelophagen als ein ziemlich seltenes bezeichnet. Es hat auch den
‚Anschein, als ob die von Marinesco gefundenen fuchsinophilen Granula
den argentophilen von Doinikow entsprächen. Auch Marinesco ist nicht
imstande, den regenerativen Prozeß sicher zu erweisen, nimmt ihn aber an,
ohne ihn für dauernd zu halten, und warnt davor, die pathologisch-anato-
mischen Veränderungen mit den klinischen Bildern in Parallele setzen zu
wollen.
Material und Methode.
Unser Material besteht aus sechs Fällen von multipler Sklerose, die
sich in einem jeden chronisch einige Jahre lang hingezogen hat. Der Tod
trat in allen Fällen durch interkurrente Krankheiten ein. Es wurde vor-
wiegend das Rückenmark untersucht, und zwar nach der Methode von Biel-
schowsky an Gefrierschnitten, die nachher mit Sudan oder mit der Spiel-
meyerschen Markscheidenfärbung am (tefrierschnitt nachbehandelt worden
waren. Es ergab sich daraus der große Vorteil, daß bei Sudanfärbungen
gleichzeitig mit den Achsenzylindern auch der Abbau der Markscheide zu
verfolgen war, bei der nachträglichen Spielmeyerschen Markscheiden-
färbung neben den Axonen auch Markscheiden in genügender Schärfe zum
Vorschein kamen. Leider gelingt eben diese Färbungskombination (Spiel-
meyer plus Bielschowsky) nicht häufig, doch lohnen dann die wenigen
guten Präparate die Mühe. Die Sudanfärbung, deren wir uns oft bedienten
(gewöhnlich mit nachfolgender Hämatoxylintinktion) und die uns neben rot-
gefärbten Markscheidenresten intakte Markscheiden in leuchtend gelber Farbe
wiedergab, suchten wir für unsere Zwecke dadurch zu verbessern, daß wir
das Sudan in gleichen Teilen 70%% Alkohol und in gesättigter wässeriger
Seifenlösung warm lösten. Der Zusatz von Seife bewirkte eine raschere und
bedeutend kräftigere Durchfärbung des Schnittes.
Aus dem Rückenmark wurden 10 bis 15 mm lange Stücke heraus-
geschnitten, nicht nur solche, an denen die Existenz von sklerotischen
Herden makroskopisch nachzuweisen war, sondern ziemlich wahllos aus
verschiedenen Höhen. Die Schnittführung ging immer parallel zur Längs-
achse des Rückenmarks, senkrecht zu seiner Dorsoventralachse, so daß es
im fertigen Präparat nicht schwer fiel zu beurteilen, ob die weiße Substanz
des Schnittes im Hinter-, Seiten- oder Vorderstrang lag bzw. ob die graue
Substanz dem Hinter- oder Vorderhorn angehörte, was für die Lokalisation
der Regenerationsphänomene von Wichtigkeit war. Eine solche ergab sich
aus den Unterschieden der Konfiguration des Rückenmarkslängsschnittes voll-
kommen eindeutig (Abb. 1).
Es wurden gewöhnlich Schnitte, die einander folgten, abwechselnd nach
den aufgezählten Methoden behandelt, was uns gestatlete, sogar in den
kleinsten Herden ein sehr umfassendes Bild aller Veränderungen zu erhalten.
Als Beispiel für diese Methodik sei die Abb. 4 angegeben, deren nähere
Erklärung weiter im Texte erfolgen soll.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXII. Bd.
98 L. Jaburek.
Abb. 1. Schematische Darstellung der Schnittführung durch das Rückenmark und
der Konfiguration des Längsschnittes.
Eigene Ergebnisse:
Fall I bietet ein sehr buntes Bild, was die Veränderungen der Nervenfasern
anbelangt. In der Höhe des Dorsalabschnittes ist das Rückenmark in der Ausdehnung
von einigen Segmenten vollkommen sklerotisch, sein Querschnitt nicht größer wie der
eines gewöhnlichen Bleistiftes. In der Lumbal- und Zervikalanschwellung sieht man
makroskopisch scharf umschriebene Herde. Mitunter sind aber mit freiem Auge auf
den Querschnitten keine Veränderungen zu bemerken.
Block 1. Zervikalanschwellung (Seitenstrang).
a) Sudanpräparat: Ein Herd, in dem der Zerfall der Markscheiden noch im Gange
ist. Außer den sehr zahlreichen, mit Sudan gefärbten Körnchenzellen sieht man teil-
weise zusammengeballte Reste der Markscheiden. Diese gruppieren sich hauptsächlich
an der Peripherie des länglich-ovalen Herdes, so daß sein Inneres mehr von den
Myelophagen als von ‚Marktrümmern ausgefüllt erscheint.
b) Präparat nach Spielmeyer: Blauschwarz gefärbte Markballen, deren Längs-
anordnung noch hie und da den Verlauf der Nervenfasern aufzeigt und im ganzen
den Sudanpräparaten entspricht.
c) Präparat nach Bielschowsky: Die Zahl der Achsenzylinder in dem Herde
ist ganz auffallend verringert. Das kann man in allererster Linie daraus erkennen,
daß die Zwischenräume zwischen den einzelnen Achsenzylindern sehr wesentlich breiter
sind als es der Norm entspricht. Der größere Teil von ihnen ist auffallend verdickt
und tief dunkel nach Bielschowsky gefärbt. Dabei sind diese dicken Achsen-
zylinder keineswegs allenthalben gleichmäßig verdickt, sondern sie sind stellenweise
dicker, stellenweise aber dünner. Neben den dicken Achsenzylindern sieht man außer-
dem auffallend dünne in sehr reicher Anzahl und man kann mitunter einen solchen
dünnen in einen dieken übergehen sehen. Zwischen diesen dunkel gefärbten Achsen-
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 99
zylindern sieht man ein unendlich reichliches, dichtes Netzwerk, ohne daß man sehen
könnte, ob es sich um Glia oder um degenerierte Axone handelt. Die Frage, ob die
Axone durchlaufen oder Unterbrechungen zeigen, läßt sich an diesen Längsschnitten
nicht einwandfrei feststellen. Man sieht jedenfalls neben den Axonen kugelige oder
birnförmige Gebilde, die ganz (die gleiche Färbung zeigen wie die Axone, die sehr
häufig reihenförmig zusammengelegt sind. Man kann jedoch solche Gebilde nie an
den Enden auch noch so aufgetriebener Achsenzylinder wahrnehmen, so daß man
über deren Natur nichts Entscheidendes aussagen kann. In den verdiekten Axonen
lassen sich deutlich zierliche Fibrillenstränge nachweisen, doch kann man stellenweise
eine deutliche Verklumpung derselben erkennen. An anderen Axonen wiederum sieht
man nur eine ganz gleichmäßige glasige Färbung.
Jenseits des Herdes scheint die Achsenzylinderimprägnation nicht gelungen.
Während die Axone in dem Herde im allgemeinen scharf umrissen und dunkel tingiert
sind, zeigen die anderen bloß eine graue Farbe. Ihre Konturen scheinen verwischt,
verschwornmen.
Block 2. Zervikalanschwellung (Hinterstrang).
a’, b) Sudanpräparat und Präparat nach Spielmeyer: Ähnlich wie in Block 1,
doch ist hier der Abbau der Markscheide noch nicht so weit fortgeschritten. Man
bemerkt an den Schnitten Fasern, die aus einem scheinbar intakten Areal in ein
sklerotisches übergehen. In der sklerotischen Partie leuchten die sudangefärbten
Marktrümmer tief rot und setzen sich unter Verlust von Farbe in das gesunde Gebiet
fort, um dort an die nicht geschädigten Markscheiden Anschluß zu gewinnen.
c) Präparat nach Bielschowsky: Starker Axonausfall. Auch hier weicht das
Bild von dem in Block 1 nicht wesentlich ab, Man sieht ganz zarte Achsenzylinder
neben typisch gequollenen ganz regellos über den Schnitt zerstreut. An einzelnen
dicken Axonen sieht man eine feine Körnelung im Innern, an anderen wiederum sieht
die Aufquellung wie ausgelaugt aus und bildet ein unvollständiges Netzwerk. Zu
bemerken wäre noch, daß ein sehr großer Teil der Achsenzylinder deutliche Schlänge-
lungen aufweist. Bezüglich der Kugeln und birnförmigen Körper, die in Schnitten
aus dem Block 1 sichtbar waren, scheint es, als ob es sich hier um verschiedene
Elemente handeln würde. Die einen machen den Eindruck von Kernen, die anderen
dagegen sind auch unter der Immersion ziemlich homogen.
Block 3. Dorsalmark (Hinter-, Seiten- und Vorderstrang).
a) Sudanfärbung: Die Schnitte werden mit dieser Färbung überhaupt nicht
tingiert.
b) Präparat nach Spielmeyer: Außer den Gliazellkernen und den roten Blut-
zellen ist in dem Präparat kaum etwas dargestellt. Über den ganzen Sehnitt breitet.
sich eine gleichmäßige, sehr dichte sklerotische Narbe aus, die nur an den Rändern
des Präparates noch etwas dichter erscheint. Ähnlich wie in dem Sudanschnütt sind
weder Markscheiden noch irgend welche Reste von ihnen zu sehen. Ein sehr alter Herd.
c) Präparat nach Bielschowsky: Man bemerkt Achsenzylinder von durchwegs
mäßiger Stärke, die untereinander ziemlich gleich dick und über den ganzen Schnitt
gleichmäßig verteilt sind. Hie und da kann man auch ganz dünne Fasern erblicken,
diese sind aber immer in Minderheit. Im allgemeinen sind auch hier die Zwischen-
räume zwischen den einzelnen Axonen verbreitert, woraus sich ein Ausfall derselben
erschließen läßt. Die Konturen der Achsenzylinder sind durchwegs glatt, sie zeigen
in ihrem leicht geschwungenen Verlauf weder lokale Verdiekungen noeh diffuse
Schwellungen. Ihre Imprägnationsfähigkeit mit Silber ist ganz bedeutend erhöht, die
Imprägnation selbst von einer Schärfe, wie sie sich im gesunden Gewebe nie erreichen
läßt. Bei starker Vergrößerung erscheinen fast sämtliche Axone als glatte Bündel
gut erkennbarer Neurofibrillen. Ihre Argentophilie zeigt sich in Axonen von mittlerer
Stärke am besten ausgeprägt. Die dickeren neigen eher dazu homogen dunkelgrau bis
grauschwarz zu erscheinen. Irgend welche Degenerationszeichen an den Achsen-
7.
100 L. Jaburek.
zylindern, die als akute gedeutet werden könnten, sind in «diesem Block nicht vor-
handen; wir haben mit einem typischen alten Herd zu tun.
Block 4. Lumbalanschwellung (Seitenstrang). Hier sind die Degenerations-
phänomene an den Nervenfasern sehr gut zu beobachten. Es ist interessant, gerade
in solchen Partien das gegenseitige Verhältnis der Markscheiden zu den Achsen-
zylindern zu studieren.
a) Sudanpräparat: Schon makroskopisch sieht man eine Ecke des Schnittes
tieforange tingiert. Die Färbung geht gegen den Rest des Präparates in leichtes Gelb
über. Mikroskopisch findet man in dieser einen Ecke intensiv gefärbte Markscheiden-
reste, die teilweise noch den früheren Verlauf der Nervenfasern erkennen lassen
(ähnlich wie die Schnitte aus dem Block 1), und außerdem einzeln stehende Mark-
brocken sowie reichlich mit Abräumfett beladene Myelophagen. Die Peripherie dieses
Markbrockenherdes grenzt an normales Gebiet; in diesem Grenzgebiet machen die
Markscheiden sehr häufig den Eindruck, als wären sie abgerissen. An einer engen
Stelle der Peripherie sieht man aber auch ein davon etwas abweichendes Bild. Hier
ist der Übergang des Herdes in die gesunde Partie nicht brüsk, sondern wird durch
ein Feld vermittelt, in dem an den Markscheiden eigenartige Veränderungen wahr-
genommen werden können. Sie zeigen entweder einzeln stehende oder rosenkranz-
artig angeordnete Verdickungen, die eine kugelige oder mehr längliche, spindelförmige
Gestalt besitzen. Die Größe dieser Verdickungen variiert in sehr weiten Grenzen und
scheint bis zu einem gewissen Grade von der Stärke der von dieser Veränderung
betroffenen Nervenfaser abzuhängen. So sahen wir oft, daß die größten kolbigen
Anschwellungen gerade die dicksten Fasern aufwiesen, während die dünneren eher
mit geradlinigen Konturen verliefen. An sudangefärbten Schnitten aus diesem Block,
die nachher mit gewöhnlichen Hämatoxylin nachbehandelt worden sind, erkennt man,
daß sich gerade innerhalb des in Rede stehenden Übergangsfeldes die Achsenzylinder
mit relativ großer Intensität färben; sie sind hier jedenfalls gut sichtbar, während sie
im Rest des Präparates überhaupt nicht zum Vorschein kommen. Die mit Hämatoxylin
tingierten Abschnitte der Axone sind alle sehr verbreitert, ihre Quellung übertrifft
bei weitem die gewöhnlich in alten Herden anzutreffenden Grade. Innerhalb der
Markscheidenauftreibungen bilden die Achsenzylinder verschiedenartigste Schlingen,
Spiralen und Knäuel. (Vgl. Abb. 9.) Ihre Substanz erscheint vollkommen homogen,
doch ist zu bemerken, daß nicht nur einzelne Axone untereinander Unterschiede in
der Färbung aufweisen, sondern auch einzelne Abschnitte desselben Axons. So kann
man z. B. an den spiralig gedrehten Achsenzylindern oft gut sehen, daß eine Spiraltour
bedeutend intensiver gefärbt erscheint als die vor und hinter ihr gelegenen.
b) Präparat nach Spielmeyer: Hier sind die Verhältnisse den obigen im
Sudanpräparat ganz analog. Die orangegefärbte Ecke des Sudanschnittes ist hier sehr
leicht, aber doch merklich aufgehellt und enthält Markballen sowie mehr zusammen-
hängende oder richtiger aneinandergereihte Markscheidenreste. Der Rest des Schnittes
scheint von normalen Markscheiden erfüllt, mit Ausnahme eines schärfer umgrenzten,
engen Areals, in dem wiederum aufgetriebene Markscheiden wahrgenommen werden
können und dessen Lage im Schnitt dem Übergangsfeld aus dem Sudanpräparat genau
entspricht. Auch hier zeigen sich Bilder, die bereits Thoma gesehen hatte und als
Hypertrophie der Achsenzylinder deutete. Diese sind nämlich sehr stark gequollen,
verlaufen korkzieherartig gewunden und zeigen eine ganz hervorragende Affinität
zu Eisenhämatoxylin. das ihm eine dunkel graublaue, ganz homogene Färbung
verleiht
c) Präparat nach Bielschowsky mit nachfolgender Sudanfärbung: Hier sind
drei verschiedene Gebiete zu unterscheiden. Das dem normalen entsprechende, in
welchem keinerlei Veränderungen nachgewiesen werden können, das Markballen-
gebiet und das Übergangsfeld. Das Markbällengebiet, das sich durch ein reichliches
Auftreten von Myelophagen und noch nicht abgebauten Markresten charakterisiert,
zeigt scharf und ungemein tief imprägnierte Achsenzylinder. Die immer wieder betonte
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 101
Argentophilie der entmarkten Axone wird gerade hier, wo ein Herd an gesundes
Gebiet grenzt, überaus deutlich sichtbar. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß
die Argentophilie nur relativ ist, denn es ist möglich, daß ein Vorhandensein der
Markscheide das Eindringen von Silbernitrat erschwert und auch die reduzierenden
Mittel nicht gut einwirken läßt. Jedenfalls sind die entmarkten Achsenzylinder im
allgemeinen etwas verdickt, aber vollkommen glatt. An vielen Stellen kann man den
Achsenzylinder in das algerissene Myelinrohr hineinschlüpfen sehen. Man hat den
Eindruck, als ob hier die Axone an Zahl bedeutend vermindert wären. Bei weitem
reichhaltiger gestaltet sich das dritte Gebiet, das dem Areal der aufgequollenen
Markscheiden entspricht. Es fallen sofort folgende Merkmale ins Auge: geschlängelter
Verlauf der Achsenzylinder und ihre ungleichmäßige, häufig wie abgerissene Impräenie-
rung. Außerdem sieht man an vielen Stellen an den geschwollenen Axonen eine
feine Körnelung auftreten, wobei die Körnchen reihenartig zusammengelegt erscheinen
oder auch mehr diffus angeordnet sind. Während an einzelnen Stellen die Konfigu-
ration des Axons noch erhalten bleibt, sieht man an anderen Stellen, wie er sich
in solche Körnchen fortsetzt oder sich in ihnen auflöst. In diesem Gebiet bemerkt
man besonders deutlich, daß die Quellung «des Axons stückweise erfolgt, wobei der
Übergang des gequollenen Abschnittes in den ungequollenen auffallend brüsk auf-
tritt. Auch die dünnen Achsenzylinder sind hier sehr geschlängelt und man sieht auch
Fragmentationen. Die dünnen Axone sind fast durchwegs tiefschwarz gefärbt, die
dickeren lassen verschiedene Nuancen erkennen bis zum lichten Rauchgrau. Es sind
dies alles Veränderungen, welche sehr an die von Schob beschriebenen erinnern,
wobei man nicht sagen kann, daß irgend welche Degenerationsform überwiesen
würde.
Block 5. Lumbosakralanschwellung. Inmitten gesunder Substanz ein alter, gut
begrenzter Herd im Hinter- und Seitenstrang.
a), b) Sudanpräparat und Präparat nach Spielmeyer: Über diese Präparate
ist nicht viel auszusagen; sie geben typische Bilder für einen alten Skleroseherd.
Vollkommener Schwund von Markscheiden in einem schärfer umschriebenen Gebiet
von Erbsengröße mit dichter Gliawucherung.
c) Präparat nach Bielschowsky: Auch hier ein typisches Bild für einen alten
sklerotischen Herd. Es wird ein ziemlich starker Ausfall von Achsenzylindern fest-
gestellt. Die vorhandenen sind verdickt, bandartig erweitert, von etwas rauhen
Konturen und wellenförmigem Verlauf. Die sonst oft sichtbaren ganz zarten Axone
werden hier in nur geringer Anzahl angetroffen.
Fall H. Makroskopisch reichliche Skleroseherde in allen Höhen des Rücken-
marks, besonders in der Zervikalanschwellung.
Block 1. Zervikalanschwellung (Hinterstrang).
a) Sudanpräparat: An das Gebiet der Hinterhornsäule grenzend breitet sich zu
beiden Seiten des Septum paramedianum ein länglich ovaler Herd älteren Datums
aus, wie es aus dem Fehlen der Markscheiden, aber auch von Myelophagen ersichtlich
ist. Jenseits des Herdes breiten sich Markscheiden von durchaus normaler Beschaffen
heit aus.
b) Präparat nach Spielmeyer: Entlang der Hinterhornsäule erstreckt sich ein
ovales Areal, in welchem Markscheiden fehlen.
c) Präparat nach Bielschowskv: Die Achsenzylinder in dem typischen alten
Herde sind sehr stark imprägniert und erscheinen tiefschwarz, während diejenigen im
normalen Gewebe sich eher grau präsentieren. Besonders auffallend an den Axonen
im Vergleich mit anderen älteren sklerotischen Herden ist ihre Verdiekung und ihre
vollkommen gerade Verlaufsrichtunge. Es scheint. daß auch in diesem Herde ein großer
Teil der Achsenzylinder zugrunde gegangen ist, denn die Abstände zwischen den
einzelnen sind stark verbreitert. Sonst zeigt uns dieser Block keine nennenswerten
Besonderheiten.
102 L. Jaburek.
Block 2. Zervikalanschwellung (Seitenstrang).
a) Sudanpräparat: Beide Seitenstränge erscheinen makroskopisch stark affiziert.
Unter dem Mikroskop bemerkt man in der weißen Substanz dünne Bündel scheinbar
intakter Nervenfasern, wie sie durch die ganze Länge des Präparates durchlaufen,
das sonst von fettbeladenen Myeolophagen sehr dicht besät ist. Irgend welche frühere
Stadien des Markscheidenzerfalls sind nicht zu bemerken. Es hat hier den Anschein,
als ob sich der Herd nicht nach allen Seiten hin gleichmäßig vergrößert hätte bzw.
aus einer Konfluenz mehrerer kleinerer Herde entstanden wäre, sondern daß er durch
funikuläre Ergreifung einzelner Nervenfaserbündel zustande gekommen ist. Dafür
spricht das „streilige“ Aussehen des Präparates.
Abb. 2. Frischer Markscheidenzerfallsherd. Die Achsenzylinder sind intakt.
b) Präparat nach Spielmeyer: Man bemerkt eine Lichtung in den Markscheiden,
welche teils diffus, teils funikulär die Seitenstränge befällt. Es entspricht im ganzen
dem Sudanpräparat von oben.
c) Präparat nach Bielschowsky mit nachfolgender Sudanfärbung: Entsprechend
dem funikulären Ausfall der Markscheiden zeigt die Silberimprägnation einen ebenfalls
stärkeren funikulären Ausfall von Achsenzylindern. Das führt auf den Gedanken, daß
wir hier nicht nur einen eigentlichen Skleroseherd vor uns haben, sondern auch das
Bild einer bereits stattgefundenen Wallerschen Degeneration, die funikulär von der
Stelle der Läsion weg durch die Schnitte und durch einen Herd frischeren Datums
hinzieht. Dieses Präparat kann als Beispiel dienen, wie vorsichtig man die Bewertung
der Befunde vornehmen muß. Ein Vergleich der Abb. 2 eines Mikrophotogrammes aus
diesem Block mit dem Photogramm der Abb. 10 (beide sind bei derselben Vergrößerung
aufgenommen worden) zeigt überzeugend, um wieviel ärmer an Axonen das eben
besprochene Präparat ist. Es stellt ganz zweifellos einen sklerotischen Herd dar, denn
man sieh: vollkommen entmarkte Achsenzylinder in anscheinend guter Verfassung.
Sie sind weder übermäßig gequollen, noch weisen sie einen mehr geschlängelten
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose 103
Verlauf als gewöhnlich auf, noch sonst irgend welche anderen degenerativen Ver-
änderungen. Aus der Anwesenheit zahlreicher Myelophagen (im Mikrophotogramm
schwarz) könnte man schließen, daß wir es hier nur mit einem relativ frischen Herde
zu tun haben, wenn der Herd seine gewöhnliche Form und Ausbreitung hätte. Das
trifft aber nicht zu. Der Markscheidenausfall verläuft funikulär und spricht für eine
Wallersche Degeneration, die erst sekundär in einen nicht ganz alten sklerotischen
Herd die Myelophagen von entfernteren Gebieten hineingelangen läßt. Für eine
solche Auffassung spricht auch der sehr starke Achsenzylinderausfall, welcher aus
einer Summation aus mehreren höhergelegenen Herden herzurühren scheint. Neue
Details zum Verhalten der Achsenzylinder und der Markscheiten während der Degene-
ration gibt uns dieser Block nicht.
Block 3. Oberes Dorsalmark.
Block 4. Unteres Dorsalmark.
aì, b) Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: Die aus den genannten
Höhen gewonnenen Schnitte zeigen keinerlei Besonderheiten. Es sind in ihnen teils
einzeln stehende, teils mehr konfluierende Skleroseherde verschiedenen Datums ent-
halten, aus welchen das Zerfallsfett bereits abtransportiert worden ist. Allenfalls
läßt sich nach dem Gefüge der Glia eine annähernde Trennung in jüngere und ältere
Herde durchführen.
cì) Präparat nach Bielschowsky: In den jüngeren Herden fällt es auf, daß
die Achsenzylinder sehr ungleiches Kaliber aufweisen, so daß ganz dünne nehen typisch
geschwollenen in schön geschwungenen Wellenlinien dicht nebeneinander verlaufen.
Auch hier scheint sich die sekundäre Degeneration ausgewirkt zu haben. In den
älteren Herden sieht man dann genau, wie in den frischeren das Vorkummen von
dicken und dünnen Axonen nebeneinander und auch hier den Übergang von ge-
quollenen in geschrumpfte. Auffällig ist immer die Schlängelung, welche fast in
keinen der Achsenzylinder fehlt. Das Verhältnis der dicken Axone zu den dünnen
ist hier doch so, daß die dünnen überwiegen. Manchmal, besonders an den Seiten-
rändern der Präparate, erblickt man ungemein dicke Achsenzylinder, die mit dem
Verlauf ihrer Neurofibrillen an stark aufgedrehte Seile erinnern. Der Umstand, daß
solche Achsenzylinder nicht tief unter der Oberfläche des Rückenmarks liegen, läßt
vermuten, daß diese Gestaltsveränderungen durch die besonderen Bedingungen der
Fixation an den äußeren Schichten des Gewebes hervorgerufen werden.
Block 5. Oberer Teil der Lendenanschwellung (Seitenstrang).
a) Sudanpräparat: In diesem Block von etwa 15 mm Höhe sieht man an Schnitten,
welche nicht weit dorsal vom Zentralkanal gelegen sind, daß sich über die eine
Rückenmarkshälfte ein langer, fast die ganze Höhe des Blockes einnehmender älterer
Herd hinzieht. In der Mitte dieses ausgedehnten Herdes, in welchem es sonst zu einem
völligen Schwund der Markscheiden und ihrer Derivate gekommen ist, sieht man
noch deren Reste teils in Form freistehender Markbrocken, teils in Myelophagen
verpackt Dieser jüngere Herd liegt also in dem älteren und ist von ihm allseitig
gut abgegrenzt. In der zweiten Hälfte des Schnittes sind durchwegs normale Nerven-
fasern zu konstatieren.
b) Präparat nach Spielmeyer: Es entspricht in jeder Beziehung dem obigen.
Die eine Hälfte des Präparates weist keine sichtbaren Veränderungen auf, die andere
zeigt inmitten eines Gewebes, in welchem bereits keine Markscheidenspuren nachge-
wiesen werden können, noch unbedeutende Reste von Myelinabbaustoffen. Es zeigt
sich hier eine Umkehrung der gewöhnlichen Verhältnisse, wo der Kern des Herdes
am ältesten ist und die jüngeren (Gewebeveränderungen an seiner Peripherie beob-
achtet werden können. Wir «deuten uns die Entstehung des Herdes aus dem be-
sprochenen Block auf diese Weise, daß er aus einem Zusammenfließen zweier oder
mehrerer Herde entstanden ist, wobei ihre Berührungsstellen mit den jüngsten histo-
logischen Veränderungen scheinbar in die Mitte eines einzigen Herdes zu liegen
kommen und als ein für sich bestehender Herd imponieren.
104 L. Jaburek.
c) Präparat nach Bielschowsky: Im Gegensatz zu den Vergleichspräparaten
mit gefärbten Markscheiden können hier auf der Herdseite keine Differenzierungen
zwischen Mitte und Peripherie des Herdes vorgenommen werden. Der eine Seiten-
strang zeigt sich gleichmäßig affiziert, die Affektion selbst scheint, was die Axone
anbelangt, überall im gleichen Stadium zu liegen. Irgend welche akute Veränderungen
sind an den Achsenzylindern nicht sichtbar; sie sind wie gewöhnlich teilweise ge-
quollen, teilweise geschrumpft, gut imprägniert und entsprechen in jeder Beziehung
dem typischen Verhalten der Achsenzylinder in Herden mit vollzogener Sklerose.
Fall III. An den allermeisten Querschnitten des Rückenmarks finden sich zahl-
reiche bald kleinere, bald größere Skleroseherde; Herde von größter Ausdehnung
kommen in der Halsanschwellung vor. Dieses Rückenmark ist aus doppeltem Grunde
besonders interessant. Erstens finden wir hier die verschiedenartigsten Degenerations-
phänomene der Achsenzylinder (akute wie chronische), zweitens auch ganz zweifellose
Regenerationsversuche des Nervengewebes.
Block 1. Zervikalanschwellung (Seitenstrang).
a) Sudanpräparat: Man bemerkt einen von Markscheiden völlig entblösten Herd.
Er zieht sich durch Vermittlung einer Übergangszone in ein Gebiet fort, in welchem
irgend welche Veränderungen an den Markscheiden nicht wahrgenommen werden
können. In der Übergangszone fällt es auf, daß die Markscheiden zu einem sehr
großen Teil verdickt sind und kolbige Erweiterungen aufweisen. In Schnitten, die mit
Hämatoxylin nachgefärbt worden sind, ist es sichtbar, daß in der Übergangszone, und
nur hier, die Achsenzylinder eine ziemlich intensive, gleichmäßig graue Verfärbung
zeigen.
b) Präparat nach Spielmeyer: Hier ist dasselbe zu sehen. Ein Herd von
älterem Datum mit ziemlich dichter Sklerose wird von einer Zone umsäumt, in der
gut gefärbte, jedoch gequollene Markscheiden liegen. In den spindeligen Auftreibungen
verlaufen geschlängelte, hie und da mit Eisenhämatoxylin sogar sehr intensiv tingierte
Achsenzylinder. Gegen die Peripherie des Schnittes und des Herdes sind Markscheiden
zu sehen, an welchen irgend welche Veränderungen nicht nachgewiesen werden können.
c) Präparat nach Bielschowsky: In dem Areal, welches dem älteren sklero-
tischen Herd entspricht, zeigt sich mit Hilfe der Silberimprägnation das gewohnte
Bild: entmarkte Achsenzylinder, die eine starke Argentophilie aufweisen und teils
leicht gequollen, teils etwas geschrumpft in verminderter Anzahl und leicht geschlän-
gelten Verlauf den Herd durchsetzen. Ihr Kaliber ist nicht überall gleich stark, sie
weisen oft Verdickungen auf, die sich über kürzere oder längere Strecken ausdehnen,
aber schließlich doch wieder abnehmen. Das Übergangsgebiet, welches im Sudan- und
und Spielmeyerpräparat gequollene Markscheiden aufwies, zeigt in bezug auf die
Achsenzylinder folgendes: die Axone, welche hier aus dem darunterliegenden Herd
und aus dem darüberliegenden normalen Gewebe einstrahlen, verdicken sich ziemlich
beträchtlich, um in korkzieherartigen Spiraltouren und nach wiedererfolgter Ver-
dünnung die andere Seite des Übergangsgebietes zu erreichen. Was das Verhalten
der Achsenzylinder dem Silber gegenüber anbelangt, so fällt es auf, daß ihre Imprägna-
tionsfähigkeit dort abzunehmen beginnt, wo die Schwellung einsetzt. Die beträcht-
liche Abnahme der Argentophilie erfolgt allmählich; der im alten Herde tiefdunkle
Achsenzylinder wird hier nur graubraun, braun, schließlich gelb, sogar nur sehr
hellgelb imprägniert. Er erinnert bis zu einem gewissen Grade an die Achsenzylinder
im normalen Gewebe, wo sie sich alle viel schwieriger darstellen lassen als im alten
Herde selbst. Während aber im gesunden Gewebe sich alle Axone gleichmäßig schwer
tingieren lassen, ist es hier in dem Quellungsherd keineswegs der Fall. Man sieht
nämlich ebenfalls nicht selten, daß gerade innerhalb gequollener Axonstrecken die
Neurofibrillen stärker als sonst imprägniert erscheinen. Wenn diese zu einem „effi-
lochement” auseinanderweichen, so kann durch stärkeres Auftreten der perifibrillären
Substanz, die sich schwächer färbt, eine gewisse Aufhellung des Axons bemerkt werden,
die jedoch nicht mit schwächerer Imprägnation verwechselt werden darf. Dasselbe
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 105
ist zu beachten, wenn auf einem Abschnitt des Axons die Neurofibrillen in Körner
zerfallen. Dann sieht man fast immer, daß gerade die Körner tiefschwarz erscheinen.
Nun sieht man aber auch oft bandartig erweiterte Axonstücke, von einer glatten,
homogenen Beschaffenheit und gelben Färbung; solchen allein dürfte die Bezeichnung
schwächerer Imprägnationsfähigkeit zukommen, obwohl sie den Eindruck hervorrufen,
als ob in ihnen die Neurofibrillen vollkommen zerstört und aufgelöst wären und nur
die perifibrilläre Substanz zurückbleiben würde. Solche Achsenzylinder sehen gewisser-
maßen bloß wie Axonschatten aus. Diese Axonschatten sind in ihrem zumeist ge-
schlängelten Verlauf auf beiden Seiten von ganz kleinen, braunschwärz gefärbten
Körnchen begleitet, die sich manchmal zu größeren Brocken von scharfen Umrissen
zusammenballen und um die Axonreste herum eine netzartige Umhüllung bilden,
manchmal aber zu einer doppelten Reihe ordnen.
Es ist sehr schwer, sich über die Natur dieser Körnchen ein Urteil zu bilden.
Wir glauben, daß sie schon von Doinikow gesehen worden sind. denn der Autor
findet eigentümliche Körnchenreihen, «ie sich mit Silber stark imprägnieren, auch
dort, wo sich die Markscheiden nur als Gerüst vorfinden, also etwa so, wie in
unserem Falle Auch die nähere Beschreibung «dieser Körnchen stimmt mit unseren
Befunden gut überein. Manchmal scheinen sie sich in einen Achsenzylinder hinein
verfolgen zu lassen. Dieser Umstand sowie die starke Argentophilie dieser Körnchen
und Brocken könnte dafür sprechen, daß sie aus den Axonen selbst herstammen.
Anderseits sind sie auch neben relativ ganz gut erhaltenen Achsenzylindern zu beob-
achten, so daß man geneigt wäre, sie als Markscheidenderivate zu bewerten, um so
mehr als man manchmal tatsächlich den Eindruck hat, daß die Brocken innerhalb
der Markscheiden liegen. Es sei hier daran erinnert, daß Marinesco in degenerierenden
Nervenfasern bei der multiplen Sklerose fuchsinophile Körnelungen gefunden hat, die,
was ihr Vorkommen und ihre Verteilung anbelangt, unseren argentophilen entsprechen
könnten und mit diesen vielleicht identisch sind. Möglicherweise ist der Ursprung
dieser Körnelungen kein einheitlicher. Jedenfalls sind sie streng von solchen zu unter-
scheiden, die im Achsenzylinder selbst liegen und durch eine Frakturierung und
Pulverisierung der Axone entstehen; diese sind, wie gesagt, ebenfalls alle stark
argentophil. Abb. 3 zeigt ein Mikrophotogramm aus der besprochenen Gegend im
Präparat, in welchem der körnige Zerfall der Achsenzylinder stellenweise sehr deutlich
zum Vorschein tritt. Auf der Abbildung sind auch die periaxonalen Körnchen- und
Brockennreihen angedeutet. Man sieht auch Bilder, wie sie Schob gezeichnet und
beschrieben hat, wo die körnige Auflösung des Achsenzylinders eher brockig ausfällt
und wo die verklumpten Fibrillenreste scharfe und zackige Gebilde entstehen lassen.
Block 2. Zervikalanschwellung.
Block 3. Dorsalmark. In beiden Blöcken (im Vorder-, Seiten- sowie Hinterstrang)
finden sich ganz alte Herde neben vereinzelten jüngeren Datums. Weder die einen
noch die anderen liefern uns Bilder, welche von den bereits beschriebenen in irgend
welcher Weise nennenswert abweichen würden.
a) Sudanpräparat: Typisches Bild. Herdweiser Ausfall von Markscheiden. Hie
und da sind auch Markballenreste mit Myelophagen zu sehen.
b) Präparat nach Spielmeyer: Typisches Bild. Herdweiser Ausfall von Mark-
scheiden mit vollkommener Aufhellung des Schnittes.
© Präparat nach Bielschowsky: Typisches Bild. In Herden, in denen der
Markscheidenabbau noch nicht vollendet ist, fällt es immerhin auf, daß an den
Achsenzylindern keine schwereren Veränderungen wahrgenommen werden können.
Sie sind durchaus solchen ähnlich, welche sich in ganz alten Herden vorfinden, d. h.
sie sind gequollen oder auch übermäßig geschrumpft, ihre Zahl ist vermindert, ihre
Argentophilie gesteigert, ihr Verlauf stellenweise sehr geschlängelt. Trotz wenauester
Beobachtung konnten zwischen ganz alten Herden und jüngeren Markscheidenzerfalls-
herden keine Unterschiede im Verhalten der Achsenzylinder festgestellt werden.
Abb. 3. Akute Achsenzylinderdegeneration. Fragmentierung und körniger Zerfall der
Axone mit periaxonalen Körnern.
Abb. 4. Schnitt durch eine Rückenmarkshälfte ventral vom Canalis centralis. Färbung
der Markscheiden nach Spielmeyer.
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 107
Block 4. Lumbalanschwellung. Die Schnittführung zieht beiderseits ventral
vom Canalis centralis durch die beiden Vorderhornsäulen und «durch die Fissura
med. ant. Es zerfällt also ein Schnitt in zwei symmetrische Hälften, da sie in der
Mittellinie durch die Fissur geschnitten sind. In jeder Schnitthälfte sieht man einen
mehr weniger durch die Mitte laufenden Streifen grauer Substanz (die Vorderhom-
säulei sowie rechts und links davon zwei Streifen weißer Substanz, die dem Vorder-
und Seitenstrang entsprechen. Zur histologischen Behandlung wurden immer nur die
Schnitte einer Rückenmarkshälfte genommen. Wie die Abb. 4 :Mikrophotogramım eines
Präparats nach Spielmeyer) zeigt, ist der Seitenstrang bis auf ein kleines Feld
(an der oberen Schnittgrenze) beinahe ganz sklerotisch; im Vorderstrang, in der Ab-
bildung rechts, ist der Großteil der Markscheiden erhalten.
ai Sudanpräparat: In einem der Seitenstränge ein kleines Feld, das die äußerste
obere Peripherie des Schnittes einnimmt und in welchem gequollene Nervenfasern
in reichlicher Anzahl beobachtet werden können. Gegen die graue Substanz hin
werden scharf tingierte Myelinabbaustoffe gefunden. Dazwischen sind aber auch
scheinbar intakte Markscheiden zu sehen. Es werden also in diesem Herde ganz junge
Veränderungen neben solchen etwas älteren Datums festgestellt.
b) Präparat nach Spielmeyer: Abb. 4. Deckt sich zur Gänze mit Präparat
von oben.
c) Präparat nach Bielschowsky: Starke Drgenerationszeichen an den
Achsenzylindern, welche denen in Block 1 desselben Falles beschriebenen durch-
aus ähnlich sind. Im besonderen finden wir auch hier die periaxonalen Körnchen-
reihen, welche sich zu periaxonalen Netzen und Scheiden verdichten können. Außer-
dem finden wir Imprägnationsänderungen der Axone, auch deren körnige Auflösung.
Sonst wären an den Achsenzylindern Aufbündelungen, unregelmäßige Quellungen, die
dann gelegentlich von Schrumpfungen abgelöst werden, sowie ihr geschlängelter Ver-
lauf hervorzuheben. Als besonders charakteristisches Merkmal der Schnitte aus dieser
Gegend ist eine Unzahl allerfeinster Achsenzylinder zu betrachten, die sich den
dickeren eng beimischen und im Präparat scheinbar regellos dahinziehen, da sie sich
an den allgemeinen Verlauf der stärkeren Achsenzylinder nicht halten, diese über-
queren und umschlingen. Als einen Befund, den wir in keinem zweiten Falle mehr
erheben konnten, müssen wir das reichliche Auftreten von Perroneitoschen Spiralen
und Sprossungserscheinungen an den Achsenzylindern bezeichnen. Was die ersteren
anbelangt, so treten sie in recht verschiedenen Formen der Ausbildung auf. So sieht
man Bilder (Abb. 5, 6, 7). in denen ein dickerer, gewöhnlich gequollener Axonstamm
von reichlichen, außerordentlich zarten Neurofibrillenbündeln begleitet wird und wie
diese letzteren entweder einzeln oder zu zweien, manchmal scheinen es noch mehr
zu sein, sich um den dicken Achsenzylinder zu Spiraltouren herumlegen, um ihn dann
wieder nach einigen (zwei bis etwa sechs) U'mkreisungen frei zu lassen. Beim Bewegen
der Mikrometerschraube sieht man sehr deutlich, wie sich die vor dem Axonstamm
befindlichen Windungszüge in die hinter ihm befindlichen fortsetzen und umgekehrt.
Es kommt auch vor, daß dünne Fibrillenbündel von rechts und links kommend, um
den Achsenzylinder eine doppelte Spirale beschreiben. In diesen Bildungen vom Typus
der Perroncitoschen Spiralen sind außer dem umschlungenen Achsenzylinderstamm
und den umschlingenden Neurofibrillenbündeln noch regelmäßig andere Gebilde zu
sehen, und zwar Körnergruppen und Körnerreihen, deren Charakter an die geschilderten
periaxonalen, argentophilen Körnelungen erinnert. Sie sind in keiner einzigen Nerven-
faser mit Perroncitoscher Spirale gänzlich zu vermissen, kommen aber in einem
sehr verschiedenen Grade der Ausbildung zum Vorschein. Sind sie nieht zahlreich
vertreten, dann ersetzen die zu Reihen angeordneten Körner hie und da eine Spiral
tour oder laufen dem Axonstamm entlang und stellen auf diese Weise gerade Ver-
bindungen zwischen den einzelnen Windungen der Spiralfasern her. Es ist aber auch
zu sehen, und dies ist die Regel, daß sie in größeren Anhäufungen auftreten, die neben
dem Axonstamm zu körnig-schwammigen Strängen angeordnet um diesen herum Aus-
läufer senden, so daß dann der Achsenzylinder von nebeneinander liegenden körnigen
5
Abb. 5. Perroneitosche Spirale mit periaxonalen Körnern aus einem Seitenstrang
des Rückenmarks (Typus 1).
Abb. 6. Perroncitosche Spirale aus einem Seitenstrang des Rückenmarks. Die
periaxonalen Körnchenreihen sind nicht abgebildet (Typus II).
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 109
Ringen oder körnigen Spiralen eingeschlossen erscheint. Zwischen diesen extremen
Typen gibt es nun eine Reihe von Übergängen, so daß sie alle als dieselben Stadien
oder Ausbildungsgrade derselben Erscheinung anzuschen sind. Es liegt nahe, diejenigen
Formen, die ausgesprochen körnig sind und mehr schwammig erscheinen, als Degene-
rations- und Zerfallsformen der Perroncitoschen Spiralen anzusehen, um so mehr
als wir wissen, daß sie in weiter fortgeschrittenen Skleroseherden nicht anzutreffen
sind, daß sie also nicht dauerhaft sein können. Wie ist das Verhältnis der Perron-
citoschen Spirale zur Markscheide? In unseren Präparaten, in denen diese Spiralen
auftreten, aber auch in solchen, wo die periaxonalen Körnerreihen zu sehen sind,
erscheinen die Markscheiden im Bielschowsky-Präparat recht deutlich als braune
Streifen zu beiden Seiten der Axone. Sowohl die periaxonalen Körner wie die Perron-
citoschen Spiralen liegen nun nicht nur in dem Raume zwischen Achsenzylinder
und Markscheide, sondern auch zum Teil in der letzteren selbst. Dieser Umstand ließ
uns in Erwägung ziehen, daß die periaxonalen Körner aus einem Zerfall der Mark-
scheiden entstehen könnten, um so mehr als diese mittels der Silberimprägnation schon
gewisse Veränderungen erkennen lassen. So finden wir ihre Substanz durchaus nicht
homogen. wie es für die gesunden die Regel ist, sondern vielmehr brockig strukturiert
und von einem ausgespruchenen Imprägnationsvermögen, welches eben bewirkt, daß
sie sich im Bielschowsky-Präparat im (regensatz zu den normalen braun aus-
färben. Ein ganz ähnliches Verhalten zeigen die Markscheiden in Arealen, wo wir
Perroncitosche Spiralen gefunden hatten. Auch hier erscheinen sie braungelb,
brockig strukturiert und besitzen unebene, ausgebuchtete Umrisse. Die Windungszüge
der Perroncitoschen Spiralen liegen nun zwischen den Brocken der degenerierenden
Markscheide, so daß es den Anschein erweckt, als würden die regenerierenden Neuro-
fibrillen die alten Markscheiden als Leitbahn bei ihrer Weiterentwicklung benützen
und dann bei fortschreitendem Zerfall des Myelinrohres selbst zugrunde gehen. Dafür
scheint der Umstand zu sprechen, daß Perroncitosche Spiralen mit ausgesprochenem
Degenerationscharakter (Brocken und Körner) eben in solchen Markscheiden gefunden
werden, welche selbst höhere Grade einer Destruktion aufweisen, während die typischen,
gut erhaltenen Regenerationsspiralen «der Neurofibrillen auch in Markscheiden von
eher normaler Struktur beobachtet werden.
Außer den Perroncitoschen Spiralen bemerkten wir in den Präparaten aus
dem vorliegenden Block noch eine andere Form von ausgesprochenem regenerativen
Charakter, und zwar die Sprossungskeulen. Auf Abb. 8 ist ein Achsenzylinder dar-
gestellt (im Präparat befindet er sich zwischen Axonen, die in Perroncitosche
Spiralen eingewickelt sind), aus dem sich blässer gefärbte kolbige Gebilde heraus-
lösen, die aber dem Achsenzylinder noch immer mit einer recht breiten Basis auf-
sitzen. Man bemerkt, wie ein Teil der axonalen Neurofibrillen in die kolbigen Aus-
wüchse übergeht, gewissermaßen ihre Peripherie bildend, wie aber auch in das Innere
dieser Sprossungen Neurofibrillen übergehen, um sich dort aufzulösen. Das auf diese
Weise entstehende neurofibrilläre Netz ist sehr weitmaschig und es erscheinen daher
die Sprossungskeulen, die hauptsächlich aus Perifibrillärsubstanz aufgebaut sind,
bedeutend heller gefärbt als der Axonstamm, aus dem sie sich herausentwickelt hatten.
Solche keulenförmige Gebilde sind öfters anzutreffen. Sie sind ganz bestimmt keine
Retraktionskugeln; dagegen spricht schon ihre scharf ausgeprägte, neurofibrilläre
Struktur. Daß es sich hier tatsächlich um sprossende, also regenerative Bildungen
handelt. erhellt daraus, daß man bis zu einem gewissen Grade ihre Entstehung ver-
folgen kann. An einer umschriebenen Stelle bemerkt man ein weitgehendes „effi-
lochement“ des Achsenzylinders, das sich in einer Richtung immer stärker aufbündelt
und zugleich an seiner Basis abschnürt. Es ist natürlich nicht gemeint, daß ein jedes
„effilochement” eine Vorstufe für eine Sprossungskeule bedeutet. Wo wir aber einen
Achsenzylinder finden, an dem diese wie Blätter in verschieden starker Ausbildung
herumsitzen, so zweifeln wir nicht, dazwischenliegende Aufbündelungen als junge
Sprossungsstadien ansprechen zu können. Es erinnern übrigens diese Aufbündelungen
und korbartigen Auswüchse in jeder Beziehung so sehr an die Neubildung von Nerven-
Abb. 7. Perroncitosche Spirale aus einem
Seitenstrang des Rückenmarks. Die periaxonalen
Körner angedeutet (Typus II).
Abb. 8. Sprossungskeulen eines Achsenzylinders
aus einem frischen Herd im Seitenstrang.
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 111
endknöpfchen an der Peripherie (wie sie von uns in der Epidermis der Reptilien
beschrieben worden ist). daB wir überzeugt sind, mit unserer Auffassung das Richtige
getroffen zu haben.
Fall IV. Eine fast vollständige Sklerose des Rückenmarks, in dem umschrie-
bene Herde eigentlich eher von den Resten der nicht entmarkten weißen Substanz
gebildet werden.
Block 1. Zervikalanschwellung (Seiten- und Hinterstrang).
a) Sudanpräparat: Die Schnitte nehmen keine Farbe an. Unter dem Mikroskop
bemerkt man eine kleine Insel schwach gefärbter, anscheinend unveränderter Mark-
scheiden zwischen dem Septum medianum post., den beiden Septi paramediani und
den Hinterhornsäulen.
b; Präparat nach Spielmeyer: Ein dem vorigen korrespondierendes Bild.
Vollkommene Aufhellung des Schnittes, mit Ausnahme eines kleinen Feldes in den
Hintersträngen.
c) Präparat nach Bielschowsky: Zeigt durchwegs ein Gewebe, das schon
vor langer Zeit die Markscheiden verloren hatte. Die Achsenzylinder erscheinen bald
schwächer, bald stärker gelichtet, sie verlaufen größtenteils in breiten Wellenlinien,
manchmal aber auch ganz gerade. Viele von ihnen weisen lokale oder diffuse Ver-
dickungen und ausgesprochene Quellungen auf. Andere wiederum zeigen im Gegensatz
dazu Schrumpfungen, die auf weitere Strecken verfolgbar sind und von kurzen, spindel-
förmigen Anschwellungen unterbrochen werden. Auffallend ist hier wiederum die aus-
gezeichnete Färbbarkeit der Neurofibrillen, die meistens zu «dickeren Strängen zu-
sammengeklebt, in den Achsenzylindern nebeneinander verlaufen. Die in frischeren
Herden zu beobachtenden ganz zarten Axone werden hier fast vollkommen vermißt.
Block 2. Zervikalanschwellung.
Block 3. Oberes Dorsalmark.
Block 4. Mittleres Dorsalmark.
In allen Blöcken zerstreute Skleroseherde, welche in allen drei Rückenmarks-
strängen beobachtet werden. Die Seitenstränge scheinen am meisten befallen.
a), b) Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: In den Blöcken zwei
bis vier zeigen sich typische Bilder der multiplen Sklerose mit dichter Gliaprolifera-
tion. Frischere Herde konnten nicht festgestellt werden.
c) Präparate nach Bielschowsky: Auch hier die gewöhnlichsten Bilder einer
herdweisen Entmarkung mit dem typischen Verhalten der Axone. Frische Degenera-
tions- oder Regenerationsphänomene wurden nieht beobachtet. Es sei betont, daß
Schrumpfungen und Quellungen nebeneinander auftreten und daß die Anzahl der
Axone bald unverändert, bald stark vermindert erscheint.
Block 5. Unteres Dorsalmark ıHinterstränge).
Beide Hinterstränge, vom Septum longit. post. bis nahe an die graue Substanz
der Hinterhornsäulen erscheinen größtenteils sklerotisch; relativ gesundes Gewebe
ist auf unbedeutende Reste reduziert. Das Sudanpräparat zeigt links einen schmalen
Streifen relativ gut erhaltener Nervenfasern, der sieh in der oberen Hälfte des
Schnittes bis an das Septum longit. post. erstreckt. Nach oben und unten von den
relativ intakten Nervenfasern sind keine Markscheiden zu sehen. In der rechten
Hälfte des Schnittes sieht man näher am Septum gelegen ein größeres, länglich ovales
Feld, das von zahlreichen Myelophagen eingenommen wird und darüber ein kleineres
ebenfalls von Myelophagen und noch nicht abgebauten Markballen besetztes Gebiet.
Ganz rechts sieht man wiederum einen ganz schmalen, stellenweise dicker werdenden
Streifen gut erhaltener Nervenfasern. In einem Präparat von Spielmeyer ist das-
selbe zu schen, und zwar links ein Areal mit erhaltenen Markscheiten, rechts ein Feld
mit dichter Sklerose. Zum Unterschied von dem Sudanpräparat sind hier in der
rechten Hälfte des Schnittes keine Myelophagen sichtbar. Dieser Schnitt erscheint im
ganzen etwas kleiner wie der Vorhergehende, was durch die Behandlungsweise (Schrump-
112 L. Jaburek.
fung in Alkohol) verursacht worden ist. Der dritte Schnitt nach Bielschowsky
zeigt makroskopisch gute Übereinstimmung mit den vorigen. Das helle Feld links
und der von diesem Felde nach unten ziehende Streifen entsprechen der Stelle, wo
in den anderen Präparaten annähernd normale Nervenfasern zu finden waren. Der
sklerotische Rest des Schnittes gestattete eine intensive Imprägnation der Neurofibrillen,
so dab das Präparat bei der schwachen Lupenvergrößerung fast schwarz erscheint.
Auch dieser Schnitt ist bei derselben Vergrößerung wie die vorigen aufgenommen
worden. Durch die angewendete Methodik ist er aber mehr geschrumpft als die
anderen, so daß er auf der Abbildung kleiner erscheint.
a) Sudanpräparat: Mikroskopisch findet man links zwischen Nervenlasern,
welche teilweise keine Veränderungen aufweisen, teilweise aber ziemlich beträcht-
lich gequollen sind, auch noch einzeln stehende Myelophagen. Man bemerkt,
daß die intakten Markscheiden sehr gelichtet sind und kann an den gequollenen
gewisse Regelmäßigkeiten in ihren pathologischen Veränderungen wahrnehmen, die
noch später eingehender zu besprechen sein werden. In den sklerotischen Partien
der linken Schnitthälfte sieht man weder Markscheiden noch ihre Reste, nur hie und
da mit Abräumfett beladene Myelophagen. Rechts vom Septum sind nur Myelophagen
und vereinzelte Markscheiden vorhanden, welche letzteren gegen den rechten Rand
des Schnittes immer dichter werden, aber auch hier eine ganz ansehnliche Lichtung
bemerken lassen.
b) Präparat nach Spielmeyer: Auch mikroskopisch entspricht dieses Präparat
dem obigen mit dem Unterschied, daß Markballenreste und Myelophagen in weit
geringerer Anzahl vorhanden sind. Sehr hübsch sind in diesem Schnitt die Quellungen
der Nervenfasern dargestellt.
© Präparat nach Bielschowsky: Das Imprägnationsbild der Axone hängt
davon ab, welche Stelle des Schnittes wir im Mikroskop einstellen. In den
sklerotischen Partien sowie in den ovalen, von Myelophagen eingenommenen Arealen
der rechten Schnitthälfte finden wir relativ intakte Achsenzylinder vom bekannten
Typus, der durch die ungleiche Quellung und Schrumpfung, durch die starke Imprä-
gnation und den wellenförmigen Verlauf charakterisiert wird. Irgend welche Unter-
schiede im Verhalten der Axone aus den Myelophagenarealen und aus den sklero-
tischen Gebieten konnten absolut nicht gefunden werden. Dagegen zeigte sich wiederum,
daß dort, wo die Markscheiden akute Veränderungen iQuellung) aufweisen, auch die
Achsenzylinder am stärksten affıziert sind. Eine genaue Aufzählung der hier ge-
fundenen Veränderungen würde nur zur Wiederholung dessen führen, was wir bei
Beschreibung des Blockes 1 aus dem Fall IHI bereits ausführlich mitgeteilt hatten;
es fanden sich hier nämlich dieselben Degenerationszeichen mit Zerfall und körniger
Auflösung der Achsenzylinder. Unsere früher gemachte Beobachtung, daß quellende
Markscheiden sich mit Silber gelhbraun imprägnieren, konnten wir noch einmal be-
stätigt finden.
Block 6. Oberer Teil der Lumbosakralanschwelhung.
Block 7. Unterer Teil der Lumbosakralanschwellung.
In den beiden Blöcken fanden wir zerstreute Skleroseherde, welche zumeist
bereits älteren Datums waren und in allen drei Rückenmarkssträngen vorkamen.
ai, bì Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: Wir fanden hier überall
typische Bilder, wie wir schon Gelegenheit hatten, sie näher zu beschreiben.
ci Präparate nach Bielschowsky: Typisches Bild der Achsenzylinder aus
einem älteren Herd. Neue Details wurden nicht beobachtet.
Fall V. Reichliche Skleroscherde von verschiedenem Alter in allen Höhen
des Rückenmarks, besonders im oberen Dorsalmark.
Block 1. Zervikalanschwellung (Seiten -und Vorderstränge).
a) b, cı Sudanpräparate, Präparate nach Spielmeyer und Bielschowsky:
Alle ergeben übereinstimmend, daß wir hier mit älteren Herden zu tun haben, deren
Verhalten in keiner Beziehung von dem beschriebenen Typus abweicht.
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 113
Block 2. Oberes Drittel des Dorsalmarks.
a) Sudanpräparat: Im Hinterstrang ein frischer, beiderseits neben dem Septum
longitud. post. symmetrisch gelegener Herd. An Stelle der zerstörten Markscheiden
sieht man sehr zahlreiche, mit Fett beladene Myelophagen. Der erwähnte Herd grenzt
an ein Gebiet, in dem gequollene Nervenfasern dicht nebeneinander liegen. Das haupt-
sächlichste Merkmal der Quellung ist die Dickenzunahme der Fasern. Bei einem
genaueren Studium der Quellungsbilder fällt es aber ins Auge, daß die Dicken-
zunahme hauptsächlich den Achsenzylinder betrifft, der bandförmig erweitert, weite
Strecken des Präparates durchläuft. Die Markscheide selbst scheint zunächst wenig
verändert. Außer einer Erweiterung des Lumens, entsprechend dem vergrößerten
Dickenausmaß des Axons, weist sie in leichteren Quellungsgraden keine Besonder-
heiten auf. In ausgeprägteren Fällen jedoch sieht man oft, wie sich ihr Markmantel,
Abb. 9. Kolbige Aufquellung der Nervenfaser aus einem frischen Herd.
der bis dahin den Achsenzylinder eng umschlossen hielt, von diesem auf anfänglich
kurzen Strecken abzuheben beginnt, wodurch zwischen beiden ein kleiner, zirkulärer
Spaltraum entsteht. Dieser wird in Fällen stärkerer Quellung größer, so daß die
verdickte Markscheide in ihrem Verlauf spindelige, ja selbst große kugelige Auf-
treibungen aufweisen kann, deren Hohlräume der Achsenzylinder passiert, ohne sie
indessen vollkommen auszufüllen. Innerhalb solcher Auftreibungen der Markscheide
zeigt der Achsenzylinder ein charakteristisches Verhalten: er windet sich korkzieher-
artig um seine Längsachse oder zeigt Ansätze zu einer Schlingenbildung. Die
Abb. 9 eine Mikrophotographie eines mit Sudan III und Hämatoxylin gefärbten
Schnittes (die Markscheiden färben sich leuchtend gelb, der Achsenzylinder leicht
graublau), führt die dargestellten Verhältnisse vor Augen: man sieht eine mit ihrer
Längsachse etwas schräg verlaufende spindelige Auftreibung der Markscheide, in
ihr einen Teil der Axonspirale und unterhalb eine zweite, jedoch weniger stark
gequollene Nervenfaser, die das untere Ende der Spindel überlagert.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXII. Bl. 8
114 L. Jaburek.
Was das genauere Verhalten des Achsenzylinders anbelangt, so beobachten wir,
daß seine Dickenzunahme gegen die Markspindel zu immer stärker wird, um ihr
Maximum innerhalb der Auftreibung auf dem Spiral- oder Schlingenabschnitt des
Axons zu erreichen. Gleichzeitig können wir einige Unterschiede in seinem färbe-
rischen Verhalten konstatieren. Das gequollene Axon imprägniert sich bedeutend
schwächer und bei weitem nicht so gleichmäßig mit Silber wie das normale, ein
Umstand, der allgemein bekannt ist, und verrät überdies auf dem Höhepunkt der
Quellung eine ausgesprochene Affinität zu Hämatoxylin, was wir nicht nur in diesem
Falle ganz genau feststellen konnten. Auch auf Gefrierschnitten, deren Markscheiden
nach der Methode von Spielmeyer gefärbt worden waren, sahen wir viele gequollene
Achsenzylinder viel intensiver gefärbt als die Markscheiden selbst. Dies trat an ent-
sprechend differenzierten Präparaten sehr schön hervor. Dasselbe konnte an Schnitten
beobachtet werden, die mit Ehrlichschem Hämatoxylin behandelt worden waren.
Auch im Alzheimer-Mann-Präparat färbt sich der gequollene Achsenzylinder in
einem anderen Farbton als der ungequollene (rot anstatt blau), was von verschiedenen
Autoren gelegentlich hervorgehoben wurde.
Das Quellungsbild der Markscheide zeigt außer den besprochenen Auftreibungen
keine anderen besonderen Merkmale. Daß die Auftreibung selbst durch eine Quellung
bedingt ist und nicht etwa durch Druckkräfte, die von innen wirken würden, ist daraus
ersichtlich, daß die Dicke der Markwand, trotz ihrer großen, durch die besagte Auf
treibung hervorgerufenen Oberflächenvergrößerung nicht nur nicht dünner geworden
ist, sondern im Gegenteil eine feststellbare Dickenzunahme aufweist. Übrigens ist das
Phänomen der Markscheidenquellung als solches hinlänglich bekannt und in der Lite-
ratur oft angeführt. So erwähnt Spielmeyer die Empfindlichkeit der Markscheide
und betont, „daß das Mark leicht quillt und gerinnt und auch ungleich schrumpft.
So kommen an Markscheidenpräparaten vom normalen Gewebe allerhand Auftreibungen
und spindelige Blähungen zu Gesicht, die eben nicht als krankhaft bewertet werden
dürfen“. Warum wir sie in unserem Falle für pathologisch halten, soll bei der Be-
sprechung der Befunde angeführt werden.
Zusammenfassend läßt sich der Quellungsvorgang an den Nervenfasern so
charakterisieren, daß in nicht weit vorgeschrittenen Stadien der Quellung die Mark-
scheide und der Achsenzylinder ihren Kontakt noch (leidlich) zu bewahren vermögen
und daß dieser erst bei stärkerer Quellung aufgehoben wird. Aus der Aufhebung des
Kontaktes zwischen Axon und Markscheide in gequollenem Zustand muß man schließen,
daß sich der Quellungsprozeß bei diesen beiden Medien auf eine verschiedene Weise
auswirkt, oder kurz, daß sie beide ungleiche Quellungswerte besitzen. An den Achsen-
zylindern beobachten wir zunächst eine deutliche Vergrößerung des Ausmaßes in allen
Radien, später auch eine ebenso ausgesprochene Vergrößerung in der Längsachse.
Dadurch wird bewirkt, daß sich der verlängerte Achsenzylinder, da ihm keine ent-
sprechende Verlängerung des Raumes zu Gebote steht, notgedrungen in eine Schlinge
oder Spirale legen muß. Die Markscheide dagezen quillt vornehmlich zirkulär (oder
tangential), und zwar in einem höheren Maße als das Axon radiär, woraus schließlich
die beschriebene Spaltbildung zwischen diesen beiden Körpern resultieren muß.
(Vgl. unsere Untersuchung über die Struktur der Nervenfaser, die im XNXIIL Bd
derselben Zeitschrift erschienen ist.)
b: Präparat nach Spielmeyer: Quellungsbilder vom Charakter der oben be-
schriebenen. Wie bemerkt, zeigt sich hier die Färbekraft von Hämatoxylin gegenüber
quellenden Achsenzylindern besonders deutlich.
© Präparat nach Bielschowsky: Die Areale frisch gequollener Nervenfasern
in den vorigen Präparaten entsprechen einem akuten Herd in den silberimprägnierten
Schnitten (siehe Block 1 des Falles HD. Die Axone verlieren beim Betreten des
Quellungsherdes ihre Farbe, erscheinen blaßbraun und gelb, werden übermäßig dick
und zerfallen hie und da zu einem staubartigen Detritus; außerdem sieht man genau
so wie im Fall HI entlang den Axonen oder vielleicht richtiger Axonschatten die
bereits dort ausführlich beschriebenen Körnchenreihen. Außer diesen schwereren
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 115
degenerativen Veränderungen (brockiger und körniger Zerfall) die manchmal einer
vollkommenen Auflösung des Achsenzylinders gleichzukommen scheinen, sieht man
noch andere, die sich in einer Aufbündelung der Neurofibrillen manifestieren und
oft die von Schob beschriebene Ösenbildung zeigen.
Block 3. Unteres Drittel des Dorsalmarks.
a), b) Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: In dem etwa 15 mm
hohen Block, aus welchem zahlreiche Schnitte aus den Vorder-, Seiten- und Hinter-
Abb. 10. Achsenzylinder aus einem alten Herd mit geradlinigem Verlauf.
strängen angefertigt wurden, ist bloß eine einzige, alte sklerotische Narbe festzu-
stellen. Dementsprechend halten die Schnitte keine Farbe auf.
c) Präparate nach Bielschowsky: Sehr starker Axonausfall. Die vorhandenen
erscheinen relativ intakt und weisen eine mittelmäßige Quellung auf, die gegen «lie
freien Ränder des Präparates immer stärker wird. Ein solches Verhalten der Axone
haben wir bereits an einem anderen Falle konstatiert und brachten dies mit den
Fixierungsbedingungen in Zusammenhang.
Block 4. Oberer Teil der Lumbosakralanschwellung.
Block 5. Unterer Teil der Lumbosakralanschwellung.
a‘, b), c) Sudanpräparate, Präparate nach Spielmeyer und Bielschowsky:
Alle zeigen übereinstimmend die Anwesenheit von durchwegs alten Herden an. Die
b*
116 L. Jaburek.
in ihnen enthaltenen Achsenzylinder sind wie gewöhnlich teilweise gequollen, teil
weise geschrumpft und verlaufen wellenförmig in verbreiterten Abständen.
Fall VI. Dieser Fall bietet insoweit ein Interesse, als wir hier zahlreiche
Herde beobachten können, in denen der akute Zerfall der Markscheiden gut sichtbar
ist. Außerdem sehen wir in diesem Rückenmark viele ältere Herde mit weit fortge-
schrittenem Axonausfall.
Block 1. Oberstes Zervikalmark. (Vgl. Abb. 10.)
Block 2. Unteres Zervikalmark. In beiden Blöcken Herde, die in allen Strängen
ziemlich gleichmäßig verteilt liegen.
a), b) Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: Beide zeigen durch-
wegs ältere Herde, wie wir sie zu beschreiben bereits Gelegenheit gehabt hatten und
Abb. 11. Frischer Markscheidenzerfallsherd. Die Achsenzylinder sind intakt.
an denen etwas vom gewöhnlichen Typus Abweichendes nicht beobachtet werden
konnte.
c) Präparate nach Bielschowsky: Auch hier kann etwas vom Typus Ab-
weichendes nicht verzeichnet werden. Die Achsenzylinder verhalten sich durchwegs
so, wie es für die alten sklerotischen Herde die Norm ist.
Block 3. Unteres Dorsalmark (Seitenstrang).
a) Sudanpräparat mit vorhergehender Bielschowsky-Imprägnation: Ein
frischer Herd mit zahlreichen Myelophagen in anscheinend vollkommen gesunder
Substanz. Hie und da bemerkt man außer Markballen noch kürzere oder längere
Abschnitte wohlgeformter Markscheiden, die indes bereits fettig degeneriert sind, da
sie sich mit der Sudanfärbung kräftig tingieren lassen. Siehe Abb. 11. Die Faser
links besitzt einen stärkeren Markiantel, die Faser rechts einen bedeutend schwächeren.
Beide erscheinen im Präparat orangefarben. Die übrigen Achsenzylinder in der Ab-
bildung und die meisten im Präparat sind vollkommen nackt. Als besonders auffallend
soll hier noch einmal hervorgehoben werden, daß die Achsenzylinder außer einer
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 117
Quellung mäßigen Grades keine anderen Degenerationsphänomene zeigen. Ihre Imprä-
gnationsfähigkeit ist wie in den älteren Herden mit ganz abgebauten Markscheiden
außerordentlich stark. Aus dem Abbaustadium des Myelins, d. h. aus dem Vor-
handensein von Markballen sowie aus dem teilweisen Erhaltensein der Markscheiden
schließen wir, daß wir es hier mit einem relativ sehr jungen Herd (Scharlachrot-
stadium) zu tun haben. Einen so jungen Herd haben wir in unseren Fällen kein
zweitesmal finden können.
Abb. 12. Achsenzylinder aus einem alten Herd mit gewelltem Verlauf. Starke
Axonlichtung.
b) Präparat nach Spielmeyer: Es zeigt uns einen akuten Zerfallsherd der
Markscheiden auf, der nach seiner Größe, Ausbreitung und Lage im Schnitt dem-
jenigen aus dem Sudanpräparat entspricht.
c) Präparat nach Bielschowsky: Hätten wir nicht ein mit Sudan gefärbtes
Vergleichspräparat aus derselben Höhe vor uns, so wäre es schwer zu sagen, daß
der Herd ein so frischer ist. Irgend welche Veränderungen an den Axonen weisen
nicht darauf hin. Sie haben bei ihrer diffusen Quellung durchwegs glatte Umrisse
und eine ausgezeichnete Imprägnationsfähigkeit.
Block 4. Lumbalmark (Seitenstrang).
118 L. Jaburek.
a), b) Sudanpräparate und Präparate nach Spielmeyer: Beide decken ein
kleinees, ovales, von Markscheiden total entblöstes Gebiet auf.
c) Präparat nach Bielschowsky: Ein Herd älteren Datums mit typischer
Axonlichtung. Die meisten Achsenzylinder sind sehr stark gequollen und zeigen einen
cher geknickten als gewellten Verlauf, wie auf Abb. 12 ersichtlich. (Vgl. damit den
alten Herd auf Abb. 10.) Außer den dicken Achsenzylindern sieht man aber auch
ungemein zarte Axone, die wie geschrumpft aussehen.
Die Abb. 10 und 12 zeigen extreme Typen alter sklerotischer Herde, zwischen
welchen wir in unseren Fällen alle möglichen Übergangsstufen beobachten konnten.
Außer. diesen sechs Sklerosefällen, die wir systematisch bearbeiteten,
standen uns noch zwei weitere zur Verfügung, die wir jedoch nur gewisser-
maßen als Kontrollmaterial benützten. Als Kontrollmaterial wurde von uns
ferner ein gesundes Rückenmark nach den aufgezählten Methoden behandelt.
In Präparaten, die wir aus den Kontrollfällen (VII und VIII) besitzen,
konnten wir keine neuen, histopathologische Veränderungen an den Nerven-
fasern aufdeckende Details eruieren. Die aus diesen Fällen erhaltenen Bilder
entsprechen ganz den schon ausführlich beschriebenen und bestätigen sie.
Präparate nach der Methodik Bielschowsky plus Spielmeyer wurden
von Fall zu Fall angestrebt. Da sie aber nicht immer einwandfrei gelangen,
so wurde von einer systematischen Beschreibung derselben abgesehen, um
so mehr als sie schließlich auch nicht mehr aufzudecken imstande waren
als die kombinierte Methode Bielschowsky plus Sudan. Die leichte Über-
legenheit der ersteren beruht auf einer prägnanteren Darstellung der intakten
Markscheiden, der letzteren dagegen auf einer besseren Wiedergabe des
Zerfallsfettes.
Bei der Herstellung von Präparaten aus dem gesunden Rückenmark
konnten wir uns immer wieder überzeugen, daß hier die Bielschowsky-
Methode nur ungemein schwer gelingt, daß auch die besten Präparate zu
wünschen übrig lassen.
Besprechung der Befunde.
Aus der vorgebrachten Literaturübersicht sowie aus der Beschreibung
der eigenen Fälle erhellt es, daß die Verschiedenartigkeit der Bilder, die uns
ein multipel sklerotisches Rückenmark bei einer auf die Darstellung von
Nervenfasern hinzielenden Untersuchung bietet, so reichhaltig ist, daß wir
beinahe behaupten könnten, es gebe überhaupt keine pathologische Ver-
änderung der Nervenfaser, die in einem solchen Rückenmark nicht zu finden
wäre. Selbst die so „monotonen” alten Herde weisen untereinander so
beträchtliche Unterschiede auf, die die Menge der vorhandenen Achsen-
zylinder, ihre Färbbarkeit, ihren Verlauf, ihre Umrisse usw. betreffen, daß
sich zwei alte Herde trotz ihrer gemeinsamen charakteristischen Merkmale
doch ziemlich ungleich sehen können (vgl. Abb. 10 und Abb. 12). Nur so
kann der scheinbare Widerspruch verstanden werden, der zwischen den
Ansichten der einzelnen Autoren besteht, wenn sie einen alten Herd ver-
schieden beschreiben. Ungleich verwirrender wird die Sache, wenn man
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 119
jenseits eines alten sklerotischen Herdes gelegene Schnitte oder Stellen,
welche an einen (frischen) Herd grenzen, durchmustert. Hier finden sich
scheinbar alle möglichen Veränderungen, sowohl degenerativer wie auch
regenerativer Natur chaotisch nebeneinander und es ist durchaus kein
leichtes, sie so zu ordnen, daß sie nicht nur aufgezählt, sondern im Zu-
sammenhang auch verstanden werden könnten. Eine besondere Schwierig-
keit erwächst aus dem Umstand, daß Herde verschiedenen Alters in den
allerseltensten Fällen voneinander streng separiert bleiben. Unsere Präparate
gaben uns oft Gelegenheit zu bemerken, wie inmitten eines von Mark-
scheiden völlig entblößten Areals noch frischer Myelinabbau im Gange war,
wie z. B. in Fall H, Block 5, und Fall IV, Block 5, oder wie alte Herde
mit ganz frischen konfluierten, daß wir unbedingt annehmen müssen, daß
das herdweise Auftreten der Veränderungen bei der multiplen Sklerose
nur im allgemeinen zutrifft, daß es auch Fälle gibt, wo Herde verschieden-
sten Datums ineinander liegen können. Freilich wird es gewöhnlich als
Regel gelten, daß in der Mitte des Areals, wo Veränderungen verschiedenen
Alters wahrgenommen werden können, solche zu finden sein werden, die
schon am längsten bestehen, doch ändert dies kaum etwas an der Tatsache,
daß in einer umschriebenen Partie des Rückenmarks (in dem Herd) die
Nervenfasern dem Krankheitsprozeß sukzessive und gruppenweise unter-
liegen, wobei natürlich die zu einer Gruppe gehörigen auch ganz zerstreut
daliegen können. Diese Verhältnisse haben zur Folge, daß man zu einer
richtigen Beurteilung der Veränderungen mit rein topischen Momenten,
welche nur die Lagebeziehungen einzelner Herde zueinander berücksichtigen
würden, nur sehr schwer gelangen kann. Es würde auch versagen, wenn
man die Abbauvorgänge an den Markscheiden allein als Richtschnur benützen
wollte. Muß doch in Erwägung gezogen werden, daß bei der multiplen
Sklerose außer den primären, für «diese Erkrankung charakteristischen Ver-
änderungen der Markscheiden, die am Orte der Einwirkung der unbekannten
pathogenen Noxe zu verzeichnen sind, noch sekundäre beobachtet werden,
die sich als Folgen der Wallerschen Degeneration in weiter Entfernung
vom primären Herde abspielen können; diese sekundären Veränderungen
oder wenigstens gewisse Phasen dieser Veränderungen, welche in das sudan-
positive Stadium fallen, könnten zu einer falschen Beurteilung der tatsäch-
lichen Verhältnisse führen. Als Beispiel wollen wir hier den Block 2 des
Falles II anführen, wo wir auf Längsschnitten aus dem Rückenmark funiku-
lären Ausfall der Axone beobachten konnten und diesen mit der sekundären
Degeneration in Zusammenhang gebracht hatten. Trotz dieser Einschränkung
werden wir den Bildern des Markscheidenabbaues, die sich sehr gut chrono-
logisch ordnen lassen, großen Wert beimessen.
So müssen wir also bei einer Klassifikation der in unseren Fällen ge-
fundenen Veränderungen der Nervenfasern möglichst alle Momente berück-
sichtigen. Bei der Durchsicht unseres Materials, das aus einigen Hundert
gelungenen Präparaten bestand, konnten wir in die scheinbar regellose Viel-
artigkeit der Bilder dadurch einige Ordnung bringen, daß wir uns bemühten,
120 L. Jaburek.
aus ihnen einige allgemeinere Typen herauszuholen. Als solche haben wir
folgende aufgestellt:
1. Der alte sklerotische Herd, in denen die Silberimprägnation
bloß die relativ restituierten Achsenzylinder, die Sudan- und Spielmeyer-
Färbung weder Markscheiden noch irgend welche Markscheidenreste, auch
keine Myelophagen erkennen läßt. Als Untergruppen wären hier noch zu
verzeichnen: Herde, in denen die Menge der Achsenzylinder scheinbar keine
Einbuße erlitten hat, und solche, wo ein Axonausfall beobachtet werden
kann. Weitere Differenzierungen könnten nach dem durchschnittlichen Kaliber
der Achsenzylinder vorgenommen werden, ebenso nach ihrem Verlauf, ihrer
Imprägnationsfähigkeit usw.
2. Der Markscheidenzerfallsherd, der hauptsächlich durch die
Sudanfärbung zur Darstellung gebracht wird. Wo immer diese, wenn auch
in Spuren positiv ausgefallen ist, rechneten wir den Herd zu dieser Gruppe.
Weitere Unterabteilungen ergeben sich daraus, ob nur Myelophagen gefärbt
werden oder neben ihnen auch noch mehr oder weniger gut erhaltene Reste
der Markscheiden.
3. Der Achsenzylinderdegenerationsherd mit frischem Axon-
zerfall. Als Zeichen der akuten Veränderung betrachteten wir lokale und
diffuse Quellung mit brockiger und körniger Auflösung und Imprägnations-
ungleichheit. Bilder, die auf eine sekundäre Faserdegeneration zurückzu-
führen wären, gehören nicht hierher.
4. Der Achsenzylinderregenerationsherd, in welchem Regene-
rationsprozesse von seiten der Axone wahrgenommen werden, und zwar sowohl
Perroncitosche Spiralen wie auch Sprossungskeulen.
5. Der akute Quellungsherd, in welchem spindel- und kugelförmige
Auftreibungen der Markscheiden mit gleichzeitiger Quellung der Achsen-
zylinder mit Schlingenbildung beobachtet werden.
In den sechs bearbeiteten Fällen überwiegen bedeutend die alten Herde.
So fanden wir solche in
Fall I in Block 3 und 5,
Fall Il in Block 1, 3 und 4,
Fall III in Block 1, 2 und 3,
Fall IV in Block 1, 2, 3, 4, 5, 6 und 7,
Fall V in Block 1, 3, 4 und 5,
Fall VI in Block 1, 2 und 4,
d. h. im ganzen Material 22mal.
Die anderen Herde sind weit seltener anzutreffen. Markscheidenzer-
fallsherde haben wir in folgenden Fällen gefunden:
Fall I in Block 3 und 5,
Fall II in Block 2,
Fall III in Block 2 und 3,
Fall IV in Block 5,
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 121
Fall V in Block 2,
Fall VI in Block 3,
d. h. im ganzen Material 8mal.
Frische Achsenzylinderdegeneration sahen wir in
Fall II in Block 1 und 4,
Fall IV in Block 5,
Fall V in Block 2,
d. h. im ganzen Material 4mal.
Einen Herd mit Regenerationserscheinungen an den Achsenzylindern in
Fall III in Block 4,
d. h. im ganzen Material bloß 1mal.
Akute Quellungsherde der Nervenfasern ın
Fall I in Block 4,
Fall II in Block 1 und 4,
Fall IV in Block 5,
Fall V in Block 2,
d. h. im ganzen Material ömal.
Was das histopathologische Bild des alten sklerotischen Herdes anbe-
langt, so wurde es, wie eingangs in der Literaturzusammenstellung ange-
führt, oft behandelt; wir schließen uns vollkommen der Ansicht Biel-
schowskys an, welcher bei seiner Beschreibung schon im Jahre 1903
angibt, daß sich die Nervenfasern in verschiedener Weise präsentieren
können. Sie bilden meist, wenn sie längs getroffen sind, homogene schwarze
Bänder, welche sich von denjenigen entsprechender Stellen im normalen
Präparat nur durch eine stärkere Schlängelung und starke Differenzen im
Kaliber unterscheiden. Nach dem Autor sieht man an den Fasern nicht
selten knollige und perlschnurartige Auftreibungen mannigfaltigster Größe,
wie sie auch von anderen Autoren beschrieben worden sind. Häufig sieht
man ferner, daß die längsgetroffenen Fasern alter Herde an einer bestimmten
Stelle ihr homogenes Aussehen verlieren, um eine Strecke weit als Bündel
parallel gerichteter Neurofibrillen zu ziehen. Manchmal gelingt der Xach-
weis, daß sich die Fibrillen nach einem kurzen Verlauf wieder zu einem
schwarzen Band vereinigen. Die Befunde sprechen nach Bielschowskys
Ansicht dafür, daß man es in den Herden im wesentlichen mit persistieren-
den Elementen zu tun hat, denn der Autor konnte einen direkten Übergang
von Fasern aus gesunden Stellen in den Herd beobachten.
Wir können zu diesen Feststellungen Bielschowskys mit Marburg
(1911) hinzufügen, daß sich verschiedene alte Herde durch einen sehr ver-
schiedenen Gehalt an Axonen unterscheiden, der zweifellos vom Grade der
primären Schädigung abhängt. Weitere Merkmale, die zwei alte Herde von-
einander unterscheiden können, sind der Verlauf der Achsenzylinder und
ihr Kaliber. Wieso es kommt, daß hier die Axone beinahe geradlinig durch
122 L. Jaburek.
den Herd ziehen und dort in ausgesprochenen Wellenlinien, ist schwer zu
sagen. Auch kann das verschiedene Kaliber der Achsenzylinder nicht auf
die Wirkung der Fixierungsflüssigkeit zurückgebracht werden, denn es finden
sich sehr zahlreiche Schnitte, in denen eminent gequollene Axone neben ganz
zarten und dünnen wie geschrumpften dicht nebeneinander vorkommen.
Dies ist sogar für einen alten Herd die Regel.
Es unterliegt heute keinem Zweifel mehr, daß die in den alten Herden
angetroffenen Axone durchwegs Elemente sind, die die akuten Verände-
rungen der Fasern überstanden hatten. Da wir aber Gelegenheit haben, in
unseren Präparaten Regenerationsvorgänge zu beobachten, so müssen wir
solche auch berücksichtigen und zu diesem Zweck die Literatur etwas
heranziehen. An die Möglichkeit einer Regeneration von Nervenelementen
bei der multiplen Sklerose wurde seit längster Zeit gedacht, obgleich eigent-
lich nichts Sicheres gefunden werden konnte, was dafür sprechen würde.
Popoff (1894) hielt die gewucherte Glia der sklerotischen Narbe für
regenerierte Achsenzylinder, Huber (1895) und Goldscheider (1898) zogen
die Regeneration bloß in Erwägung, während Strähuber (1903, 1904) seine
Ansicht, der Großteil der Axone in den sklerotischen Herden sei regeneriert,
gegenüber den Feststellungen Bielschowskys (1903, 1904) sehr entschieden,
jedoch erfolglos verteidigte. Doch wollte auch Bielschowsky eine gering-
fügige Regeneration der Achsenzylinder nicht ganz in Abrede stellen (1903),
denn er schrieb, daß man zuweilen Bildern begegnet, die allerdings Zweifel
darüber erwecken können, ob nicht neben den die überwiegende Mehrzahl
bildenden persistierenden Fasern neugebildete vorkommen. Man sieht näm-
lich mitunter, daß Achsenzylinder sich spitzwinklig in zwei Äste gabeln und
daß der eine oder der andere dieser Äste wieder eine Zweiteilung eingeht.
Um Kollateralen kann es sich nach Bielschowsky bei dieser eigentümlich
spitzwinkligen Teilung nicht handeln. Man ist versucht, derartige Bilder als
einen Sprossungsvorgang zu deuten und kann eine Stütze für diese Auf-
fassung darin finden, daß im Mark der embryonalen Hemisphären ähnliche
Befunde an den Nervenfasern vorkommen. Auch das von Popoff beschrie
bene pinselartige Aufsplittern der Achsenzylinder konnte Bielschowsky
gelegentlich beobachten. Wahrscheinlich handelt es sich aber hier nach dem
Autor nicht um den Ausdruck einer Regeneration, sondern einer Degene-
ration.
Borst (1903, 1904) und Marburg (1906) betonen jedenfalls, daß irgend
welche Regenerationsvorgänge mit Sicherheit nicht nachgewiesen worden
sind.
Marinesco und Minea (1909) haben einen Fall von akuter multipler
Sklerose anatomisch untersucht und an Hand von einigen Abbildungen Ver-
änderungen an den Nervenfasern demonstriert, in denen sie zum Teil Regene-
rationsvorgänge erblicken. Insbesondere beschreiben die Autoren Achsen-
zylinder, welche an ihren Enden Keulen tragen und die am reichlichsten an
der Grenze zwischen grauer und weißer Substanz sowie in den Hinterhörnern
auftreten. Solche Endkugehi, aus denen noch feinere Sprossungszweige
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 123
hervorgehen können, sollen aber auch in der weißen Substanz vorkommen.
Neben dieser „régénérescence terminale“ finden die Autoren noch eine „re-
generescence collaterale“‘, die sich in einer Bildung reichlicher Kollateral-
zweige ausdrückt.
In einer späteren Arbeit beschreiben dann Anton und Wohlwill
(1912), daß es strittig ist, ob auch Achsenzylinderregeneration vorkommt; in
geringerem Grade scheint dies wohl der Fall zu sein. Sicher als Regenera-
tionserscheinungen zu deutende Bilder haben die Autoren nicht gesehen.
A. Jakob (1913) glaubt gewisse charakteristische Erscheinungen an den
Nervenfasern im Bielschowsky-Bilde der akuten Herde im Sinne einer
stattfindenden Regeneration deuten zu müssen; es scheint ihm aber, daß
diesen dünnen Fasern keine Lebensfähigkeit zukommt.
Doinikow (1915), der die De- und Regenerationserscheinungen an den
Achsenzylindern bei der multiplen Sklerose eingehend bespricht und insbe-
sondere Kollateralbildungen und Wachstunskeulen beschreibt, resumiert, daß
die Entscheidung in seinem Falle häufig besonders schwierig ist, denn die
Wachstumskugeln selbst zeigen wohl unter dem Einfluß der fortdauernden
Noxe oft Degenerationsphänomene in Form von Quellungen und auch die
präexistierenden Endapparate an den Ganglienzellen (-endfüßchen) schwellen
zu großen Endkugeln. Es können nur dort mit Sicherheit Regenerations-
phänomene angenommen werden, wo es zu abnormen Verzweigungen der
Axone kommt. Trotz dieser Einschränkungen konnte von Doinikow in
seinem Falle festgestellt werden, daß Regenerationsvorgänge an Achsen-
zylindern stattfinden, wobei allerdings die Ausgiebigkeit dieser Erscheinun-
gen in verschiedenen Teilen des Zentralnervensystems keine gleiche ist. In
Übereinstimmung mit dem Tierexperiment waren auch bei Doinikow die
Sprossungsvorgänge am ausgiebigsten an den Axonen der grauen Substanz
des Rückenmarks (insbesondere der Hinterhörner), alsdann, wenn auch viel
seltener in den weißen Strängen, und zwar vornehmlich in den Hinter-
strängen desselben zu beobachten.
Schob (1923) meinte hiezu, nach einer sehr genauen Untersuchung
eines eigenen Falles, daß es ihm widerstrebe, auch die Bilder an den dünnen
Achsenzylindern, wo doch fast alle Knöpfchen ebenfalls vakuolig verändert
erscheinen, als Ausdruck eines Regenerationsvorganges anzusprechen. Der
Autor war vielmehr der Ansicht, daß es nicht bewiesen erscheint, ob es
sich bei den Verdickungen der Kollateralen um eine kompensatorische Hyper-
trophie handelt, denn ebenso nahe liegt doch die Erklärung. daß normal
schon vorhandene (nicht neugebildete) Kollateralen, die im Normalpräparat
wegen ihres dünnen Kalibers gar nicht oder kaum hervortreten, an dem
allgemeinen Quellungsvorgang des Axons teilnehmen und eben dadurch
deutlicher in die Augen springen.
Irgend welche Belege für eine Regeneration von Nervenfasern bei der
multiplen Sklerose konnte Schob selbst nicht beibringen.
Marinesco (1924, 1925, 1926) betont in seinen Beiträgen zur Histo-
pathologie der multiplen Sklerose, daß er Endnetze und Endknöpfe gefunden
124 L. Jaburek.
hat, denen wohl regenerative Funktionen zugeschrieben werden müssen. Der
Autor hält aber diese Bildungen nicht für dauerhaft.
Die Frage nach der Regeneration bei der multiplen Sklerose bildet
natürlich nur eine Teilfrage aus dem Problem der Regeneration im Zentral-
nervensystein überhaupt.
Die experimentellen Untersuchungen Stroebes (1894) (Durchschneidung
des Rückenmarks bei Kaninchen), von Borst (1904) (Einführung von Zelloi-
dinprismen mit durchbohrten Kanälen bei Kaninchen), Saltykow (1905)
(Abtragung von Gehirnrinde bei Kaninchen), Fickler (1905) (an Katzen und
Kaninchen ausgeführte Untersuchungen, zit. nach Bielschowsky), Cajal
(1906) (Durchschneidung des Rückenmarks bei jungen Katzen), Marinesco
und Minea (1906) (Durchschneidung des Rückenmarks bei Hunden) sowie
von Nageotte (1906) zeigten übereinstimmend, daß es Nervenfasern gab,
deren Verhalten, und zwar ihre Lage, Aussehen und Anordnung dafür sprach,
daß sie regenerierte sind. Demgegenüber betonen Marburg (1905), Gier-
lich und Herxheimer (1907) und Miyake (1908), daß sie noch keine
Regenerationsvorgänge im Zentralnervensystem gesehen hatten und daß die
beschriebenen nicht mit voller Sicherheit als solche zu deuten sind.
Mit dem Silberreduktionsverfahren ist es Bielschowsky (1906, 1909)
gelungen, in Kompressionsgebieten des Rückenmarks, in der Randzone infil-
trativ wachsender Blastome und Granulationsgeschwülste regenerierte Nerven-
fasern zweifellos festzustellen. Dieser Autor fand neben marklosen Fäserchen
von atypischer Verlaufsrichtung mit Teilungsfiguren, ähnlich denjenigen, die
im peripherischen Nervensystem beobachtet werden, noch Regenerations-
bildungen vom Typus der Perroncitoschen Spiralen. Im Hinweis auf eine
seiner Abbildungen sagt Bielschowsky (1909): „Hier geht von einer starken
Faser nur ein einziges Seitenästchen ab, welches aber die Besonderheit
zeigt, daß es die Stammfaser in sehr engen Spiraltouren vielfach umrankt,
bevor es in eine Endkugel ausläuft. Daß es sich hier wirklich um Spiral-
touren und nicht um Überkreuzungen handelt, läßt sich in der Abbildung
nicht recht zum Ausdruck bringen.“ Oder (1906): „Man kann an den feineren
Elementen häufig die Tatsache konstatieren, daß sie ihren Kurs ändern,
wenn sie sich alten Markfragmenten nähern. Entweder ziehen sie dann an
ihnen entlang oder sie umkreisen dieselben in langen Spiraltouren wie
Weinranken ihren Stock.“
Wenn wir nun unsere Befunde (Fall HI, Block 4) mit den obigen Litera-
turangaben vergleichen, so müssen wir zu dem Schlusse gelangen, daß uns
die Erbringung eines strikten Nachweises für eine Regeneration von Nerven-
fasern bei der multiplen Sklerose, an dem es uns bis jetzt gefehlt hat, ge-
lungen ist. Neben Neurofibrillenkeulen, die zwar in unserem Falle ganz
bestimmt als Sprossungskeulen zu deuten waren, welche aber immerhin einer
subjektiven Beurteilung viel Raum lassen, konnten sehr zahlreiche Perron-
citosche Spiralen gefunden werden, die ohne jeden Zweifel als Bildungen
einer regenerativen Tätigkeit des Gewebes anzuschen und als solche auch
allgemein anerkannt sind. Dahei fanden wir diese Perroncitoschen Spi-
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 125
ralen in den Seitensträngen des Rückenmarks, woraus hervorgeht, daß es
sich hier um kein Hereinwachsen von Fasern aus den Hinterwurzeln in das
Rückenmark, also gleichsam eine Regeneration peripherer Elemente auf zen-
tralem Boden handeln konnte, sondern daß hier tatsächlich zentrale Nerven-
fasern in Regeneration begriffen waren. Damit erscheint die umstrittene
Annahme, daß das Zentralnervensystem eine regenerative Tätigkeit zu ent-
falten imstande ist, noch einmal bestätigt.
Was nun die frischen Markscheidenzerfallsherde anbelangt, so müssen
wir hier hervorheben, daß in ihnen die Achsenzylinder ein konstantes Ver-
halten aufweisen, welches von den verschiedenen, mit Sudan bestimmbaren
Stadien des Markscheidenabbaues unabhängig ist. Wo immer die Sudan-
oder Scharlachrotreaktion positiv ausfällt, sei es, daß mit ihr nur mehr
Myelophagen dargestellt werden oder noch dem Verlauf der Nervenfasern
entsprechende, in Reihen stehende Markballen oder sogar noch ganze, relativ
gut erhaltene Myelinabschnitte, wie die Abb. 11 zeigt, überall findet man
Achsenzylinder, die durchaus solchen aus alten Herden ähneln. Nirgends
sind an ihnen in den Markscheidenzerfallsherden irgend welche Spuren
akuter Veränderungen, wie wir solche hauptsächlich in der Fragmentierung
und im körnigen Zerfall erblicken, vorzufinden. Wo immer in einem Schnitt
ein Markscheidenzerfallsherd an einen alten Herd grenzte, boten die Axone
in beiden dasselbe charakteristische Bild, das wir bereits oben beschrieben
haben. Würden die Markballen oder die Myelophagen in den Markscheiden-
zerfallsherden fehlen, dann müßte man nach dem Aussehen der Axone
einen alten Skleroseherd diagnostizieren, denn hier wie dort sind die
Achsenzylinder übernormal argentophil, zeigen in ihrem Verlaufe Aufbünde-
lungen, haben sonst gleichmäßig glatte Konturen, sind teilweise gequollen,
teilweise geschrumpft und können in normaler oder verminderter Anzahl
vorhanden sein.
Veränderungen der Axone, welche wir als akut bewerten, und zwar
die ungleichmäßige Quellung, die Schleifenbildung, Fragmentierung, der
körnige und brockige Zerfall, fallen alle, zur Relation mit der Mark-
scheide gebracht, in ein sudannegatives Stadium. Vergleichsschnitte aus den-
selben Blöcken, die auf Markscheiden gefärbt sind, zeigen uns in denselben
Stellen, die den Stellen der akuten Axonveränderungen im Bielschowsky-
Präparat entsprechen, daß Markscheiden vorhanden sind, daß sie aber ebenso
wie die in ihnen verlaufenden Achsenzylinder eigentümliche Veränderungen
ihrer Form aufweisen; diese im Präparat gut definierbaren Stellen bezeich-
neten wir als Quellungsherde. Sie zeichneten sich durch mächtige kolbige
Auftreibungen an den Markscheiden und durch starke Quellung und Schlin-
genbildung der Axone aus, wobei noch gewisse Unterschiede im färberischen
Verhalten der letzteren festgestellt werden konnten.
Nun betont Spielmeyer, daß derartige kolbige Auftreibungen auch
an normalen Fasern beobachtet werden können, daß sie nicht immer als
ein Ausdruck krankhafter Vorgänge zu betrachten sind, sondern eher für
die hohe Empfindlichkeit der Markscheide gegenüber postmortalen Verände-
126 L. Jaburek.
rungen Zeugnis ablegen. Wir sind der Ansicht, daß es sich in unseren Fällen
um eine krankhafte Erscheinung handelte, denn erstens traten die kolbigen
Auftreibungen gruppenweise auf und formierten die Quellungsherde, zwei-
tens waren sie einigemal an der Grenze zwischen gesundem (Gewebe und
einem frischen Markscheidenzerfallsherd zu sehen, während wir sie in ge-
sunden Partien nur sehr vereinzelt und nie in dieser extremen Form beob-
achten konnten.
In was für einem Zusammenhang stehen diese verschiedenen Herd-
typen miteinander? Wenn wir ihre Entwicklung vom alten Herde zurück-
verfolgen, dann kommen wir durch den Markscheidenzerfallsherd, durch den
Achsenzylinderdegenerations- und Regenerationsherd zum Quellungsherd als
dem Ausgangspunkt aller Veränderungen der Nervenfasern bei der multiplen
Sklerose. Im Quellungsherd nämlich finden wir neben normalen Nerven-
fasern, welche absolut nichts Pathologisches aufweisen, auch Nervenfasern,
die bereits stark verändert sind, wobei zwischen den intakten und den affi-
zierten ein fließender Übergang festzustellen ist. Die Affektion selbst beruht
auf einer Quellung der Nervenfasern, und zwar sowohl des Axons als auch
der Markscheide. Die leichteren Quellungsgrade sind kaum zu erkennen,
denn in ihnen erleiden die allgemeinen Formen der Nervenfasern keine
Veränderungen. Als charakteristisch für dieses Stadium gilt die Dicken-
quellung des Achsenzylinders und eine dementsprechende Erweiterung des
Myelinrohres. Die Erweiterung des Markscheidenlumens ist sogar stärker,
denn bei höheren Quellungsgraden wird zwischen Axon und Markscheide
immer ein zirkulärer Spaltraum sichtbar. Schließlich kann die Quellung der
Nervenfaser so weit gehen, daß sich die Markscheide kolbig ausbuchtet,
während sich der gequollene Achsenzylinder innerhalb der Markscheiden-
kolben in Schlingen oder Spiralen legt. In dieser Quellungsphase reagiert
die Substanz der Markscheide noch nicht auf Sudan. Bei der Markscheiden-
färbung nach Spielmeyer reagiert sie normal. Anders verhält sich der
Achsenzylinder, der neben Veränderungen seiner Form auch schon gewisse
Veränderungen in seiner Substanz erkennen läßt. Erstens färbt es sich anders;
in der Alzheimer-Mann-Färbung rot anstatt blau, mit Hämatoxylin blau,
anstatt farblos zu bleiben. Zweitens ist auch seine Struktur deutlich ver-
ändert, wie uns dies das Bielschowskysche Imprägnationsverfahren zeigt.
Die Strukturvreränderungen der Axone in diesem Stadium haben wir als akut
bezeichnet. Es sind da ungleichmäßige Quellung, Schlingenbildung, brockiger
und körniger Zerfall, Imprägnationsungleichheit und Ösenbildung von uns
notiert worden. Der Quellungsherd zeigt uns also, daß in einer Zeit, wo
an den Markscheiden nur eine Quellung sichtbar ist, in den Axonen neben
der Quellung auch schon weitere Veränderungen Platz greifen.
Wir wissen, daß in weiterer Entwicklung des histopathologischen Bildes
die Markscheiden aufgelöst werden, während die Axone in ihrer Mehrzahl
zu einem relativen Integrum zurückkehren. Die frühesten Bilder einer Mark-
scheidenauflösung, in denen die mit Sudan darstellbaren, zu Ballen geformten
Myelinreste den Verlauf der zerstörten Markscheiden markieren, zeigen uns
Cber Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 127
die Axone bereits restituiert. Diese unterscheiden sich absolut nicht von
den Axonen in alten Herden. Untersucht man nämlich Präparate, die aus
älteren Herden herrühren, so findet man an den Axonen keine weiteren
Veränderungen mehr. Das Myelin wird abgebaut, schließlich verschwinden
auch die Myelophagen und mit zunehmender Wucherung der Glia wird aus
dem Herd eine sklerotische Narbe.
In welches Stadium fällt die Restitution der Achsenzylinder? Aus der
Entwicklung der Veränderungen wäre zu schließen, daß sie sofort dem
akuten Degenerationsstadium folgt und daß sie bereits vollendet ist, ehe die
Markscheidenreste sudanpositiv werden. Diesen Schluß bestätigen Bilder, in
denen Regenerationsprozesse der Neurofibrillen fixiert wurden. Es fanden
sich nämlich solche in der Gestalt von Perroncitoschen Spiralen und
Sprossungskeulen inmitten ganz akuter Nervenfaserveränderungen.
Wir glauben also auf Grund unserer Befunde uns den histopathologi-
schen Verlauf der Veränderungen an den XNervenfasern bei der multiplen
Sklerose folgendermaßen rekonstruieren zu müssen:
In einem umschriebenen Gebiet des Zentralnervensystems verfallen die
Nervenfasern einer Quellung mit ihrem typischen Bilde, der Markscheiden-
auftreibung und der Axonverbreiterung im Präparat. Als nächste Folge
dieser Quellung tritt bei den Markscheiden ihr Zerfall in Erscheinung, wäh-
rend sich die Achsenzylinder nach einer kurzen, mit den Silberreduktions-
methoden gut feststellbaren Phase akuter Veränderungen zum allergrößten
Teil erholen und zu einem relativen Integrum zurückkehren. Zu einer Zeit,
wo der Markscheidenabbau so weit fortgeschritten ist, daß er mit Sudan
darstellbar wird, haben die Achsenzylinder bereits ihr für die alten Herde
der multiplen Sklerose charakteristisches Aussehen erlangt. Sie erleiden an-
scheinend keine weiteren Veränderungen, persistieren vielmehr nach Ab-
räumung der Myelinderivate in dem neugebildeten Gliafilz weiter. Die durch
Sprossung neugebildeten Neurofibrillenbündel werden nach sehr kurzer
Lebensdauer im Gewebe wieder eingeschmolzen.
Das Primäre, Ursächliche aller Veränderungen der Nervenfasern bei der
multiplen Sklerose ist nach unseren Befunden ihre Quellung. Alles Weitere,
der Markscheidenzerfall, die Veränderungen von seiten der Axone sind nur
Folgeerscheinungen oder Folgezustände ganz genau so wie die Wallersche
Degeneration, welche eben als Folgeerscheinung nach einer Kontinuitäts-
unterbrechung zwischen der Nervenfaser und ihrer Mutterzelle beobachtet
wird. Die sekundäre Degeneration kommt nun bei der multiplen Sklerose
auch vor; wir bringen sie ebenfalls auf eine Quellung als die primäre Ver-
änderung zurück und nehmen an, daß die Quellung in diesem Falle sich
in der Nervenfaser derart auswirkte, daß sie einer Kontinuitätsunterbrechung
gleichkam.
Damit lenken wir in die Frage ein, was für eine Beziehung zwischen der
sekundären Wallerschen Degeneration und dem isolierten Markscheiden-
schwund besteht und warum bei der multiplen Sklerose gerade der letztere
128 L. Jaburek.
so sehr überwiegt, daß er als charakteristisch für diese Erkrankung des
Zentralnervensystems gilt.
Ein genaues Studium der Quellungsbilder der Nervenfasern in den
sklerotischen Herden führte uns bereits früher zu Ergebnissen, die an anderer
Stelle in der gleichen Zeitschrift veröffentlicht sind (Bd. XXXII). Es handelte
sich dort um eine Reihe von Feststellungen über den Quellungsvorgang an
den Nervenfasern und ihre Struktur, die hier auch nicht in aller Kürze
wiedergegeben werden können. Aus dieser Untersuchung zeigte es sich, daß
die Markscheide und der Achsenzylinder untereinander ungleich und für
sich selbständig quellen (siehe auch Fall V, Block 2, vorliegender Unter-
suchung) und daß der Achsenzylinder zwei Quellungsphasen durchläuft, wobei
in der zweiten Quellungsphase seine Fibrillen quergetrennt werden, was im
histologischen Präparat seinem körnigen Zerfall entspricht. Auf Grund dieser
Ergebnisse und der Tatsache, daß die pathologische Quellung der Nerven-
fasern in einer sehr breiten Intensitätsskala gelegen sein kann, nehmen wir
an, daß der Quellungsvorgang an den Nervenfasern bis zu einem gewissen
Grade reversibel ist, oder besser gesagt, reversibel ist, solange die Quellung
einen gewissen Grenzwert nicht überschreitet. Wir meinen damit, daß leich-
tere Quellungsgrade der Nervenfasern, denen nur eine geringe Funktions-
beeinträchtigung entsprechen müßte, einer vollkommenen Reparation fähig
sind. Geht aber die Nervenfaserquellung über diesen Grenzwert hinaus, so
gibt es für die weitere Entwicklung des krankhaften Prozesses noch zwei
Eventualitäten, die in der ungleichen Empfindlichkeit und Reparationsfähig-
keit der Markscheiden und der Achsenzylinder ihre Ursache haben. Die
Achsenzylinder sind resistenter. Übersteigt also die Quellung der Nerven-
fasern den Grad, bei welchem eine Reversibilitätsmöglichkeit dieses Pro-
zesses in Hinsicht auf die Markscheide schon aufgehört hat, in Hinsicht auf
den Achsenzylinder aber noch nicht, so zerfällt die Markscheide allein und
wird zuerst nach Marchi und dann mit Sudan darstellbar, während der
Achsenzylinder als der eben resistentere Bestandteil der Nervenfaser, dessen
Dasein an die Existenz der Markscheide nicht unbedingt gebunden ist, resti-
tuiert wird und fortbestehen kann.
Als die zweite Eventualität wären noch stärkere Quellungsgrade der
Nervenfasern aufzufassen, bei denen es schließlich zu einer Querteilung der
Neurofibrillen kommt. Sie stellen eine sowohl für die Markscheiden als auch
für die Achsenzylinder irreparable Schädigung dar, die einer Kontinuitätsunter-
brechung der Nervenfaser gleichkommt und die in die sekundäre Waller-
sche Degeneration mit vollkommenem Schwund des peripheren Faserstückes
auslaufen.
Die Vielartigkeit der histopathologischen Faserveränderungen bei der
multiplen Sklerose wäre bei einer solchen Deutung der Befunde rasch
geklärt. Alle diese Veränderungen hängen nämlich nur von der Intensität
der primären Nervenfaserquellung ab, die wir gemäß dem oben Ausgeführten
in folgende drei Grade einteilen können:
Erster Grad, schwache Quellung: Die ganze Nervenfaser, sowohl die
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 129
Markscheide als auch der Achsenzylinder bleiben bei der Rückbildung des
Krankheitsprozesses vollkommen intakt. Das histologische Bild weist nach
einer Restitution der Nervenfaser keine Veränderungen auf.
Zweiter Grad, mittelstarke Quellung: Hier wird der Zerfall der Mark-
scheide eingeleitet, welcher auch nach Ausschluß des schädigenden Momentes
weiter fortschreitet (Marchi, Scharlach). In diesem Stadium und in den
weiteren bleibt der Achsenzylinder relativ intakt erhalten. Das histologische
Bild entspricht dem für die multiple Sklerose typischen.
Dritter Grad, starke Quellung: Hier zerfällt nicht nur die Markscheide
wie beim zweiten Quellungsgrad, sondern es wird auch durch den Quel-
lungsvorgang der Achsenzylinder körnig aufgelöst. Die körnige Auflösung
des Axons auf dem Abschnitt der Quellung kommt einer Quertrennung auf
dieser Höhe gleich, so daß das ganze periphere Nervenfaserstück der sekun-
dären Wallerschen Degeneration anheimfällt. Das histologische Präparat
zeigt in der sklerotischen Narbe einen Ausfall von Axonen.
Es ist somit klar, daß der histopathologische Befund negativ ausfällt,
sobald die Quellung den ersten Grad nicht überschreitet. Der zweite Quel-
lungsgrad bedingt die für die multiple Sklerose so charakteristischen Faser-
veränderungen, die in dem Bilde des alten sklerotischen Herdes fixiert
werden. Dabei dauert der Markscheidenabbau wochenlang, während die akute
Quellung des Achsenzylinders, der durch die pathogenetische Noxe nicht
weiter tangiert wird, rasch abnehmen kann, wodurch es eben zustande
kommt, daß wir in Fällen, wo die. Sudanfärbung stärksten Myelinzerfall auf-
zeigt, in bezug auf die Axone eigentlich negative Befunde erheben (Abb. 11).
Der dritte Quellungsgrad kann der Markscheide nicht mehr antun wie der
zweite; sie wird wie früher langsam abgebaut und aufgelöst. Hier zerfällt
aber auch der Achsenzylinder wiederum rascher wie die Markscheide (akuter
Achsenzylinderzerfall mit den typischen Degenerationsbildern, Abb. 3). Zu-
gleich mit der körnigen oder brockigen Auflösung des Axons, einer Folge
der Querteilung der Neurofibrillen, setzt ein Regenerationsprozeß ein, es
kommt zur Bildung von Sprossungskeulen und von Perroncitoschen Spi-
ralen. Diese Gebilde sind aber nicht dauerhaft. Sie zerfallen ebenso rasch wie
die geschädigten Axone, werden phagozytiert, während das zu Fett abgebaute
Myelin in den Präparaten noch durch längere Zeit bestehen bleibt.
Es ist also, wenn wir einen alten Herd als überwiegenden Typus für
die abgelaufenen Veränderungen bei der multiplen Sklerose ansehen,
auch anzunehmen, daß sich diese Erkrankung «dadurch charakterisiert, daß
in ihr die pathogenetische Noxe eine Quellung der Nervenfasern verursacht,
die in der überwiegenden Mehrzahl gerade so hoch ansteigt, daß die Mark-
scheiden dauernd geschädigt werden, die Axone aber noch nicht. Eine
stärkere Quellung kommt zwar vor, gehört aber ebensowenig zum Typus
wie die sekundäre Degeneration, die wohl in keinem Falle vermißt wird,
aber zum klassischen Bilde nicht gehört. Inwiefern schwächere Quellungs-
grade der Nervenfasern für die multiple Sklerose charakteristisch sind, ist
mit Bestimmtheit schwer zu sagen, da sie im Präparat keine Residuen
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXII. Bd. 9
130 L. Jaburek.
zurücklassen. Wir sind aber überzeugt, daß wir sie mindestens ebenso oft
antreffen würden, wenn wir die Möglichkeit besäßen, solche im Verlauf der
Krankheit und im Präparat zu notieren. Dies geht aus der ganzen Deutung
unserer Befunde hervor. Es ist wohl der isolierte Markscheidenschwund für
die multiple Sklerose ganz sicher charakteristisch, doch ist eine Annahme,
die pathogene Noxe hätte es besonders oder ausschließlich auf die Mark-
scheiden abgesehen, nur relativ richtig, wie wir dies darzutun uns bemüht
hatten; sie erfaßt nämlich kaum das Wesen der Krankheit in histopatho-
logischer Beziehung (Wallersche Degeneration mit Ausfall von Achsen-
zylindern, der sogar sehr weit gehen kann) und in klinischer Hinsicht. Wir
meinen, daß wir da für die ganz leichten, nur einige Stunden dauernden
und sich wieder vollkommen zurückbildenden Paresen oder andere Funk-
tionsbeeinträchtigungen kein anatomisches Äquivalent besitzen würden; wir
müssen vielmehr aus der Beurteilung des klinischen Bildes schon im vor-
hinein darauf gefaßt sein, daß die anatomischen Veränderungen nicht nur
in einer sehr breiten Intensitätsskala gelegen, sondern auch transitorisch
oder permanent sein können. Andererseits haben wir keine Ursache, sobald
wir Nervenfasernquellungen von mäßiger und größerer Stärke gesehen
hatten und dazwischen fließende Übergänge beobachten konnten, Nerven-
fasernquellungen von ganz geringer Intensität auszuschließen.
Der diskontinuierliche Zerfall der Markscheiden ist keine Erscheinung,
die ausschließlich bei der multiplen Sklerose beobachtet wird. Auch bei der
periaxialen segmentären Neuritis Gombaults, die eine sehr leichte Form
der Nervendegeneration darstellt, ferner bei toxischen und infektiösen Neuri-
tiden, die von Stransky eingehend studiert worden sind, kommen diskon-
tinuierliche Zerfallsprozesse in den peripheren Nervenfasern vor. Dies spricht
dafür, daß diese Prozesse eine einheitliche Grundlage haben und gleich-
zeitig gegen eine primäre Gliawucherung bei der multiplen Sklerose als
Ursache des isolierten Markscheidenschwundes. Wir sind der Ansicht, daß
eine Quellung, d. h. eine Überwässerung der Nervenfasern durch entzünd-
liche Vorgänge hervorgerufen wird.
Dies dürfte mit unseren heutigen Anschauungen über die Natur des
sklerotischen Prozesses im guten Einklang stehen, insbesondere mit den
Auffassungen Marburgs, der den Vorgang des diskontinuierlichen Mark-
scheidenzerfalles in Analogie zur periaxialen Neuritis von Gombault bringt.
Wir haben uns zu Beginn der vorliegenden Untersuchung die Frage
aufgeworfen, wo die primäre Veränderung angreift, an der Markscheide
oder am Achsenzylinder. Es scheinen uns beide Elemente der Nervenfaser
bei einer Quellung gleichzeitig betroffen zu werden.
Eine weitere Frage, die wir uns stellten, ohne indes eine befriedigende
Antwort erhalten zu können, lautete, ob die bereits entmarkten Achsen-
zylinder noch nachträglich einer neuen Quellung mit ihren Folgeerschei-
nungen unterliegen können. In alten Herden haben wir akute Zerfalls-
erscheinungen an den Axonen niemals konstatieren können, womit der
Beweis für eine solche Möglichkeit erbracht wäre. Anderseits fanden wir
»
Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose. 131
in völlig entmarkten Partien stark gequollene Axone und konnten uns diese
Erscheinung nicht erklären. Es ist also möglich, daß die teilweise Dicken-
zunahme der Achsenzylinder in alten Herden mit einer nochmaligen Quel-
lung in Zusammenhang gebracht werden kann. Allerdings bleibt es dann
noch immer unverständlich, warum in alten Herden auch sehr stark ge-
schrumpfte Achsenzylinder vorgefunden werden.
Zusammenfassung.
In der vorliegenden, an sechs Fällen von chronischer multipler Skle-
rose ausgeführten Untersuchung wurde der Ablauf der histopathologischen
Veränderungen an den Nervenfasern zu ermitteln getrachtet. Es zeigte sich,
daß alle Veränderungen mit einer umschriebenen oder mehr diffusen Quel-
lung der Nervenfasern beginnen. Infolge des ungleichen Verhaltens der
Markscheiden und der Achsenzylinder während der Quellung, weiter infolge
einer größeren Empfindlichkeit der Markscheiden, zerfallen diese leichter
als die Achsenzylinder, so daß es unter gewissen Bedingungen, die gerade
bei der multiplen Sklerose zutreffen und die darauf beruhen, daß die Quel-
lung in der Regel keine größeren Grade erreicht, zu einem diskontinuier-
lichen Zerfall der Markscheiden mit ihrem isolierten Schwund kommen kann.
Leichtere Quellungsgrade der Nervenfasern hinterlassen keine mikroskopisch
wahrnehmbaren Residuen, während die stärkeren, in denen es zu einer
Querteilung der Neurofibrillen kommt, in die sekundäre Degeneration aus-
laufen. Die Vielartigkeit der sklerotischen Herde hängt in erster Linie von
der Intensität der primären Nervenfaserquellung ab.
Was den zeitlichen Parallelismus zwischen den Veränderungen der
Achsenzylinder und denen der Markscheiden anbelangt, so wurde ermittelt,
daß die akuten Axonveränderungen, die sich durch ungleiche Quellung mit
Schlingenbildung, Imprägnierungsungleichheit, Fragmentierung, brockigen und
körnigen Zerfall sowie Aufbündelungen charakterisieren, in das akute Quel-
lungsstadium der Nervenfaser fallen, vorausgesetzt, daß die Quellung selbst
so intensiv war, daß sie zu einer Auflösung der Axonsubstanz, insbesondere
der Neurofibrillen geführt hat. Bei schwächeren Quellungsgraden der Nerven-
faser werden diese akuten Zerfallserscheinungen der Axone nicht notiert.
Es kommt nur zu einer einfachen Reversion der Quellung, womit die Resti-
tution vollendet erscheint. Fast gleichzeitig mit dem akuten Zerfall der
Achsenzylinder setzt eine Regeneration der Neurofibrillen ein. Es wurden
Knäuelbildungen vom Typus der Perroncitoschen Spiralen und Sprossungs-
keulen in reichlicher Anzahl in den Seitensträngen des Rückenmarks_ ge-
funden und damit der Beweis für die Regeneration im Zentralnervensystem
erbracht. Die erwähnten Bildungen sind allerdings nicht dauerhaft, sie
degenerieren rasch und sind nicht imstande, die sekundäre Degeneration,
die nun einsetzt, hintanzuhalten.
Die Veränderungen an den Markscheiden sind weniger reichhaltig.
Sobald die Quellung einen gewissen Grrenzwert überschreitet, beginnt eine
anscheinend irreparable und unaufhaltsame Degeneration des Myelinrohres.
gr
132 L. Jaburek.
Dabei verlaufen die Abbauvorgänge an den Markscheiden im Verhältnis zu
den Prozessen (den degenerativen und den reparatorischen) an den Achsen-
zylindern bedeutend langsamer. Während die Achsenzylinder die stärksten
Veränderungen aufweisen, fällt die Sudanreaktion noch immer negativ aus:
wo sie dagegen positiv ausfällt, selbst in den frühesten Stadien des sklero-
tischen Prozesses, wo noch gut geformte Markballenreste gefunden werden,
sind die Axone, soweit sie nicht sekundär degenerieren, bereits restituiert
und erleiden während der späteren Entwicklung der sklerotischen Narbe
(Abräumung der Myelinabbaustoffe und Gliawucherung) keine weiteren Ver-
änderungen mehr.
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Arbeiten
aus dem
NEUROLOGISCHEN INSTITUTE
(österr. interakademisches Zentralinstitut für Hirnforschung)
an der Wiener Universität.
Begründet von
Hofrat Prof. Dr. Heinrich Obersteiner +
fortgeführt von
Prof. Dr. Otto Marburg.
XXXIII. Band.
Mit 150 Abbildungen im Text.
Leipzig und Wien.
FRANZ DEUTICKE.
1931.
Verlags-Nr. 3484
Manzsche Buchdruckerei, Wien IX. 2453
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Marburg, Prof. Dr. Otto, Scheitellappenerweichung unter dem Bilde eines Pseudo-
tumor cerebri. Mit 6 Abbildungen .............cceeceeeeeeeeeneennnn 1
Godlowski, Dr. Wlad., Die Ganglienzelleinschlüsse in der Substantia nigra. Mit
3 Abbildungen. marai eiee Sense VEE EA OEE E EEEE 14
Tsiminakis, Dr. Yami, Beitrag zur Pathologie der alkoholischen Erkrankungen
des Zentral-Nervensystems. Mit 17 Abbildungen............2ceccec0.. . 24
Maeder, Dr. Le Roy M. A., Zur Frage der entzündlichen Erscheinungen bei der
multiplen Sklerose. Mit 4 Abbildungen ... .......22ceoeseeeenenecnnn 63
Toyama, Dr. M., Zur Pathologie der multiplen Sklerose. Mit 6 Abbildungen...... 74
Jaburek, Dr. L., Über Veränderungen der Nervenfasern bei multipler Sklerose.
Mit 12 Abbildungen RE se Eee ee ee E h 93
Marburg, Prof. Dr. Otto, Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus peri-
ependymalis — und seine Beziehungen zu den Kernen des zentralen Höhlen-
grau. Mit 18 Abbildungen ...........222 22220 eseeeeeereeneennennnne 135
Murata, Prof. Dr. Mikio, Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ?
Mit 5 Abbildungen s osasse a AEE GAEE EEE ERE R GAES 165
Kamin, Dr. Michael, Zur Lokalisativnsfrage der posthemiplegischen Athetose. Mit
A Abbidüngen sorse orean e anea n E E E E D net Here 177
Toyama, Dr. Masamichi, Zur Pathologie der Myelosen. Mit 9 Abbildungen. .... 189
Murata, Prof. Dr. Mikio. Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen
Sklerose. (Hyperlymphose oder Status desintegrationis.) Mit 6 Abbildungen. 211
Järpe, Dr. Eric, Zur Pathologie der tabo-paralytischen Hinterstrangserkrankungen 227
Ishihara, Dr. Kanichi, Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis.
Mit 5 Abbildungen.......... 2222 ceceeesneneeeeeeennennnennnnnnenen 233
Toyama, Dr. Masamichi, Ein Fall von Angio-Reticulom, zugleich ein Beitrag zur
Pathologie der Hämangiome. Mit 9 Abbildungen... ..........e.2cccce... 248
Alexander, Dr. Alfred, Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. Mit
12 Abbildungen De el a TREE Dee nee ee 261
Evrad, Dr. E., Versuche einer pharmakologischen Beeinflussung der Enthirnungs-
BERTLA: A. ahua En a ee He ee re ee 289
Pollak, Dozent Dr. E.. Zur Frage der Perimeningitis. Mit 7 Abbildungen...... 297
Stupka, Dozent Dr. Walter, Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklo-
pischen Ziege. Mit 27 Abbildungen. ............. zeesemeeeeennenennn 315
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus
periependymalis — und seine Beziehungen zu den Kernen
des zentralen Höhlengrau.*)
Von
Professor Dr. Otto Marburg.
Mit 18 Abbildungen im Text.
Bei gelegentlichen Untersuchungen über Kleinhirnbrückenwinkeltumoren
fand ich eine absteigende Degeneration in dem gleichseitigen dorsalen Längs
Yündel von Schütz. Trotz genauester Durchforschung der entsprechenden
Präparate erschien es weder möglich, den Ausgangspunkt dieser Degeneration
sicherzustellen, noch deren Ende. Da man nun bei Tumoren immer mit der
Tatsache rechnen muß, daß besonders so feine Nervenfasern, wie sie im
dorsalen Längsbündel von Schütz vorhanden sind, einfach durch Druck
geschädigt werden können, so suchte ich nach einem anderen Weg, um zu
erforschen, ob Fasern des Längsbündels von Schütz aus kaudaler gelegenen
Gebieten entspringen. Man mußte natürlich zuerst an die lateral gelegenen
Kerne dieses Gebietes denken, besonders den N. triangularis. Es erschien von
vorne herein einleuchtend, daß experimentelle Untersuchungen hier gleich-
falls schwer zu einer Lösung führen würden, da die Ausdehnung des genann-
ten Kerns eine beträchtliche ist und nur eine ausgiebige Läsion desselben
eine merkbare Degeneration im dorsalen Längsbündel von Schütz zur Folge
haben könnte. Ich entschloß mich deshalb, den Weg der vergleichenden Ana-
tomie zu wählen und habe im Laufe der letzten Jahre mit meinen Schülern
zunächst in der Medulla oblongata die in Frage kommenden Kerne und «deren
Verbindungen studiert und möchte nun im folgenden deren Resultate ergänzen
und gleichzeitig auch über die anderen Beziehungen des dorsalen Längs-
bündels von Schütz, wie sie sich mir aus den vergleichend anatomischen
eigenen Studien ergaben, berichten.
Im zentralen Höhlengrau liegen sowohl im Rückenmark als auch im
Gehirn verschiedene Fasersysteme. Ich habe ein solches System als Längs-
fasersystem der Medulla oblongata in deren kaudalsten Beginn beschrieben,
und zwar als Fasciculus substantiae gelatinosae. Ich habe gemeint, daß dieses
System gleich im Beginn der Medulla oblongata ungefähr entsprechend der
*) Mit Unterstützung der Ella Sachs-Plotz-Foundation, für die auch an dieser
Stelle gedankt sei. Auszugsweise vorgetragen in der Anatomischen Gesellschaft Wien,
Februar 1931.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd, Heft 2. 10
136 Professor Dr. Otto Marburg.
Höhe der Schleifenkreuzung die Seite kreuzt, um dort zu einem Kern in Be-
ziehung zu treten, der bei Eröffnung des Zentralkanals zum Ventrikel auftritt
und vielleicht identisch ist mit dem, was Wilson als N. postremus bezeichnet.
Abgesehen aber von diesen Systemen hat Koch schon im Jahre 1887 bei
seinen Studien über den XII. Hirnnerven gefunden, daß dieser letztere an
seiner hinteren Fläche von einer Schichte sehr feiner Fasern bedeckt ist, die
senkrecht, d. h. also sagittal verlaufen, und sich an sagittalen Schnitten als
Verbindungsfasern zwischen den in verschiedenen Höhen liegenden Nerven-
zellen zeigen. Er bezeichnet sie als Fibrae propriae des Kerns und meint, daß
auch Fasern dieses Bündels die Mittellinie überschreiten, um in den Kern
der Gegenseite zu gelangen.
Wenn man von den älteren Beschreibern, die dieses System gleichfalls
gesehen haben, absieht, so hat eigentlich erst Obersteiner etwas genaueres
darüber berichtet, ohne jedoch wesentlich über die Angaben von Koch
hinauszukommen.
Erst im Jahre 1891 hat dann Schütz seine Untersuchungen über den
Faserverlauf im zentralen Höhlengrau aufgenommen und über die älteren
Arbeiten von Meynert und Ganser berichtet, der Hauptsache nach aber
seine eigenen Untersuchungen am erwachsenen Menschen veröffentlicht. Er
unterscheidet im zentralen Höhlengrau: 1. das Kerngrau, 2. das netzförmige
Grau und 3. das System von longitudinal verlaufenden Fasern (dorsales Längs-
bündel). Nur das letztere System kommt hier in Frage. Er meint, daß dieses
Längsbündel in allen Gegenden der Medulla oblongata, des Pons und Mittel-
hirns anzutreffen ist, und zwar immer am Boden des Ventrikels, und faßt es
als Bindeglied zwischen den höheren Teilen des zentralen Höhlengraus mit
den weiter distalwärts gelegenen, vielleicht auch den einzelnen Teilen unter-
einander auf. Er beschreibt Fasern, die als Radiärfasern in Hirnabschnitte
gehen, die nicht zum Höhlengrau gehören, aber diesem benachbart sind. Nach
ihm entspringt der Hauptteil der Fasern aus dem Thalamus opticus, und
zwar entspringt das System aus zwei Bündeln, einem dorsaleren, das neben
Thalamusfasern solche des Ganglion habenulae enthält, und einem ventralen,
das vorwiegend zentrale und ventrale Thalamusfasern enthält. Diesen schließt
sich als drittes ein Tubersystem an. Nicht alles, was in diesen Bündeln be-
schrieben wird, gelangt in das von Schütz beschriebene System. Die hintere
Kommissur, der vordere und der hintere Vierhügel, vielleicht sogar das Klein-
hirn, erhält solche Fasern. Der Hauptteil jedoch zieht als dorsales Längsbündel
in die Hypoglossusgegend, ja über diese hinaus, wobei es um den zentralen
Keru herum eine Schichte längsverlaufender Fasern bildet. Bezüglich der
Verbindungen dieses Systems lehnt sich Schütz zunächst den Anschauungen
von Koch an und meint, daß es Fasern an sämtliche Hirnnerven abgebe,
ferner an Kerne der zentralen grauen Substanz, das netzförmige Grau, und
an die Formatio reticularis grisea. Bezüglich der Funktionen nähert er sich
gleichfalls den Ansichten von Koch, daß das System irgendwie in den
Mechanismus von Bewegungsstörungen eingreife, die bei der Paralyse eine
Rolle spielen, hauptsächlich die später erlernten und komplizierten Bewe-
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 137
gungsformen, bei denen ein geordnetes Zusammenwirken vieler Muskeln und
Muskelgruppen nötig ist, um diese mit Sicherheit durchführen zu können.
Kölliker macht schon darauf aufmerksam, daß Schütz mit seinen
drei Begriffen, Kerngrau, netzförmiges Grau und dorsales Längsbündel sehr
verschiedenartige Dinge vereinigt. Er wendet sich besonders gegen die Auf-
fassung, als ob aus den Hirnnervenkernen, motorischen und sensiblen, Fasern
in dieses System gelangen. Allerdings schränkt er seine Annahme sofort ein,
indem er meint, daß vielleicht die oberflächlichsten Flemente des Hypo-
glossuskerns und der Kerne des Vagus und Akustikus möglicherweise zu dem
Schützschen Längsbündel Beziehungen haben. Sonst fehlen bei Kölliker
eigentlich positive Angaben, nur daß er sich gegen den Namen dorsales Längs-
bündel wendet, da er damit das hintere Längsbündel bezeichnet hat.
Sehr wesentlich ist das, was später Ramon y Cajal und ungefähr um
die gleiche Zeit Edinger für dieses System beigebracht haben. Edinger
erwähnt das System nur flüchtig. Er meint, es stamme aus kleinen Ganglien-
zellen, die überall im zentralen Grau liegen, in besonderen Mengen aber in
den frontalsten Partien, und zwar denjenigen, welche den Thalamus und
speziell den Hypothalamus medial auskleiden. Von dort strahlen mächtige
Faserzüge überall in das Grau der Vierhügelgegend und jenes der Brücken-
haube, ohne daß Edinger näher angibt, in welche Partien dieses Gebietes
die Fasern einstrahlen. Er schließt, „es wäre leicht möglich, daß wir in diesem
diffusen System einen sympathischen Apparat vor uns hätten“. Er bezieht
sich auf bekannte Versuche von Karplus und Kreidl und deren Sympa-
thikuszentren im Hypothalamus.
Ramon y Cajal zerlegt das Bündel in mehrere Abschnitte. Er setzt
sich eigentlich hauptsächlich mit jenem Teil auseinander, der dem Mittelhirn
resp. Zwischenhirn angehört. Er verfolgt diese Fasern vom N. tegmenti dorsalis
von Gudden bis in die Gegend des Fasciculus retroflexus resp. bis in den
Thalamus optieus, ohne jedoch ihr genaues Ende sicherzustellen. Er meint,
daß das was Schütz beschrieben hat, nur ein Teil dieses Systems sei, das
viel ausgedehnter wäre, da es auch die dorsale und laterale, nicht nur die
ventrale Partie um den Aquaeductus Sylvii einnehme. Er bildet auch ein
derartiges System, das also den ganzen Aquädukt umgibt bei einer Maus,
die einige Tage alt war, ab und meint, daß diese Fasern Kollateralen an die
Zellen abgeben, die in ihrer Umgebung gelegen sind. Das dorsale System soll
hier außer acht bleiben; das ventrale oder das dorsale Längsbündel von
Schütz im engeren Sinne vermag er in seinem Ursprung nicht genau sicher-
zustellen, möglicherweise stammt ein Teil der Fasern aus Zellen der zentralen
grauen Substanz, vielleicht auch aus solchen des dorsalen Haubenkerns,
obwohl das wenig Wahrscheinlichkeit hat, trotz Köllikers gegenteiliger
Anschauung. Ramon y Cajal nennt das System mit vollem Recht Fasci-
culus periependymalis. Der Genannte warnt davor, diese Fasern mit
anderen ähnlich gelagerten der grauen Substanz zu verwechseln, die in der
Gegend der Okkulomotoriuskerne verschwinden. Er faßt letztere als sensible
aszendierende Kollateralen auf, die aus der retikulierten Substanz, der Me-
10*
138 Professor Dr. Otto Marburg.
dulla oblongata und der Brücke stammen, um sich mit den Augenmuskel-
kernen und denen der Substantia grisea centralis zu verbinden. Auch hier
bildet er diese Fasern bei einem mehrere Tage alten Mäuschen ab und läßt
sie etwa in der Gegend des vorderen Brückenabschnittes aus der Substantia
reticularis auftauchen, knapp vor dem Knie des Fazialis.
Die Angaben von Bechterew entfernen sich nicht wesentlich von jenen
von Schütz.
Später hat dann Ziehen beim Menschen eine sehr genaue Beschreibung
dieses Systems gegeben. In den kaudalen Ebenen, wo es den N. hypoglossus
überdeckt, nennt er es Cappa nuclei nervi hypoglossi. In der Gegend des
Aquädukts findet er zwei Bündel. Eines mehr medial, das nahezu ventral
vom Aquädukt gelegen ist, und ein mehr lateral resp. ventrolateral vom
Aquädukt gelegenes.
Winkler hat sich bemüht, die Angaben von Schütz zu erweitern, indem
er zunächst die Beziehungen des dorsalen Längsbündels zum olfaktorischen
und gustatorischen System feststellte. Es ist nicht recht klar, wie er sich
die Verbindung des Glossopharyngeus mit dem dorsalen Längsbündel vor-
stellt. Er schreibt: „Die Fasern der Geschmacksnerven, die feinen marklosen
oder wenig markhältigen Fasern des Tractus solitarius verteilen sich in dem
fibrillären Netz, welches die Substantia gelatinosa des Geschmackskerns zu-
sammensetzt, An der Bildung dieses Netzes nehmen auch Fasern der sehr
kleinen Elemente teil, die man im Geschmackskern und in den benach-
barten Kernen begegnet. Aus diesem Netz entspringen feine myelinisierte
Bündelchen, welche in das Feld des Tractus dorsalis tegmenti von Schütz
eintreten. Er vergleicht diese Tatsache mit der analogen im Olfaktoriusgebiet.
Denn auch aus den primären Gebieten des Olfaktorius stammen Fasern,
welche in das dorsale Längsbündel von Schütz einmünden. Er bringt mit
diesem Apparat bereits den N. intercalatus von Staderini, den N. präpo-
situs hypoglossi von mir und den N. triangularis in Verbindung. Bezüglich
der Verbindungen des Olfaktorius zu diesem genannten Längsbündel unter-
läuft ihm meines Erachtens ein Irrtum insoferne, als er meint, daß das aus
dem Mammillare stammende Haubenbündel von Gudden in das dorsale
Ganglion der Haube von Gudden mündet. Er findet, daB mit diesem Ganglion
auch Fasern des Schützschen Bündels in Verbindung treten — offenbar
zentripetale — und daß auf diese Weise Geschmacksfasern mit Geruchsfasern
in diesem Ganglion zusammentreffen.
Bezüglich der Physiologie dieses Systems äußert er sich in der Weise,
daß er meint, daß ein Teil der Fasern des Schützschen Bündels mit den
Dendriten der großen Zellen des N. präpositus und N. intercalatus in Ver-
bindung treten, und die Axone dieser Zellen begeben sich in die Ring-
schichte dorsal vom N. hypoglossi, wo sie der Ausgangspunkt für einen Teil
des endonukleären Netzes dieses Kerns sind. Die Geschmacksreize können
auf diesem Wege reflektorische Zungenbewegungen hervorrufen und sich
hier den olfaktorischen Reizen anschließen. Er nimmt weiter an, daß Fasern
des gleichen Bündels in den Fasciculus triangulo-intercalatus von Fuse ge-
Das dorsale Längsbündel von Schütz -- Fasciculus periependymalis usw. 139
langen können, den er Tractus reuniens nennt, und meint, daß Fasern des
Präpositus, Interkalatus und Triangularis auf diesem Wege vereinigt werden,
um von hier aus auf Speicheldrüsenkerne zu wirken. Die benachbarten Kerne
wirken wie ein Relais für diese Reizübertragung.
Ariens Kappers schließt sich im wesentlichen diesen Anschauungen
von Winkler an, ohne aus seinem reichen Material eigene Tatsachen für
die in Rede stehenden Fragen zu erbringen. Auch in den neueren Lehr-
büchern — ich erwähne nur das von Tilney und Riley -— vermag man
nichts nenneswertes über dieses System zu erfahren, so daß man aus all
dem ÜGesagten eigentlich nur die folgenden Tatsachen erschließen kann:
Erstens hat das System Beziehungen zum Thalamus opticus, was schon von
Schütz festgestellt wurde. Es steht in Verbindung wahrscheinlich auf dem
Wege des dorsalen Haubenkerns von Gudden, vielleicht auch direkt mit dem
Olfaktorius. Wenn die Annahmen von Winkler richtig sind, so gilt ein
Gleiches auch für den Geschmacksnerven, dessen Beziehungen aber äußerst
komplizierte zu sein scheinen, wobei nicht sicherzustellen ist, ob diese (ie-
schmacksfasern oralwärts im Gebiete des dorsalen Haubenkerns von Gudden
wirksam werden oder ob sie nicht in kaudaleren Ebenen bereits an ent-
sprechende Kerne herantreten, um von hier aus ihren Einfluß auf verschie-
dene Erfolgsorgane geltend zu machen. Es scheint dieses Bündel aber
nicht nur diesen beiden Hirnnerven angeschlossen zu sein, sondern enthält
nach Cajal auch Fasern, die aus der Brücke stammen. Und nach Ziehen
zerfällt es in ein doppeltes System, allerdings nur im Mittelhirn, und es erhebt
sich die Frage, welche Bedeutung jedem einzelnen dieser Teile zukommt.
Wie schon aus den Darlegungen von Winkler hervorgeht, spielen die
Kerne des Vestibularisgebietes für das in Rede stehende System eine gewisse
Rolle. In allererster Linie ist das der dreieckige Kern. Die Darstellung der
Vestibulariskerne wird gemeinhin in der Weise durchgeführt, wie ich das
in meiner Darstellung der Neurologie des Ohres und später in der letzten
Auflage meines Atlas angegeben habe.
Mar unterscheidet drei lateral gelegene Kerne, den oralsten und dorsal-
sten N. angularis (Bechterew), den kaudaleren und etwas ventraler gele-
genen N. magno-cellularis vestibularis (Deitersscher Kern) und den N. medio-
cellularis vestibularis (den ventrokaudalen Deiters-Kern von Kohnstamm,
den Rollerschen Kern von Spitzer). Diesen drei Kernen liegen medial mehr
kleinzellige Gruppen an, die man insgesamt dem N. parvocellularis vestibularis
(N. triangularis) hinzurechnete, indem man sie als kaudale Ausläufer des-
selben auffaßte. Der laterale Ausläufer, der also medial von der Area fasci-
culata Ziehens gelegen ist, ist offenbar identisch mit dem, was Ramon y
Cajal als N. vestibularis descendens bezeichnet hat. Der mediale Ausläufer
dieses Kerns, der sich bis in die Gegend zwischen Hypoglossus und Vagus-
kern erstreckt, ist der N. intercalatus Staderini. Dieser dreieckige Kern
mit seinen Äusläufern nun wurde, wie bereits erwähnt, von Winkler in
Beziehung gesetzt zu gustatorischen Reflexvorgängen. Spitzer bezog sich auf
eine ähnliche Angabe von Held, der einen Tractus vestibulo-reticularis
140 Professor Dr. Otto Marburg.
annimmt (besser triangulo-reticularis), welcher Reflexe auf den motorischen
Glossopharyngeus- und Vaguskern, Gefäß- und Atmungszentren vermitteln soll,
demzufolge also im wesentlichen Funktionen besitze, die dem autonomen
System zukommen.
Auch der Trigeminuskern soll solche Fasern erhalten, ebenso der Fazialis
und der Ambiguus. Aus diesen Angaben folgert Spitzer, daß die mediale
Kernsäule des Vestibularis eine wichtige vegetative Rolle spielt, nämlich die,
die Nahrungsaufnahme vom Vestibularis aus reflektorisch zu beherrschen.
Nach ihm sei der Triangulariskern ein vestibulär alimentäres Reflexzentrum.
Der Tractus triangulo reticularis ist motorisch. Ihm entspricht aber noch
ein sensibler Faserzug des gleichen Systems, das, wie Held ausführt, im
Thalamus endet. Da in dem gleichen zentripetalen System auch Fasern des
sensiblen Trigeminus, Glossopharyngeus und Vagus verlaufen, meint Spitzer,
daß auf dem Wege des N. triangularis vestibularis Reize nicht nur auf moto-
rische, sondern auch auf sensorische branchiale Nervenkerne übertragen
werden, „und daß auf diese Weise ein alimentär-sensibler Reizkomplex, der
auf einem gemeinsamen sensiblen Tractus branchio thalamicus hirnwärts
geleitet, die alimentären Empfindungen von Hunger, Appetit usw. hervor-
ruft“. Spitzer meint weiter, daß auf diese Weise bei übermäßigen vesti-
bulären Reizen auf der einen Seite die Appetitlosigkeit und die Eckelempfin-
dungen, auf der anderen Seite das Erbrechen erzeugt werden, und schließt,
daß der Tractus triangulo-reticularis eine motorische alimentäre Reflexbahn,
der Tractus branchio-thalamicus eine sensible alimentäre Empfindungsbahn
sei. Spiegel und Demetriades haben ungefähr zu gleicher Zeit experi-
mentell die Feststellung machen können, daß der N. triangularis mit dem vege-
tativen System in Verbindung sei, und zwar mit den vasomotorischen Reflexen
einerseits, vielleicht auch mit dem Gastro-Intestinaltrakt anderseits.
Um nun diese differenten Anschauungen sicherzustellen, habe ich zu-
nächst mit Takagi den N. intercalatus Staderini untersucht, sowie jenen
Kern, der sich oral an den Hypoglossuskern anschließt und den ich als N.
präpositus hypoglossi vor Jahren bezeichnet habe. Schon diese ersten Unter-
suchungen mit Takagi haben mir gezeigt, daß wir im N. intercalatus neben
den bekannten kleinen Zellen auch größere Zellen haben und daß solche
größere Zellen schließlich oral vom Hypoglossus als selbständiger Kern bei
Tieren nachzuweisen sind. Bezüglich der kleineren Zellen bin ich mit Takagi
damals zur Überzeugung gekommen, daß man den bisher stillschweigend ange-
nommenen Zusammenhang dieser Zellen mit dem N. triangularis nicht ohne-
weiters anerkennen kann. Wenn Takagi schreibt: „Wir stehen hier vor einer
Bildung eines selbständigen Kerns, wie er sich aus ganz verschiedenen Ele-
menten differenziert, um zu einer anatomischen Selbständigkeit zu werden“,
so scheint mir damit das Richtige gesagt, d. h. hier liegt ein Kern vor, der
wohl bis zu einem gewissen Grad eine Selbständigkeit besitzt, aber in anderer
Beziehung sich doch eng an den N. triangularis anlehnt. In der gleichen Weise
aber lehnt er sich auch an den Vaguskern an, so daß er in seiner Funktion
offenbar von diesen beiden Kerngruppen beeinflußt werden könnte. In weiterer
Das dorsale Längsbündel von Schütz —- Fasciculus periependymalis usw. 141
Verfolgung dieser Studien hat nun Takagi vergleichend anatomisch zeigen
können, daß der N. intercalatus oral in jene Kerngruppe übergeht, die ich als
N. präpositus hypoglossi bezeichnet habe. Es konnte damals auch sichergestellt
werden, daß der Interkalatus zwei verschiedene Zellarten zeigt, nämlich kleine
und auffallend große Zellen, welch letztere innige Beziehungen zu den Kernen
der Substantia reticularis erkennen lassen. Aber auch mittelgroße Zellen finden
sich eingesprengt im N. intercalatus. Das wesentlichste aber aus diesen ver-
gleichend anatomischen Untersuchungen ist die Tatsache, daß die genannten
beiden Zellgruppen auch im N. präpositus zu finden sind, der eigentlich je
höher man in der Tierreihe kommt, desto deutlicher erkennbar ist, je tiefer
desto mehr seinen Zusammenhang mit dem N. intercalatus zeigt. Takagi hat
damals auch angegeben, daß das dorsale Längsbündel von Schütz in einer
gewissen Weise mit den beiden genannten Kernen zusammenhängt und den
Gedanken ausgesprochen, ob nicht ein Teil des Systems aus diesen Kernen ent-
springt und — indem es den Hypoglossus umkreist (Kranzfasern) — die
andere Seite gewinnt, um von hier aus in die Substantia reticularis einzu-
strahlenx Weiters konnte Takagi den Fasciculus triangulo-intercalatus von
Fuse, den dieser im Jahre 1914 beschrieben hat, bei verschiedenen Tier-
klassen genauer zur Darstellung bringen. Es ist nun die Frage, ob diese von
Fuse als geschlossenes Bündel beschriebenen Fasern, die nicht immer ge-
schlossen auftreten, das Gleiche sind, was Ziehen als Fibrae obliquae nuclei
triangularis bezeichnet hat, die ja nach dem genannten Autor auch in die
Kranzfasern eingehen sollen. Ich komme hier noch einmal auf die Heldschen
Ausführungen zu sprechen, der den N. triangularis in eine dorsale und ven-
trale Hälfte zerfallen läßt, deren erstere vorwiegend kleine Zellen hat und
Fasern für eine im zentralen Höhlengrau verlaufende Leitungsbahn abgibt.
Takagi konnte nun sehen, daß diese Fasern des Fuseschen Bündels lateral
in den dorsalen Abschnitten des N. triangularis entspringen, wobei sie bald
ein geschlossenes Bündel bilden, bald nicht. Diese Fasern begeben sich nur
zum Teil in das dorsale Längsbündel von Schütz, zum Teil gehen sie mit
den Kranzfasern auf die andere Seite. Ein Teil aber bleibt hormolateral. Es
ist nicht unwahrscheinlich, daß eine Gruppe «dieser Fasern sowohl im N.
intercalatus als auch im N. präpositus hypoglossi endet. Die Untersuchungen
Takagis haben ferner gezeigt, daß der N. präpositus hypoglossi nicht, wie
Ziehen meint, zum Hypoglossuskern gehöre, da bei experimenteller Zer-
störung des Hypoglossus die Präposituszellen intakt blieben.
Um nun absolut sicherzustellen, in welcher Beziehung die eingangs ge-
nannten, dem N. triangularis zugeschriebenen Kerne (N. vestibularis deseen-
dens und N. intercalatus resp. präpositus) zum N. vestibularis triangularis
stehen, habe ich Godlowski noch einmal mit der Feststellung der Kerne
im Triangularisgebiet betraut. Er kommt zu folgendem Schluß. Der N. vesti-
bularis descendens steht in keiner Beziehung zum N. triangularis, abgesehen
von der topischen Beziehung. Ein (tleiches gilt auch für den N. intercalatus,
bei letzterem allerdings nur dann, wenn es sich um die Gesamtheit dieses
Kerns handelt. Denn der N. triangularis besteht aus zwei differenten Ele-
142 Professor Dr. Otto Marburg.
menten. Kleinen Zellen, die sensibel sind und die Godlowski als Haupt-
zellen abscheidet, während kaudal und ventral große Zellen in dem Kern
zu finden sınd, die nach dem eben genannten Autor sehr enge Zugehörigkeit
zum dorsalen Vaguskern und zum Interkalatus haben, und motorischer Natur
sein sollen. Das Wesentlichste aber was Godlowski erbringen konnte, ist die
Tatsache, daß, wenn dieser sensible Kern auch sicher Vestibularisfasern er-
hält, in ihn auch Intermedius-, Glossopharyngeus- und auch Vagusfasern ein-
treten. Er findet im Triangularisgebiet außerdem eigene Netzfasern, die
scheinbar aus der Area fasciculata kommen und sich zu medialen Teilen des
Bodens der Rautengrube begeben, also zum dorsalen Längsbündel von
Abb. 1. Fasc. triangulo-Roller. Hapale ursula nach Nakamura.
Schütz, zum N. interealatus und zum Rollerschen Kern. Die schräg ver-
laufenden ähnlichen Fasern umranden den Hypoglossuskern und gehen auf
die kontralaterale Seite. Zu diesen quer verlaufenden treten dann radiär ver-
laufende Fasern, die bereits Ziehen beschrieben hat und die, wie bereits
erwähnt, den sensiblen Kernen angehören, so daß wir also hier im Trian-
gularis einen Kern besäßen, der eine ganze Reihe ganz verschiedener sen-
sibler Impulse aufnimmt.
Von allen Autoren aber wurde ein Kern vergessen, der gleichfalls in diese
Gruppe der Kerne zu gehören scheint, und das ist der Rollersche Kern,
den ich mit Nakamura bearbeitete, und zwar wiederum vergleichend ana-
tomisch. Jakobsohn beschreibt diesen Kern als N. sublingualis und rechnet
ihn zum Sympathikus. Ziehen widerspricht dieser Auffassung und findet, daß
die Axone seiner Zellen regellos nach den verschiedensten Richtungen hin
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 143
ausstrahlen und schließlich längs verlaufende Fasern der Substantia reti-
cularis lateralis und medialis bilden können. Es ließ sich nun durch die ver-
gleichend anatomischen Untersuchungen mit absoluter Sicherheit zeigen, daß
der Rollersche Kern Fasern aus dem dorsalen Längsbündel von Schütz
erhält, die entweder direkt aus den mehr lateralen Teilen des Systems in den
Abb. 2. Fasc. triangulo-Roller. Pferd — nach Nakamura.
Kern einstrahlen oder aber direkt aus dem horizontal im Triangularis ver-
laufenden Fasern in den genannten Kern münden. Bei einzelnen Tieren, z. B.
beim Kamel, kann man einzelne dieser Fasern deutlich bis gegen die Area
fasciculata verfolgen, andere, die medialeren, kommen aber auch hier aus dem
dorsalen Längsbündel resp. den horizontalen Fasern, welche in das dorsale
Längsbündel einmünden. Das zeigt sich natürlich nicht bei allen Tierklassen
in der gleichen Weise, am besten vielleicht bei Hapale (Abb. 1) und bei den
Ungulaten, und zwar dem Pferd (Abb. 2). Es ist nun interessant, daß dieser
Kern eigentlich erst von den Marsupialiern aufwärts deutlich wird. Er tritt
144 Professor Dr. Otto Marburg.
ungefähr von der Mitte des Hypoglossuskerns auf und reicht ein wenig oral
über dessen Kernsäule heraus, wobei er mit den großen Zellen des N. prae-
positus in Berührung kommt. Die Fasern dieses Kerns sind nicht so undeut-
lich, wie man nach den Angaben der Autoren meinen könnte. Denn ein
Teil stammt mit voller Sicherheit aus dem dorsalen Längsbündel von Schütz.
Ein zweiter Teil sind Radiärfasern, die aus der Substantia reticularis an
diesen Kern herantreten oder umgekehrt, von ihm ausgehen. Und eine dritte
Gruppe sind Fasern, welche sich scheinbar aus dem Kern entbündeln, den
Fasciculus longitudinalis posterior dorsal umschlingen und, nachdem sie
die Gegenseite erreicht haben, in Radiärfasern übergehen, Fasern, die ja
auch von Ramon y Cajal bereits beschrieben wurden.
Wenn wir nun diese Untersuchungsergebnisse zusammenstellen, so ergibt
sich bezüglich der Kerne, daß wir hier medial um den Hypoglossus herum
gelagert drei verschiedene Kerngruppen besitzen. Den ventral gelegenen Rol-
lerschen Kern, den lateral gelegenen N. intercalatus, den oral gelegenen N.
präpositus. Dazu kommen noch die ventro-kaudal im N. triangularis befind-
lichen größeren Zellen Godlowskis, die sich bekanntlich den größeren Zellen
des Intercalatus in bezug auf ihr Aussehen nähern, während diese wiederum
in vieler Beziehung identisch sind mit den Kernen des Präpositus und selbst
jenen des Nucleus Roller. Die kleinen Zellen im Gebiete des erstgenannten
Kerns lassen sich kaum von den kleinen Zellen des N. triangularis unter-
scheiden. Wir sehen hier also eine kleinzellige, offenbar sensible, und eine
größerzellige, offenbar motorische Kernsäule und sehen, daß sich in diesen
Kernsäulen bereits selbständige Teile abscheiden, besonders in der groß-
zelligen Gruppe, wo wir im Rollerschen Kern und auch im N. präpositus
wohl als selbständig zu gelten habende Kernmassen besitzen. Es scheint mir
aber, daß diese Kernmassen noch nicht soweit differenziert sind, daß sie
nicht mit den mehr diffus angeordneten größeren Zellen des Triangularis und
Intercalatus Beziehungen hätten. Das geht in allererster Linie daraus hervor,
daß diese genannten Kernmassen zu gleichen Fasersystemen gehören, vor
allem zum dorsalen Längsbündel von Schütz. Es unterliegt keinem Zweifel
—- und das geht aus den Abbildungen leicht hervor —-, daß dieses Längs-
bündel einen mächtigen Faserzug zum Rollerschen Kern schickt und es ist
aus den Untersuchungen Takagis ein Gleiches auch für den Präpositus und
für den Intercalatus wahrscheinlich. Dabei ist allerdings: noch nicht sicher
bewiesen, daß die Leitungsrichtung dorsales Längsbündel — Rollerscher
Kern — die richtige ist. Aber es ist anzunehmen, daß dies der Fall ist.
Dieses dorsale Längsbündel von Schütz wird nun von horizontal verlaufen-
den Fasern, die zum Teil dem Fuseschen Fasciculus triangulo-intercalatus
angehören und aus der dorso-lateralen Partie des N. triangularis stammen,
gespeist. Zum Teil aber stammen die Fasern auch aus weiter lateral gelegenen
Gebieten, vielleicht, wie Godlowski meint, aus der Area fasciculata, von
wo sie als horizontal zerstreut liegende Fasern medialwärts gelangen. Sicher
ist ferner, daß ein Teil dieser Fasern die Seite kreuzt, indem sie mit den
Kranzfasern auf die Gegenseite gelangen und dort als Radiärfasern in die
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 145
Substantia reticularis eintauchen. Anderseits ist aber sicher, daß solche Radiär-
fasern auch gegen den N. triangularis, und zwar dessen kleine Zellen, ziehen,
un, wie Godlowski annimmt, an diesen Zellen zu enden. Diese letzteren
Fasern stammen aus dem Vagus, Glossopharyngeus, Intermedius, dem Vesti-
bularis und wohl auch aus dem Trigeminus, wie ich mich selbst überzeugt
habe. Wir haben also im kleinzelligen Vestibulariskern nicht nur einen Kern
vor uns, der vestibulare Eindrücke verarbeitet oder der, wie Winkler meint,
gustatorische Impulse aufnimmt, sondern in den die gesamten sensiblen Ner-
ven der Medulla oblongata und der Brücke, vielleicht mit Ausnahme des
Cochlearis, Fasern senden. Von hier aus entwickeln sich dann Systeme, die
an motorische Kerne treten, entweder in geschlossenen Bündeln, wie wir dies
im Fasciculus triangulo-intercalatus und in dem Fasciculus triangulo-Roller
sehen, zum Teil noch in zerstreut gelegenen Fasern. Zum Teil gehen solche
Fasern auch über die Mittellinie. Soviel ist man derzeit in der Lage, über
die genannten Kerne und die zugehörigen Fasern auszusagen. Über die Be-
deutung dieser Systeme aber kann man erst schlüssig werden, wenn man
den zweiten Teil des dorsalen Längsbündels, den mesenzephalen, näher ins
Auge faßt.
Wenn man das hintere Längsbündel von Schütz von kaudal nach oral
verfolgt, so kann man ohneweiters ersehen, daß das geschlossene System, das
im Gebiete des Hypoglossuskerns besteht, sich oralwärts aufzulösen beginnt
und sich ganz den Verhältnissen anschließt, welche die Fasersysteme am
Boden der Rautengrube zeigen. Während der Hypoglossuskern kappenförmig
von diesem Bündel umsäumt wird (Abb. 3), sieht man dort, wo die Striae
acusticae sich über den Boden der Rautengrube erstrecken, kaum eine An-
deutung dieses Systems. Ich habe einen Schnitt gewählt, der ein rundliches
Kerngebilde enthält, von dem ich nicht sagen kann, ob es dem Präpositus
angehört oder dem entspricht, was wir N. paramedianus dorsalis nennen
(N. emineniae teretis), und wo die Stria nicht gerade nach außen verläuft,
sondern schräg nach oro-lateral, so daß sie hier zum Teil im Querschnitt
vorliegt (Abb. 4). Man kann kaum erkennen, daß in dem dichten Netz des
N. triangularis irgendwelche quergetroffene Fasern vorliegen, obwohl das
bei genauer Untersuchung sehr leicht sicherzustellen ist. Dort, wo in der
Brücke die Quintusstränge das Bodengrau auf ein Minimum reduzieren, kann
man jedoch wiederum die quergetroffenen Fasern des dorsalen Längs-
bündels als geschlossenes System erkennen (Abb. 5). Das Bild ändert sich
erst in dem Augenblick, als wir uns dem vordersten Ende der Brücke nähern,
knapp vor Beginn der Trochleariskreuzung, noch im Gebiet des Locus coeru-
leus. Es entsteht hier ein ähnliches Bild, wenn auch nicht so scharf wie in
der Hypoglossusgegend, indem sich das dorsale Längsbündel auch hier wieder
über einen Kern als Kappe anordnet (Abb. 6). Oral teilt es sich dann, wie
Ziehen schreibt, in zwei nicht sehr distinkte Bündel (Abb. 7).
Es erscheint hier, bevor ich auf die näheren Verhältnisse in diesem
Gebiete eingehe, notwendig, über die Kerne, die sich von dem eben geschil-
derten Gebiet bis zum Trochleariskern hin erstrecken, einiges auszusagen,
146
Professor Dr. Otto Marburg.
Abb. 4. Mensch.
Gegend der Striae cerebellares, von denen ventral der rundliche
N. praepositus Hypoglossi (?) sichtbar ist.
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 147
und zwar aus dem Grunde, weil hier keine einheitliche Auffassung besteht.
Wie bekannt, hat Gudden in einem Vortrag aus dem Jahre 1884 bemerkt,
Abb. 5. Mensch. Gegend der Quintusstränge.
Abb. 6. Mensch. Vorderes Brückenende. Das dorsale Längsbündel umrahmt ein Kern-
gebiet, das dem G. tegmenti dorsale Gudden entspricht.
daß aus dem Corpus mammillare ein S
‚stem von Fasern kaudalwärts streicht,
das ziemlich medial bleibt, um schließlich „in zwei neben der Raphe ventral
von dem hinteren Längsbündel gelegenen, ziemlich großen Zellgruppen sich
zu verlieren“. Es sind diese ventralen Zellgruppen nichts anderes als der
heute Ganglion tegmenti ventrale (profundum) Gudden genannte Kern, der
148 Professor Dr. Otto Marburg.
die im Fasciculus mammillaris princeps kaudalwärts streichenden Fasern des
Fasciculus mammillo-tegmentalis aufnimmt. Er beschreibt dann weiters zwei
in der gleichen Ebene dorsal vom hinteren Längsbündel gelegene umfangreiche
Ganglien, deren Verbindungen und Abhängigkeiten aber noch unbekannt sind.
Von einer Verbindung des Corpus mammillare zu diesen dorsalen Ganglien
ist nirgends die Rede. Das dorsale Ganglion wird seither als Ganglion teg-
menti dorsale bezeichnet. Es ist kein Zweifel, daß wir dieses Ganglion auch
beim Menschen finden können und daß in der vorliegenden Abb. 6 dieses
Med. Teil. Lat. Teil.
Abb. 7. Mensch. Mittelhirn kaudal. Fasciculus periependymalis.
dorsale Ganglion von dem dorsalen Längsbündel von Schütz bedeckt vor-
liegt. Kölliker nennt das ventrale Ganglion von Gudden Ganglion profundum
tegmenti und läßt gleichfalls das Haubenbündel des Corpus mammillare
daselbst enden.
Wenn man die Kerne in diesem Gebiet genauer untersucht, so findet
man hier eine ganze Reihe verschiedener Zellgruppen. Als erstes tritt — und
das kann man beim Menschen weniger sehen als z. B. beim Kaninchen (siehe
Abb. 8 u. 9) — dorso-oral vom Ganglion tegmenti ventrale das Ganglion tegmenti
dorsale auf. Es ist in seiner Art ganz charakteristisch ein scharf umschrie-
bener Kern mit einem dichten Fasernetz und einer an Karminpräparaten auf-
fallend rostroten Grundsubstanz. Dieser Kern wird nun von einer Reihe von
Kernen begleitet, von denen zunächst Ramon y Cajal Notiz nimmt. Er
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 149
findet nämlich medial von dem dorsalen Haubenkern Guddens eine Menge
von Nervenzellen, die neben der Raphe zwei lineäre Herde bilden und an
seiner inneren Fläche enden. Dem einen Zellherd gibt er den Namen foyer
linéaire, das sind Zellherde, die parallel der Raphe gelegen sind, dem
anderen, den er als terminale Anschwellung des Herdes bezeichnet, gibt er den
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h & x .$8
Š o g. Ša 88
su ST SE pE
Sa TĚ > AF >S
T S, `~ D` o-
Sgan Èx
3 ; ;
3 Z2 k (C
Tuberanteil des f. periependymalis.
Abb. 8. Kaninchen. Sagittalschnitt.
Namen foyer pédiculaire. Es sei nochmals betont, daß diese Zellen kleine
Zellen sind.
Ziehen beschreibt in dieser Gegend, und zwar knapp vor der Tro-
chleariskreuzung, neben der Raphe, einen N. paramedianus und spricht sonst
nur von einer Substantia grisea centralis. In den Ebenen, welche dem Mittel-
hirnbeginn entsprechen, findet er in der Raphe selbst den N. medianus anuli
aquaeductus und lateral davon eine große Masse von Zellen, die er als N.
parvicellularis anuli aquaeductus bezeichnet. Vom N. paramedianus sieht er
hier nur mehr Zellen, die hart am hinteren Längsbündel, nicht aber über das
dorsale Niveau desselben hinaus gelegen sind. Noch weiter oral, aber noch
150 Professor Dr. Otto Marburg.
immer kaudal vom Trochleariskern, beschreibt er dann neben dem N. me-
dianus anuli aquaeductus, der auch lateral reichende Abschnitte besitzt,
noch den N. lateralis anuli aquaeductus, der aus ungefähr ähnlichen Zellen
besteht, wie der mediale Kern. Ich muß Ziehen beistimmen, wenn er diese
Nomenklatur Obersteiners aufnimmt, nur unter der Hinzufügung des Be-
griffes anuli, und mit Recht anerkennen, daß er die von mir gewählte Be-
zeichnung N. tegmenti dorsalis zurückweist wegen der Homologie, die even-
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Abb. 9. Kaninchen. Detail aus Abb. 8.
tuell mit dem Ganglion tegmenti dorsale vermutet werden könnte. Dagegen
möchte ich meinen, daß der Begriff Tegmentum doch nur ein konventioneller
ist und die Grenze des Tegmentum gegen das Tektum nur durch eine ideale
Ebene gegeben ist, die ungefähr den Aquädukt ventral von der Mitte des
dorso-ventralen Durchmessers trifft.
Wenn ich nun nach meinen Präparaten die Kerne, die hier gelegen sind,
etwas genauer ins Auge fasse, so muß ich mich zunächst mit Ramon y Cajal
auseinandersetzen. Es zeigt sich nämlich, daß wir auch beim Menschen ein
Ganglion tegmenti dorsale besitzen. Es liegt entsprechend dem vorderen
Brückenende dorsal vom Fasciculus longitudinalis posterior und ist an Faser-
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 151
präparaten sehr deutlich kennbar. Das hat schon Edinger betont und sehr
gut dargestellt. Tatsächlich ist nun dieser Kern medial von kleineren Zellen
begleitet. Diese kleineren Zellen treten jedoch mehr dorsal, also knapp neben
der ventralen Ecke des Aquädukts hervor und bilden dort scheinbar eine
selbständige Zellgruppe (Nucleus paramedianus anuli aquaeductus). Diese
Zellgruppe scheint mir nun von den verschiedenen Autoren verschieden
bezeichnet zu werden. Es ist scheinbar die gleiche, die Ziehen als N.
paramedianus dorsalis bezeichnet. Für diese aber reicht sie zu weit oral-
wärts. Eher schon entspricht sie dem foyer pédiculaire von Ramon y
Cajal, denn sie stellt in der Tat Zellen dar, die oral den medialen klein-
zelligen Herd, der übrigens beim Menschen sehr zellarm ist, abschließen. Sie
finden sich bereits dort, wo der N. medialis anuli aquaeductus deutlich wird.
Lateral davon aber liegen noch kleinere Zellen, die man nur bei sehr sorg-
fältiger Färbung zu Gesicht bekommt und die oral vom (Ganglion tegmenti
dorsale eine Gruppe bilden (Abb. 10). Es sind wohl auch ein paar größere
Elemente in ihnen enthalten, aber der Hauptmasse nach sind sie sehr klein.
Sie erinnern in gewisser Beziehung an die kleinsten Zellen des N. triangu-
laris. Dieser kleinzellige Kern ist ja auch von den verschiedenen Autoren
beschrieben worden, aber gleichfalls in einer anderen Gegend. Er ist der
N. parvicellulatus anuli aquaeductus von Ziehen, ohne aber die Ausdehnung
zu erreichen, die Ziehen in seiner Zeichnung wiedergibt. Auch ist dieser
Kern auffallend kurz. Oral davon folgen dann die eigentlichen Aquädukt-
kerne. Der laterale und der mediale, die scheinbar gleichwertig zu sein
scheinen (Abb. 11).
Es ist nicht gut möglich, wie Winkler und Potter es bei Kaninchen
und Katzen getan haben, diese großen Zellen als N. ventralis grisei centralis
zusammenzufassen. Ebensowenig kann man Jacobsohn beistimmen, der
von einem N. supratrochlearis spricht. Bekannt sind die früheren Untersucher,
die sich bemüht haben, einen Teil dieser Kerne den Augenmuskelkernen anzu-
gliedern (Westphal, Böttiger, Siemerling, Kausch, OÖbersteiner,
Panegrossi). Wenn man die eben genannten Kerne überblickt, so wird es
nicht klar, was diese verschiedenen Autoren eigentlich mit ihren Kernen
gemeint haben. Während Westphal von auffallend kleinen Zellen spricht,
die dem nach ihm benannten Kern angehören, scheint es, als ob die späteren
Autoren den N. lateralis anuli aquaeductus als Westphalschen Kern an-
sprechen. Es ist ganz unverständlich, wenn Panegrossi von einem West-
phalschen medial gelegenen und einem Böttigerschen dorsal-lateral gele-
genen Kern spricht, die den Trochleariskern flankieren.
Vielleicht werden wir zu einem besseren Verständnis dieser Kerne ge-
langen, wenn wir deren Beziehungen zum Fasciculus periependymalis be-
trachten. Der erste, der genaueres zu dieser Frage geäußert hat, war Ganser.
Er zeigte, daß aus dem Ganglion interpedunculare Fasern dorsalwärts streben,
die, wie Kölliker besonders zeigte, neben der Raphe das zentrale Grau
erreichen. Sie bleiben größtenteils medial von dem (Ganglion tegmenti pro-
fundum, ziehen schließlich durch oder auch medial vom F.l.p. in die dorsalen
Arbeiten aus dem Wr. neuro!. Inst XXXIIT. Bl, Heft 2. 11
152 Professor Dr. Otto Marburg.
Kerne von Gudden, aber auch in das zentrale Grau an der medialen Seite
des Ganglion. Er schreibt dann wörtlich: „Ich möchte annehmen, daß die
Fasern zum Haubenbündel an beiden Orten um die hier befindlichen Zellen
enden, und daß diesen die schon erwähnten Fasern des dorsalen Längsbündels
des zentralen Graus von Schütz entsprechen.“
Aquädukt.
N. paramedi-
anus anuli
aquaeductus.
N. dorsalis
Raphes.
N. parvicellulatus (der Hinweisungsstrich
geht etwas zu weit dorsalwärts).
Abb. 10. Mensch. Zellen am Aquädukt im kaudalsten Mittelhirngebiet.
Etwas genauer befaßt sich Ramon y Cajal mit den genannten Verhält-
nissen. Er tritt vor allem der Behauptung Köllikers entgegen, daß aus dem
Haubenkern von Gudden Fasern in das dorsale Längsbündel von Schütz
eingehen. Er könne das nicht bestätigen, aber auch nicht negieren. Er be-
schreibt und zeichnet die aus dem Ganglion interpedunculare stammenden
Fasern, die dorsalwärts in das Bodengrau des Aquädukts resp. des vorderen
Endes des IV. Ventrikels einmünden. Er findet, daß ein Teil dieser Fasern
wohl in dem dorsalen Ganglion endet, aber daß der ganze Fasciculus inter-
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 153
pedunculo-tegmentalis eine Menge von Nervenzellen einschließt, die, wie
bereits erwähnt, zwei lineare Herde neben der Raphe bilden und selbst-
verständlich auch Fasern des genannten Bündels aufnehmen. Demzufolge
würde also eine Verbindung des Ganglion interpedunculare mit zwei verschie-
denen dorsalen Kernen, einem kleinzelligen und einem größerzelligen, vor-
handen sein. Aber diese Verbindung geht nur über ein System und dieses eine
System ist der Tractus interpedunculo-tegmentalis. Man kann dieses Verhältnis
Aquädukt.
N. medialis. N. lateralis.
mm m nn a
Anuli aquaeductus.
Abb. 11. Mensch. Zellen am Aquädukt, kaudal vom Trochleariskern.
bei den verschiedensten Tierklassen in einer absolut sicheren Weise zeigen,
besonders bei den Nagern, aber auch bei den höheren Tieren, und schließlich
auch beim Menschen. Es ist eine absolute Identität, die sich nur quantitativ,
aber nicht qualitativ verschieden verhält.
Nun kann man aber auch immer in der Gegend des dorsalen Hauben-
kerns von Gudden zunächst einmal medial, dann dorsal und oral, wie
bereits erwähnt, auffallend kleine Zellen finden, in welche sich scheinbar
auch Fasern des Fasciculus interpedunculo-tegmentalis begeben.
Bei den Rodentieren, wo die beiden Guddenschen Ganglien besonders
gut entwickelt sind, hat sich nun gezeigt, daß in das dorsale Ganglion nicht
117
154 Professor Dr. Otto Marburg.
nur Fasern gehen, die von der medialen Seite her in das Ganglion ein-
tauchen, sondern daß sich hier auch Fasern finden, die in der Brücke radiär
von den lateralen und auch den medialeren Partien gegen das dorsale
Ganglior. streben, es umfassen, aber auch in dasselbe eindringen. Es ist
natürlich nicht zu entscheiden, ob es sich hier um afferente oder efferente
Fasern handelt. Das gleiche, was bei den Rodentieren der Fall ist, kann man
aber auch bei den anderen Tierklassen mehr oder minder deutlich wahr-
nehmen. Das geht ja auch bis zu einem gewissen Grad aus den Schilderungen
von Kölliker hervor. Aber erst die Untersuchungen der Artiodaktylen, be-
Abb. 12. Sus. Gegend des G. tegmenti dorsale Die aus der Raphe aufsteigenden
stärkeren Fasern ziehen zu den isolierten dorsalen Bündeln des f. 1l. p. Die feinen
liegen lateral davon (f. interpeduneulo-tegmentalis).
sonders einer gelungenen Serie vom Schwein, brachte einen gewissen Auf-
schluß über diese eigenartigen Fasern. Es fand sich nämlich (Abb. 12) etwas
oral von dem (ianglion tegmenti dorsale para-median ein Bündel dicker
Fasern, knapp ventral vom Aquädukt. Verfolgt man diese Fasern oralwärts,
so senken sie sich allmählich ventral, gelangen zwischen die beiden Längs-
bündel und bilden schließlich jene Brücke in der Medianlinie, welche die
beiden Bündel miteinander in Verbindung setzt. Wir haben also in diesem
anfangs ganz dorsal gelegenen, aus ziemlich dieken Fasern bestehenden
Bündel nichts als einen Teil des hinteren Längsbündels vor uns.
Es lag mir nun daran festzustellen, wie sich diese Verhältnisse bei
anderen Tierklassen gestalten. Da kann man z. B. beim Gerbillus (Abb. 13)
sehen, wie ziemlich dicke Fasern von der lateralen Seite her scheinbar in das
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 155
Ganglion tegmenti dorsale eintreten und hier von lateral nach medial dorsal-
wärts gelangen. Man hat den Eindruck, als wenn von diesem System aus sich
Fasern im Ganglion selbst auflösen würden. Aber man kann auch sehen, wie
solche Fasern dorsalwärts streichen und das dorsale Längsbündel erreichen.
Die beste Aufklärung aber geben Untersuchungen an den Marsupialiern. Beim
Makropus liegt dieses Bündel nicht identisch mit jenem von Sus, sondern
es verhält sich ganz analog wie das eben beschriebene vom Gerbillus, d. h.
die Fasern tauchen aus der Brücke auf, ziehen radienförmig gegen das
Ganglion, umgreifen es zum Teil medial, zum Teil lateral und bilden dann
Abb. 13. Gerbillus. F. periependymalis und seine Beziehungen zum N. paramedianus
und parvicellulatus. Ventral die gröberen Fasern aus der Brücke aufsteigend.
schließlich dorso-medial ein deutliches System, das von den Fasern des
dorsalen Längsbündels von Schütz sehr leicht schon durch die Dicke der
Fasern zu differenzieren ist. Dieses Bündel läßt sich nur oralwärts ver-
folgen und geht ganz analog jenem der Artiodaktylen in das hintere Längs-
bündel ein (Abb. 14). Auch beim Menschen ist es nachzuweisen (Abb. 15).
Es war mir nun darum zu tun festzustellen, aus welcher Gegend sich
die eben geschilderten Fasern entwickeln, um eventuell die Kerne, mit denen
sie in Berührung treten, darzustellen. Beim Dasypus (Abb. 16) und bei Mustela
(Abb. 17) ließen sich die Fasern etwas genauer verfolgen und man konnte
zeigen, daß sie ziemlich tief und lateralwärts in der Brücke verschwinden,
jedenfalls oral vor den pontinen Hauptkernen. Man kann nur sehen, daß sie bis
an die retikulierten Kerne der Haube zu verfolgen sind. Auch beim Schwein
läßt sich deutlich ein dichteres, dunkleres, median gelegenes Bündel querge-
156 Professor Dr. Otto Marburg.
troffener Fasern von einem mehr lateralen, aus feineren Fasern bestehenden
System differenzieren. Diese Zweiteilung des dorsalen Längsbündels — wenn
Abb. 15. Mensch. Die gröberen Fasern am Aquädukt, die sich dem f.1.p. beimischen.
überhaupt von einer solchen die Rede ist — hat Ziehen bereits in den oraleren
Gebieten desselben vorgenommen. Es hat nun den Anschein, als ob diese
dickeren Fasern tatsächlich zum hinteren Längsbündel gehören, denn man
kann sie oralwärts in dieses hinein verfolgen. In welcher Beziehung diese
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 157
Abb. 16. Dasypus septemcinctus. Die Radiärfasern aus der Brücke zum Ganglion
tegmenti dorsale.
Abb. 17. Mustela foina. Radiärfasern aus der Brücke zum Ganglion tegmenti dorsale.
158 Professor Dr. Otto Marburg.
Fasern, die also z. B. beim Gerbillus oder auch den Marsupialiern durch
das Ganglion tegmenti dorsale hindurchtreten, zu diesem genannten Kern
stehen, läßt sich wohl nicht mit Sicherheit erschließen. Aber man kann nicht
gut annehmen, daß der Kern von diesen nur durchsetzt wird, ohne daß die
Fasern mit ihm Beziehungen eingehen. Dagegen kann man mit Sicherheit fest-
stellen, daß aus den genannten Kernen, das sind das Ganglion tegmenti dor-
sale, der N. parvicellulatus und wohl auch der N. paramedianus anuli Fasern in
den Fasciculus periependymalis sensu strictiori abgehen. Die für das hintere
Längsbündel bestimmten Fasern sind offenbar dessen pontine Zuflüsse. Soviel
ist also gewiß. Fasern des N. interpeduncularis enden im Ganglion tegmenti
dorsale, in dem N. paramedianus anuli aquaeductus und vielleicht auch im
N. parvicellulatus und von hier aus gehen Fasern -in das dorsale
Längsbündel, möglicherweise aber auch in das hintere Längsbündel,
wobei ich keineswegs mit Sicherheit die Leitungsrichtung festgelegt haben
will, besonders bezüglich der Fasern für das hintere Längsbündel. Da nun
aber das Ganglion interpedunculare auf dem Weg des Fasciculus retroflexus
und dieses wieder auf dem Weg der Taenia thalami aus den olfaktorischen
Zentren her gespeist wird, so haben wir in dem eben geschilderten System
eine Bahn vor uns, die olfaktorische Reize auf die Haube überträgt. Wir
hätten also hier ein ergänzendes System zu dem vom Corpus mammillare
zum Ganglion tegmenti ventrale von Gudden bekannt gewordenen, das auf
dem Weg des Fasciculus mammillo-tegmentalis diesen Kern erreicht.
Winkler hat in seiner Skizze nur das Ganglion tegmenti dorsale ‘als
Endstätte des Fasciculus mammillo-tegmentalis bezeichnet. Das geht nach
dem Gesagten nicht an. Auch scheint es mir schwer zu beweisen, ob in diesen
dorsalen Kerngruppen auch Fasern des Glossopharyngeus einmünden. Das
läßt sich vergleichend anatomisch nicht mit Sicherheit sagen. Dagegen läßt
sich mit Sicherheit die Verbindung der genannten drei Kerne, des Bodengrau
mit dem Olfaktorius erweisen und mit größter Wahrscheinlichkeit auch die
Beziehung zum Fasciculus periependymalis. An Sagittalschnitten kann man die
Faserzunahme des genannten Systems in diesem Gebiete in der schönsten
Weise zeigen. i
Außer den Verbindungen vom Ganglion interpedunculare und dem Cor-
pus mammillare haben wir auch noch eine dritte Verbindung aus dem Olfakto-
riusgebiet zur Haube, und zwar auf dem Wege des sogenannten basalen Längs-
bündels von Ganser, dem basalen Riechbündel von Edinger und Wallen-
berg. Die Untersuchungen Wallenbergs haben gezeigt, daß tatsächlich beim
Kaninchen Fasern dieses Systems bis in die Brückenhaube geraten. Er schreibt
wörtlich: „Die lateralen Fasern lassen sich bis an die mediale Grenze des
Corpus geniculatum mediale verfolgen und verschwinden dorso-lateral von
der medialen Schleife zum größten Teil in der Höhe der hinteren Vierhügel,
di» übrigen gelangen noch in die Brücke und können bis kurz vor dem
Quintuseintritt noch als spärliche schwarze Querschnitte nachgewiesen wer-
den.“ Diese ungekreuzten Fasern findet er zum Teil in den Kernen der For-
matio reticularis des kawlalen Mittelhirns, die übrigen biegen zwischen dem
Das dorsale Längsbündel von Schütz -- Fasciculus periependymalis usw. 159
lateralen Bündel des Fasciculus longitudinalis dorsalis (hinteres Längsbündel)
und den benachbarten Haubenfaszikeln in die Längsrichtung um, treten auf
diese Weise in die Formation des dorsalen (hinteren?) Längsbündels ein,
strahlen aber daneben noch direkt in das Höhlengrau der Trochlearis-
gegend aus.
Kryspin Exner hat gleichfalls in seinen Studien über die Substantia
perforata anterior derartige Fasern bis in die Mittelhirnhaube verfolgen
können.
Wir hätten also demzufolge in einem Teil der als Radiärfasern be-
schriebenen Systeme olfaktorische Fasern vor uns, die in den retikulierten
Kernen unterbrochen, schließlich doch das Kerngebiet kaudal vom Trochlearis-
kern erreichen. Zu den dorsalen Haubenkernen strömen demnach von zwei
Seiten her olfaktorische Impulse, auf der einen Seite vom Ganglion inter-
pedunculare, auf der anderen Seite vom basalen Riechhirn her durch die
Wallenbergschen Fasern. Zwischen diesen olfaktorischen Fasern aber be-
finden sich auch noch Fasern aus der pontinen (tegend, die sich dem hinteren
Längsbündel beimischen, wobei aber zu bemerken ist, daß auch hier Wallen-
berg Fasern beschrieben hat, die aus dem basalen Riechbündel stammen.
Sicher ist nur das eine, daß in dem genannten Kerngebiet das Bündel von
Schütz eine deutliche Anreicherung an Fasern enthält, ebenso wie das in der
Medulla oblongata in der Hypoglossusgegend der Fall ist.
Damit hätten wir nun zwei Teile des Längsbündelsystems in bezug auf
seinen Ursprung oder seine Endigung sichergestellt und es erhebt sich nun
die Frage, aus welchen Gebieten die oral von dieser Kerngegend gelegenen
Längsbündelfasern stammen. Es ist unendlich schwer, an Weigert-Präpa-
raten den Ursprung von Systemen erschließen zu wollen (vgl. Abb. 8 und 9).
Nur so viel kann man mit Sicherheit sagen, daß ein Teil der oralen Fasern
des Fasciculus Schütz aus den Tuberganglien stammt oder in diese mündet,
die knapp oral vom Corpus mammillare gelegen sind (Abb. 18), und weiters
ist sicher, daß solche Fasern auch mit den medialsten Gebieten des Thalamus
selbst in Beziehung treten, also mit dem N. paraventricularis und ähnlich
gelegenen Kernen. Diese zwei Systeme sind sicher. Ob aber diese Fasern
aus Tuberganglien selbst entspringen oder aber, ob es sich hier auch um
Fasern handelt, die eventuell mit dem basalen Riechbündel oder anderen
olfaktorischen Verbindungen etwas zu tun haben, läßt sich nicht sicher-
stellen, ebensowenig, ob diese Fasern hier enden.
Wie ınan aus der bisherigen Darstellung ersehen kann, handelt es sich
bei dem in Rede stehenden System um sagittal verlaufende Fasern, die
während des ganzen Verlaufes immer in nächster Nähe des Ependynis ge-
funden werden. Es empfiehlt sich demzufolge, besonders um «die Konfusion
mit dem hinteren Längsbündel, das von einer Reihe von Autoren gleichfalls
dorsales Längsbündel genannt wird, den von Ramon y Cajal vorgeschla-
genen Namen Fasciculus periependymalis zu verwenden. Dabei kann
man in (regenden, wo sich ein dorsaler Abschnitt desselben nachweisen läßt,
das Beiwort „ventralis“ anfügen. Dieser Fasciculus periependymalis scheint
Nr. II. -
N. medi-
alis anuli.
F. perie-
pen-
dymalis.
Ggl. teg-
menti dor-
sale.
Fot p:
F. perie-
pen-
dymalis.
F. periependimalis.
Abb. 18. Mensch. Paramedianer Sagittalschnitt,
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 161
nun eine doppelte Leitungsrichtung zu haben oder — besser gesagt — aus
Fasern zu bestehen, die zum Teil zentrifugal, zum Teil zentripetal sind. Die
Kerne, mit denen das System in Beziehung tritt, sind im Thalamus wahr-
scheinlich Tuberkerne, die knapp oral vom Corpus mammillare gelegen sind.
Das geht zumindest aus den Sagittalschnitten beim Menschen hervor. Es ist
nicht zu entscheiden, ob es sich hier um das Ansaganglion handelt oder um
den N. mammiillo-infundibularis. Der Umstand, daß die Fasern sehr median
gelegen sind, spricht eher für letzteres. Dagegen kann man sicher eine Be
ziehung zu medialen Thalamuskernen (N. paraventricularis) feststellen. Frei-
lich ist gerade hier die Frage, ob wir efferente oder afferente Fasern vor
uns haben, oder beides, schwer zu entscheiden.
Neben diesem thalamischen Abschnitt ist der ponto-mesenzephale viel
leichter erkenntlich. Wir können mit Sicherheit sagen, daß hier Fasern ent-
springen, die nicht afferent sind, sondern efferent, ohne selbstverständlich in
der Lage zu sein, afferente Fasern ganz auszuschließen. Die Kerne, die hier
in Frage kommen, sind die des Anulus aquaeductus, und zwar können wir
unterscheiden den N. medianus, den N. paramedianus, den N. lateralis und
den N. parvi-cellulatus anuli aquaeductus, denen sich kaudalst das Ganglion
dorsale tegmenti von Gudden zugesellt. Mit Sicherheit kann man nur Fasern
aus dem N. paramedianus und parvicellulatus, vielleicht auch aus dem
Ganglior tegmenti dorsale in den Fasciculus periependymalis_ feststellen,
Kerne also, in welche Fasern olfaktorischer Genese einmünden. Sie gelangen
dahin erstens auf dem Wege des Fasciculus interpedunculo-tegmentalis und
jenem der Wallenbergschen Fasern aus dem basalen Riechbündel.
Wenn man diese ınesenzephalen Kerne genauer betrachtet, so zeigt sich
eine gewisse Analogie mit jenen der Medulla oblongata. Auch hier sind klein-
zellige und mittelgroßzellige Kerne hart nebeneinander gelegen: N. triangu-
laris, N. intercalatus, N. praepositus und N. Roller. Mit diesen letzteren
Kernen tritt der dritte Abschnitt des periependymalen Systems, jener der
Medulla oblongata in Beziehung. Bezüglich des N. intercalatus möchte ich
noch einmal betonen, daß sich hier wahrscheinlich Elemente finden, die
jenen des Triangularis identisch sind oder ihnen nahestehen.
Während wir nun wissen, daß das mesenzephale Gebiet in allererster
Linie vom olfaktorischen System beherrscht wird, können wir zeigen, daß
das medulläre Gebiet vorwiegend vestibuläre, gustatorische (über den N.
glossopharyngeus und intermedius), aber auch vagische und trigeminale
Impulse aufnimmt. \uch hier erfolgt die Weiterleitung durch Fasern, welche
entweder ein geschlossenes System bilden (Fasciculus triangulo-intercalatus,
Fasciculus triangulo-Roller) oder aber mehr durch zerstreute, quer den N.
triangularis durchsetzende Fasern. Auch hier ist man nicht in der Lage,
die radiären Systeme mit Sicherheit auf die genannten Kerne zu beziehen,
vor allem aber nicht, festzustellen, in welcher Weise die Verbindung mit der
Gegenseite hergestellt wird, ob auf dem Wege der Kranzfasern oder auf dem
Wege von Fasern, die durch das hintere Längsbündel die Gegenseite ge-
winnen.
162 ° Professor Dr. Otto Marburg.
Wenn wir nun annehmen, daß die kleinen Zellen Umschlagsstellen für
zentripetale Leitungen sind oder für direkte Reflexbahnen, die größeren Zellen
aber motorischen Leistungen dienen, so werden wir eventuell in den größeren
Zellen des N. praepositus, intercalatus und Roller, analog wie in jenen
des Ganglion tegmenti dorsale, solche motorische Elemente erblicken, die
aber ihre Fasern nicht direkt an die Erfolgsorgane abgeben, sondern die etwa
im gleichen Sinn zu werten sind, wie die von Kohnstamm als Koordinations-
kerne bezeichneten Gebilde. Anderseits werden wir in den kleinzelligen Ge-
bilden sensible Elemente erblicken, von denen aus einerseits reflektorisch
die genannten Koordinationskerne angesprochen werden können, um gewisse
Mechanismen in Bewegung zu setzen, anderseits aber, wie dies Spitzer
gemeint hat, sensible Reize zentripetalwärts gelangen, um die Bewußtseins-
empfindungen von Hunger, Eckel und Appetit zu übermitteln. Ob letzteres aber
auf dem Wege des Fasciculus periependymalis geschieht, ist allerdings frag-
lich. Ebenso ist noch nicht entschieden, in welcher Weise die mit dem
hinteren Längsbündel verlaufenden Fasern des ponto-mesenzephalen Gebietes
sich hier betätigen, denn es ist bei der engen Lagebeziehung zu den be-
schriebenen Kernen kaum wahrscheinlich, daß es sich um eine rein zufällige
Nachbarschaft handelt.
Schon mit Takagi habe ich bemerkt, daß diese Systeme bei den Wieder-
käuern (Ruminanten) besonders gut entwickelt sind und damals der Meinung
Ausdruck verliehen, daß hier vielleicht jene Mechanismen in Bewegung gesetzt
werden, die das Erbrechen bedingen, eine Anschauung, die übrigens auch
Winkler vertritt. In meinem Sinne ist aber das Erbrechen mit den antiperi-
staltischen Bewegungen der Ruminanten vergleichbar. Es kann reflektorisch
ohne Intervention des Bewußtseins oder aber auch bewußt durch das Ekel-
gefühl herbeigeführt werden. Letzteres aber kann sowohl olfaktorisch als
optisch, als auch gustatorisch bedingt sein. Anderseits aber wissen wir, daß
das Erbrechen auch reflektorisch auf irgend einen sensiblen Reiz des Pharynx
hin erfolgen kann. Es hat nun den Anschein, als ob all diese Mechanismen
ihr zentrifugales Leitungssystem im Fasciculus periependymalis hätten. Wo
immer dieses System getroffen wird, könnte es zum Erbrechen kommen. Man
müßte demzufolge bei den Hirntumoren nicht annehmen, daß Erbrechen auf-
tritt, wenn der Vaguskern geschädigt ist, also hauptsächlich bei Tumoren der
hinteren Schädelgrube. Da die Koordinationskerne, die diesem Vorgang dienen,
vorwiegend in der Medulla oblongata gelegen sind, kann dies sicherlich auch
durch eine Schädigung dieser Kerne bedingt sein. Aber wir werden verstehen,
daß Erbrechen auch auftreten könnte, wenn oraler gelegene mediane Gebiete
geschädigt werden, also solche am Aquädukt; daß man also nicht immer nur
den Hirndruck für das Zustandekommen des Brechreizes und der Übelkeit
verantwortlich machen sollte, sondern untersuchen müßte, ob nicht die
Störung des periependymalen Systems hier eine gewisse Rolle spielt.
Jedenfalls stellt der Fasciculus pericpendymalis ein wichtiges vegetatives
System dar.
Ich bin mir bewußt, daß wir noch weit von der endgültigen Lösung
Das dorsale Längsbündel von Schütz — Fasciculus periependymalis usw. 163
dieser Frage entfernt sind. Ich bemühe mich derzeit, den Dingen experimentell
nachzugehen und werde hoffentlich in Bälde Gelegenheit haben, über die
Ergebnisse dieser Untersuchungen zu berichten.
Literatur:
(Nur die im Text namentlich Angeführten.)
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164 >: Professor Dr. Otto Marburg.
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Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom?
Von
Prof. Dr. Mikio Murata (Kioto, Japan).
Mit 5 Abbildungen im Text.
So leicht mitunter die Diagnose eines metastatischen Tumors im Zentral-
nervensystem ist, wenn der primäre Tumor bekannt oder vorher bereits
operiert war, so bieten manche Metastasen für die Diagnose die unüber-
windlichsten Schwierigkeiten.
Für das Gehirn kommen als hauptsächlichste metastatische Geschwäülste
wohl die der Mamma, ferner der Lunge, aber auch des Magens in Betracht,
während die sehr häufigen Beckentumoren, besonders «die Prostatatumoren
mehr in die Umgebung, d. h. also im Rückenmark, metastasieren.
Eine Gruppe von Tumoren habe ich nicht erwähnt, trotzdem auch von
ihnen die Metastasierung in das Zentralnervensystem bekannt ist und gar
nicht so selten erfolgt: die Hypernephrome.
Es sind bereits eine Reihe von statistischen Darstellungen über die Hyper-
nephrom-Metastasen vorhanden, von denen wohl eine der ersten die von
Westphal ist. Von den 101 Fällen, die er beibringt, konnte er in 40 Meta-
stasen auffinden, also 39,6%, wovon in 31 Fällen diese Metastasierung mul-
tipel war. Im Gehirn findet er dreimal Metastasen.
Augstein hat dann im Jahre 1921 diese Fälle um 30 vermehrt und
konnte schon fünfmal Metastasen im Gehirn finden. Ich verwende von seinen
30 Fällen aber nur 25, weil in zweien über die Metastasen nichts erwähnt
ist und in den übrigen drei Fällen nur ganz allgemein von Metastasierung
gesprochen wird. In diesen fünf Fällen waren also Metastasen im Gehirn,
somit in einem höheren Prozentsatz als bei Westphal. Er folgert, daß in den
nun zusammengestellten 141 Fällen in fast der Hälfte, das sind 49,63%,
Metastasen aufgetreten sind. Sehr wichtig ist der Umstand, daß er hervor-
hebt, daß in den Fällen, wo eine Metastasierung ins Gehirn erfolgte, nur
zweimal Erscheinungen aufgetreten sind. Er nennt die Fälle von Hanke und
Stumpf. Auch in seinen Fällen hatten die Gehirnmetastasen keine Erschei-
nungen gezeigt.
Die eine Metastase am Schädel wird als Atherom gedeutet und er meint,
daß tatsächlich die Metastasierung in den Knochen zuerst erfolge und sehr
viel später erst auf die Dura übergreife. Diesem Umstand ist auch die relative
Symptomenlosigkeit zu verdanken, da der Tumor infolge der Usur des
Knochens nach außen Raum hatte. Die sub finem auftretenden Erscheinungen
166 Prof. Dr. Mikio Murata.
glaubt der Autor auf den Druck des Tumors auf das Gehirn beziehen zu
können. Dem widerspricht wohl der Umstand, daß diese Erscheinungen erst
zwei Tage vor dem Tode aufgetreten sind und daß doch im Gehirn an vielen
Stellen Tumoreinbrüche vorhanden waren. Leider ist eine histologische Unter-
suchung des Gehirns scheinbar nicht vorgenommen worden.
In einer neueren Statistik von Lubarsch finden sich unter 115 Hyper-
nephromen 93 (d. s. 81%) mit Metastasen. Im Gehirn fand er solche in 8,69%.
Er erwähnt eine Angabe von Küster, der solche nur in 4,900 angibt.
Wie man also sieht, scheint die Zahl der Gehirnmetastasen der Hyper-
nephrome mit der Vermehrung der Quellen und der besseren Kenntnis der-
selben zu steigen.
Es erhebt sich nun die Frage, welche von den Hypernephromen die
Tendenz zur Metastasierung besitzen.
Collins und Armour beschreiben eine Hirnmetastase eines Hyper-
nephromes und sind der Meinung, daß diese Tumorgattung als etwas voll-
ständig Selbständiges vom Karzinom resp. Sarkom zu trennen sei. Sie
unterscheiden zwischen benignen und malignen Tumoren dieser Art, wobei
die Malignität teils durch den Charakter des Tumors, teils die Tendenz zur
Metastasierung bedingt wird. Während der Tumor in der Nebenniere aus
kubischer perikapillär angeordneten Zellen besteht, die deutlich Vakuolen
(Fett) aufweisen, hat die Metastase im Gehirn einen ganz anderen Charakter
aufgewiesen. Hier ist nichts von Zellen zu sehen, wie sie der Nebennieren-
rinde entsprechen, sondern die Zellen waren größer, polymorph, dunkel
gefärbt und zeigten die Kerne in verschiedenen Stadien der Degeneration.
Einzelne von ihnen waren auch sehr dunkel. In einzelnen dieser Zellen -—
es dürfte sich hier wohl nicht um Tumor-, sondern um Gliazellen gehandelt
haben — waren auch rote resp. weiße Blutkörperchen eingeschlossen. Das
klinische Bild dieses Falles ist insofern bemerkenswert, als sich anfangs nur
typische Jaksonanfälle fanden, kein Symptom seitens der originären Tumors
bestand und sich erst später eine leichte Parese der krampfenden Seite
dazugesellte. Der Tumor saß im Armzentrum und war verhältnismäßig klein.
Sophie Schnee-Warsar hat dann im Jahre 1926 über einen Fall einer
Hypernephrom-Metastase im Gehirn berichtet, die apoplektiform in Erschei-
nung trat, also anders als der eben erwähnte Fall. Auch der von der Autorin
selbst veröffentlichte Fall ging unter der Diagnose Apoplexie. Im Gehirn
fanden sich eine ganze Reihe von Metastasen, die ein Durcheinander von
weißen und mehr gelben Knoten mit roten und rotbraunen Fleckchen auf-
wiesen. An zwei großen Metastasen fand sie außerhalb der scharfen Ge-
schwulstgrenze eine 1 cm breite Zone scheinbar unveränderter Gehirnsub-
stanz, die außen von einer Ringblutung umgeben ist. Was nun die histologi-
sche Untersuchung anlangt, so ist in diesem Falle eine Differenz gegenüber
den vorigen Autoren insofern zu konstatieren, als auch die Gehirnmetastasen
vielfach den Bau der Nebennierenrinde zeigen. Die Knoten bestehen aus
Alveolen und Strängen sehr lipoidreicher Epithelzellen, die oft ganz große
Lumina einschließen. Auch solide Zellstränge fanden sich. Dagegen spricht
Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ? 167
sich die Autorin eher für Lubarsch aus, der eine so strenge Trennung wie
Collins und Armour negiert, und zwar aus dem Grunde, weil eigentlich
der Charakter der Geschwülste ungleichartig ist, zum Teil karzinoid, zum
Teil dem Bau der Nebennierenrinde adenoid entsprechend. Trotzdem die
Autorin meint, daß das klinische Bild durch den anatomischen Befund eine
Erklärung hätte, kann ich das nicht annehmen, denn es sind doch zu viele
Metastasen im Gehirn, von denen man hätte erwarten müssen, daß sie Sym-
ptome machen. Sie meint nur, daß nicht der Tumor die Erscheinungen hervor-
gebracht hätte, sondern die Blutungen in der Umgebung der (iehirnmeta-
stasen.
Sehr interessant ist ein von R. Dieterie veröffentlichter Fall von Gehirn-
ınetastase eines Hypernephroms bei einem vier Jahre drei Monate alten Kind
schon deshalb, weil sich hier ein ganz analoges klinisches Bild zeigte, wie in
dem Falle von Collins und Armour, nämlich Jaksonepilepsie. In diesem
Falle war auch eine starke Blutdrucksteigerung und eine Pubertas praecox.
Die Diagnose war in vivo gemacht. Das Gehirn machte den Eindruck, daß
es größer sei als es dem Alter des Kindes entspricht. Es zeigen sich im Gehim
kleine Partien scheinbar oberflächlicher Erweichungen und die Basilararterie
zeigt an einer Stelle eine Verdickung der Intima. Auch im (rroßhirn waren
die Gefäße eigentümlich verändert im Sinne einer Arteriosklerose. Der Autor
bringt eine Reihe von Fällen kindlicher Arteriosklerose, die auf die Neben-
nierenaffektionen bezogen werden. Der Fall scheint deshalb von Bedeutung,
weil er zeigt, daß es nicht immer die Metastase sein muß, die die Anfälle
hervorruft, sondern daß es gelegentlich die begleitende oder durch die Neben-
nierenaffektion, vielleicht bedingte schwere (iefäßveränderung mit gleich-
zeitiger Hypertension sein kann, die, wie auch in dem Falle Schnee-
Warsar, möglicherweise die koordinierten Erscheinungen bedingt hat.
Sehr interessant sind drei Fälle von Joßmann, von denen zwei Hyper-
nephrom-Metastasen im Rückenmark betreffen, einer dagegen eine solche im
Gehirn, bei der sich gleichfalls klinisch Jaksonanfälle und eine Hemiplegie
zeigt. Hier wurde mit Hilfe der Pyelographie ein Tumor festgestellt.
Schuster bemerkt zu diesem Fall, daß die scharfe Konturierung der
Hypernephrom-Metastase vielleicht charakteristisch sei.
Kalischer erwähnt, daß er vor Jahren darauf hingewiesen hat, daß
die Hypernephrome oft erst durch die Metastasen erkannt werden. Er weist
auf französische Autoren hin, die Fälle von Hypernephrom-Metastasen im
Gehirn und in der Lunge beschrieben haben, ohne den primären Tumor zu
kennen, so daß man das Ganze als tuberkulösen Prozeß deutete.
Gerwer bringt zwei Beobachtungen, deren eine, eine 65jährige Patientin,
die eine typische Hemiplegie hatte und nur kurze Zeit am Leben blieb und
sechs Metastasen im Gehirn aufwies, die nieht über Walnußgröße hinaus-
gingen. Sie waren knotenförmig gebaut, hatten poligonale oder rundliche
Zellen, die zum Teil alveolär, zum Teil perivaskulär angeordnet waren, zum
Teil symplastische Massen bildeten. Gerwer weist darauf hin, daß analoge
Massen von Dobrovoljskaja beschrieben wurden.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 12
168 Prof. Dr. Mikio Murata.
In einem zweiten Fall, der sich gleichfalls sehr rasch entwickelte, nur
wenige Monate dauerte, hatte sich, abgesehen von einem Nebennierentumor,
eine Hirnmetastase gefunden, die von einer Kapsel umgeben war und eine
alveoläre Anordnung zeigte. Hier waren polymorphe Zellen vorwiegend peri-
vaskulär angeordnet. Das wesentlichste dieser Fälle ist der Umstand der
raschen Entwicklung der Hirnerscheinungen und die nach der Metastasierung
auffallend kurze Dauer der Erkrankung. Denn anzunehmen, daß es sich hier
nicht um Metastasen handelt, sondern um fötale Keime, die plötzlich im
Gehirn zu wuchern beginnen, liegt wohl kein Grund vor.
Ein dritter Fall zeigt nur Erscheinungen seitens des Rückenmarks und
der Medulla obl.
Das wären die genauer mitgeteilten Fälle von Hypernephrom-Metastasen
im Gehirn, während solche im Rückenmark von einer ganzen Reihe von
Autoren (Taterka z. B.) mitgeteilt wurden. Das Auffällige bei den Hyper-
nephrom-Metastasen des Gehirns ist folgendes:
1. Es treten plötzlich Erscheinungen auf, bevor man in der Mehrzahl
der Fälle noch den primären Tumor erkannt hat,
2. das klinische Bild, unter dem sie in Erscheinung treten, ist meist das
der Jaksonepilepsie oder des apoplektischen Insultes, gewöhnlich ohne daß
die Allgemeinerscheinungen eines Hirntumors vorhanden wären, und
3. ist der Charakter dieser Geschwülste nicht immer so, daß man gleich
auf eine Hypernephrom-Metastase verfallen würde. Sie setzen sich aus Zellen
zusammen, die nicht immer charakteristisch sind, und zeigen außerdem in der
Anordnung der Zellen Varianten, die keineswegs den Hypernephromen ent-
sprechen.
Meine eigene Beobachtung betrifft einen 33 Jahre alten Patienten, den Professor
Marburg durch mehrere Jahre zu beobachten Gelegenheit hatte. Die Familienanamnese
ist vollständig belanglos. Der Patient erinnert sich keiner wie immer gearteten Er-
krankung bis zum Kriege. Im Jahre 1917 erkrankte er an Malaria und Dysenterie.
Anfang August 1927 beginnt er über Kopfschmerzen zu klagen, hat angeblich
Doppelbilder und alles erscheint ihm am rechten Auge trüb. Das greift auch auf das
linke Auge über, währt aber nur kurze Zeit, um dann wieder normalem Sehen Platz
zu machen. Der Gang war unsicher und da damals der Fundus eigentlich normal war
und keinerlei sichere Zeichen einer lokalen Affektion im Gehirn nachzuweisen war,
wurde der Patient einer Röntgenbestrahlung unterworfen. Aber schon Ende 1927
trat eine Stauungspapille auf, und zwar eine sehr starke (5 bis 6 Dioptrien). Gleich-
zeitig zeigte sich die Frontal- und Okzipitalgegend linkerseits klopfempfindlich und
es bestand eine linksseitige Fazialisparese sowie eine linksseitige leichte Parese der
Extremitäten. Der Patient wurde nun zwecks Lipjodolfüllung an die Klinik Eisels-
berg aufgenommen.
Die Untersuchung ergab einen Hydrocephalus occlusus durch Kompression des
Aquaeductus Sylvii, ohne daß irgend ein Zeichen, das für einen Hirntumor sprach, vor-
lag. Da sich der Patient weigerte, eine Trepanation vornehmen zu lassen, verließ er die
Klinik. In der Folgezeit wird von Müller eine Trepanation der Scheiden des N. opticus
vorgenommen, die aber erfolglos blieb. Erst im März 1929 kommt der Patient wieder
in die Beobachtung Professor Marburgs, der seine sofortige Aufnahme an die
Klinik Eiselsberg veranlaßte zwecks Vornahme einer Operation. Die Erschei-
nungen hatten sich insofern geändert, als nun rechts vorn am Schädel eine Klopf-
empfindlichkeit bestand, daneben eine linksseitige Parese inklusive Fazialis, wenn
Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ? 169
auch sehr geringen Grades, mit Steigerung der Sehnenreflexe und Herabsetzung des
Bauchdeckenreflexes. Inzwischen war der Patient nahezu erblindet und es bestand
eine Optikusatrophie nach Stauungspapille.
Der am 26. März vorgenommene Röntgenbefund deckte sich mit der erschlossenen
Annahme eines raumbeschränkenden Prozesses in der rechten vorderen Schädelgrube,
der mit einem mächtigen Hydrozephalus einherging. Der Umstand, daß die Laminae
eribrosae verdünnt sind, läßt auch den Röntgenologen folgern, daß es sich um einen
Stirnhirntumor handelt. Mit dieser Diagnose wurde der Patient operiert. Die Operation
mußte unterbrochen werden, da bereits im Knochen eine derartige Stauung in den
Venen vorhanden war, daß es kaum glückte, eine kleine Lücke im Schädel anzu-
legen. Eine fast noch größere Stauung der Venen bestand in der Dura. Trotzdem
die Öffnung nur klein war, prolabierte ein über nußgroßes Stück des Gehirns (Tumor?)
nach außen. Um diesen Prolaps zu bekämpfen, wurde eine Ventrikelpunktion vorge-
nommen und 50 ccm Liquor abgelassen. Auch wurde der Patient weiter mit Röntgen-
strahlen behandelt, da ein neuerlicher Eingriff infolge Infektion des Prolapses un-
möglich war. In der Folgezeit trat dann eine Protrusio bulbi rechts auf und eine
langsam fortschreitende Überhäutung des Prolapses. Aber wegen der konstanten Su-
puration konnte ein neuerlicher Eingriff nicht vorgenommen werden. Der Patient wurde
nach Hause entlassen. Er fühlte sich in der Zwischenzeit verhältnismäßig wohl. Gegen
Ende August treten dann psychische Störungen auf. Der Patient ist delirant, unruhig,
nicht im Bett zu halten, drängt fort, führt obszöne Redensarten und wird neuerlich
an die Klinik aufgenommen, wo trotz aller Bemühungen, den immer stärker werdenden
Druck zu senken, der schließlich zu einem Spasmus aller Extremitäten geführt hat,
keine Besserung auftritt, bis schließlich Ende September eine Pneumonie einsetzte.
der der Kranke am 29. September erliegt.
Bei der Obduktion zeigen sich zunächst sehr starke Erscheinungen von Hirndruck
am Knochen. Im Frontallappen zeigt sich ein zirka orangegroßer, aus einem grau-
weißlichen, teilweise durchbluteten Gewebe bestehender Knoten, der mit der Dura
fest verwachsen erscheint. Er begrenzt sich ziemlich scharf gegen die Gehirnsubstanz.
Stellenweise ist zwischen Tumor und Gehirn ein deutlicher Spaltraum vorhanden. Die
Gehirnsubstanz des rechten Parietal- und Termporallappens ist stark verdrängt und zu-
sammengepreßt. Der rechte Seitenventrikel bildet einen schmalen Spaltraum und ist
über die Medianebene des Schädels nach links gedrängt. Der linke Ventrikel ist be-
trächtlich erweitert. Neben einer Pneumonie besteht in der linken Niere, in der Nähe
des oberen Pols gelegen, ein kirschgroßer, die Oberfläche der Niere vorwölbender
Knoten, der sich ziemlich scharf abgrenzt und aus einem weichen, von Blutungen
durchsetzten fremdartigen Gewebe besteht.
Bei der Untersuchung des Tumors des Gehirns zeigt sich, daß derselbe einen
eigenartigen alveolären Bau besitzt, der im ersten Moment den Gedanken an ein
Endotheliom aufkommen läßt. Bei genauerer Untersuchung aber findet sich, daß eigent-
lich die Charaktere eines Endothelioms vollständig fehlen. Zunächst sind die Zellen
kubisch, auch birnförmig und so angeordnet, wie wenn es sich um Acini handein
würde (Abb. 1). Mitunter sieht man sie wohl um ein Gefäß herum, aber nicht der-
art, daß sie die Gefäße strahlenförmig einscheiden würden. Sie sind regellos um die
Gefäße gelagert. Die Kerne sind meist hell, einzelne aber auch dunkel. Mitunter sind
mehrere Kerne in einer Plasmamasse vorhanden, ohne daß man deutlich die Grenze
des Plasmas differenzieren könnte (Abb. 2). In vielen Zellen sieht man deutlich
Vakuolen. Der Tumor ist sehr gefäßreich, die Wände der Gefäße sind stellenweise
vollständig homogenisiert, kaum daß man die Intima deutlich erkennt und um die
Gefäße herum ist eine glasige homogene Masse (Abb. 3). An manchen Stellen er-
innert das Gewebe fast an Knorpel. Noch einmal sei betont, daß der Bau des Tu-
mors nicht ganz gleichmäßig ist, daß er zum Teil alveolär, zum Teil aus Zellsträngen
zusammengesetzt ist, daß sich gelegentlich diese Zellstränge um (Gefäße anordnen,
gelegentlich aber auch, wie erwähnt, pseudoazinös. Das Gewebe am Tumor ist
Kompressionsglia. Von nervöser Substanz ist in diesem aufgeloekerten gliösen Ge-
12*
Mikio Murata.
Prof. Dr.
170
Azinöse Bildungen im Tumor.
Abb. 1.
ufen.
Undiiferenzierte Zellha
Abb. 2.
Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ? 171
webe nichts wahrzunehmen, so daß es den Anschein hat, als wenn der Tumor von
einer Gliakapsel umgeben wäre. An einzelnen Stellen erkennt man noch den malazi-
schen Charakter dieser Partie. Es ist darum fraglich, ob der Tumor eine Kapsel hat,
denn man sieht Zapfen des Tumors gegen die Umgebung hin aus der Hauptmasse
vorgestülpt. In der Nähe dieser Zapfen kann man dann noch deutlich die Malazie
erkennen (Abb. 4). Eine Bindegewebsfärbung zeigt, daß der Tumor wohl ein Binde-
gewebsgerüst erkennen läßt, daß die Tumorzellen aber keinerlei Bindegewebsfärbung
angenommen haben, sondern in dem Karminpräparat rot erscheint. Ein Haidenhain-
Präparat zeigt deutlicher als das Übersichtspräparat, daß die Kerne in der Mehr-
zahl hell sind, das Chromatin in feiner Verteilung enthalten und nur einzelne
gröbere Chromatinkörnchen erkennen lassen. Nissl- und Gieson-Präparate ergeben
nichts Besonderes.
Abb. 3. Gefäßwandverbreiterung und Homogenisation.
Wenn wir nun die Ausbreitung des Tumors untersuchen, so kann man ihn
schon im Frontallappen finden. Kaudalwärts reicht er in den Parietallappen hinein.
Am besten überblickt man das, wenn man einen Querschnitt, etwa dem hinteren
Drittel des Tumors entsprechend, ins Auge faßt (Abb. 5). Es zeigt sich da, daß die
mediane Hemisphärenpartie frei ist, ebenso die oberste Stirnwindung und die oberste
angrenzende Parietalwindung. Wie schon erwähnt, ist der Frontallappen ganz lateral
und oral vom Tumor eingenommen. Kaudalwärts rückt der Tumor immer weiter
medial und nimmt nahezu das ganze Frontalmark ein, nur die mediale Windung
freilassend. Das geht bis zum Ventrikelbeginn. Hier zeigt sich eine Verdrängung des
Ventrikels und noch weiter kaudalwärts sieht man, daß auch die Inselwindungen
verschont werden, daß dagegen der Tumor das ganze operkulare Gebiet auch des
Schläfelappens einnimmt. Er endet dann ziemlich rasch, etwa entsprechend der Gegend,
wo das Seitenhorn ins Hinterhorn übergeht, also im Gebiet des Parietallappens, der
verhältnismäßig in seinen hinteren Abschnitten intakt erscheint. Auch an den Quer-
schnitten durch den ganzen Tumor kann man erkennen, daß er äußerst expansiv
172 Prof. Dr. Mikio Murata.
wächst und daß die benachbarten Gebiete durch Druck eine schwere Degeneration der
Fasern erkennen lassen. So zeigt sich, daß die ganze innere Kapsel in der Nachbar-
schaft des Tumors aufgehellt ist, eine Aufhellung, die allerdings nicht zu einer schwe-
ren sekundären Degeneration geführt hat, denn in der Brücke sieht man die Pyra-
midenfasern wieder intakt, ebenso ist das ganze Linsenkerngebiet faserarm. Auch
die Capsula extrema und selbstverständlich auch die angrenzenden Windungen des
Temporalpols bzw. des Frontallappens.
Da die histologische Untersuchung des scheinbaren Nierentumors ein
Hypernephrom ergab und sich der Tumor im Gehirn nicht von dem unter-
schied, was die Autoren als Hypernephrom-Metastase bezeichnen, so müßte
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Abb. 4. Malazie in der Umgebung des Tumors.
man wohl annehmen, daß es sich hier nicht, wie ursprünglich angenommen
wurde, um ein Endotheliom handle, sondern um eine Hypernephrom-Meta-
stase. Dafür spricht
1. die Zellform. Es sind meist kubische, auch birnförmige, unregelmäßig
geformte Zellen mit hellem Kern und oft sehr deutlichen Vakuolen. Gelegent-
lich sieht man symplastische Formen. Diese Zellen sind entweder pseudo-
azinös angeordnet, gelegentlich auch perivaskulär. Im großen und ganzen aber
ist die Anordnung des Tumors nicht sehr regelmäßig, zeigt aber einen alveo;
lären Bau. Der Tumor ist ungemein gefäßreich und die Gefäßwände sind
schwerst degeneriert. Ferner kann man sehen, daß das Wachstum des Tumors
ein expansives ist, indem die Umgebung des Gehirns schwer erweicht ist.
Die Glia, die übrig geblieben, aufgelockert erscheint, während tatsächlich
,
Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ? 173
der Tumor sich leicht hätte ausschälen lassen. Man sieht, daß er zapfen-
förmig gegen das Gehirn weiterwächst, wobei die Zapfen eher aussehen wie
kleine Metastasen, da sie nur durch einen dünnen Stiel mit dem Haupttumor
verbunden sind.
Von einer genauen Untersuchung der sekundären Degeneration wurde
abgesehen, weil der Tumor expansiv gewachsen ist und ein starkes Ödem
in der Umgebung erzeugt hat.
Abb. 5. Kaudales Drittel des Tumors (Weigert-Pal-Präparat).
Die erste Frage, die sich erhebt, ist nun die nach dem Charakter des
Tumors. Wenn man von dem Zufallsbefunde des kleinen Hypernephroms aus-
geht, so muß man sich fragen, ob dieser Tumor nicht auch der Gruppe der
Hypernephrome angehört, also als metastatischer aufgefaßt werden muß. Für
diese Tatsache spricht erstens die Konstitution, die in vieler Beziehung den
drüsigen Charakter des Tumors erkennen läßt. Und wenn man die Beschrei-
bung solcher Tumoren bei anderen Autoren liest, so kann man sich des Ge-
dankens nicht erwehren, daß auch hier eine Hypernephrom-Metastase vor-
handen ist. Dagegen erheben sich sofort Bedenken, wenn man die Größe des
Tumors ins Auge faßt. Es ist kaum je der Fall, daß ein Hypernephrom nur
eine Metastase macht, vor allem, daß Metastasen im Knochen fehlen. Der
174 Prof. Dr. Mikio Murata.
zweite Umstand ist der, daß die Metastase ein unendlich großer Tumor ist,
weit größer als der Tumor in der Niere, und der dritte Umstand ist der, daß
wir nur eine einzige Metastase im Gehirn haben, während ja sonst immer von
mehreren gesprochen wird. Wir können deshalb die Möglichkeit hier nicht
von der Hand weisen, daß in diesem Fall ein andersartiger Tumor vorliegt,
der nur in seinem Aussehen an die Hypernephrom-Metastase erinnert. Die
Frage, welche Art Tumor hier gemeint sein kann, ist verhältnismäßig leicht
zu entscheiden. Man kann nur annehmen, daß es sich um einen Tumor der
Sarkomgruppe handelt. Der Umstand, daß dieser Tumor mit den Meningen
aufs engste verwachsen war, spricht dafür, daß es sich hier vielleicht um
einen jener Tumoren handelt, die Martin Benno Schmidt als erster beschrieb
und welche er von der Arachnoidea hergeleitet hat, Tumoren, die dann Mal-
lory neuerdings bearbeitet hat und die wegen ihrer Herkunft aus den
Meningen von Bailey und Cushing als Meningiome bezeichnet wurden.
Wie man sieht, ist selbst durch die histologische Untersuchung nicht sicher
möglich, eine genaue Differenzierung dieser Tumorart vorzunehmen. Wir
haben aber gehört, daß bei den Hypernephrom-Metastasen drei Momente
klinisch in Frage kommen, auch wenn der primäre Tumor nicht gefunden
wird.
Der erste Umstand ist die Metastasierung in die Knochen, der zweite die
Häufigkeit apoplektischen Einsetzens oder Auftretens epileptiformer Anfälle.
Letztere sind verständlich, weil diese Tumoren ja gewöhnlich vom Knochen
aus in die Dura und das Gehirn einbrechen; und drittens ist die verhältnis-
mäßig kurze Dauer dieser Hypernephrom-Metastasen hervorzuheben.
In meinem Fall hat sich der Tumor aber anders entwickelt. Zunächst
bestanden allgemeine Hirndrucksymptome, dann die deutlichen Erscheinungen
eines rechtsseitigen Stirnhirntumors. Nur der Umstand, daß der Patient sich
gegen die Operation refraktär verhielt und die — wie Marburg bereits er-
wähnt hat — die verhältnismäßig unzulängliche Sehnervenscheidentrepanation
zwecks Druckentlastung vornehmen ließ, hatte zur Folge, daß die Stauungen im
Knochen und der Dura so stark wurden, daß man nur eine Palliativtrepana-
tion vornehmen konnte. Aber auch nach dieser entzog sich eigentlich der
Patient der weiteren Behandlung, bis schließlich der Zustand ein solcher
wurde, daß ein neuerlicher Eingriff nicht vorgenommen werden konnte.
Ich möchte mich mit Rücksicht auf das klinische Verhalten des Falles,
ferner mit Rücksicht auf den unilokulären Sitz des Tumors trotz des kleinen
Hypernephroms eher dahin entscheiden, daß es sich hier um einen von den
Meningen ausgehenden Tumor handelt, der nur einen etwas eigenartigen Bau
besitzt. Er gehört also in die Gruppe der Endothelial-Sarkome und dürfte von
der Arachnoidea aus entstanden sein.
Wenn ich noch ein Wort über die eigenartige (efäßveränderung anfüge,
so ist wohl kein“Zweifel, daß es sich hier um eine sekundäre handelt. Mög-
licherweise ist der Grund für dieselbe, da sie ziemlich weit nach außen ge-
legen ist, der Umstand, daß eine Röntgenbestrahlung vorgenommen wurde
und die Gefäße möglicherweise dadurch gelitten haben. Vielleicht ist auch die
Hypernephrom-Metastase oder Arachnoideal-Sarkom ? 175
homogene Masse, die um die Gefäße herum zu finden ist, Ausdruck der
durch die Röntgenbestrahlung herbeigeführten Destruktion. Sonst aber hat
sich in diesem Tumor kein Zeichen finden lassen, das für eine Röntgen-
wirkung spricht. Wenn sich trotzdem unter dem Einfluß der Röntgenbestrah-
lung die Erscheinungen zeitweise gebessert haben, so ist das nur Beweis
dafür, daß wohl nicht der Tumor, sondern der begleitende Hydrozephalus
eine Beeinflussung erfahren hat.
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Henke, Verhandl. D. Path. Ges., 1906, Stuttgart.
Küster, Die Chirurgie der Nieren. Ferd. Enke, Stultgart, S. 1896 bis 1902.
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Lubarsch, Die destruierend wachsenden Nierengewächse, im Handb. d. speziellen
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Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns. Nothnagels Handbuch.
Robert Richard Dieterle, Malignes Hypernephrom mit Arteriosklerose beim
Kinde. Journ. of nerv. a. ment. dis., Bd. 65, Nr. 1, S. 42 bis 49, 1927.
Redlich, Handbuch der Neurologie von Lewandowsky.
Schnee, Warsar Sophie, Zur Kauistik der Hypernephrommetastase im Gehirn unter
dem Bilde einer Apoplexie. Zeitschr. f. Path., Frankfurt, Bd. 34, Heft 2, 5. 327
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Schmincke, Über den sarkomähnlichen Bau der Grawitzschen Tumoren der Niere.
Zeitschr. f. Path., Festschrift für Schmidt, Bd. 33, 1923.
Seyssojeff, Zur Frage über die Hypernephrome. Russk. Wratsch., Nr. 46, 1910.
Taterka Hans, Nervensymptome bei Hypernephrommetastasen im Knochensystem.
Westphal, Die klinische Diagnose der Grawitzschen Tumoren.
Aus dem Neurologischen Institut der Wiener Universität
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg.)
Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegischen
Athetose.
Von
Dr. Michael Kamin, Ljubljana (Jugoslavien).
Mit 4 Abbildungen im Text.
Die scheinbar so feststehende anatomische und pathophysiologische
Umgrenzung extrapyramidaler Erkrankungen beginnt sich in neuester Zeit
zu lockern. Indem man verschiedene unwillkürliche Bewegungsstörungen und
hypertonische Erscheinungen einerseits auf die Basalganglien, anderseits auf
das Kleinhirn bezog, blieb der Kortex davon sozusagen ausgeschlossen. Alle
(diesbezüglichen Hypothesen verdichteten sich in der Annahme, daß im Palli-
dum ein Zentrum für Bewegungsautomatismen liegt, auf welches anderseits
das Striatum kontrollierend und hemmend einwirkt. Vom Pallidum geht die
zentrifugale Bahn zu den verschiedenen Kernen des Hypothalamus und des
Mittelhirns, von wo aus einige efferente Bahnen in das spinale Vorderhorn
ziehen. Das Pallidum und das Kleinhirn, welches auf dasselbe Hirnstamm-
gebiet einwirkt, beeinflussen sich gegenseitig, indem das eine oder das andere
superponiert ist. Die Hirnrinde ist nur das Organ der willkürlichen Bewe-
gungen.
Nun sprach Mann (1921) die Annahme aus, daß bei der striären Bewe-
gungsstörung nicht ein getrennt vom Pyramidensystem verlaufender sub-
kortikaler Mechanismus in einer Funktion versagt, sondern es muß in Gestalt
des Corpus striatum ein Mechanismus gestört sein, der in den willkürlichen
Bewegungsapparat eingeschaltet ist, ein Apparat, der durch Abgabe von
regulierenden und hemmenden Impulsen die regelrechte Funktion des Pyra-
ınidensystems ermöglicht. In diesem Sinne faßt er die striäre Bewegungs-
störung als eine Abart der Ataxie auf, und zwar ist bei dieser Koordinations-
schädigung die richtige Abstufung der gegenseitigen Spannungsverhältnisse
von Agonisten und Antagonisten gestört. Nimmt man nun an, daß im Corpus
striatum ein Zentrum existiert, das die zentripetalen Innervationsmerkmale
über das gegenseitige Verhältnis der Agonisten und Antagonisten sammelt
und in zweckmäßiger Anordnung der motorischen Rinde zwecks Entsendung
sachgemäßer motorischer Impulse zuführt, so würden wir dem Verständnis
näherkommen. Man müßte sich vorstellen, daß von den regulierenden, die
178 Dr. Michael Kamin.
Innervationsmerkmale übermittelnden Kleinhirn-Hirnrindebahnen ein Neben-
schluß eingeschaltet wäre, der etwa vom Nucleus ruber abzweigen würde,
um sich nach dem Striatum zu begeben. Das Striatum würde somit den
Sammelpunkt der unterbewußten Innervationsmerkmale über die gegenseitigen
Spannungsverhältnisse in den Muskeln bilden. Dieser Sammelpunkt würde
dann für die Hirnrinde eine Unterlage zur Ausführung der zweckmäßigen Inner-
vation auf dem Wege der Pyramidenbahnen ausmachen. Eine Störung in
diesem Sammelpunkte würde dann zu striären Komplexen führen.
Flatau kommt in seinen Überlegungen zu der Annahme, daß es sich
auf Grund physiologisch-experimenteller Tatsachen (Wilson) schwer mit der
apodiktisch sicheren Lokalisation der extrapyramidalen Erscheinungen aus-
schließlich im Striatum-Pallidum (Vogt, Hunt, Förster) rechnen lasse.
Auch müsse man sich bei objektiver Musterung der erhobenen anatomischen
Befunde sagen, daß dieselben nicht streng isoliert auftreten und sich auch
nicht ausschließlich auf das Striatum-Pallidum beschränken; die Läsionen
überschreiten fast immer das Territorium der zentralen Ganglien, häufig
wird der Thalamus mitbetroffen und schließlich weisen bei einer und der-
selben Krankheit die pathologisch-anatomischen Veränderungen gewisse lokali-
salorische Schwankungen auf. In bezug auf die striäre Erklärungsweise
gewisser choreatischer, athetotischer u. a. Hyperkinesen meint Flatau, daß
es schwer sei, sich vorzustellen, daß in der Tat Zentren bestehen, deren
Enthemmung zur Erlösung und Befreiung hochkomplizierter Bewegungsakte
führe. Er wirft sodann die Frage auf, ob diese Hyperkinesen doch nicht
kortikalen Ursprungs seien und schließlich durch Vermittlung der Pyramiden-
bahnen zustande kämen.
Zur kortikalen motorischen Region ziehen zahlreiche zentripetale Bahnen,
so thalamortikale, dann solche von verschiedenen Mittel- und Zwischen-
hirnganglien und auch vom Kleinhirn durch die rubrale Bahn. Durch Ver-
mittlung des Sehhügels kann auch der Globus pallidus seinen Einfluß auf die
Rinde ausüben. Alle diese Bahnen wirken auf die Rinde regulierend und
hemmend. Bei Unverletztheit dieser Bahnen entstehen keine unwillkürlichen
Bewegungen, erst die Läsion einer dieser Bahnen verunstaltet deren Einfluß
auf die motorische Hirnrinde und kann zur Auslösung der verschiedensten
Bewegungskomplexe führen. Es entstehe nun die Frage, warum die unwill-
kürlichen Bewegungskomplexe nicht bei jeder Verletzung oder Erkrankung
der subkortikalen Gebilde zum Vorschein kommen. Man sollte meinen, führt
der Autor weiter aus, daß je näher zur Hirnrinde, desto geringer die Chancen
der Auslösung dieser Bewegungen werden, zumal da die Bahnen etwa
fächerartig der Hirnrinde zuströmen. Je mehr man sich dem Stiel (zentrale
Ganglien, Kleinhirn) dieser Fächer nähert, desto leichter wirkt die Ent-
hemmung der motorischen Rinde im Sinne des Hervortretens von unwill-
kürlichen vertrackten Hyperkinesen. Rothmann, Munk meinten bereits,
daß in der Hirnrinde, nebst den klassischen motorischen Zentren, sich auch
andere befinden, die gerade mit den subkortikalen Zentren verbunden sind.
Es wäre also möglich, daß es bei einer krankhaften Läsion aller zuführenden
Zur l,okalisationsfrage der posthemiplegischen Athetose. 179
Kortikalbahnen zu einer Enthemmung (im weitesten Sinne des Wortes) der
in der motorischen Rinde deponierten Bewegungsmechanismen käme und daß
dadurch das Zustandekommen der verschiedensten unwillkürlichen Bewe-
gungskomplexe ermöglicht wäre. Die Hyperkinesen, die dabei entstehen,
und deren unzählige Kombinationen würden von der Art, der Tiefe und
Lokalisation der Herde in diesen zentripetalen Bahnen abhängig sein.
Nießl von Mayendorf wendet sich in seiner Arbeit über die Chorea
entschieden gegen die Striatum-Theorie oder, wie er in allererster Linie
meint, Putamen-Theorie der Chorea. Diese sei im wesentlichen bedingt durch
den Ausfall der Linsenkernschleife, d. h. Fasern zentripetaler Art, die unter
dem Linsenkern hindurchschlüpfen und die postzentrale operkulare Region
erreichen. Es sei dabei aber auch das Kleinhirn mitbeteiligt, und zwar
vermittels der zentralen Haubenbahn.
Marburg kommt schon im Jahre 1914 auf Grund einer klinisch-anato-
mischen Beobachtung — lokalisierter Schütteltremor bei einer Zyste, die
etwas über taubeneigroß knapp unter der Hirnrinde im Marklager, etwa ent-
sprechend dem ventralen Drittel der hinteren Zentralwindung, dem angren-
zenden Gyrus supramarginalis gelegen, nach oben etwas in das Gebiet des
oberen Scheitelläppchens hineinragend; dabei wird der Linsenkern von der
Zyste nicht berührt, sie liegt knapp hinter ihm — und ferner auf Grund von
drei klinisch beobachteten Fällen zu der Überzeugung, daß die Fasern, deren
Ausfall den Schütteltremor bedingt, die Bahn einschlagen, die im Bindearm
beginnend durch den roten Kern und über den Thalamus, Linsenkern, Mark-
lager kaudal von diesem zur Rinde des Operkulargebietes zieht.
In einer späteren Arbeit bespricht er unter anderem auch die Patho-
Physiologie verschiedener amyostatischer Dyskinesen. Wenn es bei unge-
störter reziproker Innervation zu einer Störung der Tonussymmetrie der das
Gelenk fixierenden Muskeln kommt, so resultiert daraus der Tremor. Wo
außer der Störung der Tonussymmetrie noch der Antagonistenreflex in dem
Sinne geändert ist, daß auf eine leichte Kontraktion eine übermäßige Relaxa-
tion erfolgt, entstehen choreatische Bewegungen. Im Gegensatz dazu ist die
athetotische Hyperkinese die Folge eines hypertonischen durch eine Kontrak-
tion ausgelösten Antagonistenreflexes. Demnach kann nur eine Störung sowohl
des Tonus als des Antagonistenreflexes zu diesen Bewegungsphänomenen
führen. Unsere Bewegungen werden propriozeptiv, labyrinthär und assoziativ
reguliert. Die Bewegungsimpulse gelangen über zwei anatomisch gleich-
organisierte Schaltstationen, das Kleinhirn und die Stammganglien zur Hirn-
rinde. Je höher wir in der Tierreihe aufsteigen, desto mehr treten die Auto-
matisınen zurück und die Bewegungen gewinnen Anschluß an die Hirnrinde,
womit eine morphologische Umgestaltung des Subkortex Hand in Hand geht.
Beim Erwachsenen treten die subkortikalen Zentren ganz zurück. Die Impulse
zur Rinde werden vom Kleinhirn direkt via Bindearm, vom Strio-Pallidum
aber infolge mangelnder direkter Verbindung via rotem Kern und Bindearm
geleitet. Die beiden zwischen Peripherie und Zentrum eingeschalteten Organe
sind einander nicht gegensätzlich, vielmehr koordiniert. Extrapyramidale
180 Dr. Michael Kamin.
Bewegungsstörungen sind Störungen regulatorischer Mechanismen, sind zentri-
petale und nicht zentrifugale Innervationsstörungen.
Wilson sonderte schon 1912 die choreatischen und athetotischen Hyper-
kinesen vom eigentlichen Striatumsyndrom ab. Kürzlich präzisierte er seine
pathogenetischen Betrachtungen über die genannten Störungen in dem Sinne,
daß sie mit Störungen des Tonus und der antagonistischen reziproken Inner-
vation im engen Zusammenhang stehen. Diese Störungen beruhen auf Schädi-
gungen der zentripetalen Regulation und werden am häufigsten durch Läsion
an irgend einer Stelle des zerebello-mesenzephalo-thalamo-kortikalen Appa-
rates, aber auch im Kortex selbst durch Schädigung einer transkortikalen
Komponente von einer extrarolandischen Region, z. B. vom Frontal- oder den
Parietallappen zur Regio rolandica, hervorgebracht. Die Pyramidenbahn muß
dabei wenigstens teilweise erhalten sein. Die spontane Aktivität der Choreo-
Athetose ist nur eine Sukzession von kortikalen Reflexen, die sich mit den
sogenannten willkürlichen Bewegungen weitgehend vergleichen lassen, nur
kann sie der Kranke weder anregen noch hemmen. Die choreatisch-athetoti-
schen Dyskinesen sind ein komplexer Typ unwillkürlicher Bewegungen, für
deren Zustandekommen motorische Mechanismen kortikalen Sitzes erforder-
lich sind. Es ist nicht ein einziger und unabänderlicher anatomischer Sitz
der Läsionen zu erwarten; diese Bewegungsstörungen sind Ausdruck der
Unordnung eines Systems. Jede Theorie, die den Ursprung dieser Dyskinesen
ausschließlich in striären destruktiven Läsionen sucht, ist unmöglich.
In seiner kritisch-historischen Übersicht der Literatur über die extra-
pyramidalen Erkrankungen und Bewegungsstörungen kann Minkowski „sich
des Eindruckes nicht erwehren, daß trotz der Arbeit vieler vorzüglicher
Forscher und des wesentlichen Fortschrittes, den sie gebracht haben, das
ganze Gebiet noch nicht eigentlich spruchreif ist“. Denn die Striatumverände-
rungen umfassen nur einen Teil der extrapyramidalen Systemerkrankungen
und symptomatologisch verwandte Krankheitserscheinungen können auch
bei Beschränkung des pathologisch-anatomischen Prozesses auf andere Glieder
des extrapyramidalen Systems (besonders das Nucleus dentatus-Bindearm-
Nucleus ruber- und das fronto-ponto-cerebellare System), namentlich aber bei
kombinierten Erkrankungen dieser verschiedenen Glieder vorkommen. Nach
Exstirpationen der beiden Gyri sigmoidei einer Seite, die er an mehreren
Katzen ausführte, beobachtete der genannte Autor athetoide Bewegungen in
beiden Vorderpfoten der Tiere. Diese Erscheinungen könne man weder lokali-
satorisch auf die Läsion einer bestimmten Bahn oder Struktur, noch physio-
pathologisch nur auf Reizung, Enthemmung oder Störung der zentrifugalen
oder zentripetalen Regulation einheitlich zurückführen; die experimentellen
und klinischen Befunde sprechen vielmehr dafür, daß derartige dyskinetische
Phänomene durch verschiedenartig lokalisierte Läsionen im Bereich des
(iesamtkomplexes der sensomotorischen Bahnen und Zentren hervorgebracht
werden können und kombinierten Störungen des funktionellen Gleichgewichtes
und der Dynamik entsprechen, die sich aus einer Beeinträchtigung verschie-
dener zentralnervöser Faktoren bzw. ihres Zusammenwirkens unter Beteili-
Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegischen Athetose. 181
gung innersekretorischer und humoraler Momente ergeben. Für jeden der
lokalisatorisch in Frage kommenden Hirnteile (Striatum, Thalamus opticus,
Regio subthalamica, Kleinhirn mit seinen Verbindungen, roter Kern, Pyra-
midenbahn usw.) stehen positiven Beobachtungen auch negative gegenüber;
dieser Umstand weise schon auf die Komplexität und die Multiplizität der
bestimmenden Momente hin. Offenbar komme es nur bei einem bestimmten
Verhältnis verschiedenartiger Faktoren bzw. nur bei einer bestimmten Gesamt-
resultante zum Auftreten von unwillkürlichen Bewegungen. So haben wir es bei
letzteren mit den Äußerungen eines mangelhaften und schwankenden Funktio-
nierens (Athetose von athetos=schwankend), einer Dysfunktion innerhalb
eines weit ausgespannten und komplizierten Gesamtmechanismus zu tun, der
aus vielen ineinandergreifenden Gliedern besteht und durch vielerlei Schädi-
gungen der letzteren, namentlich auch von verschiedenen Stellen aus, so
geschädigt werden kann, daß unwillkürliche Bewegungen die Folge bilden.
Zu einer mit dem oben erwähnten Autor vollkommen übereinstimmenden
Schlußbetrachtung gelangt auch Littmann, der bei Katzen Versuche an-
stellte, welche die Bedeutung der Bindearme für das Symptom der Athetose
feststellen sollten. Die Athetose sei nicht auf die Läsion irgendeiner bestimm-
ten Bahn oder Struktur zu beziehen; es sei vielmehr eine Multiplizität von
Bedingungen und Störungen erforderlich, die sich aus einem mangelhaften
Ineinandergreifen verschiedener Komponenten innerhalb eines weit ausge-
spannten, örtlich und zeitlich kompliziert gerichteten Gesamtapparates er-
geben.
In letzter Zeit schlossen Mayrac und Patoir auf Grund des klinisch-
anatomischen Befundes bei einem Anenzephalen mit athetotischen Bewe-
gungen der Finger und Zehen, daß für das Zustandekommen solcher Bewe-
gungen offenbar ein Rudiment der Neuraxe, das zwischen dem distalen Anteil
des Hirnschenkelfußes und den motorischen Protoneuronen gelegen ist, genüge.
Die athetotischen Bewegungen entstehen aus einem Zell- und Faserkomplex,
der unter anderem das hintere Längsbündel, die vestibulären Kerne und die
Substantia reticularis umfaßt. Dieser Komplex nimmt vielleicht aufsteigende
Fasern zerebellarer Herkunft, vor allem aber aufsteigende kurze Faserzüge
auf. Die Erregungen fließen durch zahlreiche kurze Faserzüge ab, die ohne
strenge Systemisierung eine große Diffusion der Erregungen ermöglichen.
Normalerweise werden diese Erregungen durch ein kompliziertes System
gehemmt, das Kleinhirn, Hirnrinde, Stammganglien und Nucleus ruber umfaßt.
Nach dieser einleitenden Übersicht, die zeigen soll, daß die einzelnen
Ansichten über die Frage der Lokalisation und der Patho-Physiologie extra-
pyramidaler Bewegungsstörungen wohl voneinander abweichend, aber nicht
schroff gegensätzlich sind, sei im folgenden die eigene Beobachtung wieder-
gegeben:
Anna B., 78 Jahre alt, aufgenommen am 13. Januar 1928 ins Versorgungshaus
der Stadt Wien. Vor 20 Jahren hatte sie Ohnmachtsanfälle Nach der Behauptung der
Ärzte soll es eine Gehirnblutung gewesen sein. Vor 7 Jahren war ihr der rechte
Fuß stark eingeschlafen; sie konnte eine halbe Stunde nicht gehen, dann habe sie
182 Dr. Michael Kamin.
ihn längere Zeit nachgeschleift. Am 31. Juli 1927 ist ihr plötzlich übel geworden,
sie konnte das linke Bein und den linken Arm nicht mehr bewegen, hat auch schlecht
gesprochen. Es dauerte nur wenige Tage, dann wurde es mit der Sprache wieder
gut. Seither kann sie nicht gehen und hat auch Schmerzen im Fußknöchel.
Status praesens: Schädel o. B. Pupillen gleich weit, rund, die linke reagiert
auf Licht etwas unausgiebig. Bulbi sind frei beweglich. Kein Nystagmus. Trigeminus mot.
und sens. frei. Parese des linken Mundfazialis. Zunge weicht spurweise nach links
ab. Mot. Kraft und grobe Motilität in der linken OE. spurweise geringer als rechts.
Sehnen- und Periostreflexe gesteigert. Mit dem linken Zeigefinger findet sié erst nach
langenı Herumsuchen zur Nase. Tiefensensibilität und Stereognose sind links hoch-
gradig gestört. Pat. nimmt die ihr in die Hand gegebenen Gegenstände nicht wahr,
läßt sie fallen, ohne es zu bemerken. Wenn der linke Arm nur wenig innerviert wird,
sind Spontanbewegungen in Form‘ leichter Pro- und Supinationsbewegungen der Hand
und athetoider Bewegungen der Finger, die aber bei etwas stärkerer Innervalion sistie-
ren, zu beobachten. Die Bewegungen erfolgen in ungleichen Intervallen; bei Ab-
lenkung gehäufter. Die Pat. schildert das subjektive Gefühl bei diesen Bewegungen
als Reißen im Arm; sie könne die Hand nicht ruhig halten, die Gegenstände, die sie
in der linken Hand hält, würden ihr „herausgerissen“.
UE.: Grobe Motilität und rohe Kraft links spurweise herabgesetzt. PSR. leb-
haft, rechts weniger als links. ASR. +, Babinski und Oppenheim links +. Die Tiefen-
sensibilität ist links mehr beeinträchtigt. KHV. zeigt grobe Ataxie. In unregel-
mäßigen Intervallen laufen an den Zehen des linken Fußes abwechselnd Dorsal- und
Plantarflexionen ab. Pat. fühlt die Bewegungen, behauptet, dabei ein Reißen zu
spüren. In noch größeren Abständen erfolgen unwillkürliche Beuge- und Streck-
bewegungen im linken Kniegelenk. Die Lungen sind emphysematös, die Herztöne
dumpf. Blutdruck 260 mm Hg.
20. Januar 1928. In letzter Zeit verhält sie sich ziemlich ruhig, schläft bei
Nacht, ist unrein.
1. März. Droht mit Erhängen, ist desorientiert.
14. März. Zeigt im allgemeinen ruhiges psychomotorisches Verhalten, ist dabei
aber doch sehr reizbar, behauptet, es geschehe ihr immer Unrecht. Manchmal schreit
und schimpft sie stundenlang, verträgt sich nicht mit den anderen Patientinnen.
18. Mai. Klagt über Schmerzen in den linken Extremitäten, ist reizbar, streit-
süchtig. Zustand sonst unverändert.
13. Oktober. Ständige Klagen über Atemnot.
3. Dezember. Klagt über Kopfschmerzen, Schwindel. Blutdruck 260 mm Hg.
Venae punctio von etwa 500 ccm.
17. Dezember. Pat. klagte in letzter Zeit über krampfartige Schmerzen in der
linken Hand und im linken Bein. Das Bein werde zeitweise ganz steif. „In der Nacht
tu’ ich immer mit Hand und Fuß herumhauen.“ Bei objektiver Prüfung der linken
Extremitäten hat ınan zeitweise den Eindruck von Spasmus mobilis; während zu
Beginn der Untersuchung die linken Extremitäten hypotonisch waren, stellt sich etwas
später ein kräftiger tonischer Widerstand, wie eine intentionale Spannung, ein. Das
Lagegefühl ist linksseitig schwer gestört. Beim Vorstrecken beider Arme besteht
rechts ein ziemlich lebhafter agitierender Tremor und links die schon früher be-
schriebenen Spontanbewegungen.
4. Februar 1929. Zunehmende kardiale Schwäche.
11. Februar Exitus.
Sektionsbefund:
Sehr beträchtliche Hypertrophie beider Herzventrikel, rechts geringer als links.
Fettherz. Seniles Lungenemphysem. Spitzennarben beiderseits. Partielle bindegewebige
Anwachsung der rechten Lunge. Stauung der Milz und der Nieren, keine Leber-
stauung. Über faustgroßes Fibrolipom des rechten Teberlappens. Atherom der ba-
salen Hirngefäße. Leichter Hydrocephalus internus. In der inneren Kapsel makro-
skopisch keine Veränderung. wohl aber ausgedehnte alte Erweichung in der rechten
Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegischen Athetose. 183
Hemisphäre an der Grenze des Scheitel- und Schläfenlappens, von der Rinde bis
tief hinein ins Marklager sich erstreckend, aber das Ependym nicht erreichend. Hin-
gegen erstreckt sich der Erweichungsherd rückwärts bis in den Hinterhauptlappen
hinein und endet erst knapp vor dem Hinterhauptpol.
Makroskopisch kann man an (der Gehirnbasis eine deutliche Verkalkung der
großen Gefäße und stellenweise eine dürftige Trübung und Verdickung der L.epto-
meningen erkennen. Ein Hydrocephalus externus besteht nicht, ebensowenig eine
wesentliche Atrophie des Gehirns. Im Gebiet des rechten Gyrus supramarginalis und
im operkularen Anteil der hinteren Zentralwindung sieht man eine Fläche, wo die
normale Rindenkonfiguration weniger plastisch hervortritt, wo die Oberfläche ein-
gesunken erscheint, eine Spur rötlich verfärbt ist und bei der Palpation eine wesent-
liche Konsistenzverminderung gegen die normale Umgebung besteht.
Diese Öberflächenveränderung grenzt scharf vor der Zentralfurche ab und
reicht nach rückwärts bis in die frontalen Abschnitte des Gyrus angularis hinein.
An Frontalschnitten sieht man, daß im Bereich des Stirnhirns keine Veränderungen
vorhanden sind. Weder an der Rinde noch am Marklager kann man eine nennens-
werte Veränderung feststellen. In den vordersten Schnittebenen des Corpus striatum
findet man beiderseits gleiche Verhältnisse; keine Atrophie «der beiden striären An-
teile. Im oralsten Putamen rechts, hart an den vorderen Schenkel der inneren Kapsel
angeschlossen, erkennt man eine schmutziggraue Verfärbung, die gegenüber der
inneren Kapsel und dem übrigen Grau sich scharf abhebt. Sonst ist der Befund völlig
negativ. Im Bereich der übrigen Ebenen des Striatum finden sich durchaus annähernd
normale Verhältnisse, vielleicht ist das Putamen der rechten Seite etwas schmäler
als das der linken, ebenso tauchen erweiterte Blutgefäße mit Höfen auf, während
links Veränderungen solcher Art fehlen. Im Pallidum kann man gar keine Verände-
rungen wahrnehmen. Beiderseits leichter Hydrozephalus, wodurch vielleicht der
Nucleus caudatus rechts etwas platt-atrophischer gegenüber dem der linken Seite ist.
An einem Schnitt, der durch den Thalamus opticus und schief gegen die Vierhügel
geführt ist, findet‘ sich ein Erweichungsherd, der hier im operkularen Anteil der
hinteren Zentralwindung gelegen, Mark und Rinde zur Einschmelzung gebracht hat
und in das tiefe Mark des unteren Scheitellappens und auch in das Mark des oberen
zangenförmig eindringt. Am Hirnstamm finden sich keinerlei Veränderungen. Im Ge-
biete der Schnittserie durch den Bereich des Gyrus supramarginalis zeigt sich eine
vordringende Erweichung bis an «den Ventrikel, so daß «durch diese Malazie «die
Hemisphäre nach einer Basal- und einer Oralhälfte abgetrennt erscheint. In dieser
Ebene erscheint ein hochgradiger Hydrozephalus. Die Schnittserie zeigt, daß die
Erweichung viel weiter nach rückwärts reicht, das Gebiet des Gyrus angularıs kon-
sumiert hat, in den konvexen Teil des Okzipitallappens weitergeht, um sich mehr und
mehr zapfenförmig im Markpol des Okzipitallappens zu verlieren. Das Gebiet der
Calcarina bleibt von diesem Prozeß vollständig unberührt.
Im Markscheidenbilde sehen wir an einem Präparat. daß ungefähr dem
Frontalschnitt 3 Tafel 26 des Atlas von Marburg entspricht (Abb. 1), im Mark
des Übergangsteiles der vorderen in die hintere Zentralwindung knapp an der Corona
radiata einen verhältnismäßig kleinen Erweichungsherd. Auch das Mark der hinteren
Zentralwindung ist gelichtet. Abgesehen von artifiziell gesetzten Ausfällen weist
das Striatum ebensowenig wie der Globus pallidus und der Thalamus irgend welche
nennenswerte Störungen auf.
An einem kaudaleren Schnitt (Abb. 2) ist der an der Corona radiata gelegene
und diese jetzt schon teilweise arrodierende Herd beträchtlich größer geworden, nur
ein schmaler Saum der Inselrinde trennt ihn von der Sylvischen Furche. Mehr ober-
flächlich, teilweise auch die Rinde durchsetzend, findet sich in der hinteren Zentral-
windung ein vor allem das Mark einnehmender Herd. In der Inselrinde sieht man
noch einen kleineren Herd hart an der Capsula extrema. Die Capsula interna ist
in dem am Caput nuclei «audati liegenden Abschnitt stark gelichtet.
Ein Schnitt in einer Ebene, die beiläufig dem Frontalschnitt 5 der Tafel 27
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 13
184 Dr. Michael Kamin.
des Atlas von Marburg entspricht, zeigt eine maximale Einschmelzung des Gyrus
supramarginalis, so daß stellenweise nur noch ein schmaler Rindensaum verblieben
ist (Abb. 3). Wo sich noch Reste vom Mark finden, sind seine Fasern stark ge-
lichtet oder körnig degeneriert. Desgleichen ist der Lobulus parietalis superior fast ganz
von der Erweichung durchsetzt, nur in der Tiefe findet sich eine relativ erhaltene
Markinsel, doch sind auch hier die Fasern klobig gequollen. Die Erweichung im Gyrus
supramarginalis zieht sich bis an die Corona radiata heran und konsumiert teilweise
auch diese.
Abb. 1. Kleiner Erweichungsherd (entsprechend der 4. Windung von der Sylvischen
Furche dorsal).
Auf der Schnittebene durch das Hinterhorn (Abb. 4) sieht man das Zentrum der
Erweichung im Marklager des Gyrus angularis gelegen, während dessen Rinde mit
spärlichen Markfasern erhalten ist. Doch ist der kleinere obere Teil dieser Windung
mit ihrer Markleiste sozusagen unverletzt. Medial erstreckt sich der Herd bis an den
Ventrikel heran, so daß die Corona radiata an der oberen lateralen Ecke durch-
brochen ist.
Bei der feineren histologischen Untersuchung ergibt sich folgendes: Die Rinde
der von der Erweichung verschonten Partien zeigt einen ungestörten Schichtenaufbau,
erscheint nicht verschmälert, der Zellreichtum hat nicht abgenommen. Die Spitzen-
fortsätze der Ganglienzellen sind nicht geschlängelt. Stellenweise sieht man in der
Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegischen Athetose. 185
Zellschicht Lumina sklerotisch veränderter Gefäße, besonders reichlich ist aber von
ihnen das Mark durchsetzt. In den Windungseinschnitten ist die Leptomeninx verdickt.
Die Veränderungen des Kleinhirns sind sehr geringgradig, höchstens sind
die Purkinjeschen Zellen stellenweise etwas weniger dicht angeordnet. Die Zellen des
Nucleus dendatus sind dem Senium entsprechend pigmentiert.
Das Striatum zeigt einen ungeminderten Reichtum an Zellen, die sich unter
stärkerer Vergrößerung als verschiedengestaltige kleine Ganglienzellen erweisen. Ein-
zelne von diesen lassen eine Quellung und Abblassung des gesamten Zelleibes, waben-
Abb. 2. Ausbreitung des Herdes auf die operkularen Windungen.
artiges oder homogenisiertes Plasma erkennen; manchmal ist auch der Kern homo-
genisiert, läßt aber den Nucleolus noch erkennen. In anderen Zellen bemerkt man
perinukleare Spalten. Einige zeigen peripheren Plasmazerfall, in anderen lassen sich
an der Peripherie schollenartige Tigroide erkennen. Es gibt aber auch Zellschatten
ohne Kernkörperchen. Zwischen diesen mehr oder minder affizierten Zellen sind
jedoch auch scheinbar ganz unversehrte, in ihrer Form und Größe unveränderte, gut
tingierte Zellen anzutreffen. Lipofuscin ist nicht allzu reich anzutreffen, manchmal
jedoch füllt es in groben Körnern die Hälfte und mehr der Zelle aus. Die großen
Zellen scheinen im allgemeinen etwas spärlich dazwischen eingestreut zu sein. Da
gibt es solche mit geblähtem, fast homogenisiertem Kern ohne Kernkörperchen. Das
Protoplasma ist randständig zu groben körnigen Massen angesammelt, während peri-
18*
186 Dr. Michael Kamin.
nuklear ein heller Hof sich zeigt. Es finden sich auch solche, wo mehr als die Hälfte
der kernlosen Zelle nur ein blasses, wabig vakuolisiertes Retikulum zeigt, während
in der anderen Hälfte sich randständig eine dicke grobschollige Protoplasmamauer
hinzieht. Man sieht anderorts das Protoplasma auch nur in einer Ecke der Zelle
als kompakte Masse, während der übrige Zelleib ein Retikulum mit Vakuolen und ein-
gelagertem Lipofuscin erkennen läßt; der Kern erscheint sehr aufgehellt. Die Karyo-
lyse bewirkt manchmal grobkörnige Ansammlung der Kernsubstanz. Ausgesprochene
Abb. 3. Herd im Gyrus supramarginalis.
Neuronophagie fehlt. Ungemein zahlreich sind rundliche Herde sklerotischer Reaktion.
Wo die Gefäßbildung stärker ausgesprochen ist, zeigt sich regelmäßig ein état lacunaire.
Alle Gefäße zeigen eine mehr oder minder betonte perivaskuläre Aufhellung, die um
die kleinen und kleinsten Gefäße eher ausgeprägter ist als um die stärker kalibrigen.
An den großen Gefäßen sieht man eine deutliche Homogenisation der Wand. Die
Intima ist stellenweise auf weite Strecken losgelöst, zwischen der Media und Ad-
ventitia ist die Grenze schwer zu erkennen.
Der Erweichungsherd zeigt im Toluidinblaupräparat einen ausgesprochenen Status
spongiosus im Mark: eine mächtige Gewebsauflockerung, so daß ein Netzwerk von
zarten Gliafasern zustande kommt. In den nekrotischen Herden sind die Ganglien-
zellen durchwegs stark ischämisch, fast unfärbbar, das Grundgewebe zellarm. Ander-
Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegischen Athetose. 187
seits gibt es gequollene Ganglienzellen, auch solche mit geblähtem Kern, mit kör-
nigem Protoplasma, daneben aber auch kernlose bzw. doppellkernige Zellen. Zahl-
m
Abb. 4. Herd am Übergang vom Parietal- zum Okzipitallappen.
reiche feine Kapillaren mit Fibroblasten, vereinzelte Körnchenzellen. In den zahl-
reichen perivaskulären Verödungen fehlen Ganglienzellen, auch die Gliaelemente zeigen
keine besonderen Reaktionen.
Zusammenfassung.
Im Anschluß an eine linksseitige Hemiplegie mit schwerer Störung der
Sensibilität und der Stereognose treten in der gelähmten oberen, weniger
ausgesprochen auch in der unteren Extremität unwillkürliche Bewegungen
vom Charakter der Athetose auf. Als anatomisches Substrat dieser Hyper-
kinese finden wir in der rechten Hemisphäre einerseits eine ausgedehnte,
von der hinteren Zentralwindung bis in den Okzipitallappen sich erstreckende
Erweichung, anderseits Veränderungen im oralen Teil des Putamen, die
sicher über das Maß des einfach Senilatrophischen hinausgehen.
Es fragt sich nun, welchen Herd wir für das Auftreten der geschilderten
Hyperkinese verantwortlich machen müssen. Sicher ist, daß die Rinde als
Erfolgsorgan willkürlicher Bewegungen auch bei derartigen Dyskinesen be-
teiligt sein muß. Nach Marburg ist das Auftreten choreatischer oder athe-
totischer Bewegungen bedingt durch Läsion der zerebello-zerebralen Bahn,
des Bindearmsystems, wo immer dieses getroffen werden mag. Überlegen
188 Dr. Michael Kamin.
wir weiter, daß nach der Mehrzahl der Autoren choreiforme oder athetoide
Bewegungen unzweifelhaft auch nach Läsionen des Striatum auftreten,
müssen wir uns mit der Feststellung begnügen, daß unser Fall nur einen
Beitrag zu. der sich immer mehr durchsetzenden Anschauung liefert, einer
Anschauung, der vor allem auch Marburg den Ausdruck verleiht, in dem
er schließt, daß alle Fälle, welche als Beweise für bestimmte Lokalisationen
der als extrapyramidal bezeichneten Bewegungsstörungen herangezogen
werden, zu diffus sind, als daß man sie gelten lassen könnte. Alle Erschei-
nungen lassen sich nach ihm zwangslos auf Regulierungsstörungen zurück-
führen, ohne daß man Zentren für Bewegungsautomatismen anzunehmen ge-
nötigt wäre. Die Koordiniertheit der anatomischen Läsion im Kortex und im
Striatum lieferte nun bei unserer Patientin eine gleichsinnig gerichtete Störung
des Bewegungsablaufes; ein System greift in das andere ein, um eine solche
zu bewirken.
Literatur:
Flatau E., Über die extrapyramidalen Bewegungskomplexe. Schweiz. Arch. f. Neur.
u. Psych. Bd. 13, 1923.
Littmann J., Experimenteller Beitrag zur Lehre von der Athetose. Schweiz. Arch.
f. Neur. u. Psych., Bd. 21.
Mann L., Über das Wesen der striären oder extrapyramidalen Bewegungsstörung.
Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie, Bd. 71, 1921.
Marburg 0., Der amyostatische Symptomenkomplex. Arb. a. d. Neurol. Inst. d.
Wiener Universität, Bd. 27, 1925.
Minkowski M., Experimentelle und anatomische Untersuchungen zur Lehre von der
Athetose. Zeitschr. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie, Bd. 102.
Mayrac O., et Patoir, Histoire anatomo-clique d'un anecephale (Remarques sur
l'origine des mouvements athetosiques), Revue neurol., Bd. 36.
Nießl v. Mayendorf, Über die Bedeutung der Linsenkernschlinge für das chorea-
tische Phänomen. Monatsschr. f. Psych. u. Neur., Bd. 68, 1928.
Nießl v. Mayendorf, Chorea und Linsenkern. Monatsschr. f. Psych. u. Neur.,
Bd. 74, 1930.
Tokay L., Studien über die Chorea chronica und die Beziehung des Striatum zu
dieser. Arb. a. d. Neurol. Institut d. Wiener Universität, Bd. 32, 1930.
Wilson S. A. Kinnier, Modern Problems in Neurology. Edward Arnold & Co.,
London, 1928.
Zur Pathologie der Myelosen!
Von
Dr. Masamichi Toyama (Tokio).
Mit 9 Abbildungen im Text.
In zwei früheren, im Wiener Neurologischen Institut erschienenen Ar-
beiten wurde bereits über spinale Prozesse berichtet, die unter dem Bilde
der kombinierten Systemerkrankung auftraten.
In der einen Gruppe der Fälle, die von H. P. Kuttner bearbeitet wurde,
handelt es sich um senile Myelopathien und es erschien in diesem Falle
besonders auffällig, daß Prozesse, die eigentlich vaskulär bedingt erscheinen,
eine nahezu systematische Affektion vorwiegend im Hinter- und Seitenstrang
zur Folge hatten. Das Bild ähnelt, wie Kuttner bemerkt, den funikulären
Myelosen, die bei den verschiedenartigen Toxämien auftreten. Als Ursache
dieser Myelosen kann man also wohl auf (Gefäßveränderungen sowie die
durch dieselben bedingten Zirkulationsstörungen in den kleinen Arterien
anschuldigen oder aber eine abnorme Blutbeschaffenheit im Sinne von
Henneberg und schließlich, wie dies besonders von Modes und Cassierer
betont wird, den Mangel an für den Stoffwechsel besonders wichtigen Stoffe,
eventuell avitaminotische Einflüsse. Auffällig ist unter allen Umständen die
Lokalisation im Hinterstrang und Hinterseitenstrang. Ich muß Kuttner bei-
stimmen, wenn er betont, daß es unmöglich sei, diese senilen Veränderungen
von den toxämischen zu differenzieren.
Es hat dann Uchida ähnliche Fälle beschrieben, die als kombinierte
Systemerkrankungen bekannt geworden sind. Seitdem Nonne und Fründ
die Lehre von den kombinierten Systemerkrankungen gestürzt haben, wird
man diese Fälle wohl unter die Gruppe der eben genannten toxämischen oder
vaskulären einreihen. Nur muß man bedenken, daß wir noch eine Reihe
von Fällen haben, die wir nicht klassifizieren können und daß die Bilder
kombinierter Erkrankungen der Hinter- und Seitenstränge gelegentlich auch
von andersartigen Krankheiten, z. B. der multiplen Sklerose, imitiert werden
können.
Ich habe nun im folgenden drei Fälle dieser Art untersucht und möchte
vielleicht auf Basis dieser Fälle versuchen, etwas näher in das Wesen dieser
eigenartigen toxämischen oder vaskulär bedingten kombinierten System-
erkrankungen einzudringen.
Der Begriff der funikulären Myelitis (Henneberg) oder besser Myelo-
pathie (Aschoff) hat sich in der Klinik wohl eingebürgert, ohne daß man
190 Dr. Masamichi Toyama.
jedoch in der Lage wäre, aus der klinischen Symptomatologie die Diagnose
zu stellen. Es ist nur dann möglich, wenn wir die Ätiologie der Krankheit
kennen, d. h. wenn eine Toxämie vorliegt, sei es eine exogener oder endo-
gener Natur.
Am bekanntesten ist wohl als Ursache die perniziöse Anämie, aber
auch die sekundäre bei Karzinosen. Trotz vieler diesbezüglicher Einzel-
beobachtungen ist man sich über das Wesen dieses Prozesses noch nicht
im klaren, zumal sich hinter ihm sicherlich auch manches verbirgt, was von
ihm abgetrennt werden muß. Das sind besonders Veränderungen, wie wir
sie z. B. bei der Osteomalazie finden. Und schließlich kann eine solche
Krankheit auch vorgetäuscht werden durch eine Myelitis unsicherer Genese
oder eine multiple Sklerose.
Ich will vor allem die Schwierigkeiten aufzeigen, die sich einer klini-
schen Diagnosenstellung entgegensetzen, gleichzeitig will ich versuchen,
näheres über den pathologischen Mechanismus dieser Erkrankung beizu-
steuern.
Fall I. Dieser Fall, J. G., betrifft einen 66jährigen Mann, der folgende Anamnese
zeigt:
Im 21. Lebensjahr überstand er — das Vorherige erscheint belanglos — Masern.
In seinem 45. Lebensjahr machte er eine Operation an der Lippe nach einer Ver-
letzung mit. Seine Nervenkrankheit beginnt ungefähr im August 1928. Es entwickeln
sich Schmerzen und ein taubes Gefühl in den Händen mit Kribbeln und Ameisen-
laufen. In den Sommermonaten 1929 traten die gleichen Erscheinungen an den Beinen
auf, so daß der Patient in seiner Beweglichkeit behindert wurde. Beim Gehen machten
sich diese Schmerzen hauptsächlich in den Waden geltend.
Er hat seit einem Jahr stark an Gewicht verloren, hat auch ein- oder zweimal
Blut im Urin bemerkt und Schmerzen beim Urinieren gehabt. Er war sowohl an
einer internen Klinik als auch auf einer internen Abteilung, ohne daß man dort zu
einer sicheren Diagnose kommen konnte.
Am 10. August 1929 wurde der Kranke in das Versorgungshaus in Lainz auf-
genommen. Für die freundliche Überlassung der Krankengeschichte sowie des Ma-
terials bin ich Herrn Professor Pappenheim zu größtem Danke verpflichtet.
Es wurde weiters anamnestisch erhoben, daß der Kranke ein starker Raucher
und Trinker gewesen ist.
Der objektive Befund ergibt: mittelgroßer Patient von blassem Aussehen und
mäßigem FErnährungszustand. Das Bewußtsein ist leicht getrübt. Patient kann nicht
gehen. Die Temperatur ist normal. Ich übergehe den inneren Befund, der keinerlei
deutliche Abweichungen von der Norm zeigt, und erwähne nur das Positive. Da zeigt
sich, daß die oberen Extremitäten einen grobschlägigen Tremor der Hände aufweisen,
der links stärker ist als rechts. Deutliche Ataxie beim Finger-Nasenversuch, links
mehr als rechts. Die grobe Kraft und die Beweglichkeit sind dabei gestört. In den
unteren Extremitäten findet sich Rhomberg angedeutet. Der Knie-Hackenversuch
zeigt auch hier die Ataxie. Die grobe Kraft ist hier etwas herabgesetzt, die Reflexe
gesteigert. Die Sensibilität konnte bei der Bewußlseinstrübung nicht geprüft werden.
Es zeigten sich weiter erschwertes Urinieren und starke Schmerzen in den
unteren Extremitäten. Ferner war auch eine deutliche Herabsetzung der groben Kraft
der oberen Extremitäten nachzuweisen, links mehr wie rechts. Aus der Rückenlage
konnte sich der Patient nur mit Unterstützung aufsetzen. Der Bauchdeckenreflex war
links vielleicht eine Spur schwächer.
An einem Tag, wo sich die Untersuchung etwas leichter durchführen ließ, zeigte
sich eine deutliche Tonussteirerung, links mehr wie rechts. Die Oberflächensensibilität
Zur Pathologie der Myelosen! 191
intakt, dagegen wird die Tiefensensibilität überhaupt nicht wahrgenommen. Die
Sehnenreflexe sind jetzt lebhafter, links Fußklonus, vielleicht Rossolimo, sehr frag-
lich Babinski. Patient kann nur wenige Schritte mit Unterstützung gehen. Von dieser
Untersuchung Mitte August sichtlicher Verfall, Anfang September zunehmender De-
kubitus, der schließlich am 10. Oktober 1929 zum Exitus führt.
Nachträglich sei noch hervorgehoben, daß die Wassermannsche Reaktion mit
Auswertung negativ ausgefallen ist.
Der Obduktionsbefund ergibt:
Ein exulzeriertes Karzinom (junges) in der Pars media ventriculi und der großen
Kurvatur, daneben ein großer noch frei beweglicher kleiner Polyp, keine Metastasen,
sekundäre Anämie. Das Knochenmark im Femur gelb. Pneumonie.
Die übrige Obduktion übergehe ich, da sie nichts anderes enthält, als was in
Fällen von schwerem Dekubitus zu finden wäre, besonders die sekundäre Degeneration
der inneren Organe.
Schon makroskopisch fällt auf, daß im Querschnitt des Rückenmarks in den
Seiten und Hintersträngen sich mehrere Herde finden, die sowohl durch die Farbe
als Konsistenz sich von normaler Rückenmarksubstanz abheben.
Wenn wir das Rückenmark von kaudal nach oral durchmustern, so finden wir
folgendes:
An einem Übersichtspräparat (Hämalaun-Eosin) sieht man eine leichte Verbrei-
terung der Meningen mit einer Durchwachsung der Pia durch die Glia, dem ent-
sprechend ein deutliches Randödem, das aber nirgends besonders tief eindringt. Auch
die Gefäße sind deutlich wandverdickt, dem Alter entsprechend. Keine Endarteritis,
keine Sklerose.
Im Nissl-Präparat sind die Vorderhornzellen ganz gut erhalten, nur zeigen
sie eine ziemlich beträchtliche Lipoidose.
Im Bielschowsky-Präparat zeigen die Achsenzylinder eine sehr gute Fär-
bung. Die Ganglienzellen lassen die Fibrillen nur stellenweise erkennen, was aber
möglicherweise durch die Präparation bedingt ist, denn die Axonfärbung ist eine
vollständig normale.
Ein Weigert-Präparat dieses Gebietes zeigt nicht einmal dem Ödem entsprechend
eine deutliche Aufhellung. Nur die beiden Pyramidenbahnen erscheinen (egeneriert,
die Hinterstränge sind vollständig frei, ebenso die Wurzeln und selbst die feinen
Fasern der Kommissuren zeigen keine Abweichung von der Norm.
Die Lendenanschwellung zeigt ein ganz anderes Bild. Hier handelt es sich
bereits um Herde, und zwar Herde, die in beiden Hintersträngen und in beiden
Pyramidenarealen der Seitenstränge sichtbar werden. Die Herde sind Lückenfelder.
In den Hintersträngen nehmen sie das ganze Gebiet mit Ausnahme der ventralsten
und dorsalsten Partie und eines Streifens am Septum ein (Abb. 1). Im Pyramiden-
areal haben sie die typische Dreieckform, sind etwas asymmetrisch. Betrachtet man
diese Herde genauer, so zeigt sich, daß sie aus einem Gliamaschenwerk zusammen-
gesetzt sind, daß an einzelnen von ihnen die feinen Netzbalken zerrissen sind und
grobe Defekte entstehen (Abb. 2). Nur an einzelnen Stellen kann man noch gequollene
Achsenzylinder erkennen. Hie und da sieht man auch eine Körnchenzelle in einem
derartigen Netz, besonders am Rande. Der Übergang zum Normalen ist ein allmäh-
licher. Eine Abhängigkeit von bestimmten Gefäßen ist nicht sicher nachzuweisen.
Einzelne Corpora amylacea finden sich im Innern der Herde. Wenn man einen solchen
Herd in bezug auf die Zugehörigkeit zum Gefäß betrachtet, so kann ınan mitunter
sehen, daß rechts und links vom Herd weite Gefäße liegen und zwischen beiden
der Herd, wobei das eine der Gefäße strozzend mit Blut gefüllt ist. Auffallend ist
das reichliche Vorkommen plasmatischer Gliazellen im Herd, besonders an den
Rändern, wie man es bei malazischen Prozessen zu sehen pflegt.
Ein Nissl-Bild aus diesem Gebiet zeigt veränderte Ganglienzellen des Vorder-
horns, und zwar kann man deutlich eine axonale Veränderung des Zellplasmas
sehen, wobei die Tigroide mitunter nur spurweise am Rande sichtbar sind. Das
Masamichi Toyama.
Dr.
192
n (Lückenfelder).
n Hinterstränge:
Herde in de
Fall 1.
1:
Abb.
L:
b.
Detail aus Ab
>
Abh.
Zur Pathologie der Myelosen! 193
betrifft die großen Vorderhornzellen besonders, aber auch die anderen Ganglienzellen
zeigen derartige Schädigungen. Das Auffallende dabei ist die Intaktheit des Kerns, ob-
wohl das Kernkörperchen ein wenig größer als normal ist, aber auch die Gliazelien
um die Ganglienzellen herum in diesem Falle eine leichte Vermehrung aufweisen. Eine
entzündliche Reaktion, etwa im Sinne einer Vermehrung der Zellen in der Um-
gebung der Gefäße, ist nicht nachzuweisen. Auch hier ist die Lipoidose der Zellen
in die Augen fallend. Aber die großen Tigroide sind stellenweise staubförmig. Auf-
fällig ist das besondere Hervortreten von Fortsätzen der Gliazellen am Nissl-Präparat,
so daß man die Mikroglia und die Oligodendroglia ohne spezifische Färbung er-
kennt. Die Glia befindet sich entschieden in einem Reizzustand. Auch Stäbchenzellen
sind nachzuweisen.
Das Bielschowsky-Präparat läßt erkennen, daß in dem zerstörten Gebiet
die Axone mit zugrunde gegangen sind, wenn sich auch in einzelnen Lücken noch
Axonreste sowie selbst intakte Axone erkennen lassen. Das ist aber meist nur
in den Randgebieten der Fall, seltener zentral. Bezüglich der Ganglienzellen läßt sich
nur mitteilen, daß die Färbung hier nur die Ganglienzellen ohne Details erkennen
läßt. trotzdem die Differenzierung vollständig gelungen ist. In manchen der Zellen
kann man auch hier ein Netzwerk nachweisen.
Am Weigert-Präparat sieht man die Ausfälle in den Hintersträngen, weniger
in den Seitensträngen, sehr deutlich. Man sieht hier neben den Lückenfeldern bereits
Gliaverbreiterung und man ist auch hier imstande, aus der Form des Herdes auf
die Genese zu schließen.
Im Brustmark sind diese Lückenfelder im Pyramidenstrang sehr deutlich, aber
gehen über diesen hinaus und besetzen auch die ganze Peripherie bis in das Gebiet
des Vorderseitenstrangs, wobei sie aber sehr wesentlich über dieses Gebiet hinaus-
gehen. Auch am Sulcus longitudinalis ventralis sieht man die Lückenfelder. Der
Charakter dieser Felder ist der gleiche wie im Lumbalmark. Man sieht einzelne Fett-
körnchenzellen in den Lücken, hie und da einen gequollenen Achsenzylinder, auch
einzelne intakte sind in dem erkrankten Gebiet sichtbar. Aber ein entzündlicher
Prozeß, eine irgendwie erkennbare Infiltration ist nirgends nachweisbar.
Das Weigert-Präparat zeigt folgende Zerstörungen: eine fast totale der Goll-
schen Stränge; im Burdachschen Strang sind die äußeren Teile intakt, die Pyramiden
sind ziemlich schwer ergriffen, zeigen aber intakte Fasern. Vollständig vernichtet
sind beide Tractus spino-cerebellares dorsales und ventrales, während die anderen
Gebiete nur Lückenfelder zeigen. Auch die Pyramidenvorderstränge bzw. das sulko-
marginale Gebiet zeigt intakte Fasern.
Die Ganglienzellen dieses Gebietes zeigen einen schweren Verlust in den Clarke-
schen Säulen, von denen nur einzelne -- und diese vollständig verfettet — erhalten
sind. Auch die Mittelzellen zeigen sich schwer degeneriert. Dagegen sind die Zellen
des Seitenhorns sehr gut erhalten, auch die Vorderhornzellen sind verhältnismäßig
— wenn man von den senilen Veränderungen absieht --- intakt.
Im Bielschowsky-Präparat sieht man nun, daß in dem Lückenfeld des
Pyramidenareals noch zahlreiche Achsenzylinder intakt sind, andere geschwollen
und schließlich eine Reihe ausgefallen. Das Fibrillenbild tritt wiederum nicht hervor.
In anderen Ebenen des Dorsalmarks zeigt sich dann, daß die Glia bereits
eine produktive Tätigkeit entfaltet und eine Sklerosierung des Gebietes der dor-
salen Kleinhirnbahn deutlich wird. Auch im Hinterstrang kann man den Beginn
sklerosierender Prozesse im Septum para-medianum konstatieren. Die übrigen Ver-
hältnisse sind die gleichen.
Diese Veränderungen bleiben auch in der Halsanschwellung die gleichen, das
heißt, auch hier ist der Hinterstrang afliziert und von Lückenfeldern erfüllt, und zwar
liegen diese diesmal ganz an der Peripherie im Burdachschen Strang und im ven-
tralen Hinterstrangsfell. Dagegen sind hier die Vorderstränge frei und im Seiten-
strang das Gebiet der Pyramide und der Kleinhirnbalhnen ergriffen, ohne daß eine
scharfe Grenze gegenüber der Umgebung vorhanden wäre.
194 Dr. Masamichi Toyama.
Es handelt sich also im Rückenmark um einen Prozeß, der
1. die Hinterstränge betrifft, und zwar — wenn man die oberste Grenze
des Halsmarks nimmt — pluriradikulär,
2. die ganze Kleinhirnbahn und den Pyramidenseitenstrang.
Die anderen Systeme sind nicht in continuo ergriffen, sondern nur
stellenweise, wobei allerdings in den mehr medialen Partien des Vorder-
seitenstrangs eine leichte Sklerose sichtbar wird.
Weigert-Präparate aus dem Kleinhirn zeigen eigentlich keinen Ausfall
weder im Seitenstrang noch im Wurm trotz der schweren Degeneration, die
die Zerebellartrakte aufweist. Es wurden allerdings nur Weigert-Präparate
und nicht Marchi-Präparate angefertigt und intensiv gefärbt, so daß feinere
Ausfälle hier nicht nachzuweisen sind.
Wenn man die Krankengeschichte dieses Falles mit den Ergebnissen
des anatomischen Befundes vergleicht, so können wir zunächst feststellen,
daß der Patient die Tiefensensibilität überhaupt verloren hat. Das hängt wohl
mit der schweren Sklerose der Hinterstränge zusammen, eine Läsion, die
durch das ganze Rückenmark hindurchgeht und nur im Conus terminalis
fehlt. Gleichzeitig damit tritt eine Herabsetzung der groben Kraft auf, offenbar
Ausdruck einer leichten Parese, begleitet von einer Steigerung der Sehnen-
reflexe (Pyramidenläsion), die um so auffallender ist, als eine ganze Reihe
von Wurzelzonen in den Hintersträngen zerstört erscheinen. Des weiteren
ist die Ataxie der oberen Extremitäten zu erwähnen — die der unteren
konnte ja. nicht geprüft werden —, wobei die Intaktheit des Kleinhirns hervor-
gehoben werden muß. Deshalb wird man wohl diese Ataxie beim Finger-
Naser-Versuch nur auf die Läsion der spino-zerebellaren Bahnen beziehen
können.
Was nun den pathologischen Charakter des Prozesses anlangt, so kann
man hier den Begriff der Entzündung vollständig ausschalten. Es ist nirgends
auch nur die Spur einer vaskulären Reizung vorhanden. Was man sieht,
sind Lückenfelder, Nekrosen mit verhältnismäßig intakter Glia und einem
nicht sehr deutlichen Abbau. Die Intaktheit der Glia charakterisiert sich durch
das Zustandekommen der sekundären Sklerose.
Fall II. Marie W., 39 Jahre alt, ist eine Gewohnheitstrinkerin und hatte wegen
Rauschexzessen wiederholt Anstände mit der Polizei.
Im Jahre 1913 tritt ein Verworrenheitszustand auf, weshalb sie zwei Monate
in einer Irrenanstalt interniert wurde. Von der späteren Zeit liegt nur die Angabe
vor, daß sie weitergetrunken hat und oft exzedierte, zeitweise ganz verworren war
und daß sie, abgesehen von ihrer Verworrenheit im Jahre 1922, sich bis Anfang
1924 (abgesehen von ihrem Alkoholismus) verhältnismäßig wohl fühlte. Seit dieser
Zeit - - Anfang 1924 -- bemerkte sie eine Verschlechterung ihres Gehens. Im Mai
des gleichen Jahres stürzte sie im Zimmer und seither war sie bettlägerig. Im Juni
tritt ein Verworrenheitszustand auf. Sie verweigert die Nahrung, liest regungslos
im Bett und wird am 14. Juni 1924 anf die psychiatrische Klinik transferiert. Die
hier aufgenommene Anamnese widerspricht zum Teil den früheren Angaben. Sie ist
ruhig, klagt über Schmerzen, ist zeitlich und örtlich orientiert und gibt an, daß sie
seit zwei Monaten wegen Schmerzen im rechten Bein mit dem Stock gehen müsse.
Seit acht Tagen könne sie überhaupt nicht mehr gehen.
Zur Pathologie der Myelosen! 195
Es zeigt sich eine verwaschene Sprache, geringer Fingertremor, Druckschmerz-
haftigkeit im rechten Oberschenkel und in der Kniekehle, starke Parese des rechten
Beines, geringere des linken. Die Sehnenreflexe sind auslösbar, rechts schwächer als
links. Sonst eigentlich negativer Befund. Später zeigt sich dann ein sehr lebhafter
Patellarreflex, positiver Babinski, Oppenheim bei hochgradiger Parese der rechten
unteren Extremität und Schmerzen im Oberschenkel. Leichtes Rasseln über der
linken Lungenspitze. Im Liquor und im Serum Wassermann negativ, Pandy Globulin
stark positiv. Gesamteiweiß 0,02, die Zellzahl ist 5.
Die Patientin wird dann ins Versorgungshaus transferiert. Hier wird festgestellt,
daß die Sprache ohne Befund ist und auch nach Angabe der Patientin sich nicht
geändert hat. Kein Nystagmus. Augenbefund frei. Leichter Tremor der Hand, der sich
bei Intention verstärkt. Reflexe der oberen Extremitäten auslösbar. Der Patellar-
reflex rechts nicht, links auslösbar. Babinski positiv. Incontinentia urinae. Beginnen-
der Dekubitus. Später wird noch notiert, daß die Bauchdeckenreflexe beiderseits
fehlen, die Beine im Hüftgelenk und Kniegelenk gebeugt gehalten werden, eine Strek-
kung nur bis 40% möglich ist. Die motorische Kraft in allen Muskeln gut, in der
unteren Extremität herabgesetzt, die Patellarreflexe nicht mehr auslöshar, die Achilles-
reflexe beiderseits lebhaft, links mehr als rechts, Babinski und Oppenheim beider-
seits positiv. Eine Sensibilitätsstörung ist nicht sicher nachzuweisen. Der Dekubitus
nimmt zu. Es beginnt eine Pneumonie. Die Patientin geht dann an Sepsis und
Pneumonie zugrunde. Die Diagnose lautet Myelitis.
Die Obduktion ergab im Brustinark grau-rötlich gequollene Herde im Vorder-
seitenstrang. Auch im Lendenmark sind solche Herde nachzuweisen.
Die histologische Untersuchung des gleichfalls von Herrn Professor Pappen-
heim zur Verfügung gestellten Zentralnervensystems ergibt folgendes:
Rückenmark: Der Querschnitt scheint im Conus terminalis vollständig erhalten.
Man sieht vielleicht nur in den Seitensträngen eine leichte Aufhellune, sonst aber
ist das Markbild vollständig normal, dagegen fällt auf, daß die vorderen Wurzeln,
die in einem großen Paket an der ventralen Seite des Marks gelegen sind, starke
Entinarkungen zeigen, ebenso die hinteren Wurzeln, die zum Teil ganz sklerotisch
verändert sind, wobei das Bild am ehesten dem einer sekundären Sklerose ent-
spricht.
Ein Nissl-Präparat dieser Gegend ergibt neben ganz normalen Zellen ein
zelne gequollene. Man sieht die Ganglienzellen etwas verbreitert. Einbrechen der
Glia in die Pia und die Meningen erfüllt von einem sehr feingranulierlen Gewebe
(Ödem) (Abb. 3). Man sieht auch um die Gefäße, deren Wand deutlich Homogeni-
sation und Verdiekung zeigt, besonders im Sulcus longitudinalis ventralis, ein In-
filtrat, vorwiegend aus Iymphoiden Elementen, aber auch größeren Zellen mit deut-
lichem Plasmahof (Körnchenzellen\. Auffallend ist die schwere Veränderung der
Gefäße, die stellenweise bis zur Verkalkung der Intima und Media führen, während
die Adventitia als homogenes Gewebe von der Außenseite die inneren Membranen
abschließt.
Im Lendenmark zeigen sich in den Hintersträngen die Septen verbreitert und
auch die perivaskuläre Glia ist etwas dichter. Das gleiche gilt für die Vorder-
stränge, während die Pyramidenbalın eine Degeneration typisch sekundärer Natur
aufweist. Die Wurzelschädigung ist hier geringer als in den unteren Partien. Auch
hier zeigt das Mark eigentlich am Weigert-Präparat verhältnismäßig wenig Ver-
änderungen, ebenso die Ganglienzellen. In diesem Gebiet läßt sich eine Infiltration
nicht nachweisen.
Die Axone sind nach Bielschowsky gut gefärbt, Fibrillen lassen sich jedoch
wenige nachweisen. Es zeigen sich vielmehr Netze im Gewebe.
Im Brustmark finden wir auf der einen Seite im Seitenstrang, und zwar vom
Seitenhorn der grauen Substanz beginnend, bis zur Mitte des Vorderhorns reichen,
beide einschließend, eine sklerotische Plaque, die sich eigentlich in nichts von
einer Plaque der multiplen Sklerose unterscheidet (Abb. 4. Dagegen sehen wir im
196 Dr. Masamichi Toyama.
DE
na ì
Abb. 3. Fall II. Einbrechen der Glia in die Pija.
Abb. 4. Fall II. Sklerotischer Plaque im Vorderhorn und Seitenstrang.
Zur Pathologie der Myelosen! 197
Hinterstrang eine merkwürdige Sklerose, die wohl nicht perivaskulär ist, aber doch
den desintegrativen Herden ebenso nahesteht als den sklerotischen (Abb. 5). Auf-
fallend ist hier die verhältnismäßige Intaktheit der Pyramidenbahnen, während die
Hinterstränge wiederum die besondere Verdickung der Gefäße aufweisen. Die sklero-
tische Plaque im Seitenstrang zeigt sich auch in bezug auf die Glia vollständig
identisch mit einer Plaque echter multipler Sklerose. Aber auch im Hinterstrang
ist die Begrenzung des sklerotischen Gebietes eine quadratische, also keineswegs
entsprechend der eines vaskulären Prozesses.
Im Bielschowsky-Präparat zeigt sich nur, daß in dem affizierten Gebiet
relative Axonintegrität besteht, also daß auch bezügllich des Verhaltens der
Axone das Bild am ehesten dem der multiplen Sklerose sich nähert. Auf-
fallend ist allerdings, daß die Axone verhältnismäßig stark sind, daß sicher-
Abb. 5. Fall II. Desintegrativer (sklerotischer?) Herd im Hinterstrang.
lich Ausfälle hier bestehen, daß aber auch feine Axone in dem ergriffenen
Gebiet in reichlicher Menge vorhanden sind. Auch das Gebiet, das sich der sekun-
dären Degeneration nähert, zeigt verhältnismäßig Axonintegrität. Die Meningen sind
auch hier verbreitert, zeigen ein Einwachsen der Glia, vielleicht auch eine Spur
entzündlicher Reizung, die sich auch perivaskulär nachweisen läßt, aber äußerst
geringfügig ist. Innerhalb des Marks sind die Gefäße aufs schwerste degeneriert,
Homogenisation und Verbreiterung der Wand die Regel. Die Vorderhornzellen sind
verhältnismäßig gut entwickelt, wenn sie auch Veränderungen aufweisen, die den
senilen nahestehen. Nur in den sklerotischen Gebieten sieht man Schrumpfung und
Homogenisation auch des Kerns. Die Clarkeschen Säulen, soweit sie hier sichtbar
sind, zeigen nichts, was der Norm nicht entspräche. Während sich dieses Bild in
dem dritten Dorsalsegment zeigt, nähert sich das siebente Dorsalsegment mehr dem
Verhalten im Lendenmark, weshalb von einer genaueren Beschreibung desselben
hier Abstand genommen werden kann. Es sei nur erwähnt, daß die Clarkeschen
Säulen hier vollständig intakt sind.
198 Dr. Masamichi Toyama.
In der Zervikalanschwellung erreicht die Sklerose die größte Ausdehnung. Es
hat sich der schon im Dorsalmark vorhandene Plaque bis an die Peripherie ausge-
dehnt. Auch im Hinterstrang ist die Aufhellung jetzt in eine deutliche Plaque
übergegangen. Eine ganz kleine Plaque findet sich im Vorderseitenstrang der Gegen-
seite und im Vorderhorn der Gegenseite. Daneben sind die perivaskulären Gliamäntel
sowie die Glia überhaupt im Interstitium mächtig entwickelt, besonders im Areal
der Hinterstränge und der Pyramidenbahnen. Hier kann man zum Teil wohl erkennen,
daß es sich um perivaskuläre Herde handelt, da sie rundlich oder oval um ein
Gefäße gelagert erscheinen und keine besondere Ausdehnung besitzen. Sie unter-
scheiden sich aber in nichts von den Herden, die als typisch sklerotische anzusehen
sind. Hier kann man auch die Axonpersistenz nachweisen, wenn auch, wie schon
erwähnt, die Axone durch besondere Dicke charakterisiert sind, also eine Axon-
schwellung besteht. Sicherlich sind auch zahlreiche Axone ausgefallen, aber gar nicht
im Verhältnis zu Axonen, wie wir sie bei sekundären Degenerationen finden. Das
Verhalten der Glia ist konform jenem bei der multiplen Sklerose. Entzündliche Er-
scheinungen sind hier ebensowenig zu sehen wie Körnchenzellen. Die Gefäßveränderung
ist die gleiche. Hier sind die Ganglienzellen besser erhalten als wie in den unteren
Abschnitten. Sogar die Lipoidose ist geringer und nur auf einzelne Elemente beschränkt.
In diesem Falle läßt sich das klinische Bild mit dem anatomischen
Befund nicht vereinigen. Die spastische Parese der unteren Extremitäten
entspricht wohl der Pyramidenschädigung. Sonst aber scheinen die Symptome
von den psychischen Störungen verdeckt, die der chronische Alkoholismus
erzeugt hat.
Auffallend ist hier die abwechselnde Intaktheit und Degeneration des
Pyramidenarcales (vielleicht analog der segmentalen Degeneration bei Toxi-
kosen), ferner das Auftreten sklerotischer Plaques neben desintegrativen
Herden.
Fall HI. Josef B., 74 Jahre alter Mann. Belanglose Anamnese bis zum Jahre
1926. Im September dieses Jahres spürt er die Füße gelähmt, hat Schmerzen im Fuß
und kann von dieser Zeit an nicht mehr gehen.
Die Untersuchung im Juli 1927 ergibt: Mittelgroßer, sehr dürftig genährter Mann
mit leichter Bronchitis, zeigt lediglich eine schlaffe Parese an beiden unteren Extre-
mitäten. Die Bauchdeckenreflexe und der Babinski sind fraglich, sonst finden sich
die Sehnenreflexe. Er hat keine Harn- und Stuhlbeschwerden. Die ganze Wirbelsäule
ist etwas klopfempfindlich. Auffallend träge Reaktion der Pupillen auf Licht und
Akkommodation.
Gegen Mitte Juli zeigt der Patient eine geringe aktive Bewegung der Zehen und
gleichzeitig eine leichte, nur mit großer Anstrengung «durchgeführte Beugung im
Kniegelenk. Auch im Hüftgelenk ist eine Bewegung möglich. Die Sensibilität erscheint
normal, nur von L? abwärts werden Stiche eine Spur schwächer gefühlt. Im Gebiet
von S3 bis S° besteht aber sicherlich keine Hypalgesie, die Tiefensensibilität ‚der
Zehen ist gestört. Die Patellarsehnenreflexe sind lebhaft, die Achillessehnenreflexe
eher zu wenig lebhaft. Dagegen ist beiderseits Babinski positiv, rechts auch Rossolimo.
Die Bauchdeckenreflexe scheinen ebenso wie die Kremasterreflexe zu fehlen. Peroneus
und Tibialis sind etwas druckempfindlich. Sonst kein positiver Befund. Es entwickelt
sich ein leichter Dekubitus am Kreuzbein. Der Patient muß auch im Schlaf sitzen,
weil er angibt, daß beim Liegen der Schmerz in den Unterschenkeln und den Füßen
konstant besteht, während er im Oberschenkel nur anfallsweise auftritt und durch
Seitenlage zu beseitigen ist. Ende Juli tritt Retentio urinae auf, doch behauptet der
Patient, daß dies schon früher der Fall gewesen sei, schon in seiner Jugend. Es hätte
dies Immer nur ein paar Tage gedauert. Jetzt dauert es zirka zehn Minuten, bis das
erste Tröpfehen kommt.
Zur Pathologie der Myelosen! 199
Anfangs August zeigt sich, daß die Sensibilitätsstörung in der Patella beginnt,
wo sich eine Hypästhesie und Hypalgesie zeigt, die sich distal aufhellt. Die Tiefen-
sensibilität in den Zehen ist beiderseits gestört. Die Liquoruntersuchung ist negativ.
Der Röntgenbefund zeigt Arthritis deformans.
Der Patient stirbt am 28. August 1927 infolge einer eitrigen Zystitis und
Pyelonephritis, eitrigen Bronchitis und Lobulärpneumonie.
Es findet sich ein keilförmiger Herd im linken Hinterstrang von der Hals-
anschwellung bis ins Brustmark, dann im linken und rechten Seitenstrang eine
Störung, die bis in die Lumbalanschwellung zu verfolgen ist. Auch über diese Herde
sieht man noch Randsklerosen.
Der andere Obduktionsbefund ist belanglos.
Abb. 6. Fall IHI. Gefäßwandverbreiterung.
In diesem Falle wurde uns nur das Rückenmark von der Lendenanschwellung
aufwärts und das ganze Gehirn zur Verfügung gestellt. In der Lendenanschwellung
zeigt sich die Pia etwas fibrös verdickt, die Gefäße auffallend wandverdickt (Abb. 6).
Aber nur an einzelnen Stellen zeigen sie eine leichte Verkalkung. Zahlreiche Corpora
amylacea im Gewebe. Untersucht man nun die Hinterstränge, so zeigt sich ein
äußerst auffälliger Befund. Abgesehen von einer ziemlich intensiven Sklerose, sieht
man besonders um Kapillaren herum ein eigentümliches homogenes Gewebe, als ob ein
Erguß perivaskulär erfolgt wäre, der keinerlei Zeichen irgendwelcher Struktur erkennen
läßt. An den Rändern ist diese Masse, die sich schmutzig graugelbllich, manchmal blau-
rötlich färbt, von einzelnen Zellen besetzt. An einer Stelle, gleichfalls im Hinterstrang,
sieht man diese homogenen lappigen Massen mit Hämalaun tief dunkelblau gefärbt
(Abb. 7). In der Umgebung ist das Gewebe aufgelockert, aber man sieht doch eine
deutliche Wucherung der Glia und ein Zurücktreten des Marks. In diesem Gebiete
sind die Gefäße schwer verändert und zeigen nahezu eine Homogenisation der Wände,
wobei nur auffällt, daß die Intima verhältnismäßig intakt ist, während die Media
und Adventitia die Homogenisation zeigen.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 14
200 Dr. Masamichi Toyama.
Im Seitenstrang zeigt sich eine deutliche Sklerose auf einer Seite, ein Lücken-
feld auf der anderen Seite.
Ein Nissl-Präparat zeigt schwere Störungen in den dorsalen Teilen der
Vorderhörner, während die ventralen Teile die Ganglienzellen verhältnismäßig intakt
zeigen. Nur sind die Tigroide vielfach staubförmig.
Weigert-Präparate aus Gebieten, die etwas höher sind als die eben erwähnten,
zeigen die Hinterstränge schwerst degeneriert bis auf die lateralen Partien, wobei die
perivaskulären Desintegrationen in diesen letzteren deutlich hervortreten. Auch der
Seitenstrang ist bis zum Vorderseitenstrang hinein degeneriert, ohne daß es sich
aber um eine Degeneration im System handeln würde. Aber auch die Keilherde
werden vermißt und man sieht stellenweise, besonders in den Randpartien der
Herde, Inseln intakter Markfasern.
Abb. 7. Fall III. Homogene Massen perivaskulär.
Im Brustmark läßt sich der Charakter des Prozesses deutlicher erkennen. Zu
nächst ist schon die Form des Marks auffällig, die sich dem kaudalen Mark nähert,
was auch insofern gilt, als hier zum Unterschied vom Lendenmark der Zentralkanal
eine hydromyelische Erweiterung zeigt, während an ihren Rändern deutliche Lücken-
felder in Erscheinung treten. Ähnliches gilt auch für die Sklerose in den Seitensträngen.
Die Ganglienzellen sind hier besser erhalten als wie in den unteren Partien, und man
kann hier vollständig intakte Zellen wahrnehmen, mit großem deutlichem Tigroid.
Das Markscheidenpräparat zeigt die Hinterstränge sehr stark affıziert. Es ist
hauptsächlich das Gebiet lateral im Gollschen Strang schwerst gestört, während
in dem bereits vorhandenen Burdach das Lückenfeld hervortritt. Auch die medio-
dorsalen Teile des Hinterstranges sind hier sichtbar, zum Teil zeigen auch sie
Lücken. Auffallend ist, daß solche Lückenfelder auch in den Seitensträngen vorhanden
sind, und zwar mehr ventral, während die Kleinhirnbahnen aufs schwerste degeneriert
sind, die Pyramide eine leichte Degeneration aufweist. Interessant ist ein bilateral
symmetrischer Herd von Lückenfeldern in beiden Vordersträngen (Abb. 8).
Es ist nieht ohne Interesse, daß diese Veränderungen im oberen Dorsalmark
Zur Pathologie der Myelosen! 201
Abb. 8. Fall III. Die Herdverteilung in Hinter-, Seiten- und Vorderstrang. Lücken-
felder und sekundäre Degenerationen nebeneinander.
Abb. 9. Sekundäre Degeneration im Hinterstrang oral vom Querschnitt Fig. 8.
14*
202 Dr. Masamichi Toyama.
wieder schwinden, bis auf eine im Gollschen Strang bestehende sekundäre Degene-
ration und auffallende perivaskuläre Desintegrationen oder besser Sklerosen, die ganz
eigenartige Formen annehmen (Abb. 9).
Es ist nun bemerkenswert, daß, während die Degeneration im Gollschen Strang
sich in den obersten Partien des Dorsalmarks und in den untersten des Zervikalmarks,
wenn auch in geringerer Intensität erhält, die Kleinhirnbahnen vollständig intakt
sind und eine mehr gleichmäßige Aufhellung der mittleren Partien des Vorderseiten-
strangs beiderseits symmetrisch in Erscheinung tritt, wobei sowohl die äußere Peri-
pherie als die Fasermasse im Vorderhorn intakt erscheint.
Auch im Halsmark zeigen sich ähnliche Bilder der eigentümlichen Gerinnung
wie im Lendenmark. Auch hier sind die Vorderhörner sehr gut erhalten, nicht einmal
die gewohnte Verfettung ist erkennbar. In der Halsanschwellung zeigt sich der Quer-
schnitt bis auf die sekundäre Degeneration im Gollschen Strang und eine etwas inten-
sivere perivaskuläre Desintegration intakt.
Obwohl vorauszusetzen war, daß im Gehirn dieses Kranken sich keine gröberen
Veränderungen zeigen würden, wurden doch von der Hirnrinde Schnitte entnommen
und untersucht, wobei sich zeigt, daß eigentlich das Schichtenbild der Rinde ungestört
ist und auch keine auffallenden Ausfälle zeigt. Auch die Zellen sind verhältnismäßig
gut entwickelt. Ein Ödem ist nicht nachzuweisen. Hie und da sieht man auch hier
perivaskuläre Gerinnungsvorgänge. Die Gefäße sind dagegen in dem ganzen Gebiet
der Hirnrinde keinesfalls so schwer verändert wie im Rückenmark. Es fällt deshalb
auf, daß hier die Wände der größeren Gefäße sich deutlich differenzieren lassen,
die Veränderung also hier nicht aus dem Rahmen des gewöhnlichen Seniums fällt.
Um die Faserverhältnisse genauer zu studieren, wurde eine Hemisphäre (Frontal-
lappen) in toto geschnitten, wobei sich ergibt, daß die Tangentialfasern auffallend
gut erhalten sind und das Rindenbild kaum irgend eine Änderung aufweist. Das gleiche
gilt für den Linsenkern und den Thalamus, die merkwürdig intakt sind. Nur an ein-
zelnen Stellen im Claustrum z. B. kann ınan deutlich perivaskuläre Degeneration sehen.
Sonst aber ist das Gehirn im Gegensatz zum Rückenmark auffallend intakt.
Wenn wir die Veränderung zusammenfassend besprechen, so findet
sich erstens ein deutlich desintegrativer Prozeß, der im Jendenmark und
unteren Brustmark, den Hinterstrang und den Hinter-Seitenstrang, mit Aus-
nahme der Partien an der grauen Substanz, einnimmt. Er ist charakterisiert
durch das Auftreten .eigentümlicher Gerinnungsprozesse und der Bildung von
Lückenfelder besonders an den Randteilen. Ferner ist die Neigung zur
Symmetrie auch in den primär nicht affizierten Gebieten wie in den Vorder-
strängen vorhanden. Sehr wichtig erscheint die Tatsache, daß eine sekundäre
Degeneration nur für den (rollschen Strang gilt, daß in den Seitensträngen
eigentlich eine sekundäre Degeneration vermißt wird. Ferner ist auffällig,
daß im Gebiete des affizierten Rückeninarksabschnittes auch die graue Sub-
stanz schwer gelitten hat, während sie in den nicht affızierten Gebieten
verhältnismäßig intakt ist. Die schwerste Schädigung betrifft die Gefäße,
abgesehen von der Intima, die sich deutlich erkennen läßt, ist die Media
und Adventitia meist in eine homogene kernlose Masse umgewandelt. Am
meisten auffällig ist der Gegensatz zwischen Rückenmarkbefund und dem
im Gehirn. Während im Rückenmark die schwersten Veränderungen nach-
weisbar sind, fehlen solche im Gehirn vollständig. Hier zeigen die Gefäße
keine Differenz gegenüber den Gefäßen eines normalen senilen Gehirns.
Überblickt man nun diese drei Fälle, so sieht man, daß der erste wohl
66 Jahre alt war, aber nirgends Zeichen einer arterio-sklerotischen Verände-
Zur Pathologie der Myelosen! 203
rung zeigte. Es fand sich bei dem Kranken ein Karzinom, das in vivo gar keine
Erscheinungen gemacht hatte.
Der zweite Fall betraf eine 39jährige Patientin, die allerdings eine
Gewohnheitstrinkerin war. In diesem Falle handelt es sich um einen sklero-
tischen Prozeß, dessen Genese unendlich schwer zu deuten ist. Man kann
zwar stellenweise eine perivaskuläre Desintegration sehen, auch Lücken-
felder, aber im großen und ganzen besteht eine schwere Sklerose, die der
multiplen stellenweise vollständig gleich sieht. Die ganze Krankheit dauerte
ungefähr 1!/, Jahre.
Noch interessanter ist der dritte Fall, der zwar einen 74jährigen Mann
betrifft, dessen (iefäßsystem aber ein ganz verschiedenes Verhalten zeigt. Im
Rückenmark, dort wo der Herdprozeß auftritt, sind die Gefäße schwerst dege-
neriert. Im Gehirn, wo keinerlei Herde sind, verhalten sich die Gefäße voll-
ständig dem Alter entsprechend beinahe normal.
Wir haben also hier drei ganz verschiedene Ursachen vor uns und
müssen nun trachten, herauszufinden, inwieweit zunächst die (iefäßverände-
rungen für das Zustandekommen des Prozesses maßgebend sind.
Wenn wir den dritten Fall ins Auge fassen, so könnte man bei Be-
trachtung der Gefäße des Rückenmarks die Meinung haben, daß es sich um
eine schwere (refäßschädigung handeln müsse, die eventuell lokal ist. Aber
der Umstand, daß die Gefäße des Gehirns eigentlich keine Zeichen einer
besonderen senilen Involution zeigen, der Umstand ferner, daß auch die
Gefäße des Rückenmarks sich dort, wo sie nicht gerade im Herd liegen,
keineswegs als schwerst verändert erweisen, spricht dafür, daß diese Gefäß-
veränderungen sekundärer Natur sind. Das Wesentlichste erscheint mir in
diesem Falle die Bildung eigenartiger Niederschläge, die sich im Hämalaun-
oder Thionin-Präparat eigenartig verhalten. Während ein Teil wie eine ge-
ronnene Masse aussieht und eine schmutzig gelblichgraue Färbung aufweist,
ist der zweite Fall vollständig gleich mit dem, was man als Pseudokalk be-
zeichnet und nimmt die Hämalaunfärbung sehr stark an. Nun hat Ostertag
erst jüngst sich ınit der Frage dieses Pseudokalks beschäftigt und gemeint,
daß es sich hier um albuminoide kolloidale Niederschlagsprodukte handle.
Während man aber sonst gewöhnlich nur diese konkrementähnlichen Bildun-
gen zu Gesicht bekommt, ist im vorliegenden Fall der Prozeß noch im Werden
und man sieht tatsächlich eine geronnene Masse, die ganz gut Eiweiß sein
könnte, eine Masse, die die Übergänge zu typischen Pseudokalk erkennen
läßt. Der Umstand, daß dieser Prozeß sich in den Herden findet, spricht jedoch
dafür, daß hier eine schwere trophische Störung die Ursache der Schädigung
sein muß, eine Störung, die nach Ostertag dysglandulär bedingt sein könnte.
Für gewöhnlich findet man ja derartige Veränderungen nicht im Rückenmark,
sondern im Gehirn, und zwar hier hauptsächlich im Nucleus lenticularis, aber
auch im Zerebellum. In meinem Fall fehlen die Konkremente in diesen Partien
und sind nur im erkrankten Gebiet nachzuweisen. Daraus ist zu schließen,
daß sie einen Teil der Schädigung ausmachen müssen. Und so wird wohl
nichts anderes übrig bleiben, als ihn in die Gruppe der senilen Fälle einzu-
204 Dr. Masamichi Toyama.
reihen, ohne daß aber jenes Moment hier von Belang wäre, das in den anderen
derartigen Fällen hervorgehoben wird, nämlich die Gefäßveränderung.
Wenn ich in bezug auf die Gefäßveränderung diesen Fall besonders ins
Auge fasse, so ist das, was ich in den Herden sehe, absolut nicht identisch
mit den arteriosklerotischen Veränderungen. Es handelt sich um eine Art
Homogenisation der Media und Adventitia, man möchte beinahe sagen, eben-
falls eine Art Gerinnungsprozeß, der das Gefäß in toto ergreift, wobei die
Kerne zugrunde gehen. Wir haben demnach diesen Gefäßprozeß nicht oder
kaum in ätiologische Beziehung zu setzen zu den Veränderungen im Rücken-
mark, sondern wir werden ihn als koordiniert betrachten, da es unverständ-
lich wäre, wenn nur ein herdweises Befallensein von Gefäßen auftreten würde
und die benachbarten Gefäße sich eigentlich verhältnismäßig normal zeigten.
Wenn man diesen Fall mit dem der 39jährigen Patientin vergleicht, die
durch ihren Alkoholismus schwer nervenkrank geworden ist, so findet sich in
bezug auf einen Teil der Herde wohl eine Ähnlichkeit, aber die anderen Herde
zeigen einen vollständig anderen Charakter. Sie sind viel näherstehend einem
sklerotischen Prozeß als einem malazischen.
‘Der erste Fall, der mit der Karzinose, die nicht entdeckt wurde, der aber
eine schwere Anämie aufwies, nähert sich wieder in seinem Verhalten mehr
jenen Fällen, wie man sie von der perniziösen Anämie zu sehen gewohnt ist.
Desintegrationsherde an den Gefäßen mit Lückenfeldern, einzelne Fettkörn-
chenzellen und im Anschluß daran typische sekundäre Degeneration, wobei
mit Vorliebe die Hinterstränge getroffen sind.
Pathologisch-anatomisch sehen wir also drei verschiedene Bilder. Das
eine Mal eine reine Desintegration mit einer insuffizienten Sklerose, das
zweite Mal eine Desintegration mit einer exzessiven Sklerose und das dritte
Mal die Desintegration, verbunden mit den eigentümlichen Gefäßveränderun-
gen und den Niederschlägen im Gewebe. Vielleicht wird man gegenüber dem
zweiten Fall einwenden, daß möglicherweise die Dauer des Prozesses die Skle-
rose so komplett gestaltet hat. Es scheint aber dieses Moment für unseren
Fall keine Geltung zu haben, ebensowenig der Umstand, daß hier ein jüngerer
Patient zwei Greisen gegenübersteht, da doch gerade im Senium die Glia eine
nicht unwesentliche Proliferationstendenz zeigt. Es scheint also, daß in der
Noxe selbst der Grund für die Verschiedenheit des Bildes gelegen ist.
Ich will hier nicht auf die ganze Literatur der bei Karzinose vorkommen-
den Veränderungen des Rückenmarks eingehen. Aber die Befunde, die in den
letzten Jahren erhoben wurden, möchte ich im kurzen anführen.
Wie bekannt, war Lubarsch einer der ersten, der in mehr als der
Hälfte der untersuchten Karzinomfälle Veränderungen im Rückenmark fand,
vorwiegend bei Magenkrebs. Meist unbedeutend hatten einzelne von diesen
Fällen auch während des Lebens Erscheinungen gemacht, die den von mir
geschilderten vollständig identisch sind, auch in bezug auf die Lokalisation.
Er ist der Meinung, daß die Anämie resp. Hydrämie, vielleicht auch Karzinom-
toxine, die Ursache dafür sein könnten, daß aber auch möglicherweise, weil
die Mehrzahl der Fälle Magen- und Darmkrebs betrifft, die gastro-intestinale
Zur Pathologie der Myelosen! 205
Autointoxikation eine Rolle spielen kann. Es ist auch möglich, daB alle drei
Ursachen mitunter auslösend in Frage kommen.
Henneberg, der diese Erkrankung als funikuläre Myelitis bezeichnete,
sich aber auch mit dem Begriff funikuläre Myelomalazie einverstanden erklärt,
findet eigentlich als ätiologischen Faktor in seinen Fällen vorwiegend die
Anämie.
Es ist sehr wichtig, daß Nonne schon im Jahre 1906 über Myelitis intra-
funicularis beim Alkoholismus chronicus berichtete, wobei er hervorhebt, daß
es sich um besonders schweren Alkoholismus gehandelt hat und in zwei Fällen
sogar skorbutische Erscheinungen vorhanden waren. Da wir nun wissen, daß
beim chronischen Alkoholismus gleichfalls der Magen-Darmtrakt besonders
wesentlichen. Schaden leidet, so wird man vielleicht neben der exogenen Toxi-
kose dieser. Moment für das Zustandekommen der Rückenmarksveränderung
besonders Rechnung tragen.
Ich muß Henneberg widersprechen, wenn er meint, es handle sich
hei diesen Prozessen um eine auffallend chronische progressive Degeneration
der Nervenfasern. Hier handelt es sich um Herde und nicht um primäre
Degenerationen, um Herde, bei denen offenbar auf dem Wege der Blutgefäße
Substanzen in das Gewebe gelangen, die zu perivaskulären Desintegrationen
Anlaß geben. Auch er ist der Meinung, daß bei den relativ seltenen Fällen
von Alkoholismus mit funikulärer Myelitis der erstere nur die Disposition
für die eigentlich unbekannte Ursache bietet.
In dem Fall von Wohlwill ist nur von Interesse, daß psychische Störun-
gen aufgetreten waren, die eine Mitbeteiligung der Hirnrinde wahrscheinlich
machten, ein Umstand, der in meinen Fällen nicht zur Beobachtung kam.
In einem weiteren Bericht von Nonne über die funikuläre Myelitis
erwähnt er einen atypischen Fall, bei dem das klinische Bild fast dem der
multiplen Sklerose gleicht. Ich kann, wie erwähnt, in meinem zweiten Fall
auch ein Gleiches für das anatomische Bild hervorheben.
Auch Fleischmann, dessen Material aus der Nonneschen Klinik
stammt, meint, es gäbe verschiedene Ursachen, exogene und endogene. Letztere
hauptsächlich Toxine. die bei Magen-Darmstörungen entstehen. Er will aber
die Rolle der sekundären Anämien von der der perniziösen Anämie bei der
funikulären Myelitis trennen, wozu nach dem anatomischen Bild meines Er-
achtens kein Grund vorliegt. Zu erwähnen ist noch, daß Fleischmann auf
abortive Formen nach Alkoholismus hinweist.
Der Fall von E. Kauffmann gehört wohl in die Gruppe der perniziösen
Anämien.
Nonne hat dann noch wiederholt zu dieser Frage Stellung genommen
und eine Karzinom-Toxämie als Ursache festgestellt. Er hat sich weiters
bemüht zu zeigen, daß die Anämie eigentlich nieht als wesentlichste Ursache
in Frage kommen könne, da erstens eine Inkongruenz «des spinalen Krank-
heitsbildes mit dem Grad der Anämie bestehe und zweitens die spinalen
Veränderungen mitunter der Anämie vorausgehen.
Auch Wohlwill bat diese Frage wiederholt in späteren Jahren bear-
206 Dr. Masamichi Toyama.
beitet und gemeint, daß im Gegensatz zur multiplen Sklerose das Axon hier
eher Schaden leidet. Ich muß gestehen, daß in meinen Fällen Axon und
Markscheide meist gleichmäßig betroffen waren und daß die Gliaverände-
rungen in den einzelnen Herden scheinbar ganz verschieden sind, aber doch
zumeist die progressive Entwicklung erkennen lassen. Aber anzunehmen, daß
bei einem exzessiv sklerotischen Herd eine Blutung vorangegangen ist, dafür
habe ich keinen Anhaltspunkt. Dagegen muß man Wohlwill zustimmen,
wenn er von einer auf dem Blutweg wirksam werdenden Noxe spricht. -
Inwieweit wir hier das Recht haben, funikuläre Myelose und funikuläre
Myelitis zu unterscheiden, ist noch die Frage. Denn wenn auch ein peri-
vaskuläres Infiltrat vorhanden ist, so ist damit noch nicht erwiesen, ob dieses
primär ist oder sekundär bedingt durch die meist septische Terminal-
erkrankung.
Modes fand in einem Fall als Ursache Unterernährung und Skorbut
bei normalem Blutbefund. Auch in einem zweiten Fall war der Blutbefund
normal, so daß er meint, es handle sich in diesen Fällen vielleicht um Avita-
minosen, also Veränderungen, wie wir sie z. B. bei der Beri-Beri kennen-
gelernt haben.
Schröder spricht von funikulären Sklerosen des Rückenmarks und teilt
die Fälle in zwei Gruppen. Die eine mit Herdbildung, die zweite, bei denen
das rein degenerative Moment im Vordergrund steht und die Herdchen erst.
gesucht werden müssen. Er meint aber, daß es hier vielleicht so sei, daß im
späteren Verlauf die sekundären Degenerationen die Einzelherdchen über-
decken. Man kann Schröder nicht ganz beistimmen, wir kennen z. B. beim
Diabetes eine rein degenerative Erkrankung der Hinterwurzeln mit sekun-
därer Degeneration, die ein tabiformes Bild erzeugt. Die von Castex er-
wähnten Thrombosen in den Gefäßen bezeichnet der Autor selbst als sekun-
däre. Wenn er aber schreibt, daß im Gegensatz zur multiplen Sklerose die
Herde sich nicht regellos verbreiten und auf die weiße Substanz beschränkt
bleiben, so spricht dagegen meine zweite Beobachtung, die einen Herd in der
grauen Substanz des Vorderhorns zeigte, der zudem noch das Bild der
schweren Sklerose bot.
Bertrand und Ferraro haben einen hierher gehörigen Fall von Karzi-
nose beschrieben. Auch sie bemerken, daß Herde vorhanden seien, bei denen
der Untergang der Markscheiden jenem der Axone vorangeht. Anderseits
werden primär Axondegenerationen beschrieben, bei denen die Markscheide
nur abgeblaßt ist, ohne daß Abbauprodukte vorhanden wären.
Wir schen also hier einen Prozeß, der sich scheinbar ganz verschieden
auswirken kann. Das eine Mal, wie in meinen Fällen, den Nerv in toto trifft,
vielleich‘ die Markscheide primär, das andere Mal, wie das Wohlwill betont,
die Axone primär, die Markscheide sekundär. Henneberg, der vor Jahren
wieder auf die Frage der funikulären Myelitis zu sprechen kam, nimmt für
einen Teil der Fälle eine Avilaminose an, für jene der perniziösen Anämie
aber eine kryptogene Intoxikation. Garvey und Stern beschreiben einen
sehr instruktiven Fall von Karzinose mit Rückenmarkaffektion. Weimann
Zur Pathologie der Myelosen! 207
gelang es, im (sroßhirn ähnliche Veränderungen zu finden und im Rücken-
mark daneben auch die von Schröder beschriebenen perivaskulären Ne-
krosen mit einem zentralen degenerierten Gefäß und einer geronnenen
nekrotischen Gewebeschicht. In Übereinstimmung mit Nonne führt Meulen-
gracht an, daß die Blutveränderungen bei der perniziösen Anämie den
Rückenmarksveränderungen nicht parallel gehen, so daß als Ursache nur eine
allgemeine Intoxikation anzunehmen sei.
Deutsch sucht der Pathogenese näherzukommen, indem er feststellt,
daß in den Fällen von spinaler Erkrankung bei perniziöser Anämie die Permea-
bilität erhöht sei, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, daß die Kapillaren
der Plexus und der Meningen durch das hypothetische Toxin geschädigt seien.
Vielleicht gehe der Weg auch hier über den Liquor.
Die Lehre von Hurst besteht bekanntlich darin, daß er die Anazidität
des Magensaftes bei der perniziösen Anämie in den Vordergrund stellt, da sie
bei den Myelosen jederzeit nachweisbar sei. Ihre Ursache sei gleichgültig.
Dazu käme noch als zweites Moment das Auftreten toxischer Stoffe vom
Darm aus, dadurch entstanden, daß Infektionsmaterial bei bestehender Ana-
zidität des Magens aus der Mundhöhle in den Darm gelangt. Er meint, die
Streptokokken spielen die größte Rolle.
Die Lehre von der Orosepsis wird meines Erachtens für das Zustande-
kommen von Erkrankungen weit überschätzt. Dagegen ist die Anazidität des
Magensaftes tatsächlich ein Moment, mit dem man bei Zustandekommen der
Myelose rechnen muß. Albrecht spricht nur von Ernährungsstörungen und
lehnt jedes hypothetisches Toxin ab. Er sucht dies dadurch zu erweisen,
daß er den Zusammenhang mit dem (iefäßsystem aufzeigt und daß die reich-
lich vaskularisierte graue Substanz nicht erkrankt ist. Wenn diese Nutritions-
veränderung tatsächlich die Ursache wäre, dann müßte wohl die Myelose
weitaus häufiger sein, als sie es in der Tat ist, und müßte sich in der
Mehrzahl der Fälle von senilem Marasmus oder Marasınus nach anderen
Krankheiten finden.
Sehr wesentlich erscheint die Arbeit von Siemons, Zador und Biel-
schowsky. Vom anatomischen Standpunkt ist nur bemerkenswert, daB auch
sie als primär den Zerfall der Markscheide anerkennen, während Schwellungs-
erscheinungen im Achsenzylinder selten sind, was auch in meinen Fällen
zutrifft. Sie finden sogar eine Persistenz der Achsenzylinder in Lücken-
feldern. Auch das habe ich gesehen. Sie vertreten ätiologisch den Standpunkt
Bendas, indem sie meinen, daß die hämatotoxischen und neurotoxischen
Erscheinungen gesetzmäßig zusammengehören. Die perniziöse Anämie sei auf
die Wirksamkeit eines Giftes zurückzuführen, das aus dem Lipoidkomplex
der Blutkörperchen ebenso wie aus jenem der Nervenfasern, besonders an
Markscheiden, einzelne Komponenten, vorwiegend das Cholestearin, an sich
reißt und damit auch deren morphologische Integrität zerstört. Darin hätte
man wohl einen pathogenetischen Faktor, aber nicht einen ätiologischen
der Krankheit zu sehen, denn es ist doch fraglich, was diese Störung im
Lipoidhaushalt hervorruft.
u m a nn
208 Dr. Masamichi Toyama.
Weitere Literatur findet man bei Wartenberg, der die Frage der funi-
kulären Myelosen ganz kurz behandelt, ohne wesentlich Neues zu erbringen.
Er führt nur eine ganze Menge von Fällen an, die das eben aufgestellte Bild
ergänzen.
Im großen und ganzen läßt sich aus dieser Zusammenstellung ersehen,
daß doch ein gemeinsamer Faktor bei all diesen Prozessen eine Rolle spielen
muß. Es kann sich nicht um trophische Störungen handeln, sondern dieser
Faktor muß ein Toxin sein und dieses Toxin stammt wahrscheinlich aus
dem Magen-Darmtrakt, wobei die Anazidität des Magens eine besondere Rolle
spielt. Die Wirkung dieses Toxins ist nach den Befunden Bendas, Simons
und Bielschowskys offenbar eine auf Blut- und Nervensystem gleiche,
indem es an den Lipoiden angreift und dadurch das (rewebe schädigt. Mehr
als dies heute zu sagen, ist nicht möglich. Man wird vielleicht eine kleine
Differenzierung in den verschiedenen Formen machen können, indem die
karzinomatöse Form der bei perniziöser Anämie am nächsten steht, während
die Formen beim Alkoholismus, die plaqueartigen Gliaformationen am deut-
lichsten zeigt.
Bezüglich der Befunde von Pseudokalk vermag ich mich mangels
genauerer Kenntnis der Ätiologie dieses Falles nicht zu äußern. Doch wird
man diese Befunde sicherlich bei der Beurteilung der Fälle berücksichtigen
müssen.
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Wohlwill, Über psychische Störung bei funikulärer Myelitis (pseudosystematische
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Wohlwill, Zum Kapitel der pathologisch-anatomischen Veränderungen des Gehirns
und Rückenmarks bei perniziöser Anämie und verwandten Affektionen. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 68/69, S. 438 bis 480, 1921.
Wohlwill, Funikuläre Myelose und funikuläre Myelitis. Ein Beitrag zur Lehre von
der Entzündung im Nervensystem. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 117,
118, 119, 1931.
Wartenberg R., Systemerkrankungen des Rückenmarks, Degenerationserkrankungen.
Fortschritte d. Neur., Psych. u. ihrer Grenzgebiete, 1. Jahrg., Heft 8, 1929, und
2. Jahrg., Heft 10, 1930.
Über die Borstschen perivaskulären Herde
der multiplen Sklerose.
(Hyperlymphose oder Status desintegrationis).
Von
Prof. Dr. Mikio Murata (Kioto).
Mit 6 Abbildungen im Text.
Wie bekannt, hat Borst die Aufmerksamkeit auf die eigenartigen peri-
vaskulären Herde bei der multiplen Sklerose gelenkt. Er erwähnt, daß schon
frühere Autoren, unter ihnen besonders Arndt, Herde beschrieben, die in der
Umgebung von Gefäßen auftreten, bei denen er eine Lymphstauung (Anwesen-
heit feinkörniger Gerinnungsmassen zwischen den Nervenfasern und den
perivaskulären Lymphräumen) festgestellt haben will, wodurch eine Atrophie
resp. ein Zerfall der Markscheiden hervorgerufen wurde, im Gegensatz zu
einer durch die Lymphstauung bedingten Irritabilität der (Gia (Arndt spricht
allerdings von embryonalen Bindegewebszellen). Von anderen Autoren erwähnt
Borst noch Köppen und Buchwald.
Ich übergehe die weiteren von Borst angeführten Arbeiten und will
nur auf die Meinung des Autors selbst zu sprechen kommen. Er gibt an, daß
bei der Pathogenese der multiplen Sklerose der gestörten Lymphzirkulation
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt, wobei er ganz richtig
betont, daß auch die meningealen Lymphräume durch die chronisch-entzünd-
lichen Prozesse in den Meningen Lympbstauungen bedingen können, in der
gleichen Art, wie die Verwachsungen der adventitiellen Lyinphscheiden der
Gefäße und Verödungen der perivaskulären Räume durch die Gliawucherung.
Er beschreibt dann des genaueren Herde, die perivaskulär angeordnet sind,
in denen eine Auseinanderdrängung des gliösen Stützgerüstes, Erweiterung
der Maschenräume der (ilia mit Schwellung der Gliazellen und daneben ein
mehr oder weniger ausgebreiteter Markzerfall zu beobachten ist. Auffällig
erscheint die Intaktheit der Achsenzylinder. Auch den Charakter der Glia,
die mehr faserig ist, erwähnt er. Schließlich meint er, daß diese auf die
Lymphstauung (seeartige Ausbreitung der Lymphe) zu beziehenden Lichtungs-
bezirke der markhaltigen Nervenfasern in Sklerosen übergehen können. Es
erscheint ungemein wichtig, daß Borst schon darauf aufmerksam macht, daß
diese Bilder im Rückenmark etwas anders aussehen als im Gehirn und leicht
mit Bildern verwechselt werden können, wie man sie bei der sekundären
Degeneration zu sehen pflegt. Er differenziert diese sekundäre Degeneration
dadurch, daß er meint, sie sei mehr diffus und nicht so umschrieben und
212 Prof. Dr. Mikio Murata.
sei auch nicht so deutlich perivaskulär. Auch die anderen Beobachtungen von
Borst zeigen eine ganz außerordentliche Genauigkeit und richtige Beob-
achtung. Er schreibt nämlich: ‚Manchmal beobachtete ich im Rückenmark
in der nächsten Umgebung von richtigen sklerotischen Plaques ähnliche Ver-
änderungen, wie in den eben beschriebenen perivaskulären Herden.“
Sehr wesentlich ist, daß er ausdrücklich betont, daß er dem Moment der
Lymphstauung nur eine sekundäre Stellung in bezug auf die Pathogenese der
multiplen Sklerose einräumt. Allerdings nimmt er an, daß die wichtigen und
primären Vorgänge sich in den Blutbahnen abspielen und daß auch die Stau-
ung der Lymphzirkulation von primären Veränderungen am Blutgefäßapparat
abhängt.
Es ist nun bemerkenswert, daß alle, die über die multiple Sklerose be-
richten, diese Borstschen Angaben erwähnen, ohne jedoch weiter auf ihre
Bedeutung für den Prozeß einzugehen. Am auffallendsten ist dies in der
letzten zusammmenfassenden Bearbeitung durch Steiner, der, wie in vielem
anderen, die Frage der Histopathogenese der multiplen Sklerose lediglich auf-
wirft, ohne sich zu bemühen, durch genauere Untersuchungen eine Klärung
herbeizuführen.
Es erscheint mir nur möglich, durch Beibringung neuer Befunde und
Untersuchungen eines größeren Materials einer solchen Frage eine sichere
Basis zu geben und ich habe deshalb im folgenden 26 Fälle von multipler
Sklerose aus den Sammlungen des Neurologischen Institutes auf die Borst-
schen Angaben untersucht und will im folgenden kurz die erzielten Befunde
anführen.
Fall 2100.
fn einer Partie mit schwerster Sklerose, wo nur die ventralsten Abschnitte
erhalten geblieben sind, lassen sich nur die breiten Gliasepten und die peri-
vaskuläre Gliose erkennen. An einzelnen Stellen geht diese Glia in die Umgebung
der Gefäße und bildet einen Herd aus dicken Gliabalken, in dem noch einzelne Nerven-
fasern intakt sind, die Mehrzahl aber ausgefallen ist. Ganz analoge Herde sieht man
in direktem Anschluß an einen sklerotischen Plaque. Es ist keine scharfe Abgrenzung,
sondern es sind breite Brücken und Balken mit einzelnen intakten Markfasern und
deutlich intakten Achsenzylindern wahrzunehmen.
In einem anderen Abschnitt des Rückenmarks des gleichen Falles sieht man neben
typisch sklerotischen Herden, die scharfe Grenzen zeigen, besonders im Seitenstrang
außerhalb des Pyramidenareales, eine Sklerose, die der sekundären gleicht, daneben
wiederum ein Plaque, der scharfrandig ist. In dem Gebiet der sklerotischen Partie,
die der sekundären ähnlieh ist, zeigen sich die Gefäße wiederum von breiten Mänteln
von Glia umgeben, aber auch die Septen sind sehr dick. An einzelnen Gefäßen kann
man schen, wie die Sklerose perivaskulär am stärksten ist. Es sieht fast aus, als
wenn diese perivaskulären Herde zusammenfließen und so ein größeres Areal be-
decken würden. Auch hier finden sich wiederum im sklerotischen Gewebe Partien,
die einer Erweichung entsprechen, ohne daß irgend welche Zeichen von Fett-
körnchenzellen nachzuweisen wären. In einem Abschnitt, der keinerlei Herde erkennen
läßt, kann man keine perivaskuläre Degeneration nachweisen, aber die perivasku-
liren Gliamäntel und die Septen sind dichter als normal. Auffallend ist trotz der
mächtigen Sklerose, daß die Medulla oblongata eigentlich die Gliamäntel um die Ge-
[Be kaum erkennen läßt und daß eine perivaskuläre Desintegration hier nicht nach-
weisbar ist. Auch die Septen sind keinesfalls im gleichen Sinne wie im Rückenmark
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 213
verändert. Ganz besonders zart sind die Gefäße in der Hirnrinde. Ein leichtes Ödem
ist wohl an ihnen zu sehen. Unter der Randglia des Seitenstranges dagegen sieht
man deutlich perivaskuläre Desintegration an Gefäßen, die gleichzeitig eine leichte
Infiltration aufweisen. Das Gewebe um die Gefäße erscheint aufgelockert und in ein
Netzwerk von Glia aufgelöst (Abb. 1). Axone sind schwer nachzuweisen, aber doch
selbst sehr feine kenntlich. Dagegen fehlen, wenigstens im Gewebe, Körnchenzellen.
In den übrigen Rindenpartien besteht nur Ödem.
Fall 1724.
Am üÜbergange vom Vorder- zum Hinterhorn findet sich um eine Ar-
teriole eine umschriebene Aufhellung. Sie charakterisiert sich in allererster Linie
dadurch, daß die Grundsubstanz ihre Dichte verloren hat und ein netzig-fädiges Gerüst
bildet, mit deutlichen Maschenräumen. Die Gliakerne sind deutlich sichtbar. Am
Markscheidenpräparat sieht man auch deutlich Markscheiden, von denen aber ein
Teil auffallend hell ist und Abblassung, rosenkranzförmige Auftreibungen, auch
Abb. 1. Auflockerung der Glia um die Gefäße.
Ringbildungen zeigt. Dieser Herd ist um das Gefäß herum allseits gleich breit und
zeigt einen allmählichen Übergang in das Normale. Andeutungen ähnlicher peri-
vaskulärer Desintegrationen sind in der Nähe eines derartigen Herdes. Aber an ein-
zelnen Gefäßen sieht man in der weißen Substanz einen dicken Gliaring außerhalb
der Adventitia. Neben diesem Herd im Vorderhorn findet sich eine typische Skle
rose, welche das ganze Kommissurengebiet, die Hälfte des kontralateralen Vorder-
horns, das Zwischenstück und die Basis des Hinterhorns einnimmt. In dieser Skle-
rose findet sich ein Gefäß, das von einem kaum gefärbten Netzwerk umgeben ist
und das einen deutlichen Zerfall aufweist. Es zeigt sich allenthalben am Querschnitt
eine eigentümliche Gefäßdegeneration im Sinne einer Homogenisation und Verdickung
der Wand. Auch in einem anderen Segment des gleichen Falles zeigt sich ein Gefäß
mit einem perivaskulären lichteren Bezirk, das aber bereits sklerotisch ist, so daß
es den Anschein erweckt, als ob das erkrankte Gewebe eine sekundäre Sklerose er-
fahren hätte. Auch hier zeigt sich ein typisch sklerotischer Herd im Zentrum der
grauen Substanz. In einem weiteren Segment tritt in dem sklerotischen Plaque ein
eigentümlich areolärer Herd auf, der aber nicht den Eindruck macht, als ob es sich
um ein Frühstadium der Sklerose handeln würde, sondern um einen sekundär dege-
214 Prof. Dr. Mikio Murata.
nerativen Zustand, da auch hier überall erkrankte Gefäße im Zentrum nachzuweisen
sind. Das Lumen der Gefäße erscheint offen. Es ist nur eine vollständige Verklebung
der perivaskulären Lymphräume hier vorhanden mit dichten Gliaringen um einzelne
Gefäße.
Fall 2045.
Typische multiple Sklerose. Neben den sklerotischen Herden, die ganz alt
sind, finden sich im Seitenstrang die Gefäße ebenfalls von dicken Gliaringen um-
säumt, die untereinander konfluieren, so daß der Seitenstrang durch ein System von
Abb. 2. Perivaskuläre Sklerose neben sekundärer Sklerose {Fall 1880).
Strängen durchsetzt ist. Dieses Verhalten findet sich nicht im gesamten Seitenstrang,
sondern nur in einzelnen Partien, obwohl auch in den anderen Strängen eine An-
deutung davon nachzuweisen ist.
In diesem Fall ist die Sklerose besonders intensiv. Da zeigt sich, daß manch-
mal am Übergang vom sklerotischen in das normale Gewebe solche perivaskuläre
Stränge zu sehen sind. Natürlich muß man diese differenzieren von Strängen um
die Gefäße eventuell in Gebieten mit sekundärer Degeneration. Aber hier kommt
das kaum in Frage, da die Gefäßstränge in den verschiedenartigsten Gebieten anzu-
treffen sind.
Fall 1880.
Alte Sklerose. An einzelnen Stellen noch frischerer Zerfall. Im Vorderseiten-
strang der einen Seite findet sich eine perivaskuläre dichte Sklerose. Im Hinter-
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 215
strang ist der Herd unscharf, ähnlich einem sekundär-sklerotischen| aber wesent-
lich dichter als ein solcher. Diese im Lendenmark befindliche Veränderung ist
auch im Halsmark noch deutlich zu sehen. Hier ist im Hinterstrang der einen Seite
ein auffallend scharfer perivaskulärer sklerotischer Herd sichtbar, mit einer dichten
Gliawucherung, so daß eigentlich nichts mehr von einer Desintegration wahrzu-
nehmen ist (Abb. 2). Man sieht deutlich Gliazellen, aber keine Axone und auch keine
Markfasern. Ein ähnlicher, nicht so weit vorgeschrittener Herd findet sich in der vor-
deren Kommissur der gleichen Seite. In einem Gieson-Präparat, das die Achsen-
zylinder deutlicher erkennen läßt, vermag man in dieser perivaskulären Sklerose,
Abb. 3. Fall 1880. Hirnrinde. Perivaskuläre Sklerosen.
allerdings nur am Rande, Axone zu erkennen. Auffallend schön sieht man diesen
Herd im Gehirn, und zwar im Markstrahl einer Windung, in dessen Nähe ein echter
sklerotischer Herd, diesmal auch perivaskulär, zu finden ist. Auch in anderen Partien
des Gehirns sieht man diesen perivaskulären Gliaring. Es erscheint nicht unmöglich,
daß einzelne von ihnen eine Konfluenz aufweisen und dann zu einem größeren
nahezu klassisch sklerotischen Herd führen. Dieses Verhalten findet sich an den
verschiedensten Stellen des Gehirns, aber keineswegs an allen Gefäßen. Es kann
z. B. in der Mitte ein Gefäß eine Desintegration zeigen und an den Rändern sind
die Gefäße normal. Auch in anderen Partien der Hirnrinde zeigen sich größere Inseln
solcher perivaskulärer Desintegrationen, die sekundär sklerotisch sind (Abb. 3). Auch
bei den vollständigen Sklerosen kann man gelegentlich ein Gefäß in der Sklerose
wahrnehmen. Das gilt für die Medulla oblongata und auch für das Kleinhirn.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 15
216 Prof. Dr. Mikio Murata.
Fall 2091.
Hier handelt es sich um mehr akute Herde noch ohne Sklerose, obwohl auch
an einzelnen Stellen eine solche zu finden ist. Das entzündliche Moment tritt etwas
deutlicher in Erscheinung. Eine Gefäßgebundenheit ist schwer nachzuweisen. Nur
an einer einzigen Stelle läßt sich eine perivaskuläre Desintegration erkennen. Im
Kleinhirn ist die Sklerose schon dichter. Aber auch hier sind die entzündlichen Er-
scheinungen noch sehr ausgesprochen.
Fall 1738.
Sehr alte Sklerose mit sekundärer Schrumpfung des ganzen Querschnittes. Im
Dorsalmark sieht man besonders im Hinterstrang sehr schön die perivaskulären skle-
rotischen Herde. Besonders an einer Stelle im Septum ist ein Gefäß von einem
Abb. 4. Fall 1738.
mächtigen Gliaring umschlossen (Abb. 4). Auch hier sind die Septen allenthalben sehr
verbreitert. In diesen Querschnitten ist nur ein ganz minimaler sklerotischer Plaque
wahrzunelimen. Auch in den Gebieten, wo die sklerotischen Plaques dichter sind,
im Vorderseitenstrang, Vorderhorn, Zwischenzone und Kommissurengebiet sieht man
in den Hintersträngen diese eigentümliche perivaskuläre Sklerose und Verdichtung
der Septen. Verfolgt man diese Schnitte, so kommt man dann schließlich auf einen
rein sklerotischen Herd, so daß also dieses sekundär-sklerotische Gebiet als Über-
gangsgebiet dieser reinen Sklerose zu gelten hat.
Fall 1739.
Auch hier handelt es sich um eine sehr alte multiple Sklerose mit vollständig
sklerotischen Partien, von denen sogar einzelne Zerfallserscheinungen sekundärer
Natur aufweisen. Nun kann man an den nicht ergriffenen Seitensträngen zwei Arten
von Veränderungen wahrnehmen. Die eine betrifft eine Verbreiterung der gliösen
Rindenschicht und eine ebensolche der Septen. Um einzelne der sonst offenen Ge-
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 217
fäße, die einen dicken Gliaring zeigen, sieht man den allerersten Beginn des-
integrativer Veränderungen. Sie reichen sehr wenig weit in die Umgebung und
lassen zwischen den zugrunde gegangenen noch einzelne Fasern auch im Weigert-
Präparat intakt erscheinen. Außer einem Gliaretikulum in den bereits zerstörten
Gebieten läßt sich in diesen Partien nichts erkennen, was auf einen forcierten Abbau
hinweisen würde. Vor allem fehlen die Körnchenzellen.
Fall 2099.
Typische Sklerose besonders in den Hintersträngen und im Seitenstrang, stellen-
weise schon vollständig dicht, stellenweise noch mit Fettkörnchenzellen. Hier be-
ginnt erst, und zwar im Hinterstrang, die perivaskuläre Glia dichter zu werden
Abb. 5. Septenverdichtung und perivaskuläre Degeneration (Fall 2099).
und ebenso die Septen. Ein desintegrativer Zustand ist nur an einem (Querschnitt
im Seitenstrang, und zwar in der Nähe eines die gesamte graue Substanz und die
Hinterstränge okkupierenden alten Herdes nachzuweisen (Abb. 5). Es ist auffällig, daß
trotz der vollständigen Zerstörung der grauen Substanz im Gebiete der Clarkeschen
Säulen des Tractus spino cerebellaris dorsalis intakt erscheint, während ventral davon
ein schmaler Streifen alle Charaktere der sekundären Sklerose zeigt mit perivaskulär
stärkerer Betonung.
Fall 2079.
Alte multiple Sklerose mit vielen Herden im Gehirn. Hier ist besonders deut-
lich der diskontinuierliche Markzerfall zu sehen, ohne daß man in der Nähe ein
Gefäß wahrnimmt. Eine genaue Untersuchung der Gefäße zeigt, daß dieselben voll-
ständig normal sind. In der Nähe eines kleinen Herdes im Kleinhirn sieht man ein
Gefäß mit deutlichen Wandinfiltrationen, umgeben von einem Hof sklerotischen Ge-
webes und nach außen davon schwerste Desintegration.
218 Prof. Dr. Mikio Murata.
Fall 2079.
Hier fehlen diese Erscheinungen trotz bestehender alter Sklerose.
Fall 1654.
In dem herdfreien I,umbalsegment sieht man nur perivaskulär und in den
Septen eine Gliaverdichtung.
Fall 1793.
Dieser Fall ist ein akuter mit zahlreichen Herden. Hier sind die Septen noch
sehr zart. Perivaskulär sieht man an einer Stelle, wo kein Herd ist, auch keinerlei
auffallende Gefäßveränderung. In einem Gebiet, wo die ganze Peripherie inklusive des
Sulcusgebietes in eine Sklerose umgewandelt ist, kann man gleichfalls keine irgend-
wie nennenswerte perivaskulär sklerotische Veränderung wahrnehmen. Auch die
Septen zeigen keine auffällige Verbreiterung. Um die Medulla sind ausgedehnte Herde
vorhanden, wiederum zumeist in der Peripherie gelegen, aber das Gefäßgebiet der
intakten Partien zeigt nirgends eine Schädigung. Auch hier sind die Septen sehr
zart. Es läßt sich dieses Verhalten trotz der Unzahl von Herden, die in diesem Fall
zu sehen sind, bis in den Cortex cerebri verfolgen, so daß also dieser Fall absolut
negativ ist.
Fall 1944.
Hier ist die Sklerose hauptsächlich im Vierhügelgebiet und in den sich oral
anschließenden Abschnitten nachzuweisen. Während in den Plaques die Gefäße be-
sonders dickwandig sind, läßt sich in der Umgebung der Plaques dieses Verhalten
nicht nachweisen. Die Gefäßwände sind normal, eine perivaskuläre Gliose ist nicht
vorhanden. Auch die Septen treten hier nicht sonderlich stark hervor. Der Fall
ist auch dadurch charakterisiert, daß die Herde hier absolut keine Gefäßgebundenheit
erkennen lassen, sondern sich typisch diskontinuierlich entwickeln. Das läßt sich
auch in das Gebiet des Linsenkerns hinein verfolgen, so daß also hier trotz aus-
gedehnter alter Sklerose die Gefäße verhältnismäßig zart sind und eine perivasku-
läre Desintegralion vollständig vermißt wird.
Fall 1901. Alte Sklerose. Die Septen sind eine Spur breiter als normal, die
Gefäßwände etwas verbreitert, aber von einer perivaskulären Gliose oder Desinte-
gration ist auch hier nicht die Rede. Auch hier zeigt die Sklerose keine Gefäß-
gebundenheit. Auch in der Brücke findet sich nichts, was auf eine Gefäßschädigung
hinwiese, ebensowenig wie in der Medulla oblongata, wo die Herde besonders inten-
siv sind. Auch im Großhirn finden sich hier, und zwar in der Hirnrinde selbst, Herde,
ohne daß eine Gefäßgebundenheit oder Gefäßveränderung nachzuweisen wäre.
Fall 1772.
Akute multiple Sklerose mit typischen Herden an den verschiedensten Stellen
des Rückenmarks und Gehirns. Der Fall hat im ganzen über ein Jahr bestanden. Hier
findet sich in den Hintersträngen eine besondere Verdichtung der Gliasepten und auch
perivaskulär eine Verdichtung des Gliarings (Abb. 6). Es ist auffällig, daß gerade die
Kapillaren solche perivaskuläre Gliaverdichlungen zeigen. Man sieht auch dort, wo
diese Verdichtung besonders intensiv ist, Faserlichtungen, ohne daß diese aber eine
besondere Intensität erreichen würden. Dies zeigt sich in einem Gebiet, das frei ist
von einem größeren Herd. Aber auch dort. wo solche größere Herde vorhanden sind,
läßt sich diese perivaskuläre Verdichtung im Rückenmark zeigen. Es hat fast den
Anschein, als ob es sich hier um eine sekundäre, wenn auch sehr geringfügige De-
generation einzelner Hinterstränge handeln würde, denn in der Medulla oblongata,
wo diese sekundäre Degeneration fehlt, aber ausgedehnte Herde von diskontinuier-
lichem Markzerfall vorhanden sind, kann man eine solche Gefäßveränderung nicht
wahrnehmen, ebensowenig wie im Gehirn. Hier sind die perivaskulären Räume nur
erweitert, wie wenn ein Ödem vorhanden wäre. An einzelnen Stellen jedoch sieht man
eine sich perivaskulär entwiekelnde ganz minimale Sklerose, wobei das Gefäß im
Zentrum liegt.
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 219
Fall 1716.
Sehr alte Sklerose mit Schrumpfung des Rückenmarks. In einer Partie, wo nur
einige Randabschnitte sklerotisch sind, zeigt sich im Pyramidengebiet eine Auf-
hellung, die wohl nur als sekundäre Degeneration zu deuten ist. Trotzdem zeigen
die Gefäße keine auffällige Wandveränderung, vor allem keine perivaskuläre Des-
integrationen. Nur die Gliasepten sind etwas dichter. In einem anderen Abschnitt
des gleichen Falles mit mächtigen Plaques zeigt sich im Gebiet des Vorderseiten-
strangs eine Sklerose, die über das Maß der sekundären hinausgeht, aber nicht die
Abb. 6. Fall 1772. Sklerose der Gliasepten.
Intensität eines Plaques erreicht. Hier zeigen die Gefäße neben Wandverdickung auch
diese eigenartige perivaskuläre Gliose, aber auch nicht in besonders exzessiver Weise.
Die Medulla oblongata erscheint in ihren kaudalen Abschnitten ziemlich frei, zeigt
keinerlei Veränderungen. Dagegen haben wir in den kaudalen Brückengebieten Par-
tien, welche eine Reihe von typischen Herden von diskontinuierlichem Zerfall zeigen.
Hier zeigt sich die Mehrzahl der Gefäße intakt. Aber ein einziges Gefäß läßt auch
hier einen Gliamantel erkennen, der ziemlich breit ist, ohne daß in der Umgebung
eine Desintegration wahrzunehmen wäre. Andere Plaques lassen ein Gleiches nicht
erkennen. Es zeigen sich hier die Gefäße z. B. ganz am Rande, während der Plaque
eine ziemliche Intensität erreicht. Mittel- und Zwischenhirn zeigen gleiche Herde.
Die Gefäße sind zart. Ähnliches wie in der Brücke ist nicht zu sehen.
220 Prof. Dr. Mikio Murata.
Fall 1782.
Trotz alter Sklerose keine Spur einer Gefäßveränderung.
Fall 1730.
Alte Sklerose mit Schrumpfung der Glia. Neben einem schwer sklerotischen
Plaque sind hier Randaufhellungen und Verbreiterung der Septen in den Hintersträngen
deutlich. Auch die Gefäße zeigen eine Verdichtung der perivaskulären Glia, ohne daß
eine besondere Aufhellung hier zu beobachten wäre. Auch hier sind Herde von mehr
sekundär sklerotischem Charakter neben typischen Plaques. Sieht man nun diese
ersteren Herde an, so zeigt sich neben der Verbreiterung der Septen typisch der
Gliaring um die Gefäße und perivaskuläre deutliche Faserverarmung. Auch hier ist
wieder das Auffallende, daß die Medulla oblongata diese im Rückenmark so deut-
lichen Veränderungen nicht erkennen läßt. Hier finden sich mächtige Herde in den
Stammganglien, ohne daß die Gefäße in der Umgebung oder die Gliasepten gelitten
hätten. Auch in der Rinde zeigen sich Herde und auch hier sind die Gefäße auf-
fallend zart.
Fall 2151.
Alte multiple Sklerose mit Schrumpfungen im Rückenmark. Die Herde sind voll-
ständig gereinigt, gehören der Gruppe des typisch diskontinuierlichen Zerfalls an. In
der Umgebung des Hinterstrangsherdes, aber nur ventral davon, sieht man deutlich
Verbreiterung der Septen und der perivaskulären Glia, ferner einen Zustand von
Markschwund, der an sekundäre Degeneration erinnert. Auffälligerweise ist das nur
an einer Stelle in den Hintersträngen sowie im Seitenstrang jener Partie, die an
den Hinterstrangsherd grenzt, zu sehen. Sonst sind zwar die Septen deutlich mar-
kiert, aber nicht übermäßig entwickelt.
Ein anderes Segment des gleichen Falles mit mächtigem Herd im Hinterstrang
zeigt ein Gleiches. Auch hier ist der Vorderstrang und Vorderseitenstrang verhältnis-
mäßig normal, nur im Hinterseitenstrang und in den ventralen Partien des Hinter-
strangs sieht man die eben geschilderten Veränderungen.
In einem Segment, das keinerlei sklerotische Erscheinungen zeigt, sieht man
das Fehlen der sekundären Degenerationen. Im Zervikalmark zeigt sich ein Gleiches,
d. h. Vorder- und Seitenstrang zeigen hier, soweit keine Herde vorhanden sind, nor-
male Bilder. Auch im Hinterstrang ist das Bild normal, nur in der allernächsten
Umgebung des Herdes zeigt sich ein kleines Gebiet verändert im Sinne der Verbreite-
rung der Gliamaschen und der perivaskulären Gliaverdichtung.
Ein anderes Präparat aus dem Zervikalmark zeigt auch hier gegen Ende des
Herdes im Hinterstrang deutlich die geschilderten Veränderungen, die sogar an In-
tensität etwas gewonnen haben.
In diesem Fall kann man sehen, daß die Herde gelegentlich von einer Zone
begleitet werden, die am ehesten mit einer Sekundärsklerose zu vergleichen ist und
die ganz allmählich in ein normales Gewebe hinüberleitet. Es ist nicht ohne Inter-
esse, daß diese sekundäre Sklerose ganz unregelmäßig ist, indem um manche Ge-
fäße herum stärkere Gliawucherungen festzustellen sind wie um andere.
Fall 1639.
Hier erscheinen im Dorsalmark beide Pyramidenbahnen degeneriert und eine
Randdegeneration, die den ganzen Seiten- und Vorderstrang betrifft. Die Hinterstränge
sind frei, zeigen aber etwas breitere Septen, die auch sonst zu konstatieren sind.
Faserausfälle sind nirgends zu sehen.
In einer anderen Partie des Dorsalmarks fehlt der größere Teil des Marks. Es
ist eine sehr alte, durch diskontinuierlichen Markzerfall herbeigeführte Sklerose.
Auch das Lendenmark zeigt keine Veränderung gegenüber den anderen Partien,
so daß es sich hier offenbar um eine echte Degeneration handelt, und zwar in den
Pyramidensträngen, die zum Unterschied von den im vorgeschilderten Fall beschrie-
benen Veränderungen ein mehr gleichmäßiges Aussehen der sklerotischen Partien
aufweist.
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 221
Fall 2014.
Sehr alte Sklerose mit disseminierten Herden im Rückenmark. In der Hals-
anschwellung der beiden Seitenstränge und nahezu der ganzen Hinterstränge skle-
rotischh nur die Vorderstränge sind verhältnismäßig intakt. Hier zeigt sich eine
Verbreiterung der Septen und der perivaskulären Glia, stellenweise auch mit Mark-
ausfällen.
Eine andere Partie des Halsmarks zeigt in den Hintersträngen einzelne intakte
Gebiete ohne jede Veränderung gegenüber der Norm. Nur im Vorderstrang, nahe
dem Septum, sind die den sekundären Gebieten gleichenden Gebiete deutlich.
Im Dorsalmark ist fast das ganze Rückenmark sklerotisch. Dort, wo noch ein-
zelne normale Partien sind, sieht man breite Gliabalken, die das Gewebe durch-
setzen. Gleichzeitig bemerkt man eine mehr diffuse Aufhellung des ganzen Gewebes.
Erst im Lendenmark tritt dann die weiße Substanz deutlich hervor, auffallender-
weise ohne daß die Septen eine besondere Verbreiterung, ebensowenig wie die Glia
um die Gefäße erfahren hätten. Hier ist allerdings nur in einem Seitenstrang ein Herd.
Im Sakralmark zieht sich auch dieser Herd zurück und bis auf eine mäßige
Verbreiterung der Septen und der perivaskulären Glia ist eigentlich das Gewebe normal.
Fall 2015.
In einem Fall von multipler Sklerose, wo nur der Hirnstaımm zur Verarbeitung
kam, zeigen sich absolut normale Verhältnisse in der Umgebung der Herde. Aller-
dings handelt es sich hier nicht um vollausgebildete Herde, sondern zum Teil um
Markschattenherde. Aber es ist keine wie immer geartete Veränderung in dem Glia-
gewebe der Umgebung, d. h. den Septen bzw. den Gefäßwänden nachzuweisen.
Fall 1773.
Sehr alte Sklerose, typisch diskontinuierlicher Markzerfall. Hier zeigt sich
beiderseits symmetrisch (auch die Sklerose ist symmetrisch} im Anschluß an die
Sklerose in beiden Vordersträngen eine Zone mit starker Verbreiterung der Glia-
balken und Vermehrung der perivaskulären Glia sowie deutliche Ausfälle von Mark-
fasern. Dieses Gebiet ist aber nicht sehr groß, aber es sind die Verbreiterungen, die
bis zur Peripherie reichen, nur beschränkt auf die schon normalerweise vorhandenen
Septen bzw. perivaskuläre Glia. Auch an anderen Stellen, die dem sklerotischen
Prozeß nicht so benachbart sind, im Seitenstrang, finden sich einige Partien gleicher
Genese. Hier kann man kaum von sekundärer Degeneration sprechen, denn das Gebiet
befindet sich an Stellen, wo keine geschlossenen Systeme zu finden sind. Außer-
dem ist die Nachbarschaft, welche die gleichen Systeme enthält, vollständig normal.
Auch in der Partie des Dorsalmarks, die fast vollständig sklerotisch ist, findet sich
— über das Pyramidenareal hinausgehend — eine deutliche Verbreiterung der
Septen und perivaskulären Gliose mit Ausfall von Fasern, beides nicht angeschlossen
an eine Systemdegeneration. Auch der Hinterstrang im Dorsalmark zeigt Ähnliches.
Auffallend dagegen ist der Vergleich mit einem Präparat aus der Mitte des Dorsal-
marks, das keinen sklerotischen Herd enthält. Hier sind wohl die Septen verbreitert,
auch der perivaskuläre Gliaring, aber nur stellenweise kommt es zu wenig auffallenden
Ausfällen. Im oberen Sakralmark, wo wiederum Herde sind, zeigen sich z. B. in
den Vordersträngen keinerlei Verbreiterungen der Septen. In den Hintersträngen ist
das Verhalten ganz verschieden. An einer Stelle z. B. findet sich eine Verbreiterung,
knapp daneben fehlt diese.
Fall 1971.
Typische diskontinuierliche Sklerose mit verschieden großen Herden. Alter Fall,
aber mit akuten Nachschüben. Hier zeigt sich hauptsächlich im Seitenstrang im An-
schluß an den Herd, ohne Rücksicht auf Fasersysteme, nur auf einer Seite eine Ver-
breiterung der Septen und eine Verbreiterung der perivaskulären Glia. Es ist auf-
fallend, daß in den Gebieten, in denen scheinbar kein wie immer gearteter Prozeß
vorliegt, diese Verbreiterung fehlt. Besonders exzessiv ist sie im Anschluß an einen
222 Prof. Dr. Mikio Murata.
kleinen Herd im Hinterstrang des Dorsalmarks. Anschließend an diesen Herd, in
den ein Gefäß aus dem Septum dorsale mündet, sieht man nämlich deutlich peri-
vaskuläre Degeneration in der Umgebung. Trotzdem der Herd selbst scharf abge-
grenzt ist, sind in der Umgebung schwere Ausfälle der Nervenfasern und Gliose der
beschriebenen Art zu sehen. Das Lumbalmark ist vollständig frei.
Fall 1783.
Akute Sklerose. In diesem akuten Fall, der ein jüngeres Individuum betriffi,
sieht man ganz deutlich, daß, abgesehen von Herden, die Randglia des Rückenmarks
und der von dem Rande her sich einsenkenden Gefäße deutliche Gliavermehrung
zeigen. Später entwickeln sich dann von diesem Rand her typische Herde mit dis-
kontinuierlichem Zerfall der Septen, die an sich etwas verbreitert, aber keinesfalls
so wie in den früheren Fällen sind. Das gilt für das gesamte Rückenmark.
Fall 1886.
Alte Sklerose. Hier sind die Herde tatsächlich ganz typisch wie mit dem
Locheisen ausgestanzt. Man kann auch hier wieder deutlich sehen, daß eine breite
Zone an den scharf begrenzten Herd nicht überall eine starke Verbreiterung der
Gliasepten und der perivaskulären Glia zeigt, wobei das Gebiet den Charakter einer
schweren sekundären Gliose vortäuscht. Auch hier läßt sich nachweisen, daß von
einer sekundären Degeneration nicht die Rede ist. Es ist auch nicht der Ausdruck
des Lückenfeldes, der an anderer Stelle sichtbar ist, sondern es handelt sich hier
um eine der sekundären Sklerose nahestehende, mehr diffuse Gliawucherung, die
sich in diesem Fall lediglich im Anschluß an schwere Herde entwickelt. Auffallend
ist, daß z. B. in den Hintersträngen keine Spur einer solchen Sklerose sichtbar ist,
daß auch nicht überall, wo ein schwerer Herd ist, derartiges nachzuweisen ist. Da-
gegen zeigen beide Vorderstränge ohne Herde an den Rändern diese Veränderungen.
Fall 1883.
Alte Sklerose, typischer diskontinuierlicher Markzerfall. Hier gilt ein Gleiches
wie für den eben geschilderten Fall. Man kann auch hier an einzelnen Stellen das
Bild einer schweren sekundären Sklerose sehen, besonders dort, wo solche Herde
an alte Sklerosen grenzen.
Überblickt man die entsprechenden Befunde in dem vorliegenden Mate-
rial, so kann man von vornherein eine vollständige Übereinstimmung mit
den Angaben von Borst feststellen. Der Prozeß entwickelt sich an ganz ver-
schiedenen Stellen, ganz in der Weise, wie Borst es angegeben hat, d. h. es
kann zum Verschluß der meningealen Lymphräume kommen. Dann sieht man
eine Art sekundärer Randsklerose, die sich vom Rande her nach innen zu
vorschiebt. und zwar besonders gern im Gebiet des Sulcus longitudinalis
ventralis. Aber auch die Hinterstränge zeigen, wenn keine Spur von Sklerose
in der Umgebung ist und das umgebende Gewebe keine wie immer geartete
Reizung erkennen läßt, gelegentlich vom Septum longitudinale dorsale aus-
gehend. typisch perivaskuläre Desintegrationsherde. Diese Herde gehen meist
nicht über das Gebiet des Gollschen Strangs hinaus. Obwohl sie viel Ähn-
lichkeit haben mit der sekundären Degeneration besonders dadurch, daß die
Gliasepten verbreitert erscheinen und die Gefäße von einem Gliaring einge-
scheidet sind, kann man ganz genau erkennen, daß es sich bei diesen Herden
vorwiegend um perivaskuläre Desintegrationen handelt, mit Gliawucherung,
wobei allerdings nur an einzelnen Stellen auch die Intaktheit des Achsen-
zylinders nachgewiesen werden kann. Man kann gelegentlich Zweifel hegen,
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 223
ob es sich bei diesen Prozessen nicht um sekundäre Degeneration handelt.
Aber man kann diese Zweifel sofort bannen, wenn man die Herde in ihrer
Ausdehnung betrachtet. Da zeigt sich, daß sie entweder über das Areal eines
Systems hinausgehen oder aber nur einen Ausschnitt aus einem System
erkennen lassen. Bei der sekundären Degeneration ist das Gliabild und das
Gefäßbild wohl sehr ähnlich. Aber hier ist das System in toto getroffen und
die Degeneration ist eine mehr diffuse, nicht perivaskuläre. Diese Unterschiede
sind, wenn man eine Reihe solcher Fälle durchmustert hat, nicht verkennbar.
Man muß Borst gleichfalls zustimmen, wenn er angibt, daß solche
Herde sich manchmal im Anschluß an eine typische Sklerose entwickeln,
d. h. daß von der Sklerose aus gleichsam ein allmähliches Abklingen des
Prozesses im Sinne dieser perivaskulären Desintegrationen erfolgt. Und nun
ist er sehr interessant, zu sehen, daß der sklerotische Herd z. B. beide Hinter-
stränge und Hinterseitenstränge einnimmt und nur an einer ganz kleinen
Stelle ein kleines, unscharf begrenztes Areal mit perivaskulären Desintegra-
tionen erkennen läßt. Es gibt also Fälle von multipler Sklerose, bei denen
der in Rede stehende Prozeß nicht nur vom Rande her beginnt oder von den
größeren Gefäßen des Septum, sondern auch vom sklerotischen Herd selbst.
Nun kann es vorkommen, daß das einemal in einem solchen Herd die Glia
sehr verdichtet ist und offenbar eine stärkere Wucherung zeigt als in anderen
Fällen, das anderemal, daß perivaskulär ein Herd entsteht, der deutlich durch
seine eigenartige Ringform seine Entstehung aus der perivaskulären Desinte-
gration erkennen läßt. Wir können also konstatieren, daß auch sklerotische
Herde in der multiplen Sklerose sich aus solchen perivaskulären Desintegra-
tionen entwickeln können. Doch das ist ein ziemlich seltenes Vorkommen.
Ich hatte Gelegenheit, sowohl akute als auch chronische Fälle zu beobachten
und konnte sehen, daß sowohl in akuten als chronischen Fällen gleiche
Befunde zu erheben waren. Es ist nicht zu leugnen, daß es Fälle gibt, wo
diese Borstschen Herde vollständig fehlen. Aber es gelingt in vielen Fällen
bei Durchmusterung der Serien an einzelnen Stellen solche Veränderungen
darzustellen. Es scheint mir, daß das Rückenmark mehr als das Gehirn zu
solchen Prozessen neigt und daß auffälligerweise der Hirnstamm weniger als
die Rinde betroffen wird. Das spricht doch dafür, daß die meningealen Ver-
wachsungen, wie wir in allen diesen Fällen sehen können, einen großen
Einfluß auf das Entstehen solcher Prozesse haben. Leider war es nicht mög-
lich, in dem vorliegenden Material immer sicher zu konstatieren, was in den
Meningen vorgegangen ist.
Es gelang in einzelnen Fällen den Prozeß auch in seiner Entwicklung
darzustellen. Da kann man ganz analog wie bei den perivaskulären Desinte-
grationen im senilen Gehirn den Zerfall der Markscheide als primäres und
die Gliawucherung als sekundäres Moment sicherstellen. Ich muß gestehen,
daß die Darstellung der Achsenzylinder in diesen Fällen zumeist versagt und
daß es sich dabei vielfach um eine Totaldegeneration handelt.
Ich kann also, vollständig identisch mit Borst, erstens die Tatsache
sicherstellen, daß neben dem echt sklerotischen Prozeß gelegentlich ein zweiter
224 Prof. Dr. Mikio Murata.
Prozeß mit unterläuft, ein Prozeß, den man als perivaskuläre Desintegration
im allgemeinen bezeichnen könnte, um durch den Begriff der Lymphstauung
nicht etwas zu präjudizieren. Dieser Prozeß tritt an verschiedenen Stellen
des Nervensystems auf, wobei eine besondere Abhängigkeit von den Meningen
resp. dem dorsalen Septum festzustellen ist. Aber man kann auch in der Um-
gebung eines echten sklerotischen Herdes derartige Veränderungen nach-
weisen, Veränderungen, die oft eine größere Intensität annehmen und gelegent-
lich sogar eine perivaskuläre, sehr weitgehende Sklerose bedingen. Auf diese
Weise kann ein sklerotischer Plaque entstehen, bei welchem dann im Zentrum
ein Gefäß liegt, so daß der Eindruck eines echten Gefäßherdes hervorgerufen
wird. Bekanntlich ist dies bei den Herden der multiplen Sklerose selbst nicht
der Fall und es ist erstaunlich, daß Steiner von einem diskontinuierlichen
Markzerfall kaum Notiz nimmt, trotzdem dieser bisher wohl allein imstande
ist, die merkwürdigen pathologischen Erscheinungen der multiplen Sklerose
zu erklären.
Es sei nur betont, daß auch bei Annahme eines diskontinuierlichen
Zerfalls selbstverständlich die Noxe über das Gefäß ins Mark geleitet werden
muß. Nur die Art ihres Angriffs wird durch denselben charakterisiert. Gleich
Borst bin auch ich der Meinung, daß die desintegrativen Herde nur eine
Komplikation der multiplen Sklerose sind, nicht aber Ausdruck des Wesens
der Krankheit,
Noch ein paar Worte seien über die Gefäße angefügt. Es ist unendlich
schwer zu entscheiden, ob die Gefäßveränderungen primäre oder sekundäre
sind. Die auffallende Homogenisation der Wand auf der einen Seite, neben
völliger Intaktheit von Gefäßen des gleichen Falles auf der anderen Seite,
spricht mehr dafür, daß ein lokaler Faktor und nicht ein genereller Ursache
der Gefäßschädigung sei. Selbstverständlich sind die Gefäße im Herde damit
nicht gemeint, sondern nur die außerhalb der Herde. Die Intima zeigt gelegent-
lich eine Schwellung, die Media eine Homogenisation und die adventitiellen
Lymphräume sind geschlossen. Die Glia, die perivaskulär das Gefäß umgibt,
ist verdickt und mit der Adventitia verschmolzen. Es erscheint nun möglich,
daß wir hier einen ganz analogen Prozeß vor uns haben, wie bei der Meningo-
Fibrose der multiplen Sklerose im Einwuchern der Glia in die Pia und der
sekundären Verklebung der Lymphräume. Diese Veränderungen zeigten sich
in akuten Fällen analog wie in den chronischen und es wäre nun möglich,
daß der Prozeß der Desintegration nicht etwa darin besteht, daß eine Über-
flutung mit Lymphe die Ursache sei, sondern im Gegenteil eine trophische
Störung infolge verminderter Gefäßdurchlässigkeit. Für letztere spricht der
Umstand, daß man in der Mehrzahl der perivaskulären Herde geronnene
Lymphe nicht nachweisen kann. Ferner läßt der Umstand, daß wir auch
Achsenzylinder nicht oder nur sehr wenig nachzuweisen in der Lage sind,
den Prozeß um die Gefäße gleichfalls mehr als desintegrativen erscheinen.
Dadurch entfernt er sich aber sehr wesentlich von dem der echten multiplen
Sklerose, mit dem er nur eines gemeinsam hat, das ist die starke Wucherung
der (ilia, die über das Maß der bei sekundärer Degeneration vorhandenen
Über die Borstschen perivaskulären Herde der multiplen Sklerose. 225
hinausgeht. Vielleicht erklärt sich auf diese Weise das Zustandekommen
gliöser Plaques um solche Gefäße.
Wie gesagt, ist eine strikte Unterscheidung deshalb schwer möglich,
weil erfahrungsgemäß (refäßveränderungen, wie die vorliegenden, auch sekun-
där aufzutreten pflegen und wir demzufolge nicht sagen können, ob das
Primäre eine Lymphüberflutung im Sinne Borsts ist mit sekundärer Läsion
des perivaskulären Gewebes oder ein desintegrativer Zustand, bedingt durch
Störung der Gefäßtrophik. Für letzteres spricht vieles.
Literatur:
Anton und Wohlwill, Multiple nichteitrige Enzephalitis und multiple Sklerose.
Z. Neur., Bd. 12, S. 31 bis 98, 1912.
Arndt, Ein merkwürdiger Fall von allgemeiner progressiver Paralyse der Irren.
Arch. f. Psych., Bd. 11, S. 724, 1870.
Arndt, Zur pathologischen Anatomie der Zentralorgane des Nervensystems. Über
Granulardesintegration. Virchows Arch., Bd. 64, S. 356, 1875.
Arndt, Über einen eigenartigen anatomischen Befund in dem Zentralnervensystem
eines Geisteskranken. Virchows Arch., Bd. 73, S. 196, 1878.
Borst, Die multiple Sklerose des Zentralnervensystems. Erg. Path., Bd. 91, S. 67,
1903/04.
Buchwald, Über multiple Sklerose des Gehirns und Rückenmarks. Deutsches Arch.
f. klin. Med., Bd. 9, S. 478, 1871.
Köppen, Beitrag zur pathologischen Anatomie und zum klinischen Symptomenkomplex
multipler Gehirnerkrankungen. Arch. f. Psych., Bd. 26, S. 99, 1894.
Steiner, Multiple und diffuse Sklerose. Handb. d. Geisteskrankh., Bd. 11, spezieller
Teil VII.
Wohlwill, Multiple Sklerose (Pathologische Anatomie, Pathogenese, Ätiologie). Z. Neur.
Ref., Bd. 7, S. 849 bis 977, 1913.
Zur Pathologie der tabo-paralytischen Hinterstrangs-
erkrankungen.
Von
Dr. Eric Järpe (Malmö).
Die Studien über die Hinterstrangserkrankungen bei Paralyse sind in
den letzten Jahren eigentlich nicht mehr betrieben worden, weil die älteren
Arbeiten bereits das für diese Frage Wesentliche erbracht haben. Es bedarf
nur eines Hinweises auf die unter Siemerlings Leitung durchgeführte
Arbeit von Naka, um diese Anschauung begreiflich zu finden.
Die Mehrzahl der Autoren steht auf dem Standpunkt, den eigentlich
Schaffer am deutlichsten zum Ausdruck gebracht hat, daß es sich bei der
paralytischen Tabes um einen ganz analogen Vorgang handle wie bei der
echten Tabes. Nur Naka erwähnt, daß in den meisten solcher Fälle eine
leichte diffuse Degeneration in den Hintersträngen vorhanden war, die, wie
er selbst sagt, leicht zu übersehen wäre. Er meint aber trotzdem, daß es
sich dabei um eine sehr.leichte Veränderung in den entsprechenden Wurzeln
handle, so daß also nicht Ausfälle von Wurzelfelldern entstehen, sondern
mehr diffuse Prozesse.
Ich möchte im vorliegenden nur über drei Fälle von Paralyse berichten,
die klinisch tabische Erscheinungen geboten hatten, bei denen man eine
Tabes annahm, die sich aber in bezug auf den pathologisch-anatomischen
Befund ganz verschieden verhalten und nach unserer heutigen Auffassung
imstande sind, die klinischen Erscheinungen aufzuklären.
Ohne weiter auf die ausgedehnte Literatur einzugehen, möchte ich nur
im Sinne von Nissl versuchen, die korrelative Beziehung der klinischen
Erscheinungen mit dem pathologisch-anatomischen Substrat festzustellen.
I. Fall.
Der erste Fall betrifft eine 56 Jahre alte Frau, die im Jahre 1918 (die andere
Anamnese ist belanglos) angeblich eine Hirngrippe überstanden hatte. Im Jahre
1921 traten dann lanzinierende oder rheumatoide Schmerzen in den Beinen auf,
der Gang wird allmählich schlechter, deutlich ataktisch. Schließlich wurde die
Patientin absolut gehunfähig. Incontinentia urinae et alvi. Sie kam dann ins Spital.
Es wurde sowohl der Liquor- als der Blut-Wassermann positiv gefunden. Über die
anderen Reaktionen liegt kein Bericht vor.
Es zeigten sich dann paralytiforme Sprachstörungen, intellektuelle Abschwä-
chung, besonders Störungen im Rechnen, Zittern. sowohl der Zunge als der llände,
aber keine deutlichen Zuckungen. Daneben bestand eine schwere Aortitis mit einem
inkompensierten Vitium und schließlich geht die Patientin an einer Pneumonie zu-
228 Dr. Eric Järpe.
grunde. Fehlende Patellar- und Achillesreflexe, Pupillenstarre auf Licht; auf Kon-
vergenz gute Reaktion, Romberg +.
Die klinische wie die makroskopisch-anatomische Diagnose lautete Tabo-Paralyse.
Wenn wir nun das Rückenmark dieser Patientin untersuchen, so zeigt sich im
Sakralmark eine sehr alte tabische Hinterstrangsveränderung. Man sieht in der Wurzel
kaum mehr ein paar Fasern. Die Wurzeleintrittszone ist beiderseits vollständig dege-
neriert. Auch die Lissauersche Randzone zeigt schwere Ausfälle und nur das
dorso-mediale Sakralbündel und das ventrale Hinterstrangsfeld sind nahezu intakt.
In der Lendenanschwellung zeigen sich an den hinteren Wurzeln einzelne Fasern
intakt, aber der Hinterstrang ist nach wie vor sehr faserarm und nur medial im
Septum ist das intakte Bündel der absteigenden Fasern. Den ventralen Hinterstrang
umsäumend sind intakte Fasern. Auffallend ist die dichte Sklerose.
lm Brustmark zeigt sich, daß im Hinterstrang eine asymmetrisch-radikuläre Dege-
neration vorhanden ist, indem auf einer Seite nicht nur die Wurzeleintrittszone etwas
reicher an Fasern ist, sondern auch ein etwas medial gelegenes Feld. Dagegen sind
die Clarkeschen Säulen vollständig entmarkt.
Im Zervikalmark sehen wir den Burdachschen Strang vollständig intakt, den
Gollschen Strang fast vollständig degeneriert, mit Ausnahme vielleicht der am wei-
testen lateral gelegenen Wurzelbündel.
Es handelt sich also hier um eine typische pluriradikuläre Tabes, die
vorwiegend das Sakral- und Lendenmark betrifft und bis ungefähr zur Mitte
des‘ Dorsalmarks reicht. Demzufolge sehen wir an Ausfallserscheinungen
1. die lanzinierenden Schmerzen in den unteren Extremitäten,
2. den Verlust des Achilles- und des Patellarsehnenreflexes, und
3. die Erscheinungen seitens der Blase und des Mastdarms und — was
am meisten ins Gewicht fällt — die Störungen der Koordination, die schwere
Ataxie, welche die Patientin absolut gehunfähig macht.
Wir haben hier ein Bild vor uns, das vollständig dem entspricht, was
wir bei einer echten Tabes zu sehen gewohnt sind, ein Bild, das ganz auf-
gebaut erscheint auf einer radikulären Degeneration bei relativer Intaktheit
der endogenen Faserung.
U. Fall.
Im zweiten Fall handelt es sich um eine 59 Jahre alte Frau, die im Jahre 1925.
ohne daß sie sich an eine Infektion erinnern konnte, antiluetisch behandelt wurde,
weil sowohl die Blut- als die Liquorreaktion positiv war. Sie hatte damals nichts
als lanzinierende Schmerzen, entrundete differente und träg reagierende Pupillen.
Später gesellte sich ein typisch paralytisches Bild dazu mit typischer Sprachstörung,
intellektuellen Defekten und Gedächtnisstörungen. Eine Rekurrensbehandlung stellte
die Patientin wieder her, aber nieht für lange Zeit. Die Remission hielt ungefähr ein
Jahr an. Dann trat ein schwerer geistiger Verfall ein, so daß es fast unmöglich war,
die Patientin genauer zu untersuchen. Es ließen sich nur die Schmerzen konstatieren,
ferner die Pupillenstörung, die jetzt deutlicher wurde und zu einer nahezu vollstän-
digen Reaktionslosigkeit führte. Daneben aber traten spastische Erscheinungen der
unteren Extremitäten, aber auch der oberen Extremitäten hervor mit Fußklonus und
positivem Babinski. Ob die Inkontinenz auf Kosten der spinalen Affektion zu setzen
ist oder psychisch bedingt war, läßt sich nicht entscheiden. Die Patientin verfiel zu-
sehends und ging an einer Lungenentzündung zugrunde.
Wenn wir nun diesen Fall anatomisch untersuchen, so wurde schon makrosko-
pisch festgestellt, daß hier eine auffallende Miningofibrose im Rückenmark bestand,
daß aber sonst in den Hintersträngen keinerlei Zeichen einer tabischen Veränderung
zu sehen waren. Die Paralyse ist absolut sicher.
Zur Pathologie der tabo-paralytischen Hinterstrangserkrankungen. 229
Wenn man nun die Rückenmarksquerschnitte zunächst makroskopisch betrachtet,
so fällt auf, daß dieselben genau die Form des kindlichen Rückenmarks zeigen, ein
Umstand, auf den R. Stern zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Es handelt sich
also hier offenbar um eine Entwicklungshemmung, was besonders im Dorsalmark in
die Augen fällt.
Beginnen wir wieder im Sakralmark, so zeigen sich hier die Hinterwurzeln voll-
ständig intakt, desgleichen der Hinterstrang. Aber man sieht schon an den Weigert-
Präparaten eine auffallende Meningofibrose, welche die Hinterwurzeln konstringiert.
Auffallend ist, daß keine Randdegeneration vorhanden ist.
Im Hämalaun-Eosinpräparat sieht man diese Meningofibrose besonders stark ent-
wickelt, aber doch so, daß eigentlich eine Einwachsung der Glia in die Pia nicht
statt hat. Es sieht hier aus, als wenn der Subarachnoidealraum von bindegewebigen
Massen erfüllt wäre. Auffallend ist auch die schwere Veränderung der Gefäße, welche
zum Teil verkalkt, zum Teil in ihrer Adventitia ganz homogenisiert erscheinen. Wenn
wir nun hier die einzelnen Segmente genauer ins Auge fassen, so zeigt sich eigent-
lich kaum eine Änderung. Trotz der Konstriktion durch die Meningen sind die Hinter-
wurzeln eigentlich verhältnismäßig intakt. Nur an einzelnen Stellen sieht man ein-
zelne Ausfälle, die aber sehr geringfügig sind, so daß sie nicht in die Waagschale
fallen. An einzelnen Stellen, wo diese Einschnürung ein wenig höhere Grade erreicht,
kann man eine minimale Aufhellung in der Wurzeleintrittszone wahrnehmen, besonders
im Dorsalmark. Doch ist diese Degeneration so geringfügig, daß sie im Zervikalmark
kaum im Gollschen oder Burdachschen Strang in Erscheinung tritt, obwohl der
Gollsche Strang im allgemeinen ein wenig heller erscheint als der Burdachsche
Strang.
In allen Segmenten läßt sich schon im Weigert-Präparat eine schwere Dege-
neration der Pyramidenseitenstränge erkennen, die ja in der auffallenden Spastizität
der Beine und in der exzessiven Steigerung der Sehnenreflexe ihren Ausdruck ge-
funden hat
Entsprechend dem klinischen Bild, das nur sehr wenig tabische Sym-
ptome geboten hat, eigentlich nur Reizerscheinungen, wie die initialen lan-
zinierenden Schmerzen, wenn wir von der Pupillenstörung absehen, zeigt
sich eigentlich hier das, was Naka besonders hervorhebt, nämlich eine
ganz leichte Läsion der Hinterwurzeln, bedingt durch eine auffallende Me-
ningofibrose. Es ist kein Zweifel, daß hier die Konstriktion zur Degeneration
geführt hat, da man genau sehen kann, daß dort, wo die Konstriktion inten-
siver ist, tatsächlich die Wurzel eine Spur Degeneration zeigt, während an
den Stellen, wo diese Konstriktion fehlt, wie im Halsmark, die Wurzeln
vollständig intakt bleiben. So bekommen wir scheinbar eine ganz mäßige
Aufhellung im Gollschen Strang, die kaum hervortritt und nur bei ge-
nauester Untersuchung erkennbar ist. Hervorgehoben sei nochmals die Tat-
sache der infantilen Form des Rückenmarks, die dafür spricht, daß es sich
um ein disponiertes Individuum handelt, da diese Form nicht etwa durch
den Ausfall gewisser Systeme bedingt sein kann.
HI. Fall.
Der dritte Fall betrifft einen 64 Jahre alten Mann, dessen tabische Symptome
eigentlich nur Gürtelschmerzen und gastrische Krisen gewesen sind. Auch dieser
Patient hat wegen paralytischer Erscheinungen zwei Malariakuren durchgemacht und
Salvarsan bekommen. Die Kuren waren erst vor einem Jahr durchgeführt worden,
ohne daß sich in irgend einer Weise eine Änderung iin Status ergeben hätte. Bevor
er noch die paralytischen Erscheinungen hatte, trat eine schwere Ataxie auf sowie
die schon erwähnten Gürtelschmerzen.
230 Dr. Eric Järpe.
Objektiv für Tabes sprechend war eigentlich nur der positive Rhomberg und die
Ataxie, während die Sehnenreflexe sich eher dem paralytischen Bild entsprechend
verhielten und gesteigert waren. Der Patient hatte überdies eine hypästhetische Zone
über der Mamma.
Hier war also die Entwicklung derart, daß die tabischen Erscheinungen primär
aufgetreten waren (lanzinierende Schmerzen, Rhomberg, hypalgetische Zone über der
Mamma), die paralytischen Erscheinungen sich rasch dazugesellten und zu lebhaften
Sehnenreflexen führten. Auffallend in diesem Fall war aber der negative Blut-Wasser-
mann wenigstens im Anfang, der später schwach positiv wurde. Die Magenbeschwer-
den, die der Patient aufwies, wurden als crises gastriques bezeichnet. Diese crises
gastriques wurden später zu crises noires, indem sich eine Hämatemesis hinzugesellte.
Es stellte sich bei der Obduktion heraus, daß neben der sicheren Paralyse eine leichte
Aufhellung in den Hintersträngen nachzuweisen war. Was aber am meisten wunder-
nahm, war ein riesiges Ulkus des Magens, das zu drei Viertel dem Magen, zu einem
Viertel dem Duodenum angehörte und mit schwerer Arrosion einherging. Auch im
Ösophagus und im Duodenum bestanden Ulzera, daneben Mesaortitis luetica und
Pneumonie.
Wir haben also hier neben tabiformen Erscheinungen und einer schweren Paralyse
schwere ulzeröse Veränderungen des Magens, von denen natürlich nicht zu sagen
ist, ob sie nicht tabisch bedingt sind oder ob sie als selbständige Krankheit aufzu-
fassen sind, so daß man die Krisen aus dem tabischen Bild herausnehmen müßte.
Wenn wir nun in diesem Fall das Rückenmark untersuchen, so fällt zunächst
auf, daß auch hier eine mächtige Meningofibrose bestehi, daß aber im Conus termi-
nalis die Fasern verhältnismäßig intakt sind.
Im Lendenmark bemerkt man aber schon, daß die Wurzeln beim Durchtritt durch
die Pia leiden und wir sehen wohl hier in den Hintersträngen eine, wenn auch nicht
sehr deutliche, Aufhellung. Viel deutlicher als der Verlust an Fasern erscheint die
Verbreiterung der Septen und die perivaskuläre Anhäufung von Glia. Wenn auch
in den anderen Strängen des Rückenmarks diese Septen gleichfalls deutlich hervor-
treten, so muß man doch anerkennen, daß dies in den Hintersträngen mehr der Fall
ist. Wenn wir nun in das obere Dorsalmark an die Grenze des Zervikalmarks ge-
langen, dann sieht man deutlich eine Aufhellung, die nicht ganz diffus ist, sondern
im Gollschen Strang paraseptal verläuft, im Burdachschen Strang, ungefähr der
Mitte desselben entsprechend, gelagert ist.
In der Halsanschwellung dagegen erscheint die Degeneration des Hinterstranges
mehr diffus. Man ist nicht in der Lage zu sagen, daß hier eine radikuläre Affektion
vorhanden ist, sondern die Degeneration ist eine diffuse. Nur die Außenteile des
Burdachschen Stranges erweisen sich als vollständig normal.
Hier ist der Zusammenhang Pia und Rückenmark etwas inniger. Man sieht am
Rande eine größere Verbreiterung der gliösen Rindenschicht. Auch die Gefäße zeigen
sich schwer verändert, aber nicht verkalkt.
Wenn wir nun diesen Fall ins Auge fassen, so zeigt sich hier gegen-
über dem zweiten Fall eine intensivere Beteiligung der Hinterstränge im
Sinne einer mehr diffusen Aufhellung, aber eine Beteiligung, die nur an
einzelnen Stellen erkennen läßt, daß ein radikulärer Prozeß Ursache dieser
diffusen Veränderung ist.
Es unterliegt auch hier keinem Zweifel, daß die Meningofibrose, wenn
nicht Anlaß, so doch Ausdruck dieser Schädigung ist, das heißt, daß die
Schädigung der Wurzel dort am stärksten ist, wo die Meningofibrose am
deutlichsten hervortritt.
Wenn wir also diese drei Fälle überblicken, so können wir nur sagen,
daß eigentlich die Fälle im Prinzip gleich, nur daß sie quantitativ ver-
Zur Pathologie der tabo-paralytischen Hinterstrangserkrankungen. 231
schieden sind, indem das eine Mal ein wenig mehr, das andere Mal etwas
weniger von den Hinterwurzeln zerstört wird, wodurch es dann zu einer
mehr oder minder diffusen Degeneration der Hinterstränge, besonders im
Gebiet des Gollschen Stranges kommen kann. Wir entfernen uns infolge-
dessen nicht von den Resultaten der Siemerlingschen Klinik, nur daß
wir imstande waren zu zeigen, daß tatsächlich die hinteren Wurzeln auch
dort, wo es sich um eine mehr diffuse Degeneration handelt, affıziert waren.
Es erhebt sich nun die Frage, ob der erste, der zweite und der dritte
Fall genetisch zusamımengehören oder ob der erste Fall eine typisch tabische
Degeneration ist, während der zweite und dritte Fall eigentlich mehr durch
die Meningofibrose hervorgerufen wurden. Diesbezüglich liegen ja Unter-
suchungen vor, und zwar, um nur eine zu erwähnen, die von Bresowsky.
Er konstatiert zunächst, entgegen Redlich, daß sich in sämtlichen Fällen,
die er untersucht hat, meningeale Veränderungen fanden, besonders Ver-
dickung. Die mächtigsten dieser Verdiekungen sind über den Hintersträngen
zu sehen, ausgenommen die kaudalen Partien. Er faßt diese Verdiekung als
hyperplastische Entzündung auf. Auch die Gefäßveränderung, die ja auch
in meinen Fällen vorhanden war, betont er.
Von Interesse ist seine Feststellung, daß sowohl die beginnende Tabes
als auch die fortgeschrittene Tabes den gleichen meningealen Befund auf-
wiesen. Dagegen ist von größter Wichtigkeit, daß er betont, daß ein Parallelis-
mus der meningealen Veränderung mit den tabischen Veränderungen des
Rückenmarks nicht statt hat. Er glaubt, es handle sich um eine Koinzidenz
einer toxischen Schädigung der Meningen auf der einen Seite, der Wurzeln
auf der andern Seite. Während wir cher bei der Paralyse doch der menin-
gealen Genese der Wurzelaffektion das Wort reden möchten, stehen dieser
Anschauung gewichtige Bedenken gegenüber, wie ich sie eben angeführt habe.
Es hat den Anschein, daß der Prozeß, der die Wurzeldegeneration ver-
anlaßt, über den Liquor an die Wurzel gelangt, also in diesem Falle am
ehesten durch den Subarachnoidealraum. Es wäre nun möglich, daß dieser
Prezeß sich nach zwei Richtungen hin auswirkt: 1. im Sinne einer Degene-
ration der Hinterwurzeln, und 2. im Sinne einer meningealen Reizung. Es
kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß bei so geringer radikulärer De-
generation und bei einer so auffälligen Meningofibrose das toxische Mo-
ment gegenüber dem mechanischen möglicherweise doch zurücktritt und
letzteres besonders bei der Paralyse jene Hinterstrangsveränderungen be-
dingt, die als diffuse in Erscheinung treten, bei denen eine radikuläre Affek-
tion nur nach genauester Untersuchung sicherzustellen ist. 7
Wir werden also bei der Paralyse zwei Formen der tabischen Degene-
ration anerkennen, die vielleicht nur quantitativ voneinander zu unter-
scheiden sind:
1. eine echte pluri-radikuläre Tabes, und
2. eine mehr diffuse Hinterstrangsdegeneration, die auf eine leichte
Schädigung einzelner Wurzeln zu beziehen ist und bei der vielleicht die
Meningofihrose eine Rolle spielt.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. NXXII. Bd., Heft 2. 16
Literatur:
Bresowsky, Über die Veränderungen der Meningen bei Tabes und ihre pathogene
Bedeutung. Arb. a. d. Wiener Neurol. Inst., Bd. 20, S. 1, 1913.
Naka, Rückenmarksbefunde bei progressiver Paralyse und ihre Bedeutung für das
Zustandekommen der reflektorischen Pupillenstarre. Arch. f. Psych., Bd. 40,
S. 900, 1905.
Schaffer, Anatomisch-klinische Vorträge aus dem Gebiete der Nervenpathologie, 1901.
Stern, Beitrag zur Kenntnis der Form und Größe des Rückenmarksquerschnittes. Arb.
a. d. Wiener Neurol. Inst., Bd. 14, S. 329, 1908.
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis.
Von
Dr. Kanichi Ishihara (Taikiyu chosen).
Mit 5 Abbildungen im Text.
Während man sich über die Kerne des N. vestibularis jetzt mehr als
früher im klaren ist und in allererster Linie als Endstätten für Vestibularis-
fasern die drei lateral gelegenen Kerngebiete N. angularis, N. Deiters magno
cellularis und den in der Area fasciculata gelegenen sogenannten ventro-
kaudalen Deitersschen Kern ansieht, weiß man heute, daß der mediale
Kern, den man früher als Hauptendkern des Vestibularis bezeichnete —
der N. triangularis —, wohl auch Fasern vom Vestibularis aufnimmt, aber
Fasern, die eigentlich nicht mehr reinen vestibulären Funktionen dienen,
sondern mehr vegetativen.
Die Untersuchungen Kaplans, die allerdings schon ziemlich weit
zurückliegen, haben bezüglich der Kerne des Vestibularendgebietes eine ge-
wisse Aufklärung gebracht, während die neueren Untersuchungen von
Winkler, besonders dessen schöne Forschungen an Degenerationspräparaten
nach Marchi bezüglich der Fasern eine Reihe wertvoller Beobachtungen
erbringen.
Man kann wohl sagen, daß heute eigentlich feststeht, daß der N. vesti-
bularis drei Teile besitzt. Ich will hier nicht näher auf die Literatur ein-
gehen, da diese von Marburg in seiner Bearbeitung des entsprechenden
(iebietes im Handbuch der Neurologie des Ohres genau angeführt wird. Ich
möchte nur nochmals darauf hinweisen, daß der N. vestibularis aus drei
Teilen besteht: Einen lateralen Teil, der lateral vom C. restiforme, also mit
dem N. cochlearis dorsalwärts zieht und sich im Gebiete des N. angularis
aufsplittert, vielleicht auch einzelne Fasern zum N. triangularis entsendet.
Der zweite Abschnitt liegt medial vom C. restiforme und steigt medial
flankiert von der spinalen Trigeminuswurzel dorsalwärts. Er ist der eigent-
liche N. vestibularis, der sich in einen auf- und einen absteigenden ASI
teilt, welch letzterer in der Area fasciculata ventro-medial gelegen, bis in
die Gegend der Hinterstrangskerne zu verfolgen ist (absteigende Vestibularis:
wurzel). Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß ein großer
Teil dieser absteigenden Fasern sich um den ventro-kaudalen Deitersschen
Kern aufsplittert, während ein zweiter Teil vielleicht für den sogenannten
absteigenden Vestibulariskern bestimmt ist, der nach Godlowski aber als
16°
234 Dr. Kanichi Ishihara.
selbständiger Kern zu gelten hat und in keinem engeren Zusammenhang
mit dem N. triangularis steht.
Der dritte Teil des N. vestibularis wird aus Fasern gebildet, die nach
Kreuzung in der Mittellinie gewöhnlich am Boden der Rautengrube, mitunter
aber auch durch den Triangularis hindurch den N. vestibularis erreichen und
sich an der medialen Seite desselben bis an seine Eintrittsstelle verfolgen
lassen. Wir wissen heute, daß dieser Nerv der motorische Abschnitt des
N. intermedius ist, also eigentlich kein Anteil des Vestibularis.
Eine große Schwierigkeit bereitet die Verfolgung der aufsteigenden
Äste des eigentlichen Vestibularis, weil sie mit zwei Systemen konkurrieren.
Das eine System sind vielleicht sekundäre Fasern aus den Vestibularisend-
kernen zum Kleinhirn — nukleo-zerebellare Fasern. Diese nukleo-zerebellaren
Fasern aber laufen parallel mit den direkten aufsteigenden Fasern aus den
Vestibularisnerven und gleichfalls parallel mit solchen, welche aus dem
N. fastigii in die Medulla oblongata absteigen, also fastigio-bulbäre Fasern.
Es schien mir nun von Interesse einmal vergleichend anatomisch nach-
zusehen, ob es nicht möglich wäre, eine genauere Scheidung der einzelnen
genannten Systeme durchzuführen, weil ja, wie dies schon Winkler be-
merkt, bei den verschiedenen Tieren die Entwicklung des Vestibularissystems
nicht ganz gleichmäßig zu sein scheint.
Es seien zunächst die einzelnen Befunde kurz wiedergegeben.
Orang-Frontalserie.
Der N. vestibularis läßt hier eine laterale Abteilung nur schwer erkennen. Die
intermediäre Abteilung ist sehr mächtig und man kann deutlich sehen, wie eine
Bifurkation der Wurzelfasern statt hat. Am leichtesten lassen sich die Fasern ver-
folgen, die aufsteigen. Und hier ist nun ein sehr merkwürdiges Vaktum hervorzuheben.
Wie man weiß, hat der N. angularis eine ganze Reihe verschiedener Kerngruppen.
Der eigentliche N. angularis liegt bekanntlich ziemlich weit dorsal und ganz medial
am Ventrikel. Lateral davon befindet sich eine Kerngruppe, die von Lewandowsky
beschrieben wurde und gleichfalls dem Angularis zugeschrieben wird. Ventral von
diesen beiden genannten Kernen liegt dann eine zentrale Gruppe nach Kaplan --
der von Onufrowiez beschriebene N. angularis, an den sich ventral der großzellige
Deiterssche Kern anschließt. Außerdem finden sich ventro-lateral, schon nahe dein
Gebiet der Area fasciculata, zwischen dem C. restiforme und der spinalen Trigiminus-
wurzel, Zellen, die Kaplan ebenfalls als Bechterewschen Kern bezeichnet, und
zwar als dessen ventro-aterale Gruppe, wohl identisch mit dem, was Ziehen als
Processus ventralis formationis faseieulatae bezeichnet. Ob diese so weit ventral
vorgeschobene Gruppe noch dem Bechterewschen Kern zuzurechnen ist, erscheint
wohl fraglich. So hätten wir dann also im Bechterewschen Kern, wenn wir
rein topisch vorgehen, eine dorso-neliale, eine dorso-laterale, eine zentrale, eine
ventrale und eine ventro-laterale Gruppe. Wenn wir nun die sicheren Vestibularis-
fasern heim Orang ins Auge fassen, so sehen wir, daß eigentlich die dorso-mediale
Gruppe am wenigsten Fasern enthält, während die laterale und zentrale Gruppe eigent-
lich die Hauptmasse der Fasern aufnehmen. Sicher ziehen Fasern auch in den Tri-
angularis.
Es ist nun von großem Interesse, daß der N. vestibularis in seinen oraleren
Abschnitten dorsal von der spinalen Trigeminuswurzel einen Kern umgreift, der eine
Fortsetzung der spinalen Glossopharyngeuswurzel ist. Man kann nun sehen, wie sich
Fasern des Vestibularis mil Fasern aus dieser Glossopharyngeuswurzel scheinbar ver-
mischen und wie dieser Traetus solitarius von den Vestibularisfasern wie von einer
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 235
Zange eingeschlossen ist. Der mediale Abschnitt dieser Zange entspricht offenbar dem
Teil des N. vestibularis, den wir als Pars medialis dem Intermedius zugerechnet
haben. Der eigentliche Vestibularis aber liegt immer lateral von diesem Herd von
grauer Substanz, der feinste Nervenfasern enthält und an der Spitze der spinalen
Trigeminuswurzel gelegen ist.
Man kann die aufsteigenden Vestibularisfasern von den Tractus nucleo-cere-
bellares und fastigio-bulbären Fasern dadurch unterscheiden, daß sie
1. wesentlich dünner sind, d. h. nicht so dicke Bündel bilden,
2. daß die fastieio-bulbären Fasern ganz medial, die nukleo-zerebellaren ganz
lateral gelegen sind.
Man muB noch hervorheben, daß offenbar diese aufsteigenden Bündel nicht
direkt an die Kerne herantreten, sondern genau wie die absteigenden Querschnitte
bilden, die sich dorsal von der Area fasciculata und ventral von der Spitze des Binde-
arms formieren.
Simia satyrus.
Im wesentlichen gleich dem erst beschriebenen Tier, nur sieht man hier dout-
lich die verschiedenen Zelleruppen des Bechterewschen Kerns und das Finstrahlen
von Vestibularisfasern in alle diese Gruppen. Zwischen den Gruppen treten quer-
getroffene Fasern auf, die weniger faszikuliert sind als in der Area fasciculata.
Das Verhältnis zum Intermedius und zu den Resten des Tractus solitarius ist das
gleiche wie früher. Auffallend ist ein sehr dichtes Einstrahlen von Fasern in die
Reste des Triangularis, die im Winkel der Rautengrube gelegen sind.
Hylobates.
Beim Hylobates ist die Schnittrichtung ein wenig schräg, infolgedessen sieht
man die Vestibularisfasern sehr weit dorsal ziehen bis ungefähr zur Mitte des
Brachium conjunetivum. Dort erst bilden sie eine Area fasciculata. Das ganze Bild
wird dadurch ein wenig verschoben, und man kann die Beziehungen der Fasern zu
den einzelnen Kernen hier schwer festlegen.
Semnopithecus entellus.
Der N. vestibularis ist hier besonders mächtig entwickelt. Er stellt ein breites
Bündel dar aus dicken Nervenfasern und man kann deutlich sehen, wie gleich nach
seinem Beginn ein Faserzug lateral um das C. restiforme herum zieht, um dorsal
noch vor dem Ende des C. restiforme abgeschnitten zu enden. Hier ist es nicht mög-
lich, die Differenzierung der drei Systeme (Nucleo-cerebellare, vestibuläre, fastigio-
bulbäre Fasern) vorzunehmen, da alle Bündel ziemlich gleichmäßig diek sind. Da-
gegen zeigt sich im Gebiete des Angularis, wo die Hauptmasse der Vestibularis-
fasern einzustrahlen scheinen, eine Differenzierung in den Querschnittsarealen (Abb. 1).
Ventral vom Brachium conjunetivum liegt sowohl medial als lateral ein fasziku-
liertes Syster ziemlich dicker Fasern, dann folgt eine Aufhellung, dann wieder fasziku-
lierte Fasern ganz medial, aber weniger auch lateral, und schließlich in direkter Fort-
setzung der Area fasciculata ein mehr diffuses System von Fasern, das gleichsam
wie eine Kuppe auf der Area fasciculata aufsitzt. Oralwärts nehmen diese Bündel
zu, zum Teil verwischt sich dann die Absonderung der einzelnen Gruppen, ohne
jedoch vollständig zu verschwinden. Sicher ist nur das eine, daß wir hier nicht mehr
die Area fasciculata vor uns haben, sondern ein dem Angulariskerngebiet angehöriges
Querschnittssystem, das wir vorläufig unpräjudizierlich Area angularis nennen wollen.
Auffallend sind auch zahlreiche Zellnester im N. vestibularis, die aber zum Teil ihre
Zugehörigkeit zum ventralen Cochleariskern erkennen lassen. Das Verhältnis zum -
Cochleariskern ist hier sehr undeutlich.
Cercopithecus.
Die Verhältnisse sind hier ähnlich wie beim vorbeschriebenen Tier. Auch hier
ist ein unendlich mächtiger Vestibularis und man kann hier sehen, wie aus seinem
236 Dr. Kanichi Ishihara.
Gebiet Fasern dorsalwärts streichen, um sich ventral vom Brachium conjunctivum
als quergetroffenes Bündel anzulegen. Bei der Verfolgung der Serie ist fast mit
Sicherheit zu sagen, daß es sich nicht um nukleo-zerebellare, sondern um direkte
vestibuläre Fasern handelt (Abb. 2). Auch die Teilung der vestibulären Fasern ist
hier sehr deutlich. Diese quergetroffenen Bündel der Area angularis streichen dann
medial dem Brachium conjunctivum entlang, um schließlich in ein System zu ge-
langen, das dem Brachium kappenförmig aufsitzt. Es ist natürlich nicht zu ent-
Abb. 1. Semnopithecus entellus. Area angularis mit 3 Querschnittsystemen.
scheiden, ob es sich hier um rein vestibuläre Fasern handelt oder ob nicht fastigio-
bulbäre mit unterlaufen. Medial von dem deutlichen Querschnittsbündel liegen haufen-
förmig isolierte Fasern, gleichfalls ein umschriebenes Bündel bildend, während sonst
Querschnittssysteme hier weniger deutlich sind wie bei den vorigen Tieren. Auch hier
ist die Beziehung zum Tractus solitarius eine sehr undeutliche.
Inuus nemestrinus.
Im Prinzip gleich dem Cercopitheeus. Hier läßt sich der Aufbau des N. angularis
besser verfolgen. Am weitesten kaudal sieht man Querschnittsbündel, die offenbar dem
Flockenstiel angehören. Diese verschwinden, je mehr sich der Vestibularis entwickelt.
Dann treten Bündel auf, die man direkt aus dem Dachkern medial vom Br. cj. ventral-
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 237
wärts verfolgen kann, welche die Area angularis queren und in die Area fasciculata
münden. Dort, wo der Nerv seine größte Entwicklung erreicht, sieht man, wie schräg
dorso-medialwärts von ihm Bündel gegen das Br. cj. ziehen, ohne daß man sie
weiter verfolgen könnte (Abb. 3). Gleichzeitig mit diesen treten Bündel ventral vom
Br. cj. hervor, die ventral streichen und die erstgeschilderten queren. Aber über diese
hinaus in die Medulla oblongata gehen fastigio-bulbäre Systeme. Die einzelnen Quer-
schnittsbündel der Area fasciculata sind hier nicht so deutlich ausgeprägt wie früher.
Abb. 2. Cercopithecus. Einstrahlung des N. vestibularis in die Area angularis.
- Macacus resus.
Analog dem Inuus.
Cynocephalus hamadrias.
Auch dieses Tier ist im wesentlichen gleich den vorbeschriebenen.
Ateles ater.
Auch hier kann man deutlich sehen, wie feinere Faserbündel aus dem Vesti-
bularis direkt dorso-medialwärts strahlen, um in der Area angularis zu enden. Ferner
sieht man hier deutlich, daß auch medial vom Br. ej. ventral streichende Fasern
die Vestibularisfasern queren und erst medial von diesen in die Area fasciculata
münden. Die Area angularis ist hier nur in den dorsalen Teilen ziemlich faserreich,
238 Dr. Kanichi Ishihara.
ventral sind die Fasern mehr diffus. Auch hier ist der Glossopharyngeusrest ver-
hältnismäßig klein, aber doch ziemlich deutlich und medial umrahmt von den Inter-
mediusfasern.
Hapale ursula.
Die Area angularis ist hier dadurch charakterisiert, daß wir nicht eine grup-
pierte Zellmasse haben, sondern eine diffuse Anordnung von mittelgroßen Zellen.
Abb. 3. Inuus nemestrinus. Area angularis — Nucleocerebellare (fastigiobulbäre) Bündel.
Hier sieht man zunächst wieder die medialen, ventralwärts streichenden fastigio-
bulbären Fasern, dann kann man deutlich die Teilung des Vestibularis wahrnehmen
und sehen, wie die deszendierenden Bündel ventro-medial in der Area fasciculata
gelegen sind (Abb. 4). Schließlich ziehen von den lateral gelegenen aufsteigenden Fasern
einzelne bis an die Basis des Br. cj. in das Gebiet des hier diffusen N. angularis.
Es ist schwer, dieses Bündel von den fastigio-bulbären medialen und lateralen oder
nukleo-zerebellaren zu differenzieren. Ganz oral sieht man dann tatsächlich direkte
Fasern aus dem Vestibularis in den Angulus des IV. Ventrikels ziehen. Hier aber
bilden sie «quergetroffene Bündel ventral vom Br. cj. Man sieht, wie diese Bündel
sich dann als Kappe auf das Br. cj. legen, um offenbar mit dem Fasciculus uncinatus
das Kleinhirn zu erreichen.
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 239
Lemur catta.
In der Area fasciculata liegen ventro-medial vom Br. cj. sehr dunkle, quer-
getroffene Bündel, die deutlich aus dem Bündel der Area fasciculata entstehen. Lateral
vom Br. cj. sind die Fasern viel zarter, so daß es fast den Anschein hat, als wenn
es sich um Vestibularisfasern handeln würde. Die Area angularis zeigt sonst keine
Differenzierung in Einzelbündel.
Abb. 4. Hapale ursula. Einstrahlung des N. vestibularis und Area angularis.
Lemur var.
Auch hier zeigt sich ein analoges Bild. Die ganze Area angularis ist von quer-
getroffenen Fasern besät, ohne daß eine Bündelung deutlich hervortritt. Nur ganz
dorsal sind die Bündel der fastigio-bulbären Fasern.
Chirogaleus myoxinus.
Auch bei diesem Tier liegt ventral vom Bindearm eine Area fasciculata, wäh-
rend sonst mehr lateral das Bündel der eigentlichen Area fasciculata ventralwärts
strebt. Die Vestibularisfasern sind hier nicht sehr deutlich von denen der fastigio-
bulbären zu trennen. Sie sind auch nicht gebündelt, sondern sie ziehen einzeln in
die Area angularis. Der Traetus-solitarius-Rest ist hier wieder medial von Intermedius-
fasern begrenzt.
240 Dr. Kanichi Ishihara.
Zusammenfassung.
Wenn wir also die Verhältnisse bei den Affen übersehen, so zeigt sich
zunächst, daß der N. vestibularis äußerst mächtig entwickelt ist und deutlich
bei allen Tierklassen drei Abteilungen erkennen läßt. Bei einzelnen kann
man deutlich die sich lateral um das Corpus restiforme schlingenden Fasern
erkennen, bei anderen ist dies weniger deutlich zu sehen, aber fast immer
mit Sicherheit nachzuweisen. Ebenso kann man bei den höherstehenden Affen
den medialen Abschnitt, der dem Intermedius angehört, deutlich erkennen.
Er begrenzt medial den Rest des Tractus solitarius, der bis in die Trigeminus-
gegend hinein zu verfolgen ist. Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied
gegenüber den höheren und niederen Affen, indem die höheren diesen Rest
viel deutlicher erkennen lassen als die niederen, bei denen er mitunter kaum
angedeutet ist.
Was nun den Hauptstamm des Vestibularis anlangt, so kann man bei
einzelnen die Teilung in einen auf- und einen absteigenden Ast mit Leichtig-
keit erkennen. Der absteigende Ast liegt immer ventro-medial in der Area
fasciculata und ist weniger gebündelt als der übrige Teil dieses Areals. Von
den Nerven ziehen meist dorso-medialwärts bei einzelnen, und zwar bei den
höheren Affen dünnere Fasern, bei den niederen Affen gröbere Bündel dorso-
medialwärts in das Gebiet des N. angularis, während nur ein Teil sich direkt
aufsplittert, zieht ein zweiter Teil bis an die ventrale bzw. ventro-meliale
Partie des Br. cj. und bildet dort quergetroffene Bündel. Sie treten dabei
in Konkurrenz mit Bündeln, welche sich medial um das Br. cj. herum
schlingen, zunächst in die Längsrichtung umbiegen und dann wieder von
dieser ventralwärts in die Area fasciculata oder über diese hinausstreichen.
Sie queren dabei zumeist den Hauptstamm des Vestibularis. Ein zweites
System dieser Art kommt lateral am Br. cj. ventralwärts und hier ist nicht
immer zu entscheiden, ob nicht direkte Vestibularisfasern neben den nukleo-
zerebellaren oder fastigio-bulbären zu finden sind. Bei den niederen Affen,
z. B. bei Hapale, kann man deutlich sehen, wie diese Fasern sich aus dem
N. fastigii entbündeln, gleich jenen, die medial am Br. cj. ventral gelangen.
Ein Teil dieser Fasern liegt im Fasciculus uncinatus.
Als Endstätten für den Vestibularis ließen sich feststellen:
1. der N. angularis,
2. der N. Deiters,
3. der N. ventro-caudalis Deiters, und
4. hauptsächlich der laterale Abschnitt des N. triangularis, besonders
jener Teil, der in engster Berührung mit dem eigentlichen N. angularis steht.
Das Gebiet dorsal von der Area fasciculata, ventral vom Bindearm,
das medial bis an den Ventrikel reicht, habe ich Area angularis genannt.
Hier finden sich eine Reihe von Querschnittsfeldern, zum Teil ebenso faszi-
kuliert wie in der Area fascieulata, zum Teil aber als Einzelfasern. Eine be-
stimmte Beziehung dieser Fasern läßt sich au den vorliegenden Präparaten
nicht erbringen, doch gehören die grobgebündelten, dorsalen fastigio-bulbären
Systemen an.
Zur vergfeichauden Anatomie des Nervus vestibularis. 241
Pteropus.
Das Angularisgebiet ist sehr zellreich. aber keineswegs so deutlich wie bei den
niederen Affen. Es steht in ununterbrochener Verbindung mit den zentralen Klein-
hirnkernen und wird durchsetzt von den breiten Bündeln der fastigio-bulbären oder
nukleo-zerebellaren Fasern. Vom N. vestibularis sieht man unendlich feine Züge
dorsalwärts streben, die aber in den kleinen Zellen lateral als auch medial der
Area angularis enden. Das mediale iIntermedius-ı Bündel zieht hier quer durch
den Trigeminus, um ihn dann ventral zu umsäumen. Es ist auffallend mächtig. Erst
in höheren Ebenen. wo der Bindearm bereits gebildet ist, sieht man Vestibularis-
fasern in die mächtige Zellgruppe des Angularis einstrahlen. Sie lassen sich deut-
lich von den fastieio-bulbären Fasern trennen. Man kann erkennen, daß sie an die
medialen zarteren Faserquerschnitte der Area angularis gelangen. Auffallend ist, daß
nach Beendigung des Vestibulariskerns ein Faserzug aus der spinalen Trigeminus-
wurzel durch die Substantia gelatinosa hindurehtritt, in das Gebiet des Angularis ge-
langt und ventral vom Br. ej. in den quergetroffenen Fasern endet. Wir sehen also,
daß bei diesem Tier ähnliche Verhältnisse sind wie bei den Affen, nur mit dem Unter-
schied, daß die Fasern auf einen engeren Raum zusammengedrängt sind und daß
man erkennen kann, daß die ventral vom Br. cj. in der Area fasciculata gelegenen
Bündel nieht nur dem Vestibularis angehören, sondern auch trigeminale Fasern ent-
halten.
Velis domestica.
Die Area angularis ist hier sehr scharf begrenzt. Dorsal ist es das querliegende
Br. cj., lateral sind es die in das Kleinhirn strahlenden Fasern des C. rest, ventral
ist es die Area fasciculata mit den dorsal darübergelegenen großen Zellen des Deiters-
schen Kerns, medial die Ventrikelwand. In diesem nahezu viereckigen Raum sieht man
bei der Katze, genau wie bei den anderen Tieren, drei verschiedene Systeme. Die
medialen fastigio-bulbären Fasern, die lateralen nukleo-zerebellaren und dazwischen
gelegene Vestibularisfasern. Hier sieht man wieder auffallend gut die lateral am
C. rest. dorsalwärts strebenden äußeren Vestibularisbündel. Die quergetroffenen Fa-
sern der Area angularis sind nicht so deutlich wie bei den früheren Tieren, aber
sicherlich auch hier zu erkennen. Die Querschnitte des Fasciculus solitarius sind
hier wieder viel deutlicher, ebenso die medialen Intermediusfasern.
Canis familiaris.
Die Färbung bei diesem Tier ist deutlicher als bei der Katze. Aber im Prinzip
sind die Verhältnisse die gleichen, d. h. die Area angularis enthält ventral vom quer-
gelegenen Br. ej. ein der Area fasciculata in der Bündelung entsprechendes System
und sonst diffuse Querschnitte. Reichliche Zellen ohne besondere Differenzierung.
Canis vulpes.
Beim Canis vulpes sieht man deutlich die Kinstrahlung in den Deitersschen
Kern. Im großen und ganzen ist aber hier der Vestbularis nicbt so mächtig wie
z. B. bei den Affen. Man sieht auch, daß er die obersten Bündel des Triveminus dureh-
setzt. Auch hier kann man vom Trigeminus ein System dorsalwärts ziehen sehen,
welches in der Area angularis mündet. Infolge der mächtigen Entwicklung der spi-
nalen Trigeminuswurzel auf der einen Seite und der Lage des C. rest. sind die Vesti-
bularısfasern hier mehr lateral vedrückt, so daß die lateral und durch das C. rest.
setzenden Bündel hier mächtig sind.
Paradoxurus hermaphroditus.
Während bei den bisher beschriebenen Tieren die laterale Wurzel des Vesti-
bularis nur bis an das obere Ende des C. rest. sich verfolgen hieß, sind wir bier
imstande, eine Verfoleung dorsalwärts vorzunehmen, um zu sehen, wie die laterale
Wurzel direkt ins Kleinhirn tritt. und zwar in das Gebiet der großen Kreuzungs-
kommissur. In der Area angularis sind die Verhältnisse die gleichen. Man sieht hier
242 Dr. Kanichi Ishihara.
zwei Bündel. Ein dorsales, der Area fasciculata gleich gebautes. und ein ventraleres,
aus isolierten Querschnitten bestehendes.
Herpestes Ichneumon.
Gleich dem vorigen Tier.
Mustela foina.
Hier ist die Zweiteilung der Fasern in der Area angularis deutlicher als bei den
früheren Tieren. Ein dorsales, aus gröberen Querschnitten bestehendes System, ein
ventrales, aus einzelnen Fasern zusammengesetztes. Das dorsale zieht in die Area
fasciculata, das ventrale wird vorwiegend durch Vestibularisfasern gebildet.
Mustelina vulgaris.
Analog dem vorigen Tier.
Lutra.
Gleich dem vorigen Tier.
Nasua socialis.
Auch dieses Tier verhält sich so wıe die übrigen Karnivoren. Das einzige, was
diese Tiere differenziert, ist vielleicht die gegenseitige Verschiebung der in der Area
angularis gelegenen Fasern.
Zusammenfassung.
Bezüglich der Zusammensetzung des N. vestibularis besteht hier keine
Änderung gegenüber den anderen Tierklassen. Das einzige, was hier möglich
ist, ist die direkte Verfolgung eines lateralen, vom C. rest. dorsalwärts
strebenden Bündels des N. vestibularis ins Kleinhirn, ohne daß man in der
Lage wäre, hier eine direkte Endigung wahrzunehmen.
Das zweite, was hier mit einer gewissen Sicherheit festzustellen war,
ist, daß sich in der Area angularis neben den Zellen zumindest drei Systeme
von Fasern abscheiden lassen. Das erste am weitesten kaudal und medial
gelegene Bündel ist das Flockenstielbündel, das zweite ventral unter dem
Bindearm befindliche, aus dicken Bündelchen bestehende, ist das Bündel
der fastigio-bulbären oder nukleo-zerebellaren Fasern, und ein drittes, ventral
von den letztgenannten befindlich, aus mehr isolierten Fasern bestehendes
läßt sich zum Teil in den Vestibularis hinein verfolgen. Die Endigung des
N. vestibularis ist auch bei diesen Tieren die gleiche. Die Beziehung zum
Tractus solitarius ist nicht so deutlich wie früher.
Phoca Vitulina.
Im Prinzip finden wir bei Phoca Vitulina die gleichen Verhältnisse, besonders
was die Area angularis anbelangt. Hier tritt wieder deutlich das Finstrahlen des
Vestibularis in das Gebiet des oralsten Restes des N. triangularis hervor, der gleich-
falls im Winkel des IV. Ventrikels gelegen ist.
Igel.
Im Prinzip haben wir auch beim Igel vollständig analoge Verhältnisse wie bei
den übrigen Tieren.
Sciurus.
Der Vestibularis ist hier ein sehr mächtiger Nerv, der analog wie bei den Karni-
voren das laterale Bündel bis ins Kleinhirn verfolgen läßt. Die Systeme der Area
angularis, die hier etwas eng ist, sind nicht sehr deutlich, doch kann man auch
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 243
hier verschiedene Querschnittsareale erkennen, aber keineswegs mit derselben Deut-
lichkeit wie bei den Karnivoren.
Mus musculus.
Die Area angularis zeigt hier nicht die scharfe Differenzierung wie bei den
früheren Tieren. Sonst aber ist im N. vestibularis keine Differenz wahrzunehmen.
Mus rattus.
Bei Mus rattus sieht man wieder die quergetroffenen Bündel der Area angularis
sehr deutlich. Hier ziehen scheinbar durch die Area fasciculata mächtige Bündel
Abb. 5. Hystrix cristata. N. vestibularis — ventral spinale Trigeminuswurzel; dorsal
Corpus restiforme.
ventral vom Triangulariskern merlialwärts. Sonst ähnliches Verhalten wie bei den
anderen Tieren.
Hystrix cristata.
Beim Stachelschwein ist der Nerv in seinen lateral am Trigeminus gelegenen
Partien von Cochlearisfasern durchsetzt. Da das C. rest. breitbasig der spinalen
Trigeminuswurzel aufsitzt, zwängt sich der N. vestibularis durch den Enepaß zwi-
schen C. restiforme und spinaler Trigeminuswurzel (Abb. 5). Man sieht, daß einzelne
Vestibularisbündel den Weg lateral durch das C. rest. nehmen, um dorsal zu ge-
langen. Die Area angularis bildet hier ein aus lauter dichten Querschnittsbündeln
bestehendes Feld, das eine Differenzierung in Einzelbündel nicht gestattet.
Lepus cuniculus.
Bei diesem Tier ist die Area angularis deswegen schwer zu beurteilen, weil die
aus dem N. lateralis cerebelli kaudalwärts strebenden Fasern mit dorso-ventral strei-
244 Dr. Kanichi Ishihara.
chenden nukleo-zerebellaren und fastigio-bulbären sich überschneiden. Man kann des-
halb auch die Einstrahlung des Vestibularis sehr schwer erkennen. Nur ganz oral, also
bereits nach der Bildung des Bindearms, zeigt sich auch hier ventral von diesem das
Querschnittsfeld der zur Area fasciculata ziehenden Fasern und ventral davon und
medial die feinen Fasern, die wir dem Vestibularis zugeordnet haben. Die Area angu-
laris ist von einem einzigen mächtigen Kern besetzt.
Zusammenfassung.
Wenn auch hier die Verhältnisse infolge der dichten Fügung der Bündel
nicht so deutlich sind wie z. B. bei den Karnivoren, so läßt sich doch auch
hier ventral vom Bindearm ein System gröberer Bündel und ventral und
medial davon diffuse feinere Querschnitte nachweisen.
Auch hier läßt sich teilweise eine Verfolgung des lateralen Vestibularis-
bündels direkt in das Kleinhirn zeigen. Der Verlauf des N. vestibularis bei
seinem Eintritt wird durch die gegenseitige Lage des C. rest. und der spi-
nalen Trigeminuswurzel bestimmt.
Sus seropha.
Hier finden sich ähnliche Verhältnisse wie beim Stachelschwein. Der N. vesti-
bularis tritt aus der schräg dorso-medialen in eine beinahe horizontale Richtung über
zwischen spinaler Trigeminuswurzel und dem breiten Corpus restiforme. Seine End-
aufsplitterungen sind schwer zu verfolgen. Schließlich sieht man aber doch in der
Area angularis grob faszikulierte Bündel ventral vom Bindearm, ein zweites aus dif-
fusen Querschnitten bestehendes System ventral davon.
Bos taurus juvenilis.
Hier finden sich ähnliche Verhältnisse wie beim vorigen Tier. Nur tritt eine
eigenartige Frscheinung hervor. Es macht den Anschein, als ob sich medial vom
Vestibularis Fasern loslösen würden, die sich dorsal um die spinale Trigeminus-
wurzel schlingen, um dann ventral in die retikulierte Substanz zu treten. Vielleicht
handelt es sich hier um versprengte Fasern des Tractus trapezoidalis intermedius.
Cervus capreolus.
Bei diesem Tier, bei dem sich die E.ndaufsplitterung des Vestibularis gleich der
des vorigen Tieres verhält, treten die Fasern aus dem N. fastigii in größerer Anzalıl
lateral vom Br. cj. ventralwärts und nur sehr wenige medialwärts. Diese wenigen
bilden aber ventral vom Br. cj. die bekannten Querschnittsbündel, während sonst
das ganze Angnlarisgebiet von einer mehr diffusen Fasermasse erfüllt ist. Die Area
fasciculata selbst liegt viel weiter dorsal als bei den anderen Tieren.
Camelus dromedarius.
Auch bei diesem Tier ist die Art des Eintrittes des Vestibularis so wie bei den
eben beschriebenen Tieren. Nämlich horizontal zwischen dem Corpus restiforme
und der spinalen Trigeminuswurzel. Dadurch geraten die Fasern fast direkt in die
Area fasciculata und sind schwer weiter zu verfolgen. In der Area angularis aber
kann man deutlich dorsal ein grob faszikuliertes System erkennen. ventral diffuse
Querschnitte. Die ganze Area ist wesentlich kleiner als bei den früher beschriebenen
Tieren.
Eyuus caballus.
Im wesentlichen gleich den vorherigen Tieren.
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 245
Zusammenfassung.
Wenn wir diese Gruppe zusaminenfassend beurteilen, so zeigt sich
in dem eintretenden Vestibularis insofern ein eigenartiges Verhalten, als er
aus der ventro-dorsalen Richtung in die Horizontale umbiegt und zwischen
Corpus restiforme und spinaler Trigeminuswurzel in die Area fasciculata
eintritt. Dort läßt er sich schwer verfolgen. Immerhin kann man auch hier
in der Area angularis die beiden quergetroffenen Bündelchen deutlich ab-
scheiden.
Phocaena.
Bei diesem Tier war es mir nicht möglich, den Vestibularis mit absoluter Sicher-
heit abzuscheiden, weil vam Cochlearis Fasern, die vom Tuberkulum ventralwärts
ziehen, zwischen der spinalen Trigeminuswurzel und dem Corpus restiforme gelegen
sind. Es war schwer, hier deutliche Vestibularisfasern nachzuweisen. Es ist ein sehr
mächtiger Deitersscher Kern, eine sehr geringfügige Area fasciculata und kaum
deutlich erkennbare Angulariszellen.
Delphinus tursio.
Beim Delphin ist man in der Lage, die Ursache des eigenartigen Verlaufes des
Vestibularis festzustellen. Die Fasern treten mit jenen des UCochlearis ein, während
sich die letzteren lateralwärts wenden. Um in den ventralen Kern und das Tuber-
kulum zu gelangen, ziehen die Vestibularisfasern zunächst im Bogen medialwärts und
dann umschlingen sie mit einem medial offenen Bogen die spinale Trigeminuswurzel,
um sich in die Area fasciculata einzusenken. Die Area angularis ist hier deutlicher
vorhanden und man kann sehen, wie die Fasern des Vestibularis in dieses Gebiet
einstrahlen, hier ganz deutlich ventral von den grüheren faszikulierten Bündeln iso-
lierte Faserquerschnitte bilden.
Zusammenfassung.
Wenn wir also diese zwei letztgenannten Tiere zusammenfassen, so zeigt
sich ein etwas abnormaler Verlauf des peripheren Vestibularis deshalb, weil
die Lage des Restiforme zur spinalen Trigeminuswurzel eine andere ist.
Der Verlauf ist S-förmig gekrümmt, aber die Ausstrahlung der Fasern die
gleiche wie bei den früheren Tieren.
Dasypus septemcinctus.
Bei diesem Tier ist die Area fasciculata nicht gut entwickelt. Das ganze Gebiet
ist von dem großzelligen Deitersschen Kern eingenommen. In dieses Gebiet strahlt
nur der Vestibularis ein, wobei er knapp am Trigeminus gelegen ist. Bezüglich der
fastigio-bulbären und nuklev-zerebellaren Fasern gilt, daß sie mehr lateral als medial
vom Br. cj. ventral steigen und so dicht sind, daß sie stellenweise die Ausstrahlung
des Vestibularis überdecken. Sonst sind aber auch hier in der Area angularis die quer-
getroffenen Bündel wie in den früheren Präparaten wahrzunehmen.
Macropus giganteus.
Der N. vestibularis ist sehr kurz, in seiner gewohnten Lage und Endaufsplitte-
rung. Auffällig ist hier, daß alle in die Area fasciculata ziehenden Fasern lateral vom
Br. cj. ventral streben. Demzufolge liegt auch das Querschnittsfeld, das sie bildem,
ventro-lateral vom Br. ¢j. Die feineren Fasern dagegen sind mehr diffus angeordnet
und lagern ventral und medial. Die ganze Vestibularisendanfsplitterung ist hier
undeutlich.
246 Dr. Kanichi Ishihara.
Phascolarctus cınereus.
Ohne auf die hier ganz abnorme Lage der Hirnnerven einzugehen, sei nur er-
wähnt, daß der Vestibularis und seine Endstätten sich ähnlich verhalten wie beim
Macropus.
Zusammenfassung.
Infolge der eigenartigen Lage und Ausbildung der ponto-bulbären Nerven
ist der Vestibularis hier sehr schwer abzuscheiden. Er besteht aus feinen
Faszikeln, hat aber die gleichen Endstätten wie bei den übrigen Tieren.
Das Br. cj. wird nur lateral von ab- bzw. aufsteigenden Faserbündeln um-
faßt. Lateral und ventral finden sich dann die quergetroffenen Bündel, eben-
so mehr ventral die quergetroffenen Fasern. Die Ausbildung dieses Gebietes
ist wesentlich geringfügiger als bei den anderen Tieren.
Wenn wir diese kurze Übersicht überblicken, so ergibt sich eigentlich
bei allen Tieren eine merkwürdige Übereinstimmung im N. vestibularis.
Wenn auch nicht überall bemerkt, so ließ sich in einen Gutteil der Serien
ein isoliertes laterales Faszikel abscheiden, das bei manchen Tieren seinen
Weg durch die lateralsten Partien des C. rest. dorsalwärts nimmt. In der
Mehrzahl der Fälle biegt es am dorsalen Ende des C. rest. medialwärts, um
zum Teil gegen den triangularis, zum Teil gegen den Angularis zu streben.
In ein oder dem andern Fall gelang es aber (Karnivoren, Rodentien), dieses
Bündel höher hinauf zu verfolgen und da konnte man sehen, wie es mit
dem C. rest. gegen das Kleinhirn zieht. Der Hauptteil des N. vestibularis
liegt medial vom C. rest. Sein Verlauf ist vollständig abhängig von den
gegenseitigen Beziehungen der spinalen Trigeminuswurzel und dem C. rest.
Je nach deren Lage tritt er von ventro-lateral nach dorso-medial ziehend
ein oder er biegt, wie beim Stachelschwein oder den Ungulaten, nach kurzem
vertikalen Verlauf in die Horizontale über oder aber er zeigt, wie beim
Delphin, einen S-förmigen Verlauf. Die in ihm oft ventral eingelagerten Kerne
lassen sich zumeist als Teile des Cochlearis erkennen. Nur bei einzelnen
Tieren scheint es, als ob vielleicht abgesprengte Stücke der S. gelatinosa
trigemini hier eingelagert wären. Das läßt sich aber an unseren Serien mit
Sicherheit nicht feststellen. Der Nerv gelangt in das Gebiet der Area fasci-
culata. Hier kann man bei vielen Tieren deutlich seine Teilung in einen auf-
und einen absteigenden Ast sehen. Der absteigende Ast liegt immer ventro-
medial in der Area fasciculata und zeigt eine geringere Bündelung als diese
im allgemeinen. Der dorsale aufsteigende Teil läßt sich nieht immer genau
verfolgen, weil er mit den nukleo-zerebellaren bzw. fastigio-bulbären kon-
kurriert. In einzelnen Fällen aber gelang es doch, Endigungen von Vesti-
bularisfasern im Angularisgebiet, im Deitersschen Kern, besonders aber im
Triangularis, und zwar in seinen lateralsten oralsten Partien sicherzustellen.
Neben der Area fasciculata liegt dorsal von ihr, begrenzt dorsal vom
Bindearm, ventral von der Area fasciculata, lateral vom Corpus restiforme
und medial vom Ventrikel die Area angularis. Sie enthält sichergestellt
neben den Ganelienzellen drei Gruppen quergetroffener Fasern dorsal, und
Zur vergleichenden Anatomie des Nervus vestibularis. 247
zwar ventral vom Br. cj gelegentlich auch ventro-lateral von diesem, grob-
gebündelte Systeme, die den Bündeln der Area fasciculata entsprechen. Es
sind offenbar Fasern, die aus ihrem rein vertikalen Verlauf in die Sagittale
umbiegen, um dann ventral zu ziehen (nukleo-zerebellare und fastigio-bulbäre
Systeme). Vielleicht finden sich hier auch Fasern, die zum Trigeminus Be-
ziehungen haben (Pteropus).
Das zweite System, das sieh hier findet und sicherstellen läßt, sind
ebensolche Fasern aus dem N. vestibularis. Es scheint, daß diese Fasern, die
gleichfalls in die Sagittale umbiegen und ein mehr diffuses System bilden,
nicht kaudal-, sondern oralwärts gelangen, um an die oralsten Teile des
Angulariskerus zu treten oder aber ~ wie das aus einzelnen Präparaten
hervorzugehen scheint -- medial das Br. ej. zu umschlingen, um in den
Fase. uncinatus und damit ins Kleinhirn zu gelangen. Es ist allerdings mög-
lich, daß hier auch sekundäre Bahnen aus dem N. angularis vorliegen. Schließ-
lich ist als letztes System das Flockenstielbündel zu bezeichnen. Es liegt am
weitesten ventral und medial, ist kaudal am stärksten und nimmt oralwärts
mehr und mehr ab.
Bei allen Tierklassen läßt sich das Intermediusbündel nachweisen, das
ganz medial im N. vestibularis gelegen, medial den Rest des Solitärbündel-
kerns umschlingt. Lateral besorgt das der N. vestibularis. Dieser Kernrest
ist nicht immer sehr deutlich am besten bei den höheren Affen entwickelt.
Jedenfalls zeigen die vorliegenden Untersuchungen eine auffallende Uniformität
des Baues des N. vestibularis.
Arbeiten aus dem neurol. Inst. XXXII Bà.. Heft 2. 17
Ein Fall von Angio-Reticulom, zugleich ein Beitrag
zur Pathologie der Hämangiome.
Von
Dr. Masamichi Toyama (Tokio).
Mit 9 Abbildungen im Text.
Seitdem durch Lindau die Hämangiomatosis als eine mehr generelle
Erkrankung der Recklinghausenschen Krankheit, der Neurinomatosis an
die Seite gestellt wurde, sind eine Reihe von Arbeiten erschienen, die sich
mit der Frage der Hämangiome beschäftigen und die nicht zu einem einheit-
lichen Resultat gelangten.
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, daß Marburg und Meller in
einem Fall von Hippelscher Erkrankung gezeigt haben, daß der Tumor
im Auge gliomatöser Natur sei und sich von den Müllerschen Stützzellen
der Retina herleiten lasse. In diesem Falle befand sich, ebenso wie in einer
Reihe von anderen Fällen, die Lindau anführt, auch eine Zyste im Klein-
hirn, in deren Wand sich aber, nicht wie in so vielen anderen Fällen, ein
angiomatöser Tumor nachweisen ließ. Es ist absolut von der Hand zu weisen,
daß alle Zysten des Kleinhirns, auch wenn in deren Wand kleine Tumor-
knötchen sich finden, der Lindauschen Krankheit zuzurechnen sind, da
sich solche warzenförmige Gebilde gelegentlich auch als reine, sehr gefäß-
arme Gliome erweisen.
Aber abgesehen von diesem Umstand, möchte ich nur in die Diskussion
von Cushing und Bailey und Roussy und Oberling eingreifen, da ich
Gelegenheit gehabt hatte, ein Hämangiom zu untersuchen mit dem charakteri-
stischen Sitz im Winkel von Kleinhirm und Medulla oblongata. Der Fall ist
doppelt interessant, weil er — ich will auf die Krankheilsgeschichte nicht
näher eingehen, weil sie anderwärts verwertet werden soll — gleichfalls
scheinbar eine Zyste im Kleinhirn aufwies, die zehn Jahre, bevor sich neuer-
lich Tumorerscheinungen zeigten, eröffnet und eine vollständige Heilung
herbeigeführt wurde. Erst nach ungefähr zehn Jahren traten Symptome seitens
des Kleinhirns und der Medulla oblongata auf. Die Lokaldiagnose war richtig
gestellt, doch erlag die Patientin bei der Operation einer Luftembolie.
Wenn wir den Gegensatz, der zwischen Cushing und Bailey und
Roussy und Oberling besteht, kurz erörtern, so fassen die ersteren die
Hämangiome, soweit sie nicht reine Gefäßtumoren sind, sondern eine Grund-
substanz zeigen, als Hämangioblastome auf.
Ich sehe ab von der Kombination dieser Tumoren mit Kleinhirnzysten und
Ein Fall von Angio-Reticulom usw. 249
erwähne nur, daß die genannten Autoren Unterschiede zwischen vorwiegend
kapillären Tumoren, vorwiegend zellulären und vorwiegend solchen mit
kavernösen Räumen machen. Sehr interessant ist, was sie über die Zwischen-
zellen der kapillären Tumoren oder jenen mit kavernösen Räumen anführen.
Sie ‚beschreiben sie als endothelähnliche Zellen, die fettinfiltriert sind, da
sie nirgends Zeichen einer fettigen Degeneration erkennen lassen, worin
sie mit Lindau übereinstimmen, der bekanntlich von pseudo-xanthomatösen
Zellen spricht. Es sieht fast so aus, als wenn es sich hier um ein Hämangio-
endotheliom handeln würde. In diese Gruppe von Tumoren möchte ich die
Fälle 15, 17 und 21 von Cushing und Bailey rechnen. Doch lehnen
die Autoren ab, diese Fälle, die sie als Hämangioblastome intercolumnare
bezeichnen, von den andern abzuscheiden, da es sich scheinbar doch nur
um eine quantitative Differenz handelt, indem bei den letzteren das zelluläre,
bei den ersteren das fibrilläre Gewebe mehr in den Vordergrund tritt.
Dagegen haben Roussy und Oberling drei Gruppen von Angiomen unter-
schieden. Die erste Gruppe bezeichnen sie als kavernöse Angiome, das heißt
Tumoren, die sich aus sehr weiten Gefäßen zusammensetzen, mit einer auf-
fälligen Wandverdickung und einem fibrösen Stroma. Die zweite Gruppe
bezeichnen sie als reticulo-endotheliale Angiome, das sind dieselben Tumoren,
die Cushing und Bailey als Hämangioblastome bezeichnen. Sie meinen,
daß die freien Zellen auf der einen Seite, das Netzwerk auf der andern:
Seite die Umwandlung der Zellen in fetthaltige Körper die Annahme recht-
fertigt, daß es sich um ein Angioreticulom handle. Aber sie beschreiben
noch eine dritte Gruppe von Tumoren, die sie Angiogliome nennen. Wenn
man die Abbildungen, die Roussy und Oberling von diesen letzteren
Tumoren geben, genauest untersucht, so muß man sie zumindest jenen
Formen an die Seite stellen, die Cushing und Bailey in ihren Fällen 15,
17 und 21 beschreiben, also denen sie das Beiwort intercolumnare geben.
Der Umstand, der die französischen Autoren bewegt, diese Fälle den Gliomen
zuzurechnen, liegt in der Tatsache, daß die Zellen Fortsätze besitzen, mit
denen sie sich scheinbar an den Kapillaren inserieren, also der Mikroglia
analog sich verhalten.
Es liegt mir ferne, in die Diskussion über diese Fragen einzugreifen,
bevor ich meinen eigenen Fall des Genaueren beschrieben habe.
Wenn man den Tumor makroskopisch untersucht (Abb. 1), so zeigt
sich, daß er sich kaudal an das Kleinhirn anschließt, in die Medulla ob-
longata einwächst, deren dorsalen Teil scheinbar verschont, während der
ventrale Teil durch die Tumormassen komprimiert wird. Eigentlich erfolgt
diese Kompression erst kaudal von der Olive, so daß die Hauptmasse der
Medulla oblongata verschont bleibt. Anderseits aber kann man sehen, daß
einzelne Teile des Tumors auch in die Kleinhirnsubstanz einzudringen
scheinen. Schon makroskopisch erweist sich der Tumor als überaus gefäß-
reich, und zwar handelt es sich im kaudalen Abschnitt um mächtige Blut-
räume, während der orale Abschnitt scheinbar ebensolche, aber kleinere
Räume aufweist. Zentral findet sich ein großer zystischer Hohlraum.
17°
250 . Dr. Masamichi Toyama.
Das erste, was bei der mikroskopischen Untersuchung des Tumors ins
Auge fällt, ist, daß die Dura stellenweise wenigstens verhältnismäßig intakt
ist. An einzelnen Stellen kann man sehen, wie arachnoideale Zapfen in die
Dura einwachsen, die unendlich viel Ähnlichkeit mit den Zellen haben, die
zwischen den Blutgefäßräumen liegen. Der Tumor selbst zeigt eine binde-
gewebige Kapsel aus einem verhältnismäßig zellarmen feinfaserigen Binde-
gewebe, das nach innen zu eine Zellage trägt.
Betrachtet man zunächst an einem Hämalaun-Eosinpräparat die ein-
zelnen Teile des Tumors, so kann man Bilder sehen, die vollständig identisch
Abb. 1. Mediansehnitt dureh den Tumor (Makroskopische Ansicht).
sind mit dem, was Roussy und Oberling als kavernöses Angiom be-
zeichnen, das heißt man sieht größere Arterien und Venen strotzend mit
Blut gefüllt (Abb. 2), enorm erweitert, mit sehr verdiekter Wandung, die
gleichfalls bereits degeneriert ist, stellenweise nekrotisch, stellenweise hyalin
im Gewebe. Es sind Gefäßräume, die fast wie eine Zyste anmuten. Daneben
sieht man einen solideren Abschnitt des Tumors, gleichfalls durchsetzt von
zahlreichen Gefäßen, die ein deutliches Endothel in der Wand zeigen, aber
sonst nur eine ganz dünne Schicht um das Endothel. Man kann deutlich
sehen, wie diese sehr erweiterten Gefäßräume aus Kapillaren sich entwickeln,
die zum Teil noch mit Blut gefüllt, zum Teil aber leer sind. In diesem
solideren Abschnitt sieht man nun Zellen, die bei genauerer Betrachtung
am ehesten den Eindruck machen von Zellen, die den Gliazellen nahe-
stehen (Abb. 3). Einzelne von ihnen zeigen deutlich Fortsätze, die nach
vielen Seiten hin sich erstrecken und ein Netzwerk bilden, das heißt sich
Ein Fall von Angio-Retieulom usw. 251
Abb, 2. Kavernöse Räume im Tumor.
Abb. 3. Gliomähnliche Stellen im Tumor.
252 Dr. Masamichi Toyama.
mit anderen Zellen derselben Art synzytial vereinigen. Andere dieser Zellen
zeigen nur einen deutlichen Fortsatz, der sich an die Kapillaren anlehnt.
Es ist kein Zweifel, daß, wenn man lediglich ein derartiges Stück des Tumors
sehen würde, man die Diagnose Gliom machen müßte. Das geht auch aus
den Kernen hervor, die dunkel und verhältnismäßig klein sind, einzelne
allerdings auch größer. Immer ist auffallend die Beziehung dieser Zellen
zu den Gefäßen, die überaus markant erscheinen.
Neben diesen zwei Arten von Veränderungen, die also zwei verschiedene
Ansichten des Tumors zeigen, finden wir eine dritte Art, in welcher eine
Abb. 4. Konfluierende, zum Teil mit weißen Blutkörperchen erfüllte Räume.
Reihe zum Teil konfluierender, zum Teil nichtkonfluierender Räume sich
finden (Abb. 4), teilweise mit Blutkörperchen gefüllt, und zwar vorwiegend
weißen, teilweise leer. Wenn man die Wand dieser Räume betrachtet, so
ist man vielfach nicht mehr in der Lage, ein Endothel zu differenzieren
(Abb. 5). Die intakteren Zellen haben nahezu die Form von kubischen Endo-
thelzellen. Sie liegen auch reihenweise, wobei der Kern bald mehr der Basis
der Zellen zugewendet ist, bald mehr in der Mitte liegt. Er ist immer dunkel.
Betrachtet man diese Zellen am Hämalaun-Eosinpräparat, so sieht man sie
meist geschwollen und ein feines Wabenwerk in ihnen. Wenn auch die Kerne
keine sicheren Zeichen einer Degeneration erkennen lassen, so sind sie
doch keineswegs normal. Sie zeigen verschiedene Größe; das Chromatin
in ihnen ist ungleichmäßig angeordnet, hie und da sieht man unvollkommene
Ein Fall von Angio-Reticulom usw. 253
Kernteilungen, Auswüchse und hie und da ist auch einer dieser Kerne etwas
heller als es der Norm entspricht. Der Zellkörper ist oft mächtig geschwollen
und zeigt in seinem Innern ein Wabenwerk. Wenn die Schwellung zunimmt,
zerreißen die Waben und man sieht dann nur einen Schatten des Zell-
körpers neben einem verhältnismäßig dunklen Kern. Es ist schwer anzu-
geben, ob hier ein degenerativer Prozeß oder ein infiltrativer Prozeß vor-
liegt. Doch möchte ich meinen, daß der degenerative Prozeß das Wahrschein-
lichere ist, denn man kann sehen, daß ganze Bänder solcher Zellen schließ-
lich schwinden und an deren Stelle eine homogene, sehr blaß tingierte Masse
auftritt.
Abb. 5. Detail aus Abb. 4.
Um nun zunächst über den Inhalt der Zellen ins Klare zu kommen,
habe ich Scharlachfärbungen vorgenommen und da zeigen sich diese Zellen
vollgefüllt von scharlachrot gefärbten Kügelchen (Abb. 6). Es handelt sich
also um eine Art fettige Umwandlung der Zellen, das was Lindau als Pseudo-
Xanthomatose bezeichnet hat. Eine Bindegewebsfärbung mit Azokarmin zeigt
um die großen Gefäßräume das Bindegewebe blau gefärbt. Es zeigt auch,
daß ein unendlich feines Netzwerk kollagener Bindegewebsfasern sich in den
kavernösen Abschnitten findet. Der solide Abschnitt zeigt gleichfalls um
die Kapillaren, aber auch in der Peripherie, feinste Fasern kollagenen Binde-
gewebes, die sich zwischen die endothelialen bzw. gliomatösen Zellen ein-
lagern. Auch an den Stellen, wo der gliomatöse Charakter sehr deutlich ist,
kann man erkennen, daß das Netzwerk aus den Zellen, besonders das, was
254 Dr. Masamichi Toyama.
sich an die Gefäße ansetzt, mit Azokarmin blau gefärbt erscheint, während
die Zellen rot gefärbt sind, also ein Beweis, daß es sich hier um binde-
gewebige Elemente und nicht um Glia handelt.
Das wird auch bewiesen durch Gliafärbungen nach Mallory-Pollak,
bei denen nur eine ganz allgemeine undeutliche Gliafärbung zustande kommt,
nicht etwa jene deutlichen Fibrillen, wie wir sie bei dieser Färbung zu sehen
gewohnt sind. Es läßt sich also durch die spezifischen Färbungen nur der Be-
weis erbringen, daß in der Grundsubstanz neben den spezifischen Tumor-
zellen Bindegewebe vorhanden ist.
Abb. 6. Scharlachrotfärbung. Die dunkleren Partien bedeuten Fetttröpfchen.
Das zweite, was in die Augen fällt, ist die Neigung zur Zystenbildung.
Und zwar findet sich mitten im Tumor eine große Zyste (Abb. 7), die viel-
leicht 3 em Längs- und mehr als 1 cm Querdurchmesser hat. Betrachtet man
die Wand dieser Zysle genauer, so sieht man, daß «diese Wand ein etwas
dichteres Gewebe bildet, wobei es ganz einwandfrei schon im Hämalaun-
Kosinpräparat hervortritt, daß dieses Gewebe typisch bindegewebigen Cha-
rakter aufweist. Diese Wand stößt an die kaudalsten Kleinhirnläppchen und
hier zeigt sich, daß der Tumor eigentlich nur eine Druckwirkung auf das
Kleinhirn ausübt (Abb. 8), die dadurch zum Ausdruck kommt, daß stellen-
weise ein Status eribrosus sich findet, stellenweise ein Schwund der Zellen
nachzuweisen ist, und zwar sowohl der Körnerzellen als auch der Purkinje-
schen Zellen. Immer läßt sich das Kleinhirn deutlich von der Tumormasse
abscheiden und nirgends zeigt sich die Tendenz zum infiltrativen Wachstum.
Ein Fall von Angio-Retieulom usw. 255
An einer einzelnen Stelle gelang es mir, einen Zapfen des Tumors zu ver-
folgen, der in das Kleinhirn eingebrochen ist (Abb. 9). Er sitzt wie eine
Warze dem Tumor auf und substituiert eine ganz umschriebene Kleinhirn-
partie. Diese in das Kleinhirn eingebrochene Partie setzt sich in allererster
Linie aus strotzend gefüllten Kapillaren zusammen und läßt ein deutliches
Grundgewebe eher vermissen. Ein zweiter Zapfen, der aber keineswegs so
Abb. 7. Zyste im Tumor.
deutlich wie im Kleinhirn ist, findet sich in der Medulla oblongata. Man
kann hier eigentlich nicht so deutlich wie im Kleinhirn von einem Ein-
brechen des Tumors sprechen, sondern hier zeigt sich eine Einziehung, aus
der ein kleiner Zapfen gegen die Oberfläche hin vorragt. Während aber alle
Tumorabschnitte sonst von der Tumorkapsel umgeben sind, kann man hier
eine derartige Kapsel nieht wahrnehmen, sondern es macht «den Eindruck,
als ob von innen aus, das heißt aus der Medulla oblongata ein sichtlich
gliöses Gewebe zapfenförmig nach außen sprießen würde. Das ganze sieht
256 Dr. Masamichi Toyama.
Abb. 9. Tumorzapfen im Kleinhirn.
Ein Fall von Angio-Retieulom usw. 257
am ehesten aus wie ein Gliawärzchen, wie wir es gelegentlich am Boden
des IV. Ventrikels als Ausgangspunkt von Ependym-Gliomen zu sehen ge-
wohnt sind.
Und noch ein weiteres Moment muß man hier erwähnen. Wenn man
das Verhältnis der Meningen zum Tumor untersucht, so zeigt sich eigentlich,
daß man nur die Dura mater als selbständiges Gebilde abscheiden kann. Die
Pia Arachnoidea bildet eine kompakte Masse, die in erster Linie die Membran
des Tumors zusammensetzt. An einzelnen Stellen kann man nun schen, wie
aus der Pia Arachnoidea Zapfen in die Dura einstrahlen, die unendlich zell-
reich sind und deren Zellen sehr viel Ähnlichkeit besitzen mit den jüngeren
Zellen des Tumors. Es ist nicht wie eine pacchionische Granulation, sondern
es ist mehr wie ein Einbrechen des Tumors in die Dura. Man kann auch
an dieser Stelle die Membran nicht ganz deutlich abscheiden. Ich sehe ab
von den in der Nähe befindlichen, den Spinalganglien analogen Zellen, die
nichts von der Norm Abweichendes bieten und erwähne nur, dab in aller-
nächster Nähe dieses Gebietes der Dura weite bindegewebige Räume sich
befinden, ohne daß die im Tumor selbst befindlichen Zellen hier anzutreffen
wären. Die Dura selbst ist außen überlagert von einem diehten Bindegewebe,
das offenbar Narbengewebe nach der ersten Operation darstellt. Um noch
einmal auf die Kapsel zu sprechen zu kommen, muß ich hervorheben, daß
an keiner Stelle dieser Kapsel die typischen Zellen der Arachnoidea sich
finden, die manchmal in Nestern angeordnet anzutreffen sind, sondern daß
das ganze Gewebe eine fibröse breite Membran darstellt, die keinerlei feinere
Zelldifferenzierung erkennen läßt. Am auffallendsten ist bei einem doch
verhältnismäßig großen Tumor die Tatsache, daß die Umgebung auffällig
wenig gelitten hat. Abgesehen von den kaudalsten Kleinhirnwindungen, über
die bereits berichtet wurde, ist nirgends eigentlich etwas von Kompression
zu erkennen. Selbst die Medulla oblongata zeigt nur, wie der Tumor röhren-
förmig in den Zentralkanal einbricht und dort ein wenig komprimiert. Es
muß aber auch hier der Prozeß ein ungemein langsam fortschreitender ge-
wesen sein, da von sekundärer Degeneration oder auffälligen Kompressions-
erscheinungen nicht gesprochen werden kann. .
Wenn wir also resumieren, so haben wir im vorliegenden Fall ein typi-
sches Angiom vor uns, wie es von den in der Einleitung angeführten Autoren
genauestens beschrieben wurde. Der Umstand, daß wir im Kleinhirn selbst
nichts von einer Zyste gefunden haben, dagegen eine ziemlich große, mit
bindegewebiger Membran versehene Zyste im Tumor selbst, sprieht dafür,
daß bei der ersten Operation bereits diese Zyste eröffnet wurde, daß also
der Tumor ein unendlich langsames Wachstum hatte. Darin stimmt er ja
mit den Hämangiomen vollkommen überein.
Man kann noch ein zweites anführen. Der Tumor macht an sich wenig
Druckerscheinungen und wo er ins Gewebe einbricht, wächst er substiluliv.
Da diese Einbrüche aber unendlich klein sind, so wird man auch hier nicht
erwarten können, daß von den betroffenen Organen sehr wesentliche Er-
scheinungen vorhanden sein werden.
258 Dr. Masamichi Toyama.
Was den Befund in der Medulla oblongata anlangt, so ist es an den
vorliegenden Schnitten nicht möglich, sich ein genaues Bild zu verschaffen.
Aber es macht den Eindruck, als ob hier eher ein Gliawärzchen vorliege, als
ein Einbruch des Tumors.
Es erhebt sich nun die Frage, ob es möglich ist, den Ausgangspunkt der
Gieschwulst festzustellen. Der Umstand, daß sie außerhalb des Gehirns sich
entwickelt, spricht allein gegen die gliöse Natur. Roussy und Oberling
haben allerdings Hämangiogliome angenommen und wenn man deren Zeich-
nung (Fig. 13 der Tafel) betrachtet, so muß man zugeben, daß unendlich viel
Ähnlichkeit mit unserem Fall besteht. Sie schreiben auch, daß die Haupt-
masse ihres Angioglioms aus epithelialen Zellen zusammengesetzt ist, die
entweder in kompakten Herden oder häufiger in soliden Strängen angeordnet
sind, eingescheidet von Kapillaren. Anderseits aber bemerken sie, daß es
Herde mit Zellen gibt, deren plasmatischer Körper sich verlängert und einen
Fortsatz an die Gefäße schickt. Diese Zellen sind ihrem Äußern nach sehr
vergleichbar gewissen protoplasmatischen Astrozytomen. Auch diese Schilde-
rung können wir für unseren Tumor gelten lassen. Es finden sich tatsächlich
Zellen, die birnförmig sind und deren Fortsatz an ein Gefäß heranzutreten
scheint. Ja es finden sich Zellen, die scheinbar ein Netzwerk von Fasern
formieren, so wie es Astrozyten im synzytialen Verband zu formieren pflegen.
Einzig der Umstand, daß es mir gelang, bei diesen Fortsätzen und bei dem
scheinbar fibrillären Gewebe typisches kollagenes Bindegewebe nachzuweisen,
spricht dafür, daß auch hier nichts anderes vorliegt, als mesodermale
Elemente, daß wir also nicht von einem Angiogliom zu sprechen notwendig
haben. Man darf auch nicht vergessen, daß das Wachstum des Glioms ein
anderes ist als das der Angiome. Wir finden nichts von Infiltration im Ge-
webe und wo der Tumor in der Umgebung einbricht, geschieht dies sub-
stitutiv.
Aber noch ein Faktor scheint mir sehr bemerkenswert. Ich habe in
diesem Angiom (Gefäße gefunden, die eigentlich sonst nur in Angiomen
zu finden sind, die Roussy und Öberling als kavernöse Angiome be-
zeichnen. Der Hauptmasse nach aber gehört dieser Tumor jener Gruppe an,
die die genannten Autoren als Angioretikulome bezeichnen, das heißt An-
giome vom Typus des Retikuloendothels. Sicher gehört der vorliegende
Tumor dahin, und zwar aus mehreren Gründen.
1. Wenn man eine noch unveränderte Zelle des Tumors ins Auge
faßt, so ist es immer eine typische Endothelzelle, das heißt sie ist kubisch,
zeigt den Kern mehr gegen die Basis hin verlagert und läßt deutliche Zell-
grenzen erkennen.
2. Der zweite Umstand, der dafür spricht, daß es sich um ein Reti-
kuloendothel handelt, ist die Tatsache der Fettspeicherung. Am Hämalaun-
Kosinpräparat sieht man in der Zelle ein feines Wabenwerk nicht überall,
sondern nur an einzelnen, besonders hervorstechenden Partien, aber doch so,
daß man von einer diffusen Speicherung sprechen kann. Spezifische Fett-
färbungen zeigen nun, daß diese feinsten Tröpfehen die Scharlachrotfärbung
Ein Fall von Angio-Retieulom usw. 259
annehmen, nicht aber im Weigert-Präparat schwarz erscheinen. Es handelt
sich also nicht um lezythinoide Substanzen, wie man sie bei der Pick-
Niemannschen Erkrankung und auch bei der amaurotischen Idiotie findet,
sondern um jenes Fett, das sich in den Körnchenzellen bei einem ent-
sprechenden Abbau von Myelin zeigt. Da nun dieser Abbau von Myelin im
vorliegenden Fall nahezu vollständig fehlt, so ist es natürlich schwer, die
Fettspeicherung auf diese Weise erklären zu wollen. Nun kann man aber
mit absoluter Sicherheit nachweisen, daß eine große Zahl von Zellen vor-
handen ist, die keinerlei Fett enthalten. Es gibt ganze Partien des Tumors
von dieser Beschaffenheit, daneben sieht man Zellen, die das Fett mehr
oder minder reichlich enthalten, aber noch vollständig «den Charakter der
Zellen erkennen lassen.
3. Sieht man aber Zellen, die übermäßig groß geworden sind und deren
Kerne deutlich das Zeichen des degenerativen Prozesses erkennen lassen,
Zellen, die gleichfalls mit Fetttröpfchen gefüllt sind und man kann sehen,
wie solche Zellen zugrunde gehen, und zwar nicht einzeln, sondern in Massen,
wodurch dann im Tumor scheinbar ganz homogene, blaß gefärbte Inseln ent-
stehen aus einem nicht näher zu differenzierenden Gewebe. Aus diesem
Grund möchte ich meinen, daß wir es hier vielleicht neben der Fettinfiltration
noch mit einer fettigen Degeneration zu tun haben, ohne näher angeben zu
wollen, woher dieses eigentümliche Fett stammt.
Überhaupt ist es schwer, sich über die Herkunft der Zellen eine An-
schauung zu bilden. Das Nächstgelegene wäre anzunehmen, daß die Arach-
noidea Ausgangspunkt der Tumorbildung sei. Der Umstand, daß sich ein
mehr zapfenförmiger Fortsatz des Tumors in der Dura findet, spricht viel-
leicht dafür. Wenn man aber die Arachnoidea, bzw. die Membran und die Pia,
die sich voneinander nicht differenzieren lassen, genauer ins Auge faßt, so
kann man nirgends mit Sicherheit erkennen, daß hier ein Tumor aus der
Arachnoidea entsteht. Auch sind diese Tumoren, die man seit Martin Benno
Schmidt genauer kennt und die später von Mallory wieder beschrieben
wurden, von Cushing und Bailey in ihre Gruppe der Meningiome auf-
genommen wurden, ganz anders konstituiert und selbst wenn es sich um
sogenannte Angioendotheliome der älteren Nomenklatur handelt, in ihrem
Aufbau so wesentlich von dem vorliegenden Tumor verschieden, daß man
mit einer großen Sicherheit die Arachnoidea als Ausgangsstelle des Tumors
ausschließen kann.
Es erhebt sich nun die Frage, ob hier ein blastomatöses Gewebe vorliegt
oder ob wir hier ein vollständig entwickeltes Gewebe vor uns haben. In
meinem Fall sowie in den eingangs angeführten Fällen von Cushing und
Bailey sowie in den Angioretikuloimen von Roussy und Oberling muß
man zugeben, daß es sich um vollentwickeltes Gewebe handelt. Dafür spricht
vielleicht auch der Umstand der Fettspeicherung. Ich stelle mich also in diesem
Falle auf den Standpunkt der letztgenannten Autoren und möchte den vor-
liegenden Fall als Angioretikulom auffassen. Interessant ist dabei nur der
Umstand, daß der Tumor Stellen enthält, die dem einfachen Kavernom gleichen
260 Dr. Masamichi Toyama.
und solche, die man als Angiogliom auffassen könnte. Aber das sind offen-
bar Partien — soweit die letzteren in Frage kommen —, die aus irgend
welchen inneren Gründen eine Umwandlung erfahren haben, wodurch sie
sich in ihrem Aussehen von den andern Zellen unterscheiden. Meine An-
schauung über die Zystenbildung in diesem Tumor — wenn wir von den
kavernösen Räumen, die mitunter auffallend groß sind, absehen — ist die,
daß in solchen Geschwülsten auch Einschmelzungsprozesse vorkommen, die
genau so wie in Gliomen, gelegentlich eine größere Zyste formieren, wobei
die Wand nicht aus Glia, sondern aus einem fibrösen Bindegewebe besteht.
Eine Innenauskleidung aus Endothel läßt sich hier nicht nachweisen. Ebenso
läßt sich in meinem Fall nicht zeigen, daß der Tumor von der Zystenwand
seinen Ursprung genommen hat, wenn auch die Zyste ziemlich in der Mitte
des Tumors gelegen ist.
Über die wahre Ursache dieser Tumoren vermag ich aus diesem Fall
keine Schlüsse zu ziehen, zumal er als solitärer Tumor gefunden wurde.
Aber es hat vieles für sich, diese Gruppe von Tumoren mit den Neurinomen
zu homologisieren und in ihnen eine Anlageschädigung des Blutgefäßsystems
zu sehen, eine Schädigung, die bald nur an einzelnen Stellen, bald an
mehreren Stellen sich auswirkt, wie dies Lindau in seiner fundamentalen
Arbeit nachgewiesen hat.
Literatur
(nur die im Text namentlich angeführten):
Cushing H. und P. Bailey, Hemangiomas of cerebellum and retina (Lindau’s disease)
Angiomatous Malformations and Hemangioblastomas. Ch. C. Thomas, Spring-
field and Baltimore. 1928.
Cushing H. und P. Bailey, Hemangiomas of cerebellum and retina (Lindau’s disease)
with the report of a case. Arch. of Ophtalm., Bd. 57, S. 447 bis 463, 1928.
Lindau A. Studium über Kleinhirnzysten. Bau, Pathogenese und Beziehungen zur
Angiomatosis retinae. Acta pathol. et mierobiol. scandinav. Suppl. Bd. 1, S. 1
bis 129, 1926.
Lindau A. Zur Frage der Angiomatosis retinae und ihrer Hirnkomplikationen. Acta
opht., Bd. 4, H. 3, S. 193 bis 226, 1927.
Mallory F. B., The type of cell of the so called dura endothelioma. The journal of
med. Research, XLI, 349, 1920.
Marburg und Meller, Zur Kenntnis des Wesens der sogenannten C'zermak v. Hippel-
schen Netzhanterkrankung. Zeitschr. f. Augenheilk., Bd. 64, 1928.
Roussy G. und C. Oberling, Les Tumeurs angiormateuses des centres nerveux.
Presse méd., 1930.
Roussy G. und C. Oberling, Les Tumeurs angiomateuses des centres nerveux.
Revue neur, 36, ILS. 721 722, 1929.
Schmidt Martin Benno, Über die Pachionischen Granulationen und ihr Verhältnis
zu den Sarkomen und Psammomen der Dura mater. Virchows Arch, C LXX,
Ss. 429, 1902.
Aus dem XNeurologischen Institut der Universität Wien,
Vorstand: Prof. Dr. O. Marburg.
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn.
Von
Alfred Alexander.
Demonstrator am Institut.
Mit 12 Abbildungen im Text.
I. Teil. Geschichte der zentralen Haubenbahn.
Die zentrale Haubenbahn nimmt eine besondere Stellung unter den Faser-
systemen ein. Obwohl sie seit mehr als 59 Jahren bekannt ist und beim Men-
schen und den meisten Säugern ein ziemlich starkes Bündel darstellt, ist es
doch niemals gelungen, ihre Urspungszellen mit Sicherheit festzustellen. Da
weiterhin fast jeder Autor, der sich mit der zentralen Haubenbahn beschäftigt
hat, zu einer anderen Ansicht über den Ursprung dieses Systems gekommen
ist, sind über diesen Punkt in der Literatur die verschiedensten Meinungen
vorhanden. Dies und der Umstand, daß eine genauere Zusammenstellung
der Literatur der zentralen Haubenbahn bisnun fehlt, haben mich veranlaßt,
das wichtigste aus der Geschichte unserer Kenntnisse über dieses System
hier mitzuteilen.
Stilling (35) war der erste, der die zentrale Haubenbahn, wenn auch
nur teilweise, gesehen hat. In den Bildern seines schon 1846 erschienenen
Atlas ist sie deutlich eingezeichnet (Tafel 2 bis 7, e), er hat sie jedoch nur
über eine kurze Strecke ihres Verlaufes im kaudalen Teil der Brückenhaube
verfolgt und fälschlich als Fortsetzung der Seitenstränge des Rückenmarkes
aufgefaßt. Den Zusammenhang des Systems mit den unteren Oliven hat er
nicht erkannt.
Der erste, der eine zerebrale Verbindung der Oliven festgestellt hat, war
Schröder van der Kolk (32). Er schreibt in seinem 1859 erschienenen
Buche (S. 134): „Da nun aber von der Spitze der Olive und von deren Seiten
ebenfalls viele Längsfasern zu entspringen scheinen, die als Funieuli olivares
und als Laqueus zum Hirnschenkel und zu den Vierhügeln verlaufen, so kann
man auch annehmen, diese letzteren Stränge seien bestimmt, die Oliven mit
dem großen Gehirn und mit unserem Willen in Verbindung zu setzen.“ Er
faßte allerdings die unteren Oliven als einen Kern auf, der als Koordinations-
kern in den Verlauf der IHypoglossusfasern eingeschaltet ist und dessen beson-
ders starke Ausbildung beim Menschen sich durch die dem Menschen eigen-
tümliche Entwicklung der Sprache erklärt.
262 Alfred Alexander.
1881 hat Wernicke (38) die zentrale Haubenbahn streckenweise be-
schrieben. Er nennt sie „Haubenbündel aus der hinteren Kommissur“,
und schreibt (S. 90): „Es läßt sich der Nachweis führen, daß nach der
peripheren Seite hin die hintere Kommissur in eine wohl charakterisierte
Gruppe von Querschnitten übergeht, die nach oben und außen vom roten Kern,
auswärts des hinteren Längsbündels ihre Lage erhalten und bei der Haube
verbleiben.“ Daß Wernicke mit diesen Querschnitten die zentrale Hauben-
bahn gemeint hat, geht deutlich aus seinen Abbildungen (cp in Fig. 47 bis
51, 53, 54, Schema XII, XV) hervor. Er verfolgt sein Haubenbündel aber nur
durch der oralen Teil der Brückenhaube und hat den Zusammenhang mit den
Oliven nicht festgestellt.
1882 beschrieb Paul Meyer (25) einen Fall von Ponsblutung und hat die
zentrale Haubenbahn, allerdings ohne Bezeichnung, als degeneriert einge-
zeichnet (Fig. 6). In diesem Falle fand sich auch eine Degeneration der
unteren Olive der gleichen Seite, wobei das Olivenareal vergrößert, die Falten
breiter, die Olive selbst aber faserarm und die Zellen atrophisch waren.
1885 hat Bechterew (2) das Bündel über die größte Strecke seines Ver-
laufes hin verfolgt und das Ende der Bahn an den unteren Oliven einwandfrei
festgestellt. Er war es auch, der dem System, seiner Lage in der Brücken-
haube wegen, den Namen „zentrale Haubenbahn“ gegeben hat. Er beschrieb
die Bahn am Hirn von Neugeborenen, bei denen sich die Bahn infolge ihrer
im Laufe des ersten Lebensmonats eintretenden Markreife von der um diese
Zeit noch vorwiegend marklosen Umgebung deutlich abhebt. Er zitiert
Stilling und Wernicke als Autoren, denen die Bahn schon streckenweise
bekannt war, und schreibt (S. 195): „Da, wo die Bündel des zentralen Teiles der
hinteren Kommissur des Gehirns zu den hinteren Längsbündeln ziehen, durch-
flechten erstere teilweise die zentrale Haubenbahn, so daß scheinbar beide
ineinander übergehen (daher der Irrtum Wernickes). Indes lehrt die Unter-
suchung zirka sieben Monate alter Fötus, wo besagte Bündel der hinteren
Kommissur starke Markscheiden besitzen, die zentrale Haubenbahn aber noch
völlig marklos ist, daß beide nichts miteinander zu tun haben. Vielmehr setzt
sich die zentrale Haubenbahn weiter nach oben gegen das Großhirn fort, in-
dem sie zwischen dem Boden des dritten Ventrikels und dem roten Kern, und
zwar wenig entfernt vom ersteren, nach vorn bzw. ventral umbiegt, ohne daß
ich vorläufig angeben könnte, wo sie zentral endet." i
In einem Zusatze hiezu schreibt Flechsig (14) (S. 196): „Nach Durch-
sicht. verschiedener Schnittreihen ... komme ich zu der Überzeugung, daß die
zentrale Haubenbahn sich zum mindesten mit dem größeren Teil ihrer Fasern
in die Linsenkernschlinge fortsetzt, demgemäß mit dem Linsenkern in Ver-
bindung tritt. Ein Teil der Fasern geht wohl auch durch bzw. über den Luys-
schen Körper bzw. die innere Kapsel zum Linsenkern.“
Weder Bechterew noch Flechsig, in dessen Laboratorium Bechterew
seine Untersuchungen angestellt hatte, schreiben in der ersten Publikation
etwas über die Leitungsriehtung des Systems. Die deszentdierende Leitungs-
richtung als erster erkannt zu haben, ist das Verdienst von Jelgersma (18),
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 263
der 1887 in Fällen von Idiotie mit weitgehenden Destruktionen im Hirnstamm
die zentrale Haubenbahn absteigend degeneriert fand.
Helweg (15) hat die Bahn 1888, also drei Jahre nach Bechterew, aber
scheinbar ohne Kenntnis der Bechterewschen Publikation als „ovale Bahn der
Haube‘ beschrieben. Er meinte, daß sie aus der hinteren Kommissur hervorgehe
und daß sich die Bahn, direkt oder indirekt, in seine dreikantige Bahn fort-
setze. Den Zusammenhang mit den unteren Oliven hat er richtig erkannt, läßt
die Bahn Fasern zur oberen Olive abgeben und meint, daß sie sich am obersten
Abschnitt der Oliva superior in drei Teile teilt, ein vorderes äußeres, ein mitt-
leres und ein hinteres inneres Bündel. Das innere Bündel (das scheinbar allein
der zentralen Haubenbahn entspricht), läßt er den Untersuchungen Wer-
nickes entsprechend durch die Bindearme und unter die Corpora quadri-
gemina anteriora gehen, um in die Commissura posterior einzubiegen.
Die beiden anderen Bündel vermag er nur bis zum Bindearm zu verfolgen.
Funktionell hält er die Bahn, deren absteigende Degenerationsrichtung er
erkannt hat, ebenso wie die Dreikantenbahn für eine Bahn vasornotorischer
Natur. .
1889 berichtet Bruce (7) über die zentrale Haubenbahn (S. 23): “At the
level of the anterior corpora quadrigemina it lies immediately external to the
posterior longitudinal fasciculus. It then passes behind the red nucleus, and
enters the lenticular — nucleus loop, to terminate, according to Flechsig,
in the lenticular nucleus.” Gelegentlich der Untersuchung neun Monate alter
Embryonen fand er aber noch eine zweite von den Oliven ausstrahlende
Bahn (Fig. 2), über die er folgendes sagt: “The strand, which is only in-
distinctly seen in the ordinary vertical transverse sections, begins, like
Bechterews tract, on the external aspects of the olive. It then bends gradually
inwards, backwards, and in upward direction, forming a compact bundle, till
it reaches the inner side of the nucleus of the facial nerve. Then it turns out-
wards and slightly backwards, crossing the roots of the facial nerve. As it does
so, the fibres spread out from each other in a fan-shaped manner, and become
less easy to trace. They apparently, howewer, bend somewhat downwards and
enter the external (Deiters’s nucleus) of the vestibular root of the auditory
nerve. This connection of the olive with the auditory nerve may serve to throw
some light. on the special function assigned to the inferior olivary body in
maintaining the equilibrium of the body.” In bezug auf diese Fasern, von
denen hier nur festgestellt sei, daß Bruce sie als erster beschrieben hat, sei
auf später (S. 274) verwiesen.
Moeli und Marinesco (26) erwähnen 1892 Degeneration der zentralen
Haubenbahn sowie der gleichseitigen unteren Olive und teilweise Degenera-
tion der kontralateralen Olive bei der Beschreibung eines Ponsherdes. Sie
meinen, daß in ihrem Falle die Degeneration der zentralen Haubenbahn auch
zerebralwärts fortgeschritten sei, da sie auch oberhalb des Herdes, unter den
vorderen Vierhügeln, das Feld lateral vom Fasciculus longitudinalis posterior
degeneriert fanden. Uber den Ursprung des Systems geben sie nichts an.
Jakob (17) beschrieb 1894 einen Fall, hei dem es nach Zerstörung u. a.
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. B4., Heft 2. 18
264 Alfred Alexander.
des linken vorderen Zweihügels und der linken Haubengegend zur Degenera-
tion der zentralen Haubenbahn gekommen war. Gleichzeitig fand er die linke
untere Olive faserlos und atrophisch; auch die rechte Olive war in ihren
basalen Partien an Fasern verarmt.
Nachdem auch Bechterew 1896 die deszendierende Richtung des
Systems nachgewiesen hatte (3), setzte er 1899 (4) die zentrale Haubenbahn
zur Funktion des Körpergleichgewichtes in Beziehung (S. 351): „und zwar
sowohl mit Rücksicht auf ihre sicher erwiesenen Verbindungen mit den
unteren Oliven als auch im Hinblick auf die absteigende Richtung der Degene-
rationen bei Erkrankungen der zentralen Haubenbahn“.
Der amerikanische Autor Barker (1) wies 1899 darauf hin, daß der
Fasciculus tegmenti centralis, obwohl er im wesentlichen sicher absteigender
Richtung sei, auch zentripetale Fasern führe. Über den Ursprung der Bahn
meint er (S. 974): “There seems to be some doubt as to whether it hat its
origin in perikaryons in the thalamus or in the nucleus lentiformis.”
van Oordt (28) fand 1900 im Fall eines Tumors der obersten Brücken-
region Degeneration -der zentralen Haubenbahn. Er schreibt (S. 137 f.): „Aus
einem die Haube des Pedunculus und die Vierhügel lädierenden Herde sieht
man die scharf begrenzte, in sekundärer Degeneration befindliche Haubenbahn
zur Olive derselben Seite hinabsteigen. Zunächst rein dorsal von der unteren
Olive wendet sich das Degenerationsfeld immer mehr seitlich und umgibt
schließlich in einem schmalen äußeren Halbring die Olive, die selbst atro-
phisch erscheint in Bezug auf das Gesamtvolumen sowohl, als auf das der
einzelnen Ganglienzellen. An der anderen Olive ist nichts derartiges zu beob-
achten. Jenseits der Olive ist kein von sekundärer Degeneration befallenes
Fasersystem feststellbar. ..... Über den zentralen Beginn dieser Bahn bringt
der vorliegende Fall nur insofern Aufschluß, als wir wenigstens in proximaler
Richtung vom Herd keine Haubendegeneration, abgesehen von der Schleife,
fanden. Dies legt die Annahme nahe, daß die zentrale Haubenbahn auf dem
Wege vom Gehirn zum Kleinhirn aus mehreren Neuronen zusammengesetzt
ist. In den Oliven kennen wir den Beginn eines derselben, in die Vierhügel-
gegend ist wohl der Beginn eines anderen zu verlegen, das wenigstens einem
sehr großen Teile dieser Bahn in der Brückenhaube als nutritives Zentrum
dient. Durch unseren Herd wurden jedenfalls alle die zentrale Haubenbahn
zusammenselzenden Bündel unterbrochen und so erklärt sich auch die im
Vergleich zu anderen Beobachtungen größere Ausdehnung des Degenerations-
feldes, das übrigens direkt unterhalb des Herdes nicht größer ist, als beim
Kintritt in die unteren Oliven. Alle Fasern dieser Bahn scheinen demnach die
Oliven zu erreichen.“
Collier und Buzzard (10), die 1901 über Ergehnisse experimenteller
Untersuchungen berichten, haben bei einer Katze eine Läsion gesetzt, die,
beiderseits von der Mittellinie die hintere Hälfte der dorsalen Kommissur,
die Fontänenkreuzung sowie Teile der Forelschen Kreuzung durchsetzte
und berichten (S. 188): “... it is worthy of note, that notwithstanding the
position of the lesion the "zentrale Haubenbahn' was not degenerated.” Später:
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 965
“We have found its course exactly as described by Bechterew, but our cases
did not afford an investigation of its origin further than the fact, that it was
not degenerated in the cat in a lesion of the dorso-mesial part of the Tha-
lamus.” Als Ende der Bahn bezeichnen sie hauptsächlich die Oberfläche der
gleichseitigen Olive, einige Fasern schienen ihnen zwischen Olive und
Pyramiden zum Hilus olivae zu ziehen, eine dritte Gruppe in der Oliven-
zwischenschicht zu enden. Einen Zusammenhang zwischen zentraler Hauben-
bahn und der Dreikantenbahn Helwegs konnten sie nicht feststellen.
Dejerine schreibt 1901 (11) S. 584): «Des trois faisceaux compacts
de la formation reticulee, le faisceau central de la calotte est le moins bien
delimite: dans la partie superieure ou pedonculaire de son trajet, il se fusionne
complètement avec les fibres longitudinales de la formation reticulce; l'étude
des degenerescenses secondaires permet toutefois d'affirmer qu’il concourt
à former la partie postérieure de la capsule de noyau rouge et qu'il est situé
en dehors et en avant du faisceau longitudinal postérieure. »
Breuer und Marburg (6) beschrieben 1902 einen Fall von Thrombose
in einen. Teilgebiete der Art. vertebr. sin., die zu Degeneration der zentralen
Haubenbahn geführt hatte. Dabei trat die zentrale Haubenbahn zunächst haupt-
sächlich mit dem ventralen Olivenschenkel in Verbindung: in Schnitten, die
die Oliva inferior an deren kaudalem Ende trafen, sahen sie aber, daß von
einem Gebiete zwischen Olive und medioventraler Nebenolive ausgehend, feine
Fasern radienförmig ausstrahlten, die sie als dorso-, intra- und ventro-
olivare Fasern bezeichneten. Diese Beobachtung widerlegt und erklärt gleich-
zeitig die später von Schaffer (s. S. 268) vertretene Ansicht, daß die zentrale
Haubenbahn nur mit dem ventralen Olivenschenkel in Beziehung stehe. Weiters
fanden die beiden Autoren in ihrem Fall ein Degenerationsfeld, das aus
ziemlich groben Fasern bestehend, den Raum zwischen zentraler Hauben-
bahn und dorsaler Nebenolive einnahm. Sie konnten nun zeigen, daß diese
Fasergruppe, die sie unpräjudizierlich als „dorsoolivares Bündel“ bezeich-
neten und die zunächst hart an der Grenze gegen die zentrale Haubenbahn
verläuft, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aus Fasern besteht, die sich vom
N. Deiters magnocellularis kommend in die Medulla spinalis herabsenken
und denen somit die Bedeutung eines Deitersospinalen Systems zukommt.
Damit haben Breuer und Marburg das, was Bruce auf (irund seiner ent-
wicklungsgeschichtlichen Serien angenommen hat, an Hand des Degenerations-
verfahrens bewiesen. Sie waren es auch, die als erste auf die enge Nachbar-
schaft dieses Systems zum kaudalen Verlaufsabschnitt der zentralen Hauben-
bahn hingewiesen haben.
Sorgo (33) hat 1902 die zentrale Haubenbahn nach Vierhügeltumoren
ebenfalls degeneriert gefunden. Er sieht ihre Fasern an der unteren Olive
in die Horizontale umbiegen und die laterale Olivenhälfte mit ihren Fasern
umspinnen. Die Fasern strahlen in die Olive ein und breiten sich in ihr radiär
aus, was durch die ganze Höhe der Olive hindurch zu verfolgen war. Im
Gegensatz zu Collier und Buzzard hat er keine Fasern in die Oliven-
zwischenschicht einstrahlen gesehen. Was oralen Verlauf und Ursprung des
18°
266 Alfred Alexander.
Systems betrifft, so ist er der Meinung, daß die zentrale Haubenbahn sich um
die Bindearme dorsalwärts wendet, im sogenannten dorsolateralen Hauben-
feld weiter verläuft und schließlich in die Bindearme selbst einstrahlt.
1903 beschrieb Probst (30) die zentrale Haubenbahn an einem Falle
von Hirnlues. Er nennt sie „Zwischenhirn-Olivenbahn“ und sieht ihre Fasern
(S. 377): „... aus dem Gebiete des roten Kerns hervorstrahlen und sich an der
dorsalen Seite dieses sammeln, um lat. ventral vom dorsalen (hinteren) Längs-
bündel bereits als kompaktes, sagittal verlaufendes Bündel zu erscheinen.
Frontalwärts über den roten Kern hinaus vermochte ich die Fasern des
Bündels nicht zu verfolgen...... Es liegt also die Wahrscheinlichkeit nahe,
daß die Fasern der zentralen Haubenbahn im roten Kern entspringen, wobei
ich aber nicht ausschließen kann, daß ein Teil der Fasern nicht nur aus der
Regio subthalamica (roter Kern), sondern auch von Ganglienzellen kommt,
die zwischen rotem Kern und den Sehhügelkernen liegen...... An der Außen-
seite der unteren Olive, d. i. die dorsale, laterale und ventrale Seite der Olive,
beginnt sich das Bündel aufzusplittern, indem es seine blinden Endausläufe
zu den Ganglienzellen der unteren Olive entsendet. In der Höhe des Hypo-
glossuskerns sind die meisten Fasern des Bündels schon aufgeplittert. Keine
einzige Faser läßt sich über die untere Olive kaudalwärts verfolgen. Das be-
schriebene Bündel ist demnach eine motorische zentrifugale, absteigende
Zwischenhirn-Olivenbahn. Auf ihrem Wege bis zu der unteren Olive gibt sie
keinerlei Ästchen ab.“ Später (S. 378): „Eine Zwischenhirn-Olivenbahn, wie
sie beim Menschen vorkommt, kommt nach meinen Untersuchungen bei Hun-
den, Katzen, Igeln, Vögeln nicht vor. Interessant sind diesbezüglich Experi-
mente an Affen, die ich einer späteren Arbeit vorbehalte.“
Thomas (36) bespricht die zentrale Haubenbahn 1993 an Hand eines
Falles von Blutung in der Brückenhaube, an der oberen Grenze des Abduzens-
kerns, welche die eine Hälfte der Haube fast vollkommen zerstörte. Dabei fand
er eine komplete Degeneration der zentralen Haubenbahn; diese Degeneration
setzte sich auch unter die unteren Oliven an der Stelle der Dreikantenbahn
Helwegs bis zum zweiten Zervikalsegmente fort. Die untere Olive zeigte
Hypertrophie der Olivengrundsubstanz bei gleichzeitiger Atrophie und Ver-
minderung der Zellen. Dieser Befund brachte ihn zu der Ansicht, daß die
zentrale Haubenbahn aus absteigenden Fasern bestehe, die zum Teil an den
unteren Oliven enden, zum Teil sich aber auch in die Helwegsche Bahn
fortsetzen.
1904 hat Lewandowsky (22) als zentrale Haubenbahn an Katzen und
Hunden einen Faserzug beschrieben, der, wie er selbst sagt, mit der Beschreibung
Bechterews nur von den Oliven zum Pons vollkommen übereinstimmt. Als
Ursprungsort seiner Bahn gibt er das Corpus quadrigeminum anterius an, wo
diese Fasern als mediale Portion des Tractus tectopontinus von Münzer
entspringen. Sie wenden sich dann (S. 117) „in ganz losen, feinen Zügen,
die Formatio reticularis in leicht ventromedialer Richtung durchbrechend“,
kaudalwärts, so daß sie schließlich dorsal vom Lemniscus med. zu liegen
kommen.
Untersuchungen über die zentrale Haubenbalın. 267
Long und Roussy (23) fanden 1908 nach einer Läsion der Hirnschenkel-
haube Degeneration der zentralen Haubenbahn. Ohne zur Frage nach dem Ur-
sprung des Systems Stellung zu nehmen, ziehen sie aus ihrem Fall folgende
Schlüsse in Bezug auf das Ende der Bahn: 1. Die zentrale Haubenbahn endet
zum größten Teil im Grau der unteren Olive. 2. Ein Teil der Fasern endet an
den Nebenoliven, besonders der dorsolateralen, was aus dem Auftreten von
Degenerationskörnern im Marchi-Präparat an diesen Stellen zu schließen ist.
3. Die meisten Fasern umziehen, bevor sie enden, im Bogen die hintere und
äußere Partie der Olive. 4. Eine Fortsetzung der Bahn in die Dreikantenbahn
erfolgt nicht.
Im Jahre 1909 haben Economo und Karplus (12) das Ergebnis ex-
perimenteller Arbeit an Katzen und Affen veröffentlicht. Sie konnten bei
beiden Tierarten die zentrale Haubenbahn nachweisen, die sie aus der dorso-
lateralen Haubenecke, der Stelle, wo sich das Bracchium coniunctivum in die
Medulla oblongata einsenkt spinalwärts verfolgten und deren Verlauf sie mit
den Angaben der Autoren übereinstimmend fanden. Sie schreiben (S. 390):
„Über den Ursprung des Bündels können wir nichts angeben, doch stimmt
die Herkunft aus der dorsolateralen Haubenecke gut mit der Angabe Sorgos
(s. S. 265) überein."
Herzog (16) beschrieb 1910 einen Fall, bei dem sich ein Tumor vom
linken Thalamus bis zum linken unteren Vierhügel ausdehnte. Dabei fand er
Degeneration der zentralen Haubenbahn, die bis zu den unteren Oliven zu ver-
folgen war, wo Degenerationsschollen hauptsächlich am oberen und äußeren
Olivenrand, zum Teil aber auch in der Olive und in der Olivenzwischenschicht
zu sehen waren. Eine kaudale Fortsetzung des Systems unter die Oliven ließ
sich nicht nachweisen.
In ähnlicher Weise fand Brun (8) 1912 die zentrale Haubenbahn bei Er-
weichungszysten in der Oblongata degeneriert (S. 340): „Dieses Bündel
wurde links in einer Höhe unterbrochen, wo es sich bereits in schmaler,
mantel- oder halbmondförmiger Schicht um die äußere Peripherie der Olive
herumzulegen beginnt und diese dorsale und laterale Olivenrandzone erweist
sich absteigend bis zum kaudalen Pole der Olive und unter sukzessiver Er-
schöpfung (infolge Übertritts der Fasern in das äußere Vlies) total degeneriert.“
Einen Übergang von Fasern ins Helwegsche Bündel leugnet auch er ent-
schieden.
Edinger (13) bezeichnet 1911 die Bahn als Tractus thalamo-olivaris und
meint, daß sie entweder in einer noch nicht genau bekannten Stelle des
Thalamus oder in der Gegend unter den vorderen Vierhügeln entspringe.
Obersteiner (27) beschrieb die zentrale Haubenbahn 1912 in folgender
Weise (S. 471): „Am zerebralen Ende des Olivenkerns macht sich ein Faser-
bündel durch seine dunklere Tinktion (bei Weigert-Färbung) ohne scharfe
Abgrenzung bemerkbar, die zentrale Haubenbahn Bechterews (Tractus
thalamo-olivaris). Wir finden dieses Bündel oral dorsolateral neben dem
Schleifenfeld, medial von der oberen Olive, weiterhin mitten im Haubenquer-
schnitte, etwa im Innern des Halbmondes, den die herabsteigenden Bindearme
268 Alfred Alexander.
bilden; dann wird es von den sich kreuzenden Bindearmfasern durchzogen
und liegt hierauf wieder frei ventrolateral vom hinteren Längsbündel. Sein
oberes Ende, oder eigentlich sein zerebraler Anfang, ist nicht sicher bekannt,
aber vielleicht im Linsenkern oder (was eher anzunehmen ist) im Thalamus
zu suchen. Wahrscheinlich haben wir also in der zentralen Haubenbahn eine
direkte Verbindung zwischen den Starmmganglien und der unteren Olive.“
Schaffer (31) beschrieb 1919 einen Fall von Degeneration der zentralen
Haubenbahn ‚sive Tractus thalamo-olivaris“, der sich nach einem Herd in
der Haube der Fazialis-Abduzenshöhe eingestellt hatte (S. 71): „Das Degenera-
tionsfeld besteht aus feinen, jedoch dichtgestellten Entartungskörnern. Es
liegt knapp lateral von der intrapontinen Abduzenswurzel, dorsolateral von
der Schleife, medial von der oberen Olive, in der Akustikushöhe senkt es sich
und umfaßt schon mehr ventral das obere Ende der unteren Oliven dorso-
lateral und endlich in der Vagushöhe in der höchsten Breite der unteren
Olive zieht es um letztere ventromedial herum, wobei die Degenerationskörner
zwischen den periolivaren Bogenfasern liegen. Die Degenerationskörner wen-
den sich nun alle zum ventralen Schenkel der unteren Olive, umfassen diesen
in- und auswendig und bilden auf diese Weise förmlich einen Pelz um den
ventralen Olivenschenkel. Diese Bildung entspricht genau dem Ziehenschen
Olivenmantel — Amiculum olivae. Das vollkommene Freibleiben des dorsalen
Olivenschenkels ist sehr auffallend und bezeichnend, daher hat die zentrale
Haubenbahn allein mit dem ventralen Olivenschenkel eine Verbindung bzw.
endet nur in diesem.*) Die zentrale Haubenbahn sah F. Herzog in einem Fall
von Vierhügeltumor der Haubengegend degeneriert, der sie auf die äußere und
obere Fläche der Olive verfolgen konnte. ..... Mit Herzogs Beobachtung
stimmt mein Fall insofern überein, daß ich die zentrale Haubenbahn auch in
der unteren Olive enden sah; abweichend ist meine Feststellung, in Bezug auf
die Endigungsstelle, als welche Herzog die ganze Olive bestimmt, ich aber
das ventrale Blatt allein bezeichne. Diese Differenz mag darin ihre Erklärung
finden, daß in Herzogs Fall vielleicht mehr degeneriert war als strikte
die thalamo-olivare Bahn, oder darin, daß in meinem Fall nicht die ganze
zentrale Haubenbahn eine Degeneration erlitt; letzterer Annahme jedoch wider-
spricht der Umstand, daß in der unteren Brücken- und in der obersten Ob-
longatahöhe das gesamte Gebiet des fraglichen Bündels entartet erscheint.“
Kappers (19) erwähnt die zentrale Haubenbahn 1920 gelegentlich der
Besprechung der Oliva inferior (S. 598): „Auch aus frontalen Ebenen
kommende Fasern scheinen der Olive zuzuströmen. Bei den Fischen kommen
tektale Fasern dafür in Betracht. Bei den Säugern schreiben einige Autoren
dem Haubenbündel, einem im Thalamus entstehenden System, diese Rolle zu."
Wallenberg (37) faßt 1922 die zentrale Haubenbahn als zentrifugale
Bahn des Putamens auf. Er meint (S. 202): „Wenn auch die Strecke vom
Putamen bis zum Frontalpole des roten Haubenkerns noch nicht restlos fest-
gelegt ist (wahrscheinlich schließen sich die Fasern dem Bündel H, der
*) Siehe jedoch die von Breuer und Marburg mitgeteilte Beobachtung (S. 265).
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 269
Haubenstrahlung an), so neigt der Vortragende doch um so mehr der Ansicht
zu, daß die zentrale Haubenbahn als zentrifugale Bahn des Putamens anzu-
sehen ist, als sie in Ursprung und Verlauf viele Analogien mit dem Tractus
occipito-mesencephalicus der Vögel, dieser wieder mit dem Verlaufe des late-
ralen Vorderhirnbündels der Teleostier, dem dorsalen Vorderhirnbündel der
Amphibien und Reptilien besitzt.
Im Jahre 1925 hat Környey (20) einen überaus interessanten Fall von
Anenzephalie beschrieben (S. 757): „Die rudimentäre Hirnmasse besteht aus
einigen basalen Resten der Hemisphären und aus einem dem Zwischenhirn
entsprechenden, ebenfalls abnormen Gebilde, welches indessen keine Züge
eines normal morphologischen Aufbaues zeigt. Das Zwischenhirn bildet die
unmittelbare Fortsetzung des Tegmentum mesencephali; die Halbkugelrudi-
mente hängen nur mit den Hirnschenkeln zusammen, sind --- wie wir uns
an histologischen Präparaten überzeugen können - strukturlos, entbehren
der markhaltigen Fasern und sind reich an erweiterten blutgefüllten Gefäßen
sowie Blutungen. Derjenige Teil des Zwischenhirns, welcher als Thalamus
aufzufassen ist, ist nichts anderes als eine strukturlose Masse.“ Die hintere
Kommissur fehlt, dagegen ist ein an den Nucleus hypothalamicus erinnerndes
Gebilde vorhanden, das ein markhaltiges Fasergeflecht besitzt. Das Auffällige
an diesem Fall war nun, daß trotz dieses Befundes die zentrale Haubenbahn
vollkommen intakt war. Rostral vom roten Kern allerdings vermochte er
keine Spuren dieser Bahn aufzufinden (S. 761), „da sie, obwohl ihr Quer-
schnitt in den kaudaleren Teilen normal ist, sich in der Höhe des roten
Kerns allmählich erschöpft und höchstens einige ihrer Bündel in die sub-
thalamische Region verfolgt werden können“ ..... Er meint nun: „So darf ich,
mich der Auffassung von Probst anschließend, den roten Kern und außer-
dem vielleicht auch die subthalamische Region für den Urspungsort der zen-
tralen Haubenbahn halten.“ Fast analog verhalten sich die Anschauungen
Gampers (14a).
Ziehen (43) hat 1926 eine ausgezeichnete und überaus ausführliche
Darstellung des Verlaufes der zentralen Haubenbahn gegeben, auf die noch
des öfteren zurückzukommen sein wird. Die absteigende Leitungsrichtung
des Systems ist seiner Meinung nach nur mit einiger Wahrscheinlichkeit er-
wiesen, da der Vorbehalt, daß es sich bei den beobachteten Degenerations-
prozessen um retrograde, also zellulipetale Degeneration gehandelt haben
könne, niemals ganz abgewiesen werden kann (S. 653). Was den Ursprung
des Systems betrifft, so scheint sich Ziehen der Probstschen Ansicht anzu-
schließen:*\ „Auch ein von Probst mitgeteilter Fall spricht für zentrifugale
Leitung, er spricht außerdem zugunsten eines Ursprungs im roten Kern und
vielleicht auch benachbarter Ganglienzellgruppen (zwischen rotem Kern und
* An anderer Stelle iS. 652: schreibt er: „Der weitere Verlauf wird erst in
späteren Abschnitten beschrieben werden. Er ist übrigens noch fast unbekannt.“
Aus dieser Bemerkung läßt sich schließen, daß Ziehen zur Frage des Ursprungs der
z. H. noch genaueres mitzuteilen hat: doch sind die diesbezüglichen „späteren Ab-
schnitte“ seines Werkes leider noch nicht erschienen.
270 Alfred Alexander.
Sehhügelkernen). Hiefür scheint mir auch die Tatsache zu sprechen, daß auf
Normalserien die zentrale Haubenbahn im Bereich des roten Kerns voll-
kommen zu verschwinden scheint. ..... Die Endigung ist mit Sicherheit in der
Oliva inferior gelegen.“
Schließlich hat sich Winkler (39) 1927 im allgemeinen der Ansicht
Wallenbergs angeschlossen. Er schreibt (S. 106): «En second lieu, les plus
anciennes parties du Thalamus (Kappers), ou le Striatum (Wallenberg)
ou la substantia grisea centralis, envoient vers le bas des fibres qui, en tant
que tractus centralis tegmenti ou en tant que tractus stria-olivaris (Wallen-
berg) courent dans la partie médiane de la substantia reticularis lateralis pour
atteindre les nuclei olivae inferiores.» An anderer Stelle (S. 203): «S'il était
permis d'admettre comme certain que le tractus stria-olivaris réunit le
striatum aux noyaux olivaires et au nucleus funiculi lateralis et que la voie
de Helweg unit la moelle épinière au groupe olivaire, on comprendrait ce
que l'on entend par noyau intercalé. »
lI. Teil. Die zentrale Haubenbahn der Säugetiere*).
Von der Tatsache ausgehend, daß beim Menschen nur undeutlich isolierte
Systeme sich bei einzelnen Tieren oft mit überraschender Deutlichkeit ver-
folgen lassen, habe ich die vergleichend-anatomische Sammlung unseres In-
stituts in Bezug auf die zentrale Haubenbahn untersucht. Wenn nun auch
unsere Erwartungen insofern enttäuscht wurden, als eine vollkommen isoliert
verlaufende, deutlich von ihrem Ende bis zu ihrem Kern ziehende zentrale
Haubenbahn bei keinem der untersuchten Tiere nachzuweisen war, so haben
sich doch einige bemerkenswerte und interessante Tatsachen ergeben, die
wohl imstande sind, einiges Licht auf die so dunkle Frage des oralsten
Verlaufsabschnittes und Ursprunges dieses Systems zu werfen.
Über die zentrale Haubenbahn der Säugetiere ist bisher sehr wenig be-
kannt geworden. Nachdem schon Collier und Buzzard (9) die zentrale
Haubenbahn bei Katzen nachgewiesen hatten, hat Probst (30) den Säugern
mit Ausnahme der Affen (siehe S. 266) die Existenz seiner Zwischenhim-
Olivenbahn abgesprochen. Diese Meinung wurde bald darauf von Lewan-
dowsky (21), der die zentrale Haubenbahn an Katzen und Hunden gesehen
hatte, und von Economo und Karplus (12), die sie an Katzen und Affen
beschrieben, widerlegt. Betreffs Kappers siehe S. 268, und schließlich hat
Ziehen gemeint, daß der Verlauf der zentralen Haubenbahn selbst bei den
Säugern ein zweifelhafter sei, daß es aber über die Existenz dieses Systems
bei den Karnivoren keinen Zweifel gäbe.
Meine Untersuchungen erfolgten an durchwegs lückenlosen Schnittserien
normaler Tiere, die zum größten Teil nach der Palschen Modifikation der
Weigertschen Färbung gefärbt waren, wobei stets auch Schnitte mit Coche-
nille-Alaun nachgefärbt waren; einzelne der untersuchten Serien sind nach
*%, Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung der Wiener anatomischen Gesell-
schaft vom 24. Februar 1931.
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 271
Weigert-Kulschitzky gefärbt worden. Die Mikrophotogramme wurden durch-
wegs mit dem Mikroplanar f=35 mm der Firma Carl Zeiss aufgenommen.
Die Untersuchung der einzelnen Serien ergab folgende Resultate:
Pitheei.
I. Catarrhini.
1. Anthropomorpha.
Zur Durchsicht gelangten Schnittserien von Simia satyros und Hylobates, die
im wesentlichen gleiche Verhältnisse zeigen. Beide Serien sind nicht rein frontal ge-
schnitten, vielmehr liegt der dorsale Teil der Schnitte beträchtlich oraler als der ven-
trale: dieser Umstand erwies sich aber als nicht ungünstig für meine Untersuchungen,
da dadurch, daß die bei rein frontaler Schnittrichtung quer getroffenen Fasern hier in
Schiefschnitten erscheinen, Lageveränderungen des Systems deutlicher sichtbar werden.
Beim Menschen lassen sich sechs typische Positionen der zentralen Hauben-
bahn unterscheiden, wobei ich, der Tradition folgend, bei der Beschreibung in der
Abb. 1. Simia satyros.
der Leitungsriehtung entgegengesetzten Richtung, also von kaudal nach oral, bleiben
möchte, die ja außerdem als das Aufsteigen vom bekannten Ende zu dem noch in
Frage stehenden Anfang als gegeben erscheint. Diese sechs Lagen sind folgende:
1. Die Formierung des Systems dorsolateral von den unteren Oliven. 2. Die Lage medial
und ventromedial von den oberen Oliven. 3. Die Lage dorsal vom Lemniscus medialis
(zentral in der Haube). 4. Die Lage im Innern des durch die absteigenden Bindearme
gebildeten Halbmonds (Obersteiner). 5. Die Durchkreuzung des Systems durch die
Bindearme. 6. Die Lage lateral vom Fasciculus longitudinalis posterior, am Rande des
zentralen Höhlengraues. Diese typischen Stellungen lassen sich auch bei den Anthropo-
morphen nachweisen. Dabei ist aber festzustellen, daß das System hier schwächer
ausgebildet erscheint als beim Menschen, und daß gerade die kaudale Verlaufshälfte
(entsprechend den Stellungen 1, 2 und 3) im Gegensatz zu den Verhältnissen am Men-
schen, bei dem gerade diese Strecke deutlich isoliert und gut verfolgbar verläuft,
weniger deutlich verfolgbar ist als die orale. Die Formierung des Systems ist aller-
dings ziemlich gut zu sehen (Abb. 1), hier gehört das Querschnittsfeld lateral und
272 Alfred Alexander.
ventrolateral von der sehr deutlich ausgeprägten Fossa parolivaris lateralis von
Ziehen der zentralen Haubenbahn an. Der weitere Verlauf ist zunächst, wie gesagt,
weniger deutlich als beim Menschen, bietet aber nichts Bemerkenswertes. Erst nach
der erfolgten Kreuzung durch die Bindearme ergeben sich wieder interessantere Verhält-
nisse (Abb. 2). Die vom Hylobates stammende Abbildung läßt in der schon bei den
Anthropomorphen einfacher gebauten Vierhügelhaube in der Höhe des Trochlearis-
kerns deutlich drei Systeme unterscheiden. Das mediale, dunkel gefärbte ist der
Fasciculus longitudinalis posterior, dem sich lateral ein heller gefärbtes Faserfeld an-
schließt, das sich zum größten Teil aus Fasern der zentralen Haubenbahn zusammen-
setzt. Die dunkel gefärbten Fasern lateral und etwas dorsal davon entsprechen dem
Fasciculus commissurae posterioris. Es ist nun auffällig, zu beobachten, wie rasch sich
Abb. 2. Hylobates.
das mittlere Gebiet dezimiert. Bei Betrachtung eines Schnittes in der Höhe der Mitte
des Okulomotoriuskerns sind die meisten Fasern dieses Gebietes verschwunden, während
der Fasc. long. post. und der Fasc. comm. post. weiterhin zu sehen sind. Wohin die
Fasern gezogen sind, soll erst später erörtert werden. Verfolgt man die noch vor-
handenen Fasern weiter oralwärts, so sind sie noch bis zum oralen Ende des Okulo-
motoriuskerns als einzelne Fasern in einem Felde heller Grundsubstanz zu sehen.
Weiter oral vermochte ich Fasern des Systems nicht mehr nachzuweisen.
2. Kynopitheeini.
Zur Untersuchung gelangten Serien von Semnopithecus entellus, Inuus neme-
strinus und Cercopithecus. Bei diesen Tieren ist die zentrale Haubenbahn stärker
ausgebildet als bei den Anthropomorphen und in den kaudalen Partien auch deut-
licher zu isolieren. Am deutlichsten ist die Bahn bei Semnopithecus entellus ent-
wickelt. Ungefähr vom oralen Drittel der Oliva inferior aufwärts sind die Querschnitte
des Systems an der Peripherie der Medulla obl. zu verfolgen. Der Kontakt mit der
Peripherie geht aber bald verloren und auf Abb. 3, auf der noch das oralste Ende
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 273
der unteren Olive zu sehen ist, liegt die zentrale Haubenbahn als recht deutlich ab-
gegrenztes Bündel etwa in der Mitte zwischen Fazialiskern und Lemniscus medialis.
Da die Serie ungefähr dieselbe Schnittrichtung hat wie die vom Hylobates, erscheint
die Bahn wieder nicht als quer geschnittenes Feld, sondern in Schiefschnitten, die
deutlich die Tendenz nach dorsomedial zu ziehen erkennen lassen. Mit dem Auftreten
der oberen Oliven kommen die Fasern an die ventromediale Peripherie dieses Gebildes
zu liegen, der sie wie eine Kappe aufsitzen. In der Höhe des austretenden Abduzens
liegt das System lateral von den Kernfasern dieses Nerven, ohne sich jedoch diesen
Abb. 3. Semnopithecus entellus.
Fasern direkt anzulegen; es erscheint vielmehr von ihnen durch ein Feld getrennt,
das eine lockerere Anordnung der Bündel als die der zentralen Haubenbahn erkennen
läßt und dem Feld Fte” von Ziehen zu entsprechen scheint, wofür auch die Tal-
sache spricht, daß die Richtung dieser Fasern etwas different von der Richtung der
Hauptfasern der z. H. ist. (Eine Verschmelzung dieser Fasern mit der ventralen Partie
der Area acclinis zum Fasciculus dorsolateralis tegmenti, wie Ziehen es beschreibt,
konnte ich allerdings nicht mit Sicherheit feststellen.) Damit ist die z. H. in die Mitte
der Haube vorgerückt, ist aber hier wieder nur undeutlich abgrenzbar. Kine sichere
Abgrenzung des Systems ist auch weiterhin nicht möglich und es ist mit Bestimmt-
heit nur anzugeben, daß ihre Fasern in dem komplexen Felde liegen, das vor der
Kreuzung der Bindearme diesen medial anliegt. Im weiteren Verlaufe verdeckt zu-
274 Alfred Alexander.
nächst die Bindearmkreuzung die Fasern. In der Höhe des Trochleariskerns endlich
nimmt die z. H. wieder ihre typische Stellung ein: medial vom Fasc. long. post.
begrenzt, von dem sich die zart gefärbten Fasern deutlich abheben, grenzt sie lateral
an den Fasc. comm. post. und das dorsolaterale Haubenfeld. Dunkel gefärbte Fasern
hart am Rande des zentralen Höhlengraues sind der Area acclinis von Ziehen zuzu-
rechnen. Die Fasern des Areals der z. H. erschöpfen sich nach einer kurzen Verlauf-
strecke, so zwar, daß das System schon am kaudalen Ende des Okulomotoriuskerns
bedeutend schwächer geworden ist, während am oralen Ende dieses Kerns kaum noch
einzelne Fasern nachzuweisen sind. Die Frage nach dem Verbleib der Fasern erscheint
nun zum Teil wenigstens dadurch beantwortet, daß man in dem ganzen Gebiet unter
den vorderen Vierhügeln, ja auch schon unter den hinteren Vierhügeln, Fasern aus
dem Areal der z. H. in das Striatum griseum centrale einstrahlen sieht.
Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei Inuus nemestrinus, doch ist hier die
Bahn in der mittleren Haubenregion noch weniger deutlich. zu umgrenzen.
Einen ähnlichen Befund bietet auch Cercopithecus. Hier wäre nur zu bemerken,
daß ich Fasern, die dem nach Ziehen beim Cercopithecus besonders gut ausgeprägten
Bündel Fte” von Ziehen entsprechen, nicht deutlich verfolgen konnte, obwohl mehr-
fach Fasern zu sehen waren, die sich anscheinend vom Hauptbündel der z. H. nach
lateral wandten und auch den Stiel der Olive kreuzten. Diese Fasern, die mit dem
Tractus Deitersospinalis identisch sein sollen, wurden zuerst von Bruce beschrieben
(siehe S. 263). In einem Falle von Degeneration dieses Systems haben Breuer und
Marburg diese Fasern, das dorsoolivare Bündel dieser Autoren, genauer verfolgen und
den Beweis für die Herkunft dieses Systems aus dem N. Deiters an Hand verschie-
dener Untersuchungen mit allergrößter Wahrscheinlichkeit erbringen können. In neuerer
Zeit hat dann Ziehen auf dieses System besonders hingewiesen. Eine Verfolgung
dieser einzelnen Fasern zum Nucleus Deiters war mir jedoch nicht möglich, was
allerdings auch mit der Schnittrichtung meiner Serie zusammenhängen mag. Was die
zentrale Haubenbahn betrifft, so fand ich nach anfänglich wieder ziemlich deutlicher
Umgrenzung des Systems in der Gegend des oralen Pols der unteren Olive wieder die
schwer abgrenzbare Lage im Zentrum der Haube. Nach der Kreuzung durch den
Bindearm nimmt das System wieder ein besser umschriebenes Feld ein, ohne daß
man allerdings behaupten könnte, daß ausschließlich Fasern der z. H. in diesem Felde
verlaufen. In der Gegend des Okuloinotoriuskerns erschöpft sich das System in einer
relativ kurzen Strecke.
H. Platyrrhini.
Zur Durchsicht kamen Serien von Ateles und Cebus. Bei beiden Tieren ist die
zentrale Haubenbahn deutlich nachweisbar. In den kaudalen Verlaufsabschnitten ist
sie bei Cebus gut verfolgbar; man sieht deutlich die dunkeln Faserbündel, dic auf Abb. 4
dorsalwärts ziehen. Auch weiterhin bleibt die z. H. hier besser isoliert als bei den
bisher erwähnten Tieren. Im Zentrum der Haube, wo die Bahn meist ganz unscharf
begrenzt war, ist sie hier besser abgegrenzt, was eine Folge der relativen Faserarmut
der Haubenregion des Cebus zu sein scheint. Im oralen Verlaufsabschnitt ist die
Bahn beim Ateles besser zu verfolgen. Wieder ist das System in seiner für die hintere
Vierhügelgegend typischen Lage zu sehen, medial vom Fasc. long. post., lateral vom
dersolateralen Haubenfelde begrenzt. Ventromedial ist die Abgrenzung gegenüber den
Faseiculi praedorsales (Fase. teetospinalis von Münzem wohl kaum mit Sicherheit
anzugeben, dagegen hebt sich das heller gefärbte System deutlich von den dunkeln
Fasern des Fase. long. post. ab. Zwischen Troehlearis- und Okulomotoriuskern ist gut
zu sehen, daß sich das System, das nun lateral vom deutlich dunkler gefärbten
Fasciculus commissurae posterioris begrenzt wird, innerhalb einer kurzen Strecke fast
vollständig erschöpft, so daß sein Areal schnell faserarm wird. Dieses Ende des
Systems erfolgt beim Ateles annähernd gleichzeitig mit dem Ende des Fase. long.
post, der hier seinen lateral gelegenen Kerngebieten zustrebt. Die Fasern des Tractus
teetospinalis erreichen den Rand des zentralen Höhlengraus nicht, sondern wenden
sich nach medial, wo man sie aus den Fasern der Meynertschen Fontänenkreuzung
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 275
hervorgehen sieht. Betrachtet man die Strecke, in der sich das System der zentralen
Haubenbahn erschöpft, unter stärkerer Vergrößerung, so sieht man Fasern in dorso-
medialer Richtung in das Stratum griseum centrale übertreten. Die Endstätte dieser
Fasern ist allerdings nicht mit Sicherheit anzugeben, da die meisten Fasern im zen-
tralen Höhlengrau wie abgeschnitten enden, was darauf schließen läßt, daß sie noch
eine Strecke weit oralwärts verlaufen.
III. Arctopitheci.
Von diesen Tieren bietet Hapale insofern ein besonderes ‘Verhalten dar, als sich
hier vom oralen Pol der unteren Olive an dunkel gefärbte Fasern vom Gebiete der
Abb. 4. Cebus.
zentralen Haubenbahn loslösen, die sich dorsolateral wenden, den zum Abduzenskern
zichenden Schenkel des Fazialis kreuzen und in der Richtung zum Nucleus Deiters
ziehen. Diese Bündel sind identisch mit den von Ziehen beim Cercopithecus als be-
sonders deutlich beschriebenen Fasern Fte'” (siehe S. 274) (dem dorsoolivaren Bündel
von Breuer und Marburg), die mit dem Tractus Deitersospinalis zu identifizieren
sind; in der Strecke, in der sie mit der zentralen Haubenbahn verlaufen, sind sie
also als hospitierende Fasern aufzufassen. Sie sind übrigens, wie gesagt, durch ihre
dünklere Tinktion an der von mir untersuchten Serie von der z. H. leicht zu diffe-
renzieren gewesen. Auf Abb. 5 sieht man die Fasern ventral und etwas lateral von. der
Hauptmasse der dorsalwärts ziehenden Fasern der z. H. Die zentrale Haubenbahn
276 Alfred Alexander.
verhält sich ähnlich wie bei den Platyrrhinen, die Abgrenzung im Zentrum der Haube
erscheint weniger deutlich, auch die Erschöpfung des Systems ist nicht so klar und
erfolgt nicht innerhalb einer so kurzen Strecke. Immerhin ist der Faserverlust gut
sichtbar, während infolge der rein frontalen Schnittrichtung ein Übertritt von Fasern
ins zentrale Höhlengrau, an dessen Rande alle Fasern wie abgeschnitten enden,
nicht nachweisbar ist.
Prosimii.
Es kamen Serien der beiden Lemuren Lemur Katta und Chirogaleus zur Unter-
suchung. Bei beiden ist eine z. H. nachweisbar, deren dünn gefügte Bündel beim
Katta gut isoliert oral von der unteren Olive und ziemlich weit medial von der hier
sehr weit lateral gelegenen oberen Olive ins Zentrum der Haube ziehen. Von hier
Abb. 5. Hapale.
an weniger scharf begrenzt, zieht die Bahn oralwärts, um nach der Durchkreuzung
durch die Bindearme an gewohnter Stelle zu liegen. Die Erschöpfung des Systems ist
wieder weniger deutlich als bei der vorerwähnten Gruppe, doch ist der Faserverlust
gut nachweisbar. Eine Abgrenzung des Systems gegen das dorsolaterale Haubenfeld
hin ist nur annäherungsweise durchzuführen, der Übertritt von Fasern ins zentrale
Höhlengrau bei Chirogaleus gut sichtbar.
Chiroptera.
Die untersuchte Serie vom Pteropus zeigt wenig günstige Verhältnisse für die
Verfolgung der zentralen Haubenbahn. Wohl sind Fasern nachweisbar, die sich dorso-
lateral von den sehr weit medial liegenden unteren Oliven entbündeln und zweifels-
ohne einer zentralen Haubenbahn entsprechen, doch stößt die Verfolgung dieser Fasern
auf große Schwierigkeiten. Zunächst werden sie von den dorsomedialwärts ziehenden
Kernfasern des Facialis gequert, und dadurch dem Blick entzogen. In oraleren
Regionen verwischen wieder die zahlreichen in der Raphe kreuzenden Fasern und
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 277
anschließend die Bindearme das Bild. Wo dann wieder klarere Verhältnisse eintreten,
sind die Fasern, die auch fast keine Farbdifferenz den benachbarten Systemen gegen-
über zeigen, nur mehr aus Analogie zu identifizieren und von den anderen Faser-
zügen nur vage abzugrenzen. Immerhin ist eine Erschöpfung oder zumindest beträcht-
liche Fasereinbuße des Areals in der Gegend des oralen Drittels des Okulomotorius-
kerns annähernd gleichzeitig mit dem oberen Ende des Fasc. long. post. zu kon-
statieren, während der Übertritt von Fasern ins zentrale Höhlengrau kaum nach-
weisbar ist.
Carnivora.
I. Felidae.
Die untersuchte Schnittserie von Felis domestica zeigt eine ziemlich faserreiche
zentrale Haubenbahn, die auch relativ gut verfolgbar ist. Sie zieht, vom oralen
Viertel der unteren Oliven an sichtbar, zunächst dem Fazialiskern zu, dem sie sich
dorsomedial anlegt. Im weiteren Verlaufe wird sie von den Kernfasern des Facialis
gequert und kommt in die typische zentrale Lage in der Haube zu liegen. Auch in
ihrem oralen Verlaufsabsehnitt bleibt sie relativ scharf begrenzt. Wieder war die
rasche Auflösung des Systems in der Gegend der oralen Hälfte des Okulomotoriuskerns,
ungefähr gleichzeitig mit der des Fase. long. post. deutlich feststellbar, wobei ein
Teil des Systems mit einem Kern des hinteren Längsbündels, dem Nucleus Darksche-
witsch, in Beziehung zu stehen scheint.
Merkwürtdigerweise erwähnen Winkler und Potter (41) die zentrale Hauben-
bahn bei der Katze überhaupt nicht. Trotzdem ist dieses System in einem Teil der
Abbildungen des Winkler-Potterschen Atlas deutlich eingezeichnet: so ist die zen-
trale Haubenbahn in ihrem kaudalen Verlaufsabschnitt auf den Tafeln 24 bis 29
gut zu erkennen, aber als Tr. D. d., Tractus Deiters descendens, bezeichnet. Diese
Bezeichnung ist identisch mit der Bezeichnung Fte” von Ziehen (siehe S. 274 und 275),
den Deitersospinalen Fasern. Tatsächlich konnte auch ich solche Fasern, wenn auch
in nicht sehr großer Menge, bei der Katze beobachten, und bis in das Gebiet dorso-
lateral vom Fazialiskern verfolgen. Winkler ist aber insofern sicher zu weit ge-
gangen, als das ganze von ihm mit Tr. D. d. bezeichnete Bündel bestimmt nicht als
Deitersospinales System zu bezeichnen ist; diesem System ist vielmehr nur ein
kleiner Teil der Fasern zuzurechnen, während der Hauptteil dieser Quersehnitte
sicherlich der zentralen Haubenbahn angehört. Auch in oraleren Teilen bildet Winkler
die zentrale Haubenbahn ab (besonders deutlich auf Tafel 21), wo sie als Pars lateralis
formationis reticularis bezeichnet erscheint. Nach Winkler scheint also eine zentrale
Haubenbahn bei der Katze überhaupt nicht zu existieren, eine Meinung, die allerdings
durch seine eigenen Abbildungen widerlegt erscheint. Bezüglich der Angaben von
Economo und Karplus über den Verlauf der zentralen Haubenbalın der Katze siehe
S. 267.
II. Canidae.
Zur Durchsicht gelangten Schnittserien von Canis familiaris und Canis vulpes.
Canis familiaris zeigt eine gut entwickelte zentrale Haubenbahn, die sich in der ge-
wohnten Weise aus der unteren Olive entbündelt. Nach medial vom austretenden Al-
duzens begrenzt, kommt sie dorsomedial und dann fast rein dorsal von der oberen
Olive im Haubenfelde zu liegen, wo sie ihre bisher deutliche Abgrenzbarkeit einbüßt.
Nach der Durchkreuzung dureh die Bindearme ist sie an ihrem typischen Platze am
Rande des zentralen Höhlengraus zu sehen, dem sie in leicht dorsomedialer Richtung
ziehend zustrebt. Das Verschwinden des Systems zwischen Trochlearis und Okulo-
motoriuskern zeigt sich hier besonders auffällig. Abb. 6 zeigt die hier schon etwas
dorsolateral vom Fase. long. post. geiegenen Fasern der zentralen Haubenbahn in
der Höhe des Trochleariskerns. Eine Abgrenzung gegen die prädorsalen Bündel er-
scheint sehr unsicher, ebenso ist eine Trennung von dem hier übrigens sehr schwach
entwickelten dorsolateralen Haubenfeld kaum durchführbar. Auf Abb. 7 ist aber von
allen diesen Fasern. besonders den in der Mitte gelegenen der zentralen Haubenbahn,
278 Alfred Alexander.
kaum mehr etwas zu sehen. Der Schnitt liegt in der oralen Hälfte des Okulomotorius-
kerngebiets, dessen austretende Wurzelfasern ventral zu sehen sind. Die in rein latero-
Abb. 6. Canis familiaris.
Abb. 7. Canis familiaris.
ventraler Richtung dem zentralen Höhlengrau zuziehenden dunkel gefärbten Fasern
gehören dem Fasc. commissurae post. an. Der Fase. long. post. hat auch schon einen
Teil seiner Fasern eingebüßt, ist aber noch gut zu erkennen. Die Befunde, die bei
Canis vulpes erhoben wurden, decken sieh mit den eben beschriebenen, nur fand ich
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 279
die Bahn etwas schwächer entwickelt. Bei beiden Tieren waren Fasern des Feldes
Fte” von Ziehen (Tractus Deitersospinalis) in geringer Menge nachweisbar.
HI. Viverridae.
Die untersuchten Serien von Paradoxurus hermaphroditus und Herpestes zeigen
ım wesentlichen gleiche Verhältnisse, doch ist die Bahn bei Paradoxurus etwas
besser entwickelt. Sie ist auf Abb. 8 ziemlich gut isoliert dorsalwärts in das Mittel-
feld der Haube ziehen zu sehen, wo sie allerdings in der Masse der Fasern ver-
schwindet. Erst nach der Durchkreuzung des Systems durch die Bindearme treten
wieder deutlichere Verhältnisse auf, die deshalb von Interesse sind, weil hier die
Systeme am Rand des zentralen Höhlengraues durch Tinktionsunterschiede deutlich
zu differenzieren sind. Lateral von den dunkel gefärbten Faserbündeln des Fasc.
long. post. liegen heller gefärbte Fasern, denen sich lateralwärts wieder deutlich
Abb. 8. Paradoxurus hermaphroditus.
dünkler gefärbte Fasern anschließen (Abb. 9). Hiebei entspricht das helle in der
Mitte gelegene Feld der zentralen Haubenbahn, während die dunkeln, lateral liegen-
den Fasern dem Fasc. commissurae post. angehören. Ventrolateral vom Fasc. long.
post. sind Fasern, deren Tinktion zwischen der des Fasc. long. post. und der der
zentralen Haubenbahn steht, abzuscheiden. Das sind die prädorsalen Systeme, deren
Abgrenzung gegen die zentrale Haubenbahn hier mit einiger Sicherheit durchgeführt
werden kann. Die hart am Rande des zentralen Höhlengraues, zwischen Fasc. long.
post. und Fasc. commissurae post. in dünner Schicht liegenden dunkel gefärbten Fasern,
die die zentrale Haubenbahn vom Rande des Höhlengraues gewissermaßen abdrängen,
dürften mit den Fasciculi confines von Ziehen zu identifizieren sein, die nicht überall
einen Tinktionsunterschied gegenüber der zentralen Haubenbahn erkennen lassen. Die
Fasern des letztgenannten Systems sind wieder bis ans orale Ende des Okulomotorius-
kerns zu verfolgen, in dessen Höhe mindestens der größte Teil dieser Fasern zu enden
bzw. zu entspringen scheint.
IV. Mustelidae.
Die untersuchten Serien von Mustela foina und Lutra vulgaris zeigen eine etwas
schwächere Ausbildung der zentralen Haubenbahn als die Tiere der vorerwähnten
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 19
280 Alfred Alexander.
Gruppe; die deutliche Isolierung der Fasern in den kaudalen Verlaufsabschnitten ist
beiden Gruppen gemeinsam (Mustela zeigt diese Isolierung besonders klar). In den
oralen Teilen ist eine Isolierung schwer durchzuführen, doch sind Fasern bis in die
Gegend des kaudalen Poles des Nucleus ruber sicher nachweisbar. Hervorzuheben wäre
wieder die Anwesenheit des Fasc. Deitersospinalis (Ftc von Ziehen), dessen Fasern
sich schon sehr weit kaudal von der Hauptmasse der Fasern der zentralen Haubenbahn
loslösen.
V. Ursidae.
Durchgesehen wurden Schnittserien von Nasua socialis und Ursus maritimus,
die in Bezug auf die zentrale Haubenbahn im wesentlichen übereinstimmen. Beide
Tiere zeigen wieder eine stärkere Ausbildung des Systems. Die deutlicheren Ver-
hältnisse zeigt Nasua, bei dem die zentrale Haubenbahn in gewohnter Weise von der
À VIN
PADO
r, ung
Abb. 9. Paradoxurus hermaphroditus.
Olive weg zu verfolgen ist. Der weitere Verlauf ist bei diesem Tiere insofern inter-
essant, als in der Höhe des Trochleariskerns Fasern der zentralen Haubenbahn mit
größter Deutlichkeit ins zentrale Höhlengrau eintreten zu sehen sind (Abb. 10). Das
System erschöpft sich weiterhin ziemlich schnell, so daß in der Höhe des beginnen-
den Nucleus ruber kaum noch Fasern der zentralen Haubenbahn nachweisbar sind.
Pinnipedia.
Die untersuchte Serie von Phoca vitulina zeigt die zentrale Haubenbahn sehr
schwach entwickelt und nur in einzelnen Fasern angedeutet. Dementsprechend ist in
der Haube der hinteren Vierhügel das Feld lateral vom Fasc. long. post. fast voll-
kommen frei von Fasern. Weiters sind Fasern nachzuweisen, die von der unteren
Olive wegziehend sich lateral und dorsal wenden, den Kernschenkel des Facialis
kreuzen, weiterhin aber nicht gut verfolgbar sind. Diese Fasern sind dem Tractus
Deitersospinalis (siehe S. 274) zuzurechnen, der bei diesem Tier auffällig mächtig
zu sein scheint.
Insectivora.
Die durchgesehenen Serien von Erinaceus europaeus und Talpa europaea zeigen
ähnliches Verhalten als das vorerwähnte Tier. Zwar lassen sich einzelne Fasern
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 281
von der Ölive wegziehend nachweisen, doch erscheint die Verfolgung dieser Fasern
an der normalen Serie als undurchführbar. Wieder ist der schwachen Ausbildung des
Systems zufolge das unter den Vierhügeln am Rande des zentralen Höhlengraues lateral
vom Fasc. long. post. gelegene Feld, das der zentralen Haubenbahn sonst zukommt,
fast frei von Markscheiden und nur ganz spärlich von einzelnen Fasern durchzogen.
Rodentia.
Sciurus vulgaris zeigt eine ziemlich gut entwickelte zentrale Haubenbahn, deren
Fasern sich, wenn auch nicht deutlich isoliert, so doch in der gewohnten Weise bis
in die Höhe des Okulomotoriuskerns verfolgen lassen.
Schwächer entwickelt ist das System bei Dipus aegypticus, wo die zentrale
Haubenbahn wieder nur durch spärliche Fasern vertreten erscheint, deren Abgrenzung
in der mittleren Haubenregion nicht möglich ist. Lateral vom Fasc. long. post. sind
diese Fasern dann allerdings wieder deutlicher zu sehen.
Abb. 10. Nasua socialis.
Bei Mus rattus beansprucht der erhobene Befund insofern Interesse, als man
hier die zentrale Haubenbahn, deren Verhalten sonst mit dem bei Sciurus analog
ist, in ihrem oralsten Verlaufsabschnitt wieder deutlich ins zentrale Höhlengrau ein-
strahlen sieht. Auffällig ist, daß diese Einstrahlung hier schon sehr früh, in der
Gegend der Bindearmkreuzung, beginnt. In der Höhe des Okulomotoriuskerns sind
dann auch Fasern der zentralen Haubenbahn nicht mehr nachzuweisen.
Hystrix cristata zeigt das System recht kräftig entwickelt. Die Fasern sind von
der Olive weg bis zum Fazialiskern, an den sie sich ventromedial anlegen, ihrer
dünkleren Tinktion wegen gut verfolgbar. In der mittleren Haube ist eine Abgren-
zung allerdings wieder kaum möglich. In der Gegend zwischen Trochlearis- und
Okulomotoriuskern, knapp kaudal von letzterem, wird das System schwächer, ohne
daß ein deutliches Einstrahlen ins zentrale Höhlengrau zu bemerken wäre. Am oralen
Ende des ÖOkulomotoriuskerns sind Fasern der zentralen Haubenbahn nicht mehr
nachweisbar.
Die zentrale Haubenbahn von Cavia cobaya verhält sich analog der von Sciurus
vulgaris.
Auch Lepus cuniculus verfügt über eine ziemlich starke zentrale Haubenbahn.
19*
282 Alfred Alexander.
Ähnlich wie bei Hystrix ist das System anfänglich gut verfolgbar, geht dann aller-
dings in der Masse der Fasern der mittleren Haube unter. Nach der Durchkreuzung
durch die Bindearme treten diese Fasern aber wieder sehr deutlich hervor, wo sie als
dichtes Feld dunkel gefärbter Fasern lateral vom Fasc. long. post. liegen. Freilich ist
auch hier eine genaue Abgrenzung gegen das dorsolaterale Haubenfeld lateralwärts
und die prädorsalen Systeme ventromedialwärts nicht durchführbar. Dafür zeigt das
der zentralen Haubenbahn zukommende Feld wieder Beziehungen zum Nucleus
Darkschewitsch, der beim Kaninchen sehr mächtig ist und knapp lateral vom oralen
Abschnitt des Okulomotoriuskerns liegt. In diesen Kern scheint ein Teil der Fasern
einzustrahlen. Oral über das Kerngebiet des Okulomotorius hinaus sind keine Fasern
der zentralen Haubenbahn zu verfolgen.
Wieder ist es merkwürdig, daß Winkler und Potter (40) in ihrem Atlas über
das Kaninchengehirn die zentrale Haubenbahn nicht erwähnen. Wieder sind in den
kaudalen Verlaufsabschnitten Fasern der zentralen Haubenbahn mit der Bezeich-
nung Tractus Deiters descendens versehen, ein System, das sicher kein so mächtiges
Bündel bildet als es Winkler auf den Tafeln 33 bis 36 einzeichnet. Auch weiter
oral, lateral vom Fasc. long. post., ist die zentrale Haubenbahn deutlich zu sehen.
(Tafeln 20 bis 25), diesmal aber mit der Bezeichnung Tractus Deiters ascendens ver-
sehen. Den in der Höhe des Okulomotoriuskerns eintretenden Faserverlust hat Winkler
richtig gesehen und eingezeichnet (sehr deutlich zwischen den Tafeln 19, 18 und 17),
gibt aber der Meinung Ausdruck, daß dieser Tractus Deiters ascendens zum Kern des
Okulomotorius ziehe (Erklärung zu Tafel 20).
Proboscidea.
Elephas indicus zeigt eine schwach entwickelte und auch in den kaudalen Verlaufs-
abschnitten sehr undeutlich abgegrenzte zentrale Haubenbahn, die sich an vielen
Schnitten überhaupt nicht agnoszieren läßt. Im oralen Verlaufsabschnitt liegt sie als
schütteres Faserfeld lateral vom Fasc. long. post.; die Fasern bleiben aber nur
undeutlich verfolgbar.
Artiodactyla.
Bei diesen Tieren ist die zentrale Haubenbahn wieder etwas stärker ausgebildet.
Von den untersuchten Serien von Sus scropha domestica und Bos taurus juvenilis
waren die Verhältnisse bei letztgenanntem Tier deutlicher. Hier ließ sich ein ziem-
lich starkes Fasersystem von den Oliven aufsteigend verfolgen, das zweifelsohne als
zentrale Haubenbahn zu bezeichnen ist. In der Höhe des Kernschenkels des Facialis
lösen sich Fasern von dem System ab, die dorsolateralwärts die F'azialisfasern kreuzend
verlaufen, also wohl als Feld Fte” von Ziehen (Fasc. Deitersospinalis) anzusprechen
sind. In dieser Höhe ist die zentrale Haubenbalın von den übrigen Fasern des mittleren
Haubenfeldes nur undeutlich zu isolieren. Im oralen Verlaufsabschnitt, in der Höhe
des Nucleus trochlearis, sieht man sehr gut die schon beschriebene Lagerung der drei
Systeme, die wieder deutliche Tinktionsunterschiede erkennen lassen. Das mediale
System entspricht dem Fasc. long. post., das laterale, dunkel gefärbte dem Fasc. com-
missurae post.. während das heller gefärbte Areal in der Mitte zum größten Teil die
Fasern der zentralen Haubenbahn enthält. Dieses mittlere System erschöpft sich wieder
innerhalb einer auffallend kurzen Strecke, so daß am oralen Ende des Okulomotorius-
kerns Fasern dieses Bündels nicht mehr nachzuweisen sind.
Perissodactyla.
Das eben geschilderte Verhalten der Bahnen in der Höhe des Trochleariskerns
zeigt sich in vollkommener Deutlichkeit bei Equus caballus, dessen zentrale Hauben-
bahn auch sonst im wesentlichen der von Bos taurus juvenilis entspricht, allerdings
mit dem Unterschiede, daß Fasern des Feldes Fte” nicht zu verfolgen waren. Abb. 11
zeigt wieder die bekannten drei Systeme, die äußeren dunkel, das mittlere heller ge-
färbt. In der Höhe der Mitte des Okulomotoriuskerns hat sich aber dieser Zustand in-
sofern geändert, als die beiden äußeren laserzüge auch noch weiterhin deutlich zu
sehen sind, während sich das in der Mitte gelegene System der zentralen Haubenbahn
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 283
fast ganz erschöpft hat (Abb. 12). Dabei darf nun allerdings nicht übersehen werden,
daß auch im Bereich des Fasc. long. post. eine Änderung vorgegangen ist: sein Areal
Abb, 11. Equus caballus.
Abb. 12. Equus caballus.
hat sich nach lateral vergrößert und erscheint ganz anders faszikuliert als in Abb. 11.
Es läge nun der Gedanke nahe, anzunehmen, daß sich Fasern der zentralen Hauben-
284 Alfred Alexander.
bahn dem Fasc. long. post. angeschlossen haben und daß auf diese Weise ein im
Thalamus entspringender Teil der zentralen Haubenbahn im Fasc. long. post. kaudal-
wärts verläuft. Da diese Fasern dann aber in der lateralen Abteilung des Fasc. long.
post. verlaufen müßten, so erscheint diese Möglichkeit vor allem deshalb als wenig
wahrscheinlich, als ja Spitzer (34) gezeigt hat, daß die absteigenden Fasern des
hinteren Längsbündels das mediale Drittel dieses Systems ausfüllen, während die
laterale Partie wohl aus Fasern aszendierender Richtung besteht.
Natantia und Edentata.
Die untersuchten Serien von Delphinus tursio und Bradypus, die analoge Ver-
hältnisse zeigen, lassen eine zentrale Haubenbalın eigentlich nicht mehr erkennen.
Wohl entbündeln sich aus den unteren Oliven dorsalwärts ziehende Fasern, doch können
diese Fasern nicht als geschlossenes System bezeichnet werden. Einzelne unter den
hinteren Vierhügeln lateral vom Fasc. long. post. liegende Fasern in einem überaus
faserarmen Felde lassen zwar darauf schließen, daß der zentralen Haubenbahn analoge
Fasern, wenn auch nur in spärlicher Menge, existieren müssen, doch kann von einem
auch nur auf kurze Strecke verfolgbaren Bündel bei diesen Tieren nicht mehr ge-
sprochen werden.
Marsupialia.
Die durchgesehene Serie von Macropus zeigt die zentrale Haubenbahn bei diesem
Tier stärker entwickelt als bei den eben erwähnten Gruppen. Kann auch eine genaue
Abgrenzung des Systems im größten Teil des Verlaufs nicht erfolgen, so sieht man doch
auf Schnitten, die die untere Olive an deren oralem Pol treffen, die zentrale Hauben-
bahn als mäßig starkes Faserfeld, das sich durch eine etwas dünklere Tinktion zu er-
kennen gibt. Auch hier ist eine Verfolgung der Fasern zwar kaum durchführbar, doch
lassen sich immerhin auch im mittleren Haubenfeld Fasern als mit größter Wahrschein-
lichkeit der zentralen Haubenbahn angehörig bezeichnen. In der Höhe des Trochlearis-
kerns sieht man dementsprechend lateral vom Fasc. long. post. ein Fasersystem liegen,
das der zentralen Haubenbahn zu entsprechen scheint und ungefähr bis zur Mitte des
Okulomotoriuskerns zu verfolgen ist.
Gleiche Verhältnisse zeigt Phascolarctus cinereus.
Zusammenfassend ist zunächst festzustellen, daß die zentrale Hauben-
bahn ein System darstellt, das, wenn auch nicht immer gleichmäßig stark
ausgebildet, so doch mindestens in einzelnen Fasern durch die ganze Säuge-
tierreihe hindurch nachgewiesen werden kann. Dabei erreicht das System
bei keinem Tier die starke Ausbildung, in der es beim Menschen nachzuweisen
ist, für den übrigens auch die gut abgegrenzte Lage im Zentrum der Haube
charakteristisch ist: gerade diese typische Position des Systems ist bei den Tieren
meist nur undeutlich zu sehen. Dafür ist bei fast allen Tieren die Bahn in
ihren oralen Verlaufsabschnitte besser zu verfolgen und leichter abgrenzbar.
Nach den Affen sind es vor allem die Carnivoren, bei denen die zentrale
Haubenbahn stark ausgebildet ist, dann die Artiodactyla und Perissodactyla
sowie die Rodentia. Auffallend ist die schwache Ausbildung des Systems
bei den Chiropteren. Die übrigen Ordnungen lassen die zentrale Haubenbahn
meist nur in einzelnen Fasern erkennen.
Vollständige Klarheit über den Ursprung des Systems konnte durch meine
Untersuchungen nicht gebracht werden; wohl aber scheint mir erwiesen, daß
die Bahn mesenzephalen Ursprungs ist. Dafür spricht vor allem die Tatsache,
daß bei allen Tieren übereinstimmend Fasern der zentralen Haubenbahn oral
vom Kern des Okulomotorius nieht mehr nachzuweisen waren, weiters spricht
Untersuchungen über die zentrale Haubenbahn. 285
dafür die oft auf überraschend kurzer Strecke erfolgende Erschöpfung des
Systems. Als Ursprungsort kommt wohl hauptsächlich das zentrale Höhlengrau
in der Höhe zwischen Trochlearis- und Okulomotoriuskern in Betracht, wie aus
der oft sehr deutlich nachzuweisenden Einstrahlung von Fasern der zentralen
Haubenbahn in dieses Gebiet hervorgeht. In zweiter Linie kommen auch ein-
zelne am Rand des Höhlengraus gelegene Kerne als nutritive Zentren des
Systems in Betracht, wie der Nucleus Darkschewitsch, mit dem (besonders bei
Lepus cuniculus) mindestens ein Teil der Fasern der zentralen Haubenbahn
in Beziehung zu stehen scheint.
Es bleibt nun noch zu erörtern, inwieweit diese Meinung mit den An-
gaben der Autoren in Übereinstimmung zu bringen ist. Von den Autoren wer-
den sechs verschiedene Ursprungsstellen für die zentrale Haubenbahn an-
gegeben.
1. Ursprung aus der hinteren Kommissur (Wernicke, Helweg).
2. Ursprung aus dem Linsenkern (Flechsig, Bruce, Wallenberg
[Putamen], Winkler).
3. Ursprung aus dem Thalamus (Barker, Edinger, Öbersteiner,
Kappers, Schaffer).
4. Ursprung aus den vorderen Vierhügeln (van Oordt, Lewandowsky).
d. Ursprung aus den Bindearmen (Sorgo, ev. Economo und Karplus).
6. Ursprung aus dem roten Kern und der Regio subthalamica (Probst,
Környey, Gamper, ev. Ziehen).
Der Ursprung aus der hinteren Kommissur wurde schon von Bechterew
bestritten, der diese Meinung auf Grund der Markreife widerlegte. Beweisend
ist außerdem, daß im Fall von Környey (siehe S. 269) die hintere Kom-
missur gefehlt hat und die zentrale Haubenbahn trotzdem normal entwickelt
war. Ebenso erscheint durch den Fall von Környey bewiesen, daß weder
Linsenkern noch Thalamus als Ursprungsstellen des Systems in Betracht
kommen, da sonst die zentrale Haubenbahn bei seinem .\nenzephalen hätte
fehlen müssen. Gegen die Meinung Lewandowskys spricht, daß er, wie
aus seinen Abbildungen hervorgeht, im oralsten Verlaufsabschnitt nicht mehr
die zentrale Haubenbahn, sondern ein anderes System beschrieben hat. Wei-
ters spricht nach der Ansicht weitaus der meisten Autoren nichts für einen
Ursprung aus den Bindearmen, so daß auch diese Anschauung nicht mehr halt-
bar erscheint. Bliebe noch die Theorie des Ursprungs aus rotem Kern und
der Regio hypothalamica. Es ist nun eine wirkliche Einstrahlung von Fasern
der zentralen Haubenbahn in das Gebiet des roten Kerns nur von Gamper
gesehen und beschrieben worden. In der Annahme, daß das System
aus den roten Kern entspringe, stützen sich die Autoren Probst, Környey
vielmehr auf die Tatsache, daß die Bahn mit dem Auftreten des roten Kerns
plötzlich verschwinde, so daß oral von diesem (Gebilde höchstens noch einzelne
Fasern der Bahn zu verfolgen seien. Ob diese Fasern tatsächlich der zentralen
Haubenbahn angehören, erscheint übrigens ungewiß, da ja die Bahn in dieser
Region niemals mit absoluter Genauigkeit abgegrenzt werden kann, vielmehr
in einem überaus komplexen Felde liegt, in dem noch die verschiedensten
286 Alfred Alexander.
Fasern verlaufen. In meinen Untersuchungen war ich nicht imstande, Be-
ziehungen zwischen zentraler Haubenbahn und rotem Kern festzustellen.
Die Tatsache, daß die Fasern dieser Bahn mit dem Auftreten der zentralen
Haubenbahn plötzlich verschwinden, spricht also zumindest genau so gut
für meine Annahme als für die von Probst und Környey und Gamper.
Auch der Fall von Halban-Infeld (14b), wo trotz vollständiger Zerstörung
des roten Kerns und der anliegenden Partien die zentrale Haubenbahn, wenn
auch reduziert vorhanden war, spricht eher für meine Auffassung, zumal
die Reduktion nach den Abbildungen des Herdes durch teilweises Ergriffen-
sein, des der zentralen Haubenbahn zukommenden Areales erklärt werden
kann.
Wie vergleichend-anatomische Untersuchungen ergeben, handelt es sich
also in der zentralen Haubenbahn um ein System, das, aus dem Mesencephalon
entspringend, bei der engen Verknüpfung dieses Gebietes mit dem Striatum
ein wichtiges Glied in der Kette der strio-cerebellaren Verbindung darstellt
und dem die Bedeutung eines Tractus mesencephalo-olivaris zukommt. Ge-
nauere Angaben über die Ursprungsstelle des Systems behalte ich mir einer
experimentellen Arbeit vor, über die ich in kurzer Zeit berichten zu können
hoffe.
13.
14.
Literaturnachweis:
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. Bechterew, Über eine bisher unbekannte Verbindung der großen Oliven mit dem
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. Bechterew, Über syphilitische, disseminierte zerebrospinale Sklerose. Arch. f.
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Versuche einer pharmakologischen Beeinflussung
der Enthirnungsstarre.
Vorläufige Mitteilung.
Von
Dr. E. Evrad (Liege).
Fast schon zur Zeit, als die decerebrate rigidity Sherringtons bekannt
wurde, begannen Versuche einer pharmakologischen Beeinflussung derselben.
Hauptsächlich die Forschungen von Magnus und seiner Schule lassen sich
auch nach dieser Richtung hin verwenden. Die große Bedeutung, die diesen
Untersuchungen zukommt, ist darum nicht zu leugnen, weil wir ja auch beim
Menschen Starrezustände haben, die bei verschiedenen Krankheiten auftreten
und deren Beeinflussung bisher eigentlich verhältnismäßig wenig gelungen
ist. Es sei nur an die Starrezustände bei Hemiplegie, beim Parkinsonisinus,
bei der Paralysis agitans und ähnlichen Erkrankungen erinnert.
Die neueren Mittel gegen diese Tonussteigerung, wie das Bulbocapnin
und das Harmin haben leider keinen vollen Erfolg erzielt.
Es erschien mir darum angebracht, von neuem Untersuchungen anzu-
stellen mit Mitteln, die eventuell eine Wirkung auf den Starrezustand haben
könnten. Vor allem waren es die Magnesiumsälze, die ich nach dieser Rich-
tung hin prüfen wollte, um so mehr, als bereits zahlreiche Arbeiten in der
Literatur vorhanden sind, die eine Wirkung des Magnesiums auf den Muskel
selbst wahrscheinlich machen, vielleicht sogar im Sinne einer Kurarewirkung.
Klinke hat in letzter Zeit zusammenfassend über die Mineralstoff-
wechsel berichtet, wobei er sellstverständlich auch das Magnesium berück-
sichtigte. Es erübrigt sich mir daher, genauer auf die Literatur einzugehen,
und ich will nur einiges. hervorheben, was eventuell für das Verständnis
der in Rede stehenden Untersuchungen notwendig ist. Klinke meint — und
das ergibt sich ihm aus den Studien der Literatur —, daß das Magnesium
eine Entziehung von Kalziumionen bewirke, indem es auf die Bindungs-
flüssigkeil der Kolloide für Kalzium direkt einwirkt. Das erweist sich dadurch,
daß eine vermehrte Magnesiumzufuhr eine deutlich vermehrte Ultrafiltrierbar-
keit des Kalziums und eine Mehrausscheidung dieses letzteren durch den
Urin zur Folge hat. Ich verweise bezüglich der Literaturangaben auf Klinkes
Arbeit.
Vielleicht die wichtigste Grundlage für meine Untersuchungen bilden die
Arbeiten von Meltzer und Auer (1995 bis 1906), sowie Starkenstein aus
290 Dr. E. Evrad.
dem Jahre 1914, da letztere annehmen, daß das Magnesium eine narkotische
Wirkung auf alle nervösen Elemente besitze, wobei sie meinen, daß diese Wir-
kung ziemlich gleichzeitig einsetzt, vielleicht mit einer Ausnahme, indem das
Atemzentrum zuletzt betroffen wird. Alle Teile des Nervensystems werden
durch Magnesiumionen in ihrer Erregbarkeit herabgesetzt.*)
Es scheint, daß der Hauptangriffspunkt des Magnesium die Synapse ist
(Wiechmann 1920), was übrigens auch aus der Arbeit von Baumecker
(1923) hervorgeht, der die Ausschaltung des Kalziumions, das für die Erreg-
barkeit der Synapse notwendig ist, fördert, um durch das Magnesium die
kurareartige Lähmung der motorischen Nervenendigungen hervorzurufen.
Diese Lähmung beim Frosch wurde schon von Binet im Jahre 1892 fest-
gestellt und findet sich auch bei Warmblütern (Wiki 1996; Wiki und
Beboux 1929). Der Ablauf der Lähmung betrifft zuerst die Rumpfniuskulatur,
dann jene der Gliedmaßen und endlich jene der Atemmuskeln (Straub 1915,
Markwalder 1916). Es fehlte nicht an gegenteiligen Annahmen, indem
Simon Italo (1924) meinte, daß Magnesium das Rückenmark des Frosches
lähme, was sich auch am Kaninchen nach Injektion nichtletaler Dosen be-
stätigen ließ. Diese Wirkung ist aber flüchtig und es folgt bei höherer Do-
sierung der zentralen schnell die periphere Lähmung.
Noch elektiver ist die Meinung von Mitolo (1929), der angibt, daß
Magnesium direkt auf die sensiblen Zentren der Hinterhörner wirke.
Mansfeld (1915) gibt an, daß mit dieser kurareartigen Lähmung auch
eine Narkose des Zentralnervensystems auftritt, die in einer Aufhebung des
Bewußtseins, der Empfindung, der Reflexe verknüpft ist, wobei diese Nar-
kose die kurareartige Lähmung überdauert.
Auf die Wechselwirkung bzw. den Antagonismus der Magnesium-Kalzium-
ionen will ich nur ganz kurz eingehen, und zwar aus dem Grunde, weil die
intravenöse Zufuhr von Kalziumsalzen den Rückgang der Magnesiumvergif-
tungssymptome fördert (Meltzer und Auer 1908, Schütz 1913, Starken-
stein 1913, Gates und Meltzer). Diese Frage scheint mir nach dem Studium
der Literatur noch keineswegs geklärt; ohne darauf näher einzugehen, möchte
ich aui die Angabe von Matthews-Austin hinweisen, wonach die Ent-
giftung bei Magnesiumwirkung dem Serum-Kalkgehalt des Blutes parallel
geht. Nur Yamawaki hat im Jahre 1928 festgestellt, daß die Weckwirkung
durch das Striatum bedingt sein müsse; denn es hätte das Kalzium eine
beruhigende Wirkung (auf das Zwischenhirn), d. h. es vertiefe den schon
bestehenden Schlaf.
Für uns von Bedeutung sind die Untersuchungen von Versteegh (1929)
und Marinesco, Sager und Kreindler (1930), die eine die Enthimungsstarre
herabsetzende Wirkung von Kalziuminjektionen beschreiben.
*) Trotzdem meine Untersuchungen noch weit entfernt von einem Abschluß
sind, habe ich, da ich in der nächsten Zeit nicht gleich Gelegenheit haben werde,
diese fortzusetzen, die Ergebnisse meiner ersten Versuche mitgeteilt, da ich der
Meinung bin, daß dieselben ergänzend zu den bisherigen Versuchen über die Beein-
flussung der Enthirnungsstarre hinzutreten können.
Versuche einer pharmak. Beeinflussung der Enthirnungsstarre. 291
Von vornherein kann man also annehmen, daß die Magnesiumwirkung
bei der Enthirnungsstarre in einer Abnahme derselben bestehen müsse,
während die Wirkung des Kalziums eventuell ein Wiedereintreten der Starre
bewirken soll oder aber eine Vertiefung der Abnahme der Starre, wobei letz-
teres sehr fraglich ist.
Meine Untersuchungen wurden an Katzen vorgenommen. Die typische
Enthirnungsstarre wurde nach der gewohnten Methode erzeugt. Die Tiere
zeigten die bekannten typischen Erscheinungen der decerebrate rigidity.
Um zunächst zu sehen, ob sich bei meinen Tieren mit Enthirnungsstarre
bei entsprechenden Versuchen mit verschiedenen Pharmaka die gleichen Er-
scheinungen zeigen, habe ich zunächst bei einer Katze Morphin injiziert.
Die objektive Untersuchung vor der Injektion — wobei ich nur das
Positive anführe — ergibt: Kornealreflexe beiderseits herabgesetzt; Patellar-
sehnenreflexe äußerst lebhaft, rechts mehr als links; die vier Extremitäten
sind zwar starr, aber die Starre ist nicht besonders intensiv. Die Atmung
beträgt 26, der Puls 156 in der Minute. Kopfbeugung bewirkt Streckung der
linken hinteren Extremität. Beim Kneifen des rechten Ohres Streckung der
linken vorderen Extremität, beim Kneifen des linken gleichfalls Streckung
der linken vorderen Extremität und Zuckungen der Oberlippe beiderseits.
4 Uhr 27: Dem Tiere wird eine 1%oige Morphinlösung (1 ccm, das ist
etwa 0:005 g pro kg Tier) injiziert. Eine Veränderung im Status ist eigentlich
kaun zu bemerken.
Auch 4 Uhr 50 zeigt sich noch keine Veränderung. Demzufolge wird
um 5 Uhr noch eine zweite Morphininjektion gegeben in gleicher Stärke.
Nun hat Kneifung der Haut eine starke Streckung der vorderen Extremitäten
zur Folge, links mehr als rechts. Bei Kneifen der Bauchhaut leichte Streckung
der linken hinteren Extremität.
5 Uhr 10: Der Strecktonus erscheint nur an beiden Seiten in den hin-
teren Extremitäten herabgesetzt. Bei Kneifen des Ohres tritt nun beiderseits
eine starke Streckung der vorderen Extremitäten auf, und zwar links sowohl
als rechts. Die Atmung beträgt 20, der Puls 132 in der Minute.
5 Uhr 27: Neuerliche Injektion der gleichen Morphinmenge. Schon beim
Durchstechen der Nadel durch die Haut tritt eine Streckung der vorderen
Extremitäten, besonders aber links, auf, das gleiche, wenn man die Nadel
herauszieht. Nun zeigen sich zeitweise kleine Zuckungen links in der vorderen
Extremität.
Eine halbe Stunde später sieht man eine übermäßige Empfindlich-
keitssteigerung des Tieres auf Geräusche. Es tritt während eines Augenblicks eine
spontane Beugung der hinteren Extremitäten auf, rechts mehr als links, sowie
eine Adduktion und leichte Streckung der vorderen Extremitäten. Ein leichtes
Klopfen auf die Unterlage bewirkt das gleiche, wobei hervorzuheben ist, daß
die Intensität des Geräusches mit der Intensität der Reaktion parallel geht.
Auch der Tonus ist gesteigert, in den hinteren Extremitäten syınmetrisch,
in den vorderen links eine Spur mehr als rechts. Dabei scheint es, als ob
der Charakter des Tonus eine Änderung erfahren hätte. Er ist nicht mehr
292 Dr. E. Evrad.
so absolut plastisch, sondern mehr elastisch, was besonders dadurch zum
Ausdruck gebracht wird, daß bei passiver Beugung oder Streckung einer
Extremität dieselbe rasch ihren primären Zustand gewinnt. Aber der Streck-
tonus ist immer ausgesprochener als der Beugetonus.
Ferner zeigt sich beim Kneifen der Ohren eine viel stärkere Reaktion
der Extremität und ein Versuch, die Patellarsehnenreflexe zu prüfen, ergab
eine Reaktion auf allen vier Extremitäten.
Ungefähr eine Stunde später (6 Uhr 30) ist der Strecktonus auf-
fallend gesteigert. Das Tier wird in Seitenlage gebracht und über Nacht am
Leben erhalten. l
Morgens (8 Uhr 30) ist die Erregbarkeit noch deutlicher. Das geringste
Geräusch bewirkt eine Laufbewegung. Es besteht Opisthotonus. Bezüglich
des Strecktonus erwies sich die vordere Extremität gesteigert, doch tritt auch
gelegentlich eine Beugung auf. Die hinteren Extremitäten werden halb gebeugt
gehalten. Immerhin ist noch der Strecktonus deutlich nachweisbar, vorn
mehr als rückwärts. Es kommt allerdings zu einem spontanen Nachlassen
der Starre von Zeit zu Zeit, aber sie bleibt immer vorhanden, steigert sich
nach der Abnahme und es kommt dazwischen zu Laufbewegungen. Dabei
scheint es, als ob die hinteren Extremitäten eine stärkere Adduktorenstarre
aufweisen, da sie sich überkreuzen.
Es erweist sich dieser Versuch im wesentlichen als eine Bestätigung der
Untersuchungen von Joel und Arndts (1925), die bei den dezerebrierten
Katzen und Kaninchen eigentlich nur vermehrte Laufbewegungen nachweisen
konnten. Nur bei großen Morphindosen traten Krämpfe auf. Es handelt sich
also hier offenbar um eine Steigerung der Erregbarkeit durch die Zuführung
des Morphins.
Erwähnen möchte ich nur, daß subkutan injiziertes Luminal (zwei Injek-
tionen à 0°02 bei einer dezerebrierten Katze von 2 kg Körpergewicht) keine
Wirkung gezeigt hat. Auch 0:5 Magnesium pro Kilogramm Tier blieb wirkungs-
los. Um eventuelle Reaktionen auf die Injektionen schneller und deutlicher
aufzuzeigen, habe ich die später operierten Tiere intravenös statt subkutan
injiziert.
Um die Magnesiumwirkung und die dieser nachfolgende Kalziumwirkung
bei Enthirnungsstarre aufzuzeigen, möchte ich die Erscheinungen bei einem
der Versuchstiere etwas genauer beschreiben.
Gleich nach der Dezerebration zeigt sich -— das Tier ist in Rückenlage
— die Starre vollständig vorhanden. Bezüglich der Technik sei bemerkt, daß
während des Eingriffes die Karotiden abgeklemmt werden, nach dem Eingriff
-- und zwar zirka 15 Minuten später -- werden sie eröffnet. Ich habe auch
den Sinus longitudinalis und die medialen Teile des Schätdels nicht erhalten,
ohne daß irgendwelche auffällige Erscheinungen hervorgetreten wären.
20 Minuten nach der Dezerehration war die tiefe Atmung 14, der Puls 150
in der Minute. Der Strecktonus war in allen Extremitäten deutlich nachweisbar.
Bei Kopfbeugung nach vorn erfolgt eine Herabsetzung des Tonus der vorderen
Extremitäten. Die anderen tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf die
Versuche einer pharmak. Beeinflussung der Enthirnungsstarre. 293
Glieder waren ganz negativ. Periost- und Sehnenreflexe bei allen Extremitäten
sehr gesteigert.
Beim Kneifen:
des Ohres: Zuckungen der Oberlippe, leichte Streckung der vorderen
Extremitäten,
der Haut an der Brust: leichte Streckung der vorderen Extremitäten,
an dem Bauch: kein Erfolg,
des Schwanzes: leichte Streekung der hinteren Extremitäten. Druck auf
den Testikel: Streckung der hinteren Extremitäten. Während der Puls sich
in der folgenden Stunde kaum verändert, geht die Atmung um zwei Atemzüge
zurück, ist aber regelmäßig. Sonst verändert sich nur der Patellarreflex,
der klonisch ist und bei dessen Auslösung ein gekreuzter Streckreflex auf-
tritt. Auch die Reaktion auf Kneifen der verschiedenen Körperstellen ist leb-
hafter.
Während die Dezerebration um 12 Uhr 25 vorgenommen wurde, wird
um 2 Uhr 30 die erste intravenöse Injektion von 10°%oigem Magnesiumchlorid
in die Vena saphena gemacht. Die Injektion erfolgt tropfenweise. In dem Augen-
blick, als eine gewisse Menge (47 eem, das sind 0:47 g Magnesiumchlorid =
0:14 proe kg Tier) in die Vene eingeflossen ist, verschwindet die Starre der
Vorderbeine. Einige Zeit danach nimmt auch der Strecktonus der hinteren
Extremitäten allmählich ab und fünf Minuten nach der Injektion sind alle
vier Extremitäten locker. Die Patellarsehnenreflexe sind erloschen.
2 Uhr 42 wird eine 10®oige Kalziumehloridlösung injiziert (und zwar
1:65cem, das sind 0:05 pro kg Tier). Die Atmung ist unverändert, der Puls
auf 108 zurückgegangen. Die Patellarsehnenreflexe sind wiedergekehrt aber
die Lockerung der Extremitäten hat sich noch nicht geändert.
2 Uhr 55 neuerlich gleiche Injektion. Die Sehnenreflexe sind jetzt wieder
gesteigert.
Um 3 Uhr wiederholtes Kneifen des Ohres: Streckung der vorderen Ex-
tremitäten, besonders links. Nach der Streckung werden die Pfoten wieder
locker. Nur das linke Vorderbein hat einen leicht gesteigerten Strecktonus.
3 Uhr 15: Dritte Injektion der gleichen Menge Kalziumchlorid. Patellar-
reflexe sehr lebhaft. Bei Stoß auf den Tisch leichte Streekung der vorderen
und hinteren Extremitäten. Eine Änderung der Lockerung jedoch besteht
nicht.
3 Uhr 22: Deutliche Steigerung der Sehnenreflexe und der Reaktion auf
Kneifen.
3 Uhr 30: Der Strecktonus der hinteren Extremitäten ist wieder vor-
handen. In den vorderen Extremitäten nimmt er in den proximalen Segmenten
verhältnismäßig zu, links mehr als rechts. Die Streeckung eines Hinterbeins
löst die Streeckung des anderen Beins und des linken Vorderbeins auf. Die
Patellarreflexe sind rechts klonisch, links lebhaft.
3 Uhr 45 tritt die Magnesinmwirkung mehr in den Vordergrund. Die
Extremitäten werden locker, die Empfindlichkeit beim Kneifen nimmt ab.
4 Uhr: Neuerliche Kalziuminjektion.
294 Dr. E. Evrad.
Während gleich nach der Injektion die Starre aller vier Extremitäten
noch vorhanden ist und ein Stoß gegen den Tisch Laufbewegungen der vier
Extremitäten auslöst, bei Kopfbeugung die tonischen Reflexe auftreten, die
Streckung einer hinteren Extremität das gleiche an der anderen auslöst, ist
un 4 Uhr 15 die Starre in allen vier Extremitäten herabgesetzt. Auf Bauch-
kneifen erfolgt keine wesentliche Veränderung. Patellarsehnenreflexe sehr
lebhaft. Der gleichseitige Beuge- und gekreuzte Streckreflex ist negativ.
4 Uhr 30: Lockerung der Beine. Kein Patellarklonus.
4 Uhr 50: Neuerliche Injektion von Kalziumchlorid.
5 Uhr: In den vorderen Extremitäten geringfügige Starre, Andeutung von
Laufbewegungen. Die Streckung eines Hinterbeins löst die Streckung des
anderen aus.
5Uhr 15: Die Extremitäten sind vollständig locker.
5 Uhr 30: Rasche Einspritzung einer 10%oigen Magnesiunichloridlösung
(47 ccm). Es erfolgt sofort eine starke Streckung der vier Extremitäten. Das
Tier nimmt Seitenlage ein. Die Atmung ist wohl tief aber sehr wenig
frequent. Gleich danach werden die Extremitäten ganz locker. Es treten Atem-
pausen von fünf Minuten auf, danach der Exitus.
Bei einem nächsten Tier ließ sich die Injektion nicht in der gleichen
Weise durchführen wie bei dem eben geschilderten Tier. Es mußte, da Atem-
slörungen auftraten, die Injektion in Abständen vorgenommen werden. Dem-
zufolge war auch der Effekt ein verhältnismäßig geringerer.
Das Tier bekam im ganzen 4!/, ccm Magnesiumchlorid (=0'16 g pro kg
Tier), die innerhalb einer Stunde injiziert wurden. Aber im wesentlichen
war der Erfolg gleich dem vorher geschilderten Tier, nur nicht von derselben
Intensität und Deutlichkeit. Die Kalziuminjektionen hatten hier nicht den
Effekt, daß die Extremitäten in ihrem Spannungszustand wesentlich ver-
ändert wurden. Dagegen hat Kneifen der Brusthaut eine stärkere Streckung
der vorderen Extremitäten zur Folge, stärker als es früher zur Beobach-
tung kam.
Noch ein Versuch sei hier kurz angeführt, trotzdem er eigentlich nach
der Dezerebration keine vollständige Rigidität zeigt. Diese Dezerebration
wurde am 4. Oktober vorgenommen. Das Tier blieb drei Stunden ohne Injek-
tion, um einen Dauerzustand sicherzustellen. Dabei zeigte sich, daß in den
vorderen Extremitäten der Strecktonus gleich stark vom Anfang bis nach
Ablauf der drei Stunden geblieben ist, vielleicht links eine Spur stärker als
rechts. Dagegen war diese Steigerung in den hinteren Extremitäten nur flüch-
tig. Rechts schwand sie schon nach 30 Minuten, links blieb eine Spur in
den proximalen Segmenten bestehen. Die tonischen Hals- und Labyrinthreflexe
auf die Glieder waren die erste halbe Stunde negativ, später wurden sie posi-
tiv, mit Ausnahme der Kopfbeugung nach hinten. Die Patellarreflexe waren
anfangs nach der Dezerebration vorhanden, verschwanden dann links, um
schließlich drei Stunden nach der Dezerebration vollständig negativ zu werden.
Keine gekreuzten Reflexe. Nach Kneifen der Sehnen gleichseitige Beugung
der hinteren Extremitäten.
Versuche einer pharmak. Beeinflussung der Enthirnungsstarre. 295
Auffallend grobwelliger Tremor gleich nach dem Eingriff, der in den
hinteren Extremitäten parallel mit dem Patellarsehnenreflex schwindet. Bei
Auslösen des Periostreflexes tritt er auf, aber auch spontan. Die Reaktionen
auf Kneifen sind analog wie vor der Operation geringfügig.
7 Uhr 5: Eine Injektion einer nur 5®oigen Lösung von Magnesiumchlorid
(7 cem). Sie werden innerhalb von acht Minuten in eine Vena saphena inji-
ziert. Schon während der Injektion senken sich die vorderen Extremitäten
allmählich und bleiben gebeugt. Puls und Atmung hat sich nicht wesentlich
geändert.
7 Uhr 10: Man kann noch deutlich die Steigerung des Strecktonus der
vorderen Extremitäten wahrnehmen.
T Uhr 30: Injektion von 6ccnı MgChl, in fünf Minuten, so daß das Tier
im ganzen 0:65 g der Lösung bekommen hat (0:20 g pro kg Tier). Auch hier
beugen sich die vorderen Extremitäten schon während der Injektion. Die Ex-
tremitäten werden nach der Injektion vollständig locker, die Periostreflexe
verschwinden. Sämtliche tonische Reflexe sind ebenfalls verschwunden. Auch
auf Kneifen reagiert das Tier kaum.
7 Uhr 43: Zeigt sich bereits eine leichte Wiederkehr des Strecktonus
sowie Auftreten der Periostreflexe in den vorderen Extremitäten.
7 Uhr 56: Auftreten vereinzelter tonischer Reflexe auf die Glieder. Die
Intensität der Periostreflexe der vorderen Extremitäten nimmt zu. Beklopfen
der linken Extremität führt zu einer Steigerung des Tonus der rechten, aber
nicht umgekehrt. Das rechte Vorderbein wird steif, das linke nicht. In den
hinteren Extremitäten keinerlei Änderung. Kopfdrehung und -bewegung nach
vorne lösen wieder die gewohnten Reaktionen auf die vorderen Extremi-
täten aus.
8 Uhr 20: Injektion von 1:6 cem Kalziumehlorid (10°n ig intravenös).
Das Auffälligste ist das Auftreten der Patellarreflexe in der rechten hinteren
Extremität, trotzdem diese schon vor der Einspritzung von Magnesium ver-
schwunden war. Die Reaktionen auf Kneifen werden stärker.
8 Uhr 30: Zweite Injektion von Kalzium (1:6 cem einer 10®oigen Lö-
sung, im ganzen also nur 0:32 g.-010 g pro kg Tier).
8 Uhr 40: An der hinteren Extremität rechts ist eine leichte Steigerung
des Strecktonus in den proximalen Segmenten vorhanden, ebenso ist der
Patellarreflex an diesem Bein gesteigert, also ein Zustand, wie er gleich
nach der Dezerebration in diesem Bein vorhanden war.
Bis 9 Uhr keine Veränderung. Während der Nacht stirbt das Tier.
Wenn ich schließlich zusammenfasse, was meine bisherigen Versuche
ergeben haben, so zeigt sich, daß bezüglich der Morphinwirkung meine Er-
gebnisse in nichts von jenen der Literatur abweichen?
Hingegen war es mir nicht möglich, irgend etwas in der Literatur zu
finden, was meine anderen Versuche betrifft, nämlich die mit Magnesium-
chlorid. Die Beeinflussung der Enthirmungsstarre durch Magnesium in ent-
sprechend großen Dosen und bei sehr langsamer Injektion in die Venen
ist eine überaus in die Augen fallende. Der Umstand, daß das Magnesium
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XNXNIIT. Bd., Hefi 2. 20
296 Dr. E. Evrad.
bei dezerebrierten Tieren wirksam ist, spricht dafür, daß es entweder auch
an den tieferen, noch erhaltenen Zentren angreift oder aber peripher.
Mehr als das läßt sich nach meinen Versuchen noch nicht erschließen.
Dagegen kann man auf wunderbarste Weise zeigen, daß der Antagonismus
Kalzium-Magnesium auch bei dezerebrierten Tieren deutlich in Erscheinung
tritt. Doch ist diese Wirkung keineswegs so absolut, wie sie bei nicht dezere-
brierten Tieren beschrieben wird.
Während bei dezerebrierten Tieren unter Kalziumwirkung (Versteegh)
die Enthirnungsstarre schwindet, hat sich bei meinen Versuchen gezeigt, daß
diese wohl unter Magnesium schwindet, aber unter Kalzium wieder auftritt,
wenn auch nicht immer in der gleichen Intensität, als ohne Einwirkung
eines Pharmakons. Das erscheint mir von großer Bedeutung, da es den Gegen-
satz Kalzium- und Magnesiumwirkung auch beim dezerebrierten Tier auf-
zeigt. Allerdings habe ich bei meinem letzten Versuch gesehen, daß auch ohne
Kalziumzufuhr die Starre, die nach Magnesiuminjektion geschwunden war,
spontan in einzelnen (iliedern wieder auftrat.
Ich will mich jeder weiteren Diskussion vorläufig enthalten und nur diese
unendlich leicht zu demonstrierenden Tatsachen hier anführen, wobei ich mir
vorbehalte, durch spätere Versuche mit geeigneten Variationen zunächst den
Angriffspunkt von Kalzium und Magnesium beim dezerebrierten Tier sicher-
zustellen, dann aber auch zu versuchen, in das Wesen dieser Wirkung ein-
zudringen.
Zur Frage der Perimeningitis.
Von
Eugen Pollak.
Mit 7 Abbildungen im Text.
Als Ursache der akuten transversalen Myelopathien spielt eine ganz be-
sondere Rolle jene Affektion, welche als Perimeningitis, auch Epimeningitis,
bezeichnet wird. Es handelt sich hier um eine meist metastatische Affektion,
das heißt eine Fortleitung oder echte Metastasierung irgend eines septischen
Prozesses in den Wirbelkanal bzw. an der Außenfläche der Dura. Gewöhnlich
ist auch an diesen Stellen der Prozeß erst sekundär zur Entwicklung gelangt,
da entweder eine primäre Erkrankung des Knochens vorliegt oder aber, was
meistens der Fall ist, die Eiterung im Wege der Intervertebrallöcher in den
Wirbelkanal selbst eindringt. Die Erkrankung ist, wie eingehende Statistiken
gezeigt haben, keineswegs so selten und man kann aus einer zusammen-
fassenden Arbeit von Schmalz ersehen, daß die sogenannte akute Pachy-
meningitis spinalis externa relativ häufig vorkommt. Auffallend ist das Über-
wiegen des männlichen Geschlechtes: 67:450 gegen 27-90, Frauen. Unter den
vom genannten Autor untersuchten 41 Fällen sind zirka 7000 in der ersten
Lebenshälfte aufgetreten.
Die primären septischen Erkrankungen sind verschiedener Natur, beson-
ders aber Furunkeln, Phlegmonen, Panaritien, Osteomyelitis, Dekubitus, eitrige
Rippenfellentzündungen, Polyserositis. Wichtig ist jedoch, daß auch im Ge-
folge von gewöhnlichen Infektionskrankheiten, wie nach Pertussis oder Pneu-
monie derartige Perimeningitiden beobachtet wurden. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß diese merkwürdige Erkrankung nicht ohneweiters erkannt wird.
Hier wird man aus den septischen Begleitumständen häufig auf diese Er-
krankung hingelenkt werden, wobei gewisse klinische Begleitsymptome die
Diagnose ermöglichen. Auffallend charakteristische Erscheinungen sind die
Hyperästhesien, besonders an den unteren Extremitäten, die stärkere Empfind-
lichkeit des Abdomen, Parästhesien und vor allem besonders starke allge-
meine Körperschmerzen. Dazu kommt noch die der septischen Erkrankung
zugehörige Temperaturerhöhung sowie eine ganz besonders starke Leuko-
zytose im Blut.
Ganz besonders wichtig ist aber die Frage des Liquors. Hier kann man
durch die Eigenart des pathologischen Prozesses leicht zu einer falschen
Diagnose verleitet werden. Wenn man in solchen Fällen richtig punktiert,
20°
298 Eugen Pollak.
so wird es in der Mehrzahl der Fälle vorkommen, daß man bei der Lumbal-
punktion negative Werte der Rückenmarksflüssigkeit findet. Die vollkommene
Klarheil des Liquors, der Mangel einer wesentlichen Zell- oder Eiweißver-
mehrung kann zu irrigen Schlüssen Veranlassung geben; hingegen zeigt sich
aber gleichzeitig durch diesen Befund ein wichtiges, charakteristisches
Merkmal der Pathologie dieses Prozesses: Die vollständige Unverändertheit
der Spinalflüssigkeit beweist nämlich, daß im Subarachnoidealraum Zeichen
einer krankhaften Veränderung nicht gefunden werden. Wir sind also auf
diese Weise bereits dahin orientiert, daß der Prozeß nicht zu einer Mit-
beteiligung der Liquorräume geführt hat, daß also der Prozeß an der äußeren
Seite der Dura eine Grenze gefunden hat, welche nicht überschritten wird.
Es ist wichtig, daß derartige Punktionsbefunde bei Perimeningitis durchaus
charakteristisch sind, daß sie sowohl bei jenen Fällen gefunden werden,
welche spinale Symptome bieten, wie selbstverständlich auch bei jenen, wo
eigentlich Rückenmarkzeichen noch nicht zur Entwicklung gelangt sind. Diese
Bemerkung weist uns auf die Feststellung der Tatsache, daß ganz gleich-
sinnige perimeningitische Prozesse in einem Fall ein Spinalsyndrom bewirken,
im anderen Fall jedoch eine spinale Erkrankung nicht bedingen. Inwieweit
bei solchen Fällen die Dauer des Prozesses eine Rolle spielt, bleibe dahin-
gestellt und es wäre nicht ausgeschlossen, anzunehmen, daß wahrscheinlich
eine größere Anzahl von Fällen von Perimeningitis eine echte spinale Mit-
erkrankung zeigen würden, wenn die Kranken nicht vorher dem septischen,
Leiden erliegen oder aber nach Erkenntnis der Sachlage durch einen opera-
tiven Eingriff der Heilung zugeführt werden. Immerhin werden wir im Ver-
laufe unserer Ausführungen noch Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen,
daß trotz der verhältnismäßig einfachen und eindeutigen Befunde das patho-
genetische Reaktionsverhältnis des epiduralen Prozesses mit Rückenmarks-
veränderungen nicht klar analysiert werden kann.
Die diagnostische Klärung solcher Fälle kann durch die Lumbalpunktion
erfolgen, wenn man nicht mit der Punktionsnadel die Dura durchstößt, sondern
aus dem epiduralen Raum her die eitrige Flüssigkeit ansaugt. In solchen
Fällen ist natürlich die Diagnose leicht zu erhärten. Doch wird man auch
durch rein lokale Reaktionen einerseits, Anamnese und allgemeinen Befund
andererseits in den meisten Fällen die Möglichkeit haben, die richtige
Diagnose zu stellen und unter Umständen in solchen Fällen versuchen, durch
operative Freilegung der septischen Grundquelle den fortschreitenden Prozeß
in der Entwicklung zu hemmen und weiterhin die bestehenden namhaften
Veränderungen zu beheben, um dadurch eine Heilung zu ermöglichen. Eine
große Anzahl von Fällen der Literatur zeigt, daß eine derartige Therapie sehr
erfolgreich sein kann.
Wir wollen nun im folgenden einen Fall beschreiben, der uns vor vielen
Jahren zur Untersuchung zugewiesen wurde und der in gewisser Hinsicht
geeignet ist, verschiedene Fragen der Rückenmarkspathologie zu erörtern
und einige Tatsachen zeigt, welche die Pathogenese der transversalen Er-
krankung des Rückenmarks aufhellt.
Zur Frage der Peritneningitis. 299
Es handelt sich hier um J. Sch., 24 Jahre alt, Hausgehilfin, aufgenommen am
15. März, gestorben am 25. März 1921.
Diagnose: Myelitis des oberen Dorsalmarks nach Furunkel des rechten Vorder-
arms. Pneumonie im linken Unterlappen, Decubitus, Cystitis haem.
Immer gesund gewesen. Anfang März 1921 Furunkel. 12. März angeblich
nach einem Bad Schüttelfrost, Stechen in der Brust und im Rücken, Atembeschwerden
und Erbrechen. Pat. blieb im Bett, Kopfschmerzen, Kreuzschmerzen, trockener Husten,
appetitlos, hohes Fieber. Spital.
Seit Herbst 1919 Ausfluß, März 1920 Entfernung einer blumenkohlartigen Ge-
schwulst am Genitale. Juli 1920 Blasenkatarrh.
Status: Pat. hochfebril, Sensorium leicht getrübt. Kopfbewegung gegen das
Sternum nur mit intensiven Schmerzen im Rücken möglich. Gesicht zyanot.; dys-
pnoisch; Augenbewegungen frei. Pupillen normal, kein Herpes. Lunge normal: Herz
o. B., ebenso Abdomen. Am rechten Unterarm ein großer, derb-infiltrierter, spontan
eröffneter Furunkel. PSR. nicht auslösbar, Babinski und Oppenheim nicht vorhanden.
Leichte Hyperästhesien der unteren Extremitäten.
Nachtrag: Zur Zeit der Erkrankung und vor der Spitalsaufnahme nur
Schmerzen im Kreuz und Rücken bei Bewegung, keine Harnbeschwerden, keine
Parese.
16. März: Schmerzen im Rücken, die sich bei Bewegung sehr steigern; bronch.
Geräusche über den Lungen. Im Harn: Albumen positiv 0,1°/bọ, sonst negativ. Blut-
druck 140. Im Blut: 13.700 Leukozyten.
18. März: Retentio urinae. Hartnäckige Obstipation. Starke Rückenschmerzen.
Hohes Fieber.
20. März: 39,6 Temperatur. Leukozyten im Blut: 26.000. Im Harnsediment
massenhaft Kokken und Leukozyten. PSR. ®. ASR. ©. Beginn der Parese der unteren
Extremitäten.
21. März: Zyanose der Wangen. beschleunigte Atmung, vollständige Parese
beider Beine. Obere Extremitäten frei: hochgradiger Meteorismus, Bauchmuskeln er-
schlafft. PSR. und ASR. fehlen. Sensibilität an den Beinen und am Bauch bis zur
Höhe des Rippenbogens — rechts etwas höher, links 2 Querfinger tiefer - - beträcht-
lich herabgesetzt, besonders distal vom Knie abwärts, schwächer am Oberschenkel und
Bauch. Die Störung betrifft sowohl die taktile als die Schmerz- und Temperatur-
empfindung. Unterschenkel bds. nahezu anästhetisch. Retentio urinae et alvi. Die
Schmerzen im Kreuz haben aufgehört. Aufsitzen nicht mehr schmerzhaft. Unter der
linken Lunge Tympanismus, in der Gegend des angulus scap. hohes Bronchialatmen.
Wirbelsäule nicht deformiert; vom 4. Dorn nach abwärts bis zum 12. klopfempfind-
lich, am stärksten in der Höhe des 4. und 5. Brustdorns. Auch rückwärts Sensibilitäts-
störung in Rippenbogenlinie, darüber eine leichte hyperästhetische Zone bis zum
4. Brustdorn. Fundus normal.
23. März: Status idem. Decubitus. Haem. Zystitis. Die Haut des Gesichtes ist
stark gerötet mit zwei kleinen und einer großen mit klarer Flüssigkeit angefüllten
Blasen. Ödeme der Füße. Puls 140.
24. März: l.umbalpunktion: Liquor gelb trüb. Druck nicht erhöht. Zellen 329.
Nonne-Apelt -+. Vollständige Apathie.
25. März: Lungenödem. Exitus.
Obduktionsbefund: Überaus kopiöse Fiterung des Wirbelkanals in Form
extraduraler Exsudierung in der Erstreekung vom 2. Brustwirbel bis zum untersten
Lendenwirbel. Diffuse Eiterung der Wirbelsäulenmuskulatur mit Bildung kleiner sym-
metrischer paravertebraler Abszesse, rechts und links vorne, entsprechend dem 8. und
4. Brustwirbel. Haem. eitrige Zystitis. Junge Pyelonephritis: rechts. konfl. Lobulär-
pneumonie. Herde im linken Unterlappen.
Leptomeningen des Rückenmarks glatt, frei von Exsudation. Rückenmark erscheint
in seiner ganzen Ausdehnung ein wenig komprimiert, verschmälert. Auf Durchschnitten
in verschiedenen Höhen nevativer Befund.
800 Eugen Pollak.
Kurz zusammengefaßt handelt es sich um eine junge Person, die aus voller
Gesundheit an einem Furunkel erkrankte und nach dem Auftauchen eines
Schüttelfrostes die typischen Erscheinungen der Perimeningitis bot.
Nach unseren früheren Ausführungen zeigt sich, wie die Kranken-
geschichte lehrt, ein durchaus typisches Bild, wobei die Leukozytenzahl und
Temperatur besonders hochgestellt sind; es entwickelte sich binnen wenigen
Tager: ein typisches Querschnittssyndrom, so daß man von einer transversalen
Myelitis des oberen Dorsalmarks sprechen konnte. Wichtig ist, daß die Wirbel-
säule von einem gewissen Punkt an nach abwärts besonders empfindlich war,
und daß gerade in einem Punkt der Wirbelsäule, und zwar am 4. und 5. Brust-
dorn ein besonders hoher Grad der Klopfempfindlichkeit bestand. Wesentlich
ist ferner, daß am Tage vor dem Exitus die Lumbalpunktion eine pathologi-
sche Spinalflüssigkeit zutage förderte und die Trübung des Liquors und Pleo-
zytose bei mäßiggradiger Eiweißvermehrung weist darauf hin, daß auch im
Subarachnoidealraum dieses Falles sich scheinbar ein pathologischer Prozeß
entwickelt hatte.
Insoweit sehen wir eine Abweichung von dem typischen normalen Befund
des Liquors bei einem Fall von Perimeningitis und es wäre hier vielleicht
anzunehmen, daß die relativ lange Dauer des Prozesses und die sogleich zu
besprechende schwere Rückenmarkserkrankung ursächlich dieseLiquorreaktion
bedingt hat. Darauf werden wir später noch zu sprechen kommen.
Der Obduktionsbefund dieses Falles ergab die charakteristische extra-
durale Eiterung im Wirbelkanal vom 2. Brustwirbel nach abwärts und, was
besonders bemerkenswert ist, die Entwicklung symmetrischer paravertebraler
Abszesse in der Höhe des 3. und 4. Brustwirbels. Die Obduktion zeigt hingegen,
daß die Leptomeningen vom pathologischen Prozeß verschont sind, daß sich
vor allem eine gleichsinnige Exsudation wie im epiduralen Raum hier nicht
findet. Man konnte also bei der Obduktion das Bestehen einer leptomenin-
gealen Erkrankung oder einer entzündlichen Reaktion im Subarachnoideal-
raum nicht feststellen. Wir betonen dies hier deswegen, weil hiemit ein
Gegensatz zwischen dem Ergebnis der Lumbalpunktion und dem anatomischen
Befund besteht. Wir möchten darum vielleicht meinen, daß das Ergebnis
der Lumbalpunktion auch in unserem Falle durch technische Fehlerquellen
getrübt ist, indem vermutungsweise bei der Punktion eitrige Elemente während
des Durchstechens des epiduralen Raumes in die Kanüle eingedrungen sind,
so daß es infolgedessen zu einer Vermengung von Liquor und epiduralem
Eiter kam, das für eine gewisse Gefahr eines solchen Fingriffes bei Peri-
meningitis spricht.
Die histologische Untersuchung, die wir folgen lassen, läßt es wahr-
scheinlich erscheinen, daß die hier vertretene Ansicht bezüglich des Liquor-
befundes zutrifft.
Der Obduktionsbericht teilt weiter mit, daß das Rückenmark in seiner
ganzen Ausdehnung ein wenig komprimiert und verschmälert erscheint, ein
Befund, den wir bei unserer Nachprüfung nicht vollimhaltlich bestätigen
konnten, wenngleich es möglich ist, daß durch die sofort erfolgte Fixierung
Zur Frage der Perimeningitis. 301
eine spätere Veränderung der Gestalt des Rückenmarks ermöglicht wurde.
Die Rückkehr jedoch zu annähernd normalen Oberflächenverhältnissen im
fixierten Zustand erscheint uns unwahrscheinlich, zumal gewöhnlich die Fixie-
rung doch eher geeignet ist, die Deformität des Marks zu verstärken, als zum
Verschwinden zu bringen. Wir glauben hingegen, daß die vielleicht ein wenig
weichere Konsistenz des Rückenmarks schon genügt, um bei der Obduktion
durch Herabsetzung des normalen Härtegrades eine derartige Kompression
vorzuläuschen, in Wirklichkeit jedoch eine richtiggehende mechanische Be-
einträchtigung nicht gegeben ist. Was aber das Interessanteste ist, ist die
Mitteilung des Obduzenten, daß er auf Durchschnitten des Rückenmarks in
verschiedenen Höhen ein negatives Bild erhalten hat. Dieser Befund hat bei
der von uns erfolgten Nachkontrolle eine wesentliche Abänderung erfahren.
Wenn es auch richtig ist, daß ein großer Teil der Rückenmarksgebiete schein-
bar frei von Veränderungen ist, so konnten wir doch -- und zwar gerade an
den charakteristischen Stellen -— bereits makroskopisch eine schwerste Ent-
artung des Rückenmarks feststellen. Der klinische Befund hat darauf hinge-
wiesen, daß vermutungsweise in der Höhe des oberen Dorsalmarks ein Kul-
minationspunkt des Prozesses liegt. Als wir im Bereiche des 4. und 5. Tho-
rakalsegmentes das Rückenmark anschnitten, sahen wir, daß hier ein schwerer
Entartungsprozeß vorliegt und wir haben diese Höhe des Marks in Serien
geschnitten, um die Entwicklung dieses sozusagen streng lokalisierten Pro-
zesses zu verfolgen.
Die nachfolgenden Beschreibungen zeigen, daß hier eine schwere spinale
Erkrankung vorliegt, daß also tatsächlich das Symptom einer Querschnitts-
unterbrechung des Rückenmarks durch den anatomischen Befund erklärt
wird.
Wenn wir an die Beschreibung des pathologischen Prozesses herantreten,
so zeigt sich zunächst an der Serie, die aus den erweichten Bezirken ange-
fertigt wurde, folgendes Bild.
Abb. 1. (Dieser Schnitt und die folgenden entsprechen der Höhe von D 4—5.)
Man sieht eine Erkrankung des Rückenmarks, welche sich hier vorwiegend an
den dorsalen Partien des Rückenmarks abspielt. Wir finden zunächst als be-
sonders charakteristisch eine Erweichungshöhle, welche fast den ganzen ventralen
Anteil der beiden Hinterstränge einnimmt. Der elliptische Defekt zeigt eine leichte
fast kapsuläre Umrahmung. reicht ventral bis zur Commissura posterior und dorsal
— an der Septumlinie gemessen — nicht bis zur Peripherie, sondern läßt fast die
dorsale Hälfte des Hinterstranges unverändert. Es ist vom ventralen Hinterstrangsfeld
der beiden Seiten nur ein ganz schmaler Streifen geblieben, so daß der Defekt nicht
an das Hinterhorn anstößt. In der Septumlinie, wo diese nicht zerstört ist, sieht man
eine Aufhellung der Markscheiden, welche wie ein Sporn bis an die dorsale Begren-
zungslinie des Marks heranreicht. Im Hinterstrang der einen Seite, wo dieser nicht
vom Erweichungsprozeß betroffen ist, erkennt man einen weiteren kleinen Erweichungs-
herd, der auch elliptisch geformt ist, jedoch die ganz scharfe Begrenzung wie beim
zentraleren malazischen Hauptherl vermissen läßt. Auffallende zum Teil diffus,
vielfach jedoch mehr keilförmig angeordnete Aufhellungsbezirke sieht man im Hinter-
seitenstrang der einen Seite und mäßigeradige, mehr diffuse Lückenfeldbindungen im ge-
samten Seitenstrang der anderen Seite. Was hier vollständig intakt erscheint, ist die
graue Substanz, sowohl in ihren vorderen, hinteren und zentralen Partien. (Eine beson-
302 Eugen Pollak.
Abb. 2.
dere Veränderung des Vorderhorns der einen Seite wird später beschrieben werden.)
Wesentlich ist für uns hier die Feststellung, daß eine allgemeine Aufhellunge der Rand-
zone vermißt wird und die eventuell an der Peripherie vorhandenen Liehtungsbezirke
machen nicht den Eindruck einer Svstemisierung im Sinne einer Randdegeneration,
sondern sind als Einzelherde der Vasokoronaaffektion aufzufassen.
Zur Frage der Perimeningitis. 303
Verfolgen wir die Serie ein wenig nach abwärts, so sieht man folgendes:
Abb. 2. In Ergänzung der Beschreibung des früheren Schnittes konnten wir
dort sehen, daß das eine Vorderhorn ein wenig breiter war als das der anderen Seite.
Wir erkennen nun in Abb. 2, die wenigen Schnitten weiter distal entspricht und
wobei die Abbildung von einem umgekehrt aufgeklebten Schnitt stammt, folgendes:
Der Herd im ventralen Hinterstrangsfeld ist verhältnismäßig gleichgeblieben.
Er zeigt keine Änderung gegenüber der früheren Höhe. Hingegen hat man die Emp-
findung, als ob die Gegend um das ein wenig deformierte restliche hintere Septum,
das noch erhalten geblieben ist, einer weit schwereren Entartung anheimgefallen
ist, und daß sich hier eine mehr diffuse Aufhellung des Markscheidengebietes präsen-
Abb. 3.
tiert. Ventral davon grenzt sich der große Erweichungsherd in ganz der gleichen
Weise (s. Abb. 1) ab. Hingegen hat sich der kleine Herd im Hinterstrang der einen
Seite, in Abb. 1 rechts gelegen, hier links wesentlich verändert. Man erkennt
nunmehr eine lokale elliptische Nekrose, wobei der größere Durchmesser parallel
zur Oberfläche des Rückenmarks verläuft und man sieht also hier ein Pendant zu
dem im ventralen Hinterstrangsfeld aufgetauchten Erweichungsherd. Die genauere
Untersuchung dieser Stelle zeigt, daß es sich hier, genau so wie im Hauptherd,
um einen typischen malazischen Prozeß handelt, der sich durch nichts von sonstigen
Rückenmarkserweichungsherden unterscheidet.
(Auf die Frage der Gefäßveränderungen werden wir zusammenfassend erst
später zu sprechen kommen, da diese einen wesentlichen Unterschied gegenüber den
übrigen Rückenmarkserweichungen mannigfacher Art darstellen.‘
Was diesen Schnitt jedoch von früheren ganz erheblich unterscheidet, ist das
Auftreten eines dritten Erweichungsherdes, diesmal in der grauen Substanz, und zwar
im Vorderhorn der einen Seite, und zwar gerade in jenem, das wir im früheren
Schnitte als leicht geschwollen erkannt haben. Wir können also die Verbreiterung
des Vorderhorns der einen Seite in Abb. 1 als Folge eines bestehenden Ödems
304 Eugen Pollak.
deuten. Sonst sehen wir auch an dieser Stelle einen ein wenig unregelmäßig geformten
Erweichungsherd, der sich durchaus an die Grenzen der grauen Substanz häll,
an keiner Stelle in das Markweiß übergeht, in der grauen Substanz jedoch nur kleine
Teile derselben intakt läßt. Der Herd dringt mit einer dreieckigen Spitze in die
Basis des Hinterhorns ein und bildet auch einen Fortsatz gezen die Massa centralis
hin. Eine relative Druckwirkung des vermutlich begleitenden Ödems führt zu einer
Dislokation des vorderen Septums, welches namentlich im dorsalen Anteil eine
leichte Abweichung zeigt und fast bogenförmig in das Vorderhorn der anderen
Seite hineingedrängt wird. Man hat bei diesem Herd wie bei jenem im Hinterstrang
den Eindruck, als ob es sich hier um ein ganz scharf umgrenztes Gebilde handeln
Abb. 4.
würde, wobei sich zunächst zwischen gesundem und zentral erweichtem Gebiet eine
Zone des vollständigen Zerfalls gruppiert, so daß man den Eindruck hat, als ob
der Gewebsdetritus im Zentrum der Erweichung gewissermaßen sedimentiert.
Abb. 3 zeigt eine weitere Veränderung des Rückenmarksbildes. Im Hinter-
strang ist der Herd im ventralen Feld verhältnismäßig gleich unverändert, wenn-
gleich seine scharfe Abgrenzung gegen die Kommissur nicht mehr in diesem Aus-
maß wie früher besteht. In der Mitte hat man den Eindruck, als ob der Erweichungs-
prozeß in die graue Zentralmasse eindringt und nur an der Grenze gegen das Hinter-
horn hin sieht man Reste der Hinterstrangsfasern. Der dorsale Anteil des Hinter-
stranes beginnt sich immer mehr und mehr zu lichten, so daß fast das ganze
Territorium eine schwere degenerative Entartung aufweist. In diesem Bereiche fällt
in erster Linie eine diffuse Markscheidendegeneration auf, hingegen fehlt hier jedes
weitere Kalkül einer echten malazischen Entartung. Der zweite Hinterstrangsherd,
den wir in Abb. 2 knapp an den Apex des Hinterhorns angelehnt gesehen haben,
hat hier eine leichte Verschiebung in dər Richtung erfahren, daß der distale Teil des
Hinterhorns das ganze periphere Randgebiet in den Erweichungsvorgang einschließt,
daß aber die Form sich insoweit geändert hat, als aus dem elliptischen Grundherd
Zur Frage der Perimeningitis. 305
jetzt ein mehr keilförmiger Erweichungstypus sich gebildet hat. Der Herd im Vorder-
horn — in dieser Abbildung wieder rechts — hat an Umfang zugenommen. Er
respektiert jetzt nicht mehr die Grenze der grauen Substanz, sondern reicht seitlich
über diese hinaus in den Seitenstrang hinein. Der Herd hat hier wieder mehr eine
leicht ovale Gestalt mit einem deutlich keilförmigen Vorsprung in die Hauptmasse
des Hinterhorns. Neben diesem Hauptherd der grauen Substanz taucht — hier in
dieser Abbildung allerdings weniger deutlich hervortretend als im Originalpräparat —-
ein weiterer Erweichungsherd auf, der sich als eine elliptische Brücke in der Massa
centralis etabliert und dadurch zwischen Vorderhorn und Hinterstrangsherd ein-
geschobenes Erweichungsgebiet darstellt. Auf diese Weise haben wir also in dieser
Abb. 5.
Höhe nunmehr schon vier Erweichungsherde, ganz abgesehen von den verschiedenen,
namentlich an der Peripherie deutlich hervortretenden, streng lokalisierten oder
mehr diffus angeordneten Lückenfeldbildungen, die aber nicht als richtige „Herde“
aufzufassen sind.
Abb. 4 zeigt nun die Weiterentwicklung des Prozesses. Im Gegensatz zur vorhin
beschriebenen Dreiteilung der Erweichungsherde in Form der drei Ellipsen: im Grau
des Rückenmarks der einen Seite, in der Massa centralis und im Hinterstrang hat die
Selbständigkeit der einzelnen Teile der Erweichung aufgehört und man bemerkt nun,
wie es zu einer Kommunikation der drei erweichten Gebiete gekommen ist. Die graue
Substanz der anderen Seite ist noch immer intakt, wenngleich in der Massa centralis
in dieser Abbildung rechts ein neuerlicher Erweichungsprozeß einsetzt, der bis
an den Sulcus anter. heranreicht und auch einen Teil der vorderen Kommissur zur
Einschmelzung bringt. Die diffuse Entartung des restlichen Hinterstrangs hat weitere
Fortschritte gemacht, so daß das ganze Gebiet eine allgemeine Aufhellung zeigt. Sie
ist in der Gegend des hinteren Septums keilförmig mit der Spitze nach der Peripherie
gestellt und außerdem erkennt man weitere lokalisierte Entartungsvorginge im
Hinterstrang selbst. An der Peripherie sieht man zwei Erweichungsherde auftauchen,
306 Eugen Pollak.
wobei sich in der Abbildung rechts an der Grenze des Hinterstrangs gegen das Hinter-
horn — an der Peripherie gelegen -- eine Menge von keilförmiger und elliptischer
Konfiguration zeigen; das Hinterhorn ist hier. noch nicht ganz zerstört. Der vorhin
beschriebene kleinere Erweichungsherd im Hinterstrang hat sich mehr lateral verdichtet
und bildet eine keilförmige Ecke, indem die ganz dorso-lateral reichende Partie des
Hinterstrangs, welche an das Hinterhorn angrenzt, zerstört wird. Bei diesem Herd
ist es wichtig, daß die Peripherie nicht vollständig zugrunde gegangen ist, denn
zwischen dem keilförmigen malazischen Herd und der Oberfläche des Rückenmarks
findet sich eine schmale Zone, in der die Markscheiden zwar erkrankt, aber nicht
vollständig zerstört sind. Sonst sieht man kleinere lokalisierte Randdegenerationen
Abb. 6.
im Vorderseitenstang der einen Seite, muß jedoch feststellen, daß große Partien der
weißen Substanz, besonders im Vorderseitenstrang — in der Abbildung rechts —
durchaus als intakt zu werten sind.
Abb. 5 zeigt die weitere Entwicklung des Prozesses in dem Sinne, daß die
Kommunikation der Erweichungshöhlen im ventralen Hinterstrangsfeld und im Rücken-
markgrau der einen Seite erhebliche Fortschritte gemacht hat. Man kann hier die
ehemaligen Teile schwer voneinander trennen, zumal der Detritus hier zu einer ein-
heitlichen Masse zusammengesintert ist. Im Bereiche des schwer veränderten Rücken-
marksgrau erkennt man aber neber der typischen Erweichung eine begleitende allge-
meine Quellung der Grundsubstanz, die sich am deutlichsten im Bereich des Hinter-
horns zeigt, wo der Quellungsprozeß eine ganz auffallende gestaltliche Umformung
des Grau bedingt hat. Durch die Schwellung der Nervensubstanz hat das Hinterhorn
eine ganz andere Form erfahren, eine mmorphologische Abweichung, die wieder
plötzlich scharf an einer Stelle absetzt, um an morphologisch normale Rückenmarks-
territorien anzugrenzen. Vielfach wird allerdings diese Deformiertheit durch eine
gleichsinnige Entartung der weißen Substanz und Einschmelzung derselben verstärkt.
Das Wesentliche dieses Schnittes aber ist die weitere Entartung der dorsalen Rücken-
ınarkshälfte, sowohl der Hinter- wie der Seitenstränge. Neben der schon immer charakte-
Zur Frage der Perimeningitis. 307
ristischen diffusen Lichtung keilförmiger Art im Bereiche des hinteren Septums
tauchen nun neue periphere Erweichungsbezirke auf, die perlenschnurartig die
ganze Rückenmarksperipherie des Hinterstranges erfüllen und von Brücken, scheinbar
normalen Gewebes, getrennt, sich auch im Seitenstrang finden. Es handelt sich um
vorwiegend keilförmige Erweichungsflecke, welche mit der Basis an der Rückenmarks-
oberfläche sitzen und allmählich auf diese Weise das ganze Hinterstrangsgebiet zur Ein-
schmelzung bringen. Etwas Ähnliches gilt auch für den Seitenstrang, doch sind die
Veränderungen hier quantitativ nicht so hochgradig wie im Hinterstrang.
Verfolgen wir die Serie noch weiter nach abwärts, so sehen wir, daß sich der
Entartungsprozeß immer weiter und weiter herausdifferenziert hat, und daß eigent-
lich an jenen Stellen der Serie, die Abb. 6 und 7 zeigen, der normale spinale Aufbau
nicht mehr vorhanden ist. Hier erkennt man in
Abb. 6 nur mehr mühsam die ehemalige spinale Konfiguration. Wir erkennen
den Sulcus spinalis ant., Reste des rechten Vorderhorns, Überbleibsel des linken Vorder-
horns Hingegen ist sonst nur an der lichten Farbe eine ungefähre Rückenmarksstruktur
der grauen Substanz wahrzunehmen, die sich im übrigen aus folgenden Teilen zu-
sammensetzt: Einem fast intakten Seitenstrang der rechten Seite und einem allerdings
schon sehr stark gelichteten und randdegenerierten rechten Vorderstrang. Der Ent-
artungsprozeß geht entlang des Septums in die Massa centralis über. Der linke
Vorderstrang ist intakt und reicht relativ unbeschädigt bis zu einem keilförmigen
Herd des Vorderseitenstrangs, der sich ungefähr in der Gegend des Tractus spino-
tectalis et thalamicus befindet. Von da ist eigentlich nichts mehr vom Rückenmark zu
sehen als mehr oder minder zerklüftete, zerfallene Herde, deren einer den ganzen
linken Seitenstrang mit Einschluß der grauen Substanz, deren zweiter das gesamte
Hinterstrangsgebiet beider Seiten befällt und schließlich ein dritter, die dorso-laterale
Hälfte des Hinterstrangs rechts befallender Herd, der einen großen Keil repräsentiert
und hier die ganze Randperipherie des rechten Hinterstrangs erfüllt.
308 - Eugen Pollak.
Abb. 7 zeigt den Höhepunkt der Erweichung, wo man überhaupt nicht mehr
imstande ist, eine normale Konfiguration auch nur eines einzigen Rückenmarkanteils
festzustellen; dabei ist die vordere Rückenmarkhälfte gleichfalls zerstört und nur
Inseln von Markfasern stellen an verschiedenen Stellen die Reste der ehemaligen
Nervensubstanz vor. Die dorsale Rückenmarkparlie besteht aus einer ganz großen
zentralen Höhle und zwei seitlich geformten, wodurch eigentlich die gesamte Rücken-
marksmalazie ihren Höhepunkt erreicht hat.
Die Beschreibung dieser malazischen Krankheitswirkung zeigt uns den
Weg, den der pathologische Prozeß genommen hat, das heißt die Serie gibt
uns die Möglichkeit, gewissermaßen die Herausdifferenzierung der Total-
malazie zu analysieren.
Wenn wir nun das Zentrum der Erweichung sehen, so können wir uns
natürlich gar keinen Begriff machen von dem eigentlichen Zustandekommen
der Rückenmarkserweichung, da sich an den Stellen der vorgeschrittenen Ent-
artung eine Analyse nicht durchführen läßt. Hier hat man den Eindruck, als
ob das Rückenmarkgewebe in seiner Totalität befallen wäre, während aber
in Wirklichkeit dieser Erweichungsprozeß sich doch auf einfachere genetische
Formen deduzieren läßt. Dadurch ist uns die Möglichkeit gegeben, diesen
Entartungsprozeß klarer zu erfassen.
Wie die Beschreibung unseres Falles lehrt — auf die feineren histolo-
gischen Details wollen wir hier nicht weiter eingehen und sie nur später in
jenem Umfang besprechen, als es uns für unsere Darlegungen notwendig
erscheint -—, haben wir einen Prozeß vor uns, der sich an den Randpartien
streng an einzelne charakteristische Bezirke des Rückenmarks hält, während
in den zentralen Abschnitten kleinere Herde zu größeren konfluieren, welche
ihn zu einem Konglomeratprozeß stempeln, indem die einzelnen Teile mit-
einander verschmelzen und hier vielfach das verschleiern, was wir in den
Randgebieten leicht erkennen können.
Zunächst unterliegt es keinem Zweifel, daß es gewisse charakteristische
Territorien sind, die im Anfang affıziert werden, Gebiete, die scheinbar
im Vergleich mit andersartigen Prozessen eine besondere Empfindlichkeit
zeigen. Wir haben, wenn wir die Begriffe der allgemeinen Beschreibung
der Rückenmarkerweichung heranziehen, hier erstens das Bild einer soge-
nannten zentralen Rückenmarksmalazie, worunter wir die Frweichung im
Markgrau verstehen müssen. Zweitens aber jenen Erweichungsherd, den wir
im ventralen Anteil der Hinterstränge finden und der nach unseren Er-
fahrungen ganz besonders charakteristisch ist. Es fällt uns auf, daß in der
Mehrzahl der sogenannten transversalen Myelopathien gerade dieses Gebiet
besonders erkrankt erscheint. Und auch in den ausgezeichneten Beschreibun-
gen von Mager findet sich die Affektion dieses Gebietes in auffallend hoher
Zahl. Neben diesen beiden Gebieten, Grau des Rückenmarks einerseits, ventrales
Hinterstrangsfeld andererseits, finden wir weitere Erweichungsherde beson-
ders an der Peripherie des Rückenmarks, wobei dieselben ihrer Form nach
in klassischer Weise eine Abhängigkeit vom Blutgefäßapparnt erkennen lassen.
Wenn wir das vorhin beschriebene Verhalten des Rückenmarks qualifi-
zieren, so haben wir unbedingt einen Prozeß vor uns, der eine deutliche, wohl
Zur Frage der Perimeningitis. 309
sichere Abhängigkeit vom arteriellen Gefäßapparat zeigt, daß also hier zentro-
spinale Veränderungen auftauchen, welche vom Blutgefäßsystem her bedingt
sind. Die charakteristische Form der zentralen Erweichung, die gut gekannte
ventrale Hinterstrangsmalazie, die typischen Randkeilherde lassen es als ge-
sichert erscheinen, daß der Prozeß als eine Schädigung des Marks durch Ver-
sagen der Blutzirkulation aufzufassen ist, eine Tatsache, die für uns von
größter Wichtigkeit ist, weil wir einen Prozeß vor uns haben, bei dem eine
primäre Gefäßerkrankung der Rückenmarkgefäße nicht besteht.
Zur Sicherstellung dieser Behauptung erscheint es daher notwendig, die
vorhin gegebene Beschreibung des Falles nach einer anderen Richtung hin zu
ergänzen. Haben wir uns vorhin lediglich darauf beschränkt, nur die typische
Ausbreitung der pathologischen Veränderungen zu kennzeichnen, so wollen
wir jetzt doch einige Details des krankhaften Geschehens besprechen.
Zunächst fällt uns auf, daß an keiner Stelle des Rückenmarks, sowohl
im Zentrum auf dem Höhepunkt der Erweichung, als auch in den abflauenden
Ebenen irgend ein entzündlicher Prozeß gefunden wird. Nirgends kann man
auch nur die geringfügigste Infiltration der Blutgefäße wahrnehmen und weder
an Arterien noch Venen finden sich Infiltrationszellen. Damit sagen wir
bereits, daß also Iymphoide Elemente vollkommen fehlen und selbstverständ-
lich auch polynukleäre Leukozyten restlos vermißt werden.
Was uns überhaupt verhältnismäßig stark in die Augen springt, ist der
Mangel jeglicher zellulärer Hyperplasie höheren Grades, was sowohl für den
mesodermalen als auch ektodermalen Zellapparat gilt.
Es ist zwar nicht zu leugnen, daß eine genaue Untersuchung an speziell
gefärbten Schnitten die charakteristische Abbaureaktion am Nervensystem
zeigt, daß also in weiten Partien des Rückenmarks ein Abbauprozeß statthat,
der zum größten Teil von Gliazellen durchgeführt wird. Die gesamten, im
Präparat vorhandenen Zellen sind (itterzellen, die vermutlich der überwiegen-
den Zahl nach aus dem Gliagewebe stammen. Die verhältnismäßig starke
Torpidität der Gefäßwände spricht wohl dafür, daß die mesenchymale
Reaktion relativ geringfügig ist. Es bleibt natürlich dahingestellt, ob nicht —
in späteren Stadien weniger schnell verlaufender Fälle — dann doch eine
sekundär aufgepfropfte mesenchymale Produktion einsetzt. Immerhin steht
aber auch die gliöse Hyperplasie keineswegs in einem richtigen Verhältnis zur
Intensität und Ausdehnung des parenchymatösen Zerfallprozesses, so daß die
reparatorische Funktion der Hilfsgewebe im weitesten Umfang versagt. Die
hochgradige Schädigung des Parenchyms führt scheinbar zur biologisch be-
gründeten Inaktivität der Glia; außerdem dürfte diese selbst Schaden gelitten
haben. Diese Bemerkung beweist uns auch, daß eine richtiggehende Deckung
des gesetzten (rewebsverlustes nicht möglich ist und infolgedessen resultiert
auch das klassische Bild der umfangreichen höhlenartigen Erweichung. Schon
dadurch unterscheidet sich dieser Prozeß von akuten Erweichungsprozessen
anderer Ursachen.
Daß man im Parenchym den typischen Zerfall der Markscheiden, die cha-
310 Eugen Pollak.
rakteristischen Quellungsreaktionen an den Axonen sieht, ist selbstverständ-
lich und dort, wo sich der Erweichungsprozeß im Anfangsstadium befindet;
namentlich also an den Polen des Prozesses, sieht man charakteristische
Quellungsherde, wie wir sie bei den verschiedenen anderen Formen degene-
rativer Myelopathien finden. Es kommt später zur völligen Zerstörung der
Markscheiden und der Axone, man sieht besonders am Jakob-Mallory-Präparat
die schönen Zerfallsbilder der Nervenelemente und bemerkt auch den phagozy-
tären Abbauprozeß der stabilen und mobilen, gewucherten Gliaelemente. Diese
ganz selbstverständlichen Parenchymveränderungen in ihren mannigfachen
graduellen Abstufungen und ihren vorhin beschriebenen disseminierten Herden
stehen in einem gewissen Gegensatz zum Zustand der Blutgefäße und der
Meningen. Was die ersteren anlangt, so kann man an ihnen eigentlich gar
keine charakteristischen, krankhaften Veränderungen der Wände erkennen.
Weder ist eine schwere endotheliale Schädigung, noch eine erhebliche Reak-
tion der Gefäße der Außenhaut zu bemerken, und ebensowenig kann man einen
speziellen Unterschied einer Reaktion an den Arterien oder Venen feststellen.
Diese merkwürdige Unbeteiligtheit der mesenchymalen Nährstraßen ist viel-
leicht das Auffälligste des Prozesses. Hand in Hand mit dieser morphologi-
schen Beschreibung der Gefäßwände geht dann auch ein weiterer negativer
Befund, der uns von besonderer Wichtigkeit für die Erkenntnis des patho-
genetischen Geschehens dieses Prozesses dünkt. Wir meinen das Fehlen von
Blutungen. Wenn wir die Mehrzahl anderer Fälle von Rückenmarkerweichun-
gen oder degenerativen Myelopathien durchmustern, so werden wir doch in
der überwiegenden Mehrzahl, wenn nicht in allen Fällen, mehr oder minder
ausgedehnte Blutungen in der Rückenmarksubstanz finden. Wir sehen sonst
diese Blutungen sowohl in der grauen wie in der weißen Substanz und je
nach der Art des Prozesses kann man gewöhnlich eine gewisse Prädilektion
dieser oder jener Abschnitte feststellen. Hier in unserem Falle ist es nun auf-
fallend, daß dieser sonst so konstante pathologische Befund vermißt wird,
eine Tatsache, welche darauf hinweist, daß wahrscheinlich andere ursächliche
Momente am Werk sind, welche eben eine Entwicklung von Blutungen nicht
bedingen. Vergleichen wir nun mit den Gefäßen das zweite mesodermale
Hauptgewehe, die Meningen, so haben wir folgendes zu bemerken: Die Pia
mater zeigt eine eigenartige Quellung, indem die bindegewebigen Züge auf-
fallend sukkulent erscheinen, so «laß bis zu einem gewissen Grad eine stärkere
Verdiekung vorgetäuscht wird. Von einer ganz besonders starken Vermehrung
des pialen Bindegewebes möchten wir jedoch nicht sprechen, um so mehr als
eine Zellvermehrung — im Sinne einer Infiltration — in den weichen Him-
häuten durchaus vermißt wird. Auch diese Tatsache ist für uns von Wichtig-
keit, weil wir hierin eine Bestätigung unserer früher ausgesprochenen Ver-
mutung erblieken, daß die bei der Lumbalpunktion vorgefundene Zellvermehrung
nicht als ein Kriterium des wirklichen Zustandes des Liquors zu verwerten
ist, sondern zum Teil eine zwangsläufige, technisch bedingte Verfälschung
vorstellt. Die relative, zelluläre Inaktivität an den Leptomeningen ist überaus
auffallend und wird nur ersetzt durch eine allenthalben vorhandene leichte
Zur Frage der Perimeningitis. 311
Wucherung der bindegewebigen Elemente, in Form einer Ansammlung von
Makrophagen, Fettkörnchenzellen, die scheinbar in einem gewissen Ausmaß
aus dem Rückenmark heraus in die Liquorflüssigkeit hineingetragen wurden.
Wir können also die zelluläre Reaktion der Leptomeningen vielleicht so
deuten, daß es sich hier nicht um eine eventuell vorhandene entzündliche
oder plastische Meningitis handelt, sondern um den formalen Ausdruck der
leptomeningealen Reagibilität auf die schweren degenerativen intraspinalen Vor-
gänge. Der Subarachnoidealraum selbst zeigt — ähnlich wie die Maschen
der Leptomeningen — eine gewisse Ansammlung von Abbauzellen, die mit
Fettkörnchen gefüllt sind, läßt aber, genau so wie die weichen Hirnhäute, eine
hämatogene oder histiogene echte Infiltratreaktion vermissen. Was die Dura
mater anlangt, so bietet diese auch ein merkwürdiges und charakteristisches
Verhalten. Im allgemeinen sieht man, daß ein gröherer Defekt oder eine
schwerere, krankhafte Reaktion an dieser Membran vermißt wird. Sie zeigt
sich eigentlich gestaltlich unverändert und man kann lediglich eine ein
wenig verwaschene Struktur erkennen, ohne daß es jedoch in den einzelnen
Schichter des duralen Gewebes zu irgend einer wesentlichen Abänderung ge-
kommen ist. Man kann vielleicht von einer reinen Quellung, ähnlich wie in
den Leptommeningen sprechen, findet aber hier in diesem Fall sicherlich
nicht. die geringsten Zeichen einer Reaktion, die man im Sinne einer Pachy-
meningitis deuten könnte. Weder an der Innenseite der Dura, noch in ihrem
ganzen Querschnitt zeigt sich eine eitrige oder nichteitrige infiltrative Ver-
änderung, und selbst an der Außenseite der Dura, welche ja von einer Eiter-
masse umflossen war, ist nach der histologischen Beschreibung kaum eine
wesentliche purulente Veränderung wahrzunehmen. Auffallend sind derbe
Klumpen eines Fettgewebes, welches auch von bindegewebigen Zügen durch-
zogen wird. Und hier sieht man dann polynukleäre Leukozyten, ohne aber
eine stärkere Bindung an die Dura selbst, so daß für diesen Fall wenigstens
die histologische Bezeichnung einer Pachymeningitis externa durchaus un-
gerechtfertigt wäre. Man gewinnt infolgedessen den Eindruck, als ob talsäch-
lich nur vom knöchernen Gerüst her die Dura als Nachbarschaftsgewebe
sekundär -- fast könnte man sagen -- auf Distanz hin, beeinträchtigt wird.
In dieser Hinsicht stimmt unser Fall mit den Beschreibungen der Literatur im
weitesten Ausmaße überein (s. Schmalz).
Diese Tatsachen nun, welche wir soeben über den Zustand der binde-
gewebigen Anteile berichten konnten, lassen uns den spinalen Prozeß noch
merkwürldiger erscheinen, als es bei sonstigen perispinalen Prozessen mög-
lich wäre. Wenn wir bedenken, daß wir eine klassische Rückenmark-
erweichung vor uns haben, einen Verflüssigungsprozeß, der auf eine gewisse
Höhe des Rückenmarks — in unseren Fall das obere Dorsalmark — be-
schränkt ist, wenn wir dann die Wahrnehmung machen, daß ein Gefäßprozeßd
vermißt wird, der uns sonst in den meisten Fällen die Erweichung erklärt,
wenn wir weiterhin sehen, daß sowohl Leptomeninx wie Liqnorraum und
Dura mater selbst eigentlich gestaltlich unverändert oder kaum jene groben
Abweichungen zeigen, wie wir sie sonst finden, so müssen wir doch hier nach
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXUI. Bd., Heft 2. 21
312 Eugen Pollak.
anderen Momenten suchen, welche eben die Entwicklung der krankhaften
Rückenmarkserscheinungen erklären können.
Es unterliegt nach der Beschreibung der Rückenmarksbilder wohl kaum
einem Zweifel, daß die Erweichungsvorgänge auf gewisse Blutgefäßbezirke
beschränkt sind, und daß allerdings an gewissen Punkten durch Ballung des
Prozesses eine Konglomeraterweichung resultiert, welche die ursprünglichen
Entwicklungsstadien verdeckt. Hingegen haben aber die Randpartien der
Totalerweichung gezeigt, daß ohne Zweifel echte vaskulär bedingte Nekrosen
auftauchen, Herde, die sich durch nichts von sicher gefäßwandbedingten
Prozessen unterscheiden. Wir haben dann stellenweise Bilder vor uns, die
durchaus bei allen übrigen degenerativen Myelopathien malazischen Ein-
schlages vorkommen, gleichgültig, ob sie luetischen, tuberkulösen oder sonsti-
gen infektiösen bzw. traumatischen Einschlages sind. Gerade die auffallende
Ähnlichkeit des spinalen Zustandes unseres Falles mit Prozessen, die wir
im Gefolge mehr oder minder schwerer Wirbelsäulentraumen sehen (Marburg),
spricht für eine gewisse Verwandtschaft des pathogenetischen Mechanismus
dieser beiden Formen. Wenn wir bedenken, daß die degenerative Myelopathie
bzw. Myelomalazie doch nur in den allerseltensten Fällen durch echte Kom-
pression bedingt ist, was wir auch für unseren Fall absolut ablehnen müssen,
so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß scheinbar auch hier von der Blut-
gefäß- bzw. Lymphbahn her die primäre Schädigung einsetzt. Wir könnten
uns bei diffusen Veränderungen im allgemeinen die Vorstellung machen, daß
die degenerative Erkrankung des Rückenmarks auf einer Störung des Physiko-
Chemismus der Nervenelemente beruhe, die von einer Zirkulationsstörung
abhängig ist, die in den verschiedenen Fällen Ursache oder Folge der Alte-
ration des Parenchyms sei. In unserem Falle ist wohl sicher anzunehmen,
daß die Störung der Zirkulation, und zwar der arteriellen, weniger der venö-
sen bzw. der Lymphströmung, das primäre Moment vorstellt, denn bei
solchem anatomischen Verhalten und bei diesem eindeutigen Prozeß ist
wohl kaum anzunehmen, daß die Zirkulationsstörung ein sekundäres
Moment vorstellt, was umgekehrt bei zahlreichen anderen degenerativen
Erkrankungen sicherlich der Fall sein kann. Wir meinen daher, daß
also für das Zustandekommen der krankhaften spinalen Reaktion in erster
Linie eine Zirkulationsstörung verantwortlich zu machen ist, die jedoch
nicht auf einer organischen Veränderung der Blutgefäße beruht, sondern doch
wohl in Hindernissen zu suchen ist, die außerhalb der Rückenmarksubstanz
gelegen sind.
Es ist nun klar, daß eine Zirkulationsstörung im Rückenmark irgend
eine Kompensation erfahren muß durch jene Apparate, deren Aufgabe es ist,
die gesetzten Schäden auszugleichen. Dies gilt in erster Linie — abgesehen
von Anastomosen- und Kollateralkreisläufen — für die Meningen und die
Liquorräume, welche scheinbar doch eine gewisse Pumpanlage repräsentieren
und welche die Aufgabe haben müssen, die Störungen des Wasserhaushaltes
des Nervengewebes durch ausgleichende Apparate zu paralysieren. Wir wissen
nun, daß eine Wiederherstellung der Zirkulationsstörung dann möglich ist,
Zur Frage der Perimeningitis. 313
wenn es sich um keine irreparablen oder langdauernden Funktionsstörungen
der Gefäße infolge vasomotorischer Parese handelt, und daß nur im Falle
des Bestehens solch schwerer Veränderungen eine Restitution sich unmög-
lich erweist. Der zweite Apparat, der dann die Aufgabe hat, die noch vor-
handenc Beeinträchtigung der Blutflüssigkeitsströmung zu paralysieren und
wenigstens das Überanbot von Gewebswasser aufzunehmen, ist der Liquor-
raum und die Meningen selbst. Hier müssen wir wohl annehmen, daß die
Dura mater die Funktion tätigt, Stauungen von Flüssigkeiten durch die in
ihrem Gewebe vorhandenen Lücken, Spalten, Saftstraßen- und -räume zu
paralysieren, wodurch sie die Fähigkeit besitzt, Flüssigkeiten, welche sich
spinalwärts gestaut haben, abzusaugen und nach außen hin abzuleiten.
Hier in unserem Falle ist nun ein Prozeß vorhanden, der beide Apparate
in schwerer Weise beeinträchtigt. Wir werden wohl sicher annehmen müssen,
daß durch die krankhafte Veränderung an der Außenseite der Dura, an den
Intervertebrallöchern die hier durchziehenden Gefäße eine schwere Altera-
tion erfahren haben. Wir können nicht umhin, hier vielleicht die Vermutung
auszusprechen, daß der septische epipachymeningeale Prozeß zu einer vaso-
motorischen Schädigung führt, welche in den Weiterungen sich als eine
schwere Zirkulationsstörung auswirkt. Je nach der Ausbreitung des Prozesses,
je nach der Ansiedlung und Stärke der Entwicklung von epiduralen Abs-
zessen erreicht diese vasomotorische Störung stärkere Grade und bewirkt
entsprechende Schäden. Wenn aber sowohl der Vertebralis- wie der Inter-
kostalisblutkreislauf geschädigt wird, kommt es, wie eben hier in der Höhe
des 4. Dorsalsegments, zur Entwicklung der weit ausgedehnten segmentalen
Erweichung. Es scheint aber die reine Vasomotorenstörung nicht allein auszu-
reichen, um den Prozeß in dieser Form zu erklären, um so mehr, als wir
überhaupt die Überzeugung haben, daß auch bei klarster Kausalität doch die
konstellative Einwirkung verschiedener Momente die Entwicklung krankhafter
Vorgänge beschleunigt, ergänzt und variiert. So glauben wir nicht nur allein
der vasomotorischen Störung die große Bedeutung zusprechen zu können,
sondern glauben vielmehr, auch in der epiduralen Eiterung ein Hindernis
zu erblicken, welches den vasomotorischen Defekt auszugleichen verhindert.
Die Dura, die sonst, wenn sie intakt wäre, die Fähigkeit hätte, eventuelle
Störungen des Physiko-Chemismus der Rückenmarkssubstanz, die einsetzende
Quellung, abzubauen und auf diese Weise den gestörten Kreislaufapparat zu
entlasten, stellt aber bei der Perimeningitis ein Gewebe vor, welches nicht
mehr diesen wichtigen Ergänzungsapparat darstellen kann, sondern vielmehr
selbst vollständig inaktiviert, den Durchtritt von Flüssigkeit aus dem Liquor-
raum sogar verhindert. Es kommt so zur Summation zweier pathologischer
Mechanismen, nämlich der Vasomotorenparese einerseits, dem Ausfall der
pachymeningealen Ausgleichsvorrichtung andererseits. Aus dieser Konstella-
tion entwickelt sich dann jenes vorhin beschriebene anatomische Bild.
Wenn wir also resumierend aus dem berichteten Fall etwas zur Pathogenese
der spinalen Veränderungen bei Perimeningitis behaupten können, so ist es
die Vermutung, daß die im Gefolge einer epimeningealen Eiterung auftretende
21*
314 Eugen Pollak.
spinale Veränderung, die kombinierte Folge einer extra-spinal bedingten Vaso-
motorenparese einerseits und einer Funktionsblockade der Dura anderer-
seits ist, so daß es durch die schwere Störung des spinalen Wasserhaushaltes
zur maximalen Quellung des Gewebes kommt, welche, da die Entlastungs-
apparate nicht funktionieren, sich bis zur Zerstörung und Erweichung steigert.
Ein Moment soll uns jetzt noch kurz aufhalten, nämlich die Frage, warum
nicht in allen Fällen von epimeningealen Eiterungen derartige spinale Ver-
änderungen resultieren, warum in einem relativ bescheidenen Prozentsatz
derartige spinale Veränderungen gefunden werden.
Hier wäre ja schon darauf hinzuweisen, was wir einleitend behauptet
haben, daß in zahlreichen Fällen die richtige Diagnose zu einer operativen
Entlastung führt, so daß durch diesen Eingriff jene Kompensation durchgeführt
wird, welche ohne den chirurgischen Eingriff nicht geleistet werden kann.
Dann scheint aber eben in unserem Fall die Erkenntnis wichtig zu sein, daß
—- und dafür scheint unser Fall den Beleg zu erbringen — nicht nur einer
der beiden Komponenten des Prozesses allein hinreicht, das Bild der Rücken-
markerweichung zu bedingen. Denn wenn das Zusammenwirken von Gefäß-
und Duraveränderung notwendig ist, um dieses charakteristische krankhafte
Verhalter. des Rückenmarks zu bedingen, werden, wenn nur die eine oder
die andere Komponente des Prozesses wirksam wird, die verschiedenen
in der Literatur beschriebenen, meistenteils reparabeln Syndrome entstehen,
ohne daß es dabei zur spinalen Komplikation kommt.
Die Verteilung des vasomotorischen Prozesses im Rückenmark unseres
Falles läßt eine ganze Anzahl von Fragen des Gebietes der vasomotorisch be-
dingten Ernährungsstörungen und degenerativen Veränderungen des Rücken-
marks besonders beachtenswert und wesentlich erscheinen. Doch würde es
den Rahmen dieses Aufsatzes übersteigen, wenn wir hier — von diesem
Falle ausgehend — eine Anzahl wichtiger Probleme der degenerativen Myelo-
pathien heranziehen würden und es soll einer späteren Mitteilung vorbehalten
bleiben, den Zusammenhang dieser im (iefolge der Epimeningitis auftreten-
den Myelomalazie mit anderen degenerativen Myelopathien zu beleuchten.
Aus dem Neurologischen Institut der Universität Wien,
Vorstand: Prof. Otto Marburg.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer
zyklopischen Ziege.
Von
Dr. Walter Stupka,
Privatdozent für Otorhinolaryngologie an der Universität Innsbruck.
Mit 27 Abbildungen im Text.
Bekanntlich hat die Zyklopie von alters her die Phantasie der Laien und
das Interesse der Ärzte erregt. Ursprünglich auf rein makroskopische Be-
schreibungen fertiger Mißbildungen angewiesen, gelang es mit diesen pri-
mitiven Hilfsmitteln gleichwohl einen relativ guten Überblick über diese
typische Mißbildungsart zu gewinnen und ihre verschiedenen Abstufungen
einigermaßen befriedigend zu klassifizieren. Dies ist das Verdienst von
Etienne und Isidore Geoffroy St. Hilaire. Auf der auf diesem Wege er-
reichten und erreichbaren Plattform des Wissens verharrte man viele Jahr-
zehnte. Die Ursache davon lag darin, daß die Embryologie noch in den Kinder-
schuhen stak und man aus Scheu, die kostbaren und seltenen Ausstellungs-
objekte der Sammlungen zu zerstören oder doch zu gefährden, von einer ge-
naueren Zergliederung derselben Abstand nahm. Der weitere Fortschritt
kam dann teils von minutiösen, vorwiegend makroskopischen Zergliederungen
her (Phisalix), teils mittels Verwertung der Ergebnisse der normalen Embryo-
logie, namentlich aber durch die Einblicke, welche man mittels der experi-
mentellen Teratologie gewann. Während aber noch C. Dareste, welcher
bei seinen berühmten Experimenten am Hühnerei durch Abänderung der
Bebrütungsverhältnisse unter anderem auch Zyklopen erhielt, sich zum
Studium der Monstra noch rein makroskopischer Methoden bediente und wohl
nicht zuletzt dadurch gewissen Irrtümern anheimfiel, hat erst die auf ihn
folgende Generation sowohl die auf experimentell-teratologischem Wege er-
haltenen Gebilde, als auch die frei in der Natur vorkommenden Monstra einer
genaueren histologisch-mikroskopischen Untersuchung unterworfen. Der
erste hierin war wn die Jahrhundertwende E. Rabaud, welcher erste Stadien
von nach Darestes Vorgang erhaltenen Mißbildungen der Keimscheibe des
Huhns mikroskopisch an Serienschnitten untersuchte. Er beschrieb die vom
normalen wesentlich abweichende Anlage und Ausbildung des Gehirns und
316 Dr. Walter Stupka.
der Augen von Mißbildungen, welche teils zur Anenzephalie oder Pseud-
enzephalie, teils sicherlich zur Zyklopie gehören. Rabaud trat im An-
schluß an seine Untersuchungen der von Dareste gegebenen Erklärung der
Zyklopie, nämlich allzufrühe Verwachsung der fente vertico-mediane des
vorderen Hirnbläschens infolge besonderer Enge der Kopfkappe des Amnion,
entgegen und bezeichnete die Anlage des zyklopischen Gehirns als eine von
allem Anfang an grundverschiedene und mit der des normalen Gehirns nicht
zu vergleichende. Während sich nämlich das Medullarrohr de norma durch
einen aktiven Einsenkungs-, resp. Einstülpungsprozeß bilde und dadurch seinen
Verschluß herbeiführe (‚embolischer“ Prozeß), finde der endliche und gegen-
über der Norm verzögerte Schluß der flach ausgebreiteten Medullarplatte
des Zyklopen durch eine allmähliche Überwachsung, ausgehend von den
Seitenrändern aus, statt („epibolischer‘‘ Prozeß). Später soll bei Betrachtung
der für die Zyklopie maßgebenden formal- und kausalgenetischen Momente
noch darauf eingegangen werden. Hier genüge einstweilen der Hinweis, daß
seit Dareste die Wirkung eines äußeren, irgendwie schädigend einwirkenden
Momentes besonders in den Vordergrund der Vorstellung über das Zustande-
kommen der Zyklopie und der mit ihr genetisch verwandten Reihe der
Arhinenzephalie (Kundrat) gerückt wurde. Dies um so mehr, als die
trotz Festhaltung typisch wiederkehrender Abweichungen im Bauplan des
Zentralnervensystems immerhin große Mannigfaltigkeit im Detail der An-
nahme einer dem Grade und dem Zeitpunkt nach variierenden Noxe am
besten entspricht. Und zwar sind es die Mißbildungen dreier einander koordi-
nierter Organe, nämlich Gehirn, Auge und Riechapparat, deren grad-
weise veränderte Mißbildungshöhen sich gleichsinnig miteinander zu einer
typischen Mißbildungsreihe verbinden, wobei der Hirnmißbildung wohl
der Primat zufällt, die Bezeichnungen sich aber vielfach nach Äußerlichkeiten
der Schädel- und Augenmißbildungen, zum Teil auch nach der des Nasen-
apparates gerichtet haben. Die Reihe beginnt im Anschluß an die nächst
übergeordnete, noch höhere Mißbildungsgrade einschließende Gruppe der
Anenzephalie und Meroanenzephalie mit dem Zyklopentyp, welcher alle
Übergänge von schwerer Hirnmißbildung mit wahrer Anophthalmie, resp. Mikro-
phthalmie, den verschiedenen Abstufungen im Bau des zyklopischen Doppel-
auges bis zu zwei eben durch eine Scheidewand getrennten, mit eigenen
Lidern versehenen und in eigenen Orbitae liegenden Augen (Ethmozephalie)
durchläuft und dabei bezüglich des Nasenapparates von völliger Ab-
wesenheit desselben über die Rüsselbildung und mehr minder defekte Aus-
bildung (gemeinsame äußere Nasenöffnung, Septum- resp. Choanenmangel,
Unterentwicklung der Siebbeinmuscheln usw.), allmählich zur Norm fort-
schreitet.
Die Untersuchung solcher komplexer Mißbildungen in anderer als rein
deskriptiv-makroskopischer Form, eventuell noch unter Ergänzung durch
Präparationen des Schädels und der Gesichtsweichteile, wurde erst seit
einigen Jahrzehnten und auch da nur sporadisch aufgenommen. Den aus drei
Hauptstücken zusammengesetzten Mißbildungen entsprechend wurde teils von
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 317
ophthalmologischer Seite das zyklopische Auge genauer untersucht (Zu-
sammenfassendes darüber bei van Duyse, Seefelder), teils von Hirn-
forschern das schwierige Studium des mißbildeten Zentralnervensystems
aufgenommen. Die dabei gleichzeitig vorkommenden verschiedengradigen
Nasenmißbildungen haben aber bislang, abgesehen von der makroskopischen
Beschreibung Kundrats, keine Bearbeiter gefunden. Ein erster Anfang
(Stupka) ist indes gemacht, soll auch in dieser Abhandlung weitergeführt
und bei nächster Gelegenheit auf wesentlich verbreiterter Basis fortgesetzt
werden.
Was nun die mikroskopische Durchforschung zyklopischer und
arhinenzephaler Gehirne betrifft, so liegen bisher folgende Arbeiten
vor*):
1897, O. Naegeli (aus von Monakows Laboratorium): Mit Zange entbundene
menschliche weibliche Zyklopie mittleren Grades (Synophthalmia diplophthalmica) mit
darüber befindlichem kanalisierten Rüssel, Fehlen der Olfactorii und unpaarem n. opt.,
geschlossenem harten Gaumen, aber mit Rezessusbildung im Velum, beiderseits von der
Uvula, mit Mündung in den Nasopharynx. Die Mißbildung war kombiniert mit
v. Monakows „Fünfbeugenbildung“, Spaltung der med. obl. und des Kleinhirns in der
Medianlinie und endigte hinten mit Doppelbildung des Rückenmarks und Myelo-
cystocele. Das Großhirn stellte sich als eine große, kegelfürmig nach hinten über den
Thalamus ausgezogene große Blase von 1 cm Wandstärke dar. Die mikroskopische
Untersuchung erstreckte sich auf alle Teile des Zentralnervensystems inkl. Endhirn.
Großes Ganglion interpedunculare, corp. gen. ext. vorhanden. Zwar nur 1 Optic.
aber ein deutliches Chiasma und 2 tract. optici mit mächtiger Kreuzung. Pons und
und ped. pedunc. fehlen, Fornix mangelhaft ausgebildet, ebenso die corp. mammillaria.
Thalami Stark miteinander verwachsen, comiss. post. und Ggl. habenul. vorhanden.
Große Anzahl von Nebenoliven, resp. Heteropien von Ulivensubstanz. Linsenkerne,
corp. striat. und Mandelkerne fehlen, ebenso eine eigentliche caps. interna. Ammons-
formation bilateral symmetrisch vorhanden. Besonders wichtig sind folgende
abnorme Faserverläufe bzw. Örganverbindungen: 1. Eine l'aserverbindung
zwischen medulla obl. und der ihr zufällig anliegenden Rückenmarkspartien in beiden
Richtungen. Die aus der Olive entstandenen Bogenfasern gehen nicht in das gegen-
überliegende corp. restif.,, wie es normal wäre, sondern ziehen zum Großteil in die
anliegende Rückenmarkshälfte, sind also im Sinne des geringsten Widerstandes
ausgewachsen und haben bei dieser atypischen Entwicklung ihre volle Reife erlangt.
2. Atypische Sehhügelstrahlung und Sehhügelstrahlungskreuzune:
Naegeli nimmt an, daß es sich bei diesen aus den Thalamuskernen stammenden
Fasern ursprünglich um Projektionsfasern gehandelt habe, welche aber wegen der
Bildungshenimung der Großhirnblase und der mangelhaften Verbindung zwischen dieser
und dem Zwischenhirn eine ganz atypische basale Wachstumsrichtung eingeschlagen
haben. Ein Großteil dieser ventralwärts konvergierenden Faserzüge (atypische
Sehhügelstrahlung) strömt an der Basis zusammen, biegt sich um, kreuzt sich ganz
*) Auf eine Wiedergabe der Befunde im Detail muß selbstredend verzichtet
werden, diesbezüglich sei auf die Originale verwiesen. In unkomplizierten Fällen
ist der Bau des Rückenmarkes, der medulla oblongata, des Kleinhirns und des Mittelhirns
bis auf den Ausfall gewisser Fasersysteme (vornehmlich der Pyramidenbahn) im großen
ganzen normal, die hauptsächlichsten Störungen beginnen erst im Zwischenhirn. Im
nachfolgenden werden vorwiegend die wichtigsten Abweichungen von der Norm im
Großhirn und Zwischenhirn angeführt werden unter besonderer Berücksichtigung
atypischen Faserverlaufes und des Auftretens von de norma nicht vor-
findlichen Kreuzungen.
318 Dr. Walter Stupka.
unregelmäßig mit dem entsprechenden Bündel der anderen Seite, um schließlich in der
basalen, aus lauter Embryonalzellen bestehenden Verbindungsplatte blind und wie ab-
geschnitten zu endigen. „Diese basal ziehenden Fasermassen sind wohl nichts anderes
als eine mißbildete innere Kapsel“, deren sonderbare Gestaltung hauptsächlich durch
die Abschnürung der Zwischenhirnblase von der Großhirnblase bedingt wurde. Damit
ist nach Naegeli eine auffällige Unabhängigkeit in der Genese der Thalamus-
strahlung vom Großhirn dokumentiert, selbständige Wegbahnung und Selbst-
differenzierung im Sinne von Roux nachgewiesen. Im normalen Gehirn ist eine
derartige Dekussation der Sehhügelfasern nicht nachzuweisen, vielmehr zeigen sämt-
liche aus dem Zwischenhirn hervorgehenden Fasermassen die Neigung, nicht ventral-
wärts, sondern lateral in die innere Kapsel zu ziehen. Im beschriebenen Falle lag eine
schmale, aus Embryonalzellen bestehende Basalplatte vor. Nach dieser Platte mußten
daher alle Fasern strömen. Naegeli ist der Ansicht, daß vom mechanischen Stand-
punkt die Kreuzung leicht zu verstehen sei, insofern als Fasern, welche
eine starke Konvergenz gegeneinander haben, sich eher kreuzen als in
einer schmalen Partie sich vollständig umbiegen werden. Zum Schlusse wird
der Versuch gemacht, zwischen den Ausfällen des untersuchten Zyklopen und der von
Monakow durchgeführten Einteilung in phylogenetisch alte und phylogenetisch junge
Anlagen eine Brücke in dem Sinne zu schlagen, daß hier nur die phylogenetisch jungen
Anlagen Schaden genommen haben, resp. nur die phylogenetisch alten zur Entwicklung
gekommen sind, das Gehirn also auf der Ausbildungshöhe eines Tieres mit nur alten
phylogenetischen Anlagen (Teleostier) stehen geblieben sei.
1899, R. Bälint (aus dem Laboratorium von K. Schaffer, Budapest): Mensch-
liche, männliche, 6 Tage alte cebuocephale Frühgeburt mit 2 Augen, einer sogenannten
„medianen“ Oberlippenspalte und einem Nasenrudiment in Form einer Höhle, welche
mittels einer linsengroßen Öffnung in das Vestibulum oris mündet und sich 4cm weit
nach rückwärts erstreckt. Eine äußere Nasenöffnung an typischer Stelle fehlt, dafür
findet sich eine durch eine kleine, 1,5 cm breite und 0,5 cm hohe, mit gesunder
Haut überzogene Knorpelpartie repräsentierte Nasenspitze. Mikroskopisch erwiesen
sich Rückenmark, medulla obl. und Pons bis auf das Fehlen der Pyramidenareaie
normal. Die Neuroglia, welche das Pyramidenareale hätte aufnehmen sollen, fehlte,
interessanterweise standen die Oliven weit voneinander ab. Kranialwärts bis etwa
zu einer das corp. pineale mit einschließender Ebene fanden sich im großen ganzen
normale Verhhältnisse. Thalami verwachsen. Hemisphären zu klein, einfach. wie der
Hut eines Pilzes, ohne Lappengliederung und olıne Furchen, eine eigroße Höhle
enthaltend, welche die laterale und mittlere Hirnkammer darstellt. Fehlen des
Balkens. Die mikroskopische Untersuchung des Gehirns wurde eingehend nur bis zur
Thalamusgegend verfolgt.
Auch Bälint konnte eine abnorme Lagerung des Stabkranzes im Zwischenhirn
nachweisen: „In den ventralen Teilen liegt beiderseits eine dreieckige, Markfasern
enthaltende Fläche.“
1899, Illbere: Sechstägiees Kind mit ausgebildetem Schädel, zwei äußerlich
normal gebildeten Augen mit dünnen, sehr zahlreiche Blutgefäße enthaltenden nn.
optie. Die Nervenfaser und Ganzlienzellschichte der Retina war äußerst schmal. Balken,
Fornix, corp. manmmillaria, e. pineale und Falx fehlen, Linsenkerne und Thalami ver-
kümmert. Mikroskopisch erwiesen sich Rückenmark und Hirnstamm bis auf das Fehlen
der Pyramiden normal, im Pons fehlten viele Faserbündel verschiedenster Art, die
Bindearmkreuzung war sehr klein, die mediale Schleife nieht voll ausgebildet.
\syminetrie des Kleinhirns. Unpaare Großhirnblase in Form eines 5 cm langen,
mit Flüssigkeit gefüllten Sackes, dessen Wände nur eine Dicke von 1’, bis 3/, mm
hatten und aus einer höchst unentwiekelten, immerhin aber Ganzlienzellen enthaltenden
Rinde bestanden. Abnorme Kleinheit der Nebennieren mit unentwiekelter Marksubstanz.
Der Fall, in welchem Angaben über die Nase fehlen, gehört meines Erachtens zur
Ethmozephalie.
1901, O.Veraguth (aus dem Laboratorium von Monakow, Zürich: Unter anderen
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 319
niederdifferenzierten Mißbildungen des Zentralnervensystems wird ein Fall (Beob-
achtung VIH; von part. Rhachischisis, Holoacranie, part. Amyelie, Ektopie der Milz,
Ektopie eines Teiles des Darmes in den Wirbelkanal und Nebennierenmangel be-
schrieben, welchen Veraguth als sekundäre Zyklopie bezeichnet. Bei dem
männlichen, 30 cm langen menschlichen Fötus fand sich eine mit dem Amnion an zwei
Stellen verwachsene Area cerebro-vasculosa, welche sich als Blase darstellte und
deren Boden ein außerordentlich höckriges Aussehen zeigte. Beide Augen makro-
skopisch wohl gebildet, beide nn. optici vorhanden, erreichen die Schädelbasis,
splittern sich aber an der Dura auf. Hypophyse vorhanden. Veraguth glaubte, ge-
stützt auf die (unbewiesene und seither wohl als unrichtig erkannte) Darestesche
Theorie über die Entstehung der Zyklopie einen Unterschiel zwischen primärer
und sekundärer Zyklopie machen zu sollen, wobei er der „primären“ Zyklo-
pie die höher oben gegebene Erklärung Darestes zugrunde legte, für seine
eigene Beobachtung aber annahm, daß sich das sekundire Vorderhirn aus
der vorderen Wand der primären Vorderhirnblase ausgestülpt habe, daß es dann
aber nicht zur Einsenkung der medianen Mantelspalte in das Prosencephalon gekommen
sei. Allem Anscheine nach liegen hier aber nicht, wie Veraguth meint, prinzipielle
Verschiedenheiten zwischen der „primären“ und der „sekundären“ Zyklopie vor, eine
Unterscheidung, welche von keinem späteren Autor mehr aufgenommen oder vertreten
wurde. Die Beobachtung Veraguths gehört offenbar zur Meroanenzephalie mit Uber-
gang zur Cyklopie.
1902, H. Zingerle (aus Antons Klinik in Graz): Neben einer Reihe sehr
schwerer zur Anenzephalie und Pseudenzephalie gehörenden Mißbildungen beschrieb
Zingerle auch zwei hieher gehörige menschliche Gehirne ohne sonstige klinische
Daten:
a) Das Zentralnervensystem eines Arhinenzephalen: Rückenmark, medulla
obl. und Kleinhirn inkl. Kerne normal bis auf das Fehlen der Pyramidenareale
und Erweiterung des vierten Ventrikels sowie partiell verzögerter Markreife an ein-
zelnen Fasersystemen (c. restiforme, cerebello-oliv. Faserung). Die Oliven sind gut
entwickelt, besonders auch die Nebenoliven, erstere stoßen in der Mittellinie direkt
aneinander. Aquaed. Sylvii vergrößert, ped. pedunc. fehlen, an ihrer Stelle liegt
unterhalb des roten Kernes beiderseits seitlich von der Mittellinie die Substantia
nigra in Form eines Streifens von zerstreuten großen, aber pigmentlosen Zellen. Binde-
arme etwas verschmälert, kreuzen die Mitte und verlieren sich in den entsprechend
großen roten Kernen. Die Meynertsche und die Forelsche Haubenkreuzung deutlich
ausgeprägt, Flp. über die Ebene der hinteren Kommissur nicht weiter aufwärts zu
verfolgen. F. retrofl. beiderseits vorhanden, F. thalamo-mammill. noeh marklos.
Corp. Luysi vorhanden, nach vorne und ventral davon liegt. ein Kerngebiet, welches als
c. gen. ext. angesprochen wird, da auf vorderen Schnitten die schmalen und faser-
armen Tract. optici in dasselbe eintreten. Ein separates c. gen. int. ist dagegen nicht
aufzufinden. Andeutung von corp. mammillaria. Nn. olfact. fehlen. Das Großhirn stellt
sich als einfache bohnenförmige Masse dar, welche einen unpaaren, aus der Konfluenz
beider Seitenventrikel entstandenen, halbmondförmigen, nach rückwärts kon-
kaven Hohlraum enthält. Die Spitzen des halbmondförmigen Ventrikels entsprechen
den Unterhörnern. Das Dach des Zwischenhirns defekt (geplatzter Hydrops des
dritten Ventrikels). Pulvinar und c. pineale fehlen, nucl. caudat. kümmerlich an-
gedeutet, ein deutlicher Linsenkern und ein Claustrum nicht auffindbar. Völliger Balken-
mangel, dagegen ist eine Fornix resp. die Fimbria fornic. angelegt. Die Thalami sind
verschmolzen, enthalten Kerne, welche sich aber nicht scharf sondern lassen, resp. nicht
den normalen Gebilden ohneweiters gleichgesetzt werden können. Die Regio subthala-
mica ist besser ausgebildet. Aus den Thalamuskernen entwickeln sich an der seitlichen
Peripherie des Zwischenhirns markarme, schräg und längs getroffene Faserzüge, welche
sich ventral in einem Felde zwischen corp. Luysi und Sehhügelkernen sammeln. Diese
Fasern, welche sich durch schlechte Markscheidenfärbung von den Schleifen- und
Haubenbahnen unterscheiden, entsprechen dem Sehliügelstabkranz, welcher in-
320 Dr. Walter Stupka.
folge Fehlens der caps. interna nicht direkt in die Hemisphäre einstrahlen kann,
sondern weit nach vorne ziehen muß, um in das Großhirn zu gelangen. Seine Fasern.
sammeln sich dabei in atypischer Weise an der ventralen Fläche der Sehhügelkerne
zu beiden Seiten des Tuber ciner. Die laterale Sehhügelfläche, an welcher der größte
Teil des Stabkranzes durchbricht, um ventral und medial umzubiegen, entspricht der
Gitterschichte der normalen Gehirns. Die Grenze zwischen reg. subthalam. und reg.
thalam. bildet das Stabkranzareale. Letzteres vergrößert sich oralwärts immer mehr
und besteht aus sich durchflechtenden, quer und schräg getroffenen Fasern, welche
sich schließlich ventral vom Tuber cinereum in von großen Gefäßen durchzogenen
Bindegewebsmassen kreuzen. Noch weiter oralwärts wird das Kreuzungsfeld des
Stabkranzes immer breiter. Oral vom Zwischenhirn liegt ein dem Großhirn zu-
gehöriger, ganglienzellhaltiger, aber keinen Rindenbau zeigender Randwulst (Anlage
des nu. caud.), an dessen ventraler Fläche vorbei entsprechend der Verwachsungsstelle
mit dem Zwischenhirn die gekreuzten Stabkranzfasern in die Hemisphäre
einstrahlen. In das schon erwähnte dicke gefäßreiche Bindegewebe, welches
vor dem Chiasma mit der Basis des Zwischenhirns verwachsen ist und sich nach
vorne in die hinteren Partien der basalen Medianfurche des Großhirns fortsetzt,
aberrieren außerdem Fasern aus der Stabkranzkreuzung und ein Teil bildet
einen Saum am Boden der Mittelfurche (quer ‘getroffene, nach vorne ziehende Fasern
an Frontalschnitten, deren endgültiges Ausstrahlen indes Zingerle nicht anzugeben
in der Lage ist). — Zingerle konnte ferner parallele marklose Faserzüge nachweisen,
welche ungekreuzt nach beiden Seiten gegen das Hemisphärenmark verlaufen und
anscheinend eine Verbindung der beiden basalen Großhirnhälften, besonders in der
Gegend der früher als Unterhörner bezeichneten hinteren Ausstülpung des Ventrikels
darstellen (commiss. anterior?). In der Höhe des Chiasma wurden Reste des c. gen.
angetroffen und es konnten Fasern aus dem dünnen, faserarmen Chiasma nn. opt.
zum Teil gekreuzt, zum Teil ungekreuzt in dieselben einstrahlen gesehen werden.
Zusammenfassung: Da der Schädel fehlt, kann nicht entschieden werden, welcher
Form der Arhinenzephalie das beschriebene Gehirn angehörte. Die mediale Schleife
war durch ihre Kleinheit auffällig, gleichzeitig waren die Sehhügel mangelhaft
differenziert. Die Stabkranzstrahlung war an Masse reduziert, besonders inter-
essant war aber die abnorme Lagerung dieser Faseranteile im Zwischen-
hirn (l.c. S.152): Dieselben schlagen alle eine ventro-mediale Richtung ein und
sammeln sich in einem etwa dreieckigen Areale zu beiden Seiten des Ventralspaltes
unterhalb der Sehhügelkerne. Daselbst biegen sie in die Längsrichtung ab, d. h. sie
ziehen nach vorne gegen die Übergangsstelle des Zwischenhirns in das Vorderhirn;
am vorderen Ende des ersteren kreuzen sie die Basis unterhalb des Restes des Tub.
cin., bevor sie in das Vorderhirn ausstrahlen. „Jede Sehhügelhälfte steht somit
mit der gekreuzten Hälfte des Vorderhirns in Verbindung.“
Zingerle bezeichnet es als wichtige Erfahrung, daß sich im Zentralnervensystem
neuc de norma nicht bestehende Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen aus-
bilden können und belegt dies nicht nur mit seiner eigenen Beobachtung, sondern mit
den von Naegeli festgestellten Abnormitäten und einer von Schürhoff gesehenen
dorsalen Kreuzung in der med. obl. von Hemizephalen. Die Wachstumshemmung im
Vortderhirn ist noch größer als die im Zwischenhirn: ersteres besteht nur aus embryo-
nalem Gewebe, der Zellreichtum steht in auffällieem Gegensatz zur spärlichen Faser-
bildung. Zingerle hebt gegenüber Naegeli, welcher der Selbstdifferenzierung der
Neurone einen großen Spielraum einräumte, hervor, daß sich auch bei diesen Miß-
bildungen (ebenso wie bei den Anenzephalen und Hemizephalen) nicht ein selb-
ständiges unabhängiges Auswachsen der Neurone nachweisen läßt, sondern dieses
Wachstum sei an die gestörte Entwicklung anderer Teile der Gehirnanlaee geknüpft.
Es liege auch nicht ein ursprüngliches Stehenbleiben in der typischen ontogenetischen
Entwieklung vor, sondern eine atypische Entwicklung. eine Verbildung.
Als Ursache kommen äußere Momente pathologischer Natur in Betracht. welche in den
Entwicklungsgang der Hirnanlage eingreifen, denselben krankhaft verändern, zum Teil
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 321
verzögern und hemmen. Aus der Verwachsung resp. dem Defekte des Ependyms
zwischen den Sehhügeln schließt Zingerle auf einen krankhaften Prozeß, welcher
die Ependymgrundlage in Mitleidenschaft gezogen haben müsse. Die Möglichkeit der
schädigenden Wirkung einer zu engen Kopfkappe des Amnion (Anschauung von
C. Dareste, übernommen von Kundrat und der kontemporären Literatur) läßt
Zingerle zwar gelten, möchte aber darin nur die Folecerscheinung einer auf den
ganzen Keim wirkenden Schädigung, welche zu vielfachen Verbildungen auch im
übrigen Körper Anlaß geben könne, sehen. Dem inneren Hydrozephalus räumt er mit
Kundrat insofern eine Wirkung ein, als die Ausbildungshöhe des Vorderhirns desto
mchr leide, je höhere Grade der Hydrozephalus erreiche.
b) Beschreibung des Gehirns eines Zyklopen (Sammlungspräparat, über welches
keine sonstigen Angaben vorlagen): Unpaares, stark lädiertes Vorderhirn, das etwas
größer und etwas reichlicher gefurcht ist als im vorausgehenden Fall, enthielt einen
einfachen, quergestellten Ventrikel und ist nur mit dem vordersten und vorderen
seitlichen Anteil des Zwischenhirns verwachsen. Die Rinde grenzt sich gegen das
Marklager deutlich ab. Das Zwischenhirn stellt sich als ein einheitliches Gebilde
von Olivenform dar, welches in der Mittellinie durch eine seichte, längsverlaufende
Rinne gefurcht ist. Diese Rinne vertieft sich am Übergang zum Mittelhirn zu einem
rhomboiden Grübchen, in welchem der deutlich erweiterte Aquaed. Sylv. einmündet.
Zirbel, Pulvinar fehlen. Der Aquaed. öffnet sich im Bereiche der Gel. habenul. zu einem
dorsal offenen Spalt (dritter Ventrikel), der sich nach oben aber bald wieder schließt
(Verwachsung im Bereiche des dritten Ventrikels). Aus weiteren Details zieht Zingerle
den Schluß, daß auch hier wohl mit Sicherheit die Decke des dritten Ventrikels zu
einer Blase erweitert gewesen sein müsse. Im Rückenmark fanden sich Mehrfach-
bildungen und Defekte, in der med. obl. ähnliche Verhältnisse wie im vorigen Falle
(auch bezüglich noch teilweise mangelnder Markreife\. Die Olivenzwischenschichte
und die Bindearme deutlich verschmälert, letztere kreuzen normal und strahlen
in den roten Kern ein. Ped. pedunc. fehlen, unterhalb des roten Kernes findet sich
die Substantia nigra mit noch pigmentlosen großen Ganeglienzellen. Meynertsche und
Forelsche Kreuzung vorhanden, ebenso der F. retroflex. Der kernreiche Thalamus
war durch markhältige und marklose Faserzüge abgeteilt, eine genauere Untersuchung
war wegen des Alters des Präparates und der schlechten Färbbarkeit erschwert.
Aus den Sehhügelkernen sammeln sich ventral quer und schräg getroffene Fasern
in Form halbmondförmiger Areale beiderseits vom geschlossenen Ventrikelspalt
(atypische Lagerung des Sehhügelstabkranzes‘. Diese Areale teilen das
Zwischenhirn in einen dorsalen iSehhügel) Anteil und in einen ventralen Anteil
(reg. subthalarm.). In letzterer ließ sich mit Wahrscheinlichkeit ein corp. Luysi
nachweisen. wogegen ein c. gen. int. trotz Bildung der hinteren Vierhügelarme nicht
aufgefunden werden konnte. Dagegen fand sich ein c. gen. ext. Vicq d’Azyrsche
Bündel vorhanden, auch ein Fornixanteil, doch war der Fornix weiter nach vorne nicht
verfolgbar. Hypophyse nicht mehr zu eruieren, Andeutung eines Restes des n. caud. (?'.
Nach dem Aufhören des Tuber. einer. findet sich ein früher dorsaler, grauer, von
Bindegewebshäuten bedeckter Strang ganz an die Basis gerückt, er besitzt einen zen-
tralen mit Ependym ausgekleideten Spalt, welcher in direkter Verbindung mit dem
Ventrikelspalt des Zwischenhirns steht, und ist an seiner ganzen Peripherie von
einem Ring teils markloser, teils markhältiger Fasern umgeben. Schließlich wird
aus der Rundform eine querovale: seitlich vom Zentralkanal liegen die Fasern als
Querschnitte, also nach vorne verlaufend. Die vordersten Teile konnten nicht mehr
zur Untersuchung gelangen. Für Zingerle ist es kein Zweifel, daß es sich hier um
einen einfachen N. opticus handelt, dessen Entstehung aus einer nach vorne-unten
gerichteten Ausstülpung des Zwischenhirns deutlich zu verfolgen ist. Derselbe hat
sich wahrscheinlich erst weiter vorne in zwei Optiei gespalten. Die Optikusfasern
kreuzen sich innerhalb des Zwischenhirns, bevor sie in die C. gen. ext. einstrahlen:
die ventrale Kreuzung der zu diesen Ganelien gehörigen Fasern ent-
spricht daher einem atypischen Chiasma. Zingerle konnte ferner feststellen,
322 Dr. Walter Stupka.
daß schließlich auch die Stabkranzfasern beider Seiten ein dichtes Durch-
flechtungsfeld bilden, in welchem sich ein Großteil derselben kreuzt.
Ein vor dem Zwischenhirn liegender Querwulst besteht aus grauer Substanz, die seit-
lich in die Hemisphärenmasse übergeht und an deren ventraler Fläche sich einige
dickere Querschnittbündel anlegen, die aus dem Durchflechtungsfeld
des Stabkranzes hervorgegangen sind. Genaueres konnte wegen der Defektuosität
des Großhirns nicht festgestellt werden. Die Rinde des letzteren war besser differen-
ziert als im früheren Falle.
Die Möglichkeit, daß zwei Augenanlagen miteinander verwachsen sind, will
Zingerle für seine Beobachtung ausschließen und nimmt an, daß nur eine Augen-
anlage gebildet wurde (diese Annahme scheint unseres Erachtens schon wegen der
Faserkreuzung im atypischen Chiasma unhaltbar zu sein). Wie im früheren Falle
fanden sich auch hier im Bereiche der Vierhügelplatte Verbiegungen, ebenso eine
Steilstellung des Kleinhirns. Das Durchflechtungsfeld des Stabkranzes lag in die-
sem Falle aus räumlichen Gründen (l. c., S. 193) nicht direkt an der Basis. Nach
Zingerle besteht auch hier die Auffassung zu Recht, daß mechanische Hinder-
nisse, welche sich den auswachsenden Nervenfasern entgegenstellen, dieselben nicht
in ihrem Wachstum hindern, sie aber veranlassen, neue Wege einzuschlagen.
Die Entwicklung des Zentralnervensystems vollziehe sich bei beschränkter Selb-
ständiekeit des Wachstums der einzelnen Gewebselemente in sich steigernder Ab-
hängigkeit aller Teile zueinander, wobei sich regulierende Einflüsse (siehe Stab-
kranzkreuzung‘ bei Mißbildungen geltend machen. Die tatsächliche atypische Weg-
bahnung sei nicht in allen Fällen ein Beweis der großen Selbständigkeit, neue Wege
zu suchen, sondern der Ausdruck veränderter Entwicklungskorrelationen von Neuron-
komplexen.
In beiden Beobachtungen Zingerles wurde das Fehlen der Nn. olfact. ver-
merkt, doch ist über etwa noch vorhandene Riechhirnbezirke nichts
erwähnt.
1904, 0. v. Leonowa-Lange ilInstitut von Monakow': Zyklopie kom-
biniert mit Mikro- und Arhinenzephalie bei 49 cm langem menschlichen Fötus einer
gesunden Mutter, welche nie Mißgeburten zur Welt gebracht hatte. Im Bauch eine
große Zyste, linke Niere fehlt. Ossa front. flach, lam. cribr. und Sieblöcher nicht vor-
handen. Nase fehlt, auch kein Rudiment derselben feststellbar. Synophthalmia
diplophthalmica mit zwei Linsen und einer partiellen Scheidewand zwischen beiden
Bulbi vorne. Gute Ausbildung der verschiedenen Schichten der Bulbi bis auf die
Stäbchen- und Zapfenschicht bzw. Ganglienzellschicht, von welchen nichts zu er-
kennen ist. Von Nervenfasern nichts zu finden, Optikusfasern fehlen gänzlich, der
Optikus besteht im Querschnitt nur aus Bindegewebe. Nn. olfact. fehlen. Hirn unter-
entwickelt, ohne Windungen, Hinterhauptlappen fehlen, Kleinhirn verkümmert, Höhlen-
und Spaltbildungen im Rückenmark. Das Mittelhirn war auseinandergefallen, woraus
sich offenbar die spärliche Beschreibung erklärt. Das Zwischenhirn sehr mangelhaft
entwickelt. Die Oeulomotoriuswurzel ist in der Entwicklung zurückgeblieben und
die schwachen spärliehen Fasern reichen gar nicht bis an die Peripherie heran.
Von den Schichten des vorderen Vierhügels ist nur das tiefliegende Mark entwickelt.
Das hirtere Länesbündel ist dureh grobe, aber wenig zahlreiche Bündel repräsentiert.
Der rote Kern ist ein zelloses Fell mit starker Gefäßwucherung, in welchem dicke
isolierte Bündelchen sich zerstreuen. Das Meynertsche Bündel zieht an dem roten
Kern vorbei. Hintere Kommissur, Corp. pineale, Gangl. haben. vorhanden. Ventral vom
roten Kern findet sich eine mächtige Faserkreuzung atypischen Verlaufes.
v. Leonowa-Lange bezeichnet es als unklar, woher diese Fasern kom-
men und wohin sie gehen. Fornix, Balken, vordere Konmmissur, Linsenkern, Streifen-
hügel und Mandelkerne fehlten. Wahrscheinlich war das Ammonshorn vor-
handen. eine Prüfung der Rinde desselben war aus technischen Gründen unmöglich.
1013, D. Davidson Black anatomisches Laboratorium der Universität in
Chicago: Normalgewiehtiger, männlicher zyklopischer menschlicher Neugeburener
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 323
mit Synophthalmia diplophthalmia und Rüsselbildung, mittelstarkem Hydrozephalus bei
weit klaffender Sut. sagittalis und Sut. metopica und medianer Oberlippen-Gaumen-
spalte, welche die Mundhöhle mit dem Konjunktivalsack in Verbindung bringt. Velum
und Uvula vorhanden, der Nasopharynx nur durch einen kleinen Rezessus ober-
halb davon repräsentiert. Genaue Beschreibung der Schädelbasis vor und nach Ab-
ziehen der Dura, wobei sich im Basisphenoid eine Vertiefung fand, in welche feine
Durafasern sich hinein fortsetzen. Dicht darunter liegt der Fornix pharyngis, so daß
bei Fehlen der Hypophyse hier offenbar der Rest der Rathkeschen Tasche vorgelegen
haben dürfte. Makroskopische Präparation der Augenhöhle mit genauer Beschreibung
des Verlaufes der Muskeln, der Nerven und Blutgefäße; Beschreibung der Gefäß-
anomalien der Hirnoberfläche, namentlich auch an ihrer Basis. Das Großhirn gliederte
sich in einen unpaaren Stirnlappen und in andeutungsweise paarige Schläfen- und
Hinterhauptlappen. Keine Riechlappen, Nn. optic. und Tractus optic. fehlen, kein
Infundibulum sichtbar. Das Telenzephalon stellt einen einheitlichen weiten Hohl-
raum dar. der unten und seitlich von einer ziemlich «dicken Hirnmasse gebildet ist,
oben aber nur aus einer dünnen Decke besteht. Durch sekundären Hydrozephalus
ist diese Decke in Form eines großen Sackes ausgedehnt, welcher weit nach rück-
wärts reicht. Nach Entfernung des Daches des Sackes, welcher hinten an der Taenia
thalami inseriert, sieht man in einen großen Hohlraum hinein. in welchen rück-
wärts der knollige, glatte, verschmolzene, birnförmig aussehende Thalamus frei hin-
einragt. Neben dieser, in den Ventrikelhohlraum hineinragenden Partie das Thalamus
findet sich auch noch eine extraventrikuläre Portion desselben. Der sackförmig aus-
gedehnte erste Ventrikel steht aber mit dem dritten Ventrikel nieht in direkler Ver-
bindung. Vorne setzt die Sackwand nicht einfach am Apex des Vortderhirns an, son-
dern an der Basis des inneren Pfeilers des umgebogenen Randes, welch letztere For-
mation als modifizierte Hippocampusbildung aufgefaßt wird (mikroskopische Unter-
suchung der Rindenschichten dieser Gegend), während die daran sich ansetzende
dünne Sackdecke die Fimbria repräsentieren soll. Thalamus: Kranial vom Nu. ruber
große irreguläre Kernmassen, in «deren laterale Portionen der Lemn. med. sich ver-
liert. Die Thalamusinasse zerfällt in eine dorsale Zellmasse und eine ventrale Faser-
masse. Die dorsale Zellmasse entspricht den verschiedenen Thalamusganglien und
wird von relativ wenigen multipolaren, mittelgroßen und großen Zellen ähnlich den
Zellen des Pulvinar) und vielen kleinen gliaähnlichen Zellen gebildet. Die Thalamus-
kerne treten mit dem Cortex cerebri an der Verschmelzuneszone des Thalamus mit
dem Vorderhirnbläschen nicht in Verbindung, sondern sind davon getrennt durch die
ventrale Thalamusstrahlung. Diese wird von der oben erwähnten ventralen Faser-
masse repräsentiert, welche kranialwärts an Größe zunimmt und teils aus mark-
haltieen. teils aus marklosen Fasern besteht. In den kaudalen Partien sind diese
Fasern zu unregelmäßigen Wirbeln und Knäueln gedreht. Unregelmäßige Bündel sieht
man an zahlreichen Orten die Äußere Neuroglialage durchbohren in «den ventralen
Regionen) und in der verdickten Pia endigen. Weiter vorne steht die Thalamusmasse
durch einen engen Stiel mit dem Vorderhirnb'äschen in Verbindung. Dieser Stiel ist nahe-
zu gänzlich von ventral verlaufenden Fasern, welche rückwärts kontinuierlich mit den
ventralen Thalamusfasermassen zusammenhängen, gebildet. Sie stellen eine atypisch
entwickelte Thalamusstrahlung dar (diese Thalamusstrahlung [3 in Abb. +42]
sieht man eine deutliche Kreuzung ausführen, von welcher im Text der Arbeit keine
Erwähnung geschieht). Diese Thalamusstrahlung geht auf die ventrale Oberfläche des
Hirnbläschens über und strahlt direkt in die zonale oder plexiforme Schicht
der Hirnrinde ein. Während normalerweise die Projektionsfasern von innen nach
außen die Rinde durchsetzen, gehen hier die Thalamusfasern direkt von außen durch
das Stratum zonale in die Hirnrinde, veradeso wie dies bei Angehörigen niedrigerer
Tierklassen (Amphibien) der Fall ist, wo nur eine schmale Hirnrinde, einwärts davon
aber keine Markmasse vorhanden ist. Bei solchen Tieren treten die afferenten und
efferenten Fasern direkt in «das Stratum zonale ein. Der Zellaufbau der Hirnrinde
im beschriebenen Falle von Zyklopie ließ sich mit der Hirnrinde eines neugeborenen
324 Dr. Walter Stupka.
Kindes nicht ohneweiters vergleichen, der Cortex cerebri der Mißbildung war ver-
gleichsweise überall merklich verdickt, vielleicht zum Teil infolge wirklicher Hyper-
plasie, wahrscheinlich aber dadurch, daß die zum größten Teile vorhandenen Ab-
schnitte des Pallium bzw. die Anlage desselben auf ein viel geringeres Gesamtareale
mit viel kleinerer Oberfläche (Windungen nicht vorhanden!) zusammengedrängt waren.
Gleichwohl zeigten wenigstens die äußeren Zellagen des Cortex deutliche Unterentwick-
lung (die Entwicklung des Cortex schreitet auch hier genau so wie unter normalen
Verhältnissen von innen nach außen zu fort). Was die Ausbildung der Zellen des
Cortex anlangt, so gibt Black, so wie seinerzeit Naegeli, wenigstens für solche Orte,
wohin keine Fasern, und zwar auch nicht einmal marklose, hingelangt waren, Ent-
wicklung durch Selbstdifferenzierung zu. Da die größere Differenzierung und Dicke der
oberhalb der Schicht der großen Pyramidenzellen gelegenen Zellschichten des Cortex
charakteristisch für die höheren Säugetiere und für den Menschen ist, und sich hier
diese Schichten sogar gegenüber der Norm verdickt finden, so ist dies nach Ansicht
von Black ein striktes Argument gegen die seinerzeitige Naegelische Annahme des
Verharrens auf einer niedrigeren phylogenetischen Stufe Am Endhirn finden sich
nirgends Sulci mit Ausnahme der Fissur. hippocamp. und des Sulc. fimbrio-dent. —
Ventrikelverhältnisse: vierter Ventrikel normal; Aquaed. cerebri zeigt zahlreiche
irreguläre Divertikel; die Decke des dritten Ventrikels ist streckenweise defekt, der
dritte Ventrikel endigt blind in den dorsalen Thalamuspartien, es findet sich also
keine Kontinuität desselben mit dem hochgradig erweiterten Ventrikel des Vorder-
hirns, auch nicht in bezug auf die Taeni®&. Black versucht den Abschluß des aus-
gedehnten ersten Ventrikels gegenüber dem dritten durch Druck des ersteren auf
den letzteren mit schließlicher Obliteration zu erklären. Bulbus und Tract. olfact.
fehlen beiderseits. Die fibrösen Bündel am Augapfel, welche nach rückwärts in der
Gegend des Eintrittes der Zentralarterie in das umgebende Bindegewebe der Orbita
ziehen, wurden nicht untersucht, es gäbe aber keine Verbindung des Auges mit dem
Zentralnervensystem. Die Hirnnerven III bis XII bis auf eine leichte Anomalie des
XI. praktisch normal. Untere Olive, dorsale und mediale Nebenoliven vorhanden,
Lemniscussystem im großen ganzen normal, kann aber über den Nucl. ruber hinaus
nicht verfolgt werden, die Fasern lösen sich schließlich in der dorsolateralen Portion
des Thalamus auf. Fasc. long. p. und der Kern desselben normal, ebenso der Trapez-
körper. Lemn. lateralis, Trapezfaserung zusammen mit den ihnen assoziierten Kernen
in ihrem Verlaufe und Beziehungen völlig normal. Der Lemn. lateralis hört in dem gut
ausgeprägten Kern des Nucleus coll. infer. auf. Der Arm des hinteren Vierhügels ist
vorhanden. Kleinhirn enthält normale Kerne, die Markreifung im Kleinhirn ist geringer
als im normalen Objekt. Der vordere Vierhügel stellt eine starke Vorragung mit spär-
lich differenzierten Zellelementen dar. Spärliche markhaltige Kommissurenfasern queren
dorsal über dem Strat. prof. alb. Es findet sich sowohl die Meynertsche als auch
die Forelsche tegmentale Kreuzung. ebenso der Fasc. retroflex. Die Hirnschenkelfüße
und die Pvramidenbahnen fehlen, die Substantia nigra und die Corp. haben. sind
beiderseits nicht gut entwickelt.
Schlußfolgerungen: Ablehnung der Naegelischen Annahme vom Stehenbleiben
auf niedriger Entwicklunesstufe Teleostiergehirn). Nur oberflächliche Ähnlichkeit, die
verlickten basalen Strukturen im beschriebenen Falle sind nicht die Basalkerne wie
bei den Fischen Corp. striatum usw. fehlen nämlich), sondern sind pallialer Natur.
Die Anwesenheit der Hippocampusformation spricht absolut gegen die obige Annahme,
ebenso der Bau und die Schiehtung der Hirnrinde. Die Abwesenheit der phylogenetisch
jüngeren Fasersysteme erklärt sich einfach daraus, daß eine vollständige Entwick-
lung der suprasegmentalen Neurone mangelt, deren Fortsätze diese Systeme normaler-
weise bilden. Die nur sehr geringe Verbindung der Thalamusmasse mit dem Vorderhirn-
bläschen habe offenbar viel mit der Behinderung des Wachstums der kortikalen
Neurone zu tun. Die Entwicklungsbedingzungen des Verderhirnbläschens werden in jedem
Falle von Zyklopie ein neues mechanisches Problem bedingen, abhängig von der pri-
mären Abwesenheit der Gewebsanlagen. Die Ausdehnung dieser Läsion könne nicht
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 325
stets vom Zustande des zyklopischen Auges aus beurteilt werden. Die afferenten
Bahnen entwickeln sich wahrscheinlich vor den efferenten Bahnen des Großhirns,
der primäre Antrieb zur Entwicklung der letzteren ist wahrscheinlich durch das Ein-
wachsen der afferenten Bahnen gegeben. Die Schichtung der Hirnrinde erfolgt vor
der Ausbildung der Windungen und Furchen.
1917, C. Winkler (Utrecht), Lit. Nr. 1 und 3: Menschlicher Zyklops mit zwei
aneinander gelagerten Augen, Nn. optici in gemeinsamer Scheide, Chiasma und zwei
Tract. opt. vorhanden (etwa entsprechend der vierten Gruppe von Vrolik [vgl. bei
Schwalbe und Josephie, Die Zyklopie, S. 208), bzw. Nr. 3 der Bockschen Ein-
teilung der Zyklopie [vgl. bei E. v. Hippel, S. 29). Ossa ethmoidalia, crista galli,
Bulb., Tract. und Lob. olfact. fehlen. Bei Eröffnung des Schädels präsentiert
sich ein riesiger, im größten bitemporalen Durchmesser 6!/ cm messender Sack,
der stellenweise an der Dura adhärent ist. Seine unverletzte Herausnahme ist nur
dadurch möglich, daß man die Dura stellenweise am Sack beläßt. (Diese Adhäsionen
erklären die wiederholt in solchen Fällen erfolgte Zerreißung des Sackes bei der
Eröffnung des Schädels und bei den Manipulationen zur Herausnahme des Gehirns).
Der Übergang des Sackes in das Gehirn, welches wie ein Hufeisen mit nach rück-
wärts gerichteter Konkavität vor dem Sacke liegt, vollzieht sich lateral und frontal
mittels einer Duplikatur, innerhalb welcher sich die Pia einsenkt und in welcher eine
größere Randvene verläuft. Die beiden Randvenen, welche den Sack auch rückwärts
umgreifen, münden in die V. magna Galeni, welche zwischen hinterem Sackpol und
Kleinhirn liegt, ein. Die Arachnoidea überbrückt die Duplikatur. Der Sack inseriert
an der Lam. termin., taen. thalami, Epiphyse und Commiss. post., woraus hervor-
geht, daß es sich dabei wirklich um das dilatierte Dach des dritten Ventrikels handelt.
Die dünnen Sackwände haben demnach nichts mit dem Pallium zu tun. Öffnet man
den Sack, so kommt man in einen einfachen Hohlraum, auf dessen Boden eine Vor-
ragung sich vorwölbt. Diese 1—2 cm große Vorragung ist das verschmolzene Di-
enzephalon, an dessen distalem Ende man die Öffnung des Aquaed. Sylvii wahr-
nimmt. Der Sack drängt die beiden Hirnhemisphären zur Seite und nach abwärts
gegen den Schädelgrund. Das Telenzephalon ist nur an seinem frontalen Ende un-
geteilt. Die Cornua anteriora ventr. lat. stehen miteinander in Verbindung. Es gibt
zwei foramina Monroi von jener Stelle ab, wo zwei getrennte Hemisphären be-
ginnen; jede derselben hat dann einen Ventr. lat., eine Cella media, ein Corn. infer.
und post. An der Hirnbasis findet sich eine mediane Fissur, welche aber den fron-
talen Pol nicht erreicht. Mikroskopische Untersuchung des Zentralnervensystems mit
genauer Beschreibung und vielen Abbildungen: Die Med. spin. zeigt eine Verdopplung
des Zentralkanals, beginnend bei C, (Diastemomyelie). Das Corp. callos fehlt an-
scheinend, am frontalen Ende der Lam. term. existiert jedoch eine Commiss. pallii.
Infolge der durch das Dazwischentreten des Sackes angeblich bewirkten Drehung
der Hemisphären um eine fronto-okzipitale Achse wird deren laterale Wand zur
ventralen und dies hat weiter zur Folge, daß die caps. int. und die Cor. radiata (so-
weit vorhanden) nicht lateral, sondern ventral von den Ventrikeln liegen. Die genauere
Untersuchung der Umgebung des Unterhorns zeigt, daß hier im großen ganzen
normale Verhältnisse, wenn auch etwas reduziert, vorliegen. Durch eine größere
Reihe von Schnitten kann ınan verfolgen, daß ein Rhinenzephalon vorhanden
ist, und zwar von der Gegend der fiss. medio-basalis an bis gegen den Hinterhaupt--
lappen zu in Form eines Gyr. olf. post., welcher in einen Gyr. uncinat. über-
geht. Dieses zyklopische Gehirn ist also nur ein partiell arhinenzephales, indem
nämlich zwar der Lob. olf. ii. e. Bulb., Tract. und Trigon. olf.) fehit, der größere
Teil der beiden Gyr. olf. posteriores aber vorhanden ist. Winkler bildet die Hirn-
basis eines normalen menschlichen fünfmonatigen Fötus ab und vergleicht diese
mit der Hirnbasis des zyklopischen Gehirns unter der Hilfsvorstellung, daß ein im
normalen Gehirn besonders umrandetes Feld herausgeschnitten und die Defektränder
zusammengelegt würden. Es zeigt sich hierauf, daß vom Rhinenzephalon noch Teile
übrig bleiben, nämlich der Gyr. olf. lat. oder post, welcher sich okzipitalwärts
326 Dr. Walter Stupka.
mittels der beiden Übergangsgyri (Gg. ambiens und semilunaris) auf den Gyr. hippo-
campi fortsetzt. Winkler weist für seinen Fall nach, daß das zyklopische Gehirn nur
ein sogenannt balkenloses Gehirn sei, wobei sich eine schmale Commiss. pallii
und ein starkes longitudinales Bündel dorsal von der Fornix longa fand. Es ist auch
eine Decuss. forn. ant. vorhanden, dagegen fehlt die Columna desc. forn. und das
Gel. parvocell. corp. mammill. (Dagegen ist das mediale Ganglion des c. mammill. und
das aus demselben hervorgehende Vicq d’Azyrsche Bündel vorhanden.) An der Hirn-
basis finden sich neben der Rad. olf. ventral Fasern, welche zur Coron. rad ge-
hören. Vorhanden sind ferner ein Nu. caud., das fronto-okzipitale Bündel von Dé-
jerine, der Fasc. long. med. (Sachs), ein Nu. lentif., Caps. ext., claustr., Caps. extrema
und eine Insula mit sehr breiten tiefen Schichten. Die Basalganglien sind also vor-
handen, allerdings ärmlich entwickelt, jedoch, statt lateral situiert, ventralwärts
verlagert. Der Pes ped. ist nur durch eine dünne Faserschichte über der Subst. nigra
repräsentiert, welche ausschließlich zur rad. thalamica der cor. radiat. gehört und das
Dienzephalon mit dem Cortex vereinigt. Auf beiden Seiten existiert ein gut aus-
gebildeter Thalamus opt., die primär optischen Zentren sind auf beiden Seiten nicht
gegenwärtig. Der frontale (telenzephale) Anteil des Hypothalamus fehlt, wogegen der
dienzephale Anteil (c. mammill. etc.) und der mesenzephale Anteil (nu. ruber) vorhanden
und entwickelt sind. Das Pallium des Telenzephalon ist teilweise vorhanden, wie der
erhaltene Teil des Rhinenzephalon, die Insel usw. beweisen. Auf die Hirnrinden-
struktur wird nicht näher eingegangen, dies bleibt einer separaten späteren Mitteilung
vorbehalten, doch sei kein Grund anzunehmen, daß diejenigen Teile des Pallium,
welche vorhanden sind, sich von einer „ex origine“ abnorm konstruierten Ilirnanlage
entwickelt hätten.
Zusammenfassend konstatiert C. Winkler, daß die wichtigsten Charakte-
ristika der Hirnmißbildung bei Zyklopie und Arhinenzephalie (Ethmo- und Cebo-
zephalie) der medio-basale Defekt des Gehirns und des Schädels sowie die Sack-
bildung im Bereiche der Zwischenhirndecke sei. Die Ausdehnung bzw. die Ansatz-
punkte des Sackes variieren: In Winklers Falle reichte der hintere Ansatzpunkt des
Sackes bis zur hinteren Kommissur, also weiter nach rückwärts als im Falle von
D. D. Black. In der Beobachtung des letzteren war überdies ein Hydrozephalus des
Seitenventrikels vorhanden. Bei zwei nur makroskopisch untersuchten Kalbszyklopen
Winklers war nur das frontale Ende des dritten Ventrikels ausgedehnt. Winkler
erörtert die Hypothesen bezüglich der Genese der Zyklopie und entscheidet sich
für die Annahme eines Mangels des Keimmaterials am frontalen Ende des Embryo
infolge Einwirkung eines exogenen Agens. Unter den in dieser Hypothese enthaltenen
verschiedenen Möglichkeiten erscheint es ihm am wahrscheinlichsten, daß die krank-
machende Noxe auf die dorsale Wand des Mesenzephalon einwirke. Der Zeitpunkt
der Einwirkung der Störung müsse im Beginne der Teilung des Telenzephalon nach
der Formierung der Augenblasen, zu einer Zeit, wann das Foramen Monroi noch weit
ist, angesetzt werden. Es bilde sich eine Hydropsie des Daches des dritten
Ventrikels aus, welche unter der lamin. termin. die Säulen der Fornix zerstöre und
die Hirnbasis am frontalen Ende derselben zersprenge. Es würden auch die Hirnhäute
und die Knochen zerstört, nicht aber die Haut! Die Zerreißung würde mit Annäherung
der frontalen Pole der Hemisphären geschlossen. Winkler fragte sich, ob keine Spuren
dieser Zerreißung an der Hirnbasis nachweisbar seien und glaubt diese Frage bejalhen
zu dürfen: Vor dem Chiasma laufe durch die Membranen an der Schädelbasis ein
transversaler Strang und auch die Radiographie eines Zyklopenschätdels scheine das
zu bestätigen, da hiebei gesehen wurde, daß das os frontale etwas unterhalb des os
sphenoidale verlaufe. Winkler betont, daß er mit seiner Annahme der Entstehung
der Zyklopie auf dem Boden der zuerst von Kundrat ausgesprochenen vermutlichen
Entstehungsweise stehe und daß er mit dieser Annahme alle Details am leichtesten
erklären könne. Winkler bezeichnet den prächerdalen Hirnanteil ‘der also der Stütze
der Chorda entbehre) als besonders schwach und dem Drucke des Blaseninhaltes
nachgebend. — Nach Winklers Ansicht sind die verschiedenen Verhältnisse am
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 327
Optic., Chiasma, c. mammill. eine Folge davon, ob die streng mediane Ruptur etwas
weiter vorne oder etwas weiter hinten erfolgt sei, wodurch mehr oder weniger
von den Augenanlagen zerstört würde. Wenn die Ruptur nicht zu weit vorne erfolge,
gebe es Zyklopie bei relativ gutem Erhaltensein der Nase (Rüssel mit Muscheln bei
seinen Kalbszyklopen). Erfolge die Ruptur etwas lateral, so könne das einzige Auge
in der einfachen Orbita eventuell auch nur das eine erhaltene Auge sein, während
die Anlage des zweiten völlig zerstört würde Winkler fühlt indes selbst, daß der
doppelte Nerv-Muskelapparat eines solchen einfachen Auges mit dieser letzteren An-
nahme schwer zu erklären wäre.
Winkler bekämpft schließlich (Lit. Nr. 2) die Ansicht von Schwalbe-
Josephy, daß das Vorderhirn aller Zyklopen ungeteilt sei. Winkler hat darin
insofern recht, als im oben ausgeführten Falle nur vorne am Stirnpol die „Verschmel-
zung“ der Hemisphären erfolgt war, wogegen die Temporal- und Okzipitallappen in
der Zweizahl vorhanden waren. Winkler stelit sich vor, daß durch den Druck des
Sackes rückwärts die hinteren Pole der Hemisphären auseinandergedrängt wurden, vorne
unten und wohl auch in der Gegend der Stirnpole die „Ruptur“ erfolgt sei, worauf eine
sekundäre Verschmelzung der Stirnpole beider Hemisphären auftrete. —
1921, W. Riese (Nervenklinik Frankfurt am Main): Unter dem Titel „Über
Riechhirnmangel“ wird ein zwei Monate altes untergewichtiges Mädchen beschrieben,
deren Lidspalten auf 15 mm einander nahegerückt sind. Hirnschädel im ganzen stark
verkleinert, Schädeldach auffallend dick, Stirn schmal, fliehend, in der Mitte kammartig
vorspringend. Schädelnähte geschlossen, Fontanellen bereits verknöchert. Rechts Colo-
boma n. optic. und Colomba der Chorioidea, links schiefgestellter, etwas blasser,
beträchtlich exkavierter n. opt. Ein Nasenrücken fehlt vollständig, an Stelle der Nasen-
spitze findet sich eine dreieckige Hautfalte, darunter eine breit klaffende „mediane“
Gesichtsspalte (Spalte der Oberlippe, des harten und weichen Gaumens), so daß Mund-
und Nasenhöhle einen gemeinsamen Raum bilden. Infolgedessen sind Nasenlöcher nicht
vorhanden. In der Mitte des Daches des gemeinsamen Nasen- und Rachenraumes ist
ein Knorpelstück sichtbar, dessen hinterer Teil einen rudimentären Vomer darstellt,
die rechts und links daneben gelegenen weißlichen Knorpelscheiben sieht Riese
als mißbildete Anteile des Siebbeins an. Zunge mit den Gaumenbögen rechts und links
verwachsen. Ohren normal. Im Bereiche der oberen und unteren Extremitäten
mehrfache Mißbildungen (Synostose zwischen rechtem Humerus und Ulna, Meta-
carp. des Daumens beiderseits äußerst klein, Defekt des rechten, starke Verkürzung
des linken Femur, Fibuladefekt beiderseits. Thymus sehr klein und wunansehnlich,
Foramen ovale offen, duct. Botalli geschlossen, eigentümliche Lungenlappung, starke
Lordose der Brustwirbelsäule mit Vertiefung des Bauchraumes. Nebenniere unter-
entwickelt. Vordere Schädelgrube sehr flach, keine er. galli vorhanden, Siebbeinplatte
scheint zu fehlen. Beide nn. opt. sind außerordentlich nahegerückt, Chiasma und
Tract. optic. vorhanden, letztere strahlen in eine starke Markfaserung ein,
welche dicht unterhalb des mißbildeten Thalamus liegt, sind aber weiter nicht
verfolgbar. Riese vermerkt ein jederseits neben dem Chiasma liegendes, mark-
freies, nicht zu enträtselndes Feld. Nn. olfact., Bulb. und tract. olf. fehlen beider-
seits. Das Großhirn stellt eine im ganzen halbkugelige, nicht in zwei Teile geteilte,
ziemlich derbe, windungs- und furchenlose, blasse, graurote Gewebsmasse dar, welche
auf einheitlichem, etwa kleinfingerdickem Stiel aufsitzt. Dieser Stil ist
hohl und oben von einem nicht sehr feinen Häutchen bedeckt, welches beim Heraus-
nehmen einreißt, so daß man durch einen bleistiftdicken Gang in eine einzige Groß-
hirnhöhle hineinsehen kann. Aus dieser Höhle quillt reichlich Cerebro-
spinalflüssigkeit heraus «Hydrops). Innerhalb des unpaaren Hirnventrikels
ist der plex. choroideus nicht zu entdecken, Riese nimmt an, daß er durch den
hydrozephalen Innendruck aus jenem scheinbaren, in den hinteren dorsalen Vorder-
hirnpartien gelegenen Loch hinausgepreßt worden sei und jetzt außerhalb des Ven-
trikels liege. Namentlich in den tieferen Schnittebenen des Rückenmarks findet sich
eine hydropische Erweiterung des Zentralkanals, die Vorderhornganglienzellen im
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIIf. Bd., Heft 2. 22
328 Dr. Walter Stupka.
Lumbalmark (entsprechend dem mißbildeten Oberschenke.) stark reduziert. Gänzliches
Fehlen der Pyramidenbahnen, Mittel, Rauten- und Nachhirn ziemlich normal ent-
wickelt, alle Hirnnervenkerne daselbst vorhanden, Kleinhirn bis auf unvollkommene
Markreifung ziemlich normal. Ganglion haben. offenbar vorhanden, ebenso der
Tr. pedunc.-habenul. (Meynert), Comm. post. gut entwickelt. Zwischen- und
Endhirn sehr entstellt. Aquaed. cerebr. stark verändert, corp. pin. und Hypophyse
vorhanden, corp. mammill. und Tr. mammillo-thal. offenbar vorhanden, Thalamus rück-
wärts durch eine mediane Einsenkung seiner dorsalen Oberfläche durchaus paarig,
weiter vorne jedoch eine unpaare ungegliederte Masse mit verschiedenen Kernen,
aber ohne bestimmte topographische Beziehung. Im Bereiche der vordersten basalen
Partien des Vorderhirns endigte der Thalamus als rundlicher Markkörper. Corp. gen.
med. und lat. nicht mit Sicherheit aufzufinden. Das Vorderhirn stellt sich als 7 mm
dicker, völlig ungefurchter, markloser Mantel dar, welcher den einheitlichen, mächtig
hydropisch erweiterten Ventrikel umschließt. Vorne fehlt jede Faltung und nennens-
werte Einsenkung des Hemisphärenmantels, hinten Ausbildung einer medialen Hemi-
sphärenwand und einer paarigen Ammonsformation. Von den verschiedenen
Kommissuren ist nur das Psalterium vorhanden, die lam. terminalis fehlt
und dies ist die Ursache, daß die aus ihr hervorgehenden vorderen ‚Kom-
missurensysteme (commiss. ant., Balken, Fornix) vollständig fehlen. Ferner fehlt
das corp. striat. Architektonik der Rinde stellenweise auf das schwerste gestört, da und
dort Heterotopien, in welchen übrigens der höchste Grad der Differenzierung unbe-
schadet der hochgradigen Hemmungsbildung des Endhirnbläschens erreicht worden sei.
— Riese faßt diese Störung im Bereiche des Endhirns als primäre auf, das Telenze-
phalon hat blasigen Charakter, es ist wenigstens vorne noch nicht zu Lappen-, Furchen-
und Kommissurenbildung gekommen. Ob die Mißbildung im Bereiche des 'Zwischenhirns
(im wesentlichen handelt es sich nur um den Thalamus, da die epi- und hypothala-
mischen Regionen annähernd normal gebildet sind) auch primär oder vielmehr sekundär
(also abhängig) ist, wird nicht entschieden. Alle Störungen in den tieferen Hirnteilen
werden als sekundäre aufgefaßt. Riese tritt der Meinung entgegen, daß das ursprüng-
lich unpaare sekundäre Vorderhirn durch die von oben und vorne hereinwachsende
Sichel nachträglich in das paarige Hemisphärenhirn geteilt wird und daß das unter
dem Bilde einer unpaaren Blase sich manifestierende Endhirn der Arhinenzephalen,
dem ebenso wie im Falle von Riese die Sichel fehlt, sich als ein auf frühester Stufe
(etwa Ende des ersten Monats) stehen gebliebener Entwicklungszustand darstelle.
Das Hemisphärenhirn ist im Gegenteil eine von Anfang an paarige Bildung und „wir
möchten vielmehr in der Paarigkeit des Endhirns eine von Anfang an bestehende,
diesem Hirnteile gewissermaßen immanente Wachstumsrichtung erblicken“. Tatsächlich
sei ja auch das Endhirn der Arhinenzephalen gar nicht unpaar, wobei Riese an
die Paarigkeit der Ammonsformation erinnert, welche, wie in seinem Falle, auch sonst
wiederholt gefunden wurde, wo darauf geachtet worden. Nur in den Vorderhirnpartien ist
die Paarigkeit nicht zustande gekommen. Die Ursache hiefür erblickt Riese in dem
wänzlichen Mangel eines Riechhirns, dessen entwicklungsgeschichtliche Be-
ziehungen zu den frontalen Partien des Endhirns ja äußerst innige sind. „Vergleichend
anatomische Tatsachen legen es nahe, die Paarigkeit der vorderen Hemisphären-
ausstülpung mit dem Rhinenzephalon in ursächliche Beziehung zu brin-
gen, fehlende vordere Hemisphärenausstülpung und Arhinenzephalie
sozusagen als zwei Seiten eines und desselben Vorganges aufzufassen.‘*)
Das c. striat., dessen Ausbildung hier unterblieben sei, gehöre funktionell zum Riech-
hirn. Mißbildungen mit Riechhirnmangel seien öfters auch als Zyklopie beschrieben
worden, „aber diese Anomalien im Bereiche des Auges sind nicht das wesentliche, das
konstante, dies haben wir vielmehr in dem bei diesen Früchten obligaten Riechhirn-
mangel zu erblicken, der eben einhergeht mit jener charakteristischen schweren Miß-
bildung des Vorderhirns und Zwischenhirns", wie er im mitgeteilten Falle geschildert
*) Im Original nicht gesperrt.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 329
wurde. Über die kausale Genese wird keine eigene Meinung vorgebracht. - Obwohl
Riese eine genauere Klassifizierung des von ihm mitgeteilten Falles unterließ. ist
meines Erachtens kein Zweifel, daß er entsprechend der Beschreibung des Nasen-
apparates zur dritten Gruppe der Arhinenzephalie Kundrats, nämlich zur Arhin-
enzephalie mit sogenannter medianer Oberlippen-Gaumenspalte gehört.
1925, Derselbe: Bau und Leistungen des Zentralnervensystems eines vier-
jährigen, riechhirnlosen Kindes, damit identisch, aber in detaillierter Ausführung:
1926, K. Goldstein und W. Riese (Neurologisches Institut Frankfurt am Main):
Klinische und anatumische Beobachtungen an einem vierjährigen riechhirnlosen Kinde,
zugleich ein Beitrag zur Kenntnis des zentralen Riechapparates des Menschen, ins-
besondere des Riechhirnanteiles der Stammganglien usw.
Viereinhalbjähriger Knabe. der voll ausgetragen und normal entbunden worden
war imit Geburtsgewicht von 6!/, Pfund). In den ersten J,ebensmonaten ganz normale
Entwicklung, nur fiel es auf, daß das Kind auffallend viel schlief und wenig
schrie. Mit vier bis fünf Monaten traten Krämpfe auf, die nach etwa zwei Monaten
aufhörten, danach ließ das Kind den Kopf hängen, die Glieder wurden allmählich
immer steifer. Im Alter von zwei Jahren: Idiotisches Aussehen. Spasmen in den
Extremitäten. Starke spastische Adduktionskontraktur am Oberschenkel beiderseits,
Spitzfußkontraktionsstellung beiderseits; Babinski beiderseits positiv, Achillessehnen-
reflexe. Patellarsehnenreflexe beiderseits gesteigert. Selbständiees Aufrichten unmög-
lich. War stets unrein. Im Alter von viereinhalb Jahren: Schwächliches Kind. Hydro-
zephal ausgebuchteter Schädel mit besonderer Ausbuchtung der linken Schläfen-
scheitelbeinpartie. Große Ohren, hoher Gaumen. Spitzer Unterkiefer. Testes nicht im
Scrotum, Strabismus convergens. Augenftintergrund normal. Keine Stauungspapille,
Pupillen eng, reagieren gut auf Licht. Der Kopf kann nicht aktiv gehalten werden,
fällt bei Aufrichtung des Kindes nach vorne. Hochgradiger Schwachsinn, keine Sprach-
entwicklung, Gesprochenes wird nicht verstanden, Kind nimmt von der Umgebung
überhaupt keine Notiz, doch fixiert es einigermaßen ihm gebotene Reize und folgt
ihnen mit den Augen. Saugen unmöglich, ebensowenig Greifen oder Laufen. Es be-
stehen athetoseartige Bewegungen der Arme, häufig auch der Finger, eigentümliche
Pseudospontanbewegungen der Gesichts- und Zungenmuskulatur, verstärkte Dauer-
spasmen in der Adduktionsmuskulatur der unteren Extremitäten, fliegende Spasmen
in allen vier Extremitäten, der Hals-, Kopf- und Kiefermuskulatur, Spasmen, welche
sich in hohem Grade als abhängig von der Lage des Gesantkörpers und der passiv
veränderten Lage einzelner Glieder erwiesen (wahrscheinlich handelte es sich hiebei
um Erscheinungen, welche den von Magnus und seiner Schule beschriebenen Hals-
reflexen usw. nahestehen). Völliger Mangel an jeder Spontanöität, niemals wurde der
Ausdruck einer psychischen Emotion an dem Kinde beobachtet. Reaktionen sehr
primitiver Art auf Sinnesreize. War erst einmal eine Einstellung (etwa der Augen auf
einfallendes Licht) erfolgt, so konnte die Fixierung ¿uf diesen Reiz eine sehr starke sein,
die Augen konnten eine Zeitlang zum rein passiven Nachfolgen veranlaßt werden.
Ganz ähnlich verhielt sich das Kind bei akustischen Reizen, nur daß hiebei die Ein-
stellung und das Nachfolgen nicht so deutlich ausgesprochen war. Zuwendungen auf
taktile Reize sind nicht sicher beobachtet worden, das Geruchsvermögen wurde
nicht geprüft, die Nase scheint aber (obwohl darüber nichts Ausdrückliches
erwähnt ist) normal gewesen zu sein (eine mikroskopische Untersuchung derselben
post mort. wurde jedoch nicht ausgeführt. Liquordruck bei Lumbalpunktion 330 mm
Wasser. Durch Ventrikelpunktion wurden 220 cem Liquor abgelassen. Enzephalo-
graphie ergab: Bei Frontalaufnahme außerordentlich großer einheitlicher Ventrikel,
Fehlen der Scheitlewand, Hemisphärenwand an Dicke stark reduziert. In den Ventrikel
ragen von unten jederseits zwei hintereinander gelegene Hügel hinein, von welchem
der hintere dem Thalamus, der vordere offenbar den Stammpganglien entspricht. In
der Seitenaufnahme kann man oberhalb des Kleinhirns eine stark aufgehellte Partie
sehen, welche mit dem dritten Ventrikel in Verbindung zu stehen scheint und welche,
wie der spätere Sektionsbefund zeigte, einer großen Blase entspricht. Die klinische
22°
330 Dr. Walter Stupka.
Diagnose wurde auf „Großer Hydrozephalus mit Reduktion der Hemisphärenwand“
gestellt und nach dem Röntgenbild eine Mißbildung mit Fehlen des Riechhirns ver-
mutet, zumal Riese bei früherer Gelegenheit (Lit. Nr. 1) dieses Ausbleiben der Paarig-
keit des Vorderhirns in ursächlichen Zusammenhang mit dem Olfactoriusdefekt ge-
bracht hatte. — Sektion des Gehirns (über die sonstige Sektion liegen keine Befunde
vor) und mikroskopische Hirnbefunde: Das Großhirn hat eine eigenartige kugelige,
von unten betrachtet geradezu querovale Form. Völliges Fehlen des Olfac-
torius. Die Stammteile, insbesondere das Cerebellum, auffallend groß,
letzteres liegt zum Teil frei zutage. Sichel und medialer Hemisphärenspalt fehlen,
eine Trennung der Hemisphären ist nur am hinteren Ende vorhanden, wo zwei deutlich
getrennte Schläfelappen zu sehen sind. Der hintere Hirnpol wird von einem mächti-
gen flüssigkeitserfüllten Sack eingenommen, welcher auf dem Cerebellum liegt
und dessen Wand beiderseits in die Hemisphären übergeht. Dieser Sack riß bei der
Herausnahme des Gehirns bald ein und man sah durch das so entstandene Loch
in eine große Höhle, auf deren Grund die Stammteile des Gehirns als zwei paarige
Wülste sichtbar wurden, während das Dach von einer unpaaren Hemisphärenwand ge-
bildet wurde. Unter dem Sack findet man vorne Thalamus und Vierhügel, caps. intern.
vorhanden, links viel mächtiger ausgebildet als rechts, gegenüber der Norm im ganzen
aber schmächtiger. Putamen mächtig ausgebildet, das cap. nu. caud. ist an seiner Basis
mit dem der anderen Seite zu einer einheitlichen grauen Masse verschmolzen. Beider-
seits neben dem Putamen liegt das Claustrum, zwischen Putamen und Claustrum
eine caps. ext., nach außen vom Claustrum eine caps. extrema, welche das (laustrum
von einer operkularisierten Rindenpartie (Insgl) trennt. Der oberhalb des verschmolzenen
unpaaren Caudatum liegende unpaare Ventrikel ist von einer dicken Ependym-
schichte ausgekleidet. Es fehlen morphologisch vollkommen: Balken, Septum
pellucidum, Fornix, Olfactorius, die Olfactoriusrinde und der Nu. accumbens. Von der
Commiss. anter. sind nur beiderseits die lateralsten, im übrigen schwach und mangel-
haft myelinisierten Ursprünge vorhanden. welche jedoch nirgends die Mittellinie er-
reichen, so daß also eine echte Kommissurenbildung an der Basis über-
haupt nicht vorliegt. Wohin die Fasern gelangen, lassen die Autoren dahingestellt.
Auf beiden Seiten ist ein deutlicher, ziemlich mächtiger nu. amygdalae vorhanden, an
der Basis liegt jederseits ein Tract. opt. In beiden Anteilen des Striatum (Caudatum und
Putamen) tauchen blasse Faserquerschnitte auf, welche zum System der strio-
fugalen Faserung zu rechnen sind und deren Durchbruch durch die dunklen, dicken
Bündel der inneren Kapsel besonders gut zu sehen ist. Wegen der Reduktion der letz-
teren treten die striären grauen Brücken zwischen Caudatum und Putamen, deren
Einheitlichkeit dadurch besonders deutlich wird. gut hervor. Scheinbar ist die strio-
fugale Faserung am beschriebenen Objekte von besonderer Mächtigkeit. zumal in kau-
daleren Ebenen zieht eine ungewöhnlich massige Faserung aus dem Striatum durch das
Pallidum in das Strat. intermed. der Subst. nigra. Das Pallidum ist vorne einheitlich,
unpaar, an kaudaleren Schnitten ist am auffälligsten, daß auf beiden Seiten die
medialen Anteile aller Pallidumelieder äußerst markarm sind. Auf der linken Seite
findet sieh eine Vierteilung des Pallidum. Zwischen dem Ventrikel des Infundibulum
und dem großen unpaaren dorsalen Ventrikel liegt eine Substanz, welche die Autoren
als die vor dem Ree. praeoptie. liegende Verdickung der Lam. termin., in der sich
sonst die Commiss. ant. zu bilden pflegt, ansprechen möchten. Ein schmaler Spalt
zwischen den beiden capita nu. caud., welcher gefäßhaltiges Gewebe, das den Eindruck
der Pia macht, enthält, wird von den Autoren eben deswegen als ein außerhalb der
(iehirnoberfläche gelegenes Gebiet deklariert. Der Lage nach könne es sich nur um
den Ventrie. sept. pellucid. handeln, welcher hier nur durch das Fehlen des Vorder-
hornes und das mächtige Auswachsen des basalen Teiles des Striatum eine ganz
merkwürdige Gestalt bekommen habe. Die Corp. mammillaria sind etwa halb so groß
wie die eines Erwachsenen. Mächtige Thalami, welche in der Medianlinie miteinander
verwachsen sind: ein nu. anter. fehlt völlig: die dorso-lateralen Partien des nu. lat.
sind auffallend markarm. Taenia thalami beiderseits deutlich vorhanden, ebenso die
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 331
corp. gen. med. und lat., zwischen den auffallend stark entwickelten corp. Luysi spannt
sich eine außerordentlich mächtige Commiss. supramammill. aus. Diese ist als eine
Commiss. hypothalam. post. (Marburg) auf einem der Schnitte besonders deutlich
zu sehen, wie sie in das Corp. Luysi fächerförmig einstrahlt. Besonders mächtige Ent-
wicklung der roten Kerne, welche absolut größer sind als diejenigen eines normalen,
erwachsenen Gehirns. Die Subst. nigra bleibt in ihrer Entwicklung nicht hinter der
eines Erwachsenen zurück. Unterhörner enorm erweitert. Besonders mächtige Commiss,
post., völliges Fehlen des Vicq d’Azyrschen Bündels, dagegen sind das Gangl. haben.,
die Commiss. haben. sowie die Einstrahlung des F. retrofl. in das Ggl. haben. deutlich
vorhanden.
Ammonsformation: Fimbria forn. und Markstreifen des Alveus fehlen gänzlich,
Gyr. dentat zwar vorhanden, aber atrophisch, zeichnet sich ebenso wie die gesamte
Ammonsformation durch Armut an markhaltigen Fasern aus. Vom rein morphologischen
Standpunkt aus ist aber die Ammonsformation besonders gut ausgebildet, sie repräsen-
tiert ein plattes, windungsreiches Gebiet, daß sogar mehr Windungen aufweist als die
normale Ammonsformation. — Am Unterhorn lassen sich deutlich die verschiedenen
Strata unterscheiden, und zwar Balkentapete, Optic.-Faserung und der mächtig ent-
wickelte F. long. inf.
In Mittelhirn, Rautenhirn, Med. obl. und Kleinhirn keine gröberen morphologischen
Abweichungen vom Normalen. Reduziert ist nur die Pyramide der einen Seite (ent-
sprechend der früher vermerkten Verkleinerung der inneren Kapsel auf einer Seite);
dagegen erreichen andere Bezirke eine besonders hohe Ausbildung, welche
teils relativ, teils absolut die analogen Organe des normalen Erwachsenen an Größe
übertreffen. Eine Überentwicklung zeigen das Kleinhirn, besonders dessen Nu. -den-
tatus, die Oliven und das c. restiforme. Das gleiche gilt, wie schon früher zum Teil
erwähnt, vom Striatum, Pallidum, Thalamus. Hypothalamus, Nu. ruber und Subst.
nigra. — An Nißlpräparaten zeigt die Hirnrinde eine wohl ausgebildete Architektonik
mit charakteristischen regionalen Verschiedenheiten: im besonderen ist die Rinde der
Fasc. dentata deutlich entwickelt und enthält auch deutliche Pyramidenzellen. Hippo-
campusrinde im Bau prinzipiell ähnlich derjenigen anderer Regionen. An Markscheiden-
präparaten ist die gesamte Rinde in ihrer Breitenausdehnung äußerst arm an mark-
haltigen Fasern. Es ist überhaupt zu keiner eigentlichen Myeloarchitektonik gekom-
men. Insbesondere fehlen vollständig eine L. tangentialis, die Baillargerschen Striae.
Die Gliaanordnung ist eine durchaus normale.
Die Autoren fassen (ebenso wie in der ersten Beobachtung von Riese ex 1921)
das gänzliche Fehlen des Olfakt. als primären Defekt auf und glauben in der auch
in diesem Falle vorhandenen Unpaarigkeit des Vorderhirns (wenigstens in dessen
vorderem Abschnitte) eine Bestätigung ihrer Auffassung der Arhinenzephalie -- Un-
paarigkeit des Vorderhirns als Folge des Riechhirnmangels (Riese) — erblicken zu
dürfen. Soweit eine Hemisphärenausstülpung unterblieben ist, ist aber auch der
Ventrikel unpaar geblieben. Er ist «durch Hydropsie enorm erweitert, der Plex.
chorioid. ist auch in diesem (zweiten Falle durch ein in den hinteren dorsalen
Vorderhirnpartien gelegenes Loch herausgepreßt worden und liegt nun außerhalb
des Hohlraumes der Hemisphären. Die Hirnoberfläche zeigt Furchen und Windungen,
wenn auch völlig atypische, eine Architektonik der Rinde ist einigermaßen vorhanden,
wenn auch die Rindenschichtung in mancher Beziehung fötalen Charakter hat. Dem-
entsprechend ist es zur Ausbildung von allerdings reduzierten Pyramiden gekommen.
Von den Gebilden des vorderen Kommissurensystems ist so gut wie überhaupt nichts
vorhanden (siehe oben), ein Psalterium fehlt morphologisch ganz. Der gänzliche
Defekt des Olfakt. lenkte die Aufmerksamkeit der Autoren auf die-
jenigen Gebiete, welche als sekundäre und tertiäre Riechzentren an-
gesprochen werden, und ließ sie einen Vergleich mit jenen Säugern
(Cetaceen) ziehen, welchen es ebenfalls an einem Olfakt. gehricht. Es
ergaben sich zwischen dem Verhalten der Riechzentren der Wale und dem des riech-
hirnlosen Kindes auffallende Übereinstimmungen, welche die Stellung dieser
332 Dr. Walter Stupka.
Hirnteile im zentralen Riechapparat zu beleuchten durchaus geeignet scheinen. Nu. dor-
sales thal. fehlen sowohl beim beschriebenen Arhinenzephalen wie beim Delphin: das
Vicq d’Azyrsche Bündel, Psalterium, Fornix und Fimbria fehlen beim Arhinenzephalen,
sind beim Delphin im reduzierten Zustand eben noch nachweisbar. Bei beiden sind
stark reduziert: Gyr. dentat., Corp. mammillaria, Commiss. anter., Sept. pellucidum.
Beim Delphin sind, wenn auch etwas reduziert, so doch vorhanden: Taenia
thalami, Taen. semicircularis und Nu. amygd. Das gleiche fand sich auch am riech-
hirnlosen Kinde. Die Autoren sind der Ansicht, daß dies dafür sprechen dürfte, daß
diese Teile mit dem Riechapparat nichts direktes zu tun haben, sondern möglicher
weise parolfaktorischer Herkunft sind. Der Defekt des Olfakt. und der Riechrinde
ließ die Autoren hoffen, im Markfaserbesitz der Stammganglien dort einen Ausfall
zu ermitteln, wo Fasern aus dem Riechgebiet die Stammganglien erreichen, voraus-
gesetzt, daß überhaupt ein Riechhirnanteil in den Stammganglien vorkomme. 1921
konnte Flechsig auf myelogenetischem Wege direkte Fasern aus dem Riechgebiet
zum Paläostriatum (Glob. pallidus) nachweisen. An identischen Gebieten des Palli-
dum beider Seiten konnten nun Goldstein und Riese tatsächlich freie Stellan
nachweisen, und zwar besonders in den vorderen, aber auch noch in den mittleren
pallidären Abschnitten (das Pallidum war sonst nicht nur völlig intakt, sondern sogar
übernormal entwickelt). Goldstein und Riese bringen den nachgewiesenen
Markfaserschwund im Pallidum mit dem Defekt des Olfakt. in ur-
sächlichen Zusammenhang und grenzen dadurch erstmalig einen Riech-
hirnanteil der Stammganglien (im vorderen und mittleren Gebiet des Pallidum)
ab. Ohne sonst zur Frage der Zuordnung des Pallidum zum Tel- oder zum Di-
enzephalon Stellung nehmen zu wollen, erblicken die Autoren in dem hier abge-
grenzten olfaktorischen Anteil des Pallidum doch einen Endhirnanteil des mensch-
lichen Paläostriatum. — Die Autoren lenken weiter die Aufmerksamkeit auf die nach-
gewiesene, zum Teil außerordentlich beträchtliche Überentwicklung aller Anteile
der Stammganglien usw. (siehe höher oben). Daß die Stammganglien bei weit-
gehenden Rindendefekten, sogar bei völligem Untergang des Großhirns (Edinger-
Fischer), annähernd intakt hleiben können, ist eine bekannte Tatsache und wurde
für die relative Unabhängigkeit der Stammganglien von der Rinde wiederholt geltend
gemacht. Hier aber handle es sich um eine Hypertrophie, welche als kompensa-
torische aufgefaßt wird und für welche die Unterentwicklung der Rinde und der
weitgehende Untergang des Hemisphärenmarks ursächlich verantwortlich gemacht
wird. Diese kompensatorische Hypertrophie der Stammganglien und der von ihnen
abhängigen Hirnteile erinnere auffallend an das morphologische Verhalten des striären
Systems der Wale, deren basale Ganglien nach Untersuchungen von Riese eine
von der Ausbildung dieser Hirnteile bei allen anderen Säugern abweichende Ent-
wicklung erfahren. Die gewaltige Eigenentwicklung des striären Apparates bei den
Walen stellt eine besondere Anpassung an die besonderen Lebensbedingungen dieser
Tiere dar, ist also als funktionell bedingt anzuschen. Die Autoren werfen die Frage
auf, ob diese sehr weitgehenden üÜbereinstimmungen bzw. Ähnlichkeiten zufällige
sind oder einer gemeinsamen Ursache entstammen. Sie entscheiden sich für letztere
Eventualität, da einerseits im beschriebenen Mißbildungsfalle der große Vorderhirndefekt
verantwortlich zu machen sei für die anatomischen und funktionellen (siehe die kli-
nischen Daten: Ersatzleistungen der Stammganglien und anderseits bei den Walen das
Großhirn —- ohne natürlich „defekt“ zu sein -— einen grundsätzlich anderen, minder-
wertigeren Bau habe als alle anderen Säuger (nachgewiesen von Riese‘, wodurch die
mächtige Eigenentwicklung der Stammeanglien dieser Tiere ebenfalls als eine kompen-
satorische Leistung aufgefaßt werden müsse. Was den Zeitpunkt der Ausbildung solcher
„auxiliärer Einheiten” (im Sinne von C. und O. Vogt) betreffe, so komme hiefür vor
allem die Periode der Plastizität des fötalen und infantilen Gehirns in Betracht.
In der Beobachtung von Goldstein und Riese handelt es sich offenbar um
einen ganz leichten Grad von Arhinenzephalie, etwa der letzten Kundratschen
Form der Arhinenzephalie entsprechend.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 333
Große Ähnlichkeit mit dem letztmitgeteilten Fall von Goldstein und Riese
— zum Teil auch mit der Beobachtung Rieses ex 1921 — hat nachfolgender Fall
von E. Gamper.
1924/1926, E. Gamper (Neurologische Universitätsklinik Innsbruck und deutsche
Forschungsanstalt für Psychiatrie in München): 3 Monate altes Mädchen, durch
eine Woche genau klinisch beobachtet, gestorben an Broncho-Pneumonie. Gamper
klassifiziert seine Beobachtung als Arhinenzephalie mit Encephalocele frontalis bei
normaler Bildung des Nasenapparates und trigonozephaler Schädelformation und faßt
wegen der bestehenden Enzephalozele seine Beobachtung als Übergangsform (im Sinne
von Ernst) von der Akranie über Spaltbildungen geringeren Umfanges zur typischen
Arhinenzephalie auf.
Zwei Augen, Nase und Mund wohlgebildet; normale Stirnwölbung wird ver-
mißt, unmittelbar oberhalb der Augen weicht die Schädelkontur flach nach hinten,
in der Gegend der Glabella unmittelbar oberhalb der Nasenwurzel sitzt eine sack-
artige Geschwulst, die an der Leiche glatt kollabiert ist, während sie im Leben zeit-
weise prall gefüllt vorsprang. Durch den Geschwulstsack hindurch tastet der Finger
eine Knochenlücke, in welcher gerade die Kuppe des kleinen Fingers Platz hat.
Bei der klinischen Untersuchung konnte festgestellt werden, daß das Kind
offenbar blind ist, Lichtreize lösen keinerlei Reaktion aus. Gehörvermögen wahr-
scheinlich vorhanden. Geruchsvermögen fehlt. Allgemeine Berührungsempfindlichkeit
ziemlich schlecht, Temperatursinn ziemlich gut ausgebildet, Geschmacksinn vorhanden.
Auf Kopfdrehungen typische tonische Halsreflexe. Tonische Labyrinthreflexe feststell-
bar. Ferner ein Labyrinthstellreflex auf den Kopf, ein Körperstellreflex auf den Kopf
und ein Halsstellreflex. Labyrinthdrehreaktionen positiv. Saugbewegungen im großen
ganzen vorhanden, Berührungssaugautomatismus (Gamper) nachweisbar.
Sämtliche Knochen des Gesichtes sowie des Schädels sind angelegt. Schläfen-
schuppe klein, auffallend dick, Siebbein normal, die Lamina cribr. jedoch vorne mangel-
haft angelegt. Beträchtliche Abweichungen am Keilbein, Körper desselben im queren
Durchmesser relativ schmal, sonst ziemlich derb, massig. Kleine Keilbein-
flügel plump, erreichen mit ihren Seitenteilen nicht annähernd die großen Flügel.
Sella gut ausgebildet. Der in seinem Querschnitt typisch trigonozephale Schädel
erscheint durch das Tentorium, das beiderseits abnormerweise in der mittleren
Schädelgrube ansetzt, in einen kleineren vorderen und einen geräumigeren hinteren
Abschnitt abgeteilt. Im vorderen Schädelbereich liegt ein niederes, in der Ober-
ansicht stumpf-dreieckiges Gebilde, welches nach vorne zu allmählich schmäler
wird und durch die im Stirnbereich befindliche Knochenlücke in die an der Stim
sitzende sackartige Vorwölbung überzutreten scheint. Die Verbindung zwischen der
im vorderen Schädelbereich liegenden Formation und den Gebilden der "hinteren
Schädelerube wird durch eine in der Öffnung des Tentorium gelegene walzenförmige
weiße Masse hergestellt, welche offenbar dem Mittelhirn entspricht. Wegen Ver-
wachsungen am vorderen Pol des Zentralorgans bzw. zwischen Sackwand und
basaler Dura muß zur Auslösung des Gehirns aus dem Schädel ein besonderer
Weg eingeschlagen werden (allmähliches Vorgehen von rückwärts nach vorne).
Die Knochen der Schädelbasis erscheinen im Bereich der vorderen und mittleren
Schädelgrube gegen die Norm verkleinert, dabei derb und massig, ihre Nähte sind
frühzeitig verknöchert. Die vordere und mittlere Schädelgrube ist dadurch flach
und eng gestaltet. Infolge einer verstärkten Drehung des Os tribasilare erscheint
die Schädelbasis kyphotisch abgeknickt, wobei der höchste Punkt der Kyphose durch
die nach oben gedrängte Pars anterior des Keilbeinkörpers dargestellt wird. Infolge
Fehlens der Falx und Verschiebung des Tentorium nach vorne ist die Schädelhöhle
in zwei ungleiche Anteile geschieden, von welchen der hintere geräumigere aus
einem Teil der mittleren und der ganzen hinteren Schädelgrube besteht, wogegen
der vordere Anteil nieder und schmal ist.
Hirn: Die schwersten Veränderungen finden sich im Bereiche des Tel- und Di-
enzephalon, welch letztere überdies im Verhältnis zur Schädelbasis eine topische Ver-
334 Dr. Walter Stupka.
schiebung nach vorne erlitten haben. In den auf den vorderen Thalamuspol folgenden
Querebenen stellt sich das Zentralorgan als eine von dichten Plexusmassen erfüllte
Blase dar, deren dorsale Wandanteile die Fortsetzung der dünnen epithelialen Decke
des dritten Ventrikels darstellen. Die Grenze zwischen Zwischen- und Endhirn ist
durch eine Einfaltungsstelle markiert, wobei es sich um diejenige Gegend handelt,
wo normalerweise der Plexus choroid. des ' dritten Ventrikels im Bereiche des
Telenzephalon medium zum Plexus chorioid. der Seitenventrikel umbiegt. Das Endhirn
stellt sich als ein dürftiges, von einem einheitlichen Hohlraum durchsetztes Gebilde
dar, dessen Wandungen aus kleinen und größeren Knoten, die durch Bindegewebs-
züge gegeneinander abgegrenzt sind, aufgebaut sind. Bei diesen Knoten handelt
es sich um heterotope Bildungen, es sind Nester aus grauer Substanz, die vorwiegend
aus gliösen Elementen zusammengesetzt sind. Diesem primitiven Endhirn fehlt in
seinem vorderen Anteil die normale Umhüllung mit typischen Häuten. Die Dura geht
ohne scharfe Grenze in die Cutis des Hautsackes über, die weichen Hirnhäute fließen
mit dem subkutanen Bindegewebe des Prolapssackes zusammen. Im vorderen Anteil
der Hirnbasis liegen atypische Gefäßverhältnisse vor, der Circ. arterios. ist nicht
geschlossen.
Rückenmark etwas kleiner als normal. Eigenapparat ausgezeichnet entwickelt.
Kernsäulen der Vorderhörner trotz Fehlens der Pyramidenbahn normal angelegt. Die
Hinterstrangsysteme sind gut entwickelt. In den Seitensträngen lassen sich die spino-
zerebellaren Bahnen vom 6. Dors. Segm. an, die Helwegsche Dreikantbahn vom 3. Cerv.
Segm. an aufwärts gut verfolgen. Am Übergang zur Med. obl. tritt infolge des Fehlens
der Pyramidenkreuzung die sogenannte 3. Kreuzung (Pfeiffer) sehr deutlich hervor.
Der Eigenapparat der Medulla oblongata ist in typischer Weise angelegt. Das olivo-
zerebellare System ist auffallend mächtig entwickelt. Im Pons fehlen sämtliche longitu-
dinal verlaufenden Fasersysteme. Die Brückenganglien sind dagegen vorhanden und
stehen in Beziehung zu Markfasern, die zum Teil in den mittleren Brückenarmen
gegen das Kleinhirn, zum Teil in die Brückenraphe und in ihr gegen die Haube ver-
folgbar sind. Der Haubenanteil der Ponsregion zeigt normale Verhältnisse. Das Klein-
hirn in allen Teilen gut angelegt, Markreifung jedoch nur teilweise eingetreten, die
basalen Anteile des Hemisphärenmarks entsprechend der mangelhaften Entwicklung
der ponto-zerebellaren Faserung gelichtet. Im Mittelhirn fehlt der Fußanteil vollständig,
auch von den beiden Zonen der Substantia nigra ist so gut wie nichts vorhanden.
Die Mittelhirnhaube enthält die typischen Kerngruppen und Fasersysteme, unter
anderem sind sowohl die dorsale Meynertsche als auch die ventrale Forelsche
Haubenkreuzung in typischer Weise vorhanden. In den vorderen Vierhügeln fehlt das
Strat. opticum, die Arme des vorderen und hinteren Vierhügels sind nicht vorhanden.
Rote Kerne mächtig entwickelt, von einem kräftigen Markviteß umgeben, aus welchem
in den frontalen Anteilen der Kerne Faserzüge in wirbelartiger Anordnung in das
Kerninnere einstrahlen. Die Fasern des Vließes bzw. Kernes entstammen zum Teil
dem Bindearmsystem, andererseits nimmt die zentrale Haubenbahn vom roten Kern
ihren Ausgangspunkt, was aus der Verfolgung der Markfaserserie zweifelsfrei hervor-
gehe. Hintere Kommissur faserärmer als normal. Kern der hinteren Kommissur und
Nucleus dorsalis tegmenti an typischer Stelle vorhanden. — Im Bereiche des Zwischen-
hirns gestalten sich die Verhältnisse durchaus abnorm. Die Thalami, vorwiegend aus
gliösem Gewebe aufgebaut, enthalten fast nur in den medialen Anteilen große, gut
differenzierte Nervenzellen, welche zu größeren oder kleineren Gruppen angeordnet
sind. Eine Identifizierung mit den normalen Thalamuskernen ist nicht möglich. Pulvinar,
corp. genic. und Gangl. habenulae fehlen. Im Hypothalamus ist beiderseits ein
Gebilde nachweisbar, das möglicherweise als rudimentäres corp. Luys angesprochen
werden darf. Corp. mammill. ganz rudimentäre Bildungen aus gliösem Gewebe; ebenso
stellt das Tuber cinereum eine Anhäufung vorwiegend gliöser Elemente dar, in das
nur spärliche Nervenzellen eingelagert sind. Globus pallid. fehlt völlie. Die spärlich im
Zwischenhirngebiet darstellbaren Markfaserzüge lassen keine Zusammenfassung zu
geordneten Bündeln und Systemen, die mit den normalen Thalamussystemen ver-
Uber die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 335
gleichbar wären, erkennen. Der Fasc. retroflex. Meynert und der Tract. thalamo-
mammill. fehlen. Neurohypophyse und Epiphyse lassen, abgesehen von ihrer Gesamt-
verlagerung, keine nennenswerten Entwicklungsstörungen erkennen. Irgend eine
Markfaserverbindung des Endhirns mit den distalen Abschnitten des
Zentralorgans läßt sich nirgends nachweisen. Die Nn. olfact. fehlen
mit dem gesamten Riechhirn. Optisches System: Die Ganglienzellen- und Nerven-
faserschicht der Retina ist mangelhaft differenziert. In den Nn. optici finden sich
nur spärliche Markfasern, die im Chiasma eine teilweise Kreuzung eingehen und sich
dann weiterhin in dem Strang, der das Chiasma und die Neurohypophyse mit dem
Zwischenhirn verbindet und offenbar das ausgezogene Infundibulum und die An-
lage des Tract. opticus darstellt, verlieren. Das Corp. genic. laterale fehlt. Der optische
Apparat steht also in keiner kontinuierlichen Faserverbindung mit optischen Zentren.
Es liegt also eine Fehlbildung des Zentralorgans vor, welche sich auf die Abkömmlinge
des primären Vorderhirns erstreckt und ihrer Intensität nach das Endhirn stärker in
Mitleidenschaft zieht als das Zwischenhirn. Unter Verwertung der Fischelschen
Auffassungen nimmt Gamper bezüglich der formalen Genese der beschriebenen Miß-
bildung einen primären Defekt in dem für die Anlage des Endhirns bestimmten Zell-
areale an. Infolge dieses Defektes unterblieb «die Entwicklung der Hemisphären-
blasen, des Riechhirns und der Kommissurensysteme und die Differenzierung der
vorhandenen nervösen Elemente erreichte nur eine niedrige Stufe. Die Schädigung
erstreckte sich natürlich auch auf das Mesoderm in der Umgebung des dorso-
frontalen Endes des Medullarohres, wodurch die normale Sunderung des Mesoderms
an zirkumskripter Stelle (Bruchpforte) ausblieb. Die sonst scharfen Grenzen zwischen
nervöseın Gewebe und Mesoderm wurden durch das Einwuchern von Bindegewebe
in das mißbildete Endhirn verwischt. Dagegen weist die Epidermis ihre kontinuier-
liche Einheitlichkeit ohne Lückenbildung auf. Ob die Anomalien im Zwischenhirn
dieselbe Begründung haben wie die Anomalien des Endhirns (Auffassung von Fischel),
läßt Gamper unentschieden, weist auf die Möglichkeit hin, daß eine mangelhafte
Entwicklung des Endhirns an und für sich schon infolge des Ausfalls der systema-
tischen Beziehungen die Differenzierung des Zwischenhirns beeinträchtigen könnte.
Allerdings könne darüber kein Zweifel sein, daß die heterotopen Knötchen im
Zwischenhirn auf die primären Schädigungen zurückzuführen sind. Durch die innige
Verbindung des defekten Endhirns mit dem umgebenden Mesoderm kam es zur Aus-
bildung eines von vorne her wirkenden Zuges. welcher am Zwischenhirn, Mittelhirn
und Hinterhirn bestimmte Verziehungen herbeiführte. Durch Druckwirkung von innen
heraus kam es dann zu einer herniösen Ausstülpung des Endhirns, zur Enzephalozele,
deren Bruchpforte im Defekt der Stirnbeine gegeben war, welch letzterer sich wieder
als die Folge der primären Störung in der Differenzierung des Mesoderms darstellt.
Was die kausale Genese der Mißbildung anbelangt, so erscheint es Gamper am wahr-
scheinlichsten, die im Rausch erfolgte Zeugung durch einen chronischen Alkoholiker
(also Blastophthorie im Sinne von Forel) hiefür verantwortlich zu machen. Den an
den Nebennieren und am Genitalapparat erhobenen Befund einer deutlichen Hyper-
plasie verwertet Gamper in Übereinstimmung mit Brun dahin, daß die Mißbildung
des Gehirns nicht auf eine lokale Ursache zurückgeführt werden könne, sondern
als allerdings hervorstechendste Teilerscheinung einer Entwicklungsstörung allgemeiner
Natur, welche die gesamte Embryonalanlage betroffen habe, aufrefaßt werden müsse.
Gamper gibt zum Schluß einen Überblick über die mutmaßlich funktions-
tüchligen Abschnitte des Zentralnervensystems: Man könne sagen, daß das Endhirn
als irgendwie funktionstüchtiger und die Entwicklung anderer Hirnteile beeinflussen-
der Bestandteil des Zentralorgans gar nicht in Betracht kam, also praktisch fehlte.
Dadurch kamen alle von und zum Cortex, von und zum Striatum ziehenden Faser-
systeme in Wegfall. Wichtig ist die Frage nach der Rückwirkung des Endhirndefektes
auf die verschiedenen Kerngebiete und Fasersysteme der tieferen Abschnitte, soweit
in letzteren sich nicht auch die primäre Noxe selbst noch auswirkt. Gestützt auf
Untersuchungen v. Monakows, ist Gamper der Ansicht. daß man auch für seinen
336 Dr. Walter Stupka.
Fall die Möglichkeit nicht abweisen könne, daß die mangelhafte Entwicklung des
Thalamus und die starke Reduktion, die das System der medialen Schleife bei seinem
Übertritt in das dienzephale Gebiet erfährt, sowie das Fehlen der Einstrahlung von
Bindearmfasern in den Thalamus mit dem Wegfall der Hemisphären in Beziehung zu
bringen sei. Dagegen komme für das völlige Fehlen des Pallidum ein derartiger Zu-
sammenhang wohl nicht in Betracht. Der Defekt des letzteren müsse auf einen durch
die kausale Noxe bedingten Mangel an Bildungszellen der Zwischenhirnanlage zurück-
geführt werden. Völlig verständlich sei das Fehlen der inneren und äußeren Kniehöcker.
Nach Monakow und Minkowski führt Exstirpation des Hinterhaupt-, bzw. Schläfen-
lappens zu einer vollkommenen Degeneration der corp. geniculata und so sei der
Mangel dieser Gebilde im mitgeteilten Falle, in welchem die kortikalen Felder fehlen,
nichts Verwunderliches. Dazu komme für den äußeren Kniehöcker, daß die Traktusfasern
infolge der mechanischen Verzerrung an der Basis des Zwischenhirns den Kniehöcker
überhaupt nicht erreichten, so daß er also von beiden Seiten her gleichsam isoliert
war. Der besonders mächtig ausgebildete rote Kern entbehrte der normalen Verbin-
dungen mit dem Kortex ebenso wie der Zusammenhänge mit den Stammganglien. Da im
mitgeteilten Falle das Bindearmsystem nicht wie normalerweise am roten Kern vorbei
in frontalere Gebiete zog, sondern in ihm endete, so dürfte wohl damit die starke Ent-
faltung des roten Kernes zusammenhängen. Die Konzentration des ganzen Bindearm-
fasersystems auf den roten Kern wurde dadurch ermöglicht, daß die normalerweise
frontal vom roten Kern liegenden Endstätten der Bindearmfasern gar nicht zur Ent-
wicklung kamen und daher auch nicht riehtunggebend auf das Auswachsen der Binde-
armfasern wirken konnten. Der rote Kern ließ im mitgeteilten Falle noch eine zweite
wichtige Faserbeziehung erkennen: Die Verfolgung der Markfaserserie lasse keinen
Zweifel, daß die zentrale Haubenbahn im roten Kern ihren Ursprung nehme. Wenn nicht
im ganzen Umfange, so doch in ihrem Hauptanteile sei die zentrale Haubenbahn sonach
eine rubro-oliväre Bahn. Da im mitgeteilten Falle das hintere Längsbündel trotz Fehlens
des Striopallidum gut entwickelt war, so gehe daraus hervor, daß das System des
hinteren Längsbündels anatomisch unabhängig vom Pallidum sei. Entsprechend ex-
perimentellen Ergebnissen möchte Gamper das völlige Fehlen der Substantia nigra
mit dem Striatummangel in Zusammenhang bringen. Das Fehlen des Strat. optic. im
vorderen Vierhügel sei aus der Unterbrechung der optischen Faserung innerhalb des
mechanisch verzerrten Tract. optic. völlig begreiflich. Ebenso finde die ganz rudimen-
täre Anlage des Corp. parabigeminum sowie des hinteren Vierhügelarms in dem Mangel
der kortikalen Endstätten für die akustische Strahlung ihre hinreichende Erklärung.
Die Einstrahlung der lateralen Schleife in den hinteren Vierhügel erfolge dagegen in
typischer Weise, so daß also die Möglichkeit des subkortikalen Wirksamwerdens aku-
stischer Reize gegeben war. Abgesehen von den besprochenen Abweichungen ist das
Mittelhirn völlig normal aufgebaut, alle Systeme. deren Ursprung und Ende innerhalb
der Strecke vom roten Kern bis zum Konus liegen, sind entwickelt. Die selbständige
Entwicklung der pontozerebellaren Faserung nötige zur Annahme, daß den Ponsganglien
eine gewisse Automatie in der Entwicklung zukomme, auch wenn die Verbindung mit
den kortikopontinen Systemen fehle Fehle das Endhirn von vornherein, wie dies
Gamper für seinen Fall annimmt. so vollziehe sieh die Entwicklung des Kleinhirns
auch in seinen neozerebellaren Anteilen unabhängig in eigener Dynamik. Trotz der
sehr geringen Markfaserreife in dem sonst ausgezeichnet entwickelten Kleinhirn möchte
Gamper nicht glauben, daß das Kleinhirn gänzlich funktionslos gewesen, vielmehr
schreibt er ihm wenigstens eine „Rohleistung” zu. Daß völlig normal gebildete graue
Vordersäulen im Rückenmark bei völligem Fehlen der Pyramiden möglich seien, gehe
aus seiner Beobachtung mit aller wünschenwerten Klarheit hervor. Die gute Entwicklung
der Vorderhornganglienzellen hänge offenbar damit zusammen, daß diese Zellen mit
ihrem Axon den letzten gemeinsamen Weg darstellen, auf den nicht nur die Pyramiden-
bahn, sondern noch eine Reihe anderer Bahnen einwirken, ganz abgesehen von den An-
regungen. die sie durch die Reflexkollateralen empfangen. - -
Die genaue Untersuchung des Gamperschen Falles in klinischer, anatomischer
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 337
und histologischer Beziehung und die daran geknüpften Frörterungen lassen diese Mit-
teilung als ganz besonders wertvoll erscheinen. Als einziges nicht erfülltes Desideratum
bleibt nur die fehlende histologische Untersuchung der Nase übrig. —
Mikroskopisch-histologische Untersuchungen des Zentralnervensystems an
tierischen Zyklopen sind noch seltener. Ich konnte diesbezüglich nur die beiden
Beobachtungen von A. Banchi auffinden: 1. Neugeborener zyklopischer Hund mit
kanalisiertem Rüssel und darin enthaltenen rudiment. Siebbeinmuscheln und rudimen-
tärem Jacobsonschen Organ. Unpaares Vorderhirn mit größerem Hohlraum, Lobi olfac-
torii fehlen; Tract. olfactorii, aus den Hemisphären entstehend, vorhanden, endigen vorne
wie abgerissen und entsenden Fasern, welche in den Rüssel eindringen. Gute Ausbildung
der Ammonsformation. Mikroskopisch: Fornix zum Teil vorhanden, auch ein c. callos.,
Psalterium dorsale und ventrale (Kommissur zwischen den Fimbrien), Alveus, Fimbriae
und Fasc. dentata: caps. int. angedeutet, ganz an die Basis neben die Stammganglien
gerückt, ohne Kreuzung. 3. Ventrikel kommuniziert breit mit dem ersten. Pallium mit
Ausnahme der Ammonsformation gehemmt. Übrige Hirnabschnitte annähernd normal. - -
2. 2 Tage altes zyklopisches Lamm mit kanalisiertem, durch ein Septum zum Teil
in 2 Teile geschiedenen Rüssel, einem stark reduzierten Siebbeinlabyrinth (?) und
medianem, in der vorderen Schädelgrube gelegenen Foramen für den Durchtritt von
Fasern aus dem unpaaren Tract. olfactorius. Lob. olf. fehlt. Die rückwärtigen Wurzeln
des unpaaren Tract. olf. werden von zwei weißen Faserbündeln dargestellt, welche bis
zur Spitze der Hippocampuswindungen ziehen und sich dort verlieren. Ammonsforma-
tion gut erkennbar, nicht komplett spiralförmig eingerollt, Fasc. dentata bleibt un-
eingerollt auf dem Hippocampus. Fornix fehlt, die Fimbrien verlaufen unabhängig von
einander bis zur Region des Infundibulum und von da zu den cc. mammillaria. Trotz
völliger Einheitlichkeit des Gehirns (mit einheitlichem Hohlraum) sind vorhanden: ein
rudimentäres c. callos., ein Psalterium dorsale und eine Coınmissura anterior, dagegen
fehlt das Psalterium ventrale. -— Einfaches Foramen opticum, einfacher N. optic. mit
zwei dicht nebeneinander liegenden Augen.
Besonderem Interesse bezüglich Beschaffenheit und Aufbau des Zentralnerven-
systems begegnen begreiflicherweise die außerordentlich seltenen Beobach-
tungen an zyklopischen und arhinenzephalen Embryonen, welche, da sie
Frühstadien zeigen, natürlich sehr geeignet sind, unseren Einblick in das Wesen dieser
Mißbildungen zu fördern. *)
1924, L. Castaldi (Anatomisches Institut Florenz): Genaue Beschreibung und
histologische Untersuchung (mit Abbildungen und Wachsplattenmodellen: eines sieben
bis acht Wochen alten menschlichen Embryos mit Rüsselbildung und Synophthalmia
diplophthalmica. Das Gehirn zeigte sich derart gefaltet, daß es nicht leicht zu sagen
war, ob das Prosenzephalon eine unpaare Blase dargestellt habe oder nieht. um so mehr
als das Gehirn einigermaßen beschädigt war. Alle diese gefalteten Wände des Embryos
waren einander überall fast gleich, d. h. sie stellten Hirnbläschen dar, welche rostro-
kaudal aufeinander folgten, ohne Kommissurensysteme aufzuweisen. Diese Faltung, welche
auch an der Retina aufgefunden wurde, stellt nach Castaldi einen ziemlich häufigen
Befund bei spontan abortierten Früchten dar und es sei den Embryologen bekannt,
daß äußerlich völlig normal aussehende Embryonen sich häufig für das Studium des
Zentralnervensystems eben wegen jener Faltungen als unbrauchbar erweisen, Ver-
änderungen, welche sicherlich nicht postmortale sind und sich besonders häufig bei
atrophischen und mißbildeten Embryonen vorfinden. Die gefaltete Hirnwand bestand aus
einer blassen retikulären Masse, welche dicht aneinanderliegende, intensiv gefärbte,
aber nicht pyknotische Kerne in der Mantelschicht, noch mehr aber in der inneren
Keimschicht enthielt. Aus jener Wand kamen Nerven hervor, welche sich eine Strecke
weit verfolgen ließen und von welchen anscheinend einige die Orbita erreichten.
* Die Beobachtung von O. Leser an einem 6 mm langen Embryo und vier hieher-
gehörige ältere Embryonen von F. P. Mall kommen zum Teil wegen ihres schlechten
Erhaltungszustandes hier nicht wesentlich in Betracht.
338 Dr. Walter Stupka.
Castaldi beschränkt sich darauf, anzugeben, daß die zweiten und dritten Äste des
Trigeminus und die Nerven VII bis XII normal befunden wurden. Die Hypophyse war
gut ausgebildet (namentlich in ihrem Vorderlappen), aber etwas asymmetrisch. Was die
Genese der Faltungsbildung des Neuralrohres anlangt, so gibt Castaldi eine Übersicht
der bisherigen Ansichten: Soboleff und C. Giacomini machen hiefür die lebhafte
Proliferation derjenigen nervösen Elemente verantwortlich, welche den Untergang der
anderen überdauern. Bertacchini erklärte die Faltung mit ungleichem Wachstum
der Wände intra vitam, dagegen erblickt Bruni das Charakteristikum des gefalteten
Neuralrohres in der fast überall gleichen Wandstärke (so wie dies auch im Falle von
Castaldi zu sehen war), hervorgerufen durch ein allerorts gleichmäßiges Wachs-
tum des Neuralrohres, wodurch es zu einer Faltung kommen müsse, da der
Raum zur Aufnahme desselben nicht mehr hinreiche.
1930, G. Politzer (Embryologisches Institut Wien, Prof. Fischel): Genaue histo-
logische Untersuchung des Vorderkopfes eines arhinenzephalen menschlichen
Embryos von 7” mm größter Länge, unter Abbildung von Schnitten und Platten-
rekonstruktionsmodellen. Ein Vergleich mit etwa gleichalterigen normalen Embryonen
lehrt, daß die Riechgruben des mißbildeten Embryos weit näher der Mediansagittal-
ebene liegen als dies normalerweise der Fall ist. Der zwischen den beiden Riechgruben
liegende mittlere Stirn- oder Nasenfortsatz ist im beschriebenen mißbildeten Embryo
abnerm schmal. Es zeigt sich ferner, daß in der area triangularis des mittleren Stirn-
fortsatzes eine schmale tiefe mediane Längsfurche zu sehen ist, welche am Modell
eines normalen Embryos (von Peter) nicht erkennbar ist. Am Grunde dieser Furche
liegt das Oberflächenektoderm an einer Stelle der Hirnwand an. Im Gegensatz zu dem
Verhalten des Gehirns an anderen Stellen ist also das Gehirn im Bereiche der geschil-
derten Furche an einer Stelle nicht von embryonalem Bindegewebe umgeben. Die Seiten-
wand des Endhirns im mißbildeten Embryo ist vorwiegend auf der rechten Seite ab-
geflacht, die Augenbecherstiele verlaufen in abnormer Richtung, sie weichen an ihrem
medialen Ende rostralwärts ab. Statt kielförmig vorzuspringen, ist der mediane Teil
der Wand des Endhirns eingesunken und bildet eine tiefe Furche, welche ihrer Lage
nach mit der Furche im Bereiche der area triangularis des mittleren Stirnfortsatzes
korrespondiert. Die Augenbecher des mißbildeten Embryo liegen ferner asymmetrisch.
Auch der Kopf ist asymmetrisch: Die Furchen und Gesichtsfortsätze sind auf der linken
Seite besser ausgebildet als auf der rechten. Nach Politzer liegt hier eine Entwick-
lungsstörung des Endhirns, und zwar vor allem im Bereiche des präsumptiven Riech-
hirns vor (Arhinenzephalie). Die Fälle von Arhinenzephalie sind auf eine Defekt-
bildung zurückzuführen, welche die das rostrale Ende der Hirnplatte einnehmende End-
hirnanlage in deren medianem Abschnitte betrifft. Dieser Defekt greift nicht auf die
Anlage des Augenbechers und des übrigen Zwischenhirns über, erstreckt sich hingegen
auf das an das rostrale Ende der Hirnplatte anschließende Oberflächenektoderm, und
zwar auf den zwischen den beiden Riechplatten gelegenen medianen Bereich, welcher
später den mittleren Stirnfortsatz bildet. Die Furche in der Area triangularis des miß-
bildeten Embryo entspricht ihrer Form und der Beschaffenheit des Epithels nach dem
Sulcus neuropori anterioris, wie ihn Sternberg bei Embryonen mit 28 Urwirbelpaaren
beschrieben hat. Dieser Suleus an der Stelle des Verschlusses des Neuroporus anterior
liegt also bei dem mißbildeten Embryo tatsächlich dort, wo ihn Sternberg vermutete,
nämlich in der Mitte der Area triangularis. Bezüglich der Ortsbestimmung der Ver-
schlußstelle des Neuroporus anterior konnte Politzer zeigen, daß die abnorme
Furche des Endhirns bereits im Gebiete der Kommissurenplatte liegt. Für
die formale Genese der geschilderten Fehlbildung ergibt sich daraus, daß der Ver-
schluß des Neuroporus anterior in unvollkommener Weise und vermutlich verspätet
erfolgt ist, so daß, wie sonst nur bei Embryonen mit etwa 28 Urwirbelpaaren, ein.
Sulcus neuropori anterioris vorhanden ist und daß das Oberflächenektoderm und die
Hirnwand einander an dieser Stelle berühren. Die Asymmetrie des Kopfes und die
ein wenig geringere Ausbildung der Fortsätze und Furchen der rechten Gesichtshälfte
sei vermutlich dadurch entstanden, daß dem Embryo durch die Enge des Amnions eine
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 339
besonders starke Krümmung aufgezwungen worden sei, wodurch die rechte hintere
Gliedmasse in die Nähe der linken Gesichtsseite gelangte und hier die Abplattung der
Gesichtsfortsätze herbeiführte, bzw. deren normale Ausbildung behinderte. Es liegen
also drei Fehlbildungen vor: Arhinenzephalie, Störung des Verschlusses des
Neuroporus anterior und Asymmetrie des Gesichtes. Die Frage, ob diese
Fehlbildungen syngenetisch oder akzidentell sind, wird nach Zergliederung des ersteren
Begriffes in „formalsyngenetisch“ und „kausalsyngenetisch" folgendermaßen beant-
wortet: Der Umstand, daß die Arhinenzephalie und die Mißbildung des vorderen Neuro-
porus die gleiche teratogenetische Terminationsperiode (Entwicklungsstufe von Embryonen
mit 30 Urwirbelpaaren) besitzen, weist darauf hin, daß diese beiden Fehlbildungen
zum mindesten kausalsyngenetisch sind. Da nun die Bildungsstätte der Kommissuren-
platte und des Riechhirns in der noch offenen Hirnplatte zweifellos dicht beieinander-
liegen, ist es jedoch auch wahrscheinlich, daß bei Fehlbildungen des Riechhirns oder der
Kommissurenplatte benachbarte Hirnabschnitte zwangsläufig mitbetroffen werden. Es
wäre also auch möglich, daß die beiden Fehlbildungen nicht nur kausal-, sondern auch
formalsyngenetisch sind. Die Asymmetrie des Gesichtes sei dagegen als akzidentell zu
betrachten.
Aus dieser orientierenden Literaturübersicht geht hervor, daß die Anzahl
der mikroskopisch untersuchten Gehirne von Zyklopen und Arhinenzephalen relativ
sehr klein ist und daß diese Untersuchungen sich nicht in allen Fällen auf alle Abschnitte
des Zentralnervensystems erstreckten, namentlich sich nicht immer genügend eingehend
mit den am meisten mißbildeten Bezirken des Tel- und des Dienzephalon befaßten.
Letzeres hatte vielleicht zum Teil im mangelhaften Erhaltungszustand mancher Objekte
seinen Grund. Überdies mag die ungenügende Markreife in vielen Fällen (es handelte
sich nicht immer um neugeborene oder einige Zeit am Leben erhaltene Säuglinge, son-
dern zum Teil auch um Feten) die Schwierigkeiten der Orientierung und Entwirrung
noch besonders erhöht haben. Schon aus diesen Gründen allein dürfte jede weitere Mit-
teilung über den Bau zyklopischer Gehirne gerechtfertigt sein, namentlich aber dann,
wenn es sich um gut konservierte, markreife Objekte von Individuen handelt,
welehe nicht unmittelbar post part. ad exitum kamen. Letzteres dürfte auch bei dem
nunmehr zu schildernden Objekte der Fall gewesen sein. Das Präparat — Kopf einer
zyklopischen rüssellosen Ziege mit Gehirn —, welches aus dem Privatbesitze
des Herrn Prof. Georg B. Gruber, derzeit Direktors des path.-anatomischen Instituts der
Universität in Göttingen (früher in gleicher Stellung in Innsbruck) stammt, wurde mir
mit anderen ähnlichen Objekten vornehmlich zur Untersuchung des gleichzeitig mit ver-
bildeten Nasenapparates überlassen, wofür ich Herrn Prof. Gruber auch an diesem
Orte meinen ganz besonderen Dank ausspreche. Der Umstand, daß die zyklopische
Ziege (resp. deren Kopf) von einem Aufsichtsorgan eines Marktamtes Herrn Prof.
Gruber übergehen wurde und daß dies zur Zeit geschah, als die jungen Zickehen
geschlachtet auf den Markt zu kommen pflegen, läßt es Prof. Gruber sehr wahrschein-
lich erscheinen, daß es sich nicht um ein neugehorenes, sondern um ein einige Zeit
am Leben erhaltenes Tier gehandelt haben dürfte. Dafür spricht auch die relativ weit
fortgeschrittene Markreife des Objekts (siehe später).
Bei der im folgenden gegebenen makroskopischen und mikroskopischen
Beschreibung des Ziegenzyklops wurde nun insbesondere auf folgende Punkte Ge-
wicht gelegt:
1. Genaue Untersuchung des Zentralnervensystems an Serienschnitten
vom Ende der med. oblongata (hier endete das Objekt) aufwärts bis zum vorderen
Ende des Telenzephalon inklusive des mit dem Gehirn in Zusammen-
hang gelassenen Zyklopenauges. Bislang wurden niemals Zyklopenhirn und
Zyklopenauge in natürlichem Zusammenhang untersucht, die beiden Organe
vielmehr voneinander getrennt, was begreiflicherweise Irrtümern Vorschub leisten kann.
Zumeist wurde übrigens entweder nur das Gehirn oder nur das Auge untersucht.
2. Wurde überdies der Nasenschnauzenapparat an Serienschnitten, an-
gefangen von der rüsselförmige nach aufwärts gedrehten Oberlippenspitze bis inkl. Sella
340 Dr. Walter Stupka.
turcica-Gegend untersucht. Dies geschah ebenfalls erstmalig, da in Fällen von Zyklopie
mit Rüssel wohl gelegentlich der Rüssel untersucht wurde, aber in solchen ohne
Rüssel, bei anscheinend völligen Mangel der Nasenanlage eine Durchforschung
der hiefür in Betracht kommenden Gewebspartien nach eventuellen Spuren resp. Resten
der Nasenanlage bisher gänzlich unterlassen worden war. Es sei gleich hier vorweg
genommen, daß auch in diesem Punkte die Untersuchung ein überraschendes Ergebnis
zutage förderte (siehe später).
3. Es wurde getrachtet, einen möglichst guten Einblick in die Lagerung und Aus-
bildungshöhe sowohl der Kerne resp. Ganglienmassen des Zentralnervensystems
als auch der Fasersysteme und der Verknüpfung ersterer untereinander zu ge-
winnen, resp. eventuell vorhandene atypische Bündelbildungen und am nor-
malen Gehirn nicht vorkommende Kreuzungen von solchen festzustellen und
womöglich ihre Homologisierung mit entsprechenden Gebilden des normalen Gehirns
zur präzisieren oder dies wenigstens anzubahnen. Dabei wurde der Frage besonderes
Augenmerk zugewendet, ob vornehmlich oder ausschließlich die Rouxsche Selbst-
differenzierung aus dem übriggebliebenen Bildungsmaterial des Zentralnervensystems
hiebei ausschlaggebend gewesen (im Sinne von Naegeli-Monakow) oder ob vielmehr
ausschließlich oder vorwiegend eine abhängige Differenzierung der Faser- und Kern-
systeme von- und untereinander (im Sinne von Zingerle und von Gamper) anzu-
nehmen sei.
4. Interessierte besonders das Wesen und die Art des Zustandekommens der
blasenförmig aufgetriebenen Decke des Zwischenhirns und teilweise auch des
Telenzephalon, eine Erscheinung, welche in allen diesen Fällen mit ein typisches Merk-
mal darstellt.
5. Wurde besonderes Augenmerk dem Zustande des Riechhirns und der
Riechhirnstrahlung --- welche Zentren sind noch vorhanden. welche fehlen gänz-
lich? -- zugewendet und dies namentlich mit Rücksicht darauf, daß erst bei mikro-
skopischer Untersuchung geringfügige, aber deutliche Spuren eines Nasenrudiments, aller-
dings ohne jede Begleitung irgend welcher Nervenfasern (siehe später), gefunden wurden.
6. Ein gleiches galt den eventuell vorhandenen Verbindungen des Zyklopen-
auges, resp. dem Zustand und den Verbindungen der verschiedenen Etappen der
Sehstrahlung und der Sehrinde.
7. Sollte mit ein Beitrag zur Erkenntnis der Entstehung dieses Miß-
bildungstypus (formale und kausale Genese) gegeben werden unter Diskussion der
bislang vertretenen Ansichten — Stehenbleiben auf niedriger Entwicklungsstufe oder
vielmehr Endzustand nach Materialschädigung resp. -ausfall in sehr früher Embryonal-
zeit — Blastophthorie bzw. exogene Schädigung der sich bereits entwickelnden Keimes-
anlage oder ererbte und vererbbare, also präformierte Keimesanlage. - -
Die Ergebnisse der Untersuchung des Ziegenzyklops gruppieren sich
folgendermaßen:
Ziegenzyklops ohne Rüssel (vgl. Photogramme Abb. 1 und 2 und
Skizzen 1 und 2).
I. Makroskopische Beschreibung:
a) Kopf und Schädelsektion: Oberlippe rüsselartig zugespitzt und
nach aufwärts gebogen, Maul leicht geöffnet, die Zunge ragt vor, der Unter-
kiefer springt stärker vor (mindestens relativ im Vergleiche zum kleinen
Öberkiefer) und ist scheinbar größer als normal.
Eine äußere Nase fehlt. Oberhalb der Oberlippe findet sich eine vertiefte
Zone, dicht über letzterer die einfache Orbita mit dem Zyklopenauge:
Letzteres macht den Eindruck der Einfachbildung, wird von einem Oberlid
und zwei symmetrischen, in der Medianebene zusammenstoßenden Unter-
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 341
lidern eingefaßt und ist von dunklen dichten Haaren eingerahmt, wogegen
die übrige dichte Behaarung nahezu rein weiß ist. Am Scheitel und über
der Stirne je ein Haarwirbel. Schädel rundlich, Ohren normal.
Schädelsektion mit Herrn Prof. Gruber (4. Februar 1925):
Präparat in Formol konserviert.
Das Auge und die Mundöffnung werden umschnitten, behalten also je
einen schmalen Hautsaum, alles übrige wird abgebalgt. Unterkiefer springt
stärker vor und ist anscheinend größer als normal.
Beim Abbalgen kommt man auf einen 2-Schillingstück großen, medianen,
runden, glattrandigen Knochendefekt im Stirnbein, welcher sich nach
Abb. 1. Zyklopische Ziege.
unten bis zum Zyklopenauge erstreckt. Im Bereiche des Knochendefektes liegt
unter dem Unterhautzellgewebe die Dura frei.
Die annähernd normal gewölbte knöcherne Schädeldecke wird mit Schere
abgetragen, was nicht besonderen Schwierigkeiten begegnet. Die Dura ist
meist sehr adhärent, anscheinend zwischen ihr und den weichen Hirnhäuten
ist viel gelbliche, viszide Flüssigkeit angesammelt. Die Situation, welche sich
hierauf ergibt, erkennt man aus Skizze 1:
Das Kleinhirn ist von ebensolcher Dura (Tentorium) bedeckt, wie sie
dem Schädeldach innen anhaftet. Das Kleinhirn macht makroskopisch be-
trachtet einen normalen Eindruck. Das Gehirn wird allseits freigemacht,
dabei das rechte, im übrigen normal aussehende Felsenbein zum Teil zerstört.
Vorne unten, vom unpaarigen Hemisphärenhirn von Kastaniengröße,
kommt direkt das Zyklopenauge hervor. Letzteres, umsäumt von
342 Dr. Walter Stupka.
den Lidrändern, bleibt in Verbindung mit dem Hirnpräparat und
wird so konserviert. Hinter der unteren Zirkumferenz des Zyklopenauges,
also etwa an der Unterfläche des unpaarigen ‚„Hemisphären“-hirns findet
sich ein kurzer, hohler Stiel, ähnlich einem klaffenden Gefäßlumen, mit
sehr dünnen Wänden (vgl. Abb. 21). Die Situation, welche sich nach
Entfernung des Gehirns und des Zyklopenauges ergibt, erkennt man aus
Skizze 2:
Abb. 2. Kopf der zyklopischen Ziege.
Die vordere Schädelgrube ist eine flache Mulde und bildet das Bett
für das mißbildete Großhirn und das Dach der einfachen Orbita. Von
Ethmoidanteilen sieht und fühlt man nichts. Das Gewebe, welches
oberflächlich zutage liegt, ist ein lockeres, anscheinend Fettläppchen führendes
Bindegewebe, darunter dürften die beiden Oberkiefer miteinander ver-
schmolzen sein.
Der Unterkiefer wird hierauf exartikuliert und konserviert. Harter
Gaumen von normalem Aussehen. Der weiche Gaumen ist sagittal bis
sehr weit nach vorne geschlitzt.
Larynx normal, ebenso das (nicht lädierte) linke Felsenbein.
343
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege.
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sahen uoa "wnvayon]
23
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIIT. Bd., Heft 2.
344 Dr. Walter Stupka.
b) Gehirn des Ziegenzyklops (vgl. Abb. 3 und 4):
Bei Vergleich mit einem gehärteten Gehirn eines normalen jungen Tieres
zeigt sich, daß das verlängerte Mark, das Kleinhirn und die Ponsgegend an-
scheinend am Hirn des Zyklopen völlig normal gebildet sind. —
Nach vorne von der Ponsgegend zeigen sich dagegen wesentliche Ver-
änderungen:
Die Teilung der Art. basilaris ist noch deutlich zu sehen. Vor dem
Teilungswinkel, wo normalerweise die Hypophyse sich findet, sieht man
am Zyklopenhirn kein als Hypophyse ansprechbares Gebilde hängen. Die
Linkes Felsenbein
Hintere Schädelgrube
Dorsum sellae
Mittlere Schädelgrube
Vordere Schädelgrube
‚Lugenbett
Oberlippe
küsselartiges Vorderende
der Oberlippe
Zunge
Unterlippe
Skizze 2. Ansicht des Schädels von oben nach Entfernung des Gehirns mit dem Auge,
des Schädeldaches, eines Teiles des Hinterhaupt- und Schläfebeines.
Gegend vor dem Pons macht einen wesentlich dickeren Eindruck und
ist überdies an der dorsalen Seite stark erhaben, glatt, mit medianer Ein-
senkung, so daß bei Betrachtung von oben her die Mittelhirngegend wie aus
zwei nebeneinander gelagerten „oliven"-förmigen Knollen bestehend aus-
sieht. —
Nach vorne von der eben beschriebenen, „olivenförmig" gestalteten
Mittelhirngegend sieht man bei Betrachtung von oben her die Reste eines
häuligen Sackes (zyst. Hohlraum hinter dem Großhirn und über
dem Dienzephalon). Nach Zurückschlagen seiner Ränder sieht man von
oben her in die Öffnung eines Kanals hinein, welcher offenbar dem dritten
Ventrikel und dem Aquaeductus cerebri entspricht und an dessen hinterer
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 345
Begrenzung ein medianes, unpaares, ovales Anhangsgebilde inseriert, das
sich am ehesten mit dem corpus pineale vergleichen läßt. Dicht davor sieht
die Gegend wie die commiss. habenularum aus. Anscheinend sieht man also
auf den eröffneten und erweiterten dritten Ventrikel des Gehirns. Verfolgt
man die eben heschriebenen Räume nach vorwärts, so sieht man seitlich
vom Boden bds. eine Öffnung, in welche sich bds. Tela chorioidea-Gewebe
einsenkt. — Es handelt sich hier offenbar um das Foramen Monroi bds. mit
den daran anschließenden, nur im vorderen Anteil ausgebildeten Seiten-
ventrikeln. —
Abb. 3. Gehirn und Auge der zyklopischen Ziege. Die Lidränder wurden um-
schnitten und am Auge belassen. Ansicht von der linken Seite, natürliche Größe.
Das Großhirn hat die Größe einer großen Kastanie, ist median ver-
schmolzen, also unpaar, von annähernd glatter Oberfläche und zeigt nur
an seiner hinteren, offenbar dem Zystensack zugekehrten Fläche eine An-
deutung von Windungs- und Furchenbildung. -— Vorne liegt der unpaare Stirn-
hirnpol, von Dura bedeckt, dicht unter der äußeren Haut an einer Stelle, wo
der Knochen, wie früher beschrieben, eine 2-Schillingstück große Aussparung
zeigt. —
In der Gegend des Bodens des unpaaren Großhirns findet sich eine
anscheinend breite Verbindung mit dem Zyklopenauge, welch letzteres aber
ohne Läsion makroskopischer Untersuchung nicht zugänglich gemacht werden
kann. —
23*
346 Dr. Walter Stupka.
Was den Abgang der Hirnnerven anbelangt, so scheinen sämtliche
Hirnnerven bis auf folgende Ausnahmen intakt zu sein:
Die Abgänge der nerv. trochleares können nicht festgestellt werden; die
Bulbi olfact., die am normalen Vergleichsobjekt außerordentlich groß sind,
können nicht aufgefunden werden, sie scheinen völlig zu fehlen. — Über die
Beschaffenheit eines eventuell unpaaren Optikus läßt sich am makroskopischen
Präparat nichts Sicheres aussagen.*)
Abb. 4. Gleiches Objekt wie Abb. 3. Ansicht von vorne (natürliche Größe).
ll. Mikroskopische Beschreibung:
a) des Nasen-Schnauzenapparates. (Ein genaueres Eingehen auf
die histologischen Details soll hier vermieden werden, da diese Mißbildung
zusammen mit einigen anderen den Gegenstand einer späteren Mitteilung
bilden soll. Daher wird hier nur das zusammenfassende Ergebnis der an
frontal geführten Serienschnitten durchgeführten Untersuchung gegeben.)
Eine äußere Nase fehlte vollkommen, nicht einmal ein bei Zyklopie
* In der Literatur konnte ich zwei rein makroskopische Beschreibungen
von Zyklopie ohne Rüsselbildung bei Ziegen auffinden, welche der eben gegebe-
nen Beschreibung unseres Ziegenzyklops sehr ähnlich sind. Es handelt sich dabei: 1. um
eine Beobachtung von Josephy ex 1909 (siehe bei Schwalbe und Josephy, „Die
Zyklopie“, S. 207, Fig. 132 und S. 213/214, Fig. 135 und 136): Blasige Vorstülpung der
Zwischenhirndecke, Großhirn einfach, seine Windungen erheblich dick, Ölfactorius fehlt,
Opticus einfach, übrige Nerven normal. Thalami optici verschmolzen. Hypophyse und
Epiphyse fehlen. Pons, Kleinhirn und med. obl. normal. Das Kleinhirn übertrifft das
a —— ——
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 347
relativ häufig vorkommendes Nasenrudiment in Form eines Rüssels war
vorhanden. Um so mehr überraschte es, bei der histologischen Untersuchung
der Schnauzen-Augenbettgegend in der Medianlinie innerhalb des zum Augen-
bett gehörigen (iewebslagers Gebilde anzutreffen, welche unzweifelhaft als
Nasenrudimente gedeutet werden müssen. Und zwar fand sich außen ein
kurzer, von geschichtetem Pflasterepithel ausgekleideter Gang, welcher vorne
und hinten blind endigle und etwa einem rudiment. Nasenvorhofsteil ent-
sprechen mochte (äußeres Nasenrudiment). Aus dem Aussehen des Lich-
tungsquerschnittes war es nicht mehr möglich, die Entstehung desselben aus
der „Konfluenz“ zwei defekter symımetrischer Anteile abzuleiten, wiewohl dies
wohl anzunehmen ist. Dicht kraniodorsal von diesem äußeren Nasenrudiment
konnte ferner ein System von querovalen Schläuchen festgestellt werden,
dessen Gesamtlichtungsquerschnitt wesentlich größer ist als der des äußeren
Nasenrudimentes und dessen Ausdehnung in dorsaler Richtung letzteres
sehr beträchtlich überwiegt. Diese Schläuche konfluieren dorsalwärts zum
Teil, sondern sich dann wieder voneinander ab, bleiben aber stets auf einem
kleinen, streng medianen Areale als einheitliche Gruppe beisammen. Ihr
Ursprung kann auf Frontalschnitten festgestellt werden, welche das äußere,
stark verkleinerte Nasenrudiment noch enthalten. Sie liegen kranial von
letzterem, eine Verbindung zwischen beiden konnte nicht aufgefunden werden.
Das Schlauchsystem ist von einem mehrzeiligen Zylinderepithel ausgekleidet,
das ohne Basalmembran dem Mesoderm aufsitzt. Flimmerhaare konnten
nicht nachgewiesen werden. Das Schlauchsystem, anfangs frei im Bindegewebs-
lager des Augenbettes, findet sich später in einer kranialwärts konkaven napf-
förmigen Vertiefung einer Knochenspange eingeschlossen, welche als atypischer
Schaltknochen (offenbar ein „os interzygomaticum“, von Pires de Lima
erstmalig am makroskopischen Objekte beschrieben) zu deuten ist. Diese
napfförmige Vertiefung wandelt sich rasch in einen geschlossenen Knochen-
kanal um, so daß nunmehr das Schlauchsystem in einer eigenen Kapsel liegt,
unpaare Großhirn an Größe nicht unwesentlich. Eine histologische Untersuchung
des Gehirns wurde jedoch nicht vorgenommen.
2. 1920, I. A. Pires de Lima: Das Zyklopenauge besitzt zwei Corneae, welche
durch eine schmale lichte mediane Zone voneinander getrennt sind, drei Augenlider,
eine Konjunktiva. Wie in meinem Fall und in der Beobachtung von Josephy findet
sich auch hier eine nach aufwärts gedrehte, rüsselförmig gestaltete Oberlippe und ein
ziemlich weit vorragender Unterkiefer. Unterhalb «des Zyklopenauges findet sich eine
tiefe Depression, dem Nasenapparat entsprechend, welcher aber vollständig fehlt,
so daß nicht einmal mehr die leisesten Anzeichen von fossae nasal. aufgefunden wer-
den konnten.
Genaue Untersuchung des Schädels vor und nach Abziehen der Dura, Eingehen auf
die Besonderheiten der Osteologie, wobei Pires de Lima einen zwischen den beiden
ossa zygomatica eingeschalteten, bisher nicht beschriebenen Knochen, genannt os inter-
zygomaticum, nachweisen konnte. Dieser Knochen beteiligte sich unten in der Mitte
an der Begrenzung der Orbita. Die nn. olfact. fehlten, der n. optic. war einfach, ein
Abduzens konnte nicht aufgefunden werden, die übrigen Hlirnnerven waren vorhanden,
VII und VIII als einfaches Bündel. Das Gehirn war infolge seines sehr schlechten.
Erhaltungszustandes zu einer histologischen Untersuehung ungeeignet.
348 Dr. Walter Stupka.
in welcher es von einem gefäßreichen Bindegewebe umgeben ist (vgl. Abb. 5).
Nervenfasern konnten darin nicht festgestellt werden. Aus der Art der Aus-
kleidung dieses Schlauchsystems und den darin stellenweise vorkommenden
intraepithelen Drüsen darf man es als ein Äquivalent «der eigentlichen
Nasenhöhle klassifizieren (inneres Nasenrudiment). Es endigte rück-
Inneres Nasenrudiment in
Form schlauchförmiger Gänge,
von Blutgefäßen umgeben,
in einem Knochenkanal
Zahnkeim im Oberkiefer
Medianes Periostseptum
zwischen den ossa mazillarıa
Gaumenwölbung mit Drüsen
Abb. 5. Schnitt durch die Nase. (Block a, Schnitt 100; zirka 7!’ linear.)
wärts blind. Von den sich aus dem mittleren Nasenfortsatz ableitenden
Gebilden (Zwischenkiefer, vorderer Septumanteil) konnte nichts aufgefunden
werden. Die beiden Oberkieferknochen stießen in der Medianebene zusammen,
ohne miteinander zu verschmelzen (Bindegewebsseptum). Sie führen reichlich
Zahnkeime, welche sich, nach der Wurzelbildung zu schließen, als Eckzähne
und Molaren qualifizieren. In viel weiter kaudal gelegenen Schnitten (Block 3,
75--25) konnte ferner mit Sicherheit die Neurohypophyse nachgewiesen
werden. —
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 349
b) Mikroskopische Beschreibung des Gehirns.
Die Schnittserie*) beginnt in der Ebene des Hypoglossuskerns (Abb. 6).
Während der dorsale Abschnitt makroskopisch keine wesentliche Abweichung
von der Norm erkennen läßt, ist der ventrale Abschnitt dadurch verändert,
daß die Olive wie ein Bürzel ventral hervorragt. Sie bildet mit den sie um-
schlingenden Fasern die ventrale Oberfläche und berührt sich nahezu voll-
ständig mit jener der kontrateralen Seite in der Medianlinie. Die dorsal von
Neu Ng NXII X
Oae Oaa Lm No
Abb. 6. Vs spinale Trigeminuswurzel, X N. vagus, Lm Lemniseus medialis, N XII Nucleus
hypoglossi, Neu Nu. cuneatus, Ng Nu. gracilis, No Nu. olivaris, Oaa Oliva accessoria anterior,
Oae Oliva accessoria externa
den Oliven gelegenen dorsalen Bündel gehören wohl der zentralen Hauben-
bahn an. Es fehlen demnach hier bis auf wenig quergetroffene Fasern die
Olivenzwischenschicht sowie das Areal der Pyramidenbahn. Es zeigt sich
auch nicht eine Spur einer Anlage der Pyramidenbahn, sondern es ziehen
mächtige Fibrae arcuatae extern. ventr. an der ventralen Oberfläche vorbei.
Wenn man etwas stärker differenziert, kann man zwischen diesen längs-
getroffenen Fasern einige Querschnittsbündel wahrnehmen, die sich bis an
den Seitenstrang hin fortsetzen. Auffällig mächtig entwickelt ist die Olive.
*) Nur auszugsweise Beschreibung und Abbildung einzelner charakteristischer
Schnitte, da es heute unmöglich erscheint, eine Arbeit mit noch mehr Abbildungen zu
belasten.
350- Dr. Walter Stupka.
Sie zeigt alle Teile der normalen Olive und tritt offenbar nur deshalb so
deutlich hervor, weil die Olivenzwischenschicht und die Pyramiden fehlen.
Da diese normalerweise mehr ventro-medial gelegen sind, sinkt die Ober-
fläche lateral (besonders l. im Bilde) ein und bedingt das Vorspringen der
Olive. Auch die Seitenstrangkerne sind sehr deutlich und normal vorhanden.
Das gleiche gilt für die spinale Trigeminuswurzel, den Burdachschen Kern,
Lel
Orst
Im
Abb. 7. Crst Corpus restiforme, Lel Lobus cerebelli lateralis, Lm Lemniseus medialis.
dessen äußere Abteilung in nichts gegenüber der Norm verschieden ist. Auch
der Rest des Gollschen Kerns ist hier noch deutlich. Die Intaktheit der Olive
und die Intaktheit der Hinterstrangskerne erklären auch die relative Intakt-
heit der Bogenfasern. Man muß also annehmen, daß das Areal, das dorsal
und median von der median gelegenen Olive sich findet, zum Teil wenigstens
dem Schleifengebiet angehört.
Über der Medulla oblongata tritt das Kleinhirn bereits hier in Erscheinung.
Es zeigt sich, daß man schon ziemlich kaudal drei Abschnitte unterscheiden
kann. Einen medianen, sehr mächtig entwickelten und zwei laterale, deren
Windungen schmächtiger sind als die des medianen (Abb. 7).
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 351
Bezüglich der Kerne der Medulla oblongata läßt sich nur anführen, daß
sie sich in nichts von denen der normalen Ziege unterscheiden. Nur die
äußere Form der Medulla ist wesentlich verschieden, offenbar hauptsächlich
infolge des Mangels der Pyramiden.
Oral von der unteren Olive (Abb. 8) zeigt sich para-median ein Faser-
areal, das wesentlich lockerer ist als es sonst angetroffen wird. Man sieht
dann, daß dieses mediane (tebiet ganz para-median ventral vollständig
Flp Net Af
Crst
Lm
Abb. 8 (Detail aus Abb. 7). Vsp spinale Trigeminuswurzel, Af Area fasciculata, Crst Corp.
restiforme, Flp Fasciculus longitudinalis posterior, Lm Lemniscus medialis, Nrt N. vestibu-
laris triangularis.
separierte Querschnitte aufweist, die auch lateral von den Querschnitten
der Medulla getrennt sind. Sowohl der N. facialis als auch der N. cochlearis
und N. vestibularis sind voll entwickelt. Besonders deutlich erscheint die
Area fasciculata und der N. triangularis. Aber auch die Nebenkerne dieser
Gegend (N. eminentiae teretis, praepositus hypoglossi) sind deutlich vor-
handen. Die Entwicklung des Corpus restiforme entspricht der Norm. Der
vierte Ventrikel zeigt keine auffallende hydrozephale Erweiterung. Plexus und
Rezessusbildung der Norm entsprechend.
Das Zerebellum (Abb. 9) zeigt gleichfalls eigentlich eine ganz normale
Entwicklung bis auf das schon erwähnte Zurücktreten der seitlichen Partien.
Die zentralen Kleinhirnkerne zeigen sich in voller Ausprägung. Der Abduzens-
kern ist ganz genau so entwickelt wie beim normalen Tier, und zwar bilateral.
352 Dr. Walter Stupka.
Auch das Verhalten zum Fazialis ist das gleiche. Dasselbe gilt in bezug
auf die Entwicklung für die obere Olive, das Corpus trapezoides und die
sekundären Cochlearisbahnen.
Oral vom Corpus trapezoides treten analog gelagerte Fasern auf, die
deutlich den Charakter der Brückenfasern erkennen lassen. Zwischen diesen
y N
glob
Emb
Nlate
Lel
Abb. 9. Emb N. emboliformis, glob N. globosus, Lel Lobus lateralis cerebelli, Nf N. fastigüi,
Nlate Nucleus lateralis cerebelli, V Vermis.
Fasern sieht man Ganglienzellen führende graue Substanz. Ein Stratum
superficiale und ein Stratum prof. pont. sowie ein Stratum complex. sind
bis zu einem gewissen Girad kenntlich (Abb. 10). Am auffallendsten sind die
Fibrae perpendicularis pontis, die in den N. ret. tegm. pont. und über diesen
hinaus in die zentral gelegenen Kerne einstrahlen. Der Kontur der, Brücke
ist keinesfalls gleich dem der Norm. Er ist viel flacher, stellenweise sogar
höckerig. Doch sind die Brückenarme verhältnismäßig mächtig. Der Binde-
arm ist analog dem Corpus rest. intakt, ebenso die Bahnen in der Haube
(zentrale Haubenbahn), obwohl man hier im Brückengebiet eine deutliche
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 353
Differenzierung kaum vornehmen kann. Das Gebiet des N. ret. tegm. ist
stark zerklüftet und zeigt ziemlich beträchtliche Querschnittsbündel, deren
Herkunft nicht absolut sichergestellt ist. Doch lassen sich mediale und laterale
Schleifen abscheiden. Die Brückenbildung hält sich auch oraler auf der
bisher angegebenen Höhe. Es fällt nur auf, daß sie überaus flach ist und
keinerlei wie immer geartete quergetroffene Fasern erkennen läßt. Der Über-
gang vom Brückengebiet in das Vierhügelgebiet ist durch die Trochlearis-
kreuzung charakterisiert (Abb. 11). Man sieht hier den Brückenrest und die
Brej
BPo
Ll Po Lm Nrtg
Abb. 10. Brej Brachium conjunctivum, BPo Brachium pontis, Ll Lemniscus lateralis,
Lm Lemniseus medialis, Nrtg N. reticularis tegmenti, Po Pons.
lateral wie abgeschnitten endenden Brückenarme. Ferner sieht man den
Beginn der hinteren Vierhügel und die gegen diesen strahlende Schleife mit
dem dorsalen Schleifenkern. Sowohl die medianen Haubenkerne von Gudden
als auch die dem Trochlearis vorgelagerten Kerne sind deutlich vorhanden,
ebenso die zerebrale Trigeminuswurzel mit ihren Zellen. Am Querschnitt
erscheinen die beiden hinteren Vierhügel durch das zwischengelagerte Klein-
hirn getrennt.
Während der hintere Vierhügel in nichts von der Norm abzuweichen
scheint, gilt das nicht für den vorderen. In seinen kaudalsten Abschnitten
bemerkt man bereits, daß ein Stratum zonale fehlt und die Oberfläche leicht
höckerig ist. In ihn scheinbar eingelagert finden sich die Reste des hinteren
354 Dr. Walter Stupka.
Vierhügels, dessen Arm sich deutlich entwickelt. Die Bindearmkreuzung zeigt
das gewohnte Bild. Etwas oraler zeigt der vordere Vierhügel bereits deut-
lich seine Schichtungen. Von einem Stratum zonale ist auch hier nicht die
Rede. Die äußere graue Schicht ist sehr faser- und zellarm, das Str. opticum
jedoch ist deutlich entwickelt. Das Str. lemnisci wie das Str. profundum sind
normal. Auch die Kreuzung der vorderen Vierhügel entspricht der Norm.
Man sieht noch einen Rest des hinteren Vierhügels und lateral davon den
IV DIV
BPo Lm Po
Abb. 11. IV N. trochlearis, Brej Brachium conjunetivum, BPo Br. pontis, Cqp Corpus
quadrigenimum post., DIV Deeussatio n. trochlearis, Lm Lemniscus med., NLld Nucleus
lemnisei lat. dorsalis.
deutlich an der Oberfläche vorspringenden Arm des hinteren Vierhügels. Der
Aquädukt ist mäßig erweitert. Fasern und Zellen des zentralen Graus sind
gut entwickelt, ebenso beiderseits der N. trochlearis (Abb. 12). Hier sieht man
schon die großen Zellen des N. ruber und die mächtigen Kreuzungen zwischen
beiden. Ganz ventral liegt medial das Ggl. interpedunculare mit ein- resp. aus-
tretenden Fasern, lateral davon fehlen die Pedunculi nicht ganz, denn man
sieht die grauen Massen der Subst. nigra peripher von Querschnitten um-
säumt.
Wenn man versucht, sich in den nächsten Schnitten zu orientieren
(Abb. 13), so zeigt sich zunächst das Okulomotoriuskerngebiet vollständig
normal. Das gleiche gilt für den roten Kern, der keinerlei Abweichung von
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 355
der Norm erkennen läßt, ebensowenig wie die bereits beschriebenen Kreu-
zungen (dorsale und ventrale Haubenkreuzung). Auch die Substantia nigra
läßt sich deutlich zeigen. Sie liegt mehr ventro-lateral und zeigt hier keiner-
lei Begleitfasern an ihrer Oberfläche. Das Ggl. interpedunculare ist ge-
schwunden. Man sieht jetzt hart neben der Mittellinie zwei Querschnitts-
felder, eines — rund und hell — entspricht dem Fasciculus retroflexus, ‚das
andere dunkel gefärbt, ist der Pedunculus corporis mammillaris. Die Fasern
Stro tM G, NIV
Strl
Brqp
DBrej Pem Trs Sns
Abb. 12. Brqp Brachium corp. quadr. post., DBrej Decussatio Br. conj., G, Stratum griseum
superficiale, NIV Nucleus trochlearis, Pem Pedunculus corporis mammillaris, SnS Sub-
stantia nigra, Strl Stratum lemnisci, Stro Stratum opticum, tM tiefes Mark, Trs Tractus
rubrospinalis.
im Haubengebiet sind zu diffus gefärbt, als daß man einzelne Teile differen-
zieren könnte. Doch wird man nicht fehlgehen, in dem helleren Areal lateral
von. Flp. die zentrale Haubenbahn anzunehmen.
Sehr interessant ist das Verhalten des vorderen Vierhügels. Ein Stratum
zonale fehlt, dagegen sieht man von ventral her und ganz lateral Fasern aus
dem Arm des vorderen Vierhügels, der allerdings sehr schmal ist, in diesen
letzteren einstrahlen. Diese Fasern sind sehr dünn und treffen aber auf eine
deutliche Zellschicht. Dann folgen die dickeren Fasern des Str. lemnisci und
schließlich in der Tiefe die Fasern des Str. profundum mit den radiären
Fasern. Sie zeigen den normalen Verlauf und kreuzen ventral vom Okulo-
motoriuskern die Seite.
356 Dr. Walter Stupka.
Ebenso wie die dorsale ist auch die ventrale Haubenkreuzung dest-
lich vorhanden. Der Arm des hinteren Vierhügels ist hier nicht mehr sicht-
bar. Ein Geniculatum mediale abzuscheiden gelang mir hier noch nicht sicher.
Allerdings fand sich kaudaler im Arm des hinteren Vierhügels und in dessen
Ausstrahlungen graue Substanz. In oraleren Teilen (Abb. 14) des C. qu. a.
zeigt sich kaum eine Änderung in der Struktur dieses. Nur die Kommissur
zwischen beiden wird auffallend mächtig und zeigt dorsal und neben der
tM
Strl
Brap
Ntg Pem NIIl NIHIm frtf SnS
Abb. 13. Brqp Brachium corp. quadr. post., frtf Fasciculus retroflerus, G, Griseum super-
fieiale, N IIIL N. oculomotororii lateralis, NITI m N. oculomotorii medialis, Ntg Nucleus
ruber, Pem Peduneulus corporis mammillaris, Pp Pes pedunculi, SnS Substantia nigra,
Strl Stratum lemnisci, Stro Stratum opticum, tM tiefes Mark.
Kommissur ein ziemlich beträchtliches Querschnittsfeld. Wie der N. trochlearis
zeigt auch der N. oculomotorius eine ganz normale bilateral symmetrische
Anlage, die allerdings hier bereits nicht mehr zu sehen ist, da nur die oralsten
Partien eines medianen Kernes (Edinger-Westphal) und der Kern von
Darkschewicz mit den Resten des hinteren Längsbündels aufscheinen.
Das runde Querschnittsfeld, das bereits früher beschrieben wurde (F. retro-
flexus) und das von quergetroffenen Fasern dieken Kalibers und dunklerer
Färbung umrahmt ist, ist deutlich vorhanden. Ventral zeigt sich eine ziem-
lich mächtige Kommissur (Commissura supramammillaris) und ventral von
dieser, aber nur auf einer Seite deutlich, das Corpus mammillare, in das
die in der Subst. nigra gelegenen quergetroffenen Bündel (Pedunenlus corp.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 357
maınmillaris) jetzt lateral einmünden. Auf der Gegenseite sieht man wohl
die quergetroffenen Bündel aber ein Corpus mammillare tritt nicht so deut-
lich hervor.
Die Peripherie ist jetzt besetzt von Querschnittsbündeln. Man kann be-
merken, wie Bogenfasern, die die Haube durchsetzen, in die dorsal von der
hinteren Kommissur gelegenen Querschnitte einstrahlen. Die Substantia nigra
Pem Cospm Gm Irtf Sns
Abb. 14. Aq Aquaeductus Sylvii, Coqa Commissura corp. quadr. ant., Cospm Commissura
supramamammillaris, frij Fasciculus retrojlexus, G, Griseum superficiale, Gm Ganglion mam-
millare, H Haubenjeld, Pem Pedunculus corporis mammillaris, SnS Substantia nigra,
Stro Str. opticum.
ist deutlich abzuscheiden; doch erscheint es fraglich, ob die gesamte bis
ungefähr zur Ebene des F. retroflexus vorhandene graue Substanz ihr an-
gehört. Eine Differenzierung ist auch bei Heranziehung der nächsten Schnitte
nicht möglich. Offenbar haben wir in den lat. grauen Massen das Genicu-
latum mediale zu suchen.
Es unterliegt, wie erwähnt, keinem Zweifel, daß die lateral in das Corpus
mammillare einstrahlenden, resp. ausstrahlenden Fasern dem Pedunculus
corp. mammillaris angehören, den wir bis zum Ggl. interpedunculare ver-
folgen konnten, daß wir die dorsal davon befindliche Kommissur als Com-
missura supramammillaris bezeichnen können und daß das eigentümliche
rundliche Querschnittsareal dem Fasciculus retroflexus angehört.
358 Dr. Walter Stupka.
Wenn wir einen Schnitt aus dem vordersten Gebiet der C. qu. a. (Abb. 15)
und die mächtigste Entwicklung der Comm. post. des genaueren beschreiben,
so zeigt sich zunächst dorsal ein Rest der Vierhügel höckerig, aber deutlich,
die sowohl Ganglienzellen als Fasern in feinem Netzwerk enthalten. Von
ventral her und ganz lateral strahlen Fasern ein, die sich entlang der
äußeren Peripherie bis ziemlich weit zentral verfolgen lassen. Wie schon
erwähnt, liegen in diesen feinen Fasern einzelne Inseln grauer Substanz
Cgm? Cop
Csth Sns Fmp Gm Fmp
Abb. 15. Cgm? Corp. geniculatum mediale, Cop Commissura posterior, Csth Corpus sub-
thalamicum, Fmp Fasciculus mammillaris princeps, frtf Fasciculus retrojlexus, Gm Ganglion
mammillare, H Haubenbahnen, Nvth Nucleus ventralis thalami. SnS Substantia nigra.
mit kleinen Zellen. Ventral und medial von diesem Aufsatz des C. qu. finden
sich eine Reihe von Kernen, die man in drei Etagen angeordnet sehen kann.
Die Grenze zwischen den Etagen ist durch horizontal verlaufende Fasern
gebildet, die bis an die Peripherie gehen und zentral in Kernen enden, welche
sich lateral an die hintere Kommissur anlegen. Die obere Etage ist dadurch
charakterisiert, daß Fasern, welche dorsal von der hinteren Kommissur als
Querschnittsbündel angelegt sind, nun in nach außen konvexen Bogen ventral-
wärts ziehen. Sie lassen sich aber nicht sehr weit verfolgen und scheinen
in dieser dorsalen Etage in quergetroffene Bündel überzugehen (Bündel
der hinteren Kommissur?).
Die zweite Etage ist faserdichter. Hier kann man wohl annehmen, daß
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 359
die Hauptmasse der Schleifen- und rote Kernfaserung einstrahlen. Die Grenze
wird hier durch Querschnitte gebildet, die das ventrale Drittel von dem
mittleren abtrennt. In diesem mittleren Drittel sind Kernhaufen, ohne daß
man eine genaue Distinktion vornehmen kann. Ganz ventral liegt zunächst
das asymmetrische Corpus mammillare, von dem aus zwei vertikal auf-
steigende Systeme zu entspringen scheinen. Beide dieser mächtigen Systeme
bilden jene dunklen Bündel, die wir quergetroffen um das runde Bündel ge-
Glip Coh Ghb jrtf Cgm
Tbe H
Abb. 16. Cgm Corpus geniculatum mediale, Coh Commissura habenularum, frtf Fasciculus
retroflexus, Ghb Ganglion habenulae, Glp Glandula pinealis, H Haubenfeld, Nvth Nucleus
ventralis thalami, Tbe Tuber cinereum.
legt gefunden haben, das wir als Fasciculus retroflexus von Meynert an-
sprachen. Trotz der ziemlich lateralen Lage des Faserzuges möchte ich es
nach dem späteren Verlauf als F. mammillaris princeps ansprechen, und zwar
vorwiegend Fasern, die im F. mammillo-tegmentalis weiterverlaufen. Es ist
unendlich schwer, in dem Gewirr von Fasern eine deutliche Differenzierung
vorzunehmen. Ventral findet sich auf einer Seite ein ganz atypisches Bündel.
Die Subst. nigra ist noch angedeutet. Dann folgt ein dreieckiges Gebiet, die
mediale Etage, die auf der im Bilde rechten Seite, zum Unterschied von der
anderen, ein helles dreieckiges Feld darstellt, außen umrahmt von längs
aufsteigenden Fasern, ein Feld, das am ehesten so aussieht, wie etwa Putamen
und Globus pallidus. Doch ist das natürlich hier ganz ausgeschlossen. Links
im Bilde hat man den Eindruck, als ob dorsal von der Subst. nigra Kerne
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. ANA. Bd., Heft 2. 24
360 Dr. Walter Stupka.
vorhanden wären, die als Corp. subthalamicum gedeutet werden könnten,
wenn nicht hier schon ventrale Thalamuskerne vorliegen. Es läßt sich eine
sichere Beziehung der einzelnen Faserzüge und Kerne hier nicht feststellen.
In den folgenden Schnitten reduziert sich der Vierhügel mehr und mehr
und an seine Stelle tritt dorsal ein bilateral symmetrischer Kern. Er ist
ziemlich faserreich, doch schließen sich ihm ventral faserärmere Partien an.
Möglicherweise ist das scharf begrenzte ventral gelegene Ggl. das Corp. gen.
mediale (Abb. 16). Man sieht auch jetzt die Comm. habenularum, die jederseits
flankiert ist von der bereits beschriebenen. Kernmasse. Zwischen diesen liegt
Ghb Tt
Cgl H Va Fo Tbe
Abb. 17. Cgl Corpus geniculatum laterale, Fo Fornix, Ghb Ganglion habenulae, H Ende
der Haubenbahnen, Tbe Tuber cinereum, Tt Taenia thalami, Va Viqu’ d’Azyrsches Bündel.
die Zirbeldrüse. Ventral vom €. gen. med. ist links im Bild das dreieckige Ge-
biet zu sehen, das auffallend hell ist und eine Unterabteilung in einen äußeren
und einen inneren Abschnitt erkennen läßt, wobei allerdings der innere Ab-
schnitt keineswegs so dunkel ist wie etwa der Glob. pallidus. Der unterste
Abschnitt enthält neben quergetroffenen Fasern auch graue Massen, die aber
nicht so deutlich zu differenzieren sind. Das quergetroffene Bündel, das wir
als F. retroflexus bezeichneten, rückt mehr und mehr dorsalwärts und ist
von den dunklen Fasern umsäumt, die jetzt lateralwärts und etwas ventral
streben.
Die Einstrahlung der die hellen Bündel umgebenden Fasern in den hellen
dreieckigen Kern läßt sich an den nächsten Schnitten einwandfrei feststellen.
In der Höhe der vollen Entwicklung des Ggl. habenulae sehen wir das
helle Querschnittsfeld, das wir von ventral nach dorsal verfolgt haben, in
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 361
dieses Ganglion münden, so daß also bezüglich des Zusammenhanges dieses
Systems kein Zweifel obliegt, daß wir es mit dem Fasc. retroflexus zu tun
haben (Abb. 17). Lateral von dem Ggl. habenulae liegt nun ein dickes Quer-
schnittsareal, das sich ziemlich weit gegen die laterale Peripherie hin er-
streckt (Taenia thalami). Man kann hier eine äußere, zum Teil sehr faser-
arme, außen höckerige graue Masse abscheiden, die wir in den dorsalen
Teilen als Pulvinar, ventral als Ggl. geniculatum laterale bezeichnen dürfen.
Einwärts davon liegt ein sehr faserreiches und durch eine Lamina medullaris
Cgl TII Ci Fo Coh
Abb. 18. Cgl Corp. genic. lat., Ci Capsula interna, Coh Commissura hypothalamica, Fo Fornix
(incl. basale Längsbündel), NI Nucleus lateralis thalami, Nm Nucleus medialis thalami,
Pul Pulvinar, TII Tractus opticus, Tt Taenia thalami.
nach außen begrenzte graue Masse, die schon durch ihren Faserreichtum als
lateraler Thalamuskern gekennzeichnet ist. Auch median sieht man noch
undeutlich abgegrenzte Kerne und der Medianebene entsprechend ein diffuses
Grau, das durch zarte Kommissurenbündel gequert erscheint.
Wenn wir von den ganz medialen Partien absehen, die zwei kleine
Lumina zeigen, ein dorsales und ein ventrales Ependym-besetztes, wo sich
zahlreiche Zellen finden, so müssen wir lateral davon, knapp neben der
Medianlinie zwei Querschnittsbündel abtrennen. Ein dorsales und ein ven-
trales. Beide erhalten ihre Fasern von der ventralen Peripherie. Es ist
schwer zu sagen, ob hier Fornix und Vicq d'Azyr vorliegen, da ventral
mächtigere Querschnittsbündel zu sehen sind, deren Natur nicht ganz sicher-
gestellt werden kann. Wissen wir doch, daß hier Fasern des basalen Längs-
24*
362 Dr. Walter Stupka.
bündels Gansers (Tr. olfacto-thalamicus oder mammillaris) und Fasern aus
dem Striopallidum zum roten Kern vorliegen können.
Oralwärts vom (gl. habenulae stellt der Thalamus eine homogene Masse
dar (Abb. 18), bei der eine leichte Einsenkung dorsal und medial vielleicht den
Ventrikel markiert. Die Decke des Zwischenhirns ist defekt und stellt wohl die
Reste der geplatzten Blase dar. Man sieht zunächst ein wenig lateral von der
erwähnten Einsenkung mächtige Querschnittsbündel, die keilförmig in den
Thalamus eindringen (Taenia thalami). Dann sieht man ein Gebiet, das
wohl dem Lateralkern entspricht, wenigstens nach der groben Zeichnung.
NI Nm Tt Fo Ttae
TII Ci
Abb. 19. Cgl Corp. genic. lat., Ci Capsula interna, Fo Fornix und basale Längsbündel,
Nl Nucleus lateralis, Nm Nucleus medialis thalami, Pul Pulvinar, TII Tractus opticus,
Tt Taenia thalami,, Ttac Taenia accessoria.
Lateral sind die dieses (Gebiet durchsetzenden Bündel noch quergetroffen,
medial und ventral aber streichen sie ventralwärts und kreuzen scheinbar
in der Mittellinie die Seite. Es sei besonders betont, daß diese Bündel von
der dorsalen Partie des Kerns ventral streben. Nach außen von dem als
Lateralkern bezeichneten Gebiet ist ein Saum grauer Substanz, in den
horizontal Fasern einstrahlen. Er ist an der Oberfläche von einer zarten
Fasermasse bekleidet und reicht ventral bis zur Mitte des Querschnitts.
Ventral davon liegt ein Ganglion, in welches die Tractus opticus-Fasern ein-
strahlen, die deutlich getrennt von der basalen Thalamuskreuzung bis zur
Mittellinie zu verfolgen sind.
Lateral befinden sich in der ventralen Thalamuskreuzung deutliche
quergetroffene Bündel. Dorsal von derselben haben sich die bereits an den
früheren Schnitten sichtbar gewesenen Querschnittsbündel mächtig ange-
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 363
reichert. Eine mächtige Massa intermedia, die Zellen enthält, verbindet nun
beide Thalamushälften, so daß der Thalamus als einheitliches Gebilde er-
scheint.
Etwas oraler (Abb. 19) sieht man dann besonders links im Bilde eine
Lamina medullaris medialis, die deutlich einen medialen Kern von einem
lateralen abgrenzt. Auf der einen Seite liegt dem Kern ein Querschnittsbündel
auf, das auf der anderen Seite fehlt oder von Fasern gebildet wird, die schein-
bar gegen das dreieckige Querschnittsfeld der Peripherie ziehen. Ventral
Ndm
Va
Tt
Cr
Cor
Abb. 20. Cr Corona radiata, Cor Cortex cerebri, Ndm Nucleus dorsalis magnus thalami,
Tt Taenia thalami, Va Viequ' d’Azyrsches Bündel.
bilden sich immer mehr Querschnittsbündel, und zwar auf der einen Seite
stärker als auf der anderen Seite entwickelt und dorsal begleitet von zarter
gefärbten. Es macht fast den Eindruck, als wenn diese Bündel aus der
Kreuzung entstünden, denn sie liegen ursprünglich dieser Kreuzung direkt
an. Auch zwischen den kreuzenden Fasern sieht man quergetroffene Bündel.
Die nächsten Schnitte ändern sich nur insoferne, als die lateral vom
Lateralkern gelegene Partie sich allmählich reduziert, aber noch immer sehr
deutlich ist. Die Zunahme der ventral quergetroffenen Bündel nach der
Kreuzung in der Mittellinie ist in die Augen fallend.
Auch dorsal sieht man ein quergetroffenes Bündel deutlicher hervor-
treten, das sich scheinbar von der Taenie isoliert. Lateraler und medialer
Thalamuskern sind jetzt deutlich abgrenzbar und die ventrale Thalamus-
364 Dr. Walter Stupka.
kreuzung zeigt sich mächtiger. Der Tractus opticus und dessen mediale
Kreuzung (Chiasma) sind deutlich abgrenzbar. Rechts im Bilde sind auch
Querschnittsfelder ventral von der Thalamuskreuzung zu sehen, die wohl
als zur inneren Kapsel gehörig anzusehen sind.
Ganz oral im Thalamus ist die ventrale Kreuzung noch immer vorhanden.
Wenn man beide Seiten vergleicht, so sind sie asymmetrisch. Auf der einen
Seite findet sich der Außenbelag am Lateralkern mit seinen in die Kreuzung
ziehenden Fasern. Medial davon sieht man dann ganz dorsal einen neuen
Spl? CA
Abb. 21. CA Cornu Ammonis, Cr Corona radiata, Ps Psalterium, Spl? Septum pellucidum.
rundlichen Kern auftreten, in den ein mächtiges Querschnittsbündel mündet,
offenbar der N. ant. (dorsalis magnus) thal. mit dem Fasc. thalamomammillaris.
Auf der Gegenseite ist der Lateralkern jetzt ganz oberflächlich und
nur wenig entwickelt. Von der äußeren Begrenzung ist nichts mehr zu
schen. Dagegen ist der N. ant. hier sehr deutlich und ventral davon eine
Anhäufung ziemlich großer Zellen. Nach vorne zu geht der Thalamus in
ein stielförmiges Gebilde über, in dem man jedoch wenigstens kaudal noch
den N. dors. magn. und jene mächtigen Querschnittsbündel wahrnehmen
kann, die sich aus der Kreuzung entwickelten und alle quergetroffenen Fasern
der ventralen und zentralen Thalamuspartie in sich aufnehmen.
Oral noch am Vorderende des Thalamus können wir nur mehr eine
Hälfte des Hirnstammes als einen soliden Zapfen, der nach vorn reicht,
sicherstellen (Abb. 20). Umgeben ist dieser Zapfen von einer Membran, die
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 365
bereits an einzelnen Stellen Rindensubstanz erkennen läßt. In diesem Zapfen
lassen sich deutlich drei Gebilde unterscheiden. Erstens ein heller Kern,
der durch ein Fasersystem von den übrigen abgegrenzt ist und der in seinem
Innern sehr wenig Fasern enthält. Am ehesten entspricht er der Lage nach
dem N. caudatus-Kopf. Dann folgt lateral ein sehr zellreicher Kern mit sehr
dichten Fasern. In ihn münden Fasern von lateral und medial her. Man wird
wohl nicht fehl gehen, hier die Reste des Striopallidum zu vermuten. Das
Zentrum des Zapfens nimmt ein mächtiges Bündel aus dicken quergetroffenen
— Cr
Plch
- Rolf
Strp
Abb. 22. Cell Corpus callosum, Cr Corona radiata, Plch Plexus chorioideus, Ps Psalterium,
Rolf Radiatio olfactoria, Strp Striopallidum (?).
Fasern ein. Es ist unmöglich, die Kerne hier mehr zu differenzieren. Etwas
oraler davon (Abb. 21) tritt die Rinde deutlicher hervor. Sie liegt beiderseits
von den Querschnitten und ist nur durch einen keilförmigen Herd von grauer
Substanz von der der anderen Seite getrennt. In dieser grauen Substanz
finden sich ebenfalls viele Faserquerschnitte. Die hier befindliche Rinde
zeigt außen einen dichten Belag von Fasern, die dort, wo die Windung an
das mittlere Grau anstößt, keilförmig ist. Die Zellen sind in einer mächtigen
Schicht vereinigt, aber man sieht, wie von dieser Schicht aus Markstrahlen
in die Tiefe gehen. Am ehesten kann man dieses Gebiet mit dem Lobus
piriformis vergleichen (Ammonshorn medial, Hippocampusrinde lateral). Aus
der Ammonsrinde entbündeln sich Fasern, die zum Teil medianwärts gegen
den Zapfen streichen und in dessen Querschnittsbündel untertauchen, dann
366 Dr. Walter Stupka.
aber sieht man mächtige Bündel, scheinbar aus dem ganzen Gebiet des
Lobus piriformis, dorsalwärts streichen. Der zwischen den beiden Windungs-
abschnitten befindliche Zapfen wird jetzt deutlicher, die Querschnitte kon-
zentriert und man sieht, wie sich ventral zwei säulenartige Gebilde anschließen,
die aber eher Septum- als Fornixsäulenstruktur zeigen. Das Großhirn, das
anfangs nur einen schmalen Belag an der Wand der großen, den Thalamus
überwölbenden Blase gebildet hat, läßt jetzt deutlich eine Reihe von Win-
Auge
Abb. 23. Cr Corona radiata, Pleh Plexus chorioideus, V Ventrikel.
dungen erkennen, die median, durch einen von bindegewebigen Massen er-
füllten Spalt, in eine rechte und linke Abteilung unvollkommen getrennt sind.
Ventral von diesem Spaltraum zeigt sich eine mächtige Kreuzung (Abb. 22),
die ventral offenbar noch von Fasern der Ammonshornkommissur (Psalterium)
gebildet wird, dorsal aber zartere Fasern erkennen läßt (Corpus callosum ?).
Diese mächtige Kreuzung begrenzt dorsal einen Spaltraum, der sich als Ventrikel
durch die Plexus chorioidei, die sich in ihm finden, zu erkennen gibt.
Das zapfenförmige Gebilde begrenzt den Ventrikel ventral und medial. Es
hat sich nun deutlicher gegliedert. (regen den Ventrikel zu tritt das knoten-
förmige Bündel der quergetroffenen Fasern hervor, dem ventral und lateral
zwei ähnliche Bündel angelagert sind. Oralwärts schwinden alle Kommissuren
resp. Kreuzungen und an deren Stelle tritt ein weites Lumen (Abb. 23),
über dem sich das Großhirn aufbaut. Die Markstrahlen sind ziemlich schwach
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 367
und münden in eine zarte Markschicht, die ventral direkt dem Ependym
aufliegt, dorsal durch eine Leiste von ihm getrennt ist. Die Plexus chorioidei
sind sehr deutlich. Das zapfenförmige Gebilde ragt scheinbar frei in diese
weite Höhle (wobei allerdings die Wahrscheinlichkeit besteht, daß es mit
der ventralen Brücke im Zusammenhang stand und nur artefiziell von ihr
gelöst erscheint). Diese zentrale Höhle schließt sich ebenso wie die lateralen
in dem Augenblick, als die quergetroffenen Bündel des Zapfens sich dorsal
wenden und in die hier befindliche Rinde einstrahlen (Stabkranz, Abb. 24).
Abb. 24. Cor Cortex cerebri, Cr Corona radiata (Einstrahlung).
Man kann ungefähr vier Windungen unterscheiden und muß die einstrahlenden
Fasern als ein Stabkranzsystem bezeichnen. Ventral von dem eben ge-
schilderten Gebiet liegt aber noch ein zweites, das leider durch einen artefi-
ziellen Spalt von dem ersten geschieden ist und gleichfalls ein Lumen er-
kennen läßt. In diesem zweiten Gebiet kann man wohl ganz deutlich von
ventral nach dorsal streichende Fasern erkennen, die vollständig identisch
sind mit jenen, welche man im Riechhirn zu sehen gewohnt ist (Lobus
olfactorius).
In den nächsten Schnitten zeigen sich deutlich drei Abschnitte. Der
dorsale Abschnitt unterscheidet sich in nichts von den gewohnten Bildern
der Hirnrinde. Es sind ein paar aneinandergelegte Windungen, die eine
Zweiteilung nicht erkennen lassen und die in ihrem Zentrum das Mark
führen. Ventral davon liegt, leider durch einen artefiziellen Spalt getrennt,
368 Dr. Walter Stupka.
ein eigener größerer Abschnitt, der mit dem dorsalen durch eine breite Brücke
in Verbindung steht. Er läßt an der Peripherie ventrodorsal streichende Faser-
büschel erkennen und im Zentrum ebenfalls einen Markstrahl. Das Ganze
ist von Pia umschlossen (Abb. 25).
Der dritte Abschnitt ist das Auge (Abb. 26), das hier in allen Teilen er-
kennbar ist, d.h. wir sehen eine Retina, eine Chorioidea, die sehr breit und
sehr gefäßreich ist. Wir sehen eine Linse, die, in einer dicken bindegewebigen
Kapsel gelegen, sehr stark reduziert ist, und wir sehen schließlich auch das
Cor
Abb. 25. Cor Cortex cerebri, Cr Corona radiata, Crolf Corona radiata olfactoria, Lolf Lobus
olfactorius.
C. ciliare. Nach außen zu ist das Auge von einer derben bindegewebigen
Membran bedeckt. In dem periokularen Gebiete sehen wir neben reichlichem
Fett Muskelbündel sowie viele Nervenfasern.
Öralwärts vereinigt sich die ganze Gehirnmasse, auch das ventral an-
hängende Stück. Man sieht, wie ventral in dieses sicher dem Riechhirn an-
gehörige Stück kleine Schrägschnitte eintreten. Das Ganze ist jetzt von
einer derben Membran (Dura) umgeben, die an den Seitenteilen auch Knochen-
platten angelagert führt.
Ergänzend sei noch bezüglich der Zellanordnung im Gehirn folgendes
angefügt:
Das basale Stück, das wir als Riechabschnitt bezeichnet haben, enthält
eine molekulare Schicht. Dann zapfenförmig oder gruppenförmig angeordnete
Zellen ohne deutliche Schichtbildung. In der Tiefe sind die Zellen mehr
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 369
L. olfactorius
Muskel
Fett u.
Nerven
Muskel
Retina —
Muskel Linse Corp. ciliare Chorioidea
Abb. 26.
Lob. olfactorius Retina
Chorioidea
Corpus ciliare Linse Muskel Corpus ciliare
Abb. 27 gleich 26, nur stärker vergrößert.
370 Dr. Walter Stupka.
diffus. Die dorsale Hirnrinde zeigt die Molekularschicht deutlich abgegrenzt.
Aber auch hier lassen sich keine sicheren Schichtbildungen selbst in den
besterhaltenen Partien erkennen. Die Zellen sind meist palissadenförmig
aneinandergereiht. Die äußeren sind ziemlich dicht, nach innen zu werden
sie lockerer und ungleichmäßig. Im Mark zeigt sich ein ungemeiner Gefäß-
reichtum. Die ganze Rinde zeigt Entzündungsherde.
Im Auge fällt folgendes auf (Abb. 27). Die Retina zeigt sich im Schichten-
bau vollständig der Norm entsprechend. Auch die Chorioidea, die Sklera, das
C. ciliare sind nicht sehr wesentlich verändert. Dagegen ist nur ein Linsenrest
vorhanden, der in einer dicken bindegewebigen Kapsel steckt. Ein N. opticus
ließ sich nicht mit Sicherheit darstellen. Auffällig ist auch der Reichtum der
Muskulatur, die u. a. an der Außenseite der Linsenkapsel von einer Seite nach
der anderen Seite hinüberzieht und so die Linsenkapsel deckt. Überhaupt
ist der Reichtum an Muskeln und an markhaltigen Nerven am Bulbus oculi
ungemein auffällig. An anderer Stelle bildet Bindegewebe die Verbindungs-
brücke zwischen beiden Lidern. Und schließlich gibt es auch Stellen, wo die
beiden Lider vollständig frei sind. In den Lidern selbst sind die Drüsen, die
Haarbälge und das ganze Gewebe vollständig der Norm entsprechend.
Zusammenfassung.
Es ist vor allem notwendig, die Befunde, die sich bei der Untersuchung
der Rezeptionsorgane ergeben, von jenen zu trennen, welche eine genaue
Durchmusterung des Gehirns gezeigt haben. Die beiden Organe, die hier
in allererster Linie in Frage kommen, sind Auge und Riechapparat. Es
handelt sich hier um eine echte Zyklopie, bei der nur ein verhältnismäßig
kleines, eventuell im Retinabereich paarig (?) angelegtes Auge vorhanden ist.
Auffällig dabei erscheint, daß diejenigen Teile des Auges, die mit dem Gehirn
zusammenhängen, eigentlich entsprechend entwickelt sind. Das gilt vor allem
für die Retina. Der Nachweis eines peripheren Sehnerven ist zwar nicht ge-
glückt, wohl aber dessen zentrale Fortsetzung.. Besonders hervorgehoben
zu werden verdient die Intaktheit der Muskulatur des Auges, die ganz be-
sonders gut entwickelt und auch besonders gut innerviert erscheint. Sicher-
lich sind für das eine Auge zu viele Muskeln vorhanden, ebenso wie Nerven,
da wir diese ja bilateral-symmetrisch angelegt finden, also für den einen
Bulbus Muskeln und Nerven der sonst vorhandenen beiden Bulbi in Betracht
kommen. Auffällig ist das Verhalten der Linse, die, sehr klein, in einer dicken
Bindegewebskapsel eingeschlossen ist. Außerdem sieht man, wie über diese
Kapsel hinweg Muskelbündel streichen, die, von einer zur anderen Seite zie-
hend, die Lider miteinander zu verbinden scheinen. Sonst sind im Innern des
Auges alle Abschnitte vorhanden, die dem normalen Auge angehören. Also ein
Corpus ciliare, ein Glaskörper, Chorioidea und Sklera. Besonders gut ent-
wickelt sind die Lider, in denen sich alle beim normalen Auge vorhandenen
Teile erkennen lassen. Zum Unterschied davon fehlt der periphere Riech-
apparat vollständig bis auf einen ganz rudimentären Nasenschlauch ohne
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 371
irgendwelche Fila olfactoria. Eine genaue Beschreibung dieser Verhältnisse
am Nasenapparat soll a. a. O. erfolgen.
Wenn wir nun mit Rücksicht auf das Verhalten dieser beiden peripheren
Apparate das Gehirn einer genaueren Durchsicht unterziehen, so muß man
zunächst die proportionale Entwicklung der einzelnen Abschnitte ins Auge
fassen, da. diese für die Beurteilung des Ganzen von großer Bedeutung er-
scheint. Im wesentlichen kann man sagen, daß makroskopisch die Entwick-
lung des Gehirns bis zum vorderen Vierhügel eine der Norm nahezu ent-
sprechende ist und daß erst das Thalamusgebiet sich sehr wesentlich von
der Norm entfernt. Die Mißbildung beginnt eigentlich erst im Zwischenhirn.
Am deutlichsten jedoch tritt sie erst am vorderen Ende der Hirnachse im
Vorderhirn hervor. Hier sind es — immer nur makroskopisch betrachtet -—-
zwei Momente, die hauptsächlich ins Auge fallen. Das eine Moment ist die
auffallend geringe Entwicklung des sekundären Vorderhirns und das zweite
Moment ist das Ausbleiben der Bildung der beiden Hemisphären. Es hat
zwar den Anschein, als ob an einzelnen Stellen wenigstens eine leichte
Scheidung von rechts und links vorhanden ist. Aber eine wirkliche Trennung
fehlt. Vielleicht ist dadurch noch ein Moment zu erklären, nämlich das Ver-
halten der Staminganglien. Die äußerst geringe Entwicklung des sekundären
Vorderhirns bringt es offenbar mit sich, daß dieses letztere nicht wie es
sonst der Fall ist, den Hirnstamm kaudal überwölbt. Dadurch erscheint die
Lage der Stammganglien sowohl zum Zwischenhirn als auch zum sekundären
Vorderhirn sehr wesentlich geändert, da wir sie nun oral vom Zwischenhirn
sichten müssen, etwa in der Form eines frühfötalen Zustandes, wo sich die
Ganglienhügel gerade zu entwickeln beginnen und mit dem basalen Grob-
birnabschnitt ventral zusammenhängen.
Dieser letztere Umstand wird natürlich wiederum maßgebend sein für
die Verhältnisse der kortiko-fugalen und kortiko-petalen Faserung, mil einem
Wort, für die Lage der inneren Kapsel.
Wenn wir, dies vorausgeschickt, an die Beschreibung der einzelnen Teile
herantreten und mit dem Olfaktorius beginnen, so muB man gestehen, dab
trotz des Fehlens der Fila olfactoria oral und ventral ein Hirnabschnitt
vorhanden ist, den wir wohl als zum Olfaktorius gehörig bezeichnen müssen.
Er ist durch eine breite Brücke mit dem übrigen Vorderhirn in Verbindung,
zeigt ein selbständiges Mark in der Tiefe und man wird nicht fehlgehen an-
zunehmen, daß wir hier den Lobus olfactorius vor uns haben, von dem aus
Fasern sich kaudalwärts begeben und dort ventral von der Hauptmasse der
Stabkranzfaserung zwei isolierte Bündel bilden. Es scheint, als ob diese
Bündel sich der Kapselfaserung anlegen, so daß man sie später nicht mehr
deutlich isolieren kann und es unmöglich erscheint, ihren weiteren Verlauf
zu verfolgen. Ebenso macht es den Eindruck, als wenn die zwei säulen-
förmigen Gebilde, die wir im ventralen Zapfen gefunden haben, vielleicht
Septum pellucidum darstellen. Auch hier sieht man quergetroffene Fasern
kaudalwärts ziehen (basales Riechbündel?). Während aber diese Teile in
ihren Beziehungen nicht absolut sicherzustellen sind, lassen sich das Ammons-
372 Dr. Walter Stupka.
horn und das Hippocampusgebiet sicherstellen, die gleichfalls mit dem
Olfaktorius in Verbindung stehen. Sie gehen direkt in den oral selbständigen
Abschnitt der Rinde über, den wir eben als Lobus olfactorius geschildert
haben. Während aber dieser orale Abschnitt der Lobus olfactorius ein ein-
heitlicher, offenbar aus der Verschmelzung der beiderseitigen Lobi hervor-
gegangener ist, sind die kaudalen Abschnitte (Lobus piriformis) bilateral
symmetrisch. Ihre Faserung löst sich in dicken Bündeln von der Innenseite
der Rinde ab, strebt dorsalwärts und kreuzt in der Mittellinie die Seite;
medial von der Ammonsrinde sich ablösende Fasern (Fimbria?) ziehen gegen
den Zapfen und mischen sich hier mit den anderen Querschnittsbündeln. Man
kann sie wohl als Fornix ansprechen. Schwierig aber ist es, diese weiter zu
verfolgen.
Jedenfalls finden sich an der Stelle, wo wir den Fornix sonst zu suchen
haben, im Thalamus quergetroffene Bündel, die auf der einen Seite stärker
entwickelt sind als auf der anderen. Aber sie entsprechen sicher nicht voll-
ständig dem Fornix, denn sie erschöpfen sich wesentlich oraler als dieser, und
nur ein Teil läßt sich kaudaler verfolgen, ohne daß man mit Sicherheit ein
Ende in dem Corp. mammillare feststellen könnte. Letzteres zeigt eine ganz
asymmetrische Entwicklung und es ist nicht leicht die mit ihm in Verbindung
stehenden Systeme zu erschließen. Sicher ist ein F. thalamo-mammillaris
vorhanden. Aber er kann ebenso wie die Fornixfaserung schwer aus dem
Fasergewirr abgeschieden werden und ist eigentlich nur in der Nähe des
N. ‚anterior sicherzustellen. Ein Bündel erscheint sehr auffallend. Das sind
Fasern, die sich von den lateralen Teilen des C. mammillare entwickeln,
direkt ventrikelwärts streichen, sich zunächst als quergetroffene Bündel um
den F. retroflexus herumlegen, um dann lateralwärts noch im Mittelhirn an
Kerne zu gelangen, deren Sicherstellung nicht gut möglich ist. Das Ganze
spricht am ehesten dafür, daß es sich hier um den F. mammillarts princeps
handelt, und zwar dessen tegmentalen Abschnitt. Während also diese mit
dem Mammillare zusammenhängenden Teile schwer zu differenzieren sind,
gelingt das leicht für jene Fasern, welche mit der Mittelhirnhaube resp. dem
Ggl. interpedunculare zusammenhängen. Zunächst sei betont, daß die Taenia
thalami auffallend mächtig entwickelt ist, daß sie in typischer Weise das
(gl. habenulae erreicht, das ebenfalls eine mächtige Entwicklung zeigt und
das durch eine Kommissur mit der anderen Seite in Verbindung steht. Ent-
sprechend der mächtigen Entwicklung dieses (gl. habenulae finden wir nun
einen ebenso mächtigen F. retroflexus, den wir bis in das Ggl. interpedunculare
verfolgen können. Der Umstand, daß die eigentlichen Vierhügelabschnitte
mächtig entwickelt sind, der Thalamus aber weniger mächtig, bringt es mit
sich, daß das Vierhügeldach über den Thalamusbeginn ragt, also die ventralen
Teile des Thalamus kaudaler zu beginnen scheinen, als es der Norm ent-
spricht. Dadurch kommt man in die Versuchung, den F. retroflexus mitunter
mit dem F. thalamo-mammillaris zu verwechseln. Auch der Pedunculus corp.
mamm. ist bilateral-symmetrisch sehr gut entwickelt und läßt sich kaudal-
wärts zum Teil in die Gegend des Ganglion interpedunculare, zum Teil dorsal-
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 373
wärts davon verfolgen. Ebenso finden sich beide Guddensche Haubenganglien
bilateral-symmetrisch.
Wenn wir also überlegen, daß eigentlich ein peripherer Riechapparat
nahezu gänglich fehlt, so muß die Entwicklung der zerebralen Abschnitte
desselben wundernehmen. Nur ein Teil fehlt, d. i. die Commissura anterior,
was offenbar mit dem Defekt der Kommissurenplatte und Lamina terminalis
zusammenhängt.
Der Umstand, daß das Auge eigentlich vorhanden ist und in seinen
nervösen Abschnitten schließlich, wenn auch reduziert, so doch eine weit-
gehende Entwicklung aufweist, läßt von vornherein vermuten, daß das optische
System eine zentrale Vertretung besitzt. Man darf nur nicht vergessen, daß
nur ein Auge vorliegt. Wenn es auch nicht gelang, den peripheren Nerven
darzustellen. so muß man doch dessen Vorhandensein annehmen, da ein
Chiasma vorliegt und zwei, wenn auch verhältnismäßig schwache Tractus
optici sowohl in zwei laterale Kniehöcker einstrahlen, als auch über diese
hinaus in das Str. opt. der Vierhügel. Der Umstand, daß ein Str. zonale in
dem Vierhügel fehlt, spricht wohl dafür, daß diese Fasern nicht dem pri-
miren Optikussystem mehr angehören, sondern, wie dies vielfach be-
hauptet wird, eine kortiko-quadrigeminale Verbindung darstellen. Hier
ist also eine bilateral-syinmetrische Entwicklung vorhanden, allerdings eime
etwas gegenüber der Norm reduzierte. Das gilt besonders für die oberfläch-
lichen Schichten des vorderen Vierhügels.
Was nun die zugehörigen Augenmuskelkerne anlangt, so wurde schon
in der Beschreibung darauf hingewiesen, daß diese bilateral-symmetrisch vor-
handen sind und daß eigentlich eine besondere Abweichung von der Norm
bei keinem der Kerne konstatiert werden kann.
Weiters muß man auch die den Cochlearis und Vestibularis betreffenden
Abschnitte, soweit sie bis in das Mittelhirn resp. das Zwischenhirn zu ver-
folgen sind, als entsprechend entwickelt ansehen. Allerdings ist es schwer,
das Ggl. gen. med. mit Sicherheit abzuscheiden. Doch scheinen jene Kerne,
die als solche bezeichnet wurden, tatsächlich diesem anzugehören.
Die übrigen Hirnnerven zeigen nichts, was sie von der Norm differen-
zieren könnte.
Die zentripetalen Bahnen, also in allererster Linie die Schleife — von
der Akustikusschleife soll, da sie bereits als entsprechend entwickelt be-
zeichnet wurde, nicht weiter gesprochen werden — ist sicher vorhanden,
dafür sprechen sowohl die bilateral-symmetrisch angelegten Gollschen und
Burdachschen Kerne, deren oralen Rest wir nachweisen konnten, als auch
die Bogenfasern. Vielleicht ist die Lage der Schleife ein wenig anders. Sie
erscheint in der Medulla oblongata mehr dorsal gerückt, wird aber in der
Brücke und im Mittelhirn dann an jenen Stellen gefunden, wo sie de norma
zu liegen kommt. Nur ihre Endigung im Thalamus läßt sich nicht mit absoluter
Sicherheit feststellen.
Im Gegensatz zur Schleife fehlt die Pyramidenbahn vollständig. Das hat
zunächst in der Medulla oblongata zur Folge, daß die Form des Querschnittes
374 Dr. Walter Stupka.
eine nicht unwesentliche Änderung aufweist, die Oliven an die Oberfläche
treten und medial durch keine Olivenzwischenschicht getrennt sind. Es sei
hier gleich betont, daß ihre Entwicklung eine besonders gute, vielleicht über-
mäßige ist. Wir werden infolge dieses Verlustes der Pyramiden auch in der
Brücke die Querschnittsbündel vermissen müssen, vor allem aber keinen
Pedunculus cerebri finden, so daß die S. nigra allerdings nur stellenweise
an der ventralen Oberfläche anzutreffen ist.
Der Umstand, daß ein Thalamus vorhanden, der Umstand ferner, daß
wir Brückenfasern erkennen können, zwingt uns anzunehmen, daß ein der
Innenkapsel analoges Gebiet vorhanden sein muß. Hier beginnen allerdings
die großen Schwierigkeiten deshalb, weil dieses Gebiet vollständig anders
gelagert sein muß als es der Norm entspricht.
Ich habe schon erwähnt, daß hier die Stammganglien keineswegs so
“angeordnet sind wie beim normalen Tier, sondern daß sie offenbar nur oral
vom Thalamus zu finden sind, daß also, wenn eine Kapsel überhaupt vor-
handen ist, diese lateral frei an der Oberfläche des Thalamus gefunden werden
müßte. In der Tat finden sich auch quergetroffene Fasern ventral und
ventro-lateral an der Thalamusoberfläche. Wir müssen in diesen quer-
gelroffenen Fasern zumindest drei verschiedene Elemente vermuten. Die
einen sind zentripetale, vom Thalamus gegen das (iroßhirn ziehende. Die
zweiten sind zentrifugale, die Großhirn-Thalamusfaserung -— die 'Thalamus-
stiele — und möglicherweise kommen auch kortiko-pontine Fasern in Frage.
Ich habe schon erwähnt, daß die Stammganglien, also das Striopallidum, ledig-
lich oral vom Thalamus liegen. Wir müssen also annehmen, daß die thalamo-
striäre Faserung hier nicht durch die Lamina med. lat. lateralwärts tritt,
sondern daß sie, wie das in der Tat der Fall ist, in breiten Bündeln ventral-
wärts strebt, um gegen den Zapfen des Vorderhirns zu gelangen, in dem wir
die Stammganglien vermuten. Es müssen sich diese Fasern demzufolge mit
den Kapselfasern berühren und sie bilden tatsächlich letzten Endes ein
großes Querschnittsbündel, das wie ein Keil in einer grauen Masse steckt,
die wir als Striopallidum ansprechen. Es hat sich also das, was wir Kapsel
und striäre Faserung nennen, in einem gemeinsamen, median gelegenen
Systen vereinigt. Noch komplizierter aber wird diese Tatsache durch das Auf-
treten einer mächtigen hypothalamischen Kommissur oberhalb vom Chiasma.
Denn diese Kreuzung sendet ihre gekreuzten Fasern gleichfalls oralwärts
in das eben geschilderte Zapfenbündel, so daß wir also hier bereits neben
den kortiko-petalen, kortiko-fugalen und thalamo-striären ungekreuzten auch
eine Gruppe gekreuzter Fasern vor uns hätten. Diesen gekreuzten Fasern
gehört zumindest das an, was man als Meynertsche Kommissur bezeichnet.
Doch dafür ist die Kreuzung zu groß. Auch selbst wenn man annimmt, daß
ein Teil der Fasern Guddensche Kommissur darstellt und Commissura hypo-
thalamica ant., wäre diese Kommissur noch zu mächtig.
Nun ist es zweifellos, daß ein Teil dieser Fasern sicher eine kortikale
Verbindung darstellt. und zwar eine kortiko-thalamische Verbindung oder
eine thalamo-kortikale. Eine Kreuzung dieser Fasern bei den höheren
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 375
Vertebraten aber wird vermißt. Dagegen findet sich bei den Fischen, be-
sonders den Selachiern, die sogenannte Kreuzung der Mantelbündel. Es ist
nun interessant, daß gerade diese Kreuzung der Mantelbündel bei den
Selachiern die mächtigste Kreuzung nach dem Chiasma darstellt. Vielleicht
handelt es sich hier um eine phylogenetische Rückschlagsbildung, nicht
etwa eine Änderung infolge mechanischer oder andersartiger Momente, wie
das gemeinhin angenommen wird. Man müßte dann nur die Spitzersche
These der abnormen Bündel heranziehen, wonach die Anomalie nur den
Weg bezeichnet, den die Bündel zur endgültigen Lage zurücklegen. Vielleicht
haben wir in den sub-thalamischen Kommissuren der höheren Vertebraten
noch Reste dieser phylogenetisch alten Mantelkreuzung zu suchen. Da die
Zapfenbündel größtenteils in die Rinde einstrahlen, so müssen wir an-
nehmen, daß ein Teil der kortiko-thalamischen Faserung hier gekreuzt ver-
läuft.
Wenn wir also resumieren, so besteht das Zapfenbündel
1. aus den zentripetalen Fasern aus dem Thalamus zur Rinde,
2. aus den gekreuzten und ungekreuzten Verbindungen des Thalamus
zum Striopallidum,
3. aus kortiko-thalamischen, offenbar gekreuzten Fasern, zu denen
eventuell
4. noch Fasern kommen, die man bis zur Brücke verfolgen kann.
Der Bauplan des Großhirns der beschriebenen Zyklopie ist unendlich ein-
fach. Wir können im großen und ganzen vier Windungen nachweisen, die zu
identifizieren natürlich infolge der mangelhaften Schichtdifferenzierung nicht
möglich ist, ausgenommen natürlich das Olfaktoriusgebiet. Wir können in
diesem Gebiet eine Corona radiatia, eine Andeutung des C. callosum finden
und das mächtig entwickelte Psalterium. Bezüglich der Ventrikel verhält sich
die Sache so, daß kaudal, also im Psalteriumgebiet, ein einheitlicher medianer
Ventrikel vorhanden ist, der sich lateral und ventral ins Ammonsgebiet
erstreckt. Oralwärts sind die Verhältnisse ungefähr so wie bei den früheren
Entwicklungsstufen, indem nur eine unpaare Höhle ventral zu sehen ist.
Es wurde schon auf die besonders mächtige Entwicklung der Oliven
verwiesen und es kann hinzugefügt werden, daß auch die zentrale Hauben-
bahn eine ganz entsprechende Entwicklung aufweist. Es ist natürlich ange-
sichts der verworrenen Verhältnisse oral vom Mittelhirn nicht möglich,
zu entscheiden, wo diese Bahn entspringt. Schon allein der Umstand der
ganz mangelhaften Entwicklung der Stammganglien spricht gegen die Tat-
sache einer direkten Abhängigkeit dieses Systems und der Oliven vom
Striopallidum. Die Oliven-Kleinhirn-Verbindung ist deutlich vorhanden, in
gleicher Weise das Restiforme und der sehr mächtige Kleinhirnmittellappen.
Und ebenso mächtig entwickelte Kleinhirnkerne sprechen dafür, daß auch hier
eigentlich keine besonderen Änderungen gegenüber der Norm vorliegen.
Nur die Lobi laterales sind etwas weniger gut entwickelt. Das Bindearm-
system, der rote Kern zeigen nichts von der Norm Abweichendes. Auffällig
muß bei dem Mangel des Großhirns die verhältnismäßig beträchtliche Ent-
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 25
376 Dr. Walter Stupka.
wicklung der Brücke sein. Allerdings kann man quergetroffene Fasern kaum
wahrnehmen. Aber ich möchte nicht glauben, daß diese vollständig fehlen,
da man im Mittelhirngebiet ganz ventral quergetroffene Faserbündel, wenn
auch in bescheidener Anzahl, findet, die den kortiko-pontinen Systemen an-
gehören könnten. Dagegen sind die Querfasern der Brücke, sowohl die in
die Brückenarme ziehenden, als die perpendikulären für die Brückenhaube
und auch die Brückenkerne selbst, auffällig gut entwickelt. Es handelt sich
also hier um eine Reduktion im ponto-zerebellaren Abschnitt, um ein nahezu
völliges Fehlen im kortiko-pontinen Abschnitt.
Formale Genese, kausale Genese, Entstehung der Blasenbildung.
Das Interesse der ersten Untersucher zyklopischer Mißbildungen wurde
begreiflicherweise fast ausschließlich von den Verhältnissen des Auges in
Anspruch genommen und vorwiegend darauf eine Klassifizierung aufgebaut
(E. und J. Geoffroy St. Hilaire; die Einteilungen von Vrolik und von Bock,
zit. nach Schwalbe und Josephy und nach v. Hippel). Schon den Unter-
suchern vor einem Säkulum drängte sich bei Betrachtung der verschieden-
gradigen Formen, die trotz aller Charakteristik im einzelnen doch fließende
Übergänge untereinander aufweisen — eine Tatsache, für welche immer
mehr und mehr Belege beigebracht wurden, je mehr und je genauer solche
Mißbildungen untersucht wurden —, der Gedanke nach einer äußeren Stö-
rung auf, welche am vorderen Körperende, bzw. am Augenapparate an-
greifend, bestimmte Gewebsteile vernichtet oder in ihrer Entwicklung hemmt,
so daß da ein Minus entstehe, welches, durch die Aneinanderlegung und ,,Ver-
schmelzung‘ der übriggebliebenen Anteile notdürftig ausgeglichen, eben die
Mißbildung darstellt. Es wurde dabei wiederholt das Bild des herausgeschnitte-
nen Keiles von verschiedener Breite (außen) und verschieden tief hinein-
reichender Spitze (innen) gebraucht, und diese Idee in den letzten Jahr-
zehnten nur noch als Hilfsvorstellung gelten gelassen, welche uns zwar
schlaglichtartig über die Größe des Verlustes im einzelnen Falle aufzuklären
vermag, aber nicht den eigentlichen Hergang erklärt. Dies insofern, als es
sich nicht um die Entstehung eines Defektes an den fertig ausgebildeten
Organen (den Augen und ihrer Umgebung) mit Überbrückung desselben mittels
„Verschmelzung der erhalten gebliebenen Anteile handle, sondern die Stö-
rung vielmehr schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der embryonalen Ent-
wicklung eingesetzt haben müsse und durch Schädigung (totale oder partielle
Zerstörung, Hemmung in der Entwicklung) medianer Gewebsbezirke und ge-
wisser in der Nähe der Medianlinie gelegener Organanlagen zu einer Kon-
fluenz der restierenden Anlagenanleile geführt habe, woraus sich dann als
Endergebnis der Entwicklung die verschiedenen Mißbildungsformen der Zy-
klopie ergäben. In der Einleitung wurde erwähnt, zu welcher Annahme
C. Dareste, der erste systematisch an großem Material arbeitende experimen-
telle Teratologe, für die von ihm am Hühnerkeime erhaltenen Mißbildungen
(unter diesen auch zyklopische) kam: C. Dareste glaubte beobachtet zu
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 377
haben, daß das vordere spaltförmige Ende (fente vertico-mediane) des Me-
dullarrohres bzw. des Vorderhirnbläschens, welch ersteres sich normalerweise
erst nach erfolgter Ausstülpung der primären Augenblasen schließt, dies allzu
früh tue und daß die Ursache hievon in dem Druck einer zu engen Kopfkappe
des Amnion zu suchen sei. Diese Theorie blieb lange herrschend, zumal das
Amnion auch für viele andere Mißbildungen (nur zum Teil mit Recht!) ver-
antwortlich gemacht wurde, und scheint auch noch in manchen kasuistischen
Mitteilungen der neueren Zeit auf. Jedenfalls war aber durch die Arbeiten
von Dareste die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit der Hirnstörungen
hingelenkt worden. Kundrat hat unter dem Einfluß der Daresteschen
Lehre bei der Zusammenfassung und Neuordnung einer Anzahl von Miß-
bildungen, welche sich enge an die Zyklopie anschließen und geringere Stö-
rungsgrade beinhalten, letzteren den Namen „Arhinenzephalie“ beigelegt
und damit zum Ausdruck gebracht, daß er in der Entwicklungsstörung und
Mißbildung des Gehims (hier vornehmlich des Riechhirns) und der basalen
Teile des Vorder- und Zwischenhirns das Wesen dieser Mißbildung erblicke.
Im übrigen machte sich Kundrat die Anschauungen von C. Dareste bezüg-
lich der formalen Genese zu eigen. Das unterschiedliche Moment, welches in
dem einen Male zur Zyklopie, im anderen Male zur Arhinenzephalie führe,
könne nur in der zeitlichen Differenz der Einwirkung liegen. Für die von
ihm gefundenen und zur Mißbildungsreihe der Arhinenzephalie geordneten
verschiedenen Grade der Verbildung am Gehirn und am Nasenkieferapparat
nimmt Kundrat eine weitere Abstufung nach Grad und Dauer der Ein-
wirkung des Druckes der Kopffalte des Amnion an. Für die letzte Form, wo
sich nur ein Defekt am Rhinenzephalon (bei normalem Nasenkieferapparat)
findet, dürfte nur die kürzeste Einwirkung Platz gegriffen haben, welche
nur das Hirn treffe. „Daß unter allen Umständen zunächst und selbst wenn
die Ausbildung der übrigen Teile nicht gehemmt wird, das Hirn unter einem
solchen Druck leidet, kann in der Zartheit seiner ersten Anlage und dem
relativen Übergewicht derselben bezüglich seiner Größe seine Erklärung
finden. Vielleicht, daß auch noch die besondere Zartheit der mittleren Anteile
des Bodens im Vorder- und Zwischenhirn von Belang ist.“ (Kundrat,
l. c, S. 125.) Auch die Einfachheit des Vorderhirns sowie die Veränderung,
die an der Zwischenhirndecke in Form der blasigen Ausbuchtung auftritt,
mag durch diese Druckwirkung angebahnt werden. Obzwar Kundrat in den
meisten Fällen eine vermehrte Liquorausscheidung nach der einfachen Ven-
trikelhöhle zu nachweisen konnte, welch letztere über die Norm erweitert
und zur Ausbildung einer mächtigen Blase im Bereiche der Zwischenhirn-
decke führte, so möchte er einen so konstanten Befund nicht von dem, wenn
auch häufigen, Hinzutreten hydropischer Ausscheidungen nach den Ventrikeln zu
abhängen lassen, sondern ihn vielmehr nur im Wesen der Mißbildung selbst
suchen. Nach Kundrat ist auch die Blasenbildung Folge des Druckes von
seiten der Kopffalte des Amnion. Denn da zur Zeit, zu welcher die Druck-
wirkung angenommen wird, das Gehirn noch die Form cines gegliederten
Rohres mit sehr dünnen Wandungen und einer verhältnismäßig weiten Lich-
25*
378 Dr. Walter Stupka.
tung habe, so müsse, da der Druck auf die vordersten beiden Bläschen (das
sich entwickelnde Vorder- und Zwischenhirn) von unten und vorne ein-
wirke, die Flüssigkeit in deren Höhle nach oben gepreßt werden. Da die
obere Peripherie zum größten Teil in diesem Zeitpunkte von der schon in
dieser Anlage zarten Zwischenhirndecke gebildet werde, komme es an dieser
zur Ausbuchtung. Auch hier seien Grad und Dauer des Druckes maßgebend,
bei höheren Graden der Mißbildung ist auch die Blasenbildung der Zwischen-
hirndecke eine beträchtlichere. Kundrat nimmt eine Rückwirkung der Blasen-
bildung auf die Ausbildungshöhe des Vorderhirns an in dem Sinne, daß bei
höheren Graden der Blasenbildung sekundär die Verkümmerung des Vorder-
hirns eine hochgradigere ist. Letztere sei also in solchen Fällen nicht in
dem ursächlichen Moment der Mißbildung allein begründet. Kundrat sieht
in dieser gegen die Decke des ersten und zweiten Hirnbläschens gerichteten
Druckwirkung der Flüssigkeit auch den Grund für das Einfachbleiben des
Vorderhirns. Obwohl in diesen Fällen die Ausbildung der Hirnsichel mehr
minder gänzlich unterblieben ist (sie ist nur gelegentlich in ihren hinteren
Partien vorhanden), tritt Kundrat der Ansicht von Mihalkovicz wohl
mit Recht entgegen, der die Einfachheit des Vorderhirns von dem Ausbleiben
der Bildung der Hirnsichel abhängig sein läßt. Übrigens könne die Einfachheit
des Vorderhirns auch nicht in der Defektbildung des Rhinenzephalon gelegen
sein, was daraus hervorgehe, daß die Teilung des Vorderhirns in Hemisphären
und die Ausbildung der Sichel trotz Defektbildung des Rhinenzephalon er-
folgen könne, wie dies Kundrat im Falle IX (Kundrat, l. c., S. 127) be-
obachtet hat. Dies spricht entschieden gegen die gegenteilige Auffassung von
Riese, wie schon Josephy (Disk. Bemerkung) hervorgehoben hat. In
diesem Falle (Arhinenzephalie mit seitlicher Lippen-Gaumenspalte — 4. Form
der Kundratschen Arhinenzephalie) war trotz Defektes des Rhinenzephalon
ein Balken, Fornix, Sept. pellud. und vordere Kommissur vorhanden, woraus
resultiere, daß die Ausbildung dieser Teile unabhängig sei von der Existenz
oder Nichtexistenz des Rhinenzephalon. Auch die eigentümliche Zusammen-
schiebung der Basalteile des Gehirns mit Steilstellung des Kleinhirns und
abnormer Gestaltung und Insertion des Tentorium führt Kundrat auf die an-
genommene Druckwirkung zurück, ebenso auch die häufig gefundene Verände-
rung in der Gestaltung und Stellung der Sehhügel. Im unmittelbaren Zu-
sammenhang mit der Verkümmerung der Basalteile des Zwischenhirns stehen
nach Kundrat dann auch die Abweichungen in der Ausbildung des Tractus
opticus und des Chiasinas, beispielsweise Fehlen und Verkümmerung_ der-
selben, die Annäherung der Sehnerven bis zur Verschmelzung derselben und
ihre mangelhafte Entwicklung in einzelnen Fällen. Alle weiteren Bildungs-
defekte des Vorderhirns, der Defekt oder die mangelhafte Entwicklung der
Stammganglien werden als weitere Folgen der gehemmten Entwicklung des
Vorderhirns aufgefaßt. Auch die anderen, so häufig mit Zyklopie und Arhin-
enzephalie verbundenen Anomalien faßt Kundrat als durch Ammiondruck
entstanden auf und findet geradezu in der Anwesenheit solcher anderer
Anomalien eine Bestätigung der ammiogenen Genese der Störungen der Hirn-
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 379
entwicklung. Solche häufig mit Arhinenzephalie kombinierten Anomalien
sind abnorme Entwicklung der großen Gefäße und des Herzens mit Defekten
der Septa, Polydaktylie, Mißbildungen im Bereich des ersten Kiemenbogens,
Nabelbrüche, Zwerchfelldefekte. In den meisten Fällen von Arhinenzephalie
sind die hydropischen Erweiterungen auf die gemeinsame Ventrikelhöhle des
Vorder- und Zwischenhirns beschränkt, wogegen die übrigen Anteile des
Zentralkanales daran nicht teilnehmen. In einzelnen Fällen aber kommt es
neben geringer Erweiterung des Aquaed. Sylvii zu beträchtlichen Erweite-
` rungen im vierten Ventrikel mit einer ähnlichen blasigen Ausbuchtung seiner
Decke wie am Zwischenhirn. Daneben finden sich nun Defektbildungen in
der Hinterhauptschuppe, die möglicherweise vom Hydrops des vierten Ven-
trikels abhängig sind. Kundrat erblickt hierin Übergangsformen zur Encepha-
locele posterior, welche, wenn schon nicht neben Arhinenzephalie, doch neben
Zyklopie öfter beobachtet worden ist.
Auf Grund des Studiums von nach Darestes Vorgang erhaltenen miß-
bildeten Hühnchenembryonen (histologische Untersuchung der Medullarplatten
in den ersten Tagen der Entwicklung) kam E. Rabaud zur Ansicht, daß die
von Dareste gegebene Erklärung der Zyklopie unrichtig ist. Das vordere
Hirnbläschen schließe sich nicht frühzeitiger als normal, sondern vielmehr
verspätet, die Anlage des zyklopischen (und des anenzephalen und mero-
anenzephalen Gehirns, um welche Formen es sich zum Teil wohl mit ge-
handelt haben dürfte, sei eine von allem Anfang an von der Anlage
des normalen Gehirns grundverschiedene. Statt durch einen aktiven Ein-
senkungs- bzw. EinstülpungsprozeB werde der Verschluß des Medullar-
rohres durch eine allmähliche Überwachsung von den Seiten her herbeigeführt,
also ‚„epibolischer‘ Prozeß statt des normalen ‚embolischen‘“ Prozesses. Diese
Feststellungen E. Rabauds bilden sicherlich einen wichtigen Markstein in
unserer Erkenntnis vom Wesen und Aufbau der zyklopischen Himbildung.
Unter anderem drückt sich darin auch die Tatsache aus, daß die zur Zyklopie
führende Hirnbildung schon von den ersten Anfängen der Bildung
der Medullarplatte ihren besonderen Weg geht. Zu ähnlichen Überzeugun-
gen gelangten auf Grund ihrer experimentell erzeugten Zyklopien an Fischen
bzw. Amphibien Stockard und H. Spemann. Auch Fischel hatte sich
schon 1903 bezüglich der Zyklopie dahin geäußert, daß man die Annahme
machen müsse, daß die zur Bildung der betreffenden Körperteile prädesti-
nierten, aber noch nicht zu bestimmten Organen differenzierten Zellmassen
in einem sehr frühen Entwicklungsstadium der Embryonalanlage in eine ein-
zige Masse zusammengeflossen seien. Der Ermittlung der teratogeneti-
schen Terminationsperiode, jenes spätesten Zeitpunktes, bis zu welchem
die ursächliche Schädlichkeit eingewirkt haben muß, um die typische Miß-
bildung zu erzeugen, wurde besonderes Interesse entgegengebracht und der
Lösung dieser Frage teils durch glückliche Nebenbefunde, teils durch Experi-
mente, die anderen Zwecken dienten, nahegekommen. So konnte H. Spe-
mann in seinen interessanten Experimenten über die Entwicklung umge-
drehter Hirnteile bei Amphibienembryonen feststellen, daß die Augenanlagen
380 Dr. Walter Stupka.
schon in der offenen Medullarplatte determiniert sind, ja daß selbst die Dif-
ferenzierung der Augenanlage in Retina- und Tapetumzellen, die erst nach
der Ausbildung der beiden Schichten sichtbar wird, schon in der Medullar-
platte festgelegt ist. Aus seinen Versuchen ging mit absoluter Sicherheit her-
vor, daß also sowohl die gröberen Wachstumsverhältnisse als auch die
feinere Ausdifferenzierung der einzelnen Hirnteile schon in der offenen
Medullarplatte bestimmt sind. Daraus geht hervor, daß die teratogenetische
Terminationsperiode der Zyklopie wahrscheinlich in das Stadium der noch
offenen Medullarplatte vor Ausstülpung der primären Augenblasen zu ver-
legen ist. Zu einer durchaus ähnlichen Ansicht kam auch Fischel in seiner
grundlegenden Arbeit über Zyklopie ex 1921 auf Grund von Beobachtungen
von frei in der Natur aufgefundenen zyklopischen und der Zyklopie nahe-
stehenden (arhinenzephalen) Fehlbildungen. In einer im Jahre 1930 aus
dem Fischelschen Institut publizierten Mitteilung von G. Politzer (siehe
das Referat eingangs dieser Arbeit) wurde aus dem Zusammentreffen mit
dem verspätet erfolgten Verschluß des Neuroporus anterior bei diesem
Embryo der Schluß gezogen, daß die teratogenetische Terminationsperiode
dieser allerdings sehr leichten Form von Arhinenzephalie dem Stadium
von 30 Urwirbelpaaren entspreche. Aus der Gegenüberstellung der Rabaud-
schen Befunde, der Feststellungen Spemanns sowie der Annahme Fischels
mit dem von G. Politzer für seinen Fall ermittelten spätesten Zeitpunkt
geht hervor, daß die teratogenetische Terminationsperiode unter allen Um-
ständen in einen sehr frühen Zeitpunkt der fetalen Entwicklung zu verlegen
ist, daß im einzelnen aber nicht unbeträchtliche Schwankungen denkbar sind,
welche sich dann aber auch im Grade der Störung (schließliches Ergebnis: An-
enzephalie — Meroanenzephalie — Zyklopie — Arhinenzephalie verschiedener
Grade) ausdrücken. Bei Annahme einer Keimschädigung während des Zeu-
gungsaktes (Blastophthorie im Sinne von Forel), wie dies Gamper für seine
Beobachtung tut, ist natürlich die Terminationsperiode mit dem Zeugungsakt
gegeben. Experimentelle Ergebnisse von O. und P. Hertwig sind geeignet,
eine solche Anschauung zu stützen. Die Noxe trifft das Chromatin der Keim-
zellen eines oder beider Partner und überträgt seine Störung nach der Ver-
einigung der beiden Keimzellen in allen folgenden Zellteilungen auf alle
Zellen, i. e. auf den ganzen Körper. Bei allzu großer Schädigung der Keim-
zellen gehen letztere zugrunde, nur relativ geringere Grade von Schädigung
erhalten die Keimzellen noch fähig zu weiterer Entwicklung und es wäre
immerhin möglich, daß eine Abstufung im Schädigungsgrade der Keimzellen
schließlich zu differenten Ergebnissen (verschiedene Mißhildungsgrade) führe.
Freilich ist hiezu die Annahme nötig, daß die aus der befruchteten, aber
bereits abnormen Eizelle durch weitere Teilung hervorgehenden Organe und
Organteile nur deshalb eine elektive Schädigung aufweisen, weil etwa ein
geschädigtes Chromatin zur Produktion höchst differenzierter, zu besonderen
Leistungen befähigter Zellen (Nervensystem, Sinnesorgane usw.) nicht oder
nur ungenügend hinreicht, wogegen es zur Ausbildung von Stützsubstanzen
zwar besser, aber auch nicht völlig entspricht. Wie dem immer sei, ob eine
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 381
Blastophthorie anzunehmen ist oder eine Schädigung eines von vornherein
gesunden Keimes in einem allerfrühesten Entwicklungsstadium (noch offene
Medullarplatte vor Ausstülpung der primären Augenblasen), aus den experi-
mentellen Ergebnissen geht jedenfalls hervor, daß auch erst nach dem Beginn
einer normal eingesetzten Entwicklung, wenn auch zu einem sehr frühen
Zeitpunkte, Zyklopien und verwandte Störungen erhalten werden können.
Darin ist aber praktisch kein Gegensatz zu erblicken, wie es anfangs scheinen
möchte. Ungeklärt ist bisher, ob für den menschlichen Keim eine Blastophthorie
oder eine zu einem etwas späteren Zeitpunkte einsetzende Störung eines ur-
sprünglich sich normal entwickelnden Keimes anzunehmen ist. Auch die
Mitteilung von A. Klopstock über familiäres Vorkommen von Zyklopie
und Arhinenzephalie, wobei in einer Ehe von Geschwisterkindern ohne
Syphilis in der Anamnese mehrfach verschiedengradige Mißbildungen, über-
dies aber einmal ein Zyklop und ein Jahr später ein Cebozephalus geboren
wurde, kann die obige Frage nicht entscheiden, wiewohl die Annahme, daß
es sich hiebei um Blastophthorie gehandelt haben dürfte, wahrscheinlicher
zu sein scheint. Da bisher keinerlei Beobachtungen darüber vorliegen, daß
in mehreren aufeinanderfolgenden Generationen zyklopische und verwandte
Mißbildungen aufgetreten sind, so liegt anderseits jedenfalls einstweilen keine
zwingende Notwendigkeit vor, eine ererbte und vererbbare primäre Keimes-
anomalie als Ursache für zyklopische und verwandte Fehlbildungen anzu-
nehmen. Für die frei in der Natur vorgefundenen zyklopischen und ver-
wandten Fehlbildungen an Salamanderlarven ist Fischel auf Grund von ver-
schiedenen Überlegungen geneigt anzunehmen, daß es sich hiebei um eine
exogene, toxische Schädigung der Salamanderlarven zu einem sehr frühen
Zeitpunkt gehandelt haben dürfte. In Anlehnung hieran ventiliert Gamper
auch die Möglichkeit, daß bei einer zyklopische Mißbildungen zur Welt brin-
genden Mutter (wie in der Beobachtung von Klopstock) irgend ein gestörter
Chemismus vorliegen mochte, der sich bei jeder Schwangerschaft auf die
junge Keimesanlage auswirke. Bei der außerordentlichen Vielgestaltigkeit der
Noxen, welche in der experimentellen Teratologie mit Erfolg zur Erzeugung
künstlicher Zyklopen an Fischen, Amphibien und Vögeln benutzt wurden, war
es anfangs unmöglich, den allen diesen Schädigungen gemeinsamen Faktor
aufzufinden. Erst durch die Untersuchungen des amerikanischen Biologen
C. M. Child und seiner Schule, welch erstere zu ganz anderen Zwecken unter-
nommen wurden, wurde festgestellt, daß in den allerersten Entwicklungs-
stadien der Organismen typische Stufenleitern der Empfindlichkeit vorhanden
sind und daß gerade diejenigen Organe, welche in lebhafter Proliferation
und Entwicklung begriffen sind, Schädigungen gegenüber eine ganz beson-
dere Empfindlichkeit zeigen und dies deshalb, weil eben in lebhaft prolife-
rierenden Zellkomplexen bzw. Organanlagen begreiflicherweise die Stoff-
wechselvorgänge besonders lebhafte sind. Diese Lehre Childs von den
Empfindlichkeits- bzw. Stoffwechselgradienten hat viel Bestechendes an sich,
ist an experimentell zu erweisenden biologischen Tatsachen fundiert und
wurde auch zur Erklärung für die Störungen am vorderen und hinteren
382 Dr. Walter Stupka.
Körperende zum Teil schon von Schülern Childs selbst herangezogen. In
seiner letzten Arbeit (1931) hat H. Spemann dagegen einige Bedenken
geltend gemacht: Es sei zwar einleuchtend, daß am vorderen Ende der
Medullarplatte, wo sich die Augenblasen ausstülpen werden, eine größere
Aktivität herrschen müsse als weiter hinten, dies vielleicht im Sinne von
Child, es sei aber doch wahrscheinlich, daß bei der Determinierung der
Augenblasen, welche sehr früh eintritt, zugleich der regere Stoffwechsel
induziert wird, ohne den die Augen sich wohl nicht ausbilden können. Es
wäre demnach eine etwas vorsichtigere Fassung besser, etwa im Sinne von
Boveri, welcher nur von einer sich graduell ändernden Plasmabeschaffen-
heit spricht, welche unbestimmte Auffassung unseren jetzigen Kenntnissen
besser entspreche. Immerhin geht auch aus dieser vorsichtigeren Fassung
deutlich hervor, daß Empfindlichkeitsdifferenzen bestehen und daß für den
Fall einer toxischen Einwirkung auf allerfrüheste Entwicklungsstadien des
Keimes Verhältnisse vorliegen, welche eine elektive Schädigung begünstigen
bzw. solchen geradezu Vorschub leisten.
Daß die aus höchst empfindlichem Gewebe bestehende, in starker Pro-
liferation befindliche offene Medullarplatte des jungen .Keimes tiefgreifende
Schädigungen fast elektiv erfahren kann, wenn ihr Träger toxischen Noxen
ausgesetzt wird, erscheint nach den dargelegten Ergebnissen der experi-
menteller Teratologie und den Arbeiten der Childschen Schule gut verständ-
lich. Besonders klar wird m. E. das sich daraus entwickelnde Ergebnis, wenn
wir hiemit die Feststellungen des Embryologen A. Ruffini und seiner Schüler
verknüpfen. Ruffini studierte in jahrzehntelanger Arbeit die ersten elemen-
taren Zellvorgänge bzw. Funktionen und konnte hiebei als allerwichtigste
die Proliferation, die amöboide Beweglichkeit und die Sekretion feststellen.
Aus diesen drei Grundfunktionen der Embryonalzellen gehen die mannig-
faltigsten Phasen der Körperentwicklung und -umgestaltung hervor. Nament-
lich ist der Amöboidismus und die Sekretion bei allen Einstülpungs- und
Hohlraumbildungen (Gastrulation, Ausbildung der Primitivorgane des Frosch-
keimes, beispielsweise der Saugnäpfe usw.) maßgebend und ebenso auch
nach den minutiösen histologischen Untersuchungen von Ruffinis Schülerin
L. Marchetti bei der Entstehung der Augenblase und der Ausbildung des
Medullarrohres wirksam. Es könnte nun immerhin sein, daß einzelne dieser
Zellfunktioren stärker in Mitleidensehaft gezogen werden als andere oder
mit anderen Worten, daß der Ependymbelag des Medullarrohres in seiner
Proliferation, namentlich aber in der Fähigkeit zur Einstülpung- und Hohl-
raumbildung (Amöboidismus, embolischer Prozeß nach Rabaud) stärker
beeinträchtigt ist, als etwa in der Sekretion. Woraus sich erklären könnte,
daß die vorwiegend geschädigten höchstdifferenzierten Abschnitte des Zentral-
nervensystems (Vorder und Zwischenhirnbläschen) nur eine geringe Raum-
gestaltung und Masse erreichen konnten, in ihrem Sekrelionsvermögen je-
doch eine geringere Einbuße erlitten. Dies würde die bei diesen Fällen nie
fehlende, die noch vorhandenen Hohlräume des Gehirns maximal bis zu
Blasenbildung ausdehnende Sekretion verständlich machen.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 383
Diese Annahme erhält dadurch eine Stütze, daß bei der Zyklopie und
bei den schwereren Graden der Arhinenzephalie die Entwicklung des Tel-
enzephalon, der Stammganglien und des Zwischenhirns meist sehr schwer
geschädigt ist, wogegen in den leiehteren Fällen der Arhinenzephalie (Arhin-
enzephalie mit sogenannter medialer Lippengaumenspalte, Arhinenzephalie
mit seitlicher Lippengaumenspalte, Arhinenzephalie mit Trigonozephalie, an-
geborener Balkenmangel) diese Teile eine viel bessere Ausbildung erfahren
haben und auch der Hirnmantel eine viel größere Dicke erreicht. Bei Zyklopie
und den schwereren Formen der Arhinenzephalie findet sich dagegen nicht
nur die an und für sich auch de norma dünne Decke des Zwischenhirns
vom ‚„Hydrops“ ausgedehnt, sondern gelegentlich auch die Decke des sekun-
dären Vorderhirnbläschens mächtig sackförmig erweitert (wie etwa in den
Beobachtungen von D. D. Black, O. Nägeli und in Fall VI von H. Kundrat),
da letztere wegen des durch den Mißbildungsprozeß ursächlich bedingten
Materialmangels dünn und widerstandslos geblieben war. Im Falle D. D.
Blacks war die Blase sogar allein der Decke des Telenzephalon zugehörig,
und dies anscheinend offenbar deshalb, weil wohl infolge des Mißbildungs-
prozesses (und nicht, wie D. D. Black annimmt, durch den Druck des er-
weiterten ersten Ventrikels auf den dritten!) die Kontinuität des Hirnrohres
unterbrochen und eine Verbindung der Räume des sekundären Vorderhirn-
bläschens mit dem dritten Ventrikel nicht vorhanden war. Letzterer endigte
nämlich vorne blind. Gleichwohl war auch er hydropisch erweitert, seine
Decke an einer Stelle defekt. Daß für die mannigfaltigen Differenzen der
Sackausbildung und -lokalisation die Verhältnisse im zentralen Hohlraum
des Hirns resp. die Kontinuitätsverhältnisse desselben maßgebend sind,
scheint daraus hervorzugehen, daß in Fällen ungestörter Kontinuität sich
der Hydrops weiter nach hinten insoferne ausbreitet, als er zu einer Er-
weiterung des Aquaed. Sylvii, eventuell sogar zu einem Hydrops des vierten
Ventrikels führen kann (siehe die im Vorausgegangenen gemachten Angaben
von Kundrat und vgl. den höher oben referierten Befund H. Zingerles
am Zentralnervensystem eines Arhinenzephalen). Freilich wird die allseits
dicke Wand des Mittelhirns einer Erweiterung des Aquädukts und einer Fort-
leitung nach rückwärts im allgemeinen nicht förderlich sein. Wie die Durch-
sicht der bisherigen Mitteilungen (siehe den Referatenteil der Arbeit) ergibt,
ist aber die Kontinuität des Hirnrohres öfters eine gestörte (Fall von D. D.
Black, Arhinenzephalus von Zingerle mit Verwachsungen und Defekten
des Ependyms zwischen den Sehhügeln usw.), so daß daraus die Be-
schränkung des „Hydrops“ auf die vorderen Abschnitte des Hohlraumsystems
des Gehirns gut verständlich ist. Im Bereiche der vordersten Abschnitte
des Hirnrohres ist natürlich die an und für sich dünne Zwischenhirndecke
am leichtesten zu dilatieren, eine Ausdehnung auch des Ventrikels im Tel-
enzephalon hat natürlich zur Voraussetzung, daß dort wenigstens einiger-
maßen eine Hohlraumbildung erfolgt ist. Ist aber gerade diese Funktion der
Bildungszellen des Zentralnervensystems (aktiver Ein- und Ausstülpungs-
vorgang, Amöboidismus der keulenförmigen Zellen A. Ruffinis) besonders ge-
384 Dr. Walter Stupka.
stört, so wird auch die noch halbwegs erhaltene sekretorische Funktion nicht
oder nur wenig zur Geltung kommen können. Dementsprechend finden sich
auch in den höchsten Graden der Zyklopie nur relativ geringe Erweiterungen
des Hohlraumes im Telenzephalon (wie auch in meiner Beobachtung oder
etwa in dem von H. Zingerle beschriebenen ‚„arhinenzephalen“ Gehirn),
viel mächtigere dagegen in leichteren Fällen von Zyklopie (Fälle von D. D.
Black und von O. Nägeli) und in den verschiedenen Abstufungen der Arhin-
enzephalie (beispielsweise die Fälle von Bälint-Cebozephalus mit Über-
gang zur dritten Form der Arhinenzephalie; Fall VI von H. Kundrat —
dritte Form der Arhinenzephalie mit sogenannter medianer Oberlippenspalte;
Illberg — fünfte Form der Arhinenzephalie mit Trigonozephalie u, a.). Dem-
entsprechend war in meiner Beobachtung, welche einen hohen Grad der
Zyklopie mit mikrophthalmischer Gestaltung des median gelegenen Bulbus dar-
stellt, zwar eine große Blase entsprechend der Zwischenhirndecke vorhanden —
sie zerriß, wie in sehr vielen Fällen bei der Herausnahme des Gehirns, wahr-
scheinlich wegen der zwischen Dura und Blasendecke so häufigen Adhäsionen,
auf welche D. D. Black besonders hingewiesen hat — das Telenzephalon
selbst bot jedoch rein äußerlich nicht das Bild einer Blase, vielmehr den
eines kastanienförmigen Knollens und enthielt einen unpaaren, zwar deutlich
erweiterten, aber nicht maximal dilatierten Ventrikel. Daß es sich bei dieser
Blasenbildung um ein typisches Attribut der zyklopischen und arhinenzephalen
Fehlbildung des Zentralnervensystems handelt, geht nicht nur daraus hervor,
daß erstere niemals vermißt wird, sondern auch daraus, daß auch bei der
übergeordneten Fehlbildungsgruppe (Anenzephalie resp. Meroanenzephalie
und Pseudenzephalie), wo die Matrix des Zentralnervensystems und ihre
Funktionen noch schwerer getroffen sind, ähnliches vorkommt. So war in
der hieher gehörigen, als Übergang zur Zyklopie aufzufassenden Beobachtung
von Veraguth eine sich als Blase darstellende Area cerebro-vasculosa vor-
handen. Eine interessante Ergänzung dieser Befunde bilden mehrere Fälle
von C. Winkler (Lit. Nr. 4), welche er unter dem Titel „Zyklopie mit
Erhaltensein des Rhinenzephalon“ beschrieb (1919): Die Fälle II bis inklu-
sive VII stellen nach Winkler Zyklopien vor, welche mit verschiedenen
Graden von Synotie kombiniert waren. Überall fand sich Sackbildung,
welche aber gewisse Besonderheiten am frontalen und okzipitalen Ende auf-
wies, indem sich in einzelnen Fällen der Sack in den gleicherweise dünnen
Rand des Telenzephalon fortsetzte, einmal (Fall VII) sogar das Mesenzephalon
und das nicht entwickelte Zerebellum einen Teil der dünnen Wand des
Sackes bildeten, welcher auch den vierten Ventrikel bedeckte. Aus der
detaillierten Beschreibung von Fall VII geht indes hervor, daß es sich bei
diesem Lammsfötus nicht um eine echte Zyklopie, sondern um eine zur
Gruppe der Otozephalie gehörige Mißbildungsform, nämlich um einen typi-
schen Strophozephalus gehandelt hat. Die Nase war nämlich völlig
erhalten, ebenso auch das Siebbein mit Crista galli, Lamin. cribr. und Lamina
papyracea, inklusive Siebbeinlabyrinth, ebenso waren beide Hemisphären
und die Falx gut entwickelt. Es fanden sich gut entwickelte Bulbi und Tract.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 385
olfact., ein Lobus olfact. ant. und post. und das Ammonshorn jederseits —
mit einem Wort ein vollständig entwickeltes Rhinenzephalon —. Vorhanden
waren ferner zwei Sehnerven, die Corp. mammillaria, das Striatum und
die Sehhügel. Der Sack, welcher sich in diesem Falle fand, entsprang aber
vorne an der Epiphyse und substituierte das Mesenzephalon und das Zere-
bellum, von welchen nichts gefunden werden konnte. Die beiden Trigemini
waren anwesend, zwischen denselben war aber die Hirnbasis in eine 1 mm
dünne Membran verwandelt, an ersterer erschien nach Eröffnung des Sackes
ein mehr als 1 cm breiter Defekt im Bereiche der Pedes pedunculi. Die
Tatsache, daß im Bereiche der knöchernen Schädelbasis der Defekt erst das
hintere Keilbein mit der Sella inklusive Hypophyse, ferner Klivus, Atlas-
bogen und ferner den Ober- und Unterkiefer betraf, also Teile, welche mit
der Hirnmißbildung topisch gut korrespondieren, läßt erkennen, daß die
Defektbildung hier etwa auf das Gebiet des 1. Kiemenbogens und dem ihm
topisch entsprechenden Abschnitt des Hirnrohres beschränkt war und hier
offenbar infolge primärer Zerstörung, bzw. schwerer Schädigung des Bildungs-
materiales zu Ausfällen am zweiten und dritten primären Hirnbläschen, wie
auch zu völligem oder fast völligem Untergang der Gebilde des l. Kiemen-
bogens geführt hatte. Die Tatsache der Blasenbildung als Ersatz des
Mittel- und Hinterhirns entspricht also völlig den Verhältnissen bei
Zyklopie und Arhinenzephalie nur mit veränderter Topik entsprechend den
verschiedenen primären Angriffspunkten der Noxe bzw. dem daraus re-
sultierenden primären Materialmangel. Dies ist meines Erachtens eine weitere
Stütze der von mir geäußerten Annahme, daß bei Schädigung der Matrix
des Zentralnervensystems vorerst und besonders eingreifend die Prolifera-
tion und der Amöboidismus im Sinne Ruffinis gestört ist, wogegen die
Sekretion relativ weniger Schaden gelitten hat und zum Hydrops der ge-
schädigten Abschnitte des Hirnrohres führt. Auch darf man nicht vergessen,
daß sicherlich auch die resorptiven Verhältnisse Schaden gelitten haben
könnten und so die Größe des Hydrozephalus beeinflussen.
Nicht unerwähnt soll bleiben, daß der Ansammlung von vermelhrter
Hirnflüssigkeit (Hydrops) im Bereiche der vorderen Abschnitte des Hirn-
rohres von einzelnen Autoren auch eine sekundäre Wirkung vindiziert wurde.
So hat Kundrat angenommen, daß besonders hohe Grade des Hydrozephalus
eine weitere sekundäre hemmende Wirkung auf die Ausbildung der Stamm-
ganglien und des Vorderhirns ausüben. H. Zingerle schloß sich der An-
sicht von Kundrat an, daß die Ausbildungshöhe des Vorderhirns desto mehr
leide, je höhere Grade der Hydrozephalus erreiche. Schließlich nahm D. D.
Black für seinen Fall, in welchem sich ein hochgradig hydropisch ausge-
dehnter erster Ventrikel fand, der gegenüber dem dritten, ebenfalls er-
weiterten und zum Teil geplatzten, vollständig abgeschlossen war, an, daß
diese Obliteration durch den Druck des Hydrops des ersten Ventrikels
gegenüber dem dritten entstanden sei. Wir werden wohl nicht fehleehen in
der Annahme, daß diese Hypothese Blacks im Hinblick auf die Unregelmäßig-
keiten bezüglich Wegsamkeit, Lagerung und Lichtungsquerschnitt des zen-
386 Dr. Walter Stupka.
tralen Hirnhohlraumes unrichtig ist und die aufgefundenen Verhältnisse viel
einfacher durch eben jene Anomalien erklärbar sind. Ganz entschieden aber
muß der Auffassung von C. Winkler (Lit. Nr. 1 und 3) entgegengetreten
werden, daß durch den Hydrops des Zwischenhirns erst die zyklopische
Hirnmißbildung quasi erzeugt werde. Winkler nimmt nämlich, wie schon
in der Einleitung dieser Arbeit zum Teil auseinandergesetzt, an, daß durch
einen pathologischen Prozeß in einem frühen Stadium der Entwicklung,
nämlich im Beginne der Teilung des Telenzephalon und nach der Formierung
der primären Augenblasen, sich eine Hydropsie des Daches des dritten Ven-
trikels ausgebildet habe und daß dieser Hydrops die Hirnbasis an deren
frontalem Ende zerstöre. Auch die Hirnhäute und die daselbst gelegenen
Knochen der Schädelbasis würden zerstört, die Haut aber bleibe intakt. Trotz
angeblicher Beweise für diese Annahme (siehe das Referat in der Einleitung
dieser Arbeit, muß diese Theorie Winklers als ziemlich willkürlich
bezeichnet werden. Sie entspricht der alten, von Ernst aus guten Gründen
als falsch erwiesenen Theorie von v. Recklinghausen über die Entstehung
der Rachischisis. Wie willkürlich und völlig auf die Erklärung des basalen
Hirn- und Schädeldefektes abgestellt diese Hypothese Winklers ist, geht
daraus hervor, daß jeder Unbefangene bei Ausbildung eines großen und an
der Decke des Zwischenhirns, bzw. des Telenzephalon dünnen Sackes ver-
muten müßte, daß, falls es überhaupt zu einer Zerreißung des Sackes kommt,
dies im Bereiche dieser dünnen Decke, also dorsal, erfolgen müßte, nicht
aber ventral in der Gegend der Lamina terminalis, wo man bei diesen
Mißbildungen relativ dicke solide Hirnmassen findet. So nehmen Riese und
Goldstein und Riese für ihre Fälle geradezu ein Platzen der Säcke
dorsalwärts an, wobei der Plexus chorioideus aus dem Loch nach außen
hin herausgedrängt worden wäre. Auch ist es möglich, daß die in einzelnen
Fällen gefundenen Defekte der Zwischenhirndecke durch Platzen intra vitam
und nicht erst bei der Herausnahme des Gehirns bei der Sektion entstanden
sind. Spricht schon das Angeführte völlig gegen die Winklersche Annahme,
so muß es noch um so mehr verwundern, daß ein Bersten des Hirnbodens
das Kopfmesoderm derart ausgedehnt zerstört haben sollte, daß man nichts
mehr davon in so großer Ausdehnung, wie es dem ganzen Ethmoid und
der Nasenanlage entspricht, sehen sollte. Könnte es wirklich zu einer derart
ausgedehnten Durchbrechung des Kopfmesoderms an der Hirnbasis kommen,
so müßten daraus «dauernde Spaltbildungen resultieren, an deren Rändern
die Reste der gespaltenen Gewebspartien nachweisbar sind. Dies ist aber
keineswegs der Fall. Als entscheidendsten Gegengrund aber möchte ich an-
führen, daß es bei den leichtesten Formen der Arhinenzephalie, in welchen
das Telenzephalon bis auf eine Verschmelzung der Stirnpole eine relativ
sehr reiche Ausbildung (reiche Windungs- und Furchenbildung, dicker Hirn-
mantel; erfahren hat, überhaupt nicht zu einer eigentlichen Sackbildung,
wie in den bisher erwähnten Fällen, gekommen ist und trotzdem das Rhin-
enzephalon fehlt.
Die Mißbildung des zyklopischen und arhinenzephalen Gehirns und der
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 387
mit ihm untrennbar und kausal verknüpften Defekte im Bereich des ange-
lagerten Kopfmesoderms und der in letzteres eingebetteten paarigen Nasen-
anlage ist vielmehr im engen Anschluß an die Ergebnisse der Forschungen
von E. Rabaud und H. Spemann und den Darlegungen von A. Fischel
und von Fischels Schüler G. Politzer darin zu suchen, daß die Hirn-
anlage wahrscheinlich schon im Stadium der offenen Medullarplatte noch
vor Ausstülpung der primären Augenblasen Schaden genommen hat und sich
nunmehr in abnormer Weise weiterentwickelte. Nach E. Rabaud bleibt sie
flach ausgebreitet, die normalen Einstülpungsvorgänge werden vermißt, der
Verschluß des Hirnrohres erfolgt in anderer Weise (epibolischer Prozeß nach
E. Rabaudı und verspätet (E. Rabaud, G. Politzer). Der schädigende
Prozeß hat offenbar zu einer Materialeinbuße im Bereich des Telenzephalon
und zum Teil auch in dem des Dienzephalon geführt, besonders betroffen
sind die Gegend der Lamina terminalis (mit daraus resultierendem Fehlen
der vorderen Kommissurensysteme), die pallialen Formationen und zum Teil
auch die Stammganglien. Es ist gut verständlich, daß unter diesen Umständen
die normale Ausbildung von sekundären Vorderhirnbläschen bzw. normal
gebildeter, auch vorne getrennter Hemisphären unterbleiben muß und dem-
entsprechend auch die Ausstülpung des Rhinenzephalon, die ja de norma von
jeder Hemisphäre aus erfolgt. Daß dem so ist, geht unter anderem zwingend
daraus hervor, daß in allerleichtesten (Graden von Arhinenzephalie gelegentlich
völlig getrennte Hemisphären (auch an den Stirnpolen!) vorhanden sein
können, ohne daß es (offenbar infolge Fehlens der Ausstülpung) zur Aus-
bildung eines Rhinenzephalon gekommen ist. Der Ausstülpungsvorgang des
sekundären Vorderhirnbläschens ist also mit anderen Worten kein ganz voll-
ständiger gewesen und zum Stillstand gekommen, ehe die Ausstülpung des
Rhinenzephalon stattfinden sollte. Für den Fall der Annahme einer exogen
wirkenden, erst während der ÖOntogenese sich geltend machenden Noxe
bleiben zur Erklärung der graduell so verschiedenen schließlichen End-
resultate die Annahmen, daß die Noxe a) zu verschiedenen Zeit-
punkten oder aber b) in allen Fällen etwa zum gleichen Zeit-
punkte, aber mit verschiedener Intensität eingewirkt habe. Letztere
Möglichkeit scheint mir die wahrscheinlichere zu sein und es ist in diesem
Punkte wohl R. Brun zuzustimmen, welcher bei Betrachtung der Ursachen
der Entwicklungsfehler des Kleinhirns zu folgendem Resultate kommt: Das
„morphologische Endresultat, namentlich auch mit Bezug auf die Frage, in
welcher Phase der Otogenese ein mehr oder minder kompletter Entwicklungs-
stillstand eintritt, hängt also hauptsächlich von der Intensität der primären
teratogenen Schädigung ab. Mit anderen Worten: Zur Erklärung des Ent-
wicklungsstillstandes in einer bestimmten Phase braucht nicht notwendig
angenommen werden, daß die betreffende Schädlichkeit erst in dieser Phase
einsetzte“. Es wäre somit bei Annahme einer exogenen Noxe der Enderfolg
bei gleichbleibendem Zeitpunkt der Einwirkung nur von der Intensität letzterer
abhängig, wobei die Wirkung des schädigenden Einflusses sich bei schwerer
Schädigung sofort, bei leichterer erst im weiteren Verlaufe zeigen würde,
388 Dr. Walter Stupka.
als ob die Noxe erst dann erfolgt wäre. Dieselben Überlegungen dürfen auch
bei der Annahme einer Blastophthorie als zutreffend gelten (freilich unter
der höher oben skizzierten Voraussetzung). R. Brun und im Anschluß an
diesen auch Gamper nehmen Blastophthorie zur einheitlichen Erklärung der
verschiedenen anderen, bei diesen Mißbildungen gleichzeitig vorkommenden
Anomalien an.
Das Endergebnis der gestörten Entwicklung wurde von verschiedenen
Autoren als ein Stehenbleiben auf einer niedrigeren Entwicklungs-
stufe gedeutet. So zog Nägeli einen Vergleich mit dem Teleostiergehirn,
wogegen sich schon H. Zingerle, im besonderen auch D. D. Black, aus-
sprachen: Die verdickten basalen Strukturen waren nämlich nicht, wie bei
den Fischen, die phylogenetisch alten Hirnanteile, denn das Corpus striatum
fehlte, sondern gehörten dem Pallium an. Ebenso sprachen auch die An-
wesenheit der Hippocampusformation und der Bau und die Schichtung
der Hirnrinde absolut gegen Nägelis Hypothese, so daß also nur eine ober-
flächliche Ähnlichkeit vorliegt. Andererseits verglich D. D. Black selbst die
direkte Art der Einstrahlung der in seinem Falle entwickelten (atypischen)
Thalamusstrahlung in die zonale oder plexiforme Schicht des Cortex mit
dem bei Amphibien normalerweise angetroffenen Verhalten der Projektions-
fasern. Auch dies stellt meines Erachtens wahrscheinlich nur eine zufällige
Ähnlichkeit dar, vielleicht durch bestimmte topische Verhältnisse ausgelöst.
In dem hier mitgeteilten Falle war wenigstens derartiges nicht nachweisbar,
sondern die Fasern der Corona radiata strahlten allerorten in typischer
Weise vom Mark aus in die Rindenschichten ein. Vergleiche mit dem Hirnbau
bei den Cetaceen zogen Riese, sowie Goldstein und Riese in zwei-
facher Hinsicht, gestützt auf zahlreiche Arbeiten des ersteren am Gehirn der
Wale und des Delphins. Und zwar regte das Fehlen gewisser Abschnitte des
Riechhirnes bei ihren arhinenzephalen Monstren diese Autoren dazu an,
einen Parallelismus zwischen diesen Ausfällen und dem normalen Bau der
des Geruchsinnes entbehrenden Cetaceen herzustellen. Sie erblicken in ihren
Befunden Gesetzmäßigkeiten und konnten eine Zone des Pallidum erst-
malig als zum Riechhirn gehörig deklarieren. Bei ihrem II. Falle (vierjähriges
riechhirnloses Kind) konnten diese Autoren einen zweiten Parallelismus
anderer Art nachweisen: Sowohl bei den Walen, als auch bei ihrem Arhin-
enzephalen fanden sich bei Unterentwicklung des Großhirns die Stamm-
ganglien, das olivozerebellare System usw. besonders mächtig entwickelt,
so «daß sie von einer kompensatorischen Hypertrophie sprechen. Für die
Wale stelle dies eine Anpassung an die besonderen Lebensverhältnisse dieser
Tiere dar, für den Arhinenzephalus eine Kompensation der äußerst schlechten
Hirnentwicklung. Auch hierin sehen diese Autoren keine Zufälligkeit, sondern
Folgen aus gemeinsamer Ursache. Das Vorkommen kompensatorischer Hyper-
trophie der Staminganglien wurde bisher wenigstens noch von keiner anderen
Seite beschrieben, möglicherweise kam eine solche wegen der Mitbeschädigung
dieser Hirnabschnitte durch die primäre Noxe nicht zur Ausbildung, wenn
auch öfters von besonders großen Oliven und reichlicher Ausbildung von
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 389
Nebenoliven gesprochen wird (wie auch in meiner Beobachtung). Ob hier
also ein gesetzmäßiges Verhalten oder nur eine singuläre Erscheinung vor-
liegt, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber muß man sagen,
daß sich fast allen Untersuchern solcher Mißbildungen zumeist gleich im An-
fang ihrer Arbeit die Idee eines solchen Stehenbleibens auf niedriger Ent-
wicklungsstufe unwillkürlich aufgedrängt hat, zumal auch das äußere Bild
solcher Gehirne solchem Gedankengang gewissermaßen Vorschub leistet.
Wenn es sich alsó auch nach dem Gesagten nicht um ein solches Stehen-
bleiben auf niedrigerer Entwicklungsstufe handelt, so ergibt sich doch eine
gewisse Ähnlichkeit im Endergebnis daraus, daß die Neuerwerbungen
des Gehirns als höchste und als zeitlich letzte Stufe natürlich am
stärksten betroffen sein müssen, weil eben die durch die Noxe geschädigte
Matrix gerade zu ihren höchsten und zeitlich letzten Leistungen nicht mehr
hinreicht. Daraus ergibt sich dann gewissermaßen das Bild des Stehenbleibens
auf niedrigerer Stufe. Einen ähnlichen Gedanken hat, wie ich sehe, schon
R. Brun in seiner Arbeit über die Entwicklungsfehler des Kleinhirns in
folgende Sätze gefaßt: „Bei weniger schwerer toxischer Schädigung der Hirn-
anlage (Herabsetzung der Teilungsenergie der primären Matrix), welche ledig-
lich zu einer allgemeinen Hypoplasie des Zentralnervensystems führt, kann
das Paläozerebellum sich in der Regel noch in annähernd normaler Weise
differenzieren. Dagegen kommt es zu einer mehr oder weniger schweren
Aplasie oder Hypoplasie des Neozerebellum ..... ‚indem das spärliche, von
der Ependymmatrix nachgelieferte Bildungsmaterial nicht mehr zur Morpho-
genese auch dieser phylogenetisch spät zur Entwicklung gelangenden Teile
ausreicht. Die so entstandene, scheinbar elektive ‚phylogenetische System-
aplasiee des Neozerebellum erklärt sich somit aus der Tatsache, daß das
Neozerebellum nicht nur phylogenetisch, sondern auch ontogenetisch zu
jenen Abschnitten der Hirnanlage gehört, die sich am spätesten differenzieren,
so daß dasselbe von einer allgemeinen Adynamie der Keimentwicklung
naturgemäß am schwersten in Mitleidenschaft gezogen wird.“
Besonderes Interesse aller Untersucher seit Nägeli hat die Frage erregt,
ob für die Ausbildung der Kerne und Fasersysteme im Zentralnervensystem
die Rouxsche Selbstdifferenzierung zutrifft oder vielmehr die abhängige
Differenzierung der einzelnen Teile untereinander. O. Nägeli hat sich als
erster für die Selbstdifferenzierung entschieden, H. Zingerle erklärte sich
dagegen vorwiegend für die zweite Eventualität. Alle seitherigen Untersucher
haben in dieser Frage etwa eine Mittelstellung eingenommen, so etwa
D. D. Black, der die Selbstdifferenzierung unter gewissen Kautelen als ge-
geben ansieht (vgl. den Referatenteil). Die neuesten Autoren, wie Riese,
Goldstein und Riese, Gamper räumen der abhängigen Differenzierung
einen weiten Spielraum ein, namentlich in den an das Zwischenhirn sich
kaudalwärts anschließenden Hirnpartien. Um mich nicht zu wiederholen, sei
diesbezüglich auf die im Referatenteil dieser Arbeit gemachten diesbezüglichen
Äußerungen der genannten Autoren verwiesen. Ohne die fördernde Wirkung
der einzelnen in Entwicklung begriffenen Anteile des Zentralnervensystems
390 Dr. Walter Stupka.
aufeinander verkennen zu wollen, zielt doch unser Gesamteindruck beim
Studium der hier beschriebenen Mißbildung dahin, der Rouxschen Selbst-
differenzierung den ersten Platz einzuräumen. Was sich herausdiffe-
renzierl und was nicht, scheint eben vornehmlich davon abhängig zu sein, ob
die für die einzelnen Abschnitte und Formationen bestimmte und mit im-
manenten Bildungsfähigkeiten ausgerüstete Matrix des Zentralnervensystems
durch die primäre Noxe getroffen wurde oder nicht. Daneben kommt sicher-
lich eine sekundär-korrelative Entwicklungshemmung (sekundäre Hemmung
der morphogenetischen Ekphorie, Wegfall der morphogenetischen Reiz-
wirkungen — R. Brun) vor. Für die große Rolle der Rouxschen Selbst-
differenzierung auch im Zentralnervensystem spricht der Nachweis der zahl-
reichen noch mehr minder gut ausgebildeten sekundären und tertiären Zentren
im Bereiche der Riech- und Sehfaserung in meinem Falle, obwohl das peri-
phere Riechorgan so gut wie völlig fehlte, jedenfalls aber keine Spur eines
Olfaktorius vorhanden war und auch der Abgang eines Optikus vom mikro-
phthalmischen Bulbus sich nicht nachweisen ließ. Allerdings konnte ein
Chiasma mit Faserkreuzung und das Einstrahlen zweier schwacher Tractus
optici in die beiden Corpora genic. lat. festgestellt werden. Bezüglich der
weiteren Details verweise ich auf die ausführlichen, höher oben ange-
führten mikroskopischen Befunde und die beigeordneten Abbildungen. Hier
sei nur angefügt, daß die in diesen Fällen bilateral sehr gut ausgebildete
Ammonsformation, welche sich, wenn darauf geachtet wurde, fast stets vor-
fand, die Untersucher seit der ersten positiven Feststellung durch Nägeli
immer wieder von neuem überraschte und fesselte! Der Ausdruck ‚„Arhin-
enzephalie‘ ist daher nur so zu verstehen, daß bloß die dem Lobus olfact. ant.
zugehörigen Abschnitte nicht angelegt sind, so daß der Terminus „Arhin-
enzephalie‘‘ ohne Kenntnis dieses Umstandes leicht zu Mißverständnissen
Anlaß geben könnte. —
Was die abnormen Faserkreuzungen anlangt, so hat auch auf
diesem Gebiete Nägeli die ersten Feststellungen gemacht. Er fand eine
atypische Sehhügelstrahlung und Sehhügelstrahlungskreuzung und versuchte
eine ınechanische Erklärung für dieses Phänomen zu geben. H. Zingerle be-
schrieb in seinen beiden Fällen einen gekreuzten atypischen Sehhügelstab-
kranz mit Einstrahlung in die Hemisphäre (letzteres nur im ersten Falle)
und überdies eine atypische Chiasmakreuzung in seiner zweiten Beobachtung.
Bezüglich Erklärung dieser Kreuzungen schließt er sich der Nägelischen
Deutung an. Auch Black beschreibt eine atypisch entwickelte Thalamus-
strahlung. welche man sogar in einer seiner Abbildungen sich kreuzen sieht.
C. Winkler, der seiner Drucktheorie (mittels des hydropisch erweiterten
Zwischenhirnsackes) zuliebe eine Drehung der Hemispbären um eine fronto-
okzipitale Achse annimmt, wodurch die normalerweise lateral gelegenen
Basalganglien ventral verlagert würden, findet an der Hirnbasis neben der
Rad. olf. ventr. Fasern, welche zur Corona radiata gehören, also auch an
atvpischer Stelle liegen. Auch in meinem Falle fand sich eine ventrale
Thalamuskreuzung und ventral davon @uerschnittsfelder, welche wohl als
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 391
innere Kapsel angesprochen werden dürfen. Neben diesen atypischen Faser-
verläufen, bzw. Faserkreuzungen konnten in meiner Beobachtung ferner
Fasern nachgewiesen werden, welche aus der Ammonsrinde dorsalwärts
verlaufen, und sich zu einer Kreuzung anschicken. Es fand sich ein Psalterium,
eine deutliche Balkenfaserung und ferner auch Fasermassen, die man wohl
als zur Fornix gehörig bezeichnen darf.
Was die Deutung dieser abnormen Faserverläufe und Kreuzun-
gen anbetrifft, so ist es schwer diesbezüglich eine allgemein gültige Meinung
zu äußern. Ob wir es hier mit Folgezuständen topischer Veränderungen zu
tun haben, welche sich naturgemäß durch den Ausfall bestimmter Anteile
der Stammganglien und des Dienzephalon ergeben, mag zum Teil zutreffen,
es könnte immerhin sein, daß durch die von der Norm abweichende Gestaltung
der Thalami und das verschiedene Verhalten der Stammganglien oder ihrer
Reste die sonst lateralwärts gerichtete, nicht kreuzende thalamo-kortikale
Strahlung nunmehr ventral gerichtet ist und zur Kreuzung führt. Etwas
Ähnliches könnte auch für den Stabkranz gelten, der, statt lateral zu liegen,
nunmehr ventral vom Thalamus zu liegen kommt, Es kann aber auch even-
tuell bei diesen atypischen Dekussationen die Möglichkeit hereinspielen, daß
die Kreuzungen im Sinne von Spitzer im Laufe der Zeit ihren Ort ge-
wechselt haben. Jene abnormen Bündel, bzw. Kreuzungen könnten dann —
mit aller gebotenen Reserve — eventuell als Wegmarken zur jetzigen nor-
malen Entwicklung, bzw. zum jetzigen Zustand gedeutet werden, insoferne
als das Mantelbündel (kortiko-thalamische, pontine, spinale Fasern) durch
seine Teilung in drei Abschnitte seine Kreuzung im Laufe der Zeit an ver-
schiedene Stellen gelegt hat.
Die Frage, ob alle die in der fertigen Mißbildung zu konstatierenden Aus-
fälle Folge der primären, die Bildungszellen des Zentralnervensystems tref-
fenden Noxe gewesen, möchten wir natürlich unter der Zubilligung der sich
automatisch daraus mitergebenden sekundär-korrelativren Entwicklungs-
hemmungen entschieden bejahen. Doch könnte es immerhin möglich sein,
daß im einzelnen, allerdings nur kleineren Detail, noch gewisse andere
Momente bei der endgültigen Gestaltung der Mißbildung ihre Hand mit im,
Spiele haben: Man kann hiebei eventuell an die in allen diesen Fällen mit
Sicherheit nachgewiesenen Gefäßanomalien des Hirns und seiner Häute
denken, welche ja zwangsläufig aus der Mitschädigung des topisch benach-
barten Kopfmesoderms folgen. Das klassische Beispiel hiefür, die Por-
enzephalie, mag hiebei in unserem Unterbewußtsein mit anklingen. —
Arbeiten aus dem Wr. neurol. Inst. XXXIII. Bd., Heft 2. 26
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1852.
Über die Bauverhältnisse des Gehirns einer zyklopischen Ziege. 393
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(1004, S. 862 ff.
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eyclopie. Anat. Anzeiger, 46 (1914), 280.
Leser ©., Ein Fall von Zyklopie. ZBI. f. prakt. Augenheilkunde 1911, S. 366 (6 mm
langer Embryo), zit. nach L. Castaldi.
Mall F. P., Cyclopia in the human embryo. Contr. to Embryol., Carnegia Instit.,
Washington, Vol. 6 (1917), p. 5—33.
Marchetti Laura, Sui primi momenti dello sviluppo di alcuni organi primitivi nel germe
di Bufo vulgaris. Arch. ital. di Anat. e di Embriol., Vol. XVL (1917), Fasc. 2.
Naegeli Otto, Über eine neue mit Zyklopie verbundene Mißbildung des Zentral-
nervensystems. Arch. f. Entw.-Mech. d. Org., Bd. V (1897), S. 168 ff.
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Nr. 2, July 1920.
Politzer G., Arhinenzephalie bei einem menschlichen Embryo von 7? mm Gr. L.
Zeitschr. f. Anat. u. Entw.-Gesch., 93. Bd. (1930), S. 188 ff.
Rabaud E.. Recherches embryologiques chez les Cyclocéphales. Journ. de l’Anat. et de
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Riese W.. 1. Über Riechhirnmangel. Zeitschr. £.d. ges. Neurol u. Psych. 69 (1921),
S. 308 ff.
Derselbe, 2. Bau und Leistungen des Zentralnervensystems eines vierjährigen riech-
hirnlosen Kindes. D. Zeitschr. f. Nervenheilkunde, Bd. 89 (1925), S. 37 ff. (vgl. den-
selben Fall bei Goldstein und Riese).
Derselbe, 3. Über das Vorderhirn des Walfötus (Megaptera Boops). Anat. Anzeiger,
65. Bd. (1928). S. 255.
Ruffini A., Fisiogenia, Editor. F. Vallardi, Milano 1925 (enthält die Ergebnisse aller
früheren Schriften des Verfassers und seiner Schüleri.
Schwalbe E., und Hermann Josephy, Die Zyklopie. Schwalbes Handbuch der Miß-
bildungen des Menschen und der Tiere. Bd. II, 2. Abt, Kap. V. Jena 1909,
Verlag G. Fischer.
Seefelder R., Die angeb. Anomalien und Mißbildungen des Auges. Lubarsch-Ostertags
Ergebnisse, 14. Jahrg., Ere.-Bd. 1910.
Spemann H., 1. Über experimentell erzeugte Doppelbildungen mit zyklopischem De-
fekt, Zool. Jahrb., Suppl.-Bd. VII, 1904, S. 429 ff.
Derselbe, 2. Über die Entwicklung umgedrehter Hirnteile bei Amphibienembryonen.
Zool. Jahrb., Suppl. XV, Bd.3, S. Lff.
Derselbe, 3. Über den Anteil von Implantat und Wirtskeim an der Orientierung und
Beschaffenheit usw. Arch. f. Entw.-Mech., Bd. 123, 1931, S. 505 ff.
Spitzer A.. Über die Kreuzung der zentralen Nervenbahnen usw. Franz Deuticke, Leip-
zig und Wien 1910.
Stupka W.. Zur Pathogenese der Choanalatresie. Verhandlungen der Gesellschaft
deutscher Hals-, Nasen- und Ohrenärzte, Leipzig 1931. Zeitschr. f. Hals-, Nasen-,
Ohrenkrankheiten. Bd. 29 im Erscheinen begriffen).
Veraguth Otto, Über niederdifferenzierte Mißbildungen des Zentralnervensystens.
Arch. f. Entw.-Mech. der Organ., Bd. XH (1901).
Winkler C., 1. Le cerveau d'un cyclope. Ned. Tijdsch. v. Geneesk., 60. Jahrg., 1. Hälfte,
p. 954: abgedruckt in Opera Omnia, Bd. V/561.
26*
394 Dr. Walter Stupka.
Derselbe, 2. On the brains of cyclops and monstra related to them. Ned. Tijdschr.
v. Geneesk.,.60. Jahrg., 1. Hälfte, p. 954; abgedruckt in Opera Omnia, Bd. V/587.
Derselbe, 3. The brain in a case of cyclopia incompleta. Fol. neurobiol. X/S. 105;
abgedruckt in Opera Omnia, Bd. V/607 ff. (detaillierte hist. Beschreibung mit
Abbildungen von der sub 1 gemachten Mitteilung).
Derselbe, 4. On cyclopia with conservation of the rhinencephalon. Wersl. k. Akad. v.
Wetensch. 28, 1919 (4—10); abgedruckt in Opera Omnia, Bd. VII/61 ff.
Zingerle H., Über Störungen der Anlage des Zentralnervensystems usw. Arch. f.
Entw.-Mech. d. Org., Bd. 14 (1902), S. 65 ff. (darunter ein Fall von Arhinenzephalie
und ein Fall von Zyklopie). Ältere Literatur!
Arbeiten
aus dem
NEUROLOGISCHEN INSTITUTE
(österr. interakademisches Zentralinstitut für Hirnforschung)
an der Wiener Universität.
Begründet von
Hofrat Prof. Dr. Heinrich Obersteiner +
fortgeführt von
Prof. Dr. Otto Marburg.
XXXIV. Band.
Mit 88 Abbildungen im Text.
Leipzig und Wien.
FRANZ DEUTICKE.
1932.
Verlags-Nr. 3545
Manzsche Buchdruckerei, Wien IX. 3003
Inhaltsverzeichnis.
Marburg, Prof. Dr. Otto, 1882—1932............222c2cseneeseeeneeennnnnn
Marburg, Prof. Dr. Otto, Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des
Zentralnervensystems .......22202eeseeneseeenesesnsnenenenenennnen
Stockert, Priv.-Dozent F. G. v., Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem
Gefäßverschluß der Arteria cerebri posterior mit besonderer Berücksichtigung der
konsekutiven sekundären Degeneration. Mit 9 Abbildungen.................
Pushkin, Benjamin, Zur Pathologie der Paralysis agitans. Mit 5 Abbildungen.....
Pushkin, Benjamin, Beitrag zur ontogenetischen Entwicklung der Schichten der
Calecarinarinde. Mit 4 Abbildungen ............2222seceeenseenensnenenenee
Bornstein, Dr. B., Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. Mit 3 Abbildungen
Jellinek, Dr. Auguste, Die funktionelle Einordnung der Organismen in der Schall-
welt- Mitt- Abbildung: +... 22.2: 2m 0 Zaren
Spitzer, Dr. B., Experimentelles Ergebnis zur Frage der dentalen Neuritis des
Trigeminus. Mit 7 Abbildungen.........222seccesseseeseneesseneeenenenns
Spiegel, Prof. Dr. E., Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Tonus, aktiver und
passiver Kraft der Fingermuskeln bei Hemiplegikern. Mit 2 Abbildungen....
Hauser, Dr. A., Syringomyelie und Metalues. Mit 18 Abbildungen...............
Jakubowicz, Dr. A., Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach
und Diphtherie. Mit 17 Abbildungen............2cecsseeeeesnneennenennns
Pekelsky, Dr. A., Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. Mit 6 Abbildungen..
Pfleger, Dr. Robert, Zur Klinik der Hypophysenganegstumoren. Mit 6 Abbildungen..
Alexander, Dr. Alfred, Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. Mit
6 Abbildungen... ...u. un. nn ne nenne ne
Pollak, Dozent Dr. Eugen, Studien zur Pathologie der Neuroglia IT ..........-
83
91
101
136
221
236
1882—1932.
Von
Prof. Dr. Otto Marburg,
Vorstand des Wiener neurologischen Institutes.
Unsere Zeit, die alle Werte umgeschichtet hat, hat auch Kunst und
Wissenschaft nicht unberührt gelassen. An Stelle der ruhigen, stetigen, fort-
schreitenden Arbeit ist eine mehr sprunghafte getreten und das rein Sach-
liche, Gradlinige erscheint durch abwegige problematische Arbeit verdrängt.
Aber die Natur läßt sich nicht vergewaltigen. Auch unsere Zeit wird das
erkennen müssen, denn auch für die Wissenschaft ist die Geschichte die
große Lehrmeisterin.
Es gab in der Neurologie knapp nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts
eine Zeit größten Aufschwunges, der von der Klinik kam. Aber damals war
die Klinik infolge der Beschränktheit ihrer Methodik sehr viel exakter und
die Krankheitsbilder, die sie zeichnete, waren naturwissenschaftliche Beob-
achtungen am Menschen. Und gerade die Klinik erfaßte damals den Mangel
eines gesicherten Fundamentes, wie ihn nur die genaueste Kenntnis des
Organs, das erkrankt war und das Wesen der krankhaften Veränderung ver-
mitteln konnte.
Besonders in Wien hat kein geringerer als Meynert dies erkannt und
sich mit bewunderswertem Eifer und Erfolg auf das Studium der Hirnanatomie
geworfen. Und ein zweiter Wiener, Türck, hat uns den Weg gezeigt, die
erkrankten Systeme des Gehirns und Rückenmarks zu verfolgen. Auch ander-
wärts wurde die theoretische Neurologie von einzelnen gepflegt. Aber erst
Obersteiner hat in genialer Erkenntnis der Notwendigkeit eines sicheren
Fundamentes der Klinik das, was bisher zerstreut vorlag, gesammelt, um
es den Klinikern in seiner unnachahmlichen Weise zu übergeben. So ent-
stand, aus dieser Idee geboren, im Jahre 1882 das Neurologische Institut der
Wiener Universität. So wurde Obersteiner zum Lehrer der theoretischen
Neurologie nahezu aller Länder und sein Institut zum Vorbild für die in den
kommenden Jahren errichteten Institute der anderen Staaten, deren Leiter
Forscher von internationalem Rang waren. Wenige von ihnen ragen noch
in unsere Zeit: Der größte, Ramon y Cajal, dessen verehrungswürdige
Gestalt, dessen universelle, geniale Leistungen im Wiener Neurologischen
Institut immer ein nachahmenswertes, unerreichtes Beispiel gewesen sind,
Winkler, der mit überraschender Jugendlichkeit auch heute noch als Nestor
der holländischen Neurologen die Anatomie des Nervensystems befruchtet,
vI Prof. Dr. Otto Marburg.
während der wesentlich jüngere Ariäns-Kappers der Hauptvertreter der
vergleichend anatomischen Richtung geworden ist, Oskar Vogt in Berlin,
der mit seiner kongenialen Gattin und hervorragenden Mitarbeitern nicht nur
die Hirnrindenforschung neu belebt hat, sondern auch viele Grundlagen der
modernen Pathologie schuf, und nicht zuletzt in dem freund-nachbarlichen
Budapest, Schaffer, der, trotzdem er die große Bürde der Leitung der Klinik
übernommen hat, noch immer in bewundernswerter Weise als Vorstand des
Neurologischen Institutes tätig ist. Was Obersteiner erstrebt und was er
erreicht hat, hat er in den rührenden Zeilen, die er „Rückschau und Aus-
blick“ nannte, niedergelegt. Es gelang ihm, das Institut aus den kleinen
Abb. 1. Alte Gewehrfabrik (nach einem alten Stich).
Räumen der alten Gewehrfabrik (Abb. 1) (1882) (Abb. 2) zunächst in die aller-
dings nicht ganz entsprechenden Räume des heutigen pharmakologischen In-
stitutes zu verlegen (1904) (Abb. 3), bis der stolze Neubau entstand, der heute
die 24 Räume des Institutes beherbergt (1919 (Abb. 4). Es ist wahrlich ein
Zeichen eisernen Willens und absoluten Vertrauens in die eigene Kraft, daß
das kleine Österreich imstande war, in der Nachkriegszeit das Institut im
neuen Heim entsprechend einzurichten und auszugestalten, so daß Ober-
steiner, als er seine Augen für immer schloß, die Gewißheit mit sich ins
Grab nahm, daß das, was er gewollt, sich in wunderbarer Weise erfüllt hat.
Aber es ist nicht nur der Raum und die Einrichtung, die ein Institut
ausmacht. Es ist vor allem die Persönlichkeit des Leiters, die den Weg be-
stimmt, den Geist aufrecht erhält und die Forschung beseelt. Ober-
steiner war ein Wiener Gelehrter. Schlicht, bescheiden, nicht nur von funda-
mentalem Fachwissen, sondern kunstbegeistert und ungemein belesen. Er sah
1888—1932. VII
1882
Abb. 2. Alte Gewehrfabrik, die Parterreräume beherbergten z. T. das Institut.
1904
Abb. 3. Pharmakologisches, früher physiologisches Institut. (Neurologisches Institut im
Parterre untergebracht.)
VIII Prof. Dr. Otto Marburg.
die Welt nicht nur von der Seziertisch-Perspektive, er geizte nicht nach den
billigen Lorbeeren der Allgemeinheit. Es genügte ihm die Anerkennung seiner
Fachgenossen, die allerdings schwerer zu erringen ist. Und er erzog seine
Schüler in diesem Sinne. Arbeit muß Selbstzweck sein, besonders die wissen-
schaftliche Forschung darf nicht durch die Kontroversen gänzlich unbeteiligter
und unwissenschaftlicher Kreise gestört werden. In diesem Sinne wurde das
Institut weitergeführt und mit ihm jenes Archiv, das Obersteiner so sehr
am Herzen lag, die „Arbeiten aus dem Wiener Neurologischen Institut‘, eines
DIDDI
nme
dh Fd f
. LIEF ZI,
m =
zn.
1919
Abb.4. Das derzeitige neurologische Instifut, Hochparterre und z. T. Parterre und
Souterrain.
der wenigen Archive Österreichs, die bis zum heutigen Tage erhalten werden
konnten.
Wenn man von der unglückseligen Nachkriegszeit absieht, die mit der
Einrichtung des Institutes zusammenfällt, so wurden in den letzten 10 Jahren
12 Bände der Institutsarbeiten herausgegeben, abgesehen von den zahlreichen
in anderen Archiven erschienenen Arbeiten und monographischen Dar-
stellungen, ungefähr 180 Arbeiten, die in diesen 12 Bänden erschienen sind:
Sie umfassen alle Gebiete der theoretischen Neurologie, Anatomie, und zwar
normale und vergleichende, Pathologie, allgemeine und experimentelle Physio-
logie und legen Zeugnis ab von der Arbeitsfreudigkeit der Mitarbeiter des Vor-
standes und seiner Schüler. Sie sind aber auch Ausdruck der Leistungsfähig-
keit und Opferbereitschaft eines österreichischen Verlages — jenes von Franz
Deuticke —, der mit eigenen großen Opfern das Archiv seit 1892 mit kurzer
Unterbrechung verlegt und meisterhaft ausgestaltet hat.
1888— 1932. IX
Das Neurologische Institut war auch das erste in Österreich, in welchem
in der Nachkriegszeit wieder Ausländer gearbeitet haben. Es genügt darauf
hinzuweisen, daß 36 japanische Forscher in den letzten 10 Jahren hier ihre
wissenschaftliche Ausbildung erfuhren, daB daneben Amerika, ja selbst Süd-
afrika und Australien vertreten waren, ganz abgesehen von den europäischen
Ländern. Man kann sagen, daß hier keines gefehlt hat und daß auch die
Nachfolgestaaten einzelne ihrer jungen Forscher zur weiteren Ausbildung
dem Institut zugewiesen haben und zuweisen.
Eine solche Fülle von Arbeiten war nur dadurch zu leisten möglich, daß
dem Vorstand erfahrene Mitarbeiter zur Seite standen, die selbst Grund-
legendes in ihrem Fache erforschten. So wäre Prof. Spitzer an erster Stelle
zu nennen, der an die fundamentalsten Probleme unseres Wissensgebietes und
darüber hinaus herangetreten ist und sie mit seinem großen Fachwissen und
seiner streng logischen Art der Forschung gemeistert hat. Dozent Pollak
pflegt vorwiegend die moderne pathologisch-anatomische Richtung, die er in-
folge ganz besonderer technischer Begabung sehr wesentlich fördern konnte.
Dozent Spiegel, den das Institut leider an Amerika verloren hat, hat die
physiologische Richtung, die im Institut früher sehr stiefmütterlich behandelt
wurde, in mustergültiger Weise ausgebaut und durch seine eigenen Arbeiten
sowie die seiner Mitarbeiter erreicht, daß auch auf diesem (icbiete das
Institut eine führende Stellung gewann. Aber auch die jüngeren Kräfte haben
sich um die Weiterentwicklung des Institutes bemüht und alle durch ihre
Arbeiten erreicht, daß sie eine entsprechende Stellung, zum Teil sogar im
Ausland, erlangten. Damit allein ist wohl der Beweis erbracht, daß das theo-
retische Fundament der Neurologie seine alte Bedeutung beibehalten hat.
Es scheint immer, daß nach großen Krisen die Menschheit sich den
mystischen Problemen zuwendet. Das fördert dann in der Wissenschaft eine
mehr philosophisch oder psychologisch spekulative Richtung. Sehr bald aber
kommt die Einsicht, daß man ein Gebäude nicht ohne Fundament errichten
kann und dann erfolgt die Rückkehr zu den rein naturwissenschaftlichen
Arbeiten. Man darf allerdings nicht vergessen, daß auch bei den Naturwissen-
schaften sich die Anschauungen gewandelt haben. Es genügt nicht mehr
die rein äußerliche Beschreibung. Auch der Analom sucht heute den Sinn
des Ganzen zu erfassen. Er geht noch weiter, indem er in der angewandten
Anatomie dem Kliniker neue Wege weist. In diesem Sinne bemüht sich auch
das Neurologische Institut, und hier scheint es, daß es über die ursprüng-
lichen Bemühungen Obersteiners hinausgekommen ist, indem es sich be-
strebt, nicht nur die den normalen und krankhaften Vorgängen zugrunde-
liegenden Tatsachen festzustellen, sondern auch die Bedingungen zu er-
schließen, unter welchen diese zustande kommen und die Möglichkeiten, die
uns nach solchen Erkenntnissen zur Verfügung stehen, das Krankhafte zu be-
seitigen. Freilich darf man nicht vergessen, daß hier erst die Ansätze zu
einem neuen Weg zu erkennen sind, ein neuer Weg, der nur dann mit Erfolg
wird beschritten werden können, wenn sich die Theorie auch de facto mit der
Praxis verbindet. Das große Schwesterinstihut in Berlin, das unter der Leitung
X Prof. Dr. Otto Marburg.
Vogts steht, hat bereits eine Krankenabteilung angegliedert erhalten. Das
Münchner Forschungsinstitut, dessen Entstehung dem Genie Kraepelins
erst vor wenigen Jahren gelungen ist und dessen rascher Aufschwung in aller-
erster Linie Spielmeyer und dessen Mitarbeitern zu danken ist, besitzt
gleichfalls eine eigene Krankenabteilung. Das altehrwürdige Schweizer Institut
in Zürich unter Minkowskis Leitung, die ganz im Geiste v. Monako ws erfolgt,
besitzt eine poliklinische Abteilung, und dem zuletzt errichteten Institut in
New York unter der Leitung Tilneys und seines Mitarbeiters Rileys, das in
gigantischen Ausmaßen errichtet wurde, steht gleichfalls ein Bettenmaterial
zur Verfügung. Durch die Übernahme der Leitung der psychiatrisch-neurologi-
schen Klinik durch Schaffer, hat dieser naturgemäß auch seinem Institut
ein großes Krankenmaterial angegliedert. Auch in Wien wurde dieser Versuch
gemacht und das Professoren-Kollegium der Fakultät hat diesem Ansuchen
auch beigestimmt. Die tristen materiellen Verhältnisse haben es jedoch
bisher unmöglich gemacht, das längst ersehnte Ziel zu erreichen, denn der
Ausweg, der vorgeschlagen wurde, erwies sich als ungangbar. So ist das
Mutterinstitut aller gleichen Institute der Welt derzeit ein wenig zurück-
gedrängt.
Es erscheint aber eine absolute Forderung, solchen Instituten eine
Bettenstation anzugliedern, denn die Problemstellung wird am Kranken ge
wonnen, wie auch der Beweis für die Richtigkeit theoretischer Forschungen,
in allererster Linie am Krankenbett erbracht werden kann. Es genügt nicht,
daß in den klinischen Laboratorien jemand einen seltenen Fall herausgreift
und anatomisch bearbeitet. Diese Art der Forschung hat noch nie ein Problem
gelöst. Es genügt auch nicht, Krankheitserscheinungen spekulativ auszudeuten,
sondern hier muß das Experiment ein fundiertes Korrelat für die klinischen
Erscheinungen bilden.
Gerade der Umstand, daß die deutschen Forschungsinstitute eine so ge-
waltige Weiterentwicklung zeigen, daß ganz Analoges in Amerika entstehen
konnte, beweist, wie richtig der Gedanke Obersteiners gewesen ist, die
Hirnforschung in eigene Anstalten zu verweisen und sie zeitgemäß auszu-
bauen. Wenn auch in unserem verarmten Land diese Möglichkeiten im
Augenblick zurückgedrängt erscheinen, der Arbeilseifer und die Bemühungen
einer Expansion unseres Wissensgebietes über alle Länder ist unvermindert
geblieber und der Geist Obersteiners, einer grundlegenden, sachlichen
und stetigen Forschung, unbeirrt durch spekulative Zeitströmungen, herrscht
auch heute noch im Wiener Neurologischen Institut und soll auch weiterhin
führend bleiben.
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen
des Zentralnervensystems.
Von
Professor Dr. Otto Marburg, Wien.*)
Um zu einem Verständnis einer Krankheit oder Krankheitsgruppe zu
kommen, ist es nötig, das klinische Bild mit der pathologisch-anatomischen
Grundlage und den ätiologischen Faktoren in Übereinstimmung zu bringen.
Denn auch hier gilt das Gesetz der Kausalität in vollem Umfange. ‚Nur darf
man nicht vergessen, daB dieses Gesetz scheinbar durchbrochen wird «durch
mannigfaltige Nebenunstände, wie das Alter des Kranken, seine besondere
Konstitution, die Akuität bzw. Intensität der Erkrankung, mancherlei Zeit-
umstände, nicht zuletzt die Ursache der Erkrankung. All dies in Rücksicht ge-
zogen, wird man begreiflich finden, wie schwer es oft ist, ein Krankheitsbild
voll zu erfassen. Das gilt besonders für die nichteitrigen Infektionen des
Zentralnervensystems, die zumeist unter dem Bilde der Entzündung auftreten.
Hier haben wir schon das erste Hindernis, da der Entzündungsbegriff auch
heute noch unendlich kontrovers ist. Auf der einen Seite stehen jene Autoren
von Andral über Thoma zu Ricker, die ihn vollständig ablehnen, auf der
anderen Seite dagegen stehen Männer, die zu den größten der Pathologie ge
hören, wie z. B. Marchand, Lubarsch, Aschoff, sowie Herxheimer,
Fischer-Wasels, Schröder, Spielmeyer, um nur einige zu nennen, die
den Entzündungsbegriff erhalten wissen wollen.
Es ist dies nicht, um eine Bemerkung Aschoffs zu zitieren, eine querelle
allemande, sondern wir werden Wesentliches zum AufschlußB mancher Fragen
beitragen können, wenn wir uns zuerst einmal über diesen Begriff geeinigt
haben. Es ist mit dem Entzündungsbegriff fast analog wie mit dem Neuron-
begriff in der Neurologie. Wir wissen, wir können den letzteren nicht mehr in
seiner Ursprungsfassung aufrecht erhalten, wir können ihn aber ebensowenig
entbehren. Wie schwer es ist, eine entsprechende Definition für die Ent-
zündung zu finden, beweisen die geistreichen Ausführungen des Genfer Patho-
logen Askanasi, der an Stelle einer kurzen Definition den Begriff mehr des-
kriptiv faßt. Vielleicht kommt man am besten damit aus, wenn man als Ent-
zündung jene auf einen inadäquaten Reiz erfolgenden Reaktionen des zen-
tralen Nervensystems auffaßt, die sich bei dem Parenchym degenerativ, bei
* Auszugsweise vorgetragen am internationalen Neurologenkongreß, Bern, 3. Sep-
tember 1931.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst.. XXXIV. Bd. 1
X Prof. Dr. Otto Marburg.
Vogts steht, hat bereits eine Krankenabteilung angegliedert erhalten. Das
Münchner Forschungsinstitut, dessen Entstehung dem Genie Kraepelins
erst vor wenigen Jahren gelungen ist und dessen rascher Aufschwung in aller-
erster Linie Spielmeyer und dessen Mitarbeitern zu danken ist, besitzt
gleichfalls eine eigene Krankenabteilung. Das altehrwürdige Schweizer Institut
in Zürich unter Minkowskis Leitung, die ganz im Geiste v. Monakows erfolgt,
besitzt eine poliklinische Abteilung, und dem zuletzt errichteten Institut in
New York unter der Leitung Tilneys und seines Mitarbeiters Rileys, das in
gigantischen Ausmaßen errichtet wurde, steht gleichfalls ein Bettenmaterial
zur Verfügung. Durch die Übernahme der Leitung der psychiatrisch-neurologi-
schen Klinik durch Schaffer, hat dieser naturgemäß auch seinem Institut
ein großes Krankenmaterial angegliedert. Auch in Wien wurde dieser Versuch
gemacht und das Professoren-Kollegium der Fakultät hat diesem Ansuchen
auch beigestimmt. Die tristen materiellen Verhältnisse haben es jedoch
bisher unmöglich gemacht, das längst ersehnte Ziel zu erreichen, denn der
Ausweg, der vorgeschlagen wurde, erwies sich als ungangbar. So ist das
Mutterinstitut aller gleichen Institute der Welt derzeit ein wenig zurück-
gedrängt.
Es erscheint aber eine absolute Forderung, solchen Instituten eine
Bettenstation anzugliedern, denn die Problemstellung wird am Kranken ge-
wonnen, wie auch der Beweis für die Richtigkeit theoretischer Forschungen,
in allererster Linie am Krankenbett erbracht werden kann. Es genügt nicht,
daß in den klinischen Laboratorien jemand einen seltenen Fall herausgreift
und anatomisch bearbeitet. Diese Art der Forschung hat noch nie ein Problem
gelöst. Es genügt auch nicht, Krankheitserscheinungen spekulativ auszudeuten,
sondern hier muß das Experiment ein fundiertes Korrelat für die klinischen
Erscheinungen bilden.
Gerade der Umstand, daß die deutschen Forschungsinstitute eine so ge-
waltige Weiterentwicklung zeigen, daß ganz Analoges in Amerika entstehen
konnte, beweist, wie richtig der Gedanke Obersteiners gewesen ist, die
Hirnforschung in eigene Anstalten zu verweisen und sie zeitgemäß auszu-
bauen. Wenn auch in unserem verarmten Land diese Möglichkeiten im
Augenblick zurückgedrängt erscheinen, der Arbeitseifer und die Bemühungen
einer Expansion unseres Wissensgebietes über alle Länder ist unvermindert
geblieben und der Geist Obersteiners, einer grundlegenden, sachlichen
und stetigen Forschung, unbeirrt durch spekulative Zeitströmungen, herrscht
auch heute noch im Wiener Neurologischen Institut und soll auch weiterhin
führend bleiben.
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen
des Zentralnervensystems.
Von
Professor Dr. Otto Marburg, Wien.*)
Um zu einem Verständnis einer Krankheit oder Krankheitsgruppe zu
kommen, ist es nötig, das klinische Bild mit der pathologisch-anatomischen
Grundlage und den ätiologischen Faktoren in Übereinstimmung zu bringen.
Denn auch hier gilt das Gesetz der Kausalität in vollem Umfange. ‚Nur darf
man nicht vergessen, daß dieses Gesetz scheinbar durchbrochen wird durch
mannigfaltige Nebenunistände, wie das Alter des Kranken, seine besondere
Konstitution, die Akuität bzw. Intensität der Erkrankung, mancherlei Zeit-
umstände, nicht zuletzt die Ursache der Erkrankung. All dies in Rücksicht ge-
zogen, wird man begreiflich finden, wie schwer es oft ist, ein Krankheitsbild
voll zu erfassen. Das gilt besonders für die nichteitrigen Infektionen des
Zentralnervensystems, die zumeist unter dem Bilde der Entzündung auftreten.
Hier haben wir schon das erste Hindernis, da der Entzündungsbegriff auch
heute noch unendlich kontrovers ist. Auf der einen Seite stehen jene Autoren
von Andral über Thoma zu Ricker, die ihn vollständig ablehnen, auf der
anderen Seite dagegen stehen Männer, die zu den größten der Pathologie ge-
hören, wie z. B. Marchand, Lubarsch, Aschoff, sowie Herxheimer,
Fischer-Wasels, Schröder, Spielmeyer, um nur einige zu nennen, die
den Entzündungsbegriff erhalten wissen wollen.
Es ist dies nicht, um eine Bemerkung Aschoffs zu zitieren, eine querelle
allemande, sondern wir werden Wesentliches zum Aufschluß mancher Fragen
beitragen können, wenn wir uns zuerst einmal über diesen Begriff geeinigt
haben. Es ist mit dem Entzündungsbegriff fast analog wie mit dem Neuron-
begriff in der Neurologie. Wir wissen, wir können den letzteren nicht mehr in
seiner Ursprungsfassung aufrecht erhalten, wir können ihn aber ebensowenig
entbehren. Wie schwer es ist, eine entsprechende Definition für die Ent-
zündung zu finden, beweisen die geistreichen Ausführungen des Genfer Patho-
logen Askanasi, der an Stelle einer kurzen Definition den Begriff mehr des-
kriptiv faßt. Vielleicht kommt man am besten damit aus, wenn man als Ent-
zündung jene auf einen inadäquaten Reiz erfolgenden Reaktionen des zen-
tralen Nervensystems auffaßt, die sich bei dem Parenchym degenerativ, bei
* Auszugsweise vorgetragen am internationalen Neurologenkongreß, Bern, 3. Sep-
tember 1931.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 1
2 Professor Dr. Otto Marburg.
den Gefäßen durch Extravasation und an den Stützsubstanzen irritativ (pro-
liferativ) auswirken. Dabei erscheint es mir am wahrscheinlichsten, daß die
Entzündung funktionell oder biologisch einer Abwehrreaktion entspricht, ganz
im Sinne Aschoffs, und daß sie das unter allen Umständen ist, auch dort,
wo scheinbar reparatorische Vorgänge entzündlich ablaufen. Es erscheint mir
nicht ohne Interesse darauf hinzuweisen, daß die in neuerer Zeit besonders
von Spielmeyer betonte Zweiteilung der Entzündungen in eine Entzündungs-
krankheit und in eine symptomatische Entzündung bereits im Jahre 1868 von
Hayem getroffen wurde, der von primitiver und konsekutiver Entzündung
sprach, wobei der Begriff primitiv wohl gleichbedeutend mit primärer, gene-
reller Entzündung ist, während konsekutiv ungefähr das bedeutet, was wir
unter sekundärer, bzw. symptomatischer Entzündung verstehen, d. h. Ent-
zündungen, ausgelöst durch einen im Zentralnervensystem selbst ablaufenden
Prozeß, wie etwa das Trauma oder einen Tumor.
Wenn wir also an das Studium der nichteitrigen Entzündungen des
Zentralnervensysteins herangehen, so werden wir in allererster Linie der
Giefäßreaktion Rechnung tragen müssen.
In seiner Arbeit über Encephalo-Myelitis bei Masern schreibt Wohlwill,
„daß irgend eine für das Nervengewebe schädliche, gelöste Substanz, sobald
die Blutströme sich soweit verlangsamt haben, wie das in den Venen der
Fall ist, aus dem Gefäß ausgetreten und dann einerseits durch die Grenz-
membran hindurch ins Nervengewebe durchdiffundiert ist, anderseits zufolge
der Kommunikation zwischen adventitiellen und subarachnoidealen Lymph-
räumen sich dem Liquor beigemischt hat und nun von der inneren und
äußeren Oberfläche aus in gleicher Weise auf die angrenzende Nervengewebe-
schicht eingewirkt hat“. Dieser Satz könnte in gleicher Weise für die mul-
tiple Sklerose gelten, denn auch hier müßte man eine gelöste Noxe an-
nehmen, die imstande ist, Quellungsphänomene an den Nervenfasern hervor-
zubringen. Es ist ziemlich gleichgültig, ob diese Noxe direkt aus den Gefäßen ins
Gewebe gelangt oder auf dem Umweg über den Liquor oder gar im Gewebe selbst
erzeugt wird, wie Steiner meint. Nur eines ist sicher, eine (tefäßgebundenheit
der Herde bei multipler Sklerose, wie sie aus den Arbeiten von Siemerling
und Räcke sowie Anton und Wohlwill hervorgehen könnte, ist durch
Falkiewicz ziemlich widerlegt. Daß in den Herden Gefäße zu finden sind
ist sicher, wahrscheinlich auch, daß die Noxe aus den Gefäßen stammt, meist
aber handelt es sich um diskontinuierlichen Markzerfall, vollständig analog
jenem von Gombault, bzw. Stransky bei der periaxialen Neuritis der
peripheren Nerven beschriebenen. Die oft exzentrische Lage der Gefäße in
solehen Herden ist geradezu auffällig. Dab daneben auch perivaskuläre Des-
integrationen vorkommen, wie sie Borst besonders hervorhebt, ist eine Sache
für sich. Hier handelt es sich aber um komplikatorische Vorgänge (Murata).
Ich habe gesagt Quellungserscheinungen, wobei ieh schon vor 25 Jahren
die Meinung vertrat, daß sowohl Achsenzylinder als auch Markscheiden
quellen können. Nun hat Jaburek m meinem Institut zu zeigen versucht,
daß die \chsenzrlinderguelling das Primäre ist und daß diese zwangsläufig,
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 3
wie das E. A. Spiegel gezeigt hat, zu einer Destruktion der Markscheide
führen müsse. Ich kann mich, trotzdem vieles für Jabureks Annahme spricht,
ihm nicht vollständig anschließen. Denn man findet selbst in alten Herden voll-
ständig intakte Achsenzylinder. Man findet weiters trotz namhafter Quellung
einzelner Achsenzylinder an den (ianglienzellen keine reaction à distance
(Zellmann). Es scheint jedoch, daß meine ursprüngliche Anschauung bezüg-
lich der Noxe bis zu einem gewissen Grad aufrechtzuerhalten sei, da die An-
fülligkeit der Markscheide eine besonders hervorstechende ist und man es
hier offenbar mit einer fermentähnlichen, lezithinolytischen Wirkung zu tun
haben wird, wie das Marinesco, Draganesco, Sager und Grigoresco in
Anlehnung an Baló auch annahmen und auch aus den Experimenten
Brickners hervorzugehen scheint. Demzufolge ist die alte Charcotsche
Formel für die multiple Sklerose aufrechtzuerhalten, nur mit der Modifikation,
daß die Achsenzylinder nicht absolut, sondern nur relativ intakt bleiben.
Charakterisiert dieses Moment allein die Krankheit schon bis zu einem ge-
wissen Grad neben dem diskontinuierlichen Markzerfall, so haben wir auch in
der Art des Abräumprozesses eine charakteristische Reaktion. Die Bildung
der Fettkörnchenzellen aus ektodermalen Elementen, die Reaktion der (Glia
überhaupt ist hier eine so intensive, daß wir sie kaum je in solcher Form bei
anderen Krankheiten wiederfinden. Das Interessanteste dabei ist, daß sich
diesbezüglich die akuten Fälle gleich den chronischen verhalten, sofern diese
nur eine Progression erkennen lassen. Ich habe das jüngst durch Toyama
wieder erweisen lassen, und es hat sich gezeigt, daß akute Herde in Fällen,
die 18 Jahre lang bestanden haben, sich in nichts von den Herden unter-
scheiden bei Sklerosen, die sechs Monate bestanden. Demzufolge ist meine
Konzeption von dem Bestehen einer akuten multiplen Sklerose so aufzufassen,
daß es Fälle gibt mit rascher Dissemination und solche mit mehr verzögerter,
wobei es zu den bekannten Intermissionen und Remissionen kommt. Der
pathologische Prozeß aber ist bei den kurz und den lang dauernden Fällen
vollständig identisch. Wir können demzufolge nur Fälle unterscheiden mit
rascher Progression und solche mit mehr oder minder lang dauernden Inter-
missionen, die, wie ich es selbst gesehen habe, zehn und mehr Jahre betragen
können. Untersucht man nun Fälle von multipler Sklerose in einem solchen
intervallären Stadium, dann fehlt ihnen der akute Herd und man kann höch-
stens Reste eines solchen wahrnehmen. Der Fehler in der Beurteilung solcher
Fälle liegt meines Erachtens darin, daß man immer nur die Sklerose sieht,
während man besser für alle diese Fälle den Begriff Encephalo-Myelitis peri-
axialis verwenden sollte, wobei man ja. wie ich es getan habe, das Beiwort
seleroticans und disseminata anfügen könnte. Denn es läßt sich in all diesen
Fällen der Beweis des entzündlichen Prozesses durch die Infiltration an den
Gefäßen erbringen. Aber auch hier ist eine Besonderheit, nämlich die, daß
dieses Infiltrat eigentlich nur an den Venen nachzuweisen ist, wie ieh das
kürzlich erst wieder mit Maeder gezeigt habe, also ganz ähnlich, wie in einer
Reihe anderer noch zu erwähnender Erkrankungen, während die Arterien in
den frischen Herden kaum etwas vom Exsilat erkennen lassen.
1*
4 Professor Dr. Otto Marburg.
Dürck, der bei der Maleria diese eigentümliche Exsudation an den
Venen hervorhebt, meint, daß die Durchlässigkeit der Venenwand dadurch
herbeigeführt wird, daß das Gift die Venenwand länger bespült als die der
Arterien. da es durch die Kontraktion der vorgeschalteten Arteriolen zu einer
Verlangsamung des Blutstromes in den Venen käme, eine Anschauung, die
wir, wie eingangs erwähnt, ähnlich bei Wohlwill finden. Wir hätten also in
dieser Exsudation nicht etwa den Ausdruck einer sekundären oder konseku-
tiven oder symplomatischen Entzündung zu sehen, sondern, da wir solche
venöse Exsudationen auch in den Herden finden, den Ausdruck des entzünd-
lichen Prozesses.
Ein Wort noch über die sekundäre Degeneration. Sie fehlt keinesfalls bei
älteren Sklerosen. Sie findet sich immer dann, wenn in einem bestimmten
System viele Herde übereinandergeschaltet sind, oder wenn die Intensität des
Prozesses eine besonders starke ist, so daß der Achsenzylinderzerfall reichiicher
ist als es der Norm entspricht. Am häufigsten haben wir es mit Pyramiden-
degeneration zu tun.
Diese meine Anschauung wird heute wchl im wesentlichen von der Mehr-
zahl der Autoren geteilt, besonders von der französischen Schule um Guillain,
dessen Schüler Cournand monographisch die ganzen Fragen erörterte und
zu einem gewissen Abschluß führte. Auch Pette kommt im wesentlichen zu
der gleichen Anschauung und es muß wundernehmen, daß Steiner die
alte Auffassung von Strümpell und Müller von der primären Gliaaffektion
wieder aufnimmt und die Glia in den Mittelpunkt des Geschehens stellt.
Auch die amerikanischen Autoren, die im Jahre 1922 die Frage der
multiplen Sklerose durch Sachs und Friedmann eingehender erörtert haben,
erbringen mit Taylor und Hassin nichts so Wesentliches, daß ich von der
vorgetragenen Auffassung des Krankheitsprozesses abweichen müßte.
Es erscheint mir in allererster Linie wichtig, aus dem pathologisch-
anatomischen Bild das Wesentliche für die Klinik zu erschließen. Dabei
kommt es nicht darauf an, die verschiedenen Symptomenbilder hier zu zeichnen,
da dies vor wenigen Jahren erst von Guillain, Sachs und Friedmann,
Stern, F.H. Lewyu.v.a. geschehen ist. Wissen wir doch, daß die multiple
Sklerose einen Formenreichtum hat, wie kaum eine zweite Krankheit, da wir
trotz bevorzugter Lokalisationen der Herde gelegentlich in einzelnen der sehr
häufigen Fälle etwas abweichende Lokalisationen finden. So konnte ich durch
Biesicky sogar einen Parkinsonismus polysclerotieus erweisen. Ich habe bei
den vielen Untersuchungen von multipler Sklerose nicht einen Fall gesehen,
wo ein einziger Herd allein bestanden hätte. Immer ließen sich mehrere Herde
nachweisen und das spricht sich im klinischen Bild aus. Das Wesentlichste an
der Krankheit scheint mir bei unkomplizierten Fällen der schleichende Be-
ginn, der schubweise Verlauf mit Intermissionen und Remissionen, das Fehlen
von Fieber, besonders aber der Nachweis der Multiplizität des Prozesses.
Ich muß hinzufügen, daß die Tiquoruntersuchung in unkomplizierten Fällen,
wenn sie frisch sind, gelegentlich positive Resultate im Sinne emer Eiweiß-
und Zellvermehrung ergeben. Der Umstand, daB — und darin liegt ein großes
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 5
Verdienst Guillains — die Kolloidreaktionen in nahezu drei Viertel der Fälle
positiv sind, spricht wohl sehr zugunsten einer Infektion und entscheidet
oft die Diagnose. Die Blutuntersuchung akuter Fälle ist nicht charakteristisch,
so daß man also in diesem Moment keinen Beweis für oder gegen das Be
stehen einer periaxialen Encephalo-Myelitis besitzt.
Im Jahre 1897 hat Heubner unter der Bezeichnung diffuse Hirnsklerose
Fälle eigenartiger Erkrankung des Kindesalters beschrieben, die dann später
von Frankl-Hochwart im Wiener neurologischen Institut des genaueren
untersucht wurden. Im Jahre 1912 schlug dann Schilder für diese Krank-
heit den von mir für die akute multiple Sklerose verwendeten Namen En-
cephalitis periaxialis vor und stellte sie gleichsam als diffuse der dissemi-
nierten Form gegenüber. Ist schon dadurch die Beziehung zur multiplen
Sklerose sehr nahegerückt, so wurde sie es noch mehr durch die Beschreibung
von Fällen durch Marie und Foix, die neben einer akuten bereits eine mehr
chronische Form kannten und für diese letztere, was besonders wichtig er-
scheint, das Remittieren der klinischen Erscheinungen hervorheben. Die in
der Folgezeit erschienenen Bearbeitungen enthalten viele Widersprüche, die
am besten durch Bielschowksy und Henneberg gelöst wurden. Sie unter-
scheiden mit Recht eine exogene entzündliche Form, den Typus Schilder,
die allein hier in Frage kommt, und eine endogene, degenerative, hereditäre,
die vielleicht der Tay-Sachsschen amaurotischen Idiotie nahesteht (Leuko-
dystrophia cerebri progressiva hereditaria). Im großen und ganzen zeigt je-
doch die Mehrzahl der entzündlichen Fälle im anatomischen Bild als Wesent-
lichstes Zerfall der Markscheiden bei verhältnismäßig relativer Intaktheit des
Achsenzylinders, reaktiver Ausbildung von Fetlkörnchenzellen und Lympho-
zyten und Plasmamäntel um die Venen. Das einzige, was diese Fälle angeblich
von der multiplen Sklerose unterscheiden soll, wäre, wenn man von der
Lokalisation diffus im Hemisphärenmark absieht, eine sekundäre Dogenera-
tion der Pyramidenbahnen. Dieses Moment steht aber nicht im Widerspruch
zu dem, was man bei der multiplen Sklerose kennt. Denn wer viele Fälle
letzterer untersucht hat, wird sich über gelegentlich vorkommende sekundäre
Degenerationen bei oft sehr ausgiebigen Herden nicht wundern. Die Intensität
des Prozesses bestimmt eben die Begleiterscheinungen.
Mehr jedoch als diese eben angeführten Momente ist der Umstand her-
vorzuheben, daß diese Fälle, die Spielmeyer als sklerosierende Entzündung
des Hemisphärenmarks bezeichnet, in vielen Fällen gar nicht auf das Hemi-
sphärenmark beschränkt bleiben, sondern daß sie, man braucht nur auf die
Zusammenstellung von Staufenberg und Gutmann zu verweisen, vielfach
daneben Herde typischer multipler Sklerose an den verschiedensten Stellen
des zentralen Nervensystems erkennen lassen. Aber auch in den neueren
Fällen lassen sich solche multiple Prozesse aufweisen, wobei natürlich auch
der Optikus ergriffen ist.
Daß hie und da eine Stanungspapille vorkommt, darf nicht wunder-
nehmen, da wir solche auch bei der multiplen Sklerose finden. Wir werden
6 Professor Dr. Otto Marburg.
bei der enormen Quellung, die hier vorliegt, das Entstehen von Stauungs-
erscheinungen begreiflich finden.
Ich gehe noch weiter. Barre, Morin, Draganesco und Reys sprechen
direkt von diskontinuierlichem Markzerfall und unterscheiden gleich Marie
und Foix eine akute und eine chronische Form, wie dies übrigens ähnlich
Cassierer und Levy anführen. Es ist also kaum zu zweifeln, daß es Fälle
von diffuser Sklerose gibt, die ihrem Wesen nach, ihrer Entwicklung nach
und ihrem Ablauf nach eng an die multiple Sklerose anzuschließen sind. Und
es ist nur zu verwundern, daß Globus und Strauss, deren eigene Fälle zum
Teil nur auf Tage sich beschränkende Lebensdauer hatten, diesem Standpunkt
nicht Rechnung tragen, sondern von einer progressiven, degenerativen sub-
kortikalen Enzephalopathie sprechen und die Entzündungserscheinungen ein-
fach als das auffassen, was ich eingangs als konsekutive oder symptomati-
sche Entzündung bezeichnete. Das scheint mir eine Verkennung der Tat-
sachen, wenngleich auch ich, wie bereits erwähnt, auf dem Standpunkt stehe,
den so erfahrene Forscher wie Baumann, Neubürger, Krabbe ein-
nehmen, daß nicht alles, was als lobäre Sklerose auftritt, der Gruppe der
Encephalitis periaxialis angehört. Sicher gibt es hier tumorartige Formen
blastomatöser Natur, weiters auch rein degenerative (Bielschowksy und
Henneberg). Aber die Schwierigkeit der Beurteilung besteht darin, daß man
zumeist nur den Endausgang, die Sklerose, zu beurteilen hat. Man kann diesen
Fällen ihre Genese nicht ansehen, man kann nur aus gewissen Indizien auf
den Werdegang schließen. Ich stehe also auf dem Standpunkt, daß ein Groß-
teil der als diffuse Sklerose, zentrolobäre Sklerose, Encephalitis periaxialis
diffusa, Schildersche Krankheit, sklerosierende Entzündung des Hemi-
sphärenmarks, progressive, degenerative, subkortikale Enzephalopathie be-
schriebenen Krankheiten, der multiplen Sklerose oder der Encephalo-Myelitis
periaxialis scleroticans zugehört. Ich habe durch die Aufzählung der ver-
schiedenen Nomenklaturen nur zeigen wollen, wie verwirrend es ist, für ein
und dieselbe Krankheit immer irgend einen neuen Namen anzuführen, nur
mit Rücksicht auf einen gerade vorliegenden, möglicherweise etwas ab-
weichenden Befund. Deshalb möchte ich auch, bevor nicht eine größere Menge
von Beobachtungen vorliegt, den Vorschlag Balös ablehnen, der gewisse
lokalisierte diskontinuierliche Demyelinisationen im Markweiß, die ent-
zündlicher Natur sind, als Leuko-Encephalitis periaxialis concentrica be-
zeichnet, zumal hiefür nur drei Beobachtungen vorliegen (Baló selbst, eine
eigene und jene von Barré, Morin, Draganesco und Reys).
Es ist ein großes Verdienst Pierre-Maries, darauf hingewiesen zu
haben, daß bei der multiplen Sklerose Infektionskrankheiten vielfach anam-
nestisch hervortreten, so daß man sie in Äliologische Beziehung zu dieser
setzen könnte. Bereits vor 25 Jahren habe ich auf den Umstand aufmerksam
gemacht, daß die kindlichen Infektionen, besonders die Masern, hier eine be-
vorzugle Stellung einnehmen. Ich konnte mich auf eine Reihe von Fällen
stützen, besonders einen von Cramer, bei dem die Sklerose bei einem
19jährigen Mädehen zwei Jahre nach einer schweren Mäaserninfektion auf-
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 7
getreten war. Es hat dann Schlesinger im Jahre 1909 im Wiener neurologi-
schen Institut einen Fall bearbeitet, bei dem noch während eines Anfalles von
Masern eine eigentümliche Nervenkrankheit aufgetreten war, die sich klinisch
am ehesten als akute multiple Sklerose anließ. Der anatomische Befund ent-
sprach einer multiplen Sklerose, mehr der akuten Form, wobei sich die da-
mals noch unbekannten Markschattenherde zeigten. Schlesinger selbst hat
diesen Fall als Übergang von multipler Sklerose zur Encephalo-Myelitis be-
zeichnet. Viel später hat dann Wohlwill über Encephalo-Myelitis bei Masern
berichtet und hervorgehoben, daß der Prozeß schon eher dem der multiplen
Sklerose gleicht. Er findet allerdings entscheidende Verschiedenheiten. Jeden-
falls sieht man auch in diesen Fällen einen Zerfall der Markscheide und ver-
hältnismäßiges Intaktbleiben der Achsenzylinder. Als Wesentlichstes erscheint
die Gliareaktion, die besonders an den Rändern eine stark aktive Tätigkeit
entfaltet und auch um die Venen herum in einem Reizzustand angetroffen
wird. Die Fälle sind nur deshalb nicht besonders auszuwerten, weil sie nur
ein paar Tage bestanden haben. Erst Walthard hat einen Fall von
41 Wochen Dauer beschrieben, bei dem neben den Markscheiden wohl auch
die Achsenzylinder zugrunde gingen, sich aber auch bereits typische Körnchen-
zellherde erkennen ließen. Der Prozeß erinnert Walthard in gewissem Sinne
an Fälle von diffuser Sklerose. Greenfield dagegen geht schon weiter, indem
er einen spinalen, zerebralen und pontozerebellaren Typus der Masern-
Encephalo-Myelitis, oft kombiniert mit diffusen perivaskulären demyelinisieren-
den Herden hervorhebt. Interessant ist, daß nach Greenfield solche Fälle
schon Lucas im Jahre 1786 und später auch Barlow und Williams bekannt
waren.
Wir sehen also hier drei Formen der Encephalo-Myelitis, von denen zwei
gleichartig, die dritte gleichsinnig zu sein scheint, d. h. daß die Noxe in
gleichem Sinn im Zentralnervensystem sich auswirkt wie bei den erst-
genannten beiden Erkrankungen. Akuität, Intensität, vor allem aber das
Lebensalter, nicht zuletzt die Individualreaktion ändern die Charaktere der
Krankheit, so daß sie oft den Eindruck ganz verschiedener Prozesse hervor-
ruft. Ich bin weit entfernt davon, die Identität der Masern-Enzephalitis mit
der multiplen Sklerose hervorzuheben. Ich möchte nur mit Rücksicht auf
die zuerst erwähnten Fälle, besonders jenen von Schlesinger, betonen, daß
auch im Anschluß oder in unmittelbarem Zusaminenhang mit den Masern
Prozesse auftreten können, die unendlich viel Ähnlichkeit mit jenen der
multiplen Sklerose haben. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert,
daß ganz analoge Prozesse, wie bei der multiplen Sklerose, auch toxisch be-
dingt sein können, wie z. B. jene eigenartige Manganvergiftung oder wie
solche auch bei der Kohlenoxydvereiftung schon früher (Letmann)und auch
in neuerer Zeit von Hilpert beschrieben wurden. Gerade in diesen letzteren
Fällen muß man hervorheben, daß, was eigentlich bei der multiplen Sklerose
weniger der Fall ist, perivaskuläre Gliawucherungen neben typisch skleroti-
schen Herden auftreten können. Allen diesen Fällen ist gemeinsam die Intakt-
heit der Ganglienzellen.
8 Professor Dr. Otto Marburg.
Vor einigen Jahren habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß meist in
den Frühjahrsmonaten in dem Material der Augenkliniken Fälle auftreten,
die als retrobulbäre Neuritis oder auch als Papillitis in Erscheinung treten
und bei denen sich entweder nur spinale Symptome oder typische Symptome
der multiplen Sklerose nachweisen lassen. Man hat diese Fälle, wenn sie
oligosymptomatische sind, d. h. nur spinale Erscheinungen mit jenen des
Optikus aufweisen, verschieden bezeichnet. Besonders von französischer Seite
als Neuromyelite optique aiguë oder als Opthalmo-neuro myelite. Von
Bauchut et Dechaume bekamen sie den Namen Neuroptico-myelite aiguë.
Beck, der diese Fälle im Jahre 1927 zusammenstellte, erwähnt bereits, daß
einzelne derselben als multiple Sklerose aufzufassen sind. Auch führt er einen
Fall von Steward, Greenfield and Blandy an, bei dem sich Veränderungen
zeigten, die an jene der zentrolobären Sklerose erinnern. Einen ganz ähnlichen
als den eben erwähnten Fall haben Marinesco, Draganesco, Sager und
Grigoresco beobachtet. Die Fälle sind sicher nicht analog. Aber man kann
bei ihnen, besonders bei dem letzteren, deutliche Veränderungen finden, die
an die multiple Sklerose erinnern. Was sie nach Beck und wohl auch den
letztgenannten rumänischen Autoren von der multiplen Sklerose differenziert,
ist 1. der vollständige Zerfall der Nervenfasern, also auch des Achsenzylinders,
und 2. der Umständ, daß sekundäre Degenerationen aufzutreten pflegen. Wenn
man aber die massigen Herde im Fall von Beck betrachtet und mit ihnen
die sekundäre Degeneration vergleicht, so muß man über die Disproportion
dieser in Verwunderung geraten, besonders dann, wenn Beck ausführt, daß
eine absteigende Degeneration fehlt, trotzdem über große Strecken des Rücken-
marks die Seitenstränge schwer geschädigt sind. Bei Beck ist außerdem
wichtig, daß perivaskuläre Rundzellanhäufungen entzündlicher Natur vor-
handen sind, ja sogar Leukozyten. Es ist leider aus der Krankengeschichte
nicht ersichtlich, ob hier neben der Pneumonie nicht auch eine Zystopyelitis
bestand und wir es hier nur mit einer durch die komplizierende Erkrankung
bedingten Leukozytenemigration zu tun haben. Im Falle der rumänischen
Autoren zeigt sich scheinbar keine derartige Infiltration. Auch Guillain,
Alajouanine, Bertrand et Garcin haben einen derartigen Fall beschrieben,
der allerdings nur degenerative Veränderungen geboten hat.
Wir sehen also hier drei verschiedene Formen nebeneinander. Die eine
Form, wie die von Beck, mit typischer Infiltration, die zweite Form, wie die
von Marinesco, bei der noch Achsenzylinder in den Herden erhalten bleiben
und schließlich die dritte Form, die der französischen Autoren, bei denen die
Achsenzylinder scheinbar nicht mehr erhalten geblieben sind.
Es ist nun die Frage, ob man diese Fälle nieht auch in die große Gruppe
der periaxialen Encephalo-Myelitis rechnen soll, deshalb, weil doch vieles in
diesen Fällen einen Übergang zur Encephalo-Myelitis periaxialis zeigt. Es
wäre möglich, daß es sich hier um etwas Analoges handelt, wie in den schönen
Untersuchungen von Lotmar über die Wirkung des Dysenterieloxins, wo
die Intensität des Giftes die Verschiedenheit des anatomischen Prozesses er-
klärt, indem bei stärkerer Intensität die Nekrose, bei geringerer der entzünd-
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 9
liche Prozeß in Erscheinung tritt. Man könnte auch annehmen, daß — wie
dies Glanzmann bei der Vakzine-Enzephalitis annahm und wohl auch
Priesel wahrscheinlich macht — hier lokale anaphylaktische Vorgänge das
eine Mal etwas intensiver, das andere Mal weniger intensiv wirken. Man kann
das gelegentlich bei der Syphilis sehen in Fällen von Salvarsantod, wo ich
mit Oseki typische bilateral-symmetrische Nekrosen fand, während man ge-
wöhnlich sonst nur entzündliche Erscheinungen sich vertiefen oder neu auf-
treten sieht.
Es ist natürlich schwer, mangels einer Kenntnis der Ursache dieser Er-
krankungen, und zwar all der eben angeführten, sie in einer Gruppe zu ver-
einigen. Aber es erscheint mir wichtig, auf diese inneren Zusammenhänge
hinzuweisen, weil man aus einem abweichenden Befund nicht gleich auf eine
selbständige Krankheit schließen soll. Es gilt ein Gleiches auch für die von
Redlich z. B. veröffentlichten Fälle von Encephalitis cerebelli et pontis, die
absolut der multiplen Sklerose angehören, während die von ihm erwähnten
Fälle von Myelitis verschiedener Natur sein können. Auch ich habe solche
Fälle wiederholt beobachtet und wegen der scheinbaren Beschränkung auf
einen bestimmten Querschnitt unter Koinzidenz eines eiweißreicheren Liquors
bei Zellverarmung noch vor der Lipjodolperiode operieren lassen unter der
Annahme eines raumbeschränkenden Prozesses im Rückenmark. Es fand sich
dabei eigentlich nicht viel. Jedenfalls kein Tumor. Und da ich Gelegenheit
hatte, einzelne dieser Fälle über viele Jahre zu beobachten, so konnte ich
schließlich feststellen, daß sie sich zur typischen multiplen Sklerose ent-
wickelten. Hat doch auch Pette etwas Ähnliches für einen Fall Redlichs
erwähnt. Deswegen muß man ungemein vorsichtig in der klinischen Be-
urteilung solcher Fälle sein und nur der anatomische Befund kann bis zu
einem gewissen Grad, aber auch nicht vollständig, unser Urteil richtig ge-
stalten.
Wenn wir bei Nervenkrankheiten nach den Ursachen forschen, so müssen
wir dies nach einer doppelten Richtung tun. Nämlich nach der Ursache der
Krankheit selbst und nach der Ursache der Lokalisation des krankhaften Pro-
zesses. Für die Fälle des Encephalomyelitis periaxialis scleroticans und die
ihr angeschlossenen anderen Erkrankungen sind wir bisher nicht in der glück-
lichen Lage, mit Sicherheit eine Ursache anzugeben. Die von Kuhn und
Steiner, später von Steiner allein nachgewiesenen Spirochäten haben weder
Rothfeld noch ich, noch mein Schüler Nishi nachweisen können, ebenso-
wenig wie kürzlich Lüthy. Eine Überimpfung auf Affen, oft versucht, ist
eigentlich kaum mit Sicherheit gelungen, weshalb ich von einer Aufzählung
der diesfälligen Versuche absehe, besonders mit Rücksicht auf die Tatsache,
daß Cournand dies erst kürzlich getan hat. Leider kommt das von Che-
vassut gefundene Virus, das ein filtrierbares ist, als ätiologischer Faktor
nicht in Frage. Die sphaerula insularis hat durch Carmichael, Schuster,
Mollaret et Lépine, Georgi, Wilder, besonders aber Tronconi nicht
nur keine Bestätigung gefunden, sondern der letztere hat auch zeigen können,
daß sie sich überall dort findet, wo Hartleybrühe verwendet wird. Dagegen
10 Professor Dr. Otto Marburg.
können auch die mit einem Antivirus erzielten Erfolge nicht aufkommen
(Purves Steward, Sarbo), wenn man bedenkt, wie leicht bei irgend einer
therapeutischen Applikation — oder sollte man nicht vielleicht sagen, trotz
einer solchen — die multiple Sklerose remittiert. Freilich wenn eine so ge-
wichtige Persönlichkeit, wie Purves Steward dafür eintritt, muß man
diesen Befunden besondere Beachtung schenken.
Und nun zur Frage der Ursache der Lokalisation. Cecil und Oscar Vogt
haben den Begriff der Pathoklise aufgestellt. Sie verstehen darunter die An-
fälligkeil bestimmter topistischer Einheiten für die bestimmten Krankheits-
prozesse und unter Topistik verstehen sie die Lehre von den auf Grund ge-
meinsamer Eigenschaften (Merkmale) zusammengefaßten nervösen Einheiten.
So ist z. B. die Summe der Zellkerne eine solche topistische Einheit, selbst-
verständlich auch die Summe der Markfasern oder Axone. Wenn nun die An-
fälligkeit in den vorliegenden Krankheiten im Sinne von Vogt tatsächlich
topistisch wäre, so müßte selbstverständlich die Markscheide in toto, d. h. im
ganzen Nervensystem zugrunde gehen und nicht nur stückweise, ebenso der
Achsenzylinder. Das ist nun nicht der Fall. Es hat dann Spielmeyer den
vasalen Faktor in der Lokalisationslehre besonders betont. Aber auch dieser
kann bei diskontinuierlichem Markzerfall hier kaum in Frage kommen. Nun
hat Spatz sich vorwiegend mit Ausbreitungstypen der verschiedenen Ent-
zündungen des Gehirns befaßt und gemeint, daß der Typus der akuten mul-
tiplen Sklerose viel Ähnlichkeit hätte mit dem Ausbreitungsmodus der meta-
statischen Herdenzephalitis, der abhängig sei von den intrazerebralen Arterien.
Ich habe mich bereits vielfach bemüht zu zeigen, daß dies nicht der Fall ist.
Es ist nicht, wie Spatz meint, sehr wahrscheinlich, daß die Herde in ihrer
Ausdehnung und Form Gefäßgebieten entsprechen. Denn ich habe mich mit
Falkiewicz besonders bemüht, das Gegenteil davon zu beweisen. Dagegen
läßt sich genau wie bei der Masern-Enzephalitis bei der Encephalo-Myelitis
periaxialis zeigen, daß die Herde vielfach an der Peripherie gelegen sind,
Säume bilden und daß sie sich im Gehirn sehr häufig knapp am Ventrikel
entwickeln. Ob damit aber ein Hinweis erbracht ist, daß die Noxe auf dem
Wege des Liquors sich ausbreitet, ist auch nicht mit Sicherheit zu entscheiden,
so daß wir bezüglich der Ursache der Lokalisation genau so im Zweifel sind
wie bezüglich der Ursache der Erkrankung.
Eine zweite Gruppe von Encephalo-Mvelitiden nichteitriger Natur
ist durch eine eigentümliche Aktivität der Glia charakterisiert. Ich möchte
zum Ausgangspunkt für diese Gruppe der Erkrankungen die klassische Schilde-
rung der Fleekfieber-Enzephalitis von Spielmeyer nehmen. Denn dieser
zeigte schon im Jahre 1919 bei «diesen Formen der Entzündung des Nerven-
systems, daß neben diffusen, also sowohl die graue als weiße Substanz be-
treffenden entzündlichen Erscheinungen, rein herdförmige Proliferationen der
Glia auftreten, die oft einander benachbart sind, selbstverständlich kombi-
niert mit einer Destruktion des Parenehyms. Es ist nun interessant, daß diese
aktive Proliferation der Gha bei ganz verschiedenen Erkrankungen vorzu-
kommen pflegt. Babes hat sie bekanntlich zuerst bei der Lyssa beschrieben
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 11
und Acucharro hat ihren gliösen Charakter einwandfrei festgestellt. Es ist
leider zu wenig bekannt, daß Eugen Pollak der erste gewesen ist, der im
Wiener neurologischen Institut auf die Tatsache hingewiesen hat, daß die
Glia bei entzündlichen Prozessen eine aktive Proliferation, scheinbar un-
abhängig von der Entzündung selbst, aufweisen kann. Es hat anfangs nicht
an sehr energischen Widersprüchen gegen diese Auffassung gefehlt, bis man
schließlich dahinter kam, daß die Knötchenbildung, die übrigens nicht spe-
zifisch ist (Scholz), bei den verschiedenen nichteitrigen Infektionen nichts
anderes ist, als eine solche aktive Gliaproliferation. Sie findet sich, wie Spiel-
meyer so schön beim Fleckfieber gezeigt hat, meist um ein Gefäß, wobei ich
besonders hervorheben möchte, daß diese Knötchenbildung keineswegs ganz
gleichmäßig um die Gefäße als Zentrum erfolgt, sondern daß die Entwicklung der
Glia zumeist nur nach einer Seite hin erfolgt, das Gefäß also exzentrisch liegt. Wir
haben also hier die Kombination einer nichteitrigen Entzündung, d. h. also
auch hier meist eine Anhäufung von lymphoiden und plasmatischen Zellen
perivaskulär neben aktiver Gliaproliferation. Sehr schön hat Boumann Ana-
loges beim Tetanus gefunden und ebenso konnte Dürck die Befunde Cer-
lettis bei Malaria erweitern, indem auch er, genau wie Spielmeyer, die
Knötchenbildung findet neben andersartigen Gliabildungen, die vielleicht der
Knötchenbildung vorangehen oder sie ersetzen (Gliarosetten, Gliasterne,
Gliastrauchwerk). Es ist nun die Frage, ob zu diesen vier verschiedenen
Krankheiten, Fleckfieber, Malaria, Lyssa und vielleicht auch Tetanus, die
gleichartige Veränderung im Zentralnervensystem aufweisen, die Vakzine-
Enzephalitis hinzuzurechnen ist, die in den letzten Jahren berechtigtes Auf-
sehen erregt hat. Wenn man die Schilderungen liest, die Luksch als erster
gegeben hat und sie vergleicht mit denen von Bastiaanse Van Bouwdigh
oder Brouwer, Bouman und Bock oder von den englischen Autoren Turn-
bull und McIntosh oder den Deutschen Pette, Schürmann oder jüngst
Hassin und Geiger in Amerika, um nur einige zu nennen, so muß es auf-
fallen, daß hier völlig Analoges vorliegt, wie bei den eben genannten Er-
krankungen. In meinen Fällen, die mir Prosektor Paul zur Verfügung gestellt
hat, fand ich die Entwicklung von typischen Knötchen um die Gefäße, ich
fand ferner die eigentümliche Infiltration an den Venen, ganz analog den
Exsudationen bei den anderen geschilderten Erkrankungen. Ich fand, daß das
Nervensystem sowohl in der grauen als in der weißen Substanz affiziert ist,
im Gegensatz vielleicht zu Bouman und Bock, und es verschlägt nichts,
wenn man hervorhebt, daß in diesen Gliaherdchen wohl die Markscheiden
und die Achsenzylinder vielfach zugrunde gehen, aber die Achsenzylinder oft
resistenter sind als die Markscheiden, ganz analog, wie es Dürck für die
Malaria schildert.
Um die Ähnlichkeit dieser Erkrankungen noch größer zu machen, möchte
ich auf ein Moment hinweisen, das vielleicht bisher keine solehe Beachtung
erfahren hat, als dasselbe es verdiente. A\cueharro erwähnt bei der Lyssa
eigenartige Veränderungen des Kerns, die zum Teil progressiv, zum Teil regres-
siver Natur sind. Regressiv verhält sich die oxyphile, progressiv scheinbar die
12 Professor Dr. Otto Marburg.
basophile Substanz, wobei schließlich die Kernmembran zugrunde geht und
eine Reihe basophiler Körperchen resultieren. Ähnliches beschreibt Spiel-
meyer beim Fleckfieber. Er meint, daß es sich vielleicht um pluripolare
Kernteilung oder Absprengung von Chromosomen handelt. Auch Wohlwill
bildet Ähnliches bei der Masern-Encephalo-Myelitis ab und spricht bei kern-
losen Rückenmarksganglienzellen von grobklumpigen basophilen Einlageruu-
gen. Es fällt mir auf, daß einzelne dieser von einem hellen Hof umgeben sind.
Ich konnte ganz Analoges in einem Fall von Vakzine-Enzephalitis erheben, so
daß wir in diesen merkwürdigen progressiven Veränderungen der basophilen
Kernsubstanz vielleicht ein gemeinsames pathologisches Moment solcher Fälle
besitzen.
Inwieweit auch die für die Lyssa so charakteristischen Negrischen Ein-
schlußkörperchen hieher gehören, ob sie nicht doch nur eine progressive Ver-
änderung der oxyphilen Kernsubstanz sind, ist auch heute noch nicht sicher-
zustellen.
Vom Tetanus wissen wir, daß das Virus nicht in das Nervensystem ein-
dringt, sondern daß nur Toxine, die längs der Lymphscheiden der Nerven in
das Zentralnervensystem gelangen, die Krankheit hervorrufen. Vielleicht darf
ich eine eigene Beobachtung von Vakzine-Enzephalitis heranziehen, bei der
ein Kind am Oberarm geimpft wurde und nach der Impfung unter Temperatur-
anstieg in einigen Tagen eine Lähmung der geimpften Extremität bekam. ein
Umstand, der wohl dafür zu sprechen scheint, daß auch hier die Noxe längs
der Lymphscheiden der Nerven in das Nervensystem gelangte.
Der Streit, ob es sich bei den eben angeführten Enzephalitiden um
direkte Schädigung durch ein Virus handle oder durch ein Toxin wie beim
Tetanus oder ob irgend ein anderer Vorgang hier maßgebend sei, kann nicht
entschieden werden.
Trotz vieler dagegen sprechender Angaben, ist es mir noch am wahr-
scheinlichsten, daß bei der Vakzine-Enzephalitis das Virus selbst Ursache der
zerebro-spinalen Erkrankung ist. Ein analoges wird wohl auch für die
Encephalo-Myelitiden nach Lyssaschutzempfang gelten. Denn die von Gilde-
meister z. B. betonte Aktivierung präexistenter Bakterien, wie sie wohl
durch Pettes Untersuchungen sichergestellt wurden, oder die von Glanzmann
angenommene anaphylaktische Reaktion oder die Annahme von Paul, daß
es sich hier um eine Antigen-Antikörperreaktion handle, sind schwer zu er-
weisen. Es ist diese Frage auch meines Erachtens nur durch Beibringung
neuer Tatsachen, nicht aber durch eine Kritik der vorhandenen Befunde zu
lösen.
Unter dem Namen Ectodermoses neurotropes hat Levaditi in
fundamentaler Weise die Poliomyelitis, die Eneephalitis epidemica,
schließlich die Herpes-Encephalitis zusammengefaßt und diesen später
die Zostererkrankungen angeschlossen. Nicolau, Rimanesco Nicolau,
Galloway haben diese Krankheitsgruppen als Septinevrites à ultravirus
neurotropes bezeichnet, Ausgezeichnet sind diese Kraukheiten durch die In-
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 13
fektion mit einem Ultra-Virus, das elektive Affinität zu Geweben, die vom
Ektoderm abstammen, besitzt, das ist die Cornea, die Haut und das Nerven-
system, zentrales sowie peripheres. Charakteristisch für diese Krankheiten
ist in pathologisch-anatomischer Beziehung eigentlich in erster Linie die In-
filtration des (Gewebes und der Umstand, daß die graue Substanz im Vorder-
grund der Schädigung steht, wobei keineswegs gesagt ist, daß die weiße Sub-
stanz verschont bleibt. Nimmt man die Poliomyelitis als Beispiel, so ist
diese eine Affektion, die scheinbar primär eine Gefäßdurchlässigkeit für
korpuskuläre Elemente bedingt, also ganz im (Gegensatz zu der ersten und
wohl auch zweiten Form der nichteitrigen Entzündungen, wo diese (iefäß-
(durchlässigkeit nicht besonders hervortritt. Das Prinzip der primären Durch-
lässigkeit der Gefäße für korpuskuläre Elemente wirkt.sich dann auch in der
Weise aus, daß wir bei diesen Krankheiten wenigstens in den ersten Tagen
fast immer Leukozyten im Exsudat finden; späterhin sind es selbstverständ-
lich mehr Iymphoide Elemente, Plasmazellen, Histiozyten, sichere Glia-
elemente. Der Umstand, daß die graue Substanz vorwiegend betroffen wird,
läßt es begreiflich erscheinen, daß Fettkörnchenzellen hier nur eine geringe
Rolle spielen. Eine gewisse Aktivität oder besser gesagt eine proliferative
Fähigkeit der Glia ist auch hier erkennbar, doch werden die Knötchen hier
nicht durch die plasmatische Glia gebildet, wie bei den Erkrankungen der
zweiten Gruppe, sondern durch die Satelliten auf dem Wege der Neuro-
nophagie. Ich habe diese Form der Neuronophagie primäre genannt, weil
ich schon früher, das war im Jahre 1902, erkannte, daß hier mehr vorliegt
als ein bloßer Ersatz zugrunde gehenden Gewebes.
Es ist nun interessant, daß wir bei der Poliomyelitis offenbar nach der
Intensität und Akuität der Noxe und nach dem Befallensein verschiedener
Altersstufen klinisch ganz verschiedene Krankheitsbilder erhalten. So habe
ich die Myatonia congenita Oppenheims als fötale Poliomyelitis hingestellt.
Bekannt ist, daß ein großer Teil der als Landrysche Paralyse bezeichneten
Fälle nichts anderes ist als eine äußerst extensive perakute Form der Polio-
myelitis. Ich stelle mich auch ganz auf den Standpunkt der französischen
Kollegen, die in der amyotrophischen Lateralsklerose eine chronische Polio-
myelitis sehen, und zwar deshalb, weil es mir mit Naito gelungen ist, deut-
liche Entzündungserscheinugen, ganz im Sinne der Poliomyelitis, bei dieser
Krankheit nachzuweisen und weil auch diese Krankheit, genau wie die Polio-
ınyelitis, wenn auch nicht in so intensiver Weise, da man Frühfälle kaum zur
Behandlung bekommt, auf Röntgenbestrahlung anspricht. Das gilt besonders
für die spinalen Formen der chronischen Poliomyelitis.
Ob man die von Foix und Alajouanine sowie Bogaert, Ley und
Brandes als myelite necrotique subaiguë bezeichneten Fälle hier anschließen
soll, ist mehr als fraglich. Sie sind in der «deutschen Literatur als malazische
Form der Myelitis seit langem bekannt (Mager, Schmaus) und charakteri-
siert durch vorwiegend auf die Vortderhörner beschränkte Malazien und gleich-
zeitigen schweren (refäßveränderungen. Ob diese primär sind, ist sehr frag-
lich. Vielleicht spielt auch hier die Intensität des Virus im Lotmarschen
14 Professor Dr. Otto Marburg.
Sinn eine Rolle und erklärt die Nekrose. Das gleiche gilt für Lows toxische
Enzephalitis der Kinder.
Es ist ein unvergängliches Verdienst von Ivar Wickmann, gezeigt zu
haben, daß die Poliomyelitis eine generelle Infektion des Zentralnervensystems
ist, und daß er es war, der die ursprünglich Strümpellsche Auffassung, die
zerebrale Kinderlähmung sei das zerebrale Pendant der spinalen Kinder-
lähmung, eigentlich erst bewies. Ebenso wird heute kaum jemand zweifeln,
daß der Herpes zoster, wie das schon Head und Campbell gezeigt haben,
ein entzündlicher Prozeß ist, der pathologisch-anatomisch der Poliomyelitis
sehr ähnlich sieht und der über das Spinalganglion hinaus auch das Rücken-
mark ergreifen kann, wobei die Noxe offenbar die Lymphscheiden der Nerven
als Weg benutzt.
Für die Poliomyelitis hat Pette ein gleiches festgestellt, so daß auch hier
eine gewisse Analogie besteht und für die Herpes-Encephalitis konnte
Marinesco zeigen, daß von der Cornea aus durch die Ziliarnerven der Pro-
zeß in das Gehirn gelangt.
Schon im Jahre 1912 habe ich mit B. Spitzer den Versuch gemacht,
Giftstoffe in die Pulpa von Hunden einzulegen, um zu sehen, ob die toxisch
erzeugte Pulpitis nicht auch den Weg in das zentrale Nervensystem findet.
In der Tat hat die durch Jequirity erzeugte Pulpitis ihren Weg längs der
Trigeminusäste in das Ganglion Gasserii gefunden. Spitzer hat jetzt den
gleichen Versuch aseptisch wiederholt und ein gleiches gefunden. Damit ist
der Beweis erbracht, daß es nicht immer ein lebendes Virus sein muß, das
von irgend einer Stelle aus in das Zentralnervensystem eindringt, sondern daß
auch Toxine den gleichen Weg benützen. Deshalb muß man vorsichtig sein,
alles auf Infektion zu beziehen.
Zu den eben geschilderten Erkrankungen dieser Gruppe haben sich in
den letzten Jahren noch manche andere hinzugefunden. Dahin gehören be-
sonders die Varizellen-Erkrankungen. Ich will nur auf zwei Arbeiten von
Facella und Bogaert verweisen, die alles Wissenswerte zusammenfassen
und im Grunde genommen zeigen, daß der Prozeß bei der Varizellen-En-
zephalitis, ebenfalls viel Ähnlichkeit hat mit jenem der Herpes-En-
zephalitis, daß also das exsudative Moment hier die dominierende Rolle spielt,
die Gefäßschädigung also primär eine solche sein kann, daß es zur Exsudation
kommt.
Der Umstand. daß Bokay und später Kundratitz den inneren Zu-
sammenhang der Varizellen-Enzephalitis mit der Zoster-Enzephalitis erweisen
konnten, spricht allein dafür, daß beide Krankheiten als identische anzu-
sehen sind,
Diesen ziemlich gleichartigen Krankheitsformen schließt sieh zwanglos
die rheumatische Entzündung an, über die Robert Lenz erst kürzlich berichtet
hat. Es ließ sich erkennen, daß hier eine Enzephalitis vorliegt, die sehr viel
Ähnlichkeit hat mit den eben geschilderten Erkrankungen. Auch hier stehen
scheinbar die Gefäße, die schwere Schädigungen aufweisen können, im Mittel-
punkt. Auch hier handelt es sich um Rundzellinfiltrate, die manchmal in der
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 15
Umgebung der Gefäße bereits zu Knötchenbildung führen. Und es ist
interessant, daß diese Rundzellinfiltrate in gleicher Weise im Endokard
nachzuweisen sind. Dabei handelt es sich nicht etwa um Kokkenembolien
oder metastatische Enzephalitis. Das Wesentlichste bei dieser rheumatischen
Enzephalitis ist aber die Lokalisation, und zwar im Striatum und den basalen
(ianglien des Zwischenhirns, wobei hier neben den entzündlichen bereits auch
degenerative Veränderungen wahrzunehmen sind. Wir haben hier eine Er-
krankung vor uns, die bis zu einem gewissen Grad wohl der letztgeschilderten
Gruppe angehört, die aber durch die Neigung zur Knötchenbildung und durch
die bestimmte Lokalisation sich einer Entzündungsform nähert, die als
epidemische (lethargische) Enzephalitis oder, wie manche Autoren sie nennen,
Economosche Erkrankung, in den letzten Jahren viele Opfer gefordert hat.
Auch hier sehen wir die Kombination von Veränderungen der dritten und der
zweiten Gruppe. Auch hier sehen wir ein diffuses Ergriffensein sowohl der
grauen als auch der weißen Substanz und demgemäß entsprechender Reak-
tion. Desgleichen kann man auch hier bestimmte Lieblingslokalisationen er-
kennen.
Ich kann hier nicht auf weitere Details eingehen, sondern nur das All-
gemeine hervorheben und möchte betonen, daß wir die klassische Form dieser
dritten Gruppe der nichteitrigen Infektionen als exsudative Katexochen be-
zeichnen können, wobei die Exsudation dominiert. Vielleicht wird man die
Poliomyelitisgruppe als Encephalo-Myelitis exsudativa ganz allgemein be-
zeichnen oder als Polio-Encephalo-Myelitis exsudativa, um die beiden Haupt-
komponenten hervorzuheben. Wir haben auch hier wieder eine Reihe gleich-
artiger oder gleichsinniger Erkrankungen und es hat den Anschein, als ob
diese Erkrankungen kokkenbedingt sind. Das gilt wohl in erster Linie für die
rheumatische Enzephalitis, obwohl bei den reinen Formen derselben, wie
erwähnt, keineswegs irgend welche Kokkenembolien nachzuweisen sind. Doch
scheint es, daß der infektiöse Rheumatismus eine Kokkenerkrankung dar-
stellt. Vielleicht gilt ein gleiches für die Poliomyelitis. Diese Frage ist ja auch
heute noch nicht gelöst. Jedenfalls muß man gerade bei der Beurteilung des
Virus dieser Fälle vorsichtig sein, da die Untersuchungen von ein-
wandfreien Autoren Giegensätzliches ergeben haben.
Diese Vorsicht ist auch bei den sogenannten Einschlußkörperchen an-
gebracht. Wir sahen bei der vorigen Gruppe eine progressive Veränderung
der basophilen Kernsubstanz und können hier eine solche der oxyphilen
wenigstens in der Herpes-Enzephalitis nach Luger und Lauda feststellen. Ob
die Körperchen der Bornaschen Krankheit ein gleiches bedeuten, ist fraglich,
Dagegen scheint es sicher, daß die bei der Eneephalitis lethargiea gefundenen
Einschlußkörper (amphophil, zuletzt Godlowski) degenerativen Veränderun-
gen entsprechen.
Überblickt man nun diese drei großen Typengruppen der nicht-
eitrigen Infektionen des Zentralnervensystems und vergleicht die Gie-
fäßreaktion, so zeigt sich, daß bei der ersten und zweiten Gruppe
diese völlig gleichartig ist, das heißt, daß perivaskuläre Infiltrationen
16 Professor Dr. Otto Marburg.
eigentlich nur an den Venen zu finden sind. Man kann als Grund vielleicht
die von Dürck bei der Malaria, später von Wohlwill bei der Masern-En-
zephalitis gemachte Annahme gelten lassen, daß infolge der venösen Stase
das Gift längere Zeit die Venenwände bespült und so die Exsudation bedingt.
Einen strikten Gegensatz dazu bilden die Fälle der dritten Gruppe, bei welcher
das exsudative Moment, also die Gefäßdurchlässigkeit primär auftritt. Wir
haben bei den ersten beiden Gruppen aber noch eine weitere Differenzierung,
wobei nicht zu entscheiden ist, ob diese nur quantitativ oder auch qualitativ ist.
Diese Differenzierung besteht darin, daß trotzdem in beiden Gruppen die
Quellung im Vordergrund steht, diese in dem einen Fall die Axone verhältnis-
mäßig schont oder für die Axone bis zu einem gewissen Grad reversibel ist,
während in dem zweiten Fall diese Axonintegrität meist nicht vorhanden ist,
oder wenn, so nur angedeutet. Es scheint, daß manche der Differenzen nur
auf die Aktuität bzw. Intensität der Noxe zu beziehen sind, daß im Prinzip der
pathologische Vorgang aber als gleichartig aufgefaßt werden könnte. Aber auch
in bezug auf die Gliareaktion unterscheiden sich die ersten beiden Gruppen
in dem Sinne, daß, wiewohl bei beiden die Glia verhältnismäßig wenig ge-
schädigt ist und eine auffallende Wucherungstendenz erkennen läßt, diese im
ersten Fall das reparatorische nicht überschreitet, im zweiten Fall aber eine
gewisse aktive Proliferation erkennen läßt, die letzten Endes zur Knötchen-
bildung führt. Wir werden demzufolge im großen und ganzen die alte Auf-
fassung der Veränderungen teilen und von degenerativer, proliferativer und
exsudativer Entzündung sprechen, wobei wir uns wohl bewußt sind, daß diese
Typen immer nur das eine für sie charakteristische Moment besonders in den
Vordergrund schieben, während die anderen beiden gleichfalls vorhandenen
Momente in den Hintergrund treten. Wir werden ferner ganz besonders her-
vorheben, daß wir Typen haben, die zwischen den beiden stehen, so z. B. die
Vakzine-Enzephalitis, die sich zum Teil der periaxialen Enzephalitis nähert,
zum Teil den proliferatiren Formen, ebenso die Economosche Form der
epidemischen Enzephalitis, die wiederum zwischen der zweiten und dritten
Gruppe ihren Platz finden müßte, da sie das exsudative Moment oft überaus
deutlich hervortreten läßt, anderseits aber auch die Proliferation sehr deutlich
erscheint.
Es erhebt sich nun die Frage, ob mit einer solchen Einteilung irgend
etwas, sei es für die Pathologie oder für die Klinik oder für die Ätiologie ge-
wonnen ist. Diese Frage kann man weder bejahen noch verneinen. Zumindest
hat man unter Berücksichtigung all dessen, was ich eingangs gesagt habe, vor
allem des Umstandes, daß ein scheinbar aus dem Rahmen des Typischen
fallender Befund nicht gleich für eine selbständige Krankheitsgruppe spricht,
die Intensität der Noxe, die Masse derselben und auch den momentanen
Zustand des Individuums heranzuziehen, um die Atypie zu erklären. Auch
komplizierende Momente nebenher laufender Erkrankungen mögen dabei eine
Rolle spielen. Diese Zurückführung auf einfache Grundformen wird uns aber
auch ein Wegweiser für die ätiologische Forschung sein, wobei ich nochmals
ganz besonders betonen möchte, daß ich die Krankheiten einer Gruppe nicht
Allgemeine Pathologie der nichteitrigen Entzündungen des Zentralnervensystems. 17
für gleichartig ansehe, sondern für gleichsinnige, gleichgerichtete Krank-
heiten, bei denen sich die Noxe in gleichem Sinn auswirkt. Diese gleichsinnige
Auswirkung muß sich auch im klinischen Bilde zum Ausdruck bringen, da ja
letztere im wesentlichen die Folge der pathologisch-anatomischen Schädigung
des Zentralnervensystems ist. Die Vielheit der klinischen Bilder bei gleichen
Erkrankungen erklärt sich meines Erachtens anstandslos aus der Verschieden-
heit der Lokalisation des Prozesses, aus der Intensität der ergriffenen Partien,
wobei hier noch der Faktor des Lebensalters, in dem die Krankheit einsetzte,
nicht ohne Bedeutung ist. Die einzigen und wesentlichen Differenzen sind die
verschiedenen auslösenden Ursachen, wobei es scheint, daß diese auslösenden
Ursachen, so different sie auch an sich sein mögen, in ihren Auswirkungen
auf das Zentralnervensystem gewisse gemeinsame Züge besitzen, die uns die
Gileichartigkeit der pathologischen Veränderung erkennen lassen. So wird sich
auch hier das Kausalitätsprinzip erweisen lassen, wenn wir erst einmal in
der Lage sind, die wahren Ursachen der Erkrankungen zu erkennen.
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Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäß-
verschluß der Arteria cerebri posterior mit besonderer Be-
rücksichtigung der konsekutiven sekundären Degeneration.
Von i
Priv. Doz. F. G. v. Stockert,
Assistent der Universitäts-Nervenklinik Halle, Direktor: Prof. A. Hauptmann.
Mit 9 Abbildungen im Text.
Das anatomische Bild des GefäßBverschlusses der Arteria cerebri posterior
verdanken wir bereits Duret (4), der darauf aufmerksam machte, daß diese
Arterie fast alle Wände der Hirnhöhlen mit Ausnahme der Vorderhörner der
Seitenventrikel versorgt, so daß v. Monakov sie direkt als „Arterie der Ven-
trikel“ bezeichnete. Oberflächlich sorgt dieses Gefäß für die Durchblutung der
dritten und zum Teil zweiten Temporalwindung sowie der unteren Fläche des
Oceipitallappens des Gyrus temporo-oceipitalis, eines Teiles des Gyrus hippo-
campi sowie des ganzen Cuneus. In der Tiefe wird von ihr der hintere und
untere Teil des Thalamus sowie ein Teil der pedunkulären sowie der sub-
Lhalamischen Gebiete unspült.
Das klinische Symptomenbild einer Verstopfung dieser Arterie ist im
wesentlichen durch eine homonyme Hemianopsie und ein verschieden deutlich
ausgeprägtes Thalamussyndrom gegeben: bei linksseitigem Sitz des Er-
weichungsherdes bestehen außerdem noch Zeichen einer sensorischen Aphasie
mit besonders deutlich ausgeprägter Alexie.
Wesentlich seltener sind natürlich Fälle von doppelseitigem Verschluß.
Immerhin konnten aber Bonvicini und Redlich (5) in ihrer Monographie
„Das Fehlen der Wahrnehmung der eigenen Blindheit bei Hirnkrankheiten"
bereits 81 Fälle doppelseitiger Hemianopsie aus der Literatur zusammen-
stellen, bei denen 40 unter 44 zur Sektion gelangten fiehirnen Er-
weichungsherde in beiden Oceipitallappen aufwiesen.
Wenn auch der vorliegende Fall nicht geeignet war, wesentlich Neues der
Klinik solcher Prozesse hinzuzufügen, nachdem es sich um ein 5, Jahre altes
Kind handelte, bei dem irgend welche Gesichtsfeldprüfungen überhaupt nieht
in Betracht kamen und die hochgradige Allgemeinstörung eine Differenzierung
der Ausfälle nicht gestattete, so scheint doch der anatomische Befund unter
besonderer Berücksichtigung der sekundären Degeneration geeignet, über die
Beziehungen der erweichten Gehirnteile zu den erhaltenen Partien einiges
Mitteilenswertes zu bieten.
24 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
Es soll im weiteren auf die Schnittserienbefunde Bonvicinis und
Redlichs (6; Bezug genommen werden und anderseits unsere Untersuchung
eine Ergänzung zu der Arbeit von Neurath (8) über „Symmetrische Herde
in der Operkularregion mit konsekutiver Degeneration der Hörstrahlung‘
bilden, soweit diese Beziehungen des Temporallappens anbelangt. da bei dem
von Neurath untersuchten Gehirn gerade die ersten Temporalwindungen und
die oberen Teile der zweiten Temporalwindung beiderseits erweicht waren,
während die übrigen Partien des Schläfenlappens erhalten waren, in unserem
Fall aber die Verhältnisse gerade umgekehrt liegen.
Herr Geheimrat Anton, dem ich auch an dieser Stelle für die Über-
lassung der Schnittserien und seine freundliche Unterstützung bei der Arbeit
noch besonders danken möchte, hat bereits einen Schnitt in seiner Darstellung
der Zentren und der Bahnen des Nervus cochlearis und Nervus vestibuli (Li
dargestellt und erläutert.
Krankengeschichte:
Anamnese: R. F. kam am 24. Februar 1910 an die hiesige Klinik. Er war am
30. November 1908 geboren worden. Schwangerschaft und Geburt sind normal ver-
laufen. Das Geburtsgewicht betrug 3100 g. Das Kind hatte sich anfangs scheinbar
normal entwickelt und konnte bereits mit vier Monaten allein sitzen. Mit fünf
Monaten bekam es Krämpfe, die eine ganze Nacht andauerten. Im Anschluß daran
verlor es die Lust zu sitzen, und es stellte sich ein Schielen ein, das vorher nicht.
bestanden hatte. Gegenstände wurden nur rechts beachtet, während links Sehein-
drücke nicht mehr wahrgenommen wurden.
Der Befund ergab einen auffällig breiten Schädel mit platter breiter Hinter-
hauptstufe, einen Umfang von 46 cm, einen Längsbogen von 33! , cm und einen Quer-
bogen von 34 cm. Das Kind ist nicht in der Lage, den Kopf selbständig zu fixieren ;
wird es aufgesetzt, so fällt es nach vorn oder rückwärts um; auf die Beine gestellt,
unternimmt es keinerlei Balanceversuche. Es reagiert deutlich auf Zuruf, durch optische
Reize kann hingegen die Aufmerksamkeit in keiner Weise erweckt werden. Eine
Blickwendung nach der Lichtquelle erfolgt nicht. Die Pupillen reagieren aber trotz-
dem etwas träge auf Lichteinfall. Eine Bewegungseinschränkung an den Extremitäten
besteht nicht, alle Spontanbewegungen sind ziellos. Der Tonus der Muskulatur ist
nicht gesteigert. Kniesehnen- und Achillessehnen-Reflexe sind lebhaft, keine Kloni.
Bei Bestreichen der Fußsohle Babinski angedeutet. Die Bauchdecken-Reflexe sind
auslösbar. Während der Untersuchung zeigt es mehrmals ein leichtes blitzartiges
Zusammenzucken. Die Fontanelle ist kaum mehr tastbar. An der Nase verläuft eine
starke Vene, sonst ist am Schädel keinerlei Venenstauung nachweisbar.
Wegen des bestehenden Hydrozephalus wurde am 26. Februar in Chloroforn-
narkose an der chirurgischen Klinik ein Balkenstich ausgeführt. Die Schädelkapsel
erwies sich als äußerst dünn, die Dura als stark gespannt. Wegen der starken Er-
weiterung der venösen Gefäße wurde die Trepanationsstelle vergrößert und die Dura
an einer möglichst venenfreien Stelle gespalten. Die Kanüle wurde darauf entlang
der Falx vorgeschoben und der Balken perforiert. Der Liquor floß klar unter ziem-
lichem Druck ab, im ganzen etwa 12 cem aus der Kanüle und etwa die gleiche Menge
neben der Kanüle. Die Pulsation des Gehirns, die vorher nicht nachweisbar war,
wurde jetzt deutlich sichtbar. Am 27. Februar trat Temperatursteigerung ein und
am 11. März kam es zum Exitus.
Die Sektion, die im anatomisch-patholoegischen Institut auszefuhrt wurde, ergab bei
der Körpersektion lediglich eine Hypoplasie der Nebennieren und parenchymatöse De-
generation der Nieren. Die Kopfscktion ergab hingegen: ein asymmetrisches Schädel-
dach, wobei die Gegend des linken frontalen und parietalen Gehirns stärker gewölbt
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschiuß 25
war als die des rechten. Die harten Hirnhäute zeigten rechts in der Frontal- und
Parietalgegend eine ausgedehnte Pachymeningitis haemorrhagica, welche in Gestalt
schokoladbrauner älterer, zersetzter Blutmassen, «die durch eine vollkommen organi-
sierte Membran von den weichen Hirnhäuten abgegrenzt waren, dargestellt wurden.
Dadurch ist das Gehirn in seiner ganzen linken Hälfte konkav eingebuchtet, die weichen
Hirnhäute zeigen keine entzündlichen Erscheinungen, bis auf eine Trübung des in
großer Menge an der Basis angesammelten Liquors. Der Längsblutleiter ist durch ein
gelbbraunes, der Wand fest anhaftendes Gerinnsel in seiner ganzen Ausdehnung ver-
schlossen. Der Thrombus setzt sich frischer in den Sinus transversus und sigmoideus
fest. Das Gehirn zeigt starke Verbildung insofern als die Occipital- und Temporal-
lappen beiderseits stark aplastisch erscheinen. Die Konsistenz des ganzen Gehirnes ist
schlecht. Die Sektionsdiagnose lautete: Hydrocephalus internus und externus, Pachy-
meningitis haemorrliagica chronica und Sinusthrombose.
Das Gehirn wurde in toto der Nervenklinik übergeben. Eine genaue Be-
schreibung des makroskopischen Hirnbefundes liegt leider nicht vor. Das Ge-
hirn wurde gehärtet und in Serienschnitte zerlegt, wobei die Schnitte haupt-
sächlich nach Weigert-Pal gefärbt wurden und ein Teil mit Haemalaun-Eosin.
Zur Charakteristik der Natur des Krankheitsprozesses soll gleich jetzt der
Befund an einem mit Haemalaun-Eosin gefärbten Schnitte in der Gegend der
vorderen Pole des Schläfenlappens wiedergegeben werden.
Es zeigt sich eine schwere Meningitis mit dickem Infiltrat. Die Gefäße
sind strotzend mit Blut gefüllt und erweitert. An einer Stelle der zystösen
fibrösen Degeneration sieht man zwei verschiedene Prozesse. Der eine Prozeß
zeigt eine deutliche Gliawucherung mit plasmatischen Gliazellen, die nahezu
das ganze zerstörte Gebiet erfüllt. An einzelnen Stellen kann man einen
typischen Status eribratus sehen. Auf der linken Seite ist die Zystenbildung
mehr im Vordergrund, und zwar handelt es sich um multilokulare Zysten,
deren Zwischenwände von erhaltengebliebenen Balken des normalen Gewebes
gebildet werden. Auffallend ist die Veränderung der Gefäße, die sehr dick-
wandig sind und besonders in der Media und Intima stellenweise deutlich das
Bild der Entarteriitis zeigt. Die Dicke des Schnittes und der Deckgläser läßt
eine feinere Analyse der histologischen Vorgänge nicht zu.
Es sei nun gestattet, die Beschreibung einiger in Photogrammen wieder-
gegebenen, nach Weigert-Pal gefärbten Schnitte erst vorauszuschicken, um
im Anschluß daran ein Bild der Beziehungen der zerstörten Hirnteile nach
einzelnen Systemen zu entwerfen. Zuerst sei kurz erwähnt, daß in den
vorderen Stirnhirnpartien bis etwa zu Beginn der inneren Kapsel die Verhält-
nisse sich annähernd physiologisch gestalten. Erwähnt sei nur eine deutliche
Aufhellung des tiefen Marks der linken Seite. Auch das Cingulun tritt rechts
etwas weniger in Erscheinung als links. Das kortikokaudale Bündel ist beider-
seits sehr deutlich, auch die Striae longitudinales mediales sind vollständig
intakt. Es zeigt sich ein mäßiger Hydrozephalus der Ventrikel; die die Ven-
trikel umkleidende Balkentapete ist gut entwickelt, im Septum pellucidum sind
die Fasern deutlich erhalten.
Am ersten Schnitt (Abb. 1), der durch die Gegend des Chiasma opticum ge-
führt ist, tritt der linke Temporalpol bereits mit der ersten und zweiten Win-
dung deutlich in Erscheinung, wobei der Operkularanteil der ersten Windung
26 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
eine starke Aufhellung zeigt. Immerhin sind in den beiden Windungen deut-
liche Markstrahlen nachzuweisen, besonders peripher (lateral), während medial
die Windungen in ein zystisches Narbengewebe übergehen. Auch das ven-
tralste Inselmark ist durch eine sklerotische Narbe ersetzt, während die Cap-
sula externa intakt ist. Auf der rechten Seite (im Bilde links) ist eine mäch-
tige Narbe nachweisbar, die die Stelle des Temporalpols einnimmt und auch
die Insel mit ihrem ventralen Gebiet soweit einbezieht, daß die Capsula ex-
Cing. Corp. call. Forn.
r
Binici Te s
Ins. Caps. extr. Caps. ext. Ch. opt.
Col. for. Com. ant. Lob. temp.
Abb. 1.
terna in das Narbengewebe eingelagert erscheint. Die Columnae fornicis sind
angedeutet, ebenso die Commissura anterior. In dem an und für sich ver-
schmälerten Balken sieht man die Balkenstichöffnung, in der Blutreste nachzu-
weisen sind, die auch dem Fornix anhaften. Im linken Frontalmark zeigt sich eine
deutliche Aufhellung, das linke Cingulum ist wesentlich faserärmer als das rechte.
Auf einem im Bereich der Commissura media geführten Schnitt (Abb. 2)
zeigl sich die erste Temporalwindung links wesentlich verschmälert, em Gyrus
transversus ist nur angedeutet vorhanden mit sehr dünnen Markstrahlen. Die
zweite Temporalwindung ist normal entwickelt, auch eine dritte Temporal-
windung ist zum Teil vorhanden, und man sieht von ihr auch einen Mark-
strahl gegen das tiefere Mark ziehen, das bereits deutlich aufgehellt ist. Aus
dem dorsalen Anteil des Temporallappens zieht ein Bündel gegen das Insel-
mark hin, auch die Capsula interna nimmt einige Fasern dieses Bündels auf,
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß.
Corp. call. Forn. Cing.
Tract. opt. Com. ant. Caps. ext.
Abb. 2.
Forn.
27
Gyr. trans.
Lob. temp.
Corp. mam. Vicq.
Abb. 3.
28 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
die als zarter Saum an der Außenseite der äußeren Kapsel aufwärts ziehen
und wesentlich zarter sind als die mehr median verlaufenden Fasern, die dem
Nucleus caudatus entstammen. Der ventralste Teil der Insel ist durch eine
Narbe ersetzt; auf der rechten Seite entspricht dem Temporalpol und dem
ventralen Inselgebiet ein zystisches Narbengewebe.
Ein weiterer Schnitt (Abb. 3), der noch immer das Gebiet der Commis-
sura media betrifft, zeigt bereits die Corpora mammillaria, die auffallend
E +
LE
Str. sag. int,
Caps. ext. Ped. cereb. Fas. ret. Com. ant.
Abb. 4.
klein sind und von einer Gruppe Markfasern bedeckt werden, während im
Innern der Corpora mammillaria kaum Markfasern nachzuweisen sind. Auf-
fallend ist, daß nur auf der linken Seite ein Vicq d’Azyrsches Bündel nach-
zuweisen ist und auch in den benachbarten Schnitten rechts nie ein solches
festgestellt werden kann. Die beiden Fornix-Schenkel sind deutlich faserarm,
auch die medialen Thalamuskerne scheinen relativ heller zu sein. Die Verhält-
nisse am Temporallappen sind nicht wesentlich verändert gegenüber dem
früheren Schnitt. Nur hat sich das Narbengewebe jetzt zystös umgewandelt.
Ein Schnitt (Abb. 4) durch das kaudale Ende des Thalamus geführt, zeigt
bereits rechts eine völlig ausgebildete erste Windung des Temporallappens,
die zweite ist oben durch einige Fasern des Markstrahls angedeutet. Die
scheinbar weiten Zysten des ventralen Narbengewebes lassen sich rechts wie
links bereits deutlich als Unterhörner der Seitenventrikel erkennen, wobei
rechts Tapete und Stratum sagittale internum fehlen, während das Stratum
sagittale externum erhalten ist. Man sieht hier sehr deutlich die Fasern des
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß. 29
Stratum sagittale externum gegen das Putamen biegen und hier wie ab-
geschnitten enden, während die Strahlung der Temporalwindung einen
schmalen aufgehellten Markstreifen zwischen sich und dem Stratum sagittale
externum lassend, sich teilweise vertikal aufwärts wendet. Links ist die erste,
zweite und zum Teil auch dritte Temporalwindung gut ausgebildet, nur das
tiefe Mark ist etwas aufgehellt. Man sieht Markfasern teils am Putamen enden,
Corp. qu. ant.
Nucl. rub. Corp. gen. lat.
Abb. 5.
teils steigen sie beiderseits vom Claustrum zum Stirnhirn aufwärts. Ventral
ist die Capsula externa etwas entmarkt. Die Pedunculi cerebri sind asym-
metrisch, wobei der rechte wesentlich schmäler als der linke ist. Der Balken
ist auffallend dünn, die Fornixschenkel sind fast völlig entmarkt. Das Cingu-
lum links ist beträchtlich aufgehellt.
Ein Schnitt (Abb. 5) durch die vorderen Vierhügel zeigt in bezug auf
den Schläfenlappen annähernd die gleichen Verhältnisse. Ventral vom
Putamen liegen die beiden Unterhörner der Seitenventrikel von einer Mark-
schicht umgeben. Rechts ist die Faserung im ventralsten temporalen Mark
deutlicher erhalten, trotzdem hier um den Ventrikel herum nichts von Fase-
rung vorhanden ist. Links kann man ein Corpus geniculatum mediale wahr-
nehmen, an das von außen ein Markstrahl heranzieht und in das an der
Innenseite ein Brachium quadrigeminum posterius einstrahlt. Auf Abb. 6
ist das Corpus geniculatum mediale bereits sehr deutlich und zeigt beiderseits
an der Außenseite einen dichten Faserbelag. Man sieht auch direkt ein-
30 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
strahlende Fasern. Das Brachium quadrigeminum ist beiderseits gut ent-
wickelt. Die Vierhügelschichtung entspricht der Norm. Im Pedunculus sieht
man links den lateralen Abschnitt wesentlich aufgehellt, rechts fehlt ein Teil
vollständig.
In einem weiteren Schnitt (Abb. 7) befinden wir uns bereits hinter dem
Splenium corporis callosi. Ähnlich wie im Temporallappen, wo sich jetzt nur
die erste, zweite und ein Teil der dritten Temporalwindung links findet,
während rechts die erste und ein ganz minimaler Teil der zweiten Windung er-
\
Corp. gen. lat. Corp. gen. med. Fim. Hipp. Corn. A.
Abb. 6.
halten ist, zeigt sich jetzt auch eine Läsion an der medialen Hemisphären-
wand, die links wie erwähnt bis in das Stirnhirn übergreift. Das Mark des
Scheitellappens ist auch lateral aufgehellt, aber die Markstrahlen in den Win-
dungen sind noch intakt. Der Lobus paracentralis zeigt ventral in seinem Mark
bereits einen Defekt und der Gyrus forniactus fehlt. Rechts ist der Lobus para-
centralis vorhanden, der (Gyrus fornicatus ist nur in einem ganz kleinen Ab-
schnitt zu sehen. Während der Ventrikel links in seiner Konfiguration erhalten
ist, sieht man rechts wohl die laterale Ventrikelwand, medial ist aber alles in
narbiges Gewebe umgewandelt. Die Faserung am Ventrikel links zeigt die lim-
bria größtenteils erhalten, ebenso das ihr anhängende Stück des Ammonshorns.
Auch die Fascia dentata Tarini läßt sich erkennen, dann aber fehlt alles. Her-
vorzuheben ist, daß die Fimbria in das narbige Gewebe eintaucht und dort
Querschnitte erkennen läßt. Die laterale Ventrikelwand zeigt sehr deutlich das
Tapetum, lateral vom Tapetum jedoch befindet sich ein aufgehelltes Gebiet,
das nur ganz an der Tapete Querschnitte erkennen läßt, so daß also das
Stratum sagittale externum eigentlich fehlt. Nur im oberen Teil ist diese Auf-
‘ed 9 uode
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß. 31
Gr. For.
Fim., Hipp. Corn. A.
Abb. 7.
Ventr.
Str. sag. intern.
Abb. 7a.
‘dns dung +9
32 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
hellung partiell verschwunden. Sowohl die Tapete als die beiden anderen
Bündel münden in narbigem Gewebe. Wenn wir die rechte Seite betrachten,
so sehen wir ähnliche Verhältnisse in bezug auf den Balken. Man sieht aus
dem noch erhaltenen Splenium, das in einem kleinen Teil schon in Narben-
gewebe aufgegangen ist, die Fasern zur Tapete hinabziehen. Dann sieht man
auch hier hart an der Tapete die quergetroffenen Bündel des Balkens, die
aber in die Längsrichtung umbiegen und das aufgehellte Gebiet queren. Ven-
Cu
G. Oc. Ti.
Abb. 8.
tral kann man hier keine Fasern mehr wahrnehmen, weil alles in narbiges
Gewebe umgewandelt ist.
Der nächste Schnitt (Abb. 8) liegt etwas mehr kaudal. Die ganze mediale
Hemisphärenwand der linken Seite geht jetzt in Narbengewebe auf. Man sieht
wohl noch einen Rest des Ammonshorns zart angedeutet, aber der Ventrikel ist
in seinem Gebiet vollständig entmarkt. Die rechte Hemisphäre dagegen zeigt
sich noch etwas markreicher, besonders in den dorso-medialen Teilen,
während sie in den ventro-medialen Teilen sich ähnlich verhält wie die linke
Hemisphäre. Man kann nun sehen, daß hier im Gegensatz zur linken Hemi-
sphäre auch die basalen, ventralen Windungen fehlen.
Wenn man nun zusammenfassend diesen Fall betrachtet, so zeigt sich
folgendes: Es besteht eine zystisch narbige Veränderung jenes Teiles des Ge-
hirns, der von der Arteria cerebri posterior versorgt wird, und zwar betrifft
das ausgefallene Gebiet nur den Temporal- und Okzipitallappen und nicht,
G. temp. inf,
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß. 33
wie in dem erwähnten Fall von Bonvicini und Redlich, auch den Thalamus
opticus. Über die Art des endarteriitischen Prozesses, der zu einem Verschluß
der Gefäße geführt hat, können wir, nach den vorliegenden Präparaten, nichts
aussagen. Die Temporallappen selbst haben beträchtlich gelitten, aber die
beiden oberen Windungen inklusive der operkularen Tiefenwindung und ein
Teil der dritten Temporalwindung sind auf der linken Seite nahezu intakt, auf
der rechten Seite hingegen ist der Defekt in bezug auf die Temporalwindungen
ein verhältnismäßig großer, indem hier auch ein Teil der zweiten und dritten
Windung, ja sogar der ersten Windung Schaden gelitten hat. Vollständig
verschwunden ist der Lobulus fusiformis und Lobus lingualis (Gyrus oceipito-
temporalis medialis und lateralis) und ebenso fehlt der Gyrus hippocampi
vollständig, wohingegen vom Ammonshorn auf der linken Seite beträchtliche,
auf der rechten Seite weniger beträchtliche Teile erhalten geblieben sind:
auch vom Gyrus fornicatus fehlen kaudale Abschnitte.
Ähnlich liegen die Dinge im Oceipitallappen, wo gleichfalls die mediale
Partie am meisten gelitten hat. Der Prozeß setzt sich oralwärts fort, an der
medialen Seite bis ungefähr an das Splenium corporis callosi, das nur zum
Teil mit in das Gebiet der Läsion fällt. Natürlich gilt das nur für die dorsalen
Partien, denn ventral ist ja das Gebiet bis zum Uncus betroffen. Demzufolge
haben wir hier Läsionen, die am wenigsten den Lobus praecentralis treffen,
stärker schon den Praecuneus, der in seinen hinteren Abschnitten teilweise
zerstört ist, ebenso wie der Cuneus. Da hier auch der Lobus lingualis zerstört
ist, so ist das ganze Calcarinagebiet im Bereiche des Herdes vernichtet.
Es wurde schon betont, daß der Prozeß nahezu symmetrisch ist, aber die rechte
Seite gegenüber der linken doch mehr gelitten hat. Im großen und ganzen ist
aber das eben beschriebene (iebiet betroffen, das ungefähr zusammenfällt
mit dem Gebiet der Arteria cerebri posterior.
Wenn wir nun die sekundären Degenerationen, die sich in diesem Fall
zeigen, kurz zusammenfassen, so ist das deshalb schwer, weil infolge der
kaudalen Läsionen der vom Balken dorsal gelegenen Partien ein Aufhellungs-
gebiet bis in den Frontallappen hinein verfolgbar ist, so daß man nicht recht
sagen kann, ob die langen Systeme vom Oceipitallappen zum Frontallappen,
wenn solche überhaupt existieren, getroffen sind oder nicht. Der Balken ist
bis auf einige geringfügige Läsionen intakt. Nur an einer Stelle im vorderen
Drittel und an einer zweiten im Splenium finden sich Ausfälle, wobei die
Läsionen im vorderen Drittel auf den Balkenstich zurückzuführen sind. Wenn
man das Gehirn aber als Ganzes betrachtet, erscheint der Balken wesentlich
verschmälert, doch kann man nicht sagen, auf welches Gebiet die Verschmäle-
rung zu beziehen ist, denn sie betrifft den Balken orakaudalwärts bez. in
seiner Totalität.
Es ist sicher, daß das sogenannte kortikokaudale Bündel sowie die Fasci-
culi nuclei caudati bis an das hintere Ende intakt sind, wie dies nach den
Untersuchungen von Obersteiner und Redlich ja zu erwarten war, da
diese Autoren nachwiesen, daB es sich hier nur um kurze Assoziationssysteme
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 3
34 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
handelt, so daß man nicht annehmen konnte, daß sie irgend eine Beziehung
zu den defekten Gebieten besitzen.
Um gleich die anderen dem Balken anliegenden Systeme zu besprechen.
ist hervorzuheben, daß das Cingulum auffallenderweise, trotz weitgehender
Zerstörung der Riechrinde, zum Teil wenigstens intakte Fasern enthält, und
zwar ist der Unterschied zwischen rechts und links ziemlich deutlich zu er-
kennen. Auf der linken Seite ist das Cingulum besser erhalten wie rechts,
verliert aber kaudalwärts auch hier an Fasern. Was wundernehmen muß,
ist, daß auch die beiden Columnae fornicis sowie die Crura fornicis noch
Fasern enthalten, was wohl nur durch die Tatsache zu erklären ist, daß
Fimbriafasern deutlich vom Ammonshorn aus dorsalwärts zu verfolgen sind,
wiederum links besser als rechts. Es ist trotz allem eine ziemlich schwere
Degeneration in den Fornixsäulen zu finden. Die Corpora mammillaria sind
atrophisch, links zeigen sie wohl ein Vicq d’Azyrsches Bündel, während
es rechts fehlt, obwohl das Corpus mammillare auch rechts vorhanden ist.
Auffällig ist auch, daß das Septum pellucidum markhaltig ist und daB wir
eine wenn auch sehr kleine vordere Kommissur feststellen konnten. Das Gie-
biet der Substantia perforata ist nicht faserarm, sondern zeigt eigentlich ein
Bild, das nahe der Norm steht, so daß wir, wenn wir die Faserzüge ins \uge
fassen, die mit dem Riechhirn in irgend einer Verbindung stehen, abgeschen
von ziemlich schweren Degenerationen im Cingulum und im Fornix, die
anderen Gebiete eigentlich intakt finden, denn sowohl die Taenia thalami als
auch das Ganglion habenulae und der Fasciculus retroflexus Meynerti sind
erhalten.
Eine zweite Gruppe von Störungen betrifft das Gebiet der Insel. Auch die
Inselwindungen sind zum Teil noch in den Herd einbezogen, aber ganz un-
gleichmäßig. Der Nucleus amygdaliformis ist größtenteils erhalten, wiederum
links besser als rechts; die ihn lateral flankierenden Faserbündel, die man als
Fasciculus uncinatus zu bezeichnen pflegt, sind in ihren ventralen Teilen
deutlich aufgehellt, dorsal aber ganz gut erhalten. Wie man sieht, zweiteilt
sich dieses System, wobei das eine in der Capsula externa dorsalwärts zieht
das andere aber in der Capsula extrema, d. h. im Inselmark. Diese Fasern
sind infolge der Färbedifferenz im Weigert-Präparat gegenüber den strio-
pallidären Fasern sehr leicht zu unterscheiden. Da das Inselmark sehr faser-
arm ist, kann man diese beiden bereits von Anton und Zingerle (2)
charakterisierten Systeme sehr leicht dorsalwärts verfolgen. Es existieren also
ventro-dorsal verlaufende, sehr feine Fasern, die sowohl in der Capsula
externa als auch durch die Capsula extrema vom Temporallappen zum
Frontallappen ziehen. Es ist natürlich nieht ausgeschlossen, daß einzelne
dieser Fasern so wie dies Anton und Zingerle nachweisen konnten, auch
die Inselwindungen versorgen: doch läßt sich das an meinen Präparaten
nicht entscheiden.
Von großem Interesse ist das Verhalten der Schichten des Unterhorns
des Seitenventrikels. Es zeigt sich nämlich, daß wir eigentlich mit Ausnahme
des Faseienlus longitudinalis inferior die Schiehten um den Ventrikel be-
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß. 35
sonders linksseitig intakt finden. Das Tapetum ist wohl verdünnt, aber vor-
handen. Man sieht auch Fasern, die längs getroffen sind, gegen das Putamen
hinstrahlen. Sie sind sehr dunkel gefärbt. Das Bündelchen ist nicht stark und
entspricht offenbar den Fasern der Commissura anterior. Am interessantesten
ist das Verhalten der beiden Strata sagittalia. Das Stratum sagittale internum
sieht man sich deutlich aufbauen. Es besteht aus lateral von der Balkentapelte
gelegenen, sehr dunkel tingierten Querschnitten. An diese (Querschnitte ziehen
durch das degenerierte Areal feine Fasern aus den benachbarten Windungen.
Das kann man in den kaudaleren Teilen des Temporallappens viel deutlicher
schen als in den oralen Teilen, wo man dieses degenerierte Feld nicht so deut-
lich erkennt.
Wenn man also orokaudalwärts das (rebiet untersucht, so zeigt sich, daß
oralwärts eine Degeneration nicht so deutlich zu erkennen ist und daß man
aus den erhaltenen Temporalwindungen Fasern schräg dorso-medialwärts
ziehen sieht. Der Umstand, daß das Corpus geniculatum mediale keine auf-
fallenden Veränderungen gegenüber der Norm aufweist und lateral Fasern
empfängt, spricht dafür, daß die Radiatio acustica (11) intakt ist.
Anders die Radiatio optica. Die Tatsache, daß der Fasciculus longitudi-
nalis inferior nahezu vollständig fehlt und die Calcarina gänzlich zerstört ist,
spricht wohl dafür, daß es sich hauptsächlich um retrograde Degeneration
handelt, dab also der Fasciculus longitudinalis inferior oder das Stratum
sagittale externum, wie besonders Niessel von Mayendorf (9) und
Quensel (12) nachweisen konnten und heute allgemein angenommen ist,
tatsächlich der Radiatio optica entspricht.
Interessant ist nur, daß in diesem Falle im Gegensatz zu dem von
Bonvieini und Redlich (6) das Stratum sagittale internum erhalten er-
scheint, was beweist, daß es Fasern aus intakten Gebieten aufzunehmen hat,
also vor allen anderen aus der ersten und zweiten Temporalwindung und teil-
weise auch dritten, Wenn sich hier auch Fasern aus Okzipitalwindungen
finden sollten, was nach dieser Untersuchung absolut sicher der Fall ist,
dann müßten auch diese von den lateralen intakten Windungen stammen.
Es erhebt sich nun die Frage, welchen Teilen des Gehirns das Stratum
sagittale mediale zuströmt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir hier die
kortikothalamischen Verbindungen im Sinne der Stammstrahlung von
Niessel von Mayendorf (9) vor uns haben, vermutlich auch die cortico-
pontine, die dem von v. Economo und Karplus (7) beschriebenen ab-
steigenden temporo-pontinen System angehören. Denn es fällt auf, daß der
Pedunculus auf der linken Seite fast keine Veränderungen gegenüber der
Norm zeigt, hingegen rechts einen kleinen Markdefekt in den lateralen Partien
aufweist. Da nun auf der rechten Seite alle Schläfenwindungen gelitten haben.
auch die erste in ihren ventralsten Partien, ist wahrscheinlich, daß dieser
Defekt durch die Läsion der Schläfenwindungen bedingt ist. Natürlich ist
nicht mit Sicherheit zu sagen, aus welchen der temporalen Windungen die
temporo-pontinen Bahnen entspringen. Man kann nur soviel sagen, daß die
dritte Temporalwindung dabei keine große Rolle spielt, denn sie ist bilateral
3*
36 Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
getroffen, auf der rechten Seite überhaupt fehlend. Auch das Faisseau en
echarpe ist beiderseits vorhanden und muß demnach aus den temporalen
Windungen, die vorhanden sind, entstehen.
Während wir noch im Pedunculus eine kleine Aufhellung der rechten
Seite konstatieren können, so fehlt eine solche in dem Brückengebiet voll-
ständig, und die Brücke macht in toto den Eindruck einer absolut normalen.
Bezüglich der Radiatio optica ist noch zu bemerken, daß links wohl noch
sehr feine Fasern vorhanden sind, daß aber diese feinen Fasern im Wer-
nickeschen Feld kaum sichtbar werden. Demzufolge sind auch die beiden
Corpora geniculata lateralia weitgehend entmarkt, besonders fehlen die Rippen.
Dagegen sieht man die Einstrahlung des Nervus opticus sehr deutlich, der
von medial und ventral in das Ganglion einbricht, so daß also die dorso-
laterale Abteilung mit den austretenden Fasern die Verbindung des Ganglion
mit dem Cortex zu besorgen hat. Es ist besonders auffallend, daß trotz der
Intaktheit des Optikus und des Ganglions wie des Armes des vorderen Vier-
hügels eine sehr schwere Degeneration an der Radiatio optica nachzuweisen
ist, was vielleicht darauf bezogen werden kann, daß sich dieser Prozeß sehr
früh infantil entwickelt hat.
Die Degenerationen im Thalamus opticus sind relativ gering und be-
schränken sich auf die medialen Thalamuskerne, wobei auch hier die rechte
Seite mehr befallen ist als die linke.
Abschließend wäre noch der Versuch zu unternehmen, den geschilderten
anatomischen Befund mit dem klinischen Bild in Einklang zu bringen. Wie
bereits eingangs erwähnt, sind die Beobachtungsmöglichkeiten bei einem
>, Jahre alten Kinde so beschränkt, daß man nur positive Befunde mit
einiger Sicherheit verwerten kann, während man den negativen Resultaten
unter diesen erschwerten Bedingungen nur eine relative Bedeutung zuzu-
erkennen vermag. So verdient zuerst die Tatsache Erwähnung, daß das Kind
sowohl nach den anamnestischen Angaben der Eltern wie nach dem vor-
liegenden klinischen Befund auf akustische Reize reagierte, eine Beobachtung,
die mit der Tatsache übereinstimmt, daß wir an den geschilderten Schnitten
sowohl die beiden inneren Kniehöcker wie die Hörstrahlung beiderseits intakt
fanden und auf der linken Seite die erste, zweite und einen Teil der dritten,
rechts allerdings nur die erste und zum Teil zweite Windung erhalten waren,
also die kortikale Vertretung des Gehörs nahezu unversehrt blieb. Eine Be-
urteilung der Sprachmöglichkeit kommt hingegen für unseren Fall nicht in
Betracht.
Komplizierter liegen schon die Verhältnisse beim optischen Apparat. So
muß in erster Linie die Angabe der Eltern berücksichtigt werden, daß das
Kind wohl Gegenstände, die ihm von rechts genähert werden, beachtet,
während von Hinks kommende Szheindrücke keine Berücksichtigung fanden.
Au der Klinik konnte allerdings durch optische Reize keinerlei willkürliche
Reaktion erzielt werden. Immerhin stimmt aber die Asymmetrie des Pro-
zesses in den beiden Okzipitällappen, wobei die rechte Seite wesentlich mehr
Untersuchungen über einen Fall mit beiderseitigem Gefäßverschluß. 37
befallen war als die linke, mit einer linksseitigen Hemianopsie überein, zu-
mal auf der linken Seite ja auch noch spärliche Fasern im Stratum sagittale
externum, der eigentlichen Sehstrahlung, erhalten waren.
Die weitere Frage, warum der Patient an der Klinik auch nicht mehr auf
rechtsseitige Reize reagierte, läßt sich schwer entscheiden, zumal sich nicht
erheben läßt, von welchem Zeitpunkt vor der Aufnahme die Beobachtung der
Eltern über eine einseitige optische Wahrnehmung stammt. Hier bot er jeden-
falls das Bild einer völligen Amaurose, ohne daß die Frage eines restlichen
zentralen Sehens überhaupt berücksichtigt werden kann, da selbst Er-
wachsene, wie Bing (3) ausführt, erst durch eine ärztliche Untersuchung
ihres minimalen restlichen Sehfeldes sich bewußt werden.
Von besonderem Interesse ist aber trotzdem unter den gegebenen Be-
dingungen, daß beiderseits eine Lichtreaktion der Pupillen zu erzielen war, ein
Befund, der bei Hemianopsien durch Oceipitallappenläsionen charakteristisch
ist und als das Wernickesche Phänomen bezeichnet wird, durch die
Schwierigkeit einer einwandfreien Prüfung aber an Bedeutung einbüßt. In
diesem Fall, wo zur Zeit der Untersuchung eine beiderseitige Hemianopsie
anzunehmen war, kommt dieser Reaktion mehr Beweiskraft zu, sofern sie
nicht doch durch ein erhaltenes zentrales Sehen bedingt war. Immerhin ver-
dient in diesem Fall das Bestehen der Pupillenreaktion doch eine gewisse
Beachtung, da die Degenerationen bereits bis in die primären Sehzentren
vorgedrungen waren, insofern die beiden Corpora geniculata lateralia eine
weitgehende Entmarkung aufweisen und gerade das Bestehen einer Licht-
reaktion die Intaktheit der primären Sehzentren erwarten läßt.
Ich will diese Arbeit nicht abschließen, ohne daß ich auch noch an dieser
Stelle Herrn Professor Marburg für die freundliche Aufnahme in seinem
Institut und für seine mühevolle Unterstützung bei den histologischen Unter-
suchungen meinen aufrichtigsten Dank ausspreche.
Brach. qu. post.
Caps. ext.
Priv.-Doz. F. G. v. Stockert.
Literatur.
. Anton, Handbuch der Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Berlin, 1926.
. Anton und Zingerle, Bau, Leistung und Erkrankung des menschlichen Stirn-
hirnes. Graz, 1902.
. Bing. Gehirn und Auge. Berlin, 1923.
. Bonvieini (Dureti, Handbuch der Neurologie des Ohres. Wien-Berlin, 1926.
. Bonvieini und Redlich, Über das Fehlen der Wahrnehmung der eigenen
Blindheit. Leipzig-Wien, 1908.
. Bonvicini und Redlich, Neurolog. Centralblatt 1911.
v. Economo und Karplus, Arch. f. Psych., Bd. 46, 1910.
. Neurath, Arbeiten aus dem Neurolog. Institut Wien, Bd. 17, 1908.
. Niessel von Mayendorf, Arch. f. Psych. u. Neur., Bd. 61, und Arch. f. Psych.
u. Neur., Bd. 63.
. Obersteiner und Redlich, Arbeiten aus dem Neurolog. Institut, Wien, 1%2.
. Pfeifer, R. A., Myelogenetische-anatomische Untersuchungen über das kortikale
Ende der Hörleitune. Leipzig, 1920.
. Quensel, Beiträge zur Großhirnfaserung. Monatsschr. f. Psych. und Neurolog.,
Bd. XX, 1909.
Erklärung der Abbildungen.
Brachium quadrigeminum posterius
Capsula externa
Caps extr. = Capsula extrema
Ch. opt. Chiasma opticum
Cing. Cingulum
Col. For. Columnae fornicis
Com. ant.
Corn. A.
Commissura anterior
Cornu Ammonis
EEEa)
Cor. call. = Corpus callosum
Corp. gen. lat.
Corp. gen. med.
Corp. mam.
Corp. qu. ant.
Cu.
Fas. ret.
Fim. Hipp.
Forn.
G. temp. inf.
G. temp. sup.
Gyr. trans.
Lob. temp.
Nuech rub.,
Corpus geniculatum laterale
Corpus geniculatum mediale
Corpus mammillare
Corpus quadrigeminum anterius
Cuneus
Fasciculus retroflexus Mevnerti
Fimbria Hippocampi
Fornix
Gyrus temporalis inferior
Gyrus temporalis superior
Gyrus transversus
Lobus temporalis
Nucleus ruber
DE
EN
a O a T
Oec. temp. lat. Gyr. oceipitertemporalis lateralis
Str. sas. int. Stratum sagittale internum
Tap. Tapetum
Vie Vieq d’Azyrsches Bündel
Auf allen Abbillunzen außer der Abb. Za ist die rechte mit der linken Seite
vertauscht.
Zur Pathologie der Paralysis agitans.
Von
Benjamin Pushkin, Baltimore.
Mit 5 Abbildungen im Text.
Wie bekannt, war Charcot der erste — und seine Schule schloß sich
ihm an —, der die These aufstellte, daß eigentlich zwischen der motorischen
Bahn und der sensiblen Bahn in der Kapsel eine Fasergruppe bestehen müsse,
deren Erkrankung zur Hyperkinese führt. Diese These, die also ein eigen-
artiges System gleichsam im Gebiete der Pyramidenbahn für die Hemichorea
in Anspruch nimmt, wurde später von Kahler und Pick (1879), wenn man
so sagen darf, ausgebaut. Sie nahmen an, daß die posthemiplegische Be-
wegungsstörung dann auftritt, wenn die Pyramidenbahn irgendwie gereizt
wird, was natürlich dort am leichtesten ist, wo sie ein geschlossenes Bündel
bildet.
Erst viel später ist man dahinter gekommen, in diesen eigenartigen Be-
wegungsstörungen Ausfallserscheinungen zu sehen, anfangs solche zentri-
petaler Systeme, später solche zentrifugaler extrapyramidaler, und die zu-
sammenfassende Darstellung in aller erster Linie von F. H. Lewy!) über die
’aralysis agitans, von Jakob?) über die extrapyramidalen Erkrankungen,
zeigen ungefähr, wieweit man seit Wilsons grundlegender Entdeckung in
dieser Beziehung gekommen ist. Zuletzt hat Kamin) im Wiener neurologi-
schen Institut diese Frage kurz bearbeitet, das auch für den vorliegenden
Fall wesentlichste Literaturmaterial zusammengestellt, so daß hier von einer
Wiederanführung (desselben abgesehen werden kann.
Wenn ich trotzdem an die Bearbeitung eines Falles herantrete, der viel-
leicht an sich nicht einen besonderen Ausnahmsfall darstellt, so geschieht das
in erster Linie deshalb, um zu sehen, wie die alten Theorien, die ich eingangs
erwähnte, mit den modernen übereinstimmen, d. h. wie verhält sich eine
Paralysis agitans bei gleichzeitiger Pyramidenläsion?
Ich möchte zunächst kurz die Krankheitsgeschichte und den Befund in
meinem Fall anführen:
1) Lewy F. H., Die Lehre vom Tonus und der Bewegung. Verlag J. Springer,
Berlin. 1923, 5. 5H.
°, Jakob A., Die extrapyramidalen Erkrankungen. J. Springer, Berlin, S. 9.
3) M. Kamin, Zur Lokalisationsfrage der posthemiplegisehen Athetose. Arbeiten
aus dem Neurol. Institut an der Wiener Univ., Bd. 33, Heft 2 und 3.
40 Benjamin Pushkin
Der 58 Jahre alte L. St, Agent, hat eine belanglose Familienanamnese. Mit
23 Jahren stürzt er von einer Leiter auf die linke Schulter. Es bestanden durch ein
halbes Jahr Schmerzen. Er konnte den Arm nicht gut heben. Im Alter von 40 Jahren
überstand er Mumps. Im Alter von 47 Jahren ungefähr bemerkte er, daß er mit der
linken Hand zittere und eine gewisse Unsicherheit in den Fingern habe, da er feinere
Gegenstände nicht halten könne. Später trat ein gleiches rechts auf, aber nicht so
intensiv. Der ganze linke Arm wurde steif und bei aktiven Bewegungen gehemmt.
Es bildete sich die Pillendreherhandstellung aus. Es ist klar, daß der Patient auch im
Schreiben behindert wurde. Dem Patienten fiel ferner auf, daß das Zittern in der Ruhe
besonders hervortrat. Er geht jetzt langsamer als früher. Sonst wäre noch eine
leichte Herzverbreiterung zu erwähnen und die Tatsache, daß er seit vier Jahren an
Pollakisurie leidet.
Der objektive Befund im Jahre 1919 ergibt — um nur das Positive anzu-
führen — Nystagmus beim Blick nach beiden Seiten, Lidtremor bei Augenschluß,
Zungen- und Handtremor, links mehr als rechts. Verlangsamung der Bewegungen
ohne eigentliche Parese. Tonussteigerung links mehr als rechts. In den Reflexen der
oberen Extr&mitäten keine Veränderung; ebenso keine der Hautreflexe. Dagegen finden
sich an den unteren Extremitäten links die Patellarsehnenreflexe deutlicher als rechts,
ebenso die Achillesreflexe. Sensibilität frei. Störungen in der Miktion. Die damalige
Behandlung in der Heilanstalt Maria-Theresienschlössel, der wir die Krankengeschichte
verdanken, wofür an dieser Stelle besonders gedankt sei, führte zu einer Besserung
des Allgemeinzustandes, so daß der Kranke nach Hause entlassen werden konnte.
Bei der Entlassung zeigte sich der gleiche Befund. Der Gang war sehr langsam mit
vorgebeugtem Körper, maskenartige Starre des Gesichtes, aber keine Pro- und Retro-
pulsion.
Im Jahre 1925 wurde der Patient wieder aufgenommen. Es hatte sich nämlich
in der Zwischenzeit, besonders in den letzten zwei Jahren, der Zustand enorm ver-
ändert. Es trat vermehrter Speichelfluß auf. Er konnte seinem Beruf als Vertreter
nicht mehr nachgehen. Das Zittern wurde grobschlägiger, die Akinese zunehmend.
Dazu trat eine gedrückte Stimmung. Er wurde weinerlich, machte einen Selbst-
mordversuch.
Bei der neuerlichen Untersuchung zeigte sich, daß der Kopf nach vorn geneigt
gehalten wird, das Kinn fast die Brust berührt, starker Speichelfluß, der Mund meist
geöffnet. Salbengesicht. Sprache monoton und leise. Die oberen Extremitäten zeigen
einen starken Rigor beiderseits. Starker grobschlägieer Tremor der Hände in der
Ruhe, bei Intention eher nachlassen. Grobe Kraft, Sensibilität ohne Befund. Beim
Heben der Beine Zittern der Füße, links mehr als rechts. Auch hier besteht ein kräf-
tiger Rigor links mehr als rechts. Vielleicht sind die Patellarreflexe links eine Spur
lebhafter. Die Achillesreflexe sind gleich. Beim Oppenheimschen Versuch tritt ein
Wackeln der großen Zehe nach oben und unten auf, wiederum links mehr als rechts.
Der Gang ist kleinschrittie. Rumpf nach vorn gebeugt, kein Pendeln der Hände.
Eine leichte fieberhafte Erkrankung heilt während des Spitalsaufenthaltes aus
und unter Lumimal-Atropin zeigt sich auch eine minimale Besserung in den Span
nungen.
Im weiteren Verlaufe verschlimmerte sich der Krankheitsprozeß so, daß der
Patient seit 1928 bettlägerig ist. Die Sprache wird immer undeutlicher, verwaschen.
Es treten Schmerzen beim Urinieren auf und schließtiich wird der Kranke in die
urolorische Abteilung des Krankenhauses der Stadt Wien gebracht, wo eine chronische
Zystopyelitis festgestellt wurde, die eine Urininkontinenz zur Folge hatte.
Dis neurologische Untersuchung im Beginn des Jahres 1929 stellte die typische
Paralysis agitans fest: der Nystagmus, der früher vorhanden war, ist verschwunden,
dagegen konnten beiderseits die Bauchtdeckenreflexe nieht ausgelöst werden. Es be-
stand ein starker Spasmus in den Extremitäten, ohne daß der Reflex eine Steige-
rung aufwies. Nur das Zehenphäneomen von Babinski war positiv. Der Rigor wurde
Zur Pathologie der Paralysis agitans. 41
als Spasmus aufgefaßt, was zur Folge hatte, daß multiple enzephalo-malazische Herde
mit Beteiligung der Stammganglien angenommen wurden.
Der Patient starb am 13. April 1929.
Der Obduktionsbefund ist für unsere weiteren Untersuchungen belanglos
(Cystopyelonephritis, Pneumonie ausgenommen). Darum soll er nicht weiter
angeführt werden.
Die Untersuchung des Zentralnervensystems wurde in der Weise vor-
genommen, daß zwar nicht der ganze Hirnstamm, aber doch die wesent-
lichsten Teile desselben zur Untersuchung kamen.
In der Medulla oblongata kann man eigentlich keine auffallenden Ver-
änderungen wahrnehmen. Wenn man die beiden Pyramiden vergleicht, so
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Abb. 1. Subst. nigra links (Übersicht).
zeigen sie ein entsprechend großes Faserareal und auch die Gliasepten sind
keineswegs verbreitert oder verdickt. Jedenfalls läßt sich ein deutlicher Unter-
schied zwischen rechts und links nicht zeigen. Das gleiche gilt für die anderen
Systeme der Medulla oblongata. Auch das Kleinhirn zeigt an Weigert-Präpa-
raten keine abnorme Bildung.
Hämalaun-Eosin-Präparate der Medulla oblongata lassen ein ganz
mäßiges meningeales Infiltrat erkennen, aber kaum sichtbar besonders im
Sulcus longitudinalis ventralis. Die Gefäße sind etwas wandverdickt. Die Glia
zeigt, wie schon an Weigert-Präparaten zu sehen war, eigentlich keine Ver-
breiterung der Septen, weder in der Pyramidengegend noch in anderen Ge-
bieten. Auch der Zellreichtum der Medulla oblongata erscheint entsprechend.
Das einzige, was man an einzelnen Stellen wahrnehmen kann, ist ein leichtes
perivaskuläres Ödem, eine Verbreiterung der perivaskulären Räume, eine Ab-
hebung der Adventitia und vielleicht auch eine Vermehrung der Zellen in
der Adventitia. Auch in den oraleren Abschnitten der Medulla oblongata zeigen
sich die gleichen Verhältnisse. Grefäßwandverdiekung, leichte Erweiterung der
perivaskulären Räume, leichte Vermehrung von Zellen in der Adventitia, keine
deutlichen, degenerativen Veränderungen in den Fasersystemen, besonders
nicht in der Pyramidenbahn. Die gleichen Verhältnisse finden sich auch am
42 Benjamin Pushkin.
Anfangsteil der Brücke im Gebiet des Fazialiskerns. Immer wieder fällt die
Intaktheit der beiden Pyramidenbahnen auf. Im oraleren Abschnitt der Brücke
Abb. 2. Subst. nigra (Detail).
sind die Schnitte etwas schief und treffen ventral das Brückengebiet, dorsal-
wärts das vollentwickelte Mittelhirn. Hier ist vor allem das Verhalten der
Abb. 3. Subst. nigra rechts (Cysten).
Substantia nigra bemerkenswert. Schon an den nach Weigert-Pal gefärbten
Präparaten bemerkt man, daß die Zellen der Substantia nigra links ver-
hältnismäßig sehr spärlich sind (Abb. 1). Es sind die medialen und die late-
ralen Zellen auf der linken Seite nahezu verschwunden und nur die inter-
inediäre Gruppe erscheint noch vorhanden, aber auch diese ist im Zustande
schwerer Degeneration, indem freies Pigment den Zelluntergang anzeigt
Zur Pathologie der Paralysis agitans. 43
(Abb. 2). Auf der rechten Seite haben die perivaskulären Störungen so be-
trächtliche Grade angenommen, daß es zur Bildung kleiner perivaskulärer
Zysten gekommen ist, ja an einer Stelle zur Bildung einer größeren Zyste.
Auch dort, wo diese Zystenbildungen nicht so ausgesprochen sind, lassen sich
die Ausfälle der Zellen in der Substantia nigra auf die leichteste Weise er-
kennen (Abb. 3). Diese Ausfälle, rechts bis fast zur völligen Vernichtung ge-
diehen, sind beim Vergleich von Schnitten orokaudal auf beiden Seiten immer
Abb. 4. Putamen-Gefäße.
nachweisbar. Die Hämalaun-Präparate zeigen mit absoluter Deutlichkeit, daß
es sich bei den Spaltbildungen in der Substantia nigra nicht um Artefakte
handelt, sondern um deutliche Zystenbildung, wobei die Gliareaktion aber eine
verhältnismäßig geringfügige ist. Auffallend bleibt nur der große Ausfall an
Zellen der Substantia nigra, und zwar ein diffuser Ausfall, der bald mehr die
lateralen, bald mehr die medialen Teile betrifft, am wenigsten das intermediäre
Gebiet.
Das Thalamusgebiet zeigt eigentlich im Thalamus selbst keine wesent-
liche Störung, In den kaudalen Partien des Linsenkerns sieht man, wie auch in
den anderen Abschnitten desselben die perivaskulären Räume sehr wesentlich
44 Benjamin Pushkin.
erweitert (Abb. 4), aber vorwiegend im Putamen, nicht im Globus pallidus,
der auffällig intakt ist. Das Auffallendste ist, daß man im Putamen auch die
Kapillaren und die Arteriolen deutlich wahrnehmen kann, die Gefäße er-
scheinen gestreckt, wandverdickt (Abb. 5). Eine Desintegration aber ist im
Putamen vielleicht nur an einer ganz kleinen Stelle wahrzunehmen. Auch
hier ist das Verhältnis der beiden Seiten das gleiche.
Ganz analoge Verhältnisse findet man in dem Mittelstück des Nucleus
caudatus, freilich nicht so ausgesprochen wie im Putamen. Auch in den
Abb. 5. Putamen-Gefäße.
oraleren Abschnitten des Putamens zeigen sich die gleichen Verhältnisse des
Vortretens der Kapillaren. An einzelnen größeren Gefäßen ist schon eine peri-
vaskuläre Desintegration wahrzunehmen. Auffallend ist, daß das vordere Ende
des Nucleus caudatus also der Kopf, verhältnismäßig besser erhalten ist als das
Putamen, indem er die Gefäße verhältnismäßig nicht so deutlich erkennen
läßt. In der inneren Kapsel läßt sich keine deutliche Degeneration wahr-
nehmen. Rechts ist vollständig identisch mit links. Auch die angrenzenden Insel-
windungen lassen die Gefäße wie starre Rohre hervortreten, ohne eine peri-
vaskuläre Degeneration zu zeigen. Hämalaun-Eosin-Präparate lassen die ge-
schilderten Verhältnisse noch deutlicher erkennen. Hier sieht man die
Fibrose der Kapillarwände und der Wände der kleineren Gefäße, auch eine
deutliche Sklerose der Arterienwand. Man sieht fast kaum mehr die Kerne
der Media und Adventitia. Nur das dünne Häutchen der Intima läßt sich er-
kennen. An den Venen sieht man neben einer deutlichen Verbreiterung des
Zur Pathologie der Paralysis agitans. 45
Lumens einzelne kleine Exsudathäufchen, die an den Arterien vollständig
fehlen. Überall tritt die Sklerose, das perivaskuläre Ödem, die reaktive Wuche-
rung der Glia hervor, während die Zellen und Fasern eigentlich vollständig
intakt erscheinen.
Untersucht man die größeren zuführenden Arterien, so kann man auch
an ihnen perivaskuläre Rundzellenanhäufungen wahrnehmen, die zum Teil
innerhalb, zum Teil aber außerhalb der Adventitia gelegen sind und den
freien Raum zwischen Grefäßwand und Gehirn einnehmen.
Im oralsten Abschnitt, wo das Putamen und der Kaudatuskopf allein zu
sehen sind, zeigt sich der deutliche Gegensatz zwischen der Gefäßverände-
rung im Putamen und jener im Kaudatuskopf. Im ersteren ist der Prozeß
wesentlich weiter vorgeschritten als im letzteren.
Außerdem wurde noch das Stirnhirn untersucht, das eigentlich eine auf-
fallend gute Entwicklung sowohl der tangentialen als der radiären Schichten
und des tieferen Marks zeigt. Eine in der obersten Stirnwindung scheinbar
hervortretende Aufhellung schwindet allmählich. Es zeigt sich, daß hier nur
die graue Schicht, nicht aber der Markstrahl angeschnitten wurde. Auffällig
ist auch in der Rinde das Verhalten der Gefäße. Auch hier die Sklerose mit
dem perivaskulären Ödem, ohne daß jedoch die Schichtung und die Zellform
gelitten hätte. Auch hier ist das Verhalten beider Seiten gleich.
Wenn wir also zusammenfassen, so zeigt sich als anatomisches Sub-
strat der klinischen Erscheinungen ein Doppeltes: Erstens Veränderungen des
Mesoderms. Eine eigenartige Sklerose der Gefäße mit perivaskulärem Ödem
und beginnender Desintegration. An den Venen und den Arterien kann man
gelegentlich eine minimale Anhäufung von Rundzellen wahrnehmen, die auch
in den Meningen anzutreffen ist. Die Lokalisation dieser Veränderungen ist
sehr merkwürdig. Am schwersten gestört ist das Gebiet der Substantia nigra,
wo es auf einer Seite sogar zur Bildung zystöser Hohlräume kommt. Weiters
ist das Putamen bilateral symmetrisch schwerer gestört als die übrigen Teile,
indem hier die Kapillarsklerose so deutlich ist, daß das Präparat alle Gefäße
mit einer besonderen Klarheit hervortreten läßt.
Entsprechend diesen Veränderungen finden wir in der Substantia nigra
schwere Ausfälle der Zellen, Ausfälle, die eigentlich im Putamen nicht zu
sehen sind. Der Globus pallidus zeigt überhaupt keine Abweichung von der
Norm. Auch die Hirnrinde des Stirnhirns zeigt trotz der Arteriosklerose keine
schweren deutlichen Ausfälle.
Wenn wir nun versuchen. die klinischen Erscheinungen mit dem anatomi-
schen Befund in Einklang zu bringen, so zeigt sich, daß es sich hier um einen
typischen Fall einer Paralysis agitans handelt. Neben der Paralysis agitans
treten jedoch, was bei der genauen wiederholten Untersuchung durch
Redlich festgestellt wurde, leichteste Halbseitenerscheinungen auf, und zwar
zuungunsten der linken Seite hervor, wo sich, wenn auch nur angedeutet,
neben den Symptomen der Paralysis agitans Pyramidenzeichen finden.
Besonders in der letzten Zeit war das Babinskische Zehenphänomen
positiv, Ferner muß man bei der Beurteilung des pathologischen Befundes
46 Benjamin Pushkin.
nicht außer acht lassen, daß der Kranke längere Zeit vor seinem Tode an
einer fieberhaften Zystopyelitis gelitten hat und daß er an einer Pneumonie
zugrunde ging.
Versuchen wir nun die Erscheinungen der Klinik mit jenen der histologi-
schen Untersuchung des Gehirns in Parallele zu bringen, so muß man zu-
nächst hervorheben, daß die klinische Diagnose multiple encephalo-malazi-
sche Herde mit Beteiligung der Stammganglien gerade mit Rücksicht auf die
Pyramidenzeichen gestellt wurde, denn sonst hätte man von vornherein nur
an eine reine progressive Paralysis agitans gedacht.
Drei Reihen von Erscheinungen haben sich nun pathologisch-histologisch
nachweisen lassen. Zuerst Zeichen einer leichten entzündlichen Reizung.
Ich kann diese Zeichen aber keineswegs als primäre ansehen, da ihre Intensi-
tät eine absolut geringfügige ist, da sich der Prozeß, wenn auch die Arterien
nicht verschont sind, vorwiegend an den Venen findet und da er sich mit
einem perivaskulären Ödem verbindet, wie man es gelegentlich bei schwerer
Pneumonie zu sehen gewohnt ist. Wir werden also diesen entzündlichen Vor-
gang kaum in ätiologische Beziehung zur Krankheit setzen können. Erstens
wegen der geringfügigen Intensität und zweitens weil er zur Genüge durch die
begleitende Infektion erklärt erscheint und drittens müssen wir hervorheben,
daß gerade an jenen Stellen, wo der Prozeß seine größte Intensität erreicht
hat, die Entzündungserscheinungen verhältnismäßig geringfügig sind.
Die zweite Gruppe der Veränderungen betrifft die Gefäße. Hier haben wir
die deutlichen Zeichen der Wandveränderungen der Gefäße im Sinne einer
Arteriosklerose, wobei zu betonen ist, daß die Intima intakt, die Media vor-
wiegend betroffen erscheint, aber auch die Adventitia nicht den Charakter der
normalen aufweist. Die Gefäße sind wandverdickt, verbreitert und zeigen be-
sonders in den Kapillaren, deren Sklerose stark in die Augen fällt, statt
des gewundenen einen mehr gestreckten Verlauf. Das Wesentlichste dieses
Prozesses aber ist, daß er das Gehirn ganz ungleichmäßig befällt. Zwei Stellen
treten diesbezüglich am deutlichsten hervor. Das eine ist das Putamen, bei
dem jedoch eigentlich nur die (refäßreaktion deutlich ist, Ausfälle oder grobe
Zellveränderungen aber nicht nachzuweisen sind. Auffällig ist, daß der
Nucleus caudatus und der Globus pallidus intakt sind. Das zweite Gebiet,
das schwerer noch als das Putamen ergriffen ist, ist die Substantia nigra.
Hier haben wir schwerste Zellausfälle in allen Zellagen. Die erhaltenen Zellen
zeigen schwere Degeneration, Freiwerden des Pigments und hier erreicht die
Gefüßveränderung tatsächlich so hohe Grade, daß sich zystenähnliche Räume
bilden. Aber auch hier ist keine Malazie, sondern nur ein etwas über das ge-
wöhnliche Maß hinausgehendes Ödem mit Bildung eines état lacunaire.
Auffällig muß erscheinen, daß die Pyramiden in der Medulla und Brücke
sowie im Mittelhirn keinerlei Zeichen einer nennenswerten Affektion geboten
haben, vor allem keine Differenz zwischen rechts und links. Auch in der
Kapsel kann man eine Degeneration nicht wahrnehmen und die motorische
Rinde sowie die Rinde des Stimhirnms erweist sich vollständig gut entwickelt.
Es ist also schwer festzustellen, woher die Pyramidenzeichen stammen.
Zur Pathologie der Paralysis agitans. 47
Leider ist eine Untersuchung des Rückenmarks nicht vorgenommen
worden. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß hier die Ursache für die Er-
scheinungen der Pyramidenläsion zu finden gewesen wären. Jedenfalls kann
man aus diesem Befund schon schließen, daß eine Pyramidenbahnschädigung
für das in Rede stehende Syndrom überhaupt nicht in Frage kommt und es
ist äußerst interessant, daß nur zwei Teile des Gehirns sich als wesentlich ge-
schädigt erweisen: Das ist das Putamen infolge der eigenartigen Gefäßstörung
und die Substantia nigra, die einen überaus starken Zellausfall und schwerste
Zelldegenerationen ausweist.
Wir werden darum nicht fehlgehen, wenn wir den Rigor hier auf die
Schädigung der Substantia nigra beziehen, wobei ich keineswegs auf die
Kontroversen in der Literatur eingehen möchte, da es sich ja nur um die
Mitteilung eines allerdings ziemlich eigenartigen Falles handelt. Ob der
Schütteltremor, ob die anderen Erscheinungen, welche der Paralysis agitans
eigen sind, auf die eigenartige Störung im Putamen zurückzuführen sind,
möchte ich nicht entscheiden. Wenn man die Gefäße dieses Himabschnittes
untersucht, dann muß man zugestehen, daß die Trophik des Organs schwer
gelitten haben muß, ein Umstand, der sich sicher in der Funktion des Organs
zum Ausdruck gebracht haben wird.
Es handelt sich hier offenbar um einen jener Fälle von Früharterio-
sklerose, wie sie jetzt immer mehr und mehr bekannt werden, Fälle, die das
eine Mal mehr lokalisierte Prozesse im Sinne der Läsion eines größeren Him-
gefäßes bedingen, also Blutungen oder Erweichungen, das andere Mal diffuse
Prozesse im Sinne schwerer trophischer Störungen mit Schädigung der funk-
tionierenden Elemente.
Es erscheint notwendig, alle Fälle von Paralysis agitans genauestens zu
untersuchen, da wir bei dieser Krankheitsgruppe sicherlich nieht identische
pathologisch-anatomische Grundlagen finden werden und da die Analyse der
einzelnen Fälle uns eher in den Stand setzen wird, den Mechanismus der
extrapyramidalen Bewegungsstörungen in ein gewisses System zu bringen.
Beitrag zur ontogenetischen Entwicklung der Schichten
der Calcarinarinde.
Vorläufige Mitteilung.
Von
Benjamin Pushkin, Baltimore (U. S. A.).
Mit 4 Abbildungen im Text.
In seinen ersten Arbeiten über die zytoarchitektonische Felderung der
Großhirnrinde aus dem Jahre 1903 und 1904 hat Brodmann darauf hin-
gewiesen, daß beim Fötus und auch noch in den ersten Lebenswochen eine
viel größere Übereinstimmung im Bau der verschiedenen Cortexabschnitte
besteht als beim Erwachsenen. Er konnte — und zwar geht er von einem
Fötus von acht Monaten aus — zeigen, daß sich die später differenzierenden
anatomischen Rindenfelder auf einen einheitlichen Urtypus zurückführen
lassen, und zwar eine Sechsschichtenrinde. Er meint dabei, daß, wenn
man von einigen kleinen Differenzen absieht, für solche Schichtunter-
suchungen der 8. bis 9. Fötalmonat am geeignetsten sei. Dieser Grundtypus
findet sich auch in der Nachbarschaft der Calcarina und zeigt die bekannten
sechs Schichten Brodmanns:
1. Die Lamina zonalis (Molekularschicht),
2. die Lamina granularis externa (Schicht der kleinen Pyramiden),
3. die Lamina pyramidalis (Schicht der mittelgroßen Pyramiden),
4. die Lamina granularis interna (eigentliche Körnerschicht),
5. die Lamina ganglionaris (Schicht der großen Pyramiden),
6. die Lamina multiformis (Spindelzellschicht \.
Wenn auch diese sechs Schichten durch die charakteristische Zellform
beim achtmonatigen Fötus noch nicht so deutlich erkennbar sind, so läßt
sich doch hier die dichtere oder lockerere Fügung des Zellmaterials er-
kennen und die genannten Schichten abgrenzen. In dem gleichen Embryonal-
monat kann Brodmann in der Fissura Calcarina aber bereits eine Unter-
teilung der IV. Schicht in drei Lamellen vornehmen. der VI. in zwei, also
ganz analog wie wir es später beim Erwachsenen finden. Er spricht bei der
IV. Schieht dann von einer Lamina granularis interna superficialis intermedia
und profunda. Die VI. Schicht teilt er in eine Lamina triangularis und fusi-
formis. Die Lamina intermedia entspricht dem Vieque d’Azyrschen Streifen.
Beitrag zur ontogenetischen Entwicklung der Schichten der Calcarinarinde. 49
Economo und Koskinas haben in ihrem grundlegenden Werk natürlich
Bezug genommen auf diese Angaben Brodmanns und ganz kurz auch frühere
Stadien herangezogen, allerdings solche, bei welchen von einer Schichtbildung
noch nicht die Rede ist.
Ich will nun im folgenden versuchen, die Schichtbildung in jener Zeit
zu studieren, die nach dem vierten Monat liegt, wo also die Formbildung des
Organs abgeschlossen und die Innenentwicklung bereits bemerkbar wird. Da
diese Stadien vom 4. bis 6. Lebensmonat nichts wesentlich Differentes ent-
halten, so habe ich zunächst Föten vom 6. Lebensmonat beginnend unter-
sucht und will nun über die Resultate dieser Untersuchungen kurz berichten.
Abb. 1. VI. Monat, links Calcarina. (Man beachte den Übergang zur Umgebung.)
Wenn man das Rindenbild in der Umgebung der Fissura Calcarina be-
trachtet (Abb. 1, rechts), so zeigt sich bei genauester Untersuchung kaum eine
Andeutung einer Schichtdifferenz und nur an einzelnen Stellen, besonders an
den dunkler gefärbten, hat man den Eindruck, als ob die Peripherie dichter
wäre, dann eine etwas lockerere Zellmasse sich findet, dann wieder eine
streifenförmige von dichteren Zellen, Zellen, denen wieder ein Streifen von
lockereren Zellen folgt. Sehr scharf ist diese Differenzierung aber nicht. Man
kann sie nur bei schwacher Vergrößerung eben gerade bemerken. Nur die
periphere Schicht ist vielleicht dichter.
Was nun die einzelnen Zellen anlangt, so ist man nicht in der Lage,
eine Differenzierung dieser vorzunehmen, Man sieht wohl am XNissl-Präparat
große Kerne, die aber alle ziemlich gleichmäßig erscheinen und von einem
Plasmasaum umgeben sind, der noch keinerlei deutliche Differenz erkennen
läßt. Dort, wo die Calearina beginnt, ändert sich das Bild deutlich, denn hier
lassen sich bereits die Schichten leicht abtrennen (Abb. 2). Zunächst findet
sich an der Oberfläche eine molekulare Schicht, dann folgt eine schmale Lage
dicht gedrängter Zellen, worauf sich als dritte Schicht eine von lockerer ge-
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XNXXIV. Bd. 4
50 Benjamin Pushkin.
fügten Zellen angrenzt. Dann folgt wieder auf einen Streifen dichterer Zellen
eine lockerere Schicht und schließlich wiederum eine dichtere Zellanordnung,
die jedoch nicht die Dichte der der zweiten und vierten Schicht erreicht. Wir
haben hier ein Bild vor uns, wie es Brodmann für die Rinde in der Um-
gebung der Calcarina für den 8. Monat zeichnet, d. h. einen sechsschichtigen
Rindentypus, der sich aber so deutlich von der Umgebung absetzt, daß wir
keinen Zweifel haben, wo die Calcarina beginnt und das Nachbargebiet auf-
hört. Jedenfalls ist es in diesem Entwicklungsstadium in der Rinde, die nicht
der Calcarina angehört, unendlich schwer, eine Differenzierung vorzu-
Abb. 2. VI. Monat, Calcarina.
nehmen. Man kann höchstens die molekulare und die II. Schicht deutlich
erkennen. Was unter der Il. Schicht ist, läßt kaum oder nur mit allergrößter
Mühe eine Differenzierung wahrnehmen. Es ist auffällig, wie gut demgegen-
über die Calcarina den Sechsschichtentypus repräsentiert. Diese Verhältnisse
beziehen sich nieht etwa auf einen Teil der Calcarina, sondern betreffen die
ganze Calcarinarinde.
Im 7. Monat hat sich in der Umgebung der Calcarina das Bild nicht
sehr wesentlich verschoben, vielleicht mit der Ausnahme, daß die Aufhellung
unterhalb der IV. Schicht jetzt deutlicher geworden ist, wodurch die V. und
VI. Schicht sehr gut hervortreten. Auch die H. Schicht ist sehr deutlich. Aber
die IH. und IV. Schicht lassen eigentlich noch keine scharfe Differenz er-
kennen. Auch hier ist die Calearina sehr wesentlich in der Entwicklung fort-
geschritten. Die I. und II. Schicht sind jetzt sehr deutlich. Die IH. Schicht
Beitrag zur ontogenetischen Entwicklung der Schichten der Calcarinarinde. 51
zeigt noch keine Differenzen, d. h. sie ist ziemlich gleichmäßig locker. In
der IV. Schicht bereitet sich bereits eine Differenzierung vor, die aber nicht
regelmäßig ist. Man kann an einzelnen Stellen sehen, wie die dichter ge-
fügte IV. Lage ein wenig auseinander weicht und zwischen sich einen helleren
Streifen erkennen läßt. Die V. Schicht ist jetzt sehr deutlich, die VI. Schicht
zeigt auch eine mehr dichte und eine mehr lockere Lage, so daß wir im
7. Fötalmonat bereits jenen Schichtenbau angedeutet finden, der die spätere
Abb. 3. IX. Monat.
Calcarina auszeichnet. Die Ganglienzellen sind nicht wesentlich besser ent-
wickelt als in dem vorigen Stadium.
Im 8. Monat sind die Verhältnisse von Brodmann entsprechend be-
schrieben worden und zeigen gegenüber dem 7. Monat eigentlich nur einen
ganz geringfügigen Fortschritt. Dagegen kann man bei den Untersuchungen von
Fällen aus dem 9. Monat (Abb. 3) erkennen, daß jetzt auch in den Partien neben
der Calcarina derSechsschichtentypus ganz deutlich wird. Die Rinde wird breiter,
die Zellen stehen lockerer auch dort, wo sie früher sehr dichtgefügt waren.
Das gilt besonders für die III. und V. Schicht, wodurch die anderen Zell-
schichten jetzt deutlich hervortreten. Vergleicht man die Calearinarinde mit
der Nachbarschaft, so fällt zunächst deren Schmalheit ins Auge. Die Mole-
kularschicht schon ist etwas schmäler, die zweite Schicht scheint dichter,
stellt aber einen ganz dünnen Streifen dar. Die III. Schicht zeigt die Zellen
nur auffallend locker und in der IV. Schieht kann man noch immer nicht
die scharfe Distinktion der drei Zellagen wahrnehmen, wie sie dem Ent-
wickelten zukommt. Die auffallende Helligkeit der V. Schicht und die ver-
4*
52 Benjamin Pushkin.
hältnismäßig große Zellarmut der VI. Schicht fallen in die Augen. Hier kann
man eine Zweiteilung vornehmen. Aber die Teilung der IV. Schicht ist auch
hier noch nicht ausgesprochen. Als Auffälligstes im 9. Monat erscheinen die
Aufhellungen der Kerne im Nisslbild, sowie der Umstand, daß man nun die
Zellen ganz deutlich zu erkennen imstande ist, besonders die Pyramiden-
zellen und die Zellen der IV. Schicht. Der Unterschied der Bilder vom 9. und
10. Monat ist ziemlich klar (Abb. 4). Das Wesentliehste ist, daß die
Abb. 4. X. Monat.
Zellschiehten lockerer werden, aber eine deutliche Differenz in bezug auf die
Zusammensetzung der einzelnen Schichten ist auch im 10. Monat noch nicht
scharf erkennbar. Deutlicher wird die Zellform.
Wenn wir also resumieren, so zeigt sich, daß die Entwicklung der Cal-
carina schon im 6. Lebensmonat soweit vorgeschritten ist, daß sich der sechs-
schichtige Bau der Rinde deutlich zeigt, während in der Nachbarschaft noch
kaum eine Differenzierung in Schichten sichtbar ist. Die Schichtbildung vom
6. Monat aufwärts in der Calearina bezieht sich eigentlich nur darauf, daß
schon im 8., noch deutlicher im 9. Monat, die IV. und VI. Schicht Teilungen
erfahren, während, ganz allgemein gesprochen, die Differenz gegenüber früher
nur in einem Deutlicherwerden der Schichten «durch Lockerung der Zell-
verbände in die Augen fällt.
Wenn man sich die Frage vorlegt, wodureh diese frühe Entwicklung
eventuell bedingt ist, so muß man von der Tatsache ausgehen, daß auch die
Furchenbildung nieht gleichzeitig erfolgt und daß offenbar die Schichtbildung
mit der Furchenbildung in irgend einem Zusammenhang steht, etwa in der
Beitrag zur ontogenetischen Entwicklung der Schichten der Calcarinarinde 53
Weise, daß das Schichtenbill der früher auftretenden Furchen (Primär-
furchen) gegenüber jenem der später auftretenden Furchen (Sekundär-
furchen) eine bessere Entwicklung besitzen. Äußere Gründe brachten es mit
sich, daß diese eben begonnenen Untersuchungen vorzeitig abgebrochen wer-
den mußten, weshalb über die Entwicklung der anderen Primärfurchen und
deren Schichtenbilder vorläufig noch nichts ausgesagt werden kann.
Aus dem neurologischen Universitätsinstitut Wien
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg).
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis.
Von
Dr. B. Bornstein, Krakau.
Mit 3 Abbildungen im Text.
Seit Oppenheim hat man sich gewöhnt, bestimmte Formen lokalisierter
spinaler Prozesse als multiple Sklerose zu bezeichnen, auch solche, bei denen
die Multiplizität des Prozesses im Beginn nicht nachzuweisen war. Der Begriff
lokalisiert ruft den Eindruck hervor, als ob der Prozeß der multiplen Sklerose
sich analog jenem der Querschnittsinyelitis lediglich in einem Segment
etabliert hätte. Dem ist aber nicht so, sondern es läßt sich in diesem Falle
fast immer, wenn auch nicht klinisch, so doch anatomisch, die Multiplizität
des Prozesses nachweisen. Diese Fälle sind aber auch deshalb von großer Be-
deutung, weil sie gelegentlich das Bild des Tumor medullae spinalis imi-
tieren können. Vielleicht nicht in dessen voller Ausprägung, aber doch so,
daß man sich bei der Aussichtslosigkeit jeder anderen Therapie zu einem
chirurgischen Eingriff veranlaßt fühlt.
Wenn wir nun bezüglich der Symptomatologie solcher Fälle nach-
forschen, so zeigt sich eigentlich, daß dieselben nach den neuen Methoden
kaum untersucht wurden. Besonders vermißt man Angaben über die Lipjodol-
füllung und auch dem Umstand wird meist nicht Rechnung getragen, daB die
multiple Sklerose nicht mehr nach der Charcotschen Trias, die in kaum
10°, der Fälle zutrifft, beurteilt wird, sondern daß man versucht, die Er-
scheinungen aus dem pathologischen Geschehen zu erklären, wie das unter
anderm Marburg getan hat.
Das Iauptgewicht ist immer auf die Multilokularität des Prozesses zu
richten, der meist afebril, chronisch, intermittierend und remittierend ver-
laufen kann. Es ist nun freilich schwer, diese Forderung immer zu erfüllen. Aber
wenn man besonders anamnestiseh genan nachforscht, so kann man fast
immer eine leichte Remission oder Intermission feststellen, schwerer schon
die Multiplizität des Prozesses.
Im folgenden soll nun ein Fall genauer beschrieben werden, der gleich-
falls eine gewisse Seltenheit darstellt, da er sieh lediglich auf das Rücken-
mark beschränkt, während man sonst bei genanerer Durchsicht fast immer
Herde im Gehirn tindet.
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. b5
Wie Toyama gezeigt hat, sind die Herde im Rückenmark fast immer
älteren Datums, als jene des Gehirns und zeigen fast immer die aus-
gesprochene Sklerose, während im Gehirn der akute Zerfall noch im Gange
ist. Jedenfalls muß man, wenn man einen spinalen Fall multipler Sklerose
untersucht, auch das Gehirn genauestens durchforschen, um den eventuellen
Fortschritt des Prozesses sicherzustellen. Immerhin gibt es eine Reihe von
Fällen, die differential-diagnostisch besondere Schwierigkeiten bieten, bei
denen es sich nicht sicherstellen läßt, ob eine einfache Myelitis transversa,
eine m. S. oder ein Tumor vorgelegen ist.
Ich möchte im folgenden eine Reihe solcher Fälle kurz anführen: 1. Fall:
Pitres (La semaine medicale 189, Nr. 5), 37jähr. Frau, bei der sich nach
der Geburt ihres Kindes eine Paralyse der unteren Extremitäten verbunden
mit Sphinkterenstörung entwickelt. 21 Jahre später konnten keine neuen
Symptome konstatiert werden. Die Sektion ergab eine m. S. Ein histologischer
Befund liegt nicht bei. 2. Fall: 21jähr. Frau, Gürtelschmerzen, Verlust des
Bewußtseins, Lähmung der unteren Extremitäten und der Blase. Im
59. Lebensjahr war der Gang spastisch, Gürtelschmerzen, (redächtnisschwäche.
Es ist fraglich, ob man den Fall unseren Betrachtungen hinzufügen darf, da
kein Obduktionsbefund vorliegt. 2. Nonne (Neurol. Zen. 1898, S. 1141)
bespricht zwei Fälle, die das Bild der Myelitis spastica dorsalis darboten. In
beiden Fällen waren multiple sklerotische Herde im Hals-, Dorsal- und
Lumbalmark vorhanden. Der dritte Fall Nonnes kann für uns nicht in Be-
tracht kommen, weil neben der spastischen Parese der unteren Extremitäten
andere Symptome der m. S. — Optikusveränderungen und Intentionstremor —
vorhanden waren. Auch der Fall Siemerling (Neurol. Zen. 1898, S. 575)
kann in unsere Gruppe nicht eingereiht werden. Bei einer 39jähr. Frau, die
viermal abortierte, bestand eine Paraparese mit Sensibilitätsstörung, von der
5. Rippe abwärts, doch gesellte sich dem Bilde eine beiderseitige Optikus-
atrophie hinzu. Die Schwierigkeit, den Fall in die Gruppe der m. S. einzureihen,
wird neben den klinischen Erscheinungen durch den anatomischen Befund
noch vergrößert. Man fand nämlich eine auf- und absteigende Degeneration
der Hinter- und Seitenstränge, auch waren die Achsenzylinder nicht erhalten.
3. Fall Flatau-Kölichen, 60jähr. Frau, Beginn mit Fieber, spastische Para-
parese der unteren Extremitäten, nach einer Krankheitsdauer von 31/3 Monaten
Exitus. Das ganze Rückenmark ist von sklerotischen Herden durchsetzt.
4. Fall Schüßler (Diss, München 1904), 46jähr. Patientin, Paraparese mit
Sensibilitätsstörungen, daneben jedoch horizontaler Nystagmus und Muskel-
atrophie der oberen Extremitäten. Nach zweijähriger Beobachtung Exitus. Die
histologische Untersuchung deckte multiple sklerotische Herde auf. Die von
Rinke (Diss., Berlin 1909) beschriebenen Fälle können hier nicht einbezogen
werden, da neben den Paraparesen andere Symptome (Nystagmus und In-
tentionstremor) vorhanden war. Ebenso kann der Fall von Schwab (Diss.,
Würzburg 1912) in diese Gruppe nicht. eingereiht werden, wenn ihn auch der
Autor dazurechnet, da die zweimal vorgenommene Blut-Wassermann-Reaktion
pos. und der histologische Befund nicht eindeutig war -— man fand reichlich
56 Dr. B. Bornstein.
akute Entzündungserscheinungen, sowohl an den Rückenmarkshäuten, wie
auch am Rückenmark selbst — begleitet von zahlreichen Blutungen.
In der neuen Literatur nimmt die Zahl der hiehergehörigen Fälle ab,
wahrscheinlich weil die Diagnosestellung jetzt vorsichtiger gehandhabt wird,
indem zu den rein spinalen Symptomen ein nicht spinales gefordert wird.
Trotzdem finden sich einige Mitteilungen, wo eine Entscheidung nicht ge-
troffen werden konnte und die Autopsie m. S. ergab. Betrachten wir die oben-
erwähnten Fälle kritisch, ergibt sich aus ihnen der Schluß, daß man bei Er-
scheinungen von Querschnittsinyelitis ohne vorhandene Anhaltspunkte für
Lues oder Tumor immer trotz Mangel anderer Symptome an m. S. denken
kann.
Besonders gilt dies für die Fälle von Redlich. Wie bekannt, hatte der-
selbe bereits unter dem Titel Encephalitis cerebelli et pontis eine Reihe von
Fällen abgeschieden, die er als eine spezifische Hirnentzündung aufzufassen
geneigt war. Es stellte sich aber bei einzelnen dieser bald heraus, daß es sich
um eine etwas eigenartige lokalisierte m. S. gehandelt hat. Ein gleiches gilt
für die von demselben Autor beschriebenen Fälle von Querschnittsmyelitis,
die unendlich schwierig zu beurteilen waren, da die Beobachtungsdauer dieser
Fälle eine verhältnismäßig kurze war. Auch diese Querschnittsmyelitiden ge-
hören zum Teil der m. S. an, wie Redlich (Monatssch. f. Psych. u. Ne. 64)
selbst in einem Falle feststellen konnte, wovon Pette in seinem groß an-
gelegten Referat in der Gesellschaft deutscher Nervenärzte vom Jahre 1929
Akt nimmt.
Aber es gehören in diese Gruppe auch noch andere Fälle, die nichts mit
m. S. zu tun haben und die oft unter dem Bilde der Querläsion auftreten und
diagnostisch große Schwierigkeiten bieten. Ich meine die im Senium vor-
kommenden eigentümlichen degenerativen Erkrankungen, über die Kuttner
vor nicht langer Zeit zusammenfassend berichtet hat. Ich will hier nicht
alles aufzählen, was den Eindruck eines Tumors hervorrufen kann, weil es
unter dem Bilde des lokalisierten spinalen Prozesses auftritt. Nur auf eine
kürzlich erschienene Arbeit möchte ich noch aufmerksam machen, in der
eigentlich über kombinierte Systemerkrankungen berichtet wird und in der
sich zwei Fälle finden, die sich leicht in den Rahmen der eben vworgetragenen
einfügen. Die Fälle sind von Uchida (Arbeit. aus d. Neurol. Institut, Wien,
Bd. 30, 928 veröffentlicht worden und in dem einen zeigt sich ein Quer-
sehnittsprozeß auf arteriosklerotischer Basis, in dem anderen aber, bei dem
das Klinische Bild die Erscheinungen der kombinierten Systemerkrankung auf-
wies, aber einer die durch einen Herdprozeß an einer bestimmten Stelle her-
vorgerufen schien, in Wirklichkeit aber eine m. S. bestand, die eine ganze
Reihe von Herden im Rückemmark erkennen ließ.
Es sollen diese wenigen Beispiele nur zeigen, wie schwierig es ist, ledig-
lich das Zustandsbill eines lokalisierten Prozesses zu beurteilen, ohne den
Ablauf eines solchen verfoleen zu können.
Bezüglich der Fälle, die als Tumor spinalis (ntra- oder extramedullär\
diagnostiziert wurden und sieh dann autoptisch als m. S. herausstellten, ist
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. 57
die Literatur gering. Die Schwierigkeiten, den Prozeß richtig zu erkennen,
sind trotz Ausbaues der Untersuchungsmethoden (Lipjodol, Liquor) nicht
völlig aufgehoben worden. Durch die Feststellung, daß die m. S. die ver-
schiedensten Sensibilitätsstörungen, häufig von rein segmentalem Typus, her-
vorrufen kann, und daß die Schmerzen nicht so selten die ersten Anzeichen
einer m. S. sind (Oppenheim, Redlich), wurde die Grenze gegenüber dem
Tumor verwischt. Es seien nur einzelne Beispiele angeführt. So berichtet
Nonne (D. M. W. 1910, 37), Fall 1: 59jähr. Mann, Schmerzen zwischen den
Schulterblättern, langsam sich entwickelnde, spastische Paraparese der unteren
»xtremitäten, umschriebene Klopfempfindlichkeit zwischen 7. Hals- und 1. Dor-
salwirbel, vorübergehende Blasenstörungen, Sensibilitätsstörungen an den
Zehen, Füßen und Unterschenkeln. Die Spinalpunktion ergab eine geringe
Lymphozytose (Wassermann im Liquor und Nonne-Apelt wurden damals
nicht bestimmt). Unentschieden, ob es sich um einen Tumor oder um eine
zervikale m. S. handelte, wurde die Laminektomie vorgenommen. Die Obduk-
tion erwiesen m. S.-Herde. Von einem weiteren hieher gehörigen Fall berichtet
Nonne (lL c): Bei einem 16jähr. Mädchen entwickelt sich das typische Bild
einer Konuserkrankung, für die nach Ausschluß von Tbe. oder Lues ein
Tumor angenommen wurde. Die Operation ergab einen völlig negativen Be-
fund. Über die weiteren Schicksale der Patientin wird nicht berichtet.
Über die manchmal nicht zu beseitigenden diagnostischen Schwierigkeiten
berichtet Wexberg (Z. f. d. gesamt. Neurol. u. Psych. 1923, 991, Bychowski
iksiega jubileuszowa Flataua)j. Der letztere hebt besonders hervor, daß die
Myelographie nicht immer imstande ist, die Entscheidung zu treffen. Der
Fall von Messing (Polska gazet. lekarsk., Jahrg. 6, 15) bestätigt die oben von
Byehowski erwähnte Tatsache. Im genannten Falle simulierten die Sym-
ptome eine Querschnittsläsion, das Resultat des Queckenstedtschen Ver-
suches war zweideutig, die Lipjodolfüllung zeigt ein Haftenbleiben von zwei
großen Tropfen auf der Höhe von D5 — D7. Die Obduktion ergab eine m. S.
Der Fall Müller, Heinrich, Dattner (Z. f. d. gesamt. Neurol. u. Psych.
1921, 71: weist gleichfalls auf die Schwierigkeiten der Diagnosestellung hin.
Hier wurde eine m. S. angenommen. Neben einer spastischen Paraparese
und Nystagmus ließ sich im Krankheitsverlauf eine zweijährige Remission
feststellen. Die Obduktion ergab ein intramedulläres Gliom. Beim zervikalen
Sitz eines Tumors können die Schwierigkeiten noch dadurch vergrößert sein,
daß die für die m. S. so wichtigen Symptome, wie Nystagmus und Intentions-
tremor, manchmal anzutreffen sind (zusammenfassende Angaben bei Karl
Grosz, Rückenmarkstumoren 1925). Dies wird durch die Schädigung der
Hinterstränge und des Fasciculus longitudinalis post. erklärt. Wiersma (Zeit.
f. Neurol. 1928, 20) berichtet über einen Fall, wo nach Entfernung eines hoch-
sitzenden Tumors der früher vorhandene Nystagmus verschwand. Die Zahl der
Fälle, wo ein Tumor angenommen wurde und die Obduktion eine m. N. fest-
stellte, ist, wie aus der Literatur ersichtlich, nicht besonders groß, nicht als
ob die Zahl der hieher gehörigen Fälle in Wirkliehkeit selten wäre. Es scheint
dies eher an den äußeren Umständen zu liegen. Die der operativen Behand-
58 Dr. B. Bornstein.
lung zugeführten Fälle erfahren merkwürdigerweise nach der Laminektomie
gelegentlich eine weitgehende Besserung ihres Zustandes, vielleicht meningeal
bedingt. In diesen Fällen wird oft die Diagnose eines Pseudotumors oder einer
Meningitis serosa gestellt und erst nach Jahren einsetzende Erscheinungen
ermöglichen das Leiden als m. S. zu erkennen. Ein Beispiel für diese dia-
gnoslischen Schwierigkeiten, besonders in früherer Zeit, beweisen die Ergeb-
nisse der Rückenmarksoperationen an der Klinik Eiselsberg vom Jahre
1901 bis 1926. 90 Patienten wurden wegen Verdachtes eines Tumors operiert,
in 24 Fällen wurde kein Tumor gefunden. Diese Fälle, die also als Pseudo-
tumor in Erscheinung traten, gehören wohl in die Gruppe der eingangs er-
wähnten Fälle.
Marburg hat 12 Fälle beobachtet, bei denen die Differentialdiagnose
gegenüber Tumor medullae spinalis sehr schwierig war und von denen ein-
zelne sogar operiert wurden. Man fand ein- oder das anderemal anscheinend
eine Meningitis serosa circumscripta, aber der Befund änderte sich auch post-
operativ kaum, und, wie Marburg mir persönlich berichtete, hat sich in einem
Teil der Fälle viel später ein typisches Bild der m. S. entwickelt. In diesen
Fällen waren bereits Untersuchungen über das Kompressionssyndrom vor-
genommen worden und es zeigte sich, daß dasselbe in unvollkommener Aus-
prägung auch hier vorhanden war, d. h. es war eine Eiweißanreicherung und
eine Verminderung der Zellen wohl vorhanden, nicht aber die Xanthochromie.
In einem Falle bestand sogar ein Stop bei der Lipjodolfüllung, was nicht
wundernehmen wird, wenn man überlegt, wie häufig meningeale Verklebun-
gen bei spinal entzündlichen Prozessen vorhanden sind.
Wie man sieht, ist die Frage des Pseudotumors medullae spinalis eine
noch recht ungeklärte, so daß es begreiflich erscheint, wenn ich im folgenden
über einen Fall berichte, der in diese Gruppe gehört, den man sowohl
klinisch, als anatomisch ziemlich genau zu untersuchen Gelegenheit halife.
Es handelt sich um eine 62jährige Frau, deren sonstige Anamnese im Hinblick
auf die derzeitige Krankheit belanelos ist. Kein Abortus, keine Lues, 6 normale Ge-
burten. Die Erkrankung begann im 56. Lebensjahr. Es traten damals Schmerzen von
neuraleiformen Charakter auf, „Messerstiche und Zuckungen“. Die Schmerzen strahlten
vom Kreuzbein in die unteren Extremitäten ein, deneben bestand ein vorübergehen-
des gürtelförniges Gefühl am Stamm. Kurze Zeit nachher entwickelte sich eine dauernd
zunehmende Schwäche der unteren Extremitäten. Alle Beschwerden rechts und links,
setzten gleichzeitig ein, und auch in der späteren Entwicklung läßt sich kein
Seitenunterselied nachweisen. Langsam und gleichmäßige nahmen die Beschwerden
zu, und zwei Jahre später hatte sich der Zustand so verschliminert, daß die Kranke
nur mut äußerster Mühe herumgehen konnte. Seit Anfang 1930 kann die Kranke weder
gehen noch stehen und fällt bei jedem Versuch zusammen. Die Schmerzen haben
in der letzten Zeit nacheelassen. Bis zur Zeit der Spitalsaufnahme negiert die Kranke
irgend welche Beschwerden seitens der Harnblase und des Mastdarms. Nie Doppel-
sehen. Keine Erschwerung der Sprache.
Wührend des dreimonatigen Spitalsaufenthaltes konnte folgender Befund auf-
genommen werden, der hier kurz angeführt werden soll: Große, korpulente Patientin,
Sensorium frei, keine Dyspnoe, keine Zyanose,. Innere Organe o.B. Alle Hirn-
nerven frei, keine Sprachstörung. Obere Extremitäten o.B. Kein Intentionstremor.
B.D.R. beiderseits fehlend. Untere Extremitäten: motorische Kraft beiderseits stark
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. 59
vermindert, Tonus beiderseits gesteigert, starker Spasmus der Oberschenkeladduktoren.
Patellarklonus beiderseits pos. A.S. R. beiderseits gesteigert. Babinski beiderseits pos.
Gordon beiderseits pos. Rossolimo rechts angedeutet, links nicht vorhanden. Koordi-
nation infolge von Parese und Adduktorenspasmus nicht prüfbar. Sensibilität: Es be-
steht eine Hypästhesie vorne und hinten von D7 abwärts. Die Grenzen der Schmerz-
empfindung sind:
rechts vorne D 7—D 12;
rechts hinten keine Hypalgesie;
links vorne D7—L3;
links hinten in einem etwas engeren Gebiet als links vorne.
Tiefensensibilität an den Zehen beiderseits aufgehoben. Periphere Nerven frei.
Spontaner Gang unmöglich. Aus der weiteren Beobachtung ist zu entnehmen: keine
Abb. 1. II. Lumbalsegment.
Kachexie, keine Zeichen einer Osteomalazie. Von D7 aufwärts, inkl. der Hirnnerven,
Sprache, Kleinhirn, Intelligenz, keine Störung. Die Kranke läßt Harn unter sich.
Beginnender Dekubitus in der Kreuzbeingegend. Der einen Monat später aufgenom-
mene Befund ergibt: Die Intensität der Sensibilitätsstörung etwas geringer, be-
sonders im Gebiet der D7—D12, viel geringer als bei der ersten Untersuchung.
Die motorischen Erscheinungen der unteren Extremitäten geringgradig gebessert, An-
deutung von Flexion und Extension im Hüftgelenk, Abduktion und Adduktion un-
möglich. Der Dekubitus greift weiter, es gesellt sich eine Zystitis hiezu, Schüttelfrost,
Fieber, und schließlich kommt es zum Exitus. Die sonstige Untersuchung ergab:
Wassermann, Blut und Liquor neg. Nonne-Apelt schwach pos. Weichbrodt schwach pos
Gesamteiweiß (Salpetersäure) 15. Zellen 13. Die Goldsolreaktion zeigt eine Meningitis-
zacke. Über eine Kontrastfüllung mit Lipojodol und den eventuellen Ausfall der
Queckenstedtschen Probe finden sich keine Angaben. Rö-Befund der Wirbelsäule:
Starke Kyphose der Brustwirbelsäule, Atrophie der Knochenstruktur. Osteophytische
Zacken und knöcherne Verbindungen durch Spange. Dgn. Arthropathia ankylopoetica.
Auf Grund des beigegebenen Befundes wurde ein Tumor im Wirbelkanal an-
genommen, der von dorsal her das Rückenmark in der Höhe von D4 komprimiert.
60 Dr. B. Bornstein.
Die Obduktion ergab: Gangräneszierender Dekubitus über dem Kreuzbein. Akuter
Milztumor. Schwere parenchymatöse Degeneration des Myokards, der Leber und der
Nieren. Terminales Lungenödem. Makroskopisch erschien das Rückenmark normal.
Der histologische Befund des Rückenmarks ergab folgendes:
Unterstes Sakralmark: Das Markscheidenbild ist völlig normal. Schon bei
dieser Färbung ist eine geringe Randgliose zu bemerken, die an der ventralsten
Peripherie der Pyramidenseitenstränge und im Gebiete der Fissura longitudinalis ant.
deutlich zum Vorschein kommt.
L5: Das den Pyramidenseitensträngen entsprechende Gebiet zeigt beiderseits
ein unscharf begrenztes Lichtungsfeld, das sich nur auf die äußerste Rückenmarks-
peripherie beschränkt.
L2: Das ganze Gebiet des Seitenstranges auf der einen Seite wird von einem
Abb. 2. XII. Dorsalsegment.
markscheidenfreien Herd eingenommen (Abb. 1). Der Herd zerstört das ganze Pyramiden-
seitenstrangareal, zum Teil auch das des Tr. spinocerebellaris dorsalis, der Tractus
spinocerebellaris ventralis ist gut erhalten. Der Herd greift scharf in das Gebiet der
grauen Substanz der einen Seite ein. Die in das Hinterhorn eintretenden Wurzeln werden
vom Entmarkungsprozeß nicht betroffen. Auf der anderen Seite der Rückenmarks-
hälfte ist im zentralen Anteil des Pyramidenseitenstranges eine unscharf begrenzte Auf-
hellung. Das Gebiet der beiden Pyramidenvorderstränge ist bis zur Hälfte markscheiden-
frei. Die durch das Gebiet der Pyramidenvorderstränge eintretenden Vorderwurzel-
fasern sind auch zum Teil der Markscheiden beraubt. Die früher angedeutete Rand-
gliose ist deutlich entwickelt, besonders an jenen Stellen, wo die Markscheiden zu-
grunde gegangen sind. Der Zentralkanal erscheint ein wenig erweitert.
D 12: (Abb. 2.) Fast die ganze Rückenmarkshälfte ist durch einea Herd eingenom-
men. Der latero-ventrale Anteil des einen Vorderstranges ist im Herd einbegriffen. Wäh-
rend bei den früher beschriebenen Schnitten der Herd bis an die Peripherie reicht, hebt
sich jetzt die Perij herie durch das relativ gute Erhaltenbleiben der Markscheiden hervor.
Die andere Seite des Pyramidenseitenstranges zeigt gegenüber «dem vorigen Schnitt
keine nennenswerte Veränderung. Die medio-ventralen Anteile der Hinterstränge zeigen
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. 61
einen geringen Markscheidenverlust. Die graue Substanz ist auf der Seite des zer-
störten Seitenstrangareales sehr faserarm. Die motorischen Ganglienzellen sind erhalten.
Die Clarckesche Säule ist beiderseits gut erhalten. Der Zentralkanal ist sichtbar er-
weitert.
D6: Das dem Seitenstrang zugehörige Areal ist gegenüber dem vorigen Schnitte
nur gering verändert, die der Peripherie nähergelegenen Abschnitte zeigen verstreute
Lückenfelder. Dagegen ist in den Hintersträngen das dem Gollschen Gebiet zugehörige
Areal völlig markscheidenfrei und es erscheint in Form eines langgestreckten grauen
Feldes, das sich von der dorsalen Rückenmarksperipherie durch eine schmale, scharf
begrenzte Zone erhaltener Markscheiden abhebt. Die Commissura post. ist nicht zu
Abb. 3. IV. Cervicalsegment.
sehen. Der Zentralkanal ist durch eine in ihm vorfindbare geronnene Masse scheinbar
in zwei Teile geteilt.
C6: Der Pyramidenseitenstrang der einen Seite ist zur Gänze zerstört, nur die
äußerste Peripherie ist noch erhalten. Der Herd greift tief in die graue Substanz hinein,
indem er die Basis, Cervix und Caput des Hinterhornes zerstört. Auf der anderen Seite
ist das Seitenstrangareal recht gut erhalten, hngegen lassen sich zwei neue Herde fest-
stellen, der eine in dem ventralen Abschnitt des Pyramidenvorderstranges, der andere
im Gebiete des Tractus spinocerebellaris ventralis. In den Hintersträngen sind nur die
lateralsten Anteile des Burdachschen Stranges erhalten, wogegen der Gollsche
Strang fast bis zur Peripherie zerstört ist, ventralwärts reicht der Herd bis zum
Zentralkanal. Die Commissura alba dorsalis ist zerstört (Abb. 3).
C3: In den Seitensträngen entspricht das Bild dem früher besprochenen. Der
Hinterstrang der einen Seite ist fast zur Gänze zerstört, der der anderen Seile zeigl
die erhaltenen Partien des lateralen Abschnitles im Burdachschen Strang.
Färbung nach Bielschowskv: Die Aclısenzylinder sind in den entmarkten Her-
den erhalten, nur an einzelnen Stellen, besonders in der Höhe von D12 und DG, ist
ihre Zahl vermindert.
62 Dr. B. Bornstein.
Hämatoxylin-Eosin: Die Peripherie des Rückenmarkes zeigt eine gliöse
Verdicekung; stellenweise sind die kleinen Gefäße von spärlichem Rundzelleninfiltrat
umgeben, doch ist die Zahl der Zellen gering. Entsprechend den beiden Seitensträngen,
besonders im oberen Dorsalmark, sieht man von den Meningen gegen das Rückenmark
hin einstrahlende, ziemlich breite bindegewebige Brücken, an diesen Stellen ist die
Randgliose besonders deutlich. (Das hier beschriebene Bild erklärt die Möglichkeit
einer teilweisen Lipojodolarretierung).
Nissl: Abgesehen von früher schon erwähnten kleinzelligen Infiltraten ist an
den Zellen nichts Pathologisches zu bemerken.
Scharlach R.: An den markscheidenfreien Stellen sieht man eine reichliche An-
sammlung von Fettkörnchenzellen, die die Gefäße stellenweise girlandenförmig um-
geben, stellenweise in Form von größeren Klumpen frei im zerstörten Gewebe liegen.
Fassen wir die Ergebnisse der klinischen und anatomischen Untersuchun-
gen zusammen, so handelt es sich in dem vorliegenden Fall um eine typische
multiple Sklerose, die lediglich die Eigentümlichkeit hat, nur das Rückenmark
zu betreffen, während die Untersuchung des Gehirns, soweit es in Frage
kam, ein negatives Ergebnis lieferte. Ich bin überzeugt, daß, wenn man das
Gehirn auf Serien geschnitten untersucht hätte, man sicherlich auch im Ge-
hirn Zeichen des Prozesses gefunden hätte.
Was unterscheidet nun diesen Fall von multipler Sklerose von den ge-
bräuchlichen Fällen? In allererster Linie ist es die Sensibilitätsstörung, die in
so ausgesprochener Weise gewöhnlich bei der multiplen Sklerose vermißt
wird. Schon der Beginn der Krankheit im höheren Alter mit schmerzhaften
Sensationen, die sowohl zonal als in die Beine ausstrahlten, an die sich dann
anschließend gleichfalls nach oben ziemlich scharf abgegrenzt Sensations-
störungen fanden, spricht dafür, einen komprimierenden Prozeß anzunehmen.
Freilich ist der Charakter der Sensibilitätsstörungen nicht der klassische, zu-
mal die untere Grenze wenigstens für die Schmerzsensationen eher für die
intraspinale destruierende Erkrankung spricht. Die Blasenstörung spricht
allerdings nicht gegen den Tumor. Die Liquoruntersuchung war eigentlich
eine nicht ausgesprochen deutliche, wenn auch der Umstand der Dispropor-
tion zwischen Zellzahl und Eiweißgehalt cher den Kompressionsprozeß wahr-
scheinlich macht.
Es erhebt sich nun die Frage, ob sich in der Krankheitsgeschichte und
in den erhobenen Befunden sichere Zeiehen einer multiplen Sklerose fanden.
Diese fehlen, soweit das Gehirn in Frage kommt. Sie fehlen aber auch in der
Art der Entwieklung des Prozesses, der scheinbar ein chronisch progressiver
ist und nur eigentlich während der Spitalsbeobachtung bezüglich der Sensibili-
tät als auch der Motilität eine gewisse Remission erkennen ließ. Es ist aber die
Frage, ob man einer solchen Remission allein soviel Gewicht beimessen soll,
um darauf die Diagnose einer multiplen Sklerose aufzubauen, denn wir wissen,
dab auch bei Tumoren, besonders wenn sie komprimierend sind, durch das
Ödem des Quersehnittes mitunter die Erscheinungen akzentuiert werden, um
bei Nachlassen des Ödems, was dureh Lageverinnderungen des Tumors bei
dessen Wachstum möglich ist, eine Remission herbeizuführen. Eher noch
können wir den Liquorbefund als für die multiple Sklerose charakteristisch
Zur Frage des Pseudotumor medullae spinalis. 63
hinstellen. Der positive Ausfall der Phase I und die Zahl von 13 Zellen sowie
die Meningitis-Zacke sprechen eher für einen chronisch entzündlichen Prozeß
als für Tumor. Hat doch Sternberg in 70,5% der Fälle bei multipler Sklerose
einen positiven Liquorbefund erheben können. In 74,60% dieser Fälle war
die Phase I positiv, in 76,50% ließ sich eine Zellvermehrung nachweisen.
Auch die Meningitiszacke wird besonders von französischer Seite (Guillain)
als häufig bei der multiplen Sklerose vorkommend hingestellt. Auch das
Alter käme in Betracht, doch pflegt die multiple Sklerose selten zu sein.
Ken Taga hat vor zwei Jahren über eine solche Beobachtung berichten
können, die eine 74 Jahre alte Frau betraf, welche erst mit 65 Jahren Er-
scheinungen der Erkrankung aufwies. Es ist nicht unmöglich, daß auch im
vorliegenden Fall, wie bei Taga, das Senium die Progression unterstützt.
Versuchen wir nun, die Erscheinungen mit dem anatomischen Befund
in Einklang zu bringen, so zeigt sich, daß die spastische Parese durch eine
Vielheit von Herden bedingt ist, die keineswegs an eine einzige Stelle des
Rückenmarks gebunden sind, sondern sich durch das ganze Rückenmark hin-
einerstrecken. Aber auch die Sensibilitätsstörung läßt sich nicht durch einen
einzigen Herd erklären, sondern kann nur verstanden werden durch das zu-
fällige Zusammentreffen mehrerer Herde an verschiedenen Stellen im gleichen
Areal, d. h. hier im Hinterstrang und Vorderseitenstrang. Nicht ohne Inter-
esse ist der Nachweis, daß hier ältere und jüngere Herde nebeneinander
liegen und daß, trotzdem sich junge Herde leicht nachweisen lassen, der
Prozeß schließlich doch eine Remission gezeigt hat. Offenbar hat die Reini-
gung einiger älterer Herde an anderer Stelle als die der jüngeren Herde diese
Remission bedingt.
Sehen wir also, daß die bisher angeführten Momente keineswegs ge-
nügen, um eine sichere Diagnose zu stellen, so müssen wir schließlich noch
eines Momentes gedenken, das vielleicht auf den Gedanken der multiplen
Sklerose gebracht hätte und das ist das Verhalten der Reflexe. Wir sehen
einen Patellarklonus und finden die Achillesreflexe nur gesteigert. Diese Dis-
proportion zwischen Patellar- und Achillesreflex hat Marburg bereits benützt,
um in ihr ein Zeichen für das ungleichmäßige Befallensein des Pyramiden-
systems zu erblicken, einen Beweis also für die multiple Sklerose. Es ist
nicht ohne Interesse, daß Goldflamm, der die Schwierigkeit der Differential-
diagnose zwischen komprimierender Rückenmarksprozesse und spinaler
Myelitis wiederholt erfahren hat, aus dem Verhalten des Rossolimoschen
Zeichens zum Babinskischen Zehenphänomen ein wenn auch nicht absolut
sicheres, doch sehr verwertbares Zeichen der differentiellen Diagnose ge-
funden zu haben glaubt. Charakteristisch für die multiple Sklerose sei auch
hier die Disproportion zweier Reflexe, die eigentlich die gleiche Basis, näm-
lich die Pyramidenschädigung haben. Das Zehenphänomen ist kaum aus-
lösbar, der Rossolimosche Reflex dagegen sehr lebhaft. Umgekehrt würde
ein lebhaftes Zehenphänomen mit schwachem Rossolimo-Reflex für einen
Kompressionsprozeß sprechen.
Der vorliegende Fall kann diese Auffassung von Goldflamm nicht be-
64 Dr. B. Bornstein.
stätigen, da das Babinskische Zehenphänomen hier deutlich auslösbar war.
das von Rossolimo dagegen kaum erkennbar. Wie man sieht, häufen sich
die Schwierigkeiten der differentiellen Diagnose von Tumor und multipler
Sklerose trotz unserer fortschreitenden Erkenntnis und es wird scheinbar
immer Fälle geben, die nicht ganz in den Rahmen der einen oder der anderen
Krankheit passen und bei denen eine Entscheidung in diagnostischer Be-
ziehung ein Ding der Unmöglichkeit sein wird.
Aus dem neurologischen Institut der Wiener Universität
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg).
Die funktionelle Einordnung der Organismen
in die Schallwelt.*)
Von
Auguste Jellinek, Wien.
Mit einer Abbildung.
Die Welt des Lebendigen, die Umwelt der belebten Organismen der
Pflanzen, Tiere und Menschen, ist eine durchaus tönende Welt. Die meisten
Erscheinungen, die sich im Medium der Luft oder des Wassers abspielen,
sind von Schall begleitet. Die Art dieses Schallens oder Tönens ist charakte-
ristisch für die Erscheinungen, die den Schall erzeugen, so daß der Schall
— sei er Geräusch oder Klang -- bestimmte Bedeutung erhält, Anzeichen
eines Vorganges ist.
Die Organismen haben sich in Beziehung zu den auf sie einwirkenden
Kräften gebildet, und die lebendige Substanz, die plastisch ist, hat besondere
Ausgestaltungen erfahren — die wir die Sinnesorgane nennen —, um auf die
Erscheinungen der Außenwelt reagieren zu können. So hat auch die Schall-
welt an den Organismen Organe entwickelt, die vom Schall affiziert werden
können. Diese sind verschiedener Art. Aber sie finden sich der Allgegenwart
des Schalles entsprechend in deutlich sichtbarer Weise an sehr vielen Orga-
nismen, und in für uns nicht wahrnehmbarer Weise an einer Reihe von
anderen Lebewesen, deren Schallwahrnehmung wir nur aus ihren Schall-
reaktionen erschließen können, bei welchen wir jedoch annehmen müssen,
daß für unsere Forschungsmittel nicht besonders differenzierte Teile der
Schallaufnahme dienen. Die Schallsinne sind — biologisch betrachtet — auch
Warnungssinne, Sie sind Fernsinne, durch die ein Lebewesen etwas über
Vorgänge erfährt, die ihm sonst nicht wahrnehmbar sind oder zumindest
nicht mit anderen Sinnen — z. B. dem Gesichtssinn — wahrgenommen wer-
den müssen. Sie sind außerdem im sozialen Leben der Organismen von
höchster Bedeutung, da sie der gegenseitigen Verständigung dienen. Wir wer-
den also erwarten, bei allen Organismen Einrichtungen zu finden, die der
Einordnung in die Schallwelt dienen, da ja die genannten Aspekte der Schall-
welt von universeller biologischer Bedeutung sind. Wir wollen gleich voraus-
schicken, daß wir lange nicht bei allen Organismen die Sinnesorgane der
*) Vortrag in der Wiener Biologischen Gesellschaft am 15. Februar 1932.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 5
66 Auguste Jellinek.
Schallsinne und die Reaktionen derselben auf die Schallwelt kennen. Wir
kennen sie jedoch am genauesten beim Menschen, bei den höheren Tieren,
bei vielen Wirbellosen. Das Thema unserer Ausführungen wird es sein, die
peripheren Organe der Schallsinne, die Wirkung oder Wahrnehmung der durch
sie empfangenen Reize und die Verschmelzung derselben mit der Gesamt-
person zu betrachten, und schließlich auch zu analysieren, wie weit der
Organismus der Schallwelt passiv gegenübersteht, also von ihr eingeordnet
wird, und wieweit er ihr aktiv gegenübersteht, sich also als Wollender und
Handelnder in sie einordnet.
Als Schall wollen wir in den nachfolgenden Erörterungen durchwegs
periodische longitudinale Schwingungen der Luft oder eines anderen Mediums,
oder auch nichtperiodische Schwingungen dieser Medien — soweit es sich
um Geräusche handelt — betrachten, ohne Rücksicht darauf, ob dieser Reiz
eine spezifische Hörempfindung auslöst. Jedoch müssen wir hinzufügen, daß
hier nur ein Schwingungsbereich von 16.000 bis ungefähr 60.000 Schwingun-
gen pro Sekunde in Betracht gezogen werden soll, also jener Bereich, in
welchem diese Schwingungen für Menschen oder Tiere hörbar werden. Die
Schallsinne sind: Der Gehörsinn, der Vibrationssinn und der Drucksinn. Je
nach der Entwicklung des Organismus treten neben den phylogenetisch
älteren, niederen Schallsinnen — nämlich Vibrationssinn und Drucksinn —
auch der phylogenetisch jüngere und viel höher differenzierte Gehörsinn auf.
Phänomenologisch aber ist eine Trennung dieser Sinne und die Entscheidung
darüber, auf welchem Wege der Reiz den Organismus affıziert, vielfach un-
möglich, Mit Sicherheit wissen wir nur vom Menschen und von den imitieren-
den Tieren, daß sie hören, und was sie hören. Bei den gesamten Schallreak-
tionen der Tiere sowie bei manchen Schallreaktionen der Menschen ist es
für uns sehr schwer festzustellen, ob die Schallreaktion auf akustische oder
vibratorische Reizung zurückzuführen ist.
Es ist ja auch der Gehörsinn nichts anderes als ein Spezialfall des Vibra-
tionssinnes; und die Gehörorgane — nicht nur die Ohren, sondern auch die
(iehörorgane, z. B. der Insekten — zeigen in ihrem Bau Einrichtungen, die zu
einer Reihe von Theorien geführt haben, die speziell die Auswirkung vibra-
torischer Vorgänge und ihre Umwandlung in Nervenreize behandeln. Solche
Organe sind z. B. die Chordotonal- und Tympanalorgane vieler Insekten, an
welchen ähnlich einem Trommelfell schwingungsfähige Membrane beobachtet
werden. Versuche mit Dressuren auf Schallreize haben ergeben, daß Tiere
im Besitze dieser Organe auf Schall ansprechen und auch eine Unterscheidung
für einzelne Töne besitzen. Sie sind also mit einem Schallsinn ausgestattet, der
auch an diese Organe gebunden erscheint, da nach Entfernung derselben auch
die frühere Schallreaktion aufhört. Hier sei nur auf die Versuche von
Regen (1) hingewiesen, welcher fand, daß bei den Grillen Männchen und
Weibchen alternierend zirpen, sich also gewissermaßen antworten, daß aber
diese Abwechslung gestört ist, sobald man die Chordotonalorgane des Weib-
chens entfernt. Die Schallwahrnehmung der Grillen — wir würden sie bei
höheren Tieren das Gehör nennen — hatte Regen dadurch nachgewiesen,
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 67
daß er gezeigt hatte, wie die Grillenweibchen sich um ein Telephon
sammelten, aus dem die Stimme des Männchens hervortönte. Hier finden
wir also Organe der Schallaufnahme, die wir wohl als den Ohren der
Wirbeltiere analog betrachten können. Jedoch wird von Schallreaktion noch
bei viel primitiveren Tieren berichtet, an denen wir gar keine definierten
Schallaufnahmsorgane mehr finden. Zu diesen gehören z. B. gewisse röhren-
bewohnende Meereswürmer, welche sich bei Tönen schleunigst in ihre Röhren
zurückziehen, oder auch Schmetterlingsraupen, die Tonzuführung mit be-
sonderen Bewegungen beantworten. In diesen Fällen dürfen wir wohl an-
nehmen, daß die Haut als Sinnesorgan auf die Vibrations- und Druckreize
anspricht. Wir wissen ja, daß bei diesen Organismen die einzelnen Organe
noch weniger differenziert sind, und mehrere Funktionen auf einmal zu über-
nehmen vermögen. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob diese Reize, die
für uns hörbar sind und bei den Tieren spezifische Reaktionen hervorrufen,
die durch bloße Erschütterung nicht auslösbar sind, von den Tieren
gehört oder anders wahrgenommen werden. Hören ist eben eine spezifische
Erlebnisform, als solche nicht einmal beschreibbar und bei uns Menschen
an die Intaktheit eines komplizierten nervösen Apparates gebunden. Keine
Phantasie kann uns aber über das Erlebnis eines Meereswurmes oder einer
Schmetterlingsraupe oder einer Grille bei Zuführung von Schallwellen in-
formieren. Wir können nicht einmal wissen, welche Bedeutung diese Reize
für jene Geschöpfe haben, die in einer Umwelt leben, welche von der unsern
so sehr abweichend ist. Nicht nur der Erlebnischarakter, sondern auch (die
biologische Wertigkeit des Schalles für diese Tiere ist uns unbekannt, und
solange wir nicht viel mehr von ihrem Leben wissen, können wir auch dar-
über nichts erfahren. Immerhin sehen wir das eine: Auch diese Organismen
werden in einer für uns wahrnehmbaren Weise in die Schallwelt eingeordnet.
Die meiner Ansicht nach unentscheidbare Frage, ob es sich bei Fischen
um Hör- oder Vibrationsreize handelt, wurde vielfach und leidenschaftlich
diskutiert. Es hat sich nämlich unzweifelhaft erwiesen, daß viele Arten von
Fischen auf Schall reagieren und sogar auf denselben dressiert werden können
[Frisch (2), Manning (3) und Stetter (4)]. Man machte besonders das
Seitenlinienorgan verantwortlich für die Aufnahme von Vibrationsreizen;
aber Manning konnte zeigen, daß Entfernung einzelner Teile des Labyrinths
zum Ausfall der Reaktion auf gewisse Tonbereiche führte. Es besteht also
offensichtlich auch bei Fischen, denen ja noch die Cochlea fehlt, ein Zu-
sammenhang zwischen Schallreaktion und Labyrinth.
Drucksinn und Vibrationssinn aber sind periphere Hautsinne und ihr
Sinnesorgan ist die Haut selbst mit ihren nervösen Endorganen und sen-
siblen Nerven. Unter diesen spielen auch die Druckpunkte bei der Aufnahme
von Druck und Vibration eine besondere Rolle. Es spielt aber bei der Vibra-
tionsempfindung nach der Ansicht mancher Forscher auch die Tiefensensi-
bilität eine Rolle. Die Knochen und die unter der Haut liegenden Hohlräume
sprechen als Resonatoren sowohl auf Schall- wie auf Vihrationsreize an. Die
Vibration — besonders wenn sie kontinuierlich durch einen festen Körper
5*
68 Auguste Jellinek.
zugeleitet wird — ergreift also in buchstäblichem Sinne den ganzen Körper.
Wir sind deshalb der Meinung, daß der Vibrationssinn auch überall dort
eine Rolle spielt, wo ein wohlentwickeltes Gehör besteht, und daß die durch
diesen zugeleiteten Sinnesempfindungen mit den Hörempfindungen im eigent-
lichen Sinne zu einer Einheit verschmelzen und dem Gesamterlebnis des
Schalles eine besondere Färbung verleihen.
Es ist besonders Katz (4) und seine Schule, die unsere Kenntnisse über
den Vibrationssinne erweitert und gezeigt haben, daß sich dieser Hautsinn von
dem Drucksinn unterscheidet und phänomenologisch innige Beziehungen zum
Gehörsinn hat. Der Vibrationssinn ist wie der Gehörsinn ein Fernsinn, und
Vibrationen werden ähnlich dem Schall über weite Strecken hingeleitet. Es
kommen auch dieselben leitenden Medien in Betracht wie für den Schall;
nämlich Luft, Flüssigkeiten und feste Körper. Dieser feste Körper ist in der
Regel der Erdboden, auf dem wir stehen. Die festen Körper sind viel bessere
Leiter als die Luft. Und tatsächlich sind die Füße — auch die bekleideten
Füße — ganz besonders vibrationsempfindlich. Nun ist es wichtig, bei einem
in der Ferne verlaufenden Ereignis nicht bloß den Charakter desselben, son-
dern auch die Richtung, in welcher es vor sich geht, wahrnehmen zu können.
Und tatsächlich haben wir auch die Fähigkeit, Vibrationen zu lokalisieren, die
durch Übung gesteigert werden kann. Auch taub geborene oder später ertaubte
Menschen haben die Fähigkeit, die Quelle eines Vibrationsreizes zu lokali-
sieren. Allerdings kommen da bei gröberen Reizen vielfach nicht Vibrationen,
sondern gröbere Erschütterungen, welche direkt auf den Drucksinn wirken,
in Betracht, wie z. B. beim Zuschlagen einer Türe. Auf der Straße sind z. B.
manche völlig taube Personen fähig, sich nähernde Fuhrwerke wahr-
zunehmen, ohne sie zu sehen. Sie sehen sich dann in einer Weise um,
oder weichen dermaßen aus, daB man daraus ersieht, daß der Vibrationssinn
zur Lokalisation dieser Phänomene in gewissen Grenzen ausreicht.
Die Vibrationsempfindlichkeit ist an verschiedenen Küörperstellen ver-
schieden. Besonders groß ist sie an den Fingerspitzen, noch größer an den
Fußsohlen. An Stellen, an denen die Haut straff gespannt über dem Knochen
verläuft, ist sie größer, als an solchen, an denen die Haut schlaff und faltig
ist. Der Spannungszustand der Haut überträgt wahrscheinlich die Schwingun-
gen besser auf den darunterliegenden Knochen, der -- wie wir gesehen
haben -— an der Vibrationsempfindung besonders beteiligt ist. Dabei ist es
möglich, daß der Knochen selbst nur als Resonator und Leiter wirkt, und die
Vibrationsempfindung selbst durch das Periost vermittelt wird. Diese Tatsache
hat für die Analyse des hörenden Menschen ein gewisses Interesse, denn der
Tonus der Muskulatur und damit der Spannungszustand der Haut hängt innig
mit den akustischen Reizen zusammen, die wir auffangen, da ja doch das
Labyrinth (wir wollen hier als Labyrinth das ganze Endorgan des Nervus
octavus, Cochlear- und Vestibularapparat, bezeichnen) in manchem seiner
Teile auch ein tonusregulierendes Organ ist. Wir sehen also, daß die akusti-
schen Reize — insofern sie einen höheren Spannungszustand der Muskulatur
und der sie bedeckenden Haut herbeiführen — zugleich den Organismus
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 69
vibrationsempfindlicher und damit durch andere Phonorezeptoren wiederum
geeigneter für die Schallaufnahme machen.
Übrigens ist das Ohr selbst offensichtlich auch noch beim Menschen
eine Prädilektionsstelle des Vibrationssinnes, dem es wahrscheinlich in seinen
phylogenetischen Uranlagen seine Entstehung zu verdanken hat. Doniselli (6)
schreibt dem Vestibularapparat eine besondere Art der Reizbarkeit durch
Schall zu, die er als eine Qualität des Tastsinnes bezeichnet und von der er
meint, daß sie bei der Schallokalisation eine Rolle spielt, ohne aber selbst
Gehörqualitäten zu vermitteln. Auch Spitzer (32) nimmt an, daß der Vesti-
bularapparat durch nicht akustische Schwingungen erregt werden kann.
Fröschels (7) zeigte, daB es bei Otosklerose zu einer Herabsetzung des
Vibrationsgefühles in den äußeren (rehörgängen komme. Er prüfte die Lokali-
sationsfähigkeit für vibratorische Reize an beiden Ohren bei normalen und
an Otosklerose leidenden Menschen und fand, daß Abnahme und schließlich
Verlust der Lokalisationsfähigkeit bei Otosklerose zu bemerken ist. Diese
hängt mit dem Abnehmen der Leitfähigkeit für Schwingungen zusammen, die
sich ja besonders in der verminderten Schalleitung und Wahrnehmung äußert.
Hier kommt also das Ohr selbst neben seiner Hörfunktion als Vibrations-
empfänger in Betracht, ohne daß wir jedoch darauf eingehen wollen, welcher
nervöse Apparat hier speziell die Vibrationsempfindungen aufnimmt.
Der vibratorische Umfang, der von normalen Menschen wahrgenommen
wird, beträgt an den Fingerspitzen zirka 50 bis 500 Schwingungen in der
Sekunde. Das würde dem Tonbereich von der großen bis zur zweiten kleinen
Oktave entsprechen. Die mechanischen Energien, die zur Erreichung der Reiz-
schwelle notwendig sind, liegen im mittleren Tonbereich ungefähr in der
gleichen Größenordnung wie für den Gehörsinn. Es werden schon Schwingun-
gen von !/ggo mm vibratorisch wahrgenommen. Bei Normalen hat man Unter-
scheidungen von Halbtönen bei rein vibratorischer Zuführung erreicht (Gutz-
mann), jedoch kann diese Fähigkeit noch gesteigert werden.
In der Welt der Taubstummen, besonders der Taubgeborenen, spielt der
Vibrationssinn sicher eine große Rolle, und zwar nicht, weil sie organisch
besser ausgestattet wären, sondern wegen der stärkeren Zuwendung zu diesem
Aspekt der Schallwelt, dem einzigen, der dem völlig Ertaubten zugänglich ist.
Es mag wohl so sein, daß hier die Not einen in allen Menschen vorhandenen,
aber für das klare Bewußtsein unterschwelligen oder doch minimalen Reiz
in den Bereich der Beachtung und schließlich der Handlung gehoben hat.
Denn wie das Hören nicht nur eine Funktion, sondern auch ein Akt ist, was
wir später noch genauer ausführen werden, so kann auch die Beachtung und
Verwertung der Vibrationsgestalten aktiv von einer Person begünstigt werden.
Jede Phonation ist immer von Vibrationsempfindungen begleitet, da der im
Körper selbst entstehende Ton sowohl durch seine starke Resonanz, als auch
durch die direkte Leitung durch die Körpergewebe einen maximalen Vibra-
tionsreiz ausübt, welcher nicht wie die übrigen von außen den Organismus
ergreift, sondern von innen her wirkend alle Organe durchströmt, während
gleichzeitig der Stimmklang nach Verlassen des Mundes auch von außen her
70 Auguste Jellinek.
wieder nicht nur akustisch, sondern auch vibratorisch wirksam wird. Keinen
anderen Schall erleben wir so intim wie die eigene Stimme. Und sicher ist
das einer der Gründe, warum gerade dieser Tonbereich auch akustisch in
Energiemengen wirksam wird, wie sie für höhere oder tiefere Tonlagen nicht
mehr genügen. Unsere heutige Organisation trägt diese Synästhesie von Ton-
empfindung, Vibrationsempfindung und kinästhetischen Erlebnissen sicherlich
als Erbgut eingeboren in sich. Beim Unterricht von Taubstummen bedient man
sich dieser Grundanlage, um die Stimme hervorzulocken, die ja durch keinerlei
Mittel dem Kinde zu erklären wäre: und auch hier sind Einrichtungen vor-
gebildet, die der Einordnung in die Schallwelt dienen sollen. Fehlt der physio-
logisch ınächtigste Reiz, nämlich der akustische, so ist es dann doch möglich,
von dem sonst zurücktretendem wenig bewußten Aspekt des Schalles aus.
nämlich vom vibratorischen, diesen Mechanismus auszulösen und in Funk-
tion zu setzen. Noch ist die lebendige Substanz auch in uns Menschen plastisch
genug, um auf so verschiedenartige Anregungen mit gleichartigen, wenn auch
nicht gleichwertigen Leistungen anzusprechen.
Von vielen Taubstummen ist es bekannt, daß sie gewisse Klänge wahr-
nehmen und auch lokalisieren; besonders genau wurde Helen Keller be
schrieben. Der interessanteste Fall dieser Art, welcher bis jetzt beschrieben
wurde, ist aber wohl der taube Musikfreund Suttermeister, dessen Musikgenuß
Katz und Revesz (9) genau analysiert haben. Suttermeister ertaubte im
Alter von 4 Jahren vollkommen und erst, als er über 50 Jahre alt war, be-
merkte er, daß er Musik wahrnahm und daß diese ihm Freude bereitete. Er
konnte einzelne Stücke voneinander unterscheiden und hatte Erlebnisse dabei.
die sicherlich ästhetischer Natur sind; es handelt sich dabei offensichtlich um
Wahrnehmung von Vibrationsgestalten höherer Art, die auch in ihrer zeit-
lichen Aufeinanderfolge rhythmische Erlebnisse produzieren können, so daß
es zu einer hohen Gestaltauffassung kommen kann, wie sie ja bei künstleri-
schem Erleben gefordert werden muß.
Diese neuen Erkenntnisse auf dem Gebiete des Vibhrationssinnes haben
dazu geführt, daß man in Deutschland [Lehmann (10)] und Amerika
[Gault (11]) den Versuch macht, taubstummen Kindern die Vibrationsgestalt
von lautgesprochenen (elektrisch verstärkten) Worten durch Telephone zuzu-
führen. Die Kinder tasten entweder die Membran derselben mit den Fingern
ab, oder sie legen die schwingende Membrane auf den Thorax und nehmen
von dort aus die Vibrationen wahr. Es sollen damit gute Resultate erzielt wer-
den. Insbesondere wird die sonst so monotone Sprachmelodie solcher Taub-
stummer belebt und verbessert.
Beim normalen Menschen besteht eine tiefe Wesensverwandtschaft
zwischen Vibrationssinn und Gehör. Naive Versuchspersonen gaben bei
Prüfung mit Vibratoren innerhalb des Frequenzbereiches von Tönen an, „sie
hörten” diesen Reiz. Auch wissen wir, daß die tiefsten Töne einer Orgelpfeife
uns in einer Weise affizieren, die wir nieht mehr als Schallerlebnis be
zeichnen können, und schließlich erlebt jeder von uns die Untermalung des
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 71
rein Musikalischen durch Vibrationserlebnisse beim Anhören der Orgel oder
eines großen Orchesters. Besonders erlebnisnah werden diese durch die starke
vasomotorische Wirkung der Vibrationsreize, die sich unmittelbar in der
Stimmung ausdrückt.
Bei Hörübungen an Schwerhörigen und Taubstummen [Urban-
tschitsch (12), Fröschels (13), Jellinek (14), Parell (15) u. a.] werden
sicherlich die Vibrationsempfindungen mitgeübt, besonders wenn man sehr
starke Reize verwendet und den Schall direkt durch einen Hörschlauch oder
einen elektrischen Hörapparat, so daß die Vibrationen durch Kontakt auf die
Haut übertragen werden, zuführt. Es ist schwer zu sagen, ob die ersten Fort-
schritte mehr auf Erweckung der normal vorhandenen Vibrationsempfindung
beruhen, welche durch die neuen maximalen Reize nun eben in das Aufmerk-
samkeitsfeld gerückt werden, oder ob es die neuen ungewohnten Hör-
empfindungen allein sind; neu, weil sie auch wiederum eben nur bei so
maximalen Reizen auftreten. Manche Reaktionen von Taubstummen scheinen
mir aber nur durch erhöhte Zuwendung zu den Vibrationsreizen erklärbar;
so z. B., wenn ein Patient auf Geräusche und Stimmen über eine Entfernung
reagiert, ja, angibt, sie zu hören, die weit größer ist, als der Hörbereich, den
man mit laut tönenden Pfeifen für ihn feststellen konnte. Die erst seit kurzem
bekannten Schallwahrnehmungen werden hier nicht auseinandergehalten; sie
bilden sich in der Psyche einheitlich ab. Phänomenologisch aber sehen wir
nur, daß eine Einordnung in die Schallwelt beginnt, daß der Schall anfängt,
seine biologischen Wirkungen auszuüben, denen sich kein Wesen entziehen
kann, wenn eben eine Relation wieder hergestellt ist, die im normalen Wesen
von vornherein besteht.
Im Tierreich haben wir ja die Rolle des Vibrationssinnes für niedere
Tiere schon betont. Die neuere Experimentalforschung zeigte uns aber, daß
auch bei Vögeln und Säugetieren noch andere Phonorezeptoren vorhanden sein
müssen als die Hörzellen des Cortischen Organs, und bei den meisten der-
artigen Beobachtungen neigte man dazu, zur Erklärung solcher Schallreak-
tionen eben den Vibrationssinn heranzuziehen.
Es ist dies aber nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit. Schon
Ewald (16) konnte zeigen, daB Tauben nach völliger Entfernung beider
Labyrinthe noch immer auf Schall reagieren, und ich habe diese Versuche im
Institut von Prof. Kreidl wiederholt (17) und konnte sie vollauf bestätigen.
Solche Vögel reagieren in Hypnoselage auf denselben Tonbereich wie normale
und sogar in noch verstärktem Maße. Interessant ist dabei, daß es eine obere
und untere Tongrenze für diese Reaktion gibt, so daß sie — selbst bei einem
Ton, der sich um nicht mehr als einen Ganzton von jenem unterscheidet, bei
dem noch zuletzt eine Reaktion auftrat — nicht mehr reagieren. Ein solches
Verhalten spricht nach den Erfahrungen am Menschen doch für akustische
Reize. Immerhin hat Ewald auf Grund solcher Versuche die Hypothese auf-
gestellt, daß es der Stamm des Nervus octavus selbst sei, der bei diesen
Tieren als schallaufnehmendes Organ fungiert. Sicherlich spielt bei den Vögeln,
12 Auguste Jellinek.
deren lange Federn als Hebel wirken, die Luftbewegung — vergrößert auf die
Druckpunkte übertragen —, Drucksinn und Vibrationssinn, eine sehr große
Rolle. Ich habe jedoch auch bei einer Taube, bei der alle Federn gerupft
worden waren und die Haut mit einer dicken Vaselinschicht bedeckt wurde,
ganz die gleichen Reaktionen gefunden, wie bei den anderen Tieren.
Bei Hunden hat Kalischer (18) gezeigt, daß sie noch nach Entfernung
beider Schnecken auf die Unterscheidung von Tönen dressierbar sind, bzw.
daß eine vorher erlernte Dressur auch noch nach der Operation anhält. Ähn-
liche Beobachtungen über erhalten gebliebene Reaktionen auf Schall berichtet
Ewald von Hunden.
Ohne uns hier auf eine theoretische Entscheidung festzulegen, welche
Organe nun eigentlich als schallwahrnehmende funktionieren, müssen wir doch
das eine sagen: Es bestehen hier derartige Sicherungen der Schallwahrneh-
mung, daß selbst die Entfernung des Hauptsinnesorganes die Reaktionen nicht
aufhebt. Andere Organe springen ohne Übung sofort vikariierend ein, was
doch die Annahme nahelegt, daß sie schon früher auch in dieser Art beteiligt
gewesen sind. Die Einordnung in die Schallwelt ist bei diesen Tieren eine so
gründlich gesicherte, daß z. B. bei Tauben gar kein Ausfall festgestellt werden
kann, und nochmals wollen wir hier betonen, daß es gerade nur jener Bereich
ist, in welchem auch früher Schall wirksam war; früher waren wir ja sicher
der Ansicht, daß er gehört wurde.
Haben wir uns bis hieher mit den Möglichkeiten und mit den organischen
Grundlagen der Schallaufnahme befaßt, so müssen wir — wenn wir von der
Beantwortung der Schallreize sprechen — doch immer auch die Bedingungen
mitberücksichtigen, unter denen sich der Organismus während der Reizung
befindet. Für diese weiteren Erörterungen wollen wir uns rein auf die Be
trachtung des Gehörsinns beschränken, da sonst noch gar keine Beobachtun-
gen vorliegen.
Man kann also unseres Erachtens nicht von Hörwahrnehmungen, ja nicht
einmal von Hörempfindungen schlechthin, sondern je immer nur von Hör-
wahrnehmung oder Hörempfindung unter bestimmten Bedingungen des Orga-
nismus sprechen; und analog sehen wir bei Tieren, von deren Empfindungen
und Wahrnehmungen wir nichts wissen können, daß ihre Reaktionen auf
Schall je nach der Gesamtsituation in verschiedener Weise ablaufen. Weit-
säcker (19) hat mit Nachdruck in seinen sinnesphysiologischen Betrachtun-
gen auf eben den Umstand hingewiesen, daß man es ja niemals mit einem
isolierten Organ zu tun habe, sondern immer mit einem Organ in einem vom
Gesamtzustand des Organismus abhängigen oder — wie wir auch sagen
können — bedingten Zustand.
V. Kries (20) nannte diese, das Sinneserlebnis begleitenden und beein-
flussenden Erscheinungen „akzessorische“. Sie sind aber unseres Erachtens
mehr: Sie sind konstituierende Bestandteile des Gesamterlebnisses, das ja in
einem ganzen lebendigen Organismus immer eine allgemeine Synästhesie sein
muß.
Die von Goldstein (21) eingeführte biologische Betrachtungsart, in der
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 73
jedes Einzelsymptom seinen Platz im gesamten Lebensstil des Menschen hat
— eine Betrachtungsart, die hier in Wien besonders von Allers vertreten
wird —, muß uns dazu führen, bei einer genauen Analyse des Schallerleb-
nisses je immer auch seine mitbedingenden Begleitumstände in Betracht zu
ziehen. Diese Anschauung müssen wir meiner Meinung nach — soweit wir
biologisch vorgehen — auch auf das Verhalten der Tiere ausdehnen. Und ich
subsumiere hier unter dem Begriff des Biologischen auch die Inhalte der
Sinnespsychologie.
Im besonderen bedeutet das, daß derselbe objektive Reiz — sagen wir
z. B. ein Ton von konstanter Tonhöhe — je nach dem Zustande des Organis-
mus nach seiner Quantität und Qualität in verschiedener Weise erlebt werden
kann.
Konkret gesprochen bedeutet das, daß die Körperlage, die Stellung des
Kopfes, Bewegung oder Ruhe, Veränderungen der Zirkulation, gleichzeitige
Einwirkung anderer Sinnesreize — wie z. B. weiße oder farbige Lichter —,
Veränderungen der tonischen Haltung des Körpers, besondere Zustände
— wie Schlaf oder Narkose —, und wahrscheinlich auch noch viele andere
das Schallerlebnis bei gleichem objektivem Reiz verändern können. Solche
Veränderungen lassen sich schwer aufzeigen, eben wegen der innigen syn-
ästhetischen Verknüpfung alles Erlebens in der Person. Es mündet eben jedes
einzelne Sinneserlebnis — wie der Hamburger Psychologe Werner (32)
sagt — in eine Gesamtempfindung, in das Sensorium commune. Heraus-
gehoben kann einzelnes aus dieser Synästhesie werden, wenn die natürliche
Harmonie des Organismus gestört wird, sei dies nun durch pathologische Vor-
gänge, oder durch Eingriffe, wie es die Narkose ist, in der gewisse Lebens-
funktionen durch einen äußeren Eindruck ausgeschaltet werden, oder schließ-
lich durch überstarke Reize, welche normalerweise niemals vorkommen und
durch ihre übermäßige Heftigkeit wiederum das psychophysische Gleich-
gewicht stören. In solchen Fällen kann es dahin kommen, daß man die
Wirkung der genannten Faktoren auf das Schallerlebnis feststellen kann, daß
sie in Erscheinung tritt.
Wir haben zu Beginn unserer Ausführungen davon gesprochen, daß die
Organismen sowohl passiv eingeordnet werden, wie auch aktiv sich in die
Schallwelt einordnen. Die innige Verknüpfung, die jedes Hörerlebnis mit der
Körpermotorik hat, zeigt besonders deutlich dieses passive Eingestelltwerden
des Organismus auf den Schall. Der Schall führt im Körper zu mannigfachen
Bewegungsreflexen, die auch wieder großenteils so equilibriert sind, daß wir sie
normalerweise gar nicht bemerken.
Tullio (22) hat durch maximale Reize motorische Schallreflexe, ins-
besondere motorische Stellreflexe bei Tieren und Menschen nachgewiesen.
Nystagmusförmige Schallreflexe der Augen und des Kopfes hat Fröschels (23)
bei Taubstummen oder seit langer Zeit Schwerhörigen bei direkter Tonzu-
führung gezeigt. Bei solchen Taubstuinmen und Schwerhörigen!; fand ich
1) Die von mir beobachteten Patienten wurden im Ambulatorium für Sprach-
74 i Auguste Jellinek.
auch neben diesen Augen- und Kopfreflexen Reflexe des Körpers und
der Extremitäten bei direkter Tonzuführung. Die Form dieser Reflexe,
der Verlauf derselben variiert je nach der Höhe des zugeführten Tones.
Der Schall führt den Körper zu einem Bewegungsablauf, der zu seiner
spezifischen Qualität — nämlich zu seiner Höhe und Intensität — in Be-
ziehung steht. Nicht nur eine Wahrnehmung erzeugt der Ton in uns, sondern
auch ein spezifisches Bewegungserlebnis. Denn, wenn auch diese Bewegungen
beim normalen Menschen minimal sind — bei Kindern sind sie übrigens noch
deutlicher, und bei Tieren sind ja typische motorische Schallreflexe leicht zu
beobachten —, so ist doch zumindest die Intention der Bewegung, welche —
wie Allers und Scheminzky (24) gezeigt haben — schon mit Aktionsströmen
in den beteiligten Muskeln einhergeht, vorhanden. Diese Bewegungsintentionen
werden sicherlich erlebt, wenn sie auch nicht klar zum Bewußtsein kommen,
und ich glaube, daß sie immer dem Schallerlebnis eine bestimmte Färbung
erteilen, ja, daß jedes Schallerlebnis besonders durch solche kinästhetische
Zeichen mitcharakterisiert ist. Es mag dabei sogar die Klangfarbe eine be-
sondere Rolle spielen, denn bei Musik, die rhythmisch sehr wirksam sein soll.
wie Tanz- oder Marschmusik, spielen gerade die Blasinstrumente neben den
Schlaginstrumenten, die die stärkste rhythmische Betonung geben, eine be-
deutende Rolle.
‘Auch die Bezeichnung der Klangfarben der Instrumente als hart oder
weich, samtig, schneidend, mag vielleicht auf direkter tonischer Beeinflussung
des Körpers durch die spezifische Klanggestalt dieser Instrumente beruhen.
Die Sprache, die von einem Klanggebilde sagt: „es strafft den Körper“, von
einem anderen aber: „die Musik löst die Glieder‘, beschreibt damit sehr an-
schaulich das Eingehen tonischer Erlebnisse in das Reich des Akustischen.
Schon hier sehen wir, daß der hörende Mensch — insofern er in seiner
Motilität und in seinem tonischen Gesamtzustand beeinflußt ist — den Schall
anders erlebt; und tatsächlich ist die Erscheinung bekannt, daß man sich im
Laufe des Zuhörens — in diesem Wort deutet die Volkspsychologie die im
Hören liegende Handlung an! — immer besser auf das Hören einstellt, daß
nach und nach beim Hörer Reize in den Bereich der Wahrnehmung treten, die
anfänglich nicht beachtet wurden. Der Schall selbst hat den Organismus zum
Hören eingestellt.
Da nun Bewegung und Hören so innig verknüpft sind, war es zu
erwarten. daß Veränderungen der Bewegung auch die Schallwahrnehmung
beeinflussen werden. Derartiges wird von sehr schnellfahrenden Leuten auch
berichtet, doch fehlen vorläufig darüber experimentelle Daten und Beob-
achtungen. Jedoch konnte ich (30) den Einfluß von Lageveränderungen auf
die Schallwahrnehmung bei einem Menschen nachweisen, dessen harmonische
und Stiimmstörungen (Leiter Prof. Fröschels: der Universilätsklinik für Ohren-,
Nasen- und Kehlkopfkranke, Vorstand Prof. H. Neumann, behandelt und untersucht.
Die Fälle wurden für diese Publikation zar Verfügung gestellt, wofür hiemit bestens
gedankt sei.
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 75
Einordnung in die Schallwelt sehr empfindlich gestört war, nämlich an einen
Otosklerotiker. Diese Störung in der Harmonie prägte sich bei ihm auch in
einer Diplakusis aus. Der Patient, der sehr musikalisch war, konnte die von
ihm wahrgenommenen Töne nachsingen und dabei ergab sich, daß der gleiche
Ton auf beiden Ohren verschieden wahrgenommen wurde. Da er viele Töne
richtig nachsang, wurde angenommen, daß auch die anderen Töne seiner
Wahrnehmung entsprachen. Bei diesem Manne zeigte sich nun folgendes
Phänomen: Ein und derselbe Ton, der auf elektrischem Weg entweder dem
rechten oder dem linken Ohr zugeführt wurde, wurde von ihm, je nachdem,
ob er aufrecht saß oder um 90° nach rechts, nach links oder nach vorne ge-
neigt war, verschieden hoch gehört und verschieden hoch nachgesungen. Er
gab auch selbst spontan an, daß er verschiedene Töne hörte. Allerdings
glaubte er, daß auch verschiedene ihm zugeführt wurden.
In diesem Falle tritt die Veränderung der Schallwahrnehmung durch die
veränderte Lage besonders deutlich hervor. In geringerem Maße findet ınan
bei manchem Taubstummen mit geringem Vokalgehör, daß sie bei verschiede-
nen Stellungen des Kopfes — aufrecht, mit seitlich geneigtem oder gesenktem
Kopf — verschieden gut hören. Ähnliches führt auch Urbantschitsch (25)
an. Schließlich dürfen wir daran erinnern, daß man ja auch beim Lauschen
den Kopf neigt. Es ist durchaus möglich, daß dabei die Hörschärfe nicht bloß
durch die veränderte Stellung der Ohrmuschel, sondern durch die veränderte
Lage des Labyrinths selbst gesteigert wird. Schließlich ist ja das Labyrinth,
immer ist damit hier Cochlear- und Vestibularapparat gemeint, in einem seiner
Anteile ein lage- und bewegungsempfindendes Organ, und auch heute ist die
Frage nicht entschieden, ob nicht auch der Vestibularapparat selbst an der
Hörfunktion mitbeteiligt ist. Wenn aber ein Organ gleichzeitig auf den Schall-
reiz und den Lagereiz anspricht, so ist es leicht verständlich, daß diese beiden
Reize auch tatsächlich zusammen die Funktion des Organs bestimmen, also
gewissermaßen einander gegenseitig beeinflussen.
Wir haben erwähnt, daß Analoges im Tierreich zu beobachten ist. An
Tieren sehen wir ja immer nur die Reaktion. So sehen wir bei Vögeln in
tierischer Hypnose veränderte Schallreaktionen je nach der Lage, in der sie
hypnotisiert wurden (29). Wahrscheinlich beruhen diese Reaktionen (darauf,
daß verschiedene Körperlage verschieden starke Reizbarkeit des Tieres für
alle Sinnesreize mit sich bringt. Die Ausgangslage ist dann mit der ver-
änderten Reizempfindlichkeit innig verknüpft. Die Schallreaktion -— nämlich
der motorische Reflex, welcher in Kopfbewegungen und Zucken mit den Füßen
besteht -— ist in reiner Rückenlage des Tieres am schwächsten. Es ist sehr
schwer, das am Rücken liegende Tier aus der Hypnose zu wecken, d. h. es
zum Aufspringen zu bringen. Die Taube springt nämlich dann auf, wenn die
Kopf- und Halsreflexe sich als Stellreflexe auf den Rumpf fortpflanzen.
Dieses Resultat kann man mit schwächeren Schallreizen erreichen, wenn die
Taube in Rückenlage und der Kopf sich im Profil befindet. Noch größer ist
die Ansprechbarkeit für Schall, wenn der Vogel auf der Seite liegend hypnoti-
siert wird. Und am leichtesten veranlaßt man motorische Schallreflexe bei
76 Auguste Jellinek.
einer Taube, die man mit der Hand eine Zeitlang in normaler Lage fest auf
die Unterlage gedrückt hält. Auch diese erzwungene Normalstellung wirkt
schon als allerdings ganz leichte Hypnose. Die verschiedenen Reaktions-
bereiche für Schall in diesen verschiedenen Körperlagen kann man direkt in
der Minimalentfernung ablesen, welche eine konstante Schallquelle haben
muß, um überhaupt eine Reaktion auszulösen. Wir wollen hinzufügen, daß
bei einer ruhigen wachen Taube durch dieselben Reize überhaupt keine sicht-
liche Reaktion erzielt wird. In diesem Ausnahmszustand aber, in dem auch
der Tonus des Tieres verändert ist, wirkt sich der Schallreflex voll aus.
Ähnliches tritt in leichter Narkose auf (Abb. 1). Interessant ist hier, daß die
biologische Wertigkeit des Schalles dabei eine entscheidende Rolle spielt.
Tauben sind wehrlose Vögel, die sich ..bei einem Angriff auf ihre Geschwindig-
keit verlassen müssen, für die das Gehör als Warnung bei drohender Gefahr
eine große Rolle spielt. So sind auch gerade diese Reize biologisch bedeut-
sam und können nicht unbeachtet gelassen werden. Das wache ruhige Tier
kann den Reiz mit einer Handlung beantworten, wenn uns diese auch nicht
immer verständlich ist, so daß wir oft nichts davon bemerken. Die hypnoti-
sierte Taube aber kann nicht handeln; und so setzt sich der durch den Schall
gegebene Affekt jetzt zwangsläufig in den Bewegungsreflex um. Tauben sind
optisch besonders hochwertige Geschöpfe; dennoch wirkt Licht — selbst das
Licht einer Bogenlampe — nicht als Weckreiz, ebensowenig auch der Anblick
eines bewegten Objektes.
Bei einem Habicht, an dem ich ebenfalls Hypnoseversuche ausgeführt
habe, fand sich das entgegengesetzte Verhalten. Dieser Raubvogel, dem der
Schall weniger drohende Gefahr, als vielmehr Beute anzeigt, kann durch die
gleichen Töne nicht aus der Hypnose geweckt werden. Die Töne, die er sicher
sehr gut hört, haben für ihn eine andere biologische Wertigkeit und erzwingen
nicht eine Reflexbewegung. Hingegen wird er durch optische Reize, besonders
durch den Anblick bewegter Objekte, sofort zum Aufspringen veranlaßt. Wenn
wir an das Herabstoßen des scharfsichtigen Raubvogels von weitem auf die
laufende oder fliegende Beute denken, so wird uns diese innige reflektorische
Verflechtung zwischen optischem Reiz und Bewegung biologisch verständlich.
Wir kennen nicht nur motorische, sondern auch vasomotorische Schall-
reflexe, Beeinflussung der Zirkulation und des Blutdruckes durch Schall. Diese
Wirkung ist ganz allgemein. Spiegel (33) wies Verbindungen des Acusticus
mit den blutdruckregulierenden Zentren nach und zeigte weitgehende Beein-
flussungen des Blutdruckes auf diesem Wege. Sie wurde bei Tieren und
Menschen festgestellt [Dogiel (26)]. Schon bei Neugeborenen findet man der-
artige Vorgänge. Diese Einwirkung kann so weit gehen, daß man sogar bei
manchen Menschen Rhythmisierung des Pulses nach der Musik konstatieren
konnte. Diese vasomotorischen Vorgänge haben einen starken Stimmungs-
gehalt und verändern schon dadurch die psychische Lage der Person. Auf den
Vihrationssinn zurückgreifend, wollen wir hier nachtragen, daß es gerade die
vibratorische Seite des Schalles ist, die diese starke vasomotorische und
emotionale Resonanz weckt. Aus Forschungen von Demetriades (27) hat
77
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt.
*uəpərqəsJəa UAYQYUOL UƏUƏpƏIYƏSIƏA 1q purs pun me ajlaJduueumspyg uəgo13 səp UaUOL pw Jyrəzyorəj3 uajaa) HAınyworIy
Jop uodunsspugIoy Əd '(uvyyqns ueggarn) 3, ‘3y ?/,g 9278y 1p Iydıman) osoyaeuurgyaaf] 194919) Ur əzyey Juw əamyuə)y "I "dqV
18 Auguste Jellinek.
sich nun ergeben, daß veränderte Blutfülle des Kopfes auch die Kopfresonanz
und damit die Knopfknochenleitung verändert. So hätten wir also ein physi-
kalisches Moment, durch welches die veränderte Zirkulation die Schallwahr-
nehmung beeinflussen kann. Aus dem eigenen Erlebnis, insbesondere vom
Gesange her, kenne ich genau eine Veränderung der akustischen Qualität der
eigenen Stimme bei veränderter vasomotorischer Situation. Dasselbe konnte
ich beobachten, als ich beim „autogenen Training“ nach Schultz plötzlich
bemerkte, daB im Zustande der „Versenkung‘‘ — das ist ein Zustand mög-
lichster allgemeiner Entspannung — bei Blutandrang zum Kopf auf einmal
alles, was gehört wird, nicht nur die eigene Stimme, eine Verdumpfung und
Verdunkelung erfährt, ohne daß sich aber die Tonhöhe zu ändern scheint.
Allerdings spielt hiebei der veränderte Körpertonus ebenfalls eine Rolle.
Vasomotorischer Schwindel und Ohrensausen sind bekannt. Die Wirkung der
Hyperämie auf die Schallwahrnehmung muß jedoch noch näher erforscht
werden.
Schließlich sei noch auf die Beeinflussung des Hörens durch weiße
und farbige Lichter hingewiesen. Urbantschitsch (28) beschrieb Ver-
stärkung der Hörschärfe durch Belichtung sowie Beeinflussung der Hörschärfe
durch verschiedene farbige Brillen. Der Einfluß der Farben auf die Wahr-
nehmung musikalischer Töne war bei verschiedenen Leuten verschieden, und
zwar wechselte sowohl die Intensität als auch die Tonhöhe der wahrgenomme-
nen Töne. Die Töne schienen bei verschielenen Farben höher oder tiefer zu
werden, sowie auch lauter und leiser.
Beobachtungen über Veränderungen des (tesamttonus infolge von Schall-
reizen und über reziproke Beeinflussung des Hörens durch diese sind mir
nicht bekannt, wenn wir nicht etwa das bei den Schulzschen Entspannungs-
übungen auftretende Phänomen hier einordnen wollen.
Wir haben nun den Schall in seinen primitiven Wirkungen und die
zwangsläufigen Reaktionen des Organismus auf Schall betrachtet. Wir haben
die passive Einordnung in die Schallwelt in Umrissen dargestellt, und den-
noch haben wir schon auf dieser Ebene gefunden, daß die psychologische
oder — wie wir es meinen — die biologische Situation selbst diese primi-
tiven, vielfach reflektorischen Vorgänge regiert. Die Wirkung des Schalles
hängt weitgehend von seiner Bedeutung für das hörende (reschöpf ab. Dieses
muß immer als Person betrachtet werden, in eine Umwelt gestellt, in der es
nicht nur erleidet, sondern auch handelt. Und auch das Tier handelt seiner
Situation gemäß. Da sehen wir nun den Willensfaktor eintreten, der die ak-
tive Einordnung ins Hören bestimmt, und der auch einer affektiven Kompo-
nente — die positiv oder negativ sein kann — nicht entbehrt. Die Organismen
können sich dem Schall zuwenden oder sich von ihm abwenden. Allerdings
ist diese Zuwendung nicht soweit willkürlich, wie z. B. beim Gesichtssinn.
Denn man kann den Kopf von einem Anblick so wegwenden, daß man dort
nicht mehr hinsehen kann; man kann die Augen schließen; man kann sogar
einen durch die geschlossenen Lider dringenden Lichtschein durch die vor-
gehaltene Hand abwehren. Das Gehör kann man, da es ja ein Warnungssinn ist,
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 79
absichtlich niemals ganz ausschalten. Bei einer gewissen Intensität durchbricht
es die Hemmung, die durch die Abwendung — mag diese sogar bis zum Schlaf
gesteigert sein — geschaffen wird. Die Abwendung vom Hören kann aber in
besonderen pathologischen Fällen soweit gesteigert sein, daß bei intakten
Organen dennoch kein Schallerlebnis erfolgt. Loewenstein (29) hat gezeigt,
daß hysterisch Taube Bewegungsreaktionen auf Schall zeigten, daß dieser
sich also in ihnen reflektorisch wirksam erwies, ohne daß die Leute doch
etwas davon wahrgenommen hätten. Bei hörstummen Kindern sieht man
manchmal ebenfalls eine weitgehende Nichtbeachtung der Schallwelt, eine
mangelnde Zuwendung auf diese. Wird die Zuwendung durch irgend einen
Schallreiz aber erzwungen, dann ergibt sich bald auch ein Interesse für die
anderen Schallphänomene, so daß schließlich normale Zuwendung er-
reicht wird. Am imposantesten sah ich dieses Bewußtwerden der Zuwendung
an einem hörstummen Kinde, das, als ich es dazu brachte, auf meine Stimme
und Sprache aufzumerken, sich oft die Hände vor die Ohren hielt und da-
mit quasi andeutete, es wolle mit dieser Schallwelt, die man ihm da auf-
drängte, nichts zu tun haben. Dieses selbe Kind begann kurz nachher richtig
nachzusingen, wobei es jedoch noch völlig stumm war. Es scheint mir das ein
Beispiel für die Wirkung einer solchen Zuwendung zum Schall zu sein.
Bei Taubstummen findet man häufig ebenfalls ein überraschendes Ver-
halten. Es gibt solche, die so wenig schwerhörig sind, daß sie die Töne der
Pfeifen der Urbantschitsch-Harmonika auf acht und mehr Meter hören und
auch Sprache mehrere Meter weit hören und sogar wiederholen können. Den-
noch verwerten solche Taubstumme — ich habe nur solche Kinder und
Jugendliche gesehen — die Schalleindrücke in keiner Weise und verstehen
auch vom Ohr aus nicht, was man zu ihnen spricht, obwohl sie vollkommen
sprechen und auch Sprache ablesen. Der Schall hat für sie keinerlei Be-
deutung. Er hat für sie weder biologischen noch sozialen Wert, und so stehen
sie ihm völlig gleichgültig gegenüber. Das äußerst sich sogar in ihrem reflek-
torischen Verhalten gegenüber Schall. Und zwar in folgender Weise: Führt
man einem normalhörenden Kind oder wenig schwerhörenden Menschen
starke Töne direkt in den Gehörgang zu, so ist das für ihn ein übermäßiger
Reiz, der mit Schmerz und Abwehrbewegungen beantwortet wird. Unter diesen
Guthörenden, aber in der Taubstummenanstalt aufgezogenen Kindern, die sich
bloß dem Optisch-taktilen zugewendet hatten, gab es mehrere, die keine Ab-
wehr gegen diese Reize zeigten, sowie auch nur lächelten, wenn ihnen ein
lauter Ton ins Ohr geblasen wurde. Auf Befragen gaben sie an, der Tun wäre
nicht unangenehm. Der ungewohnte und bedeutungslose Reiz wurde hier,
weil keine Zuwendung bestand, gar nicht als Schmerz empfunden.
Betrachten wir nun, wie sich die Handlungen der Tiere zum Schall
verhalten: Ihr biologisches Verhalten in ihrer angemessenen Umwelt ist sinn-
voll und auch für sie hat der Schall sowohl Kundgabe- als auch Zeichen-
funktion. Mag es Warnungs- oder Lockruf sein, Prasseln der Steine oder
Knicken eines Astes, ein Schuß oder was sonst im Leben des Tieres eine Rolle
spielen mag; es hat seine Bedeutung in den Beziehungen des (ieschöpfes zu
80 Auguste Jellinek.
seiner Umwelt, es hat auch für die Tiere der Schall eine gnostische Bedeu-
tung. Bringen wir es aber in eine unbiologische Umgebung, dann müssen wir
den artifiziellen ungewohnten Schallquellen, die wir verwenden, erst wieder
eine Bedeutung vermitteln,
Der neue, fremde, noch bedeutungslose Schall muß biologischen Wert
bekommen — nur dann löst er eine Handlung des Tieres aus. Wir müssen
ihn sinnvoll machen, damit das Tier eine Handlung, etwas Sinnvolles, damit
verknüpft. Das ist das Prinzip der Dressur: Ein Dressurton gilt als Indikator
für Fütterung oder Strafe. So leicht sich aber an den Schall bedingte Reflexe
knüpfen, da ja — wie wir gesehen haben — reichlich Reflexverbindungen vor-
gebildet sind, so schwer ist es, akustische Dressuren auszuführen. Sie sind.
mit den optischen verglichen, zumindest ungleich schwerer zu erreichen. Es
liegt dies eben an den vielen nicht bewußten Reflexwirkungen, die einer be-
wußten Handlung geradezu im Wege stehen. Auch in der Art der Dressur
selbst zeigt sich, daß Handlungen bloß mit dem eigenen Körper — nach dem
Futter zu greifen, oder dieses unbeachtet zu lassen — bedeutend schneller
erlernt werden, als nicht direkt zielgerichtete Handlungen auf das Tonsignal
hin, denen die Fütterung erst nachfolgt, wie z. B. das Aufsuchen eines be-
stimmten Platzes, das Zurücklegen eines Weges als Dressurleistung. Die
innige Verknüpfung des Akustischen mit dem Motorischen spielt da sicher
eine Rolle.
Der Bedeutungsfaktor des Schalles spielt beim Menschen eine so un-
geheure Rolle, daß das Eintreten desselben — natürlich besonders der Verlust
desselben — (das gesamte Verhalten des Menschen verändern kann. Ein Bei-
spiel dafür sei ein 16jähriger Knabe, der im Taubstummeninstitut aufgezogen
wurde. Sein Hörvermögen für Pfeifentöne (mindestens 6m) gab die Indikation
für Hörübungen. Zu deren Beginn sprach er Silben nicht einmal ad concham
nach. Schon nach sechs Wochen aber verstand er Sprache — soweit sein
Ideenkreis verwendet wurde — auf einen Meter Distanz. Das war um so über-
raschender, als er vieles akustisch verstand, was man ihn gar nicht gelehrt
hatte. Hier lag die Erklärung nahe, daß durch die neuerlich erreichte Zuwen-
dung alles akustische Material, das er früher, ohne es zu bemerken, ge-
sammelt hatte, ins Bewußtsein gehoben und verwertbar gemacht worden sei:
vielleicht ist hier Pötzls (34) Theorie der Aktivatoren zu Hilfe zu nehmen.
Wie sehr Störungen der akustischen Bedeutungsfunktion, also der
akustisch-gnostischen Funktion, die Einordnung in die Schallwelt stören
können, ja in extremen Fällen sie sogar vernichten können, zeigt das Ver-
halten der Seelentauben, rezeptiv Aphasischen und Amusischen. Hier sei
nur angedeutet, daß solche agnostische Störungen sich im Bereiche des Ge
räuscherfassens, der Sprache und Musik abspielen können, und daß die
Orientierung derartig affızierter Kranker in der Welt dadurch ungeheuer er-
schwert ist. Gerade das Verhalten solcher mangelhaft oder falsch informierter
Kranker zeigt uns aber auch, wie sehr die Handlungen der Person von den
Signalen, die sie aus der Schallwelt erhält. beeinflußt und geregelt werden.
Die funktionelle Einordnung der Organismen in die Schallwelt. 8
Auch die expressive Seite — Sprache und Handlung — ist oft durch solche
akustische Relationsstörungen sekundär schwer geschädigt.
Wir sehen also, daß der funktionelle Anteil am Hören sehr groß ist, daß
Hören zugleich Leistung und Handlung ist, daß vermehrte Zuwendung im
Endeffekt geringere Perzeptionsfähigkeit aufwiegen und korrigieren kann. Wir
sehen weiterhin, daß die Organismen durch kurzschlußartige Reflexmechanis-
men derart auf den Schall eingestellt sind, daß sie jeder Bemühung einer ver-
stärkten Zuwendung mit vorgebildeten Mechanismen auf halbem Weg ent-
gegenkommen. Wir sehen ferner, daß dort, wo die Bedeutungsfunktion fehlt,
die gnostische Tätigkeit neu erzeugt werden kann, wofern eine biologisch
sinnvolle Umwelt sich in Schall äußert. All das sind funktionelle Momente,
in denen das Wollen eine Rolle spielt, in denen es zu Energieverschiebungen,
zu Umlagerungen der Aktivatoren kommt.
Das also scheint mir der Gewinn dieser biologischen Anschauung zu
sein, daß sie uns dazu anregt, jenen zu helfen, denen Einordnung in die
Schallwelt erschwert ist: Den Tauben, den Schwerhörigen, den akustisch
Agnostischen, den Aphasischen und Amusischen. Irgendwo in der Kette des
Apparates ist ihre Relation mit der Schallwelt gestört. Aber wir können ihnen
helfen, ihre Energie gerade auf den schwachen Punkt zu richten, durch ver-
mehrte oder neu erzeugte Zuwendung funktionell den organischen Defekt zu
korrigieren. Wir können sie neu lehren, verlorene Bedeutungen zu
begreifen — wir können sie neu einordnen und ihnen helfen, sich wieder
einzuordnen durch funktionelle Therapien — wenn die organischen ver-
sagen —, wie es Hörübungen und die logopädischen Aphasietherapien sind.
Denn das Lebendige hat mehr Möglichkeiten, als wir wissen, und bildet oder
ermächtigt neue Organe, wenn andere versagt haben. Geben wir dem Orga-
nismus nur die neuen Chancen — er wird sie zu nützen wissen.
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. Spitzer, Über die Funktion der Bogengänge des Ohrlabyrinthes. Monatsschr. f.
Ohrenheilk., 1925, Nr. 11.
. Spiegel, Der Einfluß des vegetativen Nervensystems (besonders der Vasomotoren |
auf die Funktion des Innenohrs. Handb. d. Neurol. d. Ohres, II. Bd., S. 557. Wien:
Urban & Schwarzenberg, 1928. — Experimentelle Analyse der vegetativen Reflex-
wirkungen d. Labyrinthes. Handb. d. Neurol. d. Ohres, HI. Bd., S. 631, 1926.
Pötzl, Temporale Aphasien. Monatsschr. f. Ohrenheilk., 1928.
Experimentelles Ergebnis zur Frage der dentalen Neuritis
des Trigeminus.
Von
B. Spitzer, Wien.
Mit 7 Abbildungen im Text.
Die Untersuchungen über die eitrigen Entzündungen des Nervensystems
haben zur Genüge erwiesen, daß das Virus seinen Weg längs der Nerven in
das Zentralnervensystem findet. Die Mehrzahl der Autoren — ich will hier
auf die Diskussion nicht näher eingehen und verzichte demgemäß auf die
Nennung von Namen — nimmt an, daß es sich dabei um ein lebendes Virus
handelt.
Da ich nun schon im Jahre 1912 Versuche!) gemacht habe, die Wege
festzustellen, unter welchen ein Gift — ich verwendete schon damals ein
5%oiges Mazerat von Abrus praecatorius (Jequirity) — aus dem Gehirnnerven
in das Zentralnervensystem gelangt, habe ich mich jetzt veranlaßt gefühlt,
diese Untersuchungen neuerdings aufzunehmen.
Die Gründe dafür sind erstens der Umstand, daß man von den Ergeb-
nissen dieser experimentellen Studie in neurologischen Fachkreisen fast keine
Notiz genommen hat, und zweitens, weil ich untersuchen wollte, ob die
gleichen Erscheinungen auch bei vollständig aseptischem Vorgehen eintreten.
Man hätte mir bei meinen ersten Untersuchungen vorwerfen können, daß
neben der toxischen eine infektiöse Wirkung auf die Pulpa erfolgt sei.
Ich habe nun in absolut einwandfreier Weise bei drei Hunden das
Pulpacavum des Caninus und 1. Molaren der einen Unterkieferhälfte ganz
aseptisch freigelegt und sodann in den Pulpakörper mittels einer feinen
Kanüle je 1⁄2 bis 34 cm? eines frischen, vor dem Eingriff nochmals auf-
gekochten 5%igen Jequiritymazerates injiziert und hernach die Zähne exaktest
verschlossen. Die Injektion wurde äußerst vorsichtig und langsam gemacht
und stieß auf keine anatomischen Schwierigkeiten. Es versteht sich von
selbst, daß die Tiere zu diesem Zweck narkotisiert wurden. Alle drei Ver-
suchstiere lebten bis zu dem von mir bestimmten Termin, ohne daß während
der Beobachtungszeit Zeichen einer Schmerzaffektion oder sonstige Ände-
rungen, die auf eine Infektion gewiesen hätten, wahrzunehmen waren. Sie
1) Experimentelle Studie zur Pathogenese der Trigeminusneuralgie. Arbeiten
aus dem Neurolog. Institut in Wien, Bd. XIX.
6*
84 B. Spitzer.
fraßen normal, waren lebhaft und zeigten keine Veränderungen im Bereich der
Läsionsstellen.
Die Hunde wurden in Intervallen von 8, 21 und 28 Tagen getötet. Der
Mandibularis der injizierten Seite sowie der der normalen Seite wurden so-
Abb. 1. Dichtes perineurales Infiltrat. Quellung der Nervenfasern und geringeEndoneuritis.
Mikrophotogr. Hämatoxylin-Eosin.
dann entfernt und der histologischen Untersuchung zugeführt. Das gleiche
geschah mit dem Gangl. Gasseri.
Im folgenden will ich zunächst die Untersuchungsergebnisse anführen:
Hund A (8 Tage, linke Unterkieferhälfte, Injektion in die Caninus- und
Molarenpulpa,. Es findet sich zunächst an den kleinen Stämmchen außerhalb
der Pulpa mächtige perineurale Exsudation aus Rundzellen, die meistens
Iymphoiden Charakter aufweisen (Abb. 1). Je mehr man sich von dieser Stelle
entfernt und den Stamm des Nerven betrachtet, um so mehr sieht man, daß
diese Exsudation rein perineural bleibt und sich im Perineurium nach auf-
wärts schiebt. Ihre Intensität nimmt nach oben zu merklich ab. Daneben
Experimentelles Ergebnis zur Frage der dentalen Neuritis des Trigeminus. 85
besteht eine starke Hyperämie der perineuralen Gefäße und man kann an
einzelnen Stellen sehen, daß auch am Rande Infiltratzellen in der Nerven-
substanz selbst sind. Die zentralen Gefäße des Nerven erscheinen meist frei
Abb. 2. Infiltrat der Nervenscheide Abb. 3. (In stärkerer Vergröße-
(n. mandib.). Mikroph. Haemat.-Eosin. rung.) Monozytäres Infiltrat.
von Exsudation, hie und da sieht man auch hier bereits eine Exsudatzelle,
die sich durch die ganze Dicke des Nerven verfolgen läßt.
Ganglion Gasseri: Es fällt sofort auch schon bei schwacher Vergröße-
rung ins Auge, daß das ganze Ganglion sehr kernreich ist, und zwar ziemlich
diffus. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß beim Eintritt des peripheren
Nerven die Reizerscheinungen stärker sind als beim Austritt der Wurzel, die
kaum Reizerscheinungen zeigt. Die Ganglienzellen sind teilweise gebläht, die
Kerne zeigen bei einzelnen derselben die Tendenz zur Wandstellung, mit-
unter tritt bei Nissel statt der Tigroide ein Netzwerk in der Zelle auf. Am
stärksten betroffen ist die Kapsel, die eine starke Wucherung ihrer Zellen er-
86 B. Spitzer.
kennen läßt. Bei schwacher Vergrößerung macht diese den Eindruck einer In-
filtration. Neben den Kapselzellen finden sich nur dort, wo der periphere Nerv
in das Ganglion einbricht, noch sichere Iymphoide Elemente, sonst sieht man
nur eine überaus starke Vermehrung der Kapselzellen.
Abb. 4. Ganglion Gasseri. Infiltrat mit starker produktiver Gewebsreaktion.
Mikrophot. Toluidinblau.
Hund A ‘rechte Unterkieferhälfte, Injektion in die Caninuspulpa). Die
Verhältnisse auf der rechten Seite sind analog der linken Seite. Auch hier ist
eine sehr deutliche Exsudation im perineuralen Gewebe wahrzunehmen, der
Nerv ist völlig frei, aber man sieht auch hier, wie die Bindegewebsscheide
des Nerven stellenweise sehr dicht infiltriert ist. Man kann auch in dieser
Serie das Infiltrat bis an das Ganglion verfolgen. Es ist auffallend, daß hier
die Reizung im Ganglion wesentlich geringer ist als auf der kontralateralen
Seite, was wohl im Zusammenhang mit der verhältnismäßig gegen das
Ganglion zu auffällig abklingenden Infiltration am Nerven steht. Doch es ist
nicht zu leugnen, daß auch hier beim Eintritt des Nerven Wucherungen des
Experimentelles Ergebnis zur Frage der dentalen Neuritis des Trigeminus. 87
Kapselendothels wahrzunehmen sind, die sich auch stellenweise wenigstens
im Innern des Ganglions erkennen lassen. Über das Ganglion hinaus läßt sich
der Reizzustand nicht genau verfolgen. Die Ganglienzellen selbst zeigen sich
besser erhalten als die der kontralateralen Seite, man kann aber auch an
Abb. 5. Ganglion Gasseri. Degenerative Veränderungen der Ganglienzellen. Zellschatten-
bildung, perizelluläre Reaktion. Neuronophagie, geringe Infiltration.
Mikrophot. Toluidinblau.
ihnen schlechte Färbbarkeit der Tigroidsubstanz, Blähungen und Tendenz zum
Zerfall der Tigroidsubstanz erkennen.
Hund B (21 Tage, linke Unterkieferhälfte, Injektion in die Caninus- und
Molarenpulpa). Hier wurde der Nerv im Querschnitt geschnitten, es zeigt sich
kaum eine Infiltration, dafür sieht man deutliche Bindegewebsvermehrung und
auffallende Verdickung der Media und Adventitia der Gefäße. Da die nicht
operierte Seite zur Verfügung steht, läßt sich entscheiden, daß wir es hier
mit einer pathologischen Veränderung zu tun haben.
88 B. Spitzer.
Am auffallendsten sind die Veränderungen im Markscheidenbild. Während
sich am normalen Nerv die Markscheiden vollständig färben, läßt die Färbung
auf der kranken Seite stellenweise vollständig aus. Es ist ungefähr das Bild
eines beginnenden Markzerfalles. Während im Nerven selbst die Infiltrate
nicht so deutlich sind, kann man im Ganglion, besonders an den eintretenden
Abb.6. Infiltrat im zellarmen Anteil des Ganglion Gasseri. Kapselwucherung um die
erkrankten Zellen. Mikrophot. Toluidinblau.
Nervenwurzeln die zentralen Gefäße von einem mächtigen Exsudat ein-
gescheidet sehen. Auch die Kapselzellen sind stark vermehrt. Die Ganglien-
zellen sind stellenweise degeneriert. An den hinteren Wurzeln lassen sich
derartige Veränderungen nicht nachweisen.
Die Ganglienzellen der nicht operierten Seite zeigen sich in ihrer Struk-
tur völlig intakt. Die Kapselzellen sind gleichfalls nicht vermehrt, an ein-
zelnen Stellen hat man allerdings auch hier den Eindruck einer leichten Ver-
mehrung der Kapselzellen, keinesfalls im Verhältnis zur operierten Seite. Da-
gegen fehlt das perivaskuläre Infiltrat der operierten Seite vollständig.
Experimentelles Ergebnis zur Frage der dentalen Neuritis des Trigeminus. 89
Hund C (28 Tage). Der periphere Nerv unterscheidet sich unwesentlich
von dem oben beschriebenen; vielleicht, daß die Färbbarkeit der Markscheiden
nach Weigert hier noch geringer ist. Eine reaktive Körnchenzellenwucherung
ist nicht wahrzunehmen.
Im Ganglion finden sich ähnliche, wenn auch nicht so weitgehende Reiz-
Ahb. 7. Dichtes Infiltrat um ein Gefäß, Kapselwucherung um die erkrankten Zellen.
Ganglion Gasseri. Mikrophot. Toluidinblau.
erscheinungen wie beim vorhergehenden Tier, sowohl an den Kapselzellen
als auch an den Gefäßen, die an der gesunden Seite fehlen.
Aus diesen Befunden geht deutlich hervor, daß die Resultate bei der
aseptisch durchgeführten Vergiftung der Zahnpulpa nahezu vollständig
identisch sind mit den von mir bereits veröffentlichten Befunden.
Die Pulpa zeigt eine hochgradige Entzündung, die natürlich die Pulpa-
nerven einscheidet, ohne in das Innere derselben einzudringen. An dem frei-
präparierten N. mandibularis vermag man deutlich Entzündungsherde wahr-
zunehmen, die sich längs der Nervenscheide ausbreiten, an einzelnen Stellen
90 B. Spitzer.
aber auch vom Rande her in den Nerv selbst einbrechen. Es ist also eine
absolut sichere Peri- und Endoneuritis vorhanden. Diese setzen sich dann in
das Ganglion fort, das auch die Entzündungserscheinungen zeigt. und zwar
durch perivaskuläre Zellanhäufung. Vermehrung der Kapselzellen und auch
durch diffuse Infiltration Iymphoider Elemente im Gewebe. Über das Ganglion
hinaus kann man bei diesen aseptischen Fällen mit Sicherheit nur eine leichte
Reizung in den einzelnen Wurzeln feststellen.
Interessant ist, daB ich diesen Prozeß bei allen Tieren nachweisen
konnte und daß er auch in der 4. Woche noch im Ganglion florid war.
Da man nun nicht annehmen kann, daß die Zahnpulpa an und für sich
infiziert ist und dortselbst ein lebendes Virus aus der Latenz geweckt mani-
feste Entzündungen hervorgerufen hat, muß man wohl festhalten. daB ein
einfaches Toxin sich in ähnlicher Weise zu den untersuchten Geweben ver-
hält wie ein lebendes Virus.
Es hat sich also bei den unter streng aseptischen Kautelen durchgeführten
Untersuchungen das gleiche Resultat ergeben wie bei meinen experimentellen
Studien im Jahre 1912.
Aus der Nervenabteilung der Allgemeinen Poliklinik, Wien (Vorstand: Prof. J. P. Karplusi
und dem Department of Experimental Neurology (Prof. E. Spiegel),
D. J. Mac Carthy Foundation, Temple Univ., Philadelphia, Pa.
Die gegenseitigen Beziehungen zwischen Tonus, aktiver
und passiver Kraft der Fingermuskeln bei Hemiplegikern.
Von
E. Spiegel.
Mit 2 Abbildungen.
Eines der interessantesten Probleme der Muskelpathologie stellt wohl
das Zustandekommen abnorm erhöhter Spannungszustände dar, die monate-
und jahrelang bestehen können, ohne daß Ermüdungserscheinungen bemerk-
bar würden. Solche pathologische Beobachtungen waren ja einer der wich-
tigsten Gründe, welche zur Abtrennung einer statischen von der kine-
tischen Innervation und zur Annahme eines besonderen Mechanismus, resp.
einer besonderen (sympathischen oder parasympathischen) Innervation der
statischen Funktionen des Muskels führten. Nun hat sich aber in den letzten
Jahren immer mehr gezeigt, daß diese Trennung eine künstliche ist, der
Stoffwechsel und die Innervationsvorgänge, welche die Haltefunktion des
Muskels bedingen, sich nur quantitativ von den zur Bewegung führenden
Prozessen unterscheiden lassen, aber auch die Hypothese einer vegetativen
Innervation des Muskeltonus nicht aufrechterhalten werden kann; die Axone
der Vorderhornzellen dürften vielmehr die gemeinsame Strecke für die
statische und kinetische Innervation darstellen (siehe Spiegel)!).
Daß es keiner besonderen Innervationsform, respektive keines beson-
deren Chemismus bedarf, um die statischen Funktionen des Muskels aufrecht
zu erhalten, wird für normale Verhältnisse begreiflich, wenn man die Größe
des Dehnungswiderstandes des tonisch innervierten, „ruhenden“ Muskels
mit der möglichen maximalen Kraftentfaltung vergleicht, deren der be-
treffende Muskel fähig ist. Ein Studium der Relation dieser beiden Größen,
ıles sogenannten Tonus-Kraft-Index zeigte, daß dieser Index für die
Ellbogenmuskulatur zwischen 1 und 20% (Spiegel)?), für die Fingermusku-
latur zwischen 0,39 und 2,35% beträgt (Spiegel und Zellmann)), also
der Dehnungswiderstand der genannten Muskeln im Ruhezustand normaler-
1) E. Spiegel, Tonus d. Skeleitmuskulatur, 2. Aufl. Springer, Berlin, 1927.
2) E. Spiegel, Z. Neur., 122. 475. 1929.
3; Derselbe und G. Zellmann. Wiener klin. Wochenschr., Nr. 23, 1930.
92 E. Speel.
weise nur einige Hundertstel jener Kraftentfaltung beträgt, deren die be-
treffenden Muskeln fähig sind.
Wie aber verhält es sich unter pathologischen Bedingungen, in Fällen,
in welchen der Tonus gesteigert ist? Zum Studium dieser Frage wurde in
dieser Untersuchungsreihe bei Hemiplegikern der Tonus der Fingermuskulatur
mit deren aktiver und passiver Kraft verglichen.
Zur Messung des Dehnungswiderstandes der unter dem Einfluß ihrer
Antagonisten stehenden Fingermuskeln wurde folgender einfacher Apparat
-Myotonometer, konstruiert, der sich für die hier in Rede stehende Frage
Abb. 1. Myotonorneter.
und auch für andere Untersuchungen als genügend empfindlich erwies, einfach
zu handhaben und bequem transportabel ist ‚Abb. 1).
Derselbe besteht. ähnlich wie eine Glasspritze aus einem inneren und einem
äußeren Glasrohr, die genau ineinander passen und sorgfältig so geschliffen sind, daß
das innere ‚der Kolben: mit möglichst geringer Reibung an dem äußeren :Mantelrohr'
verschoben werden kann. An das Mantelrohr ist eine Olive angeschmolzen, so daß
der Apparat mittels T-Rohres einerseits zwecks Druckerhöhung in demselben mit einem
Gummiballon, anderseits mit einem Manometer (wie es für Blutdruckmessungen üblich
ist: verbunden werden kann. Durch die Druckerhöhung wird der an seinem inneren
Ende verschlossene Kolben vorgeschoben. der mit seinem aus dem Apparat reichenden
Ende gegen das zu bewegende Glied gehalten wird. Ein Herausschleudern des Kolbens
wird dadurch verhindert, daß an dem Mantelrohr wie auch am Kolben ein Faden
fixiert ist. welcher gespannt wird. wenn der Kolben einige Zentimeter aus dem Apparat
herausragt. Wenn der durch den erhöhten Luftdruck vorgestoßene Kolben das betreffende
Glied bewegt und das Tonometer selbst fixiert gehalten wird, führt der Stempel natür-
lich an dem bewegten Glied eine Gleitbeweeunz aus Um hiebei die Reibung nach
Möglichkeit zu vermindern. wird auf das freie Kolbenende ein kleines Rädchen auf-
gesetzt. Schließlich ist eine senkrecht zum Mantelrchr gerichtete Skala an diesem ver-
schtehbar. welche die Entfernung abzulesen gestattet, in welcher die Kolbenachse vom
berrelfenden Gelenk gehalten wird Kraftarm .
Nachdem sich in früheren Untersuchungen gezeigt hattı, daß bei Auf-
stellung einer Dehnmungskurve vor allem der Beginn dieser Kurve, also
der Dehnungswiderstan! der Muskeln gegenüber der Entfernung des Gliedes
aus der Ruhelage, am ehesten Aufschluß über deren Tonus gibt, wurde der
Dehnungswiderstand bei Entfernen des Gliedes um 10 Grad aus der Ruhe-
lage gemessen.
Die Stellung, bis zu welcher der Kolben vorzeschoben werden mußte, um das
betreffende Gliel bei einer Distanz der Kolbenachse von 3 bzw. 4 cm von der
t Spiegel, Tonus der Skelettmusknlatur, 2. Aufl, 1927.
Gegenseitige Beziehungen zwischen Tonus und Kıaft bei Hemiplegikern. 93
Gelenksachse um 10 Grad aus seiner Ruhestellung zu drehen, wurde ein für allemal
am Apparat markiert. Wichtig ist, daß die Druckerhöhung (rhythmisches Zusammen-
pressen des Gummiballons) bei allen Messungen möglichst in gleicher Geschwindigkeit
erfolgt, da man bei verschiedener Geschwindigkeit der Druckzunahme zu verschiedenen
Tonuswerten gelangen kann.
Der Apparat wurde in zwei Größen verwendet (6 und 13 mm Durchmesser des
Kolbens), so daß auch die gewöhnlich für klinische Blutdruckmessungen üblichen
Manometer zur Messung der hier in Betracht kommenden Werte ausreichen. Durch Auf-
setzen eines stumpfen Stiftes oder einer Nadel statt des Rädchens kann der Apparat
statt zur Tonusmessung auch zur Bestimmung der Schwellenwerte bei Sensibilitäts-
prüfungen mittels Druckreizen oder Stichen verwendet werden.
Falls das Tonometer während des Vorwärtsschiebens des Kolbens fi-
xiert gehalten wird, also der Kolben sich während der ganzen Messung
in derselben Geraden fortbewegt, wird das Drehmoment der Kraft un-
abhängig von der Stellung des zu bewegenden Gliedes durch das Produkt
Kh dargestellt (K = durch den Kolben übertragener Druck, h = Abstand der
Kolbenachse von der Gelenkachse).
Denn wirkt (Abb. 2) die Kraft K auf das Glied in der Stellung OA am Punkt A
unter dem Winkel a, so kann das Drehmoment durch das Produkt Kı.OA dargestellt
werden, oder aber, da Ka = K sin a ist, durch das Produkt K sina. OA; sina kann aber
auch durch Tr ausgedrückt werden, so daß das Drehmoment in die Form K roa = Kh
übergeführt wird. Ähnlich gilt für eine Stellung des Gliedes OB, wenn die Kraft K
E ARA B
im X ß auf das Glied einwirkt: Ks OB = K sin $ . OB = K un =Kh.
Der Apparat wird geeicht, indem am Kolbenende ein Faden befestigt wird, der
über eine hinter dem Apparat aufgestellte Rolle zu einer Wagschale führt, und ge-
Abb. 2.
messen wird, welche Gewichte bei den einzelnen Ablesungen am Manometer gehoben
werden. Schließlich ist die Reibung des Kolbens am Mantelrohr und die Trägheit des
zu bewegenden Gliedes zu berücksichtigen. In Vorversuchen wurde bestimmt, welcher
Druck aufgebracht werden muß, damit ein Stab von den Dimensionen bzw. dem Ge
wicht des zu bewegenden Gliedes um eine vertikale Achse aus der Ruhelage gedreht
wird. Dieser Korrekturwert beträgt für ein mittleres Fingergewicht von 30 g 20 mm
Hg-Druck am größeren, 60 mm am kleineren Tonusapparat.
Das Drehmoment des Tonus der unter der (regenwirkung ihrer Ant-
agonisten stehenden Beuger bzw. Strecker wird durch das Produkt (D—x) h
dargestellt, wobei D den bei der Untersuchung angewendeten Druck, x die
94 E. Spiegel.
dem Fingergewicht entsprechende Korrektur, h den Abstand der Kolben-
achse von der Gelenksachse bedeutet.
Die Untersuchung wurde am Grundgelenk des Zeigefingers durchgeführt,
während die Hand des Untersuchten bequem mit der Ulnarfläche auf der
Tischplatte gelagert wurde, so daß eine horizontale Bewegung des Zeige-
fingers gegen den Metakarpus erfolgt. Um ein gleichmäßiges Gleiten des
Kolbenendes am Finger zu ermöglichen, erwies es sich vorteilhaft, über
die Grundphalange des Fingers eine leichte, U-förmig gebogene Blechschiene
zu stülpen. Hand und Finger wurden in bequemer Ruhestellung gehalten,
so daß čie jeweilige Ruheiänge der Muskulatur den Ausgangspunkt des
Dehnungsversuches darstellt. Der Apparat wurde horizontal gehalten, mit
seiner Längsachse dem Finger senkrecht aufgesetzt.
Zur Bestimmung der Kraft der betreffenden Muskulatur wurden Feder-
wagen verschiedener Größe verwendet, deren Zug mittels einer Schlinge
dem Finger übertragen wurde, wobei darauf geachtet wurde, «daß ihre
Zugrichtung mit der des Fingers einen Winkel von 90 Grad einschloß. Als
Ausgangsstellung diente wie bei der Tonusmessung die Ruhehaltung des
betreffenden Gliedes, dessen Grundphalanx wieder mit der erwähnten kleinen
Blechschiene bedeckt wurde. Das Drehmoment der Kraft wird durch das
Produkt Fp dargestellt, wobei F die Ablesung an der Federwage, p den
Abstand der Schnur von der Gelenksachse bedeutet.
Bethe) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Kraft, welche will-
kürlich innervierte Skelettmuskel bei stärkster Zusammenziehung entwickeln
(aktive Kraft), in der Regel geringer ist als der Widerstand, den sie bei
Fortdauer der Anspannung einem dehnenden Zug entgegensetzen können
(passive Kraft). Daß tatsächlich die passive Kraft der Fingermuskulatur
größer ist als deren aktive Kraft, konnte in der obgenannten Untersuchung
mit Zellmann bestätigt werden. Es wurden darum auch in diesen Ver-
suchen die beiden genannten Arten der Kraftprüfung angewendet. Bei Prü-
fung der aktiven Kraft (A) hatte der Patient im Grundgelenk des Zeigefingers
eine Beuge- oder Streckbewegung mit maximaler Kraft auszuführen, wäh-
rend vom Untersucher die Federwage unbewegt gehalten wurde. Bei Prü-
fung der passiven Kraft (P) wurde die durch die aktive Kontraktion er-
reichte Fingerstellung als Ausgangsstellung gewählt und der Untersucher
suchte den Finger des Patienten gegen dessen willkürlichen Widerstand
zu strecken oder zu beugen. Es wurde der Widerstand bestimmt, der er-
reicht wurde, wenn das Glied durch die Dehnung in die ursprüngliche Aus-
gangsstellung "im Beginn der Bestimmung der aktiven Kraft) gebracht wurde.
Der Tonus-Kraft-Index der unter der Wirkung ihrer Antagonisten stehen-
den Muskeln wird für die aktive Kraft durch die Relation u für die
f 3 (D —x)} : : ;
passive Kraft durch p nn dargestellt. Die folgende Tabelle gibt die
so gewonnenen Werte in Prozenten ausgedrückt wieder, wobei die betreffen-
>, A. Bethe, Ergeb. d. Physiol, 24. 71. 1925. Pflügers Arch., 222, 334, 1929.
Gegenseitige Beziehungen zwischen Tonus und Kraft bei Hemiplegikern. 95
den Werte der normalen und der kranken Seite immer nebeneinandergestellt
sind.
Tabelle I.
Tonus-Kraft-Index.
(Muskulatur des Zeigefingers.)
\
Flexoren Extensoren
Tonus: pass. Kr.| Tonus: akt. Kr. | Tonus: pass. Kr. | Tonus: akt. Kr.
(D—x) h (D—x)h (D—x)h (D—x)h
Name, Krankheit Pe Âo P; o Re
Norm. | Kranke | Norm. Kranke | Norm. | Kranke | Norm. | Kranke
Seite | Seite | Seite Seite | Seite | Seite | Seite | Seite
in Prozent in Prozent
| ! :
Roh. 56 J. g. R. 1,2 2,6 1,7 | 3,2 1,9 47.7230: 47
Hemipl. (Schlag-
anfall 1914, 1918), |
mäßige Reflex-
steigerung. i
seil. 9. L. Hemipl. 1,0 61, 21 12,1 5,2 14,7 6,3 17,9
57 J. (Hämorrhagie | |
vor 13 Jahren). ! '
Sehnenreflexe++, i
Dehnung d. Muskel i
löst leicht ton. |
Krampf aus. :
Herg. 20 J. 9. R.| 06 1,5 ! 08 3,5 0,6 20 11 3.4
Hemipl. (Encepha-
litis vor 3 Jahren),
mäßige Reflex-
steigerung.
Maro. 48 J. d. L.| 0,6 7.5 08 | 75 2,1
Hemiplegiker (Ma-
lacie vor 10 Mo-
naten), Reflex-
Steigerung +.
o
»
=
z
~l
N
S
Slit. 51 J. g. L.| 0.7 — 61 11 81 0,8 3312 4.4
Hemipl, (Hämor-
rhagie vor einem
Jahr), Sehnen- |
reflexsteigerung +
Duff. 45 J. g3. R. 1.0 73 2,2 10,7 2,8 5,3 28 ; 583
Hemipl. (Malacie | i ;
vor 2 Jahren), ge-
ringe Reflexstei-
gerung. j
Mittel s.on. 0,85 5,18 1,45 7.51 2.2 5,85 2,78 Tal
96 E. Spiegel.
Wie zu erwarten war, ist auf der Seite der Hemiplegie der Tonus-Kraft-
Index sowohl bei Messung der passiven wie der aktiven Kraft um ein Mehr-
faches (im Mittel Vierfaches) höher als auf der gesunden Seite; er betrug
unter 24 Messungen zwanzigmal unter 100% und nur viermal über 100».
Will man ein Bild davon gewinnen, welchen Teil der dem Muskel möglichen
Kraftentfaltung der von ihm im „Ruhezustand“ entwickelte Dehnungswider-
stand gegenüber einem Herausdrehen des Gliedes aus der Ruhelage aus-
macht, so muß man berücksichtigen, daß alle diese Werte eigentlich zu
hoch sind, weil die dem Muskel tatsächlich bei maximaler Innervation
mögliche Kraftentfaltung viel größer ist als jene, welche man bei willkürlicher
Innervation mißt, wenn die Pyramidenbahn lädiert ist und daher nur ab-
geschwächte Impulse dem Muskel zugeführt werden. Nachdem der hemi-
plegische Muskel in seiner Trophik höchstens gering leidet, die Herabsetzung
der willkürlichen Kraftentfaltung vielmehr auf den Wegfall der kortiko-
spinalen Impulse und nicht auf die Schädigung des Muskels oder seiner peri-
pheren Innervation zurückzuführen ist, kann man vielleicht über die ihm
mögliche Kraftentfaltung bei maximaler (nicht willkürlicher) Impulszufüh-
rung einen gewissen Anhaltspunkt gewinnen, wenn man annimmt, daß diese
etwa ebenso groß ist, als die des Muskels der gesunden Seite. Vergleicht
man nun den Dehnungswiderstand der Muskulatur der kranken Seite mit
der maximal möglichen Kraftentfaltung, wie sie von der Muskulatur der ge
sunden Seite gewonnen wurde, so kommt man zu folgenden Werten:
Tabelle II.
Tonus der kranken Seite, in Relation zur Kraft der gesunden Seite.
Flexoren Extensoren
Tonus: Toms: | Tonus: Tonus: Tonus: Tonus:
I I :
Name; Krankheit passive Kraft . aktive Kraft passive Kraft aktive Kraft
in Prozent in Prozent
Be ie ern an
Roh. (R. Hemiplegie) 1.8 2,5 2.5 27
Seil. (L. e ) 2.28 4.9 10,4 12,5
Herg. (R. vn ) 1.2 1.6 1.8 | 31
Maro. (L. m ) 1.1 1.5 1.9 3,0
Slit. (L. “$ ) 1.2 i 1.7 0.8 11
Duff. (R. 3 ) 1.3 2.9 2.2 2.2
|
Mittel oo ceeeeeeenn | 1,48 2.51 | 3,26 | 4,10
Anmerkung: Die Untersuchung betrifft sowohl rechts- als auch linksseitize
Heiniplegien; bei Rechtshändern gibt im ersten Fall die Muskulatur der gesunden Seite
eher einen etwas zu niedrigen Wert, im zweiten eher einen zu hohen Wert für die
maximal mögliche Kraftentfaltung der Muskulatur der kranken Seite. Um einen Anhalts-
punkt dafür zu haben, inwiefern die Bereehnung diesbezüglich einer Korrektur be-
dürftig ist, wurde für den Fall Seil. linksseitizge Hemiplegie) die Berechnung nicht
N ä Tonus der kranken Seite _ K aR
nur für die Relation - "y - = = A, sondern auch für das Verhältnis
Kraft der gesunden Seite
Gezenseitige Beziehungen zwischen Tonus und Kraft bei Hemiplegikern. 97
des Tonus der kranken Seite zu der um 5%». verringerten Kraft der gesunden Seite
durchgeführt (B). Dies ergibt folgende Werte:
_ Flexoren Extensoren
i Tonus: | Tonus: Tonus: i Tonus:
passive Kraft aktive Kraft passive Kraft | aktive Kraft
Da in Prozent ae in Prozent l
E EEEE EE ma 2,28 | 4,9 10,4 12,5
Bass bisan 24 | 5.1 10,9 13,1
Man gelangt also im Fall B für eine linksseitige Hemiplegie zu Werten, die
4—4,506 höher sind als im Fall A (umgekehrt zu niedrigeren Werten für rechts-
seitige Hemiplegie). Bei Untersuchung sowohl rechts- als auch linksseitiger Hemi-
plegien werden sich diese Fehler bei Bestimmung der mittleren Werte aufheben.
Während bei Vergleichung des Dehnungswiderstandes der Muskeln der
hemiplegischen Seite mit der ihnen selbst bei maximaler willkürlicher
Innervation möglichen Kraftentfaltung der Tonus-Kraft-Index für die passive
Kraft Werte von 1,5 bis 14,700, für die aktive Kraft von 3,2 bis 17,909. auf-
wies, variierte bei Vergleich des Dehnungswiderstandes der gelähmten zur
maximalen Kraft der gesunden Seite die Relation für die passive Kraft
zwischen 0,8 und 10,400, für die aktive Kraft zwischen 1,1 und 12,50%. Nach-
dem die ruhende Muskulatur vor allem eine bestimmte Länge gegenüber
einem konstanten Zug (Schwerkraft, Antagonisten) aufrecht erhält, er-
scheinen vor allem die Werte von Interesse, welche die Relation des Tonus
zur passiven Kraft darstellen. Was die im zweiten Fall (Seil.) erhaltenen
hohen Werte anlangt, ist zu berücksichtigen, daß diese einen Fall betreffen,
in welchem der Dehnungsreiz jedesmal einen kurzdauernden tonischen
Krampf auslöste, durch dessen Superposition über den Ruhetonus ein eher
zu hoher Wert für diesen gefunden wurde. Vor allem ist aber darauf hin-
zuweisen, daß bei länger bestehender Tonuserhöhung, resp. Kontraktion der
Muskulatur sich sekundäre Schrumpfungsvorgänge einstellen, welche zum
Teil den abnorm erhöhten Dehnungswiderstand bedingen und deren Existenz
dadurch am besten bewiesen werden kann, daß auch nach Ausschaltung der
propriozeptliven, tonuserhaltenden Erregungen, z. B. durch Novokaininjektion,
noch ein deutlich erhöhter Dehnungswiderstand der hemiplegischen Muskeln
bei längerem Bestand der Lähmung gefunden werden kann ê).
Berücksichtigt man alle diese Momente, so ist anzunehmen, daß der
Teil des erhöhten Dehnungswiderstandes im Zustande der hemiplegischen
Kontraktur, der durch einen innervatorischen Vorgang, resp. durch den
Ruhestoffwechsel (statischen Stoffwechsel) des Muskels aufrecht erhalten
wird, eher noch einen kleineren Perzentsafz der maximal möglichen
Kraftentfaltung des Muskels ausmacht, als wir berechnet haben. Die An-
€; Auch sekundäre Gelenkskapselveränderungen sind in Betracht zu ziehen.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 7
98 E. Spiegel.
nahme einer besonderen sympathischen oder parasympathischen Innerva-
tion”), resp. eines besonderen Stoffwechsels für die Aufrechterhaltung der
statischen Innervation erscheint also auch für den Zustand der spasti-
schen Lähmung überflüssig, nachdem diese Messungen darauf hinweisen,
daß die Spannungsentwicklung des ruhenden Muskels auch unter diesen
pathologischen Bedingungen nur einen relativ kleinen Teil der dem Muskel
möglichen Kraftentfaltung ausmacht.
Wir haben schon früher hervorgehoben, daß die passive Kraft der
Muskulatur normalerweise größer ist als die aktive Es schien nun von
Interesse, den Einfluß zentraler Läsionen, insbesondere solcher der Will-
kürbahn auf diesen Unterschied zwischen aktiver und passiver Kraft zu
studieren. Es wurde daher bei Hemiplegikern die Relation zwischen den
zugehörigen Werten der aktiven und passiven Kraft auf der normalen
und auf der paretischen Seite verglichen. Die nachfolgende Tabelle gibt
an, um wie viel die entsprechenden Werte auf der normalen Seite größer
sind als auf der kranken Seite: je größer die angegebene Zahl ist, um so
mehr hat also die betreffende Kraft der Muskelgruppe auf der kranken Seite
gelitten (siehe nächste Seite).
Beim Studium dieser Tabelle fällt auf, daß in der Mehrzahl der Fälle
das Verhältnis der normalen zur hemiplegischen Seite für die passive Kraft
der betreffenden Muskulatur größer ist als für die aktive. In drei Fällen (Nr. 1,
5, 6) hatte die passive Kraft in den Streckern in gleicher Weise wie die
aktive abgenommen, im Falle 10 in den Beugern, im Falle 4 in den Beu-
gern und Streckern die aktive Kraft stärker als die passive. Der Unter-
schied zwischen passiver und aktiver Kraft kann gelegentlich ganz ver-
schwinden. So war im Falle Mar. (Nr. 8) die passive Kraft der Beuger
(5,1 kg) auf der gesunden Seite um 27,500 größer als die aktive (4,0 kg):
auf der kranken Seite wurde eine Differenz zwischen aktiver und passiver
Kraft der Beuger vermißt (0,8 kg aktive und passive Kraft). Bei Schädigung
der kortikospinalen Neurone kann also eine Verminderung, ja selbst Auf-
hebung der Differenz zwischen passiver und aktiver Kraft, also eine stär-
kere Abnahme der passiven als der aktiven Kraft beobachtet werden. Von
der theoretischen Deutung dieser Tatsache sei abgesehen, solange der Ent-
stehungsmechanismus der passiven Kraft noch nicht geklärt ist; doch scheint
es nicht ungerechtfertigt, darauf hinzuweisen, daß bei der klinischen Unter-
suchung der Muskelkraft nicht nur, wie allgemein üblich, die aktive, sondern
auch die passive Kraft gemessen werden sollte, da eine leichte Beeinträchti-
îi Was die angeblich tonusherabsetzende Wirkung der Ramisektion (Hunter
und Royle: bei Spasmen anlanet, so ist darauf hinzuweisen, daB erhöhte Spannungs-
zustände, wie z. B. die Enthirnunesstarre, mittels Durchtrennung der Rami commu-
nieantes um so weniger beeinflußt werden, je vorsichtiger man eine Zerrung der
Rami communicantes bei deren Präparation vermeidet. Es ist zu vermuten, daß die
von einzelnen Autoren beobachtete Tonusherabsetzune nach Durchtrennung der Rami
communicantes auf Schädigung afferenter oder zentrifuealer, motorischer Fasern des
zugehörigen Plex. lumbalis «bzw. brachialis: durch Zerrung zurückzuführen ist.
Gegenseitige Beziehungen zwischen Tonus und Kraft bei Hemiplezikern. 99
Tabelle III.
Relation der Kraft der normalen zu jener der hemiplegischen Seite.
(Zeigefingermuskulatur.)
Flexoren Extensoren E
Nr. Name, Krankheit passive aktive passive | aktive
Kraft | Kraft Kraft Kraft
|
1. | Duff. 45 J. 3. R. Hemipl. (Malacie)
seit 2 Jahren ....... EL 6.6 3,6 2.4 2,4
2. | Roh. 56 J. g$. R. Hemipl. (Schlag-
anfall 1914 u. 1918) ......2....... 1.4 1,28 1.9 1.7
3. | Jindr. 60 J. $. L. Hemipl. seit 1 Jahre
(Hämorrh.) ..2coeecseeenenserenne 1,2 1,16 1,49 1,40
4. | Kugler. 64 J. $ R. Hemipl. 3 Jahre
Dauer (Hämorrh.) ............... 1030013 1.27 1.03
5. | Zim.64.J. £. L. Hemipl. (Hämorrh. vor
2 Jahren) ..oeeeeeseeeeeeennnnene 15 12.138 1,06 ! 106
6. | Seil. 57 J. 2. L. Hemipl. seit 13 Jahren i
(Hämorrh:)cosieeeeseinenieenrr i 26 ` 256 1.4 1,4
7. | Ros. 38 J. 9. L. Hemipl. seit 5 Jahren
(Sclerosis multiplex) ............. 25 |! 183 4,2 3,2
8. | Maro. 48 J. $. L. Hemipl. 10 Monate
Dauer (Malacie) ......222e020200. 64 ` 50 2,6 25
9. | Slit. 51 J. 3. L. Hemipl. seit 1 Jahre |
(Hämorrh.) .sesssssseeesssesesees 5,0 4,4 4,1 3.9
10. | Herg. 20 J. 2. R. Hemipl. seit 3 Jahren
(Encephalitis) ......2cserseseennn 16,021 1.1 1,0
gung der Muskelkraft bei Prüfung der passiven Kraft cher manifest wird,
als bei Prüfung der aktiven.
Der Autor erlaubt sich, auch an dieser Stelle der Ella Sachs-Ploutz
Foundation für die Unterstützung bei Ausführung dieser Arbeit seinen
besten Dank auszudrücken.
Zusammenfassun E:
1. Es wird ein einfaches, leicht zu handhabendes Myotonometer be-
schrieben.
2. Der Dehnungswiderstand der Muskulatur im Zustande der hemi-
plegischen Lähmung gegenüber dem Herausdrehen des betreffenden Gliedes
um 10 Grad aus der Ruhelage machte in den untersuchten Fällen 1,1 bis
12,5 Hundertstel der maximal möglichen aktiven Kraftentfaltung, resp. 0,8
ze
100 E. Spiegel.
bis 10,4%, der möglichen passiven Kraftentfaltung aus; die Annahme einer
besonderen (vegetativen) Innervation oder eines besonderen Stoffwechsels,
der diesen Dehnungswiderstand aufrecht erhalten soll, scheint besonders unter
Berücksichtigung der im Zustand der Kontraktur vorhandenen, sekundären
Schrumpfungsvorgänge der Muskulatur überflüssig.
3. Es kommt bei der Hemiplegie oft zu einer auffallenden Verminderung
besonders der passiven Kraft, zu einer Verringerung der normalerweise
nachweisbaren Differenz zwischen passiver und aktiver Kraft.
4. Die Tatsache, daß die passive Kraft oft stärker herabgesetzt ist als
die aktive, läßt es geboten erscheinen, beide Kraftformen bei der klinischen
Prüfung zu untersuchen.
Aus dem neurologischen Institut der Universität Wien
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg).
Syringomyelie und Metalues.
Von
Dr. A. Hauser, Galveston, U.S. A.
Mit 18 Abbildungen im Text.
In den letzten Jahren wurde die Pathogenese der Syringomyelie wieder
einer Revision unterzogen und trotz der zahlreichen und ausführlichen ein-
gehenden Untersuchungen ist das vielfach Unklare des pathogenetischen Ge
schehens nicht geklärt worden. Vielfach liegt unseres Erachtens der Grund
darin, daß von den verschiedenen Autoren immer der Versuch unternommen
wurde, ein einziges Grundinoment für die Pathogenese der Syringomyelie
verantwortlich zu machen. Entweder sollte es ein Mißbildungsfehler oder
eine Neubildung sein, auf deren Boden sich die Höhle im Rückenmark ent-
wiekeln soll. Die Kombination der beiden Faktoren ist dann vielfach die be-
herrschende Theorie geblieben. Daun wurden aber — auch in späterer Zeit
- - wieder eine Reihe von exogenen Faktoren herangezogen und besonders auf
das Trauma, wie späterhin auch auf andere bekannte oder unbekannte chro-
nische Noxen hingewiesen.
Wenn wir die gesamte Literatur übersehen, so unterliegt es keinem
Zweifel, daß kaum ein einziger ursächlicher Faktor in der Lage ist, für sich
allein die Entstehung der syringomyelischen Höhle zu erklären. Die starke
degenerative Entartung im Rückenmark muß neben den verschiedenen hier
genannten Faktoren auf einer Konstellation von Bedingungen beruhen, da
kein einziges der bisher angeführten Momente für sich allein gewöhnlich
in der Lage ist, den charakteristischen Prozeß der Syringomyelie zu er-
zeugen. Gerade jene Fälle, bei denen eine kongenitale Entwicklungsstörung
mit fötaler Schädigung bereits vorliegt, sind äußerst seltene Typen, welche an
und für sich den syringomyelischen Prozeß hervorrufen können. Doch kämen
hiebei nur jene Fälle in Betracht, bei denen schon in frühester Zeit die
klinischen Zeichen der Syringomvelie in Erscheinung treten. Dies ist jedoch
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht der Fall. Es unterliegt natür-
lich auch keinem Zweifel, daß selbst hier bei der fötalen oder frühinfantilen
Schädigung des Nervengewebes der besonders von Spatz betonte konstel-
lative Faktor der raschen Einschmelzbarkeit des Nervengewebes hinzukommt.
Und nur durch diese eigenartige fötale Gewebsreaktion könnte die schnelle
102 Dr. A. Hauser.
Einschmelzung der Hlöhlenbildung erklärt werden. Da dies aber für die
Mehrzahl der Fälle nicht zutrifft und die klinischen Erscheinungen meistens
zu zeigen pflegen, daß erst oft in späteren Lebensjahren der syringomyelische
Prozeß manifest wird, so muß der im Fötalleben an und für sich gegebene
Faktor späterhin durch andere Begleitmomente aktiviert und dadurch mani-
fest werden. Ist es also im fötalen Zustand die Eigenart des Gewebes selbst,
auf Schädigungen mannigfacher Art mit Totaleinschmelzung antworten zu
können, so gilt dies keineswegs für das reife Zentralnervensystem. Wir glau-
ben daher doch, daß bei den meisten Fällen der Syringomyelie, wenn
nicht, was noch wahrscheinlicher ist, bei allen,, zu dem primären Faktor,
der die Entwicklung des syringomyelischen Prozesses zuläßt, noch ein zwei-
ter dazutreten muß, welcher eben die Verflüssigung des Gewebes und die
Höblenbildung bedingt. In einem Falle wird es eben das Trauma, in einem
anderen bekannte oder auch vielfach unbekannte exo- und endogene Noxen
sein, die sich überaus langsam entwickeln können und auf diese Weise viel-
fach der pathologischen Forschung verborgen bleiben können.
Es erschien uns daher angebracht, über einen eigenartigen Fall Unter-
suchungen anzustellen, der durch seinen klinischen wie anatomischen Be-
fund aus dem Rahmen der gewöhnlichen Syringomyelie-Fälle herausgeht
und vielleicht geeignet ist, einiges über das pathogenetische Geschehen des
Prozesses zu offenbaren.
Wie wir aus der gleich zu berichtenden Krankengeschichte entnehmen
werden, handelt es sich hier um einen Fall von Syringomyelie, dessen Dia-
gnose verhältnismäßig frühzeitig gestellt werden konnte und bei dem sich
auch Zeichen eines metaluetischen Prozesses fanden, welche den Kliniker
veranlaßten, eine Tabo-Paralyse zu diagnostizieren.
Krankengeschichte.
R. J.. 51 Jahre, verh.. mos., Kaufmann. Aufnahme: 27. Aug. 1930, Abteilung
Prof. Mattauschek, 10. Okt. 1930, Klinik.
Anamnese.
Bruder dep.: daß Pat. schon seit Kindheit mit den oberen Extremitäten
weniger beweglich war. Es bestand damals schon ein Rigor an beiden
Extremitäten. Auch verspürte er heiß nicht. Vor zirka 20 Jahren kunstatierte
man Muskelatrophie, was für eine Art kann Dep. nicht angeben. In seinem 20. Lebens-
jahre wurde er wegen Lues untersucht, da er einen starken Haarausfall zeigte, damals
war WaR. - 2. — Von seiten des linken Ellborengelenkes hatte man keine Erscheinun-
gen beobachtet. Vor 6 Monaten hatte er Verfolgungsideen, irr gesprochen, war sehr
leicht erregbar und kam deshalb ins kaufmännische Spital. Dort besserte sich sein Zu-
stand unter ein paar Tagen. Dort blieb er 6 Monate. Im Kaffeehaus wurde Pat. vorigen
Mittwoch plötzlich ohnmächtie, hatte Krämpfe und wurde von dort auf die Abteilung
Pal gebracht. Seit Jahren hatte Pat. Schmerzen in den Beinen. Pat. soll als Kind
von zirka 6 Monaten vom Tisch gefallen sein. Doz. Sch. meint, daß die Er-
krankunz auf eine Meningitis zurückzuführen sei. Vor 2 Jahren Autounfall. In der
Familie keine Nervenkrankheiten.
Pat. ist orientiert, geordnet,
Vor 30 Jahren habe er Lues akquiriert, wurde damals mit Hg behandelt.
Ein paar Jahre danach einige NS.-In).. später keine Behandlung mehr.
Syringomyelie und Metalues. 103
Etwa vor 20 Jahren verspürte Pat. die ersten Beschwerden in den Händen und
Arnıen. Sie wurden allmählich kraftlos, so daß ihm Gegenstände entfielen. Die Schwäche
zeigte sich zuerst im l. Arm. Die starre Beugehaltung bestehe ebenfalls schon viele
Jahre. Zugleich mit der Schwäche bemerkte er auch den allmählichen Schwund der
Muskulatur. Auch zog er sich manchmal Verbrennungen an der Haut zu.
Etwas später, vielleicht vor 15 Jahren, meldeten sich in den Beinen, vor allem
in den Öberschenkeln, heftig reißende und stechende Schmerzen. Im ganzen sei sein
Zustand schon 15 Jahre stabil: gelähmt sei er schon seit 10 Jahren.
Die letzten 10 Monate litt er an Harn- und Stuhlbeschwerden. Diese Beschwerden
verschwanden nach der Behandlung auf der Abteilung.
Spontansprache: o. B., auch Testwörter ohne besondere Dysarthrie.
Kopfrechnen: gut. Monatsnamen: fehlerlos, 10 — 7 = +.
Fragen aus den Allgemeinkenntnissen werden zufriedenstellend beantwortet.
Merkfähigkeit: stark herabgesetzt.
Somatisch:
Lungen und Herz: o. B.
Pupillen 1. >r., leicht entrundet, lichtstarr, Konv.-Reak. erhalten. Bei Blick-
wendung nach links vertikal-rotator. Nystagmus, nach rechts nystagmoide Zuckungen.
Augenbewegungen sonst frei.
VIL: Rechter Mundwinkel wird etwas schwächer innerviert.
Zunge: am rechten Rand im vorderen Drittel zirkulärer Substanzverlust mit
leicht aufgeworfenen Rändern.
O. E.: Rechts: starke Atrophie, die ziemlich gleichmäßig sowohl die Muskulatur
des Ober- als auch des Unterarms betrifft.
R.: Die aktive Beweglichkeit uneingeschränkt. Die Fingerphalangen an den
Hanidgelenksenden aufgetrieben. Der Ringfinger ist im l. Interphalangealgelenk hyper-
extendiert, in leichterem Grade auch der 5. Finger. Die Haut ist an den Fingern
glänzend, verdünnt. Thenar ist vollkommen, Hypothenar stark atrophisch. Der Daumen
kann aktiv weder adduziert noch opponiert werden. Desgleichen ist die aktive Be-
weglichkeit sämtlicher übriger Finger vollkommen eingeschränkt.
L.: Die Atrophie der Armmuskulatur ist noch viel hochgradiger wie r. Supraspinat.,
Infraspinat., Serratus zum Teil Deltoideus sind atrophisch. Das Ellbogengelenk ist spitz-
winklig kontrabiert, die Kontraktur läßt sich aktiv gar nicht, passiv nur wenig aus-
gleichen. Es besteht Krallenhand. Der Daumen ist eingeschlagen, die Finger sind in
sämtlichen Interphalangealgelenken gebeugt. Thenar ist stark atrophisch.
An beiden Oberarmen, etwas unterhalb des Schultergelenks, an der Außenseite
wenig ausgedehnte Hautnarben.
Thorax: starke Atrophie des l. Pertoralis, desgleichen der I. Rückenmuskeln. —
Kyphoskoliose nach r. von der unteren Halswirbelsäule bis in die Lumbalgegend
reichend. Kleine Hautnarben im Nacken. Am r. Rippenbogen in der Mamillarlinie
kinderfaustgroße Auftreibung, unterhalb zwei Hautnarben.
BDR.: fehlen.
U. E.: motorische Kraft herabgesetzt, l. >r, Tonus lœr. leichte Atrophie
der l|. E.
PSR. r. gesteigert, l. herabgesetzt. ASR. +.
Babinski r. angedeutet, Oppenheim neg.
Fußlidschluß: unmöglich, sofort Fallen.
Gang: spastisch-ataktisch mit starker Falltendenz nach vorne.
6. Nov. 1930. Pat. äußerst Größenideen. Er beabsichtigt einige Gasthäuser zu
kaufen. Geld werde er zu 10% bekommen. Der Klinik werde er Möbel kaufen.
10. Nov. Am Abend ist Pat. jetzt täglich euphorisch, ladet alle Anwesenden zu
„Schlemmeressen“ ein, „was Sie wollen, kauf ich Ihnen“.
17. Nov. Zeitweise sehr unwillig, besonders während des Fiebers (Ty.-Vakz.\,
klagt über starke ziehende Schmerzen in den Beinen.
104 Dr. A. Hauser.
15. Dez. Pat. bekam bis jetzt 10 NS. (9a 0,45, 1a 0,3, 8 Bismog. 8 Ty.-Vakz.
(bis 45 Mill. intravenös).
Pat. ist meist unwillig, verlangt stürmisch hinaus, ist zu keiner Aussprache zu
bringen, „Hier spreche ich nicht mehr, so eingesperrt“. Klagt über Schmerzen in den
Beinen.
28. Dez. Pat. ist seit einer Woche frischer, steht allein auf, sitzt am Tisch.
beschäftigt sich mit Lesen. Er ist höflich, freundlich, drängt nicht mehr auf seine
Entlassung. Zeitweise Klagen über „Reißen‘ in den Beinen.
4. Jän. 191. Pat. ist ruhig, frischer, ganz geordnet.
12. Febr. Pat. hatte am Abend einen paralytischen Insult mit nachfolzendem
Sprachverlust zirka 2 Stunden. Anschließend Erregungszustand.
13. Febr. Pat. ist sehr erregt, halluz. lebhaft, immer nach |. erfolgen die Ant-
worten auf die halluz. Stimmen. Er ist desorientiert, Kontakt ist mit Pat. kaum her-
zustellen.
16. Febr. Pat. ist etwas ruhiger, geordneter. Die Halluzinationen halten an.
19. Febr. Die Halluzinationen haben aufgehört. Pat. ist ruhig und geordnet.
Sprache wie vor dem Anfall.
5. März. Ruhig, orientiert. Pat. klagt über heftige, ziehende, stechende Schmer-
zen in den Beinen, besonders in den Oberschenkeln.
WaR.: Liquor pos., Serum mittelstark.
Pandy -—--, Nonne-Apelt +, Nissl 5, Lymphozyten 124 3.
Röntgenbefund: linke obere Extremität:
Iın Bereiche des ganzen Skeletts besteht eine ziemlich hochgradige Osteoporose,
zirkumskripte Veränderungen sind nicht nachweisbar.
Versorgeungsheim der Stadt Wien-Lainz.
Aufnahmsabteilung.
Aufnahme: 20. März 1931. Diagnose: Taboparalyse, Syringomvelie.
Derzeit Klagen über Schmerzen in den Beinen, angeblich gehfähig.
Status praesens.
Untermittelgroßer Pat. von mittlerem Ernährungszustand. Pupillen entrundet,
l.>>-r., lichtstarr. Nystagmus horizontal, beiderseitig, Gebiß defekt, Rachen o. B.
Leichte dysarthr. Sprachstörung.
Colum: o. B.
Thorax: asymm. dextrokonv. Kyphoskol.
Pulmo: heller Schall, verschiebliche Grenzen, Vesikuläratmen.
Cor.: normale Grenzen, reine Töne.
Abdomen: o. B.
Extremitäten: starke Atrophie der Muskeln der oberen Extremitäten, besonders
der Hände. Beuge-Kontrakturen im 1 Ellbogen und den Fingergelenken.
Ta) lebhaft, r. >1. Babinski r.
Gang: spastisch-ataktisch.
Harn: Alb. —-.
Sacch. 0.
Psyehisch: zeitlich und örtlich gut orientiert, zeitweise wieder verwirrt.
Rechnen: 12 x 12 = 144 50 — 18 = 32
BxXxi= 35 47-19 = 66
3x9- 2%
Status praesens.
Caput norm. konfig., keine Klovfempfindlichkeit.
Pupillen 1. > r., entrundet.
Licht R. &.
Syringomyelie und Metalues. 105
Konv.-R. —.
Stirninnervation syınm.
Lidschluß beiderseits gut.
Augenbewegung frei, beim Blick nach links gerichtet: rotator. Nystagmus.
Kornealreflexe -+.
Rechter Mundwinkel steht etwas tiefer als der linke; bei stärkerer Innervation
verschwindet der Unterschied.
Graumeninnervation symın.
0. E.:
Motor. Kraft stark herabgesetzt, I. > r.
Motilität: der r. Arm wird nur bis zur Horizontalen gehoben. Beugung und
Streckung im Ellbogengelenk gut, auch im Handgelenk Beugung und Streckung er-
halten. Beugung nur in den Metakarpophalangealgelenken im minimalen Ausmaß mög-
lich, in den Interphalangealgelenken aufgehoben. Am Mittelfinger eine Brandblase, eben-
falls eine auf der Handfläche. Der Daumen kann nicht opponiert werden. Der l. Arm:
motor. Kraft herabgesetzt. Arın wird in gebeugtem Ellbogen gehalten. Ellbogengelenk
kann aktiv gar nicht, passiv etwas gestreckt werden. Krallenhand. Daumen ist addu-
ziert und gebeugt und kann auf Aufforderung nicht abduziert und opponiert werden.
Finger in den Interphalangealgelenken gebeugt. An beiden Oberarmen unter dem
Schultergelenk alte Brandblasen.
Atrophie an beiden Extremitäten, 1. > r.
Atrophie des Thenars und Hypothenars beiderseits.
FNV. l. gut ausführbar, r. wegen Parese nicht prüfbar.
Thorax: L Peetoralis atrophisch > r.
Atrophie der 1. Rückenmuskeln, dextrokonvexe Skoliose der unleren fals- und
Brustwirbel, sinistrokonvexe Skoliose der Lendenwirbel. Kyphose der r. Brustwirbel-
säule.
BDR. ©.
Am r. Rippenbogen eine Auftreibung, unterhalb 2 Brandnarben.
U. E.: Motilität frei: motor. Kraft beiderseits herabgesetzt, L. > r.
Tonus r. > 1.?
P.S.R rn. >|.
A.S.R. —.
Pyramidenzeichen:
Babinski r. angedeutet.
Rossolimo L >r.
Oppenheim —.
Atrophie: r. Oberschenkel > 1.
l. Unterschenkel > r.
K. H. V.: Ataxie L >r.
Oberflächensensibilität]
Tiefensensibilität J
Diagnose: Taboparalyse, Syringomyelie.
Dekursus.
15. April 1931. Pat. ist in einem Verwirrtheitszustand.
Heute früh um 6 Uhr aus dem Bett gestiegen und fiel zu Boden. Er zog sich
im äußersten Anteil des l. Augenbrauenbogens eine zirka 2 em lange Rißquetsch-
wunde zu. Therapie: Jodtinktur, Heftpflasterverband.
9 Uhr 30. Pat. ist ruhig, jedoch desorientiert. Wunde heilt gut.
20. April. Lumbalpunktion: Liquor klar:
11 Zellen, Nonne-Apelt =, Ges.-Eiweiß 45 — 50.
Wassermann +--, Ballung +--.
Serum neg., Meinicke —, Ballung --.
21. April. Pat. ist verwirrt, will nach Hause gehen, fühlt sich gesund.
derzeit nicht prüfbar.
106 Dr. A. Hauser.
24. April. Pat. ist vergeßlich, weinerlich gestimmt, klagt über ziehende Schmer-
zen. Therapie: 2X komb. Pulver.
24. April. Typische Störung der epikritischen Sensibilität an den oberen Ex-
tremitäten und im Bereiche der oberen 4 Dorsalsegmente am Stamm.
Starke Störung der Tiefensensibilität.
16. Mai. Seit gestern abends plötzlich Bewußtlosigkeit. Augen verdreht, starke
tonisch-klonische Zuckungen um Mund und Augen, ganz geringe Zuckung im r. Arm.
Schaum vor dem Mund. Zunge stark geschwollen, mehrere Bisse, daher blutet die
Zunge.
Babinski beiderseits -H--, Rossolimo links.
Therapie: Lumbalpunktion und 4000 Traubenzuckerlösung 50 ccm intravenös.
Koffein 0,25 subkutan.
Liquor: 7 Zellen, Nonne-Apelt +, Weichbrodt ---+, Ges.Eiweiß 50 —
(60), Serum: Meinicke —, Ballung —.
Gestorben um 5 Uhr nachmittags.
Obduktionsbefund:
Schwere eitrige Bronchitis und Lobulärpneumonie in beiden, besonders im linken
Unterlappen. Mäßige glanduläre Prostatahypertrophie, aber beträchtliche Trabekel-
blase und Cystitis folliculalis. Parenchymatöse Degeneration des Herzens, der Leber
und Nieren.
Die Dura ist gespannt und die Kleinhirntonsillen in das Hinterhauptsloch hinein-
gepreßt. Leichte bindegewebige Verdickung der Leptomeningen. Schwerste Syringo-
myelie. Auf sämtlichen Querschnitten des Rückenmarks zentrale Höhlenbildung. Die
Wand der Höhle mit grauer Substanz ausgekleidet. Graue Degeneration der Hinter-
stränge im oberen Halsmark. Spitzwinkelige Weichteilkontraktur beider, insbesondere
des 1. Ellbogengelenkes.
Am Gehirn, insbesondere am Ependym desselben, keinerlei auffallende Erschei-
nungen. Im Bereiche des For. Magendie liegt im Lumen des vierten Ventrikels eine
sagittal platte Gewebsmasse von nicht ganz 1 cm Länge, welche einen Teil des
Lumens ausfüllt und eine fein-knötchenförmige Oberfläche besitzt.
Die makroskopische Betrachtung des Rückenmarks zeigt, wie der Obduktions-
befund bereits besagt, eine vollentwickelte Syringomyelie. Bezüglich der Ausdehnung
des Prozesses wäre noch ergänzend zum Obduktionsbefund folgendes hinzuzufügen:
Die Höhle erreicht, wie typisch, ihren Höhepunkt im Bereiche des oberen Dorsal-
marks und bildet sich nach oben und unten sukzessive zurück. Infolgedessen ist das
oberste Zervikalmark verhältnismäßig besser erhalten geblieben als die Thorakal-
markabschnitte, welche durch die Höhlenbildung eine fast völlige Konsumption der
Nervensubstanz zeigen. Nur dadurch ist es möglich gewesen, daß man bei der Ob-
duktion im oberen Halsmark eine graue Degeneration der Hinterstränge feststellen
konnte, ein Befund, der in den stärker entarteten Partien des unteren Halsmarks und
oberen Brustabschnitten kaum möglich gewesen wäre.
Eine systematische Schnittführung durch das Rückenmark in den kaudaleren
Abschnitten zeigt, wie die syringomyvelische Höhle sich sukzessive abbaut und schlieb-
lich kann man im unteren Lendenmark eine kleine Erweiterung in der massa centralis
feststellen, die bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Hydromyelie aussieht. Eine
Hinterstrangsdegeneration in den kaudalen Rückenmarkspartien konnten wir eigent-
lieh nicht feststellen. Bemerkenswert sind nur überall die starken Verdickungen der
Meningen, welche das Rückenmark als dichte Scheide umhüllt haben.
Bei dem klinischen Befund ist es für uns nur wichtig, histologisch nachzusehen,
erstens ob ein tabischer Prozeß vorliegt und zweitens ob irgendwie sich der syringo-
myelische Entartungsvorgang auf dem luetischen Prozeß aufbaut.
Wir haben aus sämtlichen Höhen und verschiedensten Segmenten Schnitte an-
gefertigt, haben jedoch das obere Sakral- und untere Lendenmark in Serie ge-
schnitten, da wir hier das Ineinanderweben der beiden pathologischen Prozesse am
ehesten vermuteten. Die Serie wurde nach Weigert gefärbt, die übrigen einzelnen
Syringomyelie und Metalues. 107
Segmente gleichfalls für Markscheidenmethode vorbereitet und gefärbt. Daneben wurden
aber auch Schnitte mit Hämatoxylin-Eosin, nach Van Gieson, Mallory und Nissl gefärbt.
Die Untersuchung des untersten Rückenmarkabschnittes ergibt im Bereiche von Lė
bis L’, also jenem Punkt, wo der charakteristische Höhlenprozeß beginnt, folgendes:
Man sieht eine starke Verdickung der Leptomeningen, welche sich sowohl an
der dorsalen als auch ventralen Rückenmarkshälfte zeigt und namentlich in der
Gegend des vorderen Septum ist die Pia zu einer dichten Schwarte umgeformt. Ein
breiter bindegewebiger Zapfen zieht im Sulcus spinalis anterior nach vorn. An zahl-
reichen Stellen der Zirkumferenz des Rückenmarks ist es zu einer starken Verwach-
sung der verdickten Pia mıt dem Rückenmark selbst gekommen und an diesen Stellen
Abb. 1. V. Lumbalsegment (Übergang zum l. Sakralsegment): Spornartiges Vordringen
der grauen massa centralis in das Septum post. Pseudosystematische Aufhellungen in
den Hintersträngen und leichte Randdegeneration in den Hinterseitensträngen.
kann man auch jetzt eine wesentliche Erkrankung der Rindenabschnitte erkennen. Be-
sonders stark zerstört ist die Lissauersche Randzone und die angrenzenden Partien
des Seitenstrangs, eigentlich stärker als jene «der Hinterstränge, die sich verhältnis-
mäßig besser erhalten zeigen als die ersteren. Immerhin erkennt man auch da, genau
so wie an der ventralen Peripherie, auffallende Quellungserscheinungen an den Mark-
scheiden und besonders die Wurzeln in ihren zentralen und peripheren Abschnitten
zeigen eine wesentliche Entartung der Faserelemente. Neben diesen Quellungserschei-
nungen sieht man dann pseudosystematische Aufhellungen in den Hintersträngen, —
auf einer Seite stärker als auf der anderen — welche schon einem abgelaufenen Ent-
artungsprozeß entsprechen. Im Bereiche der aufgehellten Partien ist es nicht zu einer
kompletten Zerstörung der Markscheiden gekommen, sondern man kann nur eine
Lichtung wahrnehmen bei relativ größerer Zahl intakter Elemente. Eine besondere
Form der Degeneration zeigt eigentlich nur die hintere Septumlinie. Hier erkennt man
eine keilförmige Entartung mit der Basis an der Peripherie bei einem Faserrest, der
schon schwerste Zeichen einer lokalen Myelolyse zeigt. Dann erkennt man normale
Hinterstrangsfelder und im mittleren Drittel des Hinterstrangs sieht man nur eine
diffuse Aufhellung, die aber quantitativ viel geringer ist als die in der Peripherie.
Stärker wird dann wieder der Entartungsprozeß am Ende des septalen Abschnittes im
108 Dr. A. Hauser.
Bereiche des ventralen Hinterstrangsfeldes, wo sich die komplette Degeneration der
medialen Partie von der wesentlich besseren Erhaltung der Markscheiden in den
lateralen Abschnitten des ventralen Hinterstrangsfeldes kontrastierend abhebt. Hier
hat man allerdings den Eindruck, als ob sich die massa centralis weit dorsal in den
Hinterstrang ausladen würde und man kann auch tatsächlich eine Bucht des vielfach
gewundenen Zentralkanals erkennen, welche sich gegen das Septum hin weit dorsal-
wärts erstreckt. Infolgedessen wird vielfach der Eindruck erweckt, als ob hier eine
echte Entartung des Hinterstrangs vorliege. In Wirklichkeit hingegen handelt es sich
um eine Lageverschiebung der massa centralis, welche sich eben zungenförmig in
Abb. 2. Starke Gefäßwucherung und Wandverdickung der zentralen Gefäße mit état
lacunaire in der Umgebung des Zentralkanals (Sakralmark).
das Septum einbuchtet. Dafür spricht auch die Tatsache, daß diese Masse von ein-
zelnen Nervenfasern umkreist wird, was wohl nichts anderes vorstellt, als die Reste
der Commissura posterior, welche durch die atypische Gruppierung der grauen Sub-
stanz von ihrer normalen Bahn abgedrängt werden, um dann auf Umwegen auf
die andere Seite zu gelangen. Die graue Masse selbst zeigt, abgesehen von einer Faser-
verarmung der Hinterhörner, in den übrigen Partien keine signifikante Veränderung.
Allerdings die massa centralis läßt schwerere Veränderungen augenfällig sein, und
zwar sieht man den erweiterten Zentralkanal, der sich in verschiedenen Buchten ent-
faltet hat, wobei gerade die ventrale Seite viel stärker gefältelt ist als der dorsale
Abschnitt, wo, wie wir bereits betont haben, sich mehr eine massive Masse in den
Hinterstrang einschiebt. Knapp unter dem Ependym, das hier noch in seiner Totalität
erhalten ist, liegen Konvolute von Blutgefäßen, welche auffallend verdickte Wandun-
gen zeigen und meist von einem lakunären Raum umscheidet sind. In der Umgebung
dieser Gefäße zeigt sich ein schwerer Entartungsvorgang an den Markscheiden und
man kann die Reste abgrelaufener, wie die Zeichen frischer Faserentartung an allen
Stellen der Umrahmung des Zentralkanals wahrnehmen. Im allgemeinen macht der
Prozeß an der ventralen Seite den Eindruck einer höheren Zerstörung, besonders in
den lateralen (Gebieten und teilweise auch in der ventralen Kommissur. Dieser Punkt
Syringomyelie und Metalues. 109
stellt den Anfang der vorhin beschriebenen makroskopischen Erweiterung der Zentral-
kanalgegend in einen Hohlraum vor.
Vergleichen wir nun diesen Abschnitt mit den kaudaleren Teilen, und zwar dem
unteren Sakralmark, so sehen wir, daß hier die Gegend -des Zentralkanals in einen
Haufen von kleinen Ependymkanälen zerlegt erscheint, welche kugelförmig die massa
centralis erfüllen. In der Mitte sieht man dann eine Auflockerung, ohne daß jedoch
irgendeine Höhle größeren Stils bestünde, zumal im Bereiche der lückenförmigen Auf-
hellung eine Anzahl solcher Ependymkanälchen vorhanden sind. Vielfach gruppieren
sich dann diese Reste zusammen, so daß wir eine ganz eigenartige Dispersion einerseits
Abb. 3. Auflösung des Zentralkanals in zahlreiche kleine Kanälchen und Gruppen-
bildung von Ependymzellen. Bildung von (Gefäßpaketen mit Wandreaktion und peri-
vaskulärer Desintegration (Sakralmark).
und eine Zusammenballung von Ependymschläuchen anderseits sehen können, ein Zu-
stand, der hier den Zentralkanal nicht mehr als ein systemisiertes Gebilde erscheinen
läßt, sondern mehr als eine Zahl geordneter und ungeordneter Ependymzellen zeigt.
Die Nervensubstanz selbst ist hier vielfach stark entartet und zahlreiche Corpora
amylacea erfüllen das Nervengewebe besonders an der dorsalen Rückenmarkshälfte,
wobei die Randpartien der Hinter- und Seitenstränge am meisten beteiligt sind. Ein
Gleiches kann man an den Wurzeln sehen, wo sich zahlreiche Abbauprodukte dieser
Art finden. Was die Meningen selbst anlangt, so zeigen sie eine diffuse Verdichtung
sowohl der Pia als auch der anschließenden arachnoidealen Formation. Man sieht
eine Verdiekung der Blutgefäße, hochgradigste Bindegewebsvermehrung und auch eine
allerdings recht spärliche Infiltration mit Lymphozyten, welche durchaus diffus
ist, nirgends eigentlich ein kompakteres, perivaskuläres Infiltrat bildet. Das Binde-
gewebe ist vielfach homogenisiert und namentlich im vorderen Septum hat sich
die ganze mesodermale Substanz in ein homogenes Maschenwerk umgeformt, in
dem auch die homogenisierten Blutgefäße eingeschlossen sind. Die intraspinalen Ge-
fäße zeigen auch eine auffallende Veränderung. Merkwürdigerweise sind gerade
die Gefäße der massa centralis und der Vorderhörner zum Teil besonders verdickt
und im Mallory-Priparat treten sie durch die starke bindegewebige Anreicherung be-
110 Dr. A. Hauser.
sonders plastisch hervor. Hingegen kann man keine wesentliche Verdickung der Gefäße
im Bereich der Hinterstränge wahrnehmen und lediglich die größeren Äste im Bereiche
der Arteria septi fallen durch ihren bindegewebigen Reichtum besonders auf.
Verfolgen wir die Serie nun weiter nach aufwärts und befinden uns ungefähr
in der Höhe des IV. Lendensegments, so sieht man dann folgendes: die hydro-
myelische Erweiterung des Zentralkanals hat weitere Fortschritte gemacht und die
buchtförmige Eindrängung in das Septum bleibt deutlich vorhanden. Man hat hier fast
die Empfindung, als ob ein Kanal bis an die Peripherie des Rückenmarks bestünde.
Doch dürfte das vermutlich in Wirklichkeit nicht der Fall sein. Die Hinterstränge
Abb. 4. IV. Lumbalsegment: Hydromyelische Erweiterung des Zentralkanals mit Sporn-
bildung in das Septum posterius. Radikuläre und pseudosystematische Aufhellungen
in den Hintersträngen. Randdegeneration in den Hintersträngen. Aufhellungen der
peripheren Wurzelpakete.
selbst sind beiderseits eigenartig verändert. Man sieht zwei asymmetrische Herde,
welche besonders das mediale Drittel der Hinterstränge ergreifen und hier jedoch an
Ausdehnung und Umfang voneinander differieren. Die Peripherie der Hinterstränge
ist recht gut erhalten und man kann hier lediglich eine Qwuellung einzelner Mark-
scheiden erkennen. Auch hier sieht man dann, wie gegen die Lissauersche Randzone
hin der Markscheidenzerstörungsprozeß immer weiter und weiter greift, um dann im
Seitenstrang sehr deutlich zu sein, wobei an dieser Stelle sowohl das Kleinhirnseiten-
strangsareal als auch das angrenzende Pyramidengebiet eine Aufhellung erfahren hat.
Wie früher, bestehen auch hier frische und alte Gewebsreaktionen. Die Wurzeln selbst
sind unregelmäßig alteriert, im peripheren wie im zentralen Abschnitt stellenweise ent-
artet. Das vordere Septum dringt mit einer breiten, von Gefäßen reich durchsetzten
Zunge gegen die massa centralis vor. Und hier erkennt man nun eine weitere Zer-
störung des zentralen Graus, welche an der Grenze zwischen vorderen Sulcus und
Zentralkanal einsetzt. Dieser Zerstörung fällt zunächst die vordere Kommissur zum
Opfer, welche als ein abgerissener Strang zwischen Zentralkanal und Bindegewebszunge
des vorderen Septums liegen bleibt und sich hier mitten in einer Gewebsauflockerung
befindet, wodurch die Entwicklung einer zweiten Höhle eingeleitet wird. Das Ependym
des Zentralkanals ist hier noch an der ventralen Seite vorhanden und die Höhle des
Syringomyelie und Metalues. 111
Zentralkanals ist mit jener, die ventral von ihr sich entwickelt, nicht in Verbindung.
Auch da erkennt man dichte Blutgefäßinseln, welche mit ihren breiten Wandungen
das Gewebe substituieren. In der weiteren Entwicklung quillt dann das Gewebe zu
beiden Seiten des Zentralkanals, wodurch die Einleitung der völligen Zerstörung grö-
ßerer Rückenmarkspartien einsetzt.
Betrachten wir das Rückenmark im unteren Thorakalmarkabschnitt, so sehen
wir folgendes Zustandsbild: Man erkennt eine Rückenmarkshöhle, welche die ganze
zentrale Masse des Rückenmarks mit Einschluß des gesamten Graus umfaßt. Buchten-
förmig wird die ganze Höhle in die graue Masse vorgetragen und vielfach kann man
dann durch schmale Brücken zusammenhängende Halbinseln der zerstörten Substanzen
Br)
tare UNY
Abb. 5. Unteres Thorakalmark. Syringomyelische Höhle mit seitlichen Ausläufern gegen
die Peripherie. Vollständige Isolierung der Hinterstränge mit partieller Entartung der
Anteile, welche an die Höhle angrenzen. Atrophie des r. Hinterstranges und Ab-
plattung desselben. Dislokation des Sulc. ant. Meningeale Verdickungen an der dorsalen
Rückenmarksseite.
sehen. Die Höhle selbst hat jetzt eine direkte Abschlußleiste im vorderen Septum ge-
funden und außerdem kann man dann bemerken, wie die syringomyelische Höhle mit
zwei großen Kanälen, welche im Bereiche der ehemaligen Hinterhörner gelegen sind,
bis an die Rückenmarksperipherie heranreicht. Auf diese Weise kommuniziert die
zentrale Höhle mit den Liquorräumen an der Rückenmarksperipherie. Dabei muß es
allerdings offen bleiben, ob nicht in Wirklichkeit doch noch zarte Krewebslücken die
direkte Kommunikation von Liquorraum und Höhle verhindern, da man stellenweise
doch an der Peripherie ganz feine Gewebsreste sieht, die vermutlich artefizielle Durch-
rißverbindungen vortäuschen, die in Wirklichkeit nicht bestehen dürften.
Was nun die Degeneration der weißen Substanz des Rückenmarks anlangt, so
kann man hier feststellen, daß eine systematische Degeneration von Strängen nicht
besteht. Jeder einzelne Schnitt aus dieser Höhe zeigt, daß der Markscheidenzustand
unentwegt unverändert ist und von einer systematischen Degeneration der Hinter-
stränge oder auch der Seitengebiete des Rückenmarks kann nicht gesprochen werden.
Ganz allgemein kann man wohl sagen, daß in erster Linie die zentralen Gebiete der
weißen Substanz affiziert sind, während die Randpartien im wesentlichen erhalten
bleiben. Dies gilt nun merkwürdigerweise besonders für die Vorder- und Hinterstränge,
112 Dr. A. Hauser,
Abb. 6. Erhaltener und in Auflösung begriffener Zentralkanal mit begleitenden Epen-
dympaketen. Der Zentralkanal ist durch eine Gewebsbrücke von der unten liegenden
Höhle getrennt. Homogenisierte Masse um erkrankte Gefäße. Starkes Ödem der ganzen
Gegend.
Abb, 7. Allmähliche Arrodierung des Zentralkanals durch die syringomyelische Höhle.
Atypische Kanalreste und Ependymschläuche.
Syringomyelie und Metalues. 113
weniger für die Seitenteile, wo auch die Peripherie erheblich degeneriert ist. Dabei
hat darn außerdem die Degeneration keinen formalen systematischen Aufbau, ist
bald global, bald mehr diffus oder streifenförmig und läßt auf diese Weise eigentlich
weder einen gefäßsystematischen noch einen fasersystematischen Aufbau erkennen.
Betrachten wir in dieser Gegend den Zustand der Höhle genauer, so kann man
ganz merkwürdige Details wahrnehmen. Man sieht gerade dort, wo die syringomyelische
Höhle anfängt, größere Territorien von Nervensubstanz zu substituieren, Reste der
kaudalsten Formation des Zentralkanals, also Kanäle von Ependym, welche eine
zusammengeballte Masse unterhalb des eigentlichen erweiterten Zentralkanals bilden.
Abb. 8. Warzenförmiges Vorspringen der Kanalwand mit Haufen von Ependym-
schläuchen. Unterminierung durch Gefäßpakete mit starker Desintegration und aus-
gedehntem Gewebszerfall.
Hier entsteht dann eine Formation, die an ein Ependymom oder Neuroepitheliom spur-
weise gemahnt, indem hier eigenartige, palisadenförmig aufgebaute Zellen, perivaskulär
gruppiert, einen gewissen organsystematischen Aufbau zeigen. Dann sieht man wieder
Abschnitte, wo derartige (Gewebsreaktionen vollständig vermißt werden und nur
ein aufgelockertes Gewebe, in dem die Blutgefäße als dicke wandgequollene Gebilde
liegen, um welche herum das Gewebe weitgehend zerstört ist. Im Bereiche der
Höhle selbst liegen Halbinseln oder auch inselförmige Gebilde, welche auf allen
Seiten von Ependym umkleidet sind und im Zentrum eine ganze Anzahl von Blut-
gefäßen bergen, zwischen welchen sich Gliaelemente bogenförmig ausspannen. Solche
Ependyminseln und Ependymschläuche mit Blutgefäßen und Glia im Innern finden
sich diffus zerstreut im ganzen Bereich der Höhle.
Gegen das obere Brustmark hin schrumpft der Rest der Nervensubstanz auf
ein Minimum zusammen und man kann dann einen Bruchteil einer nervösen Masse
feststellen, zumal der größte Teil der übrigen Elemente dem höhlenförmigen Ent-
artungsprozeß anheimgefallen ist. Man kann stellenweise noch Reste der ehemaligen
Zentralkanalwandung finden, wobei sich knapp unter dieser Ependymschicht ein Band
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 8
114 Dr. A. Hauser.
von Blutgefäßen findet, welche durch die verdickten, homogenisierten und aufgelocker-
ten Bindegewebsnetze besonders deutlich hervortreten. Unter dem Ependym sieht man
dann auch noch vereinzelt wieder in Bändern gebundene Ependymzellen, die sich
aber vielfach durch regressive Veränderungen auszeichnen. Und man kann hier wohl
eine Umformung von Ependymzellen in Glia mit reichen Fortsatzbildungen beobachten.
Abb. 9. Oberes Brustmark: Erweiterung der Höhle mit Einschmelzung der ganzen
zentralen Region, starker Reduktion der Hinterstränge bei relativer Intaktheit ein-
zelner Teile der Hinterstränge.
—.->
ra.
Abb. 10. Unteres Zervikalmark: Komplette Entartunz der dorsalen Rückenmarkshälfte
mit Verzerrung der erhalten gebliebenen ventralen Abschnitte. Breites Einwuchern der
Meningen in die zerstörten Gebiete.
Knapp bevor das Rückenmark die vollständige Zerstörung durch den svringo-
myelischen Entartunesprozeß erfährt, findet sich im Dorsalmark ein. Abschnitt, der
ganz besonders merkwürdig aussieht. Man erkennt eigentlich nur die ventrale Rücken-
markshälfte, welche noch einen relativ intakten Faseraufbau zeigt, sieht allerdings,
daß die Vorderhörner bereits größtenteils in der dorsal anschlit Benden Höhle unter-
gegangen sind. In diese Hohle reicht von dorsalwärts eine schon bei der makroskopi-
Syringomyelie und Metalues. 115
schen Betrachtung als graue Masse imponierende Zapfenbildung heran und dieser Ge-
webshaufen stelle einen vollständig entarteten, von Markscheiden fast völlig freien
dorsalen Anteil des Rückenmarks vor, so daß jetzt eigentlich das Rückenmark aus
zwei durch eine Höhle getrennte Teile besteht, einem ventralen, annähernd normalen
und aus einem mit stark verdichteten Leptomeningen innig verwachsenen dor-
salen Anteil. Die allenthalben hier noch vorhandenen Markscheiden sind wohl Reste
von afferenten Hinterwurzelfasern, während Strangfasern scheinbar überhaupt nicht
mehr vorhanden sind. Die Meningen sind hier in eine breite schwielige Masse um-
geformt und hängen mit der Höhle zusammen, so daß jetzt ein Zusammenhang zwi-
schen Rückenmarksperipherie und Meninx sicher vorhanden ist, wobei wir auch in
Abb. 11. Schwere plastische, infiltrative Meningitis an der dorsalen Rückenmarks-
hälfte. Diffuse und herdförmige Gruppierung von Lymphozyten.
den schließlich angedeuteten peripheren Wurzeln hochgradige Degenerationsvorgänge
wahrnehmen können. Hier ist das Ependym schon vollständig zerfallen und die graue
Masse ist, bevor sie jene Höhle gebildet hat, von der wir soeben gesprochen haben,
in einem eigenartigen Zerstörungsprozeß untergegangen. Man sieht nämlich, bevor diese
Höhle zur völligen Separation der ventralen und dorsalen Seite geführt hat, daß auch
die Degeneration des Hinterstranges sukzessive in dem Ausmaß vorwärtsschreitet als
von der Höhle her der Prozeß immer mehr und mehr an Intensität zunimmt, bis
schließlich der ganze Hinterstrang die vorhin bezeichnete komplette Markentartung
demonstriert. Überall sieht man Reste von Ependymschläuchen und was das auf-
fallendste ist, mitunter Reste eines echten Zentralkanals bei sonst schon vollständig
vorgeschrittener höhlenförmiger Zerstörung der Nervensubstanz. Dieser merkwürdige
Befund steht im Widerspruch zu den Veränderungen im kaudalen Rückenmarksende,
so daß man wohl annehmen muß, daß in den tieferen Partien ein hydromyelischer
Entartungsprozeß vorliegt, auf den sich höher oben erst die syringomyelische Ent-
artung anschließt. Dabei ist eigentlich überall nur ein schwerer gefäß-degenerativer
Prozeß festzustellen, ein hochgradiges Ödem mit Zugrundegehen der Nervenelemente,
Nirgends eine Entzündung, nirgends eine Tumorbildung. Heterotypische Kanalbildung
und Ependyminseln, Schläuche sind vielfach aus dem Gefüge durch die Höhle gerissene
8*
116 Dr. A. Hauser.
Bestandteile und man kann nirgends einen blastomatösen Prozeß wahrnehmen, ebenso-
wenig aber eine spezifische Entzündung, welche sich im Gegensatze zum Rückenmark
selbst jetzt an den Meningen sehr deutlich findet. Und hier liegt ohne Zweifel eine
ziemlich weit vorgeschrittene chronische Leptomeningitis luetica vor.
Im unteren Zervikalmark ist das Rückenmark fast vollständig zerstört, d. h. es
läßt sich eigentlich die Normalstruktur nicht mehr erkennen und namentlich ist es
die dorsale Rückenmarkhälfte, welche vollständig verschwunden ist, während die ven-
tralen Anteile noch gewisse Reste erkennen lassen. Hier kann man dann nur mehr
zusammenhanglose Gewebsfetzen feststellen, Parenchymstücke, dann wieder schläuche-
Abb. 12. Plastische luetische Leptomeningitis im Bereiche des vorderen Septums. In-
filtrative Wandreaktion eines größeren Gefäßes.
förmige Ependyminseln, Gefäßkonvolute, kurzum einen Gewebsdetritus, der immer noch
an gewissen Stellen Organcharakter zeigt und sich infolgedessen ganz erheblich unter-
scheidet von jenen Erweichungen, die auf vaskulärer Basis beruhen. Die Höhlen-
bildung hat dann so weit geführt, daß es zu einer vollständigen Abtrennung des Ge-
webszusammenhanges gekommen ist und man kann dann mitten im Höhlengebiet schein-
bar direkt von der Peripherie herziehende Wurzeln sehen, welche also mit Umgehung
zentraler Massen sich mitten im Grau dystopisch vorfinden. Überall sehen wir dann
schwere luetische Veränderungen an den Meningen, sowohl chronische Gefäßverände-
rungen, wie diffuse und lokalisierte perivaskuläre Infiltrate an den weichen Hirn-
häuten. Die Ganzlienzellen selbst zeigen, soweit sie bei diesem Prozeß erhalten bleiben,
selbstverständlich sehr schwere Veränderungen. Dies gilt sowohl für die Zellen des
Vorder- wie Hinterhorns und auch in den kaudalen Abschnitten des Rückenmarks.
Wo der Höhlenprozeß erst im Anfang ist, kann man schon Ganglienzellerkrankung
finden. Es ist klar, daß bei Fortschreiten des Prozesses neben den Markscheiden und
Achsenrvlindern auch die Ganglienzellen zugrunde gehen und man kann schon früh-
zeitiz schwerere Reaktionen an den Nervenzellen wahrnehmen, wo die Markscheiden
verhältnismadig noch gut entwickelt sind.
Syringomyelie und Metalues. 117
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Abb. 13. Halbinselförmiger Gewebszapfen mit beiderseitigem Ependymbelag in der
syringomyelischen Höhle.
Abb. 14. Gewebsreste aus der Höhle: Von Ependym umzogene Gruppen, Gefäßpakete
mit und ohne Ependymteile, thrombosierte Gefäßreste und sonstiger Detritus.
Fassen wir den anatomischen Befund der spinalen Veränderungen unseres
Falles kurz zusammen, so liegt wohl ohne Zweifel eine typische Syringo-
myelie vor. Sowohl im histologischen Detail als auch in der segmentalen
Lokalisation entspricht unser Befund einer typischen Syringomyelie. Wie
bei den meisten Fällen zeigt sich auch hier der charakteristische Unter-
118 Dr. A. Hauser.
schied zwischen der kaudalen Rückenmarksveränderung und den weit stärker
ausgeprägten und vielfach anders geformten Veränderungen im Brust- und
Halsmark.
Wenn wir zunächst an die Besprechung der Veränderungen im kaudalen
Rückenmarksgebiet übergehen, so fällt uns zunächst auf, daß der syringo-
myelische Prozeß hier eigentlich noch gar nicht besteht, daß hingegen andere
diffuse Veränderungen des Querschnittes in Erscheinung getreten sind. Zu-
nächst sind es Veränderungen der weißen Substanz, vorwiegend in der dor-
salen Rückenmarkshälfte, also besonders im Hinterstrang und in den dor-
salen Anteilen der Seitenstränge. Wie unsere Beschreibung jedoch zeigt,
unterliegt es hier keinem Zweifel, daß die vom Kliniker angenommene Dia-
gnose eines tabischen Prozesses gewiß nicht besteht. Wir finden vielmehr
einen Prozeß, der zweifellos den Kliniker durch die Symptomatologie leicht
verführen konnte, eine Tabes zu diagnostizieren, daß aber lediglich die Lokali-
sation des Prozesses, nicht aber der eigentliche Charakter es ist, der die
klinische Diagnose einer Tabes rechtfertigen kann. Was in unserem Falle
vorliegt, ist unseres Erachtens mehreres. Wir finden zunächst einen eigen-
artigen degenerativen Prozeß im Hinterstrang, der einen verschiedenen Auf-
bau trägt. In gewisser Hinsicht erinnert er an jene Hinterstrangsveränderun-
gen, die wir bei Pseudosystemerkrankungen sehen. Dann aber sehen wir
auch noch im Lendenmark Parenchymausfälle, welche stellenweise einer
Wurzeldegeneration entsprechen. Und hier liegt ja vielleicht eine gewisse
Beziehung zum tabischen Prozeß tatsächlich vor.
Letztere treten allerdings gegenüber der unsystematischen Entartung
stark in den Hintergrund. Wenn wir eine radikuläre Degeneration sehen,
so findet sie sich sowohl im peripheren wie im zentralen Anteil und es
erscheint uns nach unserem Befunde sehr wahrscheinlich, daß es sich hier
nicht um eine primäre radikuläre Erkrankung handelt, sondern um eine
durch die Meningen sekundär hervorgerufene Läsion der Wurzeln, was im
übrigen ebenso für die hinteren als auch vorderen Wurzeln zutrifft, an denen
wir gleichsinnige Veränderungen wahrnehmen können. Damit hängt auch
die pathologische Reaktion an den Vorderhornzellen zusammen, die wir
auch dann finden, wenn sonst keine Erkrankungsreaktionen in diesem Gebiet
vorhanden sind. Die Ungleichmäßigkeit der Affektion in den beiden Goll-
schen Strängen im Lendenmark ist weiterhin sehr auffallend und zeigt in
Intensität und Ausdehnung erhebliche Unterschiede. Dies trifft auch mit-
unter für die Wurzeln zu und ebenso kann man auch eine ungleichmäßige
\usgesprochenheit des Prozesses an den Meningen zu beiden Seiten des
Rückenmarks wahrnehmen. Daß der Prozeß keine wesentliche Abhängigkeit
von gröberen Veränderungen der intraspinalen Gefäße in den Hintersträngen
besitzt, geht schon daraus hervor, daß gerade in diesen Gebieten die Ge-
füße relativ intakt erscheinen und namentlich die sonst stark hervortreten-
den vaskulären Reaktionen im allgemeinen vermißt werden. Ganz anders
scheint uns der Prozeß in den Seitensträngen zu sein. Hier glauben wir den
Prozeß auf zwei Momente zurückführen zu müssen. Erstens auf einen rand-
Syringomyelie und Metalues. 119
myelotischen Degenerationsvorgang, der eine deutliche Abhängigkeit vom
Zirkulationskreis in der Rückenmarksperipherie zu haben scheint und zweitens
auf einen sekundär degenerativen Prozeß der Seitenstrangspyramide, deren
Degeneration sich bis zum kaudalen Ende der Bahn verfolgen läßt.
Diese Parenchymveränderungen in der weißen Substanz sind ohne
Zweifel ganz unabhängig von jenem Prozeß, der sich im Grau des kaudalen
Rückenmarkabschnittes abspielt. Wir sehen hier im Sakralmark die typische
Auflösung des einheitlichen Zentralkanals in einen ganzen Haufen von kleinen
Ependymschläuchen, welche eine ziemlich umfangreiche Masse darstellen und
den ganzen medianen Anteil der massa centralis erfüllen. Was ferner in die-
sem Gebiete auffällt, ist, daß ventral von dieser Kanalgruppe stark veränderte
wandverdickte homogenisierte Blutgefäße sich etabliert haben und daß diese
Gefäßkolonie wohl unzweifelhaft mehr zum Gebiete der vorderen Rücken-
marksarterie gehört, also vom eigentlichen Hinterstrangsgebiet vollständig
abgetrennt ist. Je höher wir nun vom Sakralmark gegen das Lendenmark
aufsteigen, desto charakteristischer werden die atypischen Formationen des
Zentralkanals. Zunächst eine hydromyelische Erweiterung mit Buchtenbildung
und einem tief ausladenden Sporn, der sich in das hintere Septum einschlägt
und hier spaltförmig den Hinterstrang in zwei Teile spaltet. Daß diese Ver-
änderung nicht bestehen bleibt, sondern sich allmählich modifiziert, zeigt
erst der Befund in den höheren Lenden- und unteren Brustsegmenten. Wir
sehen dann, wie die syringomyelische Höhle sich dadurch bildet, daß eigent-
lich der pathologisch geformte Zentralkanal und dessen Teile oder Ab-
zweigungsbuchten in einen ZerfallsprozeB einbezogen werden, so daß sich
das ursprünglich geteilte Bild der Zentralkanalveränderung einerseits, Höhlen-
bildung anderseits vermengen, so daß in späteren Stadien die Genese nicht
mehr plastisch hervortreten kann. Infolgedessen kommt es zur eigenartigen
Ansammlung von Ependymschläuchen, Gewebsresten mit Ependymbelag, Ge-
fäßkonvoluten, welche mit Ependymzellen umkreist sind, mitten in der
Höhle und diese eigentlich sonst ganz unverständlichen Grewebstrümmer
können eben nur dadurch ihre Erklärung finden, daß durch die völlige
wässerige Inundierung der zentralen Massen des Rückenmarks Reste des
ehemaligen Aufbaues als Halbinseln im zerstörten Gebiete gefunden werden.
Bei dieser Auflösung des zentralen (raus spielt dann ohne Zweifel der be-
gleitende mesodermale Prozeß eine entscheidende Rolle. Gerade in jenen
Abschnitten, wo sich die Höhle stark vergrößert, und das Nervengewebe in
weitesten Ausmaße zur Einschmelzung kommt, sieht man eine sehr starke
Tätigkeit der mesodermalen Grewebsteile. Wir hatten schon hervorgehoben, daß
selbst in den tiefsten Abschnitten des Rückenmarks, wo wesentliche Paren-
chymrveränderungen vermißt werden, bereits namhafte Gefäßveränderungen
auftreten und je höher wir im Rückenmarksgebiet aufsteigen, desto plastischer
treten die produktiven und degenerativen Phänomene an den Blutgefüßen her-
vor. Dabei bleibt hier auch der vorhin erwähnte Befund bestehen, daß die zen-
tralen Gefäße weit schwerer geschädigt erscheinen als jene der weißen Sub-
stanz. Man erkennt große Pakete von wandverdickten, homogenisierten oder in
120 Dr. A. Hauser.
wolkige Fetzen aufgelösten Gefäßgruppen und sieht allerdings daneben auch
eine produktive histiogene Reaktion, welche sowohl Infiltrate Iymphoiden
Charakters als auch produktive Wucherungen von Polyblasten und reifen
Bindegewebszellen zeigt. Die Vermehrung des kollagenen Bindegewebes tritt
besonders im Mallory-Präparat deutlich hervor und breite Flächen sind
von den dunkelblau gefärbten dicken Fasermassen substituiert und durch-
ziehen besonders reichlich die Randpartien der Höhle. Sie entsprechen viel-
fach einem aufgelockerten, teils mesodermalen, teils gliösen Netz, welches
verhältnismäßig faserarm und gliaarm ist. Ein Befund, der ganz besonders
den typischen Syringomyelien gegenüber kontrastierend auffällt. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß bei der Entwicklung der syringomyelischen Höhle ein
mesodermaler Anteil wesentlich hilft und daß sowohl die Ausdehnung und die
Lokalisation der Höhle in weitestem Ausmaß vom Zustand des Gefäßapparates
abhängig zu sein scheinen. Diese Veränderungen zeigen also ein starkes Ak-
tiviertwerden des vasalen Faktors bei dem Zustandekommen der syringomyeli-
schen Rückenmarksentartung. Durch die starke Konsumption der Rücken-
markssubstanz kommt es schließlich zu einer frühzeitigen Berührung der meso-
dermalen Außenfläche der Meningen mit den zentralen Anteilen des Rücken-
marks. Dadurch, daß Spaltbildungen schon verhältnismäßig bald an die Peri-
pherie reichen, ist es dem Mesoderm frühzeitig möglich, in das Rückenmark
selbst ungehindert einzudringen und seine Aktivität zu entfalten, sofern das
Bindegewebe selbst nicht dem degenerativen Prozeß anheimgefallen ist. Da-
durch aber, daß das Bindegewebe mit der meningealen Matrix einerseits im
Wege des vorderen Septums, anderseits im Wege weiteren, pathologisch ge
wucherten Mesoderms, Einbruchspforten in den Syringomyelienspalten erhal-
ten hat, kann die mesodermale Reaktion hier ganz besonderen Umfang er-
reichen. Dadurch unterscheidet sich nun der von uns hier beschriebene Fall
von den gewöhnlichen Fällen der Syringomyelie. Wir wissen zwar aus zahl-
reichen Arbeiten der früheren Jahre, daß solche mesodermale Reaktionen bei
Syringomyelie vorkommen können und seit Thomas und Hauser kennen wir
schon eine solche besondere Gruppe der Syringomyeliefälle. Auf diese Frage
werden wir aber später noch zurückkommen. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß ferner an den Meningen ein abgelaufener und ein frischer luetischer Pro-
zeB besteht und hier demzufolge die Meningen eine exzessive Volumensver-
größerung und starke produktive Aktivitätspotenz besitzen. Infolgedessen
kommt es zum Überschneiden der beiden Prozesse, einmal einer echten plasti-
schen luetischen Meningitis und zweitens einem intraspinalen mesodermalen
Prozeß, der vielfach von der meningealen Seite her genährt wird. Daß die
Parenchyniveränderung nur wieder sekundär auf den Gefäßapparat wirkt, führt
dann dazu, daß die mesodermale Reaktion im Rückenmark selbst eine patho-
plastische Abänderung erfährt.
Es ist hier nicht ausgeschlossen, daß die eigentümlichen Gefäßverände-
rungen der Rückenmarksgefäße nicht nur als primär degenerative, vielleicht
luetischer Provenienz zu deuten sind, sondern in einem gewissen Abhängig-
keitsverhältnis vom Parenchym stehen. Die merkwürdige wandabiotrophische
Syringomyelie und Metalues. 121
Degeneration der spinalen Gefäße besonders in den Gebieten der Parenchym-
degeneration spricht für die vielleicht als Inaktivitätsphänomen zu «deutende
Art der Gefäßreaktion. Anderseits aber scheint doch die schwere Wanderkran-
kung der Gefäße wieder einen ganz entscheidenden Faktor für das Zustande-
kommen der spinalen Zerfallsprozesse darzustellen. So sehen wir, daß im
tiefen Lendenmark, knapp unter den Ependymbuchten, eigenartig veränderte
homogenisierte oder wandgequollene Gefäßkonvolute eingelagert sind und
es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Veränderungen selbst für die spätere
Rückenmarkszerstörung verantwortlich gemacht werden müssen. Daß man
hier nicht ganz die gleichen Veränderungen sieht, wie bei sonstigen Prozessen
im Rückenmark, welche durch Gefäßveränderungen bedingt werden, beruht
schließlich darauf, daß neben der vaskulären Reaktion auch noch andere
Momente eine Rolle spielen, die die typische Myelomalazie oder Myelonekrose
nicht in Erscheinung treten lassen. Allerdings handelt es sich hier um eine
langjährige Erkrankung, die ganz andere Gewebsreaktionen bedingt als die
sonstigen akuten oder subakuten, nekrotisierenden oder malazischen Myelo-
pathien. Die Lokalisation der Veränderungen spricht auch für prinzipielle
Differenzen,
Wenn wir darauf ausgehen, Zeichen irgend einer kongenitalen Ent-
wicklungsstörung zu suchen, welche uns eventuell einen Hinweis auf die
Genese des syringomyelischen Prozesses bieten könnten, so ist es damit
sehr dürftig bestellt. Man könnte vielleicht die eigenartige, vielleicht über
die Norm herausgehende Ependymreaktion am kaudalen Rückenmarksende
hervorheben. Doch scheint dies nach unseren Erfahrungen sehr unsicher
zu sein. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Mehrzahl der Rückenmarke
derartige Ependymveränderungen zeigen und die Auflösung des Zentral-
kanals am kaudalen Ende in eine größere Anzahl von Schläuchen zählt
eigentlich zu den normalen Befunden. (Siehe schon bei Schiesinger,
Zappert u.a.)
Anders verhält es sich vielleicht mit der hydromyelischen Bildung im
unteren Lendenmark. Hier bleibt es allerdings offen, ob es sich nicht hier
um einen sekundären Prozeß handelt, eine Art Liquorstauung, welche durch
Reaktion von oben her bedingt ist. Immerhin ist die Formation des Zentral-
kanals mit der tiefen Bucht in das Septum post. hinein vielleicht doch ein
Zeichen, daß hier irgend eine Aufbaustörung — quasi als ein Locus minoris
resistentiae — im Bereiche der hinteren Schließungslinie des Rückenmarks
vorhanden ist. Trotzdem müssen wir diesem Befund eine wesentliche Bedeu-
tung absprechen, da die Lokalisation, die Entwicklung der Höhle nicht mit
einer solchen Bildung in kausalen Zusammenhange stehen kann. Die
Höhlenbildung beginnt in erster Linie im ventralen Anteil der Massa cen-
tralis, ist also damit von der hinteren Schließungslinie unabhängig. Immerhin
konnten wir in der ganzen Reihe von den zahlreichen Segmenten, ebenso
wie in jenen Abschnitten, die wir in Serie geschnitten haben, nirgends die
sicheren Zeichen einer blastomatösen Reaktion sehen. Nirgends fand sich
122 Dr. A. Hauser.
eine Stelle, wo man von einem echten Tumor sprechen konnte und selbst
dort, wo man Anklänge sah, war es ja doch nichts anderes als die Auf-
lösung der Ependyminsel und deren morphologische Verzerrung durch Ödem
oder sonstige Zustandsveränderungen in den einzelnen Segmenten.
Es fällt uns überhaupt bei unserem Fall auf, daß die bei der Syringo-
myelie so charakteristische gliöse Reaktion verhältnismäßig mangelhaft ent-
wickelt ist und wenn man sonst bei vielen anderen Fällen in der Lage ist.
von einer spinalen Gliose zu sprechen, so kann man dies in unserem Falle ge-
wiß nicht tun. Hier scheint unseres Erachtens nach der Grund darin zu liegen,
daß eben die stärker entwickelte begleitende mesodermale Komponente, welche
symbiotisch mit dem syringomyelischen Prozesse verschmilzt, die gliöse
Reaktion einigermaßen hemmt.
Es hat hier, wenn man so sagen kann, das Mesoderm jene Funktion
übernommen, die bei den reinen Fällen der Syringomyelie die Glia über-
nommen hätte. Bei der starken Einwirkung der Veränderungen der Blut-
gefäße auf das Ektoderm ist es ohne Zweifel auch zu einer schweren Mit-
läsion der Gliastrukturen gekommen und vielleicht hat auch diese Zer-
störung der spinalen Glia dazu beigetragen, daß der Höhlenprozeß besonders
hohe Grade erreicht hat und die Gliose infolgedessen nicht zur Entwick-
lung kam.
Wir schen also auf Grund dieser resumierenden Beschreibung, daß wir
schon im Rückenmark einen Prozeß vor uns haben, bei dem die mesodermalen
Reaktionen wahrscheinlich entscheidend in den spinalen Prozeß eingreifen
und hier organmodifizierend die Veränderungen morphologisch modellieren.
Hier müssen wir doch noch auf jene Untersuchungen der Literatur zu
sprechen kommen, wo wir auch bei unkomplizierten Fällen von Syringo-
myelie wesentliche Veränderungen am Bindegewebsapparat finden. Die
ersten Befunde solcher Art finden wir schon bei Schlesinger vermerkt.
der auch auf ähnliche Berichte des Schrifttums hinweist. Ausführlicher und
besonders eingehend finden wir die Bewertung der mesodermalen Kom-
ponente des syringomyelischen Prozesses erst bei Thomas und Hauser,
die eine besondere Type der Syringomyelie beschrieben haben und die von
einer „neoformation mesodermo-vasculaire“ als dem hauptsächlichen Faktor
ihres Falles berichten. Dort handelte es sich scheinbar um keinen luetischen
Prozeß, zumindest ist in der Krankheitsgeschichte kein Anhaltspunkt für dieses
Pathogenese gegeben. Gleichsinnige Befunde sehen wir dann besonders bei
Petren, der sich auch vollkommen Thomas und Hauser anschließt:
schon früher fällt uns besonders ein Fall fast gleicher Art unter den Fällen
von Pick auf, der ebenfalls eine besonders starke Giefäß-Bindegewebsreaktion
beschreibt, doch ist der Fall deswegen für uns von besonderem Interesse, weil
er neben der Syringomyelie eine progressive Paralyse hatte, was ihn mit
dem unsrigen Falle in eine gleiche Linie rückt. Es scheint somit doch dem
Findegewebe eine große Rolle bei der Entstehung gewisser Formen der
Syringomvelie zuzufallen, ohne daß es unbedingt unter einer gleichzeitigen
Syringomyelie und Metalues. 123
luetischen Infektion geschehen muß. Petren war unter dem Eindrucke
seiner Befunde so weit gegangen, in der Syringomyelie einen chronisch
entzündlichen Prozeß zu sehen und in diesem Punkte sehen wir eigentlich
die gewissen Berührungspunkte zu den neueren Auffassungen von Tannen-
berg. Wir glauben nicht, daß es sich um einen entzündlichen Prozeß handelt,
wenngleich es für einzelne Fälle möglich wäre; sicher scheint uns nur,
daß vermutlich schon. frühzeitig eine wesentliche Störung der Parenchym-
Glia-Bindegewebsrelation einsetzt und daß je nach der Aktivität der Glia
der mesodermale Gewebsfaktor stärker oder schwächer in Erscheinung tritt.
Durch die Gewebsdefekte wird sicherlich der Aktivitätsradius des Binde-
gewebes vergrößert und erreicht dann besondere Grade, wenn die Glia
versagt und wenn die substantielle Verbindung zu einer größeren Matrix, wie
es z. B. die Meningen darstellen, hergestellt wird. Die Entwicklung dieser
mesodermalen Hyperplasie, der Gefäßstreifen, der Bindegewebsbänder und
schwieligen Massen kann nur durch einen anderen, im mesodermalen Gewebe
besonders aktiven Prozeß, wie es die Lues vorstellt, weiter gesteigert werden,
so daß es zu einer ganz besonders starken Bindegewebsreaktion kommt,
die jene noch weiter übertrifft, die wir bei anderen mesodermo-aktiven
Syringomyeliefällen antreffen. Hier kann es dann zu einer konstellativen
Verdichtung der beiden Prozesse in ihren verschiedenen Komponenten kom-
men, es kann vielleicht auch eine uncharakteristische Verbiegung der Ge-
websreaktionen Platz greifen, so daß klassische Zeichen des syringomyelischen
Prozesses verschwinden und auch umgekehrt die komplizierende mesodermale
Reaktion der luetischen Affektion modifiziert wird.
Sicher handelt es sich bei der mesodermalen Reaktion dieser Fälle nicht
um eine Neubildung im Sinne eines Blastoms, Hamartoms oder Teratoms,
auch nicht um Heterotopien, wie es Autoren der früheren Zeit angenommen
haben; anderseits kann es bei diesem Umfange der Gewebsproliferation
nicht nur ein substitutiver oder reparativer Prozeß sein, um so mehr als
er sich an Stellen findet, wo ein eigentlicher Gewebszerfall noch gar nicht
Platz gegriffen hat. Die Bindegewebsneubildung und die vaskuläre Reaktion
findet sich vor der eigentlichen degenerativen Höhlenbildung. Inwieweit
hier eine systematische Grewebsumgruppierung erfolgt, inwieweit der syn-
zytiale Vaskularisationscharakter Bedeutung gewinnt, bleibt offen. Sicherlich
geht die Bindegewebsneubildung im Wege der Gefäßnetze weiter und schöpft
nach dem Durchbruch der Höhle bis zu der meningealen Bindegewebsbasis
von hier neue Triebe, welche dann an sonst scheinbar unveränderten Stellen
als Heterotopien imponieren, in Wirklichkeit aber den Ausläufern der Gefäß-
netze in höheren oder tieferen Segmenten entsprechen. An Serienschnitten
kann man dann das sicherlich genauer verfolgen. Die starke Aktivität des
Mesoderms führt sicherlich zu einer Beeinträchtigung des Parenchyms sowie
der Glia und in diesem Sinne kann man wohl annehmen, daß der Neo-
formation mesodermo-vasculaire von Thomas-Hauser eine wesentliche Be-
deutung beim Zustandekommen der Gewebszerstörung zukommt. Diese Wir-
kung wird sich natürlich dann noch verstärken, wenn im Mesoderm eine
124 Dr. A. Hauser.
spezifische Erkrankung abläuft, die sich nicht nur formal am Bindegewebe
und den Gefäßen, sondern auch in den Folgen am Rückenmark zeigen muß,
was in unserem Fall in klassischer Weise zu erkennen ist.
Wenn wir nun jetzt noch zur Frage Stellung nehmen, ob es überhaupt
luetische Veränderungen sind, welche hier eine Bedeutung haben, so müssen
Abb. 15. Typische paralytische Rindenerkrankung. (Leptomeningitis paralytica, peri-
vaskuläre Infiltrate, Degeneration der Zellen, Vermengung der Schichten, Rinden-
atrophie, typische Gliareaktion. )
wir jetzt ergänzend uns mit dem Befund in der Hirnrinde auseinandersetzen.
Klinisch bot der Patient Zeichen eines zerebral-luetischen Prozesses, der
nach der Liquoruntersuchung und den klinischen Symptomen wohl als
Paralyse gedeutet werden konnte. Die histologische Untersuchung der Hirn-
rinde ergibt nur eine Bestätigung der vom Kliniker erhobenen Annahme.
Es findet sich de facto ein paralytischer Prozeß, eine nicht sehr hochgradige
mesodermal-reagible Paralyse mit typischer Leptomeningitis paralytica und
charakteristischen Veränderungen in der Rinde selbst. Auffallend gegenüber
den typischen Fällen der Paralyse erscheint uns hier nun folgendes: Man
Syringomyelie und Metalues. 125
sicht erhebliche Nervenzellausfälle bei relativ geringfügiger gliöser bzw.
mikrogliöser Veränderung. Stäbchenzellen fanden sich zwar hier auch, aber
doch keineswegs in jener großen Menge, wie wir sie bei den meisten Para-
lysen sonst zu schen gewohnt sind. Dann sieht man, daß sich der infiltrative
(iefäßprozeß mitunter auffallend stark in den tiefen Zonen der Rinde zeigt
und besonders auch im Mark und an der Markgrenze stärkerer Infiltrations-
reaktionen auftaucht. Hier ist das Gros der Zellen Plasmazellen, während
die gewöhnlichen Lymphozyten eigentlich in den Hintergrund treten. Die
Lymphräume der kleinen Gefäße sind mitunter ganz von derartigen Plasma-
zellen austapeziert und man kann besonders eine deutliche Anreicherung
des Eisenpigments in der Umgebung der Blutgefäße und in den Gefäßscheiden
selbst erkennen. Was aber weiter auffällt, ist die Entwicklung vieler auf-
fallend großer heller Gliakerne, welche die übrigen Gliaelemente um ein
Vielfaches an Größe übertreffen und mitunter ein wenig an Elemente er-
innern, wie wir sie bei der Pseudosklerose sehen. Immerhin handelt es sich
hier vermutungsweise um hyperplastische Kernreaktionen mit einem gewiß
(legenerativen Einschlag, was wahrscheinlich auch auf einer Störung im
Wasserhaushalt, ähnlich wie bei den hepatogenen Affektionen, beruhen
dürfte (Pollak). Vielleicht zeigt auch diese Veränderung den Grund an,
warum die mikrogliöse Hyperplasie nicht jenen Umfang erreicht, wie wir ihn
sonst bei den gewöhnlichen paralytischen Prozessen zu finden gewohnt sind.
Nach diesen zerebralen Befunden unterliegt es keinem Zweifel, daß
die in den Rückenmarkshäuten gefundenen mesodermalen Veränderungen
typisch luetischen Prozessen entsprechen und daß hier vermutungsweise eine
progressive Paralyse vorliegt, welche sich mit einer Meningitis spinalis kom-
biniert, welche vermutlich Ähnlichkeit besitzt mit jenen Rückenmarkshaut-
veränderungen, die wir auch sonst bei paralytischen Prozessen zu finden
gewohnt sind. Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, daß durch die gleich-
zeitig erhöhte Aktivität des Mesoderms im Rückenmarksprozeß die später
auftretende postluetische Reaktion einen idealen Boden findet und hier die
charakteristisch morphologischen Zeichen eines degenerativen Prozesses
hervorruft. Infolgedessen ist es auch nicht ausgeschlossen, daß hier eine
Überschneidung zweier Prozesse erfolgt, indem sich der ursprünglich viel-
leicht nur mäßiggradig entwickelten histiogenen Reaktion zelligen Charak-
ters der paralytische Prozeß aufpropft, welcher eine sekundäre Reaktion
des Mesoderms bedingt, welche sich dann auch in den intraspinalen Be-
zirken widerspiegelt.
Wir haben schon früher bemerkt, daß auf der Suche nach einer blasto-
matösen Geschwulst im Rückenmark dieselbe trotz eifrigem Suchen vom
oberen Ende bis zum kaudalen Pol nicht gefunden wurde. Hingegen war es
dem Obduzenten bereits aufgefallen, daß in der Lichtung des IV. Ventrikels
ein Körper gelegen war, welchen er nicht deuten konnte und den wir nun
auch in unsere Untersuchung einbezogen haben. Leider ist durch die
Obduktion eine genaue Zusammenhangsbestimmung dieser Geschwulst mit
der Matrix nicht in allen Ebenen der Oblongata möglich gewesen und wir sind
126 Dr. A. Hauser.
infolgedessen bei unserer Beschreibung auch auf gewisse Vermutungen an-
gewiesen. Immerhin hatte man den Eindruck, daß diese kleine plattgeformte
Neubildung nur an einer einzigen Stelle mit dem verlängerten Mark in
substantiellem Zusammenhange stand. Bei der Präparation konnte man den
kleinen Tumor von der Unterlage, d. h. von der Oblongata, winkelförmig
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Abb. 16. Schiefschnitt durch das untere Oblongataende. Eigenartige Ependymrosette,
die in das Lumen des IV. Ventrikels hineinreicht und von Ependym unterminiert ist.
Gegenüber dieser Rosette ein Tumor.
abheben und nur an einer einzigen Stelle (s. oben) war eine Verwachsung
vorhanden. Auch diese Verbindung ist überaus zart und man konnte schon
nach dem makroskopischen Befund vermuten, daß in der Oblongata kein
Tumor vorhanden ist.
Wenn wir nun an einem Schiefschnitt, wie er uns zur Verfügung stand,
diesen unteren Anteil der Medulla oblongata, der Ventrikelwand und den
Tumor betrachten, so sehen wir zunächst folgendes. Man erkennt an den
Schnitten, daß in der Oblongata selbst scheinbar keine Veränderungen grö-
berer Natur bestehen. Denn selbst die Ganglienzellen knapp unter dem
Syringomyelie und Metalues. 127
Ependym, die dem Hypoglossuskern bzw. dem Vagusgebiet angehören,
zeigen ein annähernd normales Verhalten und die Nisslschollen, die gut
erhalten geblieben sind, weisen darauf hin, daß schwerere zelluläre Ver-
änderungen nicht vorliegen. Man sieht auch, daß das Ependym selbst tadel-
los erhalten ist und man erkennt allerdings mitunter unterhalb des Ependyms
Abb. 17. Links die Oblongata mit dem IV. Ventrikel. Unten die Brücke, die von der
Medulla oblongata zum Tumor führt.
eine Reaktionszone der Glia, die sonst aber auch bei einer Unzahl anderer
Fälle gefunden wird, welche keineswegs blastomatösen Charakter zeigt. Es
handelt sich hier um die Hyperplasie der subependymären Gliazone, welche
durchaus normalen hyperplastischen Charakter trägt und nicht blastomatös
entartet ist. An einer einzigen Stelle hingegen können wir eine palisaden-
förmig gebaute Rosette von Ependymzellen sehen, mit langen plasmatischen
Ausläufern; die Rosette ist zum Teil auch von Ependymschläuchen unter-
miniert.
An Hand der Serie durch diese Gegend finden wir dann schließlich auch
jene kleine Gewebsbrücke, durch welche der Tumor mit der Medulla ob-
longata verbunden ist. Wir sehen ein kleines zellarmes Gewebszäpfchen, das
128 Dr. A. Hauser.
durchaus nicht Neubildungscharakter trägt, welches die Brücke zwischen Epen-
dym und Tumor bildet. Dieser Zapfen besteht aus Glia und Bindegewebe, ist
zerklüftet, fasrig aufgesplittert, relativ zellarm und hat weder mit dem Tumor
noch mit dem Ependym bzw. der Parenchymsubstanz eine Verwandtschaft.
Wenn wir nun den sogenannten Fremdkörper im Ventrikel untersuchen,
so sehen wir eine Geschwulst von ganz eigenartigem Aufbau. Wir finden
einen Tumor, der aus fast gleichartigen Zellen zusammengesetzt ist, meist
verhältnismäßig plasmareiche Gebilde mit großen Fortsätzen, daneben aller-
Abb. 18. Detailbild aus dem Tumor mit Verkalkungsherden.
dings auch kleinere Elemente, welche sich synzytial in irgend welchem sym-
biotischen Verband angehäuft haben. Dann aber sieht man ganz besonders
große Gebilde mit zahlreichen intrazellulären Kernteilungen, und wieder über-
dimensionierte Zellen mit eigenartigen Kernveränderungen, gigantische Kern-
massen ohne Teilungsfähigkeit; erkennt dann umgekehrt wieder solche Riesen-
zellen, in denen plötzlich scheinbar die atypischen Kerne degenerativ zerfallen
und hier dann eine Art Detritus im Zellbereich selbst bilden. Ferner findet
man Inseln im Tumor, welche mit Kalkkonkrementen durchsetzt sind, dann
auch Blutgefäße, die eine perivaskuläre und murale Verkalkung zeigen.
Nach dieser Beschreibung handelt es sich ohne Zweifel um eine Ge-
schwulst, welche wir zunächst unpräjudizierlich als ein Spongioblastom be-
zeichnen können. Es liegt hier gewiß keine stürmisch wachsende Geschwulst
vor, denn die starke plasmatische Differenzierung und relativ geringfügige
zellplasmatische Entdifferenzierung weist darauf hin, daß hier zumindest
eine reifere Tumorbildung vorliegt. Mitunter zeigen Kernbildungen in der
Geschwulst an, daß es sich hier um einen neuroepithelialen Charakter der
Syringomyelie und Metalues. 129
Zellen handelt, während andere Partien, wie die früher beschriebenen mit den
Riesenzellen, mehr darauf hinweisen, daß eine fast mehr Mißbildungs-
charakter tragende Tumorform vorliegt. Gerade dieser Befund zeigt also,
daß der im Rückenmark vermißte Tumor nunmehr doch, allerdings an einer
Stelle gefunden wurde, die niemals bei einem syringomyelischen Prozeß
bisher in die Waagschale gefallen ist, auch kaum für das Zustandekommen
der syringomyelischen Veränderungen verantwortlich zu machen ist. Es
zeigt sich nur, daß auch in diesem Fall ein Prozeß vorliegt, welcher sowohl
darauf hinweist, daß eine blastomatöse Reaktion aufgetaucht ist, daß aber
auch anderseits im Tumor selbst der dysgenetische Mißbildungscharakter be-
sonders deutlich betont erscheint. Inwieweit also dies für die Frage eines
konstitutionellen Faktors herangezogen werden kann, bleibt dahingestellt
und wir selbst sind ja überzeugt, daß irgendwie hier in dieser morphologischen
Bildung eine konstellative Quelle vorhanden ist, welche sich in irgend einer
Weise auch für den ganz anders lokalisierten und ganz anders bedingten
Prozeß wirksam erwiesen hat. Wichtig ist es auch, daß in einzelnen Partien
des Tumors eine energische Produktion kleiner Tumorzellen besteht, eine
aufgepfropfte Infiltration, die sich auch in den Gefäßscheiden solcher Ab-
schnitte zeigt. Bei flüchtiger Betrachtung würde man dies für Iymphoide
Infiltrate halten, doch zeigt die diffuse Verbreitung in einzelnen Tumorpartien
an, daß es sich hier um eine besonders aktive Phase des Wachstums handelt.
Aus kategorialen Gründen erscheint dieser Befund hier besonders interessant,
da er die Schwierigkeiten der Klassifizierung der Gliome deutlich aufzeigt.
Wenn wir die Krankengeschichte genauer studieren, so sehen wir, daß
zwischen den Angaben des Patienten und denen der Umgebung Differenzen
bestehen. Angeblich soll nach der Aussage des Bruders schon seit der Kindheit
eine geringere Motilität der oberen Extremitäten bestanden haben, und an-
geblich auch ein Rigor der Muskulatur vorhanden gewesen sein. Da er da-
mals auch Temperatursinnsstörungen zeigte, dürfte wohl damals schon ein
Prozeß bestanden haben, der als Syringomyelie zu deuten ist. Diese An-
gaben werden allerdings vom Patienten selbst nicht bestätigt, was aber bei
der paralytischen Erkrankung des Patienten nicht von Belang ist. Erst zehn
Jahre nach der Akquirierung einer Lues will er die ersten Beschwerden in
den oberen Extremitäten gespürt haben. Diese Differenz der Angaben ist
wohl sehr wesentlich, da wir in einem Fall einen direkten Zusammenhang
mit der luetischen Infektion unter Umständen annehmen können, im anderen
Falle jedoch der Lues höchstens eine konkurrierende Bedeutung werden zu-
sprechen können. Hingegen ist es wichtig, daß wir der Krankengeschichte
entnehmen, daß der Patient als sechsmonatliches Kind ein schweres Trauma
erlitten hat und es ist nicht uninteressant, daß hier jener frühinfantile
wesentliche Degenerationsfaktor Bedeutung gewann, der sich dann später,
wie wir sehen werden, konstellativ zu dem syringomyelischen Entartungs-
prozeß verdichtete.
Im August 1930 berichtet der Patient, daß er seit zehn Jahren gelähmt
sei, früher schon oft heftige reißende Schmerzen in den Oberschenkeln
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 9
130 Dr. A. Hauser.
hatte, ebenso transitorische Harn- und Stuhlbeschwerden. Hingegen fanden
sich damals keine Sprachstörungen und psychisch vor allem vollkommen
intakt, die Pupillen allerdings schon lichtstarr. Der übrige Befund war der
einer typischen Syringomyelie.
Einen Monat später findet man .psychische Störungen, Größenideen,
welche sich scheinbar im Anschluß einer Fieberbehandlung wesentlich steiger-
ten, Schmerzen von lanzinierendem Charakter treten zu dieser Zeit gleich-
falls auf. Dann kommt eine Periode von paralytischen Anfällen mit psychi-
schen Störungen. Der Liquorbefund spricht typisch für Paralyse. Die klini-
schen Erscheinungen der lanzinierenden Schmerzen in den unteren Extremi-
täten, verbunden mit dem psychischen Befund veranlaßte wohl den Kliniker
die Diagnose einer Taboparalyse zu stellen. Die Kombination dieser ıneta-
luetischen Erkrankungen mit einer Syringomyelie lag infolgedessen klinisch
auf der Hand.
Fragen wir uns jetzt, welche Beziehungen bestehen zwischen der Lues
und der Syringomyelie in unserem Falle? Bevor wir zu diesem Problem
Stellung nehmen, wollen wir uns zunächst mit der Literatur dieser Frage kurz
auseinandersetzen. Wir finden in der Literatur einen Fall von Astwaza-
turow, der in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten mit unserem Falle hatte.
Ein Trauma in der Anamnese, eine Anzahl von tabischen Symptomen und
autoptisch eine Gliose des Rückenmarks, besonders im Lumbalmark. Dabei be-
stand eine Degeneration im Bereiche der Hinterstränge. In unserem Falle
findet sich kein für die Tabes selbst charakteristischer Degenerationsbefund, da
gerade jene Felder auch ergriffen waren, welche sonst bei der Tabes vom
Prozeß verschont bleiben und umgekehrt sind jene Teile auch vielfach
erhalten geblieben, die bei der Tabes in erster Linie geschädigt werden.
Der Fall hat mit dem unserigen dadurch eine gewisse Ähnlichkeit, daß er
im klinischen Bild eine gewisse Verwandtschaft zeigt und außerdem auch
ein Trauma in der Anamnese des Falles hervortritt. Speziell wichtig er-
scheint uns die von diesem Autor erwähnte schwere (efäßveränderung.
welche, wie wir auch in unserem Falle gesehen haben, eine große Bedeu-
tung zu besitzen scheint.
In der Literatur sind dann wohl vielfach Fälle beschrieben worden,
welche die Kombination von metaluetischer Erkrankung mit Syringomyelie
geboten hat. So kennen wir Beobachtungen von Ziehen, Plaschkes, Arn-
stein, Hermann, Simarro, Yarshis, Schlesinger, Pick u. a. um
nur einige hervorzuheben. .
In der geringsten Zahl der Fälle schen wir einen Bericht über die statt-
gefundene Obduktion und die meisten Fälle sind nur Berichte über klinische
Beobachtungen, die leider nicht autoptisch weiterverfolgt wurden. Immerhin
sieht man, daß es eine ganze Anzahl von Fällen gibt, bei welchen die
Kombination dieser beiden Erkrankungsgruppen vorliegt. Es ist allerdings
hier eine Einschränkung zu machen. Es wäre ja auch möglich, daß bei vielen
Fällen es sich um eine pure Kombination von zwei Erkrankungen handelt,
welche durch einen Zufall sich miteinander klinisch vermengen und viel-
Syringomyelie und Metalues. 131
leicht wird auch ein ähnlicher Einwand dem von uns berichteten Fall gegen-
über gemacht werden. Um diesem jedoch begegnen zu können, müssen wir
uns doch mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit die in unserem
Falle vorhandenen Grundfaktoren eine konzentrierende Einwirkung für das
Zustandekommen des syringomyelischen Prozesses dargestellt haben.
Zunächst wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob tatsächlich
in unserem Fall eine spezifische luetische Erkrankung vorgelegen ist. Daß
dies im Großhirn der Fall ist, unterliegt gar keinem Zweifel, da wir eine
typische Paralyse im Bereiche der Großhirnrinde fanden. Es unterliegt
aber auch unseres Erachtens keinem Zweifel, daß eine spezifisch luetische
Erkrankung im Rückenmark gefunden wird. Wir können nur diskutieren,
ob der Prozeß ein echt tabischer oder ob ein anders geformter luetischer
Erkrankungsvorgang im Rückenmark vorliegt. Wenn wir die charakteristi-
schen Zeichen der tabischen Hinterstrangs- und Hinterwurzelerkrankung
suchen, so sehen wir, daß wir eigentlich beide nicht in charakteristischer
Form in unserem Falle sehen. Wohl finden wir eine schwere Wurzelerkran-
kung, jedoch fällt es uns auf, daß erstens schon die periphere Wurzel ganz
erhebliche Schädigungen zeigt und daß gerade hier nicht so selten der
zentrale Wurzelanteil verhältnismäßig oft gut erhalten ist. Wir möchten
daher doch die Meinung vertreten, daß die radikuläre Affektion nicht so
sehr einen primären degenerativen Prozeß, wie bei der Tabes, darstellt,
sondern daß es sich hier vielfach um eine sekundäre Wurzelaffektion han-
delt, die sich im Gefolge der hochgradigen meningealen Erkrankung ent-
wickelt hat. Wenn wir diese Meinung vertreten, so geschieht dies hauptsäch-
lich auch deswegen, weil wir mitunter vielfach sogar noch stärker hervor-
tretende Wurzelveränderungen im Bereiche der vorderen Wurzeln fanden,
was für einen echten tabischen Prozeß meistenteils atypisch gilt. Was die
Hinterstrangsveränderungen selbst anlangt, so zeigt sich auch hier eine
durchaus ungewohnte Veränderung. Wir finden zunächst, daß eine typisch
sekundäre Degeneration im Bereiche der Gollschen Stränge vermißt wird.
Und wenn wir selbst an Stellen, wo die Hinterstränge schweren Schaden
gelitten haben, die Präparate durchmustern, so macht die Erkrankung durch-
aus den Eindruck einer fleckigen unsystematischen Degeneration, wobei weder
anatomisch fest umrissene Gebiete berücksichtigt werden, noch aber vor
allem die typischen Felder, die sonst bei Tabes erkrankt sind, geschädigt
erscheinen. So kann man gerade in den Gollschen Strängen Teile an der
Peripherie des Rückenmarks intakt sehen, während umgekehrt die ventralen
Hinterstrangsfelder vollständig zerstört sind. Wir können daher auf Grund
unserer anatomischen Untersuchung die Diagnose eines tabischen Prozesses
nicht akzeptieren. Was wir hingegen sicher als eine luetische Komplikation
betrachten müssen, ist der mesodermal luetische Reaktionsprozeß an den
Gefäßen und an dem überdimensional eingebrochenen Bindegewebe. Wie
wir in unserer Beschreibung bereits festgestellt haben, sieht man typisch
Iymphozytäre Infiltrate sowohl in den Gefäßwandungen als in deren Um-
gebung und diese Reaktion, verbunden mit den chronischen Wandverände-
9*
132 Dr. A. Hauser.
rungen der Gefäße, lassen die Lues als aktiven pathogenetischen Faktor
bei diesem Prozeß gesichert erscheinen.
Wenn wir also den spinalen Prozeß klassifizieren wollen, so liegt unseres
Erachtens nach eher eine Neuromyelitis luetica vor, wobei durch den be
gleitenden syringomyelischen Prozeß der luetische und umgekehrt der lue-
tische durch den syringomyelischen in seinen Formen und Auswirkungen
modifiziert wird.
Was nun den syringomyelischen Prozeß anlangt, so zeigt auch dieser
verschiedene Zeichen, welche von den typischen Fällen der Syringomyelie bis
zu einem gewissen Grad abweichen. Wir fanden im kaudalsten Rücken-
markabschnitt eine Hydromyelie mit reichlichen Buchtenbildungen des Epen-
dyms, sahen einen dorsal gerichteten Spalt, der in das hintere Septum
eindringt und vielleicht einem Defekt der hinteren Schließungslinie ent-
spricht. Daß wir jedoch an diesen Stellen keine blastomatöse Reaktion
sehen, spricht sicherlich dafür, daß also hier wenigstens kein Ausgangs-
punkt für einen Prozeß vorliegt, den man als eine spinale Gliose bezeichnen
könnte. Der Höhlenprozeß setzt eigentlich erst im oberen Lendenmark ein
und da sieht man nun, daß die eigentliche Höhle unabhängig vom hydro-
myelisch erweiterten Zentralkanal beginnt. Ventral von diesem gelegen ist
der Anfang der Höhlenbildung und allmählich wird der Zentralkanal in die
Höhle einbezogen. Es ist selbstverständlich, daß diese Beschreibung den
umgekehrten Weg des Prozesses zeigt. Denn der Ausgangspunkt der Höhlen-
bildung ist nicht im Lendenmark, sondern vermutungsweise in der Hals-
markregion zu suchen. Und wir müssen annehmen, daß das Bild im unteren
Lendenmark ja nur die sekundär in Mitleidenschaft gezogenen Territorien
darstellt und auf diese Weise nur zeigen kann, daß das System der Höhlen-
bildung auch unabhängig vom Zentralkanal auftreten kann. Wäre es eine
primäre Erkrankung im Bereiche des Zentralkanals selbst, so wäre es nur
wahrscheinlich, daß auch im untersten Abschnitt die Höhlenbildung sich
hier zeigt und nicht in der Nachbarschaft des von Haus aus hydromyelisch
erweiterten Kanals.
Was uns nun besonders stark auffällt, ist die merkwürdige Zerstörung
des Zentralkanals und dessen Wandung, die Auflösung in Halbinseln und
Inseln von Gewebe, welche mit Ependym umkleidet sind und die dann
fast wie (Grewebsdetritus oder aber als Gewebszapfen in die Höhlenformation
hereinragen und auf diese Weise vielleicht einen Prozeß vortäuschen, der
in Wirklichkeit sich auf einfache Prinzipien zurückführen läßt. Ähnliche Be-
funde hat seinerzeit auch Straub mitgeteilt. Wir fanden im kaudalen Rücken-
marksabschnitt eine ganze Anzahl von mit Ependym umkleidete Kanäle
und es unterliegt keinem Zweifel, daß es sich hier später um solche Ependym-
kanäle handelt, welche in der syringomyelischen Höhle gefunden werden.
Bemerkenswert ist, daß diese sich auch höher oben finden und hier wird
man einen gewissen Mißbildungscharakter doch nicht ganz ausschließen
können, da «derartige Ependymschläuche in höheren Rückenmarkssegmenten
nicht mehr als typische bezeichnet werden können. Dabei setzt allerdings
Syringomyelie und Metalues. 133
schon ein eigenartiger komplizierender Zusammenhang zwischen Gefäß-
erkrankung und der syringomyelischen Höhlenbildung ein. Es fällt uns auf,
daß der Zentralkanal selbst von chronisch entarteten Gefäßen förmlich unter-
miniert ist und selbst dort, wo noch keine typische Höhlenbildung besteht,
kann man eine deutliche Auflockerung des Gewebes sehen, wobei die schwer
wandveränderten Gefäße sicher eine ursächliche Bedeutung zu haben scheinen.
Wenn es dann zur Lösung dieses (rewebszusammenhanges kommt, so findet
man infolgedessen die (iefäßpakete, die in den strukturintakten Segmenten
unter dem Ependym gelagert waren, jetzt mit dem Ependym als selbständigen
(iewebsklumpen losgelöst und man sieht dann ein Gefäßekonvolut, welches
einen Ependymbelag trägt, somit den Rest der früher normalen Wand des
Zentralkanals. Wir können also hier in dieser (iefäßveränderung einerseits, der
Zentralkanalzerstörung anderseits die Ursache sehen, daß derartige atypische
Gebilde, wie Gefäßependymklumpen, als losgelöste Gebilde oder Halbinseln
in die syringomyelische Höhle hineinragen oder in dieser flottieren.
Das zweite, was wir bei diesem syringomyelischen Prozeß ferner finden,
ist, daß besonders in den kaudalen Polen des Prozesses die Wand der Höhle
vor ihrem Zerfall sich in einem Gewebe befindet, welches die Zeichen einer
typischen mesodermal aktivierten Bindegewebsproduktion trägt. Wir sahen
zahlreiches gewuchertes frisches Bindegewebe mit jungen Bindegewebszellen,
zahlreiche Lymphozyten, mäßige Infiltrate und typische Blutgefäßverände-
rungen, welche hier ungefähr einem Prozeß ähneln, den man mitunter bei
chronisch verlaufenden luetischen Malazien sieht. Daß man verhältnismäßig
wenig Abräumzellen findet, ist bei der Chronizität des Prozesses nicht weiter
verwunderlich, doch scheinen sich die gesamten mesodermalen Elemente
trotzdem am Abbau der Nervensubstanz zu beteiligen. Diese mesodermale
Reaktion mitten im Parenchym ist wieder ein ungewohnter Prozeß, —
was nicht nur allgemein hervorzuheben ist — sondern ganz besonders für
die meisten Fälle von Syringomyelie gilt. Diese Bildungen des Mesoderms
wurden seinerzeit von Bielschowsky und Unger als teratoide gedeutet,
was unseres Erachtens mit vollem Recht in letzter Zeit von Tannenberg
abgelehnt wird. Und hier sehen wir dann die entscheidende Differenz unseres
Falles gegenüber den klassischen Syringomyeliefällen. Bei letzteren wird
vorausgesetzt, daß ein echter Tumor vorliegt. Hingegen wurde in unserem
Fall durch den Parenchymprozeß eine Gliareaktion geweckt und diese Glia-
reaktion geht nach einer Abbauphase in die formative Sekundärperiode
einer faserigen Narbe über, was mit den Ansichten Tannenbergs vollkom-
men übereinstimmt. Hier war die Glia relativ inaktiv. Man kann gewiß von
keiner Gliose sprechen und, wie die Bindegewebspräparate zeigen, hat sich in
der Umgebung der Höhle ein reiches bindegewebiges Netz entwickelt, welches
also die Aufgaben übernommen hat, welche bei den gewöhnlichen Fällen
solcher Art der Glia obliegen. Daß dies nur möglich ist, ist wahrscheinlich
auf den Einfluß des luetischen Prozesses in unserem Falle zurückzuführen.
Frühzeitig ist die Höhlenbildung bis an die Peripherie gegangen und von
hier aus erfolgte sowohl von den Seiten her, als auch ganz besonders
134 Dr. A. Hauser.
vom Septum anterius und vom Septum posterius eine reiche Zufuhr von
Bindegewebe und diese Substitution «durch dieses gewebsfreinle Flement
führte dann dazu, dab die ektodermale Schädigung sich in ihrer Totalität aus-
wirkt und die Aktivierung der Glia illusoris-h macht. Die normale Sekundär-
eliose bleibt hier aus, weil erstens die mesodermale Einhruchspforte genügend
grob war, um die Abbaureaktion im eigenen durchführen zu können urd
wahrscheinlich wirkte der biologische Reiz sich dahin aus, daß dadurch die
Gliareaktion hinfällig wurde. Dazu kommt vermutungsweise noch ein weitere-
Moment, daß wahrscheinlich neben dieser mesorermalen Verdrängung auch
eine primäre oder sekundäre Gliaschädieung die Aktivierung dieser Gewehs-
art verhindert hat. Daß das Bindegewebe sich förmlich hernienartig in
das Rückenmark eingeschmuggelt hat. erkennt man auch darin, daß die
peripheren Wurzeln in die Höhle förmlich heterotopisch hineingepreßt er-
scheinen und damit sieht man ja auch, daß das Bindegewebe freie Bahu
für seine Entwicklung im Höhlenbereiche gewonnen hat. Daß das Mesoderın
selbst dann in seiner reichen Entwicklung für die Weiterentwicklung voj.
Spirochäten eine wesentliche Bedeutung gewinnen könnte, ist klar und e-
bleibt dahingestellt. ob nicht in diesem Fall direkte Spirochätenwirkung
einen weiteren Einfluß auf den degenerativen Entartungsprozeß besitzt.
Nun haben wir einen weiteren komplizierenden Befund bei unserem
Fall. nämlich die Tumorbillung im Bereiche des IV. Ventrikels. Es liegt hier
eine Geschwulst vor, welche wir am besten als ein Spongioblastom be-
zeichnen könnten. deren Charakter wir vorhin eingehend beschrieben haben
und die sich ganz besonders durch ihren dvsgenetischen Zellcharakter aus-
zeichnet, dabei jedoch relativ geringfügige Entdifferenzierung zeigt und in-
folgedessen nur eine mangelhafte Wachstumstendenz verrät. Wir glauben in
diesem Tumor weniger das Phänomen der die Syringomyelie begleitenden
Gliomatose zu sehen, zumal das Rückenmark von einem solchen Prozeb
verschont ist, sondern finden hier vielmehr einen auf einer Mißbildune be-
ruhenden Tumorprozeß. der sich im Ventrikelsystem etabliert hat und da-
mit auch wieder auf eine gewisse konstitutionelle Minderwertigkeit des neuro-
epithelialen Systems hinweist, welche sich an dieser lokalen Stelle als Tumor.
im Nückenmark aber als Syringomvelie-Bereitschaft dokumentiert. Daß hier
ein blastomatös produktiver ProzeB vorliegt, ist schon deswegen um so
überraschender, weil sonst im Zentralnervensystem die Glia relativ wenig
aktiv hervortritt, und sich im Gegenteil sehr mannigfach degenerative Re-
aktionen an den Gliazellen der verschiedenen Hirnabschnitte bemerkbar
machen Die starke hyperplastische Reaktion der Glia, die wir sonst bei der
Paralyse und im Rückenmark bei der Syringomvelie sehen, fehlt hier eigent-
lich bei beiden Prozessen und diese Torpidität der Glia muß wahrscheinlich
irgend einen gemeinsamen ursächlichen Faktor besitzen. Vielleicht ist es
eine unbekannte toxische Ursache, welche diese Schädigung der Glia hervor-
ruft. Aber gewisse Zellformen sprechen wohl dafür, daß es sich hier in
unserem Falle um eine wesentliche Störung im Wasserhaushalt des Gehims
handelt, an der die Glia bekanntlich einen wesentlichen Anteil hat und es
Dr. A. Hauser: Syringomyelie und Metalues. 135
ist nicht ausgeschlossen, daß dadurch auch die hydropische Entartung be-
dingt wird und andere wässerige Degenerationsprozesse begünstigt und ge-
steigert werden.
Denken wir schließlich noch daran, daß hier in unserem Falle die echte
Gliose solider Bauart fehlt, so kann vielleicht in dieser gliösen Schädigung
auch die Ursache des Ausbleibens dieses typischen Substitutionsprozesses
erblickt werden.
Wir haben dann anamnestisch gehört, daß der Patient in seinem sech-
sten Lebensmonat ein schweres Körpertrauma erlitten hat und wenn wir
den anamnestischen Angaben folgen, ist dieses frühinfantile Trauma ver-
mutungsweise der Ausgangspunkt einer Defektbildung im Rückenmark, und
zwar im Halsmark gewesen. Hier dürfte sich dann ein Prozeß nach jenen
Gesichtspunkten entwickelt haben, wie ihn Spatz in eingehender Weise
analysiert hat. Durch die dann hinzutretende luetische Erkrankung ist es zu
einer Überkreuzung zweier Prozesse gekommen, einem vielleicht abgeschlos-
senen und in seiner Weiterentwicklung fixierten zerviko-thorakalen Ent-
artungsprozeß und einem frischen aktiven gewebszerstörenden luetischen
Prozeß. Durch die vorhin geschilderte Überschneidung und Kooperation der
Vorgänge ist es dann zur Weiterentwicklung gekommen, so daß sich die
luetische Erkrankung des Rückenmarks als ein Förderer und Modifizierer
des frühinfantilen Spinaltraumas gezeigt hat. Inwieweit dann das konstitu-
tionelle Moment, das durch den Oblongatatumor angedeutet ist, sich ver-
stärkend und begünstigend hinzugesellt, bleibt dahingestellt. Wir sind über-
zeugt, daß hier wahrscheinlich eher das infantile Trauma eine Unter-
stützung fand, da die kongenitale Minderwertigkeit des Ventrikelsystems
leicht dem konstellativ wirksamen traumatischen Einfluß eine lokale Basis
schuf, als es vielleicht sonst bei konstitutionell normalem Fall gewesen wäre.
Ob dann im Verlauf der Lues oder auch unabhängig von dieser andere Mo-
mente eine Bedeutung dafür gewonnen haben, daß die Glia in ihrer Re-
aktion so erheblich geschädigt ist, läßt sich nicht mit Sicherheit entschei-
den, um so mehr als die klinischen Untersuchungen hiefür, soweit sie uns zur
Verfügung stehen, keinen Rückhalt geben. Ob weiters die hier angeführte
parenchymatöse Leberdegeneration sich bei genauerer Untersuchung als eine
andere schwerere Schädigung dieses Organs erwiesen hätte, ist leider nicht
mitgeteilt und vielleicht bestand irgend eine luetische Parenchymschädigung
der Leber. die dann leicht jene Gliareaktion erklären könnte, welche wir
hier in unserem Falle gefunden haben und die bei schwerer Lebererkrankung
so typisch ist.
Zum Abschluß jedenfalls können wir die Publikation unseres Falles da-
durch rechtfertigen, daß wir hier zeigen konnten. wie durch das konstellative
Zusammenwirken von Trauma, Tumor und Lues ein Prozeß in seiner Form
und in seiner Auswirkung modifiziert wird und wie es vielleicht richtig
ist zu erkennen, daß durch die Konstellation dieser Faktoren nicht nur das
Individuelle, sondern auch das Allgemeine solcher Prozesse erklärt wird.
Aus dem neurologischen Institut der Universität Wien
‚Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg..
Über Veränderungen des Zentralnervensystems
bei Scharlach und Diphtherie.*)
Von
A. Jakubowicz.
Mit 17 Abbildungen im Text.
Überblickt man die Literatur über die Veränderungen des Zentral-
nervensystems bei Scharlach und Diphtherie, so fällt es auf, wie wenig
histologische Untersuchungen hier vorliegen. Das war Anlaß, dieser Frage
nachzugehen. Im ganzen habe ich 13 Fälle von Scharlach, resp. Diphtherie
und Kombinationen beider Erkrankungen untersucht: davon waren, als ich
die Arbeit übernahm, schon 6 Fälle technisch hergestellt. Unter diesen
6 Fällen finden sich Fälle mit neurologischen Symptomen, die aber anfangs
mangels der Krankengeschichten wenig berücksichtigt wurden. Unter diesen
6 Fällen finden sich z. B. in 2 Fällen, bei denen uns das Rückenmark zur
Untersuchung überlassen wurde, schwere Veränderungen am Rückenmark:
in den übrigen Fällen war leider das Rückenmark nicht vorhanden.
Ich habe die Literatur, die meist eine klinische ist, verhältnismäßig
wenig berücksichtigt, und wenn, nur um zu zeigen, wieviel der Kliniker über
die nervösen Komplikationen bei Scharlach und Diphtherie berichtet und wie
wenig der Histopathologe bis jetzt dem gegenüberstellen kann.
Um noch kurz das Technische zu berühren, sei erwähnt, daß zu Zeli-
untersuchungen Toluidinblau, Hämatoxylin-Eosin verwendet wurde, und,
wo ich es für nötig gefunden habe, wurden die Markscheiden, sei es
nach Spielmeyer, sei es nach Weigert, dargestellt. Außerdem wurden
Scharlachrot-, Heidenhain-, hie und da Bielschowsky-Färbungen vorge-
nommen. Sobald in diesen Präparaten Bakterien vorhanden waren, wurden
ausgiebig Girampräparate angefertigt.
Das Material stammt aus dem Wilhelminen-Spital; für dessen Über-
lassung bin ich Herrn Professor Wiesner und Herrn Hofrat Pospischil
zu besonderem Danke verpflichtet.
*, Eine Mitteilung mit Demonstration wurde vom Verfasser in der Sitzung des
Wiener Vereines für Psychiatrie und Neurologie am 8. März 1932 und in der Vereinigung
Pathologischer Anatomen Wiens in der Sitzung am 25. April 1932 erstattet.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 137
Eine Zusammenfassung über die Rolle des Scharlachs in der Ätiologie
der Nervenkrankheiten findet sich in der Arbeit von Neurath aus dem
Jahre 1905. Bis zu diesem Zeitpunkt werden wir auf die Literatur nicht
eingehen. Es wird über eine große Zahl nervöser Nachkrankheiten nach
Scharlach von Neurath berichtet, ohne irgendwelchen anatomischen Befund
dafür zu bringen. Einer seiner Fälle ergab bei der Sektion einen Hydro-
zephalus; weiters glaubt er einen Fall von multipler Sklerose, nach Schar-
lach entstanden, gesehen zu haben. Es muß aber hervorgehoben werden,
daß kein einziger Fall durch eine histologische Untersuchung verifiziert
wurde.
Lafforgue (1912) gibt zu, daß im Verlaufe von Scharlach Meningitiden,
wenn auch selten, reiner Natur vorkommen können, die meisten jedoch
sind seiner Ansicht nach sekundären Ursprungs. Schilder (1919 und 1928)
beschreibt einen Fall von Encephalitis cerebelli nach Scharlach mit Klein-
hirnsymptomen, den er neun Jahre lang beobachten konnte; er stellte fest,
daß die Kleinhirnsymptome nach neun Jahren stark zurückgegangen sind,
immerhin bestand noch klinisch eine Läsion des Kleinhirns. Bungart (1920)
berichtet einen Fall, wo nach Scharlach zerebrale Erscheinungen in Form
von aphasischen Schädigungen, Hirndruck, Status epilepticus aufgetreten
sind, und nach der Trepanation Stillstand und Heilung erzielt wurde. Toomey
Dembo und Guthrie Me. Connel (1923) beschreiben einen Fall von akuter
hämorrhagischer Enzephalitis nach einem mild verlaufenden, drei Wochen
dauernden Scharlach; die Enzephalitis selbst dauerte im ganzen drei Tage
und endete tödlich. Bei der Sektion wurde ein Ödem des Hirns, eine akute
hämorrhagische Erweichung der basalen Ganglien, Blutungen in den Ven-
trikel, Thrombose zahlreicher Gefäße mit begleitender hämorrhagischer In-
filtration des Gewebes festgestellt.
Eine sehr eingehende Studie über die Veränderungen des peripheren
vegetativen Nervensystems bei Scharlach und Diphtherie stammt von Mogil-
nitzki (1924). Dieser konnte bei den toxischen Formen des Scharlachs Ver-
änderungen an den Ganglienzellen, an der Iymphozytären Scheide und in
geringem Maße an den Nervenstämmen feststellen; bei den septischen For-
men des Scharlachs kamen noch starke Gefäßveränderungen in Form von
Thrombose, entzündlicher Infiltration und Hämorrhagien dazu. Er behauptet
weiter, daß bei den toxischen Formen des Scharlachs, am stärksten die
Gianglienzellen und Stämme des Vagus sowie der sympathischen Hals-Thorax-
ganglien, weniger der Plexus solaris, die Herzganglien und der Meißnersche
und Auerbachsche Plexus betroffen waren. Bei den septischen Formen des
Scharlachs leiden früher die (ranglienzellen des sympathischen als des para-
sympathischen Systems.
Neal und Archbold Jones (1927) beschreiben einen Fall von
Meningitis nach Scharlach, der durch eine Otitis media kompliziert war und
bei dem aus dem zellhaltigen Liquor cerebrospinalis hämolytische Strepto-
kokken gezüchtet werden konnten; nach Injektion von Scharlachantiserum
138 A. Jakubowicz. 7
trat völlige Heilung ein. Haken (1927) sah drei Fälle von Optikusneuritis
nach Scharlach entstehen. In einem Falle war eine Meningitis nicht auszu-
schließen, in zwei Fällen Komplikationen, nebst Myokarditis auch Otitis
media. In einem Falle von Parese des Armes mit Choreoathetose, die am
dritten Tage nach der Scharlachinfektion aufgetreten war, nehmen Chavany
‚und Vannier (1929) einen Spasmus der linken Art. fossae Sylvii als Ursache
dieser Parese an. Zischynski (1930) glaubt zwei richtige Fälle primärer
eitriger Meningitis im Verlaufe des Scharlachs beobachtet zu haben. Obario
(1930); berichtet über zwei Fälle, wo angeblich nach Scharlach ein Par-
kinsonscher Symptomenkomplex aufgetreten ist. Ein weiterer Fall von
Videla und Peroncini (1930) zeigt nach Scharlach eine Verwirrtheit mit
psychomotorischer Unruhe, der in Heilung überging. Thomson und
R. Thomson (1931) glauben, daß die nervösen Komplikationen beim Schar-
lach meist. auf Mischinfektionen zurückzuführen sind.
Die Literatur, die sich mit der Diphtherie und durch sie hervorgerufene
Schädigungen des Zentralnervensystems beschäftigt, ist viel reichlicher als
jene beim Scharlach. Wir werden uns auch hier sehr kurz fassen, auf (lie
wichtigsten Befunde der Literatur hinweisen und die Literatur nur seit dem
Jahre 1910 berücksichtigen.
Bonhoff (1910) ist es gelungen, unter siebzehn Fällen von Diphtherie
neunmal Diphtheriebazillen aus dem Liquor cerebrospinalis zu züchten. Diese
neun Fälle hatten klinisch das Bild schwerster Unruhe und Benommenheit
geboten. Leede (1911), der die Angaben des vorigen Autors nachprüfte,
ist zu teilweise abweichenden Ergebnissen gekommen. Er fand die Diphtherie-
bazillen selten, nur dreimal im Liquor cerebrospinalis und nur dann, wenn
sie auch im Blute nachzuweisen waren. In den Fällen von schwersten post-
diphtherischen Lähmungen war der Liquor cerebrospinalis frei von Diphtherie-
bazillen. Dynkin (1913) meint, daß die zerebralen Lähmungen nur bei
schweren Fällen von Diphtherie vorkommen; diesen ist fast immer eine
Herzschädigung vorangehend, weiters daß die zerebralen Lähmungen sich mit
den peripheren Lähmungen kombinieren. Die Ursache der postdiphterischen
zerebralen Lähmungen ist seiner Meinung nach Embolie infolge Herz-
schwäche, viel seltener die Thrombose der Gehirngefäße. Die Encephalitis
diphtherica ist seiner Meinung nach eine Rarität. Eine sehr interessante
Statistik über Lähmungen nach Diphtherie stammt von Rolleston aus
dem Jahre 1913. Rolleston konnte unter 2300 beobachteten Diphtheriefällen
477 Fälle, d. h. in 20,700 Lähmungserscheimungen eruieren. Halle, Marcel
Bloch und Foix (1914) beschreiben einen Fall von Hemiplegie mit Aphasie
und Gaumensegellähmung nach Diphtherie, wo bei der Sektion ein Er-
weichungsherd im Gebiet des linken Linsenkernes vorhanden war. Die vor-
genommene mikroskopische Untersuchung ergab eine Degeneration und teil-
weises Verschwinden von markhaltigen Fasern, und die Autoren meinen, daß
der Herd durch eine Embolie entstanden ist. Auch die Aphasie beziehen sie
auf den Linsenkern. Hotzen (1915) untersuchte die quergestreifte Musku-
latur nach Überstehung einer Diphtherie und fand eine Verfettung der
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 139
quergestreiften Muskulatur, die er auf eine toxische Schädigung zurückzu-
führen sucht. Außerdem fand er in der Muskulatur ein mit Fettfarbstoffen
färbbares Pigment, Lipofusein. Es liegt im Bereiche der Kerne sowie in den
Herzmuskelfasern. Serog (1916) beschreibt einen Fall, der nach Überstehen
einer Diphtherie ein Bild von zerebellarer Ataxie neben spinalen Symptomen
und hochgradiger psychischer Übererregbarkeit zeigte; er faßt ihn als eine
diffuse Enzephalomyelitis auf. Glaser (1917) beobachtete eine Meningitis,
die durch den Diphtheriebazillus verursacht wurde. Das Auftreten des
Fazialisphänomens im Verlaufe der Diphtherie deutet Hamann (1918) als
eine Folge der spezifischen Einwirkung des Diphtheriegiftes auf die Nerven-
substanz, die nach ihrer Intensität, je nach ihrer Dauer sogar zu neuritischen
Lähmungen führen kann. Matheis (1921) teilt einen Fall von rechtsseitiger
Hemiplegie nach Diphtherie mit, wo die Sektion eine Embolie ler Art.
cerebri media sinistra und einen frischen anämischen Erweichungsherd
in ihrem Versorgungsgebiet feststellen konnte. Hagenau (1921) berichtet über
einen Fall von Diphtherie, wo die Meningealreaktionen, Albumen +, Lympho-
zytose vor den Lähmungen aufgetreten sind. Auch Merklen, Pr. M. Weiß
und Gennes (1921) haben etwas Ähnliches beobachtet. Busacchi (1921)
berichtet über einige nervöse Manifestationen, wie z. B. Synkinesien, Mit-
bewegungen, Grimmassieren usw., als Begleiterscheinungen postdiphtherischer
Lähmungen. Pierre Marie und Rene Mathieu (1921) beschreiben zwei
Fälle von diphtherischer Lähmung, die unter dem Bilde von Rückenmarks-
lähmung, Paresen der Beuger, mit Störung der Tiefensensibilität aufge-
treten sind. Genin und Hallez (1921) beschreiben einen Fall von Diphtherie,
wo im Liquor cerebrospinalis Vermehrung von Lymphozyten, Albumen und
Zucker bestanden hat; Hallez vermutet, daß eine Plexusschädigung durch
das Diphtherietoxin zu anormalen Filtrationsverhältnissen aus dem Blute
geführt hat und lehnt Veränderungen an den Meningen ab. F. H. Levy
(1922) behauptet, daß es ihm gelungen ist, histologische Veränderungen im
Gehirn bei hyperkinetischen Erkrankungen der Maus, nach Diphtherieinfek-
tion, und zwar im Bereiche der kleinen neostriären Zellen festzustellen.
Wirges (1922) beobachtete einen Fall, wo Lähmungen im Gebiete des Okulo-
motorius und Abduzens nach einer Diphtherie entstanden sind und versucht
diese als peripher bedingt zu erklären. Wiethold (1922) untersuchte Hypo-
physen von 36 mit Diphtherietoxin vergifteten Meerschweinchen und von
Kindern, die an Diphtherie gestorben sind und konnte keinerlei charakte-
ristische Zellveränderungen feststellen. Er glaubt, daß die von Creutz-
feld, Boehnke und Koch beschriebenen Befunde in ihrer Bedeutung
überschätzt wurden. Hünerberger (1922) berichtet einen Fall, wo neben
Lähmung des Gaumensegels, Fehlen der Patellarreflexe usw. auch ein Be-
fallensein des zweiten und dritten Trigeminusastes vorhanden war. Jülich
(1922) veröffentlicht einen Fall, wo nach Diphtherie tiefes Koma, Hypästhesie,
Areflexie, Lähmung aller Extremitäten auftraten. Die vorgenommene Sektion
ergab ausgedehnte Thrombosen und Ausfüllung des Duralsackes mit geron-
nenem Blut, Zerstörung des Putamens, innerer Kapsel, Globus pallidus und
140 A. Jakubowicz.
des größten Teiles des Linsenkernes. Mikroskopisch konnte er keinen ent-
zündlichen Prozeß im Bereiche des untersuchten Rückenmarkes feststellen.
Da bei der Sektion im Herzen ein negativer Befund erhoben wurde, ninımt
er an, daß eine primäre Thrombosierung im Bereiche der Gefäße des Zentral-
nervensystems vorlag. Kellner (1922) beschreibt einen Fall von reflekto-
rischer Pupillenstarre nach Diphtherie. Eine Lues war sicher auszuschließen.
die Pupillenstarre war nur einseitig vorhanden und blieb in der Beob-
achtungszeit zirka vier Jahre bestehen. Regan J., C. Regan und Wilson
(1923) untersuchten den Liquor cerebrospinalis in sechzehn Diphtheriefällen.
dabei fanden sie oft eine Globulinreaktion, die Zellzahl war der Norm ent-
sprechend, nur die Groldsolreaktion zeigte eine Zacke mit Maximum in der
syphilitischen Zone. Globus (1923) untersuchte histologisch einen Fall, wo
klinisch eine choreatische Form der Encephalitis lethargica diagnostiziert
wurde, der anatomische und bakteriologische Befund, der letztere im Liquor
cerebrospinalis, aber Diphtheriebazillen ergab. Die mikroskopische Unter-
suchung des Zentralnervensystems ergab eine Meningitis haemorrhagica mit
diffuser Parenchymverfettung der großen und kleinen Striatumzellen. Und
so glaubt Globus für den klinischen Befund eine genügende Stütze zu
haben. Mogilnitzki (1924), den ich schon beim Scharlach erwähnt habe.
beschreibt in seiner Zusammenfassung die Veränderungen des vegetativen
peripheren Nervensystems bei Diphtherie folgendermaßen: „Bei der Diph-
therie wird ihrer Intensität nach ein außerordentliches Betroffensein der
Zellen und Fasern des peripheren und vegetativen Nervensystems beob-
achtet. In den meisten Fällen sind exsudativ-entzündliche Veränderungen
sehr schwach vertreten und fallen bei der toxischen Form gewöhnlich ganz
aus.“ Fornara (1925) untersuchte in fünf Fällen von postdiphtherischer
Lähmung den Liquor cerebrospinalis und fand Vermehrung der Globuline,
in einzelnen Fällen auch des Gesamteiweißes, ferner des Zuckers sowie
leichte pathologische Kurven der Benzoereaktion. Derselbe Autor berichtet
über einen Fall von postdiphtherischer Lähmung, der zuerst Symptome wie
Somnolenz, Torpor, Nystagmus, Tremor, myoklonische Zuckungen geboten
und wo an Enzephalitis gedacht wurde. Erst die Polyneuritis und der Liquor-
befund führten auf die Diagnose Diphtherie. Tenaglia (1926) beschreibt
einen sehr interessanten Fall mit folgenden Symptomen: Nystagmus, schlecht
reagierende Pupillen, Doppelbilder, Lähmung des Nervus facialis, Ataxie,
Hypotonie, Sensibilitätsstörungen usw. und will den Fall als polynukleär
bedingt erklären. Regan und Guinnes (1927) untersuchten den Liquor
cerebrospinalis in fünfzehn Fällen von postdiphtherischer Lähmung und
konnten nur eine leichte Vermehrung des Eiweißes feststellen, die Per-
meabilität der Meningen für Jod und Nitrite fanden sie der Norm ent-
sprechend. Carrau (1927) weist auf die Schwierigkeiten der Differential-
diagnose der Diphtherie und der Poliomyelitis, publiziert drei Fälle, die
zuerst als Diphtherie angesehen wurden und doch Poliomyelitis waren.
Beyrne und Parisi (1927) führen in ihrem Diphtheriefall die vorhandenen
Symptome wie Babinski u. Oppenheimsches Phänomen auf eine toxische
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 141
Schädigung der Hirnrindenzellen zurück. Querido (1928) beschreibt einen
Fall von Enzephalitis nach Diphtherie.
In der letzten Zeit mehren sich Fälle von Lähmungen bei Diphtherie-
bazillenträgern. In der Literatur sind mehrere solcher Fälle niedergelegt,
ich will nur einige Autoren nennen, wie Förster, Gerson, Dreyfuß,
König u. a. Traina (1928) beobachtete ein siebenjähriges Kind, das zwei
Monate nach der überstandenen Diphtherie eine einseitige labioglosso-
laryngeale Lähmung zeigte, die in ihrer Anordnung als nukleär bedingt
angenommen wird. Benciolini (1928) teilt einen Fall von .\kustikus-
neuritis diphtherischen Ursprungs mit, die Diphtherie lag zirka fünf Monate
zurück, eine andere Ätiologie kam nicht in Betracht. Worster Drougth
und Allen (1929) beschreiben einen Fall von Hemiplegie nach Diphtherie,
ihrer Meinung nach handelt es sich um eine Thrombose der Gehirngefäße.
Dragomir (1929) veröffentlicht einen Fall von Diphtherie, der neben Poly-
neuritis viele Kleinhirn- und Labyrinthsymptome aufgewiesen hat, die vom
Autor als eine Intoxikation des Vestibulum-Kleinhirnapparates mit Diphtherie-
toxin aufgefaßt werden. Der Kranke bot das Bild der Apedesie (Sprung-
unfähigkeit), ein Symptom, das zuerst von Minea beschrieben worden ist.
Saxl (1930) veröffentlicht einen Fall mit zerebralen Erscheinungen in Form
von Bewußtlosigkeit, klonischen Krämpfen, mit schlaffer Lähmung der rechten
Körperhälfte, motorischer Aphasie nebst Gaumensegelläihmung im Verlaufe
einer Diphtherie. Karbowski (1930) ist der Ansicht, daß in den Okulo-
motoriuskernen anatomische Zentren für Akkomodation, Konvergenz und
Pupillenreaktion, die meistens gemeinsam affiziert sind, unterschieden wer-
den sollten. Im Anschluß daran publiziert er einen Fall von Lähmung
des Musculus rectus internus ohne Akkomodationsparese. Levy M. und
Lelourdy (1930) sehen in ihrem Fall, der eine Hemiplegie nach Diphtherie
ınit Aphasie vom Typus Broca und Wernicke und Jacksonanfälle zeigte,
einen Erweichungsherd im Gebiete der Art. fossae Sylvii durch Arteriitis
und nicht durch Embolie bedingt. Comby diskutiert, ob es sich doch nicht
in diesem Falle um eine Enzephalitis handelt, so wie man sie postvakzinal
entstehen sehen kann. Worster Drougth und Hill (1931) teilen einen
Fall von doppelseitiger Hemiplegie mit Aphasie und epileptiformen An-
fällen mit. Die Erklärungsmöglichkeiten sind ihrer Ansicht nach folgende:
doppelseitige Hirnembolie bei Herzthrombose oder Hirnarterienthrombose,
Encephalitis diphtherica oder anderweitige Enzephalitis. Ihrer Ansicht nach
ist die erste Annahme am wahrscheinlichsten.
Meine eigenen Fälle sind nun folgende:
Fall 4408. K., Othmar, 3!1/, Jahre alt.
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Bronchialkatarrh, Influenza, „Herzanfälle“, bei denen
er bewußtlos und steif wurde Taubstumm. Seit 14. November 39,5 Fieber. Am
15. November scharlachartiges Exanthern, Ohnmacht, eitriger Ausfluß aus der Nase.
Am 16. November wird das Kind wegen Scharlach ins Wilhelminenspital eingeliefert.
Hier schwerer Scharlach vom Charakter «des septischen Scharlachs. Temperatur 38.
Azetongeruch. Puls regelmäßig. Mächtige Drüsenschwellung beiderseits. Rachenschwel-
142 A. Jakubowicz.
lung, streifige Tonsillenbeläge.e Himbeerzunge Benommen. Unruhe. Mo-Injektion.
17. November, 8 Uhr: Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Septischer Scharlach.
Sektion am 18. November ‘Dr. Wicke : Schwere fettige Entartung des Herz-
fleisches, der Leber, der Nieren. Leichte Ausweitung des Herzens in allen seinen
Teilen. Akute Milzschwellung. Hyperplasie des Iymphatischen Apparates des Dunn-
darmes. Schwellung und Rötung der Lymphonodi cervicales et craniales. Vergrößerung
der Gaumenmandeln. Rötung der Luftröhrenschleimhaut. Hyperämie der Lunge. Hyper-
ämie und Lipoidschwund der Nebennieren. Hyperämie und Ödem des Gehirmes.
Mikroskopische Untersuchune.
Medulla oblongata: Die Meningen sind an den Schnitten nicht mehr er-
halten. Im Bereiche der Medulla ist das Auffallendste das Ödem. Die Hyperämie ıst
hingegen gerinegradig. In der Adventitia der Gefäße vereinzelte Lymphozyten: man
findet perivaskuläre Exsudate. Die Veränderungen an den Ganelienzellen sind kurz
zusammengefaßt Schwellung und Schrumpfung. besonders im Bereiche der Olive.
Hier ist ihr tinktorielles Verhalten auffallend. Aber nicht in allen Partien der Olive.
So ist in den ventralen Gebieten der Schwellunesprozeß im Vordergrund, wobei noch
die Struktur der Zellen zum Teil erhalten ist. Zu beiden Seiten oberhalb der Oliva ınf.
liegen sehr auffallende Zellen, die ganz mit Vakuolen erfüllt sind. Manchmal sieht
man nur den Kem als Vakuole und man kann nichts mehr von der feinen Struktur
erkennen. Auch der Nukleolus scheint vollständig aufgelöst zu sein. Reichlich Zel-
schattenbildung zeigt sich in diesem Gebiete. In den übrigen Gebieten der Medulla
herrscht der Schwellungsprozeß an den Ganglienzellen vor. Aber auch ein Schrumpfunes-
vorgang ist vorhanden, und wo dieser besteht, sieht man die Dentriten auf weite
Strecken verfolgbar. Die Glia ist diffus reichlich vorhanden, auch Schwellung der Gha
bzw. amöboiden Glia ist aufzufinden. Im Fettpräparat ganz minimale Mengen von Fett
perivaskulär gelegen. In den Markscheidenpräparaten leichte Quellung der Markscheiden.
Diese zwei letzten Befunde finden sich wiederholt in den nächsten Schnitten, weshalb
wir auf ihre weitere Anführung verzichten wollen.
Pons: Schon im Häm.-Eosinpräparat sieht man, wie verschieden sich die Nerven-
substanz gefärbt hat; so erscheinen z. B. die Randpartien der Brücke auffallend hell.
In den dorsalen Gebieten ist das Ödem besonders stark. Die Hyperämie kommt deutlich
zum Vorschein, Blähung der Venen mit kleinen Infiltraten. Im Lumen der Gefäße
liegt massenhaft Fibrin neben Leukozyten; die roten Blutkörperchen sind vollständig
aufgelöst, man kann eine Sonderung der roten und weißen Elemente erkennen. Im
Bereiche der weißen Substanz besteht ein Statuts cribrosus. Die Veränderungen der
Ganglienzellen sind in Form von Blähung, Schwellung, zentraler Homogenisation.
Blähung des Kernes, verschiedenen Gerinnungsvorgängen des Tigroids, Veränderungen
an den Dentriten vorhanden. Weiters ist aber hervorzuheben, daß in den ventralen
Partien die axonale Schwellung der Zellen im Vordergrund steht. Die Fortsätze der
Ganglienzellen sind auf lange Strecken verfolgbar, manchmal aufgetrieben. In den
dorsalen Partien steht der Schwellunesprozeß der Ganglienzellen im Vordergrund. Im
Gebiete der Raphe lieven auffallend große, geblähte Ganglienzellen mit nur durch-
schimmerndem Kern. Wir können solche Ganelienzellen auch im Pulvinar antreffen
ıs. uj. Locus-coeruleus-Zellen sind frei von Melanin, sie sind alle vom Schwellungs-
prozesse ergriffen, auch Zellschattenbildung ist vorhanden. Auch im Bereiche des
Deiterschen Kernes sind Veränderungen an den Ganglienzellen. Die axonale Veränderung
tritt hier in den Hintergrund. Das Ependym am Boden der Rautengrube ist zart, die
Aktivität der Glia ist auffallend groß, es kommt zur Bildung von plasmatischen Glia-
zellen, die die Ganglienzellen umklammern. Strauchwerkbildung ist auch andeutungsweise
zu sehen. Auch amöboide Glia ist reichlich vorhanden.
Okzipitallappen: Die Meningen zeigen in diesem Bereiche eine auffallende
Hyperämie und Ödem. An einer Stelle findet sich eine ziemlich große subpiale Blu-
tung, die flächenhaft ausgebreitet ist. Eine Anreicherung von histiogenen Elementen ist
in den Meningen zu konstatieren. Die Blutgefäße sind auffallend starr und gebläht,
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 143
sie sind mit Fibrin, aufgelösten roten Blutkörperchen und Leukozyten gefüllt. Das
Ödem ist im Mark stärker ausgeprägt als in der Rinde. Im Mark findet man Gefäße
mit perivaskulären Infiltraten. Ab und zu in der Gefäßwand Lymphozyten. Pro-
duktive Gefäßreaktion, junge Fibroblasten und Adventitiazellen. Erweiterung der
Venen besonders in der tiefen Schicht der Rinde. Die perivaskulären Desintegrationen
sind ausgebildet. In der Rinde ist besonders die Schwellung der großen Pyramiden-
zellen auffallend. Daneben findet man an den Ganglienzellen diffus zentrale Homogeni-
sation, wabig-vakuoläre Degenerationen. Die Glia ist sehr reichlich. Neuronophagie
und Zellschattenbildung stellenweise angedeutet. Im Mark um die Kapillaren Gliahosen.
Temporallappen: Schon bei makroskopischer Betrachtung des Präparates
fällt es besonders auf, wie an der Grenze Rinde-Mark eine Durchlöcherung des
Markes besteht, die jedoch nur unmittelbar unter der Gehirnoberfläche liegenden
Markzone zu sehen ist. Bei mikroskopischer Betrachtung sieht man ganz deutlich, daß
die Durchlöcherung auf die Gefäße und perivaskuläres Ödem zurückzuführen ist.
Auch in diesem Bereich findet man an den Gefäßen perivaskuläre Infiltrate, die aber
nicht sehr umfangreich sind. Die Desintegration ist bis zu einem Status lacunaris
ausgebildet, zum Unterschied vom vorigen Präparat ist der SchrumpfungsprozeßB der
Ganglienzellen im Vordergrund. So kann man auf weite Strecken die geschlängelten
Achsenzylinder verfolgen. Aber wieder im Bereiche der HI. Rindenschicht, und zwar
die großen Pyramidenzellen betreffend, ist der Schwellungsprozeß der Zellen vorherr-
schend, bei gleichzeitiger Schwellung ihrer Fortsätze. Zellschattenbildung ist vorhanden.
Die Glia ist nicht besonders reichlich, dagegen ist amöboide Glia aufzufinden. Die
Meningen zeigen die gleichen Verhältnisse. Eine suhpiale Blutung ist hier nicht vor-
handen.
Zentralwindung: Die Meningen zeigen die gleichen Veränderungen, auch hier
ist der Status cribrosus ausgeprägt. Im Mark perivaskuläres Ödem; Infiltrate sind vor-
handen. Die Glia zeigt im Mark produktive Erscheinungen: Gliahosen um die Kapillaren
sind ziemlich zahlreich. In der III. Schicht wieder die gleichen Veränderungen wie
in den anderen Rindenpartien. In dieser Schicht liegen in einem Gesichtsfeld in den
Kapillaren (Abb. 1), aber auch außerhalb der Kapillaren Haufen von Bakterien, die
am Rande bei der Untersuchung mit Ölimmersion deutlich als Kokken in Ketten zu er-
kennen sind und in einem völlig reaktionslosen Gebiet liegen. Ob daneben noch
Stäbchen liegen, läßt sich nicht sicher entscheiden. Diese Haufen sind meist von Fibrin
umgeben. In der Umgebung dieser Haufen liegen Glia- und Ganglienzellen, sie sind
ganz sicher frei von Bakterien, haben sich aber auffallend dunkel gefärbt, lassen einen
Kern durchschimmern, der vollkommen homogen erscheint; der Nukleolus ist noch
relativ gut erhalten. Sonst ist oft Zellschattenbildung anzutreffen.
Parietallappen: Im Bereiche dieses Gebietes gleichen die Veränderungen den-
jenigen des vorigen. Bakterienbefunde negativ. Der Prozeß ist wieder an der Grenze
Mark und Rinde am ausgesprochensten. Hier sind die Desintegrationen am auffälligsten.
In den Gefäßen Thrombenbildung. Stäbchenglia sehr reichlich, auch Andeutung einer
Gliastrauchwerkbildung. Die Glia in Gruppenform, Gliasterne, Knötchen.
Stammganglien: Die Stammganglien zeigen ähnliche Verhältnisse wie in der
Hirnrinde, nur sind dieselben deutlicher ausgeprägt. Auch kann man hier an einzelne
Gefäße eine deutliche Exsudation wahrnehmen, die vorwiegend aus lymphoiden Ele-
menten mit beigemengten Plasmazellen besteht. Das Auffallendste ist das Verhalten der
Ganglienzellen und der Glia. Hier sind keine Schwellungsphänomene wahrzunehmen.
Die Zellen sind eher geschrumpft, homogenisiert, ihre Fortsätze laufen spitz zu. An
einzelnen Stellen ist eine etwas stärkere Gliareaktion, wobei es zur Bildung proto-
plasmatischer Gliazellen kommt, die fast Strauchwerkcharakter annehmen. Mitten in
diesen von Gefäßen, Glia und wenigen Ganglienzellen durchsetzten Gebieten, die sich
vorwiegend in den ventralen Partien des Putamens finden, sieht man vereinzelt im
Nissl-Präparat tief dunkelblau gefärbte homogene Körperchen, die bei schwacher
Vergrößerung am ehesten den Eindruck von Corpora amylacea machen. Diese Körper-
chen nun lassen bei stärkerer Vergrößerung vereinzelt noch Reste eines Zellkernes
144 A. Jakubowicz.
mit einem großen Kernkörperchen erkennen. Ein oder das andere dieser Körperchen
läßt den Kern noch deutlich erkennen, und es hat den Anschein, als ob auch von
diesen rundlichen Massen noch zart gefärbte Fortsätze ausgingen, die jedoch im
Stadium des Untergangs zu sein scheinen. Aus dieser Darstellung geht nun hervor.
daß es sich nicht um echte Corpora amylacea handeln könne, sondern daß hier eigen-
artige Umwandlungsprodukte zelliger Elemente vorliegen, wobei es wahrscheinlich ist.
daß diese Zellen Reste von Ganglienzellen sind, so daß wir also in den Stamm-
ganglienzellen neben dem Prozeß in der Hirnrinde eine deutliche Exsudation an den
Venen, eine besondere Proliferation der Glia und eine Umwandlung wahrscheinlich
ganglionärer Elemente in homogene Massen finden. Im Pallidum finden sich
Abb. 1. Fall 4408, sept. Scharlach.
Bakterienembolien (Streptokokken) in den Kapillaren der III. Rindenschicht
der vorderen Zentralwindung. Toluidinfärbung.
dunkle Endothelien und Gefäßwandzellen. In den Kapillaren und außerhalb der Ka-
pillaren liegen runde Zellen mit exzentrisch gelagertem Kern mit Radspeicherform,
die sich wie die vorher genannten Zellen mit dem metachromatisch färbbaren Stoff
imprägniert haben.
Cortex cerebelli: Im Kleinhirn ist auffallenderweise das Ödem sehr gering-
fügig. Die Pia ist sehr zart, stellenweise an der Oberfläche eine Exsudation. Nun
zeigen hier die Purkinjeschen Zellen etwas Auffälliges. Man findet im Protoplasma
der Ganglienzellen „Einschlußkörperchen“, die sich bei der Toluidinblaufärbung sehr
dunkelviolett, bei Häm.-Eosinfärbung leuchtend rosarot, mit einem Stich ins Bläuliche,
gefärbt haben. Sie sind von verschiedener Größe und zeigen keinen Zusammenhang
mit dem Kern, meist liegen sie am Rande des Protoplasmas, hie und da sieht man
sie auch am Abgang des Achsenzylinders liegen. Es sind im Maximum 5 solche „Ein
schlußkörperchen“ in einer Ganglienzelle zu sehen. Körnerschwund ist deutlich wahr-
zunehmen. Die Purkinjeschen Zellen zeigen degenerative Erscheinungen, aber auch
nicht alle, am wenigsten jene, die „Einschlußkörperchen“ beherbergen. An einer Stelle
findet man an der Grenze der Zona molecularis und ganglionaris einen Haufen, der
bei Untersuchung mit Ölimmersion als Bakterien anzusehen ist. Es sind Stäbchen
von kurzer Form. Im Bereiche des Wurmgebietes und Nucleus dentatus sind die
Meningen leicht ödematös und hyperämisch. Im äußeren Blatt der Arachnoidea sind
junge Fibroblasten und Makrophagen aufzufinden, daneben vereinzelte Makrophagen
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 145
mit Abbaustoffen beladen. Die Gefäße im tiefen Mark mit perivaskulären und Wand-
infiltraten, Hämorrhagien, starke Blähung der Venen mit perivaskulär gelegenen Fett-
tropfen. Perivaskuläre Desintegrationen sind sehr ausbebildet. Die kleinen Gefäße des
Markes sind auffallend starr. Die Ganglienzellen des Nucleus dentatus sind schwer
geschädigt. Zwei Prozesse laufen nebeneinander, und zwar Schrumpfung und
Schwellung der Ganglienzellen. Herdförmige Lichtungen und Ausfall von Ganglien-
zellen sind zu beobachten. Die Glia ist im Bereiche des Dentatus diffus vermehrt.
Tief im Mark ein Gliastrauchwerk. Auch Gliahosen um die Kapillaren. Die Purkinje-
schen Zellen sind viel weniger geschädigt; einzelne von ihnen sind vom Schwellungs-
Abb. 2. Fall 4408, sept. Scharlach.
3 Purkinjesche Zellen, davon 2 mit verschieden großen „Einschlußkörperchen“, in der
links liegenden Purkinjeschen Zelle eine leichte Schwellung ihrer Fortsätze, der Proto-
plasmarand, wo die Einschlüsse in der linken Zelle liegen, unscharf.
Toluidinblaufärbung | Übersichtsbild).
prozeß ergriffen. In den Toluidinblaupräparaten treten «die vorher genannten Eigen-
tümlichkeiten auf, die in den Häm.-Eosinpräparaten leicht zu übersehen sind. Schon
in den Gefäßen liegen Kugeln von verschiedenem Kaliber. Sie sind kleiner oder
größer als Lymphozyten, rund oder oval, manchmal an einem Ende zugespitzt. Diese
Kugeln haben gierig den basischen Farbstoff aufgenommen und lassen keine Besonder-
heiten erkennen. Sie sind am häufigsten in den Meningealgefäßen und in den Ge-
fäßen an der Grenze zwischen Zona molecularis und ganglionaris anzutreffen. Sie liegen
frei im Lumen der Kapillaren zu 4 und 6. In dem angeschnittenen Plexus chorioideus
finden sich auch Kugeln, ebenso Zellen, die gierig den Farbstoff aufgenommen haben
und mit feinsten Granulis besät sind. Am Rande solch einer Zelle finden sich zwei
Körnchen. Es ist schwierig, zu entscheiden, ob es sich um Diplokokken handelt. Die
Grenzen dieser Zellen sind unscharf, im Inneren liegt der durchschimmernde Kern.
Die Purkinjeschen Zellen enthalten in ihrem Inneren die im Seitenlappen erwähnten
„Einschlüsse“. Diese Einschlüsse sind im Bereiche des Wurmes viel häufiger an-
zutreffen als im Seitenlappen. In einem Gesichtsfeld (Abb. 2) kann man 7 bis 10
Purkinjesche Zellen mit diesen Finschlüssen auffinden. Ihre Form schwankt, sie
sind meist oval, teils rund, an einem Ende oft zuzespitzt, sie liegen einzeln im Proto-
plasma, aber auch in Gruppen zu 5 haben wir sie angetroffen. Im Toluidinblau-
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 10
146 A. Jakubowicz.
präparat haben sich diese Einschlüsse dunkler als der Nukleolus (Abb. 3) gefärbt, sie
sind dunkenblauviolett gefärbt. Eine Struktur kann man im Inneren nicht erkennen.
Oft sind sie von einem Hof umgeben. Dort, wo der Einschlußkörper liegt, sind die
Protoplasmagrenzen an dieser Stelle unscharf. Die Purkinjeschen Zellen sind zum
Teil geschwollen, aber viele sind vollständig intakt, trotzdem sie den Einschluß-
körper beherbergen. Im Häm.-Eosinpräparat hat man anfangs Schwierigkeiten, diese
Gebilde aufzufinden. Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, wurden die Präparate
verschieden differenziert und verschieden mit Eosin nachgefärbt. Und da zeigte es sich,
daß sie sich je nach der Dauer der Einwirkung des Farbstoffes verschieden färben
können. So färbten sie sich in den Präparaten, die lange der Differenzierungsflüssig-
=
Abb. 3. Fall 4408, sept. Scharlach.
1 Purkinjesche Zelle mit 2 am Rande gelagerten Einschlußkörperchen, in der Mitte
der intakte Kern. Zeiss-Immersion. Toluidinblaufärbung.
keit und kurz dem Eosin ausgesetzt waren, graublau. Und in den Präparaten, die
längere Zeit, bis zu 15 Minuten, mit Eosin behandelt wurden, rosarot, mit einem
Stich ins Blaue. Im Heidenhain-Präparat (Abb. 4) kamen sie sehr plastisch zum
Vorschein; nicht alle ließen einen deutlichen Hof (Kapsel) von verschiedener Breite
erkennen. Der zentrale Anteil färbte sich schwarz, die Kapsel war immer scharf gegen
das Protoplasma abgegrenzt. In manchen Zellen fanden sich Einschlüsse mit scharfer
Umgrenzung, die den Farbstoff nicht aufgenommen haben. Und manchmal hatte man
den Eindruck, als ob im Inneren dieser Einschlüsse noch etwas gelegen wäre. In
den Gefäßen fanden sich kugelige Gebilde von verschiedener Größe. Auch in diesen
Präparaten waren an den Punkten, wo die Körper lagen, die Protoplasmagrenzen wie
angefressen. Im Fuchsinpräparat waren sie rot, mit einer leichten Aufhellung gegen
die Peripherie. Im Toluidinblau-Eosinpräparat haben sie sich ähnlich wie in den
Nissl-Präparaten gefärbt. In van-Gieson-Präparaten sind diese Einschlüsse schwarz,
eine Kapsel ist nicht zu erkennen. Bei Scharlachrotfärbung gaben sie keine Fettreaktion.
In den Markscheiden, gefärbt nach Spielmeyer oder nach Weigert, kamen sie
nicht zur Darstellung. Bei der Bestschen Färbung färbten sie sich blau, somit gaben
sie nicht die Färbung der Corpora amylacea. Bei Färbung wie zum Nachweis der
Negrischen Körperchen nach Lintz waren die Einschlüsse blau. In den Gram-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 147
präparaten sind sie zum Teil grampositiv, in der Minderzahl gramnegativ. In Biel-
schowsky-Präparaten sind sie auch sichtbar und sehr scharf umgrenzt. Sie gaben
keine Jodreaktion und färbten sich wie das Grundgewebe. Es sei noch erwähnt,
daß im Toluidinblau-Eosinpräparat ein Gebilde in der Zona molecularis freiliegend
aufgefunden wurde, das aus einem zentralen dunklen Anteil und einem peripheren
helleren Anteil besteht. Es ist von der Größe eines halben Erythrozyten und erinnert
an die Gebilde, die in mehreren Fällen von Scharlach gefunden wurden.
Zusammenfassung.
31/,jähriges Kind erkrankt an einem Scharlach und in drei Tagen geht
das Kind zugrunde. Das Kind war taubstumm. Vor dem Tode zeigte es eine
Abb. 4. Fall 4408, sept. Scharlach.
Purkinjesche Zelle mit einem Einschlußkörperchen und einem deutlich hellen Hof
(Kapsel). Intakter Kern. Heidenhain-Färbung.
Unruhe, sonst gar keine neurologischen Symptome. Die am nächsten Tage
vorgenommene Sektion ergab folgenden Befund. Dilatatio cordis levis. De-
generatio adiposa gravis myocardii, hepatis, renum. Tumor lienis acutus.
Oedema et hyperaemia cerebri.
Die histologische Untersuchung verschiedener Teile des Zentralnerven-
systems ergibt folgendes. Ödem und Hyperämie von wechselnder Stärke.
Die Gefäßwand ist schwer geschädigt, reichlich Abbaustoffe, die im Pallidum
zur Imprägnation von Zellen in der Gefäßwand führen. Das Parenchym ist
schwer geschädigt, nebeneinander Kolliquation und Koagulation der Ganglien-
zellen. Die mesodermale sowie die ektodermale Reaktion ist im Vergleich
mit den später zu besprechenden Fällen die stärkste, so daß man in diesem
Fall von einer echten Entzündung sprechen darf. Der bakteriologische Be-
fund ist mannigfaltig. In der III. Schicht der Zentralwindung in den Kapillaren
massenhaft Streptokokken. Im Kleinhirn, und zwar in der Zona ganglio-
naris, Diplobakterien, die nicht weiter zu differenzieren sind. In den Pur-
kinjeschen Zellen Einschlußkörper, die den Eindruck machen, als ob es sich
um Pilze handeln würde. In den Gefäßen liegen ähnliche, deren Differenzie-
rung aber Schwierigkeit bereitet, weil das Blut hämolytisch verändert ist.
10*
148 A. Jakubowicz.
Fall 4439. W.. Anna, 13 Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte. :
Familienanaınnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Mit 7 Jahren Masern, oft Anginen. Jetzige Er-
krankung: 24. Dezember Kopfschmerzen, Ausschlag am ganzen Körper. Deshalb so-
fort ins Wilhelminenspital eingeliefert. Stat. praes.: Alle Organe o. B. Exantherna
scharl. Rachen lebhaft gerötet, Himbeerzunge, Drüsen. 26. Dezember 40.2 Temp..
Puls 136, Sensorium frei, Halsdrüsen druckempfindlich, Milz nicht palpabe!. 28. De
zember benommen, 40,2 Temp., delirienartige Zustände, Epistaxis. Menses, Azeton-
geruch, große Atmung, Herztöne unrein. 29. Dezember: Die delirienartigen Zustände
dauern fort, Zyanose, Urin o. B. Exitus letalis 15 Uhr 15 Min.
Klinische Diagnose: Scarlatina gravis.
Sektion am 30. Dezember 1930 (Dr. Wicke): Rötung und Schwellung der
Gaumenmandeln, die einzelne Eiterpfröpfe in den Lakunen aufweisen. Pharyngitis.
Laryngitis, Tracheitis, teils hyperplastische, teils hämorrhagische Entzündung der
Lymphonodi cervicales eraniales. — Hanfkorngroße Blutungen in der Lungenfell- und
Herzaußenhaut. -- Hochgradige Hyperämie beider Lungen, im rechten Unterlappen
frische bronchopneumonische Herde. Erweiterung des Herzens in allen Teilen, fetrige
Entartung des Herzfleisches, der Leber und der Nieren. Ödem der Leber und er
Nieren mit Stauung in der Niere. Hyperämie der Nebennieren, der Bauchspeicheldrüse.
Lipoidschwund der Nebennieren. Akute hochgradige Milzschwellung mit deutlichem
Hervortreten der Iymphoplastischen Follikel. Die Schleimhaut des Darmes ist blav-
rötlich gefärbt, fleckig hyperämisch, undurchsichtig trüb. Ödem des Gehirns, mäßige
Erweiterung der Ventrikel.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata: Die Meningen sind nicht mehr erhalten. Die Gefäße
der meningealen Septen voll mit Blut gefüllt. Die Gefäßwand ist stark geruollen.
um die Gefäße seröse Exsudate, in welchen sich Makrophagen und vereinzelte Rund-
zellen auffinden. Ein einziges Gefäß zeigt sogar ein perivaskuläres Infiltrat. Das
Ependym am Boden der Rautengrube ist zart, nur an zwei Stellen sieht man am
Ependym Anhäufung von Zellen gegen den Ventrikel zu. An diesen Stellen ist die
Ependymschicht beschädigt. Im Bereiche der Medulla oblongata besteht Ödem und
Hyperämie. Die Ganelienzellen sind zum Teil verändert. Der Schwellungsprozeb,.
zentrale Homogenisation, Blähung und Schwellung des Kernes, der hell leuchtend
erscheint, stehen im Vordergrund. Der ganze Prozeß ist diffus, manche Ganglien-
zellen zeigen auch wabig-vakuoläre Degeneration, hie und da sieht man in den
Ganelienzellen matte Aufhellungen, die frei von Tigroid sind. Diese Stellen scheinen
zu zeieen, daß sich hier Verfettung findet. Sehr auffallend sind wieder in diesem
Falle die Ganglienzellen der Oliva inf. Sie sind nicht nur durch ihr tinktorielles Ver-
halten charakterisiert, sondern enthalten in ziemlich reichlicher Menge das goldgelbe
Pigment von Obersteiner. Im Gebiete des Ambiguus liegen viele gut erhaltene
Zellen, daneben finden sich aber auch Gaänelienzellen, die durch ihre Schwellung
die Form verloren und die Quadratform angenommen haben. Verflüssigung und
Vakuolenbildune in den Ganglienzellen der Substantia reticularis.
Pons: Ödem und Hyperämie. Die Gefäße und besonders die Kapillaren sind
mit weißen Blutzellen gefüllt, sie kommen auch manchmal perivaskulär zu liegen.
Das Ependym ist zart. Die Veränderungen an den Ganglienzellen sind weniger in den
ventralen als in den «dorsalen Partien ausgeprägt, aber auch hier ist die zentrale
Homogenisation. Schwellung und speziell die axonale Schwellung deutlich aus-
geprägt. In den dorsalen Partien sind die Veränderungen an den Ganglienzellen
viel schwerer, so hegen im Bereich der «dorsolateralen Partien 5 geblähte Ganelien-
zellen mit fein gekörntem Tigroid, das zur Peripherie zu grobkörnig wird, man hat
auch den Eindruck, als ob das Tigroid außerhalb der Zellgrenzen zu liegen käime.
Eine matte Aufhellune im Protoplasma einer Zelle weist auf eine beginnende Ver-
fettunz hin. Neben so veränderten Ganglienzellen finden sich aber auch vollständig
Über Veränderungen (des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 149
intakte. Die Glia begleitet hie und da die verdickten Kapillaren, sie ist auch ge-
schwollen und diffus vermehrt. Neuronophagie ist nicht zu beobachten.
Mittelhirn: Die Hyperämie ist ziemlich zurückgegangen, das Ödem ist noch
ausgeprägt und besonders stark im Gebiele der Substantia nigra. Hier sind auch
die schwersten Veränderungen an den Ganglienzellen anzutreffen. Zellschattenbildung
mit Resten von Melanin. Die Ganglienzellen sind geschwollen und vakuolisiert, der
helle Kern, der keinen Nukleolus mehr erkennen läßt, liegt geschwollen und gebläht,
ohne deutliche Membran. Auffallend ist, daß diejenigen Ganglienzellen in der Substantia
nigra, die melaninfrei sind, weniger Veränderungen zeigen oder wenigstens nicht so
schwer verändert sind wie diejenigen, die melaninhaltig sind. Man kann in den
ersteren wenigstens die Riesenvakuolen nicht mehr erkennen, auch ihre Zellgrenzen
sind viel besser erhalten. Nun zeigen sie aber eine axonale Schwellung. In den
anderen Gebieten des Himstammes sind auffallend die Zellen des Nucl. ret. tegm.,
die stark gequollen sind und einen Kern erkennen lassen und mit feinkömigem
Tigroid besät sind. Man hat fast den Eindruck, daß es sich um Bakterien handelt,
aber davon ist keine Rede. Dieses feinkörnige Tigroid kommt auch in Häm.-Eosin-
präparaten zum Vorschein, wo es sich tief rot gefärbt hat. Der Prozeß im Hirn-
stamm ist diffus. Zentrale Homogenisation mit Schwellung und axonaler Veränderung
stehen im Vordergrund. Manche Ganglienzellen lassen eine matte Aufhellung in einer
Ecke des Protoplasmas erkennen, die wahrscheinlich auf Verfettung zurückzuführen
ist. Im Okulomotorius liegen noch viele gut erhaltene Granglienzellen neben Ganglien-
zellen, die geschwollen sind. Das Ependym des Ventrikels ist zart, papillenbildend.
Vorderhirnrinde: Die Meningen zeigen Ödem und Hyperämie. Im äußeren
Blatt der Arachnoidea haben die histiogenen Elemente zugenommen. Im Bereiche der
Rinde sind die Hyperämie und das Ödem geringgradig ausgeprägter als im Mark.
Im Häm.-Eosinpräparat fällt es auf, wie verschieden sich die weiße Substanz gefärbt.
hat, es gibt Inseln von weißer Substanz, die eine gelblichgraue Farbe zeigen; die
Glia hat sich aber im Bereiche dieser Inseln wie sonst gefärbt. In der Rinde sind
die großen Pyramidenzellen vom Schwellungsprozeß ergriffen. Der Kern selber zeigt
alle möglichen Varianten in diesen geschwollenen Ganglienzellen, einmal ist er hell
leuchtend. das andere Mal ganz dunkel, manchmal ist die Kernmembran gefaltet usw.
Die Glia verhält sich vollständig passiv. Den kleinen Ganglienzellen liegt die Glia
dicht an, sie bildet auch hie und da Rosetten. — Aber auch die kleinen Pyramiden
zellen zeigen, wenn auch der Prozeß nicht sehr ausgeprägt ist, eine Schwellung.
Amöboide Glia ist reichlich vorhanden.
Cortex-Frontalhirn: Die Veränderungen an den Meningen sind ausgeprägter
als im vorigen Schnitt. Makrophagen und Rundzellen sind häufiger aufzufinden, sie
sind stellenweise infiltrativ verdichtet. Auffallend ist in der Rinde das reiche Kapillar-
netz mit Kapillarneubildung. Die Glia umhüllt die Kapillaren, an der Grenze zwischen
Rinde und Mark ist die perivaskuläre Desintegration sehr deutlich und einzelne Rund-
zellen sind perivaskulär gelegen. Auch das reichliche Vorhandensein von runden Zellen,
die mit einem Pigment beladen sind und in der Wand der Kapillaren liegen, ist auf-
fallend. Die Glia ist reichlich vorhanden, sie liegt den Ganglienzellen dicht an. Die
Veränderungen an den Ganglienzellen sind geringgradig. Vereinzelte sind geschwollen.
Im Grampräparat sind keine Bakterien aufzufinden.
Cortex-Temporalhirn: Die meningealen Veränderungen sind ausgeprägter als
im vorigen Schnitt. Die Hyperämie und das Ödem sind ausgeprägter. Die Veränderungen
an den Ganglienzellen entsprechen denjenigen wie in der motorischen Rinde. Auch
hier steht die Schwellung der großen Pyramidenzellen im Vordergrund.
Calcarina: Die meningealen Veränderungen sind stark zurückgegangen, aber
auch hier sind eine Hyperämie und ein Ödem der Meningen vorhanden. Die Verände-
rungen im Bereich der Ganglienzellen sind nicht mehr so stark ausgeprägt wie in
den vorigen Teilen der Rinde. Zerstreut findet man hier veränderte geschwollene
Ganglienzellen.
Hippocampus: Deutliche Meningitis serosa. Hyperämie im Mark, Randglia
150 A. Jakubowicz.
vermehrt. Hier sind die Axone der Pyramidenzellen geschwollen, sonst ist der Prozed
ziemlich geringgradig.
Stammganglien: Im Bereiche der Stammganglien ist der Befund ein sehr
EE
Abb. 5. Fall 4439, Scarlatina gravis.
Im Bereich der Stammganglien fanden sich um Ganglienzellen und in den Kapillaren
gelagert Gebilde, die morphologiseh an Pilze erinnern. Die zwei längsovalen Gebilde
‚/ufallsbefund) erinnern zum Teil an Protozoen, zum Teil an pflanzliche Sporen-
Zeiss-\pochromat 2 min, Comp. Okular 12.
interessanter. Es bestehen ein Ödem und eine Hyperämie. Die perivaskulären Desinte
grationen sind mächtig. Die Blutgefäße mit weißen Blutelementen — in überwiegender
Mehrzahl mit mononukleären Zellen — gefüllt. Um die Gefäße liegen schon perivasku-
läre Infiltrate, die ans Plasinazellen und Lymphozyten bestehen. Aber es finden sich
auch seröse Ausschwitzungen. in denen Makrophagen mit Pigment und Abbaustoffen
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 151
beladen sind, ebenso Zellen, die sich auffallend dunkel gefärbt haben. Diese letzteren
finden sich hart an der Grenze des Nucleus ansae und des Pallidum. Diese dunklen
Zellen erscheinen bei der Toluidinblaufärbung dunkelblauviolett und sind mit feinsten
Granulis besät. Exzentrisch kann man im Plasma, bei dieser Färbung, den Kern er-
kennen, denn er schimmert durch die Masse hindurch. Irgend welche Struktur am
Kern ist nicht zu erkennen. Diese Granula kommen auch außerhalb der Zellgrenzen
vor. Im Häm.-Eosinpräparat haben sich erstens die Granula entfärbt, zweitens sieht
man einen deutlichen Kern, der exzentrisch gelagert und Radspeichenform erkennen
läßt. Daneben liegen aber auch Zellen, wo der Kern vollständig verklumpt ist, seine
Grenzen sind nicht deutlich. Das Protoplasma auch dieser Zellen ist mit feinsten
Granulis besät. Noch eine dritte Gruppe von Zellanteilen, die immer die artgleichen
zu sein scheinen, kann man erkennen; sie haben sich orangerot gefärbt und bestehen
nur aus Protoplasma, da der Kern nicht getroffen ist. Im thalamischen Gebiet sieht
man ein ausgesprochenes Kapillametz mit deutlicher Vermehrung des Endothels. Im
Globus pallidus und vereinzelt im Thalamus finden sich dunkelviolett gefärbte Endo-
thelien und Gefäßwandzellen, wie sie bereits in den anderen Fällen auch vorhanden
sind. Die Veränderungen an den Ganglienzellen sind diffus verstreut in Form von
Schwellung, zentraler Homogenisation und Schwellungserscheinungen mancher Fort-
sätze Die Glia ist besonders im thalamischen Bereich reichlich, sie ist selbst ge-
schwollen. Im Bereich des Claustrum in der Capsula externa, im Putamen neben
Ganglienzellen finden sich in den Nissl Präparaten dunkel gefärbte Kugeln (Abb. 5)
von etwa !' bis 1 Erythrozytengröße mit einem an einzelnen Stellen sichelförmigen
und helleren Rand; unter denen auch größere, heller gefärbte, mehr ovoide Formen
annehmende Gebilde, die an einzelnen Stellen beide Stadien aufweisen. Die erst-
genannten Gebilde, die, was ihre Größe anbelangt, sehr variieren, zeigen vielfach
sprossenähnliche, etwa 1/,, der Mutterzelle einnehmende Formationen. Anderseits
scheinen aus ihnen gut konturiertle Fäden mit oft welligem und geschlängelten Verlauf
auszuwachsen. Diese Fäden sind auch einzeln ohne Zusammenhang mit der Mutter-
zelle aufzufinden und lassen an manchen Stellen in sich kugelige, dunkel gefärbte
Gebilde erkennen, die bisweilen keulenförmige Anschwellungen aufweisen. Die oben
erwähnten Sprossen liegen einzeln oder zu Gruppen gehäuft im Präparat. In mehreren
Kapillaren und auch in größeren Gefäßen konnte dieser ganze Formationskomplex auf-
gefunden werden. In den Häm.-Eosinpräparaten konnten sie auch nachgewiesen werden.
zum Teil haben sie «den basischen, zum Teil den sauren Farbstoff aufgenommen,
Außer den genannten Gebilden fanden sich in einem Präparat zwei Gebilde (Abb. 5),
die in ihrer Größe ungefähr viermal so groß wie die daneben gelegene Glia waren.
Sie stellten in der Längsachse hintereinander gelagerte, langgestreckte, ellipsoide Ge-
bilde mit einer «dünnen, scharf konturierten Hüllenmembran dar. An beiden Enden
der Längsachse erschienen sie verdickt. An der ganzen Oberfläche und in unregel-
mäßigen Abständen mit feinen Höckerchen besetzt, so daß die Oberflächenansicht
das Bild einer regelmäßigen zierlichen Skulpturierung zeigt. Auf dem optischen
Durchschnitt erscheint diese Membran daher äußerlich gezähnt. Im Inneren sieht
man eine helle, ziemlich homogene, periphere Plasmaschicht, die entsprechend beiden
Enden der Längsachse zu einer Kugel verdiekt und gegen die dunkle innere Masse
vorgewölbt ist. Eine ganz gleiche helle, diaphragmaartige Plasmaschicht, entsprechend
der kleinen Achse der Ellipse, teilt die dunkle Innenmasse in zwei stumpfkegelförmige
Anteile. Diese dunklere Innenmasse enthält ungleich große, unregelmäßig zerstreute,
unscharf begrenzte Brocken. Ein als Kern charakteristisches Gebilde ist nirgends in
dieser Masse zu sehen. `
Cortex cerebelli: Wenn auch die meningealen Veränderungen geringgradig
sind, so besteht doch eine Meningitis serosa. Das Odem ist geringgradig, die Molekular-
zone ist reichlich an Glia. Das Auffallendste ist die verschiedene Färbung der Ganglien-
zellen. Neben vollständig blassen, die zum Teil geschwollen sind, liegen dunkel ge-
färbte Purkinjesche Zellen, die ihre Form geändert und den basischen Farbstoff
intensiv aufgenommen haben. Innerhalb dieser Zellen finden sich dunkle Granula, aber
152 A. Jakubowicz.
auch sie umgrenzen die Zellen von außen, sie sind größer als die vorher genannten.
In der Zona granularis besteht ein angedeuteter Körnerzerfall. In den Grampräparaten
finden sich Stellen, die tief im Mark um die Gefäße gelagert sind und auffallend
dunkelviolett erscheinen. Es ist schwer zu entscheiden, um was es sich hier handelt.
Im Bereich des Cortex des Wurmes sind die Veränderungen an den Ganglienzellen
die gleichen wie in den Seitenlappen, auch hier intensive Imprägnation der Ganglien-
zellen mit einem basischen färbbaren Stoff. Im Mark findet sich eine Heterotopie, wo
auch Ganglienzellen mit doppeltem Kern vorkommen. Auffallend sind die Hyperämie
und das Ödem im Mark. Die Glia ist diffus vermehrt, auch eıne Andeutung eines
Gliastrauchwerkes kommt vor. Sehr zahlreiche Pigmentzellen um die Gefäße. Einzelne
Gefäße enthalten perivaskuläre Infiltrate. In den Grampräparaten liegen an zwei
Stellen in den Maschen des Gewebes unweit von größeren Venen Gebilde, die in
Gruppen gelagert sind. An einer Stelle sind es 6 Gebilde, die grampositiv erscheinen,
von der Größe eines halben Erythrozyten; sie sind polygonal und lassen zum Teil
einen zentralen, dunkel gefärbten Teil und eine Aufhellung an der Peripherie er-
kennen. An einer zweiten Stelle liegen sie zu zweit gelagert und zeigen das gleiche
Verhalten. Auch hier sind dunkel gefärbte Stellen im Mark, die nichts Näheres er
kennen lassen.
Zusammenfassung.
13jähriges Mädchen erkrankt an einem schweren Scharlach. Am fünften
Tage tritt der Tod ein. In den letzten zwei Tagen stellten sich delirien
artige Zustände und Benommenheit ein. Die nach zirka achtzehn “tunden
vorgenommene Sektion ergibt folgenden Befund: Tonsillitis lacunaris puru
lenta; Lymphadenitis glandularum cervicalium; Ecchymoses subpleurales.
subepicardiales; Pneumonia lobularis lobi inf. pulm. utr.; Dilatatio cordis
totius; Degeneratio myocardii, hepatis, renum; Tumor lienis acutus; Hyper
aemia passiva viscerum; Oedema cerebri; Dilatatio ventriculi.
Der histologische Befund im Zentralnervensystem ergbit: Ödem und
Hyperämie von wechselnder Stärke. Die Desintegrationen im Bereiche der
Stammganglien und im Cortex, und zwar an der Grenze von Rinde und
Mark und im Mark selber am deutlichsten entwickelt. Der Gefäßapparat ist
anatomisch geschädigt. Im Bereiche der Meningen, und zwar im Cortex
eine Meningitis serosa von wechselnder Stärke. In den Blutgefäßen Thromben-
bildung, Vorhandensein von zahlreichen Leukozyten, und zwar mono
nukleären. In der Medulla sind die Zellen der Olive und der Subst. rel.
befallen. Im Hirnstamm haben am meisten die Zellen der Subst. nigm
gelitten. Im Bereiche der Rinde sind die großen Pyramidenzellen am meisten
betroffen. In den Stammganglien keine Spur einer Lokalisation des Pro-
zesses, da dieser ein durchaus diffuser ist. Im Dentatusgebiet schwere Zell
erkrankung, zum Teil auch die Purkinjeschen Zellen schwer erkrankt.
mit Imprägnation eines basischen Stoffes. An der Grenze des Pallidum zum
Nucleus ansae liegen um die Gefäße herum runde Zellen und im Pallidum.
im’ Thalamus Endothelien, Gefißwandzellen, die sich mit einem xkörnigen
Stoff inkrustiert haben. Die erstgenannten Zellen sind die gleichen, wie wir.
sie in anderen Fällen schon angetroffen haben, und zwar auch im Pallidum
und im Corpus pineale. Es sei noch erwähnt, daß auch andere Abbaustoffe se
funden wurden. Im Gebiete der Stammganglien wurden in diesem Falle
wahrscheinlich Hyphomyzeten gefunden; aber auch im Kleinhirn und viel-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 153
leicht in der motorischen Rinde sind sie vorhanden. Nur ist die Be-
urteilung eine schwierige. Von einer Deutung der erwähnten zwei Gebilde
im Gebiete der Stanımganglien wollen wir absehen, da wir sie nur als Neben-
befunde brachten.
Wir wollen hier im Anschluß an diese Befunde die spärlichen Angaben
der Literatur über Pilzbefunde im Gehirn berücksichtigen. V. Hansemann
beschrieb als Erster einen Fall, wo im Verlaufe einer Tbc. pulmonum eine
Meningitis aufgetreten war. Die Liquoruntersuchung ergab viele einfach oder
doppelt konturierte Kügelchen, die er als Pilze ansah. Er fand die Hefe in den
Zellen liegen und er meint, es handle sich um Makrophagen. Auch Türck
beschrieb einen Fall von Meningitis durch Pilze verursacht, die er kulturell
als eine der Busseschen Hefeart verifizieren konnte. Auch Verse fand
in einem Falle von generalisierter Blastomykose Pilze im Gehirn, die eine
Meningitis hervorgerufen haben. Experimentell haben sich Busse, Stern-
berg u. a. damit befaßt. Eine der jüngsten Arbeiten stammt von Klarfeld.
auf die ich näher eingehen werde. Er experimentierte mit der Hefe Klein,
zum Teil mit der viel pathogeneren Hefe Busse. Bei der Sektion der Tiere
konnte er nun eine Gefäßinjektion der weichen Häute feststellen. Mikro-
skopisch fand er in allen positiven Fällen eine Veränderung der weichen
Häute. Nie war eine Erkrankung der Hirnsubstanz ohne Beteiligung der
Meningen vorhanden. Die Krankheitserreger waren seiner Meinung nach
sehr leicht aufzufinden. Für unsere Befunde scheint nun die Angabe Klar-
felds beachtenswert, daß er öfters Ehrlichsche Mastzellen in der Pia an-
traf und in der Nähe dieser Mastzellen sich zerstreut im Gewebe kleine Körn-
chen fanden, die dieselbe Farbennuance aufwiesen wie die Granula der Mast-
zellen. Eine Bevorzugung der Hefe für ein (iebiet des Zentralnervensystems
konnte er nicht feststellen. Nach ihm besteht der histopathologische Befund
aus zwei Komponenten, und zwar aus den Veränderungen der Meningen und
aus der herdförmigen Erkrankung der nervösen Substanz. Diese letztere ge-
hört in die Gruppe der sogenannten „spezifischen Granulationen“. Zum Schluß
möchte ich die Arbeit von Freeman erwähnen. Der letzterwähnte Autor
beschreibt acht Fälle von Torula beim Menschen. Er gibt auch an, wie man
ılie Pilze differenzieren kann. Es ist selbstverständlich unmöglich, auf diese
Tabelle und Differenzierung einzugehen, weil in unseren Fällen der kulturelle
Nachweis fehlt. Aber ich möchte noch erwähnen, daß, wenn ich die Abbildun-
gen von Klarfeld und Freeman mit meinen Präparaten vergleiche, ich
sicherlich an mehr Stellen Pilze gesehen habe, als ich sie überhaupt erwähnte.
Ich wage nur nicht zu differenzieren, da das Blut hämolytisch verändert ist.
Ferner muß ich mir selbst den Einwurf machen, daß diese Gebilde arte
fiziell sein könnten, d. h. durch eventuelle Wasserverunreinigung ins Gewebe
gelangten. Es ist nur dagegen der eine Umstand auffällig, daß bei gleicher
technischer Behandlung diese eigenartigen Gebilde nur an wenigen Stellen
zu finden waren.
Fall 4430. J., Josefine, 121/, Jahre alt. ‘Kurzer Auszug aus der Kranken-
geschichte.)
154 A. Jakubowicz.
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Als Säugling Pneumonie. Mit 8 Jahren 5 Wochen
Liegekur; 1927 Tonsillektomie und Adenotomie; 1928 Tonsillektomie. Jetzige Erkran-
kung: 16. August 1930 erkrankt mit Fieber bis 39°, Halsschmerzen, Erbrechen, un-
ruhiger Schlaf, Schmerzen in allen Gelenken; 17. August diffuses Exanthem; 18. August
starkes Nasenbluten; wird ins Wilhelminenspital mit der Diagnose Scharlach, Poly-
arthritis eingeliefert; Himbeerzunge, Drüsenschwellung links; Scharlachexanthem,
Schmerzen in den Gelenken, auf der rechten Lunge unten gedämpfter Schall mit Ab-
schwächung der Atmungsgeräusche, am Herzen Akzentuation des 2. Aortentones, Miılz
nicht palpabel, Nervensystem, Augen usw. o. B.; 27. August in der Gegend der linken
Tonsille viele stecknadelkopferoße Beläge; 29. August Schmerzen in den Gelenken.
Schwellung der Fingergelenke, Temp. 38,2; 2. September Temp. 39,1, von da an sub-
febril; 9. September allgemeine Schuppung; 12. September zahlreiche Bläschen mit
seröser Flüssigkeit am linken Ohrläppchen; 16. September Temp. 38,2, anguläre Drüsen-
schwellung links; 17. September Brechreiz ohne Erbrechen; 22. September perikardiales
Reiben; 23. September Exanthem mit Hämorrhagien an den Unterschenkeln, Jucken:
25. September Ausbreitung des Exanthems auf den Stamm, Schlaflosigkeit, Morphium.
Erbrechen; 26. September Brechreiz, Hustenreiz, nachher kurzer Schlaf; 12. Oktober
Urobilinogen stark vermehrt, vereinzelte Erythrozyten im Sediment; 14. Oktober
multiple schmerzhafte Knötchen an der Sehnenscheide der rechten Hand, viel weniger
an der linken Hand; 22. Oktober Geräusche am Herzen. diastolisches Geräusch an der
Herzspitze; 7. November Schuppung an Händen und Füßen; 27. November Brechreiz.
Dyspnoe, Schlaflosigkeit; 30. November Ödeme, Dyspnoe nimmt zu: 1. Dezember Exitus
letalis 9 Uhr morgens.
Klinische Diagnose: Skarlatina, Perikarditis, Endokarditis, Polyarthritis rheu-
matica.
Sektion am 2. Dezember 1930 (Obduzent Prof. Wiesneri: Obsolete Endo- und
Perikarditis: konsekulive Insuffizienz des Aortenostiums; relative Insuflizienz der
Klappen des Mitralostium; bei hochgradiger exzentrischer Hypertrophie besonders des
linken Ventrikels; totale Concretio cordis cum pericardio und Pericarditis externa:
schwere Degeneration des Myokards, Myokarditis; Hepatisation der Lunge infolge chro
nischen Stauungsödems; Stauungsinduration der Leber und Nieren sowie Verfetltung
der Organe; Stauungskatarrh des Magendarmkanals; beiderseits Hydrothorax; Aszites:
synechiale Anwachsungen beider Lungenvorderflächen; Hyperämie und Ödem der
thorakalen Lymphdrüsen; hochgradige Hyperplasie der Zungengrunditonsille; Follikel-
hyperplasie im Fundus des Magens; weniger im Neum; Fettyhmus; Hypoplasie des
Uterus.
Mikroskopische Untersuchung.
Die Meningen sind zum Teil abgerissen, es besteht ein deutliches Ödem und Hyper-
ämie. Das äußere Blatt der Arachnoidea ist zellreich, meist sind es histiogene Elemente.
Die Gefäße der Meningen zeigen eine starke Quellung der Gefäßwand. Ein perivasku-
läres Infiltrat nirgends aufzufinden, dagegen besteht eine seröse Ausschwitzung um
die Gefäße mit vereinzelten Makrophagen. In der Medulla besteht ein beträchtliches
Ödem. Die Gefäße zeigen auch hier die gleichen Veränderungen wie in den Meningen.
Hie und da findet man auch in den Gefäßen Thromben, daneben viel Fibrin in Kugeln,
die sich bei Häm.-Kosinfärbung und bei Toluidinblaufärbung violett gefärbt haben. Sie
sinl von verschiedener Größe, es besteht eine Anreicherung von Glia, die meist ge
quollen ist. Auch amöboide Glia ist aufzufinden. An einzelnen Stellen kommt besonders
deutlich ein reiches Kapillarnetz zum Vorsehein. Auch eine Endothelvermehrung ist
wahrzunehmen. Im Toluidinblaupräparat sieht man ganz verschiedene Veränderungen
an den Ganglienzellen. Im Gebiet der Raphe neben der medialen Nebenolive findet
sich eine Riesenganelienzelle mit weit verfolebaren Dentriten und ihren Verzweiennzen.
Es handelt sich um eine ektopisch verlagerte Ganglienzelle. Aber auch Dystopie
der mediodorsalen Nehenolive ist vorhanden. An den Ganglienzellen steht der Schwel-
lungsprezeß in Vordergrund. Dieser betrifft den Zelleib, den Kern, der helleuchtend
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 155
erscheint, und die Dentriten. Daneben findet man Ganglienzellen mit zentraler Homo-
genisation, Verlagerung des Kernes, vakuolär-wabiger Degeneration des Zellproto-
plasmas. Aber auch Schrumpfungsprozesse und Verklumpung des Tigroids sind an-
zutreffen. Im Gebiete der Substantia reticularis Spuren von Homogenisation der großen
Zellen. Auffallend dunkel haben sich die Ganglienzellen der Oliva inf. gefärbt; sie
lassen auch meist keine Struktur erkennen; Verminderung der Olivenzellen und sekun-
däre Gliawucherung. In den Markscheidenpräparaten keine wesentliche Abweichung
von der Norm. Die Pyramidenareale sind gut gefärbt. Leichte Aufhellung im Bereiche
der Gollschen Stränge.
Pons: Die Meningen zeigen immer die gleichen Veränderungen. Auch hier be
Abb. 6. Fall 4430, Scharlach-Polyarthritis.
Um eine pontine Ganglienzelle gelagerte eigenartige Gebilde der gleichen Art wie in
der Abb. 8, vereinzelt auch im Gewebe. Toluidinblaufärbung. Mikrophotogramm.
steht eine Hyperämie und ein Ödem. Auffallend sind die Ganglienzellen im Bereiche
des Nucleus reticularis tegmenti. Sie sind geschwollen. In den ventralen Partien steht
die zentrale Homogenisation in den Ganglienzellen im Vordergrund. Die Glia ist reich-
lich vorhanden, oft hat man den Eindruck, als ob die Glia die Ganglienzellen um-
klammern möchte. Auch amöboide Glia ist aufzufinden. Ein Schnitt höher oben im
Bereiche des Locus coeruleus zeigt Auffälligkeiten in den Toluidinblaupräparaten. Es
finden sich, um eine Ganglienzelle gelagert, in Gruppen zu 2 und 4 angeordnet,
kleine, rundliche bis ovale Gebilde im Gesichtsfeld verstreut, wobei immer ihre
nahe Lagebeziehung zu Ganglienzellen charakteristisch erscheint. Auffallend ist, daß
nicht in jedem Gesichtsfeld diese Gebilde anzutreffen sind. Die Abtrennung einzelner
Gebilde von der Gruppenanordnung ist vielleicht durch einen technischen Fehler bei
der Untersuchung des frisch eingebetteten Präparates zustande gekommen (Abb. 6).
In einem anderen Toluidinblaupräparat finden sich 6 polyedrische Gebilde mit
zackig begrenztem Protoplasma. An einer anderen Stelle eine Gruppe von 14 teils
kreisrunden, teils ovalen Gebilden von der Größe eines halben Erythrozyten. Bei
Untersuchung mit Ölimmersion (Zeiss Ort. 125X90) zeigen diese Gebilde einen
dunkel gefärbten, zentralen, wabigen Anteil, der ziemlich scharf gegen die peripherere
hellere Zone abgegrenzt ist. Diese Zone ist von einem schmalen Saum umrandet.
In einigen dieser Körperchen reicht der zentrale Anteil bis an die Peripherie, so daß
156 A. Jakubowicz.
hier die hellere Zone nicht zum Vorschein kommt. Auffallend sind in diesem Präparat
die Zellen des Locus coeruleus und das reiche Kapillarnetz in diesem Bereich. Das
Velum medullare, das sich im Präparat findet, zeigt zum Teil geschwollene Purkinje-
sche Zellen. In mehreren dieser Ganglienzellen finden sich Einschlußkörperchen, die
gleichen wie im Fall Nr. 4408; sie liegen im Protoplasma am Rande der Zellen,
aber auch am Anfang des Achsenzylinders sind sie aufzufinden. Die Markscheiden im
Bereiche der Pons ergeben normale Verhältnisse. Im Mittelhirn zeigen Teile der Pedun-
kulusfaserung, die medial gelegen sind, und zwar die frontopontinen Anteile, eine
schlechte Färbbarkeit, was vielleicht der schweren kortikalen Erkrankung (s. u.) ent-
spricht.
Stammganglien: Ödem und Hyperämie. Leukozytenthromben. Lackförmige
Umwandlung des Blutes. Erweiterung der Gefäße mit partieller Zerstörung der Gefäß-
Abb. 7. Fall 4430, Scharlach-Polyarthritis.
In der Frontalrinde wie im Mark durch Fäden ausgefüllte Kammerwerke.
Hämat.-Eosinfärbung.
wand mit Wandnekrose. Zentrale Sedimentierung des Blutes; sehr reichlich sind die
großen mononukleären Leukozyten in den Gefäßen. Etat de desintegration mit peri-
vaskulärem Ödem. Im Striatum eine starke Hyperämie. Blutungen zum Teil in den
Lymphraum, zum Teil arteriell, teils venös. Das Kapillarnetz kommt stellenweise
deutlich zum Vorschein. Im Pallidum verstreut heterotope Nervenzellen. Im Pallidum
vereinzelte dunkle Endothelien und Gefäßwandzellen, die mit feinsten Granulis besät
sind und eine große Affinität zu basischen Farbstoffen haben. Im Thalamus opticus
die Gefüßwand mit Pigmentzellen belegt. An den Ganglienzellen sieht man die
gleichen Veränderungen wie vorher. Der Prozeß ist diffus, aber nicht generell. Die
Glia ist gequollen und zeigt gar keine reaktiven Erscheinungen. In den Markscheiden-
präparaten äußerlich kaum sichtbare Veränderungen. Im Striatum eine beträchtliche
Armut an dieken wie dünnen Fasern. Besonders erkrankt scheinen auch vielfach jene
Faserhbündel zu sein, welche das Striatum durchziehen, aber auch die endogene Fase
rung des Striatum zeigt eine minder starke Entartung. Im Pallidum sind die Fasern
besser erhalten, namentlich jene, die zur endogenen Struktur gehören. Ein gleiches
Bild für den Thalamus opticus, wo sich stellenweise auch gröbere Faserveränderun-
gen finden.
Vordere Zentralwindung: Die Meningen zeigen kleine Hämorrhagien, Ma-
un
Über Veränderungen «des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 157
krophagen sind aufzufinden. Die subarachnoidealen Zellbalken sind gelockert. Das
Ödem ist geringgradig, ebenso die Hyperämie. Quellung der Gefäßwand. Es besteht. ein
geringgradiges Ödem der Rinde und des Markes, in letzterem ist die Hyperämie aus-
geprägt. In den Gefäßen Thromben, Fibrin und die vorher erwähnten Kugeln. Die
Ganelienzellen zeigen Schwellung und axonale Veränderungen. Der Kern liegt meist
im Zentrum der Zelle aber auch Schrumpfungsprozesse, wabig-vakuoläre Degeneratio-
nen sind an manchen Ganelienzellen wahrzunehmen. Im Mark und in der Rinde
sieht man disseminiert verteilt eigenartige Höhlenbildungen, welche an Umfang und
Größe sehr variabel sind, die Form der Höhle ist meist ungleichmäßig und man erkennt,
daB die Kavität von einem Kammerwerk erfüllt ist, welches von ganz feinen Fäden
Abb. 7: gebildet wird, wodurch das ganze Gebilde eine netzartige Struktur zeigt.
Vordere Zentralwindung der Gegenseite: Die Meningen zeigen die
gleichen Veränderungen, nur mit dem Unterschied, daß der Prozeß etwas ausgedehnter
ist. Hämorrhasien sind auch hier anzufinden. Die Hyperämie und das Ödem sind im
Mark stärker als in der Rinde. Das Kapillarnetz ist sehr deutlich in der Rinde sicht-
bar. Die Rindenschichten sind gut erhalten. Die Randglia ist vermehrt. Im Mark peri-
vaskuläres Ödem, dementsprechend die Desintegrationen. Die Ganglienzellen zeigen
hier schwerere Veränderungen als im vorigen Schnitte, besonders die großen Pyra-
midenzellen befallen; dabei fällt der geschwollene, hell leuchtend erscheinende Kern
auf. Die Nissl-Struktur ist verwaschen. Manche von diesen Ganelienzellen sind matt.
Auch wabig-vakuoläre Degenerationen, zentrale Homogenisationen mit Schwellung des
Achsenzylinders sind aufzufinden, daneben Schrumpfungsprozesse. Die Glia ist hier
reichlicher vorhanden als im vorigen Schnitte. Zellschattenbildung und Neuronophagie
ist zu beobachten. Auch hier besonders im Mark sind die vorher erwähnten eigen-
artigen Höhlenbildungen aufzufinden. Enorme Füllung der Rindenkapillaren mit Fett,
Pigment. Eisen, Lipofusein.
Temporalrinde: Die Meningen zeigen immer noch die gleichen Veränderungen,
auch hier Blutungen. Starke Hyperämie des Markes, weniger ausgeprägt in der Rinde.
Die Ganglienzellen zeigen fast die gleichen Veränderungen. Es sei betont, daß der
Schrumpfungsprozeß im Vordergrund steht.
Calearina: Ausgelehnte subpiale Blutungen, sonst zeigen die Meningen die
gleichen Veränderungen. An der Grenze von Rinde und Mark ausgeprägtes Kapillar-
netz mit enormer Füllung. Ödem. Die Rindenschichten gut erhalten. Neben vielen
intakten Ganglienzellen liegen geblähte, geschwollene mit axonalen Veränderungen.
Die Glia ist nicht reichlich, ohne reaktive Erscheinuneen. In den Gefäßwänden sehr
reichliche Pigmentzellen.
Uneus und Ammonshorn: Randelia reichlich. Ausgebildete Gliahosen um
die Pyramidenzellen sind geschwollen, auch die Fortsätze zeigen leichte Schwellungs-
erscheinungen. Im Ammonshorn sind die Veränderungen die gleichen wie im Uncus-
gebiet. lier wäre noch ein ausgeprägteres Etat lacunaire zu verzeichnen. Die Mark
scheidenpäparate in allen untersuchten Teilen der Rinde ergeben folgendes: Die super-
radiäre Faserung ist vernichtet. Hochgradige Schädigung des inneren Flechtwerkes,
stellenweise Entartung der Radien. Daneben relativ unveränderte Abschnitte. Einzelne
Gebicte, wo die tangentielle Faserung hochgradig degeneriert ist. Mitunter ist die Rinde
fast völlig entmarkt. Man sieht die Fasersysteme vielfach zu Ballen und Trümmern zer-
legt und an einzelnen Stellen sieht man nur Punkte als Reste der ehemaligen Schicht-
fragmente. Bei der Diffusion des Prozesses läßt sich eine Abhängigkeit vom Gefäßsystem
nicht erkennen.
Cortex cerebelli und Nucleus dentatus: Die Meningen sind ohne Be-
sonderheiten. Die Purkinjeschen Zellen zeigen neben Schrumpfung auch Schwellung,
vereinzelte Purkinjesche Zellen beherbergen Einschlußkörperchen. Es sind vielleicht im
ganzen Präparat zehn solche Ganglienzellen mit Einschlüssen vorhanden. In den
Nissl-Präparaten kann man sie sehr leicht durch ihr plastisches Hervortreten erkennen.
Im Bereiche des Cortex des Seitenlappens sind sie nicht aufzufinden. Auch Neurono-
phagie der Purkinjeschen Zellen ist zu schen. Im Gebiete des Dentatus laufen zwei
158 A. Jakubowicz.
Prozesse nebeneinander. Schrumpfung und Schwellung stehen im Vordergrund. Die
Glia ist auch hier sehr reichlich. Tief im Mark starke Hyperämie und Desintegratien.
Pigmenthaltige Zellen um die Gefäße gelegen, sehr reichlich vorhanden. In den Mark-
scheiddenpräparaten die Dentatusfaserung in großen Zügen normal, erst bei genauer
Betrachtung sieht man, daß die Fasern große (Quellungen aufweisen, was für eine Er-
krankung zu sprechen scheint.
Zusammenfassung.
12! ,jähriges Mädchen, das an Scharlach und Polyarthritis erkrankte:
die Erkrankung dauerte 107 Tage, und im Verlaufe traten Komplikationen
in Form einer Pankarditis sowie Exantheme pustulöser Natur auf. In der
Krankengeschichte finden wir außer Schlaflosigkeit und Unruhe gar keine
neurologischen Symptome. Die vorher erwähnten Symptome können auch
kardial erklärt werden. Die im Verlaufe von 24 Stunden vorgenommene
Sektion ergab folgenden Befund: Endo- et Pericarditis obsoleta subsequente
insufficientia valvularum semilunarium aortae; Hypertrophia excentrica cor-
dis ventriculi sinistri; Concretio cordis cum pericardio; Myocarditis: Hyper-
aemia passiva et degeneratio adiposa viscerum.
Im Gehirn findet sich Hyperämie und Ödem von wechselnder Stärke.
Sicherlich ist das Ödem in den oralen Partien stärker entwickelt als in den
kaudalen. Dem Ödem entsprechend sind die Desintegrationen, die wieder an
der Grenze von Rinde zum Mark am meisten entwickelt sind, so daß an diesen
Stellen das Gewebe wie durchlöchert ist. Der Gefäßapparat ist schwer
geschädigt. Schon die ausgedehnten subpialen Blutungen im Bereiche
der Meningen der Calcarina, zerstreute Blutungen ins Parenchym, Gefät-
wandnekrose im Bereiche der Stammganglien, sehr starke Blähung der Venen.
das starre Hervortreten der Arteriolen beweisen zur Genüge, daB die Noxe
den Gefäßapparat geschädigt hat. Daß diese Hämorrhagien intra vitam und
nicht in der Agone entstanden sind, beweist die Krankengeschichte des
Kindes. Lange vor dem Tode bekam das Kind ein hämorrhagisches Exanthem
an beiden Unterschenkeln. In den Gefäßen liegen in diesem Fall wieder
in der Mehrzahl große mononukleäre Leukozyten; und man hat Mühe, einen
polynukleären Leukozyten zu erkennen. Um die Gefäße herum liegen seröse
Ausschwitzungen mit Makrophagen und ganz vereinzelten Rundzellen in der
Gefäßwand. Die Meningen zeigen außer verstreuten Blutungen, die ich
bereits oben erwähnt habe, wenig Veränderungen. Das Parenchym ist
schwer geschädigt. So finden wir in fast allen Gebieten der Medulia
Veränderungen an den Ganglienzellen. Tokalisatorisch können wir in der
Medulla das besondere Befallensein der Olive und zum Teil der Substantia
retieularis hervorheben. In der Brücke haben sicherlich die dorsalen Par-
tien mehr als die pontinen Ganglienzellen gelitten. In den Stammganglien
im Thalamus opticus besonders ein starker Abbauprozeß, hier ganze Kugeln
von Pigment. Eisen. Lipofusein, Verfettungen usw. um die Gefäße gelagert.
Im Pallidum sind die dunklen Gefäßwandzellen und Endothelien, die sich
mit einem basischen Stoff, der aus feinsten Granulis besteht, imprägniert
haben, auffallend. In der vorderen Zentralwindung sind die Betzschen Zellen
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 159
schwer erkrankt. Am wenigsten Veränderungen in der Calcarina, in der
Temporalrinde und im Hippocampus; die Veränderungen sind hier minimal.
Das Dentatusgebiet ist schwer erkrankt, weniger sind die Purkinjeschen
Zellen, auf die wir noch zurückkommen werden, erkrankt. Die Gliareaktion ist
im Vergleiche zu den anderen Fällen gleich Null. Dieser Fall beweist zur
Genüge, daß eine Krankheit sogar 31/, Monate dauern kann und die Glia,
ein Verhalten zeigt, als ob im Zentralnervensystem nichts vorgegangen
wäre. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie selber durch ihre Miterkran-
kung vollständig die Verteidigung aufgegeben hat. Sie ist in der Medulla
etwas aktiv, sonst liegt sie überall darnieder. Das Mesenchym reagiert.
sicher mehr als die Glia. Auch diese Reaktion ist sehr gering, denn ausge-
sprochene Infiltrate um die Gefäße sind nirgends aufzufinden. Von einem
entzündlichen Prozeß ist keine Rede, nur degenerative Veränderungen sind
vorhanden. Dieser Fall beweist eben, daß nicht immer eine Gliareaktion
bei schweren degenerativen Veränderungen vorhanden sein muß. Die Patho-
logie bringt uns ziemlich viel Beispiele dafür; so ist bekannt, daß manche
Formen der Miliartuberkulose ohne irgendwelche Reaktion von Seite des
Mesoderins vorkommen können. In diese Gruppe mit völligem Mangel re-
aktiver Erscheinungen gehört dieser Fall.
Nun wollen wir den bakteriologischen Befund in den untersuchten Teilen
ıles Zentralnervensystems betrachten. Es ist uns gelungen, eine besondere Art
von Mikroorganismen in diesem Fall nachzuweisen, und zwar sicherlich Pilze.
Andere Bakterien haben wir nicht nachgewiesen, trotzdem das Blut hämolytisch
verändert ist. In der vorderen Zentralwindung der einen Seite finden sich in
der Rinde und im Mark disseminiert verstreut Kanımerwerke, die durch Fäden
gebildet werden. Wenn ich die Arbeit von Freeman über Torulainfektionen
und die dort befindlichen Abbildungen mit meinen Präparaten vergleiche,
so besteht eine so große Ähnlichkeit, daß man annehmen muß, diese Kammer-
werke sind sicherlich wie in Freemans Fällen von Pilzfäden gebildet.
Diese Kammerwerke lenken das Augenmerk auf einen Befund in der Pons,
der in mehreren Präparaten erhoben wurde. In den ventralen Partien der
Brücke liegen um eine Ganglienzelle gelagert eigenartige Gebilde, die aus
einem zentralen dunklen und aus einem peripheren, scharf umgrenzten
Anteil bestehen. Dieser letztere ist meines Erachtens eine Kapsel. In den
dorsalen Partien der Brücke in dem gleichen Präparat, und zwar im Velum
medullare ant. und ganz vereinzelt im Cortex des Wurmes finden sich in
den Purkinjeschen Zellen Einschlüsse, die in den Heidenhain-Präparaten
eine Kapsel um den schwarzen zentralen Anteil erkennen lassen. Die
(tanglienzellen, wo sich die Einschlüsse finden, zum Teil verändert, zum Teil
vollständig intakt, lassen gar keine karyorektischen Erscheinungen am Kern
erkennen, das Protoplasma dagegen an denjenigen Stellen, wo der Ein-
schluß zu liegen kommt, unscharf. Man hat den Eindruck, als ob er in die
Zelle eingedrungen wäre. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß die in
den unteren Partien gelagerten Gebilde Pilze sind. Durch die Abbildungen
von Klarfeld, der sich mit der experimentellen Erzeugung der Blasto-
160 A. Jakubowicz.
mykose im Gehirn beschäftigte, wird meine Annahme bestätigt. In der Blut-
bahn sah ich Kugeln liegen, die ich bei hämolytisch verändertem Blutinhalt
kaum zu differenzieren wage, ob hier veränderte Blutelemente oder Pilze
vorliegen. Vergleicht man die Abbildungen von Klarfeld, so sind es Pilze.
Diese Gebilde in der Blutbahn sehen den Einschlüssen in den Ganglien-
zellen ähnlich, doch möchte ich die Frage offen lassen, ob wir hier analoge
Gebilde vor uns haben. Dadurch, daß das Blut hämolytisch verändert ist.
kann ich in diesem Fall nicht angeben, auf welchem Wege die Pilze in die
vordere Zentralwindung resp. Brücke eingedrungen sind. Nach dem Ange-
führten ist es unmöglich, zu sagen, welches Virus, sei es das des Scharlachs.
sei es jenes der Polyarthritis oder die Hyphomyzeten, die Veränderungen
im Parenchym hervorgebracht haben. Wiederum muß ich betonen, daß eine
absolute Sicherheit dafür, daß die Pilze in vivo ins Gehirn gelangten, nicht
zu erbringen ist.
Fall 4433. B., Robert, 4’, Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte.
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Mit 2 Jahren Masern. 29. November Erbrechen.
Fieber 39%. Am 30. November Halsschmerzen, Schwellung am Hals, unruhiger Schlaf.
Am 2. Dezember Einlieferung ins Wilhelminenspital mit der Diagnose Diphtheri«-
Mächtige graue Exsudatplatten an den Tonsillen und Gaumen. Fötor. Ödem rechts bis
zur Clavicula. Temperatur 38.4, Puls 144, Atmung 24. 5. Dezember frische Beläge.
Stimme nasal, Regurgitieren durch die Nase. 8. Dezember Himbeerzunge. Scarlatina.
Kind verschluckt sich, unruhig, Erbrechen, Temperatur 39, Puls 138, Atmung 386.
10. Dezember nimmt die Unruhe zu. Zyanose, Galopprhythmus, Temperatur 39.6.
Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Diphtheria gravis. Scarlatina. Herztod.
Sektion am 10. Dezember (Prof. Wiesner): Ulzeröse Pharyngitis. Eitrive
Iymphadenitis. Perilymphadenitis der zervikalen Drüsen und Halsphlegmone. Phlebitis
der rechten Vena jugularis. Erweichter Thrombus im rechten Herzrohr. Frische hämor-
rhagische eitrige Perikarditis. Dilatation des Herzens. Hämorrhagischer Infarkt im
linken Unterlappen. Yettige Degeneration des Myokards und der Nieren. Septischer
Milztumor. Stauungsblutungen im Darm. Ascites. Hydrothorax. Zerklüftung der Ton-
sillen. Entzündliche Hyperplasie des Zungengrundes und Rachentonsillen. Gestanztes
Geschwür auf der linken aryepiglottischen Falte. Fleckige Hyperämie und Ödem des
Gehirnes. Hyperämie der Nebennieren.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata und Brücke: Die Meningen sind zum Teil abgerissen.
Ödem und Hyperämie mäßigen Grades. An manchen Gefäßen, besonders in den ven-
tralen Partien, seröse Ausschwitzung mit Makrophagen: perivaskuläre Infiltrate sowie
Desintegerationen fehlen. Betreffs der Ganglienzellen ist (die relativ gut erhaltene
Olive hervorzuheben. Im Gebiete des Nucleus reticularis Schwellung der Ganglien-
zellen mit Erhaltenbleiben der äußersten Partie des Tigroids. Im übrigen herrscht
die zentrale Homogenisation mit Verlagerung des Kernes an die Peripherie der
(Ganelienzelle vor. Manche Ganglienzellen enthalten das goldeelbe Pigment von Ober-
steiner. An jener Stelle wo sich das Pigment findet, zeigen die Ganglienzellen
eine Ausbuchtung. Die motorischen Ganglienzellen enthalten normales, grobscholliges
Tieroid. Die Glia zeigt keine nennenswerten Erscheinungen, sie ist sehr oft gebläht
In einem Nissl-Präparat an der Grenze zwischen Pyramide und Lemnieus medialis
befinden sich zirka 20 eivenartige Gebilde. Bei Untersuchung mit Ölimmersion sieht
man, daß manche von diesen Gebilden aus 2 bzw. 3 Teilen bestehen. Aus einem
zentralen Anteil, der sich dunkelblau gefärbt hat, aus einem peripheren Anteil, der
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 161
graugrünlich erscheint und manchmal an der Peripherie mit einem schwarzen Saum
umgrenzt ist. An der Mehrzahl dieser Gebilde vermißt man den zentralen Anteil.
Bei genauem Zuschen macht es doch den Eindruck, als ob innen etwas gelegen wäre.
Die Form dieser Gebilde ist rund, oval und polyedrisch. Sie sind viel kleiner als ein
rotes Blutkörperchen, entsprechen ungefähr in der Größe !/, bis 3,, Erylhrozyten,
zirka 3 bis 5 u. Beim Drehen mit der Mikrometerschraube tauchen auf einmal deut-
liche Stäbchen, die um diese Gebilde angeordnet sind, auf. Diese sind sehr zart und
dünn, sehr mannigfaltig in der Form, oft an den Enden angeschwollen. Die Hämatoxylin-
Kosin-, Grampräparate und die übrigen Nissl-Präparate sind frei von «diesen Gebilden
und Bakterien. Wir werden diese Gebilde und die gleichen Stäbchen noch einmal,
und zwar in der Rinde in «diesem Fall antreffen. Ein Schnitt in dem oberen Drittel
der Medulla, Brückenanfang, zeigt diffus zerstreut degenerative Veränderungen der
Ganglienzellen. Kleine Hämorrhagien. Amöboide Glia und Schwellungsprozesse der
Glia sind aufzufinden. Im Brückenfuß leichter Etat lacunaire. Ein Schnitt in der Höhe
des Locus coeruleus zeigt. daß die Veränderungen an den Ganglienzellen in den ven-
tralen Partien viel weniger ausgesprochen sind, als in den dorsalen Partien der
Brücke. Hier schwere parenchymatöse Veränderungen; auch kleine Hämorrhagien.
Die Glia zeigt auch hier keine nennenswerten Erscheinungen.
Vordere Vierhügel: Im Bereiche der basalen Partien sind die Meningen im
Schnittpräparat getroffen und zeigen ein Ödem und Hyperämie. Aus den Gefäßen
seröse Ausschwitzungen, mit Makrophagen. Kurz, es besteht das Bild der Meningitis
serosa. Inı Bereiche des Hirnstammes besteht immer noch ein Ödem und Hyperämie.
Die Veränderungen an den Ganglienzellen sind immer noch die gleichen. In der
Substantia nigra sind die Ganglienzellen melaninfrei, der Kern ist meist gebläbt am
Rande gelagert, oft nimmt er den ganzen Zelleib ein. Das Tigroid ist grobschollig
und randständig. Sehr auffallend sind einzelne Zellen des Nucleus reticularis tegm.
dors. beiderseits. Die Ganglienzellen sind gebläht, der Kern liegt im Zentrum, er ist
im Vergleich zur geblähten Zelle klein. Im Protoplasma feinkörniges Tigroid, das gegen
die Peripherie grobkörnig wird. Manchmal hat man den Eindruck, daß das Tigroid
die Zellerenzen durchbrochen hat und außerhalb der Zelle zu liegen kommt. Fast
an jede «dieser mächtig geblähten Ganglienzellen grenzt eine Kapillare, die außer einer
Erweiterung nichts Besonderes zeigt. Im Corpus mamillare sind die Ganglienzellen der
zentralen Hompogenisation anheimgefallen. Im Gebiete des Okulomotorius ist relativ
wenig zu sehen. Die Fortsätze sind hier dünn und auf langen Strecken verfolgbar.
Freies Pigment ist aufzufinden. Die Glia zeigt die gleichen Erscheinungen wie
vorher. Nur mitunter sieht man Anhäufungen von Glia um einzelne Ganglienzellen
(Umklammerung'. Partielle wabig-vakuoläre Degeneration an den Ganglienzellen wäre
noch zu verzeichnen. Das Ependym ist zart, einschichtig. papillenbildend.
Stammganglien: Ependym zart. Das subependymäre Gewebe ist sehr zell-
reich. Das Ödem ist besonders stark, die Hyperämie weniger ausgesprochen. Das Blut
ist oft geronnen. Seröse Ausschwitzungen. Die Ganglienzellen zeigen dieselben Ver-
änderungen wie vorher. Überall zentrale Homogenisation und wabig-vakuoläre Degene-
ration. Auffallend ist die gelblichgraue Farbe des Kernes und schon bei schwacher
Vergrößerung ist seine Membran und die Fäden, die diese mit dem Nukleolus ver-
binden, sichtbar. Der Nukleolus ist stark dunkelviolett gefärbt, hie und da erkennt
man den helleren sekundären Nukleolus. Ein einziges Gliaknötchen findet sich an
der Grenze vom Caudatum zum Thalamus. Die Glia ist relativ reichlich, aber Neurono-
phagie ist nicht sichtbar. Im Bereiche des Pallidum findet man am häufigsten dunkle
Endothelien und runde Zellen, die mit feinsten Granulis besät sind und einen exzen-
trisch gelagerten Kern erkennen lassen. Diese Zellen werden wir im Corpus pineale
nochmals antreffen, wobei wir genauer auf sie eingehen werden. Auch die Ka-
pillaren des Pallidum sind auffallend, indem sie erstens die dunklen Endothelien,
zweitens «die vorher erwähnten runden Zellen sowohl im Lumen, als außerhalb des
Lumens liegend enthalten, und drittens, daß sie die Kapillarwand selber mit dem
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 11
162 A. Jakubowicz.
gleichen feinpulverisierten metachromatisch färbenden Stoff imprägniert hat. Dies
tritt besonders plastisch in den Toluidinblaupräparaten hervor.
Umgebung des II. Ventrikels: Die Auskleidung des dritten Ventrikels
ist meist zart. Es findet sich auf der Habenulaseite eine Vermehrung der Ependymzellen,
auch Zelltrümmer sind zu beobachten. Oberhalb der Massa intermedia ist das Ependym
papillenbildend. Auf einer Seite des Ventrikels sind zwei Stellen am Ependym ver-
ändert, und zwar Zerstörung der oberflächlichen Schicht mit Anhäufung von Epenıym-
zellen in die nervöse Substanz und etwas tiefer wieder ein Substanzverlust mit An-
häufung von Zellen, die gegen die Ventrikelseite heller und weniger chromatinreich
sind. Unterhalb der Massa intermedia Papillenbildung. In der Umgebung des Corpus
pineale, wo die Meningen noch im Schnitte erhalten sind, sieht man eine deutliche
Hyperämie. Ödem und Exsudate mit Makrophagen. Im Nervengewebe ist die Hyper-
ämie viel weniger ausgeprägt, dagegen mächtiges Ödem. Im thalamischen Gebiet
kann man wahrnehmen, wie die Glia den Ganglienzellen nahegetreten ist. Beginn einer
Neuronophagie mit Zellschattenbildung. Die Veränderungen an den Ganglienzelli
sind ziemlich die gleichen geblieben. Schrumpfung und Homogenisalion stehen im
Vordergrund. Auch partiell wabig-vakuoläre Degenerationen sind zu beobachten. Das
Tigroid kommt wieder sehr oft außerhalb der Zellgrenzen zu liegen, man hat den
Eindruck, als ob die Zellgrenzen gesprengt wurden. Auch die Veränderungen des
Achsenzylinders sind auffallend. Neben den geschrumpften geschlängelten sieht man
geblähte geschwollene Axone. Gliahosen um die Kapillaren sind ausgebildet. Das
Kapillarnetz kommt stellenweise deutlich zum Vorschein. Das Corpus pineale zeist
gewisse Eigentümlichkeiten. Schon bei ganz schwacher Vergrößerung fallen Zellen iv:
Nissl-Präparat auf, die um die Kapillaren, aber auch in die Kapillaren zu liegen
kommen, durch ihr tinktorielles Verhalten. Sie haben sich sehr dunkelviolett gefärbt.
Im ganzen Corpus pineale finden sich schätzungsweise 400 solcher Zellen. Sie
lassen meist eine Aufhellung, die ziemlich rund ist, erkennen, sie entspricht dem
Kern, der fast immer am Rande der Zelle gelagert ist. Im Toluidinblaupräparat sieh!
man, daß diese Zellen mit feinen Granula übersät sind, und diese Granula bedecken
auch den Kern und seine Membran. Im Grampräparat kann man sich überzeugen. ‚lab
diese Granula keine Bakterien sind. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Zellen
die gleichen sind, die von Krabbe als die im Corpus pineale vorkommenden
Mastzellen bezeichnet werden. Die Granula sind feinkörnig. Nimmt man das Hänn.-
Eosin- und Grampräparat zur Hilfe, so überzeugt ınan sich, daß diese von Krabbe
bezeichneten Mastzellen keine echten Mastzellen s. str. sind, denn sie haben sich
entfärbt, ihr Protoplasma erscheint rot, meist homogen, aber manche von diesen
Zellen haben ein Protoplasma, das aus feinen Granulis besteht, und diese Granula
haben sich rot gefärbt. Ebenso fallen einzelne Endothelien mancher Kapillaren
in den Toluidinblaupräparaten durch tinktorielles Verhalten auf und enthalten Granula.
Es wäre noch zu erwähnen, daB in der Zirbeldrüse eine beträchtliche Hyperätmie
und ein Ödem bestehen.
Cortex.
Vordere Zentralwindung: Die Meningen zeigen außer einer Hyperämie
und einem Ödem nichts Besonderes. An der Grenze von Rinde und Mark ist das
Ödem und die Hyperämie besonders stark entwickelt, auch hier Status eribrosus. In der
Rinde kommt das Kapillarnetz deutlich zum Vorschein. Im Mark sieht man in den
Gefäßen dunkel gefärbte Haufen liegen, die sich bei der Untersuchung mit Ölimmersion
als Bakterien erweisen. Diese letzteren sind als solche nur am Rande dieser Haufen
zu erkennen. Zwischen diesen Bakterien liegen Leukozyten und Zelltrümmer, das
Blut nimmt hämolvtische Eigenschaften an. Das Grampräparat zeigt, daß es sich um
erampositive Kokken, die in Kettenform auftreten, handelt: aber auch frei im Gewebe
kann man Bakterien antreffen, sie treten in größeren Kolonien auf. Aber auch Kugeln
von verschiedenem Kaliber sind in einem Gefäß anzutreffen. Es ist wahrscheinlich, dab
diese Kugeln denjenigen in der Medulla und im Cortex angetroffenen Gebilden gleichen.
Ausgebildetes État cribree. Vereinzelte Venen zeigen minimale perivaskuläre Infiltrate.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 163
Die Ganglienzellen sind schwer erkrankt, die Struktur der Ganglienzelle ist nicht
mehr erkennbar. Wabig-vakuoläre Degenerationen, Schrumpfung, Schwellung, nicht
nur der Ganglienzellen, sondern auch der Glia. Irgend welche ausgesprochene herd-
förmige hyperplastische Tendenz der Glia ist nicht sichtbar, sie ist nur reichlich vor-
handen.
Temporalrinde: Hyperämie und Ödem der Meningen, der Rinde und des
Markes. Kleine Hämorrhagien in der Rinde. Das Protoplasma der Ganglienzellen wie
angefressen, der Kern sehr oft gebläht.
Calcarinarinde: Sehr ausgesprochene Meningitis serosa. Im Mark Ödem. Sedi-
mentierung des Blutes in den Gefäßen, die meisten Gefäße sind kollabiert. Die Rinden-
schichten sind gut erhalten. Vakuolär-wabige Degenerationen, Schwellung der Ganglien-
Abb. 8. Fall 4433, Scharlach-Diphtherie.
Eıgenartige Gebilde bei schwacher Vergrößerung in der präzentralen Region des Cortex.
Die Gebilde liegen zu zweit in Gruppenform. Toluidinblaufärbung.
zellen und Achsenzylinder der Pyramidenzellen beherrschen das ganze Bild. Die Glia
ist nicht besonders reichlich. :
Präzentrale Region bis in die granuläre Schicht: Die Meningitis serosa
ist stellenweise sehr ausgesprochen, dazu kommt noch Bindegewebsvermehrung. Aus-
schwitzungen aus den Gefäßen mit Exsudatansammlung. Makrophagen und junge
Fibroblasten. Im Mark wiederholt sich dies und man trifft schon mehr vereinzelt Rund-
zellen (Lymphozyten) in der Adventitia. Das Ödem ist immer noch beträchtlich. Die
Veränderungen an den Ganglienzellen sind weniger ausgesprochen als im vorigen
Schnitte. An einer Stelle der Rinde finden sich die gleichen Gebilde (Abb. 8) und die
gleichen Stäbchen, wie sie bereits in der Medulla oblongata beschrieben wor-
den sind. Sie treten hier in Gruppenform auf. Alle enthalten einen dunklen Anteil,
der von einem peripheren graugrünlichen Anteil umgrenzt ist. Der letztere ist an
einzelnen von einem Saum umgrenzt. Beim Drehen mit der Mikrometerschraube sieht
man in der gleichen Ebene massenhaft Stäbchen, die um diese Gebilde gelagert sind
(Abb. 9), aber auch frei im Gewebe um Gliazellen liegen diese Stäbchen, die in
ihrer Form und Größe sehr mannigfaltig sind und auch Endanschwellungen zeigen.
Cortex cerebelli und Nucleus dentatus: Die Meningen sind leicht hyper-
ämisch und Öödematös. In der Zona ganglionaris Ausfälle von Purkinjeschen Zellen,
manche haben sich sehr dunkel gefärbt; meist ist das Tigroid grobkörnig, randständig.
Verlagerung des Kernes. Im Mark Hyperämie und Ödem. Die Glia zeigt nichts Be-
sonderes. Im Bereiche des Cortex des Wurmes sind die Veränderungen die gleichen
11*
164 A. Jakubowicz.
wie im Seitenlappen. Starkes perivaskuläres Ödem und Hyperämie im Mark. Die
Ganglienzellen des Nucleus dentatus zeigen schwere Erkrankungen. Zentrale Homogen'-
sation, Vakuolisierung des Protoplasmas und des Kernes, der meist an der Peripherie
gelagert ist. Im Häm.-Eosinpräparat, angrenzend an eine Dentatusschlinge, liegt eine
Vene, in deren Lumen ein Haufen von Bakterien, der von einer Fibrinkapsel um-
grenzt ist, sich befindet. Der Herd liegt in einem vollständig reaktionslosen Gebiet.
Im Nissl-Präparat liegt an einer anderen Stelle auch in einem reaktionslosen Gebiete
ein zweiter Herd, der deutlich an der Peripherie Diplokokken, die sich in Kettenform
anordnen, erkennen läßt. Im Grampräparat sind sie grampositiv. Die Glia ist reichlich,
sie führt an Ganglienzellen zur Umklammerung.
Abb. 9. Fall 4433, Scharlach-Diphtherie.
Die gleiche Stelle wie in Abb. 8, gezeichnet. Hier kann man zum Teil eine wabige
Struktur der Gebilde erkennen. Daneben Stäbchen von mannigfacher Form.
Zeiss-Apochromat 2 mm, Comp. Okular 12.
Zusammenfassung.
Betrachten wir diesen Fall, so schen wir ein Kind, 4! , Jahre alt,
erkrankt an einer Diphtherie, die im ganzen zwölf Tage gedauert hat.
Am zehnten Krankheitstage tritt Scharlach hinzu. Es zeigt gar keine neuro-
logischen Symptome, vielleicht mit Ausnahme der Unruhe des Kindes, die
in der Krankengeschichte berichtet wird. Die nach zirka zehn Stunden vor-
genommene Sektion ergibt: Pharyngitis ulcerosa, Lymphadenitis, Phlebitis
jugularis, Pericarditis purulenta haemorrhagica, Dilatatio cordis totius, De-
generatio adiposa viscerum, Tumor lienis acutus, Thrombosis in auriculo
cordis dextri. Oedema et hyperaemia cerebri. Nach dem Sektionsbefund
dürfen wir von Pyämie sprechen, die sich an der Grenze der Sepsis findet.
Betrachten wir den mikroskopischen Befund, so müssen wir zuerst das
Ödem und die Hyperämie, die an verschiedenen untersuchten Stellen des
Zentralnervensystems in ihrer Größe sehr schwankend ist, hervorheben.
Entsprechend dem Ödem sind die perivaskulären Desintegrationen, die sich
im Bereiche des Cortex zu einem Status cribrosus entwickeln. Schon im
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 165
Hirnstamm treffen wir an den basalen Partien eine ausgebildete Meningitis
serosa. Im Cortex im Bereiche der vorderen Zentralwindung nichts Patho-
logisches in den Meningen. In der Calcarina eine Meningitis serosa und in
der präzentralen Region eine Leptomeningitis fibrosa circumscripta. Wir
finden ganz minimale Hämorrhagien in der Brücke und im Temporallappen.
Der Blutinhalt ist eigentlich wenig verändert, nur in der vorderen Zentral-
windung sehen wir das Blut hämolytisch verändert. In der Medulla sind die
Oliven beiderseits gut erhalten, nur im Bereiche des Nucleus reticularis
sind schwere Veränderungen an den Ganglienzellen zu verzeichnen. Hier sei
erwähnt, daß die Ganglienzellen des Nucleus reticularis tegm. pontis gleich-
sinnig befallen sind. Im Hirnstamm sind die Ganglienzellen der Substantia
nigra schwer erkrankt. Die Glia beginnt hier die Ganglienzellen zu um-
klammern. Diese Tendenz der Glia beobachten wir gleichfalls im thalamischen
Gebiet. Eine Ependymitis granularis in den Stammganglien nur stellenweise.
Im Corpus pineale auffallende chromatinreiche Endothelien. Inkrustation der
Kapillarwand, Eigenartige Zellen, die in den Kapillaren und außerhalb dieser
zu liegen kommen. Nachdem ich diese letzteren auch im Pallidum gefunden
habe, wage ich sie nicht mehr als Mastzellen zu bezeichnen, ihrem Ursprung
nach sind es Plasmazellen oder Makrophagen, die sich mit Granulis gefüllt
haben. Der gleiche Stoff hat die Kapillarwand, die Endothelien und die
letztgenannten Zellen imprägniert. Nur in der vorderen Zentralwindung treffen
wir vereinzelte Rundzellen, perivaskulär gelegen, die Glia ist hier am reich-
lichsten vorhanden. Positiver Bakterienbefund. In allen untersuchten Teilen
des Cortex degenerative Veränderungen der Ganglienzellen von verschiedenem
Grade. Schwere Erkrankung der Ganglienzellen des Nucleus dentatus. Posi-
tiver Bakterienbefund. Bakteriologisch finden sich drei Arten von Mikro-
organismen: Streptokokken in der vorderen Zentralwindung und im Dentatus-
gebiet, Stäbchen und die eigenartigen Gebilde an zwei Stellen, in der Prä-
zentralregion und in der Medulla oblongata. Die letzteren liegen immer in der
Nähe von Gefäßen, aber nicht im Lumen eines Gefäßes. Da es sich um einen
Fall von Diphtherie handelt und die Mannigfaltigkeit des Löfflerschen
Bazillus sehr bekannt ist, ist es wahrscheinlich, daß diese Stäbchen Di-
phtheriebazillen sind. Mit Sicherheit kann man das allerdings nicht behaupten,
denn dazu wäre die kulturelle Untersuchung und das Tierexperiment nötig.
Auf diese eigenartigen Gebilde werden wir noch später Gelegenheit haben
zurückzukommen. Das Charakteristische für diesen Fall ist das Negative
des Prozesses, da die Glia gar keine reaktive Tendenz zeigt. Es entsteht
die Frage, warum eigentlich in der vorderen Zentralwindung und im Dentatus-
gebiet die Glia reichlich vorhanden ist, wenn sie auch keine ausgesprochene
reaktive Tendenz zeigt. Zweitens warum hier in diesen Gebieten die Kokken-
embolien anzutreffen sind? Es ist schwierig zu entscheiden, warum, aber,
nachdem ich das öftere Befallensein dieser Gebiete gesehen habe, scheint es
mir nicht unwahrscheinlich, daß die Diphtherie in diesen Gebieten einen
Locus minoris resistentiae gesetzt hat; nun trat der Scharlach hinzu, mit ihm
offenbar gleichzeitig Virulentwerden von Streptokokken, die in diese Gebiete
166 A. Jakubowicz.
mit herabgesetzter Widerstandsfähigkeit verschleppt wurden. Wir sehen
weiter, daß mit Ausbruch des Scharlachs der Organismus vollkommen re-
aktionslos wurde und seine Verteidigung aufgegeben hat.
Fall 4438. R., Erich, 3 Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte..
Familienanamnese: Schwester Scharlach. Ein Bruder Scharlachrekonvaleszent.
Persönliche Anamnese: 1928 Masern, 1929 Varizellen, 1930 Nephritis. Jetzire
Erkrankung: Vor 8 Tagen Husten, Kopf-, Halsschmerzen. Am 23. Dezember Schluck-
beschwerden. 24. Dezember ins Wilhelminenspital mit der Diagnose Diphtherie ein-
geliefert. Hier aphonische Stimme. Stenoseerscheinungen. Belag. Temperatur 39.2.
Halsdrüsen. Himbeerzunge. 10 X 2500 DE. Allgemeine Schmerzhaftigkeit. 25. Dezember
Zunahme der Stenoseerscheinungen. Temperatur 39,5. Beläge von dem Aussehen älterer
einschmelzender Diphtherie, Benommenheit, Blässe. Organbefund o. B. 2. Jänner
Dämpfung links. Das Kind verschluckt sich, Temperatur 36,9, Puls 144, Atmung 32.
3. Jänner Serumurtikaria. Stenoseerscheinungen. 5. Jänner Husten, lähmungsartiz.
Injektion 20 x 10.000 SE. Tracheotomie. 9. Jänner Schallverkürzung auf beiden Lungen,
bronchiales Atmen, Rasseln. 11. Jänner Temperatur 39, Puls 174, Atmung 48. Verfall.
Zyanose. Unruhe. 18 Uhr Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Croup. Scharlach. Allgemeine Polyneuritis. Trachentomie.
Sektionsbefund (Dr. Feyrter): Die Gaumenmandeln zerklüftet, gereinigt, leicht
unregelmäßig begrenztes Geschwür an der vorderen Kommissur der Stimmbänder. Sym-
metrische, kraterförmig gereinigte Geschwüre im Kehlkopfinnern beiderseits unter dem
Aryknorpel. Fleckige Rötung der Kehlkopfschleimhaut. Rötung und Schwellung der
Halslymphdrüsen. Status post tracheotomiam. Kanülendekubitus, mit Usur der tra-
chealen Knorpelspangen. Absteigende eitrige Mediastinitis anterior. Serös-eitrige Rippen-
fellentzündung mit Kompression der linken Lunge. Konfluierende bronchogene Herd-
pneumonien in den rückwärtigen Teilen des linken Unterlappens und der rechten Lunge.
Schwere fettige Entartung des Herzfleisches, der Leber und Nieren. Unansehnliche
fleischige Milzschwellung, Nebennieren dünn, lipoidarm, blaß.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata: Die Meningen außer einer Hyperämie und einem gering-
gradigen Ödem nicht verändert. In der Medulla bestehen eine Hyperämie und Ödem
mäßigen Grades. Der Blutinhalt ist hämolytisch verändert. Der Prozeß an den Ganglien-
zellen nicht gleichmäßig, es besteht eine diffuse schwere Zellerkrankung. So sind
zum Teil die Olivenzellen, Zellen des Nucleus ambiguus, dorsomedialer Vazuskem,
der Burdachsche Kern, Zellen der Substantia reticularis in Form zentraler partieller
Homogenisation, wabig-vakuolärer Degeneration, Verklumpung des Tigroids, Austritt
von Nukleolen, Schwellung des Zelleibes und der Fortsätze, die eine mächtige Auf-
treibung zeigen, vorhanden. In der Olive eine diffuse Gliawucherung. Im Gebiet des
Nucleus reticularis ein Gliaknötchen. Inkrustation der Golginetze ist an manchen
Ganglienzellen zu beobachten. Neuronophagie mit Zellschattenbildung, wenn auch selten,
aufzufinden. Die Gefäßwand ist gequollen und die kleinen Arteriolen sind durch ihr
Hervortreten der starren Wände schr auffallend.
Pons: Ähnliche Verhältnisse wie im vorigen Abschnitte Hier ist das Ödem
etwas stärker als in der Medulla, besonders in den dorsalen Partien, im Gebiete des
Locus coeruleus und des Nucleus reticularis lateralis. Die Hyperämie ist geringgradie.
Hämorrhagien. In den Gefäßen liegen meist große mononukleäre Zellen. Perivaskuläres
Ödem mit seröser Ausschwitzune. Die Zellen der Brückenhaube haben sicherlich mehr
gelitten als die pontinen Ganglienzellen und zeigen die gleichen Veränderungen wie
in der Medulla. Wandhyperchromatose. Randstellung des Kernes. Homogenisation.
Formveränderung der Ganglienzellen. Umklammerung der Ganglienzellen mit Neurono-
phagie ist hier zu beobachten. In mehreren Nissl-Präparaten finden sich in der
Nähe von Ganglienzellen, und zwar in den basalen Partien, an mehreren Stellen in
Gruppen auftretende Gebilde. Ihre nahe Lagerung an Ganglienzellen ist sehr auffallend.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und »iphtherie 167
Immer sind sie in Gruppenform eng aneinandergedrängt. Sie entsprechen vollständig
denjenigen Gebilden, wie sie in den Fällen 4430 und 4433 gefunden wurden.
Vierhügelgebiet: Auch hier sind die meningealen Veränderungen sehr gering-
gradig. Der Aquädukt zeigt eine auffällige Zottenbildung und subependymäre Glia-
anhäufung. Sehr weit ventral vom Aquädukt befindet sich eine zweite mit Ependym
ausgekleidete Höhle knapp oberhalb des Okulomotoriuskernes. Die Hyperämie ist
weniger deutlich, aber das Ödem stärker entwickelt. Infiltrate werden auch hier ver-
mißt. Hingegen auch hier seröse Ausschwitzungen aus den Gefäßen. Leukozyten-
thromben in den Gefäßen. Auch hier finden sich Gliaknötchen. Die Gliareaktion ist eine
stärkere. Im Gebiete der Substantia nigra Zellschattenbildung.
Stammganglien: Das Ependym zeigt normale Beschaffenheit. Subependymär
sind die tieferen Schichten aufgelockert. Im Nucleus-caudatus-Kopf ist ein mächtiges
Ödem. Hier sind dementsprechend die perivaskulären Desintegrationen viel deutlicher
ausgeprägt. Hyperämie mit beträchtlichen massenhaften mononukleären Zellen im Gefäß-
lumen. In den Gefäßscheiden Zellen, die mit Abbaustoffen beladen sind. Blutpigment,
Eisen, Lipofuscin sehr reichlich. Auch freier Kalk ist aufzufinden. Erkrankung beson-
ders der großen Striatumzellen. Zentrale Tigrolyse mit peripherer Schollenverklum-
pung. Homogenisation. Schwellung der Ganglienzellen beherrscht das ganze Bild. Die
Glia ist vollständig reaktionslos. Auch im Putamen sind die Verhältnisse die gleichen.
Im Globus pallidus sind manche Endothelien um Gefäßwandzellen durch ihr tinkto-
rielles Verhalten sehr auffallend. In diesem Fall sind sie nicht reichlich vorhanden.
Auch Rundzellen, die sich mit einem eigenartigen Stoff imprägniert haben, findet man
teils innerhalb der Gefäße, teils außerhalb derselben. Kleine Gliahosen um die Gefäße.
Im Inselgebiet sind die Verhältnisse ebenso wie in der Hirnrinde (s. u.). In den
Stammganglien der kontralateralen Seite findet sich deutliche Knötchenbildung, sonst
ist der Prozeß der gleiche wie auf der eben geschilderten Seite. Es besteht kein
Zweifel, daß die Gliareaktion hier stärker ist als in der Hirnrinde. Im Thalamus
opticus und in den angrenzenden Mittelhirngebieten sieht man deutlich perivaskulär
gelegene Gliaknötchen. Außerdem zeigen die Ganglienzellen hier schwere Veränderun-
gen. Das Tigroid ist in Stippchen umgewandelt, die Blähungen der Fortsätze mitunter
so groß, daß sie wie ein fortgesetzter Zelleib imponieren. Ein Infiltrat wird auch
hier vermißt. Auch hier findet man die gleichen Endothelien und Gefäßwandzellen,
wie sie bereits vorher beschrieben worden sind. Im Tuber cinereum und im Infundi-
bulum mächtiges Ödem. État criblé. Pigmentzellen in den Gefäßscheiden. Perivaskuläre
Gliareaktion. Starker Ausfall von Zellen im Tuber cinereum. Im angeschnittenen
Balken hart an der Grenze des Caudatum fällt eine Stelle schon bei schwacher Ver-
größerung durch ihr tinktiorelles Verhalten auf. Bei der Untersuchung mit Ölimmersion
liegen in Maschen des Gewebes zwischen Glia Gebilde (Abb. 10) von verschiedener
Form und Größe. Auch das tinktorielle Verhalten dieser Gebilde ist verschieden. Die
einen sind dunkelviolett, die anderen grau. Sie sind von der Größe eines Lymphozyten,
aber auch viel kleiner. Sie liegen in Gruppen. Die größeren sind oval, am Ende zu-
gespitzt, manchmal mit einer Auftreibung, die an das Bild der Sproßbildung erinnert.
Bei den größeren Gebilden hat man oft den Eindruck, als ob im Innern konzentrische
Ringe gelegen wären. Die kleinen dagegen haben den Farbstoff gierig aufgenommen
und hie und da kann man einen dunkleren und einen helleren Anteil erkennen. Die
anderen «dagegen sind grau und haben eine scharfe \ußenbegrenzung. Diese kleineren
scheinen „Tochterzellen” zu sein und entstehen aus den großen, wie erwähnt, wahr-
scheinlich durch Sproßbildung.
Cortex.
Motorische Region: Bei größerer Übersicht erscheint die Rinde in allen
Teilen der Norm entsprechend. Die Pia ist zart. Der Subarachnoidealraum verbreitert.
Das äußere Blatt der Arachnoidea zeigt deutliche Vermehrung des Bindegewebes. Auch
die arachnoidealen Balken sind zellreich und locker gefügt. Um die Gefäße liegen
seröse Ausschwitzungen mit Makrophagen und vereinzelten Lymphozyten. Die Arterien
wie auch die Venen sind dilaliert und strotzend mit Blut gefüllt. Homogenisation
168 A. Jakubowicz.
der Gefäßwände. Enorme Dilatation der Venen, sowohl in der Rinde wie auch im
Mark. Lackartige Gerinnung des Blutinhaltes mit gleichsinniger Reaktion der Wand.
Thrombenbildung. In der Rinde selbst fällt zuerst ein deutliches Ödem auf. im Gewebe
zeigen die Gefäße eine starke Hyperämie. Es ist auch eine geringe Vermehrung der
Gliakerne zu sehen. An einzelnen Gefäßen perivaskuläre Desintegration bis zu einem
Status lacunaris entwickelt. An einzelnen Gefäßen des Markes minimale perivaskuläre
Infiltrate, aber auch in der Gefäßwand finden sich Infiltratzellen. Bezüglich der
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Abb. 10. Fall 4438, Scharlach-Diphtherie.
Gebilde im Corpus callosum, die an Mykosen erinnern. Zeichnung. Toluidinblaufärbung.
Zeiss-Apochromat 2 mm, Comp. Okular 12.
Ganglienzellen ist hervorzuheben, daß die Betzschen Zellen Homogenisation und
Schwellungen aufweisen. Aber auch die mittelgroßen und die kleinen Pyramidenzellen
sind zum Teil von diesem Prozeß ergriffen. Die Schwellungen betreffen sowohl den
Zellcib wie den Spitzenfortsatz, der manchmal ein Vielfaches seines normalen Um-
fanges zeigt. Was nun den Zellinhalt anbelangt, so zeigt sich an einzelnen Zellen eine
beginnende Vakuolisation. Das Tigroid selbst ist nicht mehr deutlich erkennbar. In den
größeren Zellen kann man noch große Tigroidbrocken wahrnehmen. Beginnnende Va-
kuolisierung des Kernes, der auffallend leuchtend erscheint. Einzelne Zellen sind
vollständig wabig-vakuolär dezeneriert. Oft blaßt die Zelle in toto ab. Die Glia zeigt
gegenüber den Ganglienzellen eine verhältnismäßig geringfügige Reaktion. Ein ein-
ziges Gliaknötchen im Bereich der III. Schicht (Abb. 11). Man kann allerdings in den
oberen Schichten eine beginnende Amöboidose wahrnehmen (Blasenzellen mit regressiver
Kernveränderung). Aber eine Anreicherung in der Umgebung der Ganglienzellen ist nicht
wahrzunehmen.
Frontalrinde: Die Arachnoidea zeigt Analoges wie im vorigen Präparat. Auch
hier kann man freie Zellen im Gewebe wahrnehmen. Sie sind Iymphoide Histiozyten.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 169
Hier ist auch eine Hyperämie mit enormer Blähung der Venen zu sehen, aber eine ent-
zündliche Veränderung mit Ausnahme der Arachnoidea ist nirgends wahrzunehmen. Die
Ganglienzellen zeigen die gleichen Veränderungen wie vorher. Auch bezüglich der
Glia läßt sich nichts anderes außer einer leichten superfiziellen Gliareaktion in der
marginalen Zone feststellen.
Okzipitalrinde: Schon beim Herausschneiden der Stücke war die Trübung
der Meningen im Bereiche des Okzipitallappens sehr auffallend. Und in*der Tat tritt
die meningeale Veränderung deutlich hervor. Auch hier spielt sich der Prozeß im
Subarachnoidealraum ab, kurz, es besteht das Bild der Meningitis serosa. Die Hyper-
ämie ist deutlicher als früher, aber in der Calcarina selbst eigentlich weniger als in
Abb. 11. Fall 4438, Scharlach-Diphtherie.
Ein kleines Gliaknötchen im Bereich der vorderen Zentralwindung in der
III. Rindenschicht. Toluidinblaufärbung.
der Umgebung. Auch hier sieht man das Ödem und an manchen Stellen, besonders im
Mark, eine beginnende perivaskuläre Desintegration. Die Ganglienzellen zeigen die
gleichen Veränderungen wie in den vorigen Rindengebieten, aber immerhin ist der
Prozeß nicht mehr so schwer und nicht mehr so diffus. Die Glia ist im Mark reich-
licher als im Stirnhirn. Im Temporallappen Gefäßwandnekrose mit Austritt von Blut,
leichte Auflockerung. Etat criblé, sonst die gleichen Veränderungen wie vorher. Die
Hippokampusrinde zeigt auch das Ödem, die Hyperämie und arachnoideale Verände-
rungen. Die Ganglienzellen sind in der Mehrzahl intakt, hie und da ist der Schwel-
lungsprozeß an den Ganglienzellen angedeutet.
Cerebellum: Cortex und Nucleus dentatus: Das Zerebellum macht an
Übersichtspräparaten bezüglich der Arachnoidea den gleichen Eindruck wie in der
Großhirnrinde. Das Ödem ist verhältnismäßig geringfügiger. Nur an einzelnen Stellen
des Markes tritt es deutlicher hervor. Schon an den Übersichtspräparaten kann man
erkennen, daß die Körnerschicht an einzelnen Windungskuppen besonders eine Ver-
minderung der Elemente erkennen läßt, indem zwischen den einzelnen Körnerzellen
breitere Spatien sichtbar sind. Die Purkinjeschen Zellen sind auffallend gebläht,
aber nicht generell. Wabig-vakuoläre Degenerationen mancher Zellen, Verlagerung
des Kernes an die Peripherie, Neuronophagie mit Zellschattenbildung ist vorhanden.
Auch die Dentriten der Purkinjeschen Zellen zeigen stellenweise deutliche Blähun-
170 A. Jakubowicz.
gen. Die Gliazellen in der Lannois-Paviotschen Schicht sind sichtlich vermehrt,
was man sonst in der Molekularschicht nicht sehen kann. Aber auch das ist nicht
generell. Im Dentatusgebiet ist das Ödem nicht stark. Die Hyperämie verhältnismädig
geringgradiger als in den Rindenanteilen. Auch hier zeigen sich eine sichtliche Zu-
nahme der Gliakerne, herdförmige Lichtungen, schwere Veränderungen an den Ganglien-
zellen in Form von Schwellungen und Blähungen.
Zusammenfassung.
Betrachten wir Jiesen Fall. Ein 3jähriges Kind erkrankt an einer Di-
phtherie, die im ganzen 20 Tage gedauert hat, die am zweiten Tage durch
einen Scharlach kompliziert wurde. Außer einer Polyneuritis zeigte das
Kind nach der Krankengeschichte keine neurologischen Symptome. Aus der
Anamnese ist vielleicht von Wichtigkeit, daß das Kind eine Nephritis hinter
sich hatte. Die nach zirka 15 Stunden vorgenommene Obduktion ergibt
folgenden Befund: Ulcera laryngis. Lymphadenitis Iymphoglandularum cervi-
calium. Mediastinitis purulenta. Pleuritis muco-purulenta lobi sin. Pneumonia
lobularis confl. lobi utriusque. Degeneratio adiposa viscerum.
Der histologische Befund in den untersuchten Partien des Zentral-
nervensystems ergibt eine in der Stärke wechselnde Hyperämie und Öden:;
diesem letzteren entsprechen die Desintegrationen, die in der Rinde und in
den Stammganglien ihre volle Entwicklung bekommen. Sie erinnern an einen
Status cribrosus und lacunaris. Die meningealen Veränderungen betreffs
Lokalisation sind schwankend, sie sind sicherlich im Gebiet des Okzipital-
lappens am stärksten in Form einer Meningitis serosa fibrosa entwickelt. In
den anderen untersuchten Partien ist diese letztere auch vorhanden, aber
weniger entwickelt. Nur in der Medulla besteht an den Meningen eine Hyper-
ämie und ein Ödem. Diese meningealen Veränderungen genügen vollständig.
um das Bild der Polyneuritis zu erklären. Es ist überhaupt auffallend, daß
klinisch in mehreren Fällen die Diagnose Polyneuritis gestellt wurde, in
der Meinung, daß die Schmerzen von den Nerven ausgehen. Wir finden
meningeale Veränderungen in Form einer Meningitis serosa fibrosa, die
offenbar die Schmerzen erklärt. Diese Schmerzen können in ihrer Intensität
und Stärke wie Lokalisation sehr schwanken. Die ıneningealen Veränderungen
können sich z. B. nur durch Kopfschmerzen äußern, die klinisch meist ver-
nachlässigt werden. Bezüglich des Gefäßapparates ist hervorzuheben, daß eine
leichte Endarteriopathie besteht und die kleinen Arteriolen erinnern an
das Bild der Endarteriolosklerose (Anamnese Nephritis). Die Veränderungen
des Blutinhaltes sind kurz zusammengefaßt Hämolyse und Thrombenbildung:
Vorhandensein von mononukleären Leukozyten in der Blutbahn. Diese Mono-
zyten, die so häufig in den Gefäßen zu finden sind, dürften offenbar ähnlich
zu deuten sein wie die bei Poliomyelitis, wo auch die Leukozyten schon
nach 2! a Stunden verschwinden. Die Parenchymveränderungen zeigen in der
Medulla oblongata eine diffuse schwere Zellerkrankung. Fast alle Zellen
sind erkrankt im Sinne emer Kolliquation. Die Zellen der Brückenhaube
haben stark gelitten. In der Vierhügelregion sind die Zellen der Substantia
nigra zum Teil erkrankt. In diesen Partien ist die Gliareaktion, wenn nicht
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 171
besonders stark, doch immerhin vorhanden. Im Nucleus caudatus haben
die großen Zellen des Striatum gelitten. Hier auch ein Abbauprozeß. Die
Glia ist hier vollständig reaktionslos. Im Globus pallidus ist der meta-
chromatisch sich färbbare Stoffe in Form von Granulis aufzufinden. In der
kontralateralen Seite der Stammganglien sind die Veränderungen die gleichen,
nur ist die Gliareaktion eine viel stärkere. Im Bereiche der vegetativen
Zentren finden sich schwere Erkrankungen und Ausfall von Ganglienzellen,
besonders im Tuber cinereum. Das ist der einzige Fall unter unseren Fällen,
wo die Gebiete des Bodens des dritten Ventrikels genauer untersucht
wurden. Der Befund war nach den Ausführungen von Mogilnitzki zu er-
warten. In der Rinde sind die großen Pyramidenzellen schwer erkrankt.
Am wenigsten sind die Veränderungen in der Calcarina und Temporallappen
und im Hippocampus ausgesprochen. Die Gliareaktion ist in der Rinde am
wenigsten vorhanden, sie ist in diesem Bereich selbst schwer erkrankt.
Im Cerebellum sind die Purkinjeschen Zellen schwer erkrankt und auch
das Dentatusgebiet ist nicht verschont geblieben und hier ist die lia-
reaktion fast fehlend. Wir sehen also, daß die Glia lokal reagiert. Es gibt
Stellen, wo schwere Veränderungen vorhanden sind, und sie sich passiv
verhält. Aber immerhin gehört dieser Fall zu den wenigen Fällen, wo die
Glia, wenn auch wenig, so doch reagiert hat. Schizomyzeten nachzuweisen,
ist uns nicht gelungen. Dagegen haben wir in der Brücke und im Corpus
callosum eigenartige Gebilde gefunden, die offenbar nichts anderes als
Hyphomyzeten darstellen. Die morphologische Untersuchung erlaubt uns,
nicht weiter zu differenzieren und wir müssen uns mit der allgemeinen Dia-
gnose Pilze begnügen. Auf welchem Wege diese Pilze hier hineingelangt sind,
bleibt vollständig unentschieden, denn das Blut ist hämolytisch verändert
und wir wagen kaum eine Differenzierung des Blutinhaltes vorzunehmen. Es
wäre noch zu diskutieren, ob es sich nicht um ein Oidium albicans han-
delt, das bei Diphtherie und Scharlach vorkommen kann. Die Mediastinitis
purulenta kompliziert den Fall, und wir müssen offen gestehen, daß es
schwer zu entscheiden ist, was auf Kosten des Löfflerschen Bazillus,
was auf Kosten des Scharlachvirus kommt oder auf die Eitererreger zurück-
zuführen ist.
Fall 4405. N., Gerhard, 21/, Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Kranken-
geschichte.)
Familienanamnese: 1. Kind.
Persönliche Anamnese: Künstliche Ernährung; Zähne mit 6 Monaten; Gehen
mit 10 Monaten: 1929 Bronchitis mit linksseitiger Pneumonie; seit dem 30. Oktober
Unruhe, Fieber: 31. Oktober Halsschmerzen, Schluckbesechwerden, Fieber: der zuge-
zogene Arzt, diagnostiziert Diphtherie, Seruminjektion; 2. November wird das Kind mit
dieser Diagnose ins Wilhelminenspital eingeliefert; starke Drüsenschwellung, besonders
links; Salivation; starke Schmerzen, Isthmus verschoben; Gaumen hängt herab, mit
großen Belägen; Suffusion; Augen, Ohren, Nase, neurologischer Status o. B., ebenso
die anderen Organe. 15X 2500 DE. i. m.; 3. November beträchtliche pharyngeale
Stenose, Zyanose, Dyspnoe; Tracheotomie; 20% 2500 DE. i m; 532500 i v;
5. November Ausschlag, unzweifelhafter Seharlach: Spur Albumen; Temp. 38,5, Puls
138, Atmung 36. 8. November Serumexanthem; intensive Dämpfung auf der rechten
172 A. Jakubowicz.
Lunge, Rasseln, Temp. 37,4, Puls 120, Atmung 30, Albumen +; Erythrozyten im
Sediment negativ; 11. November ängstlicher, unruhiger Blick; Kolorit im Gesicht blaß,
Puls 156, 15 Uhr 30 Min. Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Diphtheria gravis. Herzlähmung, Scharlach.
Sektion am 12. November (Dr. Baader): Die kleinen Gaumenmandeln, welche
sehr tiefe Krypten haben, sind belagreich. In der Schleimhaut des oberen Kehldeckel-
randes über den aryepiglottischen Knorpel an der hinteren Kommissur und an den
Stimmbändern stecknadelkopfgroße Substanzverluste mit kleinen Blutungen. In der
vorderen Luftröhrenwand eine 12 mm lange Wunde am unteren Luftröhrenschnitt,
welche Wunde dünngrau belegt ist, 12 bis 15 mm unterhalb des unteren Wundendes
`> å
Abb. 12. Fall 4405, Scharlach-Diphtherie.
Endarteriitis obliterans mäßigen Grades der Meningealgefäße. Hämat.-Eosinfärbung.
je ein kleines quergestelltes Dekubitalgeschwür. Die Schleimhaut der Luftröhre, ihrer
beiden Hauptäste sowie des Anfangsteils der größeren Äste ist gerötet und geschwollen,
die Trachealbifurkation und Hiluslymphknoten sind geschwollen und zeigen kleine
Blutungen. In beiden Brustfellsäcken, im Herzbeutel und in der Bauchhöhle eine geringe
Menge leicht hämorrhagischer seröser Flüssigkeit. Die Lungen sind sehr blutreich
und ödematös. Der rechte Unterlappen ist zur Hälfte atelektatisch, starke Ausweitung
besonders des rechten Herzens, vereinzelte subepikardiale Blutungen, Verdickung des
Endokards. Schwere fettige Entartung des Herzfleisches, Ödem, Stauung und fettige
Entartung der Leber. Beträchtliches Ödem der Gallenblasenwand. Follikelmilz. In
ihrem Gekröse eine linsengroße Nebenmilz, die auch eine starke Hyperplasie der
Follikel zeigt. Die Nieren sind groß und weich, in der Kapsel kleinfleckige Blutungen,
die Oberfläche der Nieren gut gewölbt, glatt, zeigt verschieden große unregelmäßige
blaßgelbliche Flecken und Hyperämie der Venulae stellatae. Besonders die peripheren
Teile der Rinde werden von hyperämisch hämorrhagischen Streifen durchsetzt (inter-
stitielle Nephritis). Hyperämie der Nebennieren, Verschmälerung der Rinde. Die
Gekröselymphknoten sind geschwollen und blutreich. Ödem des Magens, der Darm-
schleimhaut. Im Duodenum wie im oberen Jejunum kleine Schleimhautblutungen. Im
unteren lleum zwei terminale Invaginationen. Die Peyerschen Haufen sind teils ge-
schwollen und hyperämisch, teils blaß. Schwere Hyperämie und Ödem des Gehirns.
Hydrozephalus geringen Grades. Zarte Trübung der Meningen.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 173
Mikroskopische Untersuchung.
Rückenmark: Die Meningen zeigen eine Vermehrung ihrer kollagenen Sub-
stanzen. Es bestehen eine Hyperämie und Ödem der Meningen. Auffallend ist der
Prozeß an den Gefäßen. An den Meningealgefäßen sieht man Intimaproliferation, Auf-
splitterung der Elastika der größeren Meningealgefäße (Abb. 12). Die Ateriolen des
Rückenmarks zeigen eine Homogenisation und hyaline Wandveränderung (Abb. 13).
Auch Ausbuchtungen der Gefäßwand sind zu sehen. Infiltrate in der und um die Gefäß-
wände sind nicht sichtbar. Im Bereiche der Rückenmarkssubstanz bestehen Ödem und
Hyperämie. Schon bei ganz schwacher Vergrößerung meist in der weißen, aber auch
in der grauen Substanz sieht man zahlreiche Corpora amylacea (Abb. 13). Man kann
Abb. 13. Fall 4405, Scharlach-Diphtherie,
Myelopathie, Corpora amylacea, Homogenisation der Wand der kleinen und
größeren Gefäße. Hämat.-Eosinfärbung.
diese auch im Bereiche der hinteren Wurzeln sehen. Sie sind besonders reichlich
im Gebiet des Funiculus Goll und in den ventralen Partien des Hinterstrangfeldes.
Man kann ganz deutlich die Bildung der Corpora amylacea aus den zerfallenden
Markscheiden und Achsenzylinder nachweisen. Die Achsenzylinder sind schon im
Bereich der vorderen wie auch hinteren Wurzeln deutlich verdickt, die Grenzen der
grauen Substanzen sind gut erhalten. Im Häm.-Eosinpräparat erkennt man an manchen
Ganglienzellen das gelbe Pigment von Obersteiner, das hie und da fast die ganze
Ganglienzelle ausfüllt und nur an der Peripherie einen schmalen Saum des Tigroids
erkennen läßt. Besonders betroffen sind die Ganglienzellen des Seitenhornes. Auch
Schrumpfungsprozesse an den Ganglienzellen sind zu sehen. Neben solchen erkrankten
Ganglienzellen finden sich vollständig intakte Nervenzellen mit relativ gut erhaltener
Nissl-Struktur.
Medulla oblongata: Die Meningen zeigen die gleichen Verhältnisse wie
beim Rückenmark. Das Ödem und die Hyperämie sind immer noch vorhanden. Am
Boden der Rautengrube bergen manche Gefäße in der Wand der Adventitia Rund-
zellen, Lymphozyten und andere Zellen. Im Bereiche der dorsalen subependymären
Partien ist die Glia sehr reichlich vorhanden. Die Ganglienzellen zeigen meist zentrale
Homogenisation, Blähung und Schwellung. Auffallend dunkel haben sich die Ganglien-
zellen der Olive gefärbt, sie lassen auch meist keine Plasmastruktur erkennen und
174 A. Jakubowicz.
enthalten nicht alle das gelbe Pigment von Obersteiner. Schwere Veränderungen dir
Ganglienzellen zeigen sich in der Substantia reticularis. Schwellung einzelner Zelle
im Burdachschen Kern. Die Randelia ist reichlich. Im Bereich der Pyramidenbalın
vereinzelte Corpora amylacea. Ausgesprochen gut erhalten ist der Nucleus ambiguus.
Pons: Ödem, Blutgefäße mit geronnenem Blut und Fibrin gefüllt. In den dor
salen Partien ist das Kapillarmetz sehr ausgebildet. Endothelneubildung. Die Zellen
des Locus coeruleus sind sehr melaninreich, hier Zellschattenbildung. Im Gebiete de
Vestibulariskerns findet man einzelne Zellen, die gebläht sind und mit feinst pulveri
siertem Tigroid, das gegen den Rand der Zelle grobkörnig wird, gefüllt sind. Ih-
Ganglienzellen sind meist in Form einer zentralen Homogenisation verändert. Ire
Fortsätze der Ganglienzellen sind auf ziemlich lange Strecken verfolebar. Die Gua
ist besonders in den dorsalen Partien reichlich und täuscht einen entzündlichen Prozeb
vor. Auch die Stäbchenglia ist sehr reichlich. Infiltrate aber sind nirgends sichtbar.
Stammeanglien: Sehr starkes Ödem und Hyperämie. Blähung der Blutgefüßr.
Die Gefäße enthalten zum Teil geronnenes Blut, zum Teil massenhaft Fibrin. Andeu
tung einer perivaskulären Desintegration. die manchmal bis zu einem Status cribrusus
ausgebildet ist. Blutungen per diapedesim. Im Striatum in der Umgebung der Ge
fäße außerdem stellenweise Undeutlichwerden der Gefäßwand und Ausbreitung dss
Blutes in die Umgebung. Das Kapillarnetz kommt stellenweise deutlich zum Vorschein.
auch hier Endothelneubildung. Die Veränderungen an den Ganelienzellen meist im
Form einer wabig-vakuolären Degeneration. Am wenigsten sind die Ganglienzeller
des Globus pallidus betroffen. Schwere Veränderungen findet man in der Insel. Dir
Glia ist verdichtet, oft in Gruppenform angeordnet. Stäbchenglia auch sehr reichlich.
Parietalrinde: Ödem und Hyperämie. Blutungen aus den Gefäßen. Per:
vaskuläre Desintegration. Sehr reichliches Kapillarnetz. Sehr plastisch treten manche
Endothelien der Kapillarwand hervor, sie sind mit feinsten Granula besät. Die Gefäße
zeigen eine leichte Endothelproliferation mit Wandverdickung der kleinen (refäße.
Präkapillaren und Arteriolen. Herdförmige Lichtungen im Bereiche der III. Schicht
Die mittelgroßen Pyramidenzellen zeigen Schrumpfungsprozesse. Wabig-vakuoläre Dr
generation. Neuronophagie und Zellschattenbildung sind angedeutet.
Temporalrinde: Die gleichen Veränderungen wie vorher. Auffallend ist die
Hyperämie im Bereiche des Markes. auch Blutungen ins Parenchym sind vorhanden.
Die kleinen Ganglienzellen zeigen einen geblähten Kern. das Protoplasma der Ganelien
zelle oft einen Zerfall. Die Randelia ist deutlich vermehrt. Auch Gliaknötchen kommen
in der molekularen Schicht vor. Die Meningen zeigen eine Meningitis serosa.
Kleinhirnhemisphäre: Im Bereiche der Meningen Ödem und Hyperämie.
Hämorrhagien. Letztere finden sich auch in der nervösen Substanz. Die Molekular-
schicht zeigt eine Vermehrung der Randelia. Die Ganglienzellen sind geschwollen. zum
Teil wabie-vakuolär degeneriert. In der Körnerschieht Ausfälle. Stellenweise Verdichtung
der Lannois-Paviotschen Schicht. Im Mark ist die Hyperämie besonders stark.
Zusammenfassung.
Betrachten wir diesen Fall, so sehen wir, daß ein 21 ‚jähriges Kind
im ganzen 13 Tage diphtheriekrank war und am siebenten Krankheitstagt
eine Scharlachkomplikation mit Nephritis dazugetreten ist. Das Kind zeigte
gar keine, wenigstens nach der Krankengeschichte, neurologischen Syn
ptome. Die Sektion, die zirka zehn Stunden nach dem Exitus vorgenommen
wurde, ergab folgenden Befund: Ulcera laryngis; Dilatatio cordis dextri:
Eechyimoses subepicardiales, tracheales; Degeneratio adiposa myocardii G
hepatis; Nephritis haemorrhagiea interstitialis: Haemorrhagiae intestini;
Oedema et hyperaemia cerebri; Hydrocephalus.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und diphtherie. 175
Die histologische Untersuchung verschiedener Teile des Zentralnerven-
systems ergibt folgenden Befund:
Das Ödem und die Hyperämie ist besonders im Cortex und den
Stammganglien stark entwickelt. Im Bereiche des Rückenmarks eine
Meningitis sero-fibrosa, die auch im Bereiche des Cortex als Meningitis
serosa zum Vorschein kommt. Im Rückenmark besteht eine Endarteriitis
obliterans der größeren Meningealgefäße; Homogenisation mit hyaliner Wand-
veränderung der kleinen Arteriolen; Arteriolosklerose. Myelopathie im Be-
reiche der ganzen weißen Substanz mit besonderem Befallensein des Funi-
culus post. Lipoidedystrophie der Ganglienzellen. Geringe Reaktion von Seite
der Glia. Weiter oben in der Medulla oblongata sehen wir noch vereinzelte
Corpora amylacea im Pyramidenareal. Der Prozeß ist im Bereiche der
weißen Substanz fast abgeklungen. Schwer betroffen sind die Ganglienzellen
der Oliva inf., des Nucleus reticularis und zum Teil des Burdachschen
Kernes. Am Boden der Rautengrube ganz minimale Infiltrate. In der Brücke,
und zwar in den dorsalen Partien, kommt eine diffuse Gliawucherung zum
Vorschein. Hier sehen wir auch Schwund der Ganglienzellen im Locus
coeruelus. Noch weiter oben im Bereich der Stammganglien sehen wir die
Hyperämie und das Ödem mächtig entwickelt. Als neues Krankheitsbild
kommen die perivaskulären Desintegrationen hinzu, die bis zu einem Grade
an einen Status lacunaris erinnern. Wir sehen weiter Hämorrhagien, die
per diapedesim entstanden sind. Diese Blutungen sind sicher auf gleicher
Basis wie die vom Pathologen in der Niere und im Darın festgestellten.
Diffuse Veränderungen am Parenchym. Im Bereiche des Cortex kommt die
Endothelvermehrung zųm Vorschein, die schon in den unteren Partien
angedeutet war; die schwer erkrankte Gefäßwand mit ihrer hyalinen Ent-
artung erinnert an eine Arteriolosklerose. Die Hämorrhagie und vorher ge-
nannte Schädigung der Gefäßwand ist sicherlich die gleiche wie in der Niere.
Wir sehen also, daB dieser Prozeß nicht nur eine Nierenschädigung bedingt.
hat, sondern auch eine gleichsinnige Erkrankung der Gefäße des Giehirnes
bewirkt hat. Das Parenchym leidet ziemlich schwer, so schen wir
Schrumpfungsprozesse im Temporallappen und herdförmige Lichtungen in
der HI. Schicht der Parietalrinde. Nur die Randglia zeigt Wucherungs-
erscheinungen im Gegensatz zur sonstigen Torpidität dieseg Gewebes. Im
Cortex sind manche Endothelien der Kapillarwand schwer erkrankt, es
unterliegt keinem Zweifel, daß sie sich mit einem Stoff, sei es Kalk, sei
es Pseudokalk, imprägniert haben; daraus resultiert das gierige Aufnehmen
des Farbstoffes. In der Kleinhirnrinde außer degenerativen Veränderungen
an den Purkinjeschen Zellen und einer Rarefizierung der Körnerschicht
nichts "Pathologisches festzustellen. Nun die Frage: Läßt sich nach den Be-
funden im Rückenmark aus den Gefäßveränderungen vielleicht eine Lues con-
genita diagnostizieren? Sowohl der Kliniker wie der Obduzent haben diese
Diagnose nicht gestellt. Auch wir haben trotz Bestehens einer Endarteriilis
obliterans, Arteriolosklerose und Myelopathie mit besonderem Befallensein
des Funieulus post. keine Anhaltspunkte für eine bestehende Lues con-
176 A. Jakubowicz.
genita. Ich erinnere nur an die Beobachtungen von Hedinger, der bei zwei
Kindern nach dem pathologisch-anatomischen Befunden eine Lues congenita
diagnostiziert hatte und trotzdem keine Lues bestanden hat. In diesem
Falle konnten wir keine Bakterien wie sonstige atypische Gebilde finden.
Die Frage zu beantworten, was auf Scharlach, was auf Diphtherie »urückzu-
führen sei, ist fast unmöglich. Es ist aber anzunehmen, daß beide Erreger,
sowohl der Diphtherie- als auch der Scharlacherreger, diese schweren Ver-
änderungen, dann die Veränderungen im Bereiche der weißen Substanz des
Rückenmarks, die ziemlich schweren verstreuten Erkrankungen an den
(anglienzellen verursacht haben. Die Schädigung des Grefäßapparates steht
sicherlich in diesem Falle im Vordergrund, die produktive Reaktion von
Seite des Mesoderms, wie auch des Ektoderms ist eine sehr geringe.
Fall 4399. Br., Johann, 4 Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte.
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Immer gesund. Seit 1 Woche müde, Appetitlosiz-
keit. Seit 4 Tagen Temperatur 39°, Halsschmerzen, Schluckbeschwerden. Am 27. Sep-
tember wird er ins Wilhelminenspital eingeliefert mit der Diagnose Diphtherie: Rachen-
diphtherie: Beläge auf den Tonsillen; Drüsenschwellung; Temperatur 37; Puls 108;
Atmung 26. 28. September Furunkel am Bauch. 7. Oktober Paronychia der rechten Zehe.
8. Oktober frischer Diphtheriebelag. 10. Oktober Temperatur 38,7; frische Beläge:
Sekretion; Drüsenschwellung; Injektion 10 X 2500 DE. 12. Oktober Beläge gelockert:
Temperatur 37,6; Puls 106; Atmung 24. 16. Oktober Temperatur 39.2; Drüsenschwel-
lung zunehmend; Stimme lähmungsartig; beim Trinken Regurgitation durch die Nase:
die Haut über den Palmae und Fingerbeugern schuppt und ist rissig. 21. Oktober
Temperatur 37,8: Appetitlosigkeit; Extrasystolen; Galopprhythmus; 23 Uhr Exitus
letalis. f
Klinische Diagnose: Diphtheria gravis. Herzmuskellähmung.
22. Oktober Sektionsbefund (Dr. Wicke': Die Gaumenmandeln sind gerötet, ver-
größert und zeigen tiefgreifende, gereinigte Substanzverluste. Die Schleimhaut der Pars
oralis und laryngopharyngealis ist gerötet und geschwollen. Entzündung der linken
kranialen Halslymphknoten, die in ihrer Gesamtheit einen kleinkindskopfgroßen Tumor
bilden. Das Ausstrichpräparat aus dem Eiter, nach Gram gefärbt, ergibt grampositive
kapselhaltige Diplokokken, die vereinzelt lange Ketten bilden. Kultur Grampositiver
Kokken. Starke Ausweitung des Herzens in allen seinen Teilen. Weißliche Verdiekung
des Herzinnenhäutchens. Fettige Entartung des Herzfleisches. Subepikardiale Ecchy-
mosen. Ödem (der Lunge, des Gehirns, der Lunge, der Nieren. Fettige Entartung und
Atrophie der Leber. Stauung und fettige Entartung der Nieren. Die Milz zeigt \er-
mehrung der Follikel, sie ist derb und blutreich. Die Nebennieren sind schmal. Ödem
der Gallenblase.: Kirscheroße, mit seröser Flüssigkeit gefüllte Zyste in der rechten
Niere. In der Rinde ein weißlicher, traubenkorngroßer Knoten von mäßig derber Kon-
sistenz. Die Schleimhaut des Dickdarmes und Grimmdarmes ist gerötet und gequollen,
letzterer zeigt Blutungen. Gegen den Leerdarm vergehen diese Veränderungen all-
mählieh in das Bild der mäßigen Stauung. Stauung der Bauchspeicheldrüse.
Mikroskopischer Befund.
Medulla oblongata: Die Meningen zeigen in diesem Bereiche fast gar keine
Veränderungen. Die Arachnoidea ist zum Teil erhalten, aber immerhin besteht eine
deutliche Hyperämie in den Meningen. Das Ependym am Boden der Rautengrube ist
zart und einschichtiz. Auch das subependymäre Gewebe ist nicht besonders reich an
Glia. Sowohl in den Nissl-Präparaten wie auch in den Häm.-Eosinpräparaten fallen
die Ganelienzellen der Oliva inf. dureh ihre Färbung auf. Sie haben sich bei einem
ziemlich stark differenzierten Toluidinpräparat auffallend dunkel gefärbt, so daß ihre
Zellstruktur gar nicht zum Vorschein kommt. Ein genereller Schrumpfungsprozeß hat
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 177
die Ganglienzellen der Olive ergriffen. Verdunkelung der plasmatischen Struktur und
stellenweise auch eine Verminderung der Nervenzellen. Es muß hervorgehoben werden,
daß die großen Zellen der Substantia reticularis besonders befallen sind, und zwar
in Forn von akuter Zellschwellung, Randverschiebung des Tigroids, Zellschatten-
bildung. Hier findet sich auch ein kleines Gliaknötchen. Aber auch im Bereiche der
anderen Kerne der Medulla oblongata kann man den gleichen Prozeß beobachten. Nur
ist er nicht so auffällig wie im Nucleus reticularis, denn im letzteren sind alle Zellen
befallen. Die Glia ist zum Teil gequollen, die produktive Reaktion ist sonst minimal.
Stammganglien: Ödem und Hyperämie mäßigen Grades, seröse Ausschwitzun-
gen und perivaskuläre Desintegration. Im Thalamus opticus ganz kleine Wandinfiltrate
in den Arterien. Im Bereiche der inneren Kapsel eng anliezend an den Thalamus sieht
man in der Adventitiawand sehr zahlreiche Rundzellen. Die Ganglienzellen zum Teil
gebläht, mit Schwellung ihrer Fortsätze. Die Nissl-Struktur ist meist nicht gut er-
halten. Im Bereiche des Claustrums neigen die Ganglienzellen zur Schrumpfung. Im
Bereiche der Insel ist der Prozeß der gleiche wie in den übrigen Rindenpartien ıs. u.).
In der Capsula interna besonders starkes Ödem. Die Glia zeigt iin thalamischen Gebiet
Neigung zu Rosettenbildung, sie umhüllt die Ganglienzellen. Im lentikulären Gebiet
Neigung zu Gliaknötchenbildung. Hier ist die Glia sehr reichlich. Auffallend gut sind
die Ganglienzellen des Striatum erhalten. Man kann nie von einem besonderen Be
fallensein eines Gebietes sprechen. Der Prozeß ist dazu zu diffus, aber nicht generell.
Es sind viele Ganglienzellen, wie z. B. im Striatum, die nichts Abnormes aufweisen.
Ausgesprochene Bilder von Neuronophagie sind nicht zu sehen.
Stirnhirn: Die Veränderungen an den Meningen ähneln denjenigen im Zere
bellum. Der Prozeß ist hier weniger ausgesprochen. Starkes Ödem und Hyperämie in
der Marksubstanz, weniger in der Rindensubstanz. Mitunter exzessive Blähung der
Venen. Kleinere Gefäße mit Endothelwucherung. Intrakortikale Parenchymblutung, die
scheinbar per diapedesim entstanden ist und vielfach durch Konfluenz flächenhaften
Charakter annimmt. Ödem der Gefäßwand und histiogene Produktion eines Infiltralions-
ringes. Êtat de desintegratione, der sich an einzelnen Stellen zum Etat lacunaire aus-
bildet. Die Blutgefäße enthalten Blut, das im Zentrum aus Leukozyten besteht, diese
werden von ziemlich gut erhaltenen Erythrozyten umsäumt. Um diese letzteren herum
Serum, so daß das ganze Bild an einen frisch sich bildenden Thrombus erinnert.
Das ganze Mark ist wie durchlöchert. Die Rindenschichten sind gut erhalten. Im all-
gemeinen kann man sagen, daß die großen Pyramidenzellen Schwellung und Blähungs-
erscheinungen ihres Zelleibes und ihrer Fortsätze zeigen, die mittelgroßen Pyramiden-
zellen Schrumpfungsprozesse mit Schlängelung ihrer lortsätze. Die anderen Ganglien-
zellen weisen meist Veränderungen auf, die besonders das Zellprotoplasına, Vakuolen-
bildung betreffen. Daneben vollständig intakte Ganglienzellen. Freies Lipoidpigment
ist aufzufinden. Die kleinen Arteriolen sowohl des Markes wie der Rinde sind auf-
fallend starr, mit einer homogenisierten Gefäßwand. In einer Vene der III. Schicht
fand sich eine Kokkenembolie. Bei Untersuchung mit Ölimmersion waren es Diplo-
kokken, von einer deutlichen Kapsel umgeben, und daneben vereinzelte plumpe
Stäbchen. Unweit dieser Kapillare lagen frei im Gewebe Diplokokken mit Kapseln und
Stäbchen. Diese Bakterien waren nur im gleichen (esichtsfeld aufzufinden.
Zerebellum: Im Bereiche des Zerebellums zeigen die Meningen wenig Verände-
rungen, es bestehen eine Hyperämie und ein Ödem der Meningen. In der Nähe von
Gefäßen liegen Anhäufungen von weißen Blutelementen, zerstreut in den Meningen
vereinzelte Rundzellen. Auch Hämorrhagien sind in den Meningen aufzufinden. Die
Gefäßwand ist stark gequollen. Die Marksubstanz zeigt eine deutliche Hyperämie und
Ödem, weniger ausgeprägt sind sie in der Rinde. Die Glia hat in der Marksubstanz
die Tendenz zu Gliaknötchenbildung. Man findet sehr oft 6—10 Gliazellen eng an-
einander gelagert. Sie begleitet auch perivaskulär die Gefäße und bildet Gliahosen.
Perivaskuläre Desintegrationen sind angedeutet. Die Randglia ist stellenweise ver-
mehrt. In der Zona ganglionaris sind die Fortsätze der Ganglienzellen zum Teil ge-
schwollen, die Ganglienzelln zum Teil intakt, zum Teil zeigen sie Veränderungen.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst, XXXIV. Bd. 12
178 A. Jakubowicz.
So findet man ganze Tigroidbrocken an der Peripherie gelagert, hie und da eine Auf-
lösung der Kernmembran. Manche Ganglienzellen haben sich in einem stark differen-
zierten Nissl-Präparat sehr dunkel gefärbt. In der Zona ganglionaris Körnerschwund.
Zusammenfassung.
4 Jahre altes Kind, das zirka 29 Tage diphtheriekrank war. Am neunten
Tag bekam es einen Furunkel, am neunzehnten Tag eine Paronychie und
am zwanzigsten Krankheitstage, nachdem die Diphtherie abgeheilt war,
eine zweite Diphtherie. Gar keine neurologischen Symptome.
Die nach zirka zwölf Stunden vorgenommene Sektion ergab folgenden
Befund: Ulcera tonsillae; Lymphadenitis Iymphoglandularum cervicalium cra-
nialium; Dilatatio cordis totius e myodegeneratione cordis; Ecchymoses sub-
epicardiales; Degeneratio adiposa viscerum; Haemorrhagiae mucosae in-
testini; Oedema cerebri.
Betrachten wir den histologischen Befund. Das Ödem und die Hyperämie
wechseln an verschiedenen Teilen des Zentralnervensystems. Diese sind im
Cortex und im Bereiche der Stammganglien am deutlichsten, wo auch die peri-
vaskulären Desintegrationen bis zu einem Status lacunaris ausgebildet sind.
Die Gefäßwand ist überall stark geschädigt. Im Cortex kommen die par-
enchymatösen Blutungen zum Vorschein. Hier sind die kleinen Arteriolen
durch ihr starres Hervortreten und durch Vermehrung ihrer Zellen auf-
fallend. Daneben Homogenisation der Gefäßwand mit vakuolärer Auflösung.
Die Meningen zeigen außer im Cerebellum, wo eine Meningitis serosa mit
Hämorrhagie besteht, nichts Besonderes. Im Bereiche der Medulla sind
die geschrumpften Zellen und die Ausfallserscheinungen im Bereich der
Olive, ebenso das schwere Befallensein des Nucleus reticularis sehr auf-
fallend. Ein einziges Gliaknötchen im Bereiche der Substantia reticularis,
sonst ist fast gar keine produktive Reaktion von Seite des Ektoderms
zu finden. In den Stammganglien vereinzelte Wandinfiltrate. Die Verände
rungen an den Ganglienzellen diffus verstreut. Leichte Gliareaktion in
Form von Rosetten und Gliaknötchenbildung. Im vorderen Stirnhirn eine
ziemlich schwere Erkrankung im Bereich der III. Schicht, und zwar Ausfall
von Ganglienzellen und das besondere Betroffensein der großen Pyramiden-
zellen. Wucherung von Mikroglia. In einer Kapillare der III. Schicht finden
wir die gleichen Bakterien, wie sie der Obduzent in dem Ausstrichpräparat
und einer Kultur gefunden hat. Aber noch in der nächsten Umgebung, fast
im gleichen Gesichtsfeld, ausgetretene Diplokokken und frei im Gewebe
liegende Stäbchen von verschiedener Größe, teils gerade, teils gebogen. Sie
sind viel weniger reichlich als die Diplokokken. Gar keine Reaktion von
Seite des Mesoderms. Auch die ektodermale Reaktion ist in der Rinde sehr
gering. So ist es anzunehmen, daß die im Blute kreisende Bakterienart kurz
vor dem Tode hier ansässig wurde. Im Kleinhirn Neigung zu Gliaknötchen-
bildung bei degenerativen Veränderungen an den Ganglienzellen. Im großen
und ganzen ist auch dieser Fall durch das Negative charakterisiert; keine
Reaktion von Seite des Mesoderms, sehr geringgradige von Seite des Ekto-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 179
derms bei ziemlich entwickelten, zum Teil schweren degenerativen Verände-
rungen am Parenchym.
Fall 4400. M., Albert, 51’, Jahre. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte.)
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Vor 2 Jahren geimpft; bald nachher Masern. Am
10. Oktober plötzlich Fieber. 12. und 13. Oktober klagt er über Halsschmerzen, Er-
brechen. Am 14. Oktober wird das Kind mit der Diagnose Diphtherie ins Wilhelminen-
spital eingewiesen. Typische Diphtherie, eitrig-seröser Nasenfluß, Drüsenschwellung,
Rachen geschwollen, Belag auf den Tonsillen, Gaumen, Isthmus nach rechts ver-
schoben; spezifischer Geruch. Nervensystem, Augen: Strabismus convergens geringen
Grades. Hebender Spitzenstoß. 2. Pulmonalton akzentuiert, Puls regelmäßig 138.
Am 17. Oktober Andeutung eines Galopprhythmus. Albumen +. Temperatur 36,8. Puls
120. Atmung 22. Am 18. Oktober Erbrechen, Stimme nasal. Nach Angaben der Mutter
hat das Kind früher keinen Lagophthalmus gehabt. Jetzt ist der Lidschluß unvoll-
ständig. Vor dem Tode verlangt das Kind zu trinken, bald nachher Erbrechen, kurz-
dauernd tonisch-klonische Krämpfe, unter welchen der Exitus um 22 Uhr eintritt.
Klinische Diagnose: Diphtheria gravis.
Sektion am 19. Okt. (Dr. Wicke): Die Gaumenmandeln sind gerötet, geschwollen,
ihreOberfläche von tiefgreifenden Substanverlusten zerklüftet, teilweise mit graugelblichen
Belägen bedeckt. An der linken Tonsille sind nekrotische Gewebsmassen in Abstoßung
begriffen. Rötung und Schwellung der Schlundkopfschleimhaut in der Pars oralis
pharyngis. Hochgradige Ausweitung der Herzhöhlen, besonders aber der linken Herz-
hälfte. Fettige Entartung des Herzfleisches. In beiden Herzohren agonale und wand-
ständige Thromben. Subpleurale und subepikardiale Eechymosen. Stauung der Lunge,
der Leber, der Nieren, der Darmschleimhaut. Ödem der Nieren und der Leber. Das
linke Nierenbecken ist weit. Mark und Rindensubstanz verschmälert. In der Pars abdo-
minalis ureteris am Übergang in das Nierenbecken eine leichte Verengung der Lich-
tung, von der zarten Schleimhaut Längsfalten in beide Richtungen ausgehend, um
nach kurzem Verlauf sich zu verlieren. Fettige Entartung der Leber, Follikelmilz. Die
Schleimhaut des Magens und Darmes ist gerötet, geschwollen, trüb. Die Lymphknoten
sind gerötet, vergrößert. Ödem «des Gehirns, dabei nur wenige Blutpunkte, keine
Hyperärnie.
Mikroskopischer Befund.
Medulla oblongata: Die Meningen zeigen außer einer Hyperämie und einem
Ödem keine Besonderheiten. In der Medulla oblongata bestehen eine Hyperämie und
Ödem. Die Blutgefäße sind voll mit Blut gefüllt, gebläht, die Arterien dagegen kontra-
hiert. Die Gefäßwand ist gequollen. Perivaskuläre Infiltrate, seröse Ausschwitzungen
sind nicht aufzufinden. Die Ganglienzellen zeigen zum Teil Veränderungen. So haben
sich bei einem stark differenzierten Toluidinblaupräparat die Ganglienzellen der Oliva
inf. dunkel gefärbt. Sie lassen meist gar keine Struktur erkennen. In der Olive eine
diffuse Gliawucherung. Schwerer Schwellungsprozeß in der Substantia reticularis.
Reichliche diffuse Gliawucherung in diesem Bereich. Die Ganglienzellen des Nucleus
ambiguus sind zum Teil gequollen, auch Schwellung der Fortsätze der Ganglienzellen
kann man beobachten. Im Bereich des Nucleus dorsalis vagi ähneln die Veränderungen
der Ganglienzellen denjenigen der Olive. Die Glia zeigt sonst keine nennenswerte Er-
scheinungen.
Stammganglien und innere Kapsel: Auch hier ist das Ödem in der weißen
Substanz sehr ausgesprochen. Es besteht eine geringgradige Hyperämie. Die Arterien
sind kontrahiert, die Venen mit homogenen Massen von Blut gefüllt. Die Wand der
Gefäße ist gequollen. Bei genauem Durchmustern des Präparates findet man ein
Gefäß, und zwar eine Vene mit einem deutlichen perivaskulären Infiltrat. Diese Vene
findet sich im Bereiche der Capsula interna. Aber auch andere Venen im Bereiche der
Stammganglien enthalten in der Adventitia vereinzelte Rundzellen iLymphozyten).
Die Glia bildet um die Gefäße einen dichten Mantel: Gliahosen. Seröse Ausschwitzun-
12*
180 A. Jakubowicz.
gen aus den Gefäßen sind vorhanden. sehr ausgesprochen sind die perivaskulären
Desintegrationen. Die Ganglienzellen zeigen neben Schwellung auch Schrumpfunas-
prozesse. Die Glia ist gequollen, freies Pigment ist aufzufinden.
Cortex.
Temporalrinde: Die Meningen zeigen die gleichen Veränderungen wie vor
her. In der Marksubstanz bestehen ein Ödem und eine Hyperämie: diese sini
im Bereiche der Rinde weniger ausgesprochen. Andeutung von perivaskulären Des
integrationen. Die Gefäßwand ist gequollen, die Rindenschichten sind gut er
halten. Der Prozeß an den Ganglienzellen zeigt meist Veränderungen, die haupt
sächlich das Protoplasma betreffen. Vakuolen sind in jeder Gangiienzelle anzu-
treffen. Wenn der Prozeß den Kern betrifft, so liegt er an der Peripherie. auch Auf
lösung der Kernmembran ist zu finden. Schwellung des Kernes und der Fortsätze. Da
neben sind auch verklumpte WGanelienzellen. Die Glia zeigt Fällungserscheinungen.
auch Zellschattenbildung ist aufzufinden. Im Bereiche des Markes, aber auch in der
Rinde bildet die Glia Längsstraßen. Im Mark kann man auch Glia herdförmig verdicht
antreffen, deutliche Knötchenbildung ist nicht aufzufinden. Amöboide Glia ist reichlie:
vorhanden.
Okzipitalrinde: Das Bild ähnelt vollständig dem vorigen. Nur die Glia zeiz
hier die Tendenz, sich um die Ganelienzellen zu verdichten. Auch im Mark sini
die Längsstraßen und die Gliahosen um die Gefäße viel ausgesprochener als im vorst
Schnitte. Perivaskuläres Ödem und Etat lacunaire sehr ausgeprägt. Die Fndothelien
enthalten reichlich Pigment, das auch frei im Gewebe anzutreffen ist.
Cerebellum Cortex: Die Meningen zeigen auch hier wenig Veränderungen.
meist besteht eine deutliche seröse Ausschwitzunge aus der Gefäßwand, das Ödem ıy
in der Marksubstanz ausgeprägt. Auch hier finden sich die perivaskulären Desintegra-
tionen. Die Zona imolecularis ist reichlich von Glia durchsetzt. Die Purkinjeschen
Zellen zeigen Schwellung ihrer Fortsätze. In der Zona granularis Ausfallerscheinungen
Im Bereiche des Nucleus dentatus ähneln die Veränderungen der Ganglienzeilen den
jenigen der Oliva inf.
Zusammenfassung.
5! „jähriges Kind, das im ganzen neun Tage diphtheriekrank war. Von
neurologischen Symptomen zeigte das Kind Strabismus convergens, lag
ophthalmus. Kurz vor dem Tode tonisch-klonische Krämpfe. Die nach zirka
zwölf Stunden vorgenommene Obduktion ergab folgenden Befund: Tonsilitis
ulcerosa diphtherica partim necroticans. Dilatatio cordis totius praecipue
cordis sinistri e myodegeneratione cum thrombosi parietalis in auriculis
cordis utriusque. Eechymoses subepicardiales et subpleurales. Hyperaemia
passiva viscerum. Oedema cerebri.
Betrachten wir den Fall vom histologischen Standpunkt aus, so bestehen
überall eine Hyperämie und ein Ödem. Nur wo das Ödem stärker aus
gesprochen ist, wie z. B. im Cortex, Stammganglien, Cerebellum, Mark. sind
auch die Desintegrationen sehr ausgeprägt. Die Meningen scheinen in diesem
Fall vollständig frei zu sein. Im Bereiche der Medulla sind die Oliven die
großen Zellen der Substantia reticularis und der dorsale Vaguskern schwer
betroffen. In diesen Gebieten besteht eine diffuse Gliawucherung. Nur im
Bereich der Stamimganglien finden wir ein größeres perivaskuläres IM
filtrat. Weiter oral im Cortex bestehen Veränderungen an den Ganglien-
zellen, die meist das Protoplasma betreffen und uns allerdings die tonisch
klonischen Zuckungen vor dem Tode nicht erklären können. Im Mark des
Dentatus wieder ein kleines perivaskuläres Infiltrat und diffuse Gliawuch®
[i
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 181
rung. Die Veränderungen der Ganglienzellen des Nucleus dentatus ent-
sprechen vollständig denjenigen der Olive. Der Fall ist dadurch charakteri-
siert, daß eine reaktive Erscheinung von Seite der Glia, wenn auch minimal,
doch vorhanden ist. Die tonisch-klonischen Zuckungen sind wahrscheinlich
auf eine bakterielle Embolie zurückzuführen; trotzdem in diesem Falle
keine Bakterien gefunden wurden, bestand doch eine Thrombose in beiden
Herzohren. Schon die Gefäßwandveränderung in Form von Quellung spricht
dafür, daß die Bakterien hier schädigend gewirkt haben.
Fall 4401. K., Hilde, 10 Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte.)
Familienanamncse: o. B.
Persönliche Anamnese: Mit 2 Jahren Lungenleiden, Pleuritis mit Exsudat.
Vor 5 Jahren Scharlach, anschließend Pleuritis, Masern, Diphtherie, Pertussis. Jetzige
Erkrankung: Seit letztem Samstag Schluckbeschwerden. Schwellung und Rötung des
Halses. Temp. um 39,9. 2. September wird das Kind ins Wilhelminenspital mit der
Diagnose Diphtherie eingeliefert. Typische Facies diphtherica, beträchtliche Schwellung
der Drüsen mit Ödem, Stimme anginös, Schlucken erschwert, Fötor, frische kleine
Hämorrhagien in der Fossa supratonsillaris, Schwellung und Rötung des Rachens,
Isthmus vercengt, ausgedehnte blutige dicke Beläge auf beiden Tonsillen, Uvula und
weichem Gaumen: 5X 2500 DE. i. v. und 25x 2500 DE. i. m. 4. September starker
Foetor ex ore, Suffusion an der Injektionsstelle; 5. September Beläge verkleinert und
gelockert, Rachen abgeschwollen, starke Blutungen an den Injektionsstellen, Pulsus
mollis. 8. September Urtikaria, einmal Erbrechen, Puls kaum zu differenzieren. 9. Sep-
tember pulslos, Herz o. B., Brechreiz, gelunsenes Gesicht, Spur Albumen, Temp. 36,9%,
Puls 100, Atmung 34. 10. September Puls klein, weich, 96, Galopprliythmus. 23. Sep-
tember Stimme weniger nasal, Puls 138, große Leber, leichter skleraler Subikterus,
Galopprhythmus, Digitalis. 4. Oktober kann gewöhnlichen Druck nicht mehr lesen,
Fingerzählen gut. 6. Oktober kann sich im Bett nicht mehr aufsetzen; P.S. R. negativ.
7. Oktober Akkomodationslähmung, lähmungsarliger Husten, Velum unbeweglich, Rachen
asymmetrisch. 12. Oktober plötzliche Lähmung, mehrmals Erbrechen, Rasseln. 14. Ok-
tober Stimme unverständlich; akzidentelles Geräusch an der Pulmonalis; Strabismus;
Kind hört schlechter. 20. Oktober klagt über Sehstörungen, auf der Lunge Rasseln.
21. Oktober kann nicht mehr sprechen, nimmt, um sich zu verständigen, die Schrift
zu Hilfe. 23. Oktober Rasseln, Bronchialatmen, tympanitischer Schall, Temp. 37,2, Puls
128. Atmung 24, Anlezung einer Gastrostomie nach Witzel in Lokalanästhesie. Zu-
nahme der Lähmungen, das Kind kann nicht mehr husten. 23. Oktober angestrengte
Atmung. Stenoseerscheinungen, Verschlechterung des Kolorits, Tracheotomie. 1,4 Uhr
während der Fistelfütterung plötzlich Einsetzen von tonischen Krämpfen. Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Diphtherie, postdiphtlierische Lähmungen, Gastrostomie,
Tracheotomie.
Sektion am 23. Oktober (Dr. Baader): Mäßige Schwellung der Lymphknoten an
der Bifurkation und an den Lungenpforten. Alte Verwachsungen der Brustfellblätter
über beiden Lungen sowie der Pleura medialis mit dem Perikard. In der Höhe zwischen
8 und 9. linker Rippe, von Schwielengewebe umhüllt, eine etwa 5 cm lange, 1 cm
breite, dicke Knorpelplatte mit Kalkeinlagerungen. Im fleischig-konsistenten linken Unter-
lappen chronische eitrige Bronchitis mit Bronchiektasien. Der Ramus dorsalis des
linken unteren Bronchus ist dicht unterhalb seiner Abgangsstelle in einem etwa 12 mm
langen Bereiche narbig stenosiert und außen von dem schwieligen Gewebe umgeben.
Exzentrische Hypertrophie des ganzen Herzens. Die Ränder der Mitralsegel sind stellen-
weise hyalin verdickt. Fettige Entartung des Herzfleisches. Stauung und fettige Ent-
artung der Leber und Nieren. Die Milzkapsel stellenweise weißlich verdickt. Follikel-
nyperplasie. Die Nebennierenrinde verschmälert. Gastrostomie in der Pars pylorica
ventriculi. Mäßige Schwellung der Gekröselymphknoten und des Iymphatischen Ge-
182 A. Jakubowicz.
webes der Darmschleimhaut. Im Magen eine gelbliche Flüssigkeit mit weißen Flocken.
Im Darm nur etwas Schleim. Ödem des Gehirns. Hydrocephalus internus. Hyperämie
der Rinde. Die tief zerklüfteten Gaumenmandeln der Rachen und die etwa 8 mm lange
Wunde der unteren Tracheotomie belagfrei.
Mikroskopische Untersuchung.
Rückenmark, oberes Zervikalsegment: Schon bei grober Übersicht zeigt
das Rückenmark ganz schwere Veränderungen. Die Meningen sind ödematös und hyper-
Abb. 14. Fall 4401, Diphtherie.
Poliomyelitisähnliches Bild, perivaskulär gelegene vereinzelte Lymphozyten und
massenhaft Glia, die Ganglienzellen des Seitenhornes erkrankt. Toluidinblaufärbung.
ämisch. Die kollagenen Bindegewebssubstanzen haben deutlich zugenommen. In den
Meningen sind perivaskuläre Infiltrate, die aus Lymphozyten und Plasmazellen bestehen.
Hämorrhagien. Die Gefäßwände sind schwer verändert, sie sind gequollen, verdickt,
die kleinen Arteriolen sehr starr und ihre Wand ist homogenisiert. Disseminierte Er-
krankung des Rückenmarkes mit besonderer Bevorzugung der grauen Substanz. Die
Grenzen der grauen Substanz sind unscharf, beide Hälften sind gleichmäßig affiziert.
In der weißen Substanz perivaskuläre Infiltrate, die wieder aus Lymphozyten und
Plasmazellen bestehen. Sehr starke Gliareaktion sowohl in der weißen wie in der
grauen Substanz, die quantitativ die Infiltrate übertrifft. Auch in der grauen Substanz
sind kleine Infiltrate vorhanden. Das Nervengewebe fast vollständig zerstört. Hoch-
gradiges Ödem in der weißen Substanz. Zerfallen von Markscheiden mit Bildung von
Corpora amylacea. Hämorrhagien im Bereiche der erkrankten Tentorien. Die Vorder-
hornzellen sind vollständig ausgefallen, aber auch die Seitenhornzellen (Abb. 14) zeigen
Lichtungen, sie sind schwer erkrankt. Der Kern dieser Zellen liegt am Rande, die ganze
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 183
Ganglienzelle ist zum Teil gebläht, zum Teil geschwollen, manchmal erkennt man den
zurückgebliebenen Nukleolus. Zellschattenbildung mit Neuronophagie.
Medulla oblongata: Die Meningen zeigen im Vergleich zum Rückenmark viel
weniger Veränderungen. Es bestehen eine leichte Hyperämie und ein Ödem der Me-
ningen. Hie und da sieht man vereinzelte Lymphozyten frei in den Meningen und
in der Adventitia mancher Gefäße gelegen. Sie sind minimal im Vergleich zu dem
Rückenmark. Die Veränderungen an den Ganglienzellen sind mannigfacher Natur:
starke Ausfälle im Bereiche der Olive und Nebenolive. Selbst bei einem stark differen-
zierten Toluidinblaupräparat haben sich diese Zellen dunkel gefärbt. Mehrere Ganglien-
zellen in diesem Bereich zeigen Ausbuchtungen; an dieser Stelle hat sich das gelbe
Abb. 15. Fall 4401, Diphtherie.
Eine Zelle aus der Subst. ret., Schwellung der Zelle mit Kernfaltung.
Toluidinblaufärbung.
Pigment von OÖbersteiner angesammelt. Der Kern liegt an der Peripherie, auch
Zellschatten sind aufzufinden. An Stelle von Ganglienzellen ist die Glia getreten.
Hochgradige Veränderungen der Ganglienzellen der Substantia reticularis. Fast alle
hier befindlichen Zellen (Abb. 15) sind degenerativ verändert. Relativ gut ist der
Nucleus ambiguus erhalten, wenn auch in seinem Bereich Schwellung der Ganglien-
zellen vorkommt. Im übrigen ist der Prozeß überall diffus, in jedem Gebiet finden sich
veränderte Ganglienzellen. Die Glia ist reichlich vorhanden, sie ist diffus vermehrt.
Auch amöboide Glia ist aufzufinden. Ein Schnitt weiter oben zeigt die erkrankten
Zellen in der Minderheit. Die Veränderungen treten weniger plastisch hervor. Am
stärksten sind in diesem Schnitt die Zellen der Substantia reticularis befallen (Abb. 15).
Die seröse Ausschwitzung aus den Gefäßen, Ödem, Hyperämie, perivaskuläre Desinte-
grationen sind immer noch vorhanden. Auch in diesem Bereich besteht eine End-
arteriopathie. In der Medulla keine systematische Faserdegeneration in den Mark-
scheidenpräparaten. In der Umgebung der Gefäße Markscheidentrümmer als Zeichen
des Zerfalls. In den Randgebieten der Medulla kann man Faserausfälle sehen. Weiter
oben in der Brücke sind einzelne kreuzende Systeme weniger dunkel tingiert, ebenso
kann man das an zahlreichen kreuzenden Fasergruppen erkennen.
Stammgänglien: Ödem und Hyperämie An manchen Venen liegen in der
Adventitia vereinzelte Lymphozyten. Perivaskuläres Ödem. Dem entsprechen die Des-
184 A. Jakubowicz.
integrationen, die an einen Status cribrosus erinnern. Seröse Ausschwitzung mit Makro-
phagen um die Gefäße. Die Zellen des Globus pallidus zeigen eine große Affinität an
basischen Farbstoffen. Im Striatum État lacunaire und eine kleine Blutung. Die Zellen
des Striatums zum Teil schwer erkrankt. Verklumpung höheren Grades. Im Pallidum
minimale Gliaknötchen. Im Bereiche des Putamens Neuronophagie und Zellschatten
bildung. Auch hier ist die Glia sehr reichlich, sie ist den Ganglienzellen sehr nahe-
getreten. Überall Proliferationserscheinungen von seiten des Endothels. Im Bereiche
der Capsula interna ein ausgeprägtes Ödem. Die Glia ist hier gequollen, wie übrigens
auch an anderer Stelle. Auch hier sind die Desintegrationen mächtig entwickelt. Leichte
seröse meningitische Erkrankung über der Insel. Endarteriopathie; die kleinen Arteriolen
sind starr. Auffallend viel Eisen neben den Gefäßen. Im Inselgebiet stellenweise Ver-
minderung der Zellen in der Il. Schicht gewucherte großblasige Gliazellen in dieser
Zone. Perivaskuläres Ödem um die Gefäße. Sehr starke Hyperämie. Blutgerinnuni.
Fibrinoide Thromben. Im Striatum ist die endogene Markfaserung gut erhalten. Die
durchziehenden kortikalen Bündel auffallend schlecht gefärbt.
Frontallappen: Die Meningen, soweit sie im Schnittpräparat getroffen sind,
zeigen deutliche Veränderungen. Es bestehen ein Ödem und eine Hyperämie. Ein freies
Exsudat, in welchem sich Rundzellen und Makrophagen finden. Die subarachnoidealen
Zellbalken sind gelockert, sie sind auch zellreich. Ödem und Hyperämie der Rinde
und des Markes. In dem letzteren ist dies ausgesprochener. Die Randglia ist vermehrt.
In der II. Zone Lichtungen, viele Ganglienzellen sind ausgefallen. Erkrankung von
Ganglienzellen meist in Form von Schrumpfung, aber auch Schwellung von Ganglien-
zellen ist vorhanden. Es laufen diese zwei Prozesse nebeneinander. Auch die Axone
zeigen Veränderungen, sie sind zum Teil geschrumpft, zum Teil geschwollen. Deut-
liche Zellschattenbildung mit Neuronophagie. Die Glia ist um die Ganglienzellen ver-
dichtet. Im Bereiche der Rinde zeigen die Endothelien der Kapillaren Proliferations-
erscheinungen. Im Bereiche des Markes liegen mächtig geblähte Venen mit I,ymphozyten
in der Adventitia. Die Gliahosen im Mark sind sehr stark ausgebildet. Eng aneinander-
liegende Glia ist überall aufzufinden. Sie ist im Mark diffus vermehrt. Im Mark sind
die kleinen Arteriolen sehr starr, mit einer homogenisierten Wand. Eine Übersicht meh-
rerer Rindenanteile in den Markscheidenpräparaten ergibt im wesentlichen folgendes:
Stellenweise annähernd normale Verhältnisse bei gewisser Armut der superradiären
Fasern, daneben Territorien, bei welchen das superradiäre und radiäre Flechtwerk
ausgefallen ist. Von mäßig geringer Quellung bis zum vollständigen Verschwinden
der Markfasern bestehen mannigfaltige Übergänge.
Cerebellum: Im Bereiche des Wurmes sind die meningealen Veränderungen
in den Hintergrund getreten. Die Pia ist immer noch zellreich, die Randglia ist ver-
mehrt. Es bestehen ein deutliches Ödem und eine Hyperämie im Mark, weniger aus-
gesprochen als in der Rinde. In der Zona ganglionaris sieht man zum Teil Verände
rungen an den Ganglienzellen in Form von Blähung und Schwellung, zentraler Hono-
genisation, Verklumpung des Tigroids. In der Zona granularis Rarefikation der Körner-
zellen. die auf Schwund von Kömern hindeutet. Auch im Bereiche des Nucleus dentatus
sind schwere Veränderungen an den Ganglienzellen zu verzeichnen. Vereinzelt findet
man eeschrumpfte Ganglienzellen, sonst Schwellung. Auch Zellschattenbildung ist
vorhanden. Die Glia ist diffus im Dentatusgebiet vermehrt, sie umklammert die Ganglien-
zellen. Gliahosen im Mark und vereinzelte Lymphozyten in der Gefäßwand. In den
Markscheidenpräparaten sieht man in der Kleinhirnrinde stellenweise beträchtliche
Verminderung des Faserfilzes, und zwar sowohl im Bereiche der Körnerschicht, als
auch eine deutliche Zerfallserscheinung im Bereiche der Purkinjeschen Zellen.
Zusammenfassung.
1Öjähriges Mädchen, das im ganzen 54 Tage diphtheriekrank war.
Neurologische Symptome zeigte das Kind folgende: Akkomodationslähmun-
gen, Lähmungen im Bereiche der Mundhöhle, und zwar des Velum
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 185
palatinum, der Stimmuskulatur, allgemeine Lähmungen. Dabei Patellarreflex
negativ. Abnahme der Hörschärfe und unter tonisch-klonischen Zuckungen
geht das Kind zugrunde.
Die nach zirka zehn Stunden vorgenommene Sektion ergibt folgenden
Befund: Ulcera tonsillae; Bronchitis chronica purulenta; cum bronchiectasi
lobi inf. pulm. sin.; Hypertrophia excentrica cordis totius; Degeneratio
adiposa myocardii, hepatis, renum; Oedema cerebri; Hyperaemia corticalis;
Hydrocephalus internus.
Bevor wir auf den histologischen Befund zu sprechen kommen, möchte
ich hervorheben, daß der anatomische Befund nicht alle Symptome erklären
kann. Es ist ein Fall, den ich selbst nicht technisch bearbeitet habe. Da sich
im Rückenmark schwere Veränderungen finden, will ich ihn in meinen Fällen
aufnehmen, zumal er gewisse Figentümlichkeiten bietet.
Der histologische Befund in den untersuchten Teilen des Zentralverven-
systems ergibt folgendes: Ödem und Hyperämie von wechselnder Stärke..
Die mesenchymale Reaktion ist in dem ganzen Fall im Vergleich zu den
anderen Fällen schon eine große. Sie ist im Bereiche des Rückenmarks am
deutlichsten. Die meningealen Veränderungen im Bereiche des Rückenmarks
in Form einer serös-zelligen Leptomeningitis, im Bereiche der anderen
Partien eine verschieden ausgebildete Meningitis serosa. Der Gefäßapparat
schwer geschädigt in Form einer Endarteriopathie. Im Bereiche des Rücken-
marks ein polyomyelitisähnliches Bild. Aber auch die weiße Substanz ist
nicht verschont geblieben. Dieses polyomyelitisähnliche Bild genügt, um die
Lähmungen mit Fehlen der Patellarreflexe zu erklären. Um gleich vorwegzu-
nehmen, ist es uns in diesem Falle nicht gelungen, in den untersuchten
Teilen des Zentralnervensystems einen bakteriologischen Befund zu erheben.
Damit soll aber nicht gesagt werden, daß keine Bakterien vorhanden sind.
Auch fällt es mir schwer zu behaupten, daß neben dem Diphtheriebazillus
auch der Poliomyelitiserreger vorhanden war. Letzteres erscheint über-
flüssig, da poliomyelitisähnliche Erkrankungen von verschiedensten Erregern
veranlaßt werden können. Äber die vorangehenden Akkomodationslähmungen
sprechen dafür, daß der Diphtheriebazillus doch die Rückenmarksverände-
rungen hervorgerufen hat. Übrigens sind in der Literatur zur Genüge Fälle
bekannt, daß im Verlaufe einer Diphtherie Komplikationen eintreten können,
die unter dem Bilde der Rückenmarkslähmung verlaufen (Marie, Mathieu).
Es beweist nun, daß wir aus dem anatomischen. Befund nie auf den Er-
reger schließen können, denn der anatomische Befund in solchen Fällen
ist immer der gleiche. Auch im Gebiete der unteren Partien der Medulla
ist der Prozeß ein schwerer. Diffus ist fast alles erkrankt. Aber es gestattet
doch, das Bild in der Medulla gewisser Partien herauszugreifen. So sind
die Oliven, Nebenoliven und die Substantia reticularis schwer erkrankt.
Im Rückenmark waren die Seitenhornzellen ebenso erkrankt wie jene der Sub-
stantia reticularis. Die Ansicht Marburgs, daß die Zellen der Substantia
reticularis aus versprengten Zellen des Seitenhorns des Rückenmarks_ be-
stehen, erführe dadurch eine Bestätigung. In dem oberen Drittel der Medulla
186 A. Jakubowicz.
ist der Prozeß abgeklungen, nur die Substantia reticularis ist noch schwer
erkrankt. In den Stammganglien ein Abbauprozeß. Diffuse Zellerkrankung. In
der Rinde Lichtungserscheinungen der II. Schicht. Im Kleinhirn zum Teil
schwere Erkrankung der Purkinjeschen Zellen und des Nucleus dentatus.
Fall 4403. 8jähr. Kind K. M.
Klinische Diagnose: Diphtherie.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata: Die Meningen, soweit sie im Schnittpräparat erhalten
sind, zeigen ein Ödem und eine kolossale Hyperämie. Die Zellen der Meningen sind
sehr zahlreich, Makrophagen, Lymphozyten und vereinzelt Neutrophile sind anzu-
treffen. Auch die kollagene Bindegewebssubstanz hat deutlich zugenommen. Im Be
reiche der Medulla bestehen ein Ödem und eine Hyperämie, auch seröse Ausschwitzun-
gen aus den Gefäßen sind vorhanden. Schon bei schwacher Vergrößerung sind die
Ganglienzellen der Oliva inf. durch ihr tinktiorelles Verhalten auffallend. Sie haben
sich dunkel gefärbt und bei manchen von diesen Zellen hat man Mühe, den Kern
zu erkennen. Man sieht die dünnen Fortsätze, die sich auf Strecken verfolgen lassen.
Aber auch die großen Zellen der Substantia reticularis sind schwer befallen. In
anderen Partien liegen neben intakten Ganglienzellen solche, die deutliche Ver
änderungen aufweisen. Zentrale Homogenisation, wabig-vakuoläre Degenerationen
Schwellung und Schrumpfung. Auffallend ist der Prozeß an den Fortsätzen der
Ganglienzellen, und zwar Fortsätze, die zum Teil gebläht, zum Teil geschrumpft sind.
Besonders die letzteren lassen sich auf weite Strecken verfolgen. Daneben kugelize
Auftreibung der Achsenzylinder. Die Nissl-Struktur der Ganglienzellen ist meist
gestört. Relativ gut ist der Fazialiskern erhalten. Die Glia in der Medulla ist sehr
reichlich, schon die Randglia zeigt stellenweise Vermehrung und Anbhäufung, sie ist
diffus vermehrt, sie umhüllt die Ganglienzellen. Im Bereiche der Olive perivaskuläre
Gliawucherung. Zellschattenbildung mit Neuronophagie ist zu beobachten. Auch die
Stäbchenglia ist reichlich vorhanden. Das Ependym ist zart, ein Schnitt im oberen
Drittel der Medulla zeigt die gleichen Veränderungen. Auffallend ist das reichliche
Vorhandensein der Glia.
Stammganglien: Soweit die Meningen hier getroffen sind, sieht man deut-
liche Exsudate im Bereiche dieser. Im Bereiche der Stammganglien bestehen ein Ödern
und eine Hyperämie. Die Blutgefäße voll mit weißen Blutkörperchen zum Unterschied
vom vorigen Schnitt, wo Erythrozyten vorhanden waren. Aber auch an manchen Ge-
fäßen sieht man deutliche Infiltrate, die nicht reichlich sind. Um die Gefäße herum
liegen mächtige Exsudate mit Makrophagen und Rundzellen. Deutliche Kapillameu-
bildung und Sproßbildung. Auch die perivaskulären Desintegrationen sind angedeutet.
Der Gliamantel, besonders an Kapillarverzweigungen, ist sehr stark. Die Veränderungen
an den (Granglienzellen sind diffus verstreut, man kann nie von einem besonderen Be
fallensein eines Gebietes sprechen. Wahig-vakuoläre Degenerationen, Schwellung des
Kernes, besonders der kleinen Ganglienzellen. Schrumpfungsprozesse sind überall auf-
zufinden. Im Striatum eine Verminderung der großen Zellen. Ganze Felder mit aus-
gefallenen Zellen. Die Glia bildet Rosetten, sie umklammert die Ganglienzellen. Auch
Gliaknötchenbildung ist vorhanden. Neuronophagie mit Zellschattenbildung, wenn auch
selten, ist aufzufinden. In der Insel steht der Schrumpfungsprozeß besonders der Pyra-
midenzellen im Vordergrund. Sehr reichlich ist die Randglia.
Temporalrinde: Sehr viele Leukozyten in den Venen. Im Mark ein kleines
Infiltrat. Gliaknötchen. Perivaskuläre Gliarosetten. Starke venöse Stase und arterielle
Hyperämie. Starkes Hirnödem. Im Mark eine Kapillare mit perigliösem Mantel und
nekrotischer Zerstörung des Gewebes. Geschrumpfte amöboide Glia. Wucherung der
marginalen Glia. Die Ganglienzellen meist vom Schrumpfungsprozeß ergriffen. Mening-
itis serosa fibrosa.
Wurmgebiet und Nucleus dentatus: Die meningealen Veränderungen sind
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 187
hier weniger ausgesprochen, immerhin noch sichtbar. Die Hyperämie im Stratum
granulare ist auffallend, auch Schwund der Keme ist vorhanden. Erkrankung der
Purkinjeschen Zellen. Homogenisation, Tigroidschwund, Schwellung der Ganglien-
zellenfortsätze. Neuronophagie mit Zelischattenbildung. Gliawucherung. Im Bereiche
des Nucleus dentatus sind die Veränderungen sehr geringgradig. Im Mark ist der peri-
gliöse Mantel um manche Kapillaren sehr deutlich. Die Glia zeigt die Tendenz, in
Gruppenform aufzutreten. Amöboide Glia ist auch aufzufinden.
Zusammenfassung.
Betrachten wir diesen Fall, ein acht Jahre altes Kind, das an Diphtherie
zugrunde gegangen ist. In diesem Fall fehlen klinische Angaben vollständig.
Es ist erstens zu bemerken, daß ein Ödem und eine Hyperämie in allen unter-
suchten Stellen des Zentralnervensystems besteht. Während die Blutgefäße im
Bereiche des Cerebellums und der Medulla oblongata mit roten Blutkörperchen
gefüllt sind, fällt es auf, daß diese im Bereiche der Stammganglien und
in dem Temporallappen mit weißen Blutelementen strotzend gefüllt sind.
Die Meningen in Form einer Meningitis serosa fibrosa verändert. Am wenig-
sten sind die Meningen des Cerebellums betroffen. Schon in der Medulla
oblongata treffen wir an den Gefäßen seröse Ausschwitzungen, die Makro-
phagen, vereinzelte Lymphozyten enthalten. Schwere Veränderungen im Be-
reiche der Olive und im Gebiet der Substantia reticularis. Der degenerative
Prozeß an den Ganglienzellen schreitet bis in die Fortsätze fort. Reaktive
Erscheinungen von Seite der Glia. Sie ist diffus vermehrt, Wucherungen
der Glia und Gefäße. Im Bereiche der Stammganglien kommt wieder die
diffuse Gliawucherung zum Vorschein. Nun treffen wir hier auch an manchen
Gefäßen perivaskuläre Infiltrate und mächtige seröse Exsudatmengen. Nur
im Striatum ist die Verminderung der großen Ganglienzellen auffallend.
Auch Gliaknötchen sind anzutreffen. Mächtig entwickelt sind die perivasku-
lären Desintegrationen, die sich bis zu einem Status cribrosus steigern.
Iın Bereiche des Schläfelappens mächtige Gliawucherungen um die Kapillaren
und Nekroseherde in der Umgebung einer Kapillare. Auch hier ist im Mark
ein Infiltrat aufzufinden. Im Bereiche des Cerebellums schwere Verände-
rungen an den Purkinjeschen Zellen, Neuronophagie, Tigroidschwund, Homo-
genisation und Schwellung der Fortsätze. Die Zellen des Nucleus dentatus
sind relativ gut erhalten, nur die Glia zeigt hier reaktive Erscheinungen.
Somit haben wir im ganzen Falle eine reaktive Erscheinung von Seite der
Glia. Die Noxe scheint somit nach diesen Befunden im Zentralnervensystem
angegriffen zu haben, deshalb die reaktive Erscheinung von Seite der Glia.
Fall 4404. T., Margarete, 63, Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Kranken-
geschichte.)
Familienanamnese: o. B.
Persönliche Anamnese: Vor 2 Jahren Masern, vor 2 Wochen Fieber bis 39,19.
Vor 2 Tagen Schluckbeschwerden, Erbrechen. 24. September wird sie mit der Diagnose
Diphtherie eingeliefert. Typische Facies diphtherica, Belag auf den Tonsillen. Geringes
Ödem. Drüsenschwellung. Zyanotisch. Macht einen schwerkranken Eindruck. Bauch
überall druckempfindlich. Milz nicht palpabel. Übrige Organe o. B. Wegen Unruhe Mor-
phium. Am gleichen Tage 2500 DE. i. v. und 5x 2500 intramuskulär. An 27. Sep-
tember Himbeerzunge. Am 30. September (Übelkeit, Erbrechen, Puls 102. \m 1. Oktober
188 A. Jakubowicz.
Stimme näselnd, heiser. Am 3. Oktober immer subfebril, Brechreiz. Kurz vorübergehende
Blässe. Unruhe, Extrasystolen. 5. Oktober Urtikaria. 7. Oktober Besserung des allze
meinen Befindens. 24. Oktober schwankender Gang, kann sich im Bett nicht mehr auf
setzen. Temperatur 37,5, Puls 132, Atmung 28. 5. November nachts Trachealrasseln.
Temperatur 36,5, Puls 125, Atmung 24. 10. November insuffiziente Zwerchfellatimune.
Kind lähmungsartig, Rasseln über der Lunge. Plötzliche Verschlimmerung, blaß, zvano-
tisch, ängstlich, unruhig. Mangelhafter Lidschluß. Adrenalin, Strychnin, Kochsalzinfusisn.
Tracheotomie. 11. November Husten lähmungsartig, grobes Rasseln auf der Lunge.
Temperatur 38,6, Puls 140, Atmung 32. 12. November Bronchialatmen, allgemeine Lät:-
mungen. Regurgitation durch die Nase, Ausfließen aus dem Munde bei Nahrungsanif-
nahme. Digitalis. 13. November Benommienheit, Puls 156, Zyanose, Sistieren der Atınune.
Lobelin. 14 Uhr 30 Min. Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Diphtheria gravis. Polyneuritis. Tracheotomie wegen
l.ähmung der Glottiserweiterer.
Sektion am 14. November (Dr. Baader‘: Hyperplasie der Gaumenmandeln.
geringe Schwellung der Hals-, Trachea- und Bifurkationslymphknoten. In der vorderen
Wand eine 12 cm lange Wunde nach unterer Tracheotomie. Die Schleimhaut der Trachea,
der Hauptbronchien und die der größeren Äste mäßig gerötet und geschwollen. Ödem unì
Stauung der Lunge. In den ausgedehnten hypostatischen Gebieten der beiden Unter-
lappen ganz vereinzelte frische lobulär-pneumonische Anschoppungsherde Auswei-
tung der Herzgrenzen, hyaline Verdickung der Mitralsegelränder, fettige Entartung des
Herzfleisches. Ödem, Stauung und fettige Entartung der Leber und Nieren. Follikel-
milz. Fast ein Viertel des Organes wird eingenommen von einem scharf begrenzten.
schwefelgelben Infarkt. Hyperämie der Nebennieren. Mäßige Schwellung der Gekröse
Ivınpbknoten. Geringes Ödem der Darmschleimhaut. Ödem und Hyperämie des Gehirns.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata: Im Bereiche der Meningen Hyperämie und Ödem. In
der Medulla ist das Ödem und die Hyperämie geringgradig. Aus den Gefäßen serüse
Ausschwitzungen. Infiltrate sind nirgends vorhanden. Auffallend sind die Ganglien-
zellen der Oliva inf., die sich dunkel gefärbt haben und meist keine feine Struktur
erkennen lassen. Im übrigen findet man in allen Gebieten wenige Veränderungen. hie
und da taucht eine schwer veränderte Ganglienzelle auf, aber alles so geringgradig,
daß man dies fast vernachlässigen kann. Die Glia zeigt keine reaktiven Erscheinungen.
Im Markscheidenpräparat nach Weigert ist die Pyramidenbahn intakt, namentlich im
Bereiche der Pyramidenkreuzung. Am Übergang von Oblongata zum obersten Hals-
mark leichte diffuse Aufhellung in den Hintersträngen.
In der Pons ähnelt der Prozeß dem vorigen. Kleine Hämorrhagien, Etat crible
mit perivaskulärem Ödem. Seröse Ausschwitzungen mit Makrophagen um die Ge
fäße. Die Tigroidstruktur der Ganglienzellen ist meist gestört.
Stammganglien: Deutliche Hyperämie und Ödem. Auffallend stark zeblähte
Venen. Kleine Extravasate, vereinzelte Lymphozyten in der Gefäßwand. Ein ausge
sprochenes perivaskuläres Infiltrat ist nieht aufzufinden. Perivaskuläres Ödem, dem-
entsprechend die Desintegrationen, die manchmal an einen Status cribrosus erinnern.
Ausgeilehntere Gliareaktion in Form von Gliahosen um die Kapillaren. An den Ganglien-
zellen sieht man Schwellung und Schrumpfung, der Kern ist meist an der Peripherie
gelagert anzutreffen. Die Nissl-Struktur ist nicht erhalten. Neuronophagie und Zell-
schattenbildung sind oft zu finden. Die Glia ist den Ganglienzellen sehr nahe gerückt.
Eigentümlichkeiten zeigt das Corpus pineale und die Commissura habenularum. Schon
bei ganz schwacher Vergrößerung fallen im Corpus pineale Zellen, die teils in den
Kapillaren, teils außerhalb derselben gelezen sind, durch ihr tinktorelles Verhalten auf.
Es sind runde Zellen und Endothelien, die den Farbstoff (basischen) aufgenommen
haben. Nur beim genauen Zusehen und Drehen der Mikrometerschraube erkennt man.
daß die runden Zellen einen helleren Kern im Inneren beherbergen, der fast immer
exzentrisch gelagert ist. Seine Außengrenzen sind undeutlich, denn feinste Granula
bedecken seine Membran. Diese Granula sind so fein, daß man anfangs an Bakterien
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 189
denkt. Sie sind ungleichmäßig groß, sind kleiner als Kokken, aber oft auch größer.
Oft kommen diese Granula außerhalb der Zellgrenzen zu liegen, man hat den Eindruck,
als ob die Zellgrenzen zersprengt wurden. Die Grenzen des Protoplasmas sind bei
diesen Zellen unscharf. Es finden sich im Corpus pineale zirka 400 solcher Zellen, sie
liegen zerstreut in der ganzen Drüse und halten sich ziemlich streng an die Kapillaren
und deren nächste Umgebung. Diese Zellen sind, wie bereits erwähnt, von Krabbe
als Mastzellen bezeichnet worden. Im Häm.-Eosinpriparat sehen diese Zellen anders
aus. Estens haben sie sich entfärbt, der Kern hat Radspeichenform, er liegt exzentrisch
und erinnert an Plasmazellen, zum Teil auch an Makrophagen. Die Granula erscheinen
bei dieser Färbung rosarot. Daher sind diese Zellen amphophil. Auch die Endothelien
mancher Kapillaren und Gefäßwandzellen erinnern vollständig betreffs ihrer Granula
an diese vorher genannten Zellen. Sie enthalten auch reichliche Granula und in den
Häm.-Eosinpräparaten hat man Schwierigkeiten, diese Zellen zu finden. Es scheint
mir, daß der gleiche Stoff beide Zellarten imprägniert hat, ein Körper, der sicherlich
amphophil ist. In der Commissura habenularum unterhalb des Ependyms finden sich
sowohl in den Häm.-Eosinpräparaten wie in den Toluidinpräparaten Bildungen, die an
Corpora arenacea erinnern. In den Häm.-Eosinpräparaten kann man deutliche Schich-
tung dieser ringförmigen Gebilde erkennen. Im Zentrum liegt eine dunkelviolette Masse,
die von einer hellblau gefärbten konzentrischen Schicht umgeben ist, und um diese
wieder eine rote Masse. In der Umgebung, wo sich diese Ringe finden, besteht eine
Aufhellung in der Grundsubstanz. Hier liezen veränderte Ependymzellen, die gierig
den Farbstoff aufgenommen haben.
Cortex. Temporallappen: Die Meningen zeigen eine deutliche Hyperämie
und Ödem. Die subarachnoidealen Zellbalken sind aufgelockert. Um die Gefäße liegen
Exsudate mit Makrophagen und vereinzelten Rundzellen. Junge Fibroblasten sind úber-
all aufzufinden, es besteht somit das Bild der Meningitis serosa. Im Bereiche «des
Markes besteht ein beträchtliches Ödem. Perivaskuläres Ödem. Seröse Ausschwitzungen
und Rundzellen (Lymphozyten). Auch in der Adventitiawand findet man vereinzelte
Rundzellen. Blutungen aus den Gefäßen. An der Grenze von Rinde und Mark findet
sich eine Vene, die beträchtliches perivaskuläres Infiltrat aufweist. Etat cribıe.
In der Rinde ist das Kapillarnetz und Kapillarneubildung zu sehen. Die Veränderungen
an «den Ganglienzellen sind meist in Form von Schwellung kenntlich. Die Glia ist
den Ganglienzellen sehr nahe gerückt. In der Parietalrinde sind die meningealen
Veränderungen («lie gleichen. Deutliches Hervortreten der Kapillaren in der Rinde
mit Endothelneubildung. Die Randglia ist sehr reichlich, sie ist das Spiegelbild der
meningealen Veränderungen. An den Ganglienzellen herrscht der Schrumpfungsprozeß
vor. Sklerosierte Zellforinen besonders der Pyramiden sind häufig. Die Achsenzylinder
sind auch geschrumpft, geschlängelt und lassen sich auf weite Strecken verfolgen.
Neuronophagie mit Zellschattenbildung. Die Glia ist um die Ganglienzellen ver-
dichtet. Das Protoplasma der kleinen Ganglienzellen ist zerfallen. In der Rinde wäre
noch die perivaskuläre Lichtung der Ganglienzellen zu erwähnen. Im Mark die gleichen
Veränderungen wie vorher. Die Markscheidenpräparate aus diesen Teilen der Rinde
ergeben folgendes: Im kortikalen System diffuse Lichtung der radiären und super-
radiären Faserung. Auffallend ist, daß die tangentielle Faserung relativ gut erhalten
ist. Entmarkungen, welche weit höher sind, als dem Lebensalter entspricht.
Cerebellum Cortex: Im Bereiche «des Zerebellums sind die Meningen frei.
Ödem und Hyperämie bestehen nur im Mark. Die Molekularschicht zeigt eine An-
reicherung von Glia. Die Ganglienzellen zeigen zum Teil Veränderungen, Tigrolyse,
Ansammlung des Tigroids, an der Peripherie Schwellung des Achsenzylinders. Die
Glia ist reichlich vorhanden und diffus vermehrt.
Zusammenfassung.
6 , Jahre altes Mädchen, das im ganzen 54 Tage «diphtheriekrank war.
Neurologische Symptome zeigte das Kind folgende: Polyneuritis, insuffiziente
190 A. Jakubowicz.
Zwerchfellatmung. Ataxie, Unmöglichkeit, im Bette aufzusitzen, mangelhafter
Lidschluß, allgemeine Lähmungen, Lähmung der Glottiserweiterer. Es sei
schon hier hervorgehoben, daß der größte Teil der Symptome nicht geklärt
werden konnte, da uns das Rückenmark und die peripheren Nerven nicht
zur Verfügung standen. Die nach zirka achtzehn Stunden vorgenommene
Sektion ergab folgenden Befund: Pneumonia lobularis lobi inf., pulm.
utriusque. Dilatatio cordis. Degeneratio adiposa cordis, hepatis, renurn.
Infarctus lienis. Oedema et hyperaemia cerebri. Der Gefäßapparat ist im
Vergleich zu den anderen Fällen weniger geschädigt. Aber immerhin be
weisen die Blutungen, daß er auch gelitten hat. Hyperämie und Ödem sind
überall vorhanden. Auch Desintegrationen sind aufzufinden. Die Reaktion
von Seite des Mesoderms ist im Vergleich zu unseren anderen Fällen be-
trächtlich. Denn wir finden außer serösen Ausschwitzungen mit Makro-
phagen und vereinzelten Rundzellen in der Adventitiawand reichliche peri-
vaskuläre Infiltrate an einzelnen Stellen, wie z. B. im Mark des Temporal-
lappens. Die meningealen Veränderungen in Form einer Meningitis serosa
fibrosa würden auch in diesem Falle genügen, um die klinische Diagnose
Polyneuritis zu erklären. In der Medulla treffen wir lokalisatorisch die
veränderten Ganglienzellen der Oliva inf., aber auch in anderen Teilen sind
die Ganglienzellen erkrankt. Der Prozeß ist diffus und betrifft aber nicht
alle Ganglienzellen und deshalb ist es unmöglich, zu lokalisieren. Dagegen
kann man die Oliven, wo keine Ganglienzelle verschont ist, hervorheben.
Ich konnte mich mehrmals überzeugen, daß die Unterscheidung eines phylo-
genetisch älteren und eines phylogenetisch jüngeren Teiles der Olive in
bezug auf Scharlach und Diphtherie unmöglich ist. Es ist meist die ganze
Olive erkrankt. Dies bezieht sich auch auf die Nebenoliven. In diesem
Fall steht der Schrumpfungsprozeß im Vordergrund. Auch in der Brücke und
in den Stammganglien ist es unmöglich, den krankhaften Prozeß zu lokali-
sieren. Im Cortex ist Sklerosierung der Pyramidenzellen mit gleichzeitiger
Schrumpfung der Fortsätze anzutreffen. Auch die Purkinjeschen Zellen sind
erkrankt. Die Glia zeigt sicherlich Proliferationserscheinungen, indem sie
erstens diffus vermehrt ist und zweitens sich um die Kapillaren konzen-
triert und dicke Gliahosen bildet. Nicht nur die ektodermale Reaktion, son-
dern auch die mesodermale Reaktion ist im Vergleich zu den anderen Fällen
groß. Das Endothel zeigt Proliferationserscheinungen. Es ist nur zu be-
dauern, daB das Rückenmark und die peripheren Nerven nicht untersucht
wurden. Wir hätten im Rückenmark vielleicht ein poliomyelitisähnliches
Bild, das bereits in einem anderen Diphtheriefall gefunden wurde. Der Fall
ist aus einem anderen Grunde noch interessant, und zwar wegen seiner
Eigentümlichkeiten im Corpus pineale. Hier fanden sich die sogenannten
„Mastzellen“ von Krabbe und Endothelien, die mit dem gleichen Stoff
imprägniert sind. Dieser Stoff ist zum Teil amphophil, und wenn man sich
diese als Mastzellen bezeichneten Zellen im Häm.-Eosinpräparat genauer
ansieht, so kommt man bald zur Überzeugung, daß es sich nur um Plasma-
zellen oder Makrophagen handeln kann.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie.e 191
Es ist übrigens bekannt, daß postfötal Mastzellen aus Plasmazellen ent-
stehen können (Lehner). Aber wenn ich Endothelien mit dem gleichen
Stoff imprägniert finde, so wird jeder zugestehen müssen, daß der gleiche
Stoff Plasmazellen imprägniert hat und Krabbe eigentlich keine Berechti-
gung hat, sie Mastzellen zu nennen. Im übrigen werden wir noch Gelegen-
heit haben, darauf zurückzukommen.
In der Commissura habenularum finden sich Corpora arenacea, ein Be-
fund, der für ein 6°/, Jahre altes Mädchen auffallend ist. Der bakteriologische
Befund in den untersuchten Teilen des Zentralnervensystems negativ; dieser
Fall beweist also, daß die anatomischen Veränderungen immer die gleichen
sein können.
Fall 4437. K., Viktor, 8 Jahre alt. (Kurzer Auszug aus der Krankengeschichte.)
Familienanamnese: Mutter 3 Aborte, 3 Geschwister leben und eines von
diesen machte vor 3 Wochen einen Scharlach durch.
Persönliche Anamnese: Mit 5 Jahren Masern. 9. Dezember Schwindelgefühl,
Erbrechen, Halsschmerzen, Fieber. Wird ins Wilhelminenspital mit der Diagnose Di-
phtherie eingeliefert. Injektion 15X 2500 DE. 10. Dezember typische Diphtherie.
Stimme stark anginös, erschwerte Atmung, Drüsenschwellung, Ödem, Fötor, Isthmus
verschoben, Tonsillen bedeckt von Exsudaten, Uvula geschwollen, Schlucken er-
schwert. Blässe. Puls 124. Rechts in der Höhe des Angulus scapulae Schallverkürzung.
Klagt über Kopfschmerzen. Temperatur 38, Atmung 28, Albumen —. Injektion 30 x 2500
AE. intramuskulär, 5X 2500 DE. i. v. Tracheotomie. 11. Dezember frische Beläge.
30x 2500 DE. intramuskulär. 15. Dezember Urtikaria. 19. Dezember Stimme näselnd.
Puls 120, Galopprhythmus. 20. Dezember Unruhe, Erbrechen, Temperatur 37,2, Puls
116, Atmung 36. 21. Dezember Schallverkürzung, Rasseln auf der Lunge. 22. Dezember
Unruhe, Angstgefühl, Blässe, irregulärer Puls, Stimme lähnmungsartig, Brechreiz, Jucken.
23. Dezember nach langsam Schwächerwerden der Atmung 0 Uhr 45 Min. Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Diphtherie. Tracheotomie.
Sektion am 23. Dezember (Prof. Wiesner): Status post trachentomiam. Starke
Schwellung und Rötung der Tonsillen. Reste fetziger Beläge in den Sinus supratonsil-
lares. Dilatation beider Ventrikel. Fettige Degeneration des Herzfleisches. Parietale
Thromben im rechten Herzohr. Hypostatische Pneumonie in beiden Unterlappen. Ein
größerer und ein kleinerer Infarkt im rechten Unterlappen. Stauung und fettige Degene-
ration der Nieren, Ödem der Leber. Milz derb, vergrößert. Rötung und Schwellung der
Cökalschleimhaut.
Mikroskopischer Befund.
Pons: Die Meningen, soweit sie erhalten sind, ödematös und leicht hyperämisch.
Die arachnoidealen Zellbalken sind gelockert und zellreich, sie enthalten neben histio-
genen Elementen wie junge Fibroblasten auch Makrophagen und Rundzellen (Lympho-
zyten). Das kollagene Bindegewebe hat zugenommen. Die Meningen sind verdickt. Deut-
liche Infiltrate um die Gefäße sind nicht vorhanden. Seröse Ausschwitzungen sind
geringgradig. Die Venen meist blutleer, daher erweitert. Die Arterien voll mit roten
Blutkörperchen. Im Bereiche der Brücke bestehen ein Ödem und eine Hyperämie sowie
kleine Blutaustritte. Die Kapillaren sind mit weißen Blutelementen gefüllt. Im Brücken-
fuß polynukleäre Leukozyten in den L,ymphräumen einzelner Gefäße und eine Hyper-
ämie. Randstellung der weißen Blutzellen in den Gefäßen. Seröse Ausschwitzung, Ödem
der Gefäßwand und stellenweise Wandverdiekung, perivaskuläres Ödem. Etat criblé.
Leichte Gliahosen um die Gefäße. Die Ateriolen machen den Eindruck eines starren
Gefäßes mit Homogenisation der Wand. Extravaskulär, scheinbar in der Gefäßwand
liegen an mehreren Stellen annähernd kreisrunde Gebilde protoplasmatisch ohne einen
plastischen Kern, das Plasma ist homogen, im Zentrum zwei dunkle, ein wenig rötlich
metachromatisch gefärbte Kugeln, annähernd der Größe eines Erythrozyten ent-
192 A. Jakubowicz.
sprechend, die ganze Peripherie des Gebildes ist mit ganz dunklen Kügelchen verschie-
denen Kalibers ausgefüllt, es sind phagozytäre Zellen, die mit verschiedenen Abbau-
stoffen, wie Eisen, Pigment, Lipofuszin, Fett, beladen sind. Am häufigsten sind sie
im Brückenfuß anzutreffen. Die Veränderungen an den Ganglienzellen sind kurz zu-
sammengefaßt: Schwellung des Zellkernes und Zelleibes, der auffallend hell erscheint.
zentrale Homogenisation und Verlagerung des Kernes. Das Tigroid liegt am Rande
der Zelle. Bilder von Totalzertrümmerung des Kernes mit Kernresten. Oft findet man
Ganglienzellen in ihrer Gestalt geändert, die quadratische Gestalt angenommen haben.
Im Bereiche des Locus coeruleus sind die Ganglienzellen zum Teil melaninhaltie: auch
hier besteht die Schwellung. Die Glia ist gequollen, sie liegt vollkommen reaktions-
los. Zellschattenbildung ist vorhanden, ausgesprochene Neuronophagie besteht nicht.
Vierhügelgegend: Die Veränderungen an den Meningen sind hier nicht so
auffallend wie im vorigen Schnitte, aber immerhin noch deutlich. Nun findet man
zwischen den Pedunculi im Septum medianum Adventitiazellen, die stark mit Pigment
beladen sind. Diese Zellen sind sehr langgestreckt. Aber nicht nur im Bereiche der
Meningen, sondern auch im Hirnstamm selbst sind diese pigmenthaltigen Zellen an-
zutreffen. Sie liegen immer am Rande der Gefäßwand. Das Ödem ist immer nerk
beträchtlich, die Hyperämie ist weniger ausgesprochen. Die Zellen der Substantia nigra
beherbergen im Inneren große Vakuolen, dabei Blähung und Schwellung des Zell-
leibes, das Tigroid kommt außerhalb der Zellgrenzen zu liegen. Die Zellen sind melanin-
frei. Die Zellen des Nucleus reticularis tegmenti sind geschwollen, der Kern ist leuch-
tend hell. Die Glia ist gequollen. Es wäre noch zu erwähnen, daß die Venen weiße
Blutelemente und Fibrin enthalten. Auch hier liegen Makrophagen, die reichlich
Pigment, Eisen, Fett, Lipofuszin enthalten. Das Ependym ist zart, papillenbildend.
Das subependymäre Gewebe zeigt keine Besonderheiten.
Granuläre Schicht des Frontalcortex: Die meningealen Veränderungen
sind die gleichen wie in der Brücke. Nur ist die Meningofibrose viel ausgeprägter.
Schon bei oberflächlicher Betrachtung des Präparates fallen die Lücken auf, die sich
zwischen Rinde und Mark auffinden. Das Ödem in der Rinde ist besonders stark. Auch
hier sind die perivaskulären Desintegrationen sehr ausgeprägt und erinnern an einen
Status cribrosus. Im Mark sehr reichliche Ausschwitzungen aus den Gefäßen. Die
Adventitiazellen und Makrophagen sind mit Pigment beladen. Es ist auffallend, wie
diese pigmenthaltigen Zellen besonders reichlich an der Grenze von Rinde und Mark
sind. Endarteriopathie der kleinen Rindengefäße, die auffallend starr sind und sehr
plastisch hervortreten. Die Randglia zeigt leichte Vermehrung. In der dritten Schicht
perivaskulär gelegene Leukozyten. Stellenweise Ausfall von Ganglienzellen, besonders
in der Nähe von Gefäßen. Die großen Pyramidenzellen zeigen Schwellung des Zell-
leibes und der Fortsätze, aber nicht alle sind davon betroffen. An den kleinen Ganglien-
zellen sieht man wabig-vakuoläre Degeneration. Ein einziges Gliaknötchen findet
sich in der Rinde. Im Mark Hämorrliagien und Etat criblé.
Vordere Zentralwindung: Im Bereiche der Meningen bestehen schwere
Veränderungen. Meningofibrose. Junge Fibroblasten, Rundzellen, Leukozyten neben
roten Blutkörperchen finden sich frei in den Meningen. Hyperämie mäßigen Grades
Sowohl in der Rinde wie im Mark ist die (Grefäßwand nicht nur der großen Gefäße.
sondern auch der kleinen Arteriolen verdickt. Im Bereiche des Markes Hyperämie und
Ödem. Die Gefäße sind in diesem Bereiche von einem serösen Exsudat, Fibrin, ver-
einzelten Rundzellen und Makrophagen umgeben. Die Glia begleitet die Kapillaren, wenn
auch der Gliamantel um die Gefäße sehr geringgradig ist. An der Grenze der Rinde
und Mark sind die Gefäße sehr zahlreich und im Häm.-Eosinpräparat ist es auffallend.
wie die Radiärstreifung des Markes bis hinauf in die Rinde zu verfolgen ist. Die
Ganglienzellenveränderungen sind wieder die gleichen wie vorher. Auch hier Lich-
tung in der dritten Zone. Die Glia zeigt die Tendenz, die Ganglienzellen zu umklam-
mern. Besonders stark affiziert sind die Betzschen Zellen, aber auch nicht alle.
Zentrale Homogenisation. Kernwandhyperchromatose. Partiell wabig-vakuoläre Degene-
rationen sind sehr diffus verbreitet.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 193
Vordere Zentralwindung der Gegenseite: Die meningealen Veränderungen
sind immer die gleichen, wenn auch die Meningofibrose weniger zum Vorschein
kommt. Nun findet man hier Haufen von Leukozyten und Rundzellen frei in den
Meningen gelegen. Auch hier sind die Gefäße durch ihr starkes Hervortreten sehr auf-
fallend. Das Ödem ist wieder im Mark sehr ausgeprägt, zum Unterschied \vom vorigen
Schnitt ist der Gliamantel um die Kapillaren sehr reichlich. Auch die Gefäße zeigen
seröse Ausschwitzungen, in denen Makrophagen, vereinzelte Rundzellen und Fibrin
gelegen sind. Um die Gefäße sehr zahlreich Zellen mit verschiedenen Abbaustoffen
beladen. Leichtes Infiltrat tief im Mark um manche Gefäße. Die Veränderungen in der
Abb. 16. Fall 4437, Diphtherie.
Ganglienzellen in Form von Schwellung, zentraler Homogenisation und
Randverschiebung des Tigroids aus dem Thalamus opt. Toluidinblaufärbung.
Rinde sind immer die gleichen: zentrale Homogenisation, Schwellung des Zelleibes und
Zellkernes, Formveränderungen der Ganglienzellen, Schwellung ihrer Fortsätze um
ein Vielfaches ist besonders an den großen Pyramidenzellen zu konstatieren. Es liegen
aber auch vollständig intakte Ganglienzellen in der Nähe. Der Prozeß ist nur stellen-
weise vorhanden.
Ammonshorn: Meningofibrose, eine mächtige Hyperämie ist vorhanden, das
Ödem ist geringgradig. Herdförmige perivaskuläre Lichtungen im Subieulum. Perivaskulär
reichlich Zellen mit Abbaustoffen. Im großen ganzen sind die Veränderungen sehr
minimal.
Calcarinarinde: Im Bereiche der Rinde sind die meningealen Veränderungen
stark zurückgegangen, die Meningofibrose ist nicht mehr vorhanden. Ödem und Hyper-
ämie des Markes. Das Gewebe erinnert an einen Status lacunaris. In der Rinde sind
wieder die großen Pyramidenzellen am deutlichsten betroffen, auch der Achsenzylinder
zeigt deutliche Schwellungserscheinungen. Auch hier reichlich extravaskulär gelegene
Zellen mit Pigment beladen.
Stammganglien: Im Caudatum ist das Ependym, soweit es erhalten ist, zart.
Das subependymäre Gewebe ist sehr zellreich. Leichte Andeutung einer Ependymitis
granularis. Ependymzapfen und Auflockerung. Die Gefäße in diesem Bereich sind kolla-
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 13
194 A. Jakubowicz.
biert und umgrenzt von ziemlich reichlichen Exsudatmassen, in welchen sich Makro
phagen, Lymphozyten und Fibrin auffinden lassen. Einzelne Gliaknötchen. An den
Ganglienzellen steht der Schwellungsprozeß im Vordergrund, daneben vollständig in-
takte Ganglienzellen. Im thalamischen und subthalamischen Gebiet sind das Ödem und
die Hyperämie sehr hochgradig. In den Gefäßen massenhaft weiße Blutelemente. dar-
unter mononukleäre Leukozyten in überwiegender Zahl. Auch das Kapillarnetz und
Kapillarneubildung sind reichlich vorhanden. Hier sind die Ganglienzellen vom Schwel-
lungsprozeß (Abb. 16) ergriffen. Die Glia ist um die Ganglienzellen verdichtet. Im
Thalamusgebiet liegt in der Nähe von Ganglienzellen eine Gruppe von den bereits be
schriebenen, eigenartigen Gebilden. Man kann einen zentralen von einem peripheren
Anteil in diesen Gebieten unterscheiden. Auch im Putamen sind sie aufzufinden. Auch
hier erscheinen sie in Gruppenform. In der Umgebung dieser Gebilde findet sich ganz
feines Pigment. Im Striatum ist reichlich Pigment diffus vorhanden. Auffallend sind
die Endothelien und Gefäßwandzellen des Pallidums, sie haben sich besonders dunke-
blau bis violett gefärbt und treten in den Nissl-Präparaten sehr plastisch hervor.
Aber auch die Kapillaren sind mit einem basischen Stoff imprägniert. Diese Zellen
finden sich in anderen Partien der Stammganglien, nur sind sie nicht so reichlich vor-
handen. Nicht alle Gefäße des Pallidums enthalten diese Zellen.
Cerebellum Cortex und Nucleus dentatus: Die Veränderungen an den
Meningen sind in den Hintergrund getreten. Außer einer starken Hyperämie und Ödem
ist nichts Besonderes hervorzuheben. Auffallend sind die Ganglienzellen durch ihr ver-
schiedenes tinktiorelles Verhalten. So findet man neben intakten Ganglienzellen Ver-
klumpungen, Zellschattenbildung, Kernwandhyperchromatose, Schwellung. Die Glia um-
klammert die Ganglienzellen, sie ist sehr reichlich. Auch die Achsenzylinder sind
geschwollen und geschlängelt. Im Bereiche des Cortex des Wurmes die gleichen Ver-
änderungen wie im Seitenlappen. Die Purkinjeschen Zellen haben sich auch hier
verschieden gefärbt, neben blassen findet man alle Stufen der Tingierbarkeit. Im
Gebiete des Dentatus und Markes Wandverdickung der Gefäße. Ödem und perivaskuläre
Desintegrationen. Die Ganglienzellen des Dentatus zeigen neben Schwellung auch
Schrumpfung. Der Prozeß ist ziemlich schwer. Zellausfälle, an diesen Stellen Glia
vermehrt. Auch partiell wabig-vakuoläre Degenerationen sind auffindbar. Perivaskulär
gelegene Zellen, die mit Pigment, Eisen und Fett beladen sind.
Zusammenfassung.
Acht Jahre altes Kind erkrankt an einer Diphtherie, die zirka vierzehn
Tage gedauert hat. Aus der Anamnese des Kindes geht hervor, daß die
Schwester einen Scharlach durchmachte und zur Zeit der Erkrankung als
Rekonvaleszentin mit ihm in Berührung kam. Das Kind wies keine neuro-
logischen Symptome auf. Die im Verlaufe von zehn Stunden vorgenommene
Sektion ergibt folgenden Befund: Diphtheria tonsillum. Dilatatio cordis ventri-
euli utriusque. Degeneratio adiposa myocardii. Thrombosis partialis in auri-
culo cordis dextri. Infaretus lobi inf. pulm. dextri. Hyperaemia passiva
et degeneratio viscerum.
Der histologische Befund in den untersuchten Teilen des Zentralnerven-
systems ergibt folgendes: Ein Ödem und eine Hyperämie von wechselnder
Stärke. Die Gefäße begleitet ein perivaskuläres Ödem. Seröse Ausschwitzung.
in der Makrophagen und vereinzelte Rundzellen sich finden. Dem Ödem ent-
sprechend gehen die perivaskulären Desintegrationen, die am meisten an der
Grenze von Rinde und Mark und im Mark selbst sich finden, und zu einem
Status cribrosus führen. Die Gefäßwände sind in diesem Fall schwer ge
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 195
schädigt. Schon die Verdickung der Gefäßwand und das starre Hervortreten
der Arteriolen mit Homogenisation der Gefäßwand beweisen zur Genüge,
daß wir es hier nicht mit einem funktionellen Zustand der Gefäße zu tun
haben, sondern mit einem anatomisch nachweisbaren geschädigten Pro-
zeß der Gefäße. Die meningealen Veränderungen sind sehr ausgesprochen:
Meningitis serosa, fibrosa und in der vorderen Zentralwindung sogar Über-
gang in eine serös-zellige Leptomeningitis. Das Kind hat zu Lebzeiten nach
der Krankengeschichte außer Kopfschmerzen keine sonstigen meningealen
Symptome gezeigt; es ist unmöglich, die Unruhe, die das Kind zwei bis drei
Tage vor dem Tode gezeigt hat, auf die Meningen zurückzuführen. Diese Dis-
krepanz zwischen anatomischem Befund und klinischen Symptomen ist
auch bei anderen Krankheiten, besonders bei Infektionen, oft zu sehen.
Dies hat seinen Grund in der Tatsache, daß die anderen Symptome die
meningealen überdecken. Die Veränderungen am Parenchym sind diffus.
Schon in der Brücke ist es unmöglich, eine Lokalisation der Veränderungen
zu machen. In der Vierhügelgegend ist die Substantia nigra zum Teil schwer
erkrankt. Im Cortex sind die Zellen der dritten Schicht am meisten betroffen:
Hier Ausfälle von Ganglienzellen und das Betroffensein der Betzschen
Zellen. Es scheint überhaupt, daß die dritte Schicht eine besondere Emp-
findlichkeit zeigt. Aber auch nicht alle Betzschen Zellen sind erkrankt,
man findet daneben immer intakte Zellen. Am wenigsten ist das Ammonshorn
und die Calcarina affiziert. Die Calcarina scheint überhaupt der Noxe einen
eroßen Widerstand zu leisten, wie dies auch bei vielen anderen Krankheiten
der Fall ist. Es fällt mir immer wieder auf, daß das Ammonshorn in
unseren Fällen von Scharlach und Diphtherie, aber auch wenn sie kompliziert
sind durch eine Polyarthritis, die geringsten Veränderungen aufweist.
Das steht in einem gewissen Gegensatz zu den Befunden anderer Autoren,
bei anderen Krankheiten, wie z. B. Spielmeyers und seiner Schüler,
denen das Ammonshorn als eine sehr empfindliche Stelle erscheint. Ich finde
zwar im Ammonshorn minimale Veränderungen in Form von Lichtungen,
Veränderungen der großen Pyramidenzellen, aber diese sind so minimal,
daß man sie ruhig vernachlässigen darf. Anders steht es mit dem Klein-
hirn. Auch in diesem Falle sind die Veränderungen besonders im Nucleus
dentatus und zum Teil in den Purkinjeschen Zellen so ins Auge springend,
daß ich hier die gleichen Bilder bekomme, die Spielmeyer beim Typhus
abdominalis, Gasödem und anderen Krankheiten erhoben hat. Besonders der
Nucleus dentatus war in diesem Falle schwer affiziert. Es scheint mir,
daß die Ganglienzellen des Dentatus eine viel größere Empfindlichkeit zeigen
als die Purkinjeschen Zellen, die, wie allgemein bekannt, als die emp-
findlichsten angesehen werden. In den Stammganglien, wo der Prozeß am
Parenchym diffus ist, ist die Anwesenheit der großen mononukleären Zellen
in der Blutbahn auffällig. Man hat Mühe einen neutrophilen polynukleären
Leukozyten zu finden, ein Befund, der sich in mehreren Fällen sowohl bei
Scharlach als auch bei Diphtherie wiederholt. Im Pallidum kommen in diesem
Falle wieder die dunklen Gebilde, seien es Enndothelien, seien es Gefäßwand-
13*
196 A. Jakubowicz.
zellen, die mit feinsten Granulis besät sind, zum Vorschein. Sie sind sicher]: :
auch in anderen Gebieten aufzufinden, aber sie kommen hier nur gai:
vereinzelt vor. Im Pallidum ist ihre Anzahl auffällig. Hier wollen wv
noch den Abbauprozeß, der in diesem Fall sein Maximum erreicht hat
anschließen. Diese Abbauprodukte finden sich in allen Teilen des Zentrai-
nervensvstems. So finden wir Zellen in und außerhalb der Gefäßscheidr:.
mit Pigment, sei es Lipofuscin, sei es Blutpigment, sei es Eisen, sei &
Fett, sei es Imprägnation eines basischen Stoffes der Kapillarwand, de:
Endothelien des Pallidums usw. beladen. Dies erinnert an die Befunde vz
Hotzen, der bei Diphtherie in der quergestreiften Muskulatur reichlic!
mit Fettfarbstoffen färbbares Pigment und Verfettung nachweisen konnte
Diese Abbaustoffe liegen immer in der Nähe von Gefäßen. Wir sehen als..
daß sie nicht nur in der quergestreiften Muskulatur anzutreffen sind, sonder.
auch im Gehirn. Bezüglich des nakteriologischen Befundes sei zuerst
daran erinnert, daß im Herzen eine Thrombose bestanden hat. In diese:
Falle ist es uns nun gelungen, die bereits erwähnten eigenartigen Gehilir
in den Stammganglien nachzuweisen. Sie fanden sich um Ganglienzellen ge
lagert. Nach den Abbildungen von Klarfeld handelt es sich hier offenbar um
Mykosen. Es ist ein Fall von isolierter Diphtherie, wie aus der Kranke:
geschichte hervorgeht. Die Schwester des Kindes ist Scharlachrekonvalesze:-
tin. Nach dem histologischen Befund hat es den Anschein, daß hier kein
reiner Diphtheriefall vorliegt. Die Veränderungen, die der Fall bietet, sint
für eine reine Diphtherie zu schwer. Außer diesen Mikroorganismen ist
es uns nicht gelungen, andere Arten von Mikroorganismen nachzuweisen.
Bezüglich der Gliareaktion zeigte dieser Fall eine Reaktion in Form der
Verteidigung. Die Gliahosen um die Kapillaren beweisen diese Annahme zur
Genüge. Auch Gliaknötchen sind aufzufinden, aber immerhin ist dies nicht
häufig. Nur auf unsere Fälle bezogen ist die Gliareaktion in diesem Falle
gut ausgebildet. Auch die mesodermale Reaktion ist angedeutet, aber von
einem offensichtlichen entzündlichen Prozeß außer vielleicht der Meningen
in der vorderen Zentralwindung ist keine Rede. Wir müssen den Fall, und
zwar seine Veränderungen im Zentralnervensystem, als eine Begleitersthei-
nung des entzündlichen Prozesses im Organismus durch die Diphtherie und
ihre Komplikationen verursacht auffassen.
Fall 4410. B., Franz, 2! , Jahre alt. ‘Kurzer Auszug aus der Krankengeschichtr.
Familienanamnese: Einzige Schwester macht einen Scharlach durch.
Persönliche Anamnese: Mit 15 Monaten Pertussis. Jetzige Erkrankung: Set
1 Woche Schnupfen, Fieber bis 37,5% C. Vor 3 Taxen wurde in einer Ambulanz eine
Stomatitis diagnostiziert. Am 16. Dezember Fieber bis 39%, Husten. Vor 1 Monat ein
Diphtheriefall im Hause. Am 17. Dezember wird das Kind ins Wilhelminenspital mt
der Diagnose Diphtherie eingeliefert. Am 18. Dezember dicke, graue Beläge auf den
Tonsillen, Velum palat. und Uvula. Deutliches Membranflottieren, Blässe, Zyanose,
mächtige Drüsen. Tracheotomie, Asphyxie, Adrenalin, Senfbad usw. Besserung. Am
20. Dezember Nasenlöcher stark geschwollen, aus denen ein schleimig-eitriger Ausflud
tropft. Blasenbillung beim Atmen. Temperatur 38,6% C. Puls 152, Atmung 36, unregel-
mäßig. Rasseln auf beiden Lungen. Milz nieht palpabel. Die Kanüle wird entfemt.
Am 22. Dezember Finführung der Kanüle wegen Unruhe. Zyanose, Behinderung der
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 197
Atmung, Adrenalin usw. Temperatur 37,10 C, Puls 120, Atmung 63. Agonal Zyanose,
pulslos, leise Töne, Atmung unregelmäßig, Cheyne-Stokesches Atmen. Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Croup descendens. Tracheotomie.
Sektion am 23. Dezember (Dr. Baader): Ödem und Hyperämie der Schlund-
organe, der hinteren Rachenwand und des Kehlkopfeinganges. An der Hinterseite des
Gaumensegels Belegreste. An Gaumenmandeln und an der Hinterwand des Rachens
gereinigte Geschwüre. Die Stimmbänder sowie die Schleimhaut der Luftröhre und der
großen Bronchialäste mit Membranen bedeckt. In der Luftröhrenwanid die etwa 10 mm
lange, mißfärbig belegte Wunde nach Luftröhrenschnitt: etwa 15 mm darunter ein
Dekubitalgeschwür. Schwellung und Hyperämie der Hals- und besonders der Bifurka-
tionslymphdrüsen. Im linken Brustfellsack etwas hämorrhagische Flüssigkeit, Schwel-
lung und Hyperämie der Schleimhaut, der Äste des Bronchialbaumes. Die Spitze
des linken Öberlappens und der beiden Unterlappen wird von dichtstehenden lobulär-
pneumonischen Herden eingenommen. Ausweitung des Herzens. Fettige Entartung des
Herzfleisches. Stauung und fettige Entartung der Leber. Ödem der Gallenblasen-
schleimhaut. Ödem, Stauung und schwere fettige Entartung «der Nieren. Die Neben-
nieren verschmälert. Milzschwellung mit Stauung und mäßiger Follikelhyperplasie.
Stauungskatarrh der Magen-Darmschleimhaut, in ihr mäßig zahlreich alte und frische
Blutungen. Schwellung und Hyperämie der Gekröselymphdrüsen. Ödem und Stauung
des Gehirns.
Mikroskopische Untersuchung.
Medulla oblongata: Ödem und Hyperämie der Meningen, in der Umgebung
der Gefäße seröse Ausschwitzungen. Die Gefäßwand ist gequollen. Im Bereiche der
Medulla sind das Ödem und die Hyperämie geringgradig. Vereinzelte Blutungen ins
Parenchym. An den Ganglienzellen ist die zentrale Homogenisation vorherrschend.
Auffallend dunkel haben sich die Ganglienzellen der Oliva inf. gefärbt, sie sind ge-
schrumpft, sie lassen meist keine feinere Plasmastruktur erkennen. Stellenweise Zell-
ausfall in der Olive. Die großen Zellen des Nucleus ret. sind zum Teil schwer erkrankt
in Form von Schwellung bei Randverschiebung und Gerinnung des Tigroids. Die Glia
zeigt keine nennenswerten Erscheinungen.
Pons: Die Meningen zeigen die gleichen Veränderungen. Das Ödem und die
Hyperämie sind geringgradig. Die letztere kommt besonders im Gebiete des Locus
ceruleus zum Vorschein, wo auch das Kapillarnetz sehr stark hervortritt. In den Ge-
fäßen finden sich homogene, bläuliche Kugeln, offenbar veränderte Blutelemente
:Abb. 22), die vom Farbstoff intensiv tingiert sind. Es handelt sich wahrscheinlich um
hämolytische Prozesse. Mitunter bilden diese Körper eine zusammenhängende Masse,
die von nicht geschädigten roten Blutkörperchen umgeben ist. Diese Veränderungen
des Blutinhaltes finden wir in den nächstfolgenden Schnitten immer wieder. Auffallend
ist ferner die große Zahl von großen mononukleären Zellen im Blutinhalt. Sonst besteht
eine diffuse Zellerkrankung im Tegmentum pontis, und zwar in den Raphekernen, in
der Substantia reticularis und im Locus coeruleus. Die Ganglienzellen des Locus
coeruleus scheinen doch am meisten betroffen zu sein, sie enthalten Melanin nur in
geringem Grade, das sehr feinkörnig ist. Die Ganglienzellen sind gebläht, geschwollen,
der Kern ist randständig. In diesem Gebiet kann man Neuronophagie und Zellschatten-
bildung beobachten.
Stammganglien: Ödem und Hyperämie mäßigen Grades. Fibrinoide Thromben,
Fibrinausschwitzungen. In der Capsula interna enthalten die Venen Bakterienhaufen,
im Pallidum findet sich auch eine Kokkenembolie. Im Grampräparat erkennt man an
diesen Stellen grampositive Streptokokken. Die Veränderungen an den Ganglienzellen
sind diffus verstreut in Form von zentraler Homogenisation, Verklumpung des Ti-
groids, wabig-vakuolärer Degeneration nebst Schwellung mancher Fortsitze Von
einem besonderen Befallensein eines Gebietes ist keine Rede. Im Thalamusgebiet ist
die Glia um die Ganglienzellen ein wenig verdichtet, hier findet sich auch ein kleiner
Kapillarinfarkt.
198 A. Jakubowicz.
Cortex.
Calcarina: Ödem der Meningen. Enorme Erweiterung der Venen. Die Arteries
sind kontrahiert. Quellung der Gefäßwand. Thrombenbildung. Die Meningen zeigen eine
leichte Vermehrung histiogener Elemente. Leichte Endarteriopathie im Bereich der
Meningealgefäße. Das Ödem ist weniger in der Rinde als im Mark ausgesprochen. Ihe
Rindenschichten sind gut erhalten. Im Mark sind die Venen voll mit Blut. In den
Kapillaren des Markes sieht man rote Blutkörperchen, die einen dunklen Farbton an-
genommen haben, was auf einen hämolytischen Prozeß hinweist. Lackarlige Gerinnur
des Blutes. Blähung der Kapillaren mit perivaskulärer Gliareaktion, leichte Wuche-
rung von Adventitiazellen. In einer Kapillare fand sich eine Kokkenembolie. In der
Rinde starke Blähung der Venen, dadurch werden die Ganglienzellen förmlich weg-
gedrängt und sie haben an Färbung stark eingebüßt.
Ammonshorn und Uncus-Gebiet: Subependymäre Gliawucherung, leicht her:
förmige Zellichtungen im Sommerschen Sektor. In der Pyramidenschicht wenig Ver
änderungen.
Vordere Zentralwindung: Die Meningen ödematös und hyperämisch. Die
Venen mächtig erweitert, zum Teil mit Blut gefüllt. Die Meningen zeigen besonders
an der Windungskuppe Vermehrung histiogener Elemente. Seröse Ausschwitzunzen
aus der Gefäßwand. Gerinnungsprozesse in den Blutgefäßen. Fibrinoide Thromben.
Ein deutliches Infiltrat läßt sich nirgends wahrnehmen. Die Rinde und das Mark zeigen
sehr zahlreiche Kapillaren, um die Gefäße Blutextravasate, perivaskuläre Desinterr«-
tionen. Auch in diesem Präparat zeigen die Ganglienzellen stellenweise Veränderungen
Sehr schwer erkrankt sind die Betzschen Zellen. Sie haben vielfach ihre Pyramiden-
form aufgegeben, sind kolossal gebläht, das Protoplasma an einer Ecke fast immer
tigrolytisch. Sonst herrscht wabig-vakuoläre Degeneration oder zentrale Homogenisatien
vor. Die Randglia ist vermehrt, Schwellung der Glia.
Vorderes Stirnhirn: Beim Herausschneiden der Stücke war das Vorhanden-
sein einer Leptomeningitis wahrscheinlich. In der Tat findet man im Bereiche der
Meningen schwere Veränderungen, mächtige Exsudate mit Makrophagen und Rund-
zellen, die Pia ist nicht mehr zart, das Blut in den Gefäßen sedimentiert und hämolvtisch
verändert. Starke Fibrinmassen intravaskulär. Mächtiges Ödem und Hyperämie in der
Rinde und im Mark. Im Mark sind die Veränderungen ziemlich schwer, und man
findet um die Gefäße Blutextravasate. Auch hier sind Gefäße, die vereinzelte Rund-
zellen (Lymphozyten) in der Adventitia beherbergen. Das ganze Mark zeigt in der
Nähe der Gefäße Aufhellungen im Hämatoxylin-Eosinpräparat. Perivaskuläre Desinte
grationen sind sehr ausgebildet. Die Glia ist reichlich, sie begleitet die Kapillaren.
Perivaskuläre Gliarosetten. Eine Kapillarneubildung ist öfters wahrzunehmen. Diffuse
plasmatische Wucherung der Glia. Die Schichten der Rinde sind gut erhalten. An den
Ganglienzellen steht im Vordergrund die Schwellung. Wabig-vakuoläre Degeneration
und zentrale Homogenisation. Das Tigroid ist an der Peripherie gelagert. In einer
Kapillare der vierten Schicht eine Kokkenembolie. Die Randglia ist mächtig gewuchert,
sie ist das Spiegelbild der meningealen Veränderungen, auch zeigt die Glia hier die
Tendenz, in herdförmiger Wucherung aufzutreten. Neuronophagie und Zellschatten-
bildung sind aufzufinden. In einzelnen Venen des Markes findet man im Lumen Haufen.
die schon im Hämatoxylin-Eosinpräparat als Bakterien zu erkennen sind. Es sind gram-
positive Streptokokken, die meist von Fibrin umfaßt sind, daneben liegen im Lumen
zerfallende Leukozyten. Die Bakterien liegen in einem vollständig reaktionslosen Ge
webe. Nur in der Nähe einer Vene, die im Lumen einen Haufen von Bakterien be-
herbergt, findet man in der weißen Substanz ein sehr ausgedehntes Gliastrauchwerk
(Abb. 17).
Kleinbirn, Rinde und Nucleus dentatus: Hier sind die meningealen
Veränderungen sehr geringgradig. Das Ödem ist weniger ausgesprochen. Das Kapillar-
netz in der Zona molecularis auffallend dargestellt. In der Zona ganglionaris findet man
die Ganglienzellen, die sich verschieden gefärbt haben, neben dunklen blasse; die
ersteren sind geschrumpft, die letzteren geschwollen. Der Kern liegt oft am Rande
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 199
der Zellen. Auch Schwellung der Fortsätze ist zu beobachten. Neuronophagie der
Purkinjeschen Zellen. Vermehrung von Glia in der Lannois-Paviotschen Schicht.
Gliastrauchwerkbildung weit in die Molekularzone hineinreichend. Im Mark erweiterte
Gefäße. Die Glia ist hier geschwollen, sie ist reichlich vorhanden. Schwer sind die
Veränderungen im Bereiche der Rinde des Wurmes. Die Ganglienzellen sind hier
noch mehr als in den Hemisphärenteilen betroffen. Der Schrumpfungsprozeß steht
im Vordergrund. Verklumpung des Tigroids. Körnerschwund. Auch das Ödem ist hier
ausgeprägter. Im Nucleus dentatus sind die Zellen geschrumpft, bei starkem Hervor-
treten ihrer Fortsätze. Gleichmäßige Affektion wie in der Oliva inf. Diffuse Glia-
vermehrung. Vorhandensein großer blasiger Gliakerne.
Abb. 17. Fall 4440, Diphtherie.
Eine Kapillare mit hämolytisch verändertem Blutinhalt. Toluidinblaufärbung.
Zusammenfassung.
21/,jähriges Kind, das im ganzen dreizehn Tage diphtheriekrank war
und nach der Krankengeschichte gar keine neurologischen Symptome ge-
zeigt hat. Die im Verlaufe von 25 Stunden vorgenommene Sektion ergab
folgenden Befund: Tonsillitis et laryngitis et tracheitis diphtherica. Pneu-
monia lobularis lobi inf. pulm. utriusque et lobi sup. sin. Dilatatio cordis
e myodegeneratione. Degeneratio adiposa et hyperaemia passiva viscerum.
Haemorrhagiae ventriculi. Tumor lienis. Hyperaemia passiva et oedema
cerebri. Der histologische Befund im Zentralnervensystem ergibt folgendes:
Es muß zuerst das wechselvolle Bild des Ödems und der Hyperämie hervor-
gehoben werden: In den kaudalen Partien geringgradig, im Bereiche der
Stammganglien und des Cortex besonders im vorderen Stirnhirngebiet sehr
mächtig entwickelt. Dem Ödem entsprechend geht die Desintegration, die
sich bis zu einem Status cribrosus entwickelt. Die Meningen zeigen in den
kaudalen Partien fast keine Veränderungen. Im vorderen Stirnhirn sind
schon deutliche Exsudatmengen um die Gefäße der Meningen, auch Rund-
zellen, so daß sich hier ein Bild der Leptomeningitis darbietet. Daß die
Gefäßwand in diesem Fall stark gelitten hat, beweisen schon die Hämor-
200 A. Jakubowicz.
rhagien; sie sind, wenn auch geringgradig, in der Medulla anzutreffen. Es
muß hervorgehoben werden, daß ein hämolytischer Faktor in diesem Falle
vermutlich durch die Streptokokken schwere Veränderungen des Blutinhaltes
hervorgebracht hat. In den Blutgefäßen liegen eigentümliche Kugeln,
die sich erst bei Durchmustern der Präparate als veränderte Blutelemente
verifizieren lassen. Daneben reichlich Fibrin, Thrombenbildung, Sedimen-
tierung des Blutes, kurz Veränderungen, die, wie bereits erwähnt, bei hämo-
lytischen Prozessen anzutreffen sind. In der Medulla oblongata besteht eine
diffuse Zellerkrankung in Form einer zentralen Homogenisation der uanglien-
zellen; am schwersten sind die Ganglienzellen im Bereiche der Oliva inf.,
die stellenweise Ausfallserscheinungen und Schrumpfungsprozesse zeigt, be-
troffen. Auch in diesem Falle sind die großen Zellen der Substantia reticu-
laris schwer erkrankt. Die Glia ist hier fast vollständig reaktionslos; sie
ist selbst in ihren Zellen erkrankt. In der Brücke zeigt sich eine diffuse
Zellerkrankung in den dorsalen Gebieten; im Gebiete des Locus coeruleus
kann man eine Neuronophagie beobachten. Aber im großen ganzen ist auch
hier die Glia reaktionslos; im Ammonshorn und im Unkusgebiet, außer
einer Lichtung im Sommerschen Sektor, nichts Besonderes. Im Bereiche
der Calcarina sind die Veränderungen ziemlich geringgradig, nur die Venen
auffallend gebläht, schädigen unzweifelhaft die Ganglienzellen, die in ihrer
Färbung eingebüßt haben. Die Meningealgefäße in diesem Bereiche zeigen eine
leichte Endarteriopathie. Im Mark in einem reaktionslosen Gebiete eine
Kokkenembolie. In der vorderen Zentralwindung sind die Betzschen Zellen
schwer erkrankt, sie sind gebläht und geschrumpft, wenn auch andere
Ganglienzellen Veränderungen aufweisen, so sind sicher die großen Pyra-
midenzellen am meisten betroffen. Wir wollen in der Beschreibung hier eine
kurze Unterbrechung machen und vorerst das Kleinhirn betrachten. Es tritt auf
einmal ein ganz anderes Bild auf, und zwar reaktive Erscheinungen von Seite
der Glia: sie bildet sowohl in der Rinde wie im Mark Strauchwerkforma-
tionen, sie ist diffus vermehrt. Wir sehen, daß die Purkinjeschen Zellen des
Wurmes mehr betroffen sind als diejenigen des Seitenlappens. Wir sehen
weiter eine Neuronophagie, Verdichtung der Lannois-Paviotschen Schicht.
Die Ganglienzellen des Nucleus dentatus sind schwer erkrankt, sie ähneln den-
jenigen der Olive. Von einem Infiltrat ist keine Rede. Die Veränderungen
im Bereiche des Kleinhirns wollen wir hier besonders hervorheben und wir
werden bei gemeinsamer Besprechung der Fälle noch Gelegenheit haben,
darauf zurückzukommen.
Nun gehen wir zurück zum Cortex und betrachten das vordere Stim-
hirn. Wir sehen eine schwere Veränderung im Bereiche der Meningen, die
Randglia ist das Spiegelbild der meningealen Veränderungen, sie reagiert
mit Vermehrung ihrer Zellen. Manche Gefäße enthalten vereinzelt Rund-
zellen, Wucherung «des Endothels. Die Glia ist reichlich vorhanden, schwere
degenerative Veränderungen an den Ganglienzellen. Ein ausgedehntes Glia-
strauchwerk in der Nähe einer Vene, die Bakterien enthält. Plasmatische
Wucherung von Gliazellen. In den Venen des Markes finden sich die vorher
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 201
erwähnten Bakterien. Im Bereiche der Stammganglien ist die Glia um die
Ganglienzellen im Thalamus opticus verdichtet, hier ein kleiner Infarkt.
In der Capsula interna sowie im Pallidum Venen und Bakterienhaufen.
Diese Bakterienhaufen lassen fast immer am Rande erkennen, daß es sich
um Streptokokken in ziemlich langen Ketten handelt. Es taucht nunmehr
die Frage auf, wann sind diese Kokkenembolien entstanden? Sind sie ante
mortem oder postmortal entstanden? Dieses letztere ist wohl nicht sicher
zu entscheiden, aber unwahrscheinlich. Die schweren Veränderungen des
Blutinhaltes, der Milztumor, die lobulär-pneumonischen Herde, das Vorhanden-
sein von Bakterien in den Venen lassen eine Pyämie oder gar eine beginnende
Sepsis bei Diphtherie annehmen. Somit dürfte es sich nicht um postmortale
Einwanderung von Bakterien handeln. Die Gliareaktion im Bereiche der vor-
deren Stirnwindung und die noch lokalisierte Leptomeningitis zeigen auf das
ddeutlichste, daß die Bakterien lange vor dem Tode hier eingewandert sind.
Im Bereiche der Stammganglien wäre es doch möglich, daß sie kurz vor dem
Tode in die Venen hineingelangt sind, weil die Reaktion von Seite des
Mesoderms wie auch Ektoderms gleich Null ist. Diese Streptokokken haben
ihren Ursprung in den lobulär-pneumonischen Herden. Demzufolge haben wir
hier einen Fall von Diphtherie mit einem Befund von hämolytischen Strepto-
kokken im Gehirn. Was auf den Diphtheriebazillus, was auf den Streptococcus
haemolyticus an Veränderungen im Ektoderm zurückzuführen ist, ist schwer
zu entscheiden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß den Locus minoris
resistentiae im vorderen Stirnhirn der Diphtheriebazillus gesetzt hat. Auch
ist nicht unwahrscheinlich, daß der Diphtheriebazillus den Streptokokkus
virulent gemacht hat und es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß die vor-
genommene Tracheotomie den Streptokokkus hineingebracht hat. Alles auf
den Streptokokkus zurückzuführen, wäre sicherlich falsch. Daß wir den Di-
phtheriebazillus im Gehirn nicht nachweisen können, liegt auf der Hand, da
er ja in den Hintergrund tritt; der Streptokokkus wuchert und verdeckt ihn.
Diesen Prozeß im Bereiche des Stirnhirns müssen wir als eine beginnende
lokalisierte Enzephalitis mit Leptomeningitis circumscripta sero-purulenta
auffassen. Es ist möglich, daß die Unruhe, die das Kind einen Tag vor dem
Tode gezeigt hat, auf diesen Prozeß im Bereiche des Stirnhirns zurückzu-
führen ist.
Gehen wir zu der gemeinsamen Besprechung der Fälle über, so müssen
wir zunächst mehreres nebeneinander betrachten. Es ist für den Obduzenten
eine geläufige Tatsache, daß er bei akuten Infektionskrankheiten eine Hyper-
ämie in fast allen Organen, somit auch im Zentralnervensystem findet.
Sie fehlt in unseren Fällen nicht, nur sind graduelle Unterschiede vorhanden.
Es ist schwierig, zu entscheiden, wieviel auf Kosten der aktiven, wieviel auf
Kosten der passiven Hyperämie zu buchen ist. Wenn wir aber bedenken, daß
bei akuten Infektionskrankheiten die Noxe nicht lokal einwirkt, sondern
im Blute kreist und an verschiedenen Stellen wirksam werden kann, so
müssen wir vieles der aktiven Hyperärmie zuschreiben. Nun kommt ja in Be-
202 A. Jakubowicz.
tracht, daß der Zirkulationsapparat terminal, sei es durch Versagen des
Herzens, sei es durch Versagen der Vasomotoren, in Mitleidenschaft gezogen
wird und somit die Bedingungen für eine Stauungshyperämie geschaffen
sind; infolgedessen dürfen wir nicht von einer reinen aktiven Hyperämie
sprechen. Wie schon erwähnt, ist die Hyperämie in verschiedenen Teilen des
Zentralnervensystems verschieden ausgebildet. Und zweitens ist sie in der
weißen Substanz häufiger und intensiver anzutreffen als in der grauen
Substanz, und besonders stark, allerdings nicht immer, an der Grenze von
Rinde und Mark. In bezug auf die Hyperämie ist noch etwas auffallend, und
zwar, daß diese in den kaudalen Partien des Zentralnervensystems weniger
ausgesprochen ist als in den oralen Partien. Die Lagerung der Leiche kann
uns dies nicht erklären. Wir müssen auch daraus schließen, daß ein Teil
der Hyperämie aktiv ist.
Bevor wir auf das Ödem eingehen, müssen wir den Gefäßapparat herück-
sichtigen. Jeder unserer Fälle zeigte eine Gefäßschädigung. Sie spielt un
zweifelhaft eine große Rolle. Die Gefäßwandschädigung hat Übergänge vom
leichter Quellung der Gefäßwand bis zu einer vollständigen Homogenisation
der Media und Adventitia. Aber auch die Intima zeigt uns Proliferations-
erscheinungen. Wir haben sogar in einem Falle eine Endarteriitis obliterans
mäßigen Grades. Die kleineren Arteriolen sind in mehreren Fällen starr und
erinnern an :das Bild der Arteriolosklerose. Auch die Blutungen, die per
diapedesim entstanden sind und die im Cortex in mehreren Fällen flächen-
haften Charakter annehmen, beweisen zur Genüge, daß die Gefäßwand ge-
litten hat. In einem Fall können wir sogar den Prozeß, der in der Niere
zu einer Nephritis interstitialis haemorrhagica geführt hat, an den Arteriolen
bis in den Cortex hinauf verfolgen, indem sich hier die gleichen Hämorrhagien
fanden und die Arteriolen eine Endarteriopathie aufgewiesen haben. Es
sind also durchwegs schwere anatomische Schädigungen der Gefäßwand von
wechselndem Grade und Stärke zu verzeichnen. Man sollte erwarten, daß
die vorher erwähnte Gefäßwandschädigung zu ausgedehnten Gewebsnekrosen
führt. Unsere Fälle zeigen dies eigentlich nicht; immerhin sind Andeutungen
vorhanden. So ist in einem Falle, wo schwere Veränderungen :les Giefäß-
apparates im Bereiche des Rückenmarks vorhanden sind, eine Myelopathie zu
verzeichnen; in einem anderen Fall, in der Umgebung einer Kapillare, eine
kleine (iewebsnekrose; und wieder in einem anderen Falle ein kleiner
Infarkt im Thalamus; in mehreren Fällen führte die Blähung der Venen zu
Druckerscheinungen am Parenchyin. Die schweren degenerativen Verände-
rungen im Parenchym, die wir in so vielen Fällen verzeichnet haben, sind
unzweifelhaft auf die Veränderungen am Gefäßapparat zurückzuführen. Auch
die Verfettung der Endothelien in denjenigen Fällen, wo Scharlachpräparate
ausgeführt wurden, und die Inkrustation der Kapillaren sowie die dunklen
Endothelien, die besonders in den (iefäßen des Pallidums, aber auch an
anderen Stellen sich finden, beweisen zur Genüge, daß der Gefäßapparat ge-
litten hat. Es ist eine Sache der Unmöglichkeit, aus den anatomischen Be-
funden am Gefäßapparat auf die Art des Mikroorganismus zu schließen.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 203
Umgekehrt hat es den Anschein, daß jedes Virus in unseren Fällen, sowohl
der Diphtheriebazillus, der Scharlacherreger, der Streptokokkus, sei es der
hämolytische bzw. nichthämolytische, oder der Pneumokokkus usw. immer
die gleichen anatomischen Veränderungen am Gefäßapparat hervorrufen kann,
nur mit dem Unterschied, daß die Virulenz des Erregers immer eine Rolle
spielt. Je größer die Virulenz, desto stärker offenbar die Veränderungen am
Giefäßapparat und am Parenchym. Somit könnten wir die mannigfaltigen
Befunde erklären. Wir sind imstande, aus dem anatomischen Befund auf die
Virulenz zu schließen, aber nie auf die Art des Erregers. Die volle Bestäti-
gung unserer Annahme bekommen wir durch die Virulenzexperimente mittels
Dysenterietoxins von Lotmar. Eines muß betreffs der Erreger hervorgehoben
werden. Sobald man in Diphtherie- oder Scharlachfällen den Blutinhalt hämo-
Iytisch verändert findet, hat man die Berechtigung, anzunehmen, daß der
hämolytische Streptokokkus mit im Spiele ist.
Zusammenhängend mit dem (refäßapparat und der Hyperämie ist das
Ödem und die Desintegration. In allen unseren Fällen ist im Zentralnerven-
system ein Ödem von wechselnder Stärke vorhanden, eine Tatsache, die
jedem Obduzenten bei Infektionskrankheiten sehr geläufig ist. Zunächst
ist zu entscheiden, ob es sich um ein entzündliches oder um ein reines
Stauungsödem handelt. Dazu ist es notwendig, auf die Befunde im Liquor
cerebrospinalis einzugehen. Je nach den Befunden im Liquor cerebrospinalis
spricht der Kliniker von einem Meningismus, Meningitis serosa und
Meningitis purulenta und meint damit, daß beim Meningismus ein rein funk-
tioneller Zustand, und zwar Erhöhung des Liquordruckes, vorhanden ist; die
Meningitis serosa zeigt außer einer Erhöhung des Liquordruckes auch eine
leichte Albumen-, Zucker-, Zellvermehrung, während die Meningitis puru-
lenta neutrophile Leukozyten, eventuell Bakterien zeigt. Die Meningitis
serosa bzw. der Meningismus ist eine häufige Begleiterscheinung von In-
fektionskrankheiten. Die Liquorveränderungen, somit auch das Ödem, sind
Produkte des entzündlichen Prozesses im allgemeinen. Von klinischer Seite
wurden speziell die Liquorverhältnisse bei Diphtherie studiert, und zwar
als Basis der nervösen Komplikationen. Auch hier bestehen Meinungsver-
schiedenheiten. So finden Hagenau, Genin, Hallez u.v.a. Vermehrung des
Albumens und eine Lymphozytose. Die anderen, wie Regan, Guinnes,
Fornara u. a., nur eine Globulinreaktion, Goldsolreaktion, aber ohne Ver-
mehrung der Zellzahl. Diese Meinungsverschiedenheiten der Autoren bezüglich
des Liquorbefundes, speziell bei Diphtherie, ist ja klar; eine einmalige Unter-
suchung, zudem nicht am Anfang der Krankheit, kann uns nie über den Stand
der Meningen Auskunft geben, es ist auch klar, daß zu verschiedenen Zeiten
der Erkrankung die Liquorverhältnisse ganz verschieden ausfallen können.
Eine Reihe von Autoren behauptet, daß das Ödem durch den erhöhten
Wasserhaushalt bei Infektionskrankheiten oder durch Versagen der Zirku-
lation genügend geklärt ist (Buhl, Kraepelin). Wenn wir aber berück-
sichtigen, daß in unseren Fällen eine Gewebs-(refäßalteration besteht, und
daß in vielen Fällen um die Gefäße herum Rundzellen, seröse Aus-
204 A. Jakubowicz.
schwitzungen bestehen und die Noxe, sei es des Streptokokkus, sei es eines
anderen Bakteriums, in den Gefäßen sich findet, so müssen wir einen Teil
des Ödems als entzündlich auffassen und es ist nicht daran zu zweifeln, daß
der andere Teil des Ödems ein Stauungsödem durch Versagen der Zirkula-
tion ist.
Dem Ödem folgen die perivaskulären Desintegrationen, die einmal an
einen Status cribrosus, das anderemal an einen Status lacunaris erinnern.
Diese Desintegrationen sind am meisten in den oralen Partien des Zentral-
nervensystems entwickelt, wenn sie auch in den unteren Partien nicht
fehlen. So sind sie doch in den Stammganglien und im Cortex, und zwar hier
an der Grenze von Rinde und Mark und im Mark selber, am meisten aus-
geprägt. An der Grenze von Rinde und Mark finden sie sich nicht in jeder
Windung: so ist es in einem Präparat auffallend, daß sie im Bereiche einer
Windung so mächtig sind, daß man sie makroskopisch sieht, während sie im
Bereiche der anderen benachbarten nicht aufzufinden oder wenigstens sehr
gering sind. Es erhebt sich die Frage, was geschieht mit diesen Desintegra-
tionen bei Kindern, die einen schweren Scharlach oder eine Diphtherie
überstanden haben und am Leben bleiben. Es ist klar, daß diese Lücken
später ersetzt werden müssen, also Narben entstehen.
Es ist auffallend, daß so viele Fälle mikroskopische Veränderungen an
den Meningen zeigen, in Form einer Meningitis serosa bzw. Meningitis sero-
fibrosa oder Meningitis serosa mit mehr oder minder ausgesprochenem
nicht eitrigem Infiltrat. Schon im Jahre 1897 stellte Boeninghaus die
Literatur der Meningitis serosa zusammen und glaubte zwei Formen unter-
scheiden zu können: die Meningoencephalitis acuta serosa und die Meningitis
serosa interna acuta. Von Hansemann stellte fest, daß die Trübung der
Meningen nicht auf eine Infiltration mit weißen Blutelementen, sondern auf
eine Wucherung der fixen Elemente zurückzuführen ist; einer seiner Fälle
war eine Diphtherie. Er behauptet, daß die ödematösen Zustände des
Gehirns bei Infektionskrankheiten meistens entzündlicher Natur sind.
Ch. Levi gelang es experimentell, eine Meningitis serosa mit abgeschwächten
Bakterien, sei es Streptokokken, Pneumokokken, Typhusbazillen usw., zu
erzeugen. Savada untersuchte 22 Fälle, die klinisch meningeale Symptome
dargeboten haben, unter anderen auch Scharlach- und Diphtheriefälle. Fast
in allen Fällen konnte er wenigstens eine Meningitis serosa diagnostizieren.
In fünf Fällen konnte er den Übergang der serösen in die eitrige Meningitis
feststellen. In seinem Diphtherie-Scharlachfall war klinisch Benommenheit
und Delirium vor dem Exitus. Mikroskopisch fand er serös zellige Ent-
zündung der Arachnoidea. In seinem anderen Fall von Scharlach, der
klinisch anfangs Benommenheit und Delirium, später Aufregung und Tremor
der beiden Hände bei klarem Sensorium zeigte, war mikroskopisch serös-
eitrige Entzündung der Arachnoidea; in seinem dritten Fall begann das
Leiden mil Kopfschmerzen und Erbrechen, Scharlach ohne meningeale Er-
scheinungen, nur Apathie. Es fand sich mikroskopisch: leichtes Ödem der
Arachnoidea, Infiltration mit Leukozyten, leichte Blutungen, mäßig serös-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie.e 205
eitrige Entzündung der Arachnoidea. In seinem letzten Diphtheriefall war
die Arachnoidea nicht verändert. Oseki, der sich mit den Meningen bei
akuten Infektionskrankheiten beschäftigt hat, kommt zu folgendem Schluß:
Man darf sich nie mit dem makroskopischen Befund bei der Sektion be-
gnügen, sondern muß immer die mikroskopische Untersuchung der Meningen
heranziehen, gleichgültig, ob der Patient klinische Symptome geboten hat
oder nicht. Auch Kobayashi sagt in seiner Arbeit: „Wir sehen ein
Ödem der Meningen, stellenweise so weit fortgeschritten, daß man von ent-
zündlichem Ödem sprechen kann.“ In meinen Fällen ist die Meningitis serosa
selten eine generalisierte, d. h. sich auf das ganze Bereich des Zentral-
nervensystems erstreckende. In den meisten Fällen ist sie eine lokalisierte.
Wir treffen im Cortex eine Meningitis serosa, die aber in der Medulla außer
einer Hyperämie und einem Ödem nicht mehr vorhanden ist. Dieser Unter-
schied besteht nicht nur an den entfernten Stellen der Meningen, schon in
der gleichen Hemisphäre besteht z. B. an den Meningen des Frontallappens
eine Meningitis serosa, die sogar in einem Fall in eine purulenta über-
geht und im Okzipitallappen ist keine Spur von einer Meningitis. Es bestehen
ein geringgradiges Ödem und eine leichte Hyperämie. Und so müssen wir
die Ansicht von Oseki bestätigen, und weitergehend sagen, es genügt nie,
eine Stelle an den Meningen der gleichen Hemisphäre zu untersuchen,
sondern man muß viele Stellen untersuchen, um erst ein Urteil über
den Stand der Meningen abzugeben. Es ist aber noch etwas Auffallendes
in unseren Fällen, und zwar der meist vorhandene Mangel klinischer Sym-
ptome von Seite der Meningen außer den Schmerzen, die offenbar meist
meningealen Ursprungs sind, den Kliniker aber verleiten, sie nur als neur-
itisch aufzufassen, eine Ansicht, die kaum zu Recht besteht. Denn die Reiz-
erscheinungen an den Meningen genügen vollständig, um das Bild der ‚„Pseudo-
polyneuritis“ zu erklären. Savada hat alle möglichen klinischen Sym-
ptome in seinen Fällen angegeben, ohne daß sich nachweisen läßt, daß diese
Symptome meningealen Ursprungs sind, da sie zumeist auf das Cerebrum
zurückgeführt werden können. Wir könnten aus unseren Krankengeschichten
genügend solcher Symptome hervorheben. Es ist sicherlich unrichtig, z. B.
Benommenheit, Unruhe oder Delirien vor dem Exitus auf die Meningen
zu beziehen. Dazu gibt es genug anatomische Veränderungen am Cerebrum,
z. B. Kokkenembolien, Einwanderung von Pilzen, Veränderungen in der
dritten Rindenschicht usw. In einem unserer Fälle finden wir eine aus-
gebreitete subpiale Blutung, die wahrscheinlich per rhexim entstanden ist.
In mehreren Fällen finden sich minimale Blutungen. Solche Blutungen können
auch zu Lebzeiten entstehen, können beim Überleben Anlaß zu verschie
denen Krankheitsbildern, Zystenbildung usw. geben. Und nun noch ein Wort
über den sogenannten Meningismus. Nach unseren Befunden ist er anato-
misch und nicht funktionell bedingt. Denn die Fälle, wo die Meningen frei
von Meningitis serosa sind, beweisen nicht, daß keine Meningitis serosa
in diesen Fällen bestanden hat. Sie beweisen aber, daß wir die Meningen noch
zu wenig untersucht haben. Diese Fälle ohne Meningitis serosa sind in der
206 A. Jakubowicz.
Minderzahl, denn, wie bereits erwähnt, kann die Meningitis serosa eine
circumscripta localisata sein und dem Nachweis entgehen. Nach unseren Be-
funden hat die Lumbalpunktion im Verlaufe von Scharlach und Diphtherie
und wahrscheinlich auch bei anderen Infektionskrankheiten, bei meningealen
Erscheinungen und Aufregungserscheinungen, als Entlastung ihre volle Be
rechtigung. Dies bestätigt auch die klinische Erfahrung von O. Foerster,
welcher der Meningitis über dem Kleinhirn nach akuten Infektionskrank-
heiten größte Bedeutung beimißt und durch die Lumbalpunktion in der Lage
ist, das Kleinhirnbild abzubauen. Zum Schluß sei noch erwähnt, daß einer
unserer Fälle eine Ependymitis granularis leichten Grades zeigte.
Betreffs der parenchymatösen Veränderungen bei Scharlach und Diphthe-
rie werden wir uns kurz fassen; ich verweise auf die Fälle. An den Ganglien-
zellen laufen zwei Prozesse nebeneinander: Kolliquations- und Koagulations-
prozesse. Bezüglich der Lokalisation ist es auffallend, daß in der Mehrzahl
der Fälle bestimmte Gebiete vom degenerativen Prozeß an den Ganglien-
zellen bezorzugt sind, und zwar Oliva inf., Nucl. dentatus, Subst. reticularis
und die dritte Rindenschicht besonders im Frontallappen, und zwar die großen
Pyramidenzellen.
Die Ganglienzellen der Olive sind bekanntlich sehr empfindlich. Dies
geht schon aus den sehr interessanten Arbeiten von v. Braunmühl hervor.
Auch Kobayashi erwähnt in seiner Arbeit über Septikopyämien die Emp-
findlichkeit der Olive. Eng mit der Olive zusammenhängend scheint nach
unseren Befunden der Nucleus dentatus eine Überempfindlichkeit gegenüber
der Noxe zu zeigen. Foerster hat als erster in der 7. Jahresversammlung
der Gesellschaft deutscher Nervenärzte über den sogenannten meningo-
zerebellaren Symptomenkomplex bei fieberhaften Erkrankungen berichtet.
Dieses Symptom ist ausgezeichnet durch eine zerebellare Ataxie, die erst
Monate nach Überstehen der Krankheit verschwindet. Er sah dieses Bild bei
tuberkulösen Kindern, die eine schwere infektiöse Erkrankung bekamen.
In der gleichen Sitzung konnte Nonne über das gleiche Symptom berichten,
unter anderem auch nach Scharlach. V. Braunmühl vermutet, daß neben
anderen die Olive an diesem Symptom Schuld trägt. Wir möchten nach
unseren Befunden am ehesten annehmen, daß die Kleinhirnsymptome auf
den Nucleus dentatus und auf die Olive zurückzuführen sind, wobei die
meningitische Komponente die klinischen Zeichen ohne Zweifel konstellativ
verstärkt. Es ist weiterhin wahrscheinlich, daß die Ganglienzellen eine
gewisse Zeit beanspruchen, bis sie sich erholt haben; während dieser Zeit
besteht der Foerstersche Symptomenkomplex. Bezüglich der Subst. reticu-
laris finden wir Angaben darüber bei Kobayashi, dem es aufgefallen ist,
daß die Ganglienzellen der Subst. reticularis geschädigt sind. Er vermutete
hier Zentren für den Gefäßtonus. Nach Marburg besteht die Subst. ret. als
weitere Fortsetzung des Seitenhornes des Rückenmarks aus versprengten
Zellen des letzteren. Jakobsohn rechnet die Zellen des Seitenhornes zum
Gebiet des Sympathikus. Mogilnitzki behauptet, daß bei den septischen
Formen des Scharlachs die peripheren sympathischen Zellen zunächst be-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 207
troffen sind. Diese Tatsachen scheinen dafür zu sprechen, daß die Subst. reti-
cularis ein vegetatives Zentrum darstellt. In einem einzigen meiner Fälle
wurden die Mittelhirngebiete untersucht und ich konnte im Tuber cinereum
schwere Veränderungen an den (sanglienzellen feststellen.
Es ist auffallend, daß gerade die dritte Rindenschicht bei fast allen
Fällen sehr schwer ergriffen ist, was vielleicht im Sinne der Pathoklise zu
deuten ist. Ebenso ist es interessant, daß die Betzschen Zellen vielfach
krank sind, was klinisch von großer Bedeutung sein kann, indem ınan unter
Umständen daraus Schlüsse auf später einsetzende Motilitätsstörungen ableiten
könnte.
Die ektodermale sowie die mesodermale Reaktion ist im Vergleich mit
anderen entzündlichen Prozessen im Zentralnervensystem in allen unseren
Fällen eine minimale. Sie ist in den Diphtheriefällen sicherlich größer als
in den Scharlachfällen. Sobald ein Scharlachfall durch eine Diphtherie kom-
pliziert war, war auch die Gliareaktion stärker. In den Scharlachfällen ist
sie meist gleich Null. Dagegen scheint mir in den Scharlachfällen eine
mesodermale Reaktion ausgeprägter, die wieder in den reinen Diphtherie-
fällen in den Hintergrund tritt. Dies sind nur Annahmen aus meinen Beob-
achtungen. Es zu beweisen, wäre nötig, ein viel größeres Material zu
untersuchen und darauf zu achten.
Bezüglich der Stoffwechselstörungen im Zentralnervensystem werden
wir uns sehr kurz fassen. In allen unseren Fällen besteht ein Abbauprozeß,
der in den Diphtheriefällen ein Maximum erreicht. Es hat den Anschein,
daß der zeitliche Faktor keine so große Rolle spielt, wie man es vermuten
sollte. So ist z. B. im Falle 4437 ein starker Abbau vorhanden, die Krank-
heit dauerte sehr kurz, und in den anderen Fällen, wo die Krankheit sich
über lange Zeit ausdehnte, ist der Abbauprozeß geringer als in dem vorher
genannten Fall. Die Arbeit von Hotzen, die ich schon mehrmals erwähnt
habe, beweist zur Genüge, daß der Abbauprozeß bei der Diphtherie eine große
Rolle spielt. Dietrich hebt die Notwendigkeit individueller Gesichtspunkte
betreffs den Abbauprozeß für jeden Einzelfall hervor. Wir wollen uns nicht
mit den einzelnen Abbaustoffen weiter beschäftigen, sondern nur dem meta-
chromatischen Stoff, den wir so oft im Pallidum und im Corpus pineale an-
getroffen haben, zuwenden. Bevor wir darauf eingehen werden, müssen wir
zuerst die von Krabbe bezeichneten Mastzellen im Corpus pineale berück-
sichtigen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Zellen zuerst von Dimi-
trowa beschrieben worden sind, die sie als Vorstadien der Kalkkonkremente
aufgefaßt hat. Auch Marburg scheint sich dieser Ansicht angeschlossen zu
haben, da er über diese Zellen keine eigene neue Ansicht äußert. Gala-
sescu und Urechia haben diesen Zellen ein besonderes Interesse gewidmet
und nannten sie „Cellules paravasculaires acidophiles“. Es scheint, daß die
Autoren nur mit sauren Farbstoffen gearbeitet haben und so übersahen,
daß sich diese Zellen auch mit basischen Farbstoffen färben lassen. Con-
stantini fand in der Zirbeldrüse Zellen, die zuweilen Metachromasie zeigten,
und er meint, daß das Vorhandensein von teils basophilen, teils azidophilen
208 A. Jakubowicz.
Elementen die Annahme der inneren Sekretion stützt, denn diese Zellen
nähern sich scheinbar morphologisch denen, die man in der Parathyreoidea
findet. Nun kam Krabbe und unterscheidet drei Arten von Wanderzellen
im Corpus pineale, und zwar die von uns beobachteten Zellen, die er als Mast-
zellen anspricht, dann Pigmentzellen und Zellen, die wie Plasmazellen, Leuko-
zyten oder Abräumzellen sind. Er gibt selber zu, daß die Cellules perivascu-
laires acidophiles von Galasescu und Urechia und die Zellen Con-
stantinis vollständig identisch sind mit seinen Mastzellen und behauptet,
daß diese Zellen teils einen basischen, teils einen sauren Farbstoff an-
nehmen können. Uemura erwähnt diese Zellen gleichfalls in seiner Arbeit;
er hat sie sehr oft im Corpus pineale angetroffen, ohne irgend welchen
Standpunkt betreffs derselben einzunehmen. Walter hat sich mit diesen
Zellen nicht beschäftigt, denn bei den komplizierten Farbstoffen, die er
benützt hat, sind sie ihm entgangen. In unseren Präparaten gleichen
die Zellen vollständig den von Krabbe bezeichneten Mastzellen. Das
gleiche Verhalten in bezug auf Farbstoffe zeigen außer diesen Mastzellen
aber auch die Endothelien, die Gefäßwandzellen und die Kapillarwand, die
sich mit feinsten Granulis, zum Teil metachromatisch, imprägnieren. Es ist
auffallend, daß diese Inkrustation mit diesem Stoff am häufigsten im Pal-
lidum anzutreffen ist, viel weniger in anderen Teilen des Zentralnerven-
systems, wo man viel seltener inkrustierte (fefäßwandzellen antreffen kann.
Häufiger ist hier eine Kapillare, die sich mit dem zum Teil metachroma-
tischen Stoff imprägniert hat. Es scheint somit, daß sich vorher um die letzt-
genannten Zellen der gleiche Stoff angesammelt hat. H. Schlesinger be-
hauptet, daß er diese Mastzellen im Gegensatz zu Krabbe, der sie in jedem
Fall von Erwachsenen gefunden hat, nicht so häufig angetroffen hat. Er be-
merkt dazu: „Die außerordentlich wechselnde Menge dieser zelligen Elemente
in verschiedenen Drüsen läßt mich daran denken, daß der terminalen
Erkrankung eine entscheidende Rolle bezüglich des gehäuften Auftretens
von Mastzellen zukommen dürfte.“ Im Institute wurde mir das Material von
Schlesinger zur Verfügung gestellt. Beim Durchschauen der Präparate
zeigte es sich, daß in allen Fällen diese von Krabbe genannten Mastzellen
vorhanden waren. Es fiel weiter auf, daß in denjenigen Zirbeldrüsen, wo
die Mastzellen spärlich vorhanden waren, reichlich Corpora arenacea und
größere Kalkkonkremente gefunden wurden, und je mehr Mastzellen, desto
weniger Corpora arenacea bzw. Kalkkonkremente. Die Annahme Krabbes,
daß diese Mastzellen immer bei Erwachsenen vorkommen, besteht somit zu
Recht. Aber es hat nach unseren Fällen den Anschein, daß sie auch bei
jugendlichen Individuen vorkommen; übrigens hat auch Krabbe diese Mast-
zellen bei einem sechs Monate alten Fötus und bei einem 1!',jährigen
Kinde, das an einer Vergiftung mit Kalilauge zugrunde ging, im Corpus
pineale beschrieben. Die Annahme Schlesingers, daB sie terminal ent-
stehen, müssen wir nach unseren Befunden, speziell im Pallidum, so weit
korrigieren, daß diese Zellen bei Infektionskrankheiten im jugendlichen
Alter entstehen können. Das Institut stellte mir weiter Präparate von pro-
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 209
gressiver Paralyse nach Malariatherapie zur Verfügung, wo ich mich über-
zeugen konnte, daß diese sogenannten Mastzellen sehr häufig fast im ganzen
Zentralnervensystem anzutreffen sind. Bevor wir auf die Bedeutung dieser
Zellen eingehen werden, wollen wir uns mit Mastzellen im Sinne Ehr-
lichs befassen und sehen, ob Krabbe recht hat, sie als Mastzellen zu be-
zeichnen. Schon Krabbe hat hervorgehoben, daß die nach ihm benannten
Mastzellen im Corpus pineale in bezug auf die Struktur des Kernes und
seine exzentrische Lagerung vollständig den Plasmazellen gleichen. Auch
Schlesinger hat in bezug auf den Mastzellencharakter Bedenken gehabt.
Diese Zellen entsprechen bis auf den hellen Hof, der hier fehlt, und den man
gewohnt ist, bei Plasmazellen anzutreffen, sonst vollständig den Plasmazellen.
Nun ist bekannt, daß aus Plasmazellen Mastzellen postfötal entstehen können
(Lehner). Da sich aber die Gefäßwandzellen die Endothelien und die Kapillar-
wand mit dem gleichen metachromatisch sich färbenden Stoff imprägniert
haben, so hat man keine Berechtigung, diese Zellen einfach als Mastzellen
zu bezeichnen, sondern es handelt sich offenbar um Plasmazellen, die
sich mit dem gleichen Stoff imprägniert haben, wie die (refäßwandzellen,
Endothelien und Kapillaren. Der helle Hof fehlt in diesen Plasmazellen nur
scheinbar, denn er ist wahrscheinlich vollständig durch die Granuli aus-
gefüllt und entgeht unserer Beobachtung. Und es hat den Anschein, daß die-
jenigen Autoren, die Mastplasmazellen anerkennen, recht haben. Warum diese
Elemente besonders im Pallidum und im Corpus pineale anzutreffen sind,
die sich eben mit dem zum Teil metachromatisch färbbaren Stoff imprägnieren,
ist nicht leicht zu entscheiden, doch ist es auffallend, daß keine anderen
Organabschnitte so oft Störungen im Kalkhaushalt zeigen, d. h. daß es oft zu
pathologischer Anreicherung von Kalk oder Pseudokalk im Pallidum bzw.
in der Zirbeldrüse kommt. Es wäre daher leicht möglich, daß die im Pallidum
und in der Zirbel gefundenen Zellen verwandt oder gar — was nicht von
der Hand zu weisen ist — identisch sind. Wir würden dann vermuten,
daß in diesen Fällen sich die ersten Zeichen des organtypischen Kalkstoff-
wechsels abspielen und daß unter pathologischen Bedingungen diese Störung
durch die Zellen besonders signifikant hervortritt.
Wenden wir uns unseren bakteriologischen Befunden zu, so ist es uns
gelungen, morphologisch zwei bzw. drei Arten von Mikroorganismen in
unseren Fällen im Zentralnervensystem an verschiedenen Stellen nachzu-
weisen: Kokken, Bazillen und die eigenartigen Gebilde, die an Pilze er-
innern und auf die wir später zurückkommen werden. Unter den Kokken
fanden sich Streptokokken und Diplokokken mit Kapseln, die wahrschein-
lich identisch sind mit dem Friedländer-Bazillus. Die Bazillen lassen
sich selbstverständlich nicht ohne weiteres differenzieren. In reinen Diphthe-
riefällen waren Kokken ohne Stäbchen zweimal, mit Stäbchen einmal, eigen-
artige Gebilde ohne Bakterienbefund einmal, in reinen Scharlachfällen Kokken
ohne Stäbchen einmal; mit Stäbchen einmal; in Kombinationserkrankungen
Kokken ohne Stäbchen einmal, mit Stäbchen einmal. Die eigenartigen Ge-
bilde in Scharlachfällen ohne Bakterienbefund viermal; mit Bakterienbefund
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 14
210 A. Jakubowiez.
zweimal nachzuweisen. Somit lassen sich in acht Fällen Mikroorganismen im
allgemeinen nachweisen, und in fünf Fällen ist der Bakterienbefund ein
negativer.
Fugen Fränkel, der sich mit der bakteriologischen Frage im Zentral-
nervensystem bei akuten Infektionskrankheiten befaßt hat, entnehmen wir
in bezug auf Streptokokken, Diplokokken, Diphtheriebazillen folgendes (auf
seine übrigen Befunde gehen wir gar nicht ein): Unter zwanzig untersuchten
Fällen, die an Streptokokkeninfektionen zugrunde gegangen sind, konnte er
in sechzehn Fällen Streptokokken kulturell und mikroskopisch im Zentral-
nervensystem nachweisen. Aus seinen Untersuchungen geht weiter hervor,
daß aus einer Hemisphäre Streptokokken auf den Platten gewachsen sind,
die andere dagegen steril war, daß die numerische Inkongruenz zwischen
Blut und Gehirn immer auffallend war. Er fand die Bakterien immer intra-
vaskulär nie frei im Gewebe. Mikroskopisch konnte er eine Schwellung der
Giefäßwand und sehr zahlreiche weiße Blutelemente intravaskulär feststellen.
Aber noch eine Feststellung scheint uns von großer Wichtigkeit. So gibt
Fränkel an, daß bei Streptokokkeninfektionen eine Diskrepanz zwischen
Blut und Gehirn besteht. Das Blut findet man sogar steril und im Gehirn
massenhaft Streptokokken. Umgekehrt gilt das für den Colibazillus. Um
gleich vorwegzunehmen, hat er den Diplococcus lanceolatus capsulatus oft
im Gehirn nachgewiesen. Den Diphtheriebazillus ist es ihm in vier unter-
suchten Diphtheriefällen nicht gelungen nachzuweisen, trotzdem Verände-
rungen im Gehirn vorhanden waren, und er meint „in sämtlichen erwies
sich sowohl das Blut als das Gehirn keimfrei, kein Wunder, da eine Invasion
dieses Krankheitserregers in von dem Orte des Primärleidens entfernten
Organe zu den seltensten Vorkommnissen gehört“, eine Annahme, die sicher
heute nicht mehr haltbar ist. Fränkel nimmt an, daß die Mikroorganismen
als vitale Eindringlinge anzusehen sind und lehnt die postmortale Invasion
von Bakterien ab. Dieser Ansicht von Fränkel müssen wir uns anschließen.
Auch Kobayashi ist es in unserem Institut gelungen, in einem Falle von
Septikopyämie Bakterien im Gehirn nachzuweisen. Auf die übrige Literatur,
die sich mit Bakterienbefunden im Gehirn bei Sepsis befaßt, gehe ich gar
nicht ein, es würde zu weit führen und wir wollen bei unseren Fällen bleiben
und sie vom bakteriologischen Standpunkte aus betrachten. Es unterliegt
keinem Zweifel, daB sowohl unsere Scharlach- wie Diphtheriefälle keine
reinen Fälle s. str. sind. Aber wenn wir bedenken, daß fast jede Diphtherie,
jeder Scharlach nicht nur eine Diphtherie oder einen Scharlach darstellt, in
deren Verlaufe meist Komplikationen vorkommen, so müssen wir erkennen,
daß unsere Befunde im Gehirn betreffs Bakterien in der Mehrzahl aus den
sekundär hinzugekommenen Komplikationen stammen. In einem Diphtherie-
fall konnten wir sogar kapselhaltige Diplokokken im Gehirn nachweisen,
und zwar in einer Kapillare, aber auch frei im Gewebe im gleichen Gie-
sichtsfelde neben einzelnen Stäbchen: der Obduzent konnte diese Diplo-
kokken aus Lymphdrüsen kulturell züchten und im Ausstrichpräparat sehen.
Die Stähcehen ließen sich kulturell nieht nachweisen, offenbar, weil die
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 211
Pneumokokken alles überwuchert haben. Finden wir aber im (Gehirn Stäb-
chen zusammen mit diesen Diplokokken, so liegt die Wahrscheinlichkeit nahe,
da es sich um einen Diphtheriefall handelt, die Stäbchen als Diphtherie-
bazillen anzusehen, zumal dann, wenn man auf die Befunde von Bonhoff,
Leede, Glaser, denen es gelungen ist, den Diphtheriebazillus nicht nur
im Blute, sondern auch im Liquor cerebrospinalis nachzuweisen und auf
die klinischen Beobachtungen von Dreyfuß, Foerster, Gerson, König
u.v.a. hinweist, daß bei Diphtheriebazillenträgern neurologische Krankheiten
auftreten können und der Erfolg der Therapie dieser Patienten nur vom Keim-
freimachen dieser Bazillenträger abhängt. In einem anderen zweiten Di-
phtherie-Scharlachfall finden wir an zwei Stellen, einmal im Cortex, das
zweitemal in der Medulla oblongata, frei im Gewebe, neben den »igenartligen
(iebilden, Stäbchen von mannigfaltiger Form sogar an den Enden ange-
schwollen. Auch hier kann man mit Bestimmtheit aus dem Morphologischen
nicht sagen, daß es ein Diphtheriebazillus ist, denn in einem Scharlachfall
finden sich Diplobakterien, die sicherlich keine Diphtheriebazillen sind. So
sind wir nicht imstande zu entscheiden, ob hier sichere Diphtheriebazillen
vorliegen. Aber zu behaupten, daß Diphtheriebazillen im Gehirn nicht vor-
kommen, wie es Fränkel meint, stimmt mit den Tatsachen nicht überein.
Wir können aber sagen, daß wir neben Kokken in den Diphtheriefällen
Stäbchen nachgewiesen haben, eine Differenzierung muß weiter nicht nur auf
kulturellen und mikroskopischen Untersuchungen, wie es Fränkel gemacht
hat, sondern auch durch Isolierung mittels Tierexperiments fortgesetzt werden.
Die weitere Annahme Fränkels, daß Mikroorganismen nur intra-
vaskulär anzutreffen sind, bedarf einer Korrektur. Bei sehr genauem Durch-
imustern der Präparate ist man imstande, Bakterien, wenn auch selten, frei
im Gewebe anzutreffen. Wir werden dies noch deutlicher bei den eigen-
artigen Gebilden, die wir gefunden haben, hervorheben müssen.
Die Ansicht Fränkels, daß Bakterien an verschiedenen Stellen des
Zentralnervensystems verschieden stark vorhanden sein können, können
wir nur bestätigen. Das stellenweise Vorhandensein von Bakterien intra-
vaskulär müssen wir hervorheben und es genügt nie, eine Stelle vom
Cortex auf Bakterien zu untersuchen, sei es kulturell, sei es mikroskopisch,
sondern man muß immer mehrere Stellen untersuchen. Wir konnten uns
weiterhin überzeugen, daß viele vom gleichen Block untersuchte Präparate
bakterienfrei waren, in den anderen dagegen waren massenhaft Kolonien
in den Gefäßen vorhanden. Dazu kommt noch, daß man große Schnitte haben
muß, um das Mark besonders gut zu übersehen. Was nun die Lokalisation der
Bakterien anlangt, so muß hervorgehoben werden, daß sie am häufigsten
tief in den Markgefäßen anzutreffen sind, viel weniger in «den Rinden-
kapillaren.
Es werden immer mehr Fälle publiziert, speziell häufig nach Masern,
die anatomisch im Zentralnervensystem Besonderheiten aufweisen, und
die Autoren sind geneigt, diese Veränderungen auf die Grundkrankheit
zurückzuführen. Unserer Meinung nach ist «das sicherlich nicht ganz richtig.
11*
212 A. Jakubowicz.
Es unterliegt auch für uns keinem Zweifel, daß in diesen Fällen, wo wir
keine Bakterien nachweisen konnten, auch Bakterien vorhanden sind. Denn
viele Veränderungen sind wahrscheinlich auf diese Sapruphyten, die viru-
lent geworden sind, zurückzuführen. Es ist weiter anzunehmen, daß die
Patienten, die akute Infektionskrankheiten durchgemacht haben, besonders
schwere Fälle von Scharlach und Diphtherie, eventuell im Gehirn auch
späterhin noch Bakterien beherbergen (Bazillenträger). Und es ist nicht un-
wahrscheinlich, daß manche akut einsetzenden Enzephalitiden auf solche
überstandene Infektionskrankheiten zurückzuführen sind, indem das Virus
durch irgendeinen Umstand aus der Latenz geweckt wurde.
Nachdem wir die bakteriologische Seite, soweit es im Rahmen dieser
Abhandlung möglich war, besprochen haben, wollen wir uns der dritten Art
morphologisch differenzierbarer Mikroorganismen zuwenden, bei denen es
sich, wie bereits erwähnt, wahrscheinlich um Pilze handelt. Ich möchte mich
hier nur mit aller Vorsicht äußern, da man nicht sicherstellen kann, wie diese
Gebilde ins Zentralnervensyvstem gelangten. Es sei hervorgehoben, daß es
schwierig ist zu entscheiden, ob die Gebilde, die so mannigfaltig in den
verschiedenen Fällen gefunden wurden, einheitlicher Natur sind, d. h. einem
Mutterboden entstammen. Um jedoch die Sache nicht zu komplizieren,
wollen wir sie als etwas Einheitliches auffassen, dabei jedoch von den zwei
im Falle Nr. 4439 gefundenen Gebilden absehen.
Bevor wir darauf zu sprechen kommen, müssen wir zuerst ihr Vor-
kommen, ihr morphologisches Aussehen, ihre Beziehungen zum Gefäßapparat
usw. berücksichtigen. Wir werden die Einschlußkörperchen, die sich in zwei
Fällen von Scharlach in den Purkinjeschen Zellen finden, auch hier ein-
beziehen, denn sie gehören vielleicht auch hieher. Es ist schon auffallend,
daß in 4 Scharlachfällen, im ganzen haben wir 6 Scharlachfälle, diese
Gebilde sich finden. Nun kommt hinzu, daß diese Gebilde auch in einem Di-
phtheriefall vorkommen. Berücksichtigt man die Krankengeschichte dieses
Kindes, so findet man eine Angabe, daß die Schwester des Kindes einen
Scharlach durchgemacht hat und zur Zeit der Erkrankung des Kindes als
Scharlachrekonvaleszentin mit dem Kinde in Berührung kam. Nehmen wir
den histologischen Befund im Zentralnervensystem hinzu, so müssen wir
gestehen, daß dieser Fall nach dem histologischen Befund ein komplizierter
Fall ist, denn die Veränderungen sind im Vergleich zu den anderen reinen
Diphtheriefällen zu intensiv, kurz, wir müssen in diesem Fall unentschieden
lassen, ob er eine reine Diphtherie oder eine Kombination von Scharlach und
Diphtherie darstellt. Die negativen Scharlachfälle sind vielleicht doch nicht
genau genug untersucht worden. Wir konnten uns immer überzeugen, daß
das Auffinden dieser Gebilde große Schwierigkeiten bereitet und bei der
Kleinheit derselben diese sehr leicht übersehen werden können. Bezüglich
der Darstellbarkeit «dieser Gebilde ist hervorzuheben, daß die Nissl-Fär-
bung die geeienetste ist, aber es sei betont, daß wir sie im Falle 4439,
wo sie reichlich vorhanden waren, auch mittels Gramfärbung und Häm.-
Kosinfürbung nachweisen konnten. Bei der Häm.-Eosinfärbung scheint ein
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie. 213
Teil dieser Gebilde amphophil zu sein. Aber die Affinität zu basischen
Stoffen überwiegt sicherlich. Im Grampräparat waren sie spärlich im Mark
des Dentatus und sie waren Grampositiv. Die Einschlüsse in den Purkinje-
schen Zellen waren fast bei allen Färbungen, die vorgenommen wurden,
sichtbar, d. h. sie waren also leicht aufzufinden. Die Mannigfaltigkeit der
Größe, der Form und beträchtlichen Ähnlichkeit dieser Gebilde mit Blut-
elementen und speziell, wenn man es mit hämolytisch verändertem Blutinhalt
zu tun hatte, wie in unseren Fällen, bringt es mit sich, daß wir diese Ge-
bilde mit Bestimmtheit in der Blutbahn nicht nachgewiesen haben. Das soll
aber nicht bedeuten, daß sie hier nicht vorhanden sind; nur um Irrtümern zu
entgehen, haben wir es nicht berücksichtigt. Wenn ich die Abbildungen von
Klarfeld in seiner Arbeit „Zur Histopathologie der experimentellen Blasto-
mykose‘“ mit meinen Befunden vergleiche, so besteht eine große Ähnlichkeit.
Sie entsprechen vollkommen denjenigen in Klarfelds Abbildungen. Es
liegen aber auch hämolytisch veränderte Blutelemente in diesen Gefäßen,
daß ick daher kaum wage, schwierige Differenzierungen vorzunehmen und
daher die Frage offenlasse, ob diese Gebilde tatsächlich in der Blutbahn
vorkommen. Im Falle 4430 findet sich in der Zentralwindung einer Seite
ein eigenartiges Kammerwerk. Dieses Bild entspricht vollständig den Bil-
dern von Freeman in dessen Arbeit: „Torula Infection of the central
nervous system.“ Auch kann man sich leicht überzeugen, daß dieses Kammer-
werk, das diffus in der Rinde wie im Mark vorkommt, von Fäden durchsetzt
ist. Ich möchte noch erwähnen, daß das morphologische Aussehen dieser
Gebilde den Bildern von Klarfeld, wie aus seinen Abbildungen hervorgeht,
zum Teil vollständig entspricht, zum anderen Teil finde ich in den Ab-
bildungen Klarfelds nichts Ähnliches. Dies betrifft z. B. die Sproßbildung
aus (der Mutterzelle und aus den Fäden. Die Bilder, wie wir Gelegenheit hatten
zu beobachten, sind sehr mannigfaltig. Die häufigste Form, die sich in den
verschiedenen Fällen findet, besteht aus Gebilden mit einem zentralen
Anteil, der dunkelgrauviolett bis schwarz gefärbt und im Inneren eine
wabige Struktur zeigt; um den zentralen Anteil liegt ein graugrüner, homo-
gener Hof, der manchmal, aber nicht immer, um den ganzen zentralen
Anteil ausgebildet ist und den Eindruck einer Kapsel macht, zumal an
seiner Peripherie eine scharfe Umgrenzungslinie sichtbar ist. Doch kommen
Varianten vor, indem sowohl der zentrale und periphere Anteil nicht aus-
gebildet ist, sondern eine runde oder ovale Masse mit deutlichen Außen-
grenzen vorliegt; man hat nur manchmal den Eindruck, als ob im Inneren
etwas gelegen wäre. Diese Partie erscheint grau. Nun gibt es Formen, wo der
periphere Anteil halbmondförmig um den zentralen ausgebildet ist. Diese
häufigsten Formen sind von der Größe eines halben bis dreiviertel Erythro-
zyten; diese Formen haben wir in den Fällen 4430, 4437, 4433, 4439 gesehen.
Im Falle 4433 (Diphtherie-Scharlach) wurden sie an zwei Stellen beobachtet,
und zwar im Cortex und in der Medulla oblongata. Beidemal in Vergesell-
schaftung von Stäbchen. Sie waren nur in den XNissl-Präparaten aufzu-
finden, im Falle 4430 (Scharlach-Polyarthritis) in der Brücke um eine
214 A. Jakubowicz.
Ganglienzelle gelagert. In diesem Falle war in der vorderen Zentralwindung
das oben erwähnte Kammerwerk mit Fäden zu finden. Im gleichen Fall und
in demselben Präparat fanden sich in den Purkinjeschen Zellen über dem
Velum med. ant. und im Cortex des Wurmes Einschlüsse, die in der Nissl-
Färbung einen hellen Hof und in den Heidenhain-Präparaten eine Kapsel
erkennen ließen. Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, daß in den Gefäßen
Kugeln ohne Struktur liegen und bei hämolytisch veränderten Blutelementen
es schwer zu entscheiden ist, ob es sich um Blutzellen oder um ähnliche
Gebilde wie im Gewebe handelt. Im Diphtheriefall 4437 war diese Form
auch neben Ganglienzellen gelagert anzutreffen und auch hier traten diese
Gebilde in Gruppenform auf. Im Falle 4439 (septischer Scharlach) waren sie
in den Grampräparaten, im Mark des Nucleus dentatus anzutreffen. Aber
diejenigen Formen, auf die wir noch zurückkommen werden und die in den
Stammganglien gefunden wurden, erinnern uns zum Teil an die eben be
schriebenen Formen der Gebilde. Im Falle 4438 (Scharlach-Diphtherie) treffen
wir auf den ersten Blick etwas anders aussehende Formen, und zwar Ge-
bilde von ovaler bzw. runder Form und von verschiedener Größe. Diese
letzteren übertreffen oft einen Erythrozyten an Größe, sie sind oval und
zeigen an einer Stelle Sproßbildung, zum Teil sind sie dunkelviolett oder
grau. Eine Kapsel kann man an dieser Type nicht erkennen. Vielleicht
handelt es sich hier um die Mutterzellen. Die aus diesen hervorgehenden
Tochterzellen sind von der Größe zirka eines Zehntels der Mutterzellen und
lassen schon zwei Teile erkennen, einen dunkleren und einen helleren
Anteil. Der hellere Anteil ist sehr schmal. Sie fanden sich im Bereiche des
Corpus callosum. Die kleinen Tochterzellen erinnern wieder an die Tochter-
zellen des Falles 4439. Betrachten wir nun nochmals die Formen im
Falle 4439, wo sie in den Stammganglien aufzufinden sind, so kanun man
hier nicht mehr zweifeln, daß es sich um Pilze handelt. Wir sehen, daß hier
einerseits Kugeln im 'Teilungsstadium sind, anderseits Fäden, in denen sich
wieder Kugeln finden, die ein Teilungsstadium aufweisen. Diese Kugeln schwan-
ken in ihrer Größe, sie entsprechen ungefähr einem halben bis einem ganzen
Erythrozyten. Diese Kugeln sind offenbar Mutterzellen, aber wir finden hier
auch Tochterzellen, die sicherlich aus den vorher genannten hervorgegangen
sind. Sie sind in der Größe entsprechend ein Zehntel Erythrozyten. Es
fanden sich auch Fäden ohne diese Gebilde, manche von diesen Gebilden
lassen eine halbmondförmige Aufhellung erkennen. Der Fall 4408 (sep-
tischer Scharlach) hat nur Einschlüsse in den Purkinjeschen Zellen. Ob
sich in den Gefäßen auch soche Gebilde finden, ist schwer zu entscheiden.
Noch einem Moment muß man Rechnung tragen, d. i. ob diese Gebilde nicht
etwa Kunstprodukte darstellen; das ist gar nicht so leicht zu entscheiden.
Wenn wir das Bild von Fall 4430 anschauen, wo diese Gebilde neben den
pontinen Ganglienzellen zu liegen kommen, während bei der Sektion die
Brücke nicht angeschnitten wurde: und wenn wir bedenken, daß unzählige
Nissl-Präparate in unserem Institut gemacht werden und noch nie jemand
Gelegenheit gehabt hat, solche Gebilde zu sehen und daß die Gebilde
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 215
immer im Schnittpräparat gelegen sind, so müssen wir offen gestehen, daß
es schwer anzunehmen ist, daß es sich um Kunstprodukte oder um Infektion
unserer Manipulationsmittel mit Pilzen handelt. Man könnte auch einwenden,
daß sie Degenerationsprodukte von Zellen resp. Kernen vortäuschen. Auch
dies muß verneint werden; die Fadenbildung im Falle 4439 und die Gruppen-
anordnung beweisen zur Genüge, daß davon keine Rede sein kann. Somit
können wir annehmen, daß es sich um fremde Stoffe handelt, die offenbar
intra vitam in der Körper hineingelangt sind. Auf welchem Wege sie hinein-
gelangt sind, ist mir unmöglich zu bestimmen. Nach Klarfeld benützen
sie den hämatogenen und wahrscheinlich auch den Iymphogenen Weg. Ob
es sich um einen Soor handelt, ist auch fraglich. Nach Aschkanazy kann
der letztere ins Gehirn verschleppt werden. Nicht ein einziger Fall hat die
Diagnose Soor, sowohl in der Krankengeschichte wie im Sektionsprotokoll.
Vergleicht man aber diese Bilder, so kann man sagen, daß es sich offen-
bar um Hyphomyzeten handelt. Es erscheint aber besser, diese Frage über-
haupt offenzulassen, zumal wir nicht sagen können, welcher Untergruppe
der Hyphomyzeten diese Pilze zuzurechnen sind. Dagegen seien die Bakterio-
logen aufmerksam gemacht, daß in Fällen von Scharlach Gebilde im Zentral-
nervensystem gehäuft vorkommen, für die am geeignetsten die Nissl- Färbung
erscheint, und die durch ihre Formen an Pilze erinnern.
Es liegt mir ferne, die ganze Literatur bezüglich Einschlußkörperchen
anzuführen, nur soweit sie für unsere Fragen Interesse haben, seien sie
erwähnt. Wenden wir uns zu den Einschlüssen, die in zwei Fällen von
Scharlach gefunden wurden. Lafora und Glück haben im Jahre 1911 bei
einem Fall von Myoklonusepilepsie Einschlüsse im Bereiche der Ganglien-
zellen beschrieben. Da sich diese Einschlüsse mit Farbstoffen, die Corpora
amylacea färben, gefärbt haben, bezeichneten sie diese als Corpora amylarea.
Diese Einschlüsse fanden sie an verschiedenen Stellen des Zentralnerven-
systems. Es sei bemerkt, daß bei der Sektion eine Malariamilz gefunden
wurde.
Bielschowsky beschreibt Corpora amylacea bei einem Fall von Athe-
tose double. Sie fanden sich sowohl intrazellulär wie auch in den Den.
triten und mit seiner Silberimprägnationsmethode erscheinen sie meist.
homogen, nur ein kleiner Teil ließ eine schattenartige, radiäre Streifung
erkennen. Diese Corpora amylacea fand er nur im Nucleus lenticularis, er
schreibt weiter: „Bei Paraffineinbettung und nachheriger Anwendung von
Kernfarbstoffen ließ sich in den Einschlüssen eine ziemlich charakteristische
Struktur erkennen, es sonderte sich dann ein dunkleres und homogenes
Zentralgebiet von einer hellen Randzone ab, die ein waben- oder schaum-
artiges Aussehen hatte.“ Bielschowsky meint, daß der Alkohol hier Stoffe
extrahiert hat.
Spielmeyer fand Einschlüsse bei einem Fall von Schwachsinn und
Muskelatrophie. Sie gaben keine Reaktion auf Amyloid und waren nur der
Bielschowskyschen Färbung zugänglich, fanden sich sowohl im Zelleih
216 A. Jakubowicz.
wie in den Fortsätzen. Er bezeichnet sie zum Unterschied von den vorigen
Autoren als argentophile Kugeln.
Sträußler hat eine eigentümliche Erkrankung mit Einlagerungen in den
Ganglienzellen bei einem Fall von kongenitaler Kleinhirnatrophie beschrie-
ben. Diese Einlagerungen gaben die Osmiumreaktion.
Westphal und Sioli beschreiben eigenartige Einschlüsse in einem
Fall von Myoklonusepilepsie. Bei der Färbung mit Toluidinblau konnten sie
mehrmals eine Schichtung erkennen und fanden sie blau angefärbt. Im
allgemeinen rund, lagen sie in der Mehrzahl in den Ganglienzellen und
waren bis zu sieben in einer Ganglienzelle anzutreffen. Bei van Gieson-
Färbung erschienen sie rosa, bei Scharlachrot gaben sie keine Fettreaktion,
mit dem Bestschen Karmin und Neutralrot färbten sie sich rot, mit Methyl-
violett, Thionin und Jodgrün färbten sie sich wie das Grundgewebe, mit
Lugolscher Lösung färbte sich der Zentralanteil dunkelbraun, der peri-
phere hellgelblich, mit May-Grünwaldscher oder Mannscher Farblösung
konnte man im Inneren dunkle Punkte erkennen, bei der Bielschowsky-
schen Imprägnation hatten diese zum Teil periphere drusige Struktur. Auch
Kalkfärbung gab ein positives Resultat. Da diese Gebilde sich mit Farbstoffen,
die für Corpora amylacea charakteristisch waren, färbten, so schließen sich die
Autoren der Ansicht von Lafora und Glück an und bezeichnen sie — wie
die vorigen — als Corpora amylacea. Diese Einschlüsse fanden sich im ganzen
Zentralnervensystem, auch im Kleinhirn. Die Autoren sind der Meinung,
daß Kunstprodukte ausgeschlossen seien und die Bedenken Stirners, daß
Corpora amylacea in den Ganglienzellen nicht vorkommen, nicht mehr halt-
bar ist. Es sei noch erwähnt, daß die beiden Autoren extrazellulär gelegene
glykogene Stoffe nachweisen konnten. Eine Reihe von Autoren hat bei
Myoklonusepilepsie Einlagerungen in den Ganglienzellen beobachtet. Es würde
zu weit führen, alles zu beschreiben. Ich verweise auf die Arbeit von Oster-
tag; es sei aber hervorgehoben, daß Ostertag der Ansicht ist, daß es sich
um albuminoide Substanzen mit Beimengung von kohlehydratähnlichen
Stoffen handelt, und er meint, daß das verschiedene färberische Verhalten mit
dem Alter des Körperchens zusammenhängt und schlägt den Namen Myo-
klonuskörperchen vor.
F. H. Levi äußert sich bezüglich der Einschlüsse folgendermaßen:
„Im Gehirn des Menschen kommen unter den Bedingungen der normalen, vor
allem: aber der krankhaft gesteigerten Involution sowohl im Zellkern als
auch im Plasma Einschlüsse vor, die in ihrer Genese, Form und Färbhar
keit den bei verschiedenen Viruskrankheiten beobachteten derart ähnlich
sind, daß man sie kaum für Wesen verschieden halten kann.“ Eine Reihe
von Autoren haben Einschlüsse in den (anglienzellen bei postenzephaliti-
schen Zuständen, wie auch Paralysis agitans beobachtet, und zwar meist
in der Subst. nigra. Ich verweise hier auf die Arbeiten von Redlich und
((ndlowski. Ich möchte aber betonen, daß die letztgenannten Autoren
Schwierigkeiten gehabt haben, diese Finschlüsse bei der Toluidinblau-
färbung darzustellen. In den Fällen von Redlich färbten sie sich mit
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und Diphtherie 217
Toluidinblau, ebenso mit Kresylviolett, nur wenig bei der Giemsa-Färbung
hell, nahezu weiß oder leicht rötlich, bei der Bestfärbung blau, bei Mallory
rötlich, mit einem Stich ins Blaue; eine Amyloidfärbung mit Jod gaben sie
nicht. Auch die Bielschowsky-Färbung gab ein negatives Resultat. Red-
lich gibt weiter an, daß sie vielleicht außerhalb der Ganglienzellen liegen.
Und er schließt sich der Ansicht an, daß zwischen Myoklonusepilepsie und
Parkinsonismus eine Verwandtschaft besteht.
(Godlowski beschreibt diese Einschlüsse in der Subst. nigra in vier
Fällen von Paralysis agitans und Parkinsonismus. Ihr färberisches Ver-
halten stellte sich folgendermaßen dar: bei der Häm.-Eosinfärbung färbten
sie sich rosa, mit Fuchsin rot, bei Mallory-Färbung blau, mit Toluidin-
blau und mit Fettfarbstoffen färbten sie sich überhaupt nicht. Im Biel-
schowsky-Präparat waren sie nicht aufzufinden, sie waren am besten
mit der Heidenhainschen Färbung darstellbar. Im Zentrum dieser Ge
bilde sah er manchmal einen schwarzen Kern, der einem Nucleolus glich, sie
waren von einem lichten Hof umgeben, und wenn dieser etwas breiter war,
konnte er in diesem Stränge unterscheiden. Er fand auch Corpora amylacea
frei im Gewebe und diese zeigten ein entgegengesetztes färberisches Ver-
halten. Und er kommt zum Schluß, daß die letzteren mit den vorher ge-
nannten nichts zu tun haben.
Es ist schon lange bekannt, daß bei Scharlach Einschlüsse in den Leuko-
zyten als sogenannte Döhlesche Körperchen vorkommen. Kolle und
Hetsch meinen, daß die von Mallory, Bernhard, Döhle, v. Provazek
beschriebenen protozoenähnlichen Gebilde und Einschlußkörperchen nichts
mit dem Scharlacherreger zu tun haben, denn man findet sie experimentell im
Tierversuch bei allen möglichen Infektionen. So konnte Getzowa auch beim
Tetanus ähnliche Bilder sehen. Doflein schließt in seinem Lehrbuch der
Protozoenkunde seine Vorbemerkungen zur Protozoenkunde folgendermaßen:
„Abgesehen von der Membranlosigkeit der Gebilde, wird das Vorkommen
verschiedenartiger Stadien als Merkmal der Zugehörigkeit zu den Protozoen
angesehen. Wenn es sich bestätigen sollte, daß die Chlamydozoen, deren
Aufstellung und Umgrenzung auf v. Provazek zurückzuführen ist, wirklich
Organismen sind, was mir nicht unmöglich scheint, so wären sie wohl
nach den bisher bekannten Merkmalen ebenfalls als Monären aufzufassen
und ähnlich wie die Spirochäten den Bakterien eng anzuschließen. Da sie aber
ausschließlich parasitisch bekannt sind, und bei ihrer Kleinheit ihrem
feineren Bau vollkommen unerforscht sind, bleibt ihre Einordnung im Orga-
nismenreich vorläufig ganz problematisch.“
Bevor ich diese Betrachtungen abschließe, möchte ich nur erwähnen, daß
die so bekannten Negrischen Körperchen auch heute in ihrem Wesen noch
unbekannt sind.
Zum Schlusse sei angeführt, daß Marburg darauf hinweist, daß die
Einschlüsse in den Ganglienzellen bei der Vakzineenzephalitis nichts anderes
darstellen, als basichromatische Zelldegenerationen des Kernes und sie mit
den Befunden von Spielmeyer bei Fleckfieber und mit den Befunden
218 A. Jakubowicz.
von Wohlwill bei Masern identifiziert. Bezüglich der Natur der Einschlüsse
äußert sich Marburg folgendermaßen: „Man wird sich in diesen Fällen
vielleicht doch, wie dies ja heute schon vielfach geschieht, von der Annahme
entfernen müssen, daß es sich bei der Mehrzahl der Einschlüsse um ein
Virus handelt. Sie stehen nur insofern dem Virus nahe, als offenbar nur
gleichgerichtete, gleichsinnige Veränderungen degenerativer Natur vorliegen,
die durch die spezifische Noxe bedingt sind. Die Verschiedenheit dieser Ge-
bilde hängt offenbar nicht nur von der Verschiedenheit der Noxe, sondern
auch von der Intensität und deren Wirkung ab. Sicherlich kommen auch
andere Faktoren dabei noch in Frage.“
Wohlwill sah Einlagerungen in Zellen, die ausnahmslos den Kern ent-
behren, bei Masernenzephalitis.
Nach diesem Überblick der Literatur wollen wir unsere Einschlüsse be-
trachten. So sei zuerst bemerkt, daß sie fast allen Färbungen zugänglich
waren, aber sie zeigten sicherlich den basischen Farbstoffen gegenüber eine
größere Affinität. Diese Einschlüsse waren in den Purkinjeschen Zellen
vorhanden, die zum Teil vollständig intakt waren, d. h. am Kern und seinem
Nucleolus konnte man keine pathologischen Veränderungen wahrnehmen,
nur der Protoplasmarand war an der Stelle, wo der Einschluß lag, an
gefressen. Sie lassen in den Heidenhain-Präparaten einen hellen Hof,
scharf umgrenzt (Kapsel?), erkennen. In den Blutgefäßen liegen Kugeln, die
an diese Einschlüsse erinnern. In der gleichen Zelle sind sie von verschie
dener Größe, aber immer gut umgrenzt. In einem Fall wurden im gleichen
Präparat Pilze gefunden, und zwar um eine Ganglienzelle gelagert. Im gleichen
Fall massenhaft Pilze, die Kammerwerke bilden, in der vorderen Zentral-
windung.
Halten wir an diesen Tatsachen fest und vergleichen wir unsere Ein-
schlüsse mit den in der Literatur niedergelegten, so sind sie nicht iden-
tisch mit den von Lafora.und Glück zuerst beschriebenen Corpora amylacea,
denn diese Autoren konnten eine Schichtung erkennen und ihre Gebilde
färbten sich mit Farbstoffen, die für Corpora amylacea charakteristisch sind.
Sie entsprechen denjenigen von Spielmeyer, denn sie sind nicht nur
argentophil, sondern sie färben sich auch mit fast allen Farbstoffen. Sie
entsprechen auch nicht den Einlagerungen von Redlich, Godlowski,
Marburg, Wohlwill u. a., denn sie sind nicht Kerndegenerationsprodukte.
Nochmals sei betont, daß in meinen Fällen der Kern in den Purkinjeschen
Zellen vollständig intakt war. Sie entsprechen aber auch nicht den von
v. Provazek aufgestellten Chlamydozoen.
Mit Rücksicht auf die angeführten Tatsachen macht es eher Jen Ein-
druck, daß es sich um richtige Eindringlinge handelt, die den Hyphomyzeten
schr ähnlich sehen.
Über Veränderungen des Zentralnervensystems bei Scharlach und diphtherie 219
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Aus dem neurologischen Institut der Universität Wien
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg).
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie.
Von
Dozent Dr. A. Pekelsky, Brünn.
Mit 6 Abbildungen im Text.
Unter den zahlreichen anatomischen Befunden, welche bei Fällen von
Idiotie gefunden wurden, war die Hemisphären-Atrophie einer der wesent-
lichsten Obduktionsbefunde. Späterhin ist dann auch eine ganze Anzahl
von Fällen von genuiner Epilepsie zur Beobachtung gekommen, die sich bei
der Obduktion als Hemisphären-Atrophie entpuppt haben.
Nach der seinerzeitigen ausführlichen Beschreibung durch Bourne-
ville, der diese Erkrankung in erster Linie bei Idiotien festgestellt hat,
hat dann später Bischoff eine Analyse der klinischen und pathologischen
Syndrome bei derartigen Fällen vorgenommen. Hier sehen wir, ähnlich
wie bei Bourneville, die Meinung vertreten, daß die gesamte Hemisphären-
Atrophie auch in geringerem Ausmaß auftreten kann, und nach der Meinung
der vorhin genannten Autoren kann der Prozeß auch auf einzelne Lappen
des Gehirns beschränkt bleiben.
Es war schon seinerzeit den klinischen Beobachtern aufgefallen, daß die
sogenannten Herdsymptome, wie man sie eigentlich bei dieser Erkrankung
erwarten müßte, ausgeblieben sind. So zeigt z. B. auch der eine Fall von
Bischoff eine typische Epilepsie, die man klinisch ohneweiters als „genuine“
bezeichnen könnte, da man keine charakteristischen Zeichen, die auf eine
schwere organische Veränderung der einen Hirnhälfte hingewiesen hätten,
gefunden hatte. Auf Grund dieser Tatsachen muß man eigentlich diese Er-
krankungen von den gewöhnlichen Herdaffektionen des Großhirns trennen,
da letztere eben durch das Hervorrufen charakteristischer Ausfallssymptome
ausgezeichnet sind, während bei der Hemisphären-Atrophie der Lokal-
charakter des Prozesses nicht oder nur selten andeutungsweise zutage tritt.
Man wird infolgedessen die Überzeugung haben, daß dieser eigenartige
Prozeß, der mit einer ganz wesentlichen Volumensverminderung des Gie-
hirns einhergeht, doch vollständig zu trennen ist von den übrigen Degenerativ-
prozesser: des Großhirnmantels. Die allgemeinen epileptischen Krämpfe,
welche bei solchen Fällen meist gefunden werden, zeigen also durchaus
nichi Jackson-Charakter, so daß auch ein Hinweis durch dieses klinische
222 A. Pekelsky.
Symptom auf einen Herdprozeß in Wegfall kommt. Wenn man allerdings
die Krankengeschichten von verschiedenen Autoren durchliest, so findet
man entweder in der Anamnese der Fälle oder auch im objektiven Be-
fund in späteren Stadien der Erkrankung deutliche Hinweise auf das
Vorhandensein eines halbseitigen Prozesses. So sehen wir z. B. bei
den Fällen von Bischoff, daß schon in frühester Kindheit Zeichen
einer vorübergehenden Halbseitenlähmung beschrieben werden, welche
allerdings im späteren Verlaufe zurücktreten und sich nur in sehr geringem
Ausmaße zeigen. Man kann in solchen Fällen zwar keine ausgesprochene
Lähmung feststellen, -hingegen geringe Unterschiede der Muskelkraft oder
Ungeschicklichkeit und allenfalls eine Steigerung der Sehnenreflexe auf einer
Körperseite. So relativ wenig charakteristisch solche Symptome bei anderen
Prozessen wären, so scheint es doch auch an der Hand anderer Fälle der
Literatur wesentlich, in ihnen bei frühinfantil einsetzenden Schädigungen
des Gehirns wichtige Lokalzeichen zu sehen und einen Hinweis auf eine
schwere organische Schädigung der entsprechenden Hirnhälfte zu erkennen.
Stellt somit dieser Fall von Bischoff einen charakteristischen Typus
der klinischen Syndrome bei Hemisphären-Atrophie vor, so sei hier noch
auf einen zweiten Typus hingewiesen, wie ihn der von Spielmever
berichtete Fall zeigt.
Hier hatte es sich um eine typische genuine Epilepsie gehandelt, die
in Gregensatze zum Bielschowskyschen Fall (s. o.) erst um das 20. Le-
bensjahr aufgetreten war und sich allmählich im Laufe der Zeit an Inten-
sität steigerte. Bemerkenswert war, daß mit dem epileptischen Grundleiden der
geistige Verfall einsetzte und sich rasch eine Verblödung entwickelte. Durch
20 Jahre scheint das Bild ein gleichförmiges gewesen zu sein, als sich plötzlich
nach einem Status epilepticus eine totale Halbseitenlähmung entwickelte,
die sich allmählich rückbildete und durch erhöhte Reflexerregbarkeit, typische
Kontrakturen das residuäre Bild eines abgelaufenen Insultes als Dauer-
zustand zu zeigen. Beachtenswert war auch hier das Vorhandensein von
Sensibilitätsstörungen subjektiver und objektiver Natur, wobei eime ge-
wisse Selektion der einzelnen Empfindungsqualitäten bestand. Auffallend
war im Falle von Spielmeyer und vermutungsweise auch in jenen von
Bischoff, da über diese nicht besonders berichtet wird, das Fehlen von
Pyramidenzeichen im Sinne des Babinskischen Phänomens und anderer
gleichsinniger pathologischer Reflexe. Auch da fand sich anatomisch eine
typische Hemisphären-Atrophie ohne irgendwelche Zeichen eines abge-
laufenen Blutungs- oder Erweichungsprözesses, welcher die stattgehabte
Parese hätte erklären können.
Neben «diesen Fällen, wo zwar Erscheinungen von Idistie oder Epi-
lepsie bestehen, und sich mehr oder weniger signifikante Merkmale einer
halbseitigen Hirnschädigung zeigen, sind dann auch noch jene Fälle zu
erwähnen, die besonders auffallend und interessant sind, da die nervösen
klinischen Phänomene nieht auf eine Seite, sondern auf beide Körperhälften
sick erstrecken. So sei hier in erster Linie auf einen Fall 10 von Höster-
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 223
mann hingewiesen, wo knapp nach der Geburt schon Krämpfe einsetzten,
sich frühzeitig Insuffizienzerscheinungen des Zentralnervensystems zeigten
und sich unter Mehrung der epileptischen Anfälle eine spastische Parese aller
vier Extremitäten entwickelte. Hier fand sich wohl eine sklerotische Atrophie
des größten Teiles der Hirnoberfläche der einen Seite, allerdings Entwicklungs-
defekte des Großhirns auf der anderen Seite, welche das homonyme Zustands-
bild erklären konnten. Dieser Fall zeigt allerdings schon den Übergang zu
den klassischen Fällen von zerebraler Kinderlähmung, welche durch eine Un-
Abb. 1.
zahl pathologischer Prozesse hervorgerufen werden können und die für die
Beurteilung des hier zur Diskussion stehenden Prozesses unwesentlich sind.
Der typische Fall, bei dem die Halbseitenerscheinungen in deutlichster
Weise auftreten und infolgedessen die Halbseitenläsion sichergestellt war,
ist der von Bielschowsky beschriebene Fall, wodurch gerade bei diesem
sonst ziemlich uniformen Bild so wesentliche Differenzen im klinischen
Verhalten bestehen.
Wir wollen nun im folgenden über einen Fall berichten, dessen ana-
tomisches Material uns vor vielen Jahren zur Verfügung gestellt wurde
und der bei der immerhin wesentlichen Seltenheit uns wert erscheint,
berichtet zu werden.
Krankheitsgeschichte. M. L., geb. 4. Juni 1869, wurde am 31. Jänner 1911
in das Wiener Versorgungshaus aufgenommen.
Anamnese: Im 2. Lebensjahr erkrankte die Patientin an einer fieberhaften
Gehirnerkrankung (zerebrale Kinderlähmung). Seit dieser Zeit litt sie an spastischer
224 A. Pekelsky.
Lähmung der linksseitigen Extremitäten mit Kontraktur im linken Ellbogen- und Hand-
gelenk und zeitweiligen kurzdauernden epileptischen Anfällen. Vom 4. bis zum
30. April 1913 wurde sie wegen Erysipelas faciei im Elisabeth-Spital behandelt. Seit
Dezember 1917 traten die epileptischen Anfälle öfters auf, der Geisteszustand der
debilen Patientin hat sich merklich verschlechtert, sie wurde unruhig, äußerte oft
Selbstmordabsichten, war sehr jähzornig und vergeßlich; die epileptische Demenz wurde
immer deutlicher. Der Tod erfolgte am 15. Juli 1918 nach gehäuften epileptischen
Anfällen im epileptischen Paroxysmus.
Makroskopischer Befund des Gehirns. Das Gehirn zeigt deutlich Hemi-
atrophie der rechten Hemisphäre mit starker Verkleinerung der meisten Windungen der
Abb. 2.
lateralen Oberfläche und einen weit stärkeren Hydrozephalus rechts als links (siehe
Abb. 1 und 2).
Das Marklager der rechten Hemisphäre ist meistens bis auf ein Viertel des-
jenigen der linken Hemisphäre reduziert. In der rechten Capsula interna treffen wir
weit weniger Markfasern als links.
Das Corpus callosum ist beiderseits, besonders aber rechts, auffallend schmal und
abgeplattet.
Der Längsdurchmesser der linken Hemisphäre zu demjenigen der rechten Hemi-
sphäre 14!/,:13, der Breitendurchmesser 6:4!/,. Auch die Höhe der linken Hemi-
sphäre ist etwas größer gegenüber rechts.
Der rechtsseitige Hydrozephalus übertrifft um ein Zwei- bis Mehrfaches jene der
linken Hemisphäre. Das Ventrikelependym ist verdickt, das Foramen Monroi erweitert.
Die Stammganglien sind auf der rechten Seite etwas disloziert und verkleinert.
Die Rinde der weißlichen Miniaturwindungen ist verschmälert und verkleinert; die
Konsistenz der atrophischen Rindenstellen ist derber als normal, fast lederartig, und
die Sulci klaffen stellenweise deutlich an den lateralen Partien der Hemisphäre im
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 225
Bereich der verkleinerten Windungen. Die Pia ist über diesen Stellen verdickt, doch aber
meist von der Rinde abziehbar. Eine Aplasie der A. basilaris und des Circulus Willisii
finden wir nicht.
Zusammenfassend läßt sich über den makroskopischen Befund so viel
aussagen, daß wir eine auffallende Verkleinerung des rechten Großhirn-
mantels sehen, welcher tatsächlich nur als eine generelle Verkleinerung zu
betrachten ist, da, wie die Beschreibung sagt und die Abbildungen zeigen,
nur der allgemeine Umfang des Großhirns reduziert ist, nicht aber die grobe
Struktur des Gehirns eine Abänderung erfahren hat. Im ganzen macht
das Gehirn den Eindruck einer allgemeinen Schrumpfung der rechten Hemi-
sphäre, zumal auch die Furchen nicht übermäßig klaffen, sondern eher
stellenweise einen gewissen gepreßten Eindruck machen, was gegenüber den
annähernd normal geöffneten Furchen der linken Seite besonders kon-
trastierend auffällt. Wesentlich ist ferner, daß wir an keiner Stelle des
Großhirnmantels irgendeine Windungsverbildung sehen; nirgends findet sich
eine mikro- oder pachygyre Entartung, und der Aufbau des Windungssystems
der atrophischen Hemisphäre ist durchaus als normal zu bezeichnen. Dazu
kommt noch die relative Intaktheit der Leptomeningen, welche, wie die
Abbildung zeigt, die Profilierung des Windungsreliefs deutlich durchscheinen
lassen. Und auch bei genauester Betrachtung konnte man eigentlich an
einzelnen Stellen keine Änderung wahrnehmen, welche auf einen frischen
oder abgelaufenen, stärkeren meningealen Prozeß hinweisen würde. Die
Meningen sind vielfach mit der Hirnoberfläche verwachsen und dieser innige
Konnex der beiden Bestandteile führt auch dazu, daß man die Windungs-
züge so plastisch erkennen kann. Anderseits führen aber diese Adhäsionen
zum Aneinanderpressen benachbarter Windungszüge, was bei der histo-
logischen Eigenart des Prozesses hohe Grade erreichen kann (s. u.). Es
besteht somit eine charakteristische Hemisphären-Atrophie ohne irgendeinen
Bildungsdefekt, also sicherlich kein Zustand, der mit kongenitalen oder
frühinfantilen groben Herdprozessen identifiziert werden kann. Neben dieser
Hemisphären-Atrophie besteht dann eine Atrophie im Bereiche der inneren
Kapsel und eine solche auch scheinbar in den Stammganglien, wobei es
allerdings offenbleibt, was vielleicht auf Kosten des begleitenden halb-
seitigen Hydrozephalus zu setzen ist. Wir sehen, was wir auch schon
vorhin betont haben, eine auffallende Erweiterung der halbseitigen Seiten-
ventrikel, welche sich streng auf die atrophische Seite beschränkt und
welche hier vermutungsweise zu einer weiteren Konsumtion des ohnedies
an Umfang reduzierten Marklagers geführt hat.
Gehen wir nun zur mikroskopischen Besprechung unseres Falles über.
Wir haben selbstverständlich aus allen Anteilen der Großhirnoberfläche
Blöcke herausgeschnitten und haben selbstverständlich nicht nur die atrophi-
sche Seite, sondern auch die anscheinend normale Hirnhälfte untersucht.
Wenn wir zunächst die kranke Hemisphäre beschreiben, so schen wir an den nach
den verschiedensten Methoden gefärbten Schnitten (Hämatoxylin, Eosin, Van-Gieson,
Toluidinblau, Mallory-Pollaks Gliamethode, Weigert- Markscheidenmethode) folgende
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 15
226 A. Pekelsky.
allgemeine Veränderungen: Immer siehl man, daß die Rinde als solche in ihrem
zellulären Aufbau vorhanden ist, was nach dem makroskopischen Befund schon
selbstverständlich ist (s. Abb. 3). Wenn wir allerdings die Rinde mit normalen Test-
präparaten vergleichen, so sehen wir, daß die Rindenbreite eine erheblich geringere
ist, und man kann ohneweiters feststellen, daß hier eine Verschmälerung auf die Hälfte
oder stellenweise sogar auf den dritten Teil der Norm stattgefunden hat. Fragen wir
uns nun, auf wessen Kosten diese Verschmälerung stattgefunden hat, so sehen wir
folgendes: Im allgemeinen haben alle Schichten an Umfang eingebüßt. Aber man kann
sehen, daß dieser Reduktionsvorgang am Rindenquerschnitt nicht alle Zonen gleichmäßig
Abb. 3.
befällt. Es fällt uns zunächst auf, daß z. B. die Molekularzone relativ am besten er-
halten bleibt, was gegenüber den oft stark verkleinerten anderen Schichtarealen
besonders auffällt. Was nun die Selektion der einzelnen Schichten betrifft, so kann
man hier keine gesetzlichen Feststellungen erheben. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß die Bevorzugung ‘irgend einer einzelnen Schicht nicht vorhanden ist, sondern
daß in den verschiedenen Rindenfeldern bald mehr die eine, bald mehr die andere
Zone an Umfang Einbuße erlitten hat. Dabei hält sich vielfach die Schichtenreduktion
auch an gewisse normale Kriterien, indem die von Economo beschriebene Verschmä-
lerung der unteren Schichten in den Windungstälern in unserem Falle ganz besonders
exzessive Grade zeigt.
Was nun die Zahl der Ganglienzellen anlangt, so sehen wir, daß diese generell
stark herabgesetzt ist und im allgemeinen die Zellzahl der Großhimrinde nur einen
Bruchteil der normal vorhandenen Zellelemente beträgt. Dieser Befund ist um so
wesentlicher, weil wir gar nicht so selten gerade bei Volumensverkleinerung der
Gehirnsubstanz eher eine Pseudovermehrung der Zellelemente registrieren können.
Infolgedessen erkennen wir darin, daß also hier eine ganz besondere Verminderung
der Nervenzellelemente besteht, da selbst die grob anatomische Verkleinerung der
Rindenoberfläche nicht einmal zu dieser relativen Querschnittsvermehrung der Zell-
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 227
summe geführt hat. Diese allgemeine Zellverminderung zeigt sich nicht nur in der
generellen Reduktion der Zellzahl, sondern auch in einer mehr herdförmig betroffenen
Ausfallsreaktion in einzelnen Windungsgebieten und Schichten. Im allgemeinen läßt
sich wohl sagen, daß die II. und die III. Schicht, aber auch die IV. einerseits, die
tiefen Schichten der Rinde anderseits erhebliche Zellausfälle zeigen. Wir wollen damit
ergänzend feststellen, daß auch oft herdförmige Lichtungen in den Schichten vorhanden
sind, welche bei der allgemeinen Verminderung der Nervenzellen zu einer stellenweise
fast völligen Entblößung zu führen vermögen. Ein stärkeres Hervortreten der Beteiligung
Abb. 4.
der unteren Schichten gegenüber denen der oberen können wir allerdings nicht
feststellen. In den verkörnelten Partien des Großhirnmantels zeigt sich selbstverständ-
lich eine ganz gleiche Veränderung auch in der granulären Zone, ohne daß wir aber die
Möglichkeit hätten, hier eine stärkere Entartung wahrzunehmen als in jenen Schichten,
welche als Ursprungsstätten der Projektionssysteme aufzufassen sind. Spezielle Ver-
änderungen können wir dann vielfach auch in den einzelnen Zonen selbst finden,
und besonders interessant erscheint uns hier z. B. der zytoarchitektonische Aufbau im
Bereiche der vorderen Zentralwindung der Area giganto-pyramidalis. Was uns
hier auffällt, ist zunächst die bemerkenswerte Tatsache, daß trotz der vorhin be-
schriebenen allgemeinen Merkmale des Prozesses zunächst das Schichtenbild annähernd
normal erhalten geblieben ist, daß aber im wesentlichen die großen Betz-Zellen zwar
eine Verminderung erfahren haben, jedoch immerhin noch in einem reichen Ausmaß
vorhanden sind, jedenfalls sich besser erhalten haben als die übrigen Zellen des
gleichen Rindenareals. Hier sehen wir, daß hauptsächlich Lichtungen im Bereiche der
15?
228 A. Pekelsky.
II. und auch der III. Zone bestehen. Doch zeigt letztere sowohl hier wie auch an
anderen Rindenarealen eine ungleichmäßige Befallenheit bezüglich der mittelgroßen und
größeren Pyramidenzellen ihres Zonenbereiches. Namentlich die kleineren Elemente
scheinen in unserem Falle schwerer gelitten zu haben als die größeren, und im all-
gemeinen ist wohl die Zellreduktion der oberen Schichten der Area giganto-pyramidalis
gegenüber der relativen Intaktheit der V. Zone besonders bemerkenswert. Daß aber
dieses elektive oder, sagen wir richtiger, gesteigerte Befallensein der oberen Rinden-
zone nicht etwas Gesetzmäßiges ist, haben wir bereits betont, und es gibt umgekehrt
Abb. 5.
eine ganze Anzahl von Arealen, in denen die tieferen Zonen plötzlich gröberen Schaden
genommen haben als die oberen Schichten.
Was den Zustand der einzelnen Zellelemente betrifft, so zeigen sich meist die
Zeichen einer chronischen Zellerkrankung. Charakteristische oder für den Prozeß be-
sonders typische Erkrankungsformen der Nervenzellen fehlen vollkommen. Wir ver-
missen auch sonstige Phänomene, welche auf irgend welche angeborene Schäden
hinweisen würden, und wir können auch weder atypische Nervenzellen noch Cajalsche
Fötalzellen nachweisen.
Vergleichen wir mit diesem Zellbild das Faserbild der Rinde (s. Abb. 4), so sehen
wir in erster Linie die Defekte im Bereiche des obersten Rindenabschnittes, d. h. im Be-
reiche des super- und vielfach auch interradiären Flechtwerks. Das erstere ist fast im
ganzen kortikalen Mantel zugrunde gegangen und man kann meist nur dürftige Reste
desselben hie und da erkennen. Dabei ist es nicht uninteressant, daß Teile der Tangen-
tialfaserung stellenweise erhalten geblieben sind, während die tieferen Abschnitte, wie
sie z. B. dem Käs-Bechterewschen Streifen entsprechen, durchaus in Verlust ge-
raten sind. Neben diesen degenerativen Veränderungen fällt dann auch die allgemeine
Reduktion des interradiären Flechtwerks auf sowie die beträchtliche Abnahme oder
vielfach auch das Fehlen des Baillargerschen Streifens. Die innere Hauptschicht
der Rinde ist im wesentlichen besser erhalten und die Radiärfaserung in den tieferen
Schichten zeigt entsprechend der allgemeinen Volumensverminderung der Rinde auch
eine gewisse Reduktion; doch sind die Veränderungen hier viel dürftiger.
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 229
Betrachten wir zur Unterstützung dieser Befunde Fettpräparate, so sehen wir,
daß im gegenwärtigen Stadium sich nur sehr geringe Mengen von freiem oder an
Zellen gebundenem Fett zeigen. Gröbere Ansammlungen von Fett finden sich nicht,
so daß man wohl annehmen muß, daß frischere Prozesse, soweit die Untersuchung
möglich war, nicht gefunden werden konnten.
Das Negativ dieses degenerativen Prozesses im kortikalen Aufbau zeigt uns die
Glia. Hier haben wir die wesentlichsten Befunde an den Gliafaserpräparaten zu erwarten
(s. Abb. 5). Zunächst fällt uns auf, daß die Pia stellenweise mit der Hirnoberfläche
verwachsen ist, und diese Verwachsung wird auch nachgewiesen durch ein Eindringen
von Gliafasern in die weichen Hirnhäute. Dies wird ermöglicht durch das Vorprellen
Abb. 6.
von gliösen Fasermassen über die Oberfläche der Rinde, und die zellreichen Chaslin-
schen Wirbel sind es, welche die Pfeiler des Obliterationsprozesses darstellen. Infolge-
dessen sieht man, daß vielfach die Mantelzone der Rinde kammartig von Gliawirbeln
und Gliabüscheln besetzt ist, welche pinselförmig aus der Oberfläche herausragen und
gegen die darüberliegende Leptomeninx vordringen bzw. mit dieser verwachsen. Diese
Gliabüschel zeigen nun vielfach auch jenen Aufbau, den wir durchwegs in der mar-
ginalen Zone der Glia sehen und welche sich in einem ganz exzessiven Ausmaß
findet. Wir können nämlich feststellen, daß die marginale Zone der Glia, welche
scheinbar vollkommen den plasmatischen Charakter aufgegeben hat und sich in ein
faszikuläres Kammer- oder Lamellensystem umgeformt hat, nicht mehr darauf be-
schränkt ist, in gewöhnlichen Grenzen zu bleiben, sondern sich sowohl gegen die Pia
hin als auch tief in die Hirnrindensubstanz hinein verbreitet. Auf diese Weise hat sich
sowohl jenseits der äußeren Begrenzungslinie der Rinde als auch in der Molekular-
zone, vielfach aber auch in der II. Rindenzone ein ausgedehntes faseriges Glia-
syncytium gebildet, welches’ netzförmig die ganze obere Rindenmasse substituiert
und scheinbar dadurch die normale Breite der Molekularschicht annähernd sichert.
Zwischen den Glialamellen in den einzelnen Poren des gliösen Netzes finden sich
massenhafte Corpora amylacea, welche stellenweise die Oberfläche der Rinde perl-
schnurartig in vielen Reihen besetzen, und besonders in Windungsfällen finden sich
auffallend stark vermehrte Mengen solcher Entartungsprodukte (s. Abb. 6).
230 A. Pekelsky.
Wir sehen nun, wenn wir die faserige Glia weiter in die Rinde verfolgen, daß
sich dieselbe fast im ganzen Querschnitt der Rinde findet, sich auch vielfach dort.
entwickelt, wo sie normalerweise überhaupt nicht zu finden ist. In gewisser Hinsicht
bestätigt der Befund zwar noch jenes Gesetz, das Alzheimer für die faserige Glia
aufgestellt hat, nämlich die Tatsache, daß in den tiefen Schichten der HI. und in der
IV. Zone faserige Glia im allgemeinen vermißt wird. So sehen wir auch hier die
sukzessive Abnahme der faszikulären Glia gegen den mittleren Teil der Rinde hin,
um dann später wieder von einer Vermehrung in den tieferen Schichten der Rinde.
dort, wo diese an das Mark angrenzt, abgelöst zu werden. Es ist aber eines sicher,
daß, rein quantitativ betrachtet, die faszikuläre Glia auch am stärksten in den
obersten Schichten der Rinde ist, daß sie in den tieferen Zonen sich zwar zeigt, aber
doch nicht jene exzessive Grade erreicht, welche hier die Benennung Rindensklerose
berechtigen würde.
Was die Gefäße in der Himrinde betrifft, so sind sie hier zum Teil verdickt.
Gröbere Veränderungen der Gefäßwände lassen sich jedoch nicht feststellen. Wir
können auch keine von den Blutgefäßen direkt abhängigen Entartungsvorgänge sehen,
so daß im derzeitigen Stadium eine vaskuläre Beeinträchtigung nicht nachweisbar ist.
Eine Verdickung der Pia mater ist das einzige pathologische Substrat des Mesoderms.
das wir auf dieser atrophischen Seite feststellen können, und wir können aber keinen
entzündlichen noch stärkeren produktiven Vorgang an der Leptomeninx wahrnehmen.
An der Ventrikelwand sehen wir eine auffallend geringgradige — fast nur angedeutete -
Ependymitis granularis und eine typische Reaktion der Glia in den subependvmären
Zonen. Hier sieht man auch eine große Zahl plasmatischer und fibrillärer Gliazellen,
wobei sich ein Abwechseln zwischen gliareichen und gliaarmen Bändern zu erkennen
gibt, was vielleicht für einen zweizeitigen Prozeß sprechen könnte. An einem einzelnen
subependymären Gefäß fand sich ein Iymphozytäres Infiltrat.
Gegenüber diesen markanten Veränderungen der atrophischen Hermi-
sphäre seien nun jene der makroskopisch unveränderten Hirnhälfte an-
gefügt:
Zunächst die Feststellung, daß schon die oberflächliche Betrachtung des Hirn-
mantels an den Schnitten zeigt, daß auch hier hochgradige Veränderungen bestehen.
In einer größeren Anzahl von Arbeiten der Literatur wurde bedauerlicherweise die
Beschreibung der anscheinend normalen Hemisphäre unterlassen. Sehen wir uns aber
in unserem Falle die Rinde genauer an, so erkennen wir, daß eigentlich qualitativ
der gleiche Prozeß hier vorliegt, wie wir ihn auf der kranken Seite gesehen hatten.
Lediglich scheint es ein quantitatives Moment zu sein, welches unterschiedlich den
Prozeß in den beiden Hirnhälften trennt. Auch hier erkennen wir die generelle Ver-
armung der Rinde an Zellen, auch hier sieht man die starke Beteiligung sämtlicher
Zonen der Rinde. Was für den fokalen Ausfall in den einzelnen Schichten auf der
kranken Seite gilt, läßt sich auch für diese Seite aufrecht erhalten. Wir sehen die
Zellverminderung in den Windungstälern deutlicher ausgeprägt als in den Kuppen, wir
erkennen die ungleichmäßige Beteiligung von oberen und inneren Rindenschichten,
sehen auch da die starke Lichtung in der l. und in der IH. Zone einerseits, der
V. und VI. Zone anderseits.
Man findet ferner gleichfalls eine stärkere Lichtung des superradiären Flecht-
werks und auch der interradiären Faserung erkennt auch hier die Degeneration der
Baillargerschen Streifen der Rinde und kann vielleicht hier eine bessere Intakt-
heit der Radiärfasern sehen als auf der atrophischen Seite.
Im Fettpräparat kann man auch in dieser Hemisphäre ähnliche Fettmengen
finden wie rechts, ohne daß wir auch hier einen stärkeren oder geringeren Grad fest-
stellen können. Ebenso wie auf der atrophischen Seite zeigt sich auch hier die
substitutive Reaktion der Glia. Auch hier findet sich eine sklerosierende Entartung,
indem so wie in der atrophischen Hemisphärenrinde eine luxurierende Hyperplasie
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 231
der faszikulären Glia besteht, welche über die Grenzfläche hinaus gegen die Pia
vordringt und sich selbst wieder in der Molekularzone der Rinde ausbreitet. Wir sehen
auch da das Weiterdringen des gliösen faszikulären Prozesses in die II. und III. Zone
hinein. und nur quantitativ unterscheidet sich hier der Prozeß von jenem der atrophi-
schen Seite.
An den Blutgefäßen kann man hier auch keinen Unterschied im Charakter des
Prozesses wahrnehmen.
Fassen wir also den Befund unseres hier mitgeteilten Falles zusammen,
wobei wir die Zustandsveränderung sekundärer Art in den tieferen Hirn-
abschnitten beiseite lassen, so sehen wir interessanterweise einen degenera-
tiven Rindenprozeß, der sich eigentlich in beiden Hemisphären abspielt,
trotzdem der makroskopische Befund nur für eine einseitige Erkrankung
gesprochen hat. Wir können ganz allgemein feststellen, daß Zeichen irgend-
eines meningealen oder enzephalitischen Prozesses nicht vorhanden sind,
dab also eine vom Mesenchym ausgehende Noxe entzündlicher Natur kaum
als Ursache der Erkrankung in Frage kommen kann. Wir sehen einen mehr
oder minder abgeschlossenen Degenerationsvorgang in dem kortikalen Auf-
bau und meinen, daß vermutlich der Prozeß im wesentlichen zum Still-
stand gekommen ist. Die relativ geringfügigen Abbaureaktionen, die man an
den verschiedenen Stellen des Hirnmantels findet, lassen sich leicht auf das
epileptische Leiden zurückführen und man wird wohl durch eine gewisse
chronische Weiterwirkung, wie bei Epileptikern überhaupt, auch in unserem
Falle ein weiteres aufgepfropftes anatomisches Bild erhalten. Die Reduktion
(les Hemisphärenumfanges rechts ist histologisch durchaus begründet: erstens in
der ganz auffallend hochgradigen Reduktion des gesamten Schichtenquer-
schnitts, zweitens in dem namhaften Verlust des Fasergeflechtes der Rinde und
drittens in der gleichzeitigen Zusammensinterung des Gehirns infolge Degenera-
tion des Markweißes, das allerdings bis zu einem gewissen Grade von dem
sekundären Hydrozephalus substituiert wird. In der scheinbar unveränderten
Hemisphäre fällt uns auf, daß die Zelldegeneralion und Faserverminderung
gleichfalls gegenüber normalen Rindenabschnitten plastisch ins Auge fällt,
daß, wie wir bereits betont haben, der Unterschied gegenüber der rechten
atrophischen Hemisphäre nur als ein quantitativer zu werten ist. Dieser all-
gemeinen Parenchymentartung und Verminderung funktionstragender Sub-
stanz steht eine hochgradige substitutive Ersatzformation der faserigen Glia
als Negativ gegenüber. Wir sehen infolgedessen ein den Sklerosen ver-
wandtes Bild, das wir anderseits doch nicht gut mit einer echten patho-
logischen Sklerose homologisieren würden. In beiden Fällen ist es wohl zu
einer substitutiven Gliavermehrung gekommen, doch sehen wir in einem
Falle meist die Ersatzleistung gegenüber einem unsystematisch degenerierten
Parenchym und hier ein eher alternierendes Wachstum als Füllorgan in
einem quantitativ gelichteten Territorium. In dieser Hinsicht erinnert eigent-
lich das Gliabild unseres Falles am ehesten an Gliareaktionen in der senilen
Rinde oder auch im senilen Rückenmark. In gewissen Punkten ähnelt der
Prozeß auch jenem der Kleinhirnsklerose. Der parenchymatöse Degenerations-
prozeß ist hier allerdings viel stärker, doch bleibt wie in unserem Falle der
232 A. Pekelsky.
systematische Aufbau der Kleinhirnrinde im wesentlichen erhalten. Wir
sehen dagegen in den senilen Fällen auch die allgemeine Reduktion des ner-
vösen Parenchyms, die Abnahme von Nervenzellen, Fasern, Markscheiden
und die dadurch zwangsläufig bedingte funktionelle Umbaureaktion der Glia
zum faszikulären Typus. Denn solange das Parenchym in voller Aktivität
steht, ist die faszikuläre Glia nur von untergeordneter Bedeutung und wird
vermutlich lediglich zur formativen Gewebsversteifung herangezogen. Sie ist
daher in erster Linie in den Septen und in der marginalen bzw. sub-
ependymären Zone in reichlicherer Weise vertreten. Die eigentliche Rela-
tion hingegen zwischen Blutbahn und Parenchym besorgt das :nakro- und
mikrogliöse Syncytium, welches so lange in dieser Gestaltung bleibt, als das
Nervenparenchym sich in normalem Umfang erhält. Kommt es zu einem
abiotrophischen Prozeß der Nervensubstanz, wie es im Senium oder bei
chronischen Entartungsprozessen anderer Art der Fall ist, dann wandelt
sich die plasmatische Gliaformation, welche ihrer symbiotischen Funktionen
mit dem Nervengewebe beraubt ist, in die faszikuläre Substitutivform um und
zeigt dann gewissermaßen den syncytialen Aufbau der plasmatischen Glia m
ihrer faszikulären Transformation. Dieser Zustand zeigt sich aber noch aus
einem weiteren Grund an dem senilen Rückbildungsprozeß der Nervensul-
stanz, weil wir auch — volumsmäßig betrachtet — eine beträchtliche Differenz
im Senium gegenüber den normalen Umfangsverhältnissen des jugendlichen
und reifen Gehirns finden. Wir wissen, daß das senile Zentralnervensystem
im Volumen kleiner wird als das jugendliche, und ein Gleiches gilt auch
für jene Prozesse, wo es zu einer umfangreichen Entartung des Nerven-
gewebes gekommen ist, wobei eben besonders die Neuroglia die Aufgabe
hat, als neugebildetes bzw. umgeformtes Netz das zugrunde gegangene
Gewebe zu ersetzen. Wo die Glia nicht die Transformation in das fasziku-
läre Netz erfährt, sondern in ihrer normalen plasmatischen Gestaltung ver-
harrt, dort hilft sie den plastischen Turgor der Hirnsubstanz bilden, und
infolgedessen scheint es auch wahrscheinlich, daß die quantitative Minder-
hefallenheit der linken Hemisphäre zum Teil auf dieser quantitativ gering-
fügigeren Umformung des gliösen Netzes beruht.
Wenn wir nun diesen anatomischen Prozeß in Hinblick auf den Ent-
stehungstermin betrachten, so unterliegt es unseres Erachtens gar keinem
Zweifel, daß es sich hier unmöglich um einen angeborenen Prozeß handeln
kann, da diese sklerosierende Abiotrophie des Gehirns unseres Erachtens
eine der wesentlichsten Formen des postfötalen Reaktionstypus des Gehirns
vorstellt. Erkrankungen, welche in eine fötale Periode fallen, rufen dann
meist jene Veränderungen hervor, die wir bei den zahlreichen Fällen von
zerebraler Kinderlähmung finden, jene Unzahl von Mißbildungsformen und
vor allem Defektbildungen im Sinne der Porenzephalie, Hydrozephalie.
kurzum jene mit Verflüssigung der Hirnsubstanz einhergehenden Prozesse,
welche, wie wir seit den Untersuchungen von Spatz wissen, für die fötale
Substanzreaktion des Nervensystems charakteristisch sind. Daß in unserem
Falle auch ein Prozeß solcher Art anzunehmen ist, d. h. daß die Erkrankung
Über die sklerotische Hemisphären-Atrophie. 233
erst in der Kindheit eingesetzt hat, geht aus der Krankengeschichte einiger-
maßen gesichert hervor. Wir können uns dagegen auch nicht für die Auf-
fassung von Bischoff einsetzen, wonach ein enzephalitischer Prozeß ur-
sächlich in Frage kommen soll. Die allgemeine Erkrankung der Hirnrinde in
ihrem gesamten Umfang links und rechts, ganz unabhängig betrachtet von
der Volumsveränderung, spricht jedenfalls gegen einen disseminierten Pro-
zeß, wie es die Enzephalitis immer zu sein pflegt. Und gerade die zahl-
reichen Erfahrungen, die man in den letzten Jahren an der kindlichen
Enzephalitis gemacht hat, spricht sicherlich gegen eine Genese entzündlicher
Natur. Die Mesodermreaktion, auf die wir bereits hingewiesen haben, gibt
auch nicht die geeignete Grundlage für die Annahme eines derartigen Pro-
zesses. Auch das Fehlen einer typischen Ependymitis spricht gegen eine
entzündliche Genese.
Wenn wir nun den zweiten Teil der Bischoffschen Darstellungen kri-
tisch beleuchten, wonach durch den akuten entzündlichen Prozeß es zu
einer Hemmung der physiologischen Weiterentwicklung gekommen sein soll,
so ist dazu folgendes zu bemerken: Es wird wohl richtig sein, daß das Ge-
hirn des betreffenden Falles eine Hemmung in dem größendimensionalen
Wachstum erfahren hat. Aber dies allein kann doch diese Zustandsveränderung
nicht erklären, schon deswegen nicht, weil wir ja einen prinzipiell gleichen,
allerdings nur quantitativ geringeren Prozeß in der anderen Hemisphäre
ebenfalls sehen.
Wir möchten doch meinen, daß irgendeine in den meisten Fällen
beschriebene plötzliche Erkrankung im frühen Lebensalter zu einer akuten
Schädigung des Nervensystems Veranlassung gibt. Wir müssen wohl an-
nehmen, daß bei dem Umfang unseres Prozesses es sich um eine hbe-
sonders hochgradige Alteration des Gehirns handeln muß, da vermutungs-
weise dabei die Nervenzellen vielfach zugrunde gerichtet werden. Bei dem
bestehenden Unvermögen, zugrunde gegangene Nervensubstanz neu zu akti-
vieren oder zu ersetzen, kommt es zu einem früh einsetzenden Involutions-
prozeß bzw. einer Hemmung, d. h. zu einem Ausbleiben der normalen Weiter-
entwicklung infolge quantitativen Verlustes der Elemente, deren Ausfall
an und für sich wieder die mit ihnen im Konnex stehenden Rindengebiete
sekundär beeinträchtigt. Daß in unserem Falle die direkten Degenerations-
zustände sich wesentlicher erweisen als die sekundären Beeinflussungs-
reaktionen hat darin seinen wesentlichen Grund, daß dieser zweite Faktor
weniger im Sinne morphologischer Veränderungen als in funktioneller Hin-
sicht von Bedeutung ist. Ohne Zweifel stellt der Fall der Hemisphären-
sklerose doch nur einen erweiterten Typ der Lappensklerose vor, und man
kann aus solchen Fällen sehen, daß hier die allgemeine Hemmung nicht
deutlich auftauchen muß, daß vielmehr auch Rindenabschnitte mitunter
vikariierend — oft allerdings nur scheinbar — hypertrophieren. Die All-
gemeinheit der Erkrankung spricht dann auch gegen die von Cotard,
Marie u. a. erhobene Meinung, unterscheidet sich aber sicher auch vom
Erkrankungstypus jenes Falles, den Bielschowsky mitgeteilt hat. Daß
234 A. Pekelsky.
es sich um keine primäre Gliose mit großer Wachstumsenergie handelt, wie
es von den französischen Autoren angenommen wurde, ist selbstverständ-
lich, da die Glia in ihrer Bauart sich vollständig an die normale Struktur
hält und hier, wie wir bereits auseinandergesetzt haben, nur die plasma-
tischen Netze faserig ersetzt, was immer als Zeichen sekundärer, niemals
primärer Natur gedeutet werden kann. Daß wir auch keinen von einer ein-
zelnen Schicht ausgehenden Prozeß vor uns haben, wie er Bielschowsky
für seinen Fall vorschwebt, ist aus den hier mitgeteilten Befunden sicher-
gestellt.
Wenn wir uns zum Schlusse noch mit der Frage beschäftigen, was
eigentlich die primäre auslösende Erkrankung war, so gibt uns leider unser
Fall keinen sicheren Hinweis. Wir könnten wohl vermuten, daß ein entzünd-
licher Prozeß bei der Ausdehnung der Veränderungen nicht in die Waag-
schale fällt, sondern müssen eher einen allgemeinen Ursachfaktor suchen,
der uns diese Abiotrophie der Hirnsubstanz zu erklären vermag. Diese an
die senile Involution erinnernde Hirnveränderung mit dem sekundären Hydro-
zephalus mit der universellen Atrophie weist vielleicht doch darauf hin, daß
der Ausgangspunkt vom Gefäßapparat erfolgen muß. Wenn wir z. B. sehen,
wie im Anschluß an akute Noxen oder schwerste Toxikosen Gefäßverände-
rungen im Gehirn entstehen, welche zu hochgradigen Entartungsvorgängen
Veranlassung geben — wir denken dabei z. B. an die schwer akut auf-
getretenen endarteriitischen Veränderungen der kortikalen Gefäße nach Ver-
brennungen (G. Riehl jun.) —, so wäre es gar nicht ausgeschlossen, daß
ein derartiger Gefäßprozeß in der stürmischen Evolutionsphase des jugend-
lichen Gehirns zu einer akuten Vernichtung der Weiterentwicklungsfähigkeit
führt und infolgedessen ein Involutionsprozeß anhebt, der mit jenem des
normalen Seniums homologisiert werden kann. Die Endarteriopathie der
kleinen Hirngefäße muß nicht ein Dauerzustand bleiben und die Endothelial-
veränderungen werden sich nach Jahrzehnten in ihrer akuten Form sicherlich
nicht mehr zu erkennen geben. Hingegen sehen wir. daß bei dem akuten
Fall von Endarteriopathie der kleinen Hirngefäße, wofern sie einen hohen
Grad erreicht, die Nervenzellen und Fasern in schnellstem Tempo dem
Untergang anheimfallen, was mit dem von uns mitgeteilten Fall ganz über-
einstimmen würde. Wir würden also vermutungsweise meinen, daß cs sich
hier in unserem Fall um eine auf eine unklare Noxe hin erfolgte End-
arteriopathie der kleinen Rindengefäße gehandelt hat, welche Erkrankung
zur sekundären Abiotrophie der Hirnrinde geführt hat, an deren Stelle
dann die sekundäre sklerosierende Wucherung der Glia getreten ist, die
sich im Laufe der Jahre immer weiter verstärkt. Volumsmäßig bleibt das
Gehirn dann auf jener Stufe stehen, welche ihm einerseits die noch imma-
nente Wachstumstendenz ermöglicht und welche anderseits durch die sekun-
däre sklerosierende Entartung der Glia begrenzt wird. Die Lebensfähigkeit
der plasmatischen Gliastruktur, welche selbst wieder vom lebenden Pan
enchym abhängig ist, kann den vorhandenen Ausfall wenigstens, was das
Volumen betrifft, ersetzen, wodurch in unserem Falle auf der geringer affi-
Über die sklerotische Hemisphären-Atropbhie. 235
zierten Seite auch bei der quantitativ gleichen Veränderung die Volumen-
reduktion nicht in Erscheinung tritt. Daß diese Prozesse jedoch nicht auf
eine Hemisphäre beschränkt sind, daß sie beide Hirnhälften in gleichem
oder ähnlichem Ausmaße betreffen, gibt uns eine richtige Erklärung für das
klinische Verhalten, wonach wir klassische Herdsymptome oder Halbseiten-
phänomene so oft vermissen und sich vielmehr Erscheinungen ciner beider-
seitigen Hirnerkrankung einstellen. Diese beiderseitigen Veränderungen er-
klären somit, daß es sich hier vielfach um Fälle handelt, die unter dem
Bilde der genuinen Epilepsie verlaufen, und die in den meisten Fällen be-
stehenden geringfügigen klinischen Symptomdifferenzen der beiden Seiten
werden sich vielleicht auf die quantitative Differenz des Prozesses zurück-
führen lassen.
Aus dem neurologischen Institut der Universität Wien
(Vorstand: Prof. Dr. Otto Marburg).
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren.
Von
Dr. Robert Pfleger,
Assistent am neurol. Institut.
Mit 6 Abbildungen im Text.
Die Übereinstimmung klinischer Erscheinungen mit den anatomischen
Befunden hat bei Hirntumoren immer eine gewisse Schwierigkeit. Wir müssen
in solchen Fällen einerseits mit dem Hirndruck, anderseits mit Ausfällen
rechnen, die man früher als Fernsymptome bezeichnet hat, die heute nach
den Forschungen von Monakow, Pötzl und Goldstein wesentlich anders
zu werten sind. Wenn ich trotzdem einen Fall von Tumor der Hypophyse,
und zwar des Hypophysenganges nach dieser Richtung hin besprechen
will, so hat das seinen Grund darin, daß eine ziemlich genaue anatomische
Kontrolle möglich war, welche die Annahmen der Literatur zum Teil bestätigt,
zum Teil widerlegt. Ich möchte zunächst kurz die Krankengeschichte
anführen.
35jähr. Patientin, aufgenommen auf die I. chir. Klinik am 16. November 1931.
Familienanamnese: Vater an Gehirnschlag gestorben, ein Bruder in Gefangen-
schaft an Typhus gestorben, keine Tbc., kein Karzinom in der Aszendenz. Kinder-
krankheiten: Keuchhusten, Masern, Mumps. Spätere Erkrankungen: öfters Ka-
tarrh, Rippenfellentzündung. In den Jahren 1926 und 1927 wegen Bauchhöhlenschwanger-
schaft operier! ; Exslirpation der rechten und linken Tube, wobei die Patientin die Ovarien
behielt; seither sistieren die Menses, und die Patientin bemerkte, daß sie etwas an
Gewicht zunahm. Seit 1929 Müdigkeit, Schlafsucht, öfters Schwindelanfälle Kein
Erbrechen. Kopfschmerzen links und im Hinterhaupt. Vergeßlichkeit, das Gefühl, daß
sie „schwer und langsam“ denken kann. Oft Kältegefühl in den Füßen. Patientin muß
oft urinieren, hat ziemlich große (?) Harnmengen. Die Patientin steht seit Anfang 1931
an der Augenklinik (Prof. Meller) bei beginnenden Sehstörungen wegen Verdacht auf
Tumor cerebri in Beobachtung. In der letzten Zeit (seit 3 Monaten) deutliches Ab-
nehmen des Sehvermögens, besonders links, so daß die Patientin momentan nur große
Buchstaben lesen kann; etwas Gewichtsabnahme.
2 Partus, 5 Abortus, zweimal Extrauteringravidität. Alkohol, Venerea, Nikotin
negativ.
Status praesens: Mittelgroße Patientin, blasse Hautfarbe, graziler Knochenhau,
schwache Muskulatur, geringer Panniculus adiposus, afebril. Patientin liegt apathisch
im Bett und gibt auf Fragen nur teilweise richtige Antworten und dann nur auf
wiederholtes Fragen. Zeitlich und örtlich ist Patientin so ziemlich orientiert.
Caput: Zunge feucht, nicht belegt, Tonsillen und Rachen frei. Keine Zahn-
prothese,
Collum: o. B.
Thorax: symmetrisch. Lungengrenzen verschieblich, Vesikuläratmen.
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 237
Cor: Grenzen nicht verbreitert, Töne leise, Puls rhythmisch, äqual. Frequenz 72.
Abdomen: Zwischen Symphyse und Nabel eine mediane Laparotomienarbe
iBauchhöhlenschwangerschaft).
Extremitäten: äußerlich o. B.
Röntgenbefund: Leeraufnahme: Schädel von normaler Gestalt, deutlich ver-
mehrter Dicke; im Bereiche der Parietalia ist der Schädel 1 cm dick, Schädelinnenfläche
ist glatt. Die Sella ist normal groß. Das Dorsum verläuft nach oben spitz zu, doch ist
es nicht als sichere Veränderung zu werten. An den Pyramiden sind keine Verände-
rungen nachweisbar; die Nebenhöhlen sind gut lufthaltig.
23. November: Patientin ist unruhig, sie ist im Bett besonders nachts nicht zu
halten, trotz Pantopon. Mit Dioskopin beruhigt sich die Patientin einigermaßen. Sie
ist zeitlich und örtlich nicht orientiert, ihre Antworten sind unzulänglich und sie geht
auf die an sie gestellten Fragen meistens nicht ein.
24. November: Röntgen: Die Untersuchung der Liquorräume mit steigendem Jod-
öl zeigte basale Zisternen, u. zw. die Cisterna pontis und interpeduncularis, nicht aber die
Cisterna chiasmatis gefüllt. Seitenventrikel auch nicht gefüllt. Der Befund spricht
nicht gegen einen suprasellären Tumor.
Status nervosus: Keine Olfaktoriusstörung. Optikus: siehe Augenbefund. II,
IV, V frei. Über dem rechten Jochbogen besteht eine starke Klopfempfindlichkeit.
P.S.R. und A.S.R. normal. B.D.R. normal. Patientin macht einen ängstlichen und
sehr verwirrten Eindruck. Die Patientin antworlet auf Fragen zögernd und mitunter ohne
Bezug auf die Frage, zeigt bisweilen ein ausgesprochen negativistisches Verhalten; sie
ist sehr ängstlich, halluziniert sowohl optisch als akustisch, spricht mit Personen, die
nicht anwesend sind, sieht dieselben, gerät in Erregung und ist zumeist vollständig
verwirrt. i
30. November: Patientin jetzt ruhiger, schläft sebr viel und gibt besser ver-
wertbare Antworten.
1. Dezember: Patientin somnolent, gibt, wenn sie erwacht, nur auf eindring-
liche Fragen unzulängliche Antworten, ist zeitlich und örtlich nicht orientiert. Puls
und Temperatur normal, kein Erbrechen, keine Kopfschmerzen.
Augenbefund: Abblassung der Papillen, rechts mehr als links. Visus rechts
6’18?, links Fingerzählen; Gesichtsfeld: rechts kleiner Rest mit hemianopischem Aus-
fall, links kleiner Rest in Quadrantenform. Auffallend ist, daß die Erkrankung etwa
ein Jahr nach der Operation wegen Tubargravidität begann. Annahme eines supra-
sellären Tumors.
Röntgenbefund der Augenklinik: Keine sicheren pathologischen Verände-
rungen im Bereiche der Sella tureica nachweisbar. Das Dorsum sellae ist kurz, mög-
licherweise durch einen suprasellären Tumor von oben her arrodiert, doch ist der
Befund nicht eindeutig pathologisch.
Ohrenbefund: Trommelfelle, Cochlearis links = rechts, normal, keine spontanen
vestibulären Erscheinungen. Auf Kaltspülung Übererregbarkeit. Der Befund spricht für
intrakranielle Drucksteigerung, Lokalisation wahrscheinlich nicht hintere Schädelgrube.
Blutbefund ohne wesentliche Veränderung. Nüchternblutzucker 92- mg®o.
Zuckertoleranzbestimmung ließ sich nicht durchführen, da die Patientin eine halbe
Stunde nach Einnahme der Dextrose erbrach.
Harn: Alb. und Zucker negativ, Polyurie und Polydipsie konnten auf der Klinik
nicht beobachtet werden.
Diagnose: Tumor suprasellaris.
Operation (auszugsweise wiedergegeben): Osteoplastische Aufklappung am
2. Dezember 1931. Patientin sehr verwirrt, unruhig, so daß sie nur in Allgemeinnarkose
operiert werden kann. Der rechte Optikus etwas atrophisch, links viel mehr atrophisch.
Das Chiasma zeigt keine Verschiebung, liegt an normaler Stelle. Der 3. Ventrikel wird
punktiert und aus ihm 3/, ccm Liquor aspiriert. Man hat nicht den Eindruck, daß es
sich um einen Hydrozephalus handelt, außerdem war die Gegend des Sinus caver-
nosus zu übersehen, von einer Geschwulst konnte nichts bemerkt werden. Zum Schluß
238 Robert Pfleger.
der Operation kommt es zu einer kleinen Blutung aus einer Piavene, die in die Falx
cerebri zieht. Nachdem der Verband angelegt worden war, wurden die Pupillen der
Patientin auf einmal sehr weit; der Blutdruck blieb während der ganzen Operation
befriedigend, betrug am Ende derselben 110. Auch der Puls war während der Operation
sehr gut zu tasten, erst nach der Operation, als die Erweiterung der Pupillen eintrat,
war auf einmal kein Puls in der Art. radialis zu tasten. Lobelin, Ephetonin, Kochsalz-
infusion, Kohlensäure und Sauerstoff. Der Kornealreflex kehrt zeitweise zurück, die
Pupillen werden auch zeitweise etwas enger, die Patientin wird durch die Kohlensäure-
atmung so weit gereizt, daß sie spontan aushustet, aber nach kurzer Zeit tritt wieder Ver-
schlechterung ein und ungefähr 2 Stunden nach der Operation Cheyne-Stokes und
Exitus.
Bei der Obduktion hat auch der pathologische Anatom zunächst keinen
Tumor gesehen.
Die Obduktion ergab außer einer Endocarditis verrucosa valvulae mi-
tralis geringfügige alherosklerotische Veränderungen in Aorta und Koronar-
geläßen und Adhaesiones pleuriticae beiderseits, keine wesentlichen patho-
logischen Veränderungen der übrigen Organe.
Wir bringen nun in teilweiser Anlehnung än den Obduktionsbefund
(Dr. Feyrter) die makroskopische Beschreibung des Gehirns.
Nach Abtragung des knöchernen Schädeldaches zeigt die gut, aber nicht
auffallend gespannte Hirnhaut eine lineare Operationswunde, die durch Knopf-
nähte vereinigt ist. Die Oberfläche des Gehirns beiderseits stark abgeplattet,
die zarten Hirnhäute über der linken Großhirnhälfte leicht weißlich ver-
dickt. An der Innenfläche des rechten Stirnlappens blutig durchtränkte
Katguttupfer. Eine leptomeningeale, in den Sinus sagittalis superior ziehende
Vene an dieser Stelle ligiert. Nach vorsichtigem Emporheben des Stirnhirns
eine teils solide, teils kleinzystische, weißliche Geschwulst sichtbar. Beide
Nervi optici anscheinend leicht abgeplattet, ihre Farbe jedoch gelblichweiß.
Das Gehirn wird im Zusammenhang mit der Schädelbasis zunächst in Formol
fixiert. Auf dem Median-Sagittalschnitt (Abb. 1) kommt eine zystisch solide, etwa
pflaumengroße, im Durchmesser 3:11 ,:2 cm betragende, scharf abgegrenzte
Bildung zur Ansicht, die sich vom Operculum sellae in schräger Richtung
nach aufwärts und rückwärts erstreckt und in nach oben konvexem Bogen
den Boden des dritten Ventrikels darstellt, der durch diese zystische Ge-
schwulst bis etwa in die Höhe der Massa intermedia eingeengt ist. Nach
vorne, ist diese Zyste teilweise mit «der Commissura anterior und voll-
kommen mit der Lamina anterior und dem Gyrus subcallosus verwachsen.
Das Chiasma nervorum opticorum nach vorne oben gedrängt. Die Nervi
optici abgeplattet. Nach rückwärts ist das Infundibulum vollkommen in
der hinteren Zystenwand aufgegangen, die Corpora mammiillaria teilweise
mit der Zyste verwachsen, abgeplattet und nach hinten gedrängt, so daß die
Fossa interpeduncularis zu einem schmalen, etwa 3 mm im sagittalen Durch-
messer haltenden Spalt verengt erscheint. Nach links und rechts drängt
die Zyste die Seitenwand des dritten Ventrikels auseinander und ist an die-
selbe in den unteren zwei Dritteln fixiert. Die Zyste verjüngt sich gegen
das Opereulum zu, das ebenso wie Hypophyse und Sella makroskopisch keine
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 239
Veränderungen aufweist. Zwei Drittel der Bildung, und zwar die oberen,
sind zystisch und mit farblos wässerigem Inhalt erfüllt, das untere rück-
wärtige Drittel jedoch mehr solid, von kleinsten Zystchen durchsetzt. Vor
den Corpora mammillaria in der Zystenwand gelegen, eine etwa erbsengroße
Blutung sichtbar.
Was den mikroskopischen Befund anbelangt, so sei erwähnt, daß die
Hypophyse, die schon makroskopisch als nicht von der Norm abweichend
bezeichnet werden konnte, auch mikroskopisch nichts besonders Auf-
Abb. 1. Mediansagittalschnitt.
fälliges bietet. Im spärlichen interstitiellen Gewebe des Vorderlappens, der
zarte, dünnwandige Kapillaren mit auffälligem Blutreichtum aufweist, finden
sich zu Alveolen angeordnet Zellen, von denen die eosinophilen, was ihre
Zahl betrifft, am stärksten vertreten sind. In weit geringerer Menge sind
basophile und Hauptzellen vorhanden. Zwischen Vorder- und Hinterlappen
finden sich zahlreiche kleinere und größere, von Kolloid erfüllte Zysten,
die von einem ein-, manchmal auch zweischichtigen, niedrig-kubischen, bis-
weilen auch zylindrischen Epithel ausgekleidet sind, unter denen auch
eosinophile und basophile Zellen zu sehen sind. Einzelne dieser Zysten
erreichen eine ganz beträchtliche Größe und zeigen ins Lumen vorspringende
Exkreszenzen sowie schmale, oft von hohem, kubischem Epithel ausgeklei-
dete Ausbuchtungen. An einer Stelle hinter den Zysten gelegen, findet sich
ein keilförmig in den Hinterlappen ausstrahlendes Feld von Rundzellen,
die wohl nicht als entzündliche Reaktion anzusehen sind. Simmond und
Brauneis fanden Iymphozytäre Infiltrationen in dieser Gegend bei 1000
240 Robert Pfleger.
aller untersuchten Hypophysen. Es dürfte sich nach Kraus vielmehr um
Reste Iymphatischen Gewebes handeln, das während der Entwicklung der
Hypophyse gleichfalls aus der Mundbucht hervorgegangen ist und an der
Grenzfläche der beiden Lappen entsprechend den daselbst nicht selten zu
beobachtenden Speicheldrüsen (Erdheim) erhalten geblieben ist; allerdings
sind diese Anschauungen nicht unwidersprochen, da Marburg hier in diesem
Gewebe eventuell einen Rest des Zwischenlappens gesehen haben will.
Der Hinterlappen zeigt einen feinfaserigen Bau mit teils länglichen,
dünkleren, teils mehr bläschenförmigen rundlichen bis ovalen Kernen, die
Abb. 2. Mikroskopische Gesamtübersicht der Zyste.
wohl als Gliakerne anzusprechen sind. Die Gefäße, meist Kapillaren, sind
mit roten Blutkörperchen erfüllt. Hie und da Pigmentzellen und das Ein-
wuchern von Vorderlappenzellen sichtbar.
Die Zyste ist, ausgenommen am obersten Pol, wo auch in einer Schnitt-
serie eine Kontinuitätsunterbrechung der Wand erkennbar ist, überall von
Epithel ausgekleidet, das jedoch an verschiedenen Stellen ein verschie-
denes Aussehen zeigt. An manchen Orten ist es ein plattgedrücktes, oft nur
ein- bis zweireihiges Epithel mit spindeligen Kernen, an anderen Stellen läßt
es drei bis vier Schichten erkennen, wobei die basalen Zellen neben spinde
ligen auch runde und ovale Kernformen mit radiärer Achsenstellung auf-
weisen. An anderen Stellen ist das Zystenepithel bis zu zehn Schichten
aufgebaut, wobei die basalen Zellen teils kubischen, teils zylindrischen
Charakter zeigen, dann folgt eine Schicht mehr polygonaler Zellen, dessen
Kerne sich schwächer färben als die der Basalzellen. Dazwischen Zellen vom
Typus der Stachel- und Riffelzellen mit deutlichen Interzellularbrücken. Die
oberste Schicht hat langgestreckte Zellen mit spindeligen Kernen. Die Zellen
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 241
dieser Schicht enthalten vielfach Vakuolen, so daß sie blasig aufgequollen
erscheinen, wobei der Kern pyknotisch verändert ist. Ödemlücken zwischen
den Zellen führen öfter zu blasigen Hohlräumen, innerhalb derer nekrotische
Zellen liegen. Die Grenze des Epithels gegen das darunter liegende Binde-
und Gliagewebe ist eine ziemlich scharfe, doch hie und da infolge der
ödematösen Aufquellung des Epithels etwas verwischt. Bisweilen zeigt sich
eine Desquamation des dem Zystenlumen zugekehrten Epithels, so daß
Abb. 3. Papilläre Exkreszenzen und Einwucherung der Glia von der Hinterwand
der Zyste.
einzelne Zellen und Zellverbände aufgequollen oft wie schuppenförmig von
ihrem Zellverband abgelöst ins Lumen zu liegen kommen. Ganz vereinzelt
hat es den Anschein, daß Rundzellen, ja selbst Leukozyten im Epithelverband
eingeschaltet sind. An das Epithel grenzt eine dünne zellarme, wenig dichte
Bindegewebsschicht mit wellig parallel verlaufenden Fasern.‘ An einzelnen
Stellen verdicken sich diese Fasern und bekommen dann ein mehr homo-
genes Aussehen, daß von einer beginnenden Hyalinisierung gesprochen wer-
den kann. An den Orten, wo die Geschwulst mit dem umgebenden Gehirn-
gewebe verwachsen ist, legt sich Bindegewebe und Glia innig aneinander und
einzelne Bindegewebsfasern strahlen in die Gliamasse aus. Allenthalben längs
der Zystenwand sind starke Rundzelleninfiltrate zu sehen, die teils peri-
vaskulär angeordnet sind, teils zu den Gefäßen in keiner Beziehung stehen.
In der Hinterwand der Geschwulst sind neben diesen Veränderungen aus-
gedehnte frische Blutungen und zahlreiche mit Pigment angefüllte Zellen.
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 16
242 Robert Pfleger.
Der schon makroskopisch beschriebene, unten rückwärts gelegene, mehr
solide Anteil der zystischen Geschwulst zeigt mikroskopisch (Abb. 2 und 3)
von der Basis der Zyste entspringende und ins Lumen vorragende papilläre
Exkreszenzen, deren Stroma von feinfaserigem, ödematös aufgelockertem,
größtenteils nur aus Glia bestehendem Netzwerk aufgebaut ist, in dem an ver-
schiedenen Stellen feinste Plasmazellen und reichlich Lymphozyten teils in
Haufen und um dünnwandige stark erweiterte Gefäße gruppiert, teils verein-
Abb 4. Histologischer Aufbau der Zotten. Im Zentrum Ödemlücken innerhalb des
Epithels und beginnender Zerfall desselben.
zelt zu liegen kommen. Auffallend sind die vielen Leukozyten, die sowohl im
Stroma wie auch im epithelialen Anteil der Exkreszenzen zu finden sind.
Die ödematöse Auflockerung des gliösen Stromas ist so hochgradig, daß mit
Ausnahme der Rundzellen und der Gefäßendothelien fast gar keine Zellen
vorhanden sind. Manchmal bekommt man den Eindruck einer vollkommenen
Verflüssigung und Aufquellung der Grundsubstanz und der Umwandlung
derselben in eine wabige, feinkörnige, sich nur schwach mit Eosin färbende
Substanz, so daß sich das Bild von größeren und kleineren Zysten ergibt. Die
Zotten (Abb. 4) sind mit einem vielschichtigen Pflasterepithel ausgekleidet. Den
einer basalen Membran aufsitzenden zylindrischen Zellen mit dunklen, längs-
ovalen Kernen folgen polygonale und spindelige Zellen mit größeren, weniger
dunkel gefärbten Kernen, die wie nach Heidenhain gefärbten Schnilten
deutlich zu sehen ist, untereinander durch Interzellularbrücken verbunden
sind, also typische Stachel- und Riffelzellen darstellen (Abb. 5). In größeren
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 243
Zellhaufen nach der Peripherie zu finden sich polygonale Zellen, die die
anderen Zellen an Größe und Dicke übertreffen, deren Kern sich nur mehr
schwach färbt, das Protoplasma jedoch überall gut den Farbstoff annimmt.
Hyalinkörper und Verhornung sind an diesen Stellen nirgends zu beob-
achten. Im Heidenhain-Präparat ist im Protoplasma dieser abgestorbenen
Zellen ein äußerst feines Fadenwerk darstellbar (rote Zellen nach Erd-
heim). Interzellularbrücken sind hier keine mehr vorhanden. Daneben ist an
Abb. 5. Stachel und Riffelzellen.
einzelnen Stellen im Epithel die Bildung von Ödemlücken zu sehen (Abb. 4) in
denen sich auch nekrotische Zellen antreffen lassen. Durch weiteren Zer-
fall der nekrotischen Zellmasse findet sich dann im Zentrum der Epithel-
nester eine Zerfallshöhle (Abb. 6), die mit einer schwach gefärbten, fein-
körnigen Masse erfüllt ist.
Das zapfenförmige Vorragen der epithelialen Formationen, ähnlich einem
Papillarkörper gegen das Stroma einerseits und die reichlich verzweigten
Zotten anderseits, führt bei der wechselnden Lage der Schnittebenen zu dem
Bild scheinbar isoliert im Stroma liegender Epithelinseln. Wir möchten
noch erwähnen, daß Verkalkung oder Verknöcherung nirgends beobachtet
werden konnte.
Das den zystischen Tumor umgebende Hirngewebe ist äußerst stark
ödematös aufgequollen, von größtenteils perivaskulär angeordneten Rund-
zellinfiltraten, frischen Blutungsherden und Pigmentschollen durchsetzt. Be-
16*
244 Robert Pfleger.
sonders an einer der oben beschriebenen Kontinuitätsunterbrechung der
Zystenwand entsprechenden Stelle im Gehirn tritt die ödematöse \uflocke-
rung auffällig zutage.
In den tiefer geführten Schnitten kommen bereits Teile des Seiten-
ventrikels zur Ansicht, dessen unterer, also der Zyste zugewendeter Ependym-
belag zerstört ist, wobei hie und da Ependymzellhaufen in dem ödematösen
Gewebe zu sehen sind. An den tiefstgeführten Schnitten der Serie sieht ınan,
Abb. 6. Zystenbildung innerhalb des Epithels
daß an einer Stelle der oberste Pol der Zystenwand bereits die untere
Begrenzung des Seitenventrikels darstellt.
Der schon makroskopisch beschriebene erbsengroße Blutungsherd in
dem vor den Corpora mammillaria gelegenen Geschwulstgewebe ist auch
mikroskopisch als solcher zu erkennen. Das Corpus mammillare zeigt histo-
logisch schwere Veränderungen durch Kompression und ödematöse Auf-
quellung.
Zusammenfassung.
Anatomisch handelt es sich um eine suprasellär gelegene, zystische
Geschwulst des Hypophysenganges. Der Tumor hat durch Kompression zu
einer vollständigen Zerstörung des Tuber cinereum, schwerer Zellschädigung
des Hypothalamus sowie zu einer Atrophie der beiden Nervi optici geführt.
Durch die supraselläre Lage der Geschwulst und das Emporwachsen in der
Richtung des dritten Ventrikels sind Hypophyse und Sella vollkommen intakt
geblieben. Die vor den Corpora mammillaria gelegene Blutung dürfte wohl auf
die intra vitam durchgeführte Punktion zurückzuführen sein, obwohl die Pig-
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 245
mentanhäufung in der hinteren Begrenzungswand eine intra vitam, viel-
leicht durch Druck entstandene Gefäßarrosion nicht ausschließen läßt. Was
den histologischen Aufbau der Geschwulst anlangt, so besteht das Epithel
der Zystenwand sowie das der papillären Exkreszenzen aus einem dunkel-
kernigen Stratum basilare und aus einem helleren Stratum spinosum mit
Interzellularbrücken vom Typus der Stachel- und Riffelzellen. Ödematöse Auf-
lockerung und Kernzerfall führen zu Zysten innerhalb des Epithels. Das
Stroma besteht größtenteils aus von der Wand einwuchernder Glia, ein-
zelne der Zysten größeren Umfanges sind als Pseudozysten bindegewebigen
und gliösen Ursprungs durch Stauungshydrops des Stromas infolge Kom-
pression der Gefäße durch den Druck der das Stroma rings einschnürenden
Epithelsprossen aufzufassen. Als Ausdruck des lokalen chronischen Ent-
zündungsreizes wären die Rundzelleninfiltrate zu erklären. Ob der akute Ent-
zündungsprozeß, der sich durch das Auftreten von Leukozyten dokumentiert,
mit dem stattgehabten chirurgischen Eingriff in Zusammenhang steht, ist
wohl sehr schwer zu entscheiden und als unwahrscheinlich hinzunehmen,
da ja die Patientin zwei Stunden nach der Operation gestorben ist. Nirgends
findet sich infiltratives Wachstum, sondern gute Abgrenzbarkeit nach allen
Seiten, nirgends Atypien der Epithelien. Es handelt sich somit um eine
benigne, zystisch-papilläre Plattenepithelgeschwulst des Hypophysenganges.
Erdheim hat diese Geschwulstform auf Plattenepithelreste des Hypophysen-
ganges zurückgeführt, die auch fast regelmäßig in der Endanschwellung des
Processus lingualis des Vorderlappens zu finden sind. Diese Endanschwel-
lung liegt oberhalb des Operculum und erklärt mithin die extraselläre Ent-
wicklung des Tumors.
Klinisch: Fine vor einigen Jahren wegen Bauchhöhlenschwangerschaft
operierte, aber sonst immer gesunde Frau erkrankt im letzten Jahr unter ner-
vösen Symptomen, Kopfschmerzen, Sehstörungen. In den letzten drei Monaten
deutliches Abnehmen der Sehkraft. Sie zeigte Symptome einer Angstpsychose.
Schlafsucht wechselt mit großen Erregungszuständen und, was uns in diesem
Falle als das Auffälligste erscheint, es bestehen visuelle Halluzinationen einer-
seits und es fehlt anderseits eine Adipositas.
Hier wollen wir haltmachen und uns mit der Frage der Adipositas
und den verschiedenen Theorien ihrer Genese auseinandersetzen. Seit Fröh-
lich im Jahre 1901 den nach ihm benannten Symptomenkomplex: Hypo-
genitalismus, Wachstumsstörung und Adipositas als ein einheitliches Krank-
heitsbild, das später von Bartels unter den Namen Dystrophia adiposo-
genitalis zusammengefaßt wurde, beschrieben hatte, sind sehr viele einander
widersprechende Auffassungen der Genese laut geworden, die alle gestützt auf
pathologisch-anatomische und experimentelle Befunde ihre Berechtigung
finden. Fröhlich selbst hat die Ursache dieses Krankheitsbildes in ciner
Hypofunktion des Vorderlappens betrachtet. Kurz darauf trat ihm Erd-
heim entgegen und meinte, daß die durch Druck von Tumoren der Hypo-
physe und ihrer Umgebung bedingte Zerstörung des Tuber cinereum einen
wesentlichen Faktor im Auftreten dieses Krankheitshilles darstelle.
246 Robert Pfleger.
Marburg hat 1909 die Frage der zerebralen Adipositas zum erstenmal
von einem weiteren Gesichtspunkt aus behandelt und zugegeben, daß neben
der hypophysären Schädigung selbst offenbar auch eine Schädigung der
durch das Infundibulum der Hypophyse ziehenden Nerven schuldtragend
an der Fettsucht sein könnte. Dadurch kam er der Hypothese Erdheims
entgegen. Die späteren Autoren übergehe ich, da die Diskussion hierüber
bis zu einem gewissen Grade abgeschlossen ist. Auf der einen Seite haben
die Experimente (Aschner, Bailey, Camus und Roussy, Bremer und
Smith) gezeigt, daß man die Dystrophie lediglich durch Läsion des Tuber
herbeiführen könne, wobei allerdings nicht zu vergessen ist, daß auch durch
diese Läsion die Hypophysennerven zerstört werden. Erdheim kommt des-
halb zum Schluß, daß der Typus Fröhlich nicht unizentrisch, sondern bi-
zentrisch, nämlich endokrin zerebral bedingt sei und daß „die Fettsucht
ihren Grund in einer Schädigung der Gehirnbasis habe“.
Schließlich hat Gottlieb 87 Fälle von Dystrophia adipositas diposogeni-
talis zusammengestellt und sie nach vier verschiedenen Gesichtspunkten ge-
ordnet, und zwar: 1. primäre Schädigung der Hypophyse mit sekundärer Beteili-
gung des Gehirns durch Druck oder Übergreifen, 2. primäre Schädigung des
Gehirns (Tumor, Hydrozephalus) mit sekundärer Beteiligung der Hypophyse,
3. Schädigung nur der Hypophyse ohne irgendwelcher Beteiligung der be-
nachbarten Hirngegend, 4. Fälle, die mit Akromegalie vergesellschaftet sind.
Auf Grund dieser Tabellen kommt Gottlieb zu dem Schluß, daß „jede
Schädigung, die entweder den Vorderlappen funktionsunfähig macht oder die
Edingerschen Bahnen im Hinterlappen, Stiel und im Infundibulum unter-
bricht, jedes Experiment, das Vorderlappen allein oder so große Teile des
Hinterlappens, daß keine Abführungsbahnen mehr funktionieren können, weg-
nimmt oder das den Stiel unterbindet und damit den Abfluß des Hypophysen-
sekretes unmöglich macht, muß Dystrophie erzeugen“. Mit dieser Theorie
können nun alle Fälle, bei denen eine Dystrophie auf Grund einer Läsion
im Hypophysenzwischenhirnsystem bestand, Lösung und Befriedigung finden.
Denn ist die Hypophyse zerstört, so kann das Hormon nicht gebildet. werden.
haben die abführenden Wege (Hinterlappen, Infundibulum) Schaden ge-
nommen, so kann das Sekret nicht dem Erfolgsorgan zugeführt werden.
Anderseits ist die Hypophyse intakt und das Erfolgsorgan funktionsuntüchtig.
so ist auch hier die Erklärung leicht zu geben. Man sieht so, daß jeder Fall
in diese Kompromißhypothese hineinpaßt. „Und dies ist schlecht für die Er-
kenntnis, denn es sollen umgekehrt alle Fälle zu einer Annahme passen"
(Erdheim).
Einer sehr scharfen Kritik unterzieht Hartoch die Begriffsbestimmung
der Adipositas und ihre klinische Wertung innerhalb der Fröhlichschen
Trias. Aus seinen nach allen pathologisch-anatomischen und klinischen
Varianten geordneten 139 Fällen, die in Tabellenform geordnet einen guten
Überblick über das bisherige Schrifttum geben, ist zu ersehen, daß jede
Variante (Hypophysenveränderung mit Fettsucht und Genitalstörung, eine
solche ohne Fettsucht und Genitalstörung, Fettsucht und Genitalstörung ohne
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 247
Hypophysenveränderung usw.) mit Fällen aus dem Schrifttum belegt wer-
den kann. Das Ergebnis seiner kritischen Arbeit drückt er folgendermaßen
aus. „Wenn wir uns fragen, ob das Aufrechterhalten der sogenannten Dys-
trophia adiposogenitalis sich noch lohnt, so müssen wir sagen, daß es
zweifellos eine Anzahl von Fällen gibt, die der Trias entspricht, daß man
solche Merkmalzusammenstellung aber beliebig liefern kann. Ihr Erklärungs-
wert ist mithin gleich Null, solange keine zahlenmäßige Bevorzugung oder
ursächliche Verknüpfung nachweisbar ist. Mit dem starren Festhalten einer
ursprünglich aufgestellten nosologischen Einheit ist der endokrinen For-
schung aber nicht gedient.“
Alle diese Theorien der Dystrophia adiposogenitalis haben als Grund-
lage eine Störung im Hypophysenzwischenhirnsystem; anderseits müßte jede
Störung im Hypophysenzwischenhirnsystem Dystrophie oder, wenn wie nach
Erdheim das Tuber zerstört ist, doch wenigstens Fettsucht hervorrufen.
Wir wissen ganz genau, daß wir durch unseren Fall keine neue Theorie auf-
stellen wollen und auch nicht die bestehenden widerlegen können, doch
Tatsache bleibt, daß in unserem Falle das Tuber vollkommen zerstört ist,
das Infundibulum vollkommen im Tumor aufgegangen ist, also alle Bedin-
gungen vorhanden sind, denen gemäß nach den heutigen Anschauungen
Dystrophia adiposogenitalis oder nach Erdheim zumindest Adipositas hätte
auftreten müssen. Doch in unserem Fall ist weder von einer Dystrophie (Be-
haarung normal, keine Erscheinungen von Myxödem, keine Trockenheit
und Kühle der Haut, keine Sprödigkeit der Haare und Brüchigkeit der Nägel)
noch von einer Adipositas die Rede. Die Menses sistieren seit der Operation
und die in der Anamnese angegebene geringe Körpergewichtszunahme seit der
Operation hat wohl hierin ihren Grund.
Natürlich können für das Schwinden oder Ausbleiben der Fettsucht
hei zerebralem Dysgenitalismus verschiedene Momente in Betracht kommen,
wie Kachexia hypophyseopriva oder Kachexie als terminaler Vorgang bei
vorher bestandener Adipositas oder die Folge interkurrenter Erkrankungen
(Tbe., Magen-Darmstörungen). Doch es ließen sich eine Anzahl von Fällen
anführen, wo das Tuber zerstört war, keine Fettsucht bestand und die oben
angeführten Momente sicherlich nicht zutrafen. Auch unser Fall zeigte
nichts Derartiges. Diesem Widerspruch, schwere Veränderungen im Zwischen-
hirn und keine Adipositas, Rechnung tragend, hat Kraus an der Hand einiger
Fälle durch den geänderten Funktionszustand des Pankreas zu erklären
versucht. Kraus meint, daß auf die Entwicklung der Fettsucht der Zustand
des die Zuckerbildung hemmenden Pankreas und der am Zuckerstoffwechsel
beteiligten, dem Inselapparat offenbar antagonistischen eosinophilen Zellen
der Hypophyse bzw. die vom Zusammenspiel der genannten Drüsen zum
größten Teil abhängige Kohlehydrattoleranz des Individuums von großem
Einfluß sein muß. Er meint auch, daß das Ausbleiben der Fettsucht in den
meisten Fällen von Akromegalie in erster Linie auf die durch den Hyper-
pituitarismus erzeugte Herabsetzung der Kohlehydrattoleranz zu beziehen
wäre. Und in der Tat fand Kraus in seimen Fällen, bei denen infolge
248 Robert Pfleger.
Veränderung am Hypophysenzwischenhirnsystem Fettsucht zu erwarten ge-
wesen wäre, eine beträchtliche Atrophie des Inselapparates des Pankreas.
Also die Herabsetzung der Kohlehydrattoleranz verhindere die Fettsucht,
sowie nach Gottlieb eine Erhöhung der Kohlehydrattoleranz die Fettsucht
bei der Fröhlichschen Krankheit herbeiführen soll, was sich auch mit
den Versuchen Cushings vollkommen deckt, der bei der Dystrophia adiposo-
genitalis eine Toleranz bis 450 g Lävulose feststellen konnte. Anderseits
veröffentlichen Shapiro-Shepard-Mark einen Fall von typischer Dys-
trophia adiposogenitalis mit Hyperglykämie und Glykosurie und meinten,
daß solche Fälle, wenn auch selten vorkommend, beweisen, daß
die Adipositas beim Fröhlichschen Syndrom nicht auf gesteigerte
Kohlehydrattoleranz zurückgeführt werden kann. Leider wurde in unserem
Falle das Pankreas, das makroskopisch keine pathologischen Veränderungen
aufwies, keiner histologischen Untersuchung unterzogen, doch glauben wir,
kann der normale Blutzuckerbefund sowie das Fehlen von Zucker im Harn
eine schwere Veränderung in den Langerhansschen Inseln sicherlich aus-
schließen.
Ganz anders verhalten sich die Anschauungen Mogilnitzkys, der
meint, daß es zentrale Formen des Fröhlichschen Symptomenkomplexes
ohne Zwischenhirnhypophysenläsion gäbe und daß das Forschungsgebiet über
Stoffwechselstörungen in der Richtung des strialen Systems und höher-
liegender Zentren erweitert werden muß. Zwei von ihm veröffentlichte Fälle,
einen Fall von früh einsetzender Fettsucht sowie einen von typischer Dys-
trophia adiposogenitalis, bei dem Hypophyse und Zwischenhirn vollkommen
intakt waren und sich Veränderungen im Striatum (beiderseitige Erweichung
im Putamen und der äußeren Glieder des Globus pallidus), sowie die von
ihm festgestellten Veränderungen bei fettleibigen Hemiplegikern, geben ihm
das Recht, zu behaupten, „daß die Topographie der Schädigungen des Zen-
tralnervensystems, welche den Symptomenkomplex der Fettsucht bedingen,
sich nicht nur auf das Zwischenhirn, sondern sich auch auf die höheren
vegetativen Zentren und auf das neostriale System ausdehnt.
Es ist natürlich in letzter Linie unser Fall danach angetan, in das
so vielumstrittene Gebiet Klarheit zu bringen, doch an Hand unseres Falles
sei festgestellt, daß die fixe Annahme, das Tuber cinereum allein für die
Adipositas verantwortlich zu machen, sicherlich auch nicht vollkommen den
Tatsachen entsprechen kann und „daß man trotz der pathologisch-anatomi-
schen Befunde, trotz der experimentellen Nachweise auf Grund der klini-
schen Befunde nicht in der Lage ist, die Hypophyse bei der Adipositas
ganz auszuschließen (Marburg)“. Es wäre weiter interessant, alle mit
unserem scheinbar negativen Falle Ähnlichkeiten aufweisenden Fälle zu
kennen, die, weil sie nichts Positives geboten hätten, aus Mangel „an Inter-
essantem” nicht publiziert wurden, und vielleicht würde sogar ihre Zahl die
der „positiven” überschreiten. Und da in dieses so heiß umstrittene Gie-
biet nur Klarheit gebracht werden kann, wenn alle zu dieser Frage in De
ziehung stehenden Fälle einer genauen Überprüfung unterzogen werden, haben
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 249
wir uns veranlaßt gesehen, diesen Fall auch nach dieser Richtung hin zu
besprechen.
Und noch ein zweites Moment scheint diesen Fall von anderen ähnlichen
herauszuheben, nämlich die psychischen Symptome in Form eines Verwirrt-
heitszustandes mit Halluzinationen, verbunden mit psychomotorischen Er-
regungen und Angstgefühlen einerseits und das negativistische Verhalter
und Tiefschlaf anderseits. Bei der Durchsicht des Schrifttums über die
psychischen Symptome der Hypophysentumoren findet man gewöhnlich
Schlafsucht, die sich bis zum Sopor steigern kann, angegeben. Oppenheim
und Kahlmeter fanden Tabes und Paralyse vortäuschende Symptomen-
bilder. Bei den Fällen von Cushing, Dercum, Czepai, Erdheim und
Kraus war Epilepsie angegeben; häufiger findet sich das Bild einer Kor-
sakowschen Psychose, die aber auch als allgemeines Tumorsymptom oder
als Zeichen einer Beteiligung des Stirnhims aufgefaßt werden kann.
Schuster faßt die bei Hypophysentumoren gefundenen psychischen Sym-
ptome als „Lähmungserscheinungen“ zusammen. Unter 61 Fällen fand er
6 mit hochgradigem Blödsinn, 8 mit allgemein geistiger Schwäche, bei
16 Schläfrigkeit, Benommenheit, bei 8 (iedächtnisschwäche (zitiert nach
Wolpert). Serejski stellt bei Zergliederung des Gesamtmaterials über die
Psyche der hypophysären Störungen vier Gruppen auf: 1. ohne psychische
Abweichungen, 2. Änderung des Charakters und Temperaments mit oder ohne
intellektuelle Defekte, 3. psychotische Änderung inklusive reaktiver Stö
rungen nach dem Typus der somatischen Psychose (zu diesem Typus ge-
hört nach Blumental die Mehrzahl der Psychosen bei Hydrozephalie),
4. echte Psychosen.
Erwähnt werden Halluzinationen von Nonne, Starck und Frazier,
ohne jedoch auf ihre wichtigen physiologisch-anatomischen Beziehungen
einzugehen. Französische Autoren, Lhermitte und Bogaert, waren hier
die ersten, die Halluzinationen mit Abänderung der Tätigkeit des Schlaf-
zentrums in Zusammenhang brachten.
Bekanntlich hat Economo auf Grund seiner Beobachtungen bei En-
cephalitis lethargica in Anlehnung an Mauthner im Höhlengrau des dritten
Ventrikels zwei für den Schlaf wichtige Zentren gesehen, die durch innervato-
rische Hemmung den Schlaf und durch Enthemmung das Erwachen hervor-
rufen, wobei Economo Agrypnie auf weiter frontalere, dem Zwischenhirn
zugelegene, Schlafsucht auf mehr kaudal lokalisierte Bezirke bezieht. Ich
will hier auf diese Dinge nicht näher eingehen, da sie in letzter Zeit be-
sonders viel diskutiert wurden; ich möchte nur auf den ähnlichen Parallel-
vorgang der psychischen Störungen hinweisen, wo auch Hemmung und
Enthemmung zu entsprechenden Erscheinungen führten. So hat als erster
Lhermitte über derartige psychische Störungen berichtet. Er beschrieb
1922 einen Fall mit dem Syndrom der Pedunkulushaube, verbunden mit
eigenartigen visuellen Phänomenen, die er betrachtete „comme l'expression
d’un état de rève diurne ou nocturne, rève qui ne se différencie pas du rève
250 Robert Pfleger.
physiologique que par les traces plus durables qu'il laisse dans la conscience
à demi et non complètement assoupie. Mais qui dit rêve exprime par ce
mot même un trouble de la fonction du sommeil” und kommt dann zu dem
Schluß, daß die psycho-sensoriellen Erscheinungen nichts anderes seien als
der Ausdruck der Störung der Schlaffunktion oder mit anderen Worten, können
sie als das Äquivalent der Schlaffunktion betrachtet werden. Bogaert be-
schreibt einen Fall mit dem Claude-Weberschen Symptomenkomplex mit
allabendlichen Erregungszuständen, verbunden mit Halluzinationen einer-
seits und Tiefschlaf anderseits. Die Obduktion zeigte Erweichungen in-
folge einer luetischen Gefäßerkrankung im Bereiche des roten Kerns, wobei
das Höhlengrau des dritten Ventrikels in Mitleidenschaft gezogen war. Auch
er geht eindringlich auf die von Lhermitte aufgeworfenen Fragen ein,
hebt in seinem Falle den rapiden Wechsel zwischen Narkolepsie und Aul-
treten der Halluzinationen besonders hervor, verweist auf die in der Schlaf-
trunkenheit häufig auftretenden nebelhaften Phantome und sieht in der
Halluzination das pathologische Äquivalent des Schlafes und ihren Ursprung
in der Läsion des Mesenzephalon. Diesen Gedankengängen folgend, nehmen
auch Schilder und Weißmann in ihrem Falle (amente Psychose bei
Hypophysengangstumoren), der mit dem unserigen große Ähnlichkeiten auf-
weist, die Funktionsänderung des Schlafapparates als die Quelle der Halluzi-
nationsbereitschaft an. Gleich Bogaert, der hinweist, daß die subkorti-
kalen Herde auch eine Störung des Persönlichkeitsbewußtseins verursachen,
nimmt Schilder und Weißmann „Steuerungsfunktion des Zwischenhirns
in bezug auf Bewußtseinsfunktionen“ an. Gedanken, auf die auch Kleist
Reichhart und Berze hinweisen.
Foerster steht auf dem Standpunkt, daß die Tätigkeit des Cortex von
zwei verschiedenen Stellen des Hirnstammes in entgegengesetzter Weise be-
einflußlt werden kann, und zwar im Sinne einer maniakalischen Erregung
einerseits, wie er sie gleichsam experimentell bei der operativen Inter-
vention durch Druck auf den vorderen unteren Abschnitt des infundibulären
Höhlengraus auslösen konnte, und anderseits eine Aufhebung der Bewußt-
seinstätigkeit durch Läsion des hinteren oberen Abschnittes des dritten
Ventrikels.
Die Orientierungsstörung unserer Patientin, ihre Verwirrtheit mit Hal-
luzinationen, verbunden mit psychomotorischer Erregung und Angst einerseits,
der Negativismus und Tiefschlaf anderseits im Zusammenhang mit dem
pathologisch-anatomischen Befund deuten neuerdings im Sinne Lhermitte.
Bogaert und Schilder auf die innigen Beziehungen zwischen Schlaf-
zentrum und psychischen Störungen hin und lassen auch die Schilder-
Weißmannsche Vermutung, „daß Läsion des proximalen Anteils des di-
enzephalen Bewußtseinssteuerungsmechanismus zu amenten und schizo-
phrenen Bildern besonders enge Beziehungen haben“, nur bestätigen, wie ja
auch das anatomische Ausbreitungsgebiet des Tumors sowie das Fehlen jed-
weder A\ugenmuskelstörungen in unserem Fall auf Schädigung proximalerer
Anteile hinweist.
Zur Klinik der Hypophysengangstumoren. 251
Wir wollen hiemit unsere Mitteilung als Kasuistik aufgefaßt wissen,
die aber immerhin wegen der Seltenheit in bezug auf das psychische
Verhalten mitgeteilt zu werden verdient.
Literatur:
(Ausführliche Literaturangaben bei Erdheim, Kraus und Gottlieb.)
Erdheim Z., Pathologie der Hypophysengeschwülste. Ergeb. allg. Pathol. u. pathol. An.,
21. II, 482, 1926.
Marburg O., Endokrinologie, Bd. V, 198, 1929.
Marburg 0., Med. Klinik, Nr. 38, 1929.
Marburg ©., Arbeiten aus dem neurolog. Institute an der Wiener Universität, Bd. 17,
1909.
Kraus, Hypophyse. Handbuch der spez. Pathologie, Anatomie u. Histologie, Bd. VII,
810, 1926.
Gottlieb, Lubarsch’ Ergebnisse, Bd. XIX/2, 1921.
Hartoch, Virchows Archiv, Bd. 270, 1928.
Shapiro, Arch. of neurol. and psychol., Bd. 15, 1926.
Lhermitte, Rev. neurol., 1922.
Bogaert, Rev. neurol., 1927.
Schilder-Weißmann, Zeitschr. für die gesamte Neurologie u. Psychiatrie, Bd. 110,
1927.
Foerster, Il. Südostdeutsche Ärztetagung in Prag, 23. und 24. Februar 1929,
Economo, Wiener med. Wochenschr., Nr. 3, 1926.
Serejski, Monatsschr. für Psych. u. Neurol., Bd. 67, 1928.
Mogilnitzky, Virchows Archiv, Bd. 269, 1—20, 1928.
Frazier, Arch. of Neurol., Bd. 23, 1930.
Cushing, The pituitary body anı its disorders 1910.
Aus dem neurologischen Institut der Universität Wien,
Vorstand: Prof. Dr. O. Marburg.
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes.')
Von
Alfred Alexander,
Demonstrator am Institut.
Mit 6 Abbildungen.
Die Frage, ob es beim Menschen, bzw. bei menschlichen Embryonen zur
Bildung eines wenn auch nur rudimentären Parietalorgans kommt, ist durch-
aus keine neue. Seit Leydig 1868 das Interesse auf das eigentümliche
Parietalauge der Saurier gelenkt hatte, wurde oft untersucht, ob nicht auch
in der Entwicklungsreihe höher stehenden Lebewesen die Anlage eines der-
artigen Organs zukäme.
Studnicka, dem wir die Einteilung der verschiedenen Parietalorgane
und eine genaue Darstellung ihrer Verhältnisse an einem die ganze Tierreihe
umfassenden Material verdanken, kam zu dem Schlusse, daß bei den Säuge-
tieren von den beiden Parietalorganen?) nur die Epiphyse zur Anlage komme:
„von einem vorderen Parietalorgane läßt sich nicht einmal eine Spur beob-
achten“ (S. 222).
1) Auszugsweise vorgetragen in der Sitzung des Vereines für Psychiatrie und
Neurologie in Wien, 14. Juni 1932.
2) Er schreibt: „Es gibt zwei verschiedene Parietalorgane. Allen Kranivten, mit
Ausnahme der Myxinoiden, Torpedo und der Krokodilier, kommt das sogenannte ‚Pineal-
organ‘ (die ‚Epiphyse‘ der älteren Anatomie oder das ‚Corpus pineale’ der B. Anatom.
Nomenklatur) zu. Dieses liegt ganz nahe der hinteren Grenze des Zwischenhirndaches.
entweder direkt an der Commissura posterior oder mittels einer Partie des Gehim-
daches, des ‚Schaltstückes‘, von dieser entfernt, und die aus demselben entspringenden
Nervenfasern lassen sich bis in diese Kommissur hinein verfolgen. Bei den Vertretern
einiger niederen Wirbeltiergruppen findet sich vor diesem Pinealorgan ein zweites,
vorderes Parietalorgan. Bei Petromyzon wurde es unter den Namen ‚Parapinealorgan’
beschrieben... Ein vorderes Parietalorgan wurde weiter bei Embryonen, einigemal
auch cm rulimentären Zustande) bei erwachsenen Tieren einiger Ganoiden und
Telcostier, nachgewiesen: es hat hier Beziehungen zu der Commissura habenularis.
Endlich gehört hierher das interessanteste Parietalorgan, das ‚Parietalauge‘ der Saurer
und von Sphenodon (Hatteriai: auch dieses zeigt gewisse Beziehungen zu einem der
Ganglia habenulae und zu der Commissura habenularis und ist wenigstens mit dem
der Teleostomen ganz sicher, höchstwahrscheinlich auch mit dem des Petromyzon
homolog,"
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 253
Cutore hat 1909 ein „Corpo prepineale” bei Bos taurus beschrieben,
von dem er allerdings selbst sagt, daß sich eine Homologie des von ihm
beschriebenen Körperchens mit den Parietalorganen anderer Autoren kaum
durchführen lasse. Wie aus seinen Abbildungen hervorgeht (2, 3, Tafel XV),
handelt es sich dabei um eine akzessorische kleine Zirbel. Solche Hetero-
topien des Zirbelparenchyms oder „Nebenzirbeln“, die seither in der Literatur
in ziemlich großer Zahl bekannt geworden sind (Kolmer), haben nun nichts
mit einem Parietalorganrudiment zu tun. Ihr Auftreten und ihre Lage sind
inkonstant, stets fehlt ihnen aber, worauf Krabbe, der derartige Bildungen
bei Lepus cuniculus beobachtet hat, mit Recht besonders hinweist, die für
das Parietalorganrudiment allein charakteristische Lage im Zentrum der
Commissura habenularum.
Nach all dem war Marburg der erste, der von einer Parielalorgan-
anlage der Säuger und des Menschen berichtet hat. Bei der Untersuchung
einer Serie vom Neugeborenen fand er ein längsovales (Gebilde (S. 225),
„ein Drittel so lang als die Zirbel und mäßig breit. Es ist eingeschlossen von
einer zarten bindegewebigen Kapsel und besitzt im Innern ein dichtes Glianetz. In-
mitten dieses Glianetzes finden sich ungleichmäßig verstreut bald mehr am Rande,
ball mehr ventral, oral häufiger als kaudal deutliche Ganglienzellen. Ihre Form ist
rundlich oder längsoval, sie sind ziemlich klein und tragen den mittelgroßen Kern
gewöhnlich exzentrisch. Ihr Körper erscheint homogen und nimmt die Tinktion ziem-
lich gut an. Von dem kaudalen Ende dieses Ganglions geht ein tvpischer, gut ent,
wickelter Nerv ab, dessen Schwannsche Kerne sehr dicht liegen ... Das Gebilde liegt
ziemlich weit lateral, und es erscheint mir darum höchst wahrscheinlich, daß jeder
Seite ein selbständiges derartiges Organ entspricht.“
Auch beim Erwachsenen konnte Marburg ein ähnliches Gebilde nach-
weisen (S. 231):
„Es war nun von großem Interesse zu sehen, ob in diesen lateralen Partien
ventral am Recessus ein ähnliches Gebilde zu finden sei wie beim Neugeborenen. Ich
meine das Ganglion und den Nervus parietalis. Von vornherein war es klar, daß hier
die Auffindung des Ganglion nicht so leicht sein dürfte, da ja das Gewebe viel dichter
war. Aber die genaue Lagebestimmung desselben beim Neugeborenen, seine charakteri-
stische Form und die enge Beziehung zu dem Nerven ließen mich auch beim Erwachsenen
ein analoges Gebilde finden. Allerdings ist hier die Diagnose des Ganglion sehr er-
schwert. Denn sichere Ganglienzellen fanden sich in der knötchenartigen Anschwel-
lung, die vollkommen isoliert im Plexusbindegewebe liegt, nicht mehr vor. Dagegen
ist noch deutlich Glia nachweisbar und allerdings bereits auch in bindegewebiger
Umwandlung der abgehende Nerv. Die Ausbildung dieses Restes des Ganglion parietale
des Neugeborenen ist bei verschiedenen Individuen eine verschiedene. Insbesondere
in einem Fall zeigte sich eine überaus lange, schmale Gliamasse ohne scharfe Kapsel
an der genannten Stelle, in einem zweiten Falle war es wiederum ein Gebilde, das
am ehesten einem abgesprengten Stück der Zirbel vergleichbar war und den Gedanken
einer Analogie mit Favaros Diaphyse aufkommen ließ. Auch zeigte es sich, daß
das Organ beim Erwachsenen etwas kaudaler lag als beim Neugeborenen. Sicher
erscheint das eine, daß man es hier nicht mit einem noch funktionsfähigen Organ zu
tun hat, sondern mit einem rudimentären Gebilde. Auch dieser Umstand spricht für
die Bedeutung desselben als Ganglion und Nervus parietalis."
Diese Befunde Marburgs hat Hochstetter nicht bestätigen können
. 21):
mn
[9 /}
254 Alfrel Alexander.
„Nach einem Nervus parietalis und einem dazugehörigen Ganglion, wie sie
Marburg (1909) für das Gehirn des Neugeborenen und des Erwachsenen beschrieben
hat, habe ich an der von Marburg angegebenen Stelle an der oberen Fläche der
Zirbel, zwischen ihr und der unteren Wand des Recessus suprapinealis, bei Ha 9, L 3
und Zi vergeblich gesucht, nachdem ich auch an den Gehirnen jüngerer Embryonen
nichts von einem solchen Nerven gefunden hatte.“
Ohne auf die Marburgschen Befunde gleich hier näher einzugehen,
sei zunächst nur festgestellt, daß die Angaben Hochstetters den Befunden
Marburgs insofern nicht widersprechen, als Marburg dieses Rudiment für
den Neugeborenen und den Erwachsenen beschrieben hat, während die von
Hochstetter auf dieses Gebilde hin untersuchten Embryonen Steißscheitel-
längen von 102 mm (Ha 9), 125 mm (L 3) und 200 mm (Zi) maßen, der älteste
von ihnen also aus dem fünften Lunarmonat stammte. Es ist nun nicht nur
möglich, sondern, wie später noch gezeigt werden wird, sogar sehr wahr-
scheinlich, daß sich das Rudiment eines Parietalorgans, falls ein solches
zur Anlage kommt, erst zu einem späteren Zeitpunkt entwickelt. Dies könnte
die Tatsache erklären, warum die Embryonen Hochstetters nichts von
einer derartigen Bildung erkennen ließen und den Widerspruch in den An-
gaben der beiden Autoren beseitigen.
Marburg hat später (1921) seine Ansicht wiederholt und um einen Be-
fund an der Antilope bereichert (S. +4):
2 „Ein kleines, zwischen dem Dorsalsack iRecessus suprapinealis) und der Zirbel
selbst gelegenes Ganglion faßte ich als Rudiment des Nervus parietalis auf. Es ist
mir auch gelungen, bei einer Antilope ein mächtiges Nervenbündel aus der Gegend des
Ganglion halenulae zwischen Zirbel und Dorsalsack bis weit hinter die Zirbel zu
verfolgen, wo es in einem eigenartigen Bindegewebe verschwand. Begleitet erscheint
dieses Faserbündel von einem Schlauch, der mit niedrigen kubischen Zellen aus-
gekleidet ist... Aus all dem ergibt sich aber doch. daß, wenn auch nur im Rudiment,
so doch deutlich auch bei den Säugern Verhältnisse vorliegen, die für eine Anlace
des Parielalauges auch bei diesen sprechen.“
An diese Arbeit anschließend, hat Krabbe 1929 die Ergebnisse seiner
überaus genauen Untersuchungen an einer großen Zahl von Säugetieren und
Säugetierembryonen veröffentlicht. Die Wichtigkeit dieser Untersuchungen
veranlaßl mich, hier etwas ausführlicher darüber zu berichten.
Krabbe fand zunächst bei Didelphys virginiana eine Zellanhäufung an
der Commissura habenularum, von der er sagt (S. 10):
„N est possible, que ces cordons cellulaires correspondent à un rudiment de
Veil parictal. Nous proposons de dénommer un tel rudiment éventuel ‚le corpuscule
parietal‘.“
Dieses Corpuseulum parietale war auch bei vielen anderen Säugern nach-
weisbar. So lieferte Phalangista vulpina einen analogen Befund (N. 11):
„La commissure habenulaire se présentait sur les coupures sagittales en forme
scmilunaire avec la convexitc vers le troisième ventricule. Sur la face extérieure,
dans sa partie centrale, on observa un petit groupe de cellules, dont le noyeau riche
en chromatine était un peu plus grand que celui des cellules n@vrogliques dans la
vommissure habenulaire et dont le protoplasma dans plusieurs des cellules était situé
unilateralement et relativement gros. Ce groupe de cellules ne se présentait que dans
les eoupures centrales de la commissure habénulaire, pas dans les coupures latérales.”
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 255
Interessante Verhältnisse zeigten sich bei Talpa europea. Bei diesem
Tier waren bei Embryonen von 7, 9, 10, 11, 12 und 15 mm Länge keinerlei
Spuren eines Corpusculum parietale nachweisbar, hingegen ließen Em
bryonen von 8,5, 9 und 25 mm ein derartiges Gebilde erkennen. Aus diesem
merkwürdig inkonstanten Auftreten seines Corpusculum parietale zieht
Krabbe folgende Schlüsse (S. 16):
„li y a quelque chose d'étonnant dans le fait que le corpuscule parictal si marque
chez un embryon ne se trouve pas chez toutes les autres. Il faut considérer deux éven-
tualites, ou que le corpusceule se montre transitoire et très passager, de sorte qu'il
ne peut être démontré que chez les embryons d'une certaine période courte; ou, qw'il
ne se manifeste pas constamment, mais qu'il se développe dans une période transitoire
chez quelques individus, et pas chez d'autres.“
In ähnlicher Weise lieferten neugeborene und erwachsene Exemplare
von Lepus cuniculus negative Befunde, Embryonen von 16, 26, 36 und 37 mm
hingegen so schöne und klare Bilder, daß er schreibt (S. 17):
„Le mammifere, chez lequel nous avons trouvé le plus constamment et de la
manière la plus délimitée un corpuseule parietal dans la vie fetale est le lapin.“
Weiters war bei Equus caballus das Körperchen bei Embryonen von
160 und 230 mm nachweisbar, beim Embryo von 315 mm und beim er-
wachsenen Tier hingegen nicht zu finden.
Nachweisbar war das Corpusculum parietale schließlich noch bei
Lobodon carcinophaga (Embryo von 29 mm Länge) und Canis familiaris
(Embryo 90 mm). Serien erwachsener Primaten lieferten keinerlei Anhalts-
punkte für die Existenz des Corpusculum parietale, Embryonen von Primaten
wurden nicht untersucht. Endlich untersuchte Krabbe auch menschliche
Embryonen (Mitte des 3., Anfang des 5., Ende des 7. und Mitte des 8. Monats)
(5. 31):
„Tout ceux-ci avaient la commissure habenulaire bien developee mais il n'y avait
aucune trace de corpuscule parictal.”
Ebenso konnte die Untersuchung einer großen Zahl von Kindern und Er-
wachsenen keine Anhaltspunkte für das Bestehen eines Corpusculum parie-
tale beim Menschen gaben. Dies führt ihn dazu, zu sagen:
oli faut done supposer que l'observation der Marburg, d'un «il parictal rudi-
mentaire devant la glande pindcale chez l'homme représente une exception, et il faut
ajouter que Hochstetter, ainsi que nous, n'a pas trouvé lébauche ď'un œil pariétal
sur ces préparations d’embryons humains.”
Krabbe kommt zu folgenden Schlußfolgerungen (S. 33):
„Le corpuscule pariétal des mammifères semble être une formation réduite,
inconstante et éphémère. Il se manifeste dans une certaine phase de la vie embryon-
naire, et généralement il disparait de nouveau. Il n'y a rien dans sa construction qui
ressemble à la formation oculiforme que l'on trouve dans Vorgane homologue des
sauriens el des téléostiens.
Nach all dem schien mir ein Versuch, die Frage des Parietal-
organrudiments beim Menschen dureh geeignete Untersuchungen zu klären
als notwendig. Hatten die Angaben Hochstetters die Möglichkeit der
256 Alfred Alexander.
Existenz eines Parietalknötchens bei frühen Embryonen ausgeschlossen,
anderseits die Untersuchungen Krabbes die Anwesenheit dieses Organ-
rudiments für viele Säuger bewiesen, so war es nun nur mehr erforderlich.
eine größere Zahl älterer menschlicher Embryonen auf dieses Gebilde hin
durchzusehen.
Das zu diesen Untersuchungen notwendige Material wurde mir vom
Institut für pathologische Anatomie an der Wiener Universität in liebens-
würdiger Weise zur Verfügung gestellt, wofür ich auch an dieser Stelle
Herrn Prof. Dr. Rudolf Maresch und Frau Priv.-Doz. Dr. C. Coronini meinen
Dank aussprechen möchte.
Insgesamt stand mir ein Material von 26 Fällen zur Verfügung, das
folgendermaßen eingeteilt war:
Embryonen aus dem 5. Lunarmonat ............. 3
» w p CO: A ee 5
» Ko ame h W huaii atian 3
» m A yea iaie E 4
» „on a ee 5
„ a a ae LO; wo en 3
Frühgeburt ,, wo g: E EE EE 1
Neugeborene .......222222cceeeeenenenenenn nenn 2
Bei diesen Embryonen wurde der Kopf abgetrennt und in 8%. Formalin
eingelegt. Unter Formalin wurde sodann das Schädeldach an der Stelle der
großen Fontanelle eröffnet und die Dura eingeschnitten. Nach genügen-
der Härtung wurde dann das Gehirn dem Schädel entnommen und, in
Watte gehüllt, in Formalin gleicher Konzentration übertragen. Nach zwei
Wochen weiterer Härtung wurde dann die durch den Balken geschützte Ge-
gend der Zirbeldrüse zugeschnitten und in Celloidin (22 Objekte) und
Paraffin (4 Objekte) eingebettet. Sämtliche Objekte wurden in annähernd
rein sagittaler Richtung in Schnittserien zerlegt, wobei die in Celloidin ein-
gebetteten Objekte zumeist 14 u, die in Paraffin eingebetteten 7 p dick ge-
schnitten wurden. Von Färbeinethoden kamen als Zellfärbungen die Toluidin-
blaumodifikation der Nissischen Färbung und die Hämalaun-Eosinfärbung
zur Anwendung, als Bindegewebsfärbung wurde die Azokarmin-Methode nach
Heidenhain und als Gliafärbung die Färbung nach Mallory-Pollak ver-
wendet. Die Schwierigkeit der Beschaffung des schon an und für sich seltenen
Materials in annähernd lebensfrischem Zustande hat die Dauer der Unter-
suchungen auf fast drei Jahre ausgedehnt.
Bei meinem Material konnte ich nun in sechs Fällen eine eigenartige
Bildung beobachten, die zunächst dem Alter der Embryonen nach geordnet.
an den einzelnen Fällen beschrieben sei.
1. Embryo vom Beginn des 6. Monats. Hämalaun-Eosinfärbung (Serie IV).
An einem Sagittalschnitt, der die Medianebene fast genau trifft, ist zu
beobachten, daß an der Grenze zwischen Commissura habenularum und Zirbel
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 257
parenchym, ganz nahe dem Epithel des Dorsalsackes (Recessus suprapinealis),
das mit der vorderen Wandaußenfläche der Commissura habenularum
und der Zirbeldrüse verschmolzen ist, ein Gebilde gelegen ist, das sich durch
seine auffallend helle, lockere Grundsubstanz von den benachbarten Geweben
(der Commissura habenularum, der Zirbel und dem Epithel) deutlich abhebt.
(Es liegt dem Zirbelparenchym und dem Epithel etwas näher, als dies im
Schema der Abb. 1 eingezeichnet ist.) Seine Gestalt ist schmal birnförmig,
wobei das konvexe aufgetriebene Ende oralwärts, der Commissura habe-
R.s.
L. qu.
C. par.
C. h.
C.p.
A.S.
Abb. 1. Schema der Lage des Corpusculum parietale bei menschlichen Embyonen.
A.S. = Aquaeluctus Sylvii. L. qu. = Lamina quadrigemina. C.p. = Commissura
posterior. C. h. = Commissura habenularum. R.s. == Recessus suprapinealis (Dorsal-
sack. a — zu Vergleichszwecken gemessene größte Wanddicke der Zirbeldrüse.
C. par. = Corpusculum parietale.
nularum zu, das zugespitzte Ende kaudalwärts gerichtet ist und sich noch
eine Strecke weit als dünner Stiel zwischen Epithel des Recessus supra-
pinealis und Zirbelparenchym fortsetzt. Das ganze Gebilde mißt 240 u
in der Länge, 90 u in der Höhe und ist ungefähr 100 u dick (auf acht
Schnitten nachweisbar). Die Zirbel selbst zeigt an diesen Schnitten, gemessen
von dem am tiefsten einschneidenden Punkt des Recessus pinealis bis zu
der von diesem Punkt am weitesten entfernt liegenden Stelle des Zirbel-
gewebes (Strecke a in Abb. 1) eine größte Wanddicke von 750 u.
Betrachtet man das besagte Gebilde bei stärkerer Vergrößerung, so sieht
man in der auffallend hell gefärbten Grundsubstanz, die sich auch bei stär-
kerer Vergrößerung deutlich von der Umgebung abhebt, Zellen, die sich in
drei Gruppen einteilen lassen. Die erste Gruppe umfaßt Kerne von rundlicher
oder ovoider Gestalt, an denen kein Protoplasmaleib nachzuweisen ist.
Die Kerne sind hell, chromatinarm und zeigen eine überaus deutliche
Kernmembran (Abb. 2, h, dj. Das Chromatin erscheint über den Kern in
Arb, aus dem Wr. neurol. inst., XXXIV. Bd. 17
258 Alfred Alexander.
feinen Schollen annähernd gleichmäßig verteilt. Einzelne dieser Zellen lassen
ein Kernkörperchen deutlich erkennen (Abb. 2, e). Die zweite Gruppe um-
faßt kleine, pyknotische, leicht bohnenförmige Kerne, deren längerer Durch-
messer etwa 8 p beträgt und die von einem ganz schmalen Plasmasaum
umgeben sind (Abb. 2, b). Als dritte Gruppe endlich lassen sich Zellen ab-
scheiden, deren rundlicher pyknotischer Kern von reichlich Protoplasma um-
geben ist. Das weitaus häufigste Element sind dabei die Zellen der ersten
Gruppe, die sich in großer Zahl, oft recht nahe aneinander, nachweisen
e
4; ọ ©
9. oed
PL An g
Wo oo
Abb. 2. Zelltypen aus dem Corpusculum parietale.
lassen und die in mindest sechsmal so großer Zahl zu sehen sind als die
Zellen der beiden anderen Gruppen zusammengenommen, von welch letzteren
die Zellen der zweiten etwas häufiger sind als die der dritten Gruppe.
2. Embryo vom Ende des 7. Monats. Azokarminfärbung (Serie XIV).
Das eben beschriebene Gebilde gibt sich hier wieder durch die auf-
fallend aufgelockerte Grundsubstanz zu erkennen, ist hier allerdings vom
Epithel etwas abgerückt und mehr in der Mitte der Commissura habenularum
gelegen (Abb. 3). Seine Form ist elliptisch, doch ist das Knötchen hier
flacher als bei der vorher beschriebenen Serie. Dementsprechend mißt das
Knötchen nur 45 p im Höhendurchmesser, die Länge beträgt 180, die Dicke
etwa 70 u. Fast in seiner ganzen Länge wird es von einer Kapillare durch-
zogen, deren bindegewebiges Häutchen lichtblau gefärbt erscheint. Das
Knötchen selbst zeigt farblose Grundsubstanz und ist ziemlich zelların.
Am zahlreichsten sind diejenigen Zellen vertreten, die vorhin als Gruppe 1
abgeschieden wurden. Die Kernmembran ist auffällig dicht, das ansonsten
gleichmäßig verteilte Chromatin zeigt einige Verdichtungen, ein Protoplasma-
leib ist auch hier nicht nachweisbar. Einzelne dieser Kerne zeigen spindelige
Gestalt (Abb. 2, a), bei einigen ist ein Nucleolus deutlich nachweisbar. Außer
diesen Kernen und den platten, länglichen Endothelzellen der Xapillare
sieht man einige pyknotische Kerne, deren reichlich vorhandenes Proto-
plasma zipfelförmig ausgezogen erscheint. Der zu Vergleichszwecken in der
früher beschriebenen Weise ermittelte Wert der größten Wanddicke der
Zirbel beträgt nicht ganz 1000 p.
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 259
- C. par.
Zi.
Abb. 3. 7 Monate alter Embryo. Median-Sagittalschnitt, Azokarminfärbung. R. p. = Re-
cessus pinealis. Zi. = Zirbeldrüse. C. par. = Corpusculum parietale. C. h. = Com-
missura habenularum.
3. Embryo vom Beginn des 8. Monats. Hämalaun-Eosinfärbung (Serie X).
Deutlich zeigt sich hier am Median-Sagittalschnitt die Einlagerung einer
Gewebsknospe von auffallend heller Grundsubstanz, die gegen das um-
C. par.
Abb. 4. 8 Monate alter Embryo. Hämalaun-Eosinfärbung. C. par. — Corpusculum
parietale. C. h. = Commissura habenularum.
gebende Gewebe absolut scharf abgegrenzt erscheint und fast genau im
Zentrum der Commissura habenularum gelegen ist (Abb. 4). Ihre Form ist
elliptisch, die Maße betragen 270 u für die Länge, 130 u Höhe, etwa
17*
260 Alfred Alexander.
100 u Dicke. Die größte Wanddicke der Zirbel mißt 1200 u. Die Zellen des
ziemlich zellreichen Knötchens bestehen wieder zum größten Teil aus den
hellen Kernen, deren Kernmembran deutlich hervortritt. Die Kerne zeigen
rundliche und ovoide Gestalt, sind auffallend groß und erreichen Durchmesser
von über 20 a. In zweiter Linie finden sich einige von reichlich Plasma
umgebene runde pyknotische Kerne, deren zu Fortsätzen ausgezogenes
/
A.S.
Abb. 5. 9 Monate alter Embryo. Hämalaun-Eosinfärbung. Übersichtsbild der Regio
parietalis. A.S. = Aquaeductus Sylvii. C.p. = Commissura posterior. R. p. = Re-
cessus pinealis. C. h. = Commissura habenularum. C. par. = Corpusculum parietale.
Protoplasma ihnen bipolare und multipolare Form verleiht (Abb. 2, i).
Schließlich finden sich in geringer Zahl kleine (etwa 6 u messende) pykno-
tische Kerne ohne Plasma, von rundlicher, oft etwas eingedellter Form
(Abb. 2, g). Das umgebende Gewebe der Commissura habenularum schließt
das Knötchen allseits durch einen Gliasaum ab, der nur dort unterbrochen
erscheint, wo ein kapillares Gefäß in die Gewebsknospe eintritt.
4. Embryo vom Beginn des 9. Monats. Toluidinblaufärbung (Serie XVD).
Dem vom Epithel des Recessus suprapinealis bekleideten Rand der
Commissura habenularum eng angelagert findet sich ein länglich ovales
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 261
Feld von der Umgebung differenter Substanz, das sich fast über die ganze
Länge der am Sagittalschnitt rundoval erscheinenden Commissura habenu-
larum erstreckt und etwa ein Fünftel des Areals dieser Kommissur ein-
nimmt. Die Länge dieses Feldes beträgt 520 u, die Höhe 180 u, die Dicke
etwas über 100 u. Die zu Vergleichszwecken ermittelte größte Zirbelwand-
dicke mißt 1500 p. Das Gewebe dieses Gebildes erscheint hier im Vergleich
zum Nachbargewebe nicht aufgelockert, sondern eher dichter gefügt, und ist
darum auch im ganzen dunkler gefärbt als das umgebende Gewebe, von dem
es durch einen Spalt fast allseits abgegrenzt erscheint. Mit dem Epithel des
Recessus suprapinealis steht das Knötchen an einer Stelle deutlich in Ver
bindung, und zwar so, daß eine ziemlich dichte Zellbrücke den Zusammen-
hang vermittelt. Diese Zellbrücke besteht, wie auch die meisten Zellen im
Innern des Knötchens, aus den Zellen, wie sie als Gruppe 1 abgeschieden
wurden, nur sind sie etwas kleiner als bei den früher beschriebenen Serien
(die größten erreichen kaum 15 u), ein Teil von ihnen zeigt ein deut-
liches Kernkörperchen. Weiters finden sich Kerne von ähnlicher Gestalt und
Anordnung des Chromatins als die eben genannten, deren Kernmembran
jedoch nicht so deutlich hervortritt und die etwas heller gefärbt sind.
Schließlich finden sich noch außer den pyknotischen, leicht eingedellten
Kernen mit nur ganz geringem Plasma einzelne Zellen mit ganz ähn-
lichem Kern, der exzentrisch in einer annähernd rechteckigen Plasmamasse
gelegen ist, wobei das Plasma grobpunktierte Struktur erkennen läßt
(Abb. 2, c).
5. Embryo aus dem 9. Monat. Hämalaun-Eosinfärbung (Serie IX).
In einer Lage, die mit der in Fall 4 beschriebenen vollkommen überein-
stimmt, läßt sich hier ein Gebilde nachweisen, das birnförmige Gestalt hat,
wobei der keulenförmige, konvexe Teil dem oralen Ende der Commissura
habenularum, der längliche Stiel der Zirbel zugewendet ist (Abb. 5 und 6).
Die Länge dieses Körperchens beträgt 560 u, die Höhe 200 u, die Dicke
180 p. Die Zirbel mißt an der Stelle ihrer größten Wanddicke 1650 u. Der
Randsaum, den die umgebende Glia bildet, ist streckenweise sehr deutlich
zu sehen, ein Zusammenhang mit dem Epithel nicht nachweisbar. Vom
äußeren Rande des Zirbelparenchyms (zwischen Zirbel und Epithel) kom-
mend, tritt ein scheinbar erweitertes Blutgefäß in das Knötchen ein und
zieht sich als breites rotes Band fast durch die ganze Länge des Knötchens
hin. Die Grundsubstanz dieses Knötchens, die stellenweise besonders deutlich
eine wabige, feinfaserige Struktur erkennen läßt, ist lockerer, heller gefärbt,
dabei aber zellreicher als das umgebende Gewebe. Von Zellen sind wieder die
Zellen mit der deutlichen Kernmembran in weitaus größter Zahl vorhanden,
besonders diejenigen von ihnen, die spindelförmige Gestalt zeigen. Fin-
zelne von ihnen zeigen deutliche Kernkörperchen. Die Zellen, die in der
Mitte eines ziemlich dichten, zu Zipfeln ausgezogenen Plasmas einen rund-
lichen, pyknotischen Kern zeigen, sind ebenfalls in ziemlicher Zahl vor-
262 Alfred Alexander.
handen und erreichen eine Größe von 25 u, weiters sind noch pyknotische
Kerne ohne Plasmasaum und endotheliale Elemente nachweisbar. Schlieb-
lich findet sich eine kleine Zahl bläschenförmiger, ganz hell gefärbter
Kerne ohne deutliche Kernmembran in einem ganz schwach gefärbten Proto-
plasma gelegen, deren Kernkörperchen mit größter Deutlichkeit hervortritt
und die wohl als Ganglienzellen angesprochen werden können (Abb. 2, f).
Ein sechster Fall (Embryo vom 9. Monat, Serie XIX.), erscheint darum
bemerkenswert, weil sich hier in der Commissura habenularum drei Herde
C.h.
Abb. 6. Commissnra habenularum und Corpusculum parietale, Präparat wie Abb. 5,
Vergrößerung etwa 120fach
dieser auffallend lockeren Grundsubstanz zeigen, die in regelmäßigen Abstän-
den voneinander entfernt liegen. Zwei dieser Herde sind rund, einer eiförmig,
der größte von ihnen hat einen Durchmesser von zirka 70 u. Die Anwesenheit
der drei voneinander getrennten Stellen hängt wahrscheinlich damit zu-
sammen, daß die Schnittrichtung dieser Serie eine etwas schiefe ist und
mit der sagittalen einen Winkel von etwa 30° einschließt. Bei Durchsicht
der Serie ist nachweisbar, daß die drei Stellen von einer, und zwar der
dem Zirbelparenchym am nächsten liegenden ausgehen, während das Ende
in der umgebenden Substanz blind ist. Gerade an der Stelle des Zusammen-
tritts der drei Stellen ist das Präparat aber etwas zerrissen und das Bild
dadurch unklar. In einem dieser rundlichen Gebilde ist eine Kapillare zu
sehen; die überaus spärlichen Zellen entsprechen zum größten Teil den
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 263
Kernen mit deutlicher Kernmembran und fein verteilten Chromatinschollen,
sind rundlich und sehr klein (etwa 12 u im Durchmesser).
Die restlose Aufklärung der erhobenen Befunde stößt auf große Schwierig-
keiten. Zunächst waren die Knötchen am ungefärbten Präparat nicht zu
erkennen, es mußte also stets die ganze Serie gefärbt und dann erst durch-
gesehen werden. Dadurch ergaben sich für die Anwendung der feinen selek-
tiven Färbemethoden, die vielleicht noch manche Aufklärung hätten geben
können, große Hindernisse; anderseits ist aber auch die sonst so sichere
chemische Differenzierung durch Färbungen embryonalem Gewebe gegen-
über häufig unsicher und unzuverlässig.
So läßt sich über die Natur dieses Knölchens nichts mit absoluter
Sicherheit sagen. Auch die Frage, ob es sich hier tatsächlich um ein Rudi-
ment des Parietalauges handelt, ist vom menschlichen Material aus nicht
zu entscheiden. Hervorgehoben muß nur werden, daß das Knötchen in Form,
Lage und (Größe, in seinem unregelmäßigen Auftreten und in seinen Zell-
elementen vollkommen der Bildung entspricht, die Krabbe als Corpusculumi
parietale der Säuger beschrieben und als Rudiment des Parietalauges auf-
gefaßt hat. Daß Krabbe selbst, der ja auch menschliches Material untersucht
hat, die Existenz einer derartigen Bildung bei menschlichen Föten entgangen
ist, scheint mir dadurch begründet, daß das von ihm untersuchte mensch-
liche Material ein zu kleines war (er untersuchte nur drei Embryonen des
in Betracht kommenden Alters), so daß er, der auf die Inkonstanz und das
ephemere Auftreten seines Corpusculum parietale stets besonders hinweist,
durch Zufall nur solche Serien gesehen hat, bei denen keine Spur eines
solchen Knötchens nachzuweisen ist. Diese negativen Befunde machen ja
auch bei meinem Material 75% der untersuchten Serien aus.
Das Ganglion parietale, wie es Marburg für den Neugeborenen be-
schrieben hat, konnte ich in dieser Form bei meinen Serien nicht finden;
die beiden Serien von Neugeborenen, die ich durchgesehen habe, ließen
überhaupt keine Spur eines Parietalknötchens erkennen. So möchte ich,
mich zum Teil der Meinung Krabbes anschließend, meinen, daß es sich
bei dem (ranglion parietale, wie es Marburg in zwei Fällen beschrieben
hat, doch um außergewöhnliche Parietalorganrudimente handelte, die jeden-
falls einen weit höheren Grad der Entwicklung erreicht haben, als (lies ge-
wöhnlich der Fall zu sein scheint.
Fassen wir die beschriebenen Zellen zu Gruppen zusammen, so lassen
sich insgesamt vier Gruppen unterscheiden. Das am zahlreichsten ver-
tretene und für das Knötchen charakteristische Element sind jedenfalls
diejenigen Kerne, die durch die auffallend starke Kernmembran, die fein
verteilten Chromatinschollen und das Fehlen von Plasma gekennzeichnet
sind. Ihre Gestalt ist verschieden und führt von der runden über eine
eiförmige zur spindeligen Form; der Nucleolus fehlt zwar meistens, ist
aber in einigen Fällen sehr deutlich nachzuweisen.
Bemerkenswert scheint mir zu sein, daß diese Zellen absolut den-
264 Alfred Alexander.
jenigen gleichen, die Krabbe für das Corpusculum parietale, bes. von
Lepus cuniculus und Lobodon carcinophaga beschreibt und abbildet (Abb. 10
und 22). Welche Bedeutung Krabbe diesen Kernen zuteilt, geht aus seinen
Bemerkungen nicht hervor. Mir scheint es, daß es sich bei diesen Zellen
um noch undifferenzierte Bildungselemente ektodermaler Abkunft handelt.
Als Ganglienzellen sind sie jedenfalls nicht aufzufassen, da die Ganglien-
zellen der Aquäduktgegend der betreffenden Embryonen, mit denen ich
diese Kerne stets verglichen habe, schon ganz typische, viel weiter ent-
wickelte Formen zeigen. Es scheint sich also bei diesen Zellen hauptsäch-
lich um Bildungsmaterial für gliale Elemente zu handeln. Diese Ansicht
wird auch noch dadurch unterstützt, daß die Kerne große Ähnlichkeiten
mit denjenigen zeigen, die man bei Tumoren der Stützsubstanz, bes. den
Spongioblastomen sehen kann. Dies spricht nicht nur dafür, daß diese
Zellen tatsächlich als unreife Elemente aufzufassen sind, sondern viel-
leicht auch dafür, daß sich von diesem Knötchen aus, im Falle es sich
nicht, wie es die Regel zu sein scheint, zurückbildet, sondern bestehen
bleibt und dann wohl als versprengter embryonaler Keim betrachtet werden
kann, Geschwülste entwickeln können.
Zellen, die mit einiger Sicherheit als Ganglienzellen angesprochen wer-
den können, waren nur in einem einzigen Fall zu finden und auch da nur
ganz vereinzelt. Die Ganglienzellen bilden also auf keinen Fall einen charakte-
ristischen Bestandteil des Knötchens; erwähnt sei nur, daß sich die Ganglien-
zellen gerade in jenem Knötchen gefunden haben, das auch sonst durch die
deutliche Abgrenzung, durch seine Größe und die der Zellen, auffallend starke
Blutversorgung usw. den Eindruck des am weitesten entwickelten Corpuscu-
lum parietale machte. Daraus ist vielleicht zu schließen, daß Ganglienzellen in
diesem Knötchen nur dann auftreten, wenn die Entwicklung etwas über
das sonstige rudimentäre Maß hinausgegangen ist, was ja auch für den
Marburgschen Befund des Ganglion parietale zutreffen dürfte.
So bleibt noch eine dritte Gruppe, die kleinen pyknotischen, plasma-
armen oder plasmalosen Elemente, die wohl auch mit einiger Berechti-
gung als gliale Elemente angesprochen werden können und eine vierte,
die Plasmazellen im weiteren Sinne, die wohl mesodermaler Natur sind,
deren Anwesenheit aber durch die Blutgefäße, in deren Nähe sie sich stets fin-
den, erklärlich ist.
Zusammenfassend sei festgestellt, daß ich bei menschlichen Embryonen
in 2500 des untersuchten Materials in der Commissura habenularum ein an-
nähernd genau median gelegenes Knötchen nachweisen konnte, daß der
Bildung, die Krabbe als Corpusculûm parietale der Säugetiere beschrieben
hat, vollkommen entspricht.
Es ist demnach auch für den Menschen ein Corpusculum parietale anzu-
nehmen, das während der zweiten Hälfte der intrauterinen Entwicklung zur
Anlage kommt, wahrscheinlich nur durch kurze Zeit besteht und sich dann
wieder zurückbildet. Immerhin erscheint es möglich, daß es in Fällen. in
denen diese Anlage persistiert, von dieser unreifen Gewebsknospe aus zur
Zur Frage der Existenz eines Parietalorganrudimentes. 265
Bildung von Geschwülsten kommt, und so vielleicht ein Teil der relativ
nicht so seltenen Tumoren der Zirbelregion in seiner Entstehung auf diese
Ursache zurückgeführt werden kann.
Literatur:
Cutore G., Di una particolare formazione prepineale nel bos taurus L; Arch. ital. di
Anat. e di Embr., VIII, 1909, S. 230.
Hochstetter F., Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns.
Il. und II. Teil, Wien, 1919—1929.
Kolmer W., Über Nebenzirbeln. Anat. Anzeiger, Bd. 60, 1925.
Krabbe,Knud H., Recherches sur l’existence d'un oeil parietal rudimentaire ... Det
Kgl. Danske Videnskabernes Selskab. Biologiske Meddelelser, VIII., 3, 1929.
Leydig, F., Über Organe eines sechsten Sinnes. Dresden, 1868.
Leydig F., Die Parietalorgane der Amphibien und Reptilien. Abhandl. d. Senckenb.
naturf. Ges., Bd. XVI, 1890.
Leydig F., Zur Kenntnis der Zirbel und Parietalorgane. Abhandl. d. Senckenb. naturf.
Ges., Bd. XIX, 1896.
Marburg O., Zur Kenntnis der normalen und path. Histologie der Zirbeldrüse. Arb.
a. d. Wiener neurol. Inst, XVH, 1909, S. 217.
Marburg O., Neue Studien über die Zirbeldrüse. Arb. a. d. Wiener neurol. Inst.,
XXIII., 1922, S. 1.
Studnicka F. K., Die Parietalorgane. Jena, Fischer, 1905.
Studien zur Pathologie der Neuroglia II.
Von
Eugen Pollak.
Vor dreizehn Jahren hatte ich in einer ersten Mitteilung den damaligen
Standpunkt über Bau und Reaktionen der Neuroglia dargelegt. Im (iegen-
salze zur damals allgemein herrschenden Ansicht über Art und Wesen der
Neurogliaveränderungen habe ich die Meinung vertreten, daß die Neuroglia
eine (Gewebsart darstellt, die zwar selbstverständlich in engem symbi
tischen Verhältnis zur Nervensubstanz steht, daß jene jedoch auch primär
verändert sein kann, ohne daß also die stets geforderte Ersterkrankung
der Nervensubstanz vorangegangen wäre. Diese 1919 auf Grund langjähriger
Untersuchungen gewonnenen Resultate und Erwägungen haben eine ener-
gische Ablehnung erfahren, da zu dieser Zeit unter dem Einflusse der Lehren
von Nissl und Alzheimer die Weigertsche Meinung nach wie vor ver
fochten wurde, und jede Änderung eine unrichtige Auffassung sein mußte.
Inzwischen hat sich allerdings in dieser Hinsicht die Meinung wesentlich
geändert und die von mir 1919 geäußerte Auffassung über die primären
(liareaktionen ist heute allgemein anerkannt. Seit dieser Zeit haben wir
im neurologischen Institute eine große Zahl von Untersuchungen durch-
geführt, welche sich immer auch mit der Gliafrage beschäftigten, doch konnte
dabei nur dieses oder jenes Detail des großen Fragenkomplexes eine Be
rücksichtigung finden. Die gegenwärtige Arbeit soll in groben imrissen
den Extrakt einer Kette von Befunden und Untersuchungen darstellen, die
selbst wieder in ihren Details teils schon Verwertung gefunden haben, teils
erst veröffentlicht werden sollen.
Durch die überaus wichtigen neuen Darstellungsmethoden der Neuro-
glia von Cajal, Hortega u. a. mußte man zunächst auch die normalen
Aufbauverhältnisse der Glia einer wesentlichen Revision unterziehen. Es
unterliegt keinem Zweifel, daß diese Verfahren geeignet sind, eine neue
Gruppierung der Gliaelemente zu ermöglichen, wenngleich hier nicht ver
schwiegen werden soll, daß auch selbstverständlich diesen Verfahren Mängel-
anhaften und sie außerdem mit anderen älteren Imprägnationsverfahren in
einem gewissen Widerspruch stehen. Wir lernen daraus, daß wahrscheinlich
ein und dasselbe Element bei verschiedenen Darstellungsmethoden einen
durchaus differenten Charakter tragen kann, wie z. B. der Vergleich von
Gliazellen nach dem Imprägnationsverfahren von Cajal einerseits, jenem
von Golgi anderseits deutlich zeigt. Immerhin ist es durch neuere Unter
Studien zur Pathologie der Neuroglia l. 267
suchungsmethoden gelungen, gewisse formale Besonderheiten eindeutig zur
Darstellung zu bringen, wenngleich dies hauptsächlich für normale Ver-
hältnisse oder für Experimentalmaterial Geltung hat. Am pathologischen
Materia: der gewöhnlichen Spitalsfälle häufen sich bereits die Schwierig-
keiten. Wir wissen, daß die Leichenveränderungen ganz wesentlich das
Gelingen der Imprägnationsverfahren einschränken. Wenn Bestimmungen
vorliegen, wonach die Leiche erst sechs Stunden nach dem Tode zur
Sektion kommen kann, ist scheinbar die ideale Darstellungsmöglichkeit der
feineren gliösen Strukturen geschwunden und der Ausfall der an und für
sich überaus diffizilen Methoden überaus unsicher. Dazu kommt noch die
oft unerklärliche Ungleichmäßigkeit der Imprägnation in den einzelnen
Schnitten selbst, so daß man vielfach nur auf kleine Territorien angewiesen
ist, was wieder bei der Beurteilung eines umfangreichen pathologischen Pro-
zesses von großem Nachteile ist. Eine weitere Schwierigkeit ist dann darin
gelegen, daB unter Umständen die Darstellung pathologischer (iliastrukturen
viel leichter gelingt, als solche des normalen Materials, was uns wieder die
Schwierigkeit bereitet, ein ideales Vergleichsmaterial normalen Verhältnissen
gegenüber zu besitzen. So ist man doch sehr oft genötigt, trotz der wich-
tigen neuen Darstellungsmethoden auf die zahlreichen alten Verfahren zurück-
zugreifen, namentlich dann, wenn aus verschiedenen Gründen das Gelingen
der klassischen Methoden der spanischen Schule unmöglich geworden ist.
Diese Gründe sind hier absichtlich hervorgehoben worden, weil ihre Un-
kenntnis vielfach zu Trugschlüssen führen kann, und anderseits auch ein
Hinweis dafür gegeben ist, daß die zahlreichen älteren Methoden in gewisser
Hinsicht die neuen Imprägnationsmethoden ergänzen oder auch bestätigen.
J. Bau der Neuroglia.
Gehen wir nun zunächst einleitend auf die Frage des normalen
Aufbaues der Neuroglia ein, so kann man der alten Einteilung einer
faserigen, plasmareichen und drittens plasmaarmen Glia heute die spanische
Einteilung gegenüberstellen, wonach wir von einer Makro- bzw. Mikroglia
zu sprechen haben. Wir wollen selbstverständlich unter Berücksichtigung der
spanischen Forschungen eigentlich nur die Makroglia mit den gliösen Ele-
menten der alten Nomenklatur identifizieren, und dabei sieht ınan danı,
daß die faszikuläre Glia der Spanier der alten Faserglia von Virchow und
Weigert entspricht, daß die makroplasmatische (ilia der plasmareichen,
die Oligodendroglia der plasmaarmen Glia des alten Schemas gieichzu-
stellen ist. Eine Sonderstellung nimmt die Mikroglia ein, auf die wir später
noch zu sprechen kommen werden, die nach der Auffassung (ler spanischen
Schule eigentlich nieht zum gliösen Synevtium gehört, zumal sie angeblich
dem Ektoderm entwicklungsgeschichtlich gar nicht zugehörig ist. Die Formen
der Mikroglia waren wohl seinerzeit auch vor der ausgezeichneten Beschrei-
bung und Darstellung «durch Hortega der Forschung nicht entgangen. Ihre
Sonderstellung jedoch war unbekannt, da sie eigentlich vorher zur plasma-
268 Eugen Pollak.
armen und vielfach undifferenzierten Gliagruppe gerechnet wurde. In meiner
ersten Studie zur Gliapathologie hatte ich die Meinung vertreten, daß die
scharfe Trennung der einzelnen Gliaformen nicht ratsam wäre, zumal unter
pathologischen Bedingungen die Veränderungen der einzelnen Gliatypen so
hochgradig seien, daß die genetische Trennung meist kaum durchzuführen
wäre. Die damalige Meinung scheint mir auch heute noch durchaus zu-
treffend. Ich glaube weiter noch annehmen zu können, daß die plasma-
arme Glia eine zweckmäßig gebaute Unterform der plasmatischen Glia
ist, da wir einen großen Fundus an solchen plasmatisch weniger differen-
zierten Gliazellen besitzen müssen, die im Bedarfsfalle je nach der Lage,
Situation und Charakter des Prozesses sich entsprechend zu differenzieren
imstande sind, wobei natürlich die umgebende Substanz nicht zuletzt einen
wesentlichen Einfluß auf den Bau und die feinere Form der Gliaelemente
gewinnt. Es erscheinen mir daher zahlreiche Zuordnungen gewisser Glia-
formen zur Oligodendroglia namentlich in der weißen Substanz sehr ge-
künstelt. Die Darstellung solcher Zellen durch eine angeblich spezifische
Methode erscheint uns keineswegs stichhältig, da doch immer wieder die
Mitfärbung angeblich andersartiger Gliaanteile durchaus verwirrend wirkt
und nicht geeignet ist, immer den spezifischen Charakter dieses oder jenes
Elementes eindeutig zu bestimmen. Wir wissen doch, daß der Aufbau der
grauen bzw. der weißen Substanz selbst einen wesentlichen Einfluß auf
die Form der dort enthaltenen zelligen Gebilde besitzt. Wir sehen dies am
deutlichsten an der auffallenden Gestaltveränderung, welche heterotope
Zellen in der weißen Substanz erfahren. Wenn wir die zahlreichen Ganglien-
zellen in den Markstrahlen der Rinde bei Idioten oder Epileptikern be-
trachten, so sehen wir fast regelmäßig eine gleichmäßige Modellierung der
Zellen im Sinne eines spindeligen Elements, wobei man den Eindruck hat,
daß die Nervenfasern die Zelle gewissermaßen zu dieser Form vielleicht
rein mechanisch genötigt haben. Ähnliche Veränderungen der Gestalt er-
fahren heterotope Vorderhornzellen des Rückenmarks dann, wenn sie in der
Kommissur oder im Strang selbst gelegen sind, woraus deutlich hervorgeht,
daß die Umgebung auf die gleiche Zellart verschieden gestaltbestimmend
wirkt. Aus diesem Grunde hegen wir gewisse Zweifel, ob es stets berechtigt
ist, verschiedene Elemente der Oligodendroglia zuzuweisen, auch dann,
wenn man, wie zahlreiche Bilder der spanischen Arbeiten zeigen, verhältnis-
mäßig reiche Verästelung der Gliazellen nicht als Kriterium der makrogliösen
Gruppe angenommen hat. Daß aber die Tätigkeit der Glia im Dienste der
weißen und grauen Substanz zu vollständig anderen Mechanismen führt, ist
klar. Und es wird vielleicht erst eine genaue Kenntnis des Funktions-
ablaufes der Glia es ermöglichen, eine scharfe Trennung der ein-
zelnen Formen vorzunehmen, die heute vorwiegend durch das Milieu
gegeben ist, und deren scharfe Abgrenzung uns heute keineswegs sicher-
gestellt erscheint. Wenn wir von einer Oligodendroglia sprechen, so glaube ich.
daß man sie zumeist wohl aın besten mit jener Zelltype homologisieren kann,
die ich seinerzeit als „Bereitschaftszelle“ bezeichnet habe und welche
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 269
der klassische Typus einer plasmatisch wenig oder vielleicht auch gar
nicht differenzierten Zellform ist. Solche Zellen sind der Ausgangspunkt
der Vermehrung und Differenzierung der Gewebe, was wir ja für das Meso-
derm z. B. schon seit langer Zeit gesichert annehmen. Unserer Meinung
nach scheint die scharfe Gruppierung und Trennung der Glia in eine fortsatz-
reiche und oligodendritische Glia unzutreffend; die Erfahrungen an niederen
Tieren einerseits und am pathologischen Material anderseits sprechen ebenso
dagegen wie die Golgi-Imprägnationen. Wenn wir bedenken, daß die Unter-
suchungen an wirbellosen Tieren durch Sopinos gezeigt haben, daß gleich-
sinnige Elemente sowohl perizellulär als auch perivaskulär Netze bilden, so
spricht dies wohl mit größter Wahrscheinlichkeit dafür, daß die verschieden-
artigst klassifizierten Gliaformen bei primitiven Stufen gleichsinnig gebaut
sind, daß also vielleicht erst mit der höheren Differenzierung der Nervenzell-
funktion auch eine entsprechende Weiterentwicklung des gliösen Schwester-
gewebes stattgefunden hat, daß aber die Grundelemente einheitlicher Natur
waren. Alle unsere Untersuchungen haben uns im wesentlichen gelehrt, daß
unter gewissen Bedingungen jedes Gliaelement eine Umbaureaktion erfahren
kann, je nachdem das Bedürfnis des nervösen Gewebes eine solche Umstim-
mung erfordert. Dazu kommt noch die primäre Reagibilität der Glia selbst, die
allerdings größter Wahrscheinlichkeit nach bei den nicht blastomatösen Pro-
zessen doch im Dienste der Nervensubstanz erfolgt, mit der sie letzten
Endes schwesterlich verwachsen ist und mit der sie zu einem zwangsmäßigen
gemeinsamen Lebenshaushalt verbunden ist. Die ursprüngliche Herkunft aus
einem gemeinsamen Urgewebe, die Teilung in zwei morphologisch und
funktionell vollständig differente Gebilde ist ein seltenes Sonderphänomen,
welches sich nicht nur im funktionellen, sondern auch im morphologischen
Charakter widerspiegeln muß. Infolgedessen ist es klar, daß der Aufbau der
Neuroglia stets der Konstitution der Nervensubstanz nachgebildet ist, daß
in erster Linie die Glia versucht, alle jene Leistungen zu übernehmen bzw.
sich dementsprechend zweckmäßig zu formieren, um jedem Bedürfnis des
Nervengewebes im gesunden oder kranken Zustand gewachsen zu sein. Diese
Tatsachen führen zur Figenart des Aufbaues der Glia in topistischer Hin-
sicht. Infolgedessen sehen wir zunächst einmal die Gruppierung in der Um-
gebung der Nervenelemente, d. h. eine gewisse lamelläre Konstruktion,
welche das Nervensystem gegen das Mesoderm abriegelt und auf diese Weise
die scharfe Grenze von Ektoderm und Mesoderm darstellt. Diese (irenz-
flächen spielen heute in der Pathologie eine ganz besondere Rolle, doch ist
es selbstverständlich, daß dies natürlich nicht nur für krankhafte Verhält-
nisse gilt, sondern in jenen Grenzflächen liegt eigentlich der Grundmechanis-
mus der Nutrition des Nervengewebes bzw. der afferenten und efferenten
Stoffwechseltätigkeit des Parenchynis. Die Membran, welche hier das Nerven-
gewebe gegenüber dem Mesuderm abgrenzt, ist ohne Zweifel -— wofern sie
eine funktionstüchtige sein soll — von plasmatischem Bau und bei der
Darstellung dieser Membranen dureh die Gold-Sublimat-Imprägnation von
Cajal sieht man, daß diese Lamelle von feinsten Körnehen durchsetzt ist,
270 Eugen Pollak.
daß also auch hier das Vorhandensein von Gliosomen nachgewiesen wird,
ein Zustand, der mit jenem der makroplasmatischen Glia vollkommen über-
einstimmt. Es erübrigt sich, hier zu betonen, daß im wesentlichen die
Verhältnisse der Membrana perivascularis gliae einerseits, der Membrana
limitans superficialis anderseits ähnliche sind. Gleich scheinen uns hier
die Verhältnisse nicht zu sein. Die Differenz, welche wir in den beiden Mem-
branen finden, die genetisch unzweifelhaften gleichen und auch substantiell
in innigem Zusammenhang stehen, besteht darin, daß die superfizielle Mem-
bran eine wesentliche Versteifung durch Entwicklung faseriger Anteile
erfährt, um auch unter Umständen vollständig in ein faszikuläres Banıl
überzugehen, wenn es zu einem kompletten Parenchynıschwund gekommen
ist, was wir bei der sklerotischen Hemisphärenatrophie festgestellt haben
und was man auch recht deutlich am Greisengehirn oder schöner noch am
Rückenmark der Senilen feststellen kann. Schon hier haben wir einen
Befund, auf den ich seinerzeit hingewiesen habe, daß nämlich die typische
Umwandlung von makroplasmatischen Gliaelementen in Faserzellen erfolgt,
daß also unter Aufrechterhaltung des typischen plasmatischen Syneytiums
die Metamorphose in ein faszikuläres Netz möglich ist. Normalerweise sehen
wir immer einen gewissen -— und zwar nicht unbeträchtlichen — Gehalt an
faszikulärer Glia an den Grenzposten, also in der Umgebung der Gefäße
und der Meningen bzw. subependymär. Dieser verstärkende Einfluß der
Faserglia in dem Territorium der limitierenden Membranen beruht haupt-
sächlich darauf, daß sich hier die Stützpfeiler der kortikalen Gliazone
ansetzen, welche knapp unter dieser Membran das Kammerwerk von Glia
bilden, welches sowohl an den Gefäßen subependymär und marginal -- wie
wir aus den Untersuchungen von Held wissen — stets gefunden werden.
Dieses Kammerwerk scheint nun aus einer Mischung von plasmatischen und
faserigen Elementen zu bestehen, wobei jedoch ohne Zweifel die faserigen
Elemente in der Mehrzahl zu sein scheinen. Die plasmatischen Fortsätze
der Zellen müssen durch dieses Netzwerk durchtreten, damit sie Anschluß
an die Membran gewinnen, d. h. richtiger, daß sie die Möglichkeit besitzen,
diese Membran zu formieren. Die Fortsätze der plasmatischen Zellen enden
mil mehr oder minder breiten Füßen in der Membran, und dieses Mündunges-
delta zerfließt in die zirkuläre Lamelle der plasmatischen Membran, welche
zylindrisch das Gefäß oder flächenförmig die Oberfläche des Gehirns um-
gießt. Je mehr nun die Bedeutung des Stoffwechselaustausches zurücktritt,
desto plastischer wächst an seiner Stelle der formative Einfluß des Glia-
gewebes. Mit dem Zurücktreten der nutritiven und filtrativen Funktionen der
Glia (siche später) erweist sich der plasmatische Aufbaucharakter der Mem-
bran als überflüssig und mit der plasmatischen Glia erfährt gleichzeitig die
Membran — wie ich schon früher erwähnte -- Umwandlung bzw. Versteifung
in ein faszikuläres, also faserreiches (Gewebe, welches sicherlich anderen
Zwecken dient, als die ursprüngliche (iewebsform. Wenn wir eine große Zahl
von pathologischen Prozessen verfolgen, bei welchen Zerstörungsprozesse
am Parenehym stattgefunden haben, oder aber auch Abbauvorgänge abge-
Studien zur Pathologie der Neuroglia H. 271
laufen sind, so zeigt eine Darstellung dieser perivaskulären und marginalen
Gliastruktur sehr deutlich eine wesentliche quantitative Vermehrung, ein
Zeichen, daß es also zu einer Apposition dieses Gewebes gekommen ist,
welche sich natürlich auf Kosten einer anderen Type entwickelt hat und es
unterliegt keinem Zweifel, daß ein Teil der plasmatischen Elemente eine
derartige Umformung durchgemacht hat bzw. eine Neuentwicklung aus anders-
artigen Gliaelementen erfolgt. Sehen wir schon in diesem Verhalten eine
charakteristische Möglichkeit der Umwandlung eines Zelltypus in einen
anderen, so lehren die Untersuchungen am pathologischen Material fast
regelmäßig, daß mit den geänderten Verhältnissen auch die Neuroglia ihre
Form zweckentsprechend variiert. Wenn wir die verschiedenen ınorpho-
logischen Ausdrucksformen der sogenannten Gliahyperplasie einer genaueren
Analyse unterziehen, so sehen wir eine Weiterdifferenzierung von Kern und
Plasma. Zahlreiche Erkrankungen sind besonders geeignet, derartige Reak-
tionen und Entwicklungsphasen der Glia zu demonstrieren und gerade die in
den letzten Jahren relativ häufige Encephalitis epidemica ist ein ideales
Forschungsmaterial, um das Auf und Ab der Gliareaktionen eingehend zu
studieren. Wir sehen, wie aus typischen kleinen vollständig plasmaarmen
Gliazellen unter dem Einfluß des schädigenden Agens eine plasmatische
Hochdifferenzierung erfolgt, daß — um hier nur bei der Makroglia zu blei-
ben — eine beträchtliche Wucherung der einzelnen Zellen erfolgt, daß unter
Vergrößerung des Kerns, unter Zunahme von Plasma und unter Bildung
von Fortsätzen aus einer undifferenzierten Gliazelle das charakteristische
reife Element des Gliasynceytiums zur Entwicklung gekommen ist. Es unter-
liegt natürlich keinem Zweifel, daß man auch da nur einzelne Phasen des
gesamten gliösen, morphologischen Komplexes beobachten und verfolgen
kann, da die Veränderungen sich fast ausschließlich in der grauen Substanz
abspielen, während jene der weißen Substanz in den Hintergrund treten
und es auch dann noch fraglich erscheint, ob kausalgenetisch hier gleiche
Bedingungen für die Hyperplasie vorliegen wie in der grauen Substanz,
wo das Zentrum des Prozesses sich befindet. Bei unserer Einstellung einer
speziellen Reagibilität der Glia primärer Natur kann es unseres Erachtens
nicht gleichgültig sein, ob nicht vielleicht Veränderungen der weißen Sub-
stanz bezüglich der (iliakonstitution andersartig geformt ist, da hier die
Neuroglia dann unter ganz anderen Bedingungen steht, wie das gleiche Ge-
webe dort, wo die Noxe direkt angreift und die Neuroglia gewissermaßen
genötigt ist, einen Mehrfrontenkrieg zu führen, der sich selbstverständlich
auch formal anders auswirkt, als eine unter Umständen nur einseitig bedingte
(iegenreaktion oder Hilfstätigkeit im Dienste eines funktionsgeschädigten oder
gefährdeten Gewebes. Infolgedessen muß man bei der Beurteilung der for-
malen gilder doppelt vorsichtig sein, und die Polymorphie bei gleicher Er-
krankung in verschiedenen Territorien nicht unbedingt auf angebliche Un-
gleichheit der Elemente zurückführen.
Bei der Vielfältigkeit der Funktionen der Neuroglia in ihren zwischen-
geschalteten Funktionsapparat zwischen Nervengewebe und Mesoderm muß
272 Eugen Pollak.
sich die Glia den jeweiligen Ansprüchen entsprechend adaptieren. Dies ist
auch der Grund, warum normalerweise die Gliaelemente in der grauen und
in der weißen Substanz so wesentliche formale Unterschiede zeigen. Die
Tendenz der Glia, das Nervensystem förmlich einzuhüllen, führt zur Bil-
dung von Ausgußformen, welche die ganze Oberfläche der nervösen Gebilde
einerseits, die Blutgefäße anderseits membranartig umhüllen. Wir haben
bereits auf diesbezügliche Formationen an den Gefäßen hingewiesen, und
gleiches gilt vielleicht auch für die merkwürdigen Bildungen der (ilia in der
weißen Substanz des Nervensystems. Die Ringbildungen und Trichter, welche
die Einkerbungen zwischen den einzelnen Markscheidenringen darstellen,
werden förmlich von gliaplasmatischen Massen ausgefüllt, so daß auch an
dieser Stelle kein Volumsdefekt besteht. In dieser morphologischen Tatsache
müssen wir nicht nur ein vermutungsweise wichtiges Korrelat zwischen
Glia und Markscheide bzw. Axon erblicken, sondern vielmehr auch ein
anderes Prınzıp verwirklicht sehen, das unter pathologischen Bedingungen
noch viel deutlicher hervortritt, nämlich die typische Tendenz der Glia, jedes
parenchymatöse Vakuum durch Volumszunahme seiner plasmatischen Struk-
turen zu decken. Ohne unseren späteren Ausführungen über diesen merk-
würdigen Mechanismus vorgreifen zu wollen, möchten wir hier nur betonen,
daß entsprechend dem Zustande der Markfasern die morphologische Struktur
der plasmatischen Glia erhebliche Schwankungen zeigt, daß jede Abände-
rung des Parenchyms zwangsläufig zu einer Gestaltveränderung der Glia führt,
was jedoch unseres Erachtens nicht nur als ein rein substitutiver Vorgang
zu bezeichnen ist. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß unter solchen Be-
dingungen wieder plasmaarme Glia unter Apposition von Plasma zur Deckung
der gliösen Aktivitätsbestrebungen herangezogen wird, daß somit verschie-
dene Formen der Oligodendroglia auftauchen und auf diese Weise das ohne-
dies polymorphe Bild dieser Elemente noch weiter zweckentsprechend variiert.
Auf Grund dieser Auseinandersetzungen glauben wir uns also zu dem Schlusse
berechtigt, daß es fraglich ist, ob die verschiedenen von einzelnen Autoren
beschriebenen Gliaelemente der Oligodendroglia zunächst noch als solche
zu bezeichnen sind, und zweitens, ob eine scharfe Abgrenzung der einzelnen
Formen zweckentsprechend ist. Wir meinen, daß die erst jüngst von Roussy
vorgebrachte Unterteilung in die Typen von Robertson, Cajal, Paladino
zutreffend ist, daß es sich aber nicht um verschiedene Arten, sondern nur
um Adaptationsbilder handelt, welche sich unter pathologischen Bedingungen
ganz erheblich verändern können. Ohne Zweifel scheinen alle diese Glia-
elemente mit relativ dürftiger Plasmabildung aus einer Grundform hervor-
zugehen, welche eine minimale Plasmabildung zeigt und ursprünglich ohne
Entwicklung von Dendriten dem eigentlichen Glianetz noch nicht angehört.
Diese Zellen, die ich seinerzeit unpräjudizierlich und mehr aus praktischen
Gründen als „Bereitschaftszellen‘ bezeichnet habe, ist sicherlich mit der
Grundform der Oligodendrogliatypen zu homologisieren, und von ihr aus viel-
leicht über den Weg eines plasmaarmen Gebildes kann die Weiterdifferen-
zierung zur typischen plasmareichen Makroglia erfolgen, an deren Zwischen-
Studien zur Pathologie der Neuroglia H. 273
stadium sich unter noch zu besprechenden Bedingungen die Faserbildung und
somit die Umformung zur faszikulären Glia anschließen kann. Faserglia,
große plasmatische Glia und Oligodendroglia sind alle drei
zweckentsprechende Differenzierungstypen der gliösen Grund-
form, und je nach der topischen Örtlichkeit, je aber auch nach den
mehr oder minder varıablen Gewebsansprüchen kann die eine
Type in die andere übergehen, so daß das angeblich charakte-
ristische Bild vollkommen verändert werden kann.
Von diesen soeben beschriebenen Formen müssen wir heute aller-
dings aus einem wesentlichen Grund die von Hortega beschriebene Mikro-
glia unterscheiden. Wir müssen uns auf Grund unserer Erfahrungen und
auch einfachen logischen Begründungen auf die Seite der meisten Autoren
stellen, welche die Auffassung Hortegas, daß es sich hier um mesodermale
Gebilde handelt, ablehnen. Wenn wir den Aufbau der Mikroglia betrachten,
die sich vielfach wesentlich von der Makroglia unterscheidet, so sehen wir
gerade an Hand der typischen Imprägnationspräparate eine verhältnismäßig
große Verwandtschaft im Strukturaufbau der Mikro- und Makroglia. Ob man
die relativ gleichsinnige, häufig vorkommende Tendenz der Universalimpräg-
nation der Gliaelemente heranziehen darf, erscheint mir sicher unrichtig.
So wissen wir, daß bei der Gold-Sublimat-Imprägnation die plasmatischen
Formationen der Makroglia dargestellt werden, während die faserbildenden
Zellen ungefärbt oder höchstens als bloße Schatten erscheinen. Wir sehen
daraus, daß diesen Imprägnationen eine gewisse spezifische Imprägnierungs-
kraft innewohnt, daß man also nur mit einer gewissen Einschränkung aus
einer gleichzeitigen Imprägnation bindende Schlüsse ziehen kann. Ander-
seits wissen wir, wie launenhaft solche Verfahren sind, und daß mitunter auch
heterogene Gebilde eine gleichartige Darstellung erfahren, wodurch täu-
schende Identität bewerkstelligt wird. Die Gründe, welche uns aber bewegen,
die Mikroglia als ein ektodermales Gebilde anzusehen, werden wir am deut-
lichsten unter pathologischen Bedingungen erkennen, worauf wir später
zurückkommen. Hier müssen wir jedenfalls noch einen anderen Einwand
gegen die mesodermale Natur der Mikroglia machen. Wir haben vorhin
die bekannte Tatsache eingehender besprochen, daß sich das Nervensystem
durch makroplasmatische Membranen des gliösen Schwestergewebes gegen
das Mesoderm abdichtet. Es wäre nun ein merkwürdiges Geschehen, wenn
diese Abriegelung dadurch illusorisch gemacht würde, daß innerhalb des ekto-
dermalen Territoriums mesodermale Zellen sich befinden und hier im Dienste
des Stoffwechsels stehen. Was hätte dann die Abriegelung gegen das Meso-
derm für einen Wert, wie könnte man den wichtigen biologischen Antagonis-
mus zwischen Meso- und Ektoderm aufrechterhalten, auf dem sich letzten
Endes viele prinzipielle biologische Phänomene der Immunität, (ler Blu-
liquorschranke usw. aufbauen? Ich glaube, daß die Meinung Hortegas in
erster Linie auf dem Übersehen eines wichtigen entwicklungsgsschichtlichen
Grundfaktors der Ganglien-Glia-Relation beruht. Nervenelemente wie Glia
stammen aus einer einheitlichen Grundform: trotz der Teilung in zwei
Arb. aus dem Wı. neurol. Inst., XXXIV. Bd. 18
274 Eugen Pollak.
funktionsdifferente Gebilde bleibt dabei das in der genetischen Einheit be-
gründete enge symbiotische Verhältnis erhalten. Die Nervenzelle selbst
leistet nur die spezifische Funktion in ihrer höchsten Differenziertheit und
ist von allen anderen Funktionsleistungen durch die Neuroglia enthoben.
Die Fortpflanzungsfähigkeit ist der Nervenzelle abhanden gekommen, und
die Vermehrungsfähigkeit ist vermöge des reichen Basichromatingerüstes
lediglich der Neuroglia verblieben. Alle übrigen, die Lebenskraft der Zelle
und ihre Funktionsfähigkeit gewährleistenden Hilfsapparate hat die Neuro-
glia übernommen und die reichen, die Ganglienzelle einerseits, die Mark-
fasern anderseits umspinnenden und umhüllenden Gliaformationen bilden
also förmlich eine zweite plasmatische Hülle, welche das morphologisch
getrennte Differenzierungsprodukt des ursprünglich einheitlichen Urzellkörpers
vorstellt. Diese Tatsache führt dann dazu, daß alle Reaktionen, die an den
übrigen Körperorganen und -geweben von den jeweiligen Parenchymelemen-
ten selbst durchgeführt werden, hier im Zentralnervensystem in zwie-
spältiger Weise vor sich gehen. Jede nicht spezifisch nervöse funktionelle
Leistung des Parenchyms muß von der Glia förmlich unterstützt werden
und die Glia selbst ist jenes auf eine tiefere Funktionsstufe gedrückte Hilfs-
gewebe, das den Ansprüchen des Nervengewebes nachkommen muß. Es ist
Aufgabe der Glia, allen Möglichkeiten der hochdifferenzierten Parenchym-
funktion entgegenzukommen, das Nervensystem in dem Idealzustand der
Leistungsfähigkeit zu erhalten und selbst den höchstgesteigerten Ansprüchen
des Parenchyms die notwendige Grundlage zu schaffen. Zu diesem Zwecke
wurde jenes Syncytium errichtet, welches die Aufgabe hat, ganz wie das
Blutgefäßsystem ein Netz zu bilden, um auf diese Weise allerdings beson-
ders feinmaschig das ganze Nervengewebe zu durchsetzen, und hier eine Art
Vitalitätsstrom aufzurichten, der die Zufuhr der notwendigen Stoffe besorgt
und die Abfuhr der Schlacken der Lebenstätigkeit des Nervengewebes er-
möglicht. Ich habe daher schon an anderer Stelle die Neuroglia und ihren
netzförmigen Aufbau mit dem Blutgefäßsystem verglichen, und von einem
arteriellen und einem venösen Schenkel dieses Netzes Erwähnung getan.
Vergleichen wir nun den Aufbau der Glia mit dem Blutgefäßsystem, welches
von ihr innigst umrankt ist, so sehen wir zunächst als auffallendste Tat-
sache, daß die ganz großen Gefäße, Arteriolen und kleine Arterien, haupt-
sächlich von großen makroplasmatischen Riesenelementen umgeben sind.
welche mit ihren mächtigen plasmatischen Fortsätzen und breiten End-
platten die Membranen dieser Gefäße bilden. Verkleinert sich das Kaliber
der Gefäße, dann sehen wir, wie sich die Dichtigkeit der makroplasma-
tischen Elemente vermindert, und wie neben diesen mikrogliöse Elemente
als Beihilfe an die Präkapillaren und Kapillaren herantreten, um auf diese
Weise die gliöse Grenzfläche bzw. Verbindungsbrücke zum Parenchym zu
verstärken. Da besteht nun ein prinzipieller Unterschied scheinbar zwischen
Makro- und Mikroglia. Während wir bei ersterer mit Leichtigkeit den Netz-
charakter darstellen können, gelingt uns dies wenigstens bis heute bei der
Mikroglia nieht. Diese Zellen machen stellenweise den Eindruck von viel-
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 275
gestaltigen, aber stets einzeln gelagerten Elementen, und der Zusammenhang
von Einzelindividuen miteinander oder gar die Entwicklung eines Netzes läßt
sich nur ganz vereinzelt feststellen. Weder am normalen Material, noch auch
in Fällen, wo die Mikroglia enorm stark vermehrt ist, wie z. B. bei der pro-
gressiven Paralyse, kann man auch nur Andeutungen einer sicheren Netz-
bildung beobachten. Hingegen erscheint es uns auffallend, daß wir mit-
unter eine mikroplasmatische Brücke zwischen zwei Kapillaren ausgespannt
sehen, so daß man die Empfindung hat, daß hier die Mikroglia vielleicht
förmlich eine Anastomosenleistung im übertragenen Sinne durchführt. Regel-
mäßig sehen wir nur, daß die Mikroglia zwischen Nervenzellen und Gefäßen
gelagert ist, daß sich die Gliazelle mitunter mit einem Fortsatz schlingen-
förmig um die Kapillare legt, um sich dann mit einem weiteren bogenförmigen
Fortsatz um eine Nervenzelle zu schlingen. Stellt also die makroplasmatische
Glia den limitierenden Repräsentationstyp gegenüber den größeren (iefäßen
vor, so tritt sie an den kleineren Elementen zwar nicht quantitativ erheblich
zurück, wird jedoch hier ergänzend durch die Mikroglia abgelöst und ver-
stärkt. Hier glauben wir nun wieder auf die ursprüngliche Fragestellung
zurückkommen zu dürfen. Im Gegensatze zu den anderen Körperorganen ist
die Nervensubstanz nicht direkt an die Nährstraßen des Blutes und der
Lymphe angeschlossen, sondern hat durch die ontogenetische Zellteilung
diese Zwischenfunktion dem Schwestergewebe der Neuroglia überlassen
müssen. Um die hochdifferenzierte Nervenzellfunktion reibungslos und in
idealer Weise gestalten zu können, kann die Nervenzelle nicht die primitiven
Leistungen der Nahrungsaufnahme, Dosierung und Selektion der notwen-
digen Stoffe besorgen; sie hat hiefür den gliösen Hilfsapparat, der alle diese
notwendigen Reaktionen vornimmt und nicht nur die Ansprüche des Nerven-
systems in weitestem Ausmaße deckt, sondern auch vorher schon als ver-
wandtes Gewebe sich gegen Stoffe abschließt, welche die Nervensubstanz
nicht braucht, und die sicher in das Nervengewebe eindringen würden,
wenn die Neuroglia in ihrer Funktion versagt. Ich verweise hier auf die
wichtige Feststellung, die vor einigen Jahren Stengel hier im Institute ge-
macht hat, wonach Hämoglobin in die Ganglienzellen in der Umgebung von
Blutungen eindringt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dies nur dadurch
möglich wurde, daß das Filter der Neuroglia versagt und die Membranen der
Granglienzellen auch für diesen Stoff permeabel wurden — wahrscheinlich
auch immer sind — und nur durch die richtiggehende Leistung der Filtrier-
kraft der Glia von diesem Ballast verschont werden. Ebenso wissen wir,
daß nach traumatischen Defekten des Schädels und in der Umgebung von im
Gehirn befindlichen Knochensplittern die (Granglienzellen dortselbst sich mit
Kalksalzen imbibieren. So finden wir in der Umgebung solcher Kalkherde
eine große Zahl verkalkter Ganglienzellen, welche bei dem Überreichtum von
kalkhaltigem Grewebssaft — wahrscheinlich infolge Unfähigkeit einer gliösen
Abdichtung — in diesen pathologischen Zustand gekommen sind. Hier scheint
eine ständige und chronisch werdende Insuffizienz der Neuroglia schuld zu
sein. Auf Grund der Beobachtungen der Röntgenologen nimmt die Kalk-
18°
276 Eugen Pollak.
dichtigkeit der Splitter im Gehirn im Laufe der Zeit immer mehr ab, d. h., daß
wahrscheinlich der Kalk in Lösung geht und hier zum Teil von den Nerven-
elementen aufgenommen wird, was nur vielleicht infolge der hohen Konzentra-
tion des Kalkes auf insuffiziente Glia zurückzuführen ist (die Glia selbst er-
scheint in solchen Fällen viel kalkärmer als die Nervenzellen); dieser Befund ist
um so auffälliger, weil wir bei anderen Verkalkungsprozessen sehen, daB
das umgekehrte Verhalten typisch ist. Hier sehen wir eine starke Anreicherung
der verschiedenen gliösen Elemente — in erster Linie allerdings der Mikro-
glia — mit Kalk, während die Ganglienzellen zwar schwer erkrankt sind,
jedoch einen Kalkgehalt nicht erkennen lassen. Im letzteren Falle hat
sich also die Glia als Filter bewährt, hat die gesamten Kalksalze gebunden,
so daß die Ganglienzellen selbst auch trotz ihrer Erkrankung nicht mit Kalk-
salzen beladen sind. Wir sehen also, daB bei derselben Stoffwechselstörung
das einemal die Glia filter, das anderemal in diesem Dienste scheinbar
versagt und dann die Nervenzellen selbst so reagieren, wie wenn gar keine
Glia vorgeschaltet wäre. Diese Beispiele wurden hier nur eingefügt, um
zu zeigen, welcher enge Funktionsmechanismus zwischen Nervenzelle und
Gliazelle besteht, und was für große Bedeutung gerade jenen Elementen zu-
kommt, welche die Verbindungsbrücke zwischen Kapillarkreislauf und Nerven-
substanz herstellen. Es ruht also die gesamte Stoffwechselfunktion sowie
sämtliche später zu besprechenden Funktionen auf diesem Anteil der gliösen
Architektonik.
Da wir soeben festgestellt haben, daß die kleinen Gefäße, vor allem die
Kapillaren, in erster Linie von einer makrogliösen Membran umsponnen sind,
welche noch durch mikrogliöse Zelleiber umgürtet wird, ergibt sich folgende
wichtige Tatsache. Wir wissen, aus den wichtigen Versuchen von Fröhlich
und Zak, daß die der Blutbahn zugeführten Stoffe niemals durch die größeren
Gefäße durchtreten, daß sie vielmehr in den Kapillaren und sogar zu
einem nicht unbeträchtlichen Teil aus den kleinsten Venenanfängen aus-
geschwemmt werden. Dieser Abschnitt des Kreislaufnetzes wird nun haupt-
sächlich von der Mikroglia umgeben, so daß man sicherlich berechtigt ist, in
diesen Elementen einen wichtigen Faktor des Stoffwechselaustausches zwi-
schen Blut und Gewebe zu erblicken. Wenn wir morphologisch die Mikro-
glia betrachten, so erinnert sie an vielen Stellen und in zahlreichen Exem-
plaren an die Perizyten, die wohl großer Wahrscheinlichkeit nach auch im
Dienste der Nährfunktion stehen. Während die vorhin genannten Gebilde in
den anderen Organen ein perivaskuläres Netz bilden, das unseres Erachtens
im Dienste der Stoffwechseltätigkeit der Gewebe steht, ist hier dieses Element
infolge der Eigenart des Aufbaues des nervösen Zentralorgans andersartig
modelliert und wurde zufolge der dualistischen Zellaufteilung in den Funk-
tionskreis eines eigenen gliösen Apparates aufgenommen. Wir sehen auf
diese Weise in der Mikroglia den klassischen Vertreter eines funktionellen
Zwitters, der die Aufgabe hat, mesodermale Funktionsleistung in seiner ekto-
dermalen Gestaltung und gewebsgenetischen Abstammung durchzuführen.
Hier glauben wir jenen Meinungen entgegentreten zu müssen, welche in der
Studien zur Pathologie der Neuroglia 11. 277
Mikroglia einen Bestandteil des retikulo-endothelialen Systems erblicken.
Selbst für den Fall der Identifizierung der Funktion ist noch keineswegs die
Gleichsinnigkeit von Mikroglia und Retikulo-Endothel gegeben. Ich verweise
hier auf die ausgezeichneten Ausführungen von Roussy, L’hermitte und
Oberling, welche zwischen Makro- und Mikroglia in den retikulo-endo-
thelialen Leistungen der Speicherung nur quantitative, aber keine qualita-
tiven Differenzen fanden. Der Irrtum der Homologisierung mit dem retikulo-
endothelialen System beruht darauf, daß man die vorhin erwähnte Tatsache
so wenig berücksichtigt, daß sich die Mikroglia in überwiegend reichem Maß
in der Umgebung der Kapillaren ballt und wir gerade betont haben, daß nur
von diesem Feld aus die dem Blute zugeführten Stoffe ihre Ausschwemmung
aus der Blutbahn erfahren. Wenn diese Stoffe nun — wie dies bei Speiche-
rungsversuchen charakteristisch ist — aus den Kapillaren und kleinsten
Venen austreten, werden sie selbstverständlich von jenen Gliaelementen
übernommen, welche als Abfangvorrichtung und Filter zwischen Blutgefäß
und Ganglienzelle vorgeschaltet sind. Hier bewährt sich die Glia als das
typische Surrogat des Mesoderm und schickt hier vermutlich jene nicht im
syncytialen Bau stehenden Elemente ins Feuer, da diese Zellen sehr leicht
wieder Gelegenheit haben, durch ihre Lage die gespeicherten Stoffe an das
Blut rückzuführen, ohne daß dadurch der Kreis des Gliasyncytium gestört wird
und infolgedessen schwerere Störungen der Nervenzellfunktion verhindert
werden. Diese Ausschaltung der Mikroglia aus dem Bereiche des gliösen
Syneytiums ist daher von einer gewissen praktischen Bedeutung. Wir meinen,
daß die Mikroglia sicher nicht dem makroplasmatischen Netz zugehört, son-
dern als ein gliöses Hilfsorgan zur Unterstützung gewisser Funktionen heran-
gezogen wird. Auffallend ist es, daß die Mikroglia in der grauen Substanz
unzweifelhaft reicher vertreten ist als in der weißen, daß also die Tätig-
keit der Mikroglia scheinbar in der grauen Substanz bedeutungsvoller sein
muß als in den Markmassen der Hirnachse. Immerhin ist der Gehalt der
weißen Substanz an Mikroglia keineswegs gering, und die zahlreichen Keme
der Glia neben den makroplasmatischen Gebilden in den elektiven Imprägna-
tionspräparaten zeigt, daß eine nicht kleine Zahl von Mikrogliazellen die
weiße Substanz durchsetzt. Im Mikrogliapräparat selbst sieht man etwas
Ähnliches, was wir auch für die Formen der Makroglia festgestellt haben,
nämlich eine unterschiedliche Gestalt gegenüber jenen Formen, Jie wir im
Grau finden. Auch da glauben wir im formativen Faktor der weißen Massen
das Grundprinzip der eigenartigen Gestaltung der Mikroglia zu erblicken,
welche durch die kabelartige Lagerung der Markfasern in ihrer Expansions-
fähigkeit gewissermaßen eingeschränkt ist und daher auch eine Gruppierung
in der Nervenfaserrichtung bevorzugt. Inwieweit natürlich auch die spezi-
fische Funktion der Mikroglia die formale Gestaltung der Elemente modi-
fiziert, soll nicht übersehen werden, wenngleich die Prinzipien hier noch
nicht restlos erforscht zu sein scheinen. Wir haben vorhin schon auseinander-
gesetzt, daß die Markfasern in erster Linie von den makroplasmatischen Glia-
elementen in umfangreichster Weise umscheidet werden, daß also eine förm-
278 Eugen Pollak.
liche Isolierung der Markelemente gegenüber der Umgebung bereits platz-
gegriffen hat. Das Hinzutreten der Mikroglia erscheint daher nicht so leicht
verständlich und wird sicherlich erst Gegenstand genauerer Untersuchungen
sein müssen. Immerhin haben wir doch die Empfindung, daß gerade jene
Elemente der Glia, welche durch die Markscheide Fortsätze an den Achsen-
zylinder schicken — wie dies vor Jahren bereits Paladino gezeigt hat —,
wahrscheinlich der Mikroglia zuzuzählen sind, da sich hier eine Homologisie-
rung im Verhalten zu den Nervenzellen denken läßt.
Fassen wir also die bisherigen Behauptungen kurz zusammen.
so haben wir in der Glia einmal ein netzförmiges System, welches
sich aus plasmaarmen Elementen herausdifferenziert und je nach
derLage eine stärkere oder schwächere Fortsatzbildung zeigt, die
in ihrer Gesamtheit aber ein Netz bilden, dessen Grenzflächen
die Membrana limitans superficialis, die Membranae perivascu-
lares und das Ependym der Ventrikel vorstellt. Je nach der Nähe
dieser Grenzflächen kommt es stets zu einer Transformation des
gliösen Netzes in faserige Territorien, was also nur dadurch mög-
lich ist, daß das plasmatische Netz durch Umwandlung oder durch
partielle Einstreuung von Gliafasern umgeformt wird. Die graue
Substanz ist im wesentlichen das Terrain der kleinen fortsatz-
armen Glia, welche wir den verschiedenen Typen derOligodendro-
glia der spanischen Schule zuweisen können, zum Teil aber sind
sie Reservezellen, Bereitschaftszellen, welche als nukleo-plasma-
tisch undifferenzierte Gebilde der jeweiligen Forderung des Gie-
webes zur Verfügung stehen, um im geeigneten Augenblicke durch
Apposition von Plasma bei weiterer Differenzierung des Kerns
zur Verstärkung des makrogliösen Netzes herangezogen zu wer-
den, oder aber durch Teilung auch quantitativ die Zahl der funk-
tionstüchtiger Elemente der Glia zu steigern. Dieses bis auf die
Bereitschaftszellen verhältnismäßig starre stabile Gewebe stellt
cine Art Kanalsystem vor, das ganz nach dem Muster des Blut-
kreislaufapparates geformt ist, d. h, daB es sowohl die Aufgabe
hat, den Weg vom arteriellen Schenkel zum Gewebe, als auch
zum venösen Schenkel vom Gewebe zu bilden. Unabhängig von
diesem Netze findet sich dann ein weiteres gliöses Element, die
Mikroglia, welche nicht -- soweit wir heute wenigstens wissen —
in den gliösen Netzapparat der Makroglia einbezogen isi, son-
dern ein zweites Gewebe darstellt, welches die Tätigkeit des
stabilen Syneytiums unterstützt, und infolge der mangelnden
Verankerung mit dem Syneytium befähigt ist, durch seine Tätig-
keit das gliöse Netz in seiner Funktion zu entlasten.
Studien zur Pathologie der Neuroglia Il. 279
II. Die Funktionen der Neuroglia.
Die Polymorphie der gliösen Elemente ist schon ein Hinweis auf
die Mannigfaltigkeit der Funktionen. Die Kondensation gliöser Strukturen
an gewissen Teilen des Zentralnervensystems, ihr Mangel bzw. richtiger
gesagt ihre relativ geringe Verteilung in gewissen Regionen, spricht wohl
dafür, daß auch rein topisch betrachtet der Glia verschiedene Funktionen
zukommen müssen. Gehen wir zunächst von der Frage aus, was eigentlich
die äußerst auffallende Verdichtung des gliösen Netzes au den sogenannten
Cirenzflächen des Gehirns vorstellt, so müssen war uns zunächst darüber
klar werden, was eigentlich die marginale Zone einerseits, die perivasku-
läre Lamina corticalis gliae anderseits und drittens die subependymäre
(iliaverdichtung zu bedeuten hat. Wir haben nun auf Grund zahlreicher patho-
logischer Prozesse den Eindruck, daß diese charakteristischen und in ihrem
Bau auffallend ähnlichen Formationen einer gemeinsamen Aufgabe dienen
und wahrscheinlich daneben aber auch andere auf partiellen Strukturunter-
schieden beruhende differente Funktionen besitzen. Wenn wir zunächst der
Tatsache gedenken, daß auch beim normalen Menschen im Laufe des Lebens
auffallende Unterschiede in der Entwicklung der Grenzgliagebiete bestehen,
so gibt uns vielleicht dies schon einen gewissen Hinweis auf einen funk-
tionellen Mechanismus. Es fällt uns auf, daß mit zunehmendem ‚ebensalter
die Breite der marginalen Zone bzw. der übrigen gliösen Randnetze zu-
nimmt, und im Greisenalter dieses Gebiet eine ganz auffallende Verbreiterung
gegenüber den jugendlichen normalen Hirnstrukturen erreicht. Wir wissen
nun, daß im normalen Senium ein nicht unbeträchtlicher Teil des Parenchyms
dem Untergang anheimfällt, daß die Glia infolgedessen eine gewisse Ex-
pansionsmöglichkeit bekommt. Gewöhnlich sucht der Schädelinhalt in seinem
Volumen gleichzubleiben und es wird also zugrunde gegangenes Nerven-
gewebe auf irgendeine Weise zur Erhaltung des gleichen Volumens sub-
stituiert werden. Diese erfolgt nun dadurch, daB — wie wir später noch aus-
führen werden — die Neuroglia die reparative Tätigkeit entfaltet und dann
Bildungen verdichtet, welche schon normalerweise zum Ausgleich der Volums-
schwankungen des Gehirns bestimmt sind. Betrachten wir den Aufbau dieser
Grenzflächenglia genau, so sehen wir, wie dies schon Held gezeigt hat, ein
dichtgefügtes Kammerwerk, das mit den Waben eines Bienenstockes einiger-
maßen vergleichbar ist. Noch mehr erinnert allerdings der Aufbau dieses
vielkammerigen Bandes an die Poren eines Schwammes, was auch mit
seiner Funktion übereinstimmt. Wir wissen, daB das Volumen des fiehirns
unter Umständen großen Schwankungen ausgesetzt ist, und die mannigfachen
Änderungen der Zirkulation führen auch zu mehr oder minder rhythmischen,
vielfach auch gesetzmäßigen Schwankungen des Hirnvolumens. Es ist klar,
daß eine stärkere Durchblutung des Gehirns durch aktive Hyperämie oder
aber eine passive Hyperimie infolge Stauung in den Abflußwegen des Blutes
zu deutlichen Volumsverinderungen des Gehirns bzw. Rückenmarks führt.
Ähnliches gilt natürlich auch für die Lymphzirkulation, die gerade im Hin-
280 Eugen Pollak.
blick auf das Volumen vielleicht von noch größerer Bedeutung ist als die
Schwankungen des zerebralen Blutkreislaufes. Dazu kommt dann drittens
noch die Beobachtung, daß jedes lebende Gewebe auch unabhängig vom Blut-
und Lymphkreislauf volumsmäßige Schwankungen zeigt, welche durch die
zeitweise oder dauernde Bindung von Stoffen bedingt ist. In erster Linie
handelt es sich natürlich um die Aufnahme von Wasser in das Gewebe und
die dadurch hervorgerufene Quellung der Hirnsubstanz. Wir wollen hier an
dieser Stelle nicht über die Frage diskutieren, ob es sich dann um eine
Bindung des Wassers zwischen die einzelnen Gewebselemente handelt, das
sogenannte Ödem, oder ob es sich hier um eine Wasseranreicherung des
Gewebes selbst handelt, dessen einzelne Bestandteile von Wasser imbibiert
werden. Jedenfalls muß in beiden Fällen eine Volumsvermehrung statt-
finden, welche für die Funktion und Reaktionsfähigkeit des Gehirns nicht
gleichgültig bleiben kann. Immerhin werden wir aber sehen, daß sowohl Ödem
wie Quellung speziell für die Gliafrage von Bedeutung sind. Wir müssen uns
vorstellen, daß im Gehirn jeweils eine größere Menge disponibler Flüssigkeit
vorhanden ist. Daß jeweils die Möglichkeit besteht, dieses frei verfügliche
Wasser dem Gewebe zuzuführen oder aber im Wege der Blutgefäße, vielleicht
auch der Lymphbahnen, abzugeben, wofern die genügende Menge zur Aus-
tarierung des Volumens vorhanden ist. Damit nun Territorien vorhanden sind, in
denen diese Depots von Wasser gespeichert werden können, ist in erster Linie
im Aufbau der marginalen und Grenzflächenglia in klassischer Weise gesorgt.
Das gesamte labile und frei zur Disposition stehende Wasser wird in den
Kammern dieser Bänder aufgesaugt. Durch eine gewisse Elastizität dieser
durch Gliafasern ein wenig versteiften Gebiete ist die Möglichkeit geschaffen,
durch Ausdehnung der Kammern mehr und mehr Flüssigkeit in diese prä-
formierten Räume aufzusaugen. Die Nähe der Gefäße, der Lymphräume und
Liquorhöhlen ermöglicht es, unter Umständen ein Übermaß an Flüssigkeit
an diese Wege abzugeben, so daß diesem Apparate also die Möglichkeit zu-
kommt, das Volumen zweckentsprechend auszubalancieren. Anderseits gibt es
dann wieder Situationen, in denen es zu einer starken Anreicherung der Flüssig-
keit im Gewebe kommt, wo unter vasomotorischen Einflüssen, toxischen
Reaktionen oder infolge anaphylaktischer Phänomene Gehirnschwellung
temporär in Erscheinung tritt. Denken wir hier nur an akute Hirnquellungen
bei akuten Intoxikationen, wie z. B. jener des Salvarsans oder bei allergi-
schen Phänomenen, wie bei Quinckeschen Quellungen, an Quellungsprozesse
bei epileptischen Episoden, an Hirnschwellungsperioden chronisch-entzünd-
licher Erkrankungen des Gehirns oder gar an mehr oder minder chronische
(Quellungsprozesse bei raumbeschränkenden Prozessen, wo sich neben dem
Tumor auch eine echte Hirnschwellung zeigt, oder gar an jene Fälle, wo
durch eine Hirnschwellung das Bild eines Tumors klinisch und unter Um-
stinden auch anatomisch bei der Obduktion vorgetäuscht wird. Stets han-
delt es sich dann hierbei um eine Gewebsveränderung, welche nicht darauf
beruht, daß das labile Wasser in den präformierten Räumen angesammelt
wird, sondern daß es hier zu einer Aufnahme von Flüssigkeit in die Hirn-
Studien zur Pathologie der Neuroglia lI. 281
substanz selbst gekommen ist, wodurch sich das Volumen derselben stark
vergrößert. In diesen Fällen wird zunächst wahrscheinlich das Wasser aus den
präformierten Räumen, zu denen unseres Erachtens auch die Grenzglia ge-
hört, abgesaugt und in die Hirnsubstanz selbst einbezogen. Infolgedessen sinkt
im Gegensatze zum früher beschriebenen Bild die marginale Zone sowie die
übrigen Grenzflächenbänder zusammen bzw. komprimiert das geschwollene
Hirn die Räume, indem es das noch allenthalben vorhandene Wasser aus den
Kaınmern auspreßt und dadurch die Breite dieser Zonen auf ein Minimum re-
duziert. In dieser Form erinnern diese Grenzflächenbänder auch an titter,
welche auf Druck vollständig ihr Netz schließen, um nach Aufhören der mecha-
nischen Wirkung wieder auseinanderzugehen und dann die klassische Rastrie-
rung erkennen lassen. Vielleicht zeigt sich aus letzterem Grunde die auffallend
reiche Dotierung mit faserigen Elementen, denen vielleicht eine gewisse
elastische Qualität anhaftet, und welche dadurch die Wiederentfaltung des
Cirenzbandes in stärkerem Ausmaß ermöglicht. Dazu kommt dann allerdings
noch die Frage, ob diese volumsregulierende Fähigkeit der Glia lediglich
rein mechanisch aufzufassen ist, indem bloß durch Druck bzw. nach Nach-
lassen desselben die Kompression bzw. die Ausweitung der Grenzbänder mög-
lich ist; vielleicht sind hier auch gewisse sekretorische Leistungen von Wich-
tigkeit, welche die Glia befähigen, Flüssigkeit im Wege des Netzes an- und
abzupumpen, um diese dann in ihren zur Verfügung stehenden Zisternen
der Randgebiete als labiles Hirnwasser zu verwerten. Immerhin scheint es
sich hier nicht um reines Wasser zu handeln, sondern es enthält kolloide
Bestandteile, deren Menge bis zu einem gewissen Grade vom Zustand des
Nervensystems abhängig ist. Wir sehen bekanntlich besonders häufig einen
Befund, der sowohl beim normalen wie auch pathologischen Material zur
Beobachtung kommt, und der dafür spricht, daß der Kammerinhalt in den
Randzonen Elemente beherbergt, welche als Niederschlagsprodukt der Hirn-
flüssigkeit aufgefaßt werden müssen. Ich meine hier in erster Linie die mehr
oder minder dichte Ansammlung der sogenannten Corpora amylacea, die sich
bekanntlich gerade in den Grenzfeldern in auffallend reicher Weise finden.
Ich möchte hier nicht zu dem strittigen Problem der Genese der Corpora
amylacea eingehend Stellung nehmen. Ohne Zweifel handelt es sich um Nieder-
schlagsprodukte zugrunde gegangenen Gewebes, welche als kugelige Gebilde mit
einer gewissen Andeutung einer konzentrischen Schichtung normal im Senium,
pathologisch bei schweren Parenchymstörungen konstant gefunden werden.
Die beiden Auffassungen, in ihnen entweder Zerfallsprodukte zugrunde
gegangenen Parenchyms zu erblicken bzw. in ihnen Produkte einer patho-
logischen Gliareaktion zu erkennen, haben sicherlich beide etwas für sich,
doch glaube ich, daß keine der beiden Meinungen in ihrer strengen Fassung
das Richtige trifft. Nach meinen Erfahrungen, die ich schon in meiner ersten
Studie teilweise verwendet habe, muß man der Glia doch eine gewisse
Bedeutung bei der Entwicklung der Corpora amylacea zusprechen: dies
schon aus dem Grunde, weil wir solehe Körper nur dort treffen, wo die
Neuroglia vorhanden ist. Es scheint die als periphere Glia „ezeichnete
282 Eugen Pollak.
Schwannsche Scheide nicht die gleiche Bedeutung zu besitzen, wie sie der
zentralen Glia zukommt, da in den peripheren Nerven Corpora amylacea
nicht gefunden werden. Anderseits in den Corpora amylacea nur Produkte
einer Transformation der Glia zu sehen, erscheint uns auch nicht leicht
verständlich. Es mag ja richtig sein, daß namentlich dann, wenn größere
Mengen plasmatischer Glia in faszikuläre Gebilde umgeformt werden, wie
dies beim Senium sicher der Fall ist, aus den umgeformten gliaplasma-
tischen Massen Produkte abströmen oder freiwerden, welche sich dann als
Corpora amylacea zu erkennen geben. Wir dürfen allerdings dabei nicht ver-
gessen, daß diese Transformation (siehe später) nur dann erfolgt, wenn das
ımakroplasmatische Syneytium überflüssig geworden ist; und dies ist ja auch
nur dann der Fall, wenn das Nervengewebe, in dessen Diensten die Neuroglia
steht, sehr schwer geschädigt oder ganz zugrunde gegangen ist, daß die An-
wesenheit des plasmatischen Netzes unnütz ist. Es fragt sich allerdings
in solchen Fällen, inwieweit Abbaustoffe des in Auflösung befindlichen
Nervengewebes von der Glia aufgenommen wurden und ob diese dann erst
in den marginalen oder perivaskulären Kammern als eine Art Ausschwitzungs-
produkt der inaktivierten Glia aufscheinen. Jedenfalls sehen wir, daß diese
Randterritorien mit ihren Kammern auch ein Gebiet vorstellen, wo Stoff-
wechselprodukte unter wesentlicher Mitwirkung des gliösen Apparates ab-
gelegt werden, um hier unter Umständen als dauernde Füllkörper den In-
halt der eröffneten Gliakammern zu bilden. Dieser Befund ist eigentlich für
das senile Hirn und Rückenmark durchaus charakteristisch. In diesem Falle
stellen die Corpora amylacea vielleicht eine volumsmäßige Kompensation das
atrophischen Hirns vor und helfen auf diese Weise, den Defekt an Masse zu
ergänzen.
Daß mit dieser Funktion, die normale Volumsgröße zu erhalten, selbst-
verständlich auch eine rein modellierende Kraft der Neuroglia innewohnt.
ist selbstverständlich. Die limitierenden Membranen stellen nicht nur eine
Grenzschutzfläche vor, sondern sind auch die äußere rein formale Be-
grenzungslinie des Gehirns und seiner Teile, und jeweils ist auch das gliöse
Gewebe bestrebt, soweit es überhaupt möglich ist, die Form zu erhalten
und — wie wir später noch hören werden — macht sich dieses Prinzip unter
pathologischen Bedingungen noch viel deutlicher geltend. Bei dieser Tätigkeit
scheint die faszikuläre (faserbildende) Glia besonders wichtig zu sein, da sie
trotz einer gewissen Elastizität umgekehrt erstarrend wirkt und dadurch
das Gewebe in eine feste Form zwingt. Besonders deutlich tritt dies in den
rcparatorischen Bestrebungen der Glia hervor, wo die Imitation der nor-
malen Anordnung bis zur formalen Übereinstimmung führt. Andere funktio-
nelle Bedeutung können wir vorläufig der faszikulären Glia nicht zusprechen:
in erster Linie erscheint uns irgendeine Beziehung zum sekretorischen
Apparat unbewiesen und auch unwahrscheinlich. Wir haben schon vorhin aus-
emandergesetzt, daß die marginale Glia und die übrigen kortikalen Ver-
diehtungshänder eine Apparatur vorstellen, welche zur Aufnahme und Ab-
gabe von Wasser des Gewebes bestimmt sind. Soweit diese Hohlräume
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 283
nur als Zisternen des labilen Wassers dienen, ist das gliöse Syneytium nicht
aktiv beteiligt. Rein mechanische Kräfte würden hiezu vollständig genügen,
doch dürfte dies sicherlich nicht allein der Fall sein, wie wir vorhin schon
betont haben. Es ist bemerkenswert, daß die verschiedenen Grenzflächen
ungleichmäßig zusammengesetzt sind, und der jeweilige Gehalt an plasma-
tischer Glia scheint prinzipielle Bedeutung zu besitzen. Wir haben bereits
betont, daß die marginalen Gebiete einen weit größeren Fasergehalt aufweisen
als die perivaskulären Kammergebiete, bei denen ein stärkerer Gehalt an
plasmatischen Massen in Erscheinung tritt. Dies hängt wohl damit zusammen,
Jaß neben der reinen Volumsausgleichung auch andere Leistungen bestehen.
Wir sehen in den reicheren plasmatischen Bildungen einen Faktor, der in
wesentlichem Ausmaß mit dem Wasserhaushalt des Zentralnervensystems in
Verbindung zu stehen scheint. Es unterliegt keinem Zweifel, daß den Schwan-
kungen des Wassergehaltes des Gehirns eine große Bedeutung zukommt, nicht
nur dem bisher besprochenen labilen und nicht an das Gewebe gebundenen
Wasser, sondern auch jenen Mengen, welche unter normalen oder patho-
logischen Bedingungen von der Nervensubstanz selbst gebunden werden. Hier
unterliegt es nun für uns keinem Zweifel, daß dabei der Neuroglia eine
auffallend große Bedeutung zukommt. Wenn wir hier unsere folgenden
Ausführungen vorwegnehmend, auf das pathologische Zustandsbild der Hirn-
schwellung hinweisen, so fällt uns dabei regelmäßig die Tatsache auf, daß die
weiße Substanz in einem weit größeren Ausmaße vom Schwellungsprozeß
betroffen ist als die graue. Dabei beobachteten wir die starke Quellung, welche
die plasmatische Glia erfährt, die (siehe oben) doch die Markfasern um-
scheidet und durch deren Quellung es zu einer beträchtlichen Volumsver-
mehrung der Substanz selbst kommt. Wir haben damit eigentlich rinen Zu-
stand vor uns, der förmlich einem Hochwasser des gliösen Kanalnetzes
gleicht und dessen Beseitigung infolge einer Art Lähmung des Systems un-
möglich ist. Es fragt sich nun, woher reichert sich das gliöse Syncytium mit
diesen Flüssigkeitsmengen an? Ohne Zweifel scheinen mehrfache Mecha-
nismen das Zustandekommen dieses Bildes zu bedingen. Es wäre theo-
retisch möglich, daß eine gesteigerte Wasserbindung infolge einer Änderung des
physikalisch-chemischen Zustandes der Nervensubstanz und der Glia erfolgt.
Es wäre weiters möglich, daß es zu einer Blockade der (irenzflächen zwischen
Nerven- und (rliasubstanz kommt, daß also nicht nur die Zufuhr von der
durch die Glia aufgenommenen Flüssigkeitsmenge an das Nervengewebe
verhindert, sondern im Gegenteil noch Flüssigkeit von diesem an die Glia
selbst abgegeben wird. Schließlich könnte auch eine reine gliöse Wasser-
anreicherung dadurch zustande kommen, daß die Glia große Wassermengen
aufnimmt und fix an sich bindet, um das Nervengewebe selbst vor der
Inundierung zu schützen. Die Einflüsse, welche das Zustandekommen dieser
Möglichkeiten bedingen, dürften verschiedener Art sein und die Ungleich-
mäßigkeit der Wasserverteilung im Gehirn bei den verschiedenen Formen
von Nephritiden und Nephrosen spricht dafür, daß überaus komplizierte
Verhältnisse des Zirkulationsapparates und des Gesamtstoffwechsels —- nicht
284 Eugen Pollak.
nur des Wasserhaushaltes allein — eine entscheidende Bedeutung besitzen.
Sicher ist, daß die Glia selbst eine Art Filterwirkung, eine Art Stauwerk
vorstellt, und daß dabei nicht so sehr die Rolle einer aktiven Tätigkeit im
Wasserhaushalt die Rolle spielt, als eine mehr passive, von Jen äußeren
Bedingungen zwangsweise abhängige. Immerhin fassen wir diese zliöse
Tätigkeit als Regulator des Wasserhaushaltes der Nervensubstanz, nicht ledig-
lich als eine sekundäre, vom Nervengewebe aus bedingte auf, sondern er-
blicken in ihrer diesbezüglichen Funktion ein eigenes Tätigkeitsfeld, das selbst-
verständlich von den Interessen des funktionstragenden Schwestergewebes be-
einflußt wird, dessen normale und pathologische Reaktionen jedoch auch un-
abhängig vom Nervengewebe ablaufen können.
Diese den Wasserhaushalt gewissermaßen protegierenden Leistungen
des gliösen Syneytiums stellen somit eine der zahlreichen Teilfunktionen
des Glianetzes vor, welche es befähigen, als wesentlicher Mittler des Stoff-
wechsels zwischen Nervengewebe und Blut bzw. Lymphbahn zu fungieren.
Wir werden wohl annehmen müssen, daß wahrscheinlich die meisten Kom-
ponenten der zerebralen Stoffwechseltätigkeit mit dem gliösen Syneytium
zusammenhängen, daß es aber heute noch vollständig unklar ist, welche
spezifische Rolle der Neuroglia hier zukommt. Es ist weiter auch vollkommen
unentschieden, inwieweit ein Parallelismus zwischen Makro- und Mikro-
glia in dieser Hinsicht besteht, und es sprechen sicherlich zahlreiche Er-
fahrungen dafür, daß neben besonderen Leistungen dieser oder jener Art
auch Stoffwechselfunktionen von beiden Elementen durchgeführt werden.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß der größte Teil der Nutrition durch das
gliöse Syncytium vermittelt wird, daß aber wahrscheinlich auch die Mikroglia
selbst infolge ihrer innigen Beziehungen zum Blutgefäßapparat namhaft daran
beteiligt ist. Aus der vorhin angeführten anatomischen Beschreibung geht
hervor, daß die Makroglia in erster Linie eine Netzstruktur zeigt, daß alle
Elemente in einem weiteren oder engeren Relationsverhältnis zueinander
stehen, daß die Mikroglia hingegen vorläufig als ein System von Einzel-
elementen aufzufassen ist, welche also den Dienst in den Gewebsteilen
zwischen dem Netz durchzuführen hat. Wir wissen, daß Nervenzellen wie
Fasern von diesem gliösen Netz der Makroglia umsponnen werden, daß
also die Tätigkeit der Makroglia darin beruhen wird, die Bedürf-
nisse des Nervengewebes in nutritiver Hinsicht zu erfüllen. Wir wissen
aber, wenn wir die Substanz zwischen den Nervenelementen selbst be-
trachten, daß namentlich in der grauen Substanz noch ein Zwischengewebe
besteht, das wir als NissIsches Grau bezeichnen, über dessen Bau und Funk-
tionen wir trotz zahlreicher Untersuchungen noch keineswegs Klarheit haben.
Wir wissen aber von einer ganzen Zahl von grauen Zentren des Gehirns,
daß verschiedene Substanzen nicht an die Nervenzellen oder Fasern, auch
nicht an die Glia selbst gebunden sind, daß diese Stoffe vielmehr ‚frei im
Gewebe liegen“. Am deutlichsten sieht man solche Stoffe im Globus pallidus.
Hier handelt es sich in erster Linie um anorganische Substanzen, vor allem
Eisen und Kalksalze, dann aber auch um Lipoide, welche von v. Mona-
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 285
kow und Kodama als Grundfett bezeichnet wurden. Diese zwischen den
PParenchymanteilen aufgestapelten Stoffe müssen irgendwie an diese Stellen
gekommen sein, können unmöglich an Ort und Stelle entstanden sein und
dürften — wie zahlreiche normalhistologische und besonders pathologische
Untersuchungen zeigen — in weitestem Ausmaße mit der Tätigkeit der
Mikroglia zusammenhängen. Es scheint also der Mikroglia vielfach die
Aufgabe zuzufallen, neben einer wesentlichen unterstützenden Funktion der
I:rnährungsleistung des Syncytiums eine besondere Funktionstätigkeit gegen-
über dem Nisslschen Grau zu entfalten, daß vermutungsweise die ge-
samten vitalen Funktionen dieser Masse durch die Mikroglia selbst pro-
tegierl werden. (Hier sei auf die wichtigen neuen Befunde von Held über
sein neuro-gliöses Grundnetz hingewiesen.) Es erscheint uns auffallend, daß
bei Prozessen, wo gröbere Veränderungen des Graus bestehen, die Mikro-
glia eine ganz besonders energische Tätigkeit entfaltet.
Welcher Natur nun die einzelnen Phasen der nutritiven Tätigkeit sei-
tens der Neuroglia sind, ist vorläufig nicht geklärt. Wir sind im wesent-
lichen auf die unseres Erachtens recht mangelhaften Beweise durch das
histologische Präparat und durch sehr schwer zu deutende und aus anderen
(iründen unbefriedigende Tierexperimente angewiesen. Verhältnismäßig am
klarsten liegen die Verhältnisse bezüglich des Fettstoffwechsels. Dadurch,
daß die Lipoide einer uten histologischen Darstellung fähig sind, können
wir einiges über das Schicksal dieser Stoffe auf ihrem Wege vom Blut-
Lvmph-Weg zur Nervensubstanz hin einerseits und auch umgekehrt aus-
sagen. Auf Grund der Untersuchungen am fötalen Material und an neu-
geborenem Gehirn sind wir durch mannigfache Untersuchungen heute
dahin informiert, daß die zum Aufbau der Nervensubstanz, namentlich der
Markscheiden, notwendigen Lipoide durch die Glia an die Aufbaustätten
herangeführt werden, daß also hier neben der Tätigkeit im Lipoidstoff-
wechsel auch eine zweite wesentliche Funktion der Glia als konstruktiver
Faktor des Nervengewebes zukommt. Die Tätigkeit der Lipoidzufuhr zeigt,
daß die Neuroglia befähigt ist, diesen Stoff speziell zu resorbieren und
ihn in einem dem Nervengewebe assimilationsfähigen Zustande zuzuführen.
Die Neuroglia selbst spielt dabei die Rolle des Transporteurs und scheint
direkt bei ihrer Tätigkeit Lipoide nicht zu binden. Wir wissen nun, daß die
Nervenelemente, nicht nur die Markscheiden, zu ihrem Aufbau große Mengen
von Fettstoffen benötigen, daß diese dauernd der Nervensubstanz zugeführt
werden, da durch ständigen Aufbrauch der gesetzte Fehlbetrag durch die
(liatätigkeit hereingebracht werden muß. Wir wissen aber, daß durch die
Nervenzelltätigkeit Lipoide in der Zelle vermutlich konstitutionell umge-
formt werden und daß diese zum Teil wenigstens durch die Neuroglia wieder
einen Abtransport erfahren. Hierbei wird unzweifelhaft sowohl der Makro-
wie Mikroglia eine wesentliche Bedeutung zuzusprechen sein, da beide
Elemente sich am sogenannten Piementstoffwechsel betätigen können, wenn-
gleich es nach den neuesten Untersuchungen sichergestellt ist, daß die Mikro-
glia weit intensiver dabei beteiligt ist als das makrogliöse Syneytium.
286 Eugen Pollak.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß in frühestem Lebensalter die Nervenzellen
kein lipoides Pigment besitzen, daß die Entwicklung des Lipofuszins erst ein
Befund der späteren Lebenszeit ist (Obersteiner). Dies scheint wohl
damit zusammenzuhängen, daß die gesamten dem Gehirn zur Disposition
stehenden Lipoide zum Aufbau der Myelinscheiden und zu sonstigen Rei-
fungszwecken der Nervensubstanz herangezogen. werden, daß erst nach Be-
endigung dieser Entwicklungsphase die freigewordenen Lipoide Aufnahme
in die Nervenzelle selbst finden, um hier zum Teil als ein Schlackenprodukt
aufgestapelt zu werden, welches infolge der eigenartigen Semipermeabilität
der Zellmembran nur teilweise, zumindest unzulänglich aus den Zellen
eliminiert werden kann. Dort, wo es zu Störungen des Lipoidstoffwechsels
kommt, sehen wir dann die erhöhte Tätigkeit der Neuroglia auch! in dieser
Hinsicht, und in dem Augenblicke, wo die Zufuhr bzw. Abtransport lipoider
Substanzen in größerer Menge erfolgt, läßt sich diese Tätigkeit histologisch
leicht feststellen. Wir sehen unter pathologischen Bedingungen sehr leicht die
Störungen des Lipoidhaushaltes der Nervenelemente und parallel mit diesem
Bilde läuft zumeist eine erhöhte Aktivität der Neuroglia in dieser Hinsicht.
Immerhin scheint dann die Neuroglia die Aufgabe zu haben, den geänderten
Ansprüchen des pathologisch veränderten Stoffwechsels der Nervensubstanz
zu genügen, und führt mit erhöhter Aktivität jene Stoffe zu, welche die er-
krankte oder unter ungünstigen Bedingungen lebende Nervenzelle braucht,
um diese vor dem Untergang zu retten. Wir wissen ja, daß unter pathologi-
schen Bedingungen gerade die Störungen des Lipoidstoffwechsels besonders
deutlich hervortreten, und die gesteigerte Lipoidbilanz der Nervenzellen
macht sich rein morphologisch in der Vermehrung der darstellungsfähigen
Fettstoffe geltend. Hier setzt dann wahrscheinlich auch eine weitere wichtige
Teilfunktion der Neuroglia ein, nämlich die Dosierung bzw. Filtrierung
jener Stoffe, welche das Nervensystem nicht benötigt bzw. deren Zufuhr
dem letzteren schädlich wäre. Dadurch, daß die Neuroglia vom selben Ur-
element abstammt wie die Nervenzellen, ist sie wie kaum ein zweites (ie-
bilde in der Lage, infolge dieser Verwandtschaft genau an die Lebens-
bedingungen der Nervensubstanz adaptiert zu sein. Unzweifelhaft scheint
eine gleichsinnige Affinität zu den verschiedenen Stoffen zu bestehen, und
infolge der ontogenetischen Zell- und Funktionsteilung ist es in erster Linie
Aufgabe des gliösen Hilfsgewebes geworden, ideale Lebensbedingungen für
das Nervengewebe zu schaffen. Dies äußert sich darin, daß die Glia vermut-
lich aus der Blut-Lymph-Bahn jene Stoffe extrahiert, welche für die Tätig-
keit der Nervensubstanz von vitaler Bedeutung sind. Sie wird natürlich nicht
nur die Aufgabe haben, qualitativ die richtige Selektion der einzelnen
Stoffe zu bewerkstelligen, was ihr bei der plasmatischen Verwandtschaft ver-
hältnismäßig leicht fallen dürfte, sondern sie hat auch scheinbar die Fähig-
keit, das richtige Maß der zugeführten Körper an das Nervengewebe weiterzu-
leiten. Auf diese Weise besteht also nicht nur eine rein nutritive Funktion der
Glia, sondern auch ein regulatorischer Faktor, der für die Lebensbedin-
gungen des Nervengewebes von Wichtigkeit ist. Nur so läßt es sich ver-
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 287
stehen, daß im Gegensatze zu anderen Organen Zeichen einer Überernährung
nie beobachtet werden, daß also klassische Phänomene einer echten Hyper-
trophie am Nervensystem vermißt werden. (Sogenannte hypertrophische Zu-
stände am Hirn haben selbstverständlich nichts mit einer echten Hyper-
trophie zu tun und sind fälschlich so bezeichnet und beruhen auf durchaus
anderen pathogenetischen Grundlagen). Umgekehrt sucht selbstverständlich
die Neuroglia das für die Lebenstätigkeit der Nervensubstanz notwendige
Baumaterial stets in ausgiebigem Maße herbeizuschaffen und — wie wir
noch später auseinandersetzen werden — sucht sie dies auf verschiedenem
Wege zu erreichen. Dadurch nun, daß die Neuroglia so ganz gleichsinnig
auf das Nervengewebe abgestimmt ist, ist es für sie leicht, die Auswahl der
Stoffe zu treffen, welche das protegierte Gewebe benötigt. Mit anderen
\Worten heißt dies, daß die Membranen der gliösen (irenzflächen für
jene Stoffe permeabel sind, deren Durchlässigkeit von vitalem Inter-
esse für das Nervengewebe ist. Auf diese Weise erweist sich die Neuroglia
als ein gleichsinnig abgestimmtes Filter, welches für Stoffe, die dem Nerven-
gewebe schädlich werden können, inpermeabel wird. Infolgedessen sehen
wir, daß der Permeabilität der gliösen Grenzflächen die allergrößte Be-
deutung zukommt und auf ihrer richtigen Tätigkeit baut sich letzten
Endes die normale Lebenstüchtigkeit des Nervengewebes auf. Wir sehen in
der Zwischenschaltung der Glia zwischen Gefäß- und Nervengewebe den
wichtigsten Punkt der gliösen Funktionen. Auf dieser Basis beruht unseres
Erachtens der wesentliche Angelpunkt unserer Lehre von der primären
Reagibilität der Neuroglia und durch diese Funktion kann sie —- wofern jene
gestört ist — zu schweren Schäden für das Nervengewebe führen, wie ich
z. B. schon vor einiger Zeit gemeinsam mit Rezek für das Zustandekommen
der weißen Erweichungen im Hirn nachzuweisen bestrebt war. Ähnliches
konnte ich auch für die Intoxikationen und die davon abhängigen Erweichun-
gen bei Salvarsandarreichung gemeinsam mit G. Riehl jun. feststellen. Da-
durch, daß die Neuroglia einen ausgedehnten Netzapparat bildet, der sich
in seinen: Kaliber bedeutend verändern kann, ohne dadurch in seinem Wesen
eine Abänderung zu erfahren, gelingt es ihr unter Umständen leicht, nach
Episoden erhöhter Tätigkeit wieder in ihre alte Konstitution zurückzukehren.
Beispiele der Pathologie zeigen dies auf Schritt und Tritt. Wir werden aber
auch annehmen müssen, daß die Neuroglia nicht nur die Aufgabe hat, die
normalen lebenswichtigen Stoffe dem Nervengewebe zuzuführen, sondern
werden auch ganz besonders noch eine zweite Seite der plasmatischen irenz-
flächentätigkeit beachten müssen, nämlich die Fähigkeit, sich dem Durchtritt
von Stoffen zu verschließen, welche für das Nervengewebe unnütz oder
gar schädlich sind. Auf Grund dieser Erwägung sehen wir in der Glia
die bedeutungsvolle Schutzvorrichtung für die Aktivität und Gesunderhal-
tung der nervösen (Grundsubstanz. Sie ist -— wie ich schon andernorts ge-
meint habe --- bis zu einem gewissen Grade Indikator für die Abwehrfähig-
keit des Ektoderm gegenüber den vom Blut- bzw. Lymphwege herkommen-
den Stoffen, Giften, Erregern. So verrät die Glia schon in ihrer morphologi-
288 Eugen Pollak.
schen Architektur die immunisatorische Fähigkeit des Zentralnervensystems
und man hat vielleicht auf diese Weise einen histologisch feststellbaren
Titer für diese Bedeutung des Ektoderms. Daß dies gerade in der Pathologie
eine wesentliche Rolle spielt, braucht gewiß nicht erst besonders hervor-
gehoben zu werden, und namentlich dann, wenn es sich um Zustände hanu-
delt, wo die Frage nach der Immunkraft des Ektoderms von Wichtigkeit
ist —- wie z. B. bei der Metasyphilis —; darüber habe ich an anderer Stelle
bereits Mitteilung gemacht. Wenn wir bedenken, daß bei schweren septischen
Erkrankungen des Organismus die Erreger oft in mächtiger Zahl auf dem
Blutwege in den Körper verteilt sind und dadurch leicht in den verschie-
denen Körperorganen infolge ihrer Ansiedlung zur Entwicklung metastati-
scher Prozesse führen, bestehen auch letzten Endes für das Nervengewehr
eigentlich die gleichen Bedingungen. Daß nun solche pathologische Herd-
bildungen verhindert werden, ist hauptsächlich auf die filtrierende oder
richtiger gesagt immunisierende Tätigkeit der Neuroglia zurückzuführen. Von
ihrer ungeschwächten Kraft hängt es ab, ob das Nervensystem von einem
Einbruch der pathogenen Erreger verschont bleibt und nur dann, wenn es
infolge einer oft konstellativen Überbelastung der Neuroglia dazu kommt, ist
das Vortragen des krankheitserregenden Prozesses in das Nervensystem die
unausbleibliche Folge der inzwischen eingetretenen funktionellen Insuffi-
zienz der Glia. Nur auf diese Weise kann man es erklärlich finden, warum
bei solchen septischen Prozessen die Ansiedlung pathogener Keime in der
Nervensubstanz verhindert wird, trotzdem die histologische Analyse und
der bakteriologische Befund des Blutinhaltes der Hirngefäße einen großen
Reichtum an Bakterien aufweist.
Nicht nur die gutfunktionierende Zufuhr der lebenswichtigen Stoffe,
sondern auch die Notwendigkeit, die Nervensubstanz selbst von den bei
ihrer Tätigkeit gebildeten Schlacken zu befreien, ist eine wesentliche Fähig-
keit der Neuroglia im Dienste des Stoffaustausches. In dieser Hinsicht
bietet uns die Untersuchung des Nervensystems von Menschen in ver-
schiedenen Lebensaltern lehrreiche Aufschlüsse. Wir wissen, daß der Stoff-
wechsel des Nervensystems mit zunehmendem Alter sich wesentlich ver-
ändert, daß namentlich zur Zeit der Involution vollkommen abgeänderte Ver-
hältnisse Platz greifen. Dieser Vorgang ist selbstverständlich nicht nur für
das Nervensystem charakteristisch, sondern ist Teilkomponente einer ver-
änderten Stoffwechseltätigkeit des Gesamtorganismus. Diese Abänderung wird
vermutlich mit einer Umformung der hormonalen Leistungen der endokrinen
Apparate zusammenhängen und die Reduktion der Keimdrüsentätigkeit und
die dadurch abhängige korrelative Funktionsabänderung der übrigen
Drüsen mit innerer Sekretion schafft eine Basis, welche den Ablauf der
Stoffwechselvorgänge im Organismus weitestgehend modifiziert. Morpho-
logisch lassen sich am ehesten die Störungen des Lipoidstoffwechsels fest-
stellen, und wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die im Nervensystem
vorhandenen Lipoide in den verschiedenen Lebensaltern quali- und quanti-
tativ erhebliche Differenzen zeigen, daß im vorgerückten Lebensalter be-
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 289
kanntlich auffallend große Mengen von lipoiden Substanzen in den Nerven-
zellen gespeichert werden. In dieser Lebensphase sehen wir dann, daß parallel
mit dem erhöhten Lipoidgehalt der Nervenzellen auch eine Vermehrung
lipoider Stoffe in den gliösen Elementen nachzuweisen ist. Es unterliegt
für uns keinem Zweifel, daß es nach dem Klimakterium, also in der In-
volutionsperiode des menschlichen Organismus zu einer auffallenden Ver-
schiebung der Fettablagerungsstätten kommt, daß die in der Jugend und
im Reifealter bevorzugten Fettdepots im späteren Leben mobilisiert wer-
den und an anderen Punkten Aufnahme finden. Zu diesen Altersdepots
scheint in gewisser Hinsicht das Nervensystem zu zählen, da sich in den
Ganglienzellen ein größerer Gehalt an lipoiden Stoffen befindet. Diese Auf-
fassung wird ferner durch den seinerzeit von Jakob erhobenen Befund unter-
stützt, wonach hochgradige Verfettung der Ganglienzellen bei hypophysärer
Kachexie gefunden wird, also jener vollständigen Fettschwunderkrankung, bei
der sich also antagonistisch das Fett in den Ganglienzellen einlagert. Wir hätten
hier gewissermaßen eine Insuffizienz der Neuroglia vor uns, da sie schein-
bar nicht mehr die Fähigkeit besitzt, sich gegen das Überanbot an lipoiden
Substanzen abzudichten und dadurch zu verhindern, daß die XNervenzelle
Lipoide in gesteigertem Ausmaß in sich aufnimmt. Wir erkennen darin eine
Änderung der Permeabilitätsverhältnisse von Glia und Nervensubstanz, welche
nach unseren früheren Ausführungen als gleichsinnige Funktionsstörung auf-
zufassen ist. Wir sehen aber auch anderseits die Tätigkeit der Neuroglia
darin gegeben, daß sie nicht nur durch Änderung ihrer Permeabilität die Zu-
fuhr von Stoffen an das Nervengewebe ermöglicht, welche unter normalen
Bedingungen nicht den Durchgang finden, sondern wir haben auch Grund
anzunehmen, daß die Neuroglia sich in weitestem Ausmaße bemüht, aus
der Nervenzelle selbst alle jene Stoffe zu eliminieren, welche als Rest-
produkte der Zelltätigkeit sich entwickeln und welche für die normale
Funktionsleistung der nervösen Elemente schädlich sein könnten. Wir wissen
dies allerdings in erster Linie von pathologischen Prozessen her, da man
doch nur bei diesen die Anwesenheit atypischer Körper in den Geweben
feststellen kann. Unter pathologischen Bedingungen kommt es leicht zu
einer Stoffwechselstörung der Ganglienzellen, und wir sehen dann, wie
die Neuroglia mit großer Energie trachtet, die unter ungünstigen Bedin-
gungen arbeitende Nervenzelle von ihren schädlichen Inhalten zu befreien
und der rege Stoffwechselaustausch zwischen Nervensubstanz und Neuro-
glia tritt in solchen Fällen besonders plastisch hervor. Wir finden dies in
besonders charakteristischer Weise in den Zeichen des geänderten Fisen-
stoffwechsels bei den endzündlichen Erkrankungen des Hirns, bei der Kohlen-
oxydgasvergiftung und auch bei anderen Erkrankungen, welche sich in Terri-
torien abspielen, die einen größeren Grad von Gewebseisen beherbergen.
Wir sehen dies aber auch an pathologischen Fällen des Seniums, bei denen
gleichfalls eine deutliche rege Stoffwechselreaktion zwischen Glia und
Nervensubstanz aufscheint. Daß natürlich die klassischen Zeichen des Stoff-
wechseltransportes vom Nervengewebe her in jenen pathologischen Fällen
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst, XXXIV. Bd. 19
290 Eugen Pollak.
am deutlichsten sind, bei welchen schwere Schädigungen des Nervensysterns
vorhanden sind, welche zum Untergang der Nervensubstanz führt, ist allzu
bekannt und wird von uns erst in einem weiteren Kapitel Berücksichtigung
finden.
Neben dieser umfangreichen und aus verschiedenen Komponenten zu-
sammengesetzten Tätigkeit der Neuroglia als wichtiges Mittelsorgan des
Gewebsstoffwechsels werden ihr hypothetisch auch noch eine Reihe anderer
Funktionen zugesprochen, für deren Existenz ich aber bisher keinen Beweis.
der nur irgendwie wahrscheinlich wäre, gesehen habe. Ich meine hier in
erster Linie die von Cajal angenommene motorische Funktion der Glia.
wonach durch Kontraktion bzw. Erschlaffung der Fortsätze die Neuroglia die
Fähigkeit besitzen soll, die Verbindungen der verschiedenen Neurone zu
unterbrechen bzw. zu ermöglichen. Nach der von uns angenommenen Funk-
tionsteilung und Differenzierung zu einem Hilfsgewebe erscheint uns eine
solche — fast übergeordnete — Leistung sehr unwahrscheinlich.
Ähnliches kann man auch von jener Hypothese der Gliafunktion an-
nehmen, nach der der Neuroglia selbst eine isolierende Fähigkeit für die ein-
zelnen Nervenelemente zukommen soll. Die Hypothese hat immerhin etwas
Bestechendes, weil der anatomische Aufbau, die Umscheidungen und mem-
branartigen Umhüllungen rein äußerlich dieser funktionellen Hypothese ent-
gegenkommen. AÄnderseits dürfen wir aber nicht vergessen, daß wir die
isolierende Fähigkeit dem Protoplasma selbst bzw. dem Neuroaxoplasma
zusprechen müssen, da sonst eine richtige isolierte Funktion durch Zellen
und Fasern nicht möglich wäre. Da diese Isolierung also im Bereiche der
Zellen und Axone ohne Dazutun der Glia erfolgt, scheint uns auch eine
weitere gleichsinnige funktionelle Beanspruchung der Neuroglia überflüssig.
Schließlich sei noch der sogenannten sekretorischen Funktion der Neuro-
glia gedacht, welche besonders von französischer Seite größere Bedeutung
zugesprochen wird; doch glaube ich, daß die von den verschiedenen Autoren
beobachteten morphologischen Kriterien dieser Ansicht keineswegs stich-
haltig sind. Wenn Nageotte der Neuroglia die Funktion einer „Glande
interstitielle‘‘ zuweist, so wird vielleicht dabei letzten Endes übersehen,
daß es sich hier nicht um einen richtigen sekretorischen Mechanismus
handelt, sondern um die zahlreichen, soeben besprochenen Komponenten
der weitausgedehnten Stoffwechselrelation zwischen Blut und Nervengewebe,
welche durch die Neuroglia besorgt wird. Deren morphologisch feststell-
bare Bilder können nur fälschlich als ein sekretorisches Phänomen gedeutet
werden, so daß man eine derartige Funktionsleistung ablehnen kann. Der
als Beweis betrachtete Befund von Abänderungen der Gliafunktion durch
Darreichung verschiedener Stoffe ist nicht stichhaltig und läßt sich auch
auf die veränderten Bedingungen des Kreislaufs mit Leichtigkeit beziehen.
Wenn wir also zusammenfassend die Funktionen der Neuroglia be-
trachten, so glauben wir, daß infolge ihrer engen entwicklungsgeschichtlichen
7/usammengehörigkeit mit dem Nervengewebe auch ein symbiotisches Ver-
hältnis der beiden Gewebe in funktioneller Hinsicht besteht. Es ist hier zu
Studien zur Pathologie der Neuroglia l. 291
einer richtigen Arbeitsteilung gekommen. Während das Nervengewebe die
spezifischen Leistungsqualitäten durchzuführen hat, hat die Glia, damit eben
eine ideale Leistung des Nervengewebes möglich ist, alle jene Hilfs-. und
Nebenleistungen auf sich genommen, welche namentlich unter krankhaften
Bedingungen leicht geeignet wären, eine Schädigung der spezifischen Nerven-
funktion zu bedingen. Infolgedessen hat die Neuroglia die Aufgabe,
für die Nervenzellen die idealsten Lebensbedingungen zu schaffen
und in erster Linie für die richtige Ernährung die Auswahl der
zuzuführenden Stoffe und die Abhaltung schädlicher Materien
durchzuführen. Infolgedessen ist die Neuroglia eine Art protektives Organ,
welches sie allerdings eben nur deswegen darstellt, weil sie ursprünglich:
ein mit dem Nervengewebe einheitliches Grundgewebe repräsentiert; was
sonst in den Körperorganen die Parenchymzellen im eigenen Funktions-
radius erfüllen, ist hier der hohen nervösen Leistung wegen auf zwei
Elemente aufgeteilt. Infolge dieser funktionellen Zweiteilung hat sich somit
die Neuroglia zwischen die Nährstraßen des Mesoderms und das Nerven-
system eingeschoben und stellt in ihren Funktionen einen Zwitter vor,
der einerseits genetisch als ektodermales Produkt dem Nervengewebe nabe-
steht und anderseits funktionell als Mittler zwischen Nervensubstanz und
Bindegewebe gewisse mesodermale Funktionsqualitäten besitzt. Neben dieser,
das Leben und die Funktion des Nervengewebes gewährleistenden Tätigkeit
der Glia hat sie aber noch weiterhin die Aufgabe, rein formal die Volums-
konstanz und Festigkeit der Hirnmasse zu sichern und muß deshalb auch in
der Lage sein, alle eventuellen Schwankungen durch ihre Tätigkeit auszu-
gleichen. In dieser Hinsicht erfüllt die Neuroglia ihre Leistung (dadurch,
daß sie durch ihren Bau in der Lage ist, mehr oder minder große Flüssig-
keitsmengen in präformierte Räume zu deponieren bzw. sie in ihrem Netz-
system zu binden. Umgekehrt hat dann die Neuroglia die Möglichkeit, im
Bedarfsfalle die gestauten Flüssigkeitsmassen entweder dem Gewebe zu-
oder aus dem Nervensystem abzutransportieren, indem diese nach den ab-
führenden Blut- und Lymphwegen ausgepreßt werden. Infolgedessen be-
herrscht die Neuroglia in größtem Umfange den Wasserhaushalt des Gehirns,
der, abgesehen von seiner Bedeutung im Stoffwechsel, auch eine gewisse
formale Rolle im Nervensystem spielt.
III. Die Pathologie der Neuroglia.
a) Die Gliahyperplasie.
Der anatomische Aufbau, die physiologischen Leistungen der Neuro-
glia sind solcherart, daß jede krankhafte Veränderung des Nervensystems
zu einer wesentlichen Veränderung in Bau und Leistungen dieses Gewebes
führen muß. Dabei müssen wir noch — wie es bereits in der ersten Mitteilung
geschehen ist -—, gleich einleitend den prinzipiellen Standpunkt festhalten,
daß die anatomisch-funktionellen Qualitäten der Neuroglia diese zwangs-
weise schon dann zu Reaktionen veranlassen, wenn das Nervengewebe selbst
19*
292 Eugen Pollak.
noch keine Zeichen irgend einer Alteration zeigt. Da doch die gesamten
Schädigungen, welche das Nervengewebe treffen können, von der Blut-
bzw. Lymphbahn gegen das Nervengewebe selbst vordringen, ist es klar.
daß die Neuroglia zuerst von dieser Schädlichkeit ergriffen wird, daß sie
sogar wie ein Wächter schon kommende exogen bedingte Anstürme anzeigt.
Infolgedessen unterliegt es keinem Zweifel, daß wir — abgesehen von der
mesodermalen Reaktion — in der ausschließlichen Reaktion der Neuroglia
und vielfach auch in dem von mir seinerzeit schon festgestellten Überwicgen
der Glia — gegenüber der Nervengewebsreaktion ein sicheres Kriterium für
die exogene Erkrankungsform besitzen.
Wenn wir die pathologischen Reaktionen der Neuroglia in ein gewisses
System bringen wollen, so können wir nur als Leitlinie ihre Veränderungen
gegenüber dem gleichzeitigen Zustande der Nervensubstanz benützen. Es
unterliegt keinem Zweifel, daß nach dem bisher Gesagten die Neuroglia in
der ersten Phase der pathologischen Reaktionen sich ganz darauf einstellt,
als Verteidiger der nervösen Zellen und Fasern zu fungieren, daß also solange
das Nervengewebe lebensfähig ist, und durch die Neuroglia geschützt wer-
den kann, eine defensive Aktivität das charakteristische Bild darstellt. Die
defensive Phase oder der defensive Reaktionstypus der Neuroglia ist mit
jenem Zustand identisch, den ich seinerzeit als formative Reizhyperplasie
bezeichnet habe. Welches sind die typischen Erscheinungen? Entsprechend
der vom Blut- bzw. dem Lymphweg drohenden Gefahr kommt es zu einer
Verstärkung der Apparate, welche normalerweise den Dienst der Abdich-
tung des Nervengewebes gegen das Mesoderm hin besorgt haben. Wir
sehen zunächst eine je nach dem Prozeß notwendige allgemeine oder Teil-
mobilisierung der Neuroglia. Wir verstehen darunter zunächst die hyper-
plastischen Reaktionen des gliösen Syncytiums, und zwar die volumsmäßige
Vergrößerung des gliösen Netzes sowohl als auch der einzelnen Elemente
desselben. Dazu kommt noch die gleichzeitige erhöhte Aktivität der Mikro-
glia, welche als Verstärkung der ektoderm-medosermalen Abdichtung die
erhöhte Beanspruchung der Makroglia zu entlasten versucht. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß bei der vorhin angegebenen Vielgestaltigkeit der Lei-
stungen der Neuroglia die Gefahr besteht, daß infolge einer übermäßig stark
auf Defensivreaktion eingestellten Prozeßphase andere Teilfunktionen des
gliösen Gewebes vernachlässigt werden könnten, so daß — trotz richtig funk-
tionierender Abdichtung — das Nervengewebe infolge mangelhafter Ernährung
zugrunde geht. Um diese Gefahr auf ein Minimum zu reduzieren, wird eben
durch die beiden gliösen Apparate ein Mechanismus aktiviert, der eine
weitgehende Stärkung der nutritiven Funktion ermöglicht, ohne daß die
defensive Qualität der Neuroglia eine Herabsetzung erfährt. Wenn es also
zur Hyperplasie der Neuroglia kommt, so bleibt diese nie auf das makro-
plasmatische Syneytium beschränkt, sondern geht zwangsläufig mit ciner
gleichsinnigen Reaktion der Mikroglia einher. Die Formen der verschiedenen
Iıyperplastischen Bilder sind allgemein bekannt, so daß ich hier über diese
hinweggehen kann. Wir wissen, daß die unter normalen Bedingungen nur
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 293
an spezifischen Imprägnationspräparaten gut darzustellenden plasmatischen
Gliabilder unter pathologischen Verhältnissen eigentlich bei jeder Färbung
«deutlich hervortreten. Diese Tatsache beruht nicht nur darauf, laß die
Neuroglia eine sicherlich bestehende quantitative Vermehrung ihres Plasma-
gehaltes erfahren hat, sondern auch auf einer nicht unwesentlichen Ab-
änderung der plasmatischen Struktur, da die Färbbarkeit auch bei spezifischen
Imprägnationsverfahren doch eine andere Qualität zeigt, als es bei normalen
Giliaelementen der Fall ist. So sehen wir auch bei den spezifischen Im-
prägnationspräparaten nach Cajal und Hortega die wesentlich erhöhte Avi-
dität für das zur Imprägnation verwandte Metall auch dann, wenn es zu
einer starken Vergrößerung des Volumens gekommen ist, was man also nicht
mit jener ähnlichen Avidität der Ganglienzellen bei der Presbyophrenie
vergleichen kann. Es scheint also unter pathologischen Bedingungen eine
namhafte Veränderung der chemischen Zusammensetzung des Plasmas
stattzufinden, und auf dieser Tatsache beruht die ungemein leichtere Dar-
stellung der gliösen Struktur bei pathologischen Prozessen. Was nun die
Hyperplasie im Sinne der Defension des Nervengewebes auszeichnet, ist
nicht nur die Massenzunahme der bereits vorhandenen syncytialen Plasmaver-
bindungen der (ilia, nicht nur die Vergrößerung und Vermehrung der Fort-
sätze der mikrogliösen Einzelelemente, sondern auch die zahlenmäßige Ver-
mehrung durch Neubildung von Gliazellen. Es ist klar, daß es wahrscheinlich
unter physiologischen Schwankungen und bei leichten Störungen der Neuro-
glia gelingt, durch eine allgemeine oder lokalisierte Hyperplasie des plasma-
tischen Apparates Herr der Schädigung zu werden und durch diese Aktivie-
rung des noch stabil bleibenden Netzes das Nervengewebe vor der drohenden
Gefahr zu schützen. Wenn aber das schädigende Agens in größerem Aus-
maße die Nervensubstanz bedroht, dann wird selbstverständlich die Neuro-
glia jene wichtige neue Fähigkeit heranziehen, durch welche sie ihre De-
fensivreaktion bei weitem noch steigern kann, nämlich ihre Vermehrungs-
fähigkeit. Wenn auch äußere zelluläre Kriterien, namentlich der Bau des
Chromatingerüstes der Gliazellen eine der mesodermalen Hyperplasie gleich-
starke Vermehrung nicht wahrscheinlich macht — dies gilt selbstverständlich
nicht für blastomatöse Prozesse —, so wohnt immerhin der Neuroglia eine
nicht unwesentliche Vermehrungspotenz inne. Es kommt zu einer den Be-
dürfnissen entsprechenden Vermehrung der Gliaelemente, wobei in erster
Linie die Mikroglia aktiviert wird. Dadurch, daß sie in keinem syncytialen
Zusammenhang mit der Makroglia zu stehen scheint, ist sie besonders ge-
eignet, durch Neubildung eine Verstärkung der defensiven Qualität der Neuro-
glia zu ermöglichen; denn ihre starke Vermehrung gewährleistet für sich
allein den Nutritionsakt der Nervensubstanz, so daß die Makroglia durch ihre
abdichtende Funktion mit voller Energie das Nervengewebe gegen die vom
Mesoderm her drohende Noxe schützen kann. Die Makroglia selbst mobili-
siert natürlich das Netz in dem Sinne, daß die dortselbst befindlichen Be-
reitschaftszellen zum Teil in die syneytiale Verbindung einbezogen werden
und infolgedessen es ermöglicht wird, das abdichtende System zu verstärken,
294 Eugen Pollak.
dadurch, daß neue Verbindungen und neue plasmatische Züge die Schutz-
membranen gegen die Noxe verstärken werden. Wir sehen dann weiter,
daß die fortsatzarmen Elemente unter solchen Umständen nicht mehr die
Berechtigung haben, als solche bezeichnet zu werden, da sie in der hyper-
plastischen Phase durch Verdickung einerseits und durch Neusprossung von
Fortsätzen anderseits immer mehr den plasmareichen Vielstrahlern gleich
werden. Ebenso sehen wir eine gewisse. hyperplastische Reaktion an den
faserbildenden Elementen namentlich dann, wenn. die Prozesse an der Außen-
fläche des Gehirns ablaufen, wie ich es seinerzeit schon bei den verschie-
denen Meningitiden beschrieben habe. Die Aktivierung der Glia im Sinne einer
plasmatischen Hyperplasie des stabilen Netzes ist natürlich selten nur ein
Prozeß, der das gesamte Zentralnervensystem befällt, der sich vor allem dort
pointieri, wo es normalerweise zu einer Verdichtung der gliösen Struk-
turen gekommen ist, also in erster Linie an den Grenzflächen des Zentral-
nervensystems und da wieder in wesentlichstem Ausmaße in der Umgebung
der Blutgefäße. Wir müssen also die Stellen der ersten Defensivreaktion der
Glia an den perivaskulären gliösen Strukturen und unter Umständen in der
Umgebung der Nervenzellen bzw. in den plasmatischen Zügen der weißen
Substanz suchen, wofern der pathologische Prozeß sich dort entwickelt hat.
Wir wollen hier nicht weiter hervorheben, daß die defensive Hyperplasie
der Glia entweder als eine generalisierte oder als eine lokalisierte auf-
tritt. Es ist verständlich, daß bei schwereren exogenen Noxen, namentlich
infektiös bedingten Allgemeinreaktionen im Gehirn, die gliöse Defensivphase
im ganzen Nervensystem sich entwickeln kann. Auch da allerdings müssen
wir betonen, daß selbst weitverbreitete, ausgedehnte Allgemeininfektionen
im Bereiche des Zentralnervensystems doch nicht zu einer ıniversellen
Reaktion führen müssen. Wir wissen viel zu gut, daß es eine Unzahl von
entzündlichen Erkrankungen gibt, bei denen der pathologische Prozeß auf
ganz kleine Territorien beschränkt bleibt, und daß selbst im Bereiche der
erkrankten Gebiete sich oft Stellen befinden, wo scheinbar kein krankhafter
Prozeß vorhanden ist. Hier ist es allerdings möglich, daß entweder Zirkula-
tionsgebiete bestehen, in welche die Schädigung nicht eingedrungen ist, was
wir z. B. bei der Poliomyelitis anterior acuta sicher annehmen können, oder
aber, daß die Abriegelung durch die Neuroglia so stark war, daß in einzelnen
Sektorer des Herdes eine typische Erkrankung nicht zum Ausbruch kommen
konnte. Wir sehen als ein ganz besonders charakteristisches Bild der defen-
siven hyperplastischen Phase der Glia an, wenn sich stellenweise herd-
förmig hyperplastische Herde entwickeln, welche verschiedene Form tragen
und von den verschiedenen Autoren im Laufe der Zeit mit mannig-
fachen Namen belegt wurden (Knötchen, Gliasterne, Gliarosetten, lockeres
Gliawerk, Strauchwerkbildungen, Gliarasen usw.). In diesen Bildern sehen
wir die typischen Kennzeichen der lokalen, meist primären hyperplastischen
Reaktion, da wir uns überzeugt haben, daß erstens diese Formationen
darauf beruhen, daß es zu einer starken Verdichtung des gliösen Netzes
gekommen ist, welches mit einer quali- und quantitativen plasmatischen
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 295
Vermehrung der Makro- und Mikroglia zusammenhängt. Zweitens sehen wir,
daB diese Formationen vielfach eine Disproportion gegenüber den Reaktionen
und Veränderungen des Parenchyms zeigen, daß also der gliöse Aufwand
ein weit größerer ist, als er durch eine parenchymatöse Reaktion oder
Degeneration (siehe später) sekundär bedingt sein könnte. Drittens ist für
diese hyperplastischen Herde typisch, daß sie keine Dauerformation dar-
stellen, daß sie scheinbar nach Beendigung des Defensivkrieges gewisser-
maßen wieder demobilisiert werden, d. h., daß diese Formationen restlos
verschwinden, so daß wir in einem späteren Zeitpunkt keine Residuen
von ihnen wahrnehmen können. Das klassische Beispiel hiefür liefert uns die
Encephalitis epidemica, bei welcher wir im akuten Stadium einen beson-
ders hohen (irad der aktiven Gliahyperplasie in generalisierter und in herd-
förmiger Form nachweisen können, und bei welcher wir nach Abklingen der
klinischen Symptome und vor allem in den späteren Stadien des Parkinsonis-
mus z. B. keine Zeichen der früheren pathologischen Gliareaktion finden
müssen. Diese Kriterien erscheinen uns allerdings nur solange von sicherer
Gültigkeit, als es sich wirklich nur um die reine defensive Phase zum
Schutze des Nervengewebes handelt. Wir sehen daher, daß die Neuroglia ihre
individuelle und allgemeine Differenzierungs- und Vermehrungsfähigkeit dazu
verwendet, um im eigenen Funktionsbereich Herr einer die Nervensubstanz
bedrohenden Schädigung zu werden. Es handelt sich hier um die klassischen
Phänomene der ektodermalen Immunität und von der Fähigkeit der Glia-
aktivierung und von ihrer defensiven Leistungsfähigkeit hängt das Schicksal
des Nervengewebes selbst ab. Es ist natürlich durchaus unklar, welcher
feineren Reaktionen sich zu dieser Tätigkeit die Glia bedient. Es ist nicht
wahrscheinlich, daß die Glia nur durch eine Art Abdichtung diesen Schutz
des Nervensystems bewerkstelligt. Vielleicht kommt es hier auch zu einer
Art Giftbindung mit nachfolgender Entgiftung, doch kann man dafür keine
sicheren Anhaltspunkte gewinnen. Wir wissen, daß diese defensive Tätig-
keit, diese filtrierende Kraft der Glia keineswags immer genügend erfolgreich
ist, und ohne Zweifel ist es dann von der Intensität der Reaktion selbst
abhängig, ob es der Glia gelingt, der eindringenden Noxe Herr zu werden
und das Nervensystem entsprechend vor Schaden zu bewahren. Wir haben
schon betont, daß diese unter pathologischen Bedingungen besonders stark
in Anspruch. genommene Abwehrleistung der Neuroglia ohne Zweifel ge-
eignet ist, die übrigen Funktionen der Glia zu schädigen. Wenn auch durch
die alliierte Höchstleistung von Makro- und Mikroglia im Sinne einer ge-
wissen Arbeitsteilung wahrscheinlich alles darangesetzt wird, die Nutrition
sowie den Stoffwechsel des Nervengewebes auf voller Leistungshöhe zu
halten, so ist doch sicher, daß diese auch noch so energische Verteidigung
der Neuroglia nicht geeignet ist, restlos das Nervensystem zu schützen.
Ohne Zweifel scheint das Nervengewebe dann, wenn es von exogenen
Noxen bedroht wird, trotz des gliösen Filters in seinem Physikochemismus
gestört zu sein, da die gleichzeitige Untersuchung der Nervenelemente auch
dann, wenn klinische Erscheinungen nicht vorhanden waren, mehr oder
296 Eugen Pollak.
minder schwere Zeichen einer plasmatischen Störung erkennen lassen. Wir
sehen, daß sowohl Störungen des Wasserhaushaltes der Nervenzelle relativ
frühzeitig nachweislich werden, und ebenso kann man sehen, daß gewisse
Anzeichen einer Abänderung des Lipoidstoffwechsels vorhanden sind. Diese
verhältnismäßig leicht histologisch erkennbaren Merkmale finden sich wie
gesagt bei exogenen Erkrankungen diffus verteilt, ohne daß es zu einer
am Organismus klinisch sichtbaren, zentral bedingten Funktionsstörung ge-
kommen wäre. Es ist selbstverständlich, daß eine solche von der Norm
abwegige Stoffwechseltätigkeit der Nervenzelle vermutlich nur dadurch zu-
standekommt, daß eben die Schutzwirkung entweder ungenügend ist und
infolgedessen die Nervensubstanz selbst vom schädigenden Agens direkt
betroffen wird, oder aber die Neuroglia ist in ihrem Funktionsbereich
als nutritives Organ unzulänglich geworden, so daß eigentlich hier eine
Art trophischer Störung vorliegt, welche sekundär durch die gliöse In-
suffizienz bedingt wurde. Wir sehen also, daß die pathologische Reaktion
am Nervengewebe nicht unbedingt Ausdruck einer direkten nervösen Alteration
sein muß, sondern daß es sich hier um einen sekundären, von der Grund-
krankheit eigentlich differenten Mechanismus handeln kann. Bei diesem
Phänomen könnten wir hier auch von einem gewissen konstellativen Mo-
ment sprechen, welches pathogenetische Prinzip überhaupt eines der wich-
tigsten Faktoren im Krankheitsgeschehen vorstellt.
In dem Augenblick aber, als die Nervenzelle selbst die Zeichen patho-
logischer Innenvorgänge bietet, wird die Neuroglia dann sekundär zu einer
weiteren Erhöhung ihrer Arbeitskraft gezwungen werden, da sie nunmehr
vor die Aufgabe gestellt ist, nicht nur den Kampf gegen das schädigende
Agens mit voller Energie weiterzuführen, sondern auch noch die Auf-
gabe hat, die Stoffwechselbilanz des Nervengewebes neuerdings auszubilan-
zieren. Dies führt zu einer weiteren Phase einer hyperplastischen Reak-
tion, doch ist dieselbe nicht mehr als primärer Reizprozeß aufzufassen,
sondern trägt aus den soeben dargelegten Gründen durchaus den Charakter
einer sekundären Reaktion. Die Trennung dieser beiden hyperplastischen
Phasen ist — was das histologische Bild anlangt — nicht immer leicht
durchzuführen. Zunächst ist entscheidend der histologisch nachweisbare Grad
der krankhaften Veränderung der nervösen Elemente und in diesem Falle
ist auch zumindest ein Teil der hyperplastischen Reaktion als ein sekun-
däres Phänomen zu werten. Dazu kommen dann noch verschiedene andere
Kriterien, welche mit der Stoffwechseltätigkeit des gliösen Gewebes in
Zusammenhang gebracht werden müssen. Wir wissen, daß die erkrankten
Nervenzellen scheinbar einen erhöhten Stoffwechselumsatz aufweisen, daß
es zu einer auffallenden Anreicherung von lipoiden Substanzen in der
Nervenzelle kommt, daß es sich dabei allerdings nicht nur um infiltrative
Phänomene, sondern oft auch um degenerative Entartungsprodukte han-
delt. Dieser Stoffe sucht sich die Nervenzelle selbstverständlich zu ent-
ledigen, und bei diesen Bestrebungen bedient sie sich der werktätigen
Hilfe der Neuroglia. Wir werden daher in jenen Gliaelementen, welche die
Studien zur Pathologie der Neuroglia I. 297
erkrankten Ganglienzellen umspinnen, Abbauprodukte feststellen können, und
der Nachweis solcher meist lipoider Körper oder von Pigmentkörnern ist
ein sicheres Zeichen, daß diese Zellen mit dem Abtransport der krank-
haft vermehrten Stoffe sich beladen und sich zu diesem Zwecke auch
quali- und quantitativ in ihren plasınatischen Verzweigungen vermehrt
haben. Wir werden daher die hyperplastische Phase der gliösen
Reaktion bei den verschiedenen exogenen Erkrankungen als den
vielfach erfolgreichen Versuch betrachten, 1. das Nervengewebe
vor der Schädigung zu schützen, den Stoffwechsel und die Er-
nährung des Nervengewebes zureichend zu gestalten, und 2. im
Falle einer gewissen Beeinträchtigung die Nervensubstanz von
den überschüssigen Produkten der krankhaft gesteigerten Stoff-
wechseltätigkeit entsprechend zu befreien. Solange nun keine sicht-
baren Zeichen des Parenchymzerfalls auftreten, wird man diese Aufgabe der
Neuroglia als gelungen bezeichnen können, und wenn die Schädlichkeit
ihren Angriff auf das nervöse Zentralorgan eingestellt hat, so wird es zu
einer Rückbildung des gesamten hyperplastischen gliösen Apparates kom-
men und — wie bereits betont -— ist nach einem gewissen Zeitraum,
der wohl von der Intensität des Prozesses abhängig sein wird, der Zustand
zurückgekehrt, der vor dem Einsetzen der hyperplastischen Phase bestan-
den hat.
Wir hatten schon früher bemerkt, daß die Neuroglia eine wesentliche
Rolle im Wasserhaushalt des Gehirns spielt. Wir wissen nun, daß es endo-
und exogene Erkrankungen gibt, bei welchen es zu einer erheblichen Ver-
änderung des Wassergehaltes des Nervensystems kommt. Wir wissen ferner,
daß eine ganze Reihe von Prozessen -— abgesehen von der Grundveränderung
des Gehims — mit einer starken Flüssigkeitsanreicherung des Gehims
gepaart sind. Einmal handelt es sich um die Neubildungen des Gehirns,
bei welchen es, abgesehen vom Neoplasma und dessen lokalen näheren
oder ferneren Gewebsreaktionen, auch zu einer Allgemeinveränderung des
Gehirns kommt, welche wir als sogenannte Hirnschwellung bezeichnen,
und die unseres Erachtens zum überwiegend größten Teile auf einer krank-
haften Anreicherung des Gewebes mit Wasser kommt. Wir wissen, daß es
sich hier oft nicht etwa um eine reiche Durchtränkung des Gewebes in den
präformierten Räumen handelt, wenngleich auch die in einer nicht un-
beträchtlichen Zahl der Fälle vorkommt, sondern um jene in das (ie-
webe selbst erfolgte Einsaugung von Wasser, welches nicht als labiles
Element in den Gliakammern der Randgebiete und in sonstig präformierten
Spalten sich sammelt, sondern als stabiles, fix gebundenes Element im
Gewebe verankert ist. Wenn wir nun eine Analyse dieses Zustandes ver-
suchen, so sehen wir in erster Linie eine auffallende Anreicherung des
neurogliösen Syneytiums mit der Flüssigkeit, das sich durch seme auf-
fallende syneytiale Quellung kenntlich macht. Dabei schen wir, daß es vor-
wiegend das ausgedehnte ınakroplasmatische Netz ist, das in der weißen
Substanz viel ausgeprägter und mächtiger ist als in der grauen. Diese
298 Eugen Pollak.
anatomische Tatsache stimmt auch mit dem pathologischen Befund bei den
Fällen von Hirmnschwellung überein, wonach hier die Volumsvermehrung des
Gehirns hauptsächlich auf die Vergrößerung der weißen Substanz zurück-
zuführen ist. Ich habe schon seinerzeit an anderen Fällen auf die merk-
würdige Beobachtung hingewiesen, daß die Schwellung bei Tumoren oder
Abszessen vorzugsweise die gleiche Hemisphäre betrifft, und im Wege
der Balkenfaserung auf die andere Seite hinüberreicht. Dabei ist uns auf-
gefallen, daß bei Tumoren eines polaren Gebietes der entgegengesetzte Hirn-
pol der gleichen Seite die stärksten Zeichen der Hirnschwellung bietet, was sich
besonders deutlich bei Okzipitalpolgeschwülsten im Mark des gleichseitigen
Stirnhirns zeigt, das wegen seiner normalen Größenentwicklung einen gün-
stigen Boden für die Aufsaugung des Wassers darstellt. Wir müssen uns
vorstellen, daß die Neuroglia durch einen — heute noch unklaren — Mecha-
nismus genötigt wird, daß Überanbot der Flüssigkeit, welche vom Blut- bzw.
Lymphwege zugeführt bzw. dessen Abgabe an die ableitenden Wege ge
hindert ist, in sich aufzunehmen und infolgedessen kommt es zu dieser
merkwürdigen Schwellung, welche als eigene Erkrankung oder auch als
Sonderbild zahlreicher Prozesse relativ häufig in Erscheinung tritt. Ein Groß-
teil der Fälle beruht auf einer mangelhaften Fähigkeit, die überflüssigen
Flüssigkeitsmengen an die ableitenden Blut- und Lymphwege bzw. Liquor-
räume abzugeben, da diese entweder durch irgend einen Verschlußmecha-
nismus als Abtransportwege unbrauchbar geworden sind, oder aber einer
nervösen Funktionsstörung der Blut- und Lymphzirkulation, weil auch
bei Intaktheit der zu- und abführenden Strombahnen infolge Lähmung
unbrauchbar geworden sind, so daß die Neuroglia selbst genötigt wird,
die Flüssigkeit vorübergehend aufzunehmen, wodurch es zur transitorischen
oder unter Umständen auch dauernden Hirnschwellung kommt. So sehen
wir die passive Form der Schwellung besonders deutlich nach Erkran-
kungen der Dura, kennen die vasomotorischen Fälle mehr im Anschluß
an Intoxikationen oder als allergisches Phänomen und werden vielleicht
bei raumbeschränkenden Prozessen eine Kombination der beiden Grund-
faktoren als ursächliches Moment der begleitenden Hirnschwellung an-
nehmen. Morphologisch ist natürlich der Befund ein dürftiger. Dadurch,
daß wir bei den meisten Untersuchungsmethoden mit wasserentziehenden
Mitteln das Material bearbeiten, gelingt selbstverständlich eine ideale Fixie-
rung dieses krankhaften Zustandes nicht. Infolgedessen sehen wir auch,
daß die meisten Autoren nur negative histologische Befunde erheben konnten,
und es wird noch unsere spätere Aufgabe sein, am geeigneten Material durch
zweckentsprechende Methoden die hier vorgebrachten pathogenetischen Mo-
mente einwandfrei zu beweisen. Immerhin gelingt es, an den spezifischen
(liaimprägnalionsbildern, die auch kein ideales Verfahren darstellen, An-
deutungen des soeben beschriebenen Mechanismus morphologisch festzu-
stellen.
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 299
b) Die destruktiven Reaktionen der Neuroglia.
Alle bisher besprochenen Reaktionen der Neuroglia fußen letzten Endes
auf dem wichtigen Momente, das Nervensystem selbst vor einer schwer-
wiegenden Schädlichkeit zu bewahren, und bei einer großen Zahl von Er-
krankungen gelingt es doch diesem Apparat, durch komplizierte Reaktionen
das Ziel zu erreichen. Wenn dies aber nicht möglich ist, d. h. wenn die
Neuroglia selbst gegenüber dem anstürmenden schädigenden Agens in ihren
Bestrebungen erlahmt, oder aber trotz ihrer erhöhten hyperplastischen Phase
die Vitalität des Nervengewebes durch Versagen der nutritiven Beihilfe der
Glia schwindet und infolgedessen das Nervengewebe der Zerstörung anheim-
fällt, ändert sich das gesamte Reaktionsbild des gliößsen Abwehrmechanis-
mus vollkommen. Der von uns im ersten Kapitel beschriebene normale
Bauplan der Neuroglia und die dann nachher angeführten funktionellen
Leistungen dieses Gewebes sind einzig und allein auf die Ermöglichung der
vollkommenen Nerventätigkeit eingestellt. Wenn nun das Nervengewebe,
in dessen Diensten die Neuroglia eigentlich steht, zugrundegeht, so wird damit
eigentlich die Existenz der Neuroglia überflüssig. Ihr Bauplan, ihre Funk-
tion ist illusorisch geworden, und infolge dieser Tatsache gibt unter solchen
Umständen die gliöse Substanz ihren normalen Bauplan vollständig auf und
ändert auch damit selbstverständlich ihr weiteres funktionelles Verhalten.
Solange das Nervengewebe nur erkrankt ist, sucht die Neuroglia auch noch
in ihren stabilen Positionen, in ihrem syncytialen Netz mit ihren reichen
Verbindungen an plasmatischen Fortsätzen die bei einem dürftigen Zer-
fall auftretenden bzw. freiwerdenden Zerfallsprodukte aufzusaugen, und so
erkennt man auch in den syneytial verankerten Gliazellen reiche Abbau-
produkte, wie dies seinerzeit schon Jakob in eindrucksvoller Weise be-
schrieben und gezeichnet hat. Wenn aber der Zerfall ein größerer ist, dann ist
das Netz, das zum Leben der Nervensubstanz bestimmt ist, eine überflüssige
Bildung und die Zellenelemente, welche dieses gliöse Netz aufgebaut haben,
lösen nunmehr die Verbindungen, und die Neuroglia wandelt sich aus einem
stabil verankerten in ein mobil selbständiges Zellen- und Plasmagewebe um.
Wir sehen, daß in diesem Fall die Makroglia den Bauplan der Mikroglia
bezüglich ihrer Ungebundenheit nachahmt. Das Schicksal dieser gliösen Ele-
mente nach dem Untergang des nervösen Gewebes ist viel zu bekannt,
als daß man hier viel Worte machen müßte. Die Gliazellen verlieren ihre
Fortsätze, das makroplasmatische Syncytium hat zu bestehen aufgehört, und
die Gliazellen mit Einschluß der Mikroglia werden unter Anrundung ihres
Plasmas und unter Bildung eines endozellulären Gitters typische Abräum-
zellen, womit eine neue Phase der gliösen Tätigkeit beginnt, nämlich die Ab-
baureaktion. Diese phagozytäre Tätigkeit der Neuroglia wird, wofern diese
selbst bei dieser das Nervensystem zerstörenden Erkrankung leistungsfähig
geblieben ist, die wesentliche Aufgabe des gliösen Gewebes im Bereiche
der zerstörten Nervenelemente. Sie belädt sich mit den zahlreichen Zerfalls-
produkten der zerstörten Nervenelemente und wird auf diese Weise zur
300 Eugen Pollak.
typischen Fettkörnchenzelle, die zufolge ihres Verlustes an Verbindungs-
brücken ein wanderungsfähiges Element geworden ist, welches die Fähig-
keit besitzt, nach jenen Stätten zu wandern, an welchen es sich seiner Pro-
dukte entledigen kann. Die Neurogliazellen selbst eilen demzufolge nach
den abführenden Blutwegen hin, um dortselbst ihre Produkte abzuführen,
indem dieselben aus der Zelle ausgelaugt werden und dann extra-
zellulär — bis sie ihren Durchtritt in das Mesoderm und die Aufnahme
in Abkömmlinge dieses Gewebes wieder erreicht haben — liegen bleiben. Das
Schicksal der von den Abbauprodukten befreiten Gliazellen ist eigentlich
unsicher. Die meisten Autoren nehmen an, daß die von den Abbaustoffen
befreiten Gliazellen dem Untergang anheimfallen und damit eigentlich das
Schicksal des Nervengewebes teilen. Wir selbst sind allerdings nicht dieser
Meinung. Wir glauben auf Grund unserer histologischen Bilder die Beob-
achtung gemacht zu haben, daß diese gliösen Elemente höchstens zum Teil
dieses Schicksal erfahren, daß sie aber zum Teil doch am Leben bleiben, um
dann für eine weitere Aufgabe an ihrem künftigen Sitz umgeformt zu wer-
den. Das Schicksal der gliogenen Abräumzellen ist aber unseres Erachtens
auch davon abhängig, ob der Prozeß so schwer verlaufen ist, daß die
gliösen Abdichtungsvorrichtungen gleichfalls zerstört wurden oder nicht.
Es kommt vor, daß die Zerstörung des Nervengewebes eintritt, ohne daß das
Mesoderm Gelegenheit hat, sich direkt durch aktives Eingreifen meso-
dermaler Freßzellen zu beteiligen; dies ist gewöhnlich nur dann möglich,
wenn die Abdichtung gegen das eindringende Mesoderm durch die gliöse
Barriere gesichert wird. In diesem Falle gelingt es natürlich auch den
gliösen Abräumzellen nicht, diese Grenzmembran zu durchbrechen; die Ab-
kömmlinge des Ektoderms werden hier wie durch ein Sieb abgehalten und
auf diese Weise förmlich genötigt, dem Nervengewebe erhalten zu bleiben.
Was uns nun dafür zu sprechen scheint, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil
der phagozytär tätigen Glia erhalten bleibt und nicht dem Untergange an-
heimfällt, ist die Beobachtung, daß nach der perivaskulären Lipoidballungs-
phase, welche allmählich abklingt, eine auffallende Vermehrung der gliösen
Strukturen folgt, die ohne Zweifel durch das Einsetzen der ehemaligen
Abräumzellen wenigstens zum Teil erfolgt. — Anders steht es allerdings
um das Schicksal der gliösen Abräumzellen dann, wenn die gliöse Grenz-
membran gleichfalls zerstört wurde. In diesem Falle besteht kein Hindernis
dafür, daß die morphologisch von mesodermalen Abräumzellen nicht mehr
zu trennenden Gebilde in die abführenden Strombahnen verschleppt wer-
den, so daß sie dadurch für das Nervensystem selbst verloren sind.
Die Abräumtätigkeit der Gliazellen zeigt nun eine Leistung, die nicht
nur als ein gewöhnlicher Transport von Abbauprodukten zu werten ist. Diese
besteht eben darin, daß die Gliazellen die in sich aufgenommenen Sub-
stanzen nicht wie ein gewöhnliches Depot tragen und beherbergen, sondern
daß durch ihre endozelluläre Tätigkeit die aufgenommenen Produkte in
ihrer chemischen Konstitution verändert werden. Genau so wie die Glia-
elemente auch während ihrer normalen Tätigkeit und in ihrem normalen
Studien zur Pathologie der Neuroglia I. 301
Zusammenhang in erster Linie trachten, die vom Nervengewebe abtrans-
portierten Schlacken zu verarbeiten und in Produkte überzuführen, welche
dann verhältnismäßig leicht ihren Durchtritt durch die abgrenzenden Mem-
branen finden können, genau so sieht man die Wirkung der Glia auf die
Abbauprodukte in ihrer phagozytären Phase. Es bleibt uns natürlich bis
heute unklar, auf welchem Wege diese chemische Zerlegung erfolgt, ob es
sich hier vielleicht überhaupt nur um autolytische Vorgänge handelt oder
ob nicht etwa die Neuroglia durch ein von ihr erzeugtes Ferment befähigt
ist, die Aufspaltung der Lipoide zu bewerkstelligen, damit diese leicht weiter
abgebaut werden können. Wir sehen, daß entsprechend ihrer normalen Tätig-
keit auch die Mikroglia sich bei Gewebszerfall zu betätigen scheint und die
auffallende Anreicherung der mikrogliösen Elemente mit Eisen und anderen
anorganischen Substanzen zeigt, daß die Mikroglia auch an der Resorption
von Zerfallsprodukten des Nervengewebes beteiligt ist und dabei in erster
Linie jene Stoffe bindet, weiche sie auch unter normalen Verhältnissen ge-
speichert und transportiert hat. Wir sehen dann auch noch ein Produkt, auf
das wir in dieser Mitteilung bereits einmal zu sprechen gekommen sind,
nämlich die Entwicklung von Corpora amylacea im Bereiche der zerstörten
Gebiete und vor allem hauptsächlich in den gliösen Formationen. Wir meinen,
daß diese eigenartigen Körper aus den Zerfallsprodukten der Nervensubstanz
stammen und daß diese von der Glia aufgenommen, durch die Abbautätigkeit
derselben in oder in der nächsten Umgebung der gliösen Zellen heraus-
differenziert werden, um dann entweder aus den Gliazellen ausgestoßen
oder durch Zerfall frei zu werden, und schließlich als ein scheinbar
lebloses Gerinnungsprodukt in den vorhin besprochenen präformierten
Maschen des gliösen Randnetzes oder sonst auch in der Umgebung der Ge
fäße und der Ventrikel liegen bleiben. Inwieweit dabei auch eine direkte
Stoffwechseltätigkeit der Gliaelemente mithilft, ist unklar, erscheint aber
bei der schon vorhin besprochenen Zellulartätigkeit im Inneren der Glia-
elemente sehr wahrscheinlich zu sein. Ein gleiches gilt für die in den
Phagozytenzellen aufgenommenen anderen Zerstörungsprodukte, die fast
durchwegs eine Umwandlung im Laufe des intrazellulären Transportes er-
fahren habe, was man besonders schön an den von den Zellen aufgenom-
menen Hämpsglobinkörpern erweisen kann.
c) Die reparative Tätigkeit der Neuroglia.
Schon in Phasen der Abbaureaktion sieht man eine neue Form der
gliösen Wandlungsfähigkeit. Aus dem Prinzip heraus, den gesetzten Defekt
des Nervensystems wieder gutzumachen, beginnt die Neuroglia eine frische
Aktivität zu enffalten. Während im peripheren Nervensystem die daselbst
befindliche Gliaart, die Schwannschen Zellen, die Fähigkeit besitzt, durch
ihre Leistung die Regeneration der zugrunde gegangenen Axone und Mark-
scheiden durchzuführen, ist diese Leistungsfähigkeit der zentralen Neuro-
glia versagt. Trotzdem sieht man auch hier den Versuch, Zugrundegegan-
genes durch eigene Leistung zu ersetzen, doch kommt dabei die geringe
302 Eugen Pollak.
Regenerationsfähigkeit dadurch zum Ausdruck, daß infolge der mehr speziali-
sierten Funktionen der Glia von ihr nur Glia regeneriert werden kann.
Dadurch, daß die Neuroglia normalerweise viele Funktionen des Mesoderms
übernommen hat, wird sie auch als reparatives Element auf den Formenkreis
mesodermähnlicher Reaktionen eingeschränkt. Infolgedessen kommt es zur
Entwicklung jenes inaktiven und nur auf Erhaltung der äußeren Form ein-
gestellten faszikulären Gewebes, der faserigen Neuroglia. Aus allen der-
artigen reparativen Bestrebungen, aus dem klaren Befunde, daß die Neuro-
glia mit ihrer Faserbildung nur dann stärker hervortritt, wenn es gilt, einen
Defekt auszufüllen, d. h. eine Narbe zu bilden, geht hervor, daß die faserige
Glia die klassische Form der inaktiven Gewebstype vorstellt. Es ist nun
interessant, daß die faserige Reparation von jenen Netzanteilen des gliösen
Syncytiums ausgeht, welche von der Umgebung, des Herdes her sich unter
Umwandlung in faserige Gebilde allmählich in den Defekt einschieben. Wir
sehen allerdings, daß die klassische faserige gliöse Narbe niemals dort auf-
taucht, wo das Nervengewebe in größerem Ausmaße in seiner Totalität zer-
fallen ist, und namentlich dann, wenn es zu einem stürmischeren Nerven-
zerfall gekommen ist, bleibt die echte sklerosierende Tätigkeit der Neuro-
glia aus oder gibt sich nur in rudimentären Zügen zu erkennen. Wir sehen
daher am klassischesten die Entwicklung des faszikulären Narbennetzes
dort, wo das Parenchym nicht in toto dem Untergang anheimgefallen ist
und wo trotz beträchtlicher Parenchymdefekte wesentliche Anteile der Nerven-
substanz erhalten bleiben. Das klassische Beispiel für einen Prozeß solcher
Art ist die multiple Sklerose, bei der zwar ein nicht unbeträchtlicher Teil
der Neuroglia zur Abräumtätigkeit der erkrankten und zerstörten Mark-
scheiden verwendet wird, das Syncytium der Makroglia hingegen bis zu einem
gewissen Grade erhalten bleibt. Es erfolgt nur eine deutliche Umwandlung
dieses Netzes in seine Inaktivform, d. h. die Erstarrung des Kanalsystems
in jenen faserigen Netzfilz, der die Parenchymelemente wieder so um-
spinnt, wie es ursprünglich das plasmatische Netz getan hat. Ebenso deutlich,
vielleicht noch plastischer erkennen wir diese Metamorphose des makrogliösen
Syneytiums bei den sogenannten Hemisphärenatrophien, bei welchen wir
am Faserpräparate das gliöse Netz deutlich ausgebreitet sehen, nur daß das-
selbe faszikulär und nicht wie früher plasmatisch ist. Wir sehen, daß schon
unter normalen Bedingungen die großen Zellpfeiler des Glianetzes mit-
unter gemischtphasig zu sein scheinen, d. h. daß in einzelnen Zellen und
nicht in allen ihren Teilen die Entwicklung von Gliafasern beginnt, nament-
lich dann, wenn für diese verschiedenen Abschnitte eine verschiedene Funk-
tion notwendig ist. Wir meinen dies besonders an jenen Gliazellen feststellen
zu können, die ohne Zweifel ihrer Form und Darstellungsfähigkeit nach dem
makrogliösen plasmatischen Synceytium angehören und bei ihrer gleich-
zeitigen Verwendung am Gefäßapparat einerseits und einer Zugehörigkeit
zur perivaskulären Glia corticalis anderseits eine gewisse faserige Ver-
steifung benötigen. Infolgedessen ist mitunter auch an den spezifischen Im-
prägnationspräparaten die Differenzierung nicht so leicht, namentlich dann,
Studien zur Pathologie der Neuroglia I. 303
wenn, wie die Fuchsinlichtgrünmethode von Alzheimer zeigt, mehrere
Reaktionsformen möglich sind. In der Mehrzahl der Fälle läßt sich aber die
plasmatische Glia von der faserigen sehr gut unterscheiden, und besonders
die Gold-Sublimat-Imprägnation nach Cajal zeigt eine gute Differenzierung
der beiden Arten, da bei dieser Methode die faserigen Elemente nur schatten-
haft hervortreten, während die plasmatischen plastische Darstellung er-
fahren. Der Übergang von dieser zu jener Form ist bei gewissen Krankheits-
formen besonders typisch und der Gegensatz zwischen faseriger Narben-
bildung und plasmatischer Hyperplasie der Makroglia tritt z. B. an den
Präparaten von diffuser Hirnsklerose deutlich hervor. Die Neuroglia läßt
in ihrer faserigen Umwandlung den Endpunkt ihrer funktionellen Vitalität
und Leistungsfähigkeit erkennen, da wir in dieser zum Teil syncytialen
Erstarrung die Inaktivierung der Neuroglia sehen und sie dann eben nur jene
Funktion erfüllt, welche ursprünglich als ihre einzige angesehen wurde.
Wir sehen immerhin die überraschende Tatsache, daß auch an Stellen
eines relativ größeren Gewebsdefektes eine narbige Substitution durch Glia
möglich ist. Bei dem Verluste des gesamten parenchymatösen Apparates und
bei der gleichzeitigen Vernichtung des Glianetzes entsteht die Frage, woher
dann die zur Narbenbildung notwendigen Gliaelemente herkommen. Zu-
nächst wissen wir — und dies haben wir bereits kurz bemerkt —, daß
bei umfangreicheren Gewebsdefekten diese reparatorische Tätigkeit der Glia
eben aus Mangel an bildungsfähigem Material unmöglich ist; ist der Defekt
aber kein so übermäßiger, so scheint von der Peripherie des Herdes Neuroglia
in das erkrankte Territorium einzuwachsen. Hier sehen wir wieder die
ektodermale Tendenz sich gegen das freigewordene und in seinem Wachstum
viel hemmungslosere und für das Ektoderm bedrohliche Bindegewebe abzu-
schließen, und in erster Linie wird man sehen können, daß die Weiter-
entwicklung der gliösen Formationen von den perivaskulären Gliazonen aus-
geht, welche nach wie vor die vom Gesunden herkommenden Gefäße um-
scheiden und dann als Matrix des später wuchernden Gliagewebes dienen.
Von hier aus kommt es zur Entwicklung neuer gliöser Sprossen, wobei jene
in der Umgebung des Herdes als Demarkationszone sichtbare gliöse Hyper-
plasie den günstigen Boden abgibt, der dann die Glia befähigt, allmählich
in das zerstörte Gebiet einzuwachsen, wobei sie sich mangels der spezifi-
schen symbiotischen Funktion mit dem Nervengewebe in das inaktive Narben-
gewebe der faserigen Glia transformiert. Die Wachstumstendenz in dem
Herd ist nach dem Prinzip der Entwicklung in der Richtung des geringsten
Gewebswiderstandes leicht verständlich. Es bleibt dabei außerdem noch
immer die Frage offen, ob auch ein Teil der nicht zerstörten gliogenen
Abräumzellen nach Abgabe der Abbauprodukte unter Neuentwicklung von
Fortsätzen sich an der faserigen Rekonstruktion des Defektes beteiligen,
was wir schon früher auseinandergesetzt haben.
Fassen wir also die bisherigen pathologischen Reaktionen der
Neuroglia, welche bei den verschiedenen Krankheitseinheiten
vorkommen können, zusammen, so haben wir eigentlich drei
304 Eugen Pollak.
Phasen der pathologischen Gewebsreaktion der Neuroglia ken-
nen gelernt. Erstens die hyperplastische Defensivreaktion, welche
zur Abwehr der Schädigung und zur Erhaltung der Ernährung voin
makro- und mikrogliösen Apparat durchgeführt wird. Zweitens
die destruktive Reaktion, d. i. die durch den Gewebszerfall auf-
gehobene funktionelle Bedeutung der normalen Gliastruktur.
die Auflösung der stabilen Formationen und die Umformung in
mobile Elemente, welche den Abbau und die chemische Verarbei-
tung der Zerfallsprodukte besorgen und den Abtransport zu den
ableitenden Strombahnen bewerkstelligen. Die dritte Reaktions-
form ist die reparative, die selbstverständlich im Zentralnerven-
system nur eine Surrogatleistung ist und infolge der funktionellen
Inferiorität dem Nervengewebe gegenüber sich nur als Narben-
bildung auswirkt.
d) Die Eigenerkrankung der Neuroglia.
Alle bisherigen Voraussetzungen für die Funktionstüchtigkeit im nor-
malen und pathologischen Verhalten der Neuroglia sind davon abhängig,
ob dieses scheinbar besonders stark widerstandsfähige Gewebe selbst un-
versehrt im Kampf mit den verschiedenen Schädlichkeiten bleibt. Ist dies
nicht der Fall, und macht sich auch an diesem, dem nervösen verwandten
Gewebe die Affinität der Noxe zum Ektoderm geltend, dann erkrankt eben
auch dieses Gewebe, wodurch natürlich jede Möglichkeit der vorhin be-
schriebenen unter pathologischen Bedingungen typischen Aktivierung aus-
bleibt. Soweit unsere eigenen Erfahrungen reichen, haben wir immer wieder
feststellen können, daß diese Vernichtung oder Erkrankung der Neuroglia ein
Prozeß ist, der von jenem des Nervengewebes unabhängig verläuft und — wie
ich schon seinerzeit festgestellt habe — als durchaus primär zu deuten ist. Die
Erkrankung der Neuroglia macht sich in jenen Formen geltend, die Alzheimer
seinerzeit als amöboide, ich später als dysplastische bezeichnet habe, und die —
wie ich schon mehrfach betont habe — ohne Zweifel mit jenem Zustande
identisch ist, den Cajal viel später als Klasmatodendrose benannt hat.
Wir verstehen darunter jenen Zustand, der mit pyknotischer Kernverände-
rung, Plasmaschwellung und gleichzeitiger tropfiger Auflösung der Zellen
einhergeht. Da alle Gliazellen, welcher Type sie auch immer angehören,
diese gleichartige Zerstörung aufweisen können, schwankt das Bild nur
je nachdem, ob es sich um ein plasmaarmes oder plasmareiches Gebilde
handelt, ob viel oder wenig Fortsätze zum Zeitpunkte der Erkrankung sicht-
bar waren oder nicht. Jedenfalls konnte ich schon seinerzeit die Beobachtung
machen, daB immer der auflösenden Phase der Erkrankung ein hyper-
plastisches Vorstadium voranzueilen scheint, wodurch es zu dieser ganz
besonders charakteristischen Blähung der plasmatischen Strukturen kommt,
die vielfach im auffallenden Gegensatze zur regressiven Kernveränderung
steht. Infolgedessen habe ich seinerzeit schon den damals hart bekämpften
Standpunkt eingenommen, daß die amöbeide Zelle dadurch entsteht, daß
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 305
die Gliazelle bei dem Versuche, als Abräumzelle zu fungieren, dem Unter-
gang verfällt. Dieser Standpunkt wird heute allgemein akzeptiert und er
läßt sich vielleicht am besten sogar noch dahin präzisieren, daß es sich hier
um Elemente handelt, welche während einer hyperplastischen Phase schwer
erkranken und funktionsuntüchtig werden. Außerdem kann bei der Viel-
gestaltigkeit der Beziehungen der Glia (siehe oben), bei der Vielartigkeit
der Funktionen die Neuroglia derartig überlastet sein, daß sie auch ohne
eine direkte Schädigung unter Umständen funktionsuntüchtig werden kann.
Wir wissen, daß diese eigenartige regressive Umwandlung der Neuroglia be-
sonders bei stürmisch verlaufenden Zerfallsprozessen im zentralen Nerven-
system vorkommt, daß es namentlich im Anschluß an akute Intoxikationen
und im Gefolge von gröberen Ernährungsstörungen der Hirmsubstanz zu
einem gleichzeitigen Zerfall von Nerven- und Gliagewebe kommt. Wir haben
aber bereits bemerkt, daß nicht nur eine Parallelerkrankung zwischen Nerven-
und Gliagewebe möglich ist, sondern haben auch vielfach die Beobachtung
gemacht, daß die primäre Zerstörung der Neuroglia bereits zu einem Zeit-
punkte sichtbar ist, wo die morphologischen Zeichen der Parenchymerkran-
kung noch nicht nachweislich sind. So konnte ich gemeinsam mit Rezek
feststellen, daß diese primäre Gliaerkrankung, welche sich als ein körniger
Zerfall des makroplasmatischen Syneytiums kennzeichnet, Ursache eines
Teiles der sogenannten weißen Hirnerweichungen zu sein scheint. Ebenso
habe ich gemeinsam mit G. Riehl jun. an mehreren Fällen von Salvarsan-
intoxikation Gleiches erheben können, und dabei festgestellt, daß hier ein
ganz besonders typisches Beispiel der elektiven degenerativen Gliaerkrankung
vorliegt. In allen diesen Fällen gewinnt man den Eindruck, als ob die Neuro-
glia bei ihrem Versuche, als Filter der Giftwirkung zu fungieren, versagt
und in diesem Abwehrkampf selbst vor dem Nervengewebe niedergerungen
wird. Ebenso scheint bei schwereren Zirkulationsschäden infolge chroni-
scher Wanderkrankungen der Hirngefäße die Neuroglia lange erfolgreich den
Versuch durchzuführen, trotz der ungünstigeren Ernährungslage infolge Ver-
schlechterung der Permeabilitätsverhältnisse der Gefäßwände, die gefährdete
Nutrition des Gewebes durchzuführen. Es scheint nun unter gewissen Be-
dingungen, die wir heute noch nicht kennen, zu einem FErlahmen der
Lebenskraft der Neuroglia zu kommen und ihr Absterben auf den hyper-
plastischen Höhepunkt des Systems schafft einen Zusammenbruch, der sich
durch Entwicklung regressiv veränderter Elemente in den verschiedensten
Stadien auszeichnet. Infolgedessen sieht man dann zerfallene Gliaelemente,
welche noch die Zeichen ihrer nutritiven Funktion bieten und ebenso auch
noch mißglückte Versuche der Glia, sich in Abräumzellen umzuformen.
Es war seinerzeit Rosental aufgefallen, daß die amöboide Glia Alz-
heimers auch als Leichenveränderung in Erscheinung tritt. Es besteht daher
heute bei verschiedenen Autoren ein gewisser Zweifel. ob die amöboide
Glia nicht überhaupt als eine kadaveröse Veränderung aufzufassen ist.
Ich glaube, daß hier vielleicht folgende Erklärungsmöglichkeit gegeben ist:
Bei der Ungleichmäßigkeit der Empfindlichkeit von Nervengewebe und Neuro-
Arb. aus dem Wr. neurol. Inst, XXXIV. Bd. 20
306 Eugen Pollak.
glia infolge der inferioren Leistungskomplexe der letzteren, die sich dein Binde-
gewebe beträchtlich nähert, wäre es gar nicht ausgeschlossen, daß zur
Zeit des Todeseintrittes die Nervenzelle selbst bereits ihre Funktion ein-
gestellt hat, während die Neuroglia selbst weniger davon betroffen zu sein
scheint. Das Absterben der Nervensubstanz wirkt nun auf die noch kurze
Zeit lebensfähige Glia als Reiz und es kommt zu einer Anfangsreaktion des
hyperplastischen Prozesses, die sich durch die Schwellung der plasmatischen
Strukturen zu erkennen gibt. Bei dieser Tätigkeit, d. h. in diesem Stadium.
wird die Neuroglia selbst infolge Ausbleibens der vitalen Nährkräfte ab-
getötet, und es kommt zur degenerativen Wendung des zellulären Prozessex.
Wir haben dabei im Prinzip die gleiche Reaktion, wie sie sonst unter
pathologischen Bedingungen erfolgt, d. h. den Untergang der Gliazelle wäh-
rend einer hyperplastischen Phase, die auch einem Versuche gleichgestellt
werden kann, als Abräumzelle zu fungieren, da doch das Nervengewebe
selbst erkrankt bzw. dem Untergang verfallen ist. Dies wäre vielleicht ein
Weg, um die morphologische Identität von postmortaler und intravitaler
Amöboidose zu erklären.
Wir haben aber auch bei unseren Untersuchungen in den letzten Jahren
noch eine weitere Veränderung der Neuroglia kennen gelernt, welche
offenbar auf die Tätigkeit der Glia im Dienste des Wasserhaushaltas
zurückzuführen ist. Wir hatten in einer vor kurzem erfolgten Mit-
teilung über das Wesen der Wilsonschen Krankheit bzw. der Pseudo
sklerose zu beweisen gesucht, daß die bei diesen Erkrankungen vorkommen-
den atypischen Gliaveränderungen auf einer hepatogen bedingten Störung
des Wasserhaushaltes beruhen und daß die eigenartigen Zellveränderungen
Folge dieses gestörten Wasserbindungsvermögens der Neuroglia sind. Bei
der schon vorhin betonten großen Bedeutung der Neuroglia im Wasserhaus-
halt des Gehirns ist es klar, daß eine Störung dieser Komponente der Glia-
tätigkeit unzweifelhaft zu einer schweren Schädigung dieses Gewebes führen
muß. Die Alteration, welche die Neuroglia durch diese Störung erfährt, ist
bekanntlich so groß, daß sie nicht in der Lage ist, die sekundären Defekte
des Nervengewebes erfolgreich zu substituieren oder schon vorher ihr Zu-
standekommen zu verhindern, was sich in der auffallenden Insuffizienz ıhrer
hyperplastischen Kraft äußert. Durch die eigenartige Schädigung dieses Ge-
webes wird ihre sonst typische Reagibilität abgeändert und statt der auf
Qualität und Quantität bedachten und im Dienste der vielen Funktionen
stehenden polymorphen Hyperplasie kommt es zu einem luxuriierenden
Wachstum einzelner Zellen oder Kerne, an denen sich deutlich die Zeichen
des veränderten intrazellulären Wasserhaushaltes kenntlich machen. Wir
sehen auch, daß diese Störungen des Weasserbindungsvermögens der Glia
oder umgekehrt ihre gesteigerte Avidität, wie wir sie bereits bei der Him-
schwellung beschrieben haben, auch noch anderweitig sichtbar wird. Es
war schon Alzheimer seinerzeit aufgefallen, daß unter gewissen Um-
ständen das gliöse Netz in eigenartige, tropfige Körper zerfällt, richtiger
gesagt in eine Art Mosaik zerlegt wird, welche Bildung er als Füllkörperchen
Studien zur Pathologie der Neuroglia II. 307
bezeichnet hat. In jüngster Zeit hat Holzer diese Frage genauer studiert
und in den Füllkörperchen ein Zerfallsprodukt der Gliafasern ermittelt.
Es handelt sich hier wahrscheinlich um eine im Quellungszustand befind-
liche Gliaformation, die als Gerinnung der plasmatischen oder faserigen An-
teile des Glianetzes aufzufassen ist, nachdem es zu einer merkwürdigen
Bindung von Wasser an das Gewebe gekommen ist, an welchen Zustand
sich eine Gerinnung und nachfolgende segmentäre Zerlegung des Netzes an-
schließt. Auffallend erscheint uns aber die Tatsache, daB wir solche eigen-
artige Formationen auch dann sehen, wenn es zu einer beträchtlichen Aktivi-
tät der faszikulären Glia gekommen ist, wie wir dies in den Herden von
multipler Sklerose namentlich im Rückenmark feststellen können. Wir
haben keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, daß es sich hier um reine de-
gencrative Phänomene (Gerinnung) handelt: es wäre vielleicht auch möglich,
daß daneben durch Quellung des faszikulär inaktivierten Netzes es zu einer
Volumsvergrößerung der Narbe kommt, was wohl den Zweck haben kann,
die durch den Ausfall des Parenchyms unmöglich zu deckende Volumsver-
minderung einigermaßen zu kompensieren. Daß es sich hier nicht etwa um
ein aktives nutritionsfüähiges Ersatzprodukt handelt, geht schon daraus her-
vor, daß sich die gleichen Veränderungen in der marginalen Zone und den
übrigen Randgebieten finden, wo wir keine nervösen Elemente sehen, zu
deren Erhaltung diese Formation beitragen könnte.
Diese hier mitgeteilten Tatsachen und Erwägungen werden in wei-
teren Mitteilungen an «den einzelnen pathologischen Prozessen dargestellt
werden.
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